^^1^293 AM 4; JÄNNER 1910 XI. JAH
DIE FACKEL
HERAUSGEBER:
KARL KRAUS
INHALT:
Prozeß Friedjnng. — Druck und Nachdruck. —
AphcriBmei]. — Glossen.
Sämtliche Beiträge von Karl Krau 3.
NA CHDRUCK VERBOTEN
«
PREIS DER EINZELNEN NUMMER 30 HELLER
ERSCHEINT IN ZWANGLOSER FOLGE
. VERLAG: ,DIE FACKEL* ^7/IEN— BERLIN
WIEN, in/2, HINTERE ZOLLAMTSSTRASSE 3 TELEPHON Nr. IW
Verlag ALBERT LÄNGEN München
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In zweiter Auflage erschien:
Sittlichkeit und Kriminaiität
Erster Band der ausgewählten Sc)iriften von Karl Kraus
Broschiert . . M 6.— Ganzleinen . . M 7.25
<L. Rosner, Wien und Leipzig)
Sestellungen ninnmt jede Bitchhandiung, der Verlag der .Fackel', Wien
11/2, Hintere Zollamtsstraße 3 und das Berliner Bureau der .Fackel',
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Im Verlage Jahoda & Siegel, Wien III/2, Hintere Zollamtsstraße 3
erschien :
KARL KRAUS
Von ROBEET SCHEU
(Mit einem Bildnis)
40 SEITBH 80, broschiert
Preis 80 Heller (80 Pf)
Die Fackel
Nr. 293 ENDE DEZEMBER 1909 XI. JAHR
Prozeß Friedjttng
Von Karl Kraus
Austria in orbe ultima: in einer Welt, die be-
trogen wird, glaubt Österreich am längsten. Es ist
das willigste Opfer der Publizität, indem es nicht
nur glaubt, was es gedruckt sieht, sondern auch das
Gegenteil davon glaubt, wenn es auch dieses ge-
druckt sieht. Seine Bevölkerung ist ereignisläufig.
Aber sie erlebt das Ereignis nur als Meldung, und
darum kann ihr die Journalistik die Ereignisse ent-
winden, die sie ihr eben erst verschafft hat. Die Welt
rings liegt in der Agonie der Dummheit, aber sie
weiß immer noch, was sie in der Hand hält. Öster-
reich weiß es nicht. Heute ein Maulaufreißen, daß
man glaubt, es tropfe von der Milchstraße herunter,
morgen >Ah woslc mit Achselzucken, übermorgen
eine neue Sensation. In keinem Staat der Erde wäre
diese Tragfähigkeit der Blamagen denkbar. Wohl, die
Menschheit wagt es, sich nach der Nordpolgeschichte
noch vor der Tierwelt zu zeigen, als ob nichts
gewesen wäre. Aber es gibt eine Empfindlichkeit
für die nationale Schande, und jeder Preuße wurde
noch Jahre nach Köpenick schamrot. Österreich hat
kein Gedächtnis. Nichts kann es aus dem Gleich-
gewicht bringen, weil es in fortwährender Erschüt-
terung ist. Nichts tötet, die Lächerlichkeit macht
populär, ein Zeitungsblatt deckt jede Schmach zu.
Prozesse um die Privatehre dienen hier dem Beweis
der Gefährlichkeit, in einen Krater eine brennende
Zigarette zu werfen. Es ist alles Wurst: der
— 2 —
Grundsatz einer ordinären Genußphilosophie, die den
Falstaff übertrumpft, indem sie der Ehre die Ehre
erweist, sie zu den Viktualien zu zählen. Dieses
öfiFentliche Leben, das auf der Grundlage der allge-
meinen, gleichen und direkten Ehrlosigkeit beruht,
empfindet manchmal das Bedürfnis, sich zu über-
zeugen, ob diese Grundlage auch sicher genug ist.
Es expektoriert sich zuerst in moralischem Auswurf
und wenn es dann den Schleim vom Boden wieder
aufgeleckt hat, ist die Probe gelungen. Aber ihr habt
doch gestern noch — ? Mit solchem Vorhalt ver-
schone man die stolze österreichische Bewußt-
losigkeit, die weiß, was sie tut, wenn sie vergißt,
was sie getan hat! Oder man versuche ihr vorzu-
halten, wie oft sie in vierzehn Tagen eines
politischen Prozesses die Farbe gewechselt hat: sie
wird nicht rot werden! Man stelle die Leitartikel
zusammen, die am Anfang und die am Ende waren,
und man frage sich, ob irgendeine Bevölkerung der
Welt den Geduldfaden aufbrächte, der die Extreme
verbindet. Ob irgendwo anders binnen vierzehn Tagen
die Konsequenz der Lüge so durchbrochen werden
dürfte. Ob es nicht zu Straßenaufständen, Fenster-
einwürfen, Verprügelung der Schriftgelehrten käme.
Hier riefen sie: Österreich ist in Gefahr!, und die
Menge sagte: Nein, so was! Dann riefen sie: Aber
es war ja gar nicht in Gefahr!, und die Menge sagte:
Nein, so was!
Aber sie respektiert nicht nur die Unverletzlich-
keit jener Mauschelmajestät, die täglich zweimal als
>Wirc zu ihr spricht. Sie jagt auch nicht jene Sitz-
redakteure des österreichischen Gewissens davon,
die ihr erreichbar sind und deren Namen sie kennt.
Wäre in irgendeinem Erdenwinkel, wo ein Volk
zum Glauben an den politischen Hokuspokus erzogen
wurde, eine Enttäuschung, wie die hier erlebte,
ungestraft geblieben? Minister fallen, wenn's einem
Lakaien beliebt, auf die Hintertreppe eine
— 3 —
Orangenschale zu legen. Hier hat man im Gerichtisaal
die Worte gehört: > Durch diese Dokumente sollte
vor Europa der Beweis erbracht werden, daß
Osterreich- Ungarn durch illoyale Verbindung Serbiens
mit unlauteren Elementen unserer Monarchie genö-
tigt gewesen war, zu den Waffen zu greifen.« Ein
mißbrauchter Historiker sprach es, die Dokumente,
die den Schartblick von Mittelschülern täuschen
konnten, werden als Fälschung erwiesen, und der
Mann, der den guten Glauben eines Historikers,
einer Bevölkerung, Europas mißbraucht hat, ohne
zu seiner Entschuldigung anführen zu können, daß
er selbst nicht mißbraucht wurde, der Staatsmann,
derdasOpfer eines Operettenfälschers ist, Graf Aehren-
thal, der für die Vorbereitungen eines Krieges und für
die Beweise von dessen Notwendigkeit unser Geld
nicht geschont hat, der unsern Glauben verbraucht hat,
um unser Blut zu opfern, er verläßt uns nicht in den
Stunden des Zweifels, er geht nicht zu den Eskimos,
er, der Verurteilte dieses Prozesses, gibt uns keine
Ehrenerklärung, und wir werden die Kosten bezahlen.
Denn der Historiker Priedjung, der nur Dokumente
von der Regierung nimmt, wird sich die Kosten
nicht vom Ministerium zahlen lassen, sondern von
der Neuen Freien Presse, die sie vom Ministerium
erpressen wird.
Nicht daß die österreichischen Ereignisse
keinen Grund haben, aber daß sie keine Kon-
sequenz haben, ist trostlos. Es geschieht so viel,
und es geschieht nichts: das ist die österreichische
Geschichte, die Herr Friedjung nie zu schreiben
imstande wäre, auch wenn ihm echte Dokumente zur
Verfügung ständen. Das ist die österreichische
Geschichte: daß im Konflikt des Zufalls mit
der Dummheit Ereienisse entstehen. Daß Politik
nicht gemacht, sondern kompromittiert und ge-
duldet wird. Daß der Schwindel seine Hülle hin-
wirft und kein Österreicher den Glauben verliert.
— 4
Die internationale Diplomatie — ein Terrain, auf
dem das Fallen eines Blattes ein Erdbeben zur Folge hat:
hier kracht die Erde und kein Blatt fällt vom Baum.
Die Sache ist interessant, man spricht davon, aber
man zieht keine Konsequenz. Man würde sich mit dem
Weltuntergang befassen, solange er aktuell wäre,
aber man würde keine Konsequenz aus ihm ziehen.
Hinausgeworfene tausend Millionen: wir haben Platz
im Sack, um die Faust darin zu ballen.
Nicht die fünfzig kroatischen Kläger, deren jeder an
Kopf, Ehre und Gesittung dem Durchschnitt dessen,
was sich in Deutsch-Österreich auftut, überlegen ist,
ein ganzes, nicht völlig kulturverlassenes Volk, das
durch Jahrzehnte gequält wird und seiner Regierung
dennoch den Gefallen nicht tun will, Hochverrat zu
begehen, stand vor den Wiener Geschwornen. Wie
schwächlich doch die Markierungen sind, deren sich
die Justiz bedient, wenn sie einen weltgeschichtlichen
Prozeß zu erledigen hat! Auf der Anklagebank sitzt
nicht der ministerielle Verführer einer gelehrten
Unschuld, dem es wahrlich noch immer besser an-
stände, den dolus für sich anzusprechen, als einem
Mann der Wissenschaft die Entschuldigung des guten
Glaubens. Auf der Anklagebank sitzen nicht die Verant-
wortlichen, die einen kostspieHgen Kriegsplan auf
teuren Fälschungen aufgebaut haben, sondern der ver-
antwortliche Redaktionsdiener einer Zeitung, der die
pflichtgemäße Obsorge vernachlässigt hat. Wenn
nicht neben ihm Herr Friedjung das welt-
geschichtliche Moment und die Wiener Geschwornen
das Weltgericht repräsentierten, es gäbe einen zu
grimmigen Kontrast der Verantwortlichkeiten. Auch
der Vorsitzende ist bemüht, ihn nach bestem Wissen
und Gewissen auszugleichen. Herr Wach hat eine heikle
Aufgabe. Denn diesmal handelt es sich nicht darum,
einen Raubmörder schuldig zu sprechen, sondern die
Serben als Raubmörder zu entlarven. Alle Delikte
sollen ihnen nachgewiesen werden, nur nicht, daß sie
— 5 —
Dokuraentenfälscher sind. Es ist eine schwierige
Situation. Wie soll man serbische Zeugen behandeln,
die bedroht und eingeschüchtert wurden, ehe sie nach
Wien kamen, und die dennoch gekommen sind und
nicht einmal einen Meineid leisten? Wenn sie sich
dazu hinreißen ließen, die Wahrheit lauter zu sagen,
als notwendig ist, so herrscht man sie an: Mäßigen
Sie sich ! . . Stehen Sie ruhig ! . . Wir sind hier in Wien ! . .
Und im Ton eines Unterlehrers ermahnt man einen
Belgrader Zeugen, dessen Lebhaftigkeit der schlechten
Sache gefährlich zu werden droht, nicht zu vergessen,
daß er Gymnasialprofessor sei. Es ist ein schwierige
Situation. Man hilft sich, indem man den Verdacht
eines kroatischen Hochverrats unermüdlich durch den
Beweis zu erhärten sucht, daß Serbien in Kriegs-
bereitschaft war. Echte Bomben waren mit falschen
Dokumenten gefüllt, immer qualvoller wird die
Gewißheit : so sucht man von den falschen Dokumenten
auf die echten Bomben abzulenken. Der serbische
Söktionschef, dessen schmucklose Aussage dem schön-
rednerischen Patriotismus österreichischer Historiker
im Nu alle Vorwände erdrosselt, wird, nachdem er
gesagt hat, was er sagen mußte, durch die Frage-
stellung behutsam an den Rand des Amtsgeheimnisses
gebracht, damit die Herren Rauchfangkehrer auf der
Geschwornenbank >aha!< sagen und den Eindruck
haben, einer wolle' nicht sagen, was er nicht sagen
muß. Daß Serbien gegen Österreich war, will man
wenigstens von ihm noch hören, wenn er schon un-
seliger Weise beeiden mußte, daß die Dokumente ge-
fälscht waren. Und Aussagen, die im telegraphischen
Wege bekunden, daß nie Gelder aus Serbien nach Öster-
reich für Hochverräter, wohl aber aus Österreich nach
Serbien für Dokumentenfalscher gekommen seien und
daß diese sich für die ausgeworfene Summe die Sache
zu leicht gemacht hätten, werden vom Vorsitzenden
tonlos abgehaspelt ; denn für Geschworne, die die
Angeklagten ohnehin wegen offenbaren Patriotismus
— 6
freisprechen werden, sind derlei Indizien für die
Unschuld der Kläger überflüssig. Was sie hören
mußten, haben die Volksrichter gehört. Die Posaunen-
töne des jüngsten Gerichts klingen ihnen noch in
den Ohren, mit denen dieser Vorsitzende den Kläger
Supilo des Ehrenwortbruchs beschuldigte, als räudiges
Schaf aus den Reihen der Kameraden stieß und die
Korruption im Dienste des Vaterlands zu einem Beweis
für Hochverrat herausarbeitete. Preßbestien, deren
Fütterung teurer ist als die Handvoll Kronen, die
dem kroatischen Journalisten ein Wichtigmacher
nachgesagt hat, durften damals aufbrüllen: »Heute
wurde im Gerichtssaale das Rückgrat des Abge-
ordneten Supilo zerbrochen«; und das Neue Wiener
Journal, dessen Schere rein ist und das noch nie
für Geld einen Artikel gestohlen hat, durfte ver-
sichern, daß »der Ekel vor einer solchen Korruption uns
eine weitere Beschäftigung mit Herrn Supilo verbietet« .
Viele sind in der Wiener Publizistik, denen im
Gerichtssaal noch nicht das Rückgrat zerbrochen
wurde oder die dieser Gefahr nur dadurch entgehen,
daß sie nie eines gehabt haben. Der Vorsitzende
kennt sie, nicht von arats wegen: als literarischer
Dilettant gewährt er ihnen manchmal seine Mitarbeit.
.Er ist vielleicht mit der schlechten Journalistik auf
zu gutem Fuß, um über die Verhältnisse, in denen
Herr Supilo wirkte, ein unbefangenes Urteil abzu-
geben. Und der Verlauf des Prozesses hat bewiesen, daß
Herr Supilo es noch immer nicht nötig hat, sich in
die »Concordia« aufnehmen zu lassen. Aber selbst
wenn es ihm ad personam gebührte, wenn es damals
jenem österreichischen Gschaftlhuber glücklich ge-
lungen wäre, ihn zu korrumpieren, an jüdisch-
deutsch-österreichischen Maßen gemessen, scheint die
südslawische Preßschande noch immer aller Achtung
wert. Und solcher Korruption wäre sie unfähig, daß
sie einer Justiz nach solchen Exzessen der Befangen-
' heit Leitartikelehren erwiese, das Walten der öster-
reichischen Gerechtigkeit als die Lichtseite dieser
welthistorischen Blamage besänge.
Aber was hat in einer Schlußstimraung zwischen
Gloria in excelsis deo und Gut is gangen, nix is
gschehn an Feilheit, Feigheit und Gefühlsschlamperei
nicht alles Platz, wenn man noch dazu bedenkt, daß
Weihnachten vor der Tür steht und neue Ereignisse
auch dran kommen wollen? In einer Stimmung, in
der die Instanzen und Autoritäten einander vor dem
Publikum rekoraraandieren wie die Kaffeesieder bei
einer Geschäftsübernahme; in einer allgemeinen
Loyalitätswäsche, bei der selbst die Waschfrau des
Landesgerichts schon auf das Seehserl wartet und
angenehme Feiertag wünscht. Männer, wie sie unter
den Klägern und unter den Zeugen dastanden, wort-
knappe Anwälte einer verleumdeten Wahrhaftigkeit
wie dieser Doktor Popovic, die »Serben in Wien<,
die mühelos über den Wiener Intellekt gesiegt haben,
— sie dürften troh gewesen sein, als sie diesem
Charakterbrei den Rücken kehrten, aus dem keine
Tat und kein Gedanke wächst. Keine materielle und
keine geistige Konsequenz. Der Politik schadet's
nicht, und die Wissenschaft wird von der Presse
immer noch als Mitarbeiterin zugelassen werden. Der
Sturz der Autoritäten wird im Gedränge nicht
bemerkt. Aktuell sein ist alles. Und dennoch war's
ein Krach, den man erst nach hundert Jahren hören
wird. Jetzt werden sie weiter miteinander plaudern,
wie auf dem Concordiaball, auf dem man die Wissen-
schaft im Zwiegespräch mit der Politik bemerkt, und
nicht wissen, daß sie gestorben sind. Dieser ganze
Schnickschnack aus den Achtzigerjahren, dieses Schön-
bartspiel des Gelehrtentums, diese Inzucht von Staats-
geschäftigkeit und Wissenschaftlhuberei, diese Bereit-
schaft, wenn's sein muß, für das Vaterland mit Phrasen zu
kämpfen und > wenn's zu einem Waffengange mit
dem Feind kommen solltec, in der Neuen Freien Presse
die Save zu überschreiten und »dem Serben eine
— 8 —
Schlacht zu liefern«, aus wissenschaftlicher Gutgläubig-
keit gegenüber einem Blatt, das mit sich reden ließe,
wenn der Serbe statt einer Schlacht rechtzeitig etwas an-
deres geliefert hätte — : das alles gibts ja gar nicht mehr.
Dies Bündnis gehört in eben jene Zeit, in der Herr
Friedjung noch die Neue Freie Presse bekämpfte
und von ihr ein »feierlicher Tropf« genannt wurde.
Heute, wo sie viel vaterlandsfeindlicher und der
deutschen Kultur gefährlicher ist als Serbien, heute
nennt er es im Gerichtssaal >nur eine Ehre«, ihr
Mitarbeiter zu sein, oder was noch schlimmer ist, er
muß es sich gefallen lassen, wenn sie den Satz in
ihren Gerichtssaalbericht hineingefälscht hat. Wenn's
überhaupt noch eine Empfänglichkeit für Enttäu-
schungen gäbe, wenn unsere Haut noch eine druck-
empfindliche Stelle hätte, dann wäre in diesem hoch-
politischen Prozeß der schleißige Dreibund von Politik,
Presse und Wissenschaft und jede der drei Ohnmächte
für sich kaput gegangen. Wir werden doch nicht
von einer Verschwörungsoperette das Gruseln lernen?
Wir werden doch endlich von der kulturellen Nich-
tigkeit einer wissenschaftlichen Bedeutung überzeugt
sein, die eine Dienstmannsleistung, die Übernahme
von Protokollen, als wissenschaftliche Tat aus-
ruft? Wir werden uns doch nicht länger von
einer Gelehrtheit imponieren lassen, weil sie einen
Umhängebart und eine Brille trägt, sich einen Nord-
pol so gut w^ie einen Hochverrat aufbinden läßt und
zwischen Kopenhagen und Belgrad von jedem Kommis
beschissen werden kann? Oder geht ein Riß durch
die Persönlichkeit des Herrn Friedjung, weil er sich
zufällig in eine so kitschige Katastrophe einließ ? Sollte
sie uns nicht vielmehr auch über die echten Werte
eines Historikers aufklären? Daß hier zum Sitz-
fleisch der Wissenschaft noch die Übung
des Berichterstatters kam, das brachte den Namen
Friedjang in aller Mund. Historie ist zumeist die
Wissenschaft jener Leute, die nicht imstande sind.
— 9 -
einen Leitartikel abzufassen. Herrn Friedjung eignet
diese Fälligkeit in hohem Grade, und in der Art der
vorigen Generation, die noch die Syntax beherrschte,
aber dem Sprachgeist darum nicht näher war als die
heutige, die raii Psycholope und Stimmung über ihr Un-
vermögen täuscht. In Prag dürfte diese Richtung eines
rednerischen Geistes entsprungen sein, der in der korrek-
ten Phrase sich befriedigt, dem Deutschtum zuHebe
kein Komma verschluckt, Sprichwörter wie eine Prise
Schnupftabak sich gönnt, >siehe dac sagt und selbst die
Schlichtheit als Ornament trägt. Diese Sorte, die genau
80 schreibt wie sie spricht, weil sie so spricht wie sie
schreibt, fern vom Schuß des Gedankens und von
der Gefahr der erlebten Worte, bezog justament ihre
Blutleere aus der Sphäre kriegerischer ojier ritter-
licher Vorstellungen. Es waren lauter > Kämpen <, die
hier — anonym oder >mit oflFenem Visier« — in
die Federschlacht zogen. Noch heute ist der Ton der
Neuen Freien Presse auf diese temperamentlose
Freude am Waffenhandwerk gestimmt, und darin
erreicht ihre Berichterstattung über den Prozeß Fried-
jung geradezu eine künstlerische Höhe, daß sich
hier wirklich das Phrasentum der Beschreibung mit
dem Phrasengeist der Handlung deckt. Nicht nur daß
das Auditorium jedesmal »mit lebhafter Spannung den
fesselnden Ausführungen des Angeklagten folgte«
oder daß dieser jedesmal >ein Netz von Fragen über
den Zeugen warf« — solche Mittel sind im Kriege
nicht verpönt — , typisch ist das folgende Stim-
mungsbild: »Zwischen den Parteienvertretern fanden
heute schon bei den Verlesungen der Dokumente
mitunter kleine Kämpfe statt, in die auch der An-
geklagte Dr. Friedjung verwickelt wurde. Die Klin-
gen wurden halb gezogen, es gab kritische Momente,
und empfindliche Punkte des Beweisverfahrens wur-
den berührt. Aber bei aller Schärfe der Intention
war doch eine gewisse Zurückhaltung im Ton wahr-
zunehmen, und auch über die Gereiztheit siegte noch
- 10 —
eine Beherrschung, ja eine chevalereske Form.« Das
ist Sprache und Lebensstimmung des Dr. Priedjung.
Fortiter in re, suaviter in modo; denn allzu scharf würde
schartig machen. Warmblütig, jedoch maßvoll. Wenn er
stolz erzählt, daß er noch nuehr Dokumente habe und
daß er mit dem Plan umging, sie ausgerechnet > während
des Vormarsches unserer Truppen« in der Freien
Presse zu veröffentlichen, um Europa zu überzeugen, daß
>wir< nur infolge von Herausforderungen >zum Schwer-
te gegriffen hätten«, so kann man überzeugt sein, daß
ihm das Anschauen kriegerischer Bilder zwar Ver-
gnügen macht, daß er aber genug Geistesgegenwart
besitzt, rechtzeitig zur Feder zu greifen und das
Erlebnis den >Tausenden und Abertausenden
unserer Brüder und Söhne« zu überlassen. Die
daran hätten glauben müssen, weil Herr Friedjung
an die Dokumente glaubte, und denen es nur des-
halb erspart blieb, weil im letzten Augenblick »der
Thronfolger Prinz Georg infolge der Tötung eines
Dieners, den er mit den Stiefelabsätzen zertreten
hatte, zur Niederlegung seines Rechtes auf die
Erbfolge genötigt war«. Immerhin ein humanerer
Vorwand, um einen Krieg zu unterlassen, als die
Fälschung von Protokollen, um ihn zu führen.
Aber daß die Papiere, um die sich die Geister einer
papiernen Welt geschart, durch einen Druckfehler bei-
nahe Paniere geworden wären, bezeichnet die Gefähr-
lichkeit dieses Handwerks. In den Redaktionen und Äm-
tern, in denen kein Gedanke zur Tat drängt, entspringen
die bedenklichsten Anregungen aus der Phrase. Der
Schmeck wagt sich nicht vor die Tür, aber das
Schmocktum erzeugt jene Räusche, denen der
Jammer auf dem Fuß folgt. Wenn Herr Dr. Friedjung
dieses Milieu meidet und die Gaben, die ihn in dessen
Nähe führten, nur bei der Beschäf tigungmit vergangenen
Ereignissen verwendet, so wird ihm die Unkontrol-
lierbarkeit der Tatsachen sowohl wie die Flüssigkeit
der Darstellung den Ruf eines großen Historikers
— 11 —
erhalten. Es wäre eine Unehrlichkeit, wollte ich nicht
offen zugeben, daß der >Kampf um die Vorherrschaft« zu
jenen berühmten Büchern gehört, die ich nicht gelesen
habe. Aber ich lasse mich köpfen, wenn ich nach der
Lektüre anders über den Autor urteile; und wenn ein
Mann der Wissenschaft darauf besteht, daß man ihm den
guten Glauben attestiere, so ziemlich die einzige Quali-
tät, die ihn in seinem Fach entwurzelt, so kann ich ver-
langen, daß man mir den guten Zweifel an einer Persön-
lichkeit einräume, von der ich nur ein einziges Dokument
kennen muß, um auf die Unechtheit aller übrigen
eu schließen. Und der grundsätzliche Zweifel an der
Urt-^iisfähiffkeit der heutigen intellektuellen Welt
überhebt mich der Mühe, mich zu jedem einzelnen
ihrer Ideale herabzulassen. Ich bin davon überzeugt,
daß die journalistische Geläufigkeit in der Behandlung
entlegener Dinge, die sonst der Schwerfälligkeit einer
Fachwissenschaft ausgeliefert sind, hier die meisten
täuscht und auch viele, die solche Qualität in der Be-
handlung aktueller Politik unerträglich finden. Und ich
glaube, daß anderseits die zeitliche Entfernung als stoff-
liches Moment wieder dem Journalisten zugute kommt
und aus ihm genau so einen Mann der Wissenschaft
macht, wie sie aus ihm einen Novellisten machen
könnte. Man glaubt gar nicht, wie stark die Hilfe
stofflicher Distanz, sei es nun die des Ortes oder der
Zeit, wirkt, um dem Schreibenden das Interesse des
Lesers anzunähern. Wer über Bukarest schreibt, ist
schon ein Dichter; das Talent beginnt in der Leopold-
stadt, Warum sollte nicht, wer über Königgrätz
schreibt, ein Historiker sein? Herr Dr. Friedjune hat
nur die Unvorsichtigkeit begangen, die ruhige Wirk-
samkeit des Stoffes, der so viel für ihn getan hat,
den Gefahren des Zweifels preiszugeben, indem er
sichs einfallen ließ, in der stofflichen Welt des Tages,
die so leicht überprüfbar ist, literarische Ehren zu
suchen. Oder um mich in seiner Sprache auszudrücken,
es war verfehlt, vom Piedestal der Wissenschaft in die
12
Arena der politischen Kämpfe hinabzusteigen. Man
könnte leicht den guten Glauben an seine historischen
Quellen verlieren, wenn man erfährt, wie die der
Gegenwart beschaffen sind. Man mag befürchten,
daß auch von jenen am Ende nichts übrig bleibt
als der gute Glaube des Historikers. Zumal wenn
man ihn im Gerichtssaal als einen Beweis sei-
ner Gewissenhaftigkeit anführen hört, daß er die
Telegramme zwischen Benedek und dem Kaiser vom
früheren Generalstabschef Grafen Beck erhalten habe.
Die Dokumente des serbischen Hochverrats nämlich
habe er von Männern erhalten, >die dasselbe Ver-
trauen verdienenc wie der Graf Beck. Das ist am Ende
wahr. Es ist wahr, daß der jetzige Generalstabschef
(jener Conrad v. Hötzendorf, dessen Name unbedingt
nach einer Schlacht an der Drina zum Gebrauch
für Mittelschulen rief) die Dokumente geprüft
hat; es ist wahr, daß sie sich als gefälscht heraus-
gestellt haben; und es ist also zum mindesten ge-
fährlich, die Quelle älterer Dokumente, die schon
ihre Schuldigkeit getan haben, noch zu nennen. Freilich
behauptet Herr Dr. Friedjung, ein gewisses Vertrauen
müsse ein Historiker für sich in Anspruch nehmen
können. Denn sonst würde niemand glauben, daß
Alexander der Große gelebt habe. Wir wüßten es
nur, weil es uns die alten Geschichtsschreiber erzählt
haben. »Aber wir glauben und vertrauen ihnen. < Nun,
ich würde nach den Ergebnissen des Prozesses Friedjung
auch in diesem Punkte zur Vorsicht raten. Und es war
um so bedenklicher, die Glaubwürdigkeit der Quelle,
der Herr Dr. Friedjung den Depeschen Wechsel 1866
verdankt, mit der Verläßlichkeit jener andern, welcher
er die serbischen Protokolle verdankt, zu vergleichen,
als zum Beispiel ein Gespräch, das der Graf Beck
im Jahre 1904 mit dem General Kuropatkin in Öster-
reich gehabt und das der Graf Beck dem Herrn
Dr. Friedjung in einer Gesellscheft erzählt hat und
das Herr Dr. Friedjung in einer vaterländischen
— 13 —
Revue veröffentlicht hat, vom General Kuropatkin mit
der Behauptung dementiert wurde, er sei im Jahre 1904
gar nicht in Österreich gewesen. Nun ist es ja
ebensogut raöglioh, daß der General Kuropatkin die
Unwahrheit ?apt, wie es sicher ist, daß der Graf
Beck ein steinalter Herr ist. Aber wir haben aus
dem Prozeß erfahren, wie von einem schlichten Alibi
eines Belgrader Professors die ganze Herrlichkeit hoch-
verräterischer Dokumente abhängt, die uns \or
Europa genötigt hätten, >zum Schwerte zu greifen«.
Herr Dr. Friedjung hat sich freilich auch in dieser
Angelegenheit als Historiker, der der Wahrheit die Ehre
gibt, bewährt. Er war, wie die Zeitungen versicherten,
>gewi8senhaft« genug, zuzugeben, daß der Professor
Markovitsch an jenem 22. Oktober, da er in Belgrad
zum Krieg trommelte, in Charlottenburg, Grohlmann-
straße 30 sich aufhielt, nachdem dies vom dor-
tigen Polizeipräsidium bestätigt worden war und
der Historiker der Beweiskraft eines Meldzettels
nicht widerstehen konnte. Er i>t — auf dieser Fest-
stellung bp*stand er beim Ausgleich — »kein Klopf-
fechter«. Niemand darf ihm jene Eigenschaft bestrei-
ten, die er »Rechtschafffuheit« nennen würde. Und
daß ein Belgrader Strafrechtsprofessor anstatt
Boraben zu werfen gerade am entscheid**nden
Tag einem Vortrag des Doktor Lilienthal in
Berlin beigewohnt hat, das zu wissen oder an
eine solche Möglichkeit auch nur zu denken, ist
wirklich nicht Sache eines Historikers. Nein, an
dieses Daturh mußten sich keine Zweifel heften. Und
auf jene sentimentalen Phrasen der Dokumente,
von denen Professor Masaryk sagt, sie seien nicht
einmal die Sprache eines Gymnasiasten, konnte ge-
rade er hineinfallen, denn er selbst würde sich erfor-
derlichen Falles nicht scheuen, in einem Geheim-
protokoll vom »goldenen Prag« zu sprechen. Was
er aber als Historiker zur Grundlage seiner Forschung
machen konnte, das waren die zwei Daten: der kroa-
— 14 —
tischen Wahlen und der serbischen Anleihe. Hier war
Wink und Möglichkeit einer Prüfung. Hier war es
dem Historiker erspart, zum Dienstmann zu werden,
der einen Auftrag des Herrn v. Aehrenlhal in einer Re-
daktion abgibt, wenn nicht gar zum Polizeimann, der
ihn an die zuständige Behörde leitet. Denn daß man
die Wissenschaft mit Protokollen so hineinlegen kann
wie die Neue Freie Presse mit einem Erdbeben-
bericht, den sie für echt hält, weil darin von kos-
mischen und tellurischen Erscheinungen die Rede
ist, das hat der Spaßvogel in Belgrad gewiß nicht
geahnt. Er hat für Geld sein Pensum geliefert, aber
nicht geglaubt, daß sich sogar die Wiss>enschaft dafür
interessieren werde. Das Versprechen des Herrn Dr.
Friedjung, dem man die Fehlerhaftigkeit jener beiden
Daten vorhielt: er werde sich informieren, ist
die prägnanteste Zusammenfassung der Pflichten
eines Historikers. Ich habe keinen Respekt vor dem
Handwerk. Nicht vor seiner Wichtigkeit, nicht vor
seinem Ernst und nicht vor seiner intellektuellen
Höhe. Ich war dabei, als die Wissenschaft vor dem
logischen Einmaleins versagte, und der Überlegenheit
nichts anders übrig blieb, als sich mit dem stereo-
typen »Es ist doch merkwürdig — c den Bart, zu streichen.
Da der Sektionschef Spalajko witsch, auf dessen Ent-
larvung durch Herrn Dr. Friedjung alle Welt ge-
spannt war, ja, ja und nein, nein sagte, was drüber
ist, aber für übel hielt, holte die Wissenschaft zu
einer merkwürdigen Frage aus. Der Abgeordnete
Masaryk hatte in einer Rede gesagt, daß die Mit-
glieder der Koalition kein Geld von der serbischen
Regierung bekommen haben ; wenn der serbische
Sektionschef jenen Bericht an seinen Minister,
der von der Bestechung handelt, verfaßt haben
soll, dann müßte Herr Spalajkowitsch die
12.000 Franken eingesteckt haben. Es ist klar,
daß der Redner aus der Unmöglichkeit der
Unterschlagung auf die Unmöglichkeit des Berichtes
schließen wollte. Aus einem logischen Argument
15
wird nun unter den Händen eines Historikers ein
ethisches Gravaraen, und Herr Friedjung glaubt,
Masaryk habe aus der Tatsache des Berichts auf
die Möglichkeit der Unterschlagung schließen wollen.
Der slawische Abgeordnete hat also bloß die Kroaten —
sie nahmen kein Geld, weil siekeins bekamen — heraus-
hauen, aber die Serben als Werber des Hochverrats und
zugleich Diebe — sie gaben kein Geld, weil sie es
nahmen — hinstellen wollen. Masaiyk habe >eine
Vermutungc ausgesprochen: »darf ich den Herrn
Sektionschef bitten, sich über diese Vermutung
zu äußern ?c Herr Priedjung erklärt, er wolle, wenn
der Zeuge ihm den Gefallen erweist, »die Möglich-
keit dieser hypothetisch ausgesprochenen Vermutung«,
also die Defraudation zuzugeben, den Herren Klägern
eine Ehrenerklärung ausstellen. Allgeroeines Gelächter
und Zwischenrufe, die aber der Vorsitzende nicht mehr
mit der Mahnung »Meine Herren, wir sind hier in
Wien«, zurückweist, weil diese Formel zu oft schon
dem Chor der Kläger als Retourkutsche gedient
und weil sie zu offensichtlich sich als eine Bitte um
Entschuldigung für Schwachsinn und schlechte
Manieren herausgestellt hat. Aber man wartet mit
Ungeduld, bis sich die Antwort des Zeugen durch
das Sprachrohr des Dolmetsch an unser Ohr ringt.
Sie läßt keinen Zweifel darüber, daß er die Frage
nicht als eine Kriegslist des Gegners, sondern als
geistiges Armutszeugnis auffaßt. Herr Dr. Friedjung
ist zu rechtschaffen, um einen Zeugen mit solchen
Manövern bei denGeschwornen herabsetzen zu wollen.
Er hat im guten Glauben gehandelt. Es war wirklich
eine Enthüllung, jene, die er nicht schuldig bleiben
konnte, nachdem er vor dem Eintreffen des Sektions-
chefs Spalajko witsch das Versprechen abgegeben
hatte: »Während ich meinen Rechtsstreit mit den
Klägern, die meine Mitbürger sind, mit Schonung
durchführen möchte, werde ich gegen diesen
Spalajkowitsch als den Feind meines Vaterlandes
schonungslos vorgehen und ihm für seine diplomatische
— 16 —
Laufbahn einen Geleitbrief mitgeben, der ihm in
Zukunft noch sehr unbequem sein wird!« Und siehe da:
er brachte zunächst vor, daß der serbische Sektions-
chef in Bosnien einen Schwiegervater habe, der kein so
großer österreichischer Patriot ist wie der Dr. Fried-
jung und daß der Schwiegrersohn wahrscheinUch
nichts dazu tut, den alten Mann von dieser Ver-
irrung abzubringen. Und da dies nicht wirkte,
holte Herr Dr. Priedjung die Vermutung des
Professors Masaryk >aus dem Köcher«. Mach deine
Rechnung mit dem Himmel, Vogt, und nicht mit
der kroatischen Koalition! Herr Priedjung spricht gutes
Burgtheaterdeutsch. Sein Organ ist sonor, erinnert an
Herrn Schreiner, und die verwaiste Rolle des Ottokar
V. Horneck (> Dies Österreich, es ist ein gutes Land«)
schreit nach ihm. (>Ottokar von Steiermark, irrtüm-
lich auch 0. von Horneck genannt, Geschichtschreiber
aus der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts.
Dienstmann eines Herrn von Liechtenstein. Schrieb
eine Reimchronik, die reich ist an ausführlicher Er-
zählung merkwürdiger Ereignisse, an Schilderung
von Tournieren und Schlachten, wofür er reichhaltige
Quellen benutzt, auch von Augenzeugen manche Mit-
teilungen erhalten hat. 0. zeigt sich als ein in kirch-
lichen und politischen Dingen sehr freisinnig denken-
der Mann, weiß aber Gerücht -und Fabel von wirk-
licher Geschichte nicht zu unterscheiden.«) Es
ist doch merkwürdig — : daß ihm an keiner
Stelle seiner Verteidigungsrede das Zitat eingefallen
ist »Der Österreicher hat ein Vaterland u. s. w.<
Nie hätte er den Gegner durch Tücken und Ränke bei
den Geschwornen schlecht gemacht; aber daß ein
echtes patriotisches Gefühl, wenn's nun einmal da ist,
die naheliegende Wirkung zu Gunsten seines Besitzers
»verschmähen« sollte (mit offenem mäh auszusprechen,
Schule Strakosch), das sehe ich wirklich nicht ein.
»Ich stehe hier in einem Kampfe«, rief er, »in dem ich
alles zu beweisen habe, was in dem heißumkämpften
Artikel der Neuen Freien Presse stand«: gegenübei
— 17 —
solchem Unrecht, daß man von gesetzeswegen ge-
nötigtist, den Hochverrat, den man einem vorgeworfen
hat, auch zu beweisen, darf man schon seine eigene
Vaterlandstreue — wie sagt man doch — ins Treffen
führen. Und wenn man noch dazu von den treuesten
Dokumenten im Stich gelassen wird und zum Schluß
sich gar die Berliner Polizei dreinmischt, daim beginnt
man die im Reichsrate vertretenen Königreiche und
Länder nebst Bosnien und der Herzegowina ans Herz
zu drücken, und wenn man bisher Patriot aus Not-
wehr war, so wird man jetzt Patriot aus Oberzeugung,
und ist >berechtigt, zu erklären«, daß die Dokumente
schon deshalb von der Wissenschaft anerkannt werden
mußten, weil sie auch höchststehenden Persönlich-
keiten vorgelegen waren. Wahrscheinlich hätten die
Qeschwornen auf diese Ei-öffnung hin mit dem Prei-
spruch ges^-^.n Herrn Dr. Friedjung vorgehen müssen.
Wegen lückenlos bewiesener Vaterlandsliebe (sprich
Patratismus). Da aber die Wissenschaft diese Ehren-
rettung nicht überlebt hätte, zog sie es vor, sich mit
den Feinden des Vaterlands auszugleichen. Sie hatten
kein leichtes Spiel mit diesem Historiker. So wohl-
f-»ilen Kaufes ließ er sie nicht ziehen : sie mußten
sich zum Zugeständnis bequemen, daß er ein Patriot
sei und ein Mann des guten Glaubens.
>,Noch nicht!' , Vielleicht dochl' »Es spießt
sichl' ,B3 wird nichts draus 1* , Gemacht 1'« Es waren
bange Stunden, ehe es dazu kam, und die Zeitungen
haben uns mit dem ganzen Aufwand der für solche
Zwecke vorrätigen Plastik das Kommen und
Gehen der Parteien, das Summen und Surren des
Auditoriums, das Munkeln und Mogeln der um den
Ausgleich bemühten Autoritäten geschildert. Ali
endlich Herr v. Bärnreither. ein Fachmann für Loyalität,
Unverbindlichkeit und Entgegenkommen, den der Prä-
sident ins Beratungszimmer gebeten hatte, mit den
Worten herauskam: >Geduld bringt Rosen, aber auch
zerrissene Hosen!«, da war der Bann gebrochen, und
man wußte, daß nun bald alle Weihnachtsglocken
18 —
läuten würden. »Eine Bemerkung, die viel Heiterkeit
erregte«, hieß es in den deutschen Blättern. Im
andern Lager wurden nachher Bemerkungen laut, die
weniger nach der Gemütlichkeit einer poUtischen
Kinderstube rochen, in der die Blamagen an den
Ciiristbaum gehängt werden. Der serbische Minister
des Äußern zum Beispiel meinte, es habe >immer und
überall freiwillige und übereifrige Vaterlandsretter
gegeben, die den Gänsen des Kapitels den Rang ab-
zulaufen suchten«. Fragt sich nur, wo die besseren
Fe lern zu f mden sind. Und der Präsident des kroatischen
Landtags wollte wissen, ob das Vaterland denn nicht
zufrieden sei, daß die Südslawen ihm ihr Blut geopfert
haben, und ob es wirklich auch den moralischen Tod
seiner Söhne fordere. Die Neue Freie Presse aber, der
es seitdem die Rede verschlagen hat, hielt das »Ver-
trauen zur österreichischen Justiz« hoch, in welchem
sich jene »nicht getäuscht« hätten, denen man zuerst
den Hochverrat bewiesen und dann gnädig erlaubt
hat, sich gegen den Verdacht zu wehren.
Die Kroaten und Serben in Österreich haben
es vorgezogen, dieses Vertrauen nicht der Belastungs-
probe eines Geschwornenurteils auszusetzen. Im Um-
gang mit jenen »Vertrauten«, die die Regierungen dort
unten auf das politische Leben loslassen, haben sie
es gelernt, der Verläßlichkeit eines solchen öster-
reichischen Gefühls zu mißtrauen. Eine Staatsweisheit,
die »Umtriebe« erzeugt, um sich vor ihnen zu fürchten,
und die nur an Bomben glaubt, welche sie mit Akten
belegt sieht, hat dafür gesorgt, daß in Kroatien auf
jeden Bürger zwei Konfidenten kommen. Man versäuft
Staatsgelder, um die weißen Mäuse zu sehen, von denen
man so viel schon gehört hat. Von der Vorstellung,
daß es Umtriebe gibt, lebt dann die Geschichts-
schreibung, und dem Herrn Dr. Friedjung »gebührt das
Verdienst, am Vorabend eines Krieges auf sie auf-
merksam gemacht zu haben«. Dem Tritt eines ser-
bischen Prinzen verdanken wir, daß es beim Vorabend
geblieben ist. Aber vielleicht wäre es nicht einmal
— 19 —
dazu gekommen, vielleicht hätte uns der Graf
Aehrenthal rund eine Milliarde ersparen können, wenn
er sich rechtzeitig die Lust verkniffen hätte, Um-
triebe zu sehen oder auf sie aufmerksam machen
zu lassen. Hätte der Kammerdiener des Prinzen
Georg nicht gezeigt, wie man fürs Vaterland stirbt,
die Österreicher hättens lernen müssen, und die
Dokumente des Herrn Dr. Priedjung hätten dann jene
Männer auf den Richtplatz geführt, die heute aus
einem Beleidigungsprozeß ihre Ehre gerettet haben. Sie
hätten das Schicksal der > Agramer Hochverräterc ge-
teilt, deren Opferung jetzt den Schlaf der vater-
ländischen Dokumentenjustiz zu stören beginnt. Denn
der Betrieb der vaterländischen Dokumentenfabrik,
den Männer wie der Sektionschef Nikoliö enthüllt
haben, ist gestört. >Man soll uns vorhalten, was gegen
uns spricht, man soll uns untersuchen vom Scheitel
bis zur Zehe, wir werden uns ausziehen vor den
Wiener üeschwornen.c Schande genug, daß diese
typische Prozedur vor den Augen der Rauchfangkehrer-
raeisteruqdGemischt waren verschleißer auch in solchem
Falle notwendig war. Diese unerwünschten Zuschauer
riefen, soweit sie der Verhandlung folgen konnten, den
Klägern zu: >Geben Sie uns Beweise !< Und jene gaben
Beweise, wiewohl sie dazu nicht verpflichtet waren.
Es war ein fürchterliches Reinemachen vor den Feier-
tagen. Vor dem österreichischen Justizskandal eines Frei-
spruches blieben wir bewahrt. Der Skandal, der über den
politischen, wissenschaftlichen und journalistischen
Autoritäten zusammenschlug, wird erst aufstinken.
Die Frage, was die Vertreter dieses Staates im
Balkan machen, ist aufgebrochen. Man gibt zu, daß
das Huren eine schöne Beschäftigung ist, möchte
aber einmal wissen, was in den Zwischenpausen
geschieht. Die österreichisch-ungarische Diplomatie
ist einem grobschlächtigen Gauner aufgesessen und
hat mit dem niedrigsten Betrug den höchsten Stellen
im Reich die Notwendigkeit der Annexion, die Dring- •
lichkeit eines Krieges begreiflich gemacht. Die Welt wird
}93
— 20 —
betrogen, aber sie weiß, von wem und wofür. Osterreich
wird noch gläubig sein, wenn es keinen Betrüger mehr
geben wird ; es wird sich selbst betrügen. Herr Cook geht
durch die Welt, er hat immerhin entdeckt, daü es
einen Nordpol gibt. Wir haben uns einen Hochverrat
entdecken lassen, den es überhaupt nicht gibt.
Dabeiaber haben wir erfahren, in welche entlegenen
Winkel dieses Vaterlandes die Kultur sich zitternd
verkrochen hat. Sie lebt dort, wo sie in Furcht vor
den Konfidenten lebt. Nicht hier, wo die Konfiden-
ten in Furcht vor der Kultur leben. Wir haben
erfahren, wo der Balkan ist. Österreich ist das Land,
in dem man keine Konsequenzen zieht: es achte
darauf, daß sie nicht gegen Österreich gezogen
werden. Heurigenmusik, zu der ein Vaterländler ge-
tanzt wird, wird die Welt über den wahren Aus-
gang dieses Prozesses nicht täuschen. > Durch diese
Dokumente sollte vor Buropa der Beweis erbracht
werden . . .*: Baropa wird zur Kenntnis nehmen,
daß es ein Gegenbeweis war. Und die Geschichts-
schreibung, soweit sie nicht guten Glaubens ist,
wird von diesem Datum Notiz nehmen.
Zur endgiltigen Abfertigung des täglich frecheren Schxrach-
sinns, der mir die Beschäftigung mit mir meiner Stellung, meinen
Büchern, meinen Feinden verübelt und mahnend oder höhnend
nachweist, daß sie die Hilfte meiner literarischen Tätigkeit aus-
fülle, während sie doch in Wahrheit meine ganze literarische
Tätigkeit ausfüllt; und weil man sich vor diesem Pöbel, dem man
als Lebender nie zur »Autorität wird, nur durch Berufung am
Autoritäten Ruhe verschaffen kann; zur endgiltigen Abfuhr aller
anonymen Ratgeber, und um die Bildung jener weltweisen Noboiys
die gern in Büchern nachschlagen, zu vervollständigen, sei dieses
Zitat mir willkommen:
— 21 —
»Die Absicht Dun aber, in welcher der Dichter
unsere Phantasie in Bewegung setzt, ist, uns die
Ideen zu offenbaren, das heißt an einem Beispiele zu
zeigen, was das Leben, was die Welt sei. Dazu ist
die erste Bedingung, dafi er es selbst erkannt habe:
je nachdem dies tief oder flach geschehen ist, wird
seine Dichtung ausfallen. Demgemäß gibt es unzählige
Abstufungen, wie der Tiefe und Klarheit in der Auf-
fassung der Natur der Dinge, so der Dichter. Jeder
von diesen muß inzwischen sich für vortrefflich
halten, sofern er richtig dargestellt hat, was er
erkannte, und sein Bild seinem Original entspricht:
er mufi sich dem Besten gleichstellen, weil er in
dessen Bilde auch nicht mehr erkennt, als in seinem
eigenen, nämlich so viel, wie in der Natur selbst:
da sein Blick nun einmal nicht tiefer eindringt. Der
Beste selbst aber erkennt sich als solchen daran, daß
er sieht, wie flach der Blick der Andern war, wie
vieles noch dahinter lag, das sie nicht wiedergeben
konnten, weil sie es nicht sahen, und wie viel weiter
sein Blick und sein Bild reicht. Verstände er die
Flachen so wenig, wie sie ihn, da müßte er ver-
zweifeln: denn gerade weil schon ein außerordent-
licher Mann dazu gehört, um ihm Gerechtigkeit wider-
fahren zu lassen, die schlechten Poeten ihn aber so
wenig hochschätzen können, wie er sie, so hat auch
er lange an seinem eigenen Beifalle zu zehren,
ehe eine Welt nachkommt. — Inzwischen wird ihm
auch jener verkümmert, indem man ihm zumutet, er
solle fein bescheiden sein. Es ist aber so unmög-
lich, daß, wer Verdienste hat und weiß, was
sie kosten, selbst blind dagegen sei, wie daß
ein Mann von sechs Fuß Höhe nicht merke,
daß er die Andern überragt . . . Horaz, Lucrez,
Ovid und fast alle Alten haben stolz von sich gere-
det, desgleichen Dante, Shakespeare, Bako von Veru-
lara und viele mehr. Daß einer ein großer Geist sein
könne, ohne etwas davon zu merken, ist eine Absur-
dität, welche nur die trostlose Unfähigkeit
22 —
sich einreden kann, damit sie das Gefühl der
eigenen Nichtigkeit auch für Bescheidenheit halten
könne. Ein Engländer hat witzig und richtig be-
merkt, daß merit und modesty nichts Geraeinsaraes
hätten, als den Anfangsbuchstaben. Die bescheidenen
Zelebritättni habe ich stt-ts im Verdacht, daß sie wohl
recht haben könnten; und Corneille sagt geradezu:
La fausse humilite ne met plus en credit:
Je s^-ais ce que je vaux, et crois ce qu'on m'en dit.
Endlich hat Goethe es unumwunden gesagt: »Nur
die Lumpe sind bescheiden«. Aber noch unfehlbarer
wäre die Behauptung gewesen, daß die, welche so
eifrig von Andern Bescheidenheit fordern, auf Be-
scheidenheit dringen, unablässig rufen: »Nur beschei-
den! um Gotteswillen, nur bescheidenl« zuverlässig
Lumpe sind, das heißt: völlig verdienstlose
Wichte, F'abriksware der Natur, ordentliche
Mitglieder des Packs der Menschheit. Denn wer
selbst Verdienste hat, läßt auch Verdienste gelten —
versteht sich echte und wirkliche. Aber der, dem
selbst alle Verdienste und Vorzüge mangeln, wünscht,
daß es gar keine gäbe: ihr Anblick an Andern spannt
ihn auf die Folter; der blasse, grüne, gelbe Neid
verzehrt sein Inneres: er möchte alle persönlich Be-
vorzugten vernichten und ausrotten: muß er sie aber
leider leben lassen, so soll es nur unter der Bedingung
sein, daß sie ihre Vorzüge verstecken, völlig ver-
leugnen, ja abschwören. Dies also ist die Wurzel
der so häufigen Lobreden auf die Bescheidenheit.
Und wenn solche Präkonen derselben Gelegenheit
haben, das Verdienst im Entstehen zu ersticken, oder
wenigstens zu verhindern, daß es sich zeige, daß es
bekanntwerde — wer wird zweifeln, daß sie es tun?
Denn dies ist die Praxis zu ihrer Theorie.«
Schopenhauer, »Welt als Wille und Vorstellung«,
2. Band, 3. Buch 37. Kap.
— 23 —
Dmck und Nachdruck
Von Karl Kraus
Im Vertrauen darauf, daß die zeitgenössische Publizistik
ohnehin nicht mehr den Mut zur Zitierung der »Fackel' und nur
noch die Lust zum Stehlen aufbringen werde, habe ich kürzlich
bei der Neugestaltung des Titelblattes auf das Nachdrucksverbot
verzichtet. Auf dem Umschlag der vorliegenden Nummer ist es
wieder zu lesen. Denn jetzt erst sehe ich, wie notwendig es war.
Em Ausschnittbureau sendet mir nämlich einige Nachdrucke, die
mir viel mehr Verdruß als Freude bereiten und die mir beweisen,
daß man es endgiltig aufgeben muß, Respekt vor dem Gedanken
zu verlangen, und daß mehr als der Beifall für die Meinung auf dem
heutigen Leserniveau nicht zu erreichen ist. Nun weiß man ja, daß
ich gerade darauf und auf nichts lieber verzichte in einer durch und
durch verjournalisierten Zeit, der der Geist zur Information dient und
die taube Ohren hat für den Einklang von Inhalt und Form. Sie unter-
scheidet »schreiben können« von »Recht haben «.versichert, »zwar nicht
mit allem einverstanden zu sein, aber . . .«, und hat keine Ahnung
von der geheimnisvollen Unmöglichkeit, das, wo'in ich »Recht
hal>e<, anders als eben so zu sagen, wie ich es sage, und darin,
Wie ich es sage, etwas anderes haben zu können, als Recht. Sie
glaubt, es handle sich vorweg um den Stoif und hinterher komme
eine Forderung ästhetischer Sauberkeit. Wenn ich ihr sagte, daß
ich an zehn Seiten zwei Stunden und an einer Zeile zehn Stunden
arbeite, diese sprachverlassene Zeit würde es unverständlich
finden. Und wenn ich verriete, daß ich um einer Konjunktion
willen, die mir während des Druckes zu mißfallen beginnt, die halbe
Auflage vernichten lasse, so würde sie sagen, dies sei närrisch,
denn sie, auf die es doch ankomme, bemerke den Unterschied
nicht, und ich sollte Zeit und Geld an populärere Bestrebungen
wenden.
Nun kann man freilich über religiöse Angel^enheiten
nicht streiten, und die Zeit muß sich damit abfindtn, daß
einer, der sich als einen Todfeind des Ästhetentums gibt, das
Geheimnis eines Dopp>elpunkts für wichtiger hält als die Prob-
leme der Sozialpolitik. Wir können darüber nicht streiten, ob
der Schöpfer oder der Nutzer dem Geist näher ist; ob es
auf den Umfang des Schöpferischen ankommt und ob nicht
— 24 —
in der Wonne sprachlicher Zeugung aus dem Chaos eine Welt
wird. Unverständlich ist es wie dieses: die leiseste Belichtung:
oder Beschattung, Tönung und Färbung eines Gedankens —
nur solche Arbeit ist wahrhaft unverloren, so pedantisch, lächerlich
und sinnlos sie für die unmittelbare Wirkung auch sein mag,
kommt irgend wann der Allgemeinheit zugute und bringt ihr zuletzt
jene Meinungen als wohlverdiente Ernte ein, die sie sich heute
mit frevler üier auf dem Halm kauft. Alles Geschaffene bleibt,
wie es präformiert war, ehe es geschaffen wurde. Der Künstler
holt es als ein Fertiges vom Himmel herunter. Die Ewigkeit
ist ohne Anfang. Lyrik oder ein Witz: die Arbeit liegt
zwischen dem Selbstverständlichen und dem Endgiltigen. Es
werde immer wieder Licht. Es war schon da und sammle sich
wieder aus der Farbenreihe. Wissenschaft ist Spektralanalyse, Kunst
ist Lichtsynthese. Der Gedanke ist in der Welt, aber man hat ihn
nicht. Er ist durch das Prisma stofflichen Erlebens in Sprach-
elemente zerstreut, der Künstler sammelt sie zum Gedanken. Der
Gedanke ist ein Gefundenes, ein Wiedergefundenes. Und wer ihn
nur selbst sucht, ist ein ehrlicher Fmder, ihm gehört er, auch
wenn ihn vor ihm schon ein anderer gefunden hätte . . .
Doch was hat dies mit einem Nachdruckverbot zu schaffen?
Der Leser hat vielleicht keine Lust, sich selbst noch mit der Erklärung
von Narrheiten zum Narren halten zu lassen. Von allen Autoren, die
ihn bedienen, bin ich der weitaus größte Schwindler: das Publikum
dankt mir für Brot und ich sage hinterdrein, daß es Steine
waren. Wenn ich jemand an meinen Schreibtisch ließe und ihm
die Zumutungen zeigte, die mir die Post eines Tages bringt, er
würde über die Zähigkeit staunen, die hier an einen Bäckerladen
pocht und sich jahraus jahrein mit einer altbackenen Illusion
zufrieden gibt. Kern Hund nähme mehr einen Bissen von mir,
wenn er wüßte, wie unverdaulich er ist. Eine der groteskesten
Erscheinungen: dieser unbeirrbare Glaube an den Inhalt. Weil
drauf »Cyankali« steht, f 'essen sie's und holen es noch aus der
Tabaktrafik. Ich lechze nach dem Zeitpunkt, wo man mir auf die In-
kongruenz zwischen mir und meinen Stoffen, meinen Aktualitäten,
meiner Verbreitung kommen und mich der Ehre überheben wird,
zwischen Trabukkos, Staatslotterielosen, R-.volverblättern und An-
sichtskarten Aphorismen zu verschleißen. Bis dahin wird's noch
— 25 —
manchmal heißen : Wo er recht hat, hat er recht. Ich falle der
Entwicklung nicht in den Arm. Die Kenner, die solches Zögern
von einer geschäftlichen Raison ableiten — aber wenn ich ihnen
sage, daß ich halbe Auflagen um eines Wortes willen vernichten
lasse, mit der Fabel kommen, daß ich mir's eben leisten könne — ,
sie sollen auch leben. Inzwischen, bis einmal die Geschichte
der , Fackel' von reinerer Hand geschrieben wird, will ich wenigstens
dafür sorgen, daß ihr geistiges Bild nicht entstellt werde.
Es geschieht durch ein niederträchtiges System des Nachdrucks,
dem ich hiermit ein für allemal den Riegel vorschiebe. Ich habe
nichts dagegen, daß man Publikationen von mir, die ich heute un-
publiziert wünschte, mit dem richtigen Datum zitiert. Auch was
ich verwerfe, gehört zu mir, und ich bin nicht imstande,
irgend etwas zu bereuen, was mir heute als Sünde er-
scheint. Was aus den ersten Jahren der , Fackel* aufhebenswert ist,
kommt in die Bücher; trotzdem räume ich jedem das Recht ein,
mir Irrtümer, Fehler, Widersprüche, so sehr er Lust hat, vorzu-
halten. Aber ich gestatte keinem, eine Äußerung aus den
letzten drei Jahren in wohlwollender Absicht zu zitieren,
wenn er sich nicht verpflichtet, an die Kontrolle des Nachdrucks wenig-
stens den hundertsten Teil der Sorgfalt zu wenden, die ich an die
Kontrolle des Drucks gewendet habe. Diese Mahnung geht eo ipso
nur solche Redakteure an, die mir eine ihnen bequeme Meinung
abknöpfen wollen und den Nachdruck mit jenen Worten ein-
leiten, die mich sofort zur entgegengesetzten Meinung entflammen
könnten: >Mit Recht bemerkt der bekannte Herausgeber der .Fackel'«.
Wenn also der Unfug schon geduldet werden soll, so müßte
wenigstens der Text, der nach solcher Einleitung noch immer seinen
künstlerischen Ursprung behaupten könnte, unverändert dastehen.
Die Redakteure nehmen aber, was ihnen paßt, und markieren die
Auslassungen nicht einmal durch Punktreihen. Welchem organi-
schen Ganzen der Teil genommen war, ist dann nicht mehr zu
erkennen. Daß man durch Streichung eine Plattheit in einen Ge-
danken, aber auch einen Gedanken in eine Plattheit verxrandeln kann,
verstehen diese sprachverlassenen Meinungssucher nicht. Und sie tun
ein Übriges: sie sehen auch nicht nach, wie der Setzer ihr Flick-
werk zugerichtet hat. In einer deutschen Monatsschrift, die von einer
Dame redigiert wird, ist jeder Satz, mit dem ich angeblich »Recht«
— 26
habe, verstümmelt oder in sein Gegenteil verkehrt. Daß durch
Weglassung der Anführungszeichen in einem Satz, der noch
ein zweitesmal vorkommt, statt einer Kontrastwirkung eine Wie-
derholung bewirkt wurde, dafür muß ein .Setzer kein Verständ-
nis haben. Aber ein Redakteur, der's auch nicht hat,
kennt nicht einmal die Verpflichtung, dort eine mecha-
nische Kontrolle zu üben, wo ein Anderer gedacht hat. Die
Dreistigkeit der Absicht, mich zu redigieren, würde ich noch
verzeihlicher finden als die grundsätzliche Nichtachtung vor
geistiger Arbeit, die in der sorglosen Preisgabe an die Gefahren des
Druckes gelegen ist. Ich halte die Maschine auf und zwinge sie,
meinen Launen zu dienen, und nach Tagen und Nächten solchen
in den Schlaf fortgesetzten Kampfes, solcher auch am fertigen
Werk noch wirkender, nie beruhigter Zweifel, kommt ein anderer,
der meine Meinung teilt, und opfert mich seiner Maschine auf. Ich
habe der Zeitschrift, die mir solches angetan hat, eine Berichti-
gung geschickt. Aber ich habe nicht Lust, in den Druckereien
Deutschlands und Österreichs die Arbeit zu verrichten, die mich
in einer einzigen kaput macht. Ein Wiener Tagesblatt, das seine
christlichsozialen Hausmeisterinnen mit Zitaten aus der , Fackel'
erfreuen zu müssen glaubt, sei auf diesem Wege ausdrücklich
verwarnt. Es hat kürzlich ein paar Seiten aus dem Artikel über
den Fall Hofrichter glatt ins Hausmeisterische übersetzt. Hier
handelts sich nicht um Verstöße gegen Stil und satirische Absicht,
die ein sorgloser Nachdruck bedeutet, sondern um Verstöße gegen
die Grammatik, die ich an und für sich nicht so schmerzlich
empfinde, die aber hier eigens für das Fassungsvermögen des
Publikums berechnet zu sein scheinen. Wollte ich den Nachdruck
nachdrucken, man würde es nicht für möglich halten, daß ein so
lesbares Manuskript, wie es die Seiten einer Zeitschrift vorstellen,
in einer Druckerei solchen Verheerungen ausgesetzt sein kann.
Auch die Volltrunkenheit des Setzers könnte sie nicht erklären.
Bleibt nur die Annahme, daß in christlichsozialen Druckereien ein
Korrektor angestellt ist, der darüber zu wachen hat, daß nichts
Deutsches durchrutscht. Aus der »Behörde, die jetzt den Fall
übernommen hat und die durch Tradition und ein veraltetes
Gesetz vor den Verlockungen der Reklame geschützt ist< werden
»Behörden, die jetzt den Fall übernommen haben und die durch
- 27 -
die Tradition und einem veralteten Gesetz vor den Verfolgungen
der Reklame geschützt ist«. Eine Person, die >unweit dem Ver-
dachtskreis« wirkt, ist jetzt eine, die >unweitdes Verdachtskreises<
wirkt. Sie hat >dem Hauptmann Mader ein zweites Opfer gesellt
und in der entfachten Sensation die eigene Spur verwischt« ?
Nein, sie hat ihm »ein zweites Opfer gestellt, deren entfachte Sen-
sation die eigene Spur verwischt hat«. >Es ist doch wahrschein-
licher, daß .... als daß . . . .« gilt nicht; jetzt heißt es:
»Es ist jedoch wahrscheinlich, daß .... als daß . . . .« Ein
»zurechtgelegtes Alibi«? Nein, ein »zusammengelegtes«. Gegen
die Schuld Hofrichters sollte »die unwahrscheinliche Dummheit«
sprechen, »mit seinem notorischen Handwerkszeug einen Giftmord
zu verüben und zu hoffen, daß er dem Verdacht durch Harmlosig-
keit begegnen könne«. Jetzt heißt es: »Gegen die Schuld H.'s
spricht die unwahrscheinliche Dummheit, mit einem notorischen
Handwerkszeug ist nicht Giftmord zu verüben und zu hoffen, daß
er den Verdacht . . . begegnen könne«. Und an der Spitze heißt es
trotzdem: »Die , Fackel' schreibt«.
Aber sie hat für dieses Pack zu schreiben aufgehört. Von
jetzt an ist nur mehr das Stehlen erlaubt. Da wird vielleicht auch
etwas mehr Sorgfalt auf den Druck verwendet werden, und im
Übrigen fällts nicht auf mich zurück. Ein Berliner Sudelblatt, das
erst kürzlich wegen Erpressung sich verantworten mußte, kompro-
mittiert sich ganz unnötigerweise durch Zitierung der ,Fackel'.
Hin und wieder nimmt es sich einen Anlauf und druckt eine Notiz
ab, ohne die , Fackel' zu nennen. Es müßte konsequenter sein. Einigen
wir uns darauf: Nachdruck nur ohne Quellenangabe gestattet!
»Keines der jetzigen Kulturvölker hat eine so schlechte
Prosa wie das deutsche. Sieht man nach den Gründen, so kommt
man zuletzt zu dem seltsamen Ergebnis, daß der Deutsche nur
die improvisierte Prosa kennt und von einer anderen gar keinen
Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiener
sagt, daß Prosa gerade um soviel schwerer sei als Poesie, um
wieviel die Darstellung der nackten Schönheit für den Bildhauer
schwerer sei als die der bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild,
— 28 —
Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen — das
begreift auch der Deutsche — , aber an einer Seite Prosa wie
an einer Bildsäule arbeiten? — es ist ihm, als ob man ihm
etwas aus dem Fabel land vorerzählte.« Nietzsche.
Aphorismen*)
Von Karl Kraus
Es gibt Heuchler, die mit einer unehrlichen
Gesinnung prahlen, um unter solchem Schein sie zu
besitzen.
Die Weiber sind nie bei sich und wollen darum,
daß auch die Männer nicht bei sich seien, sondern
bei ihnen.
*
Eine Individualität kann den Zwang leichter
übertauchen, als ein Individuum die Freiheit.
Aufgeweckte Jungen — unausgeschlafeneMänner.
*
Gute Ansichten sind wertlos. Es kommt darauf
an, wer sie hat.
•
Auch ein Kind und ein Weib können die Wahr-
heit sagen. Erst wenn ihre Aussage von andern
Kindern und Weibern bestätigt wird, soll man an
ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln beginnen.
Der Kopf des Weibes ist bloß der Polster, auf
dem ein Kopf ausruht.
*) Aus dem .Simplicissimus'.
— 29
Glossen
Von Karl Kraus
Über den zum Präsidenten des Straflandesgerichts Wien
ernannten Hofrat Feigl schreibt das Neue Wiener Tagblatt:
. . . Präsident Dr. Feigl erfreut sich nicht nur in der Richter-
schaft, sondern auch im Anwaltstande durch sein humanes Empfinden
und durch sein konziliantes und liebenswürdiges Wesen allgemeiner
Sympathien. . . .
Die ,Neue Freie Presse' glaubt an eine Entwickhing und
schreibt:
... Er vennag kaustisch tuid ätzend zu sein wie nicht leicht
ein Zweiter, aber, wie wir mit Vergnügen hinzufügen, auch menschlich
schön zu fühlen und zu urteilen. Und gerade diese letztere Eigenschaft
hat sich bei Hofrat Feigl immer mehr entwickelt, immer stärkere
Sympathien für ihn hervorgerufen. Dem großen Zuge der modernen
Kriminalistik, in die Tiefe des Menschenherzens zu blicken, den Ver-
brecher in seiner Eigenart aufzufassen, ihn, solange es möglich iit,
vor völliger Verderbnis zu schützen, hat er sich in erster
Reihe angeschlossen. Er ist gewissermaßen vor den Augen des
Publikums zu immer größerer Höhe der Persönlichkeit gelangt
durch seinen scharfen Blick, durch seine seltene Begabung und nicht
zuletzt durch eine echte, unter Ernst und Ruhe verborgene
Innerlichkeit. JVlit unbefangener Erkenntnis lernte Hofrat Dt. Feig:
aus den Irrtümern um sich herum und auch — welcher Richter wäre
davor gefeit— aus eigenen Irrtümern, und es ist überraschend,
wie er aus vielen Gegnern Freunde und Verehrer, ja auch Bewunderer
geschaffen . . .
Eine Entiricklung pflegt zwischen dem zwanzigsten und
vierzigsten Lebensjahre platzzugreifen; bei Herrn Hofrat Feigl,
der ein Mann in den Sechzigern ist, trat sie knapp vor seiner Er-
nennung zum Präsidenten des Landesgerichts ein. In seinem
schönsten Mannesalter blieb seine Innerlichkeit so tief unter Ernst
und Ruhe verborgen, daß sich vor den Augen eines erwartungs-
vollen Publikums Jahrzehnte hiedurch nicht das Geringste zeigte.
Deshalb war es auch in all derZeit nicht möglich zu bemerken, wie
sehr es ihm darum zu tun war, den Verbrecher — solange es möglich
ist - vor völliger Verderbnis zu schützen. Wenn man nicht etwa die
Strafen, die Herr Hofrat Feigl diktierte, als lebenslänglichen Schutz
vor den Gefahren der Freiheit auffassen wollte. Das wurde aber
mit einem Male ganz anders, und im Gegensatz zu den Preß-
~ 80 -
stimmen, die mehr der Evolutionstheorie zuneigen, glaubt die
, Arbeiter-Zeitung', daß ein Wunder geschehen sei. Sie schreibt:
. . . Der neue Präsident ist ein Mann, der sich fast plötzlich
völlig umgewandelt hat. In den letzten fünf Jahren war er der zum
Richteramt tauglichste Mann im Landesgericht, war er der mildeste
Richter, der gesittetste Vorsitzende. Früher und viele, viele Jahre hin-
durch war es anders. Da fällte Herr Dr. Feigl die allerstrengsten
Urteile ; da war er bissig, wie man es ärger nicht sein kann ; da hatte
er insbesondere in den Schwurgerichtsverhandlungen unerträgliche Ge-
wohnheiten. Unvergessen ist es, daß unter seinem Vorsitz
ein Mensch, der auf der Ringstraße einer Frau ein Hand-
täschchen entriß, zu lebenslangem Kerker verurteilt wurde.
Das Urteil erregte das Entsetzen der ganzen Öffentlichkeit und wurde
vom Oberlandesgericht dahin abgeändert, daß die Strafe für den
Täschchenraub auf »nur< zwölf Jahre herabgesetzt wurde. Kurz darauf
ging in Dr. Feigl die große Wandlung vor sich und die Art, wie er
in den letzten Jahren die Verhandlungen leitete, die Straftaten beurteilte
und die Strafen ausmaß, könnte allen Richtern, die jetzt im Strafgericht
fungieren, als Beispiel dienen . . .
Weiches Verdienst die ,Fackel' um die Entwicklung des Hof-
rats Feigl hat, die man also auch eine wunderbare Verwandlung
nennen könnte, ist gerichtsbekannt. Im März 1904 erschien der
Artikel >Ein Unhold«, der heute in dem Buch >Sittlichkeit und
Kriminalität« wie eine Reliquie des Grausens wirkt und nicht
anders als ein Dokument jener Justiz, von der man sich be-
ruhigt sagt, daß sie fünf Jahrhunderte hinter uns liegt. Im Fall Krafft
berief der Staatsanwalt zu Gunsten des Verurteilten. Im Jahre 1907 fand
ein Wiedersehen zwischen dem Hofrat Feigl und dem Sträfling statt,
der ihm in einem andern Prozeß als Zeuge vorgeführt wurde. Er
war inzwischen tuberkulös geworden, und so konnte ihn Herr Hofrat
Feigl beim besten Willen nicht mehr vor völliger Verderbnis
schützen. Nachdem dieses Wiedersehen zwischen einem Blassen und
einem Blässern geschildert worden war, veröffentlichte die , Fackel'
das Bekenntnis eines der Qeschwornen, die den Krafft verurteilt
hatten: »Denn wenn wir geahnt hätten — nun, Sie erinnern sich
gewiß, wie wir einige Tage später angesichts des abermaligen
Feigl uns durch einen Freispruch Luft gemacht haben. Allein vor-
her kannten wir unsern Feigl noch nicht ganz; und da die Er-
gebnisse der Verhandlung sich mit den Schuldfragen glatt deckten,
konnten wir nichts anderes tun, als diese bejahen. Wie dann aber
das Wort (lebenslänglich' gefallen ist, sind wir dagestanden, wie
- 81 —
vom Donner gerührt und haben einer den andern angestarrt —
völlig entgeistert. Ich bin aus dem Saale getaumelt, buchstäblich
betäubt und : »Barmherziger Himmel, das haben wir nicht gewollt,
nein, das haben wir nicht aewollt', mußte ich fort und fort
murmeln. Als nachträglich die Änderung des Urteils bekannt
wurde, haben wir die Strafmilderung wie eine Befreiung von
eigener Schuld empfunden . . . Aber ich erbitte mir von einem
gütigen Schicksal, daß es mich vor neuerlicher Auslosung zum
Geschwornen bewahre. Für dieses Amt tauge ich seither nicht,
wenigstens so lange, als noch der Feigl im Landesgericht haust , . .«
Nun, er hat sich gebessert und ist ein guter Richter geworden.
Aber tausend Jahre Zuchthaus, mit denen seine rüstige Männlichkeit
übers Ziel schoß, sind durch ein reuiges Greisenalter nicht mehr
einzubringen. Die Entwicklung eines Strafrichters hat keine rück-
wirkende Kraft. Was hat jener Bursche davon, der zu einer Zeit
das Täschchen raubte, als Hofrat Feigl noch nicht abgeklärt war?
Er wird im Jahre 1916 das Zuchthaus verlassen, wenn nicht etwa
die Schwindsucht die Absichten der Justiz konterkarieren sollte.
Die Schwindsucht war ja lange Zeit die einzige Macht, die hier-
zulande gegen die Justizgewalt noch etwas ausgerichtet hat. Aber
selbst dieser Instanz wäre manches Opfer entzogen worden, wenn
es schon in den Anfängen des Dr. Feigl eine , Fackel' gegeben
hätte. Weil der vielversprechende Abschluß dieser Karriere, den
auch ich anerkenne, die Tagespresse zu so herzlicher Zuversicht
bewegt, war es notwendig, auch von dem Mittelstück zu sprechen.
>Auch ein Kind und ein Weib können die Wahrheit sagen.
Erst wenn ihre Aussage von andern Kindern und Weibern bestätigt
wird, soll man an ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln beginnen.«
Zu diesem Aphorismus von mir beeilt sich eine Gerichtsverhand-
lung vor einem Wiener Bezirksgericht den Beleg zu liefern.
Welche Aussage kann nicht erst zustande kommen, wenn die
Kinder Weiber sind! Drei kleine Mädchen beschuldigen einen
Henn, während der Fahrt auf der Straßenbahn >starke Sittlich-
keitsverletzungen begangen zu haben <. Unter großem Aufsehen
wird er beim Verlassen des Wagens »angehalten«. Vor Gericht
sagt er, es sei heller Tag gewesen, der Wagen mit Passagieren
32 —
gefüllt. Die drei Mädchen, die in voller Übereinstimmung aus-
sagen, geben über Befragen des Richters an, »während der Dauer
der Prozedur des Angeklagten seien sie ruhig auf ihren Sitzen
geblieben und hätten nicht daran gedacht, sich bei anderen Passa-
gieren oder beim Kondukteur zu beschweren«. Zahlreiche Insassen
des Wagens erklären als Zeugen, »von dem, was die Mädchen
behaupteten, absolut nichts gesehen zu haben«. Der Richter fällt
einen Freispruch: die Aussage der jungen Mädchen könne nur
»als Halluzination aufgefaßt werden«. Gewiß, hier liegt die einzige
Halluzination vor, die mehrere Mädchen gemeinsam haben
können. Sie halluzinieren gern. Man sollte auf diese Neigung im
ganzen sozialen Leben ein Augenmerk richten und alle die Sitt-
lichkeitsprozesse revidieren, die zu Verurteilungen geführt haben,
weil der Wunsch des Gedankens Vater war und die Hysterie als
Zeugin zugelassen wurde.
Reaktionär, wie ich in der Frauenfrage bin, finde ich es
durchaus berechtigt, daß Zeitungsberichten zufolge das Kreis-
gericht Böhmisch- Leipa eine Frau »wegen Auflaufs« zu drei Tagen
Arrest verurteilt hat. Die Geschichte muß schön verpatzt auf den
Tisch gekommen sein. Nur bin ich enttäuscht, bei näherer Lektüre
zu bemerken, daß die Frau »gelegentlich einer deutschnationalen
Demonstration vor der Beseda dem Befehl des Gendarmen, der
die Menge zum Auseinandergehen aufforderte, nicht Folge geleistet
hat«, daß es sich also um ein politisches Delikt handelt. Nachdem
aber das Mißverständnis beseitigt ist, würde ich das Urteil trotz-
dem bestätigen und nur die Gründe abändern. Selbst wenn sie
nämlich dem Befehl des Gendarmen Folge geleistet hätte, würde
ich sie verurteilen, weil sie sich für den Auflauf nicht interessiert
hat. Reaktionär, wie ich in der Frauenfrage bin.
Dagegen finde ich die judizielle Anerkennung des Markt-
wertes der Jungfräulichkeit, die kürzlich der bekannte Wiener
Appellsenat besorgt hat, gräulich. Darin denke ich liberal.
Ein Pferdehändler war wegen Verführung und Entehrung eines
Fräuleins unter Zusage der Ehe vom Bezirksgericht zu drei Wochen
- 33 -
Arrest verurteilt worden, obgleich die Anzeigerin selbst zugab,
daß sie schon vorher mit einem verheirateten Mann ein Verhältnis
gehabt hatte. Nach einer offiziellen Moral, die die Entjungferte
für eine Entehrte hält und einen wiederholten Verlust der Ehre
auf diesem Gebiet nicht anerkennt, hatte die Klägerin kein Recht
zur Klage, und das Urteil der ersten Instanz war ein Fehlurteil.
Es ist aber immerhin bemerkenswert, mit welchem Eifer der
Appellsenat dem Pferdehändler zuhilfe kam und wie klar er aus-
sprach, daß ein Pferdehändler nicht verpflichtet ist, ein Ehever-
sprechen zu halten, wenn er es einer Frau gab, die einen Fehler
hatte. Er sagte :
Mit Rücksicht darauf, daß die Klägerin vor dem Beginn der
Beziehungen mit dem Angeklagten ein intimes Verhältnis mit einem
Ehemann hatte, ohne daß dieser ihr die Ehe versprochen hat, noch
versprechen konnte, die Anzeigerin also keine Geschlechtsehre
mehr hatte, konnte sie auch von dem Angeklagten nicht entehrt
worden sein.
Daß der Vorgänger ein Ehemann war, ist gleichgültig, die
Hervorhebung dieses Moments unsinnig: der Appellsenat war
berechtigt, in jedem Fall die Aberkennung der Qeschkchtsehre
auszusprechen. Lieblich ist nur, daß die Moral des Pferdehandels
zwischen den Geschlechtern eine so vollkommene Sanktion findet
und daß die Frauenbewegung es noch immer für wichtiger hält,
nach dem allgemeinen Wahlrecht statt nach der allgemeinen
Geschlechtsehre zu trachten.
Alles andere kann man dem Kosmos der Neuen Freien
Presse nachsagen, als daß er farblos und in nüchterne Rubriken
eingeteilt sei. Wer das bunte, oft phantastische Leben eines
Benediktschen Leitartikels kennt, wer da weiß, daß selbst seine
volkswirtschaftlichen Betrachtungen in eine Komptoirwelt führen,
deren Betrieb sich etwa unter den Klängen der » Meistersinger <
abwickelt, wer das alles weiß und genießend erlebt hat, der wird
sich auch über die Vielgestalt der Motive, die die »Kleine
Chronik« beleben, nicht mehr wundern können. Hat man eben
erst mit Interesse von der Ernennung des Feintuchengrossisten
Schwitzer zum Kommerz'alrat gelesen, so kann es leicht geschehen,
daß man dicht daneben die Spitzmarke findet: »Hofrat Gomperz
34
überdieKyrenaiker«. Man steht verwirrt. Da wird alles Mögliche er-
zählt, wovon die Leser der Neuen Freien Presse trotz aller Bemühung
nichts weiter als das Wort Qomperz verstehen. Der Sendbote der
Kyrenaiker sei Aristippos gewesen, aber wenn er »dieser Sohn
Kyrenes< genannt wird, so ist zu wetten, daß nicht ein Leser der
Neuen Freien Presse zweifelt, Kyrene sei eine Frauensperson, und
da sie für jeden Brocken Bildung dankbar sind, so hätte es sich
geziemt, sie wenigstens in diesem Punkt keiner Täuschung zu
überlassen. Ein anderesmal aber hat man kaum gelesen, daß sich
die Rosa Schlesinger in Hullein mit Herrn S. Aldor in Temesvar
verlobt habe, bums, heißt es schon: »Hofrat Qomperz über
Xenophon«. Der Gelehrte habe ein durchaus objektives Bild von
Xenophon entworfen, »in welchem neben den Fehlern auch die
Vorzüge dieses schönen Mannes zur Geltung kamen«. Schon ruft
man »Thalatta!«, denn man glaubt, es handle sich um die Vor-
stellung eines Heiratskandidaten. Gefehlt. Xenophon, heißt es,
»war übrigens hervorragend in der Kunst des Verschweigens«.
Aber auch Redakteur scheint er nicht gewesen zu sein. Da
erfährt man, daß Hofrat Goniperz diesmal nicht mehr über die
Kyrenaiker, sondern über die Kyrenoniker gesprochen habe. Aber
auch damit kann man nichts anfangen. Nun hofft man, endlich
werde die Rettungsgesellschaft mit Herrn Dr. Charas an der Spitze
erscheinen, freut sich auf die Meldung, daß ein reizender Damen-
flor mit Frau Bondy an der Tete Würstel verkauft habe, ist
zufrieden, daß auch der Hof- und Gerichtsadvokat Dr. Zecke
gegen das Rauchen, für das Recht auf Stille, gegen den Meld-
zettel und für die Abwechslung des Burgtheaterrepertoirs im In-
teresse der Logenabonnenten ist, daß ein Tapezierer den Tod eines
Bankdirektors zum Ausverkauf in zwar grünen, aber ganz ungefähr-
lichen Tapeten benützt, daß die Gedichte der Tochter des Oberrabbiners
von Groß-Meseritsch in die Fideikommißbibliothek aufgenommen
wurden — : bums, fährt die Neue Freie Presse mit der Neuigkeit
dazwischen: »Hofrat Gomperz über den Neuplatonismus<. Sie
wird's bereuen, denken alle, die ihr den Hang zu Seitensprüngen
übelnehmen. Und richtig erscheint schon das nächste — und wie
wir zu melden in der Lage sind — letzte Mal die ganz verständ-
liche Spitzmarke: »Die Vorträge des Hofrates Gomperz«. Darunter
die summarische Mitteilung, daß sich in die Berichte »einige
35 —
Irrtümer eingeschlichen haben«. Der letzte der Vorträge sei
>dem Leben und der Lehre des Aristoteles gewidmet« gewesen.
Endlich ein Name, den man versteht, wenngleich er an solche
erinnert, die man heute nicht mehr trägt, und vor allem das
wertvolle Zugeständnis, daß die Neue Freie Presse alles zurück-
zieht. Kyrenaiker, Kyrenoniker — von all dem bleibt ein dumpfer
Druck im Hirn zurück und das schmerzliche Bedauern, daß ein
Gomperz, Mitglied einer geachteten Bankiersfamilie, sich mit so
ausgefallenen Sachen beschäftigt und die Freie Press' aus einer übel
angebrachten Rücksicht das noch unterstützt , . . Aber ist es gerecht,
einem Blatte zu zürnen, das sich trotz allen Extravaganzen einer
temperamentvollen Leitung immer noch rechtzeitig auf seine Auf-
gabe besonnen hat, ein Familienblatt zu sein und zwischen
HuUein und Temesvar Einheiraten zu vermitteln? Neulich hat es
sogar durch eine Nachricht überrascht, die nicht verfehlt hat,
auch über die Kreise der beteiligten Familien hinaus Aufsehen zu
erregen. Unter der Spitzmarke >Vermählung eines indischen
Prinzen mit einer englischen Schauspielerin« — bunt ist der
Kosmos der Neuen Freien Presse - wußte sie sogar Genaueres
über die Verhältnisse des Bräutigams, eines gewissen Nassir Ali
Khan zu melden. >Der junge Prinz studiert an der Oxforder
Universität, er lebt seit sechzehn Jahren in England und hat sich
den Rechtsstudien gewidmet.« Eine glänzende Partie. Und wenn
man erst erfährt, aus welcher Familie! Er leitet >seine Abkunft
von Ali ab, der Schwiegersohn und Cousin des Propheten
Mohammed war.« Ihnen gesagt!
»Mit welchem Wunsche treten Sie ins neue Jahr?« Mit dem
Wunsche, von Rundfragen dieser Art verschont zu werden. Von
der Pein, Persönlichkeiten wie die Herren Lindau, Lubliner,
Kadelburg, Philippi auch außerhalb der Notdurft deutscher
Theaterrepertoirs am Geistesleben sich betätigen zu sehen. Von
der Qual, auf diese Gratulanten, Repräsentanten, Jubilare und
Kridatare in jeder Spalte jedes Lokalanzeigers zu stoßen. Von
der Vorstellung, daß das Christkiudl die Züge des Herrn Holz-
bock trägt, der Osterhase so flink wie Herr Rudolf Lothar läuft
und das neue Jahr, eine Debütantin, der Talent und Vorzüge
86
der Erscheinung nachgerühmt werden, bei Herrn Leo Leipziger ihre
Aufw^artung machen muß. Der ,Roland von Berlin', ein Hindernis
in dem sonst so glatt funktionierendem Berliner Straßenleben, hat
sich durch jene Enquete dennoch ein Verdienst erworben. Denn
sie umfaßt die Pole der neudeutschen Möglichkeiten. Mit welchem
Wunsch also tritt Herr Maximilian Harden ins neue Jahr ? Wörtlich :
Mit dem Wunsch, daß Deutschland für die Leitung seines Staats-
geschäftes endlich wieder Männer finde, die den Mut haben, an die
Macht des Reiches, an die jedes Fährnisgestrüppes spottende Kraft der
deutschen Menschheit zu glauben, und den zaghaften Kleinmut, der
zwischen dem Drang, durch Nachgiebigkeit Freundschaft zu werben, und
der Schwächlingsfurcht, sich > etwas zu vergeben«, tatlos einhertaumelt,
als Nationalschmach empfinden, — als die unsühnbare Todsünde wider
den heiligen Geist deutscher Volkheit.
Das klirrt ! Dieser Siegfried hat zweifellos mit dem Blut
des Bandwurms seine Haut gehörnt. Wie anders der gemütvolle
>Pfofe3Sor< Heinrich Qrünfeld :
>Nur gesund! Dafür aber ein bißchen mehr Geld und warme Füße!«
Das sind wahre Celloklänge neben der kriegerischen Musik
Harden'scher Rede. Und dennoch besteht kein Zweifel, daß auch
diesem der Qrünfeld'sche Gedanke nahe liegt und daß er ihn, ein
Meister des Stils, in seiner Art hätte bewältigen können, wenn er es
für passend gehalten hätte, an so feierlicher Wende einen so natür-
lichen Wunsch zu äußern. Dann hätte er gesagt : »Mit dem Wunsch,
daß die neu sich jährende Zeit dem im Wahrheitfrohn gemüdeten
Körper Quickung, die lang und schmerzlich nur gemißte, bringe.
Und daß dem Geburttag der Kraft auch die Freude an Besitzmehrung
gepaart, das Bangen um eine ,Zukunft', die mit fleischlosem Finger
mahnende Sorge um das Grüppchen der mählich schwindenden
Abnehmer erspart sei. Und daß dem trotz aller Hatz gefesteten
und der Freiheit frohen Fuß, wenn er wieder in Wintersnot den
Weg zu einem deutschen Richtstühlchen treten müßte, auch das
Warmsein nicht mehr geneidet werde, das so oft im Sinne der
Kinädenschmach gedeutet ward und wieder, wie in Philis schlim-
men Tagen, nur Behaglichkeit und die wohlige Empfindung des
vor Frost Geschützten bedeuten soll.«
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von lahoda & Siegel, Wien, III. Hintere ZollamtsstraBe 3
^* alKa JPI
'AUERBRUNN\
Untemehm«!! für Z«itimg«anftsohnitte .
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versendet Zeitungsausschnitte über jedes gewünschte The ina.Man verlange Prospekte
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& Vogler A.-G., Leipzig h. 4200 d.
Hie wtrde di mlisdi?
ii^er
EiüeestsidisJttidiiittDttBl
Von
KARL HAUER
(Nebst einem
Anhang über Pornographie)
Verl«8sg»s«nsch*ft „Mü>
ichen", B«rthold Butter Vertag 1
Der Herausgeber der .Fackel* ersucht, die Einsendung: von
Manuskripten oder Zeltung:saus8chnltten, Lieferung von >iV!aterlai<,
Obermlttlung von Biliets, Einladungen, Rezensionsexemplaren, Talent-
proben, Mitteilungen Irgend welcher Art zn unterlassen.
Manuskripte, die ohne Aufforderung an die ,Fackel' gelangen,
werden vernichtet, wenn ihnen nicht ein frankiertes und adressiertes
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sendung jener Nummern, die nicht Belege fQr die Inhaltsangabe der
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DIE FACKEL
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Die jPackel* erscheint in zwangloser B'^olge im Umfang
i; von 16—32 Seiten
BEZUGSBEDINGÜXOEN :
Für Österreich-Ungarn: 18 Nummern, portofrei ...... K 4.50
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;; Einzelnummer in Deutschland 30 Pfennig
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BerliüBr Bureau: Haiensee, Eatharinenstraße 5
f • . I
1 Inhalt der vorigen Nummer 292, 17. Dezember 1909: ^
I Cyankali — Asa foetida- — Rhabarber. Sämtliche Beiträge von |
j Karl Kraus. :
Nr. 294—295 ERSCHIENEN AM 4. FEBRUAR 1910 XI. JAHR
DIE FACKEL
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KARL KRAUS
INHALT:
Die Mütter. \'ou Karl Kraus. — Lebensform
lind Dichtungsform. Von Otto Stoessl. — Das
Schicksal der Maschine. Von Ludwig Rubiner.
— Briefe von Ferdinand Kürnberger. — Apho-
rismen. Von Karl Kraus. — Gedichte. Von Else
Lasker-Schüler. — Berliner Leseabende. —
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und Aufklärung. — Glossen. Von Karl Kraus.
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Die Fackei.
Nl. 294-295
31. JANUAR 1910
XI. JAHR
Die Mütter
Von Karl Kraus
(Nach einer juridischen und einer medizinischen Zeitschrift)
> Als Angeklagte erschien
vor dem Schwurgericht
m Glatz die 27jährige
Dienstraagd Anna Werner
aus Steinwitz. Sie ist be-
schuldigt, ihr 11 Monate
altes uneheliches Kind
Hedwig am 5. April 1908
ermordet zu haben. Die
angeklagte Mutter ist
selbst unehelicher Geburt
und mußte bereits als
Schulkind in Dienst tre-
ten. Sie hatte schon vor
der Geburt der Hedwig
zwei Kinder. Für diese
hat sie liebevoll gesorgt;
beide Kinder sind aber
eines natürlichen Todes
gestorben. Das kleine
Mädchen wurde von der
Mutter zunächst bei einer
Frau in Glatz unterge-
bracht. Diese behielt es
aber nicht. Die Angeklagte
brachte es zur Großmut-
ter. Auch da blieb es nur
einige Wochen und wurde
ihr dann auf dem Felde
»Um das Kind im Mutter-
leibe zu taufen, hatte man
früher zwei Methoden. Es
wurde per vias naturales
das Taufwasser entweder
mit dem Finger oder mit
einer Spritze auf den
Fötus übertragen. Bei der
ersten Methode wird das
Wasser, ehe es den Kinds-
teil erreicht, abgestreift.
Bei der zweiten Methode
müßten die Eihäute erst
perforiert werden, was un-
ter Umständen für die Ge-
burt schädlich wäre. Dann
müßte durch Fingerkon-
trolle die Uterinspritze
auf den Kindsteil diri-
giert werden. Dies wäre
bei engem Muttermund
unmöglich, namentlich
zu schwierig für eine
ungeschickte Hebamme.
In früheren Monaten
der Schwangerschaft ist
selbstverständlich diese
Methode der Taufe un-
möglich. Deshalb schlägt
— 2 —
wieder überbracht. Die
Mutter fuhr dann überall
herum, um eine Unter-
kunft für das Kind zu
finden, wurde aber überall
abgewiesen. Insbesondere
wurde sie auch von den Ge-
meinden abgewiesen. Ja,
die Gemeinden wehrten
sich sogar dann, als eine
Pflegestelle sich fand, da-
gegen, daß das Kind dort
bliebe, damit nicht etwa für
das Kind die Gemeinde vor-
läufig sorgen müsse. Die
Mutter suchte den Vater
des Kindes und die Mut-
ter des Vaters in Uilers-
dorf auf, aber diese nahm
es auch nicht. Um das
Kind selbst pflegen zu
können, ging die Mutter
einige Wochen hindurch
jeden Abend von Ober-
hansdorf nach Nieder-
hansdorf und übernachtete
da und kehrte nach Oher-
hansdorf am andern Mor-
gen zurück. Der Vorsteher
in Oberhansdorf gab es
nicht zu, daß das Kind
dort untergebracht werde.
Auch aus Niederhansdorf,
wohin es in Pflege getan
war, mußte es fori genom-
men werden, weil der Ge-
meindevorsteher wider-
sprach. Schließlich brachte
die Mutter das Kind bei
A. Treitner, Arzt in Inns-
bruck, eine neue Methode
vor. Es wird eine Heil-
seruraspritze mit 10 g
Taufwa«ser gefüllt. Alle
antiseptischen Kautelen,
Desinfektion der Haut
usw. werden gewahrt. Nur
darf die Spritze nicht mit
Desinfizientien desinfiziert
werden, denn es könnte
ein Rest der Desinfizien-
tien in der Hohlnadel
bleiben und in das Tauf-
wasser gelangen, wodurch
namentlich wenn das Des-
iiifizienz riecht, die Gül-
tigkeit der Taufe in Frage
gestellt würde. Das Tauf-
wasser muß reines Wasser
sein. Die Hohlnadel hat
eine Länge von 1(J cm.
Bei Kopflage, also in 960/o
aller Fälle, wird die Nadel
zwei Querfinger oberhalb
der Symphyse senkrecht
eingestochen. Vorher soll
die Mutter urinieren. Die
Hohlnadel wird einge-
stochen, bis man , auf eine
resistente Stelle gelangt,
welche auch durch mäßi-
ges Andrücken der Nadel
nicht überwunden werden
kann'. Diese Resistenz
bieten die Kopfknochen
dar. Findet man nicht
diese Resistenz, so wird
die Spritze bis an die
einer Frau in Glati unter.
Sie zahlte zehn Mark
monatliches Pflegegeld,
während ihr Lohn nur elf
Mark fünfzig Pfennig be-
trug. Von dem Vater des
Kindes, der wegen Körper-
verletzung ins Gefängnis
gekoraraen war, erhielt sie
keine Unterstützung. Der
Angeklagten wurde dann
mitgeteilt, das Kind könne
auch nicht in Glat z bleiben,
die Polizei fordere die
Fortschaffung des Kindes
binnen vierundzwanzig
Stunden. Die Mutter bat
den Vormund, mit ihr
den Bürgermeister zu er-
suchen, das Kind in
Glatz zu lassen. Der Vor-
mund lehnte das ab. Er
meinte, der Bürgermeister
würde die beiden doch
nnr rausschraeißen. Sie
ging dann selbst zum
Bürgprraeister und bat
ihn flehentlich, das Kind
in Glatz in der Pflege zu
belassen. Der Bürger-
meister wies aber die Bitte
der Mutter ab. Nun wuf te
dieMutter nicht, wo sie das
aus Oberhansdorf, Nieder-
hansdorf, Ullersdorf, Glatz
herausgejagte Kind unter-
bringen könne. In ihrer
Verzweiflung beschlofi sie,
das Kind zu löten. Sie
Bauchhaut zurückgezo-
gen, sie wird in anderer
Richtung nach rechts,
nach links, nach oben und
unten eingestochen, bis
man den Kopf findet. Ge-
lingt es auch dann nicht,
den Kopf zu finden, so
zieht man die Hohlnadel
völlig heraus, sticht sie
1—2 cm von der ersten
Einstichöfi'iiung ein, ,um
sämtliche Kombinationen
zu wiederholen*. ,Mehr
als 3 — 4 erneute Ein-
stiche brauchen kaum ge-
macht zu werden.' , Falls
etwa einer sterbenden
Mutter eine Entkleidung
zu beschwerlich fallen
würde, so kann auch der
Einstich der Nadel ganz
leicht über dem Herade
vorgenommen werden.'
Ja selbst aufs Geratewohl
kann man an einer beliebi-
gen S'elledes vorgewölb-
ten Bauches durch die
Kleidung>stücke hmdurch
den Einstich machen. Dann
besitztallerdings die Taufe
nur wahrscheinliche Gül-
tigkeit. Hat man den
Knochen mit der Nadel-
spitze gefunden, ,so wird
die Nadelspitze mit ziem-
licher Kraftanwendung so
weit als möglich in den
Knochen emgespießt'. Es
legte es in eine. Lehm-
grube und bedeckte die
Leiche mit Lehm und
Erde. Erst ein Jahr spä-
ter wurde durch Zufall
die Leiche des Kindes
aufgefunden und durch
die Kleider die Herkunft
des Kindes ermittelt. Der
Waisenrat, an den sich der
Vormund Rat suchend ge-
wendet hatte, hatte diesem
erklärt: , Man muß es den
ledigen Personen nicht
so leicht machen, sonst
kommen sie fortwährend
mit Kindern/ Nach dieser
Antwort glaubte der Vor-
mund der Pflicht enthoben
zu sein, dem Vormund-
schaftsgericht selbst mit-
zuteilen, daß für das Kind
keine Pflegestelle aufzu-
treiben war. Ein Gemeinde-
vorsteher wurde als Zeuge
befragt, warum denn das
Kind fortgeschoben sei, zu-
mal doch keinerlei Kosten
der Gemeinde erwachsen,
da die Gemeinde ein Recht
auf Wiedererstattung sei-
tens der ünterstützungs-
gemeinde habe. Er er-
klärte , das verursache
viel Scherereien; um den
Scherereien aus dem
Wege zu gehen, schiebe
man Personen, von de-
nen man befürchtet, sie
I soll nämlich das Tauf-
I Wasser auch das Unter-
j hautzellgewebedesKinds-
kopfes bespülen, weil ja
der Kopf mit Vernix ca-
I seosa bedeckt sein kann,
dann flösse das Wasser von
dem Fette ,wirkungslos'
ab, was die , Gültigkeit
der Taufe in Frage stellen
würde'. ,Die Anwendung
eines hohen Druckes ist
ein notwendiges Erfor-
dernis*, damit durch den
gewaltsam eingepreßten
Wasserstrahl das die Tauf-
stelle umgebende Frucht-
wasser möglichst weit bei-
seitegedrücktwerde. Beim
Ausspritzen des Wassers
werden dann die Tauf-
worte gesprochen. Diese
Art der Taufe soll nicht
vor Mitte der Schwanger-
schaft angewendet wer-
den, da die Schwanger-
schaft vorher von Nicht-
ärzten nicht mit Sicherheit
zu diagnostizieren ist. Es
könnte jaein Tumorvorlie-
gen. Bei plötzlichen Todes-
fällen der Mutter soll man
diebedinj2:ungsweiseTaufe
noch 5 — 6 Stunden nach
dem Tode, ja man kann
sie noch 10—12 Stunden
nach dem Tode spenden.
Der Verfasser hält seineMe-
thode für den Fötus nicht
könnten unterstützungs-
bedürftig werden, dem
Gesetz entsprechend ab.
— Die Geschwornen be-
jahten die Frage, ob
vorsätzliche und mit
Überlegung ausgeführte
Tötung vorliege. Das Ur-
teil erging dahin, daß die
Angeklagte zum Tode und
zum Verluste der bürgerli-
chen Ehrenrechte verur-
teilt wurde. Der Vor-
sitzende leitete die Ver-
kündung des Urteils mit
den Worten ein : , Wer Blut
vergießt, dessen Blut soll
wieder vergossen werden'.c
für schmerzhaft, ,weildie
Gehirnsubstanz empfin-
dungslos ist^ auch nicht
für gefährlich, denn ,die
Erfahrungen der Gehirn-
chirurgie haben ergeben,
daß ein Stich in die Ge-
hirnhemisphäre, selbst mit
einem Messer, nicht nur
nicht tödlich, sondern
nicht einmal gesundheits-
schädlich ist'. Die Pfarr-
ämter sollen ihre Tauf-
utensilien mit dieser Tauf-
spritze komplettieren, ,ura
diese dann im Bedarfs-
falle der Hebamme des
Ortes zu überlassen*, c
I/ebensforxn nnd Dichtnngsform
Von Otto Stoessl
Die Dichtung, in welcher sich das äußere und
innere Leben der Menschen als in einer geistigen
Zusammenfassung wiederfindet, entspricht in ihren
Grundformen den Organisationen des Daseins selbst.
Sie ist gleichsam ein Reflex der menschlichen Ge-
bilde, durch deren bedeutende Erscheinung hervor-
gerufen, von einem erregbaren Geiste aus einem
unwillkürlichen Erapfangnisvorgang zu einem bewuß-
ten Schöpfungsakt umgewertet. Es handelt sich immer
um eine individuelle Antwort auf ringsumwirkende
Anreize. Die Welt als gemeinsame Erscheinung geht
durch ein persönliches, einziges Wesen — den Dich-
— 6 —
ter — sinnlich, doch vergeistigt hindurch und wird
als Antwort sich selbst, erneut und geordnet rück:-
erstattet. Wie aber das Auge nur einen begrenzten
Teil der Außenwelt als Bild erfaßt, so empfängt auch
der schöpferische Geist immer nur mit einem be-
grenzten Teil der unermeßlichen äußeren Welt ihren
bestimmenden Gesamteindruck:. Bin Einzelwille schal-
tet das üngemäße schon bei der Aufnahme aus, zieht
das Ansprechende heran. Die schließliche Antwort:
das dichterische Werk enthält alle nach persönlicher
Notwendigkeit und Willkür geordneten Eindrücke in
einer persönlichen Aussage, deren Form selbst wieder
den objektiven Inhalt subjektiv herausstellt. So wird
der Stoff erst bei der unmittelbaren Aufnahme, dann
bei der Wiedergabe, gleichsam zweifach geläutert.
Die Notwendigkeit der Aufnahme wird durch
die notwendige Begrenzung des Aufnehmenden, das
Schicksal der Aussage durch deren geheimnisvolle
Willkür begründet. Diese zwiefachen Bindungen be-
deuten ebensoviele Freiheiten, wie denn der wahr-
hafte Geist jede Notwendigkeit zur Freiheit steigert.
Das Erhabene der ineinanderwirkenden Bedingtheiten
liegt darin, daß durch solche Ausschaltung und Ein-
schränkung das schließliche Bild nicht verkleinert,
sondern erweitert wird. In der engsten Form und
dem scheinbar geringsten Gegenstande bleibt doch
immer das Ganze der Welt beschlossen, erkannt,
wiedergeboren. Ja dieses Ganze besteht ohne schö-
pferische Wiedergabe überhaupt nur als unfaßbares
Cbaos und wird erst durch die eingrenzende For-
mung zum Ganzen, ein Nebelschleier verdichtet sich
— der Name des >Dichtersc bezeichnet sein Tun —
zum Sterne, schwebende Schatten werden Gestalten,
die vorübergleitende Menge wird zur Menschheit,
Ereignisse werden Schicksale, Begebenheiten und
Gefühle entwachsen Gesetzen. Dichtung gibt Einheit
aus Fülle.
Man erkennt, daß in gewissem Sinne stets
Form auf Form antwortet und daß dem Gegebenen
immer der verwandte Geist bereit ist, den es erfüllt
und der es, als wunderbare Kelter, empfängt und
Burückgibt. ^
Den drei Urformen der Poesie: Lyrik, Drama,
Epos entsprechen drei wesentliche menschliche Zu-
stände und Eindrucksgebiete. Das Ich, der Einzelne
in seiner Sonderung, Standfestigkeit und kosmischen
Selbstsicherheit, die Familie, als erste Verbindung,
sowohl gegensätzlicher, als verwandter Elemente zu
einer Frucht, die platzend, neue Samen zu neuen
Gesellungen ausschüttet, schließlich die Gemeinde,
der Stamm, die Nation, der Staat, oder wie immer
man die höhere Zusammenfassung von Menschen-
gruppen zu schicksalhaften Gebilden abgrenzen will.
Diesen drei Urprinzipien der eidbewohnenden Mensch-
heit geben die zugehörigen schaffenden Geister als
Antwort ihr Bild und Gleichnis zurück.
In der Dichtung wird aus der Lebensform die
poetische ausgereift und jede enthält auf ihre Weise,
in ihrer Sprache und mit ihren Darstellungsmitteln
das Ganze der Welt, so wie diese im einzelnen
Menschen, in der Familie und im Staate durchaus
enthalten ist. ^ ^
Zuerst und zuletzt steht immer der Einzelne, der
schicksalhafte Mensch, als gebundener Teil, als wir-
kende Einheit, bestimmt und bestimmend. Gefühl
und Vfmunft antworten aus ihm dem brausenden
Ungefähr ringsum. Das ist das Lied: ein Echo der
Stimmen, ein Wiederschein des Lichtes, die Sprache
wird das einzige Maß der Dinge, sie behält die In-
stinktnatur einer unwillkürlich dem Eindruck ent-
gegengestreckten, wehrenden, flehenden oder prei-
senden Geberde. Aber die unentrinnbare Gemein-
schaft des menschlichen Lebens gewinnt in dieser
Aussage eine einzigre Veredelung zur Besonderheit.
Die lyrische Form wehrt alle Gemeinschaft ab, indem
sie ihr unterliegt, sie gibt sich ihr so mächtig hin,
daß das Gemeinsame gleichsam in der Umarmung
erdrückt wird. Das lyrische Gedicht als gewaltiges Laut-
— 8 —
werden von menschlichen Urinstinkten behält in dem
stöhnenden Zwang seiner Fassung, deren Rhythmus
die Notwendigkeit des gehenden Pulses hat, die erste
und letzte, tiefste Vereinzeluüg des Menschen. Seine
äußerste Einsamkeit redet sozusagen von den Gren-
zen der Welt her zu dem Meere von Einsamkeit
ringsum. Es ist die unbedingteste, zügelloseste Frei-
heit im Zwang dieser Aussage, bis auf den Klang
und Rhythmus wird alles äußere, materielle, durchaus
verinnerlicht. Nur daß das Gedieht auf dem Weg über
Gefühl und Leidenschaft seinen Inhalt völlig vergeistigt,
macht es zu einer Weisheit, deren Organ, um mich
des Ausdrucks eines vornehmen Autors*) zu bedie-
nen, im Herzen wohnt. Gelegentlich nähert sich diese
bis auf Rufweite der Erkenntnis des Denkers selbst.
An jener Quelle der Unterwelt, wo die Schatten vom
Blute trinkend, Leben gewinnen, trifft diese Dich-
tung mit der Philosophie zusammen, welche, vom
Blute trinkend, wiederum der Poesie ähnlich wird.
Überhaupt enthält die Lyrik, wie ihr Leoensvorbild,
das Individuum, alle Schicksale der Menschheit, alle
Möglichkeiten und Schicksale der Dichtung als in
einem Keime. Denn aus dem Gedichte, aus dem
Wortgesange des bewegten, einsamen Gemütes haben
sich alle anderen Formen entwickelt, wie aus den
Einzelnen alle Gesellschaften.
Die zweite Organisationsform : die Familie findet
im Drama ihr Gleichnis.
Das Drama vereinigt, wie die Familie, eigen-
tümliche und notwendig verschwisterte Gegensätze.
Sein Inhalt: die endgültige Austragung der einander
bedingenden und darum einander mit der Energie
chemischer Wahlverwandtschaften suchenden, natur-
gegebenen Konflikte wird mit der Unmittelbarkeit
direkter Aussage und Gegenrede der verstrickten
Charaktere herausgestellt. Dieses leibhaftige Gegcii-
übertreten der Einzelnen, deren jeder sein Ich in
*) »PrIAz Hamlets Briefe«, Reicht & Comp, Verlag Berlin MCMIX.
— 9 —
Worten durchführt, welche den feindlichen Individuen
das Ihrige entlocken und aus dem wirkenden Zwie-
gespräch Tat, Schicksal, neue Vereinzelung und neue
Verbrüderung erzeugen, vergegenwärtigt den poeti-
schen Ursprung aus der lyrischen Äuiäerung des
Individuums. So trägt ja die Familie auch ihre höchst-
persönliche Entstehung aus gegensätzlichen und ver-*
wandten Einzelnen an der Stirne geschrieben. Sie
wird erschaflFen, um in kämpfender Fruchtbarkeit
neue Menschen hervorzubringen. Diese Vereinigung
wird nur um der Loslösungen willen bewirkt. Das
ist der vornehmliche Gegenstand des Dramas. Wenn
man seine typischen und in ewiger literarischer
Wiederkehr abgewandelten, sozusagen exegetisch
durchgebildeten Stoffe beobachtet, wird man unschwer
ihren familienhaften Grundcharakter erkennen. Histo-
rische und politische Probleme spielen nur begleitend
mit und treten in den engeren Kreis einer familien-
haften Gesellschaft, wie denn die Geschichte selbst
menschheitliche Geschicke und Bewegungen in einem
begrenzten Felde sinnfällig rnacht, als ob sie Taten
und Erlebnisse einer einzigen schöpferischen Person
oder kleiner Organisationen wären. Eigentümlich
ist dem Drama wie der Familie auch vor allem die
Restlosigkeit der völlig ausgetragenen Gegensätze.
In dieser Organisationsform macht die Natur sozu-
sagen immer für die Zukunft reinen Tisch.
Nun ist aber auf der weiten Erde bei dem
endlosen Krieg aller gegen alle nicht bloß die tragische
Vernichtung, vielmehr ein schließlich duldsames und
notwendiges Nebeneinander zu Hause. Ober der
Vereinigung, Ablösung und Erneuerung der Einzelnen
in der Familie mit ihrer dramatischen Folgerichtigkeit
steht die fruchtbare epische Läßlichkeit der Gesamt-
heit. Die Natur produziert in Fülle und überantwortet
ihre Geschöpfe dem Ungefähr. Das Gerettete und
Lebensfähige schließt sich zusammen ohne genaue
Prüfung der Lebenswürdigkeit. So entstehen über-
geordnete Verbände und Gemeinschaften, erst als
- 10
Notdach, welches dem Menschen gegen den Menschen
Schutz verleiht, dann als schöpferisch ausgestaheter
Bau, der Zusammengehörigen eine gewisse "Würde
und sinnvolle Eintracht der Existenz gewährt. Was
einer großen Anzahl von Menschen an wesentlichen
Instinkten, Anlagen, Kräften gemeinsam ist, über-
windet ihr Widersprechendes, sie lernen einer höheren
Ordnung dienen, um der eigenen Natur schöner,
sicherer leben zu können. Ein geheimes Zusammen-
gehörigkeitsgefühl siegt über die Vereinzelung. Das
Bewußtsein der Menschheit erwacht im Menschen.
Der Staat ist seine Schöpfung, das Epos sein
dichterischer Ausdruck.
Hier spricht der Einzelne nicht mehr direkt,
sondern das Ganze redet aus dem Einzelnen, auch
wenn er von ihm redet. Mag der epische Stoff ein
besonderes Schicksal, Entwicklung einer Persön-
lichkeit, Ereignisse einer Familie oder eines begrenzten
Personenkreises behandeln, das allgemeine Neben-
einander, die großartige Einwirkung der ganzen
Umwelt auf die Zustände der beobachteten Menschen,
eine politische Natur waltet immer vor. Was geschieht
und berichtet wird, bleibt auf die zeitliche Form der
bestimmenden Gesamtheit bezogen. Der dargestellte
Inhalt erscheint als Gleichnis einer gegebenen, um-
fassenden Organisation. So erzählt jede epische
Dichtung Geschichte. Sie ist repräsentativ. Die zu-
nehmende Annäherung der nationalen Kulturen
infolge der technischen VervoUkoramung hat mit
der Ausgleichung und demokratischen Herabminde-
rung der politischen Besonderheiten die Dichtung
um ihre unmittelbare Wirkung gebracht. Sie steht
ihren Menschen nicht mehr Aug' in Aug' ge-
genüber. Diesem Schaden der verlorenen Unmittel-
barkeit der epischen Kunst steht ein Gewinn an
Verinnerlichung und Erhöhung des schöpferischen
Selbstgefühles gegenüber. Das politische Gewissen
des epischen Dichters empfindet den Staat nicht
mehr als erhabene und erhöhende Einheit, sondern
— 11
&l3 mechanisiertes Chaos, als sinnlos stampfende
Maschine, welche das bißchen Brdenraum wie eine
Walze ebnet. Aber selbst diese Verneinung wird
durch die politische Artung des epischen Geistes
ausgewertet, indem Kritizismus zum Pathos, Satire
zur Gestaltung, Skepsis und Humor zu einem neuen
Lebensinhalte anwachsen. Das Vorwiegen individueller
Probleme, die Verinnerlichung der epischen Hand-
lung die Entdeckung eines vorherrschenden geistigen
Lebens, welches an Stelle sinnlich leuchtender phy-
sischer Existenz getreten ist, bezeichnen die eigen-
tümliche politische Natur des Epischen, sie wider-
sprechen ihr nicht.
Unsere Zeit erlebt eine mähliche Umgestaltung
des Staates. Die individuellen politischen Einzelgebilde,
welche vordem, farailienhaft eng abgegrenzt, drama-
tisch sinnfällige Schicksale tragisch kurzlebig austru-
gen, weichen mehr und mehr ungeheuren Verbänden,
deren äuiere Vorgänge typisch und endlos, lang-
weilig und mechanisch scheinen. Dabei tritt aber
die willentliche Verinnerlichung des Einzelwesens
und der Teilorganisationen in strenger Vergeistigung
hervor. Die Geschichte wird zu einer wachsenden
Gestaltung des inneren Lebens. Der Vergeistigung
der Geschichte antwortet die Verinnerlichung der
epischen Kunst. Was die Politik als Instinkt erlebt
und zeigt, vergegenwärtigt das Wesen des Erzählers
als schöpferische Macht. Geschichte machen und
Geschichte schreiben, die höchste Lust und Gabe
des menschlichen Geistes, bleibt Sache des seltenen
Einzelnen, für den die ganze Welt Mittel und Gegen-
stand seines persönlichen Willens ist, unerschöpflich
an Abenteuern und Aufgaben, ein immer erneutes
Nichts und Chaos, aus dem immer wieder ein
strahlendes Etwas und Ganzes zu bilden ist. So führt
die Natur in verschleierter Vereinfachung auf tausend
Umwegen alles Geschaffene auf den Schöpfer, alle
Geraeinschaft auf den Einzelnen zurück, als ob sie
ihm allein dienen wollte, der herrschen darf.
— 12 —
Das Schicksal der Maschine
Von Ludwig Rubiner
Es gibt Dinge, mit denen niemand etwas zu tun
hat, und auf die jeder stolz sein will. Zum Beispiel
auf Erfindungen, die andere machen. Früher wjir
man Zeitgenosse, was längst veraltet ist. Heute ©t
man Stimmungselement der Entwicklung. Geistes-
strömer.
Es ist doch so: Menschen, die eine Erfindung
machen, stehen vor dem ekstatisch Momentanen und
der verzückten Spontanität ihrer Idee immer wieder
als vor einem unbegreiflichen Wunder. Dabei sind
sie stets von neuem erstaunt, daß nicht andere Leute
auch auf die grundlegende und typische Einfachheit
ihrer Gedankengänge gekommen sind. Hier regt sich
die Unverschämtheit des Geistesst römers und Hinter-
grundmoleküls. Wie — die Sache ist so einfach, daß sie
ein anderer auch hätte machen können? Gut, dann
wäre ja am Ende sogar der Geistesströmer darauf
verfallen? — was soviel bedeutet als: Der Neben-
mann und Routinier macht sein Anrecht auf die
Leistung geltend I Es lebe die Entwicklung!
Selbstverständlich ist die Hoffnung auf unentwegte,
treue und stramme Entwicklung der neue kind-
liche Glaube von den Weltanschauung-Salons des
Proletariates bis zu den ästhetisch-humanitären
Comptoirs der modernen Bourgeoisie; eine kindliche
Hoffnung, auch einmal Teil an etwas zu haben,
für das man nicht kann. Also geniert man sich
immer noch, sozusa8:en aus Sicherheitsgründen,
in verschämter Öffentlichkeit, wo doch jeder den
Lohn für sein massenhaftes Auftreten haben will,
zuzugeben, daß die wunderbaren Versprechungen der
Fachmänner von der Entwicklung der Technik einfach
noch nie gehalten werden konnten. Es wäre naiv, zu
glauben, daß einmal alle Leute, die nicht Techniker
sind, ungeduldig werden müssen, wenn jene so durch-
dringend und hochtrabend wiederholten Versiche-
rungen nicht aufhören wollen: die technische Evolution
- 13 -
gipfele nächstens einmal in einer pompösen
Zukunft.
Immerhin vermag keiner von allen den glück-
seligkeitsstrotzenden Fachmännern auch nur zu sagen,
welchem Ziele die Änderungen in der Konstruktion
einer Maschine zustreben. Noch fraglicher erscheint
es sogar, ^ob überhaupt ein solches Ziel da ist. Als
der Phonograph erfunden wurde, erwartete man
natürlich von den folgenden Jahren eine ungeheure
Veränderung im Charakter des Apparates, genau wie
zwanzig Jahre später vom Kinetoskopen. Aber diese
Instrumente sind auch in ihren substilsten Voll-
endungen noch, des Grammophons und des Kine-
matographen, unter die Äußerungsfähigkeiten gebannt
geblieben, die sie in der Stunde ihres ersten Er-
scheinens hatten. Es sind Vergnügungsautomaten
geblieben, und die geringen und gezwungenen An-
wendungen solcher Maschinen in den Wissenschaften
bedeuten nur langwierige Umwege gegenüber der
zugleich analytischen und synthetischen Auffassungs-
fähigkeit des Menschen. Ähnlich wie die Anwendung
der Mathematik in der Psychologie auch nur rein
tautologische Bestätigungen ergibt.
Natürlich zweifelte vor fünfzig Jahren kein ge-
bildeter Mensch daran, daß wir heute auf > Flügeln
des Dampfes fliegenc würden! Aber man darf fest-
stellen, daß seit James Watt die Arbeitsgebiete der
Dampfmaschine sich gar nicht verändert haben,
sondern daß nur die Leistungen potenziert wurden;
schon vor Fulton trieb doch Dionys Papin ein Dampf-
schiff — übrigens Daten einer billigen Gelehrsamkeit,
die sich jeder aus dem Konversationslexikon holen
kann. — Ebenso natürlich zweifelte zu Daguerres
Zeiten kein Mensch daran, daß die Photographie
selbstverständlich einst die Malerei ablösen werde.
Nun, darüber hat man sich in den letzten Jahren ge-
nügend ausgesprochen. Dagegen ist der urs^prüngliche
Charakter der Photographie, nämlich die mechanische
Reproduktion, zur Massenhaftigkeit gesteigert worden.
14 ~
Die Dynamomaschine und das Telephon, die
Bogenlampe und die Schreibmaschine sind nur immer
detaillierter und komplizierter durchkonstruiert worden,
und das Grundmoment ihrer Verwendung ist immer
gleichartiger durch die Massenverbreitung erhalten
geblieben.
Aber die Aeronautik — — Entwicklung des
Ballons zur Flugmaschine 1 — Gerade bei äer Aero-
nautik können Unbefangene und Unaufgeregte am
deutlichsten erkennen, daß es in der Technik keine
Entwicklung gibt. Der Ballon hat sich seit den
hundert Jahren seiner ersten Konstruktion nicht ver-
ändert. Schon an den allerersten Ballons hat man ja
versucht, Flügelruder und Steuer anzubringen; das
»Reichsluftschiff«, der »ParsevaU , Engländer, Franzosen
sind wie vor hundert Jahren jedem Zufall schutzlos
ausgesetzt. Diese »Lenkbaren«, ganz gleich ob »starr«
oder »unstarr«, können bei Sturm nicht fahren, und
mit ihren Größenmassen stehen sie in einem lächerlich
ungleichen Verhältnis zu dem Raum, den sie trans-
portieren können. Glück, Tod und Ziel sind heute
gerade so unbestimmbar wie vor hundert Jahren.
Aber der Ballon hat sich nun nicht auch zur Aero-
plan-Fiugmaschine »entwickelt«, sondern die Flug-
maschine »Schwerer als die Luft« (Lexikon!) beruht
auf einer vollständig anderen und relativ neuen Idee, die
mehr als unabhängig von den Prinzipien des Ballons
ist. Nun ist aber der Charakter des Aeroplans ah eines
Versuchsapparates und Sport- oder Schauobjektes
bereits erwiesen, und es ist unzweifelhaft, daß eine
Flugmaschine der Zukunft, die große Gepäcklasten
und viele Personen befördern kann, aus einem
wiederum vom gewohnten völlig verschiiedenen,
neuen, noch ungeahnten Gebiet der Idee und der
Prinzipien konstruiert werden wird.
Die Elektrisiermaschine kann seit den drei-
hundert Jahren ihrer Grundkonstruktion durch Otto
von Gaericke auch nichts anderes, als Papierbüschel
in Bewegung setzen und den Blitz imitieren.
15
Element, Akkuraalator und Dynamo sind nicht
Eatwickelungsstadien der alten Elektrisiermaschine,
sondern Erfiadungen aus überraschend verschiedenen
Ideengebieten, die das Prinzip der Elektrizität nur
etwa gerade so gemeinsam haben, wie die Dramen
Shakespeares und die Dramen Racines den Unter-
grund menschlicher Gefühle.
Es ist manchmal wunderbar gut, Laie zu sein.
Man steht außerhalb der Grenzen eines Faches und
überschaut diese jenseitigen Dinge nach dem bloßen
Vergnügen oder dem bloßen Nutzen. Unverwirrt
durch Begeisterung für Spezialkenntnisse sieht man:
Es gibt keine Entwicklung der Maschine. Der Maschine
kann es gar nicht widerfahren, daß sie sich, gleichsam
durch allmähliches Ankristallisieren, erweitert. Form
und Bau verändert und eines Tages unmerklich etwas
ganz anderes geworden ist. Nein, die Maschine wird
in die Welt hineingesetzt, gleich fertig in ihrem
ganzen Umriß und Charakter. Da kann nur noch
verfeinert und gesteigert werden, aber die quali-
tativen Attribute sind schon von Anfang an ent-
schieden.
Die Maschine ändert ihren Charakter nicht. Das
Automobil hat sich nicht aus dem Fahrrad entwickelt,
sondern es repräsentiert eine völlig neue Ideenreihe.
An der Maschine erkennt man unerhört klar,
was Prädestination ist. Das ganze Leben der Maschine
und der Maschinengeschlechter ist nur darauf ge-
richtet, den Grundtypus jeder einmal gefundenen
Struktur für alle Ewigkeit aufs leistungsfähigste zum
Ausdruck gelangen zu lassen. Sobald der Grundtypus
einer Maschine sich verändert, zeigt es sich, daß die
neue Struktur nicht eine Entwicklung der alten ist,
sondern ein neues Maschinenwesen mit ganz anderen
und neuen Aufgaben, und aus einer ganz neuen
Ideen-Ebene und einer anderen Kategorie.
Das Schicksal der Maschine ist, nur einmal zu
sein. Und dieses Einmal kann sehr lang oder sehr
kurz dauern. Aber das ist auch das Schicksal ihrer Ideen,
1(1 —
Hier enthüllt sich endgültig d.e ganze Frag-
«ürdiekeit einer Entwicklung der Technik. Denn
reibt keine Entwicklung der Idee. D.e Idee steht
auch ganz außerhalb einer Werlbemessung. Jede Idee
f^wfe iede andere ein vollkommenes Individuum,
efn Ibgigrenztes. Das Schicksal der Idee hegt m
ihrem vollkommenen Ausdruck.
Entwicklung der Technik anzunehmen ist eine
hypothetische Behauptung, die sofort von der bloßen
Beobachtung entlarvt wird.
Nun scheint es aber, als sei bei Q'?«?' f^
hauotune auf die Wirklichkeit und Erweishohkeit
aÄtsaohen gar kein besonderer Wert gelegt, und
t\! soUe eine .Entwicklung der Masch ne. gar kein
Dogma seX sondern nur.def halb -ffUig und u^k ar
erfaßte Ausdruck für eine St-mmung^ Be'm Über
Mi,.kpn ienes schwer und nur unschart zu ertassenoen
KÖmn"eies sich kreuzender und scheinbar mischender
Ste?und neuer Ideen tritt die ungewisse Stimmung
desPUeßenden auf, und sie wird der ganzen Gruppen-
rethr^er Ideen als' wahrhaftig historisches Geschehen
unterschoben. Man deutet diese ^«hr subjektive Stim
mune eines unscharf vorüberlaufenden Momentes in
^ne unscharfe Geschichte des Ob ektes um und man
konslrS aus der -|enblickUchen Gemutswirkung
'" ^tei^£i%t'rh?-^ tOhes^e d- ^nt-
ij^SrtrinÄnrn^Ä-^
Steine, bi" i,, ' „^, • i. prsoheinen die Maschinen. ÜjS
ÄrvÄSethTcÄrMasc^^^^^^^^
:tärk:il Ausdruck ihrer Idee ist, bis man sie nicht
mehr braucht.
Briefe von Ferdinand Kürnberger*)
Klobenstein, den 10. September 1875.
Verehrter Freund!
In solchen Stunden lebe ich wie ein abgeschiedener seliger
Geist. Ich komme buchstäblich in die Illusion, daß ich in Wien
gestorben bin und in Klobenstein auferstanden. Gestorben ist die
Börse, das Kaffeehaus, das Ptlastertreten, der Straßenlärm, das
Werkeln, der Zeitungstratsch. Wie sehe ich hier eine Wiener
Zeitung an! Wohl, die Hauptstadt muß für das ganze Reich
denken, aber sie denkt schlecht! So oft die Zeitung auf den Tisch
aufgelegt wird, kommt mir der Tisch befleckt vor, — der Tisch, an
dem die alte Frau Pascoli präsidiert, die ehrwürdigste Patriarchin
die ich je kennen gelernt.
Ich finde diese Frau weit über meiner Erwartung. Daß ich
es nur gestehe, Ihr Haus hat mir nicht das richtige Bild beigebracht.
Sie betonten mir immer in erster Linie ihren Humor, über die
Pfaffen zu schimpfen, — »und doch ist sie fromm«, setzten Sic
dann hinzu. Ich möchte es jetzt umgekehrt formulieren. Zuerst
ist sie fromm; die Religiosität der stärkste Zug ihres Charakters,
das Urchristentum ihr lebendigstes Herzensbedürfnis. Und erst
weil sie als Urchristin von den Nachchristen sich betrogen sieht,
schimpft sie über die Pfaffen. Es ist ganz das nämliche Verhältnis,
wie wenn wir den Hamlet in einer Schmiere und den Don Juan
von Bänkelsängern aufgeführt sehen. Es ist der Schmerz üljer ein
*) Mitgeteilt von Luise Hackl — anläßlich des Erscheinens des
ersten Bandes der Gesammelten Werke von Ferdinand Kümberger
(Verlag Georg Müller, München und Leipzig), der > Siegelringe <, einer
Sammlung politischer und kirchlicher Feuilletons. Diese bisher unver-
öffentlichten Briefe sind an den Politiker Dr. Josef Kopp und dessen
Gattin gerichtet. Im September 1875 weilte Kürnberger zu Besuch
in Klobenstein auf dem Berge Ritten nächst Bozen, bei der Mutler
(Frau Pascoli) und der Schwester (Frau v. Atzwang) der Frau Kopp.
>Wer mir begegnet und mich fragt: Was arbeiten Sie jetzt? Dem ant-
worte ich: Briefe <, schrieb Kürnberger einmal an eine Dame. Und er
fährt fort: >Ich habe es immer gesagt und sage es bei jeder Gelegen-
heit: Ein Schriftsteller, auch wenn er noch so viele Bände hinterläßt,
repräsentiert damit nur den kleineren Teil seiner Tätigkeit; das Meiste,
was er geschrieben hat, sind Briefe <. Diese .Auffassung Kürnberger«
rechtfer I^ die Publikation seiner Briefe. Nicht jeder Autor vertrüge
so gut die Herausgabe seiner Korrespondenz, die vor Kurzsichtigen
leicht eine Entstellung des geistigen Bildes bewirkt.
18 -
profaniertes Heiligtum. Es ist nicht Schimpf- Lust, sondern
Schimpf-Schmerz!
Als Frau faßt sie die Sache moralisch und nicht historisch.
Es entgeht ihr der kühle Trost der objektiven historischen Schule,
womit sie die Kirche betrachten könnte — wie die benachbarten
Erdpyramiden, nämlich als einen Verwitterungsprozeß. Daß die
Zeit, indem sie neues Gutes erzeugt, das alte Gute verschlechtert
und dann >Der Zahn der Zeit« wird, d'ese Reflexion ist nicht
weiblich. Die historische Schlechtigkeit ist ihr die Schuld der
einzelnen schlechten Personen.. Aber wenn uns der Historiker die
natur-gewordene Notwendigkeit des Übels so gut einsehen lehrt,
daß wir vor lauter Einsicht das Übel kaum mehr empfinden, so
reagieren Frauen wie die Pascoli aufs erquickendste gegen diese
philosophische Erschlaffung, indem sie vor lauter Empfindung die
Einsicht ausschließen. Sie sind dann just so naturnotwendig wie
Ranke selbst, dem sie das Gleichgewicht halten und ebenbürtig
zur Seite stehen. In diesem Sinne ist mir die alte Frau selbst eine
historische Erscheinung und ich habe das volle Gefühl, daß ich
etwas sehe, was man nicht alle Tage sieht. Solche iVlenschenbilder
gehören nicht der Sterblichkeit an, sondern der Geschichte. Wollte
Gott, ich könnte sie in einem Roman verewigen, um einen etwas
geckenhaften Ausdruck zu gebrauchen. Aber die Blume müßte
mir verdorren ohne die Wurzel und die Erde an der Wurzel. Ich
dürfte sie nur bringen in der ganzen bündigen Kraft ihrer naiven
Volkstümlichkeit, ihrer tyrolischen Landesrede. Und die beherrsche
ich als Wiener nicht.
Heute morgens beim Frühstück erzählte sie, wie sie einem
Klobensteiner Bauer »das allerheiligste Gut« klar machte. Das
sei Gott im Himmel, aber nicht ein Blätterteig in einem
Metallreif. Mir standen die Haare zu Berge. Eine Gänsehaut über-
lief mich. Wir gebildeten Hasenfüße glauben Wunders zu tun,
wenn wir systematisch um den Brei herumgehen und mit den
Heiligen, mit der Ohrenbeichte oder dem Cölibat »anfangen«.
Dieses Weib fängt gleich mit dem Ende an! Einem Bauer das
Altarssakrament auszureden, genügt ihr just für den ersten Anlauf!
Sie packt den Stier bei den Hörnern und bohrt das Brett an, wo
es am dicksten ist! Wahrlich, wahrlich, ich sage Ihnen, der nächste
Reformator ist vielleicht nicht, wie Luther, ein Mann, sondern wie
die Pascoli, ein Weib! —
— 19
Und so wie sie, übertrifft eigentlich alles meine Erwartung.
Kaum erholeich mich von meinem Erstaunen, daß es Leute gibt
welche dem Ritten eine üble Nachrede machen. Kein Wasser,
keine Schatten, keine Wälder, den ganzen Tag heiß angeglühte
Steine, — das habe ich ab und zu klagen gehört. Ich komme
herauf, und was finde ich? Kein Wasser, heißt — laufende
Brunnen ; keine Schatten, heißt — Schatten wie Casemattengewölbe ;
keine Wälder, heißt — die schönsten Baumschläge von Buchen,
Eichen, Birken, Tannen, Fichten, Föhren und Seidenlärchen; den
ganzen Tag heiß angeglühte Steine, heißt — auf Schritt und Tritt
Gras unter den Füßen, grünsten, duftigsten Sammtteppich 1 So
kritiklos verhalten sich die Menschen zu den unmittelbarsten
Sinneswahrnehmungen! Aber büßen sie es nicht selbst? Wie viele
Frischler haben den Ritten schon veriassen, jetzt wo er am
frischesten ist! Inzwischen kann ich mir nicht denken, daß er es
weniger ist, auch in den heißesten Tagen. Statt heißer Tage haben
wir doch heiße Stunden, aber ich empfinde sie nicht. Hier ist die
Hitze nicht heiß und die Kälte nicht kalt. Wie Champagner
schlürft sich diese feine moussierende Luft, wie Geriesel auf zartem
Eis und zarter Qlut, nervenprickelnd, ohne Last des Rausches. Der
Schatten schauert und die Sonne drückt nicht; ich suche Eines so
gern wie das Andere. Hier ist die Luft wirklich Aether. Auf dem
Rasen liegen die Baumschatten so flüssig, daß man grüne Seen zu
schauen glaubt. Daß die Matwie Seele hat, sagt man, vom Hören-
sagen, aber hier empfindet man's. Man geht allenthalben in einem
Ueberschuß von üeist und Seele; die ganze Erde geistert.
Auf dem Wege nach Lovis, den wir heute machten, sind
die Wälder oft förmliche Forste und stehen urwaldartig auf
allen Berghäuptem. Näher aber umgibt uns der Baumschlag in
lockeren, aufgelösteren Gruppen und läßt überall dem Kräutericht
der zartesten Farren, Alpenrosen, Preiselbeeren — Luft und Licht.
Es kommt zu Stellen, die wie ein Wunder aussehen. Der Ausdmck
des Sinnigen und Lieblichen geht bis zum Heiligen, man begreift
den >heiligen Hain« der Natur\'ölker und schämt sich des
Wortes Park.
Zufälle haben es gefügt, daß ich erst seit drei Tagen hier
bin. Acht Tage verweilte ich in Gratz, um die letzten Bogen eines
Buches zu korrigieren und zwei Tage widmete ich mich dem
Dr. Fischhof in Emmersdorf bei Klagenfurt. Erst am Dienstag
— 20 —
passierte ich nachmittags um halb vier die Bahnstation
Azwang.
Ich mußte ungewiß sein, ob die Frauen noch auf dem
Ritten oder schon in Bozen seien; nach Ihren Mitteilungen über
die Traubenkur, schien mir das Letztere wahrscheinlicher. Da
fragte ich die Offizianten der Station, die ja alle Rittener kommen
und gehen sehen, was sie über den Aufenthalt der Frauen wüßten
aber — more patria — wußten sie nichts. So fuhr ich nach Bozen
weiter. Erst bei Kräutner wurde ich informiert. Ich übernachtete
also in Bozen und fuhr nächsten Morgen früh mit dem 5.50-Zug
nach Azwang wieder zurück. Mit meiner schweren Reisetasche auf
dem Rücken schlich ich sodann gemächlich den hohen Berg
hinauf. >Der Esel an sich«, den Sie mir schon vorlängst ver-
sprochen, war demnach Esel genug, die Ehre meiner edlen Last
sich entgehen zu lassen, — was freilich mehr die Schuld der Um-
stände als seine eigene.
Die Rittener Colonie fand ich noch vermehrt um das Frl. L
aus Innsbruck mit Leidwesen, aber vermindert um den kleinen
Schwarmgeist v. V., der es vorgezogen, im Waffenglanze unserer
ruhmreichen Armee sich zu sonnen. Mögen die Herren Oesterreichs
bei dieser Gelegenheit, wie bei jeder andern, besiegt werden.
Möge der Sieger den Degen annehmen, den ein edler Gefangener
abschnallt und ihm zu Füßen legt! —
Maria Geburt war demnach mein erster Tag auf dem Ritten
und ich kam just zu dem kirchlichen Volksfeste des Ferkele-Tragens
zurecht. Als Nachmittagsspaziergang zeigte mir die Frau sogleich
die Erdpyramiden, wohin wir zu Vieren (mit der Schwägerin und
mit L.) promenierten. Abends beim Souper hätte ich am liebsten
Stenograph sein mögen. Jeder Charakter exponierte sich in seiner
Weise; die Stammutter des Hauses erklärte mit Sinn und Kraft
ihr Urchristentum; den Löwenanteil trug aber doch Ihre
Frau davon.
Die Schwägerin in ihrer gutmütig realistischen Weise hatte
das Wort hingeworfen, sie hätte ihrem Manne das Politisieren ab-
gewöhnen sollen. Sie würden dann viel freier und genußvoller
leben. Ein Wort gab das andere, — natürlich immer gut gemeint,
wie unter Menschen, die eines Herzens sind, aber zweierlei Köpfe.
Kurz, die alte Antithese von Realismus und Idealismus,
Da war Ihre Frau nun ein herrlicher Ritter des letzteren !
— 21 -
Die Lage Öiterreichs, das Bedürfnis nach Männern, der Mangel
derselben, das naturgemäße Cumulieren von Lasten, wenn mit der
ersten der Anfang gemacht worden, die öffentliche Geschichte und
Ihre 15jährige Privatgeschichte, die Wechselwirkungen und das
Bedingtsein Beider unter einander, das Alles gab in kurzen, raschen
Strichen augenblicklich ein Bild von unwiderstehlicher Ueberzeu-
gungsfähigkeit. Man sah den Mann in seinen Boden hineinwachsen,
auf die natürlichste Weise von der Welt, weil Boden und Keim ein-
ander entgegenkamen, Notwendigkeit des Schicksals, Wahl und
freie Ne gung des Individuums wurden ein Geflecht von festester
Textur, unzertrennbar und ununterscheidbar. Es war ein Genuß,
diese Tischrede anzuhören. Es war ein Meisterstück von Exposition.
Was mich aber am meisten entzückte, das war der Geist der
anspruchlosesten Naivetät, der über dem Ganzen schwebte. In Spree-
Sphären und Panke-Radien wäre das Alles mit Ostentation, mit
Emphase, mit einem verschwenderischen Aufwand von Selbstbewußt-
sein geschehen. Wie aber hier eine Frau die Ehre ihres Mannes empfand,
ohne eine Spur von Ehrgeiz, das war wohl em einziges Schauspiel.
Tausend Frauen hätten ihren Mann vielleicht ebenso vertreten,
aber nur mit dem Verstände; die Eine sprach das Verständigste
mit den Inspirationen des Herzens und als ob es gar nicht Ver-
stand wäre. Was könnte reizender sein ? Intelligenz ohne Philo-
sophie ist eins von den Geheimnissen des weiblichen Zaubers.
Die Frau mag jetzt freilich mehr als ihre >gute Stunde«, nämlich
ihre guten Tage und Monate haben. Sie ist seit dem Winter nicht
mehr zu kennen. Sie ist ganz Leben, Gesundheit, Heiterkeit
und Spannkraft.
^ Nehmen Sie diesen Brief hin — als einen Aphorismus,
denn wollte ich den Anspruch einer Beschreibung machen, so käme
ich nicht zu Ende. Leben Sie recht wohl und genießen Sie, nach
mancher Wolke, dieses goldenen Sonnenscheins!
Ihr treu ergebener
Ferdinand Kürnberger.
Der folgende Brief ist aus dem Hause Dr. Fischhofs an Frau
Kopp gerichtet und lautet :
Emmersdorf bei Klagenfurt,
Mittwoch den 13. Oktober 1875.
Theure, Verehrte!
Kaum finde ich diesmal einen Anfang meines Briefes. Ich
gebe Nachricht von mir — weiß, daß ich zu den raenschenfreund-
— 22
liebsten Herzen spreche, welche mir die innigste Theilnahme
schenken, — und kann doch keine gute Nachricht geben.
Schweigen aber darf ich auch nicht mehr. Ohnedies verschob ich
meinen Brief an Sie so lang als möglich und schrieb jeden
andern früher; an Sie wollte ich meine beste Meldung machen.
Aber der Stoff dazu bleibt aus. Er bleibt noch immer in der
Ferne. Ich hätte Sie gerne erfreut, aber muß nur froh sein, zwischen
Freude und Trübseligkeit einen Nullpunkt zu verzeichnen.
Am Sonntag vor acht Tagen verließ ich Bozen und hielt
meine erste Nachtstation, nicht, wie ich projektierte, in Niedern-
dorf, sondern auf den Rath der Frau v. Atzwang in Welsberg, wo
eine gute und billige Einkehr. Der Rath war gut und ich wußte
j.im Dank. Ich kam, mit einer der üblichen Zugsverspätungen in
Franzensfeste, nach halb 6 in Welsberg an und erhielt zu meinem
Abendessen just das, was mir am liebsten war — Forellen. Zwischen
der Hungerkur der bloßen Suppen und dem Diätfehler der
derberen Fleischspeisen, hielt das edle Fischlein den goldenen
Mittelweg und war das Beste, was ich brauchen konnte. Dieser
Glücksfall stimmte mich weich und ich verweilte auch noch den
nächsten Tag in meinem kleinen Capua. In der Wahl, morgens
um 7, oder abends um halb 6 mit dem Zug, womit ich ge-
kommen war, fortzufahren, zog ich das Letztere vor, um noch
einen Welsberger Mittag, d. h. noch ein Gericht Forellen zu ge-
winnen. Und es war gut und war ebenso billig als gut. Der Frau
von Atzwang meinen besten Dank für ihren guten Rath.
Abends um halb 6 fährt man nicht mehr weit; ich fuhr
bloß bis Lienz, wo es um 8 Uhr schon längst tiefe Nacht war.
Ich machte meine Nachtstation in der Post. Das ist ein großes,
frequentirtes, in Küche und Keller reich assortiertes Gasthaus
und doch mußte ich mit einem traurigen Löffel Suppe hungrig
zu Bette gehen und ging es mir in dem großen Lienz bei weitem
nicht so gut, als in dem kleinen stillen Welsberg. Auch in meiner
Krankengeschichte war die Nacht in Lienz böse. Das Jucken an
den Füßen trieb es mit einer Art Wuth, die Speicheldrüsen
überströmten von Galle und das Aufstoßen oder, eleganter gesagt,
Repetieren war schon mehr Mordbrennen als Sodbrennen. Es war
eine jämmerliche Nacht, eine echte Krankennacht.
Diese Nacht in Lienz stimmte mich um. Ich sagte mir, in
einem Zustande wie meiner, ist man noch kein Reisender, Noch
23 —
liegt der größte Theil der Reise vor mir, die Verpflegung in den
Gasthäusern kommt auf das gute oder auch böse Ungefähr an
und auf all meinen Schritten lauern Diätfehler. Mehr und mehr
gewann der Gedanke Herrschaft über mich, daß auf meiner Weg-
hälfte Klagenfurt und Dr. Fischhof, mein alter hochgeschätzter
Freund, recht ä propos daliegen, als die beste Gelegenheit, eine
Zwischenstation zu halten und wie in einem maison de sante
wenigstens das Aergste abzuwarten.
So sistierte ich denn meine Reise Ind kehrte bei Dr. Fisch-
bof ein, dem ein civilisirter Gast eben so willkommen ist, als
diesmal auch er mir zu Statten kommt Unsere Interessen ver-
einigten sich.
Ich liege nun am 9. Tage unter Dr. Fischhofs Dach. Mein
nächster Vortheil ist, daß ich den Nachtheilen entgehe und eine
geregelte Krankendiät führen kann, wie es im Gasthaus unmöglich.
Jeden Mittag mein eingemachtes Hühnchen mit Reis und abends
eine vortreffliche Fleischbrühe, gelegentlich ein blau gesotten es
Hechtlein oder ein Stück sauer gedünsteten Esterhazy-Rostbraten
und zwar Alles mit Takt und Sorgfalt schmackhaft und fein zu-
bereitet, das gibt wenigstens die Beruhigung einer zweckmäßigen
Ernährung ohne Diätfehler.
Freilich ist es auch Alles. Daß die innerliche Besserung
vorschreitet, glaube ich nicht. Wohl sieht Dr. Fischhof täglich
meinen Augenstern an und möchte sich einreden, daß das Weiße
schon um eine Nuance weniger gelb, aber — ich glaube es nicht.
Kann denn die Galle einseitig zurücktreten ? Es müßte sich die
Gesammtfarbe bessern, aber eine gewisse andere Farbe ist noch
so schauderhaft wie auf dem Krankenlager in Kaltem. Nicht im
Mindesten bricht sie sich, wie für die Ewigkeit gegossen steht sie
da. Ich habe mir angewöhnt, die Augen zu schließen und sie gar
nicht mehr anzusehen; ich halte den Anblick faktisch nicht aus. Der
Ekel an dieser Farbe würde mich allein schon zum Kranken machen.
Damit ist aber auch gesagt, daß ich diese Besserung
unmöglich abwarten kann. Das wird noch lange dauern. Und so
ist der Beschluß, nächsten Freitag die Reise denn doch wieder
fortzusetzen. Ach, ich komme noch früh genug zum Wiener Gast-
hausleben, vor dem ich mich jetzt schon füichte. Ich nehme mir
freilich vor, den »E. C.« zu frequentiren, aber — Gasthaus ist
Gasthaus. In Einem wird man schneller und wohlfeiler, im Andern
24 -
langsamer und theurer vergiftet. Das ist vielleicht der ganze Unter-
schied zwischen dem »E. C.< und dem Sabellkeller.
Da ich keinen Brief schreibe, sondern nur ein miserables
Krankenbulletin, so schließe ich, nachdem ich von jedem andern
Organe mehr gesprochen, als von meinem Herzen, das Ihre
Freundschaft so warm und dankbar erwidert.
Ich grüße Sie und Ihr ganzes Haus mit meinen besten
Grüßen und empfehle mich Ihrem theilnehmenden Angedenken.
Ich bitte Stie aucti, wenn Sie Freund Reschauer sehen, ihm
meine herzlichsten Grüße zu melden und wieder könnte Reschauer
in der Lage sein, Freund T. zu sehen, an den ich ihn gleich-
falls bitte, meine Grüße zu bestellen. Das gethan, dürfte von
meinen Wiener Freunden dann keiner mehr übrig sein, den ich
ohne Nachricht gelassen und ich kann vielleicht mit einem brief-
schuldenfreien Gewissen nach Wien zurückkehren. Zum erstenmale
als Ausflügler thue ich es gerne.
Mit wiederholtem Ausdruck meiner treuesten Ergebenheit
Der Ihrige
Ferdinand Kürnberger.
P. S. In Gratz verweile ich wohl wieder ein paar Tage.
Auch zwischen Gratz und Wien gedenke ich in Mürzzuschiag
Station zu halten. Wer mir gesagt hätte, daß ich Reschauer nicht
mehr treffen würde ! Um 3 bis 4 Wochen hat sich Alles verspätet !
«
Aus Radkersburg, wo Kürnberger wahrscheinlich bei O. Fällte
zu Gast war, sandte er an Dr. Kopp den nachstehenden Brief:
Schloß Steinhof bei Radkersburg,
Freitag den 20. Oktober 1876.
Verehrter Freund !
In diesen Tagen werden Frau und Kind zurückgekehrt sein
und die heilige Familie ist wieder komplet : Die Mutter Anna, die
allerseligste Jungfrau Maria und der Nährvater Josef. Als frommer
Mann will ich nicht ermangeln, die heilige Familie anzubeten,
mit meinem frommen Gruße zu verehren und in Gedanken und
Worten meine Andacht zu ihr zu verrichten. Ich hoffe, die heilige
Familie erfreut sich des irdischen Gutes der Gesundheit und ist
im besten profanen Wohlsein beisammen. Gerne würde ich den
heiligen Josef — wenn der Reichsrath schon einberufen wäre —
seinen Lilienstengel als Lilienbambus schwingen sehen ; aber dieses
gottgefällige Schauspiel ist meinen frommen Augen einstweilen
— 25 -
noch versagt. Bis dahin vergnüge ich mich denn auf Gut Steinhof
mit — der Weinlese und Weinpresse, was frommen Augen bekannt-
lich auch ein gottgefälliges Schauspiel zu sein pflegt.
Auf diesem Out Steinhof befinde ich mich — beiläufig
gesagt — mindestens so gut wie auf dem Ritten, das Höchste,
was ich sagen kann ! Das Gütchen hat den Vortheil, daß man
vom Gipfel des Wohlbefindens zur Weinlese nicht herab-
zusteigen braucht, denn hier ist Alles beisammen : Gipfel, Wein-
lese und Wohlbefinden. Freilich bleibt der Gipfel der Windischen
Büheln tief unter dem Gipfel des Rittens ; aber — was ich immer
sage: es schadet gar nichts, um einen Kopf kürzer zu sein ! Ich
verkürze sehr gerne Köpfe, zumal wenn es andere sind.
Engelzungen können es nicht aussprechen, wie schön, wie
ununterbrochen schön der Herbst hier war. Erst gestern hat sich das
Wetter geändert und es lagert sich seit gestern und heute, zwar
kern Landregen, aber ein Landnebel ein. In den ersten Tagen der
nächsten Woche beende ich meinen hiesigen Aufenthalt, halte eine
kleine Station in Gratz und bm in den letzten Tagen in Wien —
d. h. liege der heiligen Familie zu Füßen.
Bis dahin — meinen Gruß zuvor.
Mit Freundschaft und Hochachtung
Ferdinand Kümberger.
P. S. Verzeihen Sie uns atmen windischen Kaffem. Am
20, schreibe ich >wenn der Reichsrath schon einberufen wäre« im
Conditionell ; aber die so eben ankommende Zeitung belehrt mich,
daß er bereits am 19. zusammentritt, — ein Positiv ! Ich möchte
ihm diesen Positiv um so weniger rauben, da es wohl das einzige
Positive dieser erlauchten Körperschaft ist.
Aphorismen *)
Von Karl Kraus
Die Intelligenz eines Weibes mobilisiert alle
Laster, die zu weiblicher Anmut versammelt sind.
•
Interessante Frauen haben vor den Frauen voraus,
daß sie denken können, was uninteressante Männer
vor ihnen gedacht haben.
*) Aus dem .Simplicissimus'.
294-295
— 26 —
Zu den schlechten Beispielen, die gute Sitten
verderben, gehören die guten Beispiele. Glaubt man,
daß ein Feigling hundert Mutige verführen könnte?
Aber noch ehe einer dazu kommt, seinen Mut zu
beweisen, haben sich an ihm schon hundert als Feig-
linge bewährt.
*
Die Finnen sagen: Ohne uns gäb's keinen
Schinken 1
Die Journalisten sagen: Ohne uns gäb's keine
Kultur!
Die Maden sagen: Ohne uns gäb's keinen
Leichnam!
Gedichte
Von Bise Lasker-^Schüler
Die Königin
Für Kete Parsenow
Du bist das Wunder im Land,
Rosenöl fließt unter deiner Haut.
Vom Gegold deiner Haare
Nippen Träume;
Ihre Deutungen verkünden Dichter.
Du bist dunkel vor Gold —
Auf deinem Antlitz erwachen
Die Nächte der Liebenden.
Ein Lied bist du
Gestickt auf Blondgrund,
Du stehst im Mond ....
Immer wiegen dich
Die Bambusweiden.
^ '^T —
Heimweh
Ich kann die Sprache
Dieses kühlen Landes nicht
Und seinen Schritt nicht gehn.
Auch die Wolken, die vorbeiziehn,
Weiß ich nicht zu deuten.
Die Nacht ist eine Stiefkönigin.
Immer muß ich an die Pharaonenwälder denken
Und küsse die Bilder meiner Sterne.
Meine Lippen leuchten schon
Und sprechen Fernes,
Und bin ein buntes Bilderbuch
Auf deinem Schoß;
Aber dein Antlitz spinnt
Einen Schleier aus Weinen —
Meinen schillernden Vögeln
Sind die Korallen ausgestochen,
An den Hecken der Gärten
Versteinern sich ihre weichen Nester.
Wer salbt meine toten Paläste —
Sie trugen die Kronen meiner Väter,
Ihre Gebete versanken im heiligen Fluß.
— 28 —
Berliner Leseabende
Am 13. Januar habe ich im »Verein für Künste
zum erstenmal aus meinen Schriften gelesen, und
zwar aus dem Buch »Sprüche und Widersprüche«
und die »Chinesische Mauer«. Über diesen Abend
schrieben:
Das , Berliner Tageblatt':
Karl Kraus, der Herausgeber der Wiener .Fackel' stellte sich uns
gestern abend auf Einladung des Vereins für Kunst im Salon Cassirer zum
ersten Male als Redner vor. Dieser Mann, der mit der Flamme in
Wahrheit auf du und du steht, erschien am Vortragspult als ein
kleinerer, glattrasierter Herr, der durch seine goldene Brille sehr
gutmütig und harmlos ins Publikum blickte. Freilich, mit dem ersten
Wort ändert sich der Eindruck. Karl Kraus ist ein ungeheuer nervöser,
energischer Sprecher, ein Autor, der seine Gedanken im Vortrage noch
einmal erzeugt, ein Pointeur ersten Ranges.
Eine solche Beherrschung des Ausdrucks ist zweifellos gerade
bei ihm aus seinem innersten Wesen, so wie es sich heute darstellt,
zu erklären. Denn er ist vom Tageskritiker, der ursprünglich ganz
allein nur auf das Inhaltliche ausging, längst zum künstlerischen
Betrachter der Lebensprobleme emporgewachsen, zu einem Betrachter,
dem die Form zum Leitstern geworden ist. Seine Aphorismen >Sprüche
und Widersprüche«, aus denen er zunächst einige Proben gab, beweisen
in ihrer geschliffenen, funkelnden Kette diesen Triumph des Wortes
über ihn. Er brauchte es nicht noch selbst zu sagen, daß er sich mit
Stolz zu denen rechnet, die aus der königlichen Hand der Sprache ihre
Gedanken empfangen.
So entspricht das Bild, wie es der Hörer von einer so unge-
wöhnlich reichen und glänzenden Individualität empfängt, jener nicht
mehr völlig beherrschten Art des geistigen Produzierens. Man war
hingerissen von einer Schilderungskunst, die ein Kindheitsbild mit
suggestiver, dämonischer Kraft hervorzauberte. Man folgte geradezu mit
ästhetischem Entzücken den kritischen Florettstichen gegen das Wiener-
tum; man hatte fast eine grausame Freude über die Sicherheit, mit der
ein Meister des literarischen Hiebes allem Philiströsen, der herrschenden
Moral, der Religion, der sexuellen Lüge und den nicht genehmen
künstlerischen Richtungen Wunden über Wunden versetzt.
Aber dann plötzlich hatte man die Empfindung: an dieser Stelle
hat das Wort den Inhalt mitgerissen, hier spricht der Künstler, der
Visionär, dem eingestandenermaßen das schwere, nüchterne Gedanken-
fundament nicht mehr alles bedeutet.
Dieser Eindruck wurde im zweiten Teil seines Programms durch
den Vortrag der »Chinesischen Mauer«, einer Meditation über den Fall
der in Chinatown ermordeten Else Siegl, nur befestigt. Man bewundert
zunächst die Gedankentiefe, mit der hier die einfache Mordtat zum
weltumspannenden Kulturproblem erhoben wird. Aber wenn dann die
- 29 —
Sät2e, die Bilder immer leidenschafilicher daherjagen, wenn das
Schreckgespenst eines Riesenchinesen leibhaftig ausgemalt wird, der das
ganze moralinkranke Abendland mit würgender Hand hinmordet und
in den > Koffer der Verwesung« zerrt, so versagen wir die geistige
Gefolgschaft und bestaunen nur noch den Phantasiemensclien und
außerordentlicher Gestalter.
Ein kleines, gewähltes Publikum lauschte dem Redner mit
wachsendem Interesse und spendete ihm lebhaften Beifall.
Die , Vossische Zeitung*:
Vorlesung Karl Kraus. Ein Wiener >Raunzer< hat gestern
im Verein für Kunst gelesen — einer von denen, deren Raunzerei Kraft
genug hat, um allgemach die lokalen Schlagbäume zu überschreiten und
sich zur Weltraunzerei auszuweiten. Der Ausdruck ist rein wienerisch
gleichwie der Typus. Wir haben sie auf norddeutschem Boden nicht,
diese schmälenden, scheltenden, angriffslustigen und doch so scheuen
Naturen. Wienertum, Junggesellentum und Raunzerei vereinigt sich in
ihnen zu einem Dreiklang, in dem die einen eine unholde Schärfe, die
anderen eine über den Alltag hinaustragende Harmonie vernehmen. Karl
Kraus, der .Fackel' -Kraus, ist auf demselben Boden gewachsen, wie
Grillparzer, Bauemfeld, Kümberger und viele, viele andere, die ihren
Unmut entweder (mit weniger Begabung als er) im Schrifttum oder,
wenn sie das nicht können, an den Stammtischen der Wiener »Beiseln«
(wie man dort die kleinen Gasthäuser nennt) austoben. Einsame Spatzen,
die der Welt vorpfeifen, daß sie auf sie pfeifen. Antagonisten der Wiener
sorglosen Weltfreudigkeit. Leute, denen die Fee an der Wiege auf-
getragen hat, gegen den Strom zu schwimmen, bis sie an die Quellen
kommen, die auch nur Wasser sind. Karl Kraus ist ein tüchtiger
Schwimmer. Rechts und links teilt er kräftig die Wogen, daß es nur so
schäumt und glitzert. Ein Künstler, dessen Prosa wie geschliffener Stahl
funkelt. Blitzartig jagen einander überraschende Einfälle, Thesen und
Antithesen, aufgereiht auf dem Grunde einer kunstvoll ungekünstelten
Sprache. Er las gestern etwa eine halbe Stunde lang Aphorismen, dann
ebenso lang eine Betrachtung über die Ermordung der Else Siegl in
New-York. Ein Schock Aphorismen oder mehr auf einmal ist schwer
zu vertragen. Selbst dem Leser, der sich Zeit lassen kann, sein Gehirn
auf stets neue Pointen einzustellen, kann solche Oberfülle leicht zum
Überdruß werden. Dem Hörer schwirren sie wie eine Schwalbenschar
ums Haupt. Ein einzelner Aphorismus, wenn er gut ist, wärmt den
Kopf, ein Aporismenregen wirkt wie ein Sturzbad. Ein Genuß war das
also nicht. Die Else Siegl-Phantasien dürfen als das hingenommen
werden, was sie sind : als Phantasiestücke. Kraus greift zur Palette, mischt
das Weiß der kaukasischen Rasse mit dem Gelb der mongolischen, tut
die Blutröte hinzu und das düstere Grau des Grauens und macht daraus
ein Bild der brünstigen Umschlingung der gesamten weißen Frauenwelt
durch die gelben Schlingels. Eine gelbe Gefahr Krausscher Prägung.
Weltuntergang im gelben Sumpfe, worin Religion, Moral, Kultur und
wie die schönen Dinge sonst noch heißen, rettungslos versinken. Ober
dem Schreckenssumpfe aber schwebt Karl Kraus und lacht uns alle aus.
30
Kraussche Götterdämmerung, ein grandioses Gemälde, in dem die Glut
des Dichters steckt und die Wollust des — Raunzers. Wer so schreiben
kann, wie Karl Kraus, darf auch so etwas schreiben ....
Der jBerliner Lokal-Anzeiger' und der
,Tag':
Im Verein für Kunst las gestern abend Karl Kraus, der
bekannte Wiener Publizist, eine Reihe von Aphorismen vor, die zwei
jüngst erschienenen Bänden (?) entnommen waren. Es ist nicht so ganz
leicht, eine große Anzahl Aphorismen hintereinander zu hören, selbst
wenn sie zum größten Teile frappant und geistreich sind, gut vorgelesen
werden und die Sinnesart eines ungewöhnlichen Mannes in sprung-
haften Reflexen zu enthüllen scheinen. Wie Bälle, die man nicht zurück-
werfen kann, füllen sie uns die Arme; aber wenn man später zusieht,
sind die meisten auf rätselhafte Weise wieder forlgeflogen. Indessen
kommt es gerade hier nicht auf die Menge an, und einzelnes — wie
die Vergleichung des Künstlers, der Konzessionen macht, mit einem
Menschen, der seine Sprache in der Fremde gebrochen redet — hakt
sich trotz allem in der Erinnerung fest. Natürlich war man neugierig,
zu vernehmen, was der Vorleser über die Frauen sagte; und wenn er
feststellte, daß alle Berliner gehen und alle Wiener stehen, und diese
Beobachtung satirisch abwandeil, so war er heiterer Aufmerksamkeit
sicher. Eine Wendung zum Elegischen, zum Lyrischen fast, war in dem
kleinen Prosagedicht vom Aussterben der Schmetterlinge nicht zu ver-
kennen. Jedenfalls hatte man eine interessante Bekanntschaft zu ver-
zeichnen.
Daß aber in Berlin auch unter dem Niveau des
Publikums geschrieben werden kann, beweist die
folgende Kritik, deren Verfasser ich so wenig kenne
wie die der vorhergehenden und aller andern.
Der ,Berliner Börsen-Courier':
Vor demVerein fürKunst erschien gestern abend im Salon
Cassirer eine interessante Wiener Persönlichkeit, der Herausgeber der
, Fackel', Karl Kraus. Er las zuerst eine Reihe von Aphorismen vor. Sie
frappierten durch ihre Eigenart, ihre originelle Bizarrerie, vielfach durch ein
Wetterleuchten des Tiefsinns, dem man nur in der Eile nicht gleich
nachgehen konnte. So war es anfangs. Dann beging aber Kraus
einen seltsamen, einen unbegreiflichen Fehler: er gab das
Geheimnis seiner Kunst preis, er enthüllte seine >Mache< wie
ein Taschenspieler, der das Wie seiner Tricks dem Publikum aufdeckt.
Es geschah das durch eins seiner Aphorismen selbst. Er sagte darin:
>Ich beherrsche die Sprache nicht, die Sprache beherrscht mich. Ich
hauche ihr nicht meine Gedanken ein, sie füllt mich mit ihnen!« Mit
diesem Geständnis entlarvte sich Kraus, wenigstens mit Bezug auf seine
aphoristische Kunst. Man hatte nunmehr nur nötig, bei jedem nachfol-
genden Apercu die Probe auf das Exempel zu machen, um zu finden,
31
daB dit Sache ziemlich leicht ist, daB Jeder auf diese Art ganze Bände
mit geistvollen Oedankenblitzen füllen könne. Man nehme nur irgend
einen Satz und schüttle die Worte durcheinander. Das wird irgend ein
groteskes Etwas ergeben, das verblüfft, das Sinn hat oder Sinn zu haben
scheint. Zum Beispiel: Anstatt des Spruches, >Am Grabe pflanzt der
Mensch die Hoffnung auf», sagte man: Hinter jeder Hoffnung gähnt
das Grab auf. Nicht mit dem Tode beginnt erst das Leben, sondern
mit dem Leben beginnt der Tod — oder: Mit jedem Beginnen töten
wir das Leben, oder auch: Mit jedem wahrhaften Leben töten wir den
Tod. Der Weg zu guten Vorsätzen führt durch die Hölle. Wer den
Taler nicht achtet, ist keinen Groschen wert. Doch nehmen wir einmal
eins dieser Krausschen Aphorismen selbst I Er sagt: Der Mann schaut
in den Spiegel aus Eitelkeit, die Frau, um sich ihrer Persönlichkeit zu
vergewissern. Gut, sehr gut! Aber hat es nicht umgekehrt dieselbe
Berechtigung? Oder wenn man behauptet: Wenn eine eitle Frau sich
eines Mannes vergewissem will, so beschaut sie ihre Persönlichkeit im
Spiegel, oder auch wieder umgekehrt. Oder noch schöner, die Eitelkeit
der Frau spiegelt ihre Persönlichkeit am liebsten in den Versicherungen
des Mannes I — Doch genug davoni Jedenfalls mußte einem damit der
Geschmack an allen weiteren Krausschen Aphorismen einigermaßen ver-
dorben sein. — Den zweiten Teil des Abends füllte die Vorlesung der
> Chinesischen Mauer«, einer Kette aneinandergereihter Aphorismen, in
denen der Verfasser auf dem Wege vom Himmel durch die Welt zur
Hölle so ziemlich Alles, was da kreucht und fleucht, abhandelt und
abkanzelt; ein Mephisto, der Alles verneint, und das in einem Ton, in
einer Form, gegen die des Junker Satans »unanständige Geberde« noch
hoffähig erscheint.
So etwas von einer parodistischen Begabung,
so schlagfertig und unerschöpflich, haben wir nicht
einmal in Wien. Ich hätte natürlich nicht die Un-
vorsichtigkeitbegangen, mein Geheimnis preiszugeben,
wenn man mir rechtzeitig gesagt hätte, daß solch ein
Durchschauer im Saale sitzt. Denn schließlich hatte
ich doch iram^r noch die HoEFnung, dafi man mich
nicht verstehen werde. Und dabei muß ich zugeben,
daß die Aphorismen, die der Mann vorschlägt, sprach-
lich nicht schlechter sind als die, die er aus meinem
Munde gehört haben will.
Einer, vor dem ich zwar nicht einen Schwindel
verraten habe, aber der mir immerhin das Geständnis
einer Schwäche abgenommen hat, schreibt in den
»Deutschen Nachrichten*:
Vo rtrag Karl Kraus.
Karl Kraus, der Herausgeber der Wiener , Fackel', las als Gast
des >Vereins für Kunst« im Salon Cassirer vor und wurde so persönlich
32
auch dem Berliner Publikum bekannt. Fast wohlwollend freundlich wirkl
das scharf geschnittene, intelligente Gesicht des geistreichen Satirikers,
der auch als Vortragender ein feiner Pointeur ist, bei dessen Worten
den Zuhörer das Gefühl beherrscht, daß ein ehrlicher Kämpfer, ein Mann
mit seiner ganz von unerschütterlichem ethischen Ernst erfüllten Persön-
lichkeit hinter seinem Werke steht. Klar formuliert und scharf heraus-
gearbeitet sind die Antithesen und Apercus, die Kraus in seinem Buche
>Sprüche und Widersprüche« zusammengestellt hat und wenn sein Leser
trotz der aufrichtigen Freude an der schön gepflegten Form und der
gedanklichen Tiefe des Gesagten nur selten mit dem wunderlichen
Menschen, der sich den Kampf gegen ungezählte nichtige Unzulänglich-
keiten zur Lebensaufgabe gemacht hat, eins ist, so bleibt doch von der
ersten Begegnung die Erkenntnis zurück, daß Kraus im Gegensatz zu
vielen anderen mit Recht bemerkt, daß es sehr leicht ist, im Wortspiel
banale Weisheiten in ihr Gegenteil zu kehren, daß man aber einen
Dulderweg hinter sich haben muß, um landläufige Sätze in ihr Gegen-
teil umkehren zu dürfen.
Die Sexualmoral, die Politik, die Rassenfrage, die zwischen weiß
und gelb spielt, die Gerichtsbarkeit und natürlich der Journalismus sind
die latenten Fragen, die ihn am meisten erregen und zu denen sein
aufflammendes Temperament die schlagendsten Randglossen zu machen
versteht. — Es ist gut, daß uns Kraus selbst das Geständnis macht,
daß er sich als Sklave der Sprache fühlt und sich von ihren Formen
neue Wahrheiten zutragen läßt. Zu offenkundig klafft hier die Lücke in
seinem Denken, als daß sie der kritische Zuhörer übersehen könnte. Es
ist vielleicht die feinste Pointe in Kraus' Lebenswerk, daß er, den sein
autokratischer Instinkt zum einsiedelnden Herrscher befähigen könnte,
im Grunde nur ein Diener am Worte ist und daß er der Sprache mit
fiebernden Händen nimmt, wenn er sie mit vollen Armen zu beschenken
glaubt. So wird unter seinen Händen die Grammatik zur Logik und
diese in der Sprache, nicht in seinem Hirn geborene Logik zur Unter-
lage einer Expedition, die er unternommen hat und während derer er
als Seelenforscher zwar verblüffende, aber nur scheinbare Wahrheiten
entdeckt.
Aus einem Angriff, den ein Wiener in der
, Schaubühne' veröffentlicht hat, der ich kurz vor-
her wegen ziramerunreinen Verhaltens das Tausch-
exemplar entziehen mußte, zitiere ich den folgenden
Passus :
. . . Die .Fackel' aber ist an jenem Punkt angelangt, wo (wie
Herr Kraus vom ,Simplicissimus' sagte, bevor er dort Mitarbeiter
wurde) jede Revolution in eine zielbewußte Administration mündet. . .
Es handelt sich, wie man sieht, um einen
pathologischen Fall. Die administrative Bewußtlosig-
keit der , Fackel*, die in der Abstoßung der Käufer
und Annoncenwerber, in der Vernichtung der
- 33 -
legitimsten Gewinnmögiichkeiten, in der geistigen
Willkür auf Kosten jeder technischen Rücksicht,
Beispielloses leistet, ist zu notorisch, um einer ge-
richtlichen Bestätigung zu bedürfen, und die Ver-
urteilung eines Unverantwortlichen oder die peinliche
Feststellung seiner Unverantwortlichkeit kann mich
nicht reisen. Und gewiß nicht die Grausamkeit einer
polemischen Antwort. Hätte der Fall nicht seinen
besondern Hintergrund, so könnte ich sagen, es sei
eine Wiener Sache, und das Urteil eines der zahllosen
Schwachköpfe, die in Wien seit elf Jahren ihre Fassungs-
kraft an mir messen, oder die Gesinnung eines der vielen
Hämlinge, die hier ihre Nichtpersönlicbkeit an mir
beweisen, und die schliefilich alle zu meiner Vor-
lesung hätten reisen können, bilde kein Element der
kritischen Stimmung Berlins. Oder der heifie Wunsch,
sich an mir emporzublödeln, sei zu offenbar, und
wenngleich ich mich der Pflicht nicht entziehe,
mit den günstigen auch die ungünstigen Kritiken
abzudrucken, so dürfe ich mich brüsk auf den Stand-
punkt stellen, das totzuschweigen, was nur durch
mich lebt und von mir leben möchte. Niemand
aber kann mir zumuten, daß ich der Pathologie
jenen Raum zur Verfügung stelle, den ich für die
typischen LebensäuBerungen der Dummheit bereit
halte. Daß junge Burschen aus einer unver-
ständigen Verehrung für meine Geste durch irgend-
welchen Rückschlag zu einer unverständigen Kritik
meines Inhalts gelangen, bin ich gewohnt ; und ich
brenne weiter, wenngleich die Motten dagegen sind.
Daß talentierte Jünglinge ihre ersten journalistischen
Gehversuche machen, indem sie mich stampfen, ist
mir bekannt; und ich bleibe stehen. Sie bedenken
nie, daß zum Angreifen eines Angreifers zwei
gehören. Ich bin ja da, aber wo ist der andere,
nachdem er mich bezwungen hat? Die Überhitzungen
solcher Epheben, die mit der Stimme ihre Ansicht
über mich mutieren, muß ich aushalten. Und
niemand, der meine Bereitschaft kennt, dem nichtig-
34 —
sten Anlaß zu viel Ehre zu erweisen, sobald mir
dazu etwas einfällt, wird von mir verlangen, daß ich
hysterische Exzesse protegiere. Ich würde sie selbst
dann nur bedauern, wenn die gefährliche Drohung,
»die Geschichte der ,Fackel' zu schreiben« — so
etwas tut man, aber man sagt es nicht — aus-
geführt werden sollte. Bis dahin hat's lange Weile.
An der freilich meine Lektüre der , Schaubühne'
nicht mehr beteiligt sein wird, weil ich, wie gesagt,
diesem Organ des psycholüo:isch vertieften Kulis-
sentratsches das Tauschverhältnis gekündigt habe.
Der Herausgeber, ein entzückter Leser der , Fackel',
der nur den B'ehler hat, in seiner Zeitschrift das
qualligste Wiener Literatentum zu beherbergen,
hat sich leider entschlossen, aus dessen unverant-
wortlichster Partie die Revanche für mein lieb-
loses Vorgehen zu beziehen. Der Mann hat —
das ist bekannt — ein vorzüglichej- Gedächtnis.
Aber die , Schaubühne', die längst den Anspruch ver-
loren hat, als moralische Anstalt betrachtet zu werden,
will wenigstens den Ehrgeiz bewahren, im Revolverton
mit der schlimmsten Wiener Pikanterienpresse zu
konkurrieren, Sie hält es mit den Komödianten, die
die Ehre der Schriftsteller niederbrüUen, sie läßt
einen Mann von Wert wie S. Lublinski von einem
Witzbold belästigen, und sie hat sich jetzt
dazu hergegeben, mir durch einen Kindskopf
Spekulation nachsagen zu lassen. Nur damit nicht
erwachsene Unmündigkeit mir auch Vertuschung
vorwerfe, zitiere ich aus dem hysterischen Anfall
die heftigsten Einzelheiten: daß ich der »Wiener
Erfinder des Geschlechtsverkehrs« sei, ein Poseur,
ein »kleiner, emporgekommener Literat«, der vom
Berliner Publikum nicht den Dank empfing, den
er erwartet hatte, daß mein Blick »stechend und
tückisch«, mein Haar »in die Stirn gekämmt«,
daß ich »ein Schmeck sei, dem Sentimentalität
durch Mißgunst ersetzt ist«, dem Schreiber »zuwider«,
daß die Chinesische Mauer zwar »aus künstlerischer
— 86 —
Inspiration geboren <, daß ich aber »der Oicar Blumen-
thal von heute und vielleicht sogar von morgen auch«
sei, und was dergleichen logische und witzige Defi-
nitionen mehr sind, die so ein nicht mehr verliebter
Tor verpufft. Wer auf den Rest neugierig ist, möge
sich die , Schaubühne* kaufen. Denn obschon ich,
der ja die , Fackel* nach den Wünschen der
Aboanenten und Inserenten schreibt, administrativer
Zielbewußtheit hinreichend verdächtig bin, so lasse
ich doch auch einem andern Herausgeber gern etwas zu-
kommen. Und wie viel liefi3 sich erst mit einer ganzen
Geschichte der .Fackel* verdienen 1 Den jungen
Leuten gehts allen gut, die mit mir anfangen;
nur schade, daß sie auch mit mir aufnören. Es
wird nichts draus. Man verdient sich seine Sporen,
aber nachher liegt man im Sand. Ohne mein
Hinzutun, auf Ehre. Denn es ist kein publizistisches,
sondern ein pädagogisches Problem, das bedauerns-
werte Väter beschäftigen sollte. Und vielleicht ein
psychiatrisches. Denn wenn wir durch all die Jahre
hören, daß ein junger Mensch in Wien herumgeht, der
alles, was ich schreibe, auf sich bezieht, so fassen wir
berechtigte Zweifel, ob ein gekränkter Heraus-
geber einen guten Griff getan hat, als er just
solchen Kenner auf mich losließ. Ich warte immerzu
auf den Feind, der außer dem Vergnügen, mich
zu . hassen, noch eine individuelle Existenzberech-
tigung hätte. Dann würden die Hiebe, die ich
austeile, auch mir ein Vergnügen sein! Auf ein pole-
misches Ffühlingserwachen einzugehen, wäre pein-
lich. Das 1 Männern der Knaben«, wie Herr Harden
(den ich nicht aus Liebe hasse) es nennt, interessiert
mich auf dem Theater, nicht in der »Schaubühne*.
Auch nicht in einer Broschüre. Es könnte sich — ich
prügle schließlich auch aus Erbarmen — zur Kinder-
tragödie auswachsen!
Nach diesem Zwischenfall fahre ich in der
Zitierung der Berliner Kritik fort. Die ,Zeit am
Montag' schrieb:
Ot)
Ein Kulturkämpfer. In Wien kämpft seit über zehn Jaliren
mit fast übermenschliclier Kraft und Ausdauer ein Mann gegen alles das,
was der Durchschnittsmensch der Gegenwart > Kultur« nennt. Er gibt
eine Zeitschrift, ,Die Fackel', heraus, ein Organ, das — fast aus-
schließlich vom Herausgeber selbst geschrieben — an Kühnheit und
Selbständigkeit seinesgleichen sucht. Mit dieser Fackel leuchtet Karl
Kraus der > Journaille«, der Moral, der Sittlichkeit und mit besonderer
Vorliebe auch dem Generalpächter dieser und aller anderen Kultur-
momente, Herrn Maximilian Harden, mit einer Dialektik heim, deren
funkelnde Schärfe nicht einmal von der kristallenen Klarheit seines Stils
übertroffen wird. Im besonderen liegt Kail Kraus seit Anbeginn seines
Kulturkampfes in heftiger Fehde mit der > Kriminalität«, die sich der
»Sittlichkeit« als Büttel bedient, um gemeinschaftlich mit ihr das Recht
abzumurksen. Auf diesem Gebiete hat er Unvergängliches vollbracht;
erst späteren Generationen wird es ins Allgemeinbewußtsein dringen,
was dieser Mutige für Recht und Menschentum geleistet hat. Sein Werk
»Sittlichkeit und Kriminalität« ist das Dokument eines wahrhaft
überlegenen Geistes, der von der hohen Warte einer in sich starken und
glühenden Persönlichkeit die Vorgänge auf dem Theater unserer Kultur
an sich vorübergleiten läßt. Man schlage einmal den Band »Sittlichkeit
und Kriminalität« auf und lese das Kapitel >Ein Unhold«. Hier hat
Kraus gelegentlich eines kriminellen Falles mit Meisterschaft die em-
pörende Gemeingefährlichkeit der Strafgesetze und deren Anwendung
durch »gelehrte« Richter aufgezeigt — eine Rechtspflege, gegenüber
welcher zuweilen die Lynchjustiz ein Ziel aufs innigste zu wünschen
wäre, da sie ihr Opfer wenigstens auf der Stelle vernichtet, anstatt es
jahrelanger, ja selbst lebenslanger Grausamkeit auszuliefern. — Die
Gerichtspsychiatrie nennt Kraus einmal das unterhaltendste Gesellschafts-
spiel und zum Thema der berüchtigten Unzuchtsparagraphen äußert er
sich wie folgt: »Der Gesetzgeber, der heute so ahnungslos am Geschlechts-
leben herumstümpert, könnte sich wohl nützlich machen, wenn er ins
freie Feld der Lust die Vogelscheuche des Paragraphen stellte, aber um
nur drei Rechtsgüter zu schützen: die Gesundheit, die Willensfreiheit
und die Unmündigkeit.« Daß ein Mann von dieser Artung vom Gros
der Reporter mit Elan totgeschwiegen wird, versteht sich von selbst
und ist neben ihrer Befürchtung, gelegentlich selbst einen Hieb abzube-
kommen, zum nicht geringen Teil wohl auch in der bitteren Erkenntnis
der eigenen Unfähigkeit begründet. So ist es denn auch erklärlich, daß
die Mehrzahl der Blätter, die mit Wonne halbe Spalten über Gesang-
vereinsfestlichkeiten berichten, von Kraus keine Notiz nahmen, als er
am Donnerstag bei Cassirer aus seinen Schriften vorlas. Lediglich das
, Berliner Tageblatt' brachte es über sich, in bescheidenen Grenzen dem
Geist zu geben, was des Geistes ist . . .
Der zweite Vortrag hat am 17. Januar über
Einladung des Vereins »Freie Studentenschaft
der Universität Berlinc — gleichfalls im Salon
Cassirer — stattgefunden. Ich las, vor einem unge-
wöhnlichempfänglichen Auditorium, Aphorismen, »Die
— 37 —
Entdeckung des Nordpols«, die »Molybdänoraantie«
(aus der ersten Harden-Schrift) und zum Schluß aus
dem Harden-Lexikon.
Ära dritten Abend — im iVerein für Kunst« —
am 20. Januar, las ich einige Aphorismen, den >Fort-
schritt«, die >Welt der Plakate« und die >Chinesi-
sche Mauer«. Ober diesen Vortrag erschien noch ein
Bericht in der , Deutschen Tageszeitung':
Karl Kraus aus Wien, der Fackel-Kraus, von dessen eigenarli-
gem Schaffen und Wesen wir unsere Leser nicht ungern wiederholt unter-
richtet haben, las am Donnerstag im Kunstsalon Cassirer Aphorismen
und Satiren vor. Die sehr elegant in Stahl gearbeiteten Gedanken des
Wiener Gastes, lauter mit Dynamit gefüllte Kunstwerke, wirken vom
Katheder aus nicht mit der dämonischen Gewalt, die sie auf den Leser
ausüben. Nur die gröberen, die handgreiflichen Pointen zünden, und
das ist in unserem Fall schade, weil sie kein klares Bild des Verfassers
geben. Dieser kluge Kopf muß, zumal für die Zwecke seiner Vor-
lesungen, die Gesetze der Bühnenoptik noch genauer studieren, hn
Lampen- und Rampenlicht, vor einem Parkett, wirkt nur der sinnfällige,
bunt aufgeputzte, nie der innere Witz. — Lebhafteren Anklang fanden
denn auch zwei leicht verständliche Satiren: eine reichlich boshafte,
wenn auch vielleicht nicht hinreichend wuchtige Verhöhnung der
Fortschrittsmeierei und eine lustige Attacke auf die großstädtische
Plakatwut. Völlig in seinen Bann riß Kraus die Hörer dann mit seinem
gefährlichen, starken und glitzernden Pamphlet von der chinesischen
Mauer! Man kann die Prämissen und Folgerungen des Verfassers durch
die Bank ablehnen; kann seine heinische Meinung, daß das Christentum
an der Unterdrückung und Verdunkelung des gesunden Liebesinstinkts
schuld sei, als unwissenschaftliches Paradox ablehnen (schuld ist die
Entartung der Rasse durch die Stadtkultur und die Entwöhnung der
Menschen von adeligem Menschen- und Männerwerk) man kann,
wie gesagt, ein grundsätzlicher Antipode des Vortragenden sein, und
muß seiner wahrhaft bezwingenden Stilgewalt doch herzliche Bewunderung
zollen. Kraus ist ein ebenso kluger wie inniger Vorleser; er beherrscht
den Gedanken wie die Technik, ihn durchs gesprochene Wort zu ge-
stalten. (Was man bei guten Schreibern bekanntlich sehr, sehr selten
findet.) Die Stunde, die uns der Wiener geschenkt hat, ist eine der
inhaltreichsten und kunstschönsten des Winters gewesen.
Vielleicht findet sich eine Gelegenheit, diese
Vorlesungen in Wien zu wiederholen.
•
Eine Entschuldigung:*)
Literatur ist, wenn ein Gedachtes zugleich ein
Gesehenes und ein Gehörtes ist. Sie wird mit Aug'
*) Als Einleitung des ersten und des zweiten Leseabends gesprochen.
— 38 —
und Ohr geschrieben. Aber Literatur muß gelesen
sein, wenn ihre Elemente sich binden sollen. Nur
dem Leser (und nur dem, der ein Leser ist) bleibt
sie in der Hand. Er denkt, sieht und hört, und
empfängt das Erlebnis in derselben Dreieinigkeit, in
der der Künstler das Werk gegeben hat. Man muß
lesen, nicht hören, was geschrieben steht. Zum Nach-
denken des Gedachten hat der Hörer nicht Zeit, auch
nicht, dem Gesehenen nachzusehen. Wohl aber könnte
er das Gehörte überhören. Gewiß, der Leser hört
auch besser als der Hörer. Diesem bleibt ein Schall.
Möge der stark genug sein, ihn als Leser zu werben,
damit er nachhole, was er als Hörer versäumt hat.
,)Rhabarber**
Ich erhalte die folgende Zuschrift:
Das wohltuende Abfühnnittel murmelnden Qemunkels sollten
Komödianten allein verabreichen dürfen? Wir Literaten sind
doch auch da! Und wenn man an Lebenden nur mit Vorsicht
rhabarbert, so schmeckt es bei Toten noch besser. Solch literarisches
Leichengift spendete kürzlich der bekannte Freigeist aus der baju-
varischen Walhalla, Herr Michael Georg Conrad. Er kramte in
alten Briefmappen und suchte schriftliche Übungen des se'igen
Hartleben hervor, den er höchst zärtlich schildert als ein >weiches
Gemüt« von »vornehmer Denkungsart<, die sich leider an »allerlei
Plebejismen im literarischen Leben stieß«. Aber Conrad stößt sich
nicht daran, alle Schimpfereien des zartbesaiteten Otto Erich gegen
Andere als Wahrheitsevangelium der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Den auf rein persönlichen Ursachen beruhenden Schwatz bietet
er als klassischen Beitrag zur literarhistorischen Wahrheit an, ob-
schon jeder Vernünftige derlei einseitiges Gemunkel eben nur als
»Rhabarber« genießen sollte. Und einen saftigen setzt Conrad
vor, indem er feierlich den »Invektivenhagel« berichtet, den H.
in zwei Briefen gegen mich gerichtet habe. Er schmatzt vor Be-
hagen: »Der Brief eignet sich noch nicht zur Veröffentlichung
wegen überdeutlicher Hinweise auf noch lebende Personen«.
Wer Beleidigungen eines Toten g^gen einen Lebenden ausspielt,
macht sich dafür verantwortlich. Aber C. scheut sich auch nicht,
einen Gifterguß des Toten gegen den toten Hermann Conrad!
— 39 —
wörtlich zu rhabarbem : er sei eine >geistig, gemütlich, leiblich
mißgeborene Persönlichkeit« gewesen, außerdem >feige und nieder-
trächtig«. Nun, auch der Schimpfheilige schloß ja lange den hurtigen
Mund uud wir achten die Ruhe der Toten. Weswegen H. den unglück-
lichen Conradi »feige und niederträchtig« nannte, darüber wollen wir
schweigen. Wie würde es H.'s Freunden gefallen, wenn ich einen Stoß
Briefe Conradis über ihn veröffentlichen wollte, worin die schlimmsten
Injurien unseres geliebten Deutsch als abschließende Urteile stehen?
Wenn aber ein Toter verunglimpft wird durch einseitigen Klatsch
eines Toten, der nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden
kann, so verspreche ich dafür Herrn M. G. Conrad, der ja noch
jüngst laut Briefs eines Bekannten sich mit so viel Liebe und Treue
unserer einstigen Bruderschaft erinnerte, daß noch vor meinem
Tode dokumentäre Aufklärung über alle »jüngstdeutsche« Literatur-
entwicklung erscheinen soll, vielleicht etwas anders, als dem Grund-
satz Mundus vult decipi beliebt. Nie aber werde ich mich herbei-
lassen, Verleumdungen aus Privatbriefen der Neugier preiszugeben.
Ein Conradi stand denn doch zu hoch über einem literarischen
Vertreter des Bierulks, als daß man solche Verschiebung des
»Pathos der Distanz« dulden dürfte! Die damalige Sturm- und
Drangperiode forderte freilich von jedem ethische Opfer. Aber den
auf der literarischen Tafel eingeführten Rhabarber weisen wir
zurück !
Zürich. Karl Bleibtreu.
Brklärtmg
Zu Herrn Herwarth Waiden, den wir durch unsere .Mit-
»rbeiterschaft zu wiederholten Malen in den Augen der Halb-
kultivierten kompromittiert haben, kommen zwei Kaufleute und
fordern ihn auf, die Chefredaktion einer dem französischen ,Le
Theätre' nachgebildeten Zeitschrift zu übernehmen. Herr Waiden
setzt den Herren auseinander, daß er sich zu einer derartigen
illustrierten Zeitschrift nur dann verstehen könne, wenn sie in einer
streng künstlerischen und durchaus vornehmen Form gehalten sei,
legt ihnen zahlreiche Nummern der früher von ihm geleiteten
Zeitschriften vor. deren Ton und Inhalt die Herren als für die
neue Zeitschrift maßgebend anerkennen. Zum Überfluß macht
Herr Waiden die Herren mit dem skandalösen Benehmen bekannt,
das die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger seiner streng
künstlerischen Haltung wegen ihm gegenüt^r an den Tag gelegt
hat. So auf das Genaueste informiert, engagieren die beiden Kauf-
leute Herrn Herwarth Waiden auf mehrere Jahre unkündbar als Chef-
redakteur. Darauf versieht er die Herren, die zunächst nicht viel
40 -
mehr wußten, als daß sie eine Theaterzeitschrift haben wollten,
mit Ideen und Anregungen. Die neue Zeitschrift, die auf Herrn
Waldens Vorschlag den Titel ,Das Theater' erhält, erscheint vom
1. September 1909 ab als Halbmonatsschrift, findet im In- und
Ausland eine große Verbreitung und genießt den Beifall der maß-
gebenden künstlerischen Kreise.
Aber schon am ersten Tage stellt sich heraus, daß die Herren
Kaufleute Neigung haben, sich nach bekanntem Muster, jedoch mit
vermehrtem Eifer, in die redaktionellen Angelegenheiten einzu-
mischen. Sie erlauben sich Kritiken tiber unsere Mitarbeiterschaft
und geben immer deutlicher zu verstehen, daß sie die Zeitschrift
im Geschmack eines Familienblattes gehalten wünschen. Sie ge-
bärden sich ganz so wie Leute, die es nicht länger erwarten können,
daß die Redaktion Bilder gegen Bezahlung veröffentlicht und die
Nennung von Konfektionsfirmen gegen pekuniäre Leistung ein-
führt, was ja schließlich vom Standpunkt der Kaufleute einen reellen
Handel und keine Korruption bedeutet. Schließlich gehen die Herren
soweit, daß sie ihren Redakteur anweisen, er möge seine Mitarbeiter zu
einem dem Fassungsvermögen der Verleger angepaßten Stil anhalten.
Als sich Herr Waiden auch in diesem Falle gänzlich abgeneigt zeigt,
entschließensichdieKaufleute, die inzwischen in Berlin — die Herren
waren fremd am Platze — Fühlung mit den verständnisvollen und
gefügigen Literaten bekommen haben, eben jenen Kontraktbruch
zu begehen, d^n die (Jenossenschaft deutscher Bühnenangehöriger
ihnen so schön vorgemacht hat, und entlassen den unbequemen
Redakteur. Sie entlassen ihn, nicht ohne ihm vorher einen Artikel
zensuriert und dafür seinen Herausgebernamen mit einer Seh neider-
rekl^me und ähnlichen Beiträgen in Verbindung gebracht zu haben.
Der Fall ist eine autorrechtliche Novität; aber sie wußten bereits,
daß sie dabei des Beifalls und des »Ahas« aller jener gewiß sein
würden, denen wir Mitarbeiter von jeher fatal waren. Wir stellen
in diesem Ereignis die Logik der Zeitläufte fest. Es kann garnicht
anders sein, als daß Konfektionäre sich in die Angelegenheiten der
Kunst und Literatur einmischen. Und wenn diese Herren, die einen
Redakteur mit einem Kommis verwechseln, weil sie geistige Stoffe
nicht mit der Elle messen können, von uns verlangen, wir möchten
so schreiben, daß wir sogar ihnen verständlich sind, so wollen wir
uns wenigstens einmal so ausdrücken, daß sie nicht im Zweifel
über das sind, was wir meinen. Wir sagen also: Auf diesen Ab-
schluß brauchen sich die Herren Kaufleute nichts einzubilden. Er
ist unlauterer Wettbewerb mit Herrn Nissen. Aber auch auf die
Zufriedenheit der Kundschaft, die wir bekämpft haben und weiter
bekämpfen werden, brauchen sie sich nichts zu gute zu tun. Solche
Spässe werden wir noch öfter erleben, und dabei die notwendige,
wenn auch lästige Bekanntschaft einer Sorte von Menschen machen,
die glauben, sie könnten uns dazu benutzen, für den schlechtesten
Teil des Publikums Pofelware zu liefern. Auf den Kontraktbruch
dieser Prinzipale, die vor jedem Schmock und Rekordlibrettisten
zittern, waren wir von der ersten Nummer an gefaßt. Ein Dutzend
— 41 —
in Freiheit redigierter Nummern — wenn das der biedere Nissen er-
lebt hätte, — der nur bis drei zählen konnte!
Dr. Rudolf Blümner, Dr. Alfred Döblin, Dr. S. Fried-
laender.FerdinandHardekopf, Dr. Siegmund Kalischer,
Rudolf Kurtz, Else Lasker-Schüler, Ludwig Rubiner,
Rene Schickele, Mario Spiro, Felix Stössinger.
Dieser Erklärung habe ich bloß eine Aufklärung
beizufügen. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, ist
jetzt in Deutschland die Übnrwachungswut ausge-
brochen. Dem Redakteur der Bühnengenossenschafts-
zeitung war und ist ein Mime als Ȇberwacherc
zur Seite gestellt, und da und dort erklären sich auch
die Vertreter der anderen intelligenten Berufe bereit,
die Überwachung der unbotmäßigen Schriftsteller zu
übernehmen. Es gibt — bei dem gleichzeitigen An-
wachsen der Zeitschriftenindustrie — kaum einen
Zigarrenhändler mehr, der nicht daheim seinen Redak-
teur im Kotter hätte, und namentlich haben sie es
auf die Lyrik abgesehen, soweit sie nicht sachlichen
Beweggründen entspringt, nicht den Zwecken der Ge-
meinverständlichkeit zustrebt und überhaupt über das
erweislich Wahre hinausgeht. Mit einem Wort, ihr Ver-
ständnis für Kunst reicht so weit, daß ihnen das »ich
weiß nicht, was soll es bedeuten« eben noch als lyrischer
Gedanke einleuchtet, aber sonst nur die Lage bezeichnet,
in der sie sich gegenüber der Lyrik befinden. Nun habe
ich nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich die Weltan-
schauung des Kofmich, wenn sie uns Automobile
baut, für akzeptabel halte, weil wir ihr dann umso
prompter entfliehen können. Aber wenn es ihren
Einbruch in das Geistesleben, wie er sich im neuen
Deutschland donnerwetter - tadellos vollzieht, abzu-
wehren gilt, so tue ich mit. Ich habe mich jetzt während
eines längeren Aufenthaltes in Berlin davon über-
zeugt, daß die Zustände düster sind, daß sogar die
Plakatierungsinstitute sich eine Zensur der Autoren
anmaßen und daß allenthalben in der Bürgerschaft das
Streben vorwaltet, der Polizei den geistigen Teil ihrer
Arbeit abzunehmen. Wurde einst irgendwo in Deutsch-
land ein Redakteur in Ketten über die Straße geführt.
— 42 —
so läßt man jetzt keinen Künstler ohne Über wacher aus-
gehen. Nun wird die ,FackeP bekanntlich von einem
Manne redigiert, der keinen Zigarrenfritzen fragen
muß, ehe er ein Gedicht von Else Lasker-Schüler
zum Druck befördert. Sie ist deshalb wie keine andere
Zeitschrift in der Lage, dieüberwachung der Überwacher
zu übernehmen. In Österreich, wo die Straßen in
schlechtem Zustand sind, vernachlässigeich seit langem
meine Pflicht, indem ich philosophische Anwandlungen
bekomme. Für Deutschland bin ich noch straßen-
kehrerischer Anwandlungen fähig. Ich kann nicht
leugnen, daß ich seit einiger Zeit bedenklich über die
Grenze schiele. Solche Irridenta wäre meinen Lands-
leuten bequem, und ich werde sie eben darum nicht im
Stiche lassen. Wenn aber den Berliner Literaturkauf-
leuten mein Übertritt unbequem sein sollte, dann kann
ich sie nur ersuchen, alles zu unterlassen, was mich
anregen könnte. Während mich in Wien oft die stärkste
Korruption nicht mehr aufpulvern kann, wirkt in
Deutschland die kleinste Reklamenotiz, mit der man
einem Redakteur in sein geistiges Gebiet gepfuscht
hat, auf mich wie ein Lebenselixier. Man muß also
in der Dosis vorsichtig sein. Namentlich jene Wiener
Herren, die ihren Charakterraangel bereits dem Ber-
liner Betrieb angepaßt und ihre Tantiemenpolitik mit
allem Komfort der Neuzeit ausgestattet haben,
möchte ich nicht in der Hoffnung lassen, daß mich
das Gefühl der Landsmannschaft und die Freude des
Wiedersehens völlig übermannen und daran hindern
werde, in der neuen Aufmachung den alten
Dreck zu erkennen. Und nun, nachdem ich so die einen
auf meine Schwächen aufmerksam gemacht, die
andern an sie erinnert habe, hoffe ich, daß sich ein
gedeihliches Zusammenarbeiten erzielen lassen wird.
~^ Karl Kraus.
— 43 —
Glossen
Von Karl Kraue
Während ich von Wien abwesend war, ist Herr Mix Kalbeck
sechzig Jahre alt geworden. Oder habe ich dieses Fest noch mit-
gemacht? In meinem Material fmde ich einen Ausschnitt aus dem
Neuen Wiener Tagbiatt mit Versen, die Herr Eduard Pötzl nicht
umhin konnte an den Gefeierten zu richten. Es ist fatal. Wenn
man durch dieses Gedicht nicht wieder an all das erinnert würde,
was Herr Kalbeck in den verflossenen sechzig Jahren geleistet
hat, man würde sich fast bewogen fühlen, ihm die notwendige
Ehrfurcht zu erweisen. Aber wer an der Schwelle des Greisen-
alters steht, soll sich vor allem selbst die Stiefel abputzen. Mit
dem Respekt vor den Jahren ist's eine eigene Sache. Wenn einer
ein Greis wird, wollen wir ihn gern schonen, aber nur unter der
Bedingung, daß wir ihm seine Jugend verzeihen und sein reiferes
Mannesalter verübeln dürfen. Herr Pötzl nun, der auch nicht mehr
zu den Jüngsten zählt und den trotzdem manchmal noch eine
tolle Lust packt, miserable Verse zu machen, Herr Pötzl apostro-
phiert seinen Redaktionskollegen wie folgt:
Du Hüne lebst ein vierfach Leben
Als Kritiker, als Librettist,
Und zur Musik ist dir gegeben,
Da6 du ein echter Dichter bist.
Darum sei es wünschenswert, daß Herr Kalbeck hundert
Jahre alt werde. Gewiß; man bedenke aber, daß Herr Kalbeck
in erster Linie Dichter ist Dann erst Kritiker und infolgedessen
Librettist. Da diese beiden Berufe in Wien zusammenfallen, so
würden die vierzig Jahre fast ausschließlich der Lyrik gehören.
Wenn Herr Kalbeck trotzdem nicht auskommen sollte, so meint
Herr Pötzl sinnig:
Dem Dichter winkt Unsterblichkeit!
Herr Pötzl hat die Geste mißverstanden. Die Unsterblichkeit
winkt Herrn Kalbeck ab. Seit Jahrzehnten macht er Annäherungs-
versuche. In den Konvetsationslexikons, in welche die Cliquen
des Nachruhms ihre Nullen einschmuggeln dürfen — dieser
besondere Betrug am deutschen Volk lohnte seine Enthüllung — ,
ist Herr Kalbeck ein größerer Dichter als Jean Paul und nimmt
mehr Raum ein als Lawrence Sterne. Würden die Herren, wenn
— 44
sie ihren Nachruhm erlebten, ihre Wunder erleben ! Vierzig Jahre
mögen diese Größen noch wirken, in zehn werden sie tot sein.
Dieser Herr Kalbeck, der sich von Herrn Saiten höchstens dadurch
vorteilhaft unterscheidet, daß er ungeschickter ist, ein paar Bücher
wirklich gelesen hat und in der deutschen Grammatik Bescheid
weiß, wird in der Biographie Hugo Wolfs unter den Zeichen
einer bösen Zeit auf die Nachwelt kommen und seinen Ehren-
platz behalten unter den Hindernissen der Entwicklung und unter
den Plagen eines Künstlerlebens. Daß sich die musikalische»
Vereine zu Kundgebungen für Herrn Kalbeck herbeiließen,
beweist höchstens, daß Vereine die Kraft haben, mit den Resten
von Geschmack, Anstand und Gesinnung, über welche Mitglieder
verfügen mögen, aufzuräumen. Es ist ein Symptom des sozialen
Lebens dieser Stadt, daß einer nur sechzig Jahre alt werden muß,
damit zu seiner Ehre die ganze Unehrlichkeit aufgeboten wird,
über die das soziale Leben dieser Stadt verfügt. Die Stellung des
Publikums zur Persönlichkeit: man haßt und schweigt. Die Stellung
des Publikums zur >bekannten Persönlichkeit<: man schimpft und
gratuliert. Denn wer gratuliert, kommt in die Zeitung. Die
Wände der geistigen Aborte sind immerzu mit Namen vollgeschmiert.
Und das Neue Wiener Tagblatt unterscheidet sich von der Neuen
Freien Presse nur dadurch, daß es auch zu den Geburtstagen
seiner Redakteure die Ehrgeizigen zuläßt, während die Kollegin
erst die Todestage ihrer Mitarbeiter zum Vorwand nimmt, ihre
Hausmacht zu vergrößern. Seit Jahren tobt ein Wettstreit zwischen
den Gratulanten des Herrn Singer und den Kondolenten des Herrn
Benedikt. Jener verspricht seinen Redakteuren bei Lebzeiten die
Nachwelt, ist aber nicht in der Lage, sein Versprechen zu halten.
Dieser schweigt seine Leute aus Vornehmheit tot, und wenn sie es
dann sind, wird er den Traditionen einer Zeitung gerecht, die sich
seit jeher als ein wahres Nachweltblatt bewährt hat. Ein Feuilletonist
der Neuen Freien Presse arbeitet für geringen Lohn und schlechte
Behandlung, aber für die sichere Aussicht auf Unsterblichkeit. Dem
Mitarbeiter des Neuen Wiener Tagblatts wird sie in trügerischen
Reklamenotizen vorgespiegelt, aber der Chef, heißt es, zahlt besser
und versteht es, durch urbane Umgangsformen auch die Gegner einer
geistigen Bureauarbeit für sich gewinnen. Während Herr Benedikt
durch sein eigenwilliges Temperament auch die Juden erbittert, soll
es Herrn Singer gegeben sein, auch die Christen zu versöhnen,
— 45 —
indem sich seine Kontrolle des redaktionellen Tuns und Lassens
höchstens zu der Frage: Weiß ich? versteigt. Unter seiner schmunzeln-
den Ägide dürfen sie Gesellschaftsspiele einer gegenseitigen Belobung
aufführen, die weit und breit duftet, während sie sich vor dem
Eigenlob, auf das der Herausgeber der Fackel angewiesen ist, die
Nase zuhalten müssen. Herr Singer ist ein Förderer philanthropischer
Ideen und ein Schützer der redaktionellen Eintracht. Darum ist vor
allem Heim Kalbeck ein Adjutant zugeteilt, der so musikalisch ist,
daß er ein gutes Gehör selbst für jene Reklamewünsche hat, die
■idit ausgesprochen werden. Er besorgt monatlich einmal die Auf-
gabe, den Ruhm zwischen Brahms und Herrn Kalbeck so zu ver-
teilen, daß diesem der Anteil zufällt, der in der Sprache der Löwys
der Löwenanteil heißt. Zwischendurch interviewt er Herrn Richard
Strauß, und da von solchem Gespiäch nichts für Herrn Kalbeck
abfallen kann, wird es so geführt, daß wenigstens Herr Pötzl etwas
davon hat und daß der Komponist der Salome unversehens seine
Leidenschaft für den Autor des Herrn Nigerl einbekennt. Herr Pötzl,
der die Feuilletonrubrik wahrscheinlich gerade an dem Tage nicht
redigiert, an dem die wertvolle Arbeit in Druck geht, ist natürlich
beim Morgenkaffee hoch überrascht und beschließt aus Bescheiden-
heit, stets pünktlich ins Bureau zu kommen, damit nicht wieder
ein belegtes Schmalzbrot durchrutschen kann. In anderen Rubriken
vermag er natürlich nichts zu verhindern, und wie peinlich es ihm war,
daß einmal der Vortrag eines Vereinsmeiers zitiert wurde, der
ihn den bedeutendsten österreichischen Humoristen und ein >gott-
begnadetes Talent« genannt hatte, das läßt sich nicht beschreiben.
Herr Kalbeck ist »selbstredend« (wie sein Adjutant sagen würde) erst
recht wehrlos. Er bespuckt ruhig in seinem Ressort den toten Hugo
Wolf: kann er ahnen, daß der Nachbar inzwischen den lebenden
Kalbeck bekränzt? Hier winkt dem Dichter Unsterblichkeit, daneben
winkt er ihr, dort winken ihm die Gratulanten, und wo alles winkt,
kann Herr Singer allein nicht wanken und breitet die Hände, die
so gern zwischen Jacke und Weste geblieben wären, zum Segen :
Kinder, lobts euch, ich bin der Präsident der internationalen
Preßvereinigung, der euch herausgeführt hat aus dem Lande der
Knechtschaft, nehrats euch die Druckerschwärze, schmierts das
Publikum an, seids einig — nach zehn Jahren kräht ohnedies
kein Hahn mehr nach euch !
— 46 —
>Um ein Beispiel zu haben, was die Wiener Urania zur
Darstellung bringt«, sagte Herr Pölzl, »braucht man nur einen
Blick auf ihr Repertoire vom 2. bis 9. Jänner dieses Jahres zu
werfen. Man findet da: Das Meer und sein Leben. — Schillings:
rierleben der ostafrikanischen Wildnis. - London, Glanz und
Schmutz der Millionenstadt. — Ein Ausflug in außerirdische
Welten. — Richard Wagner. — Das alte Athen. — Eine Stunde
in Pompeji. — Der Halleysche Komet. — Japan, das Land der
aufgehenden Sonne. — Aus Grados Fischer- und Badeleben, —
Die Ungeheuer der Vorwelt. — Lebensbilder aus dem
Aquarium und Terrarium. — Durch die nubische Wüste. —
Momentbilder aus Sizilien. — Wien und die Wiener.« Ja, das
Programm der Urania ist bunt; aber was zusammengehört, sollte
auch beisammen stehen, damit man einen leichteren Überblick
bekomme. Mir scheint der Teil, der den prähistorischen An-
schauungsunterricht bietet, am dankenswertesten. Wie ich Herrn
Pötzl kenne, ist auch er besonders für die Ungeheuer der Vorwelt
eingenommen. Er ist ja ein enragierter Lokalpatriot. Daneben
freilich hält er es mit den Kleinigkeiten der Nachwelt. Er wünscht
zum Beispiel, daß sich die neue Wiener Urania gleich der Berliner
Kollegin mit »Wildenbruchs herrlichem Prolog« eröffnen lasse.
Das bringt micn sogar auf die Vermutung, daß er wirklich der
Überzeugung ist, seinem Buraunachbarn Kalbeck winke die Un-
sterblichkeit.
« •
Das moderne Theater:
»Im Münchener Residenztheater wurde ,Der Widerspänstigen
Zähmung' zum ersten Male nach dem Original mit Vorspiel und Nach-
spiel gegeben. Die neuen Dekorationen und Kostüme waren von Robert
Engels nach den Prinzipien des Münchener Künstlertheaters im Stil der
Reliefbühne entworfen. Besonders eine Gartenszene mit Pergola und
Springbrunnensilhouette, ein liebliches Bild voll sonniger italienischer
Heiterkeit verdiente höchstes Lob. Von den Darstellern leisteten . . . .<
• *
•
Der weiche Hermann Bahr, der sich von allem beeindrucken
läßt, sogar von mir, und jedes Ding beim Namen nennt, außer mir, hat
eine Vorlesung mit gemischtem Programm gegeben. Er las Tolstoi und
Saiten. Dazwischen waren Übergänge notwendig, umsomehr, als
Tolstoi Urchrist und Saiten nicht nur Zionist, sondern sogar
Librettist ist. So las er denn Kürnberger. Aber zwischen Kürn-
— 47 —
b«rger und Saiten waren wieder Übergänge notwendig. So las er
denn den Bischof Kepler, der ein trostloses Buch über die Freude
geschrieben haben soll. Aber selbst zwischen dem Bischof Kepler
und Saiten waren noch Übergänge notwendig. Und Bahr ver-
zweifelte nicht, sondern las Kahane. Das ist ein Liedersänger. Ihm
schenkte des Gesanges Gabe, der Lieder süfkn Mund Apoll. Er
wirkt, wie die Neue Freie Presse venät, als Dramaturg bei
Reinhardt; was aber ein rechtes Smgvögelchen ist, verstummt auch
in der Gefangenschaft nicht. Es war ein bunter Abend. Zum
Schlüsse sollen die Hörer den Eindruck gehabt haben, daß Herr
Bahr eine »reiche Erscheinung« sei. Er lese seine Dichter so, >als
entdecke er ihre Schönheiten zu seiner eigenen Verwunderung
eben zum erstenmal«. Natürlich, setzt die Neue Freie Presse auf-
klärend hinzu, »hat er sie längst entdeckt«. Alle. Und wie er die
Individualitäten auseinanderhält! Ein echtes weibliches Naturell ist im
Verkehr mit einem geistlichen Herrn anders, als mit einem Kom-
merzienrat, und wieder anders mit einem Dichter. Nur die Zeugen
werden ein wenig verwirrt. Später einmal sagt der schlechte Ruf,
Herr Bahr habe sich mit dem Urchristen Saiten, dem Librettisten
Tolstoi und dem Erzbischof Kahane eingelassen.
>Und wenn Karl Kraus in der nächsten .Fackel' die Be-
hörde von oben bis unten mit Salpetersäure begießt, so sind es die
Begossenen zuerst, die darüber lachen.« *^o schreibt der Wiener Korres-
pondent der (Frankfurter Zeitung' zur Affäre des > Feldherrnhügels«.
Er ist über meine satirischen Absichten nicht genau informiert.
Ich interessiere mich für die prinzip eilen Fragen der Geistes-
freiheit erst in zweiter Linie; zunächst sehe ich, daß Herr Roda
Roda, der die Militärlieferungen für Humor hat, seit mehreren
Wochen im Mittelpunkt der österreichischen Debatte steht. Die
schuldtragende Polizei war offenbar von der Absicht ausgegangen,
die öffentliche Aufmerksamkeit von jenem seriöseren Oberleutnant
abzulenken, der es heute ertragen muß, daß man die Gräber
seiner Braut und seines Vaters öffnet. Es ist der Behörde
nun zwar nicht gelungen, das gesuchte Cyankali auch nur
in Hofrichters Vorleben zu finden, wohl aber hat sie Spuren von
Humor in einem Werk des Herrn Roda Roda entdeckt, und durch
eine Art geheimen Verfahrens, mit der sie den » Feldhermhügel «
48
unterdrückte, erreichte sie es glücklich, daß die allgemeine Teil-
nahme von dem Opfer der Militärjudikatur abließ, um sich auf
das Martyrium eines Schnurrenlieferanten zu werfen. Hätten die
Behörden Herrn Roda Roda um seiner selbst willen unterdrückt,
so wäre allerdings Salpetersäure zu schwach. Aber nicht, weil
sie die Gefahr der Schnurre überschätzt, sondern weil sie die
Gefahr der Reklame unterschätzt hätten. Denn der österreichischen
Bevölkerung geht der Fall Roda Roda wirklich nahe, dies Schicksal
zerrt an den Nervensträngen, und die Vertreter des Schrifttums
erheben sich — unter der bekannten Devise: es geht jeden an, auch
den, den es garnichts angeht - wie ein Mann, um den gegen die
Freiheit des dichterischen Schaffens geführten Schlag abzuwehren.
Wollte die Behörde diesen Effekt, wollte sie ein wenig vom Fall
Hofrichter ablenken, so hat sie eine ganz sinnvolle Schlechtigkeit
verübt. Wollte sie es nicht, so hat sie eine Dummheit erster Güte
begangen. Denn nun werden wir den Namen Roda Roda überhaupt
nicht mehr los! Mußte man ehedem schon zu den Wölfen fliehen,
um keine Anekdoten von der Militärgrenze lesen zu müssen,
so ist jetzt Österreich vollends unwirtlich geworden. Kein Tag
mehr, ohne daß wir von den Hoffnungen, Entwürfen, Ent-
täuschungen, Plänen, Protesten, Prozessen der Autoren des > Feld-
herrnhügels« in Zuschriften, Gutachten und Interviews unterrichtet
werden, von ihrer Unbeugsamkeit im Kampf um das gestörte
Tantiemenvergnügen, von ihrer Bereitschaft, die heiligsten Güter
in Sicherheit zu bringen und lieber durchzufallen als zu
weichen. Kein Tag, ohne daß von geballten Fäusten die
Garantien eines geregelten Theatergeschäftes gefordert werden, just,
als ob es die Reform des Militärstrafprozesses gelte. Vielleicht
wollte die Behörde das. Aber dann möchte ich ihr doch raten,
bei der Wahl ihrer Opfer künftig vorsichtiger zu sein. Es ist
jammervoll, wie schlampig in Österreich bei der Vergebung eines
Martyriums vorgegangen wird. Man sieht sich die Leute gar nicht an !
* *
*
>Peary ist von dem Herzog der Abruzzen als Nordpol-
entdecker anerkannt worden.« Cook von dessen Untertanen.
Herausgeber und verantvirortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3
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versendet Zeitungsausschnitte über jf des gewünschte Thema-Man verlange Prospekte
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Von KARL HAUER
(Nebst einem Anhang Ober Pornographie)
Verl«o»g«selltchaft ..MCnchan", Barthold 6utter V«H«g
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DIE FACKEL
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36 „ „ „ 9.-
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Inhalt der vorigen Nummer 293, 4. Jänner 1910:
Prozeß Friedjung. — Druck und Nachdruck. — Aphorismen. —
Glossen. Sämtliche Beiträge von Karl Kraus. »
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollanittstr. 3
Nr. 296— 297 E AM 18. FEBRUAR 1910 XI. JAHR
DIE FACKEL
HERAUSGEBER:
KARL KRAUS
INHALT:
Joseph Schöffdl. Von Karl Kraus. — Die , Arbeiter-
Zeitung' and die Taussig - Cliquen. — Baron
Frangart und der Bajazzo. Von Karl Borromäus
ileinrich. — Wanderen Lied. Von Albert
ijhrenstein. — Bücher. Von Ludwig Ullraann
u. a. — Glossen. Von Karl Kraus.
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PREIS DER DOPPELNUMMER 60 HELLER
ERSCHEINT IN ZVv^ANGLOSER FOLGE
VERLAG: .DIE FACKEL' WIEN—BERLIN
WIEN, ma, HINTERE ZOLLAMTSSTRASSE 3 TELEPHON Nr." 187
BERLINER BUREAU: HALENSEE, KATHARINEN STRASSE 5
Erinnerungen aus meinem Leben
von
JOSEPH SCHÖFFEL
InhaSts Meine Jugend. — • Beim Militär. — Vom Wienerwald.
— Im Reichsrat. — Meine Tätigkeit als Bürgermeister.
— Im niederösterreichischen Landesausschuß.
Durch alle Buchhandlungen zu beziehen, sowie durch den
Verlag Jahoda & Siegel
Wien, III/2, Htnlere Eollamtssiraße 3
Im Verlag „"Die Fackel**, Wien, III/2, Hintere
Zollamtsstraße 3, sind als Broschüren erschienen:
JOSEPH SCHÖFFEL:
Der Parlamentarismus
Die Autonomie
Immunität und Inkompatibilität
Die Fackel
Nr. 296-297 18. FEBRUAR 1910 XI. JAHR
Joseph Schöffel
ist am 7. Februar 1910 im 78. Lebensjahre
gestorben.
Schließt eure Herzen sorg-
fältiger als eure Tore. Es
kommen die Zeiten des Be-
trugs, es ist ihm Freiheit
gegeben. Götz.
Die Neue Freie Presse hat nicht gesagt, wann
er beerdigt werde. Sie hat seinen Lebenslauf mit
ruhiger Sachlichkeit beschrieben. Sie hat seinen
Sarg nicht gegrüßt, und nur eine Handvoll Worte
warf sie ihm nach.
> Anfangs der Siebzigerjahre trat er öffentlich
hervor, als der Plan auftauchte, den Wienerwald
abzustecken. Daraals setzte sich Schöffel mit Erfolg
für die Erhaltung des Waldes ein.c
Dieser Satz schöpft eine Tat aus, für die
hundertundvier Gemeinden den Mann zum Ehren-
bürger machten, für die ihm zu Lebzeiten Denkmäler
errichtet wurden. Sie ist wortkarg, die alte Hure.
Sie ist bös. Der männlichste Mann in Österreich ist
nie bei ihr gewesen. Daß er gelebt hat, verzeiht sie
ihm im Tode nicht. Ich aber will nicht, daß sie seine
Stimme vergesse. Ich will ihn zu ihr sprechen lassen,
was er im Jahre 1901 in meinen Phonographen
gesprochen hat:
2 —
Hochgeehrter Herr!
Besten Dank für die freundliche Zusendung Ihrer Zeitschrift
.Fackel', die ich, nebenbei bemerkt, seit ihrem Erscheinen lese. Ihr
Kampf gegen das terroristische, schamlose Treiben der modernen Press-
piraten ist mir sympathisch, und ich wünsche Ihnen den besten Erfolg!
Leider stehen Sie, so wie ich, einsam und verlassen einem übermächtigen,
in der Wahl der Mittel gewissen- und ehrlosen Gegner gegenüber. —
Ich bin ein alter Mann, dessen letzte Kräfte durch Tätigkeit in einem
öffentlichen Amte absorbiert werden, — sonst würde mich nichts ab-
halten, an Ihre Seite zu treten und Ihnen in Ihrem Kampfe zu sekun-
dieren, wie dies einst mein unvergeßlicher Freund Ferdinand Kürnberger
in meinem Kampfe um den Wienerwald getan hat.
Wenn Kürnberger heute hören könnte, daß die ,Neue
Freie Presse', diese Missgeburt August Zang's — welcher
im Jahre 1873 mir gegenüber sie als eine von der Regierung
konzessionierte Kupplerin jeglicher Korruption, als die un-
verschämteste Buhlerin aller Staatsbetrüger und Diebe be-
zeichnete—, sich heute, dreißig Jahre nach Beendigung des
Kampfes um den Wienerwald, als Beschützerin desselben,
den niemand angreift, aufspielen werde, er würde die Last
der Erde, unter der er schläft, sprengen, um dieser scham-
losen Dirne ins Gesicht zu schlagen. Die .Neue Freie Presse' als
Verteidigerin des Wienerwaldes, die den Staatsgüterverschleiß in
Szene setzte, die den Holzabstockungsvertrag mit Moriz
Hirschl und den Verkauf des Wienerwaldes als eine finan-
zielle Notwendigkeit patronisierte, die, als der Sturm begann,
zuerst meinen Kampf totschwieg, dann mich verhöhnte und als von
Größenwahn befallen mich erklärte, weil ich die Kühnheit hatte, meine
Artikel mit vollem Namen zu unterzeichnen, — diese ,Neue Freie Presse'
erwartet von einer künftigen liberalen Majorität im niederösterreichischen
Landtag ein Gesetz zum Schutze des Wienerwaldes! Risum teneatis
amici! Die alte Metze erinnert sich der Erregung der Massen, die durch
den Kampf um den Wienerwald einst hervorgerufen wurde, und ver-
sucht es nun durch eine Komödie, die Partei, der sie das Gift der Kor-
ruption eingeimpft und die sie damit getötet hatte, wieder ins Leben
zurückzurufen.
Vergebliche Mühe ! Wenn ich noch einige Jahre erlebe, so werde
ich die Geschichte des Kampfes um den Wienerwald in allen Einzel-
heiten, die noch nicht bekannt sind, ebenso veröffentlichen wie den
fünfjährigen Kampf um die Verwendung der Waisengelder zur Pflege
und Erziehung armer Waisen, der von der Presse wie auf ein Kommando
totgeschwiegen wurde. Ja. diese Presse, diese Verfälscherin der öffent-
lichen Meinung, hat es sorgfältig vermieden, die Sanktionierung eines
Gesetzes zu erwähnen, durch welches jährlich nahezu 4 Millionen Kronen
dem erhabensten Zwecke, nämlich der Rettung der Kinder des Elends,
zugeführt werden.
Heute wie einst! Die Zeilen haben sich gciiiucii, uic >.i.-ocr
tracht ist dieselbe geblieben. Küraberger, der bedeutendste Schriftsteller
seiner Zeit, mußte seine Essays im , Korrespondent' den der Graf La-
mezan ein obskures Winkelblättchen genannt hat, veröffentlichen, weil
er in den großen Jonrnalen keine Aufnahme fand, da er sich nicht dazu
hergab, nach ihrem Takt zu spielen. Zudem vermied er es, seine Geistes-
perlen vor die Säue zu werfen. — Sie müssen eine eigene Zeitschrift heraus-
geben, um Ihre Gedanken zum Ausdruck zu bringen; und ich werde,
wenn ich mich aus dem öffentlichen Leben zurückziehe, was innerhalb
einer Jahresfrist geschehen wird, ähnliches tun müssen, um das von
mir Erlebte zu veröffentlichen.
Für diesmal genug ! Charakteristische Tatsachen aus jener Kampf-
zeit Ihnen mitzuteilen, ist mir derzeit unmöglich, da ich keine Zeit dazu
habe und die Erzählung dieser Tatsachen, die den Finanzminister Becke,
den berühmten Giskra, den Sektionschef Gobbi, den Ministerialrat Kurz,
den Oberfinanzrat Deimel, die Konsorten Löwy, Götz, Andrd, Kirch-
mayer, Siemundt, Strousberg, Moriz Hirschl und andere betreffen. Bände
fällen würde. Im Auszug können Sie die Geschichte des Kampfes um
den Wicnerwald in Wurzbachs biographischem Lexikon, Band 31 — 32,
Seite 76, 77, 78, 79, 80, 81. 82, 83, 84 und 85, und außerdem .An-
deutungen in den Siegelringen Kürnbergers: >Was sich der Kahlschlag
erzählt«, »Wie sich verschieden«" Leute verschieden verwundern!« und
»Dieb-sein währt am längsten« lesen.
Indem ich Ihnen nochmals Ausdauer im Kampfe und einen glück-
lichen Erfolg wilnsche, zeichne ich mich mit Hochachtung als Ihr
ergebener
SchöffeL
Mödling, am 10. Juni IQOl.
Das stand in Nr. 81 der ,Fackel'. Ich hatte in
Nr. 78 die Protektion des Wienerwaldes durch die
Neue Freie Presse gewürdigt und das Heft Joseph
SchöfiFel zugesandt. Mein Artikel hatte mit den Worten
geschlossen :
. . . Sollte man nicht mindestens verlangen dürfen, daß mit
Händen, die gewohnt sind, das Geld von Holzgaunera entgegenzu-
nehmen, nicht auf einmal über Naturschönheit geredet werde? Dem
Dogma, daß Gott die Wälder für die Holzverwerlungs- Aktiengesell-
schaften erschaffen hat, wollen wir nicht abtrünnig werden. Sie stöhnen
unter der Axt, die angesetzt wird, um der bildungshungrigen Menschheit
den Segen des Zeitungsblattes zu bringen. Aber es heißt zum Schaden
noch den Hohn fügen, wenn auf dem frischgewonnenen Holzpapier statt
der Korruption der Natur das Wort geredet wird.
Und in der Einleitung zu Schöffeis Brief, der
seine herrliche Mitarbeit an der , Fackel' einleiten
sollte, schrieb ich:
Als ich im 78. Hefte dem öffentlichen HeiterkeitsbedQrfnis jenen
Artikel der .Neuen Freien Presse' empfahl, in welchem sie sich als Be-
schützerin des Wienerwaldes vorstellte und von einer >liberalen Majorität
des Landtags« die Erhaltung von Naturschätzen verlangte, die heute bloß
Regengüsse und nicht mehr Holzwucherer bedrohen, da ahnte ich kaum,
wie gut ich den Nagel auf den faulsten Kopf dieses Reiches getroffen.
Ich bekenne, daß mich weniger historisches Wissen um die Vor-
gänge, die sich in jener Zeit des wirklichen Kampfes um den Wiener-
wald abspielten, als ein Instinkt für die durch Jahrzehnte bewährte
Gemeinheit der fühlenden Verderberin unserer Kultur bewogen hatte,
der , Neuen Freien Presse' auf die schmutzigen Hände zu schlagen, die
sie schützend über Wiens Naturschätze zu breiten gewagt hat.
Ich hatte damals bloß das< dunkle Gefühl, daß die
Neue Freie Presse ehedem in der vordersten Reihe jener
Preßorgane gekämpft haben müsse, »denen die Wald-
bestände in Wiens Umgebung ausschließlich vom
Standpunkte des Holzwuchers teuer waren«. Um
eine Bestätigung uud genauere Daten zu erhalten,
wandte ich mich an Joseph SchöfiFel, dessen Retter-
werk Kürnberger geschildert hat. In den »Siegel-
ringen« hatte ich eine Stelle gefunden, in welcher
des lähmenden Widerstandes gedacht wurde, den
damals die gedungene Presse geleistet hat. Ich
zitierte auch, was Kürnberger über die Eignung des
Mannes zu solcher Tat schreibt:
Ein unabhängiger Privatmann, Joseph Schöffel, unternahm den
publizistischen Kampf gegen diese Korruption. Nach seinen Berufs-
Antezedentien Offizier, nicht Schriftsteller, entdeckte seine' Feder alle
schriftstellerisch-sieghaften und unwiderstehlichen Reize an jener Urquelle,
wo sie die Griechen, wo sie der Pamphletisten-Klassiker und Meister
unser aller, P. L. Courier, entdeckt haben, in der Stärke und Reinheit
des ethischen Charakters. Mit frischem, praktischem Soldatengriff be-
wältigte er vollständig das weitläufige und größtenteils trockene Real-
studium dieses Gegenstandes und behandelte es dann mit jener Verve,
mit jener kecken Energie jungfräulicher Naivetät, möchte ich sagen,
welche der Literatur wahrlich schöner zu Gesichte steht als das routi-
nierte Handwerk des Brotdienstes.
Und als Schöffel im Jahre 1905 seine
>Erinnerungen< herausgab, schrieb er zum Schlüsse
des Kapitels >Vom Wienerwald« :
Die .Neue Freie Presse', die einst treue Gefährtin und Schild-
ifägerin des Staatsgüterverschleiß-Konsortiums, welches den Wienerwald
devastieren und verschachern wollte, brachte im Mai 1901, also zu einer
Zeit, wo niemandem eine Schädigung des Wienerwaldes, geschweige
denn eine Devastation oder eine Verschacherung desselben in den Sinn
kam. einen Artikel, in welchem sie mit begeisterten Worten den herr-
lichen Naturparic, den Wienerwald, dessen Erhaltung in seiner grünen
Pracht für uns Wiener eine Lebensfrage ist, beschrieb, und mit dem
Stoßseufzer beendete: »Vielleicht gibt es einmal in ruhigeren und fried-
licheren Zeiten eine so fortschrittliche und wahrhaft volksfreundliche
iMajorität im niederösterreichischen Landtage, die ein Gesetz zum Schutze
und zur Erhaltung des Wienerwaldes gegen Oevastierung und sonstige
Schädigung beschließt.«
Diesen Artikel benutzte der Schriftsteller Karl Kraus,
indem er mit seiner .Fackel' der , Neuen Freien Presse'
ordentlich heimleuchtete.
Er hielt ihr unter anderem die unvergeßlichen Worte, die Ferdi-
nand Kürnberger im dem Vorworte seiner »Siegelringe« über den Kampf
um den Wienerwald schrieb, vor Augen, die da lauten:')
> Diesen Kampf um einen Waldbestand, welcher nur allein schon
als Voluptuarium einen auch sanitär unschätzbaren Wert für eine so
volkreiche Stadt, wie Wien, repräsentierte, ließ die ganze Wiener Journalistik
ihren Ritter St. Georg nicht nur isoliert auskämpfen, sondern sie verbarg
nicht immer mit Anstand, daß ihr Herz eigentlich der korrumpierten
Gegenpartei angehörte.« Ein Einzelner kämpfte, ein Einzelner siegte.
»Der Vertrag mit Hirschl wurde gelöst, die Beraubung des Wiener-
*) Schöffel nahm die nun folgenden Sätze als einheitliches Zitat
aus Kürnberger in sein Buch auf, indem er nur am Anfang und zum
Schluß Anführungszeichen setzte. Es waren aber, wie man sieht, neben
wirklich zitierten Sätzen auch solche, in denen nur der Inhalt Kürn-
berger'scher Ausführungen mitgeteilt ist. Hier wird deshalb der Passus
wieder so gebracht, wie er in der .Fackel' stand und nicht wie er im
Buche Schöffeis steht. Der Satz: »Ein Einzelner kämpfte, ein Einzelner
siegte« kommt bei Kürnberger überhaupt nicht vor. Jetzt zitieren mich
ahnungslos alle in- und ausländischen Zeitungen, die sich auf Kürnbergers
Urteil über Schöffel berufen, und Leser, welche die »Siegelringe-
zur Hand nehmen, finden die Stelle nicht. Darum mußte der
Unterschied hier festgestellt werden. Die großartige Sachlichkeit
Schöffeis nahm es mit der Wörtlichkeit nicht genau. Er zitierte in einem
Aufsatz Bismarck aus dem Gedächtnis, und als ich den Urtext herstellte,
versuchte er im Korrekturabzug seiner Fassung wieder zu ihrem Unrecht
zu verhelfen. Sein prächtiger Eigenwille befähigte ihn weniger zum
Zitieren als zum Zitiertwerden.
6 ~
Waldes unterlassen, die Beamten, deren Schuldbarkeit Schöifel nach-
gewiesen, versetzt und pensioniert.« »Wahrlich, ein unerhörter und
zum erstenmale gefeierter Triumph, daß einer so kompakt-solidarischen
Macht, wie dem österreichischen Beamtenstaate, ein einzelner Publizist
solche Erfolge abzugewinnen vermochte! ,Die sechste Großmacht' hätte
alles Recht gehabt, mit ihrem Ruhm die Welt zu erfüllen; und doch
wird der auswärtige Leser wenig oder nichts, davon in der Wiener Presse
gefunden haben.« Anderwärts ward dies moralische Ereignis besser ge-
würdigt. Die Waldgemeinde Purkersdorf hat dem Manne, der von ein-
undzwanzig Wienerwald-Gemeinden die Gefahr der Devastation abge-
wendet hat, ein Denkmal errichtet, der Markt Mödling erwählte ihn zu
seinem Bürgermeister, und ein niederösterreichischer Landwahlbezirk
votierte ihm mit großer Stimmenmehrheit das Mandat für den Reichsrat
»und zwar gegen den bisherigen Vertreter desselben Bezirkes, welchen
überdies ein sich selbst als Weitblatt überschätzendes Wiener Journal
mit dem Aufgebot seines ganzen Einflusses durchzusetzen unternommen.«
»Es war der schönste Abschluß dieses ganzen Dramas, wie das mün-
dige Volk, zuwider den angeblichen Machern der öffentlichen Meinung,
seine Meinung sich selbst, auf eigenen, unabhängigen Wegen und
mit ausgesprochenstem Nachdruck zu machen verstand. -
Zweifellos werden nach meinem Tode, wenn mein Mund ver-
stummt und mein Arm erlahmt ist, noch mancherlei Märchen von sen-
sationslüsternen Lügenseelen über den einstigen Kampf um den Wiener-
wald erfunden und gesponnen werden ! Das läßt sich nicht ändern !
Ich wünsche nur, daß, wenn der Wienerwald, was nicht un-
möglich ist, wieder einmal von einem Spekulationskonsortium bedroht
werden sollte, sich zur rechten Zeit ein Mann finde, der denselben mit
Erfolg verteidigt!
Als Rüstkammer mögen ihm diese Zeilen dienen, die ich nur zu
diesem Zwecke niedergeschrieben habe!-
»Man muß diese Dinge kennen, um zu ver-
stehen, daß in dieser liebenswürdigsten Stadt der
Welt eine antijournalistische und antisemitische
Bewegung enstehen und siegen konnte. c Eine un-
verdächtige Zeugin riefs nach dem Tode Schöffeis,
die ,Prankfurter Zeitung'. Es war selbst ihr nicht
entgangen :
»Aus den knappen Nachrufen der maßgebenden Wiener Presse ist
noch zu erkennen, daß sie ihm seinen Sieg nicht verziehen hat, obgleich
heute überhaupt niemand mehr begreifen kann, daß je ein Österreicher es
wagen konnte, Hand an das Juwel des Landes, den Wiener Wald, zu legen.
Schöffel hätte auch darüber nur verächtlich gelächelt. Er hielt es mit
Börne: ,In dieser verpesteten und verbuhlten Welt muß ein ehrlicher
Mann sich die Hände in Essig waschen . . .'«
Das Neue Wiener Tagblatt aber hat dem außer-
ordentlichen Manne Leitartikelehren widerfahren
lassen. Denn es glaubte, an ihnen selbst Anteil zu
haben. Schöfifel hat die ersten Axthiebe gegen die
Verwüster des Wienerwaldes im Neuen Wiener
Tagblatt geführt, das damals von jenem Moriz
Szeps geleitet wurde, der seine Eignung zu anti-
korruptionistischen Taten bekanntlich oft noch be-
wiesen hat.
>In der Geschichte des .Nenen Wiener Tagblatts' fönt diese
lutüinarische Verschwömng, aufgedeckt darch eine Zeitung nnd ihren
rastlosen, mannhaften Mitarbeiter, ein stolzes Blatt; denn der ganze
Feldzug wurde ausschließlich in unserm Blatte durch-
geführt und endete mit dem beispiellosen Triumph Schöffeis ät>er
seine gefährlichen Widersacher.«
Und das Neue Wiener Tagblatt zitiert aus
SchöfiTels Memoiren:
Ich ließ dem ersten (am 20. April 1870 erschienenen) Artikel
jede Woche zweimal einen von mir mit vollem Namen gezeichneten
Aufsatz folgen, in welchem ich die Maßregeln der obersten Forstver-
waltung rücicsichtslos kritisierte und auf die verhängnisvollen Folgen
hinwies, welche die allgemeine Entwaldung und speziell die des Wiener
Waldes auf das Klima, die Fruchtbarkeit und die Gesundheitsverhält-
nisse der Stadt und des Landes nach sich ziehen müsse.
Aber die folgenden Stellen zitiert das Neue
Wiener Tagblatt nicht:
Um einesteils die Erforschung der Wahrheit zu erleichtem, denn
ich war damals wirklich so naiv, zu glauben, daß es der Regierung
durch Einleitung der gerichtlichen Untersuchung nur um Konstatierung
der Wahrheit und des Tatbestandes zu tun sei, veröffentlichte ich
während der Dauer der Untersuchung vierzehn Artikel unter dem Titel:
>Die Verwaltungsgeschichte des Wienerwaldes <, welche die mir zur
Disposition gestellten gravierendsten Aktenstücke nnd Korrespondenzen
enthielten.
Das .Tagblatt' brachte aber diese Artikel nicht mehr
wie üblich, an zweiter Stelle, sondern in der Beilage! Als
ich mich darüber beschwerte, erwiderte man mir, daß das Interesse
für die Sache, die sich schon zwei Jahre hinschleppe, erloschen sei.
Ein gewisser Herr H welcher die Rolle eines Vermittlers
zwischen dm Journalen und der Regierung spielte, sowie die den
Journalen seitens der Banken nnd Aktiengesellschaften zu
zahlenden Abfindungssummen nnd Schweiggelder ver-
mittelte, trat an mich mit der Aufforderung heran, die Aktion in der
8 —
Wienerwaldangelegenheit einzustellen. >Sie haben erreicht, was Sie
erreichen wollten,« apostrophierte mich der Herr. >Der Verkauf des
Wienerwaldes, sowie die Holzlieferungs- und Holzabstockungsverträge
sind sistiert. Jede Gefahr für den Bestand des W^ienerwaldes ist beseitigt !
Machen Sie nun ein Ende! Ich bin bevollmächtigt, Ihnen gegen
Ausfolgung einer von Ihnen unterzeichneten Verpflichtung, daß Sie nichts
mehr in dieser Sache unternehmen und nichts mehr in den öffentlichen
Blättern über dieselbe schreiben wollen, 50.000 Guldem im baren
auszuzahlen!«
Ich ' erwiderte dem Herrn, daß er sich in der Person, der er den
Antrag stellte, geirrt habe, und ich den Antrag nur deshalb nicht als
eine Ehrenbeleidigung ansehe, weil er von ihm und seinen Auftrag-
gebern ausgegangen sei, drehte ihm den Rücken und verließ die Re-
daktion ....
Nach der versuchten Bestechung und des seitens des ,Tag-
blattes' in der letzten Zeit bewiesenen Unwillens, meine
Artikel in der Wienerwaldfrage im Blatte, wie abgemacht war, an ent-
sprechender Stelle abzudrucken, sah ich mich genötigt, ein anderes
Blatt für meine schriftstellerische Tätigkeit zu suchen.
Ich wandte mich nun an das damals zum Zwecke der Bekämpfung
des wirtschaftlichen Schwindels und der in allen Gesellschaftsschichten
herrschenden Korruption mit schweren Geldopfern neu gegründete Journal
,Deutsche Zeitung' .. .
Aus einem Gespräch mit Schöffel teilte ich in
Nr. 113 der , Fackel', also schon im Jahre 1902, die
Peststellung mit, wie weit Herr Szeps und das Tag-
blatt an der Rettung des Wienerwaldes beteiligt
waren :
. . . Wir unterhielten uns über jene Zeit, und Schöffel erzählte,
daß seine Aufsätze lange Zeit hindurch an der sichtbarsten Stelle des
Neuen Wiener Tagblatts erschienen waren, bis eines Tages ein Unter-
händler aus dem Korruptionslager bei ihm anklopfte und ihm 50.000
Gulden für die Unterlassung weiterer Angriffe bot, deren wesentlicher
Zweck, die Annullierung des Gesetzes über den Staatsgüterverschleiß,
ja ohnedies schon erreicht sei. Vor dem Hinauswurf hatte dieser Alensch,
ein gewisser Herzka, noch Zeit, von dem bereits eingeholten Ein-
verständnis des Herausgebers Mitteilung zu machen . . . Seinen
nächsten Aufsatz fand Schöffel in einer kaum beachteten Beilage des
Neuen Wiener Tagblatts abgedruckt, das Nichterscheinen der fol-
genden wollte er nicht abwarten und wählte seinen Enthüllungen
ein anderes Organ . . .
Die , Deutsche Zeitung' aber hat sich noch nach
Jahrzehnten für die Mitarbeit Kürnbergers durch
Verleumdungen dankbar erwiesen.
— 9 —
Die , Arbeiterzeitung* bemüht sich, den Respekt
vor der Persönlichkeit mit den sozialdemokratischen
Geboten in Einklang zu bringen. Der Einzelne könne
es nicht >zu einer Tätigkeit ins Große und Ganze
bringen, wenn sein praktisches Handeln nicht auf
der gesicherten theoretischen Einsicht über den Ver-
lauf der Weltdinge aufgebaut ist«. Die Einsicht
über den Verlauf der Weltdinge kommt mit dem
Eintritt in die sozialdemokratische Partei. Diese Ein-
sicht, die in die Breite der Dinge geht, verkündet,
der Einzelne könne zwar Erfolge erzielen: >aber er
stirbt, ohne daß die nachhaltige Wirkung seiner Per-
sönlichkeit bleibt«. Daß Persönlichkeit nachhaltige
Wirkung bedeutet und Partei nur den Einzelerfolg,
das hat im Sozialgehirn nicht Platz. Schöffel habe,
meint es im Übrigen, sich voll Verbitterung vom
öffentlichen Leben abgewendet:
»Wie er sich zu der weiteren Entwicklung der Dinge in Öster-
reich gestellt hat, ist bisher nicht bekannt geworden. Es ist zu vermuten,
daß er völlig auf den Standpunkt eines haltlosen Zweifels gekommen
ist, wenngleich Äußerungen von ihm kolportiert worden sind, nach
denen er die Erfolge der sozialdemokratischen Partei lebhaft begrüßt
habe. Aber wenn dies wahr ist, so hat er in ihr eben nur die Kämpferin
gegen die Korruption gesehen . . . <
Ich möchte die , Arbeiterzeitung^ darüber beru-
higen. Die Kämpferin gegen die Korruption hat er
in der sozialdemokratischen Partei nicht sehen können,
wiewohl er sich bis ins höchste Alter ein gutes Auge
bewahrt hat. Oder eben deshalb. Äußerungen, nach
denen er die Erfolge dieser Partei lebhaft begrüßt
hätte, habe ich nie aus seinem Munde gehört. Der
haltlose Zweifel scheint auch hierin sein fester Stand-
punkt gewesen zu sein. Und >wie er sich zu der
weiteren Entwicklung der Dinge in Österreich gestellt
hat«, ist bloß deshalb nicht bekannt geworden, weil
es noch immer Journalisten und Politiker gibt,
die nicht zugeben wollen, daß sie die , Fackel*
l«Ben. Er hat es in der ,Fackel' ausgesprochen,
daß ihm eine weitere Entwicklung der Dinge in
- 10
Österreich — vom Verlauf der Weltdinge verstand
er nichts — nur gegen den Parlamentarismus denk-
bar sei. Undeutlich klangs ja gerade nicht:
Nach einer dreißigjährigen Tätigkeit im parlamentarischen Leben,
nach einem ebenso langen Wirken in der autonomen Verwaltung habe
ich mich entschlossen, in den Lügennebel, in dem wir leben, hinein-
zuleuchten, um dem Volke die Gemeingefährlichkeit des parlamentarischen
Regimes, das in einem Abgrund der Entartung versunken ist, vor Augen
zu führen und zugleich zu beweisen, daß die so sehr gepriesene auto-
nome Verwaltung nichts ist, als eine Fiktion.
Die Mitarbeit Joseph Schöffeis an der ,Fackel'
fällt in die Jahre 1901 bis 1905. In diesem Jahr er-
folgte die Herausgabe seiner Memoiren. Seit damals
hat Schöffel — außer einer Abfertigung, die ein halbes
Jahr später in der ,Packer erschien — nichts mehr
geschrieben. Die in der , Fackel' veröffentlichten Bei-
träge sind die folgenden:
Brief über den Wiener Wald und die Neue Freie
Presse (Nr. 81), Brief gegen die , Deutsche Zeitung*
(Nr. 112), Der Parlamentarismus (Nr. 116 und 117),
Die Autonomie (Nr. 120), Immunität und Inkompa-
tibilität (Nr. 125), Orakelsprüche (Nr. 126), Offener
Brief an Herrn Landtagsabgeordneten Pater Bauchin-
ger (Nr. 170), Eine Schmutzerei (Nr. 179), Meine
Tätigkeit im Landesausschuß (Nr. 180/81), Mödlings
älteste Urkunde? (Nr. 183/84), Meine Antwort (Nr. 189).
Der Aufsatz in Nr. 179, in dem er sich der
pensionierten Offiziere annahm, bewog das Reichs-
kriegsministerium zu einem Erlaß, durch den Schöffeis
Forderung erfüllt wurde. (Siehe Nr. 182). Der andere
Erlaß war annulliert. Schöffel hatte einfach gesagt:
. . . und ich bin vollkommen überzeugt, daß Se. Majestät, unser
alter ritterlicher Kaiser, die an seinen alten Offizieren versuchte
Schmutzerei nicht dulden wird !
in so gerader Linie, die in der Schauspielkunst
etwa Baumeister zeichnet, fuhr seine Spraehkraft
jenen Geistlichen an, der ihn im Landtag insultiert
hatte :
Entweder hat also der Teufel, der von Ihrem Herzen Besitz ge-
nommen hat, Ihnen derartige Schandmärchen zugeflüstert, oder Sie haben
11 —
Ihre Informationen von dem Gezücht eingeholt, das ich soeben be-
schrieben. Es muß selbst Ihren Parteigenossen im Landtag vor Ihren
Expektorationen gegraust haben ....
Ich wollte Sie anfangs, in meiner Eigenschaft als Kurator des
Waisenhauses, wegen der frivolen Beschimpfung der Anstalt und der
mir anvertrauten Waisen gerichtlich belangen. Ich unterlasse es; denn
Sie sind immun, daher wie jedes Kind, wie jeder Idiot für das, was
Sie sprechen, nicht verantwortlich!
Der Frost des Alters hat mein Temperament nicht abgekühlt,
neinen Geist nicht getrübt, ich bin nicht immun und deshalb für das,
«as ich schreibe und spreche, verantwortlich!
Seinen Aufsatz: »Meine Tätigkeit im Landes-
ausschußc schließt er mit den Worten:
Ich hatte es satt, diesen Produktionen politischer Akrobaten auf
dem Galgentrapez, welche ich dreißig Jahre lang mit ansehen mußte,
länget zuzusehen.
Mich ekelte I
Ich nahm kein Mandat mehr an, legte alle Ehrenämter nieder
und zof mich ins Privatleben zurück ! Ich lebe nun ruhig und zufrieden
in der Hoffnung, daß eine neue Sündflut die zum Himmel stinkende
Kloake d;r Korruption auf allen Gebieten der menschlichen Gesellschaft
hinwegschwemmen wird, was nicht ausbleiben kann!
Vcn dem Interesse, das er der , Fackel' bis in
die letzte Zeit bewahrte, habe ich die liebenswür-
digsten Beweise, und was ich aus der Welt der
moralischen und kriminalistischen Infamie griff, be-
schäftigte ihn so stark wie meine Preßkärapfe. In
der Zeit, da er mit den Memoiren beschäftigt war,
schickte er mir mit dem Offenen Brief in Nr. 170
die folgenden Worte:
Das, was Sie wünschen, kann ich Ihnen leider nicht senden.
Ich arbeite oft Tage und Wochen lang, w^enn ich von übler Laune und
Ekel über die henschenden Verhältnisse befallen werde, nichts. Ob
und wann die Arbeit fertig wird, weiß Gott ! Vielleicht fliegt sie früher
in den Ofen. Dafür hat mir der Zufall gleichzeitig mit Ihrem Schreiben
ein stenographisches Protokoll der Landtagssitzung vom 3. November
ins Haus geweht, in welcher sich P. Bauchinger über Armenpflege und
über das Hyrtlsche Waisenbaus ausgelassen hat. Ich benütze nun die
Gelegenheit, um Ihnen diese Epistel zu senden ... In der moralisch
pestgeschwängerten Sumpfluft, in der wir leben, wirken Ihre Publikationen
in der , Fackel' wahrhaft erfrischend. Sie erinnern mich lebhaft an Küm-
l>erger ! Machen Sie sich einmal über die politischen Räuberbanden und
ihre Häuptlinge her. Wenn jemand heute imstande ist, diese Filbustier
zu geißeln, sind Sie es !
12 —
Ein halbes Jahr vor seinem Tode schrieb seinem
Werk Robert Scheu in der ,Fackel' den Nachruf, der
mit den Worten schloß:
Er steht in der Geschichte als Einer, der stark und baherzt
war und sich in den Strudel gestürzt hat, wo er am wildesten brauste ;
dessen Werke heute noch grünen, und der zurückgekommen ist als ein
Unbefleckter. Wohl dem, der ihn nennen darf, ohne zu erröten!
Weh den vielen, die ihn zu nennen wagen,
weil sie nicht mehr erröten können !
»Wehe der Nachkommenschaft, die ihn ver-
kennt Ic
Karl Kraus.
Die , Arbeiter-Zeitung' und die Taussig- Cliquen*)
Wir sind keine Moralphilister. Wir finden wenig
daran auszusetzen, wenn vor Weihnachten verschie-
dene große Modewarenhäuser, Möbelhändler und
Ratengeschäfte ganze oder halbe Seiten lange Inserate
der , Arbeiter-Zeitung' zukommen lassen. Es braucht
ja dadurch nicht gleich das Schweigen über die
niedrige Besoldung des bei den inserierenden Handels-
*) Der Abdruck dieses Artikels wird mir in der folgenden Zuschrift
empfohlen :
Die Rolle dessen, der den Massen mißtraut, hat die Sozial-
demokratie dem Staat abgenommen. Wer findet heute die giftigsten
Worte gegen die Arbeiter-Syndikate, die modernste Form der Arbeiter-
bewegung, wie sie von Paris aus über kurz oder lang durch Europa
ziehen wird? Die sozialdemokratische Presse. Es ist grotesk, zu be-
obachten, wie etwa der Pariser Korrespondent der , Arbeiter-Zeitung'
von einer Woche zur andern die syndikalistische Bewegung bald als
einen integrierenden Bestandteil der Sozialdemokratie reklamiert, bald
als die abgeschmackteste Farce kindsköpfiger Narren, die im Schlepptau
der Bourgeoisie gehen, verhöhnt. Es ist bis ins kleinste Detail hinein
der nämliche Jargon, der vor zwanzig Jahren gegen die Sozial-
— 13 —
häusern beschäftigten Personales erkauft worden zu
sein. Nein, die Sache liegt da viel einfacher: Irgend
ein Modewarenhaus will seine kompletten, >wunder-
vollen« und >durchaus soliden< Saccoanzüge aus
>echt englischem« Stoffe zum Preise von 22 Kronen
loswerden. Ein Möbelhändler hingegen unausgetrock-
nete Möbel und zwar besonders rasch die für die
Arbeiterwohnungen so dringend notwendigen Salon-
ausstattungen im altdeutschen oder im Rokkokostile;
ein Teppichhändler hiezu passende Laufteppich- und
Staubfängerreste, >5 m lang, zirka 55 cm breit, der
ganze Rest zu 2.20 Kronen«. Ein Juwelenhändler
wiederum beabsichtigt, für mehr als 250.000 Kronen
Weihnachtsgeschenke an den Mann zu bringen, ein
Strickmaschinenverkäufer seinen Plunder »zur Schaf-
fung emer Lebensexistenz«, die Nahrungsmittelhänd-
ler aber die gesunden Suppenwürfel, welche bloß
6 Heller kosten und »jedwede Fleischnahrung über-
flüssig machen.«
demokratie von ihren Gegnern selbst angewendet wurde. Wni man
heute ein wirkliches Arbeiterblatt lesen, dann darf man nicht die
.Arbeiter-Zeitung' zur Hand nehmen, sondern nur eines der gewerk-
schaftlichen Fachblätter, welche gegen die Politikerclique frondieren, wie
etwa die , Verkehrs-Zeitung', das offizielle Organ des Reichsvereins
der österreichischen Eisenbahner, dessen Artikel fallweise die Hinter-
gründe der sozialdemokratischen Taktik enthüllen und wirkliche
Einsichten in bisher nur geahnte Zusammenhänge eröffnen. Diese
Artikel sind gewiß symptomatisch für die Stimmung großer Schichten
des Proletariats. In eine journalistische Polemik mit diesen unbequemen
Gruppen läßt sich dieSozialdemokratie grundsätzlich nicht ein. Sie kämpft viel
lieber mit ihren Vordergrundsgegnem, die ihr lange nicht so wehe tun,
wie der innere Feind, den sie viel echter haßt und gegebenenfalls viel
grausamer niederschlägt, ganz so wie der Staat es macht, der mit
seinen Diversionen nach außen gern vom innem Zerwürfnis ablenkt.
Weil dies Schauspiel als ein Beitrag zur Psychologie der Parteien
immerhin von einigem Interesse ist, möchte ich Ihnen den Artikel über
den Fall Taussig aus der , Verkehrs-Zeitung' zur Reproduktion empfehlen. <
Ich besorge sie mit einigen Strichen. Es wäre schade, wenn der
Artikel für die bürgerlichen Kreise, welche die .Arbeiter-Zeitung' lesen,
verloren gegangen wäre. Hier ist er ihnen näher gebracht.
Anm. des Herausgebers.
14
An wen andern sollten sich alle diese Leute
wenden, als an den Arbeiter? Und durch wen sollten
sie in ähnlicher reklamehafter Sprache wie der hier
angedeuteten zum Volke reden, wenn nicht in Böhmen
durch den offiziellen Kreuzerfrosch , Prager Abend-
blatt' und in Wien durch die Raubmörderpresse und
die , Arbeiter-Zeitung*.
Wenn nun die Bourgeoisfeuilletonisten der , Arbei-
ter-Zeitung* weniger geistreich über alle sensationelle
Eintagskunst befreundeter Künstler- und Literaten-
cliquen schwefeln, dafür aber wie z. B. der Dresdner
jKunstwart* und das Wiener ,Wissen für Alle* mehr
Erziehungsarbeit leisten wollten, dann müßten sie
den Arbeiter eindringlich und systematisch belehren,
wie man sich das ärmliche Heim ohne Warenschund
einigermaßen behaglich machen kann. Dann würde
der Arbeiter bald erkennen, wie schlecht und gegen
gute Ware vergleichsweise sogar teuer all das in den
Annoncen der , Arbeiter-Zeitung* angepriesene Zeug
ist. Dann wäre auch an der Inseratenwirtschaft der
, Arbeiter-Zeitung* nichts auszusetzen.
Denn die Geleimten wären eben die Leute,
welche jene teuren Insrate zahlen und so — in der
Hoffnung, arme Teufel dranzukriegen — ein Arbeiter-
blatt unterstützen.
Wir sind keine Moralphilister. Wir regen uns
über die gewöhnlichen Annoncen der , Arbeiter-Zei-
tung* nicht auf. Der größte Teil der Arbeiterschaft
hat — beinahe hätten wir »gottseidankc gesagt —
kein Geld, um auf jedes Schwindelinserat hineinzu-
fliegen, und sehr viele Proletarier haben sich vom
Katechismus der unfehlbaren sozialdemokratischen
Kirche schon insoweit emanzipiert, daß sie wenig-
stens den stets genau 3 Spalten langen und genau
150 Zeilen (ä 15 Silben) Gesinnung umfassenden Leit-
artikel auf der ersten Seiten der , Neuen Freien Presse
für die Arbeiter* nicht glauben und außerdem nicht
deren Anoncenteil. Die paar armen Tröpfe, die noch
— 15 —
übrig bleiben und die auf ein Schwindelinserat
ebenso ieiciit hineinfallen wie auf einen Schwindel-
leitartikel mag ein geschäftstüchtiger Herausgeber
immerhin opfern, wenn er glaubt, den Ertrag der
Inserate für den Betrieb und die Ausgestaltung einer
sonst anständigen Zeitung unbedingt zu benötigen.
In der letzten Zeit erschienen jedoch in der
, Arbeiter-Zeitung* wiederholt Inserate, gegen welche
wir scharf protestieren müssen.
Stirbt einer der großen Männer Österreichs,
einer von den Leuten, die deshalb groß sind, weil
sie sehr viel Geld und Einfluß besitzen, so äußert
sich der Schmerz jener Streber, welche dem Familien-
kreise des Toten fernstehen und denen gewöhnlich
durch den Abgang des Toten eine Karriere frei wird,
in sehr marktschreierischer Weise. Die Annoncen-
teile aller bürgerlichen Blätter füllen sich plötzlich
mit Todesanzeigen, deren Wortinhalt ganz gut um
80 Heller im Kleinen Anzeiger eingeschaltet werden
könnte, deren Buchstaben aber so groß sind wie die
Freude lachender Erben. Über ganze Seiten breiten
sich so kurze Notizen aus und je korrupter die be-
treffende Zeitung ist, desto mehr Seiten werden auf
diese höchst einfältige und einer wahren Pietät
geradezu hohnsprechende Art seitens der verschie-
denen Verwaltungsrats- und Speichelleckercliquen
durch ein und dieselbe Todesnachricht gefüllt.
Niemand wird solche Anzeigen in einem Blatte
finden, das auf seine Unabhängigkeit hält. Sagen
wir zum Beispiel in der Wiener ,Fackel*, welche in
den Kreisen gebildeter Bourgeois nicht bloß gelesen,
sondern auch aufbewahrt wird und so den Ruhm
eines Taussig, eines Preiherrn von Ringhoffer oder
irgend eines anderen Geldraannes doch länger
in Erinnerung bringen könnte als ein Arbeiter-
blatt 1 Man bedenke ferner : Eine Reklaraeannonce
muß in die Augen fallen und groß gedruckt sein.
Wenn einer immer und immer wieder auf ganzen
16
Seiten liest »Eleganter Anzug bloß 22 Kronen<, dann
geht er eines Tages doch hin und kauft sich den
kompletten Plunder. Eine große Reklameannonce hat
daher Zw^eck; ein großes Trauerinserat jedoch ist
taktlos. Durch eine klein gedruckte Anzeige können
solche Leute, die schon ihre Trauer öffentlich und in
Zeitungen zeigen wollen, beweisen, daß sie des Toten
gedenken. Ein großes Trauerinserat ist auch nicht
majestätisch und stimmungsvoll wie etwa ein großer
Leichenkondukt. Ein großraächtiges Trauerinserat
zeigt nichts anderes an, als die großmächtige Ab-
hängigkeit der Presse von den großen Cliquen.
In letzter Zeit nimmt die , Arbeiter-Zeitung*
fleißig solche großmächtige Traueranzeigen an und
der Text im redaktionellen Teil wird dann zufällig
auch sehr traurig. Wer von den alten »kampferprobten«
Genossen aus den schönen Zeiten des Reichenberger
Prozesses hätte das geahnt? Vor ungefähr einem
halben Jahre gab das Ableben des Preiherrn von
Ringhoffer Anlaß, daß die , Arbeiter- Zeitung' um
einige Annoncenseiten verstärkt wurde, und bald
darauf werden sich die Eisenbahner gewundert haben^
auf zwei und einer halben Seite des Annoncenteiles
und in beinahe ein und einer halben Spalte des
redaktionellen Teiles das Lob jenes Mannes zu lesen,
dessen großzügiges Wirtschafts- und Sparsystem
einige Wochen später durch das Faktum »Uhersko«
illustriert wurde und dessen Wirken man anläßlich
seines Ablebens am wohlwollendsten dadurch kritisiert
hätte, daß man darüber geschwiegen hätte. Wir
hätten dies auch getan, wenn nicht ein Blatt der
Arbeiter den Herrn v. Taussig als den genialen Kauf-
mann hingestellt hätte, dessen Verhalten gegen seine
Untergebenen keinen anderen Tadel verdient als den
durch den einschränkenden Satz: »Als eigentlicher
Unternehmer im Verhältnisse zur Arbeiterschaft hat
Taussig immer nur das gerade Notwendige, nicht
mehr Aufzuschiebende geleistet; das Dasein der
17 —
Arbeiter war ihm ein Element der Bilanz, mehr nie<.
Herr v, Taussig verdient nicht ein ziemlich unein-
geschränktes Lob und einen Tadel, der in unseren
rohen Zeiten jedem Kaufmaune als Lob gilt. Herr
V. Taussig hat zum Schaden des Ansehens und der
Finanzen der österreichischen Bahnen selbst das nicht
mehr Aufschiebbare nicht tun wollen. Das war sogar
vom kaufmännischen Standpunkt aus unklug. Am
toten und lebenden > Material« hat er so lange ge-
spart, bis die Vorbedingungen zu einer stattlichen
Anzahl von >Uher8ko-Fällen< gegeben waren. Aus-
schließlich seinem fabelhaften Glücke verdankte es
Herr v. Taussig, daß sich nur ein »UherskofalU er-
eignete und auch dieser zufällig einige Monate nach
der Verstaatlichung der von ihm verwalteten Eisen-
bahnen. Der Fall >Uhersko< ist auch die Ursache,
weshalb wir, scheinbar etwas spät, vielleicht aber —
durch Aufdeckung des Zusammenhanges von Miß-
wirtschaft und deren Resultat — gerade im richtigen
Augenblicke auf die Verdienste des Herrn v. Taussig
zurückkommen.
Dieser allmächtige Geldmann war einer der Ver-
waltungskünstler, welche bei den österreichischen
Eisenbahnen jenes Verwaltungssystem inauguriert
haben, das die , Frankfurter Zeitung* — gewiß kein
revolutionäres Blatt — so treffend in einem Berichte
über das Unglück von Uhersko schildert:
Das entsetzliche Eisenbahnunglück auf der
Strecke Wien — Brunn — Prag, weitaus die größte
Katastrophe dieser Art in Österreich seit einem
Menschenalter, darf keineswegs nur mit einer
Verkettung unglücklicher Zufälle entschuldigt
werden. Seine eigentliche Ursache beruht auf
Mängeln, die für den größten Teil des öster-
reichischen Eisenbahnverkehrs typisch geworden
sind: Mangel an Personal, ungenügende Geleisean-
lagen in den Bahnhöfen, schlechtes Wagenmaterial
in den Schnellzügen und ungewöhnlich große Zugs-
— 18 —
Verspätungen sind in den letzten Jahren auf den
österreichischen Bahnen so allgemein üblich geworden,
daß es nur einer Verkettung von glücklichen Zu-
fällen zu verdanken ist, wenn man ähnliche Ka-
tastrophen nicht schon früher erlebt hat . . . Vielleicht
wäre das Unglück verhütet worden, wenn der
Stationsbeamte nicht vergessen hätte, das Distanz-
signal auf »Halt« zu stellen, vielleicht, denn das
Überfahren des Distanzsignales gehört leider nicht zu
den Seltenheiten. Das Hauptmoment der Gefahr liegt in
der Benützung der Hauptgeleise zu Verschubzwecken.
Wie es scheint, war der verunglückte Schnellzug in der
landesüblichen Weise kunterbunt aus allen möglichen
Wagentypen zusammengestoppelt, so daß die schweren
Vierachser die zwei- und dreiachsigen Wagen förmlich
zermalmten. Es gibt in Österreich nicht einen ein-
zigen Schnellzug, der aus einheitlichen oder mindestens
gleichartigen Wagenfypen zusammengesetzt wäre, ja,
es kommt oft genug vor, daß Wagen im Gewichte
von 13 bis 15 Tonnen zwischen den modernen
Kolossen, die bis zu 40 Tonnen und mehr wiegen,
laufen. Diesen Menscheufallen sollte die Aufsichts-
behörde ihre besondere Aufmerksamkeit schenken,
nicht nur, weil bei Zusammenstößen die Insassen
der leichten Wagen stets die Zeche zahlen müssen,
sondern weil die Entgleisungsgefahr der gemischten
Garnituren viel größer ist als in einheitlichen Zügen. —
Das Hauptverdienst des Herrn v. Taussig be-
stand also im Sparen bis zur Uhersko-Möglichkeit.
Sein zweites Verdienst bestand in dem wirklich
genialen Trick, alle Männer von Einfluß, die ge-
schäftlich mit seinen Gesellschaften zu tun hatten,
in Abhängigkeit von Aktiengesellschaften zu
bringen. Die Anstellung früherer Referenten
in Ministerien bei den von diesen Ministerien
kontrollierten Banken, Privatbahnen und Aktien-
gesellschaften wurde normal. Jeder ehrgeizige
Ministerialsekretär sah bei der Behandlung der ihm
— 19 —
zugewiesenen Akten die hohen Konnexionen und in
hinterster Ferne die Verwaltungsratsstelle schweben.
Die Versurapftheit wurde so in die österreichischen
Ministerien hineingetragen; die Versumpftheit, die
später durch die Korruption des Volkshauses geradezu
zur Versumpfung der österreichischen Völker führen
sollte. Keiner von denen, die in österreichischen
Ministerien streben, denkt daran, sich in seine
Agenden zu vertiefen und als versierter Fachmann
ohne fremde Hilfe auf einen leijtenden Posten zu
kommen. Das Arbeiten besteht nur im Liebäugeln
mit dankbaren Parteiführern und Abgeordneten,
welche auf die Besetzung der hohen Stellen im
Staate Einfluß nehmen, und in der liebenswürdigen
Kulanz gegen die großen Geldmänner, welche die
entthronten und pensionierten Staatsgewaltigen ver-
sorgen können. Vor der drohenden Verstaatlichung
der k. k. priv. Kaiser Ferdinands -Nordbahn
im Jahre 1885 war der spätere Hofrat Jeitteles
Referent über diese Verstaatlichungsangelegenheit
und dabei ein großer Scharfmacher. Selbstverständlich
wurde dieser Herr Generaldirektor dieser Privat bahn;
selbstverständlich wurde diese Bahn, deren Konzession
erst im Jahre 1886 abgelaufen war, erst zwei Jahr-
zehnte später und auch dann noch unvorteilhaft für
das Reich verstaatlicht. Andere Staatsmänner ver-
sorgten die Südbahn, die StEG., die Nordwestbahn,
die österreichischen Schiffahrtsgesellschaften, die
Bankhäuser, und selbst jüngere Beamte in den
Ministerien wurden zur Leitung von Privatbahnen
berufen. Die Politiker und die großen Geldraänner hin-
gegen protegierten wieder ihre Anverwandten, Günst-
linge und Werkzeuge in die Ministerien hinein
Daß auf diese Weise der Staatsbahnbetrieb allmählich
krepieren muß, liegt klar zutage. Eine österreichische
Privatbahn ist schließlich nur von einer Verwaltungs-
ratsclique abhängig, noch dazu von einer, die wenigstens
an den Einnahmen interessiert ist; das Eisenbahn-
— 20 —
ministerium ist aber von allen an der Übervorteilung
des Staates interessierten Geldmännercliquen ab-
hängig und außerdem noch von den noch hungrigeren
politischen Führern.
Einmal nur wehte in der österreichischen Eisen-
bahnverwaltung eine reinere Luft. Das war im
Jahre 1907, als die Priyatbahnbediensteten selbst zu
regieren anfingen, die Öffentlichkeit auf die Sünden
der Taussigclique aufmerksam machten und dadurch
auch einigen ehrlichen Herren der Generalinspektion
Mut einflößten, gegen die mächtigsten Nebenregenten
in Österreich mutig zu sein. Freilich hätten diese
Herren noch mutiger sein sollen und — unbekümmert
um die Kundgebungen einiger Handelskammern und
der Vertretung eines einzigen nordböhraischen Bezirkes
— die Courage zum Äußersten finden sollen. Dann
hätten sie vielleicht jetzt dem Staate ein Uhersko
und Millionen erspart
Das große Lob der , Arbeiter-Zeitung' verdient
Herr von Taussig wirklich nicht und den schönen
Tadel, daß er die Gefühle seiner Untergebenen quasi
richtig bei der Bilanz berücksichtigte, erst recht
nicht. Das von ihm schlecht in den Kalkül gezogene
Verhalten der Angestellten der StEG. und der Nordwest-
bahn hat ihm einen dicken Strich durch seine Bilanzen
gemacht und das Vertrauen in Taussigs Klugheit
zum ersten Male erschüttert. Richtig taxierte Herr von
Taussig nur das Verhalten der sozialdemokratischen
Gewerkscliaftsführer ; diese hätten beinahe die passive
Resistenz des Jahres 1907 unmöglich gemacht, wenn
nicht das durch das provozierende Hinausschieben
der Verwaltungsratssitzungen gereizte- Personal der
genannten zwei Bahnen alle Bilanzberechnungen
des Herrn v. Taussig und der sozialdemokratischen
Gewerkschaftsführer ad absurdum geführt hätte.
Die .Arbeiter-Zeitung* sieht nur Größe an Herrn
Taussig. Begeistert schildert sie: »Von Jugend an und
ununterbrochen setzt sich der Aufstieg Taussigs forte.
— 21 —
So schwärmerisch schreiben ehrliche Ästheten nur von
Goethe; Schiller ist ihnen bereits eines so uneinge-
schränkten Lobes nicht würdig. Doch die verzückte
Poesie sinkt in die Daten zurück: tMit vierund-
«wanzig Jahren war er Bankdirektor und daß er das
Zeug zu diesem Geschäft hatte, beweist die Tatsache,
daß er ein Jahr später berufen wurde, um in die
Verhältnisse der am Rande des Abgrundes befind-
lichen Bodenkreditanstalt Ordnung zu bringen«. Wir
zweifeln nicht daran, daß Herr v. Taussig das Zeug
hatte, sich in der schwülen Luft des kaufmännischen
Geistes nach dem Jahre 1873 wohl zu fühlen. Das
aber glauben wir doch nicht, daß rein nur der Kopf
einen talentierten und selbst talentiertesten Jüngling
in Österreich so schnell vorwärts bringen kann, daß
er mit 18 Jahren bereits ein hoher Beamter und mit
24 Jahren Direktor eines Bankhauses ist. Da müssen
schon andere Faktoren im Spiele gewesen sein.
Später freilich zeigte sich Herr v. Taussig seines
Geschäftes würdig. Bei allen Eisenbahnverstaat-
lichungen der Jahre nach 1873 hatte er seine Hand
im Spiele und bekanntlich waren diese Verstaat-
lichungsaktionen für den Staat so günstig, daß sie
ganz ebenbürtig der großen > Entstaatlichungsaktion«
im Jahre 1854 waren, welche den Anfang des groß-
artigen Defizites der Staatsbahnen bedeutet. Herr
V. Taussig sanierte auch die Bodenkreditanstalt und
anläßlich der vor einigen Monaten erfolgten Fest-
nagelung des beabsichtigten Krestranekschwindels im
Parlament kam man darauf, daß der Staat leider
wiederholt Verwässerungen des Aktienkapitales,
welche eine Steuerersparnis bezweckten, bewilligt
hat und zwar auch der Bodenkreditanstalt. Das ist
des Rätsels Lösung. Die Finanzgenies Österreichs
unterscheiden sich von denen anderer Länder da-
durch, daß sie nicht neue Industrien, neue Bahnen
aus dem Boden stampfen, sondern daß sie Finanz-
operationen durchzuführen verstehen, dank welchen
— 22
mit einigen Federstrichen Betriebs- und Investitions-
kapital durcheinander geworfen und dadurch nach
freiem Belieben die Dividende doppelt so hoch oder
dreimal so niedrig gemacht werden kann, wobei
natürlich im letzteren Falle Vorsorge getroffen wird,
daß in die Taschen der begünstigten Aktionäre nicht
weniger Geld fließt
Auf die wahren und wirklichen Wertver-
mehrungen verstand sich Herr v. Taussig ebenso-
wenig, wie zum Beispiel Herr Kestranek, der die
Dividende der Böhmischen Montangesellschaft zwei-
mal besteuern ließ, in der HofiFnung, dann, wenn er
einige Jahre statt 20 Perzent — 36 Perzent Divi-
dendensteuer gezahlt hätte, durch falsche Fatierung
des in der Böhmischen Montangesellschaft investierten
Kapitales die Übertragungsgebühren zu sparen. Jener,
der da täuschen wollte, fiel derart gründlich hinein,
daß man ihn wohl über kurz oder lang in die Pension
schicken wird. Auch Herr Taussig fiel sehr oft so
hinein und glücklich huschte er an mancher selbst-
bereiteten Schwierigkeit nur infolge der Schläfrigkeit
der Aufsichtsorgane vorüber.
Unter dem Herrn v. Taussig verluderte die StEG.
und nicht nur diese, nein, auch dieDonau-Dampfschifif-
fahrts-Gesellschaft kam aus einer Mißwirtschaft in die
andere, so daß sie jetzt, wie die Neue Freie Presse
sonderbarerweise rühmend hervorhebt, in der ange-
nehmen Lage ist, viel weniger Kapital in den Schiffen
investiert zu haben als ehedem und auch viel weniger
Kohle als ehedem zu verbrauchen. Der Schiffahrts-
verkehr auf der Donau sieht aber auch danach aus.
Die Kunststücke des Herrn v. Taussig muß
selbst die , Arbeiter-Zeitung' kennzeichnen. >Dabei
war Taussig ein Mensch ganz im amerikanischen
Stil, also von Skrupeln nie geplagt. Wie weit er
sich da wagte, zeigen die famosen Verstaatlichungs-
anträge unter Wurmbrand und Guttenberg; auch
daß er einmal bei einem besonders zweideutigen
— 23 —
Geschäft der Steyrer Waffenfabrik öfifentlich verwarnt
werden mußte; und nicht wenige Börsenleute werden
das Opfer seiner mannigfachen Kurslreibereien ge-
worden sein.«
Wir mußten uns mit dem Nachrühme des Herrn
V. Taussig beschäftigen, um wenigstens einige Leser
der , Arbeiter-Zeitung' davor zu warnen, die Sätze
ihres Blattes allzugläubig im Busen zu bewahren:
>Taussig war unzweifelhaft ein Mensch von Kraft
und Energie, Intelligenz und Schlauheit, eine
Persönlichkeit von Wuchs und Eigenart«. . . Wurde
Karl Marx je so temperamentvoll in der »Arbeiter-
Zeitung* gelobt? Soll man da nicht lieber dem Marx
abschwören und den verschiedenen Taussigs und
Kestraneks nachfolgen? Den Männern, deren »starke
Hand« noch in den in Arbeiterblättern erschienenen
Traueranzeigen fett gedruckt von der Verwaltungs-
ratsclique der »österreichischen Bodenkredit-Anslalt«
gelobt wird.
Ihr fragt Arbeiter: »Soll man der starken Hand
des Kapitals folgen?« Währenddessen hat die sozial-
demokratische Parteileitung eure Frage schon mit
»Jal« beantwortet. Nordböhraen wird vom Kompromiß
der Sozialdemokraten mit den Verwaltungsratsliberalen
beherrscht. »Weil die Kohlenbarone und Kestranek-
leute als Industrielle naturgemäß volksfreundlicher
sind als die reaktionären deutschnationalen Volks-
schullehrer und Bauernknechte.« So begründet man
sehr schlau. . . Die Hauptsorge des Dr. Adler ist, ob
der Staat mit seinen Bestellungen die Maschinen-
industrie auch genug beschäftige. Zuletzt wird er
für diesen Zweck vielleicht noch den Bau einiger
Dreadnousrhts verlangen. Denn diese reißen wenigstens
ins Geld. Ob sich die stets nur an der Börse und nie
im Konstruktionsbureau spekulierende faule öster-
reichische Maschinen- und Bisenindustrie durch billige
Offert-, beziehungsweise Eisenpreise auch genug
beschäftigen will, das fragt er nicht. Nicht durch
24 -
Streiks und Gewerkschaftstätigkeit will er für den
Metallarbeiter höhere Löhne erzielen, sondern einzig
und allein durch Bittgänge für die Industriellen. Uns
hingegen will es scheinen, als ob die Höhe der Löhne
-davon abhängen würde, ob die betreffenden Arbeiter
in einer verläßlichen sozialdemokratischen Gewerk-
schaft kuschen oder endlich selbständig handeln
gelernt haben. Sehr sonderbar erscheint es uns z. B.,
daß die Lohnaufbesserungen der zumeist sozial-
demokratisch organisierten Bergarbeiter, dieser soge-
nannten Kerntruppen der >Roten«, weit hinter der
Preissteigerung der Kohle zurückblieben, trotzdem
-die Geschäfte der Kohlenbarone — selbst mit Berück-
sichtigung einiger Schwankungen — im Zeitraum
von 1897 bis 1907 eine in Österreich ungeahnte
Blüte erreicht haben.
Die Logik der Sozialdemokratie wird immer
famoser, immer befremdender für gewöhnliche
Arbeiter. Die Logik der Sozialdemokratie wird immer
mehr und mehr die Logik der Verwaltungsrats-
liberalen und der Geldmännercliquen.
Die Logik eines gesunden, eines nicht aus
revolutionärer Phrase und aus Utopien ins Spieß-
bürgertum sinkenden Sozialismus wird jedoch nicht
ad absurdum geführt werden. Sie setzt sich in den
breiten Massen durch, neue Ideen klären sich in
Hirnen, die noch kurz vordem von den dümmsten
Schlagworten bürgerlicher und sozialdemokratischer
Politik befangen waren. Selbst die »roten Kern-
truppenc sind mit der Haltung der , Arbeiter-Zeitung*
unzufrieden. Sie ist ihnen — wie dies Äußerungen
am letzten Parteitage bewiesen — ziemlichzuw ider,
von den nicht objektiven Parlamentsberichten ange-
fangen bis zu den kurzen pikant-lüsternen Feuilletons
mit den stets wiederkehrenden dummen Anspielungen
auf einen marxistisch gesinnten Herrgott im Himmel
und auf die für die Hölle bestimmten Kapitalisten
■und Pfaffen. Die Arbeiter fühlen heraus, daß die
— 25 —
, Arbeiter-Zeitung* einfach eine bourgeois-liberale-
Zeitung geworden ist, ein Blatt, das die Schwächen
des Klerikalismus mit urdummen Phrasen bekämpft
und gegen Individualismus, Kapitalismus und alle
wirklich antisozialistischen Ideen mit der kon-
fusen Logik eines alten, von den Barrikaden beinv
Anblicke des ersten Bajonetts hinweggelaufenen,
liberalen Achtundvierzigers ankämpft. Die , Arbeiter-
Zeitung' bietet keine Schund- und Raubmörderblatt-
Lektüre. Dies geben wir gerne zu ; sie ist aber
längst eine ,Neue Freie Presse für die Arbeiter*
geworden, vornehm beschwichtigend, alle radikalen
Äußerungen ins Gegenteil verkehrend und vor
allem konservativ-reaktionär trotz des Freisinn-Ge-
schwefels. Das fühlen die Arbeiter endlich heraus.
Ihr Blatt scheint ihnen über viel zu viele Sachen
infam zu schweigen. Es schreibt ihnen zu wenig
gegen das Parlament. Nicht gegen die Christlich-
sozialen, die Deutschradikulen und die übrigen Kon-
kurrenten der gewählten Genossen allein soll es sich
wenden, sondern gegen das Parlament überhaupt.
Das Blatt ist den Arbeitern auch zu antigewerk-
Bchaftlich. Ober den Tischlerstreik bringt es nichts
Genaues, über die Eisenbahnerbewegung außer Feind-
seligkeiten gegen die Macher der passiven Resistenz
gar nichts, über die Syndikatsbewegung in Frank-
reich nur Verleumdungen.
Das alles gefällt selbst den Folgsamsten unter
den Sozialdemokraten nicht mehr. Mögen diese stutzig
gewordenen Leute auf die Stimme im Innern hören
lernen. Wir wollen hoffen, daß diese Leute wieder
Sozialisten werden, wirklich freie Gewerkschaftler,
welche — so wie sie es in den Achtziger Jahren
getan haben — bei den Worten >parlamentarische
Intervention«, >einflußreiche Tagespressec und
>große politische Partei« einfach ausspucken.
— 26 —
Baron Prangart nnd der Bajazzo *)
Von Karl Borromaeus Heinrich
Die Schüler, ungefähr dreißig an der Zahl, erhoben sich
beim Eintritt ihres Lehrers, teils nachlässig, teils aufmerksam, wie
es eben in eines Jeden Art lag. Da entfuhr einem Schüler, der
allein in der letzten Bank saß, ein hörbares >Ah!« des Erstaunens.
Und jetzt richteten auch die weniger Aufmerksamen ihre Blicke
nach den Eingetretenen.
Diese waren bereits am Katheder angelangt. Der griechische
Lehrer, ein alter Mann, bildete in seiner müden Haltung einen
merkwürdigen Gegensatz zu Baron Frangart. Dieser stand gleich-
mütig neben ihm, in der reizvollen Zierlichkeit seiner etwas
kleinen, eleganten Gestalt; seine Gesichtszüge waren während der
letzten Jahre herber, schärfer und daher noch stolzer geworden.
Die satte Bronze der weichen Haut seiner Wangen hatte sich in
Chamfort nicht mehr verloren und bezeugte seine südliche Heimat.
Die langen, langen Wimpern beschatteten, wie ehedem, seine
dunklen Augen, die Strenge ihres Blickes mildernd. Nur die
Haare waren nicht mehr gelockt; im linksseitigen Scheitel aus-
einandergekämmt, gaben sie eine edle Stirne bloß. Die geschwun-
genen Linien des Mundes erschienen bestimmter und auch sie
erhöhten den Stolz seiner scheuen, verschlossenen Jugend. Natürlich
war er glatt rasiert, sorgsam, ohne auch nur eine Spur der Haare
zurückzulassen. — So stand er gleichmütig da und sah zuerst
zerstreut über seine künftigen Mitschüler hinweg; sein Blick
haftete dann verloren auf dem letzten Fenster, vor dem sich hohe
Bäume mit kahlen Ästen erhoben, vom Novembernebel bedeckt.
Wo blieb die strahlende Sonne, die zu diesem seltsamen
Fremdling gehörte? wo die durchsichtige Luft, die seinem jungen
Körper lebendige Plastik verlieh! — Einsam und fremd stand
er da. —
»Entzückender Junge!« sagte halblaut der Schüler auf
der letzten Bank. Frangart schien es nicht zu hören; eben begann
der griechische Lehrer: >Hier stelle ich Ihnen Fritz Freiherrn von
Frangart vor, der neu in Ihre Klasse eingetreten ist . .< Der
*) Bruchstücke aus einem Roman >Menschen von Goites
Gnaden«, den der Münchener Autor soeben vollendet hat.
27 —
Vorgestellte verneigte sich. »Nur keine langen Reden von vegen
Freiherm!« kam es halblaut aus der hintersten Bank. Der Lehrer
verzog über dem Gemurmel ärgerlich seine Miene. Die Schüler
kicherten leise. »Wollen Sie sich setzen, Baron FrangartI« sagte
der Lehrer. Der einzige noch freie Platz war in der letzten Bank
neben dem Schüler, der sich die Zwischenrufe geleistet hatte. Dem
Lehrer fiel in aller Eile ein, daß er diesen strafen könne: »Sie
kommen neben Ludwig Schlagintweit, nicht gerade unseren
schlechtesten, aber sicher unsern frechsten Schüler«, bemerkte er
zu Frangart. Schlagintweit, den sie in der Klasse Bajazzo nannten,
versteckte sein gutmütiges Gesicht mit den herzlichen, spott-
lustigen Augen hinter dem Rücken seines Vormannes. »Das
stimmt, Gott sei Dank!« flüsterte er. Die Schüler verbissen das
Lachen.
Baron Frangart nahm gleichmütig seinen Platz ein, nachdem
er sich ein wenig vor Ludwig Schlagintweit verneigt hatte. Dieser
sah ihm unbekümmert ins Gesicht: »Grüß Gott, guten Tag,
habe die Ehre, Herr Baron Frangobald!< flüsterte er, während
vorn ein Schüler aufgerufen worden war und »Piatons Apologie
des Sokrates« zu übersetzen sich bemühte. »Frangart«, korrigierte
Fritz ruhig seinen Nachbarn, indem er die übrige Anrede ignorierte.
Dieser rückte, da Frangart kein Buch mitgebracht hatte, das seine
in die Mitte der Bank. Vorn rief eben ein grober Übersetzungs-
fehler einen zornigen Ausbruch des Lehrers hervor. Schlagintweit
benützte den entstandenen Lärm, um seinen Nachbarn zu fragen :
»Kennen Sie die .Phraseologie des Sokrates' schon?« Frangart
nickte bejahend. »Können Sie überhaupt was im Griechischen?«
forschte er weiter. Frangart zuckte die Achseln. »Dürfen schon
reden, seien S' ganz unbesorgt! Er hört schlecht!«, flüsterte
Schlagintweit, der das frostige Benehmen Frangarts entweder
nicht bemerkte, oder nicht bemerken wollte. Aber in diesem
Augenblick sah der Professor doch warnend zu ihm her. Er
erwiderte seinen Blick treuherzig. Dann aber bückte er sich
wieder und murmelte zwischen den Zähnen : »Herr Professor, trauen
S' Ihnen nicht, traun S' Ihnen nicht . . . sonst blamiere ich Sie
wieder einmal, wann mir griechische Konjekturen machen !« Die in
der Nähe Sitzenden grinsten, auch Baron Frangart mußte lächeln;
der Lehrer rief gerade einen anderen Schüler auf. »Wissen S' was,
296-207
— 28 —
Herr Baron,« setzte Schlagintweit die einseitige Unterhaltung fort,
>alles können S' von mir abschreiben, nur in der Mathematik kann
ich selber rein gar nichts. , Schlagintweit, wieder Note vier, un-
genügend, können nichts, werden nie etwas lernen in der Mathe-
matik!'* ahmte er den Mathematik- Lehrer nach. Der Vordermann
wandte unvorsichtig den Kopf, um Schlagintweit seinen Beifall für
die gelungene Imitation auszudrücken. In den hinteren Bänken
entstand langsam eine allgemeine Unruhe. Schlagintweit rief dem
Vordermann flüsternd zu: »Liebe dicke Mittelmäßigkeit, schau
gefälligst nicht so, ich red' nicht mit Dir ... so, schön ruhig
sitzen mit Deinem breiten Rücken! < (Fast alle Spitznamen
in der Klasse, auch die zurechtgewiesene > liebe dicke Mittel-
mäßigkeit* waren von Schlagintweit erfunden und verbreitet wor-
den.) Baron Frangart sah seinen lebhaften Nachbarn mit ruhiger
Aufmerksamkeit von der Seite an. Dieser fühlte es, blickte ihm
offen ins Gesicht, und errötete in leichter Verlegenheit. Einige
Minuten schwieg er. Aber dann hatte er es wieder vergessen, oder
er wollte doch noch einen Versuch machen, Baron Frangart aus
seiner Ruhe zu bringen. >0h mei', Drapologie des Sokrates!« be-
gann er haiblaut. Baron Frangart lächelte. >Können Sie auch
stenographieren?« schrieb Schlagintweit jetzt an den Rand des
Buches, da ihm der Lehrer eben den zweiten warnenden Blick
zugeworfen hatte. >Nein,< nickte sein Nachbar; vorn ging die
Übersetzung weiter. »Ja, Herrschaft, ja, Sie armer Mensch, das
müssen S' lernen! . . . .« knurrte Schlagintweit zwischen den
Zähnen, und machte ein aufrichtig betrübtes Gesicht. Da geschah
etwas Merkwürdiges: Baron Frangart, der die vertraulichen Worte
seines Nachbarn mit einer Mischung von Indignation, Kopfschütteln
und Belustigung schweigend angehört hatte, sah diesen witder von
der Seite an und bemerkte die komische Betrübtheit seines Aus-
druckes. Da verlor er seine Fassung, und fing ohne Überlegung
zu lachen an. Schlagintweit und die Mitschüler erschraken
zuerst. Aber Frangarts Lachen (er hatte es nie geübt und
also, wie es ihm angeboren war, erhalten) klang so vollkommen
heiter in den still gewordenen Schulraum hinein, daß alle ange-
steckt wurden, auch der erschrockene Schlagintweit und schließlich
der entrüstete Lehrer, und in schallendes Gelächter ausbrachen.
Frangart hörte zuerst auf; das allgemeine Echo gab ihm
— 29 —
seine Fassung wieder, und Schamröte, gleich, als ob Lachen für
ihn unrecht wäre, überzog sein Gesicht; überdies fiel ihm jetzt
ein, daß er Schlagintweit mit diesen Lachen verraten hatte.
»Entschuldigen Sie gütigst!« sagte er zu ihm. — »Ach
Unsinn, was entschuldigen, das tut mir nichts.«
Der Vorfall endigte damit, daß Schlagintweit eine Strafauf-
gabe zudiktiert wurde, nämlich einige Seiten aus der Apologie des
Sokrates schriftlich zu üt}ersetzen.
Dies also war der Anfang der großen Freundschaft, die
Ludwig Schlagintweit für Baron Frangart in der Folge empfand,
und auch der Anfang der ruhigen, aber immerhin unleugbaren
Sympathie, die dieser wenigstens für Schlagintweit bezeugte.
•
Um es vorneweg zu sagen: wenn alle Gefälligkeiten, die
Ludwig Schlagintweit, Sohn eines pensionierten Briefträgers, Fritz
Freiherrn von Frangart unaufgefordert erwies; wenn alle rührenden
Züge freundschaftlicher Besoretheit, die an diesem herzlichen jungen
Menschen während der Zeit ihres Beisammenseins hervortraten;
wenn alle Grade der Gefühle, zu denen sich seine Zuneigung
verstieg; wenn einem das alles auf einmal gegenwärtig sein könnte,
und man vergliche hiemit jene monotone, jederzeit beherrschte
Sympathie, mit der Baron Frangart, zuweilen bei sich selbst, seltener
schon mit freundlichen Blicken, mit Worten vollends nur dann
und wann, stets aber nur sehr kärglich Ludwig Schlagintweit dankte,
— so möchte man, wiederum mit einem Vergleich sagen, daß
der mit einem goldenen Kelch Beschenkte einen irdenen Krug als
Gegengeschenk gegeben habe. Aber so einfach ist die Rechnung
nicht. Man muß bedenken, wie ganz von selbst der Eine aus sich
herausging, wie er mit seinem allzeit offenen Herzen durch die
Welt zog, gleichsam Gott nacheifernd, der die Sonne über
Gerechte und Ungerechte ohne Auslese scheinen läßt, wohingegen
der Andere, zur Unterscheidung und Distinktion geboren und er-
zogen, Herzlichkeit im allgemeinen fast als Schmutz empfand, »weil
in ihr die Schranken fallen und alles durcheinanderfließt«; den
verborgenen Reichtum seines Herzens, gemäß dem Ratschlüsse
Gottes, bei sirh behalten mußte und vielleicht so schwer daran
trug, wie ein Baum an überreifen Äpfeln, die nicht abgeschüttelt
werden. Und überhaupt ist in Dingen des Gefühls alles Urteilen
30 —
ungerecht. Dies war der Gedankengang, auf dem sich Ludwig
Schiagintweit während seiner Freundschaft für Baron Frangart,
und auch lange nachher noch tröstete . . .
Ein einziges Mal hatte er auch versucht, die Gesellschaft
seiner Mitschüler auf der sogenannten Absolventenkneipe zu ge-
nießen. Schiagintweit saß an seiner Seite und konnte bezeugen,
von welcher Höhe der Verachtung aus sein schweigender Blick
dieses Treiben ablehnte. Es war ihm schon ganz unbegreiflich,
wozu denn die sogenannten Chargierten immer mit ihren unge-
schliffenen Schlägern auf den Tisch schlugen; noch mehr erbitterte
ihn det angebliche Gesang der Cantusse; in grenzenlosem Ekel
aber erhob er sich, als sie, bei dem traurigen Fiducit der »Exkneipe«,
sich Ochsenmaulsalat bringen ließen, diesen ganz sans fagon hin-
unteraßen, gewaltig hineintranken und dann wirr durcheinander
zu gröhlen anfingen: »Ein Prosit, ein Prosit, der Gemü a
.... a .... t . . lieh .... kei ... eit ... !< Zwei wollten ihn bei
seinem Weggehen anpöbeln; da er vor Ekel überhaupt nicht
antworten konnte und wollte, belehrte Schlagintwett die zwei
Schreihälse eines Besseren.
Die Gesellschaft Schlagintweits ertrug Fritz Frangart wie die
eines lustigen treuen Dieners. Seine Ergebenheit hatte in der Tat
etwas Rührendes. Eine Woche nach jener Kneipe kam er freude-
strahlend zu Frangart: >Die Weltordnung ist umgangen, meme
Illoyalität hat gesiegt !< — »Bitte?< — >Ich habe einen mir be-
kannten, jungen Arzt wiederentdeckt, der Ihnen jederzeit alle nur
gewünschten Schulkrankheiten bestätigt !< Frangart benutzte die
Liebenswürdigkeit dieses Arztes ausgiebig: Im Januar und Februar
saß er wochenlang zu Hause. Schiagintweit, der allein ihn be-
suchen durfte, kam gegen Abend und nahm mit ihm, in einer
knappen Viertelstunde, alles durch, was der ganze Tag zu lernen
gebracht hatte. Die schriftlichen Probearbeiten in der Schule schrieb
er auf Drängen Schlagintweits von diesem voll und ganz ab; dieser
schmierte dann in seine eigene Arbeit eiligst noch einige Fehler,
um einen Unterschied herzustellen und den Professoren den Nach-
weis des Abschreibens zu erschweren.
Schließlich duldete Schiagintweit nicht mehr, daß Frangart
31
die häuslichen Arbeiten selbst anfertijjte. >Herr Baron, das hat doch
für Sie keinen Sinn mehr; daran sterben Sie ja vor Langeweile«,
konstatierte er und kam von nun ab jeden Tag Punkt sieben Uhr
in die Wohnung Frangarts, worauf dieser die Aufgaben abschrieb.
Das war natürlich auch in einer Viertelstunde geschehen. Frangart
fuhr dann, wie immer, zur Frauenkirche in die Messe, wohin ihn
jedoch Schlagintweit nie begleitete. Da aber Frangart sich nicht
bemüssigt fühlte, es auch für formlos gehalten hätte, nach der
Weltanschauung eines anderen zu fragen, kam es darüber nie zu
einer Auseinandersetzung.
Diese vollkommene Schweigsamkeit des Baron Frangart über
sein eigenes Wesen, über seine Anschauungen, tat Schlagintweit
weh. Wenn er im Bette lag und nachsann, welche Gefälligkeiten
er morgen Baron Frangart erweisen könnte, träumte er manchmal
davon, daß einmal, ach, nur ein einzigesmal dieser sein Herz
öffnen würde. Er dachte es sich so schön, wenn sie sich dann
gegenseitig ihre Ideen klarlegen würden, er würde die Hand um
Baron Frangart legen ... oh nein, er wußte schon, daß er dies
nie wagen dürfte, daß jener sich nie eröffnen, auch nie eine
freundschaftliche Vertraulichkeit gestatten würde.
Frangart seinerseits, wenn er über Schlagintweit (was sehr
selten geschah) nachsann, fonnulierte seine Sympathie für diesen
so: »Er hat noch den Takt der alten Leute aus dem Volke, er
verlangt keine Aufklärungen, keine Gründe von den Menschen,
die er verehrt«. Und so erriet er die Sehnsucht des armen Schlag-
intweit nicht, weil sie ihm selber fehlte. In der Heiterkeit
aber, die von diesem Menschen ausging, sonnte er sich mit einer
gewissen trägen und selbstverständlichen Ruhe, wie vor Jahren,
an die Schloßmauer von Frangart gelehnt, in der lachenden Sonne
des Südens . . .
Der junge Baron ging um diese Zeit, halb aus Neugierde,
halb aus konventionellem Zwang, etliche Male zu den Tees und
anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen einiger adeliger Fa-
milien, an die man ihn liebenswürdig empfohlen hatte. Aber bald
unterließ er es wieder. Bei den einen sah er sich mit Künstlern
und Literaten zusammen eingeladen, die, unter dem Beifall der
Hauswirte, ihre modernen und billigen Phrasen von neuen Wegen
— 32 —
zur Kultur kommentierten, aber für Fritz Frangart durch ihr
ganzes gesellschaftliches Benehmen hinlänglich bewiesen, daß sie
die wohlbewährten alten Wege zur Kultur noch nicht gegangen
waren. Seiner Ansicht nach wurden sie der hohen Bedeutung, die
man, sogar in alten Familien, ihrer Anwesenheit beimaß,
nicht im geringsten gerecht, umsomehr aber dem kalten
Büfett, oder am meisten dem Abendessen, wenn es ein solches
gab : ihr unanständiger Heißhunger paßte durchaus zu dem Bild,
das sich Baron Frangart von der neuen Kultur machte. Wenn
aber in diesen Gesellschaften Wein getrunken wurde oder gar Sekt,
so unterschieden sich die Gäste nur in der Qualität des Getränkes,
aber keineswegs in ihren Sitten von seinen kneipenden Mitschülern;
höchstens noch darin, daß, was dort >Gemü . . . a . . a . . t . . lich-
kei...eit< genannt wurde, hier als »originelle Viecherei< oder
gar als »dionysischer Taumelt der Gemüter galt. — In anderen
Kreisen hinwiederum, die zwar in den Formen immer noch strenger
und genauer lebten, bemerkte er mit Mißvergnügen, daß sich alle
Männer ohne Ausnahme und sogar die meisten Frauen offenbar
viel mit Politik beschäftigten. Er aber empfand Politik, wie sie
heute getrieben wird, als eine Degradierung; so zog er sich also
auch aus diesen Kreisen zurück.
*
Von den stets willig-gelieferten Krankheitsbestätigungen des
erwähnten Arztes bezog Fritz Frangart in den Monaten Mai und
Juni eine reichliche Anzahl. So konnte er sich unbehindert seiner
Ruhe hingeben.
Ein paar Tage vor der Maturitätsprüfung, also in der zweiten
Hälfte des Juni, ereignete sich indessen ein Vorfall, der ihn in
unangenehmer Weise aufstörte. Er hatte von seinen Mitschülern
ja nach jener Kneipe niemals mehr Notiz genommen und war so-
mit allerdings der Mühe enthoben, sich an ihre von Schlagintweit
gegebenen Charakteristiken zu erinnern. Aber da die Mitschüler
die Bevorzugung Schlagintweits nicht ohne Neid sehen konnten,
und dieser auch wegen seiner Spottlust heimliche Feinde genug
hatte, bildete sich unliebsames Gerede über ihre Beziehungen. Die
große Ergebenheit des einen gegen den anderen war ja allen be-
kannt. So sagte man, zum Beispiel, daß sich der schöne Baron
Frangart den Schlagintweit als Diener, ja »Haustier« halte und ihn
dafür, hoffentlich und jedenfalls, anständig bezahle.
- 33 -
Als er nun eines Morgens in das Klassenzimmer eintrat,
und mit den Augen den noch abwesenden Schlagintweit suchte,
flüsterte die »dicke Mittelmäßigkeit« einem Mitschüler einige Worte
zu, die Anspielungen der erwähnten Art enthielten. Baron Frangart
hörte es, ohne es zu wollen. Daher ging er, mit der sicheren
Ruhe, die ihm eigen war, zu der »Mittelmäßigkeit« hin und er-
suchte, verbindlich lächelnd, aber nicht ohne leise Drohung in
seinen dunklen Augen, um Aufklärung. Die Mittelmäßigkeit er-
schrak heftig, und ihr bourgeoises Fett (mit Schlagintweits Worten
zu reden) wackelte. >Herr Baron, das sage nicht ich, das habe ich
nur gehört. Man hat mir erzählt, daß Schlagintweit seine Schüler
und sein Einkommen vernachlässigt, weil er die freie Zeit jetzt
meistens bei Ihnen zubringt.« Baron Frangart sah den ängstlichen
Stotterer an wie eine Kröte und wandte sich ab. Das Gerede war
sehr ekelhaft, aber er nahm sich vor, Schlagintweit kein Wort
davon zu sagen, ihn hingegen, wie es gerecht war, auf irgend eine
■ Weise zu entschädigen. Baron Frangart hätte ja mit Leichtigkeit,
ohne es zu verspüren, die Familie Schlagintweit über die groben
Sorgen des Tages hinausheben können. Es war nicht Geiz, was
ihn davon abhielt. Aber es gehörte zu seinen Überzeugungen, daß
die Armut von Gott gewollt und zur Erhaltung des überliefertCH
Standes der menschlichen Dinge nützlich sei, sie beheben zu wollen
somit auch einen Akt der Revolution begehen hieße. Es hatten
schon genug Verschiebungen in der menschlichen Gesellschaft
stattgefunden, im Laufe des letzten Jahrhunderts . . .
Mit solchen Ansichten verband Baron Frangart auch einige
merkwürdige äußere Gewohnheiten, zum Beispiel, daß er nie ein
anderes Licht in seinem Zimmer duldete, als das von Wachskerzen.
Niemals in seinem Leben benützte er das Telephon : es war ihm
eine >zu junge Einrichtung«. Statt eine Zeitung zu lesen, ließ er
sich von Schlagintweit allmonatlich die Reihe der nackten Ereig-
nisse der Zeit auf einem kleinen Zettel zusammenschreiben. Dieser,
der >alles war, nur nicht loyal«, konnte nicht umhin, sich dabei
manchen Scherz zu erlauben. Einmal schrieb er: Der Papst hat den
Vatikan an einen Amerikaner verkauft und ist nach Berlin ver-
zogen. Ein andermal : Der internationale Delegiertentag der Sozial-
demokratie hat die Rethronisierung der Bourbonen auf sein Pro-
gramm gesetzt. Oder : Gestern haben sich alle Pariser Anarchisten
34 —
auf der Place de la Concorde freiwillig verbrannt. (Mit diesen
Sclierzen wollte er Baron Frangart zu einer Diskussion verleiten,
was ihm aber nicht gelang.) Automobil fuhr Baron Frangart nie:
>man soll in seinen alten Tagen nicht einen so neuen Sport an-
fangen«. Die Versuche der Luftschiffer vollends hielt er für ein
Verbrechen, und fand es in Ordnung, daß so viele dieser Leute
tödlich verunglückten. Übrigens, behauptete Baron Frangart, hätten
die Chinesen alle diese Neuerungen schon vor längster Zeit be-
sessen, sie aber durch den Machtspruch des Gesetzes wieder abge-
schafft ; denn sie hätten ersichtlich nicht zur Hebung des Qlückes
und der menschlichen Gesellschaft überhaupt beigetragen.
Inzwischen stellte die Neuzeit, ja die allernächste Gegen-
wart, eine nüchterne, unumstößliche Forderung an Baron Frangart :
nämlich, die Maturitätsprüfung zu machen. - Im Lateinischen,
Griechischen und Französischen ging alles glatt, in der Religion
ausgezeichnet, zur Freude seines Religionslehrers, den er selbst
hochschätzte. Zweierlei aber stand ihm noch bevor: das Deutsche
und die Mathematik. In der Mathematik rechnete er gelassen mit
der allerletzten Note. Das Deutsche mußte ihm erhebliche Schwierig-
keiten machen, wenn sich das Thema etwa auf die Geschichte
bezog, in deren Studium er konsequent alles, was ihm nicht
gefiel, ignoriert hatte.
Nun bestand das deutsche Thema in jenem Satz des anti-
revolutionären, von Frangart über alles verehrten Goethe: »Was
du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu
besitzen.«
Baron Frangart lieferte eine nur leise verhüllte »Begründung
der Tradition in jedem Betrachte, der Priviligion und aller von
Gott gewollten, historisch bewährten, menschlichen Institutionen.«
Sein Aufsatz geriet wirklich sehr gut, und es war schade, daß ihn
nur der deutsche Professor, nicht aber Schlagintweit zu Gesicht
bekam; er hätte daraus doch Einiges zum Verständnis seines
Frangart gelernt.
Schlagintweit selbst gab zwei Bearbeitungen des Them.as
ein. Auf die eine schrieb er in Klammern: »Wie das Thema von
einem Abiturienten behandelt werden muß<. Diese Bearbeitung
war in der Form der edlen Chrie abgefaßt und enthielt alles
Wünschenswerte. Auf die andere schrieb er: »Wie das Thema von
- 35
einem Menschen behandelt wird<. Hierin setzte er kaltblütig und
ironisch auseinander, daß ihm, mangels eines materiellen väter-
lichen Erbes, für den Satz, soweit er materiell gemeint sei, eigent-
lich jede Erfahrung fehle; daß er jedoch seinen eventuellen Nach-
kommen, vorausgesetzt, daß sie wenigstens etwas erbten, die
Worte Goethes unermüdlich einbläuen werde. Dazu fügte er eine
lächerliche Betrachtung über mögliche Widersprüche, die er
zwischen dem Ideal der reinen Humanität (d. i. >Menschlichkeit<)
und dem der Tradition späterhin möglicherweise ent- und auf-
decken werde.
Diese zweite Bearbeitung, von der er mit dem Wunsch,
Frangart zu einer Gegenrede zu reizen, diesem erzählte, aber nicht
mehr als em Lächeln zur Antwort bekam, trug Schlagintweit in
letzter Stunde eine Karzerstrafe ein.
•
Solchermaßen waren nun doch eine Zeit lang über die alte
Mauer der Ruhe, von der umgeben Baron Fritz Frangart dahin-
lebte, die unruhigen Eidechsen geklettert, die der gute Bajazzo
dorthin jagte; und Baron Frangart jagte sie nicht weg. Aber dem
Bajazzo öffneten sich die Mauern nicht. In dunklen Nächten stand
er manchmal, leise schluchzend, davor. Unerhört verhallte sein
Schluchzen und das Salz seiner Tränen konnte der Mauer so wenig
anhaben, wie die zartfüßigen Eidechsen seiner Heiterkeit. — Ein
solcher Bajazzo wie Schlagintweit hat ein schweres Los auf Erden:
freilich darf er seine Spässe auch dort aufführen, wo sich Andere
keine lustige Miene mehr getrauen, geschweige denn ein Wort.
Aber das ist auch alles. Er muß froh sein, wenn er nicht miß-
verstanden wird; wenn ihn die Anderen nicht mit einem Allerwelts-
Hallodri verwechseln und ihm Pfennige hinwerfen. . Das nun
brauchte Schlagintweit von Baron Frangart nicht zu befürchten.
Aber Liebe gab ihm dieser auch nicht, konnte sie ihm nicht geben . . .
Oh über die süßen Schmerzen der Freundschaft! Oh un-
belohnte Liebe! Oh Schrei der Sehnsucht, der ohne Echo verhallt!
Oh verlorene, verlorene, verlorene Jugend! . . .
»Ein schweigsamer Mensch ohne Echo zu sein, wie Baron
Frangart, ist aber auch keine Kleinigkeit!« dachte Schlagintweit,
zog sein Herz aus der Brust und wischte sich die Tränen
damit ab.
- 36 -
Wanderers Lied
Von Albert Ehrenstein
Meine Freunde sind schwank wie Rohr,
auf ihren Lippen sitzt ihr Herz,
Keuschheit kennen sie nicht;
tanzen möchte ich auf ihren Häuptern.
Mädchen, das ich liebe,
Seele der Seelen du,
auserwählte, lichtgeschaffene,
nie sahst du mich an,
dein Schoß war nicht bereit,
zu Asche brannte mein Herz.
Ich kenne die Zähne der Hunde,
in der Wind-ins-Gesicht-Gasse wohne ich,
ein Sieb-Dach ist über meinem Haupte,
Schimmel freut sich an den Wänden,
gute Ritzen sind für den Regen da.
»Töte dichl< spricht mein Messer zu mir.
Im Kote liege ich;
hoch über mir, in Karossen befahren
meine Feinde den Mondregenbogen . . .
Bficher
Die »Deutsche Theater-Zeitschrift' (Berlin, Jahr III,
Heft 7) schreibt über >Sprüche und Widersprüche«:
Seit zehn Jahren schwingt Karl Kraus seine flammende Fackel über
jede bittere Schmach des deutschen Landes, von manchem Guten geliebt,
von vielen gehaßt, gleichgiltig nur denen, die nicht Deutsch verstehen. Und
seit zwrei Jahren ist er am Werke, das, was seine hinreißende Stilmacht in
den roten Heften plastisch gestaltet hat, zu Büchern umzugießen. So ent-
stand im Vorjahre der Band > Sittlichkeit und Kriminalität«, so heuer das
Buch >Sprüche und Widersprüche«. Ich kenne sie alle von früher her, diese
festen und farbigen Steine, die einen hohen Bau gäben, wenn ein Philosoph
sie zu einem System zusammenfügte und nicht ein heißer Künstler es vor-
gezogen hätte, sie zu dem stolzen Mosaik seiner Lebensanschauung anein-
anderzuschließen - diese Sprüche,die nichtWorte sind, sondern lebendeWesen.
Haben sie ja doch ein tiefgrabendes Hirn, ein verzweifeltes Herz und
eine Stimme, die donnern kann gegen die Gemeinheit unserer Welt-
37 -
Ordnung, wild aufschluchzen ob der Brutalität geistiger Machthaber und
singen zum Preise der Schönheit. Manch einer von diesen brennenden
schillernden Sätzen sprach einst zu mir wie ein reifer Mensch, der zu
tiefinnerst Dinge erlebt hat, die ich kaum ahnte. Voll Bewunderung
lauschte ich der Botschaft. Anfangs fehlte noch der Glaube. Bis mir
meine Erlebnisse die Naturnähe dieser Erkenntnisse bewiesen. Keiner
dieser Sprüche und Widersprüche, die vom Weibe und der Phantasie,
der Moral und dem Christentum, vom Nebenraenschen, von der Dummheit,
der Demokratie, dem Intellektualismus, dem Künstler und anderen
wichtigen Kultuproblemen dichten, sei hier zitiert. Denn ich könnte,
wenn ich etwa ein Dutzend hierhersetzte, mich an den vielen Hundert
anderen vergreifen. Wer sie kennen lernen will, kennt nun den Weg.
Sie zu missen wäre heute kaum denkbar; sie zu wissen ist ein
freudiger Schmerz. Oskar Jellinek.
In der , Rhein. Westfälischen Zeitungf (Essen,
14. Oktober) war die folgende Besprechung enthalten:
Simplicissimusluft weht besonders in dem Eingangskapital mit der
übermäßigen Betonung des Sexuellen, sich aufbauend auf der schroff
durchgeführten Antithese: das Weib ist Sinnlichkeit, der Mann Verstand.
Aber wir finden im weiteren auch einen die Masse hassenden Einsam-
keitsstolzen und einen bedeutenden Satiriker von Geist und Schärfe,
der gerade und kühn, vorschreitend, was er denkt über Kunst und
Leben, originell zu formulieren und zu prägen weiß.
Die Auffassung, daß besonders im Kapitel »Weib, Phantasie«
Simplicissimusluft wehe, gibt der Kritik ihre ausgesprochene
Eigenart. Man spielt dem Simplicissimus jetzt in Deutschland
übel genug mit. Nunmehr auch dieses noch !
Die »Zeitschrift für Demographie und Statistik
der Juden' (BerUn V., Nr. 12) schreibt über »Sittlichkeit und
Kriminalität<:
Kraus hat zu dem 1. Bande seiner ausgewählten Schriften eine
Reihe von Aufsätzen vereinigt, welche in ihrer ursprünglichen Form in
der Wiener Zeitschrift ,Die Fackel' erschienen sind Sie behandeln zumeist
die Wiener Sensationsprozesse der letzten Jahre, so weit sie das Thema
»Sittlichkeit« berühren. Kommt die Darstellung von Einzelfällen schon
an sich als ein äußerst wichtiges kriminalpolitisches Material in Betracht,
welches der Kriminal Statistik an Bedeutung gleich zu achten ist, so
sind die Betrachtungen Kraus' zu den einzelnen Prozessen von ganz
besonderem Werte. Denn er weiß in glänzender Darstellung aus jedem
einzelnen Falle eine schier erstaunliche kriminalpolitische Ausbeute zu
gewinnen. Die temperamentvollen kritischen Bemerkungen Kraus", welche
sich einesteils auf die Rechtspflege und andererseits auf die Gesetze
38 -
selbst beziehen, verdienen in hohem Maße Beachtung, zumal in einer
Zeit, in der die Reform der Strafgesetzgebung vorbereitet wird. B. B.
•
,Der Demokrat', Wochenschrift für freiheitliche Politik,
Kunst und Wissenschaft (Berlin II. Nr. 7), bringt einen Essay, in
dem es heißt:
Kraus hat jahrelang österreichische Korruptionen mit dem brüs-
kestem Mut aufgedeckt, er hat die Verkommenheit der Wiener Presse
auf eine lebensgefährliche Art bekämpft. Man versteht ohne weiteres,
daß er, solange die , Fackel' erscheint, in Österreich totgeschwiegen
wurde. Die Aufsätze von > Sittlichkeit und Kriminalität« lassen sich aber
nicht mehr mit diesem System aus der Welt schaffen . . . Sicherlich ist
man zuerst erstaunt über die Summe von unglaublich sachlichen juri-
stischen Auseinandersetzungen, rein logisch gesetzesmäßiger Behandlung
von Rechtsfällen . . . Aber unter den dürren Formen der trockenen
Darstellung erhebt sich unterirdisch das wilde Brüllen eines Tieres aus
Urzeiten. Es gilt die Hetzjagd auf das Geschlecht.
Das Geschlecht ist umstellt von einer hämischen Meute. Das
ganze Bürgertum rückt an, die Scharen Schmunzelnder mit triefenden
Mäulern und verfetteten Gehirnen. Diese ganze Menge wird beherrscht
von einem Ideal, geschoben von einer Sehnsucht: dem Glück des
Kitzels. Unwiderstehlich rücken diese Bataillone des feisten Lächelns
an, um Schlachten zu schlagen, deren größter Sieg stets die Niederlage
ihrer eigenen Mannen ist. Plötzlich wird aus den eigenen Reihen ein
Mensch herausgestoßen, und ein Fragen, Flüstern, Lachen stürzt aus
tausend Mäulern auf sein Leben ein, die Begierden aller dieser Tausende
werden an ihm enthüllt, geheime Wünsche, deren Befriedigung stets
das Phlegma hinderte, werden in ihrer Erfüllung offenbart, und aus der
Scham des Umzingelten schlürft die Menge jenes zum Leben so not-
wendige Gefühl der Natur, das ihr selbst aus purer Verfressenheit in
stickiger Stube versagt bleiben mußte . . Aber das ist nicht die Brunst,
in Geheimnisse hinabzutauchen, nicht jene ewige Gier, die Erotik zu
entwirren, sondern der Wunsch, den Einzelnen, der das Treibwild ist,
zxim Erzähler pikanter Anekdoten zu machen; unter dem Schutze des
allgemeinen Interesses sich jene Genüsse zu verschaffen, die man sonst
nur in dunklen Ecken aus Revolverblättern zu ziehen sich getraut . . .
Kraus stellt die Gerichtsverhandlungen des bekannten Sittlichkeits-
prozesses gegen den Professor Beer in Wien dar. Alle Begriffe ver-
schieben sich da. Die Empörung des Lesers wird schließlich zur trockenen
Kenntnisnahme von Selbstverständlichkeiten, längst bekannte Gerichts-
gebräuche erregen wütendes Erstaunen. Die Begierde der satten Öffent-
lichkeit, teilzuhaben an den geheimen Genüssen des Einzelnen, stürzt
sich auf jeden, geschlechtlicher Verfehlung Angeklagten, Mann oder Weib.
Sie beeinflußt im Prozeß Beer die Zeugen, den Gerichtshof — die Ver-
teidiger. Sie macht die Sensationen des Falles der Schauspielerin Odilon.
Sie läßt die Hauptmannsfrau Hervay von der Enttäuschung einer kleinen
- 39 —
Stadt verurteilen, weil die Dame vor den Zeiten ihrer Ehe Abenteuer
hatte. Sie macht die behaglichen Entrüstungen über das Bordell Rieh!.
Und diese Gier legt dem Vorsitzenden des Gerichts bei verschüchterte«
Angeldagten unverschämte Fragen in den Mund, die der Lümmel sofort
schmatzend selbst beantwortet und die wehrlose Frauen zum Selbst-
mord treiben. Mit unfehlbarem Instinkt stürzt sich die Presse auf diese
Verhandlungen. Das Geschlecht ist wieder einmal erwischt, man hetze I
Und nun qualmt die Atmosphäre der Lüsternheit über dem Angeklag-
ten zusammen, um die Hinrichtung durch Ersticken zu vollziehen.
Karl Kraus hat einen ganz unerhörten Mut. Man muß vermutlick
Wiener sein, um nicht zu sehen, daß dieser Mann seit Jahren inderge-
fahrvoUsten Stellung gegen die Öffentlichkeit kämpft, ein Einzelner,
nirgends gedeckt, geschützt nur durch seine eigene Unerschrockenheit!
Dieser Gehaßte, der so unbekümmert die Namen der Richter. Präsi-
denten, des Polizeirates von Wien, aller öffenUichen Sensationisten des
Privatlebens nennt, ist doch nur durch ein wahres Wunder vielen Jahren
Kerker entgangen.
Es gilt, einzusehen, daß Kraus Deine Sache agiert. Er kämpft
g^en die OffenUichkeit, um den Prozeß jedes ihrer Glieder zu führen.
Vielleicht erinnert man sich an Dostojewskis Wort: »Wir leben
im Zeitalter der Isolierung«. In dem Buch von »Sittiichkeit und Krimi-
nalität« geht einer, fest und mutvoll in seiner Welt der Tatsächlich-
keiten, in einen fast utopischen Kampf: die Isolierung des privatesten
Lebens, diese Mauer des Einzelnen gegen die eigenen Angriffe instinkt-
loser Selbstzerstörung, zu schätzen. L R
•
Peter Altenberg. Bilderbogen des kleinen Lebens*)
So klein und unscheinbar auch jedes Ding,
sobald sein klarer Blick in stiller Güte
es einmal nur in Liebe voll umfing,
erneut es sich in ni^ekannter Blüte.
In dieses reichen Lebens langen Jahren
war nicht ein einz'ger schönheitsleerer Tag —
und was in Leid und Mitleid er erfahren,
den Traum, der schwer auf seiner Seele lag,
goß einsam er. von stumpfem Hohn verlacht,
in solcher milden Worte tiefe Pracht.
Ludwig Ulimann.
*) Berlin- Westend, Erich Reiss, Verlag.
- 40 —
Glossen
Von Karl Kraus
Eine Neuerung
Nun ja, nun ja, er war wie immer >ein Stelldichein von amt-
licher Würde, künstlerischer Berühmtheit und weiblicher Schön-
heit<. Nämlich der Concordiabali. Er übertraf wie immer an Glanz
alle seine Vorgänger, er tut es seit fünfzig Jahren, warum sollte
er es gerade diesmal nicht getan haben? Denn das haben sie alle
gemeinsam, die Concordiabälle, daß sie einander an Glanz über-
treffen. Und doch scheint diesmal etwas geschehen zu sein, was den
diesmaligen von seinen Vorgängern wirklich unterscheiden könnte,
und was, wenn sich die Nachricht bewahrheitet, die künftige
Berichterstattung über die künftigen Concordiabälle erheblich be-
einflussen würde. Es handelt sich, um es mit einem Worte zu
sagen, um das >Tanzrecht<, das sich einstmals die Jugend bei
den einstigen Concordiabälien bekanntlich nur mit Mühe erobern
konnte, nachdem der Dirigent Rabensteiner vergebliche Versuche
gemacht hatte, na und so weiter, wozu soll man an die peinlichen
Geschichten wieder erinnern. Und heuer, heißt es nun, >haben sie
sichs einfach selbst verschafft«. Früher, du mein Gott, da standen
%ohl die sehenswerten Kommerzialräte, die Konsuln von Paraguay
und überhaupt die Champagneragenten, die man als Vertreter des
diplomatischen Korps bemerkte, herum, aber was nützte das alles,
der Jugend, der lieben Jugend fehlte es gerade deshalb an Raum
und Bewegungsfreiheit. Noch auf dem vorjährigen Ball, der, wie
sagt man doch, im Zeichen Schillers stand, konnte man vielfach
die Klage hören. Aber im Zeichen Schillers besann man sich auch,
diesen miserablen Zuständen abzuhelfen. War das ein Gedränge!
Nun, >wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden — greift
er hinauf getrosten Mutes in den Himmel — und holt herunter
seine ew'gen Rechte«. Ganz unbekümmert um die zuströmenden
Würdenträger, >beginnt plötzlich em couragiertes Paar zu tanzen«.
Was sagt man! >Der alte Urständ der Natur kehrte wieder — wo
Mensch dem Menschen gegenüber steht.« Nur die Estrade, dieses
Asyl schwitzender Sehnsucht, bleibt von der Revolution unberührt.
In dieser Beziehung hat sich nichts geändert. Während die Komitee-
— 41 ~
berren >alle Hände voll zu tun haben< - indem sie nimiich
viel besprechen müssen — , vollzieht sich »das Erscheinen der
Mächtigen, Angesehenen und Berühmten <. > Charakteristische Ge-
stalten aus der politischen Welt tauchen auf«, um sogleich wieder in
der »noch jugendlichen Erscheinung des österreichischen Minister-
präsidenten« zu verschwinden, hier sieht man die Grazie der Tanz-
kunst mit dem schweren Ernst der Diplomatie trauliche Zwiesprache
halten, und während sich das Fräulein Wewerka vom Ballett mit dem
japanischen Geschäftsträger über die Lage auseinandersetzt, meldet
der kriegerische Schmock bereits, daß »die Estrade heftig belagert
und heftig verteidigt wird<. Wann aber, wann endlich einmal, wird
sie sich übergeben?
•
Der Punkt
Ich habe den Schlußpunkt der Burgtheaterherrlichkeit
entdeckt. Den toten Punkt, über den kein Burgtheaterdirektor
hinauskommt. Nichts hilft, dieser Punkt trägt an allem Schuld.
Man glaubt natürlich, daß ich den »Dunklen Punkt< meine, der
jetzt im Burgtheater gespielt wird. Aber die schlechte Literatur
hat das Burgtheater nicht heruntergebracht; das behaupten nur
jene theaterfremden Kritiker, denen es nicht gelungen ist, ihre
eigene schlechte Literatur dem Burgtheater anzuhängen. Was ich
nun meine, wird man erst verstehen, wenn man sich vor die Front
des Burgtheaters stellt und dort hinaufschaut, wo Apollo, be-
kanntlich einer der beliebtesten Götter Wiens, seinen Wohnsitz
hat. Zu seinen Füßen wird man in mannshohen Lettern die
Aufschrift finden:
K. K. HOFBURGTHEATER.
Punkt! Darüber komme ich nicht weg. Diesem Punkt gebe ich die
Schuld, daß die künstlerische Entwicklung ins Stocken geraten ist.
Aber, seien wir gerecht, er hat dafür auch schon manches Unheil
verhütet. Denn wie leicht hätte es geschehen können, daß ein
Wiener, der ja so lange auf ein Dach schaut, bis sich andere
Wiener ansammeln und auch aufs Dach schauen, wie leicht hätte
es also geschehen können, daß dieser Wiener und alle, die in
gutem Glauben seinem Beispiele folgen, weiterlesen, nachdem sie
mit der Aufschrift:
42 —
K. K. HOFBURQTHEATER
fertig geworden sind. Man male sich nur die Folgen aus. Die Wiener
lesen weiter nach rechts, immer weiter, bis dorthin, wo der Volks-
garten beginnt, und wenn nicht ein zufällig des Weges kommender
Wachmann Halt ruft, kann es geschehen, daß sie von einem
zufällig des Weges kommenden Einspänner überfahren werden.
Da nun der Erbauer des Burgtheaters, der Baron Hasenauer, die
Gefahren des Verkehrs erkannte und die Gelegenheiten der Warnung
nicht überschätzte, so entschloß er sich, allen Eventualitäten
vorzubauen und die Wiener durch einen nicht zu übersehenden
Punkt vor den Folgen des unvorsichtigen Weiterlesens zu bewahren.
Durch Wochen stemmten ein Dutzend Arbeiter an dem Stein und
stanzten einen Punkt, so groß wie der Kopf eines erwachsenen
Wieners. Man wäre nun versucht, in dieser Mühe ein Sinnbild
des dekorativen Kretinismus zu erblicken, der um eines Schnörkels
willen gegen alle Ökonomie wütet. Aber man würde damit den
sozialhygienischen Wert dieses besonderen Punktes verkennen.
Denn es ist erwiesen, daß sich in den zwanzig Jahren, die das
neue
K. K. HOFBURGTHEATER,
steht, kein nennenswerter Unfall ereignet hat. Auf dem Franzens-
ring sammeln sich die Leute, sie lesen die Aufschrift mit Interesse,
aber sie wissen, wo sie aufzuhören haben, und gehen wieder ihrer
Wege. Neugierige fühlen ein kräftiges >Zaruck!«, und die anderen
bescheiden sich. Nur auf manche Passanten übt gerade wieder der
Punkt eine besondere Anziehungskraft aus. Zum Beispiel auf die
Burgtheaterdirektoren. Sie, die weiterlesen sollten, starren fasziniert
auf den Punkt. Sie glauben, er sei eine Fügung des Obersthof-
meisteramtes, und kommen nicht weiter. Sie laufen die Buchstaben-
reihe zwischen dem K. K. und dem dramatischen R auf und ab
und finden keinen Ausweg. Ich glaube, es wäre ihr ewig Weh und
Ach aus einem Punkte zu kurieren. Und es wird einmal eine Sage
sein, daß ein Fluch auf dem Hause gelastet hat, an dem nicht die
Akustik, sondern die Interpunktion schuld war. Man befreie die
Kunst und sorge für die Sicherheit des Publikums durch Ver-
mehrung der Wache!
— 43
Deutsche Dichter
Eine der dankenswertesten Einrichtungen des deutschen
Buchhandels sind die Prospekte, die den Zeitschriften beigelegt
werden. Sie enthalten nicht nur eine Fülle jener kritischen Ein-
sicht, die die Verleger an die Beiuieilung ihrer Ware wenden,
sondern oft auch die Konterfeis der Autoren, deren Züge viel
besser für die gediegene Qualität des Buches sprechen als das
lauteste Lob des Verlegers. Man hat da mitunter wirklich eine
Galerie von Charakterköpfen beisammen. Da ist vor allem der
Herr Eduard Engel, Literarhistoriker. Er hat einen Goethe, >der
Mann und sein Werk«, herausgegeben, und es sei, meint der
Verleger, ein > Beweis für Goethes wahre Menschen- und
Dichtergröße, daß er diese rein menschliche, streng kritische Dar-
stellung noch viel herrlicher besteht« als die aller anderen Goethe-
Biographen. Dieser Herr Engel, der sich in Deutschland großen
Ansehens und vieler Auflagen erfreut, hat mich auf die Idee
gebracht, eine eigene Razzia auf Literarhistoriker zu veranstalten.
Vielleicht komme ich einmal dazu. An jenen Geist schließt sich
ein anderer, der noch viel herrlicher als Goethe die Kritik des
Herrn Engel bestünde, der schalkhaft lächelnde Oskar Blumenthal.
Er weiß, daß der Verleger recht hat: »Wir sagen nicht zu viel,
wenn wir Oskar Blumenthals ,Buch der Sprüche' als einen Haus-
schatz an Lebensweisheit bezeichnen, der als Standard Work in
den Besitz des deutschen Volkes überzugehen verdient.« Geschieht
dem deutschen Volke ganz recht. Herr Paul Lindau dagegen wird
wieder allen jenen willkommen sein, >die die Lösung der unend-
lichen Rätsel im Verkehr von Mann und Weib zu finden wünschen«.
Überdies schildert er noch »das in tausend Nuancen schillernde und
"«o prickelnde Leben der modernen Gesellschaft Berlins«. Kann man
mehr verlangen? Nicht einmal von Herrn Felix Josky, wiewohl dieser
doch >mit Florett und Laute« dichtet. Aber einer ist da, der das Kunst-
stück wirklich fertig bringt Wer anders als mein Lothar? Ja, das
ist der alte Schalk, der alte Rattenfänger, ich erkenne ihn. »Das
Leben sagt nein«, lautet der Titel seiner Novellen. Wie? Resignation?
Lebt der alte Sprudelgeist nicht mehr? >Aber nein i« sagt wieder der
Verleger, »der fröhliche Rudolf Lothar, der Verfasser lachender
_ 44 —
t^omane und amüsanter Schauspiele, ist sich treu geblieben, und wo
in seinen Erzählungen das Leben nein sagt, da ertönt sogleich das
helle ,ja' des Welterstürmenden, des Lebenssiegers«. Ja, ja, und
tausendmal ja, er lebt, er ist da, es behielt ihn nicht. Oewiß,
er arbeitet für den Lokalanzeiger, aber, sagt der Verleger, >selbst
Schicksalsschläge, unter denen Mutlose zusammenbrechen, sind für
diesen nur glücksame Weckrufe zum Leben, zu neuen glücklichen
Dingen.< Herr Lothar war lange Zeit Interviewer, aber der Verleger
sagt, daß er Epikuräer sei. »Man weiß«, setzt der Verleger hinzu,
>daß Epikur nicht der reiche Schwelger ist, für den man ihn in
manchen Kreisen hält, sondern, daß er ein Mann war, der die
unversieglichp, unzerstörbare künstlerische Freude an allem Seienden
zum Kern seiner Philosophie gemacht hat.« Mein Gott, was wird
nicht alles herumgetratscht in den Literaturkaffeehäusern ! So konnte
auch das Gerücht entstehen, daß die Herren Epikur und Lothar
reiche Schwelger seien. Ist es ein Wunder? Schließlich hat sich ja
auch der Glaube festgesetzt, daß der große Pan tot sei. Aber es ist
nicht wahr, er lebt und arbeitet für den Lokalanzeiger unter dem
Namen Holzbock . . . Ein anderes Bild: Mitten in die Zone der
Kultur führt uns Hans Olden. Von ihm heißt es: >01den braut
starke Getränke und bereitet sie zu wie ein Gentleman. Man hat
die Vision krachend ins Schloß geworfener Türen . . .« Aber es
handelt sich nicht, wie man vermuten könnte, um ein Stilleben
aus einer Bar, sondern um einen Novellenband mit einem Geleitwort
von Maximilian Harden. Der sich sonst bekanntlich nur für die bessere
Lyrik einsetzt. Dann aber kommt Herr Rudolf Presber. bei dessen
Lektüre »uns das Herz lacht«, während Herr Robert Saudek wieder
durch den »Pulsschlag der einander jagenden Ereignisse« bemerkens-
wert ist. Folgen einige Reporter und einige Blaustrümpfe. Sie alle
wollen nicht nur erhoben, sondern auch gelesen sein. Es ist nicht
auszudenken. »Die Rettung von Kulturschätzen aus dem Brande
einer deutschen Bibliothek« — solche Vorstellung möchte künftigen
Historikern schmecken ! Aber wir halten längst schon so weit, daß
nur mehr von einer Rettung der Kulturschätze durch den Brand
einer deutschen Bibliothek die Rede sein kann.
— 4Ö —
Das Buch Aber Berlin
Für eines der schlechtesten Bücher des Jahres — platt und
flott über die Maßen — halte ich >Berlin, Ein Stadtschicksal«
von Karl Scheffler. Da ich zum Problem Wien-Berlin mehr als
die Entdeckung beizubringen habe, daß Wien die >ältere Kultur<
hat, und dieses Mehr vielleicht einmal seine einheitliche literarische
Qestalt findet, so geht es nicht an, Herrn Scheffler gesonderte
Beachtung zu widmen. Hätte ich bloß das Gegenteil zu sagen, ich
täte es sofort. Aber alle Vorstellungsklischees, mit denen er arbeitet,
hatte ich längst zertrümmert, ehe ich sie in seinem Buch vorfand.
Es gibt kaum eine Banalität zum Preise Wiens, die ich mir in
satirischer At)sicht nicht frei erfunden hatte, ehe sie mir von
Herrn Scheffler gereicht wurde. Das ist lästig; denn ich brauche
das Beispiel des Herrn Scheffler nicht, um die Sorte eines
Sozialästhetentums zu verpönen, und man köimte glauben, daß ich
mir diese Lebensanschauung, die mir seit vielen Jahren im Magen
liegt, erst von Herrn Scheffler servieren ließ, um sie zu verschmä-
hen. Man wird eine Notwendigkeit für Polemik halten; ich werde
mich erbrechen und man wird bloß glauben, es schmecke mir
nicht. Um Herrn Scheffler zu widerlegen, bedürfte es keines
Buches. Schließlich habe ich mir das Problem oft genug apho-
ristisch notiert und etwa mit dem einen Satz: >Wenn man an den
Denkmälern einer Stadt in einer Automobildroschke vorüberkommt,
dann können sie einem nichts anhaben« Herrn Scheffler über die
ganzen Kultursorgen beruhigt, zu deren Darstellung er dreihunden
Seiten braucht. Aber hoffentlich finde ich einmal ein paar Wochen,
um all das zu binden, was sich mir zu meinem »Wien, Ein Stadt-
verhärtgnis« gesammelt hat. Diese Journalisten der Kultur stiften
arge Verwirrung, besonders wenn sie sich so fließend ausdrücken
können wie Herr Scheffler. Darum sei heute nur das Niveau be-
zeichnet, auf dem sich die Propaganda für sein Buch bewegt. Im
Buchhändlerbörsenblatt wird im Faksimile das folgende Schreiben
veröffentlicht :
.Maison de S. M. LE ROI Bocarest. den 6. Januar 1910.
An die Verlags-Bnchhandlnng E . . . . R . . . .,
Berlin- Westend.
Seine Majestät der König, mein Allergnädigster Herr, empfingen
— 46 —
ein Buch, betitelt: >Berlin, Ein Stadtschicksal« von Karl Scheffler mit
folgender Widmung: »Das beste Buch des Jahres. Einem einstigen
Bewohner der Stadt ehffurchtsvoll zu Füßen gelegt.« Weihnachten 1909.
Da jede weitere Unterschrift fehlt, so kann dem aufmerksamen Über-
sender der gebührende Dank leider nicht ausgesprochen werden. Ich
erlaube mir daher Ihre Gefälligkeit in Anspruch zu nehmen und Sie zu
bitten, sofern Sie zufällig in der Lage sein sollten, den Einsender dieses
interessanten Buches zu kennen, diesem Seiner Majestät besten Dank
gefl. zu übermitteln.
Mit bestem Dank für Ihre freundliche Bemühung, zeichne ich
hochachtungsvoll etc.
Wer nur der edle Wohltäter des Königs von Rumänien
sein mag? Solche Stückchen sollte ein Autor, ders mit der
Kultur hält, seinem Verleger nicht hingehen lassen. Gewiß, auch
meiner wird das Buch »Wien« einem einstigen Bewohner der
Stadt zuschicken dürfen. Aber es wird ein Autorexemplar sein!
Ein sonderbarer Schw&rmer
In einem Brief, den Anton Tschechow über einen Aufenthalt
in Wien geschrieben hat, soll der Satz vorkommen: >0, meine
Freunde, wenn ihr nur wüßtet, wie schön Wien ist! . . . Die
Straßen sind breit, schön gepflastert , . .«
Die Übersetzung
Ich lese nicht polnisch, aber in einem Zeitungsauschnitt,
der mir aus Krakau zugeschickt wurde und in dem offenbar vom
Prozeß Borowska die Rede ist, verstehe ich doch manche Worte.
Vor allem den Titel. Er lautet: »WiedenskI .szmok'«. Ferner
kann ich das Wort: »Paul Zifferer« übersetzen. Dann das Wort:
»Neue Freie Presse«. Nun also, es geht, und bei einiger Übung
in solchen Vokabeln werde ich bald heraushaben, was in dem
Artikel steht.
- 47 —
Wer weiß etwas?
Die Neue Freie Presse schreibt :
»Der liberale Kandidat, der in Darlington den konserv-ativen
Einpeitscher Pike Pease schlug, ist ein gebürtiger Ungar und
heißt erst seit einiger Zeit Lincoln. Nach vollzogenem
Glaubenswechsel studierte er in Budapest katholische, in Kanada
protestantische Theologie und war einige Monate anglikanischer Kaplan
in England.«
Wie mag er nur geheißen haben ?
•
Der gordische Knoten
In Berlin icann es mir nicht erspart bleiben, daß ich von
den Literaturbuben, die sich durch mich einen Namen machen
oder an mir ein Geschäft verrichten wollen, genau so verunreinigt
werde, wie es mir vor einem Jahrzehnt in Wien geschah. Das
bringt das neue Terrain und das Mißverständnis der stofflichen
Wirkung mit sich. Wenn die Jungen erst sehen werden, wo ich
hinaus will und daß es mir nicht um die kleinen Beispiele zu tun
ist, werden sie meine Fußtritte schon mit Respekt entgegennehmen.
Ich kann nun von dem kleinsten Schmierfink aus die prinzipiellsten
Dinge eiörtem, aber man darf von mir nicht verlangen, daß ich
mich polemisch mit ihm einlasse, wenn er mir zürnt, weil er
etwas auf sich bezogen hat, was selbst durch ihn ins Allgemeine
geht. Solcher Feigheit wird man mich nicht für fähig halten. Wenn
ich schnarche, bin ich ja imstande, ein Theatertinterl mit der
linken kleinen Zehe zu zerquetschen. Man wird mir nicht zumuten,
daß ich wach werde. Wenn ein Anderer, der nicht so wehrhaft
ist wie ich, von den Wanzen gebissen wird, rege ich mich gem.
Ich selbst muß zu allen Lügen und Fälschungen, zu allem Wahn-
witz, der sich in die Zunge beißt, wenn er mich einer Unehr-
lichkeit beschuldigt, ruhige Miene machen. Wie leicht könnte es
geschehen, daß ich mich kratze und der Gegner dies für die Er-
öffnung der Feindseligkeiten hält. Ich darf die Wanze wegschieben,
nicht sie zertreten; und wenn sie wieder kommt, muß ich sie mir
gefallen lassen. Sonst würde man nicht sagen, ich sei reinlichkeits-
hebend, sondern ich sei kleinlich. Denn wenn ein Feldherr aus der
Schlacht zurückkehrt und ein Gassenbub im Spalier behauptet, ein
Knopf an der Montur sitze schlecht, so würde zwar die erweis-
48 ~
liehe Wahrheit solcher Behauptung an dem Sieg nichts ändern.
Wenn aber der Feldherr beweisen könnte, daß das Gegenteil der
Fall ist, so würde solcher Beweis dem Siege schaden, weil das
Thema der Debatte das Niveau, auf welches ihn die Leistung ge-
stellt hat, herabdrücken würde. Ein anderes Beispiel: Ein Journalist
will mir Unaufrichtigkeit nachsagen und behauptet, daß ich früher
eingestandenermaßen seine Zeitschrift aus manchen Gründen und
auch deshalb gern gesehen habe, weil mir > mancher Beitrag Freude
gemacht hat<. Diese Worte legt er mir in den Mund. Wenn ich nun
auch nachweisen kann, daß ich zwar einmal wirklich diese Meinung
bekundet, aber ihre Gründe so zusammengefaßt habe: >ich sehe
die Zeitschrift gern; nicht nur, weil mir - die Ausschließlichkeit
des Theaterinteresses und die Verwissenschaftlichung des Tinterl-
tums zugegeben — mancher Beitrag Freude gemacht hat, sondern
auch weil ihr Notizenteil eine gute Handhabe bietet, sich jeweils
über den Stand des psychologischen Schmocktums in Deutschland
zu informieren< — wenn das jeder einfach nachlesen kann und fünf
Seiten über das Schmocktum dazu: so darf ich den Mann, der
aus dem zitierten Satz Folgerungen zieht, deren Gegenteil
aus den unterschlagenen Sätzen erhellt, trotzdem keinen Fäl-
scher nennen. Ich würde ihn enttäuschen, da er in seinen
kühnsten Träumen nicht gehofft hat, daß ich mich je mit ihm
polemisch kompromittieren werde, er würde alle Hochachtung vor
mir verlieren, und die Leute im Spalier würden nicht glauben,
daß ich vor dieser eklen Debatte größere Dinge geleistet habe. Und
mj^ einen die Logik der Lüge noch so sehr zum Einspruch
reizen, man muß verzichten, weil man niemand davon überzeugen
könnte, daß hier die Wahrheit besser sei als die Lüge. Ist es an
sich schon das Unfruchtbarste auf der Welt, Recht zu haben, und
ist es so ziemlich das Schäbigste, was man haben kann, so muß
man sich wenigstens die Leute ansehen, gegen die man Recht
behält. So perspektivisch selbst die Geste sein kann, mit der man
ein Schmutzstäubchen abtut, so würde doch nur die Tendenz den
Betrachter fesseln und durch ihre Kleinheit verwirren. Man muß
resignieren. Vor dem Haß, der den Knopf an der Montur ver-
leumdet, muß man die Waffen strecken. Die großen Gefahren
sind so einfach und die kleinen §o verwickelt ! Was hätte denn
— 40 —
Alexander getan, wenn der gordische Knoten ein W«ichselzopf
gewesen wSre?
O. J. Bierbaum
Der Tod kann kein Grund sein, über einen Menschen Böses
zu sagen. Aber ein Zwang zum Gegenteil ist er gerade auch nicht.
Weil einer gestorben ist, ist es durchaus nicht notwendig, daß die
Überlebenden zu lügen anfangen. Otto Julius Bierbaum gehörte zu
jenen formalen Talenten, die so lange unter allerlei stofflichen
Mißverständnissen für die Kunst reklamiert werden, bis sie sich
dem Publikum als Librettisten empfehlen. Es sind unstete
Existenzen, die von der Dummheit der zeitgenössischen Kritik zu
einer geistigen Lehiensführung gezwungen werden, der sie auf die
Dauer nicht gewachsen sind, und die ihr Glück machen, wenn
endlich der Musikant kommt, der mit ihnen das Geschäft teilt.
Wir in Wien haben den Herrn Dörmann, der sich so lange neu-
rotisch gebärdete, bis die Firma Sliwinsky dem Unfug ein Ende
machte. Da alle Dämonie heute glücklicherweise durchs Kabarett
führt, empfindet es der Künstler nicht mehr allzu schmerzlich,
wenn er sich zu den Tantiemen herablassen muß. Und sagen wir
es offen heraus: es sind in deutscher Sprache schon größere Werke
geschaffen worden als Kling- klang-Gloribusch. Gibt es im letzten
Jahrzehnt aber eins, das dem deutschen Volke besser gemundet hat ?
Nun habe ich allerdings die Schrulle, sogar Dreiviertel des Heine-
schen Nachruhms jener Lorelei zuzuschreiben und zu behaupten,
daß selbst das mit seinem Singen der Herr Sucher getan hat. Nicht
viele Lyriker gibt es in Deutschland, die ohre Kling und Klang
bestehen können. Bierbaum gehört nicht zu ihnen. Was soll man
nun mit einem Feuilletonnachrufer tun, der behauptet, in seiner
Lyrik >ströme eine Seele aus, die frei von jeder literarischen Schrulle
ihren Dichter in die zeitlose Gesellschaft der Herren Walter von
der Vogelweide, Eichendorff, Möricke und Goethe erhob?«
LilienCTon, schrieb ich einmal, habe sich für die Teilnahms-
losigkeit des deutschen Volkes furchtbar gerächt : er zeugte Otto
Julius Bierbaum. Die Wein- und Mädelsingerei war dahin, Bier
her, Bier her oder ich fall' um, und das gab den Bierbaumbach.
50
Welch eine platte Revolution ! Die Troßbuben, die hinter denen
um 18Q0 liefen, hatten ihre helle Freude. Aber Liliencron
war ein Dichter, trotzdem er ein »Prachtkerl« war; Bierbaum
war weiß Gott nur ein Prachtkerl. Der Feuilletonnachrufer
aber sagt, er habe den Deutschen »wieder zum lyrischen
Gedicht zurückgezogen«. Liliencrons Realistik habe, »durch
Bierbaums Sinneswärme vorbereitet, Verständnis gefunden«. Das
ist der Regen, der auf den Kot folgt. Ein anderer, der von
den »Sprungfedern seines überschäumenden Temperaments« spricht,
bescheidet sich zu behaupten, daß Bierbaums Lyrikbände »wohl«
unsterblich sind. Das ist unverbindlich. Und gäbe keinen Grund,
das Werk eines Toten der besonderen Nichtachtung zu empfehlen.
Aber das Bestreben der Feuilletonisten, Literaturgeschichte zu
machen, schlägt doch gerade bei solchen Anlässen so störend
durch, daß man rechtzeitig vorbauen muß. Daß »die Lyrik unserer
Zeit in leuchtender Schrift seinen und des ernsteren Liliencron
Namen trägt«, ist eine Behauptung, gegen die man aufstehen muß,
um einem von zwei Toten Pietät zu erweisen. Unter den Lyrikern
unserer Zeit wird der andere nicht fortleben. Schließlich bezeichnet
den schöpferischen Wert eines Lebenswerkes noch die Sprache,
die seine Nachrufer finden. Von Bierbaum wird gesagt, daß er
»mit einem lachenden KHng-klang-Gloribusch der ernsten Muse
einen Nasenstüber gab«, daß er »ein Deutscher war, der verdammt
viel vom Franzmann gelernt hatte« und daß »neben seinem Sarge
trauernd Jungfer Romantik und Demoiselle Rokoko stehen«. Der
Nachruf für einen Dichter ist das Echo seiner Sprache.
Bin Rackfailiger
Der Wiener akademische Wagner- Verein als Rechtsnachfolger
des Hugo Wolf-Vereines hat an die Zeitungen eine Zuschrift zu-
gesandt, und nur in einer ist sie erschienen. Sie lautet:
Anläßlich der Erstaufführung von Hugo Wolfs >Penthesilea« durch
die Philharmoniker zur Feier des 50. Geburtstages des Meisters hat es
Herr Max Kalbeck für gut befunden, dieser Gedenkfeier zu Ehren
in seinem Referate vom 3. Februar 1910 Hugo Wolf abermals auf das
51
unwürdigste anzugreifen. Wieder schiebt er Brahms großem Gegner rein
persönlicher Motive, >verletzte Eitelkeit^ für seine nur auf kfinstlerische
Empfindung zurückgehenden kritischen Urteile unter; er nennt dieselt>en
»unwürdige Schmähungen«, für welche er seinerzeit eine »Zurecht-
weisung« Hans Richters als »wohlverdienten Denkzettel« erhalten habe;
spricht von der »wenig redlichen Praxis«, mit welcher er' »als un-
schuldig verfolgter Märtyrer« ausgerufen wird, und von »angeblichen
Neidern und Widersachern«. Wolfs »problematische Natur ging steil
bergab den Weg zum Orkus«. Und so weiter. Zuletzt meint Kalbeck,
dafi Wolf »außer einigen gefälligen Liedern« auch andere Werke
von bleibendem Werte geschaffen haben würde, »wenn er sich über
das Verhältnis zwischen Musik und Poesie klar geworden
wäre«. Es wird gut sein, Herrn Kalbeck und zu seiner Kennzeichnung
dem Publikum jene Erklärung im .Neuen Wiener Tagblatt' vom
2. Juli 1Q04 wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, welche er, als ihn
die Erben Hugo Wolfs wegen eines ähnlichen, den Meister herabwür-
digenden Artikels zur Rechenschaft zogen, abzugeben sich genötigt sah,
und in welcher er alle Stellen des Artikels, die eine Beleidigung Hugo
Wolfs darstellten, als »unstatthaft, mit dem Ausdrucke wahr-
haften Bedauerns« zurücknahm.
Der Tag, an dem das letzte Heft der ,Fackel' erschien und
zum Jubiläum des Herrn Max Kalbeck seiner opfervollen Bemü-
hungen um die Schändung des Hugo Wolf'schen Namens ge-
dachte, hat gleich jenen Beleg für die Rüstigkeit des Sechzig-
jährigen gebracht. Als ob ich geahnt hätte, daß Herr Kalbeck
gerade am 3. Februar rückfällig würde, habe ich das Erscheinen
des Heftes für diesen Tag bestimmt. Oder als ob Herr Kalbeck
gewußt hätte, daß ich ihm mit dem Lob scner Spezialität auf-
warten werde, hat er sich beeilt, sich dessen würdig zu erweisen.
Schließlich mußte ja einmal der Tag kommen, an dem Herr Kalb-
eck seine Abbitte für verjährt halten konnte. Je weiter er sich zeit-
lich von ihr entfernte, desto unstatthafter mußte sie ihm erscheinen,
und da Herrn Kalbeck nicht mehr die Verurteilung, sondern -
nach der bekannten Prognose des Kollegen Pötzl - nur mehr
die Unsterblichkeit winkt, so konnte er die Ehrenerklärung
getrost mit dem Ausdruck wahrhaften Bedauerns zurückziehen.
Nur daß es ihm nicht gelang, die störende Stimme seines Ge-
wissens zum Schweigen zu bringen, ist verdrießlich. Gerade bei
dieser Gelegenheit hätte Herr Kalbeck nicht von >unwürdigen
Schmähungen«, nicht von einem »wohlverdienten Denkzettel« und
— 52 —
vor allem nicht von einer >wenig redlichen Praxis« sprechen
sollen. Solche Selbstanzeige könnte sogar die Concordia daran
erinnern, daß sie ein Ehrengericht hat. Freilich, die kritischen
Einwände des Herrn Kalbeck gegen Hugo Wolf könnten
dort nicht inkriminiert werden. Daß Herr Kalbeck zu ihnen
berechtigt ist, geht schon daraus hervor, daß er zu jenen Kriti-
kern gehört, die es selber besser machen können. Der schwächliche
Hugo Wolf, der tot ist, hat nichts Bleibendes geschaffen, weil er
sich über das Verhältnis zwischen Musik und Poesie nicht klar
geworden ist. Herr Kalbeck aber, der nach Herrn Pötzls Be-
hauptung als Hüne ein vierfach Leben lebt, ist Kritiker und
Librettist,
und zur Musik ist ihm gegeben,
daß er ein echter Dichter ist.
Unter Brrn/^:
Seit den Tagen, da »Bruder Bahr einen großen Erfolg
wünschte«, hat man von keinem Versuch mehr gehört, die Humanität
der Loge zur Förderung geistiger Unternehmungen heranzuziehen.
Jetzt wird mir das folgende Zirkular übermittelt:
Sehr geehrter Br.. !
Mit den besten V/ünschen zum Jahreswechsel erlaube ich mir
zugleich die Mitteilung zu machen, daß ich die Wochenschrift .Wiener
Pikante Blätter' in eigenen Verlag übernommen habe und die höfliche
Bitte an Sie richte, mich in meinem neuen Unternehmen zu unterstützen.
Die Spalten dieser Zeitung stehen den geehrten Brrn.'. zur freien
kostenlosen Benützung, falls sie gesellschaftliche pikante
Vorkommnisse zur Veröffentlichung bringen wollen.
Beifolgend eine Probenummer.
Der jährliche Abonnementsbetrag wurde für Brr.'. auf K 10. —
herabgesetzt.
Eine Korrespondenzkarte an untenstehende Administration genügt
zur Bestellung des Abonnements.
M't ^'■■- G'-- u. s. w.
Brrr !
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere ZollaintsstraBe 3
EINE VORLESUNG
VON KARL KRAUS
Aphorismen / Die Welt der
Plakate / Die chinesische Mauer
veranstaltet vom Akademischen Ver-
band für Literatur und Musik in Wien,
dürfte im März oder im April stattfindeil.
Das Reinerträgnis würde dem Asyl-
verein für Obdachlose zufließen.
Da die Vorlesung vor einem eingeladene
Publikum stattfindet, mögen Anmeldungen
ehestens an den Verband und zwar an die
Adresse des Kassiers Em. Jedlinsky, IX. Müll-
nergasse 3, gerichtet werden. Die gewünschte
Karten-Kategorie (K 10, 6; 4, 2, Studenten-
karten zu K 1) ist zu bezeichnen.
Die Bezahlung kann erst angenommen
werden, nachdem die Einladung ergangen
und bekanntgegeben ist, wann und wo die
Vorlesung stattfindet.
Korffs Cacao
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Bureau für Österreich:
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OBSERVER, Wien, I. ConcordlaplaU Nr. 4 (Telephon Nr. 1Ä801)
versendet Zeitungsausschnitte über jedes gewünschte Thema.M an verlange Prospekte
'^ * 1*4«.--. verlangen vor Drucklegung ihrer Werke im eigen-
JÄ Tl llOlrOlli sten Interesse die Konditionen des alten bewährten
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& Vogler Ä%Q., Leipzig ii. 4Jjo d.
Herausgeber KARL KRAUS
Die „Fackel" erscheint "in zwangloser Folge im Umfang von
16—32 Seiten
BEZUOSBEDINGUNaEN :
Für Österreich-Ungarn: 18 Nummern, portofrei K 4.50
i 30 „ „ « 9.-
* Für das deutsche Reich: 18 „ n MK. 4.
S 97 - b. —
I Das Abonpemeiit erstreckt sich nicht auf einen Zeittaum, sondern auf eine bgslimmte Anzahl von Nummern
Einzelheft in Österreich 30 Heller, in Deutschland 30 Pfennig
Zu beziehen durch sämtliche Buchhandlungen
Berliner Bureau: Baiensee, Katliarmenstraße 5
»»♦««»«»«<o»«»»
I Inhalt der vorigen Doppelnummer 294 — 295, 3. Feb-
I ruar 1910: Die Mütter. Von Karl Kraus. — Lebensform und
I Dichtungsform. Von Otto Stoessl. — Das Schicksal derMaschme.
? Von Ludwig Rubiner. - Briefe von Ferdinand Kürnberger —
I Aphorismen. Von Karl Kraus. - Gedichte. Von Else Las ker-
* Schüler. — Berliner Leseabende. — »Rhabarber«. Von Kar
I Bleibtreu. — Erklärung und Aufklärung. — Glossen. Von Karl
l Kraus.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Karl Kraus
r>r,.rV vnn Tahoda fit Siecel. Wien. III. Hintere Zoliamtssir. 3
Nr. 298— 299 ERSCHIENEN AM 2 I.MÄRZ 1910 XI. JAHR
DIE FACKEL
HERAUSGEBER:
KARL KRAUS
INHALT:
Lueger. — Prozess Kolischer. Von Karl Kraus.
— „Ich". Von F'erdinand Kürnberger. —
Auf meiner Arbeitsbank. Von Ferdinand
Kürnbererf^r. — Briefe von Joseph Schöffel. —
Schülerselbstmord. Von einem Über]' — Den
fünfzehnjährigen Selbstmördern. rthold
Viertel. — Oskar Kokoschka. Von L. B. T e s a r. —
Selbstao zeigen. — Aphorismen. VonKarlK raus. —
Die Presse. Von Karl Bleibtreu. — Glossen.
Von Karl Kraus.
NACHDRUCK VERBOTEN
PREIS DER DOPPELNUMMER 60 HELLER
ERSCHEINT IN ZWANGLOSER FOLGE
VERLAG: ,DIE FACKEL' WIEN— BERLIN
WIEN, III/2, HLNTERE ZOLLAMTSSTRASSE 3 TELEPHON Nr.' 18-'
Die nächste Nummer der ,Fackel*, die
300.
wird den XI. Jahrgang abschließen.
Diesem Hefte wird ein Register der Beiträge
bezw. der Autoren, die an den 300 Nummern
mitgearbeitet haben, beigelegt werden. Das
Verzeichnis, das von Ludwig Ullmann ver-
faßt und mit einem Vorwort versehen ist,
wird zirka 24 Seiten stark sein und auch
in gesonderter Ausgabe, um 20 Heller, durch
den Verlag " der ,Facker zu beziehen sein.
ER STURM
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR U. DIE KÜNSTE
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Erscheinungstag: Donnerstag
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Katharinenstraße 5. DER STURM liegt in den Tabak -Trafiken auf.
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sten Interesse die Konditionen des alten bewähn
Buchverlags sub C. M.410 bei Haasenstein
Die Fackel
N>. 298-299 21. MÄRZ 1910 XI. JAHR
Lueger
Nach Otto Weininger:
> Die , Männer der Tat', dieberühraten Politiker und
Feldherren, mögen wohl einzelne Züge haben, die an
das Genie erinnern; aber mit dem Genius kann sie nur
verwechseln, wer schon durch den äußeren Aspekt
von Größe allein völlig zu blenden ist. Das Genie ist
in mehr als einem Sinne ausgezeichnet gerade durch
den Verzicht auf alle Größe nach außen, durch
reine innere Größe. Der wahrhaft bedeutende Mensch
hat den stärksten Sinn für die Werte, der Feldherr-
Palitiker ein fast ausschließliches Fassungsvermögen
für die Mächte. Jener sucht allenfalls die Macht an
den Wert, dieser höchstens den Wert an die Macht
zu knüpfen und zu binden. Der große Feldherr, der
große Politiker, sie steigen aus dem Chaos der
Verhältnisse empor wie der Vogel Phönix, um zu
verschwinden wie dieser. Der große Imperator oder
große Demagog ist der einzige Mann, der ganz in
der Gegenwart lebt; er träumt nicht von einer
schöneren, besseren Zukunft, er sinnt keiner ent-
flossenen Vergangenheit nach; er knüpft sein Dasein
an den Moment, und sucht nicht auf eine jener
beiden Arten, die dem Menschen möglich sind, die
Zeit zu überspringen. Der echte Genius aber macht
sich in seinem SohafTen nicht abhängig von den
konkret-zeitlichen Bedingungen seines Lebens, die
für den Feldherr-Politiker stets das Ding-an-sich
bleiben, das, was ihm zuletzt Richtung gibt. So wird
— 2 —
der große Imperator zu einem Phänomen der Natur,
der große Denker und Künstler steht außerhalb
ihrer, er ist eine Verkörperung des Geistes. Die
Werke des Tatmenschen gehen denn auch meist mit
seinem Tode, oft schon früher, und nie sehr viel
später, spurlos zu Grunde, nur die Chronik der Zeit
meldet von dem, wa? da geformt wurde, nur um
wieder zerstört zu werden. Der Imperator schafft
keine Werke, an denen die zeitlosen, ewigen Werte
in ungeheurer Sichtbarkeit für alle Jahrtausende
zum Ausdruck kommen; denn dies sind die Taten
des Genius. Dieser, nicht der andere, schafft die
Geschichte, weil er nicht in sie gebannt ist, sondern
außerhalb ihrer steht. Der bedeutende Mensch hat
eine Geschichte, den Imperator hat die Geschichte.
Der bedeutende Mensch zeugt die Zeit, der Imperator
wird von ihr gezeugt und getötet.
.... Jeder solche Mann steht immer in einer gewis-
sen Verwandtschaft zur Prostituierten . . . Wie er ist die
Prostituierte, im Gefühle ihrer Macht, vor dem Manne
nie im geringsten verlegen, während es jeder Mann
gerade ihr und ihm gegenüber immer ist. Wie der
große Tribun glaubt sie jeden Menschen, mit dem
sie spricht, zu beglücken... immer glaubt sie
Gaben auszuteilen nach allen Seiten hin. Man wird
in jedem geborenen Politiker dieselben Elemente
entdecken. Und die Menschen, alle Menschen haben
beiden gegenüber — man denke, sogar der selbst-
bewußte Goethe in seinem Verhalten gegen Napoleon
zu Erfurt — tatsächlich und unwiderstehlich das
das Gefühl, beschenkt worden zu sein.
.... Der höhere, der bedeutende Mensch mag
zwar das gemeine Bedürfnis nach Bewunderung oder
nach dem Ruhme teilen, aber nicht den Ehrgeiz
als das Bestreben, alle Dinge in der Welt
mit sich als empirischer Person zu verknüpfen,
sie von sich abhängig zu machen, um auf den
eigenen Namen alle Dinge der Welt zu einer un-
— 3 —
endlichen Pyramide zu häufen. . . . Der große
Mensch hat Grenzen, denn er ist die Monade der
Monaden, und — dies ist eben jene letzte Tatsache
— gleichzeitig der bewußte Mikrokosmus, pantogen,
er hat die ganze Welt in sich, er sieht, im voll-
ständigsten Falle, bei der ersten Erfahrung, die er
macht, klar ihre Zusammenhänge im All, und er
bedarf darum zwar der Erlebnisse, aber keiner
Induktion; der große Tribun und die große Hetäre
sind die absolut grenzenlosen Menschen, welche
die ganze Welt zur Dekoration und Erhöhung ihres
empirischen Ich gebrauchen.
.... Der wahre Genius gibt sich selbst seine
Ehre, und am allerwenigsten setzt er sich in jenes
Wechselverhältnis gegenseitiger Abhängigkeit zum
Pöbel, wie dies jeder Tribun tut. Denn im großen
Politiker steckt nicht nur ein Spekulant und Milliar-
där, sondern auch ein Bänkelsänger; er ist nicht nur
großer Schachspieler, sondern auch großer Schau-
spieler; er ist nicht nur ein Despot, sondern auch ein
Gunstbuhler; er prostituiert nicht nur, er ist auch
eine große Prostituierte. Es gibt keinen Politiker,
keinen Peldherrn, der nicht ,hinabstiege*. Seine Hinab-
stiege sind ja berühmt, sie sind seine Sexualakte.
Auch zum richtigen Tribun gehört die Gasse. Das
Brgänzungsverhältnis zum Pöbel ist geradezu kon-
stitutiv für den Politiker. Er kann überhaupt nur
Pöbel brauchen; mit den anderen, den Individuali-
täten, räumt er auf, wenn er unklug ist, oder heuchelt
sie zu schätzen, um sie unschädUch zu machen . . .
Ein Politiker kann durchaus nicht alles beliebige
unternehmen, auch wenn er ein Napoleon ist, und
selbst wenn er, was er aber als Napoleon nicht wird,
Ideale realisieren wollte : er würde gar bald von
dem Pöbel, seinem wahren Herrn, eines Besseren
belehrt werden. Alle , Willensersparnis' hat nur für
den formalen Akt der Initiative Geltung; frei ist das
Wollen des Machtgierigen nicht.
— 4
Auf diese Gegenseitigkeit, diese Relation zu den
Massen fühlt sich jeder Imperator hingewiesen,
darum sind alle ausnahmslos ganz instinktiv für die
Konstituante, für die Volks- oder Heeresversammlung,
für das allgemeinste Wahlrecht. Nicht Marc Aurel
und Diokletian, sondern Kleon, Antonius, Themistokles,
Mirabeau, das sind die Gestalten, in denen der echte
Politiker erscheint. Ambitio heißt eigentlich Herum-
gehen. Das tut der Tribun wie die Prostituierte.
.... Wie der , große Mann der Tat' auf ein
Innenleben verzichtet, um sich gänzlich in der Welt,
hier paßt das Wort, auszuleben, und zugrunde-
zugehen wie alles Ausgelebte, statt zu bestehen
wie alles Bingelebte, wie er seinen ganzen Wert mit
kolossaler Wucht hinter sich wirft und sich ihn
weghält, so schmeißt die große Prostituierte der
Gesellschaft den Wert ins Antlitz, den sie als
Mutter von ihr beziehen könnte, nicht freilich um
in sich zu gehen und ein beschauliches Leben zu
führen, sondern um ihrem sinnlichen Triebe nun erst
vollen Lauf zu lassen. Beide, die große Prostituierte
und der große Tribun, sind wie Brandfackeln, die
entzündet weithin leuchten, und gehen unter wie
Meteore, für menschliche Weisheit sinnlos, zwecklos,
ohne ein Bleibendes zu hinterlassen, ohne alle Ewig-
keit — indessen die Mutter und der Genius in der
Stille die Zukunft wirken. <
». . . . Gegen drei Uhr früh fuhr er aus dem
Halbschlaf empor und rief nach der Pflegeschwester,
die rasch den Arzt herbeiholte. Er saß halbaufgerichtet
im Bette, mit allen Zeichen heftiger Unruhe. Er
sagte zur Pflegeschwester:
Was ist denn draußen für Unwetter? . . Dieses
Hagelwetter . . dieser Sturm . . es muß in Wien
keine ganze Fensterscheibe geben . ., ,
— 5 —
Der Arzt und die Pflegeschwester beruhigten
den Kranken und sagten, es habe sich in der Nacht
kein Lüftchen geregt; man verspüre den kommen-
den Frühling.
Der Kranke aber blieb dabei und sagte; Ich
habe von meiner Mutter geträumt . . Sie war da,
um mich aus dem Unwetter zu holen . .<
Prozeß Kolischer
Von Karl Kraus
Die Ehre, die der Prozeß gegen den Generalleutnant
Sektionschef Baron Khan Remissier Klemens Kolischer unseren
ministeriellen, militärischen und judiziellen Gewalten eingebracht hat,
ist mit viertausend Kronen ütxrzahlt. Der Sieg Österreichs über
den persischen Feldherrn, der ja gewiß in den Annaien usw., ist
beiweitem nicht so rühmlich, als die langjährige Bundesgenossen-
schaft schimpflich war. Selbst nach der Niederlage Österreichs
im Prozeß Friedjung hat man nicht das Gefühl, daß mit dieser
Trophäe Aufhebens gemacht werden müßte. Mit Persien hatte
der Herr Oberlandesgerichtsrat Wach leichteres Spiel als mit
Serbien, aber eben auch billigeres. Alle die garantiert echten
Sektionschefs, Barone und Generale, die wir zu sehen bekamen
und die gegen den einen dubiosen Khan standen, sollen sich nur
nicht zu viel auf diesen Ausgang einbilden. Die Sache verhält
sich nämlich so. Es ist kein Zweifel, daß man selbst vom radikalsten
Standpunkt die österreichische Staatlichkeit gegen den Einbruch
eines Börsenkhans schützen, die geordnete Welt ersessener und
erkrochener Würden dem Chaos erstandener Titel vorziehen wird.
Aber hier handelt es sich nicht allein um die Ehre, sondern
auch um die Dummheit. Daß Herr Kolischer nicht die per-
sische Armee, sondern die österreichische angeführt hat,
macht ihn schuldig. Aber den schimpflichen Inhalt des Be-
-- 6 -
truges bildet nicht immer die List, sondern manchmal auch der
Glaube. Österreich hat an Herrn Kolischer geglaubt. Es ließ ihn
schuldig werden und überläßt ihn jetzt der Pein. Diesem Tataren-
fürsten \x^urde der >gute Glaube« aberkannt, als er die Funktionäre
so schwer gekränkt hatte. Aber Österreich muß der gute Glaube
ganz und gar zugebilligt werden. Wieder einmal und immer
wieder. Es hat an der persischen Uniform so wenig gezweifelt wie
an den serbischen Dokumenten, und Herr Kolischer hat nur das
Pech gehabt, daß er keinem vaterländischen Historiker über den Weg
lief: ein solcher hätte unserm Ministerium des Äußern die letzten
Bedenken wegen der Siege des Herrn Kolischer über die Kurden
ausgeredet. Es ist wahrhaftig keine Großtat, häuserhohes Material
über einen persischen General, der es nicht ist, in den Schwurgerichts-
saal zu schleppen. Viel rühmlicher wäre es gewesen, ihm die letzte
Hoffnung, daß er es am Ende doch sein könnte, rechtzeitig zu
benehmen. Die Leistung des Hauptmanns von Köpenick war das
Werk einer Minute, aber der Verkehr mit dem General Kolischer hat
viele Jahre gedauert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren,
daß jenem Hauptmann nur deshalb so übel mitgespielt wurde,
weil er nicht imstande war, preußische Orden zu verschaffen,
während sich der Glaube an diesen General mindestens auch auf den
Sonnen- und Löwenorden erstreckte. Daß ein Perserkhan österreichi-
sche Funktionäre mit Unrecht beleidigt hat, ist viel weniger inter-
essant als seine Beliebtheit in diesen Kreisen, für die der Wahr-
heitsbeweis in vollem Umfang erbracht erscheint. Er ist in den
Ämtern, Ministerien, Gesandtschaften, Militärkasinos nicht nur aus-
sondern auch eingegangen, und die österreichische Diplomatie hat
lange Zeit durch den Ernst und die Ausdauer, mit denen sie die
Angelegenheiten des Herni Kolischer besorgte, ihre Existenz-
berechtigung erwiesen. Auf der Ringstraße und in Kurorten
leisteten ihm Offiziere die Ehrenbezeigung, niemand zweifelte, daß
er ein General sei, und nur darüber herrschte nicht volle Einig-
keit, ob er nicht ein Erzherzog sei. Da man das aber nicht sicher
wissen konnte, zog für alle Fälle ein Rudel Menschen hinter ihm
her. Herr Kolischer war durchaus berechtigt, das Vertrauen, das
man ihm in der Heimat entgegenbrachte, nicht durch Aufklärungen
zu enttäuschen. Wie alle Menschenfreunde muß er es jetzt büßen,
^nd wieder einmal zeigt es sich, daß die Dummheit, die sich an
— 7 -
einer bunten Würde freut, eine Qemeinheit begeht, wenn sie die
Echtheit der Farbe zu prüfen anfängt. So wenig es angeht, Herrn
Cook nachträglich dafür verantwortlich zu machen, daß er den
Nordpol nicht entdeckt hat, so ungebührlich ist die Entrüstung
dieses offiziellen Österreich über einen persischen Brigadier, der in
seinem ganzen Leben nicht einmal eine Eskadron von Wechselreitern
befehligt hat. Ich habe einst in einer Abhandlung über Men-
schenwürde auf einen Mann hingewiesen, der im Kostüm eines
exotischen Generals die höchsten Kreise einer Residenzstadt zu
seinem eigenen Besten halte. Schon damals schien mir Shakespeare
dem Problem Kolischer nahezukommen, nämlich mit der Meinung
des greisen Herrschers Lear: »Der Schnitt Eures Habits gefällt mir
nicht. Ihr werdet sagen, es sei persische Tracht ; aber laBt ihn ändern !«
jener Advokat nun im Prozeß Kolischer, der eine ganze
Schmalzfabrik der Beredsamkeit gegen den armen Angeklagten
aufbot, und offenbar im guten Glauben, es handle sich um den
Prozeß Friedjung, die Geschwornen an den Ruhm der öster-
reichischen Armee erinnerte, »an die Ereignisse des vorigen
Jahres und an den gefahrvollen Augenblick, da unsere Söhne und
Familienväter mit Hingebung an die Grenzen des Vaterlandes
eilten, um unsere heiligsten Güter zu schützen«, jener Advokat
behauptete, die österreichischen Offiziere hätten »unmittelbar«
nach der Anbiederung des Herrn Kolischer ihn durchschaut.
Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich das nicht bestätigen.
Ein Satz in der , Fackel', in dem einmal gesagt war, daß
Herrn Kolischer die persische Generalswürde bei der Akquirierung
von Inseraten für seine drei Winkelblätter gute Dienste leiste,
hatte eine merkwürdige Konsequenz. Ich empfing den Besuch
eines Rittmeisters - eines österreichischen — und eines Ober-
leutnants — keines persischen — , die »die Ehre hatten, im Auf-
trage des Generals Kolischer Genugtuung mit der Waffe zu ver-
langen«. Ehe ich dankend ablehnte, erkundigte ich mich beiläufig, ob
die Herren den persischen General Kolischer meinten oder ob sie etwa
im Auftrag eines österreichischen Vorgesetzten gleichen Namens kä-
men. Diese Frage empfanden die Herren als verletzend und wieder-
holten schlicht und mit Nachdruck: >des Generals Kolischer«, so als
ob an diesem Range nichtzu drehn noch zu deuteln wäre. Der General
fuhr hierauf bei den Wiener Redaktionen vor und ersuchte um
— 8
eine Notiz über das abgelehnte Duell. Da aber auch diesem Ver-
langen nicht entsprochen wurde, forderte er mich durch seinen
Advokaten auf Grund des § 19, durch seinen Advokaten, dem er
kurz zuvor nicht etwa den Sonnen- und Löwen-, sondern geradezu
den Franz Josefs-Orden verschafft hatte. Man kann die Berichti-
gung und einiges darüber in Nr. 153 (Januar 1904) nachlesen. Es
war dort erzählt, wie ein ahnungsloser Militärlieferant von
Schuhoberteilen sich ohneweiters herbeiläßt, einem General
ein Inserat zu bewilligen. Und man ersieht, daß ich sogar zu
einer Zeit schon über Herrn Kolischer unterrichtet war, in der
es die Vertreter Österreichs noch nicht waren, und in der ich nicht
mehr verpflichtet war, über Einzelerscheinungen der österreichischen
Finanzwelt unterrichtet zu sein. Aber heute hat gerade dieser
Fall seine Perspektive ins Österreichische. Und daß die andern
Fälle noch herumlaufen, daß der päpstliche Hofmaler dem ster-
benden Bürgermeister noch die Wünsche Seiner Heiligkeit über-
bringen konnte, ohne hinausgewiesen zu werden, zeigt, daß
wirklich kein Schade uns davon abbringen kann, Österreicher zu
bleiben. Und wenn der Papst selbst schon mißtrauisch würde, wir
Gläubigen glauben an den Conte Lippay. Wie wir an den
Khan Kolischer geglaubt haben, als selbst der Schah
bereits den Kopf schüttelte. Er soll ihn einst den >rühmlichst
bekannten und hochangesehenen Herrn Klemens Kolischer< ge-
nannt haben, dem er >in diesem glückverheißenden Jahre des
Schweines die Charge, die Distinktion und den Kordon eines
Generals zweiter Klasse zu verleihen geruhe, auf daß er mit
diesem gesegneten Zeichen seine ehrliebende Brust schmücke und,
seines Ruhmes sich erfreuend, unter seinesgleichen das Haupt
hoch trage zum Erweise erhöhter Anerkennung seiner Tätigkeit
(geschrieben im Monat des Zweiten Dschumada im Jahre der
Flucht 1317)«. Möglich. Aber sicher ist, daß er später sagte: »Geld
hab ich ihm gegeben, gezahlt hab ich für ihn und Titel hab ich
ihm gegeben. Ich will nichts mehr hören von ihm!« Woraus
hervorgeht, daß dem Schah die Assimilation an die Welt des
Herrn Kolischer besser gelungen ist als Herrn Kolischer die an
die Welt des Schah, Auch habe dieser in einer Audienz zum
österreichischen Bptschaf tsrat , ders vor Gericht bezeugte, die
Worte gebraucht: »Wenn er kommt und erschlagen wird, meine
— 9 —
Hände sind rein. Mit dem Textilmonoi»! und andern Sachen, die
er plante, hätte er die ganze Bevölkerung brotlos gemacht!«
Man sieht, wie unsicher die Zustände in Persien sind, im Ver-
gleiche mit jenen im Wiener Schwurgerichtssaal. Hier kann einer,
weil sich die Lynchung streng in den von der Strafprozeßordnung
vorgeschriebenen Normen vollzieht, höchstens ein bißchen ohn-
mächtig werden. Es dürfte aber nicht oft einen Oerichlsfall ge-
geben haben, wo man sich so lebhaft versucht gefühlt hätte,
einen unsympathischen Angeklagten gegen das offenbare Recht
seiner Gegner in Schutz zu nehmen. Denn selten noch haben
Unrecht und Unfug so organisch in dem System gewurzelt, das
sich gegen einen Einzelfall erst wehrt, wenn er ihm zu bunt
wird; Wenn wir an den diplomatischen Apparat denken, der ge-
braucht wurde, als die Ämter in der Untersuchung des Falles
Kolischer >ihre Pflicht erfüllten«, und an den judiziellen Apparat,
der zum Beweise erfüllter Pflicht gedient hat, dann möchten wir
in Gottes Namen selbst einen unerforschten Khan diesem lang-
jährigen Aufgebot von Tadellosigkeit und in Ehren ergrauter
Eselei vorziehen. Zuerst läßt nfan den Herrn Kolischcr mit
Prinzessinnen tanzen und dann gibt man auch nicht ein Jota von
dem süßen Amtsgeheimnis her, wenn es möglich wäre, dadurch
dem ganzen Lamento um eine Uniform ein Ende zu machen.
Ein langwieriges Achselzucken mit dem Bewußtsein treuer Pflicht-
erfüllung folgt den Jahren, da man Herrn Kolischer ernst nahm.
Man hat die Streberei pathologisch geschärft, die Narretei zum
Wahnsinn gesteigert, und dreht ihr hinterdrein eine lange Nase.
Ich möchte aber den kaiserlichen Rat sehen, der nicht über-
schnappen würde, wenn dieselben Leute, die ihn bis dahin tief
gegrüßt hatten, ihm in weitem Bogen ausweichen, weil sie erfahren
haben, daß der Kaiser von ihm keinen Rat annimmt. Und wenn
dann auf die sieben mageren Jahre des Herrn Kolischer noch der
feierliche Gerichtssaalwitz folgt, wird es vollends schwer zu ent-
scheiden, auf welcher Seite einem mit mehr Recht die Geduld
reißt. Wäre die Geschichte nicht der Geschichte selbst zu lang-
weilig geworden, wir hätten noch durch einige Wochen in jedem
Abendblatt der Neuen Freien Presse die schönen Geschwornen-
namen lesen müssen — eine Neuerung, die das Blatt offenbar
dem besonders gewichtigen Anlaß zuliebe eingeführt hat. Der
10
Staatsanwalt fühlte sich schließlich bewogen, an das Problem der
Volksjudikatur zu rühren: er reizte die Oeschwornen, indem er sie
an den Zeitverlust bei diesem Prozesse erinnerte. Gewiß, solch ein
Fall beweist, wie sinnlos es in jedem Fall ist, die wertvollen Kräfte
unserer Schneidermeister brach liegen zu lassen, denn immer bleiben
um einer persischen Qeneralsuniform willen unsere Hosen unge-
flickt. Aber der Advokat, der uns mit Schmalz versorgt,
ist anderer Meinung. >Und wenn ich daran zweifeln würde,
meine verehrten Herren Oeschwornen, ob unter Ihnen, nachdem
Sie mit so seltener Hingebung dieser langen Verhandlung gefolgt
sind, nicht doch einer ist, der von dem vollen Maße der Schuld
des Angeklagten nicht überzeugt ist, dann würde ich mich nicht
nur einer Geschmacklosigkeit, sondern einer Sünde schuldig
machen. Denn ich müßte ja dann an Ihrer Einsicht zweifeln, und
selbstverständlich, wie vermöchte ich das! Wie könnte mir das
auch nur in den Sinn kommen!« I wo wird er denn! Und das
alles müssen wir zu schlucken kriegen, weil unsere Amtlichkeit
einen Börsenmakler nicht der persischen Generalsuniform, aber
einer österreichischen Staatsaktion für würdig hielt. Persien
macht kürzeren Prozeß. >Wenn er kommt und erschlagen wird« —
die Reklameadvokaten von Teheran gehen mit leeren Händen aus
und die brotlose Bevölkerung verzichtet dort auch auf die Circenses.
Persien rächt seine Enttäuschungen mit Blut, Osterreich die seinen
mit Langweile. Persien fragte, ob die Reform echt sei, Österreich,
ob die Uniform echt sei. Persien hätte einen wirklichen Börsianer,
dessen Lebensziel es ist, in den Straßen von Teheran in der
Tracht eines österreichischen Feldwebels zu stolzieren, laufen
lassen - Österreich hat eine Kolischer-Epoche durchlebt. Es
klingt zauberhaft: zuerst liebten sie den Mann, glaubten an
die Uniform und hofften auf den Sonnen- und Löwenorden,
und nachher hat die Untersuchung eines persischen Märchens
tausend und einen Akt gekostet.
— 11 —
Schöffel nnd Kümberger
Die folgenden zwei Feuilletons hat Ferdinand
Kürnberger nicht in die Sammlung »Siegelringe« auf-
genommen, und auch in der Neuausgabe, die kürzlich
erschienen ist und eine Ergänzung bringt,*) sind sie
nicht enthalten. Es sind schwächere polemische
Leistungen, aber indem man dies sagt und die
Distanz zu der Höhe Kürnbergers feststellt, darf man
sie getrost der heutigen ÖflFentlichkeit überliefern.
Die Gewichtigkeit ihres Inhalts wird gerade jetzt
und in der Sphäre der , Fackel' deutlich. Der erste
Artikel führt so in die Anfangsgründe der NeuenFreien
Verachtung ein, wie kein anderer, den Kürnberger
je geschrieben hat. Und der zweite, satirisch höher
gestimmte, enthält eine Würdigung Joseph Schöffeis,
wie sie eindringlich liebevoller auch in den »Siegel-
ringen« nicht gegeben ist. Die beiden Feuilletons
sind vollständig unbekannt. Das erste — das hier
nach einem von Kürnbergers Hand korrigierten
Exemplar gedruckt wird — ist im ,Tagblatt' am
26. August 1873, das andere in der , Deutschen
Zeitung' am 3. April 1874 erschienen.
„Ich«
Ganz Europa wundert sich nicht wenig!
Die Fichtegasse nimmt es übel, daß Schöffel — ein Fichteaner
geworden! Welch eine Neue Freie Logik!
Ist das Konsequenz oder Inkonsequenz von der unphilo-
sophischen Philosophengasse?
Aber doch wohl das Erstere. Verführt von der deutschen
Grammatik, sagt Schöffel >ich<, wenn er in der ersten Person
spricht; das sieht harmlos und unschuldig aus, ist aber doch eine
scharfe Majestätsbeleidigung gegen das Ur-Ich in der Fichtegasse.
Außer Gott ist kein Gott, und außer dem Ich der .Neuen Freien
Presse' gibt es kein Schöffel-Ich mehr, gibt es kein Ich mehr in
*) Gesammelte Werke, herausgegeben von O. E. Deutsch, I. Band,
München und Leipzig, Georg Müller.
— 12
Mödling, Haus-Numero 22. Das sollt ihr wissen, ihr Völker am
Alserbach und am Krottenbach.
Daher die schwunghafte Sure der ,Neuen Freien Presse' am
Sonnabend, worin sie das Dogma der Fichtegasse unter Blitz und
Donner ihren Gläubigen eindringlichst um die Ohren schlägt.
Hört ihr Völker, schreit sie mit Ingrimm, die schauderhafte
Mordtat im Lande Österreich! Dieser Schöffel ist ja förmlich ein
>Fichteaner< geworden. Schon wieder hat er gestern, Freitag den
22. August im ,Tagblatt' anderthalb Spalten zu seinem Ich ver-
braucht!
Entsetzlich ! Wie könnte die .Neue Freie Presse' das dulden,
die zu ihrem Ich anderthalb Papiermühlen verbraucht?!
Ich gebe tausend Dukaten für eine Wanze — Pardon, ich
wollte sagen für eine Nummer der ,Neuen Freien Presse', worin
die pflichtmäßige Obsorge für ihren Ich-Kultus unterlassen worden
wäre. Das heilige Feuer zur immerwährenden Selbstanbetung ihres
Ich wird Tag und Nacht brennend unterhalten, und wenn es je
unter den Händen eines unglücklichen Mitarbeiters verlöschen
sollte, so wird derselbe in einen Sack eingenäht und auf eine
wüste Insel transportiert, z. B. ins Feuilleton der ,N. Fr. Pr.'
Alles Wissen ist Koran, sagte Aali und zündete die alexan-
drische Bibliothek an; alles Wissen ist mein Ich, sagt die .Neue
Fr. Presse', und zündet jedes andere Ich an. Um die Völker zu
ihrem Heile anzuleiten, braucht die ,Neue Fr. Pr.' nichts - als
die ,Neue Freie Presse'.
Wenn sich die ,Neue Freie Presse' ihre Korrespondenzen
schreibt, so spielen die Korrespondenten immer mit den Trümpfen
der ,Neuen Freien Presse'. Da wird dem Florentiner Korrespondenten
in den Mund gelegt: >Wie der Londoner Korrespondent der
,Neuen Freien Presse' ganz richtig bemerkt hat« worauf der
Londoner Korrespondent mit der Response einfällt: »Der Florentiner
Korrespondent der ,Neuen Freien Presse' war gut unterrichtet« —
und so fort, mit Grazie um Münchhausens Zopfkreisel herum.
Ala muß schreiben: >Die hiesigen Leser der ,Neuen Freien
Presse' verfolgen mit Interesse« und Riva muß antworten :
>Die hiesigen Leser der ,Neuen Freien Presse' haben mit Vergnügen
bemerkt« — — In Paris erfüllt sich, was die ,Neue Freie Presse,
am 32. März so scharfsinnig vorausgesagt und Konstantinopel
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sieht die Dinge immer deutlicher sich entwickeln, wie es die ,Neue
Freie Presse' am 1. April so richtig prognostiziert.
Wie gesagt, ich gebe tausend Dukaten — doch nein, wer
wird so schmutzig sein? ich gebe zweitausend Dukaten für eine
Nummer der ,Neuen Freien Presse', worin außer der .Neuen
Freien Presse' noch ein Stückchen Welt samt Umgebung existierte.
Und nun will so ein Schöffel-Ich existieren! Und braucht
anderthalb Spalten vom .Tagblatt' für sein Ich! Da sieht man den
ganzen Rebellionsgeist dieser >Jungen«!
Es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Ohrfeigen in der
Welt, hat ein Tieckscher Held behauptet, und er freute sich immer,
daß die seinige aus der Welt sei, wenn ein Anderer eine bekam.
So gibt es nach der ,Neuen Freien Presse' auch nur eine
gewisse Summe von Ichs, aber diese Summe repräsentiert sie selbst
schon, die ganze Summe, die Totalsumme! Außer ihr kein Ich!
Und wo sich doch eins muckst, ist es direkter Diebstahl an ihr. Die
Welt ist ein von der .Neuen Freien Presse' ausverkauftes Haus
von Ichs. Man kann in die Welt nur hinein mit einer Kontr^-
marke der ,Neuen Freien Presse'. Wenn nun so ein Fichteaner, so
ein Schöffel-Ich kommt und sich selbst setzt (wie Fichte sagt) und
noch dazu auf einen so guten Balkonsitz, wie anderthalb Spalten
im ,Tagblatt', so bringt das die ganze Geschichte der Philosophie
des 19. Jahrhunderts in Verwirrung. Das kann man nur, wenn
man den österreichischen Welthausherm um Erlaubnis gefragt hat.
»Österreich ist der unnützeste Staat« . . . wenn er nicht für die
Fichtegasse da ist! Ihr lacht? Die »regierungsfähigen« Alten
glauben es im bittersten Ernste. Sie beneiden längst den Bischof
von Brixen, daß sie das nicht auch so laut sagen dürfen!
Was machen wir also, mein verehrter Freund Schöffel? Ichs
sind wir alle, das ist unsere angeborene Erbsünde! Ja, was das
Schlimmste ist: die löblichen Versuche, die wir im richtigen Gefühl
unserer Sünde gemacht, dieses verbrecherische >Ich< zu umgehen,
sind kläglich gescheitert. Z. B. das >man«. Man hat die Wünsche
des Volkes vernommen, man wird sie amtsmäßig beraten lassen,
man wird Beschluß darüber fassen, man wird seine Entschließung
rechtzeitig kundtun — sagte der Großherzog von Kniphausen in
einer Balkonrede der Kniphäuser Märztage. Hier war das »man<
der Großherzog und sein Ich.
— 14
Man ist ein Esel! schnauzte der Polizeirat seinen Konfidenten
an, der aus einem Antiquarladen ein Buch »Über die Revolutionen«
konfisziert, — nämlich über die Revolutionen der Erde am Nordpol,
was er in seinem Amtseifer übersehen. Dieses >man« war aber
jetzt nicht der Polizeirat und sein Ich.
Man ist ein Esel. Wie belehrend! Sie sehen also, verehrter
Freund, Sie können dieses zweideutige »man« durchaus nicht
brauchen. Die ,Neue Freie Presse' könnte zuweilen glauben, es sei
von ihr die Rede.
Ein anderesmal hat das zerknirschte Ich zu dem »wir« ge-
griffen. Auch das muß ich Ihnen widerraten. Man hat dieses »wir«
nämlich den Pluralis Majestatis genannt, aber majestätisch ist
nichts, als die ,Meue Freie Presse', die »regierungsfähige« Alte m
der Fichtegasse! Sie könnten nur Öl ins Feuer gießen.
Endlich hat sich die erste Person gar in die dritte versteckt;
Sie dürften also höchstens noch von sich sprechen, wie Cäsar im
gallischen Kriege von Cäsar.
Schöffel versammelte seine Legionen — Schöffel hielt auf
dem Forum von Purkersdorf eine Rede ans Volk — Schöffel
erstürmte das Lager der »Neuen Freien Presse< und führte die
Gefangenen im Triumphzuge nach Mödling —
Hm! wäre gar nicht ohne. Aber ach, da fällt mir soeben
ein, daß Cäsar dieses Plagiat an der Gurli begangen hat, und Sie
können doch nicht wie Gurli reden! Gurli will heiraten — Schöffel
will nicht betteln gehn — leider! ist noch einmal nicht zu brauchen!
Wahrlich, eine harte Nuß ! Wie schwer seufzt es sich unter'm
Joch so einer Alten, — auch wenn sie Neu und Frei ist! Manzoni
hat gut scherzen von einem Siemandl, welcher die Briefe seines
alten Hausdrachen korrigierte, »weil die Orthographie noch das
Einzige war, worüber der Doktor in seinem Hause befehlen durfte.«
In unserem Falle i't das nichts weniger als spaßhaft. Unsere
»regierungsfähige« Alte, die das ganze Haus tyrannisiert, will nun
auch noch über die Grammatik befehlen! Eine Person, welche
fünfzigtausend Personen zu vertreten hätte, soll keine Person sein!
soll die Rechtswohltat der Grammatik verwirkt haben! Die
Grammatik sagt »ichc in der ersten Person, sie sagt es auch für
Josef Schöffel, aber die ,Neue Freie Presse' leidet es nicht. Der
Kandidat muß freilich sehr gut und sie sehr schlecht stehen, wenn
- 16 —
sie ihm weiter nichts nachzusagen weiß, als daß er Ich sagt in
der ersten Person; ein polemisches Motiv von erstaunlicher Genüg-
samkeit! Der äußerste Hungertyphus des Witzes, das für einen
Knochen zu halten, an dem sich nagen und beißen läßt!
Nun, die ,Neue Freie Presse' muß es am besten wissen,
wie lang sie an der Witztafel schon nichts Warmes gegessen hat,
und Hunger tut weh. Sie nimmt sich einen Dienstmann auf —
denn ein Journalist gibt sich nicht her dazu - sie nimmt sich
einen Dienstmann auf und läßt emsig nachzählen, wie oft in einer
Wählerschafts-Enunziation das Wörtchen »ich« vorkommt. Sie
gibt ihm einen Rotstift in die Hand, daß er's unterstreiche, und
kommandiert dem Setzer, daß er das Unterstrichene durchschieße.
Diese Schande vor der ganzen Welt! Da steht es jetzt das Ver-
brechen, nackt und bloß, und erliegt nicht einmal unter der Satire
der ,Neuen Freien Presse'. Nein, bloß der Rotstift des Dienst-
manns und die Spatien des Setzers waren die Satire. Das Ver-
brechen richtet sich selbst, daß die deutsche Grammatik >ich< in
der ersten Person sagt. Armes deutsches Ich ! Der Franzose, der
von Kopf zu Fuß ganz Ich ist, braucht zwei »ich«, wie er zwei
Hände und zwei Füße braucht und sagt je und moi ; der schroffe
stolze Insulaner, der königliche Egoist »of old England« findet in
seinem Ich die einzige Größe, die es sich verlohnt, groß zu
schreiben und schreibt I; nur das schamhafte deutsche »ich« soll
sein Veilchenauge zu Boden schlagen und sich's vorwerfen lassen,
daß es überhaupt auf der grammatischen Welt ist! Die .Neue
Freie Presse' schwingt ihie stumpfste Feder — die sie, wie die
zerfetztesten Fahnen, für die siegreichste zu halten scheint - und
fällt gegen die Tatsachen der deutschen Grammatik aus. Ohne
die Rebellenbrut der »Jungen« einer Lehrmeinung zu würdigen,
welches die geheimnisvolle mystische Zahl wäre, wie oft man »ich«
sagen darf und wie oft nicht, läßt sie uns in Todesangst zappeln,
daß Zusammenrottungen von mehr als einem »ich« (nicht bei ihr,
sondern beim ,Tagblatt') der geradeste Weg in Stabstockhaus.
Bei Gott, das kann schön werden, wenn sich die Herrschaft
der »Alten« wieder befestigen sollte! Die deutsche Grammatik im
permanenten Belagerungszustand! Aber wie denn auch anders?
Erst der Mantel, dann der Herzog. Der »regierungsfähige« Partei-
minister will keinen Schulrat Bobies, das »regierungsfähige«
Parteiblatt will keinen Schuldirektor D i 1 1 e s, endlich legen sie
— 16 —
die Axt an die Wurzel und wollen keine Grammatik. Keine
Grammatik, die >ich< in der ersten Person sagt, keinen Gebrauch
dieses >ich<.
Josef, Josef, auf entfernte Meilen — sorg' ich in Wien für
meinen armen schattenlosen Schlemihl, der in Mödling ohne
persönliches Fürwort herumgeht ! Wahrlich, verehrter Freund, Ihre
grammatische Evidenzhaltung ist jetzt die brennendste Frage. Wie
revidieren wir die revolutionäre Pronominal- Verfassung für den
histerischen Rechtsstaat in der Fichtegasse? Denn geschehen muß
etwas, das ist klar. Die regierungsfähige Alte muß versöhnt
werden ; ich hoffe, Sie haben meine versöhnliche Stimmung längst
schon bemerkt.
Ha, da hab' ich es! »Auf einmal weiß ich Rat!« Hören Sie
mich an.
Im vorigen Jahrhundert trieb man die Spielerei, ganze
Romane zu schreiben mit Verzichtleistung auf den Gebrauch irgend
eines Buchstabs — z. B. des a, des r u. dgl.
Verzichten Sie ganz auf den verhängnisvollen Pronominal-
Luxus >ich.< Stilisieren Sie alles, was Sie als Wahlkandidat zu
schreiben haben, so künstlich, daß kein einziges »ich« darin vor-
kommt. Es ist nun einmal ein roter Lappen für die ärgerliche Alte
und der Zorn könnte ihr Ende beschleunigen. Aber ist jetzt eine
Zeit zu Nationalfesten?
Und wie sollten Sie auch, wenn Ihnen die ganze übrige
Sprache, wie Sie in den Wald- und Straßenfragen bewiesen haben,
so exzellent zu Gebote steljt, wie sollten Sie auch dieses winzige
Wörtchen, dieses kleine einsilbige Ich nicht entbehren können?
Sehen Sie die ,Neue Freie Presse' selbst an, wie sie das umgekehrte,
viel schwierigere Kunststück zustande bringt! Sie schreibt mit dem
kleinen, winzigen Ich, mit diesem einzigen Wörtchen sämtliche
Jahrgänge der ,Neuen Freien Presse' und kann dafür alle übrigen
Wörter, ganz besonders aber die Begriffe der Wörter entbehren.
Nehmen Sie alo meinen Vorschlag an. Ich mache ihn in
Österreichs elfter Stunde — man möchte beinahe schon sagen, um
dreiviertel auf zwölf. Und ist auch das noch kein Kompromiß
zwischen den Aiten und Jungen — dann rolle Verhängnis! Ich
bin unschuldig am Blutvergießen. Ich bin unschuldig, wenn die
österreichische Revolution die Dämme des Alserbachs überflutet,
Ferdinand Kürnberger.
Die Schöffel-Chlumecky-Debatte auf meiner
Arbeitsbank
Vor den Feiertagen haben wir Handwerksleutc zu tun. Wer
Geld hat, läßt sich neue Kleider machen, und wer keines hat, die
alten verschlissenen wenigstens ausbessern. Verschämte Arme z. B.
werden ganz besonders heikel sein, mit keiner fadenscheinigen und
zerlöcherten Logik an den Osterfeiertagen sich blicken zu lassen.
In der Montags-Sitzung hat die Logik der Frau Austria durch
unvorsichtige Hände einige Löcher bekommen, die ich schleunigst
zustopfen will. Die genannte Frau ist nämlich meine alte Kund-
schaft und ich habe sie immer gut bedient. Ein rechtschaffener
Handwerksmann läßt sich ein paar Stiche nicht reuen, auch
wenn sie ihm nicht bestellt, ja nicht einmal gelohnt würden. Auch
um Gotteslohn fädelt ein gottesfürchtiger Flickschneider gerne
seine Nadel ein. Ich flicke also!
Erstes Loch. Chlumecky: >Der Herr Abgeordnete Schöffel
hat die Geschäftsnummern des Ministeriums mit den Agenden
anderer Mmisterien verglichen. Ich begreife nicht, wie gerade der
Herr, welcher der Bureaukratie so zu Leibe gegangen ist, nun
den bekanntlich bureaukratischen Schimmel, nämlich die Geschäfts-
nummern einer Behörde, zum Gegenstande einer Vergleichung
machen kann. Ich habe geglaubt, daß ich am besten administriere,
wenn ich möglichst wenig Nummern macbe.t — (Rufe links und
im Zentrum: >Sehr richtig !<)
Fleck darauf. Ruf von meiner Arbeitsbank: Sehr
unrichtig! Die Kultur hat nun einmal nach irgend einem uner-
bittlichen Fatum den Gang des Papiers eingeschlagen. Bei einem
Kulturgange, wo kein Fürst mehr eine Schule besuchen kann,
ohne daß der Schulmeister früher schriftlich vorlegen muß, was
er sagen wird, und der Fürst eine papierne Zettel- Antwort in die
Hand bekommt, die er ablesen muß, bei einem Kulturgange, der
Alles und Alles zu Papier bringt, wollen wir uns doch nicht weis-
machen, daß die Vieischreiberei überhaupt einzudämmen ist und
im Belieben eines Einzelnen liegt? Belcredi wollte solch' ein Einzelner
sein. Ich erinnere mich noch sehr wohl seines Antritts-Zirkulärs.
Weniger schreiben, mehr mündlich und persönlich abtun, riet er
seinen Beamten. Belletrist! Phantast! Romantiker! Dilletant!
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antwortete spöttisch das Papier-Fatum und Schreiber-Imperium,
und ließ alles beim Alten. Eines Tages nahm ein Beamter einen
Fiaker und erledigte wirklich persönlich, was er sonst schriftlich
abgemacht hätte. Das ging durch alle Blätter und war eine Merk-
würdigkeit wie ein Maikäfer im April. Das arme Tierlein ist auch
bald genug umgekommen; man sah den Schreiberstaat nach wie
vor viel weniger auf den Strümpfen als auf seinem sitzenden Sitz-
fleisch. »Ich habe geglaubt, daß ich am besten . . . .< ja freilich,
ich habe auch geglaubt! Aber ich habe geglaubt, daß jeder Glaube
unglaublich weit hinter Taten und Werken zurückbleibt. Wir
wollen daher keine Glaubenskriege führen. Halten wir uns aber
an die Tatsachen, so behält Schöffel Recht, denn im tatsächlichen
Vielschreiber-Staate wird die Zahl der Agenden von der Tätigkeit
des Amtes immer ein Bild geben. Es ist nnn einmal nicht anders.
Zweites Loch. Chlumecky: >Wenn der Herr Abgeordnete
weiter gesagt hat, daß das Unerhörte geschehe, daß auch ein
Sektions-Chef in forstlichen Angelegenheiten Agenden hat, so
muß ich Sie bitten, die Exekutive dem verantwortlichen Minister
zu überlassen, es ihm zu überlassen, die Kräfte, die er braucht,
zu wählen, und nach seiner Überzeugung zu organisieren.« —
(> Bravo! Bravo!«)
Fleck darauf. Die Exekutive will Geld von mir. Darf
ich nun fragen: Was und wie exekutierst du damit, oder darf ich
nicht so fragen? Was ist denn das Budgetrecht, wenn nicht eine
Kontrolle der Exekutive? Es liegt in der ganzen Natur der geteilten
Gewalten, daß sie eben nicht so präzis zu teilen sind, wie Salomo
das berühmte Kindlein teilen wollte. In jedem kräftigen Parla-
mentarismus langt die Legislative gelegentlich in die Exekutive
hinüber, und in jedem Kanzleidiener-Parlamente erlaubt sich die
Exekutive selbst wieder Beeinflussungen der Legislative.
Drittes Loch. Chlumecky: >Der Abgeordnete von
Mödling — der Abgeordnete von Hietzing — «
Fleck darauf. Ein altes Wiener Possen-Couplet singt:
>I bin von Penzing und das is mein Stolz!« Diese schönen Zeiten
haben sich geändert, denn von Hietzing und Mödling zu sein,
sieht nach Chlumecky nahezu wie ein Vorwurf der armen nieder-
österreichischen Kreatur aus. Gott besser 's ! Schäme dich, Hietzing
und Mödling. Warum bist du nicht Moskau und Petersburg ?
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Ach, es läßt sich so schön »verantwortlicher« Minister — in
russischen Städten sein! Übrigens meint man, es wäre auch bej
bei uns nicht gesundheitsschädhch und pensionsnachteilig.
Viertes Loch: Chlumecky: »Es ist sehr leicht, achtbare
Beamte zu denunzieren, aber gegen solche Vorwürfe, wie sie heute
erlioben worden sind, ohne daß nur einzige Tatsache vorgeführt
worden wäre . . .<
Fleck darauf. Schöffel rechnet : Vom gesamten Bamten-
stand konsumiert Justiz 1 Perzent, Unterricht 2^li, Inneres 5,
Handel 5, Finanzen 7, Ackerbau — I6V2 Perzent.
Ist das eine Tatsache? Pardon, ich armer, einfältiger Flick-
schneider halte es dafür.
Schöffel sagt: Als die Staatsforste 4 Millionen Joch hatten,
zählte die Verwaltung 7 Beamte, jetzt haben sie 1 Million und
die Verwaltung zählt 15 Beamte.
Ist das eine Tatsache von nepotischer Bearatenversorgung
und kostspieligem Anstellungs-Luxus?
Schöffel sagt: Das V. Departement ist das der Pferdezucht.
Damit ist das Qestütswesen nicht gemeint, denn dieses untersteht
einem Generalmajor. Damit man jedoch den Unterschied zwischen
Pferdezucht und Gestütswesen erkennt, wurde ein Ministerial-
sekretär als Markierungspunkt angestellt.
Ist dieser Ministerialsekretär eine Tatsache oder ein Schatten-
prinz aus Arkadien?
Schöffel sagt: Das VI. Departement ist das des Bergwesens,
wohl zu unterscheiden von dem des Montanwesens, unter dem
man die Betriebsleitung der ärarischen Bergwerke versteht. Das
Departement leitet ein Ministerialrat, dem eine Schar von 3 Berg-
hauptleuten, 6 Ober- Bergräten, 5 Bergräten, 18 Ober-Berg-
kommissären und 13 Bergkommissären untersteht. Sie werden finden
meine Herren, daß es hier mehr Berghauptleute, Ober-Bergräte und
Ober-Bergkoramissäre gibt als Gruben im ganzen Lande, außer
man rechnet die Schottergruben dazu.
Sind das Tatsachen oder fangen die Tatsachen erst bei
gestohlenen Silberlöffeln an? —
Ich habe dieses Loch einzig mit der Hand und mit dem
Zeuge Schöffel's geflickt, denn das Loch ist groß und vor Ostern,
wo die Arbeit so pressant ist, hilft sich ein kleiner Mann mit
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Händen, wo er sie findet. Die Hand näht meisterlich und das
Zeug ist das beste in Österreich. Ich behaupte, daß die Sätze
Nr. 5 und 6 ein echteres Muster von wahrem und wirklichem
Witze sind, als vielleicht jener große und achtbare Teil unserer
Mitbürger, den wir die jüdische Bevölkerung nennen, nach seinem
anders gearteten Kanon mitempfindet, einem Kanon, welcher das
Haschen und Kombinieren von Bildern gewöhnlich für Witz hält.
Aber Saphir wird längst nicht mehr gelesen, während jene Sätze
ihr heutiges Gepräge bewahren werden, so gut wie Sätze von
Lessing oder P. L. Courier.
Fünftes Loch. Tinti : >Wenn nun gesagt wurde,
daß das Ministerium seine Aufgabe verkannt habe und ver-
schwenderisch gewesen sei, daß es die Subventionen zwecklos und
ohne System vergeude, dann begreife ich nicht, warum die Herren
Redner (Schöffel und Schönerer) nicht zu der Konklusion gekommen
sind, daß dem Ackerbauministerium nichts zu bewilligen, daß
dieses Institut aufzulösen sei.« — (»Sehr richtig!«)
Fleck darauf. Weil sie das Ackerbauministerium für
besserungsfähig halten. Das ist leicht zu begreifen, wenn man
Begriffsvermögen hat. Wer gleich mit Nichtbewilligung und Auf-
lösung käme, der hielte es eben für unverbesserlich. Gott über
die Welt, wer wird denn so extrem sein? Der Baron Tinti ist's
eigentlich viel mehr als die Herren Schöffel und Schönerer. Sint
ut sunt aut non sint, scheint er von den bureaukratischen Acker-
bauern zu denken und stellt seine Sache auf diese jesuitische
Messerschneide. Entweder verweigert das Budget oder haltet das
Maul! Ei, was das Hitzköpfe sind heutzutage! Ein alter Flick-
schneider verliert sein ganzes Bischen Courage unter so tollen
Menschen. Verweigerung ! Auflösung !
Vor der Verdammnis steht doch die Besserung! Bessere
dich ! ruft selbst der steinerne Gast, der doch ein so geharnischter
Abgeordneter ist und hinter dem ein verteufeltes Volk steht!
Wenn man erstochen wird, darf man mit gutem Grund böse
werden und aufgeregt sein, und doch ruft der maßvolle Tote noch
immer: »Bessere dich!« ehe er dem Don Juan sein fettes Fasanen-
und Hasen-Budget verweigert und ihn anflöst. »Pentiti!« —
>Pentiti!< - Nein, Herr Baron Tinti; eine Fristerstreckung zur
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Buße und Reue verdient noch der ärgste Bruder Liederlich —
»il dissoluto punito!« wie das alte Libretto sagt.
Sechstes Loch. .Neue Freie Presse' : >Zwei Deputierte,
welche die hochgehenden Wogen der letzten Wahlbewegung in
das Abgeordnetenhaus geschwemmt hatten, die Herren Schönerer
und Schöffel . . .<
Fleck darauf. Sollte man doch glauben, es wäre von
deutschen und französischen Wählerschaften die Rede, wo es in
viele Tausende geht, statt wie bei den österreichischen nur in
wenige Hunderte. Was schwemmt sich denn da mit hochgehenden
Wogen? Übrigens ist Schöffel auch in die Delegationen gewählt
worden ; der Mann muß also doch besser sein, als daß er nur so
mitgeschwemmt wird. Wenn 37 Erwählte wieder Drei auserwählen,
so ist das die Elite der Elite und keine Aufschwemmung mit
hochgehenden Wogen.
Und doch war von der »Neuen Freien Presse«, die mit
ihrem ganzen, von ihr selbst so hoch geschätzten und noch höher
verwerteten Einfluß durch ihren Kandidaten Lustkandl gegen
Schöffel seinerzeit unterlegen ist, nicht nur das, sondern weit
Ärgeres zu erwarten; ja sieht man, daß sie sogar schon anfängt,
Herrn Kronawetter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so scheint
es fast, als ob sie nur noch ehrenhalber und auf dem Rückzuge
ein Bischen plänkelte, in ihrem bessern Gewissen aber ernstlich
daran dächte, die verlorne Fühlung mit der öffentlichen Meinung
wieder zu suchen. Überlassen wir das also der Zeit, die wir
abwarten und beobachten wollen.
Abwarten und Beobachten ! Man hat in Österreich so lange
und leider mit so vielem Grunde geklagt, daß es uns an parla-
mentarischen Talenten, noch mehr an parlamentarischen Charakteren
fehlt. Da betritt nun ein Mann die parlamentarische Laufbahn,
ein neuer Mann, der offenbar das Eine und auch das Andere ist.
Wird man ihn dafür erkennen ? Wie lange und in welchem Grade ?
Das ist's, warum ich mich mit Schöffel beschäftige! Wie Schöffel's
Person mich interessiert, würde kaum vor die Öffentlichkeit
gehören; aber in Schöffel interessiert mich Österreich. Ist es euch
Ernst mit euerem patriotischen Seufzen nach Talenten und
Charakteren? Es wird sich zeigen aus der Art, wie ihr sie auf-
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nehmt. Es wird interessant sein, diesen Fall zu beobachten, denn
es wird sich viel daraus schließen lassen!
Ich habe nämlich — so wenig die Menschen aus der
Geschichte auch lernen — aus Gibbon's >Verfall des römischen
Reiches< etwas gelernt. Nicht das Quantum der vorhandenen
Männertugend macht die besten und schlechtesten Zeiten — über-
raschender Weise variiert es nicht einmal stark — sondern das macht
sie, wie gut oder wie schlecht es von der Öffentlichkeit assimiliert
wird. Den guten Zeiten gedeiht jedes ßröselein Gutes; die
schlechten vergeuden es in Scheffeln, verfolgen es förmlich und
wüten dagegen. Es wird sich viel dabei denken lassen, wie unser
Vaterland mit unserm neuen Manne sich stellt.
>Das Vaterland kann nicht verderben!« nach Heine, und
freilich bleibt mein Österreich auf seiner Erdoberfläche liegen und
ist mir sicher. Deßungeachtet macht es einen großen, einen Alles
entscheidenden Unterschied, ob zum Beispiel das vaterländische
Griechenland eines Tages Hellas hieß und eines andern Tages
Byzanz
Ferdinand Kürnberger
Kürnberger hielt die Korrespondenz eines Schrift-
stellers für einen erheblichen Teil seiner Tätigkeit.
Aber so bald vermöchte uns ein Profil nicht leb-
hafter anzusprechen als aus den Briefen Joseph
Schöffeis. Hier zwei, die an Kürnberger gerichtet,
und etliche, die an mich fast dreißig Jahre später,
aber mit der bis aufs letzte Pünktchen gleichen
Schrift geschrieben sind. Darunter solche, aus denen
meine anonymen Briefsteller ersehen werden, daß ihr
Verdacht ungerechtfertigt ist, Schöffel habe sich bloß
solange als die , Fackel' eine ausschließliche, soziale
Reinigungspflicht erfüllte, ihr zugewendet.
An Ferdinand Kürnberger:
Lieber alter Freund I
Ich war in Pernitz, habe bei 11° Kälte gejagt und einen
Fuchs gefehlt, dafür aber einen alten Esel getroffen. Der alte
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Förster, der sich für einen bedeutenden Künstler hält, verlangt nämlich
für einen solchen Rahmen, wie er für mich geschnitzt hat, nicht
weniger als 300 fl u. zum mindesten ein Jahr Arbeitszeit, voraus-
gesetzt, daß er nicht krank wird. Sie können sich vorstellen, daß ich
mit dem Narren nicht weiter unterhandelte. Wenn Sie bei der heutigen
arbeitslosen Zeit irgend einem tüchtigen Holzschnitzer, sei es in
München o. Wien Auftrag geben, so verfertigt er Ihnen Rahmen, Bett-
statt, Tisch und Stühle zu dem Preis, den der alte Hirsch für den
Rahmen allein verlangt. Was Oskar Falke anbelangt so will ich den
Johannes lieben, wie ihn sein Herr und Meister liebte. Otto Falke
kann als außerordentlicher Hörer jeden Augenblick eintreten und werde
ich seine Aufnahme besorgen. Als ordentlicher Hörer ist es zu spät,
da bereits Mitte Januar die Prüfungen für das erste Semester beginnen.
Da es sich bei Otto Falke nicht um ein Studienzeugniß, sondern nur
um das Studium selbst handeln dürfte, so ist es gleichgiltig, ob er als
außerordentlicher o. ordentlicher Hörer den Kurs hört.
Und nun leben Sie wohl und glücklich und gedenken Sie
manchmal Ihres vielgeplagten Freundes
Schöffel
Mödling den 20/12 1877
Lieber thenerer Freund!
Ich habe lange gezögert Ihre unsterbliche Epistel zu beantworten,
denn wie soll ich armer, von den Juden zu Tod gehetzter Teufel dem
Gedankenfluge Kümbergers folgen? Ich versuche es auch nicht Ich
habe mich bemüht Sie zu begreifen, Sie zu verstehen — Sie zu erreichen
w^ Wahnsinn. Genug, ich trage Ihren Brief herum, wie der Affe seine
Jungen, ich lasse ihn Jeden lesen und habe ihn hundertmale vor-
gelesen und Jeder war noch entzückt. —
Sie fragen mich, wie die Sache war? Sehr einfadif Ein hiesiger
Schlossermeister, entrüstet darüber, daß ein von der hiesigen Juden-
Clique erhaltener Revolverjournalist mich und jeden ehrlichen Menschen
Woche für Woche ungestraft mit Koth bewerfen darf, übernahm die
Rolle der strafenden Gerechtigkeit, packte den Obelthäter, während er
bei seinem Frühstückskafee saß, legte ihn übers Knie und applicierte
ihm dann wohlgezählte fünfundzwanzig Hiebe auf den Arsch. Dfer
Revolverbube wehrte sich, obgleich er beide Hände frei halte, nicht im
geringsten, sondern weinte und bat um Gnade, da des Guten schon zu
viel sei. Der größte Theil der hiesigen Juden, die immer im Kafeehause
herumlungern, sah der Execution zu, aber keiner hatte den Muth sich
um den Ihren anzunehmen. Darob selbstverständlich großes Geschrei
in Israel, das bis heute noch nicht ausgetobt.
Ihren weisen Rath werde ich beherzigen. Vielleicht lade ich Sie
zu einem Rendezvous nach Tragöß bei Brück a. d. Mur. Werden Sie
kommen?
Später wenn ich den Frieden der Gemeinde zurückgegeben,
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•werde ich die Dornenkrone niederlegen und wieder Mensch werden.
Dann will ich bei Ihnen sitzen und mich an Ihren Worten laben.
Bis dahin leben Sie wohl und seien Sie herzlichst gegrüßt von
Ihrem treu ergebenen Freunde
Schöffel
Mödling 7. July 1878
Von den vielen Briefen, die Schöfifel an mich
gerichtet hat, sind zwei der schönsten schon in
Nr. 296/97 veiöfiFentHcht: der vom 10. Juni 1901 und ein
zweiter, den er mit dem Artikel für Nr. 170 sandte und
der vom 1. Dezember 1904 datiert ist. Hier andere:
Verehrter Herr Kraus!
Beiliegend übersende Ihnen die in nahezu allen Tagesblättern
abgedruckte Todesanzeige Ferchers und bemerke hiezu, daß die »schmerz-
erschütterten, aber nicht gebrochenen <, von Liebe und Verehrung für
Fercher triefenden treuen Freunde,*) ihn während seiner Lebenszeit un-
erschüttert und ungebrochen aus Liebe hungern ließen und daß
Fercher auch verhungert wäre, wenn ihn Professor Dr. Josef Hyrtl
nicht unterstützt und ihm eine Jahrespension von 600 Gulden gesichert
hätte, welche Pension Fercher bis zu seinem Tode von der Hyrtlstiftung
ausbezahlt wurde.
Mit der Leiche Ferchers ftunkern unerschüttert oder unverschämt
die ihn überlebenden treuen Freunde, die sich um ihn im Leben nie
gekümmert haben!
So erging es auch Ferdinand Kürnberger, der in einem Spital
hätte sterben müssen, wenn sich Kaulbach nicht um ihn angeiu)m-
men hätte. "
Fercher wird in einem Ehrengrab bestattet, — Kürnberger würde
in einem Winkel eines Friedhofs in München eingescharrt worden sein,
wenn ich seinen Leichnam nicht reclamirt und in vaterländischer Erde
in Mödling hätte begraben lassen.
O du heuchlerische Menschenbrut!
Verwerthen Sie diese Mittheilung, wenn Sie es angezeigt finden,
— nennen Sie jedoch meinen Namen nicht, denn ich will auch den
Schein einer Reclame vermeiden.
Mit Achtung
9. ,3 1902 Schöffel
*) Die Parte für Johannes Fercher von Steinwand enthielt den
Satz: »Dem gottbegnadeten Dichter, dem erhabenen Sänger der Natur,
dem strengen Hüter idealer Sinnesart, dem glühenden Verehrer des
Vaterlandes, dem sieghaften Bezwinger seines harten Schicksals, dem
edelsten der Menschen und liebwertesten der Freunde weihen schmerz-
erschüttert, aber nicht gebrochenen, sondern erhobenen Herzens den Zoll
unauslöschlicher Liebe und Verehrung — seine überlebenden treuen
Freunde.« Siehe Nr. 97. Anm. d. Herausg.
25
Sehr geehrter Herr Kraus!
Mehie Artikel haben, wie ich mich überzeugte, in den obersten
Regierungskreisen Eindruck gemacht. — Ich darf daher die Sache nicht
ruhen lassen und sende Ihnen deshalb einen ganz kurzen Artikel über
die von der österr. Volkszeitung an sogenannte Staatsmänner und Parla-
mentarier gerichtete Rundfrage für die nächste Nummer der Fackel.
Bitte denselben zu veröffentlichen.*)
Mit herzlichem Gruß Ihr
Schöffcl
Mödling, am l./l. 1903
Die Ost. Volkszeitung ist mir erst gestern von unbekannter Hand
sub Couvert zugeschickt worden.
Sehr geehrter Herr Kraus!
Sie sind schlecht informiert — Rosner hat sich brieflich ange-
fragt, ob ich die in der ,Zeit' über Kümberger erschienenen Artikel ge-
lesen habe. Da ich die Adresse Rosners nicht kannte, habe ich an die
Buchhandlung Rosner die Antwort gerichtet, des Inhalts, daß mich die ,Zeit'
aufgefordert hat, ihr einen Artikel über nationale Erziehung der Jugend
und einen über Kümberger zu liefern, was ich motiviert abgelehnt habe,
jetzt aber die Ablehnung bedauere, da die beiden in der .Zeit* publi-
cirten Artikel, insbesondere der von dem alten Lecher, Kürnbergers an-
würdig seien und sein Andenken besudeln.**) Rosner übersendete mir
hierauf seine in der Wochenschrift ,Zeit' veröffentlichten Briefe Kürn-
bergers. Von einer Veröffentlichung der an mich gerichteten Briefe
Kürnbergers war keine Rede ! — Diese Briefe sind theils intimen
Inhalts, theils betreffen sie Personen, die längst gestorben und Sachen, die
längst vergessen sind! Ich habe daher die Verfügung getroffen, daß
alle diese Briefe, sowie die Briefe Lassers, Hyes, Erbs, Fischhofs etc. etc.
nach meinem Tode verbrannt werden!
Mit herzlichem Gruß Ihr
Schöffel
24./I. 1903
Geehrter Herr Kraus !
Sie waren so freundlich mir vor einigen Wochen Ihre Photo-
grafie zu übersenden. Ich wollte damals Ihnen dagegen meine Photo-
*) Siehe Nr. 126: > Orakelsprüche«.
**) Die ,Zeit' hatte mit einer dem Andenken des Dichters ge-
widmeten Festnummer, welche Aufsätze der Herren Z. K. Lecher und
O. J. Bierbaum brachte, debütiert. Darauf bezieht sich Nr. 124 der
.Fackel' (Dezember 1902): »Ferdinand Kümberger und die Wiener
Presse« (mit einem Brief Kürnbergers an Fischhof) und Nr. 129 (Fe-
bruar 1903): »Literatur«. Anm. d. Herausg.
26 -
graphie übersenden, hatte aber keine. Nun habe ich mich zu diesem
Zwecke photografieren lassen und übersende Ihnen dieselbe zur Erin-
nerung an Ihren Mitarbeiter. Gleichzeitig übersende ich Ihnen eine von
mir verfaßte Geschichte der Gründung und Entwicklung des Hyrtlschen
Waisenhauses, sowie die Geschichte des Kampfes um die Überschüße
der cumulativen Waisenkassen. Sie werden aus den in den Zeitungen
publicirten Landtagsberichten, so wie aus meiner an alle Blätter ver-
sendeten Erklärung ersehen haben, mit welch stupider Wuth man mich,
wegen der von mir in der .Fackel' publicirten Studien über Autonomie,
Immunität etc. verfolgt. Es ist sicher, daß die Leute nicht nur an
meiner Person, sondern auch an meinen Schöpfungen sich rächen.
Ich sende Ihnen daher diese Broschüren zu dem Zwecke damit
Sie in den Stand gesetzt werden, für den Fall, als ich nicht mehr
lebe, oder in Folge Alters oder Krankheit nicht mehr im Stande bin,
das von mir Geschaffene selbst zu vertheidigen, diese Vertheidigung
zu übernehmen. — An meiner Person selbst ist nichts gelegen.
Diese Brochuren heute zu besprechen, halte ich nicht für opportun.
Mit Gruß Ihr
Schöffel
Mödling 24. April 1903
Sehr geehrter Herr Kraus!
. . . Ober die Affaire kann ich derzeit nichts schreiben,
da ich die Schritte abwarten muß die gegen meine Erklärung unter-
nommen werden. Die amtliche Wiener Zeitung brachte in der letzten
Nummer die Nachricht daß der L. A. beschlossen habe, eine Berichti-
gung meiner Angaben zu veröffentlichen. Da heißt es abwarten. Meine
Berichtigung der Berichtung muß der Berichtigung sogleich folgen. Ober-
hudeln werde ich meine Antwort nicht, wie das letztemal. Meine
Erklärung, die ich zwei Schreibern auf der Schreibmaschine dictirte
ließ ich durch den Verwalter des Waisenhauses an das Neue Wiener
Tagblatt, Österr. Volkszeitung, Arbeiterzeitung, Morgenzeitung, Deutsches
Volksblatt, Neue Freie Presse, Zeit und N. W. Journal senden. Die
N. F. Presse fragte sich Mittwoch nachts telegraphisch an, ob sie
einzelne Stellen streichen und mildern kann. Ich antwortete, es sei zu
spätl Das Deutsche Volksblatt ersuchte brieflich einige Stellen mildern
zu dürfen, da es einen Preßprozeß fürchtete — auch zu spät ! Die Zeit
und das N. W. Journal brachten die Erklärung wahrscheinlich aus Liebe
zu Ihrer Person nicht.
Die Broschüren sind kein Geheimniß. Sie sind in großer Zahl
an alle sogenannten Würdenträger versendet und auch verkauft worden, —
Ich gehe mit der Idee um, meine Erlebniße niederzuschreiben,
fürchte aber daß man das als eine Oberschätzung ansehen werde. Mir
kommt es selbst so vor. Auch möchte ich die heutigen Verhältniße, die
Regierungsdummheiten etc. etc. in der Form von Briefen a la Paul Courier
beleuchten. Ich bin ja heute ebenso wie P. Courier nichts als ein
ehemaliger Offizier und dermaliger Steuerlastträger. Was rathen Sie mir?
27 —
In der N. F. Presse vom IQ. April erschien ein Feuilleton unter dem
Titel > Liebesbriefe eines Wiener Poeten«, in welchem Auszüge aus Briefen
Kümbergers, die in einem Heft unter dem Titel »Angereihte
Perlen« erschienen sein sollen, besprochen werden. Bitte senden Sie
mir das Buch gegen Nachnahme I O unvergeßlicher Freund Kürnberger
wie schwer vermiß ich dich. — Als wir einst im Stift Heiligenkreoz
einen Tag zubrachten, da rief er mir zu: Hier möchte ich bleiben, um
ohne Kampf um das tägliche Brod geistig zu arbeiten. Du wärst mein
Jünger aber leider bist du beweibt. Warum gibt es nicht Zufluchtsstätten
für geistige Arbeiter, die sich aus dem Schlamm der Gesellschaft retten
und ihren Idealen leben wollen !
Trübe Träume I
Leben Sie wohl!
Es grüßt Sie Ihr
25/4 1903 Schöffel
Lieber Freund I
Wie ich Ihnen telegrafisch mitgetheilt, habe ich mich entschlossen
auf die Berichtigung des Landesausschusses nicht zu reagieren, da
diese Berichtigung nichts anderes ist, als eine klägliche
Capitulation, ein Pater peccavi! Auf einen Feind einzuhauen,
der die Waffen senkt, ist nicht ritterlich I Also nur nicht zu hitzig
lieber Freund f Wir geben uns sonst eine Blöße, die der Feind ge-
schickt benützen kann. Hoffentlich kommt noch die Zeit, wo ich den
Pharisäern die Wahrheit geigen kann, daß ihnen Hören und Sehen
vergeht !
Mit Gruß Ihr ergebener Schöffel
(Ohne Datum)
Hochverehrter Herr Kraus I
Vor allem anderen besten Dank dafür, daß Sie sich meiner er-
innert haben I Ich befinde mich wohl, bin — eine Ausnahme von der
Regel — zufrieden, — streiche vagabundierend in den Wäldern herum
und — träume! Ihrem Wunsche, Briefe Kümbergers zu veröffentlichen,
kann ich leider nicht entsprechen. Diese Briefe, welche aus einer an-
deren Zeit stammen, würden heute ohne weitläufige Commentare nicht
verstanden werden. Ich wollte schon alle in meiner Aufbewahrung be-
findlichen Briefe Kümbergers, Fischhofs, Schlögls, Taaffes und Anderer
verbrennen, um sie einer eventuellen Veröffentlichung nach meinem
Tode zu entziehen. Wenn ich dies bisher unterlassen habe, so geschah
es deßhalb, weil ich mich mit dem Gedanken trug, Reminiszenzen aus
meinem Leben niederzuschreiben, in welchen Auszüge aus diesen
Briefen erscheinen sollten. Ich kam bisher nicht dazu I Ich bin alt und
müde geworden, — vielleicht in Folge des Nichtsthuns faul! Wo finde
ich einen Verleger für das was ich schreibe und wo der Verleger die
Abnehmer? Man schweigt mich todt und der Liebe Mühe ist umsonst!
> Ich wollte Ihnen vor Monaten mehrere Artikel über die > Armee-
frage < einsenden, nur um zu zeigen, daß es unter den europaeischen
2S
Chinesen doch noch Leute gibt, die sich nicht dupiren lassen ! Ich
unterließ es, denn erstens konnte ich nicht wissen, ob Ihnen das Thema
convenirt und zweitens wollte ich die Leute, die sich betrügen
lassen wollen, des Vergnügens, sicli betrügen zu lassen, nicht berauben !
Und nun wünscht Ihnen, nach alter Sitte, recht fröhliche Feier-
tage Ihr Sie herzlich grüßender
Joseph Schöffel
(Poststempel: Mödling 15. 12. 03)
Sehr geehrter Herr!
Mit der Verfassung meiner »Reminiszenzen« bin ich fertig! Nun
heißt es einen Verleger suchen, was mich, da ich ganz zurückgezogen
lebe, in Verlegenheit bringt!
Nehmen Sie es mir nicht für übel, wenn ich Sie bitte, mir für
meine »Reminiszenzen« einen Verleger aufzustöbern. Das ganze Werk
wird bei 700 Seiten Großoctav umfassen. Druckkosten zahle ich nicht!
Finde ich in Wien keinen Verleger sende ich den ganzen Quark an
Engelmann in Leipzig. — Was Sie für die , Fackel' verwenden können,
benutzen Sie ohne weiteres. Für die Zukunft bin ich gerne bereit Ihnen
für die .Fackel' hie und da etwas zu liefern. Sollte Ihnen die von mir
gewünschte Mission unangenehm sein, lehnen Sie dieselbe ohne viel
Federlesens ab!
Mit herzlichen Grüßen Ihr
Schöffel
Mödling 23ten März 1905
Sehr geehrter Herr!
Besten Dank für die Bereitwilligkeit mir einen Verleger für meine
Arbeit aufzustöbern. Ich gehe nicht gerne an die Publikation dieser
Arbeit, da sie mir gewiß alle Teufel an den Hals hetzen und meine
Ruhe stören wird. Ich zweifle auch, daß sich in Wien ein coulanter
Verleger finden wird. Strengen Sie sich deßhalb nicht an. Die Firma
Engelmann in Leipzig nimmt es jedenfalls. Abriße markanter Stellen
kann ich Ihnen nicht senden. Ich habe zuerst Bleistiftnotizen gemacht
und nach diesen Notizen das ganze meinem Diener dictirt, der es mit
der Schreibmaschine abgeklopft hat. — Während des Druckes können
Sie ja einzelne Bögen, wenn Sie einen Wert darauf legen, für die
Fackel verwenden. Das ganze kann ich aber nicht auseinanderreißen,
— daß muß dem Verleger ausgehändigt werden. Um Aushängbögen
haben sich vor Monaten das Neue Wiener Tagblatt, Deutsche Volks-
blatt und die Zeit beworben, Ich habe es diesen Blättern zugesagt,
obgleich ich wohl weiß, daß sie nichts daraus publiciren werden.
Ein Inhaltsverzeichniß lege ich bei ! Auf eine baldige Antwort hoffend,
bleibe ich mit herzlichen Grüßen Ihr Freund
(Ohne Datum). Schöffel
Sehr geehrter Herr!
Ich sehe ein daß Ihnen die Mission, die Sie aus Courtoisie
übernommen, lästig ist und bedauere, Sie mit meinem Ansinnen über-
298-209
— 29
haupt belästigt zu haben.*) Went# Sie daher mit Wiener Verlegern, mit
denen, wie ich glaube, überhaupt nichts zu machen sein wird, nichts
eingeleitet haben, so unterlassen Sie es I Ich werde mich ai
das Ausland wenden I Ich bin etwas spät daran. - Die Rosinen ans
meinem Schmarrn werden nach u. nach herausgefressen und es bleibt
nichts als ein trockenes ungenießbares Gefräß.
Ich bitte daher um eine Verständigung Ihrerseits!
Mit herzlichem Gruß
9./4. 1905 Schöffel
Sehr geehrter Herr!
Erscheint die Fackel noch in diesem Monat und wann? Für de«
Fall ihres Erscheinens sende ich dann eine Erwiderung auf ein Ge-
fasel sogenannter Alterthumsforscher, die mich belehren wollen.**)
Mit Gruß Ihr Schöffel
(Poststempel: Mödling. 17. 6. 05)
Lieber Freund!
Der Abgdte Steiner resp. sein Spiritus redor der Landes-
Wohltätigkeitsanstalten-Oberinspektionsrat(l) Gerenyi hat wie ick
aus den Zeitungen entnommen, meine Angaben über die
Landesverwaltung, enthalten in den > Erinnerungen aus meinem Leben»,
angegriffen. Schon in der vorletzten Landtagssession hat Dr. Pattai auf
eine bestellte Interpellation ein gleiches versucht, worauf ich ihm ta
der , Fackel' geantwortet habe. Diese Nummer der Fackel, in der meine
Antwort publiziert war, finde ich nicht und bitte Sie daher mir dieselbe
zuzusenden, da ich auch diesen letzten Angriff in der .Fackel' zurück-
zuweisen gedenke und ich wissen muß, was ich in der Fackel bereits
darüber geschrieben habe.
Mit besten Grüßen
Ihr Schöffel
lO./XI. 1905
Sehr geehrter Freund!
Ob ich Ihnen das Manuscript Morgen oder Übermorgen werde
zusenden können, ist mehr als zw^eifelhaft, denn es hängt davon ab,
wann ich das stenografische Protokoll der Landtagssitzung vom Qten d. M.
zugesendet erhalte, dessen sogleiche Zusendung auf mein Ansuchen vom
Landmarschall verfügt wurde. Auf den Bericht des .Deutschen Volks-
blatts' kann ich mich nicht verlassen, denn dann wäre ich verlassen.
Es würde alles kurzweg abgeleugnet. Wenn meine Replik in der nächstem
Nummer der Fackel nicht erscheinen kann, bedauere ich sehr. Vielleicht
könnte in diesem Fall die Verzögerung des Erscheinens der Replik mit
*) Er hatte keinen Grund zu dieser Annahme. Der Wiener Ver-
leger fand sich gleich und gern. Anm. d. Herausg.
**) Siehe Nr. 183/84: »Mödlings älteste Urkunde?*
30 —
•
der Thatsache motivirt werden, daß das stenogr. Protokoll vor dem Er-
scheinen der Nummer nicht fertiggestellt war. Die Replik auf Pattais
Interpellationsbeantwortung habe ich in den Tagesblättern publicirt und
bitte Sie um Entschuldigung wegen der Belästigung! Mein Gedächtniß
nimmt rapid ab ! Bezüglich der Wahlreform warte ich, bis die Re-
gierung, die in der Brutzeit ist, das Wahlreformsei gelegt hat. Ich bin
überzeugt, daß es stinken wird ! Dann wäre es Zeit los zu legen.
Ober die Polizei im Allgemeinen, ihre Organisation, ihre Leistung zu
schreiben wäre fad! Ihre Haltung bei den letzten Krawallen kann
ich nicht beurtheilen. Die Zeitungsberichte sind durchwegs erlogen.
Mit herzlichem Gruß Ihr Schöffe!
(Eilbrief mit Poststempel Mödling, 12. XI. 05)
Geehrter Freund!
Wie Sie aus dem Inhalt des beiliegenden Briefes entnehmen
können wird das stenographische Protokoll der Landtagssitzung vom
Qten dMts., wahrscheinlich am 21ten dMts. gedruckt erscheinen, da das
Sitzungsprotokoll vom 3ten am 14ten erschien.
24 Stunden nach Erhalt des Protokolls übersende ich Ihnen
den ArtikeL *)
Mit herzlichem Gruß Ihr ergebener
20/XI 1905 Schöffel
Ihre Studie über den Horaosexualimus (Prozeß Beer) war ein
Meisterstück.
»
Geehrter Freund!
Beiliegend übersende Ihnen noch einige Zeilen die Enunciation
des n.-ö. Landesausschußes in seinem Amtsblatt betreffend, das ich
nach Absendung meines Artikels erhalten habe, mit der Bitte, dieselben
dem Artikel als Schluß anfügen zu wollen. Die Leute sind durch die
Verbreitung des Schlußes meines Buches, welche Schönerer veranlaßt
hatte und welche die gläubige Heerde stutzig gemacht haben mag, ver-
rückt geworden. Bitte nur die Drucklegung zu überwachen, damit nicht
den Herren durch einen lapsus calami Anlaß zu weiteren Vexationen
gegeben wird.
Mit herzlichem Gruß Ihr
Schöffel
23. /XL 1905
Besten Dank für die freundliche Zusendung Ihres Werkes :
> Sittlichkeit und Kriminalität«.
Eine blutigere Satyre auf die heutigen Zustände isj mir noch
nicht zu Gesicht gekommen. — Das Fazit ist, daß unsere Justiz auf
den Schinderanger gehört! Es grüßt Sie Ihr
Schöffel
(Ohne Datum)
*) Nr. 189.
31 —
Schülerselbstmord
Von einem Überlebenden
»Das ist mein Tod. Die letzte mathematische Schularbeit
habe ich auf genügend gemacht. Folglich bekomme ich ins Zeug-
nis nichtgenügend. Das ist H.'s Gerechtigkeit.«
So hieß es im Abschiedsbrief eines fünfzehnjährigen Mittel-
schülers, der unlängst vor der Gerechtigkeit eines Lehrers in das
Jenseits aller mathematischen Schularbeiten floh. >Jetzt werde ich
bald vor Gottes Richterstuhl stehen. Gottes Barmherzigkeit wird
mich nicht verbannen, denn meine Tat geschieht in der Ver-
zweiflung.« Von diesem Richter erhoffte der fromme Junge jene
Barmherzigkeit, die ein Mann der siebenten Rangsklasse nicht zu
vergeben hat, will er sich nichts vergeben.
Es handelt sich um jenes »Genügend«, das oft gewohn-
heitsrechtlich geschenkt wird, um einem theoretisch nicht sehr
beßhigten jungen .Menschen den Weg in die Kadettenschule offen
zu lassen. Ein Existenz-Genügend. Es handelt sich darum, daß
dem Beamtenfanatismus die objektive Wahrheit einer Klassi-
fikation immer noch über die subjektive Wahrheit einer Existenz geht.
Der Kampf um das Genügend : Weinende, bettelnde Eltern,
und Kinder, die aus Verzweiflung zu Männern werden. Über
ihnen aber er, der die Schularbeiten korrigiert und dessen Nicht-
genügend für das ganze Leben ausreicht. Über ihm keine Vor-
sehung, die ihn ins Klassenbuch schriebe oder in den Karzer
steckte, wenn er die Allmacht der roten Tinte mißbraucht. — Die
unerbittliche Notwendigkeit des Nichtgenügend hatte sich heraus-
gestellt. Dann kam die unerbittliche Notwendigkeit des Selbst-
mordes. Am Vortage der Zeugnisverteilung schreibt der Verurteilte
in sein Tagebuch, »in einem Winkel, ganz klein, wie geduckt«:
das Wort > Angst«.
Allerdings, das konnte niemand voraus wissen. Denn die
Erwachsenen und die Halbwüchsigen verstehen einander nicht.
Der Erwachsene vermag wohl mit einem Wort die Phantome zu
erwecken in den werdenden Seelen, aber er kann sie nicht wieder
auslöschen mit einem zweiten Wort. Lehrer und Schüler unter-
handeln nur scheinbar in derselben Sprache. Lebensperspektiven,
die sich dem Jüngling plötzlich öffnen, bleiben jenem, dem Manne,
— 32 —
verschlossen. Die pädagogische Absicht kommt furchtbar verändert
als Resultat wieder zutage. Recht, Ehre: Begriffe, mit welchen wir
in einem Ausgleichsverhältnisse leben, das durch immer neue
Kompromisse fortgefristet wird: im Urwald des jugendlichen
Geistes treten sie mit tropischer Wildheit auf. Das schreiende
Mißverständnis zwischen Phantasie und Realität kann letal enden,
ehe man sich dessen versieht. Das sollte die Arrangeure der Reali-
tät behutsamer stimmen.
An zwei aufeinander folgenden Wiener Schultagen zwei
Schülerselbstmorde. Absurde Tragödien in der Zeit des Stimm-
wechsels, dieser ahnungsvollen, krisenhaften Zeit. Ver sacrum. Sie
bieten sich stumm und entschlossen dem Todesgotte dar, die
Jünglinge und Jungfrauen, sie spielen mit Waffen oder fliehen ins
Kloster, Der Vorfrühling rast wie Gift in ihrem Blute, Das Indi-
viduum wehrt sich gegen den erwachenden Gattungswillen. Als
sträubten sie sich, den Traum der Kindheit gegen die Tatsachen-
welt der Erwachsenen einzutauschen. Als wäre den Novizen des
Lebens eine letzte Frist gegeben, eine Bedenkzeit: ob sie sich
wirklich in die langwierige Misere der Menschlichkeit einlassen
sollen. Sie suchen emen Anlaß für den Tod, weil sie fühlen,
daß es ihnen an Gründen für das Weiterleben gebricht.
Aber es sollte nicht angehen, daß die Selbstmörder aus
Frühlingsweh sich mit einem Anschein von Berechtigung auf den
Lehrer ausreden, wenn sie ihre Entmutigung erklären wollen. Und
es kann nicht gerade als ein befriedigendes Resultat der Pädagogik
gelten, wenn der Name des Professors im Abschiedsbrief vorkommt.
Es ist die allzu persönliche Wirkung der lehrenden Persönlich-
keit, was aus dem guten Recht eine arge Waffe macht. Ein wie geringer
Anstoß genügt hier, Größenwahn und tiefste Selbstentmutigung
auszulösen. Die Aufdeckung der Unzulänglichkeiten gehört gewiß
zu den Zwecken der Schule, denn sonst wird einer Gymnasial-
professor, der zum Reitlehrer wie geschaffen ist. Es müßte
aber gelingen, einen Schüler aus dem Paradies der Mathematik zu
jagen, ohne die Abweisung bis zur Katastrophe zu steigern, oder
ohne ihr den Anlaß zu liefern.
Es ist peinlich, daß sich mit den Problemen der Schüler
auch noch die Probleme d«r Lehrer kombinieren. Daß sich die
Sterilität Erwachsener gerade am Material der lebendigen Zukunft
33
betäbgt, von Amtes wegen. Die Konfrontation zwischen Werdenden
und solchen, die nichts geworden sind, wirkt oft wie ein tragischer
Witz. Sie können ihr eigenes Alter nicht lieben, aber sie müssen
die Jugend der anderen hassen. Sie sind der Schulordnung für
immer verfallen und rächen sich an den Glücklicheren, die ihr
entwachsen werden.
Mancher, der die Mittelschule überlebt hat, mag sich später mit
Bedauern daran erinnern, daß er in der empfänglichsten Zeit seines
Lebens einem so langweiligen Feinde ausgeliefert war. Die Robust-
eren zwar lernen selbst von der Ödigkeit, die sehr wohl auf das
Kommende vorzubereiten vermag, sieht sie doch zum Verwechseln
jener Realität ähnlich, mit der man es »dereinst« zu tun bekommt.
Für die Aufgeweckten ist »Professor Unrat« ein groteskes Erlebnis,
das sehr tüchtige Geister des Witzes und der Abwehr wachgerufen
hat Sie erinnern sich gewesener Plagen später mit versöhntem
Humor.
Oft freilich erweckt ein Lehremame, der nach vielen
Jahren genannt wird, alles Grauen einer bösen Zeit. Und es sind
nicht immer die Schlechtesten, die im Kampfe gegen H.'s Gerech-
tigkeit fallen.
* •
DEN FÜNFZEHNJÄHRIGEN SELBSTMÖRDERN
Von Berthold Viertel
Bure Liebe, die wie der Märzsturm schnaubt,
Rüttelte wild
An alledem, das für Leben gilt,
Und euch des Lebens beraubt.
Das Heute hat euch nicht gekannt.
Eine Ahnung hat euch das Herz verbrannt.
Die Angst hat aufrichtig zu euch gesprochen.
Ein Kuß im Traum hat euch zerbrochen.
34
Oskar Kokoschka
Ein Gespräch
»Und ich sage dir, ich schätze ihn unter den
Kräften, deren Äußerungen heute um uns sind, als
eine voq jenen, die am tiefsten wurzeln. c
> Dieser Satz beweist als allgemeines Urteil gar
nichts. Ich traue dir freilich die Plattheit einer aufs
Geratewohl gesprochenen Wertbehauptung nicht zu,
aber ich bin auch nicht imstande zu überblicken,
wie du sie innerhalb deines individuellen Weltbildes
begründen möchtest.«
»Es ist mir schwer, gegenüber deinen peinlichen
Förderungen aufzukommen. Ich habe durchaus nicht
behaupten wollen, daß ich Kokoschka oder irgend
einen anderen Künstler in eine schulmäßige Rang-
ordnung einzwängen will. Ein Kunstwerk wirkt auf
uns oder es wirkt nicht; ein Drittes kenne ich nicht.
Durch liebevolles Hineindenken und ähnliches hat
sich noch keiner irgend eines aufgeschlossen. Wenn
es plötzlich zu ihm spricht, wie niemals vordem, so
liegt das einzig daran, daß er jetzt ein anderer ge-
worden.«
»Aber die Bilder und sonstigen Dinge Kokoschkas
sprechen zu keinem von uns, oder wenigstens zu
einer sehr geringen Zahl.«
>Das läßt nicht für sie den Maßstab gewinnen,
sondern nur für die Betrachter.«
»Wie meinst du das?«
»So: Eine objektive Wertung eines Kunstwerkes
gibt es nicht. Das haben schon viele gesagt. Ich
weiß nur nicht, ob sie es richtig verstanden haben.
Unter allen den Erscheinungen, die von den Dingen
um uns herrühren, sind solche, über welche die über-
wiegende Mehrzahl der Menschen das gleiche Urteil
fällt. So sagen sie etwa: Das Blatt ist grün oder der
Himmel ist blau. Das liegt aber nicht nur an den
Erscheinungen, sondern ebenso — wenn dieser Um-
«?tand nicht am stärksten bestimmt — an der Gleich-
— 35 —
heit der einfachen Denkformen in den Menschen. Die
Existenz solcher übereinstimmender Urteile ist die
Quelle jeder Wissenschaft. Diese ist eine Dichtung
der Vielen, im Gegensatz zum Kunstwerk, dem der
Sprache oder dem irgendwelcher Bildung, als der
Dichtung des Einzelnen, die in der besonderen Art,
in der Differenzierung der Denkformen der Individuen
nach Zahl und Beschaffenheit ihre Möglichkeit findet
Darum meinte ich meine Worte vorhin so, daß dem
Betrachter, der den Künstler nicht versteht, eben
jene Beschaffenheit der Denkformen mangle, die den
Künstler auszeichnet.«
»Du forderst also für jeden Künstler seinen
besonderen Betrachter?«
»Ja; ebenso wie für jeden Betrachter seinen
Künstler.«
»Der Betrachter ist dir demnach weniger als
der Künstler, weil ihm die Beschaffenheit, die
Differenziertheit von dessen Denkformen fehlt?«
»Nein, denn die Abwesenheit einzelner Formen
hindert nicht eine solche Ausgestaltung seines Geistes,
daß er den Künstler weit hinter sich läßt und sich
deshalb von ihm wendet.«
»Nun siehst du — du bist selbst ins Nets
gegangen.«
»Zugegeben, wenn bei Kokoschka die lächelnden
Betrachter den Beweis ihrer Überlegenheit erbringen
möchten.«
»Und wenn sie, das heißt ein Teil ihrer, ihn
erbracht hätten. Was sagst du zur Beurteilung
Kokoschkas durch Fachleute?«
»Wer sind die?«
»Natürlich Künstler.«
»Ich verbinde mit dem Begriff Fachmann eine
andere Anschauung, als das herkömmlich der Fall
ist. Der Fachmann ist für mich ein solcher, der
aus der Krüppelhaftigkeit seines Geistes Kapital
schlägt und zwar gewöhnlich aus einer Krüppel-
36
haftigkeit, die widerlich ist. Doch das beiseite.
Künstlerurteile sollten für den Laien — um einmal
in deiner Terminologie zu bleiben — die gleich-
gültigste Sache sein. Selbst wenn der Künstler von
technischen Einzelheiten, von Erfahrungen hand-
werklicher Art seine Urteile frei hält, so erreicht er
kaum je die Weite und die Tiefe, die das Urteil des
Nicht-Künstlers haben kann, und zwar darum nicht,
weil seine Größe in der Einseitigkeit und seiner
Unfähigkeit zum Spruche liegt.«
»Gut; lassen wir die Fachleute. Wir alle aber
sehen, sehen mit unseren eigenen Augen, daß die
Dinge nicht so sind, wie Kokoschka sie malt und
bildet. Er sucht absichtlich das Auffallende, das
Sensationelle, dasjenige was einen stößt, was mit
einem Wort häßlich ist. Ich ziele damit nicht gegen
das Objekt von Kokoschkas Arbeiten, sondern gegen
seine Karrikierung des Objektes.«
>Du sprichst von Übertreibungen, ich aber
spreche von Grundpfeilern. Kurz so: Dem Künstler
Kokoschka ist der Mensch, die Pflanze und das Tier,
das Naturentsprossene, ein Organismus in der Natur
und zwar ein entwicklungsgeschichtlicher Organismus,
auf dessen Grundpfeiler — ich betone das Wort
— er seine Zeichnung und Farbe beschränkt.
Dadurch wird jedes seiner Individuen und jeder seiner
Gegenstände etwas ganz und gar in sich geschlossenes,
das zu seinem Leben seiner Nachbarn nicht bedarf;
während gleichzeitig zwischen diesen Einzeläußerungen
auf der Bildfläche ein Zusammenhang weset, der
nicht in Äußerlichkeiten beruht. Also in Äußerlich-
keiten, wie sie der Tag mit seinen Lichtern und
Schatten, Verkürzungen und dergleichen bringt.«
»Was du Organismus nennst, ist nichts anderes
als dasjenige, was andere ,Idee' nennen. Freilich,
dieser Name kennzeichnet eine Münze, die unter den
Fingern sehr schmutzig geworden ist; so schmutzig,
daß wir ihr Gold kaum mehr kennen. ,Idee' — du
37
willst dieses Wort weder im Sinne des schulhaften
,Ideals* gebrauchen, noch in dem der Programra-
schaft irgend einer »ideologischen' Zunft. Idee —
das soll so viel wie Keim sein; ein Quell, aus dem
das Lebendige wird und in dem es durch seine
Frucht schließlich endet Wo aber steckt die Idee
bei Kokoschka? €
»Ihr haltet für des Kunstwerks wie auch der
Wissenschaft einzige Aufgabe die Beschreibung
der Erscheinung. Erscheinung ist euch dabei nur
dasjenige, was ihr mit den Sinnen wahrzunehmen
imstande seid. Könnt ihr sie im Bewußtsein wider-
spiegeln, oder, wie ihr falsch sagt, könnt ihr ihrer
mit dem Bewußtsein habhaft werden, so glaubt ihr
in eurer Erkenntnis, sei es der wissenschaftlichen
oder sei es der künstlerischen Erkenntnis, fort-
geschritten zu sein. Das ist eine seichte Anschauung.
Sie führt euch zur plumpen Verwechselung von
Impressionismus und Naturalismus, sie führt euch
zur Verwirrung des ,Wie' des Prozesses mit dessen
, Warum*. Ihr sprecht von der ,Idee*; doch ihr wollt
die Metaphysik unter die Herrschaft der Erkenntnis-
theorie beugen. Darum nimmt in eurem Hirn die
Idee eine absonderliche Maske an: sie wird zur
, beständigen Form', zum Gesetz als formallogischer
Bestimmung. Indeß, ihr überseht, daß dieses nie selbst
positiv schöpferisch sein kann, sondern erst an seinem
Widerpart, dem Alogischen, dem Willen, produktiv
wird. Alle Kategorien der Kunsttätigkeit, die ihr
entdeckt habt — beträfen sie nun die wagrechten und
senkrechten Hauptrichtungen oder die Flächenhaftig-
keit im Bilde — sie alle sind nur ,Wie*-Prinzipe: das
Kunstwerk selbst muß aoer ,die Idee' erfruchten und
befruchten. Ich sage absichtlich ,die* Idee, nicht
,eine* Idee, weil ich unter diesem Wort des wirklich
lebendigen Geistes und wirklich lebendige^ Leibes
Grund, Sein und Zweck verstehe: das Rätsel des
Lebens. Die große Frage der Sehnsucht und der
38 ~
Unbefriedigung. Wissenschaft und Kunst sind gewiß
Eines in dem, daß sie nur dann und nur soweit
sind, als sie beitragen zum Problem des Lebens.
Nehmend und gebend. Dieses Problem ist ,die' Idee.
Die Idee schlechthin. Alles andere ist Anekdote. Die
Idee sehe ich nun in Kokoschka. Er hat sich in sie
gewissermaßen eingebohrt. Ihm ist die Wirklichkeit
nicht mit der Tatsächlichkeit gleich. Literarische
Düfteleien sind seinen Werken fremd, aber ebenso
die mechanische Kopie des Modells und der lang-
weilige Aufbau des Bildes aus kunsttheoretischen
Grundgesetzen heraus. Nimm seine Menschen. Seine
Körper schwingen und strecken sich in den Gelen-
ken; sie hängen in diesen. Seine Köpfe sitzen auf.
Pinger und Arme sprechen eindringlich. Er setzt alles
Organische in Anschaulichkeiten um, freilich auch
dann, wenn dessen Kenntnis nicht durch das Auge
erworben ist. Aber mit der Anschaulichkeit im
naturalistischen Sinne sind seine Bilder nicht erschöpft.
Ich will dir kurz den Eindruck schildern, den mir
jüngst seine Porträts gemacht. Sie waren in einem
Wohnzimmer aufgestellt und ich trat allein vor sie
hin. Die Orientalen reden von einem zweiten und
mehrfachen Ich, welches unser leibliches Ich begleitet.
Sie nennen deren sieben. Mir war's nun, als spreche
ein solches Ich von der Leinwand zu mir. Kein
Abklatsch eines solchen, also ja nicht der des leib-
lichen; nein — ein Ich der höheren Ebene, das
sichtbar geworden.«
»Nun werden gerade unter allen seinen Werken
die Porträts am stärksten befehdet. Ich finde das
auch erklärlich. Vergleich doch einmal ein wirk-
liches Porträt damit. Ein Bildnis muß ähnlich
sein, das heißt, es muß dieselben Empfindungen aus-
lösen wie das Modell und sein Anblick muß von den-
selben Gefühlen begleitet sein wie der von jenem.
Weil ich das verlange, so weiß ich wohl, daß ein
mechanischer Abklatsch gar nicht genügt, daß also
— 39
das Lichtbild das unähnlichste Bildnis liefert. Aber
die Gemälde Kokoschkas sind auch nicht ähnlich.c
>Ich will dir vorerst eine Antwort geben, welche
deiner Frage auszuweichen scheint. Im letzten Weiber-
porträt von Kokoschka sitzen, zumal in den Partien
am Mundwinkel, die Striche so sicher und so farbig,
daß dieses in die Linie rückt, welche durch die besten
Porträts in Wien gezogen wird; ich meine die von
Rubens in der kaiserlichen, die wie Skizzen aussehen,
und vor allem den Mädchenkopf von Van Dyk dort.
Führtest du deine Überlegungen von Schluß zu
Schluß, so müßtest du erkennen, daß die Porträt-
ähnliohkeiteine unmögliche Sache ist. Der Künstler
schafft etwas, nicht um in dem Betrachter einen
Reiz auszulösen, der dem vor dem Modeil gleicht,
sondern um die in ihm, dem Künstler, durch einen
Reiz erregte Musik zu einem Lied zu gestalten, zu
seinem Lied. Der Betrachter sieht das Werk, wohl,
aber er sieht nur das darin, was in ihm selbst, im
Betrachter, ist. Er hört vor dem Bilde, wie vor jeder
Erscheinung, nur sein eigenes Lied. Es hat noch
keinen gegeben, der fremde Musik vernom raen hätte.
Die Musik des Gewöhnlichen ist nun ein so ver-
dumpftes Raunen, daß sie ihn nicht plagt. Die höchste
Tat des Dutzenders ist die, an Stelle des ihm fehlen-
den Liedes den anschauungslosen Begriff zu setzen.
So ungefähr ist auch der Begriff der Ähnlichkeit im
Kunstwerk entstanden. Die Suche naih Ähnl-chkeit
erinnert mich immer an die Bemerkung des Profes-
sors, die er in der Galerie zu seinem Kollegen sagt:
Ich beantworte mir vor jedem Bild stets zwei Fragen
— erstens: welche Absicht hat der Künstler in sei-
nem Bilde gehabt, und zweitens: hat er diese Absicht
erreicht.«
>Dein Spott ist berechtigt. Aber du mußt zu-
geben, daß es bestimmte Urteile gibt — ich möchte
sie Grundurteile nennen — die uns beim Betrachten
der Bilder immer wieder vor den Geist treten; ja.
40 —
noch mehr, daß wir, die nicht bildnerisch SchafiFenden,
gemäß unserer Eigentümlichkeit, die Erscheinungen
begrifflich zu erfassen, auch mit Begriffen beladen an
die Bilder herankommen oder uns vor ihnen neue
Begriffe bilden müssen.«
»Deine Worte sind viel zu allgemein. Hör ein-
mal. Die Welt ist nur in der Individualität, das heißt
in deren Gedanken. Oder mit eurer verblaßten Aus-
drucksweise: die Individualität spiegelt die Welt in
einem Bilde in sich. In ihm ist das Kunstwerk nur
Baustein, Pinselstrich, wie jede andere Tat. Darin
hast du Recht. Du vergißt aber, daß die Individualität
nicht an die Einzelheit der leiblichen Persönlichkeit
geknüpft ist. Nicht selten machen erst zwei, meistens
machen erst viele eine Individualität aus. Das
Weltbild einer solchen, durch viele sinnlich wahr-
nehmbare Teile gegebenen Einheit ist notwendiger-
weise ärmer differenziert als dasjenige der Einheit,
welche auf wenig Leiblichkeit verdichtet ist. Gerade
aber im Dienste jener stehen die Begriffe, unter die
gewöhnlich die Kunstwerke und Taten und Übungen
eingereiht werden. Denn der Einzelne, Eigene und
Einheitliche hat keinen Grund, anderen das Ziegel-
werk und die Ziegelstücke seines Gebäudes zu zei-
gen, des Gebäudes, das er in seinem Geiste und mit
ihm aufgerichtet hat. Es ist ihm Wohnstätte, die er
braucht, die er aber nicht so weit achtet, daß er ihre
Herstellung in Rezepten niederlegt. Was seine Sprache
lockt, das sind nicht die Objekte um ihn und die
Art und Weise, wie er und die übrigen zu ihnen
Stellung nehmen, sondern das ist er selbst, das
Subjekt. Und ihn bekümmert es nicht weiter, ob
Hörer für seine Worte da sind; denn er weiß, daß
der Gedanke, dem er Form gegeben, sich mit an-
deren Gedanken kreuzen wird und muß, weil nur
dadurch die Zeit, das ist die Gegenwart, gesichert
ist. Für dich ist die Notwendigkeit des ähnlichen
Porträts mit einer anderen Frage verbunden: du
— 41 —
denkst an die Natur als Vorbild, als Entbinder der
Kunst. Ihr stützt euch immer wieder auf den Satz
Dürers: der Künstler müsse die Natur so in seinem
Herzen haben, daß er wie aus einem unversiegbaren
Schatz daraus schöpfen könnte. Ihr vergeßt nur, daß
dem Satz auch eine andere Deutung gegeben werden
kann. Eine Deutung, zu der gerade Dürer lockt. Hat
denn Dürer je die Natur nachgeahmt? Ist er in sei-
nen Blättern und Tafeln nicht immer von sich, vom
Geiste ausgegangen, der die Natur bloß als Mittel zum
Zwecke benützt? Kann sein Ausspruch nicht dahin
zielen, der Künstler solle sich nicht in die Natur
vergaffen? Er soll nur eine Natur anerkennen, die
seines Subjekts, seiner Eigenheit, die er eben im
Herzen, im Smnbild seiner irdischen Lebendigkeit
trägt? Denk an seine Rasenstücke, sein Vogelgefieder
u. 8. w., u. s. w. Ich spreche so, weil mir just diese
Zeichnungen vor Augen stehen ; Dürer übte daran seine
Hände, damit sie seinem Geiste ansonsten zuwillen
seien. Nieraals wird einer von uns der Natur habhaft.
Und je größer er ist, je verdichteter in ihm um bei
meinem früheren Bild zu bleiben — der Gedanke
ringt, desto weniger ist es ihm auch darum zu tun.
Der fremde Wille, nicht nur der der anderen Ge-
schöpfe, derjenige unserer gesamten Umgebung ist
für uns nur Auslö"«une:: die Synthese liegt in uns;
die Anschauung gehört uns, uns ganz allein; wir
sind ihre Meister, Allerdings wirst du dabei den Be-
griff Individualität in dem von mir vorhin angedeu-
teten Sinne gebrauchen müssen. c
>Ahnst du denn, wogegen du mit deinen Be-
hauptungen anstürmst? Überleg doch, wie in den
Zeiten der werdenden Kunst ein Geschlecht von
Künstlern nach dem andern allmählich die Schwie-
rigkeit der malerischen Probleme besiegte; wie sie
ihre Fortschritte einander mitteilten und vererbten,
die sie nur machten, indem sie sich eben an der
Natur schulten, die ihnen die richtige Wiedergabe
42
des Lichtes, die perspektivische Verkürzung, den
nackten Körper wies.«
»Glaubst du wirklich, daß das Kunstwerk durch
solche technische Probleme ge wertet wird? Sind diese
nicht Zivilisation, die wie jede andere ihren Trägern
nur Mittel und Werkzeuge gibt, seine Idee, die Idee,
die sich in ihm äußert, der Tat aufzuprägen? Magst
du denn die Unterscheidung zwischen Tat und Zivi-
lisation, die du sicher im Leben der Täglichkeit
ziehst, nicht auch ins Kunstwerk hineintragen ? Dich
umspannt der Wahn, im Werke müßten irgendwelche
Grundgesetze Ausdruck finden und zwar Grund-
gesetze, die für dich durch die Bedingung festgelegt
sind, daß der Bildner, der Maler zumal, einzig für
das Auge schaffe, daß die Erregung sehfremder
Organe durch das Kunstwerk dieses verurteile. Da-
rum bleibst du als Betrachter unfrei. Du willst unter
ein ästhetisches Schema, das nachträglich aus dem
Werke gewachsen ist, das neue Werk zwingen.
— Kokoschkas Sachen reizen, ganz abgesehen von
der gedanklichen Erweckung, nicht das Auge allein;
mit diesem klingt stets der Tastsinn mit. Seine Bilder
sind immer auf eine Plastik gebaut, die man mit
dem Pinger zu umfahren sucht. Wer darf solches
einem Künstler verwehren? Nein, in jedem Werke
koramts nur darauf an, ob es Musik hat; nicht
darauf, wodurch diese erreicht wurde. Sieh, hier
ist das Schlußblatt von seinen ,Träumenden Knaben'.
Darin ist die Fieberhitze der gesteigerten Erwartung.
Das Mädchen und der Knabe stehen da — lang,
hager, in die Höhe getrieben. Mit großen Augen
unter starken, knochigen Bogen. Die ganze Haltung
ist aber durch die juckende Empfänglichkeit der
frühen Jahre bedingt. Die Haut spannt sich in un-
ruhigem Kontur. Die Finger und Zehen krümmen
sich; die Füße reiben gegen einander; die Oberarme
und Ellbogen liegen an dem Leib; die Hand strei-
chelt den Hals.«
— 43 -
»Was sollen jedoch diese kleinen Wiesenflecke
beim Knaben, die kleinen Blumenbeete beim Mädchen?
Und was soll gar dieses Ast^ebilde?«
>Das weiß ich nicht. Darüber habe ich mich
nie befragt. Ich meine aber, der Beschauende, der so
tut, mißv^ersteht das Wesen der Kunst. Er will nicht
eine Erscheinung, an der er emporsteigt, aber auch
vorübersteigt, so daß sie ihm nur Auslösung des
Erlebnisses seiner Persönlichkeit ist: er will
von der Kunst Bildung haben, so wie er solche
aus dem Lexikon schöpft. Sieh hier diesen un-
ruhigen gelben Fleck im roten Streifen, den wieder
jBwei" weiße Felder einrahmen. Nicht wahr, das sind
die heißen Farben der lieschlechtlichkeit ? Und
darüber sieh das braune und blaue Kleid der zagen
Figuren. Ist das nicht der Ton der geschlechtlich
Stumpfen, der Kühlen? Möglich. Vielleicht hat der
Künstler daran gedacht, vielleicht auch nicht. Das
zu wissen, hat mit der Betrachtung seines Werkes
gar keinen Zusammenhang. Die Farben, die ich dir
jetzt derart erklärt habe — ich werde in einer Stunde
vielleicht anders von ihnen reden. Denn ich erkläre
sie nicht aus dem Bilde, sondern aus mir heraus.
Schau dir das ganze Buch noch einmal genau durch.
Langsam. Verwend paar Tage dazu. Dann laß uns
wieder vom Künstler reden. Eines aber möchte ich dir
zu deiner Arbeit — denn Betrachtung soll Arbeit,
nicht Muße sein — mitgeben : Acht auf die Farbe
bei Kokoschka. Sie ist satt wie jene der alten Kirchen-
fenster. Sie ist ein Ornament, welches dem vergleichbar
ist, in dem die Linie der Gothik spricht: es trägt den
Organismus, der der Natur entsprossen ist. Kokoschka
sieht mit Augen, die die Farbe erspüren, und er
spricht zu Augen, die die Farbe fühlen. Ihm ist die
Farbe nicht ein einzelner Fleck im Bilde, ein Lokal-
zeichen, sondern sie gestaltet den Raum. Den Raum
als das Wirkungsfeld sämtlicher geistigen Kräfte und
nicht bloß jener, die den dreidimensionalen, den körper-
— 44 —
liehen, den sogenannten äußerlichen Raum vermitteln.
Nein, den Raum als die Stätte der inneren Freiheit.
Wenn du das erkannt hast, wirst du auch den
Schlüssel zu seinen Porträts gefunden haben. <
L. B. Tesar.
Selbstanzeigen
Der ,März' (München, IV, 5) brachte die folgende Kritik:
Sprüche und Widersprüche
Karl Kraus, den der Philister durch die .Facltel' und den
,Simplicissimus' kennen und hassen gelernt hat, gab im Verlag Lange«
eine Sammlung seiner Aphorismen mit dem Tilel >Sprüche und Wider-
sprüche« heraus. Wenn die bekannten eitlen Gebärden der Herren
Intellektuellen echt wären, so müßte dies Buch so bekannt sein wie
die lustige Witwe. Es wird jedoch diesen Vorzug nie genießen, dafür
ist es viel zu anspruchsvoll. Es verlangt nämlich ernst genommen und
verstanden zu werden, das hindernislose Rennen des Gewohnheitsiesers
dürfte auf diesen Seiten keinem glücken. Also wird es bei der »kleinen
Gemeinde« oder den >cent lecteurs« bleiben, mit denen wohlwollende
Kritiker unbequeme Genies zu trösten pflegen.
Das ist schade, denn das Buch ist unheimlich ernsthaft. Es hat
die Ernsthaftigkeit des Narren, der Gold für Gold und Dreck für Dreck
nimmt und den Journalisten durchaus nicht glauben mag, daß Dreck
Gold sei. Diese Ernsthaftigkeit, so tragisch sie ist, hindert nicht, daß
das Buch voll diabolischer Lustigkeit steckt — und wenn zehn Leser
die Geduld oder gar das Verständnis für so etwas hätten, würde ich
mit Vergnügen auch auf die sprachliche Kunst und formale JVleisterschaft
der Sprüche eingehen. Statt dessen deute ich an, daß witzige Leser
hier reichlich Gelegenheit finden, sich über die tolle Eitelkeit eines nicht
einmal sehr berühmten Künstlers aufzuregen, eines Mannes, dem
tatsächlich außer seiner Kunst nichts heilig ist, eines Don Quichote,
dessen Manie es ist, das Unmögliche zu unternehmen und sich Todfeinde
in einer mächtigen Zunft zu schaffen, in welcher er leicht den Meister
spielen könnte. Wenn ein Zehntel dieser Gedanken, etwas ausgekocht
und mit mehr Sauce serviert, in einem Band voll langer Feuilletons
stünde, so würde Kraus für den ersten deutschen Humoristen gelten.
Ich hatte mir ein halbes Dutzend der Sprüche notiert, um sie
als Beispiele anzuführen. Doch ist es besser, statt dessen dringlich auf
das Buch selber hinzuweisen, das eben nicht nur eine Sammlung von
Einfällen und Schnurren ist, sondern in seiner Gesamtheit, in seinen
hundert Spiegelungen und Farbenreizen, dem Aufmerksamen eines der
kühnsten und merkwürdigsten Selbstporträts zeigt, die unsre neuere
— , 45 —
Literatur hat. Das »Indianerstaunen der Zivilisation Qber die Errtmgen-
schaften der Naturt wiederholt sich eben, so oft wir ernstlich vor einer
unbeschnittenen Persönlichkeit die Augen aufmachen.
Hermann Hesse.
•
Der .Demokrat', eine Berliner Wochenschrift für freiheit-
liche Politik, Kunst und Wissenschaft, bringt auch in Nr. 8 des
II. lahrganges nebst Auszügen aus den Büchern eine Besprechung:
Karl Kraus, dessen Vorlesungen im »Verein für Kunst« so un-
gemeines Interesse erweckt haben, repräsentiert den seltenen Fall des
Journalisten, der sein Handwerk so mit seiner Persönlichkeit füllt, da6
es selbständigen ästhetischen Wert erhält. Ein sorgfältig diszipliniertes
Temperament stellt den Leitartikel unter einen so strengen Stilbegriff,
daß er über den materiellen Wert der Meinung erst vom ästhetischen
Gesichtspunkt die rechte Beleuchtung gewinnt. Der unablässig zusammen-
drängenden, auf das Wesentliche hinarbeitenden Kraft des Kulturkritikers
schafft sich das Ideal einer Kunstform, die, alles Nebenwerk abstoßend,
gleich im Anschlagen eines einzigen Tones die Fülle der Absicht in
vollendeter Ausdrucksfähigkeit herausstellt. Das ist der Aphorismus.
Kraus' Aphorismen sind unendlich verkürzte Fssays. Seine Essays sind
Mosaikgemälde aus Aphorismen. Mit einem kurzen, ungeheuer starken
Aufblitzen belichten sie Gefühle. Irrtümer, Taten und Meinungen. Und
zwar vom Standpunkt eines Menschen, der die sinnlose Konvention der
heutigen Gesellschaftsordnung durchschaut hat. Der nach einer reineren
freieren Welt strebt, in der nicht Leidenschaft und Kraft durch Vor-
urteile staatserhaltender Parteien gelähmt werden.
Karl Kraus ist Künstler. Vielleicht spricht für den Künstler in
Karl Kraus am meisten, was leichtfertige Betrachter am ehesten gegen
ihn einnimmt: Der Gefühlsüberschwang, der selbst vor Sentimentalität
nicht zurückschrickt. Manche seiner Sätze überlassen sich so Fr-
innerungen und Sentiments, daß es durchaus dieses feinen und Grenzen
kennenden Geistes bedurfte, um sie aus der trüt>en Flut eines philiströsen
Gefühlsbehagens zu retten.
Karl Kraus ist Kulturkritiker. Seine Kritik der bürgerlichen Moral
ist nicht nur die männlichste, sondern auch die menschlichste Stellung
zu unserer im Sumpf der Phrase, der Heuchelei und der Bildungslüge
erstickten Zeit.
In der vorigen Nummer hat der .Demokrat' Karl Kraus'
»Sittlichkeit und Kriminalität« gewürdigt. Heute bringe ich aus dem
bei Albert Langen in München erschienenen Buche > Sprüche und
Widersprüche«, der besten Aphorismensammlung, die in letzter Zeit
erschienen ist, einige Proben. Lest sie. Und was dem Leser im ersten
Augenblicke vielleicht paradox erscheint, ist nichts als die unbekümmerte
Konsequenz eines radikalen Geistes.
F. P.
— 46
Aphorismen *)
Von Karl Kraus
Der Historiker ist oft nur ein rückwärts ge-
kehrter Journalist.
Ich fand irgendwo die Aufschrift: >Man bittet
den Ort so zu verlassen, wie man ihn anzutreffen
wünscht«. Wenn doch die Erzieher des Lebens nur
halb so eindrucksvoll zu den Menschen sprächen wie
die Hotelbesitzer!
*
Vornehme Leute demonstrieren nicht gern. So-
bald sie sehen, daß einer eine Gemeinheit begeht,
fühlen sie sich wohl mit ihm solidarisch; aber nicht
alle haben den Mut, es ihn auch wissen zu lassen.
Vielleicht ginge es besser, wenn die Menschen
Maulkörbe und die Hunde Gesetze bekämen; wenn
die Menschen an der Leine und die Hunde an der
Religion geführt würden. Die Hundswut könnte in
gleichem Maße abnehmen wie die Politik.
Ich teile die Leute, die ich nicht grüße, in vier
Gruppen ein. Es gibt solche, die ich nicht grüße, um
mich nicht zu kompromittieren. Das ist der einfachste
Fall. Daneben gibt es solche, die ich nicht grüße,
um sie nicht zu kompromittieren. Das erfordert schon
eine gewisse Aufmerksamkeit. Dann aber gibt es
solche, die ich nicht grüße, um mir bei ihnen nicht
zu schaden. Die sind noch schwieriger zu behandeln.
Und schließlich gibt es solche, die ich nicht grüße,
um mir bei mir nicht zu schaden. Da heißt es beson-
*) Aus dem .Simplicjssimus',
47
ders aufpassen. Ich habe aber schon eine ziemliche
Routine, und in der Art, wie ich nicht grüße, weiß
ich jede dieser Nuancen so zum Ausdruck zu brin-
gen, daß keinem ein Unrecht geschieht.
Wenn eine Kultur fühlt, daß es mit ihr zu Ende
geht, läßt sie den Priester kommen.
Die Presse*)
Von Karl Bleibtreu
. . . Ihre Feinde sind tatsächlich die lichtscheuen Ounitelmänner,
ihre Freunde die Liebhaber des Lichts. Doch leider gilt diese unbestreit-
bare Tatsache nur für die Massen sowohl der Gebildeten als Halb-
gebildeten. In den höchsten Regionen des Geistes hat sie im Gegenteil
gerade so erbitterte Todfeinde, wie in den » allerhöchsten < der praktischen
Machthaber. Schopenhauer, Richard Wagner, Hebbel u. a. sprachen bei
jeder Gelegenheit ihre grimme Verachtung wider dies nützliche Institut
aus. Friedrich der Große, der die »Gazetten« nicht geniert wissen
wollte und eine gewisse Preßfreiheit gewährte, ahndete scharf zügellose
Kritik gerade auf nichtpolitischen Gebieten und tröstete d'Alembert, der
sich über Preßangriffe beklagte: man dürfe sich um dies Gesindel nicht
kümmern, er selbst habe sein törichtes und boshaftes Gerede stets
gründlich verachtet. Vollends, ohne weitere Kronzeugen zu zitieren,
überscharf urteilte Goethe, der von Zunahme des Zeitungswesens, das
ihn mit Abscheu und Besorgnis erfüllte, allgemeine Verwilderung der
Kultur und insbesondere den Ruin der Literatur prophezeite. In der Tat
hat in gewissen Ländern die Presse giftigste Auswüchse entwickelt. In
Frankreich hat Balzac, dessen erlauchten Namen wir auch unter den wildesten
Pressefeinden aufzählen, die wüste Korruption der Pariser Journale oft
entsetzlich gegeißelt, und Augiers Komödie »Die Schamlosen« stößt in
*) Aus einem Vorwort zu der soeben erschienenen »Geschichte
der schweizerischen Zeitungspresse zur Zeit der Helvetik
1798-1803« von Dr. S. Markus (Verlag von Rascher k Cie. in
Zürich, 1910).
— 48
das gleiche Hörn. In Österreich fragt das Publikum bei jeder
Presseäußerung, wieviel dafür bezahlt sei, was dahinter
stecke. Graf Sternberg hielt im Reichsrat eine mehrstündige Rede
über die ,Neue Freie Presse', worin er dies Weltblatt nicht nur allge-
meiner schmutziger Korruption seit seinem Bestehen bezichtigte, sondern
auch öffentlich feststellte, es flössen stets Schweige- oder sonstige
Bestechungsgelder dorthin aus Regierungsfonds, alle Ministerien
müßten diesen Cancan der Korruption mitmachen und demütig
mit dem >Weltblatt« paktieren. In einem anderen Lande hätte
das so öffentlich gebrandmarkte Blatt Klage erheben müssen,
der Staatsanwalt müßte sich liebevoll der Sache annehmen. In Wien
aber ignorierte die ,Neue Freie' einfach den Fall und erledigte im
Parlamentsbericht die Rede mit der lakonischen Floskel: »Graf Sternberg
greift unser Blatt an«. Und was taten die anderen Zeitungen? Beherzigten
den Satz, daß keine Krähe der anderen die Augen aushackt, und
schwiegen Sternbergs Rede tot, wobei — köstlich zu sagen — die
gegen Korruption donnernde , Arbeiter-Zeitung' obendrein mit einigen
Beschimpfungen Slernbergs dem Kapitalistenorgan beisprang. . . . Nun,
derlei ist sclilimm genug, und daß der Pressebegriff zu solcher scheuß-
lichen Mißwirtschaft einladet, genügt schon allein zu begründen, wie
gefährlich dies öffentliche Institut entarten kann. Doch dagegen läßt
sich einwenden, daß jeder Stand räudige Schafe enthält, daß die
anständige nicht für die unanständige Presse büßen soll, daß ein Heil-
mittel nicht deshalb als verwerflich gelten darf, weil es in verdorbenem
Zustand giftige Substanzen auslöst. Ungleich gewichtiger scheint die
Gründung einer Zeitschrift ,Die Fackel' in Wien zu dem besonderen
Behufe, nachzuweisen, daß die Presse völlig unnütz, wohl aber höchst
schädlich sei, sobald sie über bloße Mitteilung von Tagesneuigkeiten
weggehe, daß die Journalisten den Abhub der Halbbildung und geistigen
Verkümmerung vorstellen, was der glänzende Satiriker K. Kraus in
tausend Varianten seinen zahlreichen Lesern einprägt. Wie begegnet die
Wiener Presse dieser Anklage? Gar nicht, sie rächt sich durch Tot-
schweigen und kleine Nadelstiche, weiß aber zu ihrer Verteidigung
nichts vorzubringen.
.... Wenn wirklich Große, d. h. Spitzen des Geisteslebens, die
sich nicht durch opportunistische Nebentendenzen bestimmen oder ver-
söhnen lassen, hartnäckig an ihrer ungünstigen Meinung über den Wert
der Presse festhalten, so muß etwas faul sein im Staate Dänemark
Allerdings ist auch dieser Haß keineswegs frei von persönlichen
Beweggründen, denn grade die wirklich Großen litten allzeit am meisten
unter der Anmaßung einer seit lange herrschend und somit geistig
konservativ gewordenen Presse, die jede echte Neuheit mit dem Instinkt
des Philisters verfolgt, die einerseits aus Nützlichkeitsgründen ihres
Berufs sich möglichst der Anschauung der breitesten Massen, also der
Mittelmäßigkeit anpaßt, andererseits selbst mit dem bornierten Unver-
ständnis und uneingestandenen Neid der Beschränktheit jedes Über-
ragende wittert und von vornherein als feindlich befehdet. Die schäm-
49
losen Ausfälle auf Richard Wagner bis in sein hohes Alter sind bekannt;
Hebbel und Grillparzer, Brahms und Hugo Wolf, Böcklin und Thoma
u. s. w. wußten ein Lied von der Presse zu singen. Desgleichen in
England Byron, Shelley, Keats, Swinbume, in Frankreich Balzac,
Flaubert, Musset. Ibsen und Nietzsche ging es nicht besser. Ein so
großer Geist wie Gobineau wurde bei Lebzeiten völlig totgeschwiegen.
Auch Goethe, obschon in seiner umfassenden Art objektiv verall-
gemeinernd und in die Zukunft schauend, blieb bei seinem Verdikt
gegen die Presse nicht frei von persönlicher Unbillerfahrung. »Die
Sudelköche von Weimar«, wie man die beiden Olympier schimpfte,
mußten sich in ziemlich salzlosen Xenien ihrer Presseverunglimpfer
erwehren. Ober »Kabale und Liebe« schrieb die tonangebende .Vossische
Zeitung', dies sei der äußerste Tiefstand, den die Literatur bisher erreicht
habe. Wäre Goethe nicht Ministcrexzellenz gewesen, so hätte man ihn
noch schärfer angepackt. Der falsche Pathos und die konventionellen
Fabeln der Literaturgeschichte täuschen über die wahre Geltung vop
»Unsterblichem« bei Lebzeiten. Man könnte ergötzlich persiflieren, wie
Künstlers Erdenwallen sich im Munde zeitgenössischer Presse aus-
nahm. . . . Kleists völlige Verschollenheit bietet den klassischen
Beweis, daß die Presse sich ihres Amtes öffentlichen Eintretens für
geistige Dinge oft genug unwürdig zeigte. Man könnte einwenden, ^
daß der erst in den 70er Jahren neu entdeckte Kleist ja auch von
offiziellen Katliederästhetikem ignoriert wurde. Vilmars Literatur-
geschichte nannte ihn nicht einmal, Oesers »Ästhetische Briefe«, woraus
unsre Großmütter und Mütter ihre Literaturkunde schöpften, streifen ihn
mit zwei mißgünstigen Zeilen. Doch dies wäre ja unmöglich gewesen,
wenn je in so vielen Zeitungen und Zeitschriften irgend eine Stimme
laut geworden wäre, die auf Kleists Größe hinwies. Zur richtigen
Abschätzung der Presseverdienste um Propagierung des Bedeutenden
wäre der Nachwelt förderlich, die wahren Größeverhältnisse geistiger
Persönlichkeiten im Lichte ihrer Zeitgenossen richtig zu schauen. Wenn
wir uns eine gewisse Presse 1811 vorstellen, so würden deren Notizen
etwa so gelautet haben:
»Wie wir vernehmen, hat unser großer Romandichter Lafontaine
das echtdeutsche Gemüt seiner Heimatkunst in einem neuen unvergäng-
lichen Werke niedergelegt.« »Unser berühmter Iffland bereichert
demnächst die deutsche Bühne um ein neues naturalistisches Meister-
werk.« »Eine frohe Kunde dringt zu uns: der weltberühmte Hofrat von
Kotzebue wird seine dankbare Weltgemeinde im In- und Ausland wieder
mit einem Sprößling seiner liebreizenden Muse bedenken. Der unsterb-
liche Autor von .Menschenhaß und Reue' hat diesmal sowohl die
Tränen als das schalkhafte Lächeln nicht gespart». »Allhier erschoß sich
Leutnant a. D. Heinrich v. Kleist in einem Anfall von Geistesstörung.
In engeren Kreisen machte er sich durch peinliche Novellen- und Dramen-
versuche bekannt, die jedoch nirgends Fuß faßten. Kleist war nicht
unbegabt. Doch der Größenwahn unbegreiflicher Selbstüberhebung,
wo großes Wollen nur Ungekonntes und vor allem Halbfertiges liederlich
50
und ohne Selbstzucht hinschleuderte, stieß alle wolilwollenden Gönner
wie den berühmten Tieck in Dresden ab, und so blieb der Unglüci<-
liche leider unreif bis zu so traurigem Ende.« Es würde für 1830 bis
1S40 diese Persiflage sich ruhig fortsetzen lassen: ... > Der berüchtigte
Grabbe soll in den letzten Zügen liegen. Die Literatur verliert nichts
an ihm.< . . . »Baron Strehlenau, der unter dem Namen Lenau schreibt,
hat eine neue Lyriksammlung unter der Feder. Sein hübsches Talent
mag sich noch zur Reife entwickeln.« »Die berühmten Werke des Barons
Fouqu^, des unsterblichen Verfassers der unsterblichen ,Undine',
erscheinen in neuer Gesamtausgabe. Diesem Stolz Deutschlands entreißt
keine Nachwelt den Lorbeer.« . . . »Der so allgemein populäre Hofrat
Clauren bescheert uns eine seiner edel-sentimentalischen und zart-
erotischen Erzählungen.« ....
So lange es eine Presse gibt, reichte sie nur zu oft dem
blendenden Charlatan den Lorbeer, machte jede von kundigen Thebanern
inszenierte Mode mit, poussierte alle Streber, ja unterwarf sich sogar,
wenn es in ihren Kram paßte, dem schlechten Geschmack des Publikums.
Die Presse als Erzieher scheint leerer Wahn. Was ihre feierlichen
Rhadamantysallüren besonders anstößig macht, ist die Gebärde ihrer
Kritikbeflissenen, als ob nicht sie, beliebige und oft sehr windige Ge-
» seilen, sondern die öffentliche Meinung selber hier herolde. Gegen ihre
Sprüche, die selig machen und verdammen, gibt es keine Appellation.
Jede »Kritik der Kritik« wird lächerlich gemacht, jede Berichtigung ab-
gelehnt oder mit hämischen Glossen versehen und dann »die Diskussion
geschlossen«. Jede Fälschung der Wahrheit passiert ungestraft. Das un-
mündige Publikum besitzt kein eigenes Urteil, mit Ausnahme der höchst-
gebildeten oder bestimmten Fachkenner; die Suggestionsgewalt des ge-
druckten Wortes wirkt aber so bezwingend, daß selbst Wissende, die
den Rummel kennen, sich unwillkürlich dem Eindruck nicht entziehen
können. In hundert widerspruchsvollen, aber sämtlich als unfehlbar
auftauchenden Orakeln der Presse über das gleiche Thema findet sich
kein Unbefangener mehr zurecht. Man fragt nicht nur verwundert : »Was
ist Wahrheit!«, sondern erkennt, daß die Wahrheit hier wahrscheinlich
nirgendwo liege, höchstens in der Mitte . . , .
Wir mußten ausführlich bei dieser einen Hälfte des Pressetage-
werks verweilen, das sich, außer dem unverfänglichen Lokalen und
Nachrichtendienst (Depeschen), in das Politische und die Rundschau
aller andern öffentlichen Angelegenheiten der Literatur, Kunst, Wissen-
schaft teilt. Das rein Wissenschaftliche, sofern es überhaupt besprochen
wird, fällt für den Begriff des Journalismus weg, weil man es Spezialisten
zu übertragen pflegt, um damit Staat zu machen. Doch auch hier kam
es vor, daß ein französisches Allerweltsblatt dem Radium-Entdecker
Currie, dessen trockenes Referat nicht sensationell genug erschien, aus
eigener Machtvollkommenheit solchen Unsinn in den Mund legte, daß
Currie klagbar wurde und nur sein plötzlicher Unfallstod das Blatt von
Entschädigungsstrafe befreite. Durch Beleuchtung der Presseverdienste
auf rein geistigen Gebieten wird aber die politische Bedeutung auch ent-
61 —
sprtchend gestreift. Denn wie oft verzapfen hier Leitartikel besondere
politische Weisheit, die im Licht wirklicher Kenntnis der internen Vor-
gänge ganz anders ausssehen würde! Man kann sich überhaupt nicht
erinnern, daß eine Pressekampagne je ernste politische Folgen hatte.
Die britischen »Juniusbriefe« und die Broschüren von P. L. Courier,
welche Georg III. und den Bourbons ihr Gottesgnadentum abgruben,
erschienen in Broschürenform. Gewisse publizistische Erfolge neuesten
Datums in dieser Richtung hat bezeichnenderweise Hardens Wochen-
schrift, nicht die ihr feindliche Tagespresse errungen. Doch muß man
nicht denken, Goethe habe zwischen Zeitung und Wochenschrift
bei seiner Warnung unterscheiden wollen; vielmehr faßte er diese
gesamte Publizistik als Zerstörer des > Buches < auf. Sein Stand-
punkt war etwa: wo der Mensch früher Bücher las, liest er
heut Zeitungen. Wie sehr dies jede Halbbildung, jedes ober-
flächliche Absprechen und Mitreden begünstigt, bedarf keiner Er-
örterung. Seichte Skribenten für seichte Leser — so wurde die Demo-
kratie der Vielzuvielen begründet, die Herrschaft der Mittelmäßigkeit
Lektüre eines Buches beansprucht Sammlung und geistige Mitarbeit,
Zeitungsnahrung wird in beliebigen Mengen halb im Schlafe hinab-
gewürgt und entsprechend verdaut, ohne feste Nahrung dem geistigen
Organismus zuzuführen. Wie traurig die Presse manchmal das Obwalten
rein persönlicher Beziehungen für Gunst und Ungunst begünstigt, wie
selbst unlauterste Beweggründe hier und da heimlich bestimmen, hat
man ja oft genug erörtert. In neuester Zeit kommen auch für politische
Haltung immer deutlicher die kapitalistischen Interessen in Frage. Bei
den gesteigerten Kosten von Druck, Papier, Personal, liegt immer schärfer
der Nachdruck auf dem Inseratenteil, ohne den ein Blatt nicht ent-
sprechenden Gewinn abwürfe. Manche Blätter haben mit ihrem irr-
lichternden Vorderteil und ihrem ungeheuren Annoncenschweif ganz das
Aussehen eines Kometen.
Durch die kapitalistische Entwicklung kommt auch das
Dilemma zustande, daß die tonangebende Presse eines Landes nicht
mal dessen politische Partei-Machtverhältnisse ausprägt. In Wien gibt
es eine übermäßige liberale Presse für eine durchaus antiliberale Be-
völkerung. In England regiert nach Ansehen und Verbreitung durchaus
die konservativ-chauvinistische Presse, während die Wählerschaft über-
wiegend sich zum liberalen Regime bekennt. So fälscht man förmlich
das richtige Bild der politischen Zustände, besonders vor dem Ausland,
infolgedessen die unkundige deutsche Presse in den Äußerungen der
großen Torj'-Organe, weil diese am verbreitetsten und weltbekanntesten,
ganz ruhig die Meinung des britischen Volkes zu finden glaubt. . . .
Seitdem ein Genialer unter den Zeitpolitikern, also ein sel-
tener Vogel, nämlich Ferdinand Lassalle, seinen Haß gegen den
Jouinalismus betonte, haben die Dinge sich eher verschlimmert. An der
eigenen sozialdemokratischen Presse hätte er alle Unarten der bürger-
lichen erleben können. Es hilft nichts, die Wahrheit über diese Lage
totzuschweigen, wie es ein Teil der Presse zu tun pflegt, sobald mari
- 52 —
ihr d«n Spiegel vorhält. Vernünftiger wäre es, in die Zukunft voraus-
schauend, einem allgemeinen Ausstand und Aufstand der besseren
Leserwelt dadurch vorzubeugen, daß man zu den einstigen Idealen
einer anständigen vornehmen Presse für die Besseren, nicht für die
dumpfe Masse zurückkehrt. . . .
Glossen
Von Kari Kraus
Die Wochen des Todes
Die Berühmten leben und sterben öffentlich. Aber daß sie
nicht privat vomieren und Nährklysmen erhalten können, ist der
Fluch der Zeit.
«
Man hatte sich an Symptomen überessen. Da ließen die
Chefredakteure abservieren. Eine Zeit lang wurde das Wochenbett
des Todes vernachlässigt. Sie gaben den Bürgermeister auf. Mit
Björnson hatte man das Malheur gehabt, daß er einem unter der
Hand am Leben blieb. Man wollte nicht wieder hereinfallen. So
geschah es, daß die auf Urämie dressierten Reporter eine Woche lang
das ärztliche Berufsgeheimnis wahrten. Fünfzehn Seiten Nekrolog
aber stöhnten durch die Nacht, auf Erlösung wartend.
•
Ehe es so weit kam, halfen wieder die Details. Der >Millirahm-
strudel von Breitenfurt«, >kein Kipferl und kein Zipferl« und so
weiter. Zum Glück erschien Frau Niese im Rathaus und sagte:
>Wenn man mich schon nicht mehr hineinläßt, dann steht es sehr
schlecht«. Sie weinte heftig und das Publikum — auch hier war
Publikum — umdrängte sie. >Da trat ein Herr auf sie zu und
sagte: ,Trösten Sie sich, gnädige Frau, wie wir alle uns trösten
müssen'«.
*
Auch wurde der Ausspruch eines Passanten verbreitet, der
gesagt haben soll: Sterben müssn m'r allel
Aber noch hielt man nicht so weit, daß ein israelitischer
Advokat endlich erzählen konnte, daß er sich aus seiner Kon-
— 53 —
zipientenzeit erinnere, wie er einmal den Doktor Lueger ein Vater-
unser beten gehört habe.
Die Neue Freie Presse fühlte sich schließlich veranlaßt,
ratenweise die Nemesis herzugeben. Durch diese Leitartikel ging
— abgesehen von dem berechtigten Vorhalt an den Sterbenden,
daß er >manche Lücken in den Zähnen« hatte — ein Ton, der die
Zuckerkrankheit als politische Revanche des freisinnigen Jehovah
reklamierte.
Und als er tot war, hieß es: »Lueger ist zehnfach ge-
storben!« Was zwar objektiv der furchtbaren Wahrheit dieses
Endes entsprach, aber einen Unterton hatte, dem die politische
Revanche bis ins dritte und vierte Glied nicht zu genügen scheint.
•
Professor Noorden unberufen aber war auch im Rathaüse.
Er hatte an dem Konsilium nämlich nicht teilgenommen. Aber
»er begab sich« trotzdem in die Wohnung des Bürgermeisters
und von dort »direkt in das im Rathause gelegene Postamt und
gab die folgende Depesche auf: »Erzherzog Eugen, Innsbruck.
Höchste Gefahr*.« Hierauf stellte er in der Neuen Freien Presse
die Nachricht von seiner Intervention in Abrede. Ob das Dementi
die Nachricht aufhebt oder eine Notiz für sich darstellt, ist noch
nicht geklärt. Vielleicht liegt übrigens eine Verwechslung vor.
Nicht daß der Portier des Rathauses den Professor Noorden ver-
kannt hätte ; aber dieser den Portier, den er vielleicht für einen
ihm bekannten Hotelportier hielt. Oder es ist die Tatsache
unwahr und nur die Nachricht interessant. Der Bürgermeister wäre
damals noch stark genug gewesen, die Händler und Stoffwechsler
hinauszuweis=;n.
•
Wien: »Im Laufe des Nachmittags erschienen in der
Wohnung des Bürgermeisters, um Erkundigung über dessen
Befinden einzuziehen: ... die Gemeinderäte Obrist und Stangel-
berger, die letzten Firmlinge des Bürgermeisters, Lehramtskandidat
Hawel und dessen Schwester, die Industrielehrerin Gisela Hawel,
und Cafetier L Riedl. Ferner ließen Erkundigungen einziehen:
Erzherzog Franz Ferdmand, die Erzherzoginnen Maria Theresia und
Maria Annunciata . . . .<
— 54 —
Die Redaktion der ,Zeit' hatte »die Einrichtung getroffen<,
daß ihrem Telephonbeamten die aus dem Rathaus eingelangten
Nachrichten jeweils sofort zur Kenntnis gebracht wurden, so daß
die Anfragenden u. s. w.
•
Ihr Psycholog schrieb nach dem Tode des Bürgermeisters
wie immer das einzig Zutreffende. »Diese Stadt<, meinte er, werde
nunmehr »einen andern Bürgermeister haben <, aber sie »muß sich
nun weiter, muß sich ins Künftige entwickeln <.
* *
•
Herrscher, Diener und Diebe am Wort
In den geistigen Gemischtwarenverschleißen Wiens bekomme
ich keinen Bissen, aber ich kann nicht vorübergehen, ohne daß
die Ladenbesitzer mir etwas aus der Tasche ziehen. Das geschieht
auf verschiedene Art, durch offenen Raub oder von hinten,
im Wege der »Polemik«. Es gibt nämlich Polemiken, die
Plagiate sind. Man tut so, als ob man dem andern nur die
Federn rupfen wollte, aber man benützt gleich die Gelegenheit,
sich mit ihnen zu schmücken. Diese Art der Polemik liegt den
Feuilletonisten. Ihr Mangel und das Verbot des Chefs, meinen
Namen zu nennen, befähigen sie dazu. So gibt es unter jenen,
welche mich totschweigen, solche, die mich lebendig knurren.
Ein Nekrolog war kürzlich der gefundene Anlaß. Ludwig Hevesi
ist gestorben, hoch überschätzt von allen, die tief unter ihm sind.
Nicht ein Zehntel von dem, was da geschwätzt wurde, muß einer
verdienen, um über dem Wiener Niveau zu stehen. Hevesis
Leistung als kritischerjungbrunnen hat mir jüngst einer, der jenseits
der Cliquen denkt, mit der Meinung gezeichnet: Hevesi war so
sehr für alles, was modern ist, daß nach seiner Kritik niemand
mehr unterscheiden kann, wer größer ist, Klimt oder Herr Kolo
Moser. Da ich in der Literatur nicht unterschiedslos gegen alles
bin, was Feuilletons schreibt, so habe ich Hevesi gegen eine
Gemeinschaft mit den Beobachter ischen immer in Schutz ge-
nommen. Nicht weil, sondern trotzdem es ihm aus hundert
Bildungsspeichern einfiel. Aber wenn die Presse ihren Mitarbeitern
auch Freikarten für die Unsterblichkeit zuwenden könnte und
nicht bloß unverbindliche Nachrufe, dann hätte Hevesi wirklich
den Jean Paul und den Sterne in die Westentasche gesteckt. Einer
der Herren, der die Brillanten, die er früher verkauft hat, jetzt
schreibt, benützt seinen Nachruf, um mit meiner Sprachreligion
zu rechten. Sie gefällt ihm so gut, daß er ihr in der Geschwindig-
keit einen Aphorismus abknöpft. Vom Sprachoma mentiker Hevesi
sagt er mit Recht: »Er beherrschte die Sprache — nicht sie ihn«.
Das soll ein Lob sein, und ein Hieb gegen mich, der aber ohne
meine Waffe nicht hätte geführt werden können. Mein Bekenntnis:
»Ich beherrsche die Sprache nicht, aber die Sprache beherrscht
mich vollkommen < (das schon in Berlin Verwirrung gestiftet hat),
müssen ja die Reporter nicht verstehen, dürfen es für ein Armuts-
zeugnis halten, das es auch tatsächlich vom Standpunkte des
Fortkommens eines Kommis ist, von dem perfekte Beherrschung
sogar mehrerer Sprachen verlangt wird. Aber dann sollen sie
den, der den Satz gesagt hat, verachten und nicht den Satz sich
für ihre Zwecke beibiegen. Wenn das Taschenmesser, das du
deinem Nächsten entwendest, eine Rarität ist, so darfst du es ihm
nicht in den Rücken stoßen. Beides zugleich geht nicht. Und
wenn man von gestohlenen Wertgegenständen spricht, so meint
man nicht, daß der Juwelier, der sie alischätzt, sie selbst ver-
schwinden läßt. Und gewiß nicht, daß er mit ihnen noch prunken
soll. In einem zweiten Blatt schreibt nämlich derselbe Herr, den
mein Wort schon seit langem zu beherrschen scheint : »Dabei ließ
er sich, so sehr er das Wort liebte, doch nicht vom Wort führen
und verführen, sich von ihm beherrschen. Er führte es, er be-
herrschte es . . .« Nein, Hevesi war kein Diener am Wort. Das
(Neue Wiener Journal', das den Wert des fremden Wortes immer
zu schätzen wußte, hat es gleichfalls bestätigt. Es nennt ihn einen
»hervorragenden Beherrscher des Wortes«. Er, der gebome Ungar,
»bediente sich der deutschen Sprache mit der nämlichen souveränen
Meisterschaft wie seiner Muttersprache«. Das höchste Lob im
Munde der Kommis, und sie glauben einen Schriftsteller nicht
höher ehren zu können, als wenn sie ihn für ihren Prinzipal halten.
Ich aber sage : Beherrschen kann man viele Sprachen ; dienen
nur einer. , «
•
Mein Widerspruch
Indem ich an den Anfang dieses Heftes Weiningers Paral-
lelen: Mann der Tat = Prostituierte und Genius = Mutter setze,
glaube ich nicht, daß es notwendig ist, von solcher Linienführung
mein eigenes Denken zu unterscheiden. Ich zitiere die Stellen,
— 56 —
weil sie mir in der Psychologie des Tatmenschen und in der
Wertsonderung des Künstlers eine Wahrheit, in ihrer Sprache eine
Leidenschaft und im Zusammenhang mit dem Traum des sterbenden
Lueger eine Dichtung bedeuten. Aber ich brauche Weininger
weder mit mir noch mit sich selbst in Widerspruch zu bringen.
Nicht weit von der Verklärung der Mutter stehen bei ihm Sätze
wie diese: »Ihre (der Hure) Stellung außerhalb des Oattungszweckes,
der Umstand, daß sie nicht bloß als Aufenthaltsort und Behälter,
gleichsam nur zum ewigen Durchpassieren für neue Wesen dient
und sich nicht darin verzehrt, diesen Nahrung zu geben, stellt
die Hetäre in gewisser Beziehung über die Mutter ... Es hängt
damit zusammen, daß nur solche Männer sexuell von der Mutter
sich angezogen fühlen, die kein Bedürfnis nach geistiger Produk-
tivität haben . . . Bedeutende Menschen haben stets nur Prosti-
tuierte geliebt . . . Die so verbreitete, so ausschließliche und ge-
radezu ehrfürchtige Wertschätzung der mütterlichen Frau, die man
dann gern noch für den alleinigen und einzig echten Typus
des Weibes auszugeben pflegt, ist nach alledem völlig unberech-
tigt . . . Die Mutter hatte es leicht, sich dem sittlichen Willen des
Mannes zu unterwerfen, da es ihr nur auf das Kind, auf das
Leben der Gattung ankam. Qanz anders die Dirne. Sie lebt
wenigstens ihr eigenes Leben ganz und gar . . .« In keiner Be-
ziehung aber stellt Weininger den Mann der Tat über den Künst-
ler. Und beinahe gibt er zu, daß jenen die mütterliche Frau,
diesen die sterile ergänze. Wenn sich der Mann, der ein Bedürfnis
nach geistiger Produktivität hat, zur Prostituierten hingezogen fühlt,
so muß dieser wohl die Gabe der geistigen Erregung zugesprochen
werden, also eine zukunftwirkende Kraft in einem höheren Sinne,
als sie der Mutter eignet. Hier ist Weininger auf die ethische
Sandbank geraten. Vielleicht wäre dann bloß der Tribun das anti-
moralische, die Prostituierte aber das amoralische Phänomen? . . .
Meinen eigenen Widerspruch muß ich nicht bekennen. Ich habe
Sprüche undWidersprüche aus ihm gemacht. >EinWerk wird zur Welt
gebracht: hier zeugte das Weib, was der Mann gebar«. So ganz
zwecklos, ohne ein Bleibendes zu hinterlassen, ohne alle Ewigkeit,
für menschliche Weisheit sinnlos, verraucht die Sinnlichkeit des
Weibes nicht. Ein Meteor währte einen Augenblick; aber sein
Glanz bleibt im Blick des schöpferischen Auges.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3
^albmonatsfc^rfft für 6eutfc^e i
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'Segrßnöct oon albert ^tiQtn
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II. Stufe. Geb. Mark 4,— (Für Vorgeschrittene)
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jstunterrichts-Methode in fremden Sprachen. Gebunden Mark 10-
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Herausgeber KARL KRAUS |
Die „Fackel« erscheint in zwangloser Folge im Umfang von |
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Für das deutsche Reich": 18 „ - n ^^- |
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ruar 1910: Josef Schöffe!. Von Karl Kraus. - Die -Arbeiter- |
Zeitung' und die Taussig-CliquetK - Baron Frangart und der
Bajazzo. Von Karl Borromaeus Hejnr ich. 7 7?"df[ff„L'^^^^^^ l
Von Albert Ehrenstein. - Bücher. Von Ludwig Uil mahn 5
u. a. — Glossen. Von Karl Kraus. |
Hprflinp«ber und verantwortlicher Redakteur Karl Kraus
300 LF Aa 9. APRIL 1910 XI. JAHR
DIE FACKEL
HERAUSGEBER:
KARL KRAUS
INHALT:
St)rüche, Ndl. Riohard Dehrael. — Eingebildete
Kranke. Von August Strindberg. — Judas
Lcharioth. Von Peter Hille. — Widmang. Von
Altpobercr. — Lied. Von Arnold Schön-
- Eine Zeichnung: von Pascin. Von Otto
1. — Aufruf an die Wiener. Von Adolf
Loü?. — Ein Brief von F er r - -- . ■ . .^^r.
— Pro domo et mundo. > —
^in Gruß von Stanislaw Przybyszewski.
'- ' - "eilage ein Register der Autoren und Beiträge, ■■''-* ■•" •
eingeleitet von Ludwig Ulimann.)
KACHDRUCK VERBOTEN
^ ' R EINZELNEN NTJMMER 30 HELLER
ERSCHEINT IN ZWANGLOSER FOLGE
VERI.AG: ,DIE FACKEL' WIEN— BERLIN
■'" " HINTERE ZOLLA"'-' ^ASSE 3 Nr. 187
a BUREAU: ... ^EE, KA:. RASoE 5
DIE VORLESUNG KARL KRAUS
findet Dienstag den 3. Mai, V2S ^hr abends, im Fest
saale des Ingenieur- und Architekten - Vereines, I.
Esciienbachgasse 9 statt. Der Zutritt ist auf geladene Gäste
beschränkt. Einladungen werden nach vorheriger schriftlichei
Anmeldung unter Angabe der gewünschten Kartenkategorie bei
stud. phil. Em. Jedlinsky, IX. Müllnergasse 3, zugesandt. Karten
zu K 10, 6, 4, 2 und Studentenkarten zu K 1. Die Ausgabe
der .Karten auf Grrund der Einladungen erfolgt vom 18. bis
25. April inklusive, jeweils in der Zeit von 72^ — V2^ ^^
abends im Lokale der Buchhandlung A. Scbönfeld, IX. Uni«
versitätsstraße 8. Die Vorlesung findet zu Gunsten des Asyl
Vereines für Obdachlose statt. Die Karten sind nicht tibertragl r
Das Programm dürfte enthalten:
Gegen Heinrich Heine
(Aphorismen zum Sprachproblem)
Die Chinesische Mauer
Im Verlage Jahoda & Siegel, Wien Ill/a, Hintere Zollaratsstraße 3 erechien:
Von BOBEBT SCHEU
(Mit einem Bildnis)
Preis 80 Heller (SO Pf)
In zweiter Auflage erschien:
SITTLICHKEIT UNB KRIMINALITÄT
Erster Band der Ausgewählten Schriften von Karl Kraufl
Broschiert . . M 6.— Ganzleinen . . M 7.25
(L. Rosner, Wien und Leipzig)
^ KARL KRAVS ll
SPRVECHE VND WIDERSPRVECHE
Verlag ALBERT LANGEN Müncheü i|
ROSCHIERT M 3.50, IN LEINEN OEB. M 4.50, IN HALBFRANZ OEB. M W'
Die Fackel
N" 300 ^L^t^Vlll »'-JA"«
Sprüche
Von Richard Dehmel
Was bedeutet »nicht lange fackeln«?
Das bedeutet: Wenn Mauern ira Feuer wackeln,
dann nimm nicht erst die Spritze zur Hand,
sondern wirf noch Flammen in den Brand!
•
Siege oder Niederlagen:
immer gilt es, neu zu wagen.
*
Und trotzt er noch so starr, der ewige Firn,
wir setzen doch den Fuß auf seine Stirn.
Uns hat Natur zur Höhe berufen,
uns fügt sich jeder Berg zu Stufen.
Wir stehen mit der ganzen Welt,
mit jedem Stäubchen, das uns ins Auge fallt,
auf Du und Du.
Nur zu gewissen Tieren,
die kritisch über die Natur parlieren,
sagen wir »vous«;
da drückt uns Alle der Menschenschuh.
*
Scharfrichtert ihr nur immer feste!
Ich hab eine gutgefutterte Weste;
die läßt in mein Herz nur Liebespfeile.
Schon mancher schnitt sich am eignen Beile.
Ich gönne jedem fremden Wicht
sein Teilchen Erde nebst Himmelslicht;
aber will er mir meins wegschinden,
soll er die Hölle bei mir finden.
Manches Auge schwelgt im Grauen,
manches wühlt sich bis zur Qual
in ein Parbenbacchanal,
aber jedes will einmal
hochgemut ins Blaue schauen.
Eingebildete Kranke*)
Von Augiust Strindberg
Ich habe drei Blinde gesehen, die ich nicht für
blind halte. Zwei vere:aßen sich und grüßten mich
auf der Straße, als ich einen großen Erfolg hatte.
Auf einen ausgesprochenen Erfolg erlebt man
recht eigentümliche Erscheinungen. Für mich ist der
Erfolg mehr etwas Negatives; der Druck hat für eine
Weile aufgehört; ich selber habe keinen positiven
Genuß davon, aber ich übe auf andere eine beinahe
pathologische Anziehung aus. Man wird gegrüßt und
gesucht, als habe man Sonnenschein zu bieten; die
neulich bei einem Fiasko geflohen, sind wie eine
umgekehrte Hand.
Während einer solchen kurzen Periode grüßten
mich die beiden Blinden.
*) Aus dem schwedischen Manuskript. Die Buchausgabe der
Bekenntnisse erscheint erst 1911.
— 3 —
Jetzt will ich von dem dritten sprechen, ßei
einem Theater dritten Rane:es in Berlin gab es einen
Schauspieler, der als Komiker engagiert war, ohne es
zu sein. Er schien mir ein Choleriker zu sein un 1 er
war trocken und hart; ich verstand nicht, wie man
ihn für einen Komiker halten konnte. Ich hielt ihn
nicht einmal für einen Schauspieler, denn er war
nie die Rolle; er hielt Vorlesung oder predigte, war
unerträglich mit einem Wort. Aber er halte einen
Namen und »zog«. Darum wurde er eines* Tages von
der ersten Bühne Berlins engagiert, um begraben zu
werden. Das verstand er aber nicht, sondern glaubte,
sein Talent habe ihn dahin gebracht und der Kamm
schwoll ihm. Zuerst bekam er eine Charakterrolle,
war aber ebenso unerträglich wie früher. Die Kritik
wollte nicht an ihn heran, aber das Publikum drehte
ihm den Rücken.
Schnell ging es abwärts. Und er, der eben seine
früheren Kameraden von dem Theater dritten Ranges
verschmäht hatte, fühlte jetzt, wie alles zusammen-
stürzte, ohne dafi ihm die Möglichkeit zu einem
Rückzug blieb.
Eines Tages erschien er als Blinder auf den
Straßen, von seinem Sohn geführt. Es sollte schön
aussehen, aber das konnte ich nicht finden; es war
etwas Posierendes, Theatermäßiges dabei, das meinen
Ekel erregte.
Aber er hielt sich eine Zeit lang beim Theater,
obwohl ich nicht verstand, wie er auftreten konnte.
Dann ging ich mehrere Jahre fort. Als ich
zurückkam, fragte ich nach ihm.
— Ja, er wohnt hier gleich nebenan und ist
nun ganz blind.
Ich wohnte im Westen von Berlin, und auf den
großen leeren Straßen ging ich des Morgens spazieren.
Eines Tages kamich früherals gewöhnlichhinaus.
Auf dem Trottoir vor einem großen Haus mit
Baikonen ging mein Schauspieler, allein, ohne Stock.
— 4 -
Als er mich von weitem >erblickte€, blieb er
stehen, machte einen krummen Rücken, kriegte einen
Schrecken und ging zur Haustür hinein.
— Er hat mich gesehen, und von weitem, also
ist er nicht blind, sagte ich.
Einige Jahre habe ich dort gewohnt, bin so
früh wie möglich ausgegangen, habe ihn aber nicht
mehr gesehen. Er war lebendig in sein Grab ge-
gangen 1
Wenn ich versuche, seine Geschichte auszu-
rechnen, so beginne ich mit der Schulkrankheit. Man
hatte eines Tages ein solches Grauen vor der Schule
bekommen, daß man sich krank wünschte, und so
wurde man es, aber nicht ganz.
Als die eingebildete Erhöhung zu schwinden
anfing, und er nicht wieder klein werden wollte,
übertrug er den Schlag auf ein anderes Gebiet. Mit-
leid, Interesse meinetwegen, aber nicht als durch-
gefallener Schauspieler!
Fünfzehn Jahre hat er wohl alle erdenkliche
Marter erlitten, da er sich selber zum Dunkel ver-
urteilt und Abschied vom Leben genommen hat.
Ich vermute, daß er gottlos ist, sonst hätte er
einen anderen Ausweg für die Resignation gewählt.
Zuweilen frage ich mich auch, ob er schließlich blind
geworden ist dadurch, daß er sich und andern ein-
bildete, daß er es sei. — —
Bin anderer Schauspieler bildete sich und andern
ein, schon in den 1850er Jahren, er habe Schwind-
sucht. Er lebte dann noch 47 Jahre und starb im
Alter von 70 Jahren. Ich traf ihn bei einem nächt-
lichen Pest, als er 60 Jahre alt war. Er sprach nur
von seiner Schwindsucht, von der ich damals seit
30 Jahren hatte sprechen hören.
Ein Arzt hat mir gesagt, Krankenhäuser und
Sanatorien seien meistens voller Patienten, die gesund
sind, es aber angenehm finden, gefüttert und gepflegt
zu werden und »daliegen und Romane lesenc zu
— 5 —
können. Auch deshalb habe ich nie die Schwindsucht-
marke gekauft, bin auch nicht in den Verein zur
Bekämpfung der Tuberkulose eingetreten.
Eigentümlich ist, daß ich mit 60 Jahren niemals
einen Schwindsüchtigen gesehen habe, weder unter
Freunden noch Bekannten.
Ich habe schließlich aufgehört, an Schwindsucht
zu glauben.
Aber in den sechziger Jahren hatte noch jeder
Mensch Schwindsucht, obgleich sie dann siebzig Jahre
alt wurden; was unnatürlich ist!
Die Schwindsucht wurde in den 1820er Jahren
von den Romantikern erfunden und scheint eher zur
Literatur zu gehören als zur Medizin.
Aber es gab eine ganze Menge mervöse Krank-
heiten«, die nicht eingebildet in gewöhnlichem Sinn
genannt werden können.
Es gibt »grossesse nerveuse« oder Schwanger-
schaft mit allen Symptomen, die den Spezialarzt
täuscht und sich schließlich als nichts herausstellt.
Im Krankenhaus liegen Menschen mit allen
Symptomen des Rückenmarkleidens und sterben im
Glauben an Tabes; aber bei der Obduktion zeigt sich
keine einzige Läsion des Rückeumarkes noch sonst
eine krankhafte Veränderung im Körper.
Alle hysterischen Leiden sind in den »Nerven«,
haben keine Wirklichkeit, sind Wahrnehmungen,
folglich psychisch. Die hysterische Kugel, Clavus
hystericus, Arthropathia hysterica sind alle bekannte
Erscheinungen ohne krankhafte Veränderungen,
müßten also zu den Geisteskrankheiten gerechnet
werden. Sie sind wohl Krankheiten auf einer andern
Ebene, haben aber dieselbe Wirkung.
Heute ist die geheimnisvolle Blinddarment-
zündung als Epidemie aufgetreten. Man hat Kranke
aufgeschnitten, die nicht die Krankheit gehabt haben ;
und man hat sogar einen Patienten geöffnet, der
überhaupt keinen Blinddarm besaß.
— 6 —
Wenn man von Einbildung in diesem Fall
spricht, was meint man damit?
Niemand geht wohl kaltblütig zu Wege und
bildet sich ein, daß er diese Krankheit hat, sondern
er wird wohl von der Vorstellung ergriffen wie von
einem gebieterischen Zwang.
Dann spricht man von Zwangsvorstellung, das
ist aber bloß der Name einer Tatsache. Und ich
stehe auf und frage: Wer ist der Zwinger? Wo ist
er? Was will er?
Und damit ist die Frage vom Niveau der
Medizin und Psychiatrie auf eine höhere Ebene ge-
hoben, wo man den Doktor medicinae hinter sich,
unter sich läßt und, wenn man klug ist, den einzigen
Arzt sucht, der »nervöse Krankheitenc und »Zwangs-
vorstellungen« heilen kann.
Ich habe ihn gesucht, als alle andern Ärzte
mich nicht zu heilen vermochten, und Er hat mir
geholfen, Er allein!
Judaa Ischarioth*)
Von Peter Hille
Judas war kein Jünger. Nichts von innen heraus
bei ihm, kein Verlangen nach einem besseren, sittlich
gefesteten Wesen, zu dem es erst die reinen Unbe-
fangenen und später die Lastermüden trieb. Judas
war trotz der nahen Gemeinschaft ein Bedienter, ein
Lakei des »Herrn«, denn »er hatte den Beutel«.
*) Aus dem bisher unveröffentlichten Mysterium Jesu, das
im Nachlasse des Dichters gefunden worden ist.
Er war sein Hausmeister geworden in der V^or-
aussetzung, daß der faszinierende Lehrer etwa wie
ein reisender, berühmter Virtuose gewaltigen, wider-
standslos zahlenden Zulauf hat. Und dieses Virtuosen
Impresario wollte er sein.
Die andere gewaltigere Seite des Wundertäters
hatte er nie im Auge gehabt. Nur die für seinen Zweck.
Und als sich Ischarioths Voraussetzung nicht ver-
wirklichte, mußte er auf andere Weise an seinem
Herrn verdienen. Der Zorn auf die in den Augen
dieses »vernünftigen« Menschen geradezu ruchlose
Verschwendung so vieler Gelegenheiten verwirrte
und erregte ihn.
Nach der von seinem göttlichen Meister aus-
drücklich gebilligten entsetzlichen Verschwendung
der Maria Magdalena ward ihm die Empörung des
gesunden Menschenverstandes zu viel, und er ging
hin in seiner kalten beleidigten Leidenschaft des Geldes
und beging das Ungeheuerliche. Er war gestört in
seinem Idealismus, dem einzigen, dessen diese metal-
lische Seele fähig war.
Ischarioth war ein zäher, fester Philister, ein
unerschütterlicher.
Er hatte keine Phantasie, keinen Wertblick, und
kein Voraussehen. Erst die grellsten Tatsachen konn-
ten ihn überzeugen. Dann, als es zu spät war, ent-
hüllte sich die gute sittliche Seite.
Nun wäre er ein guter Jünger geworden. Seine
Judasnatur war weggenommen und mit ihrer End-
handlung erledigt. Ein anderer wäre auch dann noch
unter gutem Einfluß gut geworden, biegsam und nicht
gespannt, aber kein Mensch hat zwei Naturen, min-
destens nicht ganz entwickelt, nacheinander.
Zu spät, sein Amt war abgeschlossen und hatte
abgeschlossen. Am Kleinlichsten war das Höchste
vernichtet, irdisch vernichtet . . . Weltaymbol.
— 8 —
Widmnng
(Sommerabend in Gmunden)
Von Peter Altenberg
Wir, die nicht genug haben an den Taten des
Alltages, wir Ungenügsamen der Seele, wir wollen
unseren rastlosen, enttäuschten und irrenden Blick
richten auf die Wellen-Symphonien des Sees, auf
den Frieden überhängender Weidenbäume und die aus
düsterem Grunde steil stehenden Wasserpflanzen!
Auf die Menschen wollen wir unsern impassiblen
Blick richten mit ihren winzigen Tragödien und
ihren riesigen Lächerlichkeiten; mit düsterer Ver-
achtung wollen wir nichts zu tun haben und mildes
Lächeln soll der Panzer sein gegen ihre Armsehgkeiten !
Dem Gehen edler anmutiger Menschen wollen
wir nachblicken, dem Spiele adeliger Gebärden und
der Noblesse ihrer Rubel Ein Arm auf einer Sessel-
lehne, eine Hand an einem Schirmgriff, das Halten
des Kleides bei Regenwetter, süßes Bacchantentum
bei einem Quadrille-Finale, wortloses Erbleichen und
wortloses Erröten, stummer Haß und stummes Lieben,
und alles Auf und Ab der eingeschüchterten und
zagen Menschenseele — — das, das Alles wollen
wir Stunde um Stunde in uns hineintrinken und
daran wachsen!
Rastlos aber, vom Satan Gejagten gleich, stürmen
die Andern enttäuschungsschwangeren Zwecken ent-
gegen und ihre Seele bleibt ungenützt, verdirbt,
schrumpft ein, stirbt ab!
Jeder Tag bringt einen Abend und in der
Bucht beim Toscana- Garten steht Schilf, und Weiden
und Haselstauden hängen über, ein Vogel flüchtet
und alte Steinstufen führen zu weiten Wiesen. Nebel
zieht herüber, Du lassest die Ruder sinken und
Niemand, Niemand stört Dich!
mt
y —
Lied
• Von Arnold Schönberg
'•^^ C. #wA^ i^ii\.-, ••t^.'v»*^; K»>A-' <*»;*• Js *•*■ /y»*'
^Vwi^f^w^i^^^
10
Eine Zeichnung von Pascin
Von Otto Stoessl
Bin befreundeter junger Maler zeigte mir eine
unlängst aus Paris mitgebrachte Federzeichnung
von Pascin, dessen krause Blätter bereits aus dem
,Simplicissiraus* bekannt sind. Sie geben wüste
Gesellschaften französischer Kneipen, Dirnen und
Zuhälter figuren mit einer naturalistischen Romantik
wieder, welche den Gegenstand sowohl durch die
inständige und dabei leichte Behandlung, als auch
durch einen ruhigen Humor in einer geistigeren
Athmosphäre aufhellen.
Das außerordentliche Blatt, von welchem ich
hier einiges sagen will, schildert nicht die typischen
örtlichkeiten und Figuren, wie die andern im ,Simpli-
cissimus* veröffentlichten, sondern bewegt sich in einem
willkürlichen Vorstellungs- und Stimmungsraum. Seine
Phantasie erhöht hier die groteske Wiedergabe des
unmittelbar Gegebenen durch die Laune der An-
ordnung, indem die Gestalten wunderlich naiv und
überraschend gruppiert, in einen barocken Zusammen-
hang gebracht sind, der einer kühnen und dem Gehör
bald einleuchtenden Harmonie gleicht. Das Wirkliche
erschiramert unversehens in einem fremden Zauber.
Diese Fähigkeit, derber Realität die Märchenhaftig-
keit spielerischer Lebensfülle mitzuteilen, macht
immer den höchsten künstlerischen Reiz und Sinn
einer Darstellung aus.
Begreiflich, daß Weiber den Gegenstand der
Komposition bilden, denn die Anschauung des
Mannes, gar des Malers wird von der durchwaltenden
Geschlechtlichkeit auf die natürlichste Weise bestimmt,
alles Weibliche als das Grundfremde und Grund-
begehrte selbst in seiner einfältigsten Existenz
märchenhaft zu erhöhen.
Drei Gruppen sind hier vereinigt. Ihr Zusamraen-
spiel ergibt den Inhalt und die Stimmung der ganz launen-
— 11 —
haften und sinnvollen Schöpfung, der es weiter keinen
Eintrag tut, daß die Teile vielleicht ursprünglich
einzeln, jeder an eine freie Stelle des weißen Papiers
gesetzt worden sind und erst durch ihr zufälliges
Beieinandersein und Ausfüllen des Raumes den schließ-
lichen Eindruck eines geordneten Ganzen, eines Bildes
machen. Auch die Harmonie manches Gedichtes wird
gelegentlich einem solchen Ineinandergehen von
Motiven verdankt, welches dann unlöslich bleibt.
Zwei große weibliche Gestalten stehen links
im Vordergrunde und bedecken fast die ganze Höhe
des Blattes. Eine nackte, magere Schwarzhaarige,
deren Arm in nervöse, lange, zierliche Finger aus-
läuft und in sachter Krümme am Schenkel liegt, ist
von der Seite gesehen, während ihr Kopf nach links
gedreht, uns die Gebärde völlig entzieht, so daß
man nur aus dem feinknöcheligen, selbst in der
Ruhe gespannten und gleichsam schwingenden Körper
auf jene unregelmäßigen Züge schließt, die unter
dem Schwall des dunkeln Haares den Reiz ihrer
willkürlichen Bildung üben. Die Blonde neben ihr
quillt in üppigster Weiblichkeit so breit über, daß
ihre Beine nur gekrätscht die Last des strotzenden
Körpers tragen können. Ein getigertes Tuch hüllt die
angenehme, dem Beschauer zugekehrte Rückenseite
von den Schultern abwärts, jedoch sinnig genug, nur
bis zum Gesäß ein. Ihr Gesicht ist in leiser Gegen-
wendung zur Mageren gekehrt, man würdigt eben
die belanglose Anmut der Stirne und Nase und des
angedeuteten Blickes. Mit zarter Feder in den ein-
fachsten Umrissen hingeschrieben, nur da und dort
durch andeutende Kurven der Schenkelwölbung, der
Kniebuchten und Knöchel, der Wirbellinie, leise
betont, vergegenwärtigen diese schwarzen Konturen
Farbe, Temperament, Inkarnat und sondern zwei
W^esen mit äußerster Bestimmtheit. Die Schwarze
und die Blonde, scharf und zierlich die eine, behag-
lich, gutmütig, eine rechte Milchmutter die zweite,
— 12 —
scheinen angelegentlich das bewegte Spiel der übrigen
zu betrachten.
Unmittelbar vor ihnen, im äußersten Vorder-
grunde rechts turnt ein nacktes Frauenzimmer, auf
die Arme gestützt, das linke Bein nach hinten ge-
streckt, das andere im Knie wagrecht eingezogen.
Vom Haupt, das durch den Arm verborgen wird,
sieht man nur das Haar in einer schmalen Welle zu
Boden strömen. Die Heftigkeit der dem angespannten
Leibe abgerungenen Akrobatenübung, die gestrafften
Brüste, das eigentümliche Gegeneinander der Körper-
teile, deren jeder dem andern widerspricht, wirken
so verblüffend, daß man das furchtbare Erstaunen
eines kleinen Köters würdigt, der diese unnatürliche
Kraftentfaltung, ganz und gar widrige weibliche
Lage, das verdrießliche Vergnügen eines solchen
emanzipierten Berufes entrüstet ankläfft.
Im Hintergrunde, rechts oben, gleichsam vor
der Rückwand eines Raumes tobt eine nackte
Weiberjanitscharenbande. Eine fette, muskulöse,
hintenübergebeugte Vettel mit gespreizten Beinen
schlägt Tamburin, eine knabenhaft magere im Tanz
Trommel, während eine heitere urgemein auf den
weit auseinander klaffenden Beinen hockt und fiedelt.
Ihr ausgespieltes Geschlecht scheint zur geilen Geige
aufreizend mitzurausizieren.
Man wird vielleicht aus dieser Beschreibung
der merkwürdigsten Gesellung das Zusammen-
klingen des Ganzen vermuten, welches eine höllisch-
paradiesische Weibereintracht mit läßlichem Humor
darstellt. Indem hier ruhig Zuschauende, da eine zur
äußersten Leibesanwendung Gezwungene, dort
Tanzende, Kauernde, Taumelnde beisammen ver-
weilen, scheinen in einer sinnvollsten Verkürzung
alle weiblichen Möglichkeiten und zugleich ihr Reflex
in dem männlichen Geist des Künstlers wieder-
gegeben.
Unwillkürlich fällt einem zu dieser äußerst
— 13 —
weltlichen Komposition ein gewagtes, frommes
Gegenbild und Beispiel ein, indem man sich gewisser
altitalienischer Gemälde erinnert, welche, >Konver-
sazionen« genannt, verschiedene Heilige in ruhe-
voller, würdiger Betrachtung, jeden mit seinem
bezeichnenden Symbol ausgestattet, in einer Säulen-
halle oder idealen Landschaft in ähnHcher Zusammen-
fassung männlicher Geistigkeit märchenhaft ver-
einigen, wie dies hier mit Frauenzimmern geschieht,
die ihre Erdennähe und natürliche schicksalhafte Un-
gebundenheit aufs selbstverständlichste entfalten.
Auch die wunderbare, innerste Beziehungslosigkeit
dieser Figuren, die, wie die Menschen im Leben bei
der dichtesten Geselligkeit einander nie durchdringen
und, mögen sie noch so eng beisammen tanzen,
turnen, hocken, schreien, singen, schauen, ja Leib
an Leib stehen, doch genau eine Welt voneinander
entfernt bleiben, entrückt das Zufallsspiel dieses
Blattes, seine Wirklichkeitsnähe zugleich in das
Überall und Nirgends, in die einfältige Einsamkeit.
Anfmf an die Wiener
geschrieben am Todestage Luegers
Von Adolf Loos
Mit ihm wird der Schutzherr der Karlskirche
zu Grabe getragen.
In ihm lebte die Idee Karls VI., der mit der
Kirche einer großen, breiten Avenue, die sich vom
Schottentor über den Josefsplatz nach der Wieden
erstrecken sollte, einen Abschluß geben wollte.
Der Bau der Ringstraße hat diese Idee vereitelt.
Anlage und Stellung der Kirche, ihre — nicht
— 14 ~
durch den Grundriß gerechtfertigte — frontale Aus-
dehnung, die mit dem ernüchternden Innenraum im
stärksten Gegensatze steht, zeigt uns deutlich, daß
ein Straßenabschluß geschaffen werden sollte, zu dem
das Gotteshaus nur als Vorwand diente.
Die alte Grundidee war nicht mehr durch-
zuführen. Wir haben zu allerletzt ein Recht, den
Erbauern der Ringstraße einen Vorwurf zu machen.
Wir selbst haben ja zum Beispiel das alte Projekt
Maria Theresias, die durch die Anlage von Gebäude-
keulen den Enkeln Gelegenheit geben wollte, die
Praterstraße in das Herz der Inneren Stadt zu führen,
— mit der Riehl-Avenue — fallen gelassen.
Lueger, und mit ihm die Einsichtigen wollten
der Karlskirche geben, was ihr gebührt, was sie
braucht.
Die Karlskirche braucht zu ihrer Fassung große,
horizontale Flächen und Linien. Die kann nur ein
öffentliches Gebäude schaffen. Die Wiener aber meinen,
daß das öffentliche Gebäude vor die Stadt gehört.
Man hat wohl nur aus Versehen die Hofmuseen
nicht auf die Schmelz gebaut. Sonst würden sich
heute an ihrer Stelle Zinshäuser erheben.
Der Schutzpatron des Baugedankens der Karls-
kirche, der Mann, der die Macht hatte, den Vandalis-
mus, der der Kirche und dem Stadtbild droht, abzu-
wehren, ist gestorben.
Es besteht kein Hindernis mehr, daß der Wiener
Geschmack seinen Willen durchsetzt und das Museum
auf die Schmelz kommt.
Aber auf dem bereitgehaltenen Platze werden
sich drei Zinshäuser erheben.
Und nun erlasse ich einen Aufruf an die Wiener :
Spendet Geld für eine Tafeil
Ich rufe alle Wiener auf, damit eine Ehren-
tafel auf das mittlere Zinshaus komme, auf welche
die Namen aller zum ewigen Gedächtnis einge-
meißelt werden, deren hingebungsvollem Wirken in
— 16 —
Wort und Schrift der Bau dieser drei Zinshäusei
zu verdanken ist.
Die Geldspenden brauchen nur klein zu sein,
denn es gibt so viele Wiener und eine Tafel kostet
nur so wenig.
Zu jeder Spende möge der Name des Mannes
genannt werden, der sich um den Bau dieser drei
Zinshäuser verdient gemacht hat.
Aus diesen Namen soll dann eine Auswahl ge-
troffen werden.
Wer von ihnen ehrlich für den Gedanken der
Zinshäuser eingetreten ist, wird mit Stolz seinen
Namen auf der Gedenktafel lesen.
Bin Brief*)
von Ferdinand Kflmberfer
Lieber Verehrter
Ist das Mödlinger Rathaus abgebrannt, oder
wird es umgebaut, oder was geschieht sonst mit der
Curie Ihrer Regierung, daß die erhebendsten Justiz-
akte nicht mehr am Sitz der Themis, am Thron der
Gerechtigkeit, sondern in einem gegenüberliegenden,
ad hoc sich darbietenden Nachbarhause zwar würdig
und gediegen, aber ohne den feierlichen Cultus
offizieller Urteilsvollstreckung in puritanischer
Schmucklosigkeit abgehalten werden? Der Mödlinger
Blutbann ist ja ein bescheidener Classiker, dafi er
seine besten Werke so anonym veröffentlicht, ja
kaum veröffentlicht, denn sein Verleger, Mr. Lynch,
*) Dieser Brief an Joseph Schöffel, auf den sich dessen in
Nr. 298/99 veröffentlichtes Schreiben vom 7. Juli 1878, der Bericht über
die Verprügelung eines Revolverjoumalisten durch einen Schlosser, be-
zieht, hat sich soeben in Mödling — nicht im Nachlasse Schöffela —
gefunden.
— 16 —
scheint nur einen einzigen Bürstenabzug von dem
genialsten aller Strafgesetz-Entwürfe gemacht zu
haben. Oder sagt man diesmal nicht Bürstenabzug,
sondern Hosenabzug? Wie war's doch? Ach, meine
Fantasie ist ganz bei der Sache. . Nie haben die
schönsten weiblichen Hemisphären geistig und sittlich
mich so intensiv beschäftigt, als mein inneres Auge
Tag und Nacht sich an jenen unschöneren Hemi-
sphären weidet, auf welche sich die hehre Göttin mit
Schwert und Wage diesmal in so wuchtiger Seßhaftig-
keit niedergelassen hat. > Welcher Unsterblichen
soll der höchste Preis sein ?« Goethe würde heute
nicht mehr so fragen, er würde sagen : der Mödlinger
Themis I
Was aber besagte Hemisphären betrifft, so hoffe
ich, die Großcommune Mödling schickt sie frisch
von der Mache her auf die Pariser Weltausstellung,
denn die Leistung ist monumental 1 Ich wüßte nichts,
was Europa im Allgemeinen und MödHng im Be-
sondern zum modernsten Portschritt des Appretur-
Verfahrens Gelungeneres ausstellen könnte, als zwei
so echtgefärbte, noch bis ins Grab hinein echtfärbig
durchgebläute Hemisphären I
Eine Preis-Medaille für Mödling!
In solchen Augenblicken fühle ich meine Sprache
ohnmächtig und meine Feder stumpf. Könnte ich Sie
lieber persönlich sehen! Kommen Sie doch einmal in
meine Arme! Was hindert Sie? Der Reichsrat? Er
ist soeben im wohltätigsten Stadium seiner Thätig-
keit angelangt, — er hat Ferien. Die Mödlinger
Regierungssorgen? Auch Lykurg hat regiert, aber
er ging hierauf 10 Jahre außer Landes, um die Güte
seiner Institutionen an seiner eigenen Abwesenheit
zu erproben. Sie haben Ihren Staat auf so ehernen
Grundsäulen der Weisheit und des Rechtes aufgebaut,
daß diese Lykurgus-Probe einer ehrenvollen Selbst-
verbannung schon längst auch Ihr Recht, ja Ihre
Pflicht geworden ist.
— 17 —
Also fort ^'on den Städtebewohnenden Menschen
und ausgerastet unter den Thierenl Auf nach
Steiermark!
Ihr altgetreuer
Ferdinand Kürnberger
Gratz, Beethovenstraße 19.
30. Juni T8.
Pro domo et mundo
Von Karl Kraus
Die meisten Schreiber sind so unbescheiden,
dafi sie immer von der Sache sprechen, wenn sie
von sich sprechen sollten.
Ich habe es so oft erlebt, daß einer, der meine
Meinung teilte, die größere Hälfte für sich behielt,
daß ich jetzt gewitzt bin und den Leuten nur noch
Gedanken anbiete.
Die Sprache Mutter des Gedankens? Dieser
kein Verdienst des Denkenden? 0 doch, er muß
jene schwängern.
Ein Werk der Sprache in eine andere Sprache
übersetzt, heißt, daß einer ohne seine Haut über die
Grenze kommt und drüben die Tracht des Landes
ansieht.
- 18 —
Man kann einen Leitartikel, aber kein Gedicht
übersetzen. Denn man kann zwar nackt über die
Grenze kommen, aber nicht ohne Haut, weil die im
Gegensatz zum Kleid nicht nachwächst.
Bin Edelmann deutscher Prosa erläßt ein
Manifest demokratischen Denkens. In einem Alma-
nach, den ein sozialpolitisches Komitee in Lausanne
herausgibt, ist es erschienen, und Voltaire behält
darin wieder einmal Recht gegen Goethe. Dieser
ohne Menschlichkeit, sieht >aus der gespensterhaften
Höhe, wo die deutschen Genien einander vielleicht
verstehen, unbewegt aufsein unbewegtes Land hinab«.
Voltaires Stimme, noch in Zola lebendig, befeuert
das Tempo der Freiheit und Wahrheit. Fanatiker
singen auf dem Hügel von Valmy die Marseillaise,
Goethe > wendet sich ab und verachtet«. Mit seinem
Namen »decken faule Vergnüglinge ihr leeres Dasein«,
es gibt keine Kultur ohne Menschlichkeit . . . Der
Bekenner ist Heinrich Mann. Also hat Goethe selbst
dem Börne die Hand geführt, als er sie gegen
Goethe erhob. — Ich aber glaube, daß im Kunstwerk
aufgespart ist, was die Unmittelbarkeit geistiger
Energien vergeudet. Nicht die erste, sondern die
letzte Wirkung der Kunst ist Menschlichkeit. Goethes
Menschlichkeit ist eine Fernwirkung. Sterne gibt
es, die nicht gesehen werden, solange sie sind.
Ihr Licht hat einen weiten Weg, und längst er-
loschen leuchten sie der Erde. Sie sind den
Nachtbummlern vertraut: was kann Goethe für die
Ästheten? Es ist ihr Vorurteil, daß sie ohne sein
Licht nicht nach Hause finden. Denn sie sind nirgend
zu Hause und für sie ist die Kunst so wenig da, wie
der Kampf für die Maulhelden. Auch der Ästhet ist
zu feig zum Leben; aber der Künstler geht aus der
Flucht vor dem Leben siegreich hervor. Der Ästhet
ist ein Maulheld der Niederlagen; der Künstler steht
— 19 —
ohne Anteil am Kampf. Er ist kein Mitgeher.
Aber seine Sache ist es nicht, mit der Gegenwart zu
gehen, da es doch Sache der Zukunft ist, mit ihm
zu gehen. Und soll Heinrich Manns Prosa eine
Marseillaise entfesseln, damit man Heinrich Manns
Prosa nicht mehr hört?
Es ist aber immer noch besser, daß die Künstler
für die gute Sache, als daß die Journalisten für die
schöne Linie eintreten.
Wenn den Ästheten die Gebärde freut, mit der
einer aus der Staatskasse fünf Millionen stiehlt, und
er es öfiTentlich ausspricht, daß die Belustigung, die
der Skandal den >paar Genießern< bringt, mehr wert
sei als die Schadenssumme, so muß ihm gesagt
werden: Wenn die Gebärde dieser Belustigung ein
Kunstwerk ist, so sind wir nobel und es kommt uns
auf eine Million mehr oder weniger, die der Staat
verliert, nicht an. Wenn aber ein Leitartikel daraus
wird, so erwacht unser soziales Gefühl und wir be-
willigen nicht fünf Groschen für das Gaudium. Wird
nämlich aus dem Staatsbankerott ein Kunstwerk, so
macht die Welt ein Geschäft dabei. Im andern Fall
spüren wirs im Haushalt und verdammen die populäre
Ästhetik, welche die Diebe entschuldigt, ohne die
Bestohlenen zu entschädigen.
Die Idee, die unmittelbar übernommen und zur
populären Meinung reduziert wird, ist eine Gefahr.
Erst wenn die Revolutionäre hinter Schloß und
Riegel sitzen, hat die Reaktion Gelegenheit, an der
Entstoffiichung der Idee zu arbeiten.
— 20
Journalisten schreiben, weil sie nichts zu sagen
haben, und haben etwas zu sagen, weil sie schreiben.
Es gibt ebenso Journalisten der Stimmung wie
es Journalisten der Meinung gibt. Jene sind die
Lyriker, die heute dem Publikum ins Ohr gehen.
Sie möchten sich unserer Verachtung dadurch
entziehen, daß sie schützend den Reim vorhalten.
Aber da fassen wir sie erst. Denn sie wehren sich
gegen den Verdacht, Diebe zu sein, durch den
Beweis, daß sie Betrüger sind.
Ein Original, dessen Nachahmer besser sind,
ist keines.
Ein Reichtum, der aus hundert Hintergründen
fließt, erlaubt es der Presse, sich an hohen Feier-
tagen den Luxus der Literatur zu leisten. Wie fühlt
sich diese, wenn sie als goldene Kette auf dem
Annoncenbauch eines Protzen glänzen darf?
Die Politik betrügt uns mit deutsch-österreichi-
schen Sympathie werten. Aber außer Trinksprüchen
und Libretti gibt es nichts, was ein geistiges Ein-
verständnis zwischen den Völkern bewiese. Diplomaten
und Theateragenten sind um die Annäherung bemüht.
Die draußen wissen denn auch von einem geheimnis-
vollen Reich, wo Itzig und Janosch den Ton an-
geben, und lieben uns für den Zuschuß von Husaren-
blut und Zigeunerliebe, den der Berliner Arbeitstag
empfängt. Bin zwischen der Ringstraße und den
Linden fluktuierendes Theaterjudentum bezeugt und
vertritt unser Geistesleben vor Deutschland. Was
sagt die Politik dazu, daß kein österreichisches Buch
- 21 —
hinauskommt, wenn es nicht in Musik gesetzt ist?
Die Wiener Provenienz ist so odios, daß man sie nur
den Erzeugnissen des Schwachsinns und der Lumperei
verzeiht. An diesen erkennt man wenigstens den Ur-
sprung und gibt die Echtheit zu. Aber welch über-
menschliche Anstrengung kostet es, einem Kolporteur
österreichische Literatur als Geschenk aufzudrängen!
Was sagt die Politik dazu, daß die , Fackel', die längst
danach ringt, in Österreich nicht mehr notorisch zu
sein, nach elf Jahren erst das zu werden beginnt,
was sie ist; eine deutsche Tatsache?
Die Zwischenaktsmusik verlangt nicht, dafi man
schweige, sie verlangt nicht, daß man höre, aber sie
erlaubt, nicht zu hören, was gesprochen wird.
Dummköpfe wollen sie abschaffen. Und sie ahnen
nicht, wie sehr gerade sie ihrer bedürfen. Denn
die einzige Kunst, vor der die Masse ein Urteil
hat, ist die Kunst des Theaters. Aber eben nur die
Masse. Wehe, wenn die Urteilssplitter im Zwischen-
akt gesammelt würden: sie ergäben kein Ganzes.
Ohne die Zwischenaktsmusik könnten sich die
einzelnen Dummköpfe vernehmlich machen, deren
Meinung sich während des Spiels zum maßgebenden
Eindruck und nach dem Spiel zum Applaus zu-
sammenschließt. Die Zersplitterung zu verhindern, ist
die Zwischenaktsmusik da, die im rechten Moment
mit Tusch in die Dummheit einfällt. Auf die Qualität
dieser Musik kommt es nicht an, nur auf das Ge-
räusch. Die Zwischenaktsmusik dient dazu, das
Lampenfieber des Publikums zu vertreiben. Ihre
Gegner wollen sich selbst preisgeben.
Wie ungemäß die Literatur dem Theater ist,
zeigt die Inkongruenz von szenischem Apparat und
22
der geistigen Geringfügigkeit seiner Anweisung:
— >ini Hintergrund stürzt der Kampanile ein.« An
den stärksten Leistungen der Bühne hat der Autor
das kleinste Verdienst: ein Federzug von dieser
Hand, und neu erschaffen wird die Erde! (Wäre der
Satz keine Dialogstelle, sondern eine szenische
Bemerkung im Don Carlos, so würde man seine
Richtigkeit erst erkennen.) Nun sind solche Taten
dem Theater selbst nicht organisch. Aber hat
der Autor vielleicht an der schauspielerischen
Leistung höheren Anteil? Hundert Seiten Psychologie
und Witz können verpuffen, bis endlich unter Applaus
geschieht, was jener mit den Worten vorgeschrieben
hat: »geht rechts ab und bricht an der Tür schluch-
zend zusammen«.
Wenn in einem Satz ein Druckfehler stehen
geblieben ist und er gibt doch einen Sinn, so war
der Satz kein Gedanke.
Das Wort hat einen Feind, und das ist der
Druck. DalS ein Gedanke dem Leser der Gegenwart
nicht verständlich ist, ist dem Gedanken organisch.
Wenn er aber auch dem ferneren Leser nicht verständ-
lich ist, so trägt eine falsche Lesart die Schuld. Ich glaube
unbedingt, dal5 die Schwierigkeiten der großen
Schriftsteller Druckfehler sind, die wir nicht mehr
zu finden vermögen. Weil man bisher im Bann der
journalistischen Kunstauffassung gemeint hat, die
Sprache diene dazu, irgend etwas »auszudrücken«,
so mußte man auch glauben, daß Druckfehler neben-
sächliche Störungen seien, welche die Information des
Lesers nicht verhindern können. Den Stoff könnten sie
nicht durchlöchern, die Tendenz nicht durchbrechen,
der Leser erfahre, was der Autor gemeint hat, und
dieser sei ein Pedant oder ein auf die äußere Form
- 23 -
bedachter Ästhet, wenn er mehr verlange. Sie wissen
nichts von dem, was der Autor erlebt, ehe er zum
Schreiben kommt; sie verstehen nichts von dem,
was er im Schreiben erlebt: wie sollten sie etwas von
dem ahnen, was sich zwischen Geschriebenem und
Gelesenem ereignet? Dies Gebiet romantischer Ge-
fahren, wo alle Beute des Gedankens wieder vom
Zufall oder dem lauernden Intellekt der Mittelsperson
abgenommen wird, ist unerforscht. Der Journalismus,
dem dort aus einer freiwilligen Plattheit wenigstens
eine unfreiwillige Drolligkeit entstehen mag, für die
er dankbar sein sollte, spricht mit scherzendem Vor-
wurf von einem Druckfehlerteufel. Aber solche Seelen
fängt er nicht. Sie leisten ihm ihren Tribut, es kommt
ihnen nicht drauf an, denn ihr Reichtum ist unver-
lierbar. Arm ist der Gedanke. Er hat oft nur ein
Wort, nur einen Buchstaben, nur einen Beistrich.
Eine Tendenz lebt, auch wenn der Teufel ihr ganzes
Gehäuse davontrüge. Wenn er aber an eine
Perspektive nur anstreift, dann hat er sie auch geholt.
Das Zeichen der Künstlerschaft: Für sich aus
dem Selbstverständlichen ein Problem machen und
die Probleme der andern entscheiden; für andere
wissen und sich selbst in die Hölle zweifeln; einen
Diener fragen und einem Herrn antworten.
Vom Künstler und dem Gedanken gelte das
Nestroy^sche Wort: Ich hab' einen Gefangenen ge-
macht und er läfit mich nicht mehr los.
Es gibt eine Originalität aus Mangel, die nicht
imstande ist, sich zur Banalität emporzuschwingen.
24
Wer nicht Temperament hat, muß Ornament
haben. Ich kenne einen Schriftsteller, der es sich nicht
zutraut, das Wort »Skandale hinzuschreiben, und der
deshalb »Skandalum« sagen muß. Denn es gehört
mehr Kraft dazu, als er hat, um im gegebenen
Augenblick das Wort »Skandal« zu sagen.
*
Der längste Athem gehört zum Aphorismus.
*
Er meint nicht mich. Aber seine Unfähigkeit,
sich so auszudrücken, daß er mich nicht gemeint hat,
ist doch ein Angriff gegen mich.
*
Die Dorfbarbiere haben einen Apfel, den stecken
sie allen Bauern ins Maul, wenns ans Balbieren
geht. Die Zeitungen haben das Feuilleton.
Auch hängt noch über mancher Bauerntafel
ein Klumpen Zucker, an dem sie gemeinsam lecken.
Ich möchte lieber dort eingeladen sein, als ein
Konzert besuchen.
Moderne Architektur ist das aus der richtigen
Erkenntnis einer fehlenden Notwendigkeit erschaffene
Überflüssige.
Kultur kommt von kolo, aber nicht auch von
Moser.
Die anderen sind Reißbrettkünstler. Loos ist der
Architekt der tabula rasa.
— 25 —
Kokoschka hat ein Porträt von mir gemacjit.
Schon möglich, daß raich die nicht erkennen werden,
die raich kennen. Aber sicher werden mich die
erkennen, die mich nicht kennen.
Der rechte Porträtmaler benützt sein Modell nicht
anders als der schlechte Porträtmaler die Photographie
seines Modells. Eine kleine Hilfe braucht man.
Der Dummkopf, der an keinem Welträtsel vor-
übergehen kann, ohne entschuldigend zu bemerken,
dafi es seine unmaßgebliche Meinung sei, heimst das
Lob der Bescheidenheit ein. Der Künstler, der seine
Gedanken an einem Kanalgitter weidet, überhebt sich.
Die Wissenschaft könnte sich nützlich machen.
Der Schriftsteller braucht jedes ihrer Fächer, um
daraus den Rohstoff seiner Bilder zu beziehen, und
oft fehlt ihm ein Terminus, den er ahnt, aber nicht
weiß. Nachschlagen ist umständlich, langweilig und
läßt einen zu viel erfahren. Da müßten denn,
wenn einer beim Schreiben ist, in den andern Zim-
mern der Wohnung solche Kerle sitzen, die auf ein
Signal herbeieilen, wenn jener sie etwas fragen will.
Man läutet einmal nach dem Historiker, zweimal
nach dem Nationalökonomen, dreimal nach dem Haus-
knecht, der Medizin studiert hat, und etwa noch
nach dem Talmudschüler, der auch das philosophische
Rotwälsch beherrscht. Doch dürften sie alle nicht
mehr sprechen als wonach sie gefragt werden, und
hätten sich nach der Antwort sogleich wieder zu
entfernen, weil ihre Nähe über die Leistung hinaus
nicht anregt. Natürlich könnte man auf solche
Hilfen überhaupt verzichten, und ein künstlerischer
Vergleich behielte seinen Wert, auch wenn in
26 —
seiner Bildung die Lücke der Bildung offen bliebe
und einem Fachmann zu nachträglicher Rekrimi-
nation Anlaß gäbe. Aber es wäre eine Möglichkeit,
die Fachmänner des Verdrusses zu überheben und
sie schon vorher einer ebenso nützlichen wie bravou-
rösen Beschäftigung zuzuführen.
Nach der Entdeckung des Nordpols und nach-
dem sich wieder einmal gezeigt hat, wie leichtfertig
die Menschheit wissenschaftliche Verpflichtungen ein-
geht, hat sie es wohl verdient, wegen weltgerichtlich
erhobenen Schwachsinns unter die Kuratel der Kirche
gestellt zu werden.
Und wenn die Erde erst ahnte, wie sich der
Komet vor der Berührung mit ihr fürchtet!
Die christliche Moral hat es am liebsten, dafi
die Trauer der Wollust vorangeht und diese ihr dann
nicht folgt.
*
Der Unterschied zwischen der alten und der
neuen Seelenkunde ist der, daß die alte über jede
Abweichung von der Norm sittlich entrüstet war und
die neue der Minderwertigkeit zu einem Standesbe-
wußtsein verhelfen hat.
Eine gewisse Psychoanalyse ist die Beschäftigung
geiler Rationalisten, die alles in der Welt auf
sexuelle Ursachen zurückführen mit Ausnahme ihrer
Beschäftigung.
— 27 —
Kinder psychoanalytischer Eltern welken früh.
Als Säugling muß es zugeben, daß es beim Stuhl-
gang Wollusterapfindungen habe. Später wird es
gefragt, was ihm dazu einfällt, wenn es auf dem
Weg zur Schule der Defäkation eines Pferdes bei-
gewohnt hat. Man kann von Glück sagen, wenn so
eins noch das Alter erreicht, wo der Jüngling einen
Traum beichten kann, in dem er seine Mutter ge-
schändet hat.
Sie haben die Presse, sie haben die Börse, jetzt
haben sie auch das Unterbewußtsein !
Medizinischer Sinnspruch: Was den Vätern alte
Hosen, sind den Söhnen die Neurosen.
Die neue Seelenkunde hat es gewagt, in das
Mysterium des Genies zu spucken. Wenn es bei
Kleist und Lenau nicht sein Bewenden haben sollte,
so werde ich Torwache halten und die medizinischen
Hausierer, die neuestens überall ihr > Nichts zu be-
handeln?« vernehmen lassen, in die Niederungen
weisen. Ihre Lehre möchte die Persönlichkeit ver-
engen, nachdem sie die Grenzen der Unverantwort-
lichkeit erweitert hat. Solange das Geschäft private
Praiis bleibt, mögen sich die Betroffenen wehren.
Aber Kleist und Lenau werden wir aus der Ordination
zurückziehen I
Das wissen weder Mediziner noch Juristen:
Daß es in der Erotik weder ein erweislich Wahres
gibt, noch einen objektiven Befund. Daß uns kein
Gutachten von dem Wert des Gegenstands überzeugen
und keine Diagnose uns enttäuschen kann. Daß man
gegen alle tatsächlichen Voraussetzungen liebt und
— 28
gegen den eigentlichen Sachverhalt sich selbstbe-
friedigt. Kurzum, daß es die höchste Zeit ist, aus
einer Welt, die den Denkern und den Dichtern ge-
hört, die Juristen und Mediziner hinauszujagen.
In der erotischen Sprache gibts auch Metaphern.
Der Analphabet nennt sie Perversitäten. Er verab-
scheut den Dichter.
DerVoyeur besteht die Kraftprobe des natürlichen
Empfindens: er setzt die Lust, das Weib mit dem
Mann zu sehen, gegen den Ekel durch, den Mann
mit dem Weib zu sehen.
Wer wird denn einen Irrtum verstoßen, den man
zur Welt gebracht hat, und ihn durch eine adoptierte
Wahrheit ersetzen?
Um einen Irrtum gutzumachen, genügt es
nicht, ihn mit einer Wahrheit zu vertauschen. Sonst
lügt man.
•
Wenn sich ein Schneider in den Wind begibt,
muß er das Bügeleisen in die Tasche stecken. Wer
nicht Persönlichkeit hat, muß Gewicht haben. Es ist
aber von geringem Vorteil, daß sich der Schneider den
Bauch wattiert und der Journalist sich mit fremden
Ideen ausstopft. Zu jenem gehört ein Bügeleisen,
und dieser muß sich des Philisteriums nicht schämen,
das ihn allein noch auf zwei Beinen erhält. Sie
glauben aber, dem Wind zu begegnen, indem sie
Wind machen.
— 29 —
Wann wird diese arg verkannte Stadt das Lob
endlich verdienen, das sie erntet? Sie hat sich nie
zu einem flotten Müßiggang aufgerafft. Sie müßte
mit der Unsitte brechen, daß ihre Leute den ganzen
lieben Tag spazieren stehen.
Gegen das Buch gegen Berlin: Ein Kultur-
mensch wird lieber in einer Stadt leben, in der keine
Individualitäten sind, als in einer Stadt, in der jeder
Trottel eine Individualität ist.
Es gibt ein Zeitgefühl, das sich nicht betrügen
läßt. Man kann auf Robinsons Insel gemütlicher leben
als in Berlin ; aber nur, solange es Berlin nicht gibt.
1910 wirds auf Robinsons Insel ungemütlich. Auto-
raobildroschke, Warmwasserleitung und ein Automat
für eingeschriebene Briefe beginnen zu fehlen, auch
wenn man bis dahin keine Ahnung hatte, daß sie
erfunden sind. Es ist der Zeit eigentümlich, daß sie
die Bedürfnisse schafft, die irgendwo in der Welt
schon befriedigt sind. Um das Jahr 1830 war« ja
schöner, und darum sind wir Feinschmecker dabei
geblieben. Aber indem wir uns bei der Schönheit
beruhigen, macht uns das Vacuum von achtzig
Jahren unruhig.
•
Ein Knockabout warf einen Zahnstocher hinter
die Kulisse. Da gab es einen Krach. Dann warf er
eine Stecknadel hinter die Kulisse. Da gab es
einen Krach. Dann warf er ein Stückchen Papier hinter
die Kulisse. Da gab es wieder einen Krach. Da
nahm er eine Flaumfeder, hob die Hand auf und —
da gab es abermals einen Krach. Aber er hatte noch
gar nicht geworfen. Da machte erEtschl und freute
sich, wie er die Kausalität gefoppt hatte. Das Wesen
~ 30 —
dieses Humors ist, daß das Echo menschlicher Dinge
stärker ist als ihr Ruf, und daß man dem Echo seine
Vorlautheit am besten beweist, wenn man ihm mit
keinem Ruf antwortet.
Es gibt Menschen, die ganz genau so aussehen,
wie unser aller Gymnasialkollege aus der letzten
Bank.
Einer, der mir Erinnerungen zu erzählen anfieng,
hatte dabei eine Stimme, die knarrte wie das Tor
der Vergangenheit.
•
Wie ungeschickt das böse Gewissen ist! Wenn
nicht mancher den Hut vor mir zöge, wüßte ich
nicht, daß er Butter auf dem Kopf hat.
Welche Plage, dieses Leben in Gesellschaft ! Oft ist
einer so entgegenkommend, mir ein Feuer anzubieten,
und ich muß, um ihm entgegenzukommen, mir eine
Zigarette aus der Tasche holen.
Fürs Kind. Man spielt auch Mann und Weib fürs
Kind. Das ist noch immer der wohltätige Zweck, zu
dessen Gunsten die Unterhaltung stattfindet und vor
dem selbst die Zensur ein Auge zudrückt.
Wenn Lieben nur zum Zeugen dient, dient
Lernen nur zum Lehren. Das ist die zweifache
31 —
teleologische Rechtfertigung für das Dasein der Pro-
fessoren.
Wenn die Moral nicht anstieße, würde sie nicht
verletzt werden.
*
Die Gesetzlichkeit spricht sowohl die Verant-
wortlichen schuldig als die, die nichts dafür können.
Die Humanität spricht die Verantwortlichen
schuldig und die Unverantwortlichen frei.
Die Anarchie spricht beide frei.
Die Kultur spricht die Unverantwortlichen
schuldig und die frei, die etwas dafür können.
Vor Erschaffung der Welt wird das letzte
Menschenpaar aus dem Spitalsgarten vertrieben
werden.
*
Wer die Gesichte und Geräusche des Tages sich
nicht nahe kommen läßt, dem lauern sie auf, wenn
er zu Bette geht. Es ist die Rache der Banalität, die
sich in meinen Halbschlaf drängt und weil ich mich
mit ihr nicht einlassen wollte, mir die Rechnung zur
Unzeit präsentiert. Schon hockt sie auf den Stufen
des Traumes, dreht mir eine Shylocknase und raunt
mir eine Redensart, von so irdischer Leere, daß in
ihr der Schall einer ganzen Stadt enthalten scheint.
Wer mischt sich da in mein Innerstes? Wen traf
ich mit diesem Gesicht, wen, der solche Stimme
hatte? Sie sägt den Himmel entzwei, ich falle durch
die Ritze und wie ich so unten daliege, finde ich das
Wort: »Jetzt bin ich aus dem Himmel gefallene, ganz
so als ob es keine der Redensarten wäre, die längst
zum irdischen Schall verloren sind.
— 32
Zwei Läufer laufen zeitentlang,
der eine dreist, der andre bang:
Der von Nirgendher sein Ziel erwirbt;
der vorn Ursprung kommt und am Wege stirbt.
Der von Nirgendher das Ziel erwarb,
macht Platz dem, der am Wege starb.
Und dieser, den es ewig bangt,
ist stets am Ursprung angelangt.
•
Weh der Zeit, in welcher Kunst die Erde nicht
unsicher macht und vor dem Abgrund, der den
Künstler vom Menschen trennt, dem Künstler
schwindlig wird und nicht dem Menschen 1
Bin Gruß
von Stanislaw Przybyszewski
. . . Und jetzt nehmen Sie meine herzlichsten
Glückwünsche zu dem Erscheinen des dreihundertsten
Heftes einer Zeitschrift, die wie kaum eine in Deutsch-
land von staunenswerter Kraft, seltenem Mannesmut
und vor allen Dingen von der Tatsache zeugt, daß in
Ihrem Wort und Ihrem Stilgefühl die deutsche Sprache
eine wirklich männliche, ernste und — für mich
wenigstens das Höchste : eine herbe Renaissance erlebt.
Und so gebe ich Ihnen nur die Versicherung,
daß ich mich für das fünfhundertste Heft mit dem
Besten ausrüsten werde, was meine schwache Kraft
zu schaffen vermag.
Mit besten Grüßen in tiefer Hochachtung
Ihr
München, 4. April 1910. Stanislaw Przybyszewski
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3
!i.! Vorbereitung:
KARL KRAUS
DIE CHINESISCHE MAUER
(Ausgewählte Essays)
Bei ALBERT LANGEN Mönchen j\t\(\ Leipzig
Bestellungen nimmt der Verlag und Jede Buchhandlung entgegen
Das Register der
300 Nummern
(elf Jahrgänge) der „FACKEL" ist in gesonderter Ausgabe
zum Preise von 20 Hellern = 20 Pf. durch den Verlag
oder das Berliner Bureau der , Fackel' zu beziehen.
DER STURM
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR U. DIE KÜNSTE
HERAUSGEGEBEN von HERWARTH WALDEN
Erscheinnngstag: Donnerstag
Einzelbezug: 10 Heller •
Jahresbezug: K 5.—
H-i ug: K 2.50
Viel -zug: K 1.25
Probenammem kostenlos durch den Veriag DER STURM, Halensee-Berlfn,
KatharinenstraSe 5. DER STURM lie^ in den T ' ' ^ -ken auf.
KorfTs Cacao
Korffs Chocolade
Bureau für Österreich :
Wien, VL Mariahilierstgasse 117
- , verlangen vor Drucklegung ihrer Werke im eigen-
AHTlfiyftn sten Interesse die Konditionen des alten bewahrten
i^aiWiW^*^** Buchverlags sub C. M.410 bei Haasensteln
" & Vogler A.-G., Leipzig h. 42oo d.
Unternehmen fürJSeitungBauaBohnitt«
OBSERVER, Ilen, l Concordlaplati Nr. 4 (Telephon Hr. 12801)
versendet ZeitungsausschnitteflberiedesgewanschteThema.Man verlange Prospetcte
Herausgeber KARL KRAUS
Die „Fackel« erscheint in zwangloser Folge im Umfang von
16—32 Seiten
BEZUQSBBMNGUNaEN :
Für Österreich-Ungarn: 18 Nummern, portofrei i^ 4..oU
36 » » y^ ^■_
Für das deutsche Reich: 18 n « r." _
36 , « '■-■'
n» >h«,n.n.«nt .»tr^clct «Ich nicht aot «inen Zeitraum, sondern auf eine bestimmte AniaM von Hommern
Einzelheft in Österreich 30 Heller, In Deutschland 30 Pfennig
Zu beziehen durch sämtUche Buchhandlungen
Berliner Bureau: Haiensee, Katharinenstraße 5
Inhalt der vorigen Doppelnummer 298-299, 21. März
1910: Lueger - Prozeß Kolischer. Von Karl K'-aus - >Idi«.
Von Ferdfnand Kürnberger. - Auf meiner A^b^'^sb^^^^^^^^
Ferdinand Kürnberger. - B^efe von Joseph Scl^^Hd -
Schülerselbstmord. Von einem Überlebenden. " ^e" hmfzeh^^^
rährigen Selbstmördern. Von B^rthold Viertel. - Oskar Kokoschka
\'on L. E. Tesar. - Selbstanzeigen. - Aphorismen. Von Karl
Krau. - Die Presse. Von Karl Bleibtreu. - Glossen. Von _
Kraus.
Karl Kraus
Herausgeber nnd vcrantvortiictier Redakteur Kar» Kratii
Druck Ton Jaboda 8i Siegel, Wien, 111. Hintere ZollamUstr. 3
DIE FACKEL
APRIL 1899 - MÄRZ 1910
ELF JAHRGÄNGE
REGISTER DER AUTOREN UND
BEITRÄGE VON 300 NUMMERN
VERFASST UND EINGELEITET von
LUDWIG ULLMANN
1910
VERLAG ,DIE FACKEL', WIEN III, 2, HINT. ZOLLAMTSSTRASSE 3
DRUCK VON JAHODA & SIEGEL
Wert und Eigenart der , Fackel* als eines
periodisch erscheinenden Kulturdokuments legten den
Gedanken eines Registers nahe. Namen oder Tat-
sachen, einzeln herausgegriffen aus der Fülle des
verarbeiteten Materials, sollten kommenden Ge-
schlechtern die Handhabe bieten, Kulturgeschehen und
Kulturvergehen der Fackeljahre erkennen zu können,
wie der freie Blick des satirischen Ethikers es ge-
schaut.
Unumstößliche Schwierigkeiten stellten sich aber
der Ausführung dieses Planes entgegen. Nie war die
, Fackel' eine bürgerlich harmlose Revue, die Be-
dürfnissen und Tendenzen, denen sie entsprungen,
durch Jalir nnd Tag mit starrer Konsequenz nach-
kommt. Aus einem polemischen Flugblatt, dessen
sprachliche Kunst mit scharfem Spott und prachtvoll
lodernder Entrüstung die Schäden des Tages be-
kämpfte, wuchs sie zu dem Organ eines in Kampf
und Gestaltung frei gewordenen Denkers, aus einer
vom bürgerlichen Mob heißverschlungenen satirischen
Streitschrift zu dem bestgeschriebenen, an Form und
Gehalt künstlerischsten Blatte deutscher Sprache.
Die Kulturarbeit, die Herausgeber und Organ
auf ihrem Entwicklungsgange in künstlerischer und
sozialer Richtung leisteten, die reichen Früchte, die
ethisches und formales Ringen des Künstlers der Mit-
welt wie spielend hinwarf, können nicht an ver-
gänglichen Namen noch vergänglicherer Zeitgenossen
gemessen werden. In Karl Kraus' Büchern liegt der
Nachwelt das Dokument seines Werdens und Seins,
— 4 -
e A „„;nor Siei?e vor. Tatsachendurst
seiner Kämpfe und >'«'"«[,f '^«"j-han dieses Register
und Aktualitätshunger hatten sich anQ'K^^^^
geheftet m der heutrgen Wes^n art der^,^^^ ^
wäre ein Sachregister, das "eo"' i^ Somußtedieses
setzt,eineVerschiebungderPerspektive.bo
Verzeichnis darauf beschrankt werden,^e^^^^^^
"w'^rt^und^tran^TÄ^in der Entwicklung und
Ausgestaltung der .Fackel^ ^^-^p^^^^,. ^^^^, ,tolz
^W^Bi^l. ^^SS deTÄs"
symptomatisch tur aen J-" & ,. Reg ster den
Dank und Anerkennung soll dieses g ^^^^^^^
verstorbenen, »^"''""X^l'^.Xender Erkenntnis und
S^dÄrrgehrr: ^Äsen erscheinen, be-
-*%a« unserer Kultur -- F^P^-^, SpT
in nicht geringer Zahl der Facke^ ^.^^^^ ^^^1 ^
genossen waren, wird Ireumg uu ^^^^^
bestätigt finden, wer "»"'«',,^°' /tht Der Lauheit
des BUttes als. Freund gegenübersteht Ue ^^^^^_
und Totschweigetaktil. aber mo e ^^^^,^
handsohuh sein, wie ihn Karl Kra ^jj_
den Abdruck der Rezensionen seine ^
monatlich hinwirft. ^™;S,ere Dehmel, Liliencron,
auf und liest die Namen Altenberg uen, ^^^^_
Heinrich Mann, P^y^y^f^Äfc^eg Uebknecht und
kind. Bleibtreu ChamberlamHercjeg ^^^.^^^ j„
Sshöffel als Mitarbeiter so wachst a ^.^^^
Tatsache, daß für das offizielle Wien a - ^j^j^^
existiert, ins Grenzenlose wenn diese la j^^,^,^^^^
:r dÄÄÄÄ^^ache. ais unglaub-
'''^'^"A^f°tnrwi"hÄeVollständigkeitkann
dieses Register keinen Anspruch machen. Ver-
schwindet doch die Arbeit der bedeutendsten
Kraft ganz aus dem Verzeichnis. Zahlreich sind
die Gründe für dieses Vorgehen, deren wichtigster
ist, daß der Herausgeber als der, der er durch elf-
jähriges Erleben, Erkennen und Gestalten geworden,
auf die ersten Jahre der , Fackel*, jener Zeit einer
Arbeit, die offenliegenden Schäden und redlichen
Heilungsabsichten vor den eigensten künstlerischen
Interessen Rechnung trug, nur mehr wie auf ein not-
wendiges, doch längst überwundenes Kindheitsstadiura
zurückblicken kann. Klar ist, daß er von diesem
Standpunkte aus viele, Aktualitätsgründen ent-
sprungene, weder durch die Person des Autors noch
durch sachlichen oder stilistischen Gehalt dauernd
wertvolle Beiträge heute nicht mehr als fackel würdig
anerkennen kann, noch klarer, daß er seine eigenen
Arbeiten jener Periode kritischer betrachten muß, als
es der gerechte Werter seiner Persönlichkeit und Tat
tun wird. Was er selbst als zeitlich unbeschränkte
Werte in Anspruch nimmt, konrmt in seine Bücher,
in die alles geformt werden soll, was aus dem
Tag für die Ewigkeit geschrieben ist.
Was das Register der , Fackel* anbelangt, so
genüge eine summarische Obersicht seiner rein
quantitativen Arbeitsleistung: Von der Nr. 154 (ex-
klusive) an, mit der jede ständige Mitarbeit und
jedes Verwerten fremden Materials zu eigenen
Arbeiten aufhört, füllen die Artikel des Herausgebers
2330 Seiten von 3680. (Eine sehr saloppe Zusammen-
stellung, da die Artikel in verschiedenstem Druck
gebracht sind und die im kleinsten als »Antworten
des Herausgebersc gedruckten Glossen oft einen
beträchtlichen Teil des Heftes füllten. Gezeichnet
hat er mit vollem Namen von der Nr. 232—33
(IX. Jahr) an.) Anders verhält es sich mit den
ersten 154 Nummern. Jenes Stadium, das neben
vielen teils wertvollen, teils wertlosen Beiträgen
und Zuschriften ständige fremde Mitarbeit aufweist,
widerstrebt durch sich selbst einer genaueren
Einordnung. Nicht nur die chifiFrierten, auch viele
der nicht unterzeichneten Artikel stammen nicht vom
Herausgeber. In vielen Fällen nahm er auch, einer guten
Sache mehr als dem Gebote künstlerischen Egoismus
folgend, eine stilistische Überarbeitung fremden
Materials, oft fremder bereits fertiger Arbeiten
vor. Vieles was die Öffentlichkeit so dem Heraus-
geber zuschrieb und zuschreibt, kann er als sein
Werk nicht anerkennen. Aber auch sein eigenes
lehnt er ab wie das fremde Gut jener Jahre und
bekennt sich nur zu dem was er, da er es als Fleisch
von seinem Fleische erkannt hat, in seine Bücher
einschließen wird. Rein äußerlich betrachtet, können
von 4534 Seiten jener Hefte mehr als die Hälfte für
Arbeiten des Herausgebers in Anspruch genommen
werden.
Was die Beiträge betrifft, so wurden sie in drei
Gruppen geschieden, je nachdem sie unter vollem
Namen und bestimmten Pseudonymen oder unter all-
gemeinen Pseudonymen oder unter Buchstabenchiffren
erschienen sind. Eine sorgfältige Auswahl mußte
vorgenommen, alles allzu Wertlose ausgeschieden
werden.
Sämtliche Beiträge der , Fackel* sind Original-
beiträge, sämtliche Übersetzungen erste Übersetzungen
in die deutsche Sprache. Ausnahmen bilden — neben
jenen Kompositionen aus Zitaten, welche wieder die
schöpferische Leistung des Herausgebers sind —
der Artikel Wedekinds: »Schriftsteller Ibsen und
Baumeister Solneßc (VIII. Nr. 205), der aus
der Münchener ,Freistatt' nachgedruckt und so auf
Wunsch des Autors größeren Kreisen zugänglich
gemacht wurde, sowie zwei unbekannte Aufsätze
Kürnbergers (XL Nr. 298-99), die in die Gesamt-
ausgabe seiner Werke keine Aufnahme gefunden
hatten. Ferner mußten bei der Publikation
— 7 —
von Briefen Oskar Wildes (>Kun8t und MoraU. X.
Nr. 272 — 73) des Zusammenhanges wegen einzelne
bereits erschienene Briefe wieder mitabgedruckt
werden. Tschechows Skizze »Nachts« (XL Nr. 279 — 80),
ist durch eine irreführende Angabe des Übersetzers
als erste Übersetzung in die , Fackel' gelangt.
Gibt das vorliegende Register einen genügenden
Oberblick über das Wertvolle, das die , Fackel' außer
den Arbeiten des Herausgebers enthielt und weist
es so nach seinen bescheidenen Möglichkeiten auf
Inhalt und Qehalt des Blattes, so war die dafür auf-
gewendete Arbeit nicht umsonst getan.
L. U.
I.
Adam Robert
IX. 246—47 25, Sprüche
Adler Prof. Dr. Karl
I. 14 5 Über die Qründerrechte bei der Creditanstalt
I. 26 13 Zuschrift über die Feststellungsklage
I. 35 22 Über die Frage der doppelten Notierung für Börsen-
effekten
II. 45 10 Der Oberste Gerichtshof über den Gründerunfug bei
der Creditanstalt
Alten berg Peter
II. 60 18 Brief über den Maler Joza Üprka
III. 81 18 Wie Genies sterben
V. 139 20 Zur Männer-Schönheitskonkurrenz
V. 142 18 Zu Frank Wedekinds »Erdgeist«
V. 146 25 Elektra
V. 149 24 Monsieur Henry der Conferencier
V. 150 27 Marya Delvard
V. 153 20 Parabel
VI. 160 17 Alkohol
VI. 173 12 »Der Sozialismus und die Seele des Menschen«
von Oskar Wilde
VII. 194 20 Cabaretlied
VIII. 205 20 Aus einem Zyklus: »Märchen des Lebens«
VIII. 207 22 Der Herrensitz in U.
XI. 300 8 Widmung
(mit Egon Friedeil)
VII. 191 12 Das schwarze Buch
Bab Julius
V. 155 17 Der Ruf
9 —
Barchan Paul
X. 275—76 20, Erotische Krisen
Beck Dr. Berthold
VI. 171 4 Der Gesetzentwurf zur Verbesserung des Schutzes der
Ehre, Antrag Lamraasch-Chluniecky-Bilinski
VI. 173 8 Zuschrift zum Artikel in Nr. 171
Beutier Margarethe
VIII. 207 23, Gedichte (Die Vorübergegangenen, Tanzlied, Ver-
heißung)
VIII. 219-20 23 Wandlung
Bleibtreu Karl
II. 54 IQ Liebe Neue Freie Presse
II. 55 22 Hat Gott euch je gesegnet ....
II. 69 29, Gutachten zum Bahrprozeß
III. 97 1, »Alldeutsche Ehrlichkeit und Objektivität«
IV. 101 13 Wie werden Dichterpreise und Dichterruhra verteilt?
V. 147 4 Über Müller -Guttenbrunns Denkschrift über das
Kaiser-J ubi läuras-Theater
V. 157 12 Otto Weiningers »Geschlecht und Charakter«
VI. 165 18 Gegen einen Angriff in der »Deutschen Zeitung'
XI. 294-95 38 Rhabarber
s
Chamberlaln Houston St.
III. 87 1 Der voraussetzungslose Momrasen
III. 92 1 » Katholische < Universitäten
IV. 127 19 Zuschrift betreffend eine Zeitschrift und seine an-
gebliche Mitarbeit
IV. 130 18 Zuschrift betreffend dieselbe Sache
Dehmel Richard
XI. 300 1 Sprüche
Ehrenstein Albert
XI. 296-97 36 Wanderers Lied
Ellenbogen Dr. Wilhelm
I. 25 13 Man muß sich tot melden
I. 27 1 Man muß sich tot melden
I. 30 4 Man muß sich tot melden
10
Engel Dr. Friedrich von
VI. 172 3 Zuschrift zu Berth. Becks Artikel in Nr. 171
Erbt
X. 261-62 41 Die Mütter
Farga
VI. 171 13 Literatur
Förster- Nietzsclie Elisabeth
X. 272—73 39 Zuschrift
Forei Prof. Dr. August
V. 141 13 Brief über die Affäre Paetz
Fränki Vilctor
11. 50 16 Über den Zietenprozeß
Frledeii Egon
VII. 190 4, Vorurteile
VII. 191 11 Die Lehrmittel (Noch ein Vorurteil)
VII. 193 9 Zwei Skizzen (Der Panamahut, Die Bolette)
VIII. 201 14 Pilatus
VIII. 202 10 Brief: Ein Schmerzensschrei
VIII. 204 14 Ib§en
(mit Peter Altenberg)
VII. 191 12 Das schwarze Buch
Grünewaid Alfred
IX. 239-40 25 Hans Zwiesel
Harden iVlaxImiiian
I. 2 1, Lieber Kamerad Kraus ....
II. 69 23, Gutachten zum Bahrprozeß
Hauer Karl (Lucianus)
VII. 188 11 Lob der Hetäre
VIL 190 11 Geld
VII. 192 8 Erotik der Keuschheit
VII. 194 12 Die Klassiker
VII. 194 21 Glosse unter »Betschwester«
VII. 198 11 Erotik der Kleidung
VII. 200 5, Phrasen
VIII. 201 8 Weltbild
VIII. 203 1 Sätze von Marquis de Sade (mit Zitaten)
VIII. 205 1 Ibsen, ein Brief
VIII. 206 1 Sätze von Marquis de Sade (Zitate)
— 11 —
Hauer Karl (Luclanus)
VIII. 207 1, Spiegel sterbender Welten
VIII. 210 3 Die sozialdemokratische Religion
VIII. 213 5 Weib und Kultur
VIII. 218 7 Der Wert der Arbeit
VIII. 219-20 23 Die Voraussetzungen des Theaters
IX. 223—24 18 Erotik der Grausamkeit
IX. 227-28 10 Das Kind
IX. 230—31 6 Das Qehirn des Journalisten
IX. 239—40 19 Die Hinrichtung der Sinne
IX. 246-47 1 1 Das Wesen der Musik
IX. 248 5 Der Tag des Herrn
X. 250 11 Staatliche Kunstpflege
X. 253 7 Pornographie
X. 267—68 32 Von den fröhlichen Menschen
X. 277-78 41 Die Verteilung der Macht
XI. 287 20 Heilig ist die Leidenschaft
Helm Maria
VIII. 202 23, Gedichte (Seziersaal, Trennung, Vor dem Konzert,
Prima gravi ditas)
Heinemann Dr. Hugo
I. 9 1, Über die Zuchthausvorlage
Heinrich Karl Borromaeus
X. 251-52 8 Offener Brief an Karl Spitteler (siehe dessen Ant-
wort Nr. 253, S. 17)
X. 253 17 Antwort auf die Zuschrift Karl Spittelers in Nr. 253
X. 266, 1, Rudolf Wilke
X. 269 6 Missa Solemnis Tragica (Bruchstück aus dem Manu-
skript eines Romans, der später unter dem Titel »Karl Asen-
kofers Flucht und Zuflucht < als Fortsetzung von >Karl Asen-
kofer, Geschichte einer Jugend« erschien)
X. 275—76 30 Pascin
X. 277—78 61 Offener Brief an den Herausgeber der , Fackel'
XI. 287 14 An den unbekannten Freund
XI. 296—97 26 Baron Frangart und der Bajazzo, (Bruchstücke
aus dem Manuskript eines Romans »Menschen von Gottes
Gnaden«)
12
Herczeg Franz
VI. 177 17 Ranko der Held
VII. 186 2, Bemerkungen zur Krise in Ungarn
Hervay Tamara von
VI. 170 15, Bruchstücke aus Briefen
Hetz Arthur
X. 259-60 30 Der Beamte
Heyse Paul
II. 69 26, Gutachten zum Bahrprozeß
Hiile Peter
XI. 300 6 Judas Ischarioth
Hofmannsthal Hugo v.
VI. 162 24 Zuschrift über die Liliencron-Festschrift und seine
(Hofmannsthals) Ablehnung der Mitarbeit
Holltscher Arthur
I. 15 8 Über die Dreyfusaffäre
Jellnek Oskar
X. 254—55 11 »Frühlingserwachen«
Jordan Wilhelm
II. 69 31 Mitteilung eines Gutachtens zum Bahrprozeß durch
seine Tochter
Korski Julian
II. 52 5 Brief über die Konfiskation seines Blattes, des .Stowo
polskie'
Koimian Stanislaus v.
VI. 174 13 Burgtheater 1873
Kraus Karl (ca. 4700 Seiten)
Aufsätze, Glossen, Aphorismen
KQrnberger Ferdinand
IV. 124 2 Abdruck eines bisher unveröffentlichten Briefes
Ferdinand Kürnbergers an Fischhof vom 8. Juni 1871
VIII. 214— 15 7 Die Geschichte meines Passes, aus dem Nachlaß.
XI. 288 5, Briefe
XI. 294-95 17, Briefe, mitgeteilt von Luise Hackl
XI. 298-299 11 »Ich«
- 13 -
Kürnberger Ferdinand
Xi. 298-299 17 Üie Schöffel-Chlumecky-Debalte au! meiner
Arbeitsbank
XI. 300 15 Ein Brief
Kyon
VIII. 201 17, Splitter
Laskor-SchQler Eis«
XI. 288 13. Gedichte (Siehst du mich — , Und such« Oott)
XI. 294-95 26. Gedichte (Die Königin, Heimweh)
Lewinsky Josef
VIII. 221 6 Vier Briefe
Liebknecht Wilhelm
I. 18 1, Nachträgliches zur Affäre I
I. 19 1, Nachträgliches zur Affäre II
I. 21 1, »Schlußwort« zur Affäre
II. 42 2 Das Ende einer Komödie
II. 44 5 Zweilerlei Nachträgliches
Lillencron Detlev v.
VII. 188 14 Die betrunkenen Bauern
VIII. 203 13 Der Tod des Herzogs von Qandia
VIII. 206 22, Hyazinthen
X. 274 5 Zuschrift über Peter Altenberg zu dessen 50. Geburtstag
X. 277—78 52 Anakreontisches Liedel
XI. 287 32 Begräbnis (aus dem Nachlaß)
Loos Adolf*)
XI. 300 13 Aufruf an die Wiener
Loos Viktor Prof.
II. 49 22, Fachblätter
III. 93 12 Der technische Impresario
III. 94 IG >Neue Freie Physik«
III. 95 13 Fotschacher Typhus
III, 99 11 Der drahtlose Impresario
IV. 108 19 Das deutsch-österreichische Biidungslaboratorium
IV. 115 24 Über Mittelschulverhäitnisse
*) Dem fälschlich die Autorschaft anderer kunstkritischer Beiträge
zugeschrieben wurde.
Loos Viktor Prof.
IV. 116 17 Concordats- und Concordiaschule
IV. 130 10 Die Kanonade von Solferino
IV. 132 18, Antisemitische Gasuhren
V. 135 12. Versenkte Millionen
V. 140 5 Der Kampf gegen die Tuberkulose
V. 144 10 Der Kampf um die Straße, eine Rückschau
V. 148 15 Riedler in Wien
VI. 160 14 Der moderne Schulmeister
VI. 163 4 Die Kartoffelbegeisterung
VI. 168 20 Die Wissenschaft auf der Straße
VI. 174 4 Die verstaatlichte Technologie
VI. 175 11 Tetmajer
VI. 177 8 Hueppe und Hartel
VII. 188 3 Haus und Schule. (1. Die Diebe ihrer Recht«, 2. Ver-
krüppelt)
Lucka Emil
V. 144 15 Zuschrift über Otto Weininger
Machar J. 8.
XI. 283-84 48 Juli im Walde, übersetzt von Felix Gräfe
Mann Heinrich
VII. 196 12 Alt
Martellus
VI. 171 4 O du mein Österreich
Martersteig Max
II. 69 32, Gutachten zum Bahrprozeß
Mauthner Fritz
II. 69 27, Gutachten zum Bahrprozeß
Morvay Henry S.
X. 256 9, Schreiben aus Hawaii
Mühsam Erich
VII. 199 16 Das Cabaret
VII. 200 16, Symbole
VIII. 202 4, Boheme
VIII. 206 13 Der Künstler im »Zukunftsstaat«
VIII. 210 18, Deutsche im Ausland
IX. 223-24 10 Zur Naturgeschichte des Wählers
— 15 —
Müller-Quttenbrunn Adam
I. 28 24 Zuschrift über das Kaiser-Jubiläums-Stadttheater
V. 146 12 Abdruck der Denkschrift über die Lage des Kaiser-
Jubiläums-Stadttheaters zu Händen des Herrn Bürgermeisters
Dr. Karl Lueger
Piper Kurt
VI. 164 16 Den Huldigern Liliencrons
Przybyszewski Stanislaw
IX. 239—40 1 Das Geschlecht, Weiningers Manen gewidmet
IX. 242—43 1, Brief an den Herausgebet der .Fackel' (über
Harden)
XI. 300 32 Ein Qruß
Rappaport Moritz
V. 152 19 Zur Zuschrift Leopold Weiningers in Nr. 150
Reformator
VII. 195 1 Status cridae, eine Stimme zur Beamtenfrage
VIII. 202 3 Ein Vorschlag
Reid John
II. 69 31, Gutachten zum Bahrprozeß
Rittner Thaddftus
VII. 200 Q Und Pippa tanzt
Rosner Karl
IV. 115 29 Zuschrift gegen das .Neue Wiener Journal'
Rubiner Ludwig
XI. 294—95 12 Das Schicksal der Maschine
Scharf Ludwig
VII. 193 13 Wer nie das Elend sah
Scheerbart Paul
VIII. 205 22, Unverantwortliche Gedichte (Hohle Symbole,
Kosmischer Trost)
Scheu Robert
VII. 191 1 Der Sozialanwalt, Gedanken zur Revision des bürger-
lichen Gesetzbuches
VII. 194 1 Die Wahlreform, offener Brief an Karl Kraus
VII. 196 5 Duell und kein Ende
VII. 198 3, Kanonen aus Kirchenglocken
VIII. 201 3 Das Problem der Provinz
- 16 ~-
Scheu Robert
VIII. 203 5, Tory und Whig
VIII. 206 4 Bildung (Zur Mittelschulfrage)
VIII. 210 10 Die gesellschaftliche Notzivilehe, ein Ultimatum
X. 277—78 1, Karl Kraus, zum 10. Jahrestag des Erscheinens
der , Fackel' 1899—1909
XI. 281—82, 3 Viktor Adler, das Lebenswerk eines konservativen
Politikers
XI. 283-84 25 Adolf Loos
XI. 285-86 19 Joseph Schöffel
Schöffel Joseph
III. 81 2 Brief über den Wienerwald und die ,Neue Freie Presse'
IV. 112 1, Brief gegen die .Deutsche Zeitung'
IV. 116 1 Der Parlamentarismus, eine Studie I.
IV. 117 1 Der Parlamentarismus, II.
IV. 120 1 Die Autonomie, eine Studie
IV. 125 1 Immunität und Inkompatibilität, eine Studie
IV. 126 1 Orakelsprüch^
IV. 170 1, Offener Brief an Herrn Landtagsabgeordneten Pater
Bauchinger
VII. 179 7 Eine Schmutzerei
VII. 180—81 12 Meine Tätigkeit im Landesausschuß
VII. 183-84 33 Mödlings älteste Urkunde
VII. 189 1 Meine Antwort
XI. 298—299 22, Briefe an Kürnberger und an Karl Kraus
Schönberg Arnold
X. 272-73 34 Offener Brief
XI. 300 9 Lied (Worte von Stefan George)
Soyka Otto
VI. 173 15 Zum Fall Wilde (Eine Studie)
VII. 186 20 Psychiatrie, Vorabdruck aus >Jenseits der Sittlich-
keitsgrenze«
VII. 191 6 Zwei Bücher (Rezensionen über Prof. A. Foreis >Die
sexuelle Frage« und Dr. Siegmund Freuds »Drei Abhandlungen
zur Sexualhygiene<)
VIII. 206 10 Sexuelle Ethik
X. 253 13 Der Sklave
Soyka Otto
X. 254—55 36 Eulenburgs Briefe
X. 259-60 32 Tugendkurs
X. 264-65 37 Der neue Ruhm
X. 267—68 28, Bücher (Rezensionen über »Karl Asenkofer« von
K. B. Heinrich und über >Ödipus« von Willi Speyer)
X. 270-71 40 Der Fall des Max E.
X. 274 6 Spiel
X. 275-76 11 Mittelschule
X. 277—78 47 Der farblose Krieg
XI. 281-82 36 Eine gelungene Satire
Spahn Martin
V. 145 1 Ferienkurse und katholische Universitäten
Spitteler Karl
X. 253 17 Zuschrift zum offenen Brief .K. B. Heinrichs in
Nr. 251—52
Spitzer Daniel
VI. 176 IQ Epigramm (bis dahin unveröffentlicht)
Stoessl Otto
VII. 197 1, Ludwig Speidel
X. 254—55 25 Der Skeptiker (anläßlich der neuen Ausgaben
von Vauvenargues, Larochefoucauld, Chamfort, Lichtenberg
und Montaigne)
X. 259—60 24 Kunstschau
X. 264-65 33 Der Germanist
X. 267-68 16 Kameraderie
X. 272—73 39 Abend
X. 274 6 Leben
X. 277-78 53, Jugendromane
XI. 289 17 Der Schatten
XI. 290 5 Balzac
XI. 294 — 95 5 Lebensform und Dichtungsforni
XI. 300 10 Eine Zeichnung von Pascin
Strindberg August
V. 144 1, Idolatrie, Qynolatrie, Nachruf für Otto Weininger»)
V. 144 15 Brief an Otto Weininger
*) Ober Aufforderung der .Fackel' geschrieben.
18
Strindberg August
V. 146 23 Der Holländer (Beim Anblick der Lilith)
V. 148 1 Der literarische Nobelpreis, ein Manifest zum dritten
Nobelpreis (10. Dezember 1903)
V, 150 14 Die Drangsale des Lotsen, ein Märchen
V. 155 13, Andachtbücher
VI. 172 10 Zuchtwahl des Journalisten
VII. 192 14 Attila
VII. 202 14 Der Diener der Diener
VI II. 212 1 Das tausendjährige Reich
IX. 236 9 Mann und Weib, Betrachtungen
X. 270—71 20, Schlafwandler
XI. 281-82 18 Mann und Weib
Xi. 300 2, Eingebildete Kranke
Tertlus gaudens
11. 62 15 Das Reklame-Drama
II. 63 1, Wahlkampfdämmerung
11. 64 4 Epilog
II. 67 19 Ein Erfolg
Tesar L. E.
XI. 298-99 34 Oskar Kokoschka, ein üespräch
Tömörköny Stefan
VI. 161 16 Der Kampf mit dem Soldaten
Tschechow Anton
XI. 279-80 16 Nachts, Übersetzung von Paul Barchan
Ullmann Ludwig
XL 296—97 39 Peter Altenberg, Bilderbogen des kleinen Lebens
Viertel Berthold
XI. 298-99 33 Den fünfzehnjährigen Selbstmördern
Wedeltind Frank
V. 143 26 Zwei Gedichte (Abschied, Trost)
VI. 167 15 Das Lied vom armen Kind
VI. 172 21 Konfession
VI. 175 22 Zwei Gedichte (Das Opfer, Revolution)
VII. 182 16, Dankschreiben an Karl Kraus, anläßlich der Auf-
führung der > Büchse der Pandora<
Vll. 182 23 Zwei Gedichte (Ave Melitta, Der Zoologe von Berlin)
VII. 183-84, 1, Totentanz, Drei Szenen
— 19 -
Wed«klnd Frank
VII. 197 13 Die Wetterfahne
VIII. 203 23 Zuschrift
VIII. 205 5 .Schriftsteller Ibsen und Baumeister Solneß«
IX. 227—28 1 Die sechzig Zeilen und die sieben Worte
IX. 229 19 Der Dampfhammer
Welninger Leopold
V. 150 28 Zuschrift zur Richtigstellung der Vorrede von Ȇber
die letzten Dinge« von Otto Weininger
VI. 169 6 Der Fall Otto Weininger
Wttininger Otto
V. 145 26, »Sucher und Priester« (Zur Charakterologie), aus
dem Manuskript des nachgelassenen Werkes Ȇber die letzten
Dinge«
Wengraf Richard
I. 4 22 »Jourbesuch«
Wilde Oskar
VII. 185 9 Ravenna, in freier Nachdichtung von Felix Dörmann
VII. 188 1 Sätze und Lehren zum Gebrauch für die Jugend
VII. 189 17 Noch einige Leitsätze
VII. 194 15 To Mrs. Langtry (englisch, aus dem Manuskript,
und deutsch)
IX. 239—40 12 Walter Pater, erste Übersetzung eines 1890
entstandenen Essays
IX. 246-47 3 O.Wildes letzte Veröffentlichung, an den Heraus-
geber des , Daily Chronicle' unter dem Titel »Wer heute froher
Laune bleiben will, lese dies nicht«, gezeichnet: Der Autor
der Ballade vom Zuchthaus zu Reading. Übersetzt von L. R.
X. 261 — 62 15 The harlots house, übersetzt von Felix Gräfe
X. 264—65 5 Ein chinesischer Philosoph, übersetzt von Leo Ronig
X. 267—68 1, Sonett, written in Holy Week at Genoa, über-
setzt von Felix Gräfe
X. 270 — 71 48 Vita nuova, übersetzt von Felix Gräfe
X. 272 — 73 5 Kunst und Moral, übersetzt von Leo Ron ig
Wilhelm Julius Dr.
VI. 197 10 Status cridae
20
Winterstein Alfred von
XI. 285—86 17 Der Stundenzeiger
Witteis Fritz Dr. (Avicenna)
Vlir. 218 14 Ladislaus Posthumus
VIII. 219—20 1 Das größte Verbrechen des Strafgesetzes (Das
Verbot der Fruchtabtreibung)
VIII. 221 11 Die drei Schwestern
VIII. 222 5 Das Stammbuch
IX. 225 10, Weibliche Ärzte
IX. 227—28 26 Die vermeyntliche Hexe
IX. 230-31 14 Das Kindweib
IX. 238 1 Die Lustseuche
IX. 244 11 Die Versuchung des jungen Prenberger
IX. 246-47 26, Weibliche Attentäter
IX. 248 9 Die Feministen
X. 250 16 Sexuelle Aufklärung
X. 254—55 14 Gottesurteil
Wolfgang Bruno
X. 264-65 40 Die Liebe zum Staate
X. 267—68 44 Für das Kind
(Erklärungen, Mitteilungen etc.)
Blümner Rudolf
XI. 290 24 Gegen den Präsidenten der Deutschen Bühnen-
genossenschaft, Herrn Nissen
Blümner Rudolf, Döblin Aifred, Friedländer S., Hardeltopf
Ferdinand, Kalischer Siegmund, Kurtz Rudolf, Lasker-Schüler
Else, Rubiner Ludwig, Schickele Rene, Spiro Mario,
Stössinger Felix
XI 294—95 39 Gegen die Eigentümer der Zeitschrift ,Das Theater'
Freund Fritz
VI. 169 17 Gegen Scherings Erklärung (in Nr. 167)
Landau S. R. Dr.
I. 20 8 Gegen die ,Zeit'
Roda
VI. 163 15 Gegen die ,Zeit'
Schering Emil
VI. 167 13 üegen den Wiener Verlag
VI. 169 18 üegen F. Freunds Antwort (in Nr. 169)
Waiden Herwarth
XI. 290 26 Gegen den Präsidenten der Deutschen Bühnen-
genossenschaft, Herrn Nissen
ii.
Zuschrift aus Ägypten
VII. 182 20 Über die Ägyptenreise des Wiener Männergesang-
vereins
Bin Arzt
II. 36 20 Die Inserate in den Fachzeitschriften
IV. 119 4 > Scharlach-Serum«
Ein Bürgerschuliehrer
IV. 121 7 »Die moderne Schulpflicht«
Ein Doktor
II. 49 17 Zur Titelfrage der Techniker
Ein Jüdischer Fabrikant aus Qalati
IX. 223—24 15 Zuschrift üt)er die .Neue Freie Presse* und
die rumänischen Judenverfolgungen
Ein Jüngerer österreichischer Gelehrter
III. 86 1, Offener Brief an den Orafen Hoensbroech
Ein Geschworener
IX. 236 23 Zuschrift über den Prozeß Krafft
Von hochgeschätzter Seite
I. 31 5 »Ruskin«
Ein Jurist
IV. 134 1, Richtermangel und Richterüberfluß
Vif. 199 7 Der rechtshistorische Wahnsinn
Eine Katholikin
III. 84 12 Über den Liguoristreit
Ein ehemaliger Lehrer des katholischen Schul-
vereins
VII. 195 7 Kind und Kirche
— 22 —
Ein Verteidiger der Matura
II. 45 18 Zuschrift
Ein Mediziner
l. 15 23 Von Pest und Presse
Ein Musiker
V. 137 14 Über Haberlandts Wolfbiographie
Ein alter del<orierter Offizier
VI. 170 12 Über die Kriegsschule
Zuschrift aus Peking
V. 155 3 Über die österreichische Landkonzession in China
Von einem Aufseher des Zuchthauses zu Reading
VIII. 204 1, Oskar Wilde im Gefängnis, aus dem englischen
Manuskript von Sherards Wilde-ßiographie
Ein Wiener Richter
I. 28 12 Zur Zuschrift Prof. Karl Adlers in Nr. 26
Ein Freund Österreichs am serbischen Hof
II. 38 1, »Goluchowski und Milan«
Ein Sozialpolitiker
IV. 132 4 Zuschrift
Ein Staatsbeamter
VII. 198 9 Status cridae
Brief eines k. k. Staatsbeamten
VIII. 201 1 Zur 200. Nummer der .Fackel'
Von einem Strafrechtslehrer
IV. 125 26, Gutachten über Erpressung
Ein Supplent
I. 11 10 »Realschule«
Ein Techniker
I. 27 8 >Vom zweiten Geleise«
Von einem Überlebenden
XI. 298—99 31 Schülerselbstmord
Zuschrift aus Universitätskrelsen
I. 16 21
in.
(Buchstabenchiffren)
O. A.
X. 253 23 Der literarische August
— 23 —
IX. 227-28 22 Ellen Key und Friedrich Nietzsche
E.
II. 37 5 >Hunguica<
J. F.
IV. 127 11 . Wirtschaf ts-Ehemoral«
IV. 134 5 »Kein Duell*
V. 139 13 Zuschrift über Hinterstoißers Gutachten über Hans
Georg Paetz
V. 140 13 Zu Benedikts Urteil in der .Wage' (Nr. 23, 1903) über
Hinterstoißers Gutachten über H. G. Paetz
V. 144 8 Über den Fall Dippold
V. 149 10, Kellner jungen
V. 151 6 Über Ärztefurcht
V. 154 12 Wucher
V. Fr.
II. 53 25 Zuschrift über den Qoethebund
Q.
I. 34 11 Über den Oerichtspsychiater Dr. Josef Hinterstoißer
H.
VII. 200 14 »Nordauc
L.
VI. 163 13 Über den Fall Brik— Emperger
V. L. Prof.
I. 32 12 Zuschrift über den Niedergang der Technik
AI. V. R.
I. 17 12 Über die Judenfrage, siehe Nr. 11
J. R.
I. 11 6 Zuschrift zum > Universitätsbummel«
L. R.
IX. 246 — 47 1, Vorwort zur Übersetzung von >Oskar Wildes
letzter Veröffentlichung*
H. V. 8.
I. 11 8 »Gymnasium«
M. S.
VII. 179 13 Zuschrift über Ellen Key und ihren Wiener Auf-
enthalt im Jahre 1905
i
-302 1 1910 XI. JAHR
DIE FACKEL
HERAUSGEBER:
KARL KRAUS
INHALT:
B SKI : Die Tat/ AUGUST S ERG: DerHunds-
tt/FELlX STOSSINGER: Carlos und Nicolas*/ ALEXANDER
• •'^^'"* ^^ ^, 7ERTH0LDVIERTEL:
^ oerg/ FELIX GRÄFE:
as Lied /ROBERT SCHEU: Karl Lueger / Selbstanzeige /
KARL KRAUS: Glossen
NACHDRUCK VBRBOTBN
PREIS DER DOPPELNUMMER 60 HELLER
ERSCHEINT LN ZWANGLOSER FOLGE
VERLAG: ,DIE FACKEL' WIEN — BERLIN
\ m/2, HINTERE ZOLL>i."-"~"\SSE 3 TELEPHON Nr/M87
:^LINER BUREAU: SE, KATHARI^.IEN STRASSE 5
Da der großen Nachfrage nach Karten zur
VORLESUNG KARL KRAUS
am' 3. Mai nicht vollständig entsproch i
werden konnte, dürfte eine Wiederholung
im Mai K J. stattfinden. Anmeldungen zum
Bezüge einer Einladung sind ehestens i
die Leitung des Akademischen Verbandes
für Literatur und Musik in Wien IX
MüHnergasse 22 zu richten. Karten zu
K 10. — , 5. — , 2. — und 1.—. Ein Teil des
R^inerträgnisses- dieser Vorlesung ist dem
erkrankten Dichter Peter. Alten berg ge-
widmet. Anmeldungen von Studenten
werden diesmal der ganzen Zahl nach
berücksichtigt.
Das Programm dürfte enthalten:
Heine und die Folgen
(Essay, unveröffentlicht)
Die chinesische Maue
DIEFA
Nr. 301—302 3. MAI 1910 XILJAHR
Die Unschuldige
Von Heinrich Mann
I
Im Toilettezimmer. Die alte Frau entkleidet die
junge.
»Was hast du? Deine Hand blutet?«
»In deinem Schleier stak eine Nadel.«
»Gib doch acht! Ich habe genug Blut gesehen.«
»Armes Kind, arme kleine Gabi. Du darfst ver-
langen, daß dieser dich glücklich macht.«
»Ich hätte es mir verdient.«
»Weißt du noch, wie ich traurig war, als ich dich
für — jenen schmückte, für deinen ersten Mann? Du
warst voll Vertrauen, ein unschuldiges Kind. Mir aber
ist's jetzt, als hätte ich Ahnungen gehabt.«
»Schweig, schweig doch!«
»Ich will sagen: Dieser wird dich glücklich
machen. Und hättest du ihn denn bekommen, wenn
der Andere nicht — auf solche Art geendet hätte?«
Sie zieht der Herrin den Rock herab, sie umarmt
ihre Knie.
»Gabi, kleines Herz, als ich dir in unserem alten
Kinderzimmer durch die Scheiben die Leute zeigte,
da wußten wir beide noch nicht, wie böse sie gegen
dich sein würden. Und doch hatte jener dich so sehr
gequält; es war dein Recht, daß er umkam.«
»Du sprichst, als ob ich's gewollt hätte.«
— 2 —
Sie stößt sie fort. Die alte Frau bekreuzigt sich.
»Gott behüte mich! Ich wäre ja so schlecht, wie
alle, die dich verfolgt und verleumdet haben ein Jahr,
ein ganzes Jahr lang. Er aber, der Doktor: o! ich
habe ihn kennen gelernt in der schlimmen Zeit, und
wenn er jetzt kommt — wie er schon ungeduldig sein
wird, daß ich ihn rufe ! — dann mußt du ihm danken,
hörst du? süß und fromm danken, wie wir, als du
klein warst, dem lieben Gott zusammen gedankt
haben. Denn der Herr ist ein Engel, immer hat er
an deine Unschuld geglaubt.«
»Muß man dazu ein Engel sein? Siehst du, wie
du schwatzest? Bring mir lieber ein Hauskleid! Nein,
ein dunkleres: das silbergraue.«
»Willst du ihn denn nicht dort drinnen erwarten?«
— und die alte Frau zeigt auf den geschlossenen
Vorhang.
»Ich glaube, daß wir vorher zu reden haben.«
Die Alte streichelt sie.
»Heut Nacht, sollt ich meinen, redet sich's besser
auf dem Kopfkissen. Du liebst ihn doch?«
»Ich möchte ihn sehr lieben.«
»So oft er aus deiner Zelle zu mir heraus kam
— denn ich stand auf der Straße — : o! so bewegt,
so stark sah ich nie einen Menschen. Augen hatte er,
daß noch ich alte Frau mich verliebt hätte. ,Ihre
Herrin ist unschuldig', sagte er. ,Ich weiß es; und ich
werde machen, daß alle es erfahren'.«
»Was tat er weiter?«
»Er nahm mich im Wagen mit, sah mir in die
Augen und verlangte, daß ich mich erinnern solle.«
Die junge Frau wendet sich ihr rasch zu.
»Und du?«
Die Alte bewegt vorsichtig den Kopf.
»Es versteht sich, daß ich nicht alles sagte.«
»Ich habe es bemerkt.«
»Kann man denn das? Ich werde mich hüten zu
sagen, daß du als kleines Mädchen der Katze einen
— 3
Strick um den Hals bandest und sie aus dem Fenster
hängtest.«
»Ja: man würde seine Schlüsse daraus ziehen.
Auch er. Vielleicht sogar du.«
»Gott bewahre! Eine Katze ist kein Mensch. Ein
Kind ist keine Frau. Deinen Mann umbringen! Du,
die ich habe zur Welt kofnmen sehen.«
»Was beweist das. Du hast vielleicht eine Mör-
derin zur Welt kommen gesehen.«
Die Alte spreizt die Hand. Sie macht sich zu
schaffen, sie spricht weiter, ohne die Herrin anzusehen.
»Er sagte: Monika, sobald die gnädige Frau
einen Salon betrat, beugte alles sich vor ihr: dafür
rächt man sich jetzt. Wenn ich sie in ihrem Gefängnis
besuche, schäme ich mich, als hätte ich selbst sie
hineingesetzt. Ich muß gut machen, was an ihr ver-
brochen wurde, ich muß ihr das Vertrauen zu den
Menschen wiedergeben.«
»Laß! Er sagte weiter: Ich habe zu arbeiten, zu
kämpfen. Eines Tages wird sie blendend dastehen.
Dann bin ich belohnt, dann bin ich groß. Sie braucht
einen Retter.«
»Woher weißt du — ?«
»Brauchte ich denn nicht einen Retter? Wo wäre
ich jetzt ohne ihn? Mein Kopf läge in einer Grube.«
»Wir alle verdanken ihm unsere Freiheit. Sieh!
vorhin, wie er an der Küche vorbeikam, hat sogar der
Anton ihm die Hände geküßt.«
»Und du meinst, auch ich müsse sie ihm küs-
sen . . . Vielleicht tue ichs; vielleicht geschehen ganz
andere Wunder: wüßte ich nur, ob er je gezweifelt
hat an meiner — Unschuld. Verbot er dir nicht, dies
und jenes dem Richter zu sagen? . . . Nun?«
»Das wohl. Aber sei ihm nicht böse!«
»Böse? Wenn du ahntest!«
Sie geht umher.
»Er hat also gezweifelt, zweifelt vielleicht noch.«
»Wer zweifelt heute noch.«
__ 4 —
»Niemand. Aber vielleicht er, der alle bekehrt hat!«
»Wie du dir heiß machst ! Sie haben dir zu übel
mitgespielt, dein Kopf hat noch lange damit zu tun;«
— und die Alte zieht sie an sich.
»Denn, Monika, sieh,« — und sie zeigt auf den
Boden, »die Spur im Blut meines — des Toten konnte
von einem Frauenkleid sein. Er hat in seiner Rede
bewiesen, daß es kein Kleid war, und die Geschwornen
haben ihm geglaubt. Aber er selbst?«
»Hör' mich an, Kind! Ich ging zu ihm, als ichs
erfuhr, das mit dem Kleid. Er war noch nicht bei dir
gewesen. Er war bleich, ging im Zimmer umher und
sagte: die Elenden! Er stützte den Kopf in die Hände
und sagte: Ich will nicht. Es soll nicht wahr sein.«
»Hieß das, daß er für mich gewesen wäre — «
Langsam, und sie beugt sich vor:
» — auch wenn ichs getan hätte?«
»Nein. Wie sollte er,« und die Alte weicht zu-
rück. Da die Herrin sich abkehrt: »Das heißt — . Aber
du hast es ja nicht getan.«
»Natürlich nicht.«
»Wenn man wüßte, wer es getan hat! Genug,
er hat dich freigebracht. Welche Rede! Die Leute
haben geweint, und ich selbst mußte weinen. Und
doch konnte ich wissen, daß du nicht so warst, wie
er sagte. Denn es ist wahr, daß auch du den Verstorbe-
nen gequält hast, du Kleine. Gleichviel: ihm ist Recht
geschehen, — da er dich nicht glücklich machte.«
»Du findest?«
»Der Doktor Hailand war nachher erschöpfter als
du selbst. Man sah, er hatte sich darangegeben, Blut
und Seele. Merk dir's wohl, Kind: das ist einer, der
dich liebt.«
Indeß sie ihr den Arm streichelt:
»Ich erkenne die, die dich lieben. Die andern
straft Gott, wir haben es gesehen.«
»Ah! du bist noch dieselbe«, — und die jungem
Frau küßt sie. »Du verstecktest mir das Spielzeug, dasJ
ich meinen Geschwistern gestohlen hatte. Geh', ich
habe dich lieb, alte Monika.*
»Du warst ein hartes Kind, es brauchte viel, bis
du liebtest. Hast du nicht den Ersten genommen, weil
alle deine Verwandten dagegen waren?«
»Ich nahm ihn, weil er ein einsamer berühmter
Mann war.«
»Und diesen ?«
»Weil er mich liebt, wie ich bin. Weil er nicht
fragt. Weil er alles von mir weiß -- und nichts.«
Sie setzt sich und richtet den Blick auf die Tür.
»Ich warte auf ihn, wie auf einen ganz Fremden
und wie auf mich selbst. Wir haben so Vieles hinter
uns, was keiner versteht. Es war grell und wirr, es
macht müde.«
Sie lehnt den Kopf zurück nnd schließt die
Augen. Leise:
»Ein Kuß im Dunkeln.«
Sie schrickt zusammen; es klopft.
II
Die alte Frau öffnet; sie flüstert:
«Die gnädige Frau erwartet den Herrn Doktor.«
Im Hinausschlüpfen greift sie nach seiner Hand
und küßt sie.
Er nähert sich leise seiner Frau.
»Gabriele!«
Sie hebt, immer die Augen geschlossen, ein wenig
den Kopf. Er beugt sich über sie, ihre Lippen treffen
sich, sie sinkt zurück.
»Sieh mich an, Gabriele!«
»Schließ lieber auch du die Augen! Wir sind in
Sicherheit, solange wir nicht sehen. Du bist jung und
du liebst mich. Du hast Mut und Leben auch für mich,
die ich schon den Mut verloren hatte und fast auch
das Leben.«
»Ich weiß, wie kühn das ist: dich alles ver-
— 6
schmerzen machen zu wollen, was du erlitten hast.
Aber ich will es.«
»Du mußt mich mehr lieben, als alle anderen
Menschen einander lieben. Wir haben die Liebe, um
das Leben zu vergessen. Ich weiß mehr und habe
mehr zu vergessen.«
»Ich liebe dich unbedingt und für immer.«
Sie öffnet die Augen, sie hebt sich an seinen
Schultern hinauf.
»Du sagst es? Wenn es wahr ist, hast du mich
zum zweitenmal befreit.«
»Du hast mir Genie gegeben. Genie ist die
höchste Männlichkeit.«
»Ich bin dir nicht unheimlich?«
Da er abwehrt:
»Denn ich bin es mir selbst. Das Urteil mag
gesprochen sein: ich bleibe die Witwe des Ermor-
deten, — dessen Mörder niemand kennt.«
Über sich gebeugt, dumpf:
»Wo habe ich das Trauerjahr verbracht?«
»Ich bitte dich,« — er streckt die Arme nach
ihr aus. Sie sieht ihn an und schüttelt den Kopf.
»Das macht kein Triumph ungeschehen. Meinst
du, ich sehe nicht das Erschrecken der Blicke? Sie
wollen immer wieder zu mir eindringen, wie durch
ein vergittertes Fenster, aus dem eine beklemmende
Luft strömt. Heute abend flüsterten unsere Gäste mit
einander, als wunderten sie sich, daß sie zu einer
Hochzeit geladen seien und nicht zu einer Hinrichtung.«
»Gabriele! Meine Frau!«
Aber sie springt auf.
»Wundere ich mich nicht selbst? Ah! du bist
kühn, weil du es unternimmst, mich zu heilen von
der Tortur der Untersuchung, der öffentlichen Schande
der Verhandlung. Wer aber müßtest du sein, um jene
anderen Bilder, jene geheimen, von diesen Augen
wegzuwischen.«
7 —
Und sie verbirgt sie an seiner Brust. Flüsternd:
»Noch jede Nacht sehe ich ihn.«
»Deinen — den Toten?«
»Nein . . . Auch ihn. Er liegt« — sie bewegt die
Hand nach der zweiten Tür, im Schatten, »dorthinten.«
»Dies ist nicht das Haus. Quäle dich nicht. Du
bist bei mir.«
»Er liegt dorthinten, im Zimmer jenseits des
Ganges, beim Fenster. Der — Andere beugt sich
über ihn.«
»Auf der Schwelle. Er lag auf der Schwelle.«
»Erst später. Als er getroffen wurde, fiel er beim
Fenster nieder.«
»Woher weißt du — ? Es ist anders festgestellt.
Du hast doch geschlafen.«
»Ich schlief nicht. Ich hörte ihn rufen. Ich stand
auf — «
Vorgebeugt nach der Tür:
» — ich schlich in den Gang, ich kroch in den
Wandschrank. Er schrie und fiel, ich hörte es. Dann
kam der Andere vorbei.«
»Du hast ihn gesehen? . . Ich verliere den Kopf.
Du hast geschlafen, du weißt nichts.«
»Er lief nicht, und er schlich nicht. Er hatte
einen festen Schritt, wie ein junger Mann.«
»Du träumst, wach' auf!«
Er rüttelt sie; sie reißt sich los.
»Ich glaubte sogar — «
»Was man in Träumen glaubt.«
»Er ging in mein Zimmer, hierher. Sollte ich
sterben? Oder wollte er — «
»Wie du mich ansiehst!«
»Indeß drinnen mein Mann noch röchelte.«
Er weicht zurück.
»Sieh mich nicht länger so an. Was glaubst du?«
Pause.
»Als er fort war, ging ich — dort hinüber und
betrachtete die Leiche. Sie lag jetzt auf der Schwelle,
— 8
wo ihr sie gefunden habt. Ich verkroch mich ins Bett.«
»Und du hast nichts gesagt!«
»Es würde mich noch verdächtiger gemacht haben.«
»Mir? Du hast kein Vertrauen gehabt.«
»Du siehst, daß ich es habe, nun wir allein sind.
Du liebst mich, du wirst mich schützen,« — die Hände
flehentlich erhoben. »Alles das ist nicht vorüber. Du
mußt wachen, wenn ich schlafe.«
Er greift sich an die Stirn.
»Wovon sprechen wir, mein Gott. Dein Mann
lag am Fenster? Es war kein Blut da.«
»Es ist erst später geflossen, auf der Schwelle.
Er ist nicht auf die Kniee gefallen, ihr habt Alles falsch
erdacht. Er ist hingekrochen.«
»Du weißt entsetzlich viel.«
Er ringt vor ihr die Hände. Sie geht rückwärts
bis in den Winkel. Im Bogen um ihn, tastet sie an
der Wand hin, zur Tür. Unterdrückt:
»Komm! Ich will dir's zeigen.«
Er stürzt vor. Mit einem Ruck hält er an.
»Was ist mit uns? Wir sind in einem neuen
Hause, in unserem Hause. Die Dinge von denen du
sprichst, sind nicht hier geschehen, sie haben hier keine
Spuren hinterlassen und keine Geister.«
Auf sie zu, eindringlich:
»Hast du vergessen, wozu du gekommen bist?
Mir zu gehören! Nicht dem Vergangenen: mir!«
»Vergangen?« — sie entzieht sich ihm. »Du
wirst ihn sehen.«
»Wen?« — und er flüstert wie sie.
»Den Mörder. Du hast ihn noch nicht gesehen?«
Sie hält seinen Blick fest. Er starrt in ihre Augen,
endlich nickt sie stark. Er keucht.
»Nein ! «
»Ja«, — und sie wendet sich ab. Er taumelt,
greift nach einem Stuhl. Er preßt sich die Brust, er
ringt nach Stimme.
— 9 —
»Du? Du bist es gewesen? Gabriele! Mitleid! . .
Vorhin, einen Augenblick, glaubte ich, Du beschuldigtest
mich. Was willst du sagen? Eins ist Wahnsinn wie
das Andere. Liebte ich dich nicht, ich würde lachen.«
Nachdem er umsonst gewartet hat:
»Du treibst Spott, du willst mich verwirren, ich
lache.«
Er setzt sich — und springt wieder auf.
»Ich glaube dir nicht. Du bist krank. Du lügst,
ich weiß nicht warum. Ich will nichts wissen.«
' Schreiend:
»Du bist unschuldig!«
Sie sieht ihn an.
»Leiser! Wir sind verloren, wenn man uns hört.«
Er erschrickt. Er lehnt drüben, halb abgewendet,
die Stirn in die Hand, indes sie vor der Tür im Schatten
hin und hergeht und spricht.
»Wem schulde ich Rechenschaft. Man sei froh,
wenn ich keine fordere. Ein Leben wie meins darf
nicht geschaffen werden, es ist — ja, es ist die Wider-
legung jedes andern . . . Als Mädchen von vierzehn
Jahren schon erfuhr ich, was noch Greise nicht zu
sehen brauchen: unsere Zwecklosigkeit und unsere
Unverbesserlichkeit. Jede Lüge, jeder Schmutz des
Gefühls hinterließ mir ein Mal für immer, einen blut-
unterlaufenen Eindruck. Ich hatte die Gabe, nackte
Seelen zu sehen und manchen Tag saßen mir am
Tisch Fratzen gegenüber, vor denen es nur Davon-
laufen gab. Schon damals war ich eine Fremde, und
die Andern sahen es, wie heute unsere Gäste. Keine
Tat war nötig.«
Er schluchzt auf.
»Gabriele! Mein Leben, um deine Tat zurück-
zukaufen!«
»Das Schlimmste aber war der Spiegel. Ich war
hassenswerter als Alle; denn zu ihren Lastern hatte
ich auch noch das, daß ich sie durchschaute ... Ich
— 10 —
hätte mich getötet, ohne meine Träume: die Träume
von gütigeren, geistigeren Menschen, die ich lieben
konnte. Es mußte sie geben, in der Ferne oder in der
Zukunft. Desto sehnsüchtiger liebte ich die unbekannte
Menschheit, je trostloser die Menschen sich mir ver-
rieten. Ich gewann Mitleid mit ihnen: so mächtig
machten mich meine Träume. Ich war erwachsen und
schön geworden. Damals fand ich ihn.«
Sie lehnt sich, einen Augenblick, weich gegen
die Tür, die Hand am Griff, als wollte sie eintreten.
»Er war ein großer Arzt, er rettete Hunderte, ui^d
doch kannte er ihre Krankheiten, ihre Häßlichkeiten.
Er konnte, was ich gewollt hätte: er rettete sie.«
Sie kehrt sich von der Tür ab.
tMußte er nicht fühlen wie ich? Er war einsam
durch sein Wissen, er war gezeichnet vom Ruhm.
Mußten wir beiden Fremden uns nicht vertrauen?«
Sie stürzt in die Mitte des Zimmers, sie schüttelt
die gespreizte Hand.
»Statt dessen: bewundere die sinnlose Grausam-
keit der Dinge. Er wollte nicht verstehen, sich nicht
und mich nicht. Ich weiß heute, daß er Furcht hatte;
er trumpfte auf das unbewußte und schlechte Leben,
er wälzte sich darin, wie ein entflohener Sträfling. Für
mich, die ich ihn an die Wahrheit erinnerte, faßte er
Haß. Er verleugnete mich. Aus der Gefährtin, die zu ihm
kam, machte er ein Geschlechtstier. Hörst du?«
Er senkt den Kopf.
»Ich erkenne den Weg, den wir gegangen sind.«
Aber er schüttelt sich.
»Nein! Nicht diesen!«
Sie tut einen Schritt auf ihn zu.
»Doch! Als du mich kennen lerntest, war ich
unterwühlt von Begierden. Ekel und Unersättlichkeit
warfen mich umher. Den, der mich geliebt hätte, ich
hätte ihn in einer Umarmung still machen wollen, um
mein Herz und diese Welt still zu machen. Wenn ihr
— 11 —
mich in Gesellschaft im Glanz meiner Verzweiflung
saht, konnte keiner von der Verbrecherin wissen, die
hinter dem Sprechzimmer ihres Mannes, bewacht
von seiner Eifersucht wie ein gefährliches Tier, die
Qual ihrer Bosheit erlitt. Keiner: nur du.«
Er streckt ihr die Hände hin.
»Ich liebte dich, um dich zu retten.«
»Du wußtest, daß ich ihn haßte, und wie ich dich
begehrte. Ich konnte ihn nicht betrügen, ich konnte
dich nicht haben. Wir sind Mitschuldige, denn wir
liebten uns.«
Er wirft sich zurück.
»Nicht so. Ich bin kein Verbrecher.«
»Wenn du mich retten, mein menschlich Teil
retten wolltest, dann hattest du meine Gedanken.«
Er hebt die Arme, er wirft sich umher.
»Ich habe nichts gemein mit deiner Tat!«
»Du hast seinen Tod nicht gewünscht?«
»Was beweist das!«
Sie spricht leise und herrisch.
»Warum hast du bis nach meiner Freisprechung
verschwiegen, daß wir uns liebten?«
»Das war — «
Sie nickt.
»Das war nötig, um Justiz und Öffentlichkeit zu
betrügen. Du hast sie noch anders betrogen. Du hast
Umstände unterschlagen oder gefälscht. Das Kleid, das
durch sein Blut geschleift ist, war beim Färber, und du
hast glauben gemacht, ich hätte schon vor seinem Tode
der alten Monika den Auftrag erteilt, es hinzutragen.
Du hast dich mit ihr verabredet. Wie mühselig du
deinen eigenen Verdacht unterdrückt hast!... Ah! da
erschrickst du. Die Dinge kehren dir zurück, die du
in der hohen Rolle eines Retters gern vergessen hättest.
Geh! keinen Selbstbetrug! Wir haben Vieles hinter uns,
was uns immer zusammenhalten wird. Verleugne nicht
auch du mich, wie Jener tat.«
12
Er stöhnt. Sie tritt nahe an ihn hin, sie spricht
ihm ins Gesicht, weicher und süßer.
»Wovor hast du Furcht. Niemand weiß, daß wir uns
bis zum Verbrechen geliebt haben. Vielleicht weiß der
Tote es; das würde unsere Lust würzen. Ich wünschte,
daß es ein Fortleben gibt, damit er um uns weiß.«
»Du bist fürchterlich. Du vernichtest mich.«
»Ich mache dich leben.«
Sie halten sich bei den Armen gepackt, als
wollten sie ringen. Fast berühren sich ihre Gesichter. Er
sagt, die Zähne geschlossen:
»Die glühende Blässe deiner Haut spiegelt ent-
setzliche Dinge.«
»Nur deine Begierde.«
»Deine tiefen Augen locken und verschlingen.«
»Nur dein Laster.«
»Dein Mund — «
„Küsse ihn doch! Für deinen Kuß habe ich es
getan!«
Ihre Lippen stoßen hart zusammen und wühlen
sich ineinander.
Er reißt sich los.
»So küssen Mörder! Ich bin wahnsinnig!«
»Schmecke ich nach Blut?«
Da er sie nach dem Vorhang drängt:
»Wir haben uns wohl nichts mehr zu sagen?
Jetzt heißt es also genießen.«
Sie schlägt vor ihm zu. Den Kopf im Vorhang:
»Denke an mich, bis ich dich rufe. Du hast doch
den Mut, an mich zu denken?«
Und sie verschwindet.
III
Er steht reglos, das Gesicht nach dem Vorhang.
Allmählich weicht er zur Seite; die Hände vor die
Augen geschlagen, taumelt er, neben dem Vorhang,
gegen die Wand.
— \6
Ihre Stimme:
»Du bist so still. Aber ich weiß, was du tust:
Du weinst.«
Er zuckt auf.
»Du hältst mich für schwach? Ich bin es nicht:
ich trage deine Tat Ich bin imstande, dich zu wollen
mitsamt deiner Tat.«
Er schlägt sich auf die Brust.
»Da sieh! ich liebe dich noch jetzt. Umso mehr
liebe ich dich, umso mehr!«
Da erstarrt er: hinter dem Vorhang lacht sie
gellend.
»Held, der du bist!«
Sie tritt hervor.
»Liebtest du mich nicht für meine Unschuld?
Aber auch die Schuld hat ihren Reiz.«
Bei seiner Berührung:
»Ach, fort! Du ekelst mich, mit deiner heroischen
Sinnlichkeit.«
»Ich? Du wagst? Du, die mich zu Grunde ge-
richtet hat?«
Sie sieht ihn an.
»Nicht ich dich . . . Dein Opfer ist unnütz, mein
Held; denn Alles war nur Scherz.«
»Das ist nicht wahr!«
«Kein freundlicher Scherz; aber du mußt ihn mir
nachsehen: man hat mich, seit einem Jahr, an das
Leben im Grausen gewöhnt . . . Nun ? Ich bin noch
deine unschuldige Frau, du bist noch mein Retter.
Alles ist, wie du es dir gewünscht hast.«
»Du machst dich lustig?«
»So den Kopf zu verlieren! Und du hast in der
Verhandlung jeden Widerspruch vernichtet. Du weißt,
daß nicht mein Kleid durch sein Blut geschleift ist,
sondern der Vorhang, den er im Todeskampf ergriffen
hat. Würdest du vor Gericht die Aussage hingenommen
haben, daß er am Fenster unter den Messerstichen
14
zusammengebrochen sei, aber erst auf der Schwelle
geblutet habe?«
Er breitet die Hände aus, er schüttelt den Kopf.
»Wer beweist jetzt noch deine Unschuld.«
»Du selbst hast die Spuren von der Hand eines
Unbekannten an den Möbeln nachgewiesen. Du hast
bewiesen, daß ich in meinem Zimmer von draußen
eingeschlossen war, wie jede Nacht. Hat ein Mitschul-
diger mich eingeschlossen ? Aber das wüßtest du, denn
du wärst es selbst.«
»Ich habe dich vorhin gesehen. Ich habe dich —
geküßt. Du wirst mir nicht einreden, daß du gespielt
hast.«
»Ich habe gespielt. Ich habe dein Heldentum
erprobt.«
»Dann sage ich: ein unwürdiges Spiel!« — und
er stößt einen Stuhl auf den Boden. »Ich durfte besseren
Dank erwarten.«
»Vielleicht fühlte ich das — zu sehr.«
»Du hast mich in deinem Leben als Meister
gesehen: das verzeiht ihr nicht. Ah! es ist die Rache
des Weibes. Wir dürfen nicht so klar, nicht so hoch
sein; man benützt den elenden Kniff des Geschlechts,
uns herabzuziehen und zu trüben.«
Er geht umher, die Hand am Halse und gefolgt
von ihren Augen. Mit gewaltsamer Ruhe:
»Was geschehen ist, tut mir leid für dich. Du,
die ich über alle stellte, — und auch du bist wieder
nur das Weibchen, das die Widerstandskraft des Mannes
auf die Probe stellt: bist die Schauspielerin. Wie ver-
rucht du gespielt hast!«
»Ich habe wohl gespielt. . . Aber bin ich so
sicher, daß die Dinge, die du wirklich nennest, kein
Spiel waren? Der Mord, und was dann mit mir ge-
schehen ist? Wozu das alles? Warum sollte es ernst
sein? Ich war immer so sehr allein und anders, daß
ich meine Schicksale und Handlungen, meine Gefühle
selbst, alles im Grunde für ein folgenloses Spiel hielt.
15
Ich weiß nicht, wie ihr lebt. Ich, ich sehe keinen Plan
im Leben, noch im Tod. Ich fürchte beide, und spiele
sie beide.«
Er hält an.
»Es ist wahr, du hast zu viel gelitten. Meine
Eigenliebe muß schweigen. Ich muß Mitleid haben mit
dir. Du verdienst Nachsicht.«
»Nicht wahr? Du findest die Überlegenheit des
Retters wieder. Ich bin dein weißes kleines Mädchen.
Perseus und Andromeda. O reines Glück! Aber ich
muß dir sagen, daß ich eure Unschuld nicht mehr
begreife. Ich habe ein Jahr lang im Gefängnis gelebt,
eingeschlossen mit den Bildern des Mordes.«
»Ich weiß es; und ich trage vor dir die Schuld
aller.«
»Ich war die Mörderin. Ein Jahr lang hat jeder
menschliche Blick mir's gesagt, jedes Wort des Richters,
deine eigenen Kunstgriffe zu meiner Rettung. Tag und
Nacht habe ich die Dinge gesehen, die geschehen waren;
und wie ihr es wolltet, ging meine eigene Gestalt darin
umher, mein eigener Arm hob sich. Da — «
Sie beugt sich vor, sie zeigt auf den Boden. Sie
rafft das Kleid zusammen und weicht zurück. Umher-
blickend :
»Ich — sage nicht, daß ich's nicht getan habe.*
Er eilt hin, er nimmt ihre Hand zwischen seine.
»Gabriele! Besinne dich! Wie du krank bist!
Wie ich dich lieben muß!«
»Sage das nicht«, und ihr Blick streift ihn scheu,
sie zieht sich frostig zusammen. Es ist nicht sicher,
wann ich dir die Wahrheit gesagt habe.«
»Nicht sicher?«
Er lacht.
Wenn du's nicht weißt, laß dir's von mir sagen:
Du bist unschuldig.«
»Du liebst mich. Auch meine alte Monika liebt
mich, und sie ist überzeugt, daß ich es getan habe.«
Sein Lachen bricht ab. Er läßt sie los.
— 16 —
»Sollen wir denn wieder das Ufer verlieren ? Laß
mich denken. Du hast es nicht getan . . . Hast du es
getan?«
»Ich weiß es nicht«.
Er umfaßt seine Schläfen.
»Du weißt es nicht. Du entrinnst mir wie Sand.
Du warst meine feste Erde, mein Selbstvertrauen.«
»Ich hatte dir Genie gegeben, die höchste
Männlichkeit.«
»Ach! das Wesen, in das wir unsere Seele senken.
Die Frau! Die Frau! Wir rechnen mit ihr, wir bauen
auf sie, fürs Leben, über das Leben hinaus: — und
wir kennen sie nicht!«
Er läßt die Arme sinken. Müde:
»Du hast erreicht in dieser Stunde, daß ich mich
selbst nicht mehr kenne. Du hast mich mehr erleben
lassen, als ich auf Erden für möglich hielt. In einer
Stunde hast du mich alt gemacht.«
»So weißt du nun, wie denen zu Mut ist, die mit
der Seele leben. Ich, siehst du, habe an Menschen Alles
erfahren, was sie zu geben haben, und vom Erkennen
und Fühlen bin ich so abgenützt« — sie betastet sich
— »als sei die ganze Haut mir wund gerieben . . .
Dennoch aber bleibt diese qualenreiche Kraft, die Seele
auf Berge zu treiben und in Abgründe . . . Man ist
über Mondgebirge gewandert und durch Sterne, die
noch brennen. Was soll ich dir sagen! Man hat so
Ungeheures vor Augen, daß es Nacht scheint und daß
die Wirklichkeit nicht den Wert hat von Träumen. Und
ihr fragt nach meiner Unschuld.«
»Ich weiß, daß du keine Frau bist wie andere.«
»Ich bin eine Frau wie andere.«
Sie schlägt sich auf die Brust.
»Seid doch Menschen!«
Sie mißt ihn lange.
»Du wolltest mich lieben, weil meine Unschuld
dein Werk war.«
17
»Ich gebe zu, daß ich selbstsüchtig war. Aber
wer die Selbstsucht einer Liebe nicht ertragt, ist ihre
Aufopferung nicht wert.«
»Möglich. Möglich;« — und sie zieht sich bis
drüben in den Winkel zurück.
»Und ihr meint mit der Unschuld, für die ihr mich
liebt, eine Tat, die nicht getan ward: Jener dort — «
Sie wendet sich halb nach der Tür im Schatten.
* — eine Untreue, du einen Mord. Ich aber war
unschuldig, weil ich dich liebte: und du hattest ein
Mörder sein können, oder ein Heiland . . . Ach! bleibe
dort, laß mich allein. Du hast mich schon allein ge-
lassen.«
Sie hüllt sich in die Falten des Vorhanges, ihre
Hand tastet rückwärts nach der Wand. Mit verlorenem
Blick :
»Ich hatte dich so sehr geliebt. Meine Liebe
wäre einfach gewesen, von der Einfachheit der Viel-
erfahrenen, die das Leben hinter sich lassen, um im
Dunkeln zu lieben, ohne Fragen, mit geschlossenen
Augen, weder mit ihrer Tugend noch mit ihrem Laster,
jenseits der Qual der Seelen, die werben, kämpfen,
einander enthüllen : ganz offen und schlicht mitten im
Geheimnis, wie Tiere oder wie Engel.«
»Gabriele!«
Er stürzt vor sie hin. Sie fährt mit der Hand in
sein Haar. Heißer:
»Und ohne Grenzen I Wie die Umarmungen die-
ser Männer, dieser Frauen matt und unvollkommen
sind! Wie weit bleibt zurück hinter mir, was sie Leben
nennen! Man muß so viel von den Menschen erlitten
haben wie ich, um ihrer Einen so lieben zu können,
wie ich.f
»Gabriele! Warum habe ich dich verloren?«
»Du: du weißt nicht, was ich von dir erträumt
habe, wen ich in dir sah. Du beherrschtest den Pro-
zeß, und du schienst ihn zu verachten. Du sahst aus,
als sagtest du mir: Geduld! Bald lassen wir dieses
18
kriechende Durcheinander hinter uns. unter uns. Was
ist uns Schuld und Unschuld. Über der Welt, allein
und stumm, befreit von irdischen Zufällen und ganz
einander sicher, werden wir uns lieben. Sagtest du
das nicht?« — und sie nimmt seinen Kopf zwischen
ihre Hände, um ihm in die Augen zu blicken. — Sie
läßt ihn los und wendet sich halb weg.
»Ich glaubte wohl nicht sehr fest, daß du mir
folgen würdest; ich war schon einmal enttäuscht. Aber
ich erlaubte mir Hoffnung, berauschende Hoffnung.
Noch einmal öffnete ich mein Fenster, das vergittert
war, den Sternen.«
Er verläßt sie und setzt sich abgewendet. Sie
sagt, die Augen geschlossen:
»Ein Unbekannter, und ganz ich selbst. Das
Wesen, das alles von mir weiß und nichts.«
Er faßt sich an die Stirn.
»Bin ich denn schuldig? Ich habe dich geliebt,
wie ein Mann eine Frau liebt. Ich habe in dir alle
meine Instinkte befriedigt gefunden. Was bleibt mir
nun.«
Sie geht rasch zu ihm. Über seine Schulter:
»Dir bleibt alles, was du zu nehmen geschaffen
bist. Auch ich bin für nichts anderes geschaffen. Das
Gefängnis hat mir ungesunde Träumereien gemacht.
Ich habe dich gequält und ermüdet. Verzeih' mir.«
Er greift nach ihr.
»Nicht wahr, wir können uns lieben?«
»Gewiß: wie Menschen einander lieben. Man
gewährt sich Vertrauen, bis zu einem gewissen Grade;
man versteht sich, vermittelst Nachsicht; man ist eins,
unter Vorbehalt.«
»Liebst du mich?«
Sie kniet vor ihn hin. Er umklammert sie fester.
»Liebst du mich?«
Sie beugt die Stirn unter seine Lippen.
19
Die Tat*)
Von Stanislaw Przybyszewski
Es war gerade Weihnachten.
— Ja, Weihnachten, dachte Czerkaski in seinem
schweren Fiebertraume.
Das Eine nur wußte er: ein Kind müßte er an
diesem Tage glücklich machen. Ganz gewiß glücklich
^- an einem solchen Tage . . .
Ich muß jetzt versuchen, für ein Kind eine Mutter
zu sein, das wäre eigentlich der höchste Gipfel einer
wirklich großen männlichen Tat, dachte er plötzlich
mit einem stillen, ehrfurchtsvollen Triumph.
Aber wo sollte er jetzt gerade das Kind aufsuchen,
das er glücklich machen wollte und mußte?
Gleichwohl sprang er auf und ging frei und
leicht, als hätte ihn jemand von schweren Fesseln
befreit, die sich bereits in sein Fleisch einfraßen.
Er ging weit, weit vor sich hin in die Vorstadt
hinaus, dicht an den Hafen, wo sich sonst niemand
in so später Stunde hinauswagte.
Wie lange er so herumirrte, wußte er nicht, es
mochten wohl ein paar Stunden vergangen sein. Ab
und zu setzte er sich auf eine nasse schmutzige Bank
in irgend einer armseligen Parkanlage, er konnte sich
in diesem Hundewetter eine Lungenentzündung holen,
aber was ging ihn das heute an.
An seine Ohren drang ein wüster trunkener
Gesang taumelnder Matrosen, ab und zu sah er
scheußliche, elende Prostituierte vorüberhuschen, ver-
tiert im Elend und Schmutz — wie es ihm vorkam.
Eine blieb vor ihm stehen.
— Für zehn Kopeken — willst du? Und sie
spuckte ihm in die Augen.
*) Ein Fragment aus dem Manuskript eines Romans: >Das
jüngste Qericht«.
— 20
— Hier hast du einen Rubel ! Und mit einer
seltsamen Demut wischte er sich sein Gesicht ab.
Und jetzt setzte sie sich neben ihn mit einem
bösen, verächtlichen Lachen.
— Vielleicht soll ich dich noch einmal anspucken?
— Wofür?
— Weil du gut bist.
Er lächelte.
— Also dafür spuckt man einem ins Gesicht?
— Ja, eben dafür — und nur deswegen,
— Hier hast du noch fünf Rubel und laß mich
in Ruh'.
Er gab ihr ein Goldstück.
— Ich gebe dir den Rest zurück, lachte sie
höhnisch — sie spuckte ihm wieder ins Gesicht und
verschwand — in der Ferne hörte er ein irres
Lachen — nein ! ein wüstes Gewieher, wie von einer
trunkenen Stute.
Nun, sie hatte Recht, dachte er, ganz in sich
hineingekrochen, für eine so elende und billige Güte
war der Lohn hoch genug.
Und mühsam schleppte er sich weiter.
Jemand vertrat ihm den Weg.
Qui vive? lachte Czerkaski heiser.
Ein baumlanger, schwarzer, verwilderter Geselle
— ganz wie ein wüster Charakter aus einem Schauer-
drama: sein einziger Faustschlag hätte genügt, um
ihn, der doch nur deswegen hinausging, um ein Kind
glückselig zu machen, in das Jenseits zu befördern,
aber sonst sah der Fremde sympathisch aus, und er
hatte keine Angst.
— Was willst du? fragte er ihn.
— Glaubst du, daß ich dich berauben will? Du
irrst dich.
— Also was?
— Ich habe meine Mutter totgeschlagen.
— Warum?
— Damit sie sich nicht quälen sollte.
- 21 -
— Nichts weiter?
— Eine Schwester habe ich totgeschlagen und
noch die zweite, damit sie nicht auf der Straße ver-
sauen. — Kannst du mir jetzt deine Hand reichen?
kannst du es?
Czerkaski drückte heiß und inbrünstig die Hand
des Fremden.
— Du hast an deiner Mutter und an deinen
Schwestern wohlgetan ... Du bist tatsächlich ein edler
und feiner Mensch . . . Noch mehr : Du bist ein Wohl-
täter in großem Stil — das ist wirklich Güte . . jede
andere verdient kaum, daß man sie anspeit, ist
höchstens der Hautkitzel, mit dem ein paar elende
Flöhe den Menschen belustigen. Ja, du bist ein edler
Mensch.
Und der baumlange schwarze Kerl fing an zu
strahlen — er wippte auf seinen langen Beinen, kroch
wieder zusammen, umfing Czerkaskis Knie, faßte seine
Hand, küßte sie, daß sie ganz von seinen heißen
Tränen benetzt war.
Czerkaski entriß ihm mit Widerwillen und Ekel
sejne Hand.
— Hinweg, du unreines Gewissen, das du Ver-
brechen begehst und hinterher mit Winseln um
Verzeihung bettelst... Anders — ganz anders muß
man es machen.
Weg mit dir!
Und plötzlich schrumpfte der Baumlange zu
einem Zwerg zusammen, hüpfte vor ihm hin und her,
streckte die Zunge aus, machte eine lange Nase, kroch
ihm zwischen die Beine und wälzte ihn um, dann
sprang er ihm hinterlistig auf den Nacken und stieß
sein Gesicht in den Kot.
Endlich gelang es Czerkaski mit unmenschlicher
Anstrengung, ihn von sich abzuwälzen, und er raffte
sich auf.
Eine Wut kochte in ihm, daß er, wenn jetzt
— 22 —
tausend Wurfspieße auf ihn gerichtet gewesen wären,
sich unbedingt auf sie geworfen hätte.
Er sah sich ringsum, fühlte, daß ihm der Schaum
vor den Mund trat: vor ihm, hinter ihm tanzte und
hüpfte irgend ein winziges, höllisches, boshaftes
Monstrum, er wollte es fassen, ihm das Genick brechen,
es an den Beinen fassen, es auseinanderreißen. —
Plötzlich — mit einem Ruck kam er zur Besinnung.
In seiner Hand hielt er eine andere — ein
klein-kleines Händchen von einem jungen kaum zwölf-
jährigen Mädchen, das ihm kokett und vertraulich
zulächelte.
Er ließ ihre Hand los — tief verwundert.
— Wer bist du? fragte er sie.
— Kommen Sie nur da an die Laterne, dann
können sie mich besser anschauen.
Er ging neugierig ein paar Schritte weiter.
Sie blieb in dem Schein der Laterne stehen und
sah ihn mit dem zynischen, herausfordernden Blick
einer schamlosen, heruntergekommenen Dirne an.
— Um Gotteswillen, wie ist es nur möglich? Du
bist ja doch noch ein Kind!
— O, da irren Sie sich sehr — ich könnte manche
in ihrem Metier altergraute und verfaulte Hure belehren
— keine versteht das Handwerk so gut, wie ich!
Für die billige Güte spuckt man den Menschen
ins Gesicht — und mit Recht... er lächelte — nun
probieren wir einmal die große und schwierige Güte.
— Nun, dann wollen wir einmal deine Kunst-
fertigkeit versuchen, grinste er — komm mit!
— Ein wenig wirst du warten müssen — raunte
sie ihm zu und kitzelte ihn an der Halsader. Zuerst
werde ich ein paar amüsante Lieder absingen müssen.
Und dann: ganz zu deinen Diensten, denn du bist
ein guter Kerl. Ich werde dir ein Vergnügen bereiten,
daß du dich dein Lebtag lang an mich erinnern sollst.
Sie führte ihn in eine schmutzige, stinkende
Hafenkneipe hin, rückte ihm einen Stuhl in die Ecke.
23
— Hier wirst du auf mich warten.
Sie verschwand.
Er setzte sich hin und sah sich um.
An zehn, zwölf Tischen saßen betrunkene Matrosen,
Zuhälter, Einbrecher, Messerhelden — er zählte sie
ach alle gewissenhaft auf — Mädchenhändler, Apachen.
Liebe und Halunken aller Art, er fühlte sich in dieser
Gesellschaft gut und behaglich.
Noch nie hatte er sich so wohl gefühlt.
Das sind doch einmal wirkliche Menschen und
noch dazu die einzig guten Menschen. Von einer ganz
andenn Art, wie jener langweilige sentimentale Kerl,
der un den Handdruck eines ehrlichen Menschen un-
längst gebettelt hat, um die Sünde einer billigen Güte
von sica abzuwischen — diese da — die brauchen es
nicht, d'e haben es nicht nötig, sich in boshafte,
monströse Zwerge zu verwandeln, die einen totplagen,
wenn man ihnen den Sündennachlaß verweigert.
Diese da stehlen und morden so mir nichts dir
nichts — en passant — drehen sich nicht einmal um
— und wenn sie das Galgenbrett betreten müssen,
pfeifen sie frohgemut lustige Melodeien.
Er war ganz entzückt von dieser prachtvollen
und wirklich guten Gesellschaft.
Nun sah er gradeaus vor sich hin. Der Vorhang:
ein elender Schmutzlappen, ging auf.
Er harrte nun neugierig der Dinge, die da
kommen sollten.
Auf der Bühne — eine so herrliche hatte er nie
gesehen — sie war aus ein paar schmutzigen Brettern
zusammengezimmert — erschien das Mädchen, das
ihn hierhergeführt hatte, und hinter ihr eine alte Hexe
mit einer Guitarre: das wird wohl ihre Mutter sein,
dachte er feinsinnig.
Das Mädchen fing an zu singen.
Er horchte eine Weile hin und kam in Ekstase.
Nie noch hatte er etwas so Unflätiges, Rohes, so
unerhört Zynisches gehört.
— 24
Es kam ihm vor, daß noch nie über die Lippen/
eines trauten, lieben Menschenkindes ein so schmutziger
ekelhafter, schändlicher Unrat sich ergossen habe,
Worte, deren Laut schon ihn fast zum Erbrechet
zwang, kreischten gell an seine Ohren und dazu nocn
die Pantomime, mit welcher das Kind den Liedertext
illustrierte: es war erstaunlich!
Rings um ihn herum entstand ein unbeschreib-
licher Jubel und er erfreute ihn.
Wie gut, wie unendlich gut werde ich für dich
sein! dachte Czerkaski kalt und ruhig — endlio'i ein-
mal werde ich für Jemanden gut sein.
Das Mädchen warf sich auf eine Pritsche und
ahmte in verruchter Schamlosigkeit eine Art von
geilstem Bauchtanz nach, schrie auf, winselte, schnalzte
mit der Zunge, warf die Beine in die Höhe und schien
in einem Wollustparoxysmus zu zerbersten.
Oh, wie unendlich gut werde ich für dich sein!
Mit tiefer, zärtlicher Wonne dachte er an die Güte,
die er diesem zarten Mädchen erweisen werde.
Und wieder ein neuer Gesang und noch ein
Tanz, der jegliche Schamlosigkeit an grotesker Kühn-
heit übertraf.
Das kleine, schwache Mädchen warf sich auf den
Boden hin, ihre Beine schnellten in die Höhe, um-
krampften irgend eine imaginäre Gestalt, spreizten sich
wieder weit auseinander, die Hände zuckten wie im
Schüttelfrost, der ganze Körper warf sich in konvul-
sivischen Zuckungen — schneller noch — in wüstem
Krampf, bis endlich die ganze unendlich gut gespielte
Muskelorgie in einem langen verröchelnden Schrei der
höchsten Lustbefriedigung erstarb.
Das Mädchen lag wie tot da.
— Alle Schleusen der höchsten Güte werde ich
für dich öffnen, dachte Czerkaski und war glücklich.
Er hörte noch das betrunkene Heulen dieses
herrlichen Publikums, wie er es noch nie in einer
solchen Herrlichkeit hatte erstrahlen sehen — eine
25
hehre Versammlung von wirklichen Menschenfreunden
— dann wurde es auf einmal still — die Lichter
erloschen . . .
— Kommen Sie jetzt! — sie stand vor ihm.
— Ah! Du bist es. Du hast alle meine Er-
wartungen übertroffen . . . Das einzige Mal in meinem
Leben werde ich gut sein und nur für dich allein. Du
wirst mir, weiß Gott, nicht in die Augen zu spucken
brauchen . . .
Sie führte ihn durch einen langen, finsteren Korridor
und endlich kamen sie in ein kleines, schmutziges und
— wie es ihm vorkam — unflätiges Zimmer hinein.
Ein wackliger Tisch, ein zerschlissenes und un-
säglich schmutziges Sopha — ein Bett, das wohl noch
nie einen reinen Laken gesehen hatte, ein geborstener
Spiegel gegenüber . . . Herr Gott, braucht man noch
mehr, um gut, wirklich gut zu sein?
Das Kind setzte sich ihm auf die Knie.
— Mein süßer Tauberich wird mir etwas geben
lassen — nicht wahr? Ich bin hungrig und habe
großen Durst.
— Brauchst ja nur zu klingeln.
In einem Augenblick hatte ein Etwas, das in einer
weit-weiten Erinnerung einem Kellner glich, eine Flasche
Schnaps gebracht, irgend eine Speise oder so etwas
ähnliches dann noch —
Aber was kümmerte es ihn, was da vor ihnen
stand oder lag — er schwamm im seligen Entzücken,
daß doch endlich einmal die Zeit gekommen war, wo
er wirklich gut sein konnte.
Das Mädchen aß und trank gierig und er sah ihr
zu und war ihr unendlich dankbar, denn ihr hatte er
es zu verdanken, daß er nun beweisen konnte, wie
gut er sei.
Er betastete liebevoll die Westentasche und war
zufrieden; noch nie hatte er das Mittel für die Ver-
ausgabung der höchsten Güte, das trostreiche, segen-
spendende Curare vergessen.
26 —
Er streichelte liebkosend die Westentasche, in
der das einzige beglückende, alle Tore des Jenseits
zuverlässig erschließende Mittel ruhte.
Was ist Liebe, was Geld diesem erlösenden Mittel
gegenüber!
— Nun, so laß uns ordentlich trinken — sprach
er dem Mädchen gütig zu.
Das Kind aß und trank und schaukelte sich auf
seinen Knien.
— Jetzt bin ich bald fertig, dann werde ich dir
zeigen, was ich kann ... Ich kenne geheime Lüste,
die . . . die . . ., sie flüsterte ihm etwas ins Ohr . . .,
das ist wie Feuer, noch mehr . . .
Er lächelte.
— Nun, ich werde dir nicht schuldig bleiben.
— Oh du mein süßes Ferkel — sie schmiegte sich
an ihn und küßte ihn an das Ohrläppchen.
— Du mein goldenes Kükelein — lachte er
heiser und traurig, umfing sie mit einem Arm und mit
dem anderen griff er in die Westentasche nach der
gläsernen Eprouvette.
— Wonach suchst du Pfragte sie ihn plötzlich unruhig.
— Nichts, nichts — ich habe Kopfschmerzen —
ich habe hier ein Pulver.
— Der Kopf tut dir weh?
— Bald hört es auf.
Sie wurde wieder ruhig. Schmiegte sich noch
fester an ihn an, grub sich mit ihren Lippen saugend
in die seinen, und manövrierte mit frechen, schamlosen
Händchen an seinen Beinen.
Er ließ es geschehen, goß Branntwein in ein Glas»
schüttete den ganzen Inhalt der Eprouvette hinein und
stellte es abseits.
— Was bist du so kalt? fuhr sie ihn plötzlich
unmutig an.
— Ich? kalt? — nun dann mußt du mich warm
machen. Du hast dich doch unlängst gebrüstet, daß
du einen Toten lebendig machen könntest . , .
27 —
Das Mädchen lachte hell auf.
— Ja, ja — das kann ich, und das werde ich dir
zeigen, aber zuerst muß ich trinken.
Er schob ihr das Glas zu.
Sie trank mit einem Schluck,
— Nun was? — Sie sah ihn triumphierend an;
— Wer kann so trinken, wie ich?
Im selben Augenblick rissen sich ihre Augen weit
auf in gräßlicher Todesangst — lange heftige Zuckungen
durchliefen den schmächtigen Körper, mit den Händen
griff sie in der Luft umher, man sah, daß sie schreien
wollte, an den Schreien erstickte, weil sie keinen Laut
herausstoßen konnte.
Dann noch ein paar heftige Zuckungen, das Auge
brach, der Körper bäumte sich auf, verkrampfte sich,
erstarrte . . .
Les supremes delices, lächelte Czerkaski.
Endlich eine Tat, die eines Menschensohnes
würdig war!
Er legte die noch warme Leiche des Mädchens
auf das Bett und küßte es andächtig auf die Stirn.
Ich habe dich errettet, betete er leise, errettet
von dem Ekel des Zerfalls beim lebendigen Körper,
vom Abfaulen deiner schönen Glieder, von der gräß-
lichen Qual, im Frost, Schnee, Kot und Regenwetter
hungrig und bettelnd nach einer Mannesbestie herum-
suchen zu müssen, ich habe dich errettet vor den
unmenschlichen Schlägen und Fußtritten deines Zu-
hälters, gerettet habe ich dich vor dem Schmutz des
Gefängnisses und dem Elend des Spitals — und nun
schlaf — friedlich, heiter — froh . . .
Er atmete tief auf.
Noch einmal betrachtete er in tiefster Sammlung
das tote Kind, dann schritt er in die finstere Nacht
hinaus mit Trauer im Herzen, aber auch dem Gefühl
eines leisen Triumphs, daß er endlich eine menschen-
würdige Tat vollbracht habe.
28
Der Hundsfott*)
Von August Strindberg
Es gibt Menschen, die zur Welt kommen, um
hundsfottiert zu werden.
Als jüngerer Bruder wurde er von den älteren
hundsfottiert; wenn sie gefehlt hatten, beschuldigten sie
ihn, und er kriegte Schläge.
Da, mit fünf Jahren, verfluchte er die Stunde
seiner Geburt und wollte sterben. Aber er ging zuerst
in die Küche und beklagte sich der Köchin gegenüber,
die er für seine Freundin hielt. Sie verriet ihn sofort
und erzählte es den Eltern, das Kind habe sein Ge-
ständnis zurückgenommen, das ihm eben unter Marter
abgerungen war. Das angebliche Verbrechen sollte darin
bestehen, daß er, der Fünfjährige, von dem Portwein
der Alten getrunken habe. Ein fünfjähriges Kind sollte
aus einer geöffnete Flasche so viel Portwein getrunken
haben, daß es zu merken war, während man dem Kind
keinen Rausch anm.erkte. Das glaubten die Eltern!
Da wurde er wieder gemartert und gezwungen,
zu bekennen, erstens daß er den Portwein getrunken,
zweitens, daß er eben gelogen, als er leugnete.
Darauf mußte er um Verzeihung bitten, sowohl
daß er den Wein ausgetrunken, wie daß er gelogen habe.
Wenn er darauf nicht ein Lügner fürs ganze Leben
wurde, so zeigt es wohl, daß er diese Anlage nicht besaß.
Solche Marterszenen wiederholten sich mehrere
Male.
Welchen Blick sollte dieses Kind auf Leben und
Menschen bekommen? Zuerst wurde er ängstlich vor
allem. War immer furchtsam, man würde ihn anklagen;
'■■) Aus dem schwedischen Manuskript. Die Buchausgabe der
Bekenntnisse erscheint erst 1911.
— 29 —
spähte nach den Fehlem der andern, um zu sehen, ob
sie gerecht seien.
Dann kam er in die Schule. Gewissenhaft und
eingeschüchtert, lernte er immer seine Aufgaben, konnte
sie zu Hause, aber in der Schule konnte er sie nicht
immer, weil die Lehrer an den Kindern etwas auszu-
setzen suchten. So schlugen sie ihn wieder.
Aufs Land in eine Pension geschickt, kam er in
eine schlechte Gesellschaft, wurde von einem älteren
Kameraden in die öffentlichen Geheimnisse des Ge-
schlechtslebens eingeweiht; und als das unschuldige
Opfer hätte er beinahe den Verstand verloren, als er
zum Bewußtsein erwachte, von welcher Natur die
Handlung sei und welche f^olgen sie habe.
Dann bekam er eine Stiefmutter und geriet in
Verhältnisse, die ihn unter religiösen Grübeleien dem
Selbstmord und dem Wahnsinn nahe brachten.
Bei keinem Menschen konnte er sich beklagen,
denn die Angehörigen gaben ihm immer unrecht, wenn
er recht hatte und man ihm unrecht tat.
Er kam zur Universität und man hatte ihm ein-
geredet, wenn er nur Student wäre, stünde die ganze
Welt ihm offen. Jetzt fand er sie im Gegenteil ver-
schlossen, denn er hatte kein Geld für Bücher.
Und als er sein Tentamen machte, erhielt er
keine gute Zensur, obwohl seine Kenntnisse größer
waren als die der anderen, die eine bessere Zensur
bekamen.
Überall stieß er auf Widerstand. Da floh er die
Wissenschaft und wurde Schriftsteller. Als er jetzt
Menschen und Leben schilderte, wurden sie so, wie
sie sich ihm gezeigt hatten. Er machte sein Gesellen-
stück und es wurde verworfen. Lehrling mußte er bleiben,
obwohl sich sein Gesellenstück dann besser als das von
andern erwies; Lehrling bis zum dreißigsten Jahr.
Da hörte er auf, an Gott zu glauben, und war
überzeugt, daß der Teufel die Welt regiere; was mit
— 30 —
Christi Lehre »vom Fürsten dieser Welt« stimmt, denn
er lief nicht weltlicher Ehre nach, kroch nicht vor den
Oberen, schmeichelte nicht.
Je besser er schrieb, desto weniger bezahlte man
ihm, und desto mehr Tadel bekam er.
Als er sich verheiratete, nahm man ihm Weib und
Kind, und zwar drei Male.
Als er mit sechzig Jahren seine Meisterwerke
schrieb, wurden die so geschmäht, wie keine Arbeiten
vorher, und er mußte bezahlen, um sie zur Aufführung
zu bringen.
Während andere für ihre Arbeit bezahlt wurden,
mußte er bezahlen; und wenn er bezahlt wurde, erhielt
er weniger als die, welche schlechter schrieben.
Sein ganzes Leben hundsfottiert! Und die Menschen
verlangten doch, er solle schön von ihnen schreiben!
Das tat er zuweilen, dann aber waren es seine eigenen
schönen Gedanken über eine Traumwelt, die nicht
existiert.
Zuweilen sprach er die Menschen frei, ent-
schuldigte und erklärte ihre Schwächen; dann aber
erhob sich ein Sturm von Vorwürfen, daß er die Moral
lockere. Zuweilen schilderte er die menschliche Erbärm-
lichkeit mit Mißbilligung, dann erhob sich ein Sturm,
daß er streng und ungerecht sei.
Mit einem Wort, wie er sich auch benahm, er
wurde hundsfottiert!
Kann man ein solches Schicksal erklären?
Vielleicht fühlten es die Menschen in der Luft,
daß er den Kompromiß der Gesellschaft und deren
unwahre Natur entlarven würde. Aber als Kind konnte
er doch nicht geahnt werden?
Es hatte wohl andere Ursachen, die wir nicht
wissen, aber die Swedenborg geahnt hat!
31
Carlos und Nicolas
Von Felix Stössinger
Carlos und Nicolas sind Geschwister, die in Argentinien
aufwachsen, durch die Pampas jagen und dennoch rechte Kinder
bleiben. Carlos ist sieben und Nicolas sechs Jahre alt. Drei
Jahre später stehen sie mit ihrem Lehrer Doktor Bürstenfeger auf
der Landungsbrücke von Buenos-Aires, um mit ihm nach Europa
zu fahren.
Hier schließen die »Kinderjahre in Argentinien«, der erste
Band des biographischen Romanes »Carlos und Nicolas«.
Im zweiten Band »Carlos und Nicolas auf dem Meere«*)
schildert Rudolf Johannes Schmied im engen Anschluß an das
erste Hauptkapitel die Fahrt der »Lombardia« nach Genua.
Den spezifisch biographischen Wert der Teile für das
Gesamtwerk können wir noch nicht tieurteilen. Aber unabhängig
davon, ob Schmied diese Jugend als Werdendes sieht und nicht
als Vollendetes empfindet, leuchtet in uns die Freude über die
Bücher, die wie Teile einer Trilogie in sich abgeschlossen, einzeln
verständlich sind. In drei Stunden gleiten ihre Bilder wie schnelle
Segler vorüber. Einige Szenen des zweiten Bandes, in denen ein
Menschenschicksal zusammengeballt ist, haben die geraffte Energie
der Schiffer, einen Wellenkamm zu erklimmen, um dann wieder
über die ebene See zu fahren. Und der Gehalt versinkt wie ein
Anker in das Meer unseres Bewußtseins. Wir haben einen neuen
Dichter erkannt.
Carlos und Nicolas sind bei aller Verschiedenheit der
Temperan.ente ein einziger Held. Die dynamischen Nuancierungen
der Charakiere geben der Zweiheit Farbe und Wechsel. Beide sind
zwar voll von Leben und tollen Gedanken und im tiefsten Innern gut.
Beide lieben das Abenteuerliche und das Fremde und sehnen sich
nach Sieg und Ruim. Beide wollen Könige sein und über FVärien
herrschen, wie Männer kämpfen und wie Kinder spielen. Nur ist
*j Erich Reiss \'erlag, Berlin-Westend.
301-302
32
Carlos lebhafter und klüger, Nicolas verträumter und ruhiger. Aber
beide zeigen ihre Verwandtschaft in der Beeinflussung durch
Doktor Bürstenfeger,
Dieser, ein Bild des deutschen Lehrers, ist Pedant aus
Idealismus und Idealist aus Pedanterie. Als Lehrer hat er kein
Verständnis für die Kinder, sondern nur Sinn für Didaktik. Aber die
Kinder sind für seine Ruhe und Güte empfänglich und lassen
sich von ihm menschlich beeinflussen. Im ersten Kapitel lügen sie
noch nach Herzenslust und bekräftigen ihre Lügen durch Eide. Aber
nach seinen schönen, eindringlichen Worten gehen sie in sich,
erröten, wenn sie ertappt werden und weinen vor Scham. Sie werden
weich, fast sentimental und färben, auch wenn sie langsam seine
komischen Schwächen wittern, immer mehr von Doktor Bürstenfeger
ab. Carlos und Nicolas werden nie wie Doktor Bürstenfeger werden;
aber sie werden ihn einmal lieben und als Freund betrachten.
Nicht nur auf ihren Lehrer reagieren Carlos und Nicolas
gleich. Sie werden gemeinsam von wesentlichen Dingen berührt,
und von gleichen Stimmungen befangen. Schmied verwendet diese
innere Einheitlichkeit zur Charakterisierung der Kinder und
zur Spiegelung der Umgebung. In Frage und Antwort sind
sie wechselseitig Hintergrund und Relief, Teile der Handlung und
Werkzeuge der Psychologie. Ihr klarer Kinderblick sieht das Klare
und dringt nach Klarheit. Daher beleuchten sie nicht nur sich selbst,
sondern auch die anderen. Indem aber alle Dinge in einen äußeren
oder inneren Bezug zu den Kindern gebracht sind, scheint das
Lebensgetriebe ohne sie nicht denkbar. Bald sind sie die Handelnden
selbst, bald das Gegenspiel: im ersten Band vorwiegend Kreisfläche,
im zweiten vorwiegend Zentrum. Und bezeichnenderweise ist ihr
tiefstes Erlebnis auch die tiefste Szene des Buches. Es ist die Nacht,
in der sie wach in der Kajüte liegen, um die Versenkung der
Leiche einer Greisin zu erwarten. Hier ist die Schilderung, durch
künstlerische Kontraste bewegt, einfach und visionär.
Im ersten Band, den »Kinderjahren in Argentinien c, folgt
ein Abenteuer dem anderen. Fehlt noch den skizzenartig gereihten
Erzählungen künstlerisch verdichtete Einheit, so ist doch jede einzeln
fest gefügt und gesteigert, geschmückt mit neuen und eindringlichen
Bildern. Die Exotik ist nicht Zweck, sondern das zufällige Miilieu,
nicht ein Behelf des Dichters, sondern ein Teil des Dichterischen in
— 33 —
ihm. Handlung und Charaktere: Alltägliches und Besonderes, die
deutschen Gewohnheiten und fremden Sitten, die Spießer, Aben-
teurer und Tollen. Auswanderer, Einheimische und Fremde sind
auch in den gewöhnlichsten Situationen neu gesehn und wie zum
erstenmal beschrieben.
Schmieds Sprache gibt sinnliche Eindrücke sinnlich wieder,
ohne zur Impressionistik flüchten zu müssen. Im zweiten Band
hinterläßt gar das mit blanker Technik ausgeführte Bild einer Fahrt
durch den Nebel impressionistische Visionen.
Die Meerfahrt zeigt den Dichter der Vollendung entg^en-
schreitend. Wieder bestimmt die Einfachheit die Form, die nun
synthetisch und durchsichtig ist In einem Zug sind die Erlebnisse
geschildert, dar Tod und der Wahnsinn, das Alter und das Heim-
weh. Die technischen Schwierigkeiten der Ordnung von Zeit und
Raum sind überwunden, und der schmale Band ist voll mit neuen
Bildern fremder Menschen. Namen, Reden, Gesten, oft nur ein
auffallendes Kleidungsstück erschöpfen Charaktere, die durch einen
einzigen Satz geschildert, von uns zu Naturen ei^nzt werden
könnten.
Bei aller schlichten, der Kunst abgerungenen Anmut ist in
>Carlos und Nicolas« die tiefe Ruhe, Objektivität und höhere
Zweckmäßigkeit der Natur. Die Menschen, ob gut oder böse, sind
für das Gefühl des Dichters gut, sein Reichtum entlädt sich nicht
barock und seine Sparsamkeit ist Fülle.
Die vierte Schwester
Von Alexander Sofomonica
Ich habe drei kleine Schwestern. Vor längerer Zeit träumte
mir, ich hätte bloß zwei. Dies muß indes richtig verstanden werden,
in der Welt meines Traumes gab es bloß zwei, und von der
Existenz der dritten wußte ich überhaupt nichts. Dort hatte sie
vielleicht keine Berechtigung oder auch keine Möglichkeit, zu leben.
Dort war sie nie vorhanden gewesen, nichts erinnerte an sie; sie
ließ auch keine logische Lücke in der Entwicklung der Verhältnisse
— 34
zurück. Vielmehr entwickelten sich jene (im Traume) organisch
weiter, nur daß der Faktor meiner dritten Schwester in ihnen von
vornherein gestrichen war. Als ich dann erwachte, war es mir, als
würde ich von einer ungeheuren Feder emporgeschnellt. Eine andere
Ebene nahm mich auf, auf der sich nun auch die verloren gegangene
Schwester befand. Nur schwer konnte ich mich an die Vorstellung
ihrer Existenz gewöhnen. Nach und nach aber fiel mir die ganze
Wirklichkeit wieder ein und ich wunderte mich dann fast gar
nicht mehr, als ich sie in Person sah und sie mir zunickte.
Unlängst ging es mir umgekehrt. Ich lernte im Traume
meine vierte (etwa vierzehnjährige) Schwester kennen. Auch dies ist
wieder falsch ausgedrückt, denn ich lernte sie nicht kennen, sondern
bewegte mich in einer Welt, in der wir beide seit jeher heimisch
waren. Anfangs benahm ich mich jedoch, wie das begreiflich ist,
verwirrt und ungeschickt. Ich bemerkte sie mit Befremden, sie kam
aber rasch auf mich zu, denn ich war gerade von einem Spazier-
gange zurückgekehrt. Zutraulich legte sie den Arm um meinen
Hals und küßte mich. Ich betrachtete aufmerksam ihre weiße Stirn,
ihre blauen Augen, ihr — wie immer — sehr ernstes Gesicht. Es
fiel mir auf, daß sie einen großen Hut trug. Eli . . . Eli . . . stotterte
ich und dann fand ich den Namen: Elisabeth! Sie sprach freund-
lich mit mir und half, ohne es zu wissen, meinem verdunkelten
Gedächtnisse nach, so daß es sich, wie es in solchen Fällen zu
sein pflegt, rasch, ja blitzartig erhellte.
Nun übersah ich die Ereignisse ihres Lebens und bemerkte,
wie sie sich lückenlos, was Gegenwart und Vergangenheit an-
belangt, in die gegebenen Verhältnisse fügten. Ihr Faktor war in
die Rechnung eingestellt. Da ich noch immer auf der Hut war,
so erstaunte ich anfangs darüber sehr. Bald aber wurde dies für
mich bedeutungslos. In demselben Maße, in dem ich das Bewußt-
sein und den Einwand des Traumes mit Verachtung von mir
streifte, ermaß ich die Nebensächlichkeit jener logischen und doch
zufälligen Beziehungen. Ihre Umschaltung war selbstverständlich,
ein technischer Handgriff, weiter nichts. Alle Dignität beschränkte
sich auf die Person, kam in ihrem Gefolge und lebte geradezu
von ihrer Gnade.
So durch die Kraft des Willens, der seine Dimension ver-
— 35 —
doppelte, zwischen zweien Welten schwebend, ja, die endlose Kluft
zwischen beiden ständig durchmessend, gedachte ich der ungelösten
Schauer, die im Wachen meines Zweifeins besseres Teil gewesen
waren. Dort fehlte mir etwas, aber seine Synthese, die ich hier
erlebte, versuchte ich nicht. Ich sammelte mich nicht, um das
Wertvolle, aber Einzige und Unteilbare zu erfassen, ich entwertete
es vielmehr, da ich es zersplitterte. Und je weiter ich mich von
einem Ursprünglichen entfernte, je näher wähnte ich an seine
Quelle gelangt zu sein. Doch hier bin ich meiner Qual enthoben.
Ich finde meine Schwester vor und das ist keine Täuschung! Die
Energie, die ihren Bewegungen entströmt, hat auch mich gefördert,
den Schmerz, der ihre Lippen gepreßt und schmal macht, habe
ich mitverschuldet. Aber ich verschwendete ihre Energie und ent-
heiligte ihren Schmerz. Nun sehe ich die untrüglichen Umrisse
ihrer Gestalt, ihres Antlitzes unverkennbaren Ausdruck, ihres
Lächelns eigentümliche Melancholie. Auch sie ist ein Problem,
aber es birgt die Lösung in sich. Nichts in der Welt ist ihr ver-
gleichbar, ja, nichts in der Welt ist neben ihr vorhanden. Sie
spottet des Gemeinsamen, das sie zu erniedrigen scheint, da sie
es selbstschöpferisch in jedem Augenblicke neu erzeugt. Sie ist
sich selbst die einzige Instanz und souveräner als ein Fürst, weil
ihr die Untertanen fehlen. Wäre es nicht kleinlich, an ihrer
Existenz zu zweifeln, da ihre Giltigkeit über jeden Zweifel erhaben
ist? Und ist es umgekehrt nicht verstimmend, wenn zwei Menschen
einander läppisch ähnlich sehen? Ist nicht gar der Gedanke,
daß irgendwo mein Doppelgänger herumläuft, der entsetzlichste
und verruchteste, da er doch dem Gesetze der Welt Hohn zu
sprechen scheint?
Ihr unvergängliches Wesen aber mit Worten beschreiben
oder auch nur festhalten, das kann ich nicht. Ich müßte denn das
Chaos ausschalten, das an sie grenzt und so ihrer Form teilhaftig ist.
Und fühlte ich auch die Kraft dazu in mir, was nützt es mir jetzt,
da ich erwacht bin, da sie mir entschwebt und, wie ich weiß, mir
für immer verloren ist
— 36 —
Lyrik
VORFRÜHLING
Von Berthold Viertel
Ein Himmel, der nicht weiß,
Ob er blühen mag.
Erwachend weht der Tag —
Und leis
Verwirrt er jeden Herzensschlag.
ÖLBERG
Von Ludwig Ulltnann
Und schimmernd floß des Engels Kleid
von den Schultern bis zum Saum.
Rings bog sich seiner Herrlichkeit
anbetend Busch und Baum.
Und wie es aus der Wolke trat,
goß silbern reiches Licht
auf ihn, dem strahlend es genaht,
das hohe Angesicht.
DAS LIED
Von Felix Gräfe
Und mit einem leichten Liede
auf den Lippen kam sie her;
hart und schwer
klangen Schläge aus der Schmiede.
Eines Ritters graue Pferde,
der Gesell beschlug sie gut;
rot wie Blut
wurde sie und sah zur Erde.
Und aus ihrem jungen Munde
schwieg das Lied — doch der Gesell
sang es hell
in der roten Abendstunde.
Karl Lueger
Von Roljert Scheu
Die wunderliche Leere, die nach dem Tode
bedeutender Persönlichkeiten eintritt, läßt uns jeweils
innewerden, wie sehr die Fragen der Menschheit und
der Gesellschaft davon abhängig sind, daß sie von
irgendeinem Einzelnen aufgeworfen werden. Einzelne
sind es, welche Stoffe aus dem Chaos erschaffen,
Fragen erraten, durch schmetternde Losungsworte aus
der bunten Menge geordnete Truppen formieren.
Einzelne sind es, welche Unfrieden stiften, damit der
Friede wieder einen Sinn habe. Ohne diese perio-
dischen Zerreißungen wäre die menschliche Gesellschaft
ein nichtssagendes Gemenge, die Völker besiedeltes
Land, das Leben der Gesamtheit geschichtslos.
Dichter und Denker finden neue Stoffe des
Geistes, Politiker und Volksführer neue Träger der
gesellschaftlichen Arbeit. Diese sind Pflüge, welche
den Boden aufreißen und neue Schichten zur Frucht-
barkeit heranziehen. Ob die Gruppierung, zu der Einer
die Mitlebenden gezwungen hat, ein Kunstwerk oder
ein Kunststück gewesen ist, das zeigt sich, wenn er
vom Schauplatz abtritt. Das Leben erscheint dann nach
einem Worte Hebbels wie ein Bildhauer, der jahraus,
jahrein mit unendlichem Fleiß an einer Totenmaske
arbeitet. Die Persönlichkeit wird vom Tode verklärt,
vor Allem aber erklärt.
Der einem Menschen zugeteilte Stoff wirbt um
ihn als Erlebnis. Einen Stoff erleben ist das erste Ver-
dienst, ihn gestalten, das zweite. Eines Politikers
grundlegendes Erlebnis wird das Modell einer gesell-
schaftlichen Umwälzung sein; wie er seine persönliche
Frage als gesellschaftliche ausdeutet und — viel später,
— wie er sie im Namen einer Gemeinschaft beant-
wortet, das bestimmt zuletzt sein Gewicht. Es will nun
scheinen, daß Karl Lueger ein echtes Erlebnis hatte
und daraus eine mächtige Frage gestaltet hat. Seine
38
Disgregationsleistung war bedeutend, der Stoffgewinn
ansehnlich. Aber die Zusammenfassung, die Harmonie
nach der entdeckten Disharmonie — war sie nicht
etwas kurzathmig und überstürzt? Seine Antwort war
nicht so bedeutend wie seine Frage, seine Konstruktion
nicht so tief wie sein Erlebnis, die Erfindung nicht so
groß wie der Fund. Wenn ein Künstler einen Stoff
entdeckt hat, fühlt er den Drang, die ihm geläufige
Technik, den ihm verfügbaren Schatz von Details
anzuwenden, zu placieren. Ist der Vorrat dem Stoff
allzufremd oder die Technik allzu bereit, so wird die
Ausführung unharmonisch oder oberflächlich sein. Der
Österreicher ist dazu veranlagt, große Aufgaben zu
erschauen, aber sie gar zu gewandt zu erledigen. Ihm
fehlt die Neigung und die Seelenstärke, eine lange
schreiende Dissonanz zu ertragen.
Das Erlebnis, von dem Luegers Laufbahn be-
stimmt wurde, bestand darin, daß sich ihm das
gebildete Bürgertum, damals verkörpert in der liberalen
Partei, mißtrauisch verschloß. Es heißt, er schien von
Anfang an unzuverlässig. Was drückt sich darin
anderes aus, als daß die Auslese-Organe jener Gesell-
schaft außerstande waren, ein politisches Talent zu
assimilieren? Das Problem eines Staatswesens ist gelöst,
wenn die herrschenden Klassen das Mittel gefunden
haben, die Talente einzugliedern. Lueger erkennt
seine Lebensmöglichkeit und damit seine Aufgabe :
Niederringung des liberalen Bürgertums — damit
zugleich des Finanzkapitals, der Bildung, der Abstraktion
— durch den Kleinbürger, das ist er selbst, der konkrete
Mensch. Der Industriearbeiter erscheint ihm wieder als
ein abstraktes Wesen. Als komplexen Menschen —
und nur dieser interressiert ihn — errät er den kleinen
Mann, in dessen Betrieb sich ein ganzer Arbeitsprozeß
vollendet. Der Widerstand gegen die Abstraktion in
jeder Gestalt ist aber andererseits das tief innerste
Wesen von Wien und Österreich .... Das ist der
Schlüssel. Er \dttert im Kleinbürger politische Leiden-
— 39
Schaft, Organisationsgabe und Fähigkeit für Verwaltung.
Es handelt sich also darum, den Kleinbürger für die
Politik zu erobern, seine Identifizierung mit Wien und
Österreich durchzusetzen und den Beweis zu erbringen,
daß alle Künste der Politik und Verwaltung mit prinzi-
pieller Zurückdrängung der gebildeten Stände aus dem
Reservoir des Volkes hervorgebracht werden können.
Wenn es richtig ist, daß der Handwerkerstand aus
materialistischen Gründen zum Niedergang bestimmt
ist, dann könnte die Macht, die ihn gerade in diesem
Zeitpunkt politisch ans Ruder bringt, nur irgend ein
Zauber sein. Als Repräsentanten der abstrakten Mächte :
Kapital, Bildung, Verfassung, Gesetz, errät er die Juden,
jene Juden, die bindende Kontrakte machen, — wo
doch der Wiener >keinen Richter braucht«, — eine
immanente Entwicklung der Geschichte behaupten und
predigen und im Gegensatz der Klassen, in ökonomisch-
technischen Tatsachen die Ursachen allen Geschehens
erblicken und durchzusetzen suchen. Das Alles hat er
nicht ergrübelt, sondern ertastet. Er überläßt sich im
ganzen weiteren Leben dem Impuls als seinem führenden
Genius, fest entschlossen, ein- für allemal nach dem
Donner des Applauses zu marschieren. Er wählt aber
— und das erhebt ihn über den Durchschnitt — den
denkbar größten Umweg zur Macht. Er begibt sich
vorerst in eine schreckliche Einsamkeit und scheinbar
hoffnungslose, höchst dornige Arbeit. Ohne selbst einen
klingenden Namen zu haben, ohne sich mit Namen zu
verbinden, sogar von den natürlichen Bundesgenossen
verkannt, schafft er aus einem jungfräulichen Boden
eine Naturkraft. Nach einem langsichtigen Plan spielt
er zuerst seine Härte und Hassenskraft, gelegentlich
seine Grausamkeit aus, um dereinst, nach vielen Jahren,
die Angegriffenen durch seine Verführungskünste desto
sicherer zu erobern. Er scheut nicht Wirtshausqualm
und Prügelei, nicht den Haß von oben und unten,
nicht die Geringschätzung der Intellektuellen, nicht den
Ruf eines Wurstels.
— 40 —
Das Ziel seines Herzens ist, Bürgermeister von
Wien zu werden. Daß diese Stellung ein gewaltiger
Angelpunkt der Politik ist, das ist seine eigentliche
Konzeption, das einzig Konstruktive seines Lebens.
Alle anderen Aufgaben wachsen ihm gleichsam auf
dem Wege zu. Seine innerste Triebkraft ist der Fleiß,
die Lust am Verwalten. Wieviel muß ein Mensch
kämpfen, damit ihm gestattet werde — zu arbeiten!
Was ihm auf dem Marsch dahin begegnet, wertet er
mehr notgedrungen aus, er gestaltet es fast wider
Willen. Er wird Antisemit und nimmt Dienste bei der
Kirche, aber sein Grundgedanke ist und bleibt die
Demokratie. Das Volk bleibt immer der gebende Teil,
auch gegenüber dem Adel und dem Hof, auch gegen-
über der Kirche, gegenüber allen, denen er scheinbar
oder wirklich dient.
Je höher er zur Macht steigt, desto sichtbarer
wird der Mangel einer großangelegten Konstruktion
der von ihm geschaffenen Partei. Er hat nach über-
wundenem Sturm und Drang nicht das geringste Be-
dürfnis, die Partei kulturell abzurunden, höchstens die
Sehnsucht, einen persönlichen Frieden zu machen.
Wenn er seinerzeit der demokratischen Partei untreu
wurde, so geschah es nur, weil er einen viel groß-
artigeren Weg wußte, um die Demokratie zum Siege
zu führen. Andere Demagogen nehmen, ans Ruder
gelangt, eine Pose an, stilisieren sich irgendwie.
Lueger besaß die schönste Eigenschaft des Wieners:
die Verachtung der Affektation. Er blieb in seinen
Manieren immer der gleiche. Er genoß seinen persön-
lichsten Triumph darin, die Sprache und Denkweise
des Volkes überall einzuführen, es war ihm ein Hoch-
genuß, wenn er in der Akademie der Wissenschaften
genau so redete wie im Wirtshaus. Und er blieb dabei
der Überlegene, er führte den Beweis durch, daß die
von ihm verkörperte Volkspersönlichkeit sich überall
ungeniert behaupten könne. Er beugte sich nicht vor
der Wissenschaft, aber auch nicht vor der Kirche, er
— 41
diktierte den Kardinälen das Gesetz von Mariahilf und
Margareten. Wien siegte sogar über Rom. In dieser
Paradoxie erschöpfte sich sein kulturelles Programm.
Er vermeinte, sein Werk vollendet zu haben, wenn er
eine politische Partei, richtiger eine Gefolgschaft, ins
Feld gestellt hatte. Eine autochthone österreichische
Kultur unter zeitweiliger Zurückdrängung des jüdischen
Ferments zu ihrer größten Verfeinerung zu erheben,
wäre längst unmöglich gewesen. Er hat aber auch bis
zu seinem Tode niemals die Sehnsucht gehabt, eine
solche Veredlungsarbeit zu leisten und, da er über
seine empirische Person nicht hinausblickte, auch nichts
getan, um die ihm fehlenden Kulturelemente nach-
träglich heranzuziehen, sie durch andere repräsentieren
zu lassen. Diese Tatsache drückt sich in der ver-
blüffenden Einflußlosigkeit der christlichsozialen Presse
aus, in dem schlecht verhehlten Respekt, den man just
in diesem Lager vor den geistigen und künstlerischen
Leistungen eines gewißen Kreises besitzt.*) In dieser
Beziehung hat der Antisemitismus geradezu den
Charakter eines Experimentes für die unzerstörbare
Überlegenheit der Juden angenommen, eines Experi-
mentes, welches gerade durch die politischen Erfolge
der Christlichsozialen zwingend wird.
Statt der angedeuteten Synthese, welche, auch
wenn sie vorerst nicht gelungen wäre, doch die von
Lueger aufgeworfene Grundfrage offen gelassen und
Stoff zu einem großen Erbe gebildet hätte, wählte er
eine andere, in welcher er seine Persönlichkeit aller-
dings restlos ausleben konnte, verführt durch seine
Virtuosität und die ihm zur Verfügung stehende
Technik. Er wurde der Repräsentant von Wien. Er
löste die von ihm angeschlagene Dissonanz in einer
andern Konsonanz auf, als zu erwarten war, Wien
verwandelte sich aus einem Mittel zum Zweck, es
*) Ohne zu ahnen, daß es weder geistige noch künstlerische
Leistungen sind. Anm. d. Herausg.
— 42 —
schob sich seiner Lebensidee unter. Sein persönlicher
Erfolg wurde dadurch nur größer, aber er hinterläßt
nunmehr statt einer politischen Tradition die Erinnerung
an ein Schauspiel. Die Verführung, Wien selbst als
Idee zu setzen, ist allerdings außerordentlich groß und
ihrem Reize können selbst die härtesten Charaktere
schwer widerstehen.*) Der Grund liegt darin, daß Wien
in seiner Art ebenso eine unzerstörbare und kostbare
Menschheitsidee bedeutet wie in seiner Art nur noch
Jerusalem, Athen und Rom.
Wien ist jener Ort der Erde, wo ein ganzes Volk
in jeder Lebensäußerung den Versuch macht, alle Ab-
straktionen zu leugnen, sich der Logik der Dinge um
jeden Preis zu entwinden. Wien ist der fleisch-
gewordene Widerspruch gegen die Macht des Unpersön-
lichen. Hier soll das Gemüt seine letzte Zuflucht haben
und wenn die ganze Erde nach den Gesetzen abstrakter
Notwendigkeiten regiert wird, Wien bleibt Wien, die
Stadt, wo nicht die Personen aus den Gegenständen,
sondern umgekehrt die Gegenstände aus den Menschen
wachsen. Alle Ereignungen des Lebens sollen außer
dem, was sie gegenständlich sind, auch noch Anlässe
zu Gemütsbewegungen sein. Die Nebensachen sind die
Hauptsache. Und die Hauptsache? Nun, die ist Neben-
sache. Der Nutzgegenstand ist Gelegenheit für ein
Ornament, der Zweck des Bildes ist der Rahmen, des
Geschäftes die Konversation. Man ist nie »bei der
Sache«. Auch beim Vergnügen nicht. Kommt man zum
Tanz, dann ist es die Plauderei im Nebenraum, kommt
man zur Konversation, so ruft man die Musik zuhilfe,
wird Musik gemacht, dann soll der Künstler schön
sein, vom Maler verlangt man, daß er ein Kunstpfeifer
sei, vom Kunstpfeifer, daß er tanzt. Man wünscht, in
allen Verrichtungen gestört zu werden. Die Unter-
brechung und Negierung alles dessen, was jeweils
auf der Tagesordnung steht, heißt Erholung.
*) Ich schon I Anm. d. Herausg.
43
Wovon erholt sich der Wiener? Von vergangener
Arheit, von der großen und kleinen, am liebsten von
der zukünftigen. Was hat den Wiener so müde ge-
macht? Die psycho-physische Arbeit der Rassenmischung.
Völkerverdauungsmüdigkeit. Österreich ist ein Magen-
volk, weil es ein Völkermagen ist. Dem politischen
Problem, wie so viele Völker vom Reich verfassungs-
rechtlich verdaut werden sollen, entspricht ein physio-
logisches. Und diese Riesenarbeit soll auf ein paar
Quadratmeilen geleistet werden. Wie sich die Frauen
eine gewisse Trägheit mit gutem Gewissen gestatten,
weil sie sich bewußt sind, mit dem Gebären genug
Arbeit zu leisten, für welche und nach welcher sie sich
zu schonen haben, so hat Wien das instinktive Gefühl,
daß das ganze Volk genug chemisch-physiologische
Anpassungsarbeit getan hat, wenn es überhaupt
existiert und lebt. Österreichs und Wiens physiologische
Arbeit verdrängt nicht bloß, sondern ersetzt sogar
politische und kulturelle Arbeit, so wenn beispielsweise
Wien ganze Hekatomben von Slawen einfach durch
Heirat und Geburt germanisiert. Gebären ist wirkungs-
voller als Erziehen. Darum hat der Österreicher ein
so gutes Gewissen. Er hofft, daß das Reich einfach
durch die Wirkung der Zeit sich einmal amalgamieren
werde. Derzeit ist Österreich ein kunstvolles Gebilde
zur Entlastung Deutschlands, ein von Deutschland
angelegter breiter Gürtel, wie ihn die französischen
Könige zur Zeit der Raubkriege träumten, ein Glacis,
hinter dem sich Deutschland gegen Osten deckt,
dessen permanente innere Reibungen der Preis für den
Frieden jenseits der Grenze sind. Österreich ringt nach
einem eigenen Sinn, einem Schicksal für sich selbst.
Das größte Hemmnis dafür liegt in dem schwach ent-
wickelten politischen Sinn der Deutschen, die im
Zentrum sitzen. Wer Wien politisiert, sein Gewicht
innerhalb Österreichs steigert, der arbeitet an der
Selbstbestimmung Österreichs, das ist die dumpfe, aber
richtige Empfindung, welche der christlichsozialen
44
Partei ihre Reiclisbedeutung gibt. Damit bestimmt sich
auch das Programm gegenüber Ungarn.
Aus seinem körperlichen Grundgeftihl heraus,
welches sich aber gedanklich und politisch rechtfertigen
läßt, verabscheut der Deutsch-Österreicher alle Kon-
struktionen und betont seinen Instinkt, Er ist der
modernen großindustriellen Weltwirtschaft, der Groß-
stadt, dem komplizierten Verkehr noch nicht gewachsen,
weil er seine volle Kraft auf Rassenaufgaben verbraucht.
Er sucht daher nach einer Lebensform, derzufolge die
Menschen als Individuen, so wie sie gegeben sind,
existieren können, ohne die Unterordnung unter ein
System. Der Wiener will, was die ganze Menschheit
wollen sollte: die Eingliederung des komplexen
Menschen in das gesellschaftliche Ganze. Nur nimmt
er sich dabei die Freiheit, das was als letztes
Ziel aller Staatskunst winkt, was das letzte Ergebnis
der Kultur sein kann, als schon erfüllt vorauszusetzen.
Der Wiener wartet nicht erst, bis alle Probleme durch-
gekämpft sind und die Gesellschaft jene Gestalt hat,
wo die Individuen wirklich Platz haben, sondern er
lebt resolut, als hätten wir alle das Recht, so zu sein,
wie wir sind. Wir binden uns an kein Programm, wir
vertrauen auf die prästabilierte Harmonie aller Dinge.
In Lueger erschien nun leibhaftig der ZVlensch,
der die sprödeste Materie spielend bewältigt, unge-
fähr wie ein Lehrer einem Schüler alles scherzend bei-
bringt, der Mensch, der alle Abstraktionen verhöhnt
und die ledernsten Leute einfach verführt, der beweist,
daß der Wiener im Grunde Recht hat, weil der Wiener
der eigentliche Mensch ist, der Alles und Jedes mit
Gemüt durchwirkt und guirlandiert. Wäre er ein Schau-
spieler oder ein Dichter gewesen, so wäre der Beweis
nicht durchgreifend. Daß ein Bohemien so sein
kann, das wissen wir schon. Es handelt sich aber
darum, daß ein fleißiger Mensch harte politische Arbeit
in Form der Erholung leistet und das hat Lueger zu-
standegebracht.
— 45 —
Je höher sich seine Virtuosität entwickelte, desto
mehr reizte es ihn, einfach Wiener zu sein. Es wurde
der Sinn seines Lebens, das Widersprechende zu ver-
einigen, zu einer Partei zusammenzuballen, ohne
Rücksicht darauf, ob sich ein Nachfolger finden würde.
Was ihm seine Gegner vorwarfen, war eben das, was
er beweisen wollte. Es war des Volkes unendliches
Ergötzen, als er schließlich sogar die Juden be-
zauberte und mit sich versöhnte. Blut ist stärker als
Klasse, ein eminent demokratischer Gedanke, denn
Demokratie ist Vermischung und Vermischung ist Ver-
wischung. Der Wiener erlebte die Freude, daß sich
die Gesellschaft in eine Reihe von Personen aufzu-
lösen schien. Der Wiener will immer mit Personen zu
tun haben, weil diese mit sich reden lassen. Die Welt
soll sich in eine Anzahl von Hofräten auflösen, die
einerseits allmächtig, andererseits grenzenlos gefällig
sein sollen.
So hat Karl Lueger die von ihm mit Wucht auf-
geworfene Frage mit seiner eigenen individuellen Per-
sönlichkeit beantwortet, die politische Aufgabe mehr
und mehr verlassend, die Verwaltung in den Mittel-
punkt seines Wollens gerückt, weil hier der Kompro-
miß durch die Natur der Dinge vorgezeichnet ist. Er
schließt mit einem prasselndem Feuerwerk und hinter-
läßt statt einer Tradition Pietät, statt eines Werkes den
Karl Lueger-Platz, statt einer Tat eine Maske. Aus
dem Feldzug ward ein Fest, die Armee steht allein.
Seibstanzeige
Aus einem Wiener Brief der .Frankfurter Zeitung* vom
15. April:
G. Wien. 13. Aprü
Ein eigenartiges journalistischesJubiläumistzu verzeichnen :
von der .Fackel' ist die 300. Nummer erschienen. Wiener journali-
stischer Brauch verbietet eigentlich, von der .Fackel' und ihrem Heraus-
geber Notiz zu nehmen. Wir fügen uns diesem Brauche nicht. Nicht
weil sein Bruch mehr ehrt als die Befolgung, sondern weil er dumm
46
ist. Die Totschweigetaktik der Wiener Journalistik hat noch niemanden
umgebracht, oder auch nur verhindert, mächtig zu werden. Im Gegen-
teil. War der Totgeschwiegene nur hinreichend wehrhaft, so hatte er sehr
bald noch die Sympathien aller Jener auf seiner Seite, die ein Monopol
der Zeitungen auf die Bildung der öffentlichen Meinung nicht anerkennen
und den Opfern eines unberechtigten Zunft- oder Korpsgeistes an Ruhm
und Anerkennung verdoppelt heimzahlen, was ihnen der täglich am-
tierende Chorus vorenthält. Der Betroffene selbst hält sich gewöhnlich
durch eine Hypertrophie des Selbstbewußtseins schadlos für den ihm
entgangenen Zeitungsruhm, und — hartnäckig verkündete Autoreklame
findet oft ebenso begeisterte Apostel wie wirkliche Größe. Si licet parva
componere magnis . . . Der Fanatismus der Wagnerianer hatte seine
tiefste Wurzel in der Verstocktheit der Gegner, Luegers Triumph in
in der extremen Feindseligkeit der Presse, und wenn Karl Kraus heute
im Reiche draußen wie in Österreich Parteigänger hat, die gewogen und
nicht gezählt werden müssen, so verdankt er das gewiß in erster Linie
dem Umstände, daß in der Tagespresse niemand seinen wirklichen Gaben
Gerechtigkeit widerfahren läßt. Er hat es der Presse schwer gemacht,
sich mit ihm zu befassen. Er hat sie maßlos beschimpft und Urteile in
Bausch und Bogen gefällt, bei denen ihm zweifellos mehr die Freude
an boshaften Pointen als der Wille, gerecht zu sein, die Feder führte.
Er hat auch Einzelne, und nicht die Schlechtesten, mit einer Wut ver-
folgt, die nicht entschuldigt werden kann, zur Freude aller Neidlinge,
denen jeder gute Name ein Dorn im Auge ist. Aber den Neidlingen
allein verdankt er es doch nicht, daß er in zehn Jahren 300 seiner
brandroten Heftchen in die Welt schicken konnte, und was mehr ist,
daß diese Heftchen auch wirklich gelesen werden. Der Skandalsucht
dienen ja auch andere > Zeitschriften«, die kein Mensch in die Hand
nimmt, und daß er der erste war, der dem Bedürfnis nach einer > Kritik
der Kritik< Rechnung trug, hätte ihm gewiß nicht die Treue seiner Leser
durch zehn Jahre hindurch gesichert. Dazu bedurfte es schon des Talents
und, da es in Wien auch an Talenten in der Presse nicht fehlt, noch
eines ganz bestimmten Talents, einer persönlichen Physiognomie. Die
hat nun Karl Kraus, der Schriftsteller, — der Mensch ist uns unbe-
kannt — ganz sicher. Und wir können nicht umhin, die Kollegen von
der Presse mögen es uns verzeihen, manche Züge dieser Physiognomie
sympathisch zu finden. Vor allem sein bis ins Extrem reinliches und
peinliches Sprachgefühl. Man darf es ihm glauben, daß ilm der Schliff
eines einzelnen Satzes mehr (freudig geleistete) Arbeit kostet, als andere
ein ganzer Essay. Das Ergebnis ist dann auch darnach. Kraus ist ein
Künstler der Pointe, wie wir ganz wenige haben. In ein halbes Dutzend
sorgfältigst gewählter Worte preßt er den Extrakt langer Gedankenarbeit,
und hinter seinen Witzen liegt oft genug, wie hinter denen Lichtenbergs,
ein System verborgen. Es ist wahr, er scheut die Zote nicht, aber bei
der reichlichen Konkurrenz gerade in diesem Genre würde er auch damit
nicht weit kommen, wäre ihm die Zote Selbstzweck. Sie dient ihm aber
nur dazu, der landläufigen Schicklichkeit ins Gesicht zu schlagen. Das
47
ist überhaupt seine Leidenschaft und vielleicht läßt sich ein Teil seiner
zynischen Sexualtheorien auf diesen Drang zurückführen. Auch sonst
kann ich das Gefühl nicht loswerden, daß hinter der Grimasse eines
wütenden Menschenfeinds und Verächters sich ein überempfindliches,
durch alltägliche Trivialitäten und Niedrigkeiten bis aufs Blut gereiztes
Künstlergemüt verbirgt, das einen grimmigen Lebensschmerz vergeblich
zu betäuben sucht. Und Thersites, der die Buckel seines Größenwahns
kreischend zur Schau stellt, ist wahrscheinlich im tiefsten Innern ein
bescheidener, mit schmerzhafter Selbsterkenntnis ringender Mensch, der
zu schamhaft und zu stolz ist, vor der Kanaille sich in seiner wahren
Gestalt zu zeigen. Schon hat er sich vom Eintagssatiriker zum Sozial-
kritiker emporentwickelt, der kaum mehr ohne großen Gegenstand sich
regt. Der Stadt aber, die er mit der ganzen Leidenschaft seines Spottes
geißelt, wird er vielleicht noch einmal das Zeugnis ausstellen, daß sie
allein ihm die Möglichkeit der Entwicklung geben konnte, weil sie
Kulturmenschen genug beherbergt, die ein sich selbst erst suchendes
und findendes Talent mit Anteilnahme von seinen Anfängen bi« zur
Höhe verfolgen.
Glossen
Von Karl Kraus
Ein Abend beim bulgarischen Königtpaare
Die Neue Freie Presse, die heute noch der Meinung ist,
daß sie mit einer Zudringlichkeit, Einbildung und Blödheit aus
den Achtziger Jahren in der Welt Aufhebens machen kann, füllte
kürzlich vier Seiten ihres Sonntagsblattes mit der Schilderung, wie
der König von Bulgarien den Siegmund Münz interviewt hat. Dieses
Gespräch zwischen S. M. und S. Mz., in welchem nichts anderes
enthalten war, als daß Herrn Münz Sophia modemer, aber Kon-
stantinopel dafür altertümlicher vorkommt, erinnert dennoch vielfach
an das bekannte Interview, das der Marquis Posa mit dem König
Philipp hatte, nur mit dem Unterschied, daß Münz die liberalen
Hoffnungen, die Posa an die Unterredung knüpft, um dann leider
enttäuscht zu werden, im König Ferdinand schon erfüllt vorfindet,
ohne daß er ihn erst zu den Idealen der bürgerlichen Weltordnung
bekehren müßte. Im Gegenteil sagte der König sofort: >Ich habe
den Tod Ihres Kollegen Schütz sehr bedauert« Sonst aber hätte
sich das Gespräch ganz so abgespielt, wie seinerzeit, und wie
es zwischen einem Weltbürger und einem Potentaten seit jeher
48
üblich ist, wenn nicht der König von Spanien sich damals haupt-
sächlich über die wichtige Frage der Gedankenfreiheit hätte ausholen
lassen und die Aufforderung: > Drängt euch zu meinem Sohn,
erforscht das Herz der Königin«, erst ganz zum Schluß an den
Besucher gerichtet hätte, während Herr Münz sofort dem Familien-
diner zugezogen wurde und kaum in Sophia angekommen, auch
schon hinter der Königin und dem Kronprinzen Boris her war.
Eine gewisse Parallele ergibt sich nun wieder insofern, als der
Marquis Posa erklärte, er sei soeben aus Flandern und Brabant
angekommen und auf verbrannte menschliche Gebeine gestoßen,
während der Münz aus Leipnik kommt, aber immer wieder versichert,
er komme aus Konstantinopel, und er vermisse in Sophia die pitto-
resken Spuren der Vergangenheit, überhaupt sei hier alles so kultiviert,
daß er den Eindruck habe, >in einer neuungarischen Provinzstadt
zu sein, so wenig orientalisch finde er die Stadt«. Ein kräftiges,
ein großes Volk, meint Herr Münz, und auch ein gutes Volk, alles
was man will, und so viele reiche, blühende Provinzen, aber — >ich
habe, Majestät, auf dem Wege hieher nach Sophia sehr wenige
Schlote gesehen. Die Industrie scheint in Bulgarien noch nicht
viel entwickelter zu sein als in der Türkei«. Fürwahr, eine freie
Sprache. Münz kann nicht Fürstendiener sein. Der König >fixiert
sein Gegenüber« ; ganz wie jener andere, der den Marquis
bald mit einem Blick der Verwunderung, bald mit Erstaunen,
mit Erwartung, mit Überraschung betrachtet. Aber Münz braucht
seinen König nicht mehr zu erziehen. >Ich hatte«, bekennt er, »in
dem König einen Mann von Temperament und Selbstbewußtsein
vor mir, und ich müßte ihn so einschätzen, auch wenn er nicht
König wäre. Es ist doch selbstverständlich, daß es einem Publi-
zisten, der auf seine Reputation hält und dem jede höfische Ge-
sinnung fern ist, schlecht anstünde, sich unter dem Eindrucke
einer freundlichen Aufnahme von dem Glanz einer Krone der-
maßen blenden zu lassen,'^ daß er ihren Träger in einer die Öffent-
lichkeit irreführenden Weise überschätzen wollte. Hie die Majestät
des Königs — hie die vollste Unabhängigkeit des
Publizisten!< Hi hü Der Münz kann also nicht Fürstendiener
sein! Da kann man eben nichts machen. (Der König ist bewegt.) Nach
aufgehobener Tafel möchte Münz am liebsten sagen: »Mein Herz ist
voll — der Reiz zu mächtig, vor dem Einzigen zu stehen, dem
- 49 —
ich es öffnen möchte.« Da wird er aber vom König ins Gespräch
gezogen. Und hier erst zeigt sich der ganze Unterschied z\tischen
Posa und Münz, zwischen der Enttäuschung, die jener, und der
Befriedigung, die dieser empfinden mußte. Denn während Posa den
König Philipp erst allmählich dahinbringen will, Biirgerglück ver-
söhnt mit Fürstengröße wandeln zu lassen, bemerkt Münz zu seiner
angenehmen Überraschung, daß der König von Bulgarien — was
Bürgerkönig! — Bauemkönig ist, daß er »den gesunden Kern mit
der harten Schale vom ersten Tage an erfaßt« hat, sich politisch
ganz demokratisiert und dieser rauhen bulgarischen Volksseele
sich hingegeben hat. Den Stock braucht er nur, weil er sich in
diesem Klima auch die Gicht geholt hat, höchstens noch, um
etwa ein Ende zu machen, wenn ein Interview zu lange dauern sollte,
aber ganz gewiß nicht zu absolutistischen Zwecken. Übrigens
scheint er den größten Wert auf die Anwesenheit des Münz zu legen,
und dieser ist gar nicht imstande, alle Fragen, die von der Königs-
familie auf ihn einstürmen, zu beantworten. Wie ein wieder-
gefundener Sohn wird Münz umringt, denn wenn er auch bei
allen anderen Potentaten Europas wie's Kind im Herrscherhaus
ist, so scheint sich hier eine ganz besondere Teilnahme seinen
Bestrebungen zuzuwenden. >Wie hat es Ihnen in Konstantinopel
gefallen?« beginnt der König, »Was waren Ihre Eindrücke?« . . Es
gefällt Ihnen nicht alles in Konstantinopel?« . . »Und welchen Ein-
druck machten Ihnen die Truppen?« (Auf diese Frage versichert
Münz, er sei kein Soldat, aber die Truppen hätten sein ästhetisches
Wohlgefallen hervorgerufen.) Da will wieder die Königin wissen :
»Und welchen Eindruck macht Ihnen Konstantinopel?« (Auch ihre
Frage beantwortet Münz sehr entgegenkommend und ausführlich,
wobei er versichert, daß er ein moderner Kulturmensch sei.) Da
aber fragt der König: »Haben Sie den Sultan gesehen?« . . »Und
welchen Eindruck machte Ihnen der Sultan?« (»Ich habe«,
antwortet Münz, »von seinen müden Gesichtszügen eine
lange Leidensgeschichte abgelesen«) . . »Und welche Eindrücke
hatten Sie sonst in Konstantinopel? Haben Sie viele Menschen
gesehen, die Minister, die Deputierten?« (»Ich habe«, antwortet
Münz, der schon ein wenig ungeduldig wird, sichtlich knapp,
aber taktvoll, »so viele Menschen sehen müssen, daß mir leider
wenig Zeit für die Dinge blieb«). Die unausgesprochene Frage
50
des Kronprinzen Boris: Und haben sie nicht den l<leinen Kohn
gesehn? — offenbar meinte der Kronprinz den Konstantinopler
Korrespondenten der Neuen Freien Presse — diese Frage beant-
wortet Münz wieder mit einer Frage, mit der er sichtlich von der
Politik abschweifen will. Nämlich ob der Kronprinz, als er in Bayreuth
war, nicht durch die überlange Dauer der Vorstellungen ermüdet
worden sei. »Durchaus nicht«, sagte der Kronprinz, der sich im
Gegenteil durch seinen Besuch in Bayreuth für den Besuch des
Münz in Sophia trainiert hat. Und die Königin will das Ge-
spräch beenden, indem sie, offenbar ganz unter dem Eindruck der
Persönlichkeit, nachdenklich vor sich hin die Erkenntnis murmelt:
»Ja, der Orient hat seinen Zauber«. Herr Münz wehrt bescheiden
ab und sagt: »Majestät haben den Orient auch in seinen rauhesten
Schrecken kennen gelernt«, führt aber, da die Königin eben höflich
oh oh! sagen will, seine Meinung aus: »Majestät sind als Samari-
tanerin durch die Mandschurei gezogen«. Worauf wieder die
Königin bescheiden abwehrt und das Wahrwort findet: »Der Mensch
hat Pflichten, an welcher Stelle immer ersteht.« Das Mißverständnis
war also aufgeklärt, Herr Münz hatte die Mandschurei und die
Königin hatte die Neue Freie Presse gemeint, und die Unter-
haltung spann sich gemütlich weiter. Wie nahe Münz der
bulgarischen Königsfamilie steht, geht daraus hervor, daß er >in
der Lage war, dem König zu sagen«, er habe vor Jahren »eine
angenehme Woche bei Freunden in Schloß Ketschendorf bei
Koburg zugebracht und kenne auch die Gruft, in der des Königs
Eltern ruhen«. Worauf der Kronprinz ihm beim Dessert »ein
Bonbon mit dem Bilde seiner beiden Schwestern zuschob« und
ihn »bat, es zur Erinnerung mitzunehmen«. Die Schilderung, die
Herr Münz von der Hoftafel entwirft, stimmt durchaus zu dem
Typus eines Königs, der sich schon ganz demokratisiert hat. »Die
Tafel ist reich mit Blumen bedeckt. Manches alte Sevres fällt uns
auf, . Der König, der in alles eingreift . . .« Kein Wunder, daß er
auch den gesunden Kern mit der harten Schale erfaßt. Die
Speisesitten des Herrn Münz werden in dieser Schilderung als
bekannt vorausgesetzt, denn sonst wäre es unbegreiflich, daß der
König, dem die Neue Freie Presse den ausführlichen Bericht
doch jedenfalls verdankt, diesen Punkt nicht berührt hat. Freilich
fiele es aus dem Stil einer solchen Begegnung, die sich durchaus
51
in den feinsten welthistorischen Formen abspielt. Schon beim
Eintritt des Münz war es dem König klar: Anders als sonst in
Menschen köpfen malt sich in diesem Kopf die Welt. Münz
bewundert die Porträts von des Königs liltem, die Herr v. Angeli
gemalt hat: da hört man deutlich, wie der König die Worte
»Sonderbarer Schwärmer !€ unterdrückt. Münz beteuert, er hal)e »in
ganz Konstantinopel kein Pflaster gesehen wie in Sophia«.
Der König (beiseite) : Bei Gott, er greift in meine Seele !
Die Bulgaren »müssen mit der Natur ringen«, sagt Herr Posa;
und >man sieht überall eine Bauwut«. »Dem Undank haben
sie gebaut«, meint Marquis Münz, »umsonst den harten Kampf mit
der Natur gerungen.« Da aber jener nicht aufhört, den König
über den Unterschied von Sophia und Konstantinopel aufzuklären,
möchte man den König bitten, jetzt doch endlich auch das Zitat
zu bringen: »Nichts mehr von diesem Inhalt, junger Mann!« Nur
eine Äufkrung hat der König bestimmt nicht getan: als nämlich
Herr Münz beherzt sagte, er vermisse die Industrie in Sophia, und
tollkühn das Offert emer österreichischen Anleihe machte, da hat der
König sicher nicht mit den Worten abgeschnitten: Ihr seid ein
Protestant! Denn sonst hätte Herr Münz wahrscheinlich antworten
müssen: Ihr Glaube, Sire, ist nicht der meinige! Dagegen sprach
der König davon, daß es »ihm, dem Fremden« in Bulgarien
nicht leicht geworden sei, während wieder bei Schiller die Anspie-
lung auf den »gekrönten Fremdling« in der späteren Ausgabe
gestrichen ist. Abweichungen da und dort. Unausgesprochen blieb
auf Seite des Herrn Münz der Gedanke: Lassen Sie mich, wie
ich bin. Was war' ich Ihnen, Sire, wenn Sie auch mich bestächen?
Dagegen liegt einem Spezialtelegramm aus Sophia zufolge eine
Äußerung vor, mit der der König diese denkwürdige Unterredung
abgeschlossen hat. Der Hofmarschall Draganow trat herein
und der König rief: »DerSchmock wird künftig unter keinen Um-
ständen, hören Sie Draganow, weder gemeldet noch ungemeldet
vorgelassen I «
•
Aphorismen und kein Ende
Es wäre nachzutragen, daß man von einem Osterei der
Neuen Freien Presse, wenn es schon über achtzig Jahre alt ist, nicht
mehr die volle Frische verlangen kann. Aber man macht dem alten
— 52 —
Juristen Josef Unger keinen Vorwurf daraus, daß er in sein Notizbuch
alles Mögliche einträgt; man nimmt es ihm nicht einmal übel, daß
er es gedruckt haben will ; man empfindet es nur als eine unerhörte
Behelligung, daß die Neue Freie Presse unter dem provokanten
Titel »Aphorismen und kein Ende< und mit dem provokanten
Motto: »Quousque tandem?« diese Geschwätzigkeit bietet, die von
dem Schein der Altersweisheit lebt und in Wahrheit selbst den
Glauben an eine geistige Vergangenheit beirrt. Es gehört zu den
stärksten Infamien, deren diese abgetakelte Meinungshure fähig ist,
sich zur Dekoration ihres Rufs mit Greisen zu umgeben, deren
hemmungsloses Unvermögen öffentlich bloßzustellen und das
Andenken an deren Blütezeit bei jenen zu kompromittieren, die sich
bei solchem Schauspiel nicht vorstellen können, daß es je anders war.
Die geistige Schändung eines Greises sollte schwerer gestraft werden,
als die leibliche Kinderschändung. Man hat den maßlos wider-
wärtigen Eindruck, daß ein reklamesüchtiger Zahnarzt auf der
Straße einen Mann zusammengeklaubt hat, der nicht mehr gehen
kann, und dem er den Mund aufreißt, um den versammelten Passanten
zuzurufen: >Und Zähne hat er auch keine mehr! Meine Adresse
ist Fichtegasse Nr, 11. < Es gibt eine Altersgrenze für Professoren.
Aber wir haben die bösen Zeiten des Aphoristikers Gersuny mit-
machen müssen, und wenn einer aufgehört hat, Zivilprozeß vor-
zutragen, was er schließlich ganz gut >bis in hundert Jahr'« tun
könnte, darf er in vollster geistiger und körperlicher Frische
Aphorismen schreiben. Der alte Unger trägt in sein Notizbuch ein,
was ihm heute und andern Denkern schon zur Zeit des Bürger-
ministeriums durch den Kopf gegangen Ist, und er wird nicht
verhindert, es uns noch zu zeigen. So erfahren wir:
Als ich meine Demission als Minister erhielt und das Haus vor
dem Schottentor verließ, summte ich das Raimund'sche Couplet (mit
einer kleinen Variante) vor mich hin:
So leb' denn wohl,
Du Bretterhaus 1
Ich zieh' vergnügt
Aus dir hinaus.
Es ist sehr zuvorkommend, daß er in Klammern »mit
einer kleinen Variante« hinzufügt, man hätte die feine Pointe sonst
nicht gemerkt. Unger hat aber auch tiefere Gedanken. So notiert
er ium Beispiel:
»Media in vita in morte sumus«.
— 53 —
Aber warum nicht auch »Panta rhei«? Neuer als solche Ge-
danken ist nun dieser:
Was wir' das Leben ohne Liebesglanz I
(Thekla.)
Nicht übel. Und gewiß kann auch ein Zitat mein eigener
Gedanke sein. Aber in welchem Zusammenhang soll uns die Be-
rufung des alten Unger auf die Thekla irgend etwas bedeuten?
Und was fangen wir gar mit dem Satz an:
En amour trop n'est pas assez!
Dann freilich :
In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling,
Still auf gerettetem Boot treibt in den Hafen der Greis.
Auch das ist ein Aphorismus von Unger. Das ist nun schon
eher möglich, weil es beziehungsvoller ist. Wenn man aber
anderseits bedenkt, daß das persönlichste Erlebnis des Greises
erst nachfolgt? Daß die Neue Freie Presse ihn aus dem Hafen mit
Gewalt wieder hinaustreibt und allen Gefahren wieder preisgibt?
Ein jeder geht auf seine Art zu Gründe
schließt Herr Unger. Aber diese Art ist wohl die schrecklichste. Und
nicht genug an dem. Kaum, daß der alte Mann endlich doch Ruhe
hat und Ruhe gibt, zerrt ihn die Neue Freie Presse noch einmal ins
Boot, um ihn dann ins Wasser zu stoßen. Wie das? Nun, »Aphorismen
und kein Ende< hieß es, das Leben ist lang, es währet siebenzig
Jahr, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahr, und dann
kommen erst die Aphorismen, unter denen sich aber auffallender-
weise dieser Satz aus Psalm neunzig nicht befindet Aphorismen und
kein Ende! Nun ja, aber wenn die Osterfeiertage vorüber sind, ist
doch alles vergessen, Sonntagund Montag wird der Skandal besprochen,
aber am Dienstag, wenn wir wieder an die Arbeit gehen, gehört
das Feuilleton der Neuen Freien Presse der Jugend, der lieben
lachenden Jugend, dem sprossenden Nachwuchs, der lenzelichen
Lust, mit einem Worte dem Zifferer I Da — Blendwerk der
Hölle! —was ist das? Welch aberwitzige Vision narrt mich hier?
Ein Alpdruck, fünfspaltig: »Aphorismen und kein Ende«. Noch
kein Ende? Eine Fortsetzung? Es gibt da noch eine Fortsetzung?
Und wieder das Motto >Quousque tandem«! Fiebernd überfliegt
mein Blick die Spalten, und ich lese:
>Was wir das Leben ohne Liebesglanz l<
— 54
und alles, alles wieder — »So leb' denn wohN und »media in vita«
und »En aniour< und der Jüngling schifft wieder in den Ozean
und wieder fehlt »pantarhei«! Warum fehlt »panta rhei«?! Ist es
ein Alpdruck oder ein Wiederdruck des Alps? Wanim hat man
dann um Gotteswillen >panta rhei< vergessen! Was ist überhaupt
geschehen? ... Da finde ich zwischen dem Titel »Aphorismen und
kein Ende* und dem Motto »Quousque tandem« den folgenden
Passus:
(Infolge eines technischen Versehens in der Osternummer unvoll-
ständig abgedruckt und deshalb hier wiederholt. Anmerkung der
Redaktion.)
Ah ! Also doch »panta rhei< vergessen ! Da heißt es suchen . . .
Aber nicht dieser, sondern drei andere Gedanken sind nachgetragen.
Nun entsteht die bange Frage, warum man diese drei Gedan-
ken nicht besonders nachtragen konnte, sondern, um sie zu bringen,
die vierzig wiederholen mußte. Nein, ich glaube nicht an dieses
Motiv. Die Wiederholung der Untat muß ein anderes haben. Und sie
hat es! Sie hat es in einem kleinen Schreibfehler des Verfassers, der
wirklich nicht besonders richtiggestellt werden konnte. Nicht weil
er zu geringfügig, aber weil er für die Struktur liberaler Gehirne
zu bezeichnend ist. Die Einschaltung der fehlenden drei
Aphorismen ist nur ein dummer Vorwand des vollständigen Wieder-
abdrucks; dieser mußte der Berichtigung eines einzigen Wortes
vorgezogen werden. Denn das Wort lautet: »Dreyfus«.
Sokrates fiel als ein Opfer fanatischer Priester . . . und egoisti-
scher Agrarier (Salomon Dreyfus, Orpheus, Histoire g^nörale de Reli-
gions) — was alles fällt nicht heutzutage diesen Mächten zum Opfer !
In der neuen Fassung aber lautet der Satz:
Sokrates fiel (Salomon Reinach, Orpheus etc.)
Bei Salomon Reinach hatte der alte Unger selbstver-
ständlich an den Bruder Josef gedacht und bei Josef Reinach selbst-
verständlich an Dreyfus . . . Nun finde ich aber, daß es dem Greisen-
alter durchaus ziemt, solchen Assoziationen ausgesetzt zu sein. Es ist
menschlich, ja es ist in dem vorliegenden Fall, wo es sich um Dreyfus
handelt, sogar human. Was aber dem Greisenalter nicht ansteht,
ist : den Irrtum wieder gutzumachen und damit eine Treffsicher-
heit des Denkens anzusprechen, zu welcher es nicht fähig ist. Und ein
schimpfliches Verhalten der Umgebung eines alten Mannes ist es,
ihn dazu zu animieren und seine Schwäche ein zweitesmal sich
— 55
produzieren zu lassen. Das erstemal hat ihn die Neue Freie Presse
geschändet, dann aber hat sie ihm nicht gewehrt, als ihm die
Sache Spaß zu machen anfing. En amour trop n'est pas assez.
Wenn man nun ein solches Schauspiel ablehnt, so kommt man
bei der Dummheit leicht in den Verdacht der Respektlosigkeit.
Denn die Dummheit sieht nicht, daß man dem Alter den
höchsten Respekt erweist, wenn man die respektlose Hand der
Hure schlägt, die auf offenem Markt die Hülle von seiner Scham
gehoben hat.
Popperware
»Zum Faktum Taussig noch eine Frage. Wie hoch schitzen Sie
den Betrag, den Popper durch die Machinationen an der Firma Taussig
eingesteckt oder sich widerrechtlich angeeignet hat?« »Meinen Sie
durch das Abreißen der Zettel?« >Ja, und auch durch andere Mani-
pulationen.« >Wir haben ja von anderen Manipulationen nichts
gehört?« >!ch werde sie schon bekanntgeben. Hat nicht Popper bei
der Taussigware auch Indigopreise angerechnet?« »Nein, davon ist
mir nichts bekannt.« »Wurde nicht Partieware von Kohn & Nußbaum,
die Popper zurückgenommen hat, unter die Waren von Taussig hinein-
gemischt?« »Ja, es wurde von Kohn & Nußbaum zurückgenommene
Ware an Taussig anstatt Popperware geliefert.« »War es nicht abgepofelte
minderwertige Ware?« »Es war Retourware.« »Ist Ihnen was bekannt,
daß Omstein den kaiserlichen Rat Popper mit Prügel bedroht hat?«
Dieses Milieu, das einem blinden Griff des Staatsanwalts
zehn Schwui^erichtssessionen mit Betrug füllen könnte, hat sich
kürzlich an die Schwelle der Justiz gewagt, um seine Ehrensorgen
auszutragen. Nie ist das Pathos der Gerechtigkeit besser verhöhnt,
und nie der antisemitische Ruf dieser Stadt wirksamer dementiert
worden. Die Neue Freie Presse hatte dennoch einige Bedenken,
ihre Abonnenten im Gerichtssaal in der Sprache sprechen zu
lassen, die sie gewohnt sind, und machte den Dolmetsch für die
Kultur. So entstand, zumal bei der Aussage des Zeugen Meschu lern
Pilpel, ein gewisser Widerspruch zwischen der Ethik, die
im Gerichtssaal vertreten, und der Sprache, in welche sie nach-
träglich gekleidet wurde. Die Neue Freie Presse bedachte nicht,
daß sie jene Ethik dadurch erst preisgab. Es war umso
unehrlicher, als die Zeugen im Prozeß Popper im Gerichtssaal
genau so sprachen, wie sie es nach langjähriger Lektüre der Neuen
Freien Presse gewohnt sind, und von dieser nunmehr gezwungen
56
wurden, ein outriertes Hochdeutsch anzunehmen, das sie sich
eigens für den Zweck erfunden hatte. Ein anderes Blatt war
gewissenhafter. Man vergleiche :
Neues Wiener Tagblatt:
Präs. : Kennen Sie Herrn kaiser-
lichen Rat Popper?
Zeuge: Ich bin ingeschäftlicheVer-
bindung mit ihm getreten und habe
Ware gekauft bei ihm voriges Jahr.
Präs. : Haben Sie Kredit bean-
sprucht und ist er Ihnen gewährt
worden?
Zeuge: Natürlich.
Präs.: Haben Sie nicht auch
Bankkredit beansprucht?
Zeuge: Möglich, daß davon ge-
sprochen worden ist. Mir scheint,
mit dem Herrn Liechtenstein hab'
ich geredet darüber oder mit Herrn
Popper, ich kann mich nicht so
ganz genau erinnern.
Präs. : Welchen Bankkredit hätten
Sie in Anspruch genommen?
Zeuge (rasch): Der mir wäre
gewährt worden !
Angekl. : Von welcher Bank?
Zeuge: Weiß ich?
Angekl. : Haben Sie nicht gesagt,
von der Zivnostenska Banka?
Zeuge: Ich hab' gesagt? Ich hab'
geglaubt, weil der Herr kaiserliche
Rat ist Zensor bei der Zivnostenska
Banka, daß ich vielleicht könnte
Kredit bekommen.
Präs. : Hat man Ihnen das gesagt?
Zeuge: Gesagt? Nein. Ich hab'
mir gedacht.
Angekl. (strenge) : Haben Sie mir
nicht im Cafö Zentral in der Herren-
gasse erzählt, daß Sie um 10.000
bis 15.000 K Ware bei Popper
gekauft haben und daß er ihnen
Kredit verschafft hat?
Zeuge (ängstlich) : I c h habe Ihnen
erzählt, daß ich mich gewendet
hab' an die Firma Beer?
Neue Freie Presse :
Der Präsident fragt, ob er mit
dem Kläger in einer Geschäftsver-
bindung gestanden sei. Er bejaht,
im vorigen Jahre habe er einen
Geschäftskredit von der Firma be-
ansprucht und dieser sei ihm ge-
währt worden.
Der Präsident fragt weiter, ob
dabei nicht auch von einem Bank-
kredit die Rede gewesen sei. Es
sei möglich, antwortet darauf der
Zeuge, daß es bei dieser Gelegen-
heit zu einem Gespräch darüber
gekommen sei ; ob mit Herrn
Popper selbst oder mit Liechten-
stein, wisse er nicht genau. Später
habe ihm Liechtenstein bei einem
Gespräch im Cafe Zentral von der
Möglichkeit der Erwirkung eines
Bankkredits für ihn, den erwünschte,
gesprochen.
Der Angeklagte fragt, bei welcher
Bank der Kredit erlangt werden
sollte.
Zeuge: Ich weiß es nicht.
Angekl. : Sie haben mir aber
gesagt, daß es bei der Zivnostenska
sein sollte.
Zeuge: Das habe ich mir ge-
dacht.
Angekl. : Sie dachten dies,
weil Popper Zensor bei der Zivno-
stenska ist.
Zeuge gibt dies zu.
Angekl. : Wie groß war der
Bankkredit, auf den Sie Anspruch
machten?
Zeuge: Darüber ist nichts ge-
sprochen worden.
Angekl.: Wie groß wünschten
Sie ihn?
Zeuge: 10.000 bis 15.000 K.
57 —
Angekl. : Und daß Popper für Angekl.: Hat sich Popper nicht
Sie garantiert. für Sie auch an die Firma Beer
Zeuge: Nein, das hat>en Sie um Kredit gewendet?
gesagt! Zeuge: .Nein. Sie haben die
Angeld.: Wann sind Sie in Vermutung ausgesprochen, daß er
Konkurs gegangen? dies tun wolle.
Zeuge: Nach dreiviertel Jahren. Angekl.: Wie lange Zeit nach
Präs. : Herr Zeuge, wir brauchen dem Gespräch im Cafe Zentral sind
Sie nicht mehr. Sie in Konkurs geraten?
Der Zeuge macht mit beiden Zeuge: Nach dreiviertel Jahren...
Achseln und Armen eine bedauernde Nach Beendigung dieser Aus-
Bewegung und entfernt sich. sage . . .
Es ist überflüssig festzustellen, daß dies das Milieu ist, aus
welchem das geistige Wien hervorgeht.
• Der Zeuge wird hierauf vorgerufen. Er gibt an, jetzt Schriftsteller
zu sein; vor zehn Jahren war er in der Niederlage des Herrn Popper
bedienstet. Er sagt aus, daß mehrfach im Geschäfte Poppers En bloc-
Verkäufe vorgekommen sei-^n .... Auf die Frage, was er unter En bloc-
Verkäufen verstehe, sagt der Zeuge, dies sei, wenn größere Partien
Waren verschiedener Sorten zu einem Einheitspreis verkauft würden.
Die Pakette oder Dutzend seien aber immer gezählt und auch ver-
rechnet worden.«
Bitte, das war vor zehn Jahren. Aber die Feuilletonhonorare
werden von den Chefs nidit immer genau verrechnet.
•
Wie er sich schließlich doch verständlich machte
>Nach dem Empfange einer Deputation des Männergesangvereines
ließ Roosevelt die Vertreter der Presse in seinen Salon bitten. Nach
der Vorstellung der einzelnen Herrn, die sich im Halbrund aufgestellt
hatten, sprach Roosevelt zu den versammelten Vertretern der Presse in
englischer Sprache . . . Dann wandte er sich an den Vertreter eines
englischen Blattes mit der Bitte, seine Worte ins Deutsche zu über-
setzen: ,Ich stehe mit der deutschen Sprache auf schlechtem Fuße',
fügte er lächelnd hinzu.«
Der Vertreter des englisciicn Blattes soll ihm hierauf etwas
ins Ohr geflüstert haben. Danach soll Roosevelt sich entschlossen
haben, selbst die Ansprache in schlechtem Deutsch zu wiederholen.
* *
*
Keine Ausnahme
»Zeitlich kommt Mr. Roosevelt hier an, um 6 Uhr 45 Minuten
auf dem Südbahnhof. Der Bahnhofmechanismus funktioniert wie
im mer.«
Wie? Selbst bei solcher Gelegenheit?
— 58 —
Immerhin
Der Sachverständige: ]
>Wenn Professor Boss! sich auch nicht in die Einzelheiten des
Falles einlassen konnte, da seine Mission ja doch äußerste Delikatesse
erfordert, so ließ er dennoch erkennen, daß er den Fall Tarnowska tür
ein unschätzbares Beweismaterial hält in der überaus wichtigen Frage,
welchen ungeheueren Einfluß das Geschlecht der Frau auf ihre
Moral hat, ein Thema, das der Professor eingehend in seiner Revue
,La ginecologia moderna' behandelt. Die Vergangenheit der Tar-
nowska, welche bis in ihr 16. Lebensjahr zurückreicht, zeigt...«
*
Jedennoch
Der Geheimrat Harnack:
>Für die Frauen, deren Geist nach dem Höheren und Höchsten
strebt, wäre es im eigentlichen Sinne eine Unterdrückung
ihrer Natur, wenn man sie zwingt, ihre Veranlagung unbenutzt zu
lassen. Und es wäre eine Sünde, wenn man in diesem Punkte von
ihnen Entsagung forderte . . .<
* •
Reinliche Scheidung
Von Karl May sagt das Neue Wiener Journal:
Förmlich mit Schrecken ward man es gewahr, wem die keimende
Blüte des deutschen Volkes, die Jugend, wem Eltern und Lehrer ihr
Herz und ihr Vertrauen geschenkt haben, einem Strolch von seltener, von
erster Güte, einem Dieb, der sich nicht nur mit literarischem
Diebstahl befaßte, sondern auch einen Taschendiebstahl nicht ver-
schmähte, wo die Gelegenheit sich darbot ; einem Taschendieb, der auch
einem Einbruch nicht aus dem Wege ging, wo er sich zu lohnen schien.
• *
*
Der Dichter
Ein italienischer Schmock hat Gerhart Hauptmann in Portofino
besucht. »Natürlich weiß er in fesselnder Weise zu plaudernt. Der
Anfang und das Ende des Berichtes lauten:
Dieses Jahr kam er Ende Januar hierher, und jetzt schickt er
sich bereits zur Heimreise an. Der Dichter von »Hanneles Him-
melfahrt« schwärmt für diesen blühenden, abseits vom Verkehr lie-
genden Winkel Italiens ....
.... Zu denen, die sich häufiger in der Villa einfinden, gehört
Siegfried Wagner, der in Santa Margherita wohnt. Mehrere Wochen
weilte auch Humperdinck im Lande und sang mit dem Dichter der
»Weber« das Lob des blauen italienischen Himmels, wobei ein herr-
licher Wein von Orvieto getrunken wurde.
Natürlich ganz falsch informiert. Der Dichter der >Weber«
schwärmt für den blühenden Winkel Italiens und der Dichter des
— 59 —
»Hannele« sang gemeinsam mit Herrn Mumperdinck das Lob des
blauen italienischen Himmels, während Siegfried Wagner den Dichter
des »Fuhrmann Henschel« besuchte und der Dichter der »Einsamen
Menschen« es ist, der die Reporter empfängt.
•
Stimmungsbild
Zwei Theateragenten gab es. Menkes und Minkus. Menkes
starb. Minkus blieb am Leben. Aus diesem Grunde langte an ihn
ein Brief ein, den die Zeitungen veröffentlichten: »Gestern traf
auch hier die traurige Nachricht Ihres Selbstmordes ein. Ich war
aufrichtig betrübt, trotzdem glaubte ich an eine Verwechslung, bin
glücklich, daß meine Eingebung richtig war. Bravo Minkus ! Leben
Sie noch hundert Jahre. Grüße, Ihr aufrichtiger P. Mascagni.«
Bravo Minkus! Er hat sich brav gehalten. In diesem Zuruf, mit dem
zugleich eine Anerkennung und eine Aufmunterung ausgesprochen
ist, liegt erstens: ganz Italien, zweitens: das ganze Theater, drittens:
die ganze Musik, und viertens: die ganze Praterstraße. Man sieht
aufgewichste Schnurrbarte, Augen, die in einer Sardinenbüchse ge-
schwommen haben müssen, ehe sie diesen Maestros, Fechtmeistern
und Agenten eingesetzt wurden, gestikulierende Hände, die eine
Provision berechnen und Ecco, Machen wir und So wahr ich da leb
bedeuten; Lagunen, Schweißfüße, Freikarten und noch vieles, vieles
andere. Minkus blieb am Leben. Menkes starb.
Der Komet
Jetzt kommt eine schöne Zeit.
»Die im letzten Sonntagsblatte Ihres Journals erschienene Notiz
eines Herrn, welcher am 17. d. den Halleyschen Kometen von Seh rems
aus gesehen haben wollte, veranlaßte mich am 25. d. vor 3 Uhr mor-
gens in den Prater über die Sophienbrücke zu eilen, zumal der heitere
Himmel des Vorabends die Möglichkeit einer guten Beobachtung ver-
sprach . . Um beiläufig halb 4 Uhr morgens ging plötzlich ein ganz präch-
tiger, heller Stern auf . . Ich dachte sofort an Venus, jedoch ließ mein
kleines astronomisches Fernrohr die Konturen nicht erkennen, da das
Gestirn noch zu tief stand . . Die Venus, denn sie war es, erschien in
der Gestalt, wie sie unser Mond am Schlüsse des ersten Viertels auf-
weist. Ein Rayonsicherheitswachmann, der sich sehr bald bei
mir eingefunden hatte, konnte sich auch des ungewohnten Anblickes
erfreuen. Vom Kometen aber war mit freiem Auge nichts zu sehen . .«
Der Beobachter nennt sich einen »Freund des Neuen Wie-
ner Tagblatts«. Ja, die Freunde I
— 60 —
Zusammenbruch eines angesehenen Klischees
», Daily News' bringen folgenden keineswegs erfreulichen Bericht
über das Aussehen und das Befinden König Eduards: Nach der soeben
überstandenen Influenza ist des Königs Schritt nicht mehr
elastisch zu nennen . . . .<
*
Die verhobene Moral
Bekanntlich halten es jetzt die Leute, die »Komödche
machen« und jedem illustrierten Erpresser, Fünfguldenmann und
Kulissenschnüffler »Grüß Gott, Doktor!« sagen, mit der sittlichen
Entrüstung. Es geht um das Problem der »Prostitution« ihrer
Kolleginnen, und die wollen und wollen sie nun einmal nicht
dulden, weil die Gottesgabe einer munteren Liebhaberin, sich hin-
zulegen, viel weniger Strapaze kostet und viel mehr allgemeine
Anerkennung findet, als der Entschluß, den »Hüttenbesitzer« hin-
zulegen. Der von der Bühne vertriebene Hanswurst ist jetzt in der
Gestalt der Moral wiedergekehrt und macht die Gebärden des
im Vordergrund agierenden bürgerlichen Pathos nach. Sie wollen
sich verbürgerlichen und fangen selbstverständlich bei der Sittlich-
keit an und bei der kunstfeindlichen Ambition des Geschlechts-
neides. Nun könnte ja trotzdem ein Theaterdirektor ein schuftiger
Mißbraucher der Abhängigkeit sein. Aber bezeichnend ist, wie sich
die Sozialpolitik dieses Standesbewußtseins vor allem des Tonfalls
der Moral bedient. Der Bericht der Neuen Freien Presse über den
Fall des Berliner Direktors Zickel macht diesen Drang sehr an-
schaulich. Und nachdem es durch zwei Spalten in Andeutungen
schrecklichster Art gegangen ist und der Herr Zickel beschuldigt
wurde, sich nicht nur an einer anderen jungen Schauspielerin »ver-
griffen*, sondern »sogar bei der Beseitigung der Folgen mitgewirkt
zu haben«, schlägt die Setzmaschine die Hände über dem Kopf
zusammen, und man liest den folgenden Passus:
Diese wie eine andere Schauspielerin behaupten,
daß Dr. Zickel in seinem Bureau unsittliche Annäherungen
Lustspielhaus engagiert worden ist, daß sie schließlich in
irgendwie einer Verfehlung schuldig gemacht zu haben. Die
Angaben der Damen müßten mit großer Vorsicht aufge-
versucht habe. Dr. Zickel bestreitet in allen diesen Fällen,
zum Teil durch Briefe, die von den Damen selbst stammten,
die Angaben zu widerlegen.
Ich bin ganz derselben Ansicht.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
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Inhalt der vorigen Nummer 300, 9. April 1910: Sprüche. Von Ri
Dehmel. — Eingebildete Kranke. Von August Strindberg. —Judas Isch:
Von Peter Hille. — Widmung. Von Peter Altenberg. — Lied. Von A
Schönberg. — Eine Zeichnung von Pascin. Von OJto Stoessl. — Aufn
die Wiener. Von Adolf Loos. - Ein Brief von Ferdinand Kurnberge
Pro domo et mundo. Von Karl Kraus. - Ein Gruß von Stanislaw 1
byszewski. (In d?r Beilage ein Register der Autoren und Beiträge, verfal
eingeleitet von Ludwig Q 11 mann.)
ii Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Karl Krau»
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstr. 3
303/304 31. MAI 1910 XI^ JAHR
DIE FACKEL
HERAUSGEBER:
KARL KRAUS
INHALT:
KARL KRAUS: Glossen / FRANZ GRILLPARZER: Dem
internationalen Preßkongreß / OTTO STOESSL: Dieter
und der Beamtensohn / GRETE WOLF: Der Erwartungs-
lose / BERTHOLD VIERTEL: Pferderennen / Meine Wiener
Vorlesung / KARL KRAUS: Philosophen
NACHDRUCK VERBOTEN
PREIS DER DOPPELNUMMER 60. HELLER
ERSCHEINT IN ZWANGLOSER FOLGE
\TiRLAG: ,DIE FACKEL* \X^N — BERLIN
WIEN, ma, fflNTERE ZOLL-\MTSSTRASSE 3 TELEPHON Nr.^ 187
BERLINER BUREAU: HALENSEE. KATHARLNENSTRASSE 5
Akl^demischer Verband für Literatur und Musik
Die
II. Vorlesung Karl Kraus
Heine und die Folgen
(Essay, unveröffentlicht)
Die chinesische Mauer
oder
Der Biberpelz (unveröffentlicht)
findet am 3. Juni, V28 Uhr, im Festsaale
des Ingenieur- und Architekten - Vereines,
Wien, I. Eschenbachgasse Q statt
Ein Teil des Reinertrages des Abends geh^ört dem kranker
Dichter Peter Altenberg
Die Kartenausgabe (10, 5, 2, 1 Krone) erfolgt auf Grun(
srchiftlicher Anmeldung in der Buchhandlung A. Schönfeld,
DIE FACKEL
Nr. 303/304 31. MAI 1910 XHJAHR
Glossen
Von Karl Kraus
Der Komet in Wien
Der Wiener und die Unendlichkeit — das unwahrschein-
liche Schauspiel wäre glücklich überstanden. Wenn der Komet
gefährlich ist, so ist er es nicht so sehr vermöge der ihm inne-
wohnenden Blausäure als wegen der nicht auszudenkenden Möglich-
keit, daß sich bei seiner Annäherung jeder Trottel kosmisch gestimmt
fühlt. Es ist nicht so weit gekommen. Nur eine fürchterliche Spielan
kosmischer Denkfähigkeit wurde uns beschert: jene, die vor dem
Untergang die Tröstungen der Wissenschaft empfängt. Der auf-
geklärte Großstädter, dem nichts passieren kann, weil die Neue
Freie Presse es mit der Sternwarte hält und die Vorsehung sich
hüten wird, es mit der Neuen Freien Presse zu verderben; und
der stolz ist, weil der Papst. Kalixtus gegen den Kometen noch
eine Bulle erlassen mußte, während heutzutag der Papst Benedikt
mit einem Leitartikel denselben Effekt erzielt. Ach, die knie-
rutschende Angst, die in früheren Jahrhunderten das Ende der
Welt erwartete, war schlechter informiert, aber besser beraten, als
die Zuversicht, die das Morgenblatt erwartet. Dieses erdensichere
Gesindel wird eines Tages fürchterlich aufsitzen, wenn es den
Kometen anulkt und inzwischen die Dummheit ihr Zeiatörungs-
werk an der Welt vollendet hat. Der Ernst des Kometen wäre so
trostlos nicht wie sein Humor. Denn wenn die Welt kaput geht,
bleibt der Geist bestehen, aber wenn sie nicht kaput geht, bleibt
die Dummheit bestehen, und ein ungefährlicher Komet macht das
Übel schlimmer, da er jeden Friseur zum Philosophen und jeden
Redakteur zum Humoristen macht. Nichts ist leichter, als vor dem
Kometen Humor zu haben, denn je kleiner die Menschlichkeit, in
— 2 ~
desto größerer Kontrastwirkung erscheint er am Himmel, voraus-
gesetzt, daß er erscheint. Aber wenn auch die Sterne nicht lügen,
so müssen darum die Astronomen nicht die Wahrheit sagen, und
es hat sich herausgestellt, daß sie vom Kometen lange nicht so
viel verstehen wie die Praterwirte, die bei seiner Erwartung besser
abgeschnitten haben als jene bei seiner Erfüllung. Denn bis sich auf
allgemeines Verlangen dieser Nebelstreif am Himmel zeigte, haben
sie die Existenz des Kometen mit seiner Unsichtbarkeit bewiesen
und den Durchgang aus der Feststellung, daß man ihn nicht beob-
achtet habe. Sie sagten, daß das, was wir nicht sahen, der Komet
gewesen sei, und nur ihrer ehrenwörtlichen Versicherung glauben
wir jetzt, daß das, was wir sehen, der Komet sei, weil wir ja
schließlich keinen Grund haben, anständigen Leuten zu mißtrauen.
Der religiöse Glaube sorgt auch für die Sinne. Was aber sind die
Tröstungen einer Wissenschaft wert, die einen kahlen Himmel
bietet? Er bewahrte uns vor Cyanwasserstoff; doch das vergeben
ihm die Wiener nicht, daß er um ein Spektakel sie betrog. Der
Komet ist ungefährlich; aber daß man auch die ganze Zeit nichts
Verdächtiges bemerkt hat, untergräbt den Kredit der Wissenschaft
und zerstört nur jenen Kometenaberglauben, unter dem man fortan
den Aberglauben versteht, daß es Kometen gibt. Nun soll ja der
Astronomie, die gewiß eine riegelsame Wissenschaft ist, nicht nahe-
getreten werden, aber sie hat sich diesmal schwer kompromittiert,
weil sie sich den Hervorrufen eines fortschrittlichen Oafferpöbels
eher und bereitwilliger zeigte als der Komet. Sie hat sich täglich
mit den Reportern der Aufklärung eingelassen und sich damit auf
ein Niveau begeben, auf dem sonst nur die Vertreter einer anderen
Wissenschaft nach dubiosen Ehren auslugen, nämlich jener, die
auf Wunsch der Nachtredaktion über einen hohen Patienten Fern-
diagnosen stellt. Gewiß, sie haben eine Bevölkerung beruhigt, die
bisher bloß gewohnt war, auf ein Dach hinaufzuschauen, während
sich jetzt die Verkehrshindernisse auch durch die Betrachtung des
Firmaments ergaben. Aber sie haben diese Bevölkerung zugleich
enttäuscht und die Aufgeklärtheit, zu der sie ihr täglich zweimal ver-
halfen, in Nihilismus verwandelt. Sie sollten aus Schamgefühl die
Sternwarte zusperren, wenn sie heute den Satz im Kometenbericht
lesen: >An einem Tische wird der Artikel des Hof rates Weiß, der
im heutigen Abendblatt der Neuen Freien • Presse erschienen ist,
verlesen. Die Stelle, welche den Anblick für die nächsten Abende
— 3
in sichere Aussicht stellt, findet bei dem Publikum lebhaftesten
Beifall». Halley hatte es auf diesen Beifall nicht abgesehen, und
dennoch gelang es ihm, den Kometen zu einer Produktion zu ge-
winnen. Unsere Welttheateragenten aber dachten an das Publikum, und
als es wie die Buben auf der Galerie einer italienischen Schmiere
zu stampfen begann, kamen sie immer wieder heraus und beruhigten
es mit Versicherungen von eingetretenen Hindernissen, Wolken-
vorhang, Kostümwechsel, Unpäßlichkeit und was dergleichen Aus-
reden mehr sind, die aufgeregte Impresarios stets bei der
Hand haben, wenn die Laune eines Stars sie blamiert hat.
»Nach Sonnenuntergang war der westliche Himmel in Dunst
gehüllt Es ist dagegen zu erwarten, daß der Komet morgen
Samstag abends endlich am Wiener Himmel erscheinen werde.
Das Publikum möge nicht ungeduldig werden
und noch einen Tag zuwarten — schließlich wird der
Halleysche Komet in aller Pracht erscheinen«. Er erschien nicht;
nicht Samstag, nicht »heute und die folgenden Tage«. Aber den
Dunst, den man einem Publikum vorgemacht hat, auf den Himmel
schieben, ist eines Astronomen unwürdig, vorausgesetzt, daß er
nicht darauf spekuliert, das Geschäft jenes Impresarios zu über-
nehmen, der sich kürzlich in Wien aus unglücklicher Liebe zu
einem Stern zweiter Größe umgebracht hat. Daß den Herren
der Komet zwischen der Sonne und der Erde durchgegangen
war, ist ja gewiß tragisch, aber wenn sie nicht so heftig mit der
kosmischen Pünktlichkeit geprotzt hätten, hätte ihnen niemand aus
der kosmischen Unordnung einen Vorwurf gemacht. Auch die Süd-
bahn wird ja nur deshalb geladelt, weil sie so unvorsichtig ist,
einen Fahrplan herauszugeben. Und so ist es gekommen, daß nicht
nur die Welt im allgemeinen nicht zugrundegegangen ist, sondern
insbesondere nicht das Wirtsgeschäft auf dem Kahlenberg. Wien
hat ein gastronomisches Ereignis zu verzeichnen. Wäre die Welt
untergegangen, dann hätten nur die Fiaker profitiert, weil sie sich
für berechtigt gehalten hätten, den ihnen gebührenden Betrag mit der
Begründung zurückzuweisen : »Aber Euer Gnaden, an so an Tag!« So
aber bleibt alles beim Alten. Der Wiener, dem Basiliskenblick der
Ewigkeit entronnen, hat zum Hausmeister zurückgefunden. Die
Zehnuhrsperre dieser kleinen Welt läßt sich ertragen.
— 4 — .
Erdbeben
Eine der seltsamsten Naturerscheinungen. Ich saß gerade —
so hätte ich der Neuen Freien Presse geschrieben, wenn sie noch
einen geologischen Beitrag von mir annähme — um 9 Uhr
19 Minuten abends am Schreibtisch und redigierte die Satire »Erd-
beben«, die in mein demnächst erscheinendes Buch kommt.
Ich ahnte nichts Böses, sondern freute mich im Gegenteil, wie
damals die Neue Freie Presse hineingesprungen ist, erinnerte mich
an die erschütternde Wirkung dieser tellurischen Komik, die sogar
bis nach Norddeutschland verspürt wurde, denn die Erdbebenwarte
von Hamburg beschloß, die Nummer der , Fackel' ihrem Archiv
einzuverleiben. Ich las den Artikel immer wieder, erinnerte mich,
wie damals jeder Trottel seinen Stoß im Morgenblatt haben -mußte,
las immer wieder den Brief, den ich unter dem Inkognito eines Zivil-
ingenieurs Berdach von der Glockengasse der Neuen Freien Presse
geschickt hatte, und dachte noch: So etwas kommt nie wieder.
Das war am II, Mai um 9 Uhr 19 Minuten abends. Am nächsten
Tag traute ich meinen Augen nicht. Da ich im Hochparterre wohne
und ohnedies kein Blatt von meiner Erschütterung Notiz nehmen
würde, spüre ich nie ein Erdbeben. Aber just um die Zeit, da
ich das Erdbeben las, geschah es! Und alles hatte sich, wie
ich aus den Morgenblättern erfuhr, genau so wieder abgespielt.
Nur mit dem Unterschied, daß die Neue Freie Presse durch
Schaden klug geworden war und bis auf einen vereinzelten
Taussig nur noch anonyme Erdbebenbeobachter zu Wort kommen
ließ. Dagegen das Neue Wiener Tagblatt! Es ging durch
zwei Tage in der von Herrschaften abgelegten Dummheit stolz
einher. Kein Papagei eines Abonnenten konnte verstummen, ohne
daß das Blatt zu plappern begann. Fein lokaler Teil wird aber dafür
auch von einem bekannten Shakespeareforscher redigiert, der soeben
sein »dreißigjähriges Schriftstellerjubiläum« gefeiert hat, zu
welchem Anlaß die Wiener Presse dem Schwan von Avon etwas
Gänseschmalz abnahm. Um aber auf die Papageien zurück-
zukommen imd auf die Eindrücke, die dieses Erdbeben bei der
ganzen Kreatur zurückließ, soweit sie das Neue Wiener Tagblatt
liest: es war im höchsten Grade ekelhaft. Die vornehme Neue
Freie Presse begnügte sich gelegentlich mit der Versicherung, daß
man im Restaurant Hartmann nichts vom Erdbeben gespürt habe
(vom Hopfner liegt keine Meldung vor), und unterdrückte sogar die
— 5 —
Beobachtung, daß es doch sonst in den Chambres separees drunter
und drüber geht. Sie sagte bescheiden, »durch das vor zwei Jahren
erfolgte Beben sei die Bevölkerung von Wien mit seismischen Tatsachen
vertrauter geworden«, und sie brauchte das Verdienst Berdachs nicht
erst zu berufen, man wußte doch, wen sie meinte. Das Neue Wiener
Tagblatt aber war damals von der Neuen Freien Presse beschämt
worden und wollte jetzt die Erdbebendummheit hereinbringen. So
hat denn ein Abonnent in der Innern Stadt nach dem Nachtmahl
etwas »unter seinem Fauteuil« gehört, seine Umgebung aber habe
»nichts davon verspürt«; »immerhin war der Vorgang gegen das
letzte Erdbeben bei weitem harmloser«. Ein Advokat hatte
das Gefühl, »daß das Erdbeben in der Leopoldstadt besonders
stark war«. Das ist schon möglich, das Erdbeben weiß, was gut
schmeckt. Während 1908 die Porzellangasse für besonders gefährdet
galt, scheint die aufgeregte Natur diesmal die Glockengasse gesucht
/.u haben, wo der Zivilingenieur Berdach wohnt. Sie fand ihn aber
nicht zuhause und rumorte deshalb erst recht in der Gegend. »Auch
meine Frau«, beginnt einer und schon spüren wir die historischen
drei Stöße, aber es ist diesmal nichts, sie glaubte nur, der Sessel
werde gehoben, denn sie >saß im Nebenzimmer und las gerade
das Neue Wiener Tagblatt«. Ausgerechnet!, sagen in einem solchen
Fall die Bewohner der Pralerstraße, in der sich der Unfall begab.
Einer wieder hat eine schwingende Bewegung bemerkt und schreibt
darüber: »Ich schickte zur Hausbesorgerin, um zu fragen, ob sie
auch etwas davon bemerkte, was diese verneinte«. »Wir wohnen in
der Teilgasse«, schreibt ein Abonnent. Aha, er lebte still und
harmlos, da schaukelt plötzlich das Bett. Durch diese hohle Gasse
aber muß es ins Neue Wiener Tagblatt kommen. Der Brief endet
mit den Worten : »Entsetzt lief ich zum Fenster, der Meinung,
der Weltuntergang sei nahe. Familie Reif«. Eine packende
Schilderung wird der ,Zeit' mitgeteilt, die freilich aus lokal-
patriotischen Gründen behauptet, daß das Erdbeben dem neunten
Bezirk den Vorzug gegeben habe. »Ehe ich mir noch beim
Beginn des Erdbebens ein Urteil über die Natur der Er-
scheinung bilden konnte», gesteht ein Bankprokurist - denn
die intelligenten Berufe müssen sich beim Weltuntergang
sofort ein Urteil über die Natur der Erscheinung bilden,
das haben sie von ihren Zeitungen gelernt — , »sah ich schon,
wie meine Frau ruckartig mit angstverzerrten Zügen den Kopf
— 6 —
zur Seite riß und sich ans Herz griff ... Sie murmelte nur
das eine Wort: Erdbeben. Erst durch diese Äußerung bin icii
aufgeklärt worden«. Das Erdbeben — um ein solches handelte es
sich also — hatte >mit einem knallartigen Geräusch begonnen,
während dessen ich einen vertikalen Stoß von unten nach aufwärts
verspürte, dem dann ein horizontaler Stoß, vermutlich in der
Richtung Nordwest-Südost, folgte . . .< Das ist ja das Fabelhafte, und
das habe ich an diesen intelligenten Berufen immer bewundert : daß
sie im Moment eines Erdbebens gleich auf die Uhr sehen
und auch genau über die Richtung des Stoßes orientiert sind.
Unsereins ist in ruhigen Zeiten nicht imstande, Westen und
Osten zu unterscheiden, höchstens nach den Manieren, die etwa
ein Engländer und die ein Abonnent der ,Zeit' hat. Aber die
Abonnenten der ,Zeit', die sind, sobald nur ihre Frauen das Wort
Erdbeben murmeln, auch schon aufgeklärt, murmeln Nordwest-
Südost, und haben außerdem noch die Geistesgegenwart, sich
sofort hinzusetzen und die vom Land stammende Schickse,
die nicht aufgeklärt ist, sondern in der Küche mit Heulen
und Tellerklappern den Weltuntergang erwartet, in die Redaktion
zu schicken, damit der Brief noch bestimmt ins Morgenblatt
komme . . . Vom nächsten Erdbeben ist zu hoffen, daß es — mit
besonderer Berücksichtigung des zweiten und des neunten Bezirkes
— uns den Anblick dieser Greuel ein für allemal entzieht.
S. M.
Der journalistische Erfolg, den sich der König von Bulgarien
durch sein Interview mit dem Siegmund Münz geholt hat, ließ den
König von Rumänien nicht schlafen, er bewarb sich um eine
Zusammenkunft und bald hatte er Gelegenheit, den S. Mz., der
sich jetzt gradezu S. M. nennt, in Bukarest zu begrüßen. Zunächst
hören wir: »Unsere Yacht ist dicht am Kai verankert«. Aber es
ist nur eine Täuschung, wir sind nicht in der Oberen Donaustraße,
sondern wirklich in der Gegend des Schwarzen Meeres. Am Strand
taucht bereits eine rumänische Prinzessin auf, und S. M. erinnert
sich an Ovid : >Auch die römische Kaisertochter Julia, in welcher
der alternde Poet in Liebe entbrannt war, kann nicht viel schöner
gewesen sein als diese Prinzessin Bibesco, die hier einsam spaziert
— 7
und sich in Zwiegesprächen mit den heute sanft rauschenden, aber
nicht selten zornig stürmenden Wogen « Genug! Der König
wartet. Münz gibt Empfehlungen ab. Wozu? Man weiß, wer er
ist Aber >die Spitzen der Bukarester Gesellschaft drängten sich
heran«. Es ist nämlich der Geburtstag des Königs und er hat
sich den Münz gewünscht. »Wir besorgten, in dem Meer von
Namen unbeachtet zu bleiben«. Das ist nicht zu befürchten; der
König wartet ifnd weiß, was ihm bevorsteht. Münz lernt vorher
Herrn Jonescu kennen, »einen berühmten Operateur, der ein
Mittel gefunden hat, um durch Injektion in der Wirl)elsäul€ die
schwersten Operationen bei völligem Bewußtsein der Patienten
schmerzlos vorzunehmen«. Der König kann also beruhigt den
Münz empfangen. Aber dieser zaudert noch. Er geht in die Oper
und sieht dort in einer Loge »eine orientalische Schönheit auftauchen
— eine von magischem Zauber umflossene, blasse Salamb6-Gestalt,
und als Heldin des Goncourtschen Romans ist sie auch bei einem
Maskenball aufgetreten«. Salambd ist zwar von Flaubert, aber
das macht nichts, »von dieser in die Farben des Orients getauchten
südlichen Glut hebt sich die reinere, gleichmäßigere germanische
Schönheit der Konprinzessin ab. Dort sitzt in einer Loge die blonde,
rotwangige und blauäugige Kronprinzessin im hellen Zauber ihrer
noch frischen «. Genug! Der König wartet. Aber der Münz
tut sich noch bißchen in Bukarest um. Wieder, wie in Sophia, ver-
gleicht er das Stadtbild mit dem Konstantinopels, und nicht mit
dem Leipniks. »Da wir von Konstantinopiel kommen, so bleiben
unsere Ansprüche an morgenländischen Zauber, an die Romantik
des Verfalls, an das Reizvolle des Beschaulichen unbefriedigt« Der
Münz ist anspruchsvoll. Er gibt zu: »Hier ist ein starkes Auf-
streben ohne Märchenduft wahrnehmbar«. Immerhin also. Hierauf
werden sie vom Minister des Äußern empfangen. Münz be-
gleitet auf der ganzen Reise einen Sir Max Wächter, der sehr
viel unnützes Gepäck mit sich führt, nämlich einen Plan einer
europäischen Föderation auf wülschaftlicher Grundlage. Diesen
Plan trägt Herr Wächter sämtlichen Regenten und Ministern
sämtlicher Balkanstaaten vor und alle sagen nur das eine: >Wir
können für diese Sache nur die größten Sympathien hegen, aber
wir sind ein kleiner Staat«, und immer wieder meldet es uns Herr
Münz. Der Balkan schickt Spielereihausierer nach Europa und
Europa revanchiert sich mit dem Sir Max Wächter, der immer
— 8 —
wieder eine Föderation auf wirtschaftlicher Grundlage anbietet. Und
der König wartet. Endlich! »Er zog mich schnell in ein freundliches
Gespräch.« Das tun diese Könige immer, um den ersten unange-
nehmen Eindruck rasch zu überwinden. >Nur im Anfang unseres
Gespräches hatte ich Gelegenheit, den König ein wenig ins Auge zu
fassen.« Aber ein wenig wollte der König Herrn Münz im Dunkeln sehen,
»und erst im Augenblick, als er sich zum Abschied erhob, flammten
die elektrischen Lichter auf«. Da machte Münz eine merkwürdige
Beobachtung. »Ich hatte den König seit Jahren nicht mehr gesehen.
Er ist seither älter geworden...« Das Interview selbst
verlief anregend. Der König wollte alles Mögliche wissen; ja, er
war vielleicht noch neugieriger als der bulgarische. »Der König
erkundigte sich mit großer Liebenswürdigkeit nach den Orten, die
ich auf meiner bisherigen melirwöchentlichen Orientreise besucht
hatte, fragte mich, ob ich zum erstenmal in Rumänien sei, und wie
es mir hier gefalle. Ich antwortete dem König, daß ich zum
erstenmal hier sei und daß ich mich angeheimelt fühle durch die
lateinischen Anklänge der Sprache.« Das ist interessant, daß er
diese Anklänge »lateinisch« nannte. Aber gleich darauf bekannte er
Farbe: »Ich muß Majestät gestehen, daß ich hier die Empfindung
habe, unvergleichlich näher an Wien zu sein, als an Konstantinopel.«
Seine Erinnerung ist also dicht am Kai verankert. Nun aber wurde
es diplomatisch. »Eure Majestät stehen in dem unzweifelhaften Ruf,
ein fester Hort des Friedens im südöstlichen Europa zu sein«,
und: »Eure .Majestät gelten als ein Bürge des Statusquo auf dem
Balkan.« Dann sprach auch der König wieder. Er meinte, daß
in der Öffentlichkeit Zusammenkünfte zwischen Monarchen über-
schätzt werden, »Der König trug dies schlicht ausführend und
keineswegs etwa belehrend vor.« Wie würde er! Aber die Entrevue
zwischen S. M. von Rumänien und S. M. von der Neuen Freien
wird gewiß auch überschätzt werden. Sie trug rein privaten
Charakter, der König wollte bloß dies und das wissen. Der
Bulgare hatte nach Konstantinopel gefragt. Der König von Ru-
mänien »erkundigte sich nach meinen in Sophia gewonnenen
Eindrücken«. Man kann begierig sein, wie sich das die Balkanfürsten
weiter einteilen werden. Der Rumäne aber verglich selbst Bukarest
mit Sophia. >Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß die Zahl der
Analphabeten in Rumänien größer ist als im Königreich Bulgarien.«
Das war aber keine Beleidigung, wiewohl der Münz jetzt in
9 —
Rumänien und nicht mehr in Bulgarien ist. Er war so taktvoll,
auf die Judenhetzen abzulenken, denen er die Schuld an der
Rückständigkeit gab. >Die Judenfrage war eine der schwersten
Sorgen meiner Regierungszeit«, sagt der König, wobei er offenbar
auf die Uhr sieht, >und sie fährt fort, mir Sorge zu machen«. Der
Münz aber versteht nicht und appelliert an die Humanität: »Von
Eurer Majestät abgeklärtem Sinn darf man wohl . . . gleiches
Recht . . . Untertanen«. Der König empfindet, daß sich hier ein
Leitartikel auswächst, und schneidet schroff ab: »Die Judenfrage
ist uns keine Frage der Religion — es ist eine wirtschaftliche
Frage. Der Rumäne ist von Natur tolerant. Aber es ist die wirt-
schaftliche Überlegenheit der Juden, gegenüber welcher sich die
nationale Strömung zur Wehr setzt. Es sind Agrarbanken errichtet
worden. Sie können beitragen, das rumänische Element vor ver-
derblicher Ausbeutung zu schützen«. Sie, nämlich die Agrarbanken,
nicht die Neue Freie Presse, die diese Bemerkung des Königs
offenbar nicht bemerkt hat und die den Münz anweisen wird,
künftig sofort den Audienzsaal zu verlassen, wenn der König von
Rumänien wieder derartige Ansichten äußern sollte, welche dann bei
der Drucklegung durchrutsclien können. Der Münz suchte aber
schon diesmal auf den König einzuwirken: >Eure Majestät, die
objektivere Erkenntnis der Monarchen, die auf der Menschheit
Höhen wandeln, mildert oft die Volksleidenschaften«. Bravo!
Der König lenkt ein. >Und wie oft obliegt uns tatsächlich diese
Aufgabe!« bekennt er. Überhaupt weiß ihn der Münz mit
originellen Wendungen zu fesseln. Wie steht's denn mit den
Erinnerungen, die der König schreibt? >Es wäre wünschens-
wert, daß Eure Majestät den abgebrochenen Faden der Er-
zählung wieder aufnehmen«. Oder: »,Wir erkennen', meinte ich,
,in der auswärtigen Politik Rumäniens die weise lenkende
Hand des erfahrenen Steuermanns, der seit mehr als vier Jahr-
zehnten das Land beherrscht'«. »Haben Sie sich Bukarest ange-
sehen?« antwortet darauf der König. Und dann: »Gehen
Sie nach Sinaia?« Und endlich: »Ich weiß, daß auch die
Königin Sie jetzt sehen will«. Die Audienz hatte eineinviertel
Stunden gedauert. »Die Königin empfing mich nach wenigen
Augenblicken und behielt mich bis nach halb 9 Uhr bei
sich.« Also eine volle Stunde. »Aber das Gespräch war zu
inhaltsreich und zu bedeutend, als daß ich es im Rahmen dieser
— 10 — ,
Mitteilungen wiedergeben könnte<. . , 5. Mai 1910. Bis heute,
27. Mai, ist nichts erschienen. Die Neue Freie Presse ist imstande
und bringt auch das noch ! . . Münz-Empfänge und kein Ende.
Auch der türkische Thronfolger Jussuf Izzedin Efendi muß dran
glauben. Wir begegnen Münz wieder in Konstantinopel, seine .An-
sprüche an morgenländischen Zauber werden vollauf befriedigt. Im
Wartezimmer sieht er »einen alten und einen jungen Orientalen«.
(Münz ist ein Mann gut in den Vierzigern.) »Der Alte ist grellstes
Morgenland ... Er ringt die Hände, schließt die Augen, seine
Lippen bewegen sich«. Münz hält das für ein Gebet. Aber es ist
ein Fluch. Das Morgenland wehrt sich. Der Alte hofft. Münz werde
weggehen. »Er neigt sich vor, richtet sich wieder auf und wirft
sich wieder zu Boden, und so geht es fort wohl mehr als ein
dutzendmal, ein nicht endenwollender Wechsel von Zerknirschung
und Erlösung . . .< Endlich wird Münz abgeführt. Denn der Thron-
folger wartet. Dieser spricht zunächst mit dem Sir Max Wächter.
Europäische Föderation auf wirtschaftlicher Grundlage gefällig? Danke
nein. Dann spricht der Thronfolger den Münz mit dem folgenden
Satz an: »Ich schätze den großen Wert der Presse, denn sie ist eines
der wirksamsten Mittel, um dem Fortschritt der Menschen zu dienen,
imd ihr wachsames Auge ist oft mit Erfolg darauf gerichtet, daß
die für den Fortschritt unumgänglich notwendigen freiheitlichen
Einrichtungen gewahrt bleiben«. Münz »gibt der Genugtuung
über diese Äußerung Ausdruck«. Der Thronfolger fährt fort: »Unsere
Verfassung ist das Panier unseres Fortschrittes«. Er spricht wie ein
Fezfabrikant, der in der Neuen Freien Presse einen Aufruf als
Gemeinderatskandidat für den ersten Wahlkörper des ersten Be-
zirkes erläßt. Dann geht das eigentliche Interview los: »Sind Sie
zum erstenmal in Konstantinopel? Und wie gefällt es Ihnen hier?«
»Zum erstenmal, kaiserliche Hoheit«, antwortet Münz, »und ich
bin berauscht von der Schönheit dieser Stadt, die so einzig in der
Welt dasteht. Aber darf ich mir ein offenes Wort erlauben? Es
wäre wünschenswert, daß sich diese herrliche Stadt in moderner
Richtung entwickle . . .« Unter den Einrichtungen, die ihm in
Konstantinopel entschieden fehlen, nennt Münz das Telephon.
Der Thronfolger sagt: »Seien Sie geduldig mit u n s. Ich hoffe,
daß Sie, wenn Sie in zehn Jahren wiederkehren, in der Lage sein
werden . . .« Früher hofft der Thronfolger den Münz in Kon-
stantinopel nicht zu sehen. Der Thronfolger stellt Fortschritte in
— 11 —
Aussicht, Münz spricht sofort von Beteiligung. >Darf man, kaiser-
hche Hoheit, erwarten, daß es auch den Ausländem gegönnt sein
wird, sich an der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei zu be-
teiligen?< Der Thronfolger lenkt ab und sagt, daß »die Konstitution
die Gewähr der Gleichheit aller Nationen und Religionen« ist.
Münz leuchtet. »Also werden, kaiserliche Hoheit, auch die Nicht-
türken und Nichtmoslims unter den Hut der Verfassung . . . .«
Er sagt Hut, jener sagt Hort. Er sagt: gleiche Pflichten und
gleiche Rechte aller Untertanen; jener sagt: berechtigte Wahrung
der nationalen und religiösen Unterschiede. Münz sagt, der Ge-
neral von der Goltz Pascha schreibe für die Neue Freie Presse.
Der Thronfolger fragt: »Haben Sie während Ihres Aufenthaltes in
Konstantinopel eine Truppenrevue gesehen ?€ Münz lobt die
Truppen. Der Thronfolger freut sich, daß er nicht wie Sir Max
Wächter »für die Abschaffung der Armeen sei«. >Und der Prinz
lächelte und rieb sich die Hände.« Münz erläutert das Programm
des Herrn Wächter und spricht vom Statusquo. Darauf spricht
auch der Thronfolger vom Statusquo und setzt hinzu: »Es ist
nichts so wichtig, als in den Zeiten des Friedens dem Fortschritt
durch die Befestigung der Konstitution zu dienen. < »Das Wort
.Konstitution' sprach der Thronfolger wiederholt aus, und zwar in
dieser europäischen Form, nicht in der türkischen Übersetzung«. Nun
wird aber der Sir Ma.x Wächter noch vom Sultan empfangen werden
und wird dem Münz und dieser uns alles erzählen. Münz begleitet ihn
nur. Er beobachtet ein neues Schauspiel: Drei Knaben treten auf
und tragen irgendetwas. »Unerfahren in den Bräuchen des kaiser-
lichen Palastes, glaube ich, es handle sich um die Einleitung zu
irgend einer religiösen Funktion.« Aber es wird bloß schwarzer
Kaffee serviert. »Und als ich die Schale in Händen hielt, nahm ich
staunend wahr, daß die goldene Untertasse ganz mit Brillanten
besetzt war.« Noch mehr aber staunte Münz, als er später von
einem Eingeweihten erfuhr, »daß bis auf den heutigen Tage keine
der goldenen diamantenbesetzten Schalen aus dem kaiserlichen Ser-
vice fehle«. Es waren eben bisher nur Leitartikler und keine
Volkswirte im Serail. Die Audienz wegen der Föderation auf
wirtschaftlicher Grundlage ist zu Ende. Sie fahren an dem Par-
lament vorüber und Münz zitiert: »Leergebrannt ist die
Stätte!« Noch lange aber begleitet ihn die Erinnerung an das
Gespräch mit dem Thronfolger, »die Erinnerung zumal daran,
— 12 —
wie er immer und immer wieder das fremde Wort , Konstitution'
sprach« . . . Dem Bosporus wird übel, der Ballcan kracht, und die
Fürsten beschließen endlich eine Föderation auf wirtschaftlicher
Grundlage, weil sie auf anderem Wege die Neue Freie Presse nicht dazu
bringen können, ihnen den Münz nicht mehr ins Haus zuschicken.
Eine Kollektion Ansichtskarten
Das einzig Interessante, was man bei der Eröffnung der
Jagdausstellung sehen konnte, soll der Hirsch gewesen sein. Nämlich
der von der Neuen Freien Presse. Sie hatte ihn lebend beigestellt
und er tummelte sich zwischen den Jägern herum, kam zutraulich
näher und fraß aus der Hand. Dieser Hirsch hat die Eigen-
schaft, daß er auf die Honoratioren Jagd macht, und da es sich somit
um ein Unikum handelt, beschloß man, die denkwürdigsten
Momente des Schauspiels, das sich bei der Ausstellungseröffnung
darbot, durch Ansichtskarten zu verewigen. Unter dem Vorwand, den
Kaiser zu porträtieren, nahm man den Hirsch auf. Wer jetzt vor
einer Ansichtskartenhandlung stehen bleibt, kann sich unschwer
davon überzeugen, daß die weidmännische Pointe dieser Aufnahme
der Hirsch war. Man erkennt ihn auf den ersten Blick, auch
wenn man ihn im Leben nie gesehen hat, und ich setze einen
Preis aus für den, der ihn verkennt. Da steht zum Beispiel der
Kaiser und vor ihm der Präsident, und der Präsident scheint eine
Ansprache an den Kaiser zu halten. Aber auf dem Anstand wartet
der Hirsch. Bum, hat ihn schon! Wir sind Zeugen des denkwürdigen
Moments, wie sich im Hirn des Vertreters der Neuen Freien Presse
die Eindrücke formen. Ein Gesicht, das auf den ersten Blick dem
Charakterkopf Rudolf Lothars gleicht, aber es ist der Hirsch, ich
weiß, es ist der Hirsch ; denn der Lothar jagt für den Lokalanzeiger.
Wie befangen stehen die Honoratioren neben ihm: er blickt
interessiert, aber ruhig drein, den Kopf ein wenig vorgebeugt,
seiner Sache sicher. Dies das erste Bild. Auf dem zweiten Bild
sehen wir den Hirsch elastischen Schrittes neben dem Kaiser einen
Pavillon verlassen. Der Momentphotograph hat den Augenblick in
der bekannten charakteristischen Weise festgehalten, wie die
aufgenommene Persönlichkeit den einen Fuß auf den Absatz stellt
und die Sohle zeigt. Aber man hat doch den Eindruck, daß der
— 13 —
Hirsch rüstig ausschreitet. Assyrischer Bart, Zylinder, offener
heller Überzieher, Umlegkragen, die ganze Gestalt breiter als lang
— so und nicht anders hat man sich den Vertreter der Neuen
Freien Presse vorgestellt, neben dem die eleganten Herren im
Gehrock und gar der Kaiser im schlichten Generalsrock ver-
schwinden. Einer vom Tagblatt stapft auch hinterher, aber er kann
sichtlich gegen den Hirsch nicht aufkommen. Drittes Bild: Der
Kaiser steht zwischen -zwei Herren; der Hirsch sieht die Gruppe
so von unten hinauf von oben herab an, als wollte er
sagen : Ich bin einer unserer Mitarbeiter, der Gelegenheit
hatte. Im Hintergrund tauchen etliche Strebervisagen auf,
Komiteemitglieder, Konsuln und so Leute, die ein freundliches
Gesicht machen, weil sie mit dem Kaiser photographiert
werden sollen. Der Hirsch hält das für selbstverständlich.
Er hat sich nicht vorgedrängt; er war früher da. Viertes Bild: Der
Kaiserverläßt die Ausstellung. Einer der Herren macht vor Verlegenheit
einen schiefen Mund; der Hirsch bleibt ruhig. Ein Ministerial-
beamter senkt in seines Nichts durchfahrendem Gefühle das Haupt.
Er ist ganz zerschmettert. Er macht den Eindruck, als ob ihm das
den Rest geget)en hätte. Der Hirsch steht aufrecht. Er denkt:
118 Zeilen Einleitung. Er wird die Ausstellung für eröffnet er-
klären. Wenn er in die Redaktion kommt und vor seinem obersten
Kriegsherrn steht, wird er vielleicht die Unbefangenheit ein wenig ver-
lieren. Aber wenn er dann die Ansichtskarten vorweist, wird er belobt
werden . . . Man kaufe diese Ansichtskarten. Vielleicht wird sich ein-
mal dieses Wien mit Scham an die Zeiten erinnern, da es seinen
alten Kaiser durch Ausstellungen führte und im Sonnenbrand
jedem dieser wertlosen Dabeiseinwoller mit unverminderter Freund-
lichkeit ein Wort sagen ließ, dessen Kurs von den Inseratenhändlem
bestimmt wurde. Aber die Ansichtskarte, auf die es ihn, der in
seinem Leben schon wahrlich besseren Hirschen begegnet ist, mit
einem Hirsch gebracht hat, der auf den ersten Blick als der von der
Neuen Freien Presse kenntlich ist — sie bleibt ein österreichisches
Dokument, das über alle zeitliche Scham hinaus die Wesensart
dieses Landes fixiert und nicht in eine Jagdausstellung gehört,
sondern in eine Weltausstellung.
14
Der Maikorso
Zu den spärlichen Unterhaltungen, die unsereins noch mit-
macht, gehört die Verregnung eines Maikorsos. >Es gab strecken-
weise weite Lücken, so daß man eigentlich nur durch das Aufgebot
an Wache zu beiden Seiten der Fahrbahn daran erinnert wurde,
daß heute Maikorso ist<. Warum man sich über so etwas freut,
weiß man im Augenblick nicht; aber man freut sich. Auch kommt
man erst später darauf, daß man just zu der Stunde ein Wohlbehagen
hatte, als ein paar Wucherer naß wurden. Die Schadenfreude
funktioniert bei mir als Reflexbewegung. Ich bin plötzlich gut
aufgelegt, mein Gesicht erhellt sich, man fragt mich warum, und
nachdem ich mich eine Weile besonnen habe, sage ich : Ja, wissen
Sie denn nicht, daß heute der Maikorso verregnet ist?
* *
*
Gabriel und Margarete oder: Ist sie schuldig?
Bevor Heinrich Manns »Unschuldige* in der , Fackel'
erschien, hatte der Autor diesen Dialog vor einem kleinen Publikum
vorgelesen. Ich erschrak, als ich im Neuen Wiener Tagblatt einen
umso größeren Bericht - unter dem grauslichen Titel »Ist sie schuldig?
Eine Dichterphantasie< — bemerkte. Denn darin waren Dialogstellen
unter Anführungszeichen zitiert. Hätte der Autoreinem Reporter Ein-
blick in das Manuskript gewährt, so hätte diese Defloration der
»Unschuldigen« gegen unsre Abmachung verstoßen. Als ich den
Bericht dann las, war ich über das Eigentumsrecht der , Fackel' vollstän-
dig beruhigt, aber eine wüste Perspektive eröffnete sich mir in die
Möglichkeiten, denen sich das Eigentumsrecht des Autors über-:
liefert, wenn er auch nur die Ohren des Reporters herankommen läßt.
Was war aus Heinrich Manns Sinn und Sätzen geworden! >Und
der Dienerin hatte er zu sagen verboten, daß die gnädige Frau
als kleines Mädchen einmal die Katze mit einem Strick um den
Hals vor das Fenster hing und dai'5 sie ihren Geschwistern die
Spielsachen stahl«. Unwahr, vollkomimene Verdrehung zweier nicht
zusammenhängender Stellen. >,Er konunt mir vor, wie ich selbst,
und doch wieder wie ein Unbekannter', sagt sie zu der alten
Monica«. Das sagt sie nie. Es dürfte aus der Stelle entstanden
sein: >Ich warte auf ihn, wie auf einen ganz Fremden und wie
auf mich selbst«. Was völlig erfunden oder gänzlich mißverstanden
ist, steht unter Anführungszeichen. >Aber, Kini, Margarete,
besinne dich doch . . .« »Du bist ja in einer anderen Wohnung,
— 15
Margarete . . . « > Du hast mich in einer Stunde alt gemacht, Margarete< .
Wer nur diese Margarete sein mag? Der Name Icommt im Dialog
nicht vor. Sie aber antwortet: »Dann siehst du, Gabriel, wie es jenen
Menschen geht, die mit der Seele leben«. Margarete »sagt nun
abermals und zum zweitenmal, sie hätte es doch getan« ; aber ich
finde und finde keine Margarete. Und Gabriel küßt sie und sagt:
>Man ist eins im Leben mit Vorbehalt«. Aber ich finde auch keinen
Gabriel. Verfluchte Geschichte das! Dagegen finde ich, daß den
Satz: »Man ist eins unter Vorbehalt« nicht der Gabriel, sondern
eine Gabriele spricht und daß mit andern Sätzen die Gabriele und
nicht der Gabriel angesprochen wird, so daß Gabriel und Gabriele,
er und sie überall vertauscht werden müssen, um halbwegs den
richtigen Sinn herauszubekommen, wobei noch immer der Text
zuschanden geht und, weil der männliche Teil des Dialogs an keiner
Stelle mit seinem Vornamen genannt wird, die Entstehung der
Margarete unaufgeklärt bleibt ... So gehts den Dichtem. Der Bericht
stammt von einer Frau. »Eine Dichterphantasie« betitelt sie, was
nur eine Reporterphantasie ist. Der Titel »Ist sie schuldig?« kann
bleiben. Sie ist natürlich unschuldig; schuldig ist nur die Institution,
die den Ehrgeiz hat, nach einer psychologischen Novelle genau
so detailkundig zu erscheinen, wie nach einem Eisenbahnunglück.
Jeden Früh
,Der Merker*, eine neue österreichische Zeitschrift für
Musik und Theater, welche, von ein paar lobenden Worten über mich
abgesehen, den Beweis ihrer Existenzberechtigung noch nicht erbracht
iiat, veröffentlicht ein Gedicht des deutschen Lyrikers Hugo Salus,
dessen erste Strophen wie folgt lauten:
Auf dem braunen Zweig des kahlen Baumes,
Der mein Fenster streift, sitzt nun ein Vogel
Jeden Früh.
Er ist jung und übt mit großem Eifer
Eine neue, aber gar nicht leichte
Melodie.
Nur zwei Töne ; mit gesenktem Köpfchen
Probt er immer wieder diese neue
Melodie.
Wie ein junger Priester bei der Messe
Beugt er sich zum Zweiglein und ist fleißig
Jeden Früh.
16 —
Herr Salus ist Prager Heimatkünstler, und es ist immer
wertvoll, wenn die Dichter die Sprache um Wendungen bereichern,
die dem Idiom ihrer besonderen Umgebung entstammen. In Prag,
wo es sich von selbst versteht, daß der besser situierte Einwohner
»jeden Früh, wenn er aufkommt und aufsteht, seinen Tee trinkt
und seine Eier ißt*, berührt es durchaus sympathisch, daß auch der
Priester jeden Früh seine Messe liest, wenn er es nicht vorzieht,
seine Neue Presse zu lesen, ja man wundert sich nicht, daß selbst
der Vogel in Prag jeden Früh sein Lied vor dem Fenster des Dichters
singt, was diesen wieder derart in Stimmung bringt, daß er jeden Früh
sein Gedicht schreibt. In Prag weiß man aber auch, wozu das Unter-
richtsministerium seinen , Merker' subventioniert, Nur daß es nicht
»sein* Geld ist, das da hinausgeworfen wird, sondern unser Geld.
Der gewesene außerordentliche Leibarzt weiland des
Königs Eduard von England
Der Tod des Königs von England bietet den Vorteil,
daß man den Namen des Herrn Dr. Ott in Marienbad
nicht mehr so häufig lesen wird wie in den letzten
Sommern, die durchaus erfüllt waren von einer Glorie aus
Stoffwechsel, Kreuzbrunnen, Zudringlichkeit des Kurpublikums
und jener majestätischen Huld, die jedesmal aus dem Händchen
des jüngsten Töchterchens eines Champagneragenten einen Blumen-
strauß entgegennahm. All dies versinkt, die Könige, von deren
Fett ein Kurort mit Honoratioren, Ärzten, Juden und Konsuln
leben kann, sind an den Fingern abzuzählen, und der treue
gewesene außerordentliche Leibarzt blickt einem Meteor nach von
115'6 Kilo, wischt sich eine Träne aus dem Auge und ergreift
in der Neuen Freien Presse das Wort. Namentlich er muß es ja fühlen,
daß jetzt andere Zeiten kommen, daß nach England jetzt wieder
Galizien Trumpf sein wird, und seine >persönlichen und ärztlichen
Beziehungen zu König Eduard* zum Titel eines Artikels zu machen,
das ist wohl die bescheidenste Entschädigung für den unermeßlichen
Verlust, den er durch diesen Todesfall erleidet. Herr Ott war so
diskret, den Reklamewert von höchstens zwanzig ausfallenden
Marienbader Sommern an einem Sonntag hereinzubringen. Er
begnügt sich zunächst mit der Feststellung, daß Eduard VII.
nicht nur sein Patient und sein königlicher Protektor
17
sondern auch >sein bester, ihm wohlwollendster, aufrichtigster
Freund« gewesen ist. Herr Ott war oft eingeladen und kann nicht
umhin hervorzuheben, daß er »niemals das Gefühl hatte, der Letzte
oder Geringste im Range in der sozial so hochstehenden Gesellschaft
zu sein«, er saß an der Tafel zwischen Lord Esher und Lord
Fisher, »dann erst folgten rechts und links einzelne Minister und
andere hochstehende Persönlichkeiten« und ganz unten erst der Kom-
mandant der Yacht und die Adjutanten Sr. Majestät. Nachdem
er so eine Illustration des Bibelwortes von den Letzten, die die
Ersten sein werden, geliefert, und sich auch der Brosamen
gerühmt hat, die von des Herrn Tische fallen, geht er daran,
einiges aus der Behandlung des Königs Eduard zu erzählen, ein-
gedenk des Spruches: Haltet euch an meine Worte und nicht an
meine Werke. Denn eigentlich sollte sich ein Leibarzt verkriechen,
wenn ihm sein königlicher Patient gestorben ist, und nicht her-
vortreten und erzählen, wieviel der Tote dank seiner Behandlung in
jedem Sommer abgenommen hat. Herr Ott hat aber offenbar sein
Möglichstes getan : die Leber des Königs war nicht angeschwollen,
die Bronchien waren rein, Zucker und Eiweiß nicht vor-
handen, und für das >rapide, so unerwartete Hinscheiden des
Königsc ist Herr Ott natürlich nicht verantwortlich zu machen. Der
König hatte vierzig Pfund abgenommen, und das ist immerhin
eine ärztliche Leistung. »Es wäre gewiß ein medizinischer Fehler,«
bemerkt stolz der Leibarzt, »wenn man den verstorbenen König
als Diabetiker bezeichnen wollte«. Man wird sich hüten, nach dem
Tod des Königs medizinische Fehler zu begehen! Und A\arienbad
hatte getan, was es konnte. 1904 zum Beispiel gab es »einen Sommer
ohne Regen und mit allgemeiner Staubentwicklung«. Der englische
Leibarzt war gegen die Reise. Da aber Herr Ott »die ausdrückliche
Versicherung gab, daß die Stadtvertretung Marienbads alles
tun würde, um sowohl im Orte selbst wie in der Umgebung
nach Menschenmöglichkeit die Staubplage zu bekämpfen«,
so kam der König. Und wiewohl, bitte, der Regen nicht garantiert
worden war. Eine solche Suggestion übte die Persönlichkeit des Herrn
Ott. Schon im vorhergehenden Jahre, nach der Krankheit, wollte
man den König nicht zu seinem Ott lassen. Der aber setzte es
durch, denn der König wog noch immer über 100 Kilo, und Sir
Laking hatte Herrn Ott geschrieben: »Ich sende Ihnen den König
mf Ihre eigene Verantwortung«, ein postalischer Vermerk, der sich
— 18 —
offenbar nur auf die Überfracht bezog. Als eine Dame den König fragte,
warum tr denn nicht zur Abwechslung einmal nach Karlsbad gehe —
wo es ja auch tüchtige Reklameärzte gibt — , >antwortete er lächelnd:
,0, vielleicht würden mir die Quellen dieses oder jenes Kurortes auch
guten Erfolg bringen, aber ich hätte dort nicht meinen Doktor Ott.«
So erzählt Herr Doktor Ott. Auch der langjährige treue Lakai Hawkins
wollte ihm wohl, denn er half ihm, als er einmal auf Schloß Sandring-
ham zu Besuch war, aus dem Pelz und »meldete mitten in das eifrige
Stimmengewirr der großen, echt englischen Hall: , Doktor Ott!'« Auch
die Königin Alexandra, eine hohe königliche Gestalt, kam ihm mit dem
ihr eigenen, liebenswürdigen Lächeln entgegen, bewillkommte ihn mit
kräftigen englischen shakehands und sagte: >Ich freue mich sehr,
lieber Doktor Ott, Sie hier begrüßen zu können.« Aber auch alle
andern Herrschaften, >der Herzog und die Herzogin von Teck,
Prinzessin Viktoria, die ledige Tochter des Königspaares, Graf
Mensdorff, unser Botschafter, Lord und Lady Landsborough« —
>meine ehemaligen Patienten«, bemerkt Herr Ott diskret — und die
Damen und Herren des Dienstes, alle begrüßten sie ihn herzlich. Dann
ging es >flink aufs Zimmer, um, da man in Sandringham zu etwas
früherer Stunde als sonst diniert, schleunigst Toilette zu machen.«
Die englische Auszeichnung wird in Originalgröße getragen, die
andern Dekorationen, >die man etwa besitzt«, en miniature. Ein
unvergeßlicher Moment für Herrn Dr. Ott: >als ich nach der Kirche
zwischen König Eduard und dem jetzigen König, wir drei ganz
allein den anderen Gästen voraus, durch den Park zum Schloß
zurückging«. Und wenn dies noch überboten werden konnte, so
war es nachdem Lunch der Fall: »Der König, meistenteils in mich
eingehängt, mit mir voraus, mir alles persönlich erklärend.« Und
dann spielte sich das Allermerkwürdigste ab. Der jüngste Enkel
des Königs kam des Weges und der König »sagte in englischer
Sprache: ,Gib schön dein Händchen, das ist der Doktor Ott,
weißt du, mein Arzt aus Marienbad'«. »Ich ergriff die kleine Patsch-
hand des herzigen, drei- bis vierjährigen Jungen, der mir mit
großen, lichtblauen Augen ins Gesicht sah und ein kräftiges ,How
do You do' entgegenrief.« Aber aus Kinder werden einmal Männer, die
eine Marienljader Kur notwendig haben, und dann wird Onkel Ott
ihn, sich und uns an diese erste Begegnung erinnern. Unvergeßlich
bleibt ihm auch sein letztes persönliches Tet-ä-tete mit dem König
auf Sandringham. Herr Ott mußte vor der Abreise »im Beisein des
— 19 —
Königs und auf seinen persönlichen Wunsch« nicht nur sein
Geburtsjahr und die Dauer seines Besuchs eintragen, sondern
»wurde auch wie jeder Besucher im Beisein des Königs gewogen und
sein Gewicht gewissenhaft zu den Besuchsdaten notiert.« Es war die
Revanche für Marienbad . . . Herr Doktor Ott fühlt, daß er sich
»wohl etwas länger bei dieser seiner letzten persönlichen Zusammen-
kunft mit dem hohen Herrn aufgehalten« habe, doch glaubt er,
»diesen seinen Fehler durch das Interesse, das diese kleine Skizze
vielleicht in dem Kreise jener, die den König persönlich gekannt
haben, erwecken dürfte, entschuldigen zu können«. Vorausgesetzt,
daß die Leser der Neuen Freien Presse so fettleibig sind, daß sie
diesen Satz nicht ohne asthmatische Beschwerden zu Ende lesen
können, so war es gut, diese Erinnerung in Druck zu legen. Denn
dann waren sie gewiß alle in Marienbad und sind dort dem König
von England näher getreten. Wir haben ja auch tatsächlich in den
letzten Sommern gehört, wie die Umgebung des Königs zu arbeiten
hatte, um den Andrang der Leser der Neuen Freien Presse abzu-
wehren, und für sie vor allem ist der Bericht des Mannes bestimmt,
der einen Freund, mehr als das, einen Patienten verloren hat und
nur noch Trost in dem Gedanken findet, sich von nun an den
»gewesenen außerordentlichen Leibarzt weiland des Königs Eduard
von England« nennen zu können.
Ein Königswort
Das Neue Wiener Tagblatt schreibt:
» . . . Von dem Interesse des Prinzen von Wales an dem
modernen Zeitungswesen zeugen auch die folgenden Sätze:
Die Erfahrung hat gezeigt, daß selbst bei Firmen von fest-
stehendem Rufe und weltumfassenden Verbindungen die Versuche, das
Annoncieren abzubrechen, von einer Herabminderung der vollzogenen
Verkäufe gefolgt wurden ...»
Somit läßt sich von dem neuen König das beste hoffen.
Wenn jeder Akquisiteur eine so mannhafte Sprache führte, stünde
es noch ganz anders um das Zeitungswesen. Freilich hat Georg
von England nicht gesagt, wie er sich zum Kleinen Anzeiger stellt.
— 20
Das ist so allgemein bekannt . . .
Die Neue Freie Presse hat sich zum erstenmal in ihrem
Leben dazu hinreißen lassen, auf einen Angriff zu reagieren. Der
Abgeordnete Viktor Adler hatte von ihr gesagt, sie sei das
energischeste und gefährlichste Regierungsblatt. Darauf brachte sie,
am 28. April, eine Erklärung, die von so sprudelndem Witz und
von so hinreißender Phantasie zeugt, daß sie von der , Fackel' nicht
totgeschwiegen werden darf. Sie lautet:
(Die Neue Freie Presse ist ein vollständig unabhängiges Blatt,
das in allen Fragen des öffentlichen Lebens seine gänzlich unbeeinfluß-
bare Überzeugung zum Ausdruck bringt und vertritt. Das ist so all-
gemein bekannt, daß es überflüssig wäre, ein weiteres Wort darüber zu
verlieren. Es hat noch keine Regierung in Österreich und in der ganzen
Monarchie gegeben, die das Recht gehabt hätte, der Neuen Freien
Presse ihre Haltung vorzuschreiben. Die Neue Freie Presse ist
nach bestem Gewissen bemüht, den öffentlichen Interessen und dem
Publikum zu dienen, aber sonst niemandem. Anmerkung der Redaktion.)
Die Neue Freie Presse hat mir mit dieser Erklärung, die
sie an meinem Geburtstag erscheinen ließ, eine große Freude be-
reitet. Es heißt zwar wirklich Pauschalien in die Neue Freie Presse
tragen, wollte man heute noch an ihrer Unbestechlichkeit zweifeln.
Aber so ein offenes Wort nach jahrzehntelangem Schweigen tut
wohl. Man wußte es ja schon längst, daß sie vollständig unbeein-
flußbar sei, aber niemand hatte es ihr bisher nachweisen können,
und jetzt sind die letzten Zweifel geschwunden. Man munkelt nicht
mehr, sie sei ein hochanständiges Blatt, der Bann ist gebrochen und
über Österreich hat sich nach diesen aufklärenden Worten eine so
heitere Stimmung verbreitet, daß die Neue Freie Presse selbst sich
über die Ruhe wunderte, mit der man überall dem Kometen ent-
gegensah. Jetzt weiß sie den Grund. Der ganze Humor in der
Kometennacht war nur ein Vorwand. Man war seit Wochen so gut
aufgelegt, daß man einander in den Bauch stieß und »Schnipfer!«
sagte, sobald einer im Kaffeehaus nur die Neue Freie Presse ver-
langte. Und der Satz: »Das ist so allgemein bekannt, daß es über-
flüssig wäre, ein weiteres Wort darüber zu verlieren«, hat Flügel
bekommen und wurde zum Refrain eines Lachkuplets in der Art,
wie sie früher beliebt waren. Wenn einer jetzt zum Beispiel sagt : Ja,
der Cook hat den Nordpol entdeckt, oder: Die Dokumente im
Friedjung-Prozeß sind echt — so antwortet man nur mehr: Das ist
so allgemein bekannt u. s. w. Der Satz schlägt jeden Gassen-
— 21 —
hauer, und als kürzlich in einem Nachtcafe ein Sänger weit das
Mau) aufriß, um das schlichte Volkslied »Das ist mein Freund, der
Löbl« zu singen, ließ man ihn nicht, denn kaum hatte die Musik
eingesetzt und er die Worte: »Das ist —* herausgebrüllt, da
fiel der Chor der Besucher donnerähnlich ein: »Ja das ist
so allgemein bekannt, daß es überflüssig wäre, ein weiteres Wort
darüber zu verlieren!«
Der Komet im Cottage
.... findet Mittwoch den IS. d. um S ühr abends eine
interessante Veranstaltung statt, die durch die Namen der Mitwirkenden
und durch die Originalität der Zusammenstellung des
Programms ungewöhnliches und berechtigtes Auf-
sehen erregen dürfte. Das Programm des Konzerts ist
folgendes .... Nach dem Konzert wird auf der großen Terrasse angesichts
des feenhaft beleuchteten Gartens das Souper serviert, während im Garten
die Wiener Singakademie Volkslieder zum Vortrage bringt und aus der
Ferne das Stiegler-Sextett der Hofoper die Waldhörner erklingen läßt.
Vom anderen Ende des Gartens aus werden in den Zwischenpausen
erstklassige Musikkapellen konzertieren. Während des Desserts und des
5 ui Warzen Kaffees werden auf der großen Wiese vor der Terrasse
^ ohl von Primaballerinnen des Hofopemballettkorps unter der Leitung
Mitwirkung des Mimikers der k. k. Hofoper, Karl Godlewski, als
von e.xotischen Tänzerinnen Pantomimen und Tänze in neuen
Kostümen vorgeführt. Hernach verlöschen die Lichter des Gartens und
auf dem neuangelegten Teile des Türkenschanzparkes, gerade gegenüber
der Speiseterrasse, angesichts des Wienerwaldes, beschließt ein reich-
haltiges Feuerwerk den zweiten Teil des Programms. Nunmehr
begeben sich die Gäste wieder in den als Wirtsstube verwandelten Saal,
und während sie sich bei Wursteln, Gulasch, Bier und Wein gütlich tun,
spielen und singen die »Grinzinger< ihre gemütlichen Lieder, unter-
brochen von anscheinend improvisierten Vorträgen von ..... denen
sich andere bekannte Wiener Lieblinge anschließen. Kurz vor
Mitternacht, zu welcher Zeit ja bekanntlich in dieser
Nacht der Schweif des Halleyschen Kometen die Bahn der
Erde berühren soll, hat man Gelegenheit, infolge der
hohen und freien Lage des Gartens dieses Naturschauspiel
wohl anf besten zu beobachten. Für dieses Fest können infolge
des beschränkten Raumes nur 260 Karten ausgegeben werden, die
inklusive Konzert, Souper und Kabarett, dank dem Entgegenkommen
der Künstler zum Preise von nur ä 6 0 K berechnet werden konnten.
(Überzahlungen werden dankend angenommen und separat quittiert.)
Hundert Karten sind davon für die Patienten des Hauses ....
— 22
Was? Für die Patienten des Hauses? Ja, ist denn die ekel-
iiafte Jahrmariitsreklame, die Kunst und Würstel und Gulasch und
den Kometen verschlingt, nicht von einem Gastwirt ausgegangen?
O doch, von dem Besitzer des Cottage-Sanatoriums, seit dessen
Etablierung der Zusammenhang zwischen Medizin und Wirtsgeschäft
auch von den gläubigsten Verehrern der Wissenschaft nicht mehr
bestritten wird. Von dem Besitzer jenes Sanatoriums, das von den
überzeugten Anhängern der Gastwirtegenossenschaft und den Freun-
den des Hoteliergremiums als ein Fleck auf der Standesehre
empfunden wird. Denn sie finden die Verquickung der Probleme >Wo
ißt und trinkt man gut?«, »Wo gibt's an guten Tropfen und a Hetz?«
mit medizinischen Vorwänden unerträglich, und sie betrachten die
Vermengung kultureller Werte wie »Speisen und Getränke erst-
klassig, Bäder im Hause, Lift«, »Täglich Doppelkonzert mit Gesang,
Omnibusverkehr die ganze Nacht« mit einer Behandlung durch
den Professor Noorden als eine maßlose Kompromittierung ihrer
Bestrebungen. Wenn nicht die , Fackel' jener Frechheit ein Ende
gesetzt hätte, die eine Patientenliste allwöchentlich in der Neuen
Freien Presse inserierte, die Ärztekammer hätte die Fremdlin;
aus Baku und Tiflis, die sich vertrauensvoll in die Hände
Herren Noorden, Urbantschitsch u. s. w. begaben, gegen so dre»
Verletzimg der Schweigepflicht nicht geschützt. Und wenn je
nicht die Praterwirte gegen die Schmutzkonkurrenz aufstehen und
wenn nicht der Wolf in Gersthof gegen den Urbantschitsch im
Cottage vorgeht, so wird sich das abscheuliche Unding eines
Kabarettsanatoriums noch öfter unseren Blicken aufdrängen. Der
ganze Wiener Jourgestank von Humanität und Streberei, der uns
so oft aus der Hauptallee entgegenweht, dieses ganze fesche
Samaritertum, das zwischen Tuberkulose und Tombola seinen
Namen in die Zeitung bringt und unter Umständen sogar bereit
ist dafür zu sorgen, daß »die Kunst sich in den Dienst der Wohl-
tätigkeit stellt<, dieses ganze Gekrieche zwischen Spitalsbajazzos und
Spitzen der Gesellschaft — hier hat es einmal zu einer entschei-
denden Probe ausgeholt auf die Langmut der Enterbten solchen
Glückes. Denn es hatte den infamen Geschmack, die Überraschungen
der Kometennacht in seinen Juxbasar einzubeziehen. Daß wohl-
tätiger Unfug, der die Nachtruhe stört und noch die Leser der
Morgenblätter belästigt, sich zu Gunsten einer Heilanstalt abspielt,
davon hat man schon gehört. Aber daß er sich in einer Heilanstalt
23
abspielt, daß vor den Fenstern der Patienten, an deren Nervenleiden
und Verdauungsstörungen wir doch fast ebenso glauben sollen wie
an ihren Reichtum, ein Feuerwerk abgebrannt wird und Heurigen-
musik ertönt, und daß sich solcher Skandal in der einzigen Nacht seit
fünfundsiebzig Jahren abspielt, in der auch den Gesunden ein Böller-
schuß oder eine Rakete ängstigt, das ist eine Idee, die nur dem Hirn
eines Buben oder eines wahnsinnig gewordenen Kommis entsprungen
sein kann. Die Nacht, in der »bekanntlich der Schweif des Halleyschen
Kometen die Bahn der Erde berühren soll«, ist Gottseidank so
glimpflich verlaufen, wie eine Reklame für Praterwirte nur verlaufen
kann, und leider war es trotz der hohen Preislage des Sanatoriums
nicht möglich, »dieses Naturschauspiel zu beobachten«. Aber noch
in der Umgebung des Sanatoriums fuhren die Leute aus den
Betten, denen das Feuerwerk des Herrn Urbantschitsch jene
Vision des Weltuntergangs bot, welche ihnen auch ein pünkt-
licher Komet nicht geboten hätte, und es heißt, daß die Polizei um
Mittemacht das reichhaltige Programm etwas abgekürzt hat. Man stelle
sich nun die Situation der Leute vor, die im Sanatorium liegen
und zwar in der Lage sind, nur tO K für den Anblick des Welt-
:: tergangs zu zahlen, aber nicht auch imstande sind, aufzustehen
uiid das Feuerwerk des Herrn Urbantschitsch zu besichtigen. Jener
Patienten, die zwar in der ausgesprochenen Absicht nach Wien
kamen, ihren Namen in die Presse einrücken zu lassen und
ihren Reklamewert teuer zu bezahlen, aber doch vielleicht auch
um Erholung zu suchen. Wahrscheinlich hat dei grinsende
Verstand graduierter Händler gehofft, daß die Herzleidenden
genügend aufgeklärt sein würden, um einen harmlosen
Böllerschuß nicht für das Signal des Weltuntergangs zu
halten. Oder er hat gehofft, daß ein Schrecken in dieser
Nacht der Suggestionen genügend wirksam sein werde, um in einem
geschwächten Organismus Zucker zu erzeugen und so das Eingreifen
des Herrn Professors Noorden notwendig zu machen. So daß in dieser
Nacht der Enttäuschungen, in der die Sterngucker das Nachsehen
hatten, doch wenigstens einer auf seine Kosten gekommen wäre.
Nun scheint aber der Wirt die Rechnung ohne den Gast gemacht
zu haben. Denn wenn es schon nicht das Ende der Welt war,
so war es doch das Ende ihrer Geduld, und es wird mir gemeldet,
daß es in der katastrophalen Nacht, als der Schweif des Kometen
Urbantschitsch die Erde berührte, als die erste Rakete in der
303-304
24
Richtung nach Noorden stieg, im Sanatorium Herzkrämpfe
gab und daß ein Patient in diesem Augenblick noch die
Geistesgegenwart hatte, an einen Schadenersatzprozeß gegen die
Leiter der Anstalt zu denken. Nun besteht ja allerdings die Wahr-
scheinlichkeit, daß diese mit Erfolg einwenden werden, Kläger
sei schon mit einer geschwächten Gesundheit in das Sanatorium
gekommen, sei in der Kometennacht, in der viele Menschen
zitterten (Beweis durch Zeugeneinvernahme), besonders ängstlich
gewesen, und keinesfalls könne ein harmloses reichhaltiges Feuerwerlc
ein so schweres Herzleiden verschuldet haben. Aber es wäre
doch außerordentlich wichtig, daß es zu diesem Prozeß kommt. Denn
es ist unerläßlich, daß die fortschrittliche Welt erfahre, wie sicher
sie der Wissenschaft sein kann, wenn ihr der Kometenaberglaube
zusetzt, der astronomischen und vor allem der medizinischen. Es
ist unerläßlich, daß sie erfahre, es seien Ärzte gewesen, die mit
Bravo Stuwer!, Grinzingern, Wursteln, Gulasch, einem Waldhorn-
Sextett und dem Kometenschweif ihren herzleidenden Pflege-
befohlenen in banger Nacht zuhilfe geeilt sind, kurzum mit einem
Programm, das durch die Originalität der Zusammenstellung un-
gewöhnliches und berechtigtes Aufsehen erregte; und es sei
Polizisten gewesen, die sich ins Mittel legten und weni]
stens die Himmelserscheinungen inhibierten, mit denen diese"'
gefinkelte Medizin der Astronomie zuvorkommen wollte. Es ist
unerläßlich, daß diese Rakete der Wiener Wohltätigkeit, wie anno
Festzug und in jedem Wiener Fall, im Handelsgericht krepiere,
wenn ihr schon das Strafgericht entrückt bleibt. Ärzte sind es
gewesen. Die Welt will sich die Namen dieser Ärzte aufschreiben,
die Welt will Ärztekammer spielen, und sie wird erst dann ruhig
untergehen, wenn sie vorher einen partiellen Weltuntergang erlebt
hat, einen, der sich auf ein Sanatorium erstreckt, in welchem
die Diskretion des Arztes ein Heurigenexzeß und die Gesundheit
des Patienten ein Juxgegenstand ist.
— 25 —
Dem internationalen Preßkongreß
Von Franz Grillparzer
Der Henker hole die Journale,
Sie sind das Brandmal unsrer neuen Welt,
Der ekle Abhub von dem Wissenmahle,
Der, für die Viehmast, in die Zuber fällt.
Sie sind die breitgedeckten, offnen Tische,
Wo Tor und Weiser sich als Nachbar schaut,
Und eines Schluckes aus dem Buntgemische
Hinabschlingt ganz, woran die Menschheit kaut.
In einer Stunde wirst du zum Gelehrten,
Nur freilich in der andern wieder dumm ;
Denn von der richt'gen Ansicht zur verkehrten
Schwingt sich der Pendel immer wechselnd um.
Du brauchst nicht mehr zu wissen noch zu denken,
Ein Tagblatt denkt für dich nach deiner Wahl.
Die Weisheit statt zu kaufen steht zu schenken.
Zu kaufen brauchst du nichts als das Journal.
Nun erst die Köche dieser Sudelküche,
Der Täter gibt der Tat erst ihren Fluch,
Noch ärger als der Speisen Qualmgerüche
Steht der Verfert'ger selber im Geruch.
Schon in der Schule bildet sich die Rasse,
Es schreibt da, wer zu lernen nicht versteht,
Bis endlich eine dritte Fortgangsklasse
Sich als Beruf zeigt und als Musaget.
Dieses Gedicht, das manche Dramen Grillparzers aufwiegt, ist
1844 entstanden und in der Gesamtausgabe von Cotta 1887 enthalten.
Man müßte eine spätere Ausgabe daraufhin ansehen, ob das im Dienst
der Presse wirkende literarhistorische Schmocktum sich inzwischen
gefügig gezeigt und die tapferen Verse unterdrückt hat. Jedenfalls wird
es gut sein, auf die noch kommenden GriUparzer-Editionen ein Auge
zu haben.
— 26 —
Dieter und der Beamtensohn
Von Otto Stoessl
Dieter hatte seinem neuen Freunde Toni Scharrer viel zu
zeigen, dieser ihm viel zu sagen. Ein ganzes Leben war gemeinsam
zu führen. Dazu reichte eine Stunde des Schulweges wahrlich nicht
aus. Dieter als freier Mann schlug vor, sie sollten fortan jeden
Nachmittag miteinander spazieren gehen. Scharrer lächelte weh-
mütig, das sei ganz unmöglich, er müsse daheim studieren, dann
sei er auch im Turnen eingeschrieben, was etliche Nachmittags-
stunden wegnehme, sein Vater würde nie und nimmer erlauben,
daß er so lange fortbliebe.
Dieter beantragte, sie könnten ja vorgeben, in seiner
Wohnung zusammen zu lernen, wo sie mehr Ruhe hätten und
vom Turnen könnte sich der Toni ohneweiters dispensieren lassen,
wenn der Vater ein Gesuch an die Direktion richte. Diese
Zuversicht machte auch den Scharrer kühner und, obgleich sehr
bedenklich, stimmte er zu, als Dieter sich vermaß, den strengen
Vater selbst zu solchen Schritten zu bewegen. Vorher wollte Toni
jedenfalls daheim von seinem Freunde sprechen und den Alten auf
ihn vorbereiten.
Eines Nachmittags klopfte Dieter, nett angetan und mit
seinem unschuldigsten Gesicht an der Tür von Scharrers Wohnung.
Der Kollege öffnete ihm unter dem Geschrei kleiner Kinder. Dieter
roch die eigentümliche Beamtenwohnung, welche aus der Küche
den Dunst aufgewärmten Gemüses, aus den Stuben den Atem zu
vieler Leute und die Unreinlichkeiten einer Kinderwirtschaft
zusammenströmen läßt. Durch das kleine Vorzimmer drehte sich
Dieter, vom verlegenen Freunde geführt, in den Wohnraum, wo
gegessen, gesprochen, gelernt, gelebt wurde, und der sich mit
Hausrat unordentlich bestellt zeigte : mit Kleiderschränken, einem
altdeutschen Buffett, dessen aufgeklebte Schnitzerei da und dort
abgebrochen war, mit wackeligen, ebenfalls stilgemäßen Stühlen
um den Eßtisch in der Mitte, deren Strohgeflecht, von eingefressenem
Staub braun und grau, gelegentlich klaffte. Auf der engen Platte
des kleinen Sekretärs lagen Scharrers Schreibsachen gehäuft. Der
standesgemäße Schmuck der Fenster mit braunen, schwarz-
gemusterten und gefransten Jutevorhängen vermehrte die traurige
Bruchstücke aus dem Manuskript eines Romanes »Morgenrot«
— 27 —
Düsterkeit des Ganzen. Auf dem Eßtisch war eine Decke ausge-
breitet, welche für die IHäche nicht ausreichte, deshalb lag sie
querüber, so daß ihre Ecken nicht über die des Tisches, sondern
inmitten der Kanten gleichsam ins Bodenlose hinabhingen. Scharrers
jüngstes Brüderlein saß auf dem Geschirr und hielt sich an einem
dieser Quastenzipfel der Decke fest. Eben als Dieter eintrat, schrie
er ein Wort, das dem Besucher unvergeßlich im Ohre und nach-
mals zwischen den beiden Freunden sprichwörtlich blieb. > Fertig!«
Aus der nebenliegenden Küche, deren Tür offen stand, eilte eine
hochgewachsene, dürre Frau herbei, da sie den Gast bemerkt hatte,
fluchte ihr Jüngstes an und trug das Zappelnde mitsamt dem Gefäß
in die Küche, von wo ein langwieriges Heulen die ganze Dauer
des Dieter'schen Besuches begleitete.
An der Fensterseite des Tisches saß in einem grauen Schlaf-
rocke, welcher geöffnet eine schmutziggelbe Jägerunterkleidung und
unter deren Lücken eine behaarte Brust sehen ließ, der Herr Zoll-
amtsadjunkt Scharrer bei der Zeitung. Als Dieter eintrat, wandte
er langsam seinen Blick unter den Brillengläsern dem Besucher zu
und starrte ihn an, ohne daß dieser genau wußte, ob er auch
wirklich wahrgenommen werde. Der Mann hatte ein Gesicht von
unbeschreiblicher Mühseligkeit, es war gleichsam von allem An-
beginn schon alt und elend, nun durch Sorgen, Arbeit, Amts-
verdruß, durch die Anstrengung der geröteten Augen und die
unwillkürliche Entspannung aller Kräfte beim häuslichen Nichtstun
doppelt verdrießlich, die gerunzelte Stirn zwang sich zu einer
Strenge, die nur kümmerlich verdeckte Schwäche war, die grauen
Augen verrieten jenes Mißtrauen der beschränkten Armut gegen
alles und jedes: gegen amtliche Vorfälle, gegen sein Weib, das ihn
keifend beherrschte und mit dem Gehalt nicht auskam, er war
mißtrauisch gegen seine Kinder, die zuviel aßen und kosteten,
gegen die Zeitung, die er gleichwohl nicht einmal um sein ganzes
Frühstück drangegeben hätte, mißtrauisch gegen die Sonne, die ihn
blendete, gegen die Zeit, welche ihn um sein Leben betrog, mit
welchem er doch nichts anzufangen wußte, mißtrauisch vor allem
gegen diesen neuen Eindringling, den er unter seiner Brille mit
schiefen Blicken musterte.
Möglichst unbefangen ließ sich Dieter vorstellen.
Darauf brummte der Alte: »Zusammen lernen wollt Ihr?
Das wird was werden! Der Toni kann schon allein nichts. Was
haben Sie für Noten gehabt?«
— 28 —
Nun erhöhte Dieter seine bescheidenen Leistungen, um sich
als geeigneten Mitstrebenden darzustellen. Aber jede bessere Note
diente dem Alten nur dazu, dem Toni eine zeternde Mahnung zu
erteilen, die immer mit: »Da siehst du!< begann.
»Und vom Turnen soll ich ihn dispensieren lassen! Warum
nicht gar? Das Turnen ist doch gesund, in der Zeit kommt ein
Lausbub wenigstens auf keine Schlechtigkeiten Ic
Dieter antwortete möglichst unbefangen, sein Vater habe ihn
gar nicht erst einschreiben lassen, weil er von diesem Gegenstande
nicht viel halte.
»Warum hält denn der Herr Vater nichts vom Turnen ?<
fragte der Zollamtsadjunkt interessiert.
Nun log Dieter frischweg und mit einer Beredsamkeit, die
ihn selbst anfeuerte, sein Vater sei der Meinung, daß für die Gesund-
heit ein bißchen Spazierengehen in frischer Luft ausreiche, während
der Körper beim Turnen durch die Anstrengung allzustark angeregt
werde, so daß man nur mehr Hunger davon bekomme und sich
überesse. Seinem Vater war es natürlich weder jemals eingefallen,
die Rationen seines Buben auch nur zu bedenken, noch sich um
dessen Freigegenstände zu bekümmern. Dieter befolgte vielmehr
selbst den Grundsatz, der Schule nur das Notwendige, nichts
Überflüßiges zu opfern. Die eben vorgebrachte ökonomische
Ansicht seines Vaters erfand er nur, weil der rasche Einblick in
die Scharrerschen Verhältnisse eine besondere Beachtung der Kost-
portionen als triftigsten Grund gegen das Turnen empfahl. Der
leuchtete auch dem Herrn Steueramtsadjunkten in der Tat über-
raschend ein, er schüttelte nachdenklich den Kopf: »Ja, das mit
dem Hunger stimmt, der Toni kann nie genug kriegen, der Herr
Vater kennt seine Leute und scheint ein sehr gescheiter Mann zu
sein. Wir werden sehen!»
Mit diesen Worten beschloß er, sorgsam abgemessen wie ein
König die Audienz und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.
Dieter und der Toni blieben ein paar Minuten ratlos, ob sie schon
entlassen seien, oder noch einen Befehl nachträglich zu gewärtigen
hätten.
Vor dem Herrn Scharrer stand aber sein zweitjüngsler
Sprößling, ein etwa sechsjähriger Knabe und hatte dem Vater
während der strengen Anrede unverwandt nach dem Munde gestarrt,
welcher so bedeutendes sprach. Als der Vater sich wieder der
Zeitung zuneigte, verharrte der Kleine angewurzelt und sah weiter
— 2y —
gierig auf ihn, als hungere ihn nach mehr Worten. Dieser Blick
zwang den Lesenden offenbar, sich nach dem stillen Störenfried
zu wenden. Wiederum schaute er trag und streng nach dieser Seit^
sah ratlos das Kind zu seinen Füßen an, dieses ihn. Keines wußte,
was es wollte. Der winzige Kerl blickte so alt wie der breit da-
sitzende Vater und ebenso öde, bis der Erwachsene zögernd und
mißtrauisch begann: »Was willst du? Wie schaust du denn eigent-
lich aus, Fritz? Du schaust aus wie der Fladen, den die Kuh zer-
treten hat, so ein Gefrieß hast du! t Dabei lachte er mülfcelig und
wandte sich seiner Lektüre zu. Nun wußten die beiden Gesellen,
daß sie hier nicht mehr benötigt wurden. Dieter empfahl sich mit
einer schönen Verbeugung und seinem gewohnten >guten Tag«
und ging rücklings, von Toni gefolgt, zur Tür hinaus.
Unten auf der Straße schüttelten sie sich vor Lachen, Dieter
rief eine Stunde lang: >Fertig!< und Scharrer lachte, über und
über rot im Gesicht, mit.
Zum erstenmal machte sich Dieter über seinen Vater Gedanken,
indem er seine Familie der Scharrer sehen gegenüberstellte. Was
er für sein bescheidenes Dasein, sei es selbst an Überflüßigem
benötigte, bekam er, der Vater stellte es ohne viel Aufhebens bei.
Doch gab es Väter, die in Würde bei ihrer Zeitung saßen und sich
selbst im speckigen Schlafrock auf ihren Stand so viel zu gut
hielten, daß sie sich wie Herren benahmen, aber dafür rechneten
sie den Kindern jeden Bissen vor. Was für niedrige Dienste
mußten diese Beamten tun und wie verächtlich mußte ihre Arbeit
eingeschätzt werden, wenn sie ihnen nicht einmal das Nötigste
einbrachte. Und wie dumm mußte einer sein, einen solchen Beruf
noch gar als Ehre zu betrachten. So schaute also ein Beamter aus !
Dieter vergegenwärtigte sich den Staat unwillkürlich in dem selbigen
Bilde, das sich ihm oben beim Scharrer dargestellt hatte. Ein
würdevoller Hungerleider thront auf einem durchlöcherten Amtsstuhl,
neidet seinen Kindern den Bissen und schielt unter den Brillen-
gläsern hervor, ob niemand es vor seinem Schmutz an Respekt
fehlen läßt.
Zum erstenmal erkannte Dieter den Widerspruch zwischen
der Art und der bürgerlichen Stellung seines Vaters, der ja nur
der Diener eines wissenschaftlichen Vereines war, und daß es jeder
Mensch in der Macht hat, frei zu sein, wenn er sich nicht selbst
— 30 —
an die Niedrigkeit bindet. Sein Vater blieb der Dieter, der es war,
neben jedem Hofrat und Professor, wo aber blieb der Herr Zoll-
amtsadjunkt Scharrer, wenn man seinen Titel von ihm abzog, der
seine Haut und seine Seele ausmachte.
Sein Vater war niemals zu bestimmten Stunden daheim,
niemals saß er über einer Zeitung oder schielte nach seines Sohnes
Schularbeiten, oder höhnte ihn mit einem lauernden: „Siehst du!*
Unversehens stand er wie aus dem Boden gewachsen da, um
ebenso Uutlos wieder zu verschwinden und machte von seinen
vielen Geschäften kein Aufhebens. Daheim hatte er für Schlafröcke
keine Zeit, indem er alle Werkzeuge des Tischlers, Schlossers,
Schneiders und Schusters in Bewegung setzte, weshalb auch jeder
Stuhl sauber instand war. Gab es daheim einen Schmutz, so war
es der ehrliche Schmutz der Handarbeit und gereichte darum nicht
zur Schande, bei den Scharrers hingegen wars der Beamtenschmutz,
der, ein Produkt aus schlechter Nahrung, schlechter Arbeit und
schlechter Gesinnung in verfallener Enge, jedem freien Menschen
in die Nase stinkt, während seine Urheber gar nichts davon merken
oder ihn am Ende noch für was Feineres halten, das als Wildpret
von rechtswegen so duften darf.
Beim Vergleich mit der Scharrer- Wirtschaft vergegenwärtigte
sich Dieter, sonst nicht eben zu Empfindsamkeit geneigt, mit einer
gewissen Rührung, wie der Vater ihm das nötige Geld mitzuteilen
pflegte. Täglich bekam Dieter vier Kreuzer, um Brot und einen
Frühstücksapfel zu kaufen, einmal wöchentlich, wo er wegen des
Nachmittagsunterrichtes die Jause versäumen mußte, zehn Kreuzer.
Davon ersparte er sich mindestens die Hälfte für seine privaten
Bedürfnisse an Indianerbüchern, Marken, Bleistiften, Angeln und
dergleichen. Aber der Vater wußte gar wohl, daß ein Bub manchmal
ein Sechserl für dies und jenes benötigt, wovon ein Vater nichts
ahnt, noch zu ahnen braucht. Darum gab er ihm gelegentlich ein
paar Silbermünzen, ohne jemals nach der Verwendung zu fragen.
Wenn Dieter aber in besonderer Verlegenheit und bei dringlichen
Anlässen sich ein Herz faßte und den Vater um Geld bat, sagte
dieser nicht etwa: >Wozu brauchst du denn schon wieder so viel?«,
oder „was willst du damit?« oder >ich bin ein armer Mann und
du darfst mir nicht mit solchen Prassereien anliegen, kommst mich
ohnedies teuer genug zu stehen«, sondern er schüttelte stets bereit-
willig sein mageres Geldbeutelchen auf den Tisch, daß die Silber-
gulden, Zwanziger und Sechserin, Vierkreuzer- und Kreuzerstücke
3i
herausrollten und klaubte nun die erforderliche kleine Münze zu-
sammen, was immer einige Mühe und Zeit kostete. Daran mochte
Dieter erkennen, daß der Vater selbst das kleine Geld nicht ohne
Schwierigkeit zustandegebracht, wie er es auch jetzt genau zu-
sammenlas.
.Ebensowenig sollte Dieter aber knauserig etwa Ersparnisse
anlegen oder Schätze sammeln, um sie irgendwann wie ein Feuer-
werk zu unnötiger Prahlerei abzubrennen. Darum pflegte der
Vater, wenn er gerade nur ganze oder halbe Guldeu und keine
kleine Münze bei sich hatte, ein soldies Silberstück darzureichen,
eine größere, als die gewohnte und erbetene Beisteuer und vorerst
mit ganz verborgenem Lächeln zu fragen: »Kannst du vielleicht
wechseln?« Dann verneinte Dieter natürlich immer, was gel^entlich
nicht der Wahrheit entsprach. Doch brauchte er sich aus solcher
Lüge kein Gewissen zu machen, denn die Frage hatte nur sinn-
t)ildliche Bedeutung.
Wenn ihm aber ein Geschäft geglückt war, oder wenn er
einem Landsmann hier in der Stadt zu etwas Rechtem verholfen,
beschaffte sich der Vater von der Münie Silberstücke neuester
Prägung, die in uOTcrührtem Glänze schimmerten und verehrte
eines dem Buben zur Überraschung. Es würden auf der Welt weit
bessere Werke getan, wenn man nicht jedem geschenkten Gulden
auf den ganzen Weg nachschauen möchte, den er rollt At>er die
Welt will gemeiniglich sehen, woher alles kommt, wohin alles geht,
jeden Vogel will sie fangen und glaubt, sie brauchte ihm nur Salz
auf den Schwanz zu streuen, darum ist ihr auch jede Wahrheit
noch beizeiten entflogen.
Dieter hatte einen Freund gewonnen und damit die raicht,
ihn aus dem Gestank in die freie Luft zu führen und ihm die
Schande seiner Herkunft zu nehmen.
Natürlich zeigte Dieter dem Toni die alte Aula mit allen
ihren Herrlichkeiten, das leuchtende Bild der Fakultäten, welches den
Festsaal schmückte, das hohe Beratungszimmer der Senatoren,
wo sie auf den Lehnstuhlen vor dem Kachelofen ihre Ziga-
retten schmauchten. Das Schönste aber war auf dem Dache zu
sehen, wo Dieter die ganze einsame, offene weite Welt endeckt und
sich eigen gemacht hatte.
An einem Frühlingstage führte er gespannt, ernst, feierlich
— 32
schweigsam den Toni zum Dachboden hinauf, durch eine Falltüre
ins Freie.
Die große Fläche des mächtigen Gebäudes war nicht ein-
heitlich, sondern von etlichen nebeneinanderlaufenden, niedrigen
Schieferdreiecken gedeckt. In der Mitte aber gab es zwei Kuppeln
aus Kupferblech, das sich von innen verschieben ließ, um der
kleinen darunterliegenden Sternwarte den Anblick des funkelnden
Nachthimmels zu eröffnen. Auf eine dieser Kuppeln hinaufzu-
kriechen, bedeutete den Höhepunkt des Dachglückes im wörtlichen,
wie im übertragenen Sinne, indem man an der Nabe dieser Halb-
kugel beim Sitzen sich anhaltend, weithin über die ganze Stadt
sah, wie sie an dem einen Ufer der silbrigen Donau im zerwühlten
Gedräng ihrer Häuser sich häufte und streckte.
lu der Nähe schoben sich die Dächer zusammen, rote,
schwarze, graue, hohe und flache und Fenster, die vom Licht ge-
troffen, einen menschlichen Blick zu haben schienen, da Menschen
hinter ihnen hausten, deren Tun allen Dingen menschliche Seelen-
haftigkeit mitteilt, First ragte an First, ein Giebel überkletterte den
andern oder griff ihm doch nach. Ein hin- und wiederströmender
Atem schien durch diese Masse zu gehen, die in ihrer Ruhe bebte,
wie ein lagerndes Tier, dessen Flanken zittern. Der ferne Ton des
Lebens, das unten mit tausend lauten bestimmten Geräuschen
geschah, verdünnte sich hier oben zu einem leisen Summen, ähnlich
wie das Wehen eines Feldes, in welchem Insekten surren. Größer
und kleiner war die Welt hier als eine Wiese. Die Gassen und
Plätze verloren sich ineinander, Bezirke und Viertel waren nur
etwa an besonderen Zeichen kenntlich, die gleich ausgesteckten
Fahnen einen Heerhaufen vom andern unterschieden. Das blitzende
Kreuz des Stephansturmes meinte man greifen zu können und sah
es von Falken umflogen.
Im ausgebuchteten Rand einer silbergrauen Fläche lag die
Stadt wie in einer Schale. Ferne schienen die Gebäude wie weiße
Tropfen an den Geländen zu verrinnen, während Anhöhen den
dunklen Rand bilden. Dort begannen die Wälder, verbreiteten sich
gegen Westen und verloren sich ins Unabsehbare, wo etwa ein
Silberlicht von Schnee fragen ließ, ob Wolken oder Berge an den
Himmel grenzten.
Die Blicke flogen wie Vögel über alle Striche dieses dicht-
besiedelten Gefildes, fremd und vertraut, als schauten nicht
— 33
Menschen-, sondern Vogelaugen hinab, sättigten sich an dem
Unendhchen, streiften drüber hin und nippten hier ein Schlückchen
Erkennen, dort ein Bißchen Lust und Rätselraten.
Die beiden Knaben hingen über der Stadt wie zwei Lerchen
über dem atmenden Busen eines Feldes, vom gewaltigen Hauch
getragen und verweht, benommen und verwegen und trunken. Das
Schauen, die Sommerluft, blauer Himmel, Rauch und femer Lärm,
der scharfe, um die Ohren sausende Wind drangen über sie, die
an der Nabe einer kreisenden Erde kauerten. Gegen ihre winzigen
Leiber war der Riesenkörper der Stadt wie in einem Ringen von
unt>ekannter Gefahr und Wollust gepreßt.
Endlich bezwang sie die beklemmende, unerträgliche Spannung
dieser Minuten und Dieter flüsterte: »Jetzt wollen wir hinunter.<
Es galt nun, die Kuppel entlang, aufs Dach hinabzurutschen und
von da die Falltür zu erreichen. Toni, der den Anblick dieser
Höhe zum erstenmal erlebt, war nicht wie Dieler auch mit seinem
angstvollen Taumel vertraut. Der Trunk der Augen hatte ihm Be-
sinnung und Gleichgewicht geraubt. Er ließ die Nabe los, verlor
die Sicherheit und kollerte die Kuppel hinab, statt zu rutschen.
Entsetzt sah ihn Dieter stürzen und wußte in einem Augenblick,
welcher eine Ewigkeit in sich ziKammenzwängte, daß sein Freund
des Todes war, wenn er unten am Dache das Gleichgewicht nicht
wiederfand, sondern weiterrollte.
In einer Gegenwart des Geistes, die er nachmals selber nicht
begriff, fuhr er ihm blitzschnell nach und faßte ihn, der besinnungslos
eben am Rande des Daches hieng, bei den Haaren und hielt ihn.
Damit waren sie beide gerettet. Toni schmiegte sich schluchzend
an seinen Kameraden und weinte unaufhaltsam. Und voll Scham
verriet er, was er bisher in seiner Eitelkeit verborgen hatte:
>Ich kann nicht so herumsteigen, klettern und laufen wie
du, ich wollte es dir nur nicht sagen. Hast du es denn nicht be-
merkt? Ich habe nur ein Auge. Wenn ich dirs gesagt hätte, dann
hättest du mich ausgelacht. Aber jetzt weißt du 's, ich kann ja
nichts dafür.< Damit faßte er unter sein linkes Augenlid und nahm
ein blaues, gut gearbeitetes Glasauge aus seiner Höhle, die darunter
leer und rot gähnte.
Dieter, der wohl noch nie von solchen Gebrechen gewußt
und darum auch den starren Ausdruck dieses unbeweglichen linken
Auges bisher nicht wahrgenommen hatte, schlug ihm, rasch be-
— 34 —
si^micn, aber unter rräneii in seinen zwei [gesunden Augen, auf
die Schulter: 'Du siehst drum auf einem Auge für zwei und mehr
als ich, denn icli habe bis heute nicht einmal dich ordentHch an-
geschaut.«
Der Toni hatte dieses Aug eingebül5t, als er nach dem Tode
seiner Mutter, der ersten Frau des Herrn Scharrer, bei einer bösen
Pflegerin erkrankt war. Dies und anderes Erbe von Leid und Elend
machte sein junges Leben kurz, heiß, begierig und schwer und
würgte es \or der Zeit hin, die sonst einem Menschen vergönnt ist.
Sie gingen dann still und bedrückt über die hohe Stiege
der Aula hinab und sprachen nichts. Als sie Abschied nahmen,
schenkte Toni dem Dieter die einzige Kostbarkeit, welche er besaß,
eine Zigarettenbüchse aus schwarz lackiertem Holz, auf welcher ein
rumänischer Krieger abgebildet war, der, seines Landes Fahne
schwenkend auf einen besiegten Türken trat. Toni hatte diese
Dose von seinem großen Bruder bekommen, dem Matrosen, und
gab mit ihr das Schönste, was er hatte, dem Freunde, der nun
alles von ihm wußte.
Dieters Blick hatte heute über der Erde gehangen und war
in den leeren Abgrund niedergetaucht. Es gehörte die Kraft der
Jugend dazu, sich aus solcher grauenhaften Tiefe wieder aufzu-
schwingen, die Federn zu schütteln, die eben sich im Strom des
Verderbens genetzt, und von neuem die munteren, hohen Flüge zu
beginnen.
Der Erwartungslose
Von Grete Wolf
Dies ist ein Tag . . . Und noch ein Tag ... So rollen
Sie ungezählt zum All, das sie gesandt.
Vom Tag ist zur Unendlichkeit sein Wollen
Und seine Seele flugleicht hingespannt.
Sein Wissen geht die stillen dunklen Wege.
Tieiquellend aus der Wesenheiten Schoß:
Gott du bist groß —
Wer bin ich, daß mein Wille dich bewege!
— 35 —
Pferderennen
Von Berthold Viertel
Still zieht mein Blick mit diesem Rudel Reiter
Im fernen Grün: der noch geschlossen dicht,
Wie spielend hinläuft, dort im Bogen weiter,
Dann näher kreist, nun in die Nähe bricht.
Da kommen sie, über den Mähnen liegend.
Sich, Mann und Tier, hinwerfend durch die Zeit,
Noch alle wollend, und noch keiner siegend —
Und plötzlich weiß mein Herz die Schnelligkeit.
Und jetzt: ein braunes mit befreitem Sprunge
Durchdringt den Rudel — ungehemmt davon!
Es hat den Sieg im tibersichern Schwünge
Und trägt ihn weit vor allen schon.
Der Rudel ist entwirrt — ein Zweiter,
Ein Dritter reißt sich vom verstrickten Feld.
Im Fluge horcht zurück der erste Reiter,
Der schon sein Tier mit leichten Händen hält.
Meine Wiener Vorlesung
Am 3. Mai hat, ohne Presse und ohne eine andere
Ankündigung als durch den Umschlag der ,Fackel' und
trotz der Schranke eines weitläufigen Verfahrens, das
nur angemeldeten Besuchern den Eintritt ließ, vor
einem dichtbesetzten Saal meine erste Wiener Vor-
lesung stattgefunden. Das Programm umfaßte eine un-
gedruckte Schrift »Heine und die Folgen« und »Die
chinesische Mauer«; ich mußte aber auch »Die Welt
der Plakate« lesen.
Wiewohl an die Presse keine Einladung ergangen
war, ließ es sich die Arbeiter-Zeitung nicht nehmen,
den folgenden Bericht erscheinen zu lassen:
Vorlesung Karl Kraus. In einem vom Akademischen Verband
für Literatur und Musik veranstalteten Abend trat Dienstag abends Karl
— 36 —
Kraus, der Herausgeber der .Fackel', als Vorleser auf. Kraus, der
sicherlich zu den stärksten schriftstellerischen Talenten Wiens zählt, ist
hier, soweit die Öffentlichkeit durch die Zeitungen repräsentiert wird,
fast unbekannt; aber aus seiner teüs selbstgewoUten, teils aufgedrun-
genen Einsamkeit übt er dennoch starke Wirkungen aus. Er las zuerst
einen une^edruckten Essai : Heine und die Folgen. Kraus betrachtet Heine
ausschließlich als Artisten: in welcher Einschränkung aber eigentlich die
Beschränktheit des eigenen Gesichtskreises sichtbar wird. Heines >Folgen«
sind danach die Feuilletonisten, die Stilschwindler, die in Heine das
Vorbild der Beherrschung der Form bekommen haben, welche es ihnen
nun so leicht mache, ihre innere Armseligkeit, ihre unkünstlerische
Ideenlosigkeit als Geist, Stimmung, Psychologie, kurz als Kunst zu
servieren. Heines Ruhm beruhe auf Eindrücken der Jugend, aber die
»Folgen< liegen doch schon in ihm: in seiner manierierten Poesie
(Kraus läßt von Heine nur die Lyrik des Todes gelten), in seinem Witz
ohne Anschauung, in seinem ganzen Wesen, das kein schöpferisch-
künstlerisches, nur ein journalistisches war. Das alles trägt Kraus in
einer Sprache vor, die von Geist und Witzen geradezu funkelt. Vielleicht
zu sehr, als daß ein starker und sich einbohrender Eindruck entstehen
könnte. Es ist das besondere Talent dieses Sprachkünstlers, seine
Gedanken in Antithesen vorzutragen, sie in einem Gleichnis ausströmen
zu lassen, in einem Bilde gleichsam zusammenzuballen. Das ist oft
ungemein anscnaulich und man hat nicht selten das Gefühl einer blitz-
artigen Erhellung: als ob das Bild ebenso das Notwendige wie das
Endgiltige ausdrückte. Aber damit der Geist der Gedanken voll wirke,
muß sich der Geist der Worte freiwillig beschränken; sonst erdrückt
dieser jenen. Indem Kraus darauf verzichtet, dem Leser auch den *
gedanklichen Prozeß zu bieten, ihm nur das Ergebnis vorlegt, den
Gedanken nicht beweist, sondern herrisch aufnötigt, zwingt er die Leser
zwar in den Bann seiner Sprachkraft, entläßt sie aber ohne jenes liefe
Behagen, das sich nur beim Mitdenken, das auch ein Miterleben ist, -
einstellen kann. Seine Überfülle der geistreichen Worte beunruhigt, und
man wird die Empfindung nicht los, als ob man von den schillernden
Antithesen einfach überrumpelt und vergewaltigt würde. Das hängt ohne
Zweifel damit zusammen, daß Kraus eine fast schwärmerische Verehrung
vor der Sprache hegt. Sicherlich ist ein Schriftsteller, der den sprach-
lichen Edelgehalt so ernst nimmt, in unserer Zeit der Sprachverhunzung
eine beachtenswerte Erscheinung; aber Selbstzweck darf der sprachliche
Glanz und Prunk doch nicht sein; mehr als das Material, aus dem der'
Künstler sich die Form seiner Gedanken holt, darf die Sprache nicht
werden. Das ist die Gefahr: daß aus dem Sprachkünstler ein Wort-
virtuose wird. Und was Kraus' Schroffheit in der Verurteilung der Presse
als wirkender Unkultur betrifft, so liegt ihr, von der häßlichen und
törichten Ungerechtigkeit dieses verallgemeinernden Urteils ganz abge-
sehen, ebenso eine Überschätzung wie eine Unterschätzung zugrunde.
Denn jene gerissenen Psychologen ergeben beileibe nicht die Institution,
und daß der Zeitungsinhalt, über die Vermittlung des Stofflichen hinaus,
nicht künstlerisch geformt werden könnte, ist gewiß nicht wahr; ohne
den Ruhm der LTnsterblichkeit in Anspruch zu nehmen, kann ein Jour-
37 —
nalist auch ein guter Schriftsteller sein. Übrigens müßte die Kritik hier
viel tiefer schürfen; von jener geistigen Verderbnis ist Heinrich Heine
weit weniger die Ursache als der Kapitalismus, der die geistige Pro-
duktion, genau wie die Produktion der materiellen Güter, zu einer
Produktion von Waren gemacht hat . . . Dem Heine-Essai folgte »Die
chinesische Mauer <, eine an die Ermordung der Else Siegel im Chinesen-
viertel in New-York anknüpfende Phantasie, die mit stellenweise dämo-
nischer Kraft die europäische Qeschlechtsmorat verhöhnt. In dem über-
füllten Saale war viel begeisterte Jugend anwesend, der Beifall stürmisch,
der Enthusiasmus ehrlich. Für den Schriftsteller, der sich Feinde freudiger
erwirbt als Freunde, bildete der interessante Abend eine Genugtuung.
f. a.
Diese Kritik ist in jeder Hinsicht erfreulich. Nicht
weil ich nach ihr >zu den stärksten schriftstellerischen
Talenten Wiens zähle« ; nennte sie mich das stärkste,
müßte ich noch immer nicht in Größenwahn verfallen.
Aber sie ist wertvoll, weil sie mir mit jedem Wort ein
Beispiel gibt für das, was ich sage und worein sie nicht
dringt. So weit entfernt vom Sprachproblem und damit
von Inhalt, Form, Tendenz und Thema des Vortrags
sie ihre intelligente und anständige Meinung sagt, so
deutlich steckt sie die Grenze ab, die das beste Auf-
gebot von Scharfsinn und Ehrlichkeit noch immer
von einem tieferen Erfassen der Kunstdinge trennt.
Dieses tiefere Erfassen dem programmgemäßen Auf-
spüren kapitalistischer Verderbnismotive gegenüberzu-
stellen, hat freilich wenig Wert. Eine Verständigung
zwischen der Logik und der Kunst gibt es nicht, denn
die Logik versteht alles, nur nicht das eine, daß es
der Kunst nicht darauf ankommt, verstanden zu werden.
Daß es sich ihr nicht darum handelt, dem Leser einen
Gedanken zu »beweisen«, weil ein Beweis kein Ge-
danke ist; und daß sie den Gedankenprozeß mit Aus-
schluß der Öffentlichkeit durchführt, weil die Zumutung,
die Leser, alle Leser atif einmal, »mitdenken« zu
lassen, eine trostlose demokratische Forderung ist.
Wenn man so alles coram publico bereinigen sollte,
das gäbe eine schöne Schweinerei auf dem Forum!
Allen wäre zuletzt die Sache klar, nur mir nicht.
Die Kritik streift hier ahnungslos das Problem selbst : daß
die Gaben der Kunst mit den Aufgaben des Journalis-
mus verwechselt werden. Er ist dazu da, den
— 38 —
>Miterlebenden« ein Vergnügen zu verschaffen; sie
dient den Nacherlebenden. Vor der Gefahr, daß aus
dem Sprachkünstler ein Wortvirtuose wird, kann nur
warnen, wer das Sprachproblem als Formproblem
mißversteht. Dann aber müßte er sich eigentlich
wundern, daß jener sich gerade das Artistentum Heines
vorgenommen hat. Denn der Artist Heine wird nicht
vom Politiker getrennt, sondern vom Künstler. — Immer-
hin beschämt solche Kritik, die nicht schweigt und doch
den Kunstwert stark genug fühlt, um an ihm nicht
ein durch alte Polemik erhitztes Mütchen zu kühlen,
durch Klugheit und Gewissenhaftigkeit die ganze stumme
Preßrache Wiens.
Sonst erschien nur noch in der Berliner Wochen-
schrift Der Sturm — in der Nr. 12, die auch einen
Essay von Else Lasker-Schüler über mich und dazu
eine Zeichnung von Oskar Kokoschka brachte — von
einem mir unbekannten Autor ein Bericht, dem hier
einige Stellen, entnommen werden:
Die Wiener Vorlesung Karl Kraus
Am 3. Mai hielt Karl Kraus zum ersten Mal in Wien eine Vor-
lesung aus eigenen Schriften. Die ganz exzeptionelle Bedeu-
tung des Herausgebers der* .Fackel' an dieser Stelle .darzu-
legen, wäre überflüssig. Wer den , Sturm' liest, kennt auch Karl
Kraus, kennt seine unübertreffliche Sprachkunsf, sein unheimliches
Temperament und seine noch unheimlichere Treffsicherheit;
weiß, daß Kraus der erste Satiriker Österreichs ist, umjubelt
von fanatischen Anhängern und gefürchtet von seinen Gegnern,
denen keine andere Waffe gegen seine wuchtigen Angriffe, seinen
schneidenden Hohn, seine zermalmende Verachtung zu Gebote steht,
als ein starres, ununterbrochenes, impotentes Schweigen . . . Daß dieses
Schweigen nutzlos ist, bewies die Vorlesung. Der Saal war überfüllt,
als Karl Kraus das Podium betrat und zu lesen begann. Der Ausdruck
der scharfen Züge ist kühl, spöttisch, überlegen. Und bevor Kraus zu
sprechen beginnt, weiß man, daß seine Stimme klar und scharf ist
Dann las Kraus >Die chinesische Mauer«, seine schnell berühmt
gewordene Arbeit, in der er das Problem der beiden Rassen von allen
Seiten beleuchtet. Man kennt den wuchtigen Anfang, der dröhnend und
unvermittelt niederfährt, wie ein einschlagender Blitz Kraus arbeitet
hier mit den einfachsten Mitteln und beweist dadurch seine große
Künstlerschaft. Außerordentlich fesselnd war es, den Vorlesenden zu
beobachten. Wie sein Gesicht starr und drohend wurde; wie seine
Schultern sich raubtierartig hoben; wie seine Rechte in kurzen Rucken
über den Tisch zuckte, sich ballte, sich um eine unsichtbare Gurgel zu
— 39 —
krallen schien, den Niagara von Worten gestaltete, der auf die atemlos
horchenden Menschen niederbrauste, bis zu jenem titanenhaften Schluß, in
4em die angestaute Hochflut sich befreit und majestätisch ausbreitet
Da der Beifall nicht end«n wollte, entschloß sich Kraus zu einer Zugabe:
Er las »Die Welt der Plakate«, diese witzige Betrachtung voll souveränen
Humors. Alles in allem: ein außerordentlicher Abend, getrübt nur durch
den beschämenden Gedanken, daß man es so lange versäumte, die
Schönheit Krausscher Sprachkunst verbunden mit der Schönheit Kraus-
scher Sprechkunst auf sich wirken zu lassen. Denn nicht Kraus ist
schuld, daß dies seine erste Vorlesung in Wien war, sondern Wien.
Mirko Jelusic
Die Vorlesung wird am 3. Juni in Wien, im Herbst
in mehreren deutschen und österreichischen Städten
wiederholt werden.
Philosophen
Von Karl Kraus
Ich preise mich im Besitz der Midasgabe, daß jede Stelle
eines Journals, einer Zeitschrift, eines Verlegerprospekts, die nur
mein Finger berührt, Blech ist. Ich könnte ein Literaturblatt
mit geschlossenen Augen lesen — ich revidiere diese ganze
Schmach seit elf Jahren mit unausgeruhtem Hirn, das glücklich
wäre, wenn keine neuen Mißeindrücke es zur Reaktion zwängen.
Ich tippe nur so durch die Kolumnen, und ein ganzer Schwärm
von Dummheit erfüllt mir das Zimmer, ein ganzer Schwaden von
jener hundsgemeinen Intelligenz, die verderblicher ist als ein
Kometenschweif, verpestet mir die Luft. Und aus dem letzten
Eckchen eines Zeitungsblattes, das noch unter meiner Lektüre
liegt, lugt mir, da ich sie durchfliege, schon die Judasfratze
des Jahrhunderts hervor, immer dieselbe, ob es sich um den
Journalisten oder den Mediziner, den Hausierer oder den Sozial-
politiker, den Spezereikommis oder den Ästheten handelt. Immer
derselbe Stupor, vom Geschmack gekräuselt und mit Bildung
gefettet. Im Frisiermantel der Zeit sind alle Dummköpfe gleich,
aber wenn sie sich dann erheben und von ihrem Fach zu reden
beginnen, ist der eine ein Philosoph und der andere ein Börsen-
agent. Ich habe diese unselige Fähigkeit, sie nicht unterscheiden
zu können, und ich agnosziere das Urgesicht, ohne daß ich mich
um die Entlarvung bemühe. So wie ich auf der Straße einen
Redner von hinten nach der Stimme feststelle, die ich vor zwanzig
Jahren einmal gehört habe, oder beim Durcasuchen Jahrzehnte-
— 40 —
alter Korrespondenzen aus Format und Farbe eines umgelegten
Brief kuverts den Absender errate. Das klingt wie Kammerjägerlatein.
Aber wenn es nicht wahr wäre, so wäre auch die Aufnahm»,
Fixienmg und Typisierung aller Eindrücke des öffentlichen Lebens
eine unmögliche Leistung. Eigentlich ist sie es und was mir not
täte, wäre, daß einmal acht Tage lang die Gemeinheit der Welt,
der Fortschritt und die Geselligkeit, ausspannt, damit wenigstens
nichts Neues dazu komme, denn an dem Alten ist immer noch
genug zu verarbeiten. Und da die Erfindung der Buchdruckerkunst
und nicht der Komet den Weltuntergang bewirkt, so müßte
wenigstens ein Setzerstreik die ersehnte Pause bringen. Die
Gesichter und Stimmen der Leute, die dann nach den Zeitungen
riefen, gäben noch immer so viel fürchterliche Anregung, daß ich
nicht müßig wäre, aber mir's wenigstens einteilen könnte. Jedes
Ereignis, über das ich nichts lese, ist Ruhe, jedes Gebiet, das
ich nicht betrete, Erholung. Je weniger ich weiß, desto besser errate
ich. Ich habe nicht Soziologie studiert und weiß nicht, daß der
Kapitalismus an allem schuld ist. Ich habe die christliche Entwicklung
der jüdischen Dinge nicht studiert und weiß nicht, was gewesen
ist. Aber ich lese in der Kleinen Chronik und weiß, was sein
wird. Ich ergänze mir ein Zähnefletschen, eine Geste, einen
Gesprächsfetzen, eine Notiz zu dem unvermeidlichen Pogrom der
Juden auf die Ideale. Daß unsere Kultur den Einbruch des Wein-
reisenden in das Geistesleben bedeutet, spüre ich an den kleinsten
ihrer Äußerungen; und mir genügt die Ahnung, daß es Gebiete
geben muß, in denen sich der Einbruch als Festzug abspielt.
Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen und ihi Ruf
als Kommiswissenschaft steht heute unbedingt fest. Die Philosophie
halte ich mir vom Leib, weil ich das Gefühl habe, daß sich hier
tagaus tagein das Schlimmste begibt, und weil ich zu gut informiert
werden könnte. Denn hier scheint ein Rotwälsch eigens erfunden,
um den Unwert jener, die sich dem Gewerbe ergeben, als Schleichgut
in die Kultur zu schmuggeln. Man muß nur den Mut haben, dem
Jargon zu mißtrauen und durch Zeit und Raum, durch das intellegible
Ich und die immanente Gottheit und durch die religiöse Substanz und
die Monadologie hindurchzulesen, so wird man auf einen betulichen
Reporter stoßen, der, wenn er Zeit und Raum zur Verfügung
hat, Feuilletons im Dutzend liefert. Herr Oskar Ewald kassiert jetzt
den Nachruhm Otto Weiningers ein. Er hat ein Werk von über
880 Seiten geschrieben. Der Himmel, der Kometen sendet, bewahre
— 41 —
mich davor, daß ich sagen könnte, ich hätte dieses Werl« gelesen.
Ich kann sogar sagen, daß ich dieses Werk nicht gelesen habe.
Aber ich kenne die Aufsätze, die derselbe Herr Ewald in deutschen
und österreichischen Revuen veröffentlicht hat. Und ich Jiabe jrnmer
die kleinen Schriften eines Autors als ,Warnun£ empfunden, ^clTe
großen zu lesen, woraus es sich erklären mag, daß Ich über die
Auforen so gut Bescheid weiß, ohne daß ich gezwungen war,
meine Bildung zu vermehren. Wenn einer auf neun Seiten ein
Schwätzer ist, so ist es gewiß keine Frivolität, zu zweifeln, ob er auf
neunhundert ein Philosoph sein könne. Dagegen ist es sicher, daß
in solchen Dimensionen auch die geringste Fähigkeit einen Schein
erwirbt, dessen sie in engem Spielraum sofort verlustig geht. Herr
Ewald wird jetzt in den Literaturblättem als Gigant beschrieben,
aber ich habe noch keinen Leser seiner Aufsätze getroffen, der
Appetit auf seine grundlegenden Werke gehabt hätte, und die Un-
mäßigen, die diese zuerst gelesen haben, sagen, es könne nicht
derselbe Autor sein. Und doch ist es derselbe, nur daß die Philosophie
ein Kostüm ist, das man nicht alle Tage anzieht, und daß nur
der auch anders kann, der nichts kann. Herrn Ewalds großes Werk
»Gründe und Abgründe«, dessen Untertitel »Präludien zu einer Philo-
sophie des Lebens« lautet — die eigentliche Philosophie des Lebens
steht noch aus und das Leben selbst nimmt sich Herr Ewald von
jenem Leben, das sich Weininger genommen hat — , das große Werk
wird jetzt von den Berufsflach köpfen im In- und Ausland in einer
Tonart gepriesen, nicht als ob Nietzsche nie gelebt hätte, nein, als ob er
an Ewald gestorben wäre. »Unsere Zeit täuscht uns auf allen Gebieten
durch Überwuchern von Surrogaten«, b^'nnt ein Herr in einem
Berliner Blatt, und schon erwartet man, jetzt werde die Enthüllung
kommen, daß die Gründe des Herrn Ewald sticht und seine Ab-
gründe ungefährlich seien. Im Gegenteil, der Mann empfindet »das
Dasein dieses Buches als eine Lebenssteigerung«. Ewald biete
»aus dem Reichtum einer großangelegten, profunden Natur Bau-
steine zu einer Philosophie des Lebens«. Das ist wahr, aber es
hätte der Vollständigkeit halber auch gesagt sein müssen, aus
wessen Natur. Der Selbstmord Weiningers, den Herr Ewald
überlebte, hat nicht nur »Geschlecht und Charakter« berühmt
gemacht. "Aber Herr Ewald hat, wie wir hören, nicht nur Nietzsche,
sondern auch Weininger »innerlich verworfen«, und wie wir schon
aus der Inhaltsangabe dieser Überwindung ersehen, Weininger mit
Erkenntnissen, die von Nietzsche, und Nietzsche mit Erkenntnissen,
— 42
die von Weininger stammen. Ewald »rührt an die tiefsten Mysterien« ;
aber da sie niclit ihm gehören, so hätte er sie nur besichtigen
sollen. Der Berliner Kritiker freilich ist anderer Ansicht. >Ich schließe
mit der Konstatierung«, schreibt er, >hier endlich einmal sagen zu
können, auf einen großen und erhabenen Oeist gestoßen zu sein,
der sicher dazu berufen ist, die Epoche Nietzsches zu überwinden usw.«
Dieselben Töne hört man jetzt überall. Wo der Sitz der Korrespon-
denz ist, die diese falschen Nachrichten verbreitet, weiß ich noch nicht.
Aber irgend ein Bureau ist in voller Tätigkeit, welches der Überzeugung
zu sein scheint, daß sich der Ruhm eines Um- und Umwerters durch
Reklamenotizen halten lässt. Überall dieselben Versicherungen:
>Gedankengebäude . . . hinausragt . . . Tiefe des Weltgefühls . . .«
Ewald »überrage Weininger an Reife und innerer Festigung«, meint die
.Österreichische Rundschau', die allerdings nur von den Seekranken
der Lloydschiffe gelesen wird, aber die Neue Freie Presse meint,
Ewald habe >den Drang in sich gefühlt, dem einsamen Meister
von Sils-Maria nach-, ja über ihn hinwegzufliegen«. Dieser Drang
ist Herrn Ewald schon zuzutrauen. Sein Buch habe ich, wie gesagt,
nicht gelesen, aber in den Aphorismen, die sein Buch enthält,
habe ich gern geblättert und da gewahre ich allerdings auch den
Drang, meine Aphorismen abzuplatten. Er gibt freilich jedem einen
Titel und schmückt auch jede Seite mit netten Zusammenfassungen
wie: »Distanzen«, »Mysterien«, »Hölle und Himmel«, »Höhen und
Tiefen«. Aber was nützt das? Es ergibt noch immer keine Höhen,
keine Tiefen, nicht Himmel und Hölle und keine Mysterien. Höchstens
Distanzen. Herr Ewald ist so sprachfern, daß er sich von der Leichtig-
keit, ein tausendseitiges Buch zu schreiben, verführen ließ und vor
der Schwierigkeit nicht zurückschrak, Aphorismen draufzugeben. Aber
er wirds gewiß nicht wieder tun. Wer wird denn umständlich in
einer Zeile ausdrücken, was man bequem in hundert Seiten sagen
kann? »Der Stil ist nicht das Kleid, sondern die Seele des Künstlers«,
schreibt Herr Ewald. Ich will nicht sagen, daß der Gedanke von mir
ist, wie mancher andere, er ist von jedem Künstler, nur nicht von
Herrn Ewald; denn der Satz, in dem er ihn sagt, ist schlecht wie
alle andern. Aber wenn der Stil die Seele des Künstlers ist, so habe
ich die Seele des Herrn Ewald in jenen populären Aufsätzen gefunden,
mit denen er die deutschen Zeitschriften versorgt. Und wenn die
Wissenschaft nach einem andern Wahrwort heute nur aus Werken
besteht, die ein Jud vom andern abschreibt, so besorgt Herr Ewald
— 43 —
diese Aufgabe in eigener Regie, indem er seine Dünnsauce immer
von neuem verdünnt. Solche Schreiberei, die noch bedenklicher
ist als der landläufige Feuilletonismus, weil dieser wenigstens
an allen Fächern schmarotzt, während jene sich das Air spezieller
Wissenschaftlich keit gibt, ist hinlänglich charakterisiert durch einen
Satz, mit dem Herr Ewald in dem Artikel »Das Weib in Kunst
und Weltanschauung« sichtlich zum Schlüsse eilt. Nachdem er die
ganze Seichtheit eines tiefen Problems ausgeschöpft hat, schreibt
er wörtlich: »Wir können zum Abschluß dies
Verhältnis von einer noch tieferen Seite her
beleuchten.« Nu, ist der Stil nicht die Seele des Künstlers?
Natürlich hat Herr Ewald mit sämtlichen Meinungen, die er
jetzt in den alten, neuen und noch nicht gegründeten deutschen
Revuen vertritt, vollständig Recht. Er vertritt die Meinungen so
sehr, daß man sie wirklich nicht mehr über die eigenen Füße
bringt. Er ist ein gutes Exempel für die Wertlosigkeit der richtigen
Meinung. Er läßt es sich etwa nicht nehmen, das Genie gegen die
Psychiatrie zu schützen. Wo er recht hat, hat er recht Aber als ichs
gelesen hatte, schwor ich mir zu, von jetzt an die Psychiatrie
gegen das Genie zu schützen. So ganz und gar vertreten schien mir
die richtige Meinung zu sein. Man wird bald wirklich nichts mehr
erieben können, ohne daß einem die Individualität kompromittiert
wird. Wenn diese Echos sich nur einmal verfrühen, sich einmal nur
zuerst bemühen möchten, man könnte wieder Freude an seinem
Ruf bekommen. Aber so laufe ich nächstens aus der Gegend! >Zu
einem solchen Phänomen muß man Stellung nehmen«, schreibt
Herr Ewald über die Pathologisierung des Genies, >und zwar
in möglichst unparteiischer Art, alle Argumente sorgsam
abwägend.« Tue er. Aber wenn er Stellung nimmt, lege
ich mich nieder. »Von diesem höheren Gesichtspunkte ist es
mithin begreiflich, daß wir heute, auch in unserm Verhältnis
großen Geistern gegenüber, die subjektive Seite stärker hervortreten
lassen, dem Persönlichen, dem Menschlichen, Allzumenschlichen,
nnsre Aufmerksamkeit schenken«, schreibt Herr Ewald. Er ist, wie man
sieht, ein Eigener. Er fühlt den Drang in sich, über Nietzsche hinweg-,
und es ist ihm sogar gelungen, dem Marco Brociner nachzufliegen.
Herr Ewald hat die Psychiater aufs Korn genommen, er ist wahrschein-
lich ein Satiriker. Mit bitterer Ironie bemerkt er: »Wie schade, daß
sie (die Genies) nicht gesund und normal waren! Sie würden
44
wahrscheinlich geheiratet haben und wären gute Familienväter und
brauchbare Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden. Aber
ich will der Verlockung nicht nachgehen und a n
Stelle des verdienten Spottes, zu dem eine solche Be-
trachtungsart herausfordert, objektive Kritik treten lassen«. Wie
schade, daß er der Verlockung nicht nachgegangen ist! Es hätte
sich gezeigt, was schwerer ist, nachzugehen oder Stellung zu
nehmen. Aber so schreibt Herr Ewald, wenn man ihn der Ver-
pflichtung enthebt, zu Zeit und Raum Stellung zu nehmen.
Schreiben die andern anders? Und muß ich ihre philosophischen
Werke lesen, um zu wissen, wie sie schreiben ? Muß ich ihre Band-
würmer untersuchen, um zu wissen, was in ihnen steckt? Der
Privatdozent Ewald sagt, der Stil sei die Seele des Künstlers, und
erspart mir wirklich durch ein paar Zeilen die Beachtung seiner
grundlegenden Werke. Der Professor Vaihinger aber, der Kant-
Gelehrte, kommt mir mit einem Waschzettel unter die Augen, den er
über Nietzsche geschrieben hat. Mir genügt es : »Nietzsche ist heute
ein literarischer Machthaber ersten Ranges . . . Nietzsches Schlag-
wörter tönen überall wieder, wie ,Jenseits von Gut und Böse', ,der
Wille zur Macht', ,die Vielzuvielen', die , Umwertung aller Werte',
,der Übermensch' und manche andere ähnliche, schon geläufig
gewordene Wendungen ... Der Gründe, welche den
ErfolgNietzsches erklären, gibt esverschiedene;
der eineGrund wirkt mehr auf diesen, der andere
mehr auf andere.« Und über Nietzsche als Stilkünstler: >Er
handhabt die Sprache mit seltener Virtuosität . . .<
Es ist entsetzlich. Der Journalismus ist ein Übel, aber
wir können ihm schließlich nicht wehren, weil wir nicht
wüßten, was wir mit den Journalisten anfangen sollten, wenn es
keine Zeitungen gäbe. Sie könnten höchstens, wenn sie ihr Sitz-
fleisch pflegen wollten, Philosophen werden. Aber die Philosophen, die
den Ehrgeiz haben, auch mit der Hand zu arbeiten, sind eine
überflüssige Plage. Alle Achtung vor ihrem Wissen, ihrem Fleiß
und ihren sonstigen sozialen Tugenden, und mögen sie in Gottes
Namen in den Hörsälen den jungen Leuten erzählen, was sie
wollen; aber diese Gier nach Druckerschwärze ist des Teufels. Sie
führt zu Verwechslungen. Man will einen Journalisten packen und
hat einen Philosophen entlarvt.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3.
>eben erschienen:
Negerkönigs Tochter
Eine Erzählung von
OTTO STOESSL
München und Leipzig^ Georg Müller
OTTO SOYKA ~
Herr im Spiel
Roman
yperion-Verlag Hans von Weber München 1910
Aenschen von Gottes Gnaden
Erzählung von
Karl Borromäus Heinrich
Albert Langen, München
DER STURM
OCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE
HERAUSGEGEBEN von HERWARTH WALDEN
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Einzelbezag: 10 Heller — Jahresbezug: K 5.— Halbjahrsfcezug : K 2.50
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[atharinenstraße 5. — DER STURM hegt in den Tabak -Trafiken auf.
enthält in der kürzlich erschienenen Nr.'12:
[e Zeichnung von Oskar Kokoschka: Karl Kraus,
ien Essay von Elise Lasker-Schüler : Karl Kraus
und einen Rerirht liher Hie Wiener Vnr1e<;iinCT
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j^ A^^^— verlangen vor Drucklegung ihrer Werke im eigen-
Js-HIjOFOII sten Interesse die Konditionen des alten bewahrten
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Herausgeber KARL KRAUS
Die „Fackel« ersqheint in zwangloser Folge im Umfang von
1&— 32 Seiten
Für Österreich-Ungarn: 18 Nummern, portofrei K. 4.ou
36 n " w7 ^
Für das deutsche Reich: 18 » « g*_
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n,..h«,n»mP.,t««treckt.ichnlchta«f8lnenIeltra"om.8ondar.. auf eine be.tlmniteAmhlmH..mmern
Einzelheft in Österreich 30 Heller, in Deutschland 30 Pfennig
Ztt beziehen durch sämtiiche Buchhandlungen
Berliner Bareaa: Haiensee, Katharinenstraße 5
J^^y^LX der vorigen Doppelnummer 301 /.302, 3. Mai 1910:
HEINRICH MANN: Die Unschuldige / STANISLAW PRZY-
BYSziwSKIiDieTat/ AUGUST STRINDBERG: DerHunds-
fott/FELIX STÖSSINGER: Carlos und NicolasAALEXANDER
SOLOMONICA: Die vierte Schwester/BERTHOLD VIERTEL:
Vorfrühling / LUDWIG ULLMANN : Ölberg / FELIX GRÄFE:
Das Lied/RdBERT SCHEU: Karl Lueger / Selbstanzeige / 1
KARL_KRAUS: Glossen .
Herauieeber und verantwortHcher Redakteur K t r 1 K r a u s <
DnicV von laboda & Siegel, Wien. HI. Hintere Zollamtistr. 3 j
305/306 20. JULI 1910 XII. JAHR
DIE FACKEL
HERAUSGEBER
KARL KRAUS
INHALT:
KARL KRAUS: Schoenebeckmesser / KARL KRAUS: Die kre-
tensisdie Frage/ AUGUST STRINDBERG: über Ansichten /
PETER ALTENBERG: Der einsame Park / BERTHOLD VIER-
TEL: Stunden / OTTO STOESSL: Aus Goethes Tagebüchern /
RUDOLF EHRLICH: Wie warst du schön /ALBERT EHREN-
STEIN: Traum /LUDWIG RUBINER: Henri Matisse/ KARL-
BORMANN : Abend / KARL KRAUS : Glossen / KARL KRAUS :
Der Biberpelz / Selbstanzeige
NACHDRUCK VERBOTEN
PREIS DER DOPPELNUMMER 60 HELLER
ERSCHEINT IN ZWANGLOSER FOLGE
VERLAG: ,DIE FACKEL', WIEN — BERLIN
\-, III 2, HINTERE ZC^' ' ^"^STRASSE 3 TELEPHON Nr. 187
Im Herbst erscheint:
Von den fröhlichen und
unfröhlichen Manschen
Gesammelte Essays
von KARL HAUER
VERLAG JAHODA & SIEGEL, WIEN
Negerkönigs Tochter
Eine Erzählung von
OTTO STOESSL
München und Leipzig, Georg JVlCiller
Soeben erst erschienen :
OTTO SOYKA
Herr im Spiel
Roman
Hyperion-Verlag Hans von Weber München 1910
Menschen von Gottes Gnaden
Eine Erzählung von
Karl Borromäus Heinri
Albert Langen, München
DIE FACKEL
Nr. 305/306 20. JULI 1910 XU. JAHR
Schoenebeckmesser
Von Karl Kraus
Wenn die Erinnerung an Herrn Maximilian Har-
den, die hin und wieder noch durch einen Wirtshaus-
exzeß des Milchhändlers Riedel aufgefrischt wird, ver-
rinnen sollte, wenn es selbst meiner philologischen
Mühe nicht gelingen möchte, seine Prosa unsterblich
zu machen, so wird sich doch einst ein deutscher
Sittenforscher dazu entschließen müssen, das Profil
dieses zwischen Staats- und Bettgeheimnissen ange-
strengten Chiffreurs nachzuzeichnen. Denn daß die
deutsche Intelligenz durch ein paar Jahre geglaubt
hat, aus einem Zettelkasten spreche eine Pythia und
ein Informationsbureau sei ein Janustempel, ist die
stärkste aller erweislichen Wahrheiten. Und die
lustigste, wie schnell der Glaube in dieser allen Wahr-
heitsuchern und Nordpolfindern, Luftgauklern und
Erdenschwindlern hingegebenen Zeit kaput wird. Wir
verstehen eines Tages nicht mehr delphisch ; und vor
uns steht ein Januspolitiker, mit zwei Gesichtern, von
denen das eine vorwärts sieht, das andere rückwärts,
jenes auf den Hosenlatz der Nation und dieses auf
ihren Hintern. Hütet euch vor seinem wissenden Blick,
ihr deutschen Soldaten ; zeigt ihm die Front nicht und
kehrt ihm nicht den Rücken; ihr Goeben und Moltke, habt
Acht ! Nicht mehr gefährlich ist er, aber zudringlich.
Nicht über Krieg und Frieden entscheidet er jetzt, aber
über eure Siege und Niederlagen im Bett. Eine Zeit
der Geschlechtsparade ist angebrochen: weh dem,
der normwidrig adjustiert ist; weh dem, der im
Zuerst in der Halbmonatsschrift ,März' erschienen.
2 —
Vordertreffen seinen Mann nicht gestellt hat. Pardon wird
nicht gegeben. Wer sich den Luxus eines Privat- und
Familienlebens gestattet, muß sich auch eine Kritik
gefallen lassen. Und wie's bei Schoenebecks zuging,
das zeigt uns nicht nur die öffentliche Berichterstat-
tung über eine geheim durchgeführte Verhandlung.
Nein, dort, wo der Reporter verzichtet, dort, wo selbst
unsere Phantasie diskret wird, eben dort tritt Herr
Maximilian Harden dazwischen, duldet keine Heim-
lichkeiten, dreht die Lampe auf, die's nicht wissen
soll, spricht aus, »was ist«, ruft Zeugen zur Tat, wälzt
ein Protokoll heran und sorgt dafür, daß auch nicht
ein Tropfen erweislicher Lustbarkeit verloren gehe.
Auf die Frage, ob man im Dunkeln erröten könne,
läßt er sich nicht ein, da er weder ein Dunkel zu-
gibt, noch ein Erröten kennt. Was an Tatsachen nicht
zu haben ist, ersetzt er durch die Erkenntnisse seiner
ausschweifenden Psychologie. Und mit einem Wissen,
dem nichts Menschliches fremd, und mit einem Besser-
wissen, das über alles Menschliche informiert ist, mit
dem ganzen Rüstzeug einer neuzeitlichen Bildung,
die Juristerei, Philosophie und Medizin und leider auch
Pornolalie studiert hat, und mit einem Eifer, der von
der Erschaffung der Welt anfängt, die Bibel plündert
und Allenstein das Olsztyn der masurischen Polen
nennt, um auf die Hauptsache, die sexuellen Gewohn-
heiten des Herrn v. Goeben zu kommen, bepackt mit
Erudition, Information und Sensation wie noch nie :
so tritt Herr Maximilian Harden in das Schlafzimmer
des Hauses Schoenebeck.
Ein Journalist, der, bevor er die zugkräftigsten
Gemeinheiten über einen Toten und über eine Frau
losläßt, nicht einmal so viel Takt beweist, mit seinen
geographischen und historischen Kenntnissen über
eine Provinzstadt zurückzuhalten. Ungescheut, mit einer
Indiskretion, die den verborgensten Winkel des Zettel-
kastens nicht schont, enthüllt er uns, daß die Alle ein
Nebenfluß des Pregel ist, und daß dort Marschall Soult
1807 vier Tage vor der Schlacht bei Eylau den
— 3 —
russopreußischen Nachtrab schlug. Daß Allenstein
30.000 Einwohner, ein Hochmeisterschloß und eine
restaurierte katholische Kirche hat und die Bevöl-
kerung Handel mit Holz, Leinwand und Hopfen
treibt. Was das uns angeht, fragen wir, die an
solchen Intimitäten nachgerade genug haben und
denen das Exhibitionieren mit Baedekerbildung ein
Ärgernis ist. Zur Sache! möchten wir rufen, weil wir
auf die Beweisführung gespannt sind, wie Herr von G.
durch Frau von Seh. zu einem normalen Geschlechts-
verkehre veranlaßt wurde. Aber noch ist, nach der
geographischen Belästigung, der Speicher des histo-
rischen Wissens nicht entleert. Goeben ist nämlich
»Sohn aus der zweiten Ehe eines Gutsbesitzers, der
als Sechzigjähriger an Leberkrebs starb«. Die Mutter
war fünfunddreißig Jahre alt, als das Kind geboren
oder vielmehr »ihrem Schoß entbunden wurde« (dies
nebenbei zur Aufklärung für solche, die noch immer
glauben, daß der Storch die preußischen Offiziere
bringt). Man sieht, wie wenig man in der Schule ge-
lernt hat und was man alles fürs Leben braucht. Wie der
Famulus stehen wir vor dieser faustischen Fülle. Zwar
wissen wir jetzt schon viel, doch möchten wir alles
wissen. Also: Herr von Goeben war eine »schwere
Zangengeburt«. »Arm und Bein sind rechts um einen
Zentimeter kürzer als links.« Obs genau stimmt, wissen
wir freilich nicht, haben aber das Vertrauen. »Als Kind
hat er an Masern, Scharlach, Keuchhusten, Skrofulöse
gelitten und sich einen Leistenbruch zugezogen.« Nun
haben wir bisher geglaubt, daß zwar Masern und
Scharlach Krankheiten sind, die angezeigt werden
müssen, daß aber ein Leistenbruch zu jenen Privat-
angelegenheiten gehöre, die der Mensch mit sich
selbst auszumachen hat, und zu jenen Leiden, auf
die sich das ärztliche Geheimnis eben noch bezieht.
Dieser Arzt aber kennt kein Geheimnis, so wenig wie
dieser Jurist, dieser Historiker, dieser Geograph,* dieser
Archäolog, dieser Flugtechniker, dieser Journalist eines
kennt. Er ist durch das Leben des Hauptmanns von Goeben
— 4 —
gezogen, er hat seine Entwicklung mitgemacht, er stand
zu Füßen seines Bettes, er begleitete ihn in den Buren-
krieg, er war dabei, als er verwundet wurde und zwar
»an Armen und Händen, an der Hüfte und dem fünften
Metakarpalknochen« — kein Wunder, daß er ihm jetzt
auch eine Mappierung seiner Sexualpläne vorweist. Er
hat seinen Jugendsünden beigewohnt, erkennt seine vor-
zeitige Männerschwäche. Nichts ist ihm, in all den Jahren,
in denen er doch mit der Liebenberger Tafelrunde vollauf
zu tun hatte, entgangen. Und er weiß auch, daß Goeben
»von seinem auf ihn stürzenden Pferde an Darm
und Niere gequetscht« wurde, und daß er hierauf
an Malaria und Schwarzwasserfieber erkrankte, bis
er nach einer langwierigen Furunkulose 1906 als Bat-
teriechef zum Masurischen Feldartillerieregiment Nr. 73
versetzt wurde. Wann? Vor Weihnachten? Nein, »im
Advent«. Und endlich lernt er Frau von Schoenebeck
kennen. Die hat vom Major Schoenebeck zwei Kinder?
Nein, das ist der Mann, »in dessen Umarmung sie
zwei Kinder empfangen hat«. Was tut Goeben? Er
küßt sie? Aber nein, er »drückt, selig zunächst schon in
dem Bewußtsein, lange genährtem Heilandwahn so
brünstigen Glauben geweckt zu haben, seine Lippen
auf den Mund der Frau, die sich, in der Ohnmacht
überquellenden Dankbedürfnisses, erfröstelnd in seine
Arme gleiten ließ«.
Seitdem Herr Maximilian Harden einmal Wede-
kinds »Frühlingserwachen« das »Männern der Knaben
und Böckeln der Mädchen« genannt hat, wissen wir,
daß er eine deutliche Sprache liebt. Seitdem er einmal
gesagt hat, daß in einem andern Drama die Heldin
den Helden »an der Wurzel des Paarungtriebes kitzelt«,
wissen wir, daß er ein Ding beim rechten Namen
nennt. Kein Zweifel, er wird uns aus dem Traumleben
des Herrn von Goeben, in dem er sich so gut auskennt
wie in einem Konversationslexikon, schon erklären,
was diesen Kavalleristen bestimmt hat, sich so lange
vom Weibe fernzuhalten und lieber »im Sattel den
Akkumulator seines Geschlechtstriebes zu entladen«.
— 5 —
Herr Harden bedauert, daß den Herrn von Goeben »keiner
je vor schädlichem Mißbrauch des Zeugungorganes
gewarnt« hat. Wir bedauern, daß es keinen Straf-
gesetzparagraphen gibt, der die Wegiassung des »s« in
einem fremden Körperteil weithin als eine verächtliche
Handlung brandmarkt. Wir bedauern, daß es kein
literarisches Berufsgericht gibt, das einen Schand-
preis der Diskretion einem Journalisten verleiht,
dem eine so delikate Umschreibung gelungen
ist wie diese: *Der Artillerielieutenant tut wie Onan,
Judas zweiter Sohn von Sua, den des Herrn Zorn traf,
weil er, statt bei des Bruders Witib zu liegen, seinen
Keimsaft in die Erde sickern ließ*. Wir bedauern, daß
es keine Organisation des Absehens gibt für den Fall, daß
ein Publizist selbst an jenes Geheimnis geschlechtlicher
Betätigung greift, welches bisher der Natur der Sache
nach mit keinem Zeugen geteilt wurde. Aber die
neurologische Obduktion Goebens — nein, »des aus
kränkelndem Stamm Ersproßten« — ist noch nicht zu
Ende. >0b ihn je ein Mannesleib reizte?« fragt Herr
Harden, den eine langjährige Erfahrung auf diesem
Gebiete gegen solche Möglichkeit stumpf gemacht hat.
Endlich ist's heraus. Eine unverbindliche Frage.
Goeben war Offizier, und Herrn Harden könnte
es nicht überraschen. Goeben »hat's geleugnet«.
Nun, Harden will's mindestens dahingestellt sein
lassen. »Die besondere Art seiner Lustvorstellung
ließe leicht darauf schließen.« Positives hat er
nicht erfahren können; die Detektivbureaus gegen
die Armee zu mobilisieren, lohnt sich nur, wenn
außer dem Vaterland das eigene Wohl gefährdet ist.
»Einerlei«, meint Herr Harden; will die Sache nicht
weiter untersuchen und läßt es beim Rade bewenden.
Denn schließlich bietet ja der selige Goeben durch
sein »schmähliches Geheimnis«, um das Herr Harden
weiß, genug Handhabe für einen aufgeregten Mora-
listen. Und wie erst durch seinen Verkehr mit der Frau
vonSchoenebeck! Herr Harden erinnert zu diesem Punkte
an die »Leistungfähigkeit der Lieutenantszeit«, während
— 6 —
hingegen den Hauptmann »häufige Schweißausbrüche
schwächen« und seine Exzesse »sich von Mond zu
Mond mehren«. Herr Harden sagt's nun grad-
heraus, es handle sich um Masturbation, und »der
fast Siebenunddreißigjährige, der als Batteriechef«
— bisher war nur von Akkumulatoren die Rede —
»nach AUenstein versetzt wird, hat als ein Glücklicher
niemals noch den Leib eines Weibes umschlungen«.
Endlich also lernt er Eine kennen. Frühling ists.
Oder mit einem Wort: »Der Lenz kommt ins Pregel-
land«. Goeben denkt, die könne er haben? Nein, so
einfach geht das nicht, sondern: »In schwüler Mittags-
stunde bebrütet, während des Heimrittes vom Übungplatz,
die Sonne in Goebens Hirn die Hoffnung, jetzt, so
spät noch, das volle Glück der Mannheit zu erlangen«.
Die Mutter ließ ihn einst — Herr Harden
weiß es — im Scherzspiel auf ihrem Rücken reiten.
Und Herr Harden weiß, daß sich im Unbewußten des
Knaben dieser Eindruck festgesetzt hat. Ob er nun
bei der Assoziation dabei war, oder den Haupt-
mann untersucht, oder gar ein Werk über Psycho-
analyse gelesen hat; ob er's vom Hörensagen weiß oder
ob es ihm am Ende ein Hofrat und fünf Arzte aus
dem Annoncenteil der , Zukunft' eidlich bestätigt haben —
Herr Harden weiß, welche Vorstellung dem Herrn von
G. beim Reiten zu schaffen macht. Nun wird es an Frau
von Seh. sein, ihn beim Huckepackspiel herumzukriegen.
So wird die »männische Willensleistung« ohne Zweifel
einmal zustande kommen. Die Frau behauptet aber,
ihr eigener Mann »vertiere zum unersättlichen Bullen,
der sich Tag vor Tag auf die Kalbe stürzt, zum geilsten
Bock, dessen Gier zwischen zwei Sonnen mindestens
einen Geschlechtsakt erzwingt«. Unglaublich; und was
sagt Goeben dazu? »Doppelt brennt vor dem Schreckbild
solcher roh prassenden Übermännlichkeit die Schmach
eigenen Unvermögens.« Die Frau will »von dem
Lakentyrannen befreit« sein und zugleich »den Kiefer-
taster des Männchens zu neuem Tatversuch wach-
kitzeln«. Das heißt, sie will den Major los sein und
— 7
den Hauptmann kriegen. Sie ist selig in dem Ge-
danken; sie versichert also, »der Rausch der Verheißung
habe ihr das Bewußtseinstor überschwemmt«. Soll sie
sich denn an ihren gierigen Mann wegwerfen? Oder
einfacher gesagt: sollen »ihre nie nach Lust getränkten
Sinne, wie dürstende Hunde an besudeltem Rinnsal,
sich an unsauberem Born kühlen? Grauen, Ekel, alle
Wächter schamhafter Liebe überrennen, rings um die
Seelenfeste die Leuchtfeuer löschen und im Dunkel
des Ehebettes von dem über dicht verhängten
Pupillen Röchelnden in stummer Wonne nehmen,
was der Mann zu geben vermag und der Liebste
versagen muß?« Trotz solchen Hindernissen —
endlich »gelingt, was noch nie gelang: die Mann und
Weib zum Gattungdienst nach der Norm der Natur
einende Paarung« . . . Und wo begibt sich das alles?
In Alienstein? Nein, so plump ist Herr Harden nicht,
den Ort zu verraten. »Im Allestädtchen«, sagt er diskret.
Herr von Schoenebeck, hat sie erzählt, habe »ihr die Haut
gepardelt«? So etwas kann einem Publizisten, der
Sexualklatsch verbreitet, nicht passieren; denn die Be-
leidigten sind zum Teil tot, zum Teil im Sanatorium.
Vielleicht hätte Herr von Goeben auch nicht den Mut
gehabt. Denn er war einer, »der mit dem prahlerisch
ausgereckten Geäst seines Wesens doch keinen Bezirk
der Mannheit ganz zu decken vermag«. Wie wollte er
ursprünglich den Major umbringen? Mit Arsenik?
»Die schafft er herbei.« Aber da einerseits eine weib-
liche Arsenik ohne Wirkung bliebe und anderseits auch
Frau von Schoenebeck nicht dafür ist, so muß ein an-
deres Mittel gewählt werden. Er zögert. »Wie am
Vaal einst der Stacheldraht, drückt der Hohn des
Weibes sich dem Soldaten in die Brustwehrhaut.«
Und es geschieht.
Wer das dem Major Schoenebeck vorher gesagt
hätte! Wer ihm gesagt hätte, »unter dem Pfühl, an
dem noch seines Schweißes Ruch haftet, wärme die
Brust seines Weibes den zuckenden Leit) Hugos von
Goeben und aus dem oft unter Saugküssen erstickten
— 8
Gewisper der Beiden webe sich die letzte Masche
eines Mordplangespinnstes, das in der nächsten Nacht
den Hausherrn drosseln solle«! Er hätt's nicht ge-
glaubt. Denn er wußte zwar, wie sie's getrieben hat,
kannte sogar aus Briefen »das Hengstgewieher der
Angekörten«, aber schlief fest »wie ein Grimbart im
Winterkessel«. Er wußte, daß sie es »mit dem graugelben
Bombenhugo« halte, aber an Mord hätte er nicht ge-
glaubt. Sie war ihm ein bequemes Lusttierchen, das
gibt Herr Harden zu, lobt die Auffassung und läßt das
Lied vom braven Mann erklingen, der seinen bunten
Rock, seine Kinder und seine Jagd über alles liebt
und der sich rackert, während seine Frau auf »Lenden-
erlebnisse« ausgeht. Herr Harden billigt die sexuelle In-
dulgenz eines Mannes, von dem er uns vorher schlicht
erzählt hat, daß er »mit dem Gelde derFrau behaglich leben
und seine Gäste besser bewirten kann als mancher Bri-
gadier«. Und er vertritt auch den männlichen Standpunkt
sexueller Kommodität. Hat solch biederer Jägersmann
schon ein Lusttierchen im Haus, so benütze er es und
hänge sein Geweih unter die Jagdtrophäen. Was des
Mannes Recht ist, wird bei der Frau geduldet: aber
auch nur, weil der Skandal vermieden und das Geld be-
halten werden soll. Mit einer unbezahlbaren Geste der
Verachtung aber für das »Ewig-Läufische« finden sich
die deutschen Männer in solcher Situation zurecht, die
ihnen besonders dann bequem ist, wenn sie selbst ein
Bedürfnis fühlen. »Kann, wenn ich will, mein Lust-
tierchen haben.« Dieses Wort, das Herr Harden dem
Herrn von Schönebeck in den Mund legt, ist das tiefste
Bekenntnis dieser infamen Sittlichkeit, die den begehren-
den Frauen mit Kriminalität und Psychiatrie beikommt,
wenn sie sie zufällig nicht für die begehrenden Männer
pardonniert hat. Ich weise es von mir, mich mit dem
Meistersinger der bürgerlichen Moral, mit dem Beckmesser
ehelicher Potenz, mit dem Höfling der »Lakentyrannen«
und dem Profosen militärischer Normwidrigkeit über
erotische Probleme auseinanderzusetzen. Ich werde mit
ihm nicht darüber streiten, ob eine Frau wirklich eine
— 9 —
»aus dem Bereich der Weibheit Geschiedene« ist, ob sie
wirklich »einen Aussatz blößt, den die Winkeldirne noch
vor Jedem, den sie nicht wegscheuchen will, bürge«:
wenn sie ihrem Geliebten von der Manneskraft seines
Vorgängers spricht. Ich werde den geschwollenen Platt-
heiten dieses Moralphilisters nicht mit dem erotischen
ABC begegnen, daß eine Frau in der trotz Herrn
Harden wichtigsten Situation ihres Lebens immer nur
spricht, was der Mann hören will, und daß die Lust-
vorstellung des Mannes von seiner ethischen Persönlich-
keit ebensowenig determiniert ist wie von irgendeiner
sittlichen Konvention der unbeteiligten Außenwelt. Ich
werde Herrn Harden nicht zu beweisen suchen, daß
Frau von Schönebeck in ihren Taten viel weniger den
Bereich der Weibheit verließ, als Herr Harden in seinen
Worten den Bereich der Mannheit. Ich werde ihm
nicht zu beweisen suchen, daß die Lusttierchen eine
milliardenmal wichtigere Rolle in der Kultur des
menschlichen Geistes gespielt haben als die Bett-
wanzen, die schließlich nichts weiter geleistet haben,
als daß sie dabei waren. Ich werde ihm nicht ein-
mal klarzumachen versuchen, daß auch Herr von Goeben
sich dem männlichen Ideal endlich nähert, dort, wo er die
Frau, die ihm die Liebe beigebracht hat, verrät,
weil er nämlich inzwischen erfährt, daß sie auch
Andern die Liebe beigebracht hat. Und fern sei es
von mir, Herrn Harden zu erklären, daß bis dahin
Herr von Goeben mit seiner Liebesverlorenheit noch
immer mehr Ehre aufgehoben hat, als Herr Harden
mit seiner nachschmeckenden Entrüstung. Er hatte, bis
er das rechte Weib fand, mehr Phantasie als Herr
Harden, und als er es fand, mehr Erlebnis. An all
dem, was Herr Harden hier auszusetzen hat, kann eine
starke Natur zum Künstler werden. Jener hat wenig-
stens ein intensives Leben hinter sich und könnte
der nachstümpernden Kunst seines Sittenrichters wie
Fiesko spotten: Ich habe getan, was du nur maltest!
Denn von all dem, was Herr von Goeben genossen
hat, scheint Herr Harden zu gut reden zu können. Ich will
— 10 —
ihm den Genuß des Redens nicht mißgönnen, ich will
nicht in sein Privatleben greifen, das er durch seine
publizistische Entrüstung eröffnet hat. Aber er wende
sich den japanischen Niederlagen im russischen Kriege
zu und lasse seine Hand von Dingen, von denen
er nichts versteht. Sein geschlossener Unstil, lästig genug,
wenn er sich an politischen Tatsachen vergreift, wird
bei der Behandlung tieferer Lebensprobleme zur
Qual, aber nicht zu jener, aus der die Liebessl^laven
ihre Wonnen schöpfen. Herr Maximilian Harden findet
keinen Dank. Nicht bei der Unmoral, gegen die er
die sittlichen Gewalten hetzt, und nicht bei den sitt-
lichen Gewalten, denen er die Unmoral zu lebendig
einliefert. Er, der tüchtigste Markthelfer der Moral, hat
es erleben müssen, daß ihm der preußische Staatsan-
walt den Artikel über den Fall Schoenebeck konfisziert
hat. Denn offenbar gibt es in Berlin einen Gerichts-
dolmetsch für Delphisch, und der hat, ohne die
Tendenz des Herrn Maximilian Harden zu erfassen, an
der Schilderung Anstoß genommen. Mißverständnisse
über Mißverständnisse. Ich finde wieder die Schilderung
harmlos und die Tendenz sträflich. Wenn man den Artikel
übersetzt, wird man sehen, daß Herr Harden die harm-
losesten, alltäglichsten Vorgänge der Menschheit in ein
schiefes Licht zu bringen sucht. Das macht : er sieht
die Welt durch ein Schlüsselloch. Man sei aber einmal
vorsichtig, lasse den Schlüssel stecken, und man kann
sicher sein, daß der Schriftgelehrte draußen seine
Weltanschauung verliert.
11 —
Die kretensische Frage
Von Karl Kraus
Münz, dem noch die griechische Königsfamilie entgangen war,
hörte, daß sie in Korfu sei, und beschloß das Versäumte nachzu-
holen. Er fuhr nach Korfu, zog den König sofort ins Gespräch, und
die Folge war, daß es beinahe zum Krieg zwischen Griechenland
und der Türkei gekommen wäre. Das ist kein Witz. Die Untertanen
der Könige, die sich mit Herrn Münz einlassen, müssen auf alle
Eventualitäten gefaßt sein. Im Vordergrund gibt ein Schmock seine
Visitkarte ab, und hinten sprechen schon die Kanonen. Sie sprechen
nicht mit Herrn Münz, er wird nicht hören, was sie sprechen, er
schreibt schon seinen Leitartikel, und denkt höchstens an die bekannten
Kugeln der rituellen Küche, die noch keinem Leipniker ein Loch
in den Bauch gerissen haben, wenn hinten, weit, in der Türkei,
die Völker aufeinander schlagen. Denn das ist die Folge, wenn
einer unserer Mitarbeiter Gelegenheit hatte. S. Mz. war also in Korfu.
Der Generaladjutant konnte ihn >sich nicht einmal setzen heißen«.
Es ist Namenstag des Königs. Der Generaladjutant hat die Wahl
zwischen dem Tedeum und dem Münz. Er wählt das Tedeum. Münz
hat eine Empfehlung an Herrn Theotokis, um dessen Brust >sich das
breite blaue Ordensband des griechischen Erlösers schlang«. Diesem
Herrn konnte also nichts passieren. In der Tat, die Konversation hatte
kaum begonnen, »als plötzlich Mr. Mac Kinnan, der erste Offizier
der Yacht ,Rovenska', die uns hieher nach den jonischen Gewässern
getragen hatte, hereinstürmte und uns fast atemlos zurief: ,A royal
message!' (Eine königliche Botschaft)«. >Was war es, das unseren
sonst so gleichmütigen schottischen Freund ein so hastiges Tempo
einschlagen ließ?« Nun, waswird esgewesen sein? Eine Einladung von
S. M. an S. Mz. Der König sprach's, der Page lief, und Herr Theotokis
war erlöst. Der Münz vertröstet ihn auf Nachmittag und geht zum
König. Der König sagt ihm alles, was er auf dem Herzen hat.
Zunächst eine Frage im Vertrauen: > Haben Sie gehört, daß man
an die Berufung einer anderen Dynastie auch nur einen Augenblick
gedacht hat?« Münz schüttelt den Kopf, er müßte es doch wissen.
Der König : » Können S i e es allen Leuten recht machen ? Und Sie stehen
doch einem kleineren Pflichtkreise vor und brauchen darum einen
kleineren Kreis von Menschen zu befriedigen.« Wer sagt das!
Vielleicht, ja, gibts mehr Griechen als Abonnenten der Neuen Freien
Presse; die sind aber dafür über die ganze Welt zerstreut! Der
— 12 —
König fragte nun den Münz -also was- raten wir! Nun, wir haben's
erraten : >Der König fragte mich, ob ich zum erstenmal in Griechen-
land wäre, und wie es mir in Athen gefallen hätte.« Es scheint sich
um eine Verabredung der Balkanfürsten zu handeln, hauptsächlich
diese eine Frage — ob er und wie es ihm — an den Münz zu stellen.
Er merkt aber nicht, daß er gefrozzelt wird, und beteuert, wie in
Konstantinopel, in Sophia, in Bukarest: >Zum erstenmal im Leben,
Majestät.« Und fährt fort, wie der gebildete Mann in den »Lokal-
zugstudien«, der immer von Wien nach Baden fortfährt: > Daß
ich glücklich war, mit den zaubervollen Stätten, auf denen
die Glorie der Antike liegt, sozusagen ein Wiedersehen zu
feiern — ein Wiedersehen insofern, als wir im Geiste ja
all das von früher Jugend an schon geschaut hatten —
brauche ich kaum hervorzuheben. Aber auch das Moderne in
Athen hat mir vielfach gefallen — die herrlichen, von griechischen
Patrioten zu Gemeinzwecken gestifteten Paläste — die sauberen
schönen Straßen — ein Hotel allerersten Ranges. In Athen aller-
wärts Komfort.« Und nun nimmt der König die Gelegenheit wahr,
weil der Münz schon einmal da ist, von ihm die kreten-
sische Frage lösen zu lassen. >Seit dem Jahre 1863 sitze ich
auf dem Thron, und von der ersten Stunde an hatte ich die
kretensische Frage auf dem Buckel«, sagt der König wörtlich
und denkt, der Münz könne, da er sich gerade in . dieser
Gegend aufhält, die Sache prima vista erledigen. Der
Münz macht auch sofort eine hochpolitische Bemerkung, worauf
der König sagt: >Also auch Sie werfen uns vor. . . Darauf ant-
worte ich Ihnen . . .« Und es fällt richtig das Wort Statusquo. >Sie
waren, wie ich höre, in Kreta? Was hat man dort bis zur Ankunft
des griechischen Oberkommissärs geleistet? Nichts, gar nichts.«
>Ich kann Eurer Majestät nur recht geben. Dort ist ja noch das
reinste Mittelalter in Hinsicht auf alle Verkehrsverhältnisse.« (Wir
haben später erfahren, daß man dem Münz in Kreta gesagt hat:
>Wir können nicht einmal untereinander normal verkehren.) Der
Münz fragt den König, ob es auch andere Inseln gibt, die
griechisch sind und gleichwohl zur Türkei gehören. Der König
zuckt die Achseln und sagt, daß er nur Kreta will. Münz: > Eurer
Majestät, wie mir scheint, durchaus gerechtes Verlangen, entspricht
meinen Gesinnungen <. Der König empfindet lebhafte Genug-
tuung. >Nach einer etwa halbstündigen Unterredung entließ mich
13 —
der König, begleitete mich noch durch das nebenstehende Gemach
und machte eine Anspielung, daß er mich wohl noch in Korfu
wiedersehen würde.« »Für alle Fälle aber gab er mir Grüße für eine
besonders charmante und schöne Dame der Wiener Gesellschaft
mit.< (Münz ist diskret und nennt keinen Namen.) Inzwischen
ist der König von England gestorben. >Ich war nun der sicheren
Annahme«, sagt Münz, >daß unsere Einladung zu Hofe, die wir
den Tag zuvor bekommen hatten, noch im letzten Augenblick
widerrufen werden würde.« Da hat er aber nicht mit
seiner Beliebtheit gerechnet. Die kann es mit jeder Hoftrauer auf-
nehmen. Bald hörte er denn auch, »daß es bei der Einladung
bliebe; es wäre ja, meinte der Generaladjutant, nur ein Mahl im
engsten Kreise. . . .« Da darf der Münz nicht fehlen. Der Münz in
Korfu — das läßt sich der König nicht zweimal sagen. Die Stimmung
bei Tisch war zwar »etwas gedrückt«, aber sie war da. Was König von
England! Wenn der Münz von der Presse zum erstenmal im Leben in
Griechenland ist, so wäre eine Nichtzuziehung zum Familiendiner
eine so eklatante Verletzung der internationalen Höflichkeit, daß
man gar nicht einmal daran denkt, so etwas zu riskieren. Wegen des
Münz einen Krieg mit der Türkei — ja ; aber doch nicht einen mit
der Neuen Freien Presse! Der König, »im ganzen schweigsam,
richtet doch zeitweise das Wort an mich«. »Einmal sagt er:
,Mit Bedauern habe ich Sie gestern in einer Loge im Theater
gesehen.' ,Warum, Majestät mit Bedauern?'« Und der König ant-
wortet nicht, wie man erwartet hat: Weil ich Sie im Theater
gesehen habe, sondern: Weil die Vorstellung viel zu wünschen
übrig ließ. Und nun macht der Münz eine sehr feinsinnige
Bemerkung: »Aber es hat mir doch Genugtuung bereitet,
zum erstenmal im Leben von der Bühne herab griechische
Laute zu hören, und war es auch nur die Übersetzung des ,Walzer-
traum'. Alle Achtung, Majestät, vor der Begabung des Komponisten,
meines österreichischen Landsmannes. Aber wir haben das bessere
Geschäft gemacht, wenn die Griechen uns ihre Tragödien gaben
und dafür unsere Operetten eintauschen.'« Bravo! Dafür wird
ihm der Kronprinz vorgestellt. »Der Kronprinz ist eine kräftige
Gestalt, dem man kaum ansieht ... Er spricht gut deutsch.« Der
Münz nicht Der Kronprinz gibt dem König an Offenherzigkeit nichts
nach und beklagt sich beim Münz über seine Ausschließung aus dem
Generalkommando. Münz tröstet: »Der zukünftige König der
— 14 —
Hellenen mag doch, auch wenn er jetzt nicht mehr das Armee-
kommando innehat, noch imnier eine große Mission haben.« »Der
Kronprinz rühmte die Vorzüge der Griechen, beklagte es aber,
daß bei ihnen eine geringere Neigung, Disziplin zu halten, vor-
handen sei, als etwa bei den Deutschen, dem Volke der eisernen Di-
sziplin.« Er bemerkte: »Die Griechen sind eigentümlich. <
Sie verübeln nämlich dem Kronprinzen das Radfahren, das
Schlittschuhlaufen und das Tennisspielen. Der Münz sagt:
>Das befremdet mich, königliche Hoheit. Der Sport ist ja
eigentlich ein Vermächtnis des auf die höchste körperliche
Ausbildung bedachten Griechentums an die Menschheit.« Man
sieht, es war höchste Zeit, daß das Gespräch durch das
Erscheinen der Königin unterbrochen wurde. Nun war
die offenherzige Familie schon fast vollzähl g um den Münz
versammelt. Die Königin > legte« ihm auch sogleich
etwas >ans Herz«. Nämlich, »Korfu nicht zu verlassen, ohne
einige Ausflüge in die Umgebung gemacht zu haben«. Viel-
leicht meinte sie aber: einige Ausflüge in die Umgebung
zu machen und dann Korfu zu verlassen. Dieses sei »ein wahres
Paradies«, sagte sie und begann den Baedeker zu zitieren:
»Weithin ziehen sich wundervolle Straßen, die man nicht nur
bequem mit Wagen, sondern auch mit Automobilen befahren kann.<
Jetzt kam aber ein heikles Thema. »Die Königin meinte, sie ver-
mißte in meiner Aussprache des Deutschen die wienerischen An-
klänge.« Das hatte sie gut heraus. »Ich erwiderte ihr, daß meine
Heimat in Mähren wäre, in einer Gegend, in der sich das slavische
und das deutsche Element berührten«. »Es sind wohl Czechen«,
versetzte die Königin boshaft, »die dort neben den Deutschen
wohnen«... Die Königin kam dann noch »auf die Kraft der
Sonne, die, in der Form von Sonnenbädern angewendet, gewisse
Krankheiten heile«. Die Königin ist nämlich Samaritanerin von
Beruf. »Sie denkt sehr menschlich«. »Die Schrecken des Krieges
kennt sie aus eigener Anschauung. Sie hat die Folgen des griechisch-
türkischen Feldzuges aus der Nähe gesehen . . .« Des vergangenen.
Nun sieht sie aber auch die Ursache des künftigen aus der
Nähe, nämlich den Herrn Münz. Sir Wächter mischte
sich jetzt ins Gespräch, jener Herr, der bekanntlich eine
Föderation auf wirtschaftlicher Grundlage will. Endlich hat aber
auch der Prinz Georg Appetit auf den Münz bekommen, tritt
herzu und stellt einige Fragen an ihn, wie: »Haben die Türken
auch nur das geringste Anrecht auf Kreta? Haben sie dort etwas
geleistet? Und sind denn nicht auch die Mohammedaner auf Kreta
Griechen?« Anstatt nun schlicht zu sagen: »Was wollen Sie von
mir haben?< oder »Weiß ich?« oder »Ihre Sorgen raöcht
ich haben!« oder was man sonst eben in solchen Situationen zu
sagen pflegt, läßt sich der Münz in Debatten ein. Erst nach-
dem er die fortwährenden Anspielungen sämtlicher königlichen
Familienmitglieder auf Kreta und die Kretenser und das Kichern des
Prinzen, dem die Königin einen Rippenstoß gab, endlich kapiert
hatte, zog er es vor, sich zu entfernen. Der König rief ihm nach:
»Und bitte nochmals, vergessen Sie nicht, die reizende Frau . . .
in Wien von mir herzlichst zu grüßen.« (Münz ist diskret und
nennt keinen Namen.) Der König wollte ihm einen Gegenbesuch
auf der Yacht machen, »der Tod des Königs Eduard jedoch ver-
anlaßte ihn, diesen Besuch zu unterlassen«. Das ging also doch
nicht. Aber der Kronprinz ließ es sich nicht nehmen. »Schlag
5 »Uhr« kam er zum Tee (weil es doch sonst kein five o clock-Tee
gewesen wäre). Einige Barken schwammen heran, die dem Münz
»ein veritables neapolitanisches Ständchen darbrachten«. Es war
sehr schön. »Der Kronprinz brach nach zweiundeinhalbstündigem
Aufenthalt«, und zwar auf, zum Schlosse, wohin ihn aber der Münz
noch begleitete. . . »Als wir den Tag darauf erwachten, sahen wir den
Vater Ätna, wie er sein Morgen pfeifchen rauchte.« Das ist eine
sehr euphemistische Bezeichnung für das, was der Vater Ätna tat,
als er den Münz sah. Am Abend — das heißt, »als der Tag zur
Rüste ging« — wandelte der Münz bereits »bewegten Herzens
unter den Trümmern von Messina einher«, nicht ohne dem Ge-
danken Ausdruck geben zu können, »wie nahe im Leben Zauber
und Tod, Herrlichkeit und Untergang aneinander gerückt sind«.
Gewiß, es ist im Leben häßlich eingerichtet. Aber der furchtbarste
Kontrast ist doch zwischen ein^m Interview und einem Krieg.
Ein König wird beim Anblick eines Reiseschmocks redselig, und
Europa steht in Flammen. »Konstantinopel, 8. Juni: Die Mit-
teilungen der Neuen Freien Presse über die Äußerungen, welche
König Georg von Griechenland zu ein-m Mitarbeiter dieses Blattes
gemacht hat, sind gestern im Ministerrat besprochen worden.«
Man verlangt ein Dementi, man droht mit dem Boykott gegen Griechen-
land. Der König schwankt Die Neue Freie Piesse bleibt aufrecht.
— 16 —
Die Rubrik >Die Äußerungen König Georgs zu einem
Mitarbeiter der Neuen Freien Presse« wird fortgeführt. Der Groß-
vezier fordert den griechischen Gesandten auf, die Äußerungen des
Königs über die Annexion Kretas zu widerrufen. Der ,Tanin'
verlangt >ein amtliches Dementi oder Krieg«. Die griechi-
schen Untertanen, die in der Türkei leben, sollen ausgewiesen
werden. Auch in Salonichi hat sich ein Boykottkomitee kon-
stituiert und die Sperre über die griechischen Schiffe verhängt.
Die Erregung ist im Zunehmen. Man fordert die Einberufung
eines Kongresses aller Berliner Vertragsmächte. Man nennt die
Äußerungen des Königs einen »schrecklichen Selbstmord«. Es
geht das Gerücht, daß Griechenmassakres gepfant sind. Der
Münz befindet sich auf der Rückreise in die Redaktion. Der
König schwankt. Die Neue Freie Presse bleibt aufrecht. Wird sich
der König für den Krieg oder gegen die Neue Freie Presse ent-
scheiden? ... Er läßt dementieren. Die Retorsionsmaßregeln werden
zurückgezogen. Es tritt Beruhigung ein. ,Tanin' erklärt, nunmehr
werde kein verantwortlicher Leiter in Griechenland mehr die Türkei
verletzende Erklärungen geben. Pfui, ruft die Neue Freie Presse:
»Die merkwürdige Geschichte, wie König Georg unter dem Hoch-
druck einer internationalen Verwicklung zu dem
Dementi der gegenüber unserem Mitarbeiter ge-
machten Äußerungen gezwungen werden soll, ist von
uns wiederholt mitgeteilt worden. ,Tanin' spricht jedoch von
einem bereits veröffentlichten Dementi, das wir nicht kennen.
Bisher ist uns dieses Dementi nicht zugekommen. Unser
Mitarbeiter hat gewissenhaft über das berichtet, was ihm der
König gesagt hat, und seine Mitteilungen bleiben aufrecht,
mag nun das Dementi erscheinen oder nicht. Anm. d. Red.« Sie
besteht auf dem Krieg. Ihre welthistorische Frechheit wird auch aus
diesem Feldzug siegreich hervorgehen. Sie läßt den Münz nicht
im Stich. Er verläßt den Balkan im Bewußtsein treuer Pflicht-
erfüllung. Er hat schon mit vielen Königen gesprochen, aber keiner
hätte es gewagt, nachträglich etwas, was er nicht gesagt hat, in Abrede
zu stellen!... Man kann wirklich begierig sein, wie sich der König
da herausgewunden hat. Ein Gerücht besagt, er habe ein diplo-
matisches Meisterstück vollbracht. Das ganze war ein Mißverständnis.
Alles bleibt aufrecht, nur habe es sich nicht um die kretensische
Frage gehandelt, sondern um die Frage, ob der Kretinismus heilbar ist.
17
Über Ansichten
Von August Strindberg
Unter Ansichten versteht man im allgemeinen Ge-
danken, Meinungen, aber das Wort bedeutet wohl nur
Gesichtspunkte, bei alltäglichen Leuten. Wenn man
daher weiß, welche Stellung ein gewöhnlicher Mensch
in der Gesellschaft einnimmt, so kann man seine An-
sichten im Kopf ausrechnen. Einer aus der Oberklasse
sieht ja das Untere in Verkürzung, und einer in der
Unterklasse das höher Stehende in Verkürzung. In
der Perspektivlehre heißt der Gesichtspunkt der Ober-
klasse Vogelperspektive und der Gesichtpunkt der
Unterklasse Froschperspektive.
Es ist ja klar, daß sich die Sache nicht ebenso
ausnimmt, wenn man sie von oben oder von unten
sieht. Und wenn einer aus der Oberklasse einmal
Froschperspektive anlegt, so ist das abnorm, nicht auf-
richtig, und erregt Mißtrauen; oder er ist ein Über-
gangener, ein Deklassierter, mit einem Wort, ein Miß-
vergnügter. Wenn einer aus der Unterklasse ein einziges
Mal seine Klasse von oben sieht, so ist er ein Lakai
oder er ist zu Geld gekommen.
»Ansichten austauschen*, ist nur leeres Gerede,
denn das kann niemand gutwillig tun; aber Ansichten
ändern, das muß man, wenn sich der Gesichtspunkt
ändert, das heißt, wenn einer aus der Oberklasse zur
Unterklasse sinkt oder einer aus der Unterklasse zur
Oberklasse steigt.
Die Bürgerschaft oder Mittelklasse hat einen
schwankenden Gesichtspunkt, der durch ihre Stellung
zwischen Oben und Unten bedingt ist. Und darum
wirkt die Mittelklasse unentschieden, charakterlos; und
wird sehr oft Gegenstand des Hasses der beiden be-
stimmten Klassen, weil sie nicht Partei ergreifen kann,
was ja schwer ist.
Aus der schwedischen Handschrift. Die Buchausgabe der
Bekenntnisse erscheint erst IQll.
18 —
Wenn man dann fragt, wer recht hat, ist die
Antwort: jeder hat unrecht oder recht von seinem
Standpunkt, denn beide sehen ja die Sache in Ver-
kürzung, von oben oder von unten.
Die Mittelklasse müßte also den richtigen Blick
auf die Sache haben, weil sie sie vom richtigen Milieu -
niveau betrachtet; aber davon wollen die andern beiden
nichts hören.
Wenn man Nationalität, Religion, Alter, Geschlecht
eines Menschen kennt, so kennt man im allgemeinen
dessen Ansichten oder Gesichtspunkt. Ein Finnländer
und ein Pole werden immer das gutmütige russische
Volk für Spitzbuben halten; ein Protestant oder Heide
wird immer glauben, die Jesuiten seien Meuchelmörder,
obwohl der Orden von dem edlen Ignatius Loyola
gestiftet wurde, um das Christentum zu retten; der
Junge glaubt immer mehr vom Leben zu wissen als
der Alte, obwohl er nichts weiß; eines Weibes Gesichts-
punkt oder Ansichten in der Frauenfrage weiß man
vorher; Rosa Bonheur hat dürftige Bilder gemalt (die
Troyon und Breton viel besser gemacht haben), ergo
ist das Weib ebenso begabt, wie der Mann; wenn
aber die Frau ihre Überlegenheit über den Mann
zeigen will, überfällt sie ihn, ihren besten Freund,
während des Schlafes und mordet ihn; das ist Über-
legenheit im Bösen, was Unterlegenheit ist. — —
Entschiedene Parteimänner laufen in erregten
Zeiten wie philosophische Systeme umher, angetan mit
den Ansichten der Partei. Von diesem Standpunkt be-
urteilen sie Menschen, Nationen, Bücher, Zeitungen,
sogar Kunstwerke, Theater und Musik.
Wenn du mit einem Sozialisten über einen ab-
wesenden Menschen sprichst, so blinzelt er erst und
überlegt eine Sekunde, ob der Abwesende dafür oder
dagegen ist, und gleich ist sein Urteil fertig:
— Das ist ein Bube! Das ist ein guter Kerl!
Summarisch nur!
Sieht er ein Schauspiel, so ist es ein Meister-
werk, wenn der Arbeiter gelobt wird und der Kapitalist
— 19 —
unsympathisch ist oder wenn nur ein Parteifreund das
Stück geschrieben hat.
Etwas so Unschuldiges wie ein gemaltes Bild
kriegt ein anderes Kolorit, wenn es von einem Partei-
freund gemalt ist. Farbe und Zeichnung werden
meisterhaft, auch wenn sie elend sind.
So werden viele falsche Werte ausgegeben, falsche
Münzen, falsches Ansehen; falsche Größen werden ge-
krönt und wirkliches Verdienst entwertet.
Im Reichstag weiß man ja, daß ein halbwegs
gesicherter Landmann Agrarier ist und mit den Mitteln
des Staates sparsam umgeht; daß ein Militär (falls
nicht übergangen) der Ansicht ist, die Verteidigung
müsse beständig verstärkt werden; ein Artillerist hält
den Bau von Festungen für notwendig; ein Marine-
offizier will die Flo'te vergrößert sehen; der höhere
Beamte will mehr Regierung und strengere Gesetze
haben u. s. w. _^
Die heftige Liebe zu den Japanern hat mindestens
zwei Ursachen. Die erste war der Russenhaß, die
zweite der Christentumshaß der Heiden. Die Japaner
sollten den Heiden als Anschauungsmaterial dienen,
um zu zeigen, wie die Zivilisation ohne Christentum
existieren könne. Aber die Zivilisation äußerte sich in
Schlachtschiffen und Sozialismus, Streichhölzchen und
Zylinderhüten, Darwinismus und Frauenfrage. Das war
eine Tendenzsympathie, die sich nicht verminderte, als
man die Opferpriester mit großen Messern in den
Händen sah, oder als man hörte, daß der Kaiser und
die ganze Nation Spiritisten seien, die mit den Geistern
der Abgeschiedenen sprechen.
Bei einer unvernünftigen Sympathie drückt man
vor den Inkonsequenzen ein Auge zu oder leugnet die
Tatsache.
Wenn nun der Mensch seine Zeitung liest, so
erfährt er nichts Neues, sondern nur was er schon
gewußt hat; alles, was die Sache in ein anderes Licht
setzen könnte, wird ausgelassen, ignoriert, gefärbt. In
20 —
ö^,n Zeitungen der andern steht etwas ganz anderes,
oder das Gegenteil, wenn man es zweimal liest.
Ebenso ist es mit den Büchern. Jeder liest seine
Dichter, bei denen er seine Ansichten ausgedrückt
findet; die andern Bücher liest er nicht; auf die Art
kommt er nie aus seiner Tauchertracht und seiner
Luftblase.
Treffen sich Menschen von verschiedenen An-
sichten und Lagern, so geraten sie entweder in nutz-
losen Streit oder sie schwatzen Unsinn. Überzeugt wird
niemand, auf Gründe hört niemand, nicht einmal tat-
sächliche Aufklärungen nimmt jemand an, und sie
trennen sich, ebenso klug wie vorher.
Treffen sich Menschen vom selben Lager und mit
denselben Ansichten, so haben sie einander nichts zu
sagen, weil sie die Ansichten des andern im Voraus
kennen. Dann setzen sie sich hin und spielen Karten
oder machen Musik, und das ist gut.
Mit einem Wort, die Ansichten liegen hinten in
einer Spinndrüse und von dort werden Fäden und
Netze gesponnen, wenn es nötig ist. — —
Als der große Tichborneprozeß 1866 in England
eröffnet wurde, teilte sich die Menschheit sofort in
Lager mit bestimmten Ansichten über Ortons Legitimität.
Obgleich Untersuchung und Urteil erst 1874 fertig
wurden, hatte der Unterpfarrer von Rösbo schon 1868
sein Urteil fertig: »Orton ist Erbe«. Der Kronvogt von
Almsätra, tausend Meilen von der Gerichtsstelle, war
dagegen zu einer entgegengesetzten Ansicht gekommen,
weil er als Jurist und Steuererheber soviel Betrügerei
beim Bezahlen der Steuer und Teilen der Erbschaft
erlebt hatte. Jeder spann sein Netz und blieb darin
sitzen. Als Orton 1874 zu vierzehn Jahren Zuchthaus
verurteilt wurde, sandte man Petitionen von der ganzen
Erde, auch aus Rösbo, »für den Märtyrer der engli-
schen Heuchelei und des elenden Rechtswesens«.
Erst 1895 gestand Orton, daß er der Betrüger und
der Sohn eines -Schlächters aus Wapping sei.
Das überzeugte die Petitionäre für seine Unschuld
— 21 —
nicht, sondern sie meinten, er habe den Verstand ver-
loren.
Auch im alltäglichen Leben laufen die Menschen
mit fertigen Ansichten herum. Wenn man in gemischter
Gesellschaft ein gleichgtiltiges Begebnis erzählt, so wird
es gleich durch verschieden gefärbte Gläser gesehen.
Man kann auch, ohne es zu wollen, einen Sturm von
Leidenschaften wecken, wenn man einen unbekannten
Kontakt berührt hat, der Ströme von uns unbekannten
Interessen schließt. Wir verstehen nicht, »warum der
Mensch so böse wegen nichts wurde«; aber der Ein-
geweihte weiß, wo der Knopf zum »Widerstand« saß.
Eine andere gleichgültige Tatsache wird erzählt.
Jeder holt und zieht sie nach seiner Seite, das Be-
deutungslose wird sehr wichtig, die Tatsache wird
entstellt, gedeutet, gefärbt und zu den Zwecken eines
jeden benutzt, wenn sie auch durchaus nicht dazu paßt.
Wer die Tatsache aussprach, gab nur die Wolle;
die andern spannen allerhand Garn und dann webten
sie Gewebe oder Netze, um die Seelen von einander
zu fangen.
Es ist also die Selbstsucht oder die höllische
Herrschsucht, die alle Urteile fälscht.
Der Weise und der Religiöse sucht sein Urteil
von Stellung, Interesse, Leidenschaften frei zu machen.
Brutus verurteilt seinen Sohn zum Tode, Dante
seinen Lehrer zum Inferno. Der Religiöse allein hat
den Mut, seine Irrtümer abzuschwören und einzu-
gestehen: ich habe unrecht gehabt.
Richter, Staatsmann und Regent sollten immer
über Interessen und Leidenschaften stehen, dann würde
der Staat gelenkt wie ein Dampfer, unabhängig von
den Winden; dann würden Urteile gefällt, die unab-
hängig von Verwandtschaft und Freundschaft sind.
Aber nur vor Gott kann man auf sein Selbst ver-
zichten; es dem Feinde zu Füßen legen, auch wenn
dieser recht hat, ist so schwer, weil der Feind beinahe
niemals edelmütig ist, denn das ist das Schwerste von
allem. Man glaubt ihm einen schlechten Dienst zu tun,
— 22
wenn man einräumt, daß er recht hat: dann schwillt
sein Hochmut und seine Grausamkeit wächst. Und
nicht Verlangen nach Wahrheit hat ihn getrieben,
sondern Lust, recht zu behalten und zu ducken; und
die Menschen sind so, daß sie sich mit ihren Ansichten
identifizieren; und wenn sie dafür kämpfen, so ist die
Triebfeder der Wille zur Macht oder die Lust, ducken
und treten zu können.
Darum fordern sie auch, man »solle fremde An-
sichten respektieren«. Mit fremden meinen sie nur
ihre eigenen Ansichten, denn sie respektieren niemals
fremde.
Der einsame Park
Von Peter Altenberg
Im Parke waren Sträucher wie Bergsträucher im
Bergsturm mit ganz verbogenen und zusammen-
gebogenen Zweigen. Die Blüten dufteten wie Berg-
blüten in unzugänglichen Geklüften, zart und von
einer andern Erde geboren, geheimnisvoll infolge von
Verfeinerungen. Daneben hing in einem Käfig die
Turteltaube des Knaben Hans Otto Erik, des einzigen
gesunden Menschen im Parke. Und selbst von ihm
sagte seine bleiche reizende französische Gouvernante :
»C'est un enfant melancolique. II a des regards pour
moi comme si j'etais une princesse de France. II
a toujours peur qu'on ne me traite pas comme son
coeur tendre me traite dans chaque minute. Je crois
qu'il halt tous les gens qui ne se prosternent pas
devant moi. Quand il m'apporte une chaise du jardin,
c'est comme le fiance l'apporterait ä sa bien aimee.
Je crois qu'il est paf trop malheureux que je suis
bonne et servante. C'est un enfant melancolique.
II voit dejä que le monde est autrement qu'un coeur
tendre le commande. Je voudrais lui dire: Otto Erik,
on me paye pour mes Services! mais il ne com-
prendra rien de toutes ces choses, comme si on dirait
23
ä un poete que le monde entier est une grande affaire
de bourse — «
Der alte Fürst hat sich mit der Weltordnung
leichter abgefunden, denn wenn er beim Spaziergange
mit der flachen Hand jeden Baumstamm berührt, ist
er bereits glücklich und zufrieden.
Die »Königin«, welche niemals eine Königin
war, kniet vor dem abgeschlagenen Mandelbaum
nieder und betet für sein Schicksal, daß er wieder
wachse. Pflanzen und Vögel sind ihre Domäne, und
wenn der Dachdecker das Dach ausbessert, beschimpft
sie ihn wegen der gestörten Vogelnester. Ober die
Menschen hat sie keine Herrschaft, aber Pflanzen und
Tiere müssen es sich gefallen lassen, daß sie sich ihrer
wie eine Schutzgöttin annimmt.
Dem jungen Fräulein ist der erste Kuß unter
einer Gaslaterne ins Gehirn gestiegen, und indem sie
alle eventuellen schrecklichen Ereignisse vorausahnt,
fürchtet sie sie und sucht sie zugleich auf. So flieht
sie vor sich selbst in der Todesangst, sich einmal zu
finden und in diesem Augenblicke für ewig sich zu
verlieren
Der Baron blickt durch sein Schildkrotmonocle
kalt und hart auf den Irrsinn der Welt. Er denkt :
»Idealisten und Träumer, Religionsstifter und Welt-
beglücker, was quält Ihr euch ab, um diese
Herde von Milliarden blökender Schafe, die euch
nie verstehen werden und von euch nichts
profitieren als einen öden Religionskultus! Meine
alte Wirtschafterin stopft mir meine Zigaretten und
meine Strümpfe, und die Probleme der Welt sind mir
nichts, je tiefer ich sie erkannt habe ! Bismarck hat
Deutschland geeinigt — aber China, Japan und
Amerika können dieses Werk in wenigen Monaten
zunichte machen! Jeder Mensch baut sich sein Nestchen.
Daß ich mir keines baue, ist meine tiefste Größe! Ich
lache über nichts, ich weine über nichts und nichts
kann mich rühren. Ich sehe nur die schauerliche Herr-
— 24 ~
Schaft der Unvollkommenheiten in allem und in jedem!
Da putze ich mir dann mein Schildkrotmonocle und
lasse die Leute über meinen angeblich komplizierten
Charakter sich ihre Köpfe zerbrechen. Vielleicht habe
ich dann doch den Rebbach, daß irgend jemand mich
für eine nicht ganz unbedeutende Persönlichkeit hält.
Das bin ich in der Tat, denn die andern nehmen die
Dinge des Lebens blöd ernst, während ich sie weise
lächerlich finde!«
Der Dichter allein in diesem einsamen Park
nimmt die Leiden der Menschen religiös und ernst,
und indem er weder sich noch ihnen helfen kann,
erlebt er die Martyrien der Gefolterten und der
Gekreuzigten. Ihm fehlt sowohl der Wahn als der
Skeptizismus, und er geht an der Hoffnung und an
der Hoffnungslosigkeit in gleicher Weise schmählich
zu Grunde!
Der Dichter küßte jedesmal beim Abschied den
Knaben Hans Otto Erik auf die Stirn und dieser
machte dabei ein verlegenes und geschmeicheltes
Gesicht.
»Mademoiselle, pourquoi ce monsieur m'em-
brasse-t-il toujours si tendrement sur le front avant de
partir?«
»C'est un poete, mon enfant, c'est ä dire il voit
en toi des choses que personne ne voit que Dieu et
peut-etre ta petite gouvernante — <
Die Besitzerin des Parkes hatte ihre edlen Kräfte
ausgegeben in Gattenliebe und Kindersegen. Oft dachte
sie an ihre süße Achtzehnjährigkeit, da ihr wie einem
braunen Engel im weißen Mousselinekleid die goldenen
Tore des Lebens weit offen standen. Was sah sie da
alles, und was sah sie da alles nicht! Aber jetzt sagte
sie: »Ich lasse mich nie mit meinen beiden Knaben
photographieren. Es ist, wie wenn man lichte Blüten
mit ihren dunklen schweren Wurzeln, an denen düstere
Erdklumpen hängen, voll Kraft und unbekannten Salzen
— 25 —
mitphotographierte. Lassen wir die Wurzeln versteckl
im Erdreich, und wenn es jemand ahnt, so wollen wir
ihm dankbar sein und ihm einen verständnisvollen
Blick geben!«
Aber der Dichter blickte sie an und sagte:
»Gnädige Frau, eine adelige Frauenseele altert nie!
Sie verjüngt sich, aber niemand merkt es. Die Stunden
der Nacht, in denen sie keinen Schlaf mehr findet,
die allein wissen davon zu erzählen.« —
Während dieses Gespräches ging der alte Fürst
mit seinen eiligen Schritten vorüber und berührte mit
seinen" Händen flüchtig jeden erreichbaren Baum-
stamm. Damit waren für ihn alle geheimnisvollen
Rätsel des Lebens gelöst, und eine seltene Ruhe kam
über ihn infolge seiner segensreichen Tätigkeit
Stunden
Von Berthold Viertel
Es wird Nacht
Auch heute noch sah ich zerstieben
Den schönen Tag raketenhaft.
Hin ohne Werk und Leidenschaft!
Und nur die Angst ist mir geblieben.
Gebet
Nun öffne, Furchtbarer, dein Stahlvisier!
Nur einen Blick aus deutlichem Gesichte!
Wenn du mich retten willst, Vorsitzer im Gerichte!
Ich habe grenzenlose Angst vor dir!
Es wird Tag
Erhörung komme, wie der Tag entbrennt :
Plötzlich ist Glorie rings am Firmament.
Ich will geduldig und gewärtig sein.
An meinem Tage ist die Gnade mein.
^ 26 —
Aus Goethes Tagebüchern
Von Otto Stoessl
Die große Weimarer Ausgabe enthält sämtliche
Tagebücher Goethes mit ihren kurzgefaßten, aber
genauen, über 58 Jahre erstreckten Aufzeichnungen.
Sie reihten die Ereignisse ohne erkennbare Wert-
abstufung, Gelegentliches neben Bedeutendem, Gedan-
ken — Goethesche Gedanken — neben zufälligen
Tatsachen auf.
Die eigentümliche Schicksalhaftigkeit des großen
Menschen, die völlige Durchdrungenheit eines Mensch-
gottes von allem Seienden, das, weil es ihm begegnet,
weder zufällig, noch unwichtig sein kann, dieses
Bewußtsein höchster wertverleihender Kraft ließ ihn
mit so unbeirrbarer Genauigkeit die Geschehnisse jedes
Tages verbuchen. Ihm war jeder Halm auf der Wiese,
die er trat, heilig, denn er hörte das Gras wachsen.
Aus diesen, kaum zu überblickenden Diarien,
welche ohne die göttliche Einsicht des Erlebenden für
den heutigen Leser in ihrer Gesamtheit weder ver-
ständlich, noch erforderlich sein dürften, brachte der
Inselverlag eine sehr knappe Auswahl. Ob sie glücklich
oder hinreichend ist, möchte nicht einmal gültig
beurteilen, wer die Weimarer Ausgabe kennt, denn
jedes solche Exzerpt beruht auf willkürlichem Ermessen.
Die Erläuterungen zu den einzelnen Stellen scheinen
keinesfalls besonders genau oder genügend. Doch
bleibt dies alles gleichgiltig neben der Tatsache, daß
nun eine solche Auswahl da ist.
Ich habe den für meinen leidenschaftlichsten
Genuß und für die Entrücktheit dieser Lektüre nur allzu-
kleinen Band mit jenem Gefühle höchsten möglichen
Glückes durchflogen, das von allen Geistern der Mensch-
heit nur Goethe geben kann. Ich begann diese Tage-
buchblätter in der trübsten, von der Gemeinheit des
Daseins bis zur Verzweiflung hinabgehetzten Gemüts-
verfassung zu lesen und hörte auf in dem heiteren
seelischen Gleichmaß eines Getrösteten und Beruhigten,
in einer gleichsam entsühnten Betrachtung.
Keinen, der Goethe lesen kann, wird diese in-
nerste Verwandlung Wunder nehmen, oder übertrieben
dünken. Sie zu erklären fällt freilich ebenso schwer,
wie überhaupt die eigentümliche schwebende Gehalten-
heit aller Beziehungen zwischen Seelen und Dingen.
Gerade diese rätselhafte Erhöhung des Lebensgefühles,
die jeder Sterbliche auf seine Weise und nach seinem
Maß bei dem oder jenem Anlaß erfährt, bietet aber
die einzige würdigste Gewißheit absoluter Existenz und
ihr einziges Licht.
In Keines Macht stand es jemals, seit wir das
Andenken großer Menschen heiligen, diese innerste
Erhellung so durchaus, so stetig und so sicher zu
erwecken, wie dies Goethe mit jedem Wort und jeder
Berührung vermag.
Andere gewähren Augenblicke, er schenkt das
Leben.
Ich weiß, daß hier eine Frage mich ansieht:
Shakespeare? Die größten Schöpfer spotten der Wert-
vergleiche, denn jeder ist in seiner Weise einzig, un-
widerbringlich und unschätzbar. Nur ihre Wirkung
mag etwa gegeneinander abgewogen und ihr Inhalt
beiläufig ermessen werden.
Shakespeare enthält nun allerdings den weitesten
Bereich des Menschlichen als das erhabenste Gefäß,
worein je die Fülle der möglichen Charaktere und
Äußerungen geborgen wurde. Aber seine Objektivität
und seelische Weiträumigkeit ließen ihn und die Nach-
geborenen nahezu ganz von seinem eigensten Ich
absehen, das bloß mittelbar und mystisch aus seinen
Dramen erschlossen, nicht erschaut werden kann.
Im gemeinen Leben gewährt nur der Anblick der
vom Menschen gleichsam befreiten Natur die volle
Beseligung der reinen Kontemplation, hingegen
erschüttert die Betrachtung menschlicher Zustände und
Charaktere, Kämpfe und Lösungen unser Gemüt allemal
aufs neue. Es bleibt Sache des Einzelnen, seine Welt
mit der unbewegten Größe der Natur immer wieder
in Einklang zu bringen. Shakespeare, der Dramatiker
28
stellt uns mitten in diesen Widerstreit und überläßt
uns dem Schicksal des Menschen unter Menschen.
Seine Ruhe ist die Grausamkeit der sich allem auf-
erlegenden Natur, das Glück, das er gewährt, die ein-
dringliche Qual des Erkennens. Goethe, der heroischeste
Idylliker, überwindet selbst den Konflikt zwischen
Mensch und Natur, das irdische Tun als ein Vorspiel
des seinen und gibt schließlich Einheit, Vollendung
und Friede der Ewigkeit. Shakespeare bleibt der
schärfste Stachel, dem Menschentum ins Gehirn
gebohrt, die antreibende, aufzwingende, erhöhende
Gewalt, Goethe aber der nach allen Sintfluten Lächelnde,
die Meeresstille und glückliche Fahrt, der milde Ent-
laster von allen Qualen, der Silberblick des gestirnten
Himmels, die Augenweide der grünen Rasen. Es ließe
sich fragen, ob nicht Shakespeare dem Gewissen und
Erkennen, der Zucht der Menschen näher sei, aber
dem Glück der Irdischen hat keiner liebreicher sich
geneigt, als Goethe.
Die objektive Bedeutung dieser Tagebücher werde
gewiß nicht übertrieben. Sicherlich sind sie an sich
nicht das Größte, das von ihm stammt, aber Goethe
entläßt kein »an sich«, ehe er es nicht gesegnet hätte.
Über alles Einzelne hinaus, das man vergißt, greift
die bleibende Wirksamkeit des Einzigen mit unzähl-
baren Assoziationen und hebt den Lesenden in einen Zu-
stand ungemeinster Entrücktheit, dem Urwesen entgegen.
Der Goethesche Glaube an sich selbst war eine
Religiosität über jedes Ichgefühl hinaus, eine göttliche
Bewußtheit, die fortwirkend jeden Nachkommen aufs
neue umfaßt. Andere Mythen der Menschheit sind von
Menschen mit Masseninstinkten und Gemeingedanken
ersonnen worden, um Gesamtzwecken zu dienen. Der
Mythos Goethe ist von Goethe geschaffen und über-
ragt allen Glauben durch die Erfüllung eines Lebens,
durch eine Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit, die weder
des Zweifels, noch der mystischen Überredung bedarf.
Hier hat die Natur ein Wunder offenbart, das zu ver-
ehren beglückt und befreit, nicht beschämt und bindet,
— 29
ein einzigesmal hat sie Gedanken, Taten, Schicksale,
Werke zum Beweise des Menschentums selbst, in der
bündigen Einheit einer Gestalt erstellt.
Die Religionen haben keinen andern Sinn, als
über die allgemeine Fragwürdigkeit hinwegzuhelfen,
indem sie eine unbeweisbare, transzendente Gewißheit
ausbieten.
Die Religion Goethe tröstet mit ihrer Wirklich-
keit: es gibt doch einen Menschen, Goethe lebt.
So wandelt ein Irdischer mit allen körper-
lichen und seelischen Merkmalen der Sterblichkeit, mit
Leiden, Kümmernissen, Enttäuschungen, Hoffnungen,
Scherzen, Begierden, allen Menschen verwandt, doch
himmelweit als ihr Gleichnis durch die Ewigkeit unserer
Sprache.
Die Tagebücher zeigen, was sie so über alle
Maßen ergreifend macht, eben das Menschliche im
Erhabenen. Der schöpferische Geist befreit sich im
Kunstwerk von seinem Zufälligen und Zuständlichen.
Wenn wir dies Gebilde betrachten, forscht unser ge-
heimstes Verlangen nach dem eigentlichen Antlitz
des Schaffenden hinter den Masken von Formen und
Worten. In solchen Alltagsaufzeichnungen badet sich
das Individuum gleichsam nackt in seiner Wirklichkeit.
Das ist die wahre Probe auf sein Gotttum.
Es wird notiert, wer zu Besuche kam, anfangs
in der ersten, noch glühenden Weimarer Zeit leuchten
Gefühlsausbrüche mit furchtbarer Pracht auf, jedes
Gespräch mit den Weimarer Leuten wird aufgezeichnet,
wobei die Namen der Nächsten durch Symbole ersetzt
sind, so erhält der Großherzog das Zeichen des Jupiter,
die Stein das der Sonne, eine schöne Gräfin wird als
Venus geführt. Und siehe, der Gott hat Götter geadelt!
Langsam leiten die Blätter hinüber zur Gefaßtheit
und abgegrenzten Stetigkeit des mittleren Alters, zur
sanften Güte und Großvaterzärtlichkeit des Greises. Die
Gefühlsbekenntnisse, die anfangs nicht häufig zwar,
doch umso gewaltiger loderten, bleiben dann ganz
unterdrückt. Welches Schweigen! Ein Mensch ist zur
— 30 —
Natur selbst geworden, die groß genug waltet, um in
Stummheit zu erscheinen. Aber welche Ahnung von
Unmeßbarkeit der Empfindungen hinter den dürren
Eintragungen von Tod um Tod! An dem Herrn dieser
Zeit gingen Reihen von Menschen vorüber, man
brachte ihm, was jegliche Ernte an Neuem erzeugt,
gleichsam als Weihgeschenk dar, damit sein Blick
freundlich darauf ruhe und es segne. So nahm er
Kleines und Großes mit gleicher Güte hin und entließ
es ganz durchhellt und geweiht. Nicht einmal die lieb-
lichen spielerischen Fragwürdigkeiten des Witzes durften
fehlen, wie anmutig die Anekdoten, wie goethisch, sie
zu bewahren!
Alles Mythische verdankt einer fernen Wirklich-
keit sein zauberisches Fortleben, der Mensch erzeugt
sich seine Götter immer nach seinen schönsten Eben-
bildern, aber die Zeiten verwischen gerade das In-
dividuelle, löschen den wirkenden Anlaß aus und ver-
erben die gleichsam ihres Kernes entleerte Schale,
so daß nur ein unbestimmter Schein die nötige religiöse
Dämmerung erzeugt, nicht erhellt.
Goethe hat seinen Mythos ganz und gar durch-
gelebt, durchgebildet und bis in das Andenken jeder
Wagenfahrt nach Ilmenau überliefert. Er ist das erste
Götterbild, welches vom Gotte selbst geschaffen worden,
und woran die Armut und Geringheit der Gläubigen,
das schlechte Gedächtnis und die Torheit nicht sündigen
können.
Wie warst du schön
Von Rudolf Ehrlich
Mädchen am Gestade meiner Träume,
wie warst du schön,
wenn der Abend kam
und an den verweinten Weiden vorüberzog,
wenn deine Hände milde wurden
und sich zum Kranze mir um den Nacken schlangen.
Wie warst du schön,
unter der perlmutternen Heimfahrt des Tages.
— 31 —
Traum
Von Albert Ehrenstein
Als ich die Nacht durchwachte,
kam mir die Zeit herein,
hin glitten sachte
Träume und Tode mein.
Der Knabe, der im Sande
mit Muscheln Spiele trieb,
mit manchem Tande
die Zeit vorat)erhieb,
derselbe stets zu sein!
O weh der Muschelspiele,
du lange Weile,
ihr ewig gleichen Ziele —
nur nicht auch tot derselbe sein!
Henri Matisse
Von Ludwig Rubiner
In einem Zimmer mit Bildern von Henri Matisse
hat man zuerst die Empfindung, in eine ganz frühe
Morgenstunde zu kommen, in der es noch trübe ist,
und wo die gemalten Räume und Farben nur durch
eine große Einfachheit zum Auge dringen.
Das Gefühl von etwas ganz Frühem bleibt. Eine
Erinnerung, gar nicht mysteriös, Erinnerung an Kinder-
jahre, in denen man ernsthaft aus jammervollen Tusch-
kästen bedeutende Symbole auf ungeeignetes Papier
schmiert: Wein mit dem rötlichen Braun, Früchte mit
dem vorhandenen Gelb. Und man malt, ohne die Töne
je in trübe Brechnungen zu mischen, alle Dinge der Welt
mit jenen Farben des Malkastens, deren Grundwirkung
mit den Grundtönen der Gegenstände korrespondiert.
Matisse läßt erstaunen, daß ohne die wüsten
Zufälle dieser Kindertechnik, Gemälde jene wunder-
bare Unbefangenheit des Symbolischen zeigen können.
Die Biographie eines Künstlers besteht in dem
32
Belichten des finsteren Urwaldes, in dessen Wirrnis
die Phantasie mit dem Willen verzweifelte Schlachten
schlägt. In dem Hörbarmachen des Zusammenpralls
von Stimmung und Formerkenntnis. Und in dem
Bericht von dem Umlisten und Umschleichen, dem
Niederringen und Vergewaltigen überreich heranstürzen-
der Formen. Diese Wanderung durch Labyrinthe von
Phantomen, und aller Kampf und Marsch führen uns
hin zu dem einen Ziel der großen Klarheit und Helle.
Alle Mühen dienen nur der Befreiung der Formen von
den Arabesken des Zufalls. Der Künstler arbeitet nur,
um seine ewige Vision von der letzten Grundform des
Schauens, die ihm erscheint, wie dem religiösen Eksta-
tiker das Urlicht, in Ausdruck setzen zu können.
Das Schaffen Henri Matisses steht unter dem
Zwang dieser Vision. Es gibt Bilder von Matisse, mit
denen sich der Maler dem ganz persönlichen Lebens-
glück eines tiefen, geheimnisvoll aufrauschenden Vio-
letts hingegeben hat, die Lust auf Luft gestimmter
Farben genoß, die konturlos brünstig aus dem Pinsel
strömen. Hier malte er von sich selbst. Dann gibt es
Bilder, in denen die Dinge einfach auf die Wieder-
gabe der Naturstimmung beobachtet sind. Harte Kom-
positionen, sehr sorgsam in der Perspektive; Arbeiten
eines Malers, der sich unter die Strenge immerhin
konventionsloser Akademien nimmt.
Und nun die Bilder, auf denen jeder Körper
durch den Ausdruck seiner stärksten und augenschein-
lichsten Funktion in die farbige Fläche gespannt wird.
Es sind die Werke, die auf Matisses eigentliche Be-
stimmung für unsere Zeit weisen. Urgefühle erscheinen
hier unmerkbar umgewandelt in Erkenntnisse, die nur
durchs Auge möglich waren. Man sieht plötzlich den
psychischen Ausdruck von Leibern und Dingen, nicht
in der Stimmungsmusik taumelnder Lichter, sondern
in der unmittelbaren Auslegung irgend eines räum-
lichen Gesetzes, das bis dahin verborgen blieb. Dieser
Maler zeigt das Schicksal der Dinge: das Unabänder-
liche und in sich Vorbestimmte eines Stillebens, oder
— 33 —
eines Frauenaktes, oder der einfachen Situation, wie
eine Frau am gedeckten Tisch sich zu schaffen macht.
Das Schicksal ist: im Raum zu sein. Der Akt einer
liegenden Frau scheint auf einmal in seiner ganzen
malerischen Bestimmung offenbart, wenn man aufnimmt,
daß jede Linie von den mächtigen Auskrümmungen
der sinnlichen Schenkel beherrscht wird. Die einfache
schattenlose Orangegrundfarbe der Apfelsinen neben
dem unvermischten Gelb der anderen Früchte, das in
gerade noch Gestalt bestimmende Konturen gezwängt
ist, enthüllen die unerklärlichen psychischen Erregun-
gen, durch ein Stilleben. Die Bestimmung dieser
Früchte ist, gelb und orangefarb zu sein.
Das ist eine neue Kunst. Ihre Wirkungen erfüllen
sich nur noch in den Räumen des rein Psychischen.
Da ist etwas Absolutes, Reines, etwas jenseits aller
Grenzvermischung. Matisse entsagt den wunderbaren
Rauschempfindungen und den Ahnungen von bunten
Halluzinationen, den Stimmungen, die das Nachgenießen
der Nervenerinnerun^en, schwankend zwischen Natura-
lismus und Farbendekoration, hervorbringt. Die Sach-
lichkeit hat jetzt eine neue Bedeutung gewonnen.
Die impressionistischen Maler ordneten das Licht
in ihren Bildern nach den erhöhten Schwingungen
ihrer aufs Helle gestimmten Nerven. Der Betrachter
der impressionistischen Bilder faßt die schwingenden
Stimmungen zusammen, in dem zarten Rausch eines
Komponisten, dessen Musik in einen Schluß von
schillernd und glückselig ausgespannten Durakkorden
aufsteigt. Die Sachlichkeit des Impressionismus lag in
der Kraft des Einzelnen, das eigene Licht und den
eigenen Glanz des Innern in die Dinge der Natur auf-
zulösen. So mußte der Betrachter aus den Naturdingen
des Bildes die Synthese für die festlichen Stimmungen
des Künstlers finden. Dieses romantische Wesen des
Impressionismus beruhte immer auf einem intimen
Zwiegespräch. Der einzelne Künstler stellte seine Auf-
lösung gegenüber der Zusammenfassung des Be-
trachters. Nur immer ein Einziger stand vor einem
305-306
34 —
Einzigen, Subjekt gegen Subjekt. Es gibt kein
impressionistisches Fresko. Denn das eigentliche Wesen
des Bildes und seine eigentliche Wirkung konnte nur
unter zwei Menschen erledigt werden.
Bei Matisse gibt es heute keine Intimität und
keine Stimmung mehr. Gerade die »Stimmungslosig-
keit« seiner Arbeiten, die ihm zum Vorwurf gemacht
wurde, erweist vielleicht den größten Sieg eines
Künstlers unserer Zeit über alle schwelgerischen
Abenteuer, die vor der Härte der Kunst ausweichen.
Diesen Bildern entnimmt man nichts von den privaten
Empfindungsangelegenheiten des Künstlers, man wird
nicht beglückt oder betroffen vom Lichte seiner persön-
lichen Begeisterung. Das Bild ist nicht mehr das
bloße Medium, durch das die privaten Gefühls-
beziehungen zwischen Künstler und Betrachter sich
entgegenstrahlen. Man weiß garnichts mehr vom
Künstler selbst, ahnt, seit das Bild besteht, nicht einmal,
daß er überhaupt existiert. Es gibt nur noch Be-
ziehungen vom Bilde selbst zum Betrachter. So hat
auf einmal das Bild eine noch nie dagewesene große
und allgemeine Gefühlsbedeutung bekommen, hinaus
über jede Stimmung des Moments.
Matisse bringt die einfachsten und stärksten
Funktionen jedes Körpers und Raumes, und nur die,
welche für die Erfahrung des Auges die bekanntesten
sind, zum Ausdruck mit den Mitteln der Fläche, des
Zweidimensionalen. Alles muß seine Beziehungen,
ganz auf letzte Erfahrungsmomente gebracht, innerhalb
der Wirkungen des absolut Zweidimensionalen zeigen.
Bei diesen Bildern versucht man nicht einmal mehr
auf die die dritte Ausdehnung der Körper und die
Raumperspektive zu raten. Der Betrachter ist sich
jederzeit bewußt, daß alle Dimension des Raumes
wohl in der Natur da ist, aber er ist stets innerlich
gezwungen, zu fühlen, daß die Raumdimension der
Natur nicht in dem Wesen dieser Malerei enthalten
sein kann.
Dieses Einspannen der Formen in die malerischen
— 35
Möglichkeiten des Zweidimensionalen verhält sich zur
Raumausdehnung der Natur wie Erscheinung zu Er-
kenntnis. Die einfachste Erscheinungsform der Dinge
und die einfachste Form des Malerischen treffen sich
hier. Dadurch entsteht eine ungeheure und so be-
ziehungsvolle Vieldeutigkeit des Bildes. Plötzlich hat
beim Betrachter jedes Ding des Gemäldes wieder jene
stoffliche Bedeutung wiedergewonnen, die es in der
Natur hat; denn der Betrachter erkennt sofort das rein
Symbolische der zweidimensionalen Form. Man weiß
auf einmal wieder von jedem Wesen im Gemälde den
Gefühlswert und die Bedeutung, die es im Leben hat.
Vor dem Frauenakt weiß man, daß die Nacktheit des
Bildes im Leben Geschlecht ist, und das Porträt er-
innert an die Kraft psychischer Ströme im Leben. Der
Betrachter erfüllt die Wesen des Bildes nun wieder
mit den Erfahrungen, den Stimmungen und Wünschen
seines eigenen persönlichen Lebens. Matisse zeigt den
Beginn einer Freskokunst, deren Wirkung auf die
Massen in der Fähigkeit des Bildes zum Aufsaugen
jeder individuellen Geftihlsnuance ruht.
Dieses heftige Besinnen auf die Bedeutung des
Gemalten in der Wirklichkeit und auf die Gewißheit,
daß das Malen ein rein symbolischer Akt sei, erinnert
an die Jahre der Kunst vor Giotto, ehe die Entdeckung
der Raumillusion im Bilde die Grundlagen der ganzen
Renaissancemalerei schuf. Giottos Formwerk und alle
Mühen der Renaissance um die Perspektive entsprangen
der Sehnsucht nach einer Oberherrschaft des Prinzips
der Symmetrie. Das Symmetrienprinzip, dieses Erbteil
der späten Antike, hat ein furchtbares und aufreibendes
Ringen in der Kunst der Jahrhunderte zur Folge, alle
Versuche, in die zwei Dimensionen des Flächenbildes
eine Raumerkenntnis, die dritte Dimension, zu legen.
Wie die mächtigen Strahlen eines starken Spring-
brunnens bogen sich diese Formbegierden der Symmetrie
über die Zeiten, und während sie im neunzehnten
Jahrhundert in tausendfarbigen Verkürzungen nieder-
tropften, ließen sie in den Künsten des Naturalismus
— 36
noch einmal die letzten, qualvoll und matt aufzischenden
Funkenlichter ihrer Kämpfe erkennen.
Matisse ordnet die Form nicht mehr nach der
Symmetrie-Diktatur des Raumes. Er spannt unser Auge
in die Beschränkung der zwei Dimensionen der Fläche,
und er gibt unserer Zeit dafür das merkwürdige Glück,
Schicksal und Bedeutung in den Formen der einfachsten
Dinge des Lebens zu erkennen.
Abend
Von Karl Bormann
Ach, und wo führen all diese Wege hin?
Der Wolken buntes Leuchten — was meint es nur?
Mich treibt ein einsames Entzücken
singend im Herzen immer weiter.
Daß doch die Sonne grade im Niedergang
die frohsten Farben leicht in die Lüfte streut!
Da glaubt ich mit den leeren Händen
unverlierbare Schätze zu halten.
Vielleicht hat auch, wer gegen den Abgrund zu
auf schwarzen Rossen >in Tod und Vernichtung stürzt,
solch immer erneutes Glück in den Augen
und aufj^den|Lippen ein trunkenes Lachen.
Glossen
Von ;Karl Kraus
Das Gefolge
»An das P. T. Publikum I In Zeitungsberichten über den Besuch
unseres Kaisers in der Rotunde wurde über den angeblichen Besuch
des Monarchen beim Pavillon unserer Konkurrenz berichtet. Dem-
gegenüber stellen wir fest, daß Se. Majestät nur bis zum >Sarg«-Pavillon
— 37
geführt wurde und von dort aus einen Blick in das Innere der Rotunde
warf. Die Nahrungsmittelabteilunj? wurde Sr. Majestät gar nicht gezt\gt
und somit konnte der Kaiser weder unseren Pavillon noch denjenigen
der Konkurrenz besichtigen.
Wir bitten, von dieser Richtic^stellunt; Kenntnis zu nehmen.
Hochachtungsvoll
. . . . G. m. b. H.«
Für Geld ist von der Presse nicht nur ein Kaiserwort zu
haben, sondern sog^ar das Zugeständnis, daß es für Geld zu haben
ist. Ein Gesetz gegen unlautem Wettbewerb gibt es in Österreich
nicht, einen Paragraphen gegen Ehrfurchtsverletzung gibt es:
aber er wird durch das Fehlen des Gesetzes gegen unlautem Wettbe-
werb außer Kraft gesetzt. Die Ehrfurcht vor dem Kaiser zu verletzen
steht jenen frei, die sie zum Objekt des unlautem Wettbewerbes
zu machen wünschen. Eine Behörde, die seit Jahrzehnten die in
keinem Staat der Erde mögliche Schmach verkaufter Kaiserworte
duldet, bleibt auch vor dem Schauspiel unbeweg:t, wie die Krone in
den Streit der Inseratenagenten gezogen wird. Und in einem Lande,
in dem auch dies möglich ist, wagen die Fetn'lletonhallunken von
der allem Amerikanismus abgewandten alten Kultur zu schwärmen.
In demselben Lande, in dem es unmöglich wäre, ein kunstkritisches
Urteil des Kaisers zu erörtern, weil nicht wie in Deutschland die
Ehrenbeleidigung der Majestät, sondern die Verletzimg der Ehrfurcht
bestraft wird, und weil dieser Tatbestand schon im Widerspruch der
Meinung und überhaupt dann gegeben ist, wenn man ihn finden will
- in demselben Lande ist es erlaubt, ein kaiserliches Firmenlob zu
erlügen, zu verleugnen, zu reduzieren, zu steigern. Der Kaiser,
der der Industrie helfen will, kann nicht wissen, zur Förderung
welcher Zwecke die Wissenden seine achtzig Jahre bemühen,
und kein Obersthofmeister, Generaladjutant oder wie der Herr
sonst heißt, findet sich, der hier ein aufklärendes Wort wagte.
Denn die Ehrfurcht vor der Presse zu verletzen, verbietet ein Ge-
setz, das wir haben, wenn es auch noch nicht sanktioniert ist. Keiner
dieser Fürsten, Grafen und Würdenträger traut sich, das Gefolge von
Akquisiteuren zu verscheuchen. Und der Hirsch schreitet nach wie
vor hinter dem Kaiser, und es sind nach der Beschreibung dieses
gräßlichen Schauspiels in der .Fackel' sogar neue Hirsch-Karten
ausgegeben worden, »offizielle Postkarten<, wie sie jetzt ausdrücklich
heißen, auf denen sich die Frechheit der Presse und die Preß-
furcht der Ausstellungsleiter zu einem grotesken Justament vereinigt
— 38
haben. Es gibt jetzt eine Hirsch-Karte, auf der der Vertreter der
Neuen Freien, nunmehr ohne gelben Überzieher und ohne
die leiseste Andeutung von Hosenbandeln, aber im Gehrock und mit
Schirm, unerhört vornehm und mit einer Feierlichkeit, die
nach ihrem Platz in der Fronleichnamsprozession schreit, unmittel-
bar hinter dem Kaiser einhergeht, gefolgt von dem Generaladjutanten
Grafen Paar, der dem Hirsch ä la suite beigegeben ist. Ursprüng-
lich wollte ich diese Karte einem Teil der Auflage dieses Heftes
beilegen, und nie wäre eine frappantere Illustration zu dem hier
tausendfach besungenen Sieg der Presse über die legitimen Mächte
in Staat und Gesellschaft erschienen. Man traut seinen Augen
nicht ; man hält es nicht für möglich, daß vor dieser in Dingen
der Majestät überempfindlichen Judikatur so etwas wirklich be-
stehen könne, fragt, ob gegen diese Honoratioren und Exhibitionisten,
die solche Scherze zu machen wagen, nicht die Anklage erhoben,
ob nicht das Ärgernis in der nächsten Stunde aus den Schau-
fenstern der Ansichtskartenhandlungen entfernt werde; und ist über-
zeugt, daß die Äußerung, die der Kaiser vor einem Bild getan hat :
»Dieser Hirsch ist aber entsetzlich!«, sich auf die Situation
beziehen müsse, die erst zu einem Bilde hergehalten hat. Denn es
ist vollkommen undenkbar, daß man irgendeinem Staatsoberhaupt,
dessen Familie beiweitem nicht auf eine mehrhundertjährige
Exklusivität gesellschaftlichen Verkehrs zurückblickt, daß man
selbst dem Herrn Roosevelt, der doch an allerlei gewöhnt ist,
die konstante Gefolgschaft — nicht aller, das ginge noch —
nein, eines einzigen individuell riechbaren Sancho Pansa vom
lokalen Teil zuzumuten wagte. Es ist auch vollkommen ausge-
schlossen, daß irgendwo anders in dem Augenblick, in dem
der Momentphotograph eine Jagdausstellung betritt, diese ganze
Meute von Titeljägem, diese Koppel von Konsuln und Parasiten
losgelassen würde, daß sich die Kaiserlichen Räte malerisch um
den Kaiser zu gruppieren wagten und die schweißenden Hirsche
ein freundliches Gesicht dazu machten, und daß man in allen
Schaufenstern einer Stadt das illustrierte Hochl eines Maules
zu sehen bekäme, das einem Manne gehört, der durchaus von der
siebenten in die sechste Rangsklasse vorrücken will. Dieser ganze
Triumph der Gewinnsucht und Zudringlichkeit um, durch und
über die Majestät ist in keinem Lande der Welt möglich, außer
eben in diesem durch jede Bloßstellung in immer noch tiefere
- 39 -
Schmach masochistisch gepeitschten Österreich. Und in keinem wäre
der Fall möglich, daß der Handel mit Kaiserworten nur umso
schamloser getrieben wird, seitdem einmal ein Handelsrichter,
der über ihre Preiswürdigkeit zu entscheiden hatte, die bloße
Zumutung für eine Majestätsbeleidigung erklärt und die Abtretung
des Aktes an die Staatsanwaltschaft angedroht hat. Nirgendwo
wäre es möglich, daß sich die Agenten auf offener Straße um die
Aufträge auf Kaiserlob balgen und daß dann noch Journalisten,
die bei dem Handel zu kurz kamen, die finanzielle Enttäuschung
in ethische Entrüstung kleiden. Denn es scheint etwas geschehen
zu sein, was die Leute, die die Kaiserworte veröffentlichen, zur loyalen
Mißbilligung des eigenen Unfugs treibt Ja, wenn nicht alle An-
zeichen trügen, hat die Neue Freie Presse diesmal nicht fünf, sondern
nur vier Gulden für die Zeile bekommen. Ein Annoncenbureau
scheint das Monopol auf Kaiserworte an sich gerissen zu haben
und läßt die Blätter nicht mehr so viel verdienen wie früher. Und
in der .Österreichischen Faktorenzeitung', die sich eigentlich mit
derlei Angelegenheiten nicht zu befassen hätte, so lange sie für
»Faktoren« schreiDt, die Druckerei leiter sind und nicht galizische
Vermittler für alles, wird unter dem Titel »österreichische Ge-
werbeförderung« die folgende Notiz veröffentlicht:
Aus Anlaß des wiederholten Kaiserbesaches der Jagdausstellung
bringen unsere Tagesblätter spaltenlange Berichte und zitieren alle
hiebei fallenden Bemerkungen des Monarchen. Man sollte nun glauben,
daß diese Berichte ein ungefärbtes Spiegelbild der Besuche geben
sollen, wozu ja die Tagespresse gewissermaßen verpflichtet ist; dies
trifft nun leider nicht zu und die ohnehin schwer belasteten Geschäfts-
leute werden gezwungen, die Wiedergabe des Besuches der einzelnen
Etablissements durch den Kaiser extra zu bezahlen, und zwar die
Druckzeile mit zehn Kronenl Wer darauf verweist, daß er diese
horrende Summe nicht zu zahlen vermag, und um etwas Entgegen-
kommen bittet, der bleibt unberücksichtigt, und selbst die schmeichel-
haftesten Kaiserworte werden unterschlagen. Da sich mit der Aus-
beutung dieser Kaiserbesuche ein Inseratenagent befaßt, der anscheinend
gar nicht genug bei der Sache herausschlagen kann, so wäre es wohl
Pflicht der kompetenten Stellen, diesem Treiben mehr Beachtung zu
schenken und diejenigen, die mit den Mitteln haushalten müssen, nicht
einfach unterdrücken zu lassen. Die Aussteller haben wohl ein Recht
darauf, die Bewertung ihrer Objekte nicht von solchen Geschäfts-
praktiken abhängig machen zu lassen! C. H.
Der Verfasser dieser Notiz ist der Druckereileiter der Neuen
Freien Presse. Aber das ist nicht Rebellion, wie man auf den
— 40 —
ersten Blick vermuten könnte. Das ist Treue gegen den Unternehmer,
der von dem Schaclier mit Kaiserworten lebt, aber nicht vor den
eigenen Kunden patriotisch beklagen kann, daß er zu wenig
bekommen hat.
So ist das Leben
(Aus einer und derselben Zeitungsspalte)
Laut Mitteilungen von Wiener
Tagesblättern wurde der Chef-
redakteur der , Österreich isch-
ungarischen Sparkassen-Zeitung',
Heinrich P., am 20. d. M. unter
dem Verdachte der Erpressung ver-
haftet.
Herrn Gustav S., Eigentümer und
Herausgeber der , Österreichisch-
ungarischen Sparkassen -Zeitung',
wurde in Anerkennung seines
publizistischen Wirkens der Titel
eines kaiserl. Rates mit Nachsicht
der Taxe verliehen.
Vom Lynchen und vom Boxen
>Ich bitte Sie, zu erklären, daß die in Mastodon, Mississippi,
vollzogene Lynchung des Negers Curl in aller Ruhe und in vollster
Ordnung vor sich ging. Sie wurde von den angesehensten Leuten des
Ortes, Bankiers, Advokaten, reichen Landwirten und Kaufleuten, geleitet
Ich kann sagen, daß noch niemals vielleicht an einer Lynchung so viele
wahrhaft vornehme Menschen sich beteiligt haben ...»
Diese Erklärung erschien, wie die verläßliche Schere des
Neuen Wiener Journals behauptet, in vielen amerikanischen Blättern.
Sie war ein Protest gegen die mögliche Unterstellung, daß es bei
dieser Lynchung grausam zugegangen sei. Im Gegenteil wurde
nichts getan, was irgendwie gegen die Vorschriften einer humanen
Lynchung verstoßen hätte.
>Ich verlangte für mich nur ein einziges Vorrecht: ich wollte
beim Hochziehen des Negers, den wir aufknüpfen wollten, als Erster
den Strick in die Hand nehmen. Meine lieben Freunde und Nachbarn
erklärten diesen meinen Wunsch für durchaus berechtigt und legten mir
kein Hindernis in den Weg. Aber ich glaube, daß der Neger schon
vor Angst tot war, als ich mit einem starken Zug ihn in die Luft
hinauf beförderte. Er bewegte sich nicht mehr und zappelte nicht mehr
mit den Gliedern; von dem Augenblick, in welchem er hochgezogen
wurde, zuckte kein Muskel seines Körpers mehr.c
Aber auch bis dahin wurde nichts unterlassen, was der
Philantrop vorzukehren hat, wenn es gilt, dem Schwachen bei-
zustehen :
41
> Bevor ich noch den Strick in Bewegung setzen konnte, mußte
ich den Neger stützen, denn die Beine zitterten ihm so, daß er nicht
stehen konnte.«
Ein Akt christlicher Nächstenliebe, der um so größere Aner-
kennungverdient, aisgerade bei Lynchungen sonst fast durchwegs etwas
rücksichtslos verfahren wird. Der Verfasser der Erklärung ist ein Steuer-
erheber namens Miller, dessen Bnider nämlich, ein Polizeibeamter, vom
Neger Curl getötet wurde. Auch für diese Tötung wird ein Grund
angegeben. Der Polizeibeamte wollte den Neger Curl verhaften.
Aber auch dafür wird ein Grund angegeben: >weil Curl an eine
weiße Frau einen beleidigenden Brief geschrieben hatte«. Ob
auch dieses Vorgehen einen Grund hatte und ob etwa der Brief eine
Antwort auf einen schmeichelhaften Brief war, haben wir nicht
erfahren. Aber bald darauf wurden tausend Neger gelyncht und der
Grund, hieß es, war ein Sieg im Boxen, den ein Neger über einen
Weißen errungen hatte. Vielleicht war aber dieser Grund nur ein
Vorwand, und vielleicht lag bloß die Gefahr nahe, daß tausend
Neger an zehntausend weiße Frauen beleidigende Briefe schreiben
könnten. Die verläßliche Schere des Neuen Wiener Journals hat uns
darüber mit einer Schilderung vom Negerhaß in Amerika beruhigt,
in der es hieß:
Der Schwarze ist in den Augen des Amerikaners eben nun einmal kein
richtiger Mensch. Die amerikanische Dame, die sonst an Prüderie mit
mit ihren Stammesgenossinnen in der ganzen Welt es i eichlich aufnimmt,
kleidet sich in Anwesenheit eines Negers ruhig an oder aus, und wenn
die erstaunte europäische Freundin sie darob zur Rede stellt, so
antwortet sie kaltblütig: »Der Nigger ist doch kein Mann!«
Sehr richtig! Aber die europäische Freundin soll nur nicht
so erstaunt tun. Auch sie würde sich, wenn ein Somali-Dorf in
die Nähe kommt oder bei sonst einer besonderen ethnographischen
Gelegenheit in Anwesenheit eines Negers ruhig an- oder auskleiden.
Denn ob der Nigger kein Mann ist, davon möchten sich alle, die
Weiber sind, gern überzeugen. Und weil das ihre Männer fühlen,
darum werden sie die Nigger vom Erdboden weglynchen, bis diesen
kein Muskel mehr zuckt. Bankiers, Advokaten, Landwirte und
Kaufleute und alle wahrhaft vornehmen Menschen werden sich an
dieser Lynchung beteiligen. Und werden dann sagen, daß sie
doch besser boxen können. Und niu" einen Champion werden sie
nicht ! besiegen : den Neger der weiblichen Phantasie. Denn
42 —
den hat den Weibern die Natur als Entschädigung für den reellen
Christen gegönnt.
»Ehrlich 606<
In einem Leitartikel über die Syphilis, zu der jetzt also —
infolge des Zwischenfalls der Ehrlichschen Entdeckung — sogar die
Neue Freie Presse Stellung nehmen muß, teilt jene das Los aller
Mächte, die dem Liberalismus über den Kopf wachsen. Durch
Jahre totgeschwiegen, wird sie jetzt zwar angegriffen, aber
nicht genannt. Wenigstens nicht im Leitartikel. Die Neue Freie
Presse spricht von >Ehrlichs unaussprechlichem Mittel«, weil es
Dioxydiamidoarsenobenzol heißt: aber sie spricht es noch immer ge-
läufiger aus als die Krankheit, gegen die es erfunden wurde. Hier
hilft sie sich, so gut es geht, mit den folgenden Bezeich-
nungen: >Eine seit etwa fünf Jahrhunderten bekannte Seuche.«
>Wir kennen sie aus dem in ewiger Jugend blühenden Werke
des alten Rabelais.« »Das Leiden des armen Heinrich, für
den die süße reine Ottegebe ihr Herzblut gab.< »Das ver-
zehrende Übel, das Ulrich von Hütten zu Tode quälte. < »Eine
der schauerlichsten Seuchen, die den Kranken in Scham und Elend
verkommen läßt und die einen Augenblick des Vergessens noch
an Kindern und Kindeskindern rächt.« »Eine fürchterliche Plage. <
»Dieses allertückischeste, allerschleichendste Übel.« »Diese Gräß-
lichkeit.« »Dieses Gift im Körper.« »Diese Krankheit.« Nun, Ver-
wechslungen sind da wohl ausgeschlossen. Der Hinweis auf
Rabelais, Hütten und den armen Heinrich genügt, um klar zu
machen, daß nicht die , Fackel' gemeint sein kann. Und zum
Überfluß erklärt die Neue Freie Presse, »im Speyerhaus in Frank-
furt, wo Ehrlich arbeitet«, sei »auch ein gutes Stück falscher Moral
begraben worden«. So daß also die Syphilis doch darauf hoffen
kann, selbst im Leitartikel einst mit vollem Namen genannt
zu werden, nämlich wenn sie nicht mehr sein wird. Ein schwacher
Trost, aber anders ist da nichts zu wollen. Was soll man
zum Beispiel zu einem »Augenblick des Vergessens« sagen,
der noch an den Kindern und Kindeskindern gerächt wird? Man
würde »Verweile doch, du bist so schön« sagen, wenn es
nicht eben jener Augenblick wäre, dem die Kinder und Kindeskinder,
43
ach, ihre Entstehung danken. Daß. sie ihm auch ihr Verderben
danken, ist ein alttestamentarischer Fluch, mit dem die Natur
das Christentum narrt. Und sie ist am Ende auch nicht geson-
nen, sich von der fortschreitenden Wissenschaft ihre Würgengel
zähmen zu lassen. Die apokalyptischen Reiter vird die apokalyp-
tische Zahl 606 vielleicht doch nicht bannen. Was vürde die
Moral ohne ihre Syphilis anfangen? Diese war nicht die Gefahr,
sondern die Schutzvorrichtung. Nicht die Moral hielt die Menschen
ab, sich die Syphilis zuzuziehen, sondern die Syphilis hielt sie
ab, sich der Moral auszusetzen. Sie wären ihr rettungslos preis-
gegeben. Sie würden alle schuldig werden, die heute nur
krank werden. Heute ist die Syphilis eine Krankheit, die man hat,
aber nicht nennt. Wenn es wirklich so weit kommen sollte, daß
man sie nennt, aber nicht hat, es wäre ein Zustand, den die
Gesellschaftsordnung nicht um einen Tag überlebte. Es wird nicht
so weit kommen. Man hat die Scham vor dem Apotheker nicht in
den Kalkül gezogen. Die Beschaffung jenes Mittels, das im Jahre 1910
gegen jene Krankheit gefunden wurde, die eine Folge jenes
Augenblicks ist, dem die besten Christen ihr Dasein verdanken,
wird mit großen Schwierigkeiten verbunden sein. Nur eine
Menschheit, die alle Scham abgelegt hat, wäre bereit, sich von
deren letzten Folgen kurieren zu lassen. Und so besteht die
Aussicht, daß Dioxydiamidoarsenobenzol unaussprechlich bleibt
und der Name Ehrlich nur mit der Erfahrung verknüpft
sein wird, daß Syphilis am längsten währt
Was ist ein Name . . .
Die einzige gute Sache, die im Annoncenteil der Wiener
Presse bisher vertreten wurde, sie wird unterdrückt, das einzige
anständige Inserat in dieser Fülle von Betrug und Unfug, es wird
nicht geduldet. Diese traurige Wahrheit spricht mit beredten
Worten aus dem folgenden Schreiben, das der Empfänger, der
diskret genug war, seinen Namen herauszuschneiden, mir über-
mittelt hat:
44
, Wien, am 25. Juni 1910
Herrn Wien.
Laut Auftrag des k. k. Preßbureaus dürfen wir Inserate, in
welchen die Worte >Gummi« oder »Fischblasen* vorkommen, nicht mehr
in unserem Blatte zur Einschaltung bringen. Da in dem Inserat Ihrer
werten Firma sich leider diese verbotenen Worte befinden, erlauben wir
uns an Sie mit der höflichen Bitte heranzutreten, für dieselben eine
geeignete Textänderung vorzunehmen. Wir können Sie versichern, daß
wir nicht aus eigener Initiative mit dieser Bitte an Sie herantreten, sondern
von dem k. k. Preßbureau, welches in dieser Angelegenheit allgemein
vorgeht und dieselbe Änderung für alle anderen Blätter verlangt,
gezwungen werden.
Im Voraus bestens dankend, zeichnen wir
hochachtungvoll
V. Chiavacci's
.Wiener Bilder'
Illustriertes Familienblatt.
HerrChiavacci hat kürzlich den Bauernfeld-Preis bekommen. Er
verdient ihn für den warmherzigen Eifer, mit dem sein Familien-
blatt die gute Sache retten will, wenn ihr die Behörde schon den
üblen Namen versagt. »Die Sache wills, die Sache wills, mein
Herz! Laßt sie mich euch nicht nennen, keusche Sterne!*
Herr Pötzl, der auch kürzlich den Bauemfeld-Preis bekommen
hat, duckt sich und gibt die Sache preis. Wiewohl das Neue
Wiener Tagblatt wahrlich schon schlechtere Artikel gebracht hat
als solche, und wiewohl doch nichts die Interessen eines Familien-
blattes mehr alteriert als die Verhinderung einer Sache, die zur
Verhinderung der Sache dient. Auch die Neue Freie Presse, die
doch einsehen müßte, daß diese Pariser Artikel die besten sind, und
jedenfalls viel besser als die des Herrn Berthold Frischauer, wirft die
Flinte ins Korn. Freilich ist sie kein Familienblatt. Und der Staat
wiederum ist ein Familienvater, der auf Vermehrung hält. Er braucht
Soldaten. Aber er läßt es doch oft selbst nicht so weit kommen, indem
er nämlich zweijährige Kinder, die kein Obdach haben, auf der Straße
sterben läßt. Wäre es da nicht sittlicher, solchen Jammer im Keime zu
ersticken, anstatt auf Annoncen Jagd zu machen und die Flüche ver-
zweifelnder Eltern sich nachdonnern zu lassen ? Wenn schon in Spitälern
und Asylen kein Platz für tuberkulöse Kinder ist, soll darum auch
in den Annoncenrubriken kein Platz für das Mittel sein, das uns
— 45
auf eine legitime Art den Anblick dieses irrenden Elends erspart?
Und der Staat sollte schließlich bedenken, daß es außer einer
kupplerischen Sittlichkeit, die zwischen den Begriffen Gummi und
Sünde vermittelt, auch noch hygienische Zwecke gibt, und daß er
deren Verfolgung erschwert, wenn er ihre Förderer verfolgt. > Ehrlich
606< dürfte dort oft zu spät kommen, wo ein Blick in den Annoncen-
teil Präservativ gewirkt hätte. Ist etwa die Bilanz des Bankvereines
reeller als solches Angebot? Der alte Kindskopf Staat sollte end-
lich einmal wissen, wo er uns zu schützen hat, und daß es lächerlich
ist, bloß den Schutz zu verhüten. Er denkt aber, es sei besser, daß
die Bürger durch unsittliche Handlungen krank werden, als daß
sie durch ein Gesundheitsmittel auf unsittliche Gedanken verfallen.
Darum hat das problemschwere k. k. Preßbureau — das, wie wir gehört
haben, >allgemein vorgeht« - sichs in den Kopf gesetzt, die
Urheber von Pariser Artikeln zu Stilkünstlem zu erziehen. Herrn
Chiavacd — es soll der Dichter mit dem Gummikönig gehen —
bleibt nichts übrig, als ihnen zuzureden. Man kann schließlich alles
umschreiben. Selbst die Bitte an den Inserenten könnte man mit
den Worten umschreiben : »Was ist ein Name? Was uns Rose heißt,
wie es auch hieße, würde lieblich duften.« Und würde immer
wieder die Vorstellung der Rose wecken. Wie will der Staat das
ändern? Da wäre es schon logischer, die Rosen zu verbieten.
Denn jedes Wort, das sie umschreibt, bringt sie uns nahe und
um so näher, als wir die Freude des Erratens dazu bekommen.
Vorstellungen leben sich ein. Wenn man heute das Wort »Dumm-
heit« sagt, denkt man gleich an »behördliche Maßnahme«. Um
ein Wort vor dem Verstandenwerden zu schützen, müßte man es
häufig wechseln. Das österreichische Vorstellungsleben würde ein
wenig aufgemischt werden, die Sittlichkeit hätte ihren Profit, nur
den Händlern wäre nicht gedient, die doch ihre Ware an den
Mann bringen wollen. »Gummi« — das war einmal ein ganz an-
ständiges Wort. »Vorsicht« — das war einmal der Tapferkeit besseres
Teil. »Hygienische Artikel« — da weiß man auch schon, was gemeint
ist. Man soll's nicht und soll's doch wieder wissen. Eine verdammt
schwere Aufgabe. Ein unzerreißbares Dilemma. Nennen wir den
Fall einen gordischen Knoten — so wird man doch wieder aha!
sagen. An den Inserenten ist es, sich den Kopf zu zerbrechen. Den
Bauemfeld-Preis dem, der die richtige Lösung findet!
46
Das Paradies der Erpresser
Ein ehemaliger Offizier erschien bei einem ihm bis dahin
unbekannten Frauenarzt und verlangte sechstausend Kronen;
im Weigerungsfalle werde er ihn wegen sieben Fruchtabtreibungen
der Staatsanwaltschaft anzeigen. Der Arzt wies den Mann ab.
Drei Tage darauf erhielt er einen rekommandierten Brief, in dem die
Drohung wiederholt, mit dem > Offiziersehrenwort« bekräftigt und
ihm ein letzter Termin gesetzt wurde. Der Oberleutnant wurde
wegen Erpressung angeklagt. In der Verhandlung erklärte er, er
habe aus ethischer Überzeugung gehandelt und den Arzt durch
den Erlag der Summe einen Schuldbeweis erbringen lassen wollen.
Der Arzt erklärte, er habe keine Furcht gehabt, da er ein gutes
Gewissen habe. Der Gerichtshof sprach den Angeklagten frei.
Dieser habe zweifellos in gewinnsüchtiger Absicht gehandelt,
aber da sich der Bedrohte nicht gefürchtet habe, liege keine Er-
pressung vor. Für die österreichischen Erpresser eröffnet sich somit
eine neue Chance. Entweder — so war es schon bisher — hat der
Bedrohte ein schlechtes Gewissen: dann zahlt er, und der Erpresser
lebt herrlich und in Freuden. Oder — das ist die neue Ära —
der Bedrohte hat ein gutes Gewissen: dann wird der Erpresser
freigesprochen und versucht es ein Haus weiter mit mehr Glück.
Bis jetzt wurde er bloß nicht angeklagt, weil der Bedrohte eher
zahlte als daß er zugab, ein schlechtes Gewissen zu haben. Jetzt
wird er angeklagt, aber nur dann eingesperrt, wenn sich auch der
Bedrohte einsperren läßt, das heißt, wenn er eher zugibt, ein
schlechtes Gewissen zu haben, als daß er zahlt. Früher erpreßte
nur der Erpresser; jetzt hilft ihm dabei die Justiz. Der Staats-
anwalt hatte den Arzt gefragt, ob er nicht auch im Falle des
guten Gewissens > fürchten mußte, daß eine polizeiliche Anzeige
gegen ihn im Kreise seiner Kollegen peinlich wirken könnte«. Als
der Zeuge dies für ausgeschlossen erklärte — weil bekanntlich noch nie
ein Wiener Frauenarzt vom andern geglaubt hat, daß er Frucht-
abtreibung begehe und weil Fruchtabtreibung eine Handlung ist, die
die Frauenärzte noch entschiedener verpönen als das Gesetz — , war
der Gerichtshof beruhigt. Um den Erpresser zu verurteilen, hätte
er das Geständnis des Arztes gebraucht, daß er ein schlechtes Ge-
wissen habe. Da dieser es trotz wiederholter eindringlicher Befragung
nicht zugeben wollte, blieb dem Gerichtshof nichts übrig als den
Erpresser freizusprechen, mit der Begründung, daß »bei dem über
— 47 —
jeden Verdacht erhabenen Arzt die beabsichtigte Wirkung nicht
eingetreten sei«. Die Wirkung, die ein Erpresser beabsichtigt, ist
nämlich nicht so sehr der Empfang von 6000 Kronen als die
Angst des Spenders. »Die Eignung einer Drohung muß nach der
Individualität des Bedrohten beurteilt werden«. Bei Schweißaus-
bruch des Bedrohten wäre der Tatbestand der Erpressung zweifellos
gegeben. Daß der Arzt gerade durch seine Unbefangenheit den
Beweis für die Gefährlichkeit der Drohung liefern könnte, daß gerade
seine Furcht lieber die Harmlosigkeit zugeben würde als die Furcht,
und daß sich in seinem Gefühl die infame Alternative >Geld oder
Anzeige< vielleicht schon zur infameren Alternative >Freispruch
des Erpressers oder Anklage wegen Fruchtabtreibung« gesteigert
hat — das bedenkt diese Paragraphenpsychologie nicht. Diese
Gerechtigkeit verurteilt einen Burschen, der auf der Ringstraße
ein Handtäschchen erbeutet, zu lebenslangem Kerker, weil die
Besitzerin erschrocken ist, und spricht den Erpresser frei, weil der
Arzt ein gutes Gewissen hat. Der Vorsitzende wird hoffentlich
konsequent bleiben, wenn ich jetzt so zu ihm spreche:
Dafür, daß Sie dem Arzt sein gutes Gewissen attestiert und
den Erpresser freigesprochen haben, haben Sie von jenem die
Behandlung Ihrer Geliebten und von diesem die nächste erpreßte
Summe zugesichert bekommen. Ich verlange von Ihnen, daß Sie mir
die Hälfte des Betrages geben, widrigenfalls ich die Anzeige wegen
Verbrechens des Mißbrauches der Amtsgewalt, Vorschubleistung
zur Fruchtabtreibung und Teilnahme an einer Erpressung erstatten
werde. Da Sie aber ein gutes Gewissen haben und über jeden
Verdacht außer über den der Naivität erhaben sind, erwarte ich
meinen Freispruch von der hierait begangenen Erpressung.
Der soziale Ton
Nur aus dem Gerichtssaalbericht dringt das Echo der Zeit
Nur die verstümmelte Anklageschrift oder das schlecht mitge-
schriebene Referat eines Votanten führt die echte Sprache der
beleidigten Gesellschaftsordnung. Wenn der letzte Rimmer von
Logik weggeblasen ist, kommt die Dummheit erst zu plastischer
Geltung. In München wixrde ein Anarchistenprozeß geführt, dessen
Angeklagte sich von einem Absynthrausch der neunziger Jahre, von
48 —
einem ausgelebten Vagantenideal und etwa noch von dem Programm :
>Wir wollen in die böhmischen Wälder gehen und dort eine
Kabarett- Truppe sammeln!«, zu unvorsichtigen Redensarten hatten
hinreißen lassen. Anstatt nun diese harmlosen Leute lebenslänglich
im Prytaneum zu verköstigen, hat man sie bloß freigesprochen.
Und darum Räuber und Kabarettiers ! Über diesen Justizmord
aber brachten die Zeitungen spaltenlange Berichte und in der Ein-
leitung standen die Worte der Anklageschrift, die die Angeklagten
wie folgt charakterisiert: >Sie waren es, welche Bombenattentate,
Gütergemeinschaft, freie Liebe und dergleichen empfohlen
und Pläne zu Einbruchsdiebstählen, Zerstörung öffentlicher
Gebäude durch Dynamit erörtert und bereits bestimmte einzelne
Verbrechen in Aussicht genommen haben«. Das einzige, das sie
fast ausgeführt haben, soll die freie Liebe gewesen sein. Aber der
Staatsanwalt traut einem dergleichen immer erst zu, wenn er ihn
schon des Bombenwerfens überwiesen hat.
Der geistige Ton
Einem verstorbenen Baurat ruft ein liberaler Parteigenosse
nach: »In seinem Elemente war er — und dafür zeugen die zahl-
reichen Bauten von Gotteshäusern, die im In- und Auslande nach
seinen Plänen errichtet wurden — wenn er Gelegenheit hatte, den
Stein zum Rollen zu bringen für den Gedanken des Bauwerkes,
dessen Schaffung ihm oblag«. Dieser Stein ist nicht identisch mit
dem konservativen Grundstein, der bei einem Bauwerk gelegt
wird, sondern ist ein fortschrittlicher Stein, der zum Rollen ge-
bracht wird. ' Woraus sich die vielen Hauseinstürze des liberalen
Gedankens erklären mögen. Wie aber beschreibt die Neue Freie
Presse das Verhalten des Publikums bei einer Regenkatastrophe?
>Die drängende Masse schwoll lawinenartig an« und >die Auf-
rechterhaltung des Überfüllungsverbotes angesichts des Elementar-
ereignisses ließ eine Flut von Verwünschungen hervorbrechen*.
Es kam jedenfalls auch zu stürmischen Auseinandersetzungen, man
tappte, lange im Nebel der Ungewißheit, ob noch eine Elektrische
gehen werde, bis sich infolge der Versicherung, daß dies der Fall
sei, die Stimmung aufheiterte.
49 —
Der gebildete Ton
Manchmal liest man einen Satz, welcher einem den ganzen
Haß gegen die formale Bildung zuführt, den man fürs Leben
braucht und den man sich sonst erst umständlich aus Büchern, Leit-
artikeln, Universitätsvorlesungen und gesellschaftlichem Verkehr
zusammenklauben muß. So schreibt zum Beispiel der Herr Doktor
Viktor Ruß — gewiß nicht nur einer der maßgebendsten, sondern
auch einer der gebildetsten Männer dieser an ihrer fürchterlichen
Bezeichnung noch immer nicht krepierenden »Jetztzeit« — in der
Neuen Freien Presse die folgenden Worte, in denen der Bildungs-
Ruß die greifbarsten Formen angenommen hat:
Diese Tatsache war für den mit der Vorberatung betrauten
Permanenzausschuß des Staatseisenbahnrates mitbestimmend, daß sein
Subkomitee eine Expertise einberief, über deren vorläufiges Ergebnis
nicht so sehr, weil des Materials viel geliefert wurde, als vielmehr über
deren vorläufigen Eindnick Mitteilung zu machen, die Redaktion mir den
Wunsch ausgesprochen hat, den ich als Vorsitzender dieser Enquete
unbefangen zu erfüllen gerne bereit bin.
Was gebührend zur Kenntnis zu nehmen, ich in diesem Falle
nicht anstehe ausdrücklich und unter Hinweis auf den durch dieses
vorläufige Ergebnis des Permanenzausschusses der liberalen ödig-
keit erzielten Eindruck zu erklären, weil es sich um eine Tatsache
handelt, die für den Staatseisenbahnrat mitbestimmend sein könnte,
ähnliche Verkehrshindernisse unbefangen zu beseitigen, womit ich
die Ehre gehabt zu haben wohl gespeist zu haben wünsche.
Die Milderungsgrunde
So rächt sich der Journalismus für die Diskretion der
Militärjustiz:
Neue Freie Presse: >Man glaubt, daß als Milderungsgründe an-
genommen w^urden : Die sehr gute militärische Dienstleistung
des Angeklagten und seine von den Psychiatern konstatierte
geistige Minderwertigkeit.«
— 50 —
Ein Fall von Inkompatibilität
Uie Militärstrafprozeßordnung ist schließlich noch erträglich.
Ein Blumenkorso meinetwegen auch. Aber beides zugleich — das
geht nicht! Zu den Plagen der Hofrichter- Affäre hat dieser ent-
setzliche Parallelismus gehört: Tagtäglich, im Morgen- und Abend-
blatt, > wurde gemäß den Bestimmungen der Militärstrafprozeß-
ordnung das geschöpfte Urteil dem Korpskommandanten Q. d. I. von
Versbach-Hadamar vorgelegt <, und in der benachbarten Spalte schon
>bemerkte man u. a. die Gemahlin des Korpskommandanten G. d. I.
Versbach v. Hadamar (rosa Rosen und Tülltuffs)«. Wenn ein Ehe-
paar in die Öffentlichkeit tritt, so muß doch eine gewisse einheit-
liche Grundstimmung vorwalten. Wenigstens in den Tagen so
wichtiger Entscheidungen. Also künftig, wenn ich bitten darf,
entweder die Häuslichkeit Albas ohne Blumenkorso, oder
Pflichten der Saison ohne Todesurteil. Nur kein Durcheinander!
Was man in Amerika von Österreich weiß
Aus dem New York Herald vom 5. Juli 1910:
In the dual Monarchy
Mr. and Mrs. W. K. Vanderbilt and Mr. Winfield Hoyt have
arrived at the Hotel Stern, Marienbad.
Dr. Paul Cohn, of Vienna, has arrlved in Carlsbad for a short
sojoum.
« •
Theaternachrichten
> . . . Deshalb war das laute Händeklatschen, mit dem man
Ehrlich begrüßte, wohl berechtigt. In seiner bescheidenen Art lehnte er
übrigens für sich den Beifall ab . , .<
Trotzdem wiederholt gerufen, zum Schluß nicht enden-
wollender Beifall , . . Tristan gesungen? Nein, Menschheit von
Syphilis befreit.
«
>Aus Nürnberg schreibt man uns: Der Charakterdarsteller L.
.... von der zu Hunderten anwesenden Menge mit stürmischem Bei-
fall empfangen.«
Franz Moor gespielt? Im Gegenteil. Die Operettensängerin M.
bei einer Kahnpartie vom Ertrinken gerettet.
— 51 —
Die zweite Nachricht bedarf eines Kommentars. Der Begriff
»Charakterdarsteller« gewinnt dank der Sozialisierung des Sdiau-
spielerstandes seinen vollen Edelgehalt. In früheren Zeiten hätte
der Kollege, der mit der Kollegin eine Kahnpartie unternahm, sie
ertrinken lassen, in dem trügerischen Glauben, daß er dann allein
für die Hervorrufe des Publikums werde danken können. Heute
wissen die Schauspieler t>ereits, daß sie gerade durch Werke der
Nächstenliebe bei Fresse und Publikum reüssieren. Es wäre be-
dauerlich, wenn die ethische Entwicklung der deutschen Schauspieler
durch die Enthüllungen, die soeben über den Herrn Nissen herein-
gebrochen sind, wieder aufgehalten würde. Es besteht die Gefahr,
daß jetzt dieser um die Hebung der schauspielerischen Ethik so
verdiente Mann unter die Schwelle des Standesbewußtseins hinab-
gestoßen wird. (Siehe die Broschüre > Nissen, Ein Kapitel Bühnen-
genossenschaft« von Karl Vogt.) Man sollte aber den Schau-
spielern, die das redliche Bestret)en haben, sichere Kantonisten zu
werden, ihre Ideale nicht unnötig verteuern. Sie wollen nicht, daß
ihre Kolleginnen Prostitution treiben. Dafür sind sie bereit, sie
erforderlichenfalls vom Ertrinken zu retten. Sie sind edel, hilfreich
und gut. Vergessen wir nie, daß die Arbeit undankbar genug ist.
Was geschiebt zum Beispiel, wenn ein Revolverjoumalist am Ufer
steht und man keine Hand frei hat, um den Hut zu ziehen, und
nicht die Geistesgegenwart besitzt, »Grüß Gott, Doktor!« zu sagen?
Dann war die Rettung umsonst: die Notiz erscheint nicht.
« •
•
So schlecht wie einst
Wenn die Reinhardt-Gesellschaft \X'ien wieder verläßt, ist die
Kritik dümmer geworden, und das Burgtheater muß es büßen.
Nun hat es ja das Burgtheater nicht besser verdient, und wiewohl
seine Zwerge in der Aufmachung des Herrn Reinhardt und zumal
wenn sie als Gäste nach Wien kämen, ins Riesenhafte wüchsen,
so mag man zugeben, daß das Burgtheater heute auch unverdienten
Tadel verdient hat. Denn ein Theater, welches sich von Pompeji bloß
dadurch unterscheidet, daß es keine Trümmer hat, und welches
ausschließlich auf die Versicherung der Fremdenführer angewiesen
ist, hier sei einmal die Wolter gegangen, hat für Einheimische
die Kasse zu schließen. Im allgemeinen Mangel an schauspielerischen
Persönlichkeiten liegt gewiß ein hinreichender Grund, ein einzelnes
Theater zu entschuldigen, obschon kein hinreichender Grund, es
— 52 —
zu besuchen. Aber wenn es ein Theater gibt, dem auch die Nachsicht
versagt werden muß, so ist es das Burgtheater, und keines hat
wie dieses die Verpflichtung, einen ehrenvollen Tod einem
schmählichen Leben vorzuziehen. Iraditionslose Bühnen mögen
sich von unternehmenden Budapestern die Kultur und und sonstige
Surrogate einwirtschaften lassen. Das Burgtheater hätte seinen
Namen zu ändern, wenn es seine Vergangenheit zu überleben
beabsichtigt, es hätte auf seinem Zettel bloß den berühmten
Punkt zu belassen, den man infolge einer Anregung der , Fackel'
voreilig beseitigt hat, und es dürfte dann getrost auch gute Kine-
matographenvorstellungen geben, die immer noch würdiger wären,
als schlechte Klassikervorstellungen. Sicherlich, die Noblesse dieser
Wüste, die es bisher verschmäht hat, sich mit malerischen Aus-
reden zu verleugnen, ist sympathischer als jenes zudringliche Fata
morgana-Spiel, das in jedem Sommer unsere Kamele beglückt.
Aber das Theater ist nicht dazu da, Mittelschülern die Lektüre der
Klassiker zu ersparen. Wenn der Zeit, in der wir leben, schau-
spielerische Persönlichkeiten nicht abzugewinnen sind, so dränge
sich ihr das Burgtheater nicht auf. Sonst gibt es sich einer Unge-
rechtigkeit preis, die einen Theaterdirektor für den Lauf der Welt
verantwortlich macht, und jener kritischen Ungezogenheit, die
einen toten Adler ermuntert, sich an einem lebenden Spatzen ein
Beispiel zu nehmen. Sobald Herr Reinhardt ins Land kommt,
sobald seine neurasthenischen Schlierseer unsem Theatersommer
eröffnen, kann sich die junge Kritik nicht fassen vor lauter Hori-
zonten. So stelle ich mir die erste Unterrichtsstunde vor, wenn die
sexuelle Aufklärung ein obligater Gegenstand sein wird. Peinlich
ist dabei außer der jugendlichen Freude nur, daß sie sich seit so
vielen Jahren wiederholt, und daß die Dümmsten in der Klasse am
lautesten wiehern. Das ewig neue Erlebnis verführt sie, die Mutter
zu beschimpfen, die sie nur geboren hat, ohne ihnen zu sagen,
wie es dabei zugegangen ist. Welcher von den Herren, die heute
in Theaterdingen den Mund voller nehmen, als es ihrem Tem-
perament geziemt, hätte ein Recht, zu leugnen, daß auch er der
alten Burgtheaterkunst seine ganze kleine Geistigkeit verdankt?
Anstatt die neue Burgtheaterkunst an der alten zu messen, sagen
sie, es sei dieselbe, und wagen es, dieser Herrn Reinhardt als
Meister zu empfehlen, dessen schauspielerischer Fond ein vierter
Galerieschall eines Lewinsky-Tones ist und dessen dramaturgisches
53 —
Imperium bloß die allgemeine Tüchtigkeit eines Ellbogennaturells
bedeutet, die sich ebensogut im Bankfach und im Feuilleton aus-
leben könnte. Das Burgtheater aber ist so echtes Theater, daß es
eben in einer Epoche, die keine schauspielerischen Naturen hervor-
bringt, schlechtes Theater sein muß, während der findige Geist,
der keine Vorurteile und keine Erinnerung zu besiegen hat, eine
praktikable Verbindung von Balletschule, Opiumkneipe und
Bildergalerie uns für Theater ausgeben kann. Wenn nun eine
gläubige Kritik das Burgtheater tadeln will, so sollte man doch
verlangen können, daß ihre Besinnung immerhin zur Erkenntnis des
Unterschiedes zwischen einst und jetzt reicht und daß sie vor den
Wundem der Berliner Gastspiele bloß das heutige Burgtheater
verkleinert. Wie mag es uns nun überraschen, daß wir, auf die
hundertjährige Wahrheit gefaßt, das Burgtheater sei nicht mehr
das, was es einst war, die Meinung zu hören bekommen, es sei trotz
dem Berliner Beispiel so schlecht wie einst ! Einer will einer Burg-
theatervorstellung das Schlimmste nachsagen und sagt: »Einen
Abend lang war es möglich, sich einzubilden, wir seien noch in
den Achtzigerjahren des vorigen Säkulums. Diese Vorstellung hätte
ebensogut unter Adolf Wilbrandt stattfinden können.« Es wird
also gottseidank zugegeben, daß in der Zeit der Wolter,
derMeixner, Baumeister und Sonnenthal, der Gabillons und Hart-
raanns, der Mitterwurzer, Krastel und Robert die Sache zur Not
ebenso geglückt wäre. >Was man sah und hörte, war von einer
achtbaren Schablone, von einer respektablen Banalität ... Da
war alles von einer ganz und gar unwichtigen Bravheit«
Mit einem Wort, ganz so wie damals. >Ich habe keinen
einzigen Akzent, keine Gebärde, kein Wort mit aus dem
Theater genommen, davon mein Herz schneller geschlagen hätte,
nichts, wodurch ich in meinem künstlerischen Besitzstand glück-
licher und reicher geworden wäre.« Also ganz wie in der Theaterzeit,
in deren Erinnerung unser Herz schneller schlägt und die, wenn
Theatereindrücke solches vermögen, unsem künstlerischen
Besitzstand geschaffen hat. Bei manchen Leuten, die später Jour-
nalisten wurden, scheint es ihr nicht gelungen zu sein. Es war
eine arme Zeit, die ein reiches Theater hatte. Das Burgtheater
schwindelt sich nicht durch die Zeiten ; es kann nicht hochstapeln.
Aber es sollte auch nicht als Bettler den Verkehr hindern.
— 54 -
Wiener Impressionismus
>Sie war fahl geworden. Ihre Schritte hingen schwer am
Boden.« Plötzlich wurde es anders, sie schien förmlich Flügel
bekommen zu haben. >Er ahnte die Zusammenhänge.« Und >wer hatte
ihr die Flügeln verliehen?« Der so fragte, hieß Ludwig. Aber der
Papagei schrie > Arthur«. Da sagte sie: >Laß mich den Vogel
hinaustragen. Er macht solchen Lärm.« Und sie trug den Vogel
hinaus. Ludwig wurde bleich. »Also Arthur war's, sein einziger
Freund, der Dichter. Ewigen Frühling trug er in sich.« Da machte
Ludwig einen Vorschlag zur Güte. >Ich möchte sehr gern, daß
Arthur heute zum Nachtmahl kommt.« Dann ließ er die beiden
Bruderschaft trinken. Er ging aus dem Zimmer. >,Wer alles ver-
steht, muß alles verzeihen und leiden, leiden', fühlte er.<
Das ist in einem Wiener Tagesblatt gedruckt worden. Gewiß
täte dieser Ludwig gut, den Papagei abzuschaffen. Und ohne
Zweifel ist dieser Arthur einer vom Stamme jener Asra, welche
»jeden früh« sagen, wenn sie dichten.
Einer, der meine Ansichten teilt
In einem ganz guten Artikel befaßt sich Herr Hermann
Bahr mit dem Unterschied zwischen dem schweren Wiener und
dem leichten Londoner Leben, den er an einem Vergleich
>Charing-Croß und Südbahnhof« beweist:
Und nun gehts durchs ungeheure Gedränge der grenzenlosen
Stadt, aber kein Kutscher schreit, kein Schutzmann schreit, ein Zeichen
der Hand ordnet alles und man ist angekommen, ausgestiegen, im
Lift aufgefahren und hat noch kein lautes Wort gehört. Das Leben ist
hier ganz still, und es wird einem unbeschreiblich leicht gemacht. So
kann man seine Kraft, die man bei uns im ewigen Kampf mit brüllenden,
rennenden, stoßenden Trägern, schimpfenden, fluchenden Kutschern und
heiser kreischenden Wachmännern verbraucht, auf andere Dinge sparen.
Ich mußte nicht nach London gehen, um zu schreiben:
Ich halte die glatte Abwicklung der äußeren Lebensnotwendig-
keiten für ein tieferes'Kulturbedürfnis als den Schutz der Karlskirche.
Ich glaube zuversichtlich, daß Karlskirchen nur entstehen können, wenn
wir allen Innern Besitz, alles Gedankenrecht und alle produktiven Kräfte
des Nervenlebens unversehrt erhalten und nicht im Widerstand der
Instrumente verbrauchen lassen.
— 55 —
Herr Bahr: I
Und alle Kraft wird vergeudet .... Seinen Koffer zu bekommen,
eine Straße zu überschreiten, sich eines Kellners zu bemächtigen, dies
alles ist bei uns ein Problem, das jedem einzelnen jeden Tag aufs neue
gestellt wird und das jeder jedesmal wieder für sich aus eigenem zu
lösen hat; so wird man bei uns von den kleinen Aufgaben des täglichen
Lebens zu sehr erschöpft, am für die großen noch etwas übrig zu haben.
Ich:
Die Leute, die uns bedienen, sie sind Sehenswürdigkeiten. Der
Kutscher ist eine Individualität, und ich komme nicht vorwärts. Der
Kellner hat Rasse und läßt mich deshalb auf das Essen warten. Der
Kohlenmann singt vergnügt auf seinem Wagen, und ich friere.
Herr Bahr:
Dort wird man von gutgelaunten Kellnern an seinen Tisch
geführt, bekommt sogleich das, was man bestellt, bekommt wirklich
das, was man bestellt hat, muß nichts zweimal sagen, wird mit den
Augen verstanden und hört kein lautes Wort, niemand schreit oder
stöhnt oder schimpft, niemand rennt in Angst, niemand springt vor Wut.
Ich:
Dafür, daß in einem Wiener Restaurant sechs Speisenträger
mich fragen, ob ich > schon befohlen« habe, und kein einziger gehorcht,
dafür, daß sich der Ruf >Zahlen!< echoartig fortpflanzt, ohne erhört zu
werden, dafür, daß die Verteilung des Trinkgelds nach Alters-, Verdienst-
und Berufskategorien alle anderen Probleme, die mir etwa durch den
Kopf gehen könnten, verdrängt, dafür kann die Schönheit des äußeren
Burgplatzes nur eine geringe Entschädigung bieten*!
Herr Bahr:
In unseren Bahnhöfen, auf der Straße, in Gasthäusern, überall
ist immer mein Eindruck der: Hier scheint etwas ganz Unbekanntes
und worin es bei uns noch allen an aller Übung, aller Erfahrung,
fehlt, eben jetzt zum allerersten Male versucht zu werden.
Ich:
Wird ein neues Restaurant eröffnet, so ists, als ob es sich um
die Erschaffung des ersten Restaurants handelte. Alles steht erwartungs-
voll. Aber das Restaurant geht nicht. Nichts geht hier und niemand.
Herr Bahr:
Und wer es aushält, kann stolz auf seine Nerven sein,
es ist eine Prüfung in Heroismus . . . Während man in London
kein Held sein muß, um im Gasthaus essen zu können. . . .
Oder man versuche doch einmal abends gegen sieben vom Heinrichs-
hof hinüber zur Oper zu gelangen ; es ist selbstmörderisch. Nun
kann ich nicht in Ziffern sagen, um wie viel der Verkehr auf dem
Trafalgar-Square größer ist als hier; ein vierzig- oder fünfzigmal so
großer als auf dem Ring wird er wohl sein. Aber hier fühlt man sich
keinen Augenblick bedrängt oder gehetzt oder in Angst, ein Kind kann
— 56 —
wohlgebofgen hinüber, alte Frauen beschleunigen kaum ihren Schritt.
Und nie habe ich hier rennen sehen, rufen hören; der ewig gleiche
Oang dieses unermeßlichen Verkehrs bleibt immer ungestört. Der Passant
blickt kaum von der Zeitung in seiner Hand auf, so sicher weiß er sich.
Ich:
Eine glatte Abwicklung der äußeren Lebensnotwendigkeiten
würde es einem ermöglichen, zu sich selbst zu kommen. In einer
Stadt, in der die Kutscher >Hüh!« und »Höhl« brüllen müssen, in der
jeder Fußgänger über jedes Fuhrwerk staunt und jedes Fuhrwerk über
jeden Fußgänger, ist es ein persönlicher Erfolg, mit heilen Gliedmaßen
nachhause zu kommen. Im Gewühl der Berliner Friedrichstraße kann
ich ungestörter denken als in den bekannten stillen Gassen der Wiener
Vorstadt, die jene Literaten lieben, welche aus keiner Patrizierfamilie stammen.
Alles das und noch mehr darüber kann Herr Bahr in meinem
Buch »Sprüche und Widersprüche« nachlesen. Der Unterschied
zwischen uns: er will auf der Straße Zeitung lesen, ich will auf der
Straße denken. Ich glaube übrigens gern, daß der Londoner Ver-
kehr ihm so ausgiebige Sicherheit geboten hat, daß er dort sogar
»Sprüche und Widersprüche« lesen konnte. Dagegen war ich nicht
imstande, das Neue Wiener Journal, das seinen Artikel brachte,
auf der Ringstraße zu lesen, wiewohl er mir in der Hauptsache
schon bekannt war. Ich nahm ihn nachhause, freute mich, daß
das Blatt endlich einmal einen Originalbeitrag, wenngleich
immer noch ohne Quellenangabe, hatte, und war ordent-
lich stolz, daß es auch mir endlich gelungen war, von Herrn
Bahr entdeckt zu werden. Aber ich bekam keine Sehnsucht
nach dem Charing-Croß. Auf der Ankunftseite ist gewiß ein Lon-
doner Bahnhof bequemer. Aber die Gerechtigkeit gebietet zuzu-
geben, daß sich zur Abfahrt ein Wienei Bahnhof besser eignet.
Freilich, in eben jenem Buch wird Herr Bahr auch den Grund an-
gegeben finden, warum ich mich trotzdem nicht entschließen kann,
diese Stadt zu verlassen — denn:
Nach Ägypten wär's nicht so weit. Aber bis man zum Süd-
bahnhof kommt 1
Resignation
Es geht das Gerücht, daß j'etzt eine Operette Zulauf findet,
in der die Verse vorkommen:
Nur in Wien am Donaustrand
Sind die Frauen fesch belnand.
— 57 —
Ich will der Sache nicht nachgehen. Ich habe in diesem
eben so viel Schreckliches durchgemacht, daß ich dieses Letzte
rn von mir fernhalten möchte. Ich schließe mich ein und will
tun, als ob ich nichts gehört hätte.
Der Biberpelz
Von Karl Kraus
Mein Wiener Dasein ist jetzt wieder reicher geworden, das
ewige Sichdiewanddeslebensentlangdrücken, damit man auf dem
Trottoir von keinem Trottel angesprochen wird, hat ein Ende, und
jeder Tag bringt neue Abenteuer. Durch all die Jahre keine Gesell-
schaft, kein Theater, kein Blumenkorso — wie hält man das nur aus?
Die Zufuhr der wertvollsten Eindrücke abgeschnitten; und wer
weiß, wie lange der innere Proviant gereicht hätte. Selbst die
Katastrophen der Saison, Komet und Jagdausstellung, schienen an
diesem Zustand nichts ändern zu können. Gewiß, ich wills nicht
verhehlen, ich erwartete mir einige Anregung vom Weltuntergang.
Wenns aber wieder eine Niete wäre? So lebt man dahin auf dem
schmalen Pfad, der von immer demselben Schreibtisch in
immer dasselbe Lokal führt, wo man immer dieselt)en Speisen ißt
und immer dieselben Menschen meidet. Froher wird man nicht dabei.
Die Welt rings ist bunt, und man möchte sich doch wenigstens
an ihr reiben, um zu sehen, ob die Farbe heruntergeht. Man will
nicht auf so viel verzichten, ohne zu erfahren, wie wenig man
verliert. Nur einmal noch an der vollbesetzten Tafel sitzen, alle
Rülpse der Lebensfreude wieder hören, die Schweißhand der
Nächstenliebe drücken — ich träumte davon, und eine gütige Fee,
wahrscheinlich jene, die den Operettenkomponisten die Lieder an
der Wiege singt, hat mich erhört. Ich bin mitten drin, die Erde
hat mich wieder — mein Pelz ist ' mir gestohlen worden !
Nichts hätte mich den Menschen näher bringen können als
der Diebstahl meines Pelzes. Ich müßte jetzt schon mit den
Mitteln eines Caracalla arbeiten, wenn ich mich ihres Umgangs
erwehren wollte. Jetzt gibts kein Zurück mehr in die Lebensflucht,
jetzt heißt es in den sauren Apfel beißen und ein Menschenfreund
sein. Ich habe mich lange genug verhaßt gemacht, aber nun ver-
geben sie mir, was sie an mir gesündigt haben. Sie vergeben mir,
Aus dem .Simplicissimus'.
— 58 —
sie lieben mich, sie bedauern mich, sie bewundern mich, denn es
läßt sich nicht mehr verbergen, alles Leugnen hilft nichts — mein
Pelz ist mir gestohlen worden ! Und in einem unbewachten Augen-
blick hatte mich da die Geselligkeit beim Wickel. Ich lebte still
und harmlos, ich war ein Privatmann, denn ich übte seit
vielen Jahren eine literarische Tätigkeit aus. Ich hatte nicht
gewußt, daß ich vor allem einen Pelz besaß. Ich schrieb
Bücher, aber die Leute verstanden nur den Pelz. Ich brachte
mich selbst zum Opfer, und die Leute meinten den Pelz. Als
ich ihn nicht mehr hatte, kam die allgemeine Anerkennung.
Ich habe durch den Verlust des Pelzes die Aufmerksamkeit
des Publikums gerechtfertigt, die ich durch den Besitz des Pelzes
erregt hatte. Im Kaffeehaus, wo es geschah, war die erste Wirkung
des entdeckten Diebstahls ein chaotisches Durcheinander, in welchem
einige bestürzte Kaffeehausgäste zu zahlen vergaßen und in dessen
Mittelpunkt ich so plötzlich geraten war, daß ich mir erst auf
dem Umweg der Überlegung darüber klar werden konnte, daß
ich den Pelz bestimmt nicht gestohlen hatte. Man nahm eine
Haltung an, als wollte man mir die Kleider, die ich noch
hatte, vom Leibe reißen, und von allen Seiten brachen Vorwürfe
wegen meiner Sorglosigkeit über mich herein. Auf diese Art schien
sich die Empörung über den Dieb, der sich den Folgen seiner Hand-
lungsweise entzogen hatte, Luft zu machen, denn mich hatte man,
an mich konnte man sich halten, und wenn ich mich, erschöpft
von der Untersuchung des Falles, zurücklehnte, in der rechten
geistigen Verfassung, um endlich eine Zeitung zu lesen, so ging
der Chor der Nebenmenschen an mir vorüber und rief: >Nein, so
was!« Ich spürte den Stachel des Vorwurfs. Zu spät sah ich ein,
daß man, wenn man einen Pelz hat, auch gewisse Pflichten gegen
die Welt hat, und es blieb mir nichts übrig, als jetzt jene letzte
Pflicht gegen die Welt zu erfüllen, die man noch hat, wenn man
keinen Pelz mehr hat. Die Pflicht, Rede und Antwort zu stehen.
Denn wenn es in solchen Fällen schon nicht mehr möglich ist,
zu erfahren, wo der Pelz hingekommen ist, so muß man dem Publi-
kum und der Polizei wenigstens darüber Auskunft geben, wo er
hergekommen ist, wieviel er gekostet hat, wieviel er heute wert ist,
ob der Kragen lange oder kurze Haare hatte, und ob die Schlinge aus
Tuch oder aus Leder war. Die Polizei fragt außerdem noch, ob man
einen Verdacht hat. Ein Verdacht wärmt, wenn man keinen Pelz
— 59 —
it, und ein Verdacht, den man hat, ist nach der Ansicht
der Polizei immer eine hinreichende Entschädigung für eine Ge-
wißheit, die einem abhanden gekommen ist und die sie einem nie
wieder verschaffen wird. Wozu diese Einmischung durch eine Amts-
handlung? Ich hatte immer geglaubt, daß sich die Polizei um die
öffentliche Sittlichkeit kümmere und nicht um Angelegenheiten
des Privatlebens, wie einen gestohlenen Pelz. Aber diese
Neugierde! Kaum war mir der Pelz gestohlen worden,
waren auch schon drei Vertreter der Polizei im Lokal, dräng-
ten sich durch die Wucherer, die meinen Tisch umstanden und
ihrer Entrüstung über den Diebstahl Ausdruck gaben, und fragten
mich, ob ich einen Verdacht habe. Nun war auch die Nachbar-
schaft auf den Beinen, denn wie ein Lauffeuer hatte sich in der
Großstadt das Gerücht verbreitet, und zahlreiche Passanten, unter
denen man u. a. Persönlichkeiten bemerkte, die schon von ihrer
Anwesenheit bei Premieren und Erdbeben bekannt sind, wohnten
der Amtshandlung bei. So taktvoll und würdig sich der Pelzdiebstahl
vollzogen hatte, in so marktschreierischer Weise äußerte sich das Mit-
gefühl des Publikums. Denn während die Pelzdiebe kein Aufsehen
lieben, legen die Bankdiebe den größten Wert darauf, überall
bemerkt und in den Zeitungen genannt zu werden. Hier aber hatten
sie sich einmal verrechnet, denn die Zeitungen würden auch von
einem Kometen keine Notiz nehmen, wenn sein Schweif meinen Kopf
berührt hätte. Aus demselben Grunde mußte ich befürchten, daß
sich der Chef des Sicherheitsbureaus dieser Sache nicht so
energisch annehmen werde, wie er es in Fällen gewohnt ist, wo
die Aussicht auf publizistische Unterstützung ihn zu einer fieber-
haften Tätigkeit spornt Natürlich läßt sich das echte Interesse durch
solche Bedenken nicht abweisen. Während mich die Vertreter der
Behörde um Alter, Beschäftigung und Vorstrafen befragten, sprachen
einige Gäste immer wieder ihr Bedauern aus, daß sie gerade
nicht hingesehen hätten, als der Pelz gestohlen wurde, und ver-
traten die Ansicht, daß der Dieb sich einen Augenblick gewählt
haben müsse, wo er sich nicht beobachtet fühlte. Das Per-
sonal wurde mit Fragen bestürmt, aber der Zahlmarkör, der
Zuträger, der Pikkolo und der Feuerbursch — sie alle hatten bloß den
einen Wunsch: »Wann i nur amal so einen derwischen könnt,
den drschlaget i!< Ich bat, in Gegenwart der Polizeivertreter sich
nicht zu gefährlichen Drohungen hinreißen zu lassen, richtete
— 60 —
noch an die Detektives das Ersuchen, dafür zu «orgen, daß ich
nicht vorgeladen werde, weil ich ja doch nichts anderes aussagen
könnte, als daß ich keinen Pelz und keinen Verdacht habe, und
entzog mich den Ovationen der Menge, indem ich meinen Hut
nahm und mich zum Ausgang wandte, an der Kassierin vorbei,
welche die Hände rang. Draußen grüßten mich die Fiaker, die sich von
dem Ereignis des Tages irgendwie einen besonderen Vorteil erhofften.
Einer der Polizisten aber holte mich ein und machte mir den Vor-
schlag, mit ihm zu gehen und das Verbrecheralbum durchzusehen.
Ich lehnte diesen Vorschlag ab, weil mir jede Vergleichsmöglich-
keit fehle, solange ich den Dieb meines Pelzes nicht gesehen
hätte. Die Polizei solle ihn erst zur Stelle schaffen, dann wäre ich
gerne bereit, ihn nach der Photographie zu agnoszieren. Einer
der Kellner aber behauptete plötzlich, einen Verdacht zu haben,
und schien entschlossen, mitzugehen. Diese Recherche hat, wie ich
später erfuhr, meiner Sache nicht wesentlich genützt, dafür aber
anderweitige erfreuliche Resultate ergeben. Der Kellner soll nämlich
einige frühere Stammgäste des Kaffeehauses erkannt haben, und
noch nie zuvor, heißt es, sei in einer Polizeistube eine so
freudige Stimmung des Wiedersehens laut geworden. Schließlich
mußte man, da diese Rufe »Jessas, der Herr von Kohn!« und >Nein,
der Herr von Meier !< nicht aufhören wollten, dem braven Burschen
das Bilderbuch aus der Hand reißen. Am nächsten Tag erhielt ich
eine Vorladung, der ich aber nicht Folge leistete. Immer hatte
ich es bisher streng zu vermeiden gewußt, daß mir
etwas gestohlen wurde; denn nichts fürchte ich mehr als
Unannehmlichkeiten mit der Polizei. Man hat mir auch tat-
sächlich nie das Geringste nachweisen können. Serfite ich jetzt
wegen des einen Fehltrittes mir eine so peinliche Untersuchung
auf den Hals laden? Nimmermehr! Ich stellte mich der Polizei
nicht ! Wenigstens war ich entschlossen, es nicht eher zu tun, als bis
sie den Pelz hätte. Ich hoffte übrigens, daß sie den Fall ver-
tuschen und mich ruhig meiner gewohnten Beschäftigung nach-
gehen lassen werde. Als ich somit wieder ins Kaffeehaus kam
und meine Leseecke aufsuchen wollte, standen einige Herren davor,
die sich sonst nur für Trabrennen interessierten, aber diesmal eine
Wette abgeschlossen hatten, ob ich den Pelz bekommen würde
oder nicht. Die der Meinung waren, daß ich ihn bekommen
werde, sagten: »Nicht wird er ihn bekommen !«, während die
— 61 —
andern, die der Meinung waren, daß ich ihn nicht bekommen
werde, ein über das anderemal riefen: >Ja wird er ihn bekommen!«
So vermochte ich die beiden Gruppen zu unterscheiden, ohne
doch im Meritorischen eine Entscheidung treffen zu können. Ich setzte
mich nieder und hörte aus dem Billardzimmer Rufe wie: »Echter
Biber, sag ich Ihnen!« »Und ich sag Ihnen, Nerz!€, worauf ein
dritter mit einem derben »Astrachan, Ihnen gesagt !«, in die
Debatte fuhr. Ich ließ fragen, ob es die Herren störe, wenn
ich Zeitungen lese. Sie verneinten und gingen auf ein ganz
anderes Thema über, indem nämlich einer behauptete, sich noch
an den Fall zu erinnern, wie dem alten Low ein Pelz um tausend,
sage tausend Gulden gestohlen wurde; und da ein anderer die
Frage einwarf: Welchem Low? und die zurechtweisende Antwort
bekam: »No, der später in Konkurs gegangen ist!«, fühlte ich, daß
die Aufmerksamkeit von mir abgelenkt sei, und war dessen froh. Ich
nahm jene Zeitung zur Hand, die seit Jahren das Publikum da-
durch zu interessieren weiß, daß sie meinen Namen nicht nennt,
und suchte nach einer Notiz, in der davon die Rede war, daß
einem Privaten pin Pelz gestohlen wurde und daß einer
unserer Mitarbeiter Gelegenheit hatte, mit dem in den weitesten
Kreisen bekannten Dieb zu sprechen. Da trat eine fremde Dame
auf mich zu, tadelte mich wegen meiner Unachtsamkeit und fragte
mich, ob ich noch mit der Familie T. verkehre. Ich antwortete,
daß ich mit gar niemand verkehre, und zahlte meine Zeche.
Draußen grüßten mich die Fiaker, wiesen verheißend auf
ihre Wagen und riefen etwas wie >Verkühlns Ihna nur net« hinter
mir. Noch habe ich aber nicht erzählt, wie sich am Tage nach
der Tat das Wiedersehen mit meiner Bedienerin gestaltet hat.
Sie war eigentlich schuld, denn sie hatte mir, weil wir gerade im
strengsten Mai einen Schneefall gehabt hatten, zugeredet, den Pelz
anzuziehen, der Winters über beim Kürschner in Aufbewahrung
gelegen war. Ich hatte mich gesträubt, denn ein unbestimmtes
Gefühl sagte mir, daß bei Neuschnee die Pelzdiebe aus der
Erde schießen, während die Schneeschaufler nichts zu tun
bekommen, weil die Kommune die Konkurrenz des Tauwetters be-
günstigt. Aber wiewohl dieses schon eingetreten war, setzte die Frau
ihren Willen durch, und richtig, eine halbe Stunde später war der
Pelz gestohlen. Nun ist mir nichts peinlicher als lange Aus-
einandersetzungen über Dinge, die mit der Wirtschaft zusammen-
— 62
hängen, und so hatte ich, nachdem das Unglück geschehen war,
nur die eine Sorge: Wie sage ichs meiner Bedienerin? Es gab
eine lebhafte Szene und ich bekam allerlei zu hören. Denn das Herz
der Frauen hängt an irdischem Tand und sie können sich auch von
fremdem Besitz nur schwer trennen, während ich mich erleichtert
fühlte, als ich bei Tauwetter ohne Pelz das Kaffeehaus verlassen konnte.
Überhaupt hatte mich der Verlust des Pelzes kalt gelassen, und was
mir naheging, war nur der Verlust meiner Ruhe. Daß ich im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, daß ich in Wien
über Nacht berühmt war und daß die Leute mit Fingern auf mich
zeigten: »Dort geht er<, >Kennst ihn?«, »Aber ja, Biber«,
>Er hat ihn effektiv nicht gekriegt< — das härmte mich, das fraß
an mir wie Motten an einem Pelz, der einem nicht gestohlen
wurde. Ich beschloß, die Straße zu meiden, bis ich das Gras über die
Sache wachsen hörte. Aber als ich nach einer Woche mich behutsam
in das Stammlokal wagte und den Weg von hinten nahm, da trat
mir die Toilettefrau entgegen und sagte: »Mir hats furchtbar leid
getan !< Als ich hineinkam, waren aller Augen auf mich und
meinen Überrock gerichtet und als ich diesen an den Kleiderstock
hängte, riefs aus einem Winkel : »Aber jetzt heißt's doppelt vorsichtig
sein!« Und aus dem andern Winkel: »Ja, durch Schaden wird man
klug«. Als ein Kellner dazwischentrat und sagte: »Aber der Herr
gibt ja so wie so acht«, rief eine Stimme aus dem Spielzimmer:
»A gebrenntes Kind fürchtet das Feuer!« Der Kellner sagte:
»Wann i nur amal so einen derwischen könnt, den — «. Ich zahlte
sofort und nahm mir vor, das Lokal nur mehr des Nachts zu
besuchen, wenn ein anderes Publikum da wäre. Kaum hatte
ich unter veränderten Umständen Platz genommen, so drehte sich
ein englischer Trainer zu mir herum, schob seinen Sessel vor und
begann, die Arme auf die Lehne gestützt: »Einmal mir ist gestohlen
ein Pferdedecke...« Ich sah, daß mein Erlebnis über das Mit-
teilungsbedürfnis der Wiener Bevölkerung hinaus dem internationalen
Interesse entgegenkam. Ich fürchtete, daß hier die Hebung des
Fremdenverkehrs ansetzen könnte. Ich schloß mich ein, und ich
zeigte mich nicht eher, als bis mir die heiße Jahreszeit jede Ge-
dankenverbindung mit einem Pelz auszuschließen schien. Da aber
mußte ich es erleben, daß ein Mohr auf mich zutrat, der so perfekt
deutsch sprach, daß er mich fragen konnte, ob ich damals meinen
Pelz wiederbekommen hätte. Ich suchte ein anderes Lokal auf.
— 63 —
essen Besitzer mich aber nicht nur durch seinen Gruß belästigte,
tndem auch mit den Worten ansprach: >Bei uns wird Ihnen
las nicht passieren !<
Ich erkannte, daß es kein Zurück mehr gab. Denn
hier war ein Wiener Problem geh>oren. Hier war ein-
mal eine Tatsache, die einen so plausiblen Reiz, eine so
unmittelbare Popularität hatte, daß keine Rücksicht auf den
Menschen, der von ihr betroffen wurde, die Leute fernhalten konnte.
Hier war eine Solidarität hergestellt durch die in ihrer Einfachheit
verblüffende lirkenntnis: daß das jedem von uns passieren kann!
Ich war in den Ring einer Gemeinsamkeit gezogen, die mir den
Pelz bewachte, der mir gestohlen war, und die mir mit ihren
zudringlichen Blicken das Maß für einen neuen zu nehmen schien.
Jetzt mußte sich nur noch die Steuerbehörde für den Fall interessieren,
die ja bald erhoben haben konnte, daß ich in den Verhältnissen
bin, einen Pelz besessen zu haben. Ich begann den Dieb
zu beneiden. Nicht weil er den Pelz hatte, sondern weil man
ihm nicht draufgekommen war; weil er auf freiem Fuße leben
konnte, während es hinter mir »Aufhalten!« schrie und ich wie ein
erwischter Bestohlener von der Dummheit eskortiert wurde . . .
Ich beschloß, mich aus dem Privatleben zurückzuziehen. Mir
war eine Hoffnung geblieben. Daß es mir durch die Heraus-
gabe eines neuen Buches gelingen werde, mich den Wienern
in Vergessenheit zu bringen.
Selbstanzeige
In der nächsten Zeit wird >Die chinesische
Mauer« im Verlage Albert Langen, München, er-
scheinen. Das Buch wird 464 Seiten stark sein und
die folgenden Arbeiten enthalten:
Prozeß Veith
Der Sündenpfuhl
Die Hundsgrotte
Das Ehrenkreuz
Maximilian Harden Eine
Erledigung
Die Forum-Szene
Die deutsche Schmach
Der eiserne Besen
Messina
Politik
Der Hanswurst
Ö. G. Z. B. D. G.
Fahrende Sänger
Die Musik- und Theater-
ausstellung
Das Erdbeben
— 64 —
Girardi
Grimassen über Kultur
und Bühne
Menschenwürde
Der Festzug
Lob der verkehrten Le-
bensweise
Jubel und Jammer
Die Malerischen
Von den Sehenswürdig-
keiten
Peter Altenberg
Selbstbespiegelung
Der Fortschritt
Reformen
Über die Jungfrauschaft
(Von Shakespeare)
Die weiße Kultur oder:
Warum in die Ferne
schweifen?
Die Memoiren der Odilon
Die Schuldigkeit
Weihnacht
Schrecken der Unsterb-
lichkeit
Von den Gesichtern
Bekannte aus dem Va-
riete
Der Biberpelz
Die Welt der Plakate
Die Entdeckung des Nord-
pols
Die Mütter
Die chinesische Mauer
Die Umarbeitung, Zusammenstellung und Korrektur
der Aufsätze dauerte von August 1909 bis Juni 1910.
Für Leser, deren stoffliches Interesse schon durch
die Lektüre der Aufsätze in der ,Fackel' befriedigt
wurde, ist diese Arbeit nicht bestimmt. Sie würden
keinen Unterschied merken.
Die »Chinesische Mauer« ist — nach »Sittlichkeit
und Kriminalität« und »Sprüche und Widersprüche« —
der dritte Band der Ausgewählten Schriften. Die oft
verschobene Herausgabe von »Kultur und Presse« dürfte
zu Beginn des nächsten Jahres erfolgen. Vorläufig
werden zwei Bände diesen Titel führen. Ihnen folgen
— soweit die Buchmöglichkeit der Publikationen von
elf Jahren reicht — ein Band polemischer Aufsätze, zwei
Bände Glossen und ein Aphorismenbuch. Hoffenthch
ermöglicht mir die wachsende Verständnislosigkeit
des Publikums, mich bald in Ruhe und ungestört von
periodischer Verpflichtung, der Arbeit an diesen Büchern
widmen zu können.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3.
i
IM ERSCHEINEN:
<ARL KRAVS
3IE CHINESI-
SCHE MAVER
ALBERT LANGEN, München
FTET M 6.-, IN LEINEN GE^UNDEV M 7.50, IN HALBFRANZ LIEBHABER-
D M 10.-. BES- ^ DER VERLAG ALBERT LANGEN,
FM KAULBACHS :....„.„ ,. . ._ JEDE BUCHHANDLUNG ENTGEGEN
DER STURM
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE
HERAUSGEGEBEN von HERWARTH WALDBN
'™''rnÄiW%"'Ä - Jahresbezug: K 5.- Halbiahrsbezug: K 2.5
Vierteljahrsbezug: K 1.25
Probenummern kostenlos darch den Verlag D£R STÜRM, Halen^^^^^^
Katharinenstraße 5. - DER STURM hegt m den Tabak -Trafiken auf.
In Nr. 12 waren enthalten:
eine Zeichnung von Oskar Kokoschka: Karl Kraus
ein Essay von Else Lasker-Schüler : Karl Kraus
Ä _j.4.^«.-^«« verlangen vor Drucklegung ihrer Werke im eiget
A.mjO1^0XI sten Interesse die Konditionen des alten bewahrte
'*^****^*^ Buchverlags sub C. M^ 410 bei Haasensteli
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versendet Zeitungsausschnitte über jedes gewünschte Thema.Mati verlange Prospekl
Herausgeber KARL KRAUS ,„^„„„„__
erscheint in zwangloser Folge BEZUOSBEDINÖUNaEN :
Für Österreich-Ungarn: 18 Nummern, portofrei K 4.50
36 „ r, Mk 4-
Für das deutsche Reich: 18 „ » aik.^.
36 r " .....; 7.25
Da» Abonnament erstreckt sich nicht aaf einen Zeitraum «""-<'"■" »tTf «Ine bestimmte ÄBiahl von Huwmem
EInzBlheft in Österreich 30 Heller, in Deulschland 30 Pfennig
Doppelnummer in Österreicii 60 Heller, in Deutschland 50 Pfennig
Zu beziehen durch sämtliche Buchhandlungen
Berliner Bureau: Halensee, Katharinenstraße 5
INHALT der vorigen Poppelnummer 303/304, 31. Mai 1910:
KARL KRAUS: Glossen / FRANZ GRILLPARZER: Dem
internationalen Preßkongreß / OTTO STOESSL: Dieter
und der Beamtensohn / GRETE WOLF: Der Ejwartungs-
lose / BERTHOLD VIERTEL: Pferderennen / Meme Wiener
Vorlesung / KARL KRAUS : Philosophen
u .w.. ..^A ..o..«(«rnr«iirViPr Rpdikietir Ktfl Kfaus
.\s. 307/308 22. SEPTEMBER 1910 XII. JAHR
FACKEL
HERAUSGEBER
KARL KRAUS
vHALT:
THOLD VIERTEL: Sonntag Abend in der Großs M
: ^ '^" ^"^UEL LI '^'" ^ des
. .,.,_.US: De., : i
AUS: Der Traum ein \
NACHDRUCK VERBOTEN
PREIS DER DOPPELNUMMER 60 HELLER
ERSCHEINT IN ZWANGLOSER FOLGE
,DIE FACKE BERLIN
W. RE ZOLI SE 3 :N Nr. 187
BE.vx,.x,^i. ^L,REAU: ^ KATH.-^. ,. TRASSE 5
IN VORBEREITUNG:
Verlag ALBERT LANGEN
KARL KRAUS:
Heine und die Folgen
(Dieser Essay wurde vom Autor am 3. Mai und am 3. Juni
in Wien zur Vorlesung gebracht.)
Peter Altenberg,
der viele Monate mit einem schweren Nervenleiden ge-
kämpft hat, ist jetzt wieder genesen. Die nächsten Freunde
des Dichters haben ihm die Kosten seiner Krankheit
nach Möglichkeit zu erleichtern gesucht, aber die noch
lange Zeit notwendige Pflege erfordert bedeutend mehr
Mittel, als im kleinen Kreise zusammenkommen können. ^
Sie bitten deshalb, daß auch Andere mit dazu helfen
mögen, dem Dichter die wiedergewonnene Gesundheit zu
erhalten und das weitere sorgenvolle Leben zu- erleichtern.
Die Spenden wolle man an Peter Altenberg-, Wien,
I. Wallnerstraße 17 gelangen lassen. Die Zeitschrift
Neue Rundschau, Berlin, wird darüber öffentlich quittieren
Diese Bitte wird befürwortet von:
Richard DehmeljH^mburg-Blankenese; Alexander Girard1,Wi*
Ludwig Thoma, Rottach am Tegernsee; Hermann Hesse, Galt n-
.hofen, Schweiz; Alfred Kerr, Berlin-Grunewald; Gabriele Reuter,
Aeschi bei Bern; Hugo v. Hofmannsthal, RIcliard Schaulial,
Egon Frieden, Hermann Bahfj I^rof. Josef Hof mann, Wien;
Prof. C. O. Czesclilta, Hamburg; Prof.. Emil Orlik, Dr. Wiltielm
Sternberg, Max Reinhardt, Verleger S. Fischer, Berlin; e^^
DIE FACKEL
Nr. 307 '308 22. SEPTEMBER 1910 XILJAHR
^[Rhythmus eines österreichischen Sommers
Von Karl Kraus
Der Neuen Freien Presse war es gelungen, zum Kaiserjubiläum
sich der Mitarbeit der ältesten und angesehensten Persönlichkeiten
zu versichern, und zwar des Grafen Paar, des Freiherm von Bolfras,
des Freiherm von Czedik und des alten Homer. Gegen die Mit-
arbeit des letztgenannten Herrn, die anonym geblieben ist, wäre
nicht viel einzuwenden. Zuweilen mauschelt selbst der alte Homer,
und daß ihm in diesen dekrepiden Zeitläuften nichts übrig blieb,
als in der Reportage unterzuschlüpfen, ist weniger sträflich als
bedauernswert. Daß er mitgetan hat, wird er nicht gut leugnen
können. Das Epos, das er gedrahtet hat, enthält mehr Epitheta
ornantia, als er in seinen besten Tagen herzugeben imstande war,
das homerische Qeläch'cr, das sich im Ischler Telegraphenamt
erhob, hätte ihn beinahe der Nachwelt verraten und es fehlte nicht
viel, so hätte sich in den Kreisen der Ischler Kurgäste das Gerücht
verbreitet, die Ilias sei vom alten Hirsch.
Er fühlte sich nämlich außerstande, bei so festlicher Gelegenheit
Isc|;il Ischlsein zu lassen, sondern depeschierte, es sei die bergversunkene
Traunstadt, es sei die waldrauschende, bergummauerte Salzstadt, und
er ließ sichÄ)gar dazu hinreißen, es baumverborgen und erdfern zu
nennen. An solchem Tage aber gilt es, alles, was Menschen-
händen erreichbar ist, mit schmückenden Beiwörtern zu versehen,
damit die Hofequipagen ein Vergnügen haben, wenn sie durch
die menschenbevölkerten Gassen jagen, vorbei an der erwartungs-
frohen, schaulustigen Menge, an den Häusern, die noch die Zeiten
der Postkutsche gesehen haben, die breitmassigen Wagen mit den
dickspeichigen Rädern, dem nimmermüden Postillon, der des
erreichten Wegzieles froh . . . (Hier erlaubte sich der Telegraphen-
beamte die Frage, ob es nicht sicherer wäre, so wichtige Mit-
— 2
teilungen als dringendes Telegramm aufzugeben.) Das Hotel
Elisabeth (der alte Homer war der Anregung gefolgt), das Hotel
Elisabeth also, vordem Hotel Talachini nach einem unternehmungs-
lustigen italienischen Baumeister benannt, habe ein Stiegenhaus,
mit gebälkbelasteten Säulen und dicke Teppiche schonen den
wegmüden Fuß. Das Empfangszimmer mündet in einen Balkon,
der über die Front des Gebäudes vorspringt. (Hier erlaubte sich
der Telegraphenbeamte die Frage, warum der beliebte Alkoven, der
doch auch hinter die Hinterwand zurückreiche, nicht berück-
sichtigt werde. Der alte Homer verwies darauf, daß ihn der
wirtschaftskundige Benedikt zu gehaltvoller Kürze ermahnt habe.)
Hier also standen im August des Jahres 1864 zwei hochragende
Männer in stilles Betrachten versunken . . . Die Welt der Berge
und Wälder ist heute dieselbe wie damals, das Feld- und Wiesen-
gezirpe traulich und ländlich gestimmt wie einst, nur die Zeit und
die Menschen, die in und mit ihr leben, sind andere geworden.
(Hier erlaubte sich der Telegraphenbeamte die Erinnerung, daß
wir seit damals ein Telephon bekommen haben, das sich für die
Aufnahme besonders aktueller Mitteilungen besser empfehle als
der veraltete Telegraph. Der alte Homer ging sogleich in
die Zelle und >blies«, dem Aeolus gleich, das nun Folgende dem
Redakteur des lokalen Teils 'Aߣ>//]c ins Ohr) Große Toiletten
werden aus mächtigen Koffern hervorgeholt . . . Große Rührigkeit
herrscht in den fahnenbelebten Häusern und man sieht überall
kugelrunde Lampions mit Sinnsprüchen und Initialen, die erst
nach Einbruch der Dunkelheit die Rätsel ihrer Ziffern und Buch-
staben enthüllen werden. Außerdem gibt es blumenumrankte
Vasen, in denen schlanke Kerzen vor dem Sonnenlicht sich scheu
verbergen, und Reisiggirlanden, die schlangengleich entlang der
Mauer sich winden, und auf den himmelnächsten Dächern die
Jahreszahlen 1830 und 1910. Im Kurpark spielt die Musik soeben
ein zu Gemüt gehendes Lied und der Kapellmeister lüftet lächelnd
seinen Zylinder. Womit er für den freundlich zustimmenden
Applaus danken will. Durch die lauschigen bewipfelten Gänge
flutet die feiertäglich gekleidete Menge. (Dös san ja Reim ! rief da
eine Stimme in Linz dazwischen. Herr Kontrollor, Herr Kontrollor,
wir sind unterbrochen, hier Neie Press . . . Wer dort? . . .
Was heißt wer? Der Homer!) Die blumenleuchtenden Anlagen werden
durch niedliche Pyramiden, . die bunte Wipfel tragen, eingerahmt,
3 —
das geräumige Vestibül zu einem Blumenhain umgewandelt, und
in die langgestreckten Säle entladen bauchige Hofmöbelvragen,
die diskret hinter dem Gebäude stehen, ihre Schätze ... Zu Füßen
des Kaisers liegt das sonnenschläfrige Tal mit den Erinnerungen
an die blumenselige Zeit seiner Jugend. Über die farbenver-
blassenden Wälder geht der erste mahnende Gruß der Dämmerung,
der graue Gewaltige an der steirischen Grenze hüllt sich in Nebel-
schwaden . . . Der Mond geht langsam auf und vorsichtig schleicht er
zwischen den blassen Lichtern der Sterne, als fürchte er sich, seiner
Rivalin, der Sonne zu begegnen . . . Die Sterne verstecken sich diskret
hinter Wolkenwänden, um die Illumination nicht zu stören . . .
Über die fernen Berge tanzen glitzernde Strahlenbündel in das
lichtrauschige Tal . . . Vor wenigen Jahren noch stand in Be-
trachtung eines ähnlichen Feuerwerkes versunken neben ihm König
Eduard von England. So schreitet die Zeit unbekümmert um das
Wollen und Hoffen des Einzelnen unrastvoll weiter und läßt sich
keine Sekunde entrinnen. (Sprechen Sie weiter? ruft die Zentrale.
Was unterbrechen Sie mich? antwortet Homer.) Ein staubbedecktes
Automobil rast über die Elisabethbrücke. (»Rast, Herr KoUega,
oder reist ?< >Rast, rast.« »Also reist, ich versteh . . .«)
Annunziata ... so groß ist die Menge der Gepäcksstücke, der
Koffer, Hutschachteln und Körbe . . . Und wieder ein Automobil . . .
Und noch ein Automobil . . . Hotelier Seeauer . . . Ansprache . . .
begab sich . . . fröhliche Kindergesichter . . . zwanglos . . . be-
gaben sich . . . Ischler Feuerwehr mit Stricken die Pfarrgasse ab-
sperren mußte, um die Passage freizuhalten (»Um die Bagage
fernzuhalten ?< »Aber nein — Fräulein, es muß eine Störung sein.«)
Eine Märchenpracht sondergleichen, eine Verschwendung an Luxus
und Herrlichkeit, ein bedrückender, den Atem beklemmender
Duft . . . Eisenbahnwaggons mit Blumen sind aus Wien nach Ischl
dirigiert worden . . . Geblendet von der Pracht und dem Glänze . . .
wird von seinem Platze aus durch die Fenster des Kursaales auf den
bewaldeten Abhang der Hohen Schrott blicken (»Fräulein, man
versteht schlecht I<) ... Im Theater war alles, was Ischl an glanzvollen
Namen hat, versammelt . . . Man bemerkte Dr. Emil Frischauer . . .
Salo Kohn . . . Königin Nacht senkt ihre Schwingen herab ... In
der Pfarrgasse wogt die Menge. (»Was heißt das? Wogt sie oder
wogt sie nicht weiterzugehen wegen der Stricke?« »Sie wogt.«)
Tosende Rufe (»Was, so viel?« »Nein tosend« »Neuntausend,
_ 4 —
ich versteh . . .«) Fefttagsschmuck angelegt ... die Villa der
Frau Dr. Löwy . . . Man müßte die ganze Kurliste abschreiben,
um die Namen . . . Die ganze Stadt glich einem Flammen-
meer aus Lampen und Lichtern (»Lumpen und Gelichter,
ich versteh . . .«) Kronen und Ziffern (> Feuilleton von Zifferer
bringen wir darüber nicht. Er hat doch erst über Nietzsche
geschrieben, haben Sie gelesen? Gediegen, was?) Durch die Hohe
Schrott waren Flammenbündel gezogen, die einen Kronreif dar-
stellten . . . Tosende Glühkörper. (»Was, eine Explosion? Wer ist
verunglückt?« »Aber ich sag doch tausende.< »Schrecklich !<...)
Ein neues Lebensjahr hat für den Monarchen begonnen
und die Zeit schreitet weiter und er mit ihr ...
(Das Amt wird gesperrt. Fortsetzung am nächsten Morgen.)
Ischl ist eine Stadt der Frühaufsteher. Früh zu Bett und früh
heraus, lautet die Kurregel. Heute fällt es so manchem schwer.
Während sonst (der Telephondraht beginnt sich zu winden) Papa
und Mama die schwärmerische Tochter schon um 9 Uhr abends
zum Schlafengehen rufen, ist es gestern Mitternacht geworden, ehe
all die Kleinen und die Großen ... Bei der Trenkelbachschmiede,
unweit der Kaiservilla, dort, wo die Ischl über den Weg stolpernd,
in ihrem Machtbereiche eine kleine, sanft gebaute Insel dulden
muß . . . Die Pfarrkirche ist ein Werk der großen Kaiserin
Maria Theresia. (»Hailoh, hailoh! Ist die Information verläßlich?«)
Die Kaiserin ließ sie Ende der Sechzigerjahre des achtzehnten
Jahrhunderts erbauen (. . . »Fürs Abendblatt, Abeles, selbst-
verständlich!«) . . . begibt sich . . . Während die Fürstin
Elisabeth einen mächtigen Strauß Rosen und Nelken . . . ,
hatte die Gräfin Seefried ein mächtiges Gewinde von rosa
Rosen . . . verweilten . . . zogen sich zurück . . . Absteig-
quartier . . . Strickewerden von der Feuerwehr , . .Automobile rasen . . .
Um zehn Uhr begannen sich die Neugierigen, die auf den Kirchen-
besuch verzichten und nur die Auffahrt der Erzherzoge und Erz-
herzoginnen sehen wollen, zu drängen und zu stoßen (»Sie,
ob das nicht zu scharf sein wird gegen die Kurgäste?«) . . . Nur den
Anordnungen des Polizeioberkommissärs Bleierl gelang es . . . Spitzen
der Behörden . . . Geheimnisvolle Dämmerung breitet sich über die
kirchliche Handlung . . . Der Chor antwortet, und immer wieder
Frage und Antwort, weihrauchgedämpft und mystisch dunkel
wie die ewige bange Frage nach der Ewigkeit. (»Und die
Antwort?« >Welche Antwort?«) Erst leise, dann mächtig an-
schwellend zu Tönen, die wie Donnerkeile das verheißungserapfäng-
liche Gemüt treffen und wieder sanft verklingen wie ein heimlich
süßes Lied aus Weltenweiten. Ite missa est. (>Woher haben Sie das?<
»Ich hab mit dem Hrdlitschka vom Vaterland Kartell gemacht, dafür
sag' ich ihm, wer imTheater war«) . . . trug eine hellblaue Libert)Tobe
mit maisgelbem Tüll voiliert und reich gestickter Tunique. (»Woher
haben Sie das?« >Ich hab mit der Merores vom Fremdenblatt
Kartell gemacht, dafür geb ich ihr die Stimmung von der Kirchen-
musik«) . . . kleines Dejeuner . . . Kratochwil . . . Feuerwehr mit
Stricken , , . Oaladiner , . . Menschenauflauf, wie er in der sonst still-
versonnenen Traunstadt selten . . . Die Seiten und das Geschirr
der stolzen Schimmelhengste sehen aus, als wollten sie sich bei
einer Blumenkorsofahrt den ersten Preis sichern . . . Frack und
Zylinder führen ein wenig bemerktes Oasendasein . . . Marschalls-
tafel . . . Das Menü lautete . . . Bolfras . . . begab sich . . . l)egaben sich
. . . besichtigten . . . zogen sich zurück . . . Vergnügimgskomitee . . .
Koriandoli . . . Eine Schar jugendfrischer Damen waltete . . . Fritzi
Margulies . . . Nun ist der Kaiser wieder in seinem traulich stillen
Heim. Als Achtzigjähriger rauschende Feste mitmachen und im
Mittelpunkte von Kundgebungen zu sein, die eines Jüngeren Kräfte
in hohem Grade absorbieren, ist keine Kleinigkeit.
Smirschitz, Rzeszöw, Kolozsvär,
Schichowitz, Jassy, Arad und Auspitz,
während sich sieben Städte streiten, Homers Geburtsort zu sein,
ist die Frage, ob die Mitarbeit der Generaladjutanten des Kaisers
an der Neuen Freien Presse zulässig sei, längst und endgiltig ent-
schieden. Die Mitarbeit der Generaladjutanten des Kaisers an der
Neuen Freien Presse, das Auftreten eines Generals der Kavallerie
und eines Generals der Infanterie in einem Kreise von Leuten, die
bei der Waffe dienen, ist nicht zulässig, und daß am Geburtstage
des Kaisers seine Begleiter, Geheimen Räte und Chefs seiner Militär-
kanzlei ihre Glückwünsche bei Herrn Moriz Benedikt deponieren, ist
gewiß der stärkste Beweis der Verwahrlosung dieses österreichischen
Habitus, dem auf jedes Loch der Würde längst ein gelber Fleck
gesetzt ist. Man weiß ja, daß die Vorurteile dieses allerunwahrschein-
lichsten Staatswesens sich mit einer Aversion der Greisler gegen
die Hausierer abfinden lassen, nachdem die »Spitzen« — diese
tolerante Bagage, deren Gehaben so widerlich ist wie das Wort,
— 6
das sie bezeichnet — sich durch alle Concordiabälle und alle
Tandelmärkte der öffentlichen Meinung und alle Jours des Freisinns
glücklich durchprostituiert haben. Daß zwischen Juden und
Beim Judenfressern eine Verständigung erzielt ist, man spürt es aus
jeder Zeile jener Presse, deren Aufgabe es ist, zu sagen, wer dabei
war. Das dankt man ihr, die durch die objektive Fütterung der
niedrigsten Triebe ein bürgerliches Versöhnungswerk vollbracht
hat. In einem wilden Staatswesen, in dem nur durch Gemein-
heit zur Einheit zu gelangen ist, mußte es so weit kommen,
daß sich Persönlichkeiten, die stolz darauf sind, Träger der
Interessengegensätze zu sein, unter dem Palladium einer Gauner-
presse vereinigen, die es ihnen bei jeder Gelegenheit attestiert.
Dieses ganze Staatsleben ist ein Privatleben und die Presse ist
sein Katalog. Malerisch wie so ein österreichischer Kurorte-
bahnhof, wo Schmock und Pfaff und Hofrat und Coupletsänger
und Konsul und Hautarzt und Betriebsleiter einander ins Gesicht
Hab die Ehre sagen und hinter dem Rücken hineinkriechen,
wo die Züge zu spät, aber immer noch früh genug kommen, um
einen die Reformtaten des Herrn v. Czedik beklagen zu lassen,
so malerisch ist dieses ganze Land, in dem die Interessengegensätze
durch Unaufrichtigkeit ausgeglichen werden, der >Pallawatsch< — ein
Wort, das allein zur Auswanderung zwingt — eine Abwechslung
bedeutet und die Wartezeit bis zum Zerfall durch eine gemütvolle
Ansprache ausgefüllt wird. Und über allem die Aussicht, vom
Hirsch bemerkt und im Morgenblatt genannt zu werden. Sei's
weil man im Ischler Theater war, sei's weil man keine Cholera
bekommen hat, weil man zwar nicht der erste, aber sicher einer
der ersten war, die eine Visitkarte auf dem Heine-Grab nieder-
gelegt haben, weil man dabei war, wie einer dabei war,
wie der kleine Korngold entdeckt wurde, oder weil man in
die Fideikommisbibliothek eingereiht wird, oder weil man die
Gräfin Lonyay in Maria Schutz gesehen hat, oder war's ein
goldner Vogel oder ein Ammonshorn, das man dem Herrn
vom lokalen Teil geschenkt hat: man kommt hinein! Und
das Entsetzliche, daß diese Gesellschaft, die sich sicher bei
der >Klabriaspartie« famos unterhält, aber noch nie —
das ist ein Problem — ihr eigenes Mauscheln gehört hat,
das dreimal Entsetzliche, daß sie nicht spürt, wie dieser berg-
hoch getürmte Tatsachenmist den Atem der Kultur beklemmt.
Die einen nicht und nicht die andern. Daß sie den Ekel der Er-
eignisse nicht spüren, an denen schon, ehe sie geboren sind, der
Mißduft dieser journalistischen Phraseologie haftet, daß sie im
unzerstörten Glauben an eine Allmacht, die die Welt aus Drucker-
schwärze formt, die widerliche Visage des Schöpfers nicht erken-
nen, der bald im Ton eines Tempeldieners das Aufgebot fürst-
licher Paare verkündet, bald im Ton eines Servierkellners von
politischen Verwicklungen erzählt, wie ein Verteidiger in Straf-
sachen die Natur verherrlicht und wie ein Friseur von mensch-
lichen Dingen spricht. Daß ihnen diese ganze abscheuliche
Nomenklatur nicht den Wunsch weckt, die Welt, die von solchem
Ungeziefer regiert wird, in Trümmer gehen zu sehen, sondern
daß sie sich erst behaglich fühlen, seitdem es so etwas gibt! Jede
Durchlaucht ist ein Parvenü und jeder Ratenhändler hat Tradition.
Herablassung und Streberei kommen einander auf halbem Weg ent-
gegen. In diesem illuminierten Trödlerladen nimmt sich jeder was
er sieht.
Vielleicht ist es nur ein Ausgleich, auf den sich eine Würde
einläßt, die ihre Hinfälligkeit in allen Knochen spürt. Aber dann
fragt man sich vergebens, warum man den stillen Wohltätern der
Menschheit, die heute unbedankt in den Redaktionen sitzen, nicht
auch jenen Rang im Staate gibt, dessen sich die andern unwürdig
erweisen. Ein freisinniger Benedikt, der das hundertmal alier-
untertänigste Gestammel eines Generaladjutanten druckt, ist doch
eine echtere Schranze als eine, die ihre Gefühle der Publizität
des Herrn Benedikt preisgibt. Dieser, dem es bisher nur gelungen
war, Hoflieferanten und Universitätsprofessoren zu Paaren zu
treiben, kann heute, wo er die obersten Hofchargen in Freiheit
vorführt, die dynastischen Gefühle, die durch sein Sprachrohr
gleiten, für sich abfangen. »Kinderl«, rief der Kapitän eines Schiffes,
das in diesem österreichischen Sommer, in diesem Sommer der
Brände und Feuerwerke, des Jubels und des Jammers glücklich
heimfand, »Kinder, ihr könnt wahrlich der göttlichen Vorsehung
danken, daß ihr euem Vater wieder umarmen könnt I< Da trat
nach einer Pause »unser Berichterstatter an den heldenmütigen
Kapitän heran und drückte ihm über seine tapfere und mannhafte
Haltung sowie über den Mut der Offiziere und der Mannschaft
die Bewunderung des Neuen Wiener Tagblatts aus«.
Auf Kains Pfaden
Von Stanislaw Przybyszewski
Weit hinter ihnen stand in Flammen ihr Paradies.
Als wäre die Sonne gesprungen! Es barsten die
Reifen, die gräßliche Glut überschwemmte den Himmel,
kochte über, schäumte in wüstem Gischt, troff von der
Himmelskuppel in sprühendem Feuerregen, und tief
bis hinauf über die Mittagssonne fraßen blutige Feuer-
zungen am schwarzen Abgrund der Nacht.
Und angekauert an einen Felsen, der als letzter
Zeuge der Sintflut geblieben war, saß der Mann und
zu seinen Füßen lag ohnmächtig das Weib.
Lange starrte er hin in die kochende Himmels-
wut, raffte das Weib vom Boden auf. Wie eine Schlange
kroch er an die Tore des verlorenen Paradieses, seine
Augen zerrissen das Dunkel der Nacht, er weitete seine
Seele aus zu der Allmacht der ersten Sonne, welche
die Gewalt des Schöpfers überstieg — sie war es, die
Gott aus dem Nichts hervorgerufen — und mit der
Sintflut des Feuers sich über die tote Öde des Lebens
ergossen hat.
Und in dieser blutigen Feuersbrunst — ihr Haar, wie
ein Strom von flüssigem Gold, wie flammende Boten
der aufgehenden Sonne, und in der brünstigen Lohe
des Himmels — ihr Antlitz wie eine Rose, erblüht in
dem Glanz des Frühlichtes — so still — so rein — so
wunderhell ....
Vergebens, vergebens!
Er weitete seine Seele aus in dem uferlosen
Ozean der urewigen Einsamkeit, der Dämmerung und
des Dunkels, da noch das Land vom Meer nicht
geschieden ward, da noch im Chaos der Anfang in
tollen Wirbeln kreiste, in wilder Verzweiflung und
einem Orkan des Verlangens, um sich zu offenbaren.
Für sie richtete er aus dem Blau des Himmels
ihr Ruhebett, ihr Aufwachen grüßte er mit der Pracht
des Sonnenaufgangs, und wenn er sie in den Schlaf
einlullte, wob er sie hinein in den Zauber des
I
— 9
dämmernden Dunkels, in die Lichtwunder der Nacht,
in die schwarze Trauer irrsinnigen Rausches!
Vergebens, vergebens!
In rasei.der Wut verstieg sich seine Kraft zu der
Macht Gottes, der das Leben erschuf, und jeglichem
Getier das Leben lieh, thronte über den Gebirgsketten
und zerriß den Himmel zu Fetzen, ergoß sich über die
Sterne und ließ aus dem Himmel nnd seinen Milliarden
von Lichtern ein funkelndes Spielzeug erstehen.
Vergebens, vergebens!
Ihr Gesicht blaßte ab, verstummte, fror
Ihre Augen, keuchend vor Angst, weitgeöffnet in töt-
lichem Schreck, starrten irr in die wüste Tollwut des
brennenden Paradieses.
— Siehst Du ihn? flüsterte sie mit blutleeren
Lippen.
Wie vom Blitz getroffen, schlössen sich seine
Augen, denn die Lohe, die von dem Schwerte
des Erzengels schlug, machte sein Augenlicht blind,
sein Kopf sank tief auf die Brust, eine unfaßbare
Macht dehnte seinen Körper ins Kreuz und mit furcht-
barem Stöhnen ächzte seine Brust:
— Erzengel Du!
Du der mächtigste in der Engelschar — Du —
bist Du nur meine Sünde?!
Du, der Du auf der höchsten Sproße der Himmels-
leiter stehst, bist Du nichts mehr, als mein Verbrechen ?
— Laß uns vergessen! Vergessen! schrie das
Weib.
— Vergessen?! . . .
Abel, Abel, warum mußte ich Dich töten? . . .
Du warst still und süß — sprachst Du zu mir,
und es war, als möchtest Du um Verzeihung bitten,
daß Du wagtest, die tiefe Öde meiner Seele zu stören.
Hast Du meine Hand erfaßt, so war es, als
hättest Du Angst, in mir unbekannte, für Dich ver-
borgene, und für mich gräßliche, verbrecherische Kräfte
zu entfesseln.
10 —
Warum hast Du die zur Frau genommen, die
ich liebte?
Oh, wie ich mich erinnere, als ich in den stern-
lichten Nächten mich an Eure Hütte stahl, mit den
Augen der Seele mich durchfraß durch die dicken
Häute Eures Nachtlagers und Dich sah, wie er Dich
in seine Arme schloß und Dich an seine Brust fest-
drückte, und mit heißen, begehrlichen Lippen die
mystische Rose Deines Körpers öffnete.
Und Deine Augen, weit, weit in fremde Ferne
gerichtet — und Deine Seele in fernloser Weite
irrend, und Dein Körper fremd, als ob er Dir nicht
zugehörte.
Wo lief hinaus Deine Sehnsucht? Um was herum
schlugen die breiten Flügel Deines Verlangens ihre
weiten Kreise? Nach wem suchten Deine von Leibes-
fesseln befreiten Augen?
Ich besinne mich nicht, welche Schmerzensglut
mir die Seele eingeäschert hat, was für ein Wahnsinn
mein Gehirn wrang, gleichwie ein nasses Tuch
Ich wollte mich losreißen, und ich konnte mich
nicht von der Stelle rühren, eine furchtbare Last fiel
auf mich herab, und mit einem spitzigen Pfahl hat
mich die Verzweiflung in die Erde eingerammt.
Und in meiner Seele flüsterte der Satan;
— Liebe, Du Gotteslamm, das Du alle Sünden
der Welt tilgst, heiliges Hysopkraut, das Du die Seele
von allen Vergehen und jeglicher Schuld loswaschest,
gib mir die Kraft!
— Du solltest nicht das Weib Deines Nächsten
begehren! grollt der Zorn Deines Gottes.
Und das Weib war das Weib meines Bruders!
Ich zitterte am ganzen Leib wie ein Mensch, dem
man die fürchterlichsten Folterwerkzeuge vorzeigt
Liebe, Du allmächtige Gewalt, die Du Gott auf
den Thron setzest und ihn zu Staub zermalmst — bist
Du nicht mächtiger als Seine Gesetze?
Wie lächerlich und klein ist die Liebe als Tugend,
billig, wie ein Talisman, den man von einem Wander-
^11^
Juden kaufen kann und der vor Krankheiten und
Unglücksfällen beschützt.
Wie platt und verächtlich die Liebe, der kein
Hindernis in die Quere kommt und die die Menschen,
fromn und treu ringsherum aufgestellt, segnen und
jegliche Gnadenquelle über ihr öffnen — eines greisen-
haften Verlangens, einer ruhigen Sättigung, einer
warmen Speisung und des faulen Ochsenjochs würdig
ist die Liebe in vollem Sonnenlicht, die Liebe des
warmen Bettes, das da von jubelnden Hochzeitsjung-
frauen umstellt ist, die Liebe des ruhigen Schlafes von
Gerechten und Ordentlichen, die da nur einmal am
Tage sündigen.
Oh! in einer anderen, in einer gewaltigeren
Majestät soll fürwahr die Macht der Liebe einher-
schreiten!
Mit einem Haar, das die wüstesten Stürme zer-
zausen, mit Hohngelächter, gottschänderiscben Flüchen,
wildem Spottgeschrei allen Gesetzen zuwider auf den
Lippen, mit Augen, die den Mob zermalmen und ihn
vor sich auf den Knieen rutschen lassen, und mit
Händen, die sich nicht scheuen, das Messer hineinzu-
stechen — wenn auch in den Schoß des Bruders!
Hier begann mein Herz zu zittern, als wäre es
mir lebendig aus der Brust gerissen.
Des Bruders!
Hart, eisern, unbeugsam!
Wo der Fuß einer solchen Liebe hintritt, was
denn, wenn er mit seinen Hufen Menschen zertritt, wie
einen Ameisenhaufen? wo ihr Wahnsinn aufkreischt,
was denn, wenn ein Abgrund sich zwischen Brüdern
und Freunden öffnet, und wo ihr Spieß hinfliegt, was
denn, wenn er auch in das Herz der eigenen Mutter
trifft?
Und was für ein Wunder, wenn der Vulkan in
der Stunde einer wüsten Orgie mit Lava in den
Himmel speit, Städte und Dörfer verschüttet und eines
neuen Lebens trächtige Erde sich in Gebärmutter-
12
konvulsionen windet und ihre elende Brut unter den
Trümmern seines elenden Werkes begräbt?
Ein Vulkan und ein Erdbeben soll Deine
Liebe sein:
Hart, eisern, unbeugsam, unwissend um alle
Gebote und Gesetze!
Also sprach der Satan, und freudig stimmte ihm
meine Seele zu.
Diese Qual hat meine Seele überwältigt, und als
ich erwachte, sah ich Dich sitzen auf der Schv'elle des
Zeltes — Deine Augen starr gerichtet in weiie Ferne,
und Deine Seele irrend in fernlosen Weiten. Und Dein
Leib so fremd, so fremd, als ob er Dir nicht zugehörte.
Vielleicht waren es Augenblicke, vielleicht ganze
Stunden, und gar volle Tage, die in meinem Gedächtnis
verschmolzen, ganz so, wie große Erzblöcke in dem
feurigen Ofen in spritzendem Gischt zur flüssigen
Masse werden; ich entsinne mich nur, wie Deine Hand
in der meinen zitterte, wie Dein Herz im Takt mit
dem meinen schlug, in Tollwut des Verlangens, in
abgrundlosem Schreck, in zerstörender Angst.
Und schon streckte ich die Hand, auf daß unter
der rasenden Sichel meines Wahnsinns die reiche, so
ersehnte Ernte fiele, da plötzlich:
Abel!
Und ich hatte einen Abel in meiner Seele — oh.
Du mein heißgeliebter Bruder — ich trug ihn in mir,
wie eine Gotteslade, in der sich das Wunder der
geheimnisvollsten Sakramente vollzieht, mit den Wurzeln
des urewigen Seins des Jessy wuchs er in die geheimste
Tiefe meiner Seele, füllte aus jede Pore meines Daseins,
und ich habe den Baum aus mir herausgerissen, zer-
störte den Gottestempel, denn andere und mächtigere
Gelübde habe ich mit Dir geschlossen, für die noch
kein Gott ein Sakrament verfügt hat.
Ich fuhr auf.
Zu jener Zeit war der Judas in mir noch nicht
geboren.
— 13 —
Meine Seele blutete aus tausend Wunden, denn
ich habe aus ihr Jessys Wurzeln herausgerissen, meine
Seele war ein einziger Trümmerhaufen, ein einge-
äscherter Altar nach der Vollendung des blutigen
Opfers, und mein Herr und Gott ward Abel ....
Ich ging an ihn heran und sagte zu ihm:
— Verzeihe mir, aber ich liebe Deine Aus-
erwählte, Du wirst sie doch nicht notzüchtigen wollen
mit Deiner Liebe, da die Flügel ihrer Sehnsucht um
mich beständig rauschen, und unsere Hände, die sich
tausendmal verloren, hin und her irrten, endlich sich
wieder gefunden haben, wie es uns von Uranfang
bestimmt war.
Und Dein Gott donnerte und säte seine Blitze
rings um mich und schrie, daß Du keine anderen
Götter vor ihm haben sollest.
Und ich Kain habe den Abel getötet?
Hart, eisern, unbeugsam.
Horch Du Gewitter, das Du Bäume aus der Erde
entwurzelst, was bist Du im Vergleich zu der Hölle,
die in meiner Seele zu rasen begann?!
Eherne Trompeten des Jüngsten Gerichtes, was
ist Euer Heulen gegen den Donner Gottes:
Kain, Kain — wo ist Dein Bruder!?
Irgendwo gen den Untergang ergoß sich ein
furchtbarer Lichtschein, als wäre die Sonne gesprungen ;
es barsten die Reifen, wie heut, wie heut; die gräßliche
Glut überschwemmte den Himmel, kochte über, schäumte
in wüstem Gischt, wie heut, wie heut — troff von der
Himmelskuppel in sprühendem Feuerregen und tief
bis hinauf über die Mittagsgrenze fraßen blutige Feuer-
zungen an dem schwarzen Abgrund der Nacht, wie
heut, wie heut — und dann erlosch das furchtbare
Himmelswunder.
Ich durchlebte Ängste und Qualen, die mir das
Haar bleichten, der Schreck durchfuhr mich mit furcht-
barem Zittern, der Atem stockte in meiner Brust:
In wilder Flucht jagte ich vor mich hin — Schritt
für Schritt fiel ich über uralte Wurzeln, die über die
14 —
Erde ragten, gleich dem Gerippe vorsintflutlichen
Getiers, das mit dem Pflug aus der Erde heraus-
geackert wurde: sah ich in die Höhe, da machte mich
blind der furchtbare Strahl des zürnenden Gottes —
und wieder fiel ich auf mein Angesicht, und stürzte
in unermeßliche Abgründe, ohne End, ohne End ....
Wovor bin ich geflohen und wohin? Wo konnte
es Rast für meine Füße geben, wo Ruhe für meine
gräßlichen Gedanken? Wo das Ziel, dem ich zulaufe
— wo?
Abel, Abel — Deine furchtbare Rache. Welch
unendlich süße Erlösung wäre für mich damals der
Tod gewesen ! Könnte eine Hand zärtlicher liebkosen,
als der vernichtende Blitzschlag Deiner wütenden
Keule?
Verfluchter Henker! Auf Schritt und Tritt hast
Du den Tod vor meine Augen gesetzt, und weit
offen hast Du immer noch eine Hintertür gelassen,
durch die ich in Angst entschlüpfen konnte, meine
Füße hast Du in verräterische Fangnetze verstrickt,
um mir, der schon einen tausendfältigen Tod erlitten
hat, noch in letzter Sekunde den Weg der Rettung
zu zeigen.
Nach dem Tod, dem Erlöser, habe ich geschrien
und Du höhntest: Du wirst leben, in alle Ewigkeit
wirst Du leben. Nie sollst Du die Abgründe der Qual
erschöpfen, nie soll es ein Ende für Deine Pein
geben . . .
* Der Mann schwieg und zu seinen Füßen schluchzte
das Weib:
— Abel, Abel seh' ich vor mir! In sch\yarzen
Nächten wächst er vor meinen Augen, wie eine furcht-
bare Feuersäule — meine Seele scheint sich vom
Körper zu trennen und irrt hinter ihm her auf schwin-
delnden Gründen, von denen jeder Blick in die Tiefe
das Hirn in die Hölle versetzt, auf zitternden Sümpfen,
auf denen jeder Tritt ein offenes Grab ist, auf den
Friedhöfen der Jahrtausende, aus denen von überall
her sich mir verzweifelte Arme entgegenrecken, die
nach Rache schreien und Haß atmen und mit Qualen
schrecken, die keine Hölle zu ersinnen vermag. Wie
ein blaßes Gespenst kniet er auf meiner Brust, umfängt
mich mit eisernen Reifen seiner Arme, würgt mich,
verpestet mein Blut mit seinem Atem, und versengt
meine Seele mit seinem furchtbaren Blick bis auf den
Grund . . .
Hier umfaßte der Mann das Weib, drückte es an
seine Brust und flüsterte ihr heiße Liebesworte.
— Was ist mir Abel gegen das Glück, daß ich
Dich besessen habe?
Tausende Abels würde ich töten, wenn man Dich
mir entreißen wollte.
Er atmete tief auf und seine Augen verschleierte
eine endlose Zärtlichkeit:
— Geliebte!
Wie flammende Vorboten der aufgehenden Sonne
— Dein goldenes Haar, wie eine Wunderrose, die da
erblüht ist in dem Glänze des Mondlichtes — Dein
Antlitz, so still und so wunderhell ... in Deinen Augen
schillert meine Seele, mit Deiner vereint, in unfaßbarer
Macht und GnadenfOlle, und durch unsere ineinander-
geflochtenen Hände ergießt sich in unsere fiebernden
Adern in wilder Hast der Strom der Liebe, die da einzig
allein das Leben bedeutet, seinen Anfang und Ende.
Du warst süß, wie eine Weintraube in dem Mittag
des heißen Sommers: gebenedeiet meine Hand, die sie
gepflückt hat.
Du warst stolz und unzugänglich wie eine wilde
Mauerhecke : gebenedeiet die Macht meiner Liebe, vor
welcher Du weichen mußtest.
Heilig, heilig mein Liebesverlangen, unter dessen
Sichel die herrliche Ernte Deines Sommers gefallen ist.
Und ich Kain, der ich Abel um meiner Liebe
willen getötet habe, sitze breit und stark auf meinem
Thron und schreie in die Welt hinaus:
Ich liebe Dich!
Man hat mich geschlagen, bespieen, mit Ver-
achtung und Flüchen gehetzt, auf meine Stirn das
16
blutige, nie vernarbende Mal des Verräters und des
Verbrechers eingebrannt, quer über meinen Weg schwere
Balken hingeworfen, damit ich auf jedem Schritte falle,
und ich weine in dem großen Glück:
Ich liebe Dich!
Wie ein Lichtschein unaussprechlicher Macht und
Freude ergoß sich in meine Seele die heilige Gnade,
daß Du mein bist.
Wie eine Rauchsäule von dem Opferaltar wächst
in den Himmel hinein die Kraft meiner Liebe, meine
Gewalt, die Du bist . . .
Erzengel Du!
Aus dem Paradies hast Du uns vertrieben, und
ich habe mir ein neues geschaffen, ein gewaltigeres
noch, das die ganze Erde umfaßt und den Himmel.
Mit meinem Wissen habe ich die Lust erzeugt,
habe sie mit Schmerz und Qual verkuppelt und sie so
in ihrer Stärke vertausendfacht — mein Geschlecht ergoß
ich in tausend Betten, auf daß es das ganze All aus-
fülle und mit seinen heißen Strömen mein Gehirn
befruchte.
In jeden Instinkt, in jeden Reflex tat ich hinein
die kochende Glut der Leidenschaft, damit meine Tat
sich zu der Allmacht der göttlichen Tat aufschwingen
könne, und jedes Gefühl, jeden meiner Gedanken
durchsättigte ich mit dem lebenden Feuer des Ge-
schlechtswillens, auf daß meine Seele, gerichtet in die
Zukunft des Menschengeschlechtes, in ihrer uner-
schütterlichen Macht für immerdar leben möge.
Ich erschuf mir die Lust der Tat, die Lust des
Schaffens, die Lust des himmelhochjauchzenden Auf-
schwungs, da der Mensch mit dem Gott von Angesicht
zu Angesicht spricht.
Und wenn mein Blut Dir entgegenschlägt, wenn
Dein Schoß zittert, wenn Dein Gesicht, umglüht von
dem Goldstrom Deiner Haare, zu ersterben scheint in
der Lust der Himmelfahrt, brauchst Du da noch ein
anderes Paradies? . . .
Das Weib schluchzte verzweifelt:
17 —
— Ich will versinken in dem Abgrund der Lust,
will meine Seele reinbaden in dem Sonnenglanz
unserer Liebe, auf daß sie reiner werde als der Hysop,
der alle Schuld tilgt, und schon, schon vernarben die
Wunden, stillt sich der blutige Schmerz der Schuld —
und da plötzlich: eine Harpune schlägt sich in mein
Herz und zerrt und reißt es in Stücke.
Kain, Kain, was hast Du getan?!
Oh, dann wird mir zum Ekel Dein Liebesgekose,
widerlich Deine Umarmung — meine Seele reißt sich von
Dir los in schmerzlicher Qual, um sich aufs neue in
noch schmerzlicherer Lust auf Dich zu werfen und nach
Ruhe für meinen verzweifelten Irrsinn zu suchen.
Kain, Kain, das Blut Deines Bruders hat unser
Brautbett besudelt!
Oh, sieh mich nicht so an mit diesen schreck-
lichen Augen. Der Schmerz erstarrte in ihnen. Eine
größere Qual als die meine hat sie so weit aufgerissen.
Oh komm, komm, Geliebter Du — in der Glut
der Lust, in der Hölle der Sinnen —
Laß uns vergessen — vergessen I
— Vergessen?!
Er lachte verzweifelt.
— Vergessen? Ich? Ich?
Tausendmal bin ich gestorben und tausendmal
kehrte ich zurück.
Joshua! Christos!
Oh seine süßen Augen!
Seine Augen waren — oh, wie soll ich Dir
das sagen — seine Augen drangen durch und durch
— es schien, als gebe es keine noch so dicke Mauer,
die sie nicht durchdringen könnten, als fände sich
keine noch so verstockte Seele, daß sie in diesem
Glänze nicht zerschmelze, und kein Herz, das nicht
mit diesem Pulsschlag schlüge, und in heißem Ver-
langen schrie: Dein bin ich, o Herr!
Wie ein Hund kauerte ich zu seinen Füßen, aus
seinen Augen sog ich den süßesten Honig der Erlösung,
des Rückkaufs meiner schweren Schuld — jedes seiner
— II
Worte war für mich die zärtlichste Liebkosung und
das Unterpfand des ewigen Lebens auf dem Schoß
dessen, der war, ist und sein wird.
Magdala, Magdala!
Hast Du mich damals gesehen?
O, hätte ich Dich nie erblickt!
Erlöst wäre meine Seele, befreit von der Schuld
des Brudermordes mein Herz ....
Er schwieg.
So schwer fiel noch kein Steinblock von der
Höhe in das Tal, wie sein totgequältes Haupt auf die
schwergespreizten, eisernen Finger seiner Hände. Sie
gaben nach unter seiner Schwere, das Haupt fiel ihm
auf die Knie, er sank ganz zusammen.
— Judas! Judas! schrie das Weib.
Den Bruder hast Du gemordet, den Erlöser ver-
kauft! Wo ist mein Paradies, wo meine Erlösung?!
Er richtete sich auf, sah um sich mit einem
kalten, erstaunten Blick, als wäre er nach einem
tausendjährigen Schlaf erst erwacht.
— Kain? Judas?
Ah ! Ich erinnere mich ....
Zeig mir das Gras, über welches seine Füße
schritten, damit ich einen Halm nach dem anderen
küssen könne, zeig mir die Abdrücke seiner Füße in
dem weichen Lehm, auf dem er gegangen ist, damit
ich mich mit meinen Lippen an ihnen festsaugen
könne und sie kose in seligstem Glück:
Magdala, Magdala!
Geh dort nicht hin, heiliger Rabbi! schrie mein Herz.
Aber ich wagte es nicht laut zu sagen.
Noch haben Dich meine Augen nicht gesehen,
und schon atmete ich den Duft Deiner Haare, sah das
gelenke Rohr Deiner Glieder, fuhr mit zitternden
Händen Deinen Körper entlang, entblößte Dich nackt
mit meinen Augen, Dich, meine stolze, heilige Geliebte.
Du möchtest mir jetzt Deinen wildesten Fluch
in die Augen speien. Deine verzweiflungstrunkenen
Nägel in meinen Leib einhacken ....
— 19 —
Wie schön warst Du damals, Geliebte, Du!
Soll ich Dir davon sprechen?
Nein, nein ....
Mit ihm zusammen bist Du gestorben. Zum Ekel
wurde ich Dir und zum Abscheu.
Ich weiß es, ich weiß ....
Dein Platz an seinem Grab, und mit ihm zu-
sammen wirst Du Deine Himmelfahrt feiern!
Aber jetzt höre mir zu — Du mußt hören!
Er packte sie an den Händen.
Und schon sprach er nicht mehr, er zischte, er
schluchzte, er schlug aus mit den Worten, wie ein
wütender Hengst mit eisernen Hufen.
Tausende von Worten verloren sich im Nebel
und Dunkel, und als er erwachte, hörte er sich endlich
sprechen:
— Gräßlich war der Augenblick, als Du zu seinen
Füßen kauertest, sie mit riechenden Ölen salbtest und
mit Deinen Haaren trocknetest.
Magdala! Magdala!
Und er, versunken in die Wunder unfaßbarer Ge-
heimnisse, sprach mit seinem Gott: er sah Dich nicht.
Aber meine Seele krampfte sich zusammen, als
ich sah, wie Du mit der goldenen Seide Deiner Haare
seine Füße abriebst, wie Deine Lippen mit heißen
Küssen an den Stellen ruhten, durch welche bald,
allzubald, die rostigen, langen, fingerdicken Nägel
durchdringen sollten, durch diese schmalen, weißen
Gottesfüße!
Magdala! Küsse nicht diese Füße! Küsse nicht!
Blut strömt mir in die Augen — und in der blutigen,
gräßlichen Feuersbrunst, in der mir die ganze Welt
steht, ragt das Kreuz!
Jetzt schmiegtest Du Dich mit dem ganzen Antlitz
an seine Füße, umwandest sie mit der Flut Deiner
Haare — Du hast vergessen, daß er ein Gott ist, daß
er Dich nicht sieht — wie eine Schmeichelkatze lieb-
kosest Du seine Füße, streichelst sie, küssest sie — in
20
beide Hände hast Du seine schönen weißen Füße
genommen. Tue es nicht Magdala! Tue es nicht!
Deine nackte Brust wogt, Dein ganzer Leib
erschauert, es krümmt sich Dein Nacken, Deine Hüften
zittern, — laß es Magdala, laß es!
Siehst Du denn nicht, daß sein Blick von der
Erde losgerissen ist? — fühlst Du denn nicht, daß Du
tote Glieder umfängst? — seine Seele spricht mit Gott,
weilt schon längst nicht mehr hier!
Schmeichle nicht, verführe nicht den Gott!
Wie ein Kind sah er Dich an mit zärtlichen Augen
und lächelte mit dem unendlich stillen Lächeln des
Gotteslammes, das alsbald mit seinem Opfer die Sünden
der ganzen Welt tilgen sollte, und sprach:
Oh Du, meine Schwester!
Schwester? Schwester?
Oh, ich sehe Dich, ich sehe Dich!
Nie noch hat eine so demütigende Absage ein
Weib getroffen, das da in Sünde und Unzucht empfangen
ward!
Und schon, schon fühlte ich mit satanischer Lust,
wie Du Dich auf ihn werfen würdest, aus Deinen Augen
schlugen Blitze verstoßenen Verlangens — ein wilder
Triumph raste in meiner Seele — und da plötzlich,
wie vom Blitz erschlagen, fielst Du nieder, Deine Lippen
wurden totenblaß, Dein Leib kauerte zusammen und
Tränen stürzten aus Deinen Augen:
Erlöser! Erlöser!
Hättest Du in ihn das Gift der wütendsten
Schlangen Deiner Gier eingeimpft —
hättest Du ihn gebissen, seinen Leib zerfleischt
mit der Wut einer irren Leidenschaft, mit der Du seine
Füße küßtest —
hättest Du mit den verfeinertsten, hinterlistigsten
Mitteln Deiner Liebeskunst sein Blut ins Wallen gebracht :
all das wäre für mich nicht ein solch furchtbarer
Schmerz wie dies eine: Erlöser!
Und die Lichtspitze seiner Augen durchbohrte mit
hellem Blitzstrahl das Dunkel meiner Seele und es
— 21 —
entstand in ihr eine furchtbare Helle, ich fühlte mich
nackt, so entsetzlich nackt, daß es schien, als würde
mich eine ganze Hölle von Scham aufbrennen.
Ich ging hinaus.
Magdala, Magdala!
Ich höre, wie er mich fragt:
Warum meidest Du mich, Judas — warum sind
Deine Augen in die Erde vergraben, warum sind
Deine klugen Augen siech und scheu geworden und
wie mit Nebel verschleiert, warum ist Dein Haar über
Nacht bleich geworden, und Dein Rücken krumm,
als wäre er in ein Joch hineingezwängt?
Als Hohn, unwürdig eines Gottes, schien mir die
Sprache des Herrn.
Blut stieg mir zu Kopfe, und meine Zunge, die
schon am Gaumen festzukleben schien, löste sich:
— Das Herz des Weibes, das mir zugehörte, hast
Du, Herr, an Dich gerissen, ihre Seele hast Du mit
unsichtbaren Fäden Deiner göttlichen Macht um-
strickt
Hier unterbrach den Wahnsinn meiner Sprache
sein verwunderter, sein so erschreckend kluger Blick,
der dem Menschen ins tiefste Mark dringt.
Seitdem sprachen wir nicht mehr.
Wie ein Schatten schlepptest Du Dich hinter ihm.
Magdala, Magdala! Tue es nicht!
Satan — Magdala, hinweg mit Dir von dem Gottes-
sohn!
Bis in jenem Augenblick: nein — nein, nein!
Ich küßte ihn, Magdala — nein, nein — nein!
Geliebter Rabbi, flüsterte ich ihm ins Ohr —
nein — nein — nein!
Und Du zu Füßen seines Kreuzes -und jetzt mit mir!
Mit mir, Magdala, mit mir! von den Füßen des
Erlösers habe ich Dich weggeschleppt, ich Kain, ich
Judas Ischariot, auf ewige Qual, zur ewigen Verdamm-
nis, ewiges Zusammen und Auseinander, ewiges Eins
und ewigen Haß!
Du und ich!
— 22 —
Zu Hilfe Satan — zu Hilfe!
Du mein einziger Bruder, Du strahlender Cherub,
Du großer Herr, der Du auch einst aus dem Paradies
vertrieben warst, weil Du Deine Macht an der seinen
messen wolltest — Du der Vorzüglichste an Schönheit
— Lichtbringer Du, steh mir bei! . . .
Da fuhr er zusammen.
Denn plötzlich sah er den Erzengel vor sich.
Und eine furchtbare Macht schlug aus seinem
Schwert. Seine Augen durchbohrten das Herz des
Menschen, sein Antlitz war blaß, und unsichtbare Blitz-
strahlen seines Zornes schlugen umher, wie herab-
gerissene Sterne in dunkle Abgründe.
Und der Satan kauerte am Rande jenes Blocks,
der da allein als Zeuge versintflutiger Raserei geblieben
war, starrte in die Feuersbrunst des Paradieses, und
lachte nicht.
Er erblickte seinen Bruder, den Erzengel, und
maß ihn mit stolzem, verwundertem Blick.
— Ich Kain, schrie der Mensch, ich Judas Ischariot,
umwölkt von dem Nebel und den Wolken meiner Opfer,
die mich mehr als Gott zu lieben lernten, ich, der ich
mit dem Gott an einem Tische saß, und in den dunklen
Gassen des Ölbergs sein blasses Antlitz küßte, und ihm
sagte, daß ich ihn über alles liebe — ich höhne Deiner
Kraft, Du armseliger Hüter, der auf den Befehl seines
Herrn den Garten unreifen Obstes vor den Dieben
schützen muß — ich verlange nicht nach Deinem
Paradies — ich habe mir ein eigenes geschaffen, ich
ließ mich freiwillig aus dem Deinigen herausstoßen,
um die Macht meiner Liebe an dem Übermaß des
Schmerzes zu messen, ihre Kraft über die Macht des
Todes und des Lebens hinauszusteigern.
Und Du Satan — verflucht, tausendmal verflucht
seiest du mitsamt Deinem Lichtbruder!
In unsere Seele hast Du, Giftschlange, das Verlangen
und die Begier eingeimpft, hinterlistig hast Du den Lust-
baum gepflanzt, der das Gute und das Böse unterscheiden
— 23 —
läßt, um uns mit diesem Köder blind zu machen für
Deine Größe, Deine Schliche und Verrat:
Mit der Liebe hast Du uns blind gemacht!
Wiederhole, wiederhole, womit Du meine Eltern
verführt hast. Du böser. Du heimtückischer, hinterlistiger
Satan !
Antworte mir!
Du schweigst? Ha, ha, ha, Satan hat mich ver-
lassen, nun, dann wende ich mich an Dich, Erzengel,
Du, Henkersknecht und blindes Werkzeug eines Lügners,
ich segne Dich! . . .
Eine Ewigkeit rangen ihre Augen in schwerem
Kampf, aber mit nichts läßt sich die Macht vergleichen
dessen, der war, ist und sein wird.
Und der Satan krümmte sich vor schmerzlichem
Lachen, und das Weib stöhnte in höllischer Qual, und
der Erzengel: die Qual, die Sünde, das Verbrechen
stand auf der Wehr.
Sonntag Abend in der Großstadt
Von Berthold Viertel
Ein mächtiger Greis in glänzendem Zylinder
Trat plötzlich vor die Leute, Weiber, Kinder.
Betrunken baumelt er mit einem Stock,
Dran hing Marie in blütenweißem Rock.
Die schlanke Himmelskönigin aus Flußpapier,
Die Wänglein süß wie Milch und Blut auch hier.
Die Leute lachten sehr: »Er kommt aus Mariazeil,
Dort ist es heilig, und die Luft weht hell.
Am Weg zum Altar stehn viel Schenken offen,
Da hat der gute Alte sich besoffen.«
Der Alte lächelt heimlich und verschwiegen,
Als hätt' er Berg und Täler überstiegen.
Und immer neue dumme Neider kamen
Und höhnten laut — er aber sagte: Amen.
— 24
Glossen
Zur Erleichterung des Lebens
und um allen Wiederholungen wie auch Reklamationen künftig
zu begegnen und um es den Wißbegierigen so bequem wie mög-
lich zu machen, habe ich mich entschlossen, einen Normalbericht
zusammenzustellen, in dem alle Nachträge zur Kaiserfeier und
überhaupt alles Wissenswerte aus Kurorten und Sommerfrischen
sowie auch schon die künftigen Brände der beliebtesten Alpenhotels
ein für allemal berücksichtigt sind. Während also »Wien im Fest-
kleid« erscheint und die durch besondern Schmuck hervorragenden
Firmen sich vorteilhaft repräsentieren, übermittelt uns der Draht
die traurige Nachricht, daß eine der schönsten und leuchtendsten
Perlen aus dem reichen Kranze imposanter Hotelbauten, den unser
herrliches Alpenland Tirol in den letzten Jahrzehnten der über-
quellenden Fülle seiner natürlichen Reize gesellt hat, ein Raub der
Inseratenagenten geworden ist. Frau Lewinsky-Precheisen riß durch
den Vortrag von Goethes Gott und die Bajadere die aus allen
Weltteilen stammende Zuhörerschaft zu wiederholtem nicht eriden-
wollenden Beifall hin. Unter den von der Katastrophe betroffenen
Hotelgästen befand sich der Chef des Sicherheitsbureaus Regie-
rungsrat Stukart, die meisten aber hielten sich im Walde auf, ja
viele Personen verließen das Hotel zu Spaziergängen, als die
Katastrophe schon eingetreten war. Während dort unbeschadet des
internationalen Charakters das Wienertum sich von seiner schön-
sten Seite zeigte; indem es den Fremden die üppig erblühte Rubens-
pracht seiner Frauen wies, hielt die Festrede Oberrabbiner Akiba
Schreiber. Direktor Bardy, seine Gattin und das gesamte Personal
arbeiteten mit größter Aufopferung, um die Gäste, von welchen
viele noch gar nicht aufgestanden waren, ins Freie zu bringen.
Frau Sonja Schapira aus Baku trug einige Lieder mit künstlerischer
Vollendung vor und wurde besonders der Umfang und die Kraft
ihrer Stimme bewundert. Vierhundertsechzig Gäste kampierten
rings um das Hotel. Man bemerkte unter anderen den Bankier
Schoßberger aus Budapest. Die Effekten sind zum größten Teil
verloren, und leider auch ein Verlust an Menschenleben nicht zu
beklagen. Den Kaisertoast sprach der bekannte Wiener Hof- und
Qerichtsadvokat Herzberg- Fränkel. Es ist sehr zu beklagen, daß
im ganzen Hotel nicht ein einziger Hydrant oder Wassereimer
— 25
vorhanden war. Die herrliche, starke und für eine Höhe von fast
1800 Metern doch milde Luft inmitten der prächtigsten Nadel-
wälder und des großartigsten Hochgebirgspanoramas, sowie die
internationale Gesellschaft, unter welcher Österreicher und
Deutsche das Hauptkontingent bilden, trugen in gleicher
Weise dazu bei, daß das Feuer rapid um sich griff und binnen
kurzem sechs Häuser eingeäschert wurden. Fräulein Elsa Kulka
aus Saaz und Herr Edgar Neugröschl aus Komom hatten sich in
liebenswürdigster Weise bereit erklärt, ein Gelegenheitsstück, das
Paul Wilhelm zum Verfasser hat, aufzuführen. Es scheinen ver-
brecherische Anschläge vorzuliegen. Mit militärischer Hilfe wurde
die Feier gelöscht. Das Feuer schloß mit einem animierten Tanz-
kränzchen. Auf Antrag des Herrn Angelo Ei—, dessen Name bei
den Rettungsarbeiten verstümmelt wurde, wurde eine Huldigungs-
depesche nach Ischl gesendet. Nähere Nachrichten fehlen zur
Stunde, da die Telephonleitungen unterbrochen sind. Ein gegen-
wärtig noch unkontrollierbares Geriicht spricht davon, daß sich
die Fassade des Zaclierlhauses Wien, I. Brandstätte besonders vor-
teilhaft repräsentiert hat.
Na denn Prost!
Herr Georg Reimers, der den Sommer in Wyk auf Föhr
verbringt und im Winter im Burgtheater Helden spielt, hat soeben
sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum gefeiert. Nicht als Kurgast.
Es sind vielmehr schon fünfundzwanzig Jahre, daß das Burgtheater
sich in der Darstellung der Egmont und Moor von jeder mittleren
deutschen Hofbühne beschämen lassen muß. Wie die Zeit vergeht!
Damals alterte Fritz Krastel, ohne alt werden zu können, und der
Gigant Matkowsky, der einmal als Orestes aushalf, fuchtelte so
über den Rahmen des Burgtheaters hinaus, daß das Wiener
Publikum zu lachen anfing. Aber Herrn Georg Reimers nahm es
schon ernst. Freilich wurden dann von allen Seiten die lebhaftesten
Anstrengungen gemacht, ihm zu einer Entwicklung zuzureden, und
Herr Reimers, dessen Stärke es bis dahin gewesen war, fest auf-
zutreten, begann jetzt in der Tat die Brauen zusammenzuziehen und
ein denkender Schauspieler zu werden. Nicht in jener übertriebenen
Art des Herrn Gregori, dem man vom Faust bloß die Versicherung
geglaubt hat, daß er Juristerei, Philosophie, Medizin und Theo-
logie studiert habe. Aber immerhin mit mäßiger Vertiefung des
Innenlebens. Man las sogar hin und wieder, daß Herr Reimers
mit dem Studium von Kommentaren beschäftigt sei — nach-
denkende Schauspieler sind solche, die lesen können, was
literarhistorische Schöpse geschrieben haben — , aber man freute
sich doch immer, daß dann jedesmal seine kerngesunde Natur
durchbrach und er, wie er dem Kulissenplauderer anver-
traute, »die Folianten in die Ecke warf«, nur sich und seinem
Instinkt vertrauend. Das war gut. Denn das Publikum war nicht
entschlossen, mitzudenken, sondern lobte den stattlichen Wuchs.
Man sieht in Wien überhaupt weniger auf den Zweck als auf die
schönen Mittel, und wer hier behaupten wollte, daß sie nicht
hinreichen, daß fünfundzwanzig Jahre ohne tragischen Helden
für das Burgtheater kein Jubiläum, für das Publikum einen Verlust
bedeuten, der kann sich unbeliebt machen. Denn die Schauspieler
dieser Stadt gehören zu den Erscheinungen, die ihrer Beliebtheit
ihre Popularität verdanken und umgekehrt, und nur zu leicht
gerät der in den Verdacht, ein Thersites zu sein, der etwa be-
haupten wollte, ein anderer sei kein Achill. So feministisch ver-
zogen ist der Geschmack dieser Stadt, daß ihm die schönen Mittel
des Schauspielers, den Mann verbürgen, aber beileibe nicht etwa
die schönen Mittel der Frau die Schauspielerin, daß man der weib-
lichen Anmut das Talent, das sie bedeutet, nicht glaubt, aber der
männlichen Schönheit den Charakter. Diese Ästhetik ergibt sich
dem Tenor und sieht auf die Salondame mit den Augen der
Rivalin. Daß einer, um eine deutsche Eiche auf der Bühne
zu sein, im Leben aus Pappe sein könnte, und daß einer
auf der Bühne aus Pappe sein kann und im Leben eine
deutsche Eiche, das geht der Wiener Ästhetik, die eine weibliche
Wissenschaft ist, nicht ein, und sie feiert immer die fünfund-
zwanzigjährige Identität von Kunst und Leben. Nun aber, da
Herr Reimers in das gesetzte Alter eintritt, werden wir auch keinen
Wallenstein und keinen Faust haben, und wer weiß, welche Über-
raschungen er uns noch vorbehält, denn Herr Wittmann meint,
es sei nur ein Anfang. »Wir können dem Fünfzigjährigen die
Mitteilung machen, daß die wahre Schauspielerei erst für ihn
beginnt. < Herr Reimers hat Reserven. Eine zweite Entwicklung,
die er durchmachte, ging geradenwegs auf die Schlichtheit. Von der
Natur dazu geschaffen, Herolde im Burgtheater darzustellen, begann er
I
- 27 —
auf einmal in einem gleichmütigen Plauderton zu sprechen, der von
Herrn Wittmann heute als eind Konzessionan Ibsen entschuldigt wird.
Herr Wittmann empfindet es noch jetzt als eine Profanierung des
gutgebauten Herrn Reimers, daß in die Zeit seiner Entwicklung
auch der Aufstieg Ibsens fiel, und da das Wort Ibsen einmal
ausgesprochen ist, so ergibt sich der Gedanke, daß damals
»Gestank etwas Natürliches war«, von selbst Es ist aber leicht
möglich, daß nicht so sehr Ibsen für die naturalistische Wendung
des Herrn Reimers verantwortlich zu machen ist als die Auf-
munterung durch den alten Baumeister, der dem jüngeren Kollegen
öfter Prost, mein Junge! zugerufen haben soll, worauf dieser sich
vornahm, »nachzukommen«. Aus solchen, durch die Theater-
plauderer verbreiteten Erzählungen entstand nun die Vorstellung
von dem prädestinierten Nachfolger Baumeisters, und um diese
nicht zu enttäuschen, entschloß sich Herr Reimers, hin und wieder
auf der Bühne leise und fließend zu sprechen und sogar Sätze
ganz fallen zu lassen. Einen aber hat er jetzt gebracht, indem er
nämlich mit anspruchslosester Natürlichkeit in die Zeitung
schrieb: »Ich höre vielfach, daß man mich für den prä-
destinierten Nachfolger Baumeisters hält. .Möglich.« Und da es
nun außer Zweifel ist, daß Herrn Reimers das Herz auf der Zunge
liegt und daß er bald »biderb« sein wird, kam ihm auch ein
Interviewer ins Haus, der endlich herauskriegen wollte, wie Herr
Reimers das denn eigentlich mache, daß er es immer zuwege
bringe, so gesund, so natürlich, so geradezu zit sein. Und Reimers
antwortete nicht anders, als man erwartet hatte: »Es ist weiter
nichts dabei, daß ich so bin, daß ich nirgends und vor niemandem
mit dem zurückhalte, was ich denke, es ist gar kein Verdienst bei
meiner Offenheit — ich fürchte mich nicht und vor keinem
Menschen, weil meine Natur so ist, das ist alles.« Und er würde
sich, »wie er lachend sagt, wenn's ginge, am liebsten auch von
schwarzem Brot und Speck nähren. Sein gewöhnliches Nachtmahl
besteht auch »irklich aus Schwarzbrot mit Butter und einigen
Schnitten Wurst, auf warme Nachtmähler ist er nicht eingerichtet«.
Welche Schlichtheit! Das schreit Ja förmlich nach dem Götz
und Erbförster : >Was natürlich nicht ausschließt, daß er es
auch mit dem alleranspruchsvollsten ,warmen' Souper als wackerer
Kumpan tapfer aufnimmt — vorausgesetzt, daß es kein ,trockenes'
Souper ist« Welcher Humor! Falstaff! Na denn, Kinder, wollen
— 28 —
wir doch nicht so trocken da sitzen, Prost Doktorchen ! . . .
Durch acht Tage klang jetzt in Wien "das Lied vom braven Mann.
Das ist er wahrscheinlich, wenngleich es uns nichts angeht und
Herr Reimers sichs verbitten müßte, daß ihm Presse und Publikum
es bestätigen. Ich würde es nämlich ertragen, daß ein Schauspieler
ein Fallot wäre, wenn er sich nur verpflichtet, anständig zu spielen.
Er kann sich aushalten lassen, er kann lügen, ja meinetwegen
können uns von ihm sogar die genossenschaftlichen Bestrebungen
des Herrn Nissen gestohlen werden. Auf das Soziale wird
gepfiffen. Herr Reimers nun bekam unter anderm vom Vize-
gouverneur der Bodenkreditanstalt eine Sophokles-Büste und
von einem anderen Verehrer Verse von Paul Wilhelm. Aber
es wäre für alle Teile besser, er hätte, zuverlässig wie er ist,
fünfundzwanzig Jahre lang die Bodenkreditanstalt geleitet, Verse
von Sophokles erhalten und eine Paul Wilhelm-Büste. Man muß
kein Bewunderer des armen Kainz sein, um zu fühlen, welcher
Entgeistigung jetzt das arme Burgtheater entgegengeht.
Zusammenhänge
Der Earl von Rosebery ist nach Wien gekommen, und
Ehrlich 606 hat auf die Gehirnerweichung keinen Einfluß . . . :
das könnte der Anfang eines jener Leitartikel sein, in denen eine
börsenspielerische Phantasie zwischen den heterogensten Dingen
in immer auffälligerer Weise die Brücke schlägt. Geradezu er-
schreckend zeigt es sich an dem Eindruck, den die Mis-
sion des Lord Rosebery in diesem unruhvollen Gemütsleben
hinterlassen hat. Das aufregende Erlebnis, daß Rosebery eine
Rothschild geheiratet hat, wirkt noch immer nach und findet
seinen Niederschlag in einer sprunghaften Lebensbejahung, die
sich in dem Jauchzer Luft zu machen scheint: »Seid umschlungen,
Millionen, diesen Stuß der ganzen Welt!« Seit dem Anfall, in
welchem das Wort entstand: »Der Zinsfuß ist mit uns, so rufen
wir mit Gottfried von Bouillon !<, ist nichts so Auffälliges be-
obachtet worden wie der Hymnus zur Begrüßung des Lord Rose-
bery. Seine Gattin war eine vortreffliche Frau. »Er hat sie
kennen gelernt, als sein Wagen mit dem ihren zusammenstieß ....
Sie hatte ebenfalls das moderne sozialpolitische Gewissen und ver-
— 29 —
stand es, eine gute Kameradin auf den gemeinschaftlichen Reisen
um die Erde zu sein . . . Der Tod hat sie ihm genommen, und
Lord Rosebery ist seither einsam geworden und hat einen Hang
zur Ruhelosigkeit, der auch mit seinem gestörten Schlafe zusam-
menhängen mag.« Solche Art, an Anderen psychische Diagnosen
zu stellen, ist so wenig selten wie das blitzartige Erfassen von
Zusammenhängen. Völlige Klarheit bringt der Schluß der Be-
trachtung:
Schon lange sucht er den Weg zum Volke, neben und jenseits
der Parteien. Lord Rosebery ist gewiß einer der interessantesten Men-
schen, und geistige Beziehungen zu Wien hat er stets gehabt. Der
jüngere Pitt, den er bewundert und dessen Biographie zu seinen
literarischen Erstlingswerken gehört, ist aus Kränkung über die Nach-
richt von der Schlacht bei Austerlitz gestorben. Der Sohn Napoleons,
dessen Aufenthalt in Sankt Helena Lord Roseber>' geschildert hat,
wurde in der Kapuzinergnift begraben. Soeben haben die unschätzbaren
Denkwürdigkeiten der Baronin Sturmfeder, der Erzieherin des Kaisers,
gerade über die letzten Stunden des Herzogs von Reichstadt und über
dessen V'erhältnis zum Hofe wichtige Aufklärungen mitgeteilt, die von
der Geschichtsforschung nicht übersehen werden dürfen. Lord Rosebery
wird in Wien als sehr willkommener Gast aufgenommen werden. König
Georg hätte keinen würdigeren Vertreter schicken können.
Es ist kein Wunder, daß die Umgebung eines so atemlosen
Temperaments seine geistige Gangart mit der Zeit annimmt, und
daß zum Beispiel ein Mann, der die nüchterne Aufgabe über-
nommen hat, zum neunzigsten Geburtstag eines Gummifabrikanten
eine Notiz zu liefern, in die Worte ausbricht: »Ein Fest, wie es bisher
wohl noch keinem Fachmanne der Gummi-Industrie beschieden ge-
wesen ist, konnte am 16. August Herr Ludwig Edler v. Reithoffer
begehen, der an diesem Tage das neunzigste Lebensjahr vollendete«.
So interessant nun eine Untersuchung wäre, weshalb die Fachmänner
der Gummi-Industrie, deren lebensfeindliche Tätigkeit sich ja
nicht auf ihre eigene Person erstreckt und vor allem in ein viel
früheres Stadium der Entwicklung einzugreifen pflegt, fast nie
das neunzigste Jahr erreichen, so muß es sich doch die Wissenschaft
versagen, sich in diesem Fall einer journalistischen Zumutung anzu-
strengen. Dagegen tun die Ärzte bereitwillig etwas anderes. Der
Vertreter lokaler Interessen aus der Umgebung jenes publizistischen
Exaltados behauptet nämlich: »Die Ärzte sprechen von dem Gesetze
der Duplizität der FäWt, wenn seltene Kraiikheitssyraptome oder
unglückliche Ereignisse bei Operationen in rascher Folge eintreten.
•307-306
30
Die Brandkatastrophen in Brüssel, am Karersee, in Gossensaß
entsprechen dem Erfahrungssatze, daß Katastrophen sich häufig
^x'iederholen«. Nun ist es allerdings richtig, ^aß bei Operationen
oft ein Malheur geschieht und daß eine Epidemie in der Regel
nicht nur eine Duplizität der Fälle bedeutet wie zum Beispiel die
Cholera in Berlin, sondern sogar eine Multiplizität, wie zum
Beispiel die Cholera in Wien, aber mit jenem Erfahrungssatz
haben speziell nur solche Ärzte zu tun, die sich mit Geisteskrank-
heiten befassen und die leider der Ansicht sind, daß trotz der Ankunft
des Lord Rosebery und trotz der offenbaren Duplizität der Fälle
bei progressiver Publizistik Ehrlich 606 nicht anwendbar sei.
Ein Interview
». . . fragte mich lächelnd: ,Soll das ein Interview sein? Ich
bin 63 Jahre alt geworden und habe noch nie ein Interview gegeben.'
Dann begann das Gespräch mit einem bedauernden Hinweise auf das
schlechte Wetter . . . ,Ich habe es wohltätig empfunden, daß Wien auf
dem Gebiete des Automobilwesens noch beiweitem nicht solche Fort-
schritte gemacht hat, wie London oder Paris . . . Diese Stadt ist mir
sehr sympathisch ... Ich habe es stets vermieden, im Gespräche mit
Mitgliedern der Presse politische Fragen zu berühren ... Sie haben
ganz recht, wenn Sie mich einen Freund Österreich-Ungarns nennen.
Dies ist entschieden richtig . . . Denken Sie an die Erledigung der
Delagoabai-Kontroversen . . .'«
Titel: >Ein Gespräch mit dem Earl of Rosebery, dem Chef
der englischen Spezialmission.«
Erinnerungen
Wiewohl sich der Freiherr v. Cz., Sektionschef, Mitglied
des Herrenhauses und Geheimer Rat > überhaupt in seinen Mit-
teilungen die gebotene Reserve auferlegen muß«, teilt er doch
sehr interessante Dinge mit. Zum Beispiel: »Infolge einer Ver-
spätung der Südbahn kam jedoch der Erzherzog . . .« Man wußte
nicht, daß schon damals die Südbahn . . . Aber noch pikanter ist
das Folgende : »Von einer Eisenbahnfahrt zu seinem Wagen kom-
mend, habe ich einmal den Kaiser dem Leibkutscher ,Guten Mor-
— 31 —
gen!' zurufen und den Kutscher darauf antworten gehört: , Outen
Morgen, Eure Majestätl'« ... In durchaus zutreffender Weise beginnt
dagegen ein anderer, der Erinnerungen an den Maler Canon
erzählen will, mit dem Seufzer: »Daß er nicht die Jagdausstcllung
erleben konnte . . . !«
Meine Haut
Ich habe m der Redaktion des Extrablatts einen Freund, der
mit mir in seinen schlimmen Zeiten, wenn Not an Einfällen ist, alles
teilt. Der Mann war früher Juwelier und hat sich entschlos-
sen, seinen Beruf zu wechseln, weil man in der Literatur die guten
Sachen billiger bekommt. Wäre ich ehedem in seinen Laden
getreten und hätte ich meinen Ring von ihm taxieren lassen —
ich habe heute keinen, wiewohl mir ihn kein Journalist gezogen
hat — , er hätte mich vielleicht beneidet aber er hätte ihn ohne
meine ausdrückliche Zustimmung nicht zurückbehalten können.
"Bei materiellen Gütern gehören nämlich immer zwei dazu,
wenn der eine etwas haben will, was der andere hat. Bei geistigen
Eigentümern genügt in solchem Falle der eine, der haben will.
Behält der Juwelier den Ring zurück, ohne den Besitzer zu fragen, so
verfällt er nicht nur der Strafe, sondern auch der bürgerlichen Ächtung,
ja er begibt sich sogar dann in eine Gefahr, wenn er einen gestohlenen
Wertgegenstand durch ehrlichen Kauf an sich bringt. Der Juwelier
muß also besonders vorsichtig sein. Solch undankbarer Beruf aber
muß einem Mann, der in sich schon das Zeug zum Journalisten
fühlt, nicht behagen, das kann man ohneweiters glauben. Zumindest
ist es viel leichter, die Brillanten, die man früher kaufen und
verkaufen mußte, zu schreiben, und femer macht es im jour-
nalistischen Beruf nicht das geringste aus, wenn man sie nicht
schreibt, sondern findet. Und es ist dann oft sogar für den Verlierer
kompromittierender als für den Finder, wenn sich die Wertsache
in der Fassung des Extrablatts präsentieren kann. Aber mein Gott,
was ist heutzutage nicht alles möglich. Die Raubmörder, die der
ewigen Erörterung ihrer Berufsfragen satt sind, vertragen es,
wenigstens die jüngere Generation, ganz gut, wenn hin und wieder
ein Aphorismus über Sprache eingeflochten wird. Und ich wiederum,
den das Extrablatt seit Jahren unterdrückt, kann mich nicht
32
beklagen, wenn es heute zwar noch keine Notiz, aber dafür einen
Aphorismus von mir nimmt, mag ein solcher auch die Quintessenz
dessen enthalten, was aus und von der Sprache gedacht werden kann,
also auf einem Gebiete liegt, das der Redaktion des Extra-
blattes eigentlich fernliegt. Mich totschweigen, aber meine Worte
schätzen und die nehmen, die von der Sprache handeln, das ist
immerhin schon ein Fortschritt auf dem Wege, den ich seit Jahren
gehe, um endlich ins Extrablatt zu kommen. Mit der Neuen Freien
Presse — deren ablehnende Haltung ist ja, so behauptet ein gut
informierter Theosoph, der Eckstein meiner Entwicklung — wirds auf
absehbare Zeit hinaus ja doch nichts. Man wird alt, und darum
habe ich mich einmal gefreut, daß mir wenigstens nach dem Tode
Ludwig Hevesis eine Anerkennung zuteil wurde. Jenerjuwelier nahm
damals meinen Gedanken über die Sprache, die mich beherrscht,
zu sich und zeigte ihn den Lesern des Extrablatts, die sich an
den Kopf griffen, während ich mir an die Tasche griff.
Kleinlich, wie ich bin, hielt ich es für erheblicher, daß mir
vier Worte abhanden gekommen waren, als wenn man
dem Extrablatt vier Jahrgänge davongetragen hätte. Immerhin,,
was kann mir geschehen, dachte ich, solange man mir meine Haut
noch läßt! Die Sprache nämlich ist die Haut meiner Gedanken,
nicht ihr Kleid, hatte ich einmal geschrieben. Wie lange werde ich
warten müssen, bis das Extrablatt auch diese Erkenntnis anerkennt?
Aber da wird die Ebner-Eschenbach achtzig Jahre alt, und ich
fühle, meine Stunde ist gekommen. Meine Gedanken werden zum
Gemeingut, ja sie gehen sogar in das Extrablatt über. Was sehe
ich? Ein Bild der Jubilarin. Nun, das ist im Extrablatt weiter nicht
auffallend, in einer Zeitung, für die die Welt schließlich nicht nur
aus Raubmördern, sondern auch aus goldenen Hochzeitern besteht
(16 karatig, wie der neue Mitarbeiter versichert). Also ein Bild; aber
darunter auch ein Text. Ich sehe nicht, von wem er geschrieben
ist, aber ich bin ein stilistischer Schätzmeister und ich erkenne die
Kunden des geistigen Wien an den Wertsachen, die sie nehmen,
ich erkenne den Stil eines Autors an jedem Satz, der nicht
von ihm ist. Die Polizei ist mit dem Extrablatt befreundet,
aber sie könnte mich besser brauchen, wiewohl ich ihr keine Re-
klame mache. Ich sehe ein Bild im Extrablatt, und ich agnosziere
trotzdem sofort die Ebner-Eschenbach, ich lese einen Text und ich
finde einen Satz darin, der lautet: »Das Wort ist nicht das Kleid
— 33 —
des Gedankens bei ihr, es ist seine Haut«. Meine Haut! Ich wehre
mich meiner Haut. Wenn der Herr Schmuck haben will, er halte
sich an die Feuilletonisten!
Zehntausend pietätvolle Besucher
>Herr Dr. J. Goldenstein schreibt uns aus Jassy: Sehr geehrte
Redaktion! Als langjähriger Abonnent erlaube ich mir anläßlich Ihres
Artikels ,Ein Besuch an Heines Grab' und der darauf bezüglichen Zu-
schriften mitzuteikn, daß ich im Jahre 1899 in Paris Heines Grab
besucht habe und zu den vielen Visitkarten auch die meinige . . .«
Genug! Wir glauben. Aber diesem Heine rühmt ja die
Gemeinde nach, daß er noch den Tod mit einem Witz empfan-
gen habe. Warum rief er jetzt nicht, ein- für allemal : Goldenstein,
sagen Sie's auch den andern, ich lass' mich verleugnen!
Nun also
«Geheimrat Ehrlich erklärt, daß die Zahlungsfähigkeit des
Patienten nicht darüber entscheide, ob er mit dem neuen Mittel
zu behandeln sei. Das hänge lediglich von den Ärzten und ihrem
Urteile ab.<
Der Deutlichkeit halber
In Berlin, unter den Linden, ist das Schaufenster eines
Hofphotographen. . Dort ist einer mit einem Pinsel in der
Hand photographiert: aha ein Maler! Dann ist einer mit einer
Zigarette in der Hand photographiert: aha ein Raucher! Dann ist
einer, der gar nichts in der Hand hat, photographiert: aha ein
Nordpolentdecker! Und dann ist noch Herr Harden mit einer
Feder in der Hand photographiert: aha ein Schriftsteller!
— 34 —
Die Einteilung
Deutschland ist aufgebracht. Rektor Bock in Berlin hatte
Gelegenheit, kleine Mädchen . . . Einer unserer Mitarbeiter hatte
Gelegenheit, darüber einen Stadtschulrat . . . > Berlin ist in drei-
zehn Stadtschulkreise eingeteilt . . .«, begann der Stadtschulrat.
Aha, da kann allerhand vorkommen, dachte der Mitarbeiter. Qallia
est omnis divisa in partes tres, dachte der Stadtschulrat. Gewiß,
und was ist da nicht schon alles passiert!
Das Wiener Leben ein Traum
». . . Mit rasender Eile durchfuhren die Automobile der
Feuerwehr den von einer dichten Menschenmenge bevölkerten
Praterstern und bogen dann in die Ausstellungsstraße ein . . . Die
Ausstellungsstraße kam hintereinander eine Reihe von Einspännern
herunter, die eine Protestversammlung gegen die Einführung des
Taxameters veranstaltet hatten . . . Die ungeheure Menschenmenge,
die anläßlich des Kaiserfestes in den Prater pilgerte, sowie Auto-
mobile und Einspänner bildeten einen dichten Knäuel . . . alles
raste in wilder Eile auseinander . . . man sah auf dem Boden einen
Sicherheitswachmann und einen Mann in Straßenbahneruniform
liegen . . . Die Freiwillige Rettungsgesellschaft mit dem kaiser-
lichen Rat Dr. Charas an der Spitze . . . Den Verletzten wurde
erste Hilfe geleistet ... lag in den letzten Zügen ... der
30jährige Johann Letz . . . schweren Nervenchok, einen
Bruch des Beckens und eine Zerreißung des Mittel fleisches
erlitten . . . Nachträglich wird uns eine Darstellung . . . stand
der Wachmann Letz und regelte den Verkehr . . . wollte aus-
weichen, wurde jedoch vom rechten Vorderrad des Automobils
erfaßt und kam unter das linke Hinterrad zu liegen ... riß der
Chauffeur das Automobil scharf nach rechts . . . Mit dem Körper
des Wachmannes fuhr das Automobil auf die Anlagen zu und
faßte dort den Motorführer Liebenstein, der flüchten wollte . . .
drückte einen Einspännerwagen, der dort stand, an die Bäume
der Allee über das Anlagegitter . . . Rißquetschwunde am Ober-
schenkel, Quetschung der rechten Wade, zahlreiche Hautab-
schürfungen und eine Zerrung im Sprunggelenk erlitten . . . Dies-
— 35 —
bezüglich sind Erhebungen im Zuge ... der Wachmann hatte
das Automobil nicht kommen sehen oder auf der andern Seite der
Straße etwas Auffälliges bemerkt (vielleicht eine Prostituierte, die
nicht befugt war. Anm. des Träumers) . . . Einer unserer Mit-
arbeiter hatte Gelegenheit, mit dem Einspännerkutscher Fiby . . . :
»Es war g'rad, wie die meisten von uns von der Versammlung
zurückg'fahren sind ... Ich war schon am End' der Ausstellungs-
straße mit meinem Zeug, als ein Feuerwehrautomobil f ü r i-
schiaßt... Ich mach' vom Bock zwei Purzelbäum' . . .«
Das Erlebnis des Kritikers
Von Samuel Lublinski
Aus Gründen einer nicht gerade behaglichen Doppel-
stellung kann ich mich für besonders kompetent halten,
in dem immer neu ausbrechenden Streit über das
Wesen der Kritik das Wort zu ergreifen. Man tut mir
die Ehre an (wenn es eine Ehre ist), mich mit Er-
bitterung oder Neigung vorzugsweise als Kritiker zu
betrachten, während sich nicht allzu viele um den
Dichter und Dramatiker bekümmern. Immerhin habe
ich auch in dieser Beziehung genug Erfahrungen
gesammelt, um den Haß der Schaffenden oder solcher,
die sich dafür halten, gegen eine plump anmaßliche
und plump unsachliche Kritik, die vor allem
»funkeine will, gründlich nachzufühlen. Vielleicht
gibt diese Doppelerkenntnis einmal Anlaß, über das
Verhältnis von Kritik und Produktion einige allge-
meinere Tatsachen zu fixieren. Heute möchte ich nur
ein Schlagwort herausgreifen, das von einer gewissen
seltsamen Sorte gekränkter Autoren, zumal von miß-
ratenen Lyrikern, mit einem verdächtigen Übereifer
verwertet wird. Der Kritiker soll nach den pythischen
Orakelsprüchen dieser Verärgerten angeblich nicht im
Stande sein, das Kunstwerk zu erleben, sondern er
vermag es höchstens nach einem schematischen Dogma
oberflächlich abzutun. Dieser Trost, den sich alte und
junge »Schaffende« ausgedacht haben, beweist nur,
daß die Herren selber sehr dogmatische Vor-
36 —
Stellungen von ihrer Gegnerin haben und von den
Notwendigkeiten der Kritik nicht allzu viel wissen.
In Wirklichkeit will der Kritiker erleben, um zu
erkennen. Wo man mit bloßer Verstandeserkenntnis
längst nicht mehr hingelangt, gerade dort vermag er
schlechterdings nicht zu entsagen, sondern möchte
dieses unbekannte Land durchaus durchwandern,
durchaus ergründen und den Reichen seiner Er-
kenntnisse einverleiben. Eine Persönlichkeit ringsher
zu umschreiten, bis sie alle ihre Konturen aufweist,
und dem Rhythmus ihres Herzschlages zu lauschen, bis
sich der volle Umfang ihrer »Psychologie« offenbart:
darauf vor allem richtet sich diese brennende und
manchmal wirklich schon ehrfurchtslose Neugierde des
geborenen Kritikers. Um aber sein Ziel zu erreichen,
muß er doch wieder voller Ehrfurcht in einer fremden
Persönlichkeit, und wäre es auch eine geringere als
er selber, auf- und untergehen, so gut wie ein Schau-
spieler in seine Masken schlüpft oder der Dramatiker
in seine Haupt- und Nebenfiguren. Sagen wir rund
heraus, daß sich der erste Akt der kritischen Produktion
von dem der künstlerischen nicht unterscheidet. Der
Kritiker erlebt seine Gestalten ganz wie sie der Dichter
erlebt, und es geht in dem einen wie anderen Fall
die völlig gleiche innere Erregung der produktiven
Konzeption voraus. Der Unterschied setzt erst im fünften
Akt ein, wenn es die Summe zu ziehen gilt. Das Er-
lebnis des Dichters verwandelt sich in Gestaltung und
das des Kritikers in Analyse, in Erkenntnis und Formu-
lierung. Hat der Kritiker sein Gegenüber so gründlich,
so intensiv und intuitiv erlebt, als es ihm nur immer
beschieden ist, dann will er es keineswegs mit gleicher
Rundheit und Plastik hinstellen wie der Dichter,
sondern es vor allem auf die verkürzende Chiffre
bringen. Auf eine Chiffre, die den anderen allen, den
noch nicht Eingeweihten, einen ersten Wink gibt, ihm
selber aber den gleichen Dienst leistet wie etwa dem
Naturwissenschaftler irgend eine botanische oder
chemische Formel, hinter der er die wogende Fülle
37 —
der organischen Gestaltung ahnt. Ganz gewiß können
solche Formeln einen naiven Instinktmenschen manch-
mal wie starrende Larven und Gespenster anmuten,
und auch dem Kritiker mag es widerfahren, daß er
selbst nach Jahren oder nach Jahrzehnten nicht mehr
so genau weiß, was hinter dieser Chiffre steht, weil
der Leitungsdraht zwischen Erlebnis und Erkenntnis
inzwischen zerrissen ist. Trotzdem hat man eine Be-
rechtigung zu dem Verdacht, daß der leidenschaft-
lichste Haß gegen die verkürzende Feststellung des
Kritikers von jenen Stumpfsinnigen herrührt, über die
noch niemals die Fluten der Erscheinungen zusammen-
schlugen und die darum auch niemals ein Bedürfnis
nach einordnender Konzentration empfunden haben
oder empfinden werden. Einen Vorwurf aus solchem
Munde über angebliche Erlebnisunfähigheit kann jeder
wirkliche Kritiker mit gleichgültiger Lässigkeit entgegen-
nehmen. Seine schlimmeren und gefährlicheren Gegner
sind dagegen die »verehrenden« Naturen, in denen
eine hohe menschliche Tugend zu widerwärtiger Ver-
zerrung entartet ist. Damit wird aber bereits das Wert-
urteil des Kritikers berührt, zu dem er sich unver-
meidlicher Weise gegenüber jeder dichterischen
Erscheinung genötigt sieht, da von einem gewissen
Punkt ab die reine Erkenntnis aufhört und Haß und
Liebe ihr verwirrendes und wunderlich fatalistisches
Spiel beginnen.
Eine Persönlichkeit von Grund aus kennen, heißt
zugleich ihre Schranken kennen, jene Absonderung,
die ihr ein für allemal ein Verständnis für Dinge und
Verhältnisse versagt, zu denen anders geartete Naturen
vielleicht Zugang haben. Natüdich liegt hier nicht nur
eine Schwäche vor, sondern auch eine Stärke, meistens
sogar eine Stärke, jene fruchtbare Einseitigkeit, ohne
die noch nie und nirgends etwas wahrhaft Lebendiges
geschaffen wurde. Es wäre ungeheuerlich, wenn man
an Goethes und Shakespeares Schranken herummäkeln
wollte, solange man an Goethes und Shakespeares
Größe nicht zweifelt, weil man dann aus einer sonnen-
38
beschienenen Landschaft jene vertiefenden Wolken-
schatten hinwegwünscht, die das durchbrechende Licht in
noch glühenderen Strahlen aufschimmern lassen. Doch
die subjektive Stimmung spielt bei einer solchen
Betrachtungsweise fast die Hauptrolle, Sie überwiegt
selbst den Genuß der ästhetischen Werte, und wer
etwa Shakespeares Vorbild für das deutsche Drama als
ein Verhängnis ansieht, der steht anders zu den
Schranken dieses Genies als der bedingungslose
Bewunderer. So kann man beispielsweise bei Paul Ernst
etwas wie Shakespearehaß entdecken, und keiner hat
mit solchem Scharfblick die Schwächen des allgemein
anerkannten Dichterfürsten herausgespürt. Daraus haben
einige kluge Leute schließen wollen, daß er für
Shakespeare »kein Organ« habe, während ich aus
persönlicher Erfahrung das Gegenteil genau weiß. Er
hat ihn gründlich gelesen und kennt jede dichterische
Schönheit, und dennoch überwiegt das Gefühl für die
Grenze, die er gerade aus seiner genauen Erkenntnis
heraus so intensiv empfindet. Hier entscheidet das
letzte Menschliche, der Urgegensatz der Instinkte, und
noch jeder Kritiker, der diesen Namen verdient, steht
gegenüber bedeutenden oder auch nur eigenartigen
Persönlichkeiten irgendwann einmal am Scheideweg,
wo er sich für Haß oder Liebe zu entscheiden
hat. Am deutlichsten ist dieses eigentümliche Verhältnis
gegenüber Schiller zu ersehen, dessen Mängel sich
gar zu bald dem kritischen Blick selbst des Ober-
flächlichen offenbaren. Es kommt auch heute noch
vor, daß man diesen Dichter trotz und wegen seiner
Schwächen inbrünstig liebt, weil man alle seine Einseitig-
keiten nur als die Schlagschatten des Lichtbildes
empfindet. Noch häufiger mag es freilich geschehen,
daß sich bei anders gearteten Naturen darüber der
Haß entzündet, wie es vor hundert Jahren schon bei
den Romantikern der Fall war und in jüngster Zeit
bei Weininger, dessen Worte voller Schillerhaß kürzlich
erst Karl Kraus in der Fackel veröffentlicht hat. Ich
teile diesen Standpunkt nicht, beklage ihn sogar, und
39 -
würde es dennoch als absurd empfinden, wenn ein
begeisterter typisclier Oberlehrer mit der Behauptung
auftreten wollte, daß Weininger Schiller nicht »erlebt«
habe. Er hat ihn ohne Zweifel tiefer erlebt als jener
Begeisterte, weil er ihn sonst nicht so aus der Tiefe
heraus gehaßt hätte.
Aber der typische Oberlehrer und Schillerverehrer
aus der Provinz beginnt auszusterben und einem noch
viel absonderlicheren Geschlecht kurioser »Erleber«
den Platz zu räumen. Schiller ist aus der
Mode gekommen und ebenso der Schillerverehrer, an
dessen Stelle rudelweise die Bewunderer der modernen
Dichtung auf dem Plan erscheinen. Das sind Herren,
denen der amüsierte Beobachter die ergötzlichsten
Erkenntnisse zur Psychologie der Verehrung zu
verdanken hat. Diese ewig Jugendlichen möchten um
jeden Preis eine Erhöhung ihres nicht allzu geschwellten
Lebensgefühles erreichen, und der Dichter ist ihnen nicht
mehr als ein Vorwand zur Betätigung ihrer ungestillten
Pubertätsbedürfnisse. Es hängt vom Zufall und von der
Mode ab, ob ein solcher Verehrer an Hauptmann oder an
Sudermann gerät, an Stefan George oder gar an
Julius Bab, und dieser ehrlich Verliebte legt nicht den
mindesten Wert darauf, seinen Dichter wirklich kennen
zu lernen. Denn da mit der Erkenntnis zugleich auch
die Grenzlinie gegeben wäre, so müßte der verehrendeTropf
freilich verzweifeln. Er will ja gar keine Individualität
erkennen, sondern vor einem Götzenbild im Staube
liegen; keine klare Erscheinung ruhig auf sich
wirken lassen, sondern vor einem umrißlosen
Riesengebilde in masochistischer Wonne erschauem.
Natürlich wäre jeder verloren, der von solchen
verzerrten Käuzen Auskunft über ihre Lieblingsdichter
erhalten wollte. Ein Georgeaner dieses Schlages würde
höchstens voll stammelnder Verzücktheit das Wort
»Asphodeloswiese« über seine zitternde Lippe schlüpfen
lassen oder mit sprachloser Ehrfurcht auf einen
Kaffeehausspiegel hinweisen, vor dem der Dichter vor
langen Jahren einmal saß; — mehr wäre aus diesem
— 40 —
ausgehöhlten Ktirbisschädel gewiß nicht herauszupressen.
Solche Ergötzlichkeiten, wenn auch nicht immer in
so krasser Form, erlebt heute jeder Kritiker, der
mit einem Verehrer zusammenprallt. Von dieser Seite
her wird zumeist auch der Vorwurf erhoben, daß der
Kritiker nicht zu »erleben« verstehe, und es läßt sich
nicht leugen, daß das kritische Erlebnis, das
aus tiefer Erkenntnis der besonderen Individualität
entspringt, gar nichts mit den sinnlosen Verzückun-
gen der brünstig Leeren gemeinsam hat. Diese
Leute betrachten mit Recht den Kritiker als ihren Tod-
feind, weil er »in liebloser Weise« ihre sogenannten
Ideale zerstört und ihnen ihre Strohhütten über den
Köpfen anzündet. Diesen Gegensatz hat die Natur
geschaffen, und er ist darum glücklicherweise nicht
zu überbrücken.
In früheren Zeiten der Literatur haben die Ver-
ehrer keine besondere Rolle gespielt. Jeder wirkliche
Dichter empfand eine schier physische Abneigung
gegen diese Sorte zudringlicher Bewunderer, die ihm,
nach einem Ausdruck Gotthold Ephraim Lessings,
Weihrauchfässer an den Kopf warfen. (Gotthold Ephraim
Lessing ist nicht zu verwechseln mit einem gegen-
wärtigen Theodor Lessing aus Hannover, der einen
»Lärmschutzverband« begründet hat, also einen Verein
zur Beschützung des Lärmes, weshalb es begreiflich
erscheint, daß der genannte Herr durch literarische
Lärmmacherei eine Aufmerksamkeit erzwingen will,
die einem Hardenepigonen nicht zukommt.) Es war
bisher noch immer der feinste Triumph
für einen wahrhaft Großen, einen Kritiker, der seine
Grenzen durchschaute, dennoch zu überwinden. Auch
heute ist dieses Gefühl im Grunde noch nicht
erloschen, daß man vom erbitterten Gegner besser
verstanden und sogar vielleicht in aller Heimlich-
keit mehr geliebt wird als von einer kreischenden
Horde geräuschvoller Mitläufer. Aber man läßt dieses
Gefühl gegenwärtig aus besonderen Gründen nicht in
sich aufkommen. Keiner der heute lebenden Dichter
t.
— 41 —
bedeutet bereits in seiner Gesamtheit eine Erfüllung;
sondern sie sind Hoffnungen, die zumeist in die Zu-
kunft weisen, .vielleicht in ihre eigene Zukunft, viel-
leicht auch erst in die ihrer Nachfolger. Das liegt am
Wesen der Übergangszeit und hat auch noch manche
andere Gründe, deren Erörterung zu weit führen würde.
Die gleichen psychologischen Bedingungen haben dabei
jeden dieser Poeten irgendwie zu einem kleinen oder
größeren Nietzscheaner gemacht, der in seines Ichs ge-
schwelltem Gefühl bis an die Sterne zu rühren glaubt.
Da sind freilich nicht nur die Autoren daran Schuld,
sondern auch das Publikum und das Banausentum
hochmütiger Praktiker, die auf geistige Bestrebungen
herablächelten und dadurch einen Gegendruck hervor-
riefen. Gleichviel aber, jener Hochmut der Dichter
(nicht zu verwechseln mit ihrem legitimen Selbstbewußt-
sein) mußte es peinlich empfinden, wenn die Kritik
das wirkliche Maß ihrer Leistungen feststellte und diese
am Zukunftsideal der Moderne abschätzte. In solchen
Momenten sehnte sich die verletzte Eitelkeit nach
Selbsttäuschung und sofort begann der Weizen jener
genugsam gekennzeichneten Verehrer zu blühen und
dieses Unkraut blüht auch noch heute. Naive Leute
haben sich darüber gewundert, wie wenig vorsichtig
anerkannte Dichter unserer Tage in der Wahl ihrer
Freunde zu sein pflegen, da sie jeden un-
bedenklich zulassen, der den Eintrittssold der Be-
wunderung nicht verweigert. Diese Zugelassenen
finden wohlwollende Ermutigung bei ihren Poeten,
wenn sie das Indianergeheul gegen die verhaßte Kritik
anzustimmen beginnen. Warum die betreffenden Herren
hauptsächlich das Schlagwort vom »Erleben« in die
Debatte warfen, wird jedem klar sein, der sich ein
wenig auf ihre Psychologie versteht. Keiner hätte auf
diese Gesellen und ihrJammergeschrei auch nur hingehört,
wenn nicht angesehene Dichter dahinterständen. Nur
so konnte der Schlachtruf gegen die Kritik einen
stärkeren Widerhall finden, und hier gerade darf sich
der Kritiker, der über seine Erlebnisse Bescheid weiß, mit
42
gutem Gewissen und vor allem auch im Interesse der
Literatur selbst seiner Haut wehren. Nur eine strenge
und ehrliche Kritik kann verhindern, daß die Moderne
in dieser Übergangszeit durch Selbstüberschätzung und
durch das Verehrungsbedürfnis der Vielzuvielen um
ihre Zukunft betrogen wird. So lange dieser Zustand
noch vorherrscht, darf man sich nicht einmal in Er-
örterungen über wirkliche Schäden des kritischen
Berufes einlassen, zumal auch diese erst richtig ab-
geschätzt werden können, wenn sich weitere Kreise
über Wesen und Natur der Kritik klarer geworden
sind, als es gegenwärtig der Fall zu sein scheint.
Desperanto
Neuerlicher Versuch einer Übersetzung aus Harden»)
Von Karl Kraus
So dornig der Pfad auch ist, der bildungshungrige
Leser zum Verständnis dieser merkwürdigen Sprache
führt, in der die geheimsten Zauber von Delphi und
Hundekehle aufzuklingen scheinen, der Übersetzer hat
es sich zur Pflicht gemacht, nicht zu erlahmen, son-
dern die Deutschen durchaus zu jenem Genuß zu er-
ziehen, auf den sie einen Anspruch haben: daß sie
nämlich verstehen, was sie seit achtzehn Jahrgängen
mit lebhaftem Interesse lesen. Und ist es denn nicht
ein unerträglicher Zustand, daß einer die politischen
Geschicke Deutschlands lenkt und die politischen
Geschicke Deutschlands ihm aufs Wort parieren, ohne
zu wissen, was das Wort bedeutet? Ist es nicht end-
lich an der Zeit, dem anerkannt ersten Publizisten
Deutschlands zu der ihm gebührenden Stellung zu
*) Zuerst in der Halbmonatschrift ,März' erschienen.
— 43
verhelfen ? Indem es gelingen mag, seine gedanltliche
Leistung losgelöst von allen Eigentümlichkeiten for-
maler Natur dem Publikum zu bieten, wird auch der
gemeine Mann in der Lage sein, die letzte Entschei-
dung über die sozialen und kulturellen Probleme der
Epoche zu vernehmen, während dem Feinschmecker
wieder die esoterischen Reize einer Sprache offenbar
werden sollen, die niemand spricht, so daß er sie ge-
nießen und zugleich in angenehmer Entfernung erken-
nen wird, wie schwer das Leben ist. Auch diesmal
aber muß der Übersetzer, der sich für andere plagt,
Nachsicht an jenen Stellen erbitten, wo unüberwind-
bare Hindernisse ihm den eindeutigen Ausdruck ver-
wehrt oder gar noch größere Verlegenheit bereitet
haben. Welches Deutschen Bildung wäre heute so aus-
gereift, daß er, namentlich in der Sommerfrische, immer
jene Behelfe wie Zettelkasten, Brockhaus und so weiter
bei der Hand hätte, die nun einmal notwendig sind,
um hinter die eleusinischen Mysterien eines politischen
Leitartikels zu kommen? Wahrlich, diese Sprache ist
leichter erlernt als verstanden. Sie hat ihre Vorzüge
und ihre Nachteile, und sie ist durch ihre chiffrierende
Art, zugleich zu verkürzen und zu verwirren, dem
Diplomaten ein quälender Zeitvertreib und dem Privat-
mann eine angenehme Tortur. Die Desperantosprache
bietet wie keine andere die Möglichkeit, sämtliche
Nationen auf dem gemeinsamen Boden gegenseitigen
Mißverstehens zusammenzuführen. Wenn man zum
Beispiel einem Japaner zuriefe: »Schälle täuben«, so
würde er es unfehlbar für einen russischen Schlachtruf
halten und sich zurückziehen ; ein Russe würde sagen,
es sei die Bezeichnung für einen hyperboreischen
Volksstamm, der bei der Völkerwanderung zurück-
geblieben sei; ein Hyperboreer würde glauben, es sei
deutsch; und ein Deutscher würde sich die Ohren
zuhalten, womit er instinktiv das Richtige träfe, denn
der Satz ist nicht nur abscheulich, sondern bedeutet
nichts anderes als: »Gerüchte sind trügerisch!« Aber
wer kann das sogleich wissen? Wer weiß, was ein
44
Wort bedeutet? Wenn ich nicht einst dem Schöpfer
dieser Sprache auf den Kopf zu gesagt hätte, daß der
Satz »Strählt die Miauzer«, so viel bedeuten müsse,
wie »Streichelt die Katzen!«, noch heute würde man
in jenem Dunkel tappen, in dem zwar di^ Miauzer
sehen können, aber nicht die, welche sie streicheln
sollen. Da diese Sprache heute nur einer ganz und
gar beherrscht, so können die andern von Glück
sagen, wenn sie ein Zipfelchen des Verständnisses er-
haschen. Sie ist ein schweres Kleid von Brokat, das
einer gezwungen ist schwitzend über den alltäglichsten
Gedanken zu tragen. Diese zu enthüllen und in einem
übertrieben alltäglichen Gewand, in dem sie sich wohler
fühlen, zu präsentieren, soll nicht zuletzt der Zweck
der philologischen Übung sein. Jeder mag aus ihr
lernen, wie leicht es ist, eine schwer verständliche
Sprache zu sprechen, und daß nur die liebe Not ein
so prunkvolles Leben führt. Freilich ist neben dem
Mangel an Humor und Temperament auch eine gewisse
Ausdauer und Zähigkeit des Charakters erforderlich.
Anfänger, die den Ehrgeiz haben, sich im Desperanto
zu vervollkommnen, seien darauf aufmerksam gemacht,
daß es nicht genügt, sich einige ausgestopfte Bana-
litäten anzueignen, sondern daß auch die Erwerbung
eines Zungenfehlers unerläßlich ist. Schwerer als das
viele Neue, das sie zulernen müssen, wird es ihnen
ankommen, in den wichtigsten Augenblicken ihres
Lebens auf das »s« zu verzichten, zum Beispiel beim
Zeugungakt. Ich warne Neugierige. Der Meister selbst,
dem sie nacheifern, ist einmal an einer der größten
Schwierigkeiten, die sich ihm bei seinem Neuerungwerk
entgegenstellten, verzweifelt. Er hatte schon für
alle sprachlichen Skrupel, die sich ergaben, einen
»Schwichtigunggrund« gefunden, und kein »s«, das
nicht etwa der Genitiv mit sich brachte, wurde im
Haushalt geduldet. Er war bei dieser asketischen
Lebensweise fünfundvierzig Jahre alt geworden, alle
Deutschen huldigten ihm, von den Regierungräten
abwärts bis zu -den Handlunggehilfen, und besonders
■^ 45 —
diese. Da gratulierte ihm sein Dämon zum — Geburttag.
Er brach zusammen. Denn das ging wirklich nicht.
Nie hat er das Wort geschrieben. Sondern behalt
sich mit Abkürzungen wie etwa : »der Tag, an dem
der erste Blick ins Sonnenlicht sich jährt«, »die Wieder-
kehr der Stunde, die den heut zur Mannheit Empor-
gereckten ins Dasein rief«, und dergleichen. Nie hat
er das Wort geschrieben. Es ist die geheime Tragik
in seinem Leben . . . Wen nur der Glanz seiner Sprache
lockt und nicht ihre Schatten nüchtern, wen ihre
Schälle täuben und nicht ihre Stöße schüttern, wen
nur ihr Ruch thört und nicht ihr Stank stört, der folge
mir getrost durch diesen Deutschungversuch.
Vor vierzehn Tagen habe ich hier
versucht, das vor und nach der
Weihnacht des Jahres 1907 im
allensteiner Haus des Majors
Gustav von Schoenebeck Ge-
schehene mit dem von der
Psychopathologie gelieferten
Wericzeug abzutasten und dem
Menschensinn zum Verständnis
des ihm unverständlich Schei-
nenden zu helfen
In der vorletzten Nummer habe
ich mich an dem Fall Schoene-
beck, ohne die Quelle des Herrn
von Schrenck-Notzing zu nennen,
detailmalerisch ergötzt und mich
dabei bemüht, das Verständliche
unverständlich zu machen
Ihr evangelisches Bewußtsein ist,
auch wenn sie es erst eUiche
Jahrzehnte nach den Steckkissen-
tagen erworben haben, von mi-
mosiger Empfindsamkeit
Ihr Christentum ist, auch wenn sie
erst lange nach der Geburt ge-
tauft wurden, von mimosenhafter
Empfindlichkeit
Wer je genötigt war, seinen Namen
unter ein Gerichtsprotokol zu
setzen, vergißts nicht so bald.
Seine Aussage mag noch so
einfach sein: . . . was er in
lebendiger Rede rasch vorbringt,
wird in den altfränkischen Pomp
der Gerichtssprache gekleidet . . .
Und in neun von zehn Fällen
bleibt der Vernehmende Sieger.
Er meints so gut, quält sich so
redlich, die Laienrede in sein
geliebtes Juristendeutsch zu über-
tragen . . .
Das Einfache wird verkünstelt.
Ein alter Obelstand, über den
sich auch die Richter beklagen,
wenn sie wieder den schlichten
altfränkischen Pomp ihrer Sprache
in den byzantinischen Prunk
einer deutschen Wochenschrift
gekleidet sehen
- 46
Soll man dem Geplagten, vor dessen
Tür ein Bäckerdutzend Beschul-
digter oder Zeugnispflichtiger
wartet, das Amtsleben noch
mehr bittern?
Soll der geplagte Richter auch noch
diesen Satz lesen?
An diese Aussage waren sie fortan
gekettet . . . Die conviction in-
time der Geschworenen ist an
keine Paragraphenvorschrift ge-
knotet . . . Müssen die Zeugen
an den Rahmen des Gedächtnis-
bildes genagelt werden, das
freilich frisch ist, oft aber nur
die Mängel des flüchtig hin-
wischenden Impressionismus er-
kennen läßt? . . . Begreift Ihr
wirklich nicht, warum der Arme
nicht von dem Glauben loszu-
haken ist, die gröbste Form der
Klassenjustiz sei im Alltagsge-
brauch?
Folterbräuche der preußischen
Straf Justiz und der deutschen
Satzbildung
In einem Orenznest, wo die Gar-
nison ein ummauertes Städtchen
bildet, hat keiner gemerkt, daß
die Frau des Majors vom Stabe
ihren Hausschlüssel in der Runde
kreisen ließ, mit dem Taschen-
tuch ihren Buhlen Fensterflaggen-
signale gab, im Schlafzimmer
ihnen Mahlzeiten servierte, mit
ihnen in Königsberg und in
Haffbädern zusammenwohnte, an
der Alle in Kattunkleid und
Kopftuch Sexualabenteuer suchte
An der Alle hat man nichts ge-
wußt
In Berlin war sie als leicht erraff-
bare Ware bekannt; hatte die
Christgeschenkeinkäuferin vor
einzelnen Stundenbesitzern sogar
die Namensmaske gelüftet
In Berlin hat man Alles gewußt
Richter, die unter der Schreibfron
welk, unter dem steten Gewirbel
grauen Aktenstaubes mürrisch
geworden sind
Alte und unfreundliche Richter
Dieser Vorsitzende ähnelte nicht
dem ersten Kaiser Ferdinand,
von dem Julius Wilhelm Zincgref
in seinen >Apophthegmata« er-
zählt hat: . . .
Dieser Vorsitzende verhält sich zu
KaiserFerdinand wie eine Mey^ine
zu einem Zettelkasten
Der Nation und aUem auf der Erd-
feste Kribbelnden künden
Der Nation und
verkünden
der Mensctiheit
Allmählich verdüsterte sich auf
dem Goebenbildnis der Grund-
ton so, daß selbst des Schwär-
mers frommer Glaube von Skepsis
angenagt ward
Mit der Zeit wurden selbst die
Anhänger Goebens wankend
Ins Irrenasyl befördern
Ins Irrenhaus spenen'
Wenn Madame Antoinette Lust hat,
kann sie mit oder schon vor
den Schwalben südwärts ziehen
Wenn Frau v. Schönebeck will,
kann sie im Herbst oder schon
früher nach dem Süden gehen
(Was ihr mj gönnen wäre.
Anm. d. Obers.)
Frau Antoinette sitzt gemächlich
in der Hardenbergstraße und
kann sich, wenn's ihr paßt, den
Amphibien westlicher Nacht-
kaffeehäuser gesellen
Herr Harden regt sich im Grune-
wald an solchen Vorstellungen
auf, setzt den Frauen mit den
Ruten seiner Moral zu und
züchtigt die Männer mit den
Skorpionen seiner Sprache
Wer bürgt für die Erstattung der
wider alle Norm hohen Fahrt-
kosten?
Fahrtkosten, die normwidrig sind,
werden nicht gutgeheißen
Fragt in Alt-Moabit die Gerichts-
diener, wie viele Zeugen täglich
pro nihilo bestellt werden
Man frage die Gerichtsdiener in
Moabit nach den Zeugen Riedel
und Ernst; das verstehen sie
sofort
Heuertsensation
Sensation im Juli
Das fünfundsechzigste Haus
WUhelmstraße
der
WUhelmstraße 65
Phili tuschelt den allzu Spott-
lustigen aus der Gunst
Eulenbnrg verdrängt Kiderlen
Theobaldus Cunctator
Der Reichskanzler
Der präsidierende Erni
Reichstagspräsident Prinz Ernst zu
Hohenlohe
Berni
Bernhard Demburg
Eine Schicksalsstunde ruft die
zwistlos gesammelte Kraft
deutscher Menschheit herbei
Die Stunde der Entscheidung ver-
langt ein einiges Deutschland
— 48 —
Sein Wollen bloßen
Seinen Plan enthüllen
Fritzisches Kriegsglück
Preußisches Kriegsglück
Das Adlerland
Preußen
Er muß in den Weg ihres Willens
einschwenken
Er gibt ihr nach
Sie vermag ihn vom Ziel seines
WoUens abzudrängen
Sie kriegt ihn herum
Der leidige Versuch, auf Skythen-
sinne mit dem Geschlechtsreiz
einer gekrönten Frau zu wirken,
ehrt den Preußenkönig noch
weniger als den verfettenden
Imperator
Die Mission der Königin Luise
kompromittiert Friedrich Wilhelm
noch mehr als Napoleon
Unsere Hand kann ihres Wesens
Kleid heute nicht mehr haschen
Wir wissen heute nicht mehr, wie
sie beschaffen war, drücken dies
aber in der erhitzten Sprache
eines Schoenebeckmesser aus
Der königliche Kopf der Strelitzerin
fände die Politik dieses Preußen-
staates zu schlaff
Königin Luise wäre von der heutigen
preußischen Politik nicht befriedigt
Vor dem Bilde der mirower Ahn-
frau erblassen
Sich vor dem Andenken der Kö-
nigin Luise schämen
Der Kanalvetter
England
Der heitere King
Eduard VII
Unter dem milden Juliusmond
Im Juli
Der vom Kehlkopfkrebs Getötete Der an Kehlkopfkrebs Verstorbene
Botschafter an Alfonsens Hof
Botschafter am spanischen Hof
Die Russen zäumten die Zunge
nicht so straff
Die Russen waren gesprächiger
Der Gortschakowepigone, der ihr
internationales Geschäft leitet
Iswolsky
Das Reich des Tenno
Japanische Größensucht
Japanischer Größenwahn
Bald schien jeder Mond schlimmer
Erinnerung trächtig
Fast in jedem Monat gabs ein
Unglück
^
— 49
Was die Herzgrube wohlig wärmt Etwas Erfreuliches
Die Österreicher dürften ruhig bis
nach Saloniki spazieren, wenn
dem fest an die Flanke des
Britenleun gebundenen Reussen-
reich endlich der Pontuskäfig
geöffnet würde
Bild einer zoologisch-politischen
Verwirrung
In Luisens weißem Sterbekleid
spukt Frau Berchta durchs leere
Spreeschloß. Und fragt, im Ger-
manenton der zürnenden Hei,
die modisch verstuckten Mauern
und Deckengewölbe, ob entartete
Wikingererben tatlos warten
wollen, bis u. s. w.
Bild einer myfliologisch-politischen
Verwirrung
Der Italerkönig
Der König von Italien
Der Schillingsffirst
Hohenlohe
Der Kniephofer
Bismarck
Der Menschenfischer im Koller
Bismarck
Der winzige Sohn des Widukind-
landes
Windthorst
Bülow rief in persönlicher Fähmifi
zur Hatz auf Schwarzwild
Bülow, dessen Position erschüttert
war, kehrte sich gegen das
Zentrum
Sich mit frevler Hand aus dem
Sonnenbezirk jäten
Sich umbrmgen
Wähnen auch wir noch, jede Ent-
schleierung des aufrecht schrei-
tenden Zweizinkentieres müsse
der inneren Magdschaft gefährlich
werden?
Fürchten auch wir noch von der
sexuellen Aufklärung einen
Schaden für die seelische Jung-
fräulichkeit?
Ins Schulgehäus darf von der Ge-
schlechtswallstatt kein Wind-
hauch wehen
In der Schule darf von geschlecht-
lichen Dingen nicht gesprochen
werden
Schon im kurzen Kleid kichern die
Schulmädchen über den blinden
und tauben Eifer, der ihre Ge-
schlechtsvorstellung ins Warm-
haus der Storchmär einzubeeten
hofft.
Auch die kleinsten Schulmädchen
machen sich schon über den
Eifer lustig, mit dem man ihnen
das Storchmärchen aufzubinden
sucht
50 —
Dünkt ihn die Vorstellung, der rot-
beinige Herr Adebar hole die
Kinder aus einem von Sumpf-
kröten umquakten Teich und
beiße, um den Tag seiner Ein-
kehr zum Fest zu wandeln, die
Mama ins Bein, heiliger, ehr-
würdiger als die Erkenntnis, daß
in dem von Vaters zärtlicher
Liebe befruchteten Mutterschoß
ein Geschwister erwuchs?
Ist ihm das Storchmärchen sympa-
tischer als die erweisliche Wahr-
heit der Zeugung?
Dicht vor der Maturität
Kurz vor der Matura
Mehr noch als läßlichen Fehltritt
die Heuchelschmach meiden, die
alles sittliche Empfinden unauf-
haltsam zerbeizt
Wenns schon einmal geschehen
ist, wenigstens »aussprechen,
was ist<
Vollreifen Mädchen von Verführ-
ungfährnis sprechen
Mit erwachsenen Mädchen Allite-
ration treiben und ihnen im ent-
scheidenden Moment doch das
»s« vorenthalten
Je ernster ihr Blick sich auf den
Brennpunkt der Gattung heftet,
desto schwerer wirds lüderlichem
Getuschel, ihr Ohr gegen die
Nothsignale nahender Jungfern-
gefahr zu täuben.
Je mehr man auf die Sache sieht,
umso sicherer wird sie bewahrt
bleiben, so daß die sexuell Auf-
geklärten keinen Schaden und
die sexuellen Aufklärer doch
ihre Freude dran haben
Selbstanzeige
Die Wochenschrift ,Der Demokrat' (Berlin,
17. August) brachte die folgende Besprechung der
»Chinesischen Mauere:
Ein neues Buch von Karl Kraus
>Die chinesische Mauer«, der dritte Band in d«r Reihe der ausge-
wählten Schriften von Karl Kraus ist soeben im Verlage von Albert Langen
in München erschienen. Als ich den zweiten Band, die »Sprüche und Wider-
sprüche«, an dieser Stelle anzeigen konnte, schrieb ich über Kraus: »Seine
Essays sind Mosaikgemälde aus Aphorismen. Mit einem kurzen, ungeheuer
starken Aufblitzen belichten sie Gefühle, Irrtümer, Taten und Meinungen.
Und zwar vom Standpunkt eines Menschen, der die sinnlose Konvention
der heutigen Gesellschaftsordnung durchschaut hat. Der nach einer reineren,
- 51 -
ireieren Welt strebt, in der nicht Leidenschait uiia Krau aurcn \ oruneile
staatserhaltender Parteien gelähmt werden.«
Ich nannte Karl Kraus einen Kulturkritiker und schrieb: >Seine
Kritik der bürgerlichen Gesellschaft ist nicht nur die männlichste, sondern
auch die menschlichste Stellung zu unserer im Sumpf der Phrase, der
Heuchelei und der Bildungslüge erstickten Zeit.<
Das Erscheinen der >chinesischen Mauer« gibt mir Veranlassung,
mein Urteil zu unterstreichen. Kraus Kunst hat in Deutschland nicht
ihresgleichen. Dieser Schriftsteller, der seine Stoffe dem flüchtigen Tage
abringt und ihnen Ewigkeitswerte gibt, steht allein auf der steilen Höhe
seiner Kunst. Er hat uns die tiefsten Schönheiten und den unerschöpf-
lichen Reichtum der deutschen Sprache enthüllt. Er hat den Nimbus des
Holzpapiers, das ihn zu begraben drohte, vernichtet. Er ist uns ein
glückliches nationales Ereignis geworden, dieser Karl Kraus.
Franz Pfemfert.
Der Traum ein Wiener Leben
Von Karl Kraus
Meine ei^te Vorlesung war vorüber, und vor dem Ein-
schlafen las ich die Zeitung: (Unfall eines Fremden in Wien.]
»Am T.Juni v.J. fuhr der Kaufmann Rudolf B. aus Buenos Aires
in einem offenen Fiaker zum Westbahnhof.« (Wie kann man auch!
gähnte ich — auf dem atlantischen Ozean passen die Fiaker auf,
aber beim Westbahnhof wird's gefährlich.) >An der Kreuzung der
Löhrgasse und Felbcrstraße fuhr der Fiaker mit einem Motorwagen
der Städtischen Straßenbahn zusammen. Frau Anna B. wurde
aus dem Wagen geschleudert und erlitt eine Verrenkung des rechten
Schultergelenks und einen Bruch des rechten Oberarmkopfes,
während ihr Gatte mit einer Luxation des linken Spnmggelenks
davonkam.« Des weiteren wird berichtet, daß die beiden Leute,
die in der besten Absicht, nämlich zur Hebung des Fremden-
verkehrs, und aus den reinsten Motiven, angelockt von den über
das Weltmeer schallenden Rufen >Fiaka!« und »Wagerl!« und
nicht zurückgeschreckt von der warnenden Trompete des Städt-
ischen Beiwagen-Kondukteurs, nach Wien geeilt waren, vom
Gericht einen Schadenersatz zugesprochen erhielten. Das ist ge-
recht, dachte ich, wiewohl man dadurch nur die Lage des Lohn-
Aus dem .Simplicissimus'.
— 52 —
Fuhrwerks, das ohnehin einen verzweifelten Kampf — Ich- begann
einzuschlafen. Aber anderseits — der Fall ging mir nicht aus dem
Kopf — warum Mitleid haben? Daß in dieser Stadt, deren Genien
haßerfüllt auf das Verkehrsleben blicken und deren Kutscher hohe
Strafgelder auf die Störung ihrer Ruhe setzen, nicht täglich und
an jeder Straßenkreuzung Argentinier zerdrückt werden, ist nur
dem vielbcmerkten Mangel an Argentiniern zuzuschreiben. Dabei
fand ich schließlich meinen Trost und schlief ein. Mir träumte,
ich sollte eine Vorlesung halten, das Publikum war versammelt, aber
ich hatte mein Manuskript zuhause gelassen. Vom Saal in meine
Wohnung ist nur ein Katzensprung, dachte ich, aber selbst den
will ich, aus Rücksicht auf die Lage des Lohnfuhrwerks und
um das Publikum auch nicht eine Minute warten zu lassen, nicht
zu Fuß machen. Ich suchte deshalb eine Stunde nach einem
Automobiltaxameter, der in dieser gemütlichen Stadt nicht Taxa,
sondern Taxi heißt. Wiewohl mich schon der Ekel würgte und
Ich mich auch darauf gefaßt machte, daß der Apparat in jeder
Viertelminute zehn Kronen aufhüpfen lassen werde, stieg ich
ein, sogleich umstand die Rotte Korah den Wagen und sah den
Versuchen des Chauffeurs, ihn flott zu machen, mit einer Auf-
merksamkeit zu, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre.
Als wir an der nächsten Straßenkreuzung angelangt waren, über-
fuhr das Automobil den Realitätenbesitzer Sikora, der lautlos
hinsank und der neugierigen Menge einen blutigen Stumpf zeigte.
Ich konnte den Anblick nicht ertragen und bewog den Chauffeur,
nicht zu fliehen, sondern umzukehren und den Mann um Ent-
schuldigung zu bitten. Der' Chauffeur trat auf ihn zu, sagte:
»Was is denn mit uns zwa, Herr Nachbar?«, der Sterbende lächelte
versöhnt, und wir fuhren weiter. Nach einer Pause aber erklärte der
Chauffeur, er könne nicht mehr weiter, weil er »kane Strafhölzeln«
für die Laterne habe. Deshalb und auch um schneller vorwärts
zu kommen, bestieg ich einen Einspänner, dessen Kutscher mich
durch die unaufhörlichen Rufe »Inspinna! Fahrenn!* interessiert hatte.
Ich hätte mich aber auch nicht anders von ihm befreien können als
durcli die Annahme seiner Einladung. Nun begann das Füttern und
Abdecken, welches ein Zeitvertreib der Kutscher ist, wenn die Abende
lang werden, und im Wagen fand sich ein zerbrochener Spiegel,
in welchem ich ein weißes Haar an der Schläfe bemerkte. Die
Spaziergänger erschraken vor- dem Wagen, und da der Kutscher
53 —
unaufhörlich »Hooh!« rief, erschraken sie noch mehr und wußten
nicht, ob sie vor- oder zurückgehen sollten. Sie konnten aber beides
nicht weil sie, wie ich sah, überhaupt nicht gehen konnten. Ver-
wundet wurde niemand. Aber nach einer Weile erklärte der Kutscher,
er könne nicht weiter, weil es >hei!« sei, womit er auf Glatteis an-
spielte. Als ich ihm für den zurückgelegten Weg hundertfünfzig
Kronen gab, wies er sie zurück, indem er vorwurfs\'oll sagte:
»Aber, So, Herr, was geben S' mr denn do?« Ich berief mich auf
die Taxe von hundert. Er murmelte: >An so an Tag!« und wollte
zweihundertzwanzig. Ich gab sie, ohne zu begreifen, was es mit dem
Tag für eine Bewandtnis habe. Bald fand ich einen andern Wagen,
dessen Kutscher mich aber nicht anrief, sondern feindselig
anstarrte. Doch auf meine Frage: Fahr'n ma. Euer Gnaden?,
sprang er wütend empor und schrie mir die Worte entgegen: Bin
b'stöllt! Nun mußte ich mir wieder die Füße wund laufen nach
einer Fahrgelegenheit. Ich kam durch winkelige Gißchen, in denen
früher die Hexen verbrannt wurden, aber jetzt aus den Fenstern
heraussahen. Es war ihnen erlaubt, unzüchtig zu sein, ohne das Scham-
gefühl gröblich zu verietzen, und im Nu faßte ich den Entschluß,
den Polizeipräsidenten aufzuwecken und ihn zu fragen, warum erden
Mädchen die einzige Freude, die sie noch hätten, verboten habe,
nämlich das Klavierspielen. Er sagte, ich solle eine Eingabe machen,
er glaube mir zusichern zu können, daß man tunlichst meine
Wünsche berücksichtigen werde, denn die Behörde stehe der Prosti-
tution objektiv gegenüber und werde, insolange sich kein Anstand
ergebe — Ich machte eine ausfahrende Handbewegung, bekam einen
epileptischen Anfall und ein herbeigeeilter Gerichtspsychiater
fragte mich, ob ich wisse, wann Johann Gabriel Seidl geboren
sei. Da ich diese Frage fließend beantworten konnte, erklärte er,
ich sei vor der Tat zwar unzurechnungsfähig gewesen, nach der Tat
auch, aber während der Tat sei jch für die Tat verantwortlich.
Ich sagte, daß mir die volle Verantwortung für die Tat doch
nicht aufgewälzt werden könne, weil ich zum Beispiel nicht wüßte,
wann Johann Nepomuk Vogl geboren sei. Sogleich stellte man an
mich die Frage, und da ich sie in der Tat nicht beantworten konnte,
wurde ich freigesprodien. Das muß ich aber gleich nach Berlin tele-
graphieren, dachte ich. Ich kam in ein Postamt, wo ein großer
Andrang herrschte, denn es waren einige Offizianten, die in dieser
unterirdischen ^okalität arbeiten mußten, soeben an der Caisson-
— 54
krankheit gestorben, und ich kam gerade dazu, wie die Särge
verladen wurden. Man verwies mich an den benachbarten
Schalter, hinter dem niemand saß, aber es erscholl Lachen und
die Telegraphistinnen spielten Fangerl. Ich freute mich, wie glatt
alles ging; aber jetzt nur schnell nachhause! Ich bestieg die
Straßenbahn, von der zur Auswahl vierzig Wagen hintereinander
standen, denn der erste konnte nicht vorwärtskommen, weil eine
Prozession vorbeiging. Nachdem sie vorüber war, blies mir der
Beiwagen-Kondukteur ununterbrochen mit seiner Trompete ins Ohr,
wodurch er dem Motorführer zu verstehen geben wollte, daß er
auch jemand sei. Während wir fuhren, verlöschte alle Augenblicke das
Licht, so daß man beim besten Willen die Tramwaykarte nicht lesen
konnte. Es war eigentlich immer finster, nur manchmal wurde es
hell. Ich dachte, aha, es sind die bekannten luciden Intervalle des
städtischen Verkehrs. Bei jeder Biegung rütterte und schütterte es, die
Leute fielen durcheinander und starben wie die Fliegen. Eine Hut-
nadel durchstach mir das linke Auge, ein Herr hatte noch die Geistes-
gegenwart, mich um Feuer zu bitten. Jemand stieg jetzt ab, und
ein Mann, der neben mir stand, sagte: >Das war der junge
Gerngross!« An der nächsten Straßenkreuzung erfolgte ein Zu-
sammenstoß mit einem Fiaker, in dem ein argentinisches Ehepaar saß.
Um dem peinlichen Anblick auszuweichen, floh ich in ein Restau-
rant, in welchem vierzig Kellnerjungen in der Nase bohrten. Es
war ein großer Betrieb. Vierzig Speisenträger fragten mich, ob
ich schon befohlen hätte, und bedauerten hierauf, nicht mehr dienen
zu können. Es gab nur noch »Wienertascherln«, ein merkwürdig
zusammengesetztes Wort, das mir Fieber machte, und alle Leute
sahen mir auf den Mund. Plötzlich wurde grünes Mehl gebracht,
aber ein Nachbar zerstörte mir die Illusion und sagte, es wäre
Gemüse. »Warum essen Sie das nicht? Es ist Eingebranntes !<
Ein gebranntes Kind, sagte ich, fürchtet — Feuer! schrien alle. Wie
das eintrifft! dachte ich, meine Unvorsichtigkeit ist schuld daran,
und ich machte mir Vorwürfe. Aber schließlich wollten sie ja alle
verbrennen, um in die Zeitung zu kommen. Im Hintergrund
rief es ununterbrochen »Ssoss bitte!« und man erklärte mir,
daß dies der Allarmruf der mit Tellern beladenen Kellner
sei, auch wenn es sich um eine feste Speise handle, an die
man nicht anzustoßen bittet. Ein Fremdenführer riet mir, ich
solle mir einmal den Spaß machen und in dieses Chaos das Wort
- 55
>ZahlenI« rufen, da werde ich etwas erleben. Als ich nun
»Zahlen l€ rief, pflanzte sich der Ruf echoartig durch das ganze
Lokal fort, einer sagte es dem andern, bis es sogar der Zahlkellner
hörte, der aber, in meine Nähe gelangt, sich sofort wieder abge-
stoßen fühlte und in der Küche Selbstmord verübt haben soll . . .
Wird diese Nacht ewig währen? . . . Auf einmal sagt ein Ästhet
aus Breslau neben mir: »Ach, wundervoll! Gerade das finde ich
an dieser Stadt so fein. Ich weiß nicht, was Sie haben wollen.
Das alles hat doch Linie. Und überall diese alte Kultur! Kennen
Sie Beer-Hofmann? Der soll ganz fein sein! Und wo denn anders
finden Sie diese spielerischen Formen arrivierter Ekstasen mit der
müden Grazie karessanter Sehnsuchten vereinigt? Hier ist Tradition!
Und die stillen Gassen der Wiener Vorstadt! Und der Heiligenkreuzer-
hof! Und das Palais des Prinzen Eugen! Alles tipp-topp.< Der Mann,
der so sprach, sah wie ein Bechsteinflügel aus, er war schwarz und
hatte einen edlen Ton. Ich verstimmte ihn und sagte: Kempinski hat
Deutschland geeinigt, und die Lage der Deutschen in Österreich
ist bedauerlich. »Und die alte Tradition ?< Die alte Tradition ist
ein Kanalgitter. >Und die stillen Gassen ?< In der Friedrichstraße
bin ich eingefriedet in Lärm, in der Kärntnerstraße bin ich in
den Karren geschmiedet — der Verkehr ist ein Hindernis, die
Ruhe stört mich, ich höre das eine knarrende Omnibusrad. >Und die
alte Kultur?€ Die ist ein Ratzenstadl, sagte ich. Jede Stadt hat
übrigens den Geruch, den sie verdient. Berlin riecht nach Hölle
mit Benzin, Wien nach Paradies mit Pferdemist. Hier ist der
Straßenbahnverkehr bereits elektrisiert, gewiß, ich gebe es zu,
aber der Pferdemist läßt sich nicht mehr entfernen. Nie mehr,
nimmermehr, sagte ich gerührt. »Das ist nicht wahr, daß bloß
Pferdemist auf Ihren traulichen Wiener Straßen liegt!« Nein, auch
Hundedreck! (Ich wurde lebhaft.) Haben Sie in Berlin schon einen
Hund dabei betreten, wie er mitten auf dem Trottoir - Mein
Gegner begann ein Adagio auf sich zu spielen, warf mir noch
einen traurigen Blick zu, und starb in Schönheit. Ich rief ihm nach :
Haben Sie überhaupt schon einen Hund auf einer Berliner Straße ge-
sehen? Hin und wieder fährt einer Automobil ! Die geistige Kultur
einer Stadt beginnt mit der Straßenreinigung . . . Aber wie komme
ich bei dem Wetter nachhause, da vor dem Restaurant ein Wagen steht
und der Kutscher bei dem Wetter nicht fahren will? Draußen liegt es
wie Eiskaffee. Aller Brei, der je zwischen den Pflastersteinen ver-
56
sickert ist, scheint hervorzuquellen, und schon spüre ich es im
Hals, daß ich nasse Füße habe. Oh, es ist das Wetter, mit
dem sich dieses fürchterliche Klima rächt, weil wir es für ein
paar blaue Tage loben. Es macht Migräne und Menschenhaß.
Wie hier alles heimisch ist und selbst das Wetter im Dialekt
spricht ! Wie ich hier meine Zeit verliere, um das Wetter abzuwarten,
und es nimmt doch kein Ende, und ich habe keine Zeit. Man
hält mich fest und macht Musik dazu. Ich will mit meinem Leben
vorbei und muß es als Lösegeld zahlen, um nichts zu haben, wenn
ich fort kann. Ich fliege schon, und darf nicht gehen. Eine Deichsel
im Rücken und Quallen an den Füßen. Kann ich zum Ziel nicht
gelangen, muß ich die Hindernisse beschreiben. Irgendwo wartet
man auf mich. Wo habe ich das Manuskript? Und ich finde es
in meiner Tasche, und jetzt heißt es sich beeilen. > Aufhalten . .!€ Ich
springe über den Graben, dort gehen zwei schöne Augen spazieren,
aber das darf mich nicht mehr bekümmern, ich springe über
die Pestsäule, ich nehme die Luftlinie. Wenn ich Glück habe
und der Zug Verspätung hat — ich will einen Aphorismus
zu Ende denken, ein Druckfehler wird mir ihn töten,
ich schwanke und schwebe zwischen zwei Worten, meine
Nerven entspannen sich und ich bin im Himmel . . . Doch ich
muß darüber hinweg. Ich laufe, jage, stürme die Treppe empor,
da empfängt mich der Präsident des Studentenvereins, ein achtzig-
jähriger Mann mit schlohweißen Haaren und sagt: »Wir
haben geglaubt, Sie kommen nicht mehr. Das Publikum hat
gewartet, nur die erste Reihe ist tot. Aber jetzt schnell; sonst löschen
dieDienerdieLichteraus.« Ich sagte: > Die Verbindung über Berlin wäre
günstiger gewesen. Aber man kann nichts machen. Ich bin mit
einer Luxation des linken Sprunggelenks davongekommen. Auf
der Straße staut sich der Fremdenverkehr, und es war beim besten
Willen nicht möglich, eher da zu sein.« >Findcn Sie, daß sich
Jcr Fremdenverkehr inzwischen — ♦ »Ganz entschieden«, sagte ich.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3.
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DIE CHINESI-
SCHE MAVER
ALBERT LANGEN, München
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J3AND M 10.-. BESTELLUNGEN NIMMT DER VERUG ALBERT LANGEN,
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Von den fröhlichen und unfröhlichen Menschr
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VERLAG JAHODA & SIEGEL, WIEN
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RORM ANN : Abend / KARL KRAUS : Glossen / KARL KR.
üer Biberpelz / Selbstanzeige
Heiiusgebcr und yrtantwor« Icher Redaklctu Kar! Krau»
r.„..v L„ T.H.rt, «c Si««L Wi«, III. Hintere Zolbtnts.tr. 3
309/310 3i. OKTOBER 1910 XII. JAHR
0]
DIE FACKEL
HERAUSGEBER:
KARL KRAUS
INHALT:
KARL KRAUS: Kerapinski / ELSE LASKER- SCHÜLER: Ge-
dichte / SAMUEL LUBLINSKI: Der Erzähler Otto Stoessl/
Selbstanzeige / BERTHOLD VIERTEL: Rilkes Buch /
ALEXANDER SOLOMONICA: Meine Freundschaft / ALBERT
EHRENSTEIN : Verzeihung / KARL KRAUS : Pro domo et mundo
NACHDRUCK VERBOTEN
PREIS DER DOPPELNUMMER 60 HELLER
ERSCHEINT IN ZWANGLOSER FOLGE
VERLAG: ,DIE FACKEL', WIEN — BERLIN
ItEN, in 2. HINTERE ZOLL.\MTSSTRASSE 3 T^ N Nr. 187
ERLIN ER BUREAU: HALENSEE, KATH^u ^.i RASSE
irM VUKtSbKbll UINU :
Verlag ALBERT LANGEN
KARL KRAUS:
Heine und die Folgen
(Dieser Essay wurde vom Autor am 3. Mai und am 3. Juni
in Wien zur Vorlesung gebracht)
Else Lasker-Schüler :
DER SIEBENTE TAG
(Verlag des Vereins für Kunst, Berlin 1905, Amelang'sche Badihandlang,
Charlottenburg)
Otto Stoessl:
NEGERKÖNIGS TOCHTER
(Verlag Georg Müller, Manchen)
Rainer Maria Rilke:
DIE AUFZEICHNUNGEN DES MALTE LAURIDS BRI66E
(Insel-Verlag, Leipzig)
Peter Altenberg:
BILDERBÖGEN DES KLEINEN LEBENS
(Verlag Erich Reiss, Berlin-Westend)
Otto Soyka:
HERR IM SPIEL
ROMAN
(Hyperion- Verlag Hans von Weber, München)
DIE FACKEL
Nr. 309,30) 31. OKTOBER 1910 XU JAHR
Kempinski
Von Karl Kraus
Zu einem Werke werde ich nie gelangen. Ich
möchte meine Lebensanschauung zu einem philoso-
phischen System ausbauen und es »Kempinski« nennen.
Wenn dieses Werk erscheint, müßten sämtliche Ber-
liner Kulturästheten und Wiener Gastwirte, Herr
Scheffler und der grade Michl, Selbstmord begehen
aus Reue über ein verpfuschtes Leben. Ich würde in
diesem Buch von Trinkgeldern, die eingeteilt werden,
und Speisen, die ausgehen, ausgehen und zu dem
Nachweise kommen, daß die systematische Zerreibung
des Nervenlebens an den äußeren Winzigkeiten, die
individuelle Drapierung der Notwendigkeiten mit Hin-
dernissen zur kulturellen Ohnmacht führt. Ich würde
das älteste und von aller Humorlosigkeit mißbrauchte
Material des Sperrsechserls nicht scheuen, um die
geistige Linie nach Königgrätz zu ziehen. Ich würde
zeigen, daß ein ungeistiges Volk das äußere Leben,
Gehen, Fahren, Essen, mit Gefühl und Temperament
durchtränkt und mit all dem, was es an der Kunst
erspart. Ich würde: die Qualen des Wiener Tags nicht
aus dem Gefühlswinkel brummiger Zärtlichkeit be-
trachten, wie es dem Herrn Bahr gelingt, und noch eini-
gen Linzerischen Buam, die sich jetzt in den Feuilletons
breit machen und mir meine Probleme platt treten; nicht
als Beschwerden behandeln, denen abzuhelfen ist und
nach deren Beseitigung wirdefinitiv ins Paradeisgartel der
Kultur gelangen, sondern als Symptome eines unheil-
baren Volkscharakters. Schildern, wie mir in diesem
Kreuz- und Kreuzerland das Leben verrinnt in der
bangen Pause, da ich entdecke, daß der Zahlkellner
schon befriedigt ist, aber geholt werden muß, um zu
2 —
wechseln, weil noch drei andere Familienväter zu ver-
sorgen sind. Nachmessen, um wieviel hier ein Mensch,
der denkt, täglich herunter gebracht werden muß,
damit die Instrumente sich individuell, malerisch,
jodlerisch, drahrerisch, schieberisch ausleben können
und die Passanten ein Vergnügen haben. Darstellen,
wie der Wiener aufs Trockene käme, wenn das Leben
glatt ginge, wie das Hindernis selbst seine Lebens-
notwendigkeit ist, wie er die Ratlosigkeit braucht, um
vom Kellner aus ihr befreit zu werden, sechs Kellner,
um eine Ansprache zu haben; wie er darauf angewie-
sen ist, beim Verdauen die Romantik zu suchen, die er
sich in anderen Lebensverhältnissen versagen muß,
zwischen Tafelspitz und Grieszweckerl alle Erlebnisse,
Abenteuer, Überraschungen, Enttäuschungen durchzu-
machen und noch im Ansagen bei der Rechnung die
Pietät für das Papperl zu genießen. Zeigen, wie diese
Phantasten der Notdurft nicht nur die Konterfeis ihrer
maßgebenden Gastwirte in ihren Zeitungen nicht ent-
behren können, sondern wie sie zu Voyeuren werden vor
der Einladung: »Täglich das wehberühmte Backhühner-
essen. Hochachtungsvoll Vincenz Deierl.« Nachweisen,
wie die kulturelle und ästhetische Überanstrengung der
vereinigten Rassen zur Schaffung der häßlichsten Gesichter
geführt hat, deren man auf dem Erdenrund habhaft werden
kann, und wie das Getorkel eines Straßenbahnwagens
fast ein Symbol dieser durcheinandergeschüttelten
Nationen ist und bezeichnend für die Lage der Deutschen
in Österreich bei romanisch-slawisch-meseritscher
Oberfüllung. Ich würde dem lokalen Größen-
wahn, der das Leben nicht in Inneres und Äußeres,
sondern — für Hunger und Liebe — in Vorderes und
Hinteres einteilt, verraten, daß die Echtheiten, die er
gepachtet hat, samt und sonders, inklusive Kipfel, in
Berlin längst überholt sind. Daß das Berliner Prinzip
heute selbst die Echtheit umfaßt, wiewohl sein
kultureller Sinn in der traumhaften Unechtheit,
in der fieberflüchtigen Markierung äußerer Lebens-
— 3
werte beruht, in der Stellung eines Rahmens, der Raum
läßt für schöpferische Geistigkeit. Daß die Demokra-
tisierung der Dinge und nicht der Kunst, die Mechani-
sierung des äußeren Lebens der Weg ist zu einer inneren
Kultur. Daß in den Zeiten der geistigen Not das Berliner
Leben eine Pontonbrücke ist. Daß der Künstler in Wien
höchstens aus dem Überdruß schöpft und Wien
nicht länger erträgt, als das Erlebnis des Ärgers pro-
duktiv bleibt. Daß er dann aus dem Unwesen in die
Wesenlosigkeit sich rettet. Daß der Tonfall des Bertiner
Tages die Selbstverständlichkeit ist, die alles Neue amal-
gamiert, während wir hier täglich das Alte ungewohnt
finden, die Tradition beglotzen, auf die Vergangenheit
hoffen und als Trockenwohner baufälliger Häuser uns
fortfretten. Ich würde die Zauberformel Berlins finden:
Das, worüber man hinwegkommen muß, ist nicht das
Ziel. Lebensmittel sind nicht Lebenszweck. Wenn das
Pflaster gut und billig ist, ist die Siegesallee nicht
gefährtich. Otto der Faule, von einem Automobil aus
gesehen, ist ein Kunstwerk neben einer Parlamentsgöttin
aus Stearin, an der man in einem Hupferl vorbei muß.
Essen, um zu leben, nicht leben, um zu essen. Essen
müssen, um gute Nerven haben zu können, aber nicht
gute Nerven haben müssen, um essen zu können. Es
kann dort nicht geschehen, daß der Wirt sein eigener
Stammgast ist. Nicht in der Kultur und nicht im Lokal.
Und Kempinski, ein Wohltäter der Menschheit, der
Menschen, die noch etwas anderes zu tun haben, dazu
verholfen hat, auf gefahrlose Art zur Verrichtung ihrer
Notdurft zu gelangen, ist gestorben, ohne daß man ihm
beweisen konnte, daß er gelebt hat. Wäre die Speise dort
wirklich so schlecht, wie unser Rindfleischwahn sich
einbildet, sie wäre besser, weil sie ohne Pathos und
mit Schonung des Nervenlebens geboten wird, während
wir, Romantiker der Notwendigkeit, immer unbe-
friedigt bleiben, weil die Kalbsbrust mit dem Anspruch
auf unser Herz gereicht wird und durch keine Vollkom-
menheit für solche Belästigung entschädigen könnte.
— 4 —
Ich würde beschreiben, wie der Wiener mit dem angebore-
nen Grauen vor der »Abfütterungsanstalt« zu Kempinski
kommt, an der Aussicht, einen Platz zu finden, ver-
zweifelt, und so schnell gegessen hat, daß ihm die
Frage an das Schicksal : »Was können Sie mir empfeh-
len?« für immer in der Kehle stecken bleibt. Tisch 109,
Kellner 57, das macht: Gast 6213. Aber dieser kann in
dem Choral der Maschinen seinem eigenen Gedanken
nachleben, während der einsame Gast im Wiener Vor-
stadtbeisel sein eigenes Wort nicht hört. Ich würde die
Idyllen der Leipziger Straße schildern und die Gefahren
der Plankengasse. Und es risse mich hin, dieser anti-
quierten Schönheitssucht, die sich in krummen Gassen
weidet, die Poesie der graden Linie vorzuziehen und
diesem Leben, das auf Krücken zu seinen Wundern kriecht,
das Leben der mysteriösen Selbstverständlichkeit.
Gedichte
Von Else Lasker-Schfiler
Weltende
Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben war,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt
Lastet grabesschwer.
Komm, wir wollen uns näher verbergen . .
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.
Du ! wir wollen uns tief küssen ....
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen.
Diese Gedichte sind nicht Manuskripte. Aber weil sie gedruckt
sind und kein Deutscher sie gelesen hat, müssen sie hier erscheinen.
So ist die Lyrik beschaffen, die heute noch der rationalistischen Visage
deutscher Kunstbetrachter ein Grinsen entlockt. Und da Verleger in den
seltensten Fällen Vorläufer sind, so wird die Ausgabe >Der siebente
Tag< ein Opfer bleiben, das der >Verein für Kunst« in Berlin zu den
übrigen Opfern legen kann.
— o —
Johann Hansen und Ingeborg Coldstrup
Zur Kindertragödie in Kopenhagen
Ingeborg, seine kleine Königin ist tot — Johann Hansen
lebt noch; an seinem Bettchen sitzt eine harmherzige Schwester
und betet, daß der arme verirrte Knabe bald genesen möge. Der
Stationsarzt hat ihm das Tor des Todes verri^elt, sein Herz, das
Ingeborgs Namen trägt, kann nicht zu ihr ins Himmelreich. Nun
wird das Kinderspiel erst eine Kindertragödie. Die Beiden wollten
ja nur zum Tod, weil der einen Himmel besitzt, in dem sie sich
vor allen Engeln ohne Furcht vor Strafe herzen könnten.
Nicht diese Heimlichkeiten der Freude, ihre Gesichter schienen
durch die Spalte der Türen, durch das Eisen der Tore. Immer
bauten sie auf ihren Händen gläserne Schlösser, darin sie sich
tausendbunt spiegelten bis ans Ende der Welt, wo der Himmel
anfängt. Dort wohnt der Tod. Johann Hansen hob Ingeborg mit
seinen Knabenarmen die Treppe zum Einlaß des Todes empor.
Der öffnete und ließ die kleine Königin ein, Johann stolperte
rücklings ins Leben zurück. Diese beiden feinen Kinder ergreifen
meine Seele. Das Leben ließ sie aus der Haft, der Tod schmückte
ihnen rosig sein Tor. Ich möchte, der Engel aus Andersens Märchen
käme und trüge den verwundeten Knaben zu Ingeborg ins Himmel-
reich. Wie bösmütig sind die Menschen, die immer helfen wollen,
ins Leben zu befördern. Es ist Nacht, überall blüht ein Stern. An
der Decke im Krankensaal stehen viele Sterne, rotgoldene, süß-
gelbe, wie Honig, und auch mattfunkelnde Immortellen. Alle
pflückt der kleine, heldenmütige Bräutigam für seine Braut, wenn
er im Himmel mit ihr Hochzeit feiert. Auf einmal schlägt er
die Augen auf: > Ingeborg, ich halte mein Wort!« Hast du es
gehört, großer Engel aus Andersens Märchen? Oder soll er auf-
wachen aus seinem Traum des Himmels — und die Erde ist wieder
da, das Himmelreich verschwunden, wie fortgezaubert, und Ingeborg
liegt im Grabe. Ein Keller- wird dann die Welt sein, kahl, viel
kahler als seines Hauses Keller. Alt ist er, wenn er aufwacht,
jung, wenn seine Augen sich schließen. Was bietet das Leben?
Nicht das Kind braucht den Eltern dankbar zu sein; wie können
die Eltern aber das Nichtgeborensein dem Kinde ersetzen!? Solch
zwei Kindern vor allen Dingen, zwei Engel, die nicht auf die
wankelmütige Erde gehören. Flügel wuchsen ihnen; die Pistole,
— 6 —
die sich der Knabe vom Erlös seiner Geige kaufte, war Vor-
täuschung. Denn es geschah hier ein Todeswunder, Nicht mehr
wäre ich überrascht gewesen, wenn dieselben Kinder anstatt für
ewig zu schlummern, auferstanden wären aus einem Grabe. Wie
will der Lazarus, der den Knaben auferweckt, ihm ein Himmelreich
ersetzen? Es werden keine Landeserholungsheime die »festgestellte«
Neurose (Edelneurose) fortkurieren. Aber ich denke an Selma
Lagerlöf die herrliche Menschin, an Karin Michaelis das liebe
große Kind, sie könnten dem Knaben den himmelblauen Verlust
ersetzen. Sie tragen die Bilder des Himmels in ihren Dichterinnen-
herzen — halten sie zwischen ihren Händen. Ich bin nicht senti-
mental, ich bin traurig. Man vergleiche nur nicht die unaufgeblühte
Liebe dieser Engel mit den Tändeleien koketter Schulmädchen und
greisenhafter Zwerge auf den Spazierwegen am Sonntagmittage.
Diese beiden Kinder ergreifen meine Seele, ihre Lippen sind
Himmelsschlüsselchen.
Streiter
Und Deine hellen Augen heben sich im Zorn,
Schwarz, wie die lange Nacht, und morgenlose,
Des Eitlen Stimme brüllt in toter Pose,
Wie durch ein enggebogenes Hörn.
Und durch das übermütige Tausendlachen
. Der Einen und der Zweiten und der Vielen,
Zerbersten Wort an Worten sich aus Wetterschwielen,
Wie reife Härten auf den lauten Schwachen.
Und Abendwinde, die von her und dort sich trafen
Und schrill in Kreiseleile sich beschielen,
Aufpfiffen fröstelnd über die gehöhnten Dielen —
Ich konnte nachts vor Träumerei nicht schlafen.
Und meine Seele liegt wie eine bleiche Weite
Und hört das Leben mahlen in der Mühle,
Es löst sich auf in schwere Kühle,
Und ballt sich wieder heiß zum Streite.
— 7 —
Der Erzähler Otto Stoessl
Von Samuel Lublinski
Es scheint, daß die Österreicher die Fähigkeit
verloren haben, wirkliche Heimatskultur zu treiben,
weil sonst die Erzählungen Otto Stoessls gerade in
seinem engeren Vaterland eine ganz andere Beachtung
hätten finden müssen, als bis zur Stunde der Fall
war. Wir draußen im Reich, wir von der literarischen
Zunft, können natürlich nur einen rein kritischen und
ästhetischen Maßstab an seine Dichtungen legen. Wer
aber wirklich ein »Neuösterreicher« sein will, der hätte
sich doch wohl mehr um die dichterischen Keime bei
Otto Stoessl kümmern müssen als um die prophetischen
Töne des schwarzgelben Imperialisten Hermann Bahr.
Die jüngste Erzählung des Autors »Egon und
Danitza«, die noch nicht als Buch erschienen ist,
habe ich in den von Wilhelm Schaefer in Düsseldorf
herausgegebenen , Rheinlanden' gelesen, einer der
wenigen deutschen Zeitschriften, bei denen gute
Erzählungskunst noch eine Stätte findet. In mancher
Beziehung ist mir dieses jüngste Werk das liebste, es
ist mir geradezu ans Herz gewachsen, obgleich es
wirklich kaum noch etwas »gemütloseres« geben kann,
das am wenigsten an das mit Unrecht beliebte Gartenlaube-
gemüt des deutschen Volkes appelliert. Es weht die
Luft des echten Lustspieles durch diese Erzählung.
Ein heller und boshafter Geist scheint mit Entzücken
auszurufen: Wie wundervoll, daß es ein so lumpiges
kleines Gaunerpack auf der Welt gibt ! Man hat gerade-
zu das Gefühl, daß das Leben noch lebenswert, näm-
lich amüsant ist, weil Herr Egon de Alamor, Diumist,
mit ausgeborgten Pferden durch die Wiener Straßen
paradiert. Wie der getäuschten Danitza, der er vorge-
Die Erzählungen >Sonjas letzter Name« und >Negerkönigs
Tochter« sind bei Georg Müller, München erschienen, der auch >Egon
und Danitza« herausbringen wird. »In den Mauern < erschien bei Julius
Bard, Berlin.
— 8 —
redet hat, daß er ein »Beamter« wäre, die Augen
übergelien, bis sie ihrem eleganten Herrn Gemahl, der
trotz seiner Schafsmäßigkeit ein Pumpgenie bleibt,
endgiltig den Rücken kehrt: das macht den stoff-
lichen Inhalt und das epische Element dieser boshaft
hellen Lustspielerzählung aus.
Episch? Darf ich dieses Wort hier überhaupt
gebrauchen? Wo Epik ist, da ist auch Bejahung, da
ist Gebundenheit, typisch Zuständliches und Liebe
des Dichters zu diesen Zuständen, zu dieser Gebunden-
heit. Wie kann sich das zusammenreimen mit der
vergnügten Zerstörungslust und mit der entzückten
Bosheit, die der Erzähler gegenüber diesem Trottel
spielen läßt, der auf den hochtönenden Namen Egon
de Alamor hört? Ja, wenn noch ergrimmte Bitterkeit
herauszufühlen wäre; irgend ein pathetischer Haß
gegen die Drohne! Außer einigen geringen Spuren,
die ganz sporadisch auftauchen und aus dem Menschen
mehr als aus dem Dichter kommen, ist nichts von
einem solchen Ingrimm zu merken. Sondern der
himmlisch amüsierte Lustspielgeist ist ehrlich entzückt
über die grotesken Kapriolen dieser Figur, die der
Bosheit so viel Blößen gibt. Also völlige Negation,
hinter der durchaus keine indirekte Bejahung steht, so
daß man auch nicht gut von »Humor« sprechen kann,
von jener Herzensteilnahme, die noch der Erbärm-
lichkeit Erbarmen entgegenbringt. Nein, hier ist nichts
als heitere Grausamkeit, der Lustspielgeist, der alles
in allem den Gegenpol zur Epik und epischen Be-
jahung bedeutet. Allerdings sind die sozialen Zu-
stände, Klassen und Stände, so leicht nicht umzu-
bringen, da ihre schwerfällige Lebenszähigkeit allen
Stößen und Hieben des Satirikers ein undurch-
dringliches Fell entgegenhält. Der Lustspieldichter
schöpft aber aus solchen Gesellschaftszuständen, und
so bleibt immerhin etwas Zuständliches in seinem
Werk, das er negieren, aber nicht vernichten kann.
Auch Otto Stoessl kann nicht kleinbürgerliches
i
9 —
Beamten- und Strebertum aus der Welt schaffen,
nicht das solide Parvenütum heraufgekommener spieß-
bürgerlicher Existenzen, wie der serbischen Helden-
mutter, die noch allerlei dekorative Erbschaft aus dem
Balkan mit sich schleppt, im übrigen aber ihr Geld
zusammenhält und sich nichts vormachen läßt, wie sie
denn gleich weg hat, daß Egon de Alamor »ein Lump
ist, aber kein Beamter«. Diese Zuständlichkeit bleibt
trotz aller Satire bestehen als eine indirekte epische
Grundlage, die eine Erzählung ermöglicht. Außerdem
aber fehlt es dem Dichter keineswegs an wirklicher
Liebe zu einem seiner Geschöpfe. Der Danitza gehört
sein menschlich-väterliches Wohlwollen. 4hre törichte
Liebe zu dem dummen Jungen wird als ein echt
typisches Weibschicksal mit sicherer Hand gestaltet,
und der satirische Hintergrund steigert durch Kontrast-
wirkung diese epische Typik.
So scheint sich also eine Lustspielerzählung höchst
besonderer Art entwickeln zu wollen, bis plötzlich
gegen den Schluß hin ein geradezu erstaunlicher
und zunächst verwirrender Wechsel eintritt. Auf einmal
atmen wir eine fast schon homerische Luft; da ist
reine Epik ohne Spur von satirischem Hintergrund,
es findet ein völliger Umschwung der Atmosphäre
statt. Danitza entflieht aus Wien und sie findet draußen
jenseits der Reichsbrücke armes verlorenes Volk, das
sich seine Hütten aus weggeworfenem Baumaterial der
wohlhabenden Klassen wunderlich und grotesk genug
zurechtgemacht hat. Dazu noch ein bißchen Feld und
Gartenerde der kümmerlichste^ Art und ein im bürger-
lichen Sinn völlig ungebundenes Leben der absoluten
und darum unbekümmerten Armut, während doch
auch hier die inneren Gesetze menschlicher Gemein-
schaften zur Geltung kommen und eine sehr wunderliche
Soziologie ihre geheime Wirksamkeit entfaltet. Ein
Märchenreich vor den Toren von Wien. Hier gestaltet
die Phantasie die reine und runde, die homerische
Epik; es sind diese wenigen Schlußseiten das dichterisch
— 10
Bedeutsamste, was Otto Stoessl bisher geschaffen hat.
Alles Zeitliche und Aktuelle, alle Satire und Gesell-
schaftssitte ist versunken wie ein Spuk, und nur ganz
von fern erinnern wir uns an einen Herrn von Alamor,
der weit draußen in irgend einer Stadt der Schein-
menschen sein Scheinwesen treibt. Kurz, es sind wunder-
schöne Seiten, die uns der Dichter zu lesen gibt; aber
sie kommen wie eine Überraschung, ja wie eine Über-
rumpelung, und man kann kaum sagen, daß sie
organisch aus dem Kern der Konzeption heraus-
gewachsen seien. Der Autor konnte mir auf meine
Frage nur antworten, daß ein ihm selbst unerklärlicher
innerer Zwang diesen Wechsel der Szenerie bewirkt
habe. Er war geneigt, die Gründe dafür im Mensch-
lichen zu suchen: daß er sich nach so viel Schwindel-
haftigkeit wieder nach der Darstellung eines echten
Lebens sehnte. Mir konnte diese Erklärung nicht voll
genügen, weil es unbegreiflich blieb, warum er sich
dann überhaupt zu einer solchen Scheinexistenz als
Künstler hingezogen gefühlt hatte. Entweder mußte
dieser künstlerische Zwang in der einmal eingeschla-
genen Richtung seine Konsequenzen entfalten, oder er
hätte sich von Anfang an nur auf das Echte gerichtet,
auf reine Epik, und ein solcher Dualismus erschien
schwer verständlich in einer Erzählung, die das Talent
des Autors in voller Kraft zeigte. Mir stand fest, daß
irgend ein episches Kunstgesetz diese Hemmung von
innen heraus bewirkt haben mußte, und das hier ver-
borgene ästhetische Problem begann mich bald um
seiner selbst willen sehr gründlich zu interessieren.
Beim Urepiker Homer erleben die Fürsten und hohen
Herren die abwechslungsreichsten Abenteuer, Schiffs-
brüche und Heldentaten, phantastische Überraschungen,
bis sie endlich glücklich im Hafen eingelaufen sind. Also
Abenteuerlichkeit ist das erste Ingredienz einer epischen
Dichtung. Doch darf man an der sozial einwandfreien
Lebensführung und Lebensstellung jener erlauchten
szeptertragenden Könige nicht zweifeln. Sie sind legi-
11 —
time Fürsten, die Oberhäupter des Adels, der einen
soziologiscii gut fundierten Boden unter den Füßen hat.
Das Zuständliche bei Homer, die ruhig eingeschränkte
Gesellschaftlichkeit des täglichen Lebens, macht den
zweiten und reichlich gleichwertigen Reiz seiner
Dichtung aus. Es klafft kein Riß zwischen den beiden
Elementen, sondern das Abenteuer ist in der Soziologie
der Epoche fest verankert, und es gehört einfach zum
Metier jener Könige und Edelleute, fortwährend Kriegs-
und Seefahrten zu unternehmen und allerlei Gefähr-
liches dabei durchzumachen. Das verlangt ihre soziale
Stellung von ihnen, und wir dürfen den großen Epiker
glücklich preisen, dem sein Zeitalter in innerer Einheit
entgegenbrachte, was der Epiker in erster Reihe braucht:
soziologische Zuständlichkeit zugleich mit abenteuer-
licher Mannigfaltigkeit, gut fundierte Solidität, die in
sich ein Element der Phantastik begreift. Heute haben
diese Bestandteile sich gründlich von einander ge-
schieden, und der Abenteurer kann es nicht zu einer
anerkannten Stellung in der Gesellschaft bringen, so
daß dem armen Teufel zumeist nichts übrig bleibt, als
Hochstapler zu werden. Umgekehrt wird jeder, auch der
friedsamste Hochstapler, unvermeidlicher Weise irgend-
wie zu einem glanzvollen Abenteurer. So ist es unter
anderem dem Herrn Egon de Alamor widerfahren, und
der Epiker Otto Stoessl mußte sich herzhaft freuen,
als dieser zwar unfreiwillig phantastische Geselle ihm
über den Weg lief, und er setzte sich hin, um die
wundersamen Erlebnisse des vornehmen Diurnisten
säuberlich zu erzählen. Aber da stellte es sich heraus,
daß der Herr de Alamor zu den Deklassierten gehörte
und in keiner wirklichen Zuständlichkeit fest wurzelte.
Daraufhin regte sich der urepische Instinkt, der sich
mit dem Abenteurer allein, ohne eine soziale Umwelt,
nicht zufrieden geben konnte, und so half sich der
Dichter durch einen instinktiven Gewaltstreich, indem er
zum Schluß jenseits der Reichsbrücke eine homerische
Welt der soliden Deklassierten hervorzauberte. Dieser
— 12
kunsttechnische Fehler beweist, wie weniges, die epische
Mission des Autors.
Hier wird bereits auch sein Verhältnis zu Neu-
Österreich berührt, das er als episches Neuland recht
eigentlich entdeckt hat. Dieses seltsame Reich ist ge-
genwärtig im eben entwickeltem Sinn ein schlechthin
episches Reich. Noch ist die stramme moderne Dis-
ziplinierung nicht so weit vorgeschritten, daß dem
Hochstapler jede Hoffnung benommen wäre, zu einer
anständigen sozialen Stellung zu gelangen, wie es uns
kürzlich erst der köstliche persische Feldmarschall
Kolischer Kahn bewiesen hat. Dazu kommt die bunte
Ethnographie des Landes, die Fülle der nationalen
Typen, die schwankende Unsicherheit der staatlichen
Verhältnisse seit dem Sturz des Zentralismus, und end-
lich, im Gegensatz dazu, so viel fast kleinbürgerlich
pathetische und doch solide Ideologie. Man denke an
die Primitivität von Alldeutschen und Allslaven und
an die moralische Entrüstung des Kleinbürgertums,
dem die Erfolge Luegers zu verdanken waren. Über-
haupt hat ja die soziale Schichtung vergangener Zeiten
sich gegenüber dem Ansturm des Industrialismus nir-
gends zäher behauptet, als in Österreich, wo der
Kleinbürger und der Abenteurer noch immer eine Fülle
von Lebensmöglichkeiten finden. So unerquicklich ein
solcher Zustand in sozialer und politischer Beziehung
vielfach sein mag, der Epiker, der in ihm leben muß,
ist dennoch glücklich zu preisen. Die alte Homerische
Einheit findet zwar auch er nicht mehr vor, aber er
kann sie aus den Elementen des ihn umgebenden
Lebens in der Phantasie wieder herstellen. Darin nun
sehe ich Stoessls Bedeutung, daß er mit der Ahnungs-
sicherheit des Talentes diese Aufgabe begriffen hat
und auf dem Weg ist, ein österreichischer Epiker zu
werden anstatt ein Wiener Literat. In dem Roman
»Sonjas letzter Name« — seinem eigentlichen Erstling,
wenn man von dem vielversprechendem Prolog »In
den Mauern« absieht — hat er bereits im Kleinen ein
I
— 13
solches österreichisches Epos gegeben. Verworrene und
märchenhaft phantastische galizische Zustände werden
übergoldet von der Sonne eines menschlich teilnehmen-
den und echt epischen Humors. Ein pedantischer Ober-
leutrrant, der auf seinen Reisen, um Geld zu sparen, im
Freien kampiert; ein armes galizisches Judenmädchen,
das der Offizier noch als halbes Kind zu sich nimmt
und in der absonderlichsten Weise vor den Augen der
Welt verbirgt; Urkundenfälschungen, Lügen über Lügen,
der Eingriff des Kaisers, der diese Verworrenheiten
löst, endlich eine gut bürgerliche Ehe, wobei das Mäd-
chen zuletzt auch noch zu einem gesetzlich einwand-
freien Vornamen gelangt: all dieses Erstaunliche spielt
sich im modernen Österreich ab, und man hat das
Gefühl einer vollkommenen Verbürgtheit, einer inneren
und dichterischen Logik der Tatsachen. Zugleich waltet
ein vollblütiger Epiker, der in einem ruhigen und
füllereichen Vortrag zu erzählen weiß und typische
Existenzzustände des Verhältnisses der Geschlechter
mit echter Dichterkraft und tiefem Mitgefühl zu schil-
dern und auszuschöpfen weiß. Diese starke Mensch-
lichkeit unterscheidet die )»Sonja« von »Egon und
Danitza«, und beide Werke gehören zu einander wie
Pol und Gegenpol. Aber die Zukunft des Dichters wird
wohl mehr durch die »Sonja« vorausgemeldet. Märchen-
haft phantastische Epik, die aber auf tief menschlicher
und sogar real österreichischer Grundlage beruhen
wird, hat er in diesem seinem schönen Erstling bereits
gegeben, nur daß er sich noch nicht so voll, wie im
Schluß von »Egon und Danitza«, seiner Phantasie zu
überlassen wagt, wodurch da und dort noch eine zu
ängstliche Reproduktion von alltäglichem Detail über
das Epische hinaus störend wirkt. Aber ein großes und
wertvolles Versprechen hat er uns damit gegeben, und
es ist an seinen Landsleuten, ihm durch ihre Teilnahme
die Erfüllung zu erleichtern.
Allerdings bedrohen den Dichter auch gewisse
Hemmungen und Gefahren, vor denen eine freund-
14
schaftliche Kritik ihn warnen darf. Die österreichische
Verworrenheit, die den Epileer begünstigt, bedrückt
natürlich häufig genug den Menschen. Der Hochstapler,
der die Phantasie fesselt, muß zu Zeiten die Satire
erwecken, und der Erzähler wird da und dort wohl
auch zum Karikaturisten. Ein Schritt weiter, und wir
begegnen jener Simplicissimusgefahr, wie ich sie nennen
möchte, die heute bei ausgebildeter Technik der Satire,
in besonders hohem Maße die Erzähler bedroht. Die
beiden Klippen, die hier zu vermeiden sind, mag man
nennen: Verbitterung oder Humoreske. Diese letzte
Gefahr ist bei Otto Stoessl wohl so ziemlich ausge-
schlossen, während es ihm offenbar noch Mühe kostet,
die menschlich-ethische Verdrossenheit über bürgerliche
Zustände nicht in sein Werk dringen zu lassen und
dem realen Österreich das Phantasieösterreich seiner
Epik mit freudiger Bejahung gegenüberzustellen. Mir
scheint, als ob seine Erzählung »Negerkönigs Tochter«,
die zwischen der »Sonja« und dem »Egon« steht, nicht
ganz frei von diesem geheimen feindlichen Einfluß
geblieben ist. In einer Beziehung hat sie freilich einen
ganz besonderen Vorzug, nämlich ihre strenge und
geschlossene Form. Es werden mancherlei Probleme
geistiger Art entwickelt, ohne daß es zur Abstraktion
und Analyse und zu unkünstlerischen Exkursen kommt.
Alles ist in Erzählung aufgelöst, die scheinbar kühl
und klar nur Tatsachen zu berichten weiß, aber innere
Wärme und vor allem Humor nicht vermissen läßt, —
für den nicht, der mit eigener Phantasie nachzuleben
weiß. Das bleibt eine beträchtliche Formleistung, die
um so mehr Aufmerksamkeit verdient, als gegenwärtig
das Problem der künstlerischen Form innerhalb der
modernen Produktion wieder auf der Tagesordnung
steht. Vor allem aber ist der geistige Inhalt dieser Er-
zählung kühn und merkwürdig. Der Kulturmensch
flieht in den afrikanischen Urwald; er sucht das
Märchen in der Natur. Das Naturkind dagegen findet
seine afrikanische Urwaldheimat sehr prosaisch und
— 15 —
entdeckt in der »Kultur* das Märchen — in Wien, im
Prater, in der Großstadt, in der wieder der Afrika-
reisende verloren ist, wie verirrt in einem steinernen
Urwald. Diesen ergötzlichen Kontrast konnte nur ein
echter Humorist finden, und nur in Wien oder Öster-
reich konnte sich der Gegensatz so anschaulich
lokalisieren. Aber mein Einwand ist, daß die Größe
des Stoffes neben dem Humor auch mehr entschlossene
Märchenphantasie erfordert hätte. Der Autor steht der
Kultur hier doch nur als Satiriker gegenüber. Die
Urwaldmächtigkeit, mit der die steinerne Stadt auf den
Afrikaforscher wirkt, kommt nifht heraus, und die
Sehnsucht des Negerkindes erscheint wieder nicht ge-
nügend am Märchenobjekt Wien orientiert zu sein.
Offensichtlich hat der Autor sich von seiner Simplicis-
simuslaune und einem gewissen Ressentiment verleiten
lassen, seine dichterische Intention ein wenig selbst zu
ironisieren, und das darf der Epiker nicht, dieser Be-
jaher, der Humorist sein kann und soll und auch wohl
Pädagoge, aber nicht Satiriker. Bei alledem ist der
außerordentliche Fund selbst zu rühmen, dann die
geschlossene Form und so manche feine und ergötz-
liche Einzelheit.
Möge der Autor alle inneren Hemmungen, die
sein kraftvolles Epikerwesen da und dort noch be-
drohen, glücklich überwinden und immer mehr der
Epiker dieses phantastischen modernen Österreich
werden. Seine engere Heimat hätte aber allen Anlaß,
durch Glauben an ihn und Teilnahme an seinem
Schaffen seine Entwicklung zu fördern.
Selbstanzeige
Aus der Beriiner Wochenschrift ,Der Demokrat'
(28. September):
Karl Kraus
Von Ludwig Ullraann
Karl Kraus, sein Wort und seine Tat — auch im .Demokrat'
wurde ihrer schon wiederholt Erwähnung getan — braucht man reichs-
— 16
deutschen Lesern heute nicht mehr zu erläutern. Seit elf Jahren erscheint
in Wien sein Kampfblatt ,Die Fackel', seit elf Jahren geschmäht und
geachtet, gepriesen und verkannt, geliebt und bewundert von den Einen,
gehaßt und gefürchtet von den Anderen, bricht er, ein Einzelner und
Einsamer, den über ihn verhängten Bann publizistischen Schweigens
allmonatlich mit einer Sprachgewalt, die ihm aus allen Kreisen und
Lagern ein in stiller aber starker Verehrung unbedingt ergebenes Publikum
schuf. Lange blieb die Zahl der Männer gering, die — und das größten-
teils in außerösterreichischen Blättern — für die Tiefe des Denkers
und die Kraft des Künstlers eintraten, ohne Scheu vor dem immer
bereiteten Fluch journalistischer Verfehmung. Da erschienen die zwei
ersten Bände der »Ausgewählten Schriften<, da trat Kraus im letzten
Winter als Vorleser eigener Aufsätze vor das Berliner Publikum und
die führenden Blätter Deutschlands ließen es sich nicht nehmen, der
Bedeutung des Schriftstellers ihre Achtung zu erweisen. Wenig mag es
dagegen bedeuten, daß, al» Kraus seine Vorlesungen in Wien vor einem
enthusiasmierten Hörerkreise fortsetzte, die , Arbeiterzeitung' allein von
allen Wiener Blättern von ihnen Notiz nahm, daß Kraus heute noch
gezwungen ist, jede Stimme, die über ihn laut wird, durch Abdruck in
seinem eigenen Blatte — eine Handlung gerechter Notwehr und freien
Künstlerbewußtseins — den Wienern bekannt zu geben. Langsam aber
sicher dringt der Ruhm Karl Kraus' aus deutschen Reichslanden in das
erstaunte Wien. — Seit elf Jahren liegt die ,Fackel', die das .Literarische
Echo' das »amüsanteste, kulturellste, europäischste Kunst- und Witzblatt«
genannt hat, in den Wiener Tabak-Trafiken neben den eindeutigsten
Produkten der Revolver- und Cochonneriepresse, zum Teil von einem
reinem Aktualitätshunger fröhnenden Publikum verschlungen, das von
Woche zu Woche erwartet, >was< der Kraus über diese oder jene
Sensationsaffäre schreiben werde. Robert Scheu hat in seiner Broschüre
»Karl Kraus« (Verlag Jahoda & Siegel, Wien) darauf hingewiesen, wie
sehr Blatt und Herausgeber in diesen elf Jahren der Wandlung und
Steigerung gewachsen sind. Klar aber ist, daß, je mehr aus einem
kulturell verdienstlichen Satyriker einer der ersten Denker und der viel-
leicht erste Stilkünstler unserer Zeit wurde, je mehr sich Form und
Inhalt des Blattes vertieften, je mehr Kraus bestrebt war, frei von seinen
Objekten sie beherrschend in den Bann seiner Gestaltungskraft zu
zwingen, künstlerischen Stil über aktuellen Gehalt zu stellten, die Tiefe
seiner Gedanken aus der Kraft der Form entstehen zu lassen, desto
mehr die Verständnislosigkeit eines Publikums wachsen mußte, das der
»Verflachung« des einst schnell populär gewordenen Witzboldes ratlos
gegenüber stand, bis sich langsam ein neuer, heute stetig wachsender
Leser- und Kennerkreis bildete. —
Das Gefühl der Unwürdigkeit aber, bloß einen Automaten für
Angriffe darzustellen, war es wohl in erster Linie, was Karl Kraus
anhielt, die Arbeit langer Jahre in nach höheren Gesichtspunkten ange-
ordneten Bänden zu vereinigen, alle jene momentanen Impulsen ent-
sprungenen, zwar sicher, wie der erste kundige Blick zeigte, oftmals
revidierten, aber immerhin in der Hitze polemischer Aufwallung und
— 17 —
gedanklicher Empfängnis niedergeschriebenen Aufsätze durch Umarbeit
und Zusammenstellung zu neuem Gute zu machen, sie einem größeren,
nicht von Wiens und Österreichs Grenzen umschlossenen Publikum in
tadelloser literarischer Form vorzulegen.
So faßte Kraus seine Aufsätze, in denen er — sicher eines seiner
größten und über Menschenalter hinaus wirkenden Verdienste — die
Sezualjustiz unserer Tage bekämpfte, in den Band »Sittlichkeit und
Kriminalität« (bei Rosner, Wien) zusammen, so vereinigte er seine an
Gehalt und Form höchstens den Sprüchen Lichtenbergs zu vergleichenden
Aphorismen in dem Buche: »Sprüche und Widersprüche« (bei Langen,
München). So erscheint jetzt gleichfalls bei Albert Langen der dritte
Band der »Ausgewählten Schriften« »Die chinesische Mauer«.
Es ist ein Buch, in dem Kraus ein Bild unserer modernen
Geisteskultur auf allen Gebieten geben will. In der Tiefe seiner Gedanken,
in der Schärfe seines Blickes aber liegt es begründet, daß sich tiefere
Zusammenhänge auftun, die über die Vergänglichkeit unserer Zeit hinaus-
reichend tief im Menschlichen, besser im Normalmenschlichen wurzeln.
Dieses Buch kann ein ergreifendes Dokument genannt werden, ein
Dokument des Kampfes gegen die Dummheit, gegen die Enge der
Durchschnittsgehime, in der Kraus den Quell alles Obels, aller jener
Mißstände sieht, gegen deren zermalmendes Nivellierungsvermögen er
mit nervenspannendem Pathos für wahrste Freiheit, die des Geistes und
des Geschlechts, der Nerven und der Gehirne, ficht. Grauenerregende
Bilder entwirft er an der Hand einiger Berichte aus den Zeitungsrubriken
»Gerichtssaal« und »Tagesneuigkeiten«, bannt eine chinesische Mauer
der Beschränktheit um uns, die beengt und beengend unserer Kultur
seit Jahrhunderten jeden frischen Lufthauch absperrt, ihre wichtigsten
Lebensregungen in Alltäglichkeit erstickt, jedes freien Mannes Hirn und
jedes starken Weibes Lust mit der Peitsche der Moralsüchtelei verfolgt.
§ine chinesische Mauer aber sieht er ringsum am Horizont einen neuen
Weltbrand aufflammen. Denn von den Gelben, die mit abendländischer
Sitte, Sünde und Schwäche unbekannt sind, erwartet er die Zertrüm-
merung unseres altersmorschen Europa.
Einer Welt, die an der Bequemlichkeit täglicher Information das
Denken verlernt hat, tritt hier ein schärfster Denker von unerbittlicher
Konsequenz entgegen, ein Denker, der nicht nur zu formen weiß, was
er sagt, der, mehr noch, Meister und Diener am Worte zugleich mit
scheuer Verehrung aus der Sprache seine Gedanken schöpft, dem etwa
die Umstellung eines Beistrichs, aus der sich ein neuer ungeahnter Sinn
ergibt, ein tiefes menschliches und künstlerisches Erlebnis ist, der seines-
gleichen an Treue und Genauigkeit dem Worte gegenüber kaum hat,
dessen Stil der kompakteste, präziseste, ökonomischste und doch reich-
haltigste an tiefstem Sinn ist, wie so oft schon erkannt, von peitschen-
scharfer Härte, blitzendem und blendendem Witz, beklemmendem Pathos
und ergreifender Einfachheit, einer Einfachheit, die sich oft zu Gipfeln
lyrischer Pracht durchdringt. Denn Sätze, wie: »Wir starben, die wir
dachten.« - »Und es ist allerorten ein Geräusch der Banalität und die
große Fliege summt in meinem Zimmer ...» — »Eine gelbe Hoffnung
— 18 —
färbt den Horizont im Osten und alle Glocken läuten Sturm.« — konnte
nur ein Dichter schreiben, der es vorzog, in den kurzen Satz eines
polemischen Autsatzes die Fülle zu bannen, die, ein anderer in zwanzig
klingenden und bimmelnden Gedichten verpufft hätte. In dieser Sprache,
die die nährende Mutter der Gedanken des Künstlers ist, werden Denker
und Künstler eins. Die Ereignisse, möchte man glauben, mußten sich
vollziehen, um ihrer plastischen Deutlichkeit Nahrung zu geben. In ihr
wurzeln Kraft und Haß, die den Kampf gegen veraltete Gesetzespara-
graphen und Rechtsanschauungen, gegen Korruption und Kulturschwin-
delei, gegen Geschäftskunst und plattes Tagesschriftstellertum, gegen
Banalität, Gemeinheit und Niedrigkeit durchzittern. — So groß aber die
einsame Stärke dieses Mannes ist, so empfindlich zucken seine Nerven,
deren feingestimmter Spannkraft der behagliche Lebenstrott Wiens, dem
der norddeutschen und englischen Städte Verkehrsgröße und Arbeitslust
ganz fehlen, zur Qual wird Die romantische Individualisierungssucht dieser
Stadt, ihre lässig-faule Grazie und banalisierende Gemütlichkeil treiben
ihn zu bitterhumoristischen Ausbrüchen, durch deren unwiderstehliche
Komik die Tragik des Jammers über die seichte Großmäuligkeit des
Daseins weht. Ein leidenschaftlicher, Wahrheitsfanatismus beseelt hier
ein Hirn und ein Herz, die beide gesund und reinlich genug sind,
gegen eine Welt zu toben, die die höchsten Werte der Menschlichkeit
käuflich gemacht habe, die das Virginitätsideal zur Erhöhung des
Deflorationsgenusses erfunden habe , die weibliche Nerven , die in
ungebundener Kraft ihrer Sehnsucht folgen, foltere, während sie Einheirat
und Heiratskauf, Bordellbetrieb und Annoncenkuppelei zulasse und
besteuere, die den lebenden Geistesmenschen mit ihrer Banalität erdrücke,
den Toten aber zum Heroen derselben ausrufe. Es ist eine straffe, unbe-
denkliche und höchst bedachte Konsequenz, mit der dieses Buch ange-
ordnet ist. Der erste Eindruck der Willkürlichkeit verfliegt sofort und
es offenbart sich eine in ihrer Notwendigkeit direkt geniale Steigerung.
Es ist ein erschütternder Totentanz, der beginnend mit der Besprechung
eines Wiener Sensationsprozesses in wehrhafter Abwehr und grimmigem
Ekel gegenüber moderner Sexualethik und Sexualjustiz, der Banalisierungs-
kraft bürgerlichen Fortschrittsdünkels und Politikbetriebs, dessen Kom-
ponenten ordenstrebernde Loyalität, gaffende Schaulust und lästige Vor-
drängerei bilden, gegenüber nebenmenschlicher Belästigung, zu der sich
die romantischen Schönheitsträume des Philisters, sein kindisches
Reklame-, Informations- und Sensationsbedürfnis gestalten, gegenüber
der Vernichtung alter und echter Theaterkunst durch eine lendenlahme
Possenpöbelei, der Verdrängung urkräftiger, einfacher Dichtung durch
journalistische Taglöhnerarbeit, gegenüber der Knechtung der Menschheit
durch Dummheit und Gleichgültigkeit, Plattheit und Grausamkeit vor unseren
Augen vorbeihuscht, bis diese Serie vernichtender Anklagen (man beachte
zum Beispiel den Aufsatz >Die Mütter<) und zermalmender Beweise in
einer Prophezeiung von grauenhafter Wahrscheinlichkeit ihren Abschluß
findet. Der Fall der Amerikanerin Elsie Siegl ist Karl Kraus der Urteils-
spruch der Natur über unsere Kultur, eine Kultur, die sich selbst solange
knechtete, bis sie sich selbst zerfleischen muß, bis ihre Weiber sich
I
— 19 —
gegen ihre Männer, ihre Lust sich gegen ihre Moral, ihre Triebe sich
gegen ihre Religion kehren müssen. Eine Kultur, die vor dem Ansturm
einer genußfrohen, ethisch nicht gehemmten Rasse zusammenbrechen muß.
Ober ein Jahr dauerte nach einer Notiz des Buches die Ordnung
und Umarbeit der zuerst in .Fackel', .Simplicissimus' und ,März'
erschienenen Aufsätze. Aber nur dem geschulten Auge wird bei ein-
gehender Vergleichung die Fülle und Sorgfalt der Arbeit kenntlich
werden, einer Arbeit, wie sie selten in deutschen Landen vollbracht und
noch seltener gewürdigt wird in einer Zeit, die, im Afterfeuilletonismus
verkommen, Schnelligkeit der Information und >Glanz« des Stils über Kraft,
Einfachheit, Tiefe und Schönheit stellt und den Schreibenden zur Ver-
flachung zwingt, wenn er nicht die immense Stärke und die geniale
Schöpferfreudigkeit eines Karl Kraus besitzt
•
Aus dem .Berliner Börsen-Courier' (21. Sep-
tember):
Die chinesische Mauer. Karl Kraus, der Herausgeber der
Wiener .Fackel', einer der klügsten, feinsten und unerschrockensten Köpfe
der Gegenwart, hat unter obigem Titel eine große Reihe seiner besten
Aufsätze gesammelt (Albert Langen in München); sie gehören zu den
lebensvollsten, die er geschrieben hat. Sie sind außerordentlich reich
an ironischen Ausfällen und satirischen Hieben, die öffentliche und
geheime Institutionen, berühmte und berüchtigte Personen abbekommen.
Besonders übel geht es hier Herrn Harden und noch schlimmer der
österreichischen Justiz. Diese Aufsätze, in denen der Geist der Verneinung
vorherrscht, wollen nichts sein, als das Echo des Tages, aufgefangen in
einer leidenschaftlichen Menschenbrust, die vor Freude und Zorn, vor
Liebe und Haß, Hoffnung und Verzweiflung zu zerspringen droht. Man
ist in diesem Buche nie auf sicherem Boden; man wandelt wie über
glühende Kohlen. Nur als Barometer der persönlichen Temperatur
Kraus' möchte man diese Aufsätze gelten lassen, als die Spiegelung
einer Zeitstimmung. Hierin liegt ihr wirklicher Wert. Der Historiker
kann sie zwar nicht als Aktenstücke brauchen, um aus ihnen Tatsachen
festzustellen ; aber den Pragmatismus der Begebenheiten wird er aus ihnen
entlehnen dürfen: die Lichter und Schatten seines Gemäldes.
Kraus stellt Gesetze auf und befehdet Gesetze; er fördert die
Talente und legt ihnen auch Fesseln an ; immer aber befragt er nur seine
eigene Meinung um Rat. Seine Einseitigkeiten und Voreingenommenheiten
sind gewiß nicht seine schlimmsten Fehler. Ohne Liebe und Haß gibt
es keine Kunst, wie es ohne Blindheit und Voreingenommenheit keine
Liebe gibt. In der Kritik ist kräftiger Haß jedenfalls besser als Gleich-
giltigkeit. Es ist ein Geist der Unzufriedenheit in Kraus, der ihn mit
großer Verachtung von all den verlogenen gesellschaftlichen, moralischen,
ethischen und sozialen Lügen und Borniertheiten sprechen läßt. Seine
Kritik gleicht dem Sturm, der das Morsche, Schwächliche und innerlich
Hohle niederwirft. Er hat die Waffen, um blutige Schlachten zu schlagen;
er hat Witz und Satire genug, um mit den Besten zu wetteifern.
— 20
Sein Stil ist warm, trotzig, eigensinnig, mutig, tat- und schlag-
kräftig und, wenn es sein muß, grob. Kraus steht da wie ein gewappneter
Mann in kriegerischer Haltung, die Lanze bereit, schäumend und knirschend.
Diese Sprache wirkt wie ein Stahlbad, in das man entnervt durch Abstraktion
und Dachstubenweisheit, niedertaucht und zu neuer Lebensfrische sich
stärd. Er mag behandeln welchen Gegenstand er will, immer spiegelt
sich in der kristallenen Klarheit seiner Darstellung die leidenschaftliche
Persönlichkeit. Dieser Stil scheint völlig der Abdruck des inneren Menschen.
Mi.n fühlt, daß Kraus nicht mit Tinte allein schreibt, er schreibt vielmehr
mit seinem Blute und zuweilen auch mit seiner Galle. J. E. P.
»
Aus der ,Welt am Montag' (Berlin, 17. Oktober):
Der bekannte Wiener Essayist und Satiriker gibt in diesem Bande
einen guten Oberblick über seine charakteristische Lebensarbeit. Karl
Kraus ist ja von jeher so etwas wie ein literarischer Outsider gewesen.
Man konnte gewiß nicht immer mit ihm gehen. Aber selbst wo man
ihm widersprechen mußte, hatte man stets das Gefühl, daß hier ein
verblüffend kluger, scharfsichtiger Geist die Dinge nach seiner ureigenen
Methode sich vornahm. Dieser erste Eindruck wird verstärkt, wenn man
seine in der .Fackel' und im ,Simplicissimus' verstreuten Essays in
einem stattlichen Bande beieinander findet. Die Physiognomie dieses
seltsamen Schriftstellers, in dem brodelndes Temperament und bitterböse
Satire sich zusammengeschweißt findet, tritt erst hier so recht klar und
plastisch vor den Leser. Man sehe sich seine Glossen zu Tagesereig-
nissen (wie den Prozeß Veith oder die Eulenburgaffäre usw.)
und seine verblüffend sicheren Porträts bekannter Zeitgenossen
(Maximilian Harden, Peter Altenberg, Girardi usw.) an. Sein
sonderbarer, nicht eben leicht flüssiger Stil vibriert förmlich vor lauter
Persönlichem. Das leicht Nervöse und vor allen Dingen völlig Un-
pathetische seiner Darstellungskunst, die das Haschen nach Schmock-
schen Brillanten nicht nötig hat, garantiert ihm einen allerersten Platz
im Geschichtsbuche der deutschen Journalistik. Eine Virtuosenarbeit,
wie seine unbarmherzige, von glühender Feindschaft aufgepeitschte Ab-
rechnung mit Maximilian Harden ist in diesem Zusammenhange
ganz zweifellos ein historisches Dokument ersten Ranges.
Rilkes Buch
Von Berthold Viertel
Jedes Werk von makellosem Stile stellt die Reinheit
der Begriffe wieder her. Die »Aufzeichnungen« lassen
ein Wunder, welches von falschen Propheten oft mit
täuschender Unechtheit nachgeahmt wird, klar werden:
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids
Brigge. Leipzig. Im Insel-Verlag 1910.
— 21 —
Sprache. Daß Sprache die letzte Reife, die überzeugende
Fruchtbarkeit einer erwählten Seele ist. Das million'm-
stimmige Gerede der Zivilisation allerdings hat, abge-
sehen von seinen Berichterstatter- und Handlanf,er-
diensten in der Welt der Tatsachen, den satanischen
Zweck, die Seele mundtot zu machen, die schüchternen
Stimmen der inneren Wahrhaftigkeit zu überschreien.
Der Flugsand der toten Worte und der gestorbenen
Sätze verschüttet die lebendigen Regungen des Gefühls,
erstickt die Versuche persönlichen Denkens und trocknet
die zarten Quellen der Einbildungskraft aus. Die Angst
vor dem Leben hat diese genial mörderische Methode
ersonnen, die Angst vor dem seelischen Leben, welche
das teuflische Stigma der Menschheit ist. Das Werden
der Seele tut weh, es ist voll Bangnis und Gefahr.
Wie unerträglich schon die Einsamkeit, welche geboten
ist, damit ein Inneres sich rühre! Wie gemieden und
verleumdet die Stille, in deren Hut die Melodie des
Menschen sich auf sich selbst zu besinnen beginnt!
Und der Mensch, in seiner schlotternden Ohnmacht,
in seiner kranken Feigheit, bemächtigt sich der Dichter-
stimmen, um sie zum Lärm zu mißbrauchen.
Nein, die trunkenen Hymnen, die leidenschaft-
lichen Gesänge haben wenig Hoffnung, gehört zu
werden. Villeicht zwingt eher manchmal ein unerbittlich
Leiser zum Aufhorchen und Lauschen. Urn dem Wort
Brigges zu huldigen, will ich vorerst die Stille rühmen,
die seine Atmosphäre, sein Klima ist. Nichts rührender
als diese sanft inbrünstige Beschattung einer Bered-
samkeit, die aus dem Geheimnis einer Seele sich los-
löst, nichts, was inniger überwältigt.
Brigge klingt nur von Einsamkeit zur Einsam-
keit. Wer ihn hören will, muß erst verstummt sein.
Er lege ein sehnsüchtiges Ohr an die vibrierende
Rhythmik dieser Prosa. Er belausche diesen Funken,
der einen unsäglich zarten Stoff durcheilt. Er be-
horche diese Sprache, wie man die verschwiegenen
Atemzüge eines geliebten Wesens behorcht. Vielleicht
— 22 —
geht dann dieses rührend Einfache in ihn über. * Wie
ist es einfach! Wie leicht macht es einem diese
Sprache, welche fertig geworden ist. Es ist ja nichts,
als die betörende Selbstverständlichkeit einer keuschen
Stimme, die für sich selbst spricht und daher aus
jedem heraus, der ein verwandtes Selbst hat. Man
merkt es fast nicht, wie sie führt. Sie ist sanft und
leicht wie ein Luftgeist, man spürt kaum, daß sie in
eine Richtung zwingt, aber sie führt mit großer
Sicherheit. Und plötzlich ist man mitten in einer
unselig seligen Betörung.
Eine fertig gewordene Sprache, eine fertig ge-
wordene Seele. Jetzt zwingt sie dir durch die Gliederung
ihrer Sätze ihre persönliche Logik auf. Unmerklich
geschieht ein Zauber: indem eine herrlich konsequente
Rhythmik ihren Akzent auf beseligend genaue Worte
wirft. Und die Art einer Seele wirbt durch die magische
Verteilung des Tones. Mit geradezu grammatikalischer
Notwendigkeit öffnen sich die Bilder, um zu über-
zeugen. Und die Begriffe erfolgen wie logische Er-
lösungen. — Es gilt, dir das schwere Geheimnis einer
geprüften Seele aufzuladen, noch ehe du es merkst,
was man mit dir vor hat. Es soll dir eine furchtbare
Bangnis ins Blut geflüstert werden, vor der du bisher
flohest. Und ohne, daß du es verdienst, bist du reif
für die Gnade, bist du bereit zu einer Seligkeit, die
weit aus einer dir sonst versagten Höhe herabkommt.
Mit einer einfachst-sicheren Methode, wie sich etwa
eine schwierige Spitze knüpft, haben sich die letzten
Fragen des Menschentums in ein feinstes Gespinnst
der Beziehungen verfangen. Die große Dämonie geriet
in ein Kleinleben überzeugender Details. Und du,
armer, beneidenswerter Leser, bist einem Künstler ins
Garn gelaufen.
Dieses Buch ist erfüllt von einem Glück des Be-
merkens, der Apperzeption, dem nichts versagt scheint.
Jeder, der manchmal aufwacht, kennt diese mystische
23 —
Belebung: wenn die Seele plötzlich ihr Licht auf irgend
eine Heimlichkeit wirft. In manchen sehr empfänglichen,
inspirierten Stunden nehmen wir so jeden intimen
Ausdruck auf, nähren uns von dem ganz Individuellen
der Dinge und Begebenheiten. Das ist das würdige
Material der Erinnerung. Das ist die wundervolle
Deutlichkeit der Träume, die als undeutlich verleumdet
werden. Das ist die manchmal erlösende Nähe der Natur,
das plötzliche Verwandtwerden fremder Menschen. Nicht
das Glück: solches Ersehen, solches Erleben macht reich.
Dieses ganze Buch ist aus solch überzeugendem
Ausdruck gemacht. Gesten und Menschenzüge, die
sich in uns selbst leise aufzutun scheinen, die aus
unserem Blut zu mahnen scheinen. Erinnerung voll
süßer, reifer Menschlichkeit, für die man sofort alles
hingeben möchte, was man an teuersten Erinnerungen
selbst besitzt und heilig hält. Ahnungen, die man nicht
mehr abschütteln kann. Ein Hinfluten von Träumen,
darunter solche, die für ein Leben Ersatz leisten, und
Alpdruck, dem man nicht entweicht. Legenden, die
man halluziniert hat, wie man schwören wollte, und
eine grausame, schrecklich echte Gegenwart, wie
Suggestion; man hat eine Krankheit geerbt. Aber
dieser da gibt Gesundheit.
Welch ein Strömen und Überströmen innerer und
innerster Erfahrung. Und man weiß : es ist das viele
Erfahren-Haben eines reichen Lebens, nein, einer kultur-
langen Geschlechterkette von Einzelleben. Und nun, in
einem großen Augenblick bricht es herein, Qual und
Erlösung eines letzten Adels, Reife über Reife.
Alles ist hier Perspektive, Spiegelung, Analogie,
Metapher, Beziehung. Alles löst sich in einem Fluidum
der Ahnung. Und doch hat diese Welt Einheit. Doch
sammelt sich jedes Detail zu einer Dialektik, die mit
überzeugender Genauigkeit sich entwickelt.
Der Stoff aber, aus dem alles besteht, ist die
Briggesche Inbrunst, die hier zwischen ihren beiden
Polen: Angst und Zuversicht, ihre ganze Skala durch-
309--310
— 24
läuft. Mit ihrer ekstatisclien Milde, ihrer Demut, ihrer
Lebensfrömmigkeit, mit allen Kulten ihrer Liebe, ihrer
sich verzehrenden Zärtlichkeit und ihrer männlichen,
geistigen Urkraft. Sie ist in jeder Geste, in jedem Bild,
im Formendrang und Linienlauf dieser oft bis zur
Gewalttat intensiven Phantasie. Und sie ist in der Be-
redsamkeit Brigges ganz Stimme geworden, Musik,
unendliche Melodie.
Die »Aufzeichnungen« sind Lyrik, wie die Dramen
Shakespeares und die Romane Dostojewskis ungeteilt
dahinfließender lyrischer Strom sind, wie jede Dichtung
Lyrik ist. Die Tagebuchblätter, die Reflexionen und Visio-
nen, die Predigten, Erinnerungen und Legenden — alles
lyrische Unmittelbarkeit, Strophen einer großen Hymne.
Und Szenen eines großen Dramas. Denn es ge-
schieht eine Handlung und Verwandlung. Eine Tragik,
die durch ein Wunder überwunden wird: wie dieser
Letzte sich und die Kultur seines Geschlechtes voll-
endet; durch welche kontrapunktische Not er zu seiner
wahrsten Sicherheit sich durchsiegt: welch ein Künstler-
tum sein Kranken, welch ein Sehertum sein Ahnen,
welch ein Reifen sein Sterben und welch eine betörende
Dichtung seine Armut, sein Verlorengehen istl Wie er
sich aus dem »Capillaren« überwältigend aufbaut:
einer jener Menschen, deren die Historie bedarf, um
sich durch die Meisterschaft der Wenigen für den
Dilettantismus aller zu rechtfertigen. Man spreche nur
nicht geradezu von Christentum, so verwandt auch
der Geist Brigges den meist verführerischen Geistern
des Christentums sein mag. Denn man erleichtert
dadurch das billige Mißverständnis, das so gern der
unerbittlichen Wahrheit des im großen Sinne Persön-
lichen sich entzieht. Man sage auch nicht »Mystik«,
um so ein Kunstwerk verdächtig zu machen. Denn
dieser beispiellose Impressionismus der Mystik, in der
wundergenauen Unmittelbarkeit seines Ausdrucks ist
Kunst, um es noch einmal zu sagen : Lyrik. Die reifste
und reinste Lyrik Rainer Maria Rilkes.
I
25 —
Meine Freundschaft
Von Alexander Solomonica
H., einer meiner Bekannten, war mir sehr anhänglich, und ich
ihm nicht minder zugetan. Wir sprachen zwar nie über dies gegen-
seitige Verhältnis, doch es hatte sich unzweifelhaft in das Gleich-
maß des Vertrauens von selbst gefunden. Unsere Freundschaft
war, so darf ich sagen, unser Widerschein, ein Flammenspiel an
der Wand, das sich nicht wegwischen ließ, wenn irgend eine Hand
darüber fuhr. Die Liebe zu dem gleichen Mädchen hätte sie nicht
zerstört, sie vielleicht in eine lautere Feindschaft verwandelt, sie
schlimmstenfalls einem tragischen Konflikte zugeführt. Der Gedanke,
daß sonst ein äußerer Anlaß, und wäre es selbst der Tod, der
Harmonie etwas anhaben könnte, lag mir fem, ich hielt ihn^ der
Erwägung nicht wert und bin dessen gewiß, daß auch er verächt-
lich über ihn gelächelt hätte.
Aber als ich gestern mit ihm sprach, da hatte sich unter-
dessen eine unbegreifliche Veränderung vollzogen. Ich bemerkte,
daß alle Herzlichkeit aus unserer Rede gewichen war. Mißtrauen
erfüllte sie, es hatte sich Heuchelei in ihr eingenistet, und vergebens
bemühte ich mich, ihrer Herr zu werden. Auch ein Versuch von
seiner Seite, mit einem schnellen Lachen den alten Ton zu finden,
mißglückte. Ich mußte erkennen, daß es sich um keine vorüber-
gehende Verstimmung handelte; sie wäre sogar, hätten wir jetzt
gleich die Sprache darauf gebracht, nicht verflogen, sondern gewiß
für immer besiegelt worden. Obgleich sie grundlos zu sein schien,
fühlte ich ihre Unwiderruflichkeit. Aber indem ich mich fragte,
wie ich je hatte mit ihm befreundet sein können, erschrak ich in
einem Atemzuge darüber, daß es mit dieser Freundschaft nun
endgültig vorbei war. Als ich dann schärfer zusah, erkannte ich —
dies ging mir sehr nahe — , daß jene Heuchelei von mir allein
ausgegangen war. Ich hatte sie auf ihn nicht einmal übertragen,
sie nur in die Gegenrede hineingedeutet. In Wahrheit war plötzlich
eine unsichtbare Mauer zwischen uns, von der meine Worte zurück-
prallten, und sein Gesicht blieb mir verschlossen.
Im Schwindel, der mich ergriff, tastete ich vergebens nach
der Hoffnung, es wäre ein Traum. Denn nie zuvor hatte mich so
ohne Gnade die Wirklichkeit gestreift. Doch weiß der Himmel,
hinter welchem Traume ich mich verborgen hielt, so ahnte ich
26 —
nicht, daß ich selbst die Wirklichkeit gewesen war. Ich hörte
irgend einen Klang verstummen, aber ich horchte wohl, von einer
Wallung umfangen, nur mit halbem Ohre hin. Mir war's, als hätte
ich den Einsatz meiner Kraft verspielt, doch der Schlaf lag mir
noch auf den Lidern, nun bin ich erwacht und meine Schwäche
ist verflogen. Ich denke sogar mit Genugtuung daran, wie gleich-
gültig mir der Freund geworden ist. Eine meiner Launen hat ihm
einen bösen Streich gespielt, darum bemüht er sich jetzt, wie ich
weiß, vergebens, den Anlaß zu unserer Entfremdung zu finden.
Ich ärgerte mich vielleicht über den Ausdruck seines Gesichtes,
oder es verriet mir plötzlich ein Augenzwinkern die Distanz, um
die ich mich in der Zwischenzeit von ihm entfernt hatte. Wie dem
auch sei, an die Marschroute, die ich mir selbst vorschrieb, bin
ich gebunden. Sind doch seit jeher meine Launen das Einzige,
das mich zur Pflicht gemahnt, denn ich mache sie mir zur Pflicht.
Ängstlich bin ich bestrebt, jeder einzelnen zu Willen zu sein, und
selbst meine Gefühle gehorchen da aufs Wort. Vor ihnen habe
ich Respekt, denn sie allein lassen mich an die Macht des
Schöpferischen glauben. Wohl hielt ich unsere Freundschaft für
unzerstörbar, da ich sie aber einer Laune opferte, erweist sich mir
das, was mich als Ohnmacht schreckte, als eine Probe meiner
Macht. Ich werde mir wollüstig bewußt, daß eine leise Regung
meines Willens dem Tode gewachsen ist. Ihm trotzte die Freund-
schaft, war sie doch unser Widerschein, den nun ein Hauch des
Gedankens für immer erlöschen machte. Ich enttäuschte ein Ver-
trauen, das selbst der Ewigkeit gespottet hätte, denn es entsprang
einer Harmonie; aber an meiner flüchtigsten Laune wurde es zu-
schanden.
Und doch, da mich dieses Bewußtsein mit unerhörter Freude,
mit grimmiger Sicherheit erfüllt, entsinne ich mich dessen, was
war, und ich werde wieder irre. Da bin ich nervös und rebellisch,
als gelte es, eine Drohung abzuwehren, die ich nicht kenne,
sondern nur dumpf, als Ahnung empfinde. Was zwingt mich jetzt,
mir die Züge deines Antlitzes vorzustellen? Sie sind verzerrt, aber
mich dünkt, ich hätte sie entstellt. Mit einmal scheinen sie mir wieder
liebenswert zu sein. Doch es ist nur ein flüchtiges Erinnern, das
mich täuscht und verwirrt! Nein, ich ertappe mich dabei, wie ich 's
zum Vorwand nehme, weil mir ein Widerspruch befiehlt, das
— 27 —
Überwundene zu erstreben. Darum halte ich jetzt über die ver-
gangene Freundschaft lebhaftere Zwiesprache mit dir, als je, da
wir noch wirklich Freunde waren. Ja, ich bitte dich, mir zu ver-
zeihen, mich nicht zu verlassen. Weißt du noch, wie grenzenlos
wir einander vertrauten? Noch immer habe ich keine Geheimnisse
vor dir, doch ich selbst bin an Geheimnissen arm. Willst du mir
nicht die deinen anvertrauen? Aber ich sehe es dir an, unauf-
hörlich denkst du an Untreue und Verrat. Wie? Ich besinne mich,
auf meine Pflicht, auf meinen Willen. Noch spreche ich, wie ich
es einst gewohnt war, zu dir, doch du hörst mich nicht mehr.
Die Entfernung wächst zwischen uns, ich winke dir aus der Ferne
und blicke nicht hin, um zu sehen, ob du den Gruß erwiderst.
Verzeihung
Von Albert Ehrenstein
Im Bette lag sie,
bleich, ausgehärmt
und arg zerlitten
von des Lebens
Tag auf Tag.
Aus ihren armen Augen
starrten meine Sünden
mir entgegen
Mal an Mal.
Und aber, da ich mich
zu ihren Faltenhänden
beugte, neigte
sie sich über mich
und ihrer Seele
letzter Hauch
segnete mich,
wie eine Rose
gelb und welk
im Fallen noch
den Boden küßt.
— 28
Pro domo et mundo
Von Karl Kraus
Schöpferische Menschen können sich dem Eindruck
fremder Schöpfung sperren. Darum verhalten sie sich
oft zur Welt ablehnend, wenngleich sie nicht selten
deren UnvoUkommenheit empfinden.
Wenn Gott sah, daß es gut war, so hat ihm der
Menschenglaube zwar die Eitelkeit, aber nicht die
Unsicherheit des Schöpfers zugeschrieben.
•
Der Künstler lasse sich nie durch Eitelkeit zur
Selbstzufriedenheit hinreißen.
»
Der Schwache zweifelt vor der Entscheidung. Der
Starke hernach.
•
Es gibt einen produktiven Zweifel, der über ein
totes Ultimatum hinausgeht. Ich könnte Hefte mit
den Gedanken füllen, die ich bis zu einem Gedanken,
und Bände mit jenen, die ich nach einem Gedanken
gedacht habe.
»
Die Fähigkeit, nach schneller Entscheidung zu
zweifeln, ist die höchste und männlichste.
Meine Mängel gehören mir. Das macht mir Mut,
auch meine Vorzüge anzusprechen.
• ^
Wenn ich über sie zu schreiben habe, zweifle
ich an der Sonne Klarheit, von der ich überzeugt bin.
«
Manchmal lege ich Wert darauf, daß mich ein
Wort wie ein offener Mund anspreche, und ich setze
einen Doppelpunkt. Dann liabe ich diese Grimasse satt
und sähe sie lieber zu einem Punkt geschlossen.
— 29 —
Solche Laune befriedige ich erst am Antlitz des gedruckten
Wortes. Sie bewirkt oft den Verlust von dreitausend
Bogen, die ich um alles in der Welt und mit dem Aufwand
lächerlicher Kautelen den Augen eines Publikums ent-
ziehe, das sich dafür interessiert, was ich über die
Revolution in Portugal zu sagen habe. Dann erfährt
es, daß ich nichts darüber zu sagen habe, und nimmt
mir die Enttäuschung übel. Das Publikum hat immer
die größten Themen, Aber wenn es erst ahnte, mit wie
kleinen Sorgen ich mir inzwischen Zeit und Gesund-
heit vertreibe, es würde keinen Versuch mehr mit mir
machen.
Wenn ich schreibe, muß ich mir immer eine
gräßliche Stimme vorstellen, die mich zu unterbrechen
sucht. Dieser Widerpart spricht wie irgendeiner, den
ich einmal bei einer Theaterpremiere sich wichtig
machen sah; er beugt sich über mich und warnt mich
davor, mir Feinde zu machen; er grüßt mich aus Furcht,
daß ich ihn einmal nennen könnte, ich danke ihm
nicht; oder er ist ein Sozialpolitiker, der schlecht riecht,
oder ein Historiker, der »Ei, siehe da« sagt oder
sonst irgendein Vertrauensmann, den ich zu meinen
geheimen Verhandlungen als Vertreter der Außenwelt zu-
lasse. Es stellt sich sofort jene ausgesprochen musische
Beziehung her, wie sie der echten Lyrik unentbehrlich
ist. Man glaubt es nicht, in welche Verzückung ich
so entrückt werde. Nicht faule Äpfel, faule Köpfe
brauche ich zur Ekstase. Manche dieser Typen sind
mir unentbehrlich geworden, und wenn ich nachts zur
Arbeit komme, horche ich, ob nicht ein Rudolf Lothar
schon im Papierkorb raschelt. Als ich meine Be-
trachtung »Rhythmus eines österreichischen Sommers«
schrieb, hörte ich hinter mir ganz deutlich eine Frauen-
stimme, die immer wieder sagte : »Roserl ist zwar nicht
offiziell, aber offizies verlobt«. Es ist eigentümlich, aber
gerade das hat mich bei der Arbeit gehalten. Ich könnte zu
30
jeder einzelnen Sache, die icli je geschrieben habe, ganz
genau die Stimme wiedergeben, die sie mir eingesagt hat.
Die Amerikafahrt des Männergesangvereines schien einer
zu begleiten, der mir immerfort in die Rippen stieß und
meinte: I bleib viel lieber doder. (Wie ich denn über-
haupt verraten kann, daß mir alles, was ich je an Ver-
drießlichem mir über das Dasein vom Herzen geschrieben
habe, in dem Worte »doder« seine Wurzel hat.) Ganz
genau erinnere ich mich, wie es in meinem Zimmer
zugegangen ist, als ich die Satire auf die Entdeckung
des Nordpols verfaßte. Eben als ich mich betreffs des
Herrn Cook auf die Seite der Skeptiker stellen wollte und
schon die Witze machte, die dann einige Monate später
auch die Idealisten gemacht haben, fuhr mir ein Ver-
treter der intelligenten Mittelklasse mit seinem Finger
in meine Nase und sagte: »Lassen Sie's gut sein, es
ist doch eine scheene Leistung!« »Daß der Nordpol ent-
deckt wurde, ist traurig« entgegnete ich; »lustig ist dabei
nur, daß er nicht entdeckt wurde«. »Lassen Sie's gut
sein«, sagte es hinter mir, »er hat ihn entdeckt!«
»Hat er ihn wirklich entdeckt?« fragte ich, um ganz
sicher zu gehen und nichts zu überstürzen. »Er hat
ihn effektiv entdeckt!«, fuhr es da auf, als wäre es von
einer Tarantel gestochen. Ein abgeklärter Nachbar, der
sich dreinmischte, sagte : »Der Cook ist natürlich der
letzte Schwindler. Aber der Peafy, den hab' ich sehr
gut gekannt. Wir haben in den Vierzigerjahren täglich
zusammen beim Leidinger Mittag gegessen und schon
vorher an der Entdeckung Amerikas teilgenommen . . .«
So entstand mir jene Arbeit.
•
Ein Gedanke ist nur dann echtbürtig, wenn man
die Empfindung hat, als ertappe man sich bei einem
Plagiat an sich selbst.
Den Kleinen ist es wichtiger, daß Einer sein Werk
nicht für groß halte, als daß es groß sei.
— 31
Die Impotenz möchte durch ihre Bitte um Be-
scheidenheit die Leistung verhindern.
Eitel ist bloß die Zufriedenheit, die nie zum Werk
zurückkehrt.
Man soll nicht mehr lernen, als man unbedingt
gegen das Leben braucht.
•
Es ist Freiheit notwendig, um zur Erkenntnis zu
gelangen. Aber in dieser sind wir dann mehr eingesperrt
als im Dogma.
•
Die modernen Psychologen, die die Grenzen der
UnVerantwortlichkeit hinausschieben, haben reichlich
darin Platz.
•
Weiber sind Grenzfälle.
Oft enttäuscht eine in der Nähe. Man fühlt sich
hingezogen, weil sie so aussieht, als ob sie Geist hätte,
und sie hat ihn.
•
Für die wahren Weiber kommt es in der Kunst
wie in der Liebe auf das Stoffliche an.
Die Vergeßlichkeit der Frauen wird manchmal
von der Diskretion der Männer erschüttert.
Bei manchem Frauenzimmer kommt die Ent-
rüstung vor der Zumutung. Wie ungalant, diese nicht
einmal nachzuholen!
•
Mit dem Teufel Bekanntschaft machen, ohne in
der Hölle zu braten, das paßte so mancher.
— 32 —
Man muß über die zweitausendjährige Arbeit der
Kultur am Weibe nicht traurig werden. Ein bißchen
Neugierde macht alles wieder gut.
»
Was tun sie, die weiblichen Mitglieder der Sittlich-
keitsvereine? Sie geben sich der Abschaffung der Pro-
stitution hin. Es geht doch um den Brand, auch wenn
die Weiber nicht mehr brennen, sondern löschen wollen.
Es geht um den Brand!
«
Auch die Keuschheit würde lieber zugeben, dich vor
zwei Jahren erhört als vor zwanzig abgewiesen zu
haben.
•
Das ist der ehrliche Erfolg der Frauenemanzipa-
tion, daß man dem Weib, welches sich dem Hand-
werk eines Journalisten gewachsen zeigt, heutzutag nicht
mehr die verdiente Geringschätzung vorenthalten darf.
Nur auf die mittelbare Geistigkeit der Frau kommt
es an. Die unmittelbare führt zurück in die Wollust.
Wenn das Geschlecht nur an der Fortpflanzung
beteiligt wäre, so wäre die sexuelle Aufklärung ver-
nünftig. Aber das Geschlecht ist auch an andern
Funktionen beteiligt, zum Beispiel an der sexuellen
Aufklärung.
»
Neapel ist eine hochmoralische Stadt, in der man
tausend Kuppler suchen kann, ehe man eine Hure
findet.
*
Wenn man die Sprache eines Landes nicht versteht,
so kann es leicht geschehen, daß man einen Strizzi mit
einem Othello verwechselt.
— 33 —
In dieser Spelunke, in der ungarische Pferdediebe
ihre Chancen tauschen, in diesem Qualm von Tabak
und Wucher, höre ich zwischen teschek und betschkerek
plötzlich das Wort: Glaukopis. Breitmäulig gesprochen,
aber mit einer Wirkung, die mich durch die Jahrtausende
reißt. Schnell wieder komme ich zur Besinnung, da
mir einfällt, daß die Göttin ein Rennpferd sein dürfte.
•
Die Erotik ist von der Soziologie nicht mehr zu
trennen, und also auch nicht von der Ökonomie. In
irgendeinem Verhältnis steht die Liebe immer zum
Geld. Es muß da sein, gleichgiltig ob man es gibt
oder nimmt.
Die Moralisten sträuben sich noch immer dagegen,
daß der Wert der Frau ihren Preis bestimme. Inzwischen
bestimmt längst schon der Preis ihren Wert, und damit
wird keine Moral fertig.
•
Seit einiger Zeit stehen die jungen Weiber und
die jungen Schreiber auf hohem Niveau. Das ist das
Geheimnis der Pariser Schneider. Aber die Weiber
vermögen gerade dadurch, daß nichts dahinter ist, die
Phantasie zu beschäftigen. Dagegen kann mir eine
Literatur ohne Busen kaum imponieren.
Ihr Gesicht — ein mittelmäßiges Ensemble, in
dem die Nase hervorragt.
Der Mann sah wie ein Votivbild der sozialdemo-
kratischen Kirche aus.
•
Ich kenne einen Humorlosen, der immer auf-
geregt ist. Er kocht ohne Wasser; das Email stinkt
schon.
— 34 —
Ein Wolf im Wolfspelz. Er ist ein Filou, unter
dem Vorwand es zu sein.
Die Sozialpolitik muß ein Ritus sein. Ich kenne
welche, die ganz so aussehen, als ob sie die Schächter
des goldenen Kalbes wären.
Der österreichische Liberalismus umfaßte mit
gleicher Liebe die alten Achtundvierziger und die alten
Dreiundsiebziger. Das ergab dann so ziemlich im Durch-
schnitt die alten Sechsundsechziger.
•
Das Wesen des Diplomaten setzt sich aus zwei
Vorstellungen zusammen: Dejeuner und Courtoisie. Was
drüber ist, das ist vom Übel.
Es gibt Persönlichkeiten im Staate, von denen
man nichts anderes weiß, als daß sie nicht beleidigt
werden dürfen.
Auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten
wird. Wenn er aber von einem Wachmann getreten
wird, begeht er öffentliche Gewalttätigkeit.
Der Zuhälter ist das Vollzugsorgan der Unsitt-
lichkeit. Das Vollzugsorgan der Sittlichkeit ist der Er-
presser.
«
Ein frecher Kulturwitz hat die »journalistische
Hochschule« ausgeheckt. Sozialer Ernst müßte eine
journalistische Gewerbeschule verlangen.
Die bürgerliche Gesellschaft teilt sich in solche,
denen der Blinddarm schon herausgenommen wurde.
II
— So-
und jene, die nicht einmal so viel haben, um den
Franz Josefsorden bestreiten zu können.
Wir müssen, ob wir wollen oder nicht, an der
Wiege des Ruhmes stehen, der den Namen eines Gra-
tulanten, eines Kondolenten, eines Anwesenden, eines
Abwesenden durch die Welt trägt. Unser Hirn wehrt
sich nicht mehr gegen diese fürchterliche Nomenklatur,
die der lokale Teil der Zeitungen bedeutet, und schließ-
lich nehmen wir die Grundlosigkeit einer Popularität
für jene Tiefe, zu deren Grund man nicht mehr findet.
Wien ist der Boden der Persönlichkeiten, die ihre
Beliebtheit ihrer Popularität verdanken. Mit einem froh-
gemuten »Wir kennen uns ja eh'«, stellen sie sich uns
vor, und es braucht lange Zeit, bis es unsereinem ge-
lingt, sie verkennen zu lernen.
Mancher, den ich nie kennen gelernt habe, grüßt
mich, wobei er hofft, ich würde nach so langer Zeit
schon vergessen haben, daß ich ihn nie kennen gelernt
habe, und den neuen Bekannten als alten Bekannten
zurück grüßen. Nun weiß ich zwar nicht genau, wen ich
kenne; aber ich weiß ganz genau, wen ich nicht
kenne. Da ist jeder Irrtum ausgeschlossen. Sollte es
doch einmal passieren, so erinnert mich rechtzeitig
der Gruß, daß ich den Mann nicht kenne, und ich merke
mir ihn dann bis ans Ende meiner Tage. Wer ist
das, der Sie soeben — fragt ein alter Bekannter. Den
kennen Sie nicht? Das ist doch der, der geglaubt hat,
daß ich vergessen habe, daß ich ihn nicht kenne!
Eine Infamie so ein Gruß. Der Kerl hält mich
für einen Erpresser und glaubt, es gehe ihm an den
Kragen, wenn er den Hut nicht zieht. Aber noch ver-
36 —
letzender als die ethische ist die literarische Wertung,
die sich darin ausspricht. Die Leute könnten doch
längst beruhigt sein und wissen, daß ich nicht mehr
schaden kann; daß ich in das soziale Getriebe nicht
mehr eingreife, sondern vom sozialen Getriebe nur
nicht belästigt sein will. Wenn ich solch ein Individuum
einmal nenne, so geschieht es doch wirklich nur, weil
der Name ein Humorelement ist. Das sollte es sich
sagen und die etwa eintretende Verstimmung durch
eine ostentative Verweigerung des Grußes bekunden.
(Das gilt für Schauspieler und kaiserliche Räte. Kellner
grüßen aus andern Motiven.)
Daß der Österreicher gesessen ist, während der
Deutsche auch in diesem Zustand nicht müßig war,
sondern gesessen hat, bezeichnet den ganzen Unter-
schied der Temperamente. Jener kennt höchstens eine
Bewegung, nämlich die vom Ruhepunkt zurück führt. Er
gibt nicht zu, daß ihm der Zopf hinten hängt, sondern
»rückwärts«. Er spricht auf der Straßenbahn eigens von
einem »rückwärtigen« Wagen statt von einem hintern;
weil er eben gebildet ist und sich für verpflichtet hält,
selbst auf die ihm geläufigste Ideenverbindung zu ver-
zichten.
Es paßt mir nicht länger, unter einer Bevölkerung
zu leben, die es weiß, daß ich vor zehn Jahren ein
Gemüse bestellt habe, das nicht eingebrannt war,
und die noch dazu das Gemüse nicht nach mir, sondern
mich nach dem Gemüse benennt.
In der Kunst schätzen sie hierzulande den Betrieb
und im Gasthaus die Persönlichkeit.
— 37 —
In der Kunst bedeutet das Niveau nichts, die
Persönlichkeit alles. Im äußeren Leben ist es umgekehrt.
Der Berliner möchte die Kunst mit Niveau, der Wiener
den Verkehr mit Persönlichkeit durchhalten.
Der Geschlechtsverkehr kann sich in dieser Ge-
sellschaftsordnung nicht ohne Totschlag abwickeln,
genau so wie in Österreich der Bahnverkehr nicht
ohne Amtsehrenbeleidigung verläuft. Die Norm dieser
verkehrten Welt wäre, daß der Geschlechtsverkehr nur
die Ehre und der Bahnverkehr das Leben bedroht.
•
Herbst in Ischl: Die Witterung hat den Unbilden
des Publikums getrotzt. Ich komme immer erst hin,
wenn schon die Abende lang werden. Dann ist auch der
lange Tag nicht mehr fern, der die Kurgäste in der
Großstadt versammelt. Der Regen hat die Promena-
den gesäubert, den letzten Librettodieb weggeschwemmt,
und frei atmet der Wald nach dem Hingang einer
Menschheit, die der Bernhard Buchbinder nach seinem
Ebenbilde, wenn auch nach einer fremden Idee er-
schaffen hat.
•
Ich kehre spät aus Berlin zurück. Zehnmal bin
ich auf dem Anhalter Bahnhof gewesen. Aber wie eine
unsichtbare Hand hielt mich immer im letzten Augen-
blick der Gedanke an den Nordwestbahnhof zurück und
an das unentwirrbare Chaos der drei Einspänner. Mit
einem von den dreien werde ich es zu tun bekommen,
er wird mein Leben drosseln, er bringt mich nicht ans
Ziel. Noch geht die Fahrt durch Böhmen, aber dann,
wenn ich ankomme, werde ich die Sprache überhaupt
nicht mehr verstehen. Ich fühle, daß ich die Furcht vor etwas
nach der Ankunft, vor der Taxe mit Zuschlag für Gepäck
und für den zweiten Bezirk und weilsein Bahnhof ist und
weil m'r in Wien san, den Übermut der Ämter und
— 38 —
die Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst er-
weist, nicht ertragen werde. Auch wollte ich die Ent-
wicklung in jenen Ländern, deren historische Bedeutung
es isi, ein zuverlässiges Bollwerk gegen die Türken-
gefahr zu bilden und den Schauplatz des Kampfes der
Statthalterei um den Taxameter, abwarten. Inzwischen
könnte ja am Wiener Hofe die Friedenspartei
gesiegt haben und alles wäre wieder gut . . . Das ging
mir durch den Kopf, während ich durch die Nacht
fuhr. »Gib mir ein Zeichen, Schicksal! Der soll's sein,
der an dem nächsten Morgen mir zuerst entgegen-
kommt mit einem Liebeszeichen!« Bestimme, Schicksal,
mir das erste Wort, das ich auf Wiener Boden höre,
zur Parole meiner Lebenslaune! Wenn's aber jenes
wäre, das ich so oft schon gehört? Ist es unentrinn-
bar? Ich bin da: . . . »Ochtanfuchzigaaa!« »Ah woos,
lekmimoasch . . .«
Alle Geräusche der Zeitlichkeit seien in meinem
Stil gefangen. Das mache ihn den Zeitgenossen zum
Verdruß. Aber Spätere mögen ihn wie eine Muschel
ans Ohr halten, in der ein Ozean von Schlamm
musiziert.
»
Mein Respekt vor den Unbeträchtlichkeiten wächst
ins Gigantische.
•
Ich habe schon manches Stilproblem zuerst durch
den Kopf, und dann durch Kopf und Adler ent-
schieden.
•
Was ein anderer nicht weiß, entscheide ich dikta-
torisch. Aber ich frage ihn gern über das, was ich weiß.
Ich glaube nicht, daß ich mir vor der Arbeit den
Rat des Weisen und nach dem Druck die Meinung
I
— 39 —
des Lesers gefallen ließe. Aber zwischen Arbeit und
Druck kann ich in einen Zustand geraten, in dem mir
die Hilfe des Druckereidieners eine Erlösung bedeutet.
Wer Erlebnisse großen Formats braucht, wird von
ihnen sicher zugedeckt. Ich führe Titanenkämpfe mit
Beistrichen.
•
Wer seine Haut zu Markt getragen, hat mehr
Recht auf Empfindlichkeit, als wer dort ein Kleid
erhandelt hat.
Ich verpflichte mich, einen Mann an den Galgen
zu bringen, wenn ich auf der Straße mit bestimm-
tem Tonfall ausrufe: >Aha, und ein farbiges Hemd
hat er auch nochic Es würde ein Schrei der Entrüstung
durch die Menge gehen. Durch dieselbe Menge, auf
die man jetzt mit Sinfonien zu wirken sucht.
Je größer das Assoziationsmaterial, desto geringer
die Assoziationsfähigkeit. Mehr als das Gymnasium von
jenem zuführt, braucht man nicht. Wer etwa das Wort
»Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen« im
»Nathan« sucht, hats weiter gebracht, als der es in
den »Wahlverwandtschaften« findet.
In Berlin hat einer einen geschwollenen Hals. Das
kommt vom vielen Silbenschlucken. Aber der Kopf geht
bei solcher Tätigkeit leer aus.
Wer sich darauf verlegt, Präfixe zu töten, dem
gehts nicht um die Wurzel. Wer weisen will, beweist
nicht; wer kündet, hat nichts zu verkünden.
— 40 —
Sein Lachen ist ein Regulativ des Irrsinns der Welt.
Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht
verboten.
Psychologie ist so müßig wie eine Gebrauchs-
anweisung für Gift.
Psychologen sind Durchschauer der Leere und
Schwindler der Tiefe.
Ungerechtigkeit muß sein ; sonst kommt man zu
keinem Ende.
Nachts am Schreibtisch, in einem vorgerückten
Stadium geistigen Genusses, würde ich die Anwesen-
heit einer Frau störender empfinden als die Interven-
tion eines Germanisten im Schlafzimmer.
Der Gedanke forderte die Sprache heraus. Ein
Wort gab das andere.
Ich spreche von mir und meine die Sache. Sie
sprechen von der Sache und meinen sich.
Ein Löwenmaul für meine Ehre! Es sollte eine
Zentralstelle der Verleumdung errichtet werden. Ich
kann diesen regellosen Einlauf nicht mehr überblicken.
In meinem Papierkorb ist jetzt alle Mißgunst begra-
ben, die nur organisiert werden müßte, um auch mei-
nen Feinden eine kleine Freude zu machen. Was
haben sie denn so davon ! Strengste Anonymität könnte
— 41
nach wie vor gewahrt bleiben, keiner, der frei von der
Leber sprechen will, ohne daß man ihn sieht, brauchte
eine Vertolgung zu fürchten. Alle nur denkbare Rücksicht
bliebe vor allem der Hysterie vorbehalten, jener, die Hosen
trägt, jener gerade an mir erhitzten, die mich im Haß haben
will, wenn es denn schon einmal die Umstände verbieten,
daß sie mich in Liebe hat; in keinem Sanatorium hätte
sie es besser. Nie . würde ich mein ärztliches Berufs-
geheimnis verletzen. Nicht einmal die Diskretion des
vielbegehrten Mannes. Alle mir entlaufenen und infolge-
dessen verlassenen Literaturgeliebten mögen mich auf
Alimente verklagen, alle journalistischen Bräute wegen
Verführung unter Zusage der Karriere belangen. Aber
alle zusammen, da ich gegen eine wehrlos bin. Ich
will ja nur nicht belästigt werden. Ich will ja nur
nicht, daß sich der Haß an mir abgeilt. Es sind Weiber-
geschichten; aber ich bin als Mann an ihnen nicht
beteiligt. Hatte ich das Unglück, die Schwäche anzu-
ziehen, so soll sie sich mit der Erinnerung befriedigen
und nicht verlangen, daß ich sie mißhandle. Ich kann ihr
den Kopf, den ich ihr verdreht habe, nicht zurechtsetzen.
Ich kann, wenn verschmähte Liebe mich ein Schwein
nennt, zwar das Problem interessant finden, aber dem
Einzelfall nicht die Wonne meiner f)olemischen Auf-
merksamkeit bieten und nicht die Weihe meiner polemi-
schen Kunst. Das taktische Bedenken, dem Mist Ver-
breitung zu geben, hielte mich nicht zurück: man soll im
Gegenteil jedem zu dem Erfolg .verhelfen, zu dem
er geboren ist, und mir paßt es immer noch besser,
daß tausend durch die Wahrheit auf die Lüge auf-
merksam werden, als hundert durch die Lüge. Die Furcht,
daß die Seife dem Schmutz zu viel Ehre erweise, würde
mich nicht hindern. Aber das Grauen, so tief hinunter-
steigen zu müssen, um Recht zu bekommen, ist unüber-
windlich. Wäre ich Privatperson, ich würde mir eine
Feder mieten, die mich verteidigt, ein Gericht anrufen,
das mich schützt, und keine Rücksicht auf die lauernde
Spekulation würde mich abhalten, den geringsten Makel,
— 42 —
der mir angeheftet wurde, durch Tilgung publik zu
machen. Aber unsereiner soll weniger auf die Ehre
als auf die Perspektive bedacht sein, darf der Berotzung
nicht das Air feindlicher Berührung geben und hat
höchstens das Recht, der Gemeinheit eine Erkenntnis
abzugewinnen. Und er muß, selbst nur auf Schutz vor
Belästigung bedacht, in verwickelter psychologischer
Lage besonders vorsichtig sein. Denn es geht nicht
an, ohne eigene Neigung, einer Leidenschaft, die
nach Schlägen mehr als nach Reklame lechzt, den
Gefallen zu tun. Auch zum Sadismus gehören zwei,
sonst artet er in Roheit aus, und zu dieser könnte
mich selbst die Nächstenliebe nicht hinreißen. Gewiß,
hätte ein umworbener Mann nicht noch Wichtigeres
zu tun, so dürfte er den Schlampen, den er durch
das bißchen Gunst einmal zu einer intelligenten
Lebenstührung emporgehoben hat, auch in den Zeiten
des Hasses nicht im Stich lassen, müßte er nachhelfen
wo er kann, damit der Stil nicht zu seiner angebornen
Schäbigkeit zurückkehre und das Vitriol nicht purer
Dreck sei. Aber rneine männlichen Verehrerinnen —
es sind weibliche Ärzte darunter — werden so lange
an mich Liebesbriefe schreiben, bis ich einmal wirk-
lich sage: Der Roman, den du von mir unter dem
Herzen trägst, erscheint nicht eher, bis du Luder alle
Erlebnisse, die ich dir gegeben habe, und alle Ge-
danken, die du mir genommen hast, zurückgibst. Bleibt
dann noch etwas übrig, um sich an mir für die eigene
Untreue rächen zu können, so bin ich bereit, es zu
redigieren und der Wahrheit und der Syntax jene Ehre
zu geben, die ihnen zweifellos gebührt. Aber warum
kommt man nicht? Warum läßt man mich die Produkte
des Hasses nicht sehen, die doch der Nachhilfe wahr-
lich dringender bedürfen als die Werke der Liebe,
denen schon mein bloßes Dasein geholfen hat? Mein
Mitleid ist erwacht, und ich entziehe mich keiner mora-
lischen Verpflichtung. Es ist klar, daß gerade wer nur
durch mich schreiben kann, ohne mich nicht schreiben
43 —
Kann und gegen mich schon gar nicht schreiben kann.
Er mag an alle möglichen Verhältnisse die Mittel
meines Humors und meines Pathos verschwenden, aber
er kann sie eben nicht gegen mich brauchen, verarmt
an dem, woran er sich bereichert hat, muß die
Quelle dürftig finden, auf mich die eigene Armut
übertragen, und ist in der verzweifelten Lage, da5
jinzige Erlebnis, das er selbst gehabt hat, nicht zur
Gestalt zu bringen. So erfahre ich nie, ob ich nicht doch
las Schwein bin, das die unvermögende Rache aus mir
macht ; und hier beginnt meine Tragik. Ich sehe ja alles
in. Meine Geburt ist ein verhängnißvoller Fehler
-lewesen. Aber — es müßte sich doch schließlich ein
Modus finden lassen. Es müßte sich doch einmal klar
formuliert behaupten lassen, was eigentlich gegen mich
vorliegt, beweisen lassen, die und jene Handlung oder
Unterlassung sei aus dem und jenem nicht in ihr
selbst erkennbaren Grund begangen worden, der Abfall
von Nachläufern sei ein Akt ethischer Besinnung und
kein Abfall w^Rr Blätter, die der nächste Wind ver-
weht, mein tyrannischer Neid sei schuld, daß einer,
der als Kosinsky zu mir stieß, mich als Spiegelberg
verläßt, mein Weltschmerz sei einer Abweisung durch
lie Neue Freie Presse, mein Humor einer Bestechung
iurch den Simplicissimus zuzuschreiben, meine Tat
>ei Eitelkeit, die stumme Verachtung, die ich finde, zwar
ehrlich erworben, aber die laute Anerkennung, die ich
riege, bar bezahlt und derlei mehr, und alles das
gesammelt, sagen wir einmal im Jahr, an sichtbarer
Stelle deponiert, von einem vollsinnigen, wohlgemerkt,
einem vollsinnigen Gegner vertreten, müßte mich zur Ver-
eidigung zwingen, ohne daß den armen Anklägern
ein Schimpf oder Schaden entstünde. Ich lebe in dem
Wahn, daß nur der Wahn den Tatbestand meines
Lebens entstellen kann; daß die Tücke, die mich
zeichnet, nur sich selbst in mir erkennen will.
Aber ich muß ja über mich nicht informiert sein,
lenne auch mein Unterbewußtsein zu wenig, um
— 44 —
für mich einstehen zu können. Vielleicht erlebe
ich Überraschungen. Mindestens sei es meine Strafe,
mich gelegentlich in die Niederung des erweislich
Wahren hinabzerren zu lassen. Eine Vergangenheit,
die den Ehrgeiz hatte, auf solchem Niveau zu bestehen,
verlangt nach Sühne. Aber System muß sein. Nur keine
Zersplitterung des Hasses, die bloß meine Nerven
kränkt, ohne meine Ehre abzunützen! Es müßte doch
mit dem Teufel zugehen, wenn ein Schock organi-
sierter Kastraten nicht so viel Kraft aufbringen sollte
wie ein Mann! Viele, mit denen ich in einem viel-
fachen Leben verkehrt habe, haben etwas gegen mich, ,
wissen etwas von oder auf mir (je nachdem). Und —
Herzklopfen sagt es mir — sie werden auch etwas
gegen mich beweisen können: daß ich mit ihnen ver-
kehrt habe.
•
Die Sintflut kommt, ich lebe in der Arche Noahs.
Man kann es mir also nicht verübeliwdaß ich auch
von dem Vieh nach seiner Art und ^n allerlei Ge-
würme auf Erden nach seiner Art in den Kasten auf-
genommen habe.
•
Der Weltschmerz ist die Gicht des Geistes. Aber
man spürt es wenigstens, wenn das schlechte Wetter
kommt.
•
Die Außenwelt ist eine lästige Begleiterscheinung
eines unbehaglichen Zustands.
•
Wenn ich die Feder in die Hand nehme, kann
mir nichts geschehen. Das sollte sich das Schicksal
merken.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3.
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311/312 23, NOVEMBER 1910 XII. JAHR
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KRAUS : Der Freiherr Z MEHRING : Ein Fürst
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I. und II. Band
Bei Meyer und Jessen, Berlin 1910
DIE FACKEL
Nr. 311/312 23. NOVEMBER 1910 XELJAHR
Der Freiherr
Von Karl Kraus
Nicht von der Parteien Gunst und Haß verwirrt,
sondern im Gegenteil, weil er jeder einzelnen sich
anzubiedern sucht, schwankt sein Charakterbild in der
Geschichte. Dieses unaufhörliche Schwanken ist die
Lage, in der man unter allen Umständen sicher sein
kann, ihn anzutreffen. Es gibt keine Öffnung öster-
reichischer Gunst, und wäre sie noch so unwegsam
oder wäre sie noch so ausgefahren, an der es den
Freiherrn von Berger nicht gelockt hatte seine Ge-
wandtheit zu erproben, und durch die er nicht getrachtet
hätte, eine lohnende Aussicht zu gewinnen. Bei dem
kolossalen Andrang, der in Österreich an solchen
Stellen herrscht, ist es kein Wunder, daß selbst ein
so geschickter Mann wie der Freiherr von Berger oft
Pech gehabt oder sich wieder dadurch, daß er selbst
schon die Gelegenheit besetzt hielt, wenn gerade ein
anderer hineinwollte, die erbittertsten Feinde gemacht
hat. Ich habe nicht zu ihnen gehört; denn ich bin
ehrgeizlos, der Baron Berger kann mir zwischen
Leo -Gesellschaft und Konkordia keine Position
wegnehmen, und von der Zeit, da er, ein Träumer,
im Ischler Walde so für sich hinging, um nichts zu
suchen und zufällig die Frau Schratt zu treffen, bis
zur endlichen Berufung ins Burgtheater, habe ich ihn
um keinen sozialen Vorsprung beneidet. Man weiß im
Gegenteil, daß ich für den Baron Berger etwas übrig
hatte, daß ich viel dazu beigetragen habe, seinen Erfolgen
das Air des geistigen Verdienstes zu schaffen, und daß
ich gutwillig das Odiura übernahm, es sei diesem
2 —
flinken Einseifer, dem zum Gurgelabschneider die
Konsequenz fehlt, immerhin gelungen, zugleich der
Neuen Freien Presse und der Fackel um den Bart
zu gehen. Und wiewohl ich jetzt wieder gerne das
Odium auf mich nehme, daß irgendetwas vorgefallen
sein müsse, weil eben für die Kretins immer etwas
vorgefallen sein muß, wenn ein Mann mit einem Weib
fertig wird, so stehe ich nicht an, dem Freiherrn von
Berger öffentlich und auch für den Fall, daß er sich
noch in einer Täuschung darüber befinden sollte, meine
Gunst zu entziehen. Ich kann mich einer Sympathie,
zu der er mir einmal Grund bot, nicht schämen, ich
muß es ihm überlassen, sich dessen zu schämen,
daß er mir heute dazu keinen Grund mehr bietet.
Ich kann auch nicht leugnen, daß ich ihn für einen viel-
fältig begabten Mann hielt, dessen Unfähigkeit, seine
Gaben zusammenzuhalten, sich mir immer wieder
hinter einer reizvollen Plauderei verbarg. Ich nahm mir
nicht die Mühe, die Taten zu vermissen, die er nicht
tun konnte, oder gar jene zu erraten, deren er fähig
war. Denn in die Betrachtung seines wogenden
Busens versunken, aus dem Epigramme gegen Hoch-
gestellte und Witzworte über Preßbuben hervorkamen,
während sein Auge leuchtend auf dem dankbaren
Empfänger ruhte, konnte man nur bedauern, daß solchem
peripatetischen Plauderer die Gelegenheit gesperrt sei,
und mußte wünschen, daß ihm endlich die Burg-
theaterdirektion mit dem Recht verliehen werde, im Mittel-
gang des Parketts herumzugehen und mit seiner
Erscheinung und Begabung die Zwischenakte auszu-
füllen. Ein paar Aufführungen in Hamburg — nicht
seine Aufführung, als er von Hamburg ging — schafften
mir auch den Eindruck eines ungewöhnlichen Regie-
talents und ein paar Federzüge in Büchern und Auf-
sätzen den Glauben an seine novellistische Begabung.
Einer größern Schuld habe ich mich nicht zu zeihen,
und daß ich einen Mann, der vielleicht sogar aus
einem Dutzend halber Männer besteht, nicht überschätzt
i
3 —
habe, liegt auf der Hand. Er könnte mit seinen häufigen
Talenten wirklich eine Persönlichkeit bedienen, aber
der Jammer ist, daß diese Persönlichkeit nicht in ihm
ist, so daß er oft den Eindruck eines Menschen macht,
der seinen Körper abgelegt hat, ehe er mit den Kleidern
ins Wasser ging. Dieser Mangel an Persönlich-
keit aber tritt mit den Jahren so sehr in Erschei-
nung, daß nach dem Chok des Erfolges, einen
zwanzigjährigen Traum erfüllt zu sehen, überhaupt
nichts anderes übrig bleibt als der Mangel an Persön-
lichkeit. Herr v. Berger hat bewiesen, daß er für das
Maß an Unehrlichkeit, das er sich aufgebürdet hat,
nicht mehr tragfähig ist. Er ist bei weitem nicht
charaktervoll genug, um einem die Untreue zu halten,
um einen Gesinnungswechsel, den er bei flagranter
Gelegenheit ausgestellt hat, zu prolongieren; der Wind,
der von der andern Seite weht, wirft ihn um, und
ihm bleibt bloß das weibische Vergnügen, ein kleines
System von Rankünen, die einander wie die Wan-
derer in der hohlen Gasse kreuzen — des Weges
Enge wehret den Verfolgern — , als l'art pour
l'art auszuüben. Nur eine Geistesgegenwart, die in
der Abwesenheit des Charakters begründet ist, konnte
ihn auf die Idee bringen, Schiller für den Klerikalismus
zu reklamieren, und nur die unerwartete Rückkehr des
Charakters im Moment der Geistesabwesenheit konnte
ihn veranlassen, am Grab des Schauspielers Kainz
die Dringlichkeit der Leichenverbrennung zu ver-
klären. Dieses perpetuum mobile zwischen schwarz und
gelb, das jetzt einem Prälaten an den Hintern tippt
und jetzt einem Reporter, immer der Rückkehr zum
andern Standpunkt gewärtig, ist schließlich eine so
unwürdige Tatsache unseres öffentlichen Lebens, daß
selbst eine Hoftheaterbehörde des Mannes überdrüssig
werden könnte, der sich heute vor ihr mit der Verachtung
jüdischer Schmöcke brüstet und morgen den jüdischen
Schmöcken die Hoftheaterbehörde gebunden überliefert.
Um es mit einem Wort zu sagen, so scheint mir die
4 —
: Vereinigung der Würde eines Burgtheaterdirel^tors (wo-
fern man heute noch von einer solchen sprechen kann)
mit der Schmach eines fix besoldeten Mitarbeiters der
Neuen Freien Presse (von der man heute gewiß
sprechen kann) unerträglich, und der Freiherr v. Berger
wird sich nicht wundern, daß ich ihn, nach den
Jahren, da ich die literarische Leistung des verbannten
Österreichers um ihrer selbst willen gewürdigt habe,
mit äußerstem Mißtrauen in zwei Stellungen wirken
sehe, deren Kuppelung eine absurde Gefahr für das
geistige Leben dieser Stadt bedeutet (wofern überhaupt
noch ein Hund an das geistige Leben dieser Stadt
riecht). Herr v. Berger ist in mein Ressort gefallen.
Nicht als Theaterleiter; denn ich befasse mich nicht
berufsmäßig mit der Verelendung des Burgtheaters. Ich
' überzeuge mich von ihr höchstens einmal in zwei Jahren,
und ich habe mit Wehmut die welken Blätter betrachtet,
die zur Totenklage der Königinnen in »Richard III.«
von den Soffitten fielen. Dieser Erneuerer, dachte ich,
ist ein Restaurateur, der weniger auf das gute Fleisch
sieht als auf die schlechte Garnierung, und ich hatte
wieder für zwei Jahre genug. Aber die Art, wie sich
der Burgtheaterdirektor in die geistige Szene setzt und
wie er die doppelten Spiele aufführt, das interessiert
mich. Und wenn ihm meine Kritik zum Erfolge
nützen sollte, so wäre das zwar bedauerlich, aber ich
kann mindestens so wenig heucheln wie der Freiherr von
Berger im Falle Harden, und man wird mir nicht zu-
muten, daß ich, um ihm zu schaden, sein Lob singen
sollte. Wie lange sich ein Übel erhält, ist gleichgültig;
wichtiger ist, davon zu sprechen, weil man so, im All-
gemeinen, über die Übel aufklärend wirkt und neue
verhindert. Herr v. Berger sehnt sich darnach, von mir
angegriffen zu werden; ich tue es trotzdem. Es bedarf
keiner Provokation; ich seh' schon selbst, was los ist.
Dem Freiherrn v. Berger aber genügt es nicht,
bei der Neuen Freien Presse sicher zu sitzen,
er hat den Drang, Fleißaufgaben zu leisten, und wie
— 5 —
er nach der Bekehrung Schillers zum Katholizismus
hundert Juden umarmt hat, bis Herr Benedikt ihm auf
die Schulter klopfte und sagte: »Lassen Sie's gut sein,
Berger, es ist genug für heut!«, so will er jetzt den
Nachweis erbringen, daß er keine Gemeinschaft mit
mir hat. Irgend ein Schurke muß ihn doch bei der
Neuen Freien Presse angeschwärzt haben. Nun, das
Obersthofmeisteramt besteht auf solchem Schein gewiß
nicht. Im Gegenteil, ich kann Herrn v. Berger sogar eine
schlaflose Nacht mit der Mitteilung machen, daß man in
gewissen Kreisen - ich sage nichts N^iheres, ich zwinkere,
ich zucke die Achseln — die , Fackel*, wenn auch
nicht versteht, so doch ernst nimmt. Dort könnte ich
bei einigem guten Willen ihn kompromittieren. Aber
ihm bei der Neuen Freien Presse zu schaden, liegt mir
so wenig im Sinn, daß ich sogar alles tun werde, ihm
dort zu nützen und ihm dazu zu verhelfen, auch noch die
paar Stunden, die ihm jetzt die Leitung des Burgtheaters
wegnimmt, der journalistischen Tätigkeit widmen
zu können. Er wird natürlich sagen, ich tue das, weil
ich kein Stück geschrieben habe und dieses vom Burg-
theater nicht angenommen wurde. Oder er wird sagen,
daß irgend eine Gemeinheit, die das Burgtheater an
irgend einem mir nahestehenden Autor begeht, mich
erbittert hat. Auch damit täte er Unrecht. Die Zeiten,
in denen mich das typische Schicksal der der Theater-
ranküne ausgelieferten Literatur interessiert hat, sind
vorbei, und ich würde dem Herrn v. Berger nicht
raten, irgendein verletztes Privatinteresse mit meiner
gesunden Abneigung in Konnex zu bringen. Ich würde
ihm nicht raten, die Motive meines Angriffs schäbig
zu machen — sonst hätte er es mit mir zu tun ! Wenn
dem Herrn v. Berger an meiner Aversion gelegen ist,
so soll er sie auch für ehrlich halten. Und wie ehrlich
sie ist, das muß er gespürt haben, als er die
Feder ansetzte, um Ludwig Speidel zurück in den
Journalismus und Herrn Maximilian Harden in die
Ewigkeit zu bugsieren. Wenn er es nicht darauf
— 6 —
abgesehen hätte, meinen Zorn zu verdienen, er müßte
doch gespürt haben, wie er entstand, wie er wuchs,
wie mir die Finger zuckten, wie die Hand sich erhob,
um einem unehrlichen Diener am Wort der Majorität,
einem zwischen öffentHcher Meinung und heimlicher
Streberei Beflissenen, dem Pfau der Presse, der sich
vor Hennen spreizt, dem Freiherrn unter Frei-
mädchen, dem endlichen Burgtheaterdirektor endlich
an die Gurgel zu fahren. Er trolle sich und ver-
stelle das Gesichtsfeld nicht. Dieser ewige Wirbel im
Kinematographen, in den einer da gerät, über Stock
und Stein hinter einer Hoffung her, beim rechten
Loch hinein, beim falschen hinaus — paßt mir nicht!
Diese Sucht, in eine Position zu kommen, und wäre
es auch eine schiefe, ist fatal. Ich bin für solche Dinge
umso empfindlicher, je länger ich sie nicht gespürt
habe, und nehme sie dann als persönliche Beleidigung.
In dem Augenblick, da Herr Alfred v. Berger Miene
machte, Speidel, dessen Andenken man kaum aus den
Klauen der Neuen Freien Presse befreit hatte — die
Herren Wittmann und Benedikt begleiteten ihn in die
Unsterblichkeit — , der Kollegenschaft wieder ein-
zuliefern; in dem Augenblick, da er — kurz nach-
dem ich die Folgekrankheiten des Heineismus beklagt
hatte — die Geschmackigkeit des Wiener Feuilleton-
geistes pries, da mußte er wissen, daß es zwischen
uns keine Verbindung mehr gab. »Oberhalb oder im
Norden des Striches tobt das kalte sturmgepeitschte
Meer der Politik und des wirklichen Lebens, im Süden
erstreckt sich die grüne sonnige Küste des Feuilletons,
der Strich selbst wandert auf und ab wie eine Flut-
marke; höchst selten, an besonders kritischen Tagen,
verschwindet er sogar, wie bei Springflut, unter den
hereinbrausenden Wogen des Leitartikels. Ober dem
Strich ist Krieg, da liefert der Geist im Dienste politi-
scher, sozialer und wirtschaftlicher Ideen und Leiden-
schaften seine Schlachten. Unter dem Strich ist Friede,
da legen die Gedanken ihre Waffenrüstung ab und
— 7
entladen ihre nackte Kraft nicht im Zwange drängender
Not, sondern in freiem Spiel . . .« Nein, der Urheber
dieser schönen Bildlichkeit hat nicht erwartet, von mir
loch gegrüßt zu werden, wenn ich ihm zufällig einmal
jber, unter oder auf dem Strich begegne. Der Mann,
der einem Speidel nichts besseres nachzusagen wußte,
als die »feinfühligen journalistischen Instinkte«,
lat nicht gehofft, daß er sich bei mir damit
jines seiner Bildel einlegt. Nicht, weil er weiß,
laß ich weiß, wie er über diese Dinge denkt.
!3as weiß ich nämlich gar nicht. Ich verlasse mich nicht
einmal auf die Verachtung der journalistischen Instinkte,
die Herr v. Berger mir gegenüber hundertmal betont
hat. Die Lust zu fabulieren ist groß und die Neigung
es so zu tun, wie es der andere hören will, größer. Aber
das Stoffliche der Gesinnung, die sich vor Herrn Bene-
dikt auftut, paßt mir nicht. Ich räuchere nicht durch
^wölf Jahre ein Räubernest aus, damit ein Mann, der
nir dazu Beifall geklatscht hat, sichs drin wohl sein
lasse. Wenn den Mitarbeiter der Neuen Freien Presse
der Verkehr mit mir nicht kompromittiert hat, ich mußte
hm die Mitarbeit nicht übel nehmen. Aber die Glori-
izierung des Schlimmsten, was mir die Journaille an
1er Kultur zu verbrechen scheint, des Feuilleton-
Geistes, der die Schurkerei versüßt, nehme ich nicht
in. Herr v. Berger weiß das und er hat mir mit dankens-
wertem Entgegenkommen den Verzicht auf meine
Achtung erleichtert. Er kann nämlich nicht lügen.
Er muß Herrn Maximilian Harden versichern, daß der
Wert seiner Artikelsammlung »Köpfe« mit den Jahr-
zehnten, und wenn sein Gefühl nicht trügt, mit den
'ahrhunderten wachsen wird. Sein Gefühl trügt; wie
eder Schein, wie alles, was Herr v. Berger in sich hat,
ind nur die erweisliche Wahrheit siegt, daß das Buch
les Herrn Harden die Leistung des Buchbinders ist,
der der Welt beweist, wie wesenlos die Gedanken
zerflattern, die ein geschminkter Archivar für die
Woche erschwitzt hat. Herr v. Berger kann nicht anders,
er muß. Er stand stundenlang auf dem Korridor
des Leipziger Reichsgerichts, um nicht für Moltke und
nicht gegen Harden zu zeugen, aber um für seine
Vermittlerrolle zwischen Aristokratie und Journaille zu
zeugen, die er sich in seinem unerforschlichen Drang
nach diplomatischer Betätigung zugelegt hatte. Der
wartende Zeuge, der vor dem Reichsgericht stand,
als ob dieses eine Burgtheaterdirektion zu ver-
geben hätte, machte nicht den besten Eindruck, und
Zeugen dieses Wartens wollen beobachtet haben, daß
Graf Moltke damals ein Gesicht machte, als empfände
er, wie vorsichtig man mit den Freiherren sein müsse.
Adel, der in der Krachzeit des österreichischen Libera-
lismus erworben ist und an der Neuen Freien Presse
mitarbeitet, läßt Tintenflecke. Der arme Graf Moltke ist
wahrscheinlich ein so schlechter Menschenkenner wie
ich. Aber ich wenigstens wußte schon damals, das Feuille-
ton des Freiherrn v. Berger über den Bürger Harden
sei unvermeidlich. Er wird das »wunderbare Phänomen
seines schier unerschöpflich scheinenden Wissens, das
er immer bei der Hand hat, wenn er es gerade braucht«,
uns erklären. Er wird leugnen, daß es Zettelkästen gibt,
und man wird noch immer nicht wissen, woher die
Hand das unerschöpflich scheinende Wissen nimmt. Sie
nahm es kürzlich aus einer parodistischen Schmäh-
schrift gegen Friedrich den Großen, und Herr Harden
behauptete, einen Originalausspruch des »Fritzen« ge-
funden zu haben. Herr Franz Mehring hat in der
,Neuen Zeit' unter dem Titel »Ein Fürst der Gecken«
die tödliche Blamage des gebildetsten Deutschen ent-
hüllt, und alle Zettelkästen zwischen Konstanz und
Königsberg barsten vor Scham über das Malheur, das
einem ihrer Kollegen passiert war. Ich müßte mich um-
bringen, wenn ich gewußt hätte, daß ein gewisser Bonne-
ville 1766 ein Pamphlet »Matinees du roi de Prusse«
verfaßt hat. Herr Harden bringt sich nicht um, wiewohl
sich herausgestellt hat, daß er es nicht weiß. Daß er
es nicht nur nicht weiß, sondern eine geschichtsbekannte
— 9
Persiflage der Hohenzollern ernst genommen und die
Worte, die Friedrich der Große zu seinem Neffen
spricht (»Unser Haus hat, wie alle andern, seine Achilles,
seine Ciceros, seine Nestors, seine Blödsinnigen . . .«)
als ungedrucktes Bekenntnis eines Vorfahren, der
anders als Wilhelm II. vom Gottesgnadentum denke, ver-
öffentlicht hat. Herr Harden war interpelliert worden,
woher er das dieswöchentliche Zitat habe, und antwortete
in einem zweiten Artikel, er sei, fern von Berlin, nur auf
sein Gedächtnis angewiesen, das freilich auch fern von
Berlin unglaubich leistungsfähig ist — folgte eine
Serie von Namen und Zahlen — , aber er verdanke
irgendjemand eine Abschrift dieser bis heute un-
gedruckten Worte. Herr v. Berger hat nie an den
Zettelkasten geglaubt, der ja auch tatsächlich zeitweise
in Unordnung zu sein scheint. Ich denke aber,
daß dies nicht das Problem ist, welches uns hier
zu beschäftigen hätte, sondern vielmehr ein anderes:
ob Herr Harden außer dem Zettelkasten, den er nicht
hat, noch etwas anderes hat. Herr v. Berger ist ganz
entschieden der Ansicht. Der Zettelkasten, der immer
zur Erklärung des Harden'schen Wissens herangezogen
werde, sagt er, verhält sich zu Harden, wie Lord
Bacon zu Shakespeare ; die Verlegenheit, das Shakes-
peare-Wissen zu erklären, habe die Theorie erzeugt,
Shakespeare sei im Geheimen Lord Bacon gewesen,
»wobei Lord Bacon gewissermaßen die Rolle eines
Zwillingsbruders des Harden'schen Zettelkastens spielt«.
Das sind komplizierte Familienverhältnisse, aber ich
möchte immerhin behaupten, daß Shakespeare außer sei-
nem Wissen noch etwas vorgestellt hat, während bei
Herrn Harden das Wissen die störende Hauptsache ist
und außer ihr nichts da ist, was unser Herz erfreuen
könnte. Auch möchte ich den Zettelkasten des Herrn
Harden, wenn sich ihm überhaupt etwas an die
Seite stellen läßt, lieber schon mit dem Brustkasten des
Freiherrn v. Berger verglichen sehen, aus dem ebenfalls
manches hervorkommt, wofür der Besitzer nicht ver-
10
aiüwortlich ist. Wenns freilich auf mich ankommt, würde
ich diesen unvergleichlichen Brustkorb wieder nur mit
einem redenden Papierkorb vergleichen. Denn was
hat da nicht alles Platz! So meint Herr v. Berger zum
Beispiel, Harden sei ein Sprachkünstler. Nun, ich kann
da nicht mitreden. Ich bin bloß Übersetzer und als
solcher etwas voreingenommen. Aber an dem Übel-
befinden von Tausenden, denen ich die Sprache des
Herrn Harden zugänglich gemacht habe, merke ich,
daß da etwas nicht stimmen muß. Herr v. Berger hebt
allerdings auch rühmend hervor, daß Herr Harden, der
übrigens einer der fleißigsten Arbeiter sei, sich in
die Persönlichkeiten, die er schildert, »hineinbohrt,
bis er endlich die Empfindung, wie es schmeckt,
dieses Ich zu sein, einen Augenblick auf der eigenen
Zunge spürt«. Da kann ich auch nicht mitreden, da
ist wieder der Freiherr v. Berger kompetent. Auch er hat
es oft gespürt, umsomehr als er doppelzüngig ist, er
hat Tag und Nacht gearbeitet wie Herr Harden, er ist
manchmal gar nicht aus den Kleidern der Leute heraus-
gekommen. »Wenn ich«, schreibt er, »der Natur, als
sie Harden schuf, einen guten Rat hätte geben können,
so würde ich ihr gesagt haben: Gib diesem Drang
nicht nur die Kraft des denkenden und fühlenden Ergrün-
dens und lebendigsten Schilderns, sondern die Allmacht
des Gestaltens, oder gieß ihr wenigstens schauspielerisches
Vollblut in die Adern!« Man kann von Glück sagen,
daß der liebe Freiherr nicht dem lieben Herrgott
geholfen hat; er hätte die Menschen am Ende nach
seinem Ebenbilde geschaffen. Schlechte Freiherren gibt
es genug. Schlechte Theaterdirektoren auch. Dagegen
gibt es nicht viele gute Schauspieler. Die Herren Berger
und Harden haben Ansätze. »Der schauspielerische
Trieb muß sehr stark gewesen sein in dem jugendlichen
Harden«, sagt jener und rühmt ihn als echten Patrioten.
Darin, findet er, in der »leidenschaftlichen Liebe für
das Vaterland« — es gibt eigentlich nur Liebe zum
Vaterland, aber Liebe für Geld — gleiche Harden
I
— 11 —
keinem geringern als Dante. Diese »weißglühende
Leidenschaft* nötigt Herrn v. Berger — der ja auch
sein Vaterland liebt, aber doch nur, wenn es ihn
zur Burgtheaterdirektion ruft — geradezu Ehrfurcht ab:
•Hardens Patriotismus ist das Gefährliche in ihm, das
zu scheuen ratsam ist«. Ich bin ganz derselben Meinung
und habe schon in dem Aufsatz »Der Patriot« gesagt, daß
man diesem Patriotismus lieber ausweicht, wenns finster
wird. Harden »nimmt, wie Goethes Alba, keine Raison
an« ; dagegen die Informationen des Herrn v. Holstein, die
das Vaterland just dann in einen Krieg treiben, wenn es
gerade am wenigsten dringend ist. Und wieder kommt,
bei aller Echtheit des Patriotismus, »das starke schau-
spielerische Temperament« des Herrn Harden zu Ehren,
das ihn zwingt, »die Rollen an sich zu reißen, die der
Moment von ihm heischt, abwechselnd Prophet, Weiser,
Narr, Warner, Ankläger, Richter und Nachrichter, denn
tausend Seelen wohnen in ihm«. In Herrn v. Berger
trotz größerer Brust erweislichermaßen nur zwei. Und
die sind zu viel. Und nun möchte ich ihn zu
seiner Pflicht rufen. Denn so wahr es ist, daß er
eher noch das Burgtheater vor dem Tode seines Welt-
ruhms retten als daß er meinen Harden für Deutsch-
land lebendig machen wird, so dringend nötig ist es,
ihn bei der Stange zu halten. Da er sich pflichtgemäß
für den schauspielerischen Nachwuchs zu interessieren
hat, so unterlasse er es, auf den literarischen Schmie-
ren Umschau zu halten. Er kümmere sich darum,
wo er den Nachfolger für Kainz, wo er den in-
teressanten Schauspieler findet, dem zuliebe ein Mensch
in Wien noch ein Burgtheaterbillett kauft, und gebe
den Versuch auf, die schauspielerischen Keime bei
Herrn Harden, der nun schon einmal den Beruf verfehlt
hat, zu entdecken. Wir wollen einen Burgtheater-
direktor und nicht einen Rezensent€n, der ehemalige
Provinzkomödianten und gegenwärtige politische
Gaukler als Stars feiert. Herr v. Berger hat in einer
lächerlichen Notiz erklärt, daß das Burgtheater auch
12
nach dem Tode Kainz' noch bestehen werde, wie es
nach dem Tode Sonnenthals weitergelebt habe. Das
mag wahr sein, die Mauern sind nicht eingestürzt, das
Klosett auf der rechten Parkettseite ist noch immer
sanitätswidrig und auf der Galerie ruft der Mann, der
heute noch die Burgtheatertradition verkörpert, noch
immer: »Frisch Wasser, Frornes, Lemrnad!« Wenn Herrn
V. Berger ein Schauspieler stirbt, so sagt er, daß mit
Rücksicht auf dessen Unersetzlichkeit kein Nachfolger
engagiert werde, und daß das Publikum von den
Persönlichkeiten entwöhnt und zur Würdigung des
Ensembles erzogen werden müsse. Solcher Aufschrei
der geplagten Mittelmäßigkeit, die keinen größeren
Ehrgeiz kennt, als den Gymnasiasten die Lektüre der
Klassiker zu ersparen, mag rührend sein; aber durch
die Entschuldigung, daß er für den Tod nichts könne,
wird Herr v. Berger der Verantwortung dafür, daß er
das Leben nicht ruft, kaum entgehen. So wird sich die
Sache schwerlich halten. Schon gar nicht, wenn sie
immer wieder durch Feuilletons unterbrochen wird.
Wenn der Freiherr bekennt, er habe Harden »genau
studiert«, so ist es nur zu beklagen, daß er seine
freie Zeit nicht besser angewandt hat: vielleicht hät-
ten wir jetzt schon bessere Burgtheatervorstellungen.
Und wenn er mit einer deprezierenden Gebärde nach
meinem Schreibtisch ausruft, »er könne ihn nicht anders
malen, als er ihn sieht«, so falle ich vom Sessel vor
Bewunderung solcher Ehrlichkeit. Denn ich kann noch
weniger lügen als der Freiherr v. Berger. Hardens
»Sprachgewalt« flößt diesem ehrlichen armen Teufel
Bewunderung ein. Hardens »Leidenschaft« bittet er nicht
mit ihrem »schwächlich reizbaren Bruder, dem Affekt«
zu verwechseln. Er lasse mir die Leidenschaft des Herrn
Harden in Ruhe; sonst tut sie der Sprache Gewalt an
und behauptet am Ende, der aus der Elbestadt mit
Stank Geschiedene habe ihn, den im Machtreich Wohnen-
den, mit Klugschwatz kirren wollen! — Kann solch
decrepide Leidenschaft noch einen schwächlich reizbaren
Bruder haben, so reize er die Schwäche nicht. Sie
— 13 —
könnte dem Freiherrn v. Berger Proben geben, daß er
die Leidenschaft des Herrn Harden von meinem Affekt
nicht wird unterscheiden können ! Ich würde ihm be-
weisen, wie zutreffend die Beschreibung ist, die er
von jenen gibt, welche seinem Urteil über Herrn
Harden — er ahnt es — widersprechen werden: psy-
chologische Begabung sei für sie »die Sucht und die
Geschicklichkeit, hinter der Fassade, welche eine öffent-
liche Persönlichkeit dem Publikum zukehrt, allerlei
traurige Menschlichkeiten als die angebliche Wahrheit
aufzuspüren*. Dieser vielfältige Mann ahnt, daß er
durch die Verteidigung der Fassade des Herrn Harden
seine eigenen Menschlichkeiten dem Auge der Psycho-
logen entblößt hat. Ich bin aber gar nicht für Psycho-
logie, ich bin bloß für Sauberkeit. Ich haue Fassaden
ein und mache tabula rasa mit den Menschlichkeiten.
Ich leiste Verzicht auf die Verehrung, deren man mich
immer bis zu dem Moment versichern läßt, in dem
man meiner Achtung verlustig gehen will, und ich
beklage die Feigheit, die, nicht zufrieden damit,
daß sie über mich nicht öffentlich reden darf,
noch ein Übriges tut und mir in den Rücken fällt,
um in alle Gemeinheit, die ich bekämpfe, in alle
Hohlheit, die ich entlarve, hineinzukriechen. Wie
eine Konkursmasse der Gesinnung geht dieser beleibte
Freiherr durch ein Leben, wo man Händedrücke aus-
teilt, um sich Fußtritte zu ersparen. Er entziehe mir
seinen Anblick. Wir sind miteinander quitt. Er hat in
der Neuen Freien Presse einmal einen »geistvollen
Kritiker« zitiert, der das Wort »Dilettanten ohne Lampen-
fieber« geprägt habe. Er hat mir damit ein Opfer gebracht,
das ihm die Journaille übelnehmen könnte. Ich habe
mich revanchiert und als ich in der ,Fackel' zum erstenmal
das Wort »Journaille« zitierte, dazu geschrieben : »Ein
geistvoller Mann hat mir neulich, da wir über die
Verwüstung des Staates durch die Preßmaffia klagten,
diese für meine Zwecke wertvolle Bezeichnung empfoh-
len, die ich hiemit dankbar dem Sprachgebrauch über-
liefere«. Wir sind quitt.
- 14 —
Ein Fürst der Gecken*)
Von Franz Mehring
Ein Fürst der Gecken, der das Zeug hatte,
in den Augen törichter, unaufrichtiger Personen zu
glänzen, ein Mensch ohne Ehrfurcht für Wahrheit
oder menschliche Vortrefflichkeit, der im Grunde
gar nicht zu unterscheiden weiß, was wahr und
was falsch, was vortrefflich oder was bloß auf der
Höhe der Mode ist ; ein scheinbar höflicher und
bewanderter, innerlich aber ein unverschämter,
obskurer und bloß modisch-geckischer Mensch,
der, wenn er je dem Rhadamanthus in den Weg
kommen sollte, eine Tracht Schläge davontragen
würde.**) Thomas Carlyle.
Unter den zahllosen Humbugs der bürgerlichen Welt steht
Herr Maximilian Harden, wenn nicht an erster Stelle, so doch in
erster Reihe. Die Tatsache, daß seine .Zukunft' nun bald seit zwei
Jahrzehnten die gelesenste Wochenschrift der deutschen Bourgeoisie
ist, während eine im bürgerlichen Sinne wirklich gebildete Wochen-
schrift wie die .Nation' an Abonnentenschwindsucht dahinstarb,
wird dermaleinst von den Historikern als ätzendes Brandmal für
das betrachtet werden, was sich heute als »Bildung und Besitz«
aufspreizt.
Es ist wahr, daß einzelne Organe der bü^^gerlichen Presse
sich dagegen aufgelehnt haben. Die »Preußischen Jahrbücher«
haben Herrn Harden wiederholt gestriegelt, wie sich gebührt; im
,März' schreibt Herr Karl Kraus***) von Zeit zu Zeit ergötz-
liche Parodien auf das »Desperanlo« der .Zukunft' und selbst das
.Berliner Tagblatt' hat das perverse Gemauschel, das Herr Harden
seinen »Stil« nennt, kürzlich zu tadeln gewagt, freilich nur unter
tiefer Verbeugung vor dem Genius selbst. Indessen der »Stil«
gehört zu Herrn Harden wie die Narrenkappe zum Hanswurst,
und auf den Hanswurst kommt am Ende mehr an als auf
seine Kappe.
*) Aus dem Aufsatz der .Neuen Zeit' (Stuttgart, XXVIII. Nr. 52).
**) Ist bereits geschehen.
***) Der Verfasser kennt die .Fackel' nicht.
Anm. d. Herausg.
J
— 15 —
Unwissend in allen historischen uqd politischen Dingen,
weiß sich Herr Harden seinem >gebildeten« Publikum politisch
dadurch interessant zu machen, daß er in den Schlafkammern
prominenter Personen herumschnüffelt, mit Nüstern, die sich um
so weiter blähen, je perverser es darin zugeht, historisch aber
dadurch, daß er im Staube der Bibliotheken nach alten, ganz oder
halb vergessenen Scharteken kramt, aus denen er ellenlange Zitate
seinen bewundernden Lesern um die Ohren schlägt. Welch ein
Mann von stupender Gelehrsamkeit! sagt dann der gelehrige
Professsor der Historie in Leipzig, der die .Zukunft' mit seinen
Beiträgen schmückt, und der naive Junker auf seiner hinter-
pommerschen Sandbüchse ruft nicht minder staimend: Ein ver-
flixter Kerl, dieser Harden, der selbst noch S. M. an Kenntnis der
Geschichte übertrifft. Und nicht bloß der naive Junker spricht so,
sondern auch die nationalliberale Presse, die, als der Kaiser seine
Königsberger Rede hielt, sofort ihre Boten an Harüen sandte, ura
das Orakel über die >Gnade Gottes« u. s. w. zu hören.
Als Autorität in monarchischen Sachen ist Herr Harden
bekanntlich durch keinen Geringeren geweiht worden als durch
Bismarck, der mit ihm die Flasche Steinberger ausstach, die der
Kaiser als Versöhnungsspende nach Friedrichsnih gesandt hatte.
Herr Harden ließ sich denn auch nicht lange bitten und entschied
den Königsberger Fall: der Kaiser ist ein durch und durch
konstitutioneller Fürst, aber — denn »pikant« muß die , Zukunft'
bei aller Gottesfurcht und Königstreue sein — der alte Fritz
drückte sich etwas anders aus als der Kaiser, indem er schrieb:
Unser Haus hat, wie alle anderen seine Achilles, seine Ciceros,
seine Nestors, seine Blödsinnigen, seine gelehrten Frauen und bösen Stief-
mütter und unstreitig auch seine verliebten Prinzessinnen gehabt. Wenn
wir die vortreffichen Eigenschaften unserer Vorfahren überzählen, so
werden wir leicht einsehen, daß unser Haus seine Vergrößerung ihren
Vorzügen gewiß nicht zu verdanken hat. Die meisten Fürsten aus
unserem Hause haben sich nur schlecht aufgeführt; aber der ungefähre
Zufall uud die Umstände sind uns dienlich gewesen. ... In Ansehung
der königlichen Würde nimmt man alles, was man kriegen kann, und
man hat niemals unrecht, als wenn man es wieder herausgeben muß.
Mit welchem diabolischen Grinsen Herr Harden diese Zeilen
geschrieben haben mag, in dem Bewußtsein, daß er seinem »ge-
bildeten< Publikum alles, aber auch alles bieten dürfe. Was er
zitiert, hat nämlich der alte Fritz nie gesagt oder geschrieben,
— 16 —
sondern es steht in einem alten Pamphlet, das jedem, der sich nur
ein wenig in der preußischen Geschichte umgesehen hat, als eine
der ihrer Zeit bekanntesten Schmähschriften auf den König Friedrich
bekannt ist. Sie war betitelt: Matinees du roi de Prusse und ent-
hielt unter der Form von Morgenunterhaltungen des Königs mit
seinem Neffen und Thronfolger die bissigste Satire auf das fride-
rizianische Regiment. Sie erschien zum erstenmal im Jahre 1766
ohne Angabe des Verfassers und des Druckortes und ist dann in
verschiedenen Ländern verschiedentlich nachgedruckt worden, zuletzt
in London 1863, ohne daß bis heute mit Sicherheit festgestellt
worden ist, wer sie verfaßt hat. Die meiste Wahrscheinlichkeit
spricht für einen gewissen Bonneville, nicht des Bonneville, der
aus der französischen Revolution als Herausgeber des >Cercle social«
und anderer revolutionären Blättern bekannt ist, sondern eines
älteren Bonneville, der im Jahre 1750 als Sekretär des Marschalls
von Sachsen nach Berlin gekommen war.
Man sagt vielleicht, bei der unglaublichen Unwissenheit des
Herrn Harden in historischen Dingen habe er in gutem Glauben
die Satire für echt gehalten. Aber wenn schon den von ihm
zitierten Sätzen die Satire stark genug aufgeprägt ist, so müssen
andere Sätze der Schrift auch die blindesten Augen öffnen, bei-
spielsweise die folgenden Sätze, die der König Friedrich seinem
Neffen eingeprägt haben soll: >Wir (die Hohenzollern) sind diese
ganze Zeit hindurch auf dem Wege des gewandten Machiavellismus
verfahren, als geschickte Spieler in den Geschäften dieser Welt und
emsige Einsammler ihrer Güter, mit einem Worte als andächtige
Verehrer Beelzebubs, des großen Ordners und Belohners der
Sterblichen hienieden. Welchen Glauben wir, die Hohenzollern,
befunden haben, und ich noch immer befinde, als den wahren;
lerne auch du ihn, mein gescheiter Neffe, und mögen alle Menschen
ihn lernen. Durch stetiges Daranfesthalten und Wirken in diesem
Geiste früh und spät haben wir es so weit gebracht, wie du siehst;
— und werden es noch weiter bringen, so Beelzebub will, der im
allgemeinen gnädig ist denen, die ihm recht dienen.< Nein, dieser
waschechte Monarchist, der an den Stufen des Thrones steht wie
ein Cherub mit flammendem Schwerte, hat sich einmal einen
rechten Jux machen wollen mit der völkischen Eigenart der Volkheit,
und siehe da ! es ist ihm gelungen ....
— 17 —
.... Aber das Schönste kommt noch. Da selbst in unserer pro-
fanen Zeit mitunter noch Wunder geschehen, so gjbt es auch unter
den zehn- oder zwölftausend Lesern der .Zukunft' noch einige, die
-,ich nicht ganz willenlos einseifen lassen. Sie haben bei Herrn
Harden angefragt, wo seine famosen Zitate zu finden seien, worauf
ihnen in der neuesten Nummer der .Zukunft' folgende Handvoll
Sand in die schläfrigen Augen stiebt:
Ich glaube, sie sind noch nie veröffentlicht worden (kanns aber.
Ja mir, fem von Berlin, Kosers Friedrichsbiographie nicht erreichbar ist,
nicht sicher feststellen). Im preußischen Staatsarchiv muß ein Manu-
skript liegen, das man ein Vermächtnis Fritzens an seinen Neffen (der
als König Friedrich Wilhelm der Zweite und im Volk der dicke
Wilhelm hieß) nennen könnte. Dieses Manuskript scheint der Sohn
eines Pastors, der seine Pfarre königlicher Willkür zu danken hatte,
abgeschrieben zu haben. >Der Stadt Anklam steht das Patronatsrecht
jn beiden Kirchen zu; sie hat es im Jahre 1633, gegen Zahlung von
zweitausendfünfhundert Gulden, von dem Herzog Bogislaw dem Vier-
zehnten käuflich erworben. Im Jahre 1736 war, durch den Tod des
N'ikolaus Blocksdorf, die Stelle des Ersten Geistlichen an der Marien-
kirche erledigt. Die Kirchengemeinde schritt alsbald zur Wahl des
Nachfolgers; allein der König-Herzog, Friedrich Wilhelm der Erste,
befahl, daß die Stelle dem Feldprediger bei einem Fußregiment, Peter
Qottlieb Bluth, gegeben werden solle: und der Rat der Stadt Anklam
war schwach genug, seine und der Bürgerschaft Gerechtsame aufzugeben
und den Schützling des Landesfürsten zu berufen, obwohl die Wahl
der Bürgerschaft auf den Diakonus Johann Bahr gefallen war, der schon
seit 1712 als Zweiter Geistlicher an der Marienkirche gewirkt hatte.«
Bergbaus, >Landbuch von Pommern und Rügen.«) Der Sohn des durch
einen Akt selbstherrischer Laune in sein Amt gebrachten Primarpastors
Jluth war Beamter der Stadt Anklam und hinterließ ein dickes, 1784
begonnenes und 1828 abgeschlossenes Manuskript, das mit Kelch und
Kreuz geziert ist und dessen erster Teil den Titel trägt: >Königliche
'^rühstunden; ein noch ungedrucktes Manuskript von Friedrich dem
Qroßen«. Kapitelüberschriften: V^on der Lage meines Königreiches; von
Jem Grund und Boden meiner Staaten; von den Sitten der Einwohner;
von der Religion; von der Gerechtigkeit; von der Politik; von der
esonderen Politik; von den Schönen Wissenschschaften ; von besonderen
kleinen Umständen; von den Ergötzlichkeiten; drei Grundsätze der
Staatspolitik. Die Abschrift ist durch Vererbung in Privatbesitz gelangt,
und der Eigentümer hatte die Güte, uns einiges daraus mitzuteilen.
Hier kann man trefflich die Mache studieren, wie sie der
I iumbug des Hum.bugs treibt. Kosers Friedrichsbiographie, Manu-
skript im preußischen Staatsarchiv, Vermächtnis Fritzens an seinen
?,'efien, Patronatsrecht der Stadt Anklam, Herzog Bogislaw der
— 18 —
Vierzehnte, Nikolaus Blocksdorf, Feldprediger bei einem Fußregi-
ment, Landbuch von Pommern und Rügen, Kelch und Kreuz usw.
usw. — welch stupende Gelehrsamkeit, wird der gelehrte Professor
sagen, und jeder junkerliche Brot- und Fleischwucherer wird
schnalzend hinzufügen: Ein verflixter Kerl, dieser Harden !
Und so hat schließlich doch der Fürst der Gecken die
Lacher auf seiner Seite, wenn er die Pritsche über diese mords-
dämliche Gesellschaft schwingt.
Die morgenländischen Märchen *)
Von Otto Stoessl
Die erste Schöpfung einer erwachenden Volks-
seele, ist das Märchen, die Dichtung der Kindheit, für
die Jugend der Völker als Nahrung des eben erregten
Geistes bestimmt, der noch nichts anderes verlangt,
als unablässig vorüberziehende Eindrücke, bunt wie
die Erscheinungen, aber ohne schicksalhafte Be-
stimmung.
In der Märchensprache klingt alles Elementare
mit seinen Urlauten an, wie von einer dumpfen Zärt-
lichkeit und doch leise lehrhaft gesagt. Die allem
Epischen innewohnende breite Rhythmik sammelt sich
hier in gewisse einfältig konventionelle, doch stets von
neuem durch ihre endgültige Gewichtigkeit über-
raschende Formeln, welche dem Lauschenden über
seine etwa beirrende Logik hinweghelfen. Bleibt doch die
Wirklichkeit das feindseligste Rätsel des Kindes und
darum auch des Märchens. So wird sie sanft umhüllt
und von Schleiern der Rede ins Traumhafte gehoben.
Unter dem Klang und Sinn des Märchens schwebt das
Gemüt wie zwischen Himmel und Erde, den Sternen
oben, wie dem Gras unten gleich entrückt und dennoch
die geflügelten Gaben der Dinge und Gedanken be-
*) Ausgaben des > Insel < -Verlages von «1001 Nacht«, >1001 Tag«.
Leipzig,
— 19 -
rührend und wieder entlassend, von keinem Schmerz
der Erfahrung um das Wunder des Eindrucks betrogen,
der einzigen Leidenschaft der Anschauung hingegeben.
Dieser strahlende Dämmerzustand des Märchens scheint
das poetische Geschwister der kindlichen Seele selbst,
:n welcher sich alle Erscheinungen zusammenfinden,
aber körperlos ohne Kampf einander durchdringen.
Nichts besteht hier, als sinnliche Mannigfaltigkeit ohne
Wertung, Vieldeutigkeit ohne Wahl, Folge ohne Be-
dingtheit.
Das Märchen ist die geistige Nahrung des Kindes,
^ut wie die Muttermilch. Die Mütter sind denn auch
die Märchenammen der Völker. Sie erleben, wenn sie
ihr Geschöpf im Schöße tragen und noch lange nach
der Geburt eine wunderbare Rückkehr aus dem Be-
wußten ins Traumhafte. Alles Geistige wandelt sich
ihnen in still waltendes Sinnliche, wobei eine verinner-
lichte Wirklichkeit zum Nebelspiele wird, in dessen
Mitte, fern, als Ahnung spürbar, doch wesenhaft, ein
Sternschimmer: das Kind ruht. Aus dieser mütterlichen
Entrücktheit quillt die süße Nahrung des Märchens,
einer Natur verdankt, die dem Kinde geheimnisvoll
angeglichen worden.
Der stoffliche und geistige Gehalt des Märchens
bezieht seine Formen und Zeichen aus der nächsten
Umwelt und aus den fernsten Regionen, Gewohnheiten
und Vorgänge des gemeinen Lebens werden auf das
großartigste erhöht, Wunder der Höhe auf das ver-
traulichste angenähert. Wind und Welle rauschen in die
Fabel, gute und böse Tiere spielen sanft oder
feindselig mit, die Elemente und die Erscheinungen
einer Geisterwelt treten alltäglich, die üblichen Um-
stände jeder Stunde festlich und bedeutsam auf. Ein
immerwährender Tausch der Rollen, ein steter Wechsel
des Gewichts jeglichen Charakters, jeglicher Situation
bewirkt eine luftige Freiheit und einen hinreißenden
Schwung. Die Wirklichkeit leiht nur die Instrumente,
mit denen der Geist eine bezaubernde Musik macht.
20
Die innewohnende Kraft jeder Kunst, die Realität zu
lösen, zu beseelen, von ihrer Schwere zu befreien, den
Stoff zu entstofflichen, aber alles Seelische zu verleib-
lichen, nimmt im Märchen ihren verheißungsvollsten
Anfang. Es eignet, als die Dichtung der Kindheit, einer
jugendlichen Nation als ihr poetischer Charakter und
darum kann keine andere Aussage das Volk wahrhafter
vergegenwärtigen. Sie läßt seine Triebe sprechen.
Im Morgenland, dessen Name schon die bleibende
Frühe einer jungen Welt bezeichnet, wirkt eine Nation
von Kindern die buntesten Märchen, deren Motive nach
dem Westen gewandert, in die Begriffssphären anderer
Sprachen und Sitten umgedeutet worden sind.
Nun betrachtet man erstaunt diese Spiele ewiger
Kinder, die im Rausch des Unwesentlichen schwelgen.
Ein Land, voll Überfluß in der Sonne gährend, nährt
sie ohne allzuschwere Arbeit, leicht und wie von
ungefähr bietet sich das Notwendige, überraschend
kommt das Überflüssige herbei, Pflicht und Strenge
gelten nicht, die Muße macht jeden vornehm, geistreich
und umgänglich, das Klima begünstigt eine tropische
Lebenskraft auch des Menschen, die in tausend Ein-
bildungen lustvoll verdampft, ohne die Muskeln zur
Tat verbrauchen zu müssen. Das ist die rechte Kind-
heits- und Brutwärme des Märchens.
Die gesellschaftliche Ordnung macht denn auch
wahre Kinderstaaten aus, in denen es abenteuerlich
und nach Launen hergeht, der jeweils Stärkste gebietet,
aber fragwürdig genug. Vezier und Kadi, der reiche
Kaufherr, oder der tückische Magier, der fromme
Schaykh oder der schlaue Dieb entfalten, jeder auf seine
Weise so vielfache, einander durchkreuzende, im
Augenblick siegreiche, im nächsten besiegte, einander
aufhebende Gewalten, daß sie jetzt raubend, jetzt Beute,
einem fortwährenden Widerruf unterliegen. Das Ganze
dieser Welt schaukelt auf und nieder in einem wahren
Märchenrausch. Gleichmut, sinnreiches Nichtstun,
prahlerische Beredsamkeit und wieder beschauliche
- 21 -
Maulfrommheit sind einem heftigsten Begehren gepaart,
welches ebenso schnell versinkt, der Wunsch gibt sich
auch mit der Scheinerfüllung der Erfindung zufrieden.
Das Märchen funkelt also von Lüsternheit nach leckeren
Speisen, köstlichen Gerüchen, Prachtgewändern, ge-
würzten Liebesabenteuern. Edelsteine sind gleich zu
Haufen angeschüttet, aber mit diesen Vorstellungen
fühlt sich der genügsame Geist auch schon gesättigt, wie ja
der Körper zur Not mit einer Handvoll Datteln aus-
langt. Was getan wird, geschieht nicht ohne einen ge-
wissen Zwang, als könne nur ein Anstoß von außen,
kein bestimmender Wille die Handlung entbinden. Jeder
läßt sich ins Tun wie in einen Abgrund hinabsinken.
Der Zufall ist willkommen, weil er jeden nötigt, das
Unabänderliche mit sich bewirken zu lassen, nach Allahs
Willen. Und immer wieder tauchen aus der Wüste des
Lebens die grünen, schattenkühlen Augenblicke eines tief-
atmenden, ruhenden Glückes auf, wo das Schicksal
sich in Gesang und gereimte Wechselrede, in ein Gast-
mahl geistvoller Zecher, in eine Umarmung zweier
Liebender auflöst. Diese Momente sind das eigentliche
Leben, Arbeit und Abenteuer nur die mißlichen Umwege
zu einer süßen Stunde.
Man denke sich den Schauplatz dieser Märchen.
Sie werden vor den großen, braunen, hindämmernden,
alten Kindern dieser heißen Städte von kundigen
Erzählern vorgetragen, in den Basaren, wo die Kauf-
leute pfeiferauchend, mit übergeschlagenen Beinen vor
ihren Mokkatässchen brüten, eine Schar von Fischern,
Lebensmittelhändlern, Wasserträgern, Garköchen, Sol-
daten, Bettlern, Krüppeln, Knaben, Sklaven wimmelt
umher, gelegentlich erhebt sich ein wüster Streit mit
kreischenden Stimmen, Hunde bellen drein, da jammert
ein Geprügelter. Der Erzähler wartet, bis sich der Lärm
halbwegs gelegt hat und fährt mit eintöniger,
aber vielsagender Stimme fort. Eine hohe, verhüllte
Frauengestalt gleitet durch die Zeltgänge vorüber,
ahnungsvolles Begehren erweckend. Weiße Augäpfel
-^ 22 -
wenden sich nach ihr und aus blitzenden Zähnen
schleichen ihr Wünsche nach, die Leidenschaften knurren
wie Doggen an der Kette. Der Märchenerzähler spricht
von einer Allerschönsten, und da scheint diese Ent-
schwundene plötzlich in seiner Geschichte sich zu ent-
schleiern. Eine holde Verwirrung des Nichtstuns!
Hier lebt sich alles aus, was von der Tatsachen-
welt eingeschränkt wird und in welchem Riesenwuchs
von Erscheinung und Bedeutung, aber gleichwohl in
strengen Formen voll Würdigkeit. Das Konventionelle
gibt dem Überschwang einen gewissen Halt. Maß und
Sitte des Betragens macht das Unerhörte etwa glaub-
haft, ja zulässig. Auf jeden Befehl folgt die zuchtvolle
Antwort: »hören und gehorchen!« Und der Trübselige
wird getröstet: »Sei aller Sorgen und Kummers bar
und halte Dein Auge kühl und klar«. Selbst wer einem
Bettler das Almosen verweigert, bedient sich des höf-
lichen Ausdruckes : »Allah öffne Dir eine andere Tür«.
Von der Schönheit der Sklavinnen heißt es, sie glichen
dem Mond in seiner Fülle, oder sie werden gepriesen
wie sanft sich neigende Weidenruten. Beugt sich die
Lautenspielerin über ihre Laute, so scheint sie wie eine
Mutter ihr Kind zu fassen. Treffende Witzworte, hübsche
Antworten, großmütige Züge, Moralisches und Lehr-
haftes, alles geht mit drein, selbst die religiöse Über-
lieferung verschmäht nicht diese höchst volkstümliche
Form der Mitteilung. Kindlich schmiegt sich eine ganze
Morgenwelt in des Märchens weiten Mantel. Seine
läßliche Rede verwandelt die Geschichte seines Volkes
in lauter Geschichten.
So speist Wesen und Wirken, Sinnen und Be-
gehren, Erscheinung und Aussage den unversieglichen
Brunnen der Erzählung. Dieser Brunnen rauscht seit
Jahrhunderten und sein Wasser wird silbern klingen
und fließen, wenn die Wirklichkeiten von heute dereinst
mit sieben Schichten von Erde begraben sind. Im
Morgenlande ist die Zeit ein ruhendes, kein wandern-
des Wesen. Dort bleiben die Menschen die gleichen,
23 —
weder ihre Namen, noch ihre Gebärden ändern sich:
Kalif, Vezier, Kadi, Schaykh, Sorbetverkäufer, Sängerin,
Bettler und Räuber, Kurde und Armenier leben wie
vor tausend Jahren, so heute in einem ewigen Morgen.
Für jeden Einzelnen wächst nicht bloß der brauchbare
Ersatz, sondern völlig der gleiche Erdensohn nach,
jeder verharrt widerruflich, darum erst recht unsterblich,
als gleichnishaftes, nicht als unvertretbares Wesen. Diese
Welt von Kindern wimmelt von lauter Typen. Figuren
treten auf, gehen ab, aber keine Persönlichkeiten.
Attribute wandeln und schlagen sich herum, Masken
fechten ihre Wirklichkeit aus, Fische schnappen nach
einander im purpurnen Meer.
Das morgenländische Märchen ist die Epik der
zeitlosen Gattung.
Gedichte
Von Hugo Wolf (Wien)
Legende
Sie stand mit lüstern lockender Geberde
und rings um sie verstummte alles Sein.
Die Arme schnitten in den Abend ein,
daß sich ihr Leib aufhob von dieser Erde
als weißes Kreuz, ein weißer, starrer Stein.
Ich hing an ihrem Hals — ich, Gott, ich, Zeit,
starb, um mein wildes Blut der Welt zu geben.
Unter der Sternenfluten grimmigem Beben
ward ihrer Beine Tempelherrlichkeit
zum schnellen Grab für mein so junges Leben.
Lang war ich tot — lang war mein Traum und tief.
Da fuhr ein Morgenwind hinab die feuchten
Bergwände und der Wald, der kauernd schlief,
wuchs hoch und sauste. Auferstehung rief
der letzte Tag aus ihres Leibes Leuchten!
— 24 —
UnvergeBllch
Von deinem bleibenden Antlitz wehen
noch immer die großen Gedanken, greift
noch immer dein traumentschleiertes Sehen
dorthin, wo der Tag am reichsten reift.
Noch immer rollt wie ein Starres, Rundes
über mich dein Wort, das sichergeschnellte,
und rinnt das Fieber meines Mundes
in deiner Hände Herbsteskälte.
Der Fötus
Jüngst war er noch nur Trieb und leises Flimmern
in einem Meer von Wünschen, bis ihn heftig
ein Wollen faßte, das aus fernem Schimmern
ins Dunkle schoß. Da schwoll er groß und kräftig.
Und teilte sich und hatte Kopf und Beine —
gekrümmt, gefaltet — wie ein Menschenleben
nach müden Jahren. Hilflos hingen seine
Gedanken an der Mutter stillem Weben.
Die geht mit schwerem Schritt ins Abendrot.
Sie weiß, bevor den Tag ins Tiefe wehen
die milden Nächte, greift hinein der Tod: —
und da ists um ihr liebes Kind geschehen.
Die Toten
Schreiten wir nicht über den Ländern?
Strecke die Hand, so zieh ich dich empor.
Wir streichen an den Wolkenrändern
vorbei und aus den Dünsten hervor.
— 25 —
Spürst du den Hauch, den uns die Erde schickt
aus Gräbern, die unser Zeitliches umschließen?
Wie uns das Sternenreich mit Flüstern nickt —
die Sterne sprechen, und wir leuchten, fließen!
Strecke die Hand, da uns der Sonnenwirbel schleift
nach dem Beginn, wo ich und du im Kranz
der hellsten Stunden herangereift,
um einst so ungeteilt und ganz
in unsre weißen Körper zu entsinken.
Ich denke an deine Arme, an Opale
und blütenbehängte Äste. Wenn wir trinken,
so ist es aus einer roten, feurigen Schale.
Und wenn wir trauern, müssen wir verklagen
und Leichen schleifen in kühlen, dunkeln Booten.
Und wenn wir sterben, müssen wir entsagen. —
Strecke die Hand, zur Höhe geh'n die Toten!
Wo halten wir an? Ich weiß einen blauen Saal,
wo alte Gefährten heiterselig lärmen
und aus einem demantnen Pokal
das Feuer springt, an dem sich Geister wärmen.
Ich weiß einen grünäugigen Quell,
aus dem sich weiße Schleier aufwärts winden
und Tiergestalten mit purpurgeflecktem Fell
des Abends betäubenden Trunk der Liebe finden.
Auch weiß ich eine Erde meinen Händen,
zu wühlen, zu zeugen und Frucht zu geben.
Willst du dahin zurück? So laß uns wenden!
Senke den Flug! Du liebst wie ich das Leben!
26
Beginn des 50. Psaimes
Des Ewigen Rede überbrückt
nach Sonnenauf- und Niedergang
die Erde. Leuchtend und verzückt
steigt langsam über Zions Hang —
Gott hinan.
Und ruft und schweiget nicht.
Es weht von seinem Angesicht
ein Feuerstrahl nach ferner Küste.
Und Stürme blähen ihre Brüste.
Beruhigung
Wovor fürchte ich mich? Es legt die Nacht
ihre sanfte Hand
auf die schlafende Stirne und der Brand
der Träume ist erwacht.
Dann wirft der Morgen sein Goldgewand
um den Leib und wir sehen vor uns gestellt,
was die Träume zu Stande gebracht:
den Tag und die Welt.
Dann ist's der Abend, der sich krönt
und gürtet mit den letzten Sonnensplittern,
bis die Stimme der Träume wieder tönt.
In seinem Schwellen und Zittern
scheint er fast ein Stück
der Wirklichkeit zu um wittern —
da hält ihn schon die Nacht zurück.
Wovor fürchte ich mich?
Keine Stunde wird den Schleier gewinnen,
der über die Dinge sich
wie ein Dunsthauch legt und schwer
ihr Wesen drückt nach innen.
Denn wir lieben die Träume zu sehr.
stummes Beieinanderleben
Viel Jahre sind wir schon beisammen.
Wir sahn uns morgens, wenn die Laken
des Bettes in den weichen Flammen
der Sonne, weiß wie Blüten, schwammen
und unsre Stirnen fast erschraken,
daß sich so jäh des Schlafes Band,
vom Hauch der Nacht traumdünn gesponnen,
auflöste und in Nichts verschwand:
daß unser Sinn nur Weh empfand,
getaucht in Tages hellen Bronnen!
Wir sahn uns Abends auch, wenn Schweres
an unsern dunkeln Herzen zog
und so die welken durch ein hehres
Schweigen — wie in ein Grundlosleeres —
dem Mund der Nacht entgegenbog.
Kein Jahr hat uns in Eins verbunden
noch einem Wort den Weg gebahnt.
Und nur ganz seltne reiche Stunden
entgruben aus vergrabnen Wunden
ein Lippenzucken — kaum geahnt!
Großstadt aus der Vogelperspektive
Weißer, wehender Staub,
durch den sickernd die Sonne rinnt.
Ein mattes Zittern umspinnt
die Dinge und die Farben.
Häuser sind prunkend gemalt in den Raum,
Türme wie aufrechte Feuergarben.
Rädergerassel, sausendes Zischen.
Wie eines Goldmeers abgestreifter Schaum
hängt überall Licht. Dazwischen
Menschen.
^ 28 -
Gestalten, wandernde Fragen: Wohin? und Wie?
Sie haben Furcht in ihrem Sprechen und Lachen,
weil ihre Werke, die stärker sind als sie,
ihre Wünsche erschrecken machen.
Denn viele, die sich heute ins Helle winden,
wissen, daß sie morgen verzichten müssen
und im Leisen verschwinden:
Frauen, die im Vorüberhasten
kühneres Leben sich erküssen,
und Männer, die mit wuchtigen und blinden
Händen in ungeheure Genüsse
tasten.
Der Boden raucht. Dünste und Dämpfe,
wie Atem eines Riesentieres, umziehen
das Gesicht des Himmels. Auf die Kämpfe,
die unter ihnen vorüberfliehen,
schauen marmordunkle Monumente,
schweigend,
wie Zeiger am Wege in Jahrzehnte
und Jahrhunderte. Plötzlich, wenn strahlenneigend
gespiegelte Lichter von obern Fenstern
um Säule und Sockel niedCrschweben,
ists wie ein Reigen von Gespenstern,
die leben.
Totengeläut
Nach dem Französischen des Ivan Gilkin
O Glocken, schwer und langsam tönend,
höhnend,
stöhnend;
Glocken, die der Schrecken sucht,
verflucht,
verflucht;
Glocken in Nöten und in Gewittern
wenn Waffen splittern,
Tränen zittern;
O Glocken im Blut, Glocken im herben
Sterben,
Sterben ;
— 29 —
Näher Glocken, näher Glocken
euer Stocken,
euer Locken;
Läutet Glocken weit und breit
Dunkelheit,
Dunkeliieit!
Hört, wie dumpf durch Luft und Licht
Donner bricht,
Donner bricht!
Unter Flammen weiß und weich,
Sodom gleich,
Sodoms Reich —
Sinken die bösen Städte zusammen
in Flammen,
in Flammen!
Glocken über den Häusern im Brande
der Schande,
der Schande;
und über den Kirchen Glockentöne,
wo Teufelssöhne,
Teufelssöhne
zum Abendmahl von ihren Lenden
Hostien spenden,
Hostien spenden;
läutet über der Unzucht Fest
die Pest,
die Pest;
und über des Glaubens müde Zeit
Hungersleid,
Hungersleid ;
und über Zorn und Haß und Sieg
den Krieg,
den Krieg!
Doch niemand hört auf euer Sagen,
Glockenklagen,
Glockenklagen,
und niemand ist, den herzlich freute,
daß ich läute,
ewig läute!
311—312
- 3Ö---
Die große Hure Babylon
Ich bin die Welt, in die ihr niedertaucht,
um mit verstörten Augen aufzusteigen,
voll eines Bildes, eines Nichts, voll Neigen
des Nebels, der aus meiner Seele raucht.
Ich bin die Welt. Aus meinen Schleiern schwingen
die Wollustdünste, die gleich Herbsteskränzen
um euch sich winden und bei euren Tänzen
sich schlimm um eurer Glieder Wahnsinn schlingen.
Ich selbst erschaure vor dem Tieferdringen.
Denn drohend steht vorn meine Ewigkeit,
die Flügel breit, die von jeher auffingen
den Sturm, der steil aus mir ins Dunkle schreit.
Der tragische Mensch in der modernen Literatur
Von Samuel Lublinski
Scheinbar liegt es weit ab von meinem Gegen-
stand, wenn ich mit meiner Auffassung des Napoleon-
Problems beginne. Aber ich fasse den französischen
Imperator als eine allerdings primitive Form des tragi-
schen Menschen auf, weshalb es mir sehr recht ist,
wenn die Historiker mehr und mehr festzustellen be-
ginnen, daß er nicht der titanische Eroberer und uner-
sättliche Weltverschlinger gewesen ist, noch sein wollte,
als den ihn die kleinbürgerliche Romantikerphantasie
früherer Generationen empfunden hat. Ihm kam es nur
darauf an, England niederzuringen, und diese Aufgabe
hatte er von der Revolution geerbt, wie auch die
Mittel zu ihrer Bewältigung. Weder die Kontinental-
sperre, noch der ägyptische Feldzug waren Original-
ideen des Korsen; das alles war ihm vorgedacht
-- 31
worden, das alles lag in der Luft, es war in den Ver-
hältnissen begründet. Sein Originalbeitrag war nur der:
als sich die Schwierigkeiten immer mehr häuften, so
daß die anderen verzagten, da gab er nicht nach.
Darin allein unterschied er sich von den Zeitgenossen,
daß er nicht nachgab. Er hätte nach dem Frieden von
Amiens in Ruhe leben und den Austrag des Kampfes,
die Lösung der Aufgabe, späteren Generationen über-
lassen können. Aber er hatte diese an sich vernünftige
und geschichtlich gegebene Aufgabe in seinen Willen
aufgenommen und sich mit ihr identifiziert, weshalb
er lieber zu Grunde ging als nachgab. Hier tritt das
Irrationale des menschlischen Willens an das Tages-
licht. An sich steht jeder, in dem der Wille andere
Eigenschaften überwiegt, dem Rationalismus ziemlich
nahe, weil ein wirkliches Wollen nicht möglich ist
ohne einen Plan und dieser nicht ohne scharf formulierte,
logisch faßbare Ziele. Sobald es aber zu entsagen gilt,
weil die Hindernisse unübersteigbar erscheinen, hört
auf einmal die Vernunft des großen Wollenden auf,
und er überläßt sich der Dämonie der ihn beherr-
schenden Seeleneigenschaft und geht lieber zu Grunde,
als daß er seinen Willen abspannt. Der Fall Napoleon
ist nur ein Beispiel für viele und noch dazu ein sehr
primitives Beispiel.
So empfinde ich den tragischen Menschen. Um
ganz subjektiv zu sprechen, so weiß ich für meine
Person nicht, was es noch für einen größeren Gegen-
stand der Dichtung und zumal des Dramas geben
könnte. Allerdings wünsche auch ich eine reichere
Natur als einen General Bonaparte im Mittelpunkt der
dramatischen Dichtung zu sehen, eine, die von der
Differenziertheit des modernen Seelenlebens nicht
unberührt geblieben ist. Aber der Grundkern ihres
Wesens muß und soll — ich empfinde nun einmal so
und nicht anders — jene klare und großzügig logische
Willensenergie sein, die auf einmal aus allem
Vernünftigen heraus in das Dämonische hinein-
32
wächst und sich dann gerade am machtvollsten ent-
faltet und selbst genießt. Aus dem Rationalen in das
Irrationale hinein, das ist mein Glaube von der Tragödie
und mein Ziel, das ich in meinen eigenen Dramen
zu verwirklichen suche und zum Teil schon verwirk-
licht habe.
Aber die typische moderne Auffassung von der
Tragödie geht vom entgegengesetzten Standpunkt aus.
Da ist nichts vom Willen zu spüren, sondern nur von
Willenslosigkeit. Der Dämon wird entweder in das
Milieu verlegt, das seinen armen und wehrlosen Opfern
den Garaus macht: das ist die sattsam bekannte Tra-
gödie des Naturalismus, der angeblich vollständig
überwunden ist. In Wirklichkeit empfindet die Hof-
mannsthal-Schule nicht anders, nur daß sie, und das
ist beklagenswert, auch noch Psychologie treibt. Irgend
ein unendliches Gefühl, das aus den Trieben kommt
und nicht aus der Metaphysik, übt eine eben solche
Gewalt aus, wie bei den Naturalisten das Milieu, und
der »Held« der Tragödie spannt keineswegs den Willen
an, um diesem Schicksal zu entrinnen. Wozu auch,
der arme Schelm ist von vornherein in der Mausefalle
und kann höchstens melodisch piepsen. Ich verkenne
nicht, daß in diesen Dichtungen eine starke lyrische
Ahnung von der Problematik des Lebens Ausdruck
sucht und manchmal findet, aber in der denkbar un-
geeignetsten Form, die sehr rasch das tiefe Gefühl
verwässert, nämlich »psychologisiert.« Das instruktivste
Beispiel dieser Art ist die Mißdichtung des Hofmanns-
thalschen Ödipus. Nach der alten Sage war Ödipus
zum Vatermord und zur Mutterehe einfach verurteilt,
weil es einem Gott so gefiel. Bei dem modernen
Dichter aber befindet sich Ödipus im Stadium der
Pubertät, und da kann man freilich nicht wissen, was
noch passieren kann, zumal er von schlimmen Vor-
fahren allerlei böse Gelüste geerbt hat. Da haben wir
es: die Vererbungstheorie und die Psychologie! Manch-
mal, so besinnt er sich genau nach dem Orakelspruch,
— 33
hat er seiner Mutter mit dunkler Ahnung nachgesehen
und einen seltsamen Groll gegen den Vater gespürt.
Also nimmt er schleunigst Reißaus, und ich beneide
keinen, der nicht den fürchterlichen Rationalismus
durchschaut, mit dem hier das Geschlechtsleben zum
Apparat einer Mausefalle herabgewürdigt wird. Wer
spürt nicht den Professor Freud? Der arme Ödipus
weiß also ganz genau, daß keinerlei Hemmungen in
ihm sind, und daß Schreckliches geschieht, wenn er
nicht sofort Korinth verläßt. Gewiß, dahinter steht eine
starke Lebensangst, die sich aber, etwa in einer Ballade,
eine andere und ihr mehr adäquate Verkörperung ge-
schaffen hätte, wenn nicht der Herr von Hofmannsthal
darüber gekommen wäre, der durchaus eine Tragödie
schreiben wollte. Freilich hat er damit eine Sehnsucht
der Zeit vollinhaltlich erfüllt. Die Zeit will ein klein
bißchen religiös sein und eine mäßige Portion von
Irrationalität kann da ja gar nichts schaden, wenn man
nur wieder hübsch analysieren und die Sache psycho-
logisch begreifen kann. Dagegen beileibe keinen Willens-
menschen ! Der ist zunächst von einer so beleidigenden
Klarheit, von einer so gradlinigen Einfachheit, daß
er einem sensationshungrigen großstädtischen Mystiker
nichts, aber auch gar nichts zu bieten vermag. Plötz-
lich jedoch wächst dann dieser Unselige über alle Logik
hinaus, in eine Atmosphäre hinein, die zwar ebenfalls
irrational und vielleicht sogar religiös, nämlich tragisch
ist, der sich aber mit Professor Freudscher Psychologie
und mit wissenschaftlicher Analyse absolut nicht bei-
kommen läßt. Und das kann einem großstädtischen
Theaterpublikum und einer dito Kritik doch nicht mehr
gefallen.
Diese Vorausbemerkungen waren unerläßlich, um
Freunden wie Feinden und einem neutralen Publikum
einen Wink darüber zu geben, wie mein vor zwei
Jahren erschienener »Ausgang der Moderne, ein
Buch der Opposition« (Dresden, Carl Reißner)
gelesen werden muß. Man hat sich in Zustimmung
— 34
wie Gegnerschaft an allerlei Einzelheiten und Vorder-
grundserscheinungen des Buches gehalten, und nur
ganz wenige haben bemerkt, daß es hauptsächlich nach
den Lebensbedingungen des tragischen Menschen in
der modernen Welt suchte, und daß es bekämpfte,
was diesen Bedingungen nicht entspricht, zugleich
aber mit einer fast übertriebenen Liebe auf die wenigen
Keime hinwies, die bei entsprechender Pflege eine
Verbesserung des tragischen Milieu erwirken
könnten. Schließlich schrieb ich das Buch doch nur
aus dem starken Glauben heraus, daß die gegenwärtige
Welt reif sei für die Geburt einer neuen tragischen
Grundempfindung. Damit aber auch für eine neue
tragische Dichtung auf dem Gebiet des Dramas, und
da alles innerlich zusammenhängt, auch für neue große
Formen in der Lyrik (Hymnus und Balladen aus der
modernen Innerlichkeit heraus) und in der Epik, wenn
es gelingt, unsere starke soziologische Empfindung aus
der »Soziologie« heraus- und in die Sphäre des
Dichterischen, der Phantasie und Freiheit hineinzu-
heben.
Zwei Punkte mußten bei einer solchen Unter-
suchung ganz von selbst in den Vordergrund treten:
die moderne Weltanschauung und die moderne Form.
Für jeden schöpferischen Menschen gibt es freilich im
Grunde nur eine einzige Weltanschauung, nämlich den
Glauben an die Unabhängigkeit und Intaktheit seiner
inneren Welt. Er lacht derjenigen, die ihn für unfrei
erklären, für »determiniert«, weil er weiß, daß jede
seiner geistigen Taten dieses Gerede widerlegt. So
empfindet ganz naiv der schöpferische Mensch, wenn
auch gegenwärtig seine Theorie seiner wahren
Empfindung oftmals wunderlich widerspricht. Selten
noch haben die Künstler soviel von soziologischer
Bedingtheit ihrer Kunst gesprochen und sich in einer
fast prostituierenden Weise der Wissenschaft unter-
geordnet. Diese Verhaltungsweise mag aus dem Gefühl
entspringen, die Kluft zwischen Kunst und Leben,
35 -
zwischen Produktion und Wirkung, nicht bis zur Un-
überbrückbarkeit zu erweitem. Draußen im Leben
scheint ja die Unfreiheit zu triumphieren, scheinen
Soziologie, Naturwissenschaft und Technik mit ihren
strengen Bedingungen das Dasein zu beherrschen; —
folglich muß sich die Kunst diesen gleichen Gesetzen
beugen, um ebenfalls annähernd ähnliche Wunder wie
Zeppelinsche Luftschiffe oder Ehrlich Hata zu erzeugen.
Dieser törichte Glaube ist recht eigentlich die Erbsünde
der Moderne; er hat schon viel Schaden angerichtet
und verhindert mehr als etwa Mangel an Talent den
Aufstieg zur großen Kunst und zur Tragödie. Ich habe
in meinem Buch gezeigt, daß die Verhältnisse umge-
kehrt liegen. Ohne die spontane schöpferische Tätig-
keit des freien Geistes wären nicht einmal solche
angenehme Nebensächlichkeiten wie moderne Technik
und Naturwissenschaft entstanden. Es ist daher nicht
nötig, sich von diesen Dingen sonderlich imponieren
zu lassen.
Wichtiger, viel wichtiger, als alle technischen
Errungenschaften, ist die Frage der modernen Kunstforra.
Es ist klar, daß eine Tragödie großen Stils ohne strenge
Form nicht möglich ist, und ein Gleiches gilt für die
Ballade oder Epik von hohem Rang. Außerdem ist die
Form der vollkommenste Ausdruck der menschlichen
Freiheit und künstlerischen Spontaneität, sie beweist,
daß sich die Persönlichkeit eine Sache, der Künstler
einen Stoff vollkommen angeeignet hat. Wenn ein Wort-
spiel so in uns widerklingt, daß nicht der Verstand
diese Verbindung hergestellt zu haben scheint, sondern
daß sie aus einer rätselhaften mystischen Einheit er-
wächst, so ist das Form, und diese kommt aus der
inneren Einheit des Künstlers, der sich selbst in seiner
Geschlossenheit in allen Dingen der Welt widerspiegelt.
Ebenso bedeutet dramatische Form, daß ein Dramatiker
die Außenwelt nach seinem Bilde geschaffen hat. Ich
will den Gedanken nicht weiter verfolgen, weil mich
diese Andeutung wohl schon gegen den Verdacht
3G
schützen dürfte, daß ich einen mechanischen äußeren
Formalismus gemeint habe. Dieser Vorwand und Popanz
wird mir von allen entgegengehalten, die den Willen
zur Form bekämpfen. Soweit darunter junge und starke
Individualitäten sind, die im ersten mystischen Rausch
ihrer entdeckten Persönlichkeit schwelgen und sich einem
unendlichen Allgefühl überlassen, so wird diesen Gegnern
die Zeit selbst die Augen öffnen, wenn sie in das zweite
und eigentlich schöpferische Stadium ihrer Mystik ein-
treten und sich die Außenwelt unterwerfen werden.
Dagegen darf man mit gewissen anderen Gesellen
kein Erbarmen haben. Sie sind zu schwächlich, um
ganze Persönlichkeiten und überhaupt irgend etwas
ganz zu sein. Ihr lyrisches, ihr dramatisches oder ihr
malerisches Talent für sich allein würde nicht genügen ;
— also wird eine kitschige Kombination von dem allen
zurecht gemacht und wohl gar noch für »Form« aus-
gegeben. Von diesen Ragouts, zum Beispiel der
»Dramatiker«, lebt unter anderem die Regiekunst des
bekannten Reinhardt. Diese Herren Mischmaschkünstler
berufen sich mit Vorliebe auf erlauchte Ahnen, auf
Hebbel und Wagner, die allerdings keine geschlossene
Form aufwiesen, sondern sich »zwischen den Künsten«
tummelten und gelegentlich vor entschlossener Mache
nicht zurückschreckten. Aber diese Großen lebten in
einer Zeit revolutionärer Erschütterungen und politischer
und kultureller Götterdämmerungen, als täglich im
Leben da draußen ein neuer ungeahnter Stoff empor-
quoll, für den es noch keine künstlerischen Mittel gab,
die vielmehr schleunigst improvisiert werden mußten.
Heute sind die Zeiten ruhiger geworden, und die
Epigonen dieser Heroen haben kein Recht zu ihrem
formlos formalistischen Kitsch, und ich habe sie mit
einer Verachtung behandelt, für die jene Herren mit
einem Haß quittierten, der sich einmal wenigstens in
Taten Luft machte, als der bekannte dickfellige Sieg-
fried die Schmeißfliege aus dem Hannövrischen gegen
mich losließ.
— 37
Aber mir ist weder mit dem Haß, noch mit der
Liebe gedient, sondern nur mit der Diskussion. Ich
schrieb das Buch vor allem als ein Suchender, ich
wollte ein Problem zum Bewußtsein bringen. Meine
Formulierungen sind hingestellt, um die Erörterung
hervorzurufen, und ich weiß sehr wohl: »es kommt
immer anders.* Nicht minder aber weiß ich, daß nur
dadurch Entwicklung und Zukunft entsteht, daß man
seinen Glauben zum Dogma (jawohl, zum Dogma)
formt und dieses dann wie einen Pfeil in den Raum
der Zeit hinausschwirren läßt. Was tut es, ob der
Pfeil ins Schwarze trifft, wenn er nur in die Zukunft
weist, und wenn darnach auch andere den Bogen
spannen! Ich schrieb mein Buch als ein Suchender,
und ich fordere die andern alle auf, sich als ebenfalls
Suchende mit meinem »Ausgang der Moderne« aus-
einanderzusetzen. Alle jene fordere ich dazu auf, die
der Gegenwart zum Trotz an die Zukunft der tragi-
schen Persönlichkeit und die moderne Kultursynthese
und Kulturfreiheit noch zu glauben vermögen.
Mitgefühl
Von Albert Ehren stein
Gewiß war ich auch schon früher nach Ottakring geraten,
Freunde hatten mich mehreremale zum Heurigen geschleppt, wir
müssen aber wohl die Hauptstraße hinaufgefahren sein oder das
Gespräch der Kameraden lenkte mich ab, sicher ist: ich sah, hörte,
roch, fühlte damals nichts von dem, was mir heute zustieß. Sonst
wäre ich doch kaum so ratlos dagestanden, so unfähig, auf die
Beobachtungen und Gefühle, die mich bedrängten, eine Antwort zu
finden. Die Sucht, den Gerüchen, die mir entgegenschlugen, dem
Staub, den mir Wind und Wagen ins Gesicht warfen, mit einem
Taschentuch zu begegnen, diese Sucht wäre mir, glaube ich, nicht so
tief egoistisch und daher verwerflich erschienen, wenn nicht nach
- 38 —
und nach die Pferdefleischhauer zu überwiegen begonnen hätten
und, Folge notwendig geringer Sorgfalt, ein unglaublich hoher
Prozentsatz von Buckligen und Verwachsenen unter den Kindern
mich nicht verstört hätte. Es gab da dünne Arme, große Köpfe,
Höcker und Ausladungen mannigfaltigster Art.
Mein Bestreben, irgendwie und teilweise Abhilfe zu schaffen,
ist ziemlich schnell hervorgetreten und noch schneller lächerlich
gemacht worden. Ein kleines, vielleicht achtjährigesMädchen, ein Kind
an jeder Hand und hinter sich eine auf Rädern ruhende Kiste mit Wickel-
kind, stand vor einer fragwürdigen Konditorei und schien nicht die
Summe von einem Kreuzer aufbringen zu können, um sich einen
Neapolitaner zu kaufen, von einem Indianer nicht zu reden. Ich ver-
anlaßte, daß ich in jenes Geschäft trat. Ich wußte nicht, was sagen,
ich errötete. Es kann auf meine Ungeschicklichkeit zurückzuführen
sein, wenn sich die Kinder fürchteten, scheu zurückwichen und als
ich ihnen näher trat, schreiend davonliefen. Noch nicht ich, aber
viele andere mochten die häßlichen Worte verdient haben, die mir
zuzurufen und nachzusenden einige ältere Frauen nicht müde
wurden. Ich dürfte zu elegant gekleidet gewesen sein, als daß man
mir anständige Beweggründe zugetraut hätte. Oder ist es ein Welt-
gesetz, daß niemand für einen andern etwas in Wahrheit tun kann
und darf? ....
Ich vermag es nicht zu entscheiden, ob den vielen Kindern,
die in dem großen Tümpel ein Bad nahmen, das auf einem
niedrig gelegenen Baugrund noch vom letzten Regen her stehen
geblieben, das Waten und Tauchen in dem schmutzigen, lehmigen
Wasser besonders gesund war. Andere sah ich um und in Bedürfnis-
anstalten »Fangerl« spielen, wieder andere haben eine neue Art zu
»telephonieren« erfunden. Eine Abteilung ruft bei einem Kanal-
gitter etwas hinein, die andern liegen bei dem nächsten Kanalloch
platt am Boden, horchen und antworten .... Was sie rufen?
Einen Ruf habe ich vernommen, er war vielleicht gar nicht mit
dem Gefühl beschwert, das ich später hinein legte, und doch werde
ich ihn nie vergessen. >I möcht Erdbeer < schrie ein Kind in den
stinkenden Kanal hinab, und da es nicht Weihnachten war, steht
zu befürchten, daß sein Wunsch nicht in Erfüllung ging. Der beim
andern Gitter dürfte »I a< geantwortet haben. Beide konnten ihr
Ideal — denn es gibt kein tieferes Symbol für den Begriff >Ideal<
- 39 -
und alles Streben der Menschheit, der Wirklichkeit zu entrinnen,
als seine Sehnsucht nach Erdbeeren in ein Kanalloch hinabzurufen
— ich sage, beide konnten ihren Wunsch nicht erfüllt sehen.
Ich kam ins Freie. Es lagen so viel Leute dort, welche die
Gegend offenbar bewunderten und Mückenstiche wie Gerüche
ignorierten, daß auch ich tapfer standhielt, und mich schließlich
des Stolzes auf dies Standhalten schämte. Im Schatten einer Wiege
sitzen vom Gebären erschöpfte Frauen, die schon wieder schwanger
sind, und dort geht, eng an einen nett gekleideten Burschen
geschmiegt, ein vierzehnjähriges Mädchen immer weiter ins Freie
hinaus. Sie ist sauber angezogen und weiß noch nichts, aber die
Frauen, die dem Paar kopfschüttelnd nachblicken, die wissen, wenn
sie auch kein Wort sagen... Ein kleiner .Fratz, einen Papier-
tschako auf dem Kopf, dreht sich unaufhörlich rundherum und
sagt die ganze Zeit über verzückt nichts als: »Flöh und Laus«.
Aber diese Frühreife ist nur zu begreiflich. Es muß nach
Fabrikschluß gewesen sein, die Dampfpfeifen hatten ihr Geheul
bereits eingestellt, da sah ich unter niedrigem Gestrüpp, nicht weit
vom Wege drei czechische Burschen in Kleidern mit einem eben-
falls komplett angezogenen czechischen Dienstmädchen verschlungen
im Grase sich wälzen. Andere Burschen und Mädchen, aber auch
Männer, spielten blinde Kuh. Die jungen Mädchen wurden beim
Fangen derb angegriffen, sie brannten darauf, sie sehnten sich
danach, das war ja das einzige, was sie hatten. Und die Frauen
saßen ganz ruhig daneben, wenn ihre Männer die Mädchen packten.
Knaben auf den Schutthaufen schössen >Fitschifeil« oder
ließen jämmerliche »Raffler« steigen, eine Schar verfolgte
einen Epileptiker, >Tepatar« brüllend, dann kam es wie Unken-
rufe: sie waren wieder zu ihren melancholischen Kanalgittem
heimgekehrt.
Ein alter Mann im städtischen Armenhaus hustete mühsam
gottserbärmlich beim Fenster vor Staub und spuckte sein Leben
in Blutklumpen auf die Straße — es war aufgespritzt worden, zum
Hohn, aber das Pflaster war so schlecht, daß es nichts nützte.
Meine Hoffnung, der Greis werde mich anspeien, weil ich noch
immer Lackschuhe trug, der Gedanke, ich sei der Gnade, die er
walten ließ, nicht würdig — diese Redensarten warf das, was nun
geschehen sollte, über den Haufen.
40
Auch die Lackschuhe hatten ihr Gutes: die begegnenden
Mädchen gaben sich mir mit ihren Augen, wogegen ein anderer
Jüngling in Sandalen und Sportkäppchen unbeachtet, wie in einer
Tarnkappe daherging. Bis ihm die Sache zu dumm wurde und er
ein paar grellgelbe rehlederne Handschuhe enthüllte, worauf sich
die Aufmerksamkeit der Mädchen zwischen uns teilte. Und von
der Anziehungskraft, die diese geringen Gebrauchsgegenstände
ausübten, war nur ein Schritt zu dem Wunsche >Auch ich möcht'
Erdbeer<, und ein Weltverbesserer starb, während die Stimme des
Körpers sieghaft die Idee entwickelte, durch eine zornige Schilderung
dieses Milieus ein mir noch nicht nahestehendes Mädchen in die
Gegend zu locken.
Neue Menschen
Von Berthold Viertel
»Herr im Spiel« *) heißt der erste Roman Otto
Soykas, der vor einigen Monaten erschien.
Herr im Spiel zu werden, ein Traum vieler Seelen.
Einer jener Träume, die vom Tag-Bewußtsein versucht
werden, wenn der Mensch sich eine Pause gönnt, sich
der Kausalität seiner Verhältnisse entreißt und die
Wünsche schwärmen läßt. Vielleicht sind solche Tag-
träume die Quellen aller echten Erzählerkunst.
Die kühne und kühle, schroff sachliche und
phantastisch wesentliche Erzählung Otto Soykas ist
durchaus die tragische Konsequenz eines Gedankens,
der wiederum die Konsequenz einer tragischen Persön-
lichkeit ist. Wir sind es heute gewohnt, daß die Schrift-
steller vor allem über die Schliche des Metiers verfügen,
über vielfaches Raffinement der Feder — ob sich dann
irgend ein Gedanke herbeiläßt, sich solcherart behandeln
*) Hyperion-Verlag Hans v. Weber, Münclien 1910.
41 —
zu lassen, das gilt beinahe für eine Frage, deren sich
der Gebildete schämt, Tausend talentierte Bücher
belehren uns, daß auch irgendwelche Lyrismen, irgend-
welche persönlichen Anwandlungen ausreichen. Hier
aber beginnt ein Gedanke zu sprechen. Seiner selbst
gewiß, beschränkt er sich auf einen ruhigen Vortrag.
Weil er vornehm ist, begnügt er sich mit wenigen
Worten. Ein neuer Typus entwickelt seine spröde und
lapidare, streng intellektuelle Form. Dieses Buch kennt
keine Mode, es hat scheinbar nichts gelesen, bevor es
sich zu schreiben begann. Es wagt eine puritanische
Männlichkeit mitten in einer fast allgemeinen femininen
Verfeinerung. Es ist unzeitgemäß, aber es hat Tradition.
Es hat eine beinahe asketisch keusche Art der Mit-
teilung, die keiner nachahmen kann, die immer
wieder neu erfunden werden muß. Es hat vielleicht
von angeblich veralteten Vorbildern gelernt, aber es
gibt ein Menschentum, das neuer ist, als alles Neueste,
und eine Atmosphäre, von der die Zeit zu lernen
hätte. Und die merkwürdig konzise Fabel dieses
Buches steht nun unerbittlich da.
Einer will Herr im Spiel werden. Er beginnt
damit, daß er denkt und will. Kaum zwanzig Jahre
alt, vor die Berufswahl gestellt, faßt er diesen Ent-
schluß, »bewußt und kühl überlegend«. Es heißt von
ihm, daß er die »Konsequenz« eines »paradoxen Ge-
dankens« zieht. Das ist sein Unterscheidendes: er wird
nicht, er macht sich selbst. Er ist nicht das Resultat
eines Milieus, er schafft bewußt sein Schicksal nach einem
unerschütterlichen Plane. Er denkt, noch nicht zwanzig
Jahre alt, einen persönlichen und entscheidenden Ge-
danken, und er verbraucht ein kühnes und starkes
Leben, um diesen Gedanken zu verwirklichen.
Es gibt andere Möglichkeiten des Spielers. Ich
denke da an den »Spieler« von Dostojewski. Dieser
gibt sich der Macht des Zufalls mit einer großartigen
Passivität hin, erfaßt mit ganzer Seele die fatalistische
Seite des Spieles. Er ist inbrünstiger Sklave des
42
Schicksals, leidenschaftlicher Verschwender seiner selbst.
So spielt der Held Dostojewskis, ein Russe, und so
liebt er auch. — Jener andere aber hat das Spiel
erwählt, um über den Zufall Herr zu werden. Sein
weitgehendes und umfassendes Training gilt der Selbst-
beherrschung, und durch Selbstbeherrschung der Be-
herrschung aller anderen. Dem Zufall wird eine
kristallene Ruhe der Nerven, eine durch keinen Wechsel
des Geschicks beirrbare Tätigkeit des Intellekts ent-
gegengestellt; dem empfindlichen Medium der Hypno-
tiseur, dem Sklaven des Lebens der Herr im Spiel.
Dieser Spieler wählt hiermit die eine große Mög-
lichkeit des Menschen: die Macht. Unumschränkte
Macht, die sich vor allem der eigenen empirischen
Person versichern muß. Sein Charakter fordert diese
Situation. Um sie zu gewinnen, hätte er auch einen
anderen Beruf ergreifen können, sicherlich. Aber seine
Theorie des Spieles entstammt einem radikalen Ich, dem
die bürgerlichen Möglichkeiten versagt sind. Hier äußert ^
sich ein anarchistischer Zug seines Wesen. Er will es
mit dieser Gesellschaft und ihrem Gesetz «ufnehmen.
Er will die Sittlichkeit zwingen, ihn anzuerkennen. Er
zersplittert das Konglomerat der Gesellschaft in einzelne
Individuen, um sie. Mann gegen Popanz, zu vernichten.
— Und es gelingt ihm.
Es gelingt ihm nur zu gut. Er ist daran, auch
den gewöhnlichen, vegetativen Menschen in sich selbst
zu töten, das eigene Herz auszujäten und durchaus
ein Instrument der Macht zu werden, eine vollkommene
Maschine. Weil er sich so weit von der Gattung ent-
fernt, droht ihn die Spannung zu entwurzeln. Seine
eigene Wurzel da drunten im Erdreich des Menschen-
tums beginnt sich zu wehren. Seine Rechnung hätte
gestimmt, wenn die menschliche Natur ein rationales
Exempel wäre. Sie ist es nicht. Während er sich zu
machen glaubt, wird in ihm ein anderer, den er
nicht beherrschen kann. Aus einem für den Verstand
unkontrollierbaren Winkel seines Ich kriecht es hervor,
— 43
die sinnlose Lebenswärme, das Gefühl; wird Kraft,
Idee, Liebe.
Der Spieler bewegt sich auf dem Grat des Ge-
dankens, das Weib, dem er begegnet, bleibt in der
Ebene des Gefühls. Eine wunderbare Feme dämpft
die feine Gestalt. Nie tritt sie ins deutliche Licht.
Aber man spürt die unbeirrbare Kraft ihres Gefühls.
Sie ist selbstsicheres Gefühl, wie er selbständiger
Intellekt ist. Ihre mütterliche Art wählt den kindlich
unbedeutenden Andern, im Sinne einer gütigen Er-
haltung des Lebens. Der tragische Fremdling bleibt
ihr tragisch fremd. Und wie aufrichtig unüberzeugend
ist sein Werben! Welche Ohnmacht in der Sphäre des
Unmittelbaren ! Erwirkt immer wie ein Dritter. Er spielt
Vorsehung. Er beweist Macht. Er interessiert, wie ein
Problem, wie eine Katastrophe. Seine kalten Liebes-
erklärungen widerlegen ihn. Weil er die Ohnmacht
seines Wortes, das gemacht ist und nicht geworden,
fühlt, schneidet er sich in die Hand, um die klaffende
Wunde für seine Wahrheit zeugen zu lassen. Wie tief
hervorgeholt aus der phantastischen Realität der Gestalt
sind diese Gewaltsamkeiten! Wie tragisch rührend die
Unbeholfenheiten dieses Überlegenen. Sein hell-
seherisches Verständnis für den Wert der Frau könnte
ihn zu ihrem Dichter machen, aber nie zu ihrem Partner.
Und seine Versuche an Menschen verraten ihr seine
zerstörende Tendenz.
Die Macht ist ihm eine Lüge geworden. Er ergreift
die zweite große Möglichkeit: das Opfer. Wie eine
tiefere, umfassende Wahrheit, um derentwillen der Irrtum
seiner Macht ausgestrichen, d eses verfehlte Experiment
seines Lebens abgebrochen werden muß. Sein Selbst-
mord geschieht nicht aus > unglücklicher Liebe«. Er ist
das Glück seiner Liebe, ihr Fest. Und der äußerste,
endgültige Triumph seiner Persönlichkeit. Das Ende
ist (in der beherrschten, verschlossenen Art des Buches)
erfüllt von der Weihe dieses Opfertodes. So schließt sich
die Tragödie eines heroischen Rationalismus. —
44
Nun liegt ein zweiter Roman Soykas vor: »Der
Fremdling«.*) Auch dieser eine Tragödie des heroischen
Rationalismus, um bei meinem Worte zu bleiben. Die
Produktion Soykas ist wie das Weiterrücken eines
strengen Gedankens, ein immer klareres Wachwerden.
Der Gedanke rückt tiefer ins Menschliche hinein. Er
verinnerlicht sich. Obwohl dieses Buch auf den ersten
Blick in fast bedenklichem Sinn äußerlich scheint. Es
hat eine hinterhältige Technik. Es beginnt, sehr
spannend, als Kriminalroman. Lange geht es fort auf
der Spur eines Verbrechens. Aber, nach krimineller
Auffassung, ist 'gar kein Verbrechen geschehen. Die
enträtselnde Logik gelangt schließlich an das Irrationale
einer Seele, wo sie endgültig Halt machen muß. Das
Geheimnis des Falles setzt sich in die unlösbare Frage
eines Herzens um. — Es wird eine Befreiungsaktion
geführt, die einem vermeintlich Schuldigen gilt.
Gesetz und Recht lassen sich beeinflussen, der starke
und wissende Wille eines Einzelnen kann den Instinkt
eines Volkes ablenken. Aber nicht den Willen des
Einzelnen, der sich abgewandt hat. Die krasse Energie
der Handlung löst sich an der tragischen Ruhe des zu
Rettenden in Nichts auf. So setzt sich die äußere
Spannung in eine seelische Intensität seltenster Art um.
Ein Wust tatsächlicher Nichtigkeiten verflüchtigt sich,
um eine tragische Verbindung von Menschen mit be-
sonderer Kraft zu offenbaren.
Der »Fremdling« ist der Leiter der verunglückten
Rettungsaktion. Ein Nahverwandter der Herren im
Spiel. Auch er ein wissender Wille, der das Spiel des
Menschlichen mit Leichtigkeit zu meistern scheint, und
es verliert, als es für ihn Wert zu haben beginnt. Ein
Mensch, der bei der Geburt viel, allzuviel Erfahrung
im Blute mitgebracht haben muß. Was die Andern
mit der ganzen Fülle des lebendigen Momentes er-
fühlen, in ihm ist es bereits als ein trockenes, abstrak-
*) Albert Langen, München 1911.
45 —
tes Resultat, als Intelligenz. Er trägt die Möglichkeiten
des Menschentums wie chemische Formeln im Kopf.
Und er hat die Entschlossenheit solchen Wissens, eine
Energie, die nicht von Furcht und Hoffnung abgelenkt
wird. Die Überlegenheit dieses Charakters verschafft
manche lustvolle Begleiterscheinung, wie sie sich ein
wahrer Wunschtraum (von Dumas etwa) nur wünschen
kann. Köstliches Spiel der Macht, wenn der Gedanke
die Weltmaschine durch einige leichte Griffe an die
wesentlichen Hebel beherrscht! — Aber dieser Fremd-
ling hat seine trostlos wache Tragik.
Furchtbare Einsamkeit des Denkers, der nur
mehr vom abstrakten Rest des Lebens zehrt. Wissen
heißt: begehrt haben. Alles wissen: nichts mehr
begehren. Der Fremdling interessiert sich wenig für
sein Ich. Aber er ist ein wunderbarer Freund. Die
Freundschaft bedeutet diesem Übermännlichen eine
letzte, hohe Möglichkeit der Liebe. In einem vor-
nehmen jungen Menschen findet er die Essenz seines
Ich wieder, im Leben schreitend, auf den Wegen der
Begabung. In dieser Seele könnte der Fremdling noch
einmal heimisch werden. Könnte schaffen, wenn er
dem Werdenden seine Resultate geben könnte. — Da
wird der gute Sinn solcher Entwicklung in Frage ge-
stellt durch den Irrsinn einer Liebe.
Der Fremdling hat mit einer Frau um den Freund
zu kämpfen. Und wird besiegt. Sein Verstand hatte
einst die Schönheit gerade dieser Frau kritisch widerlegt.
Der ganz neue und eigene Weibtypus, der hier auf-
gestellt wird, wäre einer genaueren Betrachtung wert.
Diese Gestalt ist phantastisch aus dem Krankheitsbilde
der Hysterie herausgeschaffen. Eine lügende Gefühls-
welt, welche durch ihre sublime Fraglichkeit gerade
den vorwiegend logischen Menschen verlockt. Ein
Wahnsinn, der eine ideale Methode vorgaukelt. Da-
hinter findet man, wenn man den Mechanismus auf-
deckt, eine krankhaft verwirrende Menschlichkeit.
Aber vielleicht verführt gerade das innerst Verlorene
46 -
und Ohnmächtige solch einer Natur den Starken zur
Selbstaufopferung. Der Fremdling hat sich, einen magi-
schen Traum zerreißend, in die Nüchternheit gerettet.
Sein junger Freund aber will glauben und sich opfern.
Solange der Fremdling mit einem Mord, mit
einer Schuld rechnet, ist er seines Sieges gewiß. Ihm
kann der Freund nicht der Täter dieser einen Tat werden,
er bleibt ihm ein Mensch vieler Werte. Der Fremdling
erweist sich als stark genug, um der Gesellschaft
ihr Opfer zu entreißen (wobei sich eine höhnisch-
skurrile Darstellung des sozialen Mechanismus ergibt).
Die unbeirrbare Logik seiner Freundschaft, welche ein
objektives Wissen von einem Menschen ist, triumphiert
über das wandelbare Gewoge der Neigungen. Den
Schuldigen könnte er befreien. Was aber vermag er
gegen den Unschuldigen, der sich opfern will? — Er
zögert nicht länger, an der Seele des Freundes seine
Kraft zu versuchen. Es gelingt ihm, den Zauber zu
brechen. Er banalisiert die Schönheit, dechiffriert den
Reiz. — Und hat damit, er selbst, den Freund getötet.
Der kann nichts mehr wollen, wenn er nicht mehr
glauben kann. Mit seinem Traum hat er alles verloren.
Sein Wissen soll nicht sein Gefühl überleben. Er will
kein Fremdling werden. Er wählt den Tod. — Der
Fremdling aber geht, eine menschenleere Menschheit
verlassend, zu den Pflanzen. Vielleicht lernt er dort,
die Wünsche des vegetativen Seins belauschend, beim
Anfang alles Lebens neu beginnend, eine andere
Logik. —
Wenn mao die Bücher Otto Soykas auspreßte,
man erhielte keinen Tropfen Farbe. Hier herrscht die
Linie. Nichts als das weiße Licht der Denkfreudigkeit,
welches nur der Geist wahrnimmt. Es fehlt die wohl-
tuende Lebenswärme. Nur Fieberglut und Fieberfrost
der Leidenschaft. Die mit Recht beliebten fünf Sinne
feiern. Da leben nur Intelligenzen und Energien. Diese
Kunst hat den Zauber eines kühnen Beweises. Die
Gestaltung gleicht der Begriffsarchitektonik eines philo-
-^ 47
sophischen Systems. Eine Welt hellseherischer Deduktion
(sehr reizvoll, wie alles Soziale deduziert, nicht abge-
zeichnet wird). Der neue Mensch Soykas ist wesentlich
mehr als eine beobachtete Wirklichkeit, er ist mensch-
gewordene Idee, Tat des Geistes. Die Methode Soykas
ist eine durchaus selbständige psychologische Phantastik,
die man wird ergründen müssen, bevor man sie beurteilt.
Selbstanzeige
Obersetzung aus dem ,Pesti Na plö' (Budapest,
2. Oktober):
Die österreichische Kaiserstadt besitzt einen Schriftsteller, dessen
die Wiener Zeitungen nie, auch mit keiner Zeile Erwähnung tun. Dieser
Schriftsteller ist Karl Kraus, der Herausgeber der Wiener Fackel und
einer der größten Schreibkünstler Österreichs, ja des ganzen Deutschtums.
Die Erklärung dafür, warum man Karl Kraus totschweigt, liegt in der
galligen Persönlichkeit des Schriftstellers, der mit seiner scharfen Feder
und beißenden Satire mehr als einer aufgeblasenen Wiener Zeitung an
den Leib gerückt ist und mehr als einem Wiener Journalisten, dessen
Anmaßung größer ist, als sein Talent. Die aufgeblasenen Größen, die
Pseudotalente, die Unanständigkeit verfolgt Karl Kraus mit seltener Kraft,
und obwohl sein Blatt, die Fackel, eine außerordentlich beliebte und
sehr verbreitete Zeitschrift in Österreich ist, nehmen die offiziellen Ver-
treter der österreichischen Literatur weder von dem Blatt, noch von
seinem Redakteur Notiz. Diese Gleichgültigkeit ließ den Redakteur der
Fackel, der gleichzeitig der fleißigste Mitarbeiter seines Blattes ist, nicht
verzagen. Die Österreicher wollten ihn vergeblich totschweigen: Karl
Kraus sammelte seine Artikel, Studien, Abhandlungen in Büchern und
gibt sie in rascher Folge heraus.
An der Vielbegehrtheit der Fackel sah er, wie sehr sich das
Publikum für seine Schriften interessiert, und als die großen Blätter
Deutschlands Beiträge von ihm verlangten, fühlte er, daß die Österreicher
seine literarische Bedeutung vergeblich zu verdunkeln suchten. Jedes
seiner Bücher war ein Ereignis in der deutschen Literatur und auch
jetzt, da unter dem Titel >Die chinesische Mauer< ein neues Buch
erschien, widerhallt es in der reichsdeutschen Presse von dem großartigen
Lobe, das der Persönlichkeit Karl Kraus" gezollt wird. Uns interessiert
dieser Schriftsteller aus zweierlei Gründen, erstens weQ er in seinem
48
neuen Buche stark und meisterhaft Maximilian Harden, den auch in
unserem Lande gut gekannten deutschen Publizisten angreift; und aus
dem andern Grunde, daß er in seiner feinen und wunderbar kräftigen
Art viele Mißstände der österreichischen Literatur, Politik und Justiz
unter das Seziermesser nimmt. Die reichsdeutschen Blätter erkennen fast
einmütig an, daß es keine geistvollere, stärkere, an Talent und Wissen
tiefere schriftstellerische Persönlichkeit in der heutigen deutschen Literatur
gibt, als den Verfasser der Chinesischen Mauer. Dieser einsame Wiener
Mann, dieser so vielen Menschen Unannehmlichkeiten bereitende Karl
Kraus hat in der Literatur ungefähr dieselbe Rolle, wie im österreichischen
Gemeinleben Schöffel, die berühmte Geißel der Korruption. Was aber
seine funkelnde Schreibkunst anlangt: so erscheint dieser Karl Kraus so,
als ob er die direkte Fortsetzung des großen Frankfurter Einsiedlers,
Artur Schopenhauers wäre.
,Danzer's Armee-Zeitung' (Wien, 20. Oktober):
Das vorliegende Buch, das den dritten Band der > Ausgewählten
Schriften« von Karl Kraus darstellt, enthält vierzig Aufsätze aus den
letzten drei Jahrgängen der , Fackel' und des ,Simplicissimus'. Hier, des
pikanten Aktualitätsreizes ledig, offenbaren sich die heute vielfach noch
weit unterschätzten literarischen und sozialkritischen Qualitäten dieser
Arbeiten mit einer Kraft, die gerade jene am stärksten überraschen wird,
die sich bisher nur mit der oberflächlichen Lektüre dieser Meisterwerke
sui generis in der , Fackel' begnügten.
»Literarischer Ratgeber* (Magdeburg, Oktober):
Das Buch ist der 3. Band der , Ausgewählten Schriften von
Karl Kraus'. Es enthält eine Sammlung von 40 Satiren und Aufsätzen, die
1907/09 teils in der , Fackel', teils im ,Simplicissimus' erschienen sind
und vor der Buchausgabe umgearbeitet wurden. Der Titel stammt von
der letzten Satire, die von dem Gedanken beherrscht wird, daß die
abendländische Moral das europäische Geschlecht wie eine chinesische
Mauer umgeben habe, innerhalb deren nun das Chaos durch Lüste, Gier
und Leidenschaften losgebrochen sei, während das Natürliche den
Menschen fremd wurde. Das ist etwa auch der Grundton des ganzen
Buches. Die tiefe satirische Erfassung der menschlichen Schwächen in
allen Kulturerscheinungen, Politik, Kunst, Presse u. s. f., voller Hohn
und voll von Leid, oft hart an die Grenze des Anstößigen streifend, zeigt
doch, daß diesem Kulturkritiker >ein Idealismus eingeboren ist, der die
Schönheit der Welt an ihrem Widerspiel sich zu bestätigen« bemüht. Man
gewinnt deshalb nicht leicht ein Verhältnis zu ihm; besonders auch,
weil sein ganz persönlicher, gedankenbeladener, manchmal bis zur Un-
verständlichkeit überfüUter, aphoristischer Stil das Eindringen erschwert.
Aber die außerordentlich starke Denkkraft, die antithetische Schreibweise,
die formale Meisterschaft und die pathetische Satire dieses Schriftstellers
imponieren, so daß das Buch allen gebildeten Lesern empfohlen sei.
Neuhaldensleben. Mannsfeld t.
49 —
Glossen
Von Karl Kraut
. Librettisten
Der ehrliche Viktor Leon hat mit der Ausbeutung der geistigen
Ordinärheit des Zeitalters viel Geld verdient. Selbstverständlich
können das andere auch, die Goldgrube ist noch lange nicht
erschöpft, und die vielen Kavaliere, die man jetzt in den Kaffee-
häusern sieht und die noch vor wenigen Jahren mit verhatschten
Stiefeln herumgingen und nicht das hatten, was man in ihren
Kreisen »Brot auf Hosen« nennt, sie verdanken ihren plötzlichen
Wohlstand dem Entschluß, ein »Buch« zu schreiben, also der
Gelegenheit, mit irgend einem Trottel bekannt zu werden, dem
ein Walzer durch den Kopf geht. Und das ist durchaus in Ordnung.
Es wäre grotesk, eine Möglichkeit des sozialen Betruges unter-
binden zu wollen. Wie weit das Publikum hier seine wahren
Bedürfnisse gedeckt findet, wie weit es darüber hinaus mit den
sympathischen Ausbeutern seiner Dummheit fraternisiert, ist seine
Sache. Anstatt aber Händler und Kunden mit einander fertig werden
zu lassen, mischt sich die Kritik hinein und tut so, als ob sie
selbst daran glaubte, das Theater sei eine Kirche und keine Börse.
Sic könnte mit demselben Recht ein Rudel jener Persönlichkeiten,
die zwischen >Ich gebb< und »Ich nemm«, zwischen »So wahr ich
da leb« und »Der Schlag soll Sie treffen« die Verschiedenheit
ihrer Standpunkte bekunden, an die Pflichten der Gottähnlichkeit
erinnern. Nie haben sich die Familienväter, die sich mit Gesangs-
texten fortbringen und infolge der Beliebtheit des Artikels heute
vielleicht auch für die Kinder unberufen ausgesorgt haben, nie
haben sie sich eingebildet, daß ihre reelle oder faule, solvente oder
insolvente, immer nur dem Marktbericht verantwortliche Tätigkeit
irgendetwas mit Literatur zu schaffen habe. Nie hat der ehrliche
Viktor Leon vorgegeben, mein Kollege zu sein. Er weiß ganz gut,
daß ich bloß schreiben kann, während er auch diktieren kann. Er
weiß ganz gut, daß mich mit dem Mann, der mir die Kleider fertig
50 —
liefert, so daß ich mit Anprobieren nicht Zeit und Gedanken
verliere, mit dem Mann, der mir das schadhafte Telephon repariert,
mit dem Wirt, der mich bei Tisch nicht durch seinen Gruß auf-
hält, mit dem Chauffeur, der sich nicht erst bitten läßt, daß mich
mit all diesen nüchternen Elementen eine viel engere kulturelle
Gemeinschaft verbindet, als mit ihm, dem Dichter, der mir höchstens
mit der Versicherung im Ohr liegt:
So eine Depesche ist oft fatal — o Elektrizität !
Es gibt Zeiten, wo man wünschte,
Daß man dich nicht erfunden hat —
Er weiß das. Dagegen scheint es Herr Felix Saiten noch
nicht zu wissen. Und darum ist es notwendig, es ihm zu sagen.
Ihm zunächst zu sagen, wie tief er, ein durch den Erfolg geblen-
deter Epigone, unter dem ehrlichen Viktor Leon steht, und daß
die reinliche Scheidung ökonomischer und künstlerischer Absichten
und nicht deren Vermengung zu den vornehmsten Pflichten jener
Männer gehört, die in das Leben hinaustreten und den Ruf der
Zimmerreinheit erwerben wollen. Denn es ist durchaus in Ordnung,
daß die emporgekommenen Agenten in Wohlstand leben und daß
die Künstler krepieren, es ist durchaus in Ordnung, daß frische
Analphabeten, bei denen mit erfreulicher Unmittelbarkeit auf das
Ghetto gleich das Libretto folgt, sich Häuser bauen und daß die
Schriftsteller den Zins nicht zahlen können. Und ohne Bitterkeit
sei gesagt, daß es wirklich trostlos wäre, wenn die Schwindler
und Pfuscher zur Entschädigung für das Jammerleben, das
sie nach dem Tod zu erwarten haben, für die Qualen der
Vergessenheit und für das Martyrium des Andenkens, Re-
präsentanten der Kulturschande gewesen zu sein, nicht ein-
mal bei Lebzeiten sich satt essen sollten. Daß sie von den
andern darum beneidet werden, ist eine alberne Fabel. Je mehr
Geld das Publikum für geistige Genüsse heute übrig hat — und
das ist der Stolz der demokratischen Errungenschaft — , umso
sicherer ist, daß alles dem Rudolf Lothar gehören soll und
nicht dem Mann, der die Welt als Wille und Vorstellung schriebe.
Das war so, ist so und wird immer mehr so sein, je mehr die
öffentliche Befriedigung plebejischer Instinkte als eines jener
Menschenrechte behauptet wird, die noch immer nicht abgeschafft
- 51 -
sind Dagegen ist a'so, wofern man nicht gegen den Lauf der Welt
etwas im Schilde führt, nichts einzuwenden. Was aber entschieden
tadelnswert ist. das ist der Versuch der Kunst, sich dem ehrlichen
Handwerk aufzudrängen. Die Librettisten waren anständig und
vermieden bisher jede Berührung mit der Literatur, die
sie am Wege sterben ließen, dieweil sie ihre Schafe schoren.
Jetzt steht aber die Literatur auf und sagt: Das können
wir auch, solcher Gemeinheit sind wir auch fähig ! Natürlich
sagt das nicht die wahre Literatur. Denn die kann nie
dort enden, wo ein gutes Libretto anfängt. Aber die falsche
Literatur, die nicht bis dorthin reicht, vermißt sich jetzt
eines kulturellen Vorwandes, um ein schlechtes Libretto zu schreiben.
HerrFelixSalten, der heute nicht erst von der hohen Kunst in diese
Niederung hinabsteigen müßte, wenn er sich den Umweg seit
Jahren erspart hätte, nennt das: >intarsieren«. Er hat sich der
Jobberidee, den Erinnerungswert schlechter Johann Straußischer
Texte durch eine lästige Qegenwärtigkeit zu ersetzen, zur Verfü-
gung gestellt und läßt sich von den Theaterzetteln eines west-
ungarischen Bühnenhändlers als den Messias des gesungenen
Schwachsinns feiern. Er ist bescheiden genug, sich hinter
zwei Pseudonymen erraten zu lassen, weil er die Zeit noch
nicht gekommen sieht, wo es angeht, die Interessen des S. Fischer-
schen Verlags in Berlin mit denen des Herrn Kopacsi-Karczag
offen zu verbinden. Ich könnte ihn aus dem Dilemma befreien und
ihm versichern, daß es geht; ja daß es höchste Zeit ist, die
Identifizierung endlich vorzunehmen. Ob die Möbelhändler aus
Budapest in Berlin für Erdgeruch oder in Wien für Pikanterie
sind, ist gehupft wie gesprungen. Wer in allen ausgeborgten Sätteln
so gerecht ist wie Herr Saiten, muß nicht so zimperlich sein, und
wer am Nachmittag eine Renaissance-Novelle — garantiert echt — ,
am Abend über die Weltflucht Tolstois und nachts einen Hofball-
bericht schreiben kann, der darf am Morgen als erfolgreicher Librettist
erwachen. Wie hoch man die Leistungsfähigkeit des Herrn Saiten ein-
schätzt, tut dabei nichts zur Sache. Man kann sagen, es sei vom
sozialen Standpunkt höchst anerkennenswert, daß es einen so
tüchtigen Menschen gibt, einen Mann, der die neuen literarischen
Werte zu skontrieren und zu disponieren versteht. Man kann aber
auch sagen, daß solch eine Einrichtung, die den Pöbel über die
— 52
letzten Geheimnisse des künstlerischen Schaffens wie über die
letzten Geheimnisse der Familie Wölfling auf dem Laufenden
hält, zwar für eine Zeitung unentbehrlich, aber für eine
Kultur störend sei. Man kann sagen, daß ein Impressionismus,
der von der >schlamperten Grazie der Berger-Mädeln« bis zu den
»halt schon ein bisserl« abgetragenen Beobachtungen über die
jungen österreichischen Herren beim Stelzer reicht, auf einen
Mann namens Wantoch Eindruck machen und etwa auch Herrn Sami
Fischer in Berlin zu dem Glauben verleiten kann, hinter dem
Pseudonym Saiten verberge sich einer, der sicher noch einmal in
der Kapuzinergruft liegen werde. Man kann aber auch sagen,
daß diese preziösen Kommis, die im Altwien von 1895
Furore machten, samt und sonders so abgewirtschaftet haben,
daß heute kein Lokalredakteur, der auf sich hält, eine Schmuck-
notiz von ihnen nimmt. Vielleicht ist es eben darum notwendig,
daß sie in das Gebiet flüchten, wo man sich nur etwas dümmer
stellen muß, als man ist, um einen Sack voll Tantiemen nach-
hause zu tragen. Beim Sliwinski münden schließlich alle Sehnsüchte,
die in den neunz ger Jahren durch ihre Richtungslosigkeit über
ihre Gedankenlosigkeit getäuscht haben. Da ist zum Beispiel Herr
Hugo V. Hofmannsthal. Ich will den Mann, der edlere Kulturen
ersessen hat, nicht in einem Atem mit seinen Freunden nennen.
Aber wie ist auch dieses edle Sitzfleisch eingeschrumpft ! Armer
Yorick! Wie hat eine neue Jugend diesem ganzen Ästhetenbluff
ein Ende gemacht. Wie haben sie alle von Gnaden eines Niveaus
gelebt, das heute von den letzten Epigonen neuer Persönlichkeiten
hinuntergestampft ist. Man sehe in jenem Katalog, der noch immer
nicht von einer Wiener Buchhandlung, sondern »vom Buchhändler
Hugo Heller« verlegt ist, wiewohl solche WeimarischeTitulaturensich
seit vorgestern wirklich überlebt haben, etwa Rilke neben Herrn v. Hof-
mannsthal. Dessen Gedicht >Zum Gedächtnis eines Schauspielers«
— es scheint nach dem Tode Mitterwurzers geschrieben und könnte
von Herrn Reinhardt zum Tode Kainz' verwendet worden sein — liest
sich wie eine feuilletonistische Banalität, nicht anders, als ob Herrn
Saiten selbst die Lust angewandelt hätte, die bedeutenden Sachen, die er
zu sagen hat, einmal ausnahmsweise zu skandieren. Aber jetzt erst
geht ein ehrfurchtsvolles Rauschen durch den Blätterwald, wenn Herr
v. Hofmannsthal, schon ein Alter, einer kleinen Soubrette das
\
- 53 —
Patschhändchen drückt. »Liebgnädiges Fräulein! Sie haben mir
gestern abend so große Freude gemacht und mich so gerührt,
daß ich Ihnen gerne danken möchte. Ihre Stimme und etwas in
Ihrem Gesicht hat etwas sehr rührendes für mich; auch wenn Sie
etwas Lustiges singen... < Die Köchin der Frau v. Stein hat nicht
zarter geschrieben. So viel Impressionabilität und so viel Fragilität
wird sicherlich zum Libretto des »Rosenkavalier« getaugt haben.
Man kann auf ein höchst exklusives und empfindsames Geschäft
gefaßt sein. Der ehrliche Viktor Leon, den die Natur aus här-
term Stoffe schuf, sieht sich dem sichern Ruin preisgegeben, und
hofft auf den Nachruhm.
Auferstehung
Die Neue Freie Presse hatte vor allen anderen Blättern
Gelegenheit, den Tod Tolstois zu melden. Man hatte schon ge-
fürchtet, daß der Erfolg mit Bjömson, dessen Vorableben sie
pünktlich gebracht hatte, sie diesmal im Stiche lassen werde. Aber
sie blieb auf der Höhe. Der Vorsprung, den der Feuilletonist
hat, wenn der Tod den Menschen auch noch so rasch antritt, er
war auch diesmal zu verzeichnen. »Leo Nikolajewitsch Tolstoi ist
nicht mehr« rief es, und der Herr Zifferer erschien mit Stunden-
glas und Hippe. Wie die Alten den Tod gebildet, das war doch
noch etwas ganz anderes. Nur begreift man nicht, warum die
Neue Freie Presse die Toten, die sie einmal hat, nicht liegen läßt,
sondern mit einer gewissen Pikiertheit ins Leben zurückstößt. Im
Abendblatt wird abgesagt. Aber die Auferstehung vollzieht
sich in einer Weise, die einige Bitterkeit im weiteren Verkehre
zwischen der Neuen Freien Presse und dem Leben zurückläßt.
Man gewinnt fast den Eindruck, als ob es dem Blatt nicht ungele-
gen wäre, die auferstandene Persönlichkeit durch peinliche Enthül-
lungen lebensüberdrüssig zu machen oder sonst irgendwie aus dem
Wege zu räumen. Eine gewisse Verachtung bresthafter Leute, die
am Leben hängen, macht sich geltend. »Vermutlich ist die Todes-
— 54
nachricht durch eine jener schweren Krisen entstanden, welche bei
Lungenentzündung in diesem Alter vorkommen. Es wird auch
heute gemeldet, daß die Herztätigkeit Tolstois eine schwache
ist«. Sie wird von der redaktionellen Tätigkeit gewiß beschämt.
Aber sonst entsteht in der Regel durch eine jener schweren Krisen,
welche bei Lungenentzündung in diesem Alter vorkommen, der
Tod, und nicht die Todesnachricht. Wenn die Praxis der Vor-
nachrufe sich einbürgert, so wird es dazu kommen müssen, daß
man die für alle Fälle vorbereiteten Hyänen anspuckt, noch ehe
sie das Schlachtfeld bezogen haben.
Reimers über Kainz: ein Nachruf
> . . . Anfangs wollte er nie etwas trinken, überredete ich ihn
dann und hatte er das erste oder zweite Krügel in sich, dann erzählte
er ununterbrochen, so heiter und interessant, daß man ihm kaum folgen
konnte . . .«
Ein strenges Maß, fürwahr, aber ein gerechtes.
Heine-Reliquien
Unter diesem Titel werden jetzt Briefe Heines an seinen
Bruder Gustav und an andere herausgegeben. >Diese Publikation«,
sagt der liberale Waschzettel, »die in vieler Hinsicht ein ganz
neues Licht auf Heines Leben wirft, wird eine förmliche Umwertung
in der Beurteilung Heinrich Heines bewirken«. Das könnte wahr
sein. Ähnliches verspreche ich mir von meiner Schrift > Heine und
die Folgen«, die in diesen Tagen erscheinen wird. Aber mit so
grobem Geschütz, wie die Herausgeber der Heine-Reliquien, bin ich
gegen Heine doch nicht aufgefahren. Die Neue Freie Presse hat vor
allen anderen Heine- Verehrerinnen den kostbaren Fund in der
55 -
Hand gehabt. Nun, die völlige Verranntheit des liberalen Geistes wird
an der Tatsache offenbar, daß er mit Heines Briefen prunkt, anstatt
dieses Material vor den geschwomen Gegnern Heines sorgsam
zu verbergen. Nicht der schmalzige Familienton, und nicht daß er
offensichtlich spekulativ ist, müßte diese Briefe den Augen liberaler
Leser unsympathisch machen. Auch nicht die Ausschließlichkeit
und Sachverständigkeit, mit der hier Ober finanzielle Transaktionen
gesprochen wird. Aber daß gewisse Dinge, die ja unstreitig im
geistigen Bild Heines die journalistischen Züge auffinden lassen,
nicht lieber unentdeckt geblieben sind, das sollte die wahren Verehrer
mit Gram erfüllen. Welche Lyrik! Vielleicht habe ich die Stellen
mißverstanden. Aber ich weiß nicht was soll es bedeuten:
. . . Dann auch fürchtet der Mann, daß ich ihm etwas thue vor
dem 21sten dieses Monats, wo durch die geringste Böswilligkeit von
meiner Seite alle seine Hoffnungen zertrümmert werden könnten; er
möchte sich vor diesem Termin gegen jeden Angriff sicher stellen, u.
er hat auch ganz Recht, wenn er sagt, daß ich nichts dadurch erlange,
wenn ich ihn ruiniere, u. ich im Gegentheil zu meinem Geld komme,
wenn er stehen bleibt . . . Hat er wirklich meine Actien auf das Gut-
haben der Iris in Rechnung gebracht, u. sich solchermaßen in Stand
gesetzt, aus den dortigen Geldern mich zu remboursieren: so habe Ich
erreicht, was ich von Anfang an wollte, u. ich habe wirklich durch
Furcht vor meinen öffentlichen Angriffen den Friedländer gezwungen,
das Möglichste für mich zu thun. Du siehst aus seinem Brief, wie groß
seine Furcht ist; aber Intimidation, lieber Bruder! ist eine Waffe, die
sich mit der Zeit abstumpft, u. nur im Momente benutzt werden kann.
In dieser Beziehung mache ich Dich darauf aufmerksam, daß Du, im
Fall Du vor dem 21sten in Prag selbst sein kannst, die jetzige Stimmung
des Helden benutzest, u. für jeden Fall so viel schriftlich von ihm zu
bekommen suchst, als möglich ist, um mich zu sichern, u. es ihm
unmöglich zu machen, meine Sache zu abandonniren.
Das Bewußtsein des »Rechtes auf die Leistung« steigert
sich zu ethischer Sicherheit:
. . . Drohen darf ich diesem daher auf alle mögliche Weise, u.
da weder sein Schwager noch sein Schwiegervater große Sympathie
für ihn haben, u. dieser Friedland auch die feigeste M . . . . Ist,
die je ihre Hosen besudelt hat, so ist energische Drohung hier an
ihrem Platze.
Die Neue Freie Presse hat hier das rauhe Wort Memme
punktiert. Aber auch gegenüber Heine selbst besinnt sie sich
einer gewissen Pflicht der Schonung. So gibt sie einen der Briefe
56
nur als Bruchstück wieder. Leider beginnt er gerade dort, wo
die wahre Heine-Verchrurg ihn unterdrücken müßte:
. . . was ich doch bestimmt wissen muß, um darnach zu handeln
und den guten Moment vorbeizulassen, wo jener Mensch noch unter
dem Einfluß der Beängstigung ist . . .
Sagen wir, daß diese Reliquien nichts gegen die Persön-
lichkeit Heines beweisen. Warum sie aber für sie sprechen, neue
Verehrer werben, Ungläubige bekehren sollen, das wird das
Rätsel einer liberalen Literaturforschung bleiben, die auf der Suche
nach Reliquien die Überbleibsel menschlicher Fragwürdigkeit
zusammenklaubt. Auch ein Heine-Feind wird Heines Brief-
geheimnis geschützt wissen wollen. Nur das Geschmeiß, das
auf seinem Grab Visitkarten ablegt, hat kein Gefühl für die
Schäbigkeit, daß dieser >Nachlaß< ausgekramt wird, den die
Herausgeber > sensationell nennen und der wirklich eine Umwertung,
nämlich einen fünfzigprozentigen Nachlaß der Pietät bewirken
könnte. Sensationelle Gelegenheit!
Der Roman
>Herr Karl Kraus hat, um einen literarischen Angriff auf
seine Person abzuwehren, sich bemüssigt gesehen, die Gerichte
anzurufen. Aber er, der in der Figur des »Benjamin Eckelhaft'
sich wiedererkannt hat und mit Recht getroffen fühlt, tritt nicht
selbst als Kläger auf, sondern hat andere, und zwar eine Dame und
einen Kranken vorgeschoben. Dadurch freilich hat er erst recht
die Aufmerksamkeit auf die Sache gelenkt und dem satirischen
Angriff zu der denkbar größten Verbreitung verhelfen. «= Ich
(Fortsetzung folgt.)
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstrafie 3.
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Georg Müller, München and Leipzig 1911
OTTO SOYKA:
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Albert Langen, München 1911
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Für Österreich-Ungarn: 18 JS'ummern, portofrei K 4,50
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INHALT der vorigen Doppelnummer' 309/310, 31. Oktober 1910:
KARL KRAUS: Kempinski / ELSE LASKER-SCHÜLER: Ge-
dichte / SAMUEL LUßLINSKI: Der Erzähler Otto Stoessl/
Selbstanzeige / BERTHOLD VIERTEL: Rilkes Buch /
ALEXANDER SOLOMONICA: Meinem Freundschaft / ALBERT
EHRENSTEIN : Verzeihung / KARL KRAUS : Pro domo et mundo
Herausgeber uud verantwortUchcr Redakteur Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, IH. Hintere ZoUamtastr. 3
Doppelnummer
0,0, JH • 31. DEZEMBER 1910 XII. JAHR
OIE FACKEL
HERAUSGEBER:
KARL KRAUS
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DIE FACKEL
Nr. 313 314 31. DEZEMBER 1910 XILJAHR
Glossen
Von Karl Kraus
Der kleine Korngold
Wäre mir zu allen Flüchen auch noch der Sinn für Musik
gegeben, ich würde jetzt einen Eingriff in das Familienleben des
alten Komgold begehen, mit der Beißzange den Dämon hervor-
holen, der diesen Vater zwingt, unaufhörlich kritische Tellsctiüsse
auf das Haupt seines Kindes abzugeben, und nachweisen, daß die
.Musikpolitik von allen Strebungen, die sich in einem Kunsigebiet
einnisten, von allen Verbindungen zwischen Ideal und Leben die
gemeinste und gefährlichste ist. Ich würde es tun, wenn ich in-
formiert wäre. Ich unterlasse es, weil ich nur überzeugt bin. Ich
habe mehr als die Gewißheit, ich habe eine Ahnung, daß jetzt
die ganze reproduzierende Tätigkeit der Musikanten, die wil-
liger als die Vertreter aller andern Kunstbranchen dem Preßwink
folgien, auf den kleinen Korng Id eingestellt ist. Schauspieler können
nidit auf eigene Faust joumalistenstücke annehmen, sondern unter-
stehen der Preßfurcht des Direktors. Ich habe das unbestimmte
Gefühl, daß jetzt alle selbständigen Virtuosen, alle Trios, Klavier-
stimmer und Werkelmänner, die sich der Gnade kritischer Beach-
tung würdig erhalten wollen, und aller Schall, der fem meinen
Ohren eina Konzertsaison füllt, und alle Walzen, Repertoirs,
Programme und Tourneen und alle Telegraphenämter und überhaupt
die ganze irdische Schöpfung auf die Eingebungen des kleinen
Komgold warten, die ja auch der Vater selbst mit sympathi-
scher Teilnahme begleitet. Das >Gott wie talentvoll!«, zu
dem sich sonst in einem geordneten musikalischen Familien-
leben die Überraschung des Va.ers versteigt, ist hier zu einem
europäischen Schlagwort geworden und zur Parole, die einander
die Musikkritiker aller Zonen abnehmen, so daß der Vaterstolz, der
sich an den eigenen Waschzetteln berauscht, durch jede Erfüllung
begehrlicher gemacht, sich nicht mehr beruhigt, sondern sich
bäumt und in die Kissen weint, wenn vor der schöpferischen
Tätigkeit des Sohnes die Kritik nicht ruft: >Talentvoll wie Gott!«
Auch das hat er schon erreicht. Herr Max Kalbeck, jener Kollege,
der an den Kindern gutmacht, was er den Männern der
Musik angetan hat, jener Herr aus der Ära des Wagner- und
Brucknerhasses, der noch den toten Hugo Wolf nicht entdeckt hat,
aber sich nicht nachsagen lassen will, er habe einen neugebornen
Korngold verkannt, hat die Gewogenheit, den Satz niederzuschrei-
ben: »,Alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich seines Verstandes
und seiner Antwort', heißt es von dem zwölfjährigen Jesusknaben,
Möge auch Erich Wolfgang zunehmen an Weisheit, Alter und Gnade
bei Gott und den Menschen!« Die öffentliche Duldung dieses Ver-
gleichs ist ein erfreulicher Beweis, daß sich der Geschmack in den
Jahrzehnten abgehärtet hat, da die Faustschläge des Journalismus auf
ihn niedersausen. Aber dieserVergleichstimmteinerseits deshalb nicht,
weil das Publikum, das Jesus gekreuzigt hat, im Bösendorfer-Saal be-
geistert ist, und weil anderseits der bescheidene Weltruhm, zu dem die
Heilslehre gebrachtwerdenkonnte, sich nicht mit dem Aufsehen ver-
gleichen läßt, das die Wundertaten des kleinen Korngold bewirken.
Mindestens haben damals die Korrespondenten nicht von den
Redaktionen telegraphische Ordre bekommen, günstig zu referieren.
Peinlich ist auch die Vorstellung, welche Rolle in dem Vergleich
der Vater Korngold spielt, und man muß rein annehmen, daß sie
ihm selber nicht paßt. Ihm ist der Part des alten Mozart lieber,
und er hat auch nicht gezögert, diesen in einem Feuilleton zu
übernehmen. Schließlich, so gut wie der Onkel Kornau an
Vereinsabenden die Burgschauspieler kopiert, macht die übrige
Familie ihre Sache auch. Allerdings muß man sehen, wie
schlecht wieder der junge Mozart, der zwar auch mit Talent,
aber ohne Presse auf die Welt kam, bei dem Vergleich abschneidet,
und man mag sich fragen, was aus diesem andern Wolfgang hätte
werden können, wenn sein Vater so die Hand im göttlichen Spiel
gehabt hätte wie der alte Korngold. Aus allen Positionen hat die-
ser den jungen Pseudo- Korngold des achtzehnten Jahrhunderts
verdrängt und in alle den wahren Mozart des zwanzigsten schon
gebracht. Als im letzten Sommer infolge eines unliebsamen Miß-
griffs der andere in Salzburg gefeiert wurde, erschien zum Glück
rechtzeitig der Vater mit dem Sohne, im Nu war die Aufmerk-
samkeit der internationalen Gesellschaft auf das wahre Weltwunder
— 3 —
gerichtet, und es war vie eine Generalprobe jener Musikfeste, die
dereinst in Brunn abgehalten werden sollen. Was aber die Eignung des
kleinen Komgold für die Ovationen betrifft, die seinem Andenken
schon jetzt bereitet werden, so ist wohl zu sagen, daß man nicht Sach-
verständiger sein muß, um sie unberechtigt zu finden. Denn ent-
weder verrät der kleine Komgold wirklich Spuren einer gei
Begabung, dann soll man sie nicht weiter verraten, dann .
ein raffiniertes Verbrechen, sie in der Panik des publizistischen
Tumultes umkommen zu lassen, und die Kinderrettungsgesellschaft,
die sich nicht immer nur geprügelter Nachbarskinder anzunehmen
brauchte, hätte die Pflicht, einzuschreiten. Oder der kleine Komgold
ist um seiner Fertigkeit willen ein Schauobjekt, dann ist zwar das
Aufsehen berechtigt, aber es hat sich außerhalb der Sphäre abzuspie-
len, in der man Kunst wertet. Und selbst dann müßte die Kinder-
rettungsgesellschaft einschreiten, weil es sich zwar um einen Erwerbs-
zweig handelt, der so unreell ist wie ein anderer, weil aber auch die
Frühreife noch einer Entwicklung fähig wäre, in der sie künstlich
gehemmt wird, um den Zwecken der Schausteller zu dienen. Wunder-
kinder sind immer zugleich Wunder der Zurückgebliebenheit, und ein
Krüppel, der turnen kann, gibt dn unerquickliches Schauspiel. Ich
weiß nicht, ob die Kritik recht.hat, die den feiten Knaben als »Pracht-
jungen« preist, »dessen mächtiges Talent ein der Natur verwandtes
Geheimnis bleibt<. Ich weiß nicht, ob es nicht vielmehr ein der
Neuen Freien Presse verwandtes Geheimnis, also ein Redaktions-
geheimnis und ein Familiengeheimnis zugleich ist. In jedem Falle
sollte es das bleiben. VC enn der kleine Komgold «einer bedeuten-
den Zukunft entgegengeht«, so möge ihm die Genie-Korrespondenz
des Vaters den Weg nicht verstellen. Wenn er aber nur ein
Monstrum ist, so lohnt seine Gegenwart den Rummel nicht. Mit
solchen traurigen Fällen, wo einer mit diei Jahren die llias aus-
wendig kann, hat sich die Wissenschaft auf Kongressen abzugeben
und nicht die Kritik in den Journalen. Der Knirps, der
Kopfrechnungen mit zehnstelligen Zahlen ausführt, wird im Variete
gezeigt, aber es hat noch niemand zu schreiben gewagt, ein zweiter
Gauß sei erstanden. Kinder, die man mit kritischem Geist bt-
rauscht macht, bleiben im Wachstum zurück, und das nützt zwar
dem Gescliäft, aber schadet der Gesundheit Und vor allem ist zu
sagen, daß die Wunderkinder heute überhaupt zu ihrer organischen
.Winderwertigkeit noch ihren Geltungswert verloren haben. Denn alle
— 4
Kinder dieser hypertrophischen Zeit sind Wunderkinder. Aufgeweckte
Jungen, die sieh als Männernach dem Schlaf sehnen werden, um den
die Zeit sie gebracht hat. Sie sind auf einem schwindelhaften Niveau
geboren, auf dem sie alle imponieren, weil es keine Gipfel gibt.
Sie sprechen druckreifer als die Väter geschrieben haben. Sie
schreiben flüssiger als die Väter gedacht haben. Sie musizieren
besser als die Väter gehört haben. Darum der grenzenlose Stolz
der Väter. Sie konnten solche Kinder zeugen. Aber die Kinder
dieser kommen tot zur Welt.
Das Haus auf dem Michaelerplatz
In Wien werden die Kinder gepäppelt und die Männer
gepeinigt. Der niedliche Kammerdiener der öffentlichen Meinung
aber, der uns öfter mit seinem Besuch beehrt und den Wienern jenen
Honig ums Maul schmiert, der bekanntlich in ihrem Lande fließt und
den wir bisher für Straßendreck hielten, ist anderer Ansicht. Er
steht wie alljährlich unter dem Christbaum des Moriz Benedikt
und versichert in der typischen Oberflächenbetrachtung des Prob-
lems Wien-Berlin, daß die Wiener die Persönlichkeiten lieben. Ich
gehe weiter, ich sage, die Wiener sind Persönlichkeiten, und es ist
erweislich wahr, daß aus einem Einspänner, wenn man sich in
der Verzweiflung einmal hinreißen ließe, Blut flöße, während ein
Berliner Droschkenkutscher bloß in seine Bestandteile zerfiele.
Tatsächlich al)er darbt die Persönlichkeit in dieser holden Fülle,
deren der adrette Gastspieler die Wiener jedesmal versichert, f >
lohnt sich nicht, solchen Schlachtenbummler, den an der Ent-
wicklung ja doch nur die Jahreszahlen interessieren, vor das
Leichenfeld der Persönlichkeiten zu führen, in das sich die liebe
Wiener Erde sofort veru'andelt, wenn man an der Kurbel dreht,
und es auf die Enttäuschung des Fremden abgesehen hat. Der
einzige Fremde, der seit Jahr und Tag nach Wien kommt, ist ja
eben Herr Maximilian Harden, und der hat zu viel Geschmack
und zu wenig Phantasie, um sich täuschen und enttäuschen zu
lassen. Wien ist die Stadt jener erweislichen Wahrheit, die ein
für allemal erbaut ist, und den höheren Wert eines Lebens, das
sich täglich von neuem erschafft, 'kann ein Gehirn nicht begreifen,
das bloß ausspricht, was ist, aber nicht was schemt. Das eigene Manko
an Persönlichkeit muß solchen Kulturästheten — dieser da ist
— o —
noch mit »ökonomischen Zusammenhängen« begabt — der Wald-
und Wesengürtel ersetzen. Sie zweifeln nicht, daß in diesem milden
Klima, in dem man mit dem Kellner »dischkurieren« darf, ehe
man >sein« Rindfleisch bekommt, die Persönlichkeit sichs wohl
sein lassen muß. Sie sehen nicht, wie dieser walzerische und
malerische Volksgeist, der selbst Ton und Farbe der Persönlichkeit
hat, den geistigen Menschen durch die Gassen jagt wie den
narrischen Toni. Wien muß ihn verkennen, wie ihn eben die
Familie verkennt, während er im Hoteibetrieb des Berliner Lebens,
in der glücklichen Neutralität der Berliner Straße wenigstens
zu sich selbst kommt. Wahrlich, die sich hierzulande gegen die
Kunst verschwören, sehen alle so aus, als ob sie Persönlichkeiten
wären. Der Fremde ist entzückt, wie sie im Rudel beisammen-
stehen und den Verkehr hindern. Was tun sie ? Sie erdrücken eine
Persönlichkeit Wenn sie entkommt, läuft sie Spießruten. Das schäbige
Gewitzel der Statisten, das hier allemal losbricht, wenn einer einmal
gehen möchte, man glaubt, der Fremde selbst müßte es hören. Ein
Geher ist hier Adolf Loos und darum ein Ärgernis den Leuten,
die zwischen Graben und Michaelerplatz herumstehen. Er hat
ihnen dort einen Gedanken hingebaut. Sie aber fühlen sich nur
vor den architektonischen Stimmungen wohl und haben darum
beschlossen, ihm die unentbehrlichen Hindemisse in den Weg zu
legen, von denen er sie befreien wollte. Die Mittelmäßigkeit
revoltiert gegen die Zweckmäßigkeit. Die selbstlosen Hüter der
Vergangenheit, die sich lieber unter dem Schutt baufälliger Häuser
begraben sehen als in neuen leben möchten, sind nicht weniger
empört, als die Kunstraaurer, die eine Gelegenheit schnackiger
Einfälle versäumt sehen und zum erstenmal fühlen, wie sie das
Leben als tabula rasa anstarrt. Das hätten wir auch können ! rufen
sie, nachdem sie sich erholt haben, während er vor ihren Fassaden
bekennen muß, daß er es nie vermocht hätte. Denn sein schöpfe-
rischer Mangel würde vergebens an den Zierraten stümpern,
während sie ihm vielleicht auch den Respekt vor der Notwendig-
keit feuilletonistisch luxen könnten und dann soviel zustande brächten,
als ein Gedicht von Heine ergibt, dem man die Reime ausgebrochen
hat. Jenem aber gebührt das Verdienst, daß das Stehenbleiben der
Wiener einmal einer Angelegenheit des Fortschritts gilt, daß vor
seiner Wirkung der Unterschied zwischen der alten und der neuen
Idettiiosigkeit schwindet und die Kostgänger von Tradition und
6 —
Sezession zu einem übersehbaren Verkehrshindernis verschmelzen,
bis die Polizei im Interesse des Bürgerfriedens und weil es bei
Strafe verboten ist, gewisse Flächen nicht zu verschandein, den Ent-
haltsamen zur Anbringung von Ornamenten zwingt. Hier ist freilich
auch eine Hetzarbeit geleistet worden, wie sie selbst in einem Milieu,
dessen feiner Geschmack von einer ordinären Gesinnung noch unter-
stützt wird, nicht oft geleistet wurde. Schon von dem Aussehen,
das die Planken boten, haben die Feuilletonisten auf das Werk
geschlossen. Was würde der A. F. Seligmann, der, weil er seinen
Beruf als Malermeister verfehlt hat, kunstkritischer Journalist ge-
worden ist, ohne aber diesen Beruf getroffen zu haben, was würde
er dazu sagen, wenn er rückfällig würde, eine Vedute zu malen
anfinge und der flanierende Pöbel riefe, das Bild sei Schund,
es also beurteilte, als ob es schon fertig wäre? Was möchte
Herr Wittmann, dessen geistige Fläche wahrlich des Ornaments
bedarf und der Feuilletonist sein muß, weil sonst in den öden Fenster-
höhlen das Grauen wohnen würde, was möchte er sagen, wenn man
ihm schon sein angefangenes Feuilleton in den Papierkorb wünschte?
Es ist nicht meine Sache, zu untersuchen, ob die Leserin Recht
hat, die ihrem Ekel über die künstlerische Wallung des Herrn
Wittmann in dem Ausruf Luft macht: «Was für bodenlos ge-
meine, rein persönliche Interessen müssen da dahinter stecken!«
Aber man wird gut tun, die »viereckigen Fenster«, die Herr
Wittmann am Loos'schen Haus gesehen hat, fest verschlossen zu
halten, damit die geistige Luft der Stadt nicht eindringe. Nicht daß die,
die geboren sind, später Recht zu behalten, von der zeitgenössischen
Dummheit verkürzt werden, ist beklagenswert. Aber die Distanz-
losigkeit, mit der sich hierzulande jeder Sonntagsplaudercr sofort
in den Hohn findet, während anderswo der feindlichen Per-
sönlichkeit wenigstens Raum vom Haß gelassen wird, ist das
Wienerische an dem Fall Adolf Leos. Es verstand sich von
selbst, daß die Leute, die hier das Wort gegen die Kunst iühren,
sich auf dem Michaelerplatz schlecht benehmen würden. An den
Ecksteinen der Entwicklung machen sich die Preßköter zu schaffen.
* *
Gabor Steiners Hamburgische Dramaturgie
»Donnerstag den 24. d. findet im Hofburgtheater die Uraufführung
von Artur Schniizlers historischer Tragödie »Der junge Medardusc statt.
Diese Vorstellung beginnt ausnahmsweise pünktlich um halb 7 Uhr
- 7
abends. Ein so früher Anfang einer Vorstellung ist im Burgthea*».»- eine
große Seite' heit und lange nicht vorgekommen Nur für die erste Auf-
führung der neuen Inszenierung des zweiten Teiles von »Faust« wai gleich-
falls eine so zeitliche Siunde des Beginnes angesetzt. . . . Der Theaterzettel
wird von einer ungewöhnlichen Linge sein. In der Buchausgabe nimmt
das Personenverzeichnis drei Oktavseiten ein. 78 Einzelpersonen kommen
vor, außerdem eine Menge Volk. . . . Natürlich wird diese Vorstellung
der Hofbühne große Kosten verursachen, die Spielhonorare erreichen
eine ung<;:wöhiiliche Höhe, die Löhne für die Bediensteten, die eine
beträchtlich verlängerte Arbeitszeit haben, erfahren eine Steigerung und
schließlich sind durch die lange Dauer der Vorstellung auch die Be-
leuchtutigskoste.'i vermehrt . . . Als man in der Vorwoche das Stück
in viereinhalb Stunden durchgespielt hatte, war man darüber sehr froh,
denn man dachte, daß bei einem möglichst raschen Tempo fünf Stunden
nötig seien. — > Der junge Medardus« besteht aus einem Vorspiel und fünf
.Aufzügen mit siebzehn Verwandlungen. Die Bühnenbilder wieder-
holen sich öfters. Man wird ein reizvolles Stück des inneren und
äußeren Wien vom Jahre 1809 schauen. Stilvolle bürgerliche Interieurs
wechseln mit luxuriösen Salons und einem Damenzimmer der herzog-
lichen Familie von Valois ab, in dessen gartenumsäumten Palais die
Szene öfter« spielt. Die Handlung wird weiters verlegt in ein kleines
Wirtshaus bei den Donau-Auen, vor dem die Leichen der Ertrunkenen
ans Land geschwemmt werden, auf eine Straßenkreuzung in der Vor-
stadt, auf die Burgbastei und das Glacis, in den Schloßhof von Schön-
brunn, in eine Gefängniszelle und schließlich zweimal auf den Friedhof,
wo Beerdigungen vorgenommen werden. Im »Jungen Medardus«
geht es stellenw^eise sehr laut zu. Gewehrgeknatter, Kanonendonner,
Salven wechseln mit dem Flammenschein in die Luft gesprengter Häuser
ab. Elf Personen sterben, die meisten auf gewaltsame Art, ein Liebes-
paar geht ins Wasser, ein kleines Mädchen wird durch einen Granat-
splitter getroffen, zwei Offiziere durch Schüsse, mehrere Personen
erleiden kriegsrechtlich den Tod durch Pulver und Blei, zwei Akteure
werden im Duell verwundet. Es kommen auch ein Blinder und
ein Buckliger im Stücke vor. Da es unmöglich schien, diese große
Zahl von Personen bei der Fülle der rasch wechselnden Szenen zu
übersehen, wurden die Inspizienten ihres Dienstes für die Einzeidarsteller
enthoben und haben nur dafür zu sorgen, daß bei den Massenszenen
das »Volk< rechtzeitig zur Stelle ist. Die Schauspieler werden im
»Jungen Medardus« ausnahmsweise nicht vom Inspizienten auf die
Bühne gerufen werden, sondern wurden verpflichtet, selbst, wenn die
Reihe an sie kommt, auf der Szene zu erscheinen. Mit dem gemütlichen
Zeitvertreib in den Garderoben und im Konversationszimmer
wird es darum diesmal nichts sein.«
Wie beschäftigt man also den Direktor'
^ 8
Ein Kandidat
Da der Posten eines Burgtheaterdirektors noch immer unbe-
setzt ist, wird die Frage nach dem Nachfolger Schienthers endlich
akut. Man wird gut tun, unter den Freunden und Inserenten der
Neuen Freien Presse Umschau zu halten ; sicher wird man markante
und noch nicht abgenützte Persönlichkeiten finden, die es mit
dem Burgtheater gut meinen. Ich erinnere mich, daß es da Leute
gibt, die öfter den Wunsch nach einem »dritten Hoftheater«,
nämlich einem zweiten Burgtheater, geäußert haben. Aber da wir
an dem ersten genug haben, so sollte man wenigstens den Eifer der
Interessenten benützen. Jeder ist heute geeignet, die Burg-
theaterdirektion zu übernehmen, aber nicht jeder ist dazu geneigt.
Ein älterer Ausschnitt aus der Neuen Freien Presse, der bis jetzt
vergebens darauf gewartet hat, daß er unter meinem Blick zur
Glosse werde, lächelt mir zu:
Herr Philipp PoUak in Firma Koppel, Frisch & Cie., schreibt uns:
>Mit großer Freude habe ich in Ihrer Sonntagsnummer den Artikel ,Ein
Platz für das dritte Hoftheater' gelesen. Ich erinnere an meine Ein-
sendung .Neujahrswunsch', welche Sie vergangenes Jahr in Ihrem
hochgeschätzten Blatte veröffentlichten. Es könnte also doch noch möglich
sein, daß die Verwirklichung dieser naheliegenden Idee noch bei meinen Leb-
zeiten — ■ ich bin schon 50 Jahre alt — erfolgt. Vielleicht interessiert es, wenn
ich mitteile, daß nach dem Erscheinen meiner kurzgefaßten vorjährigen An-
regung, es möge eine zweite intime kleine Burgtheaterbühne geschaffen
werden, unzählige freudig zustimmende Briefe aus den verschiedensten
Kreisen an mich gelangten und daß ich damals auch telephonisch
geradezu bestürmt wurde, hierüber nähere Auskunft zu erteilen. Kapitals-
kräftige Wiener boten sogar ihre finanzielle Beteiligung an. Wien
hat — Gottlob — noch Sinn für die Kunst I Es ist der Herzenswunsch
vieler, die das (Burg-)Theater mit Recht auch als wirksame Bildungs-
stätte betrachten: Ein drittes Hoftheater I«
Da Wien gottlob noch Sinn für die Kunst hat, wird man
wissen, was man zu tun hat. Sonst könnte es mit Recht einmal heißen,
daß das Burgtheater nebbich zugrundegegarfgen ist.
*
Ein flotter Plauderer
Der lesbarste Wiener Theaterkritiker ist doch der Max
Burckhard im , Fremdenblatt'. Er schreibt über eine Darstellerin
im »Jungen Medardus« :
Mit kluger Zurückhaltung wäre sie ja gewiß auch der Ver-
suchung, die man ihr aber schließlich doch teilweise aus dem Wege
geräumt hatte, ganz autgewichen, mit der Komödienirene im Park jene
L
— 9 —
Hefterkeitsausbrüche zu wecken, zu denen der Dichter hier. Im Buch^
wenigstens, seiner Laune die Zügel schießen lassend, gleichsam die Ver-
lockung in die Luft gestreut halte, die aher freilich den Erfolg des Abends
zu gefährden vermöchten, wenn die Darstellerin mehr an ihre Wirkung
in der einen Szene, als an den Eindruck des ganzen Stückes dächte.
Das ist ein tüchtiger Schriftsteller, den lasse ich mir
nicht verekeln. Und wenn auch die deutsche Sprache Pandekten
kotzt und der Jurisprudenz selbst übel wird, solAe Schrift-
sätze wie diesen Schriftsatz schreibt kein zweiter Burgtheater-
kritiker. Die andern verstehen vom Theater auch nichts, gewiß.
Aber so können sie 's nicht ausdrücken.
Noch ein flotterer Plauderer
Auch auf den Maximiüin Harden lasse ich nichts kommen.
Wenn er für die Neue Freie Presse schreibt, so schnallt er den
Kothomos (oder wie er sagen würde: den Kothurn) ab, gibt dem
gallischen Matthäus (er würde Oallimatthias sagen» den Laufpaß,
laßt im Zeitungdienst am Weihnachttag selbst das s leben, und
schreibt ganz verständliche Sätze, wie diesen:
Alle inneren Schwierigkeiten Preußens stammen daher, daß dieser
Staat (von Friedrich Wilhelm, Fritz und Bismarck) den Notwendigkeiten
einer festländischen Wikingerpolitik angepaßt, daß vom droit de l'homme
bis zum Agrarrecht alles der einen Vorsorge untergeordnet wurde, die
größtmögliche Menge felddienstfähiger, schon im • Zivilverhältnis« In
straffe Zucht gepferchter Menschen zu sichern, um morgen, wenn's
profiüich scheint, Krieg anfangen zu können ; und daß jetzt, nach vierzig
Friedensjahren, die zur AntR'ort Berufenen scheu an der Frage vorüber-
schleichen, ob wir das Repertoirestück • Kulturnation«, nur solange der
Vorhang aufgezogen ist, den Gründlingen im Parterre vormimen oder
seiner Inhaltsethik nachleben, ob wir die Fetzen der Feudalzeit in den
Raritätenschrank sperren oder das Stück Barbarentum, das einem politisch
ungesättigten Volk die Möglichkeit raschen Vorsprunges, über freiere,
also zum Maschinendienst minder brauchbare hinaus, läßt, auch unter
schweren Opfern bewahren wollen, bis das Kinderland uns nicht mehr
bestritten werden kann und der Krieg, das heiligbarbarische Handwerk,
unnötig und (nur darum) undenkbar geworden ist. Hier liegt die tiefste
Wurzel des PreuSenproblems und alle müßten in diese Tiefe wenigstens
hinabgeblickt haben, ehe ....
Sie müßten, aber sie können nicht, es schwindelt ihnen, sie
sind hineingefallen.
10 —
Die Mitarbeiter
An Sonntagen tun's Exzellenzen, zu Weihnachten wäre es
schön, wenn man ein paar Mitglieder des Kaiserhauses haben könnte,
dachte Herr Benedikt, und selbst dieses Ziel war seiner Tatkraft
nicht unerreichbar. Der Artikel hieß: >Die geistige Entwicklung
der Menschheit<. Ein ziemlich schweres Thema. Darunter stand:
»Äußerungen des Herrn Erzherzogs Rainer«. Man war ein wenig
verblüfft, nicht bloß wegen des hohen Themas, sondern auch wegen
des hohen Verfassers. Freilich stand noch darunter zu lesen : »Aus Ge-
sprächen Sr. kaiserlichen und königlichen Hoheit des Herrn Erzherzogs
Rainer, Kurators der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften,
mit dem Pi.lsidenten Professor Eduard Sueß«. Da nun nicht gut
anzunehmen ist, daß bei diesen Gesprächen einer unserer Redakteure
Gelegenheit hatte, so bliebe nur die Vermutung, daß der
Professor Suell die Gelegenheit, die er hatte, benützt hat, um der
Neuen Freien IVesse gefällig zu sein. Aber auch diese Vermutung
ist nicht zu halten. Unmöglich kann ein Erzherzog seine Erlaubnis
zur Verwertung von Äußerungen gegeben haben, die so inhalts-
leer sind, als ob sie von einem Professor herrührten. Darum hat
die Hypothese am meisten für sich, daß es sich um Gedanken des
Professor Sueß handelt, die er zufällig vor dem Erzherzog zu ent-
wickeln Gelegenheit hatte. Dagegen ist die unmittelbare Mitarbeit
der Gräfin Lonyay, ehemaligen Kronprinzessin von Österreich-
Ungarn, an der Neuen Freien Presse eine unbestreitbare Tatsache.
Die hohe Autorin steht in ihrer Weltanschauung zwischen der
Jerusalem-Kotanyi und der delle Grazie, in ihrem Stil zwischen der
Cloeter und der Schalek; es kann aber auch umgekehrt sein.
Somit wäre alles in Ordnung. Trotzdem bin ich nicht dafür, daß
Hoheiten sich journalistisch betätigen. Denn es ist ein unerträg-
licher Gedanke, daß man gegen einen Mitarbeiter der Neuen Freien
Presse nicht die Ehrfurcht verletzen darf.
* *
*
Aus aller Welt
Eine einzige Zeitung zei^t, in welcher Zeit wir leben. Der
König von England ist Freimaurer geworden, der Kön'g von Italien
hat Gorki cmp angen und ihm gesagt, daß er Sozialist sei, der Em r
Non Buchara hält während der mohammedanischen Tastenzeit Gelage,
und der Lippowitz behauptet, das alles seien Originalnachrichten.
— 11 —
Ein Notschrei
>Ebenso wie der Verbrauch an Gas und elektrischem Licht
heute laut Zähler berechnet wird, sollte auch der Wasserverbrauch auf
Orund eines Messers zur Verrechnung gelangen. Es würde auf diese
Weise auch dem heute häufig vorkommenden Mißbrauche in betreff der
Benützung der Badezimmer endlich einmal gesteuert werden. Hoch-
achtungsvoll . . . .<
So wünscht ein langjähriger Abonnent der Neuen Fr:ien
Presse. Es könnte dann festgestellt werden, wie oft er in der ganzen
Zeit u. s. w. Nehmen wir an, daß jedesmal nach Ablauf des Abonne-
ments der Wassermesscr den Verbrauch anzeigt, so würde sich die
Kommune nicht zu beklagen haben. Indes ist doch ztt hoffen, daß
er, ehe se auf seinen Vorschlag eingeht, ein alter Abonnent
werden wird.
•
Der Tonfall
ist a, was mich schaudern macht :
Der Richter Dr. Wfistinger sprach die Angeklagte, die wiederholt
wegen unsittlichen Lebenswandels vorbestraft ist, von der Übertretung
der Sittlichkeit frei, verurteilte sie aber wegen versuchter Übertretung
des Vagabundengesetzes zu acht Tagen strengen Arrests.
Diese irre Gerechtigkeit geht von der Voraussetzung aus,
daß es im Menschenleben Augenblicke gib:, in denen sich eine
Frau sagt: Unsittlich bin ich nicht, weiß Gott, aber ich versuche
soeben das Va2;abundengesetz zu übertreten.
* •
•
Ein Akt der Frivolität
»Schutz dem Familienleben It rief das Neue Wiener Journal.
Schon mußte man fürchten, auch dieses ehrliche Blatt sei am Ende
gekauft worden und habe einen Gesinnungswechsel vorgenommen.
Aber als man den Artikel las, merkte man sogleich, daß es sich um die
Volkszählung handle, und daß die Intimitäten des Hauses nicht,
wie man schon gefürchtet hatte, dem Neuen Wiener Journal, sondern
bloß dem Hausmeister entzogen werden sollen. Hätte sich aber in-
folge der etvas unvorsichtigen Überschrift jenes Leitartikels in
einem Leser des Neuen Wiener Journals das leiseste Mißtrauen
gegen ein Blatt geregt, das mit leidenschaftlicher Ehrlich-
keit seit fast zwei Jahrzehnten seine Pflicht erfüllt, die Öffentlichkeit
über die Privatsachen auf dem Laufenden zu halten, so wird er
gewiß durch die Erinnerung an eine Affäre beruhigt werden, in
der das Neue Wiener Journal einfach glänzend dasteht, nachdem
— 12 —
es beinahe ein Opfer seiner Pflichterfüllung geworden wäre. Man
höre nur: Die Kammersängerin X hat sich mit dem Professor Y
vermählt. Vorher hat sie sich mit ihm heimlich verlobt. Nichts da,
sagte das Neue Wiener Journal, und veröffentlichte die Nachricht.
Die Kammersängerin X aber konzertierte eben in Budapest, da brach
der Korrespondent des Neuen Wiener Tagblatts, das sich zurück-
gesetzt fühlte, bei ihr ein und fragte sie, ob es denn wirklich
wahr sei. Denn er wußte, die echten Originalnachrichten, die
das Neue Wiener Journal hat, seien aus dem Privat- und
Familienleben und zumeist falsch. Die Kammersängerin X, die
tatsächlich heimlich verlobt war, aber es vorläufig bleiben wollte,
bat, die Nachricht zu dementieren, weil sie erfunden sei. Vielleicht
tat die Kammersängerin X Unrecht an der Öffentlichkeit, aber
mein Gott, man ist egoistisch und gern um seine Privatangelegenhdten
besorgt. Nun konnte aber .die Kammersängerin X auf die Dauer
das Neue Wiener Journal nicht schädigen, sie konnte der heim-
lichen Verlobung zuliebe nicht auf die öffentliche Heirat verzichten,
und als nun das Neue Wiener Tagblatt in der Lage war zu melden,
daß diese bereits Sonntag, den 4. Dezember, 11 Uhr vormittags
im Rathause stattfinden werde, wodurch es beweisen wollte, daß
CS noch besser informiert sei als das Neue Wiener Journal, da
war dieses nicht länger zu halten und im Paroxysmus des be-
freiten Wahrheitssuchers, den Lügner Lügen gestraft hatten, rief es:
Ein neues, eklatantes Beispiel, mit welcher Frivolität Zeitungs-
nachrichten dementiert werden, zeigt der folgende Fall: ....
Hierauf erzählte es seine ganze Leidensgeschichte, und schloß:
Wir sind in der angenehmen Lage, die Richtigkeit dieser Nach-
richt und damit vor allem die am 3. November vom , Neuen Wiener
Journal' gebrachte Meldung vollinhaltlich zu bestätigen. Das zeitung-
lesende Publikum sieht auch in diesem Fall wieder, was es von Dementis,
speziell solchen, welche sich gegen das ,Neue Wiener Journal' richten,
zu halten hat.
Tatsächlich hat sich die Kammersängerin X einer gröblichen
Diskretion gegenüber dem Neuen Wiener Journal schuldig gemacht.
Es könnte ja schließlich noch so weit kommen, daß der ver-
zweifelte Zustand eines Schwindsüchtigen verheimlicht und abge-
leugnet wird, weil die Angehörigen von ihm, der noch immer
Zeitungen liest, die tödliche Wahrheit fernhalten möchten, und eine
Woche später stirbt er wirklich. Welche bodenlose Frivolität dazu
gehört, angesichts des Todes Herrn Lippowitz eine Nachricht vor-
enthalten zu wollen, dafür hat dieses Privat- und Familienleben
13
nicht das geringste Gefühl. Es ist höchste Zeit, die Presse vor ihm
zu schützen!
Ernst ist das Leben, heiter war die Operette
Es ist ein eigenes Verhängnis, daß es ausgesucht die seichtesten
Leute sein müssen, die jetzt daran gehen, die Operette zu vertiefen.
Ich will von Herrn Felix Saiten schweigen, aber dieser Ferdinand
Stollberg liefert Operetten texte, die so fein jjsychologisch sind, daß
man ihm getrost auch die Renaissance der Renaissancenovelle utid
sogar das Burgtheaterreferat anvertrauen könnte. Und dieser
Lehar schreibt eine Musik, daß man meinen könnte, vom Musik-
feldwebel zum Psychologen sei nur ein Schritt. Nun würde man
nur noch wünschen, daß man vom Tantieraenerwerb dieser Leute
unbelästigt dahinlebe. Aber gerade das wollen sie nicht.
Sie bringen Rechtfertigungen vor, sie haben eine Doktrin bereit,
sie wehren sich gegen den Vorwurf, daß die Wiener Operette und
zwar eben seit ihrer Vertiefung das Gehirn der Welt in einen
Brei verwandelt habe. Die ,Zeit', in der Herr Saiten die Geschäfte
des Herrn StoÜberg in selbstlosester Weise unterstützt, hat eine
Rundfrage über die Operette veranstaltet. Da erfuhr man, daß der
alte Lecocq, von dem man schon geglaubt hatte, er drehe
sich zu den Wiener Walzern im Grabe um, noch am Let>en sei und
sich bloß die Nase zuhalte. >Ich gestehe Ihnen offen«, schreibt er,
»daß mir kein Buch, das den gefeierten Operetten unserer Tage
zugrunde liegt, einen musikalischen Einfall gegeben hätte.« Sogleich
aber wurde der Schaden durch Herrn Lehar gutgemacht Die
Operette sei in letzter Zeit geradezu wütenden Angriffen ausge-
setzt. >Mir entlocken diese Angriffe nur ein Lächeln, denn ich
weiß es, daß, solange wir Operettenkomponisten ehrlich und aus-
dauernd fleißig arbeiten und solange wir in der Wahl unserer
Textbücher vorsichtig sind, man uns nichts anhaben kann und
das voru teilslose Publikum auf unserer Seite steht.« Ja, das Publi-
kum ist in der Tat so vorurteilslos, und die Polizei kann ihnen nichts
anhaben. Man wirft der modernen Operette vor, daß sie im
Gegensatz zur alten humorlos sei? >Dabei vergißt man, daß
seither Jahrzehnte vergangen sind und daß sich eben die Zeiten
ändern. Alles, alles, jede Kunstgattung strebt nach Vertiefung und
nach Verfeinerung, und nur die Operette soll auf dem alten
Niveau verbleiben? Das wäre kein Beharren, sondern ein Zurück-
14
gehen. € Man will dem Herrn Lehar mit Offenbach kommen! Man
verlangt von ihm. daß er Humor habe! Warum er keinen hat?
Weil ihm der Ernst heilig ist. Er war einmal bei der Tann-
häuser-Parodie: >Seither konnte ich auch der großartigsten Auf-
führung des ,Tannhäuser' nicht beiwohnen, ohne daß sich mir
unwillkürlich die Erinnerung an jene Parodie aufgedrängt hätte.
Nicht mehr konnte ich, wie ich es sonst getan, mich dem Bann
des Werkes hingeben.« Ganz ähnlich ging's mir mit der »Lustigen
Witwe«. Auch ich habe einmal die Tannhäuser-Parodie gehört:
seither konnte ich mich nicht mehr dem Bann der »Lustigen
Witwe« hingeben. »Das soll nun die Lebensaufgabe des modernen
Operetten komponisten sein? Verzerren und karikieren, und das Er-
habene in den Staub herabziehen?« Nein, und 650mal nein, da schafft
Herr Lehar lieber gleich selbst das Erhabene ! Die moderne Operette
habe sich »auch tatsächlich musikalisch bewährt und auch sicherlich
auf das Publikum veredelnd eingewirkt«. Herr Lehar ist auf
Widerspruch gefaßt. »Diese Worte«, meint er, »klingen vielleicht
wie eine Anmaßung, sie sind es aber wahrlich nicht.* Gottseidank,
die Zeiten haben sich geändert. »Damals waren eben die Verhält-
nisse ganz anders, und man hat sich mit geringeren Mitteln
zufrieden gegeben.« Herr Lehar will damit nicht auf den
Unterschied des Talents zwischen ihm und Offenbach anspielen,
sondern nur sagen, daß der arme Schlucker bloß sechzehn
Leute im Orchester hatte. Die Harfe zum Beispiel sei heute auch
der kleinsten Bühne einfach unentbehrlich, »da auch hier das
Publikum ein feineres Ohr besitzt«. Den Vorwurf, daß die
Operettenkomponisten »dem Geschmack des breiten Publikums
entgegenkommen«, weist Herr Lehar glatt zurück. Er verpflichtet
sich, alle seine Partituren dem ernstesten Musiker zur Prüfung
vorzulegen, der »nirgends die ernste Durchführung eines musikali-
schen Gedankens vermissen wird«. Daß aber der Geschmack des
breiten Publikums dem Herrn Lehar entgegenkommt, darauf ist
er stolz. Und noch stolzer auf dje volkswirtschaftlichen Folgen seiner
Tätigkeit. Man macht ihm nämlich auch den Vorwurf, daß er sich
bereichere, ein Vorwurf, der ja in der Tat lächerlich ist, ca man
doch nicht verlangen kann, daß Herr Lehar das Geld begabteren
Musikern, denen der Geschmack des breiten Publikums weniger ent-
gegenkommt und die deshalb häufiger kein Nachtmahl haben, schenke.
Aber sein Verdienst ist auch der Verdienst von hundert andern.
15
die durch ihn verdienen. Leben und leben lassen! »Ich habe viele
Dankschreiben erhalten von Personen, deren Existenz ich ver-
bessern, ja vielleicht sogar begründen half. Dutzende von Danilos
wurden entdeckt und haben seither Karriere gemacht....«
Herr Lehar brauchte nicht weitere Beispiele aufzuzählen. Es war
vorauszusehen, daß die »Lustige Witwe« jene Veränderungen
auf der Landkarte Europas bewirken mußte, die Bonaparte noch
übriggelassen hatte. Aber es ist nicht nett, daß Herr Lehar, anstatt
es bei den Taten bewenden zu lassen, auch zu Drohungen greift:
Mir steht noch ein reicher Melodienschatz zur Ver-
fügung, und wenn ich nur skrupellos aus diesem Schatze
schöpfen würde, dann könnte ich quantitativ weit mehr
schaffen.« Nun, er beruhigt den Hörer sogleich wieder; denn er
>gebe nichts aus der Hand und überantworte nichts der Öffent-
lichkeit, ehe er es sorgfältig geprüft und durchgearbeitet habe«.
Er wird also der Residenz nicht sobald wieder eine Geschichte
komponieren, wie man Präsident wird. Aber man soll ihn nicht
durch die ewigen Angriffe und durch das fortwährende Verlangen
nach Humor reizen. Er läßt sich nun einmal >von der Anschauung
nicht abbringen, daß dem Zuhörer mehr als leichte Ware gebührt. Es
genügt nicht, wenn das Publikum während der Vorstellung durch
billige Mittel in Heiterkeit versetzt wird. Man ist dann während
der Vorstellung in animierter Stimmung, lacht, lacht recht herzlich
sogar — wenn man aber dann aus dem Theater kommt, dann
fühlt man eine Leere in sich und ist bei ruhigem Nachsinnen
selbst darüber erstaunt, was einem eigentlich gefallen hat.« Darum
ist es viel besser, das Publikum fühlt während der Vorstellung eine
Leere in sich, speist dann in animierter Stimmung und lacht im
Kaffeehaus bei der Lektüre der Proteste des Herrn Lehar, der wie
ein Pfarrer gegen die Operette wütet, welchem Herr Viktor
Leon ein Erbauungsbuch geliefert hat. »Nein!«, ruft er, »Mögen
auch einzelne über die sogenannte falsche Sentimentalität zettem
und wettern: ich lasse mich nicht davon abbringen, daß das
Publikum auch in der Operette ein seelisches und künstlerisches
Erlebnis haben soll.« Seitdem Herr Saiten es einmal bei der »Lustigen
Witwe« gehabt hat, kann sich Herr Lehar von der Psychologie nicht
trennen. Er glaubt an die Entwicklung. Was soll man da machen?
Dem Publikum, das die Praxis gesund überstanden hat, wird auch bei
der Theorie nicht übel werden. Herr Lehar hofft, daß die Operette
16
sich weiter, noch weiter entwickeln werde, >und zwar so, daß es
zwischen Oper und Operette, was Icünstlerische Qualität anlangt, keine
Scheidewand mehr geben wird. Dann wird man nicht mehr sagen
dürfen: „Das ist , nur' eine Operette", sondern: „Diese Operette ist
schlecht!" oder „Diese Operette ist gut", wie es doch auch schlechte
und gute Opern gibt.« Ich weiß nicht, was dieser Feldwebel
eigentlich haben will. Herstellt.! Ich für meine Person bin der
Entwicklung immer vorausgeeilt. Ich habe schon bei der >Lustigen
Witwe« nicht mehr gesagt: >Das ist ,nur' eine Operette.« Sonder»
ich habe schon damals gesagt: Diese tiefe Seelenanalyse, diese
subtile Schilderung eines dekadenten Milieus und diese exakte
Art, in der das Problem der anständigen Frau gelöst ist, ich muß
wirklich zugeben, diese Operette ist schlecht!
Lilis Park in Österreich*)
Von Ferdinand Kürnberger
Das war ja ein interessantes Schauspiel öster-
reichischer Widersprüche, das wir in der letzten »Börse
des Lebens« Ihnen zum. Besten gegeben! Wie anders
schrieb der Licht- und Schattenbildner von Andrassy
und wie anders ich selbst! Zwei Bilder, einander nicht
im mindesten ähnlich! Wir haben unsere Sache fast
allzu gut gemacht und den österreichischen Zentrifugal-
geist, sonst nur ein Gegenstand unserer Worte, diesmal
gleich durch die Tat und unser eigenes Beispiel be-
kundet.
Aber der Widerspruch mildert sich, wenn wir
Folgendes bedenken. Der Licht- und Schattenbildner
*) Dieser im Thema leider noch immer aktuelle Aufsatz ist im
Jahre 1871 in der Berliner Börsen-Zeitung (Nr. 564, Sonntags-Beilage
>Börse des Lebens«) erschienen, also völlig unbekannt. Seit damals
hätten sich auch für den Verfasser, könnte er heute noch politische
Gedanken äußern, die Zeiten geändert. Es braucht in der , Fackel' nicht
erst zu diesem Anlaß gesagt zu werden, daß inzwischen der Deutsche in
Österreich zwar nicht die Neigung, aber immerhin die Berechtigung
verloren hat, auf den >Böhm« und den > Ungar« hinunterzusehen.
Anm. d. Herausgeb.
— 17
schrieb — wie ein Deutscher von einem Ungarn
schreibt. Ich schrieb, wie ein Deutscher von einem
Ungarn schreibt — wenn er ihn als geschimpften
»Mongolen« gegen die Böhmen vertritt. Nur der
Standpunkt machte den Unterschied und nur der Unter-
schied machte den Widerspruch. Im Übrigen empfinde
und denke ich wie der Herr Kollege und jener wahr-
scheinlich wie ich.
Also wie denkt und empfindet der Österreicher
Oberhaupt gegen seine interessanten Mitnationalitäten?
Das wäre die Frage!
In der Tat eine wichtige Frage und schier der
Schlüssel zu unserer ganzen Politik!
Interessen-Politik! Aber nachdem das natürlichste
und einzigste Interesse: den Osten zu germanisieren,
durch den deutschfeindlichen Jesuitengeist im spanisch
gelenkten Staatsruder flöten gegangen ist, ist in Öster-
reich, mehr als man denkt, die Gefühls-Politik be-
rechtigt. Ist es Interesse oder Gefühl, was die Tiere zu
unsern Hausgenossen macht? In Steiermark und Ober-
österreich finde ich den Fuchs an der Kette liegen,
wie bei uns den Hund, in Galizien spielen die Kinder
mit zahmgemachten Schlangen, wie bei uns mit den
Katzen und in Polen und Litthauen wird der gezähmte
Bär als Bratenwender in der Küche angestellt. Wer
hat diese Auswahl getroffen: das Interesse oder die
Liebhaberei, die Geschmackssache, — das Gefühl?
Und so fragt sich in Lilis politischem Park der
Österreicher: Wie gefallen mir die verschiedenen Tiere
und Tierlein (sans comparaison!), mit denen mir mein
Park so sonderbarlich bevölkert ist? Diese Frage ist
in Wahrheit die Seele der österreichischen Politik. Ge-
fallen und Nichtgefallen, Liebe und Haß, Vertrauen
und Mißtrauen, Achtung und Nichtachtung und wieder
die verschiedenen Grade und Teilgrade dieser Gefühle,
die feineren Schattierungen, Nuancen und Abstufungen
derselben, ihr gemischtes Untereinander und in welchen
Verhältnissen gemischt, das ist der Spiritus rector der
österreichischen Politik.
— 18
Aber Sie sehen wohl, für Zeitungen ist dieser
Spiritus zu fein. In den Zeitungen Österreichs können Sie
ihn nicht finden, daher bleiben sie auswärtigen Lesern
noch unverständlicher und lassen denselben eine größere
Lacüne unausgefüllt, als die Zeitungen anderer Länder.
Das Witzwort, das Spottwort, die Anekdote, die inter-
nationale Neckerei der Völker Österreichs, wie sie nur
am Quell des Volkslebens selbst zu schöpfen, dort
aber in einer Freiheit und Ungeniertheit, welche die
Zeitungsrücksicht auch nicht annäherungsweise erreichen
dürfte, das ist die Ergänzung der österreichischen
Zeitungslektüre, aber eine Ergänzung in einer stärkeren
Quote als sonst wo auf Erden.
Manchrnal bedarf es eines feinen Ohrs und einer
langjährigen Übung, um diesen tonangebenden Volkston
richtig zu vernehmen und aufzufassen; manchmal ist
er so elementarisch leicht und allgemein verständlich,
wie wir die Henne verstehen, wenn sie ein Ei gelegt,
oder den Hund, wenn er getreten wurde. So wäre zum
Beispiel nichts leichter gewesen, als in der Hohenwart-
Affäre österreichische »Fühlung«. Läge es in der Sitte
der Höfe, zu gehen, anstatt zu fahren, so brauchte »der
Hof« als Fußgänger durch die Straßen Wiens nur
irgendwo stehen zu bleiben und zuzusehen, wie sich
der deutsche Lehrbube mit dem böhmischen prügelt,
welche »öffentliche Meinung« er bei dieser Gelegenheit
über den Böhmen äußert, wie der ungarische Lehr-
bube herzuläuft, zu welcher Partei er sich schlägt, mit
welcher Energie und unter welchen begleitenden
Redensarten: und »der Hof« könnte mit dem Meinungs-
ausdruck Meiner getreuen Völker vollkommen zufrieden
sein. Er brauchte weder den Beust noch den Andrassy,
noch die Proteste sämtlicher deutscher Landtage: er
brauchte nichts als die drei Lehrbuben. Sie hätten ihm
für ewige Zeiten gezeigt, was in Österreich möglich
ist und was unmöglich.
Damit stehen wir auch schon mitten in »Lilis
Park«. Denn die meisten Animalien dieses Parks
kommen uns nicht in Betracht : weder Serben, Moriachen,
— 19 —
Kroaten, Walachen, noch Slovenen, Ruthenen und die
ganze Schublade von herabgebrannten Völker-Licht-
stümpfchen, die ihr anonymes Dasein erst seit unserem
eigenen Gedenken getauft und benamset, haben uns
je soviel Aufmerksamkeit abgewonnen, sie nur auszu-
sprechen ; was wir von unseren Indianerstämmen kennen
und nennen, das sind bloß zwei: die Ungarn und die
Böhmen, ich sage, die Böhmen, denn sogar die
»Czechen« sind ein literarisches Abstractum, das der
Volksmund nicht kennt. Freilich fallen in die Böhmen
auch die Deutsch-Böhmen hinein; aber in diesem Aus-
druck ist der Deutsche so dignitär, daß er den
Böhmen vollkommen aufsaugt, ungefähr wie einer, der
unsterbliche Kameen schneidet, zwar ein Steinschneider
ist, aber mit nichten ein Schneider. »Deutschböhm«
kann nie mit »Böhm« verwechselt werden. Böhm ist
»Czech«, aber, wie gesagt, »der Czeche« ist im Volks-
mund garnicht »cegu«.
Der Böhm nun hat in Österreich die schwärzeste
Nachrede, die nur je einem Menschenkinde — nicht
zu wünschen ist. Der ganze Sagenumlauf bezieht sich
— auf den D iebssinn und auf den Sinn heimtückischer
Verräterei! Das ist das Charakterbild. Alle Anekdoten,
alle ohne Ausnahme umschreiben dieses Bild allein.
Seltsam ist aber folgendes. Wenn sich die Deutschen
schimpfen : »Du bist ein Böhm« (denn Böhme ist ein
Schimpfwort!), so sagen sie damit nicht: du bist ein
Dieb oder Verräter — gleichsam als könne ein Deutscher
überhaupt nicht so tief sinken — , sondern das Wort
hat dann eine dritte Bedeutung, das Wort will dann
sagen: du bist ein verstockter und vernagelter Kopf,
ein so eigensinniger und hartnäckiger Schädel, daß
du die Begriffe des Wahren nicht nur aus dir selbst
zu erzeugen unfähig bist, sondern du wirst auch mit
vorgefaßtem bösen Willen der erkannten Wahr-
heit, welche andere dir deutlich machen, absichtlich
widerstreben. Ich definiere genau; so sagt der Vor-
wurf der Deutschen gegeneinander: du bist ein Böhm.
Wenn eine Mutter über ihren Knaben, ein Lehrmeister
— 20
über seinen Lehrbuben im Augenblicke der höchsten
Verzweiflung den Notschrei ausstoßen: »In den Kerl
ist so wenig was hineinzubringen, wie in einen Böhm«,
so sind sie gänzlich ratlos, ihre Geduld ist zu Ende,
sie haben ihn aufgegeben. Denn sie sagen damit: er
hat nicht nur von Natur aus einen ungelehrigen Kopf, er
hat auch noch Trotz und Dummheit dazu. Mit einem
Wort: die deutsche Volksmeinung verurteilt intellek-
tuell und moralisch den Böhmen; zum Böhmen
herabsinken ist die schrecklichste Vorstellung eines
geistigen und sittlichen Unglücks.
Lassen Sie mich dazu die Anmerkung machen,
— welche auch wieder ein scheinbarer Widerspruch
ist — daß wir deshalb Anstelligkeit, Rührigkeit, Schlau-
heit und praktische Geriebenheit dem Böhmen nicht
nur nicht absprechen, sondern ausdrücklich zuerkennen.
Wir erkennen sein Talent, die vorhandene Welt
sich nutzbar zu machen; desto inniger aber graut
uns vor seiner Unfähigkeit, eine nicht vorhandene Welt
schöpferisch ins Dasein zu rufen, ohne nächsten sicht-
baren Nutzen, aus reiner Selbsttätigkeit des Gedankens,
was »der Böhm« mit tückischem Hohn verlacht und
worin der Deutsche seine metaphysische und
künstlerische Produktivkraft, kurz, seine ideale
Natur achtet, genießt und auslebt.
Der Ungar führte den offiziellen Kurialtitel »der
dumme Ungar« noch in der vorigen Generation, ja,
er ist auch heute nicht verklungen. Noch in diesem
Sommer erzählte mir ein gebildeter und liebenswürdiger
Szekler-Ungar auf einem Ausflug in Siebenbürgen —
auch unser Mommsen kennt den gastlichen Mann —
aus seiner Jugend, wo er Unterarzt und des Deutschen
kaum mächtig war, folgendes: Was fehlt diesem Mann?
fragte der Oberst des Regiments. — Herr Oberst, es fehlt
ihm die Gesundheit. Der Oberst hält sich für gefoppt
und beleidigt, er wird zornesrot, will losbrechen, besinnt
sich aber doch und fragt den Unterarzt, den er von
oben bis unten mißt: Was sind Sie für ein Landsmann?
— Ein dummer Ungar, Herr Oberst. — Das seh' ich.
— 21 —
Der Jüngling hatte seine Nation nie anders als
mit jenem Epitheton nennen gehört und glaubte, beides
gehöre zusammen wie »der hauptumlockte Achaier«.
Der dumme Ungar war also die Charakterstereo-
type unseres ungarischen Sagenkreises und ein Modell
der Sagenbildung etwa folgendes:
Auf dem Stephansplatz bewundert ein Ungar an
einem Schaufenster eine Glaskugel, worin sich der
gegenüberstehende Stephansturm spiegelt. Och, dos is
schön! Dos is prächtig! Will ich gleich meiner Familie
in Bereghssasy kaufen, damit sie auch sieht, wie
Stephansturm ausschaut!
Zu Hause packt er die Glaskugel aus, aber die
Familie sieht keinen Sfephansturm darin. Bassama!
hot mich der Spitzbub, der Schwob, richtig betrogen!
Hot er so lang umbändelt, bis er mir hot einpackt
schlechte Kugel und gute hot er beholten. Bassama,
Schwob ! — Stellen wir diesen Scherz als thematischen
Satz hin, der das deutsche Kulturbewußtsein mit
asiatischer Barbareneinfalt kontrastiert. So einfach bleibt
aber der Satz nicht immer. Im Gegenteil, das Thema
wird so merkwürdig variiert, weicht in so wunderliche
Tonarten aus, daß die Einfalt sehr doppelsinnig und
vieldeutig zu sprechen weiß. Z. B. folgende zwei
Bonmots auf die ungarische Kaiserreise im Jahre 1857.
Wie kommt es, fragt der Kaiser den Vizegespan,
als er nach den slovakischen Komitaten das erste echt-
ungarische betrat; überall riefen sie Eljen! und hier
auf einmal rufen sie Yivat? — Jo, Majestät, hot mir
genug Müh kost, die Kerle obzurichten. Ober loss ich
sie Schrein: Eljen, so schrein sie gleich: Eljen Kossuth!
Es liegt uns holt so im Maul.
In einem anderen Orte war der Empfang besonders
herzlich-warm und patriarchalisch. Leutselig wendet
sich der Kaiser im Kreise der Bauern herum und sagt
mit gnädiger Genugtuung: nun hier ist man überall
gut gesinnt, scheints? — Jo, Majestet, san wir Olle
gut gesinnt; nur Schulmaster wor schwarzgelbe Hund;
hob'n wir ober totg'schlog'n. — Ungarisch-gutgesinnt,
— 22 —
hieß eo ipso : Kossuthisch gesinnt, und daß der Ober-
herr des Schwarzgelbtums soeben Kaiserlich anwesend
dastand, — nun, das zu vergessen, ist eine kleine
menschliche Schwäche, die dem »dummen Ungarn« schon
passieren kann! Sie sehen aber, wie äußerst verwendbar
dieser »dumme Ungar« ! Kaum der Pasquino ist es mehr!
Der »dumme Ungar« ist daher sehr cum grano
salis zu verstehen. Ja, er ist eher ein Kosenamen als
ein Schimpfnamen. Wird der Österreicher ein bißchen
böse und ist es ihm Ernst mit dem Schimpf, so wendet
er zwei 'andere Typen dafür an: »Ungarische Wirt
Schaft« und »Ungarischer Rauber«. Aber auch dieser
Satz hat seine Variationen, die ihn regeln und fast
auch aufheben. Namentlich ge^en das Ende aller Variatio-
nen werden Sie fast immer eine Fermate hören, die wie
— der Rakoczy-Marsch klingt! Das wilde, ewig gesetzlose
Räubervolk hält uns auf seinen Heiden und Pußten
doch einen Vorrat von Kriegermut aufgespeichert,
— ein gar guter Notnagel für teuere Zeiten! Diese
Stimmung klingt immer durch.
Und so war es doch ein tieferer Naturzug, als
jugendlicher Unsinn, daß die »Wiener Legionäre«,
verwöhnte Söhnchen aus guten Häusern, Bem's helden-
mütigste Soldaten geworden und sich bis zum letzten
Mann totschlagen ließen für ungarische Freiheit. Ja,
es ist eine schlechte Freiheit, eine veraltete, aristokratische,
exklusive, brutale, egoistische, gesetzlose, gewalttätige,
tyrannische, — ja, tausendmal ja! Aber . . .
Und dieses »Aber« hat Andrassy nach Wien ge-
führt! Und dieses »Aber« würde Wiener Legionäre
immer wieder nach Ungarn führen!
Dagegen ist kein Fall denkbar, in der ganzen
Weltgeschichte kein einziger möglicher Fall, daß in
einem österreichischen Bürgerkriege Deutsche an der
Seite von Böhmen kämpften! Setzen wir den brillantesten
Lehrfall: einen Hussitenkrieg! Der Österreicher, der
nach Napoleon immer um eine Idee zurück ist, kam
erst in unserem Jahrhundert l)eim Voltairianer an, wie
der Franzose im vorigen. Dem echten Österreicher wäre
— 23 —
daher nichts so aus der Seele gesprochen, als eine
solide, gemütliche »Pfaffenhetz«. Und trotzdem! Von
Böhmen unternommen — er bliebe kalt und höchstens
würde er sagen: Das können wir auch noch, dazu
brauchen wir den Böhm nicht.
Ich habe natürlich — berichtet, nicht geurteilt.
Aber wie bitterlich hart der Bericht in Bezug auf die
deutsche Volksmeinung über die Böhmen klingt, so
darf ich mir hinzuzusetzen erlauben: Tausende von
Böhmen teilen und unterschreiben diese deutsche
Volksmeinung. Ich kenne selbst viele Wiener Bürger
und Beamten, deren Namen nicht undeutlicher klingen
als z. B. Swoboda und Prohaska, Pablazek und Krali-
tschek kurz, echte Native-Czechen, die das verwilderte
Treiben ihrer gewesenen Landsleute mit dem ganzen
Abscheu germanischer Augen ansehen; — denn was
in meiner Kindheit die Regel war, werde ich auch
in meinem Alter nicht gänzlich verschwinden sehen,
nämlich die traditionelle Praxis, welche Altösterreich
wie etwas Selbstverständliches befolgte: daß, wer
immer in Österreich sich bildet, damit eo ipso ein
Deutscher wird und zum Deutschtum steht.
Tolstois »Was ist Kunst?«
Von Karl Bleibtreu
Als Tolstoi über Shakespeare herfiel, zog er nur
die letzte Konsequenz seines Buches über die Kunst,
und mit diesem Anathema wiederum nur die Kon-
sequenz seines Gefühlsanarchismus, der uns zum
Urquell der Einfachheit und Wahrheit zurückleiten
will. Doch die Pilatusfrage ertönt: Was ist Wahrheit?
Und was ist Einfachheit? Die ihm sonst durch Dick
und Dünn folgen, machen hier Halt mit ablehnender
Handbewegung. Denn der Kunstkultus, ein allerheiligster
Fetisch, gleicht dem Marienkultus, ein Dogma von
unbefleckter Empfängnis des Genies, von abstrakter
Unfehlbarkeit der Muse. Gleichwohl müssen wir Tolstoi
wohl oder übel folgen, wenn er an diesem Idol rüttelt.
Nachdem man unsern Schulsack mit allerlei Theorien
24
über das »Schöne« bepackte, sehen wir diese beut in
Reih und Glied aufmarschiert wie Falstaffrekruten,
schief, hinkend, schielend. Unter allen Definitionen von
Schiller bis Spencer und Volkelt erscheint uns nur
eine bedeutsam und einleuchtend: Schopenhauers Aus-
legung der Kunst als Objektivierung des Willens (was
er freilich nicht so klar und bündig ausdrückt). Hiemit
stimmt überein, daß Vischer wahre Kunst als Ausdruck
einer Individualität auffaßt. In so weitgespanntem
Rahmen findet natürlich die Phrase vom Wahren,
Guten und Schönen keinerlei Unterkunft, da besonders
das Schöne stets nur subjektiver Wertung unterliegt
und der Objektivierung widerspricht. Als bloße Nach-
ahmung der Wirklichkeit würde andrerseits die Kunst
nicht dem Zweck genügen, den unser Genießen bei ihr
sucht, nämlich eine höhere Vorstellung der Welt in sie
hineinzutragen. »Vergnügen« zu erregen, liegt ihr an
und für sich fern, da sie sich Selbstzweck sein muß
und das Trostlose mit tragischem Ernst vorführen
darf. Spöttisch bemerkt Tolstoi hierzu, daß Essen,
Trinken und Erotik dann auch schöne Künste sein
müßten, da sie »Vergnügen« bereiten. Er schließt sich
nun offenbar der alten Philisterästhetik an, die eine
»Moral« verlangte. Aber wenn man diesen Begriff nicht
plump äußerlich faßt, im Sinne der berüchtigten
poetischen Gerechtigkeit, so liegt auf der Hand, daß
der objektivierende Wille, indem er aus dem be-
schränkten Ich heraustritt und unpersönlichen Ausblick
ins All erstrebt, d. h. von der täglichen Bühne abtritt
und das Schauspiel von außen betrachtet, unwillkürlich
subjektiv einen tieferen Sinn hineinzaubert. Schließt
z. B. der Pessimismus jede Versöhnung aus und ver-
ficht, daß es keine immanente Gerechtigkeit gibt, so
ist das eben seine Moral. Wohl aber trifft zu, was
Tolstois Moralverlangen aus dem Felde schlägt: je
objektivierter der Wille, desto weniger verzerrt er das
reproduzierte Lebensbild mit vorgefaßtem Moralisieren.
Denn die Moral der Vorgänge liegt in ihnen selbst,
in der inneren Notwendigkeit der Kausalität. So ent-
faltet der von Tolstoi geschmähte Shakespeare die
Nemesis mit strenger Folgerichtigkeit ganz unwillkürlich
aus den Leidenschaften. Nun befriedigt die von uqs
gebotene Definition noch nicht, sie erklärt nur den
Kunsttrieb selber, doch aus Objektivierung kann wohl
Kunst als Nachahmung der Wirklichkeit entstehen,
nicht Höhendichtung. Alles Vergängliche ist nur ein
Gleichnis und es verlohnte der Mühe nicht, ein bloßes
Spiegelbild des Lebens zu bieten, das uns ja oft
kränkt und verwundet. Deshalb suchen wir im Ob-
jektivieren der Kunst gerade im Gegensatz zu
unserer subjektiven Lebensenge eine höhere Ein-
heit, ein reicheres Schauen, einen klareren Standpunkt
der Betrachtung. Darum soll die Kunst eine Auslese
halten und nur das Bedeutungsvolle herausschälen.
Tolstoi aber macht sich die Sache bequem, indem
er Kunst nur als Mittel der Mitteilung von Gedanken und
Anschauungen auffaßt, was ja ebensogut auf jede
Volksrede und jeden Zeitungsartikel passen würde.
Wichtig scheint hierbei nur die Logik, daß es auf das
Was, nämlich die Gedanken, nicht auf das Wie an-
kommt, also nur der Inhalt und nie die Form be-
deutungsvoll sein kann. Richtig finden wir dies bis zu
einem gewissen Grade, doch Tolstois Beispiele für
bedeutende Literatur machen stutzig. Mit Cervantes
und Dostojewski wirft er nicht nur Moliere und
Dickens, sondern auch V. Hugo zusammen, für ihn
sind »Adam Bede« der Eliot und gar die öde Tendenz-
fibel »Onkel Toms Hütte« so bedeutsam wie Don
Quichote, Homer und die Bibel viel echtere Dichtung
als Shakespeare und Goethe. Da für ihn nur die
demokratische oder religiöse Nützlichkeit entscheidet,
will er das niedere Volk als Richter einsetzen. Das
verrät eine sozusagen barbarische Ideologie. Daß der
Muschik nicht begreife, weshalb man einem Puschkin
eine Statue errichte, der doch bloß Verse schrieb,
hätte Tolstoi besser nicht anführen sollen. Daß nur
ein Perzent der Nation — soll wohl heißen: der
russischen — unsere Literatur verstände, beweist nichts
26
dawider. Denn weil nur wenige Champagner trinken,
darum wird er doch nicht sauer! Auch fällt der
Spott, zwei Drittel der Menschheit in Asien und Afrika
wtißten nichts von unserer Kunst, auf ihn selbst zurück.
Denn die Aschanti und Kaffern kann sie entbehren,
umgekehrt aber hat Asiens Kunst bei uns stets Will-
kommen gefunden und der gebildete Inder oder Japaner
schätzt Shakespeare oder Goethe: also müssen Kunst-
trieb und Kunstbegriff etwas durchaus Gemeinsames
haben. Er täuscht sich ferner über das unverfälschte
Empfinden des Volkes, das zwar die ganze Luxuskunst
verwerfe, aber »Homer, die Bibel, die Reden Buddhas
und die Vedahymnen« begeistert verstehe. Das
Nibelungenlied kennt beiläufig der ganz französisch
gebildete Tolstoi nicht. Lese er doch seinen Bauern
dies (der zu kunstmäßige Homer scheidet ganz aus)
oder die Veden vor, ob sie nicht jede Kirmeßdudelei
vorziehen! In der Bibel sucht der Ungebildete nichts
weniger als künstlerische Erholung, ihn fesselt am
»Gotteswort« nur sein »religiöser« Egoismus. Das
Einfach-Erhabene wird künstlerisch nur dem Höchst-
gebildeten verständlich. Die ganze Schlußfolgerung
Tolstois stellt sich daher auf den Kopf: gerade was
er für die alleinwahre Kunst hält und wozu logisch
auch Äschylos, Shakespeare, Goethe, Byron in ihren
reifsten Erzeugnissen gehören, mag seine absichtliche
Verblendung sich auch dagegen wehren, wirkt am
wenigsten auf den großen Haufen. Wenn Tolstoi sich
über die französische Dekadentenpoesie, über Haupt-
mann und Ibsen lustig macht, so will er nur das
l'art pour l'art ins Herz treffen und da folgen wir ihm
gerne, obschon er auch hier sehr Verschiedenartiges
ungerecht in einen Topf wirft. Den Inhaltsbankerott
unter formellen Mätzchen zu verstecken, vor dem
sinnlos abstrakten »Schönen« einen Weihrauchduft
zerflossener Stimmungssymbolistik hinzuschmachten, in
ideenloser Nachahmung des Alltags eine falsche
Objektivierung zu suchen — sintemal nur die Idee
objektiviert und bloßes lüsternes Anschauen der Wirk-
27 —
lichkeit stets unwillkürlich subjektive Bezüge auslöst — ,
dies mag ja Tolstoi als Afterkunst verachten. Nur
verwirrt seine ideologische Volksliebe, die an Rousseau
erinnert, auch hier wieder die Argumentierung. Die
drei Faktoren der modernen Literatur »Ehre, Patrio-
tismus, Sinnlichkeit« seien dem Volke ein Nichts? Was
der Salonmensch Ehre nennt, nimmt beim messer-
stechenden betrunkenen Muschik nur andere Formen
an, Chauvinismus als Produkt der Unbildung lebt
nirgends stärker als im Volke, übrigens wendet sich
die Kunst nur selten an diese Instinkte, denn
Tolstoi meint ja selber, die Sinnlichkeit (Sexualliebe)
sei das Hauptmotiv aller Kunstwerke geworden. Er
wird aber wohl schwerlich behaupten, dies stehe dem
Volke fern, da doch so gut wie alle Volkslieder dem
gleichen Motiv fröhnen. Mit naivem Selbstwiderspruch
nennt er an anderer Stelle selber die Geschlechtsliebe
»das niedrigste und deshalb allen Menschen und
Tieren zugänglichste Gefühl«. Dann wäre also die
Kunst laut seiner Verständlichkeitsdoktrin auf dem
rechten Wege und verdient tatsächlich nicht den Vor-
wurf der Exklusivität. Sehr wahr betont aber Tolstoi, daß
die Arbeit die reichste Stoffauswahl liefere. Wohlge-
merkt, nicht nur die von ihm allein gelobte und ge-
liebte Handarbeit, sondern auch die aller höheren
Berufsstände. Auch gibt es politische, religiöse und
gar Rassenkonflikte, was alles in der Kunst meist
brach liegt, die sich also fälschlich brüstet, ein ver-
klärtes Lebensabbild zu bieten. Daher die Eintönigkeit
dieser endlosen Warenballen von Erotik, wobei selbst
hier die Abhängigkeit upd Unaufrichtigkeit der Berufs-
autoren, die möglichst gut von ihrem Gehirnschweiß
leben wollen, alles wirklich Bedeutsame und Neue
über Liebeszuchtwahl ungeschrieben läßt. Die Mache
des Kunststrebertums kennt keine Zwecke mehr, nur
Mittel (Form). »Die äußere Arbeit der Afterkunst ist
so oft sorgfältiger als die der wahren und erstere
wirbt scheinbar stärker.« Diese goldenen Worte Tolstois
prägen das aus, was er eigentlich suchen wollte.
— 28 —
Dazu bedurfte es nicht optimistischer Volksver-
götterung, die seine Logik trübte. Nur seine Beweis-
führung zerflattert vor näherer Prüfung, nicht die
tiefere Wahrheit seines Erkennens. So seltsam es
anmutet, einen solchen Könner sich im Einzelnen so
kunstfremd äußern zu hören, wie die aus verwandten
Gesichtspunkten die Literatur durchhechelnden Carlyle
und Eugen Düring, hat er auch hier nur durch
fanatischradikale Maßlosigkeit, geradeso wie auf anderen
Gebieten, die Geradheit und Richtigkeit seines Wollens ge-
schädigt. Und doch wäre heilsam, wenn jeder Gebildete —
nicht das von ihm fälschlich angerufene Volk — nachdenk-
lich Tolstois Kunstauffassung sich zu eigen machte.
Der Sturm und die Mutter
Von Otto Stoessl
Wiegt die Frau ihr Kind,
Weht im Laub der Wind:
»Vom Ursprung spring' ich,
Wo das Knäblein schlief.
Das dein Schoß errief,
Schicksal bring ich:
Soll er sich mit seinem Futter begnügen
Lebenlang in Windeln liegen.
Keinmal nach Gottes Wunder schrein,
Sondern zufrieden sein
Und ohne Leiden
Auf dieser Erde brav
Weiden,
In' Himmel eingehn, ein ehrbar Schaf?
Oder soll ich den Knaben
Mit Sturm begaben,
Mit Lüsten und Lasten und Wanderfüßen,
An alle Weltweiten mit Bettelgrüßen,
Soll ich dir ihn mit Dornen gürten.
Mit Qualen segnen
Zum Hirten,
Soll ich deinen Buben mit Regen taufei?,
Daß er durch salzige Not mag laufen,
Dem Herrn begegnen?«
29 -
»Ich will keinen Wurm,
Gib Sturm ihm, Sturm,
Laß ihn tragen und fragen,
Sich freuen und sehnen,
Und laß meinen Knaben
Ein Leben haben
Und seine Tränen.«
Rauscht: »Ja«, der Wind,
»So wird dein Kind«
Und im Weiterwehn:
»Dir werden die Augen übergehn.«
Die Mutter nickt: »Seis drum,
Ists doch wohlgetan«.
Im Garten schlägt ein Vogel an,
Der Vogel Weißnichtwarum.
Die Kindheit
Von Ernst Blass
Die Knaben:
Wir sahn im Traume, wie ein fiebrig Sterben
Da war und unser Glück nervös befaßte.
Wir sahn im Traume unsre Mutter sterben.
Die Lampe kam; der Tag schlug auf die Taste.
Wir stiegen aus dem Bette, weinend, dumm.
Nun ist es Tag, wir gehen in die Schule,
Wir spielen Jagd; auf zu Indianerfabeln!
Die Mädchen:
In unsern Köpfen hüpfen blank Vokabeln,
Und vor Vokabeln hüpfen unsre Köpfe.
Es fallen auf die Mappen unsre Zöpfe.
Die Knaben:
Wir sind ja dumm vor Leben.
Wir sind klein.
In unsern Nächten brechen Mörder ein.
Und unser Morgen kennt dies dumpfe Beben
Von Unentrinnbarkeit und Lampenschein.
— 30 —
Selbstanzeige
Die , Fackel' (Sonntagsblatt der ,Chicagoer Arbeiterzeitung',
6. Nov.) brachte den folgenden Artikel:
. . . Diese roten Hefte wirbelten im ersten Jahr ihres Erscheinens
in Wien keinen geringen Staub auf; man riß sich förmlich darum. Leser
der .Fackel' zu sein gehörte damals in bürgerlichen Kreisen Wiens zum
guten Ton. Der ungefähr 26 jährige Karl Kraus führte aber auch schon in
den ersten Heften seiner .Fackel' eine Sprache, wie sie gleich geistvoll
in Deutschland von einem Publizisten schon lange nicht mehr vernommen
worden war. Nicht was er bringe, was er umbringe, darauf komme es
an, erklärte Kraus in seiner Einführungsnummer. Aber da er zu viel
umbringen wollte, so brachte er zunächst sich selber um. Das heißt,
sein Blatt fand Abnehmer, doch ihn ignorierte die Presse; fortan war
Kraus unter den Deutschen der am meisten totgeschwiegene Schriftsteller.
Selbst die sozialistische Presse nahm teil an dieser wie auf Verabredung
geübten Totschweigetaklik gegen Kraus. Weil Kraus keiner bestimmten
Richtung sich anschloß, hatte er sie alle gegen sich. Es steckte eine
gute Portion > Partei Verblödung«, über die Kraus so oft sich lustig
gemacht hat und viel krämerhafte Engherzigkeit in diesem stillen Kampfe,
den die Zeitungen gegen ihn führten.
Ein volles Jahrzehnt hat diese allgemeine Totschweigetaktik der
deutschen Presse gegen Kraus gedauert; nun hat er sich durchgesetzt.
Heute ist man gezwungen. Notiz zu nehmen von ihm; nur die Wiener
Blätter bleiben noch standhaft, für sie existiert Kraus auch jetzt noch nicht.
Das ist kleinlich gehandelt. Was immer man als Parteimann gegen Kraus
auch einzuwenden haben mag — und der Einschränkungen sind mancherlei
zu machen — , seinem Kampfe gegen >den Schwindelgeist, der es auf
die Taschen so gut wie auf die Gehirne abgesehen hat«, muß man An-
erkennung zollen. Kraus stürzte alte Vorurteile und zerzaust satirisch
unbarmherzig alle ehrwürdigen Puderperücken, daß es nur so staubt.
Das ist gewiß eine notwendige Kulturarbeit, wenn sie auch nicht gerade
im Rahmen einer geaichten Parteirichtung geleistet wird. Wie ein frischer
Luftzug oder ein gesundes Lachen, wirken die in dem vorliegenden
Buche gesammelten Aufsätze von Kraus. Unübertrefflich ist seine Ver-
höhnung der Moralprozeduren des Staates und der bürgerlichen Justiz
im Allgemeinen. Den amerikanischen Leser wird besonders fesseln,
was Kraus über die Ermordung der Tochter des Generals Sigel durch
einen Chinesen in New York und im Zusammenhange damit über
Prostitution, Mädchenhändel und die »gelbe Gefahr< und in einem
anderen Aufsatze über die Entdeckung des Nordpols sagt. Doch auch
von den übrigen Aufsätzen wird der Leser keinen überschlagen, wenn
er erst einen davon kennen gelernt hat. Das sind keine Essays mehr,
das sind Geschiebe von Aphorismen. Gedankenkristalldrusen. Beim
Lesen hat man das Gefühl, durch eine unwiderstehliche Kette, aber
nicht von Schlüssen, sondern von Kurzschlüssen gezogen zu werden.
Die Grundstimmung aller dieser Abhandlungen ist hellklirrend, knisternd
und knatternd, heiß und liebenswürdig und schalkhaft. Deutschland hat
an diesem Schriftsteller wieder einen Satiriker großen Stils.
— 31 —
Über das letzte Heft der .Fackel' schrieb die .Orazer
Tigespost' (13. Dezember):
. . . eine Studie von Karl Kraus über den Hofburgtheaterdirektor
Beiger (Der Freiherr), die alle Vorzüge der glänzenden Stilkunst und der
feinen Krausschen Satire aufweist. Wenn man auch nicht mit der Stellung
einverstanden ist, die Kraus gegen einen Mann wie Harden einnimmt —
jeder falls ein Mann von Eigenart — , so müssen wir doch sagen, wir
kennen kein so fein geschriebenes deutsches Blatt wie die Fackel. Ihr
Erfolg beruht auch zum großen Teil darin, so weit ihr Erfolg reicht — der
Wien leißt. Denn nur in der Großstadt finden sich genug Genießer und
Freund« auch der nobeln Satire; und anderseits schlösse der groß-
städtisd« Kulturboden den Erfolg einer plumpen Heugabel-Satire aus.
Trotzden. Kraus die Presse bekämpft, hat er ihr nicht geschadet, und
trotzdem die Presse sich durch Totschweigen gerächt hat, hat sie ihn
nicht umgebracht. — Sehr lesenswert sind in dem Hefte überdies die
Gedichte dfs Wieners Hugo Wolf und die Glosse über die Librettisten.
In der , Gegen wart' (Berlin, 10. und 17. Dezember), die
eine Enquete über die hervorragyidsten Erscheinungen des deut-
schen Buchhaidels 1910 veranstaltet hat, standen die folgenden
Äußerungen über die »Chinesische Mauer«:
Als die testen Bücher eines Jahres möchten nur diejenigen
mit Recht bezeichnet werden, welche die besten vieler Jahre zu bleiben
versprechen. Das 'Jrteil hierüber muß freilich willkürlich erscheinen und
seine Bestätigung von der ungewissen Zukunft erwarten, die auch den
Werken gegenüber nicht immer gerecht ist. Was aber manche Jahre
bereits in der Vergangenheit als Ideal und bedeutend gewirkt, hat wohl
bis zu einem gewissen Grade auch die Probe auf seine Dauerhaftigkeit
für die Zukunft bestatden.
Darum halte ich zwei Sammlungen längst geschätzter und aus-
erlesener Beiträge für besonders nennenswert: die Schriften Ludwig
Sp eideis, der, Schwabt von Geburt, in Wien heimisch wurde und in
der kürzesten Form sprachlich wie geistig gleich Reizvolles geschaffen
hat. Einer ungemäßen und undankbaren Tagespresse anvertraut, blieben
diese Aufsätze der Schätzung der weiteren deutschen Welt entrückt. Nach
seinem Tode endlich gesammelt, bieten sie ein köstliches Ganzes. Die Kunst
des Essays hat seit den Gebrüdem Grimm in unsrer Sprache nichts
anmutigeres und reicheres hervorgebracht, als diese kleinen Gebilde.
Von ganz andrer Art, aber, wie mich dünkt, ebenso bedeutend,
ist die Auslese von Satiren, welche Karl Kraus unter dem Titel »Die
chinesische Mauer« veröffentliclite. In der Wiener .Fackel' einzeln er-
schienen, haben sie allzumal das Entzücken der Bosheit und Schaden-
freude einer ganzen Stadt erweckt, sie verdienen aber die Schätzung
aus höheren, geistigen Gründen, weil ihre künstlerische und sittliche
Kraft, ihr sinnvoller Humor, den Augenblicksanlaß überlebt und un-
sterblich macht, weil ein großartiger Witz, mit der Schärfe des Schwertes
das Einzelne schlagend, dabei das Ganze unsrer Zeit satirisch trifft
darstellt und der Zukunft überliefert
— 32
Unter den eriählenden Dichtungen verdienen Rainer Maria
Rilkes »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« den Kranz.
Otto Stoessl (Wien).
Der Verlag Langen in München, der eine Tafelrunde des Radi-
kalismus versammelt, erwarb sich ein Verdienst mit Herausgabe dieer
Geistreichigkeiten, die mehrfach an das wahrhaft Bedeutende strei/en.
Der Verfasser überschätzt zwar den positiven Wert seiner negativen
Anlage, die sich in blendenden Aphorismen und glänzenden Ejsays
entladet. Doch überschätzen tut sich am Ende jeder, der Größte wie
der Kleinste, und es kommt nur darauf an, ob wir lieh etwas dabei
zu schätzen sei. Und das trifft vornehmlich für Kraus" Stilistik zu. Ein
Meister der Ironie, tut er nur in seiner Befehdung Hardens, den er einst
anbetete, des Guten zu viel. Nicht als ob wir die unpersönlichen und
berechtigten Gründe seiner psychologisch begreiflichen Erbitterang nicht
würdigten. Doch er schüttet das Kind mit dem Bade aus und läßt an
Harden, den wir nach wie vor als bedeutenden Publizisten trotz all
seiner unleidlichen Maniriertheit bestehen lassen, kein gutes Haar mehr.
Absolute Gerechtigkeit ist eben eine schwere Tugend, nicht nur des
Charakters, sondern auch des Intellekts. Im übrigen sei Kraus' Buch
hier warm empfohlen. Karl Bleibtreu (Zürich).
In der tschechischen Revue ,Prehled' (Prag, 18. Nov. 1910)
ist ein längerer Aufsatz von Otto Pick unter dem Titel >Karl Kraus,
ein deutscher Satiriker« erschienen, der die fo/genden Stellen
enthält:
Karl Kraus ist der schärfste Polemiker der jetzigen deutschen Litera-
tur. .. . Selbst wenn seine Aphorismen und Essays eicht bekannt wären,
so müßte das deutsche Publikum Kraus für seinen >Fall Harden < dank-
bar sein, weil er hierin Harden, diesen allzugewaltigen Journalisten,
geradezu wissenschaftlich entlarvt. Was viele erkannten, jedoch nicht
auszusprechen wagten, sagte Kraus als erster: daß Harden ein unfähiger
langweili^'er politischer Leitartikler ist, dessen Aufsätze ein Labyrinth
von Zitaten und überflüssigen Retrospektiven sfnd. ... Es ist notwendig,
die Redeweise Hardens mit dem Stil der »Chinesischen Mauer« zu
vergleichen, um zu erkennen, welch genauer, reiner und über alle Maßen
künstlerischer Stilist Kraus ist, seine Redetechnik besteht neben den
besten französischen Essayisten und Aphoristen. . . . Jede Silbe ist das
Produkt einer langen Seelenarbeit, daher könnte jeder Satz aus dem
Zusammenhang genommen werden und doch einen lebensfähigen
Aphorismus bilden. . . .
Die (Wiener Mode':
... Es sind mit großer Sorgfalt umgearbeitete Essays — Ver-
gleichungen von Einzelheiten ungemein lehrreich! — für deren
Sprachgewalt man ohne Rücksicht auf der Parteien Haß und Gunst Zeugnis
ablegen muß. Der »Stoff« ist gleichsam ein Vorwand, das Formen des
Ausdrucks Zweck für diesen Künstler.
— 33 —
Die .Rhein- und Ruhrzeitung* (13. Nov.):
Ein starker Band blendend geschriebener Abhandlungen von dem
Wiener Essayisten Karl Kraus, dem stärksten Temperamente des deutsch-
österreichischen Schrifttumsund einem der glänzendsten Stilisten zugleich.
Wer die 457 Seiten dieses Buches liest, wird sich, wenn er des Kraus'schen
Tones ungewohnt ist, möglicherweise 457 mal vor den Kopf gestoßen,
aber nicht einmal gelangweilt fühlen. In der Kunst der epigrammatisch
zugespitzten Gedankenprägung ist Karl Kraus ein Meister ersten Ranges,
aber sein geschliffener Stil ist nicht nur um seiner selbst willen da,
sondern er dient Kraus als eine haarscharfe Waffe, mit der er den Dingen,
d. h. den konventionellen Anschauungen, »öffentlichen Meinungen«,
morschen Idealen und tönernen Götzen aller Art zuleibe geht. Wer
Karl Kraus' Art noch nicht näher kennt, der beginne mit einem der
letzten Artikel »Die Entdeckung des Nordpols« . . ., er lese dann die
humordurchblitzten Essays: »Lob der verkehrten Lebensweise«, »Die
Malerischen« und »Von den Sehenswürdigkeiten«, er ersehe dann aus
dem Artikel »Maximilian Harden«, mit welchem Draufgängertum Karl Kraus
gegen eine ihm total konträre Persönlichkeit kämpfen kann und dann
lerne es der Leser ertragen, wenn er sich in manchen der anderen
Essays in seinen eigenen Empfindungen von den Schlägen einer grau-
samen Ironie und eines oft fast wilden Hohnes etwas schmerzlich
getroffen fühlt. Indessen, in dem Outsidertum und dem subjektiven
Radikalismus der Meinungen liegt schließlich nichts, was Kart Kraus
nicht auch mit anderen »guten Europäern« teilte, das Besondere aber ist
die Künstlerschaft seiner souveränen Stilgewalt, mit der er zu sagen
weiß, was zu sagen sein heißes Temperament ihn zwingt. Und darum
ist es auch gar nicht nötig, daß man mit Karl Kraus stets überein-
stimmt, um an diesem geistvollen Feuerkopf seine Freude zu haben.
Der .Literarische Jahresbericht', herausgegeben vom
Dürerbund:
Nicht sehr wesentlich höher steht ein Aufsatzband >Die chine-
sische Mauer« von Karl Kraus, einem Wiener Publizisten, der in dor-
tigen Gymnasiasten-, Studenten- und Nachtcaf^kreisen sich großer
Beliebtheit erfreut. Was er zu sagen hat, ist dürftig, trotz der empha-
tischen Selbstgefälligkeit, womit K. es vorbringt. Das pathetisch unreife
Sichimgegensatzfühlen zur Umwelt könnte verleiten, ihn für einen
Kritiker zu nehmen, wäre sein Horizont nicht auf das Weichbild Wiens
beschränkt und wäre sein — im Aphoristischen zwar ganz glücklicher
— Stil nicht zumeist eine Ausgeburt fadester, spielerischer Redseligkeit.
Was Sachlichkeit und Konzentration ist, könnte dieser Kaffeehaus-Predigt-
amtskandidat noch immer von M. Harden lernen, den er mit ebenso
drolliger wie läppischer Anmaßung >erledigt<.
-314
— 34 -^
Ritter Johann des Todes
Yon Albert Ehrenstein*)
Ritter Johann des Todes ritt aus, dem Meere zu und fernen
Ländern. Sprach zu ihm sein schwangeres Weib, diese Loudmilla
Qamperl (die Liebste ihm, bis sie kein neues Essen und Küssen
mehr wußte) diese Worte: > Vergebens fährst du aus! Bleib! Morgen
gibts Eichelsuppe und Geselchtes mit Spinat .... Du wirst schon
sehen!« In den Ohren klangs dem Ritter und dann zu noch
donnerdicken Nebelfernen ritt er, denn Weib-Köchin schien ihm
am Ende.
Ritter Johann des Todes ritt aus. Traf unterwegs einen lieb-
lichen Drachen, der ihm quer in den Speer lief — aus Furcht,
auch dieser Ritter könnte ihn unerschlagen sich zu Tode kriechen
lassen. Lachte Ritter Johann des Todes und gab ihm sein heiliges
Kraut Sarudsch an die Wunde. Gellt der Drache: »Läßt mich
Drachen unerschlagen! ... Du wirst schon sehen!« In den Ohren
klangs dem Ritter und er nahm sichs zum Gedenkmai.
Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, traf er die
Jungfrau, die alle hundert Jahre aus dem Felsen Not hervorschießt.
Die Jungfrau warf sich dem Ritter ihrer Maidenschaft an den
Hals . . . Lachte Ritter Johann des Todes und gab ihr seinen
heiligen Knappen Nolpate an's Herz. Redte sich aus: »Du bist die
Jnngfrau jeder hundert Jahr!« »Schmähst die Gabe«, keift sie,
»aller hundert Jahre? Du wirst schon sehen!« In den Ohren klangs
dem Ritter und dann zu noch donnerdicken Nebelfernen ritt er.
»Das verfluchte Kombinieren alter Speisen in ganz neue! —
Ich hab es satt! In der Jugend schlug ich fünfzehn liebliche
Drachen ! ich hab es satt. Und die liebe Jungfrau jeder hundert
Jahre: ist sie schmacker als all die andern Jungfern von Gewohnheit?
*) An der unartigen Kraft dieses Autors blamieren sich zur Zeit
die meisten Redakteure deutscher Revuen. Nur der anmutige Oskar Bie,
der das Leben bejaht und die .Neue Rundschau' leitet, hat ihn durch
ein unbegreifliches Mißverständnis noch nicht aufgegeben, sondern
zu Beiträgen ermuntert, die »so ganz plaudernd und die Wiener Luft
atmend« sein sollen. Mag das Gefühl, daß die Bitterkeit des neuen
Mannes die Lebensfreude eines redigierenden Dionysos auf zehn Jahr-
gänge hinaus vergiften könnte, zu der Bitte um ein »nettes Thema«
geführt haben. Die Zumutung ehrt den Kenner; das Verlangen bezeichnet
den geistigen Habitus einer Zeitschrift, die, ein Prospekt ihres Verlegers,
in dem feuchten Element zwischen Wassermann und Fischer noch
immer den Katalog der Kultur spielen darf. Anm. d. Herausgeb,
35 —
— Ich hab es sattl Und alle gellen und keifen sie: Du wirst
sehon sehen . . . Und ich sehe doch meine Zukunft, daß ich keine
Zukunft habe, klar und dicht vor mir!«
Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, traf er sech^
alte Weiber, die das Ziel erreicht zu haben glaubten, indem sie,
über den Weg erhoben, auf Steinen auf den Köpfen stehend, aus
neuen Flaschen in neuen Gläsern neuen Branntwein soffen, den
echten, reinen, patentierten sogenannten »Dolgoruki«. Und sie
reichten ihm den Branntwein. Er erschlug sie, weil sie 's Ziel
erreicht zu haben glaubten, indem sie, über den VC'eg erhob>en auf
Steinen auf den Köpfen stehend, aus neuen Flaschen in neuen
Gläsern neuen Branntwein soffen, den echten, reinen, patentierten
sogenannten >Dolgoruki«. Und die Weiber, sterbend auf den
Köpfen stehend — alle Sechse keiften: »Du wirst schon sehen!«
In den Ohren klangs dem Ritter und er nahm sichs zum Ge-
denkmai.
Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, schlug noch
viele andere, die — und nicht einmal auf die rechte Weis — die
Erde nach blauen Blumen abgrasten . . . Und im Tode schrien sie
alle — er aber lachte bloß — : »Du wirst schon sehen!« In den
Ohren klangs dem Ritter und stets zu noch donnerdicken Nebel-
femen ritt er.
Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, da erbarmte sich
der Teufel und kroch vom Himmel zu ihm herunter, um ihm das
Neue zu sein. Da erschlug ihn der Ritter Johann des Todes und
lachte herzhaft, wie er noch nie gelacht, daß der vom Himmel
heruntergekrochen, um ihm das Neue zu sein und dann zu
gellen: »Du wirst schon sehen!«
Ritter Johann des Todes aß Schlangen und gute Steine.
Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, mußte
heim, da die Erde zu rund war. Sprach zu ihm sein schwangeres
Weib, diese Loudmilla Gamperl, einen jungen Ritter Johann des
Todes an der Hand haltend, diese Worte: >Heute gibts Eichelsuppe
und Geselchtes mit Spinat! Was hab ich gesagt!«
Ritter Johann des Todes, ich muß es schon sagen, zu
ihm kam nicht der Tod und er war ihn ehrlicher suchen gegangen
als sein Urgroßvater, der ewige Jude.
Der Ritter Johann des Todes, auf seinen Fahrten, hängte
sich auf. Und freute sich an seinem Tode, dem Neuen.
- 36 -
Ein alter Tibetteppich*)
Von Else Lasker-Schüler
Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet
Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.
Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit
Maschentausendabertausendweit.
Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron
Wie lange küßt dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon.
Der Kitsch
Von Leo Popper
>Der Dilettant wird nie den Gegen-
stand, immer nur sein Gefütil über den
Gegenstand schildern.« Goethe.
Wenn Kunst ein Gleichnis für die Dinge ist, so ist der
Kitsch ihr hinkender Vergleich. Die Kunst nimmt, wie ein Frem-
der, der das Niegesehene mit seinen besten heimatlichen Namen
zu benennen sucht, die besten Stoffe aus ihrem Reich, um dem
*) Nicht oft genug kann diese taubstumme Zeit, die die wahren
Originale begrinst (und der sonst ernsthafte Leute wie die Brüder Mann
mit einem Zeugnis für die >außer Zweifel stehende dichterische Begabung«
eines gutmütigen anarchistischen Witzboldes imponieren können), nicht oft
genug kann sie durch einen Hinweis auf Else Lasker-Schüler gereizt werden,
die stärkste und unwegsamste lyrische Erscheinung des modernen
Deutschland. Wenn ich sage, daß manches ihrer Gedichte >wunderschön«
ist, so besinne ich mich, daß man vor zweihundert Jahren über diese
Wortbildung ebenso gelacht haben mag, wie heute über Kühnheiten,
welche dereinst in dem Munde aller sein werden, denen die Sprache
etwas ist, was man »gebraucht«, um sich den Mund auszuspülen.
Das hier aus der Berliner Wochenschrift ,Der Sturm' zitierte Gedicht
gehört für mich zu den entzückendsten und ergreifendsten, die
ich je gelesen habe, und wenige von Goethe abwärts gibt es, in
denen so wie in diesem Tibetteppich Sinn und Klang, Wort und Bild,
Sprache und Seele verwoben sind. Daß ich für diese neunzeilige
Kostbarkeit den ganzen Heine hergebe, möchte ich nicht sagen. Weil ich
ihn nämlich, wie man hoffentlich jetzt schon weiß, viel billiger hergebe.
.^nm. d. Herausgeb.
— 37 —
Verglichenen gerecht zu werden. Sie darf die allerbesten nehmen,
wenn sie weiß, daß es reichen wird fürs ganze Ding. Sie hat das
Recht zu jeder Höhe, die sie einhalten kann. Der Kitsch aber
nimmt den Grundton seines Vergleichs entweder ganz niedrig an
und blamiert so seine Dinge, oder er nimmt ihn hoch an und
blamiert den Vergleich selbst, weil er gezwungen ist, ihn augen-
blicklich wieder fallen zu lassen. So gibt er entweder den schiefen
Tanz der Aufschwünge und Niederfälle, oder er gibt, wenn er
verzichtet, eine Einheit niedrigsten Grades. Beides genügt zu sei-
nem Bestehen. Denn die Leute bemerken so wenig das Hinken,
wie die Niedrigkeit bei dem Vergleich. Sie nehmen den Kitsch für
die Kunst, gerade wie sie die Kunst für das Leben nehmen. Der
Mensch hat einen wackligen Distinktionssinn für das, was ihn
nichts angeht. Aus dem sprengenden Wirrsal der vielen verschie-
denen Dinge rettet er sich in die Ähnlichkeiten, und gibt erst
dann wieder Unterschiede zu, wenn er seinen Geist durch sach-
liche Beschränkung geschützt weiß. Nur zwischen den wenigen
Sachen, die ihm nahe stehen, sieht er Verschiedenheiten. Und so
muß er Dinge, die ihm so ferne stehen, wie Natur und
Kunst, notwendig verwechseln, desgleichen Kunst und Afterkunst.
Ihm genügen die Erkennungszeichen, die äußersten Merkmale:
das, was aus dem Räume der Realitäten auf die Ebene seines
Augenmerks gefallen ist. Und was ihm genügt, das ist der Maß-
stab: Kitsch ist die Reduktion des Kunstwerks auf ein wesens-
fremdes Minimum.
Aller Kitsch entsteht, wo eine Form jener Forderungen ver-
lustig geht, die sie her\'orgebracht haben ; wo an die Stelle ihrer
Ursachen andere Ursachen treten, die ihre Werte verneinen und
kompromittieren ; oder : wo aus der Form ein zufälliger, ihr nicht
wesentlicher Genuß fließt und eine neue Form entsteht, die die-
sen Genuß allein und nichts andres hervorbringen will, das ganze,
umständliche Werk auf dieses Minimum reduzierend. In allen ver-
schiedenen Fällen des Kitsches ist die Reduktion das Gemeinsame.
Sie geschieht am häufigsten, wo der Künstler selbst, mit bestem
Willen nicht mehr aus der Form ziehen kann, ob er nun mehr
in ihr sieht, oder nicht. Seltener, wo er auf die noch geringere
Unterscheidungskraft des Genießers spekuliert und alles wegläßt,
was fär dessen Bedürfnis nicht unbedingt nötig ist. Und dann, im
bedeutendsten Fall, wo eine Sensation, ein vager Duft aus der
— 38 —
Form hervorgegangen ist, der dem Künstler mehr scheint als die
Pflanze, der ihm der Inbegriff der Pflanze wird, und einzig erstre-
benswert. Das ist die typisch moderne Spielart des Kitsches. Die
anderen hat es immer gegeben. Von den Ägyptern her durch alle
Zeiten läuft ihre undurchbrochene Reihe neben der Kunstreihe
einher. Aber diese da hat es noch nie gegeben in der bildenden
Kunst. Sie ist mit dem Impressionismus entstanden. Nicht mit
dem der großen Franzosen, den es bekanntlich auch schon seit
jeher gibt und der nur seiner Vision nach und nicht seiner Moral
nach impressionistisch ist, sondern mit dem unbedin^ neuen,
frevelhaften, wie er ungefähr von Whistler kam und jetzt überall
verstanden wird: dem Impressionismus der stilisierten haut-goüts
und Patinas, der Kunst des Hauches, der sich selbst beriecht.
Goethe, der die Worte des Mottos in einem Entwurf >über
den sogenannten Dilettantismus« an einer Stelle über die prag-
matische Dichtkunst niederschrieb, hat das Wesen eines Schadens,
und zugleich den Kreuzschaden einer kommenden Kunst damit
ausgesprochen. Denn wie der Dilettant das > Gefühl über den
Gegenstand« für diesen setzt, so setzt der Impressionist die Stim-
mung der Form für die Form, den Hauch der Sache für die Sache
und gibt so etwas, das sich auf der Stelle selbst verzehren muß,
weil es die Basis, aus der es sich erneuen könnte, nicht mit sich
führt. So bedarf es zu seiner Erneuerung, wie zu seinem
Bestehen immer der Hilfe des ergänzenden Genießers und es vermag
nichts ohne diesen. Der Kitscher aber, der sich nun der neuen
billigen Werte bemächtigt, findet im Genießer, der nun schon an
die Mitarbeit gewohnt und überaus sensibel geworden ist, einen
bereitwilligen und kritiklosen Förderer. — In der bildenden Kunst
ist diese feinste Idee des Kitsches besonders fruchtbar gewesen.
Was es außerdem gibt, kann noch entweder gutgläubig oder ein-
fach ordinär sein: Künstlerkitsch oder Leutekitsch. Der Mann
der ersten Sorte ist oft von hohen Wünschen beseelt und
oft nicht ohne Tragik. Den Blick starr auf das Beste geheftet —
zu keiner Konzession zu haben — macht er das Schlechte
mit sicherer Hand. Unbewußt vollzieht er die fatale Reduktion.
Der Mann der zweiten Sorte vollzieht sie insgeheim: er
malt immer schlechter und schlechter und macht erst halt,
wo's der Genießer schon bald merken würde. Der Feine aber
vollzieht sie offenkundig und im Einverständnis mit dem er-
- 39 -
gänzuTigskräftigen Qenießer: der Maler malt immer schlechter,
aber der Genießer genießt immer besser und da gehen Beide so
weit, bis sie eben nicht mehr weiterkönnen. — Leutekitsch und
Künstlcrkitsch machen dem Forscher nicht viel Schwierigkeiten.
Nach den Gefühlen, denen sie dienen, sind sie zu scheiden: in
patriotischen, in geschichtlichen, in religiös- sittlichen, in häuslich-
und in frei-erotischen, in sozial-strengen und in sozial-gemütlichen,
in pantheistischen und in familienfrohen. Die Beispiele weiß jeder
sich selbst aus jeder Zeit zusammenzusuchen. Der Feine aber fußt
auf komplizierteren Erscheinungen. Das l'art pour l'art hatte ge-
hofft, die Künstler würden besser malen, wenn man ihnen jeden
anderen Zweck abschnitte und ihnen nur die Farben ließe; nun
sieht es sich arg getäuscht, denn die Künstler, die sich jetzt mit
ihren freigewordenen Farben viel und ohne Vorurteil beschäftigen
können, haben bald heraus, daß die Farben besser malen, als sie
selbst und ziehen alle Konsequenzen aus dieser Erkenntnis. So
aber kommt es, statt zu der erhofften Gesundung, zum Gegenteil.
Den immer mehr vereinfachten Mitteln, die aus einem geschwächten
Formalkönnen fließen, entspricht eine immer mehr vervielfachte
Empfindsamkeit, die ihrerseits zur Auflösung aller Formwerte führt.
Denn wo einmal empfunden wird, dort wird alles empfunden:
dort wird das Nichts empfunden und so das Nichts geleistet. Wo
der Genießer einmal mit ins Spiel gezogen ist, dort ist das Spiel
verloren. Es begann damit, daß statt der Dinge die Essenz ge-
geben wurde. Aber langsam wurde dieser ihr Accidens: das
Minimum unterschoben. Und der Genießer fühlte dennoch immer
stärkeren Genuß, weil seine Leistung immer mehr wurde. Und der
Schaffende wurde immer mehr ein Genießer. Mit feinstem Ver-
ständnis kommt er den eigenen Absichten entgegen: ein Wink
von sich genügt und Welten tun sich auf. Sein Gefühl — im
tiefsten schon das Gefühl des Kitschers — stellt eine Hypertrophie
der letzten Nervenwerte dar. Die körperlos gewordene Form ist
bis zum äußersten beseelt: sie ist kein Ding mehr, sie ist nur
Sinnbild ; und nicht etwa Symbol für ein Gegebenes, sondern das
Mietsymbol für alles, was in ihr sich ausgedrückt fühlen will.
Sie ist nur Anregung, und, selbst ganz ungebunden, kann sie nur
>Löserin von Lebensinhalten« werden. Die Farbe, die Linie und der
Ton sind absolute Werte geworden, was sie früher niemals werden
konnten. Die Unfähigkeit, sie zu leiten, verwandelte sich in eine
— 40 —
Überfähigkeit, sich von ihnen leiten zu lassen: jetzt flüstern sie
dem Sensitiven ein Nervenleben ein, das ihn verhundertfacht in
seinen Folgen, während es ihm den größten Teil seiner Arbeit
erspart. Die Kunst lehrt ihn, die Natur abschöpfen, und die Natur,
statt ihm vergebend Schutz zu gewähren, schickt ihn kupplerisch
wieder zur Kunst zurück. Den ungehemmt auf ihn einströmenden
Reizen ist er hilflos ausgeliefert. Denn er hat keine Kontrolle für
sie : keine vom Auge her, das ihm den festen Untergrund der
Reize immer nahe hielte und keine von irgend einem Stil her,
der ihm zu seinen Überschwemmungen die Ufer böte. Er hat nur
Eindrücke und nirgends ein Gegengewicht. Er hat nie zweierlei,
wie der Künstler, der Augen hat und Nerven oder Stil und Nerven :
er hat Nerven allein und die müssen wieder ausströmen lassen,
was bei ihnen eingeströmt ist, weil nichts da ist, es zu binden:
keine Form zum Gefühl, kein Altes zum Neuen, keine Ruhe zum Reiz.
Es war vielleicht, daß die Welt dem Künstler doch etwas
zu offen stand. Wohin sein Auge blickte, war alles erlaubt und
nichts befohlen. Der Horizont war voll von neuen Nuancen und
Sensationen. Die Exotik brachte ihre reichen Gewächse: man
nahm ihnen die Schale und kleidete alte Kerne darein. Die fremden
Blumen bestäubten einander wider Willen der Natur. Es kam ein
Babel von Reizen und Lustwerten, die alle zu unendlicher, wahl-
loser Mischung wild durcheinanderflogen; und was sich da ergab,
war eine Kultur des grundlosen Blütentums; eine Kultur der
unbekannten Väter.
Es ist natürlich, daß diese Kunst, die nichts Festes zu
verteidigen hatte, das Gesetz vermied, das ihr in ihrem Frei-
beutertum unbequem werden konnte; daß sie den Individualismus
aufstellte, weil sie für ihre Zufälligkeiten keine andere Recht-
fertigung, als die der Persönlichkeit finden konnte; und daß sie
die Inkommensurabilität hochhielt, weil sie jeden Vergleich scheuen
mußte. — Das Ich, welches verlernt hatte, hinter der Form zu
verschwinden, war auf eimal überall lästig im Wege, wo es galt
die Wahrheit zu sehen. Man entschloß sich sie »ä travers un
temperament« zu betrachten. Aber das Temperament überwucherte
bei so guter Behandlung und bald war vor ihm keine Wahrheit
mehr zu sehen. Was war nun übrig, als den Spruch umzukehren
und zu sagen, die Kunst sei gerade jenes Temperament, jenes Ich,
durch die Natur hindurch gesehen. Das Hindernis wurde zur
41 —
Hauptsache, die Neuartigkeit zum Maßstab. Man wollte das
Gute daran erkennen, daß es einem unbekannt war. Die
Persönlichkeit hatte keine Kontrolle für die umherfliegenden
Reize und die Kunst hatte keine für die Persönlichkeiten.
Denn kontrollierbar ist nur das Unpersönliche und das
Formale. So ist es selbstverständlich, daß Reize und Persönlichkeiten
entstehen und \rirken konnten und sich überall einschlichen, wo
sie nicht hingehörten; daß Kitscher ohne Zahl aus allen Winkeln
herv'orkrochen und — mit dem Paß ihrer Namenlosigkeit ver-
sehen — die Grenzen überschritten. Die Kitscher kommen unter
die Künstler, die Künstler, mit ihren Reizen, gehen unter die
Handwerker und die Handwerker werden angesteckt und verkaufen
ihr Seelenheil, wenn sie nur Kitscher werden dürfen.
Hier, in diesem Einbruch in ein Gebiet, wo reinere Gesetze
gelten, liegt das größte Verbrechen dieses Individualismus. In
den abstrakten Künsten ging es ja noch irgendwie. Aber wenn
es dort schon unangenehm genug war, statt eines Dinges einen
Duft zu Gesicht zu bekommen, so wurde es hier vollends
unerträglich, wenn einem zugemutet wurde, sich auf ein Seelen-
leben niederzusetzen und in einem Nervensystem zu wohnen.
Man war auf einmal zur Teilnahme gezwungen, an allem was
einen sonst in Ruhe gelassen hatte. Der Gedanke der Zimmer-
einrichtung, jedes Ding so richtig an seinen Platz zu stellen,
daß es sozusagen mitten im Zimmer unsichtbar wird, und der
Sinn des Möbels waren ganz in ihr Gegenteil verkehrt.
Schränke äußerten ihr Innenleben, Stühle machten ihre Menschen-
rechte geltend : und der Mensch war ein Gebrauchsgegenstand des
Möbels geworden. Eine Lebendigkeit verzweifelter Art hatte sich
der Dinge bemächtigt. Das neue Ornament, von nirgends abgelfeitet,
hemmungslos hergestellt, gemischt und übertragen, hatte im Nu
die halbe Welt belebt. Es hat ihr einen Schaden zugefügt, von
dem sie sich nach Generationen noch nicht erholt haben wird.
Denn die Werke, die daran tragen, bleiben bestehen. Das
Ornament ist Wind, aber es ist von Eisen ; es hat kein Original,
aber es hat Millionen Wiederholungen. — Denn die Maschine
ist willig. Früher, bei der Handarbeit, war jedes Stück gerichtet
und geprüft: von der Tradition, vom Meister und vom Material
— die alle sachverständig waren — ging Kontrolle aus; Her-
stellbarkeit und Brauchbarkeit waren die polaren Kriterien,
42
zwischen denen es kein Entschlüpfen gab. Als aber die Maschine
kam, ward mit einem Schlage alles anders. Vor ihrer Pracht
war Brauchbarkeit auf einmal keine Frage mehr, alles war
herstellbar, kein Material widersetzte sich, die Meister wurden
eingeschüchtert und vor der Fülle der Gesichte wich alle
Tradition. Der Künstler halte eine Anregung und wußte
nicht woher, er machte einen Entwurf und wußte nicht wozu;
er gab ihn dem Handwerker, der ihn ausführte, und wußte
nicht wovon; und die Maschine reproduzierte das Ganze: »genau
nach Angabe« und mit Präzision ; und führte so noch ihre schönste
Eigenschaft ad absurdum. Der Individualismus, der aus dem all-
gemeinen Nichtskönnen jedem das seine rettete, und die Maschine,
die für Verbreitung dieser Einzigkeiten Sorge trug, sie bereicherten
ihr Zeitalter um ungeahnte Dinge. Aber dabei blieb es nicht stehen.
Die Möglichkeiten der Maschine wirkten zurück auf den Künstler:
sie ging nicht nur auf alle seine Wünsche ein, sie verführte ihn
auch zu neuen Taten »aus ihrem Geiste«, wie sie fantastischer und
ungeheuerlicher sein eigener nie erdacht hätte. Und jetzt gab es
kein Aufhalten mehr. Die wechselwirkenden Mächte des Bösen
schufen Greuel auf Greuel. Stündlich entstanden neue Stile. Ein
Gedanke, ein Druck auf einen Hebel und die Maschine spie ihre
Ungeburt der wartenden Welt in die Arme. — Das Unglück hatte
gewollt, daß die beiden gräßlichen Erfindungen, Individualismus
und Konfektion gerade zur gleichen Zeit über die Menschheit
hereinbrachen, noch im Üblen die äußersten Gegensätze,
das Unbrauchbar-feine und das Unbrauchbar-rohe: Cachet und
Gliche waren hier aneinander gebunden. Und das große
Zwischenglied war aus der Welt verschwunden. Die beiden Gegen-
sätze hatten es aufgebraucht. Das alte Gewerbe hatte Arbeit und
Schönheit gehabt, die einander nah bedingten. Nun ging hier die
Arbeit in der Maschine auf und dort die Schönheit im Rauch der
Reize. Sie verkamen sozusagen in verschiedene Welten hinein,
verloren jede Erinnerung aneinander. Und so konnte es nicht
mehr ohne Unglück geschehen, als sie wieder zueinanderstießen.
Man sucht und sucht nach einer Kunst, die von all diesen
Nöten noch unberührt geblieben, die bisher noch nicht verkitscht
ist. Und man findet: den Zirkus. Der Zirkus ist in seinen letzten
Wirkungen genau so hoch, wie die Kunst; er unterscheidet sich
nur darin von ihr, daß in ihm nicht geschwindelt werden kann.
— 43 —
Er ist, wie das große Kunstwerk, einseitig im tiefsten Sinne: er
kennt nur die Leistung und von der Wirkung weiß er nur, daß
sie mit jener steht und fällt Er hat keine psychologische oder ipnst
eine Hintertür und für das Mißlingen hat er keinen Namen, als
den Namen >schlecht«. Er kennt nur die Form; für Inhalte hat er
keine Verwendung. Was sind seinem unermeßlichen Reichtum
die Schätze an Inhalten, Symbolen und Reizen, die abertausend
Bilder, die er dem Zuschauer »draufgibt« ; wie würde er 's verschmähen,
von ihnen je Notiz zu nehmen. Gerade wie ein Johann Sebastian
Bach, dem man erzählen wollte, was einem bei dner Fuge alles
durch den Kopf gegangen ist. — Und das ist der höllenweite
Unterschied. Hier ist die Kraft, die vor dem großen Kilschig-
werden Schutz gewährt ; die alle Verarmung, alle Schäbig-
keit und alle Selbstverzehr ung ewig unmöglich macht; und die das
Heil verspricht, nach dem die >große Kunst« schon lange dürstet.
Wer heute vor dem Kitsch genügend Angst und Ekel hat, der
blicke auf den Zirkus; und wenn er dessen Sinn gefaßt hat, so
hat er das Gebrecnen, die Grenze und den neuen Weg gesehen,
wie nie zuvor, und mag sich freuen.
Den Kitsch gibt es seit jeher und der vom alten Prinzip
ist hundertfach in Überzahl. Aber ich habe lieber den neuen
beschrieben, denn er ist sicher das tiefere Übel.
Schönherrs Drama
Von Berthold Viertel
Diese Dichtung aus der Zeit der Gegenreformation
in den österreichischen Alpenländern ist kein historisches
Drama. Sie ist geradezu antihistorisch. Sie ist ins
Elementare gerettet, ist sachlich, menschlich, ethisch
elementar und, um alles mit einem Wort zu sagen,
elementar dichterisch; nicht ganz ohne die fragwürdige
Nebenbedeutung des Wortes elementar. Schönherr hat
auch dieses Thema in die unmittelbare, primitiv-
menschliche Drastik gezwungen, die ihn vor den
Dramatikern der Zeit auszeichnet. Daß er die »Heimat«
anders gestaltet, als die Heimatkünstler es sich träumen
lassen, und mit welchem Können, das wußte man seit
seiner »Erde«. Für den »Glauben« fürchtete ich. Aber
das Werk hat mich widerlegt. In »Erde« hatte Schön-
44
herr die Erdkraft seines Bauerntums beschworen. Nun
beschwor er ihren Bauerngeist. Er hat nie vorher seine
Menschlichkeit mit solcher Inbrunst ausgedrückt. Er
hat sie nie zu solcher Höhe gejagt. Wie seine Menschen
wurzeln, wie das Leben sie nimmt und sie das Leben
nehmen, das gab er schon stark, nun gibt er es stärker.
Und gibt ein Neues: wie sie bekennen. Er drückt
allerdings den »Glauben« ' durch die »Heimat«
aus. Indem er zeigt, was sie mit ihrer Heimat
opfern, und wie sie es doch opfern für ihren
Glauben. Sie haben sich in ihrer zähen, schweren,
aber schließlich doch überzeugenden Art zum Geiste
gestellt. Hier lernt man fühlen, welche Aufgabe es
wäre, sie zu brechen oder gar zu biegen. Ihre innerste
Treue, trotz aller irdischen Gebundenheit, singt diese
wilde, zwingend gesteigerte Ballade. Die Begriffe
»Katholizismus, Protestantismus« sind belanglos für das
lyrische Pathos ihrer Blutzeugenschaft. Es ist schwere,
schwerste Zeit, und schwerer Sieg. Katholizismus, das
bedeutet nicht viel mehr als ein: »Unser gnädigster
Herr und Kaiser will uns Lutherische nimmer gedulden 1«
mit all seinen Konsequenzen. Die Konsequenzen sind
das Wesentliche. Protestantismus: »Mein G'wissen ist
noch ein viel g'strengerer Herr als Papst und Kaiser.«
Möge man es als ein lutherisches Pamphlet auffassen,
aber als ein Pamphlet gegen jede Religion, die sich als
Macht wider ein anderes Bekenntnis kehrt. Und als Erlöser-
schrei jeder Religion, die zur Zeit wirklich nichts ist
als reines Bekenntnis. Es gilt nicht die Überprüfung
eines Gedankens, ein Menschentum bewährt sich: sein
heißer, erdnaher Lebensernst, sein zäher, grobknochiger
Wille, sein fanatisches, unausrottbares Herz. Und die
ganze kleine, enge Welt dieser Menschen sättigt sich
mit einer Eindringlichkeit, daß man überall den Ge-
danken, der in ihr so unbarmherzig treibt, zu spüren
bekommt, obwohl man ihn nirgends fassen kann.
»Erde« ist das besser verwurzelte Werk, aber »Glaube
und Heimat« ist das Lieblingskind des Dichters, aus
seiner heißen Liebe geboren.
45 —
Macht gegen Bekenntnis: ein ewiges Problem
aller Religion auf Erden. Ohne darüber auch nur einen
Augenblick lang zu theoretisieren, hat Schönherr seine
Menschen sofort in die unmittelbare Praxis des Beken-
nens gestellt. Damit das E.xperiment gelinge, sind alle
Umstände möglichst vereinfacht. Der Zweifel (das höhere
Religionsproblem) ist ausgeschaltet. Die lutherischen
Bauern zweifeln hier nie an der Wahrheit ihres
Bekenntnisses, aber auch nie an der Berechtigung der
kaiserlichen Befehle. Daß einer irgendwie den Komplex
»Heimat« als problematisch empfände, daran ist natür-
lich gar nicht zu denken. Instinkte, nicht Begriffe.
Heimat ist hier ganz konkret; Besitz vor allem, kt
der Acker, den sie mit Schweiß und Blut betreut
haben, von dessen Ertrag sie gelebt haben, seit sie leben.
Das Vermögen ist bei ihnen zugleich unentrinnbarer Ge-
brauch, Geräte, Haustiere, die dienend mit den Menschen
leben, von deren Dienst die Menschen leben. Der
Boden ist ihre absolute Gegenwart, aber auch die Ver-
gangenheit und Zukunft ihres Geschlechtes, sie wurzeln
in ihm, mit ihren tiefsten G^tungsinstinkten. Ihr
Boden ist für sie Freiheit, Selbstbestimmungsrecht,
Menschenrecht, Menschenwürde, und die Sicherheit all
dieser Güter. Ist der ihrer einzig würdige Aufenthalts-
ort auch noch als Grabstätte. Ist ihr soziales Selbst-
bewußtsein, unbeirrbarer Kastengeist. Und wie sie
selbst im Boden wurzeln, so verwurzelt sich in ihnen
ein Gedankenkeim, der in die Fruchterde dieser Seelen
fällt. Und ihre ganze mütterliche Treue umfaßt diese
Pflanze ihres Innern, eine Treue bis zur Selbstauf-
opferung. Aus diesen primitiven, unbeirrbaren Kräften
ergibt sich die rauhe Dynamik des Dramas.
Es gibt natürlich solche Menschen nicht, aber
es gibt seit Schönherr ein solches Drama. Er hat seine
Bauern aus einer inneren Primitivität, aus einer irgend-
wie zugleich sehr persönlichen und überpersönlichen
Urmenschlichkeit herausgeholt, die sich nicht weiter aus
einem Milieu ableiten, die sich nur künstlerisch mit-
erleben läßt. Die menschliche Anlage ist hier identisch
46
mit einer dramatischen Begabung, wird restlos durch
eine Technik ausgedrückt. Ein Triumph dieser Technik
scheint mir die Vermenschhchung der Staatsmacht und
des Besitzraubes durch zwei Kraftgestalten. Da ist der
Reiter, dieser Mythenmensch, wie aus der Balladen-
phantasie des Volkes geholt. Ein Würger mit Herz,
den man persönlich bekämpfen und seelisch über-
winden kann. Der ganzen Konzeption des Werkes
nach soll der Katholizismus den Bauern nur erscheinen
als solch ein kaiserlicher Reiter, der mit seinen
»Fanghunden«, den Soldaten, die Gegend säubern
kommt. Die Gestalt entschädigt dichterisch für solche
krasse Verkleinerung. — Und der andere,, der mächtige,
humorhafte »Häuserfraß«, der Geldbauer, der alle
erledigten Güter zusammenkauft. Auch er, seine prächtig
erfundene Situation und Gesinnung, wirkt Person
gegen Person, pointiert das Zurückweichen, das Opfern
der Anderen menschlich. Das kann Schönherr: sach-
liche Zusammenhänge in menschliche Situationen,
und Innerlichkeiten in Gegenständliches verwandeln. —
Aber das eigentlich Neue der Schönherr'schen Technik
scheint es mir zu sein, wie alle die Menschen mit
sehr raffinierter Sparsamkeit, die reiche Fülle vortäuscht,
rein motivisch verwendet werden, wie sich eigentlich
nur ein dualistischer Zustand entwickelt, die Schicksale
der einzelnen aber nur als Bewegungsakzente in
diesem Zustand auftauchen, während er fortschreitet.
Schönherr ist ein Meister der repräsentativen Momente.
Die Ausführung des kaiserlichen Befehls bringt in
ihrem natürlichen Verlauf eine sorgfältigste Steigerung
des Antagonismus Glaube — Heimat, Bedrängnis — Be-
kenntnis, Enteignung — Opfer. Eine genaue Artikulation
bis in die Abschiedsgebärden hinein. Es ist erstaunlich,
vie durchgreifend die wenigen Elemente verwertet
werden, wieviel Bewegung die wenigen Figuren machen,
wie sie die Bewegung weitergeben, individualisieren,
pointieren. Wie kunstvolle Hemmung und Ver-
zögerung sich ergibt. Die beiden Gesten des Fest-
haltens und des Aufgebenmüssens sind raffiniert in-
47 —
einanderkomponiert. Mit wenigen Mitteln wird sehr stark
der Eindruck des sich Ankrampfens, des Entwurzelt-
werdens, des von der Kraft des Glaubens Ausgestemmt-
werdens und Fortgeschleiftwerdens eru'eckt. Und, bei
aller Passivität, der Eindruck des Sich-Befreiens, des
Oberwindens. Diewahrhaft christliche Selbstüberwindung
des Letzten steht am Ende einer organischen Reihe und
wirft das Licht ihrer Bedeutung auf alle anderen zurück.
Wie perspektivisch das Kleinleben verteilt ist, die
menschlichen Züge. Diese sechs Menschen repräsentieren
immerhin Volk. Wenn ein Anwesen verkauft wird,
der Schreiber die Leute verliest, die der Reiter austreibt,
dann fühlt man stark das Losreißen aus einem
Organismus. Wie die Leute sich noch einmal um-
wenden, oder sich ein für allemal abwenden, die
Verschiedenheit des Schrittes, der sie wegführt, das
merkt man sich. Vergißt nicht mehr tausendfaches
Zaudern und doch Müssen. Der Reiter brauchte gar
nicht sein Schwert zu zerbrechen. Man weiß ihn besiegt.
Meine Vorlesungen
Sie sollen der Verbreitung meiner Bücher dienen, die in
Deutschland unbekannt sind und in Österreich als bekannt
vorausgesetzt werden. Darum habe ich nach dem zweiten Wiener
Leseabend am 3. Juni 1910, der, wieder vom Akademischen Verband
für Literatur und Musik im Architektensaal veranstaltet, noch stär-
keren Erfolg als der erste brachte — ich mußte nach »Heine
und die Folgen« und der »Chinesischen Mauer< die >Welt
der Plakate«, den damals noch ungedruckten »Biberpelz« und
das »Ehrenkreuz« lesen — , darum habe ich also die Einla-
dung emer Münchener Konzertdirektion zu einer Tournee angenom-
men. Diese hat zunächst fünf Abende umfaßt und wird im Frühjahr
ihre Fortsetzung finden. Die Vorlesung in München (30. Novem-
ber) wurde von der Konzendirektion selbst, die Vorlesungen in
Frank-furt (2. Dezember), Aachen (5. , Prag (12.) und Brunn (14.) wur-
den von den literarischen und akademischen Vereinen dieser Städte
veranstaltet. So unbeträchtlich zum größeren Teil, in Lob und Tadel,
die kritischen Urteile sind, die mir gespendet wurden, so notwendir
48
ist es, sie hier zu zitieren, weil die Wiener Öffentlichkeit
von ihrer Presse in solchem Falle noch immer nicht einmal
ein Zeichen bekommt, daß etwas verschwiegen wird. Natür-
lich ließe sich auch an den Urteilen der fremden Journalistik die
Uninformiertheit, zu der der Beruf inkliniert, durch drollige Proben
beweisen, und jene typische Unfähigkeit, auch nur die greifbaren Tat-
sachen des äußeren Erfolges darzustellen, die zu den bekannten
Widersprüchen führt, vor welchen der gläubigste Leser zweier
Morgenblätter an der Offenbarungskraft der Druckerschwärze zu
zweifeln beginnt. Schon in München, wo immerhin fünfhundert
Leute erschienen waren, schwankte die Presse zwischen einem
dichtgefüllten Saal und leeren Bänken. Der Herr in der , Mün-
chener Zeitung' neigte sich der pessimistischen Auffassung zu
und setzte hierauf das Wesen des Lampenfiebers auseinander:
Sein Auftreten hat etwas Scheues, Zaghaftes, aber wenn er erst
darüber hinweg ist, dann trägt er mit scharfer Pointierung, vielem
Temperament und einer klaren, klingenden Stimme vor. Seine Satire
richtet sich gegen alles, was an unserer Kultur schief und faul ist. Sein
Witz trifft mitten ins Herz der Dinge, und von seinem Geiste geformt,
gewinnt das Gewagteste eine bestechende Form. Aber — man sollte
nicht so viel davon zu hören bekommen. Und manches, wie der große
Essay >Die chinesische Mauer« — ein gewaltiger Panegyrikus auf die
chinesische, moralinfreie Kultur — eignet sich überhaupt nicht für den
Vortrag, da es selbst dem beweglichsten Geiste nicht möglich ist, diesen
wie einWolkenbruch niederprasselnden, sich überkugelnden, verschlingenden
und wiedergebärenden Gedanken, Bildern, Assoziationen und Konklusionen
ohne Ermüdung bis zum Schlüsse zu folgen. Ganz abgesehen davon, daß
Kraus hier dem von ihm nach Verdienst zerzausten Harden zuweilen doch
ganz bedenklich nahe kommt. Und wer sich selbst manchmal in ein
Glashaus verirrt, sollte nicht mit Steinen werfen. Am besten gefiel die
Mehrzahl der funkelnden Aphorismen und die glänzende Abfuhr
Hardens ....
Der Kritiker, dem das Steinewerfen ja also gefällt, wollte
vermutlich sagen, daß wer selbst mit Steinen wirft, sich nicht
manchmal in ein Glashaus verirren sollte. Die Beleidigung jedoch,
daß meine > Chinesische Mauer« Herrn Harden bedenklich nahe-
kommt, muß sich dieser nicht gefallen lassen; das hat ihm noch
niemand nachgesagt. Die , Münchner Neuesten Nachrichten'
aber schrieben :
Karl Kraus erschien gestern abend zum erstenmale im Jahres-
zeitensaale und las aus seinen Schriften vor. Seine plastische Art zu
sprechen, gab den Dingen Relief, und die baritonale Wienerische
Färbung störte nur anfänglich. Die Gedankenketten und Erkenntnisse,
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die Kraus zutage fördert, sind zu bedeutend, als daß man sie sich
durch irgendwelche Landesfarben maseriert vorstellen möchte. Nach der
grotesken Paraphrase »Die Welt der Plakate« rezitierte Kraus einiges aus
den Aphorismen. Das geschah mit Einfachheit, aber auch ohne die Pose
der Schlichtheit. Manches schöne Monument der Kunst und der Kultur
sahen wir unter den Hammerschlägen dieses Denkers in Trümmer gehen,
und erkannten im Schutt, daß es aus schlechtem Material bestanden.
Mit den hundert nadelspitzen Bosheiten über Maximilian Hardens Stil
und Art schloß der erste Teil des Programms. Der Satiriker würde ver-
mutlich die Wirkung vertieft haben, wenn er die Belegstellen aus der
Desperanto-Sprache, wie er Hardens Deutsch nennt, dezimiert hätte. Daft
Kraus nicht nur zertrümmern, sondern auch zu bauen vermag, hat der
aus einer schöpferischen Phantasie gezeugte Essay Die chinesische
Mauer dargetan. Die Ermordung der Elsie Siegel im Chinesenviertel
wird hier zum Ausgangspunkt einer grandiosen Rhapsodie, die in Donnern
zum alten Europa redet. Das zahlreiche Publikum brach nach Beendigung
der Vorlesung in stürmischen Beifall aus und brachte dem Autoi
Ovationen dar. E
Die , Münchener Post' schrieb-:
Karl Kraus, der uns Münchnern vor allem als Mitarbeiter iles
Simplicissimus bekannte Herausgeber der Wiener Fackel, saß Mittwoch
abend im Festsaal der Vier Jahreszeiten am Vortragspult und las aus
seinen im Verlag Albert Langen erschienenen Aphorismen und Aufsätzen
ausgewählte Bruchstücke. Kraus ist ein Verneiner von seltener Rück-
sichtslosigkeit, ein Spötter von blitzender Stilgewalt, ein Angreifer von
katzenhafter Bissigkeit. Ich möchte den Dämon, der in ihm lauert, eher
eine Ausgeburt, denn einen Sohn unserer qualvoll zerrissenen Zeit
nennen. Seine Ironie sprüht wie brodelnder Gischt und steigert sich
zum pathetischen Haß. Mit affenartiger Behendigkeit hüpft sie in einem
Satz dem Zeitgeist ins Genick und hetzt ihn hohnlachend zu Tode. Zu
jenem Tode, den eben nur die Lächerlichkeit gebiert. Doch Krausens
Lachen klingt selbst abgehetzt, nicht befreiend. Und will es auch gar
nicht. Es ist ein kurzes, stoßweis meckerndes Gelächter voll satanischer
Bosheit. Es ist, als kläUjje geheime Lust daraus, daß die Welt so
schlecht sei ! Aber dies Lachen ist von zeitgemäßer Suggestionskraft.
Diese liegt in der unberechenbaren Sprunghaftigkeit der Krausschen
Gedankengänge, in der Verwegenheit ihrer Logik, in der aphoristischen
Knappheit des Ausdrucks. So bildeten denn auch die besten der vor-
getragenen Aphorismen und kürzeren Satiren wohl den Angelpunkt des
Abends. Den tollen Reigen eröffnete, frisch und frech wie ein Attacke-
ritt, und durch den lebendigen Vortrag entsprechend pointiert, die
Kultursatire DieWeltder Plakate. Dann folgte der beliebte Frontangriff
gegen Ma.ximilian Hardens Schreibunarten, für die Kraus den witzigen
Namen >Desperanto< geprägt hat Doch verlor sich hier der Vortrag in
die Breite und büßte so manches von seiner Wirkung ein. Unter dem Ober-
maß von spitzfindigen Zumutungen an seine Fassungskraft ermattete das
Publikum sichtlich und rasch. Zumal als sich der Autor schließlich bei der
Vorlesung des Essays Die chinesische Mauer — einer leidenschaftlich
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zugespitzten, von jüngeren amerikanischen Geschehnissen veranlaßten
Philippika über die >gelbe Gefahr« und den Kulturbankrott der weißen
Rasse — in ein rasendes, von keuchendem Pathos getragenes Tempo
hineinhetzte. Doch geizte die Verehrerschar nicht mit ihrem Beifall,
der zum Schluß dem unentwegten Skeptiker auf dem Podium sogar
mehrfache Verbeugungen ablockte. P.
Die , Augsburger Postzeitung' schrieb unter dem Titel
>Karl Kraus kontra Harden<:
Von Karl Kraus, der seit elf Jahren in Wien die Wochenschrift
.Fackel' herausgibt, weiß man längst, mit welcher diebischen Freude er
die raffiniert berechnete Mache und besonders den ungenießbaren Stil
Hardens karikiert. Darum bot die von Karl Kraus am 30. November
im Jahreszeitensaal in München veranstaltete Vorlesung auch demjenigen
Vergnügen, der sonst für den Zynismus des Gesellschaftskritikers vom
,Simplicissimus', von der .Fackel', vom ,März' wenig übrig hat. Kraus
verlas mit guter Pointierung seinen im September d. J. im ,März'
erschienenen Aufsatz >Desperanto, Versuch einer Übersetzung aus Harden*,
eine mit köstlichen Bosheiten durchspickte Verulkung des Hardenschen
Stils, der >Desperantosprache, die wie keine andere die Möglichkeit
bietet, sämtliche Nationen auf dem gemeinsamen Boden gegenseitigen
Mißverstehens zusammenzuführen«. (Folgen einige Proben) .... Im
übrigen konnte ich mich nur mit der frischen, originellen Skizze »Die
Welt der Plakate« aus der Aufsätze-Sammlung >Die chinesische Mauer«
befreunden, auch noch mit einigen witzigen, feingeschliffenen Aphorismen
aus den »Sprüchen und Widersprüchen«. Als der Aufsatz über den
Newyorker Kuli-Mord an Elsie Siegel (Juli IQOQ) kam, glaubte ich, daß
die in der Buchausgabe enthaltenen krassen Zynismen über chinesische
Päderastie wegbleiben werden; aber auch diese verlas Kraus, ohne Rück-
sicht auf die eleganteren Forderungen guten Geschmacks und zur größten
Verlegenheit der zahlreich anwesenden Damen.
Schon am übernächsten Tag fand die Vorlesung in Frankfurt
statt. Die (Frankfurter Nachrichten und Intelligenzblatt'
hatten einen längeren Artikel, der viel Anerkennung, die Fest-
stellung des großen Erfolges, aber leider auch eine Inhaltsangabe
des Essays »Die chinesische Mauer< brachte:
Der Umstand, daß bei diesem Manne zweitausend Liebesbriefe
weißer Frauen gefunden wurden, gebe dem Ereignis seine kulturbange
Größe. Dasselbe zeige sich, wenn Menschen fremder Rasse,
die Genuß und Ethik auseinanderhalten, sich auf unseren
Jahrmärkten zeigen. Auch diese Auseindersetzung in ihrer schlag-
wortreichen Verallgemeinerung fand lebhaften Beifall, der allerdings zum
Teil der blendenden Fassung und der feurigen Wärme des Vortrags
zuzuschreiben ist. ... In seinem Buche »Sprüche und Widersprüche«, also
im Aphorismus spricht sich seine besondere Veranlagung am besten
aus und in dieser Abteilung konnte er auch seine Stilkunst in blitzenden
Pointen ausstreuen. . . . Lebhafte Hervorrufe zum Schluß sagten Ihm,
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daß er mit seinem Debüt gefallen hatte, er wird sie als Zustimmung
ZQ seinen ethischen Folgerungen nehmen.
Da sei Gott vor. Der sozialdemokratischen ,Volksstirame'
ginge ein solcher Umschwung in Frankfurt auch sehr wider den
Strich. Sie ist überhaupt gegen das Niederreißen:
Als Kulturkämpfer geißelt Kraus alle Erscheinungen an Unkultur,
indessen er gei&elt bloß, warum das so ist und wie man die Sache
von der Wurzel aus positiv bekämpfen kann, überläßt er besser schon
dem .Kunstwart'.
Dieser tiefen Bemerkung, die auch im ,Kunstwart' stehen
könnte, reihen sich andere an; darunter die zugleich taktlose, daß
ich >einen jener berühmten literarischen Reklameprozesse herauf-
beschworen habe«. Lästig genug war bisher der Vorwurf, daß
ich unkluger Weise einer Reklame gegen mich geholfen hätte. Zum
guten Ende — warten wirs ab — wird dieser Prozeß am wenigsten
einer Presse zur Reklame gereichen, die ihre schmutzige Hand
beschmutzt hat, als, sie ihn berührte, und nicht ahnend, worum
es sich handle, mein notgedrungenes Tun so infam mißdeutet
hat wie mein notgedrungenes Schweigen. Der sozialdemo-
kratische Kritiker nennt mich im Übrigen »einen Spaßmacher
der heutigen großbürgerlichen Gesellschaft«, einen »glänzenden
Schriftsteller, der nicht immer ernst genommen wird, der aber
immer interessiert« und setzt hinzu: >etwa wie man über einen
Dackel lacht, der immer das Gegenteil tut von dem, was man ihm
sagt«. So renitent ist ein sozialdemokratischer Preßköter nicht.
Er gibt sogar positiv zu, daß es »ein unterhaltsamer, amüsanter
Abend war, den man der Gesellschaft für ästhetische Kultur
danken kann<.
Die »Frankfurter Zeitung* aber brachte als Vorl)ericht
den folgenden Artikel:
Unter dem Titel »Die chinesische Mauer« hat der Wiener
Satiriker Karl Kraus (der heute Abend in der Frankfurter Gesellschaft für
ästhetische Kultur aus seinen Werken vorliest. D. Red. bei Albert Langen
in München einen Band gesammelter Aufsätze herausgegeben, die
ursprünglich zum Teil in der .Fackel', zum Teil im .Simplicissimus'
erschienen sind. Es ist, wie sich von selbst versteht, ein Band Ketzereien,
auch viel Kanalräumerarbeit darunter, aber mit silberner Schaufel ver-
richtet. Mit dem Satiriker darüber zu rechten, wo er Recht hat, wo er
blutig übertreibt, wäre Verkennung des Wesens der Satire, die ihr gut
Teil Narrenfreiheit beanspruchen darf und davon lebt, sich immer von
neuem darüber zu entrüsten, daß der Herrgott bei der Erschaffung des
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Menschen mehr Lehm als göttlichen Odem verwendet hat. Der Satiriker
muß nur in der Tendenz, nicht in der Tonstärke Recht haben, ja die
groteske Übertreibung ist eines der Kunstmittel, durch die er wirkt.
Und in der Grundtendenz hat Kraus Recht. Er verteidigt die feinnervige
Persönlichkeit gegen die überall sich breit machende selbstzufriedetie
Trivialität, gegen die Klischees des Gedankens und der ungeprüften
Moral. In der Form verleitet ihn die witzige Pointe; in der Sache ist
er ein Fanatiker seiner Überzeugung oder, wenn man will, seiner Welt-
anschauung. Uns mutet er fast tragisch an. Er reibt sich die Hände
wund in den Ekstasen seiner Entrüstung und seines Absehens und muß
erleben, daß seine Wutausbrüche von derselben Menge, die er verhöhnt,
als Tafelsenf, als mixed pickles zum täglichen Rindfleisch genossen
werden. Wir wollen es abwarten, wie lange er den aussichtslosen Kampf
gegen das Niederträchtige und Gemeine in allen Formen weiterkämpft.
Vielleicht erinnert er sich einst des Sprüchleins von Goethe, das von
solchem Kampfe abrät. Bis dahin können wir uns immerhin bei vielem
Widerspruch im einzelnen der blutigen Geißelhiebe freuen, die er aus-
teilt. Die meisten Artikel des Bandes sind durch >Aktualitäten< veran-
laßt; es spricht für die Qualität der Arbeit, daß sie heute, nachdem der
Anlaß fast unserem Gedächtnis entschwunden ist, noch mit dem gleichen
literarischen Behagen gelesen werden können wie zur Zeit ihres Er-
scheinens. Damals wirkten sie wie Schnaps nach schmalzigfetten Ge-
richten; jetzt als aromatischer Likör. — Dr. H. G. (Wien).
Der Bericht über den Vortrag lautete:
Im Saale des Kaufmännischen Vereinshauses las gestern Abend
auf Veranlassung der Gesellschaft für ästhetische Kultur Karl Kraus,
der ,Fackel'- Kraus, aus seinem Werk vor. Zuerst die phantastische
Skizze »Die Welt der Plakate«, in der die Gesamtheit der uns täglich
und stündlich in die Augen fallenden Affichen die reale Welt verdrängt
und den unglücklichen Beschauer zum Wahnsinn treibt; dann folgten
Aphorismen. Aphoristische Geistesblitze zu verfassen ist bei einigem
Training nicht schwer. Es gibt Leute, die täglich nach dem Frühstück
ein Dutzend fabrizieren. Die Aphorismen von Kraus unterscheiden iich
von gleichnamigen Erzeugnissen dadurch, daß sie nicht von der Freude
am Geistreichen diktiert sind, sondern von dem glühenden Haß gegen
das Philistertum in jeglicher Gestalt; und so gut hassen wie Kraus
können nur wenige. Außer einigen Proben aus seinem Harden-Lexikon
brachte der zweite Teil des Programms den Essay »Die chinesische
Mauer« (der auch dem in der gestrigen Nummer besprochenen Sammel-
band den Titel gegeben hat). Es ist erstaunlich, wie Kraus es versteht,
einen fktuellen Gegenstand, wie es der Mord der Elsie Siegel durch
einen Chinesen war, aus der zeitlichen Sphäre journalistischer Aktualität
zu heben und in den denkbar weitesten Rahmen großer Kulturzusammen-
hänge zu spannen. Die Vortragsweise Kraus', die zwar in der Verteilung
der Höhepunkte unökonomisch verfährt, aber durch das energische
Temperament und die eindringliche Überzeugungskraft von starker
Wirkung ist, fand bei den Zuhörern vielen Beifall. — x.
Dem Herrn von der , Kleinen Presse' jedoch waren die
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dreizehnhundert Hörer nicht genug; er stellte fest, der Saal sei nur
halb gefüllt gewesen und tröstete mich damit, daß der »Antipode
Harden, als er hier auf eigene Rechnung spielte, noch schlechtere
Geschäfte gemacht« habe. Der Mann hatte den Ehrgeiz, in einer
längeren Kritik zu beweisen, daß ich ein »glänzender Journalist«,
aber »eben doch nur« ein dilettantischer Vorleser sei. Im Vortrag
der Glossen, Satiren, Aphorismen sei ich zwar vortrefflich. Aber
dort wo 'ch >;n gedämpften, verhaltenen, wiegenden, singenden
Tönen rede«, da gehe es nicht mehr. Und mit China habe ich
auch Unrecht.
Diese Pamphletisten, die so geistreich sind, daß sie zuweilen
schier nicht wissen, wohin mit ihrem Vermögen, geben eben doch nur
sozusagen das Salz zur Suppe und in einem alten Lesebuch findet sich
der Satz: Rindfleisch ohne Senf ist besser als Senf ohne Rindfleisch.
Darum ist es gut, daß wenn einmal Senf nach Frankfurt
kommt, gleich ein ganzer Ochs da ist. Tief enttäuscht ist der
Kritiker von meinem Aussehen. Man hat sich nach meinen Schrif-
ten eine eckige, kantige Stirn vorgestellt und »sah erstaunt einen
ganz andern Mann auf der Bühne, knochig von Gestalt u. s. w«
Im Vergleich zu der einstudierten Schauspielerei Hardens eine
angenehmere Erscheinung. Und doch auch eine Enttäuschung. Aber das
kommt von dieser neuen Mode, die Literaten statt durch ihre Werke,
persönlich sprechen zu lassen. Das kann immer nur eine oberflächliche
Bekanntschaft zwischen Autor und Publikum geben, und manchmal
sind beide Teile damit nicht recht zufrieden.
Sehr richtig. Natürlich wäre es besser gewesen, so einen
Frankfurter wie diesen Frankfurter näher kennen zu lernen.
Und ganz besonders bedaure ich solche Einbuße bei den
dann kommenden Aachener Individualitäten, die das Malheur
hatten, meine oberflächliche Bekanntschaft zu machen, ohne
daß es mir vergönnt war, sie in der Nähe zu besichti-
gen. In Aachen, wo das Leben immer nur als eine Folge ver-
gangener Freuden empfunden wird, fand ich eine ziemlich ge-
drückte Stimmung vor. Ein Bekannter warnte mich, die Bevöl-
kerung sehe einer bangen Zukunft entgegen, ich sei in eine ungünstig "^
Zeit hineingekommen, in der man besonders einem Mann, der
direkt aus Frankfurt, der Stadt Ehrlichs, eintreffe, mit Mißtrauen
begegnen müsse. Er sollte recht behalten. Aus Furcht, die Aachener
könnten am Ende zum Unterschiede von den Frankfurtern meinen ethi-
schen Folgerungen zustimmen, unterließ ich es, ihnen die »Chinesische
Mauer* vorzulesen, aber ich fand sie kalt genug, um ihnen dafür
— 54 -
die »Entdeckung des Nordpols« zu bieten. Die Stelle: »Wie viele
Pioniere des Gedankens waren verhun5>ert und wurden ein Fraß
jener wahren Bestien des Eismeers, deren bloßes Dasein die
Sperre der geistigen Zone bedeutet!« brachte ich besonders stark
zur Geltung. Die Worte: >Man hatte so lange den Walrossen
Gedichte vorgelesen, bis sie schließlich die Entdeckung des Nord-
pols mit verständnisvollem Kopfnicken begleiteten<, rief ich in den
Saal, und das Publikum applaudierte. Der liebenswürdige Vorsitzende
der Literarischen Gesellschaft, der sich die größte Mühe gibt, die
Bevölkerung zu literarischen Neigungen zu verführen, versicherte,
daß die Aachener, die noch mit allen Autoren fertig ge-
worden sind, mir einen Erfolg bereitet hätten. Ich glaubte es
nicht, floh den Ort und tausend Flüche der Aachener Jour-
nalistik donnerten mir nach. Es war, als ob die schweigende
Rache der Wiener Presse sich nach Aachen aufgemacht hätte, um
dort wider mich zu zeugen. Das .Politische Tageblatt'
(amtlich, unparteiisch) war noch gnädig:
Die Literarische Gesellscliaft hatte den bekannten Satiriker
und »Kulturkritiker« Karl Kraus aus Wien zu einem Vortrag aus eigenen
Werken gewonnen. Schon lange vor Beginn füllte gestern Abend eine
dichtgedrängte Menge den großen Erholungssaal, um den geistreichen
Herausgeber der ,Facker und Mitarbeiter des .Simplicissimus' von An-
gesicht zu Angesicht zu sehen. Jedenfalls werden alle der Literarischen
Gesellschaft für diese Gelegenheit dankbar sein. Ob aber der Vor-
tragende selbst nicht vielen eine kleine Enttäuschung brachte? (Folgt
eine Inhaltsangabe) .... Deutlicher kam des Dichters Absicht, die Schwäche
der Mitwelt unbarmherzig bloßzustellen, in den nun folgenden Apho-
rismen zum Ausdruck. Es wäre verlorene Liebesmüh, über Recht und
Unrecht dieser kühnen Geistesblitze mit dem Verfasser zu rechten und
als Splitterrichter alle ihre offenkundigen Übertreibungen aufzuspüren
(Folgen Zitate) .... Überhaupt die Zeitungen, Redakteure, Verleger, Jour-
nalisten, ja selbst das Papier, auf dem sie schreiben und drucken, schei-
nen Herrn Kraus sehr übel mitgespielt zu haben, denn jeder dritte
Satz enthielt irgend einen mehr oder minder blutigen Seitenhieb auf die
Presse, den »Kropf der Welt<. Sie ist sogar schuld daran, daß — —
in Österreich die Schmetterlinge selten werden. (Folgt Inhalt von Despe-
ranto) .... Dann mußten Cook undPeary, die Nordpolsucht der Mensch-
heit und der Naturforschungstrieb im allgemeinen und besonderen her-
halten, um der Menschheit ganzen Jammer auch von dieser Seite mit
beißendem Spott zu übergießen. Ob aber Herr Kraus die Geißel auch
noch so eifrig schwingt, die Masse, die er treffen will, lächelt ob
seinem zornigen Übereifer und läßt ihm das eigenartige Vergnügen,
sich an der bunten Welt zu reiben, »um zu sehen, ob die Farbe
herutitergeht«. Sie freut sich an der blendenden Hülle, der geist- und
pointenreichen Sprache seiner Satiren, den bitteren Kern der darin ver-
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steckten Wahrheiten herauszuschälen, werden sich nur wenige Mfihe
geben. Viele seiner Satiren sind ja auch als bloße Humoresken genom-
men prächtige Stücke, die das Lesen lohnen.
Dagegen freute sich das klerikale , Echo der Gegenwart',
daß die Aphorismen >niit eisigem Schweigen aufgenommen« wur-
den. Die andern »Sächelchen<, die »hätten sich unter wohlwollender
Zuhilfenahme des Rotstifts zu ganz interessanten Zeitungsplau-
dereien zusammenschweißen lassen«. Ich hätte das Publikum »nicht
so gelangweilt, wenn ich nur standfest bei der .Entdeckung des
Nordpols' geblieben wäre«. »Die Polizei«, wünschte das Blatt, möge
mir »mein edles Selbstbewußtsein erhalten«. Die liberale .Allge-
meine Zeitung' war aber auch nicht faul und rief mir das
Schimpfwort »Wiener Journalist« zu.
Diese Werke waren Feuilletons, die, wenn ich nicht irre, inder
.Zeit' oder im ,Neuen Wiener Tagblatt' schon längst die Drucker-
schwärze erlitten haben Beißender Hohn, stark mit Sentimentalität von
der Donau gemischt, bisweilen vortrefflich glänzend, in der Form, aber
doch nur Form, nichts von Inhalt. Am besten wohl war die Ober-
setzung aus dem Desperanto der Hardenschen Sprache in das gebräuch-
liche Deutsch. Aber die Einleitung dazu zeugte von dem bedauerlichen
Ton eines fast neidisch zu nennenden Urteils über die deutsche
Publizistik und ihre besten Vertreter. Auch die Aphorismen waren,
wenn auch nicht neu, originell oder leicht, so doch recht bitter, namentlich
die über die Presse, den »Kropf der Welt«. Ober den Geschmack, das
eigene Nest, auf dem man selbst lange Zeit gesessen, so herab-
zuziehen, läßt sich ja streiten. Aber vielleicht ist Herr Kraus
auch gar nicht einmal im wahren Sinne des Wortes Jour-
nalist gewesen; man kann zu diesem Schlüsse kommen; denn sonst
hätte Herr Kraus — Aktualität ist das erste Erfordernis für
einen Journalisten seiner Art — uns statt des Feuilletons
über Cooks Entdeckung des Nordpols besser ein solches über Cooks
jetzigen Rückzug und das Geständnis seiner Verrücktheit vorgelesen ....
Es ist noch zu übertreffen. Während mich ein Frankfurter
als dilettantischen Vorleser bezeichnet, meint der Aachener im
,Volksfreund' (sozial) mit Recht, daß ich >im Gegensatz zu
anderen Selbstschaffenden über eine anerkennenswerte Vortrags-
kunst verfüge, die dem oft äußerst dürftigen Inhalt nicht wenig
zu statten kommt«. Immerhin:
»Die Welt der Plakate«, eine übrigens recht frische Skizze,
leitete die Vorlesung ein. Wenn sie auch auf Originalität weniger An-
spruch erheben kann, so zählte sie doch zum besten des Abends. Das
gleiche gilt von einer bunten Schar mehr oder minder geistreicher
Aphorismen, welche des kristallen Schliffes nicht entbehren. Die
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Feuilletonisten kommen bei Herrn Kraus nicht besonders weg. Schlechte
Erfahrungen?
Auf diese Frage läßt sich der Kritiker nicht weiter ein, so
wie man bekanntlich auch die schlechten Erfahrungen, die ein
weiberfeindlicher Philosoph mit den Weibern gemacht haben mag,
nur diskret andeutet.
Maximilian Harden zählt nicht zu den besten Freunden des
Wiener Satirikers; mit besonderer Vorliebe karikiert er den bei aller
Härte doch nicht ungenießbaren Stil Hardens; er ist eben etwas Per-
sönliches und deshalb mißlingen auch die Versuche, ihn zu kopieren,
wie sie ja Nanriy Lambrecht — im Roman übrigens noch mehr
deplaciert — unternommen hat ....
Nachdem dies geschehen war, flog ich wie eine Motte ins
Licht, nämlich nach Berlin. Die norddeutsche Provinz steht um
so viel hinter der Hauptstadt zurück, als Wien hinter der öster-
reichischen Provinz. In Prag und Brunn habe ich angenehme
Tage erlebt, für die ich den Studenten, die mich eingeladen hatten,
so dankbar sein werde, wie sie mir für die Abende. In Prag erhielt
ich vor der Vorlesung von einem anonymen Warner die fol-
genden gutgemeinten und gutgedachten Verse:
An Karl Kraus
Vergiftet rinnt des Wissens Quelle
In Ketten liegt des Geistes Kraft,
Des Volkes Sinn in enger Zelle
Seufzt in des > Freien Druckes« Haft.
Das freie Wort aus freier Feder —
Einst Lehr' und Waffe, Nutz und Trutz —
Zum Schacher sank es, öd und öder —
Der Sprache Gold in tiefsten Schmutz 1
Wo überzeugter Worte Brausen
Die Welt gewann, Tyrannen zwang, —
Da folgen kläffend die Banausen
Des Freibillets dem Zeilendrang.
Du hast's gewagt! Den Ekel zwingend
Hell aufgezeigt die Fratze stumpf,
Und mit der Fackel Leuchte dringend
Gewatet in dem Irrlichtsumpf.
Der Wiener Preßmob flennt von Hieben —
Ein Gott an Wissen und Talent,
Ein Vorbild, täglich abgeschrieben.
Dem, was bei uns sich »Prssse« ntnnt.
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O, flieh des Schmocktums Epigonen,
Wo, selbst Im Abklatsch noch verzerrt,
Die Reinkultur der Pressedrohnen
Der reinen Luft den Weg versperrt I
Dein Wort, was solls im Kreis der Narren?
Entweih der Sprache Schätze nicht!
Schon reih'n sie sie an ihren Schmarren.
Hält man im Narrenhaus Gericht'
Lies in der Wildnis ! Lies vor Tauben I
Den Aussatz flieh! Noch kannst Du flieh'nl
Sie werden sonst mit Deinem Glauben
Dich doch zum Mist herunterzieh'n I
Ich floh nicht, war aber entschlossen, etwas mehr Aphoris-
men über die Presse zu lesen und sie beim geringsten Widerspruch
durch den Vortrag des Gedichtes zu ergänzen. Das blieb mir erspart.
Ich gab aber bei den Aphorismen miinisch zu erkennen, daß ich
einige ganz bestimmte Individualitäten im Saale suche. Eine von
ihnen hatte meinem Vortrag in der ,Bohemia' präludiert. Ein
Feuilleton, >Die Atmosphäre des Hasses«, geschrieben von der Un-
fähigkeit zum Haß, geschrieben von der Begabung, mit vollem Namen
anonym zu bleiben, hatte ebenso feige wie dreckige Anspielungen
auf >den Prozeß < enthalten. Der Autor, der einst in Wien seine
untätige Assistenz bei einer Aktion des Hasses gebüßt hat, wurde
nicht in den Vortrag geschickt. Dafür ein Kollege, der wiederum auf
dem Umweg über Berlin ein Prager Schmock geworden ist. Aber auch
dieser Herr, der ehedem um seines literarischen Anstands gelobt
wurde, erfüllte die Aufgabe, in den Vortragsbericht eine Anspie-
lung auf »den Prozeß« hineinzunehmen. Diese armen Teufel, die
völlig ahnungslos immer dorthin laufen, wo sie einen »Gegner* von
mir wittern, tun mir schon heute so leid, daß ich am liebsten
reelle Gelegenheiten für sie erfinden möchte, wo etwas gegen mich
zu holen ist. Diese ist es nicht — rette sich wer kann. Ich habe
gewarnt und will nicht, daß mir hinterher Vorwürfe gemacht
werden. Wenn man nun aber anderseits bedenkt, daß die halbe
Redaktion der ,Bohemia' infolge eines anderen Prozesses, jenes,
der einst auf Wiener Boden gespielt hat, befangen ist, daß die
ganze von der Neuen Freien Presse abhängig, der Kritiker ein
Liebling des Herrn Harden ist, und schließlich diesem auch
in Prag einige Aphorismen und der Presse als ganzer sogar
— 58 —
viele gewidmet waren, dann muß man die folgende Rezension
sehr anständig finden:
Karl Kraus in der Lesehalle
Er ist in seine zweite Periode eingetreten und die .Fackel' in
ihren zwölften Jahrgang. Er ist auch nicht mehr der Fackelkraus allein.
Er gehört zu den Autoren des Längen-Syndikats, und er protegiert den
, Sturm' Er ist Sprachbildner, und er bereist die Städte zweier Monar-
chien. So kam er, ein Privatgelehrter, auch in unser melancholisches Prag.
Zum Anfang las er etliche jener Aphorismen, wie er sie eine Zeit
lang in Masse produziert hat. Eine Zahl der witzigsten Perfidien ist
darunter und ein ganzes Schock von Erkenntnissen, die einem tiefen
Atemzug gleichen. Aber noch überwiegen die Aphorismen aus Inconti-
nentia, aus eiliger Notdurft des Geistes, die Sprüche, die ein lästiges
>Niesen des Verstandes« sind. Beim ersten denkt man an Schopenhauer,
beim zweiten an Lichtenberg. Beim dritten an Saphir. Beim vierten
jedoch an den unentrinnbaren Oskar Blumenthal (der ja gleichfalls von
Bonhommie frei ist und Ranküne genug auf Lager hat). Auch der
aphoristische Witz des Herrn Karl Kraus ist oft ein Wortwitz und lebt
von Verzerrungen und Verschiebungen. Es ist ein Witz, der vergebens
predigt, daß Kopfjucken keine Gehirntätigkeit sei. Wortwitz darf nur
der Skeptiker treiben, der die Welt belächelt, der Zyniker, der die Welt
begrinst, nicht der soi-disant Fanatiker, der verlangt, daß diese Welt
ihn ernst nimmt.
Erst in dem großen Manifest, das Herr Kraus zuletzt gab, wurde
die Wirkung unmittelbar. Dort, wo er aufhört, aus der Antithese ein
Gewerbe zu machen, und wo er zu einem Pathos übergeht, das
visionäre Glut hat. Er las nämlich seinen Artikel über die Ermordung
der Elsie Siegel in Chinatown, einen Artikel, in dem er gegen die
sexuelle Heuchelei und Qual aufschreit, und den er >Die chinesische
Mauer< benennt. Hier stachelte er sich zur Ekstase, und hier schlug er
mit dem Raffinement seines Vortrags durch.
Die Mittelstücke waren Humoresken, traumhafte Psychologien
und Satiren — der >Biberpelz« (den man Herrn Kraus im Kaffeehause
gestohlen hat), die >Welt der Plakate« und eine Glosse zur Justiz in
Prostitutionssachen, das »Ehrenkreuz«. So oft es österreichisch wurde,
brach das Publikum in schallendes Lachen aus, das Herr Kraus erst
wehmütig, dann mit Hochgefühl entgegennahm. W.
Man sieht, daß der Mann nur durch' Umstände verhindert
war, ehrlich begeistert zu sein. Wenn man ihn schüttelt, wird er
Belege für seine Erinnerung an Saphir und Blumenthal nicht bei-
bringen können. Diese Leute sind auf die Vorbehalte dressiert.
Dann kommt auf einmal die Begeisterung über sie, und so ge-
schieht es, daß sie »erst« deni Schlußstück die >unmittelbare Wir-
kung« einräumen können und beim Mittelstück zugeben müssen,
daß es schallende Heiterkeit erregt habe. Das , Prager Tagblatt'
aber schrieb:
— 59 —
Kafl Krans, dessen gestrige Vorlesung in der »Lesehalle« eine
Otse in der dürren Einförmigkeit unserer Vortragschroniic bildete, hat
die Anfänge seiner Popularität der l<ühnen Polemik zu danken, mit
der er vor Jahren gegen geist'ge Werte anzukämpfen begann, die man
in Wien sonst nur stillschweigend anzuzweifeln wagte. Er wirkte durch
die Verwegenheit seines Streitrufes und die oft verblüffend witzige Form
seiner Satire. Niemandem wäre es damals eingefallen, ihn für etwas
anderes zu halten als einen oppositionellen Journalisten, der sich mit
dem fast immer erfolgsicheren angreifenden Pathos des Minoritats-
bewufitseins gegen die Mehrheit kehrt. Vielleicht trug die ungewollte
Einsamkeit und Abgeschlossenheit, in die sich Kraus versetzt sah und
die im Laufe der Zeit fast unentrinnbar wurde, dazu bei, daß er sein
Schöpfertum lediglich der Negation zugute kommen ließ. Vielleicht auch
war die Galligkeit seiner Natur schuld daran. Dann aber kam die Zeit,
wo es Kraus vor der Gefolgschaft, die sich jedem Zerstörer ungebeten
zugesellt, zu grauen begann und er seine Schriftstellerei vom Objelct
unabhängig zu machen versuchte. Immer wieder verkündigt er jetzt, daß
er kein Polemiker sei, daß es sich ihm nicht um persönlichen Angriff
handle. In der Tat konnte man aus den Worten seiner letzten Jahre
eine Art Weltanschauung erwachsen sehen: einen naiven Spiritualismus,
der die Herrschaft des Geistes predigt und mit oft ungerechter Wut die
Materie verwirft, der alle Gedankenarbeit, an der doch notwendiger-
weise ein Klümpchen Erdenschwere haften muß, wenn sie auch nur
in irgend einer Beziehung fruchtbar sein soll, unbarmherzig ins Reporter-
haudwerk verweist. Seine Sprache, deren Eigenart und Vorzüge man
anerkennen würde, auch wenn er sie nicht beständig im Munde führte,
blitzt und schwirrt in den Zuckungen dieses unruhigen Geistes, der stets
verneint. Intuitiv wachsen Gedanken aus ihr hervor, und dankbar genug
anerkennt Kraus — diesmal in unbewußter Obereinstimmung mit tiefsten
Denkern — die vom Individuum fast unabhängige Schöpferkraft der
Sprache. Undankbar ist er nur gegen die Männer, welche ihr die Technik
abgerungen haben, von der er auch ein Teil hat; wie es denn über-
haupt sein Verhängnis ist, daß das Satiriker-Temperament immer wieder
von der Stofflosigkeit, deren es sich so gern rühmt, abirrt und sich zum
Angriff auf oft recht unbedeutende Gegenstände wendet.
Die »chinesische Mauer«, die er gestern vorlas, gehört darum zu
seinen interessantesten Arbeiten, weil hier die Leidenschaft auf ein
Gebiet sich ergfießt, dessen Bestellung für die Menschheit immerhin
eine wichtigere Aufgabe ist, als die Entrüstung über eine unschön
stilisierte Lokalnotiz. Das spezifisch Journalistische an Kraus kommt
hier kraftvoll zum Durchbruch. Ein Kriminalfall entzündet ihn. Unbeschwert
von Voraussetzungen beginnt er Konsequenzen zu ziehen. Die Sprache
flammt, die Sätze rasen und ballen sich zur Anklage gegen eine Sexual-
verfassung, die das geschlechtliche Sich-Ausleben unterbindet. Die
Polemik, anfangs aufs Einzelne gerichtet, wächst ins Allgemeine, bäumt
sich gegen einen ganzen Erdteil, eine ganze Kultur und strahlt schaurig
in verzehrender Weißglut. In solchen Momenten überkommt den Ana-
lytiker das Pathos eines Schöpfers.
Auf anderem Niveau steht die satirische Skizze »Das Ehrenkrea2<.
60
deren witzige Logik schon, als die Glosse vor Jahren in der .Ttckel'
erschien, heiteres Aufsehen erregte. Feuilletons, in denen sich die
Melancholie und der Pessimismus vor karikaturistischer Weltbetrachtung
zum guten Teil verflüchtigen, sind >Die Welt der Plakate« und der
>Biberpelz«. Vorausgeschickt wurde eine Reihe von Aphorismen, deren
Pointen, soweit der Witz die Tiefe verdeckte, volles Verständnis fanden.
Dem Vortragenden dürfte es aber — übrigens die Tragik jedes Origi-
nellen — nicht entgangen sein, daß die Hörer gerade zum Wertvollsten
und Ernsthaftesten den Weg nicht fanden.
Eine Überraschung war die äußere Form der Vorlesung. Kraus
ist ein vortrefflicher Sprecher, dessen kühles und scharfes Organ sich
schmiegsam in die Ironie eingräbt, aber mit schöner, voller Stärke
auch dem Pathos folgt. Die Hörerschaft, die den Saal der >Lesehalle«
dicht füllte, begrüßte Kraus mit erwartungsvoller Sympathie und dankte
für die Vorlesung mit stürmischem Beifall. st.
Solch redliches Urteil wäre gewiß auch vor der Stelle, wo
es die > Stoff losigkeit« und die »unbedeutenden Gegenständec in
Widerspruch bringt, zur Einsicht zu bringen. Es würde den
schöpferischen Segen im Fluch der Realität spüren, und nicht im
Format des Anlasses.
.Deutsches Abendblatt':
Karl Kraus, der vorgestern als Gast der Lesehalle hier vortrug,
gilt den Leuten, die auch ohne die , Fackel' die Druckfehler der ,N. Fr.
Presse' entdecken, als der verschmockteste Schmock von Wien ....
Im übrigen ist der Fackelkraus ein ganz ungefährlicher Herr. Er hat
zwar vor Jahren eine brandrote Zeitschrift gegründet, um seine welt-
bewegenden'Ideen zum Ausdruck zu bringen ; Herr Feigl vom , Extrablatt'
und Herr Hirsch von der , Presse' müssen »vor Wut platzen«. Aber er
entthronte diese Größen nicht .... Durch solche Mißerfolge verstimmt,
verlegte sich Kraus auf die Philosophie und prägte »geistvolle Anti-
thesen« .... Außerdem schrieb er über weltbewegende Ereignisse, so
z. B. über die Entwendung eines Pelzes im Kaffeehause, allerhand
Paraphrasen — die Geschichte »Der Biberpelz«, die er vorgestern im
mystischen Halbdunkel las. Die Vorlesung war ausgezeichnet besucht,
und das Publikum klatschte lebhaft. Karl Kraus hat es selbst gesagt:
»Je größer der Stiefel, desto größer der Absatz,«
In Brunn, wo ich gleichfalls außerhalb des Programms das
»Ehrenkreuz« lesen mußte, schrieb der ,Mährisch-schlesische
Korrespondent':
. . , Mit den Humoresken und Satiren erzielte der Vortragende die
nachhaltigste Wirkung und den größten Erfolg des Abends. Die Vor-
lesung wurde hier stellenweise von dem homerischen Gelächter, das sie
im Publikum auslöste, unterbrochen . . .
Der .Tagesbote aus Mähren und Schlesien':
(Dr. St.) Im kleinen Festsaal des Deutschen Hauses. Eine
spanische Wand verbindet das Künstlerzimmer mit dem Vortrags-
61
podium. Hinter dieser spanischen Wand kommt Karl Kraus heran,
ungesehen vom Publikum, um plötzlich das Podium zu besteigen.
Er ist mit einemmal da, im Lichtkreis der Lampe, verbeugt sich
kurz und beginnt, nachdem er noch längere Zeit an der Beleuchtung
gebessert hat, seine Aphorismen zu lesen. Das ist wie ein unerwarteter
Angriff. Ein Pfeilregen ins Publikum. Und man ist noch über dieses
plötzliche Losstürzen so verblüfft, daß man die ersten Aphorismen kaum
erfaßt. Ich weiß nicht, ob es überhaupt ein glücklicher Einfall ist,
Aphorismen zu lesen. Aphorismen sind das Gewürz in der Küche des
Geistes. Hier und da ein Körnchen, aber nicht gleich eine ganze Hand-
voll. Und dann: keine noch so vollendete Vortragskunst kann das
Satzbild erse'.zen. Die Antithese Ist immer wirksamer, wenn man sie
auch sieht, die chiastische Stellung will in der typographischen Anord-
nung erblickt werden. So geschieht es, daß gerade die besseren und
feineren dieser >Sprüche und Widersprüche« nicht ganz verstanden
werden und nur jene zu voller Wirkung kommen, die sich zum Wort-
witz neigen. Man muß aber sagen, daß selbst diese nicht den Arme-
leutegeruch an sich haben, der sonst am Wortwitz haftet, daß sie mit
ungewöhnlicher Brillanz sprachliche Meisterschaft verraten. Den Reigen
dieser Aphorismen begleitet also abwechselnd nachdenkliches Schweigen
oder — besonders dort, wo die Knappheit des Ausdrucks das Verständnis
erleichtert — zustimmendes Lachen. (Folgen Zitate) .... Und Karl Kraus
schmunzelt zum Vergnügen des Publikums. >Nun, ich gefall' mir selber gut«,
wie die Bettina von Arnim sagte. Auf die Aphorismen folgt eine Satire: >Der
Biberpelz«. Eine geistreiche, witzige Satire mit blendenden Wendungen
und einer Menge feiner Züge zur Psychologie des Wiener Kaffeehauses.
Aber aus einer großen Verbitterung herausgewachsen. Man hat Karl
Kraus jahrzehntelarg totgeschwiegen und übersehen, daß Männer wie
er zu den Notwendigkeiten einer Kultur gehören. Er ist ein Gärungs-
erreger, ein Spaltpilz, ein Zersetzer, ich glaube, wenn er ein Glas
Wasser scharf anschaut, zerfällt es in Wasserstoff und Sauerstoff. Er hat
sicher elektrische Ströme in sich. Seine schwefelsäurehältige Intelligenz
frißt Brandflecke in alle öffentlichen Meinungen. Und das ist gut: man
sieht sich veranlaßt, sie manchmal zu wechseln. Er hat etwas von
Talleyrand an sich, ist zugleich enfant terrible und Pritschenmeister. Und
er ist eitel wie Talleyrand und alle sehr geistreichen Leute. Ich glaube,
wenn man ihn rechtzeitig anerkannt hätte, wäre er zahmer geworden.
Jetzt geht es ihm manchmal nach einem Hebbelwort: >Der Mensch ver-
wandelt ein kleines Recht dadurch, daß er es zu eifrig verfolgt, sehr oft
in ein großes Unrecht.« Siehe den Fall Harden. Karl Kraus ist eine
seltsame Mischung. Diese spanische Wand vom Künstlerzimmer zum
Vortragstisch gibt zu denken. Sie ist das Symbol einer Schüchternheit :
dem Autor der putzigsten Aphorismen und Satiren ist es unangenehm,
auf dem kurzen Weg zum Podium vom Publikum beobachtet zu werden.
Das spricht nicht für Gleichgültigkeit gegen Urteile, nicht für eine voll-
kommene Jägersicherheit. So ist in seinem Wesen Durchschlagskraft
und Kleinlichkeit, Schüchternheit und Bissigkeit gemengt. Und ich
meine, wenn Karl Kraus nicht sehr boshaft sein müßte, so wäre er
vielleicht sehr gutmütig. Er hat im Grunde ein gutes Herz. .\ber er
- 62
verhärtet es, wenn man nicht anerkennt, daß er ein gefährlicher Mensch
ist. Alles das liest sich zwischen den Zeilen der Satire »Der Biber-
pelz«. Mit der >Welt der Plakate« gab er dann noch eine Groteske
auf die Reklameorgien unserer Tage, auf das unerträgliche Geschrei
aus allen Winkeln und von allen Wandflächen unseres Alltages. Die
zweite Abteilung brachte den Essay »Die chinesische Mauer«.
(Folgt eine längere Darstellung des Inhalts) .... Wir haben
hier keine Besonderheit des Christentums. Aber wenn Karl
Kraus seine wütende Anklage liest, dann wirkt die Kraft einer
ehrlichen Überzeugung. Die geballte rechte Faust, die auf dem Tisch
liegt, in der grellen Beleuchtung der Lampe, zittert vor innerer
Erregung. Er ist von der Macht seiner Worte, vom Rhythmus seiner
Sätze, vom rasenden Tempo seiner Gedanken fortgerissen. Und zur
Meisterschaft der Sprache gesellt sich die Meisterschaft des Vortrages,
der über alle Mittel der Technik verfügt. Ich weiß nicht, warum Karl
Kraus so besonderen Wert darauf legt, festzustellen, daß er keinen
dramatischen Unterricht genossen hat. Jedenfalls ist dann diese Be-
herrschung aller Töne und Tempi, diese Plastik und Schwungkraft umso
erstaunlicher. Und diese vollendete Vortragskunst trug nicht wenig zu
dem außerordentlichen Erfolg des Autors bei, für dessen interessante
Bekanntschaft wir der Neuen akademischen Vereinigung, die zu einem
ihrer besten Abende zu beglückwünschen ist, dankbar sein müssen.
Die Stelle über den dramatischen Unterricht bezieht sich
darauf, daß ich einen der Veranstalter ersucht hatte, vor dem
Publikum eine peinliche Zeitungsnachricht richtigzustellen. Die
Schmach, die Wirkung der Chinesischen Mauer einem von Herrn
Strakosch überkommenen dramatischen R zu verdanken, hätte ich
nicht überlebt.
In Wien sollte ich — im großen Saale der »Urania« — am
6. Januar lesen. Die für den 28. Dezember im Bösendorfer-Saal geplante
Vorlesung konnte nicht stattfinden. Infolge plötzlicher Indisposition
des Besitzers. Er hatte erklärt, daß in seinem Saale überhaupt keine
Vorträge stattfinden können, nie stattgefunden haben und nie
stattfinden werden — alle künftig staltfindenden sind Ausnahms-
fälle — , und er hat, nachdem ich vergebens bestürmt worden war,
ein Einsehen zu haben und auf die Wiener Rücksichten Rücksicht
zu nehmen, den Saal tatsächlich an keinen Autor, sondern
an einen Musikanten vermietet. Vor drei Jahren - erinnerte ich
mich — als ich noch nicht ans Vorlesen dachte, hatte sich der
damalige Direktor des Saales um mich als Vorleser beworben. Es
wäre sympathisch, sagte ich mir, wenn jetzt das Gericht zu prüfen
hätte, ob hier ein unwiderstehlicher Zwang vorliegt. Jedenfalls liegt
eine Wiener Tatsache vor. Aber das kommt davon, sagte ich mir.
— 63 —
▼enn die Saalinhaber Patrizier sind und die Patrizier mit den
Preßleuten Tarocl< spielen. Man darf es nicht auf sich beruhen
lassen und einfach den andern Saal beziehen, den die Konzert-
agentur einem zuweist. Denn, sagte ich mir, wie leicht könnte im
letzten Moment auch die »Urania« absagen, weil dem Direktorium
unwohl geworden ist Diese Stadt hat ihr eigenes Klima und in
dieser Jahreszeit muß man sich vor den Influenzen hüten. Ich hoffte
indes das Beste, lachte mich wegen meiner Besorgnisse aus und war
mir klar darüber, daß ich die Gesundheitsverhältnisse der >Urania«
nur zum Vergleich herangezogen hatte. Die »Urania« ist ein junger
rüstiger Verein, während Herr Bösendorfer ein alter Leser der
Neuen Freien Presse ist Und ich hatte es ja schwarz auf weiß,
daß ich am 6. Januar im großen Saale der »Urania« lesen werde,
genau so wie ich den Bösendorfer-Saal schwarz auf gelb — —
Ja, da hatte sich irgend etwas verfärbt. Und das Telephon klin-
gelte. >Zu meinem größten Bedauern muß ich Ihnen mit-
teilen, daß die Urania « »Wie, ist sie krank?« »Nein«,
erwidert der Agent eines Agenten, dem ein Agent den Saal un-
widerruflich für den 6. Januar vermietet hatte, »aber sie hat nicht
gewußt — sie veranstaltet übrigens nur Vorträge im eigenen
Wirkungskreis, sie will keine Konkurrenz und überhaupt war
der Vermieter nicht berechtigt, den Saal zu vermieten, weil er
schon vorher anderweitig vermietet war . . .« Wäre es wahr, so
läge eine Unregelmäßigkeit vor, die in dieser vielgeschäftigen
Welt der Konzertagenturen möglich ist Aber ich glaube an die
Gewissenhaftigkeit der Agenten und zweifle an der Aufrichtigkeit
der Saalinhaber. Der Saal war nicht zweimal vermietet; aber daß
man die Schlamperei als Vorwand benützt, um sich gegen das
Recht zu schützen, entbehrt nicht des ethnographischen Reizes. Die
notorische Mißwirtschaft dient der Feigheit als .Argument.
Aber lieber als mein Recht verlange ich jenen Mut zur Feigheit,
der in Wien längst abhanden gekommen ist Wenn diese libe-
ralen Gönner und Volksbildner geständen, sie seien nicht bloß
Saalvermieter (als die sie mich ausschließlich interessieren), son-
dern auch Pächter der journalistischen Gnade, so bin ich d«r
letzte, der ihre Gastfreundschaft in Anspruch nimmt, und der
erste, der sie auf der Straße nicht grüßt, um ihnen nicht zu scha-
den. Um sie aber zum Geständnis zu bringen, muß ich künftig
selbst und nicht durch einen entfernten Vermittler, den ich zur
64
Klage nicht zwingen Icann, die Verträge schließen, die sie brechen
wollen. Außerdem brauche ich auch einen Saal zum Vorlesen. Der
Charakter der Herren ist Nebensache. Ich lasse ja gern eine Zeitlang
mit mir spielen; aber schließlich wird mir das Farbenspiel zu bunt.
Immer dasselbe, und man müßte doch schon wissen, daß ich in
einem Relativsatz Gesinnungen, soziale Bestrebungen, öffentliche
Rücksichten und rücksichtliche Öffnungen so schmerzvoll entblößen
kann, daß kein Leitartikel mehr Trost verleiht. Ich brauche einen
Saal, um vorzulesen. Denn um Erfahrungen zu machen, dazu ist
die Saison zu weit vorgeschritten. Auch halte ich es für eine
Ehrenpflicht, die Neue Freie Presse, die infolge eines Versehens
die Ankündigung meines Vortrags gebracht hat, nicht zu des-
avouieren. Sie soll nur lügen, wenn sie schweigt !
Samuel Lublinski
geboren zu Johannisburg in Ostpreußen 18. Februar 1868
gestorben zu Weimar 26. Dezember 1910
Der Tod hat ein geistiges Leben erwürgt,
das innerer Bedeutung überreich, äußerer Er-
folge arm war, weil die Macht der Erkenntnis
und der Zwang zur Wahrheit eine Welt der
Mittelmäßigkeit beleidigte. Aber nicht ihr hat
es gelebt, und darum wird es fortleben.
Otto Stoessl.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3
^ron^z^nSrrlt?ion" Albert Gutmann
BÖSENDORFER-SAAL
Vorlesung KARL KRAUS
28. Dezember 1910, abends »/28 Uhr
wegen Veriiind
GROSSER URANIASAAL
Vorlesung KARL KRAUS
6. Jänner 1911, abends VjjSUhr
vtecen Verliino'.. • < < ■ " rmieter
Karten in Gutmanns k. u. k'. Hofmusikali^nhandlung
.UDWIQ SPEIDEL
HEILIGE ZEITEN
DER SCHRIFIEN DRITTER BAND
Bei Meyer and Jessen, Berlin 1911
DTTO STOESSL
EGON und DANITZA
ERZÄHLUNG
Georg Müller, München und Leipzig 1911
)TTO SOYKA
DER FREMDLING
ROMAN •
Albert Inneren. Mnnrhf>n tQü
In Vorbereitung:
Yo8 den frötiiichsj! und unfröhüchen Menschen
Gesammelte Essays von KARL HAUER
VERLAG JAHODA & SIEGEL, WIEN
WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE
HERAUSGEGEBEN von HERWARTH WALDEN
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erscheint .. ..J^^^^^ -«i/zSS^I.DmOirNaEN :
Für Österreich-Ungarn: 18 ISuramern, portofrei i^ 4.ou
36 „ it
Für das deutsche Kelch: 18 ^ «
27 • . »
n»thn.,.»«Mer.tr.clct8tel.i.lchta»<>lneaZ.lt.a.m..S9nd9»auf«l«eb8«1lmn.teA«ial.lmW»mmer.
Einzelheft m Österreich 30 Heller, i^ 0«"<^'='''^"* 3° P*^";'Sj„
Doppelnummer in Österreich 60 Heller, in Deutschland 50 Pfennig
Zu beziehen durch sämtliche Buchhandlungen
Berliner Bureau: Hal»>ii>ee, KathannenstraBe 5
9.-
Mk.4.—
. 6.-
7.25
INHALT der vorigen Doppelnummer 311/31 2 23. Noy^^
KARL KRAUS: Der Freiherr / FRANZ MEHRING: Em Fii
der Gecken / OTTO STOESSL: Die morgen^^änd,^^^^^^^^^^
chen / HUGO WOLF: Gedichte / SAMUEL LUBLINSF'
Der tragische Mensch in der niodernen Uteratur / ALBW
EHRENSTEIN: Mitgefühl ./ BERTOOLD VIERTEL:
Menschen / . Selbstanz.eige / KARL- KRAUS. Glos^
Herausgel)er und vetantwortlicher Redakteur Karl Kraul
Druck von jahoda & Siegel, Wien, Hl. Hintere Zollimtastr. 3
I
AP
30
F32
Nr. 293-
3U
Die Fackel
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