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Full text of "Die Fackel"

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^^1^293  AM  4;  JÄNNER  1910        XI.  JAH 


DIE  FACKEL 

HERAUSGEBER: 

KARL  KRAUS 


INHALT: 

Prozeß  Friedjnng.  —  Druck  und  Nachdruck.  — 
AphcriBmei].  —  Glossen. 

Sämtliche   Beiträge    von    Karl    Krau 3. 

NA  CHDRUCK     VERBOTEN 

« 
PREIS  DER  EINZELNEN  NUMMER  30  HELLER 
ERSCHEINT    IN    ZWANGLOSER    FOLGE 

.    VERLAG:  ,DIE   FACKEL*  ^7/IEN— BERLIN 

WIEN,    in/2,    HINTERE   ZOLLAMTSSTRASSE    3      TELEPHON    Nr.    IW 


Verlag  ALBERT  LÄNGEN  München     

D0RCH  ALLE  BüCHHANDLÜNGEK  ODER  DIREKT  VOM  VERLAG  Zu  BEZIEHEN. 
BROSCHIERT  M  3.50,  IN  LEINEN  GEB.  M  4.50,    IN  HALBFRANZ  GEB.  M  7.50. 

In  zweiter  Auflage  erschien: 

Sittlichkeit  und  Kriminaiität 

Erster  Band  der  ausgewählten   Sc)iriften  von  Karl  Kraus 

Broschiert  .    .  M  6.—  Ganzleinen  .    .  M  7.25 

<L.  Rosner,  Wien  und  Leipzig) 

Sestellungen    ninnmt  jede    Bitchhandiung,   der  Verlag  der  .Fackel',  Wien 

11/2,    Hintere    Zollamtsstraße    3    und    das    Berliner    Bureau    der    .Fackel', 

Berlin- Haiensee,    Katharinenstraße  5,   entgegen. 

Im    Verlage  Jahoda   &    Siegel,   Wien   III/2,   Hintere  Zollamtsstraße  3 
erschien : 

KARL  KRAUS 

Von    ROBEET   SCHEU 

(Mit  einem  Bildnis) 
40    SEITBH    80,   broschiert 
Preis  80   Heller  (80  Pf) 


Die  Fackel 

Nr.  293  ENDE  DEZEMBER  1909  XI.  JAHR 


Prozeß  Friedjttng 
Von  Karl  Kraus 

Austria  in  orbe  ultima:  in  einer  Welt,  die  be- 
trogen wird,  glaubt  Österreich  am  längsten.  Es  ist 
das  willigste  Opfer  der  Publizität,  indem  es  nicht 
nur  glaubt,  was  es  gedruckt  sieht,  sondern  auch  das 
Gegenteil  davon  glaubt,  wenn  es  auch  dieses  ge- 
druckt sieht.  Seine  Bevölkerung  ist  ereignisläufig. 
Aber  sie  erlebt  das  Ereignis  nur  als  Meldung,  und 
darum  kann  ihr  die  Journalistik  die  Ereignisse  ent- 
winden, die  sie  ihr  eben  erst  verschafft  hat.  Die  Welt 
rings  liegt  in  der  Agonie  der  Dummheit,  aber  sie 
weiß  immer  noch,  was  sie  in  der  Hand  hält.  Öster- 
reich weiß  es  nicht.  Heute  ein  Maulaufreißen,  daß 
man  glaubt,  es  tropfe  von  der  Milchstraße  herunter, 
morgen  >Ah  woslc  mit  Achselzucken,  übermorgen 
eine  neue  Sensation.  In  keinem  Staat  der  Erde  wäre 
diese  Tragfähigkeit  der  Blamagen  denkbar.  Wohl,  die 
Menschheit  wagt  es,  sich  nach  der  Nordpolgeschichte 
noch  vor  der  Tierwelt  zu  zeigen,  als  ob  nichts 
gewesen  wäre.  Aber  es  gibt  eine  Empfindlichkeit 
für  die  nationale  Schande,  und  jeder  Preuße  wurde 
noch  Jahre  nach  Köpenick  schamrot.  Österreich  hat 
kein  Gedächtnis.  Nichts  kann  es  aus  dem  Gleich- 
gewicht bringen,  weil  es  in  fortwährender  Erschüt- 
terung ist.  Nichts  tötet,  die  Lächerlichkeit  macht 
populär,  ein  Zeitungsblatt  deckt  jede  Schmach  zu. 
Prozesse  um  die  Privatehre  dienen  hier  dem  Beweis 
der  Gefährlichkeit,  in  einen  Krater  eine  brennende 
Zigarette    zu    werfen.     Es    ist    alles     Wurst:     der 


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Grundsatz  einer  ordinären  Genußphilosophie,  die  den 
Falstaff  übertrumpft,  indem  sie  der  Ehre  die  Ehre 
erweist,  sie  zu  den  Viktualien  zu  zählen.  Dieses 
öfiFentliche  Leben,  das  auf  der  Grundlage  der  allge- 
meinen, gleichen  und  direkten  Ehrlosigkeit  beruht, 
empfindet  manchmal  das  Bedürfnis,  sich  zu  über- 
zeugen, ob  diese  Grundlage  auch  sicher  genug  ist. 
Es  expektoriert  sich  zuerst  in  moralischem  Auswurf 
und  wenn  es  dann  den  Schleim  vom  Boden  wieder 
aufgeleckt  hat,  ist  die  Probe  gelungen.  Aber  ihr  habt 
doch  gestern  noch  — ?  Mit  solchem  Vorhalt  ver- 
schone man  die  stolze  österreichische  Bewußt- 
losigkeit, die  weiß,  was  sie  tut,  wenn  sie  vergißt, 
was  sie  getan  hat!  Oder  man  versuche  ihr  vorzu- 
halten, wie  oft  sie  in  vierzehn  Tagen  eines 
politischen  Prozesses  die  Farbe  gewechselt  hat:  sie 
wird  nicht  rot  werden!  Man  stelle  die  Leitartikel 
zusammen,  die  am  Anfang  und  die  am  Ende  waren, 
und  man  frage  sich,  ob  irgendeine  Bevölkerung  der 
Welt  den  Geduldfaden  aufbrächte,  der  die  Extreme 
verbindet.  Ob  irgendwo  anders  binnen  vierzehn  Tagen 
die  Konsequenz  der  Lüge  so  durchbrochen  werden 
dürfte.  Ob  es  nicht  zu  Straßenaufständen,  Fenster- 
einwürfen, Verprügelung  der  Schriftgelehrten  käme. 
Hier  riefen  sie:  Österreich  ist  in  Gefahr!,  und  die 
Menge  sagte:  Nein,  so  was!  Dann  riefen  sie:  Aber 
es  war  ja  gar  nicht  in  Gefahr!,  und  die  Menge  sagte: 
Nein,  so  was! 

Aber  sie  respektiert  nicht  nur  die  Unverletzlich- 
keit jener  Mauschelmajestät,  die  täglich  zweimal  als 
>Wirc  zu  ihr  spricht.  Sie  jagt  auch  nicht  jene  Sitz- 
redakteure des  österreichischen  Gewissens  davon, 
die  ihr  erreichbar  sind  und  deren  Namen  sie  kennt. 
Wäre  in  irgendeinem  Erdenwinkel,  wo  ein  Volk 
zum  Glauben  an  den  politischen  Hokuspokus  erzogen 
wurde,  eine  Enttäuschung,  wie  die  hier  erlebte, 
ungestraft  geblieben?  Minister  fallen,  wenn's  einem 
Lakaien      beliebt,      auf      die     Hintertreppe      eine 


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Orangenschale  zu  legen.  Hier  hat  man  im  Gerichtisaal 
die  Worte  gehört:  > Durch  diese  Dokumente  sollte 
vor  Europa  der  Beweis  erbracht  werden,  daß 
Osterreich- Ungarn  durch  illoyale  Verbindung  Serbiens 
mit  unlauteren  Elementen  unserer  Monarchie  genö- 
tigt gewesen  war,  zu  den  Waffen  zu  greifen.«  Ein 
mißbrauchter  Historiker  sprach  es,  die  Dokumente, 
die  den  Schartblick  von  Mittelschülern  täuschen 
konnten,  werden  als  Fälschung  erwiesen,  und  der 
Mann,  der  den  guten  Glauben  eines  Historikers, 
einer  Bevölkerung,  Europas  mißbraucht  hat,  ohne 
zu  seiner  Entschuldigung  anführen  zu  können,  daß 
er  selbst  nicht  mißbraucht  wurde,  der  Staatsmann, 
derdasOpfer  eines  Operettenfälschers  ist,  Graf  Aehren- 
thal,  der  für  die  Vorbereitungen  eines  Krieges  und  für 
die  Beweise  von  dessen  Notwendigkeit  unser  Geld 
nicht  geschont  hat,  der  unsern  Glauben  verbraucht  hat, 
um  unser  Blut  zu  opfern,  er  verläßt  uns  nicht  in  den 
Stunden  des  Zweifels,  er  geht  nicht  zu  den  Eskimos, 
er,  der  Verurteilte  dieses  Prozesses,  gibt  uns  keine 
Ehrenerklärung,  und  wir  werden  die  Kosten  bezahlen. 
Denn  der  Historiker  Priedjung,  der  nur  Dokumente 
von  der  Regierung  nimmt,  wird  sich  die  Kosten 
nicht  vom  Ministerium  zahlen  lassen,  sondern  von 
der  Neuen  Freien  Presse,  die  sie  vom  Ministerium 
erpressen  wird. 

Nicht  daß  die  österreichischen  Ereignisse 
keinen  Grund  haben,  aber  daß  sie  keine  Kon- 
sequenz haben,  ist  trostlos.  Es  geschieht  so  viel, 
und  es  geschieht  nichts:  das  ist  die  österreichische 
Geschichte,  die  Herr  Friedjung  nie  zu  schreiben 
imstande  wäre,  auch  wenn  ihm  echte  Dokumente  zur 
Verfügung  ständen.  Das  ist  die  österreichische 
Geschichte:  daß  im  Konflikt  des  Zufalls  mit 
der  Dummheit  Ereienisse  entstehen.  Daß  Politik 
nicht  gemacht,  sondern  kompromittiert  und  ge- 
duldet wird.  Daß  der  Schwindel  seine  Hülle  hin- 
wirft und    kein  Österreicher    den    Glauben    verliert. 


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Die  internationale  Diplomatie  —  ein  Terrain,  auf 
dem  das  Fallen  eines  Blattes  ein  Erdbeben  zur  Folge  hat: 
hier  kracht  die  Erde  und  kein  Blatt  fällt  vom  Baum. 
Die  Sache  ist  interessant,  man  spricht  davon,  aber 
man  zieht  keine  Konsequenz.  Man  würde  sich  mit  dem 
Weltuntergang  befassen,  solange  er  aktuell  wäre, 
aber  man  würde  keine  Konsequenz  aus  ihm  ziehen. 
Hinausgeworfene  tausend  Millionen:  wir  haben  Platz 
im  Sack,  um  die  Faust  darin  zu  ballen. 

Nicht  die  fünfzig  kroatischen  Kläger,  deren  jeder  an 
Kopf,  Ehre  und  Gesittung  dem  Durchschnitt  dessen, 
was  sich  in  Deutsch-Österreich  auftut,  überlegen  ist, 
ein  ganzes,  nicht  völlig  kulturverlassenes  Volk,  das 
durch  Jahrzehnte  gequält  wird  und  seiner  Regierung 
dennoch  den  Gefallen  nicht  tun  will,  Hochverrat  zu 
begehen,  stand  vor  den  Wiener  Geschwornen.  Wie 
schwächlich  doch  die  Markierungen  sind,  deren  sich 
die  Justiz  bedient,  wenn  sie  einen  weltgeschichtlichen 
Prozeß  zu  erledigen  hat!  Auf  der  Anklagebank  sitzt 
nicht  der  ministerielle  Verführer  einer  gelehrten 
Unschuld,  dem  es  wahrlich  noch  immer  besser  an- 
stände, den  dolus  für  sich  anzusprechen,  als  einem 
Mann  der  Wissenschaft  die  Entschuldigung  des  guten 
Glaubens.  Auf  der  Anklagebank  sitzen  nicht  die  Verant- 
wortlichen, die  einen  kostspieHgen  Kriegsplan  auf 
teuren  Fälschungen  aufgebaut  haben,  sondern  der  ver- 
antwortliche Redaktionsdiener  einer  Zeitung,  der  die 
pflichtgemäße  Obsorge  vernachlässigt  hat.  Wenn 
nicht  neben  ihm  Herr  Friedjung  das  welt- 
geschichtliche Moment  und  die  Wiener  Geschwornen 
das  Weltgericht  repräsentierten,  es  gäbe  einen  zu 
grimmigen  Kontrast  der  Verantwortlichkeiten.  Auch 
der  Vorsitzende  ist  bemüht,  ihn  nach  bestem  Wissen 
und  Gewissen  auszugleichen.  Herr  Wach  hat  eine  heikle 
Aufgabe.  Denn  diesmal  handelt  es  sich  nicht  darum, 
einen  Raubmörder  schuldig  zu  sprechen,  sondern  die 
Serben  als  Raubmörder  zu  entlarven.  Alle  Delikte 
sollen  ihnen  nachgewiesen  werden,  nur  nicht,  daß  sie 


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Dokuraentenfälscher  sind.  Es  ist  eine  schwierige 
Situation.  Wie  soll  man  serbische  Zeugen  behandeln, 
die  bedroht  und  eingeschüchtert  wurden,  ehe  sie  nach 
Wien  kamen,  und  die  dennoch  gekommen  sind  und 
nicht  einmal  einen  Meineid  leisten?  Wenn  sie  sich 
dazu  hinreißen  ließen,  die  Wahrheit  lauter  zu  sagen, 
als  notwendig  ist,  so  herrscht  man  sie  an:  Mäßigen 
Sie  sich ! . .  Stehen  Sie  ruhig ! . .  Wir  sind  hier  in  Wien ! . . 
Und  im  Ton  eines  Unterlehrers  ermahnt  man  einen 
Belgrader  Zeugen,  dessen  Lebhaftigkeit  der  schlechten 
Sache  gefährlich  zu  werden  droht,  nicht  zu  vergessen, 
daß  er  Gymnasialprofessor  sei.  Es  ist  ein  schwierige 
Situation.  Man  hilft  sich,  indem  man  den  Verdacht 
eines  kroatischen  Hochverrats  unermüdlich  durch  den 
Beweis  zu  erhärten  sucht,  daß  Serbien  in  Kriegs- 
bereitschaft war.  Echte  Bomben  waren  mit  falschen 
Dokumenten  gefüllt,  immer  qualvoller  wird  die 
Gewißheit :  so  sucht  man  von  den  falschen  Dokumenten 
auf  die  echten  Bomben  abzulenken.  Der  serbische 
Söktionschef,  dessen  schmucklose  Aussage  dem  schön- 
rednerischen Patriotismus  österreichischer  Historiker 
im  Nu  alle  Vorwände  erdrosselt,  wird,  nachdem  er 
gesagt  hat,  was  er  sagen  mußte,  durch  die  Frage- 
stellung behutsam  an  den  Rand  des  Amtsgeheimnisses 
gebracht,  damit  die  Herren  Rauchfangkehrer  auf  der 
Geschwornenbank  >aha!<  sagen  und  den  Eindruck 
haben,  einer  wolle'  nicht  sagen,  was  er  nicht  sagen 
muß.  Daß  Serbien  gegen  Österreich  war,  will  man 
wenigstens  von  ihm  noch  hören,  wenn  er  schon  un- 
seliger Weise  beeiden  mußte,  daß  die  Dokumente  ge- 
fälscht waren.  Und  Aussagen,  die  im  telegraphischen 
Wege  bekunden,  daß  nie  Gelder  aus  Serbien  nach  Öster- 
reich für  Hochverräter,  wohl  aber  aus  Österreich  nach 
Serbien  für  Dokumentenfalscher  gekommen  seien  und 
daß  diese  sich  für  die  ausgeworfene  Summe  die  Sache 
zu  leicht  gemacht  hätten,  werden  vom  Vorsitzenden 
tonlos  abgehaspelt ;  denn  für  Geschworne,  die  die 
Angeklagten  ohnehin  wegen  offenbaren  Patriotismus 


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freisprechen  werden,  sind  derlei  Indizien  für  die 
Unschuld  der  Kläger  überflüssig.  Was  sie  hören 
mußten,  haben  die  Volksrichter  gehört.  Die  Posaunen- 
töne des  jüngsten  Gerichts  klingen  ihnen  noch  in 
den  Ohren,  mit  denen  dieser  Vorsitzende  den  Kläger 
Supilo  des  Ehrenwortbruchs  beschuldigte,  als  räudiges 
Schaf  aus  den  Reihen  der  Kameraden  stieß  und  die 
Korruption  im  Dienste  des  Vaterlands  zu  einem  Beweis 
für  Hochverrat  herausarbeitete.  Preßbestien,  deren 
Fütterung  teurer  ist  als  die  Handvoll  Kronen,  die 
dem  kroatischen  Journalisten  ein  Wichtigmacher 
nachgesagt  hat,  durften  damals  aufbrüllen:  »Heute 
wurde  im  Gerichtssaale  das  Rückgrat  des  Abge- 
ordneten Supilo  zerbrochen«;  und  das  Neue  Wiener 
Journal,  dessen  Schere  rein  ist  und  das  noch  nie 
für  Geld  einen  Artikel  gestohlen  hat,  durfte  ver- 
sichern, daß  »der  Ekel  vor  einer  solchen  Korruption  uns 
eine  weitere  Beschäftigung  mit  Herrn  Supilo  verbietet« . 
Viele  sind  in  der  Wiener  Publizistik,  denen  im 
Gerichtssaal  noch  nicht  das  Rückgrat  zerbrochen 
wurde  oder  die  dieser  Gefahr  nur  dadurch  entgehen, 
daß  sie  nie  eines  gehabt  haben.  Der  Vorsitzende 
kennt  sie,  nicht  von  arats wegen:  als  literarischer 
Dilettant  gewährt  er  ihnen  manchmal  seine  Mitarbeit. 
.Er  ist  vielleicht  mit  der  schlechten  Journalistik  auf 
zu  gutem  Fuß,  um  über  die  Verhältnisse,  in  denen 
Herr  Supilo  wirkte,  ein  unbefangenes  Urteil  abzu- 
geben. Und  der  Verlauf  des  Prozesses  hat  bewiesen,  daß 
Herr  Supilo  es  noch  immer  nicht  nötig  hat,  sich  in 
die  »Concordia«  aufnehmen  zu  lassen.  Aber  selbst 
wenn  es  ihm  ad  personam  gebührte,  wenn  es  damals 
jenem  österreichischen  Gschaftlhuber  glücklich  ge- 
lungen wäre,  ihn  zu  korrumpieren,  an  jüdisch- 
deutsch-österreichischen Maßen  gemessen,  scheint  die 
südslawische  Preßschande  noch  immer  aller  Achtung 
wert.  Und  solcher  Korruption  wäre  sie  unfähig,  daß 
sie  einer  Justiz  nach  solchen  Exzessen  der  Befangen- 
'  heit  Leitartikelehren  erwiese,   das  Walten  der  öster- 


reichischen  Gerechtigkeit   als   die    Lichtseite    dieser 
welthistorischen  Blamage  besänge. 

Aber  was  hat  in  einer  Schlußstimraung  zwischen 
Gloria  in  excelsis  deo  und  Gut  is  gangen,  nix  is 
gschehn  an  Feilheit,  Feigheit  und  Gefühlsschlamperei 
nicht  alles  Platz,  wenn  man  noch  dazu  bedenkt,  daß 
Weihnachten  vor  der  Tür  steht  und  neue  Ereignisse 
auch  dran  kommen  wollen?  In  einer  Stimmung,  in 
der  die  Instanzen  und  Autoritäten  einander  vor  dem 
Publikum  rekoraraandieren  wie  die  Kaffeesieder  bei 
einer  Geschäftsübernahme;  in  einer  allgemeinen 
Loyalitätswäsche,  bei  der  selbst  die  Waschfrau  des 
Landesgerichts  schon  auf  das  Seehserl  wartet  und 
angenehme  Feiertag  wünscht.  Männer,  wie  sie  unter 
den  Klägern  und  unter  den  Zeugen  dastanden,  wort- 
knappe Anwälte  einer  verleumdeten  Wahrhaftigkeit 
wie  dieser  Doktor  Popovic,  die  »Serben  in  Wien<, 
die  mühelos  über  den  Wiener  Intellekt  gesiegt  haben, 
—  sie  dürften  troh  gewesen  sein,  als  sie  diesem 
Charakterbrei  den  Rücken  kehrten,  aus  dem  keine 
Tat  und  kein  Gedanke  wächst.  Keine  materielle  und 
keine  geistige  Konsequenz.  Der  Politik  schadet's 
nicht,  und  die  Wissenschaft  wird  von  der  Presse 
immer  noch  als  Mitarbeiterin  zugelassen  werden.  Der 
Sturz  der  Autoritäten  wird  im  Gedränge  nicht 
bemerkt.  Aktuell  sein  ist  alles.  Und  dennoch  war's 
ein  Krach,  den  man  erst  nach  hundert  Jahren  hören 
wird.  Jetzt  werden  sie  weiter  miteinander  plaudern, 
wie  auf  dem  Concordiaball,  auf  dem  man  die  Wissen- 
schaft im  Zwiegespräch  mit  der  Politik  bemerkt,  und 
nicht  wissen,  daß  sie  gestorben  sind.  Dieser  ganze 
Schnickschnack  aus  den  Achtzigerjahren,  dieses  Schön- 
bartspiel des  Gelehrtentums,  diese  Inzucht  von  Staats- 
geschäftigkeit und  Wissenschaftlhuberei,  diese  Bereit- 
schaft, wenn's  sein  muß,  für  das  Vaterland  mit  Phrasen  zu 
kämpfen  und  > wenn's  zu  einem  Waffengange  mit 
dem  Feind  kommen  solltec,  in  der  Neuen  Freien  Presse 
die  Save  zu   überschreiten   und    »dem   Serben   eine 


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Schlacht  zu  liefern«,  aus  wissenschaftlicher  Gutgläubig- 
keit gegenüber  einem  Blatt,  das  mit  sich  reden  ließe, 
wenn  der  Serbe  statt  einer  Schlacht  rechtzeitig  etwas  an- 
deres geliefert  hätte  — :  das  alles  gibts  ja  gar  nicht  mehr. 
Dies  Bündnis  gehört  in  eben  jene  Zeit,  in  der  Herr 
Friedjung  noch  die  Neue  Freie  Presse  bekämpfte 
und  von  ihr  ein  »feierlicher  Tropf«  genannt  wurde. 
Heute,  wo  sie  viel  vaterlandsfeindlicher  und  der 
deutschen  Kultur  gefährlicher  ist  als  Serbien,  heute 
nennt  er  es  im  Gerichtssaal  >nur  eine  Ehre«,  ihr 
Mitarbeiter  zu  sein,  oder  was  noch  schlimmer  ist,  er 
muß  es  sich  gefallen  lassen,  wenn  sie  den  Satz  in 
ihren  Gerichtssaalbericht  hineingefälscht  hat.  Wenn's 
überhaupt  noch  eine  Empfänglichkeit  für  Enttäu- 
schungen gäbe,  wenn  unsere  Haut  noch  eine  druck- 
empfindliche Stelle  hätte,  dann  wäre  in  diesem  hoch- 
politischen Prozeß  der  schleißige  Dreibund  von  Politik, 
Presse  und  Wissenschaft  und  jede  der  drei  Ohnmächte 
für  sich  kaput  gegangen.  Wir  werden  doch  nicht 
von  einer  Verschwörungsoperette  das  Gruseln  lernen? 
Wir  werden  doch  endlich  von  der  kulturellen  Nich- 
tigkeit einer  wissenschaftlichen  Bedeutung  überzeugt 
sein,  die  eine  Dienstmannsleistung,  die  Übernahme 
von  Protokollen,  als  wissenschaftliche  Tat  aus- 
ruft? Wir  werden  uns  doch  nicht  länger  von 
einer  Gelehrtheit  imponieren  lassen,  weil  sie  einen 
Umhängebart  und  eine  Brille  trägt,  sich  einen  Nord- 
pol so  gut  w^ie  einen  Hochverrat  aufbinden  läßt  und 
zwischen  Kopenhagen  und  Belgrad  von  jedem  Kommis 
beschissen  werden  kann?  Oder  geht  ein  Riß  durch 
die  Persönlichkeit  des  Herrn  Friedjung,  weil  er  sich 
zufällig  in  eine  so  kitschige  Katastrophe  einließ  ?  Sollte 
sie  uns  nicht  vielmehr  auch  über  die  echten  Werte 
eines  Historikers  aufklären?  Daß  hier  zum  Sitz- 
fleisch der  Wissenschaft  noch  die  Übung 
des  Berichterstatters  kam,  das  brachte  den  Namen 
Friedjang  in  aller  Mund.  Historie  ist  zumeist  die 
Wissenschaft  jener  Leute,    die   nicht   imstande  sind. 


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einen  Leitartikel  abzufassen.  Herrn  Friedjung  eignet 
diese  Fälligkeit  in  hohem  Grade,  und  in  der  Art  der 
vorigen  Generation,  die  noch  die  Syntax  beherrschte, 
aber  dem  Sprachgeist  darum  nicht  näher  war  als  die 
heutige,  die  raii  Psycholope  und  Stimmung  über  ihr  Un- 
vermögen täuscht.  In  Prag  dürfte  diese  Richtung  eines 
rednerischen  Geistes  entsprungen  sein,  der  in  der  korrek- 
ten Phrase  sich  befriedigt,  dem  Deutschtum  zuHebe 
kein  Komma  verschluckt,  Sprichwörter  wie  eine  Prise 
Schnupftabak  sich  gönnt,  >siehe  dac  sagt  und  selbst  die 
Schlichtheit  als  Ornament  trägt.  Diese  Sorte,  die  genau 
80  schreibt  wie  sie  spricht,  weil  sie  so  spricht  wie  sie 
schreibt,  fern  vom  Schuß  des  Gedankens  und  von 
der  Gefahr  der  erlebten  Worte,  bezog  justament  ihre 
Blutleere  aus  der  Sphäre  kriegerischer  ojier  ritter- 
licher Vorstellungen.  Es  waren  lauter  > Kämpen <,  die 
hier  —  anonym  oder  >mit  oflFenem  Visier«  —  in 
die  Federschlacht  zogen.  Noch  heute  ist  der  Ton  der 
Neuen  Freien  Presse  auf  diese  temperamentlose 
Freude  am  Waffenhandwerk  gestimmt,  und  darin 
erreicht  ihre  Berichterstattung  über  den  Prozeß  Fried- 
jung geradezu  eine  künstlerische  Höhe,  daß  sich 
hier  wirklich  das  Phrasentum  der  Beschreibung  mit 
dem  Phrasengeist  der  Handlung  deckt.  Nicht  nur  daß 
das  Auditorium  jedesmal  »mit  lebhafter  Spannung  den 
fesselnden  Ausführungen  des  Angeklagten  folgte« 
oder  daß  dieser  jedesmal  >ein  Netz  von  Fragen  über 
den  Zeugen  warf«  —  solche  Mittel  sind  im  Kriege 
nicht  verpönt  — ,  typisch  ist  das  folgende  Stim- 
mungsbild: »Zwischen  den  Parteienvertretern  fanden 
heute  schon  bei  den  Verlesungen  der  Dokumente 
mitunter  kleine  Kämpfe  statt,  in  die  auch  der  An- 
geklagte Dr.  Friedjung  verwickelt  wurde.  Die  Klin- 
gen wurden  halb  gezogen,  es  gab  kritische  Momente, 
und  empfindliche  Punkte  des  Beweisverfahrens  wur- 
den berührt.  Aber  bei  aller  Schärfe  der  Intention 
war  doch  eine  gewisse  Zurückhaltung  im  Ton  wahr- 
zunehmen, und  auch  über  die  Gereiztheit  siegte  noch 


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eine  Beherrschung,  ja  eine  chevalereske  Form.«  Das 
ist  Sprache  und  Lebensstimmung  des  Dr.  Priedjung. 
Fortiter  in  re,  suaviter  in  modo;  denn  allzu  scharf  würde 
schartig  machen.  Warmblütig,  jedoch  maßvoll.  Wenn  er 
stolz  erzählt,  daß  er  noch  nuehr  Dokumente  habe  und 
daß  er  mit  dem  Plan  umging,  sie  ausgerechnet  >  während 
des  Vormarsches  unserer  Truppen«  in  der  Freien 
Presse  zu  veröffentlichen,  um  Europa  zu  überzeugen,  daß 
>wir<  nur  infolge  von  Herausforderungen  >zum  Schwer- 
te gegriffen  hätten«,  so  kann  man  überzeugt  sein,  daß 
ihm  das  Anschauen  kriegerischer  Bilder  zwar  Ver- 
gnügen macht,  daß  er  aber  genug  Geistesgegenwart 
besitzt,  rechtzeitig  zur  Feder  zu  greifen  und  das 
Erlebnis  den  >Tausenden  und  Abertausenden 
unserer  Brüder  und  Söhne«  zu  überlassen.  Die 
daran  hätten  glauben  müssen,  weil  Herr  Friedjung 
an  die  Dokumente  glaubte,  und  denen  es  nur  des- 
halb erspart  blieb,  weil  im  letzten  Augenblick  »der 
Thronfolger  Prinz  Georg  infolge  der  Tötung  eines 
Dieners,  den  er  mit  den  Stiefelabsätzen  zertreten 
hatte,  zur  Niederlegung  seines  Rechtes  auf  die 
Erbfolge  genötigt  war«.  Immerhin  ein  humanerer 
Vorwand,  um  einen  Krieg  zu  unterlassen,  als  die 
Fälschung  von  Protokollen,  um  ihn  zu  führen. 
Aber  daß  die  Papiere,  um  die  sich  die  Geister  einer 
papiernen  Welt  geschart,  durch  einen  Druckfehler  bei- 
nahe Paniere  geworden  wären,  bezeichnet  die  Gefähr- 
lichkeit dieses  Handwerks.  In  den  Redaktionen  und  Äm- 
tern, in  denen  kein  Gedanke  zur  Tat  drängt,  entspringen 
die  bedenklichsten  Anregungen  aus  der  Phrase.  Der 
Schmeck  wagt  sich  nicht  vor  die  Tür,  aber  das 
Schmocktum  erzeugt  jene  Räusche,  denen  der 
Jammer  auf  dem  Fuß  folgt.  Wenn  Herr  Dr.  Friedjung 
dieses  Milieu  meidet  und  die  Gaben,  die  ihn  in  dessen 
Nähe  führten,  nur  bei  der  Beschäf  tigungmit  vergangenen 
Ereignissen  verwendet,  so  wird  ihm  die  Unkontrol- 
lierbarkeit der  Tatsachen  sowohl  wie  die  Flüssigkeit 
der    Darstellung   den  Ruf   eines    großen   Historikers 


—  11  — 


erhalten.  Es  wäre  eine  Unehrlichkeit,  wollte  ich  nicht 
offen  zugeben,  daß  der  >Kampf  um  die  Vorherrschaft«  zu 
jenen  berühmten  Büchern  gehört,  die  ich  nicht  gelesen 
habe.  Aber  ich  lasse  mich  köpfen,  wenn  ich  nach  der 
Lektüre  anders  über  den  Autor  urteile;  und  wenn  ein 
Mann  der  Wissenschaft  darauf  besteht,  daß  man  ihm  den 
guten  Glauben  attestiere,  so  ziemlich  die  einzige  Quali- 
tät, die  ihn  in  seinem  Fach  entwurzelt,  so  kann  ich  ver- 
langen, daß  man  mir  den  guten  Zweifel  an  einer  Persön- 
lichkeit einräume,  von  der  ich  nur  ein  einziges  Dokument 
kennen  muß,  um  auf  die  Unechtheit  aller  übrigen 
eu  schließen.  Und  der  grundsätzliche  Zweifel  an  der 
Urt-^iisfähiffkeit  der  heutigen  intellektuellen  Welt 
überhebt  mich  der  Mühe,  mich  zu  jedem  einzelnen 
ihrer  Ideale  herabzulassen.  Ich  bin  davon  überzeugt, 
daß  die  journalistische  Geläufigkeit  in  der  Behandlung 
entlegener  Dinge,  die  sonst  der  Schwerfälligkeit  einer 
Fachwissenschaft  ausgeliefert  sind,  hier  die  meisten 
täuscht  und  auch  viele,  die  solche  Qualität  in  der  Be- 
handlung aktueller  Politik  unerträglich  finden.  Und  ich 
glaube,  daß  anderseits  die  zeitliche  Entfernung  als  stoff- 
liches Moment  wieder  dem  Journalisten  zugute  kommt 
und  aus  ihm  genau  so  einen  Mann  der  Wissenschaft 
macht,  wie  sie  aus  ihm  einen  Novellisten  machen 
könnte.  Man  glaubt  gar  nicht,  wie  stark  die  Hilfe 
stofflicher  Distanz,  sei  es  nun  die  des  Ortes  oder  der 
Zeit,  wirkt,  um  dem  Schreibenden  das  Interesse  des 
Lesers  anzunähern.  Wer  über  Bukarest  schreibt,  ist 
schon  ein  Dichter;  das  Talent  beginnt  in  der  Leopold- 
stadt, Warum  sollte  nicht,  wer  über  Königgrätz 
schreibt,  ein  Historiker  sein?  Herr  Dr.  Friedjune  hat 
nur  die  Unvorsichtigkeit  begangen,  die  ruhige  Wirk- 
samkeit des  Stoffes,  der  so  viel  für  ihn  getan  hat, 
den  Gefahren  des  Zweifels  preiszugeben,  indem  er 
sichs  einfallen  ließ,  in  der  stofflichen  Welt  des  Tages, 
die  so  leicht  überprüfbar  ist,  literarische  Ehren  zu 
suchen.  Oder  um  mich  in  seiner  Sprache  auszudrücken, 
es  war  verfehlt,  vom  Piedestal  der  Wissenschaft  in  die 


12 


Arena  der  politischen  Kämpfe  hinabzusteigen.  Man 
könnte  leicht  den  guten  Glauben  an  seine  historischen 
Quellen  verlieren,  wenn  man  erfährt,  wie  die  der 
Gegenwart  beschaffen  sind.  Man  mag  befürchten, 
daß  auch  von  jenen  am  Ende  nichts  übrig  bleibt 
als  der  gute  Glaube  des  Historikers.  Zumal  wenn 
man  ihn  im  Gerichtssaal  als  einen  Beweis  sei- 
ner Gewissenhaftigkeit  anführen  hört,  daß  er  die 
Telegramme  zwischen  Benedek  und  dem  Kaiser  vom 
früheren  Generalstabschef  Grafen  Beck  erhalten  habe. 
Die  Dokumente  des  serbischen  Hochverrats  nämlich 
habe  er  von  Männern  erhalten,  >die  dasselbe  Ver- 
trauen verdienenc  wie  der  Graf  Beck.  Das  ist  am  Ende 
wahr.  Es  ist  wahr,  daß  der  jetzige  Generalstabschef 
(jener  Conrad  v.  Hötzendorf,  dessen  Name  unbedingt 
nach  einer  Schlacht  an  der  Drina  zum  Gebrauch 
für  Mittelschulen  rief)  die  Dokumente  geprüft 
hat;  es  ist  wahr,  daß  sie  sich  als  gefälscht  heraus- 
gestellt haben;  und  es  ist  also  zum  mindesten  ge- 
fährlich, die  Quelle  älterer  Dokumente,  die  schon 
ihre  Schuldigkeit  getan  haben,  noch  zu  nennen.  Freilich 
behauptet  Herr  Dr.  Friedjung,  ein  gewisses  Vertrauen 
müsse  ein  Historiker  für  sich  in  Anspruch  nehmen 
können.  Denn  sonst  würde  niemand  glauben,  daß 
Alexander  der  Große  gelebt  habe.  Wir  wüßten  es 
nur,  weil  es  uns  die  alten  Geschichtsschreiber  erzählt 
haben.  »Aber  wir  glauben  und  vertrauen  ihnen. <  Nun, 
ich  würde  nach  den  Ergebnissen  des  Prozesses  Friedjung 
auch  in  diesem  Punkte  zur  Vorsicht  raten.  Und  es  war 
um  so  bedenklicher,  die  Glaubwürdigkeit  der  Quelle, 
der  Herr  Dr.  Friedjung  den  Depeschen  Wechsel  1866 
verdankt,  mit  der  Verläßlichkeit  jener  andern,  welcher 
er  die  serbischen  Protokolle  verdankt,  zu  vergleichen, 
als  zum  Beispiel  ein  Gespräch,  das  der  Graf  Beck 
im  Jahre  1904  mit  dem  General  Kuropatkin  in  Öster- 
reich gehabt  und  das  der  Graf  Beck  dem  Herrn 
Dr.  Friedjung  in  einer  Gesellscheft  erzählt  hat  und 
das  Herr    Dr.   Friedjung    in    einer    vaterländischen 


—  13  — 


Revue  veröffentlicht  hat,  vom  General  Kuropatkin  mit 
der  Behauptung  dementiert  wurde,  er  sei  im  Jahre  1904 
gar  nicht  in  Österreich  gewesen.  Nun  ist  es  ja 
ebensogut  raöglioh,  daß  der  General  Kuropatkin  die 
Unwahrheit  ?apt,  wie  es  sicher  ist,  daß  der  Graf 
Beck  ein  steinalter  Herr  ist.  Aber  wir  haben  aus 
dem  Prozeß  erfahren,  wie  von  einem  schlichten  Alibi 
eines  Belgrader  Professors  die  ganze  Herrlichkeit  hoch- 
verräterischer Dokumente  abhängt,  die  uns  \or 
Europa  genötigt  hätten,  >zum  Schwerte  zu  greifen«. 
Herr  Dr.  Friedjung  hat  sich  freilich  auch  in  dieser 
Angelegenheit  als  Historiker,  der  der  Wahrheit  die  Ehre 
gibt,  bewährt.  Er  war,  wie  die  Zeitungen  versicherten, 
>gewi8senhaft«  genug,  zuzugeben,  daß  der  Professor 
Markovitsch  an  jenem  22.  Oktober,  da  er  in  Belgrad 
zum  Krieg  trommelte,  in  Charlottenburg,  Grohlmann- 
straße  30  sich  aufhielt,  nachdem  dies  vom  dor- 
tigen Polizeipräsidium  bestätigt  worden  war  und 
der  Historiker  der  Beweiskraft  eines  Meldzettels 
nicht  widerstehen  konnte.  Er  i>t  —  auf  dieser  Fest- 
stellung bp*stand  er  beim  Ausgleich  —  »kein  Klopf- 
fechter«. Niemand  darf  ihm  jene  Eigenschaft  bestrei- 
ten, die  er  »Rechtschafffuheit«  nennen  würde.  Und 
daß  ein  Belgrader  Strafrechtsprofessor  anstatt 
Boraben  zu  werfen  gerade  am  entscheid**nden 
Tag  einem  Vortrag  des  Doktor  Lilienthal  in 
Berlin  beigewohnt  hat,  das  zu  wissen  oder  an 
eine  solche  Möglichkeit  auch  nur  zu  denken,  ist 
wirklich  nicht  Sache  eines  Historikers.  Nein,  an 
dieses  Daturh  mußten  sich  keine  Zweifel  heften.  Und 
auf  jene  sentimentalen  Phrasen  der  Dokumente, 
von  denen  Professor  Masaryk  sagt,  sie  seien  nicht 
einmal  die  Sprache  eines  Gymnasiasten,  konnte  ge- 
rade er  hineinfallen,  denn  er  selbst  würde  sich  erfor- 
derlichen Falles  nicht  scheuen,  in  einem  Geheim- 
protokoll vom  »goldenen  Prag«  zu  sprechen.  Was 
er  aber  als  Historiker  zur  Grundlage  seiner  Forschung 
machen  konnte,  das  waren  die  zwei  Daten:  der  kroa- 


—  14  — 


tischen  Wahlen  und  der  serbischen  Anleihe.  Hier  war 
Wink  und  Möglichkeit  einer  Prüfung.    Hier    war  es 
dem  Historiker  erspart,  zum  Dienstmann  zu  werden, 
der  einen  Auftrag  des  Herrn  v.  Aehrenlhal  in  einer  Re- 
daktion abgibt,  wenn  nicht  gar  zum  Polizeimann,  der 
ihn  an  die  zuständige  Behörde  leitet.  Denn  daß  man 
die  Wissenschaft  mit  Protokollen  so  hineinlegen  kann 
wie    die    Neue    Freie    Presse   mit    einem    Erdbeben- 
bericht,   den    sie  für  echt  hält,    weil  darin  von  kos- 
mischen  und    tellurischen   Erscheinungen    die   Rede 
ist,    das    hat   der  Spaßvogel  in  Belgrad  gewiß    nicht 
geahnt.  Er  hat  für  Geld  sein   Pensum  geliefert,  aber 
nicht  geglaubt,  daß  sich  sogar  die  Wiss>enschaft  dafür 
interessieren  werde.    Das  Versprechen  des  Herrn  Dr. 
Friedjung,  dem  man  die  Fehlerhaftigkeit  jener  beiden 
Daten     vorhielt:     er    werde     sich    informieren,    ist 
die    prägnanteste     Zusammenfassung    der    Pflichten 
eines  Historikers.  Ich  habe  keinen  Respekt  vor  dem 
Handwerk.   Nicht   vor   seiner  Wichtigkeit,  nicht  vor 
seinem    Ernst    und    nicht    vor    seiner  intellektuellen 
Höhe.    Ich  war  dabei,  als  die  Wissenschaft  vor  dem 
logischen  Einmaleins  versagte,  und  der  Überlegenheit 
nichts    anders   übrig   blieb,  als  sich  mit  dem  stereo- 
typen »Es  ist  doch  merkwürdig — c  den  Bart,  zu  streichen. 
Da  der  Sektionschef  Spalajko witsch,  auf  dessen  Ent- 
larvung   durch    Herrn    Dr.  Friedjung    alle  Welt   ge- 
spannt war,  ja,  ja  und  nein,  nein  sagte,  was  drüber 
ist,    aber    für    übel    hielt,    holte  die  Wissenschaft  zu 
einer    merkwürdigen    Frage    aus.    Der    Abgeordnete 
Masaryk   hatte   in    einer  Rede   gesagt,   daß   die  Mit- 
glieder  der   Koalition    kein    Geld  von  der  serbischen 
Regierung    bekommen     haben ;    wenn    der  serbische 
Sektionschef    jenen     Bericht    an     seinen      Minister, 
der     von    der    Bestechung    handelt,    verfaßt    haben 
soll,       dann       müßte       Herr      Spalajkowitsch      die 
12.000    Franken     eingesteckt    haben.    Es    ist    klar, 
daß      der      Redner     aus     der      Unmöglichkeit     der 
Unterschlagung  auf  die  Unmöglichkeit   des  Berichtes 
schließen    wollte.     Aus    einem    logischen    Argument 


15 


wird  nun  unter  den  Händen  eines  Historikers  ein 
ethisches  Gravaraen,  und  Herr  Friedjung  glaubt, 
Masaryk  habe  aus  der  Tatsache  des  Berichts  auf 
die  Möglichkeit  der  Unterschlagung  schließen  wollen. 
Der  slawische  Abgeordnete  hat  also  bloß  die  Kroaten  — 
sie  nahmen  kein  Geld,  weil  siekeins  bekamen  —  heraus- 
hauen, aber  die  Serben  als  Werber  des  Hochverrats  und 
zugleich  Diebe  —  sie  gaben  kein  Geld,  weil  sie  es 
nahmen  —  hinstellen  wollen.  Masaiyk  habe  >eine 
Vermutungc  ausgesprochen:  »darf  ich  den  Herrn 
Sektionschef  bitten,  sich  über  diese  Vermutung 
zu  äußern  ?c  Herr  Priedjung  erklärt,  er  wolle,  wenn 
der  Zeuge  ihm  den  Gefallen  erweist,  »die  Möglich- 
keit dieser  hypothetisch  ausgesprochenen  Vermutung«, 
also  die  Defraudation  zuzugeben,  den  Herren  Klägern 
eine  Ehrenerklärung  ausstellen.  Allgeroeines  Gelächter 
und  Zwischenrufe,  die  aber  der  Vorsitzende  nicht  mehr 
mit  der  Mahnung  »Meine  Herren,  wir  sind  hier  in 
Wien«,  zurückweist,  weil  diese  Formel  zu  oft  schon 
dem  Chor  der  Kläger  als  Retourkutsche  gedient 
und  weil  sie  zu  offensichtlich  sich  als  eine  Bitte  um 
Entschuldigung  für  Schwachsinn  und  schlechte 
Manieren  herausgestellt  hat.  Aber  man  wartet  mit 
Ungeduld,  bis  sich  die  Antwort  des  Zeugen  durch 
das  Sprachrohr  des  Dolmetsch  an  unser  Ohr  ringt. 
Sie  läßt  keinen  Zweifel  darüber,  daß  er  die  Frage 
nicht  als  eine  Kriegslist  des  Gegners,  sondern  als 
geistiges  Armutszeugnis  auffaßt.  Herr  Dr.  Friedjung 
ist  zu  rechtschaffen,  um  einen  Zeugen  mit  solchen 
Manövern  bei  denGeschwornen  herabsetzen  zu  wollen. 
Er  hat  im  guten  Glauben  gehandelt.  Es  war  wirklich 
eine  Enthüllung,  jene,  die  er  nicht  schuldig  bleiben 
konnte,  nachdem  er  vor  dem  Eintreffen  des  Sektions- 
chefs Spalajko witsch  das  Versprechen  abgegeben 
hatte:  »Während  ich  meinen  Rechtsstreit  mit  den 
Klägern,  die  meine  Mitbürger  sind,  mit  Schonung 
durchführen  möchte,  werde  ich  gegen  diesen 
Spalajkowitsch  als  den  Feind  meines  Vaterlandes 
schonungslos  vorgehen  und  ihm  für  seine  diplomatische 


—  16  — 


Laufbahn  einen  Geleitbrief  mitgeben,  der  ihm  in 
Zukunft  noch  sehr  unbequem  sein  wird!«  Und  siehe  da: 
er  brachte  zunächst  vor,  daß  der  serbische  Sektions- 
chef in  Bosnien  einen  Schwiegervater  habe,  der  kein  so 
großer  österreichischer  Patriot  ist  wie  der  Dr.  Fried- 
jung  und  daß  der  Schwiegrersohn  wahrscheinUch 
nichts  dazu  tut,  den  alten  Mann  von  dieser  Ver- 
irrung  abzubringen.  Und  da  dies  nicht  wirkte, 
holte  Herr  Dr.  Priedjung  die  Vermutung  des 
Professors  Masaryk  >aus  dem  Köcher«.  Mach  deine 
Rechnung  mit  dem  Himmel,  Vogt,  und  nicht  mit 
der  kroatischen  Koalition!  Herr  Priedjung  spricht  gutes 
Burgtheaterdeutsch.  Sein  Organ  ist  sonor,  erinnert  an 
Herrn  Schreiner,  und  die  verwaiste  Rolle  des  Ottokar 
V.  Horneck  (> Dies  Österreich,  es  ist  ein  gutes  Land«) 
schreit  nach  ihm.  (>Ottokar  von  Steiermark,  irrtüm- 
lich auch  0.  von  Horneck  genannt,  Geschichtschreiber 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts. 
Dienstmann  eines  Herrn  von  Liechtenstein.  Schrieb 
eine  Reimchronik,  die  reich  ist  an  ausführlicher  Er- 
zählung merkwürdiger  Ereignisse,  an  Schilderung 
von  Tournieren  und  Schlachten,  wofür  er  reichhaltige 
Quellen  benutzt,  auch  von  Augenzeugen  manche  Mit- 
teilungen erhalten  hat.  0.  zeigt  sich  als  ein  in  kirch- 
lichen und  politischen  Dingen  sehr  freisinnig  denken- 
der Mann,  weiß  aber  Gerücht -und  Fabel  von  wirk- 
licher Geschichte  nicht  zu  unterscheiden.«)  Es 
ist  doch  merkwürdig  — :  daß  ihm  an  keiner 
Stelle  seiner  Verteidigungsrede  das  Zitat  eingefallen 
ist  »Der  Österreicher  hat  ein  Vaterland  u.  s.  w.< 
Nie  hätte  er  den  Gegner  durch  Tücken  und  Ränke  bei 
den  Geschwornen  schlecht  gemacht;  aber  daß  ein 
echtes  patriotisches  Gefühl,  wenn's  nun  einmal  da  ist, 
die  naheliegende  Wirkung  zu  Gunsten  seines  Besitzers 
»verschmähen«  sollte  (mit  offenem  mäh  auszusprechen, 
Schule  Strakosch),  das  sehe  ich  wirklich  nicht  ein. 
»Ich  stehe  hier  in  einem  Kampfe«,  rief  er,  »in  dem  ich 
alles  zu  beweisen  habe,  was  in  dem  heißumkämpften 
Artikel   der  Neuen  Freien  Presse  stand«:  gegenübei 


—  17  — 


solchem  Unrecht,  daß  man  von  gesetzeswegen  ge- 
nötigtist, den  Hochverrat,  den  man  einem  vorgeworfen 
hat,  auch  zu  beweisen,  darf  man  schon  seine  eigene 
Vaterlandstreue  —  wie  sagt  man  doch  —  ins  Treffen 
führen.  Und  wenn  man  noch  dazu  von  den  treuesten 
Dokumenten  im  Stich  gelassen  wird  und  zum  Schluß 
sich  gar  die  Berliner  Polizei  dreinmischt,  daim  beginnt 
man  die  im  Reichsrate  vertretenen  Königreiche  und 
Länder  nebst  Bosnien  und  der  Herzegowina  ans  Herz 
zu  drücken,  und  wenn  man  bisher  Patriot  aus  Not- 
wehr war,  so  wird  man  jetzt  Patriot  aus  Oberzeugung, 
und  ist  >berechtigt,  zu  erklären«,  daß  die  Dokumente 
schon  deshalb  von  der  Wissenschaft  anerkannt  werden 
mußten,  weil  sie  auch  höchststehenden  Persönlich- 
keiten vorgelegen  waren.  Wahrscheinlich  hätten  die 
Qeschwornen  auf  diese  Ei-öffnung  hin  mit  dem  Prei- 
spruch  ges^-^.n  Herrn  Dr.  Friedjung  vorgehen  müssen. 
Wegen  lückenlos  bewiesener  Vaterlandsliebe  (sprich 
Patratismus).  Da  aber  die  Wissenschaft  diese  Ehren- 
rettung nicht  überlebt  hätte,  zog  sie  es  vor,  sich  mit 
den  Feinden  des  Vaterlands  auszugleichen.  Sie  hatten 
kein  leichtes  Spiel  mit  diesem  Historiker.  So  wohl- 
f-»ilen  Kaufes  ließ  er  sie  nicht  ziehen  :  sie  mußten 
sich  zum  Zugeständnis  bequemen,  daß  er  ein  Patriot 
sei  und  ein  Mann  des  guten  Glaubens. 

>,Noch  nicht!'  , Vielleicht  dochl'  »Es  spießt 
sichl'  ,B3  wird  nichts  draus  1*  , Gemacht  1'«  Es  waren 
bange  Stunden,  ehe  es  dazu  kam,  und  die  Zeitungen 
haben  uns  mit  dem  ganzen  Aufwand  der  für  solche 
Zwecke  vorrätigen  Plastik  das  Kommen  und 
Gehen  der  Parteien,  das  Summen  und  Surren  des 
Auditoriums,  das  Munkeln  und  Mogeln  der  um  den 
Ausgleich  bemühten  Autoritäten  geschildert.  Ali 
endlich  Herr  v.  Bärnreither.  ein  Fachmann  für  Loyalität, 
Unverbindlichkeit  und  Entgegenkommen,  den  der  Prä- 
sident ins  Beratungszimmer  gebeten  hatte,  mit  den 
Worten  herauskam:  >Geduld  bringt  Rosen,  aber  auch 
zerrissene  Hosen!«,  da  war  der  Bann  gebrochen,  und 
man   wußte,   daß    nun   bald   alle  Weihnachtsglocken 


18  — 


läuten  würden.  »Eine  Bemerkung,  die  viel  Heiterkeit 
erregte«,  hieß  es  in  den  deutschen  Blättern.  Im 
andern  Lager  wurden  nachher  Bemerkungen  laut,  die 
weniger  nach  der  Gemütlichkeit  einer  poUtischen 
Kinderstube  rochen,  in  der  die  Blamagen  an  den 
Ciiristbaum  gehängt  werden.  Der  serbische  Minister 
des  Äußern  zum  Beispiel  meinte,  es  habe  >immer  und 
überall  freiwillige  und  übereifrige  Vaterlandsretter 
gegeben,  die  den  Gänsen  des  Kapitels  den  Rang  ab- 
zulaufen suchten«.  Fragt  sich  nur,  wo  die  besseren 
Fe  lern  zu  f  mden  sind.  Und  der  Präsident  des  kroatischen 
Landtags  wollte  wissen,  ob  das  Vaterland  denn  nicht 
zufrieden  sei,  daß  die  Südslawen  ihm  ihr  Blut  geopfert 
haben,  und  ob  es  wirklich  auch  den  moralischen  Tod 
seiner  Söhne  fordere.  Die  Neue  Freie  Presse  aber,  der 
es  seitdem  die  Rede  verschlagen  hat,  hielt  das  »Ver- 
trauen zur  österreichischen  Justiz«  hoch,  in  welchem 
sich  jene  »nicht  getäuscht«  hätten,  denen  man  zuerst 
den  Hochverrat  bewiesen  und  dann  gnädig  erlaubt 
hat,  sich  gegen  den  Verdacht  zu  wehren. 

Die  Kroaten  und  Serben  in  Österreich  haben 
es  vorgezogen,  dieses  Vertrauen  nicht  der  Belastungs- 
probe eines  Geschwornenurteils  auszusetzen.  Im  Um- 
gang mit  jenen  »Vertrauten«,  die  die  Regierungen  dort 
unten  auf  das  politische  Leben  loslassen,  haben  sie 
es  gelernt,  der  Verläßlichkeit  eines  solchen  öster- 
reichischen Gefühls  zu  mißtrauen.  Eine  Staatsweisheit, 
die  »Umtriebe«  erzeugt,  um  sich  vor  ihnen  zu  fürchten, 
und  die  nur  an  Bomben  glaubt,  welche  sie  mit  Akten 
belegt  sieht,  hat  dafür  gesorgt,  daß  in  Kroatien  auf 
jeden  Bürger  zwei  Konfidenten  kommen.  Man  versäuft 
Staatsgelder,  um  die  weißen  Mäuse  zu  sehen,  von  denen 
man  so  viel  schon  gehört  hat.  Von  der  Vorstellung, 
daß  es  Umtriebe  gibt,  lebt  dann  die  Geschichts- 
schreibung, und  dem  Herrn  Dr.  Friedjung  »gebührt  das 
Verdienst,  am  Vorabend  eines  Krieges  auf  sie  auf- 
merksam gemacht  zu  haben«.  Dem  Tritt  eines  ser- 
bischen Prinzen  verdanken  wir,  daß  es  beim  Vorabend 
geblieben  ist.     Aber  vielleicht  wäre  es  nicht  einmal 


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dazu  gekommen,  vielleicht  hätte  uns  der  Graf 
Aehrenthal  rund  eine  Milliarde  ersparen  können,  wenn 
er  sich  rechtzeitig  die  Lust  verkniffen  hätte,  Um- 
triebe zu  sehen  oder  auf  sie  aufmerksam  machen 
zu  lassen.  Hätte  der  Kammerdiener  des  Prinzen 
Georg  nicht  gezeigt,  wie  man  fürs  Vaterland  stirbt, 
die  Österreicher  hättens  lernen  müssen,  und  die 
Dokumente  des  Herrn  Dr.  Priedjung  hätten  dann  jene 
Männer  auf  den  Richtplatz  geführt,  die  heute  aus 
einem  Beleidigungsprozeß  ihre  Ehre  gerettet  haben. Sie 
hätten  das  Schicksal  der  >  Agramer  Hochverräterc  ge- 
teilt, deren  Opferung  jetzt  den  Schlaf  der  vater- 
ländischen Dokumentenjustiz  zu  stören  beginnt.  Denn 
der  Betrieb  der  vaterländischen  Dokumentenfabrik, 
den  Männer  wie  der  Sektionschef  Nikoliö  enthüllt 
haben,  ist  gestört.  >Man  soll  uns  vorhalten,  was  gegen 
uns  spricht,  man  soll  uns  untersuchen  vom  Scheitel 
bis  zur  Zehe,  wir  werden  uns  ausziehen  vor  den 
Wiener  üeschwornen.c  Schande  genug,  daß  diese 
typische  Prozedur  vor  den  Augen  der  Rauchfangkehrer- 
raeisteruqdGemischt  waren  verschleißer  auch  in  solchem 
Falle  notwendig  war.  Diese  unerwünschten  Zuschauer 
riefen,  soweit  sie  der  Verhandlung  folgen  konnten,  den 
Klägern  zu:  >Geben  Sie  uns  Beweise  !<  Und  jene  gaben 
Beweise,  wiewohl  sie  dazu  nicht  verpflichtet  waren. 
Es  war  ein  fürchterliches  Reinemachen  vor  den  Feier- 
tagen. Vor  dem  österreichischen  Justizskandal  eines  Frei- 
spruches blieben  wir  bewahrt.  Der  Skandal,  der  über  den 
politischen,  wissenschaftlichen  und  journalistischen 
Autoritäten  zusammenschlug,  wird  erst  aufstinken. 
Die  Frage,  was  die  Vertreter  dieses  Staates  im 
Balkan  machen,  ist  aufgebrochen.  Man  gibt  zu,  daß 
das  Huren  eine  schöne  Beschäftigung  ist,  möchte 
aber  einmal  wissen,  was  in  den  Zwischenpausen 
geschieht.  Die  österreichisch-ungarische  Diplomatie 
ist  einem  grobschlächtigen  Gauner  aufgesessen  und 
hat  mit  dem  niedrigsten  Betrug  den  höchsten  Stellen 
im  Reich  die  Notwendigkeit  der  Annexion,  die  Dring-  • 
lichkeit  eines  Krieges  begreiflich  gemacht.  Die  Welt  wird 

}93 


—  20  — 


betrogen,  aber  sie  weiß,  von  wem  und  wofür.  Osterreich 
wird  noch  gläubig  sein,  wenn  es  keinen  Betrüger  mehr 
geben  wird ;  es  wird  sich  selbst  betrügen.  Herr  Cook  geht 
durch  die  Welt,  er  hat  immerhin  entdeckt,  daü  es 
einen  Nordpol  gibt.  Wir  haben  uns  einen  Hochverrat 
entdecken  lassen,  den  es  überhaupt  nicht  gibt. 

Dabeiaber  haben  wir  erfahren,  in  welche  entlegenen 
Winkel  dieses  Vaterlandes  die  Kultur  sich  zitternd 
verkrochen  hat.  Sie  lebt  dort,  wo  sie  in  Furcht  vor 
den  Konfidenten  lebt.  Nicht  hier,  wo  die  Konfiden- 
ten in  Furcht  vor  der  Kultur  leben.  Wir  haben 
erfahren,  wo  der  Balkan  ist.  Österreich  ist  das  Land, 
in  dem  man  keine  Konsequenzen  zieht:  es  achte 
darauf,  daß  sie  nicht  gegen  Österreich  gezogen 
werden.  Heurigenmusik,  zu  der  ein  Vaterländler  ge- 
tanzt wird,  wird  die  Welt  über  den  wahren  Aus- 
gang dieses  Prozesses  nicht  täuschen.  >  Durch  diese 
Dokumente  sollte  vor  Buropa  der  Beweis  erbracht 
werden  .  .  .*:  Baropa  wird  zur  Kenntnis  nehmen, 
daß  es  ein  Gegenbeweis  war.  Und  die  Geschichts- 
schreibung, soweit  sie  nicht  guten  Glaubens  ist, 
wird  von  diesem  Datum  Notiz  nehmen. 


Zur  endgiltigen  Abfertigung  des  täglich  frecheren  Schxrach- 
sinns,  der  mir  die  Beschäftigung  mit  mir  meiner  Stellung,  meinen 
Büchern,  meinen  Feinden  verübelt  und  mahnend  oder  höhnend 
nachweist,  daß  sie  die  Hilfte  meiner  literarischen  Tätigkeit  aus- 
fülle, während  sie  doch  in  Wahrheit  meine  ganze  literarische 
Tätigkeit  ausfüllt;  und  weil  man  sich  vor  diesem  Pöbel,  dem  man 
als  Lebender  nie  zur  »Autorität  wird,  nur  durch  Berufung  am 
Autoritäten  Ruhe  verschaffen  kann;  zur  endgiltigen  Abfuhr  aller 
anonymen  Ratgeber,  und  um  die  Bildung  jener  weltweisen  Noboiys 
die  gern  in  Büchern  nachschlagen,  zu  vervollständigen,  sei  dieses 
Zitat  mir  willkommen: 


—  21  — 


»Die  Absicht  Dun  aber,  in  welcher  der  Dichter 
unsere  Phantasie  in  Bewegung  setzt,  ist,  uns  die 
Ideen  zu  offenbaren,  das  heißt  an  einem  Beispiele  zu 
zeigen,  was  das  Leben,  was  die  Welt  sei.  Dazu  ist 
die  erste  Bedingung,  dafi  er  es  selbst  erkannt  habe: 
je  nachdem  dies  tief  oder  flach  geschehen  ist,  wird 
seine  Dichtung  ausfallen.  Demgemäß  gibt  es  unzählige 
Abstufungen,  wie  der  Tiefe  und  Klarheit  in  der  Auf- 
fassung der  Natur  der  Dinge,  so  der  Dichter.  Jeder 
von  diesen  muß  inzwischen  sich  für  vortrefflich 
halten,  sofern  er  richtig  dargestellt  hat,  was  er 
erkannte,  und  sein  Bild  seinem  Original  entspricht: 
er  mufi  sich  dem  Besten  gleichstellen,  weil  er  in 
dessen  Bilde  auch  nicht  mehr  erkennt,  als  in  seinem 
eigenen,  nämlich  so  viel,  wie  in  der  Natur  selbst: 
da  sein  Blick  nun  einmal  nicht  tiefer  eindringt.  Der 
Beste  selbst  aber  erkennt  sich  als  solchen  daran,  daß 
er  sieht,  wie  flach  der  Blick  der  Andern  war,  wie 
vieles  noch  dahinter  lag,  das  sie  nicht  wiedergeben 
konnten,  weil  sie  es  nicht  sahen,  und  wie  viel  weiter 
sein  Blick  und  sein  Bild  reicht.  Verstände  er  die 
Flachen  so  wenig,  wie  sie  ihn,  da  müßte  er  ver- 
zweifeln: denn  gerade  weil  schon  ein  außerordent- 
licher Mann  dazu  gehört,  um  ihm  Gerechtigkeit  wider- 
fahren zu  lassen,  die  schlechten  Poeten  ihn  aber  so 
wenig  hochschätzen  können,  wie  er  sie,  so  hat  auch 
er  lange  an  seinem  eigenen  Beifalle  zu  zehren, 
ehe  eine  Welt  nachkommt.  —  Inzwischen  wird  ihm 
auch  jener  verkümmert,  indem  man  ihm  zumutet,  er 
solle  fein  bescheiden  sein.  Es  ist  aber  so  unmög- 
lich, daß,  wer  Verdienste  hat  und  weiß,  was 
sie  kosten,  selbst  blind  dagegen  sei,  wie  daß 
ein  Mann  von  sechs  Fuß  Höhe  nicht  merke, 
daß  er  die  Andern  überragt .  .  .  Horaz,  Lucrez, 
Ovid  und  fast  alle  Alten  haben  stolz  von  sich  gere- 
det, desgleichen  Dante,  Shakespeare,  Bako  von  Veru- 
lara  und  viele  mehr.  Daß  einer  ein  großer  Geist  sein 
könne,  ohne  etwas  davon  zu  merken,  ist  eine  Absur- 
dität,   welche  nur    die   trostlose    Unfähigkeit 


22  — 


sich  einreden  kann,  damit  sie  das  Gefühl  der 
eigenen  Nichtigkeit  auch  für  Bescheidenheit  halten 
könne.  Ein  Engländer  hat  witzig  und  richtig  be- 
merkt, daß  merit  und  modesty  nichts  Geraeinsaraes 
hätten,  als  den  Anfangsbuchstaben.  Die  bescheidenen 
Zelebritättni  habe  ich  stt-ts  im  Verdacht,  daß  sie  wohl 
recht  haben  könnten;    und    Corneille    sagt  geradezu: 

La  fausse   humilite   ne  met  plus  en  credit: 

Je  s^-ais  ce  que  je  vaux,  et  crois  ce  qu'on  m'en   dit. 

Endlich  hat  Goethe  es  unumwunden  gesagt:  »Nur 
die  Lumpe  sind  bescheiden«.  Aber  noch  unfehlbarer 
wäre  die  Behauptung  gewesen,  daß  die,  welche  so 
eifrig  von  Andern  Bescheidenheit  fordern,  auf  Be- 
scheidenheit dringen,  unablässig  rufen:  »Nur  beschei- 
den! um  Gotteswillen,  nur  bescheidenl«  zuverlässig 
Lumpe  sind,  das  heißt:  völlig  verdienstlose 
Wichte,  F'abriksware  der  Natur,  ordentliche 
Mitglieder  des  Packs  der  Menschheit.  Denn  wer 
selbst  Verdienste  hat,  läßt  auch  Verdienste  gelten  — 
versteht  sich  echte  und  wirkliche.  Aber  der,  dem 
selbst  alle  Verdienste  und  Vorzüge  mangeln,  wünscht, 
daß  es  gar  keine  gäbe:  ihr  Anblick  an  Andern  spannt 
ihn  auf  die  Folter;  der  blasse,  grüne,  gelbe  Neid 
verzehrt  sein  Inneres:  er  möchte  alle  persönlich  Be- 
vorzugten vernichten  und  ausrotten:  muß  er  sie  aber 
leider  leben  lassen,  so  soll  es  nur  unter  der  Bedingung 
sein,  daß  sie  ihre  Vorzüge  verstecken,  völlig  ver- 
leugnen, ja  abschwören.  Dies  also  ist  die  Wurzel 
der  so  häufigen  Lobreden  auf  die  Bescheidenheit. 
Und  wenn  solche  Präkonen  derselben  Gelegenheit 
haben,  das  Verdienst  im  Entstehen  zu  ersticken,  oder 
wenigstens  zu  verhindern,  daß  es  sich  zeige,  daß  es 
bekanntwerde  —  wer  wird  zweifeln,  daß  sie  es  tun? 
Denn  dies  ist  die  Praxis  zu  ihrer  Theorie.« 

Schopenhauer,   »Welt  als  Wille  und  Vorstellung«, 
2.  Band,  3.  Buch  37.  Kap. 


—  23  — 


Dmck  und  Nachdruck 
Von  Karl  Kraus 

Im  Vertrauen  darauf,  daß  die  zeitgenössische  Publizistik 
ohnehin  nicht  mehr  den  Mut  zur  Zitierung  der  »Fackel'  und  nur 
noch  die  Lust  zum  Stehlen  aufbringen  werde,  habe  ich  kürzlich 
bei  der  Neugestaltung  des  Titelblattes  auf  das  Nachdrucksverbot 
verzichtet.  Auf  dem  Umschlag  der  vorliegenden  Nummer  ist  es 
wieder  zu  lesen.  Denn  jetzt  erst  sehe  ich,  wie  notwendig  es  war. 
Em  Ausschnittbureau  sendet  mir  nämlich  einige  Nachdrucke,  die 
mir  viel  mehr  Verdruß  als  Freude  bereiten  und  die  mir  beweisen, 
daß  man  es  endgiltig  aufgeben  muß,  Respekt  vor  dem  Gedanken 
zu  verlangen,  und  daß  mehr  als  der  Beifall  für  die  Meinung  auf  dem 
heutigen  Leserniveau  nicht  zu  erreichen  ist.  Nun  weiß  man  ja,  daß 
ich  gerade  darauf  und  auf  nichts  lieber  verzichte  in  einer  durch  und 
durch  verjournalisierten  Zeit,  der  der  Geist  zur  Information  dient  und 
die  taube  Ohren  hat  für  den  Einklang  von  Inhalt  und  Form.  Sie  unter- 
scheidet »schreiben  können«  von  »Recht  haben  «.versichert,  »zwar  nicht 
mit  allem  einverstanden  zu  sein,  aber  .  .  .«,  und  hat  keine  Ahnung 
von  der  geheimnisvollen  Unmöglichkeit,  das,  wo'in  ich  »Recht 
hal>e<,  anders  als  eben  so  zu  sagen,  wie  ich  es  sage,  und  darin, 
Wie  ich  es  sage,  etwas  anderes  haben  zu  können,  als  Recht.  Sie 
glaubt,  es  handle  sich  vorweg  um  den  Stoif  und  hinterher  komme 
eine  Forderung  ästhetischer  Sauberkeit.  Wenn  ich  ihr  sagte,  daß 
ich  an  zehn  Seiten  zwei  Stunden  und  an  einer  Zeile  zehn  Stunden 
arbeite,  diese  sprachverlassene  Zeit  würde  es  unverständlich 
finden.  Und  wenn  ich  verriete,  daß  ich  um  einer  Konjunktion 
willen,  die  mir  während  des  Druckes  zu  mißfallen  beginnt,  die  halbe 
Auflage  vernichten  lasse,  so  würde  sie  sagen,  dies  sei  närrisch, 
denn  sie,  auf  die  es  doch  ankomme,  bemerke  den  Unterschied 
nicht,  und  ich  sollte  Zeit  und  Geld  an  populärere  Bestrebungen 
wenden. 

Nun  kann  man  freilich  über  religiöse  Angel^enheiten 
nicht  streiten,  und  die  Zeit  muß  sich  damit  abfindtn,  daß 
einer,  der  sich  als  einen  Todfeind  des  Ästhetentums  gibt,  das 
Geheimnis  eines  Dopp>elpunkts  für  wichtiger  hält  als  die  Prob- 
leme der  Sozialpolitik.  Wir  können  darüber  nicht  streiten,  ob 
der  Schöpfer  oder  der  Nutzer  dem  Geist  näher  ist;  ob  es 
auf    den    Umfang   des    Schöpferischen    ankommt   und   ob   nicht 


—  24  — 


in  der  Wonne  sprachlicher  Zeugung  aus  dem  Chaos  eine  Welt 
wird.  Unverständlich  ist  es  wie  dieses:  die  leiseste  Belichtung: 
oder  Beschattung,  Tönung  und  Färbung  eines  Gedankens  — 
nur  solche  Arbeit  ist  wahrhaft  unverloren,  so  pedantisch,  lächerlich 
und  sinnlos  sie  für  die  unmittelbare  Wirkung  auch  sein  mag, 
kommt  irgend  wann  der  Allgemeinheit  zugute  und  bringt  ihr  zuletzt 
jene  Meinungen  als  wohlverdiente  Ernte  ein,  die  sie  sich  heute 
mit  frevler  üier  auf  dem  Halm  kauft.  Alles  Geschaffene  bleibt, 
wie  es  präformiert  war,  ehe  es  geschaffen  wurde.  Der  Künstler 
holt  es  als  ein  Fertiges  vom  Himmel  herunter.  Die  Ewigkeit 
ist  ohne  Anfang.  Lyrik  oder  ein  Witz:  die  Arbeit  liegt 
zwischen  dem  Selbstverständlichen  und  dem  Endgiltigen.  Es 
werde  immer  wieder  Licht.  Es  war  schon  da  und  sammle  sich 
wieder  aus  der  Farbenreihe.  Wissenschaft  ist  Spektralanalyse,  Kunst 
ist  Lichtsynthese.  Der  Gedanke  ist  in  der  Welt,  aber  man  hat  ihn 
nicht.  Er  ist  durch  das  Prisma  stofflichen  Erlebens  in  Sprach- 
elemente zerstreut,  der  Künstler  sammelt  sie  zum  Gedanken.  Der 
Gedanke  ist  ein  Gefundenes,  ein  Wiedergefundenes.  Und  wer  ihn 
nur  selbst  sucht,  ist  ein  ehrlicher  Fmder,  ihm  gehört  er,  auch 
wenn  ihn  vor  ihm  schon  ein  anderer  gefunden  hätte  .  .  . 

Doch  was  hat  dies  mit  einem  Nachdruckverbot  zu  schaffen? 
Der  Leser  hat  vielleicht  keine  Lust,  sich  selbst  noch  mit  der  Erklärung 
von  Narrheiten  zum  Narren  halten  zu  lassen.  Von  allen  Autoren,  die 
ihn  bedienen,  bin  ich  der  weitaus  größte  Schwindler:  das  Publikum 
dankt  mir  für  Brot  und  ich  sage  hinterdrein,  daß  es  Steine 
waren.  Wenn  ich  jemand  an  meinen  Schreibtisch  ließe  und  ihm 
die  Zumutungen  zeigte,  die  mir  die  Post  eines  Tages  bringt,  er 
würde  über  die  Zähigkeit  staunen,  die  hier  an  einen  Bäckerladen 
pocht  und  sich  jahraus  jahrein  mit  einer  altbackenen  Illusion 
zufrieden  gibt.  Kern  Hund  nähme  mehr  einen  Bissen  von  mir, 
wenn  er  wüßte,  wie  unverdaulich  er  ist.  Eine  der  groteskesten 
Erscheinungen:  dieser  unbeirrbare  Glaube  an  den  Inhalt.  Weil 
drauf  »Cyankali«  steht,  f 'essen  sie's  und  holen  es  noch  aus  der 
Tabaktrafik.  Ich  lechze  nach  dem  Zeitpunkt,  wo  man  mir  auf  die  In- 
kongruenz zwischen  mir  und  meinen  Stoffen,  meinen  Aktualitäten, 
meiner  Verbreitung  kommen  und  mich  der  Ehre  überheben  wird, 
zwischen  Trabukkos,  Staatslotterielosen,  R-.volverblättern  und  An- 
sichtskarten Aphorismen   zu  verschleißen.    Bis  dahin  wird's  noch 


—  25  — 


manchmal  heißen :  Wo  er  recht  hat,  hat  er  recht.  Ich  falle  der 
Entwicklung  nicht  in  den  Arm.  Die  Kenner,  die  solches  Zögern 
von  einer  geschäftlichen  Raison  ableiten  —  aber  wenn  ich  ihnen 
sage,  daß  ich  halbe  Auflagen  um  eines  Wortes  willen  vernichten 
lasse,  mit  der  Fabel  kommen,  daß  ich  mir's  eben  leisten  könne  — , 
sie  sollen  auch  leben.  Inzwischen,  bis  einmal  die  Geschichte 
der , Fackel'  von  reinerer  Hand  geschrieben  wird,  will  ich  wenigstens 
dafür  sorgen,  daß  ihr  geistiges  Bild  nicht  entstellt  werde. 

Es  geschieht  durch  ein  niederträchtiges  System  des  Nachdrucks, 
dem  ich  hiermit  ein  für  allemal  den  Riegel  vorschiebe.  Ich  habe 
nichts  dagegen,  daß  man  Publikationen  von  mir,  die  ich  heute  un- 
publiziert  wünschte,  mit  dem  richtigen  Datum  zitiert.  Auch  was 
ich  verwerfe,  gehört  zu  mir,  und  ich  bin  nicht  imstande, 
irgend  etwas  zu  bereuen,  was  mir  heute  als  Sünde  er- 
scheint. Was  aus  den  ersten  Jahren  der  , Fackel*  aufhebenswert  ist, 
kommt  in  die  Bücher;  trotzdem  räume  ich  jedem  das  Recht  ein, 
mir  Irrtümer,  Fehler,  Widersprüche,  so  sehr  er  Lust  hat,  vorzu- 
halten. Aber  ich  gestatte  keinem,  eine  Äußerung  aus  den 
letzten  drei  Jahren  in  wohlwollender  Absicht  zu  zitieren, 
wenn  er  sich  nicht  verpflichtet,  an  die  Kontrolle  des  Nachdrucks  wenig- 
stens den  hundertsten  Teil  der  Sorgfalt  zu  wenden,  die  ich  an  die 
Kontrolle  des  Drucks  gewendet  habe.  Diese  Mahnung  geht  eo  ipso 
nur  solche  Redakteure  an,  die  mir  eine  ihnen  bequeme  Meinung 
abknöpfen  wollen  und  den  Nachdruck  mit  jenen  Worten  ein- 
leiten, die  mich  sofort  zur  entgegengesetzten  Meinung  entflammen 
könnten:  >Mit  Recht  bemerkt  der  bekannte  Herausgeber  der  .Fackel'«. 
Wenn  also  der  Unfug  schon  geduldet  werden  soll,  so  müßte 
wenigstens  der  Text,  der  nach  solcher  Einleitung  noch  immer  seinen 
künstlerischen  Ursprung  behaupten  könnte,  unverändert  dastehen. 
Die  Redakteure  nehmen  aber,  was  ihnen  paßt,  und  markieren  die 
Auslassungen  nicht  einmal  durch  Punktreihen.  Welchem  organi- 
schen Ganzen  der  Teil  genommen  war,  ist  dann  nicht  mehr  zu 
erkennen.  Daß  man  durch  Streichung  eine  Plattheit  in  einen  Ge- 
danken, aber  auch  einen  Gedanken  in  eine  Plattheit  verxrandeln  kann, 
verstehen  diese  sprachverlassenen  Meinungssucher  nicht.  Und  sie  tun 
ein  Übriges:  sie  sehen  auch  nicht  nach,  wie  der  Setzer  ihr  Flick- 
werk zugerichtet  hat.  In  einer  deutschen  Monatsschrift,  die  von  einer 
Dame  redigiert  wird,  ist  jeder  Satz,  mit  dem  ich  angeblich  »Recht« 


—  26 


habe,  verstümmelt  oder  in  sein  Gegenteil  verkehrt.  Daß  durch 
Weglassung  der  Anführungszeichen  in  einem  Satz,  der  noch 
ein  zweitesmal  vorkommt,  statt  einer  Kontrastwirkung  eine  Wie- 
derholung bewirkt  wurde,  dafür  muß  ein  .Setzer  kein  Verständ- 
nis haben.  Aber  ein  Redakteur,  der's  auch  nicht  hat, 
kennt  nicht  einmal  die  Verpflichtung,  dort  eine  mecha- 
nische Kontrolle  zu  üben,  wo  ein  Anderer  gedacht  hat.  Die 
Dreistigkeit  der  Absicht,  mich  zu  redigieren,  würde  ich  noch 
verzeihlicher  finden  als  die  grundsätzliche  Nichtachtung  vor 
geistiger  Arbeit,  die  in  der  sorglosen  Preisgabe  an  die  Gefahren  des 
Druckes  gelegen  ist.  Ich  halte  die  Maschine  auf  und  zwinge  sie, 
meinen  Launen  zu  dienen,  und  nach  Tagen  und  Nächten  solchen 
in  den  Schlaf  fortgesetzten  Kampfes,  solcher  auch  am  fertigen 
Werk  noch  wirkender,  nie  beruhigter  Zweifel,  kommt  ein  anderer, 
der  meine  Meinung  teilt,  und  opfert  mich  seiner  Maschine  auf.  Ich 
habe  der  Zeitschrift,  die  mir  solches  angetan  hat,  eine  Berichti- 
gung geschickt.  Aber  ich  habe  nicht  Lust,  in  den  Druckereien 
Deutschlands  und  Österreichs  die  Arbeit  zu  verrichten,  die  mich 
in  einer  einzigen  kaput  macht.  Ein  Wiener  Tagesblatt,  das  seine 
christlichsozialen  Hausmeisterinnen  mit  Zitaten  aus  der  , Fackel' 
erfreuen  zu  müssen  glaubt,  sei  auf  diesem  Wege  ausdrücklich 
verwarnt.  Es  hat  kürzlich  ein  paar  Seiten  aus  dem  Artikel  über 
den  Fall  Hofrichter  glatt  ins  Hausmeisterische  übersetzt.  Hier 
handelts  sich  nicht  um  Verstöße  gegen  Stil  und  satirische  Absicht, 
die  ein  sorgloser  Nachdruck  bedeutet,  sondern  um  Verstöße  gegen 
die  Grammatik,  die  ich  an  und  für  sich  nicht  so  schmerzlich 
empfinde,  die  aber  hier  eigens  für  das  Fassungsvermögen  des 
Publikums  berechnet  zu  sein  scheinen.  Wollte  ich  den  Nachdruck 
nachdrucken,  man  würde  es  nicht  für  möglich  halten,  daß  ein  so 
lesbares  Manuskript,  wie  es  die  Seiten  einer  Zeitschrift  vorstellen, 
in  einer  Druckerei  solchen  Verheerungen  ausgesetzt  sein  kann. 
Auch  die  Volltrunkenheit  des  Setzers  könnte  sie  nicht  erklären. 
Bleibt  nur  die  Annahme,  daß  in  christlichsozialen  Druckereien  ein 
Korrektor  angestellt  ist,  der  darüber  zu  wachen  hat,  daß  nichts 
Deutsches  durchrutscht.  Aus  der  »Behörde,  die  jetzt  den  Fall 
übernommen  hat  und  die  durch  Tradition  und  ein  veraltetes 
Gesetz  vor  den  Verlockungen  der  Reklame  geschützt  ist<  werden 
»Behörden,  die  jetzt  den  Fall  übernommen  haben  und  die  durch 


-  27  - 


die  Tradition  und  einem  veralteten  Gesetz  vor  den  Verfolgungen 
der  Reklame  geschützt  ist«.  Eine  Person,  die  >unweit  dem  Ver- 
dachtskreis« wirkt,  ist  jetzt  eine,  die  >unweitdes  Verdachtskreises< 
wirkt.  Sie  hat  >dem  Hauptmann  Mader  ein  zweites  Opfer  gesellt 
und  in  der  entfachten  Sensation  die  eigene  Spur  verwischt«  ? 
Nein,  sie  hat  ihm  »ein  zweites  Opfer  gestellt,  deren  entfachte  Sen- 
sation die  eigene  Spur  verwischt  hat«.  >Es  ist  doch  wahrschein- 
licher, daß  ....  als  daß  .  .  .  .«  gilt  nicht;  jetzt  heißt  es: 
»Es  ist  jedoch  wahrscheinlich,  daß  ....  als  daß  .  .  .  .«  Ein 
»zurechtgelegtes  Alibi«?  Nein,  ein  »zusammengelegtes«.  Gegen 
die  Schuld  Hofrichters  sollte  »die  unwahrscheinliche  Dummheit« 
sprechen,  »mit  seinem  notorischen  Handwerkszeug  einen  Giftmord 
zu  verüben  und  zu  hoffen,  daß  er  dem  Verdacht  durch  Harmlosig- 
keit begegnen  könne«.  Jetzt  heißt  es:  »Gegen  die  Schuld  H.'s 
spricht  die  unwahrscheinliche  Dummheit,  mit  einem  notorischen 
Handwerkszeug  ist  nicht  Giftmord  zu  verüben  und  zu  hoffen,  daß 
er  den  Verdacht . . .  begegnen  könne«.  Und  an  der  Spitze  heißt  es 
trotzdem:  »Die  , Fackel'  schreibt«. 

Aber  sie  hat  für  dieses  Pack  zu  schreiben  aufgehört.  Von 
jetzt  an  ist  nur  mehr  das  Stehlen  erlaubt.  Da  wird  vielleicht  auch 
etwas  mehr  Sorgfalt  auf  den  Druck  verwendet  werden,  und  im 
Übrigen  fällts  nicht  auf  mich  zurück.  Ein  Berliner  Sudelblatt,  das 
erst  kürzlich  wegen  Erpressung  sich  verantworten  mußte,  kompro- 
mittiert sich  ganz  unnötigerweise  durch  Zitierung  der  ,Fackel'. 
Hin  und  wieder  nimmt  es  sich  einen  Anlauf  und  druckt  eine  Notiz 
ab,  ohne  die , Fackel'  zu  nennen.  Es  müßte  konsequenter  sein.  Einigen 
wir  uns  darauf:  Nachdruck  nur  ohne  Quellenangabe  gestattet! 


»Keines  der  jetzigen  Kulturvölker  hat  eine  so  schlechte 
Prosa  wie  das  deutsche.  Sieht  man  nach  den  Gründen,  so  kommt 
man  zuletzt  zu  dem  seltsamen  Ergebnis,  daß  der  Deutsche  nur 
die  improvisierte  Prosa  kennt  und  von  einer  anderen  gar  keinen 
Begriff  hat.  Es  klingt  ihm  schier  unbegreiflich,  wenn  ein  Italiener 
sagt,  daß  Prosa  gerade  um  soviel  schwerer  sei  als  Poesie,  um 
wieviel  die  Darstellung  der  nackten  Schönheit  für  den  Bildhauer 
schwerer  sei   als  die  der  bekleideten  Schönheit.    Um  Vers,  Bild, 


—  28  — 


Rhythmus  und  Reim  hat  man  sich  redlich  zu  bemühen  —  das 
begreift  auch  der  Deutsche  — ,  aber  an  einer  Seite  Prosa  wie 
an  einer  Bildsäule  arbeiten?  —  es  ist  ihm,  als  ob  man  ihm 
etwas  aus  dem  Fabel land  vorerzählte.«  Nietzsche. 


Aphorismen*) 
Von  Karl  Kraus 

Es  gibt  Heuchler,  die  mit  einer  unehrlichen 
Gesinnung  prahlen,  um  unter  solchem  Schein  sie  zu 
besitzen. 

Die  Weiber  sind  nie  bei  sich  und  wollen  darum, 
daß  auch  die  Männer  nicht  bei   sich   seien,   sondern 

bei  ihnen. 

* 

Eine  Individualität  kann  den  Zwang  leichter 
übertauchen,  als  ein  Individuum  die  Freiheit. 

Aufgeweckte  Jungen — unausgeschlafeneMänner. 

* 

Gute  Ansichten  sind  wertlos.  Es  kommt  darauf 

an,  wer  sie  hat. 

• 

Auch  ein  Kind  und  ein  Weib  können  die  Wahr- 
heit sagen.  Erst  wenn  ihre  Aussage  von  andern 
Kindern  und  Weibern  bestätigt  wird,  soll  man  an 
ihrer  Glaubwürdigkeit  zu  zweifeln  beginnen. 

Der  Kopf  des  Weibes  ist  bloß  der  Polster,  auf 
dem  ein  Kopf  ausruht. 


*)  Aus  dem  .Simplicissimus'. 


—  29 


Glossen 
Von  Karl  Kraus 

Über  den  zum  Präsidenten  des  Straflandesgerichts  Wien 
ernannten  Hofrat  Feigl  schreibt  das  Neue  Wiener  Tagblatt: 

.  .  .  Präsident  Dr.  Feigl  erfreut  sich  nicht  nur  in  der  Richter- 
schaft, sondern  auch  im  Anwaltstande  durch  sein  humanes  Empfinden 
und  durch  sein  konziliantes  und  liebenswürdiges  Wesen  allgemeiner 
Sympathien.  .  .  . 

Die  ,Neue  Freie  Presse'  glaubt  an  eine  Entwickhing  und 
schreibt: 

...  Er  vennag  kaustisch  tuid  ätzend  zu  sein  wie  nicht  leicht 
ein  Zweiter,  aber,  wie  wir  mit  Vergnügen  hinzufügen,  auch  menschlich 
schön  zu  fühlen  und  zu  urteilen.  Und  gerade  diese  letztere  Eigenschaft 
hat  sich  bei  Hofrat  Feigl  immer  mehr  entwickelt,  immer  stärkere 
Sympathien  für  ihn  hervorgerufen.  Dem  großen  Zuge  der  modernen 
Kriminalistik,  in  die  Tiefe  des  Menschenherzens  zu  blicken,  den  Ver- 
brecher in  seiner  Eigenart  aufzufassen,  ihn,  solange  es  möglich  iit, 
vor  völliger  Verderbnis  zu  schützen,  hat  er  sich  in  erster 
Reihe  angeschlossen.  Er  ist  gewissermaßen  vor  den  Augen  des 
Publikums  zu  immer  größerer  Höhe  der  Persönlichkeit  gelangt 
durch  seinen  scharfen  Blick,  durch  seine  seltene  Begabung  und  nicht 
zuletzt  durch  eine  echte,  unter  Ernst  und  Ruhe  verborgene 
Innerlichkeit.  JVlit  unbefangener  Erkenntnis  lernte  Hofrat  Dt.  Feig: 
aus  den  Irrtümern  um  sich  herum  und  auch  —  welcher  Richter  wäre 
davor  gefeit— aus  eigenen  Irrtümern,  und  es  ist  überraschend, 
wie  er  aus  vielen  Gegnern  Freunde  und  Verehrer,  ja  auch  Bewunderer 
geschaffen  .  .  . 

Eine  Entiricklung  pflegt  zwischen  dem  zwanzigsten  und 
vierzigsten  Lebensjahre  platzzugreifen;  bei  Herrn  Hofrat  Feigl, 
der  ein  Mann  in  den  Sechzigern  ist,  trat  sie  knapp  vor  seiner  Er- 
nennung zum  Präsidenten  des  Landesgerichts  ein.  In  seinem 
schönsten  Mannesalter  blieb  seine  Innerlichkeit  so  tief  unter  Ernst 
und  Ruhe  verborgen,  daß  sich  vor  den  Augen  eines  erwartungs- 
vollen Publikums  Jahrzehnte  hiedurch  nicht  das  Geringste  zeigte. 
Deshalb  war  es  auch  in  all  derZeit  nicht  möglich  zu  bemerken,  wie 
sehr  es  ihm  darum  zu  tun  war,  den  Verbrecher  —  solange  es  möglich 
ist  -  vor  völliger  Verderbnis  zu  schützen.  Wenn  man  nicht  etwa  die 
Strafen,  die  Herr  Hofrat  Feigl  diktierte,  als  lebenslänglichen  Schutz 
vor  den  Gefahren  der  Freiheit  auffassen  wollte.  Das  wurde  aber 
mit  einem  Male  ganz  anders,  und  im  Gegensatz  zu  den  Preß- 


~  80  - 


stimmen,    die   mehr  der  Evolutionstheorie  zuneigen,  glaubt  die 
, Arbeiter-Zeitung',  daß  ein  Wunder  geschehen  sei.  Sie  schreibt: 

.  .  .  Der  neue  Präsident  ist  ein  Mann,  der  sich  fast  plötzlich 
völlig  umgewandelt  hat.  In  den  letzten  fünf  Jahren  war  er  der  zum 
Richteramt  tauglichste  Mann  im  Landesgericht,  war  er  der  mildeste 
Richter,  der  gesittetste  Vorsitzende.  Früher  und  viele,  viele  Jahre  hin- 
durch war  es  anders.  Da  fällte  Herr  Dr.  Feigl  die  allerstrengsten 
Urteile ;  da  war  er  bissig,  wie  man  es  ärger  nicht  sein  kann ;  da  hatte 
er  insbesondere  in  den  Schwurgerichtsverhandlungen  unerträgliche  Ge- 
wohnheiten. Unvergessen  ist  es,  daß  unter  seinem  Vorsitz 
ein  Mensch,  der  auf  der  Ringstraße  einer  Frau  ein  Hand- 
täschchen entriß,  zu  lebenslangem  Kerker  verurteilt  wurde. 
Das  Urteil  erregte  das  Entsetzen  der  ganzen  Öffentlichkeit  und  wurde 
vom  Oberlandesgericht  dahin  abgeändert,  daß  die  Strafe  für  den 
Täschchenraub  auf  »nur<  zwölf  Jahre  herabgesetzt  wurde.  Kurz  darauf 
ging  in  Dr.  Feigl  die  große  Wandlung  vor  sich  und  die  Art,  wie  er 
in  den  letzten  Jahren  die  Verhandlungen  leitete,  die  Straftaten  beurteilte 
und  die  Strafen  ausmaß,  könnte  allen  Richtern,  die  jetzt  im  Strafgericht 
fungieren,  als  Beispiel  dienen  .  .  . 

Weiches  Verdienst  die  ,Fackel'  um  die  Entwicklung  des  Hof- 
rats Feigl  hat,  die  man  also  auch  eine  wunderbare  Verwandlung 
nennen  könnte,  ist  gerichtsbekannt.  Im  März  1904  erschien  der 
Artikel  >Ein  Unhold«,  der  heute  in  dem  Buch  >Sittlichkeit  und 
Kriminalität«  wie  eine  Reliquie  des  Grausens  wirkt  und  nicht 
anders  als  ein  Dokument  jener  Justiz,  von  der  man  sich  be- 
ruhigt sagt,  daß  sie  fünf  Jahrhunderte  hinter  uns  liegt.  Im  Fall  Krafft 
berief  der  Staatsanwalt  zu  Gunsten  des  Verurteilten.  Im  Jahre  1907  fand 
ein  Wiedersehen  zwischen  dem  Hofrat  Feigl  und  dem  Sträfling  statt, 
der  ihm  in  einem  andern  Prozeß  als  Zeuge  vorgeführt  wurde.  Er 
war  inzwischen  tuberkulös  geworden,  und  so  konnte  ihn  Herr  Hofrat 
Feigl  beim  besten  Willen  nicht  mehr  vor  völliger  Verderbnis 
schützen.  Nachdem  dieses  Wiedersehen  zwischen  einem  Blassen  und 
einem  Blässern  geschildert  worden  war,  veröffentlichte  die  , Fackel' 
das  Bekenntnis  eines  der  Qeschwornen,  die  den  Krafft  verurteilt 
hatten:  »Denn  wenn  wir  geahnt  hätten  —  nun,  Sie  erinnern  sich 
gewiß,  wie  wir  einige  Tage  später  angesichts  des  abermaligen 
Feigl  uns  durch  einen  Freispruch  Luft  gemacht  haben.  Allein  vor- 
her kannten  wir  unsern  Feigl  noch  nicht  ganz;  und  da  die  Er- 
gebnisse der  Verhandlung  sich  mit  den  Schuldfragen  glatt  deckten, 
konnten  wir  nichts  anderes  tun,  als  diese  bejahen.  Wie  dann  aber 
das  Wort  (lebenslänglich'  gefallen  ist,  sind  wir  dagestanden,  wie 


-  81  — 


vom  Donner  gerührt  und  haben  einer  den  andern  angestarrt  — 
völlig  entgeistert.  Ich  bin  aus  dem  Saale  getaumelt,  buchstäblich 
betäubt  und :  »Barmherziger  Himmel,  das  haben  wir  nicht  gewollt, 
nein,  das  haben  wir  nicht  aewollt',  mußte  ich  fort  und  fort 
murmeln.  Als  nachträglich  die  Änderung  des  Urteils  bekannt 
wurde,  haben  wir  die  Strafmilderung  wie  eine  Befreiung  von 
eigener  Schuld  empfunden  .  .  .  Aber  ich  erbitte  mir  von  einem 
gütigen  Schicksal,  daß  es  mich  vor  neuerlicher  Auslosung  zum 
Geschwornen  bewahre.  Für  dieses  Amt  tauge  ich  seither  nicht, 
wenigstens  so  lange,  als  noch  der  Feigl  im  Landesgericht  haust ,  .  .« 
Nun,  er  hat  sich  gebessert  und  ist  ein  guter  Richter  geworden. 
Aber  tausend  Jahre  Zuchthaus,  mit  denen  seine  rüstige  Männlichkeit 
übers  Ziel  schoß,  sind  durch  ein  reuiges  Greisenalter  nicht  mehr 
einzubringen.  Die  Entwicklung  eines  Strafrichters  hat  keine  rück- 
wirkende Kraft.  Was  hat  jener  Bursche  davon,  der  zu  einer  Zeit 
das  Täschchen  raubte,  als  Hofrat  Feigl  noch  nicht  abgeklärt  war? 
Er  wird  im  Jahre  1916  das  Zuchthaus  verlassen,  wenn  nicht  etwa 
die  Schwindsucht  die  Absichten  der  Justiz  konterkarieren  sollte. 
Die  Schwindsucht  war  ja  lange  Zeit  die  einzige  Macht,  die  hier- 
zulande gegen  die  Justizgewalt  noch  etwas  ausgerichtet  hat.  Aber 
selbst  dieser  Instanz  wäre  manches  Opfer  entzogen  worden,  wenn 
es  schon  in  den  Anfängen  des  Dr.  Feigl  eine  , Fackel'  gegeben 
hätte.  Weil  der  vielversprechende  Abschluß  dieser  Karriere,  den 
auch  ich  anerkenne,  die  Tagespresse  zu  so  herzlicher  Zuversicht 
bewegt,  war  es  notwendig,  auch  von  dem  Mittelstück  zu  sprechen. 


>Auch  ein  Kind  und  ein  Weib  können  die  Wahrheit  sagen. 
Erst  wenn  ihre  Aussage  von  andern  Kindern  und  Weibern  bestätigt 
wird,  soll  man  an  ihrer  Glaubwürdigkeit  zu  zweifeln  beginnen.« 
Zu  diesem  Aphorismus  von  mir  beeilt  sich  eine  Gerichtsverhand- 
lung vor  einem  Wiener  Bezirksgericht  den  Beleg  zu  liefern. 
Welche  Aussage  kann  nicht  erst  zustande  kommen,  wenn  die 
Kinder  Weiber  sind!  Drei  kleine  Mädchen  beschuldigen  einen 
Henn,  während  der  Fahrt  auf  der  Straßenbahn  >starke  Sittlich- 
keitsverletzungen begangen  zu  haben <.  Unter  großem  Aufsehen 
wird  er  beim  Verlassen  des  Wagens  »angehalten«.  Vor  Gericht 
sagt  er,   es  sei    heller  Tag  gewesen,   der  Wagen  mit  Passagieren 


32  — 


gefüllt.  Die  drei  Mädchen,  die  in  voller  Übereinstimmung  aus- 
sagen, geben  über  Befragen  des  Richters  an,  »während  der  Dauer 
der  Prozedur  des  Angeklagten  seien  sie  ruhig  auf  ihren  Sitzen 
geblieben  und  hätten  nicht  daran  gedacht,  sich  bei  anderen  Passa- 
gieren oder  beim  Kondukteur  zu  beschweren«.  Zahlreiche  Insassen 
des  Wagens  erklären  als  Zeugen,  »von  dem,  was  die  Mädchen 
behaupteten,  absolut  nichts  gesehen  zu  haben«.  Der  Richter  fällt 
einen  Freispruch:  die  Aussage  der  jungen  Mädchen  könne  nur 
»als  Halluzination  aufgefaßt  werden«.  Gewiß,  hier  liegt  die  einzige 
Halluzination  vor,  die  mehrere  Mädchen  gemeinsam  haben 
können.  Sie  halluzinieren  gern.  Man  sollte  auf  diese  Neigung  im 
ganzen  sozialen  Leben  ein  Augenmerk  richten  und  alle  die  Sitt- 
lichkeitsprozesse revidieren,  die  zu  Verurteilungen  geführt  haben, 
weil  der  Wunsch  des  Gedankens  Vater  war  und  die  Hysterie  als 
Zeugin  zugelassen  wurde. 


Reaktionär,  wie  ich  in  der  Frauenfrage  bin,  finde  ich  es 
durchaus  berechtigt,  daß  Zeitungsberichten  zufolge  das  Kreis- 
gericht Böhmisch- Leipa  eine  Frau  »wegen  Auflaufs«  zu  drei  Tagen 
Arrest  verurteilt  hat.  Die  Geschichte  muß  schön  verpatzt  auf  den 
Tisch  gekommen  sein.  Nur  bin  ich  enttäuscht,  bei  näherer  Lektüre 
zu  bemerken,  daß  die  Frau  »gelegentlich  einer  deutschnationalen 
Demonstration  vor  der  Beseda  dem  Befehl  des  Gendarmen,  der 
die  Menge  zum  Auseinandergehen  aufforderte,  nicht  Folge  geleistet 
hat«,  daß  es  sich  also  um  ein  politisches  Delikt  handelt.  Nachdem 
aber  das  Mißverständnis  beseitigt  ist,  würde  ich  das  Urteil  trotz- 
dem bestätigen  und  nur  die  Gründe  abändern.  Selbst  wenn  sie 
nämlich  dem  Befehl  des  Gendarmen  Folge  geleistet  hätte,  würde 
ich  sie  verurteilen,  weil  sie  sich  für  den  Auflauf  nicht  interessiert 
hat.  Reaktionär,  wie  ich  in  der  Frauenfrage  bin. 


Dagegen  finde  ich  die  judizielle  Anerkennung  des  Markt- 
wertes der  Jungfräulichkeit,  die  kürzlich  der  bekannte  Wiener 
Appellsenat  besorgt  hat,  gräulich.  Darin  denke  ich  liberal. 
Ein  Pferdehändler  war  wegen  Verführung  und  Entehrung  eines 
Fräuleins  unter  Zusage  der  Ehe  vom  Bezirksgericht  zu  drei  Wochen 


-  33  - 

Arrest  verurteilt  worden,  obgleich  die  Anzeigerin  selbst  zugab, 
daß  sie  schon  vorher  mit  einem  verheirateten  Mann  ein  Verhältnis 
gehabt  hatte.  Nach  einer  offiziellen  Moral,  die  die  Entjungferte 
für  eine  Entehrte  hält  und  einen  wiederholten  Verlust  der  Ehre 
auf  diesem  Gebiet  nicht  anerkennt,  hatte  die  Klägerin  kein  Recht 
zur  Klage,  und  das  Urteil  der  ersten  Instanz  war  ein  Fehlurteil. 
Es  ist  aber  immerhin  bemerkenswert,  mit  welchem  Eifer  der 
Appellsenat  dem  Pferdehändler  zuhilfe  kam  und  wie  klar  er  aus- 
sprach, daß  ein  Pferdehändler  nicht  verpflichtet  ist,  ein  Ehever- 
sprechen zu  halten,  wenn  er  es  einer  Frau  gab,  die  einen  Fehler 
hatte.  Er  sagte : 

Mit  Rücksicht  darauf,  daß  die  Klägerin  vor  dem  Beginn  der 
Beziehungen  mit  dem  Angeklagten  ein  intimes  Verhältnis  mit  einem 
Ehemann  hatte,  ohne  daß  dieser  ihr  die  Ehe  versprochen  hat,  noch 
versprechen  konnte,  die  Anzeigerin  also  keine  Geschlechtsehre 
mehr  hatte,  konnte  sie  auch  von  dem  Angeklagten  nicht  entehrt 
worden  sein. 

Daß  der  Vorgänger  ein  Ehemann  war,  ist  gleichgültig,  die 
Hervorhebung  dieses  Moments  unsinnig:  der  Appellsenat  war 
berechtigt,  in  jedem  Fall  die  Aberkennung  der  Qeschkchtsehre 
auszusprechen.  Lieblich  ist  nur,  daß  die  Moral  des  Pferdehandels 
zwischen  den  Geschlechtern  eine  so  vollkommene  Sanktion  findet 
und  daß  die  Frauenbewegung  es  noch  immer  für  wichtiger  hält, 
nach  dem  allgemeinen  Wahlrecht  statt  nach  der  allgemeinen 
Geschlechtsehre  zu  trachten. 


Alles  andere  kann  man  dem  Kosmos  der  Neuen  Freien 
Presse  nachsagen,  als  daß  er  farblos  und  in  nüchterne  Rubriken 
eingeteilt  sei.  Wer  das  bunte,  oft  phantastische  Leben  eines 
Benediktschen  Leitartikels  kennt,  wer  da  weiß,  daß  selbst  seine 
volkswirtschaftlichen  Betrachtungen  in  eine  Komptoirwelt  führen, 
deren  Betrieb  sich  etwa  unter  den  Klängen  der  » Meistersinger < 
abwickelt,  wer  das  alles  weiß  und  genießend  erlebt  hat,  der  wird 
sich  auch  über  die  Vielgestalt  der  Motive,  die  die  »Kleine 
Chronik«  beleben,  nicht  mehr  wundern  können.  Hat  man  eben 
erst  mit  Interesse  von  der  Ernennung  des  Feintuchengrossisten 
Schwitzer  zum  Kommerz'alrat  gelesen,  so  kann  es  leicht  geschehen, 
daß  man  dicht  daneben  die  Spitzmarke  findet:  »Hofrat  Gomperz 


34 


überdieKyrenaiker«.  Man  steht  verwirrt.  Da  wird  alles  Mögliche  er- 
zählt, wovon  die  Leser  der  Neuen  Freien  Presse  trotz  aller  Bemühung 
nichts  weiter  als  das  Wort  Qomperz  verstehen.  Der  Sendbote  der 
Kyrenaiker  sei  Aristippos  gewesen,  aber  wenn  er  »dieser  Sohn 
Kyrenes<  genannt  wird,  so  ist  zu  wetten,  daß  nicht  ein  Leser  der 
Neuen  Freien  Presse  zweifelt,  Kyrene  sei  eine  Frauensperson,  und 
da  sie  für  jeden  Brocken  Bildung  dankbar  sind,  so  hätte  es  sich 
geziemt,  sie  wenigstens  in  diesem  Punkt  keiner  Täuschung  zu 
überlassen.  Ein  anderesmal  aber  hat  man  kaum  gelesen,  daß  sich 
die  Rosa  Schlesinger  in  Hullein  mit  Herrn  S.  Aldor  in  Temesvar 
verlobt  habe,  bums,  heißt  es  schon:  »Hofrat  Qomperz  über 
Xenophon«.  Der  Gelehrte  habe  ein  durchaus  objektives  Bild  von 
Xenophon  entworfen,  »in  welchem  neben  den  Fehlern  auch  die 
Vorzüge  dieses  schönen  Mannes  zur  Geltung  kamen«.  Schon  ruft 
man  »Thalatta!«,  denn  man  glaubt,  es  handle  sich  um  die  Vor- 
stellung eines  Heiratskandidaten.  Gefehlt.  Xenophon,  heißt  es, 
»war  übrigens  hervorragend  in  der  Kunst  des  Verschweigens«. 
Aber  auch  Redakteur  scheint  er  nicht  gewesen  zu  sein.  Da 
erfährt  man,  daß  Hofrat  Goniperz  diesmal  nicht  mehr  über  die 
Kyrenaiker,  sondern  über  die  Kyrenoniker  gesprochen  habe.  Aber 
auch  damit  kann  man  nichts  anfangen.  Nun  hofft  man,  endlich 
werde  die  Rettungsgesellschaft  mit  Herrn  Dr.  Charas  an  der  Spitze 
erscheinen,  freut  sich  auf  die  Meldung,  daß  ein  reizender  Damen- 
flor mit  Frau  Bondy  an  der  Tete  Würstel  verkauft  habe,  ist 
zufrieden,  daß  auch  der  Hof-  und  Gerichtsadvokat  Dr.  Zecke 
gegen  das  Rauchen,  für  das  Recht  auf  Stille,  gegen  den  Meld- 
zettel und  für  die  Abwechslung  des  Burgtheaterrepertoirs  im  In- 
teresse der  Logenabonnenten  ist,  daß  ein  Tapezierer  den  Tod  eines 
Bankdirektors  zum  Ausverkauf  in  zwar  grünen,  aber  ganz  ungefähr- 
lichen Tapeten  benützt,  daß  die  Gedichte  der  Tochter  des  Oberrabbiners 
von  Groß-Meseritsch  in  die  Fideikommißbibliothek  aufgenommen 
wurden  — :  bums,  fährt  die  Neue  Freie  Presse  mit  der  Neuigkeit 
dazwischen:  »Hofrat  Gomperz  über  den  Neuplatonismus<.  Sie 
wird's  bereuen,  denken  alle,  die  ihr  den  Hang  zu  Seitensprüngen 
übelnehmen.  Und  richtig  erscheint  schon  das  nächste  —  und  wie 
wir  zu  melden  in  der  Lage  sind  —  letzte  Mal  die  ganz  verständ- 
liche Spitzmarke:  »Die  Vorträge  des  Hofrates  Gomperz«.  Darunter 
die   summarische  Mitteilung,    daß  sich   in   die  Berichte   »einige 


35  — 


Irrtümer  eingeschlichen  haben«.  Der  letzte  der  Vorträge  sei 
>dem  Leben  und  der  Lehre  des  Aristoteles  gewidmet«  gewesen. 
Endlich  ein  Name,  den  man  versteht,  wenngleich  er  an  solche 
erinnert,  die  man  heute  nicht  mehr  trägt,  und  vor  allem  das 
wertvolle  Zugeständnis,  daß  die  Neue  Freie  Presse  alles  zurück- 
zieht. Kyrenaiker,  Kyrenoniker  —  von  all  dem  bleibt  ein  dumpfer 
Druck  im  Hirn  zurück  und  das  schmerzliche  Bedauern,  daß  ein 
Gomperz,  Mitglied  einer  geachteten  Bankiersfamilie,  sich  mit  so 
ausgefallenen  Sachen  beschäftigt  und  die  Freie  Press'  aus  einer  übel 
angebrachten  Rücksicht  das  noch  unterstützt , . .  Aber  ist  es  gerecht, 
einem  Blatte  zu  zürnen,  das  sich  trotz  allen  Extravaganzen  einer 
temperamentvollen  Leitung  immer  noch  rechtzeitig  auf  seine  Auf- 
gabe besonnen  hat,  ein  Familienblatt  zu  sein  und  zwischen 
HuUein  und  Temesvar  Einheiraten  zu  vermitteln?  Neulich  hat  es 
sogar  durch  eine  Nachricht  überrascht,  die  nicht  verfehlt  hat, 
auch  über  die  Kreise  der  beteiligten  Familien  hinaus  Aufsehen  zu 
erregen.  Unter  der  Spitzmarke  >Vermählung  eines  indischen 
Prinzen  mit  einer  englischen  Schauspielerin«  —  bunt  ist  der 
Kosmos  der  Neuen  Freien  Presse  -  wußte  sie  sogar  Genaueres 
über  die  Verhältnisse  des  Bräutigams,  eines  gewissen  Nassir  Ali 
Khan  zu  melden.  >Der  junge  Prinz  studiert  an  der  Oxforder 
Universität,  er  lebt  seit  sechzehn  Jahren  in  England  und  hat  sich 
den  Rechtsstudien  gewidmet.«  Eine  glänzende  Partie.  Und  wenn 
man  erst  erfährt,  aus  welcher  Familie!  Er  leitet  >seine  Abkunft 
von  Ali  ab,  der  Schwiegersohn  und  Cousin  des  Propheten 
Mohammed  war.«  Ihnen  gesagt! 


»Mit  welchem  Wunsche  treten  Sie  ins  neue  Jahr?«  Mit  dem 
Wunsche,  von  Rundfragen  dieser  Art  verschont  zu  werden.  Von 
der  Pein,  Persönlichkeiten  wie  die  Herren  Lindau,  Lubliner, 
Kadelburg,  Philippi  auch  außerhalb  der  Notdurft  deutscher 
Theaterrepertoirs  am  Geistesleben  sich  betätigen  zu  sehen.  Von 
der  Qual,  auf  diese  Gratulanten,  Repräsentanten,  Jubilare  und 
Kridatare  in  jeder  Spalte  jedes  Lokalanzeigers  zu  stoßen.  Von 
der  Vorstellung,  daß  das  Christkiudl  die  Züge  des  Herrn  Holz- 
bock trägt,  der  Osterhase  so  flink  wie  Herr  Rudolf  Lothar  läuft 
und   das  neue  Jahr,   eine   Debütantin,  der  Talent  und   Vorzüge 


86 


der  Erscheinung  nachgerühmt  werden,  bei  Herrn  Leo  Leipziger  ihre 
Aufw^artung  machen  muß.  Der  ,Roland  von  Berlin',  ein  Hindernis 
in  dem  sonst  so  glatt  funktionierendem  Berliner  Straßenleben,  hat 
sich  durch  jene  Enquete  dennoch  ein  Verdienst  erworben.  Denn 
sie  umfaßt  die  Pole  der  neudeutschen  Möglichkeiten.  Mit  welchem 
Wunsch  also  tritt  Herr  Maximilian  Harden  ins  neue  Jahr  ?  Wörtlich : 
Mit  dem  Wunsch,  daß  Deutschland  für  die  Leitung  seines  Staats- 
geschäftes endlich  wieder  Männer  finde,  die  den  Mut  haben,  an  die 
Macht  des  Reiches,  an  die  jedes  Fährnisgestrüppes  spottende  Kraft  der 
deutschen  Menschheit  zu  glauben,  und  den  zaghaften  Kleinmut,  der 
zwischen  dem  Drang,  durch  Nachgiebigkeit  Freundschaft  zu  werben,  und 
der  Schwächlingsfurcht,  sich  > etwas  zu  vergeben«,  tatlos  einhertaumelt, 
als  Nationalschmach  empfinden,  —  als  die  unsühnbare  Todsünde  wider 
den  heiligen  Geist  deutscher  Volkheit. 

Das  klirrt !  Dieser  Siegfried  hat  zweifellos  mit  dem  Blut 
des  Bandwurms  seine  Haut  gehörnt.  Wie  anders  der  gemütvolle 
>Pfofe3Sor<  Heinrich  Qrünfeld  : 

>Nur  gesund!  Dafür  aber  ein  bißchen  mehr  Geld  und  warme  Füße!« 
Das  sind  wahre  Celloklänge  neben  der  kriegerischen  Musik 
Harden'scher  Rede.  Und  dennoch  besteht  kein  Zweifel,  daß  auch 
diesem  der  Qrünfeld'sche  Gedanke  nahe  liegt  und  daß  er  ihn,  ein 
Meister  des  Stils,  in  seiner  Art  hätte  bewältigen  können,  wenn  er  es 
für  passend  gehalten  hätte,  an  so  feierlicher  Wende  einen  so  natür- 
lichen Wunsch  zu  äußern.  Dann  hätte  er  gesagt :  »Mit  dem  Wunsch, 
daß  die  neu  sich  jährende  Zeit  dem  im  Wahrheitfrohn  gemüdeten 
Körper  Quickung,  die  lang  und  schmerzlich  nur  gemißte,  bringe. 
Und  daß  dem  Geburttag  der  Kraft  auch  die  Freude  an  Besitzmehrung 
gepaart,  das  Bangen  um  eine  ,Zukunft',  die  mit  fleischlosem  Finger 
mahnende  Sorge  um  das  Grüppchen  der  mählich  schwindenden 
Abnehmer  erspart  sei.  Und  daß  dem  trotz  aller  Hatz  gefesteten 
und  der  Freiheit  frohen  Fuß,  wenn  er  wieder  in  Wintersnot  den 
Weg  zu  einem  deutschen  Richtstühlchen  treten  müßte,  auch  das 
Warmsein  nicht  mehr  geneidet  werde,  das  so  oft  im  Sinne  der 
Kinädenschmach  gedeutet  ward  und  wieder,  wie  in  Philis  schlim- 
men Tagen,  nur  Behaglichkeit  und  die  wohlige  Empfindung  des 
vor  Frost  Geschützten  bedeuten  soll.« 


Herausgeber    und    verantwortlicher     Redakteur:     Karl     Kraus 
Druck  von  lahoda  &  Siegel,  Wien,   III.  Hintere  ZollamtsstraBe  3 


^*  alKa JPI 

'AUERBRUNN\ 


Untemehm«!!  für  Z«itimg«anftsohnitte    . 

08SERVER,    llen,  I.  Concordliplati  Kr.  4  (Telephon  Sr.  «801) 

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&  Vogler  A.-G.,  Leipzig  h.  4200  d. 


Hie  wtrde  di  mlisdi? 

ii^er 

EiüeestsidisJttidiiittDttBl 

Von 

KARL   HAUER 

(Nebst    einem 

Anhang    über     Pornographie) 

Verl«8sg»s«nsch*ft  „Mü> 

ichen",  B«rthold  Butter  Vertag                                 1 

Der  Herausgeber  der  .Fackel*  ersucht,  die  Einsendung:  von 
Manuskripten  oder  Zeltung:saus8chnltten,  Lieferung  von  >iV!aterlai<, 
Obermlttlung  von  Biliets,  Einladungen,  Rezensionsexemplaren,  Talent- 
proben, Mitteilungen  Irgend  welcher  Art  zn  unterlassen. 

Manuskripte,  die  ohne  Aufforderung  an  die  ,Fackel'  gelangen, 
werden  vernichtet,  wenn  ihnen  nicht  ein  frankiertes  und  adressiertes 
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KorfTs  Cacao 
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DIE  FACKEL 

HERAUSGEBER:  KI^^Ü^I-/     KZI^^^XTS 

Die  jPackel*  erscheint    in   zwangloser   B'^olge  im   Umfang 
i;    von  16—32  Seiten 

BEZUGSBEDINGÜXOEN : 

Für  Österreich-Ungarn:  18  Nummern,  portofrei     ......    K  4.50 

36  „  „  9.- 

Für  das  deutsehe  Reich:  18  „  „  Mk.  4.— 

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Das  Abonnement   erstreckt   sich  nicht  auf  einen   Zelt- 
raum, sondern  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Nummern 

;;  Einzelnummer    in  Deutschland  30   Pfennig 
Zu    beziehen     durch     sämtliche    Buchhandlungen 

BerliüBr  Bureau:  Haiensee,  Eatharinenstraße  5 


f  •     .  I 

1  Inhalt   der   vorigen  Nummer  292,  17.  Dezember  1909:  ^ 

I  Cyankali  —  Asa  foetida-  —  Rhabarber.   Sämtliche    Beiträge  von  | 

j  Karl  Kraus.  : 


Nr.  294—295     ERSCHIENEN  AM 4.  FEBRUAR  1910     XI.  JAHR 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

Die  Mütter.  \'ou  Karl  Kraus.  —  Lebensform 
lind  Dichtungsform.  Von  Otto  Stoessl.  —  Das 
Schicksal  der  Maschine.  Von  Ludwig  Rubiner. 
—  Briefe  von  Ferdinand  Kürnberger.  —  Apho- 
rismen. Von  Karl  Kraus.  —  Gedichte.  Von  Else 
Lasker-Schüler.  —  Berliner  Leseabende.  — 
»Rhabarber«.  Von  Karl  Bleibtreu. —  Erklärung 
und  Aufklärung.  —  Glossen.   Von  Karl  Kraus. 

KACHDRÜCK     VERBOTEN 

PREIS  DER  DOPPELNUMMER  60  HELLER 
ERSCHEINT    IN      ^^^^^  GLOSER    FOLGE 

VERLAG:   ,DIE    FACKEL»  WIEN ~~  BERLIN 

WIEN,    in/2,    HINTERE    ZOLLAMTSSTRASSE    3      TELEPHON    Nr.     187 
BERLINER    BUREAU:     HALENSEE,     KATHARINENSTBIASSE    5 


KARL  KRAVS 
SPRVECHE 

VNDWIDER- 
SPRVECHE 

Verlag  ALBERT  LANGEN  München 


8ÜRCH  ALLE  BÜCHBANDLUNGEN  ODER  DIREKT  VOM  VERLAG  ZU  BEZIEHEN. 
BROSCHIERT  M  3.50,  IN  LEINEN  GEB.  M  4.50,   IN  HALBFRANZ  GEB.  M  7.50. 

In  zweiter  Auflage  erschien: 

SitllichkeJt  und  Kriminalität 

Erster  Band   der  ausgewählten   Schriften   von   Karl  Kraus 

Broschiert  .    .  M  6.—  Ganzleinen  .    .  M  7.25 

(L.  Rosner,  Wien  und  Leipzig) 

Bestellungen    nimmt  jede    Buchhandlung,  der  Verlag  der  , Fackel',  Wien 

11/2,   Hintere    Zollamtsstraße   3   und    das    Berliner    Bureau   der   , Fackel', 

Berlin -Haiensee,    KatharinenstraBe  6,  entgegen. 

Im   Verlage  Jahoda  &   Siegel,  Wien   III/2,   Hintere  Zollamtsstraße  3 
erschien : 

KARL  KRAUS 

Von    BOBEBT    SCHEU 

(Mit  einem  Bildnis) 

40    SKITBN    80,   broschiert 
Preis   80   Heller  (80  Pf) 


Die  Fackei. 


Nl.  294-295 


31.  JANUAR  1910 


XI.  JAHR 


Die  Mütter 
Von  Karl  Kraus 

(Nach  einer  juridischen  und  einer  medizinischen  Zeitschrift) 


>  Als  Angeklagte  erschien 
vor  dem  Schwurgericht 
m  Glatz  die  27jährige 
Dienstraagd  Anna  Werner 
aus  Steinwitz.  Sie  ist  be- 
schuldigt, ihr  11  Monate 
altes  uneheliches  Kind 
Hedwig  am  5.  April  1908 
ermordet  zu  haben.  Die 
angeklagte  Mutter  ist 
selbst  unehelicher  Geburt 
und  mußte  bereits  als 
Schulkind  in  Dienst  tre- 
ten. Sie  hatte  schon  vor 
der  Geburt  der  Hedwig 
zwei  Kinder.  Für  diese 
hat  sie  liebevoll  gesorgt; 
beide  Kinder  sind  aber 
eines  natürlichen  Todes 
gestorben.  Das  kleine 
Mädchen  wurde  von  der 
Mutter  zunächst  bei  einer 
Frau  in  Glatz  unterge- 
bracht. Diese  behielt  es 
aber  nicht.  Die  Angeklagte 
brachte  es  zur  Großmut- 
ter. Auch  da  blieb  es  nur 
einige  Wochen  und  wurde 
ihr  dann  auf  dem   Felde 


»Um  das  Kind  im  Mutter- 
leibe zu  taufen,  hatte  man 
früher  zwei  Methoden.  Es 
wurde  per  vias  naturales 
das  Taufwasser  entweder 
mit  dem  Finger  oder  mit 
einer  Spritze  auf  den 
Fötus  übertragen.  Bei  der 
ersten  Methode  wird  das 
Wasser,  ehe  es  den  Kinds- 
teil erreicht,  abgestreift. 
Bei  der  zweiten  Methode 
müßten  die  Eihäute  erst 
perforiert  werden,  was  un- 
ter Umständen  für  die  Ge- 
burt schädlich  wäre.  Dann 
müßte  durch  Fingerkon- 
trolle die  Uterinspritze 
auf  den  Kindsteil  diri- 
giert werden.  Dies  wäre 
bei  engem  Muttermund 
unmöglich,  namentlich 
zu  schwierig  für  eine 
ungeschickte  Hebamme. 
In  früheren  Monaten 
der  Schwangerschaft  ist 
selbstverständlich  diese 
Methode  der  Taufe  un- 
möglich. Deshalb  schlägt 


—  2  — 


wieder  überbracht.  Die 
Mutter  fuhr  dann  überall 
herum,  um  eine  Unter- 
kunft für  das  Kind  zu 
finden,  wurde  aber  überall 
abgewiesen.  Insbesondere 
wurde  sie  auch  von  den  Ge- 
meinden abgewiesen.  Ja, 
die  Gemeinden  wehrten 
sich  sogar  dann,  als  eine 
Pflegestelle  sich  fand,  da- 
gegen, daß  das  Kind  dort 
bliebe,  damit  nicht  etwa  für 
das  Kind  die  Gemeinde  vor- 
läufig sorgen  müsse.  Die 
Mutter  suchte  den  Vater 
des  Kindes  und  die  Mut- 
ter des  Vaters  in  Uilers- 
dorf  auf,  aber  diese  nahm 
es  auch  nicht.  Um  das 
Kind  selbst  pflegen  zu 
können,  ging  die  Mutter 
einige  Wochen  hindurch 
jeden  Abend  von  Ober- 
hansdorf nach  Nieder- 
hansdorf und  übernachtete 
da  und  kehrte  nach  Oher- 
hansdorf  am  andern  Mor- 
gen zurück.  Der  Vorsteher 
in  Oberhansdorf  gab  es 
nicht  zu,  daß  das  Kind 
dort  untergebracht  werde. 
Auch  aus  Niederhansdorf, 
wohin  es  in  Pflege  getan 
war,  mußte  es  fori  genom- 
men werden,  weil  der  Ge- 
meindevorsteher wider- 
sprach. Schließlich  brachte 
die  Mutter  das   Kind  bei 


A.  Treitner,  Arzt  in  Inns- 
bruck, eine  neue  Methode 
vor.  Es  wird  eine  Heil- 
seruraspritze  mit  10  g 
Taufwa«ser  gefüllt.  Alle 
antiseptischen  Kautelen, 
Desinfektion  der  Haut 
usw.  werden  gewahrt.  Nur 
darf  die  Spritze  nicht  mit 
Desinfizientien  desinfiziert 
werden,  denn  es  könnte 
ein  Rest  der  Desinfizien- 
tien in  der  Hohlnadel 
bleiben  und  in  das  Tauf- 
wasser gelangen,  wodurch 
namentlich  wenn  das  Des- 
iiifizienz  riecht,  die  Gül- 
tigkeit der  Taufe  in  Frage 
gestellt  würde.  Das  Tauf- 
wasser muß  reines  Wasser 
sein.  Die  Hohlnadel  hat 
eine  Länge  von  1(J  cm. 
Bei  Kopflage,  also  in  960/o 
aller  Fälle,  wird  die  Nadel 
zwei  Querfinger  oberhalb 
der  Symphyse  senkrecht 
eingestochen.  Vorher  soll 
die  Mutter  urinieren.  Die 
Hohlnadel  wird  einge- 
stochen, bis  man  , auf  eine 
resistente  Stelle  gelangt, 
welche  auch  durch  mäßi- 
ges Andrücken  der  Nadel 
nicht  überwunden  werden 
kann'.  Diese  Resistenz 
bieten  die  Kopfknochen 
dar.  Findet  man  nicht 
diese  Resistenz,  so  wird 
die    Spritze    bis   an    die 


einer  Frau  in  Glati  unter. 
Sie  zahlte  zehn  Mark 
monatliches  Pflegegeld, 
während  ihr  Lohn  nur  elf 
Mark  fünfzig  Pfennig  be- 
trug. Von  dem  Vater  des 
Kindes,  der  wegen  Körper- 
verletzung ins  Gefängnis 
gekoraraen  war,  erhielt  sie 
keine  Unterstützung.  Der 
Angeklagten  wurde  dann 
mitgeteilt,  das  Kind  könne 
auch  nicht  in  Glat  z  bleiben, 
die  Polizei  fordere  die 
Fortschaffung  des  Kindes 
binnen  vierundzwanzig 
Stunden.  Die  Mutter  bat 
den  Vormund,  mit  ihr 
den  Bürgermeister  zu  er- 
suchen, das  Kind  in 
Glatz  zu  lassen.  Der  Vor- 
mund lehnte  das  ab.  Er 
meinte,  der  Bürgermeister 
würde  die  beiden  doch 
nnr  rausschraeißen.  Sie 
ging  dann  selbst  zum 
Bürgprraeister  und  bat 
ihn  flehentlich,  das  Kind 
in  Glatz  in  der  Pflege  zu 
belassen.  Der  Bürger- 
meister wies  aber  die  Bitte 
der  Mutter  ab.  Nun  wuf  te 
dieMutter  nicht,  wo  sie  das 
aus  Oberhansdorf,  Nieder- 
hansdorf, Ullersdorf,  Glatz 
herausgejagte  Kind  unter- 
bringen könne.  In  ihrer 
Verzweiflung  beschlofi  sie, 
das  Kind    zu    löten.    Sie 


Bauchhaut  zurückgezo- 
gen, sie  wird  in  anderer 
Richtung  nach  rechts, 
nach  links,  nach  oben  und 
unten  eingestochen,  bis 
man  den  Kopf  findet.  Ge- 
lingt es  auch  dann  nicht, 
den  Kopf  zu  finden,  so 
zieht  man  die  Hohlnadel 
völlig  heraus,  sticht  sie 
1—2  cm  von  der  ersten 
Einstichöfi'iiung  ein,  ,um 
sämtliche  Kombinationen 
zu  wiederholen*.  ,Mehr 
als  3 — 4  erneute  Ein- 
stiche brauchen  kaum  ge- 
macht zu  werden.'  , Falls 
etwa  einer  sterbenden 
Mutter  eine  Entkleidung 
zu  beschwerlich  fallen 
würde,  so  kann  auch  der 
Einstich  der  Nadel  ganz 
leicht  über  dem  Herade 
vorgenommen  werden.' 
Ja  selbst  aufs  Geratewohl 
kann  man  an  einer  beliebi- 
gen S'elledes  vorgewölb- 
ten Bauches  durch  die 
Kleidung>stücke  hmdurch 
den  Einstich  machen.  Dann 
besitztallerdings  die  Taufe 
nur  wahrscheinliche  Gül- 
tigkeit. Hat  man  den 
Knochen  mit  der  Nadel- 
spitze gefunden,  ,so  wird 
die  Nadelspitze  mit  ziem- 
licher Kraftanwendung  so 
weit  als  möglich  in  den 
Knochen  emgespießt'.  Es 


legte  es   in    eine.  Lehm- 
grube  und   bedeckte   die 
Leiche    mit    Lehm    und 
Erde.  Erst  ein  Jahr  spä- 
ter   wurde    durch   Zufall 
die    Leiche    des    Kindes 
aufgefunden    und    durch 
die  Kleider  die  Herkunft 
des  Kindes  ermittelt.  Der 
Waisenrat,  an  den  sich  der 
Vormund  Rat  suchend  ge- 
wendet hatte,  hatte  diesem 
erklärt:   , Man  muß  es  den 
ledigen    Personen     nicht 
so   leicht   machen,    sonst 
kommen   sie  fortwährend 
mit  Kindern/  Nach  dieser 
Antwort  glaubte  der  Vor- 
mund der  Pflicht  enthoben 
zu    sein,    dem  Vormund- 
schaftsgericht selbst  mit- 
zuteilen, daß  für  das  Kind 
keine   Pflegestelle  aufzu- 
treiben war.  Ein  Gemeinde- 
vorsteher wurde  als  Zeuge 
befragt,    warum  denn  das 
Kind  fortgeschoben  sei,  zu- 
mal doch  keinerlei  Kosten 
der  Gemeinde  erwachsen, 
da  die  Gemeinde  ein  Recht 
auf  Wiedererstattung  sei- 
tens der  ünterstützungs- 
gemeinde     habe.    Er    er- 
klärte ,     das     verursache 
viel  Scherereien;  um  den 
Scherereien       aus       dem 
Wege  zu  gehen,  schiebe 
man    Personen,    von   de- 
nen man  befürchtet,    sie 


I  soll  nämlich  das  Tauf- 
I  Wasser  auch  das  Unter- 
j  hautzellgewebedesKinds- 
kopfes  bespülen,  weil  ja 
der  Kopf  mit  Vernix  ca- 
I  seosa  bedeckt  sein  kann, 
dann  flösse  das  Wasser  von 
dem  Fette  ,wirkungslos' 
ab,  was  die  , Gültigkeit 
der  Taufe  in  Frage  stellen 
würde'.  ,Die  Anwendung 
eines  hohen  Druckes  ist 
ein  notwendiges  Erfor- 
dernis*, damit  durch  den 
gewaltsam  eingepreßten 
Wasserstrahl  das  die  Tauf- 
stelle umgebende  Frucht- 
wasser möglichst  weit  bei- 
seitegedrücktwerde.  Beim 
Ausspritzen  des  Wassers 
werden  dann  die  Tauf- 
worte gesprochen.  Diese 
Art  der  Taufe  soll  nicht 
vor  Mitte  der  Schwanger- 
schaft angewendet  wer- 
den, da  die  Schwanger- 
schaft vorher  von  Nicht- 
ärzten  nicht  mit  Sicherheit 
zu  diagnostizieren  ist.  Es 
könnte  jaein  Tumorvorlie- 
gen. Bei  plötzlichen  Todes- 
fällen der  Mutter  soll  man 
diebedinj2:ungsweiseTaufe 
noch  5 — 6  Stunden  nach 
dem  Tode,  ja  man  kann 
sie  noch  10—12  Stunden 
nach  dem  Tode  spenden. 
Der  Verfasser  hält  seineMe- 
thode  für  den  Fötus  nicht 


könnten  unterstützungs- 
bedürftig werden,  dem 
Gesetz  entsprechend  ab. 
—  Die  Geschwornen  be- 
jahten die  Frage,  ob 
vorsätzliche  und  mit 
Überlegung  ausgeführte 
Tötung  vorliege.  Das  Ur- 
teil erging  dahin,  daß  die 
Angeklagte  zum  Tode  und 
zum  Verluste  der  bürgerli- 
chen Ehrenrechte  verur- 
teilt wurde.  Der  Vor- 
sitzende leitete  die  Ver- 
kündung des  Urteils  mit 
den  Worten  ein : ,  Wer  Blut 
vergießt,  dessen  Blut  soll 
wieder  vergossen  werden'.c 


für  schmerzhaft,  ,weildie 
Gehirnsubstanz  empfin- 
dungslos ist^  auch  nicht 
für  gefährlich,  denn  ,die 
Erfahrungen  der  Gehirn- 
chirurgie haben  ergeben, 
daß  ein  Stich  in  die  Ge- 
hirnhemisphäre, selbst  mit 
einem  Messer,  nicht  nur 
nicht  tödlich,  sondern 
nicht  einmal  gesundheits- 
schädlich ist'.  Die  Pfarr- 
ämter sollen  ihre  Tauf- 
utensilien mit  dieser  Tauf- 
spritze komplettieren,  ,ura 
diese  dann  im  Bedarfs- 
falle der  Hebamme  des 
Ortes     zu     überlassen*,  c 


I/ebensforxn  nnd  Dichtnngsform 
Von  Otto  Stoessl 

Die  Dichtung,  in  welcher  sich  das  äußere  und 
innere  Leben  der  Menschen  als  in  einer  geistigen 
Zusammenfassung  wiederfindet,  entspricht  in  ihren 
Grundformen  den  Organisationen  des  Daseins  selbst. 
Sie  ist  gleichsam  ein  Reflex  der  menschlichen  Ge- 
bilde, durch  deren  bedeutende  Erscheinung  hervor- 
gerufen, von  einem  erregbaren  Geiste  aus  einem 
unwillkürlichen  Erapfangnisvorgang  zu  einem  bewuß- 
ten Schöpfungsakt  umgewertet.  Es  handelt  sich  immer 
um  eine  individuelle  Antwort  auf  ringsumwirkende 
Anreize.  Die  Welt  als  gemeinsame  Erscheinung  geht 
durch  ein  persönliches,  einziges  Wesen  —  den  Dich- 


—   6  — 


ter  —  sinnlich,  doch  vergeistigt  hindurch  und  wird 
als  Antwort  sich  selbst,  erneut  und  geordnet  rück:- 
erstattet.  Wie  aber  das  Auge  nur  einen  begrenzten 
Teil  der  Außenwelt  als  Bild  erfaßt,  so  empfängt  auch 
der  schöpferische  Geist  immer  nur  mit  einem  be- 
grenzten Teil  der  unermeßlichen  äußeren  Welt  ihren 
bestimmenden  Gesamteindruck:.  Bin  Einzelwille  schal- 
tet das  üngemäße  schon  bei  der  Aufnahme  aus,  zieht 
das  Ansprechende  heran.  Die  schließliche  Antwort: 
das  dichterische  Werk  enthält  alle  nach  persönlicher 
Notwendigkeit  und  Willkür  geordneten  Eindrücke  in 
einer  persönlichen  Aussage,  deren  Form  selbst  wieder 
den  objektiven  Inhalt  subjektiv  herausstellt.  So  wird 
der  Stoff  erst  bei  der  unmittelbaren  Aufnahme,  dann 
bei  der   Wiedergabe,    gleichsam    zweifach    geläutert. 

Die  Notwendigkeit  der  Aufnahme  wird  durch 
die  notwendige  Begrenzung  des  Aufnehmenden,  das 
Schicksal  der  Aussage  durch  deren  geheimnisvolle 
Willkür  begründet.  Diese  zwiefachen  Bindungen  be- 
deuten ebensoviele  Freiheiten,  wie  denn  der  wahr- 
hafte Geist  jede  Notwendigkeit  zur  Freiheit  steigert. 
Das  Erhabene  der  ineinanderwirkenden  Bedingtheiten 
liegt  darin,  daß  durch  solche  Ausschaltung  und  Ein- 
schränkung das  schließliche  Bild  nicht  verkleinert, 
sondern  erweitert  wird.  In  der  engsten  Form  und 
dem  scheinbar  geringsten  Gegenstande  bleibt  doch 
immer  das  Ganze  der  Welt  beschlossen,  erkannt, 
wiedergeboren.  Ja  dieses  Ganze  besteht  ohne  schö- 
pferische Wiedergabe  überhaupt  nur  als  unfaßbares 
Cbaos  und  wird  erst  durch  die  eingrenzende  For- 
mung zum  Ganzen,  ein  Nebelschleier  verdichtet  sich 
—  der  Name  des  >Dichtersc  bezeichnet  sein  Tun  — 
zum  Sterne,  schwebende  Schatten  werden  Gestalten, 
die  vorübergleitende  Menge  wird  zur  Menschheit, 
Ereignisse  werden  Schicksale,  Begebenheiten  und 
Gefühle  entwachsen  Gesetzen.  Dichtung  gibt  Einheit 
aus  Fülle. 

Man    erkennt,    daß    in    gewissem    Sinne    stets 
Form  auf  Form  antwortet  und  daß    dem  Gegebenen 


immer  der  verwandte  Geist  bereit  ist,  den  es  erfüllt 
und  der  es,  als  wunderbare  Kelter,  empfängt  und 
Burückgibt.     ^ 

Den  drei  Urformen  der  Poesie:  Lyrik,  Drama, 
Epos  entsprechen  drei  wesentliche  menschliche  Zu- 
stände und  Eindrucksgebiete.  Das  Ich,  der  Einzelne 
in  seiner  Sonderung,  Standfestigkeit  und  kosmischen 
Selbstsicherheit,  die  Familie,  als  erste  Verbindung, 
sowohl  gegensätzlicher,  als  verwandter  Elemente  zu 
einer  Frucht,  die  platzend,  neue  Samen  zu  neuen 
Gesellungen  ausschüttet,  schließlich  die  Gemeinde, 
der  Stamm,  die  Nation,  der  Staat,  oder  wie  immer 
man  die  höhere  Zusammenfassung  von  Menschen- 
gruppen zu  schicksalhaften  Gebilden  abgrenzen  will. 
Diesen  drei  Urprinzipien  der  eidbewohnenden  Mensch- 
heit geben  die  zugehörigen  schaffenden  Geister  als 
Antwort  ihr  Bild  und  Gleichnis  zurück. 

In  der  Dichtung  wird  aus  der  Lebensform  die 
poetische  ausgereift  und  jede  enthält  auf  ihre  Weise, 
in  ihrer  Sprache  und  mit  ihren  Darstellungsmitteln 
das  Ganze  der  Welt,  so  wie  diese  im  einzelnen 
Menschen,  in  der  Familie  und  im  Staate  durchaus 
enthalten  ist.  ^  ^ 

Zuerst  und  zuletzt  steht  immer  der  Einzelne,  der 
schicksalhafte  Mensch,  als  gebundener  Teil,  als  wir- 
kende Einheit,  bestimmt  und  bestimmend.  Gefühl 
und  Vfmunft  antworten  aus  ihm  dem  brausenden 
Ungefähr  ringsum.  Das  ist  das  Lied:  ein  Echo  der 
Stimmen,  ein  Wiederschein  des  Lichtes,  die  Sprache 
wird  das  einzige  Maß  der  Dinge,  sie  behält  die  In- 
stinktnatur einer  unwillkürlich  dem  Eindruck  ent- 
gegengestreckten, wehrenden,  flehenden  oder  prei- 
senden Geberde.  Aber  die  unentrinnbare  Gemein- 
schaft des  menschlichen  Lebens  gewinnt  in  dieser 
Aussage  eine  einzigre  Veredelung  zur  Besonderheit. 
Die  lyrische  Form  wehrt  alle  Gemeinschaft  ab,  indem 
sie  ihr  unterliegt,  sie  gibt  sich  ihr  so  mächtig  hin, 
daß  das  Gemeinsame  gleichsam  in  der  Umarmung 
erdrückt  wird.  Das  lyrische  Gedicht  als  gewaltiges  Laut- 


—  8  — 


werden  von  menschlichen  Urinstinkten  behält  in  dem 
stöhnenden  Zwang  seiner  Fassung,  deren  Rhythmus 
die  Notwendigkeit  des  gehenden  Pulses  hat,  die  erste 
und  letzte,  tiefste  Vereinzeluüg  des  Menschen.  Seine 
äußerste  Einsamkeit  redet  sozusagen  von  den  Gren- 
zen der  Welt  her  zu  dem  Meere  von  Einsamkeit 
ringsum.  Es  ist  die  unbedingteste,  zügelloseste  Frei- 
heit im  Zwang  dieser  Aussage,  bis  auf  den  Klang 
und  Rhythmus  wird  alles  äußere,  materielle,  durchaus 
verinnerlicht.  Nur  daß  das  Gedieht  auf  dem  Weg  über 
Gefühl  und  Leidenschaft  seinen  Inhalt  völlig  vergeistigt, 
macht  es  zu  einer  Weisheit,  deren  Organ,  um  mich 
des  Ausdrucks  eines  vornehmen  Autors*)  zu  bedie- 
nen, im  Herzen  wohnt.  Gelegentlich  nähert  sich  diese 
bis  auf  Rufweite  der  Erkenntnis  des  Denkers  selbst. 
An  jener  Quelle  der  Unterwelt,  wo  die  Schatten  vom 
Blute  trinkend,  Leben  gewinnen,  trifft  diese  Dich- 
tung mit  der  Philosophie  zusammen,  welche,  vom 
Blute  trinkend,  wiederum  der  Poesie  ähnlich  wird. 
Überhaupt  enthält  die  Lyrik,  wie  ihr  Leoensvorbild, 
das  Individuum,  alle  Schicksale  der  Menschheit,  alle 
Möglichkeiten  und  Schicksale  der  Dichtung  als  in 
einem  Keime.  Denn  aus  dem  Gedichte,  aus  dem 
Wortgesange  des  bewegten,  einsamen  Gemütes  haben 
sich  alle  anderen  Formen  entwickelt,  wie  aus  den 
Einzelnen  alle  Gesellschaften. 

Die  zweite  Organisationsform :  die  Familie  findet 
im  Drama  ihr  Gleichnis. 

Das  Drama  vereinigt,  wie  die  Familie,  eigen- 
tümliche und  notwendig  verschwisterte  Gegensätze. 
Sein  Inhalt:  die  endgültige  Austragung  der  einander 
bedingenden  und  darum  einander  mit  der  Energie 
chemischer  Wahlverwandtschaften  suchenden,  natur- 
gegebenen Konflikte  wird  mit  der  Unmittelbarkeit 
direkter  Aussage  und  Gegenrede  der  verstrickten 
Charaktere  herausgestellt.  Dieses  leibhaftige  Gegcii- 
übertreten    der  Einzelnen,    deren  jeder   sein  Ich    in 


*)  »PrIAz  Hamlets  Briefe«,  Reicht  &  Comp,  Verlag  Berlin  MCMIX. 


—  9  — 


Worten  durchführt,  welche  den  feindlichen  Individuen 
das  Ihrige  entlocken  und  aus  dem  wirkenden  Zwie- 
gespräch Tat,  Schicksal,  neue  Vereinzelung  und  neue 
Verbrüderung  erzeugen,  vergegenwärtigt  den  poeti- 
schen Ursprung  aus  der  lyrischen  Äuiäerung  des 
Individuums.  So  trägt  ja  die  Familie  auch  ihre  höchst- 
persönliche Entstehung  aus  gegensätzlichen  und  ver-* 
wandten  Einzelnen  an  der  Stirne  geschrieben.  Sie 
wird  erschaflFen,  um  in  kämpfender  Fruchtbarkeit 
neue  Menschen  hervorzubringen.  Diese  Vereinigung 
wird  nur  um  der  Loslösungen  willen  bewirkt.  Das 
ist  der  vornehmliche  Gegenstand  des  Dramas.  Wenn 
man  seine  typischen  und  in  ewiger  literarischer 
Wiederkehr  abgewandelten,  sozusagen  exegetisch 
durchgebildeten  Stoffe  beobachtet,  wird  man  unschwer 
ihren  familienhaften  Grundcharakter  erkennen.  Histo- 
rische und  politische  Probleme  spielen  nur  begleitend 
mit  und  treten  in  den  engeren  Kreis  einer  familien- 
haften Gesellschaft,  wie  denn  die  Geschichte  selbst 
menschheitliche  Geschicke  und  Bewegungen  in  einem 
begrenzten  Felde  sinnfällig  rnacht,  als  ob  sie  Taten 
und  Erlebnisse  einer  einzigen  schöpferischen  Person 
oder  kleiner  Organisationen  wären.  Eigentümlich 
ist  dem  Drama  wie  der  Familie  auch  vor  allem  die 
Restlosigkeit  der  völlig  ausgetragenen  Gegensätze. 
In  dieser  Organisationsform  macht  die  Natur  sozu- 
sagen immer  für  die  Zukunft  reinen  Tisch. 

Nun  ist  aber  auf  der  weiten  Erde  bei  dem 
endlosen  Krieg  aller  gegen  alle  nicht  bloß  die  tragische 
Vernichtung,  vielmehr  ein  schließlich  duldsames  und 
notwendiges  Nebeneinander  zu  Hause.  Ober  der 
Vereinigung,  Ablösung  und  Erneuerung  der  Einzelnen 
in  der  Familie  mit  ihrer  dramatischen  Folgerichtigkeit 
steht  die  fruchtbare  epische  Läßlichkeit  der  Gesamt- 
heit. Die  Natur  produziert  in  Fülle  und  überantwortet 
ihre  Geschöpfe  dem  Ungefähr.  Das  Gerettete  und 
Lebensfähige  schließt  sich  zusammen  ohne  genaue 
Prüfung  der  Lebenswürdigkeit.  So  entstehen  über- 
geordnete   Verbände    und  Gemeinschaften,    erst    als 


-  10 


Notdach,  welches  dem  Menschen  gegen  den  Menschen 
Schutz  verleiht,  dann  als  schöpferisch  ausgestaheter 
Bau,  der  Zusammengehörigen  eine  gewisse  "Würde 
und  sinnvolle  Eintracht  der  Existenz  gewährt.  Was 
einer  großen  Anzahl  von  Menschen  an  wesentlichen 
Instinkten,  Anlagen,  Kräften  gemeinsam  ist,  über- 
windet ihr  Widersprechendes,  sie  lernen  einer  höheren 
Ordnung  dienen,  um  der  eigenen  Natur  schöner, 
sicherer  leben  zu  können.  Ein  geheimes  Zusammen- 
gehörigkeitsgefühl siegt  über  die  Vereinzelung.  Das 
Bewußtsein  der  Menschheit  erwacht  im  Menschen. 
Der  Staat  ist  seine  Schöpfung,  das  Epos  sein 
dichterischer  Ausdruck. 

Hier  spricht  der  Einzelne  nicht  mehr  direkt, 
sondern  das  Ganze  redet  aus  dem  Einzelnen,  auch 
wenn  er  von  ihm  redet.  Mag  der  epische  Stoff  ein 
besonderes  Schicksal,  Entwicklung  einer  Persön- 
lichkeit, Ereignisse  einer  Familie  oder  eines  begrenzten 
Personenkreises  behandeln,  das  allgemeine  Neben- 
einander, die  großartige  Einwirkung  der  ganzen 
Umwelt  auf  die  Zustände  der  beobachteten  Menschen, 
eine  politische  Natur  waltet  immer  vor.  Was  geschieht 
und  berichtet  wird,  bleibt  auf  die  zeitliche  Form  der 
bestimmenden  Gesamtheit  bezogen.  Der  dargestellte 
Inhalt  erscheint  als  Gleichnis  einer  gegebenen,  um- 
fassenden Organisation.  So  erzählt  jede  epische 
Dichtung  Geschichte.  Sie  ist  repräsentativ.  Die  zu- 
nehmende Annäherung  der  nationalen  Kulturen 
infolge  der  technischen  VervoUkoramung  hat  mit 
der  Ausgleichung  und  demokratischen  Herabminde- 
rung der  politischen  Besonderheiten  die  Dichtung 
um  ihre  unmittelbare  Wirkung  gebracht.  Sie  steht 
ihren  Menschen  nicht  mehr  Aug'  in  Aug'  ge- 
genüber. Diesem  Schaden  der  verlorenen  Unmittel- 
barkeit der  epischen  Kunst  steht  ein  Gewinn  an 
Verinnerlichung  und  Erhöhung  des  schöpferischen 
Selbstgefühles  gegenüber.  Das  politische  Gewissen 
des  epischen  Dichters  empfindet  den  Staat  nicht 
mehr   als   erhabene  und   erhöhende  Einheit,  sondern 


—  11 


&l3  mechanisiertes  Chaos,  als  sinnlos  stampfende 
Maschine,  welche  das  bißchen  Brdenraum  wie  eine 
Walze  ebnet.  Aber  selbst  diese  Verneinung  wird 
durch  die  politische  Artung  des  epischen  Geistes 
ausgewertet,  indem  Kritizismus  zum  Pathos,  Satire 
zur  Gestaltung,  Skepsis  und  Humor  zu  einem  neuen 
Lebensinhalte  anwachsen.  Das  Vorwiegen  individueller 
Probleme,  die  Verinnerlichung  der  epischen  Hand- 
lung die  Entdeckung  eines  vorherrschenden  geistigen 
Lebens,  welches  an  Stelle  sinnlich  leuchtender  phy- 
sischer Existenz  getreten  ist,  bezeichnen  die  eigen- 
tümliche politische  Natur  des  Epischen,  sie  wider- 
sprechen ihr  nicht. 

Unsere  Zeit  erlebt  eine  mähliche  Umgestaltung 
des  Staates.  Die  individuellen  politischen  Einzelgebilde, 
welche  vordem,  farailienhaft  eng  abgegrenzt,  drama- 
tisch sinnfällige  Schicksale  tragisch  kurzlebig  austru- 
gen, weichen  mehr  und  mehr  ungeheuren  Verbänden, 
deren  äuiere  Vorgänge  typisch  und  endlos,  lang- 
weilig und  mechanisch  scheinen.  Dabei  tritt  aber 
die  willentliche  Verinnerlichung  des  Einzelwesens 
und  der  Teilorganisationen  in  strenger  Vergeistigung 
hervor.  Die  Geschichte  wird  zu  einer  wachsenden 
Gestaltung  des  inneren  Lebens.  Der  Vergeistigung 
der  Geschichte  antwortet  die  Verinnerlichung  der 
epischen  Kunst.  Was  die  Politik  als  Instinkt  erlebt 
und  zeigt,  vergegenwärtigt  das  Wesen  des  Erzählers 
als  schöpferische  Macht.  Geschichte  machen  und 
Geschichte  schreiben,  die  höchste  Lust  und  Gabe 
des  menschlichen  Geistes,  bleibt  Sache  des  seltenen 
Einzelnen,  für  den  die  ganze  Welt  Mittel  und  Gegen- 
stand seines  persönlichen  Willens  ist,  unerschöpflich 
an  Abenteuern  und  Aufgaben,  ein  immer  erneutes 
Nichts  und  Chaos,  aus  dem  immer  wieder  ein 
strahlendes  Etwas  und  Ganzes  zu  bilden  ist.  So  führt 
die  Natur  in  verschleierter  Vereinfachung  auf  tausend 
Umwegen  alles  Geschaffene  auf  den  Schöpfer,  alle 
Geraeinschaft  auf  den  Einzelnen  zurück,  als  ob  sie 
ihm  allein  dienen  wollte,  der  herrschen  darf. 


—  12  — 

Das  Schicksal  der  Maschine 
Von  Ludwig  Rubiner 

Es  gibt  Dinge,  mit  denen  niemand  etwas  zu  tun 
hat,  und  auf  die  jeder  stolz  sein  will.  Zum  Beispiel 
auf  Erfindungen,  die  andere  machen.  Früher  wjir 
man  Zeitgenosse,  was  längst  veraltet  ist.  Heute  ©t 
man  Stimmungselement  der  Entwicklung.  Geistes- 
strömer. 

Es  ist  doch  so:  Menschen,  die  eine  Erfindung 
machen,  stehen  vor  dem  ekstatisch  Momentanen  und 
der  verzückten  Spontanität  ihrer  Idee  immer  wieder 
als  vor  einem  unbegreiflichen  Wunder.  Dabei  sind 
sie  stets  von  neuem  erstaunt,  daß  nicht  andere  Leute 
auch  auf  die  grundlegende  und  typische  Einfachheit 
ihrer  Gedankengänge  gekommen  sind.  Hier  regt  sich 
die  Unverschämtheit  des  Geistesst römers  und  Hinter- 
grundmoleküls.  Wie  —  die  Sache  ist  so  einfach,  daß  sie 
ein  anderer  auch  hätte  machen  können?  Gut,  dann 
wäre  ja  am  Ende  sogar  der  Geistesströmer  darauf 
verfallen?  —  was  soviel  bedeutet  als:  Der  Neben- 
mann und  Routinier  macht  sein  Anrecht  auf  die 
Leistung  geltend  I  Es  lebe  die  Entwicklung! 
Selbstverständlich  ist  die  Hoffnung  auf  unentwegte, 
treue  und  stramme  Entwicklung  der  neue  kind- 
liche Glaube  von  den  Weltanschauung-Salons  des 
Proletariates  bis  zu  den  ästhetisch-humanitären 
Comptoirs  der  modernen  Bourgeoisie;  eine  kindliche 
Hoffnung,  auch  einmal  Teil  an  etwas  zu  haben, 
für  das  man  nicht  kann.  Also  geniert  man  sich 
immer  noch,  sozusa8:en  aus  Sicherheitsgründen, 
in  verschämter  Öffentlichkeit,  wo  doch  jeder  den 
Lohn  für  sein  massenhaftes  Auftreten  haben  will, 
zuzugeben,  daß  die  wunderbaren  Versprechungen  der 
Fachmänner  von  der  Entwicklung  der  Technik  einfach 
noch  nie  gehalten  werden  konnten.  Es  wäre  naiv,  zu 
glauben,  daß  einmal  alle  Leute,  die  nicht  Techniker 
sind,  ungeduldig  werden  müssen,  wenn  jene  so  durch- 
dringend und  hochtrabend  wiederholten  Versiche- 
rungen nicht  aufhören  wollen:  die  technische  Evolution 


-  13  - 


gipfele  nächstens  einmal  in  einer  pompösen 
Zukunft. 

Immerhin  vermag  keiner  von  allen  den  glück- 
seligkeitsstrotzenden  Fachmännern  auch  nur  zu  sagen, 
welchem  Ziele  die  Änderungen  in  der  Konstruktion 
einer  Maschine  zustreben.  Noch  fraglicher  erscheint 
es  sogar,  ^ob  überhaupt  ein  solches  Ziel  da  ist.  Als 
der  Phonograph  erfunden  wurde,  erwartete  man 
natürlich  von  den  folgenden  Jahren  eine  ungeheure 
Veränderung  im  Charakter  des  Apparates,  genau  wie 
zwanzig  Jahre  später  vom  Kinetoskopen.  Aber  diese 
Instrumente  sind  auch  in  ihren  substilsten  Voll- 
endungen noch,  des  Grammophons  und  des  Kine- 
matographen,  unter  die  Äußerungsfähigkeiten  gebannt 
geblieben,  die  sie  in  der  Stunde  ihres  ersten  Er- 
scheinens hatten.  Es  sind  Vergnügungsautomaten 
geblieben,  und  die  geringen  und  gezwungenen  An- 
wendungen solcher  Maschinen  in  den  Wissenschaften 
bedeuten  nur  langwierige  Umwege  gegenüber  der 
zugleich  analytischen  und  synthetischen  Auffassungs- 
fähigkeit des  Menschen.  Ähnlich  wie  die  Anwendung 
der  Mathematik  in  der  Psychologie  auch  nur  rein 
tautologische  Bestätigungen  ergibt. 

Natürlich  zweifelte  vor  fünfzig  Jahren  kein  ge- 
bildeter Mensch  daran,  daß  wir  heute  auf  > Flügeln 
des  Dampfes  fliegenc  würden!  Aber  man  darf  fest- 
stellen, daß  seit  James  Watt  die  Arbeitsgebiete  der 
Dampfmaschine  sich  gar  nicht  verändert  haben, 
sondern  daß  nur  die  Leistungen  potenziert  wurden; 
schon  vor  Fulton  trieb  doch  Dionys  Papin  ein  Dampf- 
schiff —  übrigens  Daten  einer  billigen  Gelehrsamkeit, 
die  sich  jeder  aus  dem  Konversationslexikon  holen 
kann.  —  Ebenso  natürlich  zweifelte  zu  Daguerres 
Zeiten  kein  Mensch  daran,  daß  die  Photographie 
selbstverständlich  einst  die  Malerei  ablösen  werde. 
Nun,  darüber  hat  man  sich  in  den  letzten  Jahren  ge- 
nügend ausgesprochen.  Dagegen  ist  der  urs^prüngliche 
Charakter  der  Photographie,  nämlich  die  mechanische 
Reproduktion,  zur  Massenhaftigkeit  gesteigert  worden. 


14  ~ 


Die  Dynamomaschine  und  das  Telephon,  die 
Bogenlampe  und  die  Schreibmaschine  sind  nur  immer 
detaillierter  und  komplizierter  durchkonstruiert  worden, 
und  das  Grundmoment  ihrer  Verwendung  ist  immer 
gleichartiger  durch  die  Massenverbreitung  erhalten 
geblieben. 

Aber  die  Aeronautik  —  —  Entwicklung  des 
Ballons  zur  Flugmaschine  1  —  Gerade  bei  äer  Aero- 
nautik können  Unbefangene  und  Unaufgeregte  am 
deutlichsten  erkennen,  daß  es  in  der  Technik  keine 
Entwicklung  gibt.  Der  Ballon  hat  sich  seit  den 
hundert  Jahren  seiner  ersten  Konstruktion  nicht  ver- 
ändert. Schon  an  den  allerersten  Ballons  hat  man  ja 
versucht,  Flügelruder  und  Steuer  anzubringen;  das 
»Reichsluftschiff«,  der  »ParsevaU ,  Engländer,  Franzosen 
sind  wie  vor  hundert  Jahren  jedem  Zufall  schutzlos 
ausgesetzt.  Diese  »Lenkbaren«,  ganz  gleich  ob  »starr« 
oder  »unstarr«,  können  bei  Sturm  nicht  fahren,  und 
mit  ihren  Größenmassen  stehen  sie  in  einem  lächerlich 
ungleichen  Verhältnis  zu  dem  Raum,  den  sie  trans- 
portieren können.  Glück,  Tod  und  Ziel  sind  heute 
gerade  so  unbestimmbar  wie  vor  hundert  Jahren. 
Aber  der  Ballon  hat  sich  nun  nicht  auch  zur  Aero- 
plan-Fiugmaschine  »entwickelt«,  sondern  die  Flug- 
maschine »Schwerer  als  die  Luft«  (Lexikon!)  beruht 
auf  einer  vollständig  anderen  und  relativ  neuen  Idee,  die 
mehr  als  unabhängig  von  den  Prinzipien  des  Ballons 
ist.  Nun  ist  aber  der  Charakter  des  Aeroplans  ah  eines 
Versuchsapparates  und  Sport-  oder  Schauobjektes 
bereits  erwiesen,  und  es  ist  unzweifelhaft,  daß  eine 
Flugmaschine  der  Zukunft,  die  große  Gepäcklasten 
und  viele  Personen  befördern  kann,  aus  einem 
wiederum  vom  gewohnten  völlig  verschiiedenen, 
neuen,  noch  ungeahnten  Gebiet  der  Idee  und  der 
Prinzipien  konstruiert  werden  wird. 

Die  Elektrisiermaschine  kann  seit  den  drei- 
hundert Jahren  ihrer  Grundkonstruktion  durch  Otto 
von  Gaericke  auch  nichts  anderes,  als  Papierbüschel 
in  Bewegung  setzen  und  den  Blitz  imitieren. 


15 


Element,  Akkuraalator  und  Dynamo  sind  nicht 
Eatwickelungsstadien  der  alten  Elektrisiermaschine, 
sondern  Erfiadungen  aus  überraschend  verschiedenen 
Ideengebieten,  die  das  Prinzip  der  Elektrizität  nur 
etwa  gerade  so  gemeinsam  haben,  wie  die  Dramen 
Shakespeares  und  die  Dramen  Racines  den  Unter- 
grund menschlicher  Gefühle. 

Es  ist  manchmal  wunderbar  gut,  Laie  zu  sein. 
Man  steht  außerhalb  der  Grenzen  eines  Faches  und 
überschaut  diese  jenseitigen  Dinge  nach  dem  bloßen 
Vergnügen  oder  dem  bloßen  Nutzen.  Unverwirrt 
durch  Begeisterung  für  Spezialkenntnisse  sieht  man: 
Es  gibt  keine  Entwicklung  der  Maschine.  Der  Maschine 
kann  es  gar  nicht  widerfahren,  daß  sie  sich,  gleichsam 
durch  allmähliches  Ankristallisieren,  erweitert.  Form 
und  Bau  verändert  und  eines  Tages  unmerklich  etwas 
ganz  anderes  geworden  ist.  Nein,  die  Maschine  wird 
in  die  Welt  hineingesetzt,  gleich  fertig  in  ihrem 
ganzen  Umriß  und  Charakter.  Da  kann  nur  noch 
verfeinert  und  gesteigert  werden,  aber  die  quali- 
tativen Attribute  sind  schon  von  Anfang  an  ent- 
schieden. 

Die  Maschine  ändert  ihren  Charakter  nicht.  Das 
Automobil  hat  sich  nicht  aus  dem  Fahrrad  entwickelt, 
sondern  es  repräsentiert  eine  völlig  neue  Ideenreihe. 
An  der  Maschine  erkennt  man  unerhört  klar, 
was  Prädestination  ist.  Das  ganze  Leben  der  Maschine 
und  der  Maschinengeschlechter  ist  nur  darauf  ge- 
richtet, den  Grundtypus  jeder  einmal  gefundenen 
Struktur  für  alle  Ewigkeit  aufs  leistungsfähigste  zum 
Ausdruck  gelangen  zu  lassen.  Sobald  der  Grundtypus 
einer  Maschine  sich  verändert,  zeigt  es  sich,  daß  die 
neue  Struktur  nicht  eine  Entwicklung  der  alten  ist, 
sondern  ein  neues  Maschinenwesen  mit  ganz  anderen 
und  neuen  Aufgaben,  und  aus  einer  ganz  neuen 
Ideen-Ebene  und  einer  anderen  Kategorie. 

Das  Schicksal  der  Maschine  ist,  nur  einmal  zu 
sein.  Und  dieses  Einmal  kann  sehr  lang  oder  sehr 
kurz  dauern.  Aber  das  ist  auch  das  Schicksal  ihrer  Ideen, 


1(1  — 


Hier  enthüllt  sich  endgültig  d.e  ganze  Frag- 
«ürdiekeit  einer  Entwicklung  der  Technik.  Denn 
reibt  keine  Entwicklung  der  Idee.  D.e  Idee  steht 
auch  ganz  außerhalb  einer  Werlbemessung.  Jede  Idee 
f^wfe  iede  andere  ein  vollkommenes  Individuum, 
efn  Ibgigrenztes.  Das  Schicksal  der  Idee  hegt  m 
ihrem  vollkommenen  Ausdruck. 

Entwicklung  der  Technik  anzunehmen  ist  eine 
hypothetische  Behauptung,  die  sofort  von  der  bloßen 
Beobachtung  entlarvt  wird. 

Nun   scheint   es   aber,    als   sei   bei   Q'?«?'  f^ 
hauotune   auf   die   Wirklichkeit  und   Erweishohkeit 
aÄtsaohen  gar  kein  besonderer  Wert  gelegt,  und 
t\!  soUe   eine  .Entwicklung  der  Masch  ne.  gar  kein 
Dogma  seX  sondern  nur.def  halb  -ffUig  und  u^k  ar 
erfaßte  Ausdruck  für  eine   St-mmung^  Be'm  Über 
Mi,.kpn  ienes  schwer  und  nur  unschart  zu  ertassenoen 
KÖmn"eies  sich  kreuzender  und  scheinbar  mischender 
Ste?und  neuer  Ideen  tritt  die  ungewisse  Stimmung 
desPUeßenden  auf,  und  sie  wird  der  ganzen  Gruppen- 
rethr^er  Ideen  als' wahrhaftig  historisches  Geschehen 
unterschoben.  Man  deutet  diese  ^«hr  subjektive  Stim 
mune  eines  unscharf  vorüberlaufenden  Momentes  in 
^ne  unscharfe  Geschichte  des  Ob  ektes  um    und  man 
konslrS  aus  der  -|enblickUchen  Gemutswirkung 

'"  ^tei^£i%t'rh?-^  tOhes^e  d-  ^nt- 

ij^SrtrinÄnrn^Ä-^ 

Steine,   bi"  i,,  '  „^,  •  i.    prsoheinen  die  Maschinen.  ÜjS 
ÄrvÄSethTcÄrMasc^^^^^^^^ 

:tärk:il  Ausdruck  ihrer  Idee  ist,  bis  man  sie  nicht 
mehr  braucht. 


Briefe  von  Ferdinand  Kürnberger*) 

Klobenstein,  den  10.  September  1875. 
Verehrter  Freund! 

In  solchen  Stunden  lebe  ich  wie  ein  abgeschiedener  seliger 
Geist.  Ich  komme  buchstäblich  in  die  Illusion,  daß  ich  in  Wien 
gestorben  bin  und  in  Klobenstein  auferstanden.  Gestorben  ist  die 
Börse,  das  Kaffeehaus,  das  Ptlastertreten,  der  Straßenlärm,  das 
Werkeln,  der  Zeitungstratsch.  Wie  sehe  ich  hier  eine  Wiener 
Zeitung  an!  Wohl,  die  Hauptstadt  muß  für  das  ganze  Reich 
denken,  aber  sie  denkt  schlecht!  So  oft  die  Zeitung  auf  den  Tisch 
aufgelegt  wird,  kommt  mir  der  Tisch  befleckt  vor,  —  der  Tisch,  an 
dem  die  alte  Frau  Pascoli  präsidiert,  die  ehrwürdigste  Patriarchin 
die  ich  je  kennen  gelernt. 

Ich  finde  diese  Frau  weit  über  meiner  Erwartung.  Daß  ich 
es  nur  gestehe,  Ihr  Haus  hat  mir  nicht  das  richtige  Bild  beigebracht. 
Sie  betonten  mir  immer  in  erster  Linie  ihren  Humor,  über  die 
Pfaffen  zu  schimpfen,  —  »und  doch  ist  sie  fromm«,  setzten  Sic 
dann  hinzu.  Ich  möchte  es  jetzt  umgekehrt  formulieren.  Zuerst 
ist  sie  fromm;  die  Religiosität  der  stärkste  Zug  ihres  Charakters, 
das  Urchristentum  ihr  lebendigstes  Herzensbedürfnis.  Und  erst 
weil  sie  als  Urchristin  von  den  Nachchristen  sich  betrogen  sieht, 
schimpft  sie  über  die  Pfaffen.  Es  ist  ganz  das  nämliche  Verhältnis, 
wie  wenn  wir  den  Hamlet  in  einer  Schmiere  und  den  Don  Juan 
von  Bänkelsängern  aufgeführt  sehen.  Es  ist  der  Schmerz  üljer  ein 


*)  Mitgeteilt  von  Luise  Hackl  —  anläßlich  des  Erscheinens  des 
ersten  Bandes  der  Gesammelten  Werke  von  Ferdinand  Kümberger 
(Verlag  Georg  Müller,  München  und  Leipzig),  der  > Siegelringe <,  einer 
Sammlung  politischer  und  kirchlicher  Feuilletons.  Diese  bisher  unver- 
öffentlichten Briefe  sind  an  den  Politiker  Dr.  Josef  Kopp  und  dessen 
Gattin  gerichtet.  Im  September  1875  weilte  Kürnberger  zu  Besuch 
in  Klobenstein  auf  dem  Berge  Ritten  nächst  Bozen,  bei  der  Mutler 
(Frau  Pascoli)  und  der  Schwester  (Frau  v.  Atzwang)  der  Frau  Kopp. 
>Wer  mir  begegnet  und  mich  fragt:  Was  arbeiten  Sie  jetzt?  Dem  ant- 
worte ich:  Briefe <,  schrieb  Kürnberger  einmal  an  eine  Dame.  Und  er 
fährt  fort:  >Ich  habe  es  immer  gesagt  und  sage  es  bei  jeder  Gelegen- 
heit: Ein  Schriftsteller,  auch  wenn  er  noch  so  viele  Bände  hinterläßt, 
repräsentiert  damit  nur  den  kleineren  Teil  seiner  Tätigkeit;  das  Meiste, 
was  er  geschrieben  hat,  sind  Briefe  <.  Diese  .Auffassung  Kürnberger« 
rechtfer  I^  die  Publikation  seiner  Briefe.  Nicht  jeder  Autor  vertrüge 
so  gut  die  Herausgabe  seiner  Korrespondenz,  die  vor  Kurzsichtigen 
leicht  eine  Entstellung  des  geistigen  Bildes  bewirkt. 


18  - 


profaniertes    Heiligtum.    Es    ist    nicht    Schimpf- Lust,    sondern 
Schimpf-Schmerz! 

Als  Frau  faßt  sie  die  Sache  moralisch  und  nicht  historisch. 
Es  entgeht  ihr  der  kühle  Trost  der  objektiven  historischen  Schule, 
womit  sie  die  Kirche  betrachten  könnte  —  wie  die  benachbarten 
Erdpyramiden,  nämlich  als  einen  Verwitterungsprozeß.  Daß  die 
Zeit,  indem  sie  neues  Gutes  erzeugt,  das  alte  Gute  verschlechtert 
und  dann  >Der  Zahn  der  Zeit«  wird,  d'ese  Reflexion  ist  nicht 
weiblich.  Die  historische  Schlechtigkeit  ist  ihr  die  Schuld  der 
einzelnen  schlechten  Personen..  Aber  wenn  uns  der  Historiker  die 
natur-gewordene  Notwendigkeit  des  Übels  so  gut  einsehen  lehrt, 
daß  wir  vor  lauter  Einsicht  das  Übel  kaum  mehr  empfinden,  so 
reagieren  Frauen  wie  die  Pascoli  aufs  erquickendste  gegen  diese 
philosophische  Erschlaffung,  indem  sie  vor  lauter  Empfindung  die 
Einsicht  ausschließen.  Sie  sind  dann  just  so  naturnotwendig  wie 
Ranke  selbst,  dem  sie  das  Gleichgewicht  halten  und  ebenbürtig 
zur  Seite  stehen.  In  diesem  Sinne  ist  mir  die  alte  Frau  selbst  eine 
historische  Erscheinung  und  ich  habe  das  volle  Gefühl,  daß  ich 
etwas  sehe,  was  man  nicht  alle  Tage  sieht.  Solche  iVlenschenbilder 
gehören  nicht  der  Sterblichkeit  an,  sondern  der  Geschichte.  Wollte 
Gott,  ich  könnte  sie  in  einem  Roman  verewigen,  um  einen  etwas 
geckenhaften  Ausdruck  zu  gebrauchen.  Aber  die  Blume  müßte 
mir  verdorren  ohne  die  Wurzel  und  die  Erde  an  der  Wurzel.  Ich 
dürfte  sie  nur  bringen  in  der  ganzen  bündigen  Kraft  ihrer  naiven 
Volkstümlichkeit,  ihrer  tyrolischen  Landesrede.  Und  die  beherrsche 
ich  als  Wiener  nicht. 

Heute  morgens  beim  Frühstück  erzählte  sie,  wie  sie  einem 
Klobensteiner  Bauer  »das  allerheiligste  Gut«  klar  machte.  Das 
sei  Gott  im  Himmel,  aber  nicht  ein  Blätterteig  in  einem 
Metallreif.  Mir  standen  die  Haare  zu  Berge.  Eine  Gänsehaut  über- 
lief mich.  Wir  gebildeten  Hasenfüße  glauben  Wunders  zu  tun, 
wenn  wir  systematisch  um  den  Brei  herumgehen  und  mit  den 
Heiligen,  mit  der  Ohrenbeichte  oder  dem  Cölibat  »anfangen«. 
Dieses  Weib  fängt  gleich  mit  dem  Ende  an!  Einem  Bauer  das 
Altarssakrament  auszureden,  genügt  ihr  just  für  den  ersten  Anlauf! 
Sie  packt  den  Stier  bei  den  Hörnern  und  bohrt  das  Brett  an,  wo 
es  am  dicksten  ist!  Wahrlich,  wahrlich,  ich  sage  Ihnen,  der  nächste 
Reformator  ist  vielleicht  nicht,  wie  Luther,  ein  Mann,  sondern  wie 
die  Pascoli,  ein  Weib!  — 


—  19 


Und  so  wie  sie,  übertrifft  eigentlich  alles  meine  Erwartung. 
Kaum  erholeich  mich  von  meinem  Erstaunen,  daß  es  Leute  gibt 
welche  dem  Ritten  eine  üble  Nachrede  machen.  Kein  Wasser, 
keine  Schatten,  keine  Wälder,  den  ganzen  Tag  heiß  angeglühte 
Steine,  —  das  habe  ich  ab  und  zu  klagen  gehört.  Ich  komme 
herauf,  und  was  finde  ich?  Kein  Wasser,  heißt  —  laufende 
Brunnen ;  keine  Schatten,  heißt  —  Schatten  wie  Casemattengewölbe ; 
keine  Wälder,  heißt  —  die  schönsten  Baumschläge  von  Buchen, 
Eichen,  Birken,  Tannen,  Fichten,  Föhren  und  Seidenlärchen;  den 
ganzen  Tag  heiß  angeglühte  Steine,  heißt  —  auf  Schritt  und  Tritt 
Gras  unter  den  Füßen,  grünsten,  duftigsten  Sammtteppich  1  So 
kritiklos  verhalten  sich  die  Menschen  zu  den  unmittelbarsten 
Sinneswahrnehmungen!  Aber  büßen  sie  es  nicht  selbst?  Wie  viele 
Frischler  haben  den  Ritten  schon  veriassen,  jetzt  wo  er  am 
frischesten  ist!  Inzwischen  kann  ich  mir  nicht  denken,  daß  er  es 
weniger  ist,  auch  in  den  heißesten  Tagen.  Statt  heißer  Tage  haben 
wir  doch  heiße  Stunden,  aber  ich  empfinde  sie  nicht.  Hier  ist  die 
Hitze  nicht  heiß  und  die  Kälte  nicht  kalt.  Wie  Champagner 
schlürft  sich  diese  feine  moussierende  Luft,  wie  Geriesel  auf  zartem 
Eis  und  zarter  Qlut,  nervenprickelnd,  ohne  Last  des  Rausches.  Der 
Schatten  schauert  und  die  Sonne  drückt  nicht;  ich  suche  Eines  so 
gern  wie  das  Andere.  Hier  ist  die  Luft  wirklich  Aether.  Auf  dem 
Rasen  liegen  die  Baumschatten  so  flüssig,  daß  man  grüne  Seen  zu 
schauen  glaubt.  Daß  die  Matwie  Seele  hat,  sagt  man,  vom  Hören- 
sagen, aber  hier  empfindet  man's.  Man  geht  allenthalben  in  einem 
Ueberschuß  von  üeist  und  Seele;  die  ganze  Erde  geistert. 

Auf  dem  Wege  nach  Lovis,  den  wir  heute  machten,  sind 
die  Wälder  oft  förmliche  Forste  und  stehen  urwaldartig  auf 
allen  Berghäuptem.  Näher  aber  umgibt  uns  der  Baumschlag  in 
lockeren,  aufgelösteren  Gruppen  und  läßt  überall  dem  Kräutericht 
der  zartesten  Farren,  Alpenrosen,  Preiselbeeren  —  Luft  und  Licht. 
Es  kommt  zu  Stellen,  die  wie  ein  Wunder  aussehen.  Der  Ausdmck 
des  Sinnigen  und  Lieblichen  geht  bis  zum  Heiligen,  man  begreift 
den  >heiligen  Hain«  der  Natur\'ölker  und  schämt  sich  des 
Wortes  Park. 

Zufälle  haben  es  gefügt,  daß  ich  erst  seit  drei  Tagen  hier 
bin.  Acht  Tage  verweilte  ich  in  Gratz,  um  die  letzten  Bogen  eines 
Buches  zu  korrigieren  und  zwei  Tage  widmete  ich  mich  dem 
Dr.  Fischhof   in  Emmersdorf   bei  Klagenfurt.    Erst   am    Dienstag 


—  20  — 

passierte  ich  nachmittags  um  halb  vier  die  Bahnstation 
Azwang. 

Ich  mußte  ungewiß  sein,  ob  die  Frauen  noch  auf  dem 
Ritten  oder  schon  in  Bozen  seien;  nach  Ihren  Mitteilungen  über 
die  Traubenkur,  schien  mir  das  Letztere  wahrscheinlicher.  Da 
fragte  ich  die  Offizianten  der  Station,  die  ja  alle  Rittener  kommen 
und  gehen  sehen,  was  sie  über  den  Aufenthalt  der  Frauen  wüßten 
aber  —  more  patria  —  wußten  sie  nichts.  So  fuhr  ich  nach  Bozen 
weiter.  Erst  bei  Kräutner  wurde  ich  informiert.  Ich  übernachtete 
also  in  Bozen  und  fuhr  nächsten  Morgen  früh  mit  dem  5.50-Zug 
nach  Azwang  wieder  zurück.  Mit  meiner  schweren  Reisetasche  auf 
dem  Rücken  schlich  ich  sodann  gemächlich  den  hohen  Berg 
hinauf.  >Der  Esel  an  sich«,  den  Sie  mir  schon  vorlängst  ver- 
sprochen, war  demnach  Esel  genug,  die  Ehre  meiner  edlen  Last 
sich  entgehen  zu  lassen,  —  was  freilich  mehr  die  Schuld  der  Um- 
stände als  seine  eigene. 

Die  Rittener  Colonie  fand  ich  noch  vermehrt  um  das  Frl.  L 
aus  Innsbruck  mit  Leidwesen,  aber  vermindert  um  den  kleinen 
Schwarmgeist  v.  V.,  der  es  vorgezogen,  im  Waffenglanze  unserer 
ruhmreichen  Armee  sich  zu  sonnen.  Mögen  die  Herren  Oesterreichs 
bei  dieser  Gelegenheit,  wie  bei  jeder  andern,  besiegt  werden. 
Möge  der  Sieger  den  Degen  annehmen,  den  ein  edler  Gefangener 
abschnallt  und  ihm  zu  Füßen  legt!  — 

Maria  Geburt  war  demnach  mein  erster  Tag  auf  dem  Ritten 
und  ich  kam  just  zu  dem  kirchlichen  Volksfeste  des  Ferkele-Tragens 
zurecht.  Als  Nachmittagsspaziergang  zeigte  mir  die  Frau  sogleich 
die  Erdpyramiden,  wohin  wir  zu  Vieren  (mit  der  Schwägerin  und 
mit  L.)  promenierten.  Abends  beim  Souper  hätte  ich  am  liebsten 
Stenograph  sein  mögen.  Jeder  Charakter  exponierte  sich  in  seiner 
Weise;  die  Stammutter  des  Hauses  erklärte  mit  Sinn  und  Kraft 
ihr  Urchristentum;  den  Löwenanteil  trug  aber  doch  Ihre 
Frau  davon. 

Die  Schwägerin  in  ihrer  gutmütig  realistischen  Weise  hatte 
das  Wort  hingeworfen,  sie  hätte  ihrem  Manne  das  Politisieren  ab- 
gewöhnen sollen.  Sie  würden  dann  viel  freier  und  genußvoller 
leben.  Ein  Wort  gab  das  andere,  —  natürlich  immer  gut  gemeint, 
wie  unter  Menschen,  die  eines  Herzens  sind,  aber  zweierlei  Köpfe. 
Kurz,  die  alte  Antithese  von  Realismus  und  Idealismus, 

Da  war  Ihre  Frau  nun  ein   herrlicher  Ritter  des  letzteren ! 


—  21  - 

Die  Lage  Öiterreichs,  das  Bedürfnis  nach  Männern,  der  Mangel 
derselben,  das  naturgemäße  Cumulieren  von  Lasten,  wenn  mit  der 
ersten  der  Anfang  gemacht  worden,  die  öffentliche  Geschichte  und 
Ihre  15jährige  Privatgeschichte,  die  Wechselwirkungen  und  das 
Bedingtsein  Beider  unter  einander,  das  Alles  gab  in  kurzen,  raschen 
Strichen  augenblicklich  ein  Bild  von  unwiderstehlicher  Ueberzeu- 
gungsfähigkeit.  Man  sah  den  Mann  in  seinen  Boden  hineinwachsen, 
auf  die  natürlichste  Weise  von  der  Welt,  weil  Boden  und  Keim  ein- 
ander entgegenkamen,  Notwendigkeit  des  Schicksals,  Wahl  und 
freie  Ne  gung  des  Individuums  wurden  ein  Geflecht  von  festester 
Textur,  unzertrennbar  und  ununterscheidbar.  Es  war  ein  Genuß, 
diese  Tischrede  anzuhören.  Es  war  ein  Meisterstück  von  Exposition. 

Was  mich  aber  am  meisten  entzückte,  das  war  der  Geist  der 
anspruchlosesten  Naivetät,  der  über  dem  Ganzen  schwebte.  In  Spree- 
Sphären  und  Panke-Radien  wäre  das  Alles  mit  Ostentation,  mit 
Emphase,  mit  einem  verschwenderischen  Aufwand  von  Selbstbewußt- 
sein geschehen.  Wie  aber  hier  eine  Frau  die  Ehre  ihres  Mannes  empfand, 
ohne  eine  Spur  von  Ehrgeiz,  das  war  wohl  em  einziges  Schauspiel. 
Tausend  Frauen  hätten  ihren  Mann  vielleicht  ebenso  vertreten, 
aber  nur  mit  dem  Verstände;  die  Eine  sprach  das  Verständigste 
mit  den  Inspirationen  des  Herzens  und  als  ob  es  gar  nicht  Ver- 
stand wäre.  Was  könnte  reizender  sein  ?  Intelligenz  ohne  Philo- 
sophie ist  eins  von  den  Geheimnissen  des  weiblichen  Zaubers. 
Die  Frau  mag  jetzt  freilich  mehr  als  ihre  >gute  Stunde«,  nämlich 
ihre  guten  Tage  und  Monate  haben.  Sie  ist  seit  dem  Winter  nicht 
mehr  zu  kennen.  Sie  ist  ganz  Leben,  Gesundheit,  Heiterkeit 
und  Spannkraft. 

^   Nehmen  Sie   diesen    Brief  hin  —   als   einen   Aphorismus, 
denn  wollte  ich  den  Anspruch  einer  Beschreibung  machen,  so  käme 
ich  nicht  zu  Ende.  Leben  Sie  recht  wohl  und  genießen  Sie,  nach 
mancher  Wolke,  dieses  goldenen  Sonnenscheins! 
Ihr  treu  ergebener 

Ferdinand  Kürnberger. 

Der  folgende  Brief  ist  aus  dem  Hause  Dr.  Fischhofs  an  Frau 
Kopp  gerichtet  und  lautet : 

Emmersdorf  bei  Klagenfurt, 
Mittwoch  den  13.  Oktober  1875. 
Theure,  Verehrte! 

Kaum  finde  ich  diesmal  einen  Anfang  meines  Briefes.  Ich 
gebe  Nachricht  von  mir  —  weiß,  daß  ich  zu  den  raenschenfreund- 


—  22 


liebsten  Herzen  spreche,  welche  mir  die  innigste  Theilnahme 
schenken,  —  und  kann  doch  keine  gute  Nachricht  geben. 
Schweigen  aber  darf  ich  auch  nicht  mehr.  Ohnedies  verschob  ich 
meinen  Brief  an  Sie  so  lang  als  möglich  und  schrieb  jeden 
andern  früher;  an  Sie  wollte  ich  meine  beste  Meldung  machen. 
Aber  der  Stoff  dazu  bleibt  aus.  Er  bleibt  noch  immer  in  der 
Ferne.  Ich  hätte  Sie  gerne  erfreut,  aber  muß  nur  froh  sein,  zwischen 
Freude  und  Trübseligkeit  einen  Nullpunkt  zu  verzeichnen. 

Am  Sonntag  vor  acht  Tagen  verließ  ich  Bozen  und  hielt 
meine  erste  Nachtstation,  nicht,  wie  ich  projektierte,  in  Niedern- 
dorf,  sondern  auf  den  Rath  der  Frau  v.  Atzwang  in  Welsberg,  wo 
eine  gute  und  billige  Einkehr.  Der  Rath  war  gut  und  ich  wußte 
j.im  Dank.  Ich  kam,  mit  einer  der  üblichen  Zugsverspätungen  in 
Franzensfeste,  nach  halb  6  in  Welsberg  an  und  erhielt  zu  meinem 
Abendessen  just  das,  was  mir  am  liebsten  war  —  Forellen.  Zwischen 
der  Hungerkur  der  bloßen  Suppen  und  dem  Diätfehler  der 
derberen  Fleischspeisen,  hielt  das  edle  Fischlein  den  goldenen 
Mittelweg  und  war  das  Beste,  was  ich  brauchen  konnte.  Dieser 
Glücksfall  stimmte  mich  weich  und  ich  verweilte  auch  noch  den 
nächsten  Tag  in  meinem  kleinen  Capua.  In  der  Wahl,  morgens 
um  7,  oder  abends  um  halb  6  mit  dem  Zug,  womit  ich  ge- 
kommen war,  fortzufahren,  zog  ich  das  Letztere  vor,  um  noch 
einen  Welsberger  Mittag,  d.  h.  noch  ein  Gericht  Forellen  zu  ge- 
winnen. Und  es  war  gut  und  war  ebenso  billig  als  gut.  Der  Frau 
von  Atzwang  meinen  besten  Dank  für  ihren  guten  Rath. 

Abends  um  halb  6  fährt  man  nicht  mehr  weit;  ich  fuhr 
bloß  bis  Lienz,  wo  es  um  8  Uhr  schon  längst  tiefe  Nacht  war. 
Ich  machte  meine  Nachtstation  in  der  Post.  Das  ist  ein  großes, 
frequentirtes,  in  Küche  und  Keller  reich  assortiertes  Gasthaus 
und  doch  mußte  ich  mit  einem  traurigen  Löffel  Suppe  hungrig 
zu  Bette  gehen  und  ging  es  mir  in  dem  großen  Lienz  bei  weitem 
nicht  so  gut,  als  in  dem  kleinen  stillen  Welsberg.  Auch  in  meiner 
Krankengeschichte  war  die  Nacht  in  Lienz  böse.  Das  Jucken  an 
den  Füßen  trieb  es  mit  einer  Art  Wuth,  die  Speicheldrüsen 
überströmten  von  Galle  und  das  Aufstoßen  oder,  eleganter  gesagt, 
Repetieren  war  schon  mehr  Mordbrennen  als  Sodbrennen.  Es  war 
eine  jämmerliche  Nacht,  eine  echte  Krankennacht. 

Diese  Nacht  in  Lienz  stimmte  mich  um.  Ich  sagte  mir,  in 
einem  Zustande  wie  meiner,  ist  man  noch   kein  Reisender,    Noch 


23  — 


liegt  der  größte  Theil  der  Reise  vor  mir,  die  Verpflegung  in  den 
Gasthäusern  kommt  auf  das  gute  oder  auch  böse  Ungefähr  an 
und  auf  all  meinen  Schritten  lauern  Diätfehler.  Mehr  und  mehr 
gewann  der  Gedanke  Herrschaft  über  mich,  daß  auf  meiner  Weg- 
hälfte Klagenfurt  und  Dr.  Fischhof,  mein  alter  hochgeschätzter 
Freund,  recht  ä  propos  daliegen,  als  die  beste  Gelegenheit,  eine 
Zwischenstation  zu  halten  und  wie  in  einem  maison  de  sante 
wenigstens  das  Aergste  abzuwarten. 

So  sistierte  ich  denn  meine  Reise  Ind  kehrte  bei  Dr.  Fisch- 
bof  ein,  dem  ein  civilisirter  Gast  eben  so  willkommen  ist,  als 
diesmal  auch  er  mir  zu  Statten  kommt  Unsere  Interessen  ver- 
einigten sich. 

Ich  liege  nun  am  9.  Tage  unter  Dr.  Fischhofs  Dach.  Mein 
nächster  Vortheil  ist,  daß  ich  den  Nachtheilen  entgehe  und  eine 
geregelte  Krankendiät  führen  kann,  wie  es  im  Gasthaus  unmöglich. 
Jeden  Mittag  mein  eingemachtes  Hühnchen  mit  Reis  und  abends 
eine  vortreffliche  Fleischbrühe,  gelegentlich  ein  blau  gesotten  es 
Hechtlein  oder  ein  Stück  sauer  gedünsteten  Esterhazy-Rostbraten 
und  zwar  Alles  mit  Takt  und  Sorgfalt  schmackhaft  und  fein  zu- 
bereitet, das  gibt  wenigstens  die  Beruhigung  einer  zweckmäßigen 
Ernährung  ohne  Diätfehler. 

Freilich  ist  es  auch  Alles.  Daß  die  innerliche  Besserung 
vorschreitet,  glaube  ich  nicht.  Wohl  sieht  Dr.  Fischhof  täglich 
meinen  Augenstern  an  und  möchte  sich  einreden,  daß  das  Weiße 
schon  um  eine  Nuance  weniger  gelb,  aber  —  ich  glaube  es  nicht. 
Kann  denn  die  Galle  einseitig  zurücktreten  ?  Es  müßte  sich  die 
Gesammtfarbe  bessern,  aber  eine  gewisse  andere  Farbe  ist  noch 
so  schauderhaft  wie  auf  dem  Krankenlager  in  Kaltem.  Nicht  im 
Mindesten  bricht  sie  sich,  wie  für  die  Ewigkeit  gegossen  steht  sie 
da.  Ich  habe  mir  angewöhnt,  die  Augen  zu  schließen  und  sie  gar 
nicht  mehr  anzusehen;  ich  halte  den  Anblick  faktisch  nicht  aus.  Der 
Ekel  an  dieser  Farbe  würde  mich  allein  schon  zum  Kranken  machen. 

Damit  ist  aber  auch  gesagt,  daß  ich  diese  Besserung 
unmöglich  abwarten  kann.  Das  wird  noch  lange  dauern.  Und  so 
ist  der  Beschluß,  nächsten  Freitag  die  Reise  denn  doch  wieder 
fortzusetzen.  Ach,  ich  komme  noch  früh  genug  zum  Wiener  Gast- 
hausleben, vor  dem  ich  mich  jetzt  schon  füichte.  Ich  nehme  mir 
freilich  vor,  den  »E.  C.«  zu  frequentiren,  aber  —  Gasthaus  ist 
Gasthaus.  In  Einem  wird  man  schneller  und  wohlfeiler,  im  Andern 


24    - 


langsamer  und  theurer  vergiftet.  Das  ist  vielleicht  der  ganze  Unter- 
schied zwischen  dem  »E.  C.<  und  dem  Sabellkeller. 

Da  ich  keinen  Brief  schreibe,  sondern  nur  ein  miserables 
Krankenbulletin,  so  schließe  ich,  nachdem  ich  von  jedem  andern 
Organe  mehr  gesprochen,  als  von  meinem  Herzen,  das  Ihre 
Freundschaft  so  warm  und  dankbar  erwidert. 

Ich  grüße  Sie  und  Ihr  ganzes  Haus  mit  meinen  besten 
Grüßen   und  empfehle   mich  Ihrem   theilnehmenden  Angedenken. 

Ich  bitte  Stie  aucti,  wenn  Sie  Freund  Reschauer  sehen,  ihm 
meine  herzlichsten  Grüße  zu  melden  und  wieder  könnte  Reschauer 
in  der  Lage  sein,  Freund  T.  zu  sehen,  an  den  ich  ihn  gleich- 
falls bitte,  meine  Grüße  zu  bestellen.  Das  gethan,  dürfte  von 
meinen  Wiener  Freunden  dann  keiner  mehr  übrig  sein,  den  ich 
ohne  Nachricht  gelassen  und  ich  kann  vielleicht  mit  einem  brief- 
schuldenfreien Gewissen  nach  Wien  zurückkehren.  Zum  erstenmale 
als  Ausflügler  thue  ich  es  gerne. 

Mit  wiederholtem  Ausdruck  meiner  treuesten  Ergebenheit 
Der  Ihrige 

Ferdinand  Kürnberger. 

P.  S.  In  Gratz  verweile  ich  wohl  wieder  ein  paar  Tage. 
Auch  zwischen  Gratz  und  Wien  gedenke  ich  in  Mürzzuschiag 
Station  zu  halten.  Wer  mir  gesagt  hätte,  daß  ich  Reschauer  nicht 

mehr  treffen  würde !  Um  3  bis  4  Wochen  hat  sich  Alles  verspätet ! 

« 

Aus  Radkersburg,  wo  Kürnberger  wahrscheinlich  bei  O.  Fällte 
zu  Gast  war,  sandte  er  an  Dr.  Kopp  den  nachstehenden  Brief: 

Schloß  Steinhof  bei  Radkersburg, 
Freitag  den  20.  Oktober  1876. 
Verehrter  Freund ! 

In  diesen  Tagen  werden  Frau  und  Kind  zurückgekehrt  sein 
und  die  heilige  Familie  ist  wieder  komplet :  Die  Mutter  Anna,  die 
allerseligste  Jungfrau  Maria  und  der  Nährvater  Josef.  Als  frommer 
Mann  will  ich  nicht  ermangeln,  die  heilige  Familie  anzubeten, 
mit  meinem  frommen  Gruße  zu  verehren  und  in  Gedanken  und 
Worten  meine  Andacht  zu  ihr  zu  verrichten.  Ich  hoffe,  die  heilige 
Familie  erfreut  sich  des  irdischen  Gutes  der  Gesundheit  und  ist 
im  besten  profanen  Wohlsein  beisammen.  Gerne  würde  ich  den 
heiligen  Josef  —  wenn  der  Reichsrath  schon  einberufen  wäre  — 
seinen  Lilienstengel  als  Lilienbambus  schwingen  sehen ;  aber  dieses 
gottgefällige  Schauspiel  ist  meinen  frommen   Augen  einstweilen 


—  25   - 

noch  versagt.  Bis  dahin  vergnüge  ich  mich  denn  auf  Gut  Steinhof 
mit  —  der  Weinlese  und  Weinpresse,  was  frommen  Augen  bekannt- 
lich auch  ein  gottgefälliges  Schauspiel  zu  sein  pflegt. 

Auf  diesem  Out  Steinhof  befinde  ich  mich  —  beiläufig 
gesagt  —  mindestens  so  gut  wie  auf  dem  Ritten,  das  Höchste, 
was  ich  sagen  kann !  Das  Gütchen  hat  den  Vortheil,  daß  man 
vom  Gipfel  des  Wohlbefindens  zur  Weinlese  nicht  herab- 
zusteigen braucht,  denn  hier  ist  Alles  beisammen  :  Gipfel,  Wein- 
lese und  Wohlbefinden.  Freilich  bleibt  der  Gipfel  der  Windischen 
Büheln  tief  unter  dem  Gipfel  des  Rittens ;  aber  —  was  ich  immer 
sage:  es  schadet  gar  nichts,  um  einen  Kopf  kürzer  zu  sein  !  Ich 
verkürze  sehr  gerne  Köpfe,  zumal  wenn  es  andere  sind. 

Engelzungen  können  es  nicht  aussprechen,  wie  schön,  wie 
ununterbrochen  schön  der  Herbst  hier  war.  Erst  gestern  hat  sich  das 
Wetter  geändert  und  es  lagert  sich  seit  gestern  und  heute,  zwar 
kern  Landregen,  aber  ein  Landnebel  ein.  In  den  ersten  Tagen  der 
nächsten  Woche  beende  ich  meinen  hiesigen  Aufenthalt,  halte  eine 
kleine  Station  in  Gratz  und  bm  in  den  letzten  Tagen  in  Wien  — 
d.  h.  liege  der  heiligen  Familie  zu  Füßen. 

Bis  dahin  —  meinen  Gruß  zuvor. 

Mit  Freundschaft  und  Hochachtung 

Ferdinand  Kümberger. 

P.  S.  Verzeihen  Sie  uns  atmen  windischen  Kaffem.  Am 
20,  schreibe  ich  >wenn  der  Reichsrath  schon  einberufen  wäre«  im 
Conditionell ;  aber  die  so  eben  ankommende  Zeitung  belehrt  mich, 
daß  er  bereits  am  19.  zusammentritt,  —  ein  Positiv !  Ich  möchte 
ihm  diesen  Positiv  um  so  weniger  rauben,  da  es  wohl  das  einzige 
Positive  dieser  erlauchten  Körperschaft  ist. 

Aphorismen  *) 
Von  Karl  Kraus 

Die    Intelligenz    eines   Weibes    mobilisiert   alle 

Laster,  die  zu  weiblicher  Anmut  versammelt  sind. 

• 

Interessante  Frauen  haben  vor  den  Frauen  voraus, 
daß  sie  denken  können,  was  uninteressante  Männer 
vor  ihnen  gedacht  haben. 


*)  Aus  dem  .Simplicissimus'. 

294-295 


—  26  — 


Zu  den  schlechten  Beispielen,  die  gute  Sitten 
verderben,  gehören  die  guten  Beispiele.  Glaubt  man, 
daß  ein  Feigling  hundert  Mutige  verführen  könnte? 
Aber  noch  ehe  einer  dazu  kommt,  seinen  Mut  zu 
beweisen,  haben  sich  an  ihm  schon  hundert  als  Feig- 
linge bewährt. 

* 

Die  Finnen  sagen:  Ohne  uns  gäb's  keinen 
Schinken  1 

Die  Journalisten  sagen:  Ohne  uns  gäb's  keine 
Kultur! 

Die  Maden  sagen:  Ohne  uns  gäb's  keinen 
Leichnam! 


Gedichte 

Von  Bise  Lasker-^Schüler 

Die  Königin 

Für  Kete  Parsenow 

Du  bist  das  Wunder  im  Land, 
Rosenöl  fließt  unter  deiner  Haut. 

Vom  Gegold  deiner  Haare 

Nippen  Träume; 

Ihre  Deutungen  verkünden  Dichter. 

Du  bist  dunkel  vor  Gold  — 
Auf  deinem  Antlitz  erwachen 
Die  Nächte  der  Liebenden. 

Ein  Lied  bist  du 
Gestickt  auf  Blondgrund, 
Du  stehst  im  Mond  .... 

Immer  wiegen  dich 
Die  Bambusweiden. 


^    '^T    — 


Heimweh 


Ich  kann  die  Sprache 
Dieses  kühlen  Landes  nicht 
Und  seinen  Schritt  nicht  gehn. 

Auch  die  Wolken,  die  vorbeiziehn, 
Weiß  ich  nicht  zu  deuten. 

Die  Nacht  ist  eine  Stiefkönigin. 

Immer  muß  ich  an  die  Pharaonenwälder  denken 
Und  küsse  die  Bilder  meiner  Sterne. 

Meine  Lippen  leuchten  schon 
Und  sprechen  Fernes, 

Und  bin  ein  buntes  Bilderbuch 
Auf  deinem  Schoß; 

Aber  dein  Antlitz  spinnt 
Einen  Schleier  aus  Weinen  — 

Meinen  schillernden  Vögeln 
Sind  die  Korallen  ausgestochen, 

An  den  Hecken  der  Gärten 
Versteinern  sich  ihre  weichen  Nester. 

Wer  salbt  meine  toten  Paläste  — 
Sie  trugen  die  Kronen  meiner  Väter, 
Ihre  Gebete  versanken  im  heiligen  Fluß. 


—  28  — 


Berliner  Leseabende 

Am  13.  Januar  habe  ich  im  »Verein  für  Künste 
zum  erstenmal  aus  meinen  Schriften  gelesen,  und 
zwar  aus  dem  Buch  »Sprüche  und  Widersprüche« 
und  die  »Chinesische  Mauer«.  Über  diesen  Abend 
schrieben: 

Das  , Berliner  Tageblatt': 

Karl  Kraus,  der  Herausgeber  der  Wiener  .Fackel' stellte  sich  uns 
gestern  abend  auf  Einladung  des  Vereins  für  Kunst  im  Salon  Cassirer  zum 
ersten  Male  als  Redner  vor.  Dieser  Mann,  der  mit  der  Flamme  in 
Wahrheit  auf  du  und  du  steht,  erschien  am  Vortragspult  als  ein 
kleinerer,  glattrasierter  Herr,  der  durch  seine  goldene  Brille  sehr 
gutmütig  und  harmlos  ins  Publikum  blickte.  Freilich,  mit  dem  ersten 
Wort  ändert  sich  der  Eindruck.  Karl  Kraus  ist  ein  ungeheuer  nervöser, 
energischer  Sprecher,  ein  Autor,  der  seine  Gedanken  im  Vortrage  noch 
einmal  erzeugt,  ein  Pointeur  ersten  Ranges. 

Eine  solche  Beherrschung  des  Ausdrucks  ist  zweifellos  gerade 
bei  ihm  aus  seinem  innersten  Wesen,  so  wie  es  sich  heute  darstellt, 
zu  erklären.  Denn  er  ist  vom  Tageskritiker,  der  ursprünglich  ganz 
allein  nur  auf  das  Inhaltliche  ausging,  längst  zum  künstlerischen 
Betrachter  der  Lebensprobleme  emporgewachsen,  zu  einem  Betrachter, 
dem  die  Form  zum  Leitstern  geworden  ist.  Seine  Aphorismen  >Sprüche 
und  Widersprüche«,  aus  denen  er  zunächst  einige  Proben  gab,  beweisen 
in  ihrer  geschliffenen,  funkelnden  Kette  diesen  Triumph  des  Wortes 
über  ihn.  Er  brauchte  es  nicht  noch  selbst  zu  sagen,  daß  er  sich  mit 
Stolz  zu  denen  rechnet,  die  aus  der  königlichen  Hand  der  Sprache  ihre 
Gedanken  empfangen. 

So  entspricht  das  Bild,  wie  es  der  Hörer  von  einer  so  unge- 
wöhnlich reichen  und  glänzenden  Individualität  empfängt,  jener  nicht 
mehr  völlig  beherrschten  Art  des  geistigen  Produzierens.  Man  war 
hingerissen  von  einer  Schilderungskunst,  die  ein  Kindheitsbild  mit 
suggestiver,  dämonischer  Kraft  hervorzauberte.  Man  folgte  geradezu  mit 
ästhetischem  Entzücken  den  kritischen  Florettstichen  gegen  das  Wiener- 
tum;  man  hatte  fast  eine  grausame  Freude  über  die  Sicherheit,  mit  der 
ein  Meister  des  literarischen  Hiebes  allem  Philiströsen,  der  herrschenden 
Moral,  der  Religion,  der  sexuellen  Lüge  und  den  nicht  genehmen 
künstlerischen  Richtungen  Wunden  über  Wunden  versetzt. 

Aber  dann  plötzlich  hatte  man  die  Empfindung:  an  dieser  Stelle 
hat  das  Wort  den  Inhalt  mitgerissen,  hier  spricht  der  Künstler,  der 
Visionär,  dem  eingestandenermaßen  das  schwere,  nüchterne  Gedanken- 
fundament nicht  mehr  alles  bedeutet. 

Dieser  Eindruck  wurde  im  zweiten  Teil  seines  Programms  durch 
den  Vortrag  der  »Chinesischen  Mauer«,  einer  Meditation  über  den  Fall 
der  in  Chinatown  ermordeten  Else  Siegl,  nur  befestigt.  Man  bewundert 
zunächst  die  Gedankentiefe,  mit  der  hier  die  einfache  Mordtat  zum 
weltumspannenden  Kulturproblem    erhoben  wird.    Aber  wenn   dann  die 


-  29  — 


Sät2e,  die  Bilder  immer  leidenschafilicher  daherjagen,  wenn  das 
Schreckgespenst  eines  Riesenchinesen  leibhaftig  ausgemalt  wird,  der  das 
ganze  moralinkranke  Abendland  mit  würgender  Hand  hinmordet  und 
in  den  > Koffer  der  Verwesung«  zerrt,  so  versagen  wir  die  geistige 
Gefolgschaft  und  bestaunen  nur  noch  den  Phantasiemensclien  und 
außerordentlicher  Gestalter. 

Ein  kleines,  gewähltes  Publikum  lauschte  dem  Redner  mit 
wachsendem  Interesse  und  spendete  ihm  lebhaften  Beifall. 

Die  , Vossische  Zeitung*: 

Vorlesung  Karl  Kraus.  Ein  Wiener  >Raunzer<  hat  gestern 
im  Verein  für  Kunst  gelesen  —  einer  von  denen,  deren  Raunzerei  Kraft 
genug  hat,  um  allgemach  die  lokalen  Schlagbäume  zu  überschreiten  und 
sich  zur  Weltraunzerei  auszuweiten.  Der  Ausdruck  ist  rein  wienerisch 
gleichwie  der  Typus.  Wir  haben  sie  auf  norddeutschem  Boden  nicht, 
diese  schmälenden,  scheltenden,  angriffslustigen  und  doch  so  scheuen 
Naturen.  Wienertum,  Junggesellentum  und  Raunzerei  vereinigt  sich  in 
ihnen  zu  einem  Dreiklang,  in  dem  die  einen  eine  unholde  Schärfe,  die 
anderen  eine  über  den  Alltag  hinaustragende  Harmonie  vernehmen.  Karl 
Kraus,  der  .Fackel' -Kraus,  ist  auf  demselben  Boden  gewachsen,  wie 
Grillparzer,  Bauemfeld,  Kümberger  und  viele,  viele  andere,  die  ihren 
Unmut  entweder  (mit  weniger  Begabung  als  er)  im  Schrifttum  oder, 
wenn  sie  das  nicht  können,  an  den  Stammtischen  der  Wiener  »Beiseln« 
(wie  man  dort  die  kleinen  Gasthäuser  nennt)  austoben.  Einsame  Spatzen, 
die  der  Welt  vorpfeifen,  daß  sie  auf  sie  pfeifen.  Antagonisten  der  Wiener 
sorglosen  Weltfreudigkeit.  Leute,  denen  die  Fee  an  der  Wiege  auf- 
getragen hat,  gegen  den  Strom  zu  schwimmen,  bis  sie  an  die  Quellen 
kommen,  die  auch  nur  Wasser  sind.  Karl  Kraus  ist  ein  tüchtiger 
Schwimmer.  Rechts  und  links  teilt  er  kräftig  die  Wogen,  daß  es  nur  so 
schäumt  und  glitzert.  Ein  Künstler,  dessen  Prosa  wie  geschliffener  Stahl 
funkelt.  Blitzartig  jagen  einander  überraschende  Einfälle,  Thesen  und 
Antithesen,  aufgereiht  auf  dem  Grunde  einer  kunstvoll  ungekünstelten 
Sprache.  Er  las  gestern  etwa  eine  halbe  Stunde  lang  Aphorismen,  dann 
ebenso  lang  eine  Betrachtung  über  die  Ermordung  der  Else  Siegl  in 
New-York.  Ein  Schock  Aphorismen  oder  mehr  auf  einmal  ist  schwer 
zu  vertragen.  Selbst  dem  Leser,  der  sich  Zeit  lassen  kann,  sein  Gehirn 
auf  stets  neue  Pointen  einzustellen,  kann  solche  Oberfülle  leicht  zum 
Überdruß  werden.  Dem  Hörer  schwirren  sie  wie  eine  Schwalbenschar 
ums  Haupt.  Ein  einzelner  Aphorismus,  wenn  er  gut  ist,  wärmt  den 
Kopf,  ein  Aporismenregen  wirkt  wie  ein  Sturzbad.  Ein  Genuß  war  das 
also  nicht.  Die  Else  Siegl-Phantasien  dürfen  als  das  hingenommen 
werden,  was  sie  sind :  als  Phantasiestücke.  Kraus  greift  zur  Palette,  mischt 
das  Weiß  der  kaukasischen  Rasse  mit  dem  Gelb  der  mongolischen,  tut 
die  Blutröte  hinzu  und  das  düstere  Grau  des  Grauens  und  macht  daraus 
ein  Bild  der  brünstigen  Umschlingung  der  gesamten  weißen  Frauenwelt 
durch  die  gelben  Schlingels.  Eine  gelbe  Gefahr  Krausscher  Prägung. 
Weltuntergang  im  gelben  Sumpfe,  worin  Religion,  Moral,  Kultur  und 
wie  die  schönen  Dinge  sonst  noch  heißen,  rettungslos  versinken.  Ober 
dem  Schreckenssumpfe  aber  schwebt  Karl  Kraus  und  lacht  uns  alle  aus. 


30 


Kraussche  Götterdämmerung,  ein  grandioses  Gemälde,  in  dem  die  Glut 
des  Dichters  steckt  und  die  Wollust  des  —  Raunzers.  Wer  so  schreiben 
kann,  wie  Karl  Kraus,  darf  auch  so  etwas  schreiben  .... 

Der  jBerliner  Lokal-Anzeiger'  und  der 
,Tag': 

Im  Verein  für  Kunst  las  gestern  abend  Karl  Kraus,  der 
bekannte  Wiener  Publizist,  eine  Reihe  von  Aphorismen  vor,  die  zwei 
jüngst  erschienenen  Bänden  (?)  entnommen  waren.  Es  ist  nicht  so  ganz 
leicht,  eine  große  Anzahl  Aphorismen  hintereinander  zu  hören,  selbst 
wenn  sie  zum  größten  Teile  frappant  und  geistreich  sind,  gut  vorgelesen 
werden  und  die  Sinnesart  eines  ungewöhnlichen  Mannes  in  sprung- 
haften Reflexen  zu  enthüllen  scheinen.  Wie  Bälle,  die  man  nicht  zurück- 
werfen kann,  füllen  sie  uns  die  Arme;  aber  wenn  man  später  zusieht, 
sind  die  meisten  auf  rätselhafte  Weise  wieder  forlgeflogen.  Indessen 
kommt  es  gerade  hier  nicht  auf  die  Menge  an,  und  einzelnes  —  wie 
die  Vergleichung  des  Künstlers,  der  Konzessionen  macht,  mit  einem 
Menschen,  der  seine  Sprache  in  der  Fremde  gebrochen  redet  —  hakt 
sich  trotz  allem  in  der  Erinnerung  fest.  Natürlich  war  man  neugierig, 
zu  vernehmen,  was  der  Vorleser  über  die  Frauen  sagte;  und  wenn  er 
feststellte,  daß  alle  Berliner  gehen  und  alle  Wiener  stehen,  und  diese 
Beobachtung  satirisch  abwandeil,  so  war  er  heiterer  Aufmerksamkeit 
sicher.  Eine  Wendung  zum  Elegischen,  zum  Lyrischen  fast,  war  in  dem 
kleinen  Prosagedicht  vom  Aussterben  der  Schmetterlinge  nicht  zu  ver- 
kennen. Jedenfalls  hatte  man  eine  interessante  Bekanntschaft  zu  ver- 
zeichnen. 

Daß  aber  in  Berlin  auch  unter  dem  Niveau  des 
Publikums  geschrieben  werden  kann,  beweist  die 
folgende  Kritik,  deren  Verfasser  ich  so  wenig  kenne 
wie  die  der  vorhergehenden  und  aller  andern. 

Der  ,Berliner  Börsen-Courier': 

Vor  demVerein  fürKunst  erschien  gestern  abend  im  Salon 
Cassirer  eine  interessante  Wiener  Persönlichkeit,  der  Herausgeber  der 
, Fackel',  Karl  Kraus.  Er  las  zuerst  eine  Reihe  von  Aphorismen  vor.  Sie 
frappierten  durch  ihre  Eigenart,  ihre  originelle  Bizarrerie,  vielfach  durch  ein 
Wetterleuchten  des  Tiefsinns,  dem  man  nur  in  der  Eile  nicht  gleich 
nachgehen  konnte.  So  war  es  anfangs.  Dann  beging  aber  Kraus 
einen  seltsamen,  einen  unbegreiflichen  Fehler:  er  gab  das 
Geheimnis  seiner  Kunst  preis,  er  enthüllte  seine  >Mache<  wie 
ein  Taschenspieler,  der  das  Wie  seiner  Tricks  dem  Publikum  aufdeckt. 
Es  geschah  das  durch  eins  seiner  Aphorismen  selbst.  Er  sagte  darin: 
>Ich  beherrsche  die  Sprache  nicht,  die  Sprache  beherrscht  mich.  Ich 
hauche  ihr  nicht  meine  Gedanken  ein,  sie  füllt  mich  mit  ihnen!«  Mit 
diesem  Geständnis  entlarvte  sich  Kraus,  wenigstens  mit  Bezug  auf  seine 
aphoristische  Kunst.  Man  hatte  nunmehr  nur  nötig,  bei  jedem  nachfol- 
genden Apercu  die  Probe  auf  das  Exempel  zu  machen,    um  zu  finden, 


31 


daB  dit  Sache  ziemlich  leicht  ist,  daB  Jeder  auf  diese  Art  ganze  Bände 
mit  geistvollen  Oedankenblitzen  füllen  könne.  Man  nehme  nur  irgend 
einen  Satz  und  schüttle  die  Worte  durcheinander.  Das  wird  irgend  ein 
groteskes  Etwas  ergeben,  das  verblüfft,  das  Sinn  hat  oder  Sinn  zu  haben 
scheint.  Zum  Beispiel:  Anstatt  des  Spruches,  >Am  Grabe  pflanzt  der 
Mensch  die  Hoffnung  auf»,  sagte  man:  Hinter  jeder  Hoffnung  gähnt 
das  Grab  auf.  Nicht  mit  dem  Tode  beginnt  erst  das  Leben,  sondern 
mit  dem  Leben  beginnt  der  Tod  —  oder:  Mit  jedem  Beginnen  töten 
wir  das  Leben,  oder  auch:  Mit  jedem  wahrhaften  Leben  töten  wir  den 
Tod.  Der  Weg  zu  guten  Vorsätzen  führt  durch  die  Hölle.  Wer  den 
Taler  nicht  achtet,  ist  keinen  Groschen  wert.  Doch  nehmen  wir  einmal 
eins  dieser  Krausschen  Aphorismen  selbst I  Er  sagt:  Der  Mann  schaut 
in  den  Spiegel  aus  Eitelkeit,  die  Frau,  um  sich  ihrer  Persönlichkeit  zu 
vergewissern.  Gut,  sehr  gut!  Aber  hat  es  nicht  umgekehrt  dieselbe 
Berechtigung?  Oder  wenn  man  behauptet:  Wenn  eine  eitle  Frau  sich 
eines  Mannes  vergewissem  will,  so  beschaut  sie  ihre  Persönlichkeit  im 
Spiegel,  oder  auch  wieder  umgekehrt.  Oder  noch  schöner,  die  Eitelkeit 
der  Frau  spiegelt  ihre  Persönlichkeit  am  liebsten  in  den  Versicherungen 
des  Mannes I  —  Doch  genug  davoni  Jedenfalls  mußte  einem  damit  der 
Geschmack  an  allen  weiteren  Krausschen  Aphorismen  einigermaßen  ver- 
dorben sein.  —  Den  zweiten  Teil  des  Abends  füllte  die  Vorlesung  der 
> Chinesischen  Mauer«,  einer  Kette  aneinandergereihter  Aphorismen,  in 
denen  der  Verfasser  auf  dem  Wege  vom  Himmel  durch  die  Welt  zur 
Hölle  so  ziemlich  Alles,  was  da  kreucht  und  fleucht,  abhandelt  und 
abkanzelt;  ein  Mephisto,  der  Alles  verneint,  und  das  in  einem  Ton,  in 
einer  Form,  gegen  die  des  Junker  Satans  »unanständige  Geberde«  noch 
hoffähig  erscheint. 

So  etwas  von  einer  parodistischen  Begabung, 
so  schlagfertig  und  unerschöpflich,  haben  wir  nicht 
einmal  in  Wien.  Ich  hätte  natürlich  nicht  die  Un- 
vorsichtigkeitbegangen, mein  Geheimnis  preiszugeben, 
wenn  man  mir  rechtzeitig  gesagt  hätte,  daß  solch  ein 
Durchschauer  im  Saale  sitzt.  Denn  schließlich  hatte 
ich  doch  iram^r  noch  die  HoEFnung,  dafi  man  mich 
nicht  verstehen  werde.  Und  dabei  muß  ich  zugeben, 
daß  die  Aphorismen,  die  der  Mann  vorschlägt,  sprach- 
lich nicht  schlechter  sind  als  die,  die  er  aus  meinem 
Munde  gehört  haben  will. 

Einer,  vor  dem  ich  zwar  nicht  einen  Schwindel 
verraten  habe,  aber  der  mir  immerhin  das  Geständnis 
einer  Schwäche  abgenommen  hat,  schreibt  in  den 
»Deutschen  Nachrichten*: 

Vo  rtrag  Karl  Kraus. 
Karl  Kraus,    der  Herausgeber  der  Wiener  , Fackel',    las    als  Gast 
des  >Vereins  für  Kunst«   im  Salon  Cassirer  vor  und  wurde  so  persönlich 


32 


auch  dem  Berliner  Publikum  bekannt.  Fast  wohlwollend  freundlich  wirkl 
das  scharf  geschnittene,  intelligente  Gesicht  des  geistreichen  Satirikers, 
der  auch  als  Vortragender  ein  feiner  Pointeur  ist,  bei  dessen  Worten 
den  Zuhörer  das  Gefühl  beherrscht,  daß  ein  ehrlicher  Kämpfer,  ein  Mann 
mit  seiner  ganz  von  unerschütterlichem  ethischen  Ernst  erfüllten  Persön- 
lichkeit hinter  seinem  Werke  steht.  Klar  formuliert  und  scharf  heraus- 
gearbeitet sind  die  Antithesen  und  Apercus,  die  Kraus  in  seinem  Buche 
>Sprüche  und  Widersprüche«  zusammengestellt  hat  und  wenn  sein  Leser 
trotz  der  aufrichtigen  Freude  an  der  schön  gepflegten  Form  und  der 
gedanklichen  Tiefe  des  Gesagten  nur  selten  mit  dem  wunderlichen 
Menschen,  der  sich  den  Kampf  gegen  ungezählte  nichtige  Unzulänglich- 
keiten zur  Lebensaufgabe  gemacht  hat,  eins  ist,  so  bleibt  doch  von  der 
ersten  Begegnung  die  Erkenntnis  zurück,  daß  Kraus  im  Gegensatz  zu 
vielen  anderen  mit  Recht  bemerkt,  daß  es  sehr  leicht  ist,  im  Wortspiel 
banale  Weisheiten  in  ihr  Gegenteil  zu  kehren,  daß  man  aber  einen 
Dulderweg  hinter  sich  haben  muß,  um  landläufige  Sätze  in  ihr  Gegen- 
teil umkehren  zu  dürfen. 

Die  Sexualmoral,  die  Politik,  die  Rassenfrage,  die  zwischen  weiß 
und  gelb  spielt,  die  Gerichtsbarkeit  und  natürlich  der  Journalismus  sind 
die  latenten  Fragen,  die  ihn  am  meisten  erregen  und  zu  denen  sein 
aufflammendes  Temperament  die  schlagendsten  Randglossen  zu  machen 
versteht.  —  Es  ist  gut,  daß  uns  Kraus  selbst  das  Geständnis  macht, 
daß  er  sich  als  Sklave  der  Sprache  fühlt  und  sich  von  ihren  Formen 
neue  Wahrheiten  zutragen  läßt.  Zu  offenkundig  klafft  hier  die  Lücke  in 
seinem  Denken,  als  daß  sie  der  kritische  Zuhörer  übersehen  könnte.  Es 
ist  vielleicht  die  feinste  Pointe  in  Kraus'  Lebenswerk,  daß  er,  den  sein 
autokratischer  Instinkt  zum  einsiedelnden  Herrscher  befähigen  könnte, 
im  Grunde  nur  ein  Diener  am  Worte  ist  und  daß  er  der  Sprache  mit 
fiebernden  Händen  nimmt,  wenn  er  sie  mit  vollen  Armen  zu  beschenken 
glaubt.  So  wird  unter  seinen  Händen  die  Grammatik  zur  Logik  und 
diese  in  der  Sprache,  nicht  in  seinem  Hirn  geborene  Logik  zur  Unter- 
lage einer  Expedition,  die  er  unternommen  hat  und  während  derer  er 
als  Seelenforscher  zwar  verblüffende,  aber  nur  scheinbare  Wahrheiten 
entdeckt. 

Aus  einem  Angriff,  den  ein  Wiener  in  der 
, Schaubühne'  veröffentlicht  hat,  der  ich  kurz  vor- 
her wegen  ziramerunreinen  Verhaltens  das  Tausch- 
exemplar entziehen  mußte,  zitiere  ich  den  folgenden 
Passus : 

.  .  .  Die  .Fackel'  aber  ist  an  jenem  Punkt  angelangt,  wo  (wie 
Herr  Kraus  vom  ,Simplicissimus'  sagte,  bevor  er  dort  Mitarbeiter 
wurde)  jede  Revolution  in  eine  zielbewußte  Administration    mündet.  .  . 

Es  handelt  sich,  wie  man  sieht,  um  einen 
pathologischen  Fall.  Die  administrative  Bewußtlosig- 
keit der  , Fackel*,  die  in  der  Abstoßung  der  Käufer 
und    Annoncenwerber,    in     der     Vernichtung     der 


-  33  - 


legitimsten  Gewinnmögiichkeiten,  in  der  geistigen 
Willkür  auf  Kosten  jeder  technischen  Rücksicht, 
Beispielloses  leistet,  ist  zu  notorisch,  um  einer  ge- 
richtlichen Bestätigung  zu  bedürfen,  und  die  Ver- 
urteilung eines  Unverantwortlichen  oder  die  peinliche 
Feststellung  seiner  Unverantwortlichkeit  kann  mich 
nicht  reisen.  Und  gewiß  nicht  die  Grausamkeit  einer 
polemischen  Antwort.  Hätte  der  Fall  nicht  seinen 
besondern  Hintergrund,  so  könnte  ich  sagen,  es  sei 
eine  Wiener  Sache,  und  das  Urteil  eines  der  zahllosen 
Schwachköpfe,  die  in  Wien  seit  elf  Jahren  ihre  Fassungs- 
kraft an  mir  messen,  oder  die  Gesinnung  eines  der  vielen 
Hämlinge,  die  hier  ihre  Nichtpersönlicbkeit  an  mir 
beweisen,  und  die  schliefilich  alle  zu  meiner  Vor- 
lesung hätten  reisen  können,  bilde  kein  Element  der 
kritischen  Stimmung  Berlins.  Oder  der  heifie  Wunsch, 
sich  an  mir  emporzublödeln,  sei  zu  offenbar,  und 
wenngleich  ich  mich  der  Pflicht  nicht  entziehe, 
mit  den  günstigen  auch  die  ungünstigen  Kritiken 
abzudrucken,  so  dürfe  ich  mich  brüsk  auf  den  Stand- 
punkt stellen,  das  totzuschweigen,  was  nur  durch 
mich  lebt  und  von  mir  leben  möchte.  Niemand 
aber  kann  mir  zumuten,  daß  ich  der  Pathologie 
jenen  Raum  zur  Verfügung  stelle,  den  ich  für  die 
typischen  LebensäuBerungen  der  Dummheit  bereit 
halte.  Daß  junge  Burschen  aus  einer  unver- 
ständigen Verehrung  für  meine  Geste  durch  irgend- 
welchen Rückschlag  zu  einer  unverständigen  Kritik 
meines  Inhalts  gelangen,  bin  ich  gewohnt ;  und  ich 
brenne  weiter,  wenngleich  die  Motten  dagegen  sind. 
Daß  talentierte  Jünglinge  ihre  ersten  journalistischen 
Gehversuche  machen,  indem  sie  mich  stampfen,  ist 
mir  bekannt;  und  ich  bleibe  stehen.  Sie  bedenken 
nie,  daß  zum  Angreifen  eines  Angreifers  zwei 
gehören.  Ich  bin  ja  da,  aber  wo  ist  der  andere, 
nachdem  er  mich  bezwungen  hat?  Die  Überhitzungen 
solcher  Epheben,  die  mit  der  Stimme  ihre  Ansicht 
über  mich  mutieren,  muß  ich  aushalten.  Und 
niemand,  der  meine  Bereitschaft  kennt,  dem  nichtig- 


34  — 


sten  Anlaß  zu  viel  Ehre  zu  erweisen,  sobald  mir 
dazu  etwas  einfällt,  wird  von  mir  verlangen,  daß  ich 
hysterische  Exzesse  protegiere.  Ich  würde  sie  selbst 
dann  nur  bedauern,  wenn  die  gefährliche  Drohung, 
»die  Geschichte  der  ,Fackel'  zu  schreiben«  —  so 
etwas  tut  man,  aber  man  sagt  es  nicht  —  aus- 
geführt werden  sollte.  Bis  dahin  hat's  lange  Weile. 
An  der  freilich  meine  Lektüre  der  , Schaubühne' 
nicht  mehr  beteiligt  sein  wird,  weil  ich,  wie  gesagt, 
diesem  Organ  des  psycholüo:isch  vertieften  Kulis- 
sentratsches das  Tauschverhältnis  gekündigt  habe. 
Der  Herausgeber,  ein  entzückter  Leser  der  , Fackel', 
der  nur  den  B'ehler  hat,  in  seiner  Zeitschrift  das 
qualligste  Wiener  Literatentum  zu  beherbergen, 
hat  sich  leider  entschlossen,  aus  dessen  unverant- 
wortlichster Partie  die  Revanche  für  mein  lieb- 
loses Vorgehen  zu  beziehen.  Der  Mann  hat  — 
das  ist  bekannt  —  ein  vorzüglichej-  Gedächtnis. 
Aber  die  , Schaubühne',  die  längst  den  Anspruch  ver- 
loren hat,  als  moralische  Anstalt  betrachtet  zu  werden, 
will  wenigstens  den  Ehrgeiz  bewahren,  im  Revolverton 
mit  der  schlimmsten  Wiener  Pikanterienpresse  zu 
konkurrieren,  Sie  hält  es  mit  den  Komödianten,  die 
die  Ehre  der  Schriftsteller  niederbrüUen,  sie  läßt 
einen  Mann  von  Wert  wie  S.  Lublinski  von  einem 
Witzbold  belästigen,  und  sie  hat  sich  jetzt 
dazu  hergegeben,  mir  durch  einen  Kindskopf 
Spekulation  nachsagen  zu  lassen.  Nur  damit  nicht 
erwachsene  Unmündigkeit  mir  auch  Vertuschung 
vorwerfe,  zitiere  ich  aus  dem  hysterischen  Anfall 
die  heftigsten  Einzelheiten:  daß  ich  der  »Wiener 
Erfinder  des  Geschlechtsverkehrs«  sei,  ein  Poseur, 
ein  »kleiner,  emporgekommener  Literat«,  der  vom 
Berliner  Publikum  nicht  den  Dank  empfing,  den 
er  erwartet  hatte,  daß  mein  Blick  »stechend  und 
tückisch«,  mein  Haar  »in  die  Stirn  gekämmt«, 
daß  ich  »ein  Schmeck  sei,  dem  Sentimentalität 
durch  Mißgunst  ersetzt  ist«,  dem  Schreiber  »zuwider«, 
daß  die  Chinesische  Mauer  zwar   »aus  künstlerischer 


—  86  — 


Inspiration  geboren <,  daß  ich  aber  »der  Oicar  Blumen- 
thal von  heute  und  vielleicht  sogar  von  morgen  auch« 
sei,  und  was  dergleichen  logische  und  witzige  Defi- 
nitionen mehr  sind,  die  so  ein  nicht  mehr  verliebter 
Tor  verpufft.  Wer  auf  den  Rest  neugierig  ist,  möge 
sich  die  , Schaubühne*  kaufen.  Denn  obschon  ich, 
der  ja  die  , Fackel*  nach  den  Wünschen  der 
Aboanenten  und  Inserenten  schreibt,  administrativer 
Zielbewußtheit  hinreichend  verdächtig  bin,  so  lasse 
ich  doch  auch  einem  andern  Herausgeber  gern  etwas  zu- 
kommen. Und  wie  viel  liefi3  sich  erst  mit  einer  ganzen 
Geschichte  der  .Fackel*  verdienen  1  Den  jungen 
Leuten  gehts  allen  gut,  die  mit  mir  anfangen; 
nur  schade,  daß  sie  auch  mit  mir  aufnören.  Es 
wird  nichts  draus.  Man  verdient  sich  seine  Sporen, 
aber  nachher  liegt  man  im  Sand.  Ohne  mein 
Hinzutun,  auf  Ehre.  Denn  es  ist  kein  publizistisches, 
sondern  ein  pädagogisches  Problem,  das  bedauerns- 
werte Väter  beschäftigen  sollte.  Und  vielleicht  ein 
psychiatrisches.  Denn  wenn  wir  durch  all  die  Jahre 
hören,  daß  ein  junger  Mensch  in  Wien  herumgeht,  der 
alles,  was  ich  schreibe,  auf  sich  bezieht,  so  fassen  wir 
berechtigte  Zweifel,  ob  ein  gekränkter  Heraus- 
geber einen  guten  Griff  getan  hat,  als  er  just 
solchen  Kenner  auf  mich  losließ.  Ich  warte  immerzu 
auf  den  Feind,  der  außer  dem  Vergnügen,  mich 
zu .  hassen,  noch  eine  individuelle  Existenzberech- 
tigung hätte.  Dann  würden  die  Hiebe,  die  ich 
austeile,  auch  mir  ein  Vergnügen  sein!  Auf  ein  pole- 
misches Ffühlingserwachen  einzugehen,  wäre  pein- 
lich. Das  1  Männern  der  Knaben«,  wie  Herr  Harden 
(den  ich  nicht  aus  Liebe  hasse)  es  nennt,  interessiert 
mich  auf  dem  Theater,  nicht  in  der  »Schaubühne*. 
Auch  nicht  in  einer  Broschüre.  Es  könnte  sich  —  ich 
prügle  schließlich  auch  aus  Erbarmen  —  zur  Kinder- 
tragödie auswachsen! 

Nach  diesem  Zwischenfall  fahre  ich  in  der 
Zitierung  der  Berliner  Kritik  fort.  Die  ,Zeit  am 
Montag'  schrieb: 


Ot) 


Ein  Kulturkämpfer.  In  Wien  kämpft  seit  über  zehn  Jaliren 
mit  fast  übermenschliclier  Kraft  und  Ausdauer  ein  Mann  gegen  alles  das, 
was  der  Durchschnittsmensch  der  Gegenwart  > Kultur«  nennt.  Er  gibt 
eine  Zeitschrift,  ,Die  Fackel',  heraus,  ein  Organ,  das  —  fast  aus- 
schließlich vom  Herausgeber  selbst  geschrieben  —  an  Kühnheit  und 
Selbständigkeit  seinesgleichen  sucht.  Mit  dieser  Fackel  leuchtet  Karl 
Kraus  der  > Journaille«,  der  Moral,  der  Sittlichkeit  und  mit  besonderer 
Vorliebe  auch  dem  Generalpächter  dieser  und  aller  anderen  Kultur- 
momente, Herrn  Maximilian  Harden,  mit  einer  Dialektik  heim,  deren 
funkelnde  Schärfe  nicht  einmal  von  der  kristallenen  Klarheit  seines  Stils 
übertroffen  wird.  Im  besonderen  liegt  Kail  Kraus  seit  Anbeginn  seines 
Kulturkampfes  in  heftiger  Fehde  mit  der  > Kriminalität«,  die  sich  der 
»Sittlichkeit«  als  Büttel  bedient,  um  gemeinschaftlich  mit  ihr  das  Recht 
abzumurksen.  Auf  diesem  Gebiete  hat  er  Unvergängliches  vollbracht; 
erst  späteren  Generationen  wird  es  ins  Allgemeinbewußtsein  dringen, 
was  dieser  Mutige  für  Recht  und  Menschentum  geleistet  hat.  Sein  Werk 
»Sittlichkeit  und  Kriminalität«  ist  das  Dokument  eines  wahrhaft 
überlegenen  Geistes,  der  von  der  hohen  Warte  einer  in  sich  starken  und 
glühenden  Persönlichkeit  die  Vorgänge  auf  dem  Theater  unserer  Kultur 
an  sich  vorübergleiten  läßt.  Man  schlage  einmal  den  Band  »Sittlichkeit 
und  Kriminalität«  auf  und  lese  das  Kapitel  >Ein  Unhold«.  Hier  hat 
Kraus  gelegentlich  eines  kriminellen  Falles  mit  Meisterschaft  die  em- 
pörende Gemeingefährlichkeit  der  Strafgesetze  und  deren  Anwendung 
durch  »gelehrte«  Richter  aufgezeigt  —  eine  Rechtspflege,  gegenüber 
welcher  zuweilen  die  Lynchjustiz  ein  Ziel  aufs  innigste  zu  wünschen 
wäre,  da  sie  ihr  Opfer  wenigstens  auf  der  Stelle  vernichtet,  anstatt  es 
jahrelanger,  ja  selbst  lebenslanger  Grausamkeit  auszuliefern.  —  Die 
Gerichtspsychiatrie  nennt  Kraus  einmal  das  unterhaltendste  Gesellschafts- 
spiel und  zum  Thema  der  berüchtigten  Unzuchtsparagraphen  äußert  er 
sich  wie  folgt:  »Der  Gesetzgeber,  der  heute  so  ahnungslos  am  Geschlechts- 
leben herumstümpert,  könnte  sich  wohl  nützlich  machen,  wenn  er  ins 
freie  Feld  der  Lust  die  Vogelscheuche  des  Paragraphen  stellte,  aber  um 
nur  drei  Rechtsgüter  zu  schützen:  die  Gesundheit,  die  Willensfreiheit 
und  die  Unmündigkeit.«  Daß  ein  Mann  von  dieser  Artung  vom  Gros 
der  Reporter  mit  Elan  totgeschwiegen  wird,  versteht  sich  von  selbst 
und  ist  neben  ihrer  Befürchtung,  gelegentlich  selbst  einen  Hieb  abzube- 
kommen, zum  nicht  geringen  Teil  wohl  auch  in  der  bitteren  Erkenntnis 
der  eigenen  Unfähigkeit  begründet.  So  ist  es  denn  auch  erklärlich,  daß 
die  Mehrzahl  der  Blätter,  die  mit  Wonne  halbe  Spalten  über  Gesang- 
vereinsfestlichkeiten berichten,  von  Kraus  keine  Notiz  nahmen,  als  er 
am  Donnerstag  bei  Cassirer  aus  seinen  Schriften  vorlas.  Lediglich  das 
, Berliner  Tageblatt'  brachte  es  über  sich,  in  bescheidenen  Grenzen  dem 
Geist  zu  geben,  was  des  Geistes  ist  .  .  . 

Der  zweite  Vortrag  hat  am  17.  Januar  über 
Einladung  des  Vereins  »Freie  Studentenschaft 
der  Universität  Berlinc  —  gleichfalls  im  Salon 
Cassirer  —  stattgefunden.  Ich  las,  vor  einem  unge- 
wöhnlichempfänglichen Auditorium,  Aphorismen,  »Die 


—  37  — 

Entdeckung  des  Nordpols«,  die  »Molybdänoraantie« 
(aus  der  ersten  Harden-Schrift)  und  zum  Schluß  aus 
dem  Harden-Lexikon. 

Ära  dritten  Abend  —  im  iVerein  für  Kunst«  — 
am  20.  Januar,  las  ich  einige  Aphorismen,  den  >Fort- 
schritt«,  die  >Welt  der  Plakate«  und  die  >Chinesi- 
sche  Mauer«.  Ober  diesen  Vortrag  erschien  noch  ein 
Bericht  in  der  , Deutschen  Tageszeitung': 

Karl  Kraus  aus  Wien,  der  Fackel-Kraus,  von  dessen  eigenarli- 
gem  Schaffen  und  Wesen  wir  unsere  Leser  nicht  ungern  wiederholt  unter- 
richtet haben,  las  am  Donnerstag  im  Kunstsalon  Cassirer  Aphorismen 
und  Satiren  vor.  Die  sehr  elegant  in  Stahl  gearbeiteten  Gedanken  des 
Wiener  Gastes,  lauter  mit  Dynamit  gefüllte  Kunstwerke,  wirken  vom 
Katheder  aus  nicht  mit  der  dämonischen  Gewalt,  die  sie  auf  den  Leser 
ausüben.  Nur  die  gröberen,  die  handgreiflichen  Pointen  zünden,  und 
das  ist  in  unserem  Fall  schade,  weil  sie  kein  klares  Bild  des  Verfassers 
geben.  Dieser  kluge  Kopf  muß,  zumal  für  die  Zwecke  seiner  Vor- 
lesungen, die  Gesetze  der  Bühnenoptik  noch  genauer  studieren,  hn 
Lampen-  und  Rampenlicht,  vor  einem  Parkett,  wirkt  nur  der  sinnfällige, 
bunt  aufgeputzte,  nie  der  innere  Witz.  —  Lebhafteren  Anklang  fanden 
denn  auch  zwei  leicht  verständliche  Satiren:  eine  reichlich  boshafte, 
wenn  auch  vielleicht  nicht  hinreichend  wuchtige  Verhöhnung  der 
Fortschrittsmeierei  und  eine  lustige  Attacke  auf  die  großstädtische 
Plakatwut.  Völlig  in  seinen  Bann  riß  Kraus  die  Hörer  dann  mit  seinem 
gefährlichen,  starken  und  glitzernden  Pamphlet  von  der  chinesischen 
Mauer!  Man  kann  die  Prämissen  und  Folgerungen  des  Verfassers  durch 
die  Bank  ablehnen;  kann  seine  heinische  Meinung,  daß  das  Christentum 
an  der  Unterdrückung  und  Verdunkelung  des  gesunden  Liebesinstinkts 
schuld  sei,  als  unwissenschaftliches  Paradox  ablehnen  (schuld  ist  die 
Entartung  der  Rasse  durch  die  Stadtkultur  und  die  Entwöhnung  der 
Menschen  von    adeligem  Menschen-    und  Männerwerk)  man    kann, 

wie  gesagt,  ein  grundsätzlicher  Antipode  des  Vortragenden  sein,  und 
muß  seiner  wahrhaft  bezwingenden  Stilgewalt  doch  herzliche  Bewunderung 
zollen.  Kraus  ist  ein  ebenso  kluger  wie  inniger  Vorleser;  er  beherrscht 
den  Gedanken  wie  die  Technik,  ihn  durchs  gesprochene  Wort  zu  ge- 
stalten. (Was  man  bei  guten  Schreibern  bekanntlich  sehr,  sehr  selten 
findet.)  Die  Stunde,  die  uns  der  Wiener  geschenkt  hat,  ist  eine  der 
inhaltreichsten  und  kunstschönsten  des  Winters  gewesen. 

Vielleicht  findet  sich  eine  Gelegenheit,  diese 
Vorlesungen  in  Wien  zu  wiederholen. 

• 

Eine  Entschuldigung:*) 

Literatur  ist,  wenn  ein  Gedachtes  zugleich  ein 
Gesehenes  und  ein  Gehörtes  ist.    Sie    wird  mit  Aug' 

*)  Als  Einleitung  des  ersten  und  des  zweiten  Leseabends  gesprochen. 


—  38  — 


und  Ohr  geschrieben.  Aber  Literatur  muß  gelesen 
sein,  wenn  ihre  Elemente  sich  binden  sollen.  Nur 
dem  Leser  (und  nur  dem,  der  ein  Leser  ist)  bleibt 
sie  in  der  Hand.  Er  denkt,  sieht  und  hört,  und 
empfängt  das  Erlebnis  in  derselben  Dreieinigkeit,  in 
der  der  Künstler  das  Werk  gegeben  hat.  Man  muß 
lesen,  nicht  hören,  was  geschrieben  steht.  Zum  Nach- 
denken des  Gedachten  hat  der  Hörer  nicht  Zeit,  auch 
nicht,  dem  Gesehenen  nachzusehen.  Wohl  aber  könnte 
er  das  Gehörte  überhören.  Gewiß,  der  Leser  hört 
auch  besser  als  der  Hörer.  Diesem  bleibt  ein  Schall. 
Möge  der  stark  genug  sein,  ihn  als  Leser  zu  werben, 
damit  er  nachhole,  was  er  als  Hörer  versäumt  hat. 


,)Rhabarber** 

Ich  erhalte  die  folgende  Zuschrift: 

Das  wohltuende  Abfühnnittel  murmelnden  Qemunkels  sollten 
Komödianten  allein  verabreichen  dürfen?  Wir  Literaten  sind 
doch  auch  da!  Und  wenn  man  an  Lebenden  nur  mit  Vorsicht 
rhabarbert,  so  schmeckt  es  bei  Toten  noch  besser.  Solch  literarisches 
Leichengift  spendete  kürzlich  der  bekannte  Freigeist  aus  der  baju- 
varischen  Walhalla,  Herr  Michael  Georg  Conrad.  Er  kramte  in 
alten  Briefmappen  und  suchte  schriftliche  Übungen  des  se'igen 
Hartleben  hervor,  den  er  höchst  zärtlich  schildert  als  ein  >weiches 
Gemüt«  von  »vornehmer  Denkungsart<,  die  sich  leider  an  »allerlei 
Plebejismen  im  literarischen  Leben  stieß«.  Aber  Conrad  stößt  sich 
nicht  daran,  alle  Schimpfereien  des  zartbesaiteten  Otto  Erich  gegen 
Andere  als  Wahrheitsevangelium  der  Öffentlichkeit  mitzuteilen. 
Den  auf  rein  persönlichen  Ursachen  beruhenden  Schwatz  bietet 
er  als  klassischen  Beitrag  zur  literarhistorischen  Wahrheit  an,  ob- 
schon  jeder  Vernünftige  derlei  einseitiges  Gemunkel  eben  nur  als 
»Rhabarber«  genießen  sollte.  Und  einen  saftigen  setzt  Conrad 
vor,  indem  er  feierlich  den  »Invektivenhagel«  berichtet,  den  H. 
in  zwei  Briefen  gegen  mich  gerichtet  habe.  Er  schmatzt  vor  Be- 
hagen: »Der  Brief  eignet  sich  noch  nicht  zur  Veröffentlichung 
wegen  überdeutlicher  Hinweise  auf  noch  lebende  Personen«. 
Wer  Beleidigungen  eines  Toten  g^gen  einen  Lebenden  ausspielt, 
macht  sich  dafür  verantwortlich.  Aber  C.  scheut  sich  auch  nicht, 
einen   Gifterguß  des  Toten   gegen  den   toten  Hermann   Conrad! 


—  39  — 


wörtlich  zu  rhabarbem :  er  sei  eine  >geistig,  gemütlich,  leiblich 
mißgeborene  Persönlichkeit«  gewesen,  außerdem  >feige  und  nieder- 
trächtig«. Nun,  auch  der  Schimpfheilige  schloß  ja  lange  den  hurtigen 
Mund  uud  wir  achten  die  Ruhe  der  Toten.  Weswegen  H.  den  unglück- 
lichen Conradi  »feige  und  niederträchtig«  nannte,  darüber  wollen  wir 
schweigen.  Wie  würde  es  H.'s  Freunden  gefallen,  wenn  ich  einen  Stoß 
Briefe  Conradis  über  ihn  veröffentlichen  wollte,  worin  die  schlimmsten 
Injurien  unseres  geliebten  Deutsch  als  abschließende  Urteile  stehen? 
Wenn  aber  ein  Toter  verunglimpft  wird  durch  einseitigen  Klatsch 
eines  Toten,  der  nicht  mehr  zur  Rechenschaft  gezogen  werden 
kann,  so  verspreche  ich  dafür  Herrn  M.  G.  Conrad,  der  ja  noch 
jüngst  laut  Briefs  eines  Bekannten  sich  mit  so  viel  Liebe  und  Treue 
unserer  einstigen  Bruderschaft  erinnerte,  daß  noch  vor  meinem 
Tode  dokumentäre  Aufklärung  über  alle  »jüngstdeutsche«  Literatur- 
entwicklung erscheinen  soll,  vielleicht  etwas  anders,  als  dem  Grund- 
satz Mundus  vult  decipi  beliebt.  Nie  aber  werde  ich  mich  herbei- 
lassen, Verleumdungen  aus  Privatbriefen  der  Neugier  preiszugeben. 
Ein  Conradi  stand  denn  doch  zu  hoch  über  einem  literarischen 
Vertreter  des  Bierulks,  als  daß  man  solche  Verschiebung  des 
»Pathos  der  Distanz«  dulden  dürfte!  Die  damalige  Sturm-  und 
Drangperiode  forderte  freilich  von  jedem  ethische  Opfer.  Aber  den 
auf  der  literarischen  Tafel  eingeführten  Rhabarber  weisen  wir 
zurück ! 

Zürich.  Karl  Bleibtreu. 


Brklärtmg 

Zu  Herrn  Herwarth  Waiden,  den  wir  durch  unsere  .Mit- 
»rbeiterschaft  zu  wiederholten  Malen  in  den  Augen  der  Halb- 
kultivierten kompromittiert  haben,  kommen  zwei  Kaufleute  und 
fordern  ihn  auf,  die  Chefredaktion  einer  dem  französischen  ,Le 
Theätre'  nachgebildeten  Zeitschrift  zu  übernehmen.  Herr  Waiden 
setzt  den  Herren  auseinander,  daß  er  sich  zu  einer  derartigen 
illustrierten  Zeitschrift  nur  dann  verstehen  könne,  wenn  sie  in  einer 
streng  künstlerischen  und  durchaus  vornehmen  Form  gehalten  sei, 
legt  ihnen  zahlreiche  Nummern  der  früher  von  ihm  geleiteten 
Zeitschriften  vor.  deren  Ton  und  Inhalt  die  Herren  als  für  die 
neue  Zeitschrift  maßgebend  anerkennen.  Zum  Überfluß  macht 
Herr  Waiden  die  Herren  mit  dem  skandalösen  Benehmen  bekannt, 
das  die  Genossenschaft  deutscher  Bühnenangehöriger  seiner  streng 
künstlerischen  Haltung  wegen  ihm  gegenüt^r  an  den  Tag  gelegt 
hat.  So  auf  das  Genaueste  informiert,  engagieren  die  beiden  Kauf- 
leute Herrn  Herwarth  Waiden  auf  mehrere  Jahre  unkündbar  als  Chef- 
redakteur.   Darauf  versieht  er  die  Herren,  die  zunächst  nicht  viel 


40  - 


mehr  wußten,  als  daß  sie  eine  Theaterzeitschrift  haben  wollten, 
mit  Ideen  und  Anregungen.  Die  neue  Zeitschrift,  die  auf  Herrn 
Waldens  Vorschlag  den  Titel  ,Das  Theater'  erhält,  erscheint  vom 
1.  September  1909  ab  als  Halbmonatsschrift,  findet  im  In-  und 
Ausland  eine  große  Verbreitung  und  genießt  den  Beifall  der  maß- 
gebenden künstlerischen  Kreise. 

Aber  schon  am  ersten  Tage  stellt  sich  heraus,  daß  die  Herren 
Kaufleute  Neigung  haben,  sich  nach  bekanntem  Muster,  jedoch  mit 
vermehrtem  Eifer,  in  die  redaktionellen  Angelegenheiten  einzu- 
mischen. Sie  erlauben  sich  Kritiken  tiber  unsere  Mitarbeiterschaft 
und  geben  immer  deutlicher  zu  verstehen,  daß  sie  die  Zeitschrift 
im  Geschmack  eines  Familienblattes  gehalten  wünschen.  Sie  ge- 
bärden sich  ganz  so  wie  Leute,  die  es  nicht  länger  erwarten  können, 
daß  die  Redaktion  Bilder  gegen  Bezahlung  veröffentlicht  und  die 
Nennung  von  Konfektionsfirmen  gegen  pekuniäre  Leistung  ein- 
führt, was  ja  schließlich  vom  Standpunkt  der  Kaufleute  einen  reellen 
Handel  und  keine  Korruption  bedeutet.  Schließlich  gehen  die  Herren 
soweit,  daß  sie  ihren  Redakteur  anweisen,  er  möge  seine  Mitarbeiter  zu 
einem  dem  Fassungsvermögen  der  Verleger  angepaßten  Stil  anhalten. 
Als  sich  Herr  Waiden  auch  in  diesem  Falle  gänzlich  abgeneigt  zeigt, 
entschließensichdieKaufleute,  die  inzwischen  in  Berlin  —  die  Herren 
waren  fremd  am  Platze  —  Fühlung  mit  den  verständnisvollen  und 
gefügigen  Literaten  bekommen  haben,  eben  jenen  Kontraktbruch 
zu  begehen,  d^n  die  (Jenossenschaft  deutscher  Bühnenangehöriger 
ihnen  so  schön  vorgemacht  hat,  und  entlassen  den  unbequemen 
Redakteur.  Sie  entlassen  ihn,  nicht  ohne  ihm  vorher  einen  Artikel 
zensuriert  und  dafür  seinen  Herausgebernamen  mit  einer  Seh neider- 
rekl^me  und  ähnlichen  Beiträgen  in  Verbindung  gebracht  zu  haben. 
Der  Fall  ist  eine  autorrechtliche  Novität;  aber  sie  wußten  bereits, 
daß  sie  dabei  des  Beifalls  und  des  »Ahas«  aller  jener  gewiß  sein 
würden,  denen  wir  Mitarbeiter  von  jeher  fatal  waren.  Wir  stellen 
in  diesem  Ereignis  die  Logik  der  Zeitläufte  fest.  Es  kann  garnicht 
anders  sein,  als  daß  Konfektionäre  sich  in  die  Angelegenheiten  der 
Kunst  und  Literatur  einmischen.  Und  wenn  diese  Herren,  die  einen 
Redakteur  mit  einem  Kommis  verwechseln,  weil  sie  geistige  Stoffe 
nicht  mit  der  Elle  messen  können,  von  uns  verlangen,  wir  möchten 
so  schreiben,  daß  wir  sogar  ihnen  verständlich  sind,  so  wollen  wir 
uns  wenigstens  einmal  so  ausdrücken,  daß  sie  nicht  im  Zweifel 
über  das  sind,  was  wir  meinen.  Wir  sagen  also:  Auf  diesen  Ab- 
schluß brauchen  sich  die  Herren  Kaufleute  nichts  einzubilden.  Er 
ist  unlauterer  Wettbewerb  mit  Herrn  Nissen.  Aber  auch  auf  die 
Zufriedenheit  der  Kundschaft,  die  wir  bekämpft  haben  und  weiter 
bekämpfen  werden,  brauchen  sie  sich  nichts  zu  gute  zu  tun.  Solche 
Spässe  werden  wir  noch  öfter  erleben,  und  dabei  die  notwendige, 
wenn  auch  lästige  Bekanntschaft  einer  Sorte  von  Menschen  machen, 
die  glauben,  sie  könnten  uns  dazu  benutzen,  für  den  schlechtesten 
Teil  des  Publikums  Pofelware  zu  liefern.  Auf  den  Kontraktbruch 
dieser  Prinzipale,  die  vor  jedem  Schmock  und  Rekordlibrettisten 
zittern,  waren  wir  von  der  ersten  Nummer  an  gefaßt.  Ein  Dutzend 


—  41  — 


in  Freiheit  redigierter  Nummern  —  wenn  das  der  biedere  Nissen  er- 
lebt hätte,  —  der  nur  bis  drei  zählen  konnte! 
Dr.  Rudolf  Blümner,  Dr.  Alfred  Döblin,  Dr.  S.  Fried- 
laender.FerdinandHardekopf, Dr.  Siegmund  Kalischer, 
Rudolf  Kurtz,  Else  Lasker-Schüler,  Ludwig  Rubiner, 
Rene  Schickele,  Mario  Spiro,  Felix  Stössinger. 

Dieser  Erklärung  habe  ich  bloß  eine  Aufklärung 
beizufügen.  Wenn  nicht  alle  Anzeichen  trügen,  ist 
jetzt  in  Deutschland  die  Übnrwachungswut  ausge- 
brochen. Dem  Redakteur  der  Bühnengenossenschafts- 
zeitung war  und  ist  ein  Mime  als  Ȇberwacherc 
zur  Seite  gestellt,  und  da  und  dort  erklären  sich  auch 
die  Vertreter  der  anderen  intelligenten  Berufe  bereit, 
die  Überwachung  der  unbotmäßigen  Schriftsteller  zu 
übernehmen.  Es  gibt  —  bei  dem  gleichzeitigen  An- 
wachsen der  Zeitschriftenindustrie  —  kaum  einen 
Zigarrenhändler  mehr,  der  nicht  daheim  seinen  Redak- 
teur im  Kotter  hätte,  und  namentlich  haben  sie  es 
auf  die  Lyrik  abgesehen,  soweit  sie  nicht  sachlichen 
Beweggründen  entspringt,  nicht  den  Zwecken  der  Ge- 
meinverständlichkeit zustrebt  und  überhaupt  über  das 
erweislich  Wahre  hinausgeht.  Mit  einem  Wort,  ihr  Ver- 
ständnis für  Kunst  reicht  so  weit,  daß  ihnen  das  »ich 
weiß  nicht,  was  soll  es  bedeuten«  eben  noch  als  lyrischer 
Gedanke  einleuchtet,  aber  sonst  nur  die  Lage  bezeichnet, 
in  der  sie  sich  gegenüber  der  Lyrik  befinden.  Nun  habe 
ich  nie  ein  Hehl  daraus  gemacht,  daß  ich  die  Weltan- 
schauung des  Kofmich,  wenn  sie  uns  Automobile 
baut,  für  akzeptabel  halte,  weil  wir  ihr  dann  umso 
prompter  entfliehen  können.  Aber  wenn  es  ihren 
Einbruch  in  das  Geistesleben,  wie  er  sich  im  neuen 
Deutschland  donnerwetter  -  tadellos  vollzieht,  abzu- 
wehren gilt,  so  tue  ich  mit.  Ich  habe  mich  jetzt  während 
eines  längeren  Aufenthaltes  in  Berlin  davon  über- 
zeugt, daß  die  Zustände  düster  sind,  daß  sogar  die 
Plakatierungsinstitute  sich  eine  Zensur  der  Autoren 
anmaßen  und  daß  allenthalben  in  der  Bürgerschaft  das 
Streben  vorwaltet,  der  Polizei  den  geistigen  Teil  ihrer 
Arbeit  abzunehmen.  Wurde  einst  irgendwo  in  Deutsch- 
land ein  Redakteur  in  Ketten  über  die  Straße  geführt. 


—  42  — 

so  läßt  man  jetzt  keinen  Künstler  ohne  Über  wacher  aus- 
gehen. Nun  wird  die  ,FackeP  bekanntlich  von  einem 
Manne  redigiert,  der  keinen  Zigarrenfritzen  fragen 
muß,  ehe  er  ein  Gedicht  von  Else  Lasker-Schüler 
zum  Druck  befördert.  Sie  ist  deshalb  wie  keine  andere 
Zeitschrift  in  der  Lage,  dieüberwachung  der  Überwacher 
zu  übernehmen.  In  Österreich,  wo  die  Straßen  in 
schlechtem  Zustand  sind,  vernachlässigeich  seit  langem 
meine  Pflicht,  indem  ich  philosophische  Anwandlungen 
bekomme.  Für  Deutschland  bin  ich  noch  straßen- 
kehrerischer Anwandlungen  fähig.  Ich  kann  nicht 
leugnen,  daß  ich  seit  einiger  Zeit  bedenklich  über  die 
Grenze  schiele.  Solche  Irridenta  wäre  meinen  Lands- 
leuten bequem,  und  ich  werde  sie  eben  darum  nicht  im 
Stiche  lassen.  Wenn  aber  den  Berliner  Literaturkauf- 
leuten mein  Übertritt  unbequem  sein  sollte,  dann  kann 
ich  sie  nur  ersuchen,  alles  zu  unterlassen,  was  mich 
anregen  könnte.  Während  mich  in  Wien  oft  die  stärkste 
Korruption  nicht  mehr  aufpulvern  kann,  wirkt  in 
Deutschland  die  kleinste  Reklamenotiz,  mit  der  man 
einem  Redakteur  in  sein  geistiges  Gebiet  gepfuscht 
hat,  auf  mich  wie  ein  Lebenselixier.  Man  muß  also 
in  der  Dosis  vorsichtig  sein.  Namentlich  jene  Wiener 
Herren,  die  ihren  Charakterraangel  bereits  dem  Ber- 
liner Betrieb  angepaßt  und  ihre  Tantiemenpolitik  mit 
allem  Komfort  der  Neuzeit  ausgestattet  haben, 
möchte  ich  nicht  in  der  Hoffnung  lassen,  daß  mich 
das  Gefühl  der  Landsmannschaft  und  die  Freude  des 
Wiedersehens  völlig  übermannen  und  daran  hindern 
werde,  in  der  neuen  Aufmachung  den  alten 
Dreck  zu  erkennen.  Und  nun,  nachdem  ich  so  die  einen 
auf  meine  Schwächen  aufmerksam  gemacht,  die 
andern  an  sie  erinnert  habe,  hoffe  ich,  daß  sich  ein 
gedeihliches  Zusammenarbeiten  erzielen  lassen  wird. 

~^  Karl  Kraus. 


—  43  — 


Glossen 
Von  Karl  Kraue 

Während  ich  von  Wien  abwesend  war,  ist  Herr  Mix  Kalbeck 
sechzig  Jahre  alt  geworden.  Oder  habe  ich  dieses  Fest  noch  mit- 
gemacht? In  meinem  Material  fmde  ich  einen  Ausschnitt  aus  dem 
Neuen  Wiener  Tagbiatt  mit  Versen,  die  Herr  Eduard  Pötzl  nicht 
umhin  konnte  an  den  Gefeierten  zu  richten.  Es  ist  fatal.  Wenn 
man  durch  dieses  Gedicht  nicht  wieder  an  all  das  erinnert  würde, 
was  Herr  Kalbeck  in  den  verflossenen  sechzig  Jahren  geleistet 
hat,  man  würde  sich  fast  bewogen  fühlen,  ihm  die  notwendige 
Ehrfurcht  zu  erweisen.  Aber  wer  an  der  Schwelle  des  Greisen- 
alters  steht,  soll  sich  vor  allem  selbst  die  Stiefel  abputzen.  Mit 
dem  Respekt  vor  den  Jahren  ist's  eine  eigene  Sache.  Wenn  einer 
ein  Greis  wird,  wollen  wir  ihn  gern  schonen,  aber  nur  unter  der 
Bedingung,  daß  wir  ihm  seine  Jugend  verzeihen  und  sein  reiferes 
Mannesalter  verübeln  dürfen.  Herr  Pötzl  nun,  der  auch  nicht  mehr 
zu  den  Jüngsten  zählt  und  den  trotzdem  manchmal  noch  eine 
tolle  Lust  packt,  miserable  Verse  zu  machen,  Herr  Pötzl  apostro- 
phiert seinen  Redaktionskollegen  wie  folgt: 

Du  Hüne  lebst  ein  vierfach  Leben 
Als  Kritiker,  als  Librettist, 
Und  zur  Musik  ist  dir  gegeben, 
Da6  du  ein  echter  Dichter  bist. 

Darum  sei  es  wünschenswert,  daß  Herr  Kalbeck  hundert 
Jahre  alt  werde.  Gewiß;  man  bedenke  aber,  daß  Herr  Kalbeck 
in  erster  Linie  Dichter  ist  Dann  erst  Kritiker  und  infolgedessen 
Librettist.  Da  diese  beiden  Berufe  in  Wien  zusammenfallen,  so 
würden  die  vierzig  Jahre  fast  ausschließlich  der  Lyrik  gehören. 
Wenn  Herr  Kalbeck  trotzdem  nicht  auskommen  sollte,  so  meint 
Herr  Pötzl  sinnig: 

Dem  Dichter  winkt  Unsterblichkeit! 
Herr  Pötzl  hat  die  Geste  mißverstanden.  Die  Unsterblichkeit 
winkt  Herrn  Kalbeck  ab.  Seit  Jahrzehnten  macht  er  Annäherungs- 
versuche. In  den  Konvetsationslexikons,  in  welche  die  Cliquen 
des  Nachruhms  ihre  Nullen  einschmuggeln  dürfen  —  dieser 
besondere  Betrug  am  deutschen  Volk  lohnte  seine  Enthüllung  — , 
ist  Herr  Kalbeck  ein  größerer  Dichter  als  Jean  Paul  und  nimmt 
mehr  Raum   ein   als  Lawrence  Sterne.   Würden  die  Herren,  wenn 


—  44 


sie  ihren  Nachruhm  erlebten,  ihre  Wunder  erleben !  Vierzig  Jahre 
mögen  diese  Größen  noch  wirken,  in  zehn  werden  sie  tot  sein. 
Dieser  Herr  Kalbeck,  der  sich  von  Herrn  Saiten  höchstens  dadurch 
vorteilhaft  unterscheidet,  daß  er  ungeschickter  ist,  ein  paar  Bücher 
wirklich  gelesen  hat  und  in  der  deutschen  Grammatik  Bescheid 
weiß,  wird  in  der  Biographie  Hugo  Wolfs  unter  den  Zeichen 
einer  bösen  Zeit  auf  die  Nachwelt  kommen  und  seinen  Ehren- 
platz behalten  unter  den  Hindernissen  der  Entwicklung  und  unter 
den  Plagen  eines  Künstlerlebens.  Daß  sich  die  musikalische» 
Vereine  zu  Kundgebungen  für  Herrn  Kalbeck  herbeiließen, 
beweist  höchstens,  daß  Vereine  die  Kraft  haben,  mit  den  Resten 
von  Geschmack,  Anstand  und  Gesinnung,  über  welche  Mitglieder 
verfügen  mögen,  aufzuräumen.  Es  ist  ein  Symptom  des  sozialen 
Lebens  dieser  Stadt,  daß  einer  nur  sechzig  Jahre  alt  werden  muß, 
damit  zu  seiner  Ehre  die  ganze  Unehrlichkeit  aufgeboten  wird, 
über  die  das  soziale  Leben  dieser  Stadt  verfügt.  Die  Stellung  des 
Publikums  zur  Persönlichkeit:  man  haßt  und  schweigt.  Die  Stellung 
des  Publikums  zur  >bekannten  Persönlichkeit<:  man  schimpft  und 
gratuliert.  Denn  wer  gratuliert,  kommt  in  die  Zeitung.  Die 
Wände  der  geistigen  Aborte  sind  immerzu  mit  Namen  vollgeschmiert. 
Und  das  Neue  Wiener  Tagblatt  unterscheidet  sich  von  der  Neuen 
Freien  Presse  nur  dadurch,  daß  es  auch  zu  den  Geburtstagen 
seiner  Redakteure  die  Ehrgeizigen  zuläßt,  während  die  Kollegin 
erst  die  Todestage  ihrer  Mitarbeiter  zum  Vorwand  nimmt,  ihre 
Hausmacht  zu  vergrößern.  Seit  Jahren  tobt  ein  Wettstreit  zwischen 
den  Gratulanten  des  Herrn  Singer  und  den  Kondolenten  des  Herrn 
Benedikt.  Jener  verspricht  seinen  Redakteuren  bei  Lebzeiten  die 
Nachwelt,  ist  aber  nicht  in  der  Lage,  sein  Versprechen  zu  halten. 
Dieser  schweigt  seine  Leute  aus  Vornehmheit  tot,  und  wenn  sie  es 
dann  sind,  wird  er  den  Traditionen  einer  Zeitung  gerecht,  die  sich 
seit  jeher  als  ein  wahres  Nachweltblatt  bewährt  hat.  Ein  Feuilletonist 
der  Neuen  Freien  Presse  arbeitet  für  geringen  Lohn  und  schlechte 
Behandlung,  aber  für  die  sichere  Aussicht  auf  Unsterblichkeit.  Dem 
Mitarbeiter  des  Neuen  Wiener  Tagblatts  wird  sie  in  trügerischen 
Reklamenotizen  vorgespiegelt,  aber  der  Chef,  heißt  es,  zahlt  besser 
und  versteht  es,  durch  urbane  Umgangsformen  auch  die  Gegner  einer 
geistigen  Bureauarbeit  für  sich  gewinnen.  Während  Herr  Benedikt 
durch  sein  eigenwilliges  Temperament  auch  die  Juden  erbittert,  soll 
es   Herrn  Singer  gegeben  sein,  auch  die  Christen  zu  versöhnen, 


—  45  — 


indem  sich  seine  Kontrolle  des  redaktionellen  Tuns  und  Lassens 
höchstens  zu  der  Frage:  Weiß  ich?  versteigt.  Unter  seiner  schmunzeln- 
den Ägide  dürfen  sie  Gesellschaftsspiele  einer  gegenseitigen  Belobung 
aufführen,  die  weit  und  breit  duftet,  während  sie  sich  vor  dem 
Eigenlob,  auf  das  der  Herausgeber  der  Fackel  angewiesen  ist,  die 
Nase  zuhalten  müssen.  Herr  Singer  ist  ein  Förderer  philanthropischer 
Ideen  und  ein  Schützer  der  redaktionellen  Eintracht.  Darum  ist  vor 
allem  Heim  Kalbeck  ein  Adjutant  zugeteilt,  der  so  musikalisch  ist, 
daß  er  ein  gutes  Gehör  selbst  für  jene  Reklamewünsche  hat,  die 
■idit  ausgesprochen  werden.  Er  besorgt  monatlich  einmal  die  Auf- 
gabe, den  Ruhm  zwischen  Brahms  und  Herrn  Kalbeck  so  zu  ver- 
teilen, daß  diesem  der  Anteil  zufällt,  der  in  der  Sprache  der  Löwys 
der  Löwenanteil  heißt.  Zwischendurch  interviewt  er  Herrn  Richard 
Strauß,  und  da  von  solchem  Gespiäch  nichts  für  Herrn  Kalbeck 
abfallen  kann,  wird  es  so  geführt,  daß  wenigstens  Herr  Pötzl  etwas 
davon  hat  und  daß  der  Komponist  der  Salome  unversehens  seine 
Leidenschaft  für  den  Autor  des  Herrn  Nigerl  einbekennt.  Herr  Pötzl, 
der  die  Feuilletonrubrik  wahrscheinlich  gerade  an  dem  Tage  nicht 
redigiert,  an  dem  die  wertvolle  Arbeit  in  Druck  geht,  ist  natürlich 
beim  Morgenkaffee  hoch  überrascht  und  beschließt  aus  Bescheiden- 
heit, stets  pünktlich  ins  Bureau  zu  kommen,  damit  nicht  wieder 
ein  belegtes  Schmalzbrot  durchrutschen  kann.  In  anderen  Rubriken 
vermag  er  natürlich  nichts  zu  verhindern,  und  wie  peinlich  es  ihm  war, 
daß  einmal  der  Vortrag  eines  Vereinsmeiers  zitiert  wurde,  der 
ihn  den  bedeutendsten  österreichischen  Humoristen  und  ein  >gott- 
begnadetes  Talent«  genannt  hatte,  das  läßt  sich  nicht  beschreiben. 
Herr  Kalbeck  ist  »selbstredend«  (wie  sein  Adjutant  sagen  würde)  erst 
recht  wehrlos.  Er  bespuckt  ruhig  in  seinem  Ressort  den  toten  Hugo 
Wolf:  kann  er  ahnen,  daß  der  Nachbar  inzwischen  den  lebenden 
Kalbeck  bekränzt?  Hier  winkt  dem  Dichter  Unsterblichkeit,  daneben 
winkt  er  ihr,  dort  winken  ihm  die  Gratulanten,  und  wo  alles  winkt, 
kann  Herr  Singer  allein  nicht  wanken  und  breitet  die  Hände,  die 
so  gern  zwischen  Jacke  und  Weste  geblieben  wären,  zum  Segen  : 
Kinder,  lobts  euch,  ich  bin  der  Präsident  der  internationalen 
Preßvereinigung,  der  euch  herausgeführt  hat  aus  dem  Lande  der 
Knechtschaft,  nehrats  euch  die  Druckerschwärze,  schmierts  das 
Publikum  an,  seids  einig  —  nach  zehn  Jahren  kräht  ohnedies 
kein  Hahn  mehr  nach  euch ! 


—  46  — 


>Um  ein  Beispiel  zu  haben,  was  die  Wiener  Urania  zur 
Darstellung  bringt«,  sagte  Herr  Pölzl,  »braucht  man  nur  einen 
Blick  auf  ihr  Repertoire  vom  2.  bis  9.  Jänner  dieses  Jahres  zu 
werfen.  Man  findet  da:  Das  Meer  und  sein  Leben.  —  Schillings: 
rierleben  der  ostafrikanischen  Wildnis.  -  London,  Glanz  und 
Schmutz  der  Millionenstadt.  —  Ein  Ausflug  in  außerirdische 
Welten.  —  Richard  Wagner.  —  Das  alte  Athen.  —  Eine  Stunde 
in  Pompeji.  —  Der  Halleysche  Komet.  —  Japan,  das  Land  der 
aufgehenden  Sonne.  —  Aus  Grados  Fischer-  und  Badeleben,  — 
Die  Ungeheuer  der  Vorwelt.  —  Lebensbilder  aus  dem 
Aquarium  und  Terrarium.  —  Durch  die  nubische  Wüste.  — 
Momentbilder  aus  Sizilien.  —  Wien  und  die  Wiener.«  Ja,  das 
Programm  der  Urania  ist  bunt;  aber  was  zusammengehört,  sollte 
auch  beisammen  stehen,  damit  man  einen  leichteren  Überblick 
bekomme.  Mir  scheint  der  Teil,  der  den  prähistorischen  An- 
schauungsunterricht bietet,  am  dankenswertesten.  Wie  ich  Herrn 
Pötzl  kenne,  ist  auch  er  besonders  für  die  Ungeheuer  der  Vorwelt 
eingenommen.  Er  ist  ja  ein  enragierter  Lokalpatriot.  Daneben 
freilich  hält  er  es  mit  den  Kleinigkeiten  der  Nachwelt.  Er  wünscht 
zum  Beispiel,  daß  sich  die  neue  Wiener  Urania  gleich  der  Berliner 
Kollegin  mit  »Wildenbruchs  herrlichem  Prolog«  eröffnen  lasse. 
Das  bringt  micn  sogar  auf  die  Vermutung,  daß  er  wirklich  der 
Überzeugung  ist,  seinem  Buraunachbarn  Kalbeck  winke  die  Un- 
sterblichkeit. 

«  • 

Das  moderne  Theater: 

»Im  Münchener  Residenztheater  wurde  ,Der  Widerspänstigen 
Zähmung'  zum  ersten  Male  nach  dem  Original  mit  Vorspiel  und  Nach- 
spiel gegeben.  Die  neuen  Dekorationen  und  Kostüme  waren  von  Robert 
Engels  nach  den  Prinzipien  des  Münchener  Künstlertheaters  im  Stil  der 
Reliefbühne  entworfen.  Besonders  eine  Gartenszene  mit  Pergola  und 
Springbrunnensilhouette,  ein  liebliches  Bild  voll  sonniger  italienischer 
Heiterkeit  verdiente  höchstes  Lob.   Von   den  Darstellern  leisteten  . . .  .< 

•  * 

• 

Der  weiche  Hermann  Bahr,  der  sich  von  allem  beeindrucken 
läßt,  sogar  von  mir,  und  jedes  Ding  beim  Namen  nennt,  außer  mir,  hat 
eine  Vorlesung  mit  gemischtem  Programm  gegeben.  Er  las  Tolstoi  und 
Saiten.  Dazwischen  waren  Übergänge  notwendig,  umsomehr,  als 
Tolstoi  Urchrist  und  Saiten  nicht  nur  Zionist,  sondern  sogar 
Librettist  ist.   So  las  er  denn  Kürnberger.   Aber  zwischen   Kürn- 


—  47  — 


b«rger  und  Saiten  waren  wieder  Übergänge  notwendig.  So  las  er 
denn  den  Bischof  Kepler,  der  ein  trostloses  Buch  über  die  Freude 
geschrieben  haben  soll.  Aber  selbst  zwischen  dem  Bischof  Kepler 
und  Saiten  waren  noch  Übergänge  notwendig.  Und  Bahr  ver- 
zweifelte nicht,  sondern  las  Kahane.  Das  ist  ein  Liedersänger.  Ihm 
schenkte  des  Gesanges  Gabe,  der  Lieder  süfkn  Mund  Apoll.  Er 
wirkt,  wie  die  Neue  Freie  Presse  venät,  als  Dramaturg  bei 
Reinhardt;  was  aber  ein  rechtes  Smgvögelchen  ist,  verstummt  auch 
in  der  Gefangenschaft  nicht.  Es  war  ein  bunter  Abend.  Zum 
Schlüsse  sollen  die  Hörer  den  Eindruck  gehabt  haben,  daß  Herr 
Bahr  eine  »reiche  Erscheinung«  sei.  Er  lese  seine  Dichter  so,  >als 
entdecke  er  ihre  Schönheiten  zu  seiner  eigenen  Verwunderung 
eben  zum  erstenmal«.  Natürlich,  setzt  die  Neue  Freie  Presse  auf- 
klärend hinzu,  »hat  er  sie  längst  entdeckt«.  Alle.  Und  wie  er  die 
Individualitäten  auseinanderhält!  Ein  echtes  weibliches  Naturell  ist  im 
Verkehr  mit  einem  geistlichen  Herrn  anders,  als  mit  einem  Kom- 
merzienrat,  und  wieder  anders  mit  einem  Dichter.  Nur  die  Zeugen 
werden  ein  wenig  verwirrt.  Später  einmal  sagt  der  schlechte  Ruf, 
Herr  Bahr  habe  sich  mit  dem  Urchristen  Saiten,  dem  Librettisten 
Tolstoi  und  dem  Erzbischof  Kahane  eingelassen. 


>Und  wenn  Karl  Kraus  in  der  nächsten  .Fackel'  die  Be- 
hörde von  oben  bis  unten  mit  Salpetersäure  begießt,  so  sind  es  die 
Begossenen  zuerst,  die  darüber  lachen.«  *^o  schreibt  der  Wiener  Korres- 
pondent der  (Frankfurter  Zeitung'  zur  Affäre  des  > Feldherrnhügels«. 
Er  ist  über  meine  satirischen  Absichten  nicht  genau  informiert. 
Ich  interessiere  mich  für  die  prinzip  eilen  Fragen  der  Geistes- 
freiheit erst  in  zweiter  Linie;  zunächst  sehe  ich,  daß  Herr  Roda 
Roda,  der  die  Militärlieferungen  für  Humor  hat,  seit  mehreren 
Wochen  im  Mittelpunkt  der  österreichischen  Debatte  steht.  Die 
schuldtragende  Polizei  war  offenbar  von  der  Absicht  ausgegangen, 
die  öffentliche  Aufmerksamkeit  von  jenem  seriöseren  Oberleutnant 
abzulenken,  der  es  heute  ertragen  muß,  daß  man  die  Gräber 
seiner  Braut  und  seines  Vaters  öffnet.  Es  ist  der  Behörde 
nun  zwar  nicht  gelungen,  das  gesuchte  Cyankali  auch  nur 
in  Hofrichters  Vorleben  zu  finden,  wohl  aber  hat  sie  Spuren  von 
Humor  in  einem  Werk  des  Herrn  Roda  Roda  entdeckt,  und  durch 
eine  Art  geheimen  Verfahrens,  mit  der  sie  den  » Feldhermhügel « 


48 


unterdrückte,  erreichte  sie  es  glücklich,  daß  die  allgemeine  Teil- 
nahme von  dem  Opfer  der  Militärjudikatur  abließ,  um  sich  auf 
das  Martyrium  eines  Schnurrenlieferanten  zu  werfen.  Hätten  die 
Behörden  Herrn  Roda  Roda  um  seiner  selbst  willen  unterdrückt, 
so  wäre  allerdings  Salpetersäure  zu  schwach.  Aber  nicht,  weil 
sie  die  Gefahr  der  Schnurre  überschätzt,  sondern  weil  sie  die 
Gefahr  der  Reklame  unterschätzt  hätten.  Denn  der  österreichischen 
Bevölkerung  geht  der  Fall  Roda  Roda  wirklich  nahe,  dies  Schicksal 
zerrt  an  den  Nervensträngen,  und  die  Vertreter  des  Schrifttums 
erheben  sich  —  unter  der  bekannten  Devise:  es  geht  jeden  an,  auch 
den,  den  es  garnichts  angeht  -  wie  ein  Mann,  um  den  gegen  die 
Freiheit  des  dichterischen  Schaffens  geführten  Schlag  abzuwehren. 
Wollte  die  Behörde  diesen  Effekt,  wollte  sie  ein  wenig  vom  Fall 
Hofrichter  ablenken,  so  hat  sie  eine  ganz  sinnvolle  Schlechtigkeit 
verübt.  Wollte  sie  es  nicht,  so  hat  sie  eine  Dummheit  erster  Güte 
begangen.  Denn  nun  werden  wir  den  Namen  Roda  Roda  überhaupt 
nicht  mehr  los!  Mußte  man  ehedem  schon  zu  den  Wölfen  fliehen, 
um  keine  Anekdoten  von  der  Militärgrenze  lesen  zu  müssen, 
so  ist  jetzt  Österreich  vollends  unwirtlich  geworden.  Kein  Tag 
mehr,  ohne  daß  wir  von  den  Hoffnungen,  Entwürfen,  Ent- 
täuschungen, Plänen,  Protesten,  Prozessen  der  Autoren  des  >  Feld- 
herrnhügels« in  Zuschriften,  Gutachten  und  Interviews  unterrichtet 
werden,  von  ihrer  Unbeugsamkeit  im  Kampf  um  das  gestörte 
Tantiemenvergnügen,  von  ihrer  Bereitschaft,  die  heiligsten  Güter 
in  Sicherheit  zu  bringen  und  lieber  durchzufallen  als  zu 
weichen.  Kein  Tag,  ohne  daß  von  geballten  Fäusten  die 
Garantien  eines  geregelten  Theatergeschäftes  gefordert  werden,  just, 
als  ob  es  die  Reform  des  Militärstrafprozesses  gelte.  Vielleicht 
wollte  die  Behörde  das.  Aber  dann  möchte  ich  ihr  doch  raten, 
bei  der  Wahl  ihrer  Opfer  künftig  vorsichtiger  zu  sein.  Es  ist 
jammervoll,  wie  schlampig  in  Österreich  bei  der  Vergebung  eines 

Martyriums  vorgegangen  wird.  Man  sieht  sich  die  Leute  gar  nicht  an  ! 

*  * 

* 

>Peary   ist   von   dem    Herzog  der  Abruzzen   als  Nordpol- 
entdecker anerkannt  worden.«  Cook  von  dessen  Untertanen. 


Herausgeber    und    verantvirortlicher     Redakteur:     Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,   III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 


unternehmen  fSr  Zeitnn^^iiBfehnitt« 

OBSERVER,     Wien,  I.  CoDcordltpIatx  Hr.  4  (Telephoi  Rr.  13S01) 
versendet  Zeitungsausschnitte  über  jf  des  gewünschte  Thema-Man  verlange  Prospekte 

A  •«^^^•«Ä»«   ^■^r>■,r^..^r^  yor  Drucklegiing  ihrer  Werke  im  eigen- 
■nLU^iV^iTd].  esse  d<f  Konditionen  des  alten  bewährten 

«.»».— »—i——^^-—~  :2^s  sub  C.  M.410  bei  Haasenstein 

&  Vogler  A.-G.,  Leipzig  H.  4200  D, 


'"IS  werdi!  idi  noialisdi?  m  Eie  Koist  sidi  littliA  zd  iMM 

Von    KARL    HAUER 
(Nebst    einem     Anhang     Ober     Pornographie) 
Verl«o»g«selltchaft  ..MCnchan",  Barthold  6utter  V«H«g 


1= 


Der  Herausgeber  der  ,Fackel*  ersuctit,  die  Einsendung  von 
^Skripten  oder  Zeitungsausschnitten,  Lieferung  von  >Mater{al«, 
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Redaktion  nnd  Verlag  der  »PackeK 


Korffs  Cacao 
Korffs  Ghocolade 

Bureau  für  Österreich  : 

Wien,  VL  MariahiUerstrasse  117 


DIE  FACKEL 

HERAUSGEBER:  J^A^J^JL^     It^l^ATJ^ 

Die  ,Fackel'  erscheint    in    zwangloaer   F'ols^e   im   Umfang 
von  16—32  Seiten 

BEZUaSBEOINGUNaEN : 

Für  Österreich-Ungarn:  18  Nummern,  portofrei K  4.50 

36  „  „  „  9.- 

Für  das  deutsche  Keich:  18  „  „  Mk.  4. — 

27  .  •  ,  „    6.- 

^^'  -,  .  «   7.2n 

Das  Abonnement   erstreckt   sich   nicht   auf   einen    Zeit- 
raum, sondern  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Nummern 

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Einzelnummer    in   Deutschland  30   Pfennig: 
Zu    beziehen     durch     sämtliche    Buchhandlungen 

Barliaar  Bareaa:  Haiensee,  Kathariaenstraße  5 


i 


Inhalt  der  vorigen  Nummer  293,  4.  Jänner  1910: 
Prozeß  Friedjung.  —  Druck  und  Nachdruck.  —  Aphorismen.  — 
Glossen.  Sämtliche    Beiträge  von  Karl  Kraus.  » 


Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur   Karl  Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollanittstr.  3 


Nr.  296— 297    E  AM  18.  FEBRUAR  1910    XI.  JAHR 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

Joseph  Schöffdl.  Von  Karl  Kraus.  — Die , Arbeiter- 
Zeitung'  and  die  Taussig  -  Cliquen.  —  Baron 
Frangart  und  der  Bajazzo.  Von  Karl  Borromäus 
ileinrich.  —  Wanderen  Lied.  Von  Albert 
ijhrenstein.  —  Bücher.  Von  Ludwig  Ullraann 
u.  a.  —  Glossen.    Von  Karl  Kraus. 


NACHDRUCK     VERBOTEN 

PREIS  DER  DOPPELNUMMER  60  HELLER 
ERSCHEINT    IN    ZVv^ANGLOSER    FOLGE 

VERLAG:   .DIE   FACKEL'  WIEN—BERLIN 

WIEN,    ma,    HINTERE    ZOLLAMTSSTRASSE    3      TELEPHON    Nr."  187 
BERLINER    BUREAU:     HALENSEE,     KATHARINEN STRASSE    5 


Erinnerungen  aus  meinem  Leben 


von 


JOSEPH  SCHÖFFEL 


InhaSts  Meine  Jugend.  — •  Beim   Militär.  —  Vom  Wienerwald. 

—  Im  Reichsrat.  —  Meine  Tätigkeit  als  Bürgermeister. 

—  Im  niederösterreichischen  Landesausschuß. 


Durch  alle  Buchhandlungen  zu  beziehen,  sowie  durch  den 

Verlag  Jahoda   &  Siegel 

Wien,  III/2,  Htnlere  Eollamtssiraße  3 


Im   Verlag   „"Die  Fackel**,   Wien,   III/2,   Hintere 
Zollamtsstraße  3,  sind  als  Broschüren  erschienen: 

JOSEPH  SCHÖFFEL: 

Der  Parlamentarismus 

Die  Autonomie 

Immunität  und  Inkompatibilität 


Die  Fackel 

Nr.  296-297  18.  FEBRUAR  1910  XI.  JAHR 


Joseph  Schöffel 

ist  am  7.  Februar  1910  im  78.  Lebensjahre 
gestorben. 

Schließt  eure  Herzen  sorg- 
fältiger als  eure  Tore.  Es 
kommen  die  Zeiten  des  Be- 
trugs, es  ist  ihm  Freiheit 
gegeben.  Götz. 


Die  Neue  Freie  Presse  hat  nicht  gesagt,  wann 
er  beerdigt  werde.  Sie  hat  seinen  Lebenslauf  mit 
ruhiger  Sachlichkeit  beschrieben.  Sie  hat  seinen 
Sarg  nicht  gegrüßt,  und  nur  eine  Handvoll  Worte 
warf  sie  ihm  nach. 

> Anfangs  der  Siebzigerjahre  trat  er  öffentlich 
hervor,  als  der  Plan  auftauchte,  den  Wienerwald 
abzustecken.  Daraals  setzte  sich  Schöffel  mit  Erfolg 
für  die  Erhaltung  des  Waldes  ein.c 

Dieser  Satz  schöpft  eine  Tat  aus,  für  die 
hundertundvier  Gemeinden  den  Mann  zum  Ehren- 
bürger machten,  für  die  ihm  zu  Lebzeiten  Denkmäler 
errichtet  wurden.  Sie  ist  wortkarg,  die  alte  Hure. 
Sie  ist  bös.  Der  männlichste  Mann  in  Österreich  ist 
nie  bei  ihr  gewesen.  Daß  er  gelebt  hat,  verzeiht  sie 
ihm  im  Tode  nicht.  Ich  aber  will  nicht,  daß  sie  seine 
Stimme  vergesse.  Ich  will  ihn  zu  ihr  sprechen  lassen, 
was  er  im  Jahre  1901  in  meinen  Phonographen 
gesprochen  hat: 


2  — 


Hochgeehrter  Herr! 

Besten  Dank  für  die  freundliche  Zusendung  Ihrer  Zeitschrift 
.Fackel',  die  ich,  nebenbei  bemerkt,  seit  ihrem  Erscheinen  lese.  Ihr 
Kampf  gegen  das  terroristische,  schamlose  Treiben  der  modernen  Press- 
piraten ist  mir  sympathisch,  und  ich  wünsche  Ihnen  den  besten  Erfolg! 
Leider  stehen  Sie,  so  wie  ich,  einsam  und  verlassen  einem  übermächtigen, 
in  der  Wahl  der  Mittel  gewissen-  und  ehrlosen  Gegner  gegenüber.  — 
Ich  bin  ein  alter  Mann,  dessen  letzte  Kräfte  durch  Tätigkeit  in  einem 
öffentlichen  Amte  absorbiert  werden,  —  sonst  würde  mich  nichts  ab- 
halten, an  Ihre  Seite  zu  treten  und  Ihnen  in  Ihrem  Kampfe  zu  sekun- 
dieren, wie  dies  einst  mein  unvergeßlicher  Freund  Ferdinand  Kürnberger 
in  meinem  Kampfe  um  den  Wienerwald  getan  hat. 

Wenn  Kürnberger  heute  hören  könnte,  daß  die  ,Neue 
Freie  Presse',  diese  Missgeburt  August  Zang's  —  welcher 
im  Jahre  1873  mir  gegenüber  sie  als  eine  von  der  Regierung 
konzessionierte  Kupplerin  jeglicher  Korruption,  als  die  un- 
verschämteste Buhlerin  aller  Staatsbetrüger  und  Diebe  be- 
zeichnete—,  sich  heute,  dreißig  Jahre  nach  Beendigung  des 
Kampfes  um  den  Wienerwald,  als  Beschützerin  desselben, 
den  niemand  angreift,  aufspielen  werde,  er  würde  die  Last 
der  Erde,  unter  der  er  schläft,  sprengen,  um  dieser  scham- 
losen Dirne  ins  Gesicht  zu  schlagen.  Die  .Neue  Freie  Presse'  als 
Verteidigerin  des  Wienerwaldes,  die  den  Staatsgüterverschleiß  in 
Szene  setzte,  die  den  Holzabstockungsvertrag  mit  Moriz 
Hirschl  und  den  Verkauf  des  Wienerwaldes  als  eine  finan- 
zielle Notwendigkeit  patronisierte,  die,  als  der  Sturm  begann, 
zuerst  meinen  Kampf  totschwieg,  dann  mich  verhöhnte  und  als  von 
Größenwahn  befallen  mich  erklärte,  weil  ich  die  Kühnheit  hatte,  meine 
Artikel  mit  vollem  Namen  zu  unterzeichnen,  —  diese  ,Neue  Freie  Presse' 
erwartet  von  einer  künftigen  liberalen  Majorität  im  niederösterreichischen 
Landtag  ein  Gesetz  zum  Schutze  des  Wienerwaldes!  Risum  teneatis 
amici!  Die  alte  Metze  erinnert  sich  der  Erregung  der  Massen,  die  durch 
den  Kampf  um  den  Wienerwald  einst  hervorgerufen  wurde,  und  ver- 
sucht es  nun  durch  eine  Komödie,  die  Partei,  der  sie  das  Gift  der  Kor- 
ruption eingeimpft  und  die  sie  damit  getötet  hatte,  wieder  ins  Leben 
zurückzurufen. 

Vergebliche  Mühe !  Wenn  ich  noch  einige  Jahre  erlebe,  so  werde 
ich  die  Geschichte  des  Kampfes  um  den  Wienerwald  in  allen  Einzel- 
heiten, die  noch  nicht  bekannt  sind,  ebenso  veröffentlichen  wie  den 
fünfjährigen  Kampf  um  die  Verwendung  der  Waisengelder  zur  Pflege 
und  Erziehung  armer  Waisen,  der  von  der  Presse  wie  auf  ein  Kommando 
totgeschwiegen  wurde.  Ja.  diese  Presse,  diese  Verfälscherin  der  öffent- 
lichen Meinung,  hat  es  sorgfältig  vermieden,  die  Sanktionierung  eines 
Gesetzes  zu  erwähnen,  durch  welches  jährlich  nahezu  4  Millionen  Kronen 
dem  erhabensten  Zwecke,  nämlich  der  Rettung  der  Kinder  des  Elends, 
zugeführt  werden. 


Heute  wie  einst!  Die  Zeilen  haben  sich  gciiiucii,  uic  >.i.-ocr 
tracht  ist  dieselbe  geblieben.  Küraberger,  der  bedeutendste  Schriftsteller 
seiner  Zeit,  mußte  seine  Essays  im  , Korrespondent'  den  der  Graf  La- 
mezan  ein  obskures  Winkelblättchen  genannt  hat,  veröffentlichen,  weil 
er  in  den  großen  Jonrnalen  keine  Aufnahme  fand,  da  er  sich  nicht  dazu 
hergab,  nach  ihrem  Takt  zu  spielen.  Zudem  vermied  er  es,  seine  Geistes- 
perlen vor  die  Säue  zu  werfen.  —  Sie  müssen  eine  eigene  Zeitschrift  heraus- 
geben, um  Ihre  Gedanken  zum  Ausdruck  zu  bringen;  und  ich  werde, 
wenn  ich  mich  aus  dem  öffentlichen  Leben  zurückziehe,  was  innerhalb 
einer  Jahresfrist  geschehen  wird,  ähnliches  tun  müssen,  um  das  von 
mir  Erlebte  zu  veröffentlichen. 

Für  diesmal  genug !  Charakteristische  Tatsachen  aus  jener  Kampf- 
zeit Ihnen  mitzuteilen,  ist  mir  derzeit  unmöglich,  da  ich  keine  Zeit  dazu 
habe  und  die  Erzählung  dieser  Tatsachen,  die  den  Finanzminister  Becke, 
den  berühmten  Giskra,  den  Sektionschef  Gobbi,  den  Ministerialrat  Kurz, 
den  Oberfinanzrat  Deimel,  die  Konsorten  Löwy,  Götz,  Andrd,  Kirch- 
mayer, Siemundt,  Strousberg,  Moriz  Hirschl  und  andere  betreffen.  Bände 
fällen  würde.  Im  Auszug  können  Sie  die  Geschichte  des  Kampfes  um 
den  Wicnerwald  in  Wurzbachs  biographischem  Lexikon,  Band  31 — 32, 
Seite  76,  77,  78,  79,  80,  81.  82,  83,  84  und  85,  und  außerdem  .An- 
deutungen in  den  Siegelringen  Kürnbergers:  >Was  sich  der  Kahlschlag 
erzählt«,  »Wie  sich  verschieden«"  Leute  verschieden  verwundern!«  und 
»Dieb-sein  währt  am  längsten«   lesen. 

Indem  ich  Ihnen  nochmals  Ausdauer  im  Kampfe  und  einen  glück- 
lichen Erfolg  wilnsche,  zeichne  ich  mich  mit  Hochachtung  als  Ihr 

ergebener 

SchöffeL 
Mödling,  am  10.  Juni  IQOl. 

Das  stand  in  Nr.  81  der  ,Fackel'.  Ich  hatte  in 
Nr.  78  die  Protektion  des  Wienerwaldes  durch  die 
Neue  Freie  Presse  gewürdigt  und  das  Heft  Joseph 
SchöfiFel  zugesandt.  Mein  Artikel  hatte  mit  den  Worten 
geschlossen : 

.  .  .  Sollte  man  nicht  mindestens  verlangen  dürfen,  daß  mit 
Händen,  die  gewohnt  sind,  das  Geld  von  Holzgaunera  entgegenzu- 
nehmen, nicht  auf  einmal  über  Naturschönheit  geredet  werde?  Dem 
Dogma,  daß  Gott  die  Wälder  für  die  Holzverwerlungs- Aktiengesell- 
schaften erschaffen  hat,  wollen  wir  nicht  abtrünnig  werden.  Sie  stöhnen 
unter  der  Axt,  die  angesetzt  wird,  um  der  bildungshungrigen  Menschheit 
den  Segen  des  Zeitungsblattes  zu  bringen.  Aber  es  heißt  zum  Schaden 
noch  den  Hohn  fügen,  wenn  auf  dem  frischgewonnenen  Holzpapier  statt 
der  Korruption  der  Natur  das  Wort  geredet  wird. 


Und  in  der  Einleitung  zu  Schöffeis  Brief,  der 
seine  herrliche  Mitarbeit  an  der  , Fackel'  einleiten 
sollte,  schrieb  ich: 

Als  ich  im  78.  Hefte  dem  öffentlichen  HeiterkeitsbedQrfnis  jenen 
Artikel  der  .Neuen  Freien  Presse'  empfahl,  in  welchem  sie  sich  als  Be- 
schützerin des  Wienerwaldes  vorstellte  und  von  einer  >liberalen  Majorität 
des  Landtags«  die  Erhaltung  von  Naturschätzen  verlangte,  die  heute  bloß 
Regengüsse  und  nicht  mehr  Holzwucherer  bedrohen,  da  ahnte  ich  kaum, 
wie  gut  ich  den  Nagel  auf  den  faulsten  Kopf  dieses  Reiches  getroffen. 
Ich  bekenne,  daß  mich  weniger  historisches  Wissen  um  die  Vor- 
gänge, die  sich  in  jener  Zeit  des  wirklichen  Kampfes  um  den  Wiener- 
wald abspielten,  als  ein  Instinkt  für  die  durch  Jahrzehnte  bewährte 
Gemeinheit  der  fühlenden  Verderberin  unserer  Kultur  bewogen  hatte, 
der  , Neuen  Freien  Presse'  auf  die  schmutzigen  Hände  zu  schlagen,  die 
sie  schützend  über  Wiens  Naturschätze  zu  breiten  gewagt  hat. 

Ich  hatte  damals  bloß  das<  dunkle  Gefühl,  daß  die 
Neue  Freie  Presse  ehedem  in  der  vordersten  Reihe  jener 
Preßorgane  gekämpft  haben  müsse,  »denen  die  Wald- 
bestände in  Wiens  Umgebung  ausschließlich  vom 
Standpunkte  des  Holzwuchers  teuer  waren«.  Um 
eine  Bestätigung  uud  genauere  Daten  zu  erhalten, 
wandte  ich  mich  an  Joseph  SchöfiFel,  dessen  Retter- 
werk Kürnberger  geschildert  hat.  In  den  »Siegel- 
ringen« hatte  ich  eine  Stelle  gefunden,  in  welcher 
des  lähmenden  Widerstandes  gedacht  wurde,  den 
damals  die  gedungene  Presse  geleistet  hat.  Ich 
zitierte  auch,  was  Kürnberger  über  die  Eignung  des 
Mannes  zu  solcher  Tat  schreibt: 

Ein  unabhängiger  Privatmann,  Joseph  Schöffel,  unternahm  den 
publizistischen  Kampf  gegen  diese  Korruption.  Nach  seinen  Berufs- 
Antezedentien  Offizier,  nicht  Schriftsteller,  entdeckte  seine'  Feder  alle 
schriftstellerisch-sieghaften  und  unwiderstehlichen  Reize  an  jener  Urquelle, 
wo  sie  die  Griechen,  wo  sie  der  Pamphletisten-Klassiker  und  Meister 
unser  aller,  P.  L.  Courier,  entdeckt  haben,  in  der  Stärke  und  Reinheit 
des  ethischen  Charakters.  Mit  frischem,  praktischem  Soldatengriff  be- 
wältigte er  vollständig  das  weitläufige  und  größtenteils  trockene  Real- 
studium dieses  Gegenstandes  und  behandelte  es  dann  mit  jener  Verve, 
mit  jener  kecken  Energie  jungfräulicher  Naivetät,  möchte  ich  sagen, 
welche  der  Literatur  wahrlich  schöner  zu  Gesichte  steht  als  das  routi- 
nierte Handwerk  des  Brotdienstes. 

Und      als      Schöffel     im    Jahre     1905     seine 


>Erinnerungen<  herausgab,    schrieb  er  zum  Schlüsse 
des  Kapitels  >Vom  Wienerwald« : 

Die  .Neue  Freie  Presse',  die  einst  treue  Gefährtin  und  Schild- 
ifägerin  des  Staatsgüterverschleiß-Konsortiums,  welches  den  Wienerwald 
devastieren  und  verschachern  wollte,  brachte  im  Mai  1901,  also  zu  einer 
Zeit,  wo  niemandem  eine  Schädigung  des  Wienerwaldes,  geschweige 
denn  eine  Devastation  oder  eine  Verschacherung  desselben  in  den  Sinn 
kam.  einen  Artikel,  in  welchem  sie  mit  begeisterten  Worten  den  herr- 
lichen Naturparic,  den  Wienerwald,  dessen  Erhaltung  in  seiner  grünen 
Pracht  für  uns  Wiener  eine  Lebensfrage  ist,  beschrieb,  und  mit  dem 
Stoßseufzer  beendete:  »Vielleicht  gibt  es  einmal  in  ruhigeren  und  fried- 
licheren Zeiten  eine  so  fortschrittliche  und  wahrhaft  volksfreundliche 
iMajorität  im  niederösterreichischen  Landtage,  die  ein  Gesetz  zum  Schutze 
und  zur  Erhaltung  des  Wienerwaldes  gegen  Oevastierung  und  sonstige 
Schädigung  beschließt.« 

Diesen  Artikel  benutzte  der  Schriftsteller  Karl  Kraus, 
indem  er  mit  seiner  .Fackel'  der  , Neuen  Freien  Presse' 
ordentlich  heimleuchtete. 

Er  hielt  ihr  unter  anderem  die  unvergeßlichen  Worte,  die  Ferdi- 
nand Kürnberger  im  dem  Vorworte  seiner  »Siegelringe«  über  den  Kampf 
um  den  Wienerwald  schrieb,  vor  Augen,  die  da  lauten:') 

>  Diesen  Kampf  um  einen  Waldbestand,  welcher  nur  allein  schon 
als  Voluptuarium  einen  auch  sanitär  unschätzbaren  Wert  für  eine  so 
volkreiche  Stadt,  wie  Wien,  repräsentierte,  ließ  die  ganze  Wiener  Journalistik 
ihren  Ritter  St.  Georg  nicht  nur  isoliert  auskämpfen,  sondern  sie  verbarg 
nicht  immer  mit  Anstand,  daß  ihr  Herz  eigentlich  der  korrumpierten 
Gegenpartei  angehörte.«  Ein  Einzelner  kämpfte,  ein  Einzelner  siegte. 
»Der  Vertrag    mit   Hirschl    wurde    gelöst,    die   Beraubung    des  Wiener- 


*)  Schöffel  nahm  die  nun  folgenden  Sätze  als  einheitliches  Zitat 
aus  Kürnberger  in  sein  Buch  auf,  indem  er  nur  am  Anfang  und  zum 
Schluß  Anführungszeichen  setzte.  Es  waren  aber,  wie  man  sieht,  neben 
wirklich  zitierten  Sätzen  auch  solche,  in  denen  nur  der  Inhalt  Kürn- 
berger'scher  Ausführungen  mitgeteilt  ist.  Hier  wird  deshalb  der  Passus 
wieder  so  gebracht,  wie  er  in  der  .Fackel'  stand  und  nicht  wie  er  im 
Buche  Schöffeis  steht.  Der  Satz:  »Ein  Einzelner  kämpfte,  ein  Einzelner 
siegte«  kommt  bei  Kürnberger  überhaupt  nicht  vor.  Jetzt  zitieren  mich 
ahnungslos  alle  in-  und  ausländischen  Zeitungen,  die  sich  auf  Kürnbergers 
Urteil  über  Schöffel  berufen,  und  Leser,  welche  die  »Siegelringe- 
zur  Hand  nehmen,  finden  die  Stelle  nicht.  Darum  mußte  der 
Unterschied  hier  festgestellt  werden.  Die  großartige  Sachlichkeit 
Schöffeis  nahm  es  mit  der  Wörtlichkeit  nicht  genau.  Er  zitierte  in  einem 
Aufsatz  Bismarck  aus  dem  Gedächtnis,  und  als  ich  den  Urtext  herstellte, 
versuchte  er  im  Korrekturabzug  seiner  Fassung  wieder  zu  ihrem  Unrecht 
zu  verhelfen.  Sein  prächtiger  Eigenwille  befähigte  ihn  weniger  zum 
Zitieren  als  zum  Zitiertwerden. 


6    ~ 


Waldes  unterlassen,  die  Beamten,  deren  Schuldbarkeit  Schöifel  nach- 
gewiesen, versetzt  und  pensioniert.«  »Wahrlich,  ein  unerhörter  und 
zum  erstenmale  gefeierter  Triumph,  daß  einer  so  kompakt-solidarischen 
Macht,  wie  dem  österreichischen  Beamtenstaate,  ein  einzelner  Publizist 
solche  Erfolge  abzugewinnen  vermochte!  ,Die  sechste  Großmacht'  hätte 
alles  Recht  gehabt,  mit  ihrem  Ruhm  die  Welt  zu  erfüllen;  und  doch 
wird  der  auswärtige  Leser  wenig  oder  nichts,  davon  in  der  Wiener  Presse 
gefunden  haben.«  Anderwärts  ward  dies  moralische  Ereignis  besser  ge- 
würdigt. Die  Waldgemeinde  Purkersdorf  hat  dem  Manne,  der  von  ein- 
undzwanzig Wienerwald-Gemeinden  die  Gefahr  der  Devastation  abge- 
wendet hat,  ein  Denkmal  errichtet,  der  Markt  Mödling  erwählte  ihn  zu 
seinem  Bürgermeister,  und  ein  niederösterreichischer  Landwahlbezirk 
votierte  ihm  mit  großer  Stimmenmehrheit  das  Mandat  für  den  Reichsrat 
»und  zwar  gegen  den  bisherigen  Vertreter  desselben  Bezirkes,  welchen 
überdies  ein  sich  selbst  als  Weitblatt  überschätzendes  Wiener  Journal 
mit  dem  Aufgebot  seines  ganzen  Einflusses  durchzusetzen  unternommen.« 
»Es  war  der  schönste  Abschluß  dieses  ganzen  Dramas,  wie  das  mün- 
dige Volk,  zuwider  den  angeblichen  Machern  der  öffentlichen  Meinung, 
seine  Meinung  sich  selbst,  auf  eigenen,  unabhängigen  Wegen  und 
mit  ausgesprochenstem  Nachdruck  zu  machen  verstand.  - 

Zweifellos  werden  nach  meinem  Tode,  wenn  mein  Mund  ver- 
stummt und  mein  Arm  erlahmt  ist,  noch  mancherlei  Märchen  von  sen- 
sationslüsternen Lügenseelen  über  den  einstigen  Kampf  um  den  Wiener- 
wald erfunden  und  gesponnen  werden !  Das  läßt  sich  nicht  ändern ! 

Ich  wünsche  nur,  daß,  wenn  der  Wienerwald,  was  nicht  un- 
möglich ist,  wieder  einmal  von  einem  Spekulationskonsortium  bedroht 
werden  sollte,  sich  zur  rechten  Zeit  ein  Mann  finde,  der  denselben  mit 
Erfolg  verteidigt! 

Als  Rüstkammer  mögen  ihm  diese  Zeilen  dienen,  die  ich  nur  zu 
diesem  Zwecke  niedergeschrieben  habe!- 

»Man  muß  diese  Dinge  kennen,  um  zu  ver- 
stehen, daß  in  dieser  liebenswürdigsten  Stadt  der 
Welt  eine  antijournalistische  und  antisemitische 
Bewegung  enstehen  und  siegen  konnte. c  Eine  un- 
verdächtige Zeugin  riefs  nach  dem  Tode  Schöffeis, 
die  ,Prankfurter  Zeitung'.  Es  war  selbst  ihr  nicht 
entgangen : 

»Aus  den  knappen  Nachrufen  der  maßgebenden  Wiener  Presse  ist 
noch  zu  erkennen,  daß  sie  ihm  seinen  Sieg  nicht  verziehen  hat,  obgleich 
heute  überhaupt  niemand  mehr  begreifen  kann,  daß  je  ein  Österreicher  es 
wagen  konnte,  Hand  an  das  Juwel  des  Landes,  den  Wiener  Wald,  zu  legen. 
Schöffel  hätte  auch  darüber  nur  verächtlich  gelächelt.  Er  hielt  es  mit 
Börne:  ,In  dieser  verpesteten  und  verbuhlten  Welt  muß  ein  ehrlicher 
Mann  sich  die  Hände  in  Essig  waschen  .  .  .'« 


Das  Neue  Wiener  Tagblatt  aber  hat  dem  außer- 
ordentlichen Manne  Leitartikelehren  widerfahren 
lassen.  Denn  es  glaubte,  an  ihnen  selbst  Anteil  zu 
haben.  Schöfifel  hat  die  ersten  Axthiebe  gegen  die 
Verwüster  des  Wienerwaldes  im  Neuen  Wiener 
Tagblatt  geführt,  das  damals  von  jenem  Moriz 
Szeps  geleitet  wurde,  der  seine  Eignung  zu  anti- 
korruptionistischen  Taten  bekanntlich  oft  noch  be- 
wiesen hat. 

>In  der  Geschichte  des  .Nenen  Wiener  Tagblatts'  fönt  diese 
lutüinarische  Verschwömng,  aufgedeckt  darch  eine  Zeitung  nnd  ihren 
rastlosen,  mannhaften  Mitarbeiter,  ein  stolzes  Blatt;  denn  der  ganze 
Feldzug  wurde  ausschließlich  in  unserm  Blatte  durch- 
geführt und  endete  mit  dem  beispiellosen  Triumph  Schöffeis  ät>er 
seine  gefährlichen  Widersacher.« 

Und  das  Neue  Wiener  Tagblatt  zitiert  aus 
SchöfiTels  Memoiren: 

Ich  ließ  dem  ersten  (am  20.  April  1870  erschienenen)  Artikel 
jede  Woche  zweimal  einen  von  mir  mit  vollem  Namen  gezeichneten 
Aufsatz  folgen,  in  welchem  ich  die  Maßregeln  der  obersten  Forstver- 
waltung rücicsichtslos  kritisierte  und  auf  die  verhängnisvollen  Folgen 
hinwies,  welche  die  allgemeine  Entwaldung  und  speziell  die  des  Wiener 
Waldes  auf  das  Klima,  die  Fruchtbarkeit  und  die  Gesundheitsverhält- 
nisse der  Stadt  und  des  Landes  nach  sich  ziehen  müsse. 

Aber  die  folgenden  Stellen  zitiert  das  Neue 
Wiener  Tagblatt  nicht: 

Um  einesteils  die  Erforschung  der  Wahrheit  zu  erleichtem,  denn 
ich  war  damals  wirklich  so  naiv,  zu  glauben,  daß  es  der  Regierung 
durch  Einleitung  der  gerichtlichen  Untersuchung  nur  um  Konstatierung 
der  Wahrheit  und  des  Tatbestandes  zu  tun  sei,  veröffentlichte  ich 
während  der  Dauer  der  Untersuchung  vierzehn  Artikel  unter  dem  Titel: 
>Die  Verwaltungsgeschichte  des  Wienerwaldes  <,  welche  die  mir  zur 
Disposition  gestellten  gravierendsten  Aktenstücke  nnd  Korrespondenzen 
enthielten. 

Das  .Tagblatt'  brachte  aber  diese  Artikel  nicht  mehr 
wie  üblich,  an  zweiter  Stelle,  sondern  in  der  Beilage!  Als 
ich  mich  darüber  beschwerte,  erwiderte  man  mir,  daß  das  Interesse 
für  die  Sache,  die  sich  schon  zwei  Jahre  hinschleppe,  erloschen  sei. 

Ein  gewisser  Herr  H welcher  die  Rolle  eines  Vermittlers 

zwischen  dm  Journalen  und  der  Regierung  spielte,  sowie  die  den 
Journalen  seitens  der  Banken  nnd  Aktiengesellschaften  zu 
zahlenden  Abfindungssummen  nnd  Schweiggelder  ver- 
mittelte, trat  an  mich  mit  der  Aufforderung  heran,   die  Aktion  in  der 


8  — 


Wienerwaldangelegenheit  einzustellen.  >Sie  haben  erreicht,  was  Sie 
erreichen  wollten,«  apostrophierte  mich  der  Herr.  >Der  Verkauf  des 
Wienerwaldes,  sowie  die  Holzlieferungs-  und  Holzabstockungsverträge 
sind  sistiert.  Jede  Gefahr  für  den  Bestand  des  W^ienerwaldes  ist  beseitigt ! 
Machen  Sie  nun  ein  Ende!  Ich  bin  bevollmächtigt,  Ihnen  gegen 
Ausfolgung  einer  von  Ihnen  unterzeichneten  Verpflichtung,  daß  Sie  nichts 
mehr  in  dieser  Sache  unternehmen  und  nichts  mehr  in  den  öffentlichen 
Blättern  über  dieselbe  schreiben  wollen,  50.000  Guldem  im  baren 
auszuzahlen!« 

Ich '  erwiderte  dem  Herrn,  daß  er  sich  in  der  Person,  der  er  den 
Antrag  stellte,  geirrt  habe,  und  ich  den  Antrag  nur  deshalb  nicht  als 
eine  Ehrenbeleidigung  ansehe,  weil  er  von  ihm  und  seinen  Auftrag- 
gebern ausgegangen  sei,  drehte  ihm  den  Rücken  und  verließ  die  Re- 
daktion .... 

Nach  der  versuchten  Bestechung  und  des  seitens  des  ,Tag- 
blattes'  in  der  letzten  Zeit  bewiesenen  Unwillens,  meine 
Artikel  in  der  Wienerwaldfrage  im  Blatte,  wie  abgemacht  war,  an  ent- 
sprechender Stelle  abzudrucken,  sah  ich  mich  genötigt,  ein  anderes 
Blatt    für    meine    schriftstellerische  Tätigkeit  zu  suchen. 

Ich  wandte  mich  nun  an  das  damals  zum  Zwecke  der  Bekämpfung 
des  wirtschaftlichen  Schwindels  und  der  in  allen  Gesellschaftsschichten 
herrschenden  Korruption  mit  schweren  Geldopfern  neu  gegründete  Journal 
,Deutsche  Zeitung' ..  . 

Aus  einem  Gespräch  mit  Schöffel  teilte  ich  in 
Nr.  113  der  , Fackel',  also  schon  im  Jahre  1902,  die 
Peststellung  mit,  wie  weit  Herr  Szeps  und  das  Tag- 
blatt an  der  Rettung  des  Wienerwaldes  beteiligt 
waren : 

.  .  .  Wir  unterhielten  uns  über  jene  Zeit,  und  Schöffel  erzählte, 
daß  seine  Aufsätze  lange  Zeit  hindurch  an  der  sichtbarsten  Stelle  des 
Neuen  Wiener  Tagblatts  erschienen  waren,  bis  eines  Tages  ein  Unter- 
händler aus  dem  Korruptionslager  bei  ihm  anklopfte  und  ihm  50.000 
Gulden  für  die  Unterlassung  weiterer  Angriffe  bot,  deren  wesentlicher 
Zweck,  die  Annullierung  des  Gesetzes  über  den  Staatsgüterverschleiß, 
ja  ohnedies  schon  erreicht  sei.  Vor  dem  Hinauswurf  hatte  dieser  Alensch, 
ein  gewisser  Herzka,  noch  Zeit,  von  dem  bereits  eingeholten  Ein- 
verständnis des  Herausgebers  Mitteilung  zu  machen  .  .  .  Seinen 
nächsten  Aufsatz  fand  Schöffel  in  einer  kaum  beachteten  Beilage  des 
Neuen  Wiener  Tagblatts  abgedruckt,  das  Nichterscheinen  der  fol- 
genden wollte  er  nicht  abwarten  und  wählte  seinen  Enthüllungen 
ein  anderes  Organ  .  .  . 

Die  , Deutsche  Zeitung'  aber  hat  sich  noch  nach 
Jahrzehnten  für  die  Mitarbeit  Kürnbergers  durch 
Verleumdungen  dankbar  erwiesen. 


—  9  — 


Die  ,  Arbeiterzeitung*  bemüht  sich,  den  Respekt 
vor  der  Persönlichkeit  mit  den  sozialdemokratischen 
Geboten  in  Einklang  zu  bringen.  Der  Einzelne  könne 
es  nicht  >zu  einer  Tätigkeit  ins  Große  und  Ganze 
bringen,  wenn  sein  praktisches  Handeln  nicht  auf 
der  gesicherten  theoretischen  Einsicht  über  den  Ver- 
lauf der  Weltdinge  aufgebaut  ist«.  Die  Einsicht 
über  den  Verlauf  der  Weltdinge  kommt  mit  dem 
Eintritt  in  die  sozialdemokratische  Partei.  Diese  Ein- 
sicht, die  in  die  Breite  der  Dinge  geht,  verkündet, 
der  Einzelne  könne  zwar  Erfolge  erzielen:  >aber  er 
stirbt,  ohne  daß  die  nachhaltige  Wirkung  seiner  Per- 
sönlichkeit bleibt«.  Daß  Persönlichkeit  nachhaltige 
Wirkung  bedeutet  und  Partei  nur  den  Einzelerfolg, 
das  hat  im  Sozialgehirn  nicht  Platz.  Schöffel  habe, 
meint  es  im  Übrigen,  sich  voll  Verbitterung  vom 
öffentlichen  Leben  abgewendet: 

»Wie  er  sich  zu  der  weiteren  Entwicklung  der  Dinge  in  Öster- 
reich gestellt  hat,  ist  bisher  nicht  bekannt  geworden.  Es  ist  zu  vermuten, 
daß  er  völlig  auf  den  Standpunkt  eines  haltlosen  Zweifels  gekommen 
ist,  wenngleich  Äußerungen  von  ihm  kolportiert  worden  sind,  nach 
denen  er  die  Erfolge  der  sozialdemokratischen  Partei  lebhaft  begrüßt 
habe.  Aber  wenn  dies  wahr  ist,  so  hat  er  in  ihr  eben  nur  die  Kämpferin 
gegen  die  Korruption  gesehen  .  .  .   < 

Ich  möchte  die  ,  Arbeiterzeitung^  darüber  beru- 
higen. Die  Kämpferin  gegen  die  Korruption  hat  er 
in  der  sozialdemokratischen  Partei  nicht  sehen  können, 
wiewohl  er  sich  bis  ins  höchste  Alter  ein  gutes  Auge 
bewahrt  hat.  Oder  eben  deshalb.  Äußerungen,  nach 
denen  er  die  Erfolge  dieser  Partei  lebhaft  begrüßt 
hätte,  habe  ich  nie  aus  seinem  Munde  gehört.  Der 
haltlose  Zweifel  scheint  auch  hierin  sein  fester  Stand- 
punkt gewesen  zu  sein.  Und  >wie  er  sich  zu  der 
weiteren  Entwicklung  der  Dinge  in  Österreich  gestellt 
hat«,  ist  bloß  deshalb  nicht  bekannt  geworden,  weil 
es  noch  immer  Journalisten  und  Politiker  gibt, 
die  nicht  zugeben  wollen,  daß  sie  die  , Fackel* 
l«Ben.  Er  hat  es  in  der  ,Fackel'  ausgesprochen, 
daß   ihm   eine   weitere  Entwicklung    der   Dinge   in 


-   10 


Österreich  —  vom  Verlauf  der  Weltdinge  verstand 
er  nichts  —  nur  gegen  den  Parlamentarismus  denk- 
bar sei.  Undeutlich  klangs  ja  gerade  nicht: 

Nach  einer  dreißigjährigen  Tätigkeit  im  parlamentarischen  Leben, 
nach  einem  ebenso  langen  Wirken  in  der  autonomen  Verwaltung  habe 
ich  mich  entschlossen,  in  den  Lügennebel,  in  dem  wir  leben,  hinein- 
zuleuchten, um  dem  Volke  die  Gemeingefährlichkeit  des  parlamentarischen 
Regimes,  das  in  einem  Abgrund  der  Entartung  versunken  ist,  vor  Augen 
zu  führen  und  zugleich  zu  beweisen,  daß  die  so  sehr  gepriesene  auto- 
nome Verwaltung  nichts  ist,  als  eine  Fiktion. 

Die  Mitarbeit  Joseph  Schöffeis  an  der  ,Fackel' 
fällt  in  die  Jahre  1901  bis  1905.  In  diesem  Jahr  er- 
folgte die  Herausgabe  seiner  Memoiren.  Seit  damals 
hat  Schöffel  —  außer  einer  Abfertigung,  die  ein  halbes 
Jahr  später  in  der  ,Packer  erschien  —  nichts  mehr 
geschrieben.  Die  in  der  , Fackel'  veröffentlichten  Bei- 
träge sind  die  folgenden: 

Brief  über  den  Wiener  Wald  und  die  Neue  Freie 
Presse  (Nr.  81),  Brief  gegen  die  , Deutsche  Zeitung* 
(Nr.  112),  Der  Parlamentarismus  (Nr.  116  und  117), 
Die  Autonomie  (Nr.  120),  Immunität  und  Inkompa- 
tibilität (Nr.  125),  Orakelsprüche  (Nr.  126),  Offener 
Brief  an  Herrn  Landtagsabgeordneten  Pater  Bauchin- 
ger  (Nr.  170),  Eine  Schmutzerei  (Nr.  179),  Meine 
Tätigkeit  im  Landesausschuß  (Nr.  180/81),  Mödlings 
älteste  Urkunde?  (Nr.  183/84),  Meine  Antwort  (Nr.  189). 

Der  Aufsatz  in  Nr.  179,  in  dem  er  sich  der 
pensionierten  Offiziere  annahm,  bewog  das  Reichs- 
kriegsministerium zu  einem  Erlaß,  durch  den  Schöffeis 
Forderung  erfüllt  wurde.  (Siehe  Nr.  182).  Der  andere 
Erlaß  war  annulliert.  Schöffel  hatte    einfach   gesagt: 

.  .  .  und  ich  bin  vollkommen  überzeugt,  daß  Se.  Majestät,  unser 
alter  ritterlicher  Kaiser,  die  an  seinen  alten  Offizieren  versuchte 
Schmutzerei  nicht  dulden  wird ! 

in  so  gerader  Linie,  die  in  der  Schauspielkunst 
etwa  Baumeister  zeichnet,  fuhr  seine  Spraehkraft 
jenen  Geistlichen  an,  der  ihn  im  Landtag  insultiert 
hatte : 

Entweder  hat  also  der  Teufel,  der  von  Ihrem  Herzen  Besitz  ge- 
nommen hat,  Ihnen  derartige  Schandmärchen  zugeflüstert,  oder  Sie  haben 


11  — 


Ihre  Informationen  von  dem  Gezücht  eingeholt,  das  ich  soeben  be- 
schrieben. Es  muß  selbst  Ihren  Parteigenossen  im  Landtag  vor  Ihren 
Expektorationen  gegraust  haben  .... 

Ich  wollte  Sie  anfangs,  in  meiner  Eigenschaft  als  Kurator  des 
Waisenhauses,  wegen  der  frivolen  Beschimpfung  der  Anstalt  und  der 
mir  anvertrauten  Waisen  gerichtlich  belangen.  Ich  unterlasse  es;  denn 
Sie  sind  immun,  daher  wie  jedes  Kind,  wie  jeder  Idiot  für  das,  was 
Sie  sprechen,  nicht  verantwortlich! 

Der  Frost  des  Alters  hat  mein  Temperament  nicht  abgekühlt, 
neinen  Geist  nicht  getrübt,  ich  bin  nicht  immun  und  deshalb  für  das, 
«as  ich  schreibe  und  spreche,  verantwortlich! 

Seinen  Aufsatz:  »Meine  Tätigkeit  im  Landes- 
ausschußc  schließt  er  mit  den  Worten: 

Ich  hatte  es  satt,  diesen  Produktionen  politischer  Akrobaten  auf 
dem  Galgentrapez,  welche  ich  dreißig  Jahre  lang  mit  ansehen  mußte, 
länget  zuzusehen. 

Mich  ekelte  I 

Ich  nahm  kein  Mandat  mehr  an,  legte  alle  Ehrenämter  nieder 
und  zof  mich  ins  Privatleben  zurück !  Ich  lebe  nun  ruhig  und  zufrieden 
in  der  Hoffnung,  daß  eine  neue  Sündflut  die  zum  Himmel  stinkende 
Kloake  d;r  Korruption  auf  allen  Gebieten  der  menschlichen  Gesellschaft 
hinwegschwemmen  wird,  was  nicht  ausbleiben  kann! 

Vcn  dem  Interesse,  das  er  der  , Fackel'  bis  in 
die  letzte  Zeit  bewahrte,  habe  ich  die  liebenswür- 
digsten Beweise,  und  was  ich  aus  der  Welt  der 
moralischen  und  kriminalistischen  Infamie  griff,  be- 
schäftigte ihn  so  stark  wie  meine  Preßkärapfe.  In 
der  Zeit,  da  er  mit  den  Memoiren  beschäftigt  war, 
schickte  er  mir  mit  dem  Offenen  Brief  in  Nr.  170 
die  folgenden  Worte: 

Das,  was  Sie  wünschen,  kann  ich  Ihnen  leider  nicht  senden. 
Ich  arbeite  oft  Tage  und  Wochen  lang,  w^enn  ich  von  übler  Laune  und 
Ekel  über  die  henschenden  Verhältnisse  befallen  werde,  nichts.  Ob 
und  wann  die  Arbeit  fertig  wird,  weiß  Gott !  Vielleicht  fliegt  sie  früher 
in  den  Ofen.  Dafür  hat  mir  der  Zufall  gleichzeitig  mit  Ihrem  Schreiben 
ein  stenographisches  Protokoll  der  Landtagssitzung  vom  3.  November 
ins  Haus  geweht,  in  welcher  sich  P.  Bauchinger  über  Armenpflege  und 
über  das  Hyrtlsche  Waisenbaus  ausgelassen  hat.  Ich  benütze  nun  die 
Gelegenheit,  um  Ihnen  diese  Epistel  zu  senden  ...  In  der  moralisch 
pestgeschwängerten  Sumpfluft,  in  der  wir  leben,  wirken  Ihre  Publikationen 
in  der  , Fackel'  wahrhaft  erfrischend.  Sie  erinnern  mich  lebhaft  an  Küm- 
l>erger !  Machen  Sie  sich  einmal  über  die  politischen  Räuberbanden  und 
ihre  Häuptlinge  her.  Wenn  jemand  heute  imstande  ist,  diese  Filbustier 
zu  geißeln,  sind  Sie  es ! 


12  — 


Ein  halbes  Jahr  vor  seinem  Tode  schrieb  seinem 
Werk  Robert  Scheu  in  der  ,Fackel'  den  Nachruf,  der 
mit  den  Worten  schloß: 

Er  steht  in  der  Geschichte  als  Einer,  der  stark  und  baherzt 
war  und  sich  in  den  Strudel  gestürzt  hat,  wo  er  am  wildesten  brauste ; 
dessen  Werke  heute  noch  grünen,  und  der  zurückgekommen  ist  als  ein 
Unbefleckter.  Wohl  dem,  der  ihn  nennen  darf,  ohne  zu  erröten! 

Weh  den  vielen,  die  ihn  zu  nennen  wagen, 
weil  sie  nicht  mehr  erröten  können ! 

»Wehe  der  Nachkommenschaft,  die  ihn  ver- 
kennt Ic 

Karl  Kraus. 


Die ,  Arbeiter-Zeitung'  und  die  Taussig- Cliquen*) 

Wir  sind  keine  Moralphilister.  Wir  finden  wenig 
daran  auszusetzen,  wenn  vor  Weihnachten  verschie- 
dene große  Modewarenhäuser,  Möbelhändler  und 
Ratengeschäfte  ganze  oder  halbe  Seiten  lange  Inserate 
der  , Arbeiter-Zeitung'  zukommen  lassen.  Es  braucht 
ja  dadurch  nicht  gleich  das  Schweigen  über  die 
niedrige  Besoldung  des  bei  den  inserierenden  Handels- 


*)  Der  Abdruck  dieses  Artikels  wird  mir  in  der  folgenden  Zuschrift 
empfohlen : 

Die  Rolle  dessen,  der  den  Massen  mißtraut,  hat  die  Sozial- 
demokratie dem  Staat  abgenommen.  Wer  findet  heute  die  giftigsten 
Worte  gegen  die  Arbeiter-Syndikate,  die  modernste  Form  der  Arbeiter- 
bewegung, wie  sie  von  Paris  aus  über  kurz  oder  lang  durch  Europa 
ziehen  wird?  Die  sozialdemokratische  Presse.  Es  ist  grotesk,  zu  be- 
obachten, wie  etwa  der  Pariser  Korrespondent  der  , Arbeiter-Zeitung' 
von  einer  Woche  zur  andern  die  syndikalistische  Bewegung  bald  als 
einen  integrierenden  Bestandteil  der  Sozialdemokratie  reklamiert,  bald 
als  die  abgeschmackteste  Farce  kindsköpfiger  Narren,  die  im  Schlepptau 
der  Bourgeoisie  gehen,  verhöhnt.  Es  ist  bis  ins  kleinste  Detail  hinein 
der    nämliche    Jargon,    der    vor    zwanzig    Jahren    gegen    die    Sozial- 


—  13  — 


häusern  beschäftigten  Personales  erkauft  worden  zu 
sein.  Nein,  die  Sache  liegt  da  viel  einfacher:  Irgend 
ein  Modewarenhaus  will  seine  kompletten,  >wunder- 
vollen«  und  >durchaus  soliden<  Saccoanzüge  aus 
>echt  englischem«  Stoffe  zum  Preise  von  22  Kronen 
loswerden.  Ein  Möbelhändler  hingegen  unausgetrock- 
nete  Möbel  und  zwar  besonders  rasch  die  für  die 
Arbeiterwohnungen  so  dringend  notwendigen  Salon- 
ausstattungen im  altdeutschen  oder  im  Rokkokostile; 
ein  Teppichhändler  hiezu  passende  Laufteppich-  und 
Staubfängerreste,  >5  m  lang,  zirka  55  cm  breit,  der 
ganze  Rest  zu  2.20  Kronen«.  Ein  Juwelenhändler 
wiederum  beabsichtigt,  für  mehr  als  250.000  Kronen 
Weihnachtsgeschenke  an  den  Mann  zu  bringen,  ein 
Strickmaschinenverkäufer  seinen  Plunder  »zur  Schaf- 
fung emer  Lebensexistenz«,  die  Nahrungsmittelhänd- 
ler aber  die  gesunden  Suppenwürfel,  welche  bloß 
6  Heller  kosten  und  »jedwede  Fleischnahrung  über- 
flüssig machen.« 


demokratie  von  ihren  Gegnern  selbst  angewendet  wurde.  Wni  man 
heute  ein  wirkliches  Arbeiterblatt  lesen,  dann  darf  man  nicht  die 
.Arbeiter-Zeitung'  zur  Hand  nehmen,  sondern  nur  eines  der  gewerk- 
schaftlichen Fachblätter,  welche  gegen  die  Politikerclique  frondieren,  wie 
etwa  die  , Verkehrs-Zeitung',  das  offizielle  Organ  des  Reichsvereins 
der  österreichischen  Eisenbahner,  dessen  Artikel  fallweise  die  Hinter- 
gründe der  sozialdemokratischen  Taktik  enthüllen  und  wirkliche 
Einsichten  in  bisher  nur  geahnte  Zusammenhänge  eröffnen.  Diese 
Artikel  sind  gewiß  symptomatisch  für  die  Stimmung  großer  Schichten 
des  Proletariats.  In  eine  journalistische  Polemik  mit  diesen  unbequemen 
Gruppen  läßt  sich  dieSozialdemokratie grundsätzlich  nicht  ein.  Sie  kämpft  viel 
lieber  mit  ihren  Vordergrundsgegnem,  die  ihr  lange  nicht  so  wehe  tun, 
wie  der  innere  Feind,  den  sie  viel  echter  haßt  und  gegebenenfalls  viel 
grausamer  niederschlägt,  ganz  so  wie  der  Staat  es  macht,  der  mit 
seinen  Diversionen  nach  außen  gern  vom  innem  Zerwürfnis  ablenkt. 
Weil  dies  Schauspiel  als  ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Parteien 
immerhin  von  einigem  Interesse  ist,  möchte  ich  Ihnen  den  Artikel  über 
den  Fall  Taussig  aus  der  , Verkehrs-Zeitung'  zur  Reproduktion  empfehlen.  < 
Ich  besorge  sie  mit  einigen  Strichen.  Es  wäre  schade,  wenn  der 
Artikel  für  die  bürgerlichen  Kreise,  welche  die  .Arbeiter-Zeitung'  lesen, 
verloren  gegangen  wäre.  Hier  ist  er  ihnen  näher  gebracht. 

Anm.  des  Herausgebers. 


14 


An  wen  andern  sollten  sich  alle  diese  Leute 
wenden,  als  an  den  Arbeiter?  Und  durch  wen  sollten 
sie  in  ähnlicher  reklamehafter  Sprache  wie  der  hier 
angedeuteten  zum  Volke  reden,  wenn  nicht  in  Böhmen 
durch  den  offiziellen  Kreuzerfrosch  , Prager  Abend- 
blatt' und  in  Wien  durch  die  Raubmörderpresse  und 
die  , Arbeiter-Zeitung*. 

Wenn  nun  die  Bourgeoisfeuilletonisten  der ,  Arbei- 
ter-Zeitung* weniger  geistreich  über  alle  sensationelle 
Eintagskunst  befreundeter  Künstler-  und  Literaten- 
cliquen schwefeln,  dafür  aber  wie  z.  B.  der  Dresdner 
jKunstwart*  und  das  Wiener  ,Wissen  für  Alle*  mehr 
Erziehungsarbeit  leisten  wollten,  dann  müßten  sie 
den  Arbeiter  eindringlich  und  systematisch  belehren, 
wie  man  sich  das  ärmliche  Heim  ohne  Warenschund 
einigermaßen  behaglich  machen  kann.  Dann  würde 
der  Arbeiter  bald  erkennen,  wie  schlecht  und  gegen 
gute  Ware  vergleichsweise  sogar  teuer  all  das  in  den 
Annoncen  der  ,  Arbeiter-Zeitung*  angepriesene  Zeug 
ist.  Dann  wäre  auch  an  der  Inseratenwirtschaft  der 
, Arbeiter-Zeitung*  nichts  auszusetzen. 

Denn  die  Geleimten  wären  eben  die  Leute, 
welche  jene  teuren  Insrate  zahlen  und  so  —  in  der 
Hoffnung,  arme  Teufel  dranzukriegen  —  ein  Arbeiter- 
blatt unterstützen. 

Wir  sind  keine  Moralphilister.  Wir  regen  uns 
über  die  gewöhnlichen  Annoncen  der  ,  Arbeiter-Zei- 
tung* nicht  auf.  Der  größte  Teil  der  Arbeiterschaft 
hat  —  beinahe  hätten  wir  »gottseidankc  gesagt  — 
kein  Geld,  um  auf  jedes  Schwindelinserat  hineinzu- 
fliegen, und  sehr  viele  Proletarier  haben  sich  vom 
Katechismus  der  unfehlbaren  sozialdemokratischen 
Kirche  schon  insoweit  emanzipiert,  daß  sie  wenig- 
stens den  stets  genau  3  Spalten  langen  und  genau 
150  Zeilen  (ä  15  Silben)  Gesinnung  umfassenden  Leit- 
artikel auf  der  ersten  Seiten  der  , Neuen  Freien  Presse 
für  die  Arbeiter*  nicht  glauben  und  außerdem  nicht 
deren  Anoncenteil.   Die  paar  armen  Tröpfe,  die  noch 


—  15  — 


übrig  bleiben  und  die  auf  ein  Schwindelinserat 
ebenso  ieiciit  hineinfallen  wie  auf  einen  Schwindel- 
leitartikel mag  ein  geschäftstüchtiger  Herausgeber 
immerhin  opfern,  wenn  er  glaubt,  den  Ertrag  der 
Inserate  für  den  Betrieb  und  die  Ausgestaltung  einer 
sonst  anständigen  Zeitung   unbedingt   zu   benötigen. 

In  der  letzten  Zeit  erschienen  jedoch  in  der 
, Arbeiter-Zeitung*  wiederholt  Inserate,  gegen  welche 
wir  scharf  protestieren  müssen. 

Stirbt  einer  der  großen  Männer  Österreichs, 
einer  von  den  Leuten,  die  deshalb  groß  sind,  weil 
sie  sehr  viel  Geld  und  Einfluß  besitzen,  so  äußert 
sich  der  Schmerz  jener  Streber,  welche  dem  Familien- 
kreise des  Toten  fernstehen  und  denen  gewöhnlich 
durch  den  Abgang  des  Toten  eine  Karriere  frei  wird, 
in  sehr  marktschreierischer  Weise.  Die  Annoncen- 
teile aller  bürgerlichen  Blätter  füllen  sich  plötzlich 
mit  Todesanzeigen,  deren  Wortinhalt  ganz  gut  um 
80  Heller  im  Kleinen  Anzeiger  eingeschaltet  werden 
könnte,  deren  Buchstaben  aber  so  groß  sind  wie  die 
Freude  lachender  Erben.  Über  ganze  Seiten  breiten 
sich  so  kurze  Notizen  aus  und  je  korrupter  die  be- 
treffende Zeitung  ist,  desto  mehr  Seiten  werden  auf 
diese  höchst  einfältige  und  einer  wahren  Pietät 
geradezu  hohnsprechende  Art  seitens  der  verschie- 
denen Verwaltungsrats-  und  Speichelleckercliquen 
durch  ein  und  dieselbe  Todesnachricht  gefüllt. 
Niemand  wird  solche  Anzeigen  in  einem  Blatte 
finden,  das  auf  seine  Unabhängigkeit  hält.  Sagen 
wir  zum  Beispiel  in  der  Wiener  ,Fackel*,  welche  in 
den  Kreisen  gebildeter  Bourgeois  nicht  bloß  gelesen, 
sondern  auch  aufbewahrt  wird  und  so  den  Ruhm 
eines  Taussig,  eines  Preiherrn  von  Ringhoffer  oder 
irgend  eines  anderen  Geldraannes  doch  länger 
in  Erinnerung  bringen  könnte  als  ein  Arbeiter- 
blatt 1  Man  bedenke  ferner :  Eine  Reklaraeannonce 
muß  in  die  Augen  fallen  und  groß  gedruckt  sein. 
Wenn   einer    immer  und  immer  wieder  auf  ganzen 


16 


Seiten  liest  »Eleganter  Anzug  bloß  22  Kronen<,  dann 
geht  er  eines  Tages  doch  hin  und  kauft  sich  den 
kompletten  Plunder.  Eine  große  Reklameannonce  hat 
daher  Zw^eck;  ein  großes  Trauerinserat  jedoch  ist 
taktlos.  Durch  eine  klein  gedruckte  Anzeige  können 
solche  Leute,  die  schon  ihre  Trauer  öffentlich  und  in 
Zeitungen  zeigen  wollen,  beweisen,  daß  sie  des  Toten 
gedenken.  Ein  großes  Trauerinserat  ist  auch  nicht 
majestätisch  und  stimmungsvoll  wie  etwa  ein  großer 
Leichenkondukt.  Ein  großraächtiges  Trauerinserat 
zeigt  nichts  anderes  an,  als  die  großmächtige  Ab- 
hängigkeit der  Presse  von  den  großen  Cliquen. 

In  letzter  Zeit  nimmt  die  , Arbeiter-Zeitung* 
fleißig  solche  großmächtige  Traueranzeigen  an  und 
der  Text  im  redaktionellen  Teil  wird  dann  zufällig 
auch  sehr  traurig.  Wer  von  den  alten  »kampferprobten« 
Genossen  aus  den  schönen  Zeiten  des  Reichenberger 
Prozesses  hätte  das  geahnt?  Vor  ungefähr  einem 
halben  Jahre  gab  das  Ableben  des  Preiherrn  von 
Ringhoffer  Anlaß,  daß  die  , Arbeiter- Zeitung'  um 
einige  Annoncenseiten  verstärkt  wurde,  und  bald 
darauf  werden  sich  die  Eisenbahner  gewundert  haben^ 
auf  zwei  und  einer  halben  Seite  des  Annoncenteiles 
und  in  beinahe  ein  und  einer  halben  Spalte  des 
redaktionellen  Teiles  das  Lob  jenes  Mannes  zu  lesen, 
dessen  großzügiges  Wirtschafts-  und  Sparsystem 
einige  Wochen  später  durch  das  Faktum  »Uhersko« 
illustriert  wurde  und  dessen  Wirken  man  anläßlich 
seines  Ablebens  am  wohlwollendsten  dadurch  kritisiert 
hätte,  daß  man  darüber  geschwiegen  hätte.  Wir 
hätten  dies  auch  getan,  wenn  nicht  ein  Blatt  der 
Arbeiter  den  Herrn  v.  Taussig  als  den  genialen  Kauf- 
mann hingestellt  hätte,  dessen  Verhalten  gegen  seine 
Untergebenen  keinen  anderen  Tadel  verdient  als  den 
durch  den  einschränkenden  Satz:  »Als  eigentlicher 
Unternehmer  im  Verhältnisse  zur  Arbeiterschaft  hat 
Taussig  immer  nur  das  gerade  Notwendige,  nicht 
mehr    Aufzuschiebende    geleistet;     das    Dasein    der 


17  — 


Arbeiter  war  ihm  ein  Element  der  Bilanz,  mehr  nie<. 
Herr  v,  Taussig  verdient  nicht  ein  ziemlich  unein- 
geschränktes Lob  und  einen  Tadel,  der  in  unseren 
rohen  Zeiten  jedem  Kaufmaune  als  Lob  gilt.  Herr 
V.  Taussig  hat  zum  Schaden  des  Ansehens  und  der 
Finanzen  der  österreichischen  Bahnen  selbst  das  nicht 
mehr  Aufschiebbare  nicht  tun  wollen.  Das  war  sogar 
vom  kaufmännischen  Standpunkt  aus  unklug.  Am 
toten  und  lebenden  > Material«  hat  er  so  lange  ge- 
spart, bis  die  Vorbedingungen  zu  einer  stattlichen 
Anzahl  von  >Uher8ko-Fällen<  gegeben  waren.  Aus- 
schließlich seinem  fabelhaften  Glücke  verdankte  es 
Herr  v.  Taussig,  daß  sich  nur  ein  »UherskofalU  er- 
eignete und  auch  dieser  zufällig  einige  Monate  nach 
der  Verstaatlichung  der  von  ihm  verwalteten  Eisen- 
bahnen. Der  Fall  >Uhersko<  ist  auch  die  Ursache, 
weshalb  wir,  scheinbar  etwas  spät,  vielleicht  aber  — 
durch  Aufdeckung  des  Zusammenhanges  von  Miß- 
wirtschaft und  deren  Resultat  —  gerade  im  richtigen 
Augenblicke  auf  die  Verdienste  des  Herrn  v.  Taussig 
zurückkommen. 

Dieser  allmächtige  Geldmann  war  einer  der  Ver- 
waltungskünstler, welche  bei  den  österreichischen 
Eisenbahnen  jenes  Verwaltungssystem  inauguriert 
haben,  das  die  , Frankfurter  Zeitung*  —  gewiß  kein 
revolutionäres  Blatt  —  so  treffend  in  einem  Berichte 
über  das  Unglück  von  Uhersko  schildert: 

Das  entsetzliche  Eisenbahnunglück  auf  der 
Strecke  Wien — Brunn — Prag,  weitaus  die  größte 
Katastrophe  dieser  Art  in  Österreich  seit  einem 
Menschenalter,  darf  keineswegs  nur  mit  einer 
Verkettung  unglücklicher  Zufälle  entschuldigt 
werden.  Seine  eigentliche  Ursache  beruht  auf 
Mängeln,  die  für  den  größten  Teil  des  öster- 
reichischen Eisenbahnverkehrs  typisch  geworden 
sind:  Mangel  an  Personal,  ungenügende  Geleisean- 
lagen in  den  Bahnhöfen,  schlechtes  Wagenmaterial 
in  den  Schnellzügen  und  ungewöhnlich  große  Zugs- 


—  18  — 


Verspätungen  sind  in  den  letzten  Jahren  auf  den 
österreichischen  Bahnen  so  allgemein  üblich  geworden, 
daß  es  nur  einer  Verkettung  von  glücklichen  Zu- 
fällen zu  verdanken  ist,  wenn  man  ähnliche  Ka- 
tastrophen nicht  schon  früher  erlebt  hat . .  .  Vielleicht 
wäre  das  Unglück  verhütet  worden,  wenn  der 
Stationsbeamte  nicht  vergessen  hätte,  das  Distanz- 
signal auf  »Halt«  zu  stellen,  vielleicht,  denn  das 
Überfahren  des  Distanzsignales  gehört  leider  nicht  zu 
den  Seltenheiten.  Das  Hauptmoment  der  Gefahr  liegt  in 
der  Benützung  der  Hauptgeleise  zu  Verschubzwecken. 
Wie  es  scheint,  war  der  verunglückte  Schnellzug  in  der 
landesüblichen  Weise  kunterbunt  aus  allen  möglichen 
Wagentypen  zusammengestoppelt,  so  daß  die  schweren 
Vierachser  die  zwei-  und  dreiachsigen  Wagen  förmlich 
zermalmten.  Es  gibt  in  Österreich  nicht  einen  ein- 
zigen Schnellzug,  der  aus  einheitlichen  oder  mindestens 
gleichartigen  Wagenfypen  zusammengesetzt  wäre,  ja, 
es  kommt  oft  genug  vor,  daß  Wagen  im  Gewichte 
von  13  bis  15  Tonnen  zwischen  den  modernen 
Kolossen,  die  bis  zu  40  Tonnen  und  mehr  wiegen, 
laufen.  Diesen  Menscheufallen  sollte  die  Aufsichts- 
behörde ihre  besondere  Aufmerksamkeit  schenken, 
nicht  nur,  weil  bei  Zusammenstößen  die  Insassen 
der  leichten  Wagen  stets  die  Zeche  zahlen  müssen, 
sondern  weil  die  Entgleisungsgefahr  der  gemischten 
Garnituren  viel  größer  ist  als  in  einheitlichen  Zügen. — 
Das  Hauptverdienst  des  Herrn  v.  Taussig  be- 
stand also  im  Sparen  bis  zur  Uhersko-Möglichkeit. 
Sein  zweites  Verdienst  bestand  in  dem  wirklich 
genialen  Trick,  alle  Männer  von  Einfluß,  die  ge- 
schäftlich mit  seinen  Gesellschaften  zu  tun  hatten, 
in  Abhängigkeit  von  Aktiengesellschaften  zu 
bringen.  Die  Anstellung  früherer  Referenten 
in  Ministerien  bei  den  von  diesen  Ministerien 
kontrollierten  Banken,  Privatbahnen  und  Aktien- 
gesellschaften wurde  normal.  Jeder  ehrgeizige 
Ministerialsekretär   sah   bei  der  Behandlung  der  ihm 


—  19  — 


zugewiesenen  Akten  die  hohen  Konnexionen  und  in 
hinterster  Ferne  die  Verwaltungsratsstelle  schweben. 
Die  Versurapftheit  wurde  so  in  die  österreichischen 
Ministerien  hineingetragen;  die  Versumpftheit,  die 
später  durch  die  Korruption  des  Volkshauses  geradezu 
zur  Versumpfung  der  österreichischen  Völker  führen 
sollte.  Keiner  von  denen,  die  in  österreichischen 
Ministerien  streben,  denkt  daran,  sich  in  seine 
Agenden  zu  vertiefen  und  als  versierter  Fachmann 
ohne  fremde  Hilfe  auf  einen  leijtenden  Posten  zu 
kommen.  Das  Arbeiten  besteht  nur  im  Liebäugeln 
mit  dankbaren  Parteiführern  und  Abgeordneten, 
welche  auf  die  Besetzung  der  hohen  Stellen  im 
Staate  Einfluß  nehmen,  und  in  der  liebenswürdigen 
Kulanz  gegen  die  großen  Geldmänner,  welche  die 
entthronten  und  pensionierten  Staatsgewaltigen  ver- 
sorgen können.  Vor  der  drohenden  Verstaatlichung 
der  k.  k.  priv.  Kaiser  Ferdinands -Nordbahn 
im  Jahre  1885  war  der  spätere  Hofrat  Jeitteles 
Referent  über  diese  Verstaatlichungsangelegenheit 
und  dabei  ein  großer  Scharfmacher.  Selbstverständlich 
wurde  dieser  Herr  Generaldirektor  dieser  Privat  bahn; 
selbstverständlich  wurde  diese  Bahn,  deren  Konzession 
erst  im  Jahre  1886  abgelaufen  war,  erst  zwei  Jahr- 
zehnte später  und  auch  dann  noch  unvorteilhaft  für 
das  Reich  verstaatlicht.  Andere  Staatsmänner  ver- 
sorgten die  Südbahn,  die  StEG.,  die  Nordwestbahn, 
die  österreichischen  Schiffahrtsgesellschaften,  die 
Bankhäuser,  und  selbst  jüngere  Beamte  in  den 
Ministerien  wurden  zur  Leitung  von  Privatbahnen 
berufen.  Die  Politiker  und  die  großen  Geldraänner  hin- 
gegen protegierten  wieder  ihre  Anverwandten,  Günst- 
linge und  Werkzeuge  in  die  Ministerien    hinein 

Daß  auf  diese  Weise  der  Staatsbahnbetrieb  allmählich 
krepieren  muß,  liegt  klar  zutage.  Eine  österreichische 
Privatbahn  ist  schließlich  nur  von  einer  Verwaltungs- 
ratsclique abhängig,  noch  dazu  von  einer,  die  wenigstens 
an  den  Einnahmen   interessiert    ist;   das   Eisenbahn- 


—  20  — 

ministerium  ist  aber  von  allen  an  der  Übervorteilung 
des  Staates  interessierten  Geldmännercliquen  ab- 
hängig und  außerdem  noch  von  den  noch  hungrigeren 
politischen  Führern. 

Einmal  nur  wehte  in  der  österreichischen  Eisen- 
bahnverwaltung eine  reinere  Luft.  Das  war  im 
Jahre  1907,  als  die  Priyatbahnbediensteten  selbst  zu 
regieren  anfingen,  die  Öffentlichkeit  auf  die  Sünden 
der  Taussigclique  aufmerksam  machten  und  dadurch 
auch  einigen  ehrlichen  Herren  der  Generalinspektion 
Mut  einflößten,  gegen  die  mächtigsten  Nebenregenten 
in  Österreich  mutig  zu  sein.  Freilich  hätten  diese 
Herren  noch  mutiger  sein  sollen  und  —  unbekümmert 
um  die  Kundgebungen  einiger  Handelskammern  und 
der  Vertretung  eines  einzigen  nordböhraischen  Bezirkes 
—  die  Courage  zum  Äußersten  finden  sollen.  Dann 
hätten  sie  vielleicht  jetzt  dem  Staate  ein  Uhersko 
und  Millionen  erspart 

Das  große  Lob  der  , Arbeiter-Zeitung'  verdient 
Herr  von  Taussig  wirklich  nicht  und  den  schönen 
Tadel,  daß  er  die  Gefühle  seiner  Untergebenen  quasi 
richtig  bei  der  Bilanz  berücksichtigte,  erst  recht 
nicht.  Das  von  ihm  schlecht  in  den  Kalkül  gezogene 
Verhalten  der  Angestellten  der  StEG.  und  der  Nordwest- 
bahn hat  ihm  einen  dicken  Strich  durch  seine  Bilanzen 
gemacht  und  das  Vertrauen  in  Taussigs  Klugheit 
zum  ersten  Male  erschüttert.  Richtig  taxierte  Herr  von 
Taussig  nur  das  Verhalten  der  sozialdemokratischen 
Gewerkscliaftsführer ;  diese  hätten  beinahe  die  passive 
Resistenz  des  Jahres  1907  unmöglich  gemacht,  wenn 
nicht  das  durch  das  provozierende  Hinausschieben 
der  Verwaltungsratssitzungen  gereizte-  Personal  der 
genannten  zwei  Bahnen  alle  Bilanzberechnungen 
des  Herrn  v.  Taussig  und  der  sozialdemokratischen 
Gewerkschaftsführer  ad  absurdum  geführt  hätte. 

Die  .Arbeiter-Zeitung*  sieht  nur  Größe  an  Herrn 
Taussig.  Begeistert  schildert  sie:  »Von  Jugend  an  und 
ununterbrochen  setzt  sich  der  Aufstieg  Taussigs  forte. 


—  21  — 

So  schwärmerisch  schreiben  ehrliche  Ästheten  nur  von 
Goethe;  Schiller  ist  ihnen  bereits  eines  so  uneinge- 
schränkten Lobes  nicht  würdig.  Doch  die  verzückte 
Poesie  sinkt  in  die  Daten  zurück:  tMit  vierund- 
«wanzig  Jahren  war  er  Bankdirektor  und  daß  er  das 
Zeug  zu  diesem  Geschäft  hatte,  beweist  die  Tatsache, 
daß  er  ein  Jahr  später  berufen  wurde,  um  in  die 
Verhältnisse  der  am  Rande  des  Abgrundes  befind- 
lichen Bodenkreditanstalt  Ordnung  zu  bringen«.  Wir 
zweifeln  nicht  daran,  daß  Herr  v.  Taussig  das  Zeug 
hatte,  sich  in  der  schwülen  Luft  des  kaufmännischen 
Geistes  nach  dem  Jahre  1873  wohl  zu  fühlen.  Das 
aber  glauben  wir  doch  nicht,  daß  rein  nur  der  Kopf 
einen  talentierten  und  selbst  talentiertesten  Jüngling 
in  Österreich  so  schnell  vorwärts  bringen  kann,  daß 
er  mit  18  Jahren  bereits  ein  hoher  Beamter  und  mit 
24  Jahren  Direktor  eines  Bankhauses  ist.  Da  müssen 
schon  andere  Faktoren  im  Spiele  gewesen  sein. 
Später  freilich  zeigte  sich  Herr  v.  Taussig  seines 
Geschäftes  würdig.  Bei  allen  Eisenbahnverstaat- 
lichungen der  Jahre  nach  1873  hatte  er  seine  Hand 
im  Spiele  und  bekanntlich  waren  diese  Verstaat- 
lichungsaktionen für  den  Staat  so  günstig,  daß  sie 
ganz  ebenbürtig  der  großen  > Entstaatlichungsaktion« 
im  Jahre  1854  waren,  welche  den  Anfang  des  groß- 
artigen Defizites  der  Staatsbahnen  bedeutet.  Herr 
V.  Taussig  sanierte  auch  die  Bodenkreditanstalt  und 
anläßlich  der  vor  einigen  Monaten  erfolgten  Fest- 
nagelung  des  beabsichtigten  Krestranekschwindels  im 
Parlament  kam  man  darauf,  daß  der  Staat  leider 
wiederholt  Verwässerungen  des  Aktienkapitales, 
welche  eine  Steuerersparnis  bezweckten,  bewilligt 
hat  und  zwar  auch  der  Bodenkreditanstalt.  Das  ist 
des  Rätsels  Lösung.  Die  Finanzgenies  Österreichs 
unterscheiden  sich  von  denen  anderer  Länder  da- 
durch, daß  sie  nicht  neue  Industrien,  neue  Bahnen 
aus  dem  Boden  stampfen,  sondern  daß  sie  Finanz- 
operationen  durchzuführen    verstehen,  dank  welchen 


—  22 


mit  einigen  Federstrichen  Betriebs-  und  Investitions- 
kapital durcheinander  geworfen  und  dadurch  nach 
freiem  Belieben  die  Dividende  doppelt  so  hoch  oder 
dreimal  so  niedrig  gemacht  werden  kann,  wobei 
natürlich  im  letzteren  Falle  Vorsorge  getroffen  wird, 
daß  in  die  Taschen  der  begünstigten  Aktionäre  nicht 
weniger  Geld  fließt 

Auf  die  wahren  und  wirklichen  Wertver- 
mehrungen verstand  sich  Herr  v.  Taussig  ebenso- 
wenig, wie  zum  Beispiel  Herr  Kestranek,  der  die 
Dividende  der  Böhmischen  Montangesellschaft  zwei- 
mal besteuern  ließ,  in  der  HofiFnung,  dann,  wenn  er 
einige  Jahre  statt  20  Perzent  —  36  Perzent  Divi- 
dendensteuer gezahlt  hätte,  durch  falsche  Fatierung 
des  in  der  Böhmischen  Montangesellschaft  investierten 
Kapitales  die  Übertragungsgebühren  zu  sparen.  Jener, 
der  da  täuschen  wollte,  fiel  derart  gründlich  hinein, 
daß  man  ihn  wohl  über  kurz  oder  lang  in  die  Pension 
schicken  wird.  Auch  Herr  Taussig  fiel  sehr  oft  so 
hinein  und  glücklich  huschte  er  an  mancher  selbst- 
bereiteten Schwierigkeit  nur  infolge  der  Schläfrigkeit 
der  Aufsichtsorgane  vorüber. 

Unter  dem  Herrn  v.  Taussig  verluderte  die  StEG. 
und  nicht  nur  diese,  nein,  auch  dieDonau-Dampfschifif- 
fahrts-Gesellschaft  kam  aus  einer  Mißwirtschaft  in  die 
andere,  so  daß  sie  jetzt,  wie  die  Neue  Freie  Presse 
sonderbarerweise  rühmend  hervorhebt,  in  der  ange- 
nehmen Lage  ist,  viel  weniger  Kapital  in  den  Schiffen 
investiert  zu  haben  als  ehedem  und  auch  viel  weniger 
Kohle  als  ehedem  zu  verbrauchen.  Der  Schiffahrts- 
verkehr auf  der  Donau  sieht  aber  auch  danach  aus. 

Die  Kunststücke  des  Herrn  v.  Taussig  muß 
selbst  die  , Arbeiter-Zeitung'  kennzeichnen.  >Dabei 
war  Taussig  ein  Mensch  ganz  im  amerikanischen 
Stil,  also  von  Skrupeln  nie  geplagt.  Wie  weit  er 
sich  da  wagte,  zeigen  die  famosen  Verstaatlichungs- 
anträge unter  Wurmbrand  und  Guttenberg;  auch 
daß    er   einmal    bei    einem    besonders   zweideutigen 


—  23  — 


Geschäft  der  Steyrer  Waffenfabrik  öfifentlich  verwarnt 
werden  mußte;  und  nicht  wenige  Börsenleute  werden 
das  Opfer  seiner  mannigfachen  Kurslreibereien  ge- 
worden sein.« 

Wir  mußten  uns  mit  dem  Nachrühme  des  Herrn 
V.  Taussig  beschäftigen,  um  wenigstens  einige  Leser 
der  , Arbeiter-Zeitung'  davor  zu  warnen,  die  Sätze 
ihres  Blattes  allzugläubig  im  Busen  zu  bewahren: 
>Taussig  war  unzweifelhaft  ein  Mensch  von  Kraft 
und  Energie,  Intelligenz  und  Schlauheit,  eine 
Persönlichkeit  von  Wuchs  und  Eigenart«.  .  .  Wurde 
Karl  Marx  je  so  temperamentvoll  in  der  »Arbeiter- 
Zeitung*  gelobt?  Soll  man  da  nicht  lieber  dem  Marx 
abschwören  und  den  verschiedenen  Taussigs  und 
Kestraneks  nachfolgen?  Den  Männern,  deren  »starke 
Hand«  noch  in  den  in  Arbeiterblättern  erschienenen 
Traueranzeigen  fett  gedruckt  von  der  Verwaltungs- 
ratsclique der  »österreichischen  Bodenkredit-Anslalt« 
gelobt  wird. 

Ihr  fragt  Arbeiter:  »Soll  man  der  starken  Hand 
des  Kapitals  folgen?«  Währenddessen  hat  die  sozial- 
demokratische Parteileitung  eure  Frage  schon  mit 
»Jal«  beantwortet.  Nordböhraen  wird  vom  Kompromiß 
der  Sozialdemokraten  mit  den  Verwaltungsratsliberalen 
beherrscht.  »Weil  die  Kohlenbarone  und  Kestranek- 
leute  als  Industrielle  naturgemäß  volksfreundlicher 
sind  als  die  reaktionären  deutschnationalen  Volks- 
schullehrer und  Bauernknechte.«  So  begründet  man 
sehr  schlau. .  .  Die  Hauptsorge  des  Dr.  Adler  ist,  ob 
der  Staat  mit  seinen  Bestellungen  die  Maschinen- 
industrie auch  genug  beschäftige.  Zuletzt  wird  er 
für  diesen  Zweck  vielleicht  noch  den  Bau  einiger 
Dreadnousrhts  verlangen.  Denn  diese  reißen  wenigstens 
ins  Geld.  Ob  sich  die  stets  nur  an  der  Börse  und  nie 
im  Konstruktionsbureau  spekulierende  faule  öster- 
reichische Maschinen-  und  Bisenindustrie  durch  billige 
Offert-,  beziehungsweise  Eisenpreise  auch  genug 
beschäftigen  will,    das  fragt   er    nicht.   Nicht  durch 


24  - 


Streiks  und  Gewerkschaftstätigkeit  will  er  für  den 
Metallarbeiter  höhere  Löhne  erzielen,  sondern  einzig 
und  allein  durch  Bittgänge  für  die  Industriellen.  Uns 
hingegen  will  es  scheinen,  als  ob  die  Höhe  der  Löhne 
-davon  abhängen  würde,  ob  die  betreffenden  Arbeiter 
in  einer  verläßlichen  sozialdemokratischen  Gewerk- 
schaft kuschen  oder  endlich  selbständig  handeln 
gelernt  haben.  Sehr  sonderbar  erscheint  es  uns  z.  B., 
daß  die  Lohnaufbesserungen  der  zumeist  sozial- 
demokratisch organisierten  Bergarbeiter,  dieser  soge- 
nannten Kerntruppen  der  >Roten«,  weit  hinter  der 
Preissteigerung  der  Kohle  zurückblieben,  trotzdem 
-die  Geschäfte  der  Kohlenbarone  —  selbst  mit  Berück- 
sichtigung einiger  Schwankungen  —  im  Zeitraum 
von  1897  bis  1907  eine  in  Österreich  ungeahnte 
Blüte  erreicht  haben. 

Die  Logik  der  Sozialdemokratie  wird  immer 
famoser,  immer  befremdender  für  gewöhnliche 
Arbeiter.  Die  Logik  der  Sozialdemokratie  wird  immer 
mehr  und  mehr  die  Logik  der  Verwaltungsrats- 
liberalen  und  der  Geldmännercliquen. 

Die  Logik  eines  gesunden,  eines  nicht  aus 
revolutionärer  Phrase  und  aus  Utopien  ins  Spieß- 
bürgertum sinkenden  Sozialismus  wird  jedoch  nicht 
ad  absurdum  geführt  werden.  Sie  setzt  sich  in  den 
breiten  Massen  durch,  neue  Ideen  klären  sich  in 
Hirnen,  die  noch  kurz  vordem  von  den  dümmsten 
Schlagworten  bürgerlicher  und  sozialdemokratischer 
Politik  befangen  waren.  Selbst  die  »roten  Kern- 
truppenc  sind  mit  der  Haltung  der  ,  Arbeiter-Zeitung* 
unzufrieden.  Sie  ist  ihnen  —  wie  dies  Äußerungen 
am  letzten  Parteitage  bewiesen  —  ziemlichzuw  ider, 
von  den  nicht  objektiven  Parlamentsberichten  ange- 
fangen bis  zu  den  kurzen  pikant-lüsternen  Feuilletons 
mit  den  stets  wiederkehrenden  dummen  Anspielungen 
auf  einen  marxistisch  gesinnten  Herrgott  im  Himmel 
und  auf  die  für  die  Hölle  bestimmten  Kapitalisten 
■und  Pfaffen.    Die  Arbeiter    fühlen    heraus,    daß   die 


—  25  — 

,  Arbeiter-Zeitung*  einfach  eine  bourgeois-liberale- 
Zeitung  geworden  ist,  ein  Blatt,  das  die  Schwächen 
des  Klerikalismus  mit  urdummen  Phrasen  bekämpft 
und  gegen  Individualismus,  Kapitalismus  und  alle 
wirklich  antisozialistischen  Ideen  mit  der  kon- 
fusen Logik  eines  alten,  von  den  Barrikaden  beinv 
Anblicke  des  ersten  Bajonetts  hinweggelaufenen, 
liberalen  Achtundvierzigers  ankämpft.  Die  , Arbeiter- 
Zeitung'  bietet  keine  Schund-  und  Raubmörderblatt- 
Lektüre.  Dies  geben  wir  gerne  zu ;  sie  ist  aber 
längst  eine  ,Neue  Freie  Presse  für  die  Arbeiter* 
geworden,  vornehm  beschwichtigend,  alle  radikalen 
Äußerungen  ins  Gegenteil  verkehrend  und  vor 
allem  konservativ-reaktionär  trotz  des  Freisinn-Ge- 
schwefels.  Das  fühlen  die  Arbeiter  endlich  heraus. 
Ihr  Blatt  scheint  ihnen  über  viel  zu  viele  Sachen 
infam  zu  schweigen.  Es  schreibt  ihnen  zu  wenig 
gegen  das  Parlament.  Nicht  gegen  die  Christlich- 
sozialen, die  Deutschradikulen  und  die  übrigen  Kon- 
kurrenten der  gewählten  Genossen  allein  soll  es  sich 
wenden,  sondern  gegen  das  Parlament  überhaupt. 
Das  Blatt  ist  den  Arbeitern  auch  zu  antigewerk- 
Bchaftlich.  Ober  den  Tischlerstreik  bringt  es  nichts 
Genaues,  über  die  Eisenbahnerbewegung  außer  Feind- 
seligkeiten gegen  die  Macher  der  passiven  Resistenz 
gar  nichts,  über  die  Syndikatsbewegung  in  Frank- 
reich nur  Verleumdungen. 

Das  alles  gefällt  selbst  den  Folgsamsten  unter 
den  Sozialdemokraten  nicht  mehr.  Mögen  diese  stutzig 
gewordenen  Leute  auf  die  Stimme  im  Innern  hören 
lernen.  Wir  wollen  hoffen,  daß  diese  Leute  wieder 
Sozialisten  werden,  wirklich  freie  Gewerkschaftler, 
welche  —  so  wie  sie  es  in  den  Achtziger  Jahren 
getan  haben  —  bei  den  Worten  >parlamentarische 
Intervention«,  >einflußreiche  Tagespressec  und 
>große  politische  Partei«  einfach  ausspucken. 


—  26  — 

Baron  Prangart  nnd  der  Bajazzo  *) 
Von  Karl  Borromaeus  Heinrich 

Die  Schüler,  ungefähr  dreißig  an  der  Zahl,  erhoben  sich 
beim  Eintritt  ihres  Lehrers,  teils  nachlässig,  teils  aufmerksam,  wie 
es  eben  in  eines  Jeden  Art  lag.  Da  entfuhr  einem  Schüler,  der 
allein  in  der  letzten  Bank  saß,  ein  hörbares  >Ah!«  des  Erstaunens. 
Und  jetzt  richteten  auch  die  weniger  Aufmerksamen  ihre  Blicke 
nach  den  Eingetretenen. 

Diese  waren  bereits  am  Katheder  angelangt.  Der  griechische 
Lehrer,  ein  alter  Mann,  bildete  in  seiner  müden  Haltung  einen 
merkwürdigen  Gegensatz  zu  Baron  Frangart.  Dieser  stand  gleich- 
mütig neben  ihm,  in  der  reizvollen  Zierlichkeit  seiner  etwas 
kleinen,  eleganten  Gestalt;  seine  Gesichtszüge  waren  während  der 
letzten  Jahre  herber,  schärfer  und  daher  noch  stolzer  geworden. 
Die  satte  Bronze  der  weichen  Haut  seiner  Wangen  hatte  sich  in 
Chamfort  nicht  mehr  verloren  und  bezeugte  seine  südliche  Heimat. 
Die  langen,  langen  Wimpern  beschatteten,  wie  ehedem,  seine 
dunklen  Augen,  die  Strenge  ihres  Blickes  mildernd.  Nur  die 
Haare  waren  nicht  mehr  gelockt;  im  linksseitigen  Scheitel  aus- 
einandergekämmt, gaben  sie  eine  edle  Stirne  bloß.  Die  geschwun- 
genen Linien  des  Mundes  erschienen  bestimmter  und  auch  sie 
erhöhten  den  Stolz  seiner  scheuen,  verschlossenen  Jugend.  Natürlich 
war  er  glatt  rasiert,  sorgsam,  ohne  auch  nur  eine  Spur  der  Haare 
zurückzulassen.  —  So  stand  er  gleichmütig  da  und  sah  zuerst 
zerstreut  über  seine  künftigen  Mitschüler  hinweg;  sein  Blick 
haftete  dann  verloren  auf  dem  letzten  Fenster,  vor  dem  sich  hohe 
Bäume  mit   kahlen  Ästen  erhoben,   vom  Novembernebel  bedeckt. 

Wo  blieb  die  strahlende  Sonne,  die  zu  diesem  seltsamen 
Fremdling  gehörte?  wo  die  durchsichtige  Luft,  die  seinem  jungen 
Körper  lebendige  Plastik  verlieh!  —  Einsam  und  fremd  stand 
er  da.  — 

»Entzückender  Junge!«  sagte  halblaut  der  Schüler  auf 
der  letzten  Bank.  Frangart  schien  es  nicht  zu  hören;  eben  begann 
der  griechische  Lehrer:  >Hier  stelle  ich  Ihnen  Fritz  Freiherrn  von 
Frangart  vor,  der  neu  in    Ihre  Klasse  eingetreten   ist  .  .<    Der 


*)  Bruchstücke    aus    einem    Roman    >Menschen    von    Goites 
Gnaden«,  den  der  Münchener  Autor  soeben  vollendet  hat. 


27  — 


Vorgestellte  verneigte  sich.  »Nur  keine  langen  Reden  von  vegen 
Freiherm!«  kam  es  halblaut  aus  der  hintersten  Bank.  Der  Lehrer 
verzog  über  dem  Gemurmel  ärgerlich  seine  Miene.  Die  Schüler 
kicherten  leise.  »Wollen  Sie  sich  setzen,  Baron  FrangartI«  sagte 
der  Lehrer.  Der  einzige  noch  freie  Platz  war  in  der  letzten  Bank 
neben  dem  Schüler,  der  sich  die  Zwischenrufe  geleistet  hatte.  Dem 
Lehrer  fiel  in  aller  Eile  ein,  daß  er  diesen  strafen  könne:  »Sie 
kommen  neben  Ludwig  Schlagintweit,  nicht  gerade  unseren 
schlechtesten,  aber  sicher  unsern  frechsten  Schüler«,  bemerkte  er 
zu  Frangart.  Schlagintweit,  den  sie  in  der  Klasse  Bajazzo  nannten, 
versteckte  sein  gutmütiges  Gesicht  mit  den  herzlichen,  spott- 
lustigen Augen  hinter  dem  Rücken  seines  Vormannes.  »Das 
stimmt,  Gott  sei  Dank!«  flüsterte  er.  Die  Schüler  verbissen  das 
Lachen. 

Baron  Frangart  nahm  gleichmütig  seinen  Platz  ein,  nachdem 
er  sich  ein  wenig  vor  Ludwig  Schlagintweit  verneigt  hatte.  Dieser 
sah  ihm  unbekümmert  ins  Gesicht:  »Grüß  Gott,  guten  Tag, 
habe  die  Ehre,  Herr  Baron  Frangobald!<  flüsterte  er,  während 
vorn  ein  Schüler  aufgerufen  worden  war  und  »Piatons  Apologie 
des  Sokrates«  zu  übersetzen  sich  bemühte.  »Frangart«,  korrigierte 
Fritz  ruhig  seinen  Nachbarn,  indem  er  die  übrige  Anrede  ignorierte. 
Dieser  rückte,  da  Frangart  kein  Buch  mitgebracht  hatte,  das  seine 
in  die  Mitte  der  Bank.  Vorn  rief  eben  ein  grober  Übersetzungs- 
fehler einen  zornigen  Ausbruch  des  Lehrers  hervor.  Schlagintweit 
benützte  den  entstandenen  Lärm,  um  seinen  Nachbarn  zu  fragen : 
»Kennen  Sie  die  .Phraseologie  des  Sokrates'  schon?«  Frangart 
nickte  bejahend.  »Können  Sie  überhaupt  was  im  Griechischen?« 
forschte  er  weiter.  Frangart  zuckte  die  Achseln.  »Dürfen  schon 
reden,  seien  S'  ganz  unbesorgt!  Er  hört  schlecht!«,  flüsterte 
Schlagintweit,  der  das  frostige  Benehmen  Frangarts  entweder 
nicht  bemerkte,  oder  nicht  bemerken  wollte.  Aber  in  diesem 
Augenblick  sah  der  Professor  doch  warnend  zu  ihm  her.  Er 
erwiderte  seinen  Blick  treuherzig.  Dann  aber  bückte  er  sich 
wieder  und  murmelte  zwischen  den  Zähnen :  »Herr  Professor,  trauen 
S'  Ihnen  nicht,  traun  S'  Ihnen  nicht  .  .  .  sonst  blamiere  ich  Sie 
wieder  einmal,  wann  mir  griechische  Konjekturen  machen !«  Die  in 
der  Nähe  Sitzenden  grinsten,  auch  Baron  Frangart  mußte  lächeln; 
der  Lehrer  rief  gerade  einen  anderen  Schüler  auf.  »Wissen  S'  was, 

296-207 


—  28  — 


Herr  Baron,«  setzte  Schlagintweit  die  einseitige  Unterhaltung  fort, 
>alles  können  S'  von  mir  abschreiben,  nur  in  der  Mathematik  kann 
ich  selber  rein  gar  nichts.  , Schlagintweit,  wieder  Note  vier,  un- 
genügend, können  nichts,  werden  nie  etwas  lernen  in  der  Mathe- 
matik!'* ahmte  er  den  Mathematik- Lehrer  nach.  Der  Vordermann 
wandte  unvorsichtig  den  Kopf,  um  Schlagintweit  seinen  Beifall  für 
die  gelungene  Imitation  auszudrücken.  In  den  hinteren  Bänken 
entstand  langsam  eine  allgemeine  Unruhe.  Schlagintweit  rief  dem 
Vordermann  flüsternd  zu:  »Liebe  dicke  Mittelmäßigkeit,  schau 
gefälligst  nicht  so,    ich  red'  nicht  mit  Dir  ...    so,  schön   ruhig 

sitzen  mit  Deinem  breiten  Rücken! <  (Fast  alle  Spitznamen 

in  der  Klasse,  auch  die  zurechtgewiesene  > liebe  dicke  Mittel- 
mäßigkeit* waren  von  Schlagintweit  erfunden  und  verbreitet  wor- 
den.) Baron  Frangart  sah  seinen  lebhaften  Nachbarn  mit  ruhiger 
Aufmerksamkeit  von  der  Seite  an.  Dieser  fühlte  es,  blickte  ihm 
offen  ins  Gesicht,  und  errötete  in  leichter  Verlegenheit.  Einige 
Minuten  schwieg  er.  Aber  dann  hatte  er  es  wieder  vergessen,  oder 
er  wollte  doch  noch  einen  Versuch  machen,  Baron  Frangart  aus 
seiner  Ruhe  zu  bringen.  >0h  mei',  Drapologie  des  Sokrates!«  be- 
gann er  haiblaut.  Baron  Frangart  lächelte.  >Können  Sie  auch 
stenographieren?«  schrieb  Schlagintweit  jetzt  an  den  Rand  des 
Buches,  da  ihm  der  Lehrer  eben  den  zweiten  warnenden  Blick 
zugeworfen  hatte.  >Nein,<  nickte  sein  Nachbar;  vorn  ging  die 
Übersetzung  weiter.  »Ja,  Herrschaft,  ja,  Sie  armer  Mensch,  das 
müssen  S'  lernen!  .  .  .  .«  knurrte  Schlagintweit  zwischen  den 
Zähnen,  und  machte  ein  aufrichtig  betrübtes  Gesicht.  Da  geschah 
etwas  Merkwürdiges:  Baron  Frangart,  der  die  vertraulichen  Worte 
seines  Nachbarn  mit  einer  Mischung  von  Indignation,  Kopfschütteln 
und  Belustigung  schweigend  angehört  hatte,  sah  diesen  witder  von 
der  Seite  an  und  bemerkte  die  komische  Betrübtheit  seines  Aus- 
druckes. Da  verlor  er  seine  Fassung,  und  fing  ohne  Überlegung 
zu  lachen  an.  Schlagintweit  und  die  Mitschüler  erschraken 
zuerst.  Aber  Frangarts  Lachen  (er  hatte  es  nie  geübt  und 
also,  wie  es  ihm  angeboren  war,  erhalten)  klang  so  vollkommen 
heiter  in  den  still  gewordenen  Schulraum  hinein,  daß  alle  ange- 
steckt wurden,  auch  der  erschrockene  Schlagintweit  und  schließlich 
der  entrüstete  Lehrer,  und  in  schallendes  Gelächter  ausbrachen. 
Frangart  hörte  zuerst  auf;    das  allgemeine  Echo  gab  ihm 


—  29  — 

seine  Fassung  wieder,  und  Schamröte,  gleich,  als  ob  Lachen  für 
ihn  unrecht  wäre,  überzog  sein  Gesicht;  überdies  fiel  ihm  jetzt 
ein,  daß  er  Schlagintweit  mit  diesen  Lachen  verraten  hatte. 

»Entschuldigen  Sie  gütigst!«  sagte  er  zu  ihm.  —  »Ach 
Unsinn,  was  entschuldigen,  das  tut  mir  nichts.« 

Der  Vorfall  endigte  damit,  daß  Schlagintweit  eine  Strafauf- 
gabe zudiktiert  wurde,  nämlich  einige  Seiten  aus  der  Apologie  des 
Sokrates  schriftlich  zu  üt}ersetzen. 

Dies  also  war  der  Anfang  der  großen  Freundschaft,  die 
Ludwig  Schlagintweit  für  Baron  Frangart  in  der  Folge  empfand, 
und  auch  der  Anfang  der  ruhigen,  aber  immerhin  unleugbaren 
Sympathie,  die  dieser  wenigstens  für  Schlagintweit  bezeugte. 

• 

Um  es  vorneweg  zu  sagen:  wenn  alle  Gefälligkeiten,  die 
Ludwig  Schlagintweit,  Sohn  eines  pensionierten  Briefträgers,  Fritz 
Freiherrn  von  Frangart  unaufgefordert  erwies;  wenn  alle  rührenden 
Züge  freundschaftlicher  Besoretheit,  die  an  diesem  herzlichen  jungen 
Menschen  während  der  Zeit  ihres  Beisammenseins  hervortraten; 
wenn  alle  Grade  der  Gefühle,  zu  denen  sich  seine  Zuneigung 
verstieg;  wenn  einem  das  alles  auf  einmal  gegenwärtig  sein  könnte, 
und  man  vergliche  hiemit  jene  monotone,  jederzeit  beherrschte 
Sympathie,  mit  der  Baron  Frangart,  zuweilen  bei  sich  selbst,  seltener 
schon  mit  freundlichen  Blicken,  mit  Worten  vollends  nur  dann 
und  wann,  stets  aber  nur  sehr  kärglich  Ludwig  Schlagintweit  dankte, 
—  so  möchte  man,  wiederum  mit  einem  Vergleich  sagen,  daß 
der  mit  einem  goldenen  Kelch  Beschenkte  einen  irdenen  Krug  als 
Gegengeschenk  gegeben  habe.  Aber  so  einfach  ist  die  Rechnung 
nicht.  Man  muß  bedenken,  wie  ganz  von  selbst  der  Eine  aus  sich 
herausging,  wie  er  mit  seinem  allzeit  offenen  Herzen  durch  die 
Welt  zog,  gleichsam  Gott  nacheifernd,  der  die  Sonne  über 
Gerechte  und  Ungerechte  ohne  Auslese  scheinen  läßt,  wohingegen 
der  Andere,  zur  Unterscheidung  und  Distinktion  geboren  und  er- 
zogen, Herzlichkeit  im  allgemeinen  fast  als  Schmutz  empfand,  »weil 
in  ihr  die  Schranken  fallen  und  alles  durcheinanderfließt«;  den 
verborgenen  Reichtum  seines  Herzens,  gemäß  dem  Ratschlüsse 
Gottes,  bei  sirh  behalten  mußte  und  vielleicht  so  schwer  daran 
trug,  wie  ein  Baum  an  überreifen  Äpfeln,  die  nicht  abgeschüttelt 
werden.   Und  überhaupt  ist  in  Dingen  des  Gefühls  alles  Urteilen 


30  — 


ungerecht.  Dies  war  der  Gedankengang,  auf  dem  sich  Ludwig 
Schiagintweit  während  seiner  Freundschaft  für  Baron  Frangart, 
und  auch  lange  nachher  noch  tröstete  .  .  . 

Ein  einziges  Mal  hatte  er  auch  versucht,  die  Gesellschaft 
seiner  Mitschüler  auf  der  sogenannten  Absolventenkneipe  zu  ge- 
nießen. Schiagintweit  saß  an  seiner  Seite  und  konnte  bezeugen, 
von  welcher  Höhe  der  Verachtung  aus  sein  schweigender  Blick 
dieses  Treiben  ablehnte.  Es  war  ihm  schon  ganz  unbegreiflich, 
wozu  denn  die  sogenannten  Chargierten  immer  mit  ihren  unge- 
schliffenen Schlägern  auf  den  Tisch  schlugen;  noch  mehr  erbitterte 
ihn  det  angebliche  Gesang  der  Cantusse;  in  grenzenlosem  Ekel 
aber  erhob  er  sich,  als  sie,  bei  dem  traurigen  Fiducit  der  »Exkneipe«, 
sich  Ochsenmaulsalat  bringen  ließen,  diesen  ganz  sans  fagon  hin- 
unteraßen,  gewaltig  hineintranken   und  dann  wirr  durcheinander 

zu  gröhlen  anfingen:    »Ein  Prosit,  ein  Prosit,  der  Gemü a 

....  a  ....  t  .  .  lieh  ....  kei  ...  eit  ...  !<  Zwei  wollten  ihn  bei 
seinem  Weggehen  anpöbeln;  da  er  vor  Ekel  überhaupt  nicht 
antworten  konnte  und  wollte,  belehrte  Schlagintwett  die  zwei 
Schreihälse  eines  Besseren. 

Die  Gesellschaft  Schlagintweits  ertrug  Fritz  Frangart  wie  die 
eines  lustigen  treuen  Dieners.  Seine  Ergebenheit  hatte  in  der  Tat 
etwas  Rührendes.  Eine  Woche  nach  jener  Kneipe  kam  er  freude- 
strahlend zu  Frangart:  >Die  Weltordnung  ist  umgangen,  meme 
Illoyalität  hat  gesiegt !<  —  »Bitte?<  —  >Ich  habe  einen  mir  be- 
kannten, jungen  Arzt  wiederentdeckt,  der  Ihnen  jederzeit  alle  nur 
gewünschten  Schulkrankheiten  bestätigt  !<  Frangart  benutzte  die 
Liebenswürdigkeit  dieses  Arztes  ausgiebig:  Im  Januar  und  Februar 
saß  er  wochenlang  zu  Hause.  Schiagintweit,  der  allein  ihn  be- 
suchen durfte,  kam  gegen  Abend  und  nahm  mit  ihm,  in  einer 
knappen  Viertelstunde,  alles  durch,  was  der  ganze  Tag  zu  lernen 
gebracht  hatte.  Die  schriftlichen  Probearbeiten  in  der  Schule  schrieb 
er  auf  Drängen  Schlagintweits  von  diesem  voll  und  ganz  ab;  dieser 
schmierte  dann  in  seine  eigene  Arbeit  eiligst  noch  einige  Fehler, 
um  einen  Unterschied  herzustellen  und  den  Professoren  den  Nach- 
weis des  Abschreibens  zu  erschweren. 

Schließlich  duldete  Schiagintweit  nicht  mehr,  daß  Frangart 


31 


die  häuslichen  Arbeiten  selbst  anfertijjte.  >Herr  Baron,  das  hat  doch 
für  Sie  keinen  Sinn  mehr;  daran  sterben  Sie  ja  vor  Langeweile«, 
konstatierte  er  und  kam  von  nun  ab  jeden  Tag  Punkt  sieben  Uhr 
in  die  Wohnung  Frangarts,  worauf  dieser  die  Aufgaben  abschrieb. 
Das  war  natürlich  auch  in  einer  Viertelstunde  geschehen.  Frangart 
fuhr  dann,  wie  immer,  zur  Frauenkirche  in  die  Messe,  wohin  ihn 
jedoch  Schlagintweit  nie  begleitete.  Da  aber  Frangart  sich  nicht 
bemüssigt  fühlte,  es  auch  für  formlos  gehalten  hätte,  nach  der 
Weltanschauung  eines  anderen  zu  fragen,  kam  es  darüber  nie  zu 
einer  Auseinandersetzung. 

Diese  vollkommene  Schweigsamkeit  des  Baron  Frangart  über 
sein  eigenes  Wesen,  über  seine  Anschauungen,  tat  Schlagintweit 
weh.  Wenn  er  im  Bette  lag  und  nachsann,  welche  Gefälligkeiten 
er  morgen  Baron  Frangart  erweisen  könnte,  träumte  er  manchmal 
davon,  daß  einmal,  ach,  nur  ein  einzigesmal  dieser  sein  Herz 
öffnen  würde.  Er  dachte  es  sich  so  schön,  wenn  sie  sich  dann 
gegenseitig  ihre  Ideen  klarlegen  würden,  er  würde  die  Hand  um 
Baron  Frangart  legen  ...  oh  nein,  er  wußte  schon,  daß  er  dies 
nie  wagen  dürfte,  daß  jener  sich  nie  eröffnen,  auch  nie  eine 
freundschaftliche  Vertraulichkeit  gestatten  würde. 

Frangart  seinerseits,  wenn  er  über  Schlagintweit  (was  sehr 
selten  geschah)  nachsann,  fonnulierte  seine  Sympathie  für  diesen 
so:  »Er  hat  noch  den  Takt  der  alten  Leute  aus  dem  Volke,  er 
verlangt  keine  Aufklärungen,  keine  Gründe  von  den  Menschen, 
die  er  verehrt«.  Und  so  erriet  er  die  Sehnsucht  des  armen  Schlag- 
intweit nicht,  weil  sie  ihm  selber  fehlte.  In  der  Heiterkeit 
aber,  die  von  diesem  Menschen  ausging,  sonnte  er  sich  mit  einer 
gewissen  trägen  und  selbstverständlichen  Ruhe,  wie  vor  Jahren, 
an  die  Schloßmauer  von  Frangart  gelehnt,  in  der  lachenden  Sonne 
des  Südens  .  .  . 

Der  junge  Baron  ging  um  diese  Zeit,  halb  aus  Neugierde, 
halb  aus  konventionellem  Zwang,  etliche  Male  zu  den  Tees  und 
anderen  gesellschaftlichen  Veranstaltungen  einiger  adeliger  Fa- 
milien, an  die  man  ihn  liebenswürdig  empfohlen  hatte.  Aber  bald 
unterließ  er  es  wieder.  Bei  den  einen  sah  er  sich  mit  Künstlern 
und  Literaten  zusammen  eingeladen,  die,  unter  dem  Beifall  der 
Hauswirte,  ihre  modernen  und  billigen  Phrasen  von  neuen  Wegen 


—  32  — 

zur  Kultur  kommentierten,  aber  für  Fritz  Frangart  durch  ihr 
ganzes  gesellschaftliches  Benehmen  hinlänglich  bewiesen,  daß  sie 
die  wohlbewährten  alten  Wege  zur  Kultur  noch  nicht  gegangen 
waren.  Seiner  Ansicht  nach  wurden  sie  der  hohen  Bedeutung,  die 
man,  sogar  in  alten  Familien,  ihrer  Anwesenheit  beimaß, 
nicht  im  geringsten  gerecht,  umsomehr  aber  dem  kalten 
Büfett,  oder  am  meisten  dem  Abendessen,  wenn  es  ein  solches 
gab :  ihr  unanständiger  Heißhunger  paßte  durchaus  zu  dem  Bild, 
das  sich  Baron  Frangart  von  der  neuen  Kultur  machte.  Wenn 
aber  in  diesen  Gesellschaften  Wein  getrunken  wurde  oder  gar  Sekt, 
so  unterschieden  sich  die  Gäste  nur  in  der  Qualität  des  Getränkes, 
aber  keineswegs  in  ihren  Sitten  von  seinen  kneipenden  Mitschülern; 
höchstens  noch  darin,  daß,  was  dort  >Gemü . . .  a . .  a . .  t . .  lich- 
kei...eit<  genannt  wurde,  hier  als  »originelle  Viecherei<  oder 
gar  als  »dionysischer  Taumelt  der  Gemüter  galt.  —  In  anderen 
Kreisen  hinwiederum,  die  zwar  in  den  Formen  immer  noch  strenger 
und  genauer  lebten,  bemerkte  er  mit  Mißvergnügen,  daß  sich  alle 
Männer  ohne  Ausnahme  und  sogar  die  meisten  Frauen  offenbar 
viel  mit  Politik  beschäftigten.  Er  aber  empfand  Politik,  wie  sie 
heute  getrieben   wird,  als  eine  Degradierung;  so  zog  er  sich  also 

auch  aus  diesen  Kreisen  zurück. 

* 

Von  den  stets  willig-gelieferten  Krankheitsbestätigungen  des 
erwähnten  Arztes  bezog  Fritz  Frangart  in  den  Monaten  Mai  und 
Juni  eine  reichliche  Anzahl.  So  konnte  er  sich  unbehindert  seiner 
Ruhe  hingeben. 

Ein  paar  Tage  vor  der  Maturitätsprüfung,  also  in  der  zweiten 
Hälfte  des  Juni,  ereignete  sich  indessen  ein  Vorfall,  der  ihn  in 
unangenehmer  Weise  aufstörte.  Er  hatte  von  seinen  Mitschülern 
ja  nach  jener  Kneipe  niemals  mehr  Notiz  genommen  und  war  so- 
mit allerdings  der  Mühe  enthoben,  sich  an  ihre  von  Schlagintweit 
gegebenen  Charakteristiken  zu  erinnern.  Aber  da  die  Mitschüler 
die  Bevorzugung  Schlagintweits  nicht  ohne  Neid  sehen  konnten, 
und  dieser  auch  wegen  seiner  Spottlust  heimliche  Feinde  genug 
hatte,  bildete  sich  unliebsames  Gerede  über  ihre  Beziehungen.  Die 
große  Ergebenheit  des  einen  gegen  den  anderen  war  ja  allen  be- 
kannt. So  sagte  man,  zum  Beispiel,  daß  sich  der  schöne  Baron 
Frangart  den  Schlagintweit  als  Diener,  ja  »Haustier«  halte  und  ihn 
dafür,  hoffentlich  und  jedenfalls,  anständig  bezahle. 


-  33  - 


Als  er  nun  eines  Morgens  in  das  Klassenzimmer  eintrat, 
und  mit  den  Augen  den  noch  abwesenden  Schlagintweit  suchte, 
flüsterte  die  »dicke  Mittelmäßigkeit«  einem  Mitschüler  einige  Worte 
zu,  die  Anspielungen  der  erwähnten  Art  enthielten.  Baron  Frangart 
hörte  es,  ohne  es  zu  wollen.  Daher  ging  er,  mit  der  sicheren 
Ruhe,  die  ihm  eigen  war,  zu  der  »Mittelmäßigkeit«  hin  und  er- 
suchte, verbindlich  lächelnd,  aber  nicht  ohne  leise  Drohung  in 
seinen  dunklen  Augen,  um  Aufklärung.  Die  Mittelmäßigkeit  er- 
schrak heftig,  und  ihr  bourgeoises  Fett  (mit  Schlagintweits  Worten 
zu  reden)  wackelte.  >Herr  Baron,  das  sage  nicht  ich,  das  habe  ich 
nur  gehört.  Man  hat  mir  erzählt,  daß  Schlagintweit  seine  Schüler 
und  sein  Einkommen  vernachlässigt,  weil  er  die  freie  Zeit  jetzt 
meistens  bei  Ihnen  zubringt.«  Baron  Frangart  sah  den  ängstlichen 
Stotterer  an  wie  eine  Kröte  und  wandte  sich  ab.  Das  Gerede  war 
sehr  ekelhaft,  aber  er  nahm  sich  vor,  Schlagintweit  kein  Wort 
davon  zu  sagen,  ihn  hingegen,  wie  es  gerecht  war,  auf  irgend  eine 
■  Weise  zu  entschädigen.  Baron  Frangart  hätte  ja  mit  Leichtigkeit, 
ohne  es  zu  verspüren,  die  Familie  Schlagintweit  über  die  groben 
Sorgen  des  Tages  hinausheben  können.  Es  war  nicht  Geiz,  was 
ihn  davon  abhielt.  Aber  es  gehörte  zu  seinen  Überzeugungen,  daß 
die  Armut  von  Gott  gewollt  und  zur  Erhaltung  des  überliefertCH 
Standes  der  menschlichen  Dinge  nützlich  sei,  sie  beheben  zu  wollen 
somit  auch  einen  Akt  der  Revolution  begehen  hieße.  Es  hatten 
schon  genug  Verschiebungen  in  der  menschlichen  Gesellschaft 
stattgefunden,  im  Laufe  des  letzten  Jahrhunderts . . . 

Mit  solchen  Ansichten  verband  Baron  Frangart  auch  einige 
merkwürdige  äußere  Gewohnheiten,  zum  Beispiel,  daß  er  nie  ein 
anderes  Licht  in  seinem  Zimmer  duldete,  als  das  von  Wachskerzen. 
Niemals  in  seinem  Leben  benützte  er  das  Telephon :  es  war  ihm 
eine  >zu  junge  Einrichtung«.  Statt  eine  Zeitung  zu  lesen,  ließ  er 
sich  von  Schlagintweit  allmonatlich  die  Reihe  der  nackten  Ereig- 
nisse der  Zeit  auf  einem  kleinen  Zettel  zusammenschreiben.  Dieser, 
der  >alles  war,  nur  nicht  loyal«,  konnte  nicht  umhin,  sich  dabei 
manchen  Scherz  zu  erlauben.  Einmal  schrieb  er:  Der  Papst  hat  den 
Vatikan  an  einen  Amerikaner  verkauft  und  ist  nach  Berlin  ver- 
zogen. Ein  andermal :  Der  internationale  Delegiertentag  der  Sozial- 
demokratie hat  die  Rethronisierung  der  Bourbonen  auf  sein  Pro- 
gramm gesetzt.  Oder :  Gestern  haben  sich  alle  Pariser  Anarchisten 


34  — 


auf  der  Place  de  la  Concorde  freiwillig  verbrannt.  (Mit  diesen 
Sclierzen  wollte  er  Baron  Frangart  zu  einer  Diskussion  verleiten, 
was  ihm  aber  nicht  gelang.)  Automobil  fuhr  Baron  Frangart  nie: 
>man  soll  in  seinen  alten  Tagen  nicht  einen  so  neuen  Sport  an- 
fangen«. Die  Versuche  der  Luftschiffer  vollends  hielt  er  für  ein 
Verbrechen,  und  fand  es  in  Ordnung,  daß  so  viele  dieser  Leute 
tödlich  verunglückten.  Übrigens,  behauptete  Baron  Frangart,  hätten 
die  Chinesen  alle  diese  Neuerungen  schon  vor  längster  Zeit  be- 
sessen, sie  aber  durch  den  Machtspruch  des  Gesetzes  wieder  abge- 
schafft ;  denn  sie  hätten  ersichtlich  nicht  zur  Hebung  des  Qlückes 
und  der  menschlichen  Gesellschaft  überhaupt  beigetragen. 

Inzwischen  stellte  die  Neuzeit,  ja  die  allernächste  Gegen- 
wart, eine  nüchterne,  unumstößliche  Forderung  an  Baron  Frangart : 
nämlich,  die  Maturitätsprüfung  zu  machen.  -  Im  Lateinischen, 
Griechischen  und  Französischen  ging  alles  glatt,  in  der  Religion 
ausgezeichnet,  zur  Freude  seines  Religionslehrers,  den  er  selbst 
hochschätzte.  Zweierlei  aber  stand  ihm  noch  bevor:  das  Deutsche 
und  die  Mathematik.  In  der  Mathematik  rechnete  er  gelassen  mit 
der  allerletzten  Note.  Das  Deutsche  mußte  ihm  erhebliche  Schwierig- 
keiten machen,  wenn  sich  das  Thema  etwa  auf  die  Geschichte 
bezog,  in  deren  Studium  er  konsequent  alles,  was  ihm  nicht 
gefiel,  ignoriert  hatte. 

Nun  bestand  das  deutsche  Thema  in  jenem  Satz  des  anti- 
revolutionären, von  Frangart  über  alles  verehrten  Goethe:  »Was 
du  ererbt  von  Deinen  Vätern  hast,  erwirb  es,  um  es  zu 
besitzen.« 

Baron  Frangart  lieferte  eine  nur  leise  verhüllte  »Begründung 
der  Tradition  in  jedem  Betrachte,  der  Priviligion  und  aller  von 
Gott  gewollten,  historisch  bewährten,  menschlichen  Institutionen.« 
Sein  Aufsatz  geriet  wirklich  sehr  gut,  und  es  war  schade,  daß  ihn 
nur  der  deutsche  Professor,  nicht  aber  Schlagintweit  zu  Gesicht 
bekam;  er  hätte  daraus  doch  Einiges  zum  Verständnis  seines 
Frangart  gelernt. 

Schlagintweit  selbst  gab  zwei  Bearbeitungen  des  Them.as 
ein.  Auf  die  eine  schrieb  er  in  Klammern:  »Wie  das  Thema  von 
einem  Abiturienten  behandelt  werden  muß<.  Diese  Bearbeitung 
war  in  der  Form  der  edlen  Chrie  abgefaßt  und  enthielt  alles 
Wünschenswerte.  Auf  die  andere  schrieb  er:  »Wie  das  Thema  von 


-  35 

einem  Menschen  behandelt  wird<.  Hierin  setzte  er  kaltblütig  und 
ironisch  auseinander,  daß  ihm,  mangels  eines  materiellen  väter- 
lichen Erbes,  für  den  Satz,  soweit  er  materiell  gemeint  sei,  eigent- 
lich jede  Erfahrung  fehle;  daß  er  jedoch  seinen  eventuellen  Nach- 
kommen, vorausgesetzt,  daß  sie  wenigstens  etwas  erbten,  die 
Worte  Goethes  unermüdlich  einbläuen  werde.  Dazu  fügte  er  eine 
lächerliche  Betrachtung  über  mögliche  Widersprüche,  die  er 
zwischen  dem  Ideal  der  reinen  Humanität  (d.  i.  >Menschlichkeit<) 
und  dem  der  Tradition  späterhin  möglicherweise  ent-  und  auf- 
decken werde. 

Diese  zweite  Bearbeitung,  von  der  er  mit  dem  Wunsch, 
Frangart  zu  einer  Gegenrede  zu  reizen,  diesem  erzählte,  aber  nicht 
mehr  als  em  Lächeln   zur  Antwort  bekam,   trug  Schlagintweit  in 

letzter  Stunde  eine  Karzerstrafe  ein. 

• 

Solchermaßen  waren  nun  doch  eine  Zeit  lang  über  die  alte 
Mauer  der  Ruhe,  von  der  umgeben  Baron  Fritz  Frangart  dahin- 
lebte, die  unruhigen  Eidechsen  geklettert,  die  der  gute  Bajazzo 
dorthin  jagte;  und  Baron  Frangart  jagte  sie  nicht  weg.  Aber  dem 
Bajazzo  öffneten  sich  die  Mauern  nicht.  In  dunklen  Nächten  stand 
er  manchmal,  leise  schluchzend,  davor.  Unerhört  verhallte  sein 
Schluchzen  und  das  Salz  seiner  Tränen  konnte  der  Mauer  so  wenig 
anhaben,  wie  die  zartfüßigen  Eidechsen  seiner  Heiterkeit.  —  Ein 
solcher  Bajazzo  wie  Schlagintweit  hat  ein  schweres  Los  auf  Erden: 
freilich  darf  er  seine  Spässe  auch  dort  aufführen,  wo  sich  Andere 
keine  lustige  Miene  mehr  getrauen,  geschweige  denn  ein  Wort. 
Aber  das  ist  auch  alles.  Er  muß  froh  sein,  wenn  er  nicht  miß- 
verstanden wird;  wenn  ihn  die  Anderen  nicht  mit  einem  Allerwelts- 
Hallodri  verwechseln  und  ihm  Pfennige  hinwerfen.  .  Das  nun 
brauchte  Schlagintweit  von  Baron  Frangart  nicht  zu  befürchten. 
Aber  Liebe  gab  ihm  dieser  auch  nicht,  konnte  sie  ihm  nicht  geben . . . 

Oh  über  die  süßen  Schmerzen  der  Freundschaft!  Oh  un- 
belohnte  Liebe!  Oh  Schrei  der  Sehnsucht,  der  ohne  Echo  verhallt! 
Oh  verlorene,  verlorene,  verlorene  Jugend!  .  .  . 

»Ein  schweigsamer  Mensch  ohne  Echo  zu  sein,  wie  Baron 
Frangart,  ist  aber  auch  keine  Kleinigkeit!«  dachte  Schlagintweit, 
zog  sein  Herz  aus  der  Brust  und  wischte  sich  die  Tränen 
damit  ab. 


-    36  - 

Wanderers  Lied 
Von  Albert  Ehrenstein 

Meine  Freunde  sind  schwank  wie  Rohr, 
auf  ihren  Lippen  sitzt  ihr  Herz, 
Keuschheit  kennen  sie  nicht; 
tanzen  möchte  ich  auf  ihren  Häuptern. 

Mädchen,  das  ich  liebe, 
Seele  der  Seelen  du, 
auserwählte,  lichtgeschaffene, 
nie  sahst  du  mich  an, 
dein  Schoß  war  nicht  bereit, 
zu  Asche  brannte  mein  Herz. 

Ich  kenne  die  Zähne  der  Hunde, 
in  der  Wind-ins-Gesicht-Gasse  wohne  ich, 
ein  Sieb-Dach  ist  über  meinem  Haupte, 
Schimmel  freut  sich  an  den  Wänden, 
gute  Ritzen  sind  für  den  Regen  da. 

»Töte  dichl<  spricht  mein  Messer  zu  mir. 
Im  Kote  liege  ich; 
hoch  über  mir,  in  Karossen  befahren 
meine  Feinde  den  Mondregenbogen  .  .  . 


Bficher 

Die  »Deutsche  Theater-Zeitschrift'  (Berlin,  Jahr  III, 
Heft  7)  schreibt  über  >Sprüche  und  Widersprüche«: 

Seit  zehn  Jahren  schwingt  Karl  Kraus  seine  flammende  Fackel  über 
jede  bittere  Schmach  des  deutschen  Landes,  von  manchem  Guten  geliebt, 
von  vielen  gehaßt,  gleichgiltig  nur  denen,  die  nicht  Deutsch  verstehen.  Und 
seit  zwrei  Jahren  ist  er  am  Werke,  das,  was  seine  hinreißende  Stilmacht  in 
den  roten  Heften  plastisch  gestaltet  hat,  zu  Büchern  umzugießen.  So  ent- 
stand im  Vorjahre  der  Band  > Sittlichkeit  und  Kriminalität«,  so  heuer  das 
Buch  >Sprüche  und  Widersprüche«.  Ich  kenne  sie  alle  von  früher  her,  diese 
festen  und  farbigen  Steine,  die  einen  hohen  Bau  gäben,  wenn  ein  Philosoph 
sie  zu  einem  System  zusammenfügte  und  nicht  ein  heißer  Künstler  es  vor- 
gezogen hätte,  sie  zu  dem  stolzen  Mosaik  seiner  Lebensanschauung  anein- 
anderzuschließen  -  diese  Sprüche,die  nichtWorte  sind, sondern  lebendeWesen. 
Haben  sie  ja  doch  ein  tiefgrabendes  Hirn,  ein  verzweifeltes  Herz  und 
eine  Stimme,    die    donnern    kann   gegen    die  Gemeinheit    unserer  Welt- 


37  - 


Ordnung,  wild  aufschluchzen  ob  der  Brutalität  geistiger  Machthaber  und 
singen  zum  Preise  der  Schönheit.  Manch  einer  von  diesen  brennenden 
schillernden  Sätzen  sprach  einst  zu  mir  wie  ein  reifer  Mensch,  der  zu 
tiefinnerst  Dinge  erlebt  hat,  die  ich  kaum  ahnte.  Voll  Bewunderung 
lauschte  ich  der  Botschaft.  Anfangs  fehlte  noch  der  Glaube.  Bis  mir 
meine  Erlebnisse  die  Naturnähe  dieser  Erkenntnisse  bewiesen.  Keiner 
dieser  Sprüche  und  Widersprüche,  die  vom  Weibe  und  der  Phantasie, 
der  Moral  und  dem  Christentum,  vom  Nebenraenschen,  von  der  Dummheit, 
der  Demokratie,  dem  Intellektualismus,  dem  Künstler  und  anderen 
wichtigen  Kultuproblemen  dichten,  sei  hier  zitiert.  Denn  ich  könnte, 
wenn  ich  etwa  ein  Dutzend  hierhersetzte,  mich  an  den  vielen  Hundert 
anderen  vergreifen.  Wer  sie  kennen  lernen  will,  kennt  nun  den  Weg. 
Sie  zu  missen  wäre  heute  kaum  denkbar;  sie  zu  wissen  ist  ein 
freudiger  Schmerz.  Oskar  Jellinek. 

In  der  , Rhein.  Westfälischen  Zeitungf  (Essen, 
14.  Oktober)  war  die  folgende  Besprechung  enthalten: 

Simplicissimusluft  weht  besonders  in  dem  Eingangskapital  mit  der 
übermäßigen  Betonung  des  Sexuellen,  sich  aufbauend  auf  der  schroff 
durchgeführten  Antithese:  das  Weib  ist  Sinnlichkeit,  der  Mann  Verstand. 
Aber  wir  finden  im  weiteren  auch  einen  die  Masse  hassenden  Einsam- 
keitsstolzen und  einen  bedeutenden  Satiriker  von  Geist  und  Schärfe, 
der  gerade  und  kühn,  vorschreitend,  was  er  denkt  über  Kunst  und 
Leben,  originell  zu  formulieren  und  zu  prägen  weiß. 

Die  Auffassung,  daß  besonders  im  Kapitel  »Weib,  Phantasie« 
Simplicissimusluft  wehe,  gibt  der  Kritik  ihre  ausgesprochene 
Eigenart.  Man  spielt  dem  Simplicissimus  jetzt  in  Deutschland 
übel  genug  mit.  Nunmehr  auch  dieses  noch ! 


Die  »Zeitschrift  für  Demographie  und  Statistik 
der  Juden'  (BerUn  V.,  Nr.  12)  schreibt  über  »Sittlichkeit  und 
Kriminalität<: 

Kraus  hat  zu  dem  1.  Bande  seiner  ausgewählten  Schriften  eine 
Reihe  von  Aufsätzen  vereinigt,  welche  in  ihrer  ursprünglichen  Form  in 
der  Wiener  Zeitschrift  ,Die  Fackel'  erschienen  sind  Sie  behandeln  zumeist 
die  Wiener  Sensationsprozesse  der  letzten  Jahre,  so  weit  sie  das  Thema 
»Sittlichkeit«  berühren.  Kommt  die  Darstellung  von  Einzelfällen  schon 
an  sich  als  ein  äußerst  wichtiges  kriminalpolitisches  Material  in  Betracht, 
welches  der  Kriminal  Statistik  an  Bedeutung  gleich  zu  achten  ist,  so 
sind  die  Betrachtungen  Kraus'  zu  den  einzelnen  Prozessen  von  ganz 
besonderem  Werte.  Denn  er  weiß  in  glänzender  Darstellung  aus  jedem 
einzelnen  Falle  eine  schier  erstaunliche  kriminalpolitische  Ausbeute  zu 
gewinnen.  Die  temperamentvollen  kritischen  Bemerkungen  Kraus",  welche 
sich  einesteils  auf    die  Rechtspflege    und    andererseits    auf    die  Gesetze 


38    - 


selbst  beziehen,  verdienen  in  hohem  Maße  Beachtung,  zumal  in  einer 
Zeit,  in  der  die  Reform  der  Strafgesetzgebung  vorbereitet  wird.      B.  B. 

• 

,Der  Demokrat',  Wochenschrift  für  freiheitliche  Politik, 
Kunst  und  Wissenschaft  (Berlin  II.  Nr.  7),  bringt  einen  Essay,  in 
dem  es  heißt: 

Kraus  hat  jahrelang  österreichische  Korruptionen  mit  dem  brüs- 
kestem  Mut  aufgedeckt,  er  hat  die  Verkommenheit  der  Wiener  Presse 
auf  eine  lebensgefährliche  Art  bekämpft.  Man  versteht  ohne  weiteres, 
daß  er,  solange  die  , Fackel'  erscheint,  in  Österreich  totgeschwiegen 
wurde.  Die  Aufsätze  von  >  Sittlichkeit  und  Kriminalität«  lassen  sich  aber 
nicht  mehr  mit  diesem  System  aus  der  Welt  schaffen  .  .  .  Sicherlich  ist 
man  zuerst  erstaunt  über  die  Summe  von  unglaublich  sachlichen  juri- 
stischen Auseinandersetzungen,  rein  logisch  gesetzesmäßiger  Behandlung 
von  Rechtsfällen .  .  .  Aber  unter  den  dürren  Formen  der  trockenen 
Darstellung  erhebt  sich  unterirdisch  das  wilde  Brüllen  eines  Tieres  aus 
Urzeiten.  Es  gilt  die  Hetzjagd  auf  das  Geschlecht. 

Das  Geschlecht  ist  umstellt  von  einer  hämischen  Meute.  Das 
ganze  Bürgertum  rückt  an,  die  Scharen  Schmunzelnder  mit  triefenden 
Mäulern  und  verfetteten  Gehirnen.  Diese  ganze  Menge  wird  beherrscht 
von  einem  Ideal,  geschoben  von  einer  Sehnsucht:  dem  Glück  des 
Kitzels.  Unwiderstehlich  rücken  diese  Bataillone  des  feisten  Lächelns 
an,  um  Schlachten  zu  schlagen,  deren  größter  Sieg  stets  die  Niederlage 
ihrer  eigenen  Mannen  ist.  Plötzlich  wird  aus  den  eigenen  Reihen  ein 
Mensch  herausgestoßen,  und  ein  Fragen,  Flüstern,  Lachen  stürzt  aus 
tausend  Mäulern  auf  sein  Leben  ein,  die  Begierden  aller  dieser  Tausende 
werden  an  ihm  enthüllt,  geheime  Wünsche,  deren  Befriedigung  stets 
das  Phlegma  hinderte,  werden  in  ihrer  Erfüllung  offenbart,  und  aus  der 
Scham  des  Umzingelten  schlürft  die  Menge  jenes  zum  Leben  so  not- 
wendige Gefühl  der  Natur,  das  ihr  selbst  aus  purer  Verfressenheit  in 
stickiger  Stube  versagt  bleiben  mußte  .  .  Aber  das  ist  nicht  die  Brunst, 
in  Geheimnisse  hinabzutauchen,  nicht  jene  ewige  Gier,  die  Erotik  zu 
entwirren,  sondern  der  Wunsch,  den  Einzelnen,  der  das  Treibwild  ist, 
zxim  Erzähler  pikanter  Anekdoten  zu  machen;  unter  dem  Schutze  des 
allgemeinen  Interesses  sich  jene  Genüsse  zu  verschaffen,  die  man  sonst 
nur  in  dunklen    Ecken    aus   Revolverblättern  zu  ziehen  sich    getraut .  .  . 

Kraus  stellt  die  Gerichtsverhandlungen  des  bekannten  Sittlichkeits- 
prozesses gegen  den  Professor  Beer  in  Wien  dar.  Alle  Begriffe  ver- 
schieben sich  da.  Die  Empörung  des  Lesers  wird  schließlich  zur  trockenen 
Kenntnisnahme  von  Selbstverständlichkeiten,  längst  bekannte  Gerichts- 
gebräuche erregen  wütendes  Erstaunen.  Die  Begierde  der  satten  Öffent- 
lichkeit, teilzuhaben  an  den  geheimen  Genüssen  des  Einzelnen,  stürzt 
sich  auf  jeden,  geschlechtlicher  Verfehlung  Angeklagten,  Mann  oder  Weib. 
Sie  beeinflußt  im  Prozeß  Beer  die  Zeugen,  den  Gerichtshof  —  die  Ver- 
teidiger. Sie  macht  die  Sensationen  des  Falles  der  Schauspielerin  Odilon. 
Sie  läßt  die  Hauptmannsfrau  Hervay  von  der  Enttäuschung  einer  kleinen 


-  39  — 


Stadt  verurteilen,  weil  die  Dame  vor  den  Zeiten  ihrer  Ehe  Abenteuer 
hatte.  Sie  macht  die  behaglichen  Entrüstungen  über  das  Bordell  Rieh!. 
Und  diese  Gier  legt  dem  Vorsitzenden  des  Gerichts  bei  verschüchterte« 
Angeldagten  unverschämte  Fragen  in  den  Mund,  die  der  Lümmel  sofort 
schmatzend  selbst  beantwortet  und  die  wehrlose  Frauen  zum  Selbst- 
mord treiben.  Mit  unfehlbarem  Instinkt  stürzt  sich  die  Presse  auf  diese 
Verhandlungen.  Das  Geschlecht  ist  wieder  einmal  erwischt,  man  hetze  I 
Und  nun  qualmt  die  Atmosphäre  der  Lüsternheit  über  dem  Angeklag- 
ten zusammen,  um  die  Hinrichtung  durch  Ersticken  zu  vollziehen. 

Karl  Kraus  hat  einen  ganz  unerhörten  Mut.  Man  muß  vermutlick 
Wiener  sein,  um  nicht  zu  sehen,  daß  dieser  Mann  seit  Jahren  inderge- 
fahrvoUsten  Stellung  gegen  die  Öffentlichkeit  kämpft,  ein  Einzelner, 
nirgends  gedeckt,  geschützt  nur  durch  seine  eigene  Unerschrockenheit! 
Dieser  Gehaßte,  der  so  unbekümmert  die  Namen  der  Richter.  Präsi- 
denten, des  Polizeirates  von  Wien,  aller  öffenUichen  Sensationisten  des 
Privatlebens  nennt,  ist  doch  nur  durch  ein  wahres  Wunder  vielen  Jahren 
Kerker  entgangen. 

Es  gilt,  einzusehen,  daß  Kraus  Deine  Sache  agiert.  Er  kämpft 
g^en  die  OffenUichkeit,  um  den  Prozeß  jedes  ihrer  Glieder  zu  führen. 
Vielleicht  erinnert  man  sich  an  Dostojewskis  Wort:  »Wir  leben 
im  Zeitalter  der  Isolierung«.  In  dem  Buch  von  »Sittiichkeit  und  Krimi- 
nalität« geht  einer,  fest  und  mutvoll  in  seiner  Welt  der  Tatsächlich- 
keiten, in  einen  fast  utopischen  Kampf:  die  Isolierung  des  privatesten 
Lebens,  diese  Mauer  des  Einzelnen  gegen  die  eigenen  Angriffe  instinkt- 
loser Selbstzerstörung,  zu  schätzen.  L    R 

• 

Peter  Altenberg.  Bilderbogen  des  kleinen  Lebens*) 

So  klein  und  unscheinbar  auch  jedes  Ding, 
sobald  sein  klarer  Blick  in  stiller  Güte 
es  einmal  nur  in  Liebe  voll  umfing, 
erneut  es  sich  in  ni^ekannter  Blüte. 
In  dieses  reichen  Lebens  langen  Jahren 
war  nicht  ein  einz'ger  schönheitsleerer  Tag  — 
und  was  in  Leid  und  Mitleid  er  erfahren, 
den  Traum,  der  schwer  auf  seiner  Seele  lag, 
goß  einsam  er.  von  stumpfem  Hohn  verlacht, 
in  solcher  milden  Worte  tiefe  Pracht. 

Ludwig  Ulimann. 


*)  Berlin- Westend,  Erich  Reiss,  Verlag. 


-    40  — 

Glossen 
Von  Karl  Kraus 

Eine  Neuerung 

Nun  ja,  nun  ja,  er  war  wie  immer  >ein  Stelldichein  von  amt- 
licher Würde,  künstlerischer  Berühmtheit  und  weiblicher  Schön- 
heit<.  Nämlich  der  Concordiabali.  Er  übertraf  wie  immer  an  Glanz 
alle  seine  Vorgänger,  er  tut  es  seit  fünfzig  Jahren,  warum  sollte 
er  es  gerade  diesmal  nicht  getan  haben?  Denn  das  haben  sie  alle 
gemeinsam,  die  Concordiabälle,  daß  sie  einander  an  Glanz  über- 
treffen. Und  doch  scheint  diesmal  etwas  geschehen  zu  sein,  was  den 
diesmaligen  von  seinen  Vorgängern  wirklich  unterscheiden  könnte, 
und  was,  wenn  sich  die  Nachricht  bewahrheitet,  die  künftige 
Berichterstattung  über  die  künftigen  Concordiabälle  erheblich  be- 
einflussen würde.  Es  handelt  sich,  um  es  mit  einem  Worte  zu 
sagen,  um  das  >Tanzrecht<,  das  sich  einstmals  die  Jugend  bei 
den  einstigen  Concordiabälien  bekanntlich  nur  mit  Mühe  erobern 
konnte,  nachdem  der  Dirigent  Rabensteiner  vergebliche  Versuche 
gemacht  hatte,  na  und  so  weiter,  wozu  soll  man  an  die  peinlichen 
Geschichten  wieder  erinnern.  Und  heuer,  heißt  es  nun,  >haben  sie 
sichs  einfach  selbst  verschafft«.  Früher,  du  mein  Gott,  da  standen 
%ohl  die  sehenswerten  Kommerzialräte,  die  Konsuln  von  Paraguay 
und  überhaupt  die  Champagneragenten,  die  man  als  Vertreter  des 
diplomatischen  Korps  bemerkte,  herum,  aber  was  nützte  das  alles, 
der  Jugend,  der  lieben  Jugend  fehlte  es  gerade  deshalb  an  Raum 
und  Bewegungsfreiheit.  Noch  auf  dem  vorjährigen  Ball,  der,  wie 
sagt  man  doch,  im  Zeichen  Schillers  stand,  konnte  man  vielfach 
die  Klage  hören.  Aber  im  Zeichen  Schillers  besann  man  sich  auch, 
diesen  miserablen  Zuständen  abzuhelfen.  War  das  ein  Gedränge! 
Nun,  >wenn  der  Gedrückte  nirgends  Recht  kann  finden  —  greift 
er  hinauf  getrosten  Mutes  in  den  Himmel  —  und  holt  herunter 
seine  ew'gen  Rechte«.  Ganz  unbekümmert  um  die  zuströmenden 
Würdenträger,  >beginnt  plötzlich  em  couragiertes  Paar  zu  tanzen«. 
Was  sagt  man!  >Der  alte  Urständ  der  Natur  kehrte  wieder  —  wo 
Mensch  dem  Menschen  gegenüber  steht.«  Nur  die  Estrade,  dieses 
Asyl  schwitzender  Sehnsucht,  bleibt  von  der  Revolution  unberührt. 
In  dieser  Beziehung  hat  sich  nichts  geändert.  Während  die  Komitee- 


—  41  ~ 

berren  >alle  Hände  voll  zu  tun  haben<  -  indem  sie  nimiich 
viel  besprechen  müssen  — ,  vollzieht  sich  »das  Erscheinen  der 
Mächtigen,  Angesehenen  und  Berühmten  <.  > Charakteristische  Ge- 
stalten aus  der  politischen  Welt  tauchen  auf«,  um  sogleich  wieder  in 
der  »noch  jugendlichen  Erscheinung  des  österreichischen  Minister- 
präsidenten« zu  verschwinden,  hier  sieht  man  die  Grazie  der  Tanz- 
kunst mit  dem  schweren  Ernst  der  Diplomatie  trauliche  Zwiesprache 
halten,  und  während  sich  das  Fräulein  Wewerka  vom  Ballett  mit  dem 
japanischen  Geschäftsträger  über  die  Lage  auseinandersetzt,  meldet 
der  kriegerische  Schmock  bereits,  daß  »die  Estrade  heftig  belagert 
und  heftig  verteidigt  wird<.  Wann  aber,  wann  endlich  einmal,  wird 
sie  sich  übergeben? 

• 

Der  Punkt 

Ich  habe  den  Schlußpunkt  der  Burgtheaterherrlichkeit 
entdeckt.  Den  toten  Punkt,  über  den  kein  Burgtheaterdirektor 
hinauskommt.  Nichts  hilft,  dieser  Punkt  trägt  an  allem  Schuld. 
Man  glaubt  natürlich,  daß  ich  den  »Dunklen  Punkt<  meine,  der 
jetzt  im  Burgtheater  gespielt  wird.  Aber  die  schlechte  Literatur 
hat  das  Burgtheater  nicht  heruntergebracht;  das  behaupten  nur 
jene  theaterfremden  Kritiker,  denen  es  nicht  gelungen  ist,  ihre 
eigene  schlechte  Literatur  dem  Burgtheater  anzuhängen.  Was  ich 
nun  meine,  wird  man  erst  verstehen,  wenn  man  sich  vor  die  Front 
des  Burgtheaters  stellt  und  dort  hinaufschaut,  wo  Apollo,  be- 
kanntlich einer  der  beliebtesten  Götter  Wiens,  seinen  Wohnsitz 
hat.  Zu  seinen  Füßen  wird  man  in  mannshohen  Lettern  die 
Aufschrift  finden: 

K.  K.  HOFBURGTHEATER. 
Punkt!  Darüber  komme  ich  nicht  weg.  Diesem  Punkt  gebe  ich  die 
Schuld,  daß  die  künstlerische  Entwicklung  ins  Stocken  geraten  ist. 
Aber,  seien  wir  gerecht,  er  hat  dafür  auch  schon  manches  Unheil 
verhütet.  Denn  wie  leicht  hätte  es  geschehen  können,  daß  ein 
Wiener,  der  ja  so  lange  auf  ein  Dach  schaut,  bis  sich  andere 
Wiener  ansammeln  und  auch  aufs  Dach  schauen,  wie  leicht  hätte 
es  also  geschehen  können,  daß  dieser  Wiener  und  alle,  die  in 
gutem  Glauben  seinem  Beispiele  folgen,  weiterlesen,  nachdem  sie 
mit  der  Aufschrift: 


42  — 


K.  K.  HOFBURQTHEATER 
fertig  geworden  sind.  Man  male  sich  nur  die  Folgen  aus.  Die  Wiener 
lesen  weiter  nach  rechts,  immer  weiter,  bis  dorthin,  wo  der  Volks- 
garten beginnt,  und  wenn  nicht  ein  zufällig  des  Weges  kommender 
Wachmann  Halt  ruft,  kann  es  geschehen,  daß  sie  von  einem 
zufällig  des  Weges  kommenden  Einspänner  überfahren  werden. 
Da  nun  der  Erbauer  des  Burgtheaters,  der  Baron  Hasenauer,  die 
Gefahren  des  Verkehrs  erkannte  und  die  Gelegenheiten  der  Warnung 
nicht  überschätzte,  so  entschloß  er  sich,  allen  Eventualitäten 
vorzubauen  und  die  Wiener  durch  einen  nicht  zu  übersehenden 
Punkt  vor  den  Folgen  des  unvorsichtigen  Weiterlesens  zu  bewahren. 
Durch  Wochen  stemmten  ein  Dutzend  Arbeiter  an  dem  Stein  und 
stanzten  einen  Punkt,  so  groß  wie  der  Kopf  eines  erwachsenen 
Wieners.  Man  wäre  nun  versucht,  in  dieser  Mühe  ein  Sinnbild 
des  dekorativen  Kretinismus  zu  erblicken,  der  um  eines  Schnörkels 
willen  gegen  alle  Ökonomie  wütet.  Aber  man  würde  damit  den 
sozialhygienischen  Wert  dieses  besonderen  Punktes  verkennen. 
Denn  es  ist  erwiesen,  daß  sich  in  den  zwanzig  Jahren,  die  das 
neue 

K.  K.  HOFBURGTHEATER, 
steht,  kein  nennenswerter  Unfall  ereignet  hat.  Auf  dem  Franzens- 
ring sammeln  sich  die  Leute,  sie  lesen  die  Aufschrift  mit  Interesse, 
aber  sie  wissen,  wo  sie  aufzuhören  haben,  und  gehen  wieder  ihrer 
Wege.  Neugierige  fühlen  ein  kräftiges  >Zaruck!«,  und  die  anderen 
bescheiden  sich.  Nur  auf  manche  Passanten  übt  gerade  wieder  der 
Punkt  eine  besondere  Anziehungskraft  aus.  Zum  Beispiel  auf  die 
Burgtheaterdirektoren.  Sie,  die  weiterlesen  sollten,  starren  fasziniert 
auf  den  Punkt.  Sie  glauben,  er  sei  eine  Fügung  des  Obersthof- 
meisteramtes, und  kommen  nicht  weiter.  Sie  laufen  die  Buchstaben- 
reihe zwischen  dem  K.  K.  und  dem  dramatischen  R  auf  und  ab 
und  finden  keinen  Ausweg.  Ich  glaube,  es  wäre  ihr  ewig  Weh  und 
Ach  aus  einem  Punkte  zu  kurieren.  Und  es  wird  einmal  eine  Sage 
sein,  daß  ein  Fluch  auf  dem  Hause  gelastet  hat,  an  dem  nicht  die 
Akustik,  sondern  die  Interpunktion  schuld  war.  Man  befreie  die 
Kunst  und  sorge  für  die  Sicherheit  des  Publikums  durch  Ver- 
mehrung der  Wache! 


—  43 


Deutsche  Dichter 

Eine  der  dankenswertesten  Einrichtungen  des  deutschen 
Buchhandels  sind  die  Prospekte,  die  den  Zeitschriften  beigelegt 
werden.  Sie  enthalten  nicht  nur  eine  Fülle  jener  kritischen  Ein- 
sicht, die  die  Verleger  an  die  Beiuieilung  ihrer  Ware  wenden, 
sondern  oft  auch  die  Konterfeis  der  Autoren,  deren  Züge  viel 
besser  für  die  gediegene  Qualität  des  Buches  sprechen  als  das 
lauteste  Lob  des  Verlegers.  Man  hat  da  mitunter  wirklich  eine 
Galerie  von  Charakterköpfen  beisammen.  Da  ist  vor  allem  der 
Herr  Eduard  Engel,  Literarhistoriker.  Er  hat  einen  Goethe,  >der 
Mann  und  sein  Werk«,  herausgegeben,  und  es  sei,  meint  der 
Verleger,  ein  > Beweis  für  Goethes  wahre  Menschen-  und 
Dichtergröße,  daß  er  diese  rein  menschliche,  streng  kritische  Dar- 
stellung noch  viel  herrlicher  besteht«  als  die  aller  anderen  Goethe- 
Biographen.  Dieser  Herr  Engel,  der  sich  in  Deutschland  großen 
Ansehens  und  vieler  Auflagen  erfreut,  hat  mich  auf  die  Idee 
gebracht,  eine  eigene  Razzia  auf  Literarhistoriker  zu  veranstalten. 
Vielleicht  komme  ich  einmal  dazu.  An  jenen  Geist  schließt  sich 
ein  anderer,  der  noch  viel  herrlicher  als  Goethe  die  Kritik  des 
Herrn  Engel  bestünde,  der  schalkhaft  lächelnde  Oskar  Blumenthal. 
Er  weiß,  daß  der  Verleger  recht  hat:  »Wir  sagen  nicht  zu  viel, 
wenn  wir  Oskar  Blumenthals  ,Buch  der  Sprüche'  als  einen  Haus- 
schatz an  Lebensweisheit  bezeichnen,  der  als  Standard  Work  in 
den  Besitz  des  deutschen  Volkes  überzugehen  verdient.«  Geschieht 
dem  deutschen  Volke  ganz  recht.  Herr  Paul  Lindau  dagegen  wird 
wieder  allen  jenen  willkommen  sein,  >die  die  Lösung  der  unend- 
lichen Rätsel  im  Verkehr  von  Mann  und  Weib  zu  finden  wünschen«. 
Überdies  schildert  er  noch  »das  in  tausend  Nuancen  schillernde  und 
"«o  prickelnde  Leben  der  modernen  Gesellschaft  Berlins«.  Kann  man 
mehr  verlangen?  Nicht  einmal  von  Herrn  Felix  Josky,  wiewohl  dieser 
doch  >mit  Florett  und  Laute«  dichtet.  Aber  einer  ist  da,  der  das  Kunst- 
stück wirklich  fertig  bringt  Wer  anders  als  mein  Lothar?  Ja,  das 
ist  der  alte  Schalk,  der  alte  Rattenfänger,  ich  erkenne  ihn.  »Das 
Leben  sagt  nein«,  lautet  der  Titel  seiner  Novellen.  Wie?  Resignation? 
Lebt  der  alte  Sprudelgeist  nicht  mehr?  >Aber  nein  i«  sagt  wieder  der 
Verleger,   »der  fröhliche   Rudolf  Lothar,  der  Verfasser  lachender 


_  44  — 

t^omane  und  amüsanter  Schauspiele,  ist  sich  treu  geblieben,  und  wo 
in  seinen  Erzählungen  das  Leben  nein  sagt,  da  ertönt  sogleich  das 
helle  ,ja'  des  Welterstürmenden,  des  Lebenssiegers«.  Ja,  ja,  und 
tausendmal  ja,  er  lebt,  er  ist  da,  es  behielt  ihn  nicht.  Oewiß, 
er  arbeitet  für  den  Lokalanzeiger,  aber,  sagt  der  Verleger,  >selbst 
Schicksalsschläge,  unter  denen  Mutlose  zusammenbrechen,  sind  für 
diesen  nur  glücksame  Weckrufe  zum  Leben,  zu  neuen  glücklichen 
Dingen.<  Herr  Lothar  war  lange  Zeit  Interviewer,  aber  der  Verleger 
sagt,  daß  er  Epikuräer  sei.  »Man  weiß«,  setzt  der  Verleger  hinzu, 
>daß  Epikur  nicht  der  reiche  Schwelger  ist,  für  den  man  ihn  in 
manchen  Kreisen  hält,  sondern,  daß  er  ein  Mann  war,  der  die 
unversieglichp,  unzerstörbare  künstlerische  Freude  an  allem  Seienden 
zum  Kern  seiner  Philosophie  gemacht  hat.«  Mein  Gott,  was  wird 
nicht  alles  herumgetratscht  in  den  Literaturkaffeehäusern !  So  konnte 
auch  das  Gerücht  entstehen,  daß  die  Herren  Epikur  und  Lothar 
reiche  Schwelger  seien.  Ist  es  ein  Wunder?  Schließlich  hat  sich  ja 
auch  der  Glaube  festgesetzt,  daß  der  große  Pan  tot  sei.  Aber  es  ist 
nicht  wahr,  er  lebt  und  arbeitet  für  den  Lokalanzeiger  unter  dem 
Namen  Holzbock  .  .  .  Ein  anderes  Bild:  Mitten  in  die  Zone  der 
Kultur  führt  uns  Hans  Olden.  Von  ihm  heißt  es:  >01den  braut 
starke  Getränke  und  bereitet  sie  zu  wie  ein  Gentleman.  Man  hat 
die  Vision  krachend  ins  Schloß  geworfener  Türen  .  .  .«  Aber  es 
handelt  sich  nicht,  wie  man  vermuten  könnte,  um  ein  Stilleben 
aus  einer  Bar,  sondern  um  einen  Novellenband  mit  einem  Geleitwort 
von  Maximilian  Harden.  Der  sich  sonst  bekanntlich  nur  für  die  bessere 
Lyrik  einsetzt.  Dann  aber  kommt  Herr  Rudolf  Presber.  bei  dessen 
Lektüre  »uns  das  Herz  lacht«,  während  Herr  Robert  Saudek  wieder 
durch  den  »Pulsschlag  der  einander  jagenden  Ereignisse«  bemerkens- 
wert ist.  Folgen  einige  Reporter  und  einige  Blaustrümpfe.  Sie  alle 
wollen  nicht  nur  erhoben,  sondern  auch  gelesen  sein.  Es  ist  nicht 
auszudenken.  »Die  Rettung  von  Kulturschätzen  aus  dem  Brande 
einer  deutschen  Bibliothek«  —  solche  Vorstellung  möchte  künftigen 
Historikern  schmecken !  Aber  wir  halten  längst  schon  so  weit,  daß 
nur  mehr  von  einer  Rettung  der  Kulturschätze  durch  den  Brand 
einer  deutschen  Bibliothek  die  Rede  sein  kann. 


—  4Ö  — 


Das  Buch  Aber  Berlin 

Für  eines  der  schlechtesten  Bücher  des  Jahres  —  platt  und 
flott  über  die  Maßen  —  halte  ich  >Berlin,  Ein  Stadtschicksal« 
von  Karl  Scheffler.  Da  ich  zum  Problem  Wien-Berlin  mehr  als 
die  Entdeckung  beizubringen  habe,  daß  Wien  die  >ältere  Kultur< 
hat,  und  dieses  Mehr  vielleicht  einmal  seine  einheitliche  literarische 
Qestalt  findet,  so  geht  es  nicht  an,  Herrn  Scheffler  gesonderte 
Beachtung  zu  widmen.  Hätte  ich  bloß  das  Gegenteil  zu  sagen,  ich 
täte  es  sofort.  Aber  alle  Vorstellungsklischees,  mit  denen  er  arbeitet, 
hatte  ich  längst  zertrümmert,  ehe  ich  sie  in  seinem  Buch  vorfand. 
Es  gibt  kaum  eine  Banalität  zum  Preise  Wiens,  die  ich  mir  in 
satirischer  At)sicht  nicht  frei  erfunden  hatte,  ehe  sie  mir  von 
Herrn  Scheffler  gereicht  wurde.  Das  ist  lästig;  denn  ich  brauche 
das  Beispiel  des  Herrn  Scheffler  nicht,  um  die  Sorte  eines 
Sozialästhetentums  zu  verpönen,  und  man  köimte  glauben,  daß  ich 
mir  diese  Lebensanschauung,  die  mir  seit  vielen  Jahren  im  Magen 
liegt,  erst  von  Herrn  Scheffler  servieren  ließ,  um  sie  zu  verschmä- 
hen. Man  wird  eine  Notwendigkeit  für  Polemik  halten;  ich  werde 
mich  erbrechen  und  man  wird  bloß  glauben,  es  schmecke  mir 
nicht.  Um  Herrn  Scheffler  zu  widerlegen,  bedürfte  es  keines 
Buches.  Schließlich  habe  ich  mir  das  Problem  oft  genug  apho- 
ristisch notiert  und  etwa  mit  dem  einen  Satz:  >Wenn  man  an  den 
Denkmälern  einer  Stadt  in  einer  Automobildroschke  vorüberkommt, 
dann  können  sie  einem  nichts  anhaben«  Herrn  Scheffler  über  die 
ganzen  Kultursorgen  beruhigt,  zu  deren  Darstellung  er  dreihunden 
Seiten  braucht.  Aber  hoffentlich  finde  ich  einmal  ein  paar  Wochen, 
um  all  das  zu  binden,  was  sich  mir  zu  meinem  »Wien,  Ein  Stadt- 
verhärtgnis«  gesammelt  hat.  Diese  Journalisten  der  Kultur  stiften 
arge  Verwirrung,  besonders  wenn  sie  sich  so  fließend  ausdrücken 
können  wie  Herr  Scheffler.  Darum  sei  heute  nur  das  Niveau  be- 
zeichnet, auf  dem  sich  die  Propaganda  für  sein  Buch  bewegt.  Im 
Buchhändlerbörsenblatt  wird  im  Faksimile  das  folgende  Schreiben 
veröffentlicht : 

.Maison  de  S.  M.  LE  ROI  Bocarest.  den  6.  Januar  1910. 

An  die  Verlags-Bnchhandlnng  E  .  .  .  .   R  .  .  .  ., 

Berlin- Westend. 

Seine  Majestät  der  König,  mein  Allergnädigster  Herr,    empfingen 


—  46  — 


ein  Buch,  betitelt:  >Berlin,  Ein  Stadtschicksal«  von  Karl  Scheffler  mit 
folgender  Widmung:  »Das  beste  Buch  des  Jahres.  Einem  einstigen 
Bewohner  der  Stadt  ehffurchtsvoll  zu  Füßen  gelegt.«  Weihnachten  1909. 
Da  jede  weitere  Unterschrift  fehlt,  so  kann  dem  aufmerksamen  Über- 
sender der  gebührende  Dank  leider  nicht  ausgesprochen  werden.  Ich 
erlaube  mir  daher  Ihre  Gefälligkeit  in  Anspruch  zu  nehmen  und  Sie  zu 
bitten,  sofern  Sie  zufällig  in  der  Lage  sein  sollten,  den  Einsender  dieses 
interessanten  Buches  zu  kennen,  diesem  Seiner  Majestät  besten  Dank 
gefl.  zu  übermitteln. 

Mit  bestem  Dank  für  Ihre  freundliche  Bemühung,  zeichne  ich 

hochachtungsvoll  etc. 

Wer  nur  der  edle  Wohltäter  des  Königs  von  Rumänien 
sein  mag?  Solche  Stückchen  sollte  ein  Autor,  ders  mit  der 
Kultur  hält,  seinem  Verleger  nicht  hingehen  lassen.  Gewiß,  auch 
meiner  wird  das  Buch  »Wien«  einem  einstigen  Bewohner  der 
Stadt  zuschicken  dürfen.  Aber  es  wird  ein  Autorexemplar  sein! 


Ein  sonderbarer  Schw&rmer 

In  einem  Brief,  den  Anton  Tschechow  über  einen  Aufenthalt 
in  Wien  geschrieben  hat,  soll  der  Satz  vorkommen:  >0,  meine 
Freunde,  wenn  ihr  nur  wüßtet,  wie  schön  Wien  ist!  .  .  .  Die 
Straßen  sind  breit,  schön  gepflastert ,  .  .« 


Die  Übersetzung 

Ich  lese  nicht  polnisch,  aber  in  einem  Zeitungsauschnitt, 
der  mir  aus  Krakau  zugeschickt  wurde  und  in  dem  offenbar  vom 
Prozeß  Borowska  die  Rede  ist,  verstehe  ich  doch  manche  Worte. 
Vor  allem  den  Titel.  Er  lautet:  »WiedenskI  .szmok'«.  Ferner 
kann  ich  das  Wort:  »Paul  Zifferer«  übersetzen.  Dann  das  Wort: 
»Neue  Freie  Presse«.  Nun  also,  es  geht,  und  bei  einiger  Übung 
in  solchen  Vokabeln  werde  ich  bald  heraushaben,  was  in  dem 
Artikel  steht. 


-  47  — 


Wer  weiß  etwas? 

Die  Neue  Freie  Presse  schreibt : 

»Der  liberale  Kandidat,  der  in  Darlington  den  konserv-ativen 
Einpeitscher  Pike  Pease  schlug,  ist  ein  gebürtiger  Ungar  und 
heißt  erst  seit  einiger  Zeit  Lincoln.  Nach  vollzogenem 
Glaubenswechsel  studierte  er  in  Budapest  katholische,  in  Kanada 
protestantische  Theologie  und  war  einige  Monate  anglikanischer  Kaplan 
in  England.« 

Wie  mag  er  nur  geheißen  haben  ? 

• 
Der  gordische  Knoten 

In  Berlin  icann  es  mir  nicht  erspart  bleiben,  daß  ich  von 
den  Literaturbuben,  die  sich  durch  mich  einen  Namen  machen 
oder  an  mir  ein  Geschäft  verrichten  wollen,  genau  so  verunreinigt 
werde,  wie  es  mir  vor  einem  Jahrzehnt  in  Wien  geschah.  Das 
bringt  das  neue  Terrain  und  das  Mißverständnis  der  stofflichen 
Wirkung  mit  sich.  Wenn  die  Jungen  erst  sehen  werden,  wo  ich 
hinaus  will  und  daß  es  mir  nicht  um  die  kleinen  Beispiele  zu  tun 
ist,  werden  sie  meine  Fußtritte  schon  mit  Respekt  entgegennehmen. 
Ich  kann  nun  von  dem  kleinsten  Schmierfink  aus  die  prinzipiellsten 
Dinge  eiörtem,  aber  man  darf  von  mir  nicht  verlangen,  daß  ich 
mich  polemisch  mit  ihm  einlasse,  wenn  er  mir  zürnt,  weil  er 
etwas  auf  sich  bezogen  hat,  was  selbst  durch  ihn  ins  Allgemeine 
geht.  Solcher  Feigheit  wird  man  mich  nicht  für  fähig  halten.  Wenn 
ich  schnarche,  bin  ich  ja  imstande,  ein  Theatertinterl  mit  der 
linken  kleinen  Zehe  zu  zerquetschen.  Man  wird  mir  nicht  zumuten, 
daß  ich  wach  werde.  Wenn  ein  Anderer,  der  nicht  so  wehrhaft 
ist  wie  ich,  von  den  Wanzen  gebissen  wird,  rege  ich  mich  gem. 
Ich  selbst  muß  zu  allen  Lügen  und  Fälschungen,  zu  allem  Wahn- 
witz, der  sich  in  die  Zunge  beißt,  wenn  er  mich  einer  Unehr- 
lichkeit beschuldigt,  ruhige  Miene  machen.  Wie  leicht  könnte  es 
geschehen,  daß  ich  mich  kratze  und  der  Gegner  dies  für  die  Er- 
öffnung der  Feindseligkeiten  hält.  Ich  darf  die  Wanze  wegschieben, 
nicht  sie  zertreten;  und  wenn  sie  wieder  kommt,  muß  ich  sie  mir 
gefallen  lassen.  Sonst  würde  man  nicht  sagen,  ich  sei  reinlichkeits- 
hebend,  sondern  ich  sei  kleinlich.  Denn  wenn  ein  Feldherr  aus  der 
Schlacht  zurückkehrt  und  ein  Gassenbub  im  Spalier  behauptet,  ein 
Knopf  an  der  Montur  sitze  schlecht,  so  würde  zwar  die  erweis- 


48  ~ 


liehe  Wahrheit  solcher  Behauptung  an  dem  Sieg  nichts  ändern. 
Wenn  aber  der  Feldherr  beweisen  könnte,  daß  das  Gegenteil  der 
Fall  ist,  so  würde  solcher  Beweis  dem  Siege  schaden,  weil  das 
Thema  der  Debatte  das  Niveau,  auf  welches  ihn  die  Leistung  ge- 
stellt hat,  herabdrücken  würde.  Ein  anderes  Beispiel:  Ein  Journalist 
will  mir  Unaufrichtigkeit  nachsagen  und  behauptet,  daß  ich  früher 
eingestandenermaßen  seine  Zeitschrift  aus  manchen  Gründen  und 
auch  deshalb  gern  gesehen  habe,  weil  mir  >  mancher  Beitrag  Freude 
gemacht  hat<.  Diese  Worte  legt  er  mir  in  den  Mund.  Wenn  ich  nun 
auch  nachweisen  kann,  daß  ich  zwar  einmal  wirklich  diese  Meinung 
bekundet,  aber  ihre  Gründe  so  zusammengefaßt  habe:  >ich  sehe 
die  Zeitschrift  gern;  nicht  nur,  weil  mir  -  die  Ausschließlichkeit 
des  Theaterinteresses  und  die  Verwissenschaftlichung  des  Tinterl- 
tums  zugegeben  —  mancher  Beitrag  Freude  gemacht  hat,  sondern 
auch  weil  ihr  Notizenteil  eine  gute  Handhabe  bietet,  sich  jeweils 
über  den  Stand  des  psychologischen  Schmocktums  in  Deutschland 
zu  informieren<  —  wenn  das  jeder  einfach  nachlesen  kann  und  fünf 
Seiten  über  das  Schmocktum  dazu:  so  darf  ich  den  Mann,  der 
aus  dem  zitierten  Satz  Folgerungen  zieht,  deren  Gegenteil 
aus  den  unterschlagenen  Sätzen  erhellt,  trotzdem  keinen  Fäl- 
scher nennen.  Ich  würde  ihn  enttäuschen,  da  er  in  seinen 
kühnsten  Träumen  nicht  gehofft  hat,  daß  ich  mich  je  mit  ihm 
polemisch  kompromittieren  werde,  er  würde  alle  Hochachtung  vor 
mir  verlieren,  und  die  Leute  im  Spalier  würden  nicht  glauben, 
daß  ich  vor  dieser  eklen  Debatte  größere  Dinge  geleistet  habe.  Und 
mj^  einen  die  Logik  der  Lüge  noch  so  sehr  zum  Einspruch 
reizen,  man  muß  verzichten,  weil  man  niemand  davon  überzeugen 
könnte,  daß  hier  die  Wahrheit  besser  sei  als  die  Lüge.  Ist  es  an 
sich  schon  das  Unfruchtbarste  auf  der  Welt,  Recht  zu  haben,  und 
ist  es  so  ziemlich  das  Schäbigste,  was  man  haben  kann,  so  muß 
man  sich  wenigstens  die  Leute  ansehen,  gegen  die  man  Recht 
behält.  So  perspektivisch  selbst  die  Geste  sein  kann,  mit  der  man 
ein  Schmutzstäubchen  abtut,  so  würde  doch  nur  die  Tendenz  den 
Betrachter  fesseln  und  durch  ihre  Kleinheit  verwirren.  Man  muß 
resignieren.  Vor  dem  Haß,  der  den  Knopf  an  der  Montur  ver- 
leumdet, muß  man  die  Waffen  strecken.  Die  großen  Gefahren 
sind  so  einfach  und  die  kleinen  §o  verwickelt !    Was  hätte  denn 


—  40  — 

Alexander  getan,  wenn  der  gordische  Knoten  ein  W«ichselzopf 
gewesen  wSre? 


O.  J.  Bierbaum 

Der  Tod  kann  kein  Grund  sein,  über  einen  Menschen  Böses 
zu  sagen.  Aber  ein  Zwang  zum  Gegenteil  ist  er  gerade  auch  nicht. 
Weil  einer  gestorben  ist,  ist  es  durchaus  nicht  notwendig,  daß  die 
Überlebenden  zu  lügen  anfangen.  Otto  Julius  Bierbaum  gehörte  zu 
jenen  formalen  Talenten,  die  so  lange  unter  allerlei  stofflichen 
Mißverständnissen  für  die  Kunst  reklamiert  werden,  bis  sie  sich 
dem  Publikum  als  Librettisten  empfehlen.  Es  sind  unstete 
Existenzen,  die  von  der  Dummheit  der  zeitgenössischen  Kritik  zu 
einer  geistigen  Lehiensführung  gezwungen  werden,  der  sie  auf  die 
Dauer  nicht  gewachsen  sind,  und  die  ihr  Glück  machen,  wenn 
endlich  der  Musikant  kommt,  der  mit  ihnen  das  Geschäft  teilt. 
Wir  in  Wien  haben  den  Herrn  Dörmann,  der  sich  so  lange  neu- 
rotisch gebärdete,  bis  die  Firma  Sliwinsky  dem  Unfug  ein  Ende 
machte.  Da  alle  Dämonie  heute  glücklicherweise  durchs  Kabarett 
führt,  empfindet  es  der  Künstler  nicht  mehr  allzu  schmerzlich, 
wenn  er  sich  zu  den  Tantiemen  herablassen  muß.  Und  sagen  wir 
es  offen  heraus:  es  sind  in  deutscher  Sprache  schon  größere  Werke 
geschaffen  worden  als  Kling- klang-Gloribusch.  Gibt  es  im  letzten 
Jahrzehnt  aber  eins,  das  dem  deutschen  Volke  besser  gemundet  hat  ? 
Nun  habe  ich  allerdings  die  Schrulle,  sogar  Dreiviertel  des  Heine- 
schen Nachruhms  jener  Lorelei  zuzuschreiben  und  zu  behaupten, 
daß  selbst  das  mit  seinem  Singen  der  Herr  Sucher  getan  hat.  Nicht 
viele  Lyriker  gibt  es  in  Deutschland,  die  ohre  Kling  und  Klang 
bestehen  können.  Bierbaum  gehört  nicht  zu  ihnen.  Was  soll  man 
nun  mit  einem  Feuilletonnachrufer  tun,  der  behauptet,  in  seiner 
Lyrik  >ströme  eine  Seele  aus,  die  frei  von  jeder  literarischen  Schrulle 
ihren  Dichter  in  die  zeitlose  Gesellschaft  der  Herren  Walter  von 
der  Vogelweide,  Eichendorff,  Möricke  und  Goethe  erhob?« 
LilienCTon,  schrieb  ich  einmal,  habe  sich  für  die  Teilnahms- 
losigkeit des  deutschen  Volkes  furchtbar  gerächt :  er  zeugte  Otto 
Julius  Bierbaum.  Die  Wein-  und  Mädelsingerei  war  dahin,  Bier 
her,   Bier  her  oder  ich  fall'  um,   und  das  gab  den  Bierbaumbach. 


50 


Welch  eine  platte  Revolution !  Die  Troßbuben,  die  hinter  denen 
um  18Q0  liefen,  hatten  ihre  helle  Freude.  Aber  Liliencron 
war  ein  Dichter,  trotzdem  er  ein  »Prachtkerl«  war;  Bierbaum 
war  weiß  Gott  nur  ein  Prachtkerl.  Der  Feuilletonnachrufer 
aber  sagt,  er  habe  den  Deutschen  »wieder  zum  lyrischen 
Gedicht  zurückgezogen«.  Liliencrons  Realistik  habe,  »durch 
Bierbaums  Sinneswärme  vorbereitet,  Verständnis  gefunden«.  Das 
ist  der  Regen,  der  auf  den  Kot  folgt.  Ein  anderer,  der  von 
den  »Sprungfedern  seines  überschäumenden  Temperaments«  spricht, 
bescheidet  sich  zu  behaupten,  daß  Bierbaums  Lyrikbände  »wohl« 
unsterblich  sind.  Das  ist  unverbindlich.  Und  gäbe  keinen  Grund, 
das  Werk  eines  Toten  der  besonderen  Nichtachtung  zu  empfehlen. 
Aber  das  Bestreben  der  Feuilletonisten,  Literaturgeschichte  zu 
machen,  schlägt  doch  gerade  bei  solchen  Anlässen  so  störend 
durch,  daß  man  rechtzeitig  vorbauen  muß.  Daß  »die  Lyrik  unserer 
Zeit  in  leuchtender  Schrift  seinen  und  des  ernsteren  Liliencron 
Namen  trägt«,  ist  eine  Behauptung,  gegen  die  man  aufstehen  muß, 
um  einem  von  zwei  Toten  Pietät  zu  erweisen.  Unter  den  Lyrikern 
unserer  Zeit  wird  der  andere  nicht  fortleben.  Schließlich  bezeichnet 
den  schöpferischen  Wert  eines  Lebenswerkes  noch  die  Sprache, 
die  seine  Nachrufer  finden.  Von  Bierbaum  wird  gesagt,  daß  er 
»mit  einem  lachenden  KHng-klang-Gloribusch  der  ernsten  Muse 
einen  Nasenstüber  gab«,  daß  er  »ein  Deutscher  war,  der  verdammt 
viel  vom  Franzmann  gelernt  hatte«  und  daß  »neben  seinem  Sarge 
trauernd  Jungfer  Romantik  und  Demoiselle  Rokoko  stehen«.  Der 
Nachruf  für  einen  Dichter  ist  das  Echo  seiner  Sprache. 


Bin  Rackfailiger 

Der  Wiener  akademische  Wagner- Verein  als  Rechtsnachfolger 
des  Hugo  Wolf-Vereines  hat  an  die  Zeitungen  eine  Zuschrift  zu- 
gesandt, und  nur  in  einer  ist  sie  erschienen.  Sie  lautet: 

Anläßlich  der  Erstaufführung  von  Hugo  Wolfs  >Penthesilea«  durch 
die  Philharmoniker  zur  Feier  des  50.  Geburtstages  des  Meisters  hat  es 
Herr  Max  Kalbeck  für  gut  befunden,  dieser  Gedenkfeier  zu  Ehren 
in  seinem  Referate   vom   3.  Februar  1910  Hugo  Wolf  abermals  auf  das 


51 


unwürdigste  anzugreifen.  Wieder  schiebt  er  Brahms  großem  Gegner  rein 
persönlicher  Motive,  >verletzte  Eitelkeit^  für  seine  nur  auf  kfinstlerische 
Empfindung  zurückgehenden  kritischen  Urteile  unter;  er  nennt  dieselt>en 
»unwürdige  Schmähungen«,  für  welche  er  seinerzeit  eine  »Zurecht- 
weisung« Hans  Richters  als  »wohlverdienten  Denkzettel«  erhalten  habe; 
spricht  von  der  »wenig  redlichen  Praxis«,  mit  welcher  er'  »als  un- 
schuldig verfolgter  Märtyrer«  ausgerufen  wird,  und  von  »angeblichen 
Neidern  und  Widersachern«.  Wolfs  »problematische  Natur  ging  steil 
bergab  den  Weg  zum  Orkus«.  Und  so  weiter.  Zuletzt  meint  Kalbeck, 
dafi  Wolf  »außer  einigen  gefälligen  Liedern«  auch  andere  Werke 
von  bleibendem  Werte  geschaffen  haben  würde,  »wenn  er  sich  über 
das  Verhältnis  zwischen  Musik  und  Poesie  klar  geworden 
wäre«.  Es  wird  gut  sein,  Herrn  Kalbeck  und  zu  seiner  Kennzeichnung 
dem  Publikum  jene  Erklärung  im  .Neuen  Wiener  Tagblatt'  vom 
2.  Juli  1Q04  wieder  ins  Gedächtnis  zurückzurufen,  welche  er,  als  ihn 
die  Erben  Hugo  Wolfs  wegen  eines  ähnlichen,  den  Meister  herabwür- 
digenden Artikels  zur  Rechenschaft  zogen,  abzugeben  sich  genötigt  sah, 
und  in  welcher  er  alle  Stellen  des  Artikels,  die  eine  Beleidigung  Hugo 
Wolfs  darstellten,  als  »unstatthaft,  mit  dem  Ausdrucke  wahr- 
haften Bedauerns«   zurücknahm. 

Der  Tag,  an  dem  das  letzte  Heft  der  ,Fackel'  erschien  und 
zum  Jubiläum  des  Herrn  Max  Kalbeck  seiner  opfervollen  Bemü- 
hungen um  die  Schändung  des  Hugo  Wolf'schen  Namens  ge- 
dachte, hat  gleich  jenen  Beleg  für  die  Rüstigkeit  des  Sechzig- 
jährigen gebracht.  Als  ob  ich  geahnt  hätte,  daß  Herr  Kalbeck 
gerade  am  3.  Februar  rückfällig  würde,  habe  ich  das  Erscheinen 
des  Heftes  für  diesen  Tag  bestimmt.  Oder  als  ob  Herr  Kalbeck 
gewußt  hätte,  daß  ich  ihm  mit  dem  Lob  scner  Spezialität  auf- 
warten werde,  hat  er  sich  beeilt,  sich  dessen  würdig  zu  erweisen. 
Schließlich  mußte  ja  einmal  der  Tag  kommen,  an  dem  Herr  Kalb- 
eck seine  Abbitte  für  verjährt  halten  konnte.  Je  weiter  er  sich  zeit- 
lich von  ihr  entfernte,  desto  unstatthafter  mußte  sie  ihm  erscheinen, 
und  da  Herrn  Kalbeck  nicht  mehr  die  Verurteilung,  sondern  - 
nach  der  bekannten  Prognose  des  Kollegen  Pötzl  -  nur  mehr 
die  Unsterblichkeit  winkt,  so  konnte  er  die  Ehrenerklärung 
getrost  mit  dem  Ausdruck  wahrhaften  Bedauerns  zurückziehen. 
Nur  daß  es  ihm  nicht  gelang,  die  störende  Stimme  seines  Ge- 
wissens zum  Schweigen  zu  bringen,  ist  verdrießlich.  Gerade  bei 
dieser  Gelegenheit  hätte  Herr  Kalbeck  nicht  von  >unwürdigen 
Schmähungen«,  nicht  von  einem  »wohlverdienten  Denkzettel«  und 


—  52  — 

vor  allem  nicht  von  einer  >wenig  redlichen  Praxis«  sprechen 
sollen.  Solche  Selbstanzeige  könnte  sogar  die  Concordia  daran 
erinnern,  daß  sie  ein  Ehrengericht  hat.  Freilich,  die  kritischen 
Einwände  des  Herrn  Kalbeck  gegen  Hugo  Wolf  könnten 
dort  nicht  inkriminiert  werden.  Daß  Herr  Kalbeck  zu  ihnen 
berechtigt  ist,  geht  schon  daraus  hervor,  daß  er  zu  jenen  Kriti- 
kern gehört,  die  es  selber  besser  machen  können.  Der  schwächliche 
Hugo  Wolf,  der  tot  ist,  hat  nichts  Bleibendes  geschaffen,  weil  er 
sich  über  das  Verhältnis  zwischen  Musik  und  Poesie  nicht  klar 
geworden  ist.  Herr  Kalbeck  aber,  der  nach  Herrn  Pötzls  Be- 
hauptung als  Hüne  ein  vierfach  Leben  lebt,  ist  Kritiker  und 
Librettist, 

und  zur  Musik  ist  ihm  gegeben, 

daß  er  ein  echter  Dichter  ist. 


Unter  Brrn/^: 

Seit   den  Tagen,   da   »Bruder  Bahr   einen    großen   Erfolg 
wünschte«,  hat  man  von  keinem  Versuch  mehr  gehört,  die  Humanität 
der  Loge  zur  Förderung  geistiger  Unternehmungen  heranzuziehen. 
Jetzt  wird  mir  das  folgende  Zirkular  übermittelt: 
Sehr  geehrter  Br.. ! 

Mit  den  besten  V/ünschen  zum  Jahreswechsel  erlaube  ich  mir 
zugleich  die  Mitteilung  zu  machen,  daß  ich  die  Wochenschrift  .Wiener 
Pikante  Blätter'  in  eigenen  Verlag  übernommen  habe  und  die  höfliche 
Bitte  an  Sie  richte,  mich  in  meinem  neuen  Unternehmen  zu  unterstützen. 

Die  Spalten  dieser  Zeitung  stehen  den  geehrten  Brrn.'.  zur  freien 
kostenlosen  Benützung,  falls  sie  gesellschaftliche  pikante 
Vorkommnisse  zur  Veröffentlichung  bringen  wollen. 

Beifolgend  eine  Probenummer. 

Der  jährliche  Abonnementsbetrag  wurde  für  Brr.'.  auf  K  10. — 
herabgesetzt. 

Eine  Korrespondenzkarte  an  untenstehende  Administration  genügt 
zur  Bestellung  des  Abonnements. 

M't  ^'■■-  G'--      u.  s.  w. 
Brrr ! 


Herausgeber    und    verantwortlicher     Redakteur:     Karl    Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  ZollaintsstraBe  3 


EINE  VORLESUNG 
VON  KARL  KRAUS 

Aphorismen    /     Die    Welt    der 
Plakate  /  Die  chinesische  Mauer 

veranstaltet   vom   Akademischen   Ver- 
band für  Literatur  und  Musik  in  Wien, 

dürfte  im  März  oder  im  April  stattfindeil. 

Das  Reinerträgnis  würde  dem  Asyl- 
verein für  Obdachlose  zufließen. 

Da  die  Vorlesung  vor  einem  eingeladene 
Publikum  stattfindet,  mögen  Anmeldungen 
ehestens  an  den  Verband  und  zwar  an  die 
Adresse  des  Kassiers  Em.  Jedlinsky,  IX.  Müll- 
nergasse 3,  gerichtet  werden.  Die  gewünschte 
Karten-Kategorie  (K  10,  6;  4,  2,  Studenten- 
karten zu  K  1)  ist  zu  bezeichnen. 

Die  Bezahlung  kann  erst  angenommen 
werden,  nachdem  die  Einladung  ergangen 
und  bekanntgegeben  ist,  wann  und  wo  die 
Vorlesung  stattfindet. 


Korffs  Cacao 
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Bureau  für  Österreich: 

Wien,  VL  Mariahilferstrasse  117 

Unternehmen  für  Zeitungsausschnitte 

OBSERVER,    Wien,  I.  ConcordlaplaU  Nr.  4  (Telephon  Nr.  1Ä801) 

versendet  Zeitungsausschnitte  über  jedes  gewünschte  Thema.M  an  verlange  Prospekte 


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Herausgeber  KARL  KRAUS 
Die    „Fackel"    erscheint  "in    zwangloser    Folge    im    Umfang   von 
16—32  Seiten 
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Für  Österreich-Ungarn:  18  Nummern,  portofrei K  4.50 

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*     Für  das  deutsche  Reich:  18  „  n  MK. 4. 

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I     Das  Abonpemeiit  erstreckt  sich  nicht  auf  einen  Zeittaum,  sondern  auf  eine  bgslimmte  Anzahl  von  Nummern 
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I  Inhalt  der  vorigen  Doppelnummer  294  —  295,   3.  Feb- 

I  ruar  1910:  Die  Mütter.   Von    Karl    Kraus.   —    Lebensform    und 

I  Dichtungsform.  Von  Otto  Stoessl.  —  Das  Schicksal  derMaschme. 

?  Von  Ludwig  Rubiner.   -    Briefe  von  Ferdinand  Kürnberger   — 

I  Aphorismen.  Von  Karl  Kraus.    -    Gedichte.  Von  Else  Las ker- 

*  Schüler.   —   Berliner  Leseabende.    —    »Rhabarber«.    Von   Kar 

I  Bleibtreu.  —  Erklärung  und  Aufklärung.  —  Glossen.  Von  Karl 

l  Kraus. 

Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur   Karl  Kraus 
r>r,.rV  vnn  Tahoda  fit  Siecel.  Wien.  III.  Hintere  Zoliamtssir.  3 


Nr.  298— 299    ERSCHIENEN  AM 2 I.MÄRZ  1910  XI.  JAHR 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

Lueger.  —  Prozess  Kolischer.  Von  Karl  Kraus. 
—  „Ich".  Von  F'erdinand  Kürnberger.  — 
Auf  meiner  Arbeitsbank.  Von  Ferdinand 
Kürnbererf^r.  —  Briefe  von  Joseph  Schöffel.  — 
Schülerselbstmord.  Von  einem  Über]'  — Den 

fünfzehnjährigen  Selbstmördern.  rthold 

Viertel.  —  Oskar  Kokoschka.  Von  L.  B.  T  e  s  a  r.  — 
Selbstao  zeigen. — Aphorismen.  VonKarlK  raus. — 
Die   Presse.   Von   Karl   Bleibtreu.  —  Glossen. 
Von  Karl  Kraus. 

NACHDRUCK     VERBOTEN 

PREIS  DER  DOPPELNUMMER  60  HELLER 
ERSCHEINT    IN    ZWANGLOSER    FOLGE 


VERLAG:   ,DIE   FACKEL'  WIEN— BERLIN 

WIEN,    III/2,    HLNTERE    ZOLLAMTSSTRASSE    3      TELEPHON    Nr.'  18-' 


Die  nächste  Nummer  der  ,Fackel*,  die 

300. 

wird  den  XI.  Jahrgang  abschließen. 

Diesem  Hefte  wird  ein  Register  der  Beiträge 
bezw.  der  Autoren,  die  an  den  300  Nummern 
mitgearbeitet  haben,  beigelegt  werden.  Das 
Verzeichnis,  das  von  Ludwig  Ullmann  ver- 
faßt und  mit  einem  Vorwort  versehen  ist, 
wird  zirka  24  Seiten  stark  sein  und  auch 
in  gesonderter  Ausgabe,  um  20  Heller,  durch 
den  Verlag "  der  ,Facker  zu  beziehen  sein. 


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sten  Interesse  die  Konditionen  des  alten  bewähn 
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Die  Fackel 

N>.  298-299  21.  MÄRZ  1910  XI.  JAHR 


Lueger 

Nach  Otto  Weininger: 

>  Die , Männer  der  Tat',  dieberühraten  Politiker  und 
Feldherren,  mögen  wohl  einzelne  Züge  haben,  die  an 
das  Genie  erinnern;  aber  mit  dem  Genius  kann  sie  nur 
verwechseln,  wer  schon  durch  den  äußeren  Aspekt 
von  Größe  allein  völlig  zu  blenden  ist.  Das  Genie  ist 
in  mehr  als  einem  Sinne  ausgezeichnet  gerade  durch 
den  Verzicht  auf  alle  Größe  nach  außen,  durch 
reine  innere  Größe.  Der  wahrhaft  bedeutende  Mensch 
hat  den  stärksten  Sinn  für  die  Werte,  der  Feldherr- 
Palitiker  ein  fast  ausschließliches  Fassungsvermögen 
für  die  Mächte.  Jener  sucht  allenfalls  die  Macht  an 
den  Wert,  dieser  höchstens  den  Wert  an  die  Macht 
zu  knüpfen  und  zu  binden.  Der  große  Feldherr,  der 
große  Politiker,  sie  steigen  aus  dem  Chaos  der 
Verhältnisse  empor  wie  der  Vogel  Phönix,  um  zu 
verschwinden  wie  dieser.  Der  große  Imperator  oder 
große  Demagog  ist  der  einzige  Mann,  der  ganz  in 
der  Gegenwart  lebt;  er  träumt  nicht  von  einer 
schöneren,  besseren  Zukunft,  er  sinnt  keiner  ent- 
flossenen Vergangenheit  nach;  er  knüpft  sein  Dasein 
an  den  Moment,  und  sucht  nicht  auf  eine  jener 
beiden  Arten,  die  dem  Menschen  möglich  sind,  die 
Zeit  zu  überspringen.  Der  echte  Genius  aber  macht 
sich  in  seinem  SohafTen  nicht  abhängig  von  den 
konkret-zeitlichen  Bedingungen  seines  Lebens,  die 
für  den  Feldherr-Politiker  stets  das  Ding-an-sich 
bleiben,  das,  was  ihm  zuletzt  Richtung  gibt.  So  wird 


—  2  — 


der  große  Imperator  zu  einem  Phänomen  der  Natur, 
der  große  Denker  und  Künstler  steht  außerhalb 
ihrer,  er  ist  eine  Verkörperung  des  Geistes.  Die 
Werke  des  Tatmenschen  gehen  denn  auch  meist  mit 
seinem  Tode,  oft  schon  früher,  und  nie  sehr  viel 
später,  spurlos  zu  Grunde,  nur  die  Chronik  der  Zeit 
meldet  von  dem,  wa?  da  geformt  wurde,  nur  um 
wieder  zerstört  zu  werden.  Der  Imperator  schafft 
keine  Werke,  an  denen  die  zeitlosen,  ewigen  Werte 
in  ungeheurer  Sichtbarkeit  für  alle  Jahrtausende 
zum  Ausdruck  kommen;  denn  dies  sind  die  Taten 
des  Genius.  Dieser,  nicht  der  andere,  schafft  die 
Geschichte,  weil  er  nicht  in  sie  gebannt  ist,  sondern 
außerhalb  ihrer  steht.  Der  bedeutende  Mensch  hat 
eine  Geschichte,  den  Imperator  hat  die  Geschichte. 
Der  bedeutende  Mensch  zeugt  die  Zeit,  der  Imperator 
wird  von  ihr  gezeugt  und  getötet. 

....  Jeder  solche  Mann  steht  immer  in  einer  gewis- 
sen Verwandtschaft  zur  Prostituierten . . .  Wie  er  ist  die 
Prostituierte,  im  Gefühle  ihrer  Macht,  vor  dem  Manne 
nie  im  geringsten  verlegen,  während  es  jeder  Mann 
gerade  ihr  und  ihm  gegenüber  immer  ist.  Wie  der 
große  Tribun  glaubt  sie  jeden  Menschen,  mit  dem 
sie  spricht,  zu  beglücken...  immer  glaubt  sie 
Gaben  auszuteilen  nach  allen  Seiten  hin.  Man  wird 
in  jedem  geborenen  Politiker  dieselben  Elemente 
entdecken.  Und  die  Menschen,  alle  Menschen  haben 
beiden  gegenüber  —  man  denke,  sogar  der  selbst- 
bewußte Goethe  in  seinem  Verhalten  gegen  Napoleon 
zu  Erfurt  —  tatsächlich  und  unwiderstehlich  das 
das  Gefühl,  beschenkt  worden  zu  sein. 

....  Der  höhere,  der  bedeutende  Mensch  mag 
zwar  das  gemeine  Bedürfnis  nach  Bewunderung  oder 
nach  dem  Ruhme  teilen,  aber  nicht  den  Ehrgeiz 
als  das  Bestreben,  alle  Dinge  in  der  Welt 
mit  sich  als  empirischer  Person  zu  verknüpfen, 
sie  von  sich  abhängig  zu  machen,  um  auf  den 
eigenen  Namen   alle  Dinge   der  Welt   zu   einer   un- 


—  3  — 


endlichen  Pyramide  zu  häufen.  .  .  .  Der  große 
Mensch  hat  Grenzen,  denn  er  ist  die  Monade  der 
Monaden,  und  —  dies  ist  eben  jene  letzte  Tatsache 
—  gleichzeitig  der  bewußte  Mikrokosmus,  pantogen, 
er  hat  die  ganze  Welt  in  sich,  er  sieht,  im  voll- 
ständigsten Falle,  bei  der  ersten  Erfahrung,  die  er 
macht,  klar  ihre  Zusammenhänge  im  All,  und  er 
bedarf  darum  zwar  der  Erlebnisse,  aber  keiner 
Induktion;  der  große  Tribun  und  die  große  Hetäre 
sind  die  absolut  grenzenlosen  Menschen,  welche 
die  ganze  Welt  zur  Dekoration  und  Erhöhung  ihres 
empirischen  Ich  gebrauchen. 

....  Der  wahre  Genius  gibt  sich  selbst  seine 
Ehre,  und  am  allerwenigsten  setzt  er  sich  in  jenes 
Wechselverhältnis  gegenseitiger  Abhängigkeit  zum 
Pöbel,  wie  dies  jeder  Tribun  tut.  Denn  im  großen 
Politiker  steckt  nicht  nur  ein  Spekulant  und  Milliar- 
där, sondern  auch  ein  Bänkelsänger;  er  ist  nicht  nur 
großer  Schachspieler,  sondern  auch  großer  Schau- 
spieler; er  ist  nicht  nur  ein  Despot,  sondern  auch  ein 
Gunstbuhler;  er  prostituiert  nicht  nur,  er  ist  auch 
eine  große  Prostituierte.  Es  gibt  keinen  Politiker, 
keinen  Peldherrn,  der  nicht  ,hinabstiege*.  Seine  Hinab- 
stiege sind  ja  berühmt,  sie  sind  seine  Sexualakte. 
Auch  zum  richtigen  Tribun  gehört  die  Gasse.  Das 
Brgänzungsverhältnis  zum  Pöbel  ist  geradezu  kon- 
stitutiv für  den  Politiker.  Er  kann  überhaupt  nur 
Pöbel  brauchen;  mit  den  anderen,  den  Individuali- 
täten, räumt  er  auf,  wenn  er  unklug  ist,  oder  heuchelt 
sie  zu  schätzen,  um  sie  unschädUch  zu  machen  .  .  . 
Ein  Politiker  kann  durchaus  nicht  alles  beliebige 
unternehmen,  auch  wenn  er  ein  Napoleon  ist,  und 
selbst  wenn  er,  was  er  aber  als  Napoleon  nicht  wird, 
Ideale  realisieren  wollte :  er  würde  gar  bald  von 
dem  Pöbel,  seinem  wahren  Herrn,  eines  Besseren 
belehrt  werden.  Alle  , Willensersparnis'  hat  nur  für 
den  formalen  Akt  der  Initiative  Geltung;  frei  ist  das 
Wollen  des  Machtgierigen  nicht. 


—  4 


Auf  diese  Gegenseitigkeit,  diese  Relation  zu  den 
Massen  fühlt  sich  jeder  Imperator  hingewiesen, 
darum  sind  alle  ausnahmslos  ganz  instinktiv  für  die 
Konstituante,  für  die  Volks-  oder  Heeresversammlung, 
für  das  allgemeinste  Wahlrecht.  Nicht  Marc  Aurel 
und  Diokletian,  sondern  Kleon,  Antonius,  Themistokles, 
Mirabeau,  das  sind  die  Gestalten,  in  denen  der  echte 
Politiker  erscheint.  Ambitio  heißt  eigentlich  Herum- 
gehen.   Das    tut    der  Tribun    wie    die  Prostituierte. 

....  Wie  der  , große  Mann  der  Tat'  auf  ein 
Innenleben  verzichtet,  um  sich  gänzlich  in  der  Welt, 
hier  paßt  das  Wort,  auszuleben,  und  zugrunde- 
zugehen wie  alles  Ausgelebte,  statt  zu  bestehen 
wie  alles  Bingelebte,  wie  er  seinen  ganzen  Wert  mit 
kolossaler  Wucht  hinter  sich  wirft  und  sich  ihn 
weghält,  so  schmeißt  die  große  Prostituierte  der 
Gesellschaft  den  Wert  ins  Antlitz,  den  sie  als 
Mutter  von  ihr  beziehen  könnte,  nicht  freilich  um 
in  sich  zu  gehen  und  ein  beschauliches  Leben  zu 
führen,  sondern  um  ihrem  sinnlichen  Triebe  nun  erst 
vollen  Lauf  zu  lassen.  Beide,  die  große  Prostituierte 
und  der  große  Tribun,  sind  wie  Brandfackeln,  die 
entzündet  weithin  leuchten,  und  gehen  unter  wie 
Meteore,  für  menschliche  Weisheit  sinnlos,  zwecklos, 
ohne  ein  Bleibendes  zu  hinterlassen,  ohne  alle  Ewig- 
keit —  indessen  die  Mutter  und  der  Genius  in  der 
Stille  die  Zukunft  wirken. < 


».  .  .  .  Gegen  drei  Uhr  früh  fuhr  er  aus  dem 
Halbschlaf  empor  und  rief  nach  der  Pflegeschwester, 
die  rasch  den  Arzt  herbeiholte.  Er  saß  halbaufgerichtet 
im  Bette,  mit  allen  Zeichen  heftiger  Unruhe.  Er 
sagte  zur  Pflegeschwester: 

Was  ist  denn  draußen  für  Unwetter?  . .  Dieses 
Hagelwetter  .  .  dieser  Sturm  .  .  es  muß  in  Wien 
keine  ganze  Fensterscheibe  geben  .  .,  , 


—  5  — 


Der  Arzt  und  die  Pflegeschwester  beruhigten 
den  Kranken  und  sagten,  es  habe  sich  in  der  Nacht 
kein  Lüftchen  geregt;  man  verspüre  den  kommen- 
den Frühling. 

Der  Kranke  aber  blieb  dabei  und  sagte;  Ich 
habe  von  meiner  Mutter  geträumt  .  .  Sie  war  da, 
um  mich  aus  dem  Unwetter  zu  holen  .  .< 


Prozeß  Kolischer 
Von  Karl  Kraus 

Die  Ehre,  die  der  Prozeß  gegen  den  Generalleutnant 
Sektionschef  Baron  Khan  Remissier  Klemens  Kolischer  unseren 
ministeriellen,  militärischen  und  judiziellen  Gewalten  eingebracht  hat, 
ist  mit  viertausend  Kronen  ütxrzahlt.  Der  Sieg  Österreichs  über 
den  persischen  Feldherrn,  der  ja  gewiß  in  den  Annaien  usw.,  ist 
beiweitem  nicht  so  rühmlich,  als  die  langjährige  Bundesgenossen- 
schaft schimpflich  war.  Selbst  nach  der  Niederlage  Österreichs 
im  Prozeß  Friedjung  hat  man  nicht  das  Gefühl,  daß  mit  dieser 
Trophäe  Aufhebens  gemacht  werden  müßte.  Mit  Persien  hatte 
der  Herr  Oberlandesgerichtsrat  Wach  leichteres  Spiel  als  mit 
Serbien,  aber  eben  auch  billigeres.  Alle  die  garantiert  echten 
Sektionschefs,  Barone  und  Generale,  die  wir  zu  sehen  bekamen 
und  die  gegen  den  einen  dubiosen  Khan  standen,  sollen  sich  nur 
nicht  zu  viel  auf  diesen  Ausgang  einbilden.  Die  Sache  verhält 
sich  nämlich  so.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  man  selbst  vom  radikalsten 
Standpunkt  die  österreichische  Staatlichkeit  gegen  den  Einbruch 
eines  Börsenkhans  schützen,  die  geordnete  Welt  ersessener  und 
erkrochener  Würden  dem  Chaos  erstandener  Titel  vorziehen  wird. 
Aber  hier  handelt  es  sich  nicht  allein  um  die  Ehre,  sondern 
auch  um  die  Dummheit.  Daß  Herr  Kolischer  nicht  die  per- 
sische Armee,  sondern  die  österreichische  angeführt  hat, 
macht    ihn  schuldig.    Aber    den    schimpflichen   Inhalt    des  Be- 


--   6    - 


truges  bildet  nicht  immer  die  List,  sondern  manchmal  auch  der 
Glaube.  Österreich  hat  an  Herrn  Kolischer  geglaubt.  Es  ließ  ihn 
schuldig  werden  und  überläßt  ihn  jetzt  der  Pein.  Diesem  Tataren- 
fürsten \x^urde  der  >gute  Glaube«  aberkannt,  als  er  die  Funktionäre 
so  schwer  gekränkt  hatte.  Aber  Österreich  muß  der  gute  Glaube 
ganz  und  gar  zugebilligt  werden.  Wieder  einmal  und  immer 
wieder.  Es  hat  an  der  persischen  Uniform  so  wenig  gezweifelt  wie 
an  den  serbischen  Dokumenten,  und  Herr  Kolischer  hat  nur  das 
Pech  gehabt,  daß  er  keinem  vaterländischen  Historiker  über  den  Weg 
lief:  ein  solcher  hätte  unserm  Ministerium  des  Äußern  die  letzten 
Bedenken  wegen  der  Siege  des  Herrn  Kolischer  über  die  Kurden 
ausgeredet.  Es  ist  wahrhaftig  keine  Großtat,  häuserhohes  Material 
über  einen  persischen  General,  der  es  nicht  ist,  in  den  Schwurgerichts- 
saal zu  schleppen.  Viel  rühmlicher  wäre  es  gewesen,  ihm  die  letzte 
Hoffnung,  daß  er  es  am  Ende  doch  sein  könnte,  rechtzeitig  zu 
benehmen.  Die  Leistung  des  Hauptmanns  von  Köpenick  war  das 
Werk  einer  Minute,  aber  der  Verkehr  mit  dem  General  Kolischer  hat 
viele  Jahre  gedauert.  Man  kann  sich  des  Eindrucks  nicht  erwehren, 
daß  jenem  Hauptmann  nur  deshalb  so  übel  mitgespielt  wurde, 
weil  er  nicht  imstande  war,  preußische  Orden  zu  verschaffen, 
während  sich  der  Glaube  an  diesen  General  mindestens  auch  auf  den 
Sonnen-  und  Löwenorden  erstreckte.  Daß  ein  Perserkhan  österreichi- 
sche Funktionäre  mit  Unrecht  beleidigt  hat,  ist  viel  weniger  inter- 
essant als  seine  Beliebtheit  in  diesen  Kreisen,  für  die  der  Wahr- 
heitsbeweis in  vollem  Umfang  erbracht  erscheint.  Er  ist  in  den 
Ämtern,  Ministerien,  Gesandtschaften,  Militärkasinos  nicht  nur  aus- 
sondern auch  eingegangen,  und  die  österreichische  Diplomatie  hat 
lange  Zeit  durch  den  Ernst  und  die  Ausdauer,  mit  denen  sie  die 
Angelegenheiten  des  Herni  Kolischer  besorgte,  ihre  Existenz- 
berechtigung erwiesen.  Auf  der  Ringstraße  und  in  Kurorten 
leisteten  ihm  Offiziere  die  Ehrenbezeigung,  niemand  zweifelte,  daß 
er  ein  General  sei,  und  nur  darüber  herrschte  nicht  volle  Einig- 
keit, ob  er  nicht  ein  Erzherzog  sei.  Da  man  das  aber  nicht  sicher 
wissen  konnte,  zog  für  alle  Fälle  ein  Rudel  Menschen  hinter  ihm 
her.  Herr  Kolischer  war  durchaus  berechtigt,  das  Vertrauen,  das 
man  ihm  in  der  Heimat  entgegenbrachte,  nicht  durch  Aufklärungen 
zu  enttäuschen.  Wie  alle  Menschenfreunde  muß  er  es  jetzt  büßen, 
^nd  wieder  einmal   zeigt  es  sich,  daß  die  Dummheit,  die  sich  an 


—  7  - 

einer  bunten  Würde  freut,  eine  Qemeinheit  begeht,   wenn  sie  die 
Echtheit  der  Farbe  zu  prüfen  anfängt.  So  wenig  es  angeht,  Herrn 
Cook   nachträglich   dafür  verantwortlich   zu  machen,   daß  er  den 
Nordpol    nicht  entdeckt   hat,   so   ungebührlich  ist  die  Entrüstung 
dieses  offiziellen  Österreich  über  einen  persischen  Brigadier,  der  in 
seinem  ganzen  Leben  nicht  einmal  eine  Eskadron  von  Wechselreitern 
befehligt   hat.    Ich    habe  einst   in    einer  Abhandlung    über   Men- 
schenwürde auf  einen  Mann  hingewiesen,  der  im  Kostüm  eines 
exotischen  Generals  die   höchsten  Kreise  einer   Residenzstadt   zu 
seinem  eigenen  Besten  halte.  Schon  damals  schien  mir  Shakespeare 
dem  Problem  Kolischer  nahezukommen,  nämlich  mit  der  Meinung 
des  greisen  Herrschers  Lear:  »Der  Schnitt  Eures  Habits  gefällt  mir 
nicht.  Ihr  werdet  sagen,  es  sei  persische  Tracht ;  aber  laBt  ihn  ändern !« 
jener  Advokat  nun    im  Prozeß  Kolischer,   der    eine  ganze 
Schmalzfabrik    der  Beredsamkeit   gegen    den    armen  Angeklagten 
aufbot,  und  offenbar  im  guten  Glauben,  es  handle   sich  um  den 
Prozeß    Friedjung,  die    Geschwornen    an    den  Ruhm    der    öster- 
reichischen  Armee    erinnerte,    »an    die    Ereignisse    des    vorigen 
Jahres  und  an  den  gefahrvollen  Augenblick,  da  unsere  Söhne  und 
Familienväter   mit  Hingebung   an   die   Grenzen   des    Vaterlandes 
eilten,    um    unsere   heiligsten  Güter  zu   schützen«,  jener  Advokat 
behauptete,    die   österreichischen    Offiziere    hätten    »unmittelbar« 
nach    der   Anbiederung    des    Herrn    Kolischer    ihn   durchschaut. 
Aus   meiner   eigenen  Erfahrung  kann    ich    das    nicht    bestätigen. 
Ein   Satz    in    der   , Fackel',    in    dem    einmal    gesagt    war,    daß 
Herrn  Kolischer  die  persische  Generalswürde  bei  der  Akquirierung 
von  Inseraten    für   seine    drei  Winkelblätter    gute  Dienste    leiste, 
hatte  eine   merkwürdige   Konsequenz.    Ich   empfing  den    Besuch 
eines  Rittmeisters  -  eines   österreichischen  —   und   eines   Ober- 
leutnants —  keines   persischen  — ,   die  »die  Ehre  hatten,  im  Auf- 
trage des  Generals  Kolischer  Genugtuung  mit  der  Waffe  zu  ver- 
langen«. Ehe  ich  dankend  ablehnte,  erkundigte  ich  mich  beiläufig,  ob 
die  Herren  den  persischen  General  Kolischer  meinten  oder  ob  sie  etwa 
im  Auftrag  eines  österreichischen  Vorgesetzten  gleichen  Namens  kä- 
men. Diese  Frage  empfanden  die  Herren  als  verletzend  und  wieder- 
holten schlicht  und  mit  Nachdruck:  >des  Generals  Kolischer«,  so  als 
ob  an  diesem  Range  nichtzu  drehn  noch  zu  deuteln  wäre.  Der  General 
fuhr  hierauf    bei  den  Wiener  Redaktionen   vor  und  ersuchte  um 


—  8 


eine  Notiz  über  das  abgelehnte  Duell.  Da  aber  auch  diesem  Ver- 
langen nicht  entsprochen  wurde,  forderte  er  mich  durch  seinen 
Advokaten  auf  Grund  des  §  19,  durch  seinen  Advokaten,  dem  er 
kurz  zuvor  nicht  etwa  den  Sonnen-  und  Löwen-,  sondern  geradezu 
den  Franz  Josefs-Orden  verschafft  hatte.  Man  kann  die  Berichti- 
gung und  einiges  darüber  in  Nr.  153  (Januar  1904)  nachlesen.  Es 
war  dort  erzählt,  wie  ein  ahnungsloser  Militärlieferant  von 
Schuhoberteilen  sich  ohneweiters  herbeiläßt,  einem  General 
ein  Inserat  zu  bewilligen.  Und  man  ersieht,  daß  ich  sogar  zu 
einer  Zeit  schon  über  Herrn  Kolischer  unterrichtet  war,  in  der 
es  die  Vertreter  Österreichs  noch  nicht  waren,  und  in  der  ich  nicht 
mehr  verpflichtet  war,  über  Einzelerscheinungen  der  österreichischen 
Finanzwelt  unterrichtet  zu  sein.  Aber  heute  hat  gerade  dieser 
Fall  seine  Perspektive  ins  Österreichische.  Und  daß  die  andern 
Fälle  noch  herumlaufen,  daß  der  päpstliche  Hofmaler  dem  ster- 
benden Bürgermeister  noch  die  Wünsche  Seiner  Heiligkeit  über- 
bringen konnte,  ohne  hinausgewiesen  zu  werden,  zeigt,  daß 
wirklich  kein  Schade  uns  davon  abbringen  kann,  Österreicher  zu 
bleiben.  Und  wenn  der  Papst  selbst  schon  mißtrauisch  würde,  wir 
Gläubigen  glauben  an  den  Conte  Lippay.  Wie  wir  an  den 
Khan  Kolischer  geglaubt  haben,  als  selbst  der  Schah 
bereits  den  Kopf  schüttelte.  Er  soll  ihn  einst  den  >rühmlichst 
bekannten  und  hochangesehenen  Herrn  Klemens  Kolischer<  ge- 
nannt haben,  dem  er  >in  diesem  glückverheißenden  Jahre  des 
Schweines  die  Charge,  die  Distinktion  und  den  Kordon  eines 
Generals  zweiter  Klasse  zu  verleihen  geruhe,  auf  daß  er  mit 
diesem  gesegneten  Zeichen  seine  ehrliebende  Brust  schmücke  und, 
seines  Ruhmes  sich  erfreuend,  unter  seinesgleichen  das  Haupt 
hoch  trage  zum  Erweise  erhöhter  Anerkennung  seiner  Tätigkeit 
(geschrieben  im  Monat  des  Zweiten  Dschumada  im  Jahre  der 
Flucht  1317)«.  Möglich.  Aber  sicher  ist,  daß  er  später  sagte:  »Geld 
hab  ich  ihm  gegeben,  gezahlt  hab  ich  für  ihn  und  Titel  hab  ich 
ihm  gegeben.  Ich  will  nichts  mehr  hören  von  ihm!«  Woraus 
hervorgeht,  daß  dem  Schah  die  Assimilation  an  die  Welt  des 
Herrn  Kolischer  besser  gelungen  ist  als  Herrn  Kolischer  die  an 
die  Welt  des  Schah,  Auch  habe  dieser  in  einer  Audienz  zum 
österreichischen  Bptschaf tsrat ,  ders  vor  Gericht  bezeugte,  die 
Worte  gebraucht:    »Wenn  er  kommt  und  erschlagen  wird,  meine 


—  9  — 


Hände  sind  rein.  Mit  dem  Textilmonoi»!  und  andern  Sachen,  die 
er  plante,    hätte  er  die  ganze  Bevölkerung  brotlos  gemacht!« 

Man  sieht,  wie  unsicher  die  Zustände  in  Persien  sind,  im  Ver- 
gleiche mit  jenen  im  Wiener  Schwurgerichtssaal.  Hier  kann  einer, 
weil  sich  die  Lynchung  streng  in  den  von  der  Strafprozeßordnung 
vorgeschriebenen  Normen  vollzieht,  höchstens  ein  bißchen  ohn- 
mächtig werden.  Es  dürfte  aber  nicht  oft  einen  Oerichlsfall  ge- 
geben haben,  wo  man  sich  so  lebhaft  versucht  gefühlt  hätte, 
einen  unsympathischen  Angeklagten  gegen  das  offenbare  Recht 
seiner  Gegner  in  Schutz  zu  nehmen.  Denn  selten  noch  haben 
Unrecht  und  Unfug  so  organisch  in  dem  System  gewurzelt,  das 
sich  gegen  einen  Einzelfall  erst  wehrt,  wenn  er  ihm  zu  bunt 
wird;  Wenn  wir  an  den  diplomatischen  Apparat  denken,  der  ge- 
braucht wurde,  als  die  Ämter  in  der  Untersuchung  des  Falles 
Kolischer  >ihre  Pflicht  erfüllten«,  und  an  den  judiziellen  Apparat, 
der  zum  Beweise  erfüllter  Pflicht  gedient  hat,  dann  möchten  wir 
in  Gottes  Namen  selbst  einen  unerforschten  Khan  diesem  lang- 
jährigen Aufgebot  von  Tadellosigkeit  und  in  Ehren  ergrauter 
Eselei  vorziehen.  Zuerst  läßt  nfan  den  Herrn  Kolischcr  mit 
Prinzessinnen  tanzen  und  dann  gibt  man  auch  nicht  ein  Jota  von 
dem  süßen  Amtsgeheimnis  her,  wenn  es  möglich  wäre,  dadurch 
dem  ganzen  Lamento  um  eine  Uniform  ein  Ende  zu  machen. 
Ein  langwieriges  Achselzucken  mit  dem  Bewußtsein  treuer  Pflicht- 
erfüllung folgt  den  Jahren,  da  man  Herrn  Kolischer  ernst  nahm. 
Man  hat  die  Streberei  pathologisch  geschärft,  die  Narretei  zum 
Wahnsinn  gesteigert,  und  dreht  ihr  hinterdrein  eine  lange  Nase. 
Ich  möchte  aber  den  kaiserlichen  Rat  sehen,  der  nicht  über- 
schnappen würde,  wenn  dieselben  Leute,  die  ihn  bis  dahin  tief 
gegrüßt  hatten,  ihm  in  weitem  Bogen  ausweichen,  weil  sie  erfahren 
haben,  daß  der  Kaiser  von  ihm  keinen  Rat  annimmt.  Und  wenn 
dann  auf  die  sieben  mageren  Jahre  des  Herrn  Kolischer  noch  der 
feierliche  Gerichtssaalwitz  folgt,  wird  es  vollends  schwer  zu  ent- 
scheiden, auf  welcher  Seite  einem  mit  mehr  Recht  die  Geduld 
reißt.  Wäre  die  Geschichte  nicht  der  Geschichte  selbst  zu  lang- 
weilig geworden,  wir  hätten  noch  durch  einige  Wochen  in  jedem 
Abendblatt  der  Neuen  Freien  Presse  die  schönen  Geschwornen- 
namen lesen  müssen  —  eine  Neuerung,  die  das  Blatt  offenbar 
dem  besonders   gewichtigen  Anlaß    zuliebe    eingeführt   hat.    Der 


10 


Staatsanwalt  fühlte  sich  schließlich  bewogen,  an  das  Problem  der 
Volksjudikatur  zu  rühren:  er  reizte  die  Oeschwornen,  indem  er  sie 
an  den  Zeitverlust  bei  diesem  Prozesse  erinnerte.  Gewiß,  solch  ein 
Fall  beweist,  wie  sinnlos  es  in  jedem  Fall  ist,  die  wertvollen  Kräfte 
unserer  Schneidermeister  brach  liegen  zu  lassen,  denn  immer  bleiben 
um  einer  persischen  Qeneralsuniform  willen  unsere  Hosen  unge- 
flickt.  Aber  der  Advokat,  der  uns  mit  Schmalz  versorgt, 
ist  anderer  Meinung.  >Und  wenn  ich  daran  zweifeln  würde, 
meine  verehrten  Herren  Oeschwornen,  ob  unter  Ihnen,  nachdem 
Sie  mit  so  seltener  Hingebung  dieser  langen  Verhandlung  gefolgt 
sind,  nicht  doch  einer  ist,  der  von  dem  vollen  Maße  der  Schuld 
des  Angeklagten  nicht  überzeugt  ist,  dann  würde  ich  mich  nicht 
nur  einer  Geschmacklosigkeit,  sondern  einer  Sünde  schuldig 
machen.  Denn  ich  müßte  ja  dann  an  Ihrer  Einsicht  zweifeln,  und 
selbstverständlich,  wie  vermöchte  ich  das!  Wie  könnte  mir  das 
auch  nur  in  den  Sinn  kommen!«  I  wo  wird  er  denn!  Und  das 
alles  müssen  wir  zu  schlucken  kriegen,  weil  unsere  Amtlichkeit 
einen  Börsenmakler  nicht  der  persischen  Generalsuniform,  aber 
einer  österreichischen  Staatsaktion  für  würdig  hielt.  Persien 
macht  kürzeren  Prozeß.  >Wenn  er  kommt  und  erschlagen  wird«  — 
die  Reklameadvokaten  von  Teheran  gehen  mit  leeren  Händen  aus 
und  die  brotlose  Bevölkerung  verzichtet  dort  auch  auf  die  Circenses. 
Persien  rächt  seine  Enttäuschungen  mit  Blut,  Osterreich  die  seinen 
mit  Langweile.  Persien  fragte,  ob  die  Reform  echt  sei,  Österreich, 
ob  die  Uniform  echt  sei.  Persien  hätte  einen  wirklichen  Börsianer, 
dessen  Lebensziel  es  ist,  in  den  Straßen  von  Teheran  in  der 
Tracht  eines  österreichischen  Feldwebels  zu  stolzieren,  laufen 
lassen  -  Österreich  hat  eine  Kolischer-Epoche  durchlebt.  Es 
klingt  zauberhaft:  zuerst  liebten  sie  den  Mann,  glaubten  an 
die  Uniform  und  hofften  auf  den  Sonnen-  und  Löwenorden, 
und  nachher  hat  die  Untersuchung  eines  persischen  Märchens 
tausend  und  einen  Akt  gekostet. 


—  11  — 

Schöffel  nnd  Kümberger 

Die  folgenden  zwei  Feuilletons  hat  Ferdinand 
Kürnberger  nicht  in  die  Sammlung  »Siegelringe«  auf- 
genommen, und  auch  in  der  Neuausgabe,  die  kürzlich 
erschienen  ist  und  eine  Ergänzung  bringt,*)  sind  sie 
nicht  enthalten.  Es  sind  schwächere  polemische 
Leistungen,  aber  indem  man  dies  sagt  und  die 
Distanz  zu  der  Höhe  Kürnbergers  feststellt,  darf  man 
sie  getrost  der  heutigen  ÖflFentlichkeit  überliefern. 
Die  Gewichtigkeit  ihres  Inhalts  wird  gerade  jetzt 
und  in  der  Sphäre  der  , Fackel'  deutlich.  Der  erste 
Artikel  führt  so  in  die  Anfangsgründe  der  NeuenFreien 
Verachtung  ein,  wie  kein  anderer,  den  Kürnberger 
je  geschrieben  hat.  Und  der  zweite,  satirisch  höher 
gestimmte,  enthält  eine  Würdigung  Joseph  Schöffeis, 
wie  sie  eindringlich  liebevoller  auch  in  den  »Siegel- 
ringen« nicht  gegeben  ist.  Die  beiden  Feuilletons 
sind  vollständig  unbekannt.  Das  erste  —  das  hier 
nach  einem  von  Kürnbergers  Hand  korrigierten 
Exemplar  gedruckt  wird  —  ist  im  ,Tagblatt'  am 
26.  August  1873,  das  andere  in  der  , Deutschen 
Zeitung'  am  3.  April  1874  erschienen. 

„Ich« 

Ganz  Europa  wundert  sich  nicht  wenig! 

Die  Fichtegasse  nimmt  es  übel,  daß  Schöffel  —  ein  Fichteaner 
geworden!  Welch  eine  Neue  Freie  Logik! 

Ist  das  Konsequenz  oder  Inkonsequenz  von  der  unphilo- 
sophischen Philosophengasse? 

Aber  doch  wohl  das  Erstere.  Verführt  von  der  deutschen 
Grammatik,  sagt  Schöffel  >ich<,  wenn  er  in  der  ersten  Person 
spricht;  das  sieht  harmlos  und  unschuldig  aus,  ist  aber  doch  eine 
scharfe  Majestätsbeleidigung  gegen  das  Ur-Ich  in  der  Fichtegasse. 
Außer  Gott  ist  kein  Gott,  und  außer  dem  Ich  der  .Neuen  Freien 
Presse'  gibt  es  kein  Schöffel-Ich  mehr,   gibt  es  kein  Ich   mehr  in 


*)  Gesammelte  Werke,  herausgegeben  von  O.  E.  Deutsch,  I.  Band, 
München  und  Leipzig,  Georg  Müller. 


—  12 


Mödling,  Haus-Numero  22.  Das  sollt  ihr  wissen,  ihr  Völker  am 
Alserbach  und  am  Krottenbach. 

Daher  die  schwunghafte  Sure  der  ,Neuen  Freien  Presse'  am 
Sonnabend,  worin  sie  das  Dogma  der  Fichtegasse  unter  Blitz  und 
Donner  ihren  Gläubigen  eindringlichst  um  die  Ohren  schlägt. 

Hört  ihr  Völker,  schreit  sie  mit  Ingrimm,  die  schauderhafte 
Mordtat  im  Lande  Österreich!  Dieser  Schöffel  ist  ja  förmlich  ein 
>Fichteaner<  geworden.  Schon  wieder  hat  er  gestern,  Freitag  den 
22.  August  im  ,Tagblatt'  anderthalb  Spalten  zu  seinem  Ich  ver- 
braucht! 

Entsetzlich !  Wie  könnte  die  .Neue  Freie  Presse'  das  dulden, 
die  zu  ihrem  Ich  anderthalb  Papiermühlen  verbraucht?! 

Ich  gebe  tausend  Dukaten  für  eine  Wanze  —  Pardon,  ich 
wollte  sagen  für  eine  Nummer  der  ,Neuen  Freien  Presse',  worin 
die  pflichtmäßige  Obsorge  für  ihren  Ich-Kultus  unterlassen  worden 
wäre.  Das  heilige  Feuer  zur  immerwährenden  Selbstanbetung  ihres 
Ich  wird  Tag  und  Nacht  brennend  unterhalten,  und  wenn  es  je 
unter  den  Händen  eines  unglücklichen  Mitarbeiters  verlöschen 
sollte,  so  wird  derselbe  in  einen  Sack  eingenäht  und  auf  eine 
wüste  Insel  transportiert,  z.  B.  ins  Feuilleton  der  ,N.  Fr.  Pr.' 

Alles  Wissen  ist  Koran,  sagte  Aali  und  zündete  die  alexan- 
drische Bibliothek  an;  alles  Wissen  ist  mein  Ich,  sagt  die  .Neue 
Fr.  Presse',  und  zündet  jedes  andere  Ich  an.  Um  die  Völker  zu 
ihrem  Heile  anzuleiten,  braucht  die  ,Neue  Fr.  Pr.'  nichts  -  als 
die  ,Neue  Freie  Presse'. 

Wenn  sich  die  ,Neue  Freie  Presse'  ihre  Korrespondenzen 
schreibt,  so  spielen  die  Korrespondenten  immer  mit  den  Trümpfen 
der  ,Neuen  Freien  Presse'.  Da  wird  dem  Florentiner  Korrespondenten 
in   den   Mund    gelegt:     >Wie   der   Londoner   Korrespondent  der 

,Neuen  Freien  Presse'  ganz  richtig  bemerkt  hat« worauf  der 

Londoner  Korrespondent  mit  der  Response  einfällt:  »Der  Florentiner 
Korrespondent  der  ,Neuen  Freien  Presse'  war  gut  unterrichtet«  — 
und  so  fort,  mit  Grazie  um  Münchhausens  Zopfkreisel  herum. 

Ala  muß  schreiben:  >Die  hiesigen  Leser  der  ,Neuen  Freien 

Presse'  verfolgen    mit  Interesse« und  Riva  muß  antworten : 

>Die  hiesigen  Leser  der  ,Neuen  Freien  Presse'  haben  mit  Vergnügen 
bemerkt«  —  —  In  Paris  erfüllt  sich,  was  die  ,Neue  Freie  Presse, 
am    32.  März  so  scharfsinnig    vorausgesagt    und    Konstantinopel 


—  13 


sieht  die  Dinge  immer  deutlicher  sich  entwickeln,  wie  es  die  ,Neue 
Freie  Presse'  am  1.  April  so  richtig  prognostiziert. 

Wie  gesagt,  ich  gebe  tausend  Dukaten  —  doch  nein,  wer 
wird  so  schmutzig  sein?  ich  gebe  zweitausend  Dukaten  für  eine 
Nummer  der  ,Neuen  Freien  Presse',  worin  außer  der  .Neuen 
Freien  Presse'  noch  ein  Stückchen  Welt  samt  Umgebung  existierte. 

Und  nun  will  so  ein  Schöffel-Ich  existieren!  Und  braucht 
anderthalb  Spalten  vom  .Tagblatt'  für  sein  Ich!  Da  sieht  man  den 
ganzen  Rebellionsgeist  dieser  >Jungen«! 

Es  gibt  nur  eine  bestimmte  Anzahl  von  Ohrfeigen  in  der 
Welt,  hat  ein  Tieckscher  Held  behauptet,  und  er  freute  sich  immer, 
daß  die  seinige  aus  der  Welt  sei,  wenn  ein  Anderer  eine  bekam. 

So  gibt  es  nach  der  ,Neuen  Freien  Presse'  auch  nur  eine 
gewisse  Summe  von  Ichs,  aber  diese  Summe  repräsentiert  sie  selbst 
schon,  die  ganze  Summe,  die  Totalsumme!  Außer  ihr  kein  Ich! 
Und  wo  sich  doch  eins  muckst,  ist  es  direkter  Diebstahl  an  ihr.  Die 
Welt  ist  ein  von  der  .Neuen  Freien  Presse'  ausverkauftes  Haus 
von  Ichs.  Man  kann  in  die  Welt  nur  hinein  mit  einer  Kontr^- 
marke  der  ,Neuen  Freien  Presse'.  Wenn  nun  so  ein  Fichteaner,  so 
ein  Schöffel-Ich  kommt  und  sich  selbst  setzt  (wie  Fichte  sagt)  und 
noch  dazu  auf  einen  so  guten  Balkonsitz,  wie  anderthalb  Spalten 
im  ,Tagblatt',  so  bringt  das  die  ganze  Geschichte  der  Philosophie 
des  19.  Jahrhunderts  in  Verwirrung.  Das  kann  man  nur,  wenn 
man  den  österreichischen  Welthausherm  um  Erlaubnis  gefragt  hat. 
»Österreich  ist  der  unnützeste  Staat«  .  . .  wenn  er  nicht  für  die 
Fichtegasse  da  ist!  Ihr  lacht?  Die  »regierungsfähigen«  Alten 
glauben  es  im  bittersten  Ernste.  Sie  beneiden  längst  den  Bischof 
von  Brixen,  daß  sie  das  nicht  auch  so  laut  sagen  dürfen! 

Was  machen  wir  also,  mein  verehrter  Freund  Schöffel?  Ichs 
sind  wir  alle,  das  ist  unsere  angeborene  Erbsünde!  Ja,  was  das 
Schlimmste  ist:  die  löblichen  Versuche,  die  wir  im  richtigen  Gefühl 
unserer  Sünde  gemacht,  dieses  verbrecherische  >Ich<  zu  umgehen, 
sind  kläglich  gescheitert.  Z.  B.  das  >man«.  Man  hat  die  Wünsche 
des  Volkes  vernommen,  man  wird  sie  amtsmäßig  beraten  lassen, 
man  wird  Beschluß  darüber  fassen,  man  wird  seine  Entschließung 
rechtzeitig  kundtun  —  sagte  der  Großherzog  von  Kniphausen  in 
einer  Balkonrede  der  Kniphäuser  Märztage.  Hier  war  das  »man< 
der  Großherzog  und  sein  Ich. 


—  14 


Man  ist  ein  Esel!  schnauzte  der  Polizeirat  seinen  Konfidenten 
an,  der  aus  einem  Antiquarladen  ein  Buch  »Über  die  Revolutionen« 
konfisziert,  —  nämlich  über  die  Revolutionen  der  Erde  am  Nordpol, 
was  er  in  seinem  Amtseifer  übersehen.  Dieses  >man«  war  aber 
jetzt  nicht  der  Polizeirat  und  sein  Ich. 

Man  ist  ein  Esel.  Wie  belehrend!  Sie  sehen  also,  verehrter 
Freund,  Sie  können  dieses  zweideutige  »man«  durchaus  nicht 
brauchen.  Die  ,Neue  Freie  Presse'  könnte  zuweilen  glauben,  es  sei 
von  ihr  die  Rede. 

Ein  anderesmal  hat  das  zerknirschte  Ich  zu  dem  »wir«  ge- 
griffen. Auch  das  muß  ich  Ihnen  widerraten.  Man  hat  dieses  »wir« 
nämlich  den  Pluralis  Majestatis  genannt,  aber  majestätisch  ist 
nichts,  als  die  ,Meue  Freie  Presse',  die  »regierungsfähige«  Alte  m 
der  Fichtegasse!  Sie  könnten  nur  Öl  ins  Feuer  gießen. 

Endlich  hat  sich  die  erste  Person  gar  in  die  dritte  versteckt; 
Sie  dürften  also  höchstens  noch  von  sich  sprechen,  wie  Cäsar  im 
gallischen  Kriege  von  Cäsar. 

Schöffel  versammelte  seine  Legionen  —  Schöffel  hielt  auf 
dem  Forum  von  Purkersdorf  eine  Rede  ans  Volk  —  Schöffel 
erstürmte  das  Lager  der  »Neuen  Freien  Presse<  und  führte  die 
Gefangenen  im  Triumphzuge  nach  Mödling  — 

Hm!  wäre  gar  nicht  ohne.  Aber  ach,  da  fällt  mir  soeben 
ein,  daß  Cäsar  dieses  Plagiat  an  der  Gurli  begangen  hat,  und  Sie 
können  doch  nicht  wie  Gurli  reden!  Gurli  will  heiraten  —  Schöffel 
will  nicht  betteln  gehn  —  leider!  ist  noch  einmal  nicht  zu  brauchen! 

Wahrlich,  eine  harte  Nuß  !  Wie  schwer  seufzt  es  sich  unter'm 
Joch  so  einer  Alten,  —  auch  wenn  sie  Neu  und  Frei  ist!  Manzoni 
hat  gut  scherzen  von  einem  Siemandl,  welcher  die  Briefe  seines 
alten  Hausdrachen  korrigierte,  »weil  die  Orthographie  noch  das 
Einzige  war,  worüber  der  Doktor  in  seinem  Hause  befehlen  durfte.« 

In  unserem  Falle  i't  das  nichts  weniger  als  spaßhaft.  Unsere 
»regierungsfähige«  Alte,  die  das  ganze  Haus  tyrannisiert,  will  nun 
auch  noch  über  die  Grammatik  befehlen!  Eine  Person,  welche 
fünfzigtausend  Personen  zu  vertreten  hätte,  soll  keine  Person  sein! 
soll  die  Rechtswohltat  der  Grammatik  verwirkt  haben!  Die 
Grammatik  sagt  »ichc  in  der  ersten  Person,  sie  sagt  es  auch  für 
Josef  Schöffel,  aber  die  ,Neue  Freie  Presse'  leidet  es  nicht.  Der 
Kandidat  muß  freilich  sehr  gut  und  sie  sehr  schlecht  stehen,  wenn 


-   16  — 

sie  ihm  weiter  nichts  nachzusagen  weiß,  als  daß  er  Ich  sagt  in 
der  ersten  Person;  ein  polemisches  Motiv  von  erstaunlicher  Genüg- 
samkeit! Der  äußerste  Hungertyphus  des  Witzes,  das  für  einen 
Knochen  zu  halten,  an  dem  sich  nagen  und  beißen  läßt! 

Nun,  die  ,Neue  Freie  Presse'  muß  es  am  besten  wissen, 
wie  lang  sie  an  der  Witztafel  schon  nichts  Warmes  gegessen  hat, 
und  Hunger  tut  weh.  Sie  nimmt  sich  einen  Dienstmann  auf  — 
denn  ein  Journalist  gibt  sich  nicht  her  dazu  -  sie  nimmt  sich 
einen  Dienstmann  auf  und  läßt  emsig  nachzählen,  wie  oft  in  einer 
Wählerschafts-Enunziation  das  Wörtchen  »ich«  vorkommt.  Sie 
gibt  ihm  einen  Rotstift  in  die  Hand,  daß  er's  unterstreiche,  und 
kommandiert  dem  Setzer,  daß  er  das  Unterstrichene  durchschieße. 
Diese  Schande  vor  der  ganzen  Welt!  Da  steht  es  jetzt  das  Ver- 
brechen, nackt  und  bloß,  und  erliegt  nicht  einmal  unter  der  Satire 
der  ,Neuen  Freien  Presse'.  Nein,  bloß  der  Rotstift  des  Dienst- 
manns  und  die  Spatien  des  Setzers  waren  die  Satire.  Das  Ver- 
brechen richtet  sich  selbst,  daß  die  deutsche  Grammatik  >ich<  in 
der  ersten  Person  sagt.  Armes  deutsches  Ich !  Der  Franzose,  der 
von  Kopf  zu  Fuß  ganz  Ich  ist,  braucht  zwei  »ich«,  wie  er  zwei 
Hände  und  zwei  Füße  braucht  und  sagt  je  und  moi ;  der  schroffe 
stolze  Insulaner,  der  königliche  Egoist  »of  old  England«  findet  in 
seinem  Ich  die  einzige  Größe,  die  es  sich  verlohnt,  groß  zu 
schreiben  und  schreibt  I;  nur  das  schamhafte  deutsche  »ich«  soll 
sein  Veilchenauge  zu  Boden  schlagen  und  sich's  vorwerfen  lassen, 
daß  es  überhaupt  auf  der  grammatischen  Welt  ist!  Die  .Neue 
Freie  Presse'  schwingt  ihie  stumpfste  Feder  —  die  sie,  wie  die 
zerfetztesten  Fahnen,  für  die  siegreichste  zu  halten  scheint  -  und 
fällt  gegen  die  Tatsachen  der  deutschen  Grammatik  aus.  Ohne 
die  Rebellenbrut  der  »Jungen«  einer  Lehrmeinung  zu  würdigen, 
welches  die  geheimnisvolle  mystische  Zahl  wäre,  wie  oft  man  »ich« 
sagen  darf  und  wie  oft  nicht,  läßt  sie  uns  in  Todesangst  zappeln, 
daß  Zusammenrottungen  von  mehr  als  einem  »ich«  (nicht  bei  ihr, 
sondern  beim  ,Tagblatt')  der  geradeste  Weg  in  Stabstockhaus. 

Bei  Gott,  das  kann  schön  werden,  wenn  sich  die  Herrschaft 
der  »Alten«  wieder  befestigen  sollte!  Die  deutsche  Grammatik  im 
permanenten  Belagerungszustand!  Aber  wie  denn  auch  anders? 
Erst  der  Mantel,  dann  der  Herzog.  Der  »regierungsfähige«  Partei- 
minister will  keinen  Schulrat  Bobies,  das  »regierungsfähige« 
Parteiblatt  will  keinen  Schuldirektor  D  i  1 1  e  s,    endlich    legen   sie 


—  16  — 

die  Axt  an  die  Wurzel  und  wollen  keine  Grammatik.  Keine 
Grammatik,  die  >ich<  in  der  ersten  Person  sagt,  keinen  Gebrauch 
dieses  >ich<. 

Josef,  Josef,  auf  entfernte  Meilen  —  sorg'  ich  in  Wien  für 
meinen  armen  schattenlosen  Schlemihl,  der  in  Mödling  ohne 
persönliches  Fürwort  herumgeht !  Wahrlich,  verehrter  Freund,  Ihre 
grammatische  Evidenzhaltung  ist  jetzt  die  brennendste  Frage.  Wie 
revidieren  wir  die  revolutionäre  Pronominal- Verfassung  für  den 
histerischen  Rechtsstaat  in  der  Fichtegasse?  Denn  geschehen  muß 
etwas,  das  ist  klar.  Die  regierungsfähige  Alte  muß  versöhnt 
werden ;  ich  hoffe,  Sie  haben  meine  versöhnliche  Stimmung  längst 
schon  bemerkt. 

Ha,  da  hab'  ich  es!  »Auf  einmal  weiß  ich  Rat!«  Hören  Sie 
mich  an. 

Im  vorigen  Jahrhundert  trieb  man  die  Spielerei,  ganze 
Romane  zu  schreiben  mit  Verzichtleistung  auf  den  Gebrauch  irgend 
eines  Buchstabs  —  z.  B.  des  a,  des  r  u.  dgl. 

Verzichten  Sie  ganz  auf  den  verhängnisvollen  Pronominal- 
Luxus  >ich.<  Stilisieren  Sie  alles,  was  Sie  als  Wahlkandidat  zu 
schreiben  haben,  so  künstlich,  daß  kein  einziges  »ich«  darin  vor- 
kommt. Es  ist  nun  einmal  ein  roter  Lappen  für  die  ärgerliche  Alte 
und  der  Zorn  könnte  ihr  Ende  beschleunigen.  Aber  ist  jetzt  eine 
Zeit  zu  Nationalfesten? 

Und  wie  sollten  Sie  auch,  wenn  Ihnen  die  ganze  übrige 
Sprache,  wie  Sie  in  den  Wald-  und  Straßenfragen  bewiesen  haben, 
so  exzellent  zu  Gebote  steljt,  wie  sollten  Sie  auch  dieses  winzige 
Wörtchen,  dieses  kleine  einsilbige  Ich  nicht  entbehren  können? 
Sehen  Sie  die  ,Neue  Freie  Presse'  selbst  an,  wie  sie  das  umgekehrte, 
viel  schwierigere  Kunststück  zustande  bringt!  Sie  schreibt  mit  dem 
kleinen,  winzigen  Ich,  mit  diesem  einzigen  Wörtchen  sämtliche 
Jahrgänge  der  ,Neuen  Freien  Presse'  und  kann  dafür  alle  übrigen 
Wörter,  ganz  besonders  aber  die  Begriffe  der  Wörter  entbehren. 

Nehmen  Sie  alo  meinen  Vorschlag  an.  Ich  mache  ihn  in 
Österreichs  elfter  Stunde  —  man  möchte  beinahe  schon  sagen,  um 
dreiviertel  auf  zwölf.  Und  ist  auch  das  noch  kein  Kompromiß 
zwischen  den  Aiten  und  Jungen  —  dann  rolle  Verhängnis!  Ich 
bin  unschuldig  am  Blutvergießen.  Ich  bin  unschuldig,  wenn  die 
österreichische  Revolution   die  Dämme  des  Alserbachs  überflutet, 

Ferdinand  Kürnberger. 


Die  Schöffel-Chlumecky-Debatte  auf  meiner 
Arbeitsbank 

Vor  den  Feiertagen  haben  wir  Handwerksleutc  zu  tun.  Wer 
Geld  hat,  läßt  sich  neue  Kleider  machen,  und  wer  keines  hat,  die 
alten  verschlissenen  wenigstens  ausbessern.  Verschämte  Arme  z.  B. 
werden  ganz  besonders  heikel  sein,  mit  keiner  fadenscheinigen  und 
zerlöcherten  Logik  an  den  Osterfeiertagen  sich  blicken  zu  lassen. 
In  der  Montags-Sitzung  hat  die  Logik  der  Frau  Austria  durch 
unvorsichtige  Hände  einige  Löcher  bekommen,  die  ich  schleunigst 
zustopfen  will.  Die  genannte  Frau  ist  nämlich  meine  alte  Kund- 
schaft und  ich  habe  sie  immer  gut  bedient.  Ein  rechtschaffener 
Handwerksmann  läßt  sich  ein  paar  Stiche  nicht  reuen,  auch 
wenn  sie  ihm  nicht  bestellt,  ja  nicht  einmal  gelohnt  würden.  Auch 
um  Gotteslohn  fädelt  ein  gottesfürchtiger  Flickschneider  gerne 
seine  Nadel  ein.  Ich  flicke  also! 

Erstes  Loch.  Chlumecky:  >Der  Herr  Abgeordnete  Schöffel 
hat  die  Geschäftsnummern  des  Ministeriums  mit  den  Agenden 
anderer  Mmisterien  verglichen.  Ich  begreife  nicht,  wie  gerade  der 
Herr,  welcher  der  Bureaukratie  so  zu  Leibe  gegangen  ist,  nun 
den  bekanntlich  bureaukratischen  Schimmel,  nämlich  die  Geschäfts- 
nummern einer  Behörde,  zum  Gegenstande  einer  Vergleichung 
machen  kann.  Ich  habe  geglaubt,  daß  ich  am  besten  administriere, 
wenn  ich  möglichst  wenig  Nummern  macbe.t  —  (Rufe  links  und 
im  Zentrum:  >Sehr  richtig !<) 

Fleck  darauf.  Ruf  von  meiner  Arbeitsbank:  Sehr 
unrichtig!  Die  Kultur  hat  nun  einmal  nach  irgend  einem  uner- 
bittlichen Fatum  den  Gang  des  Papiers  eingeschlagen.  Bei  einem 
Kulturgange,  wo  kein  Fürst  mehr  eine  Schule  besuchen  kann, 
ohne  daß  der  Schulmeister  früher  schriftlich  vorlegen  muß,  was 
er  sagen  wird,  und  der  Fürst  eine  papierne  Zettel- Antwort  in  die 
Hand  bekommt,  die  er  ablesen  muß,  bei  einem  Kulturgange,  der 
Alles  und  Alles  zu  Papier  bringt,  wollen  wir  uns  doch  nicht  weis- 
machen, daß  die  Vieischreiberei  überhaupt  einzudämmen  ist  und 
im  Belieben  eines  Einzelnen  liegt?  Belcredi  wollte  solch' ein  Einzelner 
sein.  Ich  erinnere  mich  noch  sehr  wohl  seines  Antritts-Zirkulärs. 
Weniger  schreiben,  mehr  mündlich  und  persönlich  abtun,  riet  er 
seinen    Beamten.     Belletrist!    Phantast!    Romantiker!    Dilletant! 


18 


antwortete  spöttisch  das  Papier-Fatum  und  Schreiber-Imperium, 
und  ließ  alles  beim  Alten.  Eines  Tages  nahm  ein  Beamter  einen 
Fiaker  und  erledigte  wirklich  persönlich,  was  er  sonst  schriftlich 
abgemacht  hätte.  Das  ging  durch  alle  Blätter  und  war  eine  Merk- 
würdigkeit wie  ein  Maikäfer  im  April.  Das  arme  Tierlein  ist  auch 
bald  genug  umgekommen;  man  sah  den  Schreiberstaat  nach  wie 
vor  viel  weniger  auf  den  Strümpfen  als  auf  seinem  sitzenden  Sitz- 
fleisch. »Ich  habe  geglaubt,  daß  ich  am  besten  .  .  .  .<  ja  freilich, 
ich  habe  auch  geglaubt!  Aber  ich  habe  geglaubt,  daß  jeder  Glaube 
unglaublich  weit  hinter  Taten  und  Werken  zurückbleibt.  Wir 
wollen  daher  keine  Glaubenskriege  führen.  Halten  wir  uns  aber 
an  die  Tatsachen,  so  behält  Schöffel  Recht,  denn  im  tatsächlichen 
Vielschreiber-Staate  wird  die  Zahl  der  Agenden  von  der  Tätigkeit 
des  Amtes  immer  ein  Bild  geben.  Es  ist  nnn  einmal  nicht  anders. 

Zweites  Loch.  Chlumecky:  >Wenn  der  Herr  Abgeordnete 
weiter  gesagt  hat,  daß  das  Unerhörte  geschehe,  daß  auch  ein 
Sektions-Chef  in  forstlichen  Angelegenheiten  Agenden  hat,  so 
muß  ich  Sie  bitten,  die  Exekutive  dem  verantwortlichen  Minister 
zu  überlassen,  es  ihm  zu  überlassen,  die  Kräfte,  die  er  braucht, 
zu  wählen,  und  nach  seiner  Überzeugung  zu  organisieren.«  — 
(> Bravo!  Bravo!«) 

Fleck  darauf.  Die  Exekutive  will  Geld  von  mir.  Darf 
ich  nun  fragen:  Was  und  wie  exekutierst  du  damit,  oder  darf  ich 
nicht  so  fragen?  Was  ist  denn  das  Budgetrecht,  wenn  nicht  eine 
Kontrolle  der  Exekutive?  Es  liegt  in  der  ganzen  Natur  der  geteilten 
Gewalten,  daß  sie  eben  nicht  so  präzis  zu  teilen  sind,  wie  Salomo 
das  berühmte  Kindlein  teilen  wollte.  In  jedem  kräftigen  Parla- 
mentarismus langt  die  Legislative  gelegentlich  in  die  Exekutive 
hinüber,  und  in  jedem  Kanzleidiener-Parlamente  erlaubt  sich  die 
Exekutive  selbst  wieder  Beeinflussungen  der  Legislative. 

Drittes  Loch.  Chlumecky:  >Der  Abgeordnete  von 
Mödling  —  der  Abgeordnete  von  Hietzing  — « 

Fleck  darauf.  Ein  altes  Wiener  Possen-Couplet  singt: 
>I  bin  von  Penzing  und  das  is  mein  Stolz!«  Diese  schönen  Zeiten 
haben  sich  geändert,  denn  von  Hietzing  und  Mödling  zu  sein, 
sieht  nach  Chlumecky  nahezu  wie  ein  Vorwurf  der  armen  nieder- 
österreichischen Kreatur  aus.  Gott  besser 's !  Schäme  dich,  Hietzing 
und  Mödling.    Warum    bist    du  nicht  Moskau    und  Petersburg  ? 


-  19  - 


Ach,  es  läßt  sich  so  schön  »verantwortlicher«  Minister  —  in 
russischen  Städten  sein!  Übrigens  meint  man,  es  wäre  auch  bej 
bei  uns  nicht  gesundheitsschädhch  und  pensionsnachteilig. 

Viertes  Loch:  Chlumecky:  »Es  ist  sehr  leicht,  achtbare 
Beamte  zu  denunzieren,  aber  gegen  solche  Vorwürfe,  wie  sie  heute 
erlioben  worden  sind,  ohne  daß  nur  einzige  Tatsache  vorgeführt 
worden  wäre  .  .  .< 

Fleck  darauf.  Schöffel  rechnet :  Vom  gesamten  Bamten- 
stand  konsumiert  Justiz  1  Perzent,  Unterricht  2^li,  Inneres  5, 
Handel  5,  Finanzen  7,  Ackerbau  —  I6V2  Perzent. 

Ist  das  eine  Tatsache?  Pardon,  ich  armer,  einfältiger  Flick- 
schneider halte  es  dafür. 

Schöffel  sagt:  Als  die  Staatsforste  4  Millionen  Joch  hatten, 
zählte  die  Verwaltung  7  Beamte,  jetzt  haben  sie  1  Million  und 
die  Verwaltung  zählt  15  Beamte. 

Ist  das  eine  Tatsache  von  nepotischer  Bearatenversorgung 
und  kostspieligem  Anstellungs-Luxus? 

Schöffel  sagt:  Das  V.  Departement  ist  das  der  Pferdezucht. 
Damit  ist  das  Qestütswesen  nicht  gemeint,  denn  dieses  untersteht 
einem  Generalmajor.  Damit  man  jedoch  den  Unterschied  zwischen 
Pferdezucht  und  Gestütswesen  erkennt,  wurde  ein  Ministerial- 
sekretär  als  Markierungspunkt  angestellt. 

Ist  dieser  Ministerialsekretär  eine  Tatsache  oder  ein  Schatten- 
prinz aus  Arkadien? 

Schöffel  sagt:  Das  VI.  Departement  ist  das  des  Bergwesens, 
wohl  zu  unterscheiden  von  dem  des  Montanwesens,  unter  dem 
man  die  Betriebsleitung  der  ärarischen  Bergwerke  versteht.  Das 
Departement  leitet  ein  Ministerialrat,  dem  eine  Schar  von  3  Berg- 
hauptleuten, 6  Ober- Bergräten,  5  Bergräten,  18  Ober-Berg- 
kommissären und  13  Bergkommissären  untersteht.  Sie  werden  finden 
meine  Herren,  daß  es  hier  mehr  Berghauptleute,  Ober-Bergräte  und 
Ober-Bergkoramissäre  gibt  als  Gruben  im  ganzen  Lande,  außer 
man  rechnet  die  Schottergruben  dazu. 

Sind  das  Tatsachen  oder  fangen  die  Tatsachen  erst  bei 
gestohlenen  Silberlöffeln  an?  — 

Ich  habe  dieses  Loch  einzig  mit  der  Hand  und  mit  dem 
Zeuge  Schöffel's  geflickt,  denn  das  Loch  ist  groß  und  vor  Ostern, 
wo  die  Arbeit   so  pressant  ist,    hilft    sich    ein  kleiner  Mann    mit 


20 


Händen,  wo  er  sie  findet.  Die  Hand  näht  meisterlich  und  das 
Zeug  ist  das  beste  in  Österreich.  Ich  behaupte,  daß  die  Sätze 
Nr.  5  und  6  ein  echteres  Muster  von  wahrem  und  wirklichem 
Witze  sind,  als  vielleicht  jener  große  und  achtbare  Teil  unserer 
Mitbürger,  den  wir  die  jüdische  Bevölkerung  nennen,  nach  seinem 
anders  gearteten  Kanon  mitempfindet,  einem  Kanon,  welcher  das 
Haschen  und  Kombinieren  von  Bildern  gewöhnlich  für  Witz  hält. 
Aber  Saphir  wird  längst  nicht  mehr  gelesen,  während  jene  Sätze 
ihr  heutiges  Gepräge  bewahren  werden,  so  gut  wie  Sätze  von 
Lessing  oder  P.  L.  Courier. 

Fünftes  Loch.  Tinti :  >Wenn  nun  gesagt  wurde, 
daß  das  Ministerium  seine  Aufgabe  verkannt  habe  und  ver- 
schwenderisch gewesen  sei,  daß  es  die  Subventionen  zwecklos  und 
ohne  System  vergeude,  dann  begreife  ich  nicht,  warum  die  Herren 
Redner  (Schöffel  und  Schönerer)  nicht  zu  der  Konklusion  gekommen 
sind,  daß  dem  Ackerbauministerium  nichts  zu  bewilligen,  daß 
dieses  Institut  aufzulösen  sei.«  —  (»Sehr  richtig!«) 

Fleck  darauf.  Weil  sie  das  Ackerbauministerium  für 
besserungsfähig  halten.  Das  ist  leicht  zu  begreifen,  wenn  man 
Begriffsvermögen  hat.  Wer  gleich  mit  Nichtbewilligung  und  Auf- 
lösung käme,  der  hielte  es  eben  für  unverbesserlich.  Gott  über 
die  Welt,  wer  wird  denn  so  extrem  sein?  Der  Baron  Tinti  ist's 
eigentlich  viel  mehr  als  die  Herren  Schöffel  und  Schönerer.  Sint 
ut  sunt  aut  non  sint,  scheint  er  von  den  bureaukratischen  Acker- 
bauern zu  denken  und  stellt  seine  Sache  auf  diese  jesuitische 
Messerschneide.  Entweder  verweigert  das  Budget  oder  haltet  das 
Maul!  Ei,  was  das  Hitzköpfe  sind  heutzutage!  Ein  alter  Flick- 
schneider verliert  sein  ganzes  Bischen  Courage  unter  so  tollen 
Menschen.  Verweigerung !  Auflösung ! 

Vor  der  Verdammnis  steht  doch  die  Besserung!  Bessere 
dich !  ruft  selbst  der  steinerne  Gast,  der  doch  ein  so  geharnischter 
Abgeordneter  ist  und  hinter  dem  ein  verteufeltes  Volk  steht! 
Wenn  man  erstochen  wird,  darf  man  mit  gutem  Grund  böse 
werden  und  aufgeregt  sein,  und  doch  ruft  der  maßvolle  Tote  noch 
immer:  »Bessere  dich!«  ehe  er  dem  Don  Juan  sein  fettes  Fasanen- 
und  Hasen-Budget  verweigert  und  ihn  anflöst.  »Pentiti!«  — 
>Pentiti!<    -  Nein,  Herr  Baron  Tinti;    eine  Fristerstreckung    zur 


-   21  — 

Buße   und  Reue   verdient   noch    der   ärgste  Bruder  Liederlich   — 
»il  dissoluto  punito!«  wie  das  alte  Libretto  sagt. 

Sechstes  Loch.  .Neue  Freie  Presse' :  >Zwei  Deputierte, 
welche  die  hochgehenden  Wogen  der  letzten  Wahlbewegung  in 
das  Abgeordnetenhaus  geschwemmt  hatten,  die  Herren  Schönerer 
und  Schöffel  .  .  .< 

Fleck  darauf.  Sollte  man  doch  glauben,  es  wäre  von 
deutschen  und  französischen  Wählerschaften  die  Rede,  wo  es  in 
viele  Tausende  geht,  statt  wie  bei  den  österreichischen  nur  in 
wenige  Hunderte.  Was  schwemmt  sich  denn  da  mit  hochgehenden 
Wogen?  Übrigens  ist  Schöffel  auch  in  die  Delegationen  gewählt 
worden ;  der  Mann  muß  also  doch  besser  sein,  als  daß  er  nur  so 
mitgeschwemmt  wird.  Wenn  37  Erwählte  wieder  Drei  auserwählen, 
so  ist  das  die  Elite  der  Elite  und  keine  Aufschwemmung  mit 
hochgehenden  Wogen. 

Und  doch  war  von  der  »Neuen  Freien  Presse«,  die  mit 
ihrem  ganzen,  von  ihr  selbst  so  hoch  geschätzten  und  noch  höher 
verwerteten  Einfluß  durch  ihren  Kandidaten  Lustkandl  gegen 
Schöffel  seinerzeit  unterlegen  ist,  nicht  nur  das,  sondern  weit 
Ärgeres  zu  erwarten;  ja  sieht  man,  daß  sie  sogar  schon  anfängt, 
Herrn  Kronawetter  Gerechtigkeit  widerfahren  zu  lassen,  so  scheint 
es  fast,  als  ob  sie  nur  noch  ehrenhalber  und  auf  dem  Rückzuge 
ein  Bischen  plänkelte,  in  ihrem  bessern  Gewissen  aber  ernstlich 
daran  dächte,  die  verlorne  Fühlung  mit  der  öffentlichen  Meinung 
wieder  zu  suchen.  Überlassen  wir  das  also  der  Zeit,  die  wir 
abwarten  und  beobachten  wollen. 

Abwarten  und  Beobachten !  Man  hat  in  Österreich  so  lange 
und  leider  mit  so  vielem  Grunde  geklagt,  daß  es  uns  an  parla- 
mentarischen Talenten,  noch  mehr  an  parlamentarischen  Charakteren 
fehlt.  Da  betritt  nun  ein  Mann  die  parlamentarische  Laufbahn, 
ein  neuer  Mann,  der  offenbar  das  Eine  und  auch  das  Andere  ist. 
Wird  man  ihn  dafür  erkennen  ?  Wie  lange  und  in  welchem  Grade  ? 
Das  ist's,  warum  ich  mich  mit  Schöffel  beschäftige!  Wie  Schöffel's 
Person  mich  interessiert,  würde  kaum  vor  die  Öffentlichkeit 
gehören;  aber  in  Schöffel  interessiert  mich  Österreich.  Ist  es  euch 
Ernst  mit  euerem  patriotischen  Seufzen  nach  Talenten  und 
Charakteren?  Es  wird  sich  zeigen  aus   der  Art,    wie  ihr   sie    auf- 


22 


nehmt.  Es  wird  interessant  sein,  diesen  Fall  zu  beobachten,  denn 
es  wird  sich  viel  daraus  schließen  lassen! 

Ich  habe  nämlich  —  so  wenig  die  Menschen  aus  der 
Geschichte  auch  lernen  —  aus  Gibbon's  >Verfall  des  römischen 
Reiches<  etwas  gelernt.  Nicht  das  Quantum  der  vorhandenen 
Männertugend  macht  die  besten  und  schlechtesten  Zeiten  —  über- 
raschender Weise  variiert  es  nicht  einmal  stark  —  sondern  das  macht 
sie,  wie  gut  oder  wie  schlecht  es  von  der  Öffentlichkeit  assimiliert 
wird.  Den  guten  Zeiten  gedeiht  jedes  ßröselein  Gutes;  die 
schlechten  vergeuden  es  in  Scheffeln,  verfolgen  es  förmlich  und 
wüten  dagegen.  Es  wird  sich  viel  dabei  denken  lassen,  wie  unser 
Vaterland  mit  unserm  neuen  Manne  sich  stellt. 

>Das  Vaterland  kann  nicht  verderben!«  nach  Heine,  und 
freilich  bleibt  mein  Österreich  auf  seiner  Erdoberfläche  liegen  und 
ist  mir  sicher.  Deßungeachtet  macht  es  einen  großen,  einen  Alles 
entscheidenden  Unterschied,  ob  zum  Beispiel  das  vaterländische 
Griechenland  eines  Tages  Hellas  hieß  und  eines  andern  Tages 


Byzanz 


Ferdinand  Kürnberger 


Kürnberger  hielt  die  Korrespondenz  eines  Schrift- 
stellers für  einen  erheblichen  Teil  seiner  Tätigkeit. 
Aber  so  bald  vermöchte  uns  ein  Profil  nicht  leb- 
hafter anzusprechen  als  aus  den  Briefen  Joseph 
Schöffeis.  Hier  zwei,  die  an  Kürnberger  gerichtet, 
und  etliche,  die  an  mich  fast  dreißig  Jahre  später, 
aber  mit  der  bis  aufs  letzte  Pünktchen  gleichen 
Schrift  geschrieben  sind.  Darunter  solche,  aus  denen 
meine  anonymen  Briefsteller  ersehen  werden,  daß  ihr 
Verdacht  ungerechtfertigt  ist,  Schöffel  habe  sich  bloß 
solange  als  die  , Fackel'  eine  ausschließliche,  soziale 
Reinigungspflicht  erfüllte,  ihr  zugewendet. 

An  Ferdinand  Kürnberger: 

Lieber  alter  Freund  I 

Ich  war  in  Pernitz,  habe  bei  11°  Kälte  gejagt  und  einen 
Fuchs     gefehlt,     dafür     aber    einen    alten    Esel     getroffen.      Der     alte 


-  23  - 


Förster,  der  sich  für  einen  bedeutenden  Künstler  hält,  verlangt  nämlich 
für  einen  solchen  Rahmen,  wie  er  für  mich  geschnitzt  hat,  nicht 
weniger  als  300  fl  u.  zum  mindesten  ein  Jahr  Arbeitszeit,  voraus- 
gesetzt, daß  er  nicht  krank  wird.  Sie  können  sich  vorstellen,  daß  ich 
mit  dem  Narren  nicht  weiter  unterhandelte.  Wenn  Sie  bei  der  heutigen 
arbeitslosen  Zeit  irgend  einem  tüchtigen  Holzschnitzer,  sei  es  in 
München  o.  Wien  Auftrag  geben,  so  verfertigt  er  Ihnen  Rahmen,  Bett- 
statt, Tisch  und  Stühle  zu  dem  Preis,  den  der  alte  Hirsch  für  den 
Rahmen  allein  verlangt.  Was  Oskar  Falke  anbelangt  so  will  ich  den 
Johannes  lieben,  wie  ihn  sein  Herr  und  Meister  liebte.  Otto  Falke 
kann  als  außerordentlicher  Hörer  jeden  Augenblick  eintreten  und  werde 
ich  seine  Aufnahme  besorgen.  Als  ordentlicher  Hörer  ist  es  zu  spät, 
da  bereits  Mitte  Januar  die  Prüfungen  für  das  erste  Semester  beginnen. 
Da  es  sich  bei  Otto  Falke  nicht  um  ein  Studienzeugniß,  sondern  nur 
um  das  Studium  selbst  handeln  dürfte,  so  ist  es  gleichgiltig,  ob  er  als 
außerordentlicher  o.  ordentlicher  Hörer  den  Kurs  hört. 

Und  nun  leben  Sie  wohl  und  glücklich  und  gedenken  Sie 
manchmal  Ihres  vielgeplagten  Freundes 

Schöffel 

Mödling  den  20/12  1877 

Lieber  thenerer  Freund! 

Ich  habe  lange  gezögert  Ihre  unsterbliche  Epistel  zu  beantworten, 
denn  wie  soll  ich  armer,  von  den  Juden  zu  Tod  gehetzter  Teufel  dem 
Gedankenfluge  Kümbergers  folgen?  Ich  versuche  es  auch  nicht  Ich 
habe  mich  bemüht  Sie  zu  begreifen,  Sie  zu  verstehen  —  Sie  zu  erreichen 
w^  Wahnsinn.  Genug,  ich  trage  Ihren  Brief  herum,  wie  der  Affe  seine 
Jungen,  ich  lasse  ihn  Jeden  lesen  und  habe  ihn  hundertmale  vor- 
gelesen und  Jeder  war  noch  entzückt.   — 

Sie  fragen  mich,  wie  die  Sache  war?  Sehr  einfadif  Ein  hiesiger 
Schlossermeister,  entrüstet  darüber,  daß  ein  von  der  hiesigen  Juden- 
Clique  erhaltener  Revolverjournalist  mich  und  jeden  ehrlichen  Menschen 
Woche  für  Woche  ungestraft  mit  Koth  bewerfen  darf,  übernahm  die 
Rolle  der  strafenden  Gerechtigkeit,  packte  den  Obelthäter,  während  er 
bei  seinem  Frühstückskafee  saß,  legte  ihn  übers  Knie  und  applicierte 
ihm  dann  wohlgezählte  fünfundzwanzig  Hiebe  auf  den  Arsch.  Dfer 
Revolverbube  wehrte  sich,  obgleich  er  beide  Hände  frei  halte,  nicht  im 
geringsten,  sondern  weinte  und  bat  um  Gnade,  da  des  Guten  schon  zu 
viel  sei.  Der  größte  Theil  der  hiesigen  Juden,  die  immer  im  Kafeehause 
herumlungern,  sah  der  Execution  zu,  aber  keiner  hatte  den  Muth  sich 
um  den  Ihren  anzunehmen.  Darob  selbstverständlich  großes  Geschrei 
in  Israel,  das  bis  heute  noch  nicht  ausgetobt. 

Ihren  weisen  Rath  werde  ich  beherzigen.  Vielleicht  lade  ich  Sie 
zu  einem  Rendezvous  nach  Tragöß  bei  Brück  a.  d.  Mur.  Werden  Sie 
kommen? 

Später    wenn    ich    den    Frieden    der    Gemeinde    zurückgegeben, 


—  24     - 

•werde  ich  die    Dornenkrone    niederlegen    und    wieder    Mensch  werden. 
Dann  will  ich  bei  Ihnen  sitzen  und  mich  an  Ihren  Worten  laben. 

Bis  dahin  leben  Sie  wohl  und  seien  Sie  herzlichst  gegrüßt  von 
Ihrem  treu  ergebenen  Freunde 

Schöffel 

Mödling  7.  July  1878 

Von  den  vielen  Briefen,  die  Schöfifel  an  mich 
gerichtet  hat,  sind  zwei  der  schönsten  schon  in 
Nr.  296/97  veiöfiFentHcht:  der  vom  10.  Juni  1901  und  ein 
zweiter,  den  er  mit  dem  Artikel  für  Nr.  170  sandte  und 
der  vom  1.  Dezember  1904  datiert  ist.    Hier  andere: 

Verehrter  Herr  Kraus! 

Beiliegend  übersende  Ihnen  die  in  nahezu  allen  Tagesblättern 
abgedruckte  Todesanzeige  Ferchers  und  bemerke  hiezu,  daß  die  »schmerz- 
erschütterten, aber  nicht  gebrochenen  <,  von  Liebe  und  Verehrung  für 
Fercher  triefenden  treuen  Freunde,*)  ihn  während  seiner  Lebenszeit  un- 
erschüttert und  ungebrochen  aus  Liebe  hungern  ließen  und  daß 
Fercher  auch  verhungert  wäre,  wenn  ihn  Professor  Dr.  Josef  Hyrtl 
nicht  unterstützt  und  ihm  eine  Jahrespension  von  600  Gulden  gesichert 
hätte,  welche  Pension  Fercher  bis  zu  seinem  Tode  von  der  Hyrtlstiftung 
ausbezahlt  wurde. 

Mit  der  Leiche  Ferchers  ftunkern  unerschüttert  oder  unverschämt 
die  ihn  überlebenden  treuen  Freunde,  die  sich  um  ihn  im  Leben  nie 
gekümmert  haben! 

So  erging  es  auch  Ferdinand  Kürnberger,  der  in  einem  Spital 
hätte  sterben  müssen,  wenn  sich  Kaulbach  nicht  um  ihn  angeiu)m- 
men  hätte.  " 

Fercher  wird  in  einem  Ehrengrab  bestattet,  —  Kürnberger  würde 
in  einem  Winkel  eines  Friedhofs  in  München  eingescharrt  worden  sein, 
wenn  ich  seinen  Leichnam  nicht  reclamirt  und  in  vaterländischer  Erde 
in  Mödling  hätte  begraben  lassen. 

O  du  heuchlerische  Menschenbrut! 

Verwerthen  Sie  diese  Mittheilung,  wenn  Sie  es  angezeigt  finden, 
—  nennen  Sie  jedoch  meinen  Namen  nicht,  denn  ich  will  auch  den 
Schein  einer  Reclame  vermeiden. 

Mit  Achtung 

9. ,3  1902  Schöffel 


*)  Die  Parte  für  Johannes  Fercher  von  Steinwand  enthielt  den 
Satz:  »Dem  gottbegnadeten  Dichter,  dem  erhabenen  Sänger  der  Natur, 
dem  strengen  Hüter  idealer  Sinnesart,  dem  glühenden  Verehrer  des 
Vaterlandes,  dem  sieghaften  Bezwinger  seines  harten  Schicksals,  dem 
edelsten  der  Menschen  und  liebwertesten  der  Freunde  weihen  schmerz- 
erschüttert, aber  nicht  gebrochenen,  sondern  erhobenen  Herzens  den  Zoll 
unauslöschlicher  Liebe  und  Verehrung  —  seine  überlebenden  treuen 
Freunde.«   Siehe  Nr.  97.  Anm.  d.  Herausg. 


25 


Sehr  geehrter  Herr  Kraus! 

Mehie  Artikel  haben,  wie  ich  mich  überzeugte,  in  den  obersten 
Regierungskreisen  Eindruck  gemacht.  —  Ich  darf  daher  die  Sache  nicht 
ruhen  lassen  und  sende  Ihnen  deshalb  einen  ganz  kurzen  Artikel  über 
die  von  der  österr.  Volkszeitung  an  sogenannte  Staatsmänner  und  Parla- 
mentarier gerichtete  Rundfrage  für  die  nächste  Nummer  der  Fackel. 
Bitte  denselben  zu  veröffentlichen.*) 

Mit  herzlichem  Gruß  Ihr 

Schöffcl 

Mödling,  am   l./l.   1903 

Die  Ost.  Volkszeitung  ist  mir  erst  gestern  von  unbekannter  Hand 
sub  Couvert  zugeschickt  worden. 

Sehr  geehrter  Herr  Kraus! 

Sie  sind  schlecht  informiert  —  Rosner  hat  sich  brieflich  ange- 
fragt, ob  ich  die  in  der  ,Zeit'  über  Kümberger  erschienenen  Artikel  ge- 
lesen habe.  Da  ich  die  Adresse  Rosners  nicht  kannte,  habe  ich  an  die 
Buchhandlung  Rosner  die  Antwort  gerichtet,  des  Inhalts,  daß  mich  die  ,Zeit' 
aufgefordert  hat,  ihr  einen  Artikel  über  nationale  Erziehung  der  Jugend 
und  einen  über  Kümberger  zu  liefern,  was  ich  motiviert  abgelehnt  habe, 
jetzt  aber  die  Ablehnung  bedauere,  da  die  beiden  in  der  .Zeit*  publi- 
cirten  Artikel,  insbesondere  der  von  dem  alten  Lecher,  Kürnbergers  an- 
würdig  seien  und  sein  Andenken  besudeln.**)  Rosner  übersendete  mir 
hierauf  seine  in  der  Wochenschrift  ,Zeit'  veröffentlichten  Briefe  Kürn- 
bergers. Von  einer  Veröffentlichung  der  an  mich  gerichteten  Briefe 
Kürnbergers  war  keine  Rede  !  —  Diese  Briefe  sind  theils  intimen 
Inhalts,  theils  betreffen  sie  Personen,  die  längst  gestorben  und  Sachen,  die 
längst  vergessen  sind!  Ich  habe  daher  die  Verfügung  getroffen,  daß 
alle  diese  Briefe,  sowie  die  Briefe  Lassers,  Hyes,  Erbs,  Fischhofs  etc.  etc. 
nach  meinem  Tode  verbrannt  werden! 

Mit  herzlichem  Gruß  Ihr 

Schöffel 

24./I.   1903 

Geehrter  Herr  Kraus ! 

Sie  waren  so  freundlich  mir  vor  einigen  Wochen  Ihre  Photo- 
grafie  zu  übersenden.    Ich    wollte  damals  Ihnen  dagegen  meine    Photo- 


*)  Siehe  Nr.  126:  > Orakelsprüche«. 
**)  Die  ,Zeit'  hatte  mit  einer  dem  Andenken  des  Dichters  ge- 
widmeten Festnummer,  welche  Aufsätze  der  Herren  Z.  K.  Lecher  und 
O.  J.  Bierbaum  brachte,  debütiert.  Darauf  bezieht  sich  Nr.  124  der 
.Fackel'  (Dezember  1902):  »Ferdinand  Kümberger  und  die  Wiener 
Presse«  (mit  einem  Brief  Kürnbergers  an  Fischhof)  und  Nr.  129  (Fe- 
bruar 1903):    »Literatur«.  Anm.  d.  Herausg. 


26  - 


graphie  übersenden,  hatte  aber  keine.  Nun  habe  ich  mich  zu  diesem 
Zwecke  photografieren  lassen  und  übersende  Ihnen  dieselbe  zur  Erin- 
nerung an  Ihren  Mitarbeiter.  Gleichzeitig  übersende  ich  Ihnen  eine  von 
mir  verfaßte  Geschichte  der  Gründung  und  Entwicklung  des  Hyrtlschen 
Waisenhauses,  sowie  die  Geschichte  des  Kampfes  um  die  Überschüße 
der  cumulativen  Waisenkassen.  Sie  werden  aus  den  in  den  Zeitungen 
publicirten  Landtagsberichten,  so  wie  aus  meiner  an  alle  Blätter  ver- 
sendeten Erklärung  ersehen  haben,  mit  welch  stupider  Wuth  man  mich, 
wegen  der  von  mir  in  der  .Fackel'  publicirten  Studien  über  Autonomie, 
Immunität  etc.  verfolgt.  Es  ist  sicher,  daß  die  Leute  nicht  nur  an 
meiner  Person,  sondern  auch  an  meinen  Schöpfungen  sich  rächen. 

Ich  sende  Ihnen  daher  diese  Broschüren  zu  dem  Zwecke  damit 
Sie  in  den  Stand  gesetzt  werden,  für  den  Fall,  als  ich  nicht  mehr 
lebe,  oder  in  Folge  Alters  oder  Krankheit  nicht  mehr  im  Stande  bin, 
das  von  mir  Geschaffene  selbst  zu  vertheidigen,  diese  Vertheidigung 
zu  übernehmen.   —  An  meiner  Person  selbst  ist  nichts  gelegen. 

Diese  Brochuren  heute  zu  besprechen,  halte  ich  nicht  für  opportun. 

Mit  Gruß  Ihr 

Schöffel 

Mödling  24.  April  1903 

Sehr  geehrter  Herr  Kraus! 

.  .  .  Ober  die  Affaire  kann  ich  derzeit  nichts  schreiben, 
da  ich  die  Schritte  abwarten  muß  die  gegen  meine  Erklärung  unter- 
nommen werden.  Die  amtliche  Wiener  Zeitung  brachte  in  der  letzten 
Nummer  die  Nachricht  daß  der  L.  A.  beschlossen  habe,  eine  Berichti- 
gung meiner  Angaben  zu  veröffentlichen.  Da  heißt  es  abwarten.  Meine 
Berichtigung  der  Berichtung  muß  der  Berichtigung  sogleich  folgen.  Ober- 
hudeln werde  ich  meine  Antwort  nicht,  wie  das  letztemal.  Meine 
Erklärung,  die  ich  zwei  Schreibern  auf  der  Schreibmaschine  dictirte 
ließ  ich  durch  den  Verwalter  des  Waisenhauses  an  das  Neue  Wiener 
Tagblatt,  Österr.  Volkszeitung,  Arbeiterzeitung,  Morgenzeitung,  Deutsches 
Volksblatt,  Neue  Freie  Presse,  Zeit  und  N.  W.  Journal  senden.  Die 
N.  F.  Presse  fragte  sich  Mittwoch  nachts  telegraphisch  an,  ob  sie 
einzelne  Stellen  streichen  und  mildern  kann.  Ich  antwortete,  es  sei  zu 
spätl  Das  Deutsche  Volksblatt  ersuchte  brieflich  einige  Stellen  mildern 
zu  dürfen,  da  es  einen  Preßprozeß  fürchtete  —  auch  zu  spät !  Die  Zeit 
und  das  N.  W.  Journal  brachten  die  Erklärung  wahrscheinlich  aus  Liebe 
zu  Ihrer  Person  nicht. 

Die  Broschüren  sind  kein  Geheimniß.  Sie  sind  in  großer  Zahl 
an  alle  sogenannten  Würdenträger  versendet  und  auch  verkauft  worden,  — 

Ich  gehe  mit  der  Idee  um,  meine  Erlebniße  niederzuschreiben, 
fürchte  aber  daß  man  das  als  eine  Oberschätzung  ansehen  werde.  Mir 
kommt  es  selbst  so  vor.  Auch  möchte  ich  die  heutigen  Verhältniße,  die 
Regierungsdummheiten  etc.  etc.  in  der  Form  von  Briefen  a  la  Paul  Courier 
beleuchten.  Ich  bin  ja  heute  ebenso  wie  P.  Courier  nichts  als  ein 
ehemaliger  Offizier  und  dermaliger  Steuerlastträger.  Was  rathen  Sie  mir? 


27  — 


In  der  N.  F.  Presse  vom  IQ.  April  erschien  ein  Feuilleton  unter  dem 
Titel  > Liebesbriefe  eines  Wiener  Poeten«,  in  welchem  Auszüge  aus  Briefen 
Kümbergers,  die  in  einem  Heft  unter  dem  Titel  »Angereihte 
Perlen«  erschienen  sein  sollen,  besprochen  werden.  Bitte  senden  Sie 
mir  das  Buch  gegen  Nachnahme  I  O  unvergeßlicher  Freund  Kürnberger 
wie  schwer  vermiß  ich  dich.  —  Als  wir  einst  im  Stift  Heiligenkreoz 
einen  Tag  zubrachten,  da  rief  er  mir  zu:  Hier  möchte  ich  bleiben,  um 
ohne  Kampf  um  das  tägliche  Brod  geistig  zu  arbeiten.  Du  wärst  mein 
Jünger  aber  leider  bist  du  beweibt.  Warum  gibt  es  nicht  Zufluchtsstätten 
für  geistige  Arbeiter,  die  sich  aus  dem  Schlamm  der  Gesellschaft  retten 
und  ihren  Idealen  leben  wollen  ! 

Trübe  Träume  I 

Leben  Sie  wohl! 

Es  grüßt  Sie  Ihr 

25/4  1903  Schöffel 

Lieber  Freund  I 

Wie  ich  Ihnen  telegrafisch  mitgetheilt,  habe  ich  mich  entschlossen 
auf  die  Berichtigung  des  Landesausschusses  nicht  zu  reagieren,  da 
diese  Berichtigung  nichts  anderes  ist,  als  eine  klägliche 
Capitulation,  ein  Pater  peccavi!  Auf  einen  Feind  einzuhauen, 
der  die  Waffen  senkt,  ist  nicht  ritterlich  I  Also  nur  nicht  zu  hitzig 
lieber  Freund  f  Wir  geben  uns  sonst  eine  Blöße,  die  der  Feind  ge- 
schickt benützen  kann.  Hoffentlich  kommt  noch  die  Zeit,  wo  ich  den 
Pharisäern  die  Wahrheit  geigen  kann,  daß  ihnen  Hören  und  Sehen 
vergeht ! 

Mit  Gruß  Ihr  ergebener  Schöffel 

(Ohne  Datum) 

Hochverehrter  Herr  Kraus  I 
Vor  allem  anderen  besten  Dank  dafür,  daß  Sie  sich  meiner  er- 
innert haben  I  Ich  befinde  mich  wohl,  bin  —  eine  Ausnahme  von  der 
Regel  —  zufrieden,  —  streiche  vagabundierend  in  den  Wäldern  herum 
und  —  träume!  Ihrem  Wunsche,  Briefe  Kümbergers  zu  veröffentlichen, 
kann  ich  leider  nicht  entsprechen.  Diese  Briefe,  welche  aus  einer  an- 
deren Zeit  stammen,  würden  heute  ohne  weitläufige  Commentare  nicht 
verstanden  werden.  Ich  wollte  schon  alle  in  meiner  Aufbewahrung  be- 
findlichen Briefe  Kümbergers,  Fischhofs,  Schlögls,  Taaffes  und  Anderer 
verbrennen,  um  sie  einer  eventuellen  Veröffentlichung  nach  meinem 
Tode  zu  entziehen.  Wenn  ich  dies  bisher  unterlassen  habe,  so  geschah 
es  deßhalb,  weil  ich  mich  mit  dem  Gedanken  trug,  Reminiszenzen  aus 
meinem  Leben  niederzuschreiben,  in  welchen  Auszüge  aus  diesen 
Briefen  erscheinen  sollten.  Ich  kam  bisher  nicht  dazu  I  Ich  bin  alt  und 
müde  geworden,  —  vielleicht  in  Folge  des  Nichtsthuns  faul!  Wo  finde 
ich  einen  Verleger  für  das  was  ich  schreibe  und  wo  der  Verleger  die 
Abnehmer?  Man  schweigt  mich  todt  und  der  Liebe  Mühe  ist  umsonst! 
>  Ich  wollte  Ihnen  vor  Monaten  mehrere  Artikel  über  die  > Armee- 
frage <    einsenden,    nur  um  zu  zeigen,    daß  es  unter  den  europaeischen 


2S 


Chinesen  doch  noch  Leute  gibt,  die  sich  nicht  dupiren  lassen !  Ich 
unterließ  es,  denn  erstens  konnte  ich  nicht  wissen,  ob  Ihnen  das  Thema 
convenirt  und  zweitens  wollte  ich  die  Leute,  die  sich  betrügen 
lassen  wollen,  des  Vergnügens,  sicli  betrügen  zu  lassen,  nicht  berauben ! 

Und  nun  wünscht  Ihnen,  nach  alter  Sitte,  recht  fröhliche  Feier- 
tage Ihr  Sie  herzlich  grüßender 

Joseph  Schöffel 

(Poststempel:  Mödling  15.   12.  03) 

Sehr  geehrter  Herr! 

Mit  der  Verfassung  meiner  »Reminiszenzen«  bin  ich  fertig!  Nun 
heißt  es  einen  Verleger  suchen,  was  mich,  da  ich  ganz  zurückgezogen 
lebe,  in  Verlegenheit  bringt! 

Nehmen  Sie  es  mir  nicht  für  übel,  wenn  ich  Sie  bitte,  mir  für 
meine  »Reminiszenzen«  einen  Verleger  aufzustöbern.  Das  ganze  Werk 
wird  bei  700  Seiten  Großoctav  umfassen.  Druckkosten  zahle  ich  nicht! 
Finde  ich  in  Wien  keinen  Verleger  sende  ich  den  ganzen  Quark  an 
Engelmann  in  Leipzig.  —  Was  Sie  für  die  ,  Fackel'  verwenden  können, 
benutzen  Sie  ohne  weiteres.  Für  die  Zukunft  bin  ich  gerne  bereit  Ihnen 
für  die  .Fackel'  hie  und  da  etwas  zu  liefern.  Sollte  Ihnen  die  von  mir 
gewünschte  Mission  unangenehm  sein,  lehnen  Sie  dieselbe  ohne  viel 
Federlesens  ab! 

Mit  herzlichen  Grüßen  Ihr 

Schöffel 

Mödling  23ten  März  1905 

Sehr  geehrter  Herr! 

Besten  Dank  für  die  Bereitwilligkeit  mir  einen  Verleger  für  meine 
Arbeit  aufzustöbern.  Ich  gehe  nicht  gerne  an  die  Publikation  dieser 
Arbeit,  da  sie  mir  gewiß  alle  Teufel  an  den  Hals  hetzen  und  meine 
Ruhe  stören  wird.  Ich  zweifle  auch,  daß  sich  in  Wien  ein  coulanter 
Verleger  finden  wird.  Strengen  Sie  sich  deßhalb  nicht  an.  Die  Firma 
Engelmann  in  Leipzig  nimmt  es  jedenfalls.  Abriße  markanter  Stellen 
kann  ich  Ihnen  nicht  senden.  Ich  habe  zuerst  Bleistiftnotizen  gemacht 
und  nach  diesen  Notizen  das  ganze  meinem  Diener  dictirt,  der  es  mit 
der  Schreibmaschine  abgeklopft  hat.  —  Während  des  Druckes  können 
Sie  ja  einzelne  Bögen,  wenn  Sie  einen  Wert  darauf  legen,  für  die 
Fackel  verwenden.  Das  ganze  kann  ich  aber  nicht  auseinanderreißen, 
—  daß  muß  dem  Verleger  ausgehändigt  werden.  Um  Aushängbögen 
haben  sich  vor  Monaten  das  Neue  Wiener  Tagblatt,  Deutsche  Volks- 
blatt und  die  Zeit  beworben,  Ich  habe  es  diesen  Blättern  zugesagt, 
obgleich  ich  wohl  weiß,  daß  sie  nichts  daraus  publiciren  werden. 
Ein  Inhaltsverzeichniß  lege  ich  bei !  Auf  eine  baldige  Antwort  hoffend, 
bleibe  ich  mit  herzlichen  Grüßen  Ihr  Freund 

(Ohne  Datum).  Schöffel 

Sehr  geehrter  Herr! 
Ich  sehe    ein    daß  Ihnen    die  Mission,     die  Sie    aus    Courtoisie 
übernommen,  lästig  ist  und  bedauere,    Sie   mit  meinem  Ansinnen  über- 


298-209 


—  29 


haupt  belästigt  zu  haben.*)  Went#  Sie  daher  mit  Wiener  Verlegern,  mit 
denen,  wie  ich  glaube,  überhaupt  nichts  zu  machen  sein  wird,  nichts 
eingeleitet  haben,  so  unterlassen  Sie  es  I  Ich  werde  mich  ai 
das  Ausland  wenden  I  Ich  bin  etwas  spät  daran.  -  Die  Rosinen  ans 
meinem  Schmarrn  werden  nach  u.  nach  herausgefressen  und  es  bleibt 
nichts  als  ein  trockenes  ungenießbares  Gefräß. 

Ich  bitte  daher   um  eine  Verständigung  Ihrerseits! 
Mit  herzlichem  Gruß 

9./4.   1905  Schöffel 

Sehr  geehrter  Herr! 
Erscheint  die  Fackel  noch  in  diesem  Monat  und  wann?  Für  de« 
Fall  ihres  Erscheinens    sende    ich  dann    eine    Erwiderung    auf    ein    Ge- 
fasel sogenannter  Alterthumsforscher,  die  mich  belehren  wollen.**) 

Mit  Gruß  Ihr  Schöffel 

(Poststempel:  Mödling.   17.  6.  05) 

Lieber  Freund! 

Der  Abgdte  Steiner  resp.  sein  Spiritus  redor  der  Landes- 
Wohltätigkeitsanstalten-Oberinspektionsrat(l)  Gerenyi  hat  wie  ick 
aus  den  Zeitungen  entnommen,  meine  Angaben  über  die 
Landesverwaltung,  enthalten  in  den  > Erinnerungen  aus  meinem  Leben», 
angegriffen.  Schon  in  der  vorletzten  Landtagssession  hat  Dr.  Pattai  auf 
eine  bestellte  Interpellation  ein  gleiches  versucht,  worauf  ich  ihm  ta 
der  , Fackel'  geantwortet  habe.  Diese  Nummer  der  Fackel,  in  der  meine 
Antwort  publiziert  war,  finde  ich  nicht  und  bitte  Sie  daher  mir  dieselbe 
zuzusenden,  da  ich  auch  diesen  letzten  Angriff  in  der  .Fackel'  zurück- 
zuweisen gedenke  und  ich  wissen  muß,  was  ich  in  der  Fackel  bereits 
darüber  geschrieben  habe. 

Mit  besten  Grüßen 

Ihr  Schöffel 

lO./XI.  1905  

Sehr  geehrter  Freund! 
Ob  ich  Ihnen  das  Manuscript  Morgen  oder  Übermorgen  werde 
zusenden  können,  ist  mehr  als  zw^eifelhaft,  denn  es  hängt  davon  ab, 
wann  ich  das  stenografische  Protokoll  der  Landtagssitzung  vom  Qten  d.  M. 
zugesendet  erhalte,  dessen  sogleiche  Zusendung  auf  mein  Ansuchen  vom 
Landmarschall  verfügt  wurde.  Auf  den  Bericht  des  .Deutschen  Volks- 
blatts' kann  ich  mich  nicht  verlassen,  denn  dann  wäre  ich  verlassen. 
Es  würde  alles  kurzweg  abgeleugnet.  Wenn  meine  Replik  in  der  nächstem 
Nummer  der  Fackel  nicht  erscheinen  kann,  bedauere  ich  sehr.  Vielleicht 
könnte  in  diesem  Fall    die  Verzögerung  des  Erscheinens  der  Replik  mit 


*)  Er  hatte  keinen  Grund  zu   dieser  Annahme.  Der  Wiener  Ver- 
leger fand  sich  gleich  und  gern.  Anm.  d.  Herausg. 
**)  Siehe  Nr.   183/84:    »Mödlings  älteste  Urkunde?* 


30  — 


• 

der  Thatsache  motivirt  werden,  daß  das  stenogr.  Protokoll  vor  dem  Er- 
scheinen der  Nummer  nicht  fertiggestellt  war.  Die  Replik  auf  Pattais 
Interpellationsbeantwortung  habe  ich  in  den  Tagesblättern  publicirt  und 
bitte  Sie  um  Entschuldigung  wegen  der  Belästigung!  Mein  Gedächtniß 
nimmt  rapid  ab !  Bezüglich  der  Wahlreform  warte  ich,  bis  die  Re- 
gierung, die  in  der  Brutzeit  ist,  das  Wahlreformsei  gelegt  hat.  Ich  bin 
überzeugt,  daß  es  stinken  wird !  Dann  wäre  es  Zeit  los  zu  legen. 
Ober  die  Polizei  im  Allgemeinen,  ihre  Organisation,  ihre  Leistung  zu 
schreiben  wäre  fad!  Ihre  Haltung  bei  den  letzten  Krawallen  kann 
ich  nicht  beurtheilen.  Die  Zeitungsberichte  sind  durchwegs  erlogen. 
Mit  herzlichem  Gruß  Ihr  Schöffe! 

(Eilbrief  mit  Poststempel  Mödling,   12.  XI.  05) 

Geehrter  Freund! 

Wie  Sie  aus  dem  Inhalt  des  beiliegenden  Briefes  entnehmen 
können  wird  das  stenographische  Protokoll  der  Landtagssitzung  vom 
Qten  dMts.,  wahrscheinlich  am  21ten  dMts.  gedruckt  erscheinen,  da  das 
Sitzungsprotokoll  vom  3ten  am   14ten  erschien. 

24  Stunden  nach  Erhalt  des  Protokolls  übersende  ich  Ihnen 
den  ArtikeL  *) 

Mit  herzlichem  Gruß  Ihr  ergebener 

20/XI   1905  Schöffel 

Ihre   Studie    über  den    Horaosexualimus  (Prozeß  Beer)   war    ein 

Meisterstück. 

» 
Geehrter  Freund! 

Beiliegend  übersende  Ihnen  noch  einige  Zeilen  die  Enunciation 
des  n.-ö.  Landesausschußes  in  seinem  Amtsblatt  betreffend,  das  ich 
nach  Absendung  meines  Artikels  erhalten  habe,  mit  der  Bitte,  dieselben 
dem  Artikel  als  Schluß  anfügen  zu  wollen.  Die  Leute  sind  durch  die 
Verbreitung  des  Schlußes  meines  Buches,  welche  Schönerer  veranlaßt 
hatte  und  welche  die  gläubige  Heerde  stutzig  gemacht  haben  mag,  ver- 
rückt geworden.  Bitte  nur  die  Drucklegung  zu  überwachen,  damit  nicht 
den  Herren  durch  einen  lapsus  calami  Anlaß  zu  weiteren  Vexationen 
gegeben  wird. 

Mit  herzlichem  Gruß  Ihr 

Schöffel 

23. /XL   1905  

Besten  Dank  für  die  freundliche  Zusendung  Ihres  Werkes : 
> Sittlichkeit  und  Kriminalität«. 

Eine  blutigere  Satyre  auf  die  heutigen  Zustände  isj  mir  noch 
nicht  zu  Gesicht  gekommen.  —  Das  Fazit  ist,  daß  unsere  Justiz  auf 
den  Schinderanger  gehört!  Es  grüßt  Sie  Ihr 

Schöffel 

(Ohne  Datum) 


*)  Nr.   189. 


31  — 


Schülerselbstmord 

Von  einem  Überlebenden 

»Das  ist  mein  Tod.  Die  letzte  mathematische  Schularbeit 
habe  ich  auf  genügend  gemacht.  Folglich  bekomme  ich  ins  Zeug- 
nis nichtgenügend.  Das  ist  H.'s  Gerechtigkeit.« 

So  hieß  es  im  Abschiedsbrief  eines  fünfzehnjährigen  Mittel- 
schülers, der  unlängst  vor  der  Gerechtigkeit  eines  Lehrers  in  das 
Jenseits  aller  mathematischen  Schularbeiten  floh.  >Jetzt  werde  ich 
bald  vor  Gottes  Richterstuhl  stehen.  Gottes  Barmherzigkeit  wird 
mich  nicht  verbannen,  denn  meine  Tat  geschieht  in  der  Ver- 
zweiflung.« Von  diesem  Richter  erhoffte  der  fromme  Junge  jene 
Barmherzigkeit,  die  ein  Mann  der  siebenten  Rangsklasse  nicht  zu 
vergeben  hat,  will  er  sich  nichts  vergeben. 

Es  handelt  sich  um  jenes  »Genügend«,  das  oft  gewohn- 
heitsrechtlich geschenkt  wird,  um  einem  theoretisch  nicht  sehr 
beßhigten  jungen  .Menschen  den  Weg  in  die  Kadettenschule  offen 
zu  lassen.  Ein  Existenz-Genügend.  Es  handelt  sich  darum,  daß 
dem  Beamtenfanatismus  die  objektive  Wahrheit  einer  Klassi- 
fikation immer  noch  über  die  subjektive  Wahrheit  einer  Existenz  geht. 

Der  Kampf  um  das  Genügend :  Weinende,  bettelnde  Eltern, 
und  Kinder,  die  aus  Verzweiflung  zu  Männern  werden.  Über 
ihnen  aber  er,  der  die  Schularbeiten  korrigiert  und  dessen  Nicht- 
genügend für  das  ganze  Leben  ausreicht.  Über  ihm  keine  Vor- 
sehung, die  ihn  ins  Klassenbuch  schriebe  oder  in  den  Karzer 
steckte,  wenn  er  die  Allmacht  der  roten  Tinte  mißbraucht.  —  Die 
unerbittliche  Notwendigkeit  des  Nichtgenügend  hatte  sich  heraus- 
gestellt. Dann  kam  die  unerbittliche  Notwendigkeit  des  Selbst- 
mordes. Am  Vortage  der  Zeugnisverteilung  schreibt  der  Verurteilte 
in  sein  Tagebuch,  »in  einem  Winkel,  ganz  klein,  wie  geduckt«: 
das  Wort  > Angst«. 

Allerdings,  das  konnte  niemand  voraus  wissen.  Denn  die 
Erwachsenen  und  die  Halbwüchsigen  verstehen  einander  nicht. 
Der  Erwachsene  vermag  wohl  mit  einem  Wort  die  Phantome  zu 
erwecken  in  den  werdenden  Seelen,  aber  er  kann  sie  nicht  wieder 
auslöschen  mit  einem  zweiten  Wort.  Lehrer  und  Schüler  unter- 
handeln nur  scheinbar  in  derselben  Sprache.  Lebensperspektiven, 
die  sich  dem  Jüngling  plötzlich  öffnen,  bleiben  jenem,  dem  Manne, 


—  32  — 


verschlossen.  Die  pädagogische  Absicht  kommt  furchtbar  verändert 
als  Resultat  wieder  zutage.  Recht,  Ehre:  Begriffe,  mit  welchen  wir 
in  einem  Ausgleichsverhältnisse  leben,  das  durch  immer  neue 
Kompromisse  fortgefristet  wird:  im  Urwald  des  jugendlichen 
Geistes  treten  sie  mit  tropischer  Wildheit  auf.  Das  schreiende 
Mißverständnis  zwischen  Phantasie  und  Realität  kann  letal  enden, 
ehe  man  sich  dessen  versieht.  Das  sollte  die  Arrangeure  der  Reali- 
tät behutsamer  stimmen. 

An  zwei  aufeinander  folgenden  Wiener  Schultagen  zwei 
Schülerselbstmorde.  Absurde  Tragödien  in  der  Zeit  des  Stimm- 
wechsels, dieser  ahnungsvollen,  krisenhaften  Zeit.  Ver  sacrum.  Sie 
bieten  sich  stumm  und  entschlossen  dem  Todesgotte  dar,  die 
Jünglinge  und  Jungfrauen,  sie  spielen  mit  Waffen  oder  fliehen  ins 
Kloster,  Der  Vorfrühling  rast  wie  Gift  in  ihrem  Blute,  Das  Indi- 
viduum wehrt  sich  gegen  den  erwachenden  Gattungswillen.  Als 
sträubten  sie  sich,  den  Traum  der  Kindheit  gegen  die  Tatsachen- 
welt der  Erwachsenen  einzutauschen.  Als  wäre  den  Novizen  des 
Lebens  eine  letzte  Frist  gegeben,  eine  Bedenkzeit:  ob  sie  sich 
wirklich  in  die  langwierige  Misere  der  Menschlichkeit  einlassen 
sollen.  Sie  suchen  emen  Anlaß  für  den  Tod,  weil  sie  fühlen, 
daß  es  ihnen  an  Gründen  für  das  Weiterleben  gebricht. 

Aber  es  sollte  nicht  angehen,  daß  die  Selbstmörder  aus 
Frühlingsweh  sich  mit  einem  Anschein  von  Berechtigung  auf  den 
Lehrer  ausreden,  wenn  sie  ihre  Entmutigung  erklären  wollen.  Und 
es  kann  nicht  gerade  als  ein  befriedigendes  Resultat  der  Pädagogik 
gelten,  wenn  der  Name  des  Professors  im  Abschiedsbrief  vorkommt. 

Es  ist  die  allzu  persönliche  Wirkung  der  lehrenden  Persönlich- 
keit, was  aus  dem  guten  Recht  eine  arge  Waffe  macht.  Ein  wie  geringer 
Anstoß  genügt  hier,  Größenwahn  und  tiefste  Selbstentmutigung 
auszulösen.  Die  Aufdeckung  der  Unzulänglichkeiten  gehört  gewiß 
zu  den  Zwecken  der  Schule,  denn  sonst  wird  einer  Gymnasial- 
professor, der  zum  Reitlehrer  wie  geschaffen  ist.  Es  müßte 
aber  gelingen,  einen  Schüler  aus  dem  Paradies  der  Mathematik  zu 
jagen,  ohne  die  Abweisung  bis  zur  Katastrophe  zu  steigern,  oder 
ohne  ihr  den  Anlaß  zu  liefern. 

Es  ist  peinlich,  daß  sich  mit  den  Problemen  der  Schüler 
auch  noch  die  Probleme  d«r  Lehrer  kombinieren.  Daß  sich  die 
Sterilität  Erwachsener  gerade  am  Material  der  lebendigen  Zukunft 


33 


betäbgt,  von  Amtes  wegen.  Die  Konfrontation  zwischen  Werdenden 
und  solchen,  die  nichts  geworden  sind,  wirkt  oft  wie  ein  tragischer 
Witz.  Sie  können  ihr  eigenes  Alter  nicht  lieben,  aber  sie  müssen 
die  Jugend  der  anderen  hassen.  Sie  sind  der  Schulordnung  für 
immer  verfallen  und  rächen  sich  an  den  Glücklicheren,  die  ihr 
entwachsen  werden. 

Mancher,  der  die  Mittelschule  überlebt  hat,  mag  sich  später  mit 
Bedauern  daran  erinnern,  daß  er  in  der  empfänglichsten  Zeit  seines 
Lebens  einem  so  langweiligen  Feinde  ausgeliefert  war.  Die  Robust- 
eren zwar  lernen  selbst  von  der  Ödigkeit,  die  sehr  wohl  auf  das 
Kommende  vorzubereiten  vermag,  sieht  sie  doch  zum  Verwechseln 
jener  Realität  ähnlich,  mit  der  man  es  »dereinst«  zu  tun  bekommt. 
Für  die  Aufgeweckten  ist  »Professor  Unrat«  ein  groteskes  Erlebnis, 
das  sehr  tüchtige  Geister  des  Witzes  und  der  Abwehr  wachgerufen 
hat  Sie  erinnern  sich  gewesener  Plagen  später  mit  versöhntem 
Humor. 

Oft  freilich  erweckt  ein  Lehremame,  der  nach  vielen 
Jahren  genannt  wird,  alles  Grauen  einer  bösen  Zeit.  Und  es  sind 
nicht  immer  die  Schlechtesten,  die  im  Kampfe  gegen  H.'s  Gerech- 
tigkeit fallen. 

*  • 

DEN   FÜNFZEHNJÄHRIGEN   SELBSTMÖRDERN 

Von  Berthold  Viertel 

Bure  Liebe,  die  wie  der  Märzsturm  schnaubt, 

Rüttelte  wild 

An  alledem,  das  für  Leben  gilt, 

Und  euch  des  Lebens  beraubt. 

Das  Heute  hat  euch  nicht  gekannt. 
Eine  Ahnung  hat  euch  das  Herz  verbrannt. 
Die  Angst  hat  aufrichtig  zu  euch  gesprochen. 
Ein  Kuß  im  Traum  hat  euch  zerbrochen. 


34 


Oskar  Kokoschka 

Ein  Gespräch 

»Und  ich  sage  dir,  ich  schätze  ihn  unter  den 
Kräften,  deren  Äußerungen  heute  um  uns  sind,  als 
eine  voq  jenen,  die  am  tiefsten  wurzeln. c 

> Dieser  Satz  beweist  als  allgemeines  Urteil  gar 
nichts.  Ich  traue  dir  freilich  die  Plattheit  einer  aufs 
Geratewohl  gesprochenen  Wertbehauptung  nicht  zu, 
aber  ich  bin  auch  nicht  imstande  zu  überblicken, 
wie  du  sie  innerhalb  deines  individuellen  Weltbildes 
begründen  möchtest.« 

»Es  ist  mir  schwer,  gegenüber  deinen  peinlichen 
Förderungen  aufzukommen.  Ich  habe  durchaus  nicht 
behaupten  wollen,  daß  ich  Kokoschka  oder  irgend 
einen  anderen  Künstler  in  eine  schulmäßige  Rang- 
ordnung einzwängen  will.  Ein  Kunstwerk  wirkt  auf 
uns  oder  es  wirkt  nicht;  ein  Drittes  kenne  ich  nicht. 
Durch  liebevolles  Hineindenken  und  ähnliches  hat 
sich  noch  keiner  irgend  eines  aufgeschlossen.  Wenn 
es  plötzlich  zu  ihm  spricht,  wie  niemals  vordem,  so 
liegt  das  einzig  daran,  daß  er  jetzt  ein  anderer  ge- 
worden.« 

»Aber  die  Bilder  und  sonstigen  Dinge  Kokoschkas 
sprechen  zu  keinem  von  uns,  oder  wenigstens  zu 
einer  sehr  geringen  Zahl.« 

>Das  läßt  nicht  für  sie  den  Maßstab  gewinnen, 
sondern  nur  für  die  Betrachter.« 

»Wie  meinst  du  das?« 

»So:  Eine  objektive  Wertung  eines  Kunstwerkes 
gibt  es  nicht.  Das  haben  schon  viele  gesagt.  Ich 
weiß  nur  nicht,  ob  sie  es  richtig  verstanden  haben. 
Unter  allen  den  Erscheinungen,  die  von  den  Dingen 
um  uns  herrühren,  sind  solche,  über  welche  die  über- 
wiegende Mehrzahl  der  Menschen  das  gleiche  Urteil 
fällt.  So  sagen  sie  etwa:  Das  Blatt  ist  grün  oder  der 
Himmel  ist  blau.  Das  liegt  aber  nicht  nur  an  den 
Erscheinungen,  sondern  ebenso  —  wenn  dieser  Um- 
«?tand  nicht  am  stärksten  bestimmt  —  an  der  Gleich- 


—  35  — 


heit  der  einfachen  Denkformen  in  den  Menschen.  Die 
Existenz  solcher  übereinstimmender  Urteile  ist  die 
Quelle  jeder  Wissenschaft.  Diese  ist  eine  Dichtung 
der  Vielen,  im  Gegensatz  zum  Kunstwerk,  dem  der 
Sprache  oder  dem  irgendwelcher  Bildung,  als  der 
Dichtung  des  Einzelnen,  die  in  der  besonderen  Art, 
in  der  Differenzierung  der  Denkformen  der  Individuen 
nach  Zahl  und  Beschaffenheit  ihre  Möglichkeit  findet 
Darum  meinte  ich  meine  Worte  vorhin  so,  daß  dem 
Betrachter,  der  den  Künstler  nicht  versteht,  eben 
jene  Beschaffenheit  der  Denkformen  mangle,  die  den 
Künstler  auszeichnet.« 

»Du  forderst  also  für  jeden  Künstler  seinen 
besonderen  Betrachter?« 

»Ja;  ebenso  wie  für  jeden  Betrachter  seinen 
Künstler.« 

»Der  Betrachter  ist  dir  demnach  weniger  als 
der  Künstler,  weil  ihm  die  Beschaffenheit,  die 
Differenziertheit  von  dessen  Denkformen  fehlt?« 

»Nein,  denn  die  Abwesenheit  einzelner  Formen 
hindert  nicht  eine  solche  Ausgestaltung  seines  Geistes, 
daß  er  den  Künstler  weit  hinter  sich  läßt  und  sich 
deshalb  von  ihm  wendet.« 

»Nun  siehst  du  —  du  bist  selbst  ins  Nets 
gegangen.« 

»Zugegeben,  wenn  bei  Kokoschka  die  lächelnden 
Betrachter  den  Beweis  ihrer  Überlegenheit  erbringen 
möchten.« 

»Und  wenn  sie,  das  heißt  ein  Teil  ihrer,  ihn 
erbracht  hätten.  Was  sagst  du  zur  Beurteilung 
Kokoschkas  durch  Fachleute?« 

»Wer  sind  die?« 

»Natürlich  Künstler.« 

»Ich  verbinde  mit  dem  Begriff  Fachmann  eine 
andere  Anschauung,  als  das  herkömmlich  der  Fall 
ist.  Der  Fachmann  ist  für  mich  ein  solcher,  der 
aus  der  Krüppelhaftigkeit  seines  Geistes  Kapital 
schlägt    und    zwar    gewöhnlich    aus    einer  Krüppel- 


36 


haftigkeit,  die  widerlich  ist.  Doch  das  beiseite. 
Künstlerurteile  sollten  für  den  Laien  —  um  einmal 
in  deiner  Terminologie  zu  bleiben  —  die  gleich- 
gültigste Sache  sein.  Selbst  wenn  der  Künstler  von 
technischen  Einzelheiten,  von  Erfahrungen  hand- 
werklicher Art  seine  Urteile  frei  hält,  so  erreicht  er 
kaum  je  die  Weite  und  die  Tiefe,  die  das  Urteil  des 
Nicht-Künstlers  haben  kann,  und  zwar  darum  nicht, 
weil  seine  Größe  in  der  Einseitigkeit  und  seiner 
Unfähigkeit  zum  Spruche  liegt.« 

»Gut;  lassen  wir  die  Fachleute.  Wir  alle  aber 
sehen,  sehen  mit  unseren  eigenen  Augen,  daß  die 
Dinge  nicht  so  sind,  wie  Kokoschka  sie  malt  und 
bildet.  Er  sucht  absichtlich  das  Auffallende,  das 
Sensationelle,  dasjenige  was  einen  stößt,  was  mit 
einem  Wort  häßlich  ist.  Ich  ziele  damit  nicht  gegen 
das  Objekt  von  Kokoschkas  Arbeiten,  sondern  gegen 
seine    Karrikierung    des    Objektes.« 

>Du  sprichst  von  Übertreibungen,  ich  aber 
spreche  von  Grundpfeilern.  Kurz  so:  Dem  Künstler 
Kokoschka  ist  der  Mensch,  die  Pflanze  und  das  Tier, 
das  Naturentsprossene,  ein  Organismus  in  der  Natur 
und  zwar  ein  entwicklungsgeschichtlicher  Organismus, 
auf  dessen  Grundpfeiler  —  ich  betone  das  Wort 
—  er  seine  Zeichnung  und  Farbe  beschränkt. 
Dadurch  wird  jedes  seiner  Individuen  und  jeder  seiner 
Gegenstände  etwas  ganz  und  gar  in  sich  geschlossenes, 
das  zu  seinem  Leben  seiner  Nachbarn  nicht  bedarf; 
während  gleichzeitig  zwischen  diesen  Einzeläußerungen 
auf  der  Bildfläche  ein  Zusammenhang  weset,  der 
nicht  in  Äußerlichkeiten  beruht.  Also  in  Äußerlich- 
keiten, wie  sie  der  Tag  mit  seinen  Lichtern  und 
Schatten,  Verkürzungen  und  dergleichen  bringt.« 

»Was  du  Organismus  nennst,  ist  nichts  anderes 
als  dasjenige,  was  andere  ,Idee'  nennen.  Freilich, 
dieser  Name  kennzeichnet  eine  Münze,  die  unter  den 
Fingern  sehr  schmutzig  geworden  ist;  so  schmutzig, 
daß  wir  ihr  Gold  kaum  mehr  kennen.    ,Idee'    —    du 


37 


willst  dieses  Wort  weder  im  Sinne  des  schulhaften 
,Ideals*  gebrauchen,  noch  in  dem  der  Programra- 
schaft  irgend  einer  »ideologischen'  Zunft.  Idee  — 
das  soll  so  viel  wie  Keim  sein;  ein  Quell,  aus  dem 
das  Lebendige  wird  und  in  dem  es  durch  seine 
Frucht  schließlich  endet  Wo  aber  steckt  die  Idee 
bei  Kokoschka? € 

»Ihr  haltet  für  des  Kunstwerks  wie  auch  der 
Wissenschaft  einzige  Aufgabe  die  Beschreibung 
der  Erscheinung.  Erscheinung  ist  euch  dabei  nur 
dasjenige,  was  ihr  mit  den  Sinnen  wahrzunehmen 
imstande  seid.  Könnt  ihr  sie  im  Bewußtsein  wider- 
spiegeln, oder,  wie  ihr  falsch  sagt,  könnt  ihr  ihrer 
mit  dem  Bewußtsein  habhaft  werden,  so  glaubt  ihr 
in  eurer  Erkenntnis,  sei  es  der  wissenschaftlichen 
oder  sei  es  der  künstlerischen  Erkenntnis,  fort- 
geschritten zu  sein.  Das  ist  eine  seichte  Anschauung. 
Sie  führt  euch  zur  plumpen  Verwechselung  von 
Impressionismus  und  Naturalismus,  sie  führt  euch 
zur  Verwirrung  des  ,Wie'  des  Prozesses  mit  dessen 
, Warum*.  Ihr  sprecht  von  der  ,Idee*;  doch  ihr  wollt 
die  Metaphysik  unter  die  Herrschaft  der  Erkenntnis- 
theorie beugen.  Darum  nimmt  in  eurem  Hirn  die 
Idee  eine  absonderliche  Maske  an:  sie  wird  zur 
, beständigen  Form',  zum  Gesetz  als  formallogischer 
Bestimmung.  Indeß,  ihr  überseht,  daß  dieses  nie  selbst 
positiv  schöpferisch  sein  kann,  sondern  erst  an  seinem 
Widerpart,  dem  Alogischen,  dem  Willen,  produktiv 
wird.  Alle  Kategorien  der  Kunsttätigkeit,  die  ihr 
entdeckt  habt  —  beträfen  sie  nun  die  wagrechten  und 
senkrechten  Hauptrichtungen  oder  die  Flächenhaftig- 
keit  im  Bilde  —  sie  alle  sind  nur  ,Wie*-Prinzipe:  das 
Kunstwerk  selbst  muß  aoer  ,die  Idee'  erfruchten  und 
befruchten.  Ich  sage  absichtlich  ,die*  Idee,  nicht 
,eine*  Idee,  weil  ich  unter  diesem  Wort  des  wirklich 
lebendigen  Geistes  und  wirklich  lebendige^  Leibes 
Grund,  Sein  und  Zweck  verstehe:  das  Rätsel  des 
Lebens.    Die    große  Frage   der   Sehnsucht    und    der 


38  ~ 


Unbefriedigung.  Wissenschaft  und  Kunst  sind  gewiß 
Eines  in  dem,  daß  sie  nur  dann  und  nur  soweit 
sind,  als  sie  beitragen  zum  Problem  des  Lebens. 
Nehmend  und  gebend.  Dieses  Problem  ist  ,die'  Idee. 
Die  Idee  schlechthin.  Alles  andere  ist  Anekdote.  Die 
Idee  sehe  ich  nun  in  Kokoschka.  Er  hat  sich  in  sie 
gewissermaßen  eingebohrt.  Ihm  ist  die  Wirklichkeit 
nicht  mit  der  Tatsächlichkeit  gleich.  Literarische 
Düfteleien  sind  seinen  Werken  fremd,  aber  ebenso 
die  mechanische  Kopie  des  Modells  und  der  lang- 
weilige Aufbau  des  Bildes  aus  kunsttheoretischen 
Grundgesetzen  heraus.  Nimm  seine  Menschen.  Seine 
Körper  schwingen  und  strecken  sich  in  den  Gelen- 
ken; sie  hängen  in  diesen.  Seine  Köpfe  sitzen  auf. 
Pinger  und  Arme  sprechen  eindringlich.  Er  setzt  alles 
Organische  in  Anschaulichkeiten  um,  freilich  auch 
dann,  wenn  dessen  Kenntnis  nicht  durch  das  Auge 
erworben  ist.  Aber  mit  der  Anschaulichkeit  im 
naturalistischen  Sinne  sind  seine  Bilder  nicht  erschöpft. 
Ich  will  dir  kurz  den  Eindruck  schildern,  den  mir 
jüngst  seine  Porträts  gemacht.  Sie  waren  in  einem 
Wohnzimmer  aufgestellt  und  ich  trat  allein  vor  sie 
hin.  Die  Orientalen  reden  von  einem  zweiten  und 
mehrfachen  Ich,  welches  unser  leibliches  Ich  begleitet. 
Sie  nennen  deren  sieben.  Mir  war's  nun,  als  spreche 
ein  solches  Ich  von  der  Leinwand  zu  mir.  Kein 
Abklatsch  eines  solchen,  also  ja  nicht  der  des  leib- 
lichen; nein  —  ein  Ich  der  höheren  Ebene,  das 
sichtbar  geworden.« 

»Nun  werden  gerade  unter  allen  seinen  Werken 
die  Porträts  am  stärksten  befehdet.  Ich  finde  das 
auch  erklärlich.  Vergleich  doch  einmal  ein  wirk- 
liches Porträt  damit.  Ein  Bildnis  muß  ähnlich 
sein,  das  heißt,  es  muß  dieselben  Empfindungen  aus- 
lösen wie  das  Modell  und  sein  Anblick  muß  von  den- 
selben Gefühlen  begleitet  sein  wie  der  von  jenem. 
Weil  ich  das  verlange,  so  weiß  ich  wohl,  daß  ein 
mechanischer  Abklatsch  gar  nicht  genügt,    daß   also 


—  39 


das  Lichtbild  das  unähnlichste  Bildnis  liefert.  Aber 
die  Gemälde  Kokoschkas    sind  auch  nicht   ähnlich.c 

>Ich  will  dir  vorerst  eine  Antwort  geben,  welche 
deiner  Frage  auszuweichen  scheint.  Im  letzten  Weiber- 
porträt von  Kokoschka  sitzen,  zumal  in  den  Partien 
am  Mundwinkel,  die  Striche  so  sicher  und  so  farbig, 
daß  dieses  in  die  Linie  rückt,  welche  durch  die  besten 
Porträts  in  Wien  gezogen  wird;  ich  meine  die  von 
Rubens  in  der  kaiserlichen,  die  wie  Skizzen  aussehen, 
und  vor  allem  den  Mädchenkopf  von  Van  Dyk  dort. 
Führtest  du  deine  Überlegungen  von  Schluß  zu 
Schluß,  so  müßtest  du  erkennen,  daß  die  Porträt- 
ähnliohkeiteine  unmögliche  Sache  ist.  Der  Künstler 
schafft  etwas,  nicht  um  in  dem  Betrachter  einen 
Reiz  auszulösen,  der  dem  vor  dem  Modeil  gleicht, 
sondern  um  die  in  ihm,  dem  Künstler,  durch  einen 
Reiz  erregte  Musik  zu  einem  Lied  zu  gestalten,  zu 
seinem  Lied.  Der  Betrachter  sieht  das  Werk,  wohl, 
aber  er  sieht  nur  das  darin,  was  in  ihm  selbst,  im 
Betrachter,  ist.  Er  hört  vor  dem  Bilde,  wie  vor  jeder 
Erscheinung,  nur  sein  eigenes  Lied.  Es  hat  noch 
keinen  gegeben,  der  fremde  Musik  vernom  raen  hätte. 
Die  Musik  des  Gewöhnlichen  ist  nun  ein  so  ver- 
dumpftes  Raunen,  daß  sie  ihn  nicht  plagt.  Die  höchste 
Tat  des  Dutzenders  ist  die,  an  Stelle  des  ihm  fehlen- 
den Liedes  den  anschauungslosen  Begriff  zu  setzen. 
So  ungefähr  ist  auch  der  Begriff  der  Ähnlichkeit  im 
Kunstwerk  entstanden.  Die  Suche  naih  Ähnl-chkeit 
erinnert  mich  immer  an  die  Bemerkung  des  Profes- 
sors, die  er  in  der  Galerie  zu  seinem  Kollegen  sagt: 
Ich  beantworte  mir  vor  jedem  Bild  stets  zwei  Fragen 
—  erstens:  welche  Absicht  hat  der  Künstler  in  sei- 
nem Bilde  gehabt,  und  zweitens:  hat  er  diese  Absicht 
erreicht.« 

>Dein  Spott  ist  berechtigt.  Aber  du  mußt  zu- 
geben, daß  es  bestimmte  Urteile  gibt  —  ich  möchte 
sie  Grundurteile  nennen  —  die  uns  beim  Betrachten 
der  Bilder  immer  wieder  vor  den  Geist  treten;   ja. 


40  — 


noch  mehr,  daß  wir,  die  nicht  bildnerisch  SchafiFenden, 
gemäß  unserer  Eigentümlichkeit,  die  Erscheinungen 
begrifflich  zu  erfassen,  auch  mit  Begriffen  beladen  an 
die  Bilder  herankommen  oder  uns  vor  ihnen  neue 
Begriffe  bilden  müssen.« 

»Deine  Worte  sind  viel  zu  allgemein.  Hör  ein- 
mal. Die  Welt  ist  nur  in  der  Individualität,  das  heißt 
in  deren  Gedanken.  Oder  mit  eurer  verblaßten  Aus- 
drucksweise: die  Individualität  spiegelt  die  Welt  in 
einem  Bilde  in  sich.  In  ihm  ist  das  Kunstwerk  nur 
Baustein,  Pinselstrich,  wie  jede  andere  Tat.  Darin 
hast  du  Recht.  Du  vergißt  aber,  daß  die  Individualität 
nicht  an  die  Einzelheit  der  leiblichen  Persönlichkeit 
geknüpft  ist.  Nicht  selten  machen  erst  zwei,  meistens 
machen  erst  viele  eine  Individualität  aus.  Das 
Weltbild  einer  solchen,  durch  viele  sinnlich  wahr- 
nehmbare Teile  gegebenen  Einheit  ist  notwendiger- 
weise ärmer  differenziert  als  dasjenige  der  Einheit, 
welche  auf  wenig  Leiblichkeit  verdichtet  ist.  Gerade 
aber  im  Dienste  jener  stehen  die  Begriffe,  unter  die 
gewöhnlich  die  Kunstwerke  und  Taten  und  Übungen 
eingereiht  werden.  Denn  der  Einzelne,  Eigene  und 
Einheitliche  hat  keinen  Grund,  anderen  das  Ziegel- 
werk und  die  Ziegelstücke  seines  Gebäudes  zu  zei- 
gen, des  Gebäudes,  das  er  in  seinem  Geiste  und  mit 
ihm  aufgerichtet  hat.  Es  ist  ihm  Wohnstätte,  die  er 
braucht,  die  er  aber  nicht  so  weit  achtet,  daß  er  ihre 
Herstellung  in  Rezepten  niederlegt.  Was  seine  Sprache 
lockt,  das  sind  nicht  die  Objekte  um  ihn  und  die 
Art  und  Weise,  wie  er  und  die  übrigen  zu  ihnen 
Stellung  nehmen,  sondern  das  ist  er  selbst,  das 
Subjekt.  Und  ihn  bekümmert  es  nicht  weiter,  ob 
Hörer  für  seine  Worte  da  sind;  denn  er  weiß,  daß 
der  Gedanke,  dem  er  Form  gegeben,  sich  mit  an- 
deren Gedanken  kreuzen  wird  und  muß,  weil  nur 
dadurch  die  Zeit,  das  ist  die  Gegenwart,  gesichert 
ist.  Für  dich  ist  die  Notwendigkeit  des  ähnlichen 
Porträts    mit  einer   anderen    Frage    verbunden:     du 


—  41   — 


denkst  an  die  Natur  als  Vorbild,  als  Entbinder  der 
Kunst.  Ihr  stützt  euch  immer  wieder  auf  den  Satz 
Dürers:  der  Künstler  müsse  die  Natur  so  in  seinem 
Herzen  haben,  daß  er  wie  aus  einem  unversiegbaren 
Schatz  daraus  schöpfen  könnte.  Ihr  vergeßt  nur,  daß 
dem  Satz  auch  eine  andere  Deutung  gegeben  werden 
kann.  Eine  Deutung,  zu  der  gerade  Dürer  lockt.  Hat 
denn  Dürer  je  die  Natur  nachgeahmt?  Ist  er  in  sei- 
nen Blättern  und  Tafeln  nicht  immer  von  sich,  vom 
Geiste  ausgegangen,  der  die  Natur  bloß  als  Mittel  zum 
Zwecke  benützt?  Kann  sein  Ausspruch  nicht  dahin 
zielen,  der  Künstler  solle  sich  nicht  in  die  Natur 
vergaffen?  Er  soll  nur  eine  Natur  anerkennen,  die 
seines  Subjekts,  seiner  Eigenheit,  die  er  eben  im 
Herzen,  im  Smnbild  seiner  irdischen  Lebendigkeit 
trägt?  Denk  an  seine  Rasenstücke,  sein  Vogelgefieder 
u.  8.  w.,  u.  s.  w.  Ich  spreche  so,  weil  mir  just  diese 
Zeichnungen  vor  Augen  stehen ;  Dürer  übte  daran  seine 
Hände,  damit  sie  seinem  Geiste  ansonsten  zuwillen 
seien.  Nieraals  wird  einer  von  uns  der  Natur  habhaft. 
Und  je  größer  er  ist,  je  verdichteter  in  ihm  um  bei 
meinem  früheren  Bild  zu  bleiben  —  der  Gedanke 
ringt,  desto  weniger  ist  es  ihm  auch  darum  zu  tun. 
Der  fremde  Wille,  nicht  nur  der  der  anderen  Ge- 
schöpfe, derjenige  unserer  gesamten  Umgebung  ist 
für  uns  nur  Auslö"«une::  die  Synthese  liegt  in  uns; 
die  Anschauung  gehört  uns,  uns  ganz  allein;  wir 
sind  ihre  Meister,  Allerdings  wirst  du  dabei  den  Be- 
griff Individualität  in  dem  von  mir  vorhin  angedeu- 
teten Sinne  gebrauchen  müssen. c 

>Ahnst  du  denn,  wogegen  du  mit  deinen  Be- 
hauptungen anstürmst?  Überleg  doch,  wie  in  den 
Zeiten  der  werdenden  Kunst  ein  Geschlecht  von 
Künstlern  nach  dem  andern  allmählich  die  Schwie- 
rigkeit der  malerischen  Probleme  besiegte;  wie  sie 
ihre  Fortschritte  einander  mitteilten  und  vererbten, 
die  sie  nur  machten,  indem  sie  sich  eben  an  der 
Natur  schulten,   die  ihnen    die   richtige   Wiedergabe 


42 


des   Lichtes,    die    perspektivische    Verkürzung,    den 
nackten  Körper  wies.« 

»Glaubst  du  wirklich,  daß  das  Kunstwerk  durch 
solche  technische  Probleme  ge wertet  wird?  Sind  diese 
nicht  Zivilisation,  die  wie  jede  andere  ihren  Trägern 
nur  Mittel  und  Werkzeuge  gibt,  seine  Idee,  die  Idee, 
die  sich  in  ihm  äußert,  der  Tat  aufzuprägen?  Magst 
du  denn  die  Unterscheidung  zwischen  Tat  und  Zivi- 
lisation, die  du  sicher  im  Leben  der  Täglichkeit 
ziehst,  nicht  auch  ins  Kunstwerk  hineintragen  ?  Dich 
umspannt  der  Wahn,  im  Werke  müßten  irgendwelche 
Grundgesetze  Ausdruck  finden  und  zwar  Grund- 
gesetze, die  für  dich  durch  die  Bedingung  festgelegt 
sind,  daß  der  Bildner,  der  Maler  zumal,  einzig  für 
das  Auge  schaffe,  daß  die  Erregung  sehfremder 
Organe  durch  das  Kunstwerk  dieses  verurteile.  Da- 
rum bleibst  du  als  Betrachter  unfrei.  Du  willst  unter 
ein  ästhetisches  Schema,  das  nachträglich  aus  dem 
Werke  gewachsen  ist,  das  neue  Werk  zwingen. 
—  Kokoschkas  Sachen  reizen,  ganz  abgesehen  von 
der  gedanklichen  Erweckung,  nicht  das  Auge  allein; 
mit  diesem  klingt  stets  der  Tastsinn  mit.  Seine  Bilder 
sind  immer  auf  eine  Plastik  gebaut,  die  man  mit 
dem  Pinger  zu  umfahren  sucht.  Wer  darf  solches 
einem  Künstler  verwehren?  Nein,  in  jedem  Werke 
koramts  nur  darauf  an,  ob  es  Musik  hat;  nicht 
darauf,  wodurch  diese  erreicht  wurde.  Sieh,  hier 
ist  das  Schlußblatt  von  seinen  ,Träumenden  Knaben'. 
Darin  ist  die  Fieberhitze  der  gesteigerten  Erwartung. 
Das  Mädchen  und  der  Knabe  stehen  da  —  lang, 
hager,  in  die  Höhe  getrieben.  Mit  großen  Augen 
unter  starken,  knochigen  Bogen.  Die  ganze  Haltung 
ist  aber  durch  die  juckende  Empfänglichkeit  der 
frühen  Jahre  bedingt.  Die  Haut  spannt  sich  in  un- 
ruhigem Kontur.  Die  Finger  und  Zehen  krümmen 
sich;  die  Füße  reiben  gegen  einander;  die  Oberarme 
und  Ellbogen  liegen  an  dem  Leib;  die  Hand  strei- 
chelt den  Hals.« 


—  43  - 


»Was  sollen  jedoch  diese  kleinen  Wiesenflecke 
beim  Knaben,  die  kleinen  Blumenbeete  beim  Mädchen? 
Und  was  soll  gar  dieses  Ast^ebilde?« 

>Das  weiß  ich  nicht.  Darüber  habe  ich  mich 
nie  befragt.  Ich  meine  aber,  der  Beschauende,  der  so 
tut,  mißv^ersteht  das  Wesen  der  Kunst.  Er  will  nicht 
eine  Erscheinung,  an  der  er  emporsteigt,  aber  auch 
vorübersteigt,  so  daß  sie  ihm  nur  Auslösung  des 
Erlebnisses  seiner  Persönlichkeit  ist:  er  will 
von  der  Kunst  Bildung  haben,  so  wie  er  solche 
aus  dem  Lexikon  schöpft.  Sieh  hier  diesen  un- 
ruhigen gelben  Fleck  im  roten  Streifen,  den  wieder 
jBwei"  weiße  Felder  einrahmen.  Nicht  wahr,  das  sind 
die  heißen  Farben  der  lieschlechtlichkeit  ?  Und 
darüber  sieh  das  braune  und  blaue  Kleid  der  zagen 
Figuren.  Ist  das  nicht  der  Ton  der  geschlechtlich 
Stumpfen,  der  Kühlen?  Möglich.  Vielleicht  hat  der 
Künstler  daran  gedacht,  vielleicht  auch  nicht.  Das 
zu  wissen,  hat  mit  der  Betrachtung  seines  Werkes 
gar  keinen  Zusammenhang.  Die  Farben,  die  ich  dir 
jetzt  derart  erklärt  habe  —  ich  werde  in  einer  Stunde 
vielleicht  anders  von  ihnen  reden.  Denn  ich    erkläre 

sie  nicht  aus  dem  Bilde,  sondern  aus  mir  heraus. 

Schau  dir  das  ganze  Buch  noch  einmal  genau  durch. 
Langsam.  Verwend  paar  Tage  dazu.  Dann  laß  uns 
wieder  vom  Künstler  reden.  Eines  aber  möchte  ich  dir 
zu  deiner  Arbeit  —  denn  Betrachtung  soll  Arbeit, 
nicht  Muße  sein  —  mitgeben :  Acht  auf  die  Farbe 
bei  Kokoschka.  Sie  ist  satt  wie  jene  der  alten  Kirchen- 
fenster. Sie  ist  ein  Ornament,  welches  dem  vergleichbar 
ist,  in  dem  die  Linie  der  Gothik  spricht:  es  trägt  den 
Organismus,  der  der  Natur  entsprossen  ist.  Kokoschka 
sieht  mit  Augen,  die  die  Farbe  erspüren,  und  er 
spricht  zu  Augen,  die  die  Farbe  fühlen.  Ihm  ist  die 
Farbe  nicht  ein  einzelner  Fleck  im  Bilde,  ein  Lokal- 
zeichen, sondern  sie  gestaltet  den  Raum.  Den  Raum 
als  das  Wirkungsfeld  sämtlicher  geistigen  Kräfte  und 
nicht  bloß  jener,  die  den  dreidimensionalen,  den  körper- 


—  44  — 

liehen,  den  sogenannten  äußerlichen  Raum  vermitteln. 
Nein,  den  Raum  als  die  Stätte  der  inneren  Freiheit. 
Wenn  du  das  erkannt  hast,  wirst  du  auch  den 
Schlüssel  zu  seinen  Porträts  gefunden  haben. < 

L.  B.  Tesar. 


Selbstanzeigen 

Der  ,März'  (München,  IV,  5)  brachte  die  folgende  Kritik: 
Sprüche  und   Widersprüche 

Karl  Kraus,  den  der  Philister  durch  die  .Facltel'  und  den 
,Simplicissimus'  kennen  und  hassen  gelernt  hat,  gab  im  Verlag  Lange« 
eine  Sammlung  seiner  Aphorismen  mit  dem  Tilel  >Sprüche  und  Wider- 
sprüche« heraus.  Wenn  die  bekannten  eitlen  Gebärden  der  Herren 
Intellektuellen  echt  wären,  so  müßte  dies  Buch  so  bekannt  sein  wie 
die  lustige  Witwe.  Es  wird  jedoch  diesen  Vorzug  nie  genießen,  dafür 
ist  es  viel  zu  anspruchsvoll.  Es  verlangt  nämlich  ernst  genommen  und 
verstanden  zu  werden,  das  hindernislose  Rennen  des  Gewohnheitsiesers 
dürfte  auf  diesen  Seiten  keinem  glücken.  Also  wird  es  bei  der  »kleinen 
Gemeinde«  oder  den  >cent  lecteurs«  bleiben,  mit  denen  wohlwollende 
Kritiker  unbequeme  Genies  zu  trösten  pflegen. 

Das  ist  schade,  denn  das  Buch  ist  unheimlich  ernsthaft.  Es  hat 
die  Ernsthaftigkeit  des  Narren,  der  Gold  für  Gold  und  Dreck  für  Dreck 
nimmt  und  den  Journalisten  durchaus  nicht  glauben  mag,  daß  Dreck 
Gold  sei.  Diese  Ernsthaftigkeit,  so  tragisch  sie  ist,  hindert  nicht,  daß 
das  Buch  voll  diabolischer  Lustigkeit  steckt  —  und  wenn  zehn  Leser 
die  Geduld  oder  gar  das  Verständnis  für  so  etwas  hätten,  würde  ich 
mit  Vergnügen  auch  auf  die  sprachliche  Kunst  und  formale  JVleisterschaft 
der  Sprüche  eingehen.  Statt  dessen  deute  ich  an,  daß  witzige  Leser 
hier  reichlich  Gelegenheit  finden,  sich  über  die  tolle  Eitelkeit  eines  nicht 
einmal  sehr  berühmten  Künstlers  aufzuregen,  eines  Mannes,  dem 
tatsächlich  außer  seiner  Kunst  nichts  heilig  ist,  eines  Don  Quichote, 
dessen  Manie  es  ist,  das  Unmögliche  zu  unternehmen  und  sich  Todfeinde 
in  einer  mächtigen  Zunft  zu  schaffen,  in  welcher  er  leicht  den  Meister 
spielen  könnte.  Wenn  ein  Zehntel  dieser  Gedanken,  etwas  ausgekocht 
und  mit  mehr  Sauce  serviert,  in  einem  Band  voll  langer  Feuilletons 
stünde,    so  würde  Kraus    für    den  ersten  deutschen  Humoristen  gelten. 

Ich  hatte  mir  ein  halbes  Dutzend  der  Sprüche  notiert,  um  sie 
als  Beispiele  anzuführen.  Doch  ist  es  besser,  statt  dessen  dringlich  auf 
das  Buch  selber  hinzuweisen,  das  eben  nicht  nur  eine  Sammlung  von 
Einfällen  und  Schnurren  ist,  sondern  in  seiner  Gesamtheit,  in  seinen 
hundert  Spiegelungen  und  Farbenreizen,  dem  Aufmerksamen  eines  der 
kühnsten    und  merkwürdigsten  Selbstporträts   zeigt,    die    unsre    neuere 


— ,  45  — 


Literatur  hat.  Das  »Indianerstaunen  der  Zivilisation  Qber  die  Errtmgen- 
schaften  der  Naturt  wiederholt  sich  eben,  so  oft  wir  ernstlich  vor  einer 
unbeschnittenen  Persönlichkeit  die  Augen  aufmachen. 

Hermann  Hesse. 

• 

Der  .Demokrat',  eine  Berliner  Wochenschrift  für  freiheit- 
liche Politik,  Kunst  und  Wissenschaft,  bringt  auch  in  Nr.  8  des 
II.  lahrganges  nebst  Auszügen  aus  den  Büchern  eine  Besprechung: 

Karl  Kraus,  dessen  Vorlesungen  im  »Verein  für  Kunst«  so  un- 
gemeines Interesse  erweckt  haben,  repräsentiert  den  seltenen  Fall  des 
Journalisten,  der  sein  Handwerk  so  mit  seiner  Persönlichkeit  füllt,  da6 
es  selbständigen  ästhetischen  Wert  erhält.  Ein  sorgfältig  diszipliniertes 
Temperament  stellt  den  Leitartikel  unter  einen  so  strengen  Stilbegriff, 
daß  er  über  den  materiellen  Wert  der  Meinung  erst  vom  ästhetischen 
Gesichtspunkt  die  rechte  Beleuchtung  gewinnt.  Der  unablässig  zusammen- 
drängenden, auf  das  Wesentliche  hinarbeitenden  Kraft  des  Kulturkritikers 
schafft  sich  das  Ideal  einer  Kunstform,  die,  alles  Nebenwerk  abstoßend, 
gleich  im  Anschlagen  eines  einzigen  Tones  die  Fülle  der  Absicht  in 
vollendeter  Ausdrucksfähigkeit  herausstellt.  Das  ist  der  Aphorismus. 
Kraus'  Aphorismen  sind  unendlich  verkürzte  Fssays.  Seine  Essays  sind 
Mosaikgemälde  aus  Aphorismen.  Mit  einem  kurzen,  ungeheuer  starken 
Aufblitzen  belichten  sie  Gefühle.  Irrtümer,  Taten  und  Meinungen.  Und 
zwar  vom  Standpunkt  eines  Menschen,  der  die  sinnlose  Konvention  der 
heutigen  Gesellschaftsordnung  durchschaut  hat.  Der  nach  einer  reineren 
freieren  Welt  strebt,  in  der  nicht  Leidenschaft  und  Kraft  durch  Vor- 
urteile staatserhaltender  Parteien  gelähmt  werden. 

Karl  Kraus  ist  Künstler.  Vielleicht  spricht  für  den  Künstler  in 
Karl  Kraus  am  meisten,  was  leichtfertige  Betrachter  am  ehesten  gegen 
ihn  einnimmt:  Der  Gefühlsüberschwang,  der  selbst  vor  Sentimentalität 
nicht  zurückschrickt.  Manche  seiner  Sätze  überlassen  sich  so  Fr- 
innerungen  und  Sentiments,  daß  es  durchaus  dieses  feinen  und  Grenzen 
kennenden  Geistes  bedurfte,  um  sie  aus  der  trüt>en  Flut  eines  philiströsen 
Gefühlsbehagens  zu  retten. 

Karl  Kraus  ist  Kulturkritiker.  Seine  Kritik  der  bürgerlichen  Moral 
ist  nicht  nur  die  männlichste,  sondern  auch  die  menschlichste  Stellung 
zu  unserer  im  Sumpf  der  Phrase,  der  Heuchelei  und  der  Bildungslüge 
erstickten  Zeit. 

In  der  vorigen  Nummer  hat  der  .Demokrat'  Karl  Kraus' 
»Sittlichkeit  und  Kriminalität«  gewürdigt.  Heute  bringe  ich  aus  dem 
bei  Albert  Langen  in  München  erschienenen  Buche  >  Sprüche  und 
Widersprüche«,  der  besten  Aphorismensammlung,  die  in  letzter  Zeit 
erschienen  ist,  einige  Proben.  Lest  sie.  Und  was  dem  Leser  im  ersten 
Augenblicke  vielleicht  paradox  erscheint,  ist  nichts  als  die  unbekümmerte 
Konsequenz  eines  radikalen  Geistes. 

F.  P. 


—  46 


Aphorismen  *) 
Von  Karl  Kraus 

Der  Historiker  ist  oft  nur  ein  rückwärts  ge- 
kehrter Journalist. 

Ich  fand  irgendwo  die  Aufschrift:  >Man  bittet 
den  Ort  so  zu  verlassen,  wie  man  ihn  anzutreffen 
wünscht«.  Wenn  doch  die  Erzieher  des  Lebens  nur 
halb  so  eindrucksvoll  zu  den  Menschen  sprächen  wie 

die  Hotelbesitzer! 

* 

Vornehme  Leute  demonstrieren  nicht  gern.  So- 
bald sie  sehen,  daß  einer  eine  Gemeinheit  begeht, 
fühlen  sie  sich  wohl  mit  ihm  solidarisch;  aber  nicht 
alle  haben  den  Mut,    es  ihn  auch  wissen   zu   lassen. 


Vielleicht  ginge  es  besser,  wenn  die  Menschen 
Maulkörbe  und  die  Hunde  Gesetze  bekämen;  wenn 
die  Menschen  an  der  Leine  und  die  Hunde  an  der 
Religion  geführt  würden.  Die  Hundswut  könnte  in 
gleichem  Maße  abnehmen  wie  die  Politik. 


Ich  teile  die  Leute,  die  ich  nicht  grüße,  in  vier 
Gruppen  ein.  Es  gibt  solche,  die  ich  nicht  grüße,  um 
mich  nicht  zu  kompromittieren.  Das  ist  der  einfachste 
Fall.  Daneben  gibt  es  solche,  die  ich  nicht  grüße, 
um  sie  nicht  zu  kompromittieren.  Das  erfordert  schon 
eine  gewisse  Aufmerksamkeit.  Dann  aber  gibt  es 
solche,  die  ich  nicht  grüße,  um  mir  bei  ihnen  nicht 
zu  schaden.  Die  sind  noch  schwieriger  zu  behandeln. 
Und  schließlich  gibt  es  solche,  die  ich  nicht  grüße, 
um  mir  bei  mir  nicht  zu  schaden.  Da  heißt  es  beson- 


*)  Aus  dem  .Simplicjssimus', 


47 


ders  aufpassen.  Ich  habe  aber  schon  eine  ziemliche 
Routine,  und  in  der  Art,  wie  ich  nicht  grüße,  weiß 
ich  jede  dieser  Nuancen  so  zum  Ausdruck  zu  brin- 
gen, daß  keinem  ein  Unrecht  geschieht. 

Wenn  eine  Kultur  fühlt,  daß  es  mit  ihr  zu  Ende 
geht,  läßt  sie  den  Priester  kommen. 


Die  Presse*) 

Von  Karl  Bleibtreu 

. . .  Ihre  Feinde  sind  tatsächlich  die  lichtscheuen  Ounitelmänner, 
ihre  Freunde  die  Liebhaber  des  Lichts.  Doch  leider  gilt  diese  unbestreit- 
bare Tatsache  nur  für  die  Massen  sowohl  der  Gebildeten  als  Halb- 
gebildeten. In  den  höchsten  Regionen  des  Geistes  hat  sie  im  Gegenteil 
gerade  so  erbitterte  Todfeinde,  wie  in  den  » allerhöchsten <  der  praktischen 
Machthaber.  Schopenhauer,  Richard  Wagner,  Hebbel  u.  a.  sprachen  bei 
jeder  Gelegenheit  ihre  grimme  Verachtung  wider  dies  nützliche  Institut 
aus.  Friedrich  der  Große,  der  die  »Gazetten«  nicht  geniert  wissen 
wollte  und  eine  gewisse  Preßfreiheit  gewährte,  ahndete  scharf  zügellose 
Kritik  gerade  auf  nichtpolitischen  Gebieten  und  tröstete  d'Alembert,  der 
sich  über  Preßangriffe  beklagte:  man  dürfe  sich  um  dies  Gesindel  nicht 
kümmern,  er  selbst  habe  sein  törichtes  und  boshaftes  Gerede  stets 
gründlich  verachtet.  Vollends,  ohne  weitere  Kronzeugen  zu  zitieren, 
überscharf  urteilte  Goethe,  der  von  Zunahme  des  Zeitungswesens,  das 
ihn  mit  Abscheu  und  Besorgnis  erfüllte,  allgemeine  Verwilderung  der 
Kultur  und  insbesondere  den  Ruin  der  Literatur  prophezeite.  In  der  Tat 
hat  in  gewissen  Ländern  die  Presse  giftigste  Auswüchse  entwickelt.  In 
Frankreich  hat  Balzac,  dessen  erlauchten  Namen  wir  auch  unter  den  wildesten 
Pressefeinden  aufzählen,  die  wüste  Korruption  der  Pariser  Journale  oft 
entsetzlich  gegeißelt,  und  Augiers  Komödie   »Die  Schamlosen«    stößt  in 


*)  Aus  einem  Vorwort  zu  der  soeben  erschienenen  »Geschichte 
der  schweizerischen  Zeitungspresse  zur  Zeit  der  Helvetik 
1798-1803«  von  Dr.  S.  Markus  (Verlag  von  Rascher  k  Cie.  in 
Zürich,  1910). 


—  48 


das  gleiche  Hörn.  In  Österreich  fragt  das  Publikum  bei  jeder 
Presseäußerung,  wieviel  dafür  bezahlt  sei,  was  dahinter 
stecke.  Graf  Sternberg  hielt  im  Reichsrat  eine  mehrstündige  Rede 
über  die  ,Neue  Freie  Presse',  worin  er  dies  Weltblatt  nicht  nur  allge- 
meiner schmutziger  Korruption  seit  seinem  Bestehen  bezichtigte,  sondern 
auch  öffentlich  feststellte,  es  flössen  stets  Schweige-  oder  sonstige 
Bestechungsgelder  dorthin  aus  Regierungsfonds,  alle  Ministerien 
müßten  diesen  Cancan  der  Korruption  mitmachen  und  demütig 
mit  dem  >Weltblatt«  paktieren.  In  einem  anderen  Lande  hätte 
das  so  öffentlich  gebrandmarkte  Blatt  Klage  erheben  müssen, 
der  Staatsanwalt  müßte  sich  liebevoll  der  Sache  annehmen.  In  Wien 
aber  ignorierte  die  ,Neue  Freie'  einfach  den  Fall  und  erledigte  im 
Parlamentsbericht  die  Rede  mit  der  lakonischen  Floskel:  »Graf  Sternberg 
greift  unser  Blatt  an«.  Und  was  taten  die  anderen  Zeitungen?  Beherzigten 
den  Satz,  daß  keine  Krähe  der  anderen  die  Augen  aushackt,  und 
schwiegen  Sternbergs  Rede  tot,  wobei  —  köstlich  zu  sagen  —  die 
gegen  Korruption  donnernde  , Arbeiter-Zeitung'  obendrein  mit  einigen 
Beschimpfungen  Slernbergs  dem  Kapitalistenorgan  beisprang.  .  .  .  Nun, 
derlei  ist  sclilimm  genug,  und  daß  der  Pressebegriff  zu  solcher  scheuß- 
lichen Mißwirtschaft  einladet,  genügt  schon  allein  zu  begründen,  wie 
gefährlich  dies  öffentliche  Institut  entarten  kann.  Doch  dagegen  läßt 
sich  einwenden,  daß  jeder  Stand  räudige  Schafe  enthält,  daß  die 
anständige  nicht  für  die  unanständige  Presse  büßen  soll,  daß  ein  Heil- 
mittel nicht  deshalb  als  verwerflich  gelten  darf,  weil  es  in  verdorbenem 
Zustand  giftige  Substanzen  auslöst.  Ungleich  gewichtiger  scheint  die 
Gründung  einer  Zeitschrift  ,Die  Fackel'  in  Wien  zu  dem  besonderen 
Behufe,  nachzuweisen,  daß  die  Presse  völlig  unnütz,  wohl  aber  höchst 
schädlich  sei,  sobald  sie  über  bloße  Mitteilung  von  Tagesneuigkeiten 
weggehe,  daß  die  Journalisten  den  Abhub  der  Halbbildung  und  geistigen 
Verkümmerung  vorstellen,  was  der  glänzende  Satiriker  K.  Kraus  in 
tausend  Varianten  seinen  zahlreichen  Lesern  einprägt.  Wie  begegnet  die 
Wiener  Presse  dieser  Anklage?  Gar  nicht,  sie  rächt  sich  durch  Tot- 
schweigen und  kleine  Nadelstiche,  weiß  aber  zu  ihrer  Verteidigung 
nichts  vorzubringen. 

....  Wenn  wirklich  Große,  d.  h.  Spitzen  des  Geisteslebens,  die 
sich  nicht  durch  opportunistische  Nebentendenzen  bestimmen  oder  ver- 
söhnen lassen,  hartnäckig  an  ihrer  ungünstigen  Meinung  über  den  Wert 
der  Presse  festhalten,  so  muß  etwas  faul  sein  im  Staate  Dänemark 
Allerdings  ist  auch  dieser  Haß  keineswegs  frei  von  persönlichen 
Beweggründen,  denn  grade  die  wirklich  Großen  litten  allzeit  am  meisten 
unter  der  Anmaßung  einer  seit  lange  herrschend  und  somit  geistig 
konservativ  gewordenen  Presse,  die  jede  echte  Neuheit  mit  dem  Instinkt 
des  Philisters  verfolgt,  die  einerseits  aus  Nützlichkeitsgründen  ihres 
Berufs  sich  möglichst  der  Anschauung  der  breitesten  Massen,  also  der 
Mittelmäßigkeit  anpaßt,  andererseits  selbst  mit  dem  bornierten  Unver- 
ständnis und  uneingestandenen  Neid  der  Beschränktheit  jedes  Über- 
ragende wittert  und  von  vornherein    als  feindlich  befehdet.    Die  schäm- 


49 


losen  Ausfälle  auf  Richard  Wagner  bis  in  sein  hohes  Alter  sind  bekannt; 
Hebbel  und  Grillparzer,  Brahms  und  Hugo  Wolf,  Böcklin  und  Thoma 
u.  s.  w.  wußten  ein  Lied  von  der  Presse  zu  singen.  Desgleichen  in 
England  Byron,  Shelley,  Keats,  Swinbume,  in  Frankreich  Balzac, 
Flaubert,  Musset.  Ibsen  und  Nietzsche  ging  es  nicht  besser.  Ein  so 
großer  Geist  wie  Gobineau  wurde  bei  Lebzeiten  völlig  totgeschwiegen. 
Auch  Goethe,  obschon  in  seiner  umfassenden  Art  objektiv  verall- 
gemeinernd und  in  die  Zukunft  schauend,  blieb  bei  seinem  Verdikt 
gegen  die  Presse  nicht  frei  von  persönlicher  Unbillerfahrung.  »Die 
Sudelköche  von  Weimar«,  wie  man  die  beiden  Olympier  schimpfte, 
mußten  sich  in  ziemlich  salzlosen  Xenien  ihrer  Presseverunglimpfer 
erwehren.  Ober  »Kabale  und  Liebe«  schrieb  die  tonangebende  .Vossische 
Zeitung',  dies  sei  der  äußerste  Tiefstand,  den  die  Literatur  bisher  erreicht 
habe.  Wäre  Goethe  nicht  Ministcrexzellenz  gewesen,  so  hätte  man  ihn 
noch  schärfer  angepackt.  Der  falsche  Pathos  und  die  konventionellen 
Fabeln  der  Literaturgeschichte  täuschen  über  die  wahre  Geltung  vop 
»Unsterblichem«  bei  Lebzeiten.  Man  könnte  ergötzlich  persiflieren,  wie 
Künstlers  Erdenwallen  sich  im  Munde  zeitgenössischer  Presse  aus- 
nahm. .  . .  Kleists  völlige  Verschollenheit  bietet  den  klassischen 
Beweis,  daß  die  Presse  sich  ihres  Amtes  öffentlichen  Eintretens  für 
geistige  Dinge  oft  genug  unwürdig  zeigte.  Man  könnte  einwenden,  ^ 
daß  der  erst  in  den  70er  Jahren  neu  entdeckte  Kleist  ja  auch  von 
offiziellen  Katliederästhetikem  ignoriert  wurde.  Vilmars  Literatur- 
geschichte nannte  ihn  nicht  einmal,  Oesers  »Ästhetische  Briefe«,  woraus 
unsre  Großmütter  und  Mütter  ihre  Literaturkunde  schöpften,  streifen  ihn 
mit  zwei  mißgünstigen  Zeilen.  Doch  dies  wäre  ja  unmöglich  gewesen, 
wenn  je  in  so  vielen  Zeitungen  und  Zeitschriften  irgend  eine  Stimme 
laut  geworden  wäre,  die  auf  Kleists  Größe  hinwies.  Zur  richtigen 
Abschätzung  der  Presseverdienste  um  Propagierung  des  Bedeutenden 
wäre  der  Nachwelt  förderlich,  die  wahren  Größeverhältnisse  geistiger 
Persönlichkeiten  im  Lichte  ihrer  Zeitgenossen  richtig  zu  schauen.  Wenn 
wir  uns  eine  gewisse  Presse  1811  vorstellen,  so  würden  deren  Notizen 
etwa  so  gelautet  haben: 

»Wie  wir  vernehmen,  hat  unser  großer  Romandichter  Lafontaine 
das  echtdeutsche  Gemüt  seiner  Heimatkunst  in  einem  neuen  unvergäng- 
lichen Werke  niedergelegt.«  »Unser  berühmter  Iffland  bereichert 
demnächst  die  deutsche  Bühne  um  ein  neues  naturalistisches  Meister- 
werk.« »Eine  frohe  Kunde  dringt  zu  uns:  der  weltberühmte  Hofrat  von 
Kotzebue  wird  seine  dankbare  Weltgemeinde  im  In-  und  Ausland  wieder 
mit  einem  Sprößling  seiner  liebreizenden  Muse  bedenken.  Der  unsterb- 
liche Autor  von  .Menschenhaß  und  Reue'  hat  diesmal  sowohl  die 
Tränen  als  das  schalkhafte  Lächeln  nicht  gespart».  »Allhier  erschoß  sich 
Leutnant  a.  D.  Heinrich  v.  Kleist  in  einem  Anfall  von  Geistesstörung. 
In  engeren  Kreisen  machte  er  sich  durch  peinliche  Novellen-  und  Dramen- 
versuche bekannt,  die  jedoch  nirgends  Fuß  faßten.  Kleist  war  nicht 
unbegabt.  Doch  der  Größenwahn  unbegreiflicher  Selbstüberhebung, 
wo  großes  Wollen  nur  Ungekonntes  und  vor  allem  Halbfertiges  liederlich 


50 


und  ohne  Selbstzucht  hinschleuderte,  stieß  alle  wolilwollenden  Gönner 
wie  den  berühmten  Tieck  in  Dresden  ab,  und  so  blieb  der  Unglüci<- 
liche  leider  unreif  bis  zu  so  traurigem  Ende.«  Es  würde  für  1830  bis 
1S40  diese  Persiflage  sich  ruhig  fortsetzen  lassen:  ...  >  Der  berüchtigte 
Grabbe  soll  in  den  letzten  Zügen  liegen.  Die  Literatur  verliert  nichts 
an  ihm.<  .  .  .  »Baron  Strehlenau,  der  unter  dem  Namen  Lenau  schreibt, 
hat  eine  neue  Lyriksammlung  unter  der  Feder.  Sein  hübsches  Talent 
mag  sich  noch  zur  Reife  entwickeln.«  »Die  berühmten  Werke  des  Barons 
Fouqu^,  des  unsterblichen  Verfassers  der  unsterblichen  ,Undine', 
erscheinen  in  neuer  Gesamtausgabe.  Diesem  Stolz  Deutschlands  entreißt 
keine  Nachwelt  den  Lorbeer.«  .  .  .  »Der  so  allgemein  populäre  Hofrat 
Clauren  bescheert  uns  eine  seiner  edel-sentimentalischen  und  zart- 
erotischen Erzählungen.«  .... 

So  lange  es  eine  Presse  gibt,  reichte  sie  nur  zu  oft  dem 
blendenden  Charlatan  den  Lorbeer,  machte  jede  von  kundigen  Thebanern 
inszenierte  Mode  mit,  poussierte  alle  Streber,  ja  unterwarf  sich  sogar, 
wenn  es  in  ihren  Kram  paßte,  dem  schlechten  Geschmack  des  Publikums. 
Die  Presse  als  Erzieher  scheint  leerer  Wahn.  Was  ihre  feierlichen 
Rhadamantysallüren  besonders  anstößig  macht,  ist  die  Gebärde  ihrer 
Kritikbeflissenen,  als  ob  nicht  sie,  beliebige  und  oft  sehr  windige  Ge- 
» seilen,  sondern  die  öffentliche  Meinung  selber  hier  herolde.  Gegen  ihre 
Sprüche,  die  selig  machen  und  verdammen,  gibt  es  keine  Appellation. 
Jede  »Kritik  der  Kritik«  wird  lächerlich  gemacht,  jede  Berichtigung  ab- 
gelehnt oder  mit  hämischen  Glossen  versehen  und  dann  »die  Diskussion 
geschlossen«.  Jede  Fälschung  der  Wahrheit  passiert  ungestraft.  Das  un- 
mündige Publikum  besitzt  kein  eigenes  Urteil,  mit  Ausnahme  der  höchst- 
gebildeten oder  bestimmten  Fachkenner;  die  Suggestionsgewalt  des  ge- 
druckten Wortes  wirkt  aber  so  bezwingend,  daß  selbst  Wissende,  die 
den  Rummel  kennen,  sich  unwillkürlich  dem  Eindruck  nicht  entziehen 
können.  In  hundert  widerspruchsvollen,  aber  sämtlich  als  unfehlbar 
auftauchenden  Orakeln  der  Presse  über  das  gleiche  Thema  findet  sich 
kein  Unbefangener  mehr  zurecht.  Man  fragt  nicht  nur  verwundert :  »Was 
ist  Wahrheit!«,  sondern  erkennt,  daß  die  Wahrheit  hier  wahrscheinlich 
nirgendwo  liege,  höchstens  in  der  Mitte  .  .  ,  . 

Wir  mußten  ausführlich  bei  dieser  einen  Hälfte  des  Pressetage- 
werks verweilen,  das  sich,  außer  dem  unverfänglichen  Lokalen  und 
Nachrichtendienst  (Depeschen),  in  das  Politische  und  die  Rundschau 
aller  andern  öffentlichen  Angelegenheiten  der  Literatur,  Kunst,  Wissen- 
schaft teilt.  Das  rein  Wissenschaftliche,  sofern  es  überhaupt  besprochen 
wird,  fällt  für  den  Begriff  des  Journalismus  weg,  weil  man  es  Spezialisten 
zu  übertragen  pflegt,  um  damit  Staat  zu  machen.  Doch  auch  hier  kam 
es  vor,  daß  ein  französisches  Allerweltsblatt  dem  Radium-Entdecker 
Currie,  dessen  trockenes  Referat  nicht  sensationell  genug  erschien,  aus 
eigener  Machtvollkommenheit  solchen  Unsinn  in  den  Mund  legte,  daß 
Currie  klagbar  wurde  und  nur  sein  plötzlicher  Unfallstod  das  Blatt  von 
Entschädigungsstrafe  befreite.  Durch  Beleuchtung  der  Presseverdienste 
auf  rein  geistigen  Gebieten  wird  aber  die  politische   Bedeutung  auch  ent- 


61    — 


sprtchend  gestreift.  Denn  wie  oft  verzapfen  hier  Leitartikel  besondere 
politische  Weisheit,  die  im  Licht  wirklicher  Kenntnis  der  internen  Vor- 
gänge ganz  anders  ausssehen  würde!  Man  kann  sich  überhaupt  nicht 
erinnern,  daß  eine  Pressekampagne  je  ernste  politische  Folgen  hatte. 
Die  britischen  »Juniusbriefe«  und  die  Broschüren  von  P.  L.  Courier, 
welche  Georg  III.  und  den  Bourbons  ihr  Gottesgnadentum  abgruben, 
erschienen  in  Broschürenform.  Gewisse  publizistische  Erfolge  neuesten 
Datums  in  dieser  Richtung  hat  bezeichnenderweise  Hardens  Wochen- 
schrift, nicht  die  ihr  feindliche  Tagespresse  errungen.  Doch  muß  man 
nicht  denken,  Goethe  habe  zwischen  Zeitung  und  Wochenschrift 
bei  seiner  Warnung  unterscheiden  wollen;  vielmehr  faßte  er  diese 
gesamte  Publizistik  als  Zerstörer  des  >  Buches <  auf.  Sein  Stand- 
punkt war  etwa:  wo  der  Mensch  früher  Bücher  las,  liest  er 
heut  Zeitungen.  Wie  sehr  dies  jede  Halbbildung,  jedes  ober- 
flächliche Absprechen  und  Mitreden  begünstigt,  bedarf  keiner  Er- 
örterung. Seichte  Skribenten  für  seichte  Leser  —  so  wurde  die  Demo- 
kratie der  Vielzuvielen  begründet,  die  Herrschaft  der  Mittelmäßigkeit 
Lektüre  eines  Buches  beansprucht  Sammlung  und  geistige  Mitarbeit, 
Zeitungsnahrung  wird  in  beliebigen  Mengen  halb  im  Schlafe  hinab- 
gewürgt und  entsprechend  verdaut,  ohne  feste  Nahrung  dem  geistigen 
Organismus  zuzuführen.  Wie  traurig  die  Presse  manchmal  das  Obwalten 
rein  persönlicher  Beziehungen  für  Gunst  und  Ungunst  begünstigt,  wie 
selbst  unlauterste  Beweggründe  hier  und  da  heimlich  bestimmen,  hat 
man  ja  oft  genug  erörtert.  In  neuester  Zeit  kommen  auch  für  politische 
Haltung  immer  deutlicher  die  kapitalistischen  Interessen  in  Frage.  Bei 
den  gesteigerten  Kosten  von  Druck,  Papier,  Personal,  liegt  immer  schärfer 
der  Nachdruck  auf  dem  Inseratenteil,  ohne  den  ein  Blatt  nicht  ent- 
sprechenden Gewinn  abwürfe.  Manche  Blätter  haben  mit  ihrem  irr- 
lichternden  Vorderteil  und  ihrem  ungeheuren  Annoncenschweif  ganz  das 
Aussehen  eines  Kometen. 

Durch  die  kapitalistische  Entwicklung  kommt  auch  das 
Dilemma  zustande,  daß  die  tonangebende  Presse  eines  Landes  nicht 
mal  dessen  politische  Partei-Machtverhältnisse  ausprägt.  In  Wien  gibt 
es  eine  übermäßige  liberale  Presse  für  eine  durchaus  antiliberale  Be- 
völkerung. In  England  regiert  nach  Ansehen  und  Verbreitung  durchaus 
die  konservativ-chauvinistische  Presse,  während  die  Wählerschaft  über- 
wiegend sich  zum  liberalen  Regime  bekennt.  So  fälscht  man  förmlich 
das  richtige  Bild  der  politischen  Zustände,  besonders  vor  dem  Ausland, 
infolgedessen  die  unkundige  deutsche  Presse  in  den  Äußerungen  der 
großen  Torj'-Organe,  weil  diese  am  verbreitetsten  und  weltbekanntesten, 
ganz  ruhig  die  Meinung  des  britischen  Volkes  zu  finden  glaubt.  .  .  . 

Seitdem  ein  Genialer  unter  den  Zeitpolitikern,  also  ein  sel- 
tener Vogel,  nämlich  Ferdinand  Lassalle,  seinen  Haß  gegen  den 
Jouinalismus  betonte,  haben  die  Dinge  sich  eher  verschlimmert.  An  der 
eigenen  sozialdemokratischen  Presse  hätte  er  alle  Unarten  der  bürger- 
lichen erleben  können.  Es  hilft  nichts,  die  Wahrheit  über  diese  Lage 
totzuschweigen,    wie  es  ein  Teil  der  Presse  zu  tun  pflegt,    sobald  mari 


-  52  — 


ihr  d«n  Spiegel  vorhält.  Vernünftiger  wäre  es,  in  die  Zukunft  voraus- 
schauend, einem  allgemeinen  Ausstand  und  Aufstand  der  besseren 
Leserwelt  dadurch  vorzubeugen,  daß  man  zu  den  einstigen  Idealen 
einer  anständigen  vornehmen  Presse  für  die  Besseren,  nicht  für  die 
dumpfe  Masse  zurückkehrt.  .  .  . 


Glossen 
Von  Kari  Kraus 

Die  Wochen  des  Todes 

Die  Berühmten  leben  und  sterben  öffentlich.  Aber  daß  sie 
nicht  privat  vomieren  und  Nährklysmen  erhalten  können,   ist  der 

Fluch  der  Zeit. 

« 

Man  hatte  sich  an  Symptomen  überessen.  Da  ließen  die 
Chefredakteure  abservieren.  Eine  Zeit  lang  wurde  das  Wochenbett 
des  Todes  vernachlässigt.  Sie  gaben  den  Bürgermeister  auf.  Mit 
Björnson  hatte  man  das  Malheur  gehabt,  daß  er  einem  unter  der 
Hand  am  Leben  blieb.  Man  wollte  nicht  wieder  hereinfallen.  So 
geschah  es,  daß  die  auf  Urämie  dressierten  Reporter  eine  Woche  lang 
das  ärztliche  Berufsgeheimnis  wahrten.  Fünfzehn  Seiten  Nekrolog 
aber  stöhnten  durch  die  Nacht,  auf  Erlösung  wartend. 

• 

Ehe  es  so  weit  kam,  halfen  wieder  die  Details.  Der  >Millirahm- 
strudel  von  Breitenfurt«,  >kein  Kipferl  und  kein  Zipferl«  und  so 
weiter.  Zum  Glück  erschien  Frau  Niese  im  Rathaus  und  sagte: 
>Wenn  man  mich  schon  nicht  mehr  hineinläßt,  dann  steht  es  sehr 
schlecht«.  Sie  weinte  heftig  und  das  Publikum  —  auch  hier  war 
Publikum  —  umdrängte  sie.  >Da  trat  ein  Herr  auf  sie  zu  und 
sagte:    ,Trösten  Sie  sich,  gnädige  Frau,  wie  wir  alle  uns  trösten 

müssen'«. 

* 

Auch  wurde  der  Ausspruch  eines  Passanten  verbreitet,  der 
gesagt  haben  soll:  Sterben  müssn  m'r  allel 

Aber  noch  hielt  man  nicht  so  weit,  daß  ein  israelitischer 
Advokat  endlich  erzählen  konnte,  daß  er  sich  aus  seiner  Kon- 


—  53  — 


zipientenzeit  erinnere,  wie  er  einmal  den  Doktor  Lueger  ein  Vater- 
unser beten  gehört  habe. 

Die  Neue  Freie  Presse  fühlte  sich  schließlich  veranlaßt, 
ratenweise  die  Nemesis  herzugeben.  Durch  diese  Leitartikel  ging 
—  abgesehen  von  dem  berechtigten  Vorhalt  an  den  Sterbenden, 
daß  er  >manche  Lücken  in  den  Zähnen«  hatte  —  ein  Ton,  der  die 
Zuckerkrankheit  als  politische  Revanche  des  freisinnigen  Jehovah 
reklamierte. 

Und  als  er  tot  war,  hieß  es:  »Lueger  ist  zehnfach  ge- 
storben!« Was  zwar  objektiv  der  furchtbaren  Wahrheit  dieses 
Endes   entsprach,   aber  einen  Unterton  hatte,   dem  die   politische 

Revanche  bis  ins  dritte  und  vierte  Glied  nicht  zu  genügen  scheint. 

• 

Professor  Noorden  unberufen  aber  war  auch  im  Rathaüse. 
Er  hatte  an  dem  Konsilium  nämlich  nicht  teilgenommen.  Aber 
»er  begab  sich«  trotzdem  in  die  Wohnung  des  Bürgermeisters 
und  von  dort  »direkt  in  das  im  Rathause  gelegene  Postamt  und 
gab  die  folgende  Depesche  auf:  »Erzherzog  Eugen,  Innsbruck. 
Höchste  Gefahr*.«  Hierauf  stellte  er  in  der  Neuen  Freien  Presse 
die  Nachricht  von  seiner  Intervention  in  Abrede.  Ob  das  Dementi 
die  Nachricht  aufhebt  oder  eine  Notiz  für  sich  darstellt,  ist  noch 
nicht  geklärt.  Vielleicht  liegt  übrigens  eine  Verwechslung  vor. 
Nicht  daß  der  Portier  des  Rathauses  den  Professor  Noorden  ver- 
kannt hätte ;  aber  dieser  den  Portier,  den  er  vielleicht  für  einen 
ihm  bekannten  Hotelportier  hielt.  Oder  es  ist  die  Tatsache 
unwahr  und  nur  die  Nachricht  interessant.  Der  Bürgermeister  wäre 
damals  noch  stark  genug  gewesen,  die  Händler  und  Stoffwechsler 

hinauszuweis=;n. 

• 

Wien:  »Im  Laufe  des  Nachmittags  erschienen  in  der 
Wohnung  des  Bürgermeisters,  um  Erkundigung  über  dessen 
Befinden  einzuziehen:  ...  die  Gemeinderäte  Obrist  und  Stangel- 
berger,  die  letzten  Firmlinge  des  Bürgermeisters,  Lehramtskandidat 
Hawel  und  dessen  Schwester,  die  Industrielehrerin  Gisela  Hawel, 
und  Cafetier  L  Riedl.  Ferner  ließen  Erkundigungen  einziehen: 
Erzherzog  Franz  Ferdmand,  die  Erzherzoginnen  Maria  Theresia  und 
Maria  Annunciata  .  .  .  .< 


—    54  — 

Die  Redaktion  der  ,Zeit'  hatte  »die  Einrichtung  getroffen<, 
daß  ihrem  Telephonbeamten  die  aus  dem  Rathaus  eingelangten 
Nachrichten  jeweils  sofort  zur  Kenntnis  gebracht  wurden,  so  daß 

die  Anfragenden  u.  s.  w. 

• 

Ihr  Psycholog  schrieb  nach  dem  Tode  des  Bürgermeisters 
wie  immer  das  einzig  Zutreffende.  »Diese  Stadt<,  meinte  er,  werde 
nunmehr  »einen  andern  Bürgermeister  haben <,  aber  sie  »muß  sich 

nun  weiter,  muß  sich  ins  Künftige  entwickeln <. 

*  * 

• 

Herrscher,  Diener  und  Diebe  am  Wort 

In  den  geistigen  Gemischtwarenverschleißen  Wiens  bekomme 
ich  keinen  Bissen,  aber  ich  kann  nicht  vorübergehen,  ohne  daß 
die  Ladenbesitzer  mir  etwas  aus  der  Tasche  ziehen.  Das  geschieht 
auf  verschiedene  Art,  durch  offenen  Raub  oder  von  hinten, 
im  Wege  der  »Polemik«.  Es  gibt  nämlich  Polemiken,  die 
Plagiate  sind.  Man  tut  so,  als  ob  man  dem  andern  nur  die 
Federn  rupfen  wollte,  aber  man  benützt  gleich  die  Gelegenheit, 
sich  mit  ihnen  zu  schmücken.  Diese  Art  der  Polemik  liegt  den 
Feuilletonisten.  Ihr  Mangel  und  das  Verbot  des  Chefs,  meinen 
Namen  zu  nennen,  befähigen  sie  dazu.  So  gibt  es  unter  jenen, 
welche  mich  totschweigen,  solche,  die  mich  lebendig  knurren. 
Ein  Nekrolog  war  kürzlich  der  gefundene  Anlaß.  Ludwig  Hevesi 
ist  gestorben,  hoch  überschätzt  von  allen,  die  tief  unter  ihm  sind. 
Nicht  ein  Zehntel  von  dem,  was  da  geschwätzt  wurde,  muß  einer 
verdienen,  um  über  dem  Wiener  Niveau  zu  stehen.  Hevesis 
Leistung  als  kritischerjungbrunnen  hat  mir  jüngst  einer,  der  jenseits 
der  Cliquen  denkt,  mit  der  Meinung  gezeichnet:  Hevesi  war  so 
sehr  für  alles,  was  modern  ist,  daß  nach  seiner  Kritik  niemand 
mehr  unterscheiden  kann,  wer  größer  ist,  Klimt  oder  Herr  Kolo 
Moser.  Da  ich  in  der  Literatur  nicht  unterschiedslos  gegen  alles 
bin,  was  Feuilletons  schreibt,  so  habe  ich  Hevesi  gegen  eine 
Gemeinschaft  mit  den  Beobachter ischen  immer  in  Schutz  ge- 
nommen. Nicht  weil,  sondern  trotzdem  es  ihm  aus  hundert 
Bildungsspeichern  einfiel.  Aber  wenn  die  Presse  ihren  Mitarbeitern 
auch  Freikarten  für  die  Unsterblichkeit  zuwenden  könnte  und 
nicht  bloß  unverbindliche  Nachrufe,  dann  hätte  Hevesi  wirklich 
den  Jean  Paul  und  den  Sterne  in  die  Westentasche  gesteckt.  Einer 
der  Herren,  der  die  Brillanten,   die  er  früher  verkauft  hat,  jetzt 


schreibt,  benützt  seinen  Nachruf,  um  mit  meiner  Sprachreligion 
zu  rechten.  Sie  gefällt  ihm  so  gut,  daß  er  ihr  in  der  Geschwindig- 
keit einen  Aphorismus  abknöpft.  Vom  Sprachoma mentiker  Hevesi 
sagt  er  mit  Recht:  »Er  beherrschte  die  Sprache  —  nicht  sie  ihn«. 
Das  soll  ein  Lob  sein,  und  ein  Hieb  gegen  mich,  der  aber  ohne 
meine  Waffe  nicht  hätte  geführt  werden  können.  Mein  Bekenntnis: 
»Ich  beherrsche  die  Sprache  nicht,  aber  die  Sprache  beherrscht 
mich  vollkommen <  (das  schon  in  Berlin  Verwirrung  gestiftet  hat), 
müssen  ja  die  Reporter  nicht  verstehen,  dürfen  es  für  ein  Armuts- 
zeugnis halten,  das  es  auch  tatsächlich  vom  Standpunkte  des 
Fortkommens  eines  Kommis  ist,  von  dem  perfekte  Beherrschung 
sogar  mehrerer  Sprachen  verlangt  wird.  Aber  dann  sollen  sie 
den,  der  den  Satz  gesagt  hat,  verachten  und  nicht  den  Satz  sich 
für  ihre  Zwecke  beibiegen.  Wenn  das  Taschenmesser,  das  du 
deinem  Nächsten  entwendest,  eine  Rarität  ist,  so  darfst  du  es  ihm 
nicht  in  den  Rücken  stoßen.  Beides  zugleich  geht  nicht.  Und 
wenn  man  von  gestohlenen  Wertgegenständen  spricht,  so  meint 
man  nicht,  daß  der  Juwelier,  der  sie  alischätzt,  sie  selbst  ver- 
schwinden läßt.  Und  gewiß  nicht,  daß  er  mit  ihnen  noch  prunken 
soll.  In  einem  zweiten  Blatt  schreibt  nämlich  derselbe  Herr,  den 
mein  Wort  schon  seit  langem  zu  beherrschen  scheint :  »Dabei  ließ 
er  sich,  so  sehr  er  das  Wort  liebte,  doch  nicht  vom  Wort  führen 
und  verführen,  sich  von  ihm  beherrschen.  Er  führte  es,  er  be- 
herrschte es  .  .  .«  Nein,  Hevesi  war  kein  Diener  am  Wort.  Das 
(Neue  Wiener  Journal',  das  den  Wert  des  fremden  Wortes  immer 
zu  schätzen  wußte,  hat  es  gleichfalls  bestätigt.  Es  nennt  ihn  einen 
»hervorragenden  Beherrscher  des  Wortes«.  Er,  der  gebome  Ungar, 
»bediente  sich  der  deutschen  Sprache  mit  der  nämlichen  souveränen 
Meisterschaft  wie  seiner  Muttersprache«.  Das  höchste  Lob  im 
Munde  der  Kommis,  und  sie  glauben  einen  Schriftsteller  nicht 
höher  ehren  zu  können,  als  wenn  sie  ihn  für  ihren  Prinzipal  halten. 
Ich   aber  sage :   Beherrschen    kann   man   viele  Sprachen ;   dienen 

nur  einer.  ,  « 

• 

Mein  Widerspruch 

Indem  ich  an  den  Anfang  dieses  Heftes  Weiningers  Paral- 
lelen: Mann  der  Tat  =  Prostituierte  und  Genius  =  Mutter  setze, 
glaube  ich  nicht,  daß  es  notwendig  ist,  von  solcher  Linienführung 
mein  eigenes  Denken  zu  unterscheiden.    Ich    zitiere   die   Stellen, 


—  56  — 

weil  sie  mir  in  der  Psychologie  des  Tatmenschen  und  in  der 
Wertsonderung  des  Künstlers  eine  Wahrheit,  in  ihrer  Sprache  eine 
Leidenschaft  und  im  Zusammenhang  mit  dem  Traum  des  sterbenden 
Lueger  eine  Dichtung  bedeuten.  Aber  ich  brauche  Weininger 
weder  mit  mir  noch  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  zu  bringen. 
Nicht  weit  von  der  Verklärung  der  Mutter  stehen  bei  ihm  Sätze 
wie  diese:  »Ihre  (der  Hure)  Stellung  außerhalb  des  Oattungszweckes, 
der  Umstand,  daß  sie  nicht  bloß  als  Aufenthaltsort  und  Behälter, 
gleichsam  nur  zum  ewigen  Durchpassieren  für  neue  Wesen  dient 
und  sich  nicht  darin  verzehrt,  diesen  Nahrung  zu  geben,  stellt 
die  Hetäre  in  gewisser  Beziehung  über  die  Mutter  ...  Es  hängt 
damit  zusammen,  daß  nur  solche  Männer  sexuell  von  der  Mutter 
sich  angezogen  fühlen,  die  kein  Bedürfnis  nach  geistiger  Produk- 
tivität haben  .  .  .  Bedeutende  Menschen  haben  stets  nur  Prosti- 
tuierte geliebt . . .  Die  so  verbreitete,  so  ausschließliche  und  ge- 
radezu ehrfürchtige  Wertschätzung  der  mütterlichen  Frau,  die  man 
dann  gern  noch  für  den  alleinigen  und  einzig  echten  Typus 
des  Weibes  auszugeben  pflegt,  ist  nach  alledem  völlig  unberech- 
tigt .  . .  Die  Mutter  hatte  es  leicht,  sich  dem  sittlichen  Willen  des 
Mannes  zu  unterwerfen,  da  es  ihr  nur  auf  das  Kind,  auf  das 
Leben  der  Gattung  ankam.  Qanz  anders  die  Dirne.  Sie  lebt 
wenigstens  ihr  eigenes  Leben  ganz  und  gar  .  .  .«  In  keiner  Be- 
ziehung aber  stellt  Weininger  den  Mann  der  Tat  über  den  Künst- 
ler. Und  beinahe  gibt  er  zu,  daß  jenen  die  mütterliche  Frau, 
diesen  die  sterile  ergänze.  Wenn  sich  der  Mann,  der  ein  Bedürfnis 
nach  geistiger  Produktivität  hat,  zur  Prostituierten  hingezogen  fühlt, 
so  muß  dieser  wohl  die  Gabe  der  geistigen  Erregung  zugesprochen 
werden,  also  eine  zukunftwirkende  Kraft  in  einem  höheren  Sinne, 
als  sie  der  Mutter  eignet.  Hier  ist  Weininger  auf  die  ethische 
Sandbank  geraten.  Vielleicht  wäre  dann  bloß  der  Tribun  das  anti- 
moralische, die  Prostituierte  aber  das  amoralische  Phänomen?  . .  . 
Meinen  eigenen  Widerspruch  muß  ich  nicht  bekennen.  Ich  habe 
Sprüche  undWidersprüche  aus  ihm  gemacht.  >EinWerk  wird  zur  Welt 
gebracht:  hier  zeugte  das  Weib,  was  der  Mann  gebar«.  So  ganz 
zwecklos,  ohne  ein  Bleibendes  zu  hinterlassen,  ohne  alle  Ewigkeit, 
für  menschliche  Weisheit  sinnlos,  verraucht  die  Sinnlichkeit  des 
Weibes  nicht.  Ein  Meteor  währte  einen  Augenblick;  aber  sein 
Glanz  bleibt  im  Blick  des  schöpferischen  Auges. 

Herausgeber    und    verantwortlicher    Redakteur:     Karl    Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 


^albmonatsfc^rfft  für  6eutfc^e    i 
Siuituv 

'Segrßnöct  oon  albert  ^tiQtn 

£u6tüig  (SJ)oma,  ^ermann  ^effe, 
Äurt  %vam 


«Ma*»»  »•»>»»»> 


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Bureau  für  Österreich: 

Wien.  YL  Mariahilierstrasse  117 

"       Verlag~F.    HARNISCH    &   Co.,   Berl8iirW^57 

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'buch  der  italienischen  Sprache,  i.  Stufe.  Geb.  Mark  2,-(Für  Anfanger) 
II.  Stufe.   Geb.  Mark  4,—  (Für  Vorgeschrittene) 

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jstunterrichts-Methode  in  fremden  Sprachen.  Gebunden  Mark  10- 


131  :k    i^^^oiiE^x^ 

Herausgeber  KARL  KRAUS  | 

Die   „Fackel«    erscheint    in    zwangloser   Folge    im  Umfang  von  | 

16—32  Seiten  | 

BEZUaSBEDINGÜNGEN ;                                                    -  A-n  ^ 

Für  Österreich-Ungarn:  18  Nummern,  portofrei K  4.oU  j 

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Das  Abonnement  erstreckt  sich  nicht  auf  einen  Zeitraum,  sonderp  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Hu  mmern  | 

"        Einzelheft  in  Österreich  30  Heller,   in  Deutschland  30  Pfennig  | 

ZvL    beziehen     durch     sämtliche    Buchhandlungen  l 

Berliner  Bureau:  Haiensee,  Katharinenstraßa  5  | 

Inhalt  der  vorigen  Doppelnummer  296-297,  18.  Feb-  | 

ruar  1910:  Josef  Schöffe!.  Von    Karl   Kraus.     -   Die    -Arbeiter-  | 
Zeitung'  und   die  Taussig-CliquetK   -    Baron    Frangart  und   der 

Bajazzo.  Von   Karl  Borromaeus   Hejnr ich.    7  7?"df[ff„L'^^^^^^  l 

Von  Albert  Ehrenstein.    -    Bücher.   Von  Ludwig  Uil mahn  5 

u.  a.  —  Glossen.  Von  Karl  Kraus.  | 


Hprflinp«ber  und  verantwortlicher  Redakteur    Karl  Kraus 


300  LF  Aa  9.  APRIL  1910  XI.  JAHR 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

St)rüche,  Ndl.  Riohard  Dehrael.  —  Eingebildete 

Kranke.     Von     August    Strindberg.    —    Judas 

Lcharioth.   Von  Peter  Hille.  —  Widmang.  Von 

Altpobercr.    —  Lied.  Von  Arnold  Schön- 

-  Eine  Zeichnung:  von  Pascin.  Von  Otto 

1.  —   Aufruf  an  die  Wiener.    Von  Adolf 

Loü?.  —  Ein  Brief  von  F  er  r  - --      .  ■    .     .^^r. 

—  Pro   domo  et  mundo.     >  — 

^in     Gruß     von      Stanislaw      Przybyszewski. 

'-    '  -  "eilage  ein  Register  der  Autoren  und  Beiträge,  ■■''-*  ■•"  • 

eingeleitet  von  Ludwig  Ulimann.) 

KACHDRUCK     VERBOTEN 

^  '  R  EINZELNEN  NTJMMER  30  HELLER 
ERSCHEINT    IN    ZWANGLOSER    FOLGE 

VERI.AG:   ,DIE    FACKEL'  WIEN— BERLIN 

■'"     "        HINTERE    ZOLLA"'-'  ^ASSE    3  Nr.     187 

a    BUREAU:       ...      ^EE,     KA:.  RASoE    5 


DIE  VORLESUNG  KARL  KRAUS 


findet  Dienstag  den  3.  Mai,  V2S  ^hr  abends,  im  Fest 
saale  des  Ingenieur-  und  Architekten  -  Vereines,  I. 
Esciienbachgasse  9  statt.  Der  Zutritt  ist  auf  geladene  Gäste 
beschränkt.  Einladungen  werden  nach  vorheriger  schriftlichei 
Anmeldung  unter  Angabe  der  gewünschten  Kartenkategorie  bei 
stud.  phil.  Em.  Jedlinsky,  IX.  Müllnergasse  3,  zugesandt.  Karten 
zu  K  10,  6,  4,  2  und  Studentenkarten  zu  K  1.  Die  Ausgabe 
der  .Karten  auf  Grrund  der  Einladungen  erfolgt  vom  18.  bis 
25.  April  inklusive,  jeweils  in  der  Zeit  von  72^ — V2^  ^^ 
abends  im  Lokale  der  Buchhandlung  A.  Scbönfeld,  IX.  Uni« 
versitätsstraße  8.  Die  Vorlesung  findet  zu  Gunsten  des  Asyl 
Vereines  für  Obdachlose  statt.  Die  Karten  sind  nicht  tibertragl  r 
Das  Programm  dürfte  enthalten: 

Gegen  Heinrich  Heine 

(Aphorismen  zum  Sprachproblem) 

Die  Chinesische  Mauer 


Im    Verlage  Jahoda  &  Siegel,  Wien  Ill/a,  Hintere  Zollaratsstraße  3  erechien: 


Von    BOBEBT    SCHEU 

(Mit  einem  Bildnis) 

Preis   80   Heller  (SO  Pf) 


In  zweiter  Auflage  erschien: 

SITTLICHKEIT  UNB  KRIMINALITÄT 

Erster  Band  der  Ausgewählten  Schriften  von  Karl  Kraufl 

Broschiert  .    .  M  6.—  Ganzleinen  .    .  M  7.25 

(L.  Rosner,  Wien  und  Leipzig) 

^  KARL  KRAVS  ll 

SPRVECHE  VND  WIDERSPRVECHE 
Verlag  ALBERT  LANGEN  Müncheü         i| 

ROSCHIERT  M  3.50,  IN  LEINEN  OEB.  M  4.50,   IN  HALBFRANZ  OEB.  M  W' 


Die  Fackel 

N"  300  ^L^t^Vlll         »'-JA"« 


Sprüche 
Von  Richard  Dehmel 

Was  bedeutet  »nicht  lange  fackeln«? 
Das  bedeutet:  Wenn  Mauern  ira  Feuer  wackeln, 
dann  nimm  nicht  erst  die  Spritze  zur  Hand, 
sondern  wirf  noch  Flammen  in  den  Brand! 

• 

Siege  oder  Niederlagen: 
immer  gilt  es,  neu  zu  wagen. 

* 

Und  trotzt  er  noch  so  starr,  der  ewige  Firn, 
wir  setzen  doch  den  Fuß  auf  seine  Stirn. 
Uns  hat  Natur  zur  Höhe  berufen, 
uns  fügt  sich  jeder  Berg  zu  Stufen. 

Wir  stehen  mit  der  ganzen  Welt, 
mit  jedem  Stäubchen,  das  uns  ins  Auge  fallt, 
auf  Du  und  Du. 
Nur  zu  gewissen  Tieren, 
die  kritisch  über  die  Natur  parlieren, 
sagen  wir  »vous«; 

da  drückt  uns  Alle  der  Menschenschuh. 
* 

Scharfrichtert  ihr  nur  immer  feste! 

Ich  hab  eine  gutgefutterte  Weste; 

die  läßt  in  mein  Herz  nur  Liebespfeile. 

Schon  mancher  schnitt  sich  am  eignen  Beile. 


Ich  gönne  jedem  fremden  Wicht 
sein  Teilchen  Erde  nebst  Himmelslicht; 
aber  will  er  mir  meins  wegschinden, 
soll  er  die  Hölle  bei  mir  finden. 


Manches  Auge  schwelgt  im  Grauen, 
manches  wühlt  sich  bis  zur  Qual 
in  ein  Parbenbacchanal, 
aber  jedes  will  einmal 
hochgemut  ins  Blaue  schauen. 


Eingebildete  Kranke*) 
Von  Augiust  Strindberg 

Ich  habe  drei  Blinde  gesehen,  die  ich  nicht  für 
blind  halte.  Zwei  vere:aßen  sich  und  grüßten  mich 
auf  der  Straße,  als  ich  einen  großen  Erfolg  hatte. 

Auf  einen  ausgesprochenen  Erfolg  erlebt  man 
recht  eigentümliche  Erscheinungen.  Für  mich  ist  der 
Erfolg  mehr  etwas  Negatives;  der  Druck  hat  für  eine 
Weile  aufgehört;  ich  selber  habe  keinen  positiven 
Genuß  davon,  aber  ich  übe  auf  andere  eine  beinahe 
pathologische  Anziehung  aus.  Man  wird  gegrüßt  und 
gesucht,  als  habe  man  Sonnenschein  zu  bieten;  die 
neulich  bei  einem  Fiasko  geflohen,  sind  wie  eine 
umgekehrte  Hand. 

Während  einer  solchen  kurzen  Periode  grüßten 
mich  die  beiden  Blinden. 


*)  Aus    dem    schwedischen  Manuskript.     Die    Buchausgabe    der 
Bekenntnisse  erscheint  erst  1911. 


—  3  — 


Jetzt  will  ich  von  dem  dritten  sprechen,  ßei 
einem  Theater  dritten  Rane:es  in  Berlin  gab  es  einen 
Schauspieler,  der  als  Komiker  engagiert  war,  ohne  es 
zu  sein.  Er  schien  mir  ein  Choleriker  zu  sein  un  1  er 
war  trocken  und  hart;  ich  verstand  nicht,  wie  man 
ihn  für  einen  Komiker  halten  konnte.  Ich  hielt  ihn 
nicht  einmal  für  einen  Schauspieler,  denn  er  war 
nie  die  Rolle;  er  hielt  Vorlesung  oder  predigte,  war 
unerträglich  mit  einem  Wort.  Aber  er  halte  einen 
Namen  und  »zog«.  Darum  wurde  er  eines*  Tages  von 
der  ersten  Bühne  Berlins  engagiert,  um  begraben  zu 
werden.  Das  verstand  er  aber  nicht,  sondern  glaubte, 
sein  Talent  habe  ihn  dahin  gebracht  und  der  Kamm 
schwoll  ihm.  Zuerst  bekam  er  eine  Charakterrolle, 
war  aber  ebenso  unerträglich  wie  früher.  Die  Kritik 
wollte  nicht  an  ihn  heran,  aber  das  Publikum  drehte 
ihm  den  Rücken. 

Schnell  ging  es  abwärts.  Und  er,  der  eben  seine 
früheren  Kameraden  von  dem  Theater  dritten  Ranges 
verschmäht  hatte,  fühlte  jetzt,  wie  alles  zusammen- 
stürzte, ohne  dafi  ihm  die  Möglichkeit  zu  einem 
Rückzug  blieb. 

Eines  Tages  erschien  er  als  Blinder  auf  den 
Straßen,  von  seinem  Sohn  geführt.  Es  sollte  schön 
aussehen,  aber  das  konnte  ich  nicht  finden;  es  war 
etwas  Posierendes,  Theatermäßiges  dabei,  das  meinen 
Ekel  erregte. 

Aber  er  hielt  sich  eine  Zeit  lang  beim  Theater, 
obwohl  ich  nicht  verstand,   wie  er  auftreten  konnte. 

Dann  ging  ich  mehrere  Jahre  fort.  Als  ich 
zurückkam,  fragte  ich  nach  ihm. 

—  Ja,  er  wohnt  hier  gleich  nebenan  und  ist 
nun  ganz  blind. 

Ich  wohnte  im  Westen  von  Berlin,  und  auf  den 
großen  leeren  Straßen  ging  ich  des  Morgens  spazieren. 

Eines  Tages  kamich  früherals  gewöhnlichhinaus. 

Auf  dem  Trottoir  vor  einem  großen  Haus  mit 
Baikonen  ging  mein  Schauspieler,  allein,  ohne  Stock. 


—  4  - 


Als  er  mich  von  weitem  >erblickte€,  blieb  er 
stehen,  machte  einen  krummen  Rücken,  kriegte  einen 
Schrecken  und  ging  zur  Haustür  hinein. 

—  Er  hat  mich  gesehen,  und  von  weitem,  also 
ist  er  nicht  blind,  sagte  ich. 

Einige  Jahre  habe  ich  dort  gewohnt,  bin  so 
früh  wie  möglich  ausgegangen,  habe  ihn  aber  nicht 
mehr  gesehen.  Er  war  lebendig  in  sein  Grab  ge- 
gangen 1 

Wenn  ich  versuche,  seine  Geschichte  auszu- 
rechnen, so  beginne  ich  mit  der  Schulkrankheit.  Man 
hatte  eines  Tages  ein  solches  Grauen  vor  der  Schule 
bekommen,  daß  man  sich  krank  wünschte,  und  so 
wurde  man  es,  aber  nicht  ganz. 

Als  die  eingebildete  Erhöhung  zu  schwinden 
anfing,  und  er  nicht  wieder  klein  werden  wollte, 
übertrug  er  den  Schlag  auf  ein  anderes  Gebiet.  Mit- 
leid, Interesse  meinetwegen,  aber  nicht  als  durch- 
gefallener Schauspieler! 

Fünfzehn  Jahre  hat  er  wohl  alle  erdenkliche 
Marter  erlitten,  da  er  sich  selber  zum  Dunkel  ver- 
urteilt  und    Abschied   vom    Leben    genommen   hat. 

Ich  vermute,  daß  er  gottlos  ist,  sonst  hätte  er 
einen  anderen  Ausweg  für  die  Resignation  gewählt. 
Zuweilen  frage  ich  mich  auch,  ob  er  schließlich  blind 
geworden  ist  dadurch,  daß  er  sich  und  andern  ein- 
bildete, daß  er  es  sei.  —  — 

Bin  anderer  Schauspieler  bildete  sich  und  andern 
ein,  schon  in  den  1850er  Jahren,  er  habe  Schwind- 
sucht. Er  lebte  dann  noch  47  Jahre  und  starb  im 
Alter  von  70  Jahren.  Ich  traf  ihn  bei  einem  nächt- 
lichen Pest,  als  er  60  Jahre  alt  war.  Er  sprach  nur 
von  seiner  Schwindsucht,  von  der  ich  damals  seit 
30  Jahren  hatte  sprechen  hören. 

Ein  Arzt  hat  mir  gesagt,  Krankenhäuser  und 
Sanatorien  seien  meistens  voller  Patienten,  die  gesund 
sind,  es  aber  angenehm  finden,  gefüttert  und  gepflegt 
zu   werden    und    »daliegen    und    Romane    lesenc    zu 


—  5  — 


können.  Auch  deshalb  habe  ich  nie  die  Schwindsucht- 
marke gekauft,  bin  auch  nicht  in  den  Verein  zur 
Bekämpfung  der  Tuberkulose  eingetreten. 

Eigentümlich  ist,  daß  ich  mit  60  Jahren  niemals 
einen  Schwindsüchtigen  gesehen  habe,  weder  unter 
Freunden  noch  Bekannten. 

Ich  habe  schließlich  aufgehört,  an  Schwindsucht 
zu  glauben. 

Aber  in  den  sechziger  Jahren  hatte  noch  jeder 
Mensch  Schwindsucht,  obgleich  sie  dann  siebzig  Jahre 
alt  wurden;  was  unnatürlich  ist! 

Die  Schwindsucht  wurde  in  den  1820er  Jahren 
von  den  Romantikern  erfunden  und  scheint  eher  zur 
Literatur  zu  gehören  als  zur  Medizin. 

Aber  es  gab  eine  ganze  Menge  mervöse  Krank- 
heiten«, die  nicht  eingebildet  in  gewöhnlichem  Sinn 
genannt  werden  können. 

Es  gibt  »grossesse  nerveuse«  oder  Schwanger- 
schaft mit  allen  Symptomen,  die  den  Spezialarzt 
täuscht    und  sich   schließlich   als  nichts  herausstellt. 

Im  Krankenhaus  liegen  Menschen  mit  allen 
Symptomen  des  Rückenmarkleidens  und  sterben  im 
Glauben  an  Tabes;  aber  bei  der  Obduktion  zeigt  sich 
keine  einzige  Läsion  des  Rückeumarkes  noch  sonst 
eine  krankhafte  Veränderung  im  Körper. 

Alle  hysterischen  Leiden  sind  in  den  »Nerven«, 
haben  keine  Wirklichkeit,  sind  Wahrnehmungen, 
folglich  psychisch.  Die  hysterische  Kugel,  Clavus 
hystericus,  Arthropathia  hysterica  sind  alle  bekannte 
Erscheinungen  ohne  krankhafte  Veränderungen, 
müßten  also  zu  den  Geisteskrankheiten  gerechnet 
werden.  Sie  sind  wohl  Krankheiten  auf  einer  andern 
Ebene,  haben  aber  dieselbe  Wirkung. 

Heute  ist  die  geheimnisvolle  Blinddarment- 
zündung als  Epidemie  aufgetreten.  Man  hat  Kranke 
aufgeschnitten,  die  nicht  die  Krankheit  gehabt  haben ; 
und  man  hat  sogar  einen  Patienten  geöffnet,  der 
überhaupt  keinen  Blinddarm  besaß. 


—  6   — 


Wenn  man  von  Einbildung  in  diesem  Fall 
spricht,  was  meint  man  damit? 

Niemand  geht  wohl  kaltblütig  zu  Wege  und 
bildet  sich  ein,  daß  er  diese  Krankheit  hat,  sondern 
er  wird  wohl  von  der  Vorstellung  ergriffen  wie  von 
einem  gebieterischen  Zwang. 

Dann  spricht  man  von  Zwangsvorstellung,  das 
ist  aber  bloß  der  Name  einer  Tatsache.  Und  ich 
stehe  auf  und  frage:  Wer  ist  der  Zwinger?  Wo  ist 
er?  Was  will  er? 

Und  damit  ist  die  Frage  vom  Niveau  der 
Medizin  und  Psychiatrie  auf  eine  höhere  Ebene  ge- 
hoben, wo  man  den  Doktor  medicinae  hinter  sich, 
unter  sich  läßt  und,  wenn  man  klug  ist,  den  einzigen 
Arzt  sucht,  der  »nervöse  Krankheitenc  und  »Zwangs- 
vorstellungen« heilen  kann. 

Ich  habe  ihn  gesucht,  als  alle  andern  Ärzte 
mich  nicht  zu  heilen  vermochten,  und  Er  hat  mir 
geholfen,  Er  allein! 


Judaa  Ischarioth*) 
Von  Peter  Hille 

Judas  war  kein  Jünger.  Nichts  von  innen  heraus 
bei  ihm,  kein  Verlangen  nach  einem  besseren,  sittlich 
gefesteten  Wesen,  zu  dem  es  erst  die  reinen  Unbe- 
fangenen und  später  die  Lastermüden  trieb.  Judas 
war  trotz  der  nahen  Gemeinschaft  ein  Bedienter,  ein 
Lakei  des  »Herrn«,  denn  »er  hatte  den  Beutel«. 


*)  Aus  dem    bisher   unveröffentlichten    Mysterium  Jesu,    das 
im  Nachlasse  des  Dichters  gefunden  worden  ist. 


Er  war  sein  Hausmeister  geworden  in  der  V^or- 
aussetzung,  daß  der  faszinierende  Lehrer  etwa  wie 
ein  reisender,  berühmter  Virtuose  gewaltigen,  wider- 
standslos zahlenden  Zulauf  hat.  Und  dieses  Virtuosen 
Impresario  wollte  er  sein. 

Die  andere  gewaltigere  Seite  des  Wundertäters 
hatte  er  nie  im  Auge  gehabt.  Nur  die  für  seinen  Zweck. 

Und  als  sich  Ischarioths  Voraussetzung  nicht  ver- 
wirklichte, mußte  er  auf  andere  Weise  an  seinem 
Herrn  verdienen.  Der  Zorn  auf  die  in  den  Augen 
dieses  »vernünftigen«  Menschen  geradezu  ruchlose 
Verschwendung  so  vieler  Gelegenheiten  verwirrte 
und  erregte  ihn. 

Nach  der  von  seinem  göttlichen  Meister  aus- 
drücklich gebilligten  entsetzlichen  Verschwendung 
der  Maria  Magdalena  ward  ihm  die  Empörung  des 
gesunden  Menschenverstandes  zu  viel,  und  er  ging 
hin  in  seiner  kalten  beleidigten  Leidenschaft  des  Geldes 
und  beging  das  Ungeheuerliche.  Er  war  gestört  in 
seinem  Idealismus,  dem  einzigen,  dessen  diese  metal- 
lische Seele  fähig  war. 

Ischarioth  war  ein  zäher,  fester  Philister,  ein 
unerschütterlicher. 

Er  hatte  keine  Phantasie,  keinen  Wertblick,  und 
kein  Voraussehen.  Erst  die  grellsten  Tatsachen  konn- 
ten ihn  überzeugen.  Dann,  als  es  zu  spät  war,  ent- 
hüllte sich  die  gute  sittliche  Seite. 

Nun  wäre  er  ein  guter  Jünger  geworden.  Seine 
Judasnatur  war  weggenommen  und  mit  ihrer  End- 
handlung erledigt.  Ein  anderer  wäre  auch  dann  noch 
unter  gutem  Einfluß  gut  geworden,  biegsam  und  nicht 
gespannt,  aber  kein  Mensch  hat  zwei  Naturen,  min- 
destens nicht  ganz  entwickelt,  nacheinander. 

Zu  spät,  sein  Amt  war  abgeschlossen  und  hatte 
abgeschlossen.  Am  Kleinlichsten  war  das  Höchste 
vernichtet,  irdisch  vernichtet  .  .  .  Weltaymbol. 


—  8  — 

Widmnng 

(Sommerabend  in  Gmunden) 
Von  Peter  Altenberg 

Wir,  die  nicht  genug  haben  an  den  Taten  des 
Alltages,  wir  Ungenügsamen  der  Seele,  wir  wollen 
unseren  rastlosen,  enttäuschten  und  irrenden  Blick 
richten  auf  die  Wellen-Symphonien  des  Sees,  auf 
den  Frieden  überhängender  Weidenbäume  und  die  aus 
düsterem  Grunde  steil  stehenden  Wasserpflanzen! 

Auf  die  Menschen  wollen  wir  unsern  impassiblen 
Blick  richten  mit  ihren  winzigen  Tragödien  und 
ihren  riesigen  Lächerlichkeiten;  mit  düsterer  Ver- 
achtung wollen  wir  nichts  zu  tun  haben  und  mildes 
Lächeln  soll  der  Panzer  sein  gegen  ihre  Armsehgkeiten ! 

Dem  Gehen  edler  anmutiger  Menschen  wollen 
wir  nachblicken,  dem  Spiele  adeliger  Gebärden  und 
der  Noblesse  ihrer  Rubel  Ein  Arm  auf  einer  Sessel- 
lehne, eine  Hand  an  einem  Schirmgriff,  das  Halten 
des  Kleides  bei  Regenwetter,  süßes  Bacchantentum 
bei  einem  Quadrille-Finale,  wortloses  Erbleichen  und 
wortloses  Erröten,  stummer  Haß  und  stummes  Lieben, 
und  alles  Auf  und  Ab  der  eingeschüchterten  und 
zagen  Menschenseele  —  —  das,  das  Alles  wollen 
wir  Stunde  um  Stunde  in  uns  hineintrinken  und 
daran  wachsen! 

Rastlos  aber,  vom  Satan  Gejagten  gleich,  stürmen 
die  Andern  enttäuschungsschwangeren  Zwecken  ent- 
gegen und  ihre  Seele  bleibt  ungenützt,  verdirbt, 
schrumpft  ein,  stirbt  ab! 

Jeder  Tag  bringt  einen  Abend  und  in  der 
Bucht  beim  Toscana- Garten  steht  Schilf,  und  Weiden 
und  Haselstauden  hängen  über,  ein  Vogel  flüchtet 
und  alte  Steinstufen  führen  zu  weiten  Wiesen.  Nebel 
zieht  herüber,  Du  lassest  die  Ruder  sinken  und 
Niemand,  Niemand  stört  Dich! 


mt 


y  — 


Lied 

•  Von  Arnold  Schönberg 


'•^^  C.  #wA^  i^ii\.-,  ••t^.'v»*^;  K»>A-' <*»;*•  Js  *•*■     /y»*' 


^Vwi^f^w^i^^^ 


10 


Eine  Zeichnung  von  Pascin 
Von  Otto  Stoessl 

Bin  befreundeter  junger  Maler  zeigte  mir  eine 
unlängst  aus  Paris  mitgebrachte  Federzeichnung 
von  Pascin,  dessen  krause  Blätter  bereits  aus  dem 
,Simplicissiraus*  bekannt  sind.  Sie  geben  wüste 
Gesellschaften  französischer  Kneipen,  Dirnen  und 
Zuhälter figuren  mit  einer  naturalistischen  Romantik 
wieder,  welche  den  Gegenstand  sowohl  durch  die 
inständige  und  dabei  leichte  Behandlung,  als  auch 
durch  einen  ruhigen  Humor  in  einer  geistigeren 
Athmosphäre  aufhellen. 

Das  außerordentliche  Blatt,  von  welchem  ich 
hier  einiges  sagen  will,  schildert  nicht  die  typischen 
örtlichkeiten  und  Figuren,  wie  die  andern  im  ,Simpli- 
cissimus*  veröffentlichten,  sondern  bewegt  sich  in  einem 
willkürlichen  Vorstellungs-  und  Stimmungsraum.  Seine 
Phantasie  erhöht  hier  die  groteske  Wiedergabe  des 
unmittelbar  Gegebenen  durch  die  Laune  der  An- 
ordnung, indem  die  Gestalten  wunderlich  naiv  und 
überraschend  gruppiert,  in  einen  barocken  Zusammen- 
hang gebracht  sind,  der  einer  kühnen  und  dem  Gehör 
bald  einleuchtenden  Harmonie  gleicht.  Das  Wirkliche 
erschiramert  unversehens  in  einem  fremden  Zauber. 
Diese  Fähigkeit,  derber  Realität  die  Märchenhaftig- 
keit spielerischer  Lebensfülle  mitzuteilen,  macht 
immer  den  höchsten  künstlerischen  Reiz  und  Sinn 
einer  Darstellung  aus. 

Begreiflich,  daß  Weiber  den  Gegenstand  der 
Komposition  bilden,  denn  die  Anschauung  des 
Mannes,  gar  des  Malers  wird  von  der  durchwaltenden 
Geschlechtlichkeit  auf  die  natürlichste  Weise  bestimmt, 
alles  Weibliche  als  das  Grundfremde  und  Grund- 
begehrte  selbst  in  seiner  einfältigsten  Existenz 
märchenhaft  zu  erhöhen. 

Drei  Gruppen  sind  hier  vereinigt.  Ihr  Zusamraen- 
spiel ergibt  den  Inhalt  und  die  Stimmung  der  ganz  launen- 


—  11  — 

haften  und  sinnvollen  Schöpfung,  der  es  weiter  keinen 
Eintrag  tut,  daß  die  Teile  vielleicht  ursprünglich 
einzeln,  jeder  an  eine  freie  Stelle  des  weißen  Papiers 
gesetzt  worden  sind  und  erst  durch  ihr  zufälliges 
Beieinandersein  und  Ausfüllen  des  Raumes  den  schließ- 
lichen Eindruck  eines  geordneten  Ganzen,  eines  Bildes 
machen.  Auch  die  Harmonie  manches  Gedichtes  wird 
gelegentlich  einem  solchen  Ineinandergehen  von 
Motiven  verdankt,  welches  dann  unlöslich  bleibt. 

Zwei  große  weibliche  Gestalten  stehen  links 
im  Vordergrunde  und  bedecken  fast  die  ganze  Höhe 
des  Blattes.  Eine  nackte,  magere  Schwarzhaarige, 
deren  Arm  in  nervöse,  lange,  zierliche  Finger  aus- 
läuft und  in  sachter  Krümme  am  Schenkel  liegt,  ist 
von  der  Seite  gesehen,  während  ihr  Kopf  nach  links 
gedreht,  uns  die  Gebärde  völlig  entzieht,  so  daß 
man  nur  aus  dem  feinknöcheligen,  selbst  in  der 
Ruhe  gespannten  und  gleichsam  schwingenden  Körper 
auf  jene  unregelmäßigen  Züge  schließt,  die  unter 
dem  Schwall  des  dunkeln  Haares  den  Reiz  ihrer 
willkürlichen  Bildung  üben.  Die  Blonde  neben  ihr 
quillt  in  üppigster  Weiblichkeit  so  breit  über,  daß 
ihre  Beine  nur  gekrätscht  die  Last  des  strotzenden 
Körpers  tragen  können.  Ein  getigertes  Tuch  hüllt  die 
angenehme,  dem  Beschauer  zugekehrte  Rückenseite 
von  den  Schultern  abwärts,  jedoch  sinnig  genug,  nur 
bis  zum  Gesäß  ein.  Ihr  Gesicht  ist  in  leiser  Gegen- 
wendung zur  Mageren  gekehrt,  man  würdigt  eben 
die  belanglose  Anmut  der  Stirne  und  Nase  und  des 
angedeuteten  Blickes.  Mit  zarter  Feder  in  den  ein- 
fachsten Umrissen  hingeschrieben,  nur  da  und  dort 
durch  andeutende  Kurven  der  Schenkelwölbung,  der 
Kniebuchten  und  Knöchel,  der  Wirbellinie,  leise 
betont,  vergegenwärtigen  diese  schwarzen  Konturen 
Farbe,  Temperament,  Inkarnat  und  sondern  zwei 
W^esen  mit  äußerster  Bestimmtheit.  Die  Schwarze 
und  die  Blonde,  scharf  und  zierlich  die  eine,  behag- 
lich,  gutmütig,  eine  rechte  Milchmutter  die  zweite, 


—  12  — 


scheinen  angelegentlich  das  bewegte  Spiel  der  übrigen 
zu  betrachten. 

Unmittelbar  vor  ihnen,  im  äußersten  Vorder- 
grunde rechts  turnt  ein  nacktes  Frauenzimmer,  auf 
die  Arme  gestützt,  das  linke  Bein  nach  hinten  ge- 
streckt, das  andere  im  Knie  wagrecht  eingezogen. 
Vom  Haupt,  das  durch  den  Arm  verborgen  wird, 
sieht  man  nur  das  Haar  in  einer  schmalen  Welle  zu 
Boden  strömen.  Die  Heftigkeit  der  dem  angespannten 
Leibe  abgerungenen  Akrobatenübung,  die  gestrafften 
Brüste,  das  eigentümliche  Gegeneinander  der  Körper- 
teile, deren  jeder  dem  andern  widerspricht,  wirken 
so  verblüffend,  daß  man  das  furchtbare  Erstaunen 
eines  kleinen  Köters  würdigt,  der  diese  unnatürliche 
Kraftentfaltung,  ganz  und  gar  widrige  weibliche 
Lage,  das  verdrießliche  Vergnügen  eines  solchen 
emanzipierten  Berufes  entrüstet  ankläfft. 

Im  Hintergrunde,  rechts  oben,  gleichsam  vor 
der  Rückwand  eines  Raumes  tobt  eine  nackte 
Weiberjanitscharenbande.  Eine  fette,  muskulöse, 
hintenübergebeugte  Vettel  mit  gespreizten  Beinen 
schlägt  Tamburin,  eine  knabenhaft  magere  im  Tanz 
Trommel,  während  eine  heitere  urgemein  auf  den 
weit  auseinander  klaffenden  Beinen  hockt  und  fiedelt. 
Ihr  ausgespieltes  Geschlecht  scheint  zur  geilen  Geige 
aufreizend  mitzurausizieren. 

Man  wird  vielleicht  aus  dieser  Beschreibung 
der  merkwürdigsten  Gesellung  das  Zusammen- 
klingen des  Ganzen  vermuten,  welches  eine  höllisch- 
paradiesische Weibereintracht  mit  läßlichem  Humor 
darstellt.  Indem  hier  ruhig  Zuschauende,  da  eine  zur 
äußersten  Leibesanwendung  Gezwungene,  dort 
Tanzende,  Kauernde,  Taumelnde  beisammen  ver- 
weilen, scheinen  in  einer  sinnvollsten  Verkürzung 
alle  weiblichen  Möglichkeiten  und  zugleich  ihr  Reflex 
in  dem  männlichen  Geist  des  Künstlers  wieder- 
gegeben. 

Unwillkürlich    fällt    einem    zu     dieser    äußerst 


—  13  — 


weltlichen  Komposition  ein  gewagtes,  frommes 
Gegenbild  und  Beispiel  ein,  indem  man  sich  gewisser 
altitalienischer  Gemälde  erinnert,  welche,  >Konver- 
sazionen«  genannt,  verschiedene  Heilige  in  ruhe- 
voller, würdiger  Betrachtung,  jeden  mit  seinem 
bezeichnenden  Symbol  ausgestattet,  in  einer  Säulen- 
halle oder  idealen  Landschaft  in  ähnHcher  Zusammen- 
fassung männlicher  Geistigkeit  märchenhaft  ver- 
einigen, wie  dies  hier  mit  Frauenzimmern  geschieht, 
die  ihre  Erdennähe  und  natürliche  schicksalhafte  Un- 
gebundenheit  aufs  selbstverständlichste  entfalten. 
Auch  die  wunderbare,  innerste  Beziehungslosigkeit 
dieser  Figuren,  die,  wie  die  Menschen  im  Leben  bei 
der  dichtesten  Geselligkeit  einander  nie  durchdringen 
und,  mögen  sie  noch  so  eng  beisammen  tanzen, 
turnen,  hocken,  schreien,  singen,  schauen,  ja  Leib 
an  Leib  stehen,  doch  genau  eine  Welt  voneinander 
entfernt  bleiben,  entrückt  das  Zufallsspiel  dieses 
Blattes,  seine  Wirklichkeitsnähe  zugleich  in  das 
Überall  und   Nirgends,   in  die  einfältige  Einsamkeit. 


Anfmf  an  die  Wiener 

geschrieben  am  Todestage  Luegers 
Von  Adolf  Loos 

Mit  ihm  wird  der  Schutzherr  der  Karlskirche 
zu  Grabe  getragen. 

In  ihm  lebte  die  Idee  Karls  VI.,  der  mit  der 
Kirche  einer  großen,  breiten  Avenue,  die  sich  vom 
Schottentor  über  den  Josefsplatz  nach  der  Wieden 
erstrecken  sollte,  einen  Abschluß  geben  wollte. 

Der  Bau  der  Ringstraße  hat  diese  Idee  vereitelt. 

Anlage  und  Stellung  der  Kirche,  ihre  —  nicht 


—  14  ~ 

durch  den  Grundriß  gerechtfertigte  —  frontale  Aus- 
dehnung, die  mit  dem  ernüchternden  Innenraum  im 
stärksten  Gegensatze  steht,  zeigt  uns  deutlich,  daß 
ein  Straßenabschluß  geschaffen  werden  sollte,  zu  dem 
das  Gotteshaus  nur  als  Vorwand  diente. 

Die  alte  Grundidee  war  nicht  mehr  durch- 
zuführen. Wir  haben  zu  allerletzt  ein  Recht,  den 
Erbauern  der  Ringstraße  einen  Vorwurf  zu  machen. 
Wir  selbst  haben  ja  zum  Beispiel  das  alte  Projekt 
Maria  Theresias,  die  durch  die  Anlage  von  Gebäude- 
keulen den  Enkeln  Gelegenheit  geben  wollte,  die 
Praterstraße  in  das  Herz  der  Inneren  Stadt  zu  führen, 
—  mit  der  Riehl-Avenue  —  fallen  gelassen. 

Lueger,  und  mit  ihm  die  Einsichtigen  wollten 
der  Karlskirche  geben,  was  ihr  gebührt,  was  sie 
braucht. 

Die  Karlskirche  braucht  zu  ihrer  Fassung  große, 
horizontale  Flächen  und  Linien.  Die  kann  nur  ein 
öffentliches  Gebäude  schaffen.  Die  Wiener  aber  meinen, 
daß    das   öffentliche    Gebäude   vor  die  Stadt  gehört. 

Man  hat  wohl  nur  aus  Versehen  die  Hofmuseen 
nicht  auf  die  Schmelz  gebaut.  Sonst  würden  sich 
heute  an  ihrer  Stelle  Zinshäuser  erheben. 

Der  Schutzpatron  des  Baugedankens  der  Karls- 
kirche, der  Mann,  der  die  Macht  hatte,  den  Vandalis- 
mus,  der  der  Kirche  und  dem  Stadtbild  droht,  abzu- 
wehren, ist  gestorben. 

Es  besteht  kein  Hindernis  mehr,  daß  der  Wiener 
Geschmack  seinen  Willen  durchsetzt  und  das  Museum 
auf  die  Schmelz  kommt. 

Aber  auf  dem  bereitgehaltenen  Platze  werden 
sich  drei  Zinshäuser  erheben. 

Und  nun  erlasse  ich  einen  Aufruf  an  die  Wiener : 
Spendet  Geld  für  eine  Tafeil 

Ich  rufe  alle  Wiener  auf,  damit  eine  Ehren- 
tafel auf  das  mittlere  Zinshaus  komme,  auf  welche 
die  Namen  aller  zum  ewigen  Gedächtnis  einge- 
meißelt werden,  deren  hingebungsvollem  Wirken   in 


—  16  — 

Wort  und  Schrift  der  Bau  dieser  drei  Zinshäusei 
zu  verdanken  ist. 

Die  Geldspenden  brauchen  nur  klein  zu  sein, 
denn  es  gibt  so  viele  Wiener  und  eine  Tafel  kostet 
nur  so  wenig. 

Zu  jeder  Spende  möge  der  Name  des  Mannes 
genannt  werden,  der  sich  um  den  Bau  dieser  drei 
Zinshäuser  verdient  gemacht  hat. 

Aus  diesen  Namen  soll  dann  eine  Auswahl  ge- 
troffen werden. 

Wer  von  ihnen  ehrlich  für  den  Gedanken  der 
Zinshäuser  eingetreten  ist,  wird  mit  Stolz  seinen 
Namen  auf  der  Gedenktafel  lesen. 


Bin  Brief*) 
von  Ferdinand  Kflmberfer 

Lieber  Verehrter 
Ist  das  Mödlinger  Rathaus  abgebrannt,  oder 
wird  es  umgebaut,  oder  was  geschieht  sonst  mit  der 
Curie  Ihrer  Regierung,  daß  die  erhebendsten  Justiz- 
akte nicht  mehr  am  Sitz  der  Themis,  am  Thron  der 
Gerechtigkeit,  sondern  in  einem  gegenüberliegenden, 
ad  hoc  sich  darbietenden  Nachbarhause  zwar  würdig 
und  gediegen,  aber  ohne  den  feierlichen  Cultus 
offizieller  Urteilsvollstreckung  in  puritanischer 
Schmucklosigkeit  abgehalten  werden?  Der  Mödlinger 
Blutbann  ist  ja  ein  bescheidener  Classiker,  dafi  er 
seine  besten  Werke  so  anonym  veröffentlicht,  ja 
kaum  veröffentlicht,  denn  sein  Verleger,  Mr.  Lynch, 

*)  Dieser  Brief  an  Joseph  Schöffel,  auf  den  sich  dessen  in 
Nr.  298/99  veröffentlichtes  Schreiben  vom  7.  Juli  1878,  der  Bericht  über 
die  Verprügelung  eines  Revolverjoumalisten  durch  einen  Schlosser,  be- 
zieht, hat  sich  soeben  in  Mödling  —  nicht  im  Nachlasse  Schöffela  — 
gefunden. 


—  16  — 


scheint  nur  einen  einzigen  Bürstenabzug  von  dem 
genialsten  aller  Strafgesetz-Entwürfe  gemacht  zu 
haben.  Oder  sagt  man  diesmal  nicht  Bürstenabzug, 
sondern  Hosenabzug?  Wie  war's  doch?  Ach,  meine 
Fantasie  ist  ganz  bei  der  Sache.  .  Nie  haben  die 
schönsten  weiblichen  Hemisphären  geistig  und  sittlich 
mich  so  intensiv  beschäftigt,  als  mein  inneres  Auge 
Tag  und  Nacht  sich  an  jenen  unschöneren  Hemi- 
sphären weidet,  auf  welche  sich  die  hehre  Göttin  mit 
Schwert  und  Wage  diesmal  in  so  wuchtiger  Seßhaftig- 
keit niedergelassen  hat.  >  Welcher  Unsterblichen 
soll  der  höchste  Preis  sein  ?«  Goethe  würde  heute 
nicht  mehr  so  fragen,  er  würde  sagen :  der  Mödlinger 
Themis  I 

Was  aber  besagte  Hemisphären  betrifft,  so  hoffe 
ich,  die  Großcommune  Mödling  schickt  sie  frisch 
von  der  Mache  her  auf  die  Pariser  Weltausstellung, 
denn  die  Leistung  ist  monumental  1  Ich  wüßte  nichts, 
was  Europa  im  Allgemeinen  und  MödHng  im  Be- 
sondern zum  modernsten  Portschritt  des  Appretur- 
Verfahrens  Gelungeneres  ausstellen  könnte,  als  zwei 
so  echtgefärbte,  noch  bis  ins  Grab  hinein  echtfärbig 
durchgebläute  Hemisphären  I 

Eine  Preis-Medaille  für  Mödling! 

In  solchen  Augenblicken  fühle  ich  meine  Sprache 
ohnmächtig  und  meine  Feder  stumpf.  Könnte  ich  Sie 
lieber  persönlich  sehen!  Kommen  Sie  doch  einmal  in 
meine  Arme!  Was  hindert  Sie?  Der  Reichsrat?  Er 
ist  soeben  im  wohltätigsten  Stadium  seiner  Thätig- 
keit  angelangt,  —  er  hat  Ferien.  Die  Mödlinger 
Regierungssorgen?  Auch  Lykurg  hat  regiert,  aber 
er  ging  hierauf  10  Jahre  außer  Landes,  um  die  Güte 
seiner  Institutionen  an  seiner  eigenen  Abwesenheit 
zu  erproben.  Sie  haben  Ihren  Staat  auf  so  ehernen 
Grundsäulen  der  Weisheit  und  des  Rechtes  aufgebaut, 
daß  diese  Lykurgus-Probe  einer  ehrenvollen  Selbst- 
verbannung schon  längst  auch  Ihr  Recht,  ja  Ihre 
Pflicht  geworden  ist. 


—  17  — 

Also  fort  ^'on  den  Städtebewohnenden  Menschen 
und  ausgerastet  unter  den  Thierenl  Auf  nach 
Steiermark! 

Ihr  altgetreuer 

Ferdinand  Kürnberger 
Gratz,  Beethovenstraße  19. 
30.  Juni  T8. 


Pro  domo  et  mundo 
Von  Karl  Kraus 

Die  meisten  Schreiber  sind  so  unbescheiden, 
dafi  sie  immer  von  der  Sache  sprechen,  wenn  sie 
von  sich  sprechen  sollten. 


Ich  habe  es  so  oft  erlebt,  daß  einer,  der  meine 
Meinung  teilte,  die  größere  Hälfte  für  sich  behielt, 
daß  ich  jetzt  gewitzt  bin  und  den  Leuten  nur  noch 
Gedanken  anbiete. 


Die  Sprache  Mutter  des  Gedankens?  Dieser 
kein  Verdienst  des  Denkenden?  0  doch,  er  muß 
jene  schwängern. 

Ein  Werk  der  Sprache  in  eine  andere  Sprache 
übersetzt,  heißt,  daß  einer  ohne  seine  Haut  über  die 
Grenze  kommt  und  drüben  die  Tracht  des  Landes 
ansieht. 


-  18  — 


Man  kann  einen  Leitartikel,  aber  kein  Gedicht 
übersetzen.  Denn  man  kann  zwar  nackt  über  die 
Grenze  kommen,  aber  nicht  ohne  Haut,  weil  die  im 
Gegensatz  zum  Kleid  nicht  nachwächst. 


Bin  Edelmann  deutscher  Prosa  erläßt  ein 
Manifest  demokratischen  Denkens.  In  einem  Alma- 
nach,  den  ein  sozialpolitisches  Komitee  in  Lausanne 
herausgibt,  ist  es  erschienen,  und  Voltaire  behält 
darin  wieder  einmal  Recht  gegen  Goethe.  Dieser 
ohne  Menschlichkeit,  sieht  >aus  der  gespensterhaften 
Höhe,  wo  die  deutschen  Genien  einander  vielleicht 
verstehen,  unbewegt  aufsein  unbewegtes  Land  hinab«. 
Voltaires  Stimme,  noch  in  Zola  lebendig,  befeuert 
das  Tempo  der  Freiheit  und  Wahrheit.  Fanatiker 
singen  auf  dem  Hügel  von  Valmy  die  Marseillaise, 
Goethe  > wendet  sich  ab  und  verachtet«.  Mit  seinem 
Namen  »decken  faule  Vergnüglinge  ihr  leeres  Dasein«, 
es  gibt  keine  Kultur  ohne  Menschlichkeit . .  .  Der 
Bekenner  ist  Heinrich  Mann.  Also  hat  Goethe  selbst 
dem  Börne  die  Hand  geführt,  als  er  sie  gegen 
Goethe  erhob.  —  Ich  aber  glaube,  daß  im  Kunstwerk 
aufgespart  ist,  was  die  Unmittelbarkeit  geistiger 
Energien  vergeudet.  Nicht  die  erste,  sondern  die 
letzte  Wirkung  der  Kunst  ist  Menschlichkeit.  Goethes 
Menschlichkeit  ist  eine  Fernwirkung.  Sterne  gibt 
es,  die  nicht  gesehen  werden,  solange  sie  sind. 
Ihr  Licht  hat  einen  weiten  Weg,  und  längst  er- 
loschen leuchten  sie  der  Erde.  Sie  sind  den 
Nachtbummlern  vertraut:  was  kann  Goethe  für  die 
Ästheten?  Es  ist  ihr  Vorurteil,  daß  sie  ohne  sein 
Licht  nicht  nach  Hause  finden.  Denn  sie  sind  nirgend 
zu  Hause  und  für  sie  ist  die  Kunst  so  wenig  da,  wie 
der  Kampf  für  die  Maulhelden.  Auch  der  Ästhet  ist 
zu  feig  zum  Leben;  aber  der  Künstler  geht  aus  der 
Flucht  vor  dem  Leben  siegreich  hervor.  Der  Ästhet 
ist  ein  Maulheld  der  Niederlagen;  der  Künstler  steht 


—  19  — 


ohne  Anteil  am  Kampf.  Er  ist  kein  Mitgeher. 
Aber  seine  Sache  ist  es  nicht,  mit  der  Gegenwart  zu 
gehen,  da  es  doch  Sache  der  Zukunft  ist,  mit  ihm 
zu  gehen.  Und  soll  Heinrich  Manns  Prosa  eine 
Marseillaise  entfesseln,  damit  man  Heinrich  Manns 
Prosa  nicht  mehr  hört? 


Es  ist  aber  immer  noch  besser,  daß  die  Künstler 
für  die  gute  Sache,  als  daß  die  Journalisten  für  die 
schöne  Linie  eintreten. 


Wenn  den  Ästheten  die  Gebärde  freut,  mit  der 
einer  aus  der  Staatskasse  fünf  Millionen  stiehlt,  und 
er  es  öfiTentlich  ausspricht,  daß  die  Belustigung,  die 
der  Skandal  den  >paar  Genießern<  bringt,  mehr  wert 
sei  als  die  Schadenssumme,  so  muß  ihm  gesagt 
werden:  Wenn  die  Gebärde  dieser  Belustigung  ein 
Kunstwerk  ist,  so  sind  wir  nobel  und  es  kommt  uns 
auf  eine  Million  mehr  oder  weniger,  die  der  Staat 
verliert,  nicht  an.  Wenn  aber  ein  Leitartikel  daraus 
wird,  so  erwacht  unser  soziales  Gefühl  und  wir  be- 
willigen nicht  fünf  Groschen  für  das  Gaudium.  Wird 
nämlich  aus  dem  Staatsbankerott  ein  Kunstwerk,  so 
macht  die  Welt  ein  Geschäft  dabei.  Im  andern  Fall 
spüren  wirs  im  Haushalt  und  verdammen  die  populäre 
Ästhetik,  welche  die  Diebe  entschuldigt,  ohne  die 
Bestohlenen  zu  entschädigen. 


Die  Idee,  die  unmittelbar  übernommen  und  zur 
populären  Meinung  reduziert  wird,  ist  eine  Gefahr. 
Erst  wenn  die  Revolutionäre  hinter  Schloß  und 
Riegel  sitzen,  hat  die  Reaktion  Gelegenheit,  an  der 
Entstoffiichung  der  Idee  zu  arbeiten. 


—  20 


Journalisten  schreiben,  weil  sie  nichts  zu  sagen 
haben,  und  haben  etwas  zu  sagen,  weil  sie  schreiben. 


Es  gibt  ebenso  Journalisten  der  Stimmung  wie 
es  Journalisten  der  Meinung  gibt.  Jene  sind  die 
Lyriker,  die  heute  dem  Publikum  ins  Ohr  gehen. 
Sie  möchten  sich  unserer  Verachtung  dadurch 
entziehen,  daß  sie  schützend  den  Reim  vorhalten. 
Aber  da  fassen  wir  sie  erst.  Denn  sie  wehren  sich 
gegen  den  Verdacht,  Diebe  zu  sein,  durch  den 
Beweis,  daß  sie  Betrüger  sind. 


Ein   Original,    dessen   Nachahmer   besser   sind, 
ist  keines. 


Ein  Reichtum,  der  aus  hundert  Hintergründen 
fließt,  erlaubt  es  der  Presse,  sich  an  hohen  Feier- 
tagen den  Luxus  der  Literatur  zu  leisten.  Wie  fühlt 
sich  diese,  wenn  sie  als  goldene  Kette  auf  dem 
Annoncenbauch  eines  Protzen  glänzen  darf? 


Die  Politik  betrügt  uns  mit  deutsch-österreichi- 
schen Sympathie  werten.  Aber  außer  Trinksprüchen 
und  Libretti  gibt  es  nichts,  was  ein  geistiges  Ein- 
verständnis zwischen  den  Völkern  bewiese.  Diplomaten 
und  Theateragenten  sind  um  die  Annäherung  bemüht. 
Die  draußen  wissen  denn  auch  von  einem  geheimnis- 
vollen Reich,  wo  Itzig  und  Janosch  den  Ton  an- 
geben, und  lieben  uns  für  den  Zuschuß  von  Husaren- 
blut und  Zigeunerliebe,  den  der  Berliner  Arbeitstag 
empfängt.  Bin  zwischen  der  Ringstraße  und  den 
Linden  fluktuierendes  Theaterjudentum  bezeugt  und 
vertritt  unser  Geistesleben  vor  Deutschland.  Was 
sagt  die  Politik  dazu,  daß  kein  österreichisches  Buch 


-  21  — 


hinauskommt,  wenn  es  nicht  in  Musik  gesetzt  ist? 
Die  Wiener  Provenienz  ist  so  odios,  daß  man  sie  nur 
den  Erzeugnissen  des  Schwachsinns  und  der  Lumperei 
verzeiht.  An  diesen  erkennt  man  wenigstens  den  Ur- 
sprung und  gibt  die  Echtheit  zu.  Aber  welch  über- 
menschliche Anstrengung  kostet  es,  einem  Kolporteur 
österreichische  Literatur  als  Geschenk  aufzudrängen! 
Was  sagt  die  Politik  dazu,  daß  die  , Fackel',  die  längst 
danach  ringt,  in  Österreich  nicht  mehr  notorisch  zu 
sein,  nach  elf  Jahren  erst  das  zu  werden  beginnt, 
was  sie  ist;  eine  deutsche  Tatsache? 


Die  Zwischenaktsmusik  verlangt  nicht,  dafi  man 
schweige,  sie  verlangt  nicht,  daß  man  höre,  aber  sie 
erlaubt,  nicht  zu  hören,  was  gesprochen  wird. 
Dummköpfe  wollen  sie  abschaffen.  Und  sie  ahnen 
nicht,  wie  sehr  gerade  sie  ihrer  bedürfen.  Denn 
die  einzige  Kunst,  vor  der  die  Masse  ein  Urteil 
hat,  ist  die  Kunst  des  Theaters.  Aber  eben  nur  die 
Masse.  Wehe,  wenn  die  Urteilssplitter  im  Zwischen- 
akt gesammelt  würden:  sie  ergäben  kein  Ganzes. 
Ohne  die  Zwischenaktsmusik  könnten  sich  die 
einzelnen  Dummköpfe  vernehmlich  machen,  deren 
Meinung  sich  während  des  Spiels  zum  maßgebenden 
Eindruck  und  nach  dem  Spiel  zum  Applaus  zu- 
sammenschließt. Die  Zersplitterung  zu  verhindern,  ist 
die  Zwischenaktsmusik  da,  die  im  rechten  Moment 
mit  Tusch  in  die  Dummheit  einfällt.  Auf  die  Qualität 
dieser  Musik  kommt  es  nicht  an,  nur  auf  das  Ge- 
räusch. Die  Zwischenaktsmusik  dient  dazu,  das 
Lampenfieber  des  Publikums  zu  vertreiben.  Ihre 
Gegner  wollen  sich  selbst  preisgeben. 


Wie   ungemäß   die   Literatur   dem  Theater   ist, 
zeigt  die  Inkongruenz   von   szenischem  Apparat  und 


22 


der  geistigen  Geringfügigkeit  seiner  Anweisung: 
—  >ini  Hintergrund  stürzt  der  Kampanile  ein.«  An 
den  stärksten  Leistungen  der  Bühne  hat  der  Autor 
das  kleinste  Verdienst:  ein  Federzug  von  dieser 
Hand,  und  neu  erschaffen  wird  die  Erde!  (Wäre  der 
Satz  keine  Dialogstelle,  sondern  eine  szenische 
Bemerkung  im  Don  Carlos,  so  würde  man  seine 
Richtigkeit  erst  erkennen.)  Nun  sind  solche  Taten 
dem  Theater  selbst  nicht  organisch.  Aber  hat 
der  Autor  vielleicht  an  der  schauspielerischen 
Leistung  höheren  Anteil?  Hundert  Seiten  Psychologie 
und  Witz  können  verpuffen,  bis  endlich  unter  Applaus 
geschieht,  was  jener  mit  den  Worten  vorgeschrieben 
hat:  »geht  rechts  ab  und  bricht  an  der  Tür  schluch- 
zend zusammen«. 


Wenn  in  einem  Satz  ein  Druckfehler  stehen 
geblieben  ist  und  er  gibt  doch  einen  Sinn,  so  war 
der  Satz  kein  Gedanke. 


Das  Wort  hat  einen  Feind,  und  das  ist  der 
Druck.  DalS  ein  Gedanke  dem  Leser  der  Gegenwart 
nicht  verständlich  ist,  ist  dem  Gedanken  organisch. 
Wenn  er  aber  auch  dem  ferneren  Leser  nicht  verständ- 
lich ist,  so  trägt  eine  falsche  Lesart  die  Schuld.  Ich  glaube 
unbedingt,  dal5  die  Schwierigkeiten  der  großen 
Schriftsteller  Druckfehler  sind,  die  wir  nicht  mehr 
zu  finden  vermögen.  Weil  man  bisher  im  Bann  der 
journalistischen  Kunstauffassung  gemeint  hat,  die 
Sprache  diene  dazu,  irgend  etwas  »auszudrücken«, 
so  mußte  man  auch  glauben,  daß  Druckfehler  neben- 
sächliche Störungen  seien,  welche  die  Information  des 
Lesers  nicht  verhindern  können.  Den  Stoff  könnten  sie 
nicht  durchlöchern,  die  Tendenz  nicht  durchbrechen, 
der  Leser  erfahre,  was  der  Autor  gemeint  hat,  und 
dieser  sei  ein   Pedant    oder  ein  auf  die  äußere  Form 


-    23    - 


bedachter  Ästhet,  wenn  er  mehr  verlange.  Sie  wissen 
nichts  von  dem,  was  der  Autor  erlebt,  ehe  er  zum 
Schreiben  kommt;  sie  verstehen  nichts  von  dem, 
was  er  im  Schreiben  erlebt:  wie  sollten  sie  etwas  von 
dem  ahnen,  was  sich  zwischen  Geschriebenem  und 
Gelesenem  ereignet?  Dies  Gebiet  romantischer  Ge- 
fahren, wo  alle  Beute  des  Gedankens  wieder  vom 
Zufall  oder  dem  lauernden  Intellekt  der  Mittelsperson 
abgenommen  wird,  ist  unerforscht.  Der  Journalismus, 
dem  dort  aus  einer  freiwilligen  Plattheit  wenigstens 
eine  unfreiwillige  Drolligkeit  entstehen  mag,  für  die 
er  dankbar  sein  sollte,  spricht  mit  scherzendem  Vor- 
wurf von  einem  Druckfehlerteufel.  Aber  solche  Seelen 
fängt  er  nicht.  Sie  leisten  ihm  ihren  Tribut,  es  kommt 
ihnen  nicht  drauf  an,  denn  ihr  Reichtum  ist  unver- 
lierbar. Arm  ist  der  Gedanke.  Er  hat  oft  nur  ein 
Wort,  nur  einen  Buchstaben,  nur  einen  Beistrich. 
Eine  Tendenz  lebt,  auch  wenn  der  Teufel  ihr  ganzes 
Gehäuse  davontrüge.  Wenn  er  aber  an  eine 
Perspektive  nur  anstreift,  dann  hat  er  sie  auch  geholt. 


Das  Zeichen  der  Künstlerschaft:  Für  sich  aus 
dem  Selbstverständlichen  ein  Problem  machen  und 
die  Probleme  der  andern  entscheiden;  für  andere 
wissen  und  sich  selbst  in  die  Hölle  zweifeln;  einen 
Diener  fragen  und  einem  Herrn  antworten. 


Vom  Künstler  und  dem  Gedanken  gelte  das 
Nestroy^sche  Wort:  Ich  hab'  einen  Gefangenen  ge- 
macht und  er  läfit  mich  nicht  mehr  los. 


Es  gibt  eine  Originalität  aus  Mangel,  die  nicht 
imstande  ist,  sich  zur  Banalität  emporzuschwingen. 


24 


Wer  nicht  Temperament  hat,  muß  Ornament 
haben.  Ich  kenne  einen  Schriftsteller,  der  es  sich  nicht 
zutraut,  das  Wort  »Skandale  hinzuschreiben,  und  der 
deshalb  »Skandalum«  sagen  muß.  Denn  es  gehört 
mehr  Kraft  dazu,  als  er  hat,  um  im  gegebenen 
Augenblick  das  Wort  »Skandal«  zu  sagen. 

* 

Der  längste  Athem  gehört  zum  Aphorismus. 

* 
Er  meint   nicht  mich.  Aber  seine  Unfähigkeit, 
sich  so  auszudrücken,  daß  er  mich  nicht  gemeint  hat, 
ist  doch  ein  Angriff  gegen  mich. 

* 

Die  Dorfbarbiere  haben  einen  Apfel,  den  stecken 
sie  allen  Bauern  ins  Maul,  wenns  ans  Balbieren 
geht.  Die  Zeitungen  haben  das  Feuilleton. 


Auch  hängt  noch  über  mancher  Bauerntafel 
ein  Klumpen  Zucker,  an  dem  sie  gemeinsam  lecken. 
Ich  möchte  lieber  dort  eingeladen  sein,  als  ein 
Konzert  besuchen. 

Moderne  Architektur  ist  das  aus  der  richtigen 
Erkenntnis  einer  fehlenden  Notwendigkeit  erschaffene 
Überflüssige. 


Kultur  kommt    von  kolo,  aber  nicht  auch  von 
Moser. 

Die  anderen  sind  Reißbrettkünstler.  Loos  ist  der 
Architekt  der  tabula  rasa. 


—  25  — 


Kokoschka  hat  ein  Porträt  von  mir  gemacjit. 
Schon  möglich,  daß  raich  die  nicht  erkennen  werden, 
die  raich  kennen.  Aber  sicher  werden  mich  die 
erkennen,  die  mich  nicht  kennen. 


Der  rechte  Porträtmaler  benützt  sein  Modell  nicht 
anders  als  der  schlechte  Porträtmaler  die  Photographie 
seines  Modells.  Eine  kleine  Hilfe  braucht  man. 


Der  Dummkopf,  der  an  keinem  Welträtsel  vor- 
übergehen kann,  ohne  entschuldigend  zu  bemerken, 
dafi  es  seine  unmaßgebliche  Meinung  sei,  heimst  das 
Lob  der  Bescheidenheit  ein.  Der  Künstler,  der  seine 
Gedanken  an  einem  Kanalgitter  weidet,  überhebt  sich. 


Die  Wissenschaft  könnte  sich  nützlich  machen. 
Der  Schriftsteller  braucht  jedes  ihrer  Fächer,  um 
daraus  den  Rohstoff  seiner  Bilder  zu  beziehen,  und 
oft  fehlt  ihm  ein  Terminus,  den  er  ahnt,  aber  nicht 
weiß.  Nachschlagen  ist  umständlich,  langweilig  und 
läßt  einen  zu  viel  erfahren.  Da  müßten  denn, 
wenn  einer  beim  Schreiben  ist,  in  den  andern  Zim- 
mern der  Wohnung  solche  Kerle  sitzen,  die  auf  ein 
Signal  herbeieilen,  wenn  jener  sie  etwas  fragen  will. 
Man  läutet  einmal  nach  dem  Historiker,  zweimal 
nach  dem  Nationalökonomen,  dreimal  nach  dem  Haus- 
knecht, der  Medizin  studiert  hat,  und  etwa  noch 
nach  dem  Talmudschüler,  der  auch  das  philosophische 
Rotwälsch  beherrscht.  Doch  dürften  sie  alle  nicht 
mehr  sprechen  als  wonach  sie  gefragt  werden,  und 
hätten  sich  nach  der  Antwort  sogleich  wieder  zu 
entfernen,  weil  ihre  Nähe  über  die  Leistung  hinaus 
nicht  anregt.  Natürlich  könnte  man  auf  solche 
Hilfen  überhaupt  verzichten,  und  ein  künstlerischer 
Vergleich     behielte    seinen    Wert,     auch     wenn     in 


26  — 


seiner  Bildung  die  Lücke  der  Bildung  offen  bliebe 
und  einem  Fachmann  zu  nachträglicher  Rekrimi- 
nation  Anlaß  gäbe.  Aber  es  wäre  eine  Möglichkeit, 
die  Fachmänner  des  Verdrusses  zu  überheben  und 
sie  schon  vorher  einer  ebenso  nützlichen  wie  bravou- 
rösen Beschäftigung  zuzuführen. 


Nach  der  Entdeckung  des  Nordpols  und  nach- 
dem sich  wieder  einmal  gezeigt  hat,  wie  leichtfertig 
die  Menschheit  wissenschaftliche  Verpflichtungen  ein- 
geht, hat  sie  es  wohl  verdient,  wegen  weltgerichtlich 
erhobenen  Schwachsinns  unter  die  Kuratel  der  Kirche 
gestellt  zu  werden. 


Und  wenn  die  Erde  erst  ahnte,  wie  sich  der 
Komet  vor  der  Berührung  mit  ihr  fürchtet! 

Die  christliche  Moral  hat  es  am  liebsten,  dafi 
die  Trauer  der  Wollust  vorangeht  und  diese  ihr  dann 

nicht  folgt. 

* 

Der  Unterschied  zwischen  der  alten  und  der 
neuen  Seelenkunde  ist  der,  daß  die  alte  über  jede 
Abweichung  von  der  Norm  sittlich  entrüstet  war  und 
die  neue  der  Minderwertigkeit  zu  einem  Standesbe- 
wußtsein verhelfen  hat. 


Eine  gewisse  Psychoanalyse  ist  die  Beschäftigung 
geiler  Rationalisten,  die  alles  in  der  Welt  auf 
sexuelle  Ursachen  zurückführen  mit  Ausnahme  ihrer 
Beschäftigung. 


—  27  — 


Kinder  psychoanalytischer  Eltern  welken  früh. 
Als  Säugling  muß  es  zugeben,  daß  es  beim  Stuhl- 
gang Wollusterapfindungen  habe.  Später  wird  es 
gefragt,  was  ihm  dazu  einfällt,  wenn  es  auf  dem 
Weg  zur  Schule  der  Defäkation  eines  Pferdes  bei- 
gewohnt hat.  Man  kann  von  Glück  sagen,  wenn  so 
eins  noch  das  Alter  erreicht,  wo  der  Jüngling  einen 
Traum  beichten  kann,  in  dem  er  seine  Mutter  ge- 
schändet hat. 


Sie  haben  die  Presse,  sie  haben  die  Börse,  jetzt 
haben  sie  auch  das  Unterbewußtsein ! 


Medizinischer  Sinnspruch:  Was  den  Vätern  alte 
Hosen,  sind  den  Söhnen  die  Neurosen. 


Die  neue  Seelenkunde  hat  es  gewagt,  in  das 
Mysterium  des  Genies  zu  spucken.  Wenn  es  bei 
Kleist  und  Lenau  nicht  sein  Bewenden  haben  sollte, 
so  werde  ich  Torwache  halten  und  die  medizinischen 
Hausierer,  die  neuestens  überall  ihr  > Nichts  zu  be- 
handeln?« vernehmen  lassen,  in  die  Niederungen 
weisen.  Ihre  Lehre  möchte  die  Persönlichkeit  ver- 
engen, nachdem  sie  die  Grenzen  der  Unverantwort- 
lichkeit  erweitert  hat.  Solange  das  Geschäft  private 
Praiis  bleibt,  mögen  sich  die  Betroffenen  wehren. 
Aber  Kleist  und  Lenau  werden  wir  aus  der  Ordination 
zurückziehen  I 


Das  wissen  weder  Mediziner  noch  Juristen: 
Daß  es  in  der  Erotik  weder  ein  erweislich  Wahres 
gibt,  noch  einen  objektiven  Befund.  Daß  uns  kein 
Gutachten  von  dem  Wert  des  Gegenstands  überzeugen 
und  keine  Diagnose  uns  enttäuschen  kann.  Daß  man 
gegen    alle   tatsächlichen  Voraussetzungen  liebt  und 


—  28 


gegen  den  eigentlichen  Sachverhalt  sich  selbstbe- 
friedigt. Kurzum,  daß  es  die  höchste  Zeit  ist,  aus 
einer  Welt,  die  den  Denkern  und  den  Dichtern  ge- 
hört, die  Juristen  und  Mediziner  hinauszujagen. 


In  der  erotischen  Sprache  gibts  auch  Metaphern. 
Der  Analphabet  nennt  sie  Perversitäten.  Er  verab- 
scheut den  Dichter. 


DerVoyeur  besteht  die  Kraftprobe  des  natürlichen 
Empfindens:  er  setzt  die  Lust,  das  Weib  mit  dem 
Mann  zu  sehen,  gegen  den  Ekel  durch,  den  Mann 
mit  dem  Weib  zu  sehen. 


Wer  wird  denn  einen  Irrtum  verstoßen,  den  man 
zur  Welt  gebracht  hat,  und  ihn  durch  eine  adoptierte 
Wahrheit  ersetzen? 


Um  einen  Irrtum  gutzumachen,  genügt  es 
nicht,  ihn  mit  einer  Wahrheit  zu  vertauschen.  Sonst 
lügt  man. 

• 

Wenn  sich  ein  Schneider  in  den  Wind  begibt, 
muß  er  das  Bügeleisen  in  die  Tasche  stecken.  Wer 
nicht  Persönlichkeit  hat,  muß  Gewicht  haben.  Es  ist 
aber  von  geringem  Vorteil,  daß  sich  der  Schneider  den 
Bauch  wattiert  und  der  Journalist  sich  mit  fremden 
Ideen  ausstopft.  Zu  jenem  gehört  ein  Bügeleisen, 
und  dieser  muß  sich  des  Philisteriums  nicht  schämen, 
das  ihn  allein  noch  auf  zwei  Beinen  erhält.  Sie 
glauben  aber,  dem  Wind  zu  begegnen,  indem  sie 
Wind  machen. 


—  29  — 


Wann  wird  diese  arg  verkannte  Stadt  das  Lob 
endlich  verdienen,  das  sie  erntet?  Sie  hat  sich  nie 
zu  einem  flotten  Müßiggang  aufgerafft.  Sie  müßte 
mit  der  Unsitte  brechen,  daß  ihre  Leute  den  ganzen 
lieben  Tag  spazieren  stehen. 


Gegen  das  Buch  gegen  Berlin:  Ein  Kultur- 
mensch wird  lieber  in  einer  Stadt  leben,  in  der  keine 
Individualitäten  sind,  als  in  einer  Stadt,  in  der  jeder 
Trottel  eine  Individualität  ist. 


Es  gibt  ein  Zeitgefühl,  das  sich  nicht  betrügen 
läßt.  Man  kann  auf  Robinsons  Insel  gemütlicher  leben 
als  in  Berlin ;  aber  nur,  solange  es  Berlin  nicht  gibt. 
1910  wirds  auf  Robinsons  Insel  ungemütlich.  Auto- 
raobildroschke,  Warmwasserleitung  und  ein  Automat 
für  eingeschriebene  Briefe  beginnen  zu  fehlen,  auch 
wenn  man  bis  dahin  keine  Ahnung  hatte,  daß  sie 
erfunden  sind.  Es  ist  der  Zeit  eigentümlich,  daß  sie 
die  Bedürfnisse  schafft,  die  irgendwo  in  der  Welt 
schon  befriedigt  sind.  Um  das  Jahr  1830  war«  ja 
schöner,  und  darum  sind  wir  Feinschmecker  dabei 
geblieben.  Aber  indem  wir  uns  bei  der  Schönheit 
beruhigen,    macht    uns    das    Vacuum    von    achtzig 

Jahren  unruhig. 

• 

Ein  Knockabout  warf  einen  Zahnstocher  hinter 
die  Kulisse.  Da  gab  es  einen  Krach.  Dann  warf  er 
eine  Stecknadel  hinter  die  Kulisse.  Da  gab  es 
einen  Krach.  Dann  warf  er  ein  Stückchen  Papier  hinter 
die  Kulisse.  Da  gab  es  wieder  einen  Krach.  Da 
nahm  er  eine  Flaumfeder,  hob  die  Hand  auf  und  — 
da  gab  es  abermals  einen  Krach.  Aber  er  hatte  noch 
gar  nicht  geworfen.  Da  machte  erEtschl  und  freute 
sich,  wie  er  die  Kausalität  gefoppt  hatte.  Das  Wesen 


~  30  — 


dieses  Humors  ist,  daß  das  Echo  menschlicher  Dinge 
stärker  ist  als  ihr  Ruf,  und  daß  man  dem  Echo  seine 
Vorlautheit  am  besten  beweist,  wenn  man  ihm  mit 
keinem  Ruf  antwortet. 


Es  gibt  Menschen,  die  ganz  genau  so  aussehen, 
wie  unser  aller  Gymnasialkollege  aus  der  letzten 
Bank. 


Einer,  der  mir  Erinnerungen  zu  erzählen  anfieng, 
hatte  dabei  eine  Stimme,  die  knarrte  wie  das  Tor 
der  Vergangenheit. 

• 

Wie  ungeschickt  das  böse  Gewissen  ist!  Wenn 
nicht  mancher  den  Hut  vor  mir  zöge,  wüßte  ich 
nicht,  daß  er  Butter  auf  dem  Kopf  hat. 


Welche  Plage,  dieses  Leben  in  Gesellschaft !  Oft  ist 
einer  so  entgegenkommend,  mir  ein  Feuer  anzubieten, 
und  ich  muß,  um  ihm  entgegenzukommen,  mir  eine 
Zigarette  aus  der  Tasche  holen. 


Fürs  Kind.  Man  spielt  auch  Mann  und  Weib  fürs 
Kind.  Das  ist  noch  immer  der  wohltätige  Zweck,  zu 
dessen  Gunsten  die  Unterhaltung  stattfindet  und  vor 
dem  selbst  die  Zensur  ein  Auge  zudrückt. 


Wenn    Lieben    nur    zum   Zeugen    dient,    dient 
Lernen    nur    zum    Lehren.     Das    ist    die    zweifache 


31  — 


teleologische  Rechtfertigung  für  das  Dasein  der  Pro- 
fessoren. 


Wenn  die  Moral  nicht  anstieße,  würde  sie  nicht 

verletzt  werden. 

* 

Die  Gesetzlichkeit  spricht  sowohl  die  Verant- 
wortlichen schuldig  als  die,  die  nichts  dafür  können. 

Die  Humanität  spricht  die  Verantwortlichen 
schuldig  und  die  Unverantwortlichen  frei. 

Die  Anarchie  spricht  beide  frei. 

Die  Kultur  spricht  die  Unverantwortlichen 
schuldig  und  die  frei,  die  etwas  dafür  können. 


Vor  Erschaffung  der  Welt  wird  das  letzte 
Menschenpaar     aus     dem    Spitalsgarten     vertrieben 

werden. 

* 

Wer  die  Gesichte  und  Geräusche  des  Tages  sich 
nicht  nahe  kommen  läßt,  dem  lauern  sie  auf,  wenn 
er  zu  Bette  geht.  Es  ist  die  Rache  der  Banalität,  die 
sich  in  meinen  Halbschlaf  drängt  und  weil  ich  mich 
mit  ihr  nicht  einlassen  wollte,  mir  die  Rechnung  zur 
Unzeit  präsentiert.  Schon  hockt  sie  auf  den  Stufen 
des  Traumes,  dreht  mir  eine  Shylocknase  und  raunt 
mir  eine  Redensart,  von  so  irdischer  Leere,  daß  in 
ihr  der  Schall  einer  ganzen  Stadt  enthalten  scheint. 
Wer  mischt  sich  da  in  mein  Innerstes?  Wen  traf 
ich  mit  diesem  Gesicht,  wen,  der  solche  Stimme 
hatte?  Sie  sägt  den  Himmel  entzwei,  ich  falle  durch 
die  Ritze  und  wie  ich  so  unten  daliege,  finde  ich  das 
Wort:  »Jetzt  bin  ich  aus  dem  Himmel  gefallene,  ganz 
so  als  ob  es  keine  der  Redensarten  wäre,  die  längst 
zum  irdischen  Schall  verloren  sind. 


—  32 


Zwei  Läufer  laufen  zeitentlang, 

der  eine  dreist,  der  andre  bang: 

Der    von   Nirgendher   sein   Ziel    erwirbt; 

der  vorn  Ursprung  kommt  und  am  Wege  stirbt. 

Der  von  Nirgendher  das  Ziel  erwarb, 

macht  Platz  dem,  der  am  Wege  starb. 

Und  dieser,  den  es  ewig  bangt, 

ist  stets  am  Ursprung  angelangt. 

• 
Weh  der  Zeit,  in  welcher  Kunst  die  Erde  nicht 
unsicher    macht    und    vor    dem    Abgrund,    der   den 
Künstler     vom     Menschen     trennt,     dem    Künstler 
schwindlig  wird  und  nicht  dem  Menschen  1 


Bin  Gruß 
von  Stanislaw  Przybyszewski 

.  . .  Und  jetzt  nehmen  Sie  meine  herzlichsten 
Glückwünsche  zu  dem  Erscheinen  des  dreihundertsten 
Heftes  einer  Zeitschrift,  die  wie  kaum  eine  in  Deutsch- 
land von  staunenswerter  Kraft,  seltenem  Mannesmut 
und  vor  allen  Dingen  von  der  Tatsache  zeugt,  daß  in 
Ihrem  Wort  und  Ihrem  Stilgefühl  die  deutsche  Sprache 
eine  wirklich  männliche,  ernste  und  —  für  mich 
wenigstens  das  Höchste :  eine  herbe  Renaissance  erlebt. 

Und  so  gebe  ich  Ihnen  nur  die  Versicherung, 
daß  ich  mich  für  das  fünfhundertste  Heft  mit  dem 
Besten  ausrüsten  werde,  was  meine  schwache  Kraft 
zu  schaffen  vermag. 

Mit  besten  Grüßen  in  tiefer  Hochachtung 

Ihr 
München,  4.  April  1910.  Stanislaw  Przybyszewski 

Herausgeber    und    verantwortlicher     Redakteur:     Karl    Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 


!i.!  Vorbereitung: 

KARL  KRAUS 

DIE  CHINESISCHE   MAUER 

(Ausgewählte  Essays) 
Bei  ALBERT  LANGEN  Mönchen  j\t\(\  Leipzig 

Bestellungen    nimmt   der   Verlag   und    Jede    Buchhandlung    entgegen 
Das  Register  der 

300  Nummern 

(elf  Jahrgänge)  der  „FACKEL"  ist  in  gesonderter  Ausgabe 
zum  Preise  von  20  Hellern  =  20  Pf.  durch  den  Verlag 
oder  das  Berliner  Bureau  der  , Fackel'  zu  beziehen. 

DER  STURM 

WOCHENSCHRIFT  FÜR  KULTUR  U.  DIE  KÜNSTE 
HERAUSGEGEBEN  von  HERWARTH  WALDEN 
Erscheinnngstag:  Donnerstag 

Einzelbezug:  10  Heller  • 

Jahresbezug:  K  5.— 
H-i  ug:  K  2.50 

Viel  -zug:  K  1.25 

Probenammem  kostenlos  durch  den  Veriag  DER  STURM,  Halensee-Berlfn, 
KatharinenstraSe  5.  DER  STURM   lie^   in  den  T  '    '    ^     -ken   auf. 


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Bureau  für  Österreich  : 

Wien,  VL  Mariahilierstgasse  117 

-  , verlangen  vor  Drucklegung  ihrer  Werke  im  eigen- 

AHTlfiyftn  sten  Interesse  die  Konditionen  des  alten  bewahrten 
i^aiWiW^*^**  Buchverlags  sub  C.  M.410  bei  Haasensteln 
" &  Vogler  A.-G.,  Leipzig  h.  42oo  d. 

Unternehmen  fürJSeitungBauaBohnitt« 

OBSERVER,    Ilen,  l  Concordlaplati  Nr.  4  (Telephon  Hr.  12801) 

versendet  ZeitungsausschnitteflberiedesgewanschteThema.Man  verlange  Prospetcte 

Herausgeber  KARL  KRAUS 
Die    „Fackel«    erscheint    in    zwangloser   Folge    im  Umfang   von 
16—32  Seiten 
BEZUQSBBMNGUNaEN : 

Für  Österreich-Ungarn:  18  Nummern,  portofrei i^  4..oU 

36  »  »  y^  ^■_ 

Für  das  deutsche  Reich:  18  n  «  r."  _ 

36  ,  «  '■-■' 

n»  >h«,n.n.«nt  .»tr^clct  «Ich  nicht  aot  «inen  Zeitraum,  sondern  auf  eine  bestimmte  AniaM  von  Hommern 

Einzelheft  in  Österreich  30  Heller,   In  Deutschland  30  Pfennig 
Zu    beziehen     durch    sämtUche    Buchhandlungen 

Berliner  Bureau:  Haiensee,  Katharinenstraße  5 

Inhalt  der  vorigen  Doppelnummer  298-299,  21.  März 
1910:  Lueger  -  Prozeß  Kolischer.  Von  Karl  K'-aus  -  >Idi«. 
Von  Ferdfnand  Kürnberger.  -  Auf  meiner  A^b^'^sb^^^^^^^^ 
Ferdinand  Kürnberger.  -  B^efe  von  Joseph  Scl^^Hd  - 
Schülerselbstmord.  Von  einem  Überlebenden.  "  ^e"  hmfzeh^^^ 
rährigen  Selbstmördern.  Von  B^rthold  Viertel.  -  Oskar  Kokoschka 
\'on  L.  E.  Tesar.  -  Selbstanzeigen.  -  Aphorismen.  Von  Karl 
Krau.    -   Die  Presse.  Von  Karl  Bleibtreu.   -   Glossen.  Von    _ 


Kraus. 
Karl  Kraus 


Herausgeber  nnd  vcrantvortiictier  Redakteur    Kar»  Kratii 
Druck  Ton  Jaboda  8i  Siegel,  Wien,  111.  Hintere  ZollamUstr.  3 


DIE  FACKEL 

APRIL  1899  -  MÄRZ  1910 

ELF  JAHRGÄNGE 


REGISTER  DER  AUTOREN  UND 
BEITRÄGE  VON  300  NUMMERN 

VERFASST  UND  EINGELEITET  von 

LUDWIG  ULLMANN 


1910 
VERLAG  ,DIE  FACKEL',  WIEN  III,  2,  HINT.  ZOLLAMTSSTRASSE  3 

DRUCK    VON    JAHODA    &    SIEGEL 


Wert  und  Eigenart  der  , Fackel*  als  eines 
periodisch  erscheinenden  Kulturdokuments  legten  den 
Gedanken  eines  Registers  nahe.  Namen  oder  Tat- 
sachen, einzeln  herausgegriffen  aus  der  Fülle  des 
verarbeiteten  Materials,  sollten  kommenden  Ge- 
schlechtern die  Handhabe  bieten,  Kulturgeschehen  und 
Kulturvergehen  der  Fackeljahre  erkennen  zu  können, 
wie  der  freie  Blick  des  satirischen  Ethikers  es  ge- 
schaut. 

Unumstößliche  Schwierigkeiten  stellten  sich  aber 
der  Ausführung  dieses  Planes  entgegen.  Nie  war  die 
, Fackel'  eine  bürgerlich  harmlose  Revue,  die  Be- 
dürfnissen und  Tendenzen,  denen  sie  entsprungen, 
durch  Jalir  nnd  Tag  mit  starrer  Konsequenz  nach- 
kommt. Aus  einem  polemischen  Flugblatt,  dessen 
sprachliche  Kunst  mit  scharfem  Spott  und  prachtvoll 
lodernder  Entrüstung  die  Schäden  des  Tages  be- 
kämpfte, wuchs  sie  zu  dem  Organ  eines  in  Kampf 
und  Gestaltung  frei  gewordenen  Denkers,  aus  einer 
vom  bürgerlichen  Mob  heißverschlungenen  satirischen 
Streitschrift  zu  dem  bestgeschriebenen,  an  Form  und 
Gehalt  künstlerischsten  Blatte  deutscher  Sprache. 

Die  Kulturarbeit,  die  Herausgeber  und  Organ 
auf  ihrem  Entwicklungsgange  in  künstlerischer  und 
sozialer  Richtung  leisteten,  die  reichen  Früchte,  die 
ethisches  und  formales  Ringen  des  Künstlers  der  Mit- 
welt wie  spielend  hinwarf,  können  nicht  an  ver- 
gänglichen Namen  noch  vergänglicherer  Zeitgenossen 
gemessen  werden.  In  Karl  Kraus'  Büchern  liegt  der 
Nachwelt  das  Dokument  seines  Werdens  und  Seins, 


—  4  - 


e  A  „„;nor  Siei?e  vor.  Tatsachendurst 
seiner  Kämpfe  und  >'«'"«[,f '^«"j-han  dieses  Register 
und  Aktualitätshunger  hatten  sich  anQ'K^^^^ 

geheftet   m  der  heutrgen  Wes^n  art  der^,^^^  ^ 

wäre  ein  Sachregister,  das  "eo"'       i^    Somußtedieses 
setzt,eineVerschiebungderPerspektive.bo 

Verzeichnis  darauf  beschrankt  werden,^e^^^^^^ 

"w'^rt^und^tran^TÄ^in   der  Entwicklung    und 
Ausgestaltung  der  .Fackel^  ^^-^p^^^^,.   ^^^^,  ,tolz 

^W^Bi^l.  ^^SS  deTÄs" 
symptomatisch  tur  aen  J-"      &  ,.  Reg  ster   den 

Dank    und    Anerkennung    soll    dieses         g   ^^^^^^^ 

verstorbenen,  »^"''""X^l'^.Xender  Erkenntnis  und 
S^dÄrrgehrr:  ^Äsen    erscheinen,  be- 

-*%a«   unserer  Kultur   --  F^P^-^,  SpT 
in  nicht  geringer  Zahl  der  Facke^        ^.^^^^  ^^^1  ^ 
genossen  waren,   wird  Ireumg  uu  ^^^^^ 

bestätigt   finden,   wer   "»"'«',,^°' /tht    Der  Lauheit 
des  BUttes  als.  Freund  gegenübersteht   Ue     ^^^^^_ 

und   Totschweigetaktil.  aber  mo  e  ^^^^,^ 

handsohuh   sein,   wie   ihn  Karl   Kra  ^jj_ 

den   Abdruck   der   Rezensionen   seine  ^ 

monatlich   hinwirft.    ^™;S,ere  Dehmel,  Liliencron, 
auf  und  liest  die  Namen  Altenberg  uen,        ^^^^_ 

Heinrich  Mann,  P^y^y^f^Äfc^eg  Uebknecht  und 
kind.  Bleibtreu  ChamberlamHercjeg  ^^^.^^^  j„ 

Sshöffel  als  Mitarbeiter   so  wachst  a  ^.^^^ 

Tatsache,  daß  für  das  offizielle  Wien  a     -  ^j^j^^ 

existiert,  ins  Grenzenlose  wenn  diese  la  j^^,^,^^^^ 
:r  dÄÄÄÄ^^ache.  ais  unglaub- 
'''^'^"A^f°tnrwi"hÄeVollständigkeitkann 


dieses  Register  keinen  Anspruch  machen.  Ver- 
schwindet doch  die  Arbeit  der  bedeutendsten 
Kraft  ganz  aus  dem  Verzeichnis.  Zahlreich  sind 
die  Gründe  für  dieses  Vorgehen,  deren  wichtigster 
ist,  daß  der  Herausgeber  als  der,  der  er  durch  elf- 
jähriges Erleben,  Erkennen  und  Gestalten  geworden, 
auf  die  ersten  Jahre  der  , Fackel*,  jener  Zeit  einer 
Arbeit,  die  offenliegenden  Schäden  und  redlichen 
Heilungsabsichten  vor  den  eigensten  künstlerischen 
Interessen  Rechnung  trug,  nur  mehr  wie  auf  ein  not- 
wendiges, doch  längst  überwundenes  Kindheitsstadiura 
zurückblicken  kann.  Klar  ist,  daß  er  von  diesem 
Standpunkte  aus  viele,  Aktualitätsgründen  ent- 
sprungene, weder  durch  die  Person  des  Autors  noch 
durch  sachlichen  oder  stilistischen  Gehalt  dauernd 
wertvolle  Beiträge  heute  nicht  mehr  als  fackel würdig 
anerkennen  kann,  noch  klarer,  daß  er  seine  eigenen 
Arbeiten  jener  Periode  kritischer  betrachten  muß,  als 
es  der  gerechte  Werter  seiner  Persönlichkeit  und  Tat 
tun  wird.  Was  er  selbst  als  zeitlich  unbeschränkte 
Werte  in  Anspruch  nimmt,  konrmt  in  seine  Bücher, 
in  die  alles  geformt  werden  soll,  was  aus  dem 
Tag  für  die  Ewigkeit  geschrieben  ist. 

Was  das  Register  der  , Fackel*  anbelangt,  so 
genüge  eine  summarische  Obersicht  seiner  rein 
quantitativen  Arbeitsleistung:  Von  der  Nr.  154  (ex- 
klusive) an,  mit  der  jede  ständige  Mitarbeit  und 
jedes  Verwerten  fremden  Materials  zu  eigenen 
Arbeiten  aufhört,  füllen  die  Artikel  des  Herausgebers 
2330  Seiten  von  3680.  (Eine  sehr  saloppe  Zusammen- 
stellung, da  die  Artikel  in  verschiedenstem  Druck 
gebracht  sind  und  die  im  kleinsten  als  »Antworten 
des  Herausgebersc  gedruckten  Glossen  oft  einen 
beträchtlichen  Teil  des  Heftes  füllten.  Gezeichnet 
hat  er  mit  vollem  Namen  von  der  Nr.  232—33 
(IX.  Jahr)  an.)  Anders  verhält  es  sich  mit  den 
ersten  154  Nummern.  Jenes  Stadium,  das  neben 
vielen    teils   wertvollen,    teils    wertlosen     Beiträgen 


und  Zuschriften  ständige  fremde  Mitarbeit  aufweist, 
widerstrebt  durch  sich  selbst  einer  genaueren 
Einordnung.  Nicht  nur  die  chifiFrierten,  auch  viele 
der  nicht  unterzeichneten  Artikel  stammen  nicht  vom 
Herausgeber.  In  vielen  Fällen  nahm  er  auch,  einer  guten 
Sache  mehr  als  dem  Gebote  künstlerischen  Egoismus 
folgend,  eine  stilistische  Überarbeitung  fremden 
Materials,  oft  fremder  bereits  fertiger  Arbeiten 
vor.  Vieles  was  die  Öffentlichkeit  so  dem  Heraus- 
geber zuschrieb  und  zuschreibt,  kann  er  als  sein 
Werk  nicht  anerkennen.  Aber  auch  sein  eigenes 
lehnt  er  ab  wie  das  fremde  Gut  jener  Jahre  und 
bekennt  sich  nur  zu  dem  was  er,  da  er  es  als  Fleisch 
von  seinem  Fleische  erkannt  hat,  in  seine  Bücher 
einschließen  wird.  Rein  äußerlich  betrachtet,  können 
von  4534  Seiten  jener  Hefte  mehr  als  die  Hälfte  für 
Arbeiten  des  Herausgebers  in  Anspruch  genommen 
werden. 

Was  die  Beiträge  betrifft,  so  wurden  sie  in  drei 
Gruppen  geschieden,  je  nachdem  sie  unter  vollem 
Namen  und  bestimmten  Pseudonymen  oder  unter  all- 
gemeinen Pseudonymen  oder  unter  Buchstabenchiffren 
erschienen  sind.  Eine  sorgfältige  Auswahl  mußte 
vorgenommen,  alles  allzu  Wertlose  ausgeschieden 
werden. 

Sämtliche  Beiträge  der  , Fackel*  sind  Original- 
beiträge, sämtliche  Übersetzungen  erste  Übersetzungen 
in  die  deutsche  Sprache.  Ausnahmen  bilden  —  neben 
jenen  Kompositionen  aus  Zitaten,  welche  wieder  die 
schöpferische  Leistung  des  Herausgebers  sind  — 
der  Artikel  Wedekinds:  »Schriftsteller  Ibsen  und 
Baumeister  Solneßc  (VIII.  Nr.  205),  der  aus 
der  Münchener  ,Freistatt'  nachgedruckt  und  so  auf 
Wunsch  des  Autors  größeren  Kreisen  zugänglich 
gemacht  wurde,  sowie  zwei  unbekannte  Aufsätze 
Kürnbergers  (XL  Nr.  298-99),  die  in  die  Gesamt- 
ausgabe seiner  Werke  keine  Aufnahme  gefunden 
hatten.     Ferner       mußten      bei      der      Publikation 


—  7   — 


von  Briefen  Oskar  Wildes  (>Kun8t  und  MoraU.  X. 
Nr.  272 — 73)  des  Zusammenhanges  wegen  einzelne 
bereits  erschienene  Briefe  wieder  mitabgedruckt 
werden.  Tschechows  Skizze  »Nachts«  (XL  Nr.  279 — 80), 
ist  durch  eine  irreführende  Angabe  des  Übersetzers 
als  erste  Übersetzung  in  die  , Fackel'  gelangt. 

Gibt  das  vorliegende  Register  einen  genügenden 
Oberblick  über  das  Wertvolle,  das  die  , Fackel'  außer 
den  Arbeiten  des  Herausgebers  enthielt  und  weist 
es  so  nach  seinen  bescheidenen  Möglichkeiten  auf 
Inhalt  und  Qehalt  des  Blattes,  so  war  die  dafür  auf- 
gewendete Arbeit  nicht  umsonst  getan. 

L.  U. 


I. 

Adam  Robert 

IX.  246—47  25,  Sprüche 
Adler  Prof.  Dr.  Karl 

I.  14  5     Über  die  Qründerrechte  bei  der  Creditanstalt 
I.  26  13   Zuschrift  über  die  Feststellungsklage 

I.  35  22   Über  die  Frage  der  doppelten  Notierung  für  Börsen- 
effekten 

II.  45  10   Der  Oberste  Gerichtshof  über  den  Gründerunfug  bei 
der  Creditanstalt 

Alten berg  Peter 

II.  60  18   Brief  über  den  Maler  Joza  Üprka 

III.  81  18  Wie  Genies  sterben 

V.  139  20  Zur  Männer-Schönheitskonkurrenz 
V.  142  18   Zu  Frank  Wedekinds  »Erdgeist« 
V.  146  25   Elektra 

V.  149  24   Monsieur  Henry  der  Conferencier 
V.  150  27   Marya  Delvard 

V.  153  20   Parabel 

VI.  160  17    Alkohol 

VI.  173  12   »Der  Sozialismus    und    die  Seele  des  Menschen« 
von  Oskar  Wilde 

VII.  194  20  Cabaretlied 

VIII.  205  20   Aus  einem  Zyklus:  »Märchen  des  Lebens« 
VIII.  207  22   Der  Herrensitz  in  U. 

XI.  300  8  Widmung 
(mit  Egon  Friedeil) 
VII.  191  12   Das  schwarze  Buch 
Bab  Julius 
V.  155  17   Der  Ruf 


9  — 


Barchan  Paul 

X.  275—76  20,  Erotische  Krisen 

Beck  Dr.  Berthold 

VI.  171  4  Der  Gesetzentwurf  zur  Verbesserung  des  Schutzes  der 

Ehre,  Antrag  Lamraasch-Chluniecky-Bilinski 
VI.  173  8  Zuschrift  zum  Artikel  in  Nr.  171 

Beutier  Margarethe 

VIII.  207  23,  Gedichte  (Die  Vorübergegangenen,  Tanzlied,  Ver- 
heißung) 
VIII.  219-20  23  Wandlung 

Bleibtreu  Karl 

II.  54  IQ  Liebe  Neue  Freie  Presse 

II.  55  22  Hat  Gott  euch  je  gesegnet  .... 

II.  69  29,  Gutachten  zum  Bahrprozeß 

III.  97  1,  »Alldeutsche  Ehrlichkeit  und  Objektivität« 

IV.  101  13   Wie  werden  Dichterpreise  und  Dichterruhra  verteilt? 

V.  147  4   Über    Müller -Guttenbrunns     Denkschrift    über    das 
Kaiser-J  ubi  läuras-Theater 

V.  157  12  Otto  Weiningers  »Geschlecht  und  Charakter« 

VI.  165  18   Gegen  einen  Angriff  in  der  »Deutschen  Zeitung' 

XI.  294-95  38  Rhabarber 

s 
Chamberlaln  Houston  St. 

III.  87  1  Der  voraussetzungslose  Momrasen 

III.  92  1  » Katholische <  Universitäten 

IV.  127  19  Zuschrift   betreffend   eine  Zeitschrift  und  seine  an- 
gebliche Mitarbeit 

IV.  130  18  Zuschrift  betreffend  dieselbe  Sache 

Dehmel  Richard 

XI.  300  1  Sprüche 

Ehrenstein  Albert 
XI.  296-97  36  Wanderers  Lied 

Ellenbogen  Dr.  Wilhelm 

I.  25  13  Man  muß  sich  tot  melden 
I.  27  1  Man  muß  sich  tot  melden 
I.  30  4    Man  muß  sich  tot  melden 


10 


Engel  Dr.  Friedrich  von 

VI.  172  3  Zuschrift  zu  Berth.  Becks  Artikel  in  Nr.  171 
Erbt 

X.  261-62  41  Die  Mütter 
Farga 

VI.  171  13  Literatur 
Förster- Nietzsclie  Elisabeth 

X.  272—73  39  Zuschrift 
Forei  Prof.  Dr.  August 

V.  141  13  Brief  über  die  Affäre  Paetz 
Fränki  Vilctor 

11.  50  16  Über  den  Zietenprozeß 
Frledeii  Egon 

VII.  190  4,  Vorurteile 

VII.  191  11  Die  Lehrmittel  (Noch  ein  Vorurteil) 

VII.  193  9  Zwei  Skizzen  (Der  Panamahut,  Die  Bolette) 

VIII.  201  14  Pilatus 

VIII.  202  10  Brief:  Ein  Schmerzensschrei 

VIII.  204  14  Ib§en 
(mit  Peter  Altenberg) 

VII.  191  12  Das  schwarze  Buch 
Grünewaid  Alfred 

IX.  239-40  25  Hans  Zwiesel 
Harden  iVlaxImiiian 

I.  2  1,  Lieber  Kamerad  Kraus  .... 

II.  69  23,  Gutachten  zum  Bahrprozeß 
Hauer  Karl  (Lucianus) 

VII.  188  11  Lob  der  Hetäre 

VIL  190  11  Geld 

VII.  192  8  Erotik  der  Keuschheit 

VII.  194  12  Die  Klassiker 

VII.  194  21  Glosse  unter  »Betschwester« 

VII.  198  11  Erotik  der  Kleidung 

VII.  200  5,  Phrasen 

VIII.  201  8  Weltbild 

VIII.  203  1  Sätze  von  Marquis  de  Sade  (mit  Zitaten) 

VIII.  205  1  Ibsen,  ein  Brief 

VIII.  206  1  Sätze  von  Marquis  de  Sade  (Zitate) 


—  11  — 

Hauer  Karl  (Luclanus) 

VIII.  207  1,  Spiegel  sterbender  Welten 
VIII.  210  3  Die  sozialdemokratische  Religion 
VIII.  213  5  Weib  und  Kultur 
VIII.  218  7  Der  Wert  der  Arbeit 

VIII.  219-20  23  Die  Voraussetzungen  des  Theaters 

IX.  223—24  18  Erotik  der  Grausamkeit 
IX.  227-28  10  Das  Kind 

IX.  230—31  6  Das  Qehirn  des  Journalisten 
IX.  239—40  19  Die  Hinrichtung  der  Sinne 
IX.  246-47  1 1  Das  Wesen  der  Musik 

IX.  248  5  Der  Tag  des  Herrn 

X.  250  11  Staatliche  Kunstpflege 
X.  253  7  Pornographie 

X.  267—68  32  Von  den  fröhlichen  Menschen 

X.  277-78  41  Die  Verteilung  der  Macht 

XI.  287  20  Heilig  ist  die  Leidenschaft 
Helm  Maria 

VIII.  202  23,  Gedichte  (Seziersaal,  Trennung,  Vor  dem  Konzert, 
Prima  gravi ditas) 
Heinemann  Dr.  Hugo 

I.  9  1,  Über  die  Zuchthausvorlage 
Heinrich  Karl  Borromaeus 

X.  251-52  8  Offener  Brief  an  Karl  Spitteler  (siehe  dessen  Ant- 
wort Nr.  253,  S.  17) 

X.  253  17  Antwort  auf  die  Zuschrift  Karl  Spittelers  in  Nr.  253 
X.  266,  1,  Rudolf  Wilke 

X.  269  6  Missa  Solemnis  Tragica  (Bruchstück  aus  dem  Manu- 
skript eines  Romans,   der  später  unter  dem  Titel  »Karl  Asen- 
kofers  Flucht  und  Zuflucht <  als  Fortsetzung  von  >Karl  Asen- 
kofer,  Geschichte  einer  Jugend«  erschien) 
X.  275—76  30  Pascin 

X.  277—78  61    Offener  Brief  an   den  Herausgeber  der  , Fackel' 

XI.  287  14  An  den  unbekannten  Freund 

XI.  296—97  26  Baron  Frangart  und  der  Bajazzo,  (Bruchstücke 
aus  dem  Manuskript  eines  Romans  »Menschen  von  Gottes 
Gnaden«) 


12 


Herczeg  Franz 

VI.  177  17  Ranko  der  Held 

VII.  186  2,  Bemerkungen  zur  Krise  in  Ungarn 
Hervay  Tamara  von 

VI.  170  15,  Bruchstücke  aus  Briefen 
Hetz  Arthur 

X.  259-60  30  Der  Beamte 
Heyse  Paul 

II.  69  26,  Gutachten  zum  Bahrprozeß 
Hiile  Peter 

XI.  300  6  Judas  Ischarioth 
Hofmannsthal  Hugo  v. 

VI.  162  24  Zuschrift  über  die  Liliencron-Festschrift   und   seine 
(Hofmannsthals)  Ablehnung  der  Mitarbeit 
Holltscher  Arthur 

I.  15  8  Über  die  Dreyfusaffäre 
Jellnek  Oskar 

X.  254—55  11  »Frühlingserwachen« 
Jordan  Wilhelm 

II.  69  31  Mitteilung  eines  Gutachtens  zum  Bahrprozeß  durch 
seine  Tochter 

Korski  Julian 
II.  52  5  Brief  über  die  Konfiskation  seines  Blattes,  des  .Stowo 
polskie' 

Koimian  Stanislaus  v. 

VI.  174  13  Burgtheater  1873 
Kraus  Karl  (ca.  4700  Seiten) 

Aufsätze,  Glossen,  Aphorismen 
KQrnberger  Ferdinand 

IV.  124  2    Abdruck    eines    bisher    unveröffentlichten    Briefes 
Ferdinand  Kürnbergers  an  Fischhof  vom  8.  Juni  1871 

VIII.  214— 15  7  Die  Geschichte  meines  Passes,  aus  dem  Nachlaß. 

XI.  288  5,  Briefe 

XI.  294-95  17,  Briefe,  mitgeteilt  von  Luise  Hackl 
XI.  298-299  11  »Ich« 


-  13  - 

Kürnberger  Ferdinand 

Xi.  298-299   17   Üie   Schöffel-Chlumecky-Debalte  au!   meiner 
Arbeitsbank 

XI.  300  15  Ein  Brief 
Kyon 

VIII.  201  17,  Splitter 
Laskor-SchQler  Eis« 

XI.  288  13.  Gedichte  (Siehst  du  mich  — ,  Und  such«  Oott) 

XI.  294-95  26.  Gedichte  (Die  Königin,  Heimweh) 
Lewinsky  Josef 

VIII.  221  6  Vier  Briefe 
Liebknecht  Wilhelm 

I.  18  1,  Nachträgliches  zur  Affäre  I 

I.  19  1,  Nachträgliches  zur  Affäre  II 

I.  21  1,  »Schlußwort«  zur  Affäre 

II.  42  2  Das  Ende  einer  Komödie 
II.  44  5  Zweilerlei  Nachträgliches 

Lillencron  Detlev  v. 

VII.  188  14  Die  betrunkenen  Bauern 

VIII.  203  13  Der  Tod  des  Herzogs  von  Qandia 
VIII.  206  22,  Hyazinthen 

X.  274  5  Zuschrift  über  Peter  Altenberg  zu  dessen  50.  Geburtstag 

X.  277—78  52  Anakreontisches  Liedel 

XI.  287  32  Begräbnis  (aus  dem  Nachlaß) 
Loos  Adolf*) 

XI.  300  13  Aufruf  an  die  Wiener 
Loos  Viktor  Prof. 

II.  49  22,  Fachblätter 

III.  93  12  Der  technische  Impresario 
III.  94  IG  >Neue  Freie  Physik« 

III.  95  13  Fotschacher  Typhus 

III,  99  11  Der  drahtlose  Impresario 

IV.  108  19  Das  deutsch-österreichische  Biidungslaboratorium 
IV.  115  24  Über  Mittelschulverhäitnisse 


*)  Dem  fälschlich  die  Autorschaft  anderer  kunstkritischer  Beiträge 
zugeschrieben  wurde. 


Loos  Viktor  Prof. 

IV.  116  17  Concordats-  und  Concordiaschule 
IV.  130  10  Die  Kanonade  von  Solferino 

IV.  132  18,  Antisemitische  Gasuhren 

V.  135  12.  Versenkte  Millionen 

V.  140  5  Der  Kampf  gegen  die  Tuberkulose 

V.  144  10  Der  Kampf  um  die  Straße,  eine  Rückschau 

V.  148  15  Riedler  in  Wien 

VI.  160  14  Der  moderne  Schulmeister 
VI.  163  4  Die  Kartoffelbegeisterung 

VI.  168  20  Die  Wissenschaft  auf  der  Straße 
VI.  174  4  Die  verstaatlichte  Technologie 
VI.  175  11  Tetmajer 

VI.  177  8  Hueppe  und  Hartel 

VII.  188  3  Haus  und  Schule.  (1.  Die  Diebe  ihrer  Recht«,  2.  Ver- 
krüppelt) 

Lucka  Emil 

V.  144  15  Zuschrift  über  Otto  Weininger 
Machar  J.  8. 

XI.  283-84  48  Juli  im  Walde,  übersetzt  von  Felix  Gräfe 
Mann  Heinrich 

VII.  196  12  Alt 
Martellus 

VI.  171  4  O  du  mein  Österreich 
Martersteig  Max 

II.  69  32,  Gutachten  zum  Bahrprozeß 
Mauthner  Fritz 

II.  69  27,  Gutachten  zum  Bahrprozeß 
Morvay  Henry  S. 

X.  256  9,  Schreiben  aus  Hawaii 
Mühsam  Erich 

VII.  199  16  Das  Cabaret 

VII.  200  16,  Symbole 

VIII.  202  4,  Boheme 

VIII.  206  13  Der  Künstler  im  »Zukunftsstaat« 

VIII.  210  18,  Deutsche  im  Ausland 

IX.  223-24  10  Zur  Naturgeschichte  des  Wählers 


—  15  — 


Müller-Quttenbrunn  Adam 

I.  28  24  Zuschrift  über  das  Kaiser-Jubiläums-Stadttheater 

V.  146  12  Abdruck  der  Denkschrift  über  die  Lage  des  Kaiser- 
Jubiläums-Stadttheaters  zu  Händen  des  Herrn  Bürgermeisters 
Dr.  Karl  Lueger 

Piper  Kurt 

VI.  164  16  Den  Huldigern  Liliencrons 
Przybyszewski  Stanislaw 

IX.  239—40  1  Das  Geschlecht,  Weiningers  Manen  gewidmet 

IX.  242—43  1,  Brief  an  den  Herausgebet  der  .Fackel'  (über 
Harden) 

XI.  300  32  Ein  Qruß 
Rappaport  Moritz 

V.  152  19  Zur  Zuschrift  Leopold  Weiningers  in  Nr.  150 
Reformator 

VII.  195  1  Status  cridae,  eine  Stimme  zur  Beamtenfrage 

VIII.  202  3  Ein  Vorschlag 
Reid  John 

II.  69  31,  Gutachten  zum  Bahrprozeß 
Rittner  Thaddftus 

VII.  200  Q  Und  Pippa  tanzt 
Rosner  Karl 

IV.  115  29  Zuschrift  gegen  das  .Neue  Wiener  Journal' 
Rubiner  Ludwig 

XI.  294—95  12  Das  Schicksal  der  Maschine 
Scharf  Ludwig 

VII.  193  13  Wer  nie  das  Elend  sah 
Scheerbart  Paul 

VIII.  205  22,  Unverantwortliche  Gedichte  (Hohle  Symbole, 
Kosmischer  Trost) 

Scheu  Robert 
VII.  191  1  Der  Sozialanwalt,  Gedanken  zur  Revision  des  bürger- 
lichen Gesetzbuches 
VII.  194  1  Die  Wahlreform,  offener  Brief  an  Karl  Kraus 
VII.  196  5  Duell  und  kein  Ende 

VII.  198  3,  Kanonen  aus  Kirchenglocken 

VIII.  201  3  Das  Problem  der  Provinz 


-  16  ~- 

Scheu  Robert 

VIII.  203  5,  Tory  und  Whig 

VIII.  206  4  Bildung  (Zur  Mittelschulfrage) 

VIII.  210  10  Die  gesellschaftliche  Notzivilehe,  ein  Ultimatum 

X.  277—78  1,  Karl  Kraus,  zum  10.  Jahrestag  des  Erscheinens 
der  ,  Fackel'  1899—1909 

XI.  281—82,  3  Viktor  Adler,  das  Lebenswerk  eines  konservativen 
Politikers 

XI.  283-84  25  Adolf  Loos 
XI.  285-86  19  Joseph  Schöffel 

Schöffel  Joseph 

III.  81  2   Brief  über  den  Wienerwald  und  die  ,Neue  Freie  Presse' 

IV.  112  1,  Brief  gegen  die  .Deutsche  Zeitung' 
IV.  116  1  Der  Parlamentarismus,  eine  Studie  I. 
IV.  117  1  Der  Parlamentarismus,  II. 
IV.  120  1  Die  Autonomie,  eine  Studie 
IV.  125  1  Immunität  und  Inkompatibilität,  eine  Studie 
IV.  126  1  Orakelsprüch^ 
IV.  170  1,  Offener  Brief  an   Herrn  Landtagsabgeordneten  Pater 

Bauchinger 
VII.  179  7  Eine  Schmutzerei 
VII.  180—81  12  Meine  Tätigkeit  im  Landesausschuß 
VII.  183-84  33  Mödlings  älteste  Urkunde 
VII.  189  1  Meine  Antwort 
XI.  298—299  22,   Briefe  an  Kürnberger  und  an  Karl  Kraus 

Schönberg  Arnold 

X.  272-73  34  Offener  Brief 

XI.  300  9  Lied  (Worte  von  Stefan  George) 
Soyka  Otto 

VI.  173  15  Zum  Fall  Wilde  (Eine  Studie) 

VII.  186  20  Psychiatrie,  Vorabdruck  aus  >Jenseits  der  Sittlich- 
keitsgrenze« 

VII.  191  6  Zwei  Bücher  (Rezensionen  über  Prof.  A.  Foreis  >Die 
sexuelle  Frage«  und  Dr.  Siegmund  Freuds  »Drei  Abhandlungen 
zur  Sexualhygiene<) 

VIII.  206  10  Sexuelle  Ethik 
X.  253  13  Der  Sklave 


Soyka  Otto 
X.  254—55  36  Eulenburgs  Briefe 
X.  259-60  32  Tugendkurs 
X.  264-65  37  Der  neue  Ruhm 
X.  267—68  28,  Bücher  (Rezensionen  über  »Karl  Asenkofer«  von 

K.  B.  Heinrich  und  über  >Ödipus«  von  Willi  Speyer) 
X.  270-71  40  Der  Fall  des  Max  E. 
X.  274  6  Spiel 
X.  275-76  11  Mittelschule 

X.  277—78  47  Der  farblose  Krieg 

XI.  281-82  36  Eine  gelungene  Satire 
Spahn  Martin 

V.  145  1  Ferienkurse  und  katholische  Universitäten 
Spitteler  Karl 

X.  253  17  Zuschrift    zum    offenen    Brief  .K.   B.   Heinrichs    in 
Nr.  251—52 
Spitzer  Daniel 

VI.  176  IQ  Epigramm  (bis  dahin  unveröffentlicht) 
Stoessl  Otto 

VII.  197  1,  Ludwig  Speidel 

X.  254—55  25  Der  Skeptiker  (anläßlich  der  neuen  Ausgaben 
von  Vauvenargues,  Larochefoucauld,  Chamfort,  Lichtenberg 
und  Montaigne) 

X.  259—60  24  Kunstschau 

X.  264-65  33  Der  Germanist 

X.  267-68  16  Kameraderie 

X.  272—73  39  Abend 

X.  274  6  Leben 

X.  277-78  53,  Jugendromane 

XI.  289  17  Der  Schatten 
XI.  290  5  Balzac 

XI.  294 — 95  5  Lebensform  und  Dichtungsforni 
XI.  300  10  Eine  Zeichnung  von  Pascin 
Strindberg  August 
V.  144  1,  Idolatrie,  Qynolatrie,  Nachruf  für  Otto  Weininger») 
V.  144  15  Brief  an  Otto  Weininger 


*)  Ober  Aufforderung  der  .Fackel'  geschrieben. 


18 


Strindberg  August 

V.  146  23  Der  Holländer  (Beim  Anblick  der  Lilith) 

V.  148  1  Der  literarische  Nobelpreis,   ein  Manifest   zum  dritten 

Nobelpreis  (10.  Dezember  1903) 
V,  150  14  Die  Drangsale  des  Lotsen,  ein  Märchen 

V.  155  13,  Andachtbücher 

VI.  172  10  Zuchtwahl  des  Journalisten 

VII.  192  14  Attila 

VII.  202  14  Der  Diener  der  Diener 

VI II.  212  1  Das  tausendjährige  Reich 

IX.  236  9  Mann  und  Weib,  Betrachtungen 

X.  270—71  20,  Schlafwandler 

XI.  281-82  18  Mann  und  Weib 
Xi.  300  2,  Eingebildete  Kranke 

Tertlus  gaudens 

11.  62  15  Das  Reklame-Drama 

II.  63  1,  Wahlkampfdämmerung 

11.  64  4  Epilog 

II.  67  19  Ein  Erfolg 
Tesar  L.  E. 

XI.  298-99  34  Oskar  Kokoschka,  ein  üespräch 
Tömörköny  Stefan 

VI.  161  16  Der  Kampf  mit  dem  Soldaten 
Tschechow  Anton 

XI.  279-80  16  Nachts,  Übersetzung  von  Paul  Barchan 
Ullmann  Ludwig 

XL  296—97  39  Peter  Altenberg,  Bilderbogen  des  kleinen  Lebens 
Viertel  Berthold 

XI.  298-99  33  Den  fünfzehnjährigen  Selbstmördern 
Wedeltind  Frank 

V.  143  26  Zwei  Gedichte  (Abschied,  Trost) 

VI.  167  15  Das  Lied  vom  armen  Kind 
VI.  172  21  Konfession 

VI.  175  22  Zwei  Gedichte  (Das  Opfer,  Revolution) 

VII.  182  16,  Dankschreiben   an  Karl  Kraus,   anläßlich  der  Auf- 
führung der  >  Büchse  der  Pandora< 

Vll.  182  23  Zwei  Gedichte  (Ave  Melitta,  Der  Zoologe  von  Berlin) 
VII.  183-84,  1,  Totentanz,  Drei  Szenen 


—  19  - 

Wed«klnd  Frank 

VII.  197  13  Die  Wetterfahne 

VIII.  203  23  Zuschrift 

VIII.  205  5  .Schriftsteller  Ibsen  und  Baumeister  Solneß« 

IX.  227—28  1  Die  sechzig  Zeilen  und  die  sieben  Worte 
IX.  229  19  Der  Dampfhammer 

Welninger  Leopold 

V.  150  28  Zuschrift  zur  Richtigstellung  der  Vorrede  von  Ȇber 
die  letzten  Dinge«  von  Otto  Weininger 

VI.  169  6  Der  Fall  Otto  Weininger 

Wttininger  Otto 

V.  145  26,  »Sucher  und  Priester«  (Zur  Charakterologie),  aus 
dem  Manuskript  des  nachgelassenen  Werkes  Ȇber  die  letzten 
Dinge« 

Wengraf  Richard 

I.  4  22  »Jourbesuch« 

Wilde  Oskar 

VII.  185  9  Ravenna,  in  freier  Nachdichtung  von  Felix  Dörmann 
VII.  188  1  Sätze  und  Lehren  zum  Gebrauch  für  die  Jugend 
VII.  189  17  Noch  einige  Leitsätze 

VII.  194  15  To  Mrs.  Langtry   (englisch,  aus  dem   Manuskript, 

und  deutsch) 
IX.  239—40   12    Walter  Pater,    erste    Übersetzung   eines    1890 

entstandenen  Essays 

IX.  246-47  3  O.Wildes  letzte  Veröffentlichung,  an  den  Heraus- 
geber des  , Daily  Chronicle'  unter  dem  Titel  »Wer  heute  froher 
Laune  bleiben  will,  lese  dies  nicht«,  gezeichnet:  Der  Autor 
der  Ballade  vom  Zuchthaus  zu  Reading.  Übersetzt  von  L.  R. 

X.  261  —  62  15  The  harlots  house,  übersetzt  von  Felix  Gräfe 

X.  264—65  5  Ein  chinesischer  Philosoph,  übersetzt  von  Leo  Ronig 
X.  267—68  1,   Sonett,  written   in  Holy  Week   at  Genoa,   über- 
setzt von  Felix  Gräfe 
X.  270 — 71  48  Vita  nuova,  übersetzt  von  Felix  Gräfe 
X.  272 — 73  5  Kunst  und  Moral,  übersetzt  von  Leo  Ron  ig 

Wilhelm  Julius  Dr. 

VI.  197  10  Status  cridae 


20 


Winterstein  Alfred  von 

XI.  285—86  17  Der  Stundenzeiger 
Witteis  Fritz  Dr.  (Avicenna) 

Vlir.  218  14  Ladislaus  Posthumus 

VIII.  219—20  1    Das  größte  Verbrechen  des  Strafgesetzes  (Das 

Verbot  der  Fruchtabtreibung) 
VIII.  221   11  Die  drei  Schwestern 

VIII.  222  5  Das  Stammbuch 

IX.  225  10,  Weibliche  Ärzte 

IX.  227—28  26  Die  vermeyntliche  Hexe 

IX.  230-31  14   Das  Kindweib 

IX.  238  1    Die  Lustseuche 

IX.  244  11  Die  Versuchung  des  jungen  Prenberger 

IX.  246-47  26,  Weibliche  Attentäter 

IX.  248  9  Die  Feministen 

X.  250  16  Sexuelle  Aufklärung 
X.  254—55  14  Gottesurteil 

Wolfgang  Bruno 
X.  264-65  40  Die  Liebe  zum  Staate 
X.  267—68  44  Für  das  Kind 


(Erklärungen,  Mitteilungen  etc.) 
Blümner  Rudolf 

XI.  290  24    Gegen    den    Präsidenten    der    Deutschen    Bühnen- 
genossenschaft, Herrn  Nissen 
Blümner  Rudolf,    Döblin  Aifred,    Friedländer  S.,  Hardeltopf 
Ferdinand,  Kalischer  Siegmund,  Kurtz  Rudolf,  Lasker-Schüler 
Else,    Rubiner    Ludwig,    Schickele    Rene,    Spiro    Mario, 
Stössinger  Felix 
XI  294—95  39  Gegen  die  Eigentümer  der  Zeitschrift  ,Das  Theater' 
Freund  Fritz 

VI.  169  17  Gegen  Scherings  Erklärung  (in  Nr.  167) 
Landau  S.  R.  Dr. 

I.  20  8  Gegen  die  ,Zeit' 
Roda 
VI.  163  15  Gegen  die  ,Zeit' 


Schering  Emil 

VI.  167  13  üegen  den  Wiener  Verlag 
VI.  169  18  üegen  F.  Freunds  Antwort  (in  Nr.  169) 
Waiden  Herwarth 

XI.  290  26   Gegen    den    Präsidenten    der    Deutschen    Bühnen- 
genossenschaft, Herrn  Nissen 


ii. 


Zuschrift  aus  Ägypten 

VII.  182  20    Über  die  Ägyptenreise  des  Wiener  Männergesang- 
vereins 
Bin  Arzt 

II.  36  20  Die  Inserate  in  den  Fachzeitschriften 

IV.  119  4  > Scharlach-Serum« 
Ein  Bürgerschuliehrer 

IV.  121  7  »Die  moderne  Schulpflicht« 
Ein  Doktor 

II.  49  17  Zur  Titelfrage  der  Techniker 
Ein  Jüdischer  Fabrikant  aus  Qalati 

IX.  223—24  15    Zuschrift   üt)er    die  .Neue    Freie    Presse*    und 
die  rumänischen  Judenverfolgungen 
Ein  Jüngerer  österreichischer  Gelehrter 

III.  86  1,  Offener  Brief  an  den  Orafen  Hoensbroech 
Ein  Geschworener 

IX.  236  23  Zuschrift  über  den  Prozeß  Krafft 
Von  hochgeschätzter  Seite 

I.  31  5  »Ruskin« 
Ein  Jurist 

IV.  134  1,  Richtermangel  und  Richterüberfluß 
Vif.  199  7  Der  rechtshistorische  Wahnsinn 

Eine  Katholikin 

III.  84  12  Über  den  Liguoristreit 
Ein    ehemaliger    Lehrer    des    katholischen    Schul- 
vereins 

VII.  195  7  Kind  und  Kirche 


—  22  — 

Ein  Verteidiger  der  Matura 

II.  45  18  Zuschrift 
Ein  Mediziner 

l.  15  23  Von  Pest  und  Presse 
Ein  Musiker 

V.  137  14  Über  Haberlandts  Wolfbiographie 
Ein  alter  del<orierter  Offizier 

VI.  170  12  Über  die  Kriegsschule 
Zuschrift  aus  Peking 

V.  155  3  Über  die  österreichische  Landkonzession  in  China 
Von  einem  Aufseher  des  Zuchthauses  zu  Reading 

VIII.  204  1,   Oskar  Wilde   im   Gefängnis,   aus   dem   englischen 

Manuskript  von  Sherards  Wilde-ßiographie 
Ein  Wiener  Richter 

I.  28  12  Zur  Zuschrift  Prof.  Karl  Adlers  in  Nr.  26 
Ein  Freund  Österreichs  am  serbischen  Hof 

II.  38  1,  »Goluchowski  und  Milan« 
Ein  Sozialpolitiker 

IV.  132  4  Zuschrift 
Ein  Staatsbeamter 

VII.  198  9  Status  cridae 

Brief  eines  k.  k.  Staatsbeamten 

VIII.  201   1  Zur  200.  Nummer  der  .Fackel' 
Von  einem  Strafrechtslehrer 

IV.  125  26,  Gutachten  über  Erpressung 
Ein  Supplent 

I.  11   10  »Realschule« 
Ein  Techniker 

I.  27  8  >Vom  zweiten  Geleise« 
Von  einem  Überlebenden 

XI.  298—99  31  Schülerselbstmord 
Zuschrift  aus  Universitätskrelsen 

I.  16  21 

in. 

(Buchstabenchiffren) 
O.  A. 

X.  253  23  Der  literarische  August 


—  23  — 


IX.  227-28  22  Ellen  Key  und  Friedrich  Nietzsche 
E. 

II.  37  5  >Hunguica< 
J.  F. 

IV.  127  11  .  Wirtschaf  ts-Ehemoral« 

IV.  134  5  »Kein  Duell* 

V.  139  13  Zuschrift   über  Hinterstoißers  Gutachten  über  Hans 

Georg  Paetz 
V.  140  13  Zu  Benedikts  Urteil  in  der  .Wage'  (Nr.  23,  1903)  über 

Hinterstoißers  Gutachten  über  H.  G.  Paetz 
V.  144  8  Über  den  Fall  Dippold 
V.  149  10,  Kellner  jungen 
V.  151  6  Über  Ärztefurcht 

V.  154  12  Wucher 
V.  Fr. 

II.  53  25  Zuschrift  über  den  Qoethebund 
Q. 

I.  34  11  Über  den  Oerichtspsychiater  Dr.  Josef  Hinterstoißer 
H. 

VII.  200  14  »Nordauc 
L. 

VI.  163  13  Über  den  Fall  Brik— Emperger 
V.  L.  Prof. 

I.  32  12  Zuschrift  über  den  Niedergang  der  Technik 

AI.  V.  R. 

I.  17  12  Über  die  Judenfrage,  siehe  Nr.  11 
J.  R. 

I.  11  6  Zuschrift  zum  > Universitätsbummel« 
L.  R. 

IX.  246 — 47    1,  Vorwort  zur  Übersetzung  von  >Oskar  Wildes 
letzter  Veröffentlichung* 
H.  V.  8. 

I.  11  8  »Gymnasium« 
M.  S. 

VII.  179  13  Zuschrift   über   Ellen   Key  und   ihren  Wiener  Auf- 
enthalt im  Jahre  1905 


i 


-302  1  1910  XI.  JAHR 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

B  SKI :  Die  Tat/ AUGUST  S  ERG:  DerHunds- 

tt/FELlX  STOSSINGER:  Carlos  und  Nicolas*/ ALEXANDER 

•     •'^^'"*    ^^  ^,  7ERTH0LDVIERTEL: 

^ oerg/ FELIX  GRÄFE: 

as  Lied /ROBERT  SCHEU:  Karl  Lueger  / Selbstanzeige / 
KARL  KRAUS:  Glossen 


NACHDRUCK  VBRBOTBN 

PREIS  DER  DOPPELNUMMER  60  HELLER 
ERSCHEINT    LN    ZWANGLOSER    FOLGE 


VERLAG:  ,DIE   FACKEL'  WIEN —  BERLIN 

\    m/2,    HINTERE    ZOLL>i."-"~"\SSE    3      TELEPHON    Nr/M87 
:^LINER    BUREAU:  SE,     KATHARI^.IEN STRASSE    5 


Da  der  großen  Nachfrage  nach  Karten  zur 

VORLESUNG  KARL  KRAUS 

am'  3.  Mai  nicht  vollständig  entsproch  i 
werden  konnte,  dürfte  eine  Wiederholung 
im  Mai  K  J.  stattfinden.  Anmeldungen  zum 
Bezüge  einer  Einladung  sind  ehestens  i 
die  Leitung  des  Akademischen  Verbandes 
für  Literatur  und  Musik  in  Wien  IX 
MüHnergasse  22  zu  richten.  Karten  zu 
K  10. — ,  5. — ,  2. —  und  1.—.  Ein  Teil  des 
R^inerträgnisses-  dieser  Vorlesung  ist  dem 
erkrankten  Dichter  Peter.  Alten berg  ge- 
widmet. Anmeldungen  von  Studenten 
werden  diesmal  der  ganzen  Zahl  nach 
berücksichtigt. 

Das  Programm  dürfte  enthalten: 

Heine  und  die  Folgen 

(Essay,  unveröffentlicht) 

Die  chinesische  Maue 


DIEFA 


Nr.  301—302  3.  MAI  1910  XILJAHR 


Die  Unschuldige 
Von  Heinrich  Mann 

I 

Im  Toilettezimmer.  Die  alte  Frau  entkleidet  die 
junge. 

»Was  hast  du?  Deine  Hand  blutet?« 

»In  deinem  Schleier  stak  eine  Nadel.« 

»Gib  doch  acht!  Ich  habe  genug  Blut  gesehen.« 

»Armes  Kind,  arme  kleine  Gabi.  Du  darfst  ver- 
langen, daß  dieser  dich  glücklich  macht.« 

»Ich  hätte  es  mir  verdient.« 

»Weißt  du  noch,  wie  ich  traurig  war,  als  ich  dich 
für  —  jenen  schmückte,  für  deinen  ersten  Mann?  Du 
warst  voll  Vertrauen,  ein  unschuldiges  Kind.  Mir  aber 
ist's  jetzt,  als  hätte  ich  Ahnungen  gehabt.« 

»Schweig,  schweig  doch!« 

»Ich  will  sagen:  Dieser  wird  dich  glücklich 
machen.  Und  hättest  du  ihn  denn  bekommen,  wenn 
der  Andere   nicht  —   auf  solche  Art  geendet  hätte?« 

Sie  zieht  der  Herrin  den  Rock  herab,  sie  umarmt 
ihre  Knie. 

»Gabi,  kleines  Herz,  als  ich  dir  in  unserem  alten 
Kinderzimmer  durch  die  Scheiben  die  Leute  zeigte, 
da  wußten  wir  beide  noch  nicht,  wie  böse  sie  gegen 
dich  sein  würden.  Und  doch  hatte  jener  dich  so  sehr 
gequält;  es  war  dein  Recht,  daß  er  umkam.« 

»Du  sprichst,  als  ob  ich's  gewollt  hätte.« 


—  2  — 

Sie  stößt  sie  fort.  Die  alte  Frau    bekreuzigt  sich. 

»Gott  behüte  mich!  Ich  wäre  ja  so  schlecht,  wie 
alle,  die  dich  verfolgt  und  verleumdet  haben  ein  Jahr, 
ein  ganzes  Jahr  lang.  Er  aber,  der  Doktor:  o!  ich 
habe  ihn  kennen  gelernt  in  der  schlimmen  Zeit,  und 
wenn  er  jetzt  kommt  —  wie  er  schon  ungeduldig  sein 
wird,  daß  ich  ihn  rufe !  —  dann  mußt  du  ihm  danken, 
hörst  du?  süß  und  fromm  danken,  wie  wir,  als  du 
klein  warst,  dem  lieben  Gott  zusammen  gedankt 
haben.  Denn  der  Herr  ist  ein  Engel,  immer  hat  er 
an  deine  Unschuld  geglaubt.« 

»Muß  man  dazu  ein  Engel  sein?  Siehst  du,  wie 
du  schwatzest?  Bring  mir  lieber  ein  Hauskleid!  Nein, 
ein  dunkleres:  das  silbergraue.« 

»Willst  du  ihn  denn  nicht  dort  drinnen  erwarten?« 

—  und  die  alte  Frau  zeigt  auf  den  geschlossenen 
Vorhang. 

»Ich  glaube,  daß  wir  vorher  zu  reden  haben.« 
Die  Alte  streichelt  sie. 

»Heut  Nacht,  sollt  ich  meinen,  redet  sich's  besser 
auf  dem  Kopfkissen.  Du  liebst  ihn  doch?« 
»Ich  möchte  ihn  sehr  lieben.« 
»So    oft  er  aus  deiner  Zelle  zu  mir  heraus  kam 

—  denn  ich  stand  auf  der  Straße  — :  o!  so  bewegt, 
so  stark  sah  ich  nie  einen  Menschen.  Augen  hatte  er, 
daß  noch  ich  alte  Frau  mich  verliebt  hätte.  ,Ihre 
Herrin  ist  unschuldig',  sagte  er.  ,Ich  weiß  es;  und  ich 
werde  machen,  daß  alle  es  erfahren'.« 

»Was  tat  er  weiter?« 

»Er  nahm  mich  im  Wagen  mit,  sah  mir  in  die 
Augen  und  verlangte,  daß  ich  mich  erinnern  solle.« 

Die  junge  Frau  wendet  sich  ihr  rasch  zu. 

»Und  du?« 

Die  Alte  bewegt  vorsichtig  den  Kopf. 

»Es  versteht  sich,  daß  ich  nicht  alles  sagte.« 

»Ich  habe  es  bemerkt.« 

»Kann  man  denn  das?  Ich  werde  mich  hüten  zu 
sagen,   daß  du  als  kleines  Mädchen   der  Katze  einen 


—  3 


Strick  um  den  Hals  bandest  und  sie  aus  dem  Fenster 
hängtest.« 

»Ja:  man  würde  seine  Schlüsse  daraus  ziehen. 
Auch  er.  Vielleicht  sogar  du.« 

»Gott  bewahre!  Eine  Katze  ist  kein  Mensch.  Ein 
Kind  ist  keine  Frau.  Deinen  Mann  umbringen!  Du, 
die  ich  habe  zur  Welt  kofnmen  sehen.« 

»Was  beweist  das.  Du  hast  vielleicht  eine  Mör- 
derin zur  Welt  kommen  gesehen.« 

Die  Alte  spreizt  die  Hand.  Sie  macht  sich  zu 
schaffen,  sie  spricht  weiter,  ohne  die  Herrin  anzusehen. 

»Er  sagte:  Monika,  sobald  die  gnädige  Frau 
einen  Salon  betrat,  beugte  alles  sich  vor  ihr:  dafür 
rächt  man  sich  jetzt.  Wenn  ich  sie  in  ihrem  Gefängnis 
besuche,  schäme  ich  mich,  als  hätte  ich  selbst  sie 
hineingesetzt.  Ich  muß  gut  machen,  was  an  ihr  ver- 
brochen wurde,  ich  muß  ihr  das  Vertrauen  zu  den 
Menschen  wiedergeben.« 

»Laß!  Er  sagte  weiter:  Ich  habe  zu  arbeiten,  zu 
kämpfen.  Eines  Tages  wird  sie  blendend  dastehen. 
Dann  bin  ich  belohnt,  dann  bin  ich  groß.  Sie  braucht 
einen  Retter.« 

»Woher  weißt  du  — ?« 

»Brauchte  ich  denn  nicht  einen  Retter?  Wo  wäre 
ich  jetzt  ohne  ihn?   Mein  Kopf  läge  in  einer  Grube.« 

»Wir  alle  verdanken  ihm  unsere  Freiheit.  Sieh! 
vorhin,  wie  er  an  der  Küche  vorbeikam,  hat  sogar  der 
Anton  ihm  die  Hände  geküßt.« 

»Und  du  meinst,  auch  ich  müsse  sie  ihm  küs- 
sen .  .  .  Vielleicht  tue  ichs;  vielleicht  geschehen  ganz 
andere  Wunder:  wüßte  ich  nur,  ob  er  je  gezweifelt 
hat  an  meiner  —  Unschuld.  Verbot  er  dir  nicht,  dies 
und  jenes  dem  Richter  zu  sagen?  .  .  .  Nun?« 

»Das  wohl.  Aber  sei  ihm  nicht  böse!« 

»Böse?  Wenn  du  ahntest!« 

Sie  geht  umher. 

»Er  hat  also  gezweifelt,  zweifelt  vielleicht  noch.« 

»Wer  zweifelt  heute  noch.« 


__  4  — 


»Niemand.  Aber  vielleicht  er,  der  alle  bekehrt  hat!« 

»Wie  du  dir  heiß  machst !  Sie  haben  dir  zu  übel 
mitgespielt,  dein  Kopf  hat  noch  lange  damit  zu  tun;« 
—  und  die  Alte  zieht  sie  an  sich. 

»Denn,  Monika,  sieh,«  —  und  sie  zeigt  auf  den 
Boden,  »die  Spur  im  Blut  meines  —  des  Toten  konnte 
von  einem  Frauenkleid  sein.  Er  hat  in  seiner  Rede 
bewiesen,  daß  es  kein  Kleid  war,  und  die  Geschwornen 
haben  ihm  geglaubt.  Aber  er  selbst?« 

»Hör'  mich  an,  Kind!  Ich  ging  zu  ihm,  als  ichs 
erfuhr,  das  mit  dem  Kleid.  Er  war  noch  nicht  bei  dir 
gewesen.  Er  war  bleich,  ging  im  Zimmer  umher  und 
sagte:  die  Elenden!  Er  stützte  den  Kopf  in  die  Hände 
und  sagte:  Ich  will  nicht.  Es  soll  nicht  wahr  sein.« 

»Hieß  das,  daß  er  für   mich    gewesen    wäre  — « 

Langsam,  und  sie  beugt  sich  vor: 

» —  auch  wenn  ichs  getan  hätte?« 

»Nein.  Wie  sollte  er,«  und  die  Alte  weicht  zu- 
rück. Da  die  Herrin  sich  abkehrt:  »Das  heißt  — .  Aber 
du  hast  es  ja  nicht  getan.« 

»Natürlich  nicht.« 

»Wenn  man  wüßte,  wer  es  getan  hat!  Genug, 
er  hat  dich  freigebracht.  Welche  Rede!  Die  Leute 
haben  geweint,  und  ich  selbst  mußte  weinen.  Und 
doch  konnte  ich  wissen,  daß  du  nicht  so  warst,  wie 
er  sagte.  Denn  es  ist  wahr,  daß  auch  du  den  Verstorbe- 
nen gequält  hast,  du  Kleine.  Gleichviel:  ihm  ist  Recht 
geschehen,  —  da  er  dich  nicht  glücklich  machte.« 

»Du  findest?« 

»Der  Doktor  Hailand  war  nachher  erschöpfter  als 
du  selbst.  Man  sah,  er  hatte  sich  darangegeben,  Blut 
und  Seele.  Merk  dir's  wohl,  Kind:  das  ist  einer,  der 
dich  liebt.« 

Indeß  sie  ihr  den  Arm  streichelt: 

»Ich  erkenne  die,  die  dich  lieben.  Die  andern 
straft  Gott,  wir  haben  es  gesehen.« 

»Ah!  du  bist  noch  dieselbe«,  —  und  die  jungem 
Frau  küßt  sie.  »Du  verstecktest  mir  das  Spielzeug,  dasJ 


ich  meinen  Geschwistern  gestohlen  hatte.  Geh',  ich 
habe  dich  lieb,  alte  Monika.* 

»Du  warst  ein  hartes  Kind,  es  brauchte  viel,  bis 
du  liebtest.  Hast  du  nicht  den  Ersten  genommen,  weil 
alle  deine  Verwandten  dagegen  waren?« 

»Ich  nahm  ihn,  weil  er  ein  einsamer  berühmter 
Mann  war.« 

»Und  diesen  ?« 

»Weil  er  mich  liebt,  wie  ich  bin.  Weil  er  nicht 
fragt.  Weil  er  alles  von  mir  weiß  --  und  nichts.« 

Sie  setzt  sich  und  richtet  den  Blick  auf  die  Tür. 

»Ich  warte  auf  ihn,  wie  auf  einen  ganz  Fremden 
und  wie  auf  mich  selbst.  Wir  haben  so  Vieles  hinter 
uns,  was  keiner  versteht.  Es  war  grell  und  wirr,  es 
macht  müde.« 

Sie  lehnt  den  Kopf  zurück  nnd  schließt  die 
Augen.  Leise: 

»Ein  Kuß  im  Dunkeln.« 

Sie  schrickt  zusammen;  es  klopft. 

II 

Die  alte  Frau  öffnet;  sie  flüstert: 

«Die  gnädige  Frau  erwartet  den  Herrn  Doktor.« 

Im  Hinausschlüpfen  greift  sie  nach  seiner  Hand 
und  küßt  sie. 

Er  nähert  sich  leise  seiner  Frau. 

»Gabriele!« 

Sie  hebt,  immer  die  Augen  geschlossen,  ein  wenig 
den  Kopf.  Er  beugt  sich  über  sie,  ihre  Lippen  treffen 
sich,  sie  sinkt  zurück. 

»Sieh  mich  an,  Gabriele!« 

»Schließ  lieber  auch  du  die  Augen!  Wir  sind  in 
Sicherheit,  solange  wir  nicht  sehen.  Du  bist  jung  und 
du  liebst  mich.  Du  hast  Mut  und  Leben  auch  für  mich, 
die  ich  schon  den  Mut  verloren  hatte  und  fast  auch 
das  Leben.« 

»Ich   weiß,    wie  kühn  das  ist:    dich  alles  ver- 


—  6 


schmerzen  machen  zu  wollen,  was  du  erlitten  hast. 
Aber  ich  will  es.« 

»Du  mußt  mich  mehr  lieben,  als  alle  anderen 
Menschen  einander  lieben.  Wir  haben  die  Liebe,  um 
das  Leben  zu  vergessen.  Ich  weiß  mehr  und  habe 
mehr  zu  vergessen.« 

»Ich  liebe  dich  unbedingt  und  für  immer.« 

Sie  öffnet  die  Augen,  sie  hebt  sich  an  seinen 
Schultern  hinauf. 

»Du  sagst  es?  Wenn  es  wahr  ist,  hast  du  mich 
zum  zweitenmal  befreit.« 

»Du  hast  mir  Genie  gegeben.  Genie  ist  die 
höchste  Männlichkeit.« 

»Ich  bin  dir  nicht  unheimlich?« 

Da  er  abwehrt: 

»Denn  ich  bin  es  mir  selbst.  Das  Urteil  mag 
gesprochen  sein:  ich  bleibe  die  Witwe  des  Ermor- 
deten, —  dessen  Mörder  niemand  kennt.« 

Über  sich  gebeugt,  dumpf: 

»Wo  habe  ich  das  Trauerjahr  verbracht?« 

»Ich  bitte  dich,«  —  er  streckt  die  Arme  nach 
ihr  aus.  Sie  sieht  ihn  an  und  schüttelt  den  Kopf. 

»Das  macht  kein  Triumph  ungeschehen.  Meinst 
du,  ich  sehe  nicht  das  Erschrecken  der  Blicke?  Sie 
wollen  immer  wieder  zu  mir  eindringen,  wie  durch 
ein  vergittertes  Fenster,  aus  dem  eine  beklemmende 
Luft  strömt.  Heute  abend  flüsterten  unsere  Gäste  mit 
einander,  als  wunderten  sie  sich,  daß  sie  zu  einer 
Hochzeit  geladen  seien  und  nicht  zu  einer  Hinrichtung.« 

»Gabriele!  Meine  Frau!« 

Aber  sie  springt  auf. 

»Wundere  ich  mich  nicht  selbst?  Ah!  du  bist 
kühn,  weil  du  es  unternimmst,  mich  zu  heilen  von 
der  Tortur  der  Untersuchung,  der  öffentlichen  Schande 
der  Verhandlung.  Wer  aber  müßtest  du  sein,  um  jene 
anderen  Bilder,  jene  geheimen,  von  diesen  Augen 
wegzuwischen.« 


7  — 


Und  sie  verbirgt  sie  an  seiner  Brust.    Flüsternd: 

»Noch  jede  Nacht  sehe  ich  ihn.« 

»Deinen  —  den  Toten?« 

»Nein  . . .  Auch  ihn.  Er  liegt«  —  sie  bewegt  die 
Hand  nach  der  zweiten  Tür,  im  Schatten,  »dorthinten.« 

»Dies  ist  nicht  das  Haus.  Quäle  dich  nicht.  Du 
bist  bei  mir.« 

»Er  liegt  dorthinten,  im  Zimmer  jenseits  des 
Ganges,  beim  Fenster.  Der  —  Andere  beugt  sich 
über  ihn.« 

»Auf  der  Schwelle.  Er  lag  auf  der  Schwelle.« 

»Erst  später.  Als  er  getroffen  wurde,  fiel  er  beim 
Fenster  nieder.« 

»Woher  weißt  du  — ?  Es  ist  anders  festgestellt. 
Du  hast  doch  geschlafen.« 

»Ich  schlief  nicht.  Ich  hörte  ihn  rufen.  Ich  stand 
auf  —  « 

Vorgebeugt  nach  der  Tür: 

»  —  ich  schlich  in  den  Gang,  ich  kroch  in  den 
Wandschrank.  Er  schrie  und  fiel,  ich  hörte  es.  Dann 
kam  der  Andere  vorbei.« 

»Du  hast  ihn  gesehen?  .  .  Ich  verliere  den  Kopf. 
Du  hast  geschlafen,  du  weißt  nichts.« 

»Er  lief  nicht,  und  er  schlich  nicht.  Er  hatte 
einen  festen  Schritt,  wie  ein  junger  Mann.« 

»Du  träumst,  wach'  auf!« 

Er  rüttelt  sie;  sie  reißt  sich  los. 

»Ich  glaubte  sogar  —  « 

»Was  man  in  Träumen  glaubt.« 

»Er  ging  in  mein  Zimmer,  hierher.  Sollte  ich 
sterben?  Oder  wollte  er  —  « 

»Wie  du  mich  ansiehst!« 

»Indeß  drinnen  mein  Mann  noch  röchelte.« 

Er  weicht  zurück. 

»Sieh  mich  nicht  länger  so  an.  Was  glaubst  du?« 

Pause. 

»Als  er  fort  war,  ging  ich  —  dort  hinüber  und 
betrachtete  die  Leiche.  Sie  lag  jetzt  auf  der  Schwelle, 


—  8 


wo  ihr  sie  gefunden  habt.  Ich  verkroch  mich  ins  Bett.« 

»Und  du  hast  nichts  gesagt!« 

»Es  würde  mich  noch  verdächtiger  gemacht  haben.« 

»Mir?  Du  hast  kein  Vertrauen  gehabt.« 

»Du  siehst,  daß  ich  es  habe,  nun  wir  allein  sind. 
Du  liebst  mich,  du  wirst  mich  schützen,«  —  die  Hände 
flehentlich  erhoben.  »Alles  das  ist  nicht  vorüber.  Du 
mußt  wachen,  wenn  ich  schlafe.« 

Er  greift  sich  an  die  Stirn. 

»Wovon  sprechen  wir,  mein  Gott.  Dein  Mann 
lag  am  Fenster?  Es  war  kein  Blut  da.« 

»Es  ist  erst  später  geflossen,  auf  der  Schwelle. 
Er  ist  nicht  auf  die  Kniee  gefallen,  ihr  habt  Alles  falsch 
erdacht.  Er  ist  hingekrochen.« 

»Du  weißt  entsetzlich  viel.« 

Er  ringt  vor  ihr  die  Hände.  Sie  geht  rückwärts 
bis  in  den  Winkel.  Im  Bogen  um  ihn,  tastet  sie  an 
der  Wand  hin,  zur  Tür.  Unterdrückt: 

»Komm!  Ich  will  dir's  zeigen.« 

Er  stürzt  vor.  Mit  einem  Ruck  hält  er  an. 

»Was  ist  mit  uns?  Wir  sind  in  einem  neuen 
Hause,  in  unserem  Hause.  Die  Dinge  von  denen  du 
sprichst,  sind  nicht  hier  geschehen,  sie  haben  hier  keine 
Spuren  hinterlassen  und  keine  Geister.« 

Auf  sie  zu,  eindringlich: 

»Hast  du  vergessen,  wozu  du  gekommen  bist? 
Mir  zu  gehören!  Nicht  dem  Vergangenen:  mir!« 

»Vergangen?«  —  sie  entzieht  sich  ihm.  »Du 
wirst  ihn  sehen.« 

»Wen?«  —  und  er  flüstert  wie  sie. 

»Den  Mörder.  Du  hast  ihn  noch  nicht  gesehen?« 

Sie  hält  seinen  Blick  fest.  Er  starrt  in  ihre  Augen, 
endlich  nickt  sie  stark.  Er  keucht. 

»Nein ! « 

»Ja«,  —  und  sie  wendet  sich  ab.  Er  taumelt, 
greift  nach  einem  Stuhl.  Er  preßt  sich  die  Brust,  er 
ringt  nach  Stimme. 


—  9  — 


»Du?  Du  bist  es  gewesen?  Gabriele!  Mitleid!  .  . 
Vorhin,  einen  Augenblick,  glaubte  ich,  Du  beschuldigtest 
mich.  Was  willst  du  sagen?  Eins  ist  Wahnsinn  wie 
das  Andere.  Liebte  ich  dich  nicht,  ich  würde  lachen.« 

Nachdem  er  umsonst  gewartet  hat: 

»Du  treibst  Spott,  du  willst  mich  verwirren,  ich 
lache.« 

Er  setzt  sich  —  und  springt  wieder  auf. 

»Ich  glaube  dir  nicht.    Du  bist  krank.    Du  lügst, 
ich  weiß  nicht  warum.  Ich  will  nichts  wissen.« 
'      Schreiend: 

»Du  bist  unschuldig!« 

Sie  sieht  ihn  an. 

»Leiser!  Wir  sind  verloren,  wenn  man  uns  hört.« 

Er  erschrickt.  Er  lehnt  drüben,  halb  abgewendet, 
die  Stirn  in  die  Hand,  indes  sie  vor  der  Tür  im  Schatten 
hin  und  hergeht  und  spricht. 

»Wem  schulde  ich  Rechenschaft.  Man  sei  froh, 
wenn  ich  keine  fordere.  Ein  Leben  wie  meins  darf 
nicht  geschaffen  werden,  es  ist  —  ja,  es  ist  die  Wider- 
legung jedes  andern  .  .  .  Als  Mädchen  von  vierzehn 
Jahren  schon  erfuhr  ich,  was  noch  Greise  nicht  zu 
sehen  brauchen:  unsere  Zwecklosigkeit  und  unsere 
Unverbesserlichkeit.  Jede  Lüge,  jeder  Schmutz  des 
Gefühls  hinterließ  mir  ein  Mal  für  immer,  einen  blut- 
unterlaufenen Eindruck.  Ich  hatte  die  Gabe,  nackte 
Seelen  zu  sehen  und  manchen  Tag  saßen  mir  am 
Tisch  Fratzen  gegenüber,  vor  denen  es  nur  Davon- 
laufen gab.  Schon  damals  war  ich  eine  Fremde,  und 
die  Andern  sahen  es,  wie  heute  unsere  Gäste.  Keine 
Tat  war  nötig.« 

Er  schluchzt  auf. 

»Gabriele!  Mein  Leben,  um  deine  Tat  zurück- 
zukaufen!« 

»Das  Schlimmste  aber  war  der  Spiegel.  Ich  war 
hassenswerter  als  Alle;  denn  zu  ihren  Lastern  hatte 
ich  auch  noch  das,  daß  ich  sie  durchschaute  ...    Ich 


—  10  — 

hätte  mich  getötet,  ohne  meine  Träume:  die  Träume 
von  gütigeren,  geistigeren  Menschen,  die  ich  lieben 
konnte.  Es  mußte  sie  geben,  in  der  Ferne  oder  in  der 
Zukunft.  Desto  sehnsüchtiger  liebte  ich  die  unbekannte 
Menschheit,  je  trostloser  die  Menschen  sich  mir  ver- 
rieten. Ich  gewann  Mitleid  mit  ihnen:  so  mächtig 
machten  mich  meine  Träume.  Ich  war  erwachsen  und 
schön  geworden.  Damals  fand  ich  ihn.« 

Sie  lehnt  sich,  einen  Augenblick,  weich  gegen 
die  Tür,   die  Hand  am  Griff,    als  wollte  sie  eintreten. 

»Er  war  ein  großer  Arzt,  er  rettete  Hunderte,  ui^d 
doch  kannte  er  ihre  Krankheiten,  ihre  Häßlichkeiten. 
Er  konnte,  was  ich  gewollt  hätte:  er  rettete  sie.« 

Sie  kehrt  sich  von  der  Tür  ab. 

tMußte  er  nicht  fühlen  wie  ich?  Er  war  einsam 
durch  sein  Wissen,  er  war  gezeichnet  vom  Ruhm. 
Mußten  wir  beiden  Fremden  uns  nicht  vertrauen?« 

Sie  stürzt  in  die  Mitte  des  Zimmers,  sie  schüttelt 
die  gespreizte  Hand. 

»Statt  dessen:  bewundere  die  sinnlose  Grausam- 
keit der  Dinge.  Er  wollte  nicht  verstehen,  sich  nicht 
und  mich  nicht.  Ich  weiß  heute,  daß  er  Furcht  hatte; 
er  trumpfte  auf  das  unbewußte  und  schlechte  Leben, 
er  wälzte  sich  darin,  wie  ein  entflohener  Sträfling.  Für 
mich,  die  ich  ihn  an  die  Wahrheit  erinnerte,  faßte  er 
Haß.  Er  verleugnete  mich.  Aus  der  Gefährtin,  die  zu  ihm 
kam,  machte  er  ein  Geschlechtstier.  Hörst  du?« 

Er  senkt  den  Kopf. 

»Ich  erkenne  den  Weg,  den  wir  gegangen  sind.« 

Aber  er  schüttelt  sich. 

»Nein!  Nicht  diesen!« 

Sie  tut  einen  Schritt  auf  ihn  zu. 

»Doch!  Als  du  mich  kennen  lerntest,  war  ich 
unterwühlt  von  Begierden.  Ekel  und  Unersättlichkeit 
warfen  mich  umher.  Den,  der  mich  geliebt  hätte,  ich 
hätte  ihn  in  einer  Umarmung  still  machen  wollen,  um 
mein  Herz  und  diese  Welt  still  zu  machen.   Wenn  ihr 


—  11  — 

mich  in  Gesellschaft  im  Glanz  meiner  Verzweiflung 
saht,  konnte  keiner  von  der  Verbrecherin  wissen,  die 
hinter  dem  Sprechzimmer  ihres  Mannes,  bewacht 
von  seiner  Eifersucht  wie  ein  gefährliches  Tier,  die 
Qual  ihrer  Bosheit  erlitt.  Keiner:  nur  du.« 

Er  streckt  ihr  die  Hände  hin. 

»Ich  liebte  dich,  um  dich  zu  retten.« 

»Du  wußtest,  daß  ich  ihn  haßte,  und  wie  ich  dich 
begehrte.  Ich  konnte  ihn  nicht  betrügen,  ich  konnte 
dich  nicht  haben.  Wir  sind  Mitschuldige,  denn  wir 
liebten  uns.« 

Er  wirft  sich  zurück. 

»Nicht  so.  Ich  bin  kein  Verbrecher.« 

»Wenn  du  mich  retten,  mein  menschlich  Teil 
retten  wolltest,  dann  hattest  du  meine  Gedanken.« 

Er  hebt  die  Arme,  er  wirft  sich  umher. 

»Ich  habe  nichts  gemein  mit  deiner  Tat!« 

»Du  hast  seinen  Tod  nicht  gewünscht?« 

»Was  beweist  das!« 

Sie  spricht  leise  und  herrisch. 

»Warum  hast  du  bis  nach  meiner  Freisprechung 
verschwiegen,  daß  wir  uns  liebten?« 

»Das  war  — « 

Sie  nickt. 

»Das  war  nötig,  um  Justiz  und  Öffentlichkeit  zu 
betrügen.  Du  hast  sie  noch  anders  betrogen.  Du  hast 
Umstände  unterschlagen  oder  gefälscht.  Das  Kleid,  das 
durch  sein  Blut  geschleift  ist,  war  beim  Färber,  und  du 
hast  glauben  gemacht,  ich  hätte  schon  vor  seinem  Tode 
der  alten  Monika  den  Auftrag  erteilt,  es  hinzutragen. 
Du  hast  dich  mit  ihr  verabredet.  Wie  mühselig  du 
deinen  eigenen  Verdacht  unterdrückt  hast!...  Ah!  da 
erschrickst  du.  Die  Dinge  kehren  dir  zurück,  die  du 
in  der  hohen  Rolle  eines  Retters  gern  vergessen  hättest. 
Geh!  keinen  Selbstbetrug!  Wir  haben  Vieles  hinter  uns, 
was  uns  immer  zusammenhalten  wird.  Verleugne  nicht 
auch  du  mich,  wie  Jener  tat.« 


12 


Er  stöhnt.  Sie  tritt  nahe  an  ihn  hin,  sie  spricht 
ihm  ins  Gesicht,  weicher  und  süßer. 

»Wovor  hast  du  Furcht.  Niemand  weiß,  daß  wir  uns 
bis  zum  Verbrechen  geliebt  haben.  Vielleicht  weiß  der 
Tote  es;  das  würde  unsere  Lust  würzen.  Ich  wünschte, 
daß  es  ein  Fortleben  gibt,  damit  er  um  uns  weiß.« 

»Du  bist  fürchterlich.  Du  vernichtest  mich.« 

»Ich  mache  dich  leben.« 

Sie  halten  sich  bei  den  Armen  gepackt,  als 
wollten  sie  ringen.  Fast  berühren  sich  ihre  Gesichter.  Er 
sagt,  die  Zähne  geschlossen: 

»Die  glühende  Blässe  deiner  Haut  spiegelt  ent- 
setzliche Dinge.« 

»Nur  deine  Begierde.« 

»Deine   tiefen  Augen   locken   und  verschlingen.« 

»Nur  dein  Laster.« 

»Dein  Mund  — « 

„Küsse  ihn  doch!  Für  deinen  Kuß  habe  ich  es 
getan!« 

Ihre  Lippen  stoßen  hart  zusammen  und  wühlen 
sich  ineinander. 

Er  reißt  sich  los. 

»So  küssen  Mörder!  Ich  bin  wahnsinnig!« 

»Schmecke  ich  nach  Blut?« 

Da  er  sie  nach  dem  Vorhang  drängt: 

»Wir  haben  uns  wohl  nichts  mehr  zu  sagen? 
Jetzt  heißt  es  also  genießen.« 

Sie  schlägt  vor  ihm  zu.   Den  Kopf  im  Vorhang: 

»Denke  an  mich,  bis  ich  dich  rufe.  Du  hast  doch 
den  Mut,  an  mich  zu  denken?« 

Und  sie  verschwindet. 


III 

Er  steht  reglos,  das  Gesicht  nach  dem  Vorhang. 
Allmählich  weicht  er  zur  Seite;  die  Hände  vor  die 
Augen  geschlagen,  taumelt  er,  neben  dem  Vorhang, 
gegen  die  Wand. 


—   \6 


Ihre  Stimme: 

»Du  bist  so  still.  Aber  ich  weiß,  was  du  tust: 
Du  weinst.« 

Er  zuckt  auf. 

»Du  hältst  mich  für  schwach?  Ich  bin  es  nicht: 
ich  trage  deine  Tat  Ich  bin  imstande,  dich  zu  wollen 
mitsamt  deiner  Tat.« 

Er  schlägt  sich  auf  die  Brust. 

»Da  sieh!  ich  liebe  dich  noch  jetzt.  Umso  mehr 
liebe  ich  dich,  umso  mehr!« 

Da  erstarrt  er:  hinter  dem  Vorhang  lacht  sie 
gellend. 

»Held,  der  du  bist!« 

Sie  tritt  hervor. 

»Liebtest  du  mich  nicht  für  meine  Unschuld? 
Aber  auch  die  Schuld  hat  ihren  Reiz.« 

Bei  seiner  Berührung: 

»Ach,  fort!  Du  ekelst  mich,  mit  deiner  heroischen 
Sinnlichkeit.« 

»Ich?  Du  wagst?  Du,  die  mich  zu  Grunde  ge- 
richtet hat?« 

Sie  sieht  ihn  an. 

»Nicht  ich  dich .  .  .  Dein  Opfer  ist  unnütz,  mein 
Held;  denn  Alles  war  nur  Scherz.« 

»Das  ist  nicht  wahr!« 

«Kein  freundlicher  Scherz;  aber  du  mußt  ihn  mir 
nachsehen:  man  hat  mich,  seit  einem  Jahr,  an  das 
Leben  im  Grausen  gewöhnt .  . .  Nun  ?  Ich  bin  noch 
deine  unschuldige  Frau,  du  bist  noch  mein  Retter. 
Alles  ist,  wie  du  es  dir  gewünscht  hast.« 

»Du  machst  dich  lustig?« 

»So  den  Kopf  zu  verlieren!  Und  du  hast  in  der 
Verhandlung  jeden  Widerspruch  vernichtet.  Du  weißt, 
daß  nicht  mein  Kleid  durch  sein  Blut  geschleift  ist, 
sondern  der  Vorhang,  den  er  im  Todeskampf  ergriffen 
hat.  Würdest  du  vor  Gericht  die  Aussage  hingenommen 
haben,    daß  er   am   Fenster  unter  den   Messerstichen 


14 


zusammengebrochen  sei,  aber  erst  auf  der  Schwelle 
geblutet  habe?« 

Er  breitet  die  Hände  aus,  er  schüttelt  den  Kopf. 

»Wer  beweist  jetzt  noch  deine  Unschuld.« 

»Du  selbst  hast  die  Spuren  von  der  Hand  eines 
Unbekannten  an  den  Möbeln  nachgewiesen.  Du  hast 
bewiesen,  daß  ich  in  meinem  Zimmer  von  draußen 
eingeschlossen  war,  wie  jede  Nacht.  Hat  ein  Mitschul- 
diger mich  eingeschlossen  ?  Aber  das  wüßtest  du,  denn 
du  wärst  es  selbst.« 

»Ich  habe  dich  vorhin  gesehen.  Ich  habe  dich  — 
geküßt.  Du  wirst  mir  nicht  einreden,  daß  du  gespielt 
hast.« 

»Ich  habe  gespielt.  Ich  habe  dein  Heldentum 
erprobt.« 

»Dann  sage  ich:  ein  unwürdiges  Spiel!«  —  und 
er  stößt  einen  Stuhl  auf  den  Boden.  »Ich  durfte  besseren 
Dank  erwarten.« 

»Vielleicht  fühlte  ich  das  —  zu  sehr.« 

»Du  hast  mich  in  deinem  Leben  als  Meister 
gesehen:  das  verzeiht  ihr  nicht.  Ah!  es  ist  die  Rache 
des  Weibes.  Wir  dürfen  nicht  so  klar,  nicht  so  hoch 
sein;  man  benützt  den  elenden  Kniff  des  Geschlechts, 
uns  herabzuziehen  und  zu  trüben.« 

Er  geht  umher,  die  Hand  am  Halse  und  gefolgt 
von  ihren  Augen.  Mit  gewaltsamer  Ruhe: 

»Was  geschehen  ist,  tut  mir  leid  für  dich.  Du, 
die  ich  über  alle  stellte,  —  und  auch  du  bist  wieder 
nur  das  Weibchen,  das  die  Widerstandskraft  des  Mannes 
auf  die  Probe  stellt:  bist  die  Schauspielerin.  Wie  ver- 
rucht du  gespielt  hast!« 

»Ich  habe  wohl  gespielt.  .  .  Aber  bin  ich  so 
sicher,  daß  die  Dinge,  die  du  wirklich  nennest,  kein 
Spiel  waren?  Der  Mord,  und  was  dann  mit  mir  ge- 
schehen ist?  Wozu  das  alles?  Warum  sollte  es  ernst 
sein?  Ich  war  immer  so  sehr  allein  und  anders,  daß 
ich  meine  Schicksale  und  Handlungen,  meine  Gefühle 
selbst,  alles  im  Grunde  für  ein  folgenloses  Spiel  hielt. 


15 


Ich  weiß  nicht,  wie  ihr  lebt.  Ich,  ich  sehe  keinen  Plan 
im  Leben,  noch  im  Tod.  Ich  fürchte  beide,  und  spiele 
sie  beide.« 

Er  hält  an. 

»Es  ist  wahr,  du  hast  zu  viel  gelitten.  Meine 
Eigenliebe  muß  schweigen.  Ich  muß  Mitleid  haben  mit 
dir.  Du  verdienst  Nachsicht.« 

»Nicht  wahr?  Du  findest  die  Überlegenheit  des 
Retters  wieder.  Ich  bin  dein  weißes  kleines  Mädchen. 
Perseus  und  Andromeda.  O  reines  Glück!  Aber  ich 
muß  dir  sagen,  daß  ich  eure  Unschuld  nicht  mehr 
begreife.  Ich  habe  ein  Jahr  lang  im  Gefängnis  gelebt, 
eingeschlossen  mit  den  Bildern  des  Mordes.« 

»Ich  weiß  es;  und  ich  trage  vor  dir  die  Schuld 
aller.« 

»Ich  war  die  Mörderin.  Ein  Jahr  lang  hat  jeder 
menschliche  Blick  mir's  gesagt,  jedes  Wort  des  Richters, 
deine  eigenen  Kunstgriffe  zu  meiner  Rettung.  Tag  und 
Nacht  habe  ich  die  Dinge  gesehen,  die  geschehen  waren; 
und  wie  ihr  es  wolltet,  ging  meine  eigene  Gestalt  darin 
umher,  mein  eigener  Arm  hob  sich.  Da  — « 

Sie  beugt  sich  vor,  sie  zeigt  auf  den  Boden.  Sie 
rafft  das  Kleid  zusammen  und  weicht  zurück.  Umher- 
blickend : 

»Ich  —  sage  nicht,  daß  ich's  nicht  getan  habe.* 

Er  eilt  hin,  er  nimmt  ihre  Hand  zwischen  seine. 

»Gabriele!  Besinne  dich!  Wie  du  krank  bist! 
Wie  ich  dich  lieben  muß!« 

»Sage  das  nicht«,  und  ihr  Blick  streift  ihn  scheu, 
sie  zieht  sich  frostig  zusammen.  Es  ist  nicht  sicher, 
wann  ich  dir  die  Wahrheit  gesagt  habe.« 

»Nicht  sicher?« 

Er  lacht. 

Wenn  du's  nicht  weißt,  laß  dir's  von  mir  sagen: 
Du  bist  unschuldig.« 

»Du  liebst  mich.  Auch  meine  alte  Monika  liebt 
mich,  und  sie  ist  überzeugt,    daß  ich  es  getan  habe.« 

Sein  Lachen  bricht  ab.  Er  läßt  sie  los. 


—  16  — 

»Sollen  wir  denn  wieder  das  Ufer  verlieren  ?  Laß 
mich  denken.  Du  hast  es  nicht  getan . . .  Hast  du  es 
getan?« 

»Ich  weiß  es  nicht«. 

Er  umfaßt  seine  Schläfen. 

»Du  weißt  es  nicht.  Du  entrinnst  mir  wie  Sand. 
Du  warst  meine  feste  Erde,  mein  Selbstvertrauen.« 

»Ich  hatte  dir  Genie  gegeben,  die  höchste 
Männlichkeit.« 

»Ach!  das  Wesen,  in  das  wir  unsere  Seele  senken. 
Die  Frau!  Die  Frau!  Wir  rechnen  mit  ihr,  wir  bauen 
auf  sie,  fürs  Leben,  über  das  Leben  hinaus:  —  und 
wir  kennen  sie  nicht!« 

Er  läßt  die  Arme  sinken.  Müde: 

»Du  hast  erreicht  in  dieser  Stunde,  daß  ich  mich 
selbst  nicht  mehr  kenne.  Du  hast  mich  mehr  erleben 
lassen,  als  ich  auf  Erden  für  möglich  hielt.  In  einer 
Stunde  hast  du  mich  alt  gemacht.« 

»So  weißt  du  nun,  wie  denen  zu  Mut  ist,  die  mit 
der  Seele  leben.  Ich,  siehst  du,  habe  an  Menschen  Alles 
erfahren,  was  sie  zu  geben  haben,  und  vom  Erkennen 
und  Fühlen  bin  ich  so  abgenützt«  —  sie  betastet  sich 
—  »als  sei  die  ganze  Haut  mir  wund  gerieben . . . 
Dennoch  aber  bleibt  diese  qualenreiche  Kraft,  die  Seele 
auf  Berge  zu  treiben  und  in  Abgründe . . .  Man  ist 
über  Mondgebirge  gewandert  und  durch  Sterne,  die 
noch  brennen.  Was  soll  ich  dir  sagen!  Man  hat  so 
Ungeheures  vor  Augen,  daß  es  Nacht  scheint  und  daß 
die  Wirklichkeit  nicht  den  Wert  hat  von  Träumen.  Und 
ihr  fragt  nach  meiner  Unschuld.« 

»Ich  weiß,  daß  du  keine  Frau  bist   wie  andere.« 

»Ich  bin  eine  Frau  wie  andere.« 

Sie  schlägt  sich  auf  die  Brust. 

»Seid  doch  Menschen!« 

Sie  mißt  ihn  lange. 

»Du  wolltest  mich  lieben,  weil  meine  Unschuld 
dein  Werk  war.« 


17 


»Ich  gebe  zu,  daß  ich  selbstsüchtig  war.  Aber 
wer  die  Selbstsucht  einer  Liebe  nicht  ertragt,  ist  ihre 
Aufopferung  nicht  wert.« 

»Möglich.  Möglich;«  —  und  sie  zieht  sich  bis 
drüben  in  den  Winkel  zurück. 

»Und  ihr  meint  mit  der  Unschuld,  für  die  ihr  mich 
liebt,   eine  Tat,  die  nicht  getan  ward:  Jener  dort  — « 

Sie  wendet  sich  halb  nach  der  Tür  im  Schatten. 

* —  eine  Untreue,  du  einen  Mord.  Ich  aber  war 
unschuldig,  weil  ich  dich  liebte:  und  du  hattest  ein 
Mörder  sein  können,  oder  ein  Heiland  .  .  .  Ach!  bleibe 
dort,  laß  mich  allein.  Du  hast  mich  schon  allein  ge- 
lassen.« 

Sie  hüllt  sich  in  die  Falten  des  Vorhanges,  ihre 
Hand  tastet  rückwärts  nach  der  Wand.  Mit  verlorenem 
Blick : 

»Ich  hatte  dich  so  sehr  geliebt.  Meine  Liebe 
wäre  einfach  gewesen,  von  der  Einfachheit  der  Viel- 
erfahrenen, die  das  Leben  hinter  sich  lassen,  um  im 
Dunkeln  zu  lieben,  ohne  Fragen,  mit  geschlossenen 
Augen,  weder  mit  ihrer  Tugend  noch  mit  ihrem  Laster, 
jenseits  der  Qual  der  Seelen,  die  werben,  kämpfen, 
einander  enthüllen :  ganz  offen  und  schlicht  mitten  im 
Geheimnis,  wie  Tiere  oder  wie  Engel.« 

»Gabriele!« 

Er  stürzt  vor  sie  hin.  Sie  fährt  mit  der  Hand  in 
sein  Haar.  Heißer: 

»Und  ohne  Grenzen  I  Wie  die  Umarmungen  die- 
ser Männer,  dieser  Frauen  matt  und  unvollkommen 
sind!  Wie  weit  bleibt  zurück  hinter  mir,  was  sie  Leben 
nennen!  Man  muß  so  viel  von  den  Menschen  erlitten 
haben  wie  ich,  um  ihrer  Einen  so  lieben  zu  können, 
wie  ich.f 

»Gabriele!  Warum  habe  ich  dich  verloren?« 

»Du:  du  weißt  nicht,  was  ich  von  dir  erträumt 
habe,  wen  ich  in  dir  sah.  Du  beherrschtest  den  Pro- 
zeß, und  du  schienst  ihn  zu  verachten.  Du  sahst  aus, 
als  sagtest  du  mir:  Geduld!    Bald    lassen   wir    dieses 


18 


kriechende  Durcheinander  hinter  uns.  unter  uns.  Was 
ist  uns  Schuld  und  Unschuld.  Über  der  Welt,  allein 
und  stumm,  befreit  von  irdischen  Zufällen  und  ganz 
einander  sicher,  werden  wir  uns  lieben.  Sagtest  du 
das  nicht?«  —  und  sie  nimmt  seinen  Kopf  zwischen 
ihre  Hände,  um  ihm  in  die  Augen  zu  blicken.  —  Sie 
läßt  ihn  los  und  wendet  sich  halb  weg. 

»Ich  glaubte  wohl  nicht  sehr  fest,  daß  du  mir 
folgen  würdest;  ich  war  schon  einmal  enttäuscht.  Aber 
ich  erlaubte  mir  Hoffnung,  berauschende  Hoffnung. 
Noch  einmal  öffnete  ich  mein  Fenster,  das  vergittert 
war,  den  Sternen.« 

Er  verläßt  sie  und  setzt  sich  abgewendet.  Sie 
sagt,  die  Augen  geschlossen: 

»Ein  Unbekannter,  und  ganz  ich  selbst.  Das 
Wesen,  das  alles  von  mir  weiß  und  nichts.« 

Er  faßt  sich  an  die  Stirn. 

»Bin  ich  denn  schuldig?  Ich  habe  dich  geliebt, 
wie  ein  Mann  eine  Frau  liebt.  Ich  habe  in  dir  alle 
meine  Instinkte  befriedigt  gefunden.  Was  bleibt  mir 
nun.« 

Sie  geht  rasch  zu  ihm.  Über  seine  Schulter: 

»Dir  bleibt  alles,  was  du  zu  nehmen  geschaffen 
bist.  Auch  ich  bin  für  nichts  anderes  geschaffen.  Das 
Gefängnis  hat  mir  ungesunde  Träumereien  gemacht. 
Ich  habe  dich  gequält  und  ermüdet.  Verzeih'  mir.« 

Er  greift  nach  ihr. 

»Nicht  wahr,  wir  können  uns  lieben?« 

»Gewiß:  wie  Menschen  einander  lieben.  Man 
gewährt  sich  Vertrauen,  bis  zu  einem  gewissen  Grade; 
man  versteht  sich,  vermittelst  Nachsicht;  man  ist  eins, 
unter  Vorbehalt.« 

»Liebst  du  mich?« 

Sie  kniet  vor  ihn  hin.  Er  umklammert  sie  fester. 

»Liebst  du  mich?« 

Sie  beugt  die  Stirn  unter  seine  Lippen. 


19 


Die  Tat*) 

Von  Stanislaw  Przybyszewski 

Es  war  gerade  Weihnachten. 

—  Ja,  Weihnachten,  dachte  Czerkaski  in  seinem 
schweren  Fiebertraume. 

Das  Eine  nur  wußte  er:  ein  Kind  müßte  er  an 
diesem  Tage  glücklich  machen.  Ganz  gewiß  glücklich 
^-  an  einem  solchen  Tage  .  .  . 

Ich  muß  jetzt  versuchen,  für  ein  Kind  eine  Mutter 
zu  sein,  das  wäre  eigentlich  der  höchste  Gipfel  einer 
wirklich  großen  männlichen  Tat,  dachte  er  plötzlich 
mit  einem  stillen,  ehrfurchtsvollen  Triumph. 

Aber  wo  sollte  er  jetzt  gerade  das  Kind  aufsuchen, 
das  er  glücklich  machen  wollte  und  mußte? 

Gleichwohl  sprang  er  auf  und  ging  frei  und 
leicht,  als  hätte  ihn  jemand  von  schweren  Fesseln 
befreit,  die  sich  bereits  in  sein  Fleisch  einfraßen. 

Er  ging  weit,  weit  vor  sich  hin  in  die  Vorstadt 
hinaus,  dicht  an  den  Hafen,  wo  sich  sonst  niemand 
in  so  später  Stunde  hinauswagte. 

Wie  lange  er  so  herumirrte,  wußte  er  nicht,  es 
mochten  wohl  ein  paar  Stunden  vergangen  sein.  Ab 
und  zu  setzte  er  sich  auf  eine  nasse  schmutzige  Bank 
in  irgend  einer  armseligen  Parkanlage,  er  konnte  sich 
in  diesem  Hundewetter  eine  Lungenentzündung  holen, 
aber  was  ging  ihn  das  heute  an. 

An  seine  Ohren  drang  ein  wüster  trunkener 
Gesang  taumelnder  Matrosen,  ab  und  zu  sah  er 
scheußliche,  elende  Prostituierte  vorüberhuschen,  ver- 
tiert im  Elend   und  Schmutz  —  wie    es  ihm  vorkam. 

Eine  blieb  vor  ihm  stehen. 

—  Für  zehn  Kopeken  —  willst  du?  Und  sie 
spuckte  ihm  in  die  Augen. 


*)  Ein    Fragment    aus    dem    Manuskript    eines    Romans:     >Das 
jüngste  Qericht«. 


—  20 


—  Hier  hast  du  einen  Rubel !  Und  mit  einer 
seltsamen  Demut  wischte  er  sich  sein  Gesicht  ab. 

Und  jetzt  setzte  sie  sich  neben  ihn  mit  einem 
bösen,  verächtlichen  Lachen. 

—  Vielleicht  soll  ich  dich  noch  einmal  anspucken? 

—  Wofür? 

—  Weil  du  gut  bist. 
Er  lächelte. 

—  Also  dafür  spuckt  man  einem  ins  Gesicht? 

—  Ja,  eben  dafür  —  und  nur  deswegen, 

—  Hier  hast  du  noch  fünf  Rubel  und  laß  mich 
in  Ruh'. 

Er  gab  ihr  ein  Goldstück. 

—  Ich  gebe  dir  den  Rest  zurück,  lachte  sie 
höhnisch  —  sie  spuckte  ihm  wieder  ins  Gesicht  und 
verschwand  —  in  der  Ferne  hörte  er  ein  irres 
Lachen  —  nein  !  ein  wüstes  Gewieher,  wie  von  einer 
trunkenen  Stute. 

Nun,  sie  hatte  Recht,  dachte  er,  ganz  in  sich 
hineingekrochen,  für  eine  so  elende  und  billige  Güte 
war  der  Lohn  hoch  genug. 

Und  mühsam  schleppte  er  sich  weiter. 

Jemand  vertrat  ihm  den  Weg. 

Qui  vive?  lachte  Czerkaski  heiser. 

Ein  baumlanger,  schwarzer,  verwilderter  Geselle 
—  ganz  wie  ein  wüster  Charakter  aus  einem  Schauer- 
drama: sein  einziger  Faustschlag  hätte  genügt,  um 
ihn,  der  doch  nur  deswegen  hinausging,  um  ein  Kind 
glückselig  zu  machen,  in  das  Jenseits  zu  befördern, 
aber  sonst  sah  der  Fremde  sympathisch  aus,  und  er 
hatte  keine  Angst. 

—  Was  willst  du?  fragte  er  ihn. 

—  Glaubst  du,  daß  ich  dich  berauben  will?  Du 
irrst  dich. 

—  Also  was? 

—  Ich  habe  meine  Mutter  totgeschlagen. 

—  Warum? 

—  Damit  sie  sich  nicht  quälen  sollte. 


-  21  - 


—  Nichts  weiter? 

—  Eine  Schwester  habe  ich  totgeschlagen  und 
noch  die  zweite,  damit  sie  nicht  auf  der  Straße  ver- 
sauen. —  Kannst  du  mir  jetzt  deine  Hand  reichen? 
kannst  du  es? 

Czerkaski  drückte  heiß  und  inbrünstig  die  Hand 
des  Fremden. 

—  Du  hast  an  deiner  Mutter  und  an  deinen 
Schwestern  wohlgetan ...  Du  bist  tatsächlich  ein  edler 
und  feiner  Mensch . . .  Noch  mehr :  Du  bist  ein  Wohl- 
täter in  großem  Stil  —  das  ist  wirklich  Güte  . .  jede 
andere  verdient  kaum,  daß  man  sie  anspeit,  ist 
höchstens  der  Hautkitzel,  mit  dem  ein  paar  elende 
Flöhe  den  Menschen  belustigen.  Ja,  du  bist  ein  edler 
Mensch. 

Und  der  baumlange  schwarze  Kerl  fing  an  zu 
strahlen  —  er  wippte  auf  seinen  langen  Beinen,  kroch 
wieder  zusammen,  umfing  Czerkaskis  Knie,  faßte  seine 
Hand,  küßte  sie,  daß  sie  ganz  von  seinen  heißen 
Tränen  benetzt  war. 

Czerkaski  entriß  ihm  mit  Widerwillen  und  Ekel 
sejne  Hand. 

—  Hinweg,  du  unreines  Gewissen,  das  du  Ver- 
brechen begehst  und  hinterher  mit  Winseln  um 
Verzeihung  bettelst...  Anders  —  ganz  anders  muß 
man  es  machen. 

Weg  mit  dir! 

Und  plötzlich  schrumpfte  der  Baumlange  zu 
einem  Zwerg  zusammen,  hüpfte  vor  ihm  hin  und  her, 
streckte  die  Zunge  aus,  machte  eine  lange  Nase,  kroch 
ihm  zwischen  die  Beine  und  wälzte  ihn  um,  dann 
sprang  er  ihm  hinterlistig  auf  den  Nacken  und  stieß 
sein  Gesicht  in  den  Kot. 

Endlich  gelang  es  Czerkaski  mit  unmenschlicher 
Anstrengung,  ihn  von  sich  abzuwälzen,  und  er  raffte 
sich  auf. 

Eine  Wut   kochte   in   ihm,   daß    er,    wenn    jetzt 


—  22  — 


tausend  Wurfspieße  auf  ihn  gerichtet  gewesen  wären, 
sich  unbedingt  auf  sie  geworfen  hätte. 

Er  sah  sich  ringsum,  fühlte,  daß  ihm  der  Schaum 
vor  den  Mund  trat:  vor  ihm,  hinter  ihm  tanzte  und 
hüpfte  irgend  ein  winziges,  höllisches,  boshaftes 
Monstrum,  er  wollte  es  fassen,  ihm  das  Genick  brechen, 
es  an  den  Beinen  fassen,  es  auseinanderreißen.  — 
Plötzlich    —  mit  einem  Ruck  kam   er  zur  Besinnung. 

In  seiner  Hand  hielt  er  eine  andere  —  ein 
klein-kleines  Händchen  von  einem  jungen  kaum  zwölf- 
jährigen Mädchen,  das  ihm  kokett  und  vertraulich 
zulächelte. 

Er  ließ  ihre  Hand  los  —  tief  verwundert. 

—  Wer  bist  du?  fragte  er  sie. 

—  Kommen  Sie  nur  da  an  die  Laterne,  dann 
können  sie  mich  besser  anschauen. 

Er  ging  neugierig  ein  paar  Schritte  weiter. 

Sie  blieb  in  dem  Schein  der  Laterne  stehen  und 
sah  ihn  mit  dem  zynischen,  herausfordernden  Blick 
einer  schamlosen,  heruntergekommenen  Dirne  an. 

—  Um  Gotteswillen,  wie  ist  es  nur  möglich?  Du 
bist  ja  doch  noch  ein  Kind! 

—  O,  da  irren  Sie  sich  sehr  —  ich  könnte  manche 
in  ihrem  Metier  altergraute  und  verfaulte  Hure  belehren 
—  keine  versteht  das  Handwerk  so  gut,  wie  ich! 

Für  die  billige  Güte  spuckt  man  den  Menschen 
ins  Gesicht  —  und  mit  Recht...  er  lächelte  —  nun 
probieren  wir    einmal  die  große  und  schwierige  Güte. 

—  Nun,  dann  wollen  wir  einmal  deine  Kunst- 
fertigkeit versuchen,  grinste  er  —  komm  mit! 

—  Ein  wenig  wirst  du  warten  müssen  —  raunte 
sie  ihm  zu  und  kitzelte  ihn  an  der  Halsader.  Zuerst 
werde  ich  ein  paar  amüsante  Lieder  absingen  müssen. 
Und  dann:  ganz  zu  deinen  Diensten,  denn  du  bist 
ein  guter  Kerl.  Ich  werde  dir  ein  Vergnügen  bereiten, 
daß  du  dich  dein  Lebtag  lang  an  mich  erinnern  sollst. 

Sie  führte  ihn  in  eine  schmutzige,  stinkende 
Hafenkneipe  hin,  rückte  ihm  einen  Stuhl  in  die  Ecke. 


23 


—  Hier  wirst  du  auf  mich  warten. 

Sie  verschwand. 

Er  setzte  sich  hin  und  sah  sich  um. 

An  zehn,  zwölf  Tischen  saßen  betrunkene  Matrosen, 
Zuhälter,  Einbrecher,  Messerhelden  —  er  zählte  sie 
ach  alle  gewissenhaft  auf  —  Mädchenhändler,  Apachen. 
Liebe  und  Halunken  aller  Art,  er  fühlte  sich  in  dieser 
Gesellschaft  gut  und  behaglich. 

Noch  nie  hatte  er  sich  so  wohl  gefühlt. 

Das  sind  doch  einmal  wirkliche  Menschen  und 
noch  dazu  die  einzig  guten  Menschen.  Von  einer  ganz 
andenn  Art,  wie  jener  langweilige  sentimentale  Kerl, 
der  un  den  Handdruck  eines  ehrlichen  Menschen  un- 
längst gebettelt  hat,  um  die  Sünde  einer  billigen  Güte 
von  sica  abzuwischen  —  diese  da  —  die  brauchen  es 
nicht,  d'e  haben  es  nicht  nötig,  sich  in  boshafte, 
monströse  Zwerge  zu  verwandeln,  die  einen  totplagen, 
wenn  man  ihnen  den  Sündennachlaß  verweigert. 

Diese  da  stehlen  und  morden  so  mir  nichts  dir 
nichts  —  en  passant  —  drehen  sich  nicht  einmal  um 
—  und  wenn  sie  das  Galgenbrett  betreten  müssen, 
pfeifen  sie  frohgemut  lustige  Melodeien. 

Er  war  ganz  entzückt  von  dieser  prachtvollen 
und  wirklich  guten  Gesellschaft. 

Nun  sah  er  gradeaus  vor  sich  hin.  Der  Vorhang: 
ein  elender  Schmutzlappen,  ging  auf. 

Er  harrte  nun  neugierig  der  Dinge,  die  da 
kommen  sollten. 

Auf  der  Bühne  —  eine  so  herrliche  hatte  er  nie 
gesehen  —  sie  war  aus  ein  paar  schmutzigen  Brettern 
zusammengezimmert  —  erschien  das  Mädchen,  das 
ihn  hierhergeführt  hatte,  und  hinter  ihr  eine  alte  Hexe 
mit  einer  Guitarre:  das  wird  wohl  ihre  Mutter  sein, 
dachte  er  feinsinnig. 

Das  Mädchen  fing  an  zu  singen. 

Er  horchte  eine  Weile    hin  und  kam  in  Ekstase. 

Nie  noch  hatte  er  etwas  so  Unflätiges,  Rohes,  so 
unerhört  Zynisches  gehört. 


—  24 


Es  kam  ihm  vor,  daß  noch  nie  über  die  Lippen/ 
eines  trauten,  lieben  Menschenkindes  ein  so  schmutziger 
ekelhafter,  schändlicher  Unrat  sich  ergossen  habe, 
Worte,  deren  Laut  schon  ihn  fast  zum  Erbrechet 
zwang,  kreischten  gell  an  seine  Ohren  und  dazu  nocn 
die  Pantomime,  mit  welcher  das  Kind  den  Liedertext 
illustrierte:  es  war  erstaunlich! 

Rings  um  ihn  herum  entstand  ein  unbeschreib- 
licher Jubel  und  er  erfreute  ihn. 

Wie  gut,  wie  unendlich  gut  werde  ich  für  dich 
sein!  dachte  Czerkaski  kalt  und  ruhig  —  endlio'i  ein- 
mal werde  ich  für  Jemanden  gut  sein. 

Das  Mädchen  warf  sich  auf  eine  Pritsche  und 
ahmte  in  verruchter  Schamlosigkeit  eine  Art  von 
geilstem  Bauchtanz  nach,  schrie  auf,  winselte,  schnalzte 
mit  der  Zunge,  warf  die  Beine  in  die  Höhe  und  schien 
in  einem  Wollustparoxysmus  zu  zerbersten. 

Oh,  wie  unendlich  gut  werde  ich  für  dich  sein! 
Mit  tiefer,  zärtlicher  Wonne  dachte  er  an  die  Güte, 
die  er  diesem  zarten  Mädchen  erweisen  werde. 

Und  wieder  ein  neuer  Gesang  und  noch  ein 
Tanz,  der  jegliche  Schamlosigkeit  an  grotesker  Kühn- 
heit übertraf. 

Das  kleine,  schwache  Mädchen  warf  sich  auf  den 
Boden  hin,  ihre  Beine  schnellten  in  die  Höhe,  um- 
krampften irgend  eine  imaginäre  Gestalt,  spreizten  sich 
wieder  weit  auseinander,  die  Hände  zuckten  wie  im 
Schüttelfrost,  der  ganze  Körper  warf  sich  in  konvul- 
sivischen Zuckungen  —  schneller  noch  —  in  wüstem 
Krampf,  bis  endlich  die  ganze  unendlich  gut  gespielte 
Muskelorgie  in  einem  langen  verröchelnden  Schrei  der 
höchsten  Lustbefriedigung  erstarb. 

Das  Mädchen  lag  wie  tot  da. 

—  Alle  Schleusen  der  höchsten  Güte  werde  ich 
für  dich    öffnen,  dachte  Czerkaski  und   war  glücklich. 

Er  hörte  noch  das  betrunkene  Heulen  dieses 
herrlichen  Publikums,  wie  er  es  noch  nie  in  einer 
solchen   Herrlichkeit    hatte    erstrahlen    sehen   —   eine 


25 


hehre  Versammlung  von  wirklichen  Menschenfreunden 

—  dann   wurde    es    auf   einmal    still   —   die   Lichter 
erloschen  .  .  . 

—  Kommen  Sie  jetzt!  —  sie  stand  vor  ihm. 

—  Ah!  Du  bist  es.  Du  hast  alle  meine  Er- 
wartungen übertroffen  .  .  .  Das  einzige  Mal  in  meinem 
Leben  werde  ich  gut  sein  und  nur  für  dich  allein.  Du 
wirst  mir,  weiß  Gott,  nicht  in  die  Augen  zu  spucken 
brauchen  .  .  . 

Sie  führte  ihn  durch  einen  langen,  finsteren  Korridor 
und  endlich  kamen  sie  in  ein  kleines,  schmutziges  und 

—  wie   es   ihm  vorkam  —  unflätiges  Zimmer   hinein. 

Ein  wackliger  Tisch,  ein  zerschlissenes  und  un- 
säglich schmutziges  Sopha  —  ein  Bett,  das  wohl  noch 
nie  einen  reinen  Laken  gesehen  hatte,  ein  geborstener 
Spiegel  gegenüber .  .  .  Herr  Gott,  braucht  man  noch 
mehr,  um  gut,  wirklich  gut  zu  sein? 

Das  Kind  setzte  sich  ihm  auf  die  Knie. 

—  Mein  süßer  Tauberich  wird  mir  etwas  geben 
lassen  —  nicht  wahr?  Ich  bin  hungrig  und  habe 
großen  Durst. 

—  Brauchst  ja  nur  zu  klingeln. 

In  einem  Augenblick  hatte  ein  Etwas,  das  in  einer 
weit-weiten  Erinnerung  einem  Kellner  glich,  eine  Flasche 
Schnaps  gebracht,  irgend  eine  Speise  oder  so  etwas 
ähnliches  dann  noch  — 

Aber  was  kümmerte  es  ihn,  was  da  vor  ihnen 
stand  oder  lag  —  er  schwamm  im  seligen  Entzücken, 
daß  doch  endlich  einmal  die  Zeit  gekommen  war,  wo 
er  wirklich  gut  sein  konnte. 

Das  Mädchen  aß  und  trank  gierig  und  er  sah  ihr 
zu  und  war  ihr  unendlich  dankbar,  denn  ihr  hatte  er 
es  zu  verdanken,  daß  er  nun  beweisen  konnte,  wie 
gut  er  sei. 

Er  betastete  liebevoll  die  Westentasche  und  war 
zufrieden;  noch  nie  hatte  er  das  Mittel  für  die  Ver- 
ausgabung der  höchsten  Güte,  das  trostreiche,  segen- 
spendende Curare  vergessen. 


26  — 


Er  streichelte  liebkosend  die  Westentasche,  in 
der  das  einzige  beglückende,  alle  Tore  des  Jenseits 
zuverlässig  erschließende  Mittel  ruhte. 

Was  ist  Liebe,  was  Geld  diesem  erlösenden  Mittel 
gegenüber! 

—  Nun,  so  laß  uns  ordentlich  trinken  —  sprach 
er  dem  Mädchen  gütig  zu. 

Das  Kind  aß  und  trank  und  schaukelte  sich  auf 
seinen  Knien. 

—  Jetzt  bin  ich  bald  fertig,  dann  werde  ich  dir 
zeigen,  was  ich  kann  ...  Ich  kenne  geheime  Lüste, 
die  .  . .  die  .  .  .,  sie  flüsterte  ihm  etwas  ins  Ohr  .  .  ., 
das  ist  wie  Feuer,  noch  mehr .  .  . 

Er  lächelte. 

—  Nun,   ich   werde   dir  nicht    schuldig   bleiben. 

—  Oh  du  mein  süßes  Ferkel  —  sie  schmiegte  sich 
an  ihn  und  küßte  ihn  an  das  Ohrläppchen. 

—  Du  mein  goldenes  Kükelein  —  lachte  er 
heiser  und  traurig,  umfing  sie  mit  einem  Arm  und  mit 
dem  anderen  griff  er  in  die  Westentasche  nach  der 
gläsernen  Eprouvette. 

— Wonach  suchst  du  Pfragte  sie  ihn  plötzlich  unruhig. 

—  Nichts,  nichts  —  ich  habe  Kopfschmerzen  — 
ich  habe  hier  ein  Pulver. 

—  Der  Kopf  tut  dir  weh? 

—  Bald  hört  es  auf. 

Sie  wurde  wieder  ruhig.  Schmiegte  sich  noch 
fester  an  ihn  an,  grub  sich  mit  ihren  Lippen  saugend 
in  die  seinen,  und  manövrierte  mit  frechen,  schamlosen 
Händchen  an  seinen  Beinen. 

Er  ließ  es  geschehen,  goß  Branntwein  in  ein  Glas» 
schüttete  den  ganzen  Inhalt  der  Eprouvette  hinein  und 
stellte  es  abseits. 

—  Was  bist  du  so  kalt?  fuhr  sie  ihn  plötzlich 
unmutig  an. 

—  Ich?  kalt?  —  nun  dann  mußt  du  mich  warm 
machen.  Du  hast  dich  doch  unlängst  gebrüstet,  daß 
du  einen  Toten  lebendig  machen  könntest .  ,  . 


27  — 


Das  Mädchen  lachte  hell  auf. 

—  Ja,  ja  —  das  kann  ich,  und  das  werde  ich  dir 
zeigen,  aber  zuerst  muß  ich  trinken. 

Er  schob  ihr  das  Glas  zu. 
Sie  trank  mit  einem  Schluck, 

—  Nun  was?  —  Sie  sah  ihn  triumphierend  an; 
—  Wer  kann  so  trinken,  wie  ich? 

Im  selben  Augenblick  rissen  sich  ihre  Augen  weit 
auf  in  gräßlicher  Todesangst  —  lange  heftige  Zuckungen 
durchliefen  den  schmächtigen  Körper,  mit  den  Händen 
griff  sie  in  der  Luft  umher,  man  sah,  daß  sie  schreien 
wollte,  an  den  Schreien  erstickte,  weil  sie  keinen  Laut 
herausstoßen  konnte. 

Dann  noch  ein  paar  heftige  Zuckungen,  das  Auge 
brach,  der  Körper  bäumte  sich  auf,  verkrampfte  sich, 
erstarrte .  .  . 

Les  supremes  delices,  lächelte  Czerkaski. 

Endlich  eine  Tat,  die  eines  Menschensohnes 
würdig  war! 

Er  legte  die  noch  warme  Leiche  des  Mädchens 
auf  das  Bett  und  küßte  es  andächtig  auf  die  Stirn. 

Ich  habe  dich  errettet,  betete  er  leise,  errettet 
von  dem  Ekel  des  Zerfalls  beim  lebendigen  Körper, 
vom  Abfaulen  deiner  schönen  Glieder,  von  der  gräß- 
lichen Qual,  im  Frost,  Schnee,  Kot  und  Regenwetter 
hungrig  und  bettelnd  nach  einer  Mannesbestie  herum- 
suchen zu  müssen,  ich  habe  dich  errettet  vor  den 
unmenschlichen  Schlägen  und  Fußtritten  deines  Zu- 
hälters, gerettet  habe  ich  dich  vor  dem  Schmutz  des 
Gefängnisses  und  dem  Elend  des  Spitals  —  und  nun 
schlaf  —  friedlich,  heiter  —  froh  .  . . 

Er  atmete  tief  auf. 

Noch  einmal  betrachtete  er  in  tiefster  Sammlung 
das  tote  Kind,  dann  schritt  er  in  die  finstere  Nacht 
hinaus  mit  Trauer  im  Herzen,  aber  auch  dem  Gefühl 
eines  leisen  Triumphs,  daß  er  endlich  eine  menschen- 
würdige Tat  vollbracht  habe. 


28 


Der  Hundsfott*) 

Von  August  Strindberg 

Es  gibt  Menschen,  die  zur  Welt  kommen,  um 
hundsfottiert  zu  werden. 

Als  jüngerer  Bruder  wurde  er  von  den  älteren 
hundsfottiert;  wenn  sie  gefehlt  hatten,  beschuldigten  sie 
ihn,  und  er  kriegte  Schläge. 

Da,  mit  fünf  Jahren,  verfluchte  er  die  Stunde 
seiner  Geburt  und  wollte  sterben.  Aber  er  ging  zuerst 
in  die  Küche  und  beklagte  sich  der  Köchin  gegenüber, 
die  er  für  seine  Freundin  hielt.  Sie  verriet  ihn  sofort 
und  erzählte  es  den  Eltern,  das  Kind  habe  sein  Ge- 
ständnis zurückgenommen,  das  ihm  eben  unter  Marter 
abgerungen  war.  Das  angebliche  Verbrechen  sollte  darin 
bestehen,  daß  er,  der  Fünfjährige,  von  dem  Portwein 
der  Alten  getrunken  habe.  Ein  fünfjähriges  Kind  sollte 
aus  einer  geöffnete  Flasche  so  viel  Portwein  getrunken 
haben,  daß  es  zu  merken  war,  während  man  dem  Kind 
keinen  Rausch  anm.erkte.  Das  glaubten  die  Eltern! 

Da  wurde  er  wieder  gemartert  und  gezwungen, 
zu  bekennen,  erstens  daß  er  den  Portwein  getrunken, 
zweitens,  daß  er  eben  gelogen,  als  er  leugnete. 

Darauf  mußte  er  um  Verzeihung  bitten,  sowohl 
daß  er  den  Wein  ausgetrunken,  wie  daß  er  gelogen  habe. 

Wenn  er  darauf  nicht  ein  Lügner  fürs  ganze  Leben 
wurde,  so  zeigt  es  wohl,  daß  er  diese  Anlage  nicht  besaß. 

Solche  Marterszenen  wiederholten  sich  mehrere 
Male. 

Welchen  Blick  sollte  dieses  Kind  auf  Leben  und 
Menschen  bekommen?  Zuerst  wurde  er  ängstlich  vor 
allem.  War  immer  furchtsam,  man  würde  ihn  anklagen; 


'■■)  Aus    dem    schwedischen    Manuskript.     Die    Buchausgabe    der 
Bekenntnisse  erscheint  erst  1911. 


—  29  — 

spähte  nach  den  Fehlem  der  andern,  um  zu  sehen,  ob 
sie  gerecht  seien. 

Dann  kam  er  in  die  Schule.  Gewissenhaft  und 
eingeschüchtert,  lernte  er  immer  seine  Aufgaben,  konnte 
sie  zu  Hause,  aber  in  der  Schule  konnte  er  sie  nicht 
immer,  weil  die  Lehrer  an  den  Kindern  etwas  auszu- 
setzen suchten.  So  schlugen  sie  ihn  wieder. 

Aufs  Land  in  eine  Pension  geschickt,  kam  er  in 
eine  schlechte  Gesellschaft,  wurde  von  einem  älteren 
Kameraden  in  die  öffentlichen  Geheimnisse  des  Ge- 
schlechtslebens eingeweiht;  und  als  das  unschuldige 
Opfer  hätte  er  beinahe  den  Verstand  verloren,  als  er 
zum  Bewußtsein  erwachte,  von  welcher  Natur  die 
Handlung  sei  und  welche  f^olgen  sie  habe. 

Dann  bekam  er  eine  Stiefmutter  und  geriet  in 
Verhältnisse,  die  ihn  unter  religiösen  Grübeleien  dem 
Selbstmord  und  dem  Wahnsinn  nahe  brachten. 

Bei  keinem  Menschen  konnte  er  sich  beklagen, 
denn  die  Angehörigen  gaben  ihm  immer  unrecht,  wenn 
er  recht  hatte  und  man  ihm  unrecht  tat. 

Er  kam  zur  Universität  und  man  hatte  ihm  ein- 
geredet, wenn  er  nur  Student  wäre,  stünde  die  ganze 
Welt  ihm  offen.  Jetzt  fand  er  sie  im  Gegenteil  ver- 
schlossen, denn  er  hatte  kein  Geld  für  Bücher. 

Und  als  er  sein  Tentamen  machte,  erhielt  er 
keine  gute  Zensur,  obwohl  seine  Kenntnisse  größer 
waren  als  die  der  anderen,  die  eine  bessere  Zensur 
bekamen. 

Überall  stieß  er  auf  Widerstand.  Da  floh  er  die 
Wissenschaft  und  wurde  Schriftsteller.  Als  er  jetzt 
Menschen  und  Leben  schilderte,  wurden  sie  so,  wie 
sie  sich  ihm  gezeigt  hatten.  Er  machte  sein  Gesellen- 
stück und  es  wurde  verworfen.  Lehrling  mußte  er  bleiben, 
obwohl  sich  sein  Gesellenstück  dann  besser  als  das  von 
andern  erwies;  Lehrling  bis  zum  dreißigsten  Jahr. 

Da  hörte  er  auf,  an  Gott  zu  glauben,  und  war 
überzeugt,   daß  der  Teufel  die  Welt  regiere;   was  mit 


—  30  — 

Christi  Lehre  »vom  Fürsten  dieser  Welt«  stimmt,  denn 
er  lief  nicht  weltlicher  Ehre  nach,  kroch  nicht  vor  den 
Oberen,  schmeichelte  nicht. 

Je  besser  er  schrieb,  desto  weniger  bezahlte  man 
ihm,  und  desto  mehr  Tadel  bekam  er. 

Als  er  sich  verheiratete,  nahm  man  ihm  Weib  und 
Kind,  und  zwar  drei  Male. 

Als  er  mit  sechzig  Jahren  seine  Meisterwerke 
schrieb,  wurden  die  so  geschmäht,  wie  keine  Arbeiten 
vorher,  und  er  mußte  bezahlen,  um  sie  zur  Aufführung 
zu  bringen. 

Während  andere  für  ihre  Arbeit  bezahlt  wurden, 
mußte  er  bezahlen;  und  wenn  er  bezahlt  wurde,  erhielt 
er  weniger  als  die,  welche  schlechter  schrieben. 

Sein  ganzes  Leben  hundsfottiert!  Und  die  Menschen 
verlangten  doch,  er  solle  schön  von  ihnen  schreiben! 
Das  tat  er  zuweilen,  dann  aber  waren  es  seine  eigenen 
schönen  Gedanken  über  eine  Traumwelt,  die  nicht 
existiert. 

Zuweilen  sprach  er  die  Menschen  frei,  ent- 
schuldigte und  erklärte  ihre  Schwächen;  dann  aber 
erhob  sich  ein  Sturm  von  Vorwürfen,  daß  er  die  Moral 
lockere.  Zuweilen  schilderte  er  die  menschliche  Erbärm- 
lichkeit mit  Mißbilligung,  dann  erhob  sich  ein  Sturm, 
daß  er  streng  und  ungerecht  sei. 

Mit  einem  Wort,  wie  er  sich  auch  benahm,  er 
wurde  hundsfottiert! 

Kann  man  ein  solches  Schicksal  erklären? 

Vielleicht  fühlten  es  die  Menschen  in  der  Luft, 
daß  er  den  Kompromiß  der  Gesellschaft  und  deren 
unwahre  Natur  entlarven  würde.  Aber  als  Kind  konnte 
er  doch  nicht  geahnt  werden? 

Es  hatte  wohl  andere  Ursachen,  die  wir  nicht 
wissen,  aber  die  Swedenborg  geahnt  hat! 


31 


Carlos  und  Nicolas 

Von  Felix  Stössinger 

Carlos  und  Nicolas  sind  Geschwister,  die  in  Argentinien 
aufwachsen,  durch  die  Pampas  jagen  und  dennoch  rechte  Kinder 
bleiben.  Carlos  ist  sieben  und  Nicolas  sechs  Jahre  alt.  Drei 
Jahre  später  stehen  sie  mit  ihrem  Lehrer  Doktor  Bürstenfeger  auf 
der  Landungsbrücke  von  Buenos-Aires,  um  mit  ihm  nach  Europa 
zu  fahren. 

Hier  schließen  die  »Kinderjahre  in  Argentinien«,  der  erste 
Band  des  biographischen  Romanes  »Carlos  und  Nicolas«. 

Im  zweiten  Band  »Carlos  und  Nicolas  auf  dem  Meere«*) 
schildert  Rudolf  Johannes  Schmied  im  engen  Anschluß  an  das 
erste  Hauptkapitel  die  Fahrt  der  »Lombardia«  nach  Genua. 

Den  spezifisch  biographischen  Wert  der  Teile  für  das 
Gesamtwerk  können  wir  noch  nicht  tieurteilen.  Aber  unabhängig 
davon,  ob  Schmied  diese  Jugend  als  Werdendes  sieht  und  nicht 
als  Vollendetes  empfindet,  leuchtet  in  uns  die  Freude  über  die 
Bücher,  die  wie  Teile  einer  Trilogie  in  sich  abgeschlossen,  einzeln 
verständlich  sind.  In  drei  Stunden  gleiten  ihre  Bilder  wie  schnelle 
Segler  vorüber.  Einige  Szenen  des  zweiten  Bandes,  in  denen  ein 
Menschenschicksal  zusammengeballt  ist,  haben  die  geraffte  Energie 
der  Schiffer,  einen  Wellenkamm  zu  erklimmen,  um  dann  wieder 
über  die  ebene  See  zu  fahren.  Und  der  Gehalt  versinkt  wie  ein 
Anker  in  das  Meer  unseres  Bewußtseins.  Wir  haben  einen  neuen 
Dichter  erkannt. 

Carlos  und  Nicolas  sind  bei  aller  Verschiedenheit  der 
Temperan.ente  ein  einziger  Held.  Die  dynamischen  Nuancierungen 
der  Charakiere  geben  der  Zweiheit  Farbe  und  Wechsel.  Beide  sind 
zwar  voll  von  Leben  und  tollen  Gedanken  und  im  tiefsten  Innern  gut. 
Beide  lieben  das  Abenteuerliche  und  das  Fremde  und  sehnen  sich 
nach  Sieg  und  Ruim.  Beide  wollen  Könige  sein  und  über  FVärien 
herrschen,   wie  Männer  kämpfen  und  wie  Kinder  spielen.   Nur  ist 


*j  Erich  Reiss  \'erlag,  Berlin-Westend. 

301-302 


32 


Carlos  lebhafter  und  klüger,  Nicolas  verträumter  und  ruhiger.  Aber 
beide  zeigen  ihre  Verwandtschaft  in  der  Beeinflussung  durch 
Doktor  Bürstenfeger, 

Dieser,  ein  Bild  des  deutschen  Lehrers,  ist  Pedant  aus 
Idealismus  und  Idealist  aus  Pedanterie.  Als  Lehrer  hat  er  kein 
Verständnis  für  die  Kinder,  sondern  nur  Sinn  für  Didaktik.  Aber  die 
Kinder  sind  für  seine  Ruhe  und  Güte  empfänglich  und  lassen 
sich  von  ihm  menschlich  beeinflussen.  Im  ersten  Kapitel  lügen  sie 
noch  nach  Herzenslust  und  bekräftigen  ihre  Lügen  durch  Eide.  Aber 
nach  seinen  schönen,  eindringlichen  Worten  gehen  sie  in  sich, 
erröten,  wenn  sie  ertappt  werden  und  weinen  vor  Scham.  Sie  werden 
weich,  fast  sentimental  und  färben,  auch  wenn  sie  langsam  seine 
komischen  Schwächen  wittern,  immer  mehr  von  Doktor  Bürstenfeger 
ab.  Carlos  und  Nicolas  werden  nie  wie  Doktor  Bürstenfeger  werden; 
aber  sie  werden  ihn  einmal  lieben  und  als  Freund  betrachten. 

Nicht  nur  auf  ihren  Lehrer  reagieren  Carlos  und  Nicolas 
gleich.  Sie  werden  gemeinsam  von  wesentlichen  Dingen  berührt, 
und  von  gleichen  Stimmungen  befangen.  Schmied  verwendet  diese 
innere  Einheitlichkeit  zur  Charakterisierung  der  Kinder  und 
zur  Spiegelung  der  Umgebung.  In  Frage  und  Antwort  sind 
sie  wechselseitig  Hintergrund  und  Relief,  Teile  der  Handlung  und 
Werkzeuge  der  Psychologie.  Ihr  klarer  Kinderblick  sieht  das  Klare 
und  dringt  nach  Klarheit.  Daher  beleuchten  sie  nicht  nur  sich  selbst, 
sondern  auch  die  anderen.  Indem  aber  alle  Dinge  in  einen  äußeren 
oder  inneren  Bezug  zu  den  Kindern  gebracht  sind,  scheint  das 
Lebensgetriebe  ohne  sie  nicht  denkbar.  Bald  sind  sie  die  Handelnden 
selbst,  bald  das  Gegenspiel:  im  ersten  Band  vorwiegend  Kreisfläche, 
im  zweiten  vorwiegend  Zentrum.  Und  bezeichnenderweise  ist  ihr 
tiefstes  Erlebnis  auch  die  tiefste  Szene  des  Buches.  Es  ist  die  Nacht, 
in  der  sie  wach  in  der  Kajüte  liegen,  um  die  Versenkung  der 
Leiche  einer  Greisin  zu  erwarten.  Hier  ist  die  Schilderung,  durch 
künstlerische  Kontraste  bewegt,  einfach  und  visionär. 

Im  ersten  Band,  den  »Kinderjahren  in  Argentinien c,  folgt 
ein  Abenteuer  dem  anderen.  Fehlt  noch  den  skizzenartig  gereihten 
Erzählungen  künstlerisch  verdichtete  Einheit,  so  ist  doch  jede  einzeln 
fest  gefügt  und  gesteigert,  geschmückt  mit  neuen  und  eindringlichen 
Bildern.  Die  Exotik  ist  nicht  Zweck,  sondern  das  zufällige  Miilieu, 
nicht  ein  Behelf  des  Dichters,  sondern  ein  Teil  des  Dichterischen  in 


—  33  — 

ihm.  Handlung  und  Charaktere:  Alltägliches  und  Besonderes,  die 
deutschen  Gewohnheiten  und  fremden  Sitten,  die  Spießer,  Aben- 
teurer und  Tollen.  Auswanderer,  Einheimische  und  Fremde  sind 
auch  in  den  gewöhnlichsten  Situationen  neu  gesehn  und  wie  zum 
erstenmal  beschrieben. 

Schmieds  Sprache  gibt  sinnliche  Eindrücke  sinnlich  wieder, 
ohne  zur  Impressionistik  flüchten  zu  müssen.  Im  zweiten  Band 
hinterläßt  gar  das  mit  blanker  Technik  ausgeführte  Bild  einer  Fahrt 
durch  den  Nebel  impressionistische  Visionen. 

Die  Meerfahrt  zeigt  den  Dichter  der  Vollendung  entg^en- 
schreitend.  Wieder  bestimmt  die  Einfachheit  die  Form,  die  nun 
synthetisch  und  durchsichtig  ist  In  einem  Zug  sind  die  Erlebnisse 
geschildert,  dar  Tod  und  der  Wahnsinn,  das  Alter  und  das  Heim- 
weh. Die  technischen  Schwierigkeiten  der  Ordnung  von  Zeit  und 
Raum  sind  überwunden,  und  der  schmale  Band  ist  voll  mit  neuen 
Bildern  fremder  Menschen.  Namen,  Reden,  Gesten,  oft  nur  ein 
auffallendes  Kleidungsstück  erschöpfen  Charaktere,  die  durch  einen 
einzigen  Satz  geschildert,  von  uns  zu  Naturen  ei^nzt  werden 
könnten. 

Bei  aller  schlichten,  der  Kunst  abgerungenen  Anmut  ist  in 
>Carlos  und  Nicolas«  die  tiefe  Ruhe,  Objektivität  und  höhere 
Zweckmäßigkeit  der  Natur.  Die  Menschen,  ob  gut  oder  böse,  sind 
für  das  Gefühl  des  Dichters  gut,  sein  Reichtum  entlädt  sich  nicht 
barock  und  seine  Sparsamkeit  ist  Fülle. 


Die  vierte  Schwester 
Von  Alexander  Sofomonica 

Ich  habe  drei  kleine  Schwestern.  Vor  längerer  Zeit  träumte 
mir,  ich  hätte  bloß  zwei.  Dies  muß  indes  richtig  verstanden  werden, 
in  der  Welt  meines  Traumes  gab  es  bloß  zwei,  und  von  der 
Existenz  der  dritten  wußte  ich  überhaupt  nichts.  Dort  hatte  sie 
vielleicht  keine  Berechtigung  oder  auch  keine  Möglichkeit,  zu  leben. 
Dort  war  sie  nie  vorhanden  gewesen,  nichts  erinnerte  an  sie;  sie 
ließ  auch  keine  logische  Lücke  in  der  Entwicklung  der  Verhältnisse 


—  34 


zurück.  Vielmehr  entwickelten  sich  jene  (im  Traume)  organisch 
weiter,  nur  daß  der  Faktor  meiner  dritten  Schwester  in  ihnen  von 
vornherein  gestrichen  war.  Als  ich  dann  erwachte,  war  es  mir,  als 
würde  ich  von  einer  ungeheuren  Feder  emporgeschnellt.  Eine  andere 
Ebene  nahm  mich  auf,  auf  der  sich  nun  auch  die  verloren  gegangene 
Schwester  befand.  Nur  schwer  konnte  ich  mich  an  die  Vorstellung 
ihrer  Existenz  gewöhnen.  Nach  und  nach  aber  fiel  mir  die  ganze 
Wirklichkeit  wieder  ein  und  ich  wunderte  mich  dann  fast  gar 
nicht  mehr,  als  ich  sie  in  Person  sah  und  sie  mir  zunickte. 

Unlängst  ging  es  mir  umgekehrt.  Ich  lernte  im  Traume 
meine  vierte  (etwa  vierzehnjährige)  Schwester  kennen.  Auch  dies  ist 
wieder  falsch  ausgedrückt,  denn  ich  lernte  sie  nicht  kennen,  sondern 
bewegte  mich  in  einer  Welt,  in  der  wir  beide  seit  jeher  heimisch 
waren.  Anfangs  benahm  ich  mich  jedoch,  wie  das  begreiflich  ist, 
verwirrt  und  ungeschickt.  Ich  bemerkte  sie  mit  Befremden,  sie  kam 
aber  rasch  auf  mich  zu,  denn  ich  war  gerade  von  einem  Spazier- 
gange zurückgekehrt.  Zutraulich  legte  sie  den  Arm  um  meinen 
Hals  und  küßte  mich.  Ich  betrachtete  aufmerksam  ihre  weiße  Stirn, 
ihre  blauen  Augen,  ihr  —  wie  immer  —  sehr  ernstes  Gesicht.  Es 
fiel  mir  auf,  daß  sie  einen  großen  Hut  trug.  Eli . . .  Eli . . .  stotterte 
ich  und  dann  fand  ich  den  Namen:  Elisabeth!  Sie  sprach  freund- 
lich mit  mir  und  half,  ohne  es  zu  wissen,  meinem  verdunkelten 
Gedächtnisse  nach,  so  daß  es  sich,  wie  es  in  solchen  Fällen  zu 
sein  pflegt,  rasch,  ja  blitzartig  erhellte. 

Nun  übersah  ich  die  Ereignisse  ihres  Lebens  und  bemerkte, 
wie  sie  sich  lückenlos,  was  Gegenwart  und  Vergangenheit  an- 
belangt, in  die  gegebenen  Verhältnisse  fügten.  Ihr  Faktor  war  in 
die  Rechnung  eingestellt.  Da  ich  noch  immer  auf  der  Hut  war, 
so  erstaunte  ich  anfangs  darüber  sehr.  Bald  aber  wurde  dies  für 
mich  bedeutungslos.  In  demselben  Maße,  in  dem  ich  das  Bewußt- 
sein und  den  Einwand  des  Traumes  mit  Verachtung  von  mir 
streifte,  ermaß  ich  die  Nebensächlichkeit  jener  logischen  und  doch 
zufälligen  Beziehungen.  Ihre  Umschaltung  war  selbstverständlich, 
ein  technischer  Handgriff,  weiter  nichts.  Alle  Dignität  beschränkte 
sich  auf  die  Person,  kam  in  ihrem  Gefolge  und  lebte  geradezu 
von  ihrer  Gnade. 

So  durch   die  Kraft  des  Willens,  der  seine  Dimension   ver- 


—  35  — 


doppelte,  zwischen  zweien  Welten  schwebend,  ja,  die  endlose  Kluft 
zwischen  beiden  ständig  durchmessend,  gedachte  ich  der  ungelösten 
Schauer,  die  im  Wachen  meines  Zweifeins  besseres  Teil  gewesen 
waren.  Dort  fehlte  mir  etwas,  aber  seine  Synthese,  die  ich  hier 
erlebte,  versuchte  ich  nicht.  Ich  sammelte  mich  nicht,  um  das 
Wertvolle,  aber  Einzige  und  Unteilbare  zu  erfassen,  ich  entwertete 
es  vielmehr,  da  ich  es  zersplitterte.  Und  je  weiter  ich  mich  von 
einem  Ursprünglichen  entfernte,  je  näher  wähnte  ich  an  seine 
Quelle  gelangt  zu  sein.  Doch  hier  bin  ich  meiner  Qual  enthoben. 
Ich  finde  meine  Schwester  vor  und  das  ist  keine  Täuschung!  Die 
Energie,  die  ihren  Bewegungen  entströmt,  hat  auch  mich  gefördert, 
den  Schmerz,  der  ihre  Lippen  gepreßt  und  schmal  macht,  habe 
ich  mitverschuldet.  Aber  ich  verschwendete  ihre  Energie  und  ent- 
heiligte ihren  Schmerz.  Nun  sehe  ich  die  untrüglichen  Umrisse 
ihrer  Gestalt,  ihres  Antlitzes  unverkennbaren  Ausdruck,  ihres 
Lächelns  eigentümliche  Melancholie.  Auch  sie  ist  ein  Problem, 
aber  es  birgt  die  Lösung  in  sich.  Nichts  in  der  Welt  ist  ihr  ver- 
gleichbar, ja,  nichts  in  der  Welt  ist  neben  ihr  vorhanden.  Sie 
spottet  des  Gemeinsamen,  das  sie  zu  erniedrigen  scheint,  da  sie 
es  selbstschöpferisch  in  jedem  Augenblicke  neu  erzeugt.  Sie  ist 
sich  selbst  die  einzige  Instanz  und  souveräner  als  ein  Fürst,  weil 
ihr  die  Untertanen  fehlen.  Wäre  es  nicht  kleinlich,  an  ihrer 
Existenz  zu  zweifeln,  da  ihre  Giltigkeit  über  jeden  Zweifel  erhaben 
ist?  Und  ist  es  umgekehrt  nicht  verstimmend,  wenn  zwei  Menschen 
einander  läppisch  ähnlich  sehen?  Ist  nicht  gar  der  Gedanke, 
daß  irgendwo  mein  Doppelgänger  herumläuft,  der  entsetzlichste 
und  verruchteste,  da  er  doch  dem  Gesetze  der  Welt  Hohn  zu 
sprechen  scheint? 

Ihr  unvergängliches  Wesen  aber  mit  Worten  beschreiben 
oder  auch  nur  festhalten,  das  kann  ich  nicht.  Ich  müßte  denn  das 
Chaos  ausschalten,  das  an  sie  grenzt  und  so  ihrer  Form  teilhaftig  ist. 
Und  fühlte  ich  auch  die  Kraft  dazu  in  mir,  was  nützt  es  mir  jetzt, 
da  ich  erwacht  bin,  da  sie  mir  entschwebt  und,  wie  ich  weiß,  mir 
für  immer  verloren  ist 


—  36  — 

Lyrik 

VORFRÜHLING 

Von  Berthold  Viertel 

Ein  Himmel,  der  nicht  weiß, 
Ob  er  blühen  mag. 
Erwachend  weht  der  Tag  — 
Und  leis 
Verwirrt  er  jeden  Herzensschlag. 

ÖLBERG 

Von  Ludwig  Ulltnann 

Und  schimmernd  floß  des  Engels  Kleid 
von  den  Schultern  bis  zum  Saum. 
Rings  bog  sich  seiner  Herrlichkeit 
anbetend  Busch  und  Baum. 

Und  wie  es  aus  der  Wolke  trat, 
goß  silbern  reiches  Licht 
auf  ihn,  dem  strahlend  es  genaht, 
das  hohe  Angesicht. 

DAS  LIED 

Von  Felix  Gräfe 

Und  mit  einem  leichten  Liede 
auf  den  Lippen  kam  sie  her; 
hart  und  schwer 
klangen  Schläge  aus  der  Schmiede. 

Eines  Ritters  graue  Pferde, 
der  Gesell  beschlug  sie  gut; 
rot  wie  Blut 
wurde  sie  und  sah  zur  Erde. 

Und  aus  ihrem  jungen  Munde 
schwieg  das  Lied  —  doch  der  Gesell 
sang  es  hell 
in  der  roten  Abendstunde. 


Karl  Lueger 

Von  Roljert  Scheu 

Die  wunderliche  Leere,  die  nach  dem  Tode 
bedeutender  Persönlichkeiten  eintritt,  läßt  uns  jeweils 
innewerden,  wie  sehr  die  Fragen  der  Menschheit  und 
der  Gesellschaft  davon  abhängig  sind,  daß  sie  von 
irgendeinem  Einzelnen  aufgeworfen  werden.  Einzelne 
sind  es,  welche  Stoffe  aus  dem  Chaos  erschaffen, 
Fragen  erraten,  durch  schmetternde  Losungsworte  aus 
der  bunten  Menge  geordnete  Truppen  formieren. 
Einzelne  sind  es,  welche  Unfrieden  stiften,  damit  der 
Friede  wieder  einen  Sinn  habe.  Ohne  diese  perio- 
dischen Zerreißungen  wäre  die  menschliche  Gesellschaft 
ein  nichtssagendes  Gemenge,  die  Völker  besiedeltes 
Land,  das  Leben  der  Gesamtheit  geschichtslos. 

Dichter  und  Denker  finden  neue  Stoffe  des 
Geistes,  Politiker  und  Volksführer  neue  Träger  der 
gesellschaftlichen  Arbeit.  Diese  sind  Pflüge,  welche 
den  Boden  aufreißen  und  neue  Schichten  zur  Frucht- 
barkeit heranziehen.  Ob  die  Gruppierung,  zu  der  Einer 
die  Mitlebenden  gezwungen  hat,  ein  Kunstwerk  oder 
ein  Kunststück  gewesen  ist,  das  zeigt  sich,  wenn  er 
vom  Schauplatz  abtritt.  Das  Leben  erscheint  dann  nach 
einem  Worte  Hebbels  wie  ein  Bildhauer,  der  jahraus, 
jahrein  mit  unendlichem  Fleiß  an  einer  Totenmaske 
arbeitet.  Die  Persönlichkeit  wird  vom  Tode  verklärt, 
vor  Allem  aber  erklärt. 

Der  einem  Menschen  zugeteilte  Stoff  wirbt  um 
ihn  als  Erlebnis.  Einen  Stoff  erleben  ist  das  erste  Ver- 
dienst, ihn  gestalten,  das  zweite.  Eines  Politikers 
grundlegendes  Erlebnis  wird  das  Modell  einer  gesell- 
schaftlichen Umwälzung  sein;  wie  er  seine  persönliche 
Frage  als  gesellschaftliche  ausdeutet  und  —  viel  später, 
—  wie  er  sie  im  Namen  einer  Gemeinschaft  beant- 
wortet, das  bestimmt  zuletzt  sein  Gewicht.  Es  will  nun 
scheinen,  daß  Karl  Lueger  ein  echtes  Erlebnis  hatte 
und  daraus  eine    mächtige  Frage  gestaltet  hat.    Seine 


38 


Disgregationsleistung  war  bedeutend,  der  Stoffgewinn 
ansehnlich.  Aber  die  Zusammenfassung,  die  Harmonie 
nach  der  entdeckten  Disharmonie  —  war  sie  nicht 
etwas  kurzathmig  und  überstürzt?  Seine  Antwort  war 
nicht  so  bedeutend  wie  seine  Frage,  seine  Konstruktion 
nicht  so  tief  wie  sein  Erlebnis,  die  Erfindung  nicht  so 
groß  wie  der  Fund.  Wenn  ein  Künstler  einen  Stoff 
entdeckt  hat,  fühlt  er  den  Drang,  die  ihm  geläufige 
Technik,  den  ihm  verfügbaren  Schatz  von  Details 
anzuwenden,  zu  placieren.  Ist  der  Vorrat  dem  Stoff 
allzufremd  oder  die  Technik  allzu  bereit,  so  wird  die 
Ausführung  unharmonisch  oder  oberflächlich  sein.  Der 
Österreicher  ist  dazu  veranlagt,  große  Aufgaben  zu 
erschauen,  aber  sie  gar  zu  gewandt  zu  erledigen.  Ihm 
fehlt  die  Neigung  und  die  Seelenstärke,  eine  lange 
schreiende  Dissonanz  zu  ertragen. 

Das  Erlebnis,  von  dem  Luegers  Laufbahn  be- 
stimmt wurde,  bestand  darin,  daß  sich  ihm  das 
gebildete  Bürgertum,  damals  verkörpert  in  der  liberalen 
Partei,  mißtrauisch  verschloß.  Es  heißt,  er  schien  von 
Anfang  an  unzuverlässig.  Was  drückt  sich  darin 
anderes  aus,  als  daß  die  Auslese-Organe  jener  Gesell- 
schaft außerstande  waren,  ein  politisches  Talent  zu 
assimilieren?  Das  Problem  eines  Staatswesens  ist  gelöst, 
wenn  die  herrschenden  Klassen  das  Mittel  gefunden 
haben,  die  Talente  einzugliedern.  Lueger  erkennt 
seine  Lebensmöglichkeit  und  damit  seine  Aufgabe : 
Niederringung  des  liberalen  Bürgertums  —  damit 
zugleich  des  Finanzkapitals,  der  Bildung,  der  Abstraktion 
—  durch  den  Kleinbürger,  das  ist  er  selbst,  der  konkrete 
Mensch.  Der  Industriearbeiter  erscheint  ihm  wieder  als 
ein  abstraktes  Wesen.  Als  komplexen  Menschen  — 
und  nur  dieser  interressiert  ihn  —  errät  er  den  kleinen 
Mann,  in  dessen  Betrieb  sich  ein  ganzer  Arbeitsprozeß 
vollendet.  Der  Widerstand  gegen  die  Abstraktion  in 
jeder  Gestalt  ist  aber  andererseits  das  tief  innerste 
Wesen  von  Wien  und  Österreich ....  Das  ist  der 
Schlüssel.  Er  \dttert  im  Kleinbürger  politische  Leiden- 


—  39 


Schaft,  Organisationsgabe  und  Fähigkeit  für  Verwaltung. 
Es  handelt  sich  also  darum,  den  Kleinbürger  für  die 
Politik  zu  erobern,  seine  Identifizierung  mit  Wien  und 
Österreich  durchzusetzen  und  den  Beweis  zu  erbringen, 
daß  alle  Künste  der  Politik  und  Verwaltung  mit  prinzi- 
pieller Zurückdrängung  der  gebildeten  Stände  aus  dem 
Reservoir  des  Volkes  hervorgebracht  werden  können. 
Wenn  es  richtig  ist,  daß  der  Handwerkerstand  aus 
materialistischen  Gründen  zum  Niedergang  bestimmt 
ist,  dann  könnte  die  Macht,  die  ihn  gerade  in  diesem 
Zeitpunkt  politisch  ans  Ruder  bringt,  nur  irgend  ein 
Zauber  sein.  Als  Repräsentanten  der  abstrakten  Mächte : 
Kapital,  Bildung,  Verfassung,  Gesetz,  errät  er  die  Juden, 
jene  Juden,  die  bindende  Kontrakte  machen,  —  wo 
doch  der  Wiener  >keinen  Richter  braucht«,  —  eine 
immanente  Entwicklung  der  Geschichte  behaupten  und 
predigen  und  im  Gegensatz  der  Klassen,  in  ökonomisch- 
technischen Tatsachen  die  Ursachen  allen  Geschehens 
erblicken  und  durchzusetzen  suchen.  Das  Alles  hat  er 
nicht  ergrübelt,  sondern  ertastet.  Er  überläßt  sich  im 
ganzen  weiteren  Leben  dem  Impuls  als  seinem  führenden 
Genius,  fest  entschlossen,  ein-  für  allemal  nach  dem 
Donner  des  Applauses  zu  marschieren.  Er  wählt  aber 
—  und  das  erhebt  ihn  über  den  Durchschnitt  —  den 
denkbar  größten  Umweg  zur  Macht.  Er  begibt  sich 
vorerst  in  eine  schreckliche  Einsamkeit  und  scheinbar 
hoffnungslose,  höchst  dornige  Arbeit.  Ohne  selbst  einen 
klingenden  Namen  zu  haben,  ohne  sich  mit  Namen  zu 
verbinden,  sogar  von  den  natürlichen  Bundesgenossen 
verkannt,  schafft  er  aus  einem  jungfräulichen  Boden 
eine  Naturkraft.  Nach  einem  langsichtigen  Plan  spielt 
er  zuerst  seine  Härte  und  Hassenskraft,  gelegentlich 
seine  Grausamkeit  aus,  um  dereinst,  nach  vielen  Jahren, 
die  Angegriffenen  durch  seine  Verführungskünste  desto 
sicherer  zu  erobern.  Er  scheut  nicht  Wirtshausqualm 
und  Prügelei,  nicht  den  Haß  von  oben  und  unten, 
nicht  die  Geringschätzung  der  Intellektuellen,  nicht  den 
Ruf  eines  Wurstels. 


—  40  — 

Das  Ziel  seines  Herzens  ist,  Bürgermeister  von 
Wien  zu  werden.  Daß  diese  Stellung  ein  gewaltiger 
Angelpunkt  der  Politik  ist,  das  ist  seine  eigentliche 
Konzeption,  das  einzig  Konstruktive  seines  Lebens. 
Alle  anderen  Aufgaben  wachsen  ihm  gleichsam  auf 
dem  Wege  zu.  Seine  innerste  Triebkraft  ist  der  Fleiß, 
die  Lust  am  Verwalten.  Wieviel  muß  ein  Mensch 
kämpfen,  damit  ihm  gestattet  werde  —  zu  arbeiten! 
Was  ihm  auf  dem  Marsch  dahin  begegnet,  wertet  er 
mehr  notgedrungen  aus,  er  gestaltet  es  fast  wider 
Willen.  Er  wird  Antisemit  und  nimmt  Dienste  bei  der 
Kirche,  aber  sein  Grundgedanke  ist  und  bleibt  die 
Demokratie.  Das  Volk  bleibt  immer  der  gebende  Teil, 
auch  gegenüber  dem  Adel  und  dem  Hof,  auch  gegen- 
über der  Kirche,  gegenüber  allen,  denen  er  scheinbar 
oder  wirklich  dient. 

Je  höher  er  zur  Macht  steigt,  desto  sichtbarer 
wird  der  Mangel  einer  großangelegten  Konstruktion 
der  von  ihm  geschaffenen  Partei.  Er  hat  nach  über- 
wundenem Sturm  und  Drang  nicht  das  geringste  Be- 
dürfnis, die  Partei  kulturell  abzurunden,  höchstens  die 
Sehnsucht,  einen  persönlichen  Frieden  zu  machen. 
Wenn  er  seinerzeit  der  demokratischen  Partei  untreu 
wurde,  so  geschah  es  nur,  weil  er  einen  viel  groß- 
artigeren Weg  wußte,  um  die  Demokratie  zum  Siege 
zu  führen.  Andere  Demagogen  nehmen,  ans  Ruder 
gelangt,  eine  Pose  an,  stilisieren  sich  irgendwie. 
Lueger  besaß  die  schönste  Eigenschaft  des  Wieners: 
die  Verachtung  der  Affektation.  Er  blieb  in  seinen 
Manieren  immer  der  gleiche.  Er  genoß  seinen  persön- 
lichsten Triumph  darin,  die  Sprache  und  Denkweise 
des  Volkes  überall  einzuführen,  es  war  ihm  ein  Hoch- 
genuß, wenn  er  in  der  Akademie  der  Wissenschaften 
genau  so  redete  wie  im  Wirtshaus.  Und  er  blieb  dabei 
der  Überlegene,  er  führte  den  Beweis  durch,  daß  die 
von  ihm  verkörperte  Volkspersönlichkeit  sich  überall 
ungeniert  behaupten  könne.  Er  beugte  sich  nicht  vor 
der  Wissenschaft,    aber  auch  nicht  vor  der  Kirche,   er 


—  41 


diktierte  den  Kardinälen  das  Gesetz  von  Mariahilf  und 
Margareten.  Wien  siegte  sogar  über  Rom.  In  dieser 
Paradoxie  erschöpfte  sich  sein  kulturelles  Programm. 
Er  vermeinte,  sein  Werk  vollendet  zu  haben,  wenn  er 
eine  politische  Partei,  richtiger  eine  Gefolgschaft,  ins 
Feld  gestellt  hatte.  Eine  autochthone  österreichische 
Kultur  unter  zeitweiliger  Zurückdrängung  des  jüdischen 
Ferments  zu  ihrer  größten  Verfeinerung  zu  erheben, 
wäre  längst  unmöglich  gewesen.  Er  hat  aber  auch  bis 
zu  seinem  Tode  niemals  die  Sehnsucht  gehabt,  eine 
solche  Veredlungsarbeit  zu  leisten  und,  da  er  über 
seine  empirische  Person  nicht  hinausblickte,  auch  nichts 
getan,  um  die  ihm  fehlenden  Kulturelemente  nach- 
träglich heranzuziehen,  sie  durch  andere  repräsentieren 
zu  lassen.  Diese  Tatsache  drückt  sich  in  der  ver- 
blüffenden Einflußlosigkeit  der  christlichsozialen  Presse 
aus,  in  dem  schlecht  verhehlten  Respekt,  den  man  just 
in  diesem  Lager  vor  den  geistigen  und  künstlerischen 
Leistungen  eines  gewißen  Kreises  besitzt.*)  In  dieser 
Beziehung  hat  der  Antisemitismus  geradezu  den 
Charakter  eines  Experimentes  für  die  unzerstörbare 
Überlegenheit  der  Juden  angenommen,  eines  Experi- 
mentes, welches  gerade  durch  die  politischen  Erfolge 
der  Christlichsozialen  zwingend  wird. 

Statt  der  angedeuteten  Synthese,  welche,  auch 
wenn  sie  vorerst  nicht  gelungen  wäre,  doch  die  von 
Lueger  aufgeworfene  Grundfrage  offen  gelassen  und 
Stoff  zu  einem  großen  Erbe  gebildet  hätte,  wählte  er 
eine  andere,  in  welcher  er  seine  Persönlichkeit  aller- 
dings restlos  ausleben  konnte,  verführt  durch  seine 
Virtuosität  und  die  ihm  zur  Verfügung  stehende 
Technik.  Er  wurde  der  Repräsentant  von  Wien.  Er 
löste  die  von  ihm  angeschlagene  Dissonanz  in  einer 
andern  Konsonanz  auf,  als  zu  erwarten  war,  Wien 
verwandelte    sich    aus  einem    Mittel    zum   Zweck,    es 

*)  Ohne  zu  ahnen,  daß  es  weder  geistige  noch  künstlerische 
Leistungen  sind.  Anm.  d.  Herausg. 


—  42  — 


schob  sich  seiner  Lebensidee  unter.  Sein  persönlicher 
Erfolg  wurde  dadurch  nur  größer,  aber  er  hinterläßt 
nunmehr  statt  einer  politischen  Tradition  die  Erinnerung 
an  ein  Schauspiel.  Die  Verführung,  Wien  selbst  als 
Idee  zu  setzen,  ist  allerdings  außerordentlich  groß  und 
ihrem  Reize  können  selbst  die  härtesten  Charaktere 
schwer  widerstehen.*)  Der  Grund  liegt  darin,  daß  Wien 
in  seiner  Art  ebenso  eine  unzerstörbare  und  kostbare 
Menschheitsidee  bedeutet  wie  in  seiner  Art  nur  noch 
Jerusalem,  Athen  und  Rom. 

Wien  ist  jener  Ort  der  Erde,  wo  ein  ganzes  Volk 
in  jeder  Lebensäußerung  den  Versuch  macht,  alle  Ab- 
straktionen zu  leugnen,  sich  der  Logik  der  Dinge  um 
jeden  Preis  zu  entwinden.  Wien  ist  der  fleisch- 
gewordene Widerspruch  gegen  die  Macht  des  Unpersön- 
lichen. Hier  soll  das  Gemüt  seine  letzte  Zuflucht  haben 
und  wenn  die  ganze  Erde  nach  den  Gesetzen  abstrakter 
Notwendigkeiten  regiert  wird,  Wien  bleibt  Wien,  die 
Stadt,  wo  nicht  die  Personen  aus  den  Gegenständen, 
sondern  umgekehrt  die  Gegenstände  aus  den  Menschen 
wachsen.  Alle  Ereignungen  des  Lebens  sollen  außer 
dem,  was  sie  gegenständlich  sind,  auch  noch  Anlässe 
zu  Gemütsbewegungen  sein.  Die  Nebensachen  sind  die 
Hauptsache.  Und  die  Hauptsache?  Nun,  die  ist  Neben- 
sache. Der  Nutzgegenstand  ist  Gelegenheit  für  ein 
Ornament,  der  Zweck  des  Bildes  ist  der  Rahmen,  des 
Geschäftes  die  Konversation.  Man  ist  nie  »bei  der 
Sache«.  Auch  beim  Vergnügen  nicht.  Kommt  man  zum 
Tanz,  dann  ist  es  die  Plauderei  im  Nebenraum,  kommt 
man  zur  Konversation,  so  ruft  man  die  Musik  zuhilfe, 
wird  Musik  gemacht,  dann  soll  der  Künstler  schön 
sein,  vom  Maler  verlangt  man,  daß  er  ein  Kunstpfeifer 
sei,  vom  Kunstpfeifer,  daß  er  tanzt.  Man  wünscht,  in 
allen  Verrichtungen  gestört  zu  werden.  Die  Unter- 
brechung und  Negierung  alles  dessen,  was  jeweils 
auf  der  Tagesordnung  steht,  heißt  Erholung. 

*)  Ich  schon I  Anm.  d.  Herausg. 


43 


Wovon  erholt  sich  der  Wiener?  Von  vergangener 
Arheit,  von  der  großen  und  kleinen,  am  liebsten  von 
der  zukünftigen.  Was  hat  den  Wiener  so  müde  ge- 
macht? Die  psycho-physische  Arbeit  der  Rassenmischung. 
Völkerverdauungsmüdigkeit.  Österreich  ist  ein  Magen- 
volk, weil  es  ein  Völkermagen  ist.  Dem  politischen 
Problem,  wie  so  viele  Völker  vom  Reich  verfassungs- 
rechtlich verdaut  werden  sollen,  entspricht  ein  physio- 
logisches. Und  diese  Riesenarbeit  soll  auf  ein  paar 
Quadratmeilen  geleistet  werden.  Wie  sich  die  Frauen 
eine  gewisse  Trägheit  mit  gutem  Gewissen  gestatten, 
weil  sie  sich  bewußt  sind,  mit  dem  Gebären  genug 
Arbeit  zu  leisten,  für  welche  und  nach  welcher  sie  sich 
zu  schonen  haben,  so  hat  Wien  das  instinktive  Gefühl, 
daß  das  ganze  Volk  genug  chemisch-physiologische 
Anpassungsarbeit  getan  hat,  wenn  es  überhaupt 
existiert  und  lebt.  Österreichs  und  Wiens  physiologische 
Arbeit  verdrängt  nicht  bloß,  sondern  ersetzt  sogar 
politische  und  kulturelle  Arbeit,  so  wenn  beispielsweise 
Wien  ganze  Hekatomben  von  Slawen  einfach  durch 
Heirat  und  Geburt  germanisiert.  Gebären  ist  wirkungs- 
voller als  Erziehen.  Darum  hat  der  Österreicher  ein 
so  gutes  Gewissen.  Er  hofft,  daß  das  Reich  einfach 
durch  die  Wirkung  der  Zeit  sich  einmal  amalgamieren 
werde.  Derzeit  ist  Österreich  ein  kunstvolles  Gebilde 
zur  Entlastung  Deutschlands,  ein  von  Deutschland 
angelegter  breiter  Gürtel,  wie  ihn  die  französischen 
Könige  zur  Zeit  der  Raubkriege  träumten,  ein  Glacis, 
hinter  dem  sich  Deutschland  gegen  Osten  deckt, 
dessen  permanente  innere  Reibungen  der  Preis  für  den 
Frieden  jenseits  der  Grenze  sind.  Österreich  ringt  nach 
einem  eigenen  Sinn,  einem  Schicksal  für  sich  selbst. 
Das  größte  Hemmnis  dafür  liegt  in  dem  schwach  ent- 
wickelten politischen  Sinn  der  Deutschen,  die  im 
Zentrum  sitzen.  Wer  Wien  politisiert,  sein  Gewicht 
innerhalb  Österreichs  steigert,  der  arbeitet  an  der 
Selbstbestimmung  Österreichs,  das  ist  die  dumpfe,  aber 
richtige    Empfindung,     welche    der    christlichsozialen 


44 


Partei  ihre  Reiclisbedeutung  gibt.  Damit  bestimmt  sich 
auch  das  Programm  gegenüber  Ungarn. 

Aus  seinem  körperlichen  Grundgeftihl  heraus, 
welches  sich  aber  gedanklich  und  politisch  rechtfertigen 
läßt,  verabscheut  der  Deutsch-Österreicher  alle  Kon- 
struktionen und  betont  seinen  Instinkt,  Er  ist  der 
modernen  großindustriellen  Weltwirtschaft,  der  Groß- 
stadt, dem  komplizierten  Verkehr  noch  nicht  gewachsen, 
weil  er  seine  volle  Kraft  auf  Rassenaufgaben  verbraucht. 
Er  sucht  daher  nach  einer  Lebensform,  derzufolge  die 
Menschen  als  Individuen,  so  wie  sie  gegeben  sind, 
existieren  können,  ohne  die  Unterordnung  unter  ein 
System.  Der  Wiener  will,  was  die  ganze  Menschheit 
wollen  sollte:  die  Eingliederung  des  komplexen 
Menschen  in  das  gesellschaftliche  Ganze.  Nur  nimmt 
er  sich  dabei  die  Freiheit,  das  was  als  letztes 
Ziel  aller  Staatskunst  winkt,  was  das  letzte  Ergebnis 
der  Kultur  sein  kann,  als  schon  erfüllt  vorauszusetzen. 
Der  Wiener  wartet  nicht  erst,  bis  alle  Probleme  durch- 
gekämpft sind  und  die  Gesellschaft  jene  Gestalt  hat, 
wo  die  Individuen  wirklich  Platz  haben,  sondern  er 
lebt  resolut,  als  hätten  wir  alle  das  Recht,  so  zu  sein, 
wie  wir  sind.  Wir  binden  uns  an  kein  Programm,  wir 
vertrauen  auf  die  prästabilierte  Harmonie  aller  Dinge. 

In  Lueger  erschien  nun  leibhaftig  der  ZVlensch, 
der  die  sprödeste  Materie  spielend  bewältigt,  unge- 
fähr wie  ein  Lehrer  einem  Schüler  alles  scherzend  bei- 
bringt, der  Mensch,  der  alle  Abstraktionen  verhöhnt 
und  die  ledernsten  Leute  einfach  verführt,  der  beweist, 
daß  der  Wiener  im  Grunde  Recht  hat,  weil  der  Wiener 
der  eigentliche  Mensch  ist,  der  Alles  und  Jedes  mit 
Gemüt  durchwirkt  und  guirlandiert.  Wäre  er  ein  Schau- 
spieler oder  ein  Dichter  gewesen,  so  wäre  der  Beweis 
nicht  durchgreifend.  Daß  ein  Bohemien  so  sein 
kann,  das  wissen  wir  schon.  Es  handelt  sich  aber 
darum,  daß  ein  fleißiger  Mensch  harte  politische  Arbeit 
in  Form  der  Erholung  leistet  und  das  hat  Lueger  zu- 
standegebracht. 


—  45  — 


Je  höher  sich  seine  Virtuosität  entwickelte,  desto 
mehr  reizte  es  ihn,  einfach  Wiener  zu  sein.  Es  wurde 
der  Sinn  seines  Lebens,  das  Widersprechende  zu  ver- 
einigen, zu  einer  Partei  zusammenzuballen,  ohne 
Rücksicht  darauf,  ob  sich  ein  Nachfolger  finden  würde. 
Was  ihm  seine  Gegner  vorwarfen,  war  eben  das,  was 
er  beweisen  wollte.  Es  war  des  Volkes  unendliches 
Ergötzen,  als  er  schließlich  sogar  die  Juden  be- 
zauberte und  mit  sich  versöhnte.  Blut  ist  stärker  als 
Klasse,  ein  eminent  demokratischer  Gedanke,  denn 
Demokratie  ist  Vermischung  und  Vermischung  ist  Ver- 
wischung. Der  Wiener  erlebte  die  Freude,  daß  sich 
die  Gesellschaft  in  eine  Reihe  von  Personen  aufzu- 
lösen schien.  Der  Wiener  will  immer  mit  Personen  zu 
tun  haben,  weil  diese  mit  sich  reden  lassen.  Die  Welt 
soll  sich  in  eine  Anzahl  von  Hofräten  auflösen,  die 
einerseits  allmächtig,  andererseits  grenzenlos  gefällig 
sein  sollen. 

So  hat  Karl  Lueger  die  von  ihm  mit  Wucht  auf- 
geworfene Frage  mit  seiner  eigenen  individuellen  Per- 
sönlichkeit beantwortet,  die  politische  Aufgabe  mehr 
und  mehr  verlassend,  die  Verwaltung  in  den  Mittel- 
punkt seines  Wollens  gerückt,  weil  hier  der  Kompro- 
miß durch  die  Natur  der  Dinge  vorgezeichnet  ist.  Er 
schließt  mit  einem  prasselndem  Feuerwerk  und  hinter- 
läßt statt  einer  Tradition  Pietät,  statt  eines  Werkes  den 
Karl  Lueger-Platz,  statt  einer  Tat  eine  Maske.  Aus 
dem  Feldzug  ward   ein  Fest,   die   Armee  steht  allein. 


Seibstanzeige 

Aus  einem  Wiener  Brief  der  .Frankfurter  Zeitung*  vom 
15.  April: 

G.  Wien.   13.  Aprü 

Ein  eigenartiges  journalistischesJubiläumistzu  verzeichnen : 
von  der  .Fackel'  ist  die  300.  Nummer  erschienen.  Wiener  journali- 
stischer Brauch  verbietet  eigentlich,  von  der  .Fackel'  und  ihrem  Heraus- 
geber Notiz  zu  nehmen.  Wir  fügen  uns  diesem  Brauche  nicht.  Nicht 
weil  sein  Bruch   mehr   ehrt  als  die  Befolgung,    sondern  weil  er  dumm 


46 


ist.  Die  Totschweigetaktik  der  Wiener  Journalistik  hat  noch  niemanden 
umgebracht,  oder  auch  nur  verhindert,  mächtig  zu  werden.  Im  Gegen- 
teil. War  der  Totgeschwiegene  nur  hinreichend  wehrhaft,  so  hatte  er  sehr 
bald  noch  die  Sympathien  aller  Jener  auf  seiner  Seite,  die  ein  Monopol 
der  Zeitungen  auf  die  Bildung  der  öffentlichen  Meinung  nicht  anerkennen 
und  den  Opfern  eines  unberechtigten  Zunft-  oder  Korpsgeistes  an  Ruhm 
und  Anerkennung  verdoppelt  heimzahlen,  was  ihnen  der  täglich  am- 
tierende Chorus  vorenthält.  Der  Betroffene  selbst  hält  sich  gewöhnlich 
durch  eine  Hypertrophie  des  Selbstbewußtseins  schadlos  für  den  ihm 
entgangenen  Zeitungsruhm,  und  —  hartnäckig  verkündete  Autoreklame 
findet  oft  ebenso  begeisterte  Apostel  wie  wirkliche  Größe.  Si  licet  parva 
componere  magnis  .  .  .  Der  Fanatismus  der  Wagnerianer  hatte  seine 
tiefste  Wurzel  in  der  Verstocktheit  der  Gegner,  Luegers  Triumph  in 
in  der  extremen  Feindseligkeit  der  Presse,  und  wenn  Karl  Kraus  heute 
im  Reiche  draußen  wie  in  Österreich  Parteigänger  hat,  die  gewogen  und 
nicht  gezählt  werden  müssen,  so  verdankt  er  das  gewiß  in  erster  Linie 
dem  Umstände,  daß  in  der  Tagespresse  niemand  seinen  wirklichen  Gaben 
Gerechtigkeit  widerfahren  läßt.  Er  hat  es  der  Presse  schwer  gemacht, 
sich  mit  ihm  zu  befassen.  Er  hat  sie  maßlos  beschimpft  und  Urteile  in 
Bausch  und  Bogen  gefällt,  bei  denen  ihm  zweifellos  mehr  die  Freude 
an  boshaften  Pointen  als  der  Wille,  gerecht  zu  sein,  die  Feder  führte. 
Er  hat  auch  Einzelne,  und  nicht  die  Schlechtesten,  mit  einer  Wut  ver- 
folgt, die  nicht  entschuldigt  werden  kann,  zur  Freude  aller  Neidlinge, 
denen  jeder  gute  Name  ein  Dorn  im  Auge  ist.  Aber  den  Neidlingen 
allein  verdankt  er  es  doch  nicht,  daß  er  in  zehn  Jahren  300  seiner 
brandroten  Heftchen  in  die  Welt  schicken  konnte,  und  was  mehr  ist, 
daß  diese  Heftchen  auch  wirklich  gelesen  werden.  Der  Skandalsucht 
dienen  ja  auch  andere  > Zeitschriften«,  die  kein  Mensch  in  die  Hand 
nimmt,  und  daß  er  der  erste  war,  der  dem  Bedürfnis  nach  einer  > Kritik 
der  Kritik<  Rechnung  trug,  hätte  ihm  gewiß  nicht  die  Treue  seiner  Leser 
durch  zehn  Jahre  hindurch  gesichert.  Dazu  bedurfte  es  schon  des  Talents 
und,  da  es  in  Wien  auch  an  Talenten  in  der  Presse  nicht  fehlt,  noch 
eines  ganz  bestimmten  Talents,  einer  persönlichen  Physiognomie.  Die 
hat  nun  Karl  Kraus,  der  Schriftsteller,  —  der  Mensch  ist  uns  unbe- 
kannt —  ganz  sicher.  Und  wir  können  nicht  umhin,  die  Kollegen  von 
der  Presse  mögen  es  uns  verzeihen,  manche  Züge  dieser  Physiognomie 
sympathisch  zu  finden.  Vor  allem  sein  bis  ins  Extrem  reinliches  und 
peinliches  Sprachgefühl.  Man  darf  es  ihm  glauben,  daß  ilm  der  Schliff 
eines  einzelnen  Satzes  mehr  (freudig  geleistete)  Arbeit  kostet,  als  andere 
ein  ganzer  Essay.  Das  Ergebnis  ist  dann  auch  darnach.  Kraus  ist  ein 
Künstler  der  Pointe,  wie  wir  ganz  wenige  haben.  In  ein  halbes  Dutzend 
sorgfältigst  gewählter  Worte  preßt  er  den  Extrakt  langer  Gedankenarbeit, 
und  hinter  seinen  Witzen  liegt  oft  genug,  wie  hinter  denen  Lichtenbergs, 
ein  System  verborgen.  Es  ist  wahr,  er  scheut  die  Zote  nicht,  aber  bei 
der  reichlichen  Konkurrenz  gerade  in  diesem  Genre  würde  er  auch  damit 
nicht  weit  kommen,  wäre  ihm  die  Zote  Selbstzweck.  Sie  dient  ihm  aber 
nur  dazu,  der  landläufigen  Schicklichkeit  ins  Gesicht  zu  schlagen.    Das 


47 


ist  überhaupt  seine  Leidenschaft  und  vielleicht  läßt  sich  ein  Teil  seiner 
zynischen  Sexualtheorien  auf  diesen  Drang  zurückführen.  Auch  sonst 
kann  ich  das  Gefühl  nicht  loswerden,  daß  hinter  der  Grimasse  eines 
wütenden  Menschenfeinds  und  Verächters  sich  ein  überempfindliches, 
durch  alltägliche  Trivialitäten  und  Niedrigkeiten  bis  aufs  Blut  gereiztes 
Künstlergemüt  verbirgt,  das  einen  grimmigen  Lebensschmerz  vergeblich 
zu  betäuben  sucht.  Und  Thersites,  der  die  Buckel  seines  Größenwahns 
kreischend  zur  Schau  stellt,  ist  wahrscheinlich  im  tiefsten  Innern  ein 
bescheidener,  mit  schmerzhafter  Selbsterkenntnis  ringender  Mensch,  der 
zu  schamhaft  und  zu  stolz  ist,  vor  der  Kanaille  sich  in  seiner  wahren 
Gestalt  zu  zeigen.  Schon  hat  er  sich  vom  Eintagssatiriker  zum  Sozial- 
kritiker emporentwickelt,  der  kaum  mehr  ohne  großen  Gegenstand  sich 
regt.  Der  Stadt  aber,  die  er  mit  der  ganzen  Leidenschaft  seines  Spottes 
geißelt,  wird  er  vielleicht  noch  einmal  das  Zeugnis  ausstellen,  daß  sie 
allein  ihm  die  Möglichkeit  der  Entwicklung  geben  konnte,  weil  sie 
Kulturmenschen  genug  beherbergt,  die  ein  sich  selbst  erst  suchendes 
und  findendes  Talent  mit  Anteilnahme  von  seinen  Anfängen  bi«  zur 
Höhe  verfolgen. 


Glossen 
Von  Karl  Kraus 

Ein  Abend  beim  bulgarischen  Königtpaare 

Die  Neue  Freie  Presse,  die  heute  noch  der  Meinung  ist, 
daß  sie  mit  einer  Zudringlichkeit,  Einbildung  und  Blödheit  aus 
den  Achtziger  Jahren  in  der  Welt  Aufhebens  machen  kann,  füllte 
kürzlich  vier  Seiten  ihres  Sonntagsblattes  mit  der  Schilderung,  wie 
der  König  von  Bulgarien  den  Siegmund  Münz  interviewt  hat.  Dieses 
Gespräch  zwischen  S.  M.  und  S.  Mz.,  in  welchem  nichts  anderes 
enthalten  war,  als  daß  Herrn  Münz  Sophia  modemer,  aber  Kon- 
stantinopel dafür  altertümlicher  vorkommt,  erinnert  dennoch  vielfach 
an  das  bekannte  Interview,  das  der  Marquis  Posa  mit  dem  König 
Philipp  hatte,  nur  mit  dem  Unterschied,  daß  Münz  die  liberalen 
Hoffnungen,  die  Posa  an  die  Unterredung  knüpft,  um  dann  leider 
enttäuscht  zu  werden,  im  König  Ferdinand  schon  erfüllt  vorfindet, 
ohne  daß  er  ihn  erst  zu  den  Idealen  der  bürgerlichen  Weltordnung 
bekehren  müßte.  Im  Gegenteil  sagte  der  König  sofort:  >Ich  habe 
den  Tod  Ihres  Kollegen  Schütz  sehr  bedauert«  Sonst  aber  hätte 
sich  das  Gespräch  ganz  so  abgespielt,  wie  seinerzeit,  und  wie 
es   zwischen    einem   Weltbürger   und   einem  Potentaten  seit  jeher 


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üblich  ist,  wenn  nicht  der  König  von  Spanien  sich  damals  haupt- 
sächlich über  die  wichtige  Frage  der  Gedankenfreiheit  hätte  ausholen 
lassen  und  die  Aufforderung:  > Drängt  euch  zu  meinem  Sohn, 
erforscht  das  Herz  der  Königin«,  erst  ganz  zum  Schluß  an  den 
Besucher  gerichtet  hätte,  während  Herr  Münz  sofort  dem  Familien- 
diner zugezogen  wurde  und  kaum  in  Sophia  angekommen,  auch 
schon  hinter  der  Königin  und  dem  Kronprinzen  Boris  her  war. 
Eine  gewisse  Parallele  ergibt  sich  nun  wieder  insofern,  als  der 
Marquis  Posa  erklärte,  er  sei  soeben  aus  Flandern  und  Brabant 
angekommen  und  auf  verbrannte  menschliche  Gebeine  gestoßen, 
während  der  Münz  aus  Leipnik  kommt,  aber  immer  wieder  versichert, 
er  komme  aus  Konstantinopel,  und  er  vermisse  in  Sophia  die  pitto- 
resken Spuren  der  Vergangenheit,  überhaupt  sei  hier  alles  so  kultiviert, 
daß  er  den  Eindruck  habe,  >in  einer  neuungarischen  Provinzstadt 
zu  sein,  so  wenig  orientalisch  finde  er  die  Stadt«.  Ein  kräftiges, 
ein  großes  Volk,  meint  Herr  Münz,  und  auch  ein  gutes  Volk,  alles 
was  man  will,  und  so  viele  reiche,  blühende  Provinzen,  aber — >ich 
habe,  Majestät,  auf  dem  Wege  hieher  nach  Sophia  sehr  wenige 
Schlote  gesehen.  Die  Industrie  scheint  in  Bulgarien  noch  nicht 
viel  entwickelter  zu  sein  als  in  der  Türkei«.  Fürwahr,  eine  freie 
Sprache.  Münz  kann  nicht  Fürstendiener  sein.  Der  König  >fixiert 
sein  Gegenüber« ;  ganz  wie  jener  andere,  der  den  Marquis 
bald  mit  einem  Blick  der  Verwunderung,  bald  mit  Erstaunen, 
mit  Erwartung,  mit  Überraschung  betrachtet.  Aber  Münz  braucht 
seinen  König  nicht  mehr  zu  erziehen.  >Ich  hatte«,  bekennt  er,  »in 
dem  König  einen  Mann  von  Temperament  und  Selbstbewußtsein 
vor  mir,  und  ich  müßte  ihn  so  einschätzen,  auch  wenn  er  nicht 
König  wäre.  Es  ist  doch  selbstverständlich,  daß  es  einem  Publi- 
zisten, der  auf  seine  Reputation  hält  und  dem  jede  höfische  Ge- 
sinnung fern  ist,  schlecht  anstünde,  sich  unter  dem  Eindrucke 
einer  freundlichen  Aufnahme  von  dem  Glanz  einer  Krone  der- 
maßen blenden  zu  lassen,'^  daß  er  ihren  Träger  in  einer  die  Öffent- 
lichkeit irreführenden  Weise  überschätzen  wollte.  Hie  die  Majestät 
des  Königs  —  hie  die  vollste  Unabhängigkeit  des 
Publizisten!<  Hi  hü  Der  Münz  kann  also  nicht  Fürstendiener 
sein!  Da  kann  man  eben  nichts  machen.  (Der  König  ist  bewegt.)  Nach 
aufgehobener  Tafel  möchte  Münz  am  liebsten  sagen:  »Mein  Herz  ist 
voll   —  der  Reiz  zu  mächtig,    vor   dem  Einzigen  zu   stehen,   dem 


-  49  — 


ich  es  öffnen  möchte.«  Da  wird  er  aber  vom  König  ins  Gespräch 
gezogen.  Und  hier  erst  zeigt  sich  der  ganze  Unterschied  z\tischen 
Posa  und  Münz,  zwischen  der  Enttäuschung,  die  jener,  und  der 
Befriedigung,  die  dieser  empfinden  mußte.  Denn  während  Posa  den 
König  Philipp  erst  allmählich  dahinbringen  will,  Biirgerglück  ver- 
söhnt mit  Fürstengröße  wandeln  zu  lassen,  bemerkt  Münz  zu  seiner 
angenehmen  Überraschung,  daß  der  König  von  Bulgarien  —  was 
Bürgerkönig!  —  Bauemkönig  ist,  daß  er  »den  gesunden  Kern  mit 
der  harten  Schale  vom  ersten  Tage  an  erfaßt«  hat,  sich  politisch 
ganz  demokratisiert  und  dieser  rauhen  bulgarischen  Volksseele 
sich  hingegeben  hat.  Den  Stock  braucht  er  nur,  weil  er  sich  in 
diesem  Klima  auch  die  Gicht  geholt  hat,  höchstens  noch,  um 
etwa  ein  Ende  zu  machen,  wenn  ein  Interview  zu  lange  dauern  sollte, 
aber  ganz  gewiß  nicht  zu  absolutistischen  Zwecken.  Übrigens 
scheint  er  den  größten  Wert  auf  die  Anwesenheit  des  Münz  zu  legen, 
und  dieser  ist  gar  nicht  imstande,  alle  Fragen,  die  von  der  Königs- 
familie auf  ihn  einstürmen,  zu  beantworten.  Wie  ein  wieder- 
gefundener Sohn  wird  Münz  umringt,  denn  wenn  er  auch  bei 
allen  anderen  Potentaten  Europas  wie's  Kind  im  Herrscherhaus 
ist,  so  scheint  sich  hier  eine  ganz  besondere  Teilnahme  seinen 
Bestrebungen  zuzuwenden.  >Wie  hat  es  Ihnen  in  Konstantinopel 
gefallen?«  beginnt  der  König,  »Was  waren  Ihre  Eindrücke?«  .  .  Es 
gefällt  Ihnen  nicht  alles  in  Konstantinopel?«  .  .  »Und  welchen  Ein- 
druck machten  Ihnen  die  Truppen?«  (Auf  diese  Frage  versichert 
Münz,  er  sei  kein  Soldat,  aber  die  Truppen  hätten  sein  ästhetisches 
Wohlgefallen  hervorgerufen.)  Da  will  wieder  die  Königin  wissen : 
»Und  welchen  Eindruck  macht  Ihnen  Konstantinopel?«  (Auch  ihre 
Frage  beantwortet  Münz  sehr  entgegenkommend  und  ausführlich, 
wobei  er  versichert,  daß  er  ein  moderner  Kulturmensch  sei.)  Da 
aber  fragt  der  König:  »Haben  Sie  den  Sultan  gesehen?«  .  .  »Und 
welchen  Eindruck  machte  Ihnen  der  Sultan?«  (»Ich  habe«, 
antwortet  Münz,  »von  seinen  müden  Gesichtszügen  eine 
lange  Leidensgeschichte  abgelesen«) .  .  »Und  welche  Eindrücke 
hatten  Sie  sonst  in  Konstantinopel?  Haben  Sie  viele  Menschen 
gesehen,  die  Minister,  die  Deputierten?«  (»Ich  habe«,  antwortet 
Münz,  der  schon  ein  wenig  ungeduldig  wird,  sichtlich  knapp, 
aber  taktvoll,  »so  viele  Menschen  sehen  müssen,  daß  mir  leider 
wenig   Zeit  für   die   Dinge   blieb«).    Die  unausgesprochene  Frage 


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des  Kronprinzen  Boris:  Und  haben  sie  nicht  den  l<leinen  Kohn 
gesehn?  —  offenbar  meinte  der  Kronprinz  den  Konstantinopler 
Korrespondenten  der  Neuen  Freien  Presse  —  diese  Frage  beant- 
wortet Münz  wieder  mit  einer  Frage,  mit  der  er  sichtlich  von  der 
Politik  abschweifen  will.  Nämlich  ob  der  Kronprinz,  als  er  in  Bayreuth 
war,  nicht  durch  die  überlange  Dauer  der  Vorstellungen  ermüdet 
worden  sei.  »Durchaus  nicht«,  sagte  der  Kronprinz,  der  sich  im 
Gegenteil  durch  seinen  Besuch  in  Bayreuth  für  den  Besuch  des 
Münz  in  Sophia  trainiert  hat.  Und  die  Königin  will  das  Ge- 
spräch beenden,  indem  sie,  offenbar  ganz  unter  dem  Eindruck  der 
Persönlichkeit,  nachdenklich  vor  sich  hin  die  Erkenntnis  murmelt: 
»Ja,  der  Orient  hat  seinen  Zauber«.  Herr  Münz  wehrt  bescheiden 
ab  und  sagt:  »Majestät  haben  den  Orient  auch  in  seinen  rauhesten 
Schrecken  kennen  gelernt«,  führt  aber,  da  die  Königin  eben  höflich 
oh  oh!  sagen  will,  seine  Meinung  aus:  »Majestät  sind  als  Samari- 
tanerin  durch  die  Mandschurei  gezogen«.  Worauf  wieder  die 
Königin  bescheiden  abwehrt  und  das  Wahrwort  findet:  »Der  Mensch 
hat  Pflichten,  an  welcher  Stelle  immer  ersteht.«  Das  Mißverständnis 
war  also  aufgeklärt,  Herr  Münz  hatte  die  Mandschurei  und  die 
Königin  hatte  die  Neue  Freie  Presse  gemeint,  und  die  Unter- 
haltung spann  sich  gemütlich  weiter.  Wie  nahe  Münz  der 
bulgarischen  Königsfamilie  steht,  geht  daraus  hervor,  daß  er  >in 
der  Lage  war,  dem  König  zu  sagen«,  er  habe  vor  Jahren  »eine 
angenehme  Woche  bei  Freunden  in  Schloß  Ketschendorf  bei 
Koburg  zugebracht  und  kenne  auch  die  Gruft,  in  der  des  Königs 
Eltern  ruhen«.  Worauf  der  Kronprinz  ihm  beim  Dessert  »ein 
Bonbon  mit  dem  Bilde  seiner  beiden  Schwestern  zuschob«  und 
ihn  »bat,  es  zur  Erinnerung  mitzunehmen«.  Die  Schilderung,  die 
Herr  Münz  von  der  Hoftafel  entwirft,  stimmt  durchaus  zu  dem 
Typus  eines  Königs,  der  sich  schon  ganz  demokratisiert  hat.  »Die 
Tafel  ist  reich  mit  Blumen  bedeckt.  Manches  alte  Sevres  fällt  uns 
auf, .  Der  König,  der  in  alles  eingreift .  .  .«  Kein  Wunder,  daß  er 
auch  den  gesunden  Kern  mit  der  harten  Schale  erfaßt.  Die 
Speisesitten  des  Herrn  Münz  werden  in  dieser  Schilderung  als 
bekannt  vorausgesetzt,  denn  sonst  wäre  es  unbegreiflich,  daß  der 
König,  dem  die  Neue  Freie  Presse  den  ausführlichen  Bericht 
doch  jedenfalls  verdankt,  diesen  Punkt  nicht  berührt  hat.  Freilich 
fiele  es  aus  dem  Stil  einer  solchen  Begegnung,  die  sich  durchaus 


51 


in  den  feinsten  welthistorischen  Formen  abspielt.  Schon  beim 
Eintritt  des  Münz  war  es  dem  König  klar:  Anders  als  sonst  in 
Menschen  köpfen  malt  sich  in  diesem  Kopf  die  Welt.  Münz 
bewundert  die  Porträts  von  des  Königs  liltem,  die  Herr  v.  Angeli 
gemalt  hat:  da  hört  man  deutlich,  wie  der  König  die  Worte 
»Sonderbarer  Schwärmer !€  unterdrückt.  Münz  beteuert,  er  hal)e  »in 
ganz  Konstantinopel  kein  Pflaster  gesehen  wie  in  Sophia«. 
Der  König  (beiseite) :  Bei  Gott,  er  greift  in  meine  Seele ! 
Die  Bulgaren  »müssen  mit  der  Natur  ringen«,  sagt  Herr  Posa; 
und  >man  sieht  überall  eine  Bauwut«.  »Dem  Undank  haben 
sie  gebaut«,  meint  Marquis  Münz,  »umsonst  den  harten  Kampf  mit 
der  Natur  gerungen.«  Da  aber  jener  nicht  aufhört,  den  König 
über  den  Unterschied  von  Sophia  und  Konstantinopel  aufzuklären, 
möchte  man  den  König  bitten,  jetzt  doch  endlich  auch  das  Zitat 
zu  bringen:  »Nichts  mehr  von  diesem  Inhalt,  junger  Mann!«  Nur 
eine  Äufkrung  hat  der  König  bestimmt  nicht  getan:  als  nämlich 
Herr  Münz  beherzt  sagte,  er  vermisse  die  Industrie  in  Sophia,  und 
tollkühn  das  Offert  emer  österreichischen  Anleihe  machte,  da  hat  der 
König  sicher  nicht  mit  den  Worten  abgeschnitten:  Ihr  seid  ein 
Protestant!  Denn  sonst  hätte  Herr  Münz  wahrscheinlich  antworten 
müssen:  Ihr  Glaube,  Sire,  ist  nicht  der  meinige!  Dagegen  sprach 
der  König  davon,  daß  es  »ihm,  dem  Fremden«  in  Bulgarien 
nicht  leicht  geworden  sei,  während  wieder  bei  Schiller  die  Anspie- 
lung auf  den  »gekrönten  Fremdling«  in  der  späteren  Ausgabe 
gestrichen  ist.  Abweichungen  da  und  dort.  Unausgesprochen  blieb 
auf  Seite  des  Herrn  Münz  der  Gedanke:  Lassen  Sie  mich,  wie 
ich  bin.  Was  war'  ich  Ihnen,  Sire,  wenn  Sie  auch  mich  bestächen? 
Dagegen  liegt  einem  Spezialtelegramm  aus  Sophia  zufolge  eine 
Äußerung  vor,  mit  der  der  König  diese  denkwürdige  Unterredung 
abgeschlossen  hat.  Der  Hofmarschall  Draganow  trat  herein 
und  der  König  rief:  »DerSchmock  wird  künftig  unter  keinen  Um- 
ständen, hören  Sie  Draganow,  weder  gemeldet  noch  ungemeldet 
vorgelassen  I « 

• 

Aphorismen  und  kein  Ende 

Es  wäre  nachzutragen,  daß  man  von  einem  Osterei  der 
Neuen  Freien  Presse,  wenn  es  schon  über  achtzig  Jahre  alt  ist,  nicht 
mehr  die  volle  Frische  verlangen  kann.  Aber  man  macht  dem  alten 


—  52  — 

Juristen  Josef  Unger  keinen  Vorwurf  daraus,  daß  er  in  sein  Notizbuch 
alles  Mögliche  einträgt;  man  nimmt  es  ihm  nicht  einmal  übel,  daß 
er  es  gedruckt  haben  will ;  man  empfindet  es  nur  als  eine  unerhörte 
Behelligung,  daß  die  Neue  Freie  Presse  unter  dem  provokanten 
Titel  »Aphorismen  und  kein  Ende<  und  mit  dem  provokanten 
Motto:  »Quousque  tandem?«  diese  Geschwätzigkeit  bietet,  die  von 
dem  Schein  der  Altersweisheit  lebt  und  in  Wahrheit  selbst  den 
Glauben  an  eine  geistige  Vergangenheit  beirrt.  Es  gehört  zu  den 
stärksten  Infamien,  deren  diese  abgetakelte  Meinungshure  fähig  ist, 
sich  zur  Dekoration  ihres  Rufs  mit  Greisen  zu  umgeben,  deren 
hemmungsloses  Unvermögen  öffentlich  bloßzustellen  und  das 
Andenken  an  deren  Blütezeit  bei  jenen  zu  kompromittieren,  die  sich 
bei  solchem  Schauspiel  nicht  vorstellen  können,  daß  es  je  anders  war. 
Die  geistige  Schändung  eines  Greises  sollte  schwerer  gestraft  werden, 
als  die  leibliche  Kinderschändung.  Man  hat  den  maßlos  wider- 
wärtigen Eindruck,  daß  ein  reklamesüchtiger  Zahnarzt  auf  der 
Straße  einen  Mann  zusammengeklaubt  hat,  der  nicht  mehr  gehen 
kann,  und  dem  er  den  Mund  aufreißt,  um  den  versammelten  Passanten 
zuzurufen:  >Und  Zähne  hat  er  auch  keine  mehr!  Meine  Adresse 
ist  Fichtegasse  Nr,  11. <  Es  gibt  eine  Altersgrenze  für  Professoren. 
Aber  wir  haben  die  bösen  Zeiten  des  Aphoristikers  Gersuny  mit- 
machen müssen,  und  wenn  einer  aufgehört  hat,  Zivilprozeß  vor- 
zutragen, was  er  schließlich  ganz  gut  >bis  in  hundert  Jahr'«  tun 
könnte,  darf  er  in  vollster  geistiger  und  körperlicher  Frische 
Aphorismen  schreiben.  Der  alte  Unger  trägt  in  sein  Notizbuch  ein, 
was  ihm  heute  und  andern  Denkern  schon  zur  Zeit  des  Bürger- 
ministeriums durch  den  Kopf  gegangen  Ist,  und  er  wird  nicht 
verhindert,  es  uns  noch  zu  zeigen.  So  erfahren  wir: 

Als  ich  meine  Demission  als  Minister  erhielt  und  das  Haus  vor 
dem  Schottentor  verließ,  summte  ich  das  Raimund'sche  Couplet  (mit 
einer  kleinen  Variante)  vor  mich  hin: 

So  leb'  denn  wohl, 

Du  Bretterhaus  1 

Ich  zieh'  vergnügt 

Aus  dir  hinaus. 

Es    ist    sehr  zuvorkommend,   daß    er    in  Klammern  »mit 

einer  kleinen  Variante«  hinzufügt,  man  hätte  die  feine  Pointe  sonst 

nicht  gemerkt.    Unger  hat  aber  auch  tiefere  Gedanken.  So  notiert 

er  ium  Beispiel: 

»Media  in  vita  in  morte  sumus«. 


—  53  — 

Aber  warum  nicht  auch  »Panta  rhei«?  Neuer  als  solche  Ge- 
danken ist  nun  dieser: 

Was  wir'  das  Leben  ohne  Liebesglanz  I 
(Thekla.) 
Nicht  übel.  Und  gewiß  kann  auch    ein  Zitat  mein    eigener 
Gedanke  sein.   Aber  in  welchem  Zusammenhang  soll  uns   die  Be- 
rufung des  alten  Unger  auf  die  Thekla   irgend   etwas   bedeuten? 
Und  was  fangen  wir  gar  mit  dem  Satz  an: 

En  amour  trop  n'est  pas   assez! 

Dann  freilich : 

In  den  Ozean   schifft   mit   tausend   Masten   der   Jüngling, 

Still  auf  gerettetem  Boot  treibt  in  den  Hafen  der    Greis. 

Auch  das  ist  ein  Aphorismus  von  Unger.  Das  ist  nun  schon 
eher  möglich,  weil  es  beziehungsvoller  ist.  Wenn  man  aber 
anderseits  bedenkt,  daß  das  persönlichste  Erlebnis  des  Greises 
erst  nachfolgt?  Daß  die  Neue  Freie  Presse  ihn  aus  dem  Hafen  mit 
Gewalt  wieder  hinaustreibt  und  allen  Gefahren  wieder  preisgibt? 

Ein  jeder  geht  auf  seine  Art  zu  Gründe 
schließt  Herr  Unger.  Aber  diese  Art  ist  wohl  die  schrecklichste.  Und 
nicht  genug  an  dem.  Kaum,  daß  der  alte  Mann  endlich  doch  Ruhe 
hat  und  Ruhe  gibt,  zerrt  ihn  die  Neue  Freie  Presse  noch  einmal  ins 
Boot,  um  ihn  dann  ins  Wasser  zu  stoßen.  Wie  das?  Nun,  »Aphorismen 
und  kein  Ende<  hieß  es,  das  Leben  ist  lang,  es  währet  siebenzig 
Jahr,  und  wenn's  hoch  kommt,  so  sind's  achtzig  Jahr,  und  dann 
kommen  erst  die  Aphorismen,  unter  denen  sich  aber  auffallender- 
weise dieser  Satz  aus  Psalm  neunzig  nicht  befindet  Aphorismen  und 
kein  Ende!  Nun  ja,  aber  wenn  die  Osterfeiertage  vorüber  sind,  ist 
doch  alles  vergessen,  Sonntagund  Montag  wird  der  Skandal  besprochen, 
aber  am  Dienstag,  wenn  wir  wieder  an  die  Arbeit  gehen,  gehört 
das  Feuilleton  der  Neuen  Freien  Presse  der  Jugend,  der  lieben 
lachenden  Jugend,  dem  sprossenden  Nachwuchs,  der  lenzelichen 
Lust,  mit  einem  Worte  dem  Zifferer I  Da  —  Blendwerk  der 
Hölle!  —was  ist  das?  Welch  aberwitzige  Vision  narrt  mich  hier? 
Ein  Alpdruck,  fünfspaltig:  »Aphorismen  und  kein  Ende«.  Noch 
kein  Ende?  Eine  Fortsetzung?  Es  gibt  da  noch  eine  Fortsetzung? 
Und  wieder  das  Motto  >Quousque  tandem«!  Fiebernd  überfliegt 
mein  Blick  die  Spalten,  und  ich  lese: 

>Was  wir  das  Leben  ohne  Liebesglanz  l< 


—  54 


und  alles,  alles  wieder  —  »So  leb'  denn  wohN  und  »media  in  vita« 
und  »En  aniour<  und  der  Jüngling  schifft  wieder  in  den  Ozean 
und  wieder  fehlt  »pantarhei«!  Warum  fehlt  »panta  rhei«?!  Ist  es 
ein  Alpdruck  oder  ein  Wiederdruck  des  Alps?  Wanim  hat  man 
dann  um  Gotteswillen  >panta  rhei<  vergessen!  Was  ist  überhaupt 
geschehen?  ...  Da  finde  ich  zwischen  dem  Titel  »Aphorismen  und 
kein  Ende*  und  dem  Motto  »Quousque  tandem«  den  folgenden 
Passus: 

(Infolge  eines  technischen  Versehens  in  der  Osternummer  unvoll- 
ständig abgedruckt  und  deshalb  hier  wiederholt.  Anmerkung  der 
Redaktion.) 

Ah !  Also  doch  »panta  rhei<  vergessen  !  Da  heißt  es  suchen  . . . 
Aber  nicht  dieser,  sondern  drei  andere  Gedanken  sind  nachgetragen. 
Nun  entsteht  die  bange  Frage,  warum  man  diese  drei  Gedan- 
ken nicht  besonders  nachtragen  konnte,  sondern,  um  sie  zu  bringen, 
die  vierzig  wiederholen  mußte.  Nein,  ich  glaube  nicht  an  dieses 
Motiv.  Die  Wiederholung  der  Untat  muß  ein  anderes  haben.  Und  sie 
hat  es!  Sie  hat  es  in  einem  kleinen  Schreibfehler  des  Verfassers,  der 
wirklich  nicht  besonders  richtiggestellt  werden  konnte.  Nicht  weil 
er  zu  geringfügig,  aber  weil  er  für  die  Struktur  liberaler  Gehirne 
zu  bezeichnend  ist.  Die  Einschaltung  der  fehlenden  drei 
Aphorismen  ist  nur  ein  dummer  Vorwand  des  vollständigen  Wieder- 
abdrucks; dieser  mußte  der  Berichtigung  eines  einzigen  Wortes 
vorgezogen  werden.  Denn  das  Wort  lautet:  »Dreyfus«. 

Sokrates  fiel  als  ein  Opfer  fanatischer  Priester  .  .  .    und  egoisti- 
scher Agrarier  (Salomon  Dreyfus,    Orpheus,    Histoire  g^nörale  de  Reli- 
gions)  —  was  alles  fällt  nicht  heutzutage   diesen  Mächten  zum  Opfer ! 
In  der  neuen  Fassung  aber  lautet  der  Satz: 

Sokrates  fiel (Salomon  Reinach,    Orpheus  etc.) 

Bei  Salomon  Reinach  hatte  der  alte  Unger  selbstver- 
ständlich an  den  Bruder  Josef  gedacht  und  bei  Josef  Reinach  selbst- 
verständlich an  Dreyfus . . .  Nun  finde  ich  aber,  daß  es  dem  Greisen- 
alter durchaus  ziemt,  solchen  Assoziationen  ausgesetzt  zu  sein.  Es  ist 
menschlich,  ja  es  ist  in  dem  vorliegenden  Fall,  wo  es  sich  um  Dreyfus 
handelt,  sogar  human.  Was  aber  dem  Greisenalter  nicht  ansteht, 
ist :  den  Irrtum  wieder  gutzumachen  und  damit  eine  Treffsicher- 
heit des  Denkens  anzusprechen,  zu  welcher  es  nicht  fähig  ist.  Und  ein 
schimpfliches  Verhalten  der  Umgebung  eines  alten  Mannes  ist  es, 
ihn  dazu  zu  animieren  und  seine  Schwäche   ein    zweitesmal   sich 


—  55 


produzieren  zu  lassen.  Das  erstemal  hat  ihn  die  Neue  Freie  Presse 
geschändet,  dann  aber  hat  sie  ihm  nicht  gewehrt,  als  ihm  die 
Sache  Spaß  zu  machen  anfing.  En  amour  trop  n'est  pas  assez. 
Wenn  man  nun  ein  solches  Schauspiel  ablehnt,  so  kommt  man 
bei  der  Dummheit  leicht  in  den  Verdacht  der  Respektlosigkeit. 
Denn  die  Dummheit  sieht  nicht,  daß  man  dem  Alter  den 
höchsten  Respekt  erweist,  wenn  man  die  respektlose  Hand  der 
Hure  schlägt,  die  auf  offenem  Markt  die  Hülle  von  seiner  Scham 
gehoben  hat. 


Popperware 

»Zum  Faktum  Taussig  noch  eine  Frage.  Wie  hoch  schitzen  Sie 
den  Betrag,  den  Popper  durch  die  Machinationen  an  der  Firma  Taussig 
eingesteckt  oder  sich  widerrechtlich  angeeignet  hat?«  »Meinen  Sie 
durch  das  Abreißen  der  Zettel?«  >Ja,  und  auch  durch  andere  Mani- 
pulationen.« >Wir  haben  ja  von  anderen  Manipulationen  nichts 
gehört?«  >!ch  werde  sie  schon  bekanntgeben.  Hat  nicht  Popper  bei 
der  Taussigware  auch  Indigopreise  angerechnet?«  »Nein,  davon  ist 
mir  nichts  bekannt.«  »Wurde  nicht  Partieware  von  Kohn  &  Nußbaum, 
die  Popper  zurückgenommen  hat,  unter  die  Waren  von  Taussig  hinein- 
gemischt?« »Ja,  es  wurde  von  Kohn  &  Nußbaum  zurückgenommene 
Ware  an  Taussig  anstatt  Popperware  geliefert.«  »War  es  nicht  abgepofelte 
minderwertige  Ware?«  »Es  war  Retourware.«  »Ist  Ihnen  was  bekannt, 
daß  Omstein  den  kaiserlichen  Rat  Popper  mit  Prügel  bedroht  hat?« 

Dieses  Milieu,  das  einem  blinden  Griff  des  Staatsanwalts 
zehn  Schwui^erichtssessionen  mit  Betrug  füllen  könnte,  hat  sich 
kürzlich  an  die  Schwelle  der  Justiz  gewagt,  um  seine  Ehrensorgen 
auszutragen.  Nie  ist  das  Pathos  der  Gerechtigkeit  besser  verhöhnt, 
und  nie  der  antisemitische  Ruf  dieser  Stadt  wirksamer  dementiert 
worden.  Die  Neue  Freie  Presse  hatte  dennoch  einige  Bedenken, 
ihre  Abonnenten  im  Gerichtssaal  in  der  Sprache  sprechen  zu 
lassen,  die  sie  gewohnt  sind,  und  machte  den  Dolmetsch  für  die 
Kultur.  So  entstand,  zumal  bei  der  Aussage  des  Zeugen  Meschu  lern 
Pilpel,  ein  gewisser  Widerspruch  zwischen  der  Ethik,  die 
im  Gerichtssaal  vertreten,  und  der  Sprache,  in  welche  sie  nach- 
träglich gekleidet  wurde.  Die  Neue  Freie  Presse  bedachte  nicht, 
daß  sie  jene  Ethik  dadurch  erst  preisgab.  Es  war  umso 
unehrlicher,  als  die  Zeugen  im  Prozeß  Popper  im  Gerichtssaal 
genau  so  sprachen,  wie  sie  es  nach  langjähriger  Lektüre  der  Neuen 
Freien  Presse  gewohnt  sind,   und  von  dieser  nunmehr  gezwungen 


56 


wurden,  ein  outriertes  Hochdeutsch  anzunehmen,  das  sie  sich 
eigens  für  den  Zweck  erfunden  hatte.  Ein  anderes  Blatt  war 
gewissenhafter.  Man  vergleiche : 


Neues  Wiener  Tagblatt: 

Präs. :  Kennen  Sie  Herrn  kaiser- 
lichen Rat  Popper? 

Zeuge:  Ich  bin  ingeschäftlicheVer- 
bindung  mit  ihm  getreten  und  habe 
Ware  gekauft  bei  ihm  voriges  Jahr. 

Präs. :  Haben  Sie  Kredit  bean- 
sprucht und  ist  er  Ihnen  gewährt 
worden? 

Zeuge:  Natürlich. 

Präs.:  Haben  Sie  nicht  auch 
Bankkredit  beansprucht? 

Zeuge:  Möglich,  daß  davon  ge- 
sprochen worden  ist.  Mir  scheint, 
mit  dem  Herrn  Liechtenstein  hab' 
ich  geredet  darüber  oder  mit  Herrn 
Popper,  ich  kann  mich  nicht  so 
ganz  genau  erinnern. 

Präs. :  Welchen  Bankkredit  hätten 
Sie  in  Anspruch  genommen? 

Zeuge  (rasch):  Der  mir  wäre 
gewährt  worden ! 

Angekl. :  Von  welcher  Bank? 

Zeuge:  Weiß  ich? 

Angekl. :  Haben  Sie  nicht  gesagt, 
von  der  Zivnostenska  Banka? 

Zeuge:  Ich  hab'  gesagt?  Ich  hab' 
geglaubt,  weil  der  Herr  kaiserliche 
Rat  ist  Zensor  bei  der  Zivnostenska 
Banka,  daß  ich  vielleicht  könnte 
Kredit  bekommen. 

Präs. :  Hat  man  Ihnen  das  gesagt? 

Zeuge:  Gesagt?  Nein.  Ich  hab' 
mir  gedacht. 

Angekl.  (strenge) :  Haben  Sie  mir 
nicht  im  Cafö  Zentral  in  der  Herren- 
gasse erzählt,  daß  Sie  um  10.000 
bis  15.000  K  Ware  bei  Popper 
gekauft  haben  und  daß  er  ihnen 
Kredit  verschafft  hat? 

Zeuge  (ängstlich) :  I  c  h  habe  Ihnen 
erzählt,  daß  ich  mich  gewendet 
hab'  an  die  Firma  Beer? 


Neue  Freie  Presse : 

Der  Präsident  fragt,  ob  er  mit 
dem  Kläger  in  einer  Geschäftsver- 
bindung gestanden  sei.  Er  bejaht, 
im  vorigen  Jahre  habe  er  einen 
Geschäftskredit  von  der  Firma  be- 
ansprucht und  dieser  sei  ihm  ge- 
währt worden. 

Der  Präsident  fragt  weiter,  ob 
dabei  nicht  auch  von  einem  Bank- 
kredit die  Rede  gewesen  sei.  Es 
sei  möglich,  antwortet  darauf  der 
Zeuge,  daß  es  bei  dieser  Gelegen- 
heit zu  einem  Gespräch  darüber 
gekommen  sei ;  ob  mit  Herrn 
Popper  selbst  oder  mit  Liechten- 
stein, wisse  er  nicht  genau.  Später 
habe  ihm  Liechtenstein  bei  einem 
Gespräch  im  Cafe  Zentral  von  der 
Möglichkeit  der  Erwirkung  eines 
Bankkredits  für  ihn,  den  erwünschte, 
gesprochen. 

Der  Angeklagte  fragt,  bei  welcher 
Bank  der  Kredit  erlangt  werden 
sollte. 

Zeuge:   Ich  weiß  es  nicht. 

Angekl. :  Sie  haben  mir  aber 
gesagt,  daß  es  bei  der  Zivnostenska 
sein  sollte. 

Zeuge:  Das  habe  ich  mir  ge- 
dacht. 

Angekl.  :  Sie  dachten  dies, 
weil  Popper  Zensor  bei  der  Zivno- 
stenska ist. 

Zeuge  gibt  dies  zu. 

Angekl.  :  Wie  groß  war  der 
Bankkredit,  auf  den  Sie  Anspruch 
machten? 

Zeuge:  Darüber  ist  nichts  ge- 
sprochen worden. 

Angekl.:  Wie  groß  wünschten 
Sie   ihn? 

Zeuge:   10.000  bis  15.000  K. 


57  — 


Angekl. :  Und    daß  Popper    für  Angekl.:  Hat  sich  Popper  nicht 

Sie  garantiert.  für  Sie    auch    an    die   Firma  Beer 

Zeuge:     Nein,    das    hat>en  Sie       um  Kredit  gewendet? 
gesagt!  Zeuge:     .Nein.     Sie  haben    die 

Angeld.:     Wann     sind    Sie     in       Vermutung  ausgesprochen,    daß  er 
Konkurs  gegangen?  dies  tun  wolle. 

Zeuge:    Nach  dreiviertel  Jahren.  Angekl.:    Wie    lange  Zeit    nach 

Präs. :  Herr  Zeuge,  wir  brauchen       dem  Gespräch  im  Cafe  Zentral  sind 
Sie  nicht  mehr.  Sie  in  Konkurs  geraten? 

Der  Zeuge    macht    mit    beiden  Zeuge:  Nach  dreiviertel  Jahren... 

Achseln  und  Armen  eine  bedauernde  Nach    Beendigung    dieser    Aus- 

Bewegung und  entfernt  sich.  sage  .  .  . 

Es  ist  überflüssig  festzustellen,  daß  dies  das  Milieu  ist,  aus 
welchem  das  geistige  Wien  hervorgeht. 

•  Der  Zeuge  wird  hierauf  vorgerufen.  Er  gibt  an,  jetzt  Schriftsteller 
zu  sein;  vor  zehn  Jahren  war  er  in  der  Niederlage  des  Herrn  Popper 
bedienstet.  Er  sagt  aus,  daß  mehrfach  im  Geschäfte  Poppers  En  bloc- 
Verkäufe  vorgekommen  sei-^n ....  Auf  die  Frage,  was  er  unter  En  bloc- 
Verkäufen  verstehe,  sagt  der  Zeuge,  dies  sei,  wenn  größere  Partien 
Waren  verschiedener  Sorten  zu  einem  Einheitspreis  verkauft  würden. 
Die  Pakette  oder  Dutzend  seien  aber  immer  gezählt  und  auch  ver- 
rechnet worden.« 

Bitte,  das  war  vor  zehn  Jahren.  Aber  die  Feuilletonhonorare 
werden  von  den  Chefs  nidit  immer  genau  verrechnet. 

• 
Wie  er  sich  schließlich  doch  verständlich  machte 

>Nach  dem  Empfange  einer  Deputation  des  Männergesangvereines 
ließ  Roosevelt  die  Vertreter  der  Presse  in  seinen  Salon  bitten.  Nach 
der  Vorstellung  der  einzelnen  Herrn,  die  sich  im  Halbrund  aufgestellt 
hatten,  sprach  Roosevelt  zu  den  versammelten  Vertretern  der  Presse  in 
englischer  Sprache  .  .  .  Dann  wandte  er  sich  an  den  Vertreter  eines 
englischen  Blattes  mit  der  Bitte,  seine  Worte  ins  Deutsche  zu  über- 
setzen: ,Ich  stehe  mit  der  deutschen  Sprache  auf  schlechtem  Fuße', 
fügte  er  lächelnd  hinzu.« 

Der  Vertreter  des  englisciicn  Blattes  soll  ihm  hierauf  etwas 
ins  Ohr  geflüstert  haben.  Danach  soll  Roosevelt  sich  entschlossen 
haben,  selbst  die  Ansprache  in  schlechtem  Deutsch  zu  wiederholen. 

*         * 

* 

Keine  Ausnahme 

»Zeitlich  kommt  Mr.  Roosevelt  hier  an,  um  6  Uhr  45  Minuten 
auf  dem  Südbahnhof.  Der  Bahnhofmechanismus  funktioniert  wie 
im  mer.« 

Wie?  Selbst  bei  solcher  Gelegenheit? 


—  58  — 

Immerhin 

Der  Sachverständige:  ] 

>Wenn  Professor  Boss!  sich  auch  nicht  in  die  Einzelheiten  des 
Falles  einlassen  konnte,  da  seine  Mission  ja  doch  äußerste  Delikatesse 
erfordert,  so  ließ  er  dennoch  erkennen,  daß  er  den  Fall  Tarnowska  tür 
ein  unschätzbares  Beweismaterial  hält  in  der  überaus  wichtigen  Frage, 
welchen  ungeheueren  Einfluß  das  Geschlecht  der  Frau  auf  ihre 
Moral  hat,  ein  Thema,  das  der  Professor  eingehend  in  seiner  Revue 
,La  ginecologia  moderna'  behandelt.  Die  Vergangenheit  der  Tar- 
nowska, welche  bis  in  ihr  16.  Lebensjahr  zurückreicht,  zeigt...« 

* 

Jedennoch 

Der  Geheimrat  Harnack: 

>Für  die  Frauen,  deren  Geist  nach  dem  Höheren  und  Höchsten 
strebt,  wäre  es  im  eigentlichen  Sinne  eine  Unterdrückung 
ihrer  Natur,  wenn  man  sie  zwingt,  ihre  Veranlagung  unbenutzt  zu 
lassen.  Und  es  wäre  eine  Sünde,    wenn    man    in    diesem    Punkte    von 

ihnen  Entsagung  forderte  .  .  .< 

*  • 

Reinliche  Scheidung 

Von  Karl  May  sagt  das  Neue  Wiener  Journal: 
Förmlich  mit  Schrecken  ward  man  es  gewahr,  wem  die  keimende 
Blüte  des  deutschen  Volkes,  die  Jugend,  wem  Eltern  und  Lehrer  ihr 
Herz  und  ihr  Vertrauen  geschenkt  haben,  einem  Strolch  von  seltener,  von 
erster  Güte,  einem  Dieb,  der  sich  nicht  nur  mit  literarischem 
Diebstahl  befaßte,  sondern  auch  einen  Taschendiebstahl  nicht  ver- 
schmähte, wo  die  Gelegenheit  sich  darbot ;  einem  Taschendieb,  der  auch 
einem  Einbruch  nicht  aus  dem  Wege  ging,  wo  er  sich  zu  lohnen  schien. 

•  * 

* 

Der  Dichter 

Ein  italienischer  Schmock  hat  Gerhart  Hauptmann  in  Portofino 
besucht.  »Natürlich  weiß  er  in  fesselnder  Weise  zu  plaudernt.  Der 
Anfang  und  das  Ende  des  Berichtes  lauten: 

Dieses  Jahr  kam  er  Ende  Januar  hierher,  und  jetzt  schickt  er 
sich  bereits  zur  Heimreise  an.  Der  Dichter  von  »Hanneles  Him- 
melfahrt« schwärmt  für  diesen  blühenden,  abseits  vom  Verkehr  lie- 
genden Winkel  Italiens  .... 

....  Zu  denen,  die  sich  häufiger  in  der  Villa  einfinden,  gehört 
Siegfried  Wagner,  der  in  Santa  Margherita  wohnt.  Mehrere  Wochen 
weilte  auch  Humperdinck  im  Lande  und  sang  mit  dem  Dichter  der 
»Weber«  das  Lob  des  blauen  italienischen  Himmels,  wobei  ein  herr- 
licher Wein  von  Orvieto  getrunken  wurde. 

Natürlich  ganz  falsch  informiert.  Der  Dichter  der  >Weber« 
schwärmt  für  den  blühenden  Winkel  Italiens  und  der  Dichter  des 


—  59  — 

»Hannele«  sang  gemeinsam  mit  Herrn  Mumperdinck  das  Lob  des 
blauen  italienischen  Himmels,  während  Siegfried  Wagner  den  Dichter 
des  »Fuhrmann  Henschel«  besuchte  und  der  Dichter  der  »Einsamen 
Menschen«  es  ist,  der  die  Reporter  empfängt. 

• 
Stimmungsbild 

Zwei  Theateragenten  gab  es.  Menkes  und  Minkus.  Menkes 
starb.  Minkus  blieb  am  Leben.  Aus  diesem  Grunde  langte  an  ihn 
ein  Brief  ein,  den  die  Zeitungen  veröffentlichten:  »Gestern  traf 
auch  hier  die  traurige  Nachricht  Ihres  Selbstmordes  ein.  Ich  war 
aufrichtig  betrübt,  trotzdem  glaubte  ich  an  eine  Verwechslung,  bin 
glücklich,  daß  meine  Eingebung  richtig  war.  Bravo  Minkus !  Leben 
Sie  noch  hundert  Jahre.  Grüße,  Ihr  aufrichtiger  P.  Mascagni.« 
Bravo  Minkus!  Er  hat  sich  brav  gehalten.  In  diesem  Zuruf,  mit  dem 
zugleich  eine  Anerkennung  und  eine  Aufmunterung  ausgesprochen 
ist,  liegt  erstens:  ganz  Italien,  zweitens:  das  ganze  Theater,  drittens: 
die  ganze  Musik,  und  viertens:  die  ganze  Praterstraße.  Man  sieht 
aufgewichste  Schnurrbarte,  Augen,  die  in  einer  Sardinenbüchse  ge- 
schwommen haben  müssen,  ehe  sie  diesen  Maestros,  Fechtmeistern 
und  Agenten  eingesetzt  wurden,  gestikulierende  Hände,  die  eine 
Provision  berechnen  und  Ecco,  Machen  wir  und  So  wahr  ich  da  leb 
bedeuten;  Lagunen,  Schweißfüße,  Freikarten  und  noch  vieles,  vieles 
andere.  Minkus  blieb  am  Leben.  Menkes  starb. 

Der  Komet 

Jetzt  kommt  eine  schöne  Zeit. 

»Die  im  letzten  Sonntagsblatte  Ihres  Journals  erschienene  Notiz 
eines  Herrn,  welcher  am  17.  d.  den  Halleyschen  Kometen  von  Seh rems 
aus  gesehen  haben  wollte,  veranlaßte  mich  am  25.  d.  vor  3  Uhr  mor- 
gens in  den  Prater  über  die  Sophienbrücke  zu  eilen,  zumal  der  heitere 
Himmel  des  Vorabends  die  Möglichkeit  einer  guten  Beobachtung  ver- 
sprach .  .  Um  beiläufig  halb  4  Uhr  morgens  ging  plötzlich  ein  ganz  präch- 
tiger, heller  Stern  auf  .  .  Ich  dachte  sofort  an  Venus,  jedoch  ließ  mein 
kleines  astronomisches  Fernrohr  die  Konturen  nicht  erkennen,  da  das 
Gestirn  noch  zu  tief  stand  .  .  Die  Venus,  denn  sie  war  es,  erschien  in 
der  Gestalt,  wie  sie  unser  Mond  am  Schlüsse  des  ersten  Viertels  auf- 
weist. Ein  Rayonsicherheitswachmann,  der  sich  sehr  bald  bei 
mir  eingefunden  hatte,  konnte  sich  auch  des  ungewohnten  Anblickes 
erfreuen.  Vom  Kometen  aber  war  mit  freiem  Auge  nichts  zu  sehen  .  .« 

Der  Beobachter  nennt  sich  einen  »Freund  des  Neuen  Wie- 
ner Tagblatts«.  Ja,  die  Freunde  I 


—  60  — 

Zusammenbruch  eines  angesehenen  Klischees 

», Daily  News'  bringen  folgenden  keineswegs  erfreulichen  Bericht 
über  das  Aussehen  und  das  Befinden  König  Eduards:  Nach  der  soeben 
überstandenen  Influenza  ist  des  Königs  Schritt  nicht  mehr 
elastisch  zu  nennen  .  .  .  .< 

* 
Die  verhobene  Moral 
Bekanntlich  halten  es  jetzt  die  Leute,  die  »Komödche 
machen«  und  jedem  illustrierten  Erpresser,  Fünfguldenmann  und 
Kulissenschnüffler  »Grüß  Gott,  Doktor!«  sagen,  mit  der  sittlichen 
Entrüstung.  Es  geht  um  das  Problem  der  »Prostitution«  ihrer 
Kolleginnen,  und  die  wollen  und  wollen  sie  nun  einmal  nicht 
dulden,  weil  die  Gottesgabe  einer  munteren  Liebhaberin,  sich  hin- 
zulegen, viel  weniger  Strapaze  kostet  und  viel  mehr  allgemeine 
Anerkennung  findet,  als  der  Entschluß,  den  »Hüttenbesitzer«  hin- 
zulegen. Der  von  der  Bühne  vertriebene  Hanswurst  ist  jetzt  in  der 
Gestalt  der  Moral  wiedergekehrt  und  macht  die  Gebärden  des 
im  Vordergrund  agierenden  bürgerlichen  Pathos  nach.  Sie  wollen 
sich  verbürgerlichen  und  fangen  selbstverständlich  bei  der  Sittlich- 
keit an  und  bei  der  kunstfeindlichen  Ambition  des  Geschlechts- 
neides. Nun  könnte  ja  trotzdem  ein  Theaterdirektor  ein  schuftiger 
Mißbraucher  der  Abhängigkeit  sein.  Aber  bezeichnend  ist,  wie  sich 
die  Sozialpolitik  dieses  Standesbewußtseins  vor  allem  des  Tonfalls 
der  Moral  bedient.  Der  Bericht  der  Neuen  Freien  Presse  über  den 
Fall  des  Berliner  Direktors  Zickel  macht  diesen  Drang  sehr  an- 
schaulich. Und  nachdem  es  durch  zwei  Spalten  in  Andeutungen 
schrecklichster  Art  gegangen  ist  und  der  Herr  Zickel  beschuldigt 
wurde,  sich  nicht  nur  an  einer  anderen  jungen  Schauspielerin  »ver- 
griffen*, sondern  »sogar  bei  der  Beseitigung  der  Folgen  mitgewirkt 
zu  haben«,  schlägt  die  Setzmaschine  die  Hände  über  dem  Kopf 
zusammen,  und  man  liest  den  folgenden  Passus: 

Diese  wie  eine  andere  Schauspielerin  behaupten, 
daß  Dr.  Zickel  in  seinem  Bureau  unsittliche  Annäherungen 
Lustspielhaus  engagiert  worden  ist,  daß  sie  schließlich  in 
irgendwie  einer  Verfehlung  schuldig  gemacht  zu  haben.  Die 
Angaben  der  Damen  müßten  mit  großer  Vorsicht  aufge- 
versucht  habe.  Dr.  Zickel  bestreitet  in  allen  diesen  Fällen, 
zum  Teil  durch  Briefe,  die  von  den  Damen  selbst  stammten, 
die  Angaben  zu  widerlegen. 

Ich  bin  ganz  derselben  Ansicht. 


Herausgeber    und    verantwortlicher    Redakteur:    Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  »V  Siegel,  WU'.n.  IM.  Hintere  Zollamtistraße  3. 


Der   Herausgeber    der    Fackel   dankt   fflr   die 
freundlichen  Zuschriften  zur  300.  Nummer 

Soeben  erschienen: 

Negerkönigs  Tochter 

Eine  Erzählung  von 
OTTO   ST0T7'5^T 

München  und  Leipzig,  Georg  Müller 
Cm  Erscheinen: 

OTTO  SOYKA 

Herr  im  Spiel 

Roman 

iyperion-Verlag  Hans  von  Weber  München  1910 

Das  Register  der 

300  Nummern 

(elf  Jahrgänge)  der  „FACKEL"  ist  zum  Preise  von 
20  Hellern  =  20  Pf.  durch  den  Verlag  oder  das  Berliner 
Bureau  der  , Fackel'  zu  beziehen. 

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Buchverlags  sub  C.  M.410  bei  Haasenstein 
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verseadet  Zeitungsausschnitte  über  jedes  gewünschte  Thema.Man  verlange  Prosp- 

Herausgeber  KARL  KRAUS 
Die  .  „Fackel"    erscheint    in    zwangloser   Folge    im   Umfang   von 
1&— 32  Seiten 
BEZUGSBEDINGUNGEN : 

Für  Österreich-Ungarn:  18  Nummern,  portofrei      K  4.5 

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Für  das  deutsche  K(>ich:  18  „  «  Mfc.  4.. 

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DasAbonncmenterstrecktilchnlchtaufeincnZeltraum,  sondern  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Nummc- 

Einzelheft  in  Österreich  30  Heller,    In  Deutschland  30  Pfennig 
ZvL    beziehen     durch    sämtliphe    Buchhandlungen 

Berliner  Bareau:  Haiensee,  Katharinenstraße  5 

Inhalt  der  vorigen  Nummer  300,  9.  April  1910:  Sprüche.  Von  Ri 
Dehmel.  — Eingebildete  Kranke.  Von  August  Strindberg. —Judas  Isch: 
Von  Peter  Hille.  —  Widmung.  Von  Peter  Altenberg.  —  Lied.  Von  A 
Schönberg.  —  Eine  Zeichnung  von  Pascin.  Von  OJto  Stoessl.  —  Aufn 
die  Wiener.  Von  Adolf  Loos.  -  Ein  Brief  von  Ferdinand  Kurnberge 
Pro  domo  et  mundo.  Von  Karl  Kraus.  -  Ein  Gruß  von  Stanislaw  1 
byszewski.  (In  d?r  Beilage  ein  Register  der  Autoren  und  Beiträge,  verfal 
eingeleitet  von  Ludwig  Q 11  mann.) 

ii       Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur    Karl  Krau» 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstr.  3 


303/304  31.  MAI  1910  XI^  JAHR 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

KARL  KRAUS:  Glossen  /  FRANZ  GRILLPARZER:  Dem 
internationalen  Preßkongreß  /  OTTO  STOESSL:  Dieter 
und  der  Beamtensohn  /  GRETE  WOLF:  Der  Erwartungs- 
lose /  BERTHOLD  VIERTEL:  Pferderennen  /  Meine  Wiener 
Vorlesung  /  KARL  KRAUS:    Philosophen 


NACHDRUCK  VERBOTEN 

PREIS  DER  DOPPELNUMMER  60.  HELLER 
ERSCHEINT    IN    ZWANGLOSER    FOLGE 


\TiRLAG:   ,DIE   FACKEL*  \X^N  — BERLIN 

WIEN,    ma,    fflNTERE    ZOLL-\MTSSTRASSE    3      TELEPHON    Nr.^  187 
BERLINER    BUREAU:     HALENSEE.     KATHARLNENSTRASSE    5 


Akl^demischer    Verband    für    Literatur    und    Musik 


Die 

II.  Vorlesung  Karl  Kraus 

Heine  und  die  Folgen 

(Essay,  unveröffentlicht) 

Die  chinesische  Mauer 

oder 

Der  Biberpelz  (unveröffentlicht) 

findet  am  3.  Juni,  V28  Uhr,  im  Festsaale 

des    Ingenieur-    und   Architekten  -  Vereines, 

Wien,  I.  Eschenbachgasse  Q  statt 

Ein  Teil  des  Reinertrages  des  Abends  geh^ört  dem  kranker 
Dichter  Peter  Altenberg 

Die  Kartenausgabe  (10,  5,  2,  1  Krone)  erfolgt  auf  Grun( 
srchiftlicher  Anmeldung  in  der  Buchhandlung  A.  Schönfeld, 


DIE  FACKEL 


Nr.  303/304  31.  MAI  1910  XHJAHR 


Glossen 
Von  Karl  Kraus 

Der  Komet  in  Wien 

Der  Wiener  und  die  Unendlichkeit  —  das  unwahrschein- 
liche Schauspiel  wäre  glücklich  überstanden.  Wenn  der  Komet 
gefährlich  ist,  so  ist  er  es  nicht  so  sehr  vermöge  der  ihm  inne- 
wohnenden Blausäure  als  wegen  der  nicht  auszudenkenden  Möglich- 
keit, daß  sich  bei  seiner  Annäherung  jeder  Trottel  kosmisch  gestimmt 
fühlt.  Es  ist  nicht  so  weit  gekommen.  Nur  eine  fürchterliche  Spielan 
kosmischer  Denkfähigkeit  wurde  uns  beschert:  jene,  die  vor  dem 
Untergang  die  Tröstungen  der  Wissenschaft  empfängt.  Der  auf- 
geklärte Großstädter,  dem  nichts  passieren  kann,  weil  die  Neue 
Freie  Presse  es  mit  der  Sternwarte  hält  und  die  Vorsehung  sich 
hüten  wird,  es  mit  der  Neuen  Freien  Presse  zu  verderben;  und 
der  stolz  ist,  weil  der  Papst.  Kalixtus  gegen  den  Kometen  noch 
eine  Bulle  erlassen  mußte,  während  heutzutag  der  Papst  Benedikt 
mit  einem  Leitartikel  denselben  Effekt  erzielt.  Ach,  die  knie- 
rutschende Angst,  die  in  früheren  Jahrhunderten  das  Ende  der 
Welt  erwartete,  war  schlechter  informiert,  aber  besser  beraten,  als 
die  Zuversicht,  die  das  Morgenblatt  erwartet.  Dieses  erdensichere 
Gesindel  wird  eines  Tages  fürchterlich  aufsitzen,  wenn  es  den 
Kometen  anulkt  und  inzwischen  die  Dummheit  ihr  Zeiatörungs- 
werk  an  der  Welt  vollendet  hat.  Der  Ernst  des  Kometen  wäre  so 
trostlos  nicht  wie  sein  Humor.  Denn  wenn  die  Welt  kaput  geht, 
bleibt  der  Geist  bestehen,  aber  wenn  sie  nicht  kaput  geht,  bleibt 
die  Dummheit  bestehen,  und  ein  ungefährlicher  Komet  macht  das 
Übel  schlimmer,  da  er  jeden  Friseur  zum  Philosophen  und  jeden 
Redakteur  zum  Humoristen  macht.  Nichts  ist  leichter,  als  vor  dem 
Kometen  Humor  zu  haben,  denn  je  kleiner  die  Menschlichkeit,  in 


—  2  ~ 

desto  größerer  Kontrastwirkung  erscheint  er  am  Himmel,  voraus- 
gesetzt, daß  er  erscheint.  Aber  wenn  auch  die  Sterne  nicht  lügen, 
so  müssen  darum  die  Astronomen  nicht  die  Wahrheit  sagen,  und 
es  hat  sich  herausgestellt,  daß  sie  vom  Kometen  lange  nicht  so 
viel  verstehen  wie  die  Praterwirte,  die  bei  seiner  Erwartung  besser 
abgeschnitten  haben  als  jene  bei  seiner  Erfüllung.  Denn  bis  sich  auf 
allgemeines  Verlangen  dieser  Nebelstreif  am  Himmel  zeigte,  haben 
sie  die  Existenz  des  Kometen  mit  seiner  Unsichtbarkeit  bewiesen 
und  den  Durchgang  aus  der  Feststellung,  daß  man  ihn  nicht  beob- 
achtet habe.  Sie  sagten,  daß  das,  was  wir  nicht  sahen,  der  Komet 
gewesen  sei,  und  nur  ihrer  ehrenwörtlichen  Versicherung  glauben 
wir  jetzt,  daß  das,  was  wir  sehen,  der  Komet  sei,  weil  wir  ja 
schließlich  keinen  Grund  haben,  anständigen  Leuten  zu  mißtrauen. 
Der  religiöse  Glaube  sorgt  auch  für  die  Sinne.  Was  aber  sind  die 
Tröstungen  einer  Wissenschaft  wert,  die  einen  kahlen  Himmel 
bietet?  Er  bewahrte  uns  vor  Cyanwasserstoff;  doch  das  vergeben 
ihm  die  Wiener  nicht,  daß  er  um  ein  Spektakel  sie  betrog.  Der 
Komet  ist  ungefährlich;  aber  daß  man  auch  die  ganze  Zeit  nichts 
Verdächtiges  bemerkt  hat,  untergräbt  den  Kredit  der  Wissenschaft 
und  zerstört  nur  jenen  Kometenaberglauben,  unter  dem  man  fortan 
den  Aberglauben  versteht,  daß  es  Kometen  gibt.  Nun  soll  ja  der 
Astronomie,  die  gewiß  eine  riegelsame  Wissenschaft  ist,  nicht  nahe- 
getreten werden,  aber  sie  hat  sich  diesmal  schwer  kompromittiert, 
weil  sie  sich  den  Hervorrufen  eines  fortschrittlichen  Oafferpöbels 
eher  und  bereitwilliger  zeigte  als  der  Komet.  Sie  hat  sich  täglich 
mit  den  Reportern  der  Aufklärung  eingelassen  und  sich  damit  auf 
ein  Niveau  begeben,  auf  dem  sonst  nur  die  Vertreter  einer  anderen 
Wissenschaft  nach  dubiosen  Ehren  auslugen,  nämlich  jener,  die 
auf  Wunsch  der  Nachtredaktion  über  einen  hohen  Patienten  Fern- 
diagnosen stellt.  Gewiß,  sie  haben  eine  Bevölkerung  beruhigt,  die 
bisher  bloß  gewohnt  war,  auf  ein  Dach  hinaufzuschauen,  während 
sich  jetzt  die  Verkehrshindernisse  auch  durch  die  Betrachtung  des 
Firmaments  ergaben.  Aber  sie  haben  diese  Bevölkerung  zugleich 
enttäuscht  und  die  Aufgeklärtheit,  zu  der  sie  ihr  täglich  zweimal  ver- 
halfen, in  Nihilismus  verwandelt.  Sie  sollten  aus  Schamgefühl  die 
Sternwarte  zusperren,  wenn  sie  heute  den  Satz  im  Kometenbericht 
lesen:  >An  einem  Tische  wird  der  Artikel  des  Hof rates  Weiß,  der 
im  heutigen  Abendblatt  der  Neuen  Freien  •  Presse  erschienen  ist, 
verlesen.  Die  Stelle,  welche  den  Anblick  für  die  nächsten   Abende 


—  3 


in  sichere  Aussicht  stellt,  findet  bei  dem  Publikum  lebhaftesten 
Beifall».  Halley  hatte  es  auf  diesen  Beifall  nicht  abgesehen,  und 
dennoch  gelang  es  ihm,  den  Kometen  zu  einer  Produktion  zu  ge- 
winnen. Unsere  Welttheateragenten  aber  dachten  an  das  Publikum,  und 
als  es  wie  die  Buben  auf  der  Galerie  einer  italienischen  Schmiere 
zu  stampfen  begann,  kamen  sie  immer  wieder  heraus  und  beruhigten 
es  mit  Versicherungen  von  eingetretenen  Hindernissen,  Wolken- 
vorhang, Kostümwechsel,  Unpäßlichkeit  und  was  dergleichen  Aus- 
reden mehr  sind,  die  aufgeregte  Impresarios  stets  bei  der 
Hand  haben,  wenn  die  Laune  eines  Stars  sie  blamiert  hat. 
»Nach  Sonnenuntergang  war  der  westliche  Himmel  in  Dunst 
gehüllt  Es  ist  dagegen  zu  erwarten,  daß  der  Komet  morgen 
Samstag  abends  endlich  am  Wiener  Himmel  erscheinen  werde. 
Das  Publikum  möge  nicht  ungeduldig  werden 
und  noch  einen  Tag  zuwarten  —  schließlich  wird  der 
Halleysche  Komet  in  aller  Pracht  erscheinen«.  Er  erschien  nicht; 
nicht  Samstag,  nicht  »heute  und  die  folgenden  Tage«.  Aber  den 
Dunst,  den  man  einem  Publikum  vorgemacht  hat,  auf  den  Himmel 
schieben,  ist  eines  Astronomen  unwürdig,  vorausgesetzt,  daß  er 
nicht  darauf  spekuliert,  das  Geschäft  jenes  Impresarios  zu  über- 
nehmen, der  sich  kürzlich  in  Wien  aus  unglücklicher  Liebe  zu 
einem  Stern  zweiter  Größe  umgebracht  hat.  Daß  den  Herren 
der  Komet  zwischen  der  Sonne  und  der  Erde  durchgegangen 
war,  ist  ja  gewiß  tragisch,  aber  wenn  sie  nicht  so  heftig  mit  der 
kosmischen  Pünktlichkeit  geprotzt  hätten,  hätte  ihnen  niemand  aus 
der  kosmischen  Unordnung  einen  Vorwurf  gemacht.  Auch  die  Süd- 
bahn wird  ja  nur  deshalb  geladelt,  weil  sie  so  unvorsichtig  ist, 
einen  Fahrplan  herauszugeben.  Und  so  ist  es  gekommen,  daß  nicht 
nur  die  Welt  im  allgemeinen  nicht  zugrundegegangen  ist,  sondern 
insbesondere  nicht  das  Wirtsgeschäft  auf  dem  Kahlenberg.  Wien 
hat  ein  gastronomisches  Ereignis  zu  verzeichnen.  Wäre  die  Welt 
untergegangen,  dann  hätten  nur  die  Fiaker  profitiert,  weil  sie  sich 
für  berechtigt  gehalten  hätten,  den  ihnen  gebührenden  Betrag  mit  der 
Begründung  zurückzuweisen :  »Aber  Euer  Gnaden,  an  so  an  Tag!«  So 
aber  bleibt  alles  beim  Alten.  Der  Wiener,  dem  Basiliskenblick  der 
Ewigkeit  entronnen,  hat  zum  Hausmeister  zurückgefunden.  Die 
Zehnuhrsperre  dieser  kleinen  Welt  läßt  sich  ertragen. 


—    4    —  . 

Erdbeben 

Eine  der  seltsamsten  Naturerscheinungen.  Ich  saß  gerade  — 
so  hätte  ich  der  Neuen  Freien  Presse  geschrieben,  wenn  sie  noch 
einen  geologischen  Beitrag  von  mir  annähme  —  um  9  Uhr 
19  Minuten  abends  am  Schreibtisch  und  redigierte  die  Satire  »Erd- 
beben«, die  in  mein  demnächst  erscheinendes  Buch  kommt. 
Ich  ahnte  nichts  Böses,  sondern  freute  mich  im  Gegenteil,  wie 
damals  die  Neue  Freie  Presse  hineingesprungen  ist,  erinnerte  mich 
an  die  erschütternde  Wirkung  dieser  tellurischen  Komik,  die  sogar 
bis  nach  Norddeutschland  verspürt  wurde,  denn  die  Erdbebenwarte 
von  Hamburg  beschloß,  die  Nummer  der  , Fackel'  ihrem  Archiv 
einzuverleiben.  Ich  las  den  Artikel  immer  wieder,  erinnerte  mich, 
wie  damals  jeder  Trottel  seinen  Stoß  im  Morgenblatt  haben -mußte, 
las  immer  wieder  den  Brief,  den  ich  unter  dem  Inkognito  eines  Zivil- 
ingenieurs Berdach  von  der  Glockengasse  der  Neuen  Freien  Presse 
geschickt  hatte,  und  dachte  noch:  So  etwas  kommt  nie  wieder. 
Das  war  am  II,  Mai  um  9  Uhr  19  Minuten  abends.  Am  nächsten 
Tag  traute  ich  meinen  Augen  nicht.  Da  ich  im  Hochparterre  wohne 
und  ohnedies  kein  Blatt  von  meiner  Erschütterung  Notiz  nehmen 
würde,  spüre  ich  nie  ein  Erdbeben.  Aber  just  um  die  Zeit,  da 
ich  das  Erdbeben  las,  geschah  es!  Und  alles  hatte  sich,  wie 
ich  aus  den  Morgenblättern  erfuhr,  genau  so  wieder  abgespielt. 
Nur  mit  dem  Unterschied,  daß  die  Neue  Freie  Presse  durch 
Schaden  klug  geworden  war  und  bis  auf  einen  vereinzelten 
Taussig  nur  noch  anonyme  Erdbebenbeobachter  zu  Wort  kommen 
ließ.  Dagegen  das  Neue  Wiener  Tagblatt!  Es  ging  durch 
zwei  Tage  in  der  von  Herrschaften  abgelegten  Dummheit  stolz 
einher.  Kein  Papagei  eines  Abonnenten  konnte  verstummen,  ohne 
daß  das  Blatt  zu  plappern  begann.  Fein  lokaler  Teil  wird  aber  dafür 
auch  von  einem  bekannten  Shakespeareforscher  redigiert,  der  soeben 
sein  »dreißigjähriges  Schriftstellerjubiläum«  gefeiert  hat,  zu 
welchem  Anlaß  die  Wiener  Presse  dem  Schwan  von  Avon  etwas 
Gänseschmalz  abnahm.  Um  aber  auf  die  Papageien  zurück- 
zukommen imd  auf  die  Eindrücke,  die  dieses  Erdbeben  bei  der 
ganzen  Kreatur  zurückließ,  soweit  sie  das  Neue  Wiener  Tagblatt 
liest:  es  war  im  höchsten  Grade  ekelhaft.  Die  vornehme  Neue 
Freie  Presse  begnügte  sich  gelegentlich  mit  der  Versicherung,  daß 
man  im  Restaurant  Hartmann  nichts  vom  Erdbeben  gespürt  habe 
(vom  Hopfner  liegt  keine  Meldung  vor),  und  unterdrückte  sogar  die 


—    5  — 


Beobachtung,  daß  es  doch  sonst  in  den  Chambres  separees  drunter 
und  drüber  geht.  Sie  sagte  bescheiden,  »durch  das  vor  zwei  Jahren 
erfolgte  Beben  sei  die  Bevölkerung  von  Wien  mit  seismischen  Tatsachen 
vertrauter  geworden«,  und  sie  brauchte  das  Verdienst  Berdachs  nicht 
erst  zu  berufen,  man  wußte  doch,  wen  sie  meinte.  Das  Neue  Wiener 
Tagblatt  aber  war  damals  von  der  Neuen  Freien  Presse  beschämt 
worden  und  wollte  jetzt  die  Erdbebendummheit  hereinbringen.  So 
hat  denn  ein  Abonnent  in  der  Innern  Stadt  nach  dem  Nachtmahl 
etwas  »unter  seinem  Fauteuil«  gehört,  seine  Umgebung  aber  habe 
»nichts  davon  verspürt«;  »immerhin  war  der  Vorgang  gegen  das 
letzte  Erdbeben  bei  weitem  harmloser«.  Ein  Advokat  hatte 
das  Gefühl,  »daß  das  Erdbeben  in  der  Leopoldstadt  besonders 
stark  war«.  Das  ist  schon  möglich,  das  Erdbeben  weiß,  was  gut 
schmeckt.  Während  1908  die  Porzellangasse  für  besonders  gefährdet 
galt,  scheint  die  aufgeregte  Natur  diesmal  die  Glockengasse  gesucht 
/.u  haben,  wo  der  Zivilingenieur  Berdach  wohnt.  Sie  fand  ihn  aber 
nicht  zuhause  und  rumorte  deshalb  erst  recht  in  der  Gegend.  »Auch 
meine  Frau«,  beginnt  einer  und  schon  spüren  wir  die  historischen 
drei  Stöße,  aber  es  ist  diesmal  nichts,  sie  glaubte  nur,  der  Sessel 
werde  gehoben,  denn  sie  >saß  im  Nebenzimmer  und  las  gerade 
das  Neue  Wiener  Tagblatt«.  Ausgerechnet!,  sagen  in  einem  solchen 
Fall  die  Bewohner  der  Pralerstraße,  in  der  sich  der  Unfall  begab. 
Einer  wieder  hat  eine  schwingende  Bewegung  bemerkt  und  schreibt 
darüber:  »Ich  schickte  zur  Hausbesorgerin,  um  zu  fragen,  ob  sie 
auch  etwas  davon  bemerkte,  was  diese  verneinte«.  »Wir  wohnen  in 
der  Teilgasse«,  schreibt  ein  Abonnent.  Aha,  er  lebte  still  und 
harmlos,  da  schaukelt  plötzlich  das  Bett.  Durch  diese  hohle  Gasse 
aber  muß  es  ins  Neue  Wiener  Tagblatt  kommen.  Der  Brief  endet 
mit  den  Worten :  »Entsetzt  lief  ich  zum  Fenster,  der  Meinung, 
der  Weltuntergang  sei  nahe.  Familie  Reif«.  Eine  packende 
Schilderung  wird  der  ,Zeit'  mitgeteilt,  die  freilich  aus  lokal- 
patriotischen Gründen  behauptet,  daß  das  Erdbeben  dem  neunten 
Bezirk  den  Vorzug  gegeben  habe.  »Ehe  ich  mir  noch  beim 
Beginn  des  Erdbebens  ein  Urteil  über  die  Natur  der  Er- 
scheinung bilden  konnte»,  gesteht  ein  Bankprokurist  -  denn 
die  intelligenten  Berufe  müssen  sich  beim  Weltuntergang 
sofort  ein  Urteil  über  die  Natur  der  Erscheinung  bilden, 
das  haben  sie  von  ihren  Zeitungen  gelernt  — ,  »sah  ich  schon, 
wie   meine  Frau   ruckartig  mit  angstverzerrten   Zügen   den  Kopf 


—   6    — 


zur  Seite  riß  und  sich  ans  Herz  griff ...  Sie  murmelte  nur 
das  eine  Wort:  Erdbeben.  Erst  durch  diese  Äußerung  bin  icii 
aufgeklärt  worden«.  Das  Erdbeben  —  um  ein  solches  handelte  es 
sich  also  —  hatte  >mit  einem  knallartigen  Geräusch  begonnen, 
während  dessen  ich  einen  vertikalen  Stoß  von  unten  nach  aufwärts 
verspürte,  dem  dann  ein  horizontaler  Stoß,  vermutlich  in  der 
Richtung  Nordwest-Südost,  folgte . .  .<  Das  ist  ja  das  Fabelhafte,  und 
das  habe  ich  an  diesen  intelligenten  Berufen  immer  bewundert :  daß 
sie  im  Moment  eines  Erdbebens  gleich  auf  die  Uhr  sehen 
und  auch  genau  über  die  Richtung  des  Stoßes  orientiert  sind. 
Unsereins  ist  in  ruhigen  Zeiten  nicht  imstande,  Westen  und 
Osten  zu  unterscheiden,  höchstens  nach  den  Manieren,  die  etwa 
ein  Engländer  und  die  ein  Abonnent  der  ,Zeit'  hat.  Aber  die 
Abonnenten  der  ,Zeit',  die  sind,  sobald  nur  ihre  Frauen  das  Wort 
Erdbeben  murmeln,  auch  schon  aufgeklärt,  murmeln  Nordwest- 
Südost,  und  haben  außerdem  noch  die  Geistesgegenwart,  sich 
sofort  hinzusetzen  und  die  vom  Land  stammende  Schickse, 
die  nicht  aufgeklärt  ist,  sondern  in  der  Küche  mit  Heulen 
und  Tellerklappern  den  Weltuntergang  erwartet,  in  die  Redaktion 
zu  schicken,  damit  der  Brief  noch  bestimmt  ins  Morgenblatt 
komme  .  .  .  Vom  nächsten  Erdbeben  ist  zu  hoffen,  daß  es  —  mit 
besonderer  Berücksichtigung  des  zweiten  und  des  neunten  Bezirkes 
—  uns  den  Anblick  dieser  Greuel  ein  für  allemal  entzieht. 


S.  M. 

Der  journalistische  Erfolg,  den  sich  der  König  von  Bulgarien 
durch  sein  Interview  mit  dem  Siegmund  Münz  geholt  hat,  ließ  den 
König  von  Rumänien  nicht  schlafen,  er  bewarb  sich  um  eine 
Zusammenkunft  und  bald  hatte  er  Gelegenheit,  den  S.  Mz.,  der 
sich  jetzt  gradezu  S.  M.  nennt,  in  Bukarest  zu  begrüßen.  Zunächst 
hören  wir:  »Unsere  Yacht  ist  dicht  am  Kai  verankert«.  Aber  es 
ist  nur  eine  Täuschung,  wir  sind  nicht  in  der  Oberen  Donaustraße, 
sondern  wirklich  in  der  Gegend  des  Schwarzen  Meeres.  Am  Strand 
taucht  bereits  eine  rumänische  Prinzessin  auf,  und  S.  M.  erinnert 
sich  an  Ovid :  >Auch  die  römische  Kaisertochter  Julia,  in  welcher 
der  alternde  Poet  in  Liebe  entbrannt  war,  kann  nicht  viel  schöner 
gewesen  sein  als  diese  Prinzessin  Bibesco,  die  hier  einsam  spaziert 


—    7 


und  sich  in  Zwiegesprächen  mit  den  heute  sanft  rauschenden,  aber 

nicht  selten  zornig  stürmenden  Wogen «  Genug!  Der  König 

wartet.  Münz  gibt  Empfehlungen  ab.  Wozu?  Man  weiß,  wer  er 
ist  Aber  >die  Spitzen  der  Bukarester  Gesellschaft  drängten  sich 
heran«.  Es  ist  nämlich  der  Geburtstag  des  Königs  und  er  hat 
sich  den  Münz  gewünscht.  »Wir  besorgten,  in  dem  Meer  von 
Namen  unbeachtet  zu  bleiben«.  Das  ist  nicht  zu  befürchten;  der 
König  wartet  ifnd  weiß,  was  ihm  bevorsteht.  Münz  lernt  vorher 
Herrn  Jonescu  kennen,  »einen  berühmten  Operateur,  der  ein 
Mittel  gefunden  hat,  um  durch  Injektion  in  der  Wirl)elsäul€  die 
schwersten  Operationen  bei  völligem  Bewußtsein  der  Patienten 
schmerzlos  vorzunehmen«.  Der  König  kann  also  beruhigt  den 
Münz  empfangen.  Aber  dieser  zaudert  noch.  Er  geht  in  die  Oper 
und  sieht  dort  in  einer  Loge  »eine  orientalische  Schönheit  auftauchen 
—  eine  von  magischem  Zauber  umflossene,  blasse  Salamb6-Gestalt, 
und  als  Heldin  des  Goncourtschen  Romans  ist  sie  auch  bei  einem 
Maskenball  aufgetreten«.  Salambd  ist  zwar  von  Flaubert,  aber 
das  macht  nichts,  »von  dieser  in  die  Farben  des  Orients  getauchten 
südlichen  Glut  hebt  sich  die  reinere,  gleichmäßigere  germanische 
Schönheit  der  Konprinzessin  ab.  Dort  sitzt  in  einer  Loge  die  blonde, 
rotwangige  und  blauäugige  Kronprinzessin  im  hellen  Zauber  ihrer 

noch  frischen «.  Genug!   Der  König  wartet.  Aber  der  Münz 

tut  sich  noch  bißchen  in  Bukarest  um.  Wieder,  wie  in  Sophia,  ver- 
gleicht er  das  Stadtbild  mit  dem  Konstantinopels,  und  nicht  mit 
dem  Leipniks.  »Da  wir  von  Konstantinopiel  kommen,  so  bleiben 
unsere  Ansprüche  an  morgenländischen  Zauber,  an  die  Romantik 
des  Verfalls,  an  das  Reizvolle  des  Beschaulichen  unbefriedigt«  Der 
Münz  ist  anspruchsvoll.  Er  gibt  zu:  »Hier  ist  ein  starkes  Auf- 
streben ohne  Märchenduft  wahrnehmbar«.  Immerhin  also.  Hierauf 
werden  sie  vom  Minister  des  Äußern  empfangen.  Münz  be- 
gleitet auf  der  ganzen  Reise  einen  Sir  Max  Wächter,  der  sehr 
viel  unnützes  Gepäck  mit  sich  führt,  nämlich  einen  Plan  einer 
europäischen  Föderation  auf  wülschaftlicher  Grundlage.  Diesen 
Plan  trägt  Herr  Wächter  sämtlichen  Regenten  und  Ministern 
sämtlicher  Balkanstaaten  vor  und  alle  sagen  nur  das  eine:  >Wir 
können  für  diese  Sache  nur  die  größten  Sympathien  hegen,  aber 
wir  sind  ein  kleiner  Staat«,  und  immer  wieder  meldet  es  uns  Herr 
Münz.  Der  Balkan  schickt  Spielereihausierer  nach  Europa  und 
Europa  revanchiert  sich   mit  dem   Sir  Max  Wächter,   der   immer 


—    8   — 


wieder  eine  Föderation  auf  wirtschaftlicher  Grundlage  anbietet.  Und 
der  König  wartet.  Endlich!  »Er  zog  mich  schnell  in  ein  freundliches 
Gespräch.«  Das  tun  diese  Könige  immer,  um  den  ersten  unange- 
nehmen Eindruck  rasch  zu  überwinden.  >Nur  im  Anfang  unseres 
Gespräches  hatte  ich  Gelegenheit,  den  König  ein  wenig  ins  Auge  zu 
fassen.«  Aber  ein  wenig  wollte  der  König  Herrn  Münz  im  Dunkeln  sehen, 
»und  erst  im  Augenblick,  als  er  sich  zum  Abschied  erhob,  flammten 
die  elektrischen  Lichter  auf«.  Da  machte  Münz  eine  merkwürdige 
Beobachtung.  »Ich  hatte  den  König  seit  Jahren  nicht  mehr  gesehen. 
Er  ist  seither  älter  geworden...«  Das  Interview  selbst 
verlief  anregend.  Der  König  wollte  alles  Mögliche  wissen;  ja,  er 
war  vielleicht  noch  neugieriger  als  der  bulgarische.  »Der  König 
erkundigte  sich  mit  großer  Liebenswürdigkeit  nach  den  Orten,  die 
ich  auf  meiner  bisherigen  melirwöchentlichen  Orientreise  besucht 
hatte,  fragte  mich,  ob  ich  zum  erstenmal  in  Rumänien  sei,  und  wie 
es  mir  hier  gefalle.  Ich  antwortete  dem  König,  daß  ich  zum 
erstenmal  hier  sei  und  daß  ich  mich  angeheimelt  fühle  durch  die 
lateinischen  Anklänge  der  Sprache.«  Das  ist  interessant,  daß  er 
diese  Anklänge  »lateinisch«  nannte.  Aber  gleich  darauf  bekannte  er 
Farbe:  »Ich  muß  Majestät  gestehen,  daß  ich  hier  die  Empfindung 
habe,  unvergleichlich  näher  an  Wien  zu  sein,  als  an  Konstantinopel.« 
Seine  Erinnerung  ist  also  dicht  am  Kai  verankert.  Nun  aber  wurde 
es  diplomatisch.  »Eure  Majestät  stehen  in  dem  unzweifelhaften  Ruf, 
ein  fester  Hort  des  Friedens  im  südöstlichen  Europa  zu  sein«, 
und:  »Eure  .Majestät  gelten  als  ein  Bürge  des  Statusquo  auf  dem 
Balkan.«  Dann  sprach  auch  der  König  wieder.  Er  meinte,  daß 
in  der  Öffentlichkeit  Zusammenkünfte  zwischen  Monarchen  über- 
schätzt werden,  »Der  König  trug  dies  schlicht  ausführend  und 
keineswegs  etwa  belehrend  vor.«  Wie  würde  er!  Aber  die  Entrevue 
zwischen  S.  M.  von  Rumänien  und  S.  M.  von  der  Neuen  Freien 
wird  gewiß  auch  überschätzt  werden.  Sie  trug  rein  privaten 
Charakter,  der  König  wollte  bloß  dies  und  das  wissen.  Der 
Bulgare  hatte  nach  Konstantinopel  gefragt.  Der  König  von  Ru- 
mänien »erkundigte  sich  nach  meinen  in  Sophia  gewonnenen 
Eindrücken«.  Man  kann  begierig  sein,  wie  sich  das  die  Balkanfürsten 
weiter  einteilen  werden.  Der  Rumäne  aber  verglich  selbst  Bukarest 
mit  Sophia.  >Es  tut  mir  leid,  sagen  zu  müssen,  daß  die  Zahl  der 
Analphabeten  in  Rumänien  größer  ist  als  im  Königreich  Bulgarien.« 
Das    war    aber    keine  Beleidigung,    wiewohl    der  Münz    jetzt    in 


9   — 


Rumänien  und  nicht  mehr  in  Bulgarien  ist.  Er  war  so  taktvoll, 
auf  die  Judenhetzen  abzulenken,  denen  er  die  Schuld  an  der 
Rückständigkeit  gab.  >Die  Judenfrage  war  eine  der  schwersten 
Sorgen  meiner  Regierungszeit«,  sagt  der  König,  wobei  er  offenbar 
auf  die  Uhr  sieht,  >und  sie  fährt  fort,  mir  Sorge  zu  machen«.  Der 
Münz  aber  versteht  nicht  und  appelliert  an  die  Humanität:  »Von 
Eurer  Majestät  abgeklärtem  Sinn  darf  man  wohl  .  .  .  gleiches 
Recht  .  .  .  Untertanen«.  Der  König  empfindet,  daß  sich  hier  ein 
Leitartikel  auswächst,  und  schneidet  schroff  ab:  »Die  Judenfrage 
ist  uns  keine  Frage  der  Religion  —  es  ist  eine  wirtschaftliche 
Frage.  Der  Rumäne  ist  von  Natur  tolerant.  Aber  es  ist  die  wirt- 
schaftliche Überlegenheit  der  Juden,  gegenüber  welcher  sich  die 
nationale  Strömung  zur  Wehr  setzt.  Es  sind  Agrarbanken  errichtet 
worden.  Sie  können  beitragen,  das  rumänische  Element  vor  ver- 
derblicher Ausbeutung  zu  schützen«.  Sie,  nämlich  die  Agrarbanken, 
nicht  die  Neue  Freie  Presse,  die  diese  Bemerkung  des  Königs 
offenbar  nicht  bemerkt  hat  und  die  den  Münz  anweisen  wird, 
künftig  sofort  den  Audienzsaal  zu  verlassen,  wenn  der  König  von 
Rumänien  wieder  derartige  Ansichten  äußern  sollte,  welche  dann  bei 
der  Drucklegung  durchrutsclien  können.  Der  Münz  suchte  aber 
schon  diesmal  auf  den  König  einzuwirken:  >Eure  Majestät,  die 
objektivere  Erkenntnis  der  Monarchen,  die  auf  der  Menschheit 
Höhen  wandeln,  mildert  oft  die  Volksleidenschaften«.  Bravo! 
Der  König  lenkt  ein.  >Und  wie  oft  obliegt  uns  tatsächlich  diese 
Aufgabe!«  bekennt  er.  Überhaupt  weiß  ihn  der  Münz  mit 
originellen  Wendungen  zu  fesseln.  Wie  steht's  denn  mit  den 
Erinnerungen,  die  der  König  schreibt?  >Es  wäre  wünschens- 
wert, daß  Eure  Majestät  den  abgebrochenen  Faden  der  Er- 
zählung wieder  aufnehmen«.  Oder:  »,Wir  erkennen',  meinte  ich, 
,in  der  auswärtigen  Politik  Rumäniens  die  weise  lenkende 
Hand  des  erfahrenen  Steuermanns,  der  seit  mehr  als  vier  Jahr- 
zehnten das  Land  beherrscht'«.  »Haben  Sie  sich  Bukarest  ange- 
sehen?« antwortet  darauf  der  König.  Und  dann:  »Gehen 
Sie  nach  Sinaia?«  Und  endlich:  »Ich  weiß,  daß  auch  die 
Königin  Sie  jetzt  sehen  will«.  Die  Audienz  hatte  eineinviertel 
Stunden  gedauert.  »Die  Königin  empfing  mich  nach  wenigen 
Augenblicken  und  behielt  mich  bis  nach  halb  9  Uhr  bei 
sich.«  Also  eine  volle  Stunde.  »Aber  das  Gespräch  war  zu 
inhaltsreich  und  zu  bedeutend,  als  daß  ich  es  im  Rahmen  dieser 


—  10  —       , 

Mitteilungen  wiedergeben  könnte<.  .  ,  5.  Mai  1910.  Bis  heute, 
27.  Mai,  ist  nichts  erschienen.  Die  Neue  Freie  Presse  ist  imstande 
und  bringt  auch  das  noch  !  .  .  Münz-Empfänge  und  kein  Ende. 
Auch  der  türkische  Thronfolger  Jussuf  Izzedin  Efendi  muß  dran 
glauben.  Wir  begegnen  Münz  wieder  in  Konstantinopel,  seine  .An- 
sprüche an  morgenländischen  Zauber  werden  vollauf  befriedigt.  Im 
Wartezimmer  sieht  er  »einen  alten  und  einen  jungen  Orientalen«. 
(Münz  ist  ein  Mann  gut  in  den  Vierzigern.)  »Der  Alte  ist  grellstes 
Morgenland ...  Er  ringt  die  Hände,  schließt  die  Augen,  seine 
Lippen  bewegen  sich«.  Münz  hält  das  für  ein  Gebet.  Aber  es  ist 
ein  Fluch.  Das  Morgenland  wehrt  sich.  Der  Alte  hofft.  Münz  werde 
weggehen.  »Er  neigt  sich  vor,  richtet  sich  wieder  auf  und  wirft 
sich  wieder  zu  Boden,  und  so  geht  es  fort  wohl  mehr  als  ein 
dutzendmal,  ein  nicht  endenwollender  Wechsel  von  Zerknirschung 
und  Erlösung  .  .  .<  Endlich  wird  Münz  abgeführt.  Denn  der  Thron- 
folger wartet.  Dieser  spricht  zunächst  mit  dem  Sir  Max  Wächter. 
Europäische  Föderation  auf  wirtschaftlicher  Grundlage  gefällig?  Danke 
nein.  Dann  spricht  der  Thronfolger  den  Münz  mit  dem  folgenden 
Satz  an:  »Ich  schätze  den  großen  Wert  der  Presse,  denn  sie  ist  eines 
der  wirksamsten  Mittel,  um  dem  Fortschritt  der  Menschen  zu  dienen, 
imd  ihr  wachsames  Auge  ist  oft  mit  Erfolg  darauf  gerichtet,  daß 
die  für  den  Fortschritt  unumgänglich  notwendigen  freiheitlichen 
Einrichtungen  gewahrt  bleiben«.  Münz  »gibt  der  Genugtuung 
über  diese  Äußerung  Ausdruck«.  Der  Thronfolger  fährt  fort:  »Unsere 
Verfassung  ist  das  Panier  unseres  Fortschrittes«.  Er  spricht  wie  ein 
Fezfabrikant,  der  in  der  Neuen  Freien  Presse  einen  Aufruf  als 
Gemeinderatskandidat  für  den  ersten  Wahlkörper  des  ersten  Be- 
zirkes erläßt.  Dann  geht  das  eigentliche  Interview  los:  »Sind  Sie 
zum  erstenmal  in  Konstantinopel?  Und  wie  gefällt  es  Ihnen  hier?« 
»Zum  erstenmal,  kaiserliche  Hoheit«,  antwortet  Münz,  »und  ich 
bin  berauscht  von  der  Schönheit  dieser  Stadt,  die  so  einzig  in  der 
Welt  dasteht.  Aber  darf  ich  mir  ein  offenes  Wort  erlauben?  Es 
wäre  wünschenswert,  daß  sich  diese  herrliche  Stadt  in  moderner 
Richtung  entwickle  .  .  .«  Unter  den  Einrichtungen,  die  ihm  in 
Konstantinopel  entschieden  fehlen,  nennt  Münz  das  Telephon. 
Der  Thronfolger  sagt:  »Seien  Sie  geduldig  mit  u  n  s.  Ich  hoffe, 
daß  Sie,  wenn  Sie  in  zehn  Jahren  wiederkehren,  in  der  Lage  sein 
werden  .  .  .«  Früher  hofft  der  Thronfolger  den  Münz  in  Kon- 
stantinopel nicht  zu  sehen.    Der   Thronfolger  stellt  Fortschritte  in 


—  11  — 


Aussicht,  Münz  spricht  sofort  von  Beteiligung.  >Darf  man,  kaiser- 
hche  Hoheit,  erwarten,  daß  es  auch  den  Ausländem  gegönnt  sein 
wird,  sich  an  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  der  Türkei  zu  be- 
teiligen?<  Der  Thronfolger  lenkt  ab  und  sagt,  daß  »die  Konstitution 
die  Gewähr  der  Gleichheit  aller  Nationen  und  Religionen«  ist. 
Münz  leuchtet.  »Also  werden,  kaiserliche  Hoheit,  auch  die  Nicht- 
türken  und  Nichtmoslims  unter  den  Hut  der  Verfassung  .  . . .« 
Er  sagt  Hut,  jener  sagt  Hort.  Er  sagt:  gleiche  Pflichten  und 
gleiche  Rechte  aller  Untertanen;  jener  sagt:  berechtigte  Wahrung 
der  nationalen  und  religiösen  Unterschiede.  Münz  sagt,  der  Ge- 
neral von  der  Goltz  Pascha  schreibe  für  die  Neue  Freie  Presse. 
Der  Thronfolger  fragt:  »Haben  Sie  während  Ihres  Aufenthaltes  in 
Konstantinopel  eine  Truppenrevue  gesehen  ?€  Münz  lobt  die 
Truppen.  Der  Thronfolger  freut  sich,  daß  er  nicht  wie  Sir  Max 
Wächter  »für  die  Abschaffung  der  Armeen  sei«.  >Und  der  Prinz 
lächelte  und  rieb  sich  die  Hände.«  Münz  erläutert  das  Programm 
des  Herrn  Wächter  und  spricht  vom  Statusquo.  Darauf  spricht 
auch  der  Thronfolger  vom  Statusquo  und  setzt  hinzu:  »Es  ist 
nichts  so  wichtig,  als  in  den  Zeiten  des  Friedens  dem  Fortschritt 
durch  die  Befestigung  der  Konstitution  zu  dienen. <  »Das  Wort 
.Konstitution'  sprach  der  Thronfolger  wiederholt  aus,  und  zwar  in 
dieser  europäischen  Form,  nicht  in  der  türkischen  Übersetzung«.  Nun 
wird  aber  der  Sir  Ma.x  Wächter  noch  vom  Sultan  empfangen  werden 
und  wird  dem  Münz  und  dieser  uns  alles  erzählen.  Münz  begleitet  ihn 
nur.  Er  beobachtet  ein  neues  Schauspiel:  Drei  Knaben  treten  auf 
und  tragen  irgendetwas.  »Unerfahren  in  den  Bräuchen  des  kaiser- 
lichen Palastes,  glaube  ich,  es  handle  sich  um  die  Einleitung  zu 
irgend  einer  religiösen  Funktion.«  Aber  es  wird  bloß  schwarzer 
Kaffee  serviert.  »Und  als  ich  die  Schale  in  Händen  hielt,  nahm  ich 
staunend  wahr,  daß  die  goldene  Untertasse  ganz  mit  Brillanten 
besetzt  war.«  Noch  mehr  aber  staunte  Münz,  als  er  später  von 
einem  Eingeweihten  erfuhr,  »daß  bis  auf  den  heutigen  Tage  keine 
der  goldenen  diamantenbesetzten  Schalen  aus  dem  kaiserlichen  Ser- 
vice fehle«.  Es  waren  eben  bisher  nur  Leitartikler  und  keine 
Volkswirte  im  Serail.  Die  Audienz  wegen  der  Föderation  auf 
wirtschaftlicher  Grundlage  ist  zu  Ende.  Sie  fahren  an  dem  Par- 
lament vorüber  und  Münz  zitiert:  »Leergebrannt  ist  die 
Stätte!«  Noch  lange  aber  begleitet  ihn  die  Erinnerung  an  das 
Gespräch  mit  dem   Thronfolger,    »die    Erinnerung   zumal   daran, 


—  12  — 


wie  er  immer  und  immer  wieder  das  fremde  Wort  , Konstitution' 
sprach«  . .  .  Dem  Bosporus  wird  übel,  der  Ballcan  kracht,  und  die 
Fürsten  beschließen  endlich  eine  Föderation  auf  wirtschaftlicher 
Grundlage,  weil  sie  auf  anderem  Wege  die  Neue  Freie  Presse  nicht  dazu 
bringen  können,  ihnen  den  Münz  nicht  mehr  ins  Haus  zuschicken. 


Eine  Kollektion  Ansichtskarten 

Das  einzig  Interessante,  was  man  bei  der  Eröffnung  der 
Jagdausstellung  sehen  konnte,  soll  der  Hirsch  gewesen  sein.  Nämlich 
der  von  der  Neuen  Freien  Presse.  Sie  hatte  ihn  lebend  beigestellt 
und  er  tummelte  sich  zwischen  den  Jägern  herum,  kam  zutraulich 
näher  und  fraß  aus  der  Hand.  Dieser  Hirsch  hat  die  Eigen- 
schaft, daß  er  auf  die  Honoratioren  Jagd  macht,  und  da  es  sich  somit 
um  ein  Unikum  handelt,  beschloß  man,  die  denkwürdigsten 
Momente  des  Schauspiels,  das  sich  bei  der  Ausstellungseröffnung 
darbot,  durch  Ansichtskarten  zu  verewigen.  Unter  dem  Vorwand,  den 
Kaiser  zu  porträtieren,  nahm  man  den  Hirsch  auf.  Wer  jetzt  vor 
einer  Ansichtskartenhandlung  stehen  bleibt,  kann  sich  unschwer 
davon  überzeugen,  daß  die  weidmännische  Pointe  dieser  Aufnahme 
der  Hirsch  war.  Man  erkennt  ihn  auf  den  ersten  Blick,  auch 
wenn  man  ihn  im  Leben  nie  gesehen  hat,  und  ich  setze  einen 
Preis  aus  für  den,  der  ihn  verkennt.  Da  steht  zum  Beispiel  der 
Kaiser  und  vor  ihm  der  Präsident,  und  der  Präsident  scheint  eine 
Ansprache  an  den  Kaiser  zu  halten.  Aber  auf  dem  Anstand  wartet 
der  Hirsch.  Bum,  hat  ihn  schon!  Wir  sind  Zeugen  des  denkwürdigen 
Moments,  wie  sich  im  Hirn  des  Vertreters  der  Neuen  Freien  Presse 
die  Eindrücke  formen.  Ein  Gesicht,  das  auf  den  ersten  Blick  dem 
Charakterkopf  Rudolf  Lothars  gleicht,  aber  es  ist  der  Hirsch,  ich 
weiß,  es  ist  der  Hirsch ;  denn  der  Lothar  jagt  für  den  Lokalanzeiger. 
Wie  befangen  stehen  die  Honoratioren  neben  ihm:  er  blickt 
interessiert,  aber  ruhig  drein,  den  Kopf  ein  wenig  vorgebeugt, 
seiner  Sache  sicher.  Dies  das  erste  Bild.  Auf  dem  zweiten  Bild 
sehen  wir  den  Hirsch  elastischen  Schrittes  neben  dem  Kaiser  einen 
Pavillon  verlassen.  Der  Momentphotograph  hat  den  Augenblick  in 
der  bekannten  charakteristischen  Weise  festgehalten,  wie  die 
aufgenommene  Persönlichkeit  den  einen  Fuß  auf  den  Absatz  stellt 
und  die  Sohle  zeigt.  Aber  man  hat  doch  den  Eindruck,   daß  der 


—  13  — 

Hirsch  rüstig  ausschreitet.  Assyrischer  Bart,  Zylinder,  offener 
heller  Überzieher,  Umlegkragen,  die  ganze  Gestalt  breiter  als  lang 
—  so  und  nicht  anders  hat  man  sich  den  Vertreter  der  Neuen 
Freien  Presse  vorgestellt,  neben  dem  die  eleganten  Herren  im 
Gehrock  und  gar  der  Kaiser  im  schlichten  Generalsrock  ver- 
schwinden. Einer  vom  Tagblatt  stapft  auch  hinterher,  aber  er  kann 
sichtlich  gegen  den  Hirsch  nicht  aufkommen.  Drittes  Bild:  Der 
Kaiser  steht  zwischen -zwei  Herren;  der  Hirsch  sieht  die  Gruppe 
so  von  unten  hinauf  von  oben  herab  an,  als  wollte  er 
sagen :  Ich  bin  einer  unserer  Mitarbeiter,  der  Gelegenheit 
hatte.  Im  Hintergrund  tauchen  etliche  Strebervisagen  auf, 
Komiteemitglieder,  Konsuln  und  so  Leute,  die  ein  freundliches 
Gesicht  machen,  weil  sie  mit  dem  Kaiser  photographiert 
werden  sollen.  Der  Hirsch  hält  das  für  selbstverständlich. 
Er  hat  sich  nicht  vorgedrängt;  er  war  früher  da.  Viertes  Bild:  Der 
Kaiserverläßt  die  Ausstellung.  Einer  der  Herren  macht  vor  Verlegenheit 
einen  schiefen  Mund;  der  Hirsch  bleibt  ruhig.  Ein  Ministerial- 
beamter  senkt  in  seines  Nichts  durchfahrendem  Gefühle  das  Haupt. 
Er  ist  ganz  zerschmettert.  Er  macht  den  Eindruck,  als  ob  ihm  das 
den  Rest  geget)en  hätte.  Der  Hirsch  steht  aufrecht.  Er  denkt: 
118  Zeilen  Einleitung.  Er  wird  die  Ausstellung  für  eröffnet  er- 
klären. Wenn  er  in  die  Redaktion  kommt  und  vor  seinem  obersten 
Kriegsherrn  steht,  wird  er  vielleicht  die  Unbefangenheit  ein  wenig  ver- 
lieren. Aber  wenn  er  dann  die  Ansichtskarten  vorweist,  wird  er  belobt 
werden  .  . .  Man  kaufe  diese  Ansichtskarten.  Vielleicht  wird  sich  ein- 
mal dieses  Wien  mit  Scham  an  die  Zeiten  erinnern,  da  es  seinen 
alten  Kaiser  durch  Ausstellungen  führte  und  im  Sonnenbrand 
jedem  dieser  wertlosen  Dabeiseinwoller  mit  unverminderter  Freund- 
lichkeit ein  Wort  sagen  ließ,  dessen  Kurs  von  den  Inseratenhändlem 
bestimmt  wurde.  Aber  die  Ansichtskarte,  auf  die  es  ihn,  der  in 
seinem  Leben  schon  wahrlich  besseren  Hirschen  begegnet  ist,  mit 
einem  Hirsch  gebracht  hat,  der  auf  den  ersten  Blick  als  der  von  der 
Neuen  Freien  Presse  kenntlich  ist  —  sie  bleibt  ein  österreichisches 
Dokument,  das  über  alle  zeitliche  Scham  hinaus  die  Wesensart 
dieses  Landes  fixiert  und  nicht  in  eine  Jagdausstellung  gehört, 
sondern  in  eine  Weltausstellung. 


14 


Der  Maikorso 

Zu  den  spärlichen  Unterhaltungen,  die  unsereins  noch  mit- 
macht, gehört  die  Verregnung  eines  Maikorsos.  >Es  gab  strecken- 
weise weite  Lücken,  so  daß  man  eigentlich  nur  durch  das  Aufgebot 
an  Wache  zu  beiden  Seiten  der  Fahrbahn  daran  erinnert  wurde, 
daß  heute  Maikorso  ist<.  Warum  man  sich  über  so  etwas  freut, 
weiß  man  im  Augenblick  nicht;  aber  man  freut  sich.  Auch  kommt 
man  erst  später  darauf,  daß  man  just  zu  der  Stunde  ein  Wohlbehagen 
hatte,  als  ein  paar  Wucherer  naß  wurden.  Die  Schadenfreude 
funktioniert  bei  mir  als  Reflexbewegung.  Ich  bin  plötzlich  gut 
aufgelegt,  mein  Gesicht  erhellt  sich,  man  fragt  mich  warum,  und 
nachdem  ich  mich  eine  Weile  besonnen  habe,  sage  ich  :  Ja,  wissen 

Sie  denn  nicht,  daß  heute  der  Maikorso  verregnet  ist? 

*  * 

* 

Gabriel  und  Margarete  oder:  Ist  sie  schuldig? 

Bevor  Heinrich  Manns  »Unschuldige*  in  der  , Fackel' 
erschien,  hatte  der  Autor  diesen  Dialog  vor  einem  kleinen  Publikum 
vorgelesen.  Ich  erschrak,  als  ich  im  Neuen  Wiener  Tagblatt  einen 
umso  größeren  Bericht  -  unter  dem  grauslichen  Titel  »Ist  sie  schuldig? 
Eine  Dichterphantasie<  —  bemerkte.  Denn  darin  waren  Dialogstellen 
unter  Anführungszeichen  zitiert.  Hätte  der  Autoreinem  Reporter  Ein- 
blick in  das  Manuskript  gewährt,  so  hätte  diese  Defloration  der 
»Unschuldigen«  gegen  unsre  Abmachung  verstoßen.  Als  ich  den 
Bericht  dann  las,  war  ich  über  das  Eigentumsrecht  der , Fackel'  vollstän- 
dig beruhigt,  aber  eine  wüste  Perspektive  eröffnete  sich  mir  in  die 
Möglichkeiten,  denen  sich  das  Eigentumsrecht  des  Autors  über-: 
liefert,  wenn  er  auch  nur  die  Ohren  des  Reporters  herankommen  läßt. 
Was  war  aus  Heinrich  Manns  Sinn  und  Sätzen  geworden!  >Und 
der  Dienerin  hatte  er  zu  sagen  verboten,  daß  die  gnädige  Frau 
als  kleines  Mädchen  einmal  die  Katze  mit  einem  Strick  um  den 
Hals  vor  das  Fenster  hing  und  dai'5  sie  ihren  Geschwistern  die 
Spielsachen  stahl«.  Unwahr,  vollkomimene  Verdrehung  zweier  nicht 
zusammenhängender  Stellen.  >,Er  konunt  mir  vor,  wie  ich  selbst, 
und  doch  wieder  wie  ein  Unbekannter',  sagt  sie  zu  der  alten 
Monica«.  Das  sagt  sie  nie.  Es  dürfte  aus  der  Stelle  entstanden 
sein:  >Ich  warte  auf  ihn,  wie  auf  einen  ganz  Fremden  und  wie 
auf  mich  selbst«.  Was  völlig  erfunden  oder  gänzlich  mißverstanden 
ist,  steht  unter  Anführungszeichen.  >Aber,  Kini,  Margarete, 
besinne  dich  doch  .  .  .«     »Du    bist  ja  in  einer  anderen  Wohnung, 


—  15 


Margarete . . . «  >  Du  hast  mich  in  einer  Stunde  alt  gemacht,  Margarete< . 
Wer  nur  diese  Margarete  sein  mag?  Der  Name  Icommt  im  Dialog 
nicht  vor.  Sie  aber  antwortet:  »Dann  siehst  du,  Gabriel,  wie  es  jenen 
Menschen  geht,  die  mit  der  Seele  leben«.  Margarete  »sagt  nun 
abermals  und  zum  zweitenmal,  sie  hätte  es  doch  getan« ;  aber  ich 
finde  und  finde  keine  Margarete.  Und  Gabriel  küßt  sie  und  sagt: 
>Man  ist  eins  im  Leben  mit  Vorbehalt«.  Aber  ich  finde  auch  keinen 
Gabriel.  Verfluchte  Geschichte  das!  Dagegen  finde  ich,  daß  den 
Satz:  »Man  ist  eins  unter  Vorbehalt«  nicht  der  Gabriel,  sondern 
eine  Gabriele  spricht  und  daß  mit  andern  Sätzen  die  Gabriele  und 
nicht  der  Gabriel  angesprochen  wird,  so  daß  Gabriel  und  Gabriele, 
er  und  sie  überall  vertauscht  werden  müssen,  um  halbwegs  den 
richtigen  Sinn  herauszubekommen,  wobei  noch  immer  der  Text 
zuschanden  geht  und,  weil  der  männliche  Teil  des  Dialogs  an  keiner 
Stelle  mit  seinem  Vornamen  genannt  wird,  die  Entstehung  der 
Margarete  unaufgeklärt  bleibt ...  So  gehts  den  Dichtem.  Der  Bericht 
stammt  von  einer  Frau.  »Eine  Dichterphantasie«  betitelt  sie,  was 
nur  eine  Reporterphantasie  ist.  Der  Titel  »Ist  sie  schuldig?«  kann 
bleiben.  Sie  ist  natürlich  unschuldig;  schuldig  ist  nur  die  Institution, 
die  den  Ehrgeiz  hat,  nach  einer  psychologischen  Novelle  genau 
so  detailkundig  zu  erscheinen,  wie  nach  einem  Eisenbahnunglück. 


Jeden  Früh 

,Der  Merker*,  eine  neue  österreichische  Zeitschrift  für 
Musik  und  Theater,  welche,  von  ein  paar  lobenden  Worten  über  mich 
abgesehen,  den  Beweis  ihrer  Existenzberechtigung  noch  nicht  erbracht 
iiat,  veröffentlicht  ein  Gedicht  des  deutschen  Lyrikers  Hugo  Salus, 
dessen  erste  Strophen  wie  folgt  lauten: 

Auf  dem  braunen  Zweig  des  kahlen  Baumes, 

Der  mein  Fenster  streift,  sitzt  nun  ein  Vogel 

Jeden  Früh. 

Er  ist  jung  und  übt  mit  großem  Eifer 

Eine  neue,  aber  gar  nicht  leichte 

Melodie. 

Nur  zwei  Töne  ;  mit  gesenktem  Köpfchen 

Probt  er  immer  wieder  diese  neue 

Melodie. 

Wie  ein  junger  Priester  bei  der  Messe 

Beugt  er  sich  zum  Zweiglein  und  ist  fleißig 

Jeden  Früh. 


16  — 


Herr  Salus  ist  Prager  Heimatkünstler,  und  es  ist  immer 
wertvoll,  wenn  die  Dichter  die  Sprache  um  Wendungen  bereichern, 
die  dem  Idiom  ihrer  besonderen  Umgebung  entstammen.  In  Prag, 
wo  es  sich  von  selbst  versteht,  daß  der  besser  situierte  Einwohner 
»jeden  Früh,  wenn  er  aufkommt  und  aufsteht,  seinen  Tee  trinkt 
und  seine  Eier  ißt*,  berührt  es  durchaus  sympathisch,  daß  auch  der 
Priester  jeden  Früh  seine  Messe  liest,  wenn  er  es  nicht  vorzieht, 
seine  Neue  Presse  zu  lesen,  ja  man  wundert  sich  nicht,  daß  selbst 
der  Vogel  in  Prag  jeden  Früh  sein  Lied  vor  dem  Fenster  des  Dichters 
singt,  was  diesen  wieder  derart  in  Stimmung  bringt,  daß  er  jeden  Früh 
sein  Gedicht  schreibt.  In  Prag  weiß  man  aber  auch,  wozu  das  Unter- 
richtsministerium seinen  , Merker'  subventioniert,  Nur  daß  es  nicht 
»sein*  Geld  ist,  das  da  hinausgeworfen  wird,  sondern  unser  Geld. 


Der  gewesene  außerordentliche  Leibarzt  weiland  des 
Königs  Eduard  von  England 

Der  Tod  des  Königs  von  England  bietet  den  Vorteil, 
daß  man  den  Namen  des  Herrn  Dr.  Ott  in  Marienbad 
nicht  mehr  so  häufig  lesen  wird  wie  in  den  letzten 
Sommern,  die  durchaus  erfüllt  waren  von  einer  Glorie  aus 
Stoffwechsel,  Kreuzbrunnen,  Zudringlichkeit  des  Kurpublikums 
und  jener  majestätischen  Huld,  die  jedesmal  aus  dem  Händchen 
des  jüngsten  Töchterchens  eines  Champagneragenten  einen  Blumen- 
strauß entgegennahm.  All  dies  versinkt,  die  Könige,  von  deren 
Fett  ein  Kurort  mit  Honoratioren,  Ärzten,  Juden  und  Konsuln 
leben  kann,  sind  an  den  Fingern  abzuzählen,  und  der  treue 
gewesene  außerordentliche  Leibarzt  blickt  einem  Meteor  nach  von 
115'6  Kilo,  wischt  sich  eine  Träne  aus  dem  Auge  und  ergreift 
in  der  Neuen  Freien  Presse  das  Wort.  Namentlich  er  muß  es  ja  fühlen, 
daß  jetzt  andere  Zeiten  kommen,  daß  nach  England  jetzt  wieder 
Galizien  Trumpf  sein  wird,  und  seine  >persönlichen  und  ärztlichen 
Beziehungen  zu  König  Eduard*  zum  Titel  eines  Artikels  zu  machen, 
das  ist  wohl  die  bescheidenste  Entschädigung  für  den  unermeßlichen 
Verlust,  den  er  durch  diesen  Todesfall  erleidet.  Herr  Ott  war  so 
diskret,  den  Reklamewert  von  höchstens  zwanzig  ausfallenden 
Marienbader  Sommern  an  einem  Sonntag  hereinzubringen.  Er 
begnügt  sich  zunächst  mit  der  Feststellung,  daß  Eduard  VII. 
nicht     nur     sein      Patient      und     sein     königlicher     Protektor 


17 


sondern  auch  >sein  bester,  ihm  wohlwollendster,  aufrichtigster 
Freund«  gewesen  ist.  Herr  Ott  war  oft  eingeladen  und  kann  nicht 
umhin  hervorzuheben,  daß  er  »niemals  das  Gefühl  hatte,  der  Letzte 
oder  Geringste  im  Range  in  der  sozial  so  hochstehenden  Gesellschaft 
zu  sein«,  er  saß  an  der  Tafel  zwischen  Lord  Esher  und  Lord 
Fisher,  »dann  erst  folgten  rechts  und  links  einzelne  Minister  und 
andere  hochstehende  Persönlichkeiten«  und  ganz  unten  erst  der  Kom- 
mandant der  Yacht  und  die  Adjutanten  Sr.  Majestät.  Nachdem 
er  so  eine  Illustration  des  Bibelwortes  von  den  Letzten,  die  die 
Ersten  sein  werden,  geliefert,  und  sich  auch  der  Brosamen 
gerühmt  hat,  die  von  des  Herrn  Tische  fallen,  geht  er  daran, 
einiges  aus  der  Behandlung  des  Königs  Eduard  zu  erzählen,  ein- 
gedenk des  Spruches:  Haltet  euch  an  meine  Worte  und  nicht  an 
meine  Werke.  Denn  eigentlich  sollte  sich  ein  Leibarzt  verkriechen, 
wenn  ihm  sein  königlicher  Patient  gestorben  ist,  und  nicht  her- 
vortreten und  erzählen,  wieviel  der  Tote  dank  seiner  Behandlung  in 
jedem  Sommer  abgenommen  hat.  Herr  Ott  hat  aber  offenbar  sein 
Möglichstes  getan :  die  Leber  des  Königs  war  nicht  angeschwollen, 
die  Bronchien  waren  rein,  Zucker  und  Eiweiß  nicht  vor- 
handen, und  für  das  >rapide,  so  unerwartete  Hinscheiden  des 
Königsc  ist  Herr  Ott  natürlich  nicht  verantwortlich  zu  machen.  Der 
König  hatte  vierzig  Pfund  abgenommen,  und  das  ist  immerhin 
eine  ärztliche  Leistung.  »Es  wäre  gewiß  ein  medizinischer  Fehler,« 
bemerkt  stolz  der  Leibarzt,  »wenn  man  den  verstorbenen  König 
als  Diabetiker  bezeichnen  wollte«.  Man  wird  sich  hüten,  nach  dem 
Tod  des  Königs  medizinische  Fehler  zu  begehen!  Und  A\arienbad 
hatte  getan,  was  es  konnte.  1904  zum  Beispiel  gab  es  »einen  Sommer 
ohne  Regen  und  mit  allgemeiner  Staubentwicklung«.  Der  englische 
Leibarzt  war  gegen  die  Reise.  Da  aber  Herr  Ott  »die  ausdrückliche 
Versicherung  gab,  daß  die  Stadtvertretung  Marienbads  alles 
tun  würde,  um  sowohl  im  Orte  selbst  wie  in  der  Umgebung 
nach  Menschenmöglichkeit  die  Staubplage  zu  bekämpfen«, 
so  kam  der  König.  Und  wiewohl,  bitte,  der  Regen  nicht  garantiert 
worden  war.  Eine  solche  Suggestion  übte  die  Persönlichkeit  des  Herrn 
Ott.  Schon  im  vorhergehenden  Jahre,  nach  der  Krankheit,  wollte 
man  den  König  nicht  zu  seinem  Ott  lassen.  Der  aber  setzte  es 
durch,  denn  der  König  wog  noch  immer  über  100  Kilo,  und  Sir 
Laking  hatte  Herrn  Ott  geschrieben:  »Ich  sende  Ihnen  den  König 
mf  Ihre  eigene  Verantwortung«,  ein  postalischer  Vermerk,  der  sich 


—  18  — 


offenbar  nur  auf  die  Überfracht  bezog.  Als  eine  Dame  den  König  fragte, 
warum  tr  denn  nicht  zur  Abwechslung  einmal  nach  Karlsbad  gehe  — 
wo  es  ja  auch  tüchtige  Reklameärzte  gibt  — ,  >antwortete  er  lächelnd: 
,0,  vielleicht  würden  mir  die  Quellen  dieses  oder  jenes  Kurortes  auch 
guten  Erfolg  bringen,  aber  ich  hätte  dort  nicht  meinen  Doktor  Ott.« 
So  erzählt  Herr  Doktor  Ott.  Auch  der  langjährige  treue  Lakai  Hawkins 
wollte  ihm  wohl,  denn  er  half  ihm,  als  er  einmal  auf  Schloß  Sandring- 
ham  zu  Besuch  war,  aus  dem  Pelz  und  »meldete  mitten  in  das  eifrige 
Stimmengewirr  der  großen,  echt  englischen  Hall:  , Doktor  Ott!'«  Auch 
die  Königin  Alexandra,  eine  hohe  königliche  Gestalt,  kam  ihm  mit  dem 
ihr  eigenen,  liebenswürdigen  Lächeln  entgegen,  bewillkommte  ihn  mit 
kräftigen  englischen  shakehands  und  sagte:  >Ich  freue  mich  sehr, 
lieber  Doktor  Ott,  Sie  hier  begrüßen  zu  können.«  Aber  auch  alle 
andern  Herrschaften,  >der  Herzog  und  die  Herzogin  von  Teck, 
Prinzessin  Viktoria,  die  ledige  Tochter  des  Königspaares,  Graf 
Mensdorff,  unser  Botschafter,  Lord  und  Lady  Landsborough«  — 
>meine  ehemaligen  Patienten«,  bemerkt  Herr  Ott  diskret  —  und  die 
Damen  und  Herren  des  Dienstes,  alle  begrüßten  sie  ihn  herzlich.  Dann 
ging  es  >flink  aufs  Zimmer,  um,  da  man  in  Sandringham  zu  etwas 
früherer  Stunde  als  sonst  diniert,  schleunigst  Toilette  zu  machen.« 
Die  englische  Auszeichnung  wird  in  Originalgröße  getragen,  die 
andern  Dekorationen,  >die  man  etwa  besitzt«,  en  miniature.  Ein 
unvergeßlicher  Moment  für  Herrn  Dr.  Ott:  >als  ich  nach  der  Kirche 
zwischen  König  Eduard  und  dem  jetzigen  König,  wir  drei  ganz 
allein  den  anderen  Gästen  voraus,  durch  den  Park  zum  Schloß 
zurückging«.  Und  wenn  dies  noch  überboten  werden  konnte,  so 
war  es  nachdem  Lunch  der  Fall:  »Der  König,  meistenteils  in  mich 
eingehängt,  mit  mir  voraus,  mir  alles  persönlich  erklärend.«  Und 
dann  spielte  sich  das  Allermerkwürdigste  ab.  Der  jüngste  Enkel 
des  Königs  kam  des  Weges  und  der  König  »sagte  in  englischer 
Sprache:  ,Gib  schön  dein  Händchen,  das  ist  der  Doktor  Ott, 
weißt  du,  mein  Arzt  aus  Marienbad'«.  »Ich  ergriff  die  kleine  Patsch- 
hand des  herzigen,  drei-  bis  vierjährigen  Jungen,  der  mir  mit 
großen,  lichtblauen  Augen  ins  Gesicht  sah  und  ein  kräftiges  ,How 
do  You  do'  entgegenrief.«  Aber  aus  Kinder  werden  einmal  Männer,  die 
eine  Marienljader  Kur  notwendig  haben,  und  dann  wird  Onkel  Ott 
ihn,  sich  und  uns  an  diese  erste  Begegnung  erinnern.  Unvergeßlich 
bleibt  ihm  auch  sein  letztes  persönliches  Tet-ä-tete  mit  dem  König 
auf  Sandringham.  Herr  Ott  mußte  vor  der  Abreise  »im  Beisein  des 


—  19  — 


Königs  und  auf  seinen  persönlichen  Wunsch«  nicht  nur  sein 
Geburtsjahr  und  die  Dauer  seines  Besuchs  eintragen,  sondern 
»wurde  auch  wie  jeder  Besucher  im  Beisein  des  Königs  gewogen  und 
sein  Gewicht  gewissenhaft  zu  den  Besuchsdaten  notiert.«  Es  war  die 
Revanche  für  Marienbad  . . .  Herr  Doktor  Ott  fühlt,  daß  er  sich 
»wohl  etwas  länger  bei  dieser  seiner  letzten  persönlichen  Zusammen- 
kunft mit  dem  hohen  Herrn  aufgehalten«  habe,  doch  glaubt  er, 
»diesen  seinen  Fehler  durch  das  Interesse,  das  diese  kleine  Skizze 
vielleicht  in  dem  Kreise  jener,  die  den  König  persönlich  gekannt 
haben,  erwecken  dürfte,  entschuldigen  zu  können«.  Vorausgesetzt, 
daß  die  Leser  der  Neuen  Freien  Presse  so  fettleibig  sind,  daß  sie 
diesen  Satz  nicht  ohne  asthmatische  Beschwerden  zu  Ende  lesen 
können,  so  war  es  gut,  diese  Erinnerung  in  Druck  zu  legen.  Denn 
dann  waren  sie  gewiß  alle  in  Marienbad  und  sind  dort  dem  König 
von  England  näher  getreten.  Wir  haben  ja  auch  tatsächlich  in  den 
letzten  Sommern  gehört,  wie  die  Umgebung  des  Königs  zu  arbeiten 
hatte,  um  den  Andrang  der  Leser  der  Neuen  Freien  Presse  abzu- 
wehren, und  für  sie  vor  allem  ist  der  Bericht  des  Mannes  bestimmt, 
der  einen  Freund,  mehr  als  das,  einen  Patienten  verloren  hat  und 
nur  noch  Trost  in  dem  Gedanken  findet,  sich  von  nun  an  den 
»gewesenen  außerordentlichen  Leibarzt  weiland  des  Königs  Eduard 
von  England«  nennen  zu  können. 


Ein  Königswort 

Das  Neue  Wiener  Tagblatt  schreibt: 

»  .  .  .  Von  dem  Interesse  des  Prinzen  von  Wales  an  dem 
modernen  Zeitungswesen  zeugen  auch  die  folgenden  Sätze: 

Die  Erfahrung  hat  gezeigt,  daß  selbst  bei  Firmen  von  fest- 
stehendem Rufe  und  weltumfassenden  Verbindungen  die  Versuche,  das 
Annoncieren  abzubrechen,  von  einer  Herabminderung  der  vollzogenen 
Verkäufe  gefolgt  wurden  ...» 

Somit  läßt  sich  von  dem  neuen  König  das  beste  hoffen. 
Wenn  jeder  Akquisiteur  eine  so  mannhafte  Sprache  führte,  stünde 
es  noch  ganz  anders  um  das  Zeitungswesen.  Freilich  hat  Georg 
von  England  nicht  gesagt,  wie  er  sich  zum  Kleinen  Anzeiger  stellt. 


—  20 


Das  ist  so  allgemein  bekannt . . . 

Die  Neue  Freie  Presse  hat  sich  zum  erstenmal  in  ihrem 
Leben  dazu  hinreißen  lassen,  auf  einen  Angriff  zu  reagieren.  Der 
Abgeordnete  Viktor  Adler  hatte  von  ihr  gesagt,  sie  sei  das 
energischeste  und  gefährlichste  Regierungsblatt.  Darauf  brachte  sie, 
am  28.  April,  eine  Erklärung,  die  von  so  sprudelndem  Witz  und 
von  so  hinreißender  Phantasie  zeugt,  daß  sie  von  der  , Fackel'  nicht 
totgeschwiegen  werden  darf.  Sie  lautet: 

(Die  Neue  Freie  Presse  ist  ein  vollständig  unabhängiges  Blatt, 
das  in  allen  Fragen  des  öffentlichen  Lebens  seine  gänzlich  unbeeinfluß- 
bare Überzeugung  zum  Ausdruck  bringt  und  vertritt.  Das  ist  so  all- 
gemein bekannt,  daß  es  überflüssig  wäre,  ein  weiteres  Wort  darüber  zu 
verlieren.  Es  hat  noch  keine  Regierung  in  Österreich  und  in  der  ganzen 
Monarchie  gegeben,  die  das  Recht  gehabt  hätte,  der  Neuen  Freien 
Presse  ihre  Haltung  vorzuschreiben.  Die  Neue  Freie  Presse  ist 
nach  bestem  Gewissen  bemüht,  den  öffentlichen  Interessen  und  dem 
Publikum  zu  dienen,  aber  sonst  niemandem.  Anmerkung  der  Redaktion.) 

Die  Neue  Freie  Presse  hat  mir  mit  dieser  Erklärung,  die 
sie  an  meinem  Geburtstag  erscheinen  ließ,  eine  große  Freude  be- 
reitet. Es  heißt  zwar  wirklich  Pauschalien  in  die  Neue  Freie  Presse 
tragen,  wollte  man  heute  noch  an  ihrer  Unbestechlichkeit  zweifeln. 
Aber  so  ein  offenes  Wort  nach  jahrzehntelangem  Schweigen  tut 
wohl.  Man  wußte  es  ja  schon  längst,  daß  sie  vollständig  unbeein- 
flußbar sei,  aber  niemand  hatte  es  ihr  bisher  nachweisen  können, 
und  jetzt  sind  die  letzten  Zweifel  geschwunden.  Man  munkelt  nicht 
mehr,  sie  sei  ein  hochanständiges  Blatt,  der  Bann  ist  gebrochen  und 
über  Österreich  hat  sich  nach  diesen  aufklärenden  Worten  eine  so 
heitere  Stimmung  verbreitet,  daß  die  Neue  Freie  Presse  selbst  sich 
über  die  Ruhe  wunderte,  mit  der  man  überall  dem  Kometen  ent- 
gegensah. Jetzt  weiß  sie  den  Grund.  Der  ganze  Humor  in  der 
Kometennacht  war  nur  ein  Vorwand.  Man  war  seit  Wochen  so  gut 
aufgelegt,  daß  man  einander  in  den  Bauch  stieß  und  »Schnipfer!« 
sagte,  sobald  einer  im  Kaffeehaus  nur  die  Neue  Freie  Presse  ver- 
langte. Und  der  Satz:  »Das  ist  so  allgemein  bekannt,  daß  es  über- 
flüssig wäre,  ein  weiteres  Wort  darüber  zu  verlieren«,  hat  Flügel 
bekommen  und  wurde  zum  Refrain  eines  Lachkuplets  in  der  Art, 
wie  sie  früher  beliebt  waren.  Wenn  einer  jetzt  zum  Beispiel  sagt :  Ja, 
der  Cook  hat  den  Nordpol  entdeckt,  oder:  Die  Dokumente  im 
Friedjung-Prozeß  sind  echt  —  so  antwortet  man  nur  mehr:  Das  ist 
so    allgemein   bekannt   u.  s.  w.    Der  Satz  schlägt  jeden  Gassen- 


—  21  — 

hauer,  und  als  kürzlich  in  einem  Nachtcafe  ein  Sänger  weit  das 
Mau)  aufriß,  um  das  schlichte  Volkslied  »Das  ist  mein  Freund,  der 
Löbl«  zu  singen,  ließ  man  ihn  nicht,  denn  kaum  hatte  die  Musik 
eingesetzt  und  er  die  Worte:  »Das  ist  —*  herausgebrüllt,  da 
fiel  der  Chor  der  Besucher  donnerähnlich  ein:  »Ja  das  ist 
so  allgemein  bekannt,  daß  es  überflüssig  wäre,  ein  weiteres  Wort 
darüber  zu  verlieren!« 


Der  Komet  im  Cottage 

....  findet  Mittwoch  den  IS.  d.  um  S  ühr  abends  eine 
interessante  Veranstaltung  statt,  die  durch  die  Namen  der  Mitwirkenden 
und  durch  die  Originalität  der  Zusammenstellung  des 
Programms  ungewöhnliches  und  berechtigtes  Auf- 
sehen erregen  dürfte.  Das  Programm  des  Konzerts  ist 
folgendes  ....  Nach  dem  Konzert  wird  auf  der  großen  Terrasse  angesichts 
des  feenhaft  beleuchteten  Gartens  das  Souper  serviert,  während  im  Garten 
die  Wiener  Singakademie  Volkslieder  zum  Vortrage  bringt  und  aus  der 
Ferne  das  Stiegler-Sextett  der  Hofoper  die  Waldhörner  erklingen  läßt. 
Vom  anderen  Ende  des  Gartens  aus  werden  in  den  Zwischenpausen 
erstklassige  Musikkapellen  konzertieren.  Während  des  Desserts  und  des 
5 ui Warzen  Kaffees  werden  auf  der  großen  Wiese  vor  der  Terrasse 
^  ohl  von  Primaballerinnen  des  Hofopemballettkorps  unter  der  Leitung 
Mitwirkung  des  Mimikers  der  k.  k.  Hofoper,  Karl  Godlewski,  als 
von  e.xotischen  Tänzerinnen  Pantomimen  und  Tänze  in  neuen 
Kostümen  vorgeführt.  Hernach  verlöschen  die  Lichter  des  Gartens  und 
auf  dem  neuangelegten  Teile  des  Türkenschanzparkes,  gerade  gegenüber 
der  Speiseterrasse,  angesichts  des  Wienerwaldes,  beschließt  ein  reich- 
haltiges Feuerwerk  den  zweiten  Teil  des  Programms.  Nunmehr 
begeben  sich  die  Gäste  wieder  in  den  als  Wirtsstube  verwandelten  Saal, 
und  während  sie  sich  bei  Wursteln,  Gulasch,  Bier  und  Wein  gütlich  tun, 
spielen  und  singen  die  »Grinzinger<  ihre  gemütlichen  Lieder,  unter- 
brochen von  anscheinend  improvisierten  Vorträgen  von  .....  denen 
sich  andere  bekannte  Wiener  Lieblinge  anschließen.  Kurz  vor 
Mitternacht,  zu  welcher  Zeit  ja  bekanntlich  in  dieser 
Nacht  der  Schweif  des  Halleyschen  Kometen  die  Bahn  der 
Erde  berühren  soll,  hat  man  Gelegenheit,  infolge  der 
hohen  und  freien  Lage  des  Gartens  dieses  Naturschauspiel 
wohl  anf  besten  zu  beobachten.  Für  dieses  Fest  können  infolge 
des  beschränkten  Raumes  nur  260  Karten  ausgegeben  werden,  die 
inklusive  Konzert,  Souper  und  Kabarett,  dank  dem  Entgegenkommen 
der  Künstler  zum  Preise  von  nur  ä  6  0  K  berechnet  werden  konnten. 
(Überzahlungen  werden  dankend  angenommen  und  separat  quittiert.) 
Hundert  Karten  sind  davon  für  die  Patienten  des  Hauses  .... 


—  22 


Was?  Für  die  Patienten  des  Hauses?  Ja,  ist  denn  die  ekel- 
iiafte  Jahrmariitsreklame,  die  Kunst  und  Würstel  und  Gulasch  und 
den  Kometen  verschlingt,  nicht  von  einem  Gastwirt  ausgegangen? 
O  doch,  von  dem  Besitzer  des  Cottage-Sanatoriums,  seit  dessen 
Etablierung  der  Zusammenhang  zwischen  Medizin  und  Wirtsgeschäft 
auch  von  den  gläubigsten  Verehrern  der  Wissenschaft  nicht  mehr 
bestritten  wird.  Von  dem  Besitzer  jenes  Sanatoriums,  das  von  den 
überzeugten  Anhängern  der  Gastwirtegenossenschaft  und  den  Freun- 
den des  Hoteliergremiums  als  ein  Fleck  auf  der  Standesehre 
empfunden  wird.  Denn  sie  finden  die  Verquickung  der  Probleme  >Wo 
ißt  und  trinkt  man  gut?«,  »Wo  gibt's  an  guten  Tropfen  und  a  Hetz?« 
mit  medizinischen  Vorwänden  unerträglich,  und  sie  betrachten  die 
Vermengung  kultureller  Werte  wie  »Speisen  und  Getränke  erst- 
klassig, Bäder  im  Hause,  Lift«,  »Täglich  Doppelkonzert  mit  Gesang, 
Omnibusverkehr  die  ganze  Nacht«  mit  einer  Behandlung  durch 
den  Professor  Noorden  als  eine  maßlose  Kompromittierung  ihrer 
Bestrebungen.  Wenn  nicht  die  , Fackel'  jener  Frechheit  ein  Ende 
gesetzt  hätte,  die  eine  Patientenliste  allwöchentlich  in  der  Neuen 
Freien  Presse  inserierte,  die  Ärztekammer  hätte  die  Fremdlin; 
aus  Baku  und  Tiflis,  die  sich  vertrauensvoll  in  die  Hände 
Herren  Noorden,  Urbantschitsch  u.  s.  w.  begaben,  gegen  so  dre» 
Verletzimg  der  Schweigepflicht  nicht  geschützt.  Und  wenn  je 
nicht  die  Praterwirte  gegen  die  Schmutzkonkurrenz  aufstehen  und 
wenn  nicht  der  Wolf  in  Gersthof  gegen  den  Urbantschitsch  im 
Cottage  vorgeht,  so  wird  sich  das  abscheuliche  Unding  eines 
Kabarettsanatoriums  noch  öfter  unseren  Blicken  aufdrängen.  Der 
ganze  Wiener  Jourgestank  von  Humanität  und  Streberei,  der  uns 
so  oft  aus  der  Hauptallee  entgegenweht,  dieses  ganze  fesche 
Samaritertum,  das  zwischen  Tuberkulose  und  Tombola  seinen 
Namen  in  die  Zeitung  bringt  und  unter  Umständen  sogar  bereit 
ist  dafür  zu  sorgen,  daß  »die  Kunst  sich  in  den  Dienst  der  Wohl- 
tätigkeit stellt<,  dieses  ganze  Gekrieche  zwischen  Spitalsbajazzos  und 
Spitzen  der  Gesellschaft  —  hier  hat  es  einmal  zu  einer  entschei- 
denden Probe  ausgeholt  auf  die  Langmut  der  Enterbten  solchen 
Glückes.  Denn  es  hatte  den  infamen  Geschmack,  die  Überraschungen 
der  Kometennacht  in  seinen  Juxbasar  einzubeziehen.  Daß  wohl- 
tätiger Unfug,  der  die  Nachtruhe  stört  und  noch  die  Leser  der 
Morgenblätter  belästigt,  sich  zu  Gunsten  einer  Heilanstalt  abspielt, 
davon  hat  man  schon  gehört.  Aber  daß  er  sich  in  einer  Heilanstalt 


23 


abspielt,  daß  vor  den  Fenstern  der  Patienten,  an  deren  Nervenleiden 
und  Verdauungsstörungen  wir  doch  fast  ebenso  glauben  sollen  wie 
an  ihren  Reichtum,  ein  Feuerwerk  abgebrannt  wird  und  Heurigen- 
musik ertönt,  und  daß  sich  solcher  Skandal  in  der  einzigen  Nacht  seit 
fünfundsiebzig  Jahren  abspielt,  in  der  auch  den  Gesunden  ein  Böller- 
schuß oder  eine  Rakete  ängstigt,  das  ist  eine  Idee,  die  nur  dem  Hirn 
eines  Buben  oder  eines  wahnsinnig  gewordenen  Kommis  entsprungen 
sein  kann.  Die  Nacht,  in  der  »bekanntlich  der  Schweif  des  Halleyschen 
Kometen  die  Bahn  der  Erde  berühren  soll«,  ist  Gottseidank  so 
glimpflich  verlaufen,  wie  eine  Reklame  für  Praterwirte  nur  verlaufen 
kann,  und  leider  war  es  trotz  der  hohen  Preislage  des  Sanatoriums 
nicht  möglich,  »dieses  Naturschauspiel  zu  beobachten«.  Aber  noch 
in  der  Umgebung  des  Sanatoriums  fuhren  die  Leute  aus  den 
Betten,  denen  das  Feuerwerk  des  Herrn  Urbantschitsch  jene 
Vision  des  Weltuntergangs  bot,  welche  ihnen  auch  ein  pünkt- 
licher Komet  nicht  geboten  hätte,  und  es  heißt,  daß  die  Polizei  um 
Mittemacht  das  reichhaltige  Programm  etwas  abgekürzt  hat.  Man  stelle 
sich  nun  die  Situation  der  Leute  vor,  die  im  Sanatorium  liegen 
und  zwar  in  der  Lage  sind,  nur  tO  K  für  den  Anblick  des  Welt- 
::  tergangs  zu  zahlen,  aber  nicht  auch  imstande  sind,  aufzustehen 
uiid  das  Feuerwerk  des  Herrn  Urbantschitsch  zu  besichtigen.  Jener 
Patienten,  die  zwar  in  der  ausgesprochenen  Absicht  nach  Wien 
kamen,  ihren  Namen  in  die  Presse  einrücken  zu  lassen  und 
ihren  Reklamewert  teuer  zu  bezahlen,  aber  doch  vielleicht  auch 
um  Erholung  zu  suchen.  Wahrscheinlich  hat  dei  grinsende 
Verstand  graduierter  Händler  gehofft,  daß  die  Herzleidenden 
genügend  aufgeklärt  sein  würden,  um  einen  harmlosen 
Böllerschuß  nicht  für  das  Signal  des  Weltuntergangs  zu 
halten.  Oder  er  hat  gehofft,  daß  ein  Schrecken  in  dieser 
Nacht  der  Suggestionen  genügend  wirksam  sein  werde,  um  in  einem 
geschwächten  Organismus  Zucker  zu  erzeugen  und  so  das  Eingreifen 
des  Herrn  Professors  Noorden  notwendig  zu  machen.  So  daß  in  dieser 
Nacht  der  Enttäuschungen,  in  der  die  Sterngucker  das  Nachsehen 
hatten,  doch  wenigstens  einer  auf  seine  Kosten  gekommen  wäre. 
Nun  scheint  aber  der  Wirt  die  Rechnung  ohne  den  Gast  gemacht 
zu  haben.  Denn  wenn  es  schon  nicht  das  Ende  der  Welt  war, 
so  war  es  doch  das  Ende  ihrer  Geduld,  und  es  wird  mir  gemeldet, 
daß  es  in  der  katastrophalen  Nacht,  als  der  Schweif  des  Kometen 
Urbantschitsch  die  Erde   berührte,    als    die    erste    Rakete    in   der 

303-304 


24 


Richtung  nach  Noorden  stieg,  im  Sanatorium  Herzkrämpfe 
gab  und  daß  ein  Patient  in  diesem  Augenblick  noch  die 
Geistesgegenwart  hatte,  an  einen  Schadenersatzprozeß  gegen  die 
Leiter  der  Anstalt  zu  denken.  Nun  besteht  ja  allerdings  die  Wahr- 
scheinlichkeit, daß  diese  mit  Erfolg  einwenden  werden,  Kläger 
sei  schon  mit  einer  geschwächten  Gesundheit  in  das  Sanatorium 
gekommen,  sei  in  der  Kometennacht,  in  der  viele  Menschen 
zitterten  (Beweis  durch  Zeugeneinvernahme),  besonders  ängstlich 
gewesen,  und  keinesfalls  könne  ein  harmloses  reichhaltiges  Feuerwerlc 
ein  so  schweres  Herzleiden  verschuldet  haben.  Aber  es  wäre 
doch  außerordentlich  wichtig,  daß  es  zu  diesem  Prozeß  kommt.  Denn 
es  ist  unerläßlich,  daß  die  fortschrittliche  Welt  erfahre,  wie  sicher 
sie  der  Wissenschaft  sein  kann,  wenn  ihr  der  Kometenaberglaube 
zusetzt,  der  astronomischen  und  vor  allem  der  medizinischen.  Es 
ist  unerläßlich,  daß  sie  erfahre,  es  seien  Ärzte  gewesen,  die  mit 
Bravo  Stuwer!,  Grinzingern,  Wursteln,  Gulasch,  einem  Waldhorn- 
Sextett  und  dem  Kometenschweif  ihren  herzleidenden  Pflege- 
befohlenen in  banger  Nacht  zuhilfe  geeilt  sind,  kurzum  mit  einem 
Programm,  das  durch  die  Originalität  der  Zusammenstellung  un- 
gewöhnliches und  berechtigtes  Aufsehen  erregte;  und  es  sei 
Polizisten  gewesen,  die  sich  ins  Mittel  legten  und  weni] 
stens  die  Himmelserscheinungen  inhibierten,  mit  denen  diese"' 
gefinkelte  Medizin  der  Astronomie  zuvorkommen  wollte.  Es  ist 
unerläßlich,  daß  diese  Rakete  der  Wiener  Wohltätigkeit,  wie  anno 
Festzug  und  in  jedem  Wiener  Fall,  im  Handelsgericht  krepiere, 
wenn  ihr  schon  das  Strafgericht  entrückt  bleibt.  Ärzte  sind  es 
gewesen.  Die  Welt  will  sich  die  Namen  dieser  Ärzte  aufschreiben, 
die  Welt  will  Ärztekammer  spielen,  und  sie  wird  erst  dann  ruhig 
untergehen,  wenn  sie  vorher  einen  partiellen  Weltuntergang  erlebt 
hat,  einen,  der  sich  auf  ein  Sanatorium  erstreckt,  in  welchem 
die  Diskretion  des  Arztes  ein  Heurigenexzeß  und  die  Gesundheit 
des  Patienten  ein  Juxgegenstand  ist. 


—  25  — 

Dem  internationalen  Preßkongreß 

Von  Franz  Grillparzer 

Der  Henker  hole  die  Journale, 
Sie  sind  das  Brandmal  unsrer  neuen  Welt, 
Der  ekle  Abhub  von  dem  Wissenmahle, 
Der,  für  die  Viehmast,  in  die  Zuber  fällt. 

Sie  sind  die  breitgedeckten,  offnen  Tische, 
Wo  Tor  und  Weiser  sich  als  Nachbar  schaut, 
Und  eines  Schluckes  aus  dem  Buntgemische 
Hinabschlingt  ganz,  woran  die  Menschheit  kaut. 

In  einer  Stunde  wirst  du  zum  Gelehrten, 
Nur  freilich  in  der  andern  wieder  dumm ; 
Denn  von  der  richt'gen  Ansicht  zur  verkehrten 
Schwingt  sich  der  Pendel  immer  wechselnd  um. 

Du  brauchst  nicht  mehr  zu  wissen  noch  zu  denken, 
Ein  Tagblatt  denkt  für  dich  nach  deiner  Wahl. 
Die  Weisheit  statt  zu  kaufen  steht  zu  schenken. 
Zu  kaufen  brauchst  du  nichts  als  das  Journal. 

Nun  erst  die  Köche  dieser  Sudelküche, 
Der  Täter  gibt  der  Tat  erst  ihren  Fluch, 
Noch  ärger  als  der  Speisen  Qualmgerüche 
Steht  der  Verfert'ger  selber  im  Geruch. 

Schon  in  der  Schule  bildet  sich  die  Rasse, 
Es  schreibt  da,  wer  zu  lernen  nicht  versteht, 
Bis  endlich  eine  dritte  Fortgangsklasse 
Sich  als  Beruf  zeigt  und  als  Musaget. 


Dieses  Gedicht,  das  manche  Dramen  Grillparzers  aufwiegt,  ist 
1844  entstanden  und  in  der  Gesamtausgabe  von  Cotta  1887  enthalten. 
Man  müßte  eine  spätere  Ausgabe  daraufhin  ansehen,  ob  das  im  Dienst 
der  Presse  wirkende  literarhistorische  Schmocktum  sich  inzwischen 
gefügig  gezeigt  und  die  tapferen  Verse  unterdrückt  hat.  Jedenfalls  wird 
es  gut  sein,  auf  die  noch  kommenden  GriUparzer-Editionen  ein  Auge 
zu  haben. 


—  26  — 

Dieter  und  der  Beamtensohn 
Von  Otto  Stoessl 

Dieter  hatte  seinem  neuen  Freunde  Toni  Scharrer  viel  zu 
zeigen,  dieser  ihm  viel  zu  sagen.  Ein  ganzes  Leben  war  gemeinsam 
zu  führen.  Dazu  reichte  eine  Stunde  des  Schulweges  wahrlich  nicht 
aus.  Dieter  als  freier  Mann  schlug  vor,  sie  sollten  fortan  jeden 
Nachmittag  miteinander  spazieren  gehen.  Scharrer  lächelte  weh- 
mütig, das  sei  ganz  unmöglich,  er  müsse  daheim  studieren,  dann 
sei  er  auch  im  Turnen  eingeschrieben,  was  etliche  Nachmittags- 
stunden wegnehme,  sein  Vater  würde  nie  und  nimmer  erlauben, 
daß  er  so  lange  fortbliebe. 

Dieter  beantragte,  sie  könnten  ja  vorgeben,  in  seiner 
Wohnung  zusammen  zu  lernen,  wo  sie  mehr  Ruhe  hätten  und 
vom  Turnen  könnte  sich  der  Toni  ohneweiters  dispensieren  lassen, 
wenn  der  Vater  ein  Gesuch  an  die  Direktion  richte.  Diese 
Zuversicht  machte  auch  den  Scharrer  kühner  und,  obgleich  sehr 
bedenklich,  stimmte  er  zu,  als  Dieter  sich  vermaß,  den  strengen 
Vater  selbst  zu  solchen  Schritten  zu  bewegen.  Vorher  wollte  Toni 
jedenfalls  daheim  von  seinem  Freunde  sprechen  und  den  Alten  auf 
ihn  vorbereiten. 

Eines  Nachmittags  klopfte  Dieter,  nett  angetan  und  mit 
seinem  unschuldigsten  Gesicht  an  der  Tür  von  Scharrers  Wohnung. 
Der  Kollege  öffnete  ihm  unter  dem  Geschrei  kleiner  Kinder.  Dieter 
roch  die  eigentümliche  Beamtenwohnung,  welche  aus  der  Küche 
den  Dunst  aufgewärmten  Gemüses,  aus  den  Stuben  den  Atem  zu 
vieler  Leute  und  die  Unreinlichkeiten  einer  Kinderwirtschaft 
zusammenströmen  läßt.  Durch  das  kleine  Vorzimmer  drehte  sich 
Dieter,  vom  verlegenen  Freunde  geführt,  in  den  Wohnraum,  wo 
gegessen,  gesprochen,  gelernt,  gelebt  wurde,  und  der  sich  mit 
Hausrat  unordentlich  bestellt  zeigte :  mit  Kleiderschränken,  einem 
altdeutschen  Buffett,  dessen  aufgeklebte  Schnitzerei  da  und  dort 
abgebrochen  war,  mit  wackeligen,  ebenfalls  stilgemäßen  Stühlen 
um  den  Eßtisch  in  der  Mitte,  deren  Strohgeflecht,  von  eingefressenem 
Staub  braun  und  grau,  gelegentlich  klaffte.  Auf  der  engen  Platte 
des  kleinen  Sekretärs  lagen  Scharrers  Schreibsachen  gehäuft.  Der 
standesgemäße  Schmuck  der  Fenster  mit  braunen,  schwarz- 
gemusterten und  gefransten  Jutevorhängen  vermehrte  die   traurige 


Bruchstücke  aus   dem  Manuskript  eines   Romanes    »Morgenrot« 


—  27  — 

Düsterkeit  des  Ganzen.  Auf  dem  Eßtisch  war  eine  Decke  ausge- 
breitet, welche  für  die  IHäche  nicht  ausreichte,  deshalb  lag  sie 
querüber,  so  daß  ihre  Ecken  nicht  über  die  des  Tisches,  sondern 
inmitten  der  Kanten  gleichsam  ins  Bodenlose  hinabhingen.  Scharrers 
jüngstes  Brüderlein  saß  auf  dem  Geschirr  und  hielt  sich  an  einem 
dieser  Quastenzipfel  der  Decke  fest.  Eben  als  Dieter  eintrat,  schrie 
er  ein  Wort,  das  dem  Besucher  unvergeßlich  im  Ohre  und  nach- 
mals zwischen  den  beiden  Freunden  sprichwörtlich  blieb.  > Fertig!« 
Aus  der  nebenliegenden  Küche,  deren  Tür  offen  stand,  eilte  eine 
hochgewachsene,  dürre  Frau  herbei,  da  sie  den  Gast  bemerkt  hatte, 
fluchte  ihr  Jüngstes  an  und  trug  das  Zappelnde  mitsamt  dem  Gefäß 
in  die  Küche,  von  wo  ein  langwieriges  Heulen  die  ganze  Dauer 
des  Dieter'schen  Besuches  begleitete. 

An  der  Fensterseite  des  Tisches  saß  in  einem  grauen  Schlaf- 
rocke, welcher  geöffnet  eine  schmutziggelbe  Jägerunterkleidung  und 
unter  deren  Lücken  eine  behaarte  Brust  sehen  ließ,  der  Herr  Zoll- 
amtsadjunkt Scharrer  bei  der  Zeitung.  Als  Dieter  eintrat,  wandte 
er  langsam  seinen  Blick  unter  den  Brillengläsern  dem  Besucher  zu 
und  starrte  ihn  an,  ohne  daß  dieser  genau  wußte,  ob  er  auch 
wirklich  wahrgenommen  werde.  Der  Mann  hatte  ein  Gesicht  von 
unbeschreiblicher  Mühseligkeit,  es  war  gleichsam  von  allem  An- 
beginn schon  alt  und  elend,  nun  durch  Sorgen,  Arbeit,  Amts- 
verdruß, durch  die  Anstrengung  der  geröteten  Augen  und  die 
unwillkürliche  Entspannung  aller  Kräfte  beim  häuslichen  Nichtstun 
doppelt  verdrießlich,  die  gerunzelte  Stirn  zwang  sich  zu  einer 
Strenge,  die  nur  kümmerlich  verdeckte  Schwäche  war,  die  grauen 
Augen  verrieten  jenes  Mißtrauen  der  beschränkten  Armut  gegen 
alles  und  jedes:  gegen  amtliche  Vorfälle,  gegen  sein  Weib,  das  ihn 
keifend  beherrschte  und  mit  dem  Gehalt  nicht  auskam,  er  war 
mißtrauisch  gegen  seine  Kinder,  die  zuviel  aßen  und  kosteten, 
gegen  die  Zeitung,  die  er  gleichwohl  nicht  einmal  um  sein  ganzes 
Frühstück  drangegeben  hätte,  mißtrauisch  gegen  die  Sonne,  die  ihn 
blendete,  gegen  die  Zeit,  welche  ihn  um  sein  Leben  betrog,  mit 
welchem  er  doch  nichts  anzufangen  wußte,  mißtrauisch  vor  allem 
gegen  diesen  neuen  Eindringling,  den  er  unter  seiner  Brille  mit 
schiefen  Blicken  musterte. 

Möglichst  unbefangen  ließ  sich  Dieter  vorstellen. 

Darauf  brummte  der  Alte:  »Zusammen  lernen  wollt  Ihr? 
Das  wird  was  werden!  Der  Toni  kann  schon  allein  nichts.  Was 
haben  Sie  für  Noten  gehabt?« 


—  28  — 

Nun  erhöhte  Dieter  seine  bescheidenen  Leistungen,  um  sich 
als  geeigneten  Mitstrebenden  darzustellen.  Aber  jede  bessere  Note 
diente  dem  Alten  nur  dazu,  dem  Toni  eine  zeternde  Mahnung  zu 
erteilen,  die  immer  mit:  »Da  siehst  du!<  begann. 

»Und  vom  Turnen  soll  ich  ihn  dispensieren  lassen!  Warum 
nicht  gar?  Das  Turnen  ist  doch  gesund,  in  der  Zeit  kommt  ein 
Lausbub  wenigstens  auf  keine  Schlechtigkeiten  Ic 

Dieter  antwortete  möglichst  unbefangen,  sein  Vater  habe  ihn 
gar  nicht  erst  einschreiben  lassen,  weil  er  von  diesem  Gegenstande 
nicht  viel  halte. 

»Warum  hält  denn  der  Herr  Vater  nichts  vom  Turnen ?< 
fragte  der  Zollamtsadjunkt  interessiert. 

Nun  log  Dieter  frischweg  und  mit  einer  Beredsamkeit,  die 
ihn  selbst  anfeuerte,  sein  Vater  sei  der  Meinung,  daß  für  die  Gesund- 
heit ein  bißchen  Spazierengehen  in  frischer  Luft  ausreiche,  während 
der  Körper  beim  Turnen  durch  die  Anstrengung  allzustark  angeregt 
werde,  so  daß  man  nur  mehr  Hunger  davon  bekomme  und  sich 
überesse.  Seinem  Vater  war  es  natürlich  weder  jemals  eingefallen, 
die  Rationen  seines  Buben  auch  nur  zu  bedenken,  noch  sich  um 
dessen  Freigegenstände  zu  bekümmern.  Dieter  befolgte  vielmehr 
selbst  den  Grundsatz,  der  Schule  nur  das  Notwendige,  nichts 
Überflüßiges  zu  opfern.  Die  eben  vorgebrachte  ökonomische 
Ansicht  seines  Vaters  erfand  er  nur,  weil  der  rasche  Einblick  in 
die  Scharrerschen  Verhältnisse  eine  besondere  Beachtung  der  Kost- 
portionen als  triftigsten  Grund  gegen  das  Turnen  empfahl.  Der 
leuchtete  auch  dem  Herrn  Steueramtsadjunkten  in  der  Tat  über- 
raschend ein,  er  schüttelte  nachdenklich  den  Kopf:  »Ja,  das  mit 
dem  Hunger  stimmt,  der  Toni  kann  nie  genug  kriegen,  der  Herr 
Vater  kennt  seine  Leute  und  scheint  ein  sehr  gescheiter  Mann  zu 
sein.  Wir  werden  sehen!» 

Mit  diesen  Worten  beschloß  er,  sorgsam  abgemessen  wie  ein 
König  die  Audienz  und  wandte  sich  wieder  seiner  Zeitung  zu. 
Dieter  und  der  Toni  blieben  ein  paar  Minuten  ratlos,  ob  sie  schon 
entlassen  seien,  oder  noch  einen  Befehl  nachträglich  zu  gewärtigen 
hätten. 

Vor  dem  Herrn  Scharrer  stand  aber  sein  zweitjüngsler 
Sprößling,  ein  etwa  sechsjähriger  Knabe  und  hatte  dem  Vater 
während  der  strengen  Anrede  unverwandt  nach  dem  Munde  gestarrt, 
welcher  so  bedeutendes  sprach.  Als  der  Vater  sich  wieder  der 
Zeitung  zuneigte,  verharrte  der  Kleine  angewurzelt  und  sah  weiter 


—  2y  — 

gierig  auf  ihn,  als  hungere  ihn  nach  mehr  Worten.  Dieser  Blick 
zwang  den  Lesenden  offenbar,  sich  nach  dem  stillen  Störenfried 
zu  wenden.  Wiederum  schaute  er  trag  und  streng  nach  dieser  Seit^ 
sah  ratlos  das  Kind  zu  seinen  Füßen  an,  dieses  ihn.  Keines  wußte, 
was  es  wollte.  Der  winzige  Kerl  blickte  so  alt  wie  der  breit  da- 
sitzende Vater  und  ebenso  öde,  bis  der  Erwachsene  zögernd  und 
mißtrauisch  begann:  »Was  willst  du?  Wie  schaust  du  denn  eigent- 
lich aus,  Fritz?  Du  schaust  aus  wie  der  Fladen,  den  die  Kuh  zer- 
treten hat,  so  ein  Gefrieß  hast  du!  t Dabei  lachte  er  mülfcelig  und 
wandte  sich  seiner  Lektüre  zu.  Nun  wußten  die  beiden  Gesellen, 
daß  sie  hier  nicht  mehr  benötigt  wurden.  Dieter  empfahl  sich  mit 
einer  schönen  Verbeugung  und  seinem  gewohnten  >guten  Tag« 
und  ging  rücklings,  von  Toni  gefolgt,  zur  Tür  hinaus. 

Unten  auf  der  Straße  schüttelten  sie  sich  vor  Lachen,  Dieter 
rief  eine  Stunde  lang:  >Fertig!<  und  Scharrer  lachte,  über  und 
über  rot  im  Gesicht,  mit. 

Zum  erstenmal  machte  sich  Dieter  über  seinen  Vater  Gedanken, 
indem  er  seine  Familie  der  Scharrer  sehen  gegenüberstellte.  Was 
er  für  sein  bescheidenes  Dasein,  sei  es  selbst  an  Überflüßigem 
benötigte,  bekam  er,  der  Vater  stellte  es  ohne  viel  Aufhebens  bei. 
Doch  gab  es  Väter,  die  in  Würde  bei  ihrer  Zeitung  saßen  und  sich 
selbst  im  speckigen  Schlafrock  auf  ihren  Stand  so  viel  zu  gut 
hielten,  daß  sie  sich  wie  Herren  benahmen,  aber  dafür  rechneten 
sie  den  Kindern  jeden  Bissen  vor.  Was  für  niedrige  Dienste 
mußten  diese  Beamten  tun  und  wie  verächtlich  mußte  ihre  Arbeit 
eingeschätzt  werden,  wenn  sie  ihnen  nicht  einmal  das  Nötigste 
einbrachte.  Und  wie  dumm  mußte  einer  sein,  einen  solchen  Beruf 
noch  gar  als  Ehre  zu  betrachten.  So  schaute  also  ein  Beamter  aus ! 
Dieter  vergegenwärtigte  sich  den  Staat  unwillkürlich  in  dem  selbigen 
Bilde,  das  sich  ihm  oben  beim  Scharrer  dargestellt  hatte.  Ein 
würdevoller  Hungerleider  thront  auf  einem  durchlöcherten  Amtsstuhl, 
neidet  seinen  Kindern  den  Bissen  und  schielt  unter  den  Brillen- 
gläsern hervor,  ob  niemand  es  vor  seinem  Schmutz  an  Respekt 
fehlen  läßt. 

Zum  erstenmal  erkannte  Dieter  den  Widerspruch  zwischen 
der  Art  und  der  bürgerlichen  Stellung  seines  Vaters,  der  ja  nur 
der  Diener  eines  wissenschaftlichen  Vereines  war,  und  daß  es  jeder 
Mensch  in  der  Macht  hat,   frei  zu  sein,   wenn  er  sich  nicht  selbst 


—  30  — 

an  die  Niedrigkeit  bindet.  Sein  Vater  blieb  der  Dieter,  der  es  war, 
neben  jedem  Hofrat  und  Professor,  wo  aber  blieb  der  Herr  Zoll- 
amtsadjunkt  Scharrer,  wenn  man  seinen  Titel  von  ihm  abzog,  der 
seine  Haut  und  seine  Seele  ausmachte. 

Sein  Vater  war  niemals  zu  bestimmten  Stunden  daheim, 
niemals  saß  er  über  einer  Zeitung  oder  schielte  nach  seines  Sohnes 
Schularbeiten,  oder  höhnte  ihn  mit  einem  lauernden:  „Siehst  du!* 
Unversehens  stand  er  wie  aus  dem  Boden  gewachsen  da,  um 
ebenso  Uutlos  wieder  zu  verschwinden  und  machte  von  seinen 
vielen  Geschäften  kein  Aufhebens.  Daheim  hatte  er  für  Schlafröcke 
keine  Zeit,  indem  er  alle  Werkzeuge  des  Tischlers,  Schlossers, 
Schneiders  und  Schusters  in  Bewegung  setzte,  weshalb  auch  jeder 
Stuhl  sauber  instand  war.  Gab  es  daheim  einen  Schmutz,  so  war 
es  der  ehrliche  Schmutz  der  Handarbeit  und  gereichte  darum  nicht 
zur  Schande,  bei  den  Scharrers  hingegen  wars  der  Beamtenschmutz, 
der,  ein  Produkt  aus  schlechter  Nahrung,  schlechter  Arbeit  und 
schlechter  Gesinnung  in  verfallener  Enge,  jedem  freien  Menschen 
in  die  Nase  stinkt,  während  seine  Urheber  gar  nichts  davon  merken 
oder  ihn  am  Ende  noch  für  was  Feineres  halten,  das  als  Wildpret 
von  rechtswegen  so  duften  darf. 

Beim  Vergleich  mit  der  Scharrer- Wirtschaft  vergegenwärtigte 
sich  Dieter,  sonst  nicht  eben  zu  Empfindsamkeit  geneigt,  mit  einer 
gewissen  Rührung,  wie  der  Vater  ihm  das  nötige  Geld  mitzuteilen 
pflegte.  Täglich  bekam  Dieter  vier  Kreuzer,  um  Brot  und  einen 
Frühstücksapfel  zu  kaufen,  einmal  wöchentlich,  wo  er  wegen  des 
Nachmittagsunterrichtes  die  Jause  versäumen  mußte,  zehn  Kreuzer. 
Davon  ersparte  er  sich  mindestens  die  Hälfte  für  seine  privaten 
Bedürfnisse  an  Indianerbüchern,  Marken,  Bleistiften,  Angeln  und 
dergleichen.  Aber  der  Vater  wußte  gar  wohl,  daß  ein  Bub  manchmal 
ein  Sechserl  für  dies  und  jenes  benötigt,  wovon  ein  Vater  nichts 
ahnt,  noch  zu  ahnen  braucht.  Darum  gab  er  ihm  gelegentlich  ein 
paar  Silbermünzen,  ohne  jemals  nach  der  Verwendung  zu  fragen. 
Wenn  Dieter  aber  in  besonderer  Verlegenheit  und  bei  dringlichen 
Anlässen  sich  ein  Herz  faßte  und  den  Vater  um  Geld  bat,  sagte 
dieser  nicht  etwa:  >Wozu  brauchst  du  denn  schon  wieder  so  viel?«, 
oder  „was  willst  du  damit?«  oder  >ich  bin  ein  armer  Mann  und 
du  darfst  mir  nicht  mit  solchen  Prassereien  anliegen,  kommst  mich 
ohnedies  teuer  genug  zu  stehen«,  sondern  er  schüttelte  stets  bereit- 
willig sein  mageres  Geldbeutelchen  auf  den  Tisch,  daß  die  Silber- 
gulden,  Zwanziger  und  Sechserin,  Vierkreuzer-  und  Kreuzerstücke 


3i 


herausrollten  und  klaubte  nun  die  erforderliche  kleine  Münze  zu- 
sammen, was  immer  einige  Mühe  und  Zeit  kostete.  Daran  mochte 
Dieter  erkennen,  daß  der  Vater  selbst  das  kleine  Geld  nicht  ohne 
Schwierigkeit  zustandegebracht,  wie  er  es  auch  jetzt  genau  zu- 
sammenlas. 

.Ebensowenig  sollte  Dieter  aber  knauserig  etwa  Ersparnisse 
anlegen  oder  Schätze  sammeln,  um  sie  irgendwann  wie  ein  Feuer- 
werk zu  unnötiger  Prahlerei  abzubrennen.  Darum  pflegte  der 
Vater,  wenn  er  gerade  nur  ganze  oder  halbe  Guldeu  und  keine 
kleine  Münze  bei  sich  hatte,  ein  soldies  Silberstück  darzureichen, 
eine  größere,  als  die  gewohnte  und  erbetene  Beisteuer  und  vorerst 
mit  ganz  verborgenem  Lächeln  zu  fragen:  »Kannst  du  vielleicht 
wechseln?«  Dann  verneinte  Dieter  natürlich  immer,  was  gel^entlich 
nicht  der  Wahrheit  entsprach.  Doch  brauchte  er  sich  aus  solcher 
Lüge  kein  Gewissen  zu  machen,  denn  die  Frage  hatte  nur  sinn- 
t)ildliche  Bedeutung. 

Wenn  ihm  aber  ein  Geschäft  geglückt  war,  oder  wenn  er 
einem  Landsmann  hier  in  der  Stadt  zu  etwas  Rechtem  verholfen, 
beschaffte  sich  der  Vater  von  der  Münie  Silberstücke  neuester 
Prägung,  die  in  uOTcrührtem  Glänze  schimmerten  und  verehrte 
eines  dem  Buben  zur  Überraschung.  Es  würden  auf  der  Welt  weit 
bessere  Werke  getan,  wenn  man  nicht  jedem  geschenkten  Gulden 
auf  den  ganzen  Weg  nachschauen  möchte,  den  er  rollt  At>er  die 
Welt  will  gemeiniglich  sehen,  woher  alles  kommt,  wohin  alles  geht, 
jeden  Vogel  will  sie  fangen  und  glaubt,  sie  brauchte  ihm  nur  Salz 
auf  den  Schwanz  zu  streuen,  darum  ist  ihr  auch  jede  Wahrheit 
noch  beizeiten  entflogen. 

Dieter  hatte  einen  Freund  gewonnen  und  damit  die  raicht, 
ihn  aus  dem  Gestank  in  die  freie  Luft  zu  führen  und  ihm  die 
Schande  seiner  Herkunft  zu  nehmen. 

Natürlich  zeigte  Dieter  dem  Toni  die  alte  Aula  mit  allen 
ihren  Herrlichkeiten,  das  leuchtende  Bild  der  Fakultäten,  welches  den 
Festsaal  schmückte,  das  hohe  Beratungszimmer  der  Senatoren, 
wo  sie  auf  den  Lehnstuhlen  vor  dem  Kachelofen  ihre  Ziga- 
retten schmauchten.  Das  Schönste  aber  war  auf  dem  Dache  zu 
sehen,  wo  Dieter  die  ganze  einsame,  offene  weite  Welt  endeckt  und 
sich  eigen  gemacht  hatte. 

An  einem  Frühlingstage  führte  er  gespannt,   ernst,  feierlich 


—  32 


schweigsam  den  Toni  zum  Dachboden  hinauf,  durch  eine  Falltüre 
ins  Freie. 

Die  große  Fläche  des  mächtigen  Gebäudes  war  nicht  ein- 
heitlich, sondern  von  etlichen  nebeneinanderlaufenden,  niedrigen 
Schieferdreiecken  gedeckt.  In  der  Mitte  aber  gab  es  zwei  Kuppeln 
aus  Kupferblech,  das  sich  von  innen  verschieben  ließ,  um  der 
kleinen  darunterliegenden  Sternwarte  den  Anblick  des  funkelnden 
Nachthimmels  zu  eröffnen.  Auf  eine  dieser  Kuppeln  hinaufzu- 
kriechen,  bedeutete  den  Höhepunkt  des  Dachglückes  im  wörtlichen, 
wie  im  übertragenen  Sinne,  indem  man  an  der  Nabe  dieser  Halb- 
kugel beim  Sitzen  sich  anhaltend,  weithin  über  die  ganze  Stadt 
sah,  wie  sie  an  dem  einen  Ufer  der  silbrigen  Donau  im  zerwühlten 
Gedräng  ihrer  Häuser  sich  häufte  und  streckte. 

lu  der  Nähe  schoben  sich  die  Dächer  zusammen,  rote, 
schwarze,  graue,  hohe  und  flache  und  Fenster,  die  vom  Licht  ge- 
troffen, einen  menschlichen  Blick  zu  haben  schienen,  da  Menschen 
hinter  ihnen  hausten,  deren  Tun  allen  Dingen  menschliche  Seelen- 
haftigkeit  mitteilt,  First  ragte  an  First,  ein  Giebel  überkletterte  den 
andern  oder  griff  ihm  doch  nach.  Ein  hin-  und  wiederströmender 
Atem  schien  durch  diese  Masse  zu  gehen,  die  in  ihrer  Ruhe  bebte, 
wie  ein  lagerndes  Tier,  dessen  Flanken  zittern.  Der  ferne  Ton  des 
Lebens,  das  unten  mit  tausend  lauten  bestimmten  Geräuschen 
geschah,  verdünnte  sich  hier  oben  zu  einem  leisen  Summen,  ähnlich 
wie  das  Wehen  eines  Feldes,  in  welchem  Insekten  surren.  Größer 
und  kleiner  war  die  Welt  hier  als  eine  Wiese.  Die  Gassen  und 
Plätze  verloren  sich  ineinander,  Bezirke  und  Viertel  waren  nur 
etwa  an  besonderen  Zeichen  kenntlich,  die  gleich  ausgesteckten 
Fahnen  einen  Heerhaufen  vom  andern  unterschieden.  Das  blitzende 
Kreuz  des  Stephansturmes  meinte  man  greifen  zu  können  und  sah 
es  von  Falken  umflogen. 

Im  ausgebuchteten  Rand  einer  silbergrauen  Fläche  lag  die 
Stadt  wie  in  einer  Schale.  Ferne  schienen  die  Gebäude  wie  weiße 
Tropfen  an  den  Geländen  zu  verrinnen,  während  Anhöhen  den 
dunklen  Rand  bilden.  Dort  begannen  die  Wälder,  verbreiteten  sich 
gegen  Westen  und  verloren  sich  ins  Unabsehbare,  wo  etwa  ein 
Silberlicht  von  Schnee  fragen  ließ,  ob  Wolken  oder  Berge  an  den 
Himmel  grenzten. 

Die  Blicke  flogen  wie  Vögel  über  alle  Striche  dieses  dicht- 
besiedelten   Gefildes,    fremd    und    vertraut,    als   schauten    nicht 


—  33 


Menschen-,  sondern  Vogelaugen  hinab,  sättigten  sich  an  dem 
Unendhchen,  streiften  drüber  hin  und  nippten  hier  ein  Schlückchen 
Erkennen,  dort  ein  Bißchen  Lust  und  Rätselraten. 

Die  beiden  Knaben  hingen  über  der  Stadt  wie  zwei  Lerchen 
über  dem  atmenden  Busen  eines  Feldes,  vom  gewaltigen  Hauch 
getragen  und  verweht,  benommen  und  verwegen  und  trunken.  Das 
Schauen,  die  Sommerluft,  blauer  Himmel,  Rauch  und  femer  Lärm, 
der  scharfe,  um  die  Ohren  sausende  Wind  drangen  über  sie,  die 
an  der  Nabe  einer  kreisenden  Erde  kauerten.  Gegen  ihre  winzigen 
Leiber  war  der  Riesenkörper  der  Stadt  wie  in  einem  Ringen  von 
unt>ekannter  Gefahr  und  Wollust  gepreßt. 

Endlich  bezwang  sie  die  beklemmende,  unerträgliche  Spannung 
dieser  Minuten  und  Dieter  flüsterte:  »Jetzt  wollen  wir  hinunter.< 
Es  galt  nun,  die  Kuppel  entlang,  aufs  Dach  hinabzurutschen  und 
von  da  die  Falltür  zu  erreichen.  Toni,  der  den  Anblick  dieser 
Höhe  zum  erstenmal  erlebt,  war  nicht  wie  Dieler  auch  mit  seinem 
angstvollen  Taumel  vertraut.  Der  Trunk  der  Augen  hatte  ihm  Be- 
sinnung und  Gleichgewicht  geraubt.  Er  ließ  die  Nabe  los,  verlor 
die  Sicherheit  und  kollerte  die  Kuppel  hinab,  statt  zu  rutschen. 
Entsetzt  sah  ihn  Dieter  stürzen  und  wußte  in  einem  Augenblick, 
welcher  eine  Ewigkeit  in  sich  ziKammenzwängte,  daß  sein  Freund 
des  Todes  war,  wenn  er  unten  am  Dache  das  Gleichgewicht  nicht 
wiederfand,  sondern  weiterrollte. 

In  einer  Gegenwart  des  Geistes,  die  er  nachmals  selber  nicht 
begriff,  fuhr  er  ihm  blitzschnell  nach  und  faßte  ihn,  der  besinnungslos 
eben  am  Rande  des  Daches  hieng,  bei  den  Haaren  und  hielt  ihn. 
Damit  waren  sie  beide  gerettet.  Toni  schmiegte  sich  schluchzend 
an  seinen  Kameraden  und  weinte  unaufhaltsam.  Und  voll  Scham 
verriet  er,  was  er  bisher  in  seiner  Eitelkeit  verborgen  hatte: 

>Ich  kann  nicht  so  herumsteigen,  klettern  und  laufen  wie 
du,  ich  wollte  es  dir  nur  nicht  sagen.  Hast  du  es  denn  nicht  be- 
merkt? Ich  habe  nur  ein  Auge.  Wenn  ich  dirs  gesagt  hätte,  dann 
hättest  du  mich  ausgelacht.  Aber  jetzt  weißt  du 's,  ich  kann  ja 
nichts  dafür.<  Damit  faßte  er  unter  sein  linkes  Augenlid  und  nahm 
ein  blaues,  gut  gearbeitetes  Glasauge  aus  seiner  Höhle,  die  darunter 
leer  und  rot  gähnte. 

Dieter,  der  wohl  noch  nie  von  solchen  Gebrechen  gewußt 
und  darum  auch  den  starren  Ausdruck  dieses  unbeweglichen  linken 
Auges  bisher  nicht  wahrgenommen  hatte,   schlug  ihm,   rasch  be- 


—  34  — 

si^micn,  aber  unter  rräneii  in  seinen  zwei  [gesunden  Augen,  auf 
die  Schulter:  'Du  siehst  drum  auf  einem  Auge  für  zwei  und  mehr 
als  ich,  denn  icli  habe  bis  heute  nicht  einmal  dich  ordentHch  an- 
geschaut.« 

Der  Toni  hatte  dieses  Aug  eingebül5t,  als  er  nach  dem  Tode 
seiner  Mutter,  der  ersten  Frau  des  Herrn  Scharrer,  bei  einer  bösen 
Pflegerin  erkrankt  war.  Dies  und  anderes  Erbe  von  Leid  und  Elend 
machte  sein  junges  Leben  kurz,  heiß,  begierig  und  schwer  und 
würgte  es  \or  der  Zeit  hin,  die  sonst  einem  Menschen  vergönnt  ist. 

Sie  gingen  dann  still  und  bedrückt  über  die  hohe  Stiege 
der  Aula  hinab  und  sprachen  nichts.  Als  sie  Abschied  nahmen, 
schenkte  Toni  dem  Dieter  die  einzige  Kostbarkeit,  welche  er  besaß, 
eine  Zigarettenbüchse  aus  schwarz  lackiertem  Holz,  auf  welcher  ein 
rumänischer  Krieger  abgebildet  war,  der,  seines  Landes  Fahne 
schwenkend  auf  einen  besiegten  Türken  trat.  Toni  hatte  diese 
Dose  von  seinem  großen  Bruder  bekommen,  dem  Matrosen,  und 
gab  mit  ihr  das  Schönste,  was  er  hatte,  dem  Freunde,  der  nun 
alles  von  ihm  wußte. 

Dieters  Blick  hatte  heute  über  der  Erde  gehangen  und  war 
in  den  leeren  Abgrund  niedergetaucht.  Es  gehörte  die  Kraft  der 
Jugend  dazu,  sich  aus  solcher  grauenhaften  Tiefe  wieder  aufzu- 
schwingen, die  Federn  zu  schütteln,  die  eben  sich  im  Strom  des 
Verderbens  genetzt,  und  von  neuem  die  munteren,  hohen  Flüge  zu 
beginnen. 


Der  Erwartungslose 

Von  Grete  Wolf 

Dies  ist  ein  Tag  .  .  .  Und  noch  ein  Tag  ...  So  rollen 
Sie  ungezählt  zum  All,  das  sie  gesandt. 
Vom  Tag  ist  zur  Unendlichkeit  sein  Wollen 
Und  seine  Seele  flugleicht  hingespannt. 

Sein  Wissen  geht  die  stillen  dunklen  Wege. 
Tieiquellend  aus  der  Wesenheiten  Schoß: 
Gott  du  bist  groß  — 
Wer  bin  ich,  daß  mein  Wille  dich  bewege! 


—  35  — 

Pferderennen 
Von  Berthold  Viertel 

Still  zieht  mein  Blick  mit  diesem  Rudel  Reiter 
Im  fernen  Grün:  der  noch  geschlossen  dicht, 
Wie  spielend  hinläuft,  dort  im  Bogen  weiter, 
Dann  näher  kreist,  nun  in  die  Nähe  bricht. 

Da  kommen  sie,  über  den  Mähnen  liegend. 
Sich,  Mann  und  Tier,  hinwerfend  durch  die  Zeit, 
Noch  alle  wollend,  und  noch  keiner  siegend  — 
Und  plötzlich  weiß  mein  Herz  die  Schnelligkeit. 

Und  jetzt:  ein  braunes  mit  befreitem  Sprunge 
Durchdringt  den  Rudel  —  ungehemmt  davon! 
Es  hat  den  Sieg  im  tibersichern  Schwünge 
Und  trägt  ihn  weit  vor  allen  schon. 

Der  Rudel  ist  entwirrt  —  ein  Zweiter, 

Ein  Dritter  reißt  sich  vom  verstrickten  Feld. 

Im  Fluge  horcht  zurück  der  erste  Reiter, 

Der  schon  sein  Tier  mit  leichten  Händen  hält. 


Meine  Wiener  Vorlesung 

Am  3.  Mai  hat,  ohne  Presse  und  ohne  eine  andere 
Ankündigung  als  durch  den  Umschlag  der  ,Fackel'  und 
trotz  der  Schranke  eines  weitläufigen  Verfahrens,  das 
nur  angemeldeten  Besuchern  den  Eintritt  ließ,  vor 
einem  dichtbesetzten  Saal  meine  erste  Wiener  Vor- 
lesung stattgefunden.  Das  Programm  umfaßte  eine  un- 
gedruckte Schrift  »Heine  und  die  Folgen«  und  »Die 
chinesische  Mauer«;  ich  mußte  aber  auch  »Die  Welt 
der  Plakate«  lesen. 

Wiewohl  an  die  Presse  keine  Einladung  ergangen 
war,  ließ  es  sich  die  Arbeiter-Zeitung  nicht  nehmen, 
den  folgenden  Bericht  erscheinen  zu  lassen: 

Vorlesung  Karl  Kraus.  In  einem  vom  Akademischen  Verband 
für  Literatur  und  Musik  veranstalteten  Abend  trat  Dienstag  abends  Karl 


—  36  — 


Kraus,    der  Herausgeber    der  .Fackel',    als  Vorleser  auf.     Kraus,    der 
sicherlich  zu  den  stärksten  schriftstellerischen  Talenten  Wiens  zählt,  ist 
hier,    soweit  die  Öffentlichkeit  durch  die  Zeitungen   repräsentiert  wird, 
fast  unbekannt;     aber  aus  seiner  teüs  selbstgewoUten,    teils  aufgedrun- 
genen Einsamkeit  übt  er  dennoch  starke  Wirkungen  aus.    Er  las  zuerst 
einen  une^edruckten  Essai :  Heine  und  die  Folgen.  Kraus  betrachtet  Heine 
ausschließlich  als  Artisten:  in  welcher  Einschränkung  aber  eigentlich  die 
Beschränktheit  des  eigenen  Gesichtskreises  sichtbar  wird.  Heines  >Folgen« 
sind  danach  die  Feuilletonisten,     die  Stilschwindler,     die  in  Heine  das 
Vorbild  der  Beherrschung  der  Form  bekommen  haben,  welche  es  ihnen 
nun    so   leicht   mache,     ihre   innere  Armseligkeit,    ihre   unkünstlerische 
Ideenlosigkeit  als  Geist,    Stimmung,    Psychologie,    kurz   als   Kunst   zu 
servieren.     Heines  Ruhm  beruhe  auf  Eindrücken  der  Jugend,    aber  die 
»Folgen<    liegen    doch   schon   in  ihm:     in    seiner    manierierten  Poesie 
(Kraus  läßt  von  Heine  nur  die  Lyrik  des  Todes  gelten),  in  seinem  Witz 
ohne  Anschauung,    in    seinem    ganzen  Wesen,    das    kein    schöpferisch- 
künstlerisches,   nur  ein  journalistisches  war.     Das   alles   trägt  Kraus  in 
einer  Sprache  vor,  die  von  Geist  und  Witzen  geradezu  funkelt.  Vielleicht 
zu  sehr,    als  daß  ein  starker  und  sich  einbohrender  Eindruck  entstehen 
könnte.     Es    ist    das    besondere    Talent    dieses    Sprachkünstlers,    seine 
Gedanken  in  Antithesen  vorzutragen,  sie  in  einem  Gleichnis  ausströmen 
zu  lassen,    in   einem  Bilde  gleichsam  zusammenzuballen.     Das  ist  oft 
ungemein  anscnaulich  und  man  hat  nicht  selten  das  Gefühl  einer  blitz- 
artigen Erhellung:     als  ob   das   Bild   ebenso    das  Notwendige  wie   das 
Endgiltige  ausdrückte.    Aber  damit  der  Geist  der  Gedanken  voll  wirke, 
muß  sich   der  Geist  der  Worte  freiwillig  beschränken;     sonst  erdrückt 
dieser   jenen.     Indem  Kraus    darauf   verzichtet,    dem   Leser    auch    den  * 
gedanklichen  Prozeß  zu   bieten,    ihm    nur    das   Ergebnis   vorlegt,     den 
Gedanken  nicht  beweist,  sondern  herrisch  aufnötigt,  zwingt  er  die  Leser 
zwar  in  den  Bann  seiner  Sprachkraft,    entläßt  sie  aber  ohne  jenes  liefe 
Behagen,    das   sich   nur   beim  Mitdenken,    das  auch  ein  Miterleben  ist,  - 
einstellen  kann.  Seine  Überfülle  der  geistreichen  Worte  beunruhigt,  und 
man  wird  die  Empfindung  nicht  los,  als  ob  man  von  den  schillernden 
Antithesen  einfach  überrumpelt  und  vergewaltigt  würde.  Das  hängt  ohne 
Zweifel  damit  zusammen,  daß  Kraus  eine  fast  schwärmerische  Verehrung 
vor  der  Sprache  hegt.     Sicherlich  ist  ein  Schriftsteller,    der  den  sprach- 
lichen Edelgehalt  so  ernst  nimmt,  in  unserer  Zeit  der  Sprachverhunzung 
eine  beachtenswerte  Erscheinung;  aber  Selbstzweck  darf  der  sprachliche 
Glanz  und  Prunk  doch  nicht  sein;  mehr  als  das  Material,  aus  dem  der' 
Künstler  sich  die  Form  seiner  Gedanken  holt,     darf   die  Sprache  nicht 
werden.     Das   ist    die  Gefahr:    daß  aus   dem  Sprachkünstler  ein  Wort- 
virtuose  wird.  Und  was  Kraus'  Schroffheit  in  der  Verurteilung  der  Presse 
als  wirkender  Unkultur   betrifft,    so  liegt   ihr,    von   der  häßlichen  und 
törichten  Ungerechtigkeit  dieses  verallgemeinernden   Urteils  ganz   abge- 
sehen,   ebenso   eine  Überschätzung  wie  eine  Unterschätzung  zugrunde. 
Denn  jene  gerissenen  Psychologen  ergeben  beileibe  nicht  die  Institution, 
und  daß  der  Zeitungsinhalt,  über  die  Vermittlung  des  Stofflichen  hinaus, 
nicht  künstlerisch  geformt  werden  könnte,  ist  gewiß  nicht  wahr;    ohne 
den  Ruhm  der  LTnsterblichkeit  in  Anspruch  zu  nehmen,  kann  ein  Jour- 


37  — 


nalist  auch  ein  guter  Schriftsteller  sein.  Übrigens  müßte  die  Kritik  hier 
viel  tiefer  schürfen;  von  jener  geistigen  Verderbnis  ist  Heinrich  Heine 
weit  weniger  die  Ursache  als  der  Kapitalismus,  der  die  geistige  Pro- 
duktion, genau  wie  die  Produktion  der  materiellen  Güter,  zu  einer 
Produktion  von  Waren  gemacht  hat  .  .  .  Dem  Heine-Essai  folgte  »Die 
chinesische  Mauer  <,  eine  an  die  Ermordung  der  Else  Siegel  im  Chinesen- 
viertel in  New-York  anknüpfende  Phantasie,  die  mit  stellenweise  dämo- 
nischer Kraft  die  europäische  Qeschlechtsmorat  verhöhnt.  In  dem  über- 
füllten Saale  war  viel  begeisterte  Jugend  anwesend,  der  Beifall  stürmisch, 
der  Enthusiasmus  ehrlich.  Für  den  Schriftsteller,  der  sich  Feinde  freudiger 
erwirbt  als  Freunde,    bildete  der  interessante  Abend   eine  Genugtuung. 

f.  a. 

Diese  Kritik  ist  in  jeder  Hinsicht  erfreulich.  Nicht 
weil  ich  nach  ihr  >zu  den  stärksten  schriftstellerischen 
Talenten  Wiens  zähle« ;  nennte  sie  mich  das  stärkste, 
müßte  ich  noch  immer  nicht  in  Größenwahn  verfallen. 
Aber  sie  ist  wertvoll,  weil  sie  mir  mit  jedem  Wort  ein 
Beispiel  gibt  für  das,  was  ich  sage  und  worein  sie  nicht 
dringt.  So  weit  entfernt  vom  Sprachproblem  und  damit 
von  Inhalt,  Form,  Tendenz  und  Thema  des  Vortrags 
sie  ihre  intelligente  und  anständige  Meinung  sagt,  so 
deutlich  steckt  sie  die  Grenze  ab,  die  das  beste  Auf- 
gebot von  Scharfsinn  und  Ehrlichkeit  noch  immer 
von  einem  tieferen  Erfassen  der  Kunstdinge  trennt. 
Dieses  tiefere  Erfassen  dem  programmgemäßen  Auf- 
spüren kapitalistischer  Verderbnismotive  gegenüberzu- 
stellen, hat  freilich  wenig  Wert.  Eine  Verständigung 
zwischen  der  Logik  und  der  Kunst  gibt  es  nicht,  denn 
die  Logik  versteht  alles,  nur  nicht  das  eine,  daß  es 
der  Kunst  nicht  darauf  ankommt,  verstanden  zu  werden. 
Daß  es  sich  ihr  nicht  darum  handelt,  dem  Leser  einen 
Gedanken  zu  »beweisen«,  weil  ein  Beweis  kein  Ge- 
danke ist;  und  daß  sie  den  Gedankenprozeß  mit  Aus- 
schluß der  Öffentlichkeit  durchführt,  weil  die  Zumutung, 
die  Leser,  alle  Leser  atif  einmal,  »mitdenken«  zu 
lassen,  eine  trostlose  demokratische  Forderung  ist. 
Wenn  man  so  alles  coram  publico  bereinigen  sollte, 
das  gäbe  eine  schöne  Schweinerei  auf  dem  Forum! 
Allen  wäre  zuletzt  die  Sache  klar,  nur  mir  nicht. 
Die  Kritik  streift  hier  ahnungslos  das  Problem  selbst :  daß 
die  Gaben  der  Kunst  mit  den  Aufgaben  des  Journalis- 
mus    verwechselt    werden.     Er    ist    dazu    da,    den 


—  38  — 

>Miterlebenden«  ein  Vergnügen  zu  verschaffen;  sie 
dient  den  Nacherlebenden.  Vor  der  Gefahr,  daß  aus 
dem  Sprachkünstler  ein  Wortvirtuose  wird,  kann  nur 
warnen,  wer  das  Sprachproblem  als  Formproblem 
mißversteht.  Dann  aber  müßte  er  sich  eigentlich 
wundern,  daß  jener  sich  gerade  das  Artistentum  Heines 
vorgenommen  hat.  Denn  der  Artist  Heine  wird  nicht 
vom  Politiker  getrennt,  sondern  vom  Künstler.  —  Immer- 
hin beschämt  solche  Kritik,  die  nicht  schweigt  und  doch 
den  Kunstwert  stark  genug  fühlt,  um  an  ihm  nicht 
ein  durch  alte  Polemik  erhitztes  Mütchen  zu  kühlen, 
durch  Klugheit  und  Gewissenhaftigkeit  die  ganze  stumme 
Preßrache  Wiens. 

Sonst  erschien  nur  noch  in  der  Berliner  Wochen- 
schrift Der  Sturm  —  in  der  Nr.  12,  die  auch  einen 
Essay  von  Else  Lasker-Schüler  über  mich  und  dazu 
eine  Zeichnung  von  Oskar  Kokoschka  brachte  —  von 
einem  mir  unbekannten  Autor  ein  Bericht,  dem  hier 
einige  Stellen,  entnommen  werden: 

Die  Wiener  Vorlesung  Karl  Kraus 
Am  3.  Mai  hielt  Karl  Kraus  zum  ersten  Mal  in  Wien  eine  Vor- 
lesung aus  eigenen  Schriften.  Die  ganz  exzeptionelle  Bedeu- 
tung des  Herausgebers  der*  .Fackel'  an  dieser  Stelle  .darzu- 
legen, wäre  überflüssig.  Wer  den  , Sturm'  liest,  kennt  auch  Karl 
Kraus,  kennt  seine  unübertreffliche  Sprachkunsf,  sein  unheimliches 
Temperament  und  seine  noch  unheimlichere  Treffsicherheit; 
weiß,  daß  Kraus  der  erste  Satiriker  Österreichs  ist,  umjubelt 
von  fanatischen  Anhängern  und  gefürchtet  von  seinen  Gegnern, 
denen  keine  andere  Waffe  gegen  seine  wuchtigen  Angriffe,  seinen 
schneidenden  Hohn,  seine  zermalmende  Verachtung  zu  Gebote  steht, 
als  ein  starres,  ununterbrochenes,  impotentes  Schweigen  .  .  .  Daß  dieses 
Schweigen  nutzlos  ist,  bewies  die  Vorlesung.  Der  Saal  war  überfüllt, 
als  Karl  Kraus  das  Podium  betrat  und  zu  lesen  begann.  Der  Ausdruck 
der  scharfen  Züge  ist  kühl,    spöttisch,  überlegen.    Und  bevor  Kraus  zu 

sprechen  beginnt,  weiß  man,  daß  seine  Stimme  klar  und  scharf  ist 

Dann  las  Kraus  >Die  chinesische  Mauer«,  seine  schnell  berühmt 
gewordene  Arbeit,  in  der  er  das  Problem  der  beiden  Rassen  von  allen 
Seiten  beleuchtet.  Man  kennt  den  wuchtigen  Anfang,  der  dröhnend  und 

unvermittelt  niederfährt,  wie  ein  einschlagender  Blitz Kraus  arbeitet 

hier  mit  den  einfachsten  Mitteln  und  beweist  dadurch  seine  große 
Künstlerschaft.  Außerordentlich  fesselnd  war  es,  den  Vorlesenden  zu 
beobachten.  Wie  sein  Gesicht  starr  und  drohend  wurde;  wie  seine 
Schultern  sich  raubtierartig  hoben;  wie  seine  Rechte  in  kurzen  Rucken 
über  den  Tisch  zuckte,  sich  ballte,  sich  um  eine  unsichtbare  Gurgel  zu 


—  39  — 

krallen  schien,  den  Niagara  von  Worten  gestaltete,  der  auf  die  atemlos 
horchenden  Menschen  niederbrauste,  bis  zu  jenem  titanenhaften  Schluß,  in 

4em  die  angestaute  Hochflut  sich  befreit  und  majestätisch  ausbreitet 

Da  der  Beifall  nicht  end«n  wollte,  entschloß  sich  Kraus  zu  einer  Zugabe: 
Er  las  »Die  Welt  der  Plakate«,  diese  witzige  Betrachtung  voll  souveränen 
Humors.  Alles  in  allem:  ein  außerordentlicher  Abend,  getrübt  nur  durch 
den  beschämenden  Gedanken,  daß  man  es  so  lange  versäumte,  die 
Schönheit  Krausscher  Sprachkunst  verbunden  mit  der  Schönheit  Kraus- 
scher Sprechkunst  auf  sich  wirken  zu  lassen.  Denn  nicht  Kraus  ist 
schuld,  daß  dies  seine  erste  Vorlesung  in  Wien  war,  sondern  Wien. 

Mirko  Jelusic 

Die  Vorlesung  wird  am  3.  Juni  in  Wien,  im  Herbst 
in  mehreren  deutschen  und  österreichischen  Städten 
wiederholt  werden. 

Philosophen 
Von  Karl  Kraus 
Ich  preise  mich  im  Besitz  der  Midasgabe,  daß  jede  Stelle 
eines  Journals,  einer  Zeitschrift,  eines  Verlegerprospekts,  die  nur 
mein  Finger  berührt,  Blech  ist.  Ich  könnte  ein  Literaturblatt 
mit  geschlossenen  Augen  lesen  —  ich  revidiere  diese  ganze 
Schmach  seit  elf  Jahren  mit  unausgeruhtem  Hirn,  das  glücklich 
wäre,  wenn  keine  neuen  Mißeindrücke  es  zur  Reaktion  zwängen. 
Ich  tippe  nur  so  durch  die  Kolumnen,  und  ein  ganzer  Schwärm 
von  Dummheit  erfüllt  mir  das  Zimmer,  ein  ganzer  Schwaden  von 
jener  hundsgemeinen  Intelligenz,  die  verderblicher  ist  als  ein 
Kometenschweif,  verpestet  mir  die  Luft.  Und  aus  dem  letzten 
Eckchen  eines  Zeitungsblattes,  das  noch  unter  meiner  Lektüre 
liegt,  lugt  mir,  da  ich  sie  durchfliege,  schon  die  Judasfratze 
des  Jahrhunderts  hervor,  immer  dieselbe,  ob  es  sich  um  den 
Journalisten  oder  den  Mediziner,  den  Hausierer  oder  den  Sozial- 
politiker, den  Spezereikommis  oder  den  Ästheten  handelt.  Immer 
derselbe  Stupor,  vom  Geschmack  gekräuselt  und  mit  Bildung 
gefettet.  Im  Frisiermantel  der  Zeit  sind  alle  Dummköpfe  gleich, 
aber  wenn  sie  sich  dann  erheben  und  von  ihrem  Fach  zu  reden 
beginnen,  ist  der  eine  ein  Philosoph  und  der  andere  ein  Börsen- 
agent. Ich  habe  diese  unselige  Fähigkeit,  sie  nicht  unterscheiden 
zu  können,  und  ich  agnosziere  das  Urgesicht,  ohne  daß  ich  mich 
um  die  Entlarvung  bemühe.  So  wie  ich  auf  der  Straße  einen 
Redner  von  hinten  nach  der  Stimme  feststelle,  die  ich  vor  zwanzig 
Jahren   einmal    gehört    habe,    oder  beim  Durcasuchen  Jahrzehnte- 


—  40  — 

alter  Korrespondenzen  aus  Format  und  Farbe  eines  umgelegten 
Brief kuverts  den  Absender  errate.  Das  klingt  wie  Kammerjägerlatein. 
Aber  wenn  es  nicht  wahr  wäre,  so  wäre  auch  die  Aufnahm», 
Fixienmg  und  Typisierung  aller  Eindrücke  des  öffentlichen  Lebens 
eine  unmögliche  Leistung.  Eigentlich  ist  sie  es  und  was  mir  not 
täte,  wäre,  daß  einmal  acht  Tage  lang  die  Gemeinheit  der  Welt, 
der  Fortschritt  und  die  Geselligkeit,  ausspannt,  damit  wenigstens 
nichts  Neues  dazu  komme,  denn  an  dem  Alten  ist  immer  noch 
genug  zu  verarbeiten.  Und  da  die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst 
und  nicht  der  Komet  den  Weltuntergang  bewirkt,  so  müßte 
wenigstens  ein  Setzerstreik  die  ersehnte  Pause  bringen.  Die 
Gesichter  und  Stimmen  der  Leute,  die  dann  nach  den  Zeitungen 
riefen,  gäben  noch  immer  so  viel  fürchterliche  Anregung,  daß  ich 
nicht  müßig  wäre,  aber  mir's  wenigstens  einteilen  könnte.  Jedes 
Ereignis,  über  das  ich  nichts  lese,  ist  Ruhe,  jedes  Gebiet,  das 
ich  nicht  betrete,  Erholung.  Je  weniger  ich  weiß,  desto  besser  errate 
ich.  Ich  habe  nicht  Soziologie  studiert  und  weiß  nicht,  daß  der 
Kapitalismus  an  allem  schuld  ist.  Ich  habe  die  christliche  Entwicklung 
der  jüdischen  Dinge  nicht  studiert  und  weiß  nicht,  was  gewesen 
ist.  Aber  ich  lese  in  der  Kleinen  Chronik  und  weiß,  was  sein 
wird.  Ich  ergänze  mir  ein  Zähnefletschen,  eine  Geste,  einen 
Gesprächsfetzen,  eine  Notiz  zu  dem  unvermeidlichen  Pogrom  der 
Juden  auf  die  Ideale.  Daß  unsere  Kultur  den  Einbruch  des  Wein- 
reisenden in  das  Geistesleben  bedeutet,  spüre  ich  an  den  kleinsten 
ihrer  Äußerungen;  und  mir  genügt  die  Ahnung,  daß  es  Gebiete 
geben  muß,  in  denen  sich  der  Einbruch  als  Festzug  abspielt. 

Der  Geist  der  Medizin  ist  leicht  zu  fassen  und  ihi  Ruf 
als  Kommiswissenschaft  steht  heute  unbedingt  fest.  Die  Philosophie 
halte  ich  mir  vom  Leib,  weil  ich  das  Gefühl  habe,  daß  sich  hier 
tagaus  tagein  das  Schlimmste  begibt,  und  weil  ich  zu  gut  informiert 
werden  könnte.  Denn  hier  scheint  ein  Rotwälsch  eigens  erfunden, 
um  den  Unwert  jener,  die  sich  dem  Gewerbe  ergeben,  als  Schleichgut 
in  die  Kultur  zu  schmuggeln.  Man  muß  nur  den  Mut  haben,  dem 
Jargon  zu  mißtrauen  und  durch  Zeit  und  Raum,  durch  das  intellegible 
Ich  und  die  immanente  Gottheit  und  durch  die  religiöse  Substanz  und 
die  Monadologie  hindurchzulesen,  so  wird  man  auf  einen  betulichen 
Reporter  stoßen,  der,  wenn  er  Zeit  und  Raum  zur  Verfügung 
hat,  Feuilletons  im  Dutzend  liefert.  Herr  Oskar  Ewald  kassiert  jetzt 
den  Nachruhm  Otto  Weiningers  ein.  Er  hat  ein  Werk  von  über 
880  Seiten  geschrieben.  Der  Himmel,  der  Kometen  sendet,  bewahre 


—  41    — 

mich  davor,  daß  ich  sagen  könnte,  ich  hätte  dieses  Werl«  gelesen. 
Ich  kann  sogar  sagen,  daß  ich  dieses  Werk  nicht  gelesen  habe. 
Aber  ich  kenne  die  Aufsätze,  die  derselbe  Herr  Ewald  in  deutschen 
und  österreichischen  Revuen  veröffentlicht  hat.  Und  ich  Jiabe  jrnmer 
die  kleinen  Schriften  eines  Autors  als  ,Warnun£  empfunden,  ^clTe 
großen  zu  lesen,  woraus  es  sich  erklären  mag,  daß  Ich  über  die 
Auforen  so  gut  Bescheid  weiß,  ohne  daß  ich  gezwungen  war, 
meine  Bildung  zu  vermehren.  Wenn  einer  auf  neun  Seiten  ein 
Schwätzer  ist,  so  ist  es  gewiß  keine  Frivolität,  zu  zweifeln,  ob  er  auf 
neunhundert  ein  Philosoph  sein  könne.  Dagegen  ist  es  sicher,  daß 
in  solchen  Dimensionen  auch  die  geringste  Fähigkeit  einen  Schein 
erwirbt,  dessen  sie  in  engem  Spielraum  sofort  verlustig  geht.  Herr 
Ewald  wird  jetzt  in  den  Literaturblättem  als  Gigant  beschrieben, 
aber  ich  habe  noch  keinen  Leser  seiner  Aufsätze  getroffen,  der 
Appetit  auf  seine  grundlegenden  Werke  gehabt  hätte,  und  die  Un- 
mäßigen, die  diese  zuerst  gelesen  haben,  sagen,  es  könne  nicht 
derselbe  Autor  sein.  Und  doch  ist  es  derselbe,  nur  daß  die  Philosophie 
ein  Kostüm  ist,  das  man  nicht  alle  Tage  anzieht,  und  daß  nur 
der  auch  anders  kann,  der  nichts  kann.  Herrn  Ewalds  großes  Werk 
»Gründe  und  Abgründe«,  dessen  Untertitel  »Präludien  zu  einer  Philo- 
sophie des  Lebens«  lautet  —  die  eigentliche  Philosophie  des  Lebens 
steht  noch  aus  und  das  Leben  selbst  nimmt  sich  Herr  Ewald  von 
jenem  Leben,  das  sich  Weininger  genommen  hat  — ,  das  große  Werk 
wird  jetzt  von  den  Berufsflach  köpfen  im  In-  und  Ausland  in  einer 
Tonart  gepriesen,  nicht  als  ob  Nietzsche  nie  gelebt  hätte,  nein,  als  ob  er 
an  Ewald  gestorben  wäre.  »Unsere  Zeit  täuscht  uns  auf  allen  Gebieten 
durch  Überwuchern  von  Surrogaten«,  b^'nnt  ein  Herr  in  einem 
Berliner  Blatt,  und  schon  erwartet  man,  jetzt  werde  die  Enthüllung 
kommen,  daß  die  Gründe  des  Herrn  Ewald  sticht  und  seine  Ab- 
gründe ungefährlich  seien.  Im  Gegenteil,  der  Mann  empfindet  »das 
Dasein  dieses  Buches  als  eine  Lebenssteigerung«.  Ewald  biete 
»aus  dem  Reichtum  einer  großangelegten,  profunden  Natur  Bau- 
steine zu  einer  Philosophie  des  Lebens«.  Das  ist  wahr,  aber  es 
hätte  der  Vollständigkeit  halber  auch  gesagt  sein  müssen,  aus 
wessen  Natur.  Der  Selbstmord  Weiningers,  den  Herr  Ewald 
überlebte,  hat  nicht  nur  »Geschlecht  und  Charakter«  berühmt 
gemacht.  "Aber  Herr  Ewald  hat,  wie  wir  hören,  nicht  nur  Nietzsche, 
sondern  auch  Weininger  »innerlich  verworfen«,  und  wie  wir  schon 
aus  der  Inhaltsangabe  dieser  Überwindung  ersehen,  Weininger  mit 
Erkenntnissen,  die  von  Nietzsche,  und  Nietzsche  mit  Erkenntnissen, 


—  42 


die  von  Weininger  stammen.  Ewald  »rührt  an  die  tiefsten  Mysterien« ; 
aber  da  sie  niclit  ihm  gehören,  so  hätte  er  sie  nur  besichtigen 
sollen.  Der  Berliner  Kritiker  freilich  ist  anderer  Ansicht.  >Ich  schließe 
mit  der  Konstatierung«,  schreibt  er,  >hier  endlich  einmal  sagen  zu 
können,  auf  einen  großen  und  erhabenen  Oeist  gestoßen  zu  sein, 
der  sicher  dazu  berufen  ist,  die  Epoche  Nietzsches  zu  überwinden  usw.« 
Dieselben  Töne  hört  man  jetzt  überall.  Wo  der  Sitz  der  Korrespon- 
denz ist,  die  diese  falschen  Nachrichten  verbreitet,  weiß  ich  noch  nicht. 
Aber  irgend  ein  Bureau  ist  in  voller  Tätigkeit,  welches  der  Überzeugung 
zu  sein  scheint,  daß  sich  der  Ruhm  eines  Um-  und  Umwerters  durch 
Reklamenotizen  halten  lässt.  Überall  dieselben  Versicherungen: 
>Gedankengebäude  . .  .  hinausragt  .  . .  Tiefe  des  Weltgefühls .  .  .« 
Ewald  »überrage  Weininger  an  Reife  und  innerer  Festigung«,  meint  die 
.Österreichische  Rundschau',  die  allerdings  nur  von  den  Seekranken 
der  Lloydschiffe  gelesen  wird,  aber  die  Neue  Freie  Presse  meint, 
Ewald  habe  >den  Drang  in  sich  gefühlt,  dem  einsamen  Meister 
von  Sils-Maria  nach-,  ja  über  ihn  hinwegzufliegen«.  Dieser  Drang 
ist  Herrn  Ewald  schon  zuzutrauen.  Sein  Buch  habe  ich,  wie  gesagt, 
nicht  gelesen,  aber  in  den  Aphorismen,  die  sein  Buch  enthält, 
habe  ich  gern  geblättert  und  da  gewahre  ich  allerdings  auch  den 
Drang,  meine  Aphorismen  abzuplatten.  Er  gibt  freilich  jedem  einen 
Titel  und  schmückt  auch  jede  Seite  mit  netten  Zusammenfassungen 
wie:  »Distanzen«,  »Mysterien«,  »Hölle  und  Himmel«,  »Höhen  und 
Tiefen«.  Aber  was  nützt  das?  Es  ergibt  noch  immer  keine  Höhen, 
keine  Tiefen,  nicht  Himmel  und  Hölle  und  keine  Mysterien.  Höchstens 
Distanzen.  Herr  Ewald  ist  so  sprachfern,  daß  er  sich  von  der  Leichtig- 
keit, ein  tausendseitiges  Buch  zu  schreiben,  verführen  ließ  und  vor 
der  Schwierigkeit  nicht  zurückschrak,  Aphorismen  draufzugeben.  Aber 
er  wirds  gewiß  nicht  wieder  tun.  Wer  wird  denn  umständlich  in 
einer  Zeile  ausdrücken,  was  man  bequem  in  hundert  Seiten  sagen 
kann?  »Der  Stil  ist  nicht  das  Kleid,  sondern  die  Seele  des  Künstlers«, 
schreibt  Herr  Ewald.  Ich  will  nicht  sagen,  daß  der  Gedanke  von  mir 
ist,  wie  mancher  andere,  er  ist  von  jedem  Künstler,  nur  nicht  von 
Herrn  Ewald;  denn  der  Satz,  in  dem  er  ihn  sagt,  ist  schlecht  wie 
alle  andern.  Aber  wenn  der  Stil  die  Seele  des  Künstlers  ist,  so  habe 
ich  die  Seele  des  Herrn  Ewald  in  jenen  populären  Aufsätzen  gefunden, 
mit  denen  er  die  deutschen  Zeitschriften  versorgt.  Und  wenn  die 
Wissenschaft  nach  einem  andern  Wahrwort  heute  nur  aus  Werken 
besteht,  die  ein  Jud  vom  andern  abschreibt,  so  besorgt  Herr  Ewald 


—  43  — 


diese  Aufgabe  in  eigener  Regie,  indem  er  seine  Dünnsauce  immer 
von  neuem  verdünnt.  Solche  Schreiberei,  die  noch  bedenklicher 
ist  als  der  landläufige  Feuilletonismus,  weil  dieser  wenigstens 
an  allen  Fächern  schmarotzt,  während  jene  sich  das  Air  spezieller 
Wissenschaftlich keit  gibt,  ist  hinlänglich  charakterisiert  durch  einen 
Satz,  mit  dem  Herr  Ewald  in  dem  Artikel  »Das  Weib  in  Kunst 
und  Weltanschauung«  sichtlich  zum  Schlüsse  eilt.  Nachdem  er  die 
ganze  Seichtheit  eines  tiefen  Problems  ausgeschöpft  hat,  schreibt 
er  wörtlich:  »Wir  können  zum  Abschluß  dies 
Verhältnis  von  einer  noch  tieferen  Seite  her 
beleuchten.«  Nu,  ist  der  Stil  nicht  die  Seele  des  Künstlers? 
Natürlich  hat  Herr  Ewald  mit  sämtlichen  Meinungen,  die  er 
jetzt  in  den  alten,  neuen  und  noch  nicht  gegründeten  deutschen 
Revuen  vertritt,  vollständig  Recht.  Er  vertritt  die  Meinungen  so 
sehr,  daß  man  sie  wirklich  nicht  mehr  über  die  eigenen  Füße 
bringt.  Er  ist  ein  gutes  Exempel  für  die  Wertlosigkeit  der  richtigen 
Meinung.  Er  läßt  es  sich  etwa  nicht  nehmen,  das  Genie  gegen  die 
Psychiatrie  zu  schützen.  Wo  er  recht  hat,  hat  er  recht  Aber  als  ichs 
gelesen  hatte,  schwor  ich  mir  zu,  von  jetzt  an  die  Psychiatrie 
gegen  das  Genie  zu  schützen.  So  ganz  und  gar  vertreten  schien  mir 
die  richtige  Meinung  zu  sein.  Man  wird  bald  wirklich  nichts  mehr 
erieben  können,  ohne  daß  einem  die  Individualität  kompromittiert 
wird.  Wenn  diese  Echos  sich  nur  einmal  verfrühen,  sich  einmal  nur 
zuerst  bemühen  möchten,  man  könnte  wieder  Freude  an  seinem 
Ruf  bekommen.  Aber  so  laufe  ich  nächstens  aus  der  Gegend!  >Zu 
einem  solchen  Phänomen  muß  man  Stellung  nehmen«,  schreibt 
Herr  Ewald  über  die  Pathologisierung  des  Genies,  >und  zwar 
in  möglichst  unparteiischer  Art,  alle  Argumente  sorgsam 
abwägend.«  Tue  er.  Aber  wenn  er  Stellung  nimmt,  lege 
ich  mich  nieder.  »Von  diesem  höheren  Gesichtspunkte  ist  es 
mithin  begreiflich,  daß  wir  heute,  auch  in  unserm  Verhältnis 
großen  Geistern  gegenüber,  die  subjektive  Seite  stärker  hervortreten 
lassen,  dem  Persönlichen,  dem  Menschlichen,  Allzumenschlichen, 
nnsre  Aufmerksamkeit  schenken«,  schreibt  Herr  Ewald.  Er  ist,  wie  man 
sieht,  ein  Eigener.  Er  fühlt  den  Drang  in  sich,  über  Nietzsche  hinweg-, 
und  es  ist  ihm  sogar  gelungen,  dem  Marco  Brociner  nachzufliegen. 
Herr  Ewald  hat  die  Psychiater  aufs  Korn  genommen,  er  ist  wahrschein- 
lich ein  Satiriker.  Mit  bitterer  Ironie  bemerkt  er:  »Wie  schade,  daß 
sie  (die  Genies)   nicht  gesund  und    normal   waren!    Sie   würden 


44 


wahrscheinlich  geheiratet  haben  und  wären  gute  Familienväter  und 
brauchbare  Mitglieder  der  menschlichen  Gesellschaft  geworden.  Aber 
ich  will  der  Verlockung  nicht  nachgehen  und  a n 
Stelle  des  verdienten  Spottes,  zu  dem  eine  solche  Be- 
trachtungsart herausfordert,  objektive  Kritik  treten  lassen«.  Wie 
schade,  daß  er  der  Verlockung  nicht  nachgegangen  ist!  Es  hätte 
sich  gezeigt,  was  schwerer  ist,  nachzugehen  oder  Stellung  zu 
nehmen.  Aber  so  schreibt  Herr  Ewald,  wenn  man  ihn  der  Ver- 
pflichtung enthebt,  zu  Zeit  und  Raum  Stellung  zu  nehmen. 
Schreiben  die  andern  anders?  Und  muß  ich  ihre  philosophischen 
Werke  lesen,  um  zu  wissen,  wie  sie  schreiben  ?  Muß  ich  ihre  Band- 
würmer untersuchen,  um  zu  wissen,  was  in  ihnen  steckt?  Der 
Privatdozent  Ewald  sagt,  der  Stil  sei  die  Seele  des  Künstlers,  und 
erspart  mir  wirklich  durch  ein  paar  Zeilen  die  Beachtung  seiner 
grundlegenden  Werke.  Der  Professor  Vaihinger  aber,  der  Kant- 
Gelehrte,  kommt  mir  mit  einem  Waschzettel  unter  die  Augen,  den  er 
über  Nietzsche  geschrieben  hat.  Mir  genügt  es :  »Nietzsche  ist  heute 
ein  literarischer  Machthaber  ersten  Ranges  .  .  .  Nietzsches  Schlag- 
wörter tönen  überall  wieder,  wie  ,Jenseits  von  Gut  und  Böse',  ,der 
Wille  zur  Macht',  ,die  Vielzuvielen',  die  , Umwertung  aller  Werte', 
,der  Übermensch'  und  manche  andere  ähnliche,  schon  geläufig 
gewordene  Wendungen  ...  Der  Gründe,  welche  den 
ErfolgNietzsches  erklären,  gibt  esverschiedene; 
der  eineGrund  wirkt  mehr  auf  diesen,  der  andere 
mehr  auf  andere.«  Und  über  Nietzsche  als  Stilkünstler:  >Er 
handhabt  die  Sprache  mit  seltener  Virtuosität  .  .  .< 

Es  ist  entsetzlich.  Der  Journalismus  ist  ein  Übel,  aber 
wir  können  ihm  schließlich  nicht  wehren,  weil  wir  nicht 
wüßten,  was  wir  mit  den  Journalisten  anfangen  sollten,  wenn  es 
keine  Zeitungen  gäbe.  Sie  könnten  höchstens,  wenn  sie  ihr  Sitz- 
fleisch pflegen  wollten,  Philosophen  werden.  Aber  die  Philosophen,  die 
den  Ehrgeiz  haben,  auch  mit  der  Hand  zu  arbeiten,  sind  eine 
überflüssige  Plage.  Alle  Achtung  vor  ihrem  Wissen,  ihrem  Fleiß 
und  ihren  sonstigen  sozialen  Tugenden,  und  mögen  sie  in  Gottes 
Namen  in  den  Hörsälen  den  jungen  Leuten  erzählen,  was  sie 
wollen;  aber  diese  Gier  nach  Druckerschwärze  ist  des  Teufels.  Sie 
führt  zu  Verwechslungen.  Man  will  einen  Journalisten  packen  und 
hat  einen  Philosophen  entlarvt. 

Herausgeber    und    verantwortlicher    Redakteur:    Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3. 


>eben  erschienen: 


Negerkönigs  Tochter 

Eine  Erzählung  von 
OTTO    STOESSL 

München  und  Leipzig^  Georg  Müller 

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versendetZeitungsausschnitteflberjede5geTQnschteThema.Man  verlange  Prospekt« 

Herausgeber  KARL  KRAUS 
Die    „Fackel«    ersqheint    in    zwangloser    Folge    im   Umfang  von 
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Berliner  Bareaa:  Haiensee,  Katharinenstraße  5 

J^^y^LX  der  vorigen  Doppelnummer  301 /.302,  3.  Mai  1910: 

HEINRICH  MANN:  Die  Unschuldige /  STANISLAW  PRZY- 
BYSziwSKIiDieTat/ AUGUST  STRINDBERG:  DerHunds- 
fott/FELIX  STÖSSINGER:  Carlos  und  NicolasAALEXANDER 
SOLOMONICA:  Die  vierte  Schwester/BERTHOLD  VIERTEL: 

Vorfrühling  /  LUDWIG  ULLMANN :  Ölberg  /  FELIX  GRÄFE: 
Das  Lied/RdBERT  SCHEU:  Karl  Lueger /  Selbstanzeige /    1 
KARL_KRAUS:  Glossen . 

Herauieeber  und  verantwortHcher  Redakteur  K  t  r  1  K  r  a  u  s  < 

DnicV  von  laboda  &  Siegel,  Wien.  HI.  Hintere  Zollamtistr.  3  j 


305/306  20.  JULI  1910  XII.  JAHR 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

KARL  KRAUS:  Schoenebeckmesser / KARL  KRAUS:  Die  kre- 
tensisdie  Frage/  AUGUST  STRINDBERG:  über  Ansichten / 
PETER  ALTENBERG:  Der  einsame  Park  /  BERTHOLD  VIER- 
TEL: Stunden  /  OTTO  STOESSL:  Aus  Goethes  Tagebüchern  / 
RUDOLF  EHRLICH:  Wie  warst  du  schön /ALBERT  EHREN- 
STEIN: Traum /LUDWIG  RUBINER:  Henri  Matisse/ KARL- 
BORMANN :  Abend  /  KARL  KRAUS :  Glossen  /  KARL  KRAUS : 
Der  Biberpelz  /  Selbstanzeige 

NACHDRUCK  VERBOTEN 


PREIS  DER  DOPPELNUMMER  60   HELLER 
ERSCHEINT  IN  ZWANGLOSER  FOLGE 

VERLAG:  ,DIE  FACKEL',  WIEN  — BERLIN 

\-,    III  2,    HINTERE    ZC^'  '  ^"^STRASSE    3       TELEPHON    Nr.    187 


Im  Herbst  erscheint: 

Von  den  fröhlichen  und 
unfröhlichen  Manschen 

Gesammelte  Essays 
von  KARL  HAUER 

VERLAG  JAHODA  &  SIEGEL,  WIEN 

Negerkönigs  Tochter 

Eine  Erzählung  von 
OTTO   STOESSL 

München  und  Leipzig,  Georg  JVlCiller 


Soeben  erst  erschienen : 

OTTO  SOYKA 

Herr  im  Spiel 

Roman 

Hyperion-Verlag  Hans  von  Weber  München  1910 

Menschen  von  Gottes  Gnaden 

Eine  Erzählung  von 

Karl   Borromäus  Heinri 

Albert  Langen,  München 


DIE  FACKEL 

Nr.  305/306  20.  JULI  1910  XU.  JAHR 


Schoenebeckmesser 
Von  Karl  Kraus 

Wenn  die  Erinnerung  an  Herrn  Maximilian  Har- 
den,  die  hin  und  wieder  noch  durch  einen  Wirtshaus- 
exzeß des  Milchhändlers  Riedel  aufgefrischt  wird,  ver- 
rinnen sollte,  wenn  es  selbst  meiner  philologischen 
Mühe  nicht  gelingen  möchte,  seine  Prosa  unsterblich 
zu  machen,  so  wird  sich  doch  einst  ein  deutscher 
Sittenforscher  dazu  entschließen  müssen,  das  Profil 
dieses  zwischen  Staats-  und  Bettgeheimnissen  ange- 
strengten Chiffreurs  nachzuzeichnen.  Denn  daß  die 
deutsche  Intelligenz  durch  ein  paar  Jahre  geglaubt 
hat,  aus  einem  Zettelkasten  spreche  eine  Pythia  und 
ein  Informationsbureau  sei  ein  Janustempel,  ist  die 
stärkste  aller  erweislichen  Wahrheiten.  Und  die 
lustigste,  wie  schnell  der  Glaube  in  dieser  allen  Wahr- 
heitsuchern und  Nordpolfindern,  Luftgauklern  und 
Erdenschwindlern  hingegebenen  Zeit  kaput  wird.  Wir 
verstehen  eines  Tages  nicht  mehr  delphisch ;  und  vor 
uns  steht  ein  Januspolitiker,  mit  zwei  Gesichtern,  von 
denen  das  eine  vorwärts  sieht,  das  andere  rückwärts, 
jenes  auf  den  Hosenlatz  der  Nation  und  dieses  auf 
ihren  Hintern.  Hütet  euch  vor  seinem  wissenden  Blick, 
ihr  deutschen  Soldaten ;  zeigt  ihm  die  Front  nicht  und 
kehrt  ihm  nicht  den  Rücken;  ihr  Goeben  und  Moltke,  habt 
Acht !  Nicht  mehr  gefährlich  ist  er,  aber  zudringlich. 
Nicht  über  Krieg  und  Frieden  entscheidet  er  jetzt,  aber 
über  eure  Siege  und  Niederlagen  im  Bett.  Eine  Zeit 
der  Geschlechtsparade  ist  angebrochen:  weh  dem, 
der    normwidrig    adjustiert    ist;    weh    dem,   der    im 


Zuerst  in  der  Halbmonatsschrift  ,März'  erschienen. 


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Vordertreffen  seinen  Mann  nicht  gestellt  hat.  Pardon  wird 
nicht  gegeben.  Wer  sich  den  Luxus  eines  Privat-  und 
Familienlebens  gestattet,  muß  sich  auch  eine  Kritik 
gefallen  lassen.  Und  wie's  bei  Schoenebecks  zuging, 
das  zeigt  uns  nicht  nur  die  öffentliche  Berichterstat- 
tung über  eine  geheim  durchgeführte  Verhandlung. 
Nein,  dort,  wo  der  Reporter  verzichtet,  dort,  wo  selbst 
unsere  Phantasie  diskret  wird,  eben  dort  tritt  Herr 
Maximilian  Harden  dazwischen,  duldet  keine  Heim- 
lichkeiten, dreht  die  Lampe  auf,  die's  nicht  wissen 
soll,  spricht  aus,  »was  ist«,  ruft  Zeugen  zur  Tat,  wälzt 
ein  Protokoll  heran  und  sorgt  dafür,  daß  auch  nicht 
ein  Tropfen  erweislicher  Lustbarkeit  verloren  gehe. 
Auf  die  Frage,  ob  man  im  Dunkeln  erröten  könne, 
läßt  er  sich  nicht  ein,  da  er  weder  ein  Dunkel  zu- 
gibt, noch  ein  Erröten  kennt.  Was  an  Tatsachen  nicht 
zu  haben  ist,  ersetzt  er  durch  die  Erkenntnisse  seiner 
ausschweifenden  Psychologie.  Und  mit  einem  Wissen, 
dem  nichts  Menschliches  fremd,  und  mit  einem  Besser- 
wissen, das  über  alles  Menschliche  informiert  ist,  mit 
dem  ganzen  Rüstzeug  einer  neuzeitlichen  Bildung, 
die  Juristerei,  Philosophie  und  Medizin  und  leider  auch 
Pornolalie  studiert  hat,  und  mit  einem  Eifer,  der  von 
der  Erschaffung  der  Welt  anfängt,  die  Bibel  plündert 
und  Allenstein  das  Olsztyn  der  masurischen  Polen 
nennt,  um  auf  die  Hauptsache,  die  sexuellen  Gewohn- 
heiten des  Herrn  v.  Goeben  zu  kommen,  bepackt  mit 
Erudition,  Information  und  Sensation  wie  noch  nie  : 
so  tritt  Herr  Maximilian  Harden  in  das  Schlafzimmer 
des  Hauses  Schoenebeck. 

Ein  Journalist,  der,  bevor  er  die  zugkräftigsten 
Gemeinheiten  über  einen  Toten  und  über  eine  Frau 
losläßt,  nicht  einmal  so  viel  Takt  beweist,  mit  seinen 
geographischen  und  historischen  Kenntnissen  über 
eine  Provinzstadt  zurückzuhalten.  Ungescheut,  mit  einer 
Indiskretion,  die  den  verborgensten  Winkel  des  Zettel- 
kastens nicht  schont,  enthüllt  er  uns,  daß  die  Alle  ein 
Nebenfluß  des  Pregel  ist,  und  daß  dort  Marschall  Soult 
1807    vier    Tage    vor    der    Schlacht    bei   Eylau    den 


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russopreußischen  Nachtrab  schlug.  Daß  Allenstein 
30.000  Einwohner,  ein  Hochmeisterschloß  und  eine 
restaurierte  katholische  Kirche  hat  und  die  Bevöl- 
kerung Handel  mit  Holz,  Leinwand  und  Hopfen 
treibt.  Was  das  uns  angeht,  fragen  wir,  die  an 
solchen  Intimitäten  nachgerade  genug  haben  und 
denen  das  Exhibitionieren  mit  Baedekerbildung  ein 
Ärgernis  ist.  Zur  Sache!  möchten  wir  rufen,  weil  wir 
auf  die  Beweisführung  gespannt  sind,  wie  Herr  von  G. 
durch  Frau  von  Seh.  zu  einem  normalen  Geschlechts- 
verkehre veranlaßt  wurde.  Aber  noch  ist,  nach  der 
geographischen  Belästigung,  der  Speicher  des  histo- 
rischen Wissens  nicht  entleert.  Goeben  ist  nämlich 
»Sohn  aus  der  zweiten  Ehe  eines  Gutsbesitzers,  der 
als  Sechzigjähriger  an  Leberkrebs  starb«.  Die  Mutter 
war  fünfunddreißig  Jahre  alt,  als  das  Kind  geboren 
oder  vielmehr  »ihrem  Schoß  entbunden  wurde«  (dies 
nebenbei  zur  Aufklärung  für  solche,  die  noch  immer 
glauben,  daß  der  Storch  die  preußischen  Offiziere 
bringt).  Man  sieht,  wie  wenig  man  in  der  Schule  ge- 
lernt hat  und  was  man  alles  fürs  Leben  braucht.  Wie  der 
Famulus  stehen  wir  vor  dieser  faustischen  Fülle.  Zwar 
wissen  wir  jetzt  schon  viel,  doch  möchten  wir  alles 
wissen.  Also:  Herr  von  Goeben  war  eine  »schwere 
Zangengeburt«.  »Arm  und  Bein  sind  rechts  um  einen 
Zentimeter  kürzer  als  links.«  Obs  genau  stimmt,  wissen 
wir  freilich  nicht,  haben  aber  das  Vertrauen.  »Als  Kind 
hat  er  an  Masern,  Scharlach,  Keuchhusten,  Skrofulöse 
gelitten  und  sich  einen  Leistenbruch  zugezogen.«  Nun 
haben  wir  bisher  geglaubt,  daß  zwar  Masern  und 
Scharlach  Krankheiten  sind,  die  angezeigt  werden 
müssen,  daß  aber  ein  Leistenbruch  zu  jenen  Privat- 
angelegenheiten gehöre,  die  der  Mensch  mit  sich 
selbst  auszumachen  hat,  und  zu  jenen  Leiden,  auf 
die  sich  das  ärztliche  Geheimnis  eben  noch  bezieht. 
Dieser  Arzt  aber  kennt  kein  Geheimnis,  so  wenig  wie 
dieser  Jurist,  dieser  Historiker,  dieser  Geograph,*  dieser 
Archäolog,  dieser  Flugtechniker,  dieser  Journalist  eines 
kennt.  Er  ist  durch  das  Leben  des  Hauptmanns  von  Goeben 


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gezogen,  er  hat  seine  Entwicklung  mitgemacht,  er  stand 
zu  Füßen  seines  Bettes,  er  begleitete  ihn  in  den  Buren- 
krieg, er  war  dabei,  als  er  verwundet  wurde  und  zwar 
»an  Armen  und  Händen,  an  der  Hüfte  und  dem  fünften 
Metakarpalknochen«  —  kein  Wunder,  daß  er  ihm  jetzt 
auch  eine  Mappierung  seiner  Sexualpläne  vorweist.  Er 
hat  seinen  Jugendsünden  beigewohnt,  erkennt  seine  vor- 
zeitige Männerschwäche.  Nichts  ist  ihm,  in  all  den  Jahren, 
in  denen  er  doch  mit  der  Liebenberger  Tafelrunde  vollauf 
zu  tun  hatte,  entgangen.  Und  er  weiß  auch,  daß  Goeben 
»von  seinem  auf  ihn  stürzenden  Pferde  an  Darm 
und  Niere  gequetscht«  wurde,  und  daß  er  hierauf 
an  Malaria  und  Schwarzwasserfieber  erkrankte,  bis 
er  nach  einer  langwierigen  Furunkulose  1906  als  Bat- 
teriechef zum  Masurischen  Feldartillerieregiment  Nr.  73 
versetzt  wurde.  Wann?  Vor  Weihnachten?  Nein,  »im 
Advent«.  Und  endlich  lernt  er  Frau  von  Schoenebeck 
kennen.  Die  hat  vom  Major  Schoenebeck  zwei  Kinder? 
Nein,  das  ist  der  Mann,  »in  dessen  Umarmung  sie 
zwei  Kinder  empfangen  hat«.  Was  tut  Goeben?  Er 
küßt  sie?  Aber  nein,  er  »drückt,  selig  zunächst  schon  in 
dem  Bewußtsein,  lange  genährtem  Heilandwahn  so 
brünstigen  Glauben  geweckt  zu  haben,  seine  Lippen 
auf  den  Mund  der  Frau,  die  sich,  in  der  Ohnmacht 
überquellenden  Dankbedürfnisses,  erfröstelnd  in  seine 
Arme  gleiten  ließ«. 

Seitdem  Herr  Maximilian  Harden  einmal  Wede- 
kinds »Frühlingserwachen«  das  »Männern  der  Knaben 
und  Böckeln  der  Mädchen«  genannt  hat,  wissen  wir, 
daß  er  eine  deutliche  Sprache  liebt.  Seitdem  er  einmal 
gesagt  hat,  daß  in  einem  andern  Drama  die  Heldin 
den  Helden  »an  der  Wurzel  des  Paarungtriebes  kitzelt«, 
wissen  wir,  daß  er  ein  Ding  beim  rechten  Namen 
nennt.  Kein  Zweifel,  er  wird  uns  aus  dem  Traumleben 
des  Herrn  von  Goeben,  in  dem  er  sich  so  gut  auskennt 
wie  in  einem  Konversationslexikon,  schon  erklären, 
was  diesen  Kavalleristen  bestimmt  hat,  sich  so  lange 
vom  Weibe  fernzuhalten  und  lieber  »im  Sattel  den 
Akkumulator    seines  Geschlechtstriebes    zu    entladen«. 


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Herr  Harden  bedauert,  daß  den  Herrn  von  Goeben  »keiner 
je  vor  schädlichem  Mißbrauch  des  Zeugungorganes 
gewarnt«  hat.  Wir  bedauern,  daß  es  keinen  Straf- 
gesetzparagraphen gibt,  der  die  Wegiassung  des  »s«  in 
einem  fremden  Körperteil  weithin  als  eine  verächtliche 
Handlung  brandmarkt.  Wir  bedauern,  daß  es  kein 
literarisches  Berufsgericht  gibt,  das  einen  Schand- 
preis der  Diskretion  einem  Journalisten  verleiht, 
dem  eine  so  delikate  Umschreibung  gelungen 
ist  wie  diese:  *Der  Artillerielieutenant  tut  wie  Onan, 
Judas  zweiter  Sohn  von  Sua,  den  des  Herrn  Zorn  traf, 
weil  er,  statt  bei  des  Bruders  Witib  zu  liegen,  seinen 
Keimsaft  in  die  Erde  sickern  ließ*.  Wir  bedauern,  daß 
es  keine  Organisation  des  Absehens  gibt  für  den  Fall,  daß 
ein  Publizist  selbst  an  jenes  Geheimnis  geschlechtlicher 
Betätigung  greift,  welches  bisher  der  Natur  der  Sache 
nach  mit  keinem  Zeugen  geteilt  wurde.  Aber  die 
neurologische  Obduktion  Goebens  —  nein,  »des  aus 
kränkelndem  Stamm  Ersproßten«  —  ist  noch  nicht  zu 
Ende.  >0b  ihn  je  ein  Mannesleib  reizte?«  fragt  Herr 
Harden,  den  eine  langjährige  Erfahrung  auf  diesem 
Gebiete  gegen  solche  Möglichkeit  stumpf  gemacht  hat. 
Endlich  ist's  heraus.  Eine  unverbindliche  Frage. 
Goeben  war  Offizier,  und  Herrn  Harden  könnte 
es  nicht  überraschen.  Goeben  »hat's  geleugnet«. 
Nun,  Harden  will's  mindestens  dahingestellt  sein 
lassen.  »Die  besondere  Art  seiner  Lustvorstellung 
ließe  leicht  darauf  schließen.«  Positives  hat  er 
nicht  erfahren  können;  die  Detektivbureaus  gegen 
die  Armee  zu  mobilisieren,  lohnt  sich  nur,  wenn 
außer  dem  Vaterland  das  eigene  Wohl  gefährdet  ist. 
»Einerlei«,  meint  Herr  Harden;  will  die  Sache  nicht 
weiter  untersuchen  und  läßt  es  beim  Rade  bewenden. 
Denn  schließlich  bietet  ja  der  selige  Goeben  durch 
sein  »schmähliches  Geheimnis«,  um  das  Herr  Harden 
weiß,  genug  Handhabe  für  einen  aufgeregten  Mora- 
listen. Und  wie  erst  durch  seinen  Verkehr  mit  der  Frau 
vonSchoenebeck!  Herr  Harden  erinnert  zu  diesem  Punkte 
an  die  »Leistungfähigkeit  der  Lieutenantszeit«,  während 


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hingegen  den  Hauptmann  »häufige  Schweißausbrüche 
schwächen«  und  seine  Exzesse  »sich  von  Mond  zu 
Mond  mehren«.  Herr  Harden  sagt's  nun  grad- 
heraus,  es  handle  sich  um  Masturbation,  und  »der 
fast  Siebenunddreißigjährige,  der  als  Batteriechef« 
—  bisher  war  nur  von  Akkumulatoren  die  Rede  — 
»nach  AUenstein  versetzt  wird,  hat  als  ein  Glücklicher 
niemals  noch  den  Leib  eines  Weibes  umschlungen«. 
Endlich  also  lernt  er  Eine  kennen.  Frühling  ists. 
Oder  mit  einem  Wort:  »Der  Lenz  kommt  ins  Pregel- 
land«.  Goeben  denkt,  die  könne  er  haben?  Nein,  so 
einfach  geht  das  nicht,  sondern:  »In  schwüler  Mittags- 
stunde bebrütet,  während  des  Heimrittes  vom  Übungplatz, 
die  Sonne  in  Goebens  Hirn  die  Hoffnung,  jetzt,  so 
spät  noch,  das  volle  Glück  der  Mannheit  zu  erlangen«. 
Die  Mutter  ließ  ihn  einst  —  Herr  Harden 
weiß  es  —  im  Scherzspiel  auf  ihrem  Rücken  reiten. 
Und  Herr  Harden  weiß,  daß  sich  im  Unbewußten  des 
Knaben  dieser  Eindruck  festgesetzt  hat.  Ob  er  nun 
bei  der  Assoziation  dabei  war,  oder  den  Haupt- 
mann untersucht,  oder  gar  ein  Werk  über  Psycho- 
analyse gelesen  hat;  ob  er's  vom  Hörensagen  weiß  oder 
ob  es  ihm  am  Ende  ein  Hofrat  und  fünf  Arzte  aus 
dem  Annoncenteil  der , Zukunft'  eidlich  bestätigt  haben  — 
Herr  Harden  weiß,  welche  Vorstellung  dem  Herrn  von 
G.  beim  Reiten  zu  schaffen  macht.  Nun  wird  es  an  Frau 
von  Seh.  sein,  ihn  beim  Huckepackspiel  herumzukriegen. 
So  wird  die  »männische  Willensleistung«  ohne  Zweifel 
einmal  zustande  kommen.  Die  Frau  behauptet  aber, 
ihr  eigener  Mann  »vertiere  zum  unersättlichen  Bullen, 
der  sich  Tag  vor  Tag  auf  die  Kalbe  stürzt,  zum  geilsten 
Bock,  dessen  Gier  zwischen  zwei  Sonnen  mindestens 
einen  Geschlechtsakt  erzwingt«.  Unglaublich;  und  was 
sagt  Goeben  dazu?  »Doppelt  brennt  vor  dem  Schreckbild 
solcher  roh  prassenden  Übermännlichkeit  die  Schmach 
eigenen  Unvermögens.«  Die  Frau  will  »von  dem 
Lakentyrannen  befreit«  sein  und  zugleich  »den  Kiefer- 
taster des  Männchens  zu  neuem  Tatversuch  wach- 
kitzeln«.   Das  heißt,   sie  will  den  Major  los  sein  und 


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den  Hauptmann  kriegen.  Sie  ist  selig  in  dem  Ge- 
danken; sie  versichert  also,  »der  Rausch  der  Verheißung 
habe  ihr  das  Bewußtseinstor  überschwemmt«.  Soll  sie 
sich  denn  an  ihren  gierigen  Mann  wegwerfen?  Oder 
einfacher  gesagt:  sollen  »ihre  nie  nach  Lust  getränkten 
Sinne,  wie  dürstende  Hunde  an  besudeltem  Rinnsal, 
sich  an  unsauberem  Born  kühlen?  Grauen,  Ekel,  alle 
Wächter  schamhafter  Liebe  überrennen,  rings  um  die 
Seelenfeste  die  Leuchtfeuer  löschen  und  im  Dunkel 
des  Ehebettes  von  dem  über  dicht  verhängten 
Pupillen  Röchelnden  in  stummer  Wonne  nehmen, 
was  der  Mann  zu  geben  vermag  und  der  Liebste 
versagen  muß?«  Trotz  solchen  Hindernissen  — 
endlich  »gelingt,  was  noch  nie  gelang:  die  Mann  und 
Weib  zum  Gattungdienst  nach  der  Norm  der  Natur 
einende  Paarung«  .  .  .  Und  wo  begibt  sich  das  alles? 
In  Alienstein?  Nein,  so  plump  ist  Herr  Harden  nicht, 
den  Ort  zu  verraten.  »Im  Allestädtchen«,  sagt  er  diskret. 
Herr  von  Schoenebeck,  hat  sie  erzählt,  habe  »ihr  die  Haut 
gepardelt«?  So  etwas  kann  einem  Publizisten,  der 
Sexualklatsch  verbreitet,  nicht  passieren;  denn  die  Be- 
leidigten sind  zum  Teil  tot,  zum  Teil  im  Sanatorium. 
Vielleicht  hätte  Herr  von  Goeben  auch  nicht  den  Mut 
gehabt.  Denn  er  war  einer,  »der  mit  dem  prahlerisch 
ausgereckten  Geäst  seines  Wesens  doch  keinen  Bezirk 
der  Mannheit  ganz  zu  decken  vermag«.  Wie  wollte  er 
ursprünglich  den  Major  umbringen?  Mit  Arsenik? 
»Die  schafft  er  herbei.«  Aber  da  einerseits  eine  weib- 
liche Arsenik  ohne  Wirkung  bliebe  und  anderseits  auch 
Frau  von  Schoenebeck  nicht  dafür  ist,  so  muß  ein  an- 
deres Mittel  gewählt  werden.  Er  zögert.  »Wie  am 
Vaal  einst  der  Stacheldraht,  drückt  der  Hohn  des 
Weibes  sich  dem  Soldaten  in  die  Brustwehrhaut.« 
Und  es  geschieht. 

Wer  das  dem  Major  Schoenebeck  vorher  gesagt 
hätte!  Wer  ihm  gesagt  hätte,  »unter  dem  Pfühl,  an 
dem  noch  seines  Schweißes  Ruch  haftet,  wärme  die 
Brust  seines  Weibes  den  zuckenden  Leit)  Hugos  von 
Goeben  und  aus  dem  oft  unter  Saugküssen  erstickten 


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Gewisper  der  Beiden  webe  sich  die  letzte  Masche 
eines  Mordplangespinnstes,  das  in  der  nächsten  Nacht 
den  Hausherrn  drosseln  solle«!  Er  hätt's  nicht  ge- 
glaubt. Denn  er  wußte  zwar,  wie  sie's  getrieben  hat, 
kannte  sogar  aus  Briefen  »das  Hengstgewieher  der 
Angekörten«,  aber  schlief  fest  »wie  ein  Grimbart  im 
Winterkessel«.  Er  wußte,  daß  sie  es  »mit  dem  graugelben 
Bombenhugo«  halte,  aber  an  Mord  hätte  er  nicht  ge- 
glaubt. Sie  war  ihm  ein  bequemes  Lusttierchen,  das 
gibt  Herr  Harden  zu,  lobt  die  Auffassung  und  läßt  das 
Lied  vom  braven  Mann  erklingen,  der  seinen  bunten 
Rock,  seine  Kinder  und  seine  Jagd  über  alles  liebt 
und  der  sich  rackert,  während  seine  Frau  auf  »Lenden- 
erlebnisse« ausgeht.  Herr  Harden  billigt  die  sexuelle  In- 
dulgenz  eines  Mannes,  von  dem  er  uns  vorher  schlicht 
erzählt  hat,  daß  er  »mit  dem  Gelde  derFrau  behaglich  leben 
und  seine  Gäste  besser  bewirten  kann  als  mancher  Bri- 
gadier«. Und  er  vertritt  auch  den  männlichen  Standpunkt 
sexueller  Kommodität.  Hat  solch  biederer  Jägersmann 
schon  ein  Lusttierchen  im  Haus,  so  benütze  er  es  und 
hänge  sein  Geweih  unter  die  Jagdtrophäen.  Was  des 
Mannes  Recht  ist,  wird  bei  der  Frau  geduldet:  aber 
auch  nur,  weil  der  Skandal  vermieden  und  das  Geld  be- 
halten werden  soll.  Mit  einer  unbezahlbaren  Geste  der 
Verachtung  aber  für  das  »Ewig-Läufische«  finden  sich 
die  deutschen  Männer  in  solcher  Situation  zurecht,  die 
ihnen  besonders  dann  bequem  ist,  wenn  sie  selbst  ein 
Bedürfnis  fühlen.  »Kann,  wenn  ich  will,  mein  Lust- 
tierchen haben.«  Dieses  Wort,  das  Herr  Harden  dem 
Herrn  von  Schönebeck  in  den  Mund  legt,  ist  das  tiefste 
Bekenntnis  dieser  infamen  Sittlichkeit,  die  den  begehren- 
den Frauen  mit  Kriminalität  und  Psychiatrie  beikommt, 
wenn  sie  sie  zufällig  nicht  für  die  begehrenden  Männer 
pardonniert  hat.  Ich  weise  es  von  mir,  mich  mit  dem 
Meistersinger  der  bürgerlichen  Moral,  mit  dem  Beckmesser 
ehelicher  Potenz,  mit  dem  Höfling  der  »Lakentyrannen« 
und  dem  Profosen  militärischer  Normwidrigkeit  über 
erotische  Probleme  auseinanderzusetzen.  Ich  werde  mit 
ihm  nicht  darüber  streiten,  ob  eine  Frau  wirklich  eine 


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»aus  dem  Bereich  der  Weibheit  Geschiedene«  ist,  ob  sie 
wirklich  »einen  Aussatz  blößt,  den  die  Winkeldirne  noch 
vor  Jedem,  den  sie  nicht  wegscheuchen  will,   bürge«: 
wenn  sie  ihrem  Geliebten  von  der  Manneskraft  seines 
Vorgängers  spricht.  Ich  werde  den  geschwollenen  Platt- 
heiten dieses  Moralphilisters  nicht  mit  dem  erotischen 
ABC    begegnen,   daß    eine   Frau   in   der  trotz  Herrn 
Harden  wichtigsten  Situation  ihres  Lebens  immer  nur 
spricht,   was  der  Mann  hören  will,  und  daß  die  Lust- 
vorstellung des  Mannes  von  seiner  ethischen  Persönlich- 
keit ebensowenig  determiniert  ist  wie  von  irgendeiner 
sittlichen  Konvention  der  unbeteiligten  Außenwelt.  Ich 
werde  Herrn  Harden  nicht  zu  beweisen    suchen,  daß 
Frau  von  Schönebeck  in  ihren  Taten  viel  weniger  den 
Bereich  der  Weibheit  verließ,  als  Herr  Harden  in  seinen 
Worten   den    Bereich    der   Mannheit.    Ich   werde   ihm 
nicht   zu  beweisen   suchen,  daß  die  Lusttierchen  eine 
milliardenmal    wichtigere    Rolle    in    der    Kultur    des 
menschlichen    Geistes    gespielt    haben    als    die    Bett- 
wanzen, die  schließlich  nichts   weiter  geleistet  haben, 
als  daß  sie  dabei   waren.  Ich    werde  ihm    nicht   ein- 
mal klarzumachen  versuchen,  daß  auch  Herr  von  Goeben 
sich  dem  männlichen  Ideal  endlich  nähert,  dort,  wo  er  die 
Frau,    die    ihm    die    Liebe    beigebracht    hat,    verrät, 
weil    er    nämlich    inzwischen    erfährt,    daß    sie    auch 
Andern   die  Liebe  beigebracht  hat.    Und  fern   sei  es 
von   mir,    Herrn  Harden  zu   erklären,    daß   bis  dahin 
Herr  von  Goeben  mit  seiner  Liebesverlorenheit  noch 
immer  mehr   Ehre   aufgehoben   hat,  als   Herr  Harden 
mit  seiner  nachschmeckenden  Entrüstung.  Er  hatte,  bis 
er  das   rechte  Weib  fand,    mehr   Phantasie   als   Herr 
Harden,    und  als  er  es  fand,    mehr  Erlebnis.    An   all 
dem,  was  Herr  Harden  hier  auszusetzen  hat,  kann  eine 
starke  Natur  zum  Künstler  werden.  Jener  hat  wenig- 
stens ein    intensives     Leben   hinter  sich   und    könnte 
der   nachstümpernden  Kunst  seines   Sittenrichters  wie 
Fiesko  spotten:  Ich  habe  getan,  was  du  nur  maltest! 

Denn  von  all  dem,  was  Herr  von  Goeben  genossen 
hat,  scheint  Herr  Harden  zu  gut  reden  zu  können.  Ich  will 


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ihm  den  Genuß  des  Redens  nicht  mißgönnen,  ich  will 
nicht  in  sein  Privatleben  greifen,  das  er  durch  seine 
publizistische  Entrüstung  eröffnet  hat.  Aber  er  wende 
sich  den  japanischen  Niederlagen  im  russischen  Kriege 
zu  und  lasse  seine  Hand  von  Dingen,  von  denen 
er  nichts  versteht.  Sein  geschlossener  Unstil,  lästig  genug, 
wenn  er  sich  an  politischen  Tatsachen  vergreift,  wird 
bei  der  Behandlung  tieferer  Lebensprobleme  zur 
Qual,  aber  nicht  zu  jener,  aus  der  die  Liebessl^laven 
ihre  Wonnen  schöpfen.  Herr  Maximilian  Harden  findet 
keinen  Dank.  Nicht  bei  der  Unmoral,  gegen  die  er 
die  sittlichen  Gewalten  hetzt,  und  nicht  bei  den  sitt- 
lichen Gewalten,  denen  er  die  Unmoral  zu  lebendig 
einliefert.  Er,  der  tüchtigste  Markthelfer  der  Moral,  hat 
es  erleben  müssen,  daß  ihm  der  preußische  Staatsan- 
walt den  Artikel  über  den  Fall  Schoenebeck  konfisziert 
hat.  Denn  offenbar  gibt  es  in  Berlin  einen  Gerichts- 
dolmetsch für  Delphisch,  und  der  hat,  ohne  die 
Tendenz  des  Herrn  Maximilian  Harden  zu  erfassen,  an 
der  Schilderung  Anstoß  genommen.  Mißverständnisse 
über  Mißverständnisse.  Ich  finde  wieder  die  Schilderung 
harmlos  und  die  Tendenz  sträflich.  Wenn  man  den  Artikel 
übersetzt,  wird  man  sehen,  daß  Herr  Harden  die  harm- 
losesten, alltäglichsten  Vorgänge  der  Menschheit  in  ein 
schiefes  Licht  zu  bringen  sucht.  Das  macht :  er  sieht 
die  Welt  durch  ein  Schlüsselloch.  Man  sei  aber  einmal 
vorsichtig,  lasse  den  Schlüssel  stecken,  und  man  kann 
sicher  sein,  daß  der  Schriftgelehrte  draußen  seine 
Weltanschauung  verliert. 


11  — 


Die  kretensische  Frage 
Von  Karl  Kraus 

Münz,  dem  noch  die  griechische  Königsfamilie  entgangen  war, 
hörte,  daß  sie  in  Korfu  sei,  und  beschloß  das  Versäumte  nachzu- 
holen. Er  fuhr  nach  Korfu,  zog  den  König  sofort  ins  Gespräch,  und 
die  Folge  war,  daß  es  beinahe  zum  Krieg  zwischen  Griechenland 
und  der  Türkei  gekommen  wäre.  Das  ist  kein  Witz.  Die  Untertanen 
der  Könige,  die  sich  mit  Herrn  Münz  einlassen,  müssen  auf  alle 
Eventualitäten  gefaßt  sein.  Im  Vordergrund  gibt  ein  Schmock  seine 
Visitkarte  ab,  und  hinten  sprechen  schon  die  Kanonen.  Sie  sprechen 
nicht  mit  Herrn  Münz,  er  wird  nicht  hören,  was  sie  sprechen,  er 
schreibt  schon  seinen  Leitartikel,  und  denkt  höchstens  an  die  bekannten 
Kugeln  der  rituellen  Küche,  die  noch  keinem  Leipniker  ein  Loch 
in  den  Bauch  gerissen  haben,  wenn  hinten,  weit,  in  der  Türkei, 
die  Völker  aufeinander  schlagen.  Denn  das  ist  die  Folge,  wenn 
einer  unserer  Mitarbeiter  Gelegenheit  hatte.  S.  Mz.  war  also  in  Korfu. 
Der  Generaladjutant  konnte  ihn  >sich  nicht  einmal  setzen  heißen«. 
Es  ist  Namenstag  des  Königs.  Der  Generaladjutant  hat  die  Wahl 
zwischen  dem  Tedeum  und  dem  Münz.  Er  wählt  das  Tedeum.  Münz 
hat  eine  Empfehlung  an  Herrn  Theotokis,  um  dessen  Brust  >sich  das 
breite  blaue  Ordensband  des  griechischen  Erlösers  schlang«.  Diesem 
Herrn  konnte  also  nichts  passieren.  In  der  Tat,  die  Konversation  hatte 
kaum  begonnen,  »als  plötzlich  Mr.  Mac  Kinnan,  der  erste  Offizier 
der  Yacht  ,Rovenska',  die  uns  hieher  nach  den  jonischen  Gewässern 
getragen  hatte,  hereinstürmte  und  uns  fast  atemlos  zurief:  ,A  royal 
message!'  (Eine  königliche  Botschaft)«.  >Was  war  es,  das  unseren 
sonst  so  gleichmütigen  schottischen  Freund  ein  so  hastiges  Tempo 
einschlagen  ließ?«  Nun,  waswird  esgewesen  sein?  Eine  Einladung  von 
S.  M.  an  S.  Mz.  Der  König  sprach's,  der  Page  lief,  und  Herr  Theotokis 
war  erlöst.  Der  Münz  vertröstet  ihn  auf  Nachmittag  und  geht  zum 
König.  Der  König  sagt  ihm  alles,  was  er  auf  dem  Herzen  hat. 
Zunächst  eine  Frage  im  Vertrauen:  > Haben  Sie  gehört,  daß  man 
an  die  Berufung  einer  anderen  Dynastie  auch  nur  einen  Augenblick 
gedacht  hat?«  Münz  schüttelt  den  Kopf,  er  müßte  es  doch  wissen. 
Der  König : » Können  S  i  e  es  allen  Leuten  recht  machen  ?  Und  Sie  stehen 
doch  einem  kleineren  Pflichtkreise  vor  und  brauchen  darum  einen 
kleineren  Kreis  von  Menschen  zu  befriedigen.«  Wer  sagt  das! 
Vielleicht,  ja,  gibts  mehr  Griechen  als  Abonnenten  der  Neuen  Freien 
Presse;  die  sind  aber  dafür  über  die  ganze  Welt  zerstreut!   Der 


—  12  — 

König  fragte  nun  den  Münz  -also  was-  raten  wir!  Nun,  wir  haben's 
erraten :  >Der  König  fragte  mich,  ob  ich  zum  erstenmal  in  Griechen- 
land wäre,  und  wie  es  mir  in  Athen  gefallen  hätte.«  Es  scheint  sich 
um  eine  Verabredung  der  Balkanfürsten  zu  handeln,  hauptsächlich 
diese  eine  Frage  —  ob  er  und  wie  es  ihm  —  an  den  Münz  zu  stellen. 
Er  merkt  aber  nicht,  daß  er  gefrozzelt  wird,  und  beteuert,  wie  in 
Konstantinopel,  in  Sophia,  in  Bukarest:  >Zum  erstenmal  im  Leben, 
Majestät.«  Und  fährt  fort,  wie  der  gebildete  Mann  in  den  »Lokal- 
zugstudien«, der  immer  von  Wien  nach  Baden  fortfährt:  > Daß 
ich  glücklich  war,  mit  den  zaubervollen  Stätten,  auf  denen 
die  Glorie  der  Antike  liegt,  sozusagen  ein  Wiedersehen  zu 
feiern  —  ein  Wiedersehen  insofern,  als  wir  im  Geiste  ja 
all  das  von  früher  Jugend  an  schon  geschaut  hatten  — 
brauche  ich  kaum  hervorzuheben.  Aber  auch  das  Moderne  in 
Athen  hat  mir  vielfach  gefallen  —  die  herrlichen,  von  griechischen 
Patrioten  zu  Gemeinzwecken  gestifteten  Paläste  —  die  sauberen 
schönen  Straßen  —  ein  Hotel  allerersten  Ranges.  In  Athen  aller- 
wärts  Komfort.«  Und  nun  nimmt  der  König  die  Gelegenheit  wahr, 
weil  der  Münz  schon  einmal  da  ist,  von  ihm  die  kreten- 
sische  Frage  lösen  zu  lassen.  >Seit  dem  Jahre  1863  sitze  ich 
auf  dem  Thron,  und  von  der  ersten  Stunde  an  hatte  ich  die 
kretensische  Frage  auf  dem  Buckel«,  sagt  der  König  wörtlich 
und  denkt,  der  Münz  könne,  da  er  sich  gerade  in .  dieser 
Gegend  aufhält,  die  Sache  prima  vista  erledigen.  Der 
Münz  macht  auch  sofort  eine  hochpolitische  Bemerkung,  worauf 
der  König  sagt:  >Also  auch  Sie  werfen  uns  vor.  .  .  Darauf  ant- 
worte ich  Ihnen  .  .  .«  Und  es  fällt  richtig  das  Wort  Statusquo.  >Sie 
waren,  wie  ich  höre,  in  Kreta?  Was  hat  man  dort  bis  zur  Ankunft 
des  griechischen  Oberkommissärs  geleistet?  Nichts,  gar  nichts.« 
>Ich  kann  Eurer  Majestät  nur  recht  geben.  Dort  ist  ja  noch  das 
reinste  Mittelalter  in  Hinsicht  auf  alle  Verkehrsverhältnisse.«  (Wir 
haben  später  erfahren,  daß  man  dem  Münz  in  Kreta  gesagt  hat: 
>Wir  können  nicht  einmal  untereinander  normal  verkehren.)  Der 
Münz  fragt  den  König,  ob  es  auch  andere  Inseln  gibt,  die 
griechisch  sind  und  gleichwohl  zur  Türkei  gehören.  Der  König 
zuckt  die  Achseln  und  sagt,  daß  er  nur  Kreta  will.  Münz:  > Eurer 
Majestät,  wie  mir  scheint,  durchaus  gerechtes  Verlangen,  entspricht 
meinen  Gesinnungen  <.  Der  König  empfindet  lebhafte  Genug- 
tuung. >Nach  einer  etwa  halbstündigen  Unterredung  entließ  mich 


13  — 


der  König,  begleitete  mich  noch  durch  das  nebenstehende  Gemach 
und  machte  eine  Anspielung,  daß  er  mich  wohl  noch  in  Korfu 
wiedersehen  würde.«  »Für  alle  Fälle  aber  gab  er  mir  Grüße  für  eine 
besonders  charmante  und  schöne  Dame  der  Wiener  Gesellschaft 
mit.<  (Münz  ist  diskret  und  nennt  keinen  Namen.)  Inzwischen 
ist  der  König  von  England  gestorben.  >Ich  war  nun  der  sicheren 
Annahme«,  sagt  Münz,  >daß  unsere  Einladung  zu  Hofe,  die  wir 
den  Tag  zuvor  bekommen  hatten,  noch  im  letzten  Augenblick 
widerrufen  werden  würde.«  Da  hat  er  aber  nicht  mit 
seiner  Beliebtheit  gerechnet.  Die  kann  es  mit  jeder  Hoftrauer  auf- 
nehmen. Bald  hörte  er  denn  auch,  »daß  es  bei  der  Einladung 
bliebe;  es  wäre  ja,  meinte  der  Generaladjutant,  nur  ein  Mahl  im 
engsten  Kreise. . .  .«  Da  darf  der  Münz  nicht  fehlen.  Der  Münz  in 
Korfu  —  das  läßt  sich  der  König  nicht  zweimal  sagen.  Die  Stimmung 
bei  Tisch  war  zwar  »etwas  gedrückt«,  aber  sie  war  da.  Was  König  von 
England!  Wenn  der  Münz  von  der  Presse  zum  erstenmal  im  Leben  in 
Griechenland  ist,  so  wäre  eine  Nichtzuziehung  zum  Familiendiner 
eine  so  eklatante  Verletzung  der  internationalen  Höflichkeit,  daß 
man  gar  nicht  einmal  daran  denkt,  so  etwas  zu  riskieren.  Wegen  des 
Münz  einen  Krieg  mit  der  Türkei  —  ja ;  aber  doch  nicht  einen  mit 
der  Neuen  Freien  Presse!  Der  König,  »im  ganzen  schweigsam, 
richtet  doch  zeitweise  das  Wort  an  mich«.  »Einmal  sagt  er: 
,Mit  Bedauern  habe  ich  Sie  gestern  in  einer  Loge  im  Theater 
gesehen.'  ,Warum,  Majestät  mit  Bedauern?'«  Und  der  König  ant- 
wortet nicht,  wie  man  erwartet  hat:  Weil  ich  Sie  im  Theater 
gesehen  habe,  sondern:  Weil  die  Vorstellung  viel  zu  wünschen 
übrig  ließ.  Und  nun  macht  der  Münz  eine  sehr  feinsinnige 
Bemerkung:  »Aber  es  hat  mir  doch  Genugtuung  bereitet, 
zum  erstenmal  im  Leben  von  der  Bühne  herab  griechische 
Laute  zu  hören,  und  war  es  auch  nur  die  Übersetzung  des  ,Walzer- 
traum'.  Alle  Achtung,  Majestät,  vor  der  Begabung  des  Komponisten, 
meines  österreichischen  Landsmannes.  Aber  wir  haben  das  bessere 
Geschäft  gemacht,  wenn  die  Griechen  uns  ihre  Tragödien  gaben 
und  dafür  unsere  Operetten  eintauschen.'«  Bravo!  Dafür  wird 
ihm  der  Kronprinz  vorgestellt.  »Der  Kronprinz  ist  eine  kräftige 
Gestalt,  dem  man  kaum  ansieht ...  Er  spricht  gut  deutsch.«  Der 
Münz  nicht  Der  Kronprinz  gibt  dem  König  an  Offenherzigkeit  nichts 
nach  und  beklagt  sich  beim  Münz  über  seine  Ausschließung  aus  dem 
Generalkommando.    Münz    tröstet:    »Der   zukünftige    König    der 


—  14  — 


Hellenen  mag  doch,  auch  wenn  er  jetzt  nicht  mehr  das  Armee- 
kommando innehat,  noch  imnier  eine  große  Mission  haben.«  »Der 
Kronprinz  rühmte  die  Vorzüge  der  Griechen,  beklagte  es  aber, 
daß  bei  ihnen  eine  geringere  Neigung,  Disziplin  zu  halten,  vor- 
handen sei,  als  etwa  bei  den  Deutschen,  dem  Volke  der  eisernen  Di- 
sziplin.« Er  bemerkte:  »Die  Griechen  sind  eigentümlich. < 
Sie  verübeln  nämlich  dem  Kronprinzen  das  Radfahren,  das 
Schlittschuhlaufen  und  das  Tennisspielen.  Der  Münz  sagt: 
>Das  befremdet  mich,  königliche  Hoheit.  Der  Sport  ist  ja 
eigentlich  ein  Vermächtnis  des  auf  die  höchste  körperliche 
Ausbildung  bedachten  Griechentums  an  die  Menschheit.«  Man 
sieht,  es  war  höchste  Zeit,  daß  das  Gespräch  durch  das 
Erscheinen  der  Königin  unterbrochen  wurde.  Nun  war 
die  offenherzige  Familie  schon  fast  vollzähl  g  um  den  Münz 
versammelt.  Die  Königin  >  legte«  ihm  auch  sogleich 
etwas  >ans  Herz«.  Nämlich,  »Korfu  nicht  zu  verlassen,  ohne 
einige  Ausflüge  in  die  Umgebung  gemacht  zu  haben«.  Viel- 
leicht meinte  sie  aber:  einige  Ausflüge  in  die  Umgebung 
zu  machen  und  dann  Korfu  zu  verlassen.  Dieses  sei  »ein  wahres 
Paradies«,  sagte  sie  und  begann  den  Baedeker  zu  zitieren: 
»Weithin  ziehen  sich  wundervolle  Straßen,  die  man  nicht  nur 
bequem  mit  Wagen,  sondern  auch  mit  Automobilen  befahren  kann.< 
Jetzt  kam  aber  ein  heikles  Thema.  »Die  Königin  meinte,  sie  ver- 
mißte in  meiner  Aussprache  des  Deutschen  die  wienerischen  An- 
klänge.« Das  hatte  sie  gut  heraus.  »Ich  erwiderte  ihr,  daß  meine 
Heimat  in  Mähren  wäre,  in  einer  Gegend,  in  der  sich  das  slavische 
und  das  deutsche  Element  berührten«.  »Es  sind  wohl  Czechen«, 
versetzte  die  Königin  boshaft,  »die  dort  neben  den  Deutschen 
wohnen«...  Die  Königin  kam  dann  noch  »auf  die  Kraft  der 
Sonne,  die,  in  der  Form  von  Sonnenbädern  angewendet,  gewisse 
Krankheiten  heile«.  Die  Königin  ist  nämlich  Samaritanerin  von 
Beruf.  »Sie  denkt  sehr  menschlich«.  »Die  Schrecken  des  Krieges 
kennt  sie  aus  eigener  Anschauung.  Sie  hat  die  Folgen  des  griechisch- 
türkischen Feldzuges  aus  der  Nähe  gesehen  .  .  .«  Des  vergangenen. 
Nun  sieht  sie  aber  auch  die  Ursache  des  künftigen  aus  der 
Nähe,  nämlich  den  Herrn  Münz.  Sir  Wächter  mischte 
sich  jetzt  ins  Gespräch,  jener  Herr,  der  bekanntlich  eine 
Föderation  auf  wirtschaftlicher  Grundlage  will.  Endlich  hat  aber 
auch   der  Prinz  Georg   Appetit   auf   den   Münz   bekommen,   tritt 


herzu  und  stellt  einige  Fragen  an  ihn,  wie:  »Haben  die  Türken 
auch  nur  das  geringste  Anrecht  auf  Kreta?  Haben  sie  dort  etwas 
geleistet?  Und  sind  denn  nicht  auch  die  Mohammedaner  auf  Kreta 
Griechen?«  Anstatt  nun  schlicht  zu  sagen:  »Was  wollen  Sie  von 
mir  haben?<  oder  »Weiß  ich?«  oder  »Ihre  Sorgen  raöcht 
ich  haben!«  oder  was  man  sonst  eben  in  solchen  Situationen  zu 
sagen  pflegt,  läßt  sich  der  Münz  in  Debatten  ein.  Erst  nach- 
dem er  die  fortwährenden  Anspielungen  sämtlicher  königlichen 
Familienmitglieder  auf  Kreta  und  die  Kretenser  und  das  Kichern  des 
Prinzen,  dem  die  Königin  einen  Rippenstoß  gab,  endlich  kapiert 
hatte,  zog  er  es  vor,  sich  zu  entfernen.  Der  König  rief  ihm  nach: 
»Und  bitte  nochmals,  vergessen  Sie  nicht,  die  reizende  Frau  .  . . 
in  Wien  von  mir  herzlichst  zu  grüßen.«  (Münz  ist  diskret  und 
nennt  keinen  Namen.)  Der  König  wollte  ihm  einen  Gegenbesuch 
auf  der  Yacht  machen,  »der  Tod  des  Königs  Eduard  jedoch  ver- 
anlaßte  ihn,  diesen  Besuch  zu  unterlassen«.  Das  ging  also  doch 
nicht.  Aber  der  Kronprinz  ließ  es  sich  nicht  nehmen.  »Schlag 
5  »Uhr«  kam  er  zum  Tee  (weil  es  doch  sonst  kein  five  o  clock-Tee 
gewesen  wäre).  Einige  Barken  schwammen  heran,  die  dem  Münz 
»ein  veritables  neapolitanisches  Ständchen  darbrachten«.  Es  war 
sehr  schön.  »Der  Kronprinz  brach  nach  zweiundeinhalbstündigem 
Aufenthalt«,  und  zwar  auf,  zum  Schlosse,  wohin  ihn  aber  der  Münz 
noch  begleitete. . .  »Als  wir  den  Tag  darauf  erwachten,  sahen  wir  den 
Vater  Ätna,  wie  er  sein  Morgen pfeifchen  rauchte.«  Das  ist  eine 
sehr  euphemistische  Bezeichnung  für  das,  was  der  Vater  Ätna  tat, 
als  er  den  Münz  sah.  Am  Abend  —  das  heißt,  »als  der  Tag  zur 
Rüste  ging«  —  wandelte  der  Münz  bereits  »bewegten  Herzens 
unter  den  Trümmern  von  Messina  einher«,  nicht  ohne  dem  Ge- 
danken Ausdruck  geben  zu  können,  »wie  nahe  im  Leben  Zauber 
und  Tod,  Herrlichkeit  und  Untergang  aneinander  gerückt  sind«. 
Gewiß,  es  ist  im  Leben  häßlich  eingerichtet.  Aber  der  furchtbarste 
Kontrast  ist  doch  zwischen  ein^m  Interview  und  einem  Krieg. 
Ein  König  wird  beim  Anblick  eines  Reiseschmocks  redselig,  und 
Europa  steht  in  Flammen.  »Konstantinopel,  8.  Juni:  Die  Mit- 
teilungen der  Neuen  Freien  Presse  über  die  Äußerungen,  welche 
König  Georg  von  Griechenland  zu  ein-m  Mitarbeiter  dieses  Blattes 
gemacht  hat,  sind  gestern  im  Ministerrat  besprochen  worden.« 
Man  verlangt  ein  Dementi,  man  droht  mit  dem  Boykott  gegen  Griechen- 
land. Der  König  schwankt  Die  Neue  Freie  Piesse  bleibt  aufrecht. 


—  16  — 


Die  Rubrik  >Die  Äußerungen  König  Georgs  zu  einem 
Mitarbeiter  der  Neuen  Freien  Presse«  wird  fortgeführt.  Der  Groß- 
vezier  fordert  den  griechischen  Gesandten  auf,  die  Äußerungen  des 
Königs  über  die  Annexion  Kretas  zu  widerrufen.  Der  ,Tanin' 
verlangt  >ein  amtliches  Dementi  oder  Krieg«.  Die  griechi- 
schen Untertanen,  die  in  der  Türkei  leben,  sollen  ausgewiesen 
werden.  Auch  in  Salonichi  hat  sich  ein  Boykottkomitee  kon- 
stituiert und  die  Sperre  über  die  griechischen  Schiffe  verhängt. 
Die  Erregung  ist  im  Zunehmen.  Man  fordert  die  Einberufung 
eines  Kongresses  aller  Berliner  Vertragsmächte.  Man  nennt  die 
Äußerungen  des  Königs  einen  »schrecklichen  Selbstmord«.  Es 
geht  das  Gerücht,  daß  Griechenmassakres  gepfant  sind.  Der 
Münz  befindet  sich  auf  der  Rückreise  in  die  Redaktion.  Der 
König  schwankt.  Die  Neue  Freie  Presse  bleibt  aufrecht.  Wird  sich 
der  König  für  den  Krieg  oder  gegen  die  Neue  Freie  Presse  ent- 
scheiden? ...  Er  läßt  dementieren.  Die  Retorsionsmaßregeln  werden 
zurückgezogen.  Es  tritt  Beruhigung  ein.  ,Tanin'  erklärt,  nunmehr 
werde  kein  verantwortlicher  Leiter  in  Griechenland  mehr  die  Türkei 
verletzende  Erklärungen  geben.  Pfui,  ruft  die  Neue  Freie  Presse: 
»Die  merkwürdige  Geschichte,  wie  König  Georg  unter  dem  Hoch- 
druck einer  internationalen  Verwicklung  zu  dem 
Dementi  der  gegenüber  unserem  Mitarbeiter  ge- 
machten Äußerungen  gezwungen  werden  soll,  ist  von 
uns  wiederholt  mitgeteilt  worden.  ,Tanin'  spricht  jedoch  von 
einem  bereits  veröffentlichten  Dementi,  das  wir  nicht  kennen. 
Bisher  ist  uns  dieses  Dementi  nicht  zugekommen.  Unser 
Mitarbeiter  hat  gewissenhaft  über  das  berichtet,  was  ihm  der 
König  gesagt  hat,  und  seine  Mitteilungen  bleiben  aufrecht, 
mag  nun  das  Dementi  erscheinen  oder  nicht.  Anm.  d.  Red.«  Sie 
besteht  auf  dem  Krieg.  Ihre  welthistorische  Frechheit  wird  auch  aus 
diesem  Feldzug  siegreich  hervorgehen.  Sie  läßt  den  Münz  nicht 
im  Stich.  Er  verläßt  den  Balkan  im  Bewußtsein  treuer  Pflicht- 
erfüllung. Er  hat  schon  mit  vielen  Königen  gesprochen,  aber  keiner 
hätte  es  gewagt,  nachträglich  etwas,  was  er  nicht  gesagt  hat,  in  Abrede 
zu  stellen!...  Man  kann  wirklich  begierig  sein,  wie  sich  der  König 
da  herausgewunden  hat.  Ein  Gerücht  besagt,  er  habe  ein  diplo- 
matisches Meisterstück  vollbracht.  Das  ganze  war  ein  Mißverständnis. 
Alles  bleibt  aufrecht,  nur  habe  es  sich  nicht  um  die  kretensische 
Frage  gehandelt,  sondern  um  die  Frage,  ob  der  Kretinismus  heilbar  ist. 


17 


Über  Ansichten 

Von  August  Strindberg 

Unter  Ansichten  versteht  man  im  allgemeinen  Ge- 
danken, Meinungen,  aber  das  Wort  bedeutet  wohl  nur 
Gesichtspunkte,  bei  alltäglichen  Leuten.  Wenn  man 
daher  weiß,  welche  Stellung  ein  gewöhnlicher  Mensch 
in  der  Gesellschaft  einnimmt,  so  kann  man  seine  An- 
sichten im  Kopf  ausrechnen.  Einer  aus  der  Oberklasse 
sieht  ja  das  Untere  in  Verkürzung,  und  einer  in  der 
Unterklasse  das  höher  Stehende  in  Verkürzung.  In 
der  Perspektivlehre  heißt  der  Gesichtspunkt  der  Ober- 
klasse Vogelperspektive  und  der  Gesichtpunkt  der 
Unterklasse  Froschperspektive. 

Es  ist  ja  klar,  daß  sich  die  Sache  nicht  ebenso 
ausnimmt,  wenn  man  sie  von  oben  oder  von  unten 
sieht.  Und  wenn  einer  aus  der  Oberklasse  einmal 
Froschperspektive  anlegt,  so  ist  das  abnorm,  nicht  auf- 
richtig, und  erregt  Mißtrauen;  oder  er  ist  ein  Über- 
gangener, ein  Deklassierter,  mit  einem  Wort,  ein  Miß- 
vergnügter. Wenn  einer  aus  der  Unterklasse  ein  einziges 
Mal  seine  Klasse  von  oben  sieht,  so  ist  er  ein  Lakai 
oder  er  ist  zu  Geld  gekommen. 

»Ansichten  austauschen*,  ist  nur  leeres  Gerede, 
denn  das  kann  niemand  gutwillig  tun;  aber  Ansichten 
ändern,  das  muß  man,  wenn  sich  der  Gesichtspunkt 
ändert,  das  heißt,  wenn  einer  aus  der  Oberklasse  zur 
Unterklasse  sinkt  oder  einer  aus  der  Unterklasse  zur 
Oberklasse  steigt. 

Die  Bürgerschaft  oder  Mittelklasse  hat  einen 
schwankenden  Gesichtspunkt,  der  durch  ihre  Stellung 
zwischen  Oben  und  Unten  bedingt  ist.  Und  darum 
wirkt  die  Mittelklasse  unentschieden,  charakterlos;  und 
wird  sehr  oft  Gegenstand  des  Hasses  der  beiden  be- 
stimmten Klassen,  weil  sie  nicht  Partei  ergreifen  kann, 
was  ja  schwer  ist. 


Aus     der     schwedischen     Handschrift.     Die    Buchausgabe    der 
Bekenntnisse  erscheint  erst  IQll. 


18  — 


Wenn  man  dann  fragt,  wer  recht  hat,  ist  die 
Antwort:  jeder  hat  unrecht  oder  recht  von  seinem 
Standpunkt,  denn  beide  sehen  ja  die  Sache  in  Ver- 
kürzung, von  oben  oder  von  unten. 

Die  Mittelklasse  müßte  also  den  richtigen  Blick 
auf  die  Sache  haben,  weil  sie  sie  vom  richtigen  Milieu - 
niveau  betrachtet;  aber  davon  wollen  die  andern  beiden 
nichts  hören. 

Wenn  man  Nationalität,  Religion,  Alter,  Geschlecht 
eines  Menschen  kennt,  so  kennt  man  im  allgemeinen 
dessen  Ansichten  oder  Gesichtspunkt.  Ein  Finnländer 
und  ein  Pole  werden  immer  das  gutmütige  russische 
Volk  für  Spitzbuben  halten;  ein  Protestant  oder  Heide 
wird  immer  glauben,  die  Jesuiten  seien  Meuchelmörder, 
obwohl  der  Orden  von  dem  edlen  Ignatius  Loyola 
gestiftet  wurde,  um  das  Christentum  zu  retten;  der 
Junge  glaubt  immer  mehr  vom  Leben  zu  wissen  als 
der  Alte,  obwohl  er  nichts  weiß;  eines  Weibes  Gesichts- 
punkt oder  Ansichten  in  der  Frauenfrage  weiß  man 
vorher;  Rosa  Bonheur  hat  dürftige  Bilder  gemalt  (die 
Troyon  und  Breton  viel  besser  gemacht  haben),  ergo 
ist  das  Weib  ebenso  begabt,  wie  der  Mann;  wenn 
aber  die  Frau  ihre  Überlegenheit  über  den  Mann 
zeigen  will,  überfällt  sie  ihn,  ihren  besten  Freund, 
während  des  Schlafes  und  mordet  ihn;  das  ist  Über- 
legenheit im  Bösen,  was  Unterlegenheit  ist.  —  — 

Entschiedene  Parteimänner  laufen  in  erregten 
Zeiten  wie  philosophische  Systeme  umher,  angetan  mit 
den  Ansichten  der  Partei.  Von  diesem  Standpunkt  be- 
urteilen sie  Menschen,  Nationen,  Bücher,  Zeitungen, 
sogar  Kunstwerke,  Theater  und  Musik. 

Wenn  du  mit  einem  Sozialisten  über  einen  ab- 
wesenden Menschen  sprichst,  so  blinzelt  er  erst  und 
überlegt  eine  Sekunde,  ob  der  Abwesende  dafür  oder 
dagegen  ist,  und  gleich  ist  sein  Urteil  fertig: 

—  Das  ist  ein  Bube!  Das  ist  ein  guter  Kerl! 

Summarisch  nur! 

Sieht  er  ein  Schauspiel,  so  ist  es  ein  Meister- 
werk, wenn  der  Arbeiter  gelobt  wird  und  der  Kapitalist 


—  19  — 

unsympathisch  ist  oder  wenn  nur  ein  Parteifreund  das 
Stück  geschrieben  hat. 

Etwas  so  Unschuldiges  wie  ein  gemaltes  Bild 
kriegt  ein  anderes  Kolorit,  wenn  es  von  einem  Partei- 
freund gemalt  ist.  Farbe  und  Zeichnung  werden 
meisterhaft,  auch  wenn  sie  elend  sind. 

So  werden  viele  falsche  Werte  ausgegeben,  falsche 
Münzen,  falsches  Ansehen;  falsche  Größen  werden  ge- 
krönt und  wirkliches  Verdienst  entwertet. 

Im  Reichstag  weiß  man  ja,  daß  ein  halbwegs 
gesicherter  Landmann  Agrarier  ist  und  mit  den  Mitteln 
des  Staates  sparsam  umgeht;  daß  ein  Militär  (falls 
nicht  übergangen)  der  Ansicht  ist,  die  Verteidigung 
müsse  beständig  verstärkt  werden;  ein  Artillerist  hält 
den  Bau  von  Festungen  für  notwendig;  ein  Marine- 
offizier will  die  Flo'te  vergrößert  sehen;  der  höhere 
Beamte  will  mehr  Regierung  und  strengere  Gesetze 
haben  u.  s.  w. _^ 

Die  heftige  Liebe  zu  den  Japanern  hat  mindestens 
zwei  Ursachen.  Die  erste  war  der  Russenhaß,  die 
zweite  der  Christentumshaß  der  Heiden.  Die  Japaner 
sollten  den  Heiden  als  Anschauungsmaterial  dienen, 
um  zu  zeigen,  wie  die  Zivilisation  ohne  Christentum 
existieren  könne.  Aber  die  Zivilisation  äußerte  sich  in 
Schlachtschiffen  und  Sozialismus,  Streichhölzchen  und 
Zylinderhüten,  Darwinismus  und  Frauenfrage.  Das  war 
eine  Tendenzsympathie,  die  sich  nicht  verminderte,  als 
man  die  Opferpriester  mit  großen  Messern  in  den 
Händen  sah,  oder  als  man  hörte,  daß  der  Kaiser  und 
die  ganze  Nation  Spiritisten  seien,  die  mit  den  Geistern 
der  Abgeschiedenen  sprechen. 

Bei  einer  unvernünftigen  Sympathie  drückt  man 
vor  den  Inkonsequenzen  ein  Auge  zu  oder  leugnet  die 
Tatsache. 

Wenn  nun  der  Mensch  seine  Zeitung  liest,  so 
erfährt  er  nichts  Neues,  sondern  nur  was  er  schon 
gewußt  hat;  alles,  was  die  Sache  in  ein  anderes  Licht 
setzen  könnte,  wird  ausgelassen,  ignoriert,  gefärbt.    In 


20  — 


ö^,n  Zeitungen  der  andern  steht  etwas  ganz  anderes, 
oder  das  Gegenteil,  wenn  man  es  zweimal  liest. 

Ebenso  ist  es  mit  den  Büchern.  Jeder  liest  seine 
Dichter,  bei  denen  er  seine  Ansichten  ausgedrückt 
findet;  die  andern  Bücher  liest  er  nicht;  auf  die  Art 
kommt  er  nie  aus  seiner  Tauchertracht  und  seiner 
Luftblase. 

Treffen  sich  Menschen  von  verschiedenen  An- 
sichten und  Lagern,  so  geraten  sie  entweder  in  nutz- 
losen Streit  oder  sie  schwatzen  Unsinn.  Überzeugt  wird 
niemand,  auf  Gründe  hört  niemand,  nicht  einmal  tat- 
sächliche Aufklärungen  nimmt  jemand  an,  und  sie 
trennen  sich,  ebenso  klug  wie  vorher. 

Treffen  sich  Menschen  vom  selben  Lager  und  mit 
denselben  Ansichten,  so  haben  sie  einander  nichts  zu 
sagen,  weil  sie  die  Ansichten  des  andern  im  Voraus 
kennen.  Dann  setzen  sie  sich  hin  und  spielen  Karten 
oder  machen  Musik,  und  das  ist  gut. 

Mit  einem  Wort,  die  Ansichten  liegen  hinten  in 
einer  Spinndrüse  und  von  dort  werden  Fäden  und 
Netze  gesponnen,  wenn  es  nötig  ist.  —  — 

Als  der  große  Tichborneprozeß  1866  in  England 
eröffnet  wurde,  teilte  sich  die  Menschheit  sofort  in 
Lager  mit  bestimmten  Ansichten  über  Ortons  Legitimität. 
Obgleich  Untersuchung  und  Urteil  erst  1874  fertig 
wurden,  hatte  der  Unterpfarrer  von  Rösbo  schon  1868 
sein  Urteil  fertig:  »Orton  ist  Erbe«.  Der  Kronvogt  von 
Almsätra,  tausend  Meilen  von  der  Gerichtsstelle,  war 
dagegen  zu  einer  entgegengesetzten  Ansicht  gekommen, 
weil  er  als  Jurist  und  Steuererheber  soviel  Betrügerei 
beim  Bezahlen  der  Steuer  und  Teilen  der  Erbschaft 
erlebt  hatte.  Jeder  spann  sein  Netz  und  blieb  darin 
sitzen.  Als  Orton  1874  zu  vierzehn  Jahren  Zuchthaus 
verurteilt  wurde,  sandte  man  Petitionen  von  der  ganzen 
Erde,  auch  aus  Rösbo,  »für  den  Märtyrer  der  engli- 
schen Heuchelei  und  des  elenden  Rechtswesens«. 

Erst  1895  gestand  Orton,  daß  er  der  Betrüger  und 
der  Sohn  eines -Schlächters  aus  Wapping  sei. 

Das  überzeugte  die  Petitionäre  für  seine  Unschuld 


—  21  — 


nicht,  sondern  sie  meinten,  er  habe  den  Verstand  ver- 
loren.   

Auch  im  alltäglichen  Leben  laufen  die  Menschen 
mit  fertigen  Ansichten  herum.  Wenn  man  in  gemischter 
Gesellschaft  ein  gleichgtiltiges  Begebnis  erzählt,  so  wird 
es  gleich  durch  verschieden  gefärbte  Gläser  gesehen. 
Man  kann  auch,  ohne  es  zu  wollen,  einen  Sturm  von 
Leidenschaften  wecken,  wenn  man  einen  unbekannten 
Kontakt  berührt  hat,  der  Ströme  von  uns  unbekannten 
Interessen  schließt.  Wir  verstehen  nicht,  »warum  der 
Mensch  so  böse  wegen  nichts  wurde«;  aber  der  Ein- 
geweihte weiß,   wo  der  Knopf  zum  »Widerstand«  saß. 

Eine  andere  gleichgültige  Tatsache  wird  erzählt. 
Jeder  holt  und  zieht  sie  nach  seiner  Seite,  das  Be- 
deutungslose wird  sehr  wichtig,  die  Tatsache  wird 
entstellt,  gedeutet,  gefärbt  und  zu  den  Zwecken  eines 
jeden  benutzt,  wenn  sie  auch  durchaus  nicht  dazu  paßt. 

Wer  die  Tatsache  aussprach,  gab  nur  die  Wolle; 
die  andern  spannen  allerhand  Garn  und  dann  webten 
sie  Gewebe  oder  Netze,  um  die  Seelen  von  einander 
zu  fangen. 

Es  ist  also  die  Selbstsucht  oder  die  höllische 
Herrschsucht,  die  alle  Urteile  fälscht. 

Der  Weise  und  der  Religiöse  sucht  sein  Urteil 
von  Stellung,  Interesse,  Leidenschaften  frei  zu  machen. 

Brutus  verurteilt  seinen  Sohn  zum  Tode,  Dante 
seinen  Lehrer  zum  Inferno.  Der  Religiöse  allein  hat 
den  Mut,  seine  Irrtümer  abzuschwören  und  einzu- 
gestehen: ich  habe  unrecht  gehabt. 

Richter,  Staatsmann  und  Regent  sollten  immer 
über  Interessen  und  Leidenschaften  stehen,  dann  würde 
der  Staat  gelenkt  wie  ein  Dampfer,  unabhängig  von 
den  Winden;  dann  würden  Urteile  gefällt,  die  unab- 
hängig von  Verwandtschaft  und  Freundschaft  sind. 
Aber  nur  vor  Gott  kann  man  auf  sein  Selbst  ver- 
zichten; es  dem  Feinde  zu  Füßen  legen,  auch  wenn 
dieser  recht  hat,  ist  so  schwer,  weil  der  Feind  beinahe 
niemals  edelmütig  ist,  denn  das  ist  das  Schwerste  von 
allem.  Man  glaubt  ihm  einen  schlechten  Dienst  zu  tun, 


—  22 


wenn  man  einräumt,  daß  er  recht  hat:  dann  schwillt 
sein  Hochmut  und  seine  Grausamkeit  wächst.  Und 
nicht  Verlangen  nach  Wahrheit  hat  ihn  getrieben, 
sondern  Lust,  recht  zu  behalten  und  zu  ducken;  und 
die  Menschen  sind  so,  daß  sie  sich  mit  ihren  Ansichten 
identifizieren;  und  wenn  sie  dafür  kämpfen,  so  ist  die 
Triebfeder  der  Wille  zur  Macht  oder  die  Lust,  ducken 
und  treten  zu  können. 

Darum  fordern  sie  auch,  man  »solle  fremde  An- 
sichten respektieren«.  Mit  fremden  meinen  sie  nur 
ihre  eigenen  Ansichten,  denn  sie  respektieren  niemals 
fremde. 


Der  einsame  Park 
Von  Peter  Altenberg 

Im  Parke  waren  Sträucher  wie  Bergsträucher  im 
Bergsturm  mit  ganz  verbogenen  und  zusammen- 
gebogenen Zweigen.  Die  Blüten  dufteten  wie  Berg- 
blüten in  unzugänglichen  Geklüften,  zart  und  von 
einer  andern  Erde  geboren,  geheimnisvoll  infolge  von 
Verfeinerungen.  Daneben  hing  in  einem  Käfig  die 
Turteltaube  des  Knaben  Hans  Otto  Erik,  des  einzigen 
gesunden  Menschen  im  Parke.  Und  selbst  von  ihm 
sagte  seine  bleiche  reizende  französische  Gouvernante : 
»C'est  un  enfant  melancolique.  II  a  des  regards  pour 
moi  comme  si  j'etais  une  princesse  de  France.  II 
a  toujours  peur  qu'on  ne  me  traite  pas  comme  son 
coeur  tendre  me  traite  dans  chaque  minute.  Je  crois 
qu'il  halt  tous  les  gens  qui  ne  se  prosternent  pas 
devant  moi.  Quand  il  m'apporte  une  chaise  du  jardin, 
c'est  comme  le  fiance  l'apporterait  ä  sa  bien  aimee. 
Je  crois  qu'il    est  paf    trop  malheureux    que    je    suis 

bonne  et  servante.  C'est  un  enfant  melancolique. 

II  voit  dejä  que  le  monde  est  autrement  qu'un  coeur 
tendre  le  commande.  Je  voudrais  lui  dire:  Otto  Erik, 
on  me  paye  pour  mes  Services!  mais  il  ne  com- 
prendra  rien  de  toutes  ces  choses,  comme  si  on  dirait 


23 


ä  un  poete  que  le  monde  entier  est  une  grande  affaire 
de  bourse  — « 

Der  alte  Fürst  hat  sich  mit  der  Weltordnung 
leichter  abgefunden,  denn  wenn  er  beim  Spaziergange 
mit  der  flachen  Hand  jeden  Baumstamm  berührt,  ist 
er  bereits  glücklich  und  zufrieden. 

Die  »Königin«,  welche  niemals  eine  Königin 
war,  kniet  vor  dem  abgeschlagenen  Mandelbaum 
nieder  und  betet  für  sein  Schicksal,  daß  er  wieder 
wachse.  Pflanzen  und  Vögel  sind  ihre  Domäne,  und 
wenn  der  Dachdecker  das  Dach  ausbessert,  beschimpft 
sie  ihn  wegen  der  gestörten  Vogelnester.  Ober  die 
Menschen  hat  sie  keine  Herrschaft,  aber  Pflanzen  und 
Tiere  müssen  es  sich  gefallen  lassen,  daß  sie  sich  ihrer 
wie  eine  Schutzgöttin  annimmt. 

Dem  jungen  Fräulein  ist  der  erste  Kuß  unter 
einer  Gaslaterne  ins  Gehirn  gestiegen,  und  indem  sie 
alle  eventuellen  schrecklichen  Ereignisse  vorausahnt, 
fürchtet  sie  sie  und  sucht  sie  zugleich  auf.  So  flieht 
sie  vor  sich  selbst  in  der  Todesangst,  sich  einmal  zu 
finden  und  in  diesem  Augenblicke  für  ewig  sich  zu 
verlieren 

Der  Baron  blickt  durch  sein  Schildkrotmonocle 
kalt  und  hart  auf  den  Irrsinn  der  Welt.  Er  denkt : 
»Idealisten  und  Träumer,  Religionsstifter  und  Welt- 
beglücker, was  quält  Ihr  euch  ab,  um  diese 
Herde  von  Milliarden  blökender  Schafe,  die  euch 
nie  verstehen  werden  und  von  euch  nichts 
profitieren  als  einen  öden  Religionskultus!  Meine 
alte  Wirtschafterin  stopft  mir  meine  Zigaretten  und 
meine  Strümpfe,  und  die  Probleme  der  Welt  sind  mir 
nichts,  je  tiefer  ich  sie  erkannt  habe !  Bismarck  hat 
Deutschland  geeinigt  —  aber  China,  Japan  und 
Amerika  können  dieses  Werk  in  wenigen  Monaten 
zunichte  machen!  Jeder  Mensch  baut  sich  sein  Nestchen. 
Daß  ich  mir  keines  baue,  ist  meine  tiefste  Größe!  Ich 
lache  über  nichts,  ich  weine  über  nichts  und  nichts 
kann  mich  rühren.  Ich  sehe  nur  die  schauerliche  Herr- 


—  24  ~ 


Schaft  der  Unvollkommenheiten  in  allem  und  in  jedem! 
Da  putze  ich  mir  dann  mein  Schildkrotmonocle  und 
lasse  die  Leute  über  meinen  angeblich  komplizierten 
Charakter  sich  ihre  Köpfe  zerbrechen.  Vielleicht  habe 
ich  dann  doch  den  Rebbach,  daß  irgend  jemand  mich 
für  eine  nicht  ganz  unbedeutende  Persönlichkeit  hält. 
Das  bin  ich  in  der  Tat,  denn  die  andern  nehmen  die 
Dinge  des  Lebens  blöd  ernst,  während  ich  sie  weise 
lächerlich  finde!« 

Der  Dichter  allein  in  diesem  einsamen  Park 
nimmt  die  Leiden  der  Menschen  religiös  und  ernst, 
und  indem  er  weder  sich  noch  ihnen  helfen  kann, 
erlebt  er  die  Martyrien  der  Gefolterten  und  der 
Gekreuzigten.  Ihm  fehlt  sowohl  der  Wahn  als  der 
Skeptizismus,  und  er  geht  an  der  Hoffnung  und  an 
der  Hoffnungslosigkeit  in  gleicher  Weise  schmählich 
zu  Grunde! 

Der  Dichter  küßte  jedesmal  beim  Abschied  den 
Knaben  Hans  Otto  Erik  auf  die  Stirn  und  dieser 
machte  dabei  ein  verlegenes  und  geschmeicheltes 
Gesicht. 

»Mademoiselle,  pourquoi  ce  monsieur  m'em- 
brasse-t-il  toujours  si  tendrement  sur  le  front  avant  de 
partir?« 

»C'est  un  poete,  mon  enfant,  c'est  ä  dire  il  voit 
en  toi  des  choses  que  personne  ne  voit  que  Dieu  et 
peut-etre  ta  petite  gouvernante  — < 

Die  Besitzerin  des  Parkes  hatte  ihre  edlen  Kräfte 
ausgegeben  in  Gattenliebe  und  Kindersegen.  Oft  dachte 
sie  an  ihre  süße  Achtzehnjährigkeit,  da  ihr  wie  einem 
braunen  Engel  im  weißen  Mousselinekleid  die  goldenen 
Tore  des  Lebens  weit  offen  standen.  Was  sah  sie  da 
alles,  und  was  sah  sie  da  alles  nicht!  Aber  jetzt  sagte 
sie:  »Ich  lasse  mich  nie  mit  meinen  beiden  Knaben 
photographieren.  Es  ist,  wie  wenn  man  lichte  Blüten 
mit  ihren  dunklen  schweren  Wurzeln,  an  denen  düstere 
Erdklumpen  hängen,  voll  Kraft  und  unbekannten  Salzen 


—  25  — 


mitphotographierte.  Lassen  wir  die  Wurzeln  versteckl 
im  Erdreich,  und  wenn  es  jemand  ahnt,  so  wollen  wir 
ihm  dankbar  sein  und  ihm  einen  verständnisvollen 
Blick  geben!« 

Aber  der  Dichter  blickte  sie  an  und  sagte: 
»Gnädige  Frau,  eine  adelige  Frauenseele  altert  nie! 
Sie  verjüngt  sich,  aber  niemand  merkt  es.  Die  Stunden 
der  Nacht,  in  denen  sie  keinen  Schlaf  mehr  findet, 
die  allein  wissen  davon  zu  erzählen.«  — 

Während  dieses  Gespräches  ging  der  alte  Fürst 
mit  seinen  eiligen  Schritten  vorüber  und  berührte  mit 
seinen"  Händen  flüchtig  jeden  erreichbaren  Baum- 
stamm. Damit  waren  für  ihn  alle  geheimnisvollen 
Rätsel  des  Lebens  gelöst,  und  eine  seltene  Ruhe  kam 
über  ihn  infolge  seiner  segensreichen  Tätigkeit 


Stunden 

Von  Berthold  Viertel 

Es  wird  Nacht 

Auch  heute  noch  sah  ich  zerstieben 
Den  schönen  Tag  raketenhaft. 
Hin  ohne  Werk  und  Leidenschaft! 
Und  nur  die  Angst  ist  mir  geblieben. 

Gebet 

Nun  öffne,  Furchtbarer,  dein  Stahlvisier! 

Nur  einen  Blick  aus  deutlichem  Gesichte! 

Wenn  du  mich  retten  willst,  Vorsitzer  im  Gerichte! 

Ich  habe  grenzenlose  Angst  vor  dir! 

Es  wird  Tag 

Erhörung  komme,  wie  der  Tag  entbrennt : 
Plötzlich  ist  Glorie  rings  am  Firmament. 
Ich  will  geduldig  und  gewärtig  sein. 
An  meinem  Tage  ist  die  Gnade  mein. 


^  26  — 

Aus  Goethes  Tagebüchern 
Von  Otto  Stoessl 

Die  große  Weimarer  Ausgabe  enthält  sämtliche 
Tagebücher  Goethes  mit  ihren  kurzgefaßten,  aber 
genauen,  über  58  Jahre  erstreckten  Aufzeichnungen. 
Sie  reihten  die  Ereignisse  ohne  erkennbare  Wert- 
abstufung, Gelegentliches  neben  Bedeutendem,  Gedan- 
ken —  Goethesche  Gedanken  —  neben  zufälligen 
Tatsachen  auf. 

Die  eigentümliche  Schicksalhaftigkeit  des  großen 
Menschen,  die  völlige  Durchdrungenheit  eines  Mensch- 
gottes von  allem  Seienden,  das,  weil  es  ihm  begegnet, 
weder  zufällig,  noch  unwichtig  sein  kann,  dieses 
Bewußtsein  höchster  wertverleihender  Kraft  ließ  ihn 
mit  so  unbeirrbarer  Genauigkeit  die  Geschehnisse  jedes 
Tages  verbuchen.  Ihm  war  jeder  Halm  auf  der  Wiese, 
die  er  trat,  heilig,  denn  er  hörte   das  Gras   wachsen. 

Aus  diesen,  kaum  zu  überblickenden  Diarien, 
welche  ohne  die  göttliche  Einsicht  des  Erlebenden  für 
den  heutigen  Leser  in  ihrer  Gesamtheit  weder  ver- 
ständlich, noch  erforderlich  sein  dürften,  brachte  der 
Inselverlag  eine  sehr  knappe  Auswahl.  Ob  sie  glücklich 
oder  hinreichend  ist,  möchte  nicht  einmal  gültig 
beurteilen,  wer  die  Weimarer  Ausgabe  kennt,  denn 
jedes  solche  Exzerpt  beruht  auf  willkürlichem  Ermessen. 
Die  Erläuterungen  zu  den  einzelnen  Stellen  scheinen 
keinesfalls  besonders  genau  oder  genügend.  Doch 
bleibt  dies  alles  gleichgiltig  neben  der  Tatsache,  daß 
nun  eine  solche  Auswahl  da  ist. 

Ich  habe  den  für  meinen  leidenschaftlichsten 
Genuß  und  für  die  Entrücktheit  dieser  Lektüre  nur  allzu- 
kleinen Band  mit  jenem  Gefühle  höchsten  möglichen 
Glückes  durchflogen,  das  von  allen  Geistern  der  Mensch- 
heit nur  Goethe  geben  kann.  Ich  begann  diese  Tage- 
buchblätter in  der  trübsten,  von  der  Gemeinheit  des 
Daseins  bis  zur  Verzweiflung  hinabgehetzten  Gemüts- 
verfassung zu  lesen  und  hörte  auf  in  dem  heiteren 
seelischen  Gleichmaß  eines  Getrösteten  und  Beruhigten, 
in  einer  gleichsam  entsühnten  Betrachtung. 


Keinen,  der  Goethe  lesen  kann,  wird  diese  in- 
nerste Verwandlung  Wunder  nehmen,  oder  übertrieben 
dünken.  Sie  zu  erklären  fällt  freilich  ebenso  schwer, 
wie  überhaupt  die  eigentümliche  schwebende  Gehalten- 
heit aller  Beziehungen  zwischen  Seelen  und  Dingen. 
Gerade  diese  rätselhafte  Erhöhung  des  Lebensgefühles, 
die  jeder  Sterbliche  auf  seine  Weise  und  nach  seinem 
Maß  bei  dem  oder  jenem  Anlaß  erfährt,  bietet  aber 
die  einzige  würdigste  Gewißheit  absoluter  Existenz  und 
ihr  einziges  Licht. 

In  Keines  Macht  stand  es  jemals,  seit  wir  das 
Andenken  großer  Menschen  heiligen,  diese  innerste 
Erhellung  so  durchaus,  so  stetig  und  so  sicher  zu 
erwecken,  wie  dies  Goethe  mit  jedem  Wort  und  jeder 
Berührung  vermag. 

Andere  gewähren  Augenblicke,  er  schenkt  das 
Leben. 

Ich  weiß,  daß  hier  eine  Frage  mich  ansieht: 
Shakespeare?  Die  größten  Schöpfer  spotten  der  Wert- 
vergleiche, denn  jeder  ist  in  seiner  Weise  einzig,  un- 
widerbringlich und  unschätzbar.  Nur  ihre  Wirkung 
mag  etwa  gegeneinander  abgewogen  und  ihr  Inhalt 
beiläufig  ermessen  werden. 

Shakespeare  enthält  nun  allerdings  den  weitesten 
Bereich  des  Menschlichen  als  das  erhabenste  Gefäß, 
worein  je  die  Fülle  der  möglichen  Charaktere  und 
Äußerungen  geborgen  wurde.  Aber  seine  Objektivität 
und  seelische  Weiträumigkeit  ließen  ihn  und  die  Nach- 
geborenen nahezu  ganz  von  seinem  eigensten  Ich 
absehen,  das  bloß  mittelbar  und  mystisch  aus  seinen 
Dramen  erschlossen,  nicht  erschaut  werden  kann. 

Im  gemeinen  Leben  gewährt  nur  der  Anblick  der 
vom  Menschen  gleichsam  befreiten  Natur  die  volle 
Beseligung  der  reinen  Kontemplation,  hingegen 
erschüttert  die  Betrachtung  menschlicher  Zustände  und 
Charaktere,  Kämpfe  und  Lösungen  unser  Gemüt  allemal 
aufs  neue.  Es  bleibt  Sache  des  Einzelnen,  seine  Welt 
mit  der  unbewegten  Größe  der  Natur  immer  wieder 
in  Einklang  zu  bringen.   Shakespeare,    der  Dramatiker 


28 


stellt  uns  mitten  in  diesen  Widerstreit  und  überläßt 
uns  dem  Schicksal  des  Menschen  unter  Menschen. 
Seine  Ruhe  ist  die  Grausamkeit  der  sich  allem  auf- 
erlegenden Natur,  das  Glück,  das  er  gewährt,  die  ein- 
dringliche Qual  des  Erkennens.  Goethe,  der  heroischeste 
Idylliker,  überwindet  selbst  den  Konflikt  zwischen 
Mensch  und  Natur,  das  irdische  Tun  als  ein  Vorspiel 
des  seinen  und  gibt  schließlich  Einheit,  Vollendung 
und  Friede  der  Ewigkeit.  Shakespeare  bleibt  der 
schärfste  Stachel,  dem  Menschentum  ins  Gehirn 
gebohrt,  die  antreibende,  aufzwingende,  erhöhende 
Gewalt,  Goethe  aber  der  nach  allen  Sintfluten  Lächelnde, 
die  Meeresstille  und  glückliche  Fahrt,  der  milde  Ent- 
laster  von  allen  Qualen,  der  Silberblick  des  gestirnten 
Himmels,  die  Augenweide  der  grünen  Rasen.  Es  ließe 
sich  fragen,  ob  nicht  Shakespeare  dem  Gewissen  und 
Erkennen,  der  Zucht  der  Menschen  näher  sei,  aber 
dem  Glück  der  Irdischen  hat  keiner  liebreicher  sich 
geneigt,  als  Goethe. 

Die  objektive  Bedeutung  dieser  Tagebücher  werde 
gewiß  nicht  übertrieben.  Sicherlich  sind  sie  an  sich 
nicht  das  Größte,  das  von  ihm  stammt,  aber  Goethe 
entläßt  kein  »an  sich«,  ehe  er  es  nicht  gesegnet  hätte. 
Über  alles  Einzelne  hinaus,  das  man  vergißt,  greift 
die  bleibende  Wirksamkeit  des  Einzigen  mit  unzähl- 
baren Assoziationen  und  hebt  den  Lesenden  in  einen  Zu- 
stand ungemeinster  Entrücktheit,  dem  Urwesen  entgegen. 

Der  Goethesche  Glaube  an  sich  selbst  war  eine 
Religiosität  über  jedes  Ichgefühl  hinaus,  eine  göttliche 
Bewußtheit,  die  fortwirkend  jeden  Nachkommen  aufs 
neue  umfaßt.  Andere  Mythen  der  Menschheit  sind  von 
Menschen  mit  Masseninstinkten  und  Gemeingedanken 
ersonnen  worden,  um  Gesamtzwecken  zu  dienen.  Der 
Mythos  Goethe  ist  von  Goethe  geschaffen  und  über- 
ragt allen  Glauben  durch  die  Erfüllung  eines  Lebens, 
durch  eine  Wahrhaftigkeit  und  Wirklichkeit,  die  weder 
des  Zweifels,  noch  der  mystischen  Überredung  bedarf. 
Hier  hat  die  Natur  ein  Wunder  offenbart,  das  zu  ver- 
ehren beglückt  und  befreit,  nicht  beschämt  und  bindet, 


—  29 


ein  einzigesmal  hat  sie  Gedanken,  Taten,  Schicksale, 
Werke  zum  Beweise  des  Menschentums  selbst,  in  der 
bündigen  Einheit  einer  Gestalt  erstellt. 

Die  Religionen  haben  keinen  andern  Sinn,  als 
über  die  allgemeine  Fragwürdigkeit  hinwegzuhelfen, 
indem  sie  eine  unbeweisbare,  transzendente  Gewißheit 
ausbieten. 

Die  Religion  Goethe  tröstet  mit  ihrer  Wirklich- 
keit: es  gibt  doch  einen  Menschen,  Goethe  lebt. 

So  wandelt  ein  Irdischer  mit  allen  körper- 
lichen und  seelischen  Merkmalen  der  Sterblichkeit,  mit 
Leiden,  Kümmernissen,  Enttäuschungen,  Hoffnungen, 
Scherzen,  Begierden,  allen  Menschen  verwandt,  doch 
himmelweit  als  ihr  Gleichnis  durch  die  Ewigkeit  unserer 
Sprache. 

Die  Tagebücher  zeigen,  was  sie  so  über  alle 
Maßen  ergreifend  macht,  eben  das  Menschliche  im 
Erhabenen.  Der  schöpferische  Geist  befreit  sich  im 
Kunstwerk  von  seinem  Zufälligen  und  Zuständlichen. 
Wenn  wir  dies  Gebilde  betrachten,  forscht  unser  ge- 
heimstes Verlangen  nach  dem  eigentlichen  Antlitz 
des  Schaffenden  hinter  den  Masken  von  Formen  und 
Worten.  In  solchen  Alltagsaufzeichnungen  badet  sich 
das  Individuum  gleichsam  nackt  in  seiner  Wirklichkeit. 
Das  ist  die  wahre  Probe  auf  sein  Gotttum. 

Es  wird  notiert,  wer  zu  Besuche  kam,  anfangs 
in  der  ersten,  noch  glühenden  Weimarer  Zeit  leuchten 
Gefühlsausbrüche  mit  furchtbarer  Pracht  auf,  jedes 
Gespräch  mit  den  Weimarer  Leuten  wird  aufgezeichnet, 
wobei  die  Namen  der  Nächsten  durch  Symbole  ersetzt 
sind,  so  erhält  der  Großherzog  das  Zeichen  des  Jupiter, 
die  Stein  das  der  Sonne,  eine  schöne  Gräfin  wird  als 
Venus  geführt.  Und  siehe,  der  Gott  hat  Götter  geadelt! 
Langsam  leiten  die  Blätter  hinüber  zur  Gefaßtheit 
und  abgegrenzten  Stetigkeit  des  mittleren  Alters,  zur 
sanften  Güte  und  Großvaterzärtlichkeit  des  Greises.  Die 
Gefühlsbekenntnisse,  die  anfangs  nicht  häufig  zwar, 
doch  umso  gewaltiger  loderten,  bleiben  dann  ganz 
unterdrückt.  Welches  Schweigen!    Ein  Mensch  ist  zur 


—  30  — 

Natur  selbst  geworden,  die  groß  genug  waltet,  um  in 
Stummheit  zu  erscheinen.  Aber  welche  Ahnung  von 
Unmeßbarkeit  der  Empfindungen  hinter  den  dürren 
Eintragungen  von  Tod  um  Tod!  An  dem  Herrn  dieser 
Zeit  gingen  Reihen  von  Menschen  vorüber,  man 
brachte  ihm,  was  jegliche  Ernte  an  Neuem  erzeugt, 
gleichsam  als  Weihgeschenk  dar,  damit  sein  Blick 
freundlich  darauf  ruhe  und  es  segne.  So  nahm  er 
Kleines  und  Großes  mit  gleicher  Güte  hin  und  entließ 
es  ganz  durchhellt  und  geweiht.  Nicht  einmal  die  lieb- 
lichen spielerischen  Fragwürdigkeiten  des  Witzes  durften 
fehlen,  wie  anmutig  die  Anekdoten,  wie  goethisch,  sie 
zu  bewahren! 

Alles  Mythische  verdankt  einer  fernen  Wirklich- 
keit sein  zauberisches  Fortleben,  der  Mensch  erzeugt 
sich  seine  Götter  immer  nach  seinen  schönsten  Eben- 
bildern, aber  die  Zeiten  verwischen  gerade  das  In- 
dividuelle, löschen  den  wirkenden  Anlaß  aus  und  ver- 
erben die  gleichsam  ihres  Kernes  entleerte  Schale, 
so  daß  nur  ein  unbestimmter  Schein  die  nötige  religiöse 
Dämmerung  erzeugt,  nicht  erhellt. 

Goethe  hat  seinen  Mythos  ganz  und  gar  durch- 
gelebt, durchgebildet  und  bis  in  das  Andenken  jeder 
Wagenfahrt  nach  Ilmenau  überliefert.  Er  ist  das  erste 
Götterbild,  welches  vom  Gotte  selbst  geschaffen  worden, 
und  woran  die  Armut  und  Geringheit  der  Gläubigen, 
das  schlechte  Gedächtnis  und  die  Torheit  nicht  sündigen 
können.  

Wie  warst  du  schön 
Von  Rudolf  Ehrlich 

Mädchen  am  Gestade  meiner  Träume, 
wie  warst  du  schön, 

wenn  der  Abend  kam 

und  an  den  verweinten  Weiden  vorüberzog, 

wenn  deine  Hände  milde  wurden 

und  sich  zum  Kranze  mir  um  den  Nacken  schlangen. 

Wie  warst  du  schön, 

unter  der  perlmutternen  Heimfahrt  des  Tages. 


—  31  — 

Traum 
Von  Albert  Ehrenstein 

Als  ich  die  Nacht  durchwachte, 
kam  mir  die  Zeit  herein, 
hin  glitten  sachte 
Träume  und  Tode  mein. 

Der  Knabe,  der  im  Sande 
mit  Muscheln  Spiele  trieb, 
mit  manchem  Tande 
die  Zeit  vorat)erhieb, 

derselbe  stets  zu  sein! 
O  weh  der  Muschelspiele, 
du  lange  Weile, 
ihr  ewig  gleichen  Ziele  — 

nur  nicht  auch  tot  derselbe  sein! 


Henri  Matisse 
Von  Ludwig  Rubiner 

In  einem  Zimmer  mit  Bildern  von  Henri  Matisse 
hat  man  zuerst  die  Empfindung,  in  eine  ganz  frühe 
Morgenstunde  zu  kommen,  in  der  es  noch  trübe  ist, 
und  wo  die  gemalten  Räume  und  Farben  nur  durch 
eine  große  Einfachheit  zum  Auge  dringen. 

Das  Gefühl  von  etwas  ganz  Frühem  bleibt.  Eine 
Erinnerung,  gar  nicht  mysteriös,  Erinnerung  an  Kinder- 
jahre, in  denen  man  ernsthaft  aus  jammervollen  Tusch- 
kästen bedeutende  Symbole  auf  ungeeignetes  Papier 
schmiert:  Wein  mit  dem  rötlichen  Braun,  Früchte  mit 
dem  vorhandenen  Gelb.  Und  man  malt,  ohne  die  Töne 
je  in  trübe  Brechnungen  zu  mischen,  alle  Dinge  der  Welt 
mit  jenen  Farben  des  Malkastens,  deren  Grundwirkung 
mit  den  Grundtönen  der  Gegenstände  korrespondiert. 

Matisse  läßt  erstaunen,  daß  ohne  die  wüsten 
Zufälle  dieser  Kindertechnik,  Gemälde  jene  wunder- 
bare Unbefangenheit  des  Symbolischen  zeigen  können. 

Die  Biographie  eines  Künstlers  besteht   in   dem 


32 


Belichten  des  finsteren  Urwaldes,  in  dessen  Wirrnis 
die  Phantasie  mit  dem  Willen  verzweifelte  Schlachten 
schlägt.  In  dem  Hörbarmachen  des  Zusammenpralls 
von  Stimmung  und  Formerkenntnis.  Und  in  dem 
Bericht  von  dem  Umlisten  und  Umschleichen,  dem 
Niederringen  und  Vergewaltigen  überreich  heranstürzen- 
der Formen.  Diese  Wanderung  durch  Labyrinthe  von 
Phantomen,  und  aller  Kampf  und  Marsch  führen  uns 
hin  zu  dem  einen  Ziel  der  großen  Klarheit  und  Helle. 
Alle  Mühen  dienen  nur  der  Befreiung  der  Formen  von 
den  Arabesken  des  Zufalls.  Der  Künstler  arbeitet  nur, 
um  seine  ewige  Vision  von  der  letzten  Grundform  des 
Schauens,  die  ihm  erscheint,  wie  dem  religiösen  Eksta- 
tiker  das  Urlicht,  in  Ausdruck  setzen  zu  können. 

Das  Schaffen  Henri  Matisses  steht  unter  dem 
Zwang  dieser  Vision.  Es  gibt  Bilder  von  Matisse,  mit 
denen  sich  der  Maler  dem  ganz  persönlichen  Lebens- 
glück eines  tiefen,  geheimnisvoll  aufrauschenden  Vio- 
letts  hingegeben  hat,  die  Lust  auf  Luft  gestimmter 
Farben  genoß,  die  konturlos  brünstig  aus  dem  Pinsel 
strömen.  Hier  malte  er  von  sich  selbst.  Dann  gibt  es 
Bilder,  in  denen  die  Dinge  einfach  auf  die  Wieder- 
gabe der  Naturstimmung  beobachtet  sind.  Harte  Kom- 
positionen, sehr  sorgsam  in  der  Perspektive;  Arbeiten 
eines  Malers,  der  sich  unter  die  Strenge  immerhin 
konventionsloser  Akademien  nimmt. 

Und  nun  die  Bilder,  auf  denen  jeder  Körper 
durch  den  Ausdruck  seiner  stärksten  und  augenschein- 
lichsten Funktion  in  die  farbige  Fläche  gespannt  wird. 
Es  sind  die  Werke,  die  auf  Matisses  eigentliche  Be- 
stimmung für  unsere  Zeit  weisen.  Urgefühle  erscheinen 
hier  unmerkbar  umgewandelt  in  Erkenntnisse,  die  nur 
durchs  Auge  möglich  waren.  Man  sieht  plötzlich  den 
psychischen  Ausdruck  von  Leibern  und  Dingen,  nicht 
in  der  Stimmungsmusik  taumelnder  Lichter,  sondern 
in  der  unmittelbaren  Auslegung  irgend  eines  räum- 
lichen Gesetzes,  das  bis  dahin  verborgen  blieb.  Dieser 
Maler  zeigt  das  Schicksal  der  Dinge:  das  Unabänder- 
liche und  in  sich  Vorbestimmte  eines  Stillebens,  oder 


—  33  — 


eines  Frauenaktes,  oder  der  einfachen  Situation,  wie 
eine  Frau  am  gedeckten  Tisch  sich  zu  schaffen  macht. 
Das  Schicksal  ist:  im  Raum  zu  sein.  Der  Akt  einer 
liegenden  Frau  scheint  auf  einmal  in  seiner  ganzen 
malerischen  Bestimmung  offenbart,  wenn  man  aufnimmt, 
daß  jede  Linie  von  den  mächtigen  Auskrümmungen 
der  sinnlichen  Schenkel  beherrscht  wird.  Die  einfache 
schattenlose  Orangegrundfarbe  der  Apfelsinen  neben 
dem  unvermischten  Gelb  der  anderen  Früchte,  das  in 
gerade  noch  Gestalt  bestimmende  Konturen  gezwängt 
ist,  enthüllen  die  unerklärlichen  psychischen  Erregun- 
gen, durch  ein  Stilleben.  Die  Bestimmung  dieser 
Früchte  ist,  gelb  und  orangefarb  zu  sein. 

Das  ist  eine  neue  Kunst.  Ihre  Wirkungen  erfüllen 
sich  nur  noch  in  den  Räumen  des  rein  Psychischen. 
Da  ist  etwas  Absolutes,  Reines,  etwas  jenseits  aller 
Grenzvermischung.  Matisse  entsagt  den  wunderbaren 
Rauschempfindungen  und  den  Ahnungen  von  bunten 
Halluzinationen,  den  Stimmungen,  die  das  Nachgenießen 
der  Nervenerinnerun^en,  schwankend  zwischen  Natura- 
lismus und  Farbendekoration,  hervorbringt.  Die  Sach- 
lichkeit hat  jetzt  eine  neue  Bedeutung  gewonnen. 

Die  impressionistischen  Maler  ordneten  das  Licht 
in  ihren  Bildern  nach  den  erhöhten  Schwingungen 
ihrer  aufs  Helle  gestimmten  Nerven.  Der  Betrachter 
der  impressionistischen  Bilder  faßt  die  schwingenden 
Stimmungen  zusammen,  in  dem  zarten  Rausch  eines 
Komponisten,  dessen  Musik  in  einen  Schluß  von 
schillernd  und  glückselig  ausgespannten  Durakkorden 
aufsteigt.  Die  Sachlichkeit  des  Impressionismus  lag  in 
der  Kraft  des  Einzelnen,  das  eigene  Licht  und  den 
eigenen  Glanz  des  Innern  in  die  Dinge  der  Natur  auf- 
zulösen. So  mußte  der  Betrachter  aus  den  Naturdingen 
des  Bildes  die  Synthese  für  die  festlichen  Stimmungen 
des  Künstlers  finden.  Dieses  romantische  Wesen  des 
Impressionismus  beruhte  immer  auf  einem  intimen 
Zwiegespräch.  Der  einzelne  Künstler  stellte  seine  Auf- 
lösung gegenüber  der  Zusammenfassung  des  Be- 
trachters.   Nur  immer   ein  Einziger    stand    vor    einem 

305-306 


34  — 


Einzigen,  Subjekt  gegen  Subjekt.  Es  gibt  kein 
impressionistisches  Fresko.  Denn  das  eigentliche  Wesen 
des  Bildes  und  seine  eigentliche  Wirkung  konnte  nur 
unter  zwei  Menschen  erledigt  werden. 

Bei  Matisse  gibt  es  heute  keine  Intimität  und 
keine  Stimmung  mehr.  Gerade  die  »Stimmungslosig- 
keit«  seiner  Arbeiten,  die  ihm  zum  Vorwurf  gemacht 
wurde,  erweist  vielleicht  den  größten  Sieg  eines 
Künstlers  unserer  Zeit  über  alle  schwelgerischen 
Abenteuer,  die  vor  der  Härte  der  Kunst  ausweichen. 
Diesen  Bildern  entnimmt  man  nichts  von  den  privaten 
Empfindungsangelegenheiten  des  Künstlers,  man  wird 
nicht  beglückt  oder  betroffen  vom  Lichte  seiner  persön- 
lichen Begeisterung.  Das  Bild  ist  nicht  mehr  das 
bloße  Medium,  durch  das  die  privaten  Gefühls- 
beziehungen zwischen  Künstler  und  Betrachter  sich 
entgegenstrahlen.  Man  weiß  garnichts  mehr  vom 
Künstler  selbst,  ahnt,  seit  das  Bild  besteht,  nicht  einmal, 
daß  er  überhaupt  existiert.  Es  gibt  nur  noch  Be- 
ziehungen vom  Bilde  selbst  zum  Betrachter.  So  hat 
auf  einmal  das  Bild  eine  noch  nie  dagewesene  große 
und  allgemeine  Gefühlsbedeutung  bekommen,  hinaus 
über  jede  Stimmung  des  Moments. 

Matisse  bringt  die  einfachsten  und  stärksten 
Funktionen  jedes  Körpers  und  Raumes,  und  nur  die, 
welche  für  die  Erfahrung  des  Auges  die  bekanntesten 
sind,  zum  Ausdruck  mit  den  Mitteln  der  Fläche,  des 
Zweidimensionalen.  Alles  muß  seine  Beziehungen, 
ganz  auf  letzte  Erfahrungsmomente  gebracht,  innerhalb 
der  Wirkungen  des  absolut  Zweidimensionalen  zeigen. 
Bei  diesen  Bildern  versucht  man  nicht  einmal  mehr 
auf  die  die  dritte  Ausdehnung  der  Körper  und  die 
Raumperspektive  zu  raten.  Der  Betrachter  ist  sich 
jederzeit  bewußt,  daß  alle  Dimension  des  Raumes 
wohl  in  der  Natur  da  ist,  aber  er  ist  stets  innerlich 
gezwungen,  zu  fühlen,  daß  die  Raumdimension  der 
Natur  nicht  in  dem  Wesen  dieser  Malerei  enthalten 
sein  kann. 

Dieses  Einspannen  der  Formen  in  die  malerischen 


—  35 


Möglichkeiten  des  Zweidimensionalen  verhält  sich  zur 
Raumausdehnung  der  Natur  wie  Erscheinung  zu  Er- 
kenntnis. Die  einfachste  Erscheinungsform  der  Dinge 
und  die  einfachste  Form  des  Malerischen  treffen  sich 
hier.  Dadurch  entsteht  eine  ungeheure  und  so  be- 
ziehungsvolle Vieldeutigkeit  des  Bildes.  Plötzlich  hat 
beim  Betrachter  jedes  Ding  des  Gemäldes  wieder  jene 
stoffliche  Bedeutung  wiedergewonnen,  die  es  in  der 
Natur  hat;  denn  der  Betrachter  erkennt  sofort  das  rein 
Symbolische  der  zweidimensionalen  Form.  Man  weiß 
auf  einmal  wieder  von  jedem  Wesen  im  Gemälde  den 
Gefühlswert  und  die  Bedeutung,  die  es  im  Leben  hat. 
Vor  dem  Frauenakt  weiß  man,  daß  die  Nacktheit  des 
Bildes  im  Leben  Geschlecht  ist,  und  das  Porträt  er- 
innert an  die  Kraft  psychischer  Ströme  im  Leben.  Der 
Betrachter  erfüllt  die  Wesen  des  Bildes  nun  wieder 
mit  den  Erfahrungen,  den  Stimmungen  und  Wünschen 
seines  eigenen  persönlichen  Lebens.  Matisse  zeigt  den 
Beginn  einer  Freskokunst,  deren  Wirkung  auf  die 
Massen  in  der  Fähigkeit  des  Bildes  zum  Aufsaugen 
jeder  individuellen  Geftihlsnuance  ruht. 

Dieses  heftige  Besinnen  auf  die  Bedeutung  des 
Gemalten  in  der  Wirklichkeit  und  auf  die  Gewißheit, 
daß  das  Malen  ein  rein  symbolischer  Akt  sei,  erinnert 
an  die  Jahre  der  Kunst  vor  Giotto,  ehe  die  Entdeckung 
der  Raumillusion  im  Bilde  die  Grundlagen  der  ganzen 
Renaissancemalerei  schuf.  Giottos  Formwerk  und  alle 
Mühen  der  Renaissance  um  die  Perspektive  entsprangen 
der  Sehnsucht  nach  einer  Oberherrschaft  des  Prinzips 
der  Symmetrie.  Das  Symmetrienprinzip,  dieses  Erbteil 
der  späten  Antike,  hat  ein  furchtbares  und  aufreibendes 
Ringen  in  der  Kunst  der  Jahrhunderte  zur  Folge,  alle 
Versuche,  in  die  zwei  Dimensionen  des  Flächenbildes 
eine  Raumerkenntnis,  die  dritte  Dimension,  zu  legen. 
Wie  die  mächtigen  Strahlen  eines  starken  Spring- 
brunnens bogen  sich  diese  Formbegierden  der  Symmetrie 
über  die  Zeiten,  und  während  sie  im  neunzehnten 
Jahrhundert  in  tausendfarbigen  Verkürzungen  nieder- 
tropften,  ließen  sie  in  den  Künsten  des  Naturalismus 


—  36 


noch  einmal  die  letzten,  qualvoll  und  matt  aufzischenden 
Funkenlichter  ihrer  Kämpfe  erkennen. 

Matisse  ordnet  die  Form  nicht  mehr  nach  der 
Symmetrie-Diktatur  des  Raumes.  Er  spannt  unser  Auge 
in  die  Beschränkung  der  zwei  Dimensionen  der  Fläche, 
und  er  gibt  unserer  Zeit  dafür  das  merkwürdige  Glück, 
Schicksal  und  Bedeutung  in  den  Formen  der  einfachsten 
Dinge  des  Lebens  zu  erkennen. 


Abend 
Von  Karl  Bormann 

Ach,  und  wo  führen  all  diese  Wege  hin? 

Der  Wolken  buntes  Leuchten   —   was  meint  es  nur? 

Mich  treibt  ein  einsames  Entzücken 

singend  im  Herzen  immer  weiter. 

Daß  doch  die  Sonne  grade  im  Niedergang 
die  frohsten  Farben  leicht  in  die  Lüfte  streut! 
Da  glaubt  ich  mit  den  leeren  Händen 
unverlierbare  Schätze  zu  halten. 

Vielleicht  hat  auch,  wer  gegen  den  Abgrund  zu 
auf  schwarzen  Rossen  >in  Tod  und  Vernichtung  stürzt, 
solch  immer  erneutes  Glück  in  den  Augen 
und  aufj^den|Lippen  ein  trunkenes  Lachen. 


Glossen 
Von  ;Karl  Kraus 

Das  Gefolge 

»An  das  P.  T.  Publikum  I  In  Zeitungsberichten  über  den  Besuch 
unseres  Kaisers  in  der  Rotunde  wurde  über  den  angeblichen  Besuch 
des  Monarchen  beim  Pavillon  unserer  Konkurrenz  berichtet.  Dem- 
gegenüber stellen  wir  fest,  daß  Se.  Majestät  nur  bis  zum  >Sarg«-Pavillon 


—  37 


geführt  wurde  und  von  dort  aus  einen  Blick  in  das  Innere  der  Rotunde 
warf.  Die  Nahrungsmittelabteilunj?  wurde  Sr.  Majestät  gar  nicht  gezt\gt 
und  somit  konnte  der  Kaiser  weder  unseren  Pavillon  noch  denjenigen 
der  Konkurrenz  besichtigen. 

Wir  bitten,  von  dieser  Richtic^stellunt;  Kenntnis  zu  nehmen. 
Hochachtungsvoll 

.  .  .  .  G.  m.  b.  H.« 

Für  Geld  ist  von  der  Presse  nicht  nur  ein  Kaiserwort  zu 
haben,  sondern  sog^ar  das  Zugeständnis,  daß  es  für  Geld  zu  haben 
ist.  Ein  Gesetz  gegen  unlautem  Wettbewerb  gibt  es  in  Österreich 
nicht,  einen  Paragraphen  gegen  Ehrfurchtsverletzung  gibt  es: 
aber  er  wird  durch  das  Fehlen  des  Gesetzes  gegen  unlautem  Wettbe- 
werb außer  Kraft  gesetzt.  Die  Ehrfurcht  vor  dem  Kaiser  zu  verletzen 
steht  jenen  frei,  die  sie  zum  Objekt  des  unlautem  Wettbewerbes 
zu  machen  wünschen.  Eine  Behörde,  die  seit  Jahrzehnten  die  in 
keinem  Staat  der  Erde  mögliche  Schmach  verkaufter  Kaiserworte 
duldet,  bleibt  auch  vor  dem  Schauspiel  unbeweg:t,  wie  die  Krone  in 
den  Streit  der  Inseratenagenten  gezogen  wird.  Und  in  einem  Lande, 
in  dem  auch  dies  möglich  ist,  wagen  die  Fetn'lletonhallunken  von 
der  allem  Amerikanismus  abgewandten  alten  Kultur  zu  schwärmen. 
In  demselben  Lande,  in  dem  es  unmöglich  wäre,  ein  kunstkritisches 
Urteil  des  Kaisers  zu  erörtern,  weil  nicht  wie  in  Deutschland  die 
Ehrenbeleidigung  der  Majestät,  sondern  die  Verletzimg  der  Ehrfurcht 
bestraft  wird,  und  weil  dieser  Tatbestand  schon  im  Widerspruch  der 
Meinung  und  überhaupt  dann  gegeben  ist,  wenn  man  ihn  finden  will 
-  in  demselben  Lande  ist  es  erlaubt,  ein  kaiserliches  Firmenlob  zu 
erlügen,  zu  verleugnen,  zu  reduzieren,  zu  steigern.  Der  Kaiser, 
der  der  Industrie  helfen  will,  kann  nicht  wissen,  zur  Förderung 
welcher  Zwecke  die  Wissenden  seine  achtzig  Jahre  bemühen, 
und  kein  Obersthofmeister,  Generaladjutant  oder  wie  der  Herr 
sonst  heißt,  findet  sich,  der  hier  ein  aufklärendes  Wort  wagte. 
Denn  die  Ehrfurcht  vor  der  Presse  zu  verletzen,  verbietet  ein  Ge- 
setz, das  wir  haben,  wenn  es  auch  noch  nicht  sanktioniert  ist.  Keiner 
dieser  Fürsten,  Grafen  und  Würdenträger  traut  sich,  das  Gefolge  von 
Akquisiteuren  zu  verscheuchen.  Und  der  Hirsch  schreitet  nach  wie 
vor  hinter  dem  Kaiser,  und  es  sind  nach  der  Beschreibung  dieses 
gräßlichen  Schauspiels  in  der  .Fackel'  sogar  neue  Hirsch-Karten 
ausgegeben  worden,  »offizielle  Postkarten<,  wie  sie  jetzt  ausdrücklich 
heißen,  auf  denen  sich  die  Frechheit  der  Presse  und  die  Preß- 
furcht der  Ausstellungsleiter  zu  einem  grotesken  Justament  vereinigt 


—  38 


haben.  Es  gibt  jetzt  eine  Hirsch-Karte,  auf  der  der  Vertreter  der 
Neuen  Freien,  nunmehr  ohne  gelben  Überzieher  und  ohne 
die  leiseste  Andeutung  von  Hosenbandeln,  aber  im  Gehrock  und  mit 
Schirm,  unerhört  vornehm  und  mit  einer  Feierlichkeit,  die 
nach  ihrem  Platz  in  der  Fronleichnamsprozession  schreit,  unmittel- 
bar hinter  dem  Kaiser  einhergeht,  gefolgt  von  dem  Generaladjutanten 
Grafen  Paar,  der  dem  Hirsch  ä  la  suite  beigegeben  ist.  Ursprüng- 
lich wollte  ich  diese  Karte  einem  Teil  der  Auflage  dieses  Heftes 
beilegen,  und  nie  wäre  eine  frappantere  Illustration  zu  dem  hier 
tausendfach  besungenen  Sieg  der  Presse  über  die  legitimen  Mächte 
in  Staat  und  Gesellschaft  erschienen.  Man  traut  seinen  Augen 
nicht ;  man  hält  es  nicht  für  möglich,  daß  vor  dieser  in  Dingen 
der  Majestät  überempfindlichen  Judikatur  so  etwas  wirklich  be- 
stehen könne,  fragt,  ob  gegen  diese  Honoratioren  und  Exhibitionisten, 
die  solche  Scherze  zu  machen  wagen,  nicht  die  Anklage  erhoben, 
ob  nicht  das  Ärgernis  in  der  nächsten  Stunde  aus  den  Schau- 
fenstern der  Ansichtskartenhandlungen  entfernt  werde;  und  ist  über- 
zeugt, daß  die  Äußerung,  die  der  Kaiser  vor  einem  Bild  getan  hat : 
»Dieser  Hirsch  ist  aber  entsetzlich!«,  sich  auf  die  Situation 
beziehen  müsse,  die  erst  zu  einem  Bilde  hergehalten  hat.  Denn  es 
ist  vollkommen  undenkbar,  daß  man  irgendeinem  Staatsoberhaupt, 
dessen  Familie  beiweitem  nicht  auf  eine  mehrhundertjährige 
Exklusivität  gesellschaftlichen  Verkehrs  zurückblickt,  daß  man 
selbst  dem  Herrn  Roosevelt,  der  doch  an  allerlei  gewöhnt  ist, 
die  konstante  Gefolgschaft  —  nicht  aller,  das  ginge  noch  — 
nein,  eines  einzigen  individuell  riechbaren  Sancho  Pansa  vom 
lokalen  Teil  zuzumuten  wagte.  Es  ist  auch  vollkommen  ausge- 
schlossen, daß  irgendwo  anders  in  dem  Augenblick,  in  dem 
der  Momentphotograph  eine  Jagdausstellung  betritt,  diese  ganze 
Meute  von  Titeljägem,  diese  Koppel  von  Konsuln  und  Parasiten 
losgelassen  würde,  daß  sich  die  Kaiserlichen  Räte  malerisch  um 
den  Kaiser  zu  gruppieren  wagten  und  die  schweißenden  Hirsche 
ein  freundliches  Gesicht  dazu  machten,  und  daß  man  in  allen 
Schaufenstern  einer  Stadt  das  illustrierte  Hochl  eines  Maules 
zu  sehen  bekäme,  das  einem  Manne  gehört,  der  durchaus  von  der 
siebenten  in  die  sechste  Rangsklasse  vorrücken  will.  Dieser  ganze 
Triumph  der  Gewinnsucht  und  Zudringlichkeit  um,  durch  und 
über  die  Majestät  ist  in  keinem  Lande  der  Welt  möglich,  außer 
eben  in  diesem  durch  jede  Bloßstellung  in  immer  noch  tiefere 


-  39  - 


Schmach  masochistisch  gepeitschten  Österreich.  Und  in  keinem  wäre 
der  Fall  möglich,  daß  der  Handel  mit  Kaiserworten  nur  umso 
schamloser  getrieben  wird,  seitdem  einmal  ein  Handelsrichter, 
der  über  ihre  Preiswürdigkeit  zu  entscheiden  hatte,  die  bloße 
Zumutung  für  eine  Majestätsbeleidigung  erklärt  und  die  Abtretung 
des  Aktes  an  die  Staatsanwaltschaft  angedroht  hat.  Nirgendwo 
wäre  es  möglich,  daß  sich  die  Agenten  auf  offener  Straße  um  die 
Aufträge  auf  Kaiserlob  balgen  und  daß  dann  noch  Journalisten, 
die  bei  dem  Handel  zu  kurz  kamen,  die  finanzielle  Enttäuschung 
in  ethische  Entrüstung  kleiden.  Denn  es  scheint  etwas  geschehen 
zu  sein,  was  die  Leute,  die  die  Kaiserworte  veröffentlichen,  zur  loyalen 
Mißbilligung  des  eigenen  Unfugs  treibt  Ja,  wenn  nicht  alle  An- 
zeichen trügen,  hat  die  Neue  Freie  Presse  diesmal  nicht  fünf,  sondern 
nur  vier  Gulden  für  die  Zeile  bekommen.  Ein  Annoncenbureau 
scheint  das  Monopol  auf  Kaiserworte  an  sich  gerissen  zu  haben 
und  läßt  die  Blätter  nicht  mehr  so  viel  verdienen  wie  früher.  Und 
in  der  .Österreichischen  Faktorenzeitung',  die  sich  eigentlich  mit 
derlei  Angelegenheiten  nicht  zu  befassen  hätte,  so  lange  sie  für 
»Faktoren«  schreiDt,  die  Druckerei leiter  sind  und  nicht  galizische 
Vermittler  für  alles,  wird  unter  dem  Titel  »österreichische  Ge- 
werbeförderung« die  folgende  Notiz  veröffentlicht: 

Aus  Anlaß  des  wiederholten  Kaiserbesaches  der  Jagdausstellung 
bringen  unsere  Tagesblätter  spaltenlange  Berichte  und  zitieren  alle 
hiebei  fallenden  Bemerkungen  des  Monarchen.  Man  sollte  nun  glauben, 
daß  diese  Berichte  ein  ungefärbtes  Spiegelbild  der  Besuche  geben 
sollen,  wozu  ja  die  Tagespresse  gewissermaßen  verpflichtet  ist;  dies 
trifft  nun  leider  nicht  zu  und  die  ohnehin  schwer  belasteten  Geschäfts- 
leute werden  gezwungen,  die  Wiedergabe  des  Besuches  der  einzelnen 
Etablissements  durch  den  Kaiser  extra  zu  bezahlen,  und  zwar  die 
Druckzeile  mit  zehn  Kronenl  Wer  darauf  verweist,  daß  er  diese 
horrende  Summe  nicht  zu  zahlen  vermag,  und  um  etwas  Entgegen- 
kommen bittet,  der  bleibt  unberücksichtigt,  und  selbst  die  schmeichel- 
haftesten Kaiserworte  werden  unterschlagen.  Da  sich  mit  der  Aus- 
beutung dieser  Kaiserbesuche  ein  Inseratenagent  befaßt,  der  anscheinend 
gar  nicht  genug  bei  der  Sache  herausschlagen  kann,  so  wäre  es  wohl 
Pflicht  der  kompetenten  Stellen,  diesem  Treiben  mehr  Beachtung  zu 
schenken  und  diejenigen,  die  mit  den  Mitteln  haushalten  müssen,  nicht 
einfach  unterdrücken  zu  lassen.  Die  Aussteller  haben  wohl  ein  Recht 
darauf,  die  Bewertung  ihrer  Objekte  nicht  von  solchen  Geschäfts- 
praktiken abhängig  machen  zu  lassen!  C.  H. 

Der  Verfasser  dieser  Notiz  ist  der  Druckereileiter  der  Neuen 
Freien  Presse.   Aber  das  ist   nicht   Rebellion,   wie   man   auf  den 


—  40  — 


ersten  Blick  vermuten  könnte.  Das  ist  Treue  gegen  den  Unternehmer, 
der  von  dem  Schaclier  mit  Kaiserworten  lebt,  aber  nicht  vor  den 
eigenen  Kunden  patriotisch  beklagen  kann,  daß  er  zu  wenig 
bekommen  hat. 


So  ist  das  Leben 

(Aus  einer  und  derselben  Zeitungsspalte) 


Laut  Mitteilungen  von  Wiener 
Tagesblättern  wurde  der  Chef- 
redakteur der  ,  Österreich  isch- 
ungarischen Sparkassen-Zeitung', 
Heinrich  P.,  am  20.  d.  M.  unter 
dem  Verdachte  der  Erpressung  ver- 
haftet. 


Herrn  Gustav  S.,  Eigentümer  und 
Herausgeber  der  , Österreichisch- 
ungarischen Sparkassen -Zeitung', 
wurde  in  Anerkennung  seines 
publizistischen  Wirkens  der  Titel 
eines  kaiserl.  Rates  mit  Nachsicht 
der  Taxe  verliehen. 


Vom  Lynchen  und  vom  Boxen 

>Ich  bitte  Sie,  zu  erklären,  daß  die  in  Mastodon,  Mississippi, 
vollzogene  Lynchung  des  Negers  Curl  in  aller  Ruhe  und  in  vollster 
Ordnung  vor  sich  ging.    Sie  wurde  von  den  angesehensten  Leuten  des 

Ortes,  Bankiers,  Advokaten,  reichen  Landwirten  und  Kaufleuten,  geleitet 

Ich  kann  sagen,  daß  noch  niemals  vielleicht  an  einer  Lynchung  so  viele 
wahrhaft  vornehme  Menschen  sich  beteiligt  haben  ...» 

Diese  Erklärung  erschien,  wie  die  verläßliche  Schere  des 
Neuen  Wiener  Journals  behauptet,  in  vielen  amerikanischen  Blättern. 
Sie  war  ein  Protest  gegen  die  mögliche  Unterstellung,  daß  es  bei 
dieser  Lynchung  grausam  zugegangen  sei.  Im  Gegenteil  wurde 
nichts  getan,  was  irgendwie  gegen  die  Vorschriften  einer  humanen 
Lynchung  verstoßen  hätte. 

>Ich  verlangte  für  mich  nur  ein  einziges  Vorrecht:  ich  wollte 
beim  Hochziehen  des  Negers,  den  wir  aufknüpfen  wollten,  als  Erster 
den  Strick  in  die  Hand  nehmen.  Meine  lieben  Freunde  und  Nachbarn 
erklärten  diesen  meinen  Wunsch  für  durchaus  berechtigt  und  legten  mir 
kein  Hindernis  in  den  Weg.  Aber  ich  glaube,  daß  der  Neger  schon 
vor  Angst  tot  war,  als  ich  mit  einem  starken  Zug  ihn  in  die  Luft 
hinauf  beförderte.  Er  bewegte  sich  nicht  mehr  und  zappelte  nicht  mehr 
mit  den  Gliedern;  von  dem  Augenblick,  in  welchem  er  hochgezogen 
wurde,  zuckte  kein  Muskel  seines  Körpers  mehr.c 

Aber  auch  bis  dahin  wurde  nichts  unterlassen,  was  der 
Philantrop  vorzukehren  hat,  wenn  es  gilt,  dem  Schwachen  bei- 
zustehen : 


41 


>  Bevor  ich  noch  den  Strick  in  Bewegung  setzen  konnte,  mußte 
ich    den  Neger    stützen,   denn  die  Beine  zitterten  ihm  so,  daß  er  nicht 

stehen  konnte.« 

Ein  Akt  christlicher  Nächstenliebe,  der  um  so  größere  Aner- 
kennungverdient, aisgerade  bei  Lynchungen  sonst  fast  durchwegs  etwas 
rücksichtslos  verfahren  wird.  Der  Verfasser  der  Erklärung  ist  ein  Steuer- 
erheber namens  Miller,  dessen  Bnider  nämlich,  ein  Polizeibeamter,  vom 
Neger  Curl  getötet  wurde.  Auch  für  diese  Tötung  wird  ein  Grund 
angegeben.  Der  Polizeibeamte  wollte  den  Neger  Curl  verhaften. 
Aber  auch  dafür  wird  ein  Grund  angegeben:  >weil  Curl  an  eine 
weiße  Frau  einen  beleidigenden  Brief  geschrieben  hatte«.  Ob 
auch  dieses  Vorgehen  einen  Grund  hatte  und  ob  etwa  der  Brief  eine 
Antwort  auf  einen  schmeichelhaften  Brief  war,  haben  wir  nicht 
erfahren.  Aber  bald  darauf  wurden  tausend  Neger  gelyncht  und  der 
Grund,  hieß  es,  war  ein  Sieg  im  Boxen,  den  ein  Neger  über  einen 
Weißen  errungen  hatte.  Vielleicht  war  aber  dieser  Grund  nur  ein 
Vorwand,  und  vielleicht  lag  bloß  die  Gefahr  nahe,  daß  tausend 
Neger  an  zehntausend  weiße  Frauen  beleidigende  Briefe  schreiben 
könnten.  Die  verläßliche  Schere  des  Neuen  Wiener  Journals  hat  uns 
darüber  mit  einer  Schilderung  vom  Negerhaß  in  Amerika  beruhigt, 
in  der  es  hieß: 

Der  Schwarze  ist  in  den  Augen  des  Amerikaners  eben  nun  einmal  kein 
richtiger  Mensch.  Die  amerikanische  Dame,  die  sonst  an  Prüderie  mit 
mit  ihren  Stammesgenossinnen  in  der  ganzen  Welt  es  i eichlich  aufnimmt, 
kleidet  sich  in  Anwesenheit  eines  Negers  ruhig  an  oder  aus,  und  wenn 
die  erstaunte  europäische  Freundin  sie  darob  zur  Rede  stellt,  so 
antwortet  sie  kaltblütig:  »Der  Nigger  ist  doch  kein  Mann!« 

Sehr  richtig!  Aber  die  europäische  Freundin  soll  nur  nicht 
so  erstaunt  tun.  Auch  sie  würde  sich,  wenn  ein  Somali-Dorf  in 
die  Nähe  kommt  oder  bei  sonst  einer  besonderen  ethnographischen 
Gelegenheit  in  Anwesenheit  eines  Negers  ruhig  an-  oder  auskleiden. 
Denn  ob  der  Nigger  kein  Mann  ist,  davon  möchten  sich  alle,  die 
Weiber  sind,  gern  überzeugen.  Und  weil  das  ihre  Männer  fühlen, 
darum  werden  sie  die  Nigger  vom  Erdboden  weglynchen,  bis  diesen 
kein  Muskel  mehr  zuckt.  Bankiers,  Advokaten,  Landwirte  und 
Kaufleute  und  alle  wahrhaft  vornehmen  Menschen  werden  sich  an 
dieser  Lynchung  beteiligen.  Und  werden  dann  sagen,  daß  sie 
doch  besser  boxen  können.  Und  niu"  einen  Champion  werden  sie 
nicht  !  besiegen :    den    Neger    der    weiblichen   Phantasie.     Denn 


42  — 


den  hat  den  Weibern  die  Natur  als  Entschädigung  für  den  reellen 
Christen  gegönnt. 


»Ehrlich  606< 

In  einem  Leitartikel  über  die  Syphilis,  zu  der  jetzt  also  — 
infolge  des  Zwischenfalls  der  Ehrlichschen  Entdeckung  —  sogar  die 
Neue  Freie  Presse  Stellung  nehmen  muß,  teilt  jene  das  Los  aller 
Mächte,  die  dem  Liberalismus  über  den  Kopf  wachsen.  Durch 
Jahre  totgeschwiegen,  wird  sie  jetzt  zwar  angegriffen,  aber 
nicht  genannt.  Wenigstens  nicht  im  Leitartikel.  Die  Neue  Freie 
Presse  spricht  von  >Ehrlichs  unaussprechlichem  Mittel«,  weil  es 
Dioxydiamidoarsenobenzol  heißt:  aber  sie  spricht  es  noch  immer  ge- 
läufiger aus  als  die  Krankheit,  gegen  die  es  erfunden  wurde.  Hier 
hilft  sie  sich,  so  gut  es  geht,  mit  den  folgenden  Bezeich- 
nungen: >Eine  seit  etwa  fünf  Jahrhunderten  bekannte  Seuche.« 
>Wir  kennen  sie  aus  dem  in  ewiger  Jugend  blühenden  Werke 
des  alten  Rabelais.«  »Das  Leiden  des  armen  Heinrich,  für 
den  die  süße  reine  Ottegebe  ihr  Herzblut  gab.<  »Das  ver- 
zehrende Übel,  das  Ulrich  von  Hütten  zu  Tode  quälte. <  »Eine 
der  schauerlichsten  Seuchen,  die  den  Kranken  in  Scham  und  Elend 
verkommen  läßt  und  die  einen  Augenblick  des  Vergessens  noch 
an  Kindern  und  Kindeskindern  rächt.«  »Eine  fürchterliche  Plage. < 
»Dieses  allertückischeste,  allerschleichendste  Übel.«  »Diese  Gräß- 
lichkeit.« »Dieses  Gift  im  Körper.«  »Diese  Krankheit.«  Nun,  Ver- 
wechslungen sind  da  wohl  ausgeschlossen.  Der  Hinweis  auf 
Rabelais,  Hütten  und  den  armen  Heinrich  genügt,  um  klar  zu 
machen,  daß  nicht  die  , Fackel'  gemeint  sein  kann.  Und  zum 
Überfluß  erklärt  die  Neue  Freie  Presse,  »im  Speyerhaus  in  Frank- 
furt, wo  Ehrlich  arbeitet«,  sei  »auch  ein  gutes  Stück  falscher  Moral 
begraben  worden«.  So  daß  also  die  Syphilis  doch  darauf  hoffen 
kann,  selbst  im  Leitartikel  einst  mit  vollem  Namen  genannt 
zu  werden,  nämlich  wenn  sie  nicht  mehr  sein  wird.  Ein  schwacher 
Trost,  aber  anders  ist  da  nichts  zu  wollen.  Was  soll  man 
zum  Beispiel  zu  einem  »Augenblick  des  Vergessens«  sagen, 
der  noch  an  den  Kindern  und  Kindeskindern  gerächt  wird?  Man 
würde  »Verweile  doch,  du  bist  so  schön«  sagen,  wenn  es 
nicht  eben  jener  Augenblick  wäre,  dem  die  Kinder  und  Kindeskinder, 


43 


ach,  ihre  Entstehung  danken.  Daß.  sie  ihm  auch  ihr  Verderben 
danken,  ist  ein  alttestamentarischer  Fluch,  mit  dem  die  Natur 
das  Christentum  narrt.  Und  sie  ist  am  Ende  auch  nicht  geson- 
nen, sich  von  der  fortschreitenden  Wissenschaft  ihre  Würgengel 
zähmen  zu  lassen.  Die  apokalyptischen  Reiter  vird  die  apokalyp- 
tische Zahl  606  vielleicht  doch  nicht  bannen.  Was  vürde  die 
Moral  ohne  ihre  Syphilis  anfangen?  Diese  war  nicht  die  Gefahr, 
sondern  die  Schutzvorrichtung.  Nicht  die  Moral  hielt  die  Menschen 
ab,  sich  die  Syphilis  zuzuziehen,  sondern  die  Syphilis  hielt  sie 
ab,  sich  der  Moral  auszusetzen.  Sie  wären  ihr  rettungslos  preis- 
gegeben. Sie  würden  alle  schuldig  werden,  die  heute  nur 
krank  werden.  Heute  ist  die  Syphilis  eine  Krankheit,  die  man  hat, 
aber  nicht  nennt.  Wenn  es  wirklich  so  weit  kommen  sollte,  daß 
man  sie  nennt,  aber  nicht  hat,  es  wäre  ein  Zustand,  den  die 
Gesellschaftsordnung  nicht  um  einen  Tag  überlebte.  Es  wird  nicht 
so  weit  kommen.  Man  hat  die  Scham  vor  dem  Apotheker  nicht  in 
den  Kalkül  gezogen.  Die  Beschaffung  jenes  Mittels,  das  im  Jahre  1910 
gegen  jene  Krankheit  gefunden  wurde,  die  eine  Folge  jenes 
Augenblicks  ist,  dem  die  besten  Christen  ihr  Dasein  verdanken, 
wird  mit  großen  Schwierigkeiten  verbunden  sein.  Nur  eine 
Menschheit,  die  alle  Scham  abgelegt  hat,  wäre  bereit,  sich  von 
deren  letzten  Folgen  kurieren  zu  lassen.  Und  so  besteht  die 
Aussicht,  daß  Dioxydiamidoarsenobenzol  unaussprechlich  bleibt 
und  der  Name  Ehrlich  nur  mit  der  Erfahrung  verknüpft 
sein  wird,  daß  Syphilis  am  längsten  währt 


Was  ist  ein  Name  .  .  . 

Die  einzige  gute  Sache,  die  im  Annoncenteil  der  Wiener 
Presse  bisher  vertreten  wurde,  sie  wird  unterdrückt,  das  einzige 
anständige  Inserat  in  dieser  Fülle  von  Betrug  und  Unfug,  es  wird 
nicht  geduldet.  Diese  traurige  Wahrheit  spricht  mit  beredten 
Worten  aus  dem  folgenden  Schreiben,  das  der  Empfänger,  der 
diskret  genug  war,  seinen  Namen  herauszuschneiden,  mir  über- 
mittelt hat: 


44 


,  Wien,  am  25.  Juni  1910 

Herrn    Wien. 

Laut  Auftrag  des  k.  k.  Preßbureaus  dürfen  wir  Inserate,  in 
welchen  die  Worte  >Gummi«  oder  »Fischblasen*  vorkommen,  nicht  mehr 
in  unserem  Blatte  zur  Einschaltung  bringen.  Da  in  dem  Inserat  Ihrer 
werten  Firma  sich  leider  diese  verbotenen  Worte  befinden,  erlauben  wir 
uns  an  Sie  mit  der  höflichen  Bitte  heranzutreten,  für  dieselben  eine 
geeignete  Textänderung  vorzunehmen.  Wir  können  Sie  versichern,  daß 
wir  nicht  aus  eigener  Initiative  mit  dieser  Bitte  an  Sie  herantreten,  sondern 
von  dem  k.  k.  Preßbureau,  welches  in  dieser  Angelegenheit  allgemein 
vorgeht  und  dieselbe  Änderung  für  alle  anderen  Blätter  verlangt, 
gezwungen  werden. 

Im  Voraus  bestens  dankend,  zeichnen  wir 

hochachtungvoll 

V.  Chiavacci's 

.Wiener  Bilder' 

Illustriertes  Familienblatt. 

HerrChiavacci  hat  kürzlich  den  Bauernfeld-Preis  bekommen.  Er 
verdient  ihn  für  den  warmherzigen  Eifer,  mit  dem  sein  Familien- 
blatt die  gute  Sache  retten  will,  wenn  ihr  die  Behörde  schon  den 
üblen  Namen  versagt.  »Die  Sache  wills,  die  Sache  wills,  mein 
Herz!  Laßt  sie  mich  euch  nicht  nennen,  keusche  Sterne!* 
Herr  Pötzl,  der  auch  kürzlich  den  Bauemfeld-Preis  bekommen 
hat,  duckt  sich  und  gibt  die  Sache  preis.  Wiewohl  das  Neue 
Wiener  Tagblatt  wahrlich  schon  schlechtere  Artikel  gebracht  hat 
als  solche,  und  wiewohl  doch  nichts  die  Interessen  eines  Familien- 
blattes mehr  alteriert  als  die  Verhinderung  einer  Sache,  die  zur 
Verhinderung  der  Sache  dient.  Auch  die  Neue  Freie  Presse,  die 
doch  einsehen  müßte,  daß  diese  Pariser  Artikel  die  besten  sind,  und 
jedenfalls  viel  besser  als  die  des  Herrn  Berthold  Frischauer,  wirft  die 
Flinte  ins  Korn.  Freilich  ist  sie  kein  Familienblatt.  Und  der  Staat 
wiederum  ist  ein  Familienvater,  der  auf  Vermehrung  hält.  Er  braucht 
Soldaten.  Aber  er  läßt  es  doch  oft  selbst  nicht  so  weit  kommen,  indem 
er  nämlich  zweijährige  Kinder,  die  kein  Obdach  haben,  auf  der  Straße 
sterben  läßt.  Wäre  es  da  nicht  sittlicher,  solchen  Jammer  im  Keime  zu 
ersticken,  anstatt  auf  Annoncen  Jagd  zu  machen  und  die  Flüche  ver- 
zweifelnder Eltern  sich  nachdonnern  zu  lassen  ?  Wenn  schon  in  Spitälern 
und  Asylen  kein  Platz  für  tuberkulöse  Kinder  ist,  soll  darum  auch 
in  den  Annoncenrubriken  kein  Platz  für  das  Mittel  sein,    das  uns 


—  45 


auf  eine  legitime  Art  den  Anblick  dieses  irrenden  Elends  erspart? 
Und  der  Staat  sollte  schließlich  bedenken,  daß  es  außer  einer 
kupplerischen  Sittlichkeit,  die  zwischen  den  Begriffen  Gummi  und 
Sünde  vermittelt,  auch  noch  hygienische  Zwecke  gibt,  und  daß  er 
deren  Verfolgung  erschwert,  wenn  er  ihre  Förderer  verfolgt.  >  Ehrlich 
606<  dürfte  dort  oft  zu  spät  kommen,  wo  ein  Blick  in  den  Annoncen- 
teil Präservativ  gewirkt  hätte.  Ist  etwa  die  Bilanz  des  Bankvereines 
reeller  als  solches  Angebot?  Der  alte  Kindskopf  Staat  sollte  end- 
lich einmal  wissen,  wo  er  uns  zu  schützen  hat,  und  daß  es  lächerlich 
ist,  bloß  den  Schutz  zu  verhüten.  Er  denkt  aber,  es  sei  besser,  daß 
die  Bürger  durch  unsittliche  Handlungen  krank  werden,  als  daß 
sie  durch  ein  Gesundheitsmittel  auf  unsittliche  Gedanken  verfallen. 
Darum  hat  das  problemschwere  k.  k.  Preßbureau  —  das,  wie  wir  gehört 
haben,  >allgemein  vorgeht«  -  sichs  in  den  Kopf  gesetzt,  die 
Urheber  von  Pariser  Artikeln  zu  Stilkünstlem  zu  erziehen.  Herrn 
Chiavacd  —  es  soll  der  Dichter  mit  dem  Gummikönig  gehen  — 
bleibt  nichts  übrig,  als  ihnen  zuzureden.  Man  kann  schließlich  alles 
umschreiben.  Selbst  die  Bitte  an  den  Inserenten  könnte  man  mit 
den  Worten  umschreiben :  »Was  ist  ein  Name?  Was  uns  Rose  heißt, 
wie  es  auch  hieße,  würde  lieblich  duften.«  Und  würde  immer 
wieder  die  Vorstellung  der  Rose  wecken.  Wie  will  der  Staat  das 
ändern?  Da  wäre  es  schon  logischer,  die  Rosen  zu  verbieten. 
Denn  jedes  Wort,  das  sie  umschreibt,  bringt  sie  uns  nahe  und 
um  so  näher,  als  wir  die  Freude  des  Erratens  dazu  bekommen. 
Vorstellungen  leben  sich  ein.  Wenn  man  heute  das  Wort  »Dumm- 
heit« sagt,  denkt  man  gleich  an  »behördliche  Maßnahme«.  Um 
ein  Wort  vor  dem  Verstandenwerden  zu  schützen,  müßte  man  es 
häufig  wechseln.  Das  österreichische  Vorstellungsleben  würde  ein 
wenig  aufgemischt  werden,  die  Sittlichkeit  hätte  ihren  Profit,  nur 
den  Händlern  wäre  nicht  gedient,  die  doch  ihre  Ware  an  den 
Mann  bringen  wollen.  »Gummi«  —  das  war  einmal  ein  ganz  an- 
ständiges Wort.  »Vorsicht«  —  das  war  einmal  der  Tapferkeit  besseres 
Teil.  »Hygienische  Artikel«  —  da  weiß  man  auch  schon,  was  gemeint 
ist.  Man  soll's  nicht  und  soll's  doch  wieder  wissen.  Eine  verdammt 
schwere  Aufgabe.  Ein  unzerreißbares  Dilemma.  Nennen  wir  den 
Fall  einen  gordischen  Knoten —  so  wird  man  doch  wieder  aha! 
sagen.  An  den  Inserenten  ist  es,  sich  den  Kopf  zu  zerbrechen.  Den 
Bauemfeld-Preis  dem,  der  die  richtige  Lösung  findet! 


46 


Das  Paradies  der  Erpresser 

Ein  ehemaliger  Offizier  erschien  bei  einem  ihm  bis  dahin 
unbekannten  Frauenarzt  und  verlangte  sechstausend  Kronen; 
im  Weigerungsfalle  werde  er  ihn  wegen  sieben  Fruchtabtreibungen 
der  Staatsanwaltschaft  anzeigen.  Der  Arzt  wies  den  Mann  ab. 
Drei  Tage  darauf  erhielt  er  einen  rekommandierten  Brief,  in  dem  die 
Drohung  wiederholt,  mit  dem  > Offiziersehrenwort«  bekräftigt  und 
ihm  ein  letzter  Termin  gesetzt  wurde.  Der  Oberleutnant  wurde 
wegen  Erpressung  angeklagt.  In  der  Verhandlung  erklärte  er,  er 
habe  aus  ethischer  Überzeugung  gehandelt  und  den  Arzt  durch 
den  Erlag  der  Summe  einen  Schuldbeweis  erbringen  lassen  wollen. 
Der  Arzt  erklärte,  er  habe  keine  Furcht  gehabt,  da  er  ein  gutes 
Gewissen  habe.  Der  Gerichtshof  sprach  den  Angeklagten  frei. 
Dieser  habe  zweifellos  in  gewinnsüchtiger  Absicht  gehandelt, 
aber  da  sich  der  Bedrohte  nicht  gefürchtet  habe,  liege  keine  Er- 
pressung vor.  Für  die  österreichischen  Erpresser  eröffnet  sich  somit 
eine  neue  Chance.  Entweder  —  so  war  es  schon  bisher  —  hat  der 
Bedrohte  ein  schlechtes  Gewissen:  dann  zahlt  er,  und  der  Erpresser 
lebt  herrlich  und  in  Freuden.  Oder  —  das  ist  die  neue  Ära  — 
der  Bedrohte  hat  ein  gutes  Gewissen:  dann  wird  der  Erpresser 
freigesprochen  und  versucht  es  ein  Haus  weiter  mit  mehr  Glück. 
Bis  jetzt  wurde  er  bloß  nicht  angeklagt,  weil  der  Bedrohte  eher 
zahlte  als  daß  er  zugab,  ein  schlechtes  Gewissen  zu  haben.  Jetzt 
wird  er  angeklagt,  aber  nur  dann  eingesperrt,  wenn  sich  auch  der 
Bedrohte  einsperren  läßt,  das  heißt,  wenn  er  eher  zugibt,  ein 
schlechtes  Gewissen  zu  haben,  als  daß  er  zahlt.  Früher  erpreßte 
nur  der  Erpresser;  jetzt  hilft  ihm  dabei  die  Justiz.  Der  Staats- 
anwalt hatte  den  Arzt  gefragt,  ob  er  nicht  auch  im  Falle  des 
guten  Gewissens  > fürchten  mußte,  daß  eine  polizeiliche  Anzeige 
gegen  ihn  im  Kreise  seiner  Kollegen  peinlich  wirken  könnte«.  Als 
der  Zeuge  dies  für  ausgeschlossen  erklärte  —  weil  bekanntlich  noch  nie 
ein  Wiener  Frauenarzt  vom  andern  geglaubt  hat,  daß  er  Frucht- 
abtreibung begehe  und  weil  Fruchtabtreibung  eine  Handlung  ist,  die 
die  Frauenärzte  noch  entschiedener  verpönen  als  das  Gesetz  — ,  war 
der  Gerichtshof  beruhigt.  Um  den  Erpresser  zu  verurteilen,  hätte 
er  das  Geständnis  des  Arztes  gebraucht,  daß  er  ein  schlechtes  Ge- 
wissen habe.  Da  dieser  es  trotz  wiederholter  eindringlicher  Befragung 
nicht  zugeben  wollte,  blieb  dem  Gerichtshof  nichts  übrig  als  den 
Erpresser  freizusprechen,  mit  der  Begründung,  daß  »bei  dem  über 


—  47  — 

jeden  Verdacht  erhabenen  Arzt  die  beabsichtigte  Wirkung  nicht 
eingetreten  sei«.  Die  Wirkung,  die  ein  Erpresser  beabsichtigt,  ist 
nämlich  nicht  so  sehr  der  Empfang  von  6000  Kronen  als  die 
Angst  des  Spenders.  »Die  Eignung  einer  Drohung  muß  nach  der 
Individualität  des  Bedrohten  beurteilt  werden«.  Bei  Schweißaus- 
bruch des  Bedrohten  wäre  der  Tatbestand  der  Erpressung  zweifellos 
gegeben.  Daß  der  Arzt  gerade  durch  seine  Unbefangenheit  den 
Beweis  für  die  Gefährlichkeit  der  Drohung  liefern  könnte,  daß  gerade 
seine  Furcht  lieber  die  Harmlosigkeit  zugeben  würde  als  die  Furcht, 
und  daß  sich  in  seinem  Gefühl  die  infame  Alternative  >Geld  oder 
Anzeige<  vielleicht  schon  zur  infameren  Alternative  >Freispruch 
des  Erpressers  oder  Anklage  wegen  Fruchtabtreibung«  gesteigert 
hat  —  das  bedenkt  diese  Paragraphenpsychologie  nicht.  Diese 
Gerechtigkeit  verurteilt  einen  Burschen,  der  auf  der  Ringstraße 
ein  Handtäschchen  erbeutet,  zu  lebenslangem  Kerker,  weil  die 
Besitzerin  erschrocken  ist,  und  spricht  den  Erpresser  frei,  weil  der 
Arzt  ein  gutes  Gewissen  hat.  Der  Vorsitzende  wird  hoffentlich 
konsequent  bleiben,  wenn  ich  jetzt  so  zu  ihm  spreche: 
Dafür,  daß  Sie  dem  Arzt  sein  gutes  Gewissen  attestiert  und 
den  Erpresser  freigesprochen  haben,  haben  Sie  von  jenem  die 
Behandlung  Ihrer  Geliebten  und  von  diesem  die  nächste  erpreßte 
Summe  zugesichert  bekommen.  Ich  verlange  von  Ihnen,  daß  Sie  mir 
die  Hälfte  des  Betrages  geben,  widrigenfalls  ich  die  Anzeige  wegen 
Verbrechens  des  Mißbrauches  der  Amtsgewalt,  Vorschubleistung 
zur  Fruchtabtreibung  und  Teilnahme  an  einer  Erpressung  erstatten 
werde.  Da  Sie  aber  ein  gutes  Gewissen  haben  und  über  jeden 
Verdacht  außer  über  den  der  Naivität  erhaben  sind,  erwarte  ich 
meinen  Freispruch  von  der  hierait  begangenen  Erpressung. 


Der  soziale  Ton 

Nur  aus  dem  Gerichtssaalbericht  dringt  das  Echo  der  Zeit 
Nur  die  verstümmelte  Anklageschrift  oder  das  schlecht  mitge- 
schriebene Referat  eines  Votanten  führt  die  echte  Sprache  der 
beleidigten  Gesellschaftsordnung.  Wenn  der  letzte  Rimmer  von 
Logik  weggeblasen  ist,  kommt  die  Dummheit  erst  zu  plastischer 
Geltung.  In  München  wixrde  ein  Anarchistenprozeß  geführt,  dessen 
Angeklagte  sich  von  einem  Absynthrausch  der  neunziger  Jahre,  von 


48  — 


einem  ausgelebten  Vagantenideal  und  etwa  noch  von  dem  Programm : 
>Wir  wollen  in  die  böhmischen  Wälder  gehen  und  dort  eine 
Kabarett- Truppe  sammeln!«,  zu  unvorsichtigen  Redensarten  hatten 
hinreißen  lassen.  Anstatt  nun  diese  harmlosen  Leute  lebenslänglich 
im  Prytaneum  zu  verköstigen,  hat  man  sie  bloß  freigesprochen. 
Und  darum  Räuber  und  Kabarettiers !  Über  diesen  Justizmord 
aber  brachten  die  Zeitungen  spaltenlange  Berichte  und  in  der  Ein- 
leitung standen  die  Worte  der  Anklageschrift,  die  die  Angeklagten 
wie  folgt  charakterisiert:  >Sie  waren  es,  welche  Bombenattentate, 
Gütergemeinschaft,  freie  Liebe  und  dergleichen  empfohlen 
und  Pläne  zu  Einbruchsdiebstählen,  Zerstörung  öffentlicher 
Gebäude  durch  Dynamit  erörtert  und  bereits  bestimmte  einzelne 
Verbrechen  in  Aussicht  genommen  haben«.  Das  einzige,  das  sie 
fast  ausgeführt  haben,  soll  die  freie  Liebe  gewesen  sein.  Aber  der 
Staatsanwalt  traut  einem  dergleichen  immer  erst  zu,  wenn  er  ihn 
schon  des  Bombenwerfens  überwiesen  hat. 


Der  geistige  Ton 

Einem  verstorbenen  Baurat  ruft  ein  liberaler  Parteigenosse 
nach:  »In  seinem  Elemente  war  er  —  und  dafür  zeugen  die  zahl- 
reichen Bauten  von  Gotteshäusern,  die  im  In-  und  Auslande  nach 
seinen  Plänen  errichtet  wurden  —  wenn  er  Gelegenheit  hatte,  den 
Stein  zum  Rollen  zu  bringen  für  den  Gedanken  des  Bauwerkes, 
dessen  Schaffung  ihm  oblag«.  Dieser  Stein  ist  nicht  identisch  mit 
dem  konservativen  Grundstein,  der  bei  einem  Bauwerk  gelegt 
wird,  sondern  ist  ein  fortschrittlicher  Stein,  der  zum  Rollen  ge- 
bracht wird. '  Woraus  sich  die  vielen  Hauseinstürze  des  liberalen 
Gedankens  erklären  mögen.  Wie  aber  beschreibt  die  Neue  Freie 
Presse  das  Verhalten  des  Publikums  bei  einer  Regenkatastrophe? 
>Die  drängende  Masse  schwoll  lawinenartig  an«  und  >die  Auf- 
rechterhaltung des  Überfüllungsverbotes  angesichts  des  Elementar- 
ereignisses ließ  eine  Flut  von  Verwünschungen  hervorbrechen*. 
Es  kam  jedenfalls  auch  zu  stürmischen  Auseinandersetzungen,  man 
tappte,  lange  im  Nebel  der  Ungewißheit,  ob  noch  eine  Elektrische 
gehen  werde,  bis  sich  infolge  der  Versicherung,  daß  dies  der  Fall 
sei,  die  Stimmung  aufheiterte. 


49  — 


Der  gebildete  Ton 

Manchmal  liest  man  einen  Satz,  welcher  einem  den  ganzen 
Haß  gegen  die  formale  Bildung  zuführt,  den  man  fürs  Leben 
braucht  und  den  man  sich  sonst  erst  umständlich  aus  Büchern,  Leit- 
artikeln, Universitätsvorlesungen  und  gesellschaftlichem  Verkehr 
zusammenklauben  muß.  So  schreibt  zum  Beispiel  der  Herr  Doktor 
Viktor  Ruß  —  gewiß  nicht  nur  einer  der  maßgebendsten,  sondern 
auch  einer  der  gebildetsten  Männer  dieser  an  ihrer  fürchterlichen 
Bezeichnung  noch  immer  nicht  krepierenden  »Jetztzeit«  —  in  der 
Neuen  Freien  Presse  die  folgenden  Worte,  in  denen  der  Bildungs- 
Ruß  die  greifbarsten  Formen  angenommen  hat: 

Diese  Tatsache  war  für  den  mit  der  Vorberatung  betrauten 
Permanenzausschuß  des  Staatseisenbahnrates  mitbestimmend,  daß  sein 
Subkomitee  eine  Expertise  einberief,  über  deren  vorläufiges  Ergebnis 
nicht  so  sehr,  weil  des  Materials  viel  geliefert  wurde,  als  vielmehr  über 
deren  vorläufigen  Eindnick  Mitteilung  zu  machen,  die  Redaktion  mir  den 
Wunsch  ausgesprochen  hat,  den  ich  als  Vorsitzender  dieser  Enquete 
unbefangen  zu  erfüllen  gerne  bereit  bin. 

Was  gebührend  zur  Kenntnis  zu  nehmen,  ich  in  diesem  Falle 
nicht  anstehe  ausdrücklich  und  unter  Hinweis  auf  den  durch  dieses 
vorläufige  Ergebnis  des  Permanenzausschusses  der  liberalen  ödig- 
keit  erzielten  Eindruck  zu  erklären,  weil  es  sich  um  eine  Tatsache 
handelt,  die  für  den  Staatseisenbahnrat  mitbestimmend  sein  könnte, 
ähnliche  Verkehrshindernisse  unbefangen  zu  beseitigen,  womit  ich 
die  Ehre  gehabt  zu  haben  wohl  gespeist  zu  haben  wünsche. 


Die  Milderungsgrunde 

So  rächt  sich  der  Journalismus  für  die  Diskretion  der 
Militärjustiz: 

Neue  Freie  Presse:  >Man  glaubt,  daß  als  Milderungsgründe  an- 
genommen w^urden  :  Die  sehr  gute  militärische  Dienstleistung 
des  Angeklagten  und  seine  von  den  Psychiatern  konstatierte 
geistige  Minderwertigkeit.« 


—  50  — 

Ein  Fall  von  Inkompatibilität 

Uie  Militärstrafprozeßordnung  ist  schließlich  noch  erträglich. 
Ein  Blumenkorso  meinetwegen  auch.  Aber  beides  zugleich  —  das 
geht  nicht!  Zu  den  Plagen  der  Hofrichter- Affäre  hat  dieser  ent- 
setzliche Parallelismus  gehört:  Tagtäglich,  im  Morgen-  und  Abend- 
blatt, > wurde  gemäß  den  Bestimmungen  der  Militärstrafprozeß- 
ordnung das  geschöpfte  Urteil  dem  Korpskommandanten  Q.  d.  I.  von 
Versbach-Hadamar  vorgelegt <,  und  in  der  benachbarten  Spalte  schon 
>bemerkte  man  u.  a.  die  Gemahlin  des  Korpskommandanten  G.  d.  I. 
Versbach  v.  Hadamar  (rosa  Rosen  und  Tülltuffs)«.  Wenn  ein  Ehe- 
paar in  die  Öffentlichkeit  tritt,  so  muß  doch  eine  gewisse  einheit- 
liche Grundstimmung  vorwalten.  Wenigstens  in  den  Tagen  so 
wichtiger  Entscheidungen.  Also  künftig,  wenn  ich  bitten  darf, 
entweder  die  Häuslichkeit  Albas  ohne  Blumenkorso,  oder 
Pflichten  der  Saison    ohne  Todesurteil.   Nur  kein  Durcheinander! 


Was  man  in  Amerika  von  Österreich  weiß 

Aus  dem  New  York  Herald  vom  5.  Juli  1910: 
In   the    dual   Monarchy 

Mr.  and  Mrs.  W.  K.  Vanderbilt  and  Mr.  Winfield  Hoyt  have 
arrived  at  the  Hotel  Stern,  Marienbad. 

Dr.  Paul  Cohn,  of  Vienna,    has  arrlved  in  Carlsbad  for  a  short 

sojoum. 

«  • 

Theaternachrichten 

>  .  .  .  Deshalb  war  das  laute  Händeklatschen,  mit  dem  man 
Ehrlich  begrüßte,  wohl  berechtigt.  In  seiner  bescheidenen  Art  lehnte  er 
übrigens  für  sich  den  Beifall  ab  .  ,  .< 

Trotzdem  wiederholt  gerufen,  zum  Schluß  nicht  enden- 
wollender  Beifall  ,  . .    Tristan   gesungen?   Nein,    Menschheit   von 

Syphilis  befreit. 

« 

>Aus  Nürnberg  schreibt  man  uns:  Der  Charakterdarsteller  L. 
....  von  der  zu  Hunderten  anwesenden  Menge  mit  stürmischem  Bei- 
fall empfangen.« 

Franz  Moor  gespielt?  Im  Gegenteil.  Die  Operettensängerin  M. 
bei  einer  Kahnpartie  vom  Ertrinken  gerettet. 


—  51  — 

Die  zweite  Nachricht  bedarf  eines  Kommentars.  Der  Begriff 
»Charakterdarsteller«  gewinnt  dank  der  Sozialisierung  des  Sdiau- 
spielerstandes  seinen  vollen  Edelgehalt.  In  früheren  Zeiten  hätte 
der  Kollege,  der  mit  der  Kollegin  eine  Kahnpartie  unternahm,  sie 
ertrinken  lassen,  in  dem  trügerischen  Glauben,  daß  er  dann  allein 
für  die  Hervorrufe  des  Publikums  werde  danken  können.  Heute 
wissen  die  Schauspieler  t>ereits,  daß  sie  gerade  durch  Werke  der 
Nächstenliebe  bei  Fresse  und  Publikum  reüssieren.  Es  wäre  be- 
dauerlich, wenn  die  ethische  Entwicklung  der  deutschen  Schauspieler 
durch  die  Enthüllungen,  die  soeben  über  den  Herrn  Nissen  herein- 
gebrochen sind,  wieder  aufgehalten  würde.  Es  besteht  die  Gefahr, 
daß  jetzt  dieser  um  die  Hebung  der  schauspielerischen  Ethik  so 
verdiente  Mann  unter  die  Schwelle  des  Standesbewußtseins  hinab- 
gestoßen wird.  (Siehe  die  Broschüre  > Nissen,  Ein  Kapitel  Bühnen- 
genossenschaft« von  Karl  Vogt.)  Man  sollte  aber  den  Schau- 
spielern, die  das  redliche  Bestret)en  haben,  sichere  Kantonisten  zu 
werden,  ihre  Ideale  nicht  unnötig  verteuern.  Sie  wollen  nicht,  daß 
ihre  Kolleginnen  Prostitution  treiben.  Dafür  sind  sie  bereit,  sie 
erforderlichenfalls  vom  Ertrinken  zu  retten.  Sie  sind  edel,  hilfreich 
und  gut.  Vergessen  wir  nie,  daß  die  Arbeit  undankbar  genug  ist. 
Was  geschiebt  zum  Beispiel,  wenn  ein  Revolverjoumalist  am  Ufer 
steht  und  man  keine  Hand  frei  hat,  um  den  Hut  zu  ziehen,  und 
nicht  die  Geistesgegenwart  besitzt,  »Grüß  Gott,  Doktor!«  zu  sagen? 

Dann  war  die  Rettung  umsonst:  die  Notiz  erscheint  nicht. 

«  • 

• 

So  schlecht  wie  einst 

Wenn  die  Reinhardt-Gesellschaft  \X'ien  wieder  verläßt,  ist  die 
Kritik  dümmer  geworden,  und  das  Burgtheater  muß  es  büßen. 
Nun  hat  es  ja  das  Burgtheater  nicht  besser  verdient,  und  wiewohl 
seine  Zwerge  in  der  Aufmachung  des  Herrn  Reinhardt  und  zumal 
wenn  sie  als  Gäste  nach  Wien  kämen,  ins  Riesenhafte  wüchsen, 
so  mag  man  zugeben,  daß  das  Burgtheater  heute  auch  unverdienten 
Tadel  verdient  hat.  Denn  ein  Theater,  welches  sich  von  Pompeji  bloß 
dadurch  unterscheidet,  daß  es  keine  Trümmer  hat,  und  welches 
ausschließlich  auf  die  Versicherung  der  Fremdenführer  angewiesen 
ist,  hier  sei  einmal  die  Wolter  gegangen,  hat  für  Einheimische 
die  Kasse  zu  schließen.  Im  allgemeinen  Mangel  an  schauspielerischen 
Persönlichkeiten  liegt  gewiß  ein  hinreichender  Grund,  ein  einzelnes 
Theater  zu  entschuldigen,  obschon  kein  hinreichender  Grund,  es 


—  52  — 

zu  besuchen.  Aber  wenn  es  ein  Theater  gibt,  dem  auch  die  Nachsicht 
versagt  werden    muß,   so    ist  es  das  Burgtheater,   und  keines  hat 
wie    dieses    die   Verpflichtung,     einen    ehrenvollen    Tod    einem 
schmählichen   Leben    vorzuziehen.    Iraditionslose   Bühnen  mögen 
sich  von  unternehmenden  Budapestern  die  Kultur  und  und  sonstige 
Surrogate   einwirtschaften   lassen.    Das   Burgtheater    hätte    seinen 
Namen   zu  ändern,   wenn   es  seine  Vergangenheit   zu    überleben 
beabsichtigt,    es   hätte    auf  seinem  Zettel    bloß    den    berühmten 
Punkt  zu   belassen,  den  man  infolge  einer  Anregung  der  , Fackel' 
voreilig  beseitigt  hat,  und   es  dürfte  dann  getrost  auch  gute  Kine- 
matographenvorstellungen  geben,  die  immer  noch  würdiger  wären, 
als  schlechte  Klassikervorstellungen.  Sicherlich,  die  Noblesse  dieser 
Wüste,   die  es  bisher  verschmäht  hat,   sich   mit  malerischen   Aus- 
reden zu  verleugnen,  ist  sympathischer  als  jenes  zudringliche  Fata 
morgana-Spiel,   das   in   jedem   Sommer   unsere   Kamele   beglückt. 
Aber  das  Theater  ist  nicht  dazu  da,  Mittelschülern  die  Lektüre  der 
Klassiker  zu   ersparen.    Wenn  der  Zeit,  in  der  wir  leben,  schau- 
spielerische Persönlichkeiten   nicht   abzugewinnen  sind,  so  dränge 
sich  ihr  das  Burgtheater  nicht  auf.  Sonst  gibt  es  sich  einer  Unge- 
rechtigkeit preis,  die  einen  Theaterdirektor  für  den  Lauf  der  Welt 
verantwortlich   macht,   und   jener    kritischen    Ungezogenheit,    die 
einen  toten  Adler  ermuntert,  sich  an  einem  lebenden  Spatzen  ein 
Beispiel   zu  nehmen.   Sobald   Herr  Reinhardt   ins  Land   kommt, 
sobald   seine  neurasthenischen   Schlierseer  unsem  Theatersommer 
eröffnen,  kann  sich  die  junge  Kritik  nicht  fassen  vor  lauter  Hori- 
zonten. So  stelle  ich  mir  die  erste  Unterrichtsstunde  vor,  wenn  die 
sexuelle    Aufklärung  ein  obligater  Gegenstand  sein  wird.    Peinlich 
ist  dabei  außer  der  jugendlichen  Freude  nur,    daß  sie  sich  seit  so 
vielen  Jahren  wiederholt,  und  daß  die  Dümmsten  in  der  Klasse  am 
lautesten  wiehern.  Das  ewig  neue  Erlebnis  verführt  sie,  die  Mutter 
zu  beschimpfen,   die  sie  nur  geboren  hat,    ohne  ihnen  zu  sagen, 
wie  es  dabei  zugegangen  ist.    Welcher  von  den  Herren,  die  heute 
in  Theaterdingen   den   Mund   voller   nehmen,   als  es  ihrem  Tem- 
perament geziemt,   hätte  ein  Recht,  zu  leugnen,  daß  auch  er  der 
alten   Burgtheaterkunst  seine   ganze   kleine   Geistigkeit   verdankt? 
Anstatt  die   neue  Burgtheaterkunst  an   der  alten  zu  messen,  sagen 
sie,  es  sei  dieselbe,   und   wagen   es,    dieser  Herrn    Reinhardt  als 
Meister  zu  empfehlen,    dessen  schauspielerischer  Fond    ein   vierter 
Galerieschall  eines  Lewinsky-Tones  ist  und  dessen  dramaturgisches 


53  — 


Imperium  bloß  die  allgemeine  Tüchtigkeit  eines  Ellbogennaturells 
bedeutet,  die  sich  ebensogut  im  Bankfach  und  im  Feuilleton  aus- 
leben könnte.  Das  Burgtheater  aber  ist  so  echtes  Theater,  daß  es 
eben  in  einer  Epoche,  die  keine  schauspielerischen  Naturen  hervor- 
bringt, schlechtes  Theater  sein  muß,  während  der  findige  Geist, 
der  keine  Vorurteile  und  keine  Erinnerung  zu  besiegen  hat,  eine 
praktikable  Verbindung  von  Balletschule,  Opiumkneipe  und 
Bildergalerie  uns  für  Theater  ausgeben  kann.  Wenn  nun  eine 
gläubige  Kritik  das  Burgtheater  tadeln  will,  so  sollte  man  doch 
verlangen  können,  daß  ihre  Besinnung  immerhin  zur  Erkenntnis  des 
Unterschiedes  zwischen  einst  und  jetzt  reicht  und  daß  sie  vor  den 
Wundem  der  Berliner  Gastspiele  bloß  das  heutige  Burgtheater 
verkleinert.  Wie  mag  es  uns  nun  überraschen,  daß  wir,  auf  die 
hundertjährige  Wahrheit  gefaßt,  das  Burgtheater  sei  nicht  mehr 
das,  was  es  einst  war,  die  Meinung  zu  hören  bekommen,  es  sei  trotz 
dem  Berliner  Beispiel  so  schlecht  wie  einst !  Einer  will  einer  Burg- 
theatervorstellung das  Schlimmste  nachsagen  und  sagt:  »Einen 
Abend  lang  war  es  möglich,  sich  einzubilden,  wir  seien  noch  in 
den  Achtzigerjahren  des  vorigen  Säkulums.  Diese  Vorstellung  hätte 
ebensogut  unter  Adolf  Wilbrandt  stattfinden  können.«  Es  wird 
also  gottseidank  zugegeben,  daß  in  der  Zeit  der  Wolter, 
derMeixner,  Baumeister  und  Sonnenthal,  der  Gabillons  und  Hart- 
raanns,  der  Mitterwurzer,  Krastel  und  Robert  die  Sache  zur  Not 
ebenso  geglückt  wäre.  >Was  man  sah  und  hörte,  war  von  einer 
achtbaren  Schablone,  von  einer  respektablen  Banalität ...  Da 
war  alles  von  einer  ganz  und  gar  unwichtigen  Bravheit« 
Mit  einem  Wort,  ganz  so  wie  damals.  >Ich  habe  keinen 
einzigen  Akzent,  keine  Gebärde,  kein  Wort  mit  aus  dem 
Theater  genommen,  davon  mein  Herz  schneller  geschlagen  hätte, 
nichts,  wodurch  ich  in  meinem  künstlerischen  Besitzstand  glück- 
licher und  reicher  geworden  wäre.«  Also  ganz  wie  in  der  Theaterzeit, 
in  deren  Erinnerung  unser  Herz  schneller  schlägt  und  die,  wenn 
Theatereindrücke  solches  vermögen,  unsem  künstlerischen 
Besitzstand  geschaffen  hat.  Bei  manchen  Leuten,  die  später  Jour- 
nalisten wurden,  scheint  es  ihr  nicht  gelungen  zu  sein.  Es  war 
eine  arme  Zeit,  die  ein  reiches  Theater  hatte.  Das  Burgtheater 
schwindelt  sich  nicht  durch  die  Zeiten ;  es  kann  nicht  hochstapeln. 
Aber    es    sollte    auch    nicht    als    Bettler    den    Verkehr   hindern. 


—  54  - 

Wiener  Impressionismus 

>Sie  war  fahl  geworden.  Ihre  Schritte  hingen  schwer  am 
Boden.«  Plötzlich  wurde  es  anders,  sie  schien  förmlich  Flügel 
bekommen  zu  haben.  >Er  ahnte  die  Zusammenhänge.«  Und  >wer  hatte 
ihr  die  Flügeln  verliehen?«  Der  so  fragte,  hieß  Ludwig.  Aber  der 
Papagei  schrie  > Arthur«.  Da  sagte  sie:  >Laß  mich  den  Vogel 
hinaustragen.  Er  macht  solchen  Lärm.«  Und  sie  trug  den  Vogel 
hinaus.  Ludwig  wurde  bleich.  »Also  Arthur  war's,  sein  einziger 
Freund,  der  Dichter.  Ewigen  Frühling  trug  er  in  sich.«  Da  machte 
Ludwig  einen  Vorschlag  zur  Güte.  >Ich  möchte  sehr  gern,  daß 
Arthur  heute  zum  Nachtmahl  kommt.«  Dann  ließ  er  die  beiden 
Bruderschaft  trinken.  Er  ging  aus  dem  Zimmer.  >,Wer  alles  ver- 
steht, muß  alles  verzeihen  und  leiden,  leiden',  fühlte  er.< 

Das  ist  in  einem  Wiener  Tagesblatt  gedruckt  worden.  Gewiß 
täte  dieser  Ludwig  gut,  den  Papagei  abzuschaffen.  Und  ohne 
Zweifel  ist  dieser  Arthur  einer  vom  Stamme  jener  Asra,  welche 
»jeden  früh«  sagen,  wenn  sie  dichten. 


Einer,  der  meine  Ansichten  teilt 

In  einem  ganz  guten  Artikel  befaßt  sich  Herr  Hermann 
Bahr  mit  dem  Unterschied  zwischen  dem  schweren  Wiener  und 
dem  leichten  Londoner  Leben,  den  er  an  einem  Vergleich 
>Charing-Croß  und  Südbahnhof«  beweist: 

Und  nun  gehts  durchs  ungeheure  Gedränge  der  grenzenlosen 
Stadt,  aber  kein  Kutscher  schreit,  kein  Schutzmann  schreit,  ein  Zeichen 
der  Hand  ordnet  alles  und  man  ist  angekommen,  ausgestiegen,  im 
Lift  aufgefahren  und  hat  noch  kein  lautes  Wort  gehört.  Das  Leben  ist 
hier  ganz  still,  und  es  wird  einem  unbeschreiblich  leicht  gemacht.  So 
kann  man  seine  Kraft,  die  man  bei  uns  im  ewigen  Kampf  mit  brüllenden, 
rennenden,  stoßenden  Trägern,  schimpfenden,  fluchenden  Kutschern  und 
heiser  kreischenden  Wachmännern  verbraucht,  auf  andere  Dinge  sparen. 

Ich  mußte  nicht  nach  London  gehen,  um  zu  schreiben: 
Ich  halte  die  glatte  Abwicklung  der  äußeren  Lebensnotwendig- 
keiten für  ein  tieferes'Kulturbedürfnis  als  den  Schutz  der  Karlskirche. 
Ich  glaube  zuversichtlich,  daß  Karlskirchen  nur  entstehen  können,  wenn 
wir  allen  Innern  Besitz,  alles  Gedankenrecht  und  alle  produktiven  Kräfte 
des  Nervenlebens  unversehrt  erhalten  und  nicht  im  Widerstand  der 
Instrumente  verbrauchen  lassen. 


—  55  — 

Herr  Bahr:  I 

Und  alle  Kraft  wird  vergeudet  ....  Seinen  Koffer  zu  bekommen, 
eine  Straße  zu  überschreiten,  sich  eines  Kellners  zu  bemächtigen,  dies 
alles  ist  bei  uns  ein  Problem,  das  jedem  einzelnen  jeden  Tag  aufs  neue 
gestellt  wird  und  das  jeder  jedesmal  wieder  für  sich  aus  eigenem  zu 
lösen  hat;  so  wird  man  bei  uns  von  den  kleinen  Aufgaben  des  täglichen 
Lebens  zu  sehr  erschöpft,  am  für  die  großen  noch  etwas  übrig  zu  haben. 

Ich: 

Die  Leute,  die  uns  bedienen,  sie  sind  Sehenswürdigkeiten.  Der 
Kutscher  ist  eine  Individualität,  und  ich  komme  nicht  vorwärts.  Der 
Kellner  hat  Rasse  und  läßt  mich  deshalb  auf  das  Essen  warten.  Der 
Kohlenmann  singt  vergnügt  auf  seinem  Wagen,  und  ich  friere. 

Herr  Bahr: 

Dort  wird  man  von  gutgelaunten  Kellnern  an  seinen  Tisch 
geführt,  bekommt  sogleich  das,  was  man  bestellt,  bekommt  wirklich 
das,  was  man  bestellt  hat,  muß  nichts  zweimal  sagen,  wird  mit  den 
Augen  verstanden  und  hört  kein  lautes  Wort,  niemand  schreit  oder 
stöhnt  oder  schimpft,  niemand  rennt  in  Angst,  niemand  springt  vor  Wut. 

Ich: 

Dafür,  daß  in  einem  Wiener  Restaurant  sechs  Speisenträger 
mich  fragen,  ob  ich  > schon  befohlen«  habe,  und  kein  einziger  gehorcht, 
dafür,  daß  sich  der  Ruf  >Zahlen!<  echoartig  fortpflanzt,  ohne  erhört  zu 
werden,  dafür,  daß  die  Verteilung  des  Trinkgelds  nach  Alters-,  Verdienst- 
und Berufskategorien  alle  anderen  Probleme,  die  mir  etwa  durch  den 
Kopf  gehen  könnten,  verdrängt,  dafür  kann  die  Schönheit  des  äußeren 
Burgplatzes  nur  eine  geringe  Entschädigung  bieten*! 

Herr  Bahr: 

In  unseren  Bahnhöfen,  auf  der  Straße,  in  Gasthäusern,  überall 
ist  immer  mein  Eindruck  der:  Hier  scheint  etwas  ganz  Unbekanntes 
und  worin  es  bei  uns  noch  allen  an  aller  Übung,  aller  Erfahrung, 
fehlt,  eben  jetzt  zum  allerersten  Male  versucht  zu  werden. 

Ich: 

Wird  ein  neues  Restaurant  eröffnet,  so  ists,  als  ob  es  sich  um 
die  Erschaffung  des  ersten  Restaurants  handelte.  Alles  steht  erwartungs- 
voll. Aber  das  Restaurant    geht  nicht.    Nichts  geht  hier    und    niemand. 

Herr  Bahr: 

Und  wer  es  aushält,  kann  stolz  auf  seine  Nerven  sein, 
es  ist  eine  Prüfung  in  Heroismus  .  .  .  Während  man  in  London 
kein  Held  sein  muß,  um  im  Gasthaus  essen  zu  können.  .  .  . 
Oder  man  versuche  doch  einmal  abends  gegen  sieben  vom  Heinrichs- 
hof hinüber  zur  Oper  zu  gelangen ;  es  ist  selbstmörderisch.  Nun 
kann  ich  nicht  in  Ziffern  sagen,  um  wie  viel  der  Verkehr  auf  dem 
Trafalgar-Square  größer  ist  als  hier;  ein  vierzig-  oder  fünfzigmal  so 
großer  als  auf  dem  Ring  wird  er  wohl  sein.  Aber  hier  fühlt  man  sich 
keinen  Augenblick  bedrängt  oder  gehetzt  oder  in  Angst,  ein  Kind  kann 


—  56  — 

wohlgebofgen  hinüber,  alte  Frauen  beschleunigen  kaum  ihren  Schritt. 
Und  nie  habe  ich  hier  rennen  sehen,  rufen  hören;  der  ewig  gleiche 
Oang  dieses  unermeßlichen  Verkehrs  bleibt  immer  ungestört.  Der  Passant 
blickt  kaum  von  der  Zeitung  in  seiner  Hand  auf,  so  sicher  weiß  er  sich. 

Ich: 

Eine  glatte  Abwicklung  der  äußeren  Lebensnotwendigkeiten 
würde  es  einem  ermöglichen,  zu  sich  selbst  zu  kommen.  In  einer 
Stadt,  in  der  die  Kutscher  >Hüh!«  und  »Höhl«  brüllen  müssen,  in  der 
jeder  Fußgänger  über  jedes  Fuhrwerk  staunt  und  jedes  Fuhrwerk  über 
jeden  Fußgänger,  ist  es  ein  persönlicher  Erfolg,  mit  heilen  Gliedmaßen 
nachhause  zu  kommen.  Im  Gewühl  der  Berliner  Friedrichstraße  kann 
ich  ungestörter  denken  als  in  den  bekannten  stillen  Gassen  der  Wiener 
Vorstadt,  die  jene  Literaten  lieben,  welche  aus  keiner  Patrizierfamilie  stammen. 

Alles  das  und  noch  mehr  darüber  kann  Herr  Bahr  in  meinem 
Buch  »Sprüche  und  Widersprüche«  nachlesen.  Der  Unterschied 
zwischen  uns:  er  will  auf  der  Straße  Zeitung  lesen,  ich  will  auf  der 
Straße  denken.  Ich  glaube  übrigens  gern,  daß  der  Londoner  Ver- 
kehr ihm  so  ausgiebige  Sicherheit  geboten  hat,  daß  er  dort  sogar 
»Sprüche  und  Widersprüche«  lesen  konnte.  Dagegen  war  ich  nicht 
imstande,  das  Neue  Wiener  Journal,  das  seinen  Artikel  brachte, 
auf  der  Ringstraße  zu  lesen,  wiewohl  er  mir  in  der  Hauptsache 
schon  bekannt  war.  Ich  nahm  ihn  nachhause,  freute  mich,  daß 
das  Blatt  endlich  einmal  einen  Originalbeitrag,  wenngleich 
immer  noch  ohne  Quellenangabe,  hatte,  und  war  ordent- 
lich stolz,  daß  es  auch  mir  endlich  gelungen  war,  von  Herrn 
Bahr  entdeckt  zu  werden.  Aber  ich  bekam  keine  Sehnsucht 
nach  dem  Charing-Croß.  Auf  der  Ankunftseite  ist  gewiß  ein  Lon- 
doner Bahnhof  bequemer.  Aber  die  Gerechtigkeit  gebietet  zuzu- 
geben, daß  sich  zur  Abfahrt  ein  Wienei  Bahnhof  besser  eignet. 
Freilich,  in  eben  jenem  Buch  wird  Herr  Bahr  auch  den  Grund  an- 
gegeben finden,  warum  ich  mich  trotzdem  nicht  entschließen  kann, 
diese  Stadt  zu  verlassen  —  denn: 

Nach  Ägypten  wär's  nicht  so  weit.  Aber  bis  man  zum  Süd- 
bahnhof kommt  1 


Resignation 

Es  geht  das  Gerücht,  daß  j'etzt  eine  Operette  Zulauf  findet, 
in  der  die  Verse  vorkommen: 

Nur  in  Wien  am  Donaustrand 
Sind  die  Frauen  fesch  belnand. 


—  57  — 


Ich  will  der  Sache  nicht   nachgehen.    Ich    habe   in   diesem 
eben  so  viel  Schreckliches  durchgemacht,    daß   ich    dieses  Letzte 
rn  von  mir  fernhalten  möchte.    Ich  schließe  mich  ein   und  will 
tun,  als  ob  ich  nichts  gehört  hätte. 


Der  Biberpelz 

Von  Karl  Kraus 

Mein  Wiener  Dasein  ist  jetzt  wieder  reicher  geworden,  das 
ewige  Sichdiewanddeslebensentlangdrücken,  damit  man  auf  dem 
Trottoir  von  keinem  Trottel  angesprochen  wird,  hat  ein  Ende,  und 
jeder  Tag  bringt  neue  Abenteuer.  Durch  all  die  Jahre  keine  Gesell- 
schaft, kein  Theater,  kein  Blumenkorso  —  wie  hält  man  das  nur  aus? 
Die  Zufuhr  der  wertvollsten  Eindrücke  abgeschnitten;  und  wer 
weiß,  wie  lange  der  innere  Proviant  gereicht  hätte.  Selbst  die 
Katastrophen  der  Saison,  Komet  und  Jagdausstellung,  schienen  an 
diesem  Zustand  nichts  ändern  zu  können.  Gewiß,  ich  wills  nicht 
verhehlen,  ich  erwartete  mir  einige  Anregung  vom  Weltuntergang. 
Wenns  aber  wieder  eine  Niete  wäre?  So  lebt  man  dahin  auf  dem 
schmalen  Pfad,  der  von  immer  demselben  Schreibtisch  in 
immer  dasselbe  Lokal  führt,  wo  man  immer  dieselt)en  Speisen  ißt 
und  immer  dieselben  Menschen  meidet.  Froher  wird  man  nicht  dabei. 
Die  Welt  rings  ist  bunt,  und  man  möchte  sich  doch  wenigstens 
an  ihr  reiben,  um  zu  sehen,  ob  die  Farbe  heruntergeht.  Man  will 
nicht  auf  so  viel  verzichten,  ohne  zu  erfahren,  wie  wenig  man 
verliert.  Nur  einmal  noch  an  der  vollbesetzten  Tafel  sitzen,  alle 
Rülpse  der  Lebensfreude  wieder  hören,  die  Schweißhand  der 
Nächstenliebe  drücken  —  ich  träumte  davon,  und  eine  gütige  Fee, 
wahrscheinlich  jene,  die  den  Operettenkomponisten  die  Lieder  an 
der  Wiege  singt,  hat  mich  erhört.  Ich  bin  mitten  drin,  die  Erde 
hat   mich  wieder   —    mein  Pelz  ist '  mir  gestohlen  worden ! 

Nichts  hätte  mich  den  Menschen  näher  bringen  können  als 
der  Diebstahl  meines  Pelzes.  Ich  müßte  jetzt  schon  mit  den 
Mitteln  eines  Caracalla  arbeiten,  wenn  ich  mich  ihres  Umgangs 
erwehren  wollte.  Jetzt  gibts  kein  Zurück  mehr  in  die  Lebensflucht, 
jetzt  heißt  es  in  den  sauren  Apfel  beißen  und  ein  Menschenfreund 
sein.  Ich  habe  mich  lange  genug  verhaßt  gemacht,  aber  nun  ver- 
geben sie  mir,  was  sie  an  mir  gesündigt  haben.  Sie  vergeben  mir, 


Aus  dem  .Simplicissimus'. 


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sie  lieben  mich,  sie  bedauern  mich,  sie  bewundern  mich,  denn  es 
läßt  sich  nicht  mehr  verbergen,  alles  Leugnen  hilft  nichts  —  mein 
Pelz  ist  mir  gestohlen  worden !  Und  in  einem  unbewachten  Augen- 
blick hatte  mich  da  die  Geselligkeit  beim  Wickel.  Ich  lebte  still 
und  harmlos,  ich  war  ein  Privatmann,  denn  ich  übte  seit 
vielen  Jahren  eine  literarische  Tätigkeit  aus.  Ich  hatte  nicht 
gewußt,  daß  ich  vor  allem  einen  Pelz  besaß.  Ich  schrieb 
Bücher,  aber  die  Leute  verstanden  nur  den  Pelz.  Ich  brachte 
mich  selbst  zum  Opfer,  und  die  Leute  meinten  den  Pelz.  Als 
ich  ihn  nicht  mehr  hatte,  kam  die  allgemeine  Anerkennung. 
Ich  habe  durch  den  Verlust  des  Pelzes  die  Aufmerksamkeit 
des  Publikums  gerechtfertigt,  die  ich  durch  den  Besitz  des  Pelzes 
erregt  hatte.  Im  Kaffeehaus,  wo  es  geschah,  war  die  erste  Wirkung 
des  entdeckten  Diebstahls  ein  chaotisches  Durcheinander,  in  welchem 
einige  bestürzte  Kaffeehausgäste  zu  zahlen  vergaßen  und  in  dessen 
Mittelpunkt  ich  so  plötzlich  geraten  war,  daß  ich  mir  erst  auf 
dem  Umweg  der  Überlegung  darüber  klar  werden  konnte,  daß 
ich  den  Pelz  bestimmt  nicht  gestohlen  hatte.  Man  nahm  eine 
Haltung  an,  als  wollte  man  mir  die  Kleider,  die  ich  noch 
hatte,  vom  Leibe  reißen,  und  von  allen  Seiten  brachen  Vorwürfe 
wegen  meiner  Sorglosigkeit  über  mich  herein.  Auf  diese  Art  schien 
sich  die  Empörung  über  den  Dieb,  der  sich  den  Folgen  seiner  Hand- 
lungsweise entzogen  hatte,  Luft  zu  machen,  denn  mich  hatte  man, 
an  mich  konnte  man  sich  halten,  und  wenn  ich  mich,  erschöpft 
von  der  Untersuchung  des  Falles,  zurücklehnte,  in  der  rechten 
geistigen  Verfassung,  um  endlich  eine  Zeitung  zu  lesen,  so  ging 
der  Chor  der  Nebenmenschen  an  mir  vorüber  und  rief:  >Nein,  so 
was!«  Ich  spürte  den  Stachel  des  Vorwurfs.  Zu  spät  sah  ich  ein, 
daß  man,  wenn  man  einen  Pelz  hat,  auch  gewisse  Pflichten  gegen 
die  Welt  hat,  und  es  blieb  mir  nichts  übrig,  als  jetzt  jene  letzte 
Pflicht  gegen  die  Welt  zu  erfüllen,  die  man  noch  hat,  wenn  man 
keinen  Pelz  mehr  hat.  Die  Pflicht,  Rede  und  Antwort  zu  stehen. 
Denn  wenn  es  in  solchen  Fällen  schon  nicht  mehr  möglich  ist, 
zu  erfahren,  wo  der  Pelz  hingekommen  ist,  so  muß  man  dem  Publi- 
kum und  der  Polizei  wenigstens  darüber  Auskunft  geben,  wo  er 
hergekommen  ist,  wieviel  er  gekostet  hat,  wieviel  er  heute  wert  ist, 
ob  der  Kragen  lange  oder  kurze  Haare  hatte,  und  ob  die  Schlinge  aus 
Tuch  oder  aus  Leder  war.  Die  Polizei  fragt  außerdem  noch,  ob  man 
einen  Verdacht  hat.  Ein  Verdacht  wärmt,   wenn   man  keinen  Pelz 


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it,  und  ein  Verdacht,  den  man  hat,  ist  nach  der  Ansicht 
der  Polizei  immer  eine  hinreichende  Entschädigung  für  eine  Ge- 
wißheit, die  einem  abhanden  gekommen  ist  und  die  sie  einem  nie 
wieder  verschaffen  wird.  Wozu  diese  Einmischung  durch  eine  Amts- 
handlung? Ich  hatte  immer  geglaubt,  daß  sich  die  Polizei  um  die 
öffentliche  Sittlichkeit  kümmere  und  nicht  um  Angelegenheiten 
des  Privatlebens,  wie  einen  gestohlenen  Pelz.  Aber  diese 
Neugierde!  Kaum  war  mir  der  Pelz  gestohlen  worden, 
waren  auch  schon  drei  Vertreter  der  Polizei  im  Lokal,  dräng- 
ten sich  durch  die  Wucherer,  die  meinen  Tisch  umstanden  und 
ihrer  Entrüstung  über  den  Diebstahl  Ausdruck  gaben,  und  fragten 
mich,  ob  ich  einen  Verdacht  habe.  Nun  war  auch  die  Nachbar- 
schaft auf  den  Beinen,  denn  wie  ein  Lauffeuer  hatte  sich  in  der 
Großstadt  das  Gerücht  verbreitet,  und  zahlreiche  Passanten,  unter 
denen  man  u.  a.  Persönlichkeiten  bemerkte,  die  schon  von  ihrer 
Anwesenheit  bei  Premieren  und  Erdbeben  bekannt  sind,  wohnten 
der  Amtshandlung  bei.  So  taktvoll  und  würdig  sich  der  Pelzdiebstahl 
vollzogen  hatte,  in  so  marktschreierischer  Weise  äußerte  sich  das  Mit- 
gefühl des  Publikums.  Denn  während  die  Pelzdiebe  kein  Aufsehen 
lieben,  legen  die  Bankdiebe  den  größten  Wert  darauf,  überall 
bemerkt  und  in  den  Zeitungen  genannt  zu  werden.  Hier  aber  hatten 
sie  sich  einmal  verrechnet,  denn  die  Zeitungen  würden  auch  von 
einem  Kometen  keine  Notiz  nehmen,  wenn  sein  Schweif  meinen  Kopf 
berührt  hätte.  Aus  demselben  Grunde  mußte  ich  befürchten,  daß 
sich  der  Chef  des  Sicherheitsbureaus  dieser  Sache  nicht  so 
energisch  annehmen  werde,  wie  er  es  in  Fällen  gewohnt  ist,  wo 
die  Aussicht  auf  publizistische  Unterstützung  ihn  zu  einer  fieber- 
haften Tätigkeit  spornt  Natürlich  läßt  sich  das  echte  Interesse  durch 
solche  Bedenken  nicht  abweisen.  Während  mich  die  Vertreter  der 
Behörde  um  Alter,  Beschäftigung  und  Vorstrafen  befragten,  sprachen 
einige  Gäste  immer  wieder  ihr  Bedauern  aus,  daß  sie  gerade 
nicht  hingesehen  hätten,  als  der  Pelz  gestohlen  wurde,  und  ver- 
traten die  Ansicht,  daß  der  Dieb  sich  einen  Augenblick  gewählt 
haben  müsse,  wo  er  sich  nicht  beobachtet  fühlte.  Das  Per- 
sonal wurde  mit  Fragen  bestürmt,  aber  der  Zahlmarkör,  der 
Zuträger,  der  Pikkolo  und  der  Feuerbursch  —  sie  alle  hatten  bloß  den 
einen  Wunsch:  »Wann  i  nur  amal  so  einen  derwischen  könnt, 
den  drschlaget  i!<  Ich  bat,  in  Gegenwart  der  Polizeivertreter  sich 
nicht  zu  gefährlichen   Drohungen    hinreißen    zu    lassen,    richtete 


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noch  an  die  Detektives  das  Ersuchen,  dafür  zu  «orgen,  daß  ich 
nicht  vorgeladen  werde,  weil  ich  ja  doch  nichts  anderes  aussagen 
könnte,  als  daß  ich  keinen  Pelz  und  keinen  Verdacht  habe,  und 
entzog  mich  den  Ovationen  der  Menge,  indem  ich  meinen  Hut 
nahm  und  mich  zum  Ausgang  wandte,  an  der  Kassierin  vorbei, 
welche  die  Hände  rang.  Draußen  grüßten  mich  die  Fiaker,  die  sich  von 
dem  Ereignis  des  Tages  irgendwie  einen  besonderen  Vorteil  erhofften. 
Einer  der  Polizisten  aber  holte  mich  ein  und  machte  mir  den  Vor- 
schlag, mit  ihm  zu  gehen  und  das  Verbrecheralbum  durchzusehen. 
Ich  lehnte  diesen  Vorschlag  ab,  weil  mir  jede  Vergleichsmöglich- 
keit fehle,  solange  ich  den  Dieb  meines  Pelzes  nicht  gesehen 
hätte.  Die  Polizei  solle  ihn  erst  zur  Stelle  schaffen,  dann  wäre  ich 
gerne  bereit,  ihn  nach  der  Photographie  zu  agnoszieren.  Einer 
der  Kellner  aber  behauptete  plötzlich,  einen  Verdacht  zu  haben, 
und  schien  entschlossen,  mitzugehen.  Diese  Recherche  hat,  wie  ich 
später  erfuhr,  meiner  Sache  nicht  wesentlich  genützt,  dafür  aber 
anderweitige  erfreuliche  Resultate  ergeben.  Der  Kellner  soll  nämlich 
einige  frühere  Stammgäste  des  Kaffeehauses  erkannt  haben,  und 
noch  nie  zuvor,  heißt  es,  sei  in  einer  Polizeistube  eine  so 
freudige  Stimmung  des  Wiedersehens  laut  geworden.  Schließlich 
mußte  man,  da  diese  Rufe  »Jessas,  der  Herr  von  Kohn!«  und  >Nein, 
der  Herr  von  Meier  !<  nicht  aufhören  wollten,  dem  braven  Burschen 
das  Bilderbuch  aus  der  Hand  reißen.  Am  nächsten  Tag  erhielt  ich 
eine  Vorladung,  der  ich  aber  nicht  Folge  leistete.  Immer  hatte 
ich  es  bisher  streng  zu  vermeiden  gewußt,  daß  mir 
etwas  gestohlen  wurde;  denn  nichts  fürchte  ich  mehr  als 
Unannehmlichkeiten  mit  der  Polizei.  Man  hat  mir  auch  tat- 
sächlich nie  das  Geringste  nachweisen  können.  Serfite  ich  jetzt 
wegen  des  einen  Fehltrittes  mir  eine  so  peinliche  Untersuchung 
auf  den  Hals  laden?  Nimmermehr!  Ich  stellte  mich  der  Polizei 
nicht !  Wenigstens  war  ich  entschlossen,  es  nicht  eher  zu  tun,  als  bis 
sie  den  Pelz  hätte.  Ich  hoffte  übrigens,  daß  sie  den  Fall  ver- 
tuschen und  mich  ruhig  meiner  gewohnten  Beschäftigung  nach- 
gehen lassen  werde.  Als  ich  somit  wieder  ins  Kaffeehaus  kam 
und  meine  Leseecke  aufsuchen  wollte,  standen  einige  Herren  davor, 
die  sich  sonst  nur  für  Trabrennen  interessierten,  aber  diesmal  eine 
Wette  abgeschlossen  hatten,  ob  ich  den  Pelz  bekommen  würde 
oder  nicht.  Die  der  Meinung  waren,  daß  ich  ihn  bekommen 
werde,    sagten:    »Nicht    wird  er    ihn    bekommen  !«,  während  die 


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andern,  die  der  Meinung  waren,  daß  ich  ihn  nicht  bekommen 
werde,  ein  über  das  anderemal  riefen:  >Ja  wird  er  ihn  bekommen!« 
So  vermochte  ich  die  beiden  Gruppen  zu  unterscheiden,  ohne 
doch  im  Meritorischen  eine  Entscheidung  treffen  zu  können.  Ich  setzte 
mich  nieder  und  hörte  aus  dem  Billardzimmer  Rufe  wie:  »Echter 
Biber,  sag  ich  Ihnen!«  »Und  ich  sag  Ihnen,  Nerz!€,  worauf  ein 
dritter  mit  einem  derben  »Astrachan,  Ihnen  gesagt !«,  in  die 
Debatte  fuhr.  Ich  ließ  fragen,  ob  es  die  Herren  störe,  wenn 
ich  Zeitungen  lese.  Sie  verneinten  und  gingen  auf  ein  ganz 
anderes  Thema  über,  indem  nämlich  einer  behauptete,  sich  noch 
an  den  Fall  zu  erinnern,  wie  dem  alten  Low  ein  Pelz  um  tausend, 
sage  tausend  Gulden  gestohlen  wurde;  und  da  ein  anderer  die 
Frage  einwarf:  Welchem  Low?  und  die  zurechtweisende  Antwort 
bekam:  »No,  der  später  in  Konkurs  gegangen  ist!«,  fühlte  ich,  daß 
die  Aufmerksamkeit  von  mir  abgelenkt  sei,  und  war  dessen  froh.  Ich 
nahm  jene  Zeitung  zur  Hand,  die  seit  Jahren  das  Publikum  da- 
durch zu  interessieren  weiß,  daß  sie  meinen  Namen  nicht  nennt, 
und  suchte  nach  einer  Notiz,  in  der  davon  die  Rede  war,  daß 
einem  Privaten  pin  Pelz  gestohlen  wurde  und  daß  einer 
unserer  Mitarbeiter  Gelegenheit  hatte,  mit  dem  in  den  weitesten 
Kreisen  bekannten  Dieb  zu  sprechen.  Da  trat  eine  fremde  Dame 
auf  mich  zu,  tadelte  mich  wegen  meiner  Unachtsamkeit  und  fragte 
mich,  ob  ich  noch  mit  der  Familie  T.  verkehre.  Ich  antwortete, 
daß  ich  mit  gar  niemand  verkehre,  und  zahlte  meine  Zeche. 
Draußen  grüßten  mich  die  Fiaker,  wiesen  verheißend  auf 
ihre  Wagen  und  riefen  etwas  wie  >Verkühlns  Ihna  nur  net«  hinter 
mir.  Noch  habe  ich  aber  nicht  erzählt,  wie  sich  am  Tage  nach 
der  Tat  das  Wiedersehen  mit  meiner  Bedienerin  gestaltet  hat. 
Sie  war  eigentlich  schuld,  denn  sie  hatte  mir,  weil  wir  gerade  im 
strengsten  Mai  einen  Schneefall  gehabt  hatten,  zugeredet,  den  Pelz 
anzuziehen,  der  Winters  über  beim  Kürschner  in  Aufbewahrung 
gelegen  war.  Ich  hatte  mich  gesträubt,  denn  ein  unbestimmtes 
Gefühl  sagte  mir,  daß  bei  Neuschnee  die  Pelzdiebe  aus  der 
Erde  schießen,  während  die  Schneeschaufler  nichts  zu  tun 
bekommen,  weil  die  Kommune  die  Konkurrenz  des  Tauwetters  be- 
günstigt. Aber  wiewohl  dieses  schon  eingetreten  war,  setzte  die  Frau 
ihren  Willen  durch,  und  richtig,  eine  halbe  Stunde  später  war  der 
Pelz  gestohlen.  Nun  ist  mir  nichts  peinlicher  als  lange  Aus- 
einandersetzungen über  Dinge,   die  mit  der  Wirtschaft  zusammen- 


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hängen,  und  so  hatte  ich,  nachdem  das  Unglück  geschehen  war, 
nur  die  eine  Sorge:  Wie  sage  ichs  meiner  Bedienerin?  Es  gab 
eine  lebhafte  Szene  und  ich  bekam  allerlei  zu  hören.  Denn  das  Herz 
der  Frauen  hängt  an  irdischem  Tand  und  sie  können  sich  auch  von 
fremdem  Besitz  nur  schwer  trennen,  während  ich  mich  erleichtert 
fühlte,  als  ich  bei  Tauwetter  ohne  Pelz  das  Kaffeehaus  verlassen  konnte. 
Überhaupt  hatte  mich  der  Verlust  des  Pelzes  kalt  gelassen,  und  was 
mir  naheging,  war  nur  der  Verlust  meiner  Ruhe.  Daß  ich  im 
Mittelpunkt  der  Aufmerksamkeit  stand,  daß  ich  in  Wien 
über  Nacht  berühmt  war  und  daß  die  Leute  mit  Fingern  auf  mich 
zeigten:  »Dort  geht  er<,  >Kennst  ihn?«,  »Aber  ja,  Biber«, 
>Er  hat  ihn  effektiv  nicht  gekriegt<  —  das  härmte  mich,  das  fraß 
an  mir  wie  Motten  an  einem  Pelz,  der  einem  nicht  gestohlen 
wurde.  Ich  beschloß,  die  Straße  zu  meiden,  bis  ich  das  Gras  über  die 
Sache  wachsen  hörte.  Aber  als  ich  nach  einer  Woche  mich  behutsam 
in  das  Stammlokal  wagte  und  den  Weg  von  hinten  nahm,  da  trat 
mir  die  Toilettefrau  entgegen  und  sagte:  »Mir  hats  furchtbar  leid 
getan !<  Als  ich  hineinkam,  waren  aller  Augen  auf  mich  und 
meinen  Überrock  gerichtet  und  als  ich  diesen  an  den  Kleiderstock 
hängte,  riefs  aus  einem  Winkel :  »Aber  jetzt  heißt's  doppelt  vorsichtig 
sein!«  Und  aus  dem  andern  Winkel:  »Ja,  durch  Schaden  wird  man 
klug«.  Als  ein  Kellner  dazwischentrat  und  sagte:  »Aber  der  Herr 
gibt  ja  so  wie  so  acht«,  rief  eine  Stimme  aus  dem  Spielzimmer: 
»A  gebrenntes  Kind  fürchtet  das  Feuer!«  Der  Kellner  sagte: 
»Wann  i  nur  amal  so  einen  derwischen  könnt,  den  — «.  Ich  zahlte 
sofort  und  nahm  mir  vor,  das  Lokal  nur  mehr  des  Nachts  zu 
besuchen,  wenn  ein  anderes  Publikum  da  wäre.  Kaum  hatte 
ich  unter  veränderten  Umständen  Platz  genommen,  so  drehte  sich 
ein  englischer  Trainer  zu  mir  herum,  schob  seinen  Sessel  vor  und 
begann,  die  Arme  auf  die  Lehne  gestützt:  »Einmal  mir  ist  gestohlen 
ein  Pferdedecke...«  Ich  sah,  daß  mein  Erlebnis  über  das  Mit- 
teilungsbedürfnis der  Wiener  Bevölkerung  hinaus  dem  internationalen 
Interesse  entgegenkam.  Ich  fürchtete,  daß  hier  die  Hebung  des 
Fremdenverkehrs  ansetzen  könnte.  Ich  schloß  mich  ein,  und  ich 
zeigte  mich  nicht  eher,  als  bis  mir  die  heiße  Jahreszeit  jede  Ge- 
dankenverbindung mit  einem  Pelz  auszuschließen  schien.  Da  aber 
mußte  ich  es  erleben,  daß  ein  Mohr  auf  mich  zutrat,  der  so  perfekt 
deutsch  sprach,  daß  er  mich  fragen  konnte,  ob  ich  damals  meinen 
Pelz  wiederbekommen  hätte.    Ich  suchte  ein  anderes  Lokal  auf. 


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essen  Besitzer  mich  aber  nicht  nur  durch  seinen  Gruß  belästigte, 
tndem  auch  mit  den  Worten  ansprach:  >Bei  uns  wird  Ihnen 
las  nicht  passieren  !< 

Ich  erkannte,  daß  es  kein  Zurück  mehr  gab.  Denn 
hier  war  ein  Wiener  Problem  geh>oren.  Hier  war  ein- 
mal eine  Tatsache,  die  einen  so  plausiblen  Reiz,  eine  so 
unmittelbare  Popularität  hatte,  daß  keine  Rücksicht  auf  den 
Menschen,  der  von  ihr  betroffen  wurde,  die  Leute  fernhalten  konnte. 
Hier  war  eine  Solidarität  hergestellt  durch  die  in  ihrer  Einfachheit 
verblüffende  lirkenntnis:  daß  das  jedem  von  uns  passieren  kann! 
Ich  war  in  den  Ring  einer  Gemeinsamkeit  gezogen,  die  mir  den 
Pelz  bewachte,  der  mir  gestohlen  war,  und  die  mir  mit  ihren 
zudringlichen  Blicken  das  Maß  für  einen  neuen  zu  nehmen  schien. 
Jetzt  mußte  sich  nur  noch  die  Steuerbehörde  für  den  Fall  interessieren, 
die  ja  bald  erhoben  haben  konnte,  daß  ich  in  den  Verhältnissen 
bin,  einen  Pelz  besessen  zu  haben.  Ich  begann  den  Dieb 
zu  beneiden.  Nicht  weil  er  den  Pelz  hatte,  sondern  weil  man 
ihm  nicht  draufgekommen  war;  weil  er  auf  freiem  Fuße  leben 
konnte,  während  es  hinter  mir  »Aufhalten!«  schrie  und  ich  wie  ein 
erwischter  Bestohlener  von  der  Dummheit  eskortiert  wurde  . . . 
Ich  beschloß,  mich  aus  dem  Privatleben  zurückzuziehen.  Mir 
war  eine  Hoffnung  geblieben.  Daß  es  mir  durch  die  Heraus- 
gabe eines  neuen  Buches  gelingen  werde,  mich  den  Wienern 
in  Vergessenheit  zu  bringen. 

Selbstanzeige 

In  der  nächsten  Zeit  wird  >Die  chinesische 
Mauer«  im  Verlage  Albert  Langen,  München,  er- 
scheinen. Das  Buch  wird  464  Seiten  stark  sein  und 
die  folgenden  Arbeiten  enthalten: 


Prozeß  Veith 
Der  Sündenpfuhl 
Die  Hundsgrotte 
Das  Ehrenkreuz 
Maximilian  Harden   Eine 

Erledigung 
Die  Forum-Szene 
Die  deutsche  Schmach 
Der  eiserne  Besen 


Messina 
Politik 

Der  Hanswurst 
Ö.  G.  Z.  B.  D.  G. 
Fahrende  Sänger 
Die  Musik-  und  Theater- 
ausstellung 
Das  Erdbeben 


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Girardi 

Grimassen  über  Kultur 
und  Bühne 

Menschenwürde 

Der  Festzug 

Lob  der  verkehrten  Le- 
bensweise 

Jubel  und  Jammer 

Die  Malerischen 

Von  den  Sehenswürdig- 
keiten 

Peter  Altenberg 

Selbstbespiegelung 

Der  Fortschritt 

Reformen 

Über  die  Jungfrauschaft 
(Von  Shakespeare) 


Die  weiße  Kultur  oder: 
Warum  in  die  Ferne 
schweifen? 

Die  Memoiren  der  Odilon 

Die  Schuldigkeit 

Weihnacht 

Schrecken  der  Unsterb- 
lichkeit 

Von  den  Gesichtern 

Bekannte  aus  dem  Va- 
riete 

Der  Biberpelz 

Die  Welt  der  Plakate 

Die  Entdeckung  des  Nord- 
pols 

Die  Mütter 

Die  chinesische  Mauer 


Die  Umarbeitung,  Zusammenstellung  und  Korrektur 
der  Aufsätze  dauerte  von  August  1909  bis  Juni  1910. 

Für  Leser,  deren  stoffliches  Interesse  schon  durch 
die  Lektüre  der  Aufsätze  in  der  ,Fackel'  befriedigt 
wurde,  ist  diese  Arbeit  nicht  bestimmt.  Sie  würden 
keinen  Unterschied  merken. 

Die  »Chinesische  Mauer«  ist  —  nach  »Sittlichkeit 
und  Kriminalität«  und  »Sprüche  und  Widersprüche«  — 
der  dritte  Band  der  Ausgewählten  Schriften.  Die  oft 
verschobene  Herausgabe  von  »Kultur  und  Presse«  dürfte 
zu  Beginn  des  nächsten  Jahres  erfolgen.  Vorläufig 
werden  zwei  Bände  diesen  Titel  führen.  Ihnen  folgen 
—  soweit  die  Buchmöglichkeit  der  Publikationen  von 
elf  Jahren  reicht  —  ein  Band  polemischer  Aufsätze,  zwei 
Bände  Glossen  und  ein  Aphorismenbuch.  Hoffenthch 
ermöglicht  mir  die  wachsende  Verständnislosigkeit 
des  Publikums,  mich  bald  in  Ruhe  und  ungestört  von 
periodischer  Verpflichtung,  der  Arbeit  an  diesen  Büchern 
widmen  zu  können. 


Herausgeber    und    verantwortlicher    Redakteur:    Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3. 


i 


IM  ERSCHEINEN: 


<ARL  KRAVS 
3IE  CHINESI- 
SCHE MAVER 


ALBERT  LANGEN,  München 


FTET  M  6.-,  IN  LEINEN  GE^UNDEV  M  7.50,  IN  HALBFRANZ  LIEBHABER- 
D  M  10.-.   BES-  ^    DER  VERLAG  ALBERT   LANGEN, 

FM    KAULBACHS :....„.„    ,.    .  ._  JEDE  BUCHHANDLUNG   ENTGEGEN 


DER  STURM 

WOCHENSCHRIFT  FÜR  KULTUR  UND  DIE  KÜNSTE 
HERAUSGEGEBEN  von  HERWARTH  WALDBN 

'™''rnÄiW%"'Ä  -  Jahresbezug:  K  5.-  Halbiahrsbezug:  K  2.5 

Vierteljahrsbezug:  K  1.25 
Probenummern    kostenlos   darch   den  Verlag    D£R    STÜRM,   Halen^^^^^^ 
Katharinenstraße  5.  -  DER  STURM  hegt  m  den  Tabak -Trafiken  auf. 
In  Nr.  12  waren  enthalten: 

eine   Zeichnung   von    Oskar  Kokoschka:    Karl  Kraus 
ein  Essay  von  Else  Lasker-Schüler :  Karl  Kraus 

Ä  _j.4.^«.-^««  verlangen  vor  Drucklegung  ihrer  Werke  im  eiget 

A.mjO1^0XI  sten  Interesse  die  Konditionen  des  alten  bewahrte 

'*^****^*^         Buchverlags  sub  C.  M^  410  bei  Haasensteli 

&  Vogler  A.-Q.,  Leipzig  H.  4200  d. 

Unternehmen  für  Zeitungsausschnitte 

OBSERVER,    Wl6fl,  I.  Coacordl&plaU  Hr.  4  (Telepüoa  Sr.  im 
versendet  Zeitungsausschnitte  über  jedes  gewünschte  Thema.Mati  verlange  Prospekl 

Herausgeber  KARL  KRAUS      ,„^„„„„__ 

erscheint  in  zwangloser   Folge  BEZUOSBEDINÖUNaEN : 

Für  Österreich-Ungarn:  18  Nummern,  portofrei K  4.50 

36  „  r,  Mk  4- 

Für  das  deutsche  Reich:  18  „  »  aik.^. 


36  r  "  .....;   7.25 

Da»  Abonnament  erstreckt  sich  nicht  aaf  einen  Zeitraum  «""-<'"■"  »tTf  «Ine  bestimmte  ÄBiahl  von  Huwmem 

EInzBlheft  in  Österreich  30  Heller,   in  Deulschland  30  Pfennig 

Doppelnummer  in  Österreicii  60  Heller,  in  Deutschland  50  Pfennig 

Zu    beziehen     durch     sämtliche    Buchhandlungen 

Berliner  Bureau:  Halensee,  Katharinenstraße  5 

INHALT  der  vorigen  Poppelnummer  303/304,  31.  Mai  1910: 
KARL  KRAUS:  Glossen  /  FRANZ  GRILLPARZER:  Dem 
internationalen  Preßkongreß  /  OTTO  STOESSL:  Dieter 
und  der  Beamtensohn  /  GRETE  WOLF:  Der  Ejwartungs- 
lose  /  BERTHOLD  VIERTEL:  Pferderennen  /  Meme  Wiener 
Vorlesung  /  KARL  KRAUS :    Philosophen 

u .w..  ..^A  ..o..«(«rnr«iirViPr  Rpdikietir   Ktfl  Kfaus 


.\s.  307/308  22.  SEPTEMBER  1910         XII.  JAHR 


FACKEL 


HERAUSGEBER 


KARL  KRAUS 


vHALT: 


THOLD  VIERTEL:  Sonntag  Abend  in  der  Großs  M 

: ^     '^"  ^"^UEL  LI '^'"    ^  des 

.    .,.,_.US:    De., :    i 

AUS:  Der  Traum  ein  \ 


NACHDRUCK  VERBOTEN 

PREIS  DER  DOPPELNUMMER  60  HELLER 
ERSCHEINT  IN  ZWANGLOSER  FOLGE 


,DIE  FACKE  BERLIN 

W.                               RE    ZOLI                        SE    3  :N    Nr.     187 

BE.vx,.x,^i.     ^L,REAU:  ^  KATH.-^. ,. TRASSE     5 


IN  VORBEREITUNG: 


Verlag   ALBERT  LANGEN 

KARL  KRAUS: 
Heine  und  die  Folgen 


(Dieser  Essay  wurde  vom  Autor  am  3.  Mai  und  am  3.  Juni 
in  Wien  zur  Vorlesung  gebracht.) 


Peter  Altenberg, 

der  viele  Monate  mit  einem  schweren  Nervenleiden  ge- 
kämpft hat,  ist  jetzt  wieder  genesen.  Die  nächsten  Freunde 
des  Dichters  haben  ihm  die  Kosten  seiner  Krankheit 
nach  Möglichkeit  zu  erleichtern  gesucht,  aber  die  noch 
lange  Zeit  notwendige  Pflege  erfordert  bedeutend  mehr 
Mittel,  als  im  kleinen  Kreise  zusammenkommen  können.  ^ 
Sie  bitten  deshalb,  daß  auch  Andere  mit  dazu  helfen 
mögen,  dem  Dichter  die  wiedergewonnene  Gesundheit  zu 
erhalten  und  das  weitere  sorgenvolle  Leben  zu- erleichtern. 
Die  Spenden  wolle  man  an  Peter  Altenberg-,  Wien, 
I.  Wallnerstraße  17  gelangen  lassen.  Die  Zeitschrift 
Neue  Rundschau,  Berlin,  wird  darüber  öffentlich  quittieren 

Diese  Bitte  wird  befürwortet  von: 
Richard  DehmeljH^mburg-Blankenese;  Alexander  Girard1,Wi* 
Ludwig  Thoma,  Rottach  am  Tegernsee;  Hermann  Hesse,  Galt n- 
.hofen,  Schweiz;  Alfred  Kerr,  Berlin-Grunewald;  Gabriele  Reuter, 
Aeschi  bei  Bern;  Hugo  v.  Hofmannsthal,  RIcliard  Schaulial, 
Egon  Frieden,  Hermann  Bahfj  I^rof.  Josef  Hof  mann,  Wien; 
Prof.  C.  O.  Czesclilta,  Hamburg;  Prof..  Emil  Orlik,  Dr.  Wiltielm 
Sternberg,  Max  Reinhardt,  Verleger  S.  Fischer,  Berlin;  e^^ 


DIE  FACKEL 


Nr.  307 '308  22.  SEPTEMBER  1910  XILJAHR 


^[Rhythmus  eines  österreichischen  Sommers 
Von  Karl  Kraus 

Der  Neuen  Freien  Presse  war  es  gelungen,  zum  Kaiserjubiläum 
sich  der  Mitarbeit  der  ältesten  und  angesehensten  Persönlichkeiten 
zu  versichern,  und  zwar  des  Grafen  Paar,  des  Freiherm  von  Bolfras, 
des  Freiherm  von  Czedik  und  des  alten  Homer.  Gegen  die  Mit- 
arbeit des  letztgenannten  Herrn,  die  anonym  geblieben  ist,  wäre 
nicht  viel  einzuwenden.  Zuweilen  mauschelt  selbst  der  alte  Homer, 
und  daß  ihm  in  diesen  dekrepiden  Zeitläuften  nichts  übrig  blieb, 
als  in  der  Reportage  unterzuschlüpfen,  ist  weniger  sträflich  als 
bedauernswert.  Daß  er  mitgetan  hat,  wird  er  nicht  gut  leugnen 
können.  Das  Epos,  das  er  gedrahtet  hat,  enthält  mehr  Epitheta 
ornantia,  als  er  in  seinen  besten  Tagen  herzugeben  imstande  war, 
das  homerische  Qeläch'cr,  das  sich  im  Ischler  Telegraphenamt 
erhob,  hätte  ihn  beinahe  der  Nachwelt  verraten  und  es  fehlte  nicht 
viel,  so  hätte  sich  in  den  Kreisen  der  Ischler  Kurgäste  das  Gerücht 
verbreitet,   die   Ilias  sei    vom   alten   Hirsch. 

Er  fühlte  sich  nämlich  außerstande,  bei  so  festlicher  Gelegenheit 
Isc|;il  Ischlsein  zu  lassen,  sondern  depeschierte,  es  sei  die  bergversunkene 
Traunstadt,  es  sei  die  waldrauschende,  bergummauerte  Salzstadt,  und 
er  ließ  sichÄ)gar  dazu  hinreißen,  es  baumverborgen  und  erdfern  zu 
nennen.  An  solchem  Tage  aber  gilt  es,  alles,  was  Menschen- 
händen erreichbar  ist,  mit  schmückenden  Beiwörtern  zu  versehen, 
damit  die  Hofequipagen  ein  Vergnügen  haben,  wenn  sie  durch 
die  menschenbevölkerten  Gassen  jagen,  vorbei  an  der  erwartungs- 
frohen, schaulustigen  Menge,  an  den  Häusern,  die  noch  die  Zeiten 
der  Postkutsche  gesehen  haben,  die  breitmassigen  Wagen  mit  den 
dickspeichigen  Rädern,  dem  nimmermüden  Postillon,  der  des 
erreichten  Wegzieles  froh  .  .  .  (Hier  erlaubte  sich  der  Telegraphen- 
beamte  die   Frage,   ob   es  nicht  sicherer  wäre,   so   wichtige  Mit- 


—  2 


teilungen  als  dringendes  Telegramm  aufzugeben.)  Das  Hotel 
Elisabeth  (der  alte  Homer  war  der  Anregung  gefolgt),  das  Hotel 
Elisabeth  also,  vordem  Hotel  Talachini  nach  einem  unternehmungs- 
lustigen italienischen  Baumeister  benannt,  habe  ein  Stiegenhaus, 
mit  gebälkbelasteten  Säulen  und  dicke  Teppiche  schonen  den 
wegmüden  Fuß.  Das  Empfangszimmer  mündet  in  einen  Balkon, 
der  über  die  Front  des  Gebäudes  vorspringt.  (Hier  erlaubte  sich 
der  Telegraphenbeamte  die  Frage,  warum  der  beliebte  Alkoven,  der 
doch  auch  hinter  die  Hinterwand  zurückreiche,  nicht  berück- 
sichtigt werde.  Der  alte  Homer  verwies  darauf,  daß  ihn  der 
wirtschaftskundige  Benedikt  zu  gehaltvoller  Kürze  ermahnt  habe.) 
Hier  also  standen  im  August  des  Jahres  1864  zwei  hochragende 
Männer  in  stilles  Betrachten  versunken  . .  .  Die  Welt  der  Berge 
und  Wälder  ist  heute  dieselbe  wie  damals,  das  Feld-  und  Wiesen- 
gezirpe traulich  und  ländlich  gestimmt  wie  einst,  nur  die  Zeit  und 
die  Menschen,  die  in  und  mit  ihr  leben,  sind  andere  geworden. 
(Hier  erlaubte  sich  der  Telegraphenbeamte  die  Erinnerung,  daß 
wir  seit  damals  ein  Telephon  bekommen  haben,  das  sich  für  die 
Aufnahme  besonders  aktueller  Mitteilungen  besser  empfehle  als 
der  veraltete  Telegraph.  Der  alte  Homer  ging  sogleich  in 
die  Zelle  und  >blies«,  dem  Aeolus  gleich,  das  nun  Folgende  dem 
Redakteur  des  lokalen  Teils  'Aߣ>//]c  ins  Ohr)  Große  Toiletten 
werden  aus  mächtigen  Koffern  hervorgeholt  .  . .  Große  Rührigkeit 
herrscht  in  den  fahnenbelebten  Häusern  und  man  sieht  überall 
kugelrunde  Lampions  mit  Sinnsprüchen  und  Initialen,  die  erst 
nach  Einbruch  der  Dunkelheit  die  Rätsel  ihrer  Ziffern  und  Buch- 
staben enthüllen  werden.  Außerdem  gibt  es  blumenumrankte 
Vasen,  in  denen  schlanke  Kerzen  vor  dem  Sonnenlicht  sich  scheu 
verbergen,  und  Reisiggirlanden,  die  schlangengleich  entlang  der 
Mauer  sich  winden,  und  auf  den  himmelnächsten  Dächern  die 
Jahreszahlen  1830  und  1910.  Im  Kurpark  spielt  die  Musik  soeben 
ein  zu  Gemüt  gehendes  Lied  und  der  Kapellmeister  lüftet  lächelnd 
seinen  Zylinder.  Womit  er  für  den  freundlich  zustimmenden 
Applaus  danken  will.  Durch  die  lauschigen  bewipfelten  Gänge 
flutet  die  feiertäglich  gekleidete  Menge.  (Dös  san  ja  Reim !  rief  da 
eine  Stimme  in  Linz  dazwischen.  Herr  Kontrollor,  Herr  Kontrollor, 
wir  sind  unterbrochen,  hier  Neie  Press  .  .  .  Wer  dort?  .  .  . 
Was  heißt  wer?  Der  Homer!)  Die  blumenleuchtenden  Anlagen  werden 
durch  niedliche  Pyramiden, .  die  bunte  Wipfel  tragen,  eingerahmt, 


3  — 


das  geräumige  Vestibül  zu  einem  Blumenhain  umgewandelt,  und 
in  die  langgestreckten  Säle  entladen  bauchige  Hofmöbelvragen, 
die  diskret  hinter  dem  Gebäude  stehen,  ihre  Schätze  ...  Zu  Füßen 
des  Kaisers  liegt  das  sonnenschläfrige  Tal  mit  den  Erinnerungen 
an  die  blumenselige  Zeit  seiner  Jugend.  Über  die  farbenver- 
blassenden Wälder  geht  der  erste  mahnende  Gruß  der  Dämmerung, 
der  graue  Gewaltige  an  der  steirischen  Grenze  hüllt  sich  in  Nebel- 
schwaden . . .  Der  Mond  geht  langsam  auf  und  vorsichtig  schleicht  er 
zwischen  den  blassen  Lichtern  der  Sterne,  als  fürchte  er  sich,  seiner 
Rivalin,  der  Sonne  zu  begegnen  . . .  Die  Sterne  verstecken  sich  diskret 
hinter  Wolkenwänden,  um  die  Illumination  nicht  zu  stören  .  .  . 
Über  die  fernen  Berge  tanzen  glitzernde  Strahlenbündel  in  das 
lichtrauschige  Tal  .  .  .  Vor  wenigen  Jahren  noch  stand  in  Be- 
trachtung eines  ähnlichen  Feuerwerkes  versunken  neben  ihm  König 
Eduard  von  England.  So  schreitet  die  Zeit  unbekümmert  um  das 
Wollen  und  Hoffen  des  Einzelnen  unrastvoll  weiter  und  läßt  sich 
keine  Sekunde  entrinnen.  (Sprechen  Sie  weiter?  ruft  die  Zentrale. 
Was  unterbrechen  Sie  mich?  antwortet  Homer.)  Ein  staubbedecktes 
Automobil  rast  über  die  Elisabethbrücke.  (»Rast,  Herr  KoUega, 
oder  reist ?<  >Rast,  rast.«  »Also  reist,  ich  versteh  .  .  .«) 
Annunziata  ...  so  groß  ist  die  Menge  der  Gepäcksstücke,  der 
Koffer,  Hutschachteln  und  Körbe  .  .  .  Und  wieder  ein  Automobil . . . 
Und  noch  ein  Automobil  . .  .  Hotelier  Seeauer  .  . .  Ansprache .  . . 
begab  sich  . . .  fröhliche  Kindergesichter  .  . .  zwanglos  .  .  .  be- 
gaben sich  .  . .  Ischler  Feuerwehr  mit  Stricken  die  Pfarrgasse  ab- 
sperren mußte,  um  die  Passage  freizuhalten  (»Um  die  Bagage 
fernzuhalten  ?<  »Aber  nein  —  Fräulein,  es  muß  eine  Störung  sein.«) 
Eine  Märchenpracht  sondergleichen,  eine  Verschwendung  an  Luxus 
und  Herrlichkeit,  ein  bedrückender,  den  Atem  beklemmender 
Duft  .  .  .  Eisenbahnwaggons  mit  Blumen  sind  aus  Wien  nach  Ischl 
dirigiert  worden  . . .  Geblendet  von  der  Pracht  und  dem  Glänze  .  . . 
wird  von  seinem  Platze  aus  durch  die  Fenster  des  Kursaales  auf  den 
bewaldeten  Abhang  der  Hohen  Schrott  blicken  (»Fräulein,  man 
versteht  schlecht  I<) ...  Im  Theater  war  alles,  was  Ischl  an  glanzvollen 
Namen  hat,  versammelt  .  .  .  Man  bemerkte  Dr.  Emil  Frischauer . . . 
Salo  Kohn  .  .  .  Königin  Nacht  senkt  ihre  Schwingen  herab  ...  In 
der  Pfarrgasse  wogt  die  Menge.  (»Was  heißt  das?  Wogt  sie  oder 
wogt  sie  nicht  weiterzugehen  wegen  der  Stricke?«  »Sie  wogt.«) 
Tosende    Rufe    (»Was,    so    viel?«  »Nein    tosend«  »Neuntausend, 


_    4    — 


ich  versteh  .  .  .«)  Fefttagsschmuck  angelegt  ...  die  Villa  der 
Frau  Dr.  Löwy  .  . .  Man  müßte  die  ganze  Kurliste  abschreiben, 
um  die  Namen  .  .  .  Die  ganze  Stadt  glich  einem  Flammen- 
meer aus  Lampen  und  Lichtern  (»Lumpen  und  Gelichter, 
ich  versteh  .  .  .«)  Kronen  und  Ziffern  (> Feuilleton  von  Zifferer 
bringen  wir  darüber  nicht.  Er  hat  doch  erst  über  Nietzsche 
geschrieben,  haben  Sie  gelesen?  Gediegen,  was?)  Durch  die  Hohe 
Schrott  waren  Flammenbündel  gezogen,  die  einen  Kronreif  dar- 
stellten .  . .  Tosende  Glühkörper.  (»Was,  eine  Explosion?  Wer  ist 
verunglückt?«  »Aber  ich  sag  doch  tausende.<  »Schrecklich  !<...) 
Ein  neues  Lebensjahr  hat  für  den  Monarchen  begonnen 
und  die  Zeit  schreitet  weiter  und  er  mit  ihr  ... 
(Das  Amt  wird  gesperrt.  Fortsetzung  am  nächsten  Morgen.) 
Ischl  ist  eine  Stadt  der  Frühaufsteher.  Früh  zu  Bett  und  früh 
heraus,  lautet  die  Kurregel.  Heute  fällt  es  so  manchem  schwer. 
Während  sonst  (der  Telephondraht  beginnt  sich  zu  winden)  Papa 
und  Mama  die  schwärmerische  Tochter  schon  um  9  Uhr  abends 
zum  Schlafengehen  rufen,  ist  es  gestern  Mitternacht  geworden,  ehe 
all  die  Kleinen  und  die  Großen  ...  Bei  der  Trenkelbachschmiede, 
unweit  der  Kaiservilla,  dort,  wo  die  Ischl  über  den  Weg  stolpernd, 
in  ihrem  Machtbereiche  eine  kleine,  sanft  gebaute  Insel  dulden 
muß  .  .  .  Die  Pfarrkirche  ist  ein  Werk  der  großen  Kaiserin 
Maria  Theresia.  (»Hailoh,  hailoh!  Ist  die  Information  verläßlich?«) 
Die  Kaiserin  ließ  sie  Ende  der  Sechzigerjahre  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  erbauen  (.  .  .  »Fürs  Abendblatt,  Abeles,  selbst- 
verständlich!«) .  .  .  begibt  sich  .  .  .  Während  die  Fürstin 
Elisabeth  einen  mächtigen  Strauß  Rosen  und  Nelken  .  .  . , 
hatte  die  Gräfin  Seefried  ein  mächtiges  Gewinde  von  rosa 
Rosen  .  .  .  verweilten  .  .  .  zogen  sich  zurück  .  .  .  Absteig- 
quartier . . .  Strickewerden  von  der  Feuerwehr , .  .Automobile  rasen  . . . 
Um  zehn  Uhr  begannen  sich  die  Neugierigen,  die  auf  den  Kirchen- 
besuch verzichten  und  nur  die  Auffahrt  der  Erzherzoge  und  Erz- 
herzoginnen sehen  wollen,  zu  drängen  und  zu  stoßen  (»Sie, 
ob  das  nicht  zu  scharf  sein  wird  gegen  die  Kurgäste?«) .  .  .  Nur  den 
Anordnungen  des  Polizeioberkommissärs  Bleierl  gelang  es . . .  Spitzen 
der  Behörden  .  .  .  Geheimnisvolle  Dämmerung  breitet  sich  über  die 
kirchliche  Handlung  . .  .  Der  Chor  antwortet,  und  immer  wieder 
Frage  und  Antwort,  weihrauchgedämpft  und  mystisch  dunkel 
wie   die    ewige    bange    Frage     nach    der    Ewigkeit.    (»Und    die 


Antwort?«  >Welche  Antwort?«)  Erst  leise,  dann  mächtig  an- 
schwellend zu  Tönen,  die  wie  Donnerkeile  das  verheißungserapfäng- 
liche  Gemüt  treffen  und  wieder  sanft  verklingen  wie  ein  heimlich 
süßes  Lied  aus  Weltenweiten.  Ite  missa  est.  (>Woher  haben  Sie  das?< 
»Ich  hab  mit  dem  Hrdlitschka  vom  Vaterland  Kartell  gemacht,  dafür 
sag'  ich  ihm,  wer  imTheater  war«) . . .  trug  eine  hellblaue Libert)Tobe 
mit  maisgelbem  Tüll  voiliert  und  reich  gestickter  Tunique.  (»Woher 
haben  Sie  das?«  >Ich  hab  mit  der  Merores  vom  Fremdenblatt 
Kartell  gemacht,  dafür  geb  ich  ihr  die  Stimmung  von  der  Kirchen- 
musik«) .  .  .  kleines  Dejeuner  .  .  .  Kratochwil  . .  .  Feuerwehr  mit 
Stricken  ,  , .  Oaladiner  , .  .  Menschenauflauf,  wie  er  in  der  sonst  still- 
versonnenen  Traunstadt  selten  .  .  .  Die  Seiten  und  das  Geschirr 
der  stolzen  Schimmelhengste  sehen  aus,  als  wollten  sie  sich  bei 
einer  Blumenkorsofahrt  den  ersten  Preis  sichern  . . .  Frack  und 
Zylinder  führen  ein  wenig  bemerktes  Oasendasein  .  .  .  Marschalls- 
tafel . . .  Das  Menü  lautete . . .  Bolfras . . .  begab  sich  . . .  l)egaben  sich 
. . .  besichtigten  .  . .  zogen  sich  zurück . . .  Vergnügimgskomitee .  . . 
Koriandoli . .  .  Eine  Schar  jugendfrischer  Damen  waltete  .  .  .  Fritzi 
Margulies  .  .  .  Nun  ist  der  Kaiser  wieder  in  seinem  traulich  stillen 
Heim.  Als  Achtzigjähriger  rauschende  Feste  mitmachen  und  im 
Mittelpunkte  von  Kundgebungen  zu  sein,  die  eines  Jüngeren  Kräfte 

in  hohem  Grade  absorbieren,  ist  keine  Kleinigkeit. 

Smirschitz,  Rzeszöw,  Kolozsvär, 
Schichowitz,  Jassy,  Arad  und  Auspitz, 
während  sich  sieben  Städte  streiten,  Homers  Geburtsort  zu  sein, 
ist  die  Frage,  ob  die  Mitarbeit  der  Generaladjutanten  des  Kaisers 
an  der  Neuen  Freien  Presse  zulässig  sei,  längst  und  endgiltig  ent- 
schieden. Die  Mitarbeit  der  Generaladjutanten  des  Kaisers  an  der 
Neuen  Freien  Presse,  das  Auftreten  eines  Generals  der  Kavallerie 
und  eines  Generals  der  Infanterie  in  einem  Kreise  von  Leuten,  die 
bei  der  Waffe  dienen,  ist  nicht  zulässig,  und  daß  am  Geburtstage 
des  Kaisers  seine  Begleiter,  Geheimen  Räte  und  Chefs  seiner  Militär- 
kanzlei  ihre  Glückwünsche  bei  Herrn  Moriz  Benedikt  deponieren,  ist 
gewiß  der  stärkste  Beweis  der  Verwahrlosung  dieses  österreichischen 
Habitus,  dem  auf  jedes  Loch  der  Würde  längst  ein  gelber  Fleck 
gesetzt  ist.  Man  weiß  ja,  daß  die  Vorurteile  dieses  allerunwahrschein- 
lichsten  Staatswesens  sich  mit  einer  Aversion  der  Greisler  gegen 
die  Hausierer  abfinden  lassen,  nachdem  die  »Spitzen«  —  diese 
tolerante  Bagage,  deren  Gehaben   so   widerlich   ist   wie  das  Wort, 


—   6 


das  sie  bezeichnet  —  sich  durch  alle  Concordiabälle  und  alle 
Tandelmärkte  der  öffentlichen  Meinung  und  alle  Jours  des  Freisinns 
glücklich  durchprostituiert  haben.  Daß  zwischen  Juden  und 
Beim  Judenfressern  eine  Verständigung  erzielt  ist,  man  spürt  es  aus 
jeder  Zeile  jener  Presse,  deren  Aufgabe  es  ist,  zu  sagen,  wer  dabei 
war.  Das  dankt  man  ihr,  die  durch  die  objektive  Fütterung  der 
niedrigsten  Triebe  ein  bürgerliches  Versöhnungswerk  vollbracht 
hat.  In  einem  wilden  Staatswesen,  in  dem  nur  durch  Gemein- 
heit zur  Einheit  zu  gelangen  ist,  mußte  es  so  weit  kommen, 
daß  sich  Persönlichkeiten,  die  stolz  darauf  sind,  Träger  der 
Interessengegensätze  zu  sein,  unter  dem  Palladium  einer  Gauner- 
presse vereinigen,  die  es  ihnen  bei  jeder  Gelegenheit  attestiert. 
Dieses  ganze  Staatsleben  ist  ein  Privatleben  und  die  Presse  ist 
sein  Katalog.  Malerisch  wie  so  ein  österreichischer  Kurorte- 
bahnhof, wo  Schmock  und  Pfaff  und  Hofrat  und  Coupletsänger 
und  Konsul  und  Hautarzt  und  Betriebsleiter  einander  ins  Gesicht 
Hab  die  Ehre  sagen  und  hinter  dem  Rücken  hineinkriechen, 
wo  die  Züge  zu  spät,  aber  immer  noch  früh  genug  kommen,  um 
einen  die  Reformtaten  des  Herrn  v.  Czedik  beklagen  zu  lassen, 
so  malerisch  ist  dieses  ganze  Land,  in  dem  die  Interessengegensätze 
durch  Unaufrichtigkeit  ausgeglichen  werden,  der  >Pallawatsch<  —  ein 
Wort,  das  allein  zur  Auswanderung  zwingt  —  eine  Abwechslung 
bedeutet  und  die  Wartezeit  bis  zum  Zerfall  durch  eine  gemütvolle 
Ansprache  ausgefüllt  wird.  Und  über  allem  die  Aussicht,  vom 
Hirsch  bemerkt  und  im  Morgenblatt  genannt  zu  werden.  Sei's 
weil  man  im  Ischler  Theater  war,  sei's  weil  man  keine  Cholera 
bekommen  hat,  weil  man  zwar  nicht  der  erste,  aber  sicher  einer 
der  ersten  war,  die  eine  Visitkarte  auf  dem  Heine-Grab  nieder- 
gelegt haben,  weil  man  dabei  war,  wie  einer  dabei  war, 
wie  der  kleine  Korngold  entdeckt  wurde,  oder  weil  man  in 
die  Fideikommisbibliothek  eingereiht  wird,  oder  weil  man  die 
Gräfin  Lonyay  in  Maria  Schutz  gesehen  hat,  oder  war's  ein 
goldner  Vogel  oder  ein  Ammonshorn,  das  man  dem  Herrn 
vom  lokalen  Teil  geschenkt  hat:  man  kommt  hinein!  Und 
das  Entsetzliche,  daß  diese  Gesellschaft,  die  sich  sicher  bei 
der  >Klabriaspartie«  famos  unterhält,  aber  noch  nie  — 
das  ist  ein  Problem  —  ihr  eigenes  Mauscheln  gehört  hat, 
das  dreimal  Entsetzliche,  daß  sie  nicht  spürt,  wie  dieser  berg- 
hoch  getürmte   Tatsachenmist   den   Atem   der   Kultur   beklemmt. 


Die  einen  nicht  und  nicht  die  andern.  Daß  sie  den  Ekel  der  Er- 
eignisse nicht  spüren,  an  denen  schon,  ehe  sie  geboren  sind,  der 
Mißduft  dieser  journalistischen  Phraseologie  haftet,  daß  sie  im 
unzerstörten  Glauben  an  eine  Allmacht,  die  die  Welt  aus  Drucker- 
schwärze formt,  die  widerliche  Visage  des  Schöpfers  nicht  erken- 
nen, der  bald  im  Ton  eines  Tempeldieners  das  Aufgebot  fürst- 
licher Paare  verkündet,  bald  im  Ton  eines  Servierkellners  von 
politischen  Verwicklungen  erzählt,  wie  ein  Verteidiger  in  Straf- 
sachen die  Natur  verherrlicht  und  wie  ein  Friseur  von  mensch- 
lichen Dingen  spricht.  Daß  ihnen  diese  ganze  abscheuliche 
Nomenklatur  nicht  den  Wunsch  weckt,  die  Welt,  die  von  solchem 
Ungeziefer  regiert  wird,  in  Trümmer  gehen  zu  sehen,  sondern 
daß  sie  sich  erst  behaglich  fühlen,  seitdem  es  so  etwas  gibt!  Jede 
Durchlaucht  ist  ein  Parvenü  und  jeder  Ratenhändler  hat  Tradition. 
Herablassung  und  Streberei  kommen  einander  auf  halbem  Weg  ent- 
gegen. In  diesem  illuminierten  Trödlerladen  nimmt  sich  jeder  was 
er  sieht. 

Vielleicht  ist  es  nur  ein  Ausgleich,  auf  den  sich  eine  Würde 
einläßt,  die  ihre  Hinfälligkeit  in  allen  Knochen  spürt.  Aber  dann 
fragt  man  sich  vergebens,  warum  man  den  stillen  Wohltätern  der 
Menschheit,  die  heute  unbedankt  in  den  Redaktionen  sitzen,  nicht 
auch  jenen  Rang  im  Staate  gibt,  dessen  sich  die  andern  unwürdig 
erweisen.  Ein  freisinniger  Benedikt,  der  das  hundertmal  alier- 
untertänigste  Gestammel  eines  Generaladjutanten  druckt,  ist  doch 
eine  echtere  Schranze  als  eine,  die  ihre  Gefühle  der  Publizität 
des  Herrn  Benedikt  preisgibt.  Dieser,  dem  es  bisher  nur  gelungen 
war,  Hoflieferanten  und  Universitätsprofessoren  zu  Paaren  zu 
treiben,  kann  heute,  wo  er  die  obersten  Hofchargen  in  Freiheit 
vorführt,  die  dynastischen  Gefühle,  die  durch  sein  Sprachrohr 
gleiten,  für  sich  abfangen.  »Kinderl«,  rief  der  Kapitän  eines  Schiffes, 
das  in  diesem  österreichischen  Sommer,  in  diesem  Sommer  der 
Brände  und  Feuerwerke,  des  Jubels  und  des  Jammers  glücklich 
heimfand,  »Kinder,  ihr  könnt  wahrlich  der  göttlichen  Vorsehung 
danken,  daß  ihr  euem  Vater  wieder  umarmen  könnt I<  Da  trat 
nach  einer  Pause  »unser  Berichterstatter  an  den  heldenmütigen 
Kapitän  heran  und  drückte  ihm  über  seine  tapfere  und  mannhafte 
Haltung  sowie  über  den  Mut  der  Offiziere  und  der  Mannschaft 
die  Bewunderung  des  Neuen  Wiener  Tagblatts  aus«. 


Auf  Kains  Pfaden 

Von  Stanislaw  Przybyszewski 

Weit  hinter  ihnen  stand  in  Flammen  ihr  Paradies. 

Als  wäre  die  Sonne  gesprungen!  Es  barsten  die 
Reifen,  die  gräßliche  Glut  überschwemmte  den  Himmel, 
kochte  über,  schäumte  in  wüstem  Gischt,  troff  von  der 
Himmelskuppel  in  sprühendem  Feuerregen,  und  tief 
bis  hinauf  über  die  Mittagssonne  fraßen  blutige  Feuer- 
zungen am  schwarzen  Abgrund  der  Nacht. 

Und  angekauert  an  einen  Felsen,  der  als  letzter 
Zeuge  der  Sintflut  geblieben  war,  saß  der  Mann  und 
zu  seinen  Füßen  lag  ohnmächtig  das  Weib. 

Lange  starrte  er  hin  in  die  kochende  Himmels- 
wut, raffte  das  Weib  vom  Boden  auf.  Wie  eine  Schlange 
kroch  er  an  die  Tore  des  verlorenen  Paradieses,  seine 
Augen  zerrissen  das  Dunkel  der  Nacht,  er  weitete  seine 
Seele  aus  zu  der  Allmacht  der  ersten  Sonne,  welche 
die  Gewalt  des  Schöpfers  überstieg  —  sie  war  es,  die 
Gott  aus  dem  Nichts  hervorgerufen  —  und  mit  der 
Sintflut  des  Feuers  sich  über  die  tote  Öde  des  Lebens 
ergossen  hat. 

Und  in  dieser  blutigen  Feuersbrunst  —  ihr  Haar,  wie 
ein  Strom  von  flüssigem  Gold,  wie  flammende  Boten 
der  aufgehenden  Sonne,  und  in  der  brünstigen  Lohe 
des  Himmels  —  ihr  Antlitz  wie  eine  Rose,  erblüht  in 
dem  Glanz  des  Frühlichtes  —  so  still  —  so  rein  —  so 
wunderhell .... 

Vergebens,  vergebens! 

Er  weitete  seine  Seele  aus  in  dem  uferlosen 
Ozean  der  urewigen  Einsamkeit,  der  Dämmerung  und 
des  Dunkels,  da  noch  das  Land  vom  Meer  nicht 
geschieden  ward,  da  noch  im  Chaos  der  Anfang  in 
tollen  Wirbeln  kreiste,  in  wilder  Verzweiflung  und 
einem  Orkan  des  Verlangens,  um  sich  zu  offenbaren. 

Für  sie  richtete  er  aus  dem  Blau  des  Himmels 
ihr  Ruhebett,  ihr  Aufwachen  grüßte  er  mit  der  Pracht 
des  Sonnenaufgangs,  und  wenn  er  sie  in  den  Schlaf 
einlullte,    wob    er   sie    hinein    in    den    Zauber    des 


I 


—  9 


dämmernden  Dunkels,  in  die  Lichtwunder  der  Nacht, 
in  die  schwarze  Trauer  irrsinnigen  Rausches! 

Vergebens,  vergebens! 

In  rasei.der  Wut  verstieg  sich  seine  Kraft  zu  der 
Macht  Gottes,  der  das  Leben  erschuf,  und  jeglichem 
Getier  das  Leben  lieh,  thronte  über  den  Gebirgsketten 
und  zerriß  den  Himmel  zu  Fetzen,  ergoß  sich  über  die 
Sterne  und  ließ  aus  dem  Himmel  nnd  seinen  Milliarden 
von  Lichtern  ein  funkelndes  Spielzeug  erstehen. 

Vergebens,  vergebens! 

Ihr  Gesicht   blaßte    ab,    verstummte,    fror 

Ihre  Augen,  keuchend  vor  Angst,  weitgeöffnet  in  töt- 
lichem  Schreck,  starrten  irr  in  die  wüste  Tollwut  des 
brennenden  Paradieses. 

—  Siehst  Du  ihn?  flüsterte  sie  mit  blutleeren 
Lippen. 

Wie  vom  Blitz  getroffen,  schlössen  sich  seine 
Augen,  denn  die  Lohe,  die  von  dem  Schwerte 
des  Erzengels  schlug,  machte  sein  Augenlicht  blind, 
sein  Kopf  sank  tief  auf  die  Brust,  eine  unfaßbare 
Macht  dehnte  seinen  Körper  ins  Kreuz  und  mit  furcht- 
barem Stöhnen  ächzte  seine  Brust: 

—  Erzengel  Du! 

Du  der  mächtigste  in  der  Engelschar  —  Du  — 
bist  Du  nur  meine  Sünde?! 

Du,  der  Du  auf  der  höchsten  Sproße  der  Himmels- 
leiter stehst,  bist  Du  nichts  mehr,  als  mein  Verbrechen  ? 

—  Laß  uns  vergessen!  Vergessen!  schrie  das 
Weib. 

—  Vergessen?! . .  . 

Abel,  Abel,  warum  mußte  ich  Dich  töten?  .  .  . 

Du  warst  still  und  süß  —  sprachst  Du  zu  mir, 
und  es  war,  als  möchtest  Du  um  Verzeihung  bitten, 
daß  Du  wagtest,  die  tiefe  Öde  meiner  Seele  zu  stören. 

Hast  Du  meine  Hand  erfaßt,  so  war  es,  als 
hättest  Du  Angst,  in  mir  unbekannte,  für  Dich  ver- 
borgene, und  für  mich  gräßliche,  verbrecherische  Kräfte 
zu  entfesseln. 


10  — 


Warum  hast  Du  die  zur  Frau  genommen,  die 
ich  liebte? 

Oh,  wie  ich  mich  erinnere,  als  ich  in  den  stern- 
lichten Nächten  mich  an  Eure  Hütte  stahl,  mit  den 
Augen  der  Seele  mich  durchfraß  durch  die  dicken 
Häute  Eures  Nachtlagers  und  Dich  sah,  wie  er  Dich 
in  seine  Arme  schloß  und  Dich  an  seine  Brust  fest- 
drückte, und  mit  heißen,  begehrlichen  Lippen  die 
mystische  Rose  Deines  Körpers  öffnete. 

Und  Deine  Augen,  weit,  weit  in  fremde  Ferne 
gerichtet  —  und  Deine  Seele  in  fernloser  Weite 
irrend,  und  Dein  Körper  fremd,  als  ob  er  Dir  nicht 
zugehörte. 

Wo  lief  hinaus  Deine  Sehnsucht?  Um  was  herum 
schlugen  die  breiten  Flügel  Deines  Verlangens  ihre 
weiten  Kreise?  Nach  wem  suchten  Deine  von  Leibes- 
fesseln befreiten  Augen? 

Ich  besinne  mich  nicht,  welche  Schmerzensglut 
mir  die  Seele  eingeäschert  hat,  was  für  ein  Wahnsinn 
mein  Gehirn  wrang,  gleichwie  ein  nasses  Tuch 

Ich  wollte  mich  losreißen,  und  ich  konnte  mich 
nicht  von  der  Stelle  rühren,  eine  furchtbare  Last  fiel 
auf  mich  herab,  und  mit  einem  spitzigen  Pfahl  hat 
mich  die  Verzweiflung  in  die  Erde  eingerammt. 

Und  in  meiner  Seele  flüsterte  der  Satan; 

—  Liebe,  Du  Gotteslamm,  das  Du  alle  Sünden 
der  Welt  tilgst,  heiliges  Hysopkraut,  das  Du  die  Seele 
von  allen  Vergehen  und  jeglicher  Schuld  loswaschest, 
gib  mir  die  Kraft! 

—  Du  solltest  nicht  das  Weib  Deines  Nächsten 
begehren!  grollt  der  Zorn  Deines  Gottes. 

Und  das  Weib    war   das  Weib    meines  Bruders! 

Ich  zitterte  am  ganzen  Leib  wie  ein  Mensch,  dem 
man  die  fürchterlichsten  Folterwerkzeuge  vorzeigt 

Liebe,  Du  allmächtige  Gewalt,  die  Du  Gott  auf 
den  Thron  setzest  und  ihn  zu  Staub  zermalmst  —  bist 
Du  nicht  mächtiger  als  Seine  Gesetze? 

Wie  lächerlich  und  klein  ist  die  Liebe  als  Tugend, 
billig,  wie  ein  Talisman,  den  man  von  einem  Wander- 


^11^ 

Juden  kaufen  kann  und  der  vor  Krankheiten  und 
Unglücksfällen  beschützt. 

Wie  platt  und  verächtlich  die  Liebe,  der  kein 
Hindernis  in  die  Quere  kommt  und  die  die  Menschen, 
fromn  und  treu  ringsherum  aufgestellt,  segnen  und 
jegliche  Gnadenquelle  über  ihr  öffnen  —  eines  greisen- 
haften Verlangens,  einer  ruhigen  Sättigung,  einer 
warmen  Speisung  und  des  faulen  Ochsenjochs  würdig 
ist  die  Liebe  in  vollem  Sonnenlicht,  die  Liebe  des 
warmen  Bettes,  das  da  von  jubelnden  Hochzeitsjung- 
frauen  umstellt  ist,  die  Liebe  des  ruhigen  Schlafes  von 
Gerechten  und  Ordentlichen,  die  da  nur  einmal  am 
Tage  sündigen. 

Oh!  in  einer  anderen,  in  einer  gewaltigeren 
Majestät  soll  fürwahr  die  Macht  der  Liebe  einher- 
schreiten! 

Mit  einem  Haar,  das  die  wüstesten  Stürme  zer- 
zausen, mit  Hohngelächter,  gottschänderiscben  Flüchen, 
wildem  Spottgeschrei  allen  Gesetzen  zuwider  auf  den 
Lippen,  mit  Augen,  die  den  Mob  zermalmen  und  ihn 
vor  sich  auf  den  Knieen  rutschen  lassen,  und  mit 
Händen,  die  sich  nicht  scheuen,  das  Messer  hineinzu- 
stechen —  wenn  auch  in  den  Schoß  des  Bruders! 

Hier  begann  mein  Herz  zu  zittern,  als  wäre  es 
mir  lebendig  aus  der  Brust  gerissen. 

Des  Bruders! 

Hart,  eisern,  unbeugsam! 

Wo  der  Fuß  einer  solchen  Liebe  hintritt,  was 
denn,  wenn  er  mit  seinen  Hufen  Menschen  zertritt,  wie 
einen  Ameisenhaufen?  wo  ihr  Wahnsinn  aufkreischt, 
was  denn,  wenn  ein  Abgrund  sich  zwischen  Brüdern 
und  Freunden  öffnet,  und  wo  ihr  Spieß  hinfliegt,  was 
denn,  wenn  er  auch  in  das  Herz  der  eigenen  Mutter 
trifft? 

Und  was  für  ein  Wunder,  wenn  der  Vulkan  in 
der  Stunde  einer  wüsten  Orgie  mit  Lava  in  den 
Himmel  speit,  Städte  und  Dörfer  verschüttet  und  eines 
neuen    Lebens    trächtige    Erde    sich    in  Gebärmutter- 


12 


konvulsionen  windet  und  ihre  elende  Brut  unter  den 
Trümmern  seines  elenden  Werkes  begräbt? 

Ein  Vulkan  und  ein  Erdbeben  soll  Deine 
Liebe  sein: 

Hart,  eisern,  unbeugsam,  unwissend  um  alle 
Gebote  und  Gesetze! 

Also  sprach  der  Satan,  und  freudig  stimmte  ihm 
meine  Seele  zu. 

Diese  Qual  hat  meine  Seele  überwältigt,  und  als 
ich  erwachte,  sah  ich  Dich  sitzen  auf  der  Schv'elle  des 
Zeltes  —  Deine  Augen  starr  gerichtet  in  weiie  Ferne, 
und  Deine  Seele  irrend  in  fernlosen  Weiten.  Und  Dein 
Leib  so  fremd,  so  fremd,  als  ob  er  Dir  nicht  zugehörte. 

Vielleicht  waren  es  Augenblicke,  vielleicht  ganze 
Stunden,  und  gar  volle  Tage,  die  in  meinem  Gedächtnis 
verschmolzen,  ganz  so,  wie  große  Erzblöcke  in  dem 
feurigen  Ofen  in  spritzendem  Gischt  zur  flüssigen 
Masse  werden;  ich  entsinne  mich  nur,  wie  Deine  Hand 
in  der  meinen  zitterte,  wie  Dein  Herz  im  Takt  mit 
dem  meinen  schlug,  in  Tollwut  des  Verlangens,  in 
abgrundlosem  Schreck,  in  zerstörender  Angst. 

Und  schon  streckte  ich  die  Hand,  auf  daß  unter 
der  rasenden  Sichel  meines  Wahnsinns  die  reiche,  so 
ersehnte  Ernte  fiele,  da  plötzlich: 

Abel! 

Und  ich  hatte  einen  Abel  in  meiner  Seele  —  oh. 
Du  mein  heißgeliebter  Bruder  —  ich  trug  ihn  in  mir, 
wie  eine  Gotteslade,  in  der  sich  das  Wunder  der 
geheimnisvollsten  Sakramente  vollzieht,  mit  den  Wurzeln 
des  urewigen  Seins  des  Jessy  wuchs  er  in  die  geheimste 
Tiefe  meiner  Seele,  füllte  aus  jede  Pore  meines  Daseins, 
und  ich  habe  den  Baum  aus  mir  herausgerissen,  zer- 
störte den  Gottestempel,  denn  andere  und  mächtigere 
Gelübde  habe  ich  mit  Dir  geschlossen,  für  die  noch 
kein  Gott  ein  Sakrament  verfügt  hat. 

Ich  fuhr  auf. 

Zu  jener  Zeit  war  der  Judas  in  mir  noch  nicht 
geboren. 


—  13  — 


Meine  Seele  blutete  aus  tausend  Wunden,  denn 
ich  habe  aus  ihr  Jessys  Wurzeln  herausgerissen,  meine 
Seele  war  ein  einziger  Trümmerhaufen,  ein  einge- 
äscherter Altar  nach  der  Vollendung  des  blutigen 
Opfers,  und  mein  Herr  und  Gott  ward  Abel  .... 

Ich  ging  an  ihn  heran  und  sagte  zu  ihm: 

—  Verzeihe  mir,  aber  ich  liebe  Deine  Aus- 
erwählte, Du  wirst  sie  doch  nicht  notzüchtigen  wollen 
mit  Deiner  Liebe,  da  die  Flügel  ihrer  Sehnsucht  um 
mich  beständig  rauschen,  und  unsere  Hände,  die  sich 
tausendmal  verloren,  hin  und  her  irrten,  endlich  sich 
wieder  gefunden  haben,  wie  es  uns  von  Uranfang 
bestimmt  war. 

Und  Dein  Gott  donnerte  und  säte  seine  Blitze 
rings  um  mich  und  schrie,  daß  Du  keine  anderen 
Götter  vor  ihm  haben  sollest. 

Und  ich  Kain  habe  den  Abel  getötet? 

Hart,  eisern,  unbeugsam. 

Horch  Du  Gewitter,  das  Du  Bäume  aus  der  Erde 
entwurzelst,  was  bist  Du  im  Vergleich  zu  der  Hölle, 
die  in  meiner  Seele  zu  rasen  begann?! 

Eherne  Trompeten  des  Jüngsten  Gerichtes,  was 
ist  Euer  Heulen  gegen  den  Donner  Gottes: 

Kain,  Kain  —  wo  ist  Dein  Bruder!? 

Irgendwo  gen  den  Untergang  ergoß  sich  ein 
furchtbarer  Lichtschein,  als  wäre  die  Sonne  gesprungen ; 
es  barsten  die  Reifen,  wie  heut,  wie  heut;  die  gräßliche 
Glut  überschwemmte  den  Himmel,  kochte  über,  schäumte 
in  wüstem  Gischt,  wie  heut,  wie  heut  —  troff  von  der 
Himmelskuppel  in  sprühendem  Feuerregen  und  tief 
bis  hinauf  über  die  Mittagsgrenze  fraßen  blutige  Feuer- 
zungen an  dem  schwarzen  Abgrund  der  Nacht,  wie 
heut,  wie  heut  —  und  dann  erlosch  das  furchtbare 
Himmelswunder. 

Ich  durchlebte  Ängste  und  Qualen,  die  mir  das 
Haar  bleichten,  der  Schreck  durchfuhr  mich  mit  furcht- 
barem Zittern,  der  Atem  stockte  in  meiner  Brust: 

In  wilder  Flucht  jagte  ich  vor  mich  hin  —  Schritt 
für  Schritt  fiel  ich  über  uralte  Wurzeln,   die   über  die 


14  — 


Erde  ragten,  gleich  dem  Gerippe  vorsintflutlichen 
Getiers,  das  mit  dem  Pflug  aus  der  Erde  heraus- 
geackert wurde:  sah  ich  in  die  Höhe,  da  machte  mich 
blind  der  furchtbare  Strahl  des  zürnenden  Gottes  — 
und  wieder  fiel  ich  auf  mein  Angesicht,  und  stürzte 
in  unermeßliche  Abgründe,  ohne  End,  ohne  End .... 

Wovor  bin  ich  geflohen  und  wohin?  Wo  konnte 
es  Rast  für  meine  Füße  geben,  wo  Ruhe  für  meine 
gräßlichen  Gedanken?  Wo  das  Ziel,  dem  ich  zulaufe 
—  wo? 

Abel,  Abel  —  Deine  furchtbare  Rache.  Welch 
unendlich  süße  Erlösung  wäre  für  mich  damals  der 
Tod  gewesen !  Könnte  eine  Hand  zärtlicher  liebkosen, 
als  der  vernichtende  Blitzschlag  Deiner  wütenden 
Keule? 

Verfluchter  Henker!  Auf  Schritt  und  Tritt  hast 
Du  den  Tod  vor  meine  Augen  gesetzt,  und  weit 
offen  hast  Du  immer  noch  eine  Hintertür  gelassen, 
durch  die  ich  in  Angst  entschlüpfen  konnte,  meine 
Füße  hast  Du  in  verräterische  Fangnetze  verstrickt, 
um  mir,  der  schon  einen  tausendfältigen  Tod  erlitten 
hat,  noch  in  letzter  Sekunde  den  Weg  der  Rettung 
zu  zeigen. 

Nach  dem  Tod,  dem  Erlöser,  habe  ich  geschrien 
und  Du  höhntest:  Du  wirst  leben,  in  alle  Ewigkeit 
wirst  Du  leben.  Nie  sollst  Du  die  Abgründe  der  Qual 
erschöpfen,  nie  soll  es  ein  Ende  für  Deine  Pein 
geben .  .  . 

*  Der  Mann  schwieg  und  zu  seinen  Füßen  schluchzte 
das  Weib: 

—  Abel,  Abel  seh'  ich  vor  mir!  In  sch\yarzen 
Nächten  wächst  er  vor  meinen  Augen,  wie  eine  furcht- 
bare Feuersäule  —  meine  Seele  scheint  sich  vom 
Körper  zu  trennen  und  irrt  hinter  ihm  her  auf  schwin- 
delnden Gründen,  von  denen  jeder  Blick  in  die  Tiefe 
das  Hirn  in  die  Hölle  versetzt,  auf  zitternden  Sümpfen, 
auf  denen  jeder  Tritt  ein  offenes  Grab  ist,  auf  den 
Friedhöfen  der  Jahrtausende,  aus  denen  von  überall 
her  sich  mir  verzweifelte   Arme   entgegenrecken,    die 


nach  Rache  schreien  und  Haß  atmen  und  mit  Qualen 
schrecken,  die  keine  Hölle  zu  ersinnen  vermag.  Wie 
ein  blaßes  Gespenst  kniet  er  auf  meiner  Brust,  umfängt 
mich  mit  eisernen  Reifen  seiner  Arme,  würgt  mich, 
verpestet  mein  Blut  mit  seinem  Atem,  und  versengt 
meine  Seele  mit  seinem  furchtbaren  Blick  bis  auf  den 
Grund  .  .  . 

Hier  umfaßte  der  Mann  das  Weib,  drückte  es  an 
seine  Brust  und  flüsterte  ihr  heiße  Liebesworte. 

—  Was  ist  mir  Abel  gegen  das  Glück,  daß  ich 
Dich  besessen  habe? 

Tausende  Abels  würde  ich  töten,  wenn  man  Dich 
mir  entreißen  wollte. 

Er  atmete  tief  auf  und  seine  Augen  verschleierte 
eine  endlose  Zärtlichkeit: 

—  Geliebte! 

Wie  flammende  Vorboten  der  aufgehenden  Sonne 
—  Dein  goldenes  Haar,  wie  eine  Wunderrose,  die  da 
erblüht  ist  in  dem  Glänze  des  Mondlichtes  —  Dein 
Antlitz,  so  still  und  so  wunderhell  ...  in  Deinen  Augen 
schillert  meine  Seele,  mit  Deiner  vereint,  in  unfaßbarer 
Macht  und  GnadenfOlle,  und  durch  unsere  ineinander- 
geflochtenen  Hände  ergießt  sich  in  unsere  fiebernden 
Adern  in  wilder  Hast  der  Strom  der  Liebe,  die  da  einzig 
allein  das    Leben    bedeutet,   seinen  Anfang  und  Ende. 

Du  warst  süß,  wie  eine  Weintraube  in  dem  Mittag 
des  heißen  Sommers:  gebenedeiet  meine  Hand,  die  sie 
gepflückt  hat. 

Du  warst  stolz  und  unzugänglich  wie  eine  wilde 
Mauerhecke :  gebenedeiet  die  Macht  meiner  Liebe,  vor 
welcher  Du  weichen  mußtest. 

Heilig,  heilig  mein  Liebesverlangen,  unter  dessen 
Sichel  die  herrliche  Ernte  Deines  Sommers  gefallen  ist. 

Und  ich  Kain,  der  ich  Abel  um  meiner  Liebe 
willen  getötet  habe,  sitze  breit  und  stark  auf  meinem 
Thron  und  schreie  in  die  Welt  hinaus: 

Ich  liebe  Dich! 

Man  hat  mich  geschlagen,  bespieen,  mit  Ver- 
achtung  und    Flüchen  gehetzt,    auf    meine  Stirn    das 


16 


blutige,  nie  vernarbende  Mal  des  Verräters  und  des 
Verbrechers  eingebrannt,  quer  über  meinen  Weg  schwere 
Balken  hingeworfen,  damit  ich  auf  jedem  Schritte  falle, 
und  ich  weine  in  dem  großen  Glück: 

Ich  liebe  Dich! 

Wie  ein  Lichtschein  unaussprechlicher  Macht  und 
Freude  ergoß  sich  in  meine  Seele  die  heilige  Gnade, 
daß  Du  mein  bist. 

Wie  eine  Rauchsäule  von  dem  Opferaltar  wächst 
in  den  Himmel  hinein  die  Kraft  meiner  Liebe,  meine 
Gewalt,  die  Du  bist  .  .  . 

Erzengel  Du! 

Aus  dem  Paradies  hast  Du  uns  vertrieben,  und 
ich  habe  mir  ein  neues  geschaffen,  ein  gewaltigeres 
noch,  das  die   ganze  Erde   umfaßt   und   den  Himmel. 

Mit  meinem  Wissen  habe  ich  die  Lust  erzeugt, 
habe  sie  mit  Schmerz  und  Qual  verkuppelt  und  sie  so 
in  ihrer  Stärke  vertausendfacht  —  mein  Geschlecht  ergoß 
ich  in  tausend  Betten,  auf  daß  es  das  ganze  All  aus- 
fülle und  mit  seinen  heißen  Strömen  mein  Gehirn 
befruchte. 

In  jeden  Instinkt,  in  jeden  Reflex  tat  ich  hinein 
die  kochende  Glut  der  Leidenschaft,  damit  meine  Tat 
sich  zu  der  Allmacht  der  göttlichen  Tat  aufschwingen 
könne,  und  jedes  Gefühl,  jeden  meiner  Gedanken 
durchsättigte  ich  mit  dem  lebenden  Feuer  des  Ge- 
schlechtswillens, auf  daß  meine  Seele,  gerichtet  in  die 
Zukunft  des  Menschengeschlechtes,  in  ihrer  uner- 
schütterlichen Macht  für  immerdar  leben  möge. 

Ich  erschuf  mir  die  Lust  der  Tat,  die  Lust  des 
Schaffens,  die  Lust  des  himmelhochjauchzenden  Auf- 
schwungs, da  der  Mensch  mit  dem  Gott  von  Angesicht 
zu  Angesicht  spricht. 

Und  wenn  mein  Blut  Dir  entgegenschlägt,  wenn 
Dein  Schoß  zittert,  wenn  Dein  Gesicht,  umglüht  von 
dem  Goldstrom  Deiner  Haare,  zu  ersterben  scheint  in 
der  Lust  der  Himmelfahrt,  brauchst  Du  da  noch  ein 
anderes  Paradies?  .  .  . 

Das  Weib  schluchzte  verzweifelt: 


17  — 


—  Ich  will  versinken  in  dem  Abgrund  der  Lust, 
will  meine  Seele  reinbaden  in  dem  Sonnenglanz 
unserer  Liebe,  auf  daß  sie  reiner  werde  als  der  Hysop, 
der  alle  Schuld  tilgt,  und  schon,  schon  vernarben  die 
Wunden,  stillt  sich  der  blutige  Schmerz  der  Schuld  — 
und  da  plötzlich:  eine  Harpune  schlägt  sich  in  mein 
Herz  und  zerrt  und  reißt  es  in  Stücke. 

Kain,  Kain,  was  hast  Du  getan?! 

Oh,  dann  wird  mir  zum  Ekel  Dein  Liebesgekose, 
widerlich  Deine  Umarmung  —  meine  Seele  reißt  sich  von 
Dir  los  in  schmerzlicher  Qual,  um  sich  aufs  neue  in 
noch  schmerzlicherer  Lust  auf  Dich  zu  werfen  und  nach 
Ruhe  für  meinen  verzweifelten  Irrsinn  zu  suchen. 

Kain,  Kain,  das  Blut  Deines  Bruders  hat  unser 
Brautbett  besudelt! 

Oh,  sieh  mich  nicht  so  an  mit  diesen  schreck- 
lichen Augen.  Der  Schmerz  erstarrte  in  ihnen.  Eine 
größere  Qual  als  die  meine  hat  sie  so  weit  aufgerissen. 

Oh  komm,  komm,  Geliebter  Du  —  in  der  Glut 
der  Lust,  in  der  Hölle  der  Sinnen  — 

Laß  uns  vergessen  —  vergessen  I 

—  Vergessen?! 

Er  lachte  verzweifelt. 

—  Vergessen?  Ich?  Ich? 

Tausendmal  bin  ich  gestorben  und  tausendmal 
kehrte  ich  zurück. 

Joshua!  Christos! 

Oh  seine  süßen  Augen! 

Seine  Augen  waren  —  oh,  wie  soll  ich  Dir 
das  sagen  —  seine  Augen  drangen  durch  und  durch 
—  es  schien,  als  gebe  es  keine  noch  so  dicke  Mauer, 
die  sie  nicht  durchdringen  könnten,  als  fände  sich 
keine  noch  so  verstockte  Seele,  daß  sie  in  diesem 
Glänze  nicht  zerschmelze,  und  kein  Herz,  das  nicht 
mit  diesem  Pulsschlag  schlüge,  und  in  heißem  Ver- 
langen schrie:  Dein  bin  ich,  o  Herr! 

Wie  ein  Hund  kauerte  ich  zu  seinen  Füßen,  aus 
seinen  Augen  sog  ich  den  süßesten  Honig  der  Erlösung, 
des  Rückkaufs  meiner  schweren  Schuld  —  jedes  seiner 


—  II 


Worte  war  für  mich  die  zärtlichste  Liebkosung  und 
das  Unterpfand  des  ewigen  Lebens  auf  dem  Schoß 
dessen,  der  war,  ist  und  sein  wird. 

Magdala,  Magdala! 

Hast  Du  mich  damals  gesehen? 

O,  hätte  ich  Dich  nie  erblickt! 

Erlöst  wäre  meine  Seele,  befreit  von  der  Schuld 
des  Brudermordes  mein  Herz  .... 

Er  schwieg. 

So  schwer  fiel  noch  kein  Steinblock  von  der 
Höhe  in  das  Tal,  wie  sein  totgequältes  Haupt  auf  die 
schwergespreizten,  eisernen  Finger  seiner  Hände.  Sie 
gaben  nach  unter  seiner  Schwere,  das  Haupt  fiel  ihm 
auf  die  Knie,  er  sank  ganz  zusammen. 

—  Judas!  Judas!  schrie  das  Weib. 

Den  Bruder  hast  Du  gemordet,  den  Erlöser  ver- 
kauft! Wo  ist  mein  Paradies,  wo  meine  Erlösung?! 

Er  richtete  sich  auf,  sah  um  sich  mit  einem 
kalten,  erstaunten  Blick,  als  wäre  er  nach  einem 
tausendjährigen  Schlaf  erst  erwacht. 

—  Kain?  Judas? 

Ah !  Ich  erinnere  mich  .... 

Zeig  mir  das  Gras,  über  welches  seine  Füße 
schritten,  damit  ich  einen  Halm  nach  dem  anderen 
küssen  könne,  zeig  mir  die  Abdrücke  seiner  Füße  in 
dem  weichen  Lehm,  auf  dem  er  gegangen  ist,  damit 
ich  mich  mit  meinen  Lippen  an  ihnen  festsaugen 
könne  und  sie  kose  in  seligstem  Glück: 

Magdala,  Magdala! 

Geh  dort  nicht  hin,  heiliger  Rabbi!  schrie  mein  Herz. 

Aber  ich  wagte  es  nicht  laut  zu  sagen. 

Noch  haben  Dich  meine  Augen  nicht  gesehen, 
und  schon  atmete  ich  den  Duft  Deiner  Haare,  sah  das 
gelenke  Rohr  Deiner  Glieder,  fuhr  mit  zitternden 
Händen  Deinen  Körper  entlang,  entblößte  Dich  nackt 
mit  meinen  Augen,  Dich,  meine  stolze,  heilige  Geliebte. 

Du  möchtest  mir  jetzt  Deinen  wildesten  Fluch 
in  die  Augen  speien.  Deine  verzweiflungstrunkenen 
Nägel  in  meinen  Leib  einhacken  .... 


—  19  — 

Wie  schön  warst  Du  damals,  Geliebte,  Du! 

Soll  ich  Dir  davon  sprechen? 

Nein,  nein  .... 

Mit  ihm  zusammen  bist  Du  gestorben.  Zum  Ekel 
wurde  ich  Dir  und  zum  Abscheu. 

Ich  weiß  es,  ich  weiß  .... 

Dein  Platz  an  seinem  Grab,  und  mit  ihm  zu- 
sammen wirst  Du  Deine  Himmelfahrt  feiern! 

Aber  jetzt  höre  mir  zu  —  Du  mußt  hören! 

Er  packte  sie  an  den  Händen. 

Und  schon  sprach  er  nicht  mehr,  er  zischte,  er 
schluchzte,  er  schlug  aus  mit  den  Worten,  wie  ein 
wütender  Hengst  mit  eisernen  Hufen. 

Tausende  von  Worten  verloren  sich  im  Nebel 
und  Dunkel,  und  als  er  erwachte,  hörte  er  sich  endlich 
sprechen: 

—  Gräßlich  war  der  Augenblick,  als  Du  zu  seinen 
Füßen  kauertest,  sie  mit  riechenden  Ölen  salbtest  und 
mit  Deinen  Haaren  trocknetest. 

Magdala!  Magdala! 

Und  er,  versunken  in  die  Wunder  unfaßbarer  Ge- 
heimnisse, sprach  mit  seinem  Gott:  er  sah  Dich  nicht. 

Aber  meine  Seele  krampfte  sich  zusammen,  als 
ich  sah,  wie  Du  mit  der  goldenen  Seide  Deiner  Haare 
seine  Füße  abriebst,  wie  Deine  Lippen  mit  heißen 
Küssen  an  den  Stellen  ruhten,  durch  welche  bald, 
allzubald,  die  rostigen,  langen,  fingerdicken  Nägel 
durchdringen  sollten,  durch  diese  schmalen,  weißen 
Gottesfüße! 

Magdala!  Küsse  nicht  diese  Füße!  Küsse  nicht! 
Blut  strömt  mir  in  die  Augen  —  und  in  der  blutigen, 
gräßlichen  Feuersbrunst,  in  der  mir  die  ganze  Welt 
steht,  ragt  das  Kreuz! 

Jetzt  schmiegtest  Du  Dich  mit  dem  ganzen  Antlitz 
an  seine  Füße,  umwandest  sie  mit  der  Flut  Deiner 
Haare  —  Du  hast  vergessen,  daß  er  ein  Gott  ist,  daß 
er  Dich  nicht  sieht  —  wie  eine  Schmeichelkatze  lieb- 
kosest Du  seine  Füße,  streichelst  sie,  küssest  sie  —  in 


20 


beide  Hände  hast  Du  seine  schönen  weißen  Füße 
genommen.  Tue  es  nicht  Magdala!  Tue  es  nicht! 

Deine  nackte  Brust  wogt,  Dein  ganzer  Leib 
erschauert,  es  krümmt  sich  Dein  Nacken,  Deine  Hüften 
zittern,  —  laß  es  Magdala,  laß  es! 

Siehst  Du  denn  nicht,  daß  sein  Blick  von  der 
Erde  losgerissen  ist?  —  fühlst  Du  denn  nicht,  daß  Du 
tote  Glieder  umfängst?  —  seine  Seele  spricht  mit  Gott, 
weilt  schon  längst  nicht  mehr  hier! 

Schmeichle  nicht,  verführe  nicht  den  Gott! 

Wie  ein  Kind  sah  er  Dich  an  mit  zärtlichen  Augen 
und  lächelte  mit  dem  unendlich  stillen  Lächeln  des 
Gotteslammes,  das  alsbald  mit  seinem  Opfer  die  Sünden 
der  ganzen  Welt  tilgen  sollte,  und  sprach: 

Oh  Du,  meine  Schwester! 

Schwester?  Schwester? 

Oh,  ich  sehe  Dich,  ich  sehe  Dich! 

Nie  noch  hat  eine  so  demütigende  Absage  ein 
Weib  getroffen,  das  da  in  Sünde  und  Unzucht  empfangen 
ward! 

Und  schon,  schon  fühlte  ich  mit  satanischer  Lust, 
wie  Du  Dich  auf  ihn  werfen  würdest,  aus  Deinen  Augen 
schlugen  Blitze  verstoßenen  Verlangens  —  ein  wilder 
Triumph  raste  in  meiner  Seele  —  und  da  plötzlich, 
wie  vom  Blitz  erschlagen,  fielst  Du  nieder,  Deine  Lippen 
wurden  totenblaß,  Dein  Leib  kauerte  zusammen  und 
Tränen  stürzten  aus  Deinen  Augen: 

Erlöser!  Erlöser! 

Hättest  Du  in  ihn  das  Gift  der  wütendsten 
Schlangen  Deiner  Gier  eingeimpft  — 

hättest  Du  ihn  gebissen,  seinen  Leib  zerfleischt 
mit  der  Wut  einer  irren  Leidenschaft,  mit  der  Du  seine 
Füße  küßtest  — 

hättest  Du  mit  den  verfeinertsten,  hinterlistigsten 
Mitteln  Deiner  Liebeskunst  sein  Blut  ins  Wallen  gebracht : 

all  das  wäre  für  mich  nicht  ein  solch  furchtbarer 
Schmerz  wie  dies  eine:   Erlöser! 

Und  die  Lichtspitze  seiner  Augen  durchbohrte  mit 
hellem  Blitzstrahl   das   Dunkel   meiner  Seele    und  es 


—  21  — 


entstand  in  ihr  eine  furchtbare  Helle,  ich  fühlte  mich 
nackt,  so  entsetzlich  nackt,  daß  es  schien,  als  würde 
mich  eine  ganze  Hölle  von  Scham  aufbrennen. 

Ich  ging  hinaus. 

Magdala,  Magdala! 

Ich  höre,  wie  er  mich  fragt: 

Warum  meidest  Du  mich,  Judas  —  warum  sind 
Deine  Augen  in  die  Erde  vergraben,  warum  sind 
Deine  klugen  Augen  siech  und  scheu  geworden  und 
wie  mit  Nebel  verschleiert,  warum  ist  Dein  Haar  über 
Nacht  bleich  geworden,  und  Dein  Rücken  krumm, 
als  wäre  er  in  ein  Joch  hineingezwängt? 

Als  Hohn,  unwürdig  eines  Gottes,  schien  mir  die 
Sprache  des  Herrn. 

Blut  stieg  mir  zu  Kopfe,  und  meine  Zunge,  die 
schon  am  Gaumen  festzukleben  schien,   löste  sich: 

—  Das  Herz  des  Weibes,  das  mir  zugehörte,  hast 
Du,  Herr,  an  Dich  gerissen,  ihre  Seele  hast  Du  mit 
unsichtbaren  Fäden  Deiner  göttlichen  Macht  um- 
strickt   

Hier  unterbrach  den  Wahnsinn  meiner  Sprache 
sein  verwunderter,  sein  so  erschreckend  kluger  Blick, 
der  dem  Menschen  ins  tiefste  Mark  dringt. 

Seitdem  sprachen  wir  nicht  mehr. 

Wie  ein  Schatten  schlepptest  Du  Dich  hinter  ihm. 

Magdala,  Magdala!  Tue  es  nicht! 

Satan  —  Magdala,  hinweg  mit  Dir  von  dem  Gottes- 
sohn! 

Bis  in  jenem  Augenblick:  nein  —  nein,  nein! 

Ich  küßte  ihn,  Magdala  —  nein,  nein  —  nein! 

Geliebter  Rabbi,  flüsterte  ich  ihm  ins  Ohr  — 
nein  —  nein  —  nein! 

Und  Du  zu  Füßen  seines  Kreuzes  -und  jetzt  mit  mir! 

Mit  mir,  Magdala,  mit  mir!  von  den  Füßen  des 
Erlösers  habe  ich  Dich  weggeschleppt,  ich  Kain,  ich 
Judas  Ischariot,  auf  ewige  Qual,  zur  ewigen  Verdamm- 
nis, ewiges  Zusammen  und  Auseinander,  ewiges  Eins 
und  ewigen  Haß! 

Du  und  ich! 


—  22  — 


Zu  Hilfe  Satan  —  zu  Hilfe! 

Du  mein  einziger  Bruder,  Du  strahlender  Cherub, 
Du  großer  Herr,  der  Du  auch  einst  aus  dem  Paradies 
vertrieben  warst,  weil  Du  Deine  Macht  an  der  seinen 
messen  wolltest  —  Du  der  Vorzüglichste  an  Schönheit 
—  Lichtbringer   Du,    steh  mir  bei!  .  .  . 

Da  fuhr  er  zusammen. 

Denn  plötzlich  sah  er  den  Erzengel  vor  sich. 

Und  eine  furchtbare  Macht  schlug  aus  seinem 
Schwert.  Seine  Augen  durchbohrten  das  Herz  des 
Menschen,  sein  Antlitz  war  blaß,  und  unsichtbare  Blitz- 
strahlen seines  Zornes  schlugen  umher,  wie  herab- 
gerissene Sterne  in  dunkle  Abgründe. 

Und  der  Satan  kauerte  am  Rande  jenes  Blocks, 
der  da  allein  als  Zeuge  versintflutiger  Raserei  geblieben 
war,  starrte  in  die  Feuersbrunst  des  Paradieses,  und 
lachte  nicht. 

Er  erblickte  seinen  Bruder,  den  Erzengel,  und 
maß  ihn  mit  stolzem,  verwundertem  Blick. 

—  Ich  Kain,  schrie  der  Mensch,  ich  Judas  Ischariot, 
umwölkt  von  dem  Nebel  und  den  Wolken  meiner  Opfer, 
die  mich  mehr  als  Gott  zu  lieben  lernten,  ich,  der  ich 
mit  dem  Gott  an  einem  Tische  saß,  und  in  den  dunklen 
Gassen  des  Ölbergs  sein  blasses  Antlitz  küßte,  und  ihm 
sagte,  daß  ich  ihn  über  alles  liebe  —  ich  höhne  Deiner 
Kraft,  Du  armseliger  Hüter,  der  auf  den  Befehl  seines 
Herrn  den  Garten  unreifen  Obstes  vor  den  Dieben 
schützen  muß  —  ich  verlange  nicht  nach  Deinem 
Paradies  —  ich  habe  mir  ein  eigenes  geschaffen,  ich 
ließ  mich  freiwillig  aus  dem  Deinigen  herausstoßen, 
um  die  Macht  meiner  Liebe  an  dem  Übermaß  des 
Schmerzes  zu  messen,  ihre  Kraft  über  die  Macht  des 
Todes  und  des  Lebens  hinauszusteigern. 

Und  Du  Satan  —  verflucht,  tausendmal  verflucht 
seiest  du  mitsamt  Deinem  Lichtbruder! 

In  unsere  Seele  hast  Du,  Giftschlange,  das  Verlangen 
und  die  Begier  eingeimpft,  hinterlistig  hast  Du  den  Lust- 
baum gepflanzt,  der  das  Gute  und  das  Böse  unterscheiden 


—  23  — 

läßt,  um  uns  mit  diesem  Köder  blind  zu  machen  für 
Deine  Größe,  Deine  Schliche  und  Verrat: 

Mit  der  Liebe  hast  Du  uns  blind  gemacht! 

Wiederhole,  wiederhole,  womit  Du  meine  Eltern 
verführt  hast.  Du  böser.  Du  heimtückischer,  hinterlistiger 
Satan ! 

Antworte  mir! 

Du  schweigst?  Ha,  ha,  ha,  Satan  hat  mich  ver- 
lassen, nun,  dann  wende  ich  mich  an  Dich,  Erzengel, 
Du,  Henkersknecht  und  blindes  Werkzeug  eines  Lügners, 
ich  segne  Dich!  .  .  . 

Eine  Ewigkeit  rangen  ihre  Augen  in  schwerem 
Kampf,  aber  mit  nichts  läßt  sich  die  Macht  vergleichen 
dessen,  der  war,  ist  und  sein  wird. 

Und  der  Satan  krümmte  sich  vor  schmerzlichem 
Lachen,  und  das  Weib  stöhnte  in  höllischer  Qual,  und 
der  Erzengel:  die  Qual,  die  Sünde,  das  Verbrechen 
stand  auf  der  Wehr. 


Sonntag  Abend  in  der  Großstadt 

Von  Berthold  Viertel 

Ein  mächtiger  Greis  in  glänzendem  Zylinder 
Trat  plötzlich  vor  die  Leute,  Weiber,  Kinder. 
Betrunken  baumelt  er  mit  einem  Stock, 
Dran  hing  Marie  in  blütenweißem  Rock. 
Die  schlanke  Himmelskönigin  aus  Flußpapier, 
Die  Wänglein  süß  wie  Milch  und  Blut  auch  hier. 
Die  Leute  lachten  sehr:  »Er  kommt  aus  Mariazeil, 
Dort  ist  es  heilig,  und  die  Luft  weht  hell. 
Am  Weg  zum  Altar  stehn  viel  Schenken  offen, 
Da  hat  der  gute  Alte  sich  besoffen.« 
Der  Alte  lächelt  heimlich  und  verschwiegen, 
Als  hätt'  er  Berg  und  Täler  überstiegen. 
Und  immer  neue  dumme  Neider  kamen 
Und  höhnten  laut  —  er  aber  sagte:  Amen. 


—  24 


Glossen 

Zur  Erleichterung  des  Lebens 

und  um  allen  Wiederholungen  wie  auch  Reklamationen  künftig 
zu  begegnen  und  um  es  den  Wißbegierigen  so  bequem  wie  mög- 
lich zu  machen,  habe  ich  mich  entschlossen,  einen  Normalbericht 
zusammenzustellen,  in  dem  alle  Nachträge  zur  Kaiserfeier  und 
überhaupt  alles  Wissenswerte  aus  Kurorten  und  Sommerfrischen 
sowie  auch  schon  die  künftigen  Brände  der  beliebtesten  Alpenhotels 
ein  für  allemal  berücksichtigt  sind.  Während  also  »Wien  im  Fest- 
kleid« erscheint  und  die  durch  besondern  Schmuck  hervorragenden 
Firmen  sich  vorteilhaft  repräsentieren,  übermittelt  uns  der  Draht 
die  traurige  Nachricht,  daß  eine  der  schönsten  und  leuchtendsten 
Perlen  aus  dem  reichen  Kranze  imposanter  Hotelbauten,  den  unser 
herrliches  Alpenland  Tirol  in  den  letzten  Jahrzehnten  der  über- 
quellenden Fülle  seiner  natürlichen  Reize  gesellt  hat,  ein  Raub  der 
Inseratenagenten  geworden  ist.  Frau  Lewinsky-Precheisen  riß  durch 
den  Vortrag  von  Goethes  Gott  und  die  Bajadere  die  aus  allen 
Weltteilen  stammende  Zuhörerschaft  zu  wiederholtem  nicht  eriden- 
wollenden  Beifall  hin.  Unter  den  von  der  Katastrophe  betroffenen 
Hotelgästen  befand  sich  der  Chef  des  Sicherheitsbureaus  Regie- 
rungsrat Stukart,  die  meisten  aber  hielten  sich  im  Walde  auf,  ja 
viele  Personen  verließen  das  Hotel  zu  Spaziergängen,  als  die 
Katastrophe  schon  eingetreten  war.  Während  dort  unbeschadet  des 
internationalen  Charakters  das  Wienertum  sich  von  seiner  schön- 
sten Seite  zeigte;  indem  es  den  Fremden  die  üppig  erblühte  Rubens- 
pracht seiner  Frauen  wies,  hielt  die  Festrede  Oberrabbiner  Akiba 
Schreiber.  Direktor  Bardy,  seine  Gattin  und  das  gesamte  Personal 
arbeiteten  mit  größter  Aufopferung,  um  die  Gäste,  von  welchen 
viele  noch  gar  nicht  aufgestanden  waren,  ins  Freie  zu  bringen. 
Frau  Sonja  Schapira  aus  Baku  trug  einige  Lieder  mit  künstlerischer 
Vollendung  vor  und  wurde  besonders  der  Umfang  und  die  Kraft 
ihrer  Stimme  bewundert.  Vierhundertsechzig  Gäste  kampierten 
rings  um  das  Hotel.  Man  bemerkte  unter  anderen  den  Bankier 
Schoßberger  aus  Budapest.  Die  Effekten  sind  zum  größten  Teil 
verloren,  und  leider  auch  ein  Verlust  an  Menschenleben  nicht  zu 
beklagen.  Den  Kaisertoast  sprach  der  bekannte  Wiener  Hof-  und 
Qerichtsadvokat  Herzberg- Fränkel.  Es  ist  sehr  zu  beklagen,  daß 
im  ganzen  Hotel    nicht    ein    einziger   Hydrant   oder  Wassereimer 


—  25 


vorhanden  war.  Die  herrliche,  starke  und  für  eine  Höhe  von  fast 
1800  Metern  doch  milde  Luft  inmitten  der  prächtigsten  Nadel- 
wälder und  des  großartigsten  Hochgebirgspanoramas,  sowie  die 
internationale  Gesellschaft,  unter  welcher  Österreicher  und 
Deutsche  das  Hauptkontingent  bilden,  trugen  in  gleicher 
Weise  dazu  bei,  daß  das  Feuer  rapid  um  sich  griff  und  binnen 
kurzem  sechs  Häuser  eingeäschert  wurden.  Fräulein  Elsa  Kulka 
aus  Saaz  und  Herr  Edgar  Neugröschl  aus  Komom  hatten  sich  in 
liebenswürdigster  Weise  bereit  erklärt,  ein  Gelegenheitsstück,  das 
Paul  Wilhelm  zum  Verfasser  hat,  aufzuführen.  Es  scheinen  ver- 
brecherische Anschläge  vorzuliegen.  Mit  militärischer  Hilfe  wurde 
die  Feier  gelöscht.  Das  Feuer  schloß  mit  einem  animierten  Tanz- 
kränzchen. Auf  Antrag  des  Herrn  Angelo  Ei—,  dessen  Name  bei 
den  Rettungsarbeiten  verstümmelt  wurde,  wurde  eine  Huldigungs- 
depesche nach  Ischl  gesendet.  Nähere  Nachrichten  fehlen  zur 
Stunde,  da  die  Telephonleitungen  unterbrochen  sind.  Ein  gegen- 
wärtig noch  unkontrollierbares  Geriicht  spricht  davon,  daß  sich 
die  Fassade  des  Zaclierlhauses  Wien,  I.  Brandstätte  besonders  vor- 
teilhaft repräsentiert  hat. 


Na  denn  Prost! 
Herr  Georg  Reimers,  der  den  Sommer  in  Wyk  auf  Föhr 
verbringt  und  im  Winter  im  Burgtheater  Helden  spielt,  hat  soeben 
sein  fünfundzwanzigjähriges  Jubiläum  gefeiert.  Nicht  als  Kurgast. 
Es  sind  vielmehr  schon  fünfundzwanzig  Jahre,  daß  das  Burgtheater 
sich  in  der  Darstellung  der  Egmont  und  Moor  von  jeder  mittleren 
deutschen  Hofbühne  beschämen  lassen  muß.  Wie  die  Zeit  vergeht! 
Damals  alterte  Fritz  Krastel,  ohne  alt  werden  zu  können,  und  der 
Gigant  Matkowsky,  der  einmal  als  Orestes  aushalf,  fuchtelte  so 
über  den  Rahmen  des  Burgtheaters  hinaus,  daß  das  Wiener 
Publikum  zu  lachen  anfing.  Aber  Herrn  Georg  Reimers  nahm  es 
schon  ernst.  Freilich  wurden  dann  von  allen  Seiten  die  lebhaftesten 
Anstrengungen  gemacht,  ihm  zu  einer  Entwicklung  zuzureden,  und 
Herr  Reimers,  dessen  Stärke  es  bis  dahin  gewesen  war,  fest  auf- 
zutreten, begann  jetzt  in  der  Tat  die  Brauen  zusammenzuziehen  und 
ein  denkender  Schauspieler  zu  werden.  Nicht  in  jener  übertriebenen 
Art  des  Herrn  Gregori,  dem  man  vom  Faust  bloß  die  Versicherung 
geglaubt   hat,   daß   er  Juristerei,  Philosophie,  Medizin  und  Theo- 


logie  studiert  habe.  Aber  immerhin  mit  mäßiger  Vertiefung  des 
Innenlebens.  Man  las  sogar  hin  und  wieder,  daß  Herr  Reimers 
mit  dem  Studium  von  Kommentaren  beschäftigt  sei  —  nach- 
denkende Schauspieler  sind  solche,  die  lesen  können,  was 
literarhistorische  Schöpse  geschrieben  haben  — ,  aber  man  freute 
sich  doch  immer,  daß  dann  jedesmal  seine  kerngesunde  Natur 
durchbrach  und  er,  wie  er  dem  Kulissenplauderer  anver- 
traute, »die  Folianten  in  die  Ecke  warf«,  nur  sich  und  seinem 
Instinkt  vertrauend.  Das  war  gut.  Denn  das  Publikum  war  nicht 
entschlossen,  mitzudenken,  sondern  lobte  den  stattlichen  Wuchs. 
Man  sieht  in  Wien  überhaupt  weniger  auf  den  Zweck  als  auf  die 
schönen  Mittel,  und  wer  hier  behaupten  wollte,  daß  sie  nicht 
hinreichen,  daß  fünfundzwanzig  Jahre  ohne  tragischen  Helden 
für  das  Burgtheater  kein  Jubiläum,  für  das  Publikum  einen  Verlust 
bedeuten,  der  kann  sich  unbeliebt  machen.  Denn  die  Schauspieler 
dieser  Stadt  gehören  zu  den  Erscheinungen,  die  ihrer  Beliebtheit 
ihre  Popularität  verdanken  und  umgekehrt,  und  nur  zu  leicht 
gerät  der  in  den  Verdacht,  ein  Thersites  zu  sein,  der  etwa  be- 
haupten wollte,  ein  anderer  sei  kein  Achill.  So  feministisch  ver- 
zogen ist  der  Geschmack  dieser  Stadt,  daß  ihm  die  schönen  Mittel 
des  Schauspielers,  den  Mann  verbürgen,  aber  beileibe  nicht  etwa 
die  schönen  Mittel  der  Frau  die  Schauspielerin,  daß  man  der  weib- 
lichen Anmut  das  Talent,  das  sie  bedeutet,  nicht  glaubt,  aber  der 
männlichen  Schönheit  den  Charakter.  Diese  Ästhetik  ergibt  sich 
dem  Tenor  und  sieht  auf  die  Salondame  mit  den  Augen  der 
Rivalin.  Daß  einer,  um  eine  deutsche  Eiche  auf  der  Bühne 
zu  sein,  im  Leben  aus  Pappe  sein  könnte,  und  daß  einer 
auf  der  Bühne  aus  Pappe  sein  kann  und  im  Leben  eine 
deutsche  Eiche,  das  geht  der  Wiener  Ästhetik,  die  eine  weibliche 
Wissenschaft  ist,  nicht  ein,  und  sie  feiert  immer  die  fünfund- 
zwanzigjährige Identität  von  Kunst  und  Leben.  Nun  aber,  da 
Herr  Reimers  in  das  gesetzte  Alter  eintritt,  werden  wir  auch  keinen 
Wallenstein  und  keinen  Faust  haben,  und  wer  weiß,  welche  Über- 
raschungen er  uns  noch  vorbehält,  denn  Herr  Wittmann  meint, 
es  sei  nur  ein  Anfang.  »Wir  können  dem  Fünfzigjährigen  die 
Mitteilung  machen,  daß  die  wahre  Schauspielerei  erst  für  ihn 
beginnt. <  Herr  Reimers  hat  Reserven.  Eine  zweite  Entwicklung, 
die  er  durchmachte,  ging  geradenwegs  auf  die  Schlichtheit.  Von  der 
Natur  dazu  geschaffen,  Herolde  im  Burgtheater  darzustellen,  begann  er 


I 


-   27  — 


auf  einmal  in  einem  gleichmütigen  Plauderton  zu  sprechen,  der  von 
Herrn  Wittmann  heute  als  eind  Konzessionan  Ibsen  entschuldigt  wird. 
Herr  Wittmann  empfindet  es  noch  jetzt  als  eine  Profanierung  des 
gutgebauten  Herrn  Reimers,  daß  in  die  Zeit  seiner  Entwicklung 
auch  der  Aufstieg  Ibsens  fiel,  und  da  das  Wort  Ibsen  einmal 
ausgesprochen  ist,  so  ergibt  sich  der  Gedanke,  daß  damals 
»Gestank  etwas  Natürliches  war«,  von  selbst  Es  ist  aber  leicht 
möglich,  daß  nicht  so  sehr  Ibsen  für  die  naturalistische  Wendung 
des  Herrn  Reimers  verantwortlich  zu  machen  ist  als  die  Auf- 
munterung durch  den  alten  Baumeister,  der  dem  jüngeren  Kollegen 
öfter  Prost,  mein  Junge!  zugerufen  haben  soll,  worauf  dieser  sich 
vornahm,  »nachzukommen«.  Aus  solchen,  durch  die  Theater- 
plauderer verbreiteten  Erzählungen  entstand  nun  die  Vorstellung 
von  dem  prädestinierten  Nachfolger  Baumeisters,  und  um  diese 
nicht  zu  enttäuschen,  entschloß  sich  Herr  Reimers,  hin  und  wieder 
auf  der  Bühne  leise  und  fließend  zu  sprechen  und  sogar  Sätze 
ganz  fallen  zu  lassen.  Einen  aber  hat  er  jetzt  gebracht,  indem  er 
nämlich  mit  anspruchslosester  Natürlichkeit  in  die  Zeitung 
schrieb:  »Ich  höre  vielfach,  daß  man  mich  für  den  prä- 
destinierten Nachfolger  Baumeisters  hält.  .Möglich.«  Und  da  es 
nun  außer  Zweifel  ist,  daß  Herrn  Reimers  das  Herz  auf  der  Zunge 
liegt  und  daß  er  bald  »biderb«  sein  wird,  kam  ihm  auch  ein 
Interviewer  ins  Haus,  der  endlich  herauskriegen  wollte,  wie  Herr 
Reimers  das  denn  eigentlich  mache,  daß  er  es  immer  zuwege 
bringe,  so  gesund,  so  natürlich,  so  geradezu  zit  sein.  Und  Reimers 
antwortete  nicht  anders,  als  man  erwartet  hatte:  »Es  ist  weiter 
nichts  dabei,  daß  ich  so  bin,  daß  ich  nirgends  und  vor  niemandem 
mit  dem  zurückhalte,  was  ich  denke,  es  ist  gar  kein  Verdienst  bei 
meiner  Offenheit  —  ich  fürchte  mich  nicht  und  vor  keinem 
Menschen,  weil  meine  Natur  so  ist,  das  ist  alles.«  Und  er  würde 
sich,  »wie  er  lachend  sagt,  wenn's  ginge,  am  liebsten  auch  von 
schwarzem  Brot  und  Speck  nähren.  Sein  gewöhnliches  Nachtmahl 
besteht  auch  »irklich  aus  Schwarzbrot  mit  Butter  und  einigen 
Schnitten  Wurst,  auf  warme  Nachtmähler  ist  er  nicht  eingerichtet«. 
Welche  Schlichtheit!  Das  schreit  Ja  förmlich  nach  dem  Götz 
und  Erbförster :  >Was  natürlich  nicht  ausschließt,  daß  er  es 
auch  mit  dem  alleranspruchsvollsten  ,warmen'  Souper  als  wackerer 
Kumpan  tapfer  aufnimmt  —  vorausgesetzt,  daß  es  kein  ,trockenes' 
Souper  ist«    Welcher  Humor!   Falstaff!   Na  denn,  Kinder,  wollen 


—  28  — 


wir  doch  nicht  so  trocken  da  sitzen,  Prost  Doktorchen !  .  . . 
Durch  acht  Tage  klang  jetzt  in  Wien  "das  Lied  vom  braven  Mann. 
Das  ist  er  wahrscheinlich,  wenngleich  es  uns  nichts  angeht  und 
Herr  Reimers  sichs  verbitten  müßte,  daß  ihm  Presse  und  Publikum 
es  bestätigen.  Ich  würde  es  nämlich  ertragen,  daß  ein  Schauspieler 
ein  Fallot  wäre,  wenn  er  sich  nur  verpflichtet,  anständig  zu  spielen. 
Er  kann  sich  aushalten  lassen,  er  kann  lügen,  ja  meinetwegen 
können  uns  von  ihm  sogar  die  genossenschaftlichen  Bestrebungen 
des  Herrn  Nissen  gestohlen  werden.  Auf  das  Soziale  wird 
gepfiffen.  Herr  Reimers  nun  bekam  unter  anderm  vom  Vize- 
gouverneur der  Bodenkreditanstalt  eine  Sophokles-Büste  und 
von  einem  anderen  Verehrer  Verse  von  Paul  Wilhelm.  Aber 
es  wäre  für  alle  Teile  besser,  er  hätte,  zuverlässig  wie  er  ist, 
fünfundzwanzig  Jahre  lang  die  Bodenkreditanstalt  geleitet,  Verse 
von  Sophokles  erhalten  und  eine  Paul  Wilhelm-Büste.  Man  muß 
kein  Bewunderer  des  armen  Kainz  sein,  um  zu  fühlen,  welcher 
Entgeistigung  jetzt  das  arme  Burgtheater  entgegengeht. 


Zusammenhänge 

Der  Earl  von  Rosebery  ist  nach  Wien  gekommen,  und 
Ehrlich  606  hat  auf  die  Gehirnerweichung  keinen  Einfluß  .  .  .  : 
das  könnte  der  Anfang  eines  jener  Leitartikel  sein,  in  denen  eine 
börsenspielerische  Phantasie  zwischen  den  heterogensten  Dingen 
in  immer  auffälligerer  Weise  die  Brücke  schlägt.  Geradezu  er- 
schreckend zeigt  es  sich  an  dem  Eindruck,  den  die  Mis- 
sion des  Lord  Rosebery  in  diesem  unruhvollen  Gemütsleben 
hinterlassen  hat.  Das  aufregende  Erlebnis,  daß  Rosebery  eine 
Rothschild  geheiratet  hat,  wirkt  noch  immer  nach  und  findet 
seinen  Niederschlag  in  einer  sprunghaften  Lebensbejahung,  die 
sich  in  dem  Jauchzer  Luft  zu  machen  scheint:  »Seid  umschlungen, 
Millionen,  diesen  Stuß  der  ganzen  Welt!«  Seit  dem  Anfall,  in 
welchem  das  Wort  entstand:  »Der  Zinsfuß  ist  mit  uns,  so  rufen 
wir  mit  Gottfried  von  Bouillon !<,  ist  nichts  so  Auffälliges  be- 
obachtet worden  wie  der  Hymnus  zur  Begrüßung  des  Lord  Rose- 
bery. Seine  Gattin  war  eine  vortreffliche  Frau.  »Er  hat  sie 
kennen  gelernt,  als  sein  Wagen  mit  dem  ihren  zusammenstieß .... 
Sie  hatte  ebenfalls  das  moderne  sozialpolitische  Gewissen  und  ver- 


—  29  — 


stand  es,  eine  gute  Kameradin  auf  den  gemeinschaftlichen  Reisen 
um  die  Erde  zu  sein  .  .  .  Der  Tod  hat  sie  ihm  genommen,  und 
Lord  Rosebery  ist  seither  einsam  geworden  und  hat  einen  Hang 
zur  Ruhelosigkeit,  der  auch  mit  seinem  gestörten  Schlafe  zusam- 
menhängen mag.«  Solche  Art,  an  Anderen  psychische  Diagnosen 
zu  stellen,  ist  so  wenig  selten  wie  das  blitzartige  Erfassen  von 
Zusammenhängen.  Völlige  Klarheit  bringt  der  Schluß  der  Be- 
trachtung: 

Schon  lange  sucht  er  den  Weg  zum  Volke,  neben  und  jenseits 
der  Parteien.  Lord  Rosebery  ist  gewiß  einer  der  interessantesten  Men- 
schen, und  geistige  Beziehungen  zu  Wien  hat  er  stets  gehabt.  Der 
jüngere  Pitt,  den  er  bewundert  und  dessen  Biographie  zu  seinen 
literarischen  Erstlingswerken  gehört,  ist  aus  Kränkung  über  die  Nach- 
richt von  der  Schlacht  bei  Austerlitz  gestorben.  Der  Sohn  Napoleons, 
dessen  Aufenthalt  in  Sankt  Helena  Lord  Roseber>'  geschildert  hat, 
wurde  in  der  Kapuzinergnift  begraben.  Soeben  haben  die  unschätzbaren 
Denkwürdigkeiten  der  Baronin  Sturmfeder,  der  Erzieherin  des  Kaisers, 
gerade  über  die  letzten  Stunden  des  Herzogs  von  Reichstadt  und  über 
dessen  V'erhältnis  zum  Hofe  wichtige  Aufklärungen  mitgeteilt,  die  von 
der  Geschichtsforschung  nicht  übersehen  werden  dürfen.  Lord  Rosebery 
wird  in  Wien  als  sehr  willkommener  Gast  aufgenommen  werden.  König 
Georg  hätte  keinen  würdigeren  Vertreter  schicken  können. 

Es  ist  kein  Wunder,  daß  die  Umgebung  eines  so  atemlosen 
Temperaments  seine  geistige  Gangart  mit  der  Zeit  annimmt,  und 
daß  zum  Beispiel  ein  Mann,  der  die  nüchterne  Aufgabe  über- 
nommen hat,  zum  neunzigsten  Geburtstag  eines  Gummifabrikanten 
eine  Notiz  zu  liefern,  in  die  Worte  ausbricht:  »Ein  Fest,  wie  es  bisher 
wohl  noch  keinem  Fachmanne  der  Gummi-Industrie  beschieden  ge- 
wesen ist,  konnte  am  16.  August  Herr  Ludwig  Edler  v.  Reithoffer 
begehen,  der  an  diesem  Tage  das  neunzigste  Lebensjahr  vollendete«. 
So  interessant  nun  eine  Untersuchung  wäre,  weshalb  die  Fachmänner 
der  Gummi-Industrie,  deren  lebensfeindliche  Tätigkeit  sich  ja 
nicht  auf  ihre  eigene  Person  erstreckt  und  vor  allem  in  ein  viel 
früheres  Stadium  der  Entwicklung  einzugreifen  pflegt,  fast  nie 
das  neunzigste  Jahr  erreichen,  so  muß  es  sich  doch  die  Wissenschaft 
versagen,  sich  in  diesem  Fall  einer  journalistischen  Zumutung  anzu- 
strengen. Dagegen  tun  die  Ärzte  bereitwillig  etwas  anderes.  Der 
Vertreter  lokaler  Interessen  aus  der  Umgebung  jenes  publizistischen 
Exaltados behauptet  nämlich:  »Die  Ärzte  sprechen  von  dem  Gesetze 
der  Duplizität  der  FäWt,  wenn  seltene  Kraiikheitssyraptome  oder 
unglückliche  Ereignisse  bei  Operationen  in  rascher  Folge  eintreten. 

•307-306 


30 


Die  Brandkatastrophen  in  Brüssel,  am  Karersee,  in  Gossensaß 
entsprechen  dem  Erfahrungssatze,  daß  Katastrophen  sich  häufig 
^x'iederholen«.  Nun  ist  es  allerdings  richtig,  ^aß  bei  Operationen 
oft  ein  Malheur  geschieht  und  daß  eine  Epidemie  in  der  Regel 
nicht  nur  eine  Duplizität  der  Fälle  bedeutet  wie  zum  Beispiel  die 
Cholera  in  Berlin,  sondern  sogar  eine  Multiplizität,  wie  zum 
Beispiel  die  Cholera  in  Wien,  aber  mit  jenem  Erfahrungssatz 
haben  speziell  nur  solche  Ärzte  zu  tun,  die  sich  mit  Geisteskrank- 
heiten befassen  und  die  leider  der  Ansicht  sind,  daß  trotz  der  Ankunft 
des  Lord  Rosebery  und  trotz  der  offenbaren  Duplizität  der  Fälle 
bei  progressiver  Publizistik  Ehrlich  606  nicht  anwendbar  sei. 


Ein  Interview 

».  .  .  fragte  mich  lächelnd:  ,Soll  das  ein  Interview  sein?  Ich 
bin  63  Jahre  alt  geworden  und  habe  noch  nie  ein  Interview  gegeben.' 
Dann  begann  das  Gespräch  mit  einem  bedauernden  Hinweise  auf  das 
schlechte  Wetter  .  .  .  ,Ich  habe  es  wohltätig  empfunden,  daß  Wien  auf 
dem  Gebiete  des  Automobilwesens  noch  beiweitem  nicht  solche  Fort- 
schritte gemacht  hat,  wie  London  oder  Paris  .  .  .  Diese  Stadt  ist  mir 
sehr  sympathisch  ...  Ich  habe  es  stets  vermieden,  im  Gespräche  mit 
Mitgliedern  der  Presse  politische  Fragen  zu  berühren  ...  Sie  haben 
ganz  recht,  wenn  Sie  mich  einen  Freund  Österreich-Ungarns  nennen. 
Dies  ist  entschieden  richtig  .  .  .  Denken  Sie  an  die  Erledigung  der 
Delagoabai-Kontroversen  .  .  .'« 

Titel:  >Ein  Gespräch  mit  dem  Earl  of  Rosebery,  dem  Chef 
der  englischen  Spezialmission.« 


Erinnerungen 

Wiewohl  sich  der  Freiherr  v.  Cz.,  Sektionschef,  Mitglied 
des  Herrenhauses  und  Geheimer  Rat  > überhaupt  in  seinen  Mit- 
teilungen die  gebotene  Reserve  auferlegen  muß«,  teilt  er  doch 
sehr  interessante  Dinge  mit.  Zum  Beispiel:  »Infolge  einer  Ver- 
spätung der  Südbahn  kam  jedoch  der  Erzherzog  .  .  .«  Man  wußte 
nicht,  daß  schon  damals  die  Südbahn  .  .  .  Aber  noch  pikanter  ist 
das  Folgende :  »Von  einer  Eisenbahnfahrt  zu  seinem  Wagen  kom- 
mend, habe  ich  einmal  den  Kaiser  dem  Leibkutscher  ,Guten  Mor- 


—  31  — 


gen!'  zurufen  und  den  Kutscher  darauf  antworten  gehört:  , Outen 
Morgen,  Eure  Majestätl'« ...  In  durchaus  zutreffender  Weise  beginnt 
dagegen  ein  anderer,  der  Erinnerungen  an  den  Maler  Canon 
erzählen  will,  mit  dem  Seufzer:  »Daß  er  nicht  die  Jagdausstcllung 
erleben  konnte . . . !« 


Meine  Haut 

Ich  habe  m  der  Redaktion  des  Extrablatts  einen  Freund,  der 
mit  mir  in  seinen  schlimmen  Zeiten,  wenn  Not  an  Einfällen  ist,  alles 
teilt.  Der  Mann  war  früher  Juwelier  und  hat  sich  entschlos- 
sen, seinen  Beruf  zu  wechseln,  weil  man  in  der  Literatur  die  guten 
Sachen  billiger  bekommt.  Wäre  ich  ehedem  in  seinen  Laden 
getreten  und  hätte  ich  meinen  Ring  von  ihm  taxieren  lassen  — 
ich  habe  heute  keinen,  wiewohl  mir  ihn  kein  Journalist  gezogen 
hat  — ,  er  hätte  mich  vielleicht  beneidet  aber  er  hätte  ihn  ohne 
meine  ausdrückliche  Zustimmung  nicht  zurückbehalten  können. 
"Bei  materiellen  Gütern  gehören  nämlich  immer  zwei  dazu, 
wenn  der  eine  etwas  haben  will,  was  der  andere  hat.  Bei  geistigen 
Eigentümern  genügt  in  solchem  Falle  der  eine,  der  haben  will. 
Behält  der  Juwelier  den  Ring  zurück,  ohne  den  Besitzer  zu  fragen,  so 
verfällt  er  nicht  nur  der  Strafe,  sondern  auch  der  bürgerlichen  Ächtung, 
ja  er  begibt  sich  sogar  dann  in  eine  Gefahr,  wenn  er  einen  gestohlenen 
Wertgegenstand  durch  ehrlichen  Kauf  an  sich  bringt.  Der  Juwelier 
muß  also  besonders  vorsichtig  sein.  Solch  undankbarer  Beruf  aber 
muß  einem  Mann,  der  in  sich  schon  das  Zeug  zum  Journalisten 
fühlt,  nicht  behagen,  das  kann  man  ohneweiters  glauben.  Zumindest 
ist  es  viel  leichter,  die  Brillanten,  die  man  früher  kaufen  und 
verkaufen  mußte,  zu  schreiben,  und  femer  macht  es  im  jour- 
nalistischen Beruf  nicht  das  geringste  aus,  wenn  man  sie  nicht 
schreibt,  sondern  findet.  Und  es  ist  dann  oft  sogar  für  den  Verlierer 
kompromittierender  als  für  den  Finder,  wenn  sich  die  Wertsache 
in  der  Fassung  des  Extrablatts  präsentieren  kann.  Aber  mein  Gott, 
was  ist  heutzutage  nicht  alles  möglich.  Die  Raubmörder,  die  der 
ewigen  Erörterung  ihrer  Berufsfragen  satt  sind,  vertragen  es, 
wenigstens  die  jüngere  Generation,  ganz  gut,  wenn  hin  und  wieder 
ein  Aphorismus  über  Sprache  eingeflochten  wird.  Und  ich  wiederum, 
den    das    Extrablatt    seit  Jahren    unterdrückt,    kann    mich    nicht 


32 


beklagen,  wenn  es  heute  zwar  noch  keine  Notiz,  aber  dafür  einen 
Aphorismus  von  mir  nimmt,  mag  ein  solcher  auch  die  Quintessenz 
dessen  enthalten,  was  aus  und  von  der  Sprache  gedacht  werden  kann, 
also  auf  einem  Gebiete  liegt,  das  der  Redaktion  des  Extra- 
blattes eigentlich  fernliegt.  Mich  totschweigen,  aber  meine  Worte 
schätzen  und  die  nehmen,  die  von  der  Sprache  handeln,  das  ist 
immerhin  schon  ein  Fortschritt  auf  dem  Wege,  den  ich  seit  Jahren 
gehe,  um  endlich  ins  Extrablatt  zu  kommen.  Mit  der  Neuen  Freien 
Presse  —  deren  ablehnende  Haltung  ist  ja,  so  behauptet  ein  gut 
informierter  Theosoph,  der  Eckstein  meiner  Entwicklung  —  wirds  auf 
absehbare  Zeit  hinaus  ja  doch  nichts.  Man  wird  alt,  und  darum 
habe  ich  mich  einmal  gefreut,  daß  mir  wenigstens  nach  dem  Tode 
Ludwig  Hevesis  eine  Anerkennung  zuteil  wurde.  Jenerjuwelier  nahm 
damals  meinen  Gedanken  über  die  Sprache,  die  mich  beherrscht, 
zu  sich  und  zeigte  ihn  den  Lesern  des  Extrablatts,  die  sich  an 
den  Kopf  griffen,  während  ich  mir  an  die  Tasche  griff. 
Kleinlich,  wie  ich  bin,  hielt  ich  es  für  erheblicher,  daß  mir 
vier  Worte  abhanden  gekommen  waren,  als  wenn  man 
dem  Extrablatt  vier  Jahrgänge  davongetragen  hätte.  Immerhin,, 
was  kann  mir  geschehen,  dachte  ich,  solange  man  mir  meine  Haut 
noch  läßt!  Die  Sprache  nämlich  ist  die  Haut  meiner  Gedanken, 
nicht  ihr  Kleid,  hatte  ich  einmal  geschrieben.  Wie  lange  werde  ich 
warten  müssen,  bis  das  Extrablatt  auch  diese  Erkenntnis  anerkennt? 
Aber  da  wird  die  Ebner-Eschenbach  achtzig  Jahre  alt,  und  ich 
fühle,  meine  Stunde  ist  gekommen.  Meine  Gedanken  werden  zum 
Gemeingut,  ja  sie  gehen  sogar  in  das  Extrablatt  über.  Was  sehe 
ich?  Ein  Bild  der  Jubilarin.  Nun,  das  ist  im  Extrablatt  weiter  nicht 
auffallend,  in  einer  Zeitung,  für  die  die  Welt  schließlich  nicht  nur 
aus  Raubmördern,  sondern  auch  aus  goldenen  Hochzeitern  besteht 
(16  karatig,  wie  der  neue  Mitarbeiter  versichert).  Also  ein  Bild;  aber 
darunter  auch  ein  Text.  Ich  sehe  nicht,  von  wem  er  geschrieben 
ist,  aber  ich  bin  ein  stilistischer  Schätzmeister  und  ich  erkenne  die 
Kunden  des  geistigen  Wien  an  den  Wertsachen,  die  sie  nehmen, 
ich  erkenne  den  Stil  eines  Autors  an  jedem  Satz,  der  nicht 
von  ihm  ist.  Die  Polizei  ist  mit  dem  Extrablatt  befreundet, 
aber  sie  könnte  mich  besser  brauchen,  wiewohl  ich  ihr  keine  Re- 
klame mache.  Ich  sehe  ein  Bild  im  Extrablatt,  und  ich  agnosziere 
trotzdem  sofort  die  Ebner-Eschenbach,  ich  lese  einen  Text  und  ich 
finde  einen  Satz  darin,  der  lautet:    »Das  Wort  ist  nicht  das  Kleid 


—  33  — 

des  Gedankens  bei  ihr,  es  ist  seine  Haut«.  Meine  Haut!  Ich  wehre 
mich  meiner  Haut.  Wenn  der  Herr  Schmuck  haben  will,  er  halte 
sich  an  die  Feuilletonisten! 


Zehntausend  pietätvolle  Besucher 

>Herr  Dr.  J.  Goldenstein  schreibt  uns  aus  Jassy:  Sehr  geehrte 
Redaktion!  Als  langjähriger  Abonnent  erlaube  ich  mir  anläßlich  Ihres 
Artikels  ,Ein  Besuch  an  Heines  Grab'  und  der  darauf  bezüglichen  Zu- 
schriften mitzuteikn,  daß  ich  im  Jahre  1899  in  Paris  Heines  Grab 
besucht  habe  und  zu  den  vielen  Visitkarten  auch  die  meinige  .  .  .« 

Genug!  Wir  glauben.  Aber  diesem  Heine  rühmt  ja  die 
Gemeinde  nach,  daß  er  noch  den  Tod  mit  einem  Witz  empfan- 
gen habe.  Warum  rief  er  jetzt  nicht,  ein-  für  allemal :  Goldenstein, 
sagen  Sie's  auch  den  andern,  ich  lass'  mich  verleugnen! 


Nun  also 

«Geheimrat  Ehrlich  erklärt,  daß  die  Zahlungsfähigkeit  des 
Patienten  nicht  darüber  entscheide,  ob  er  mit  dem  neuen  Mittel 
zu  behandeln  sei.  Das  hänge  lediglich  von  den  Ärzten  und  ihrem 
Urteile  ab.< 


Der  Deutlichkeit  halber 

In  Berlin,  unter  den  Linden,  ist  das  Schaufenster  eines 
Hofphotographen. .  Dort  ist  einer  mit  einem  Pinsel  in  der 
Hand  photographiert:  aha  ein  Maler!  Dann  ist  einer  mit  einer 
Zigarette  in  der  Hand  photographiert:  aha  ein  Raucher!  Dann  ist 
einer,  der  gar  nichts  in  der  Hand  hat,  photographiert:  aha  ein 
Nordpolentdecker!  Und  dann  ist  noch  Herr  Harden  mit  einer 
Feder  in  der  Hand  photographiert:  aha  ein  Schriftsteller! 


—  34  — 


Die  Einteilung 

Deutschland  ist  aufgebracht.  Rektor  Bock  in  Berlin  hatte 
Gelegenheit,  kleine  Mädchen  .  .  .  Einer  unserer  Mitarbeiter  hatte 
Gelegenheit,  darüber  einen  Stadtschulrat .  .  .  >  Berlin  ist  in  drei- 
zehn Stadtschulkreise  eingeteilt  .  .  .«,  begann  der  Stadtschulrat. 
Aha,  da  kann  allerhand  vorkommen,  dachte  der  Mitarbeiter.  Qallia 
est  omnis  divisa  in  partes  tres,  dachte  der  Stadtschulrat.  Gewiß, 
und  was  ist  da  nicht  schon  alles  passiert! 


Das  Wiener  Leben  ein  Traum 

».  .  .  Mit  rasender  Eile  durchfuhren  die  Automobile  der 
Feuerwehr  den  von  einer  dichten  Menschenmenge  bevölkerten 
Praterstern  und  bogen  dann  in  die  Ausstellungsstraße  ein . .  .  Die 
Ausstellungsstraße  kam  hintereinander  eine  Reihe  von  Einspännern 
herunter,  die  eine  Protestversammlung  gegen  die  Einführung  des 
Taxameters  veranstaltet  hatten  .  .  .  Die  ungeheure  Menschenmenge, 
die  anläßlich  des  Kaiserfestes  in  den  Prater  pilgerte,  sowie  Auto- 
mobile und  Einspänner  bildeten  einen  dichten  Knäuel .  .  .  alles 
raste  in  wilder  Eile  auseinander  .  . .  man  sah  auf  dem  Boden  einen 
Sicherheitswachmann  und  einen  Mann  in  Straßenbahneruniform 
liegen  . .  .  Die  Freiwillige  Rettungsgesellschaft  mit  dem  kaiser- 
lichen Rat  Dr.  Charas  an  der  Spitze  .  .  .  Den  Verletzten  wurde 
erste  Hilfe  geleistet  ...  lag  in  den  letzten  Zügen  ...  der 
30jährige  Johann  Letz  .  .  .  schweren  Nervenchok,  einen 
Bruch  des  Beckens  und  eine  Zerreißung  des  Mittel fleisches 
erlitten  .  .  .  Nachträglich  wird  uns  eine  Darstellung  .  .  .  stand 
der  Wachmann  Letz  und  regelte  den  Verkehr .  .  .  wollte  aus- 
weichen, wurde  jedoch  vom  rechten  Vorderrad  des  Automobils 
erfaßt  und  kam  unter  das  linke  Hinterrad  zu  liegen  ...  riß  der 
Chauffeur  das  Automobil  scharf  nach  rechts  .  .  .  Mit  dem  Körper 
des  Wachmannes  fuhr  das  Automobil  auf  die  Anlagen  zu  und 
faßte  dort  den  Motorführer  Liebenstein,  der  flüchten  wollte  .  .  . 
drückte  einen  Einspännerwagen,  der  dort  stand,  an  die  Bäume 
der  Allee  über  das  Anlagegitter  .  .  .  Rißquetschwunde  am  Ober- 
schenkel, Quetschung  der  rechten  Wade,  zahlreiche  Hautab- 
schürfungen und  eine  Zerrung  im  Sprunggelenk  erlitten  .  .  .  Dies- 


—  35  — 

bezüglich  sind  Erhebungen  im  Zuge  ...  der  Wachmann  hatte 
das  Automobil  nicht  kommen  sehen  oder  auf  der  andern  Seite  der 
Straße  etwas  Auffälliges  bemerkt  (vielleicht  eine  Prostituierte,  die 
nicht  befugt  war.  Anm.  des  Träumers)  .  . .  Einer  unserer  Mit- 
arbeiter hatte  Gelegenheit,  mit  dem  Einspännerkutscher  Fiby  . . . : 
»Es  war  g'rad,  wie  die  meisten  von  uns  von  der  Versammlung 
zurückg'fahren  sind  ...  Ich  war  schon  am  End'  der  Ausstellungs- 
straße mit  meinem  Zeug,  als  ein  Feuerwehrautomobil  f  ü  r  i- 
schiaßt...   Ich  mach'  vom  Bock  zwei  Purzelbäum'  .  .  .« 


Das  Erlebnis  des  Kritikers 

Von  Samuel  Lublinski 

Aus  Gründen  einer  nicht  gerade  behaglichen  Doppel- 
stellung kann  ich  mich  für  besonders  kompetent  halten, 
in  dem  immer  neu  ausbrechenden  Streit  über  das 
Wesen  der  Kritik  das  Wort  zu  ergreifen.  Man  tut  mir 
die  Ehre  an  (wenn  es  eine  Ehre  ist),  mich  mit  Er- 
bitterung oder  Neigung  vorzugsweise  als  Kritiker  zu 
betrachten,  während  sich  nicht  allzu  viele  um  den 
Dichter  und  Dramatiker  bekümmern.  Immerhin  habe 
ich  auch  in  dieser  Beziehung  genug  Erfahrungen 
gesammelt,  um  den  Haß  der  Schaffenden  oder  solcher, 
die  sich  dafür  halten,  gegen  eine  plump  anmaßliche 
und  plump  unsachliche  Kritik,  die  vor  allem 
»funkeine  will,  gründlich  nachzufühlen.  Vielleicht 
gibt  diese  Doppelerkenntnis  einmal  Anlaß,  über  das 
Verhältnis  von  Kritik  und  Produktion  einige  allge- 
meinere Tatsachen  zu  fixieren.  Heute  möchte  ich  nur 
ein  Schlagwort  herausgreifen,  das  von  einer  gewissen 
seltsamen  Sorte  gekränkter  Autoren,  zumal  von  miß- 
ratenen Lyrikern,  mit  einem  verdächtigen  Übereifer 
verwertet  wird.  Der  Kritiker  soll  nach  den  pythischen 
Orakelsprüchen  dieser  Verärgerten  angeblich  nicht  im 
Stande  sein,  das  Kunstwerk  zu  erleben,  sondern  er 
vermag  es  höchstens  nach  einem  schematischen  Dogma 
oberflächlich  abzutun.  Dieser  Trost,  den  sich  alte  und 
junge  »Schaffende«  ausgedacht  haben,  beweist  nur, 
daß        die    Herren     selber     sehr     dogmatische  Vor- 


36  — 


Stellungen  von  ihrer  Gegnerin    haben     und  von    den 
Notwendigkeiten  der  Kritik  nicht  allzu  viel  wissen. 

In  Wirklichkeit  will  der  Kritiker  erleben,  um  zu 
erkennen.  Wo  man  mit  bloßer  Verstandeserkenntnis 
längst  nicht  mehr  hingelangt,  gerade  dort  vermag  er 
schlechterdings  nicht  zu  entsagen,  sondern  möchte 
dieses  unbekannte  Land  durchaus  durchwandern, 
durchaus  ergründen  und  den  Reichen  seiner  Er- 
kenntnisse einverleiben.  Eine  Persönlichkeit  ringsher 
zu  umschreiten,  bis  sie  alle  ihre  Konturen  aufweist, 
und  dem  Rhythmus  ihres  Herzschlages  zu  lauschen,  bis 
sich  der  volle  Umfang  ihrer  »Psychologie«  offenbart: 
darauf  vor  allem  richtet  sich  diese  brennende  und 
manchmal  wirklich  schon  ehrfurchtslose  Neugierde  des 
geborenen  Kritikers.  Um  aber  sein  Ziel  zu  erreichen, 
muß  er  doch  wieder  voller  Ehrfurcht  in  einer  fremden 
Persönlichkeit,  und  wäre  es  auch  eine  geringere  als 
er  selber,  auf-  und  untergehen,  so  gut  wie  ein  Schau- 
spieler in  seine  Masken  schlüpft  oder  der  Dramatiker 
in  seine  Haupt-  und  Nebenfiguren.  Sagen  wir  rund 
heraus,  daß  sich  der  erste  Akt  der  kritischen  Produktion 
von  dem  der  künstlerischen  nicht  unterscheidet.  Der 
Kritiker  erlebt  seine  Gestalten  ganz  wie  sie  der  Dichter 
erlebt,  und  es  geht  in  dem  einen  wie  anderen  Fall 
die  völlig  gleiche  innere  Erregung  der  produktiven 
Konzeption  voraus.  Der  Unterschied  setzt  erst  im  fünften 
Akt  ein,  wenn  es  die  Summe  zu  ziehen  gilt.  Das  Er- 
lebnis des  Dichters  verwandelt  sich  in  Gestaltung  und 
das  des  Kritikers  in  Analyse,  in  Erkenntnis  und  Formu- 
lierung. Hat  der  Kritiker  sein  Gegenüber  so  gründlich, 
so  intensiv  und  intuitiv  erlebt,  als  es  ihm  nur  immer 
beschieden  ist,  dann  will  er  es  keineswegs  mit  gleicher 
Rundheit  und  Plastik  hinstellen  wie  der  Dichter, 
sondern  es  vor  allem  auf  die  verkürzende  Chiffre 
bringen.  Auf  eine  Chiffre,  die  den  anderen  allen,  den 
noch  nicht  Eingeweihten,  einen  ersten  Wink  gibt,  ihm 
selber  aber  den  gleichen  Dienst  leistet  wie  etwa  dem 
Naturwissenschaftler  irgend  eine  botanische  oder 
chemische  Formel,    hinter   der  er    die  wogende  Fülle 


37  — 


der  organischen  Gestaltung  ahnt.  Ganz  gewiß  können 
solche  Formeln  einen  naiven  Instinktmenschen  manch- 
mal wie  starrende  Larven  und  Gespenster  anmuten, 
und  auch  dem  Kritiker  mag  es  widerfahren,  daß  er 
selbst  nach  Jahren  oder  nach  Jahrzehnten  nicht  mehr 
so  genau  weiß,  was  hinter  dieser  Chiffre  steht,  weil 
der  Leitungsdraht  zwischen  Erlebnis  und  Erkenntnis 
inzwischen  zerrissen  ist.  Trotzdem  hat  man  eine  Be- 
rechtigung zu  dem  Verdacht,  daß  der  leidenschaft- 
lichste Haß  gegen  die  verkürzende  Feststellung  des 
Kritikers  von  jenen  Stumpfsinnigen  herrührt,  über  die 
noch  niemals  die  Fluten  der  Erscheinungen  zusammen- 
schlugen und  die  darum  auch  niemals  ein  Bedürfnis 
nach  einordnender  Konzentration  empfunden  haben 
oder  empfinden  werden.  Einen  Vorwurf  aus  solchem 
Munde  über  angebliche  Erlebnisunfähigheit  kann  jeder 
wirkliche  Kritiker  mit  gleichgültiger  Lässigkeit  entgegen- 
nehmen. Seine  schlimmeren  und  gefährlicheren  Gegner 
sind  dagegen  die  »verehrenden«  Naturen,  in  denen 
eine  hohe  menschliche  Tugend  zu  widerwärtiger  Ver- 
zerrung entartet  ist.  Damit  wird  aber  bereits  das  Wert- 
urteil des  Kritikers  berührt,  zu  dem  er  sich  unver- 
meidlicher Weise  gegenüber  jeder  dichterischen 
Erscheinung  genötigt  sieht,  da  von  einem  gewissen 
Punkt  ab  die  reine  Erkenntnis  aufhört  und  Haß  und 
Liebe  ihr  verwirrendes  und  wunderlich  fatalistisches 
Spiel  beginnen. 

Eine  Persönlichkeit  von  Grund  aus  kennen,  heißt 
zugleich  ihre  Schranken  kennen,  jene  Absonderung, 
die  ihr  ein  für  allemal  ein  Verständnis  für  Dinge  und 
Verhältnisse  versagt,  zu  denen  anders  geartete  Naturen 
vielleicht  Zugang  haben.  Natüdich  liegt  hier  nicht  nur 
eine  Schwäche  vor,  sondern  auch  eine  Stärke,  meistens 
sogar  eine  Stärke,  jene  fruchtbare  Einseitigkeit,  ohne 
die  noch  nie  und  nirgends  etwas  wahrhaft  Lebendiges 
geschaffen  wurde.  Es  wäre  ungeheuerlich,  wenn  man 
an  Goethes  und  Shakespeares  Schranken  herummäkeln 
wollte,  solange  man  an  Goethes  und  Shakespeares 
Größe  nicht  zweifelt,  weil  man  dann  aus  einer  sonnen- 


38 


beschienenen  Landschaft  jene  vertiefenden  Wolken- 
schatten hinwegwünscht,  die  das  durchbrechende  Licht  in 
noch  glühenderen  Strahlen  aufschimmern  lassen.  Doch 
die  subjektive  Stimmung  spielt  bei  einer  solchen 
Betrachtungsweise  fast  die  Hauptrolle,  Sie  überwiegt 
selbst  den  Genuß  der  ästhetischen  Werte,  und  wer 
etwa  Shakespeares  Vorbild  für  das  deutsche  Drama  als 
ein  Verhängnis  ansieht,  der  steht  anders  zu  den 
Schranken  dieses  Genies  als  der  bedingungslose 
Bewunderer.  So  kann  man  beispielsweise  bei  Paul  Ernst 
etwas  wie  Shakespearehaß  entdecken,  und  keiner  hat 
mit  solchem  Scharfblick  die  Schwächen  des  allgemein 
anerkannten  Dichterfürsten  herausgespürt.  Daraus  haben 
einige  kluge  Leute  schließen  wollen,  daß  er  für 
Shakespeare  »kein  Organ«  habe,  während  ich  aus 
persönlicher  Erfahrung  das  Gegenteil  genau  weiß.  Er 
hat  ihn  gründlich  gelesen  und  kennt  jede  dichterische 
Schönheit,  und  dennoch  überwiegt  das  Gefühl  für  die 
Grenze,  die  er  gerade  aus  seiner  genauen  Erkenntnis 
heraus  so  intensiv  empfindet.  Hier  entscheidet  das 
letzte  Menschliche,  der  Urgegensatz  der  Instinkte,  und 
noch  jeder  Kritiker,  der  diesen  Namen  verdient,  steht 
gegenüber  bedeutenden  oder  auch  nur  eigenartigen 
Persönlichkeiten  irgendwann  einmal  am  Scheideweg, 
wo  er  sich  für  Haß  oder  Liebe  zu  entscheiden 
hat.  Am  deutlichsten  ist  dieses  eigentümliche  Verhältnis 
gegenüber  Schiller  zu  ersehen,  dessen  Mängel  sich 
gar  zu  bald  dem  kritischen  Blick  selbst  des  Ober- 
flächlichen offenbaren.  Es  kommt  auch  heute  noch 
vor,  daß  man  diesen  Dichter  trotz  und  wegen  seiner 
Schwächen  inbrünstig  liebt,  weil  man  alle  seine  Einseitig- 
keiten nur  als  die  Schlagschatten  des  Lichtbildes 
empfindet.  Noch  häufiger  mag  es  freilich  geschehen, 
daß  sich  bei  anders  gearteten  Naturen  darüber  der 
Haß  entzündet,  wie  es  vor  hundert  Jahren  schon  bei 
den  Romantikern  der  Fall  war  und  in  jüngster  Zeit 
bei  Weininger,  dessen  Worte  voller  Schillerhaß  kürzlich 
erst  Karl  Kraus  in  der  Fackel  veröffentlicht  hat.  Ich 
teile  diesen  Standpunkt  nicht,  beklage  ihn  sogar,  und 


39  - 


würde  es  dennoch  als  absurd  empfinden,  wenn  ein 
begeisterter  typisclier  Oberlehrer  mit  der  Behauptung 
auftreten  wollte,  daß  Weininger  Schiller  nicht  »erlebt« 
habe.  Er  hat  ihn  ohne  Zweifel  tiefer  erlebt  als  jener 
Begeisterte,  weil  er  ihn  sonst  nicht  so  aus  der  Tiefe 
heraus  gehaßt  hätte. 

Aber  der  typische  Oberlehrer  und  Schillerverehrer 
aus  der  Provinz  beginnt  auszusterben  und  einem  noch 
viel  absonderlicheren  Geschlecht  kurioser  »Erleber« 
den  Platz  zu  räumen.  Schiller  ist  aus  der 
Mode  gekommen  und  ebenso  der  Schillerverehrer,  an 
dessen  Stelle  rudelweise  die  Bewunderer  der  modernen 
Dichtung  auf  dem  Plan  erscheinen.  Das  sind  Herren, 
denen  der  amüsierte  Beobachter  die  ergötzlichsten 
Erkenntnisse  zur  Psychologie  der  Verehrung  zu 
verdanken  hat.  Diese  ewig  Jugendlichen  möchten  um 
jeden  Preis  eine  Erhöhung  ihres  nicht  allzu  geschwellten 
Lebensgefühles  erreichen,  und  der  Dichter  ist  ihnen  nicht 
mehr  als  ein  Vorwand  zur  Betätigung  ihrer  ungestillten 
Pubertätsbedürfnisse.  Es  hängt  vom  Zufall  und  von  der 
Mode  ab,  ob  ein  solcher  Verehrer  an  Hauptmann  oder  an 
Sudermann  gerät,  an  Stefan  George  oder  gar  an 
Julius  Bab,  und  dieser  ehrlich  Verliebte  legt  nicht  den 
mindesten  Wert  darauf,  seinen  Dichter  wirklich  kennen 
zu  lernen.  Denn  da  mit  der  Erkenntnis  zugleich  auch 
die  Grenzlinie  gegeben  wäre,  so  müßte  der  verehrendeTropf 
freilich  verzweifeln.  Er  will  ja  gar  keine  Individualität 
erkennen,  sondern  vor  einem  Götzenbild  im  Staube 
liegen;  keine  klare  Erscheinung  ruhig  auf  sich 
wirken  lassen,  sondern  vor  einem  umrißlosen 
Riesengebilde  in  masochistischer  Wonne  erschauem. 
Natürlich  wäre  jeder  verloren,  der  von  solchen 
verzerrten  Käuzen  Auskunft  über  ihre  Lieblingsdichter 
erhalten  wollte.  Ein  Georgeaner  dieses  Schlages  würde 
höchstens  voll  stammelnder  Verzücktheit  das  Wort 
»Asphodeloswiese«  über  seine  zitternde  Lippe  schlüpfen 
lassen  oder  mit  sprachloser  Ehrfurcht  auf  einen 
Kaffeehausspiegel  hinweisen,  vor  dem  der  Dichter  vor 
langen  Jahren  einmal  saß;   —  mehr  wäre  aus  diesem 


—  40  — 


ausgehöhlten Ktirbisschädel gewiß  nicht  herauszupressen. 
Solche  Ergötzlichkeiten,  wenn  auch  nicht  immer  in 
so  krasser  Form,  erlebt  heute  jeder  Kritiker,  der 
mit  einem  Verehrer  zusammenprallt.  Von  dieser  Seite 
her  wird  zumeist  auch  der  Vorwurf  erhoben,  daß  der 
Kritiker  nicht  zu  »erleben«  verstehe,  und  es  läßt  sich 
nicht  leugen,  daß  das  kritische  Erlebnis,  das 
aus  tiefer  Erkenntnis  der  besonderen  Individualität 
entspringt,  gar  nichts  mit  den  sinnlosen  Verzückun- 
gen der  brünstig  Leeren  gemeinsam  hat.  Diese 
Leute  betrachten  mit  Recht  den  Kritiker  als  ihren  Tod- 
feind, weil  er  »in  liebloser  Weise«  ihre  sogenannten 
Ideale  zerstört  und  ihnen  ihre  Strohhütten  über  den 
Köpfen  anzündet.  Diesen  Gegensatz  hat  die  Natur 
geschaffen,  und  er  ist  darum  glücklicherweise  nicht 
zu  überbrücken. 

In  früheren  Zeiten  der  Literatur  haben  die  Ver- 
ehrer keine  besondere  Rolle  gespielt.  Jeder  wirkliche 
Dichter  empfand  eine  schier  physische  Abneigung 
gegen  diese  Sorte  zudringlicher  Bewunderer,  die  ihm, 
nach  einem  Ausdruck  Gotthold  Ephraim  Lessings, 
Weihrauchfässer  an  den  Kopf  warfen.  (Gotthold  Ephraim 
Lessing  ist  nicht  zu  verwechseln  mit  einem  gegen- 
wärtigen Theodor  Lessing  aus  Hannover,  der  einen 
»Lärmschutzverband«  begründet  hat,  also  einen  Verein 
zur  Beschützung  des  Lärmes,  weshalb  es  begreiflich 
erscheint,  daß  der  genannte  Herr  durch  literarische 
Lärmmacherei  eine  Aufmerksamkeit  erzwingen  will, 
die  einem  Hardenepigonen  nicht  zukommt.)  Es  war 
bisher  noch  immer  der  feinste  Triumph 
für  einen  wahrhaft  Großen,  einen  Kritiker,  der  seine 
Grenzen  durchschaute,  dennoch  zu  überwinden.  Auch 
heute  ist  dieses  Gefühl  im  Grunde  noch  nicht 
erloschen,  daß  man  vom  erbitterten  Gegner  besser 
verstanden  und  sogar  vielleicht  in  aller  Heimlich- 
keit mehr  geliebt  wird  als  von  einer  kreischenden 
Horde  geräuschvoller  Mitläufer.  Aber  man  läßt  dieses 
Gefühl  gegenwärtig  aus  besonderen  Gründen  nicht  in 
sich  aufkommen.    Keiner   der   heute  lebenden  Dichter 


t. 


—  41   — 


bedeutet  bereits  in   seiner  Gesamtheit   eine  Erfüllung; 
sondern  sie  sind  Hoffnungen,    die  zumeist  in  die  Zu- 
kunft weisen,  .vielleicht   in  ihre  eigene  Zukunft,    viel- 
leicht auch  erst  in  die  ihrer  Nachfolger.  Das  liegt  am 
Wesen  der  Übergangszeit  und  hat  auch  noch  manche 
andere  Gründe,  deren  Erörterung  zu  weit  führen  würde. 
Die  gleichen  psychologischen  Bedingungen  haben  dabei 
jeden  dieser  Poeten  irgendwie  zu  einem   kleinen  oder 
größeren  Nietzscheaner  gemacht,  der  in  seines  Ichs  ge- 
schwelltem Gefühl  bis  an  die  Sterne  zu  rühren  glaubt. 
Da   sind  freilich  nicht  nur   die  Autoren  daran  Schuld, 
sondern    auch    das   Publikum    und   das   Banausentum 
hochmütiger  Praktiker,    die   auf  geistige  Bestrebungen 
herablächelten  und  dadurch  einen  Gegendruck  hervor- 
riefen.   Gleichviel    aber,    jener   Hochmut   der   Dichter 
(nicht  zu  verwechseln  mit  ihrem  legitimen  Selbstbewußt- 
sein) mußte  es   peinlich   empfinden,    wenn   die  Kritik 
das  wirkliche  Maß  ihrer  Leistungen  feststellte  und  diese 
am  Zukunftsideal  der  Moderne  abschätzte.    In  solchen 
Momenten    sehnte    sich    die    verletzte    Eitelkeit    nach 
Selbsttäuschung  und  sofort  begann   der  Weizen   jener 
genugsam   gekennzeichneten  Verehrer  zu  blühen   und 
dieses  Unkraut  blüht   auch   noch    heute.   Naive  Leute 
haben  sich  darüber  gewundert,    wie   wenig  vorsichtig 
anerkannte  Dichter   unserer   Tage   in   der  Wahl   ihrer 
Freunde      zu      sein      pflegen,     da     sie    jeden      un- 
bedenklich   zulassen,    der    den   Eintrittssold    der  Be- 
wunderung   nicht     verweigert.     Diese    Zugelassenen 
finden   wohlwollende    Ermutigung   bei    ihren  Poeten, 
wenn  sie  das  Indianergeheul  gegen  die  verhaßte  Kritik 
anzustimmen  beginnen.  Warum  die  betreffenden  Herren 
hauptsächlich   das  Schlagwort  vom   »Erleben«    in   die 
Debatte  warfen,    wird  jedem   klar   sein,   der  sich  ein 
wenig  auf  ihre  Psychologie  versteht.   Keiner  hätte  auf 
diese  Gesellen  und  ihrJammergeschrei  auch  nur  hingehört, 
wenn  nicht  angesehene  Dichter  dahinterständen.    Nur 
so    konnte   der    Schlachtruf   gegen    die    Kritik    einen 
stärkeren  Widerhall  finden,    und  hier  gerade  darf  sich 
der  Kritiker,  der  über  seine  Erlebnisse  Bescheid  weiß,  mit 


42 


gutem  Gewissen  und  vor  allem  auch  im  Interesse  der 
Literatur  selbst  seiner  Haut  wehren.  Nur  eine  strenge 
und  ehrliche  Kritik  kann  verhindern,  daß  die  Moderne 
in  dieser  Übergangszeit  durch  Selbstüberschätzung  und 
durch  das  Verehrungsbedürfnis  der  Vielzuvielen  um 
ihre  Zukunft  betrogen  wird.  So  lange  dieser  Zustand 
noch  vorherrscht,  darf  man  sich  nicht  einmal  in  Er- 
örterungen über  wirkliche  Schäden  des  kritischen 
Berufes  einlassen,  zumal  auch  diese  erst  richtig  ab- 
geschätzt werden  können,  wenn  sich  weitere  Kreise 
über  Wesen  und  Natur  der  Kritik  klarer  geworden 
sind,  als  es  gegenwärtig  der  Fall  zu  sein  scheint. 


Desperanto 

Neuerlicher  Versuch  einer  Übersetzung  aus  Harden») 
Von  Karl  Kraus 

So  dornig  der  Pfad  auch  ist,  der  bildungshungrige 
Leser  zum  Verständnis  dieser  merkwürdigen  Sprache 
führt,  in  der  die  geheimsten  Zauber  von  Delphi  und 
Hundekehle  aufzuklingen  scheinen,  der  Übersetzer  hat 
es  sich  zur  Pflicht  gemacht,  nicht  zu  erlahmen,  son- 
dern die  Deutschen  durchaus  zu  jenem  Genuß  zu  er- 
ziehen, auf  den  sie  einen  Anspruch  haben:  daß  sie 
nämlich  verstehen,  was  sie  seit  achtzehn  Jahrgängen 
mit  lebhaftem  Interesse  lesen.  Und  ist  es  denn  nicht 
ein  unerträglicher  Zustand,  daß  einer  die  politischen 
Geschicke  Deutschlands  lenkt  und  die  politischen 
Geschicke  Deutschlands  ihm  aufs  Wort  parieren,  ohne 
zu  wissen,  was  das  Wort  bedeutet?  Ist  es  nicht  end- 
lich an  der  Zeit,  dem  anerkannt  ersten  Publizisten 
Deutschlands    zu    der    ihm    gebührenden  Stellung  zu 


*)  Zuerst  in  der  Halbmonatschrift  ,März'  erschienen. 


—  43 


verhelfen  ?  Indem  es  gelingen  mag,  seine  gedanltliche 
Leistung  losgelöst  von  allen  Eigentümlichkeiten  for- 
maler Natur  dem  Publikum  zu  bieten,  wird  auch  der 
gemeine  Mann  in  der  Lage  sein,  die  letzte  Entschei- 
dung über  die  sozialen  und  kulturellen  Probleme  der 
Epoche  zu  vernehmen,  während  dem  Feinschmecker 
wieder  die  esoterischen  Reize  einer  Sprache  offenbar 
werden  sollen,  die  niemand  spricht,  so  daß  er  sie  ge- 
nießen und  zugleich  in  angenehmer  Entfernung  erken- 
nen wird,  wie  schwer  das  Leben  ist.  Auch  diesmal 
aber  muß  der  Übersetzer,  der  sich  für  andere  plagt, 
Nachsicht  an  jenen  Stellen  erbitten,  wo  unüberwind- 
bare  Hindernisse  ihm  den  eindeutigen  Ausdruck  ver- 
wehrt oder  gar  noch  größere  Verlegenheit  bereitet 
haben.  Welches  Deutschen  Bildung  wäre  heute  so  aus- 
gereift, daß  er,  namentlich  in  der  Sommerfrische,  immer 
jene  Behelfe  wie  Zettelkasten,  Brockhaus  und  so  weiter 
bei  der  Hand  hätte,  die  nun  einmal  notwendig  sind, 
um  hinter  die  eleusinischen  Mysterien  eines  politischen 
Leitartikels  zu  kommen?  Wahrlich,  diese  Sprache  ist 
leichter  erlernt  als  verstanden.  Sie  hat  ihre  Vorzüge 
und  ihre  Nachteile,  und  sie  ist  durch  ihre  chiffrierende 
Art,  zugleich  zu  verkürzen  und  zu  verwirren,  dem 
Diplomaten  ein  quälender  Zeitvertreib  und  dem  Privat- 
mann eine  angenehme  Tortur.  Die  Desperantosprache 
bietet  wie  keine  andere  die  Möglichkeit,  sämtliche 
Nationen  auf  dem  gemeinsamen  Boden  gegenseitigen 
Mißverstehens  zusammenzuführen.  Wenn  man  zum 
Beispiel  einem  Japaner  zuriefe:  »Schälle  täuben«,  so 
würde  er  es  unfehlbar  für  einen  russischen  Schlachtruf 
halten  und  sich  zurückziehen ;  ein  Russe  würde  sagen, 
es  sei  die  Bezeichnung  für  einen  hyperboreischen 
Volksstamm,  der  bei  der  Völkerwanderung  zurück- 
geblieben sei;  ein  Hyperboreer  würde  glauben,  es  sei 
deutsch;  und  ein  Deutscher  würde  sich  die  Ohren 
zuhalten,  womit  er  instinktiv  das  Richtige  träfe,  denn 
der  Satz  ist  nicht  nur  abscheulich,  sondern  bedeutet 
nichts  anderes  als:  »Gerüchte  sind  trügerisch!«  Aber 
wer  kann  das  sogleich   wissen?    Wer    weiß,    was  ein 


44 


Wort  bedeutet?  Wenn  ich  nicht  einst  dem  Schöpfer 
dieser  Sprache  auf  den  Kopf  zu  gesagt  hätte,  daß  der 
Satz  »Strählt  die  Miauzer«,  so  viel  bedeuten  müsse, 
wie  »Streichelt  die  Katzen!«,  noch  heute  würde  man 
in  jenem  Dunkel  tappen,  in  dem  zwar  di^  Miauzer 
sehen  können,  aber  nicht  die,  welche  sie  streicheln 
sollen.  Da  diese  Sprache  heute  nur  einer  ganz  und 
gar  beherrscht,  so  können  die  andern  von  Glück 
sagen,  wenn  sie  ein  Zipfelchen  des  Verständnisses  er- 
haschen. Sie  ist  ein  schweres  Kleid  von  Brokat,  das 
einer  gezwungen  ist  schwitzend  über  den  alltäglichsten 
Gedanken  zu  tragen.  Diese  zu  enthüllen  und  in  einem 
übertrieben  alltäglichen  Gewand,  in  dem  sie  sich  wohler 
fühlen,  zu  präsentieren,  soll  nicht  zuletzt  der  Zweck 
der  philologischen  Übung  sein.  Jeder  mag  aus  ihr 
lernen,  wie  leicht  es  ist,  eine  schwer  verständliche 
Sprache  zu  sprechen,  und  daß  nur  die  liebe  Not  ein 
so  prunkvolles  Leben  führt.  Freilich  ist  neben  dem 
Mangel  an  Humor  und  Temperament  auch  eine  gewisse 
Ausdauer  und  Zähigkeit  des  Charakters  erforderlich. 
Anfänger,  die  den  Ehrgeiz  haben,  sich  im  Desperanto 
zu  vervollkommnen,  seien  darauf  aufmerksam  gemacht, 
daß  es  nicht  genügt,  sich  einige  ausgestopfte  Bana- 
litäten anzueignen,  sondern  daß  auch  die  Erwerbung 
eines  Zungenfehlers  unerläßlich  ist.  Schwerer  als  das 
viele  Neue,  das  sie  zulernen  müssen,  wird  es  ihnen 
ankommen,  in  den  wichtigsten  Augenblicken  ihres 
Lebens  auf  das  »s«  zu  verzichten,  zum  Beispiel  beim 
Zeugungakt.  Ich  warne  Neugierige.  Der  Meister  selbst, 
dem  sie  nacheifern,  ist  einmal  an  einer  der  größten 
Schwierigkeiten,  die  sich  ihm  bei  seinem  Neuerungwerk 
entgegenstellten,  verzweifelt.  Er  hatte  schon  für 
alle  sprachlichen  Skrupel,  die  sich  ergaben,  einen 
»Schwichtigunggrund«  gefunden,  und  kein  »s«,  das 
nicht  etwa  der  Genitiv  mit  sich  brachte,  wurde  im 
Haushalt  geduldet.  Er  war  bei  dieser  asketischen 
Lebensweise  fünfundvierzig  Jahre  alt  geworden,  alle 
Deutschen  huldigten  ihm,  von  den  Regierungräten 
abwärts  bis  zu  -den  Handlunggehilfen,    und  besonders 


■^  45  — 


diese.  Da  gratulierte  ihm  sein  Dämon  zum  —  Geburttag. 
Er  brach  zusammen.  Denn  das  ging  wirklich  nicht. 
Nie  hat  er  das  Wort  geschrieben.  Sondern  behalt 
sich  mit  Abkürzungen  wie  etwa :  »der  Tag,  an  dem 
der  erste  Blick  ins  Sonnenlicht  sich  jährt«,  »die  Wieder- 
kehr der  Stunde,  die  den  heut  zur  Mannheit  Empor- 
gereckten ins  Dasein  rief«,  und  dergleichen.  Nie  hat 
er  das  Wort  geschrieben.  Es  ist  die  geheime  Tragik 
in  seinem  Leben  .  .  .  Wen  nur  der  Glanz  seiner  Sprache 
lockt  und  nicht  ihre  Schatten  nüchtern,  wen  ihre 
Schälle  täuben  und  nicht  ihre  Stöße  schüttern,  wen 
nur  ihr  Ruch  thört  und  nicht  ihr  Stank  stört,  der  folge 
mir  getrost  durch  diesen  Deutschungversuch. 


Vor  vierzehn  Tagen  habe  ich  hier 
versucht,  das  vor  und  nach  der 
Weihnacht  des  Jahres  1907  im 
allensteiner  Haus  des  Majors 
Gustav  von  Schoenebeck  Ge- 
schehene mit  dem  von  der 
Psychopathologie  gelieferten 
Wericzeug  abzutasten  und  dem 
Menschensinn  zum  Verständnis 
des  ihm  unverständlich  Schei- 
nenden zu  helfen 


In  der  vorletzten  Nummer  habe 
ich  mich  an  dem  Fall  Schoene- 
beck, ohne  die  Quelle  des  Herrn 
von  Schrenck-Notzing  zu  nennen, 
detailmalerisch  ergötzt  und  mich 
dabei  bemüht,  das  Verständliche 
unverständlich  zu  machen 


Ihr  evangelisches  Bewußtsein  ist, 
auch  wenn  sie  es  erst  eUiche 
Jahrzehnte  nach  den  Steckkissen- 
tagen erworben  haben,  von  mi- 
mosiger Empfindsamkeit 


Ihr  Christentum  ist,  auch  wenn  sie 
erst  lange  nach  der  Geburt  ge- 
tauft wurden,  von  mimosenhafter 
Empfindlichkeit 


Wer  je  genötigt  war,  seinen  Namen 
unter  ein  Gerichtsprotokol  zu 
setzen,  vergißts  nicht  so  bald. 
Seine  Aussage  mag  noch  so 
einfach  sein:  .  .  .  was  er  in 
lebendiger  Rede  rasch  vorbringt, 
wird  in  den  altfränkischen  Pomp 
der  Gerichtssprache  gekleidet .  .  . 
Und  in  neun  von  zehn  Fällen 
bleibt  der  Vernehmende  Sieger. 
Er  meints  so  gut,  quält  sich  so 
redlich,  die  Laienrede  in  sein 
geliebtes  Juristendeutsch  zu  über- 
tragen .  .  . 


Das     Einfache     wird     verkünstelt. 

Ein  alter  Obelstand,  über  den 
sich  auch  die  Richter  beklagen, 
wenn  sie  wieder  den  schlichten 
altfränkischen  Pomp  ihrer  Sprache 
in  den  byzantinischen  Prunk 
einer  deutschen  Wochenschrift 
gekleidet  sehen 


-  46 


Soll  man  dem  Geplagten,  vor  dessen 
Tür  ein  Bäckerdutzend  Beschul- 
digter oder  Zeugnispflichtiger 
wartet,  das  Amtsleben  noch 
mehr  bittern? 


Soll  der  geplagte  Richter  auch  noch 
diesen  Satz  lesen? 


An  diese  Aussage  waren  sie  fortan 
gekettet  .  .  .  Die  conviction  in- 
time der  Geschworenen  ist  an 
keine  Paragraphenvorschrift  ge- 
knotet .  .  .  Müssen  die  Zeugen 
an  den  Rahmen  des  Gedächtnis- 
bildes genagelt  werden,  das 
freilich  frisch  ist,  oft  aber  nur 
die  Mängel  des  flüchtig  hin- 
wischenden Impressionismus  er- 
kennen läßt?  .  .  .  Begreift  Ihr 
wirklich  nicht,  warum  der  Arme 
nicht  von  dem  Glauben  loszu- 
haken ist,  die  gröbste  Form  der 
Klassenjustiz  sei  im  Alltagsge- 
brauch? 


Folterbräuche  der  preußischen 
Straf  Justiz  und  der  deutschen 
Satzbildung 


In  einem  Orenznest,  wo  die  Gar- 
nison ein  ummauertes  Städtchen 
bildet,  hat  keiner  gemerkt,  daß 
die  Frau  des  Majors  vom  Stabe 
ihren  Hausschlüssel  in  der  Runde 
kreisen  ließ,  mit  dem  Taschen- 
tuch ihren  Buhlen  Fensterflaggen- 
signale gab,  im  Schlafzimmer 
ihnen  Mahlzeiten  servierte,  mit 
ihnen  in  Königsberg  und  in 
Haffbädern  zusammenwohnte,  an 
der  Alle  in  Kattunkleid  und 
Kopftuch  Sexualabenteuer  suchte 


An    der  Alle    hat    man  nichts  ge- 
wußt 


In  Berlin  war  sie  als  leicht  erraff- 
bare Ware  bekannt;  hatte  die 
Christgeschenkeinkäuferin  vor 
einzelnen  Stundenbesitzern  sogar 
die  Namensmaske  gelüftet 


In  Berlin    hat    man  Alles    gewußt 


Richter,  die  unter  der  Schreibfron 
welk,  unter  dem  steten  Gewirbel 
grauen  Aktenstaubes  mürrisch 
geworden  sind 


Alte  und  unfreundliche  Richter 


Dieser  Vorsitzende  ähnelte  nicht 
dem  ersten  Kaiser  Ferdinand, 
von  dem  Julius  Wilhelm  Zincgref 
in  seinen  >Apophthegmata«  er- 
zählt hat:   .  .  . 


Dieser  Vorsitzende  verhält  sich  zu 
KaiserFerdinand  wie  eine  Mey^ine 
zu  einem  Zettelkasten 


Der  Nation  und  aUem  auf  der  Erd- 
feste Kribbelnden  künden 


Der  Nation    und 
verkünden 


der   Mensctiheit 


Allmählich  verdüsterte  sich  auf 
dem  Goebenbildnis  der  Grund- 
ton so,  daß  selbst  des  Schwär- 
mers frommer  Glaube  von  Skepsis 
angenagt  ward 


Mit    der  Zeit    wurden    selbst    die 
Anhänger  Goebens  wankend 


Ins  Irrenasyl  befördern 


Ins  Irrenhaus  spenen' 


Wenn  Madame  Antoinette  Lust  hat, 
kann  sie  mit  oder  schon  vor 
den  Schwalben  südwärts  ziehen 


Wenn  Frau  v.  Schönebeck  will, 
kann  sie  im  Herbst  oder  schon 
früher  nach  dem    Süden    gehen 

(Was  ihr  mj  gönnen  wäre. 
Anm.  d.  Obers.) 


Frau  Antoinette  sitzt  gemächlich 
in  der  Hardenbergstraße  und 
kann  sich,  wenn's  ihr  paßt,  den 
Amphibien  westlicher  Nacht- 
kaffeehäuser gesellen 


Herr  Harden  regt  sich  im  Grune- 
wald an  solchen  Vorstellungen 
auf,  setzt  den  Frauen  mit  den 
Ruten  seiner  Moral  zu  und 
züchtigt  die  Männer  mit  den 
Skorpionen  seiner  Sprache 


Wer  bürgt  für  die  Erstattung  der 
wider  alle  Norm  hohen  Fahrt- 
kosten? 


Fahrtkosten,   die  normwidrig  sind, 
werden  nicht  gutgeheißen 


Fragt  in  Alt-Moabit  die  Gerichts- 
diener, wie  viele  Zeugen  täglich 
pro  nihilo  bestellt  werden 


Man  frage  die  Gerichtsdiener  in 
Moabit  nach  den  Zeugen  Riedel 
und  Ernst;  das  verstehen  sie 
sofort 


Heuertsensation 

Sensation  im  Juli 

Das    fünfundsechzigste    Haus 
WUhelmstraße 

der 

WUhelmstraße  65 

Phili     tuschelt     den    allzu    Spott- 
lustigen aus  der  Gunst 

Eulenbnrg  verdrängt  Kiderlen 

Theobaldus  Cunctator 

Der  Reichskanzler 

Der  präsidierende  Erni 

Reichstagspräsident  Prinz  Ernst  zu 
Hohenlohe 

Berni 

Bernhard  Demburg 

Eine     Schicksalsstunde      ruft     die 
zwistlos        gesammelte       Kraft 
deutscher  Menschheit  herbei 

Die  Stunde  der  Entscheidung  ver- 
langt ein  einiges  Deutschland 

—  48  — 


Sein  Wollen  bloßen 

Seinen  Plan  enthüllen 

Fritzisches  Kriegsglück 

Preußisches  Kriegsglück 

Das  Adlerland 

Preußen 

Er  muß  in  den  Weg  ihres  Willens 
einschwenken 

Er  gibt  ihr  nach 

Sie  vermag    ihn    vom  Ziel    seines 
WoUens  abzudrängen 

Sie  kriegt  ihn  herum 

Der  leidige  Versuch,  auf  Skythen- 
sinne mit  dem  Geschlechtsreiz 
einer  gekrönten  Frau  zu  wirken, 
ehrt  den  Preußenkönig  noch 
weniger  als  den  verfettenden 
Imperator 


Die  Mission  der  Königin  Luise 
kompromittiert  Friedrich  Wilhelm 
noch  mehr  als  Napoleon 


Unsere  Hand    kann    ihres  Wesens 
Kleid  heute  nicht  mehr  haschen 


Wir  wissen  heute  nicht  mehr,  wie 
sie  beschaffen  war,  drücken  dies 
aber  in  der  erhitzten  Sprache 
eines  Schoenebeckmesser  aus 


Der  königliche  Kopf  der  Strelitzerin 
fände  die  Politik  dieses  Preußen- 
staates zu  schlaff 


Königin  Luise  wäre  von  der  heutigen 
preußischen  Politik  nicht  befriedigt 


Vor  dem  Bilde  der  mirower  Ahn- 
frau erblassen 


Sich  vor    dem  Andenken  der  Kö- 
nigin Luise  schämen 


Der  Kanalvetter 


England 


Der  heitere  King 


Eduard  VII 


Unter  dem  milden  Juliusmond 


Im  Juli 


Der  vom  Kehlkopfkrebs  Getötete         Der  an  Kehlkopfkrebs  Verstorbene 


Botschafter  an  Alfonsens  Hof 


Botschafter  am  spanischen  Hof 


Die    Russen    zäumten    die    Zunge 
nicht  so  straff 


Die  Russen  waren  gesprächiger 


Der  Gortschakowepigone,    der   ihr 
internationales  Geschäft  leitet 


Iswolsky 


Das  Reich  des  Tenno 


Japanische  Größensucht 


Japanischer  Größenwahn 


Bald  schien  jeder  Mond  schlimmer 
Erinnerung  trächtig 


Fast    in    jedem    Monat    gabs    ein 
Unglück 


^ 


—  49 


Was  die  Herzgrube  wohlig  wärmt       Etwas  Erfreuliches 


Die  Österreicher  dürften  ruhig  bis 
nach  Saloniki  spazieren,  wenn 
dem  fest  an  die  Flanke  des 
Britenleun  gebundenen  Reussen- 
reich  endlich  der  Pontuskäfig 
geöffnet  würde 


Bild     einer    zoologisch-politischen 
Verwirrung 


In  Luisens  weißem  Sterbekleid 
spukt  Frau  Berchta  durchs  leere 
Spreeschloß.  Und  fragt,  im  Ger- 
manenton der  zürnenden  Hei, 
die  modisch  verstuckten  Mauern 
und  Deckengewölbe,  ob  entartete 
Wikingererben  tatlos  warten 
wollen,  bis  u.  s.  w. 


Bild  einer  myfliologisch-politischen 
Verwirrung 


Der  Italerkönig 

Der  König  von  Italien 

Der  Schillingsffirst 

Hohenlohe 

Der  Kniephofer 

Bismarck 

Der  Menschenfischer  im  Koller 

Bismarck 

Der  winzige  Sohn    des  Widukind- 
landes 

Windthorst 

Bülow  rief  in  persönlicher  Fähmifi 
zur  Hatz  auf  Schwarzwild 

Bülow,  dessen  Position  erschüttert 
war,     kehrte     sich     gegen    das 
Zentrum 

Sich    mit    frevler  Hand    aus    dem 
Sonnenbezirk  jäten 

Sich  umbrmgen 

Wähnen  auch  wir  noch,  jede  Ent- 
schleierung des  aufrecht  schrei- 
tenden Zweizinkentieres  müsse 
der  inneren  Magdschaft  gefährlich 
werden? 


Fürchten  auch   wir   noch  von   der 

sexuellen  Aufklärung  einen 
Schaden  für  die  seelische  Jung- 
fräulichkeit? 


Ins  Schulgehäus  darf  von  der  Ge- 
schlechtswallstatt  kein  Wind- 
hauch wehen 


In  der  Schule  darf  von  geschlecht- 
lichen Dingen  nicht  gesprochen 
werden 


Schon  im  kurzen  Kleid  kichern  die 
Schulmädchen  über  den  blinden 
und  tauben  Eifer,  der  ihre  Ge- 
schlechtsvorstellung ins  Warm- 
haus der  Storchmär  einzubeeten 
hofft. 


Auch  die  kleinsten  Schulmädchen 
machen  sich  schon  über  den 
Eifer  lustig,  mit  dem  man  ihnen 
das  Storchmärchen  aufzubinden 
sucht 


50  — 


Dünkt  ihn  die  Vorstellung,  der  rot- 
beinige  Herr  Adebar  hole  die 
Kinder  aus  einem  von  Sumpf- 
kröten umquakten  Teich  und 
beiße,  um  den  Tag  seiner  Ein- 
kehr zum  Fest  zu  wandeln,  die 
Mama  ins  Bein,  heiliger,  ehr- 
würdiger als  die  Erkenntnis,  daß 
in  dem  von  Vaters  zärtlicher 
Liebe  befruchteten  Mutterschoß 
ein  Geschwister  erwuchs? 


Ist  ihm  das  Storchmärchen  sympa- 
tischer  als  die  erweisliche  Wahr- 
heit der  Zeugung? 


Dicht  vor  der  Maturität 


Kurz  vor  der  Matura 


Mehr  noch  als  läßlichen  Fehltritt 
die  Heuchelschmach  meiden,  die 
alles  sittliche  Empfinden  unauf- 
haltsam zerbeizt 


Wenns  schon  einmal  geschehen 
ist,  wenigstens  »aussprechen, 
was  ist< 


Vollreifen   Mädchen  von    Verführ- 
ungfährnis sprechen 


Mit  erwachsenen  Mädchen  Allite- 
ration treiben  und  ihnen  im  ent- 
scheidenden Moment  doch  das 
»s«  vorenthalten 


Je  ernster  ihr  Blick  sich  auf  den 
Brennpunkt  der  Gattung  heftet, 
desto  schwerer  wirds  lüderlichem 
Getuschel,  ihr  Ohr  gegen  die 
Nothsignale  nahender  Jungfern- 
gefahr zu  täuben. 


Je  mehr  man  auf  die  Sache  sieht, 
umso  sicherer  wird  sie  bewahrt 
bleiben,  so  daß  die  sexuell  Auf- 
geklärten keinen  Schaden  und 
die  sexuellen  Aufklärer  doch 
ihre  Freude  dran  haben 


Selbstanzeige 

Die  Wochenschrift  ,Der  Demokrat'  (Berlin, 
17.  August)  brachte  die  folgende  Besprechung  der 
»Chinesischen  Mauere: 

Ein  neues  Buch  von  Karl  Kraus 

>Die  chinesische  Mauer«,  der  dritte  Band  in  d«r  Reihe  der  ausge- 
wählten Schriften  von  Karl  Kraus  ist  soeben  im  Verlage  von  Albert  Langen 
in  München  erschienen.  Als  ich  den  zweiten  Band,  die  »Sprüche  und  Wider- 
sprüche«, an  dieser  Stelle  anzeigen  konnte,  schrieb  ich  über  Kraus:  »Seine 
Essays  sind  Mosaikgemälde  aus  Aphorismen.  Mit  einem  kurzen,  ungeheuer 
starken  Aufblitzen  belichten  sie  Gefühle,  Irrtümer,  Taten  und  Meinungen. 
Und  zwar  vom  Standpunkt  eines  Menschen,  der  die  sinnlose  Konvention 
der  heutigen  Gesellschaftsordnung  durchschaut  hat.  Der  nach  einer  reineren, 


-  51  - 


ireieren  Welt  strebt,  in  der  nicht  Leidenschait  uiia  Krau  aurcn  \  oruneile 
staatserhaltender  Parteien  gelähmt  werden.« 

Ich  nannte  Karl  Kraus  einen  Kulturkritiker  und  schrieb:  >Seine 
Kritik  der  bürgerlichen  Gesellschaft  ist  nicht  nur  die  männlichste,  sondern 
auch  die  menschlichste  Stellung  zu  unserer  im  Sumpf  der  Phrase,  der 
Heuchelei  und  der  Bildungslüge  erstickten  Zeit.< 

Das  Erscheinen  der  >chinesischen  Mauer«  gibt  mir  Veranlassung, 
mein  Urteil  zu  unterstreichen.  Kraus  Kunst  hat  in  Deutschland  nicht 
ihresgleichen.  Dieser  Schriftsteller,  der  seine  Stoffe  dem  flüchtigen  Tage 
abringt  und  ihnen  Ewigkeitswerte  gibt,  steht  allein  auf  der  steilen  Höhe 
seiner  Kunst.  Er  hat  uns  die  tiefsten  Schönheiten  und  den  unerschöpf- 
lichen Reichtum  der  deutschen  Sprache  enthüllt.  Er  hat  den  Nimbus  des 
Holzpapiers,  das  ihn  zu  begraben  drohte,  vernichtet.  Er  ist  uns  ein 
glückliches  nationales  Ereignis  geworden,  dieser  Karl  Kraus. 

Franz  Pfemfert. 


Der  Traum  ein  Wiener  Leben 
Von  Karl  Kraus 

Meine  ei^te  Vorlesung  war  vorüber,  und  vor  dem  Ein- 
schlafen las  ich  die  Zeitung:  (Unfall  eines  Fremden  in  Wien.] 
»Am  T.Juni  v.J.  fuhr  der  Kaufmann  Rudolf  B.  aus  Buenos  Aires 
in  einem  offenen  Fiaker  zum  Westbahnhof.«  (Wie kann  man  auch! 
gähnte  ich  —  auf  dem  atlantischen  Ozean  passen  die  Fiaker  auf, 
aber  beim  Westbahnhof  wird's  gefährlich.)  >An  der  Kreuzung  der 
Löhrgasse  und  Felbcrstraße  fuhr  der  Fiaker  mit  einem  Motorwagen 
der  Städtischen  Straßenbahn  zusammen.  Frau  Anna  B.  wurde 
aus  dem  Wagen  geschleudert  und  erlitt  eine  Verrenkung  des  rechten 
Schultergelenks  und  einen  Bruch  des  rechten  Oberarmkopfes, 
während  ihr  Gatte  mit  einer  Luxation  des  linken  Spnmggelenks 
davonkam.«  Des  weiteren  wird  berichtet,  daß  die  beiden  Leute, 
die  in  der  besten  Absicht,  nämlich  zur  Hebung  des  Fremden- 
verkehrs, und  aus  den  reinsten  Motiven,  angelockt  von  den  über 
das  Weltmeer  schallenden  Rufen  >Fiaka!«  und  »Wagerl!«  und 
nicht  zurückgeschreckt  von  der  warnenden  Trompete  des  Städt- 
ischen Beiwagen-Kondukteurs,  nach  Wien  geeilt  waren,  vom 
Gericht  einen  Schadenersatz  zugesprochen  erhielten.  Das  ist  ge- 
recht, dachte  ich,    wiewohl  man  dadurch  nur  die  Lage  des  Lohn- 


Aus  dem  .Simplicissimus'. 


—  52  — 

Fuhrwerks,  das  ohnehin  einen  verzweifelten  Kampf  —  Ich-  begann 
einzuschlafen.  Aber  anderseits  —  der  Fall  ging  mir  nicht  aus  dem 
Kopf  —  warum  Mitleid  haben?  Daß  in  dieser  Stadt,  deren  Genien 
haßerfüllt  auf  das  Verkehrsleben  blicken  und  deren  Kutscher  hohe 
Strafgelder  auf  die  Störung  ihrer  Ruhe  setzen,  nicht  täglich  und 
an  jeder  Straßenkreuzung  Argentinier  zerdrückt  werden,  ist  nur 
dem  vielbcmerkten  Mangel  an  Argentiniern  zuzuschreiben.  Dabei 
fand  ich  schließlich  meinen  Trost  und  schlief  ein.  Mir  träumte, 
ich  sollte  eine  Vorlesung  halten,  das  Publikum  war  versammelt,  aber 
ich  hatte  mein  Manuskript  zuhause  gelassen.  Vom  Saal  in  meine 
Wohnung  ist  nur  ein  Katzensprung,  dachte  ich,  aber  selbst  den 
will  ich,  aus  Rücksicht  auf  die  Lage  des  Lohnfuhrwerks  und 
um  das  Publikum  auch  nicht  eine  Minute  warten  zu  lassen,  nicht 
zu  Fuß  machen.  Ich  suchte  deshalb  eine  Stunde  nach  einem 
Automobiltaxameter,  der  in  dieser  gemütlichen  Stadt  nicht  Taxa, 
sondern  Taxi  heißt.  Wiewohl  mich  schon  der  Ekel  würgte  und 
Ich  mich  auch  darauf  gefaßt  machte,  daß  der  Apparat  in  jeder 
Viertelminute  zehn  Kronen  aufhüpfen  lassen  werde,  stieg  ich 
ein,  sogleich  umstand  die  Rotte  Korah  den  Wagen  und  sah  den 
Versuchen  des  Chauffeurs,  ihn  flott  zu  machen,  mit  einer  Auf- 
merksamkeit zu,  die  einer  besseren  Sache  würdig  gewesen  wäre. 
Als  wir  an  der  nächsten  Straßenkreuzung  angelangt  waren,  über- 
fuhr das  Automobil  den  Realitätenbesitzer  Sikora,  der  lautlos 
hinsank  und  der  neugierigen  Menge  einen  blutigen  Stumpf  zeigte. 
Ich  konnte  den  Anblick  nicht  ertragen  und  bewog  den  Chauffeur, 
nicht  zu  fliehen,  sondern  umzukehren  und  den  Mann  um  Ent- 
schuldigung zu  bitten.  Der'  Chauffeur  trat  auf  ihn  zu,  sagte: 
»Was  is  denn  mit  uns  zwa,  Herr  Nachbar?«,  der  Sterbende  lächelte 
versöhnt,  und  wir  fuhren  weiter.  Nach  einer  Pause  aber  erklärte  der 
Chauffeur,  er  könne  nicht  mehr  weiter,  weil  er  »kane  Strafhölzeln« 
für  die  Laterne  habe.  Deshalb  und  auch  um  schneller  vorwärts 
zu  kommen,  bestieg  ich  einen  Einspänner,  dessen  Kutscher  mich 
durch  die  unaufhörlichen  Rufe  »Inspinna!  Fahrenn!*  interessiert  hatte. 
Ich  hätte  mich  aber  auch  nicht  anders  von  ihm  befreien  können  als 
durcli  die  Annahme  seiner  Einladung.  Nun  begann  das  Füttern  und 
Abdecken,  welches  ein  Zeitvertreib  der  Kutscher  ist,  wenn  die  Abende 
lang  werden,  und  im  Wagen  fand  sich  ein  zerbrochener  Spiegel, 
in  welchem  ich  ein  weißes  Haar  an  der  Schläfe  bemerkte.  Die 
Spaziergänger   erschraken  vor- dem  Wagen,   und  da  der  Kutscher 


53  — 


unaufhörlich  »Hooh!«  rief,  erschraken  sie  noch  mehr  und  wußten 
nicht,  ob  sie  vor-  oder  zurückgehen  sollten.  Sie  konnten  aber  beides 
nicht  weil  sie,  wie  ich  sah,  überhaupt  nicht  gehen  konnten.  Ver- 
wundet wurde  niemand.  Aber  nach  einer  Weile  erklärte  der  Kutscher, 
er  könne  nicht  weiter,  weil  es  >hei!«  sei,  womit  er  auf  Glatteis  an- 
spielte. Als  ich  ihm  für  den  zurückgelegten  Weg  hundertfünfzig 
Kronen  gab,  wies  er  sie  zurück,  indem  er  vorwurfs\'oll  sagte: 
»Aber,  So,  Herr,  was  geben  S'  mr  denn  do?«  Ich  berief  mich  auf 
die  Taxe  von  hundert.  Er  murmelte:  >An  so  an  Tag!«  und  wollte 
zweihundertzwanzig.  Ich  gab  sie,  ohne  zu  begreifen,  was  es  mit  dem 
Tag  für  eine  Bewandtnis  habe.  Bald  fand  ich  einen  andern  Wagen, 
dessen  Kutscher  mich  aber  nicht  anrief,  sondern  feindselig 
anstarrte.  Doch  auf  meine  Frage:  Fahr'n  ma.  Euer  Gnaden?, 
sprang  er  wütend  empor  und  schrie  mir  die  Worte  entgegen:  Bin 
b'stöllt!  Nun  mußte  ich  mir  wieder  die  Füße  wund  laufen  nach 
einer  Fahrgelegenheit.  Ich  kam  durch  winkelige  Gißchen,  in  denen 
früher  die  Hexen  verbrannt  wurden,  aber  jetzt  aus  den  Fenstern 
heraussahen.  Es  war  ihnen  erlaubt,  unzüchtig  zu  sein,  ohne  das  Scham- 
gefühl gröblich  zu  verietzen,  und  im  Nu  faßte  ich  den  Entschluß, 
den  Polizeipräsidenten  aufzuwecken  und  ihn  zu  fragen,  warum  erden 
Mädchen  die  einzige  Freude,  die  sie  noch  hätten,  verboten  habe, 
nämlich  das  Klavierspielen.  Er  sagte,  ich  solle  eine  Eingabe  machen, 
er  glaube  mir  zusichern  zu  können,  daß  man  tunlichst  meine 
Wünsche  berücksichtigen  werde,  denn  die  Behörde  stehe  der  Prosti- 
tution objektiv  gegenüber  und  werde,  insolange  sich  kein  Anstand 
ergebe  —  Ich  machte  eine  ausfahrende  Handbewegung,  bekam  einen 
epileptischen  Anfall  und  ein  herbeigeeilter  Gerichtspsychiater 
fragte  mich,  ob  ich  wisse,  wann  Johann  Gabriel  Seidl  geboren 
sei.  Da  ich  diese  Frage  fließend  beantworten  konnte,  erklärte  er, 
ich  sei  vor  der  Tat  zwar  unzurechnungsfähig  gewesen,  nach  der  Tat 
auch,  aber  während  der  Tat  sei  jch  für  die  Tat  verantwortlich. 
Ich  sagte,  daß  mir  die  volle  Verantwortung  für  die  Tat  doch 
nicht  aufgewälzt  werden  könne,  weil  ich  zum  Beispiel  nicht  wüßte, 
wann  Johann  Nepomuk  Vogl  geboren  sei.  Sogleich  stellte  man  an 
mich  die  Frage,  und  da  ich  sie  in  der  Tat  nicht  beantworten  konnte, 
wurde  ich  freigesprodien.  Das  muß  ich  aber  gleich  nach  Berlin  tele- 
graphieren, dachte  ich.  Ich  kam  in  ein  Postamt,  wo  ein  großer 
Andrang  herrschte,  denn  es  waren  einige  Offizianten,  die  in  dieser 
unterirdischen  ^okalität  arbeiten  mußten,  soeben  an  der  Caisson- 


—  54 


krankheit  gestorben,  und  ich  kam  gerade  dazu,  wie  die  Särge 
verladen  wurden.  Man  verwies  mich  an  den  benachbarten 
Schalter,  hinter  dem  niemand  saß,  aber  es  erscholl  Lachen  und 
die  Telegraphistinnen  spielten  Fangerl.  Ich  freute  mich,  wie  glatt 
alles  ging;  aber  jetzt  nur  schnell  nachhause!  Ich  bestieg  die 
Straßenbahn,  von  der  zur  Auswahl  vierzig  Wagen  hintereinander 
standen,  denn  der  erste  konnte  nicht  vorwärtskommen,  weil  eine 
Prozession  vorbeiging.  Nachdem  sie  vorüber  war,  blies  mir  der 
Beiwagen-Kondukteur  ununterbrochen  mit  seiner  Trompete  ins  Ohr, 
wodurch  er  dem  Motorführer  zu  verstehen  geben  wollte,  daß  er 
auch  jemand  sei.  Während  wir  fuhren,  verlöschte  alle  Augenblicke  das 
Licht,  so  daß  man  beim  besten  Willen  die  Tramwaykarte  nicht  lesen 
konnte.  Es  war  eigentlich  immer  finster,  nur  manchmal  wurde  es 
hell.  Ich  dachte,  aha,  es  sind  die  bekannten  luciden  Intervalle  des 
städtischen  Verkehrs.  Bei  jeder  Biegung  rütterte  und  schütterte  es,  die 
Leute  fielen  durcheinander  und  starben  wie  die  Fliegen.  Eine  Hut- 
nadel durchstach  mir  das  linke  Auge,  ein  Herr  hatte  noch  die  Geistes- 
gegenwart, mich  um  Feuer  zu  bitten.  Jemand  stieg  jetzt  ab,  und 
ein  Mann,  der  neben  mir  stand,  sagte:  >Das  war  der  junge 
Gerngross!«  An  der  nächsten  Straßenkreuzung  erfolgte  ein  Zu- 
sammenstoß mit  einem  Fiaker,  in  dem  ein  argentinisches  Ehepaar  saß. 
Um  dem  peinlichen  Anblick  auszuweichen,  floh  ich  in  ein  Restau- 
rant, in  welchem  vierzig  Kellnerjungen  in  der  Nase  bohrten.  Es 
war  ein  großer  Betrieb.  Vierzig  Speisenträger  fragten  mich,  ob 
ich  schon  befohlen  hätte,  und  bedauerten  hierauf,  nicht  mehr  dienen 
zu  können.  Es  gab  nur  noch  »Wienertascherln«,  ein  merkwürdig 
zusammengesetztes  Wort,  das  mir  Fieber  machte,  und  alle  Leute 
sahen  mir  auf  den  Mund.  Plötzlich  wurde  grünes  Mehl  gebracht, 
aber  ein  Nachbar  zerstörte  mir  die  Illusion  und  sagte,  es  wäre 
Gemüse.  »Warum  essen  Sie  das  nicht?  Es  ist  Eingebranntes !< 
Ein  gebranntes  Kind,  sagte  ich,  fürchtet  —  Feuer!  schrien  alle.  Wie 
das  eintrifft!  dachte  ich,  meine  Unvorsichtigkeit  ist  schuld  daran, 
und  ich  machte  mir  Vorwürfe.  Aber  schließlich  wollten  sie  ja  alle 
verbrennen,  um  in  die  Zeitung  zu  kommen.  Im  Hintergrund 
rief  es  ununterbrochen  »Ssoss  bitte!«  und  man  erklärte  mir, 
daß  dies  der  Allarmruf  der  mit  Tellern  beladenen  Kellner 
sei,  auch  wenn  es  sich  um  eine  feste  Speise  handle,  an  die 
man  nicht  anzustoßen  bittet.  Ein  Fremdenführer  riet  mir,  ich 
solle  mir  einmal  den  Spaß  machen  und  in  dieses  Chaos  das  Wort 


-  55 


>ZahlenI«  rufen,  da  werde  ich  etwas  erleben.  Als  ich  nun 
»Zahlen  l€  rief,  pflanzte  sich  der  Ruf  echoartig  durch  das  ganze 
Lokal  fort,  einer  sagte  es  dem  andern,  bis  es  sogar  der  Zahlkellner 
hörte,  der  aber,  in  meine  Nähe  gelangt,  sich  sofort  wieder  abge- 
stoßen fühlte  und  in  der  Küche  Selbstmord  verübt  haben  soll  . . . 
Wird  diese  Nacht  ewig  währen?  .  .  .  Auf  einmal  sagt  ein  Ästhet 
aus  Breslau  neben  mir:  »Ach,  wundervoll!  Gerade  das  finde  ich 
an  dieser  Stadt  so  fein.  Ich  weiß  nicht,  was  Sie  haben  wollen. 
Das  alles  hat  doch  Linie.  Und  überall  diese  alte  Kultur!  Kennen 
Sie  Beer-Hofmann?  Der  soll  ganz  fein  sein!  Und  wo  denn  anders 
finden  Sie  diese  spielerischen  Formen  arrivierter  Ekstasen  mit  der 
müden  Grazie  karessanter  Sehnsuchten  vereinigt?  Hier  ist  Tradition! 
Und  die  stillen  Gassen  der  Wiener  Vorstadt!  Und  der  Heiligenkreuzer- 
hof!  Und  das  Palais  des  Prinzen  Eugen!  Alles  tipp-topp.<  Der  Mann, 
der  so  sprach,  sah  wie  ein  Bechsteinflügel  aus,  er  war  schwarz  und 
hatte  einen  edlen  Ton.  Ich  verstimmte  ihn  und  sagte:  Kempinski  hat 
Deutschland  geeinigt,  und  die  Lage  der  Deutschen  in  Österreich 
ist  bedauerlich.  »Und  die  alte  Tradition ?<  Die  alte  Tradition  ist 
ein  Kanalgitter.  >Und  die  stillen  Gassen ?<  In  der  Friedrichstraße 
bin  ich  eingefriedet  in  Lärm,  in  der  Kärntnerstraße  bin  ich  in 
den  Karren  geschmiedet  —  der  Verkehr  ist  ein  Hindernis,  die 
Ruhe  stört  mich,  ich  höre  das  eine  knarrende  Omnibusrad.  >Und  die 
alte  Kultur?€  Die  ist  ein  Ratzenstadl,  sagte  ich.  Jede  Stadt  hat 
übrigens  den  Geruch,  den  sie  verdient.  Berlin  riecht  nach  Hölle 
mit  Benzin,  Wien  nach  Paradies  mit  Pferdemist.  Hier  ist  der 
Straßenbahnverkehr  bereits  elektrisiert,  gewiß,  ich  gebe  es  zu, 
aber  der  Pferdemist  läßt  sich  nicht  mehr  entfernen.  Nie  mehr, 
nimmermehr,  sagte  ich  gerührt.  »Das  ist  nicht  wahr,  daß  bloß 
Pferdemist  auf  Ihren  traulichen  Wiener  Straßen  liegt!«  Nein,  auch 
Hundedreck!  (Ich  wurde  lebhaft.)  Haben  Sie  in  Berlin  schon  einen 
Hund  dabei  betreten,  wie  er  mitten  auf  dem  Trottoir  -  Mein 
Gegner  begann  ein  Adagio  auf  sich  zu  spielen,  warf  mir  noch 
einen  traurigen  Blick  zu,  und  starb  in  Schönheit.  Ich  rief  ihm  nach : 
Haben  Sie  überhaupt  schon  einen  Hund  auf  einer  Berliner  Straße  ge- 
sehen? Hin  und  wieder  fährt  einer  Automobil !  Die  geistige  Kultur 
einer  Stadt  beginnt  mit  der  Straßenreinigung  .  .  .  Aber  wie  komme 
ich  bei  dem  Wetter  nachhause,  da  vor  dem  Restaurant  ein  Wagen  steht 
und  der  Kutscher  bei  dem  Wetter  nicht  fahren  will?  Draußen  liegt  es 
wie  Eiskaffee.  Aller  Brei,  der  je  zwischen  den  Pflastersteinen   ver- 


56 


sickert  ist,  scheint  hervorzuquellen,  und  schon  spüre  ich  es  im 
Hals,  daß  ich  nasse  Füße  habe.  Oh,  es  ist  das  Wetter,  mit 
dem  sich  dieses  fürchterliche  Klima  rächt,  weil  wir  es  für  ein 
paar  blaue  Tage  loben.  Es  macht  Migräne  und  Menschenhaß. 
Wie  hier  alles  heimisch  ist  und  selbst  das  Wetter  im  Dialekt 
spricht !  Wie  ich  hier  meine  Zeit  verliere,  um  das  Wetter  abzuwarten, 
und  es  nimmt  doch  kein  Ende,  und  ich  habe  keine  Zeit.  Man 
hält  mich  fest  und  macht  Musik  dazu.  Ich  will  mit  meinem  Leben 
vorbei  und  muß  es  als  Lösegeld  zahlen,  um  nichts  zu  haben,  wenn 
ich  fort  kann.  Ich  fliege  schon,  und  darf  nicht  gehen.  Eine  Deichsel 
im  Rücken  und  Quallen  an  den  Füßen.  Kann  ich  zum  Ziel  nicht 
gelangen,  muß  ich  die  Hindernisse  beschreiben.  Irgendwo  wartet 
man  auf  mich.  Wo  habe  ich  das  Manuskript?  Und  ich  finde  es 
in  meiner  Tasche,  und  jetzt  heißt  es  sich  beeilen.  >  Aufhalten  .  .!€  Ich 
springe  über  den  Graben,  dort  gehen  zwei  schöne  Augen  spazieren, 
aber  das  darf  mich  nicht  mehr  bekümmern,  ich  springe  über 
die  Pestsäule,  ich  nehme  die  Luftlinie.  Wenn  ich  Glück  habe 
und  der  Zug  Verspätung  hat  —  ich  will  einen  Aphorismus 
zu  Ende  denken,  ein  Druckfehler  wird  mir  ihn  töten, 
ich  schwanke  und  schwebe  zwischen  zwei  Worten,  meine 
Nerven  entspannen  sich  und  ich  bin  im  Himmel . . .  Doch  ich 
muß  darüber  hinweg.  Ich  laufe,  jage,  stürme  die  Treppe  empor, 
da  empfängt  mich  der  Präsident  des  Studentenvereins,  ein  achtzig- 
jähriger Mann  mit  schlohweißen  Haaren  und  sagt:  »Wir 
haben  geglaubt,  Sie  kommen  nicht  mehr.  Das  Publikum  hat 
gewartet,  nur  die  erste  Reihe  ist  tot.  Aber  jetzt  schnell;  sonst  löschen 
dieDienerdieLichteraus.«  Ich  sagte:  >  Die  Verbindung  über  Berlin  wäre 
günstiger  gewesen.  Aber  man  kann  nichts  machen.  Ich  bin  mit 
einer  Luxation  des  linken  Sprunggelenks  davongekommen.  Auf 
der  Straße  staut  sich  der  Fremdenverkehr,  und  es  war  beim  besten 
Willen  nicht  möglich,  eher  da  zu  sein.«  >Findcn  Sie,  daß  sich 
Jcr  Fremdenverkehr  inzwischen  — ♦    »Ganz  entschieden«,  sagte  ich. 


Herausgeber    und    verantwortlicher    Redakteur:    Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3. 


..ARL  KRAVS 
DIE  CHINESI- 
SCHE MAVER 


ALBERT  LANGEN,  München 


TET  M  6.-,  IN  LEINEN  GEBUNDEN  M  7Ä),  IN  HALBFRANZ  LIEBHABER. 
J3AND  M  10.-.  BESTELLUNGEN  NIMMT  DER  VERUG  ALBERT  LANGEN, 
JÜCHEN,   KAULBACHSTRÄSSE   91    UND  JEDE   BÜCHHANDLUNG   ENTGEGEN 


Im  Herbst  erscheint: 

Von  den  fröhlichen  und  unfröhlichen  Menschr 

Gesammelte  Essays  voa  KARL  HAU£B 

VERLAG  JAHODA  &  SIEGEL,  WIEN 

WOCHENSCHRIFT  FÜR  KULTUR  UND  DIE  KÜNi: 
HERAUSOBSEBEN  von  HBRWARTH  WALDEN 

''^''^SSÜgMoÄ  -  ]ahresb«ug:  K  5.-  Haibjahrsbezug.  K 

ünternehmeii  für  Z«itimgfsatt»«oluiitte 

OBSERVER,    Wien,  l.  CoacordlaplaU  Hr.  4  (TelephOB  Hr. 

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Für  Östefteich-Ungarn:  18  Nummern,  portofrei iv 


Mk.  4.— 


Für  das  deutsche  Reich :  18  ,.  « 

27 

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Dop  elnuler  in'öste'rreich  60  Heller,  in  Deutschland  50  Penn.u 
Zu    beziehen     durch     sämtUche     Büchhandlungen 

Berliner  Bureau:  Haleasee,  KatharinenstraBf  fr 

Tm^TT^T^'^Hg^Döppelnummer  3^^^^^ 
KARL  KRAUS:  Schoenebeckmesser  KARL  K^KAUb.  V^^H 
^n^sche  Frage/  AUGUST  STRINDBERG  über  Ansic|j| 
oPTFR  ALTENBERG:  Der  einsame  Park  BERTHÜuü  vmr 
tII^  Stu'^nden ,  OTTO  STOESSL:  A«s  Goethes  Ta.ebüd^ 
PI  inOl  F  EHRLICH:  Wie  warst  du  schon  ALBbKl  ^]y^ 
sVfiSt™  LUDWIG  RUBINER:  Henri  M^>sse/fl^ 
RORM ANN :  Abend  /  KARL  KRAUS :  Glossen  /  KARL  KR. 
üer  Biberpelz  /  Selbstanzeige 

Heiiusgebcr  und  yrtantwor« Icher  Redaklctu  Kar!  Krau» 
r.„..v  L„  T.H.rt,  «c  Si««L  Wi«,  III.  Hintere  Zolbtnts.tr.  3 


309/310  3i.  OKTOBER  1910  XII.  JAHR 


0] 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

KARL  KRAUS:  Kerapinski  / ELSE  LASKER- SCHÜLER:  Ge- 
dichte /  SAMUEL  LUBLINSKI:  Der  Erzähler  Otto  Stoessl/ 
Selbstanzeige  /  BERTHOLD  VIERTEL:  Rilkes  Buch  / 
ALEXANDER  SOLOMONICA:  Meine  Freundschaft  /  ALBERT 
EHRENSTEIN :  Verzeihung  /  KARL  KRAUS :  Pro  domo  et  mundo 


NACHDRUCK  VERBOTEN 

PREIS  DER  DOPPELNUMMER  60  HELLER 
ERSCHEINT  IN  ZWANGLOSER  FOLGE 


VERLAG:  ,DIE  FACKEL',  WIEN  — BERLIN 

ItEN,    in  2.    HINTERE    ZOLL.\MTSSTRASSE    3       T^  N    Nr.     187 

ERLIN  ER     BUREAU:      HALENSEE,     KATH^u   ^.i  RASSE 


irM   VUKtSbKbll  UINU  : 

Verlag  ALBERT  LANGEN 

KARL  KRAUS: 
Heine  und  die  Folgen 


(Dieser  Essay  wurde  vom  Autor  am  3.  Mai  und  am  3.  Juni 
in  Wien  zur  Vorlesung  gebracht) 


Else  Lasker-Schüler : 

DER  SIEBENTE  TAG 

(Verlag  des  Vereins  für  Kunst,  Berlin  1905,  Amelang'sche  Badihandlang, 

Charlottenburg) 

Otto  Stoessl: 

NEGERKÖNIGS  TOCHTER 

(Verlag  Georg  Müller,  Manchen) 

Rainer  Maria  Rilke: 

DIE  AUFZEICHNUNGEN  DES  MALTE  LAURIDS  BRI66E 

(Insel-Verlag,  Leipzig) 

Peter  Altenberg: 

BILDERBÖGEN  DES  KLEINEN  LEBENS 

(Verlag  Erich  Reiss,  Berlin-Westend) 

Otto  Soyka: 

HERR  IM  SPIEL 

ROMAN 
(Hyperion- Verlag  Hans  von  Weber,  München) 


DIE  FACKEL 

Nr.  309,30)  31.  OKTOBER  1910  XU  JAHR 

Kempinski 
Von  Karl  Kraus 

Zu  einem  Werke  werde  ich  nie  gelangen.  Ich 
möchte  meine  Lebensanschauung  zu  einem  philoso- 
phischen System  ausbauen  und  es  »Kempinski«  nennen. 
Wenn  dieses  Werk  erscheint,  müßten  sämtliche  Ber- 
liner Kulturästheten  und  Wiener  Gastwirte,  Herr 
Scheffler  und  der  grade  Michl,  Selbstmord  begehen 
aus  Reue  über  ein  verpfuschtes  Leben.  Ich  würde  in 
diesem  Buch  von  Trinkgeldern,  die  eingeteilt  werden, 
und  Speisen,  die  ausgehen,  ausgehen  und  zu  dem 
Nachweise  kommen,  daß  die  systematische  Zerreibung 
des  Nervenlebens  an  den  äußeren  Winzigkeiten,  die 
individuelle  Drapierung  der  Notwendigkeiten  mit  Hin- 
dernissen zur  kulturellen  Ohnmacht  führt.  Ich  würde 
das  älteste  und  von  aller  Humorlosigkeit  mißbrauchte 
Material  des  Sperrsechserls  nicht  scheuen,  um  die 
geistige  Linie  nach  Königgrätz  zu  ziehen.  Ich  würde 
zeigen,  daß  ein  ungeistiges  Volk  das  äußere  Leben, 
Gehen,  Fahren,  Essen,  mit  Gefühl  und  Temperament 
durchtränkt  und  mit  all  dem,  was  es  an  der  Kunst 
erspart.  Ich  würde:  die  Qualen  des  Wiener  Tags  nicht 
aus  dem  Gefühlswinkel  brummiger  Zärtlichkeit  be- 
trachten, wie  es  dem  Herrn  Bahr  gelingt,  und  noch  eini- 
gen Linzerischen  Buam,  die  sich  jetzt  in  den  Feuilletons 
breit  machen  und  mir  meine  Probleme  platt  treten;  nicht 
als  Beschwerden  behandeln,  denen  abzuhelfen  ist  und 
nach  deren  Beseitigung  wirdefinitiv  ins  Paradeisgartel  der 
Kultur  gelangen,  sondern  als  Symptome  eines  unheil- 
baren Volkscharakters.  Schildern,  wie  mir  in  diesem 
Kreuz-  und  Kreuzerland  das  Leben  verrinnt  in  der 
bangen  Pause,  da  ich  entdecke,  daß  der  Zahlkellner 
schon  befriedigt  ist,  aber  geholt  werden  muß,  um  zu 


2  — 


wechseln,  weil  noch  drei  andere  Familienväter  zu  ver- 
sorgen sind.  Nachmessen,  um  wieviel  hier  ein  Mensch, 
der  denkt,  täglich  herunter  gebracht  werden  muß, 
damit  die  Instrumente  sich  individuell,  malerisch, 
jodlerisch,  drahrerisch,  schieberisch  ausleben  können 
und  die  Passanten  ein  Vergnügen  haben.  Darstellen, 
wie  der  Wiener  aufs  Trockene  käme,  wenn  das  Leben 
glatt  ginge,  wie  das  Hindernis  selbst  seine  Lebens- 
notwendigkeit ist,  wie  er  die  Ratlosigkeit  braucht,  um 
vom  Kellner  aus  ihr  befreit  zu  werden,  sechs  Kellner, 
um  eine  Ansprache  zu  haben;  wie  er  darauf  angewie- 
sen ist,  beim  Verdauen  die  Romantik  zu  suchen,  die  er 
sich  in  anderen  Lebensverhältnissen  versagen  muß, 
zwischen  Tafelspitz  und  Grieszweckerl  alle  Erlebnisse, 
Abenteuer,  Überraschungen,  Enttäuschungen  durchzu- 
machen und  noch  im  Ansagen  bei  der  Rechnung  die 
Pietät  für  das  Papperl  zu  genießen.  Zeigen,  wie  diese 
Phantasten  der  Notdurft  nicht  nur  die  Konterfeis  ihrer 
maßgebenden  Gastwirte  in  ihren  Zeitungen  nicht  ent- 
behren können,  sondern  wie  sie  zu  Voyeuren  werden  vor 
der  Einladung:  »Täglich  das  wehberühmte  Backhühner- 
essen. Hochachtungsvoll  Vincenz  Deierl.«  Nachweisen, 
wie  die  kulturelle  und  ästhetische  Überanstrengung  der 
vereinigten  Rassen  zur  Schaffung  der  häßlichsten  Gesichter 
geführt  hat,  deren  man  auf  dem  Erdenrund  habhaft  werden 
kann,  und  wie  das  Getorkel  eines  Straßenbahnwagens 
fast  ein  Symbol  dieser  durcheinandergeschüttelten 
Nationen  ist  und  bezeichnend  für  die  Lage  der  Deutschen 
in  Österreich  bei  romanisch-slawisch-meseritscher 
Oberfüllung.  Ich  würde  dem  lokalen  Größen- 
wahn, der  das  Leben  nicht  in  Inneres  und  Äußeres, 
sondern  —  für  Hunger  und  Liebe  —  in  Vorderes  und 
Hinteres  einteilt,  verraten,  daß  die  Echtheiten,  die  er 
gepachtet  hat,  samt  und  sonders,  inklusive  Kipfel,  in 
Berlin  längst  überholt  sind.  Daß  das  Berliner  Prinzip 
heute  selbst  die  Echtheit  umfaßt,  wiewohl  sein 
kultureller  Sinn  in  der  traumhaften  Unechtheit, 
in    der    fieberflüchtigen   Markierung    äußerer    Lebens- 


—  3 


werte  beruht,  in  der  Stellung  eines  Rahmens,  der  Raum 
läßt  für  schöpferische  Geistigkeit.  Daß  die  Demokra- 
tisierung der  Dinge  und  nicht  der  Kunst,  die  Mechani- 
sierung des  äußeren  Lebens  der  Weg  ist  zu  einer  inneren 
Kultur.  Daß  in  den  Zeiten  der  geistigen  Not  das  Berliner 
Leben  eine  Pontonbrücke  ist.  Daß  der  Künstler  in  Wien 
höchstens  aus  dem  Überdruß  schöpft  und  Wien 
nicht  länger  erträgt,  als  das  Erlebnis  des  Ärgers  pro- 
duktiv bleibt.  Daß  er  dann  aus  dem  Unwesen  in  die 
Wesenlosigkeit  sich  rettet.  Daß  der  Tonfall  des  Bertiner 
Tages  die  Selbstverständlichkeit  ist,  die  alles  Neue  amal- 
gamiert,  während  wir  hier  täglich  das  Alte  ungewohnt 
finden,  die  Tradition  beglotzen,  auf  die  Vergangenheit 
hoffen  und  als  Trockenwohner  baufälliger  Häuser  uns 
fortfretten.  Ich  würde  die  Zauberformel  Berlins  finden: 
Das,  worüber  man  hinwegkommen  muß,  ist  nicht  das 
Ziel.  Lebensmittel  sind  nicht  Lebenszweck.  Wenn  das 
Pflaster  gut  und  billig  ist,  ist  die  Siegesallee  nicht 
gefährtich.  Otto  der  Faule,  von  einem  Automobil  aus 
gesehen,  ist  ein  Kunstwerk  neben  einer  Parlamentsgöttin 
aus  Stearin,  an  der  man  in  einem  Hupferl  vorbei  muß. 
Essen,  um  zu  leben,  nicht  leben,  um  zu  essen.  Essen 
müssen,  um  gute  Nerven  haben  zu  können,  aber  nicht 
gute  Nerven  haben  müssen,  um  essen  zu  können.  Es 
kann  dort  nicht  geschehen,  daß  der  Wirt  sein  eigener 
Stammgast  ist.  Nicht  in  der  Kultur  und  nicht  im  Lokal. 
Und  Kempinski,  ein  Wohltäter  der  Menschheit,  der 
Menschen,  die  noch  etwas  anderes  zu  tun  haben,  dazu 
verholfen  hat,  auf  gefahrlose  Art  zur  Verrichtung  ihrer 
Notdurft  zu  gelangen,  ist  gestorben,  ohne  daß  man  ihm 
beweisen  konnte,  daß  er  gelebt  hat.  Wäre  die  Speise  dort 
wirklich  so  schlecht,  wie  unser  Rindfleischwahn  sich 
einbildet,  sie  wäre  besser,  weil  sie  ohne  Pathos  und 
mit  Schonung  des  Nervenlebens  geboten  wird,  während 
wir,  Romantiker  der  Notwendigkeit,  immer  unbe- 
friedigt bleiben,  weil  die  Kalbsbrust  mit  dem  Anspruch 
auf  unser  Herz  gereicht  wird  und  durch  keine  Vollkom- 
menheit für   solche  Belästigung  entschädigen   könnte. 


—    4    — 


Ich  würde  beschreiben,  wie  der  Wiener  mit  dem  angebore- 
nen Grauen  vor  der  »Abfütterungsanstalt«  zu  Kempinski 
kommt,  an  der  Aussicht,  einen  Platz  zu  finden,  ver- 
zweifelt, und  so  schnell  gegessen  hat,  daß  ihm  die 
Frage  an  das  Schicksal :  »Was  können  Sie  mir  empfeh- 
len?« für  immer  in  der  Kehle  stecken  bleibt.  Tisch  109, 
Kellner  57,  das  macht:  Gast  6213.  Aber  dieser  kann  in 
dem  Choral  der  Maschinen  seinem  eigenen  Gedanken 
nachleben,  während  der  einsame  Gast  im  Wiener  Vor- 
stadtbeisel sein  eigenes  Wort  nicht  hört.  Ich  würde  die 
Idyllen  der  Leipziger  Straße  schildern  und  die  Gefahren 
der  Plankengasse.  Und  es  risse  mich  hin,  dieser  anti- 
quierten Schönheitssucht,  die  sich  in  krummen  Gassen 
weidet,  die  Poesie  der  graden  Linie  vorzuziehen  und 
diesem  Leben,  das  auf  Krücken  zu  seinen  Wundern  kriecht, 
das  Leben  der  mysteriösen  Selbstverständlichkeit. 


Gedichte 

Von  Else  Lasker-Schfiler 

Weltende 

Es  ist  ein  Weinen  in  der  Welt, 
Als  ob  der  liebe  Gott  gestorben  war, 
Und  der  bleierne  Schatten,  der  niederfällt 
Lastet  grabesschwer. 

Komm,  wir  wollen  uns  näher  verbergen  .  . 
Das  Leben  liegt  in  aller  Herzen 
Wie  in  Särgen. 

Du !  wir  wollen  uns  tief  küssen  .... 
Es  pocht  eine  Sehnsucht  an  die  Welt, 
An  der  wir  sterben  müssen. 


Diese  Gedichte  sind  nicht  Manuskripte.  Aber  weil  sie  gedruckt 
sind  und  kein  Deutscher  sie  gelesen  hat,  müssen  sie  hier  erscheinen. 
So  ist  die  Lyrik  beschaffen,  die  heute  noch  der  rationalistischen  Visage 
deutscher  Kunstbetrachter  ein  Grinsen  entlockt.  Und  da  Verleger  in  den 
seltensten  Fällen  Vorläufer  sind,  so  wird  die  Ausgabe  >Der  siebente 
Tag<  ein  Opfer  bleiben,  das  der  >Verein  für  Kunst«  in  Berlin  zu  den 
übrigen  Opfern  legen  kann. 


—    o   — 

Johann  Hansen  und  Ingeborg  Coldstrup 

Zur  Kindertragödie  in  Kopenhagen 
Ingeborg,   seine  kleine  Königin  ist  tot   —  Johann  Hansen 
lebt  noch;   an  seinem  Bettchen   sitzt   eine   harmherzige  Schwester 
und  betet,  daß  der  arme  verirrte  Knabe  bald  genesen  möge.   Der 
Stationsarzt  hat  ihm  das  Tor  des  Todes  verri^elt,  sein  Herz,   das 
Ingeborgs  Namen  trägt,  kann  nicht  zu  ihr  ins  Himmelreich.  Nun 
wird  das  Kinderspiel  erst  eine  Kindertragödie.  Die  Beiden  wollten 
ja  nur  zum  Tod,  weil  der  einen  Himmel  besitzt,  in  dem   sie  sich 
vor    allen    Engeln    ohne    Furcht  vor    Strafe    herzen    könnten. 
Nicht    diese  Heimlichkeiten    der  Freude,  ihre  Gesichter   schienen 
durch  die  Spalte    der  Türen,   durch    das  Eisen   der  Tore.    Immer 
bauten   sie  auf   ihren  Händen   gläserne  Schlösser,   darin   sie  sich 
tausendbunt  spiegelten   bis  ans  Ende   der  Welt,   wo  der  Himmel 
anfängt.  Dort  wohnt  der  Tod.  Johann  Hansen   hob  Ingeborg  mit 
seinen   Knabenarmen   die  Treppe  zum  Einlaß   des  Todes  empor. 
Der  öffnete    und   ließ  die  kleine   Königin   ein,   Johann   stolperte 
rücklings  ins  Leben  zurück.  Diese  beiden   feinen  Kinder  ergreifen 
meine  Seele.  Das  Leben  ließ  sie  aus  der  Haft,  der  Tod  schmückte 
ihnen  rosig  sein  Tor.  Ich  möchte,  der  Engel  aus  Andersens  Märchen 
käme  und  trüge  den  verwundeten  Knaben  zu  Ingeborg  ins  Himmel- 
reich. Wie  bösmütig  sind  die  Menschen,  die  immer  helfen  wollen, 
ins  Leben  zu  befördern.  Es  ist  Nacht,  überall  blüht  ein  Stern.  An 
der  Decke  im  Krankensaal   stehen   viele  Sterne,   rotgoldene,    süß- 
gelbe,   wie  Honig,    und    auch    mattfunkelnde   Immortellen.    Alle 
pflückt  der  kleine,  heldenmütige  Bräutigam  für  seine  Braut,  wenn 
er   im  Himmel    mit    ihr  Hochzeit  feiert.  Auf  einmal   schlägt   er 
die  Augen   auf:    > Ingeborg,   ich  halte   mein  Wort!«    Hast  du  es 
gehört,   großer  Engel  aus  Andersens  Märchen?    Oder  soll  er  auf- 
wachen aus  seinem  Traum  des  Himmels  —  und  die  Erde  ist  wieder 
da,  das  Himmelreich  verschwunden,  wie  fortgezaubert,  und  Ingeborg 
liegt  im  Grabe.   Ein  Keller-  wird  dann  die  Welt  sein,   kahl,   viel 
kahler  als   seines  Hauses   Keller.    Alt  ist    er,    wenn  er  aufwacht, 
jung,  wenn  seine  Augen   sich   schließen.   Was  bietet  das  Leben? 
Nicht  das  Kind  braucht  den  Eltern  dankbar  zu  sein;   wie  können 
die  Eltern  aber  das  Nichtgeborensein  dem  Kinde  ersetzen!?  Solch 
zwei  Kindern    vor  allen  Dingen,   zwei  Engel,   die  nicht  auf  die 
wankelmütige  Erde  gehören.   Flügel  wuchsen    ihnen;    die  Pistole, 


—   6    — 


die  sich  der  Knabe  vom  Erlös  seiner  Geige  kaufte,  war  Vor- 
täuschung. Denn  es  geschah  hier  ein  Todeswunder,  Nicht  mehr 
wäre  ich  überrascht  gewesen,  wenn  dieselben  Kinder  anstatt  für 
ewig  zu  schlummern,  auferstanden  wären  aus  einem  Grabe.  Wie 
will  der  Lazarus,  der  den  Knaben  auferweckt,  ihm  ein  Himmelreich 
ersetzen?  Es  werden  keine  Landeserholungsheime  die  »festgestellte« 
Neurose  (Edelneurose)  fortkurieren.  Aber  ich  denke  an  Selma 
Lagerlöf  die  herrliche  Menschin,  an  Karin  Michaelis  das  liebe 
große  Kind,  sie  könnten  dem  Knaben  den  himmelblauen  Verlust 
ersetzen.  Sie  tragen  die  Bilder  des  Himmels  in  ihren  Dichterinnen- 
herzen —  halten  sie  zwischen  ihren  Händen.  Ich  bin  nicht  senti- 
mental, ich  bin  traurig.  Man  vergleiche  nur  nicht  die  unaufgeblühte 
Liebe  dieser  Engel  mit  den  Tändeleien  koketter  Schulmädchen  und 
greisenhafter  Zwerge  auf  den  Spazierwegen  am  Sonntagmittage. 
Diese  beiden  Kinder  ergreifen  meine  Seele,  ihre  Lippen  sind 
Himmelsschlüsselchen. 

Streiter 

Und  Deine  hellen  Augen  heben  sich  im  Zorn, 
Schwarz,  wie  die  lange  Nacht,  und  morgenlose, 
Des  Eitlen  Stimme  brüllt  in  toter  Pose, 
Wie  durch  ein  enggebogenes  Hörn. 

Und  durch  das  übermütige  Tausendlachen 
.  Der  Einen  und  der  Zweiten  und  der  Vielen, 
Zerbersten  Wort  an  Worten  sich  aus  Wetterschwielen, 
Wie  reife  Härten  auf  den  lauten  Schwachen. 

Und  Abendwinde,  die  von  her  und  dort  sich  trafen 
Und  schrill  in  Kreiseleile  sich  beschielen, 
Aufpfiffen  fröstelnd  über  die  gehöhnten  Dielen  — 
Ich  konnte  nachts  vor  Träumerei  nicht  schlafen. 

Und  meine  Seele  liegt  wie  eine  bleiche  Weite 
Und  hört  das  Leben  mahlen  in  der  Mühle, 
Es  löst  sich  auf  in  schwere  Kühle, 
Und  ballt  sich  wieder  heiß  zum  Streite. 


—    7    — 


Der  Erzähler  Otto  Stoessl 

Von  Samuel  Lublinski 

Es  scheint,  daß  die  Österreicher  die  Fähigkeit 
verloren  haben,  wirkliche  Heimatskultur  zu  treiben, 
weil  sonst  die  Erzählungen  Otto  Stoessls  gerade  in 
seinem  engeren  Vaterland  eine  ganz  andere  Beachtung 
hätten  finden  müssen,  als  bis  zur  Stunde  der  Fall 
war.  Wir  draußen  im  Reich,  wir  von  der  literarischen 
Zunft,  können  natürlich  nur  einen  rein  kritischen  und 
ästhetischen  Maßstab  an  seine  Dichtungen  legen.  Wer 
aber  wirklich  ein  »Neuösterreicher«  sein  will,  der  hätte 
sich  doch  wohl  mehr  um  die  dichterischen  Keime  bei 
Otto  Stoessl  kümmern  müssen  als  um  die  prophetischen 
Töne  des  schwarzgelben  Imperialisten  Hermann  Bahr. 

Die  jüngste  Erzählung  des  Autors  »Egon  und 
Danitza«,  die  noch  nicht  als  Buch  erschienen  ist, 
habe  ich  in  den  von  Wilhelm  Schaefer  in  Düsseldorf 
herausgegebenen  , Rheinlanden'  gelesen,  einer  der 
wenigen  deutschen  Zeitschriften,  bei  denen  gute 
Erzählungskunst  noch  eine  Stätte  findet.  In  mancher 
Beziehung  ist  mir  dieses  jüngste  Werk  das  liebste,  es 
ist  mir  geradezu  ans  Herz  gewachsen,  obgleich  es 
wirklich  kaum  noch  etwas  »gemütloseres«  geben  kann, 
das  am  wenigsten  an  das  mit  Unrecht  beliebte  Gartenlaube- 
gemüt des  deutschen  Volkes  appelliert.  Es  weht  die 
Luft  des  echten  Lustspieles  durch  diese  Erzählung. 
Ein  heller  und  boshafter  Geist  scheint  mit  Entzücken 
auszurufen:  Wie  wundervoll,  daß  es  ein  so  lumpiges 
kleines  Gaunerpack  auf  der  Welt  gibt !  Man  hat  gerade- 
zu das  Gefühl,  daß  das  Leben  noch  lebenswert,  näm- 
lich amüsant  ist,  weil  Herr  Egon  de  Alamor,  Diumist, 
mit  ausgeborgten  Pferden  durch  die  Wiener  Straßen 
paradiert.  Wie  der  getäuschten  Danitza,  der  er  vorge- 


Die  Erzählungen  >Sonjas  letzter  Name«  und  >Negerkönigs 
Tochter«  sind  bei  Georg  Müller,  München  erschienen,  der  auch  >Egon 
und  Danitza«  herausbringen  wird.  »In  den  Mauern <  erschien  bei  Julius 
Bard,  Berlin. 


—    8   — 


redet  hat,  daß  er  ein  »Beamter«  wäre,  die  Augen 
übergelien,  bis  sie  ihrem  eleganten  Herrn  Gemahl,  der 
trotz  seiner  Schafsmäßigkeit  ein  Pumpgenie  bleibt, 
endgiltig  den  Rücken  kehrt:  das  macht  den  stoff- 
lichen Inhalt  und  das  epische  Element  dieser  boshaft 
hellen  Lustspielerzählung  aus. 

Episch?  Darf  ich  dieses  Wort  hier  überhaupt 
gebrauchen?  Wo  Epik  ist,  da  ist  auch  Bejahung,  da 
ist  Gebundenheit,  typisch  Zuständliches  und  Liebe 
des  Dichters  zu  diesen  Zuständen,  zu  dieser  Gebunden- 
heit. Wie  kann  sich  das  zusammenreimen  mit  der 
vergnügten  Zerstörungslust  und  mit  der  entzückten 
Bosheit,  die  der  Erzähler  gegenüber  diesem  Trottel 
spielen  läßt,  der  auf  den  hochtönenden  Namen  Egon 
de  Alamor  hört?  Ja,  wenn  noch  ergrimmte  Bitterkeit 
herauszufühlen  wäre;  irgend  ein  pathetischer  Haß 
gegen  die  Drohne!  Außer  einigen  geringen  Spuren, 
die  ganz  sporadisch  auftauchen  und  aus  dem  Menschen 
mehr  als  aus  dem  Dichter  kommen,  ist  nichts  von 
einem  solchen  Ingrimm  zu  merken.  Sondern  der 
himmlisch  amüsierte  Lustspielgeist  ist  ehrlich  entzückt 
über  die  grotesken  Kapriolen  dieser  Figur,  die  der 
Bosheit  so  viel  Blößen  gibt.  Also  völlige  Negation, 
hinter  der  durchaus  keine  indirekte  Bejahung  steht,  so 
daß  man  auch  nicht  gut  von  »Humor«  sprechen  kann, 
von  jener  Herzensteilnahme,  die  noch  der  Erbärm- 
lichkeit Erbarmen  entgegenbringt.  Nein,  hier  ist  nichts 
als  heitere  Grausamkeit,  der  Lustspielgeist,  der  alles 
in  allem  den  Gegenpol  zur  Epik  und  epischen  Be- 
jahung bedeutet.  Allerdings  sind  die  sozialen  Zu- 
stände, Klassen  und  Stände,  so  leicht  nicht  umzu- 
bringen, da  ihre  schwerfällige  Lebenszähigkeit  allen 
Stößen  und  Hieben  des  Satirikers  ein  undurch- 
dringliches Fell  entgegenhält.  Der  Lustspieldichter 
schöpft  aber  aus  solchen  Gesellschaftszuständen,  und 
so  bleibt  immerhin  etwas  Zuständliches  in  seinem 
Werk,  das  er  negieren,  aber  nicht  vernichten  kann. 
Auch     Otto    Stoessl     kann     nicht     kleinbürgerliches 


i 


9    — 


Beamten-  und  Strebertum  aus  der  Welt  schaffen, 
nicht  das  solide  Parvenütum  heraufgekommener  spieß- 
bürgerlicher Existenzen,  wie  der  serbischen  Helden- 
mutter, die  noch  allerlei  dekorative  Erbschaft  aus  dem 
Balkan  mit  sich  schleppt,  im  übrigen  aber  ihr  Geld 
zusammenhält  und  sich  nichts  vormachen  läßt,  wie  sie 
denn  gleich  weg  hat,  daß  Egon  de  Alamor  »ein  Lump 
ist,  aber  kein  Beamter«.  Diese  Zuständlichkeit  bleibt 
trotz  aller  Satire  bestehen  als  eine  indirekte  epische 
Grundlage,  die  eine  Erzählung  ermöglicht.  Außerdem 
aber  fehlt  es  dem  Dichter  keineswegs  an  wirklicher 
Liebe  zu  einem  seiner  Geschöpfe.  Der  Danitza  gehört 
sein  menschlich-väterliches  Wohlwollen.  4hre  törichte 
Liebe  zu  dem  dummen  Jungen  wird  als  ein  echt 
typisches  Weibschicksal  mit  sicherer  Hand  gestaltet, 
und  der  satirische  Hintergrund  steigert  durch  Kontrast- 
wirkung diese  epische  Typik. 

So  scheint  sich  also  eine  Lustspielerzählung  höchst 
besonderer  Art  entwickeln  zu  wollen,  bis  plötzlich 
gegen  den  Schluß  hin  ein  geradezu  erstaunlicher 
und  zunächst  verwirrender  Wechsel  eintritt.  Auf  einmal 
atmen  wir  eine  fast  schon  homerische  Luft;  da  ist 
reine  Epik  ohne  Spur  von  satirischem  Hintergrund, 
es  findet  ein  völliger  Umschwung  der  Atmosphäre 
statt.  Danitza  entflieht  aus  Wien  und  sie  findet  draußen 
jenseits  der  Reichsbrücke  armes  verlorenes  Volk,  das 
sich  seine  Hütten  aus  weggeworfenem  Baumaterial  der 
wohlhabenden  Klassen  wunderlich  und  grotesk  genug 
zurechtgemacht  hat.  Dazu  noch  ein  bißchen  Feld  und 
Gartenerde  der  kümmerlichste^  Art  und  ein  im  bürger- 
lichen Sinn  völlig  ungebundenes  Leben  der  absoluten 
und  darum  unbekümmerten  Armut,  während  doch 
auch  hier  die  inneren  Gesetze  menschlicher  Gemein- 
schaften zur  Geltung  kommen  und  eine  sehr  wunderliche 
Soziologie  ihre  geheime  Wirksamkeit  entfaltet.  Ein 
Märchenreich  vor  den  Toren  von  Wien.  Hier  gestaltet 
die  Phantasie  die  reine  und  runde,  die  homerische 
Epik;  es  sind  diese  wenigen  Schlußseiten  das  dichterisch 


—  10 


Bedeutsamste,  was  Otto  Stoessl  bisher  geschaffen  hat. 
Alles  Zeitliche  und  Aktuelle,  alle  Satire  und  Gesell- 
schaftssitte ist  versunken  wie  ein  Spuk,  und  nur  ganz 
von  fern  erinnern  wir  uns  an  einen  Herrn  von  Alamor, 
der  weit  draußen  in  irgend  einer  Stadt  der  Schein- 
menschen sein  Scheinwesen  treibt.  Kurz,  es  sind  wunder- 
schöne Seiten,  die  uns  der  Dichter  zu  lesen  gibt;  aber 
sie  kommen  wie  eine  Überraschung,  ja  wie  eine  Über- 
rumpelung, und  man  kann  kaum  sagen,  daß  sie 
organisch  aus  dem  Kern  der  Konzeption  heraus- 
gewachsen seien.  Der  Autor  konnte  mir  auf  meine 
Frage  nur  antworten,  daß  ein  ihm  selbst  unerklärlicher 
innerer  Zwang  diesen  Wechsel  der  Szenerie  bewirkt 
habe.  Er  war  geneigt,  die  Gründe  dafür  im  Mensch- 
lichen zu  suchen:  daß  er  sich  nach  so  viel  Schwindel- 
haftigkeit  wieder  nach  der  Darstellung  eines  echten 
Lebens  sehnte.  Mir  konnte  diese  Erklärung  nicht  voll 
genügen,  weil  es  unbegreiflich  blieb,  warum  er  sich 
dann  überhaupt  zu  einer  solchen  Scheinexistenz  als 
Künstler  hingezogen  gefühlt  hatte.  Entweder  mußte 
dieser  künstlerische  Zwang  in  der  einmal  eingeschla- 
genen Richtung  seine  Konsequenzen  entfalten,  oder  er 
hätte  sich  von  Anfang  an  nur  auf  das  Echte  gerichtet, 
auf  reine  Epik,  und  ein  solcher  Dualismus  erschien 
schwer  verständlich  in  einer  Erzählung,  die  das  Talent 
des  Autors  in  voller  Kraft  zeigte.  Mir  stand  fest,  daß 
irgend  ein  episches  Kunstgesetz  diese  Hemmung  von 
innen  heraus  bewirkt  haben  mußte,  und  das  hier  ver- 
borgene ästhetische  Problem  begann  mich  bald  um 
seiner  selbst  willen  sehr  gründlich  zu  interessieren. 
Beim  Urepiker  Homer  erleben  die  Fürsten  und  hohen 
Herren  die  abwechslungsreichsten  Abenteuer,  Schiffs- 
brüche und  Heldentaten,  phantastische  Überraschungen, 
bis  sie  endlich  glücklich  im  Hafen  eingelaufen  sind.  Also 
Abenteuerlichkeit  ist  das  erste  Ingredienz  einer  epischen 
Dichtung.  Doch  darf  man  an  der  sozial  einwandfreien 
Lebensführung  und  Lebensstellung  jener  erlauchten 
szeptertragenden  Könige  nicht  zweifeln.  Sie  sind  legi- 


11  — 


time  Fürsten,  die  Oberhäupter  des  Adels,  der  einen 
soziologiscii  gut  fundierten  Boden  unter  den  Füßen  hat. 
Das  Zuständliche  bei  Homer,  die  ruhig  eingeschränkte 
Gesellschaftlichkeit  des  täglichen  Lebens,  macht  den 
zweiten  und  reichlich  gleichwertigen  Reiz  seiner 
Dichtung  aus.  Es  klafft  kein  Riß  zwischen  den  beiden 
Elementen,  sondern  das  Abenteuer  ist  in  der  Soziologie 
der  Epoche  fest  verankert,  und  es  gehört  einfach  zum 
Metier  jener  Könige  und  Edelleute,  fortwährend  Kriegs- 
und Seefahrten  zu  unternehmen  und  allerlei  Gefähr- 
liches dabei  durchzumachen.  Das  verlangt  ihre  soziale 
Stellung  von  ihnen,  und  wir  dürfen  den  großen  Epiker 
glücklich  preisen,  dem  sein  Zeitalter  in  innerer  Einheit 
entgegenbrachte,  was  der  Epiker  in  erster  Reihe  braucht: 
soziologische  Zuständlichkeit  zugleich  mit  abenteuer- 
licher Mannigfaltigkeit,  gut  fundierte  Solidität,  die  in 
sich  ein  Element  der  Phantastik  begreift.  Heute  haben 
diese  Bestandteile  sich  gründlich  von  einander  ge- 
schieden, und  der  Abenteurer  kann  es  nicht  zu  einer 
anerkannten  Stellung  in  der  Gesellschaft  bringen,  so 
daß  dem  armen  Teufel  zumeist  nichts  übrig  bleibt,  als 
Hochstapler  zu  werden.  Umgekehrt  wird  jeder,  auch  der 
friedsamste  Hochstapler,  unvermeidlicher  Weise  irgend- 
wie zu  einem  glanzvollen  Abenteurer.  So  ist  es  unter 
anderem  dem  Herrn  Egon  de  Alamor  widerfahren,  und 
der  Epiker  Otto  Stoessl  mußte  sich  herzhaft  freuen, 
als  dieser  zwar  unfreiwillig  phantastische  Geselle  ihm 
über  den  Weg  lief,  und  er  setzte  sich  hin,  um  die 
wundersamen  Erlebnisse  des  vornehmen  Diurnisten 
säuberlich  zu  erzählen.  Aber  da  stellte  es  sich  heraus, 
daß  der  Herr  de  Alamor  zu  den  Deklassierten  gehörte 
und  in  keiner  wirklichen  Zuständlichkeit  fest  wurzelte. 
Daraufhin  regte  sich  der  urepische  Instinkt,  der  sich 
mit  dem  Abenteurer  allein,  ohne  eine  soziale  Umwelt, 
nicht  zufrieden  geben  konnte,  und  so  half  sich  der 
Dichter  durch  einen  instinktiven  Gewaltstreich,  indem  er 
zum  Schluß  jenseits  der  Reichsbrücke  eine  homerische 
Welt  der  soliden  Deklassierten  hervorzauberte.    Dieser 


—  12 


kunsttechnische  Fehler  beweist,  wie  weniges,  die  epische 
Mission  des  Autors. 

Hier  wird  bereits  auch  sein  Verhältnis  zu  Neu- 
Österreich  berührt,  das  er  als  episches  Neuland  recht 
eigentlich  entdeckt  hat.  Dieses  seltsame  Reich  ist  ge- 
genwärtig im  eben  entwickeltem  Sinn  ein  schlechthin 
episches  Reich.  Noch  ist  die  stramme  moderne  Dis- 
ziplinierung nicht  so  weit  vorgeschritten,  daß  dem 
Hochstapler  jede  Hoffnung  benommen  wäre,  zu  einer 
anständigen  sozialen  Stellung  zu  gelangen,  wie  es  uns 
kürzlich  erst  der  köstliche  persische  Feldmarschall 
Kolischer  Kahn  bewiesen  hat.  Dazu  kommt  die  bunte 
Ethnographie  des  Landes,  die  Fülle  der  nationalen 
Typen,  die  schwankende  Unsicherheit  der  staatlichen 
Verhältnisse  seit  dem  Sturz  des  Zentralismus,  und  end- 
lich, im  Gegensatz  dazu,  so  viel  fast  kleinbürgerlich 
pathetische  und  doch  solide  Ideologie.  Man  denke  an 
die  Primitivität  von  Alldeutschen  und  Allslaven  und 
an  die  moralische  Entrüstung  des  Kleinbürgertums, 
dem  die  Erfolge  Luegers  zu  verdanken  waren.  Über- 
haupt hat  ja  die  soziale  Schichtung  vergangener  Zeiten 
sich  gegenüber  dem  Ansturm  des  Industrialismus  nir- 
gends zäher  behauptet,  als  in  Österreich,  wo  der 
Kleinbürger  und  der  Abenteurer  noch  immer  eine  Fülle 
von  Lebensmöglichkeiten  finden.  So  unerquicklich  ein 
solcher  Zustand  in  sozialer  und  politischer  Beziehung 
vielfach  sein  mag,  der  Epiker,  der  in  ihm  leben  muß, 
ist  dennoch  glücklich  zu  preisen.  Die  alte  Homerische 
Einheit  findet  zwar  auch  er  nicht  mehr  vor,  aber  er 
kann  sie  aus  den  Elementen  des  ihn  umgebenden 
Lebens  in  der  Phantasie  wieder  herstellen.  Darin  nun 
sehe  ich  Stoessls  Bedeutung,  daß  er  mit  der  Ahnungs- 
sicherheit des  Talentes  diese  Aufgabe  begriffen  hat 
und  auf  dem  Weg  ist,  ein  österreichischer  Epiker  zu 
werden  anstatt  ein  Wiener  Literat.  In  dem  Roman 
»Sonjas  letzter  Name«  —  seinem  eigentlichen  Erstling, 
wenn  man  von  dem  vielversprechendem  Prolog  »In 
den  Mauern«  absieht  —  hat  er  bereits  im  Kleinen  ein 


I 


—  13 


solches  österreichisches  Epos  gegeben.  Verworrene  und 
märchenhaft  phantastische  galizische  Zustände  werden 
übergoldet  von  der  Sonne  eines  menschlich  teilnehmen- 
den und  echt  epischen  Humors.  Ein  pedantischer  Ober- 
leutrrant,  der  auf  seinen  Reisen,  um  Geld  zu  sparen,  im 
Freien  kampiert;  ein  armes  galizisches  Judenmädchen, 
das  der  Offizier  noch  als  halbes  Kind  zu  sich  nimmt 
und  in  der  absonderlichsten  Weise  vor  den  Augen  der 
Welt  verbirgt;  Urkundenfälschungen,  Lügen  über  Lügen, 
der  Eingriff  des  Kaisers,  der  diese  Verworrenheiten 
löst,  endlich  eine  gut  bürgerliche  Ehe,  wobei  das  Mäd- 
chen zuletzt  auch  noch  zu  einem  gesetzlich  einwand- 
freien Vornamen  gelangt:  all  dieses  Erstaunliche  spielt 
sich  im  modernen  Österreich  ab,  und  man  hat  das 
Gefühl  einer  vollkommenen  Verbürgtheit,  einer  inneren 
und  dichterischen  Logik  der  Tatsachen.  Zugleich  waltet 
ein  vollblütiger  Epiker,  der  in  einem  ruhigen  und 
füllereichen  Vortrag  zu  erzählen  weiß  und  typische 
Existenzzustände  des  Verhältnisses  der  Geschlechter 
mit  echter  Dichterkraft  und  tiefem  Mitgefühl  zu  schil- 
dern und  auszuschöpfen  weiß.  Diese  starke  Mensch- 
lichkeit unterscheidet  die  )»Sonja«  von  »Egon  und 
Danitza«,  und  beide  Werke  gehören  zu  einander  wie 
Pol  und  Gegenpol.  Aber  die  Zukunft  des  Dichters  wird 
wohl  mehr  durch  die  »Sonja«  vorausgemeldet.  Märchen- 
haft phantastische  Epik,  die  aber  auf  tief  menschlicher 
und  sogar  real  österreichischer  Grundlage  beruhen 
wird,  hat  er  in  diesem  seinem  schönen  Erstling  bereits 
gegeben,  nur  daß  er  sich  noch  nicht  so  voll,  wie  im 
Schluß  von  »Egon  und  Danitza«,  seiner  Phantasie  zu 
überlassen  wagt,  wodurch  da  und  dort  noch  eine  zu 
ängstliche  Reproduktion  von  alltäglichem  Detail  über 
das  Epische  hinaus  störend  wirkt.  Aber  ein  großes  und 
wertvolles  Versprechen  hat  er  uns  damit  gegeben,  und 
es  ist  an  seinen  Landsleuten,  ihm  durch  ihre  Teilnahme 
die  Erfüllung  zu  erleichtern. 

Allerdings   bedrohen   den  Dichter  auch   gewisse 
Hemmungen   und   Gefahren,   vor  denen   eine   freund- 


14 


schaftliche  Kritik  ihn  warnen  darf.  Die  österreichische 
Verworrenheit,  die  den  Epileer  begünstigt,  bedrückt 
natürlich  häufig  genug  den  Menschen.  Der  Hochstapler, 
der  die  Phantasie  fesselt,  muß  zu  Zeiten  die  Satire 
erwecken,  und  der  Erzähler  wird  da  und  dort  wohl 
auch  zum  Karikaturisten.  Ein  Schritt  weiter,  und  wir 
begegnen  jener  Simplicissimusgefahr,  wie  ich  sie  nennen 
möchte,  die  heute  bei  ausgebildeter  Technik  der  Satire, 
in  besonders  hohem  Maße  die  Erzähler  bedroht.  Die 
beiden  Klippen,  die  hier  zu  vermeiden  sind,  mag  man 
nennen:  Verbitterung  oder  Humoreske.  Diese  letzte 
Gefahr  ist  bei  Otto  Stoessl  wohl  so  ziemlich  ausge- 
schlossen, während  es  ihm  offenbar  noch  Mühe  kostet, 
die  menschlich-ethische  Verdrossenheit  über  bürgerliche 
Zustände  nicht  in  sein  Werk  dringen  zu  lassen  und 
dem  realen  Österreich  das  Phantasieösterreich  seiner 
Epik  mit  freudiger  Bejahung  gegenüberzustellen.  Mir 
scheint,  als  ob  seine  Erzählung  »Negerkönigs  Tochter«, 
die  zwischen  der  »Sonja«  und  dem  »Egon«  steht,  nicht 
ganz  frei  von  diesem  geheimen  feindlichen  Einfluß 
geblieben  ist.  In  einer  Beziehung  hat  sie  freilich  einen 
ganz  besonderen  Vorzug,  nämlich  ihre  strenge  und 
geschlossene  Form.  Es  werden  mancherlei  Probleme 
geistiger  Art  entwickelt,  ohne  daß  es  zur  Abstraktion 
und  Analyse  und  zu  unkünstlerischen  Exkursen  kommt. 
Alles  ist  in  Erzählung  aufgelöst,  die  scheinbar  kühl 
und  klar  nur  Tatsachen  zu  berichten  weiß,  aber  innere 
Wärme  und  vor  allem  Humor  nicht  vermissen  läßt,  — 
für  den  nicht,  der  mit  eigener  Phantasie  nachzuleben 
weiß.  Das  bleibt  eine  beträchtliche  Formleistung,  die 
um  so  mehr  Aufmerksamkeit  verdient,  als  gegenwärtig 
das  Problem  der  künstlerischen  Form  innerhalb  der 
modernen  Produktion  wieder  auf  der  Tagesordnung 
steht.  Vor  allem  aber  ist  der  geistige  Inhalt  dieser  Er- 
zählung kühn  und  merkwürdig.  Der  Kulturmensch 
flieht  in  den  afrikanischen  Urwald;  er  sucht  das 
Märchen  in  der  Natur.  Das  Naturkind  dagegen  findet 
seine   afrikanische   Urwaldheimat   sehr   prosaisch   und 


—  15  — 


entdeckt  in  der  »Kultur*  das  Märchen  —  in  Wien,  im 
Prater,  in  der  Großstadt,  in  der  wieder  der  Afrika- 
reisende verloren  ist,  wie  verirrt  in  einem  steinernen 
Urwald.  Diesen  ergötzlichen  Kontrast  konnte  nur  ein 
echter  Humorist  finden,  und  nur  in  Wien  oder  Öster- 
reich konnte  sich  der  Gegensatz  so  anschaulich 
lokalisieren.  Aber  mein  Einwand  ist,  daß  die  Größe 
des  Stoffes  neben  dem  Humor  auch  mehr  entschlossene 
Märchenphantasie  erfordert  hätte.  Der  Autor  steht  der 
Kultur  hier  doch  nur  als  Satiriker  gegenüber.  Die 
Urwaldmächtigkeit,  mit  der  die  steinerne  Stadt  auf  den 
Afrikaforscher  wirkt,  kommt  nifht  heraus,  und  die 
Sehnsucht  des  Negerkindes  erscheint  wieder  nicht  ge- 
nügend am  Märchenobjekt  Wien  orientiert  zu  sein. 
Offensichtlich  hat  der  Autor  sich  von  seiner  Simplicis- 
simuslaune  und  einem  gewissen  Ressentiment  verleiten 
lassen,  seine  dichterische  Intention  ein  wenig  selbst  zu 
ironisieren,  und  das  darf  der  Epiker  nicht,  dieser  Be- 
jaher, der  Humorist  sein  kann  und  soll  und  auch  wohl 
Pädagoge,  aber  nicht  Satiriker.  Bei  alledem  ist  der 
außerordentliche  Fund  selbst  zu  rühmen,  dann  die 
geschlossene  Form  und  so  manche  feine  und  ergötz- 
liche Einzelheit. 

Möge  der  Autor  alle  inneren  Hemmungen,  die 
sein  kraftvolles  Epikerwesen  da  und  dort  noch  be- 
drohen, glücklich  überwinden  und  immer  mehr  der 
Epiker  dieses  phantastischen  modernen  Österreich 
werden.  Seine  engere  Heimat  hätte  aber  allen  Anlaß, 
durch  Glauben  an  ihn  und  Teilnahme  an  seinem 
Schaffen  seine  Entwicklung  zu  fördern. 


Selbstanzeige 

Aus  der  Beriiner  Wochenschrift  ,Der  Demokrat' 
(28.  September): 

Karl  Kraus 
Von  Ludwig  Ullraann 
Karl    Kraus,    sein  Wort    und    seine  Tat  —  auch    im  .Demokrat' 
wurde  ihrer  schon  wiederholt  Erwähnung  getan  —  braucht  man  reichs- 


—  16 


deutschen  Lesern  heute  nicht  mehr  zu  erläutern.  Seit  elf  Jahren  erscheint 
in  Wien  sein  Kampfblatt  ,Die  Fackel',  seit  elf  Jahren  geschmäht  und 
geachtet,  gepriesen  und  verkannt,  geliebt  und  bewundert  von  den  Einen, 
gehaßt  und  gefürchtet  von  den  Anderen,  bricht  er,  ein  Einzelner  und 
Einsamer,  den  über  ihn  verhängten  Bann  publizistischen  Schweigens 
allmonatlich  mit  einer  Sprachgewalt,  die  ihm  aus  allen  Kreisen  und 
Lagern  ein  in  stiller  aber  starker  Verehrung  unbedingt  ergebenes  Publikum 
schuf.  Lange  blieb  die  Zahl  der  Männer  gering,  die  —  und  das  größten- 
teils in  außerösterreichischen  Blättern  —  für  die  Tiefe  des  Denkers 
und  die  Kraft  des  Künstlers  eintraten,  ohne  Scheu  vor  dem  immer 
bereiteten  Fluch  journalistischer  Verfehmung.  Da  erschienen  die  zwei 
ersten  Bände  der  »Ausgewählten  Schriften<,  da  trat  Kraus  im  letzten 
Winter  als  Vorleser  eigener  Aufsätze  vor  das  Berliner  Publikum  und 
die  führenden  Blätter  Deutschlands  ließen  es  sich  nicht  nehmen,  der 
Bedeutung  des  Schriftstellers  ihre  Achtung  zu  erweisen.  Wenig  mag  es 
dagegen  bedeuten,  daß,  al»  Kraus  seine  Vorlesungen  in  Wien  vor  einem 
enthusiasmierten  Hörerkreise  fortsetzte,  die  , Arbeiterzeitung'  allein  von 
allen  Wiener  Blättern  von  ihnen  Notiz  nahm,  daß  Kraus  heute  noch 
gezwungen  ist,  jede  Stimme,  die  über  ihn  laut  wird,  durch  Abdruck  in 
seinem  eigenen  Blatte  —  eine  Handlung  gerechter  Notwehr  und  freien 
Künstlerbewußtseins  —  den  Wienern  bekannt  zu  geben.  Langsam  aber 
sicher  dringt  der  Ruhm  Karl  Kraus'  aus  deutschen  Reichslanden  in  das 
erstaunte  Wien.  —  Seit  elf  Jahren  liegt  die  ,Fackel',  die  das  .Literarische 
Echo'  das  »amüsanteste,  kulturellste,  europäischste  Kunst-  und  Witzblatt« 
genannt  hat,  in  den  Wiener  Tabak-Trafiken  neben  den  eindeutigsten 
Produkten  der  Revolver-  und  Cochonneriepresse,  zum  Teil  von  einem 
reinem  Aktualitätshunger  fröhnenden  Publikum  verschlungen,  das  von 
Woche  zu  Woche  erwartet,  >was<  der  Kraus  über  diese  oder  jene 
Sensationsaffäre  schreiben  werde.  Robert  Scheu  hat  in  seiner  Broschüre 
»Karl  Kraus«  (Verlag  Jahoda  &  Siegel,  Wien)  darauf  hingewiesen,  wie 
sehr  Blatt  und  Herausgeber  in  diesen  elf  Jahren  der  Wandlung  und 
Steigerung  gewachsen  sind.  Klar  aber  ist,  daß,  je  mehr  aus  einem 
kulturell  verdienstlichen  Satyriker  einer  der  ersten  Denker  und  der  viel- 
leicht erste  Stilkünstler  unserer  Zeit  wurde,  je  mehr  sich  Form  und 
Inhalt  des  Blattes  vertieften,  je  mehr  Kraus  bestrebt  war,  frei  von  seinen 
Objekten  sie  beherrschend  in  den  Bann  seiner  Gestaltungskraft  zu 
zwingen,  künstlerischen  Stil  über  aktuellen  Gehalt  zu  stellten,  die  Tiefe 
seiner  Gedanken  aus  der  Kraft  der  Form  entstehen  zu  lassen,  desto 
mehr  die  Verständnislosigkeit  eines  Publikums  wachsen  mußte,  das  der 
»Verflachung«  des  einst  schnell  populär  gewordenen  Witzboldes  ratlos 
gegenüber  stand,  bis  sich  langsam  ein  neuer,  heute  stetig  wachsender 
Leser-  und  Kennerkreis  bildete.   — 

Das  Gefühl  der  Unwürdigkeit  aber,  bloß  einen  Automaten  für 
Angriffe  darzustellen,  war  es  wohl  in  erster  Linie,  was  Karl  Kraus 
anhielt,  die  Arbeit  langer  Jahre  in  nach  höheren  Gesichtspunkten  ange- 
ordneten Bänden  zu  vereinigen,  alle  jene  momentanen  Impulsen  ent- 
sprungenen, zwar  sicher,  wie  der  erste  kundige  Blick  zeigte,  oftmals 
revidierten,   aber  immerhin  in    der  Hitze    polemischer  Aufwallung    und 


—  17  — 


gedanklicher  Empfängnis  niedergeschriebenen  Aufsätze  durch  Umarbeit 
und  Zusammenstellung  zu  neuem  Gute  zu  machen,  sie  einem  größeren, 
nicht  von  Wiens  und  Österreichs  Grenzen  umschlossenen  Publikum  in 
tadelloser  literarischer  Form  vorzulegen. 

So  faßte  Kraus  seine  Aufsätze,  in  denen  er  —  sicher  eines  seiner 
größten  und  über  Menschenalter  hinaus  wirkenden  Verdienste  —  die 
Sezualjustiz  unserer  Tage  bekämpfte,  in  den  Band  »Sittlichkeit  und 
Kriminalität«  (bei  Rosner,  Wien)  zusammen,  so  vereinigte  er  seine  an 
Gehalt  und  Form  höchstens  den  Sprüchen  Lichtenbergs  zu  vergleichenden 
Aphorismen  in  dem  Buche:  »Sprüche  und  Widersprüche«  (bei  Langen, 
München).  So  erscheint  jetzt  gleichfalls  bei  Albert  Langen  der  dritte 
Band  der   »Ausgewählten  Schriften«    »Die  chinesische  Mauer«. 

Es  ist  ein  Buch,  in  dem  Kraus  ein  Bild  unserer  modernen 
Geisteskultur  auf  allen  Gebieten  geben  will.  In  der  Tiefe  seiner  Gedanken, 
in  der  Schärfe  seines  Blickes  aber  liegt  es  begründet,  daß  sich  tiefere 
Zusammenhänge  auftun,  die  über  die  Vergänglichkeit  unserer  Zeit  hinaus- 
reichend tief  im  Menschlichen,  besser  im  Normalmenschlichen  wurzeln. 
Dieses  Buch  kann  ein  ergreifendes  Dokument  genannt  werden,  ein 
Dokument  des  Kampfes  gegen  die  Dummheit,  gegen  die  Enge  der 
Durchschnittsgehime,  in  der  Kraus  den  Quell  alles  Obels,  aller  jener 
Mißstände  sieht,  gegen  deren  zermalmendes  Nivellierungsvermögen  er 
mit  nervenspannendem  Pathos  für  wahrste  Freiheit,  die  des  Geistes  und 
des  Geschlechts,  der  Nerven  und  der  Gehirne,  ficht.  Grauenerregende 
Bilder  entwirft  er  an  der  Hand  einiger  Berichte  aus  den  Zeitungsrubriken 
»Gerichtssaal«  und  »Tagesneuigkeiten«,  bannt  eine  chinesische  Mauer 
der  Beschränktheit  um  uns,  die  beengt  und  beengend  unserer  Kultur 
seit  Jahrhunderten  jeden  frischen  Lufthauch  absperrt,  ihre  wichtigsten 
Lebensregungen  in  Alltäglichkeit  erstickt,  jedes  freien  Mannes  Hirn  und 
jedes  starken  Weibes  Lust  mit  der  Peitsche  der  Moralsüchtelei  verfolgt. 
§ine  chinesische  Mauer  aber  sieht  er  ringsum  am  Horizont  einen  neuen 
Weltbrand  aufflammen.  Denn  von  den  Gelben,  die  mit  abendländischer 
Sitte,  Sünde  und  Schwäche  unbekannt  sind,  erwartet  er  die  Zertrüm- 
merung unseres  altersmorschen  Europa. 

Einer  Welt,  die  an  der  Bequemlichkeit  täglicher  Information  das 
Denken  verlernt  hat,  tritt  hier  ein  schärfster  Denker  von  unerbittlicher 
Konsequenz  entgegen,  ein  Denker,  der  nicht  nur  zu  formen  weiß,  was 
er  sagt,  der,  mehr  noch,  Meister  und  Diener  am  Worte  zugleich  mit 
scheuer  Verehrung  aus  der  Sprache  seine  Gedanken  schöpft,  dem  etwa 
die  Umstellung  eines  Beistrichs,  aus  der  sich  ein  neuer  ungeahnter  Sinn 
ergibt,  ein  tiefes  menschliches  und  künstlerisches  Erlebnis  ist,  der  seines- 
gleichen an  Treue  und  Genauigkeit  dem  Worte  gegenüber  kaum  hat, 
dessen  Stil  der  kompakteste,  präziseste,  ökonomischste  und  doch  reich- 
haltigste an  tiefstem  Sinn  ist,  wie  so  oft  schon  erkannt,  von  peitschen- 
scharfer Härte,  blitzendem  und  blendendem  Witz,  beklemmendem  Pathos 
und  ergreifender  Einfachheit,  einer  Einfachheit,  die  sich  oft  zu  Gipfeln 
lyrischer  Pracht  durchdringt.  Denn  Sätze,  wie:  »Wir  starben,  die  wir 
dachten.«  -  »Und  es  ist  allerorten  ein  Geräusch  der  Banalität  und  die 
große  Fliege  summt  in  meinem  Zimmer  ...»    —   »Eine  gelbe  Hoffnung 


—  18  — 


färbt  den  Horizont  im  Osten  und  alle  Glocken  läuten  Sturm.«  —  konnte 
nur  ein  Dichter  schreiben,  der  es  vorzog,  in  den  kurzen  Satz  eines 
polemischen  Autsatzes  die  Fülle  zu  bannen,  die,  ein  anderer  in  zwanzig 
klingenden  und  bimmelnden  Gedichten  verpufft  hätte.  In  dieser  Sprache, 
die  die  nährende  Mutter  der  Gedanken  des  Künstlers  ist,  werden  Denker 
und  Künstler  eins.  Die  Ereignisse,  möchte  man  glauben,  mußten  sich 
vollziehen,  um  ihrer  plastischen  Deutlichkeit  Nahrung  zu  geben.  In  ihr 
wurzeln  Kraft  und  Haß,  die  den  Kampf  gegen  veraltete  Gesetzespara- 
graphen und  Rechtsanschauungen,  gegen  Korruption  und  Kulturschwin- 
delei, gegen  Geschäftskunst  und  plattes  Tagesschriftstellertum,  gegen 
Banalität,  Gemeinheit  und  Niedrigkeit  durchzittern.  —  So  groß  aber  die 
einsame  Stärke  dieses  Mannes  ist,  so  empfindlich  zucken  seine  Nerven, 
deren  feingestimmter  Spannkraft  der  behagliche  Lebenstrott  Wiens,  dem 
der  norddeutschen  und  englischen  Städte  Verkehrsgröße  und  Arbeitslust 
ganz  fehlen,  zur  Qual  wird  Die  romantische  Individualisierungssucht  dieser 
Stadt,  ihre  lässig-faule  Grazie  und  banalisierende  Gemütlichkeil  treiben 
ihn  zu  bitterhumoristischen  Ausbrüchen,  durch  deren  unwiderstehliche 
Komik  die  Tragik  des  Jammers  über  die  seichte  Großmäuligkeit  des 
Daseins  weht.  Ein  leidenschaftlicher,  Wahrheitsfanatismus  beseelt  hier 
ein  Hirn  und  ein  Herz,  die  beide  gesund  und  reinlich  genug  sind, 
gegen  eine  Welt  zu  toben,  die  die  höchsten  Werte  der  Menschlichkeit 
käuflich  gemacht  habe,  die  das  Virginitätsideal  zur  Erhöhung  des 
Deflorationsgenusses  erfunden  habe ,  die  weibliche  Nerven ,  die  in 
ungebundener  Kraft  ihrer  Sehnsucht  folgen,  foltere,  während  sie  Einheirat 
und  Heiratskauf,  Bordellbetrieb  und  Annoncenkuppelei  zulasse  und 
besteuere,  die  den  lebenden  Geistesmenschen  mit  ihrer  Banalität  erdrücke, 
den  Toten  aber  zum  Heroen  derselben  ausrufe.  Es  ist  eine  straffe,  unbe- 
denkliche und  höchst  bedachte  Konsequenz,  mit  der  dieses  Buch  ange- 
ordnet ist.  Der  erste  Eindruck  der  Willkürlichkeit  verfliegt  sofort  und 
es  offenbart  sich  eine  in  ihrer  Notwendigkeit  direkt  geniale  Steigerung. 
Es  ist  ein  erschütternder  Totentanz,  der  beginnend  mit  der  Besprechung 
eines  Wiener  Sensationsprozesses  in  wehrhafter  Abwehr  und  grimmigem 
Ekel  gegenüber  moderner  Sexualethik  und  Sexualjustiz,  der  Banalisierungs- 
kraft  bürgerlichen  Fortschrittsdünkels  und  Politikbetriebs,  dessen  Kom- 
ponenten ordenstrebernde  Loyalität,  gaffende  Schaulust  und  lästige  Vor- 
drängerei bilden,  gegenüber  nebenmenschlicher  Belästigung,  zu  der  sich 
die  romantischen  Schönheitsträume  des  Philisters,  sein  kindisches 
Reklame-,  Informations-  und  Sensationsbedürfnis  gestalten,  gegenüber 
der  Vernichtung  alter  und  echter  Theaterkunst  durch  eine  lendenlahme 
Possenpöbelei,  der  Verdrängung  urkräftiger,  einfacher  Dichtung  durch 
journalistische  Taglöhnerarbeit,  gegenüber  der  Knechtung  der  Menschheit 
durch  Dummheit  und  Gleichgültigkeit,  Plattheit  und  Grausamkeit  vor  unseren 
Augen  vorbeihuscht,  bis  diese  Serie  vernichtender  Anklagen  (man  beachte 
zum  Beispiel  den  Aufsatz  >Die  Mütter<)  und  zermalmender  Beweise  in 
einer  Prophezeiung  von  grauenhafter  Wahrscheinlichkeit  ihren  Abschluß 
findet.  Der  Fall  der  Amerikanerin  Elsie  Siegl  ist  Karl  Kraus  der  Urteils- 
spruch der  Natur  über  unsere  Kultur,  eine  Kultur,  die  sich  selbst  solange 
knechtete,  bis  sie  sich  selbst    zerfleischen    muß,    bis    ihre   Weiber    sich 


I 


—  19  — 


gegen  ihre  Männer,  ihre  Lust  sich  gegen  ihre  Moral,  ihre  Triebe  sich 
gegen  ihre  Religion  kehren  müssen.  Eine  Kultur,  die  vor  dem  Ansturm 
einer  genußfrohen,  ethisch  nicht  gehemmten  Rasse  zusammenbrechen  muß. 
Ober  ein  Jahr  dauerte  nach  einer  Notiz  des  Buches  die  Ordnung 
und  Umarbeit  der  zuerst  in  .Fackel',  .Simplicissimus'  und  ,März' 
erschienenen  Aufsätze.  Aber  nur  dem  geschulten  Auge  wird  bei  ein- 
gehender Vergleichung  die  Fülle  und  Sorgfalt  der  Arbeit  kenntlich 
werden,  einer  Arbeit,  wie  sie  selten  in  deutschen  Landen  vollbracht  und 
noch  seltener  gewürdigt  wird  in  einer  Zeit,  die,  im  Afterfeuilletonismus 
verkommen,  Schnelligkeit  der  Information  und  >Glanz«  des  Stils  über  Kraft, 
Einfachheit,  Tiefe  und  Schönheit  stellt  und  den  Schreibenden  zur  Ver- 
flachung zwingt,  wenn  er  nicht  die  immense  Stärke  und  die  geniale 
Schöpferfreudigkeit  eines  Karl  Kraus  besitzt 

• 

Aus  dem  .Berliner  Börsen-Courier'  (21.  Sep- 
tember): 

Die  chinesische  Mauer.  Karl  Kraus,  der  Herausgeber  der 
Wiener  .Fackel',  einer  der  klügsten,  feinsten  und  unerschrockensten  Köpfe 
der  Gegenwart,  hat  unter  obigem  Titel  eine  große  Reihe  seiner  besten 
Aufsätze  gesammelt  (Albert  Langen  in  München);  sie  gehören  zu  den 
lebensvollsten,  die  er  geschrieben  hat.  Sie  sind  außerordentlich  reich 
an  ironischen  Ausfällen  und  satirischen  Hieben,  die  öffentliche  und 
geheime  Institutionen,  berühmte  und  berüchtigte  Personen  abbekommen. 
Besonders  übel  geht  es  hier  Herrn  Harden  und  noch  schlimmer  der 
österreichischen  Justiz.  Diese  Aufsätze,  in  denen  der  Geist  der  Verneinung 
vorherrscht,  wollen  nichts  sein,  als  das  Echo  des  Tages,  aufgefangen  in 
einer  leidenschaftlichen  Menschenbrust,  die  vor  Freude  und  Zorn,  vor 
Liebe  und  Haß,  Hoffnung  und  Verzweiflung  zu  zerspringen  droht.  Man 
ist  in  diesem  Buche  nie  auf  sicherem  Boden;  man  wandelt  wie  über 
glühende  Kohlen.  Nur  als  Barometer  der  persönlichen  Temperatur 
Kraus'  möchte  man  diese  Aufsätze  gelten  lassen,  als  die  Spiegelung 
einer  Zeitstimmung.  Hierin  liegt  ihr  wirklicher  Wert.  Der  Historiker 
kann  sie  zwar  nicht  als  Aktenstücke  brauchen,  um  aus  ihnen  Tatsachen 
festzustellen ;  aber  den  Pragmatismus  der  Begebenheiten  wird  er  aus  ihnen 
entlehnen  dürfen:  die  Lichter  und  Schatten  seines  Gemäldes. 

Kraus  stellt  Gesetze  auf  und  befehdet  Gesetze;  er  fördert  die 
Talente  und  legt  ihnen  auch  Fesseln  an ;  immer  aber  befragt  er  nur  seine 
eigene  Meinung  um  Rat.  Seine  Einseitigkeiten  und  Voreingenommenheiten 
sind  gewiß  nicht  seine  schlimmsten  Fehler.  Ohne  Liebe  und  Haß  gibt 
es  keine  Kunst,  wie  es  ohne  Blindheit  und  Voreingenommenheit  keine 
Liebe  gibt.  In  der  Kritik  ist  kräftiger  Haß  jedenfalls  besser  als  Gleich- 
giltigkeit.  Es  ist  ein  Geist  der  Unzufriedenheit  in  Kraus,  der  ihn  mit 
großer  Verachtung  von  all  den  verlogenen  gesellschaftlichen,  moralischen, 
ethischen  und  sozialen  Lügen  und  Borniertheiten  sprechen  läßt.  Seine 
Kritik  gleicht  dem  Sturm,  der  das  Morsche,  Schwächliche  und  innerlich 
Hohle  niederwirft.  Er  hat  die  Waffen,  um  blutige  Schlachten  zu  schlagen; 
er  hat  Witz  und  Satire  genug,  um  mit  den  Besten  zu  wetteifern. 


—  20 


Sein  Stil  ist  warm,  trotzig,  eigensinnig,  mutig,  tat-  und  schlag- 
kräftig und,  wenn  es  sein  muß,  grob.  Kraus  steht  da  wie  ein  gewappneter 
Mann  in  kriegerischer  Haltung,  die  Lanze  bereit,  schäumend  und  knirschend. 
Diese  Sprache  wirkt  wie  ein  Stahlbad,  in  das  man  entnervt  durch  Abstraktion 
und  Dachstubenweisheit,  niedertaucht  und  zu  neuer  Lebensfrische  sich 
stärd.  Er  mag  behandeln  welchen  Gegenstand  er  will,  immer  spiegelt 
sich  in  der  kristallenen  Klarheit  seiner  Darstellung  die  leidenschaftliche 
Persönlichkeit.  Dieser  Stil  scheint  völlig  der  Abdruck  des  inneren  Menschen. 
Mi.n  fühlt,  daß  Kraus  nicht  mit  Tinte  allein  schreibt,  er  schreibt  vielmehr 
mit  seinem  Blute  und  zuweilen  auch  mit  seiner  Galle.  J.  E.  P. 

» 

Aus  der  ,Welt  am  Montag'  (Berlin,  17.  Oktober): 

Der  bekannte  Wiener  Essayist  und  Satiriker  gibt  in  diesem  Bande 
einen  guten  Oberblick  über  seine  charakteristische  Lebensarbeit.  Karl 
Kraus  ist  ja  von  jeher  so  etwas  wie  ein  literarischer  Outsider  gewesen. 
Man  konnte  gewiß  nicht  immer  mit  ihm  gehen.  Aber  selbst  wo  man 
ihm  widersprechen  mußte,  hatte  man  stets  das  Gefühl,  daß  hier  ein 
verblüffend  kluger,  scharfsichtiger  Geist  die  Dinge  nach  seiner  ureigenen 
Methode  sich  vornahm.  Dieser  erste  Eindruck  wird  verstärkt,  wenn  man 
seine  in  der  .Fackel'  und  im  ,Simplicissimus'  verstreuten  Essays  in 
einem  stattlichen  Bande  beieinander  findet.  Die  Physiognomie  dieses 
seltsamen  Schriftstellers,  in  dem  brodelndes  Temperament  und  bitterböse 
Satire  sich  zusammengeschweißt  findet,  tritt  erst  hier  so  recht  klar  und 
plastisch  vor  den  Leser.  Man  sehe  sich  seine  Glossen  zu  Tagesereig- 
nissen (wie  den  Prozeß  Veith  oder  die  Eulenburgaffäre  usw.) 
und  seine  verblüffend  sicheren  Porträts  bekannter  Zeitgenossen 
(Maximilian  Harden,  Peter  Altenberg,  Girardi  usw.)  an.  Sein 
sonderbarer,  nicht  eben  leicht  flüssiger  Stil  vibriert  förmlich  vor  lauter 
Persönlichem.  Das  leicht  Nervöse  und  vor  allen  Dingen  völlig  Un- 
pathetische seiner  Darstellungskunst,  die  das  Haschen  nach  Schmock- 
schen  Brillanten  nicht  nötig  hat,  garantiert  ihm  einen  allerersten  Platz 
im  Geschichtsbuche  der  deutschen  Journalistik.  Eine  Virtuosenarbeit, 
wie  seine  unbarmherzige,  von  glühender  Feindschaft  aufgepeitschte  Ab- 
rechnung mit  Maximilian  Harden  ist  in  diesem  Zusammenhange 
ganz  zweifellos  ein  historisches  Dokument   ersten  Ranges. 


Rilkes  Buch 

Von  Berthold  Viertel 

Jedes  Werk  von  makellosem  Stile  stellt  die  Reinheit 
der  Begriffe  wieder  her.  Die  »Aufzeichnungen«  lassen 
ein  Wunder,  welches  von  falschen  Propheten  oft  mit 
täuschender  Unechtheit  nachgeahmt  wird,  klar  werden: 

Rainer  Maria  Rilke,  Die  Aufzeichnungen  des  Malte  Laurids 
Brigge.  Leipzig.  Im  Insel-Verlag  1910. 


—  21  — 


Sprache.  Daß  Sprache  die  letzte  Reife,  die  überzeugende 
Fruchtbarkeit  einer  erwählten  Seele  ist.  Das  million'm- 
stimmige  Gerede  der  Zivilisation  allerdings  hat,  abge- 
sehen von  seinen  Berichterstatter-  und  Handlanf,er- 
diensten  in  der  Welt  der  Tatsachen,  den  satanischen 
Zweck,  die  Seele  mundtot  zu  machen,  die  schüchternen 
Stimmen  der  inneren  Wahrhaftigkeit  zu  überschreien. 
Der  Flugsand  der  toten  Worte  und  der  gestorbenen 
Sätze  verschüttet  die  lebendigen  Regungen  des  Gefühls, 
erstickt  die  Versuche  persönlichen  Denkens  und  trocknet 
die  zarten  Quellen  der  Einbildungskraft  aus.  Die  Angst 
vor  dem  Leben  hat  diese  genial  mörderische  Methode 
ersonnen,  die  Angst  vor  dem  seelischen  Leben,  welche 
das  teuflische  Stigma  der  Menschheit  ist.  Das  Werden 
der  Seele  tut  weh,  es  ist  voll  Bangnis  und  Gefahr. 
Wie  unerträglich  schon  die  Einsamkeit,  welche  geboten 
ist,  damit  ein  Inneres  sich  rühre!  Wie  gemieden  und 
verleumdet  die  Stille,  in  deren  Hut  die  Melodie  des 
Menschen  sich  auf  sich  selbst  zu  besinnen  beginnt! 
Und  der  Mensch,  in  seiner  schlotternden  Ohnmacht, 
in  seiner  kranken  Feigheit,  bemächtigt  sich  der  Dichter- 
stimmen, um  sie  zum  Lärm  zu  mißbrauchen. 

Nein,  die  trunkenen  Hymnen,  die  leidenschaft- 
lichen Gesänge  haben  wenig  Hoffnung,  gehört  zu 
werden.  Villeicht  zwingt  eher  manchmal  ein  unerbittlich 
Leiser  zum  Aufhorchen  und  Lauschen.  Urn  dem  Wort 
Brigges  zu  huldigen,  will  ich  vorerst  die  Stille  rühmen, 
die  seine  Atmosphäre,  sein  Klima  ist.  Nichts  rührender 
als  diese  sanft  inbrünstige  Beschattung  einer  Bered- 
samkeit, die  aus  dem  Geheimnis  einer  Seele  sich  los- 
löst, nichts,  was  inniger  überwältigt. 

Brigge  klingt  nur  von  Einsamkeit  zur  Einsam- 
keit. Wer  ihn  hören  will,  muß  erst  verstummt  sein. 
Er  lege  ein  sehnsüchtiges  Ohr  an  die  vibrierende 
Rhythmik  dieser  Prosa.  Er  belausche  diesen  Funken, 
der  einen  unsäglich  zarten  Stoff  durcheilt.  Er  be- 
horche diese  Sprache,  wie  man  die  verschwiegenen 
Atemzüge  eines  geliebten  Wesens  behorcht.   Vielleicht 


—  22  — 


geht  dann  dieses  rührend  Einfache  in  ihn  über.  *  Wie 
ist  es  einfach!  Wie  leicht  macht  es  einem  diese 
Sprache,  welche  fertig  geworden  ist.  Es  ist  ja  nichts, 
als  die  betörende  Selbstverständlichkeit  einer  keuschen 
Stimme,  die  für  sich  selbst  spricht  und  daher  aus 
jedem  heraus,  der  ein  verwandtes  Selbst  hat.  Man 
merkt  es  fast  nicht,  wie  sie  führt.  Sie  ist  sanft  und 
leicht  wie  ein  Luftgeist,  man  spürt  kaum,  daß  sie  in 
eine  Richtung  zwingt,  aber  sie  führt  mit  großer 
Sicherheit.  Und  plötzlich  ist  man  mitten  in  einer 
unselig  seligen  Betörung. 

Eine  fertig  gewordene  Sprache,  eine  fertig  ge- 
wordene Seele.  Jetzt  zwingt  sie  dir  durch  die  Gliederung 
ihrer  Sätze  ihre  persönliche  Logik  auf.  Unmerklich 
geschieht  ein  Zauber:  indem  eine  herrlich  konsequente 
Rhythmik  ihren  Akzent  auf  beseligend  genaue  Worte 
wirft.  Und  die  Art  einer  Seele  wirbt  durch  die  magische 
Verteilung  des  Tones.  Mit  geradezu  grammatikalischer 
Notwendigkeit  öffnen  sich  die  Bilder,  um  zu  über- 
zeugen. Und  die  Begriffe  erfolgen  wie  logische  Er- 
lösungen. —  Es  gilt,  dir  das  schwere  Geheimnis  einer 
geprüften  Seele  aufzuladen,  noch  ehe  du  es  merkst, 
was  man  mit  dir  vor  hat.  Es  soll  dir  eine  furchtbare 
Bangnis  ins  Blut  geflüstert  werden,  vor  der  du  bisher 
flohest.  Und  ohne,  daß  du  es  verdienst,  bist  du  reif 
für  die  Gnade,  bist  du  bereit  zu  einer  Seligkeit,  die 
weit  aus  einer  dir  sonst  versagten  Höhe  herabkommt. 
Mit  einer  einfachst-sicheren  Methode,  wie  sich  etwa 
eine  schwierige  Spitze  knüpft,  haben  sich  die  letzten 
Fragen  des  Menschentums  in  ein  feinstes  Gespinnst 
der  Beziehungen  verfangen.  Die  große  Dämonie  geriet 
in  ein  Kleinleben  überzeugender  Details.  Und  du, 
armer,  beneidenswerter  Leser,  bist  einem  Künstler  ins 
Garn  gelaufen. 

Dieses  Buch  ist  erfüllt  von  einem  Glück  des  Be- 
merkens, der  Apperzeption,  dem  nichts  versagt  scheint. 
Jeder,  der  manchmal  aufwacht,  kennt  diese  mystische 


23  — 


Belebung:  wenn  die  Seele  plötzlich  ihr  Licht  auf  irgend 
eine  Heimlichkeit  wirft.  In  manchen  sehr  empfänglichen, 
inspirierten  Stunden  nehmen  wir  so  jeden  intimen 
Ausdruck  auf,  nähren  uns  von  dem  ganz  Individuellen 
der  Dinge  und  Begebenheiten.  Das  ist  das  würdige 
Material  der  Erinnerung.  Das  ist  die  wundervolle 
Deutlichkeit  der  Träume,  die  als  undeutlich  verleumdet 
werden.  Das  ist  die  manchmal  erlösende  Nähe  der  Natur, 
das  plötzliche  Verwandtwerden  fremder  Menschen.  Nicht 
das  Glück:  solches  Ersehen,  solches  Erleben  macht  reich. 

Dieses  ganze  Buch  ist  aus  solch  überzeugendem 
Ausdruck  gemacht.  Gesten  und  Menschenzüge,  die 
sich  in  uns  selbst  leise  aufzutun  scheinen,  die  aus 
unserem  Blut  zu  mahnen  scheinen.  Erinnerung  voll 
süßer,  reifer  Menschlichkeit,  für  die  man  sofort  alles 
hingeben  möchte,  was  man  an  teuersten  Erinnerungen 
selbst  besitzt  und  heilig  hält.  Ahnungen,  die  man  nicht 
mehr  abschütteln  kann.  Ein  Hinfluten  von  Träumen, 
darunter  solche,  die  für  ein  Leben  Ersatz  leisten,  und 
Alpdruck,  dem  man  nicht  entweicht.  Legenden,  die 
man  halluziniert  hat,  wie  man  schwören  wollte,  und 
eine  grausame,  schrecklich  echte  Gegenwart,  wie 
Suggestion;  man  hat  eine  Krankheit  geerbt.  Aber 
dieser  da  gibt  Gesundheit. 

Welch  ein  Strömen  und  Überströmen  innerer  und 
innerster  Erfahrung.  Und  man  weiß :  es  ist  das  viele 
Erfahren-Haben  eines  reichen  Lebens,  nein,  einer  kultur- 
langen Geschlechterkette  von  Einzelleben.  Und  nun,  in 
einem  großen  Augenblick  bricht  es  herein,  Qual  und 
Erlösung  eines  letzten  Adels,  Reife  über  Reife. 

Alles  ist  hier  Perspektive,  Spiegelung,  Analogie, 
Metapher,  Beziehung.  Alles  löst  sich  in  einem  Fluidum 
der  Ahnung.  Und  doch  hat  diese  Welt  Einheit.  Doch 
sammelt  sich  jedes  Detail  zu  einer  Dialektik,  die  mit 
überzeugender  Genauigkeit  sich  entwickelt. 

Der  Stoff  aber,  aus  dem  alles  besteht,  ist  die 
Briggesche  Inbrunst,  die  hier  zwischen  ihren  beiden 
Polen:  Angst  und  Zuversicht,  ihre  ganze  Skala  durch- 

309--310 


—  24 


läuft.  Mit  ihrer  ekstatisclien  Milde,  ihrer  Demut,  ihrer 
Lebensfrömmigkeit,  mit  allen  Kulten  ihrer  Liebe,  ihrer 
sich  verzehrenden  Zärtlichkeit  und  ihrer  männlichen, 
geistigen  Urkraft.  Sie  ist  in  jeder  Geste,  in  jedem  Bild, 
im  Formendrang  und  Linienlauf  dieser  oft  bis  zur 
Gewalttat  intensiven  Phantasie.  Und  sie  ist  in  der  Be- 
redsamkeit Brigges  ganz  Stimme  geworden,  Musik, 
unendliche  Melodie. 

Die  »Aufzeichnungen«  sind  Lyrik,  wie  die  Dramen 
Shakespeares  und  die  Romane  Dostojewskis  ungeteilt 
dahinfließender  lyrischer  Strom  sind,  wie  jede  Dichtung 
Lyrik  ist.  Die  Tagebuchblätter,  die  Reflexionen  und  Visio- 
nen, die  Predigten,  Erinnerungen  und  Legenden  —  alles 
lyrische  Unmittelbarkeit,  Strophen  einer  großen  Hymne. 

Und  Szenen  eines  großen  Dramas.  Denn  es  ge- 
schieht eine  Handlung  und  Verwandlung.  Eine  Tragik, 
die  durch  ein  Wunder  überwunden  wird:  wie  dieser 
Letzte  sich  und  die  Kultur  seines  Geschlechtes  voll- 
endet; durch  welche  kontrapunktische  Not  er  zu  seiner 
wahrsten  Sicherheit  sich  durchsiegt:  welch  ein  Künstler- 
tum  sein  Kranken,  welch  ein  Sehertum  sein  Ahnen, 
welch  ein  Reifen  sein  Sterben  und  welch  eine  betörende 
Dichtung  seine  Armut,  sein  Verlorengehen  istl  Wie  er 
sich  aus  dem  »Capillaren«  überwältigend  aufbaut: 
einer  jener  Menschen,  deren  die  Historie  bedarf,  um 
sich  durch  die  Meisterschaft  der  Wenigen  für  den 
Dilettantismus  aller  zu  rechtfertigen.  Man  spreche  nur 
nicht  geradezu  von  Christentum,  so  verwandt  auch 
der  Geist  Brigges  den  meist  verführerischen  Geistern 
des  Christentums  sein  mag.  Denn  man  erleichtert 
dadurch  das  billige  Mißverständnis,  das  so  gern  der 
unerbittlichen  Wahrheit  des  im  großen  Sinne  Persön- 
lichen sich  entzieht.  Man  sage  auch  nicht  »Mystik«, 
um  so  ein  Kunstwerk  verdächtig  zu  machen.  Denn 
dieser  beispiellose  Impressionismus  der  Mystik,  in  der 
wundergenauen  Unmittelbarkeit  seines  Ausdrucks  ist 
Kunst,  um  es  noch  einmal  zu  sagen :  Lyrik.  Die  reifste 
und  reinste  Lyrik  Rainer  Maria  Rilkes. 


I 


25  — 


Meine  Freundschaft 
Von  Alexander  Solomonica 

H.,  einer  meiner  Bekannten,  war  mir  sehr  anhänglich,  und  ich 
ihm  nicht  minder  zugetan.  Wir  sprachen  zwar  nie  über  dies  gegen- 
seitige Verhältnis,  doch  es  hatte  sich  unzweifelhaft  in  das  Gleich- 
maß des  Vertrauens  von  selbst  gefunden.  Unsere  Freundschaft 
war,  so  darf  ich  sagen,  unser  Widerschein,  ein  Flammenspiel  an 
der  Wand,  das  sich  nicht  wegwischen  ließ,  wenn  irgend  eine  Hand 
darüber  fuhr.  Die  Liebe  zu  dem  gleichen  Mädchen  hätte  sie  nicht 
zerstört,  sie  vielleicht  in  eine  lautere  Feindschaft  verwandelt,  sie 
schlimmstenfalls  einem  tragischen  Konflikte  zugeführt.  Der  Gedanke, 
daß  sonst  ein  äußerer  Anlaß,  und  wäre  es  selbst  der  Tod,  der 
Harmonie  etwas  anhaben  könnte,  lag  mir  fem,  ich  hielt  ihn^  der 
Erwägung  nicht  wert  und  bin  dessen  gewiß,  daß  auch  er  verächt- 
lich über  ihn  gelächelt  hätte. 

Aber  als  ich  gestern  mit  ihm  sprach,  da  hatte  sich  unter- 
dessen eine  unbegreifliche  Veränderung  vollzogen.  Ich  bemerkte, 
daß  alle  Herzlichkeit  aus  unserer  Rede  gewichen  war.  Mißtrauen 
erfüllte  sie,  es  hatte  sich  Heuchelei  in  ihr  eingenistet,  und  vergebens 
bemühte  ich  mich,  ihrer  Herr  zu  werden.  Auch  ein  Versuch  von 
seiner  Seite,  mit  einem  schnellen  Lachen  den  alten  Ton  zu  finden, 
mißglückte.  Ich  mußte  erkennen,  daß  es  sich  um  keine  vorüber- 
gehende Verstimmung  handelte;  sie  wäre  sogar,  hätten  wir  jetzt 
gleich  die  Sprache  darauf  gebracht,  nicht  verflogen,  sondern  gewiß 
für  immer  besiegelt  worden.  Obgleich  sie  grundlos  zu  sein  schien, 
fühlte  ich  ihre  Unwiderruflichkeit.  Aber  indem  ich  mich  fragte, 
wie  ich  je  hatte  mit  ihm  befreundet  sein  können,  erschrak  ich  in 
einem  Atemzuge  darüber,  daß  es  mit  dieser  Freundschaft  nun 
endgültig  vorbei  war.  Als  ich  dann  schärfer  zusah,  erkannte  ich  — 
dies  ging  mir  sehr  nahe  — ,  daß  jene  Heuchelei  von  mir  allein 
ausgegangen  war.  Ich  hatte  sie  auf  ihn  nicht  einmal  übertragen, 
sie  nur  in  die  Gegenrede  hineingedeutet.  In  Wahrheit  war  plötzlich 
eine  unsichtbare  Mauer  zwischen  uns,  von  der  meine  Worte  zurück- 
prallten, und  sein  Gesicht  blieb  mir  verschlossen. 

Im  Schwindel,  der  mich  ergriff,  tastete  ich  vergebens  nach 
der  Hoffnung,  es  wäre  ein  Traum.  Denn  nie  zuvor  hatte  mich  so 
ohne  Gnade  die  Wirklichkeit  gestreift.  Doch  weiß  der  Himmel, 
hinter  welchem  Traume    ich  mich   verborgen  hielt,    so    ahnte  ich 


26  — 


nicht,  daß  ich  selbst  die  Wirklichkeit  gewesen  war.  Ich  hörte 
irgend  einen  Klang  verstummen,  aber  ich  horchte  wohl,  von  einer 
Wallung  umfangen,  nur  mit  halbem  Ohre  hin.  Mir  war's,  als  hätte 
ich  den  Einsatz  meiner  Kraft  verspielt,  doch  der  Schlaf  lag  mir 
noch  auf  den  Lidern,  nun  bin  ich  erwacht  und  meine  Schwäche 
ist  verflogen.  Ich  denke  sogar  mit  Genugtuung  daran,  wie  gleich- 
gültig mir  der  Freund  geworden  ist.  Eine  meiner  Launen  hat  ihm 
einen  bösen  Streich  gespielt,  darum  bemüht  er  sich  jetzt,  wie  ich 
weiß,  vergebens,  den  Anlaß  zu  unserer  Entfremdung  zu  finden. 
Ich  ärgerte  mich  vielleicht  über  den  Ausdruck  seines  Gesichtes, 
oder  es  verriet  mir  plötzlich  ein  Augenzwinkern  die  Distanz,  um 
die  ich  mich  in  der  Zwischenzeit  von  ihm  entfernt  hatte.  Wie  dem 
auch  sei,  an  die  Marschroute,  die  ich  mir  selbst  vorschrieb,  bin 
ich  gebunden.  Sind  doch  seit  jeher  meine  Launen  das  Einzige, 
das  mich  zur  Pflicht  gemahnt,  denn  ich  mache  sie  mir  zur  Pflicht. 
Ängstlich  bin  ich  bestrebt,  jeder  einzelnen  zu  Willen  zu  sein,  und 
selbst  meine  Gefühle  gehorchen  da  aufs  Wort.  Vor  ihnen  habe 
ich  Respekt,  denn  sie  allein  lassen  mich  an  die  Macht  des 
Schöpferischen  glauben.  Wohl  hielt  ich  unsere  Freundschaft  für 
unzerstörbar,  da  ich  sie  aber  einer  Laune  opferte,  erweist  sich  mir 
das,  was  mich  als  Ohnmacht  schreckte,  als  eine  Probe  meiner 
Macht.  Ich  werde  mir  wollüstig  bewußt,  daß  eine  leise  Regung 
meines  Willens  dem  Tode  gewachsen  ist.  Ihm  trotzte  die  Freund- 
schaft, war  sie  doch  unser  Widerschein,  den  nun  ein  Hauch  des 
Gedankens  für  immer  erlöschen  machte.  Ich  enttäuschte  ein  Ver- 
trauen, das  selbst  der  Ewigkeit  gespottet  hätte,  denn  es  entsprang 
einer  Harmonie;  aber  an  meiner  flüchtigsten  Laune  wurde  es  zu- 
schanden. 

Und  doch,  da  mich  dieses  Bewußtsein  mit  unerhörter  Freude, 
mit  grimmiger  Sicherheit  erfüllt,  entsinne  ich  mich  dessen,  was 
war,  und  ich  werde  wieder  irre.  Da  bin  ich  nervös  und  rebellisch, 
als  gelte  es,  eine  Drohung  abzuwehren,  die  ich  nicht  kenne, 
sondern  nur  dumpf,  als  Ahnung  empfinde.  Was  zwingt  mich  jetzt, 
mir  die  Züge  deines  Antlitzes  vorzustellen?  Sie  sind  verzerrt,  aber 
mich  dünkt,  ich  hätte  sie  entstellt.  Mit  einmal  scheinen  sie  mir  wieder 
liebenswert  zu  sein.  Doch  es  ist  nur  ein  flüchtiges  Erinnern,  das 
mich  täuscht  und  verwirrt!  Nein,  ich  ertappe  mich  dabei,  wie  ich 's 
zum  Vorwand  nehme,    weil    mir    ein   Widerspruch    befiehlt,    das 


—  27  — 


Überwundene  zu  erstreben.  Darum  halte  ich  jetzt  über  die  ver- 
gangene Freundschaft  lebhaftere  Zwiesprache  mit  dir,  als  je,  da 
wir  noch  wirklich  Freunde  waren.  Ja,  ich  bitte  dich,  mir  zu  ver- 
zeihen, mich  nicht  zu  verlassen.  Weißt  du  noch,  wie  grenzenlos 
wir  einander  vertrauten?  Noch  immer  habe  ich  keine  Geheimnisse 
vor  dir,  doch  ich  selbst  bin  an  Geheimnissen  arm.  Willst  du  mir 
nicht  die  deinen  anvertrauen?  Aber  ich  sehe  es  dir  an,  unauf- 
hörlich denkst  du  an  Untreue  und  Verrat.  Wie?  Ich  besinne  mich, 
auf  meine  Pflicht,  auf  meinen  Willen.  Noch  spreche  ich,  wie  ich 
es  einst  gewohnt  war,  zu  dir,  doch  du  hörst  mich  nicht  mehr. 
Die  Entfernung  wächst  zwischen  uns,  ich  winke  dir  aus  der  Ferne 
und  blicke    nicht    hin,  um  zu  sehen,  ob  du  den  Gruß  erwiderst. 


Verzeihung 

Von  Albert  Ehrenstein 

Im  Bette  lag  sie, 
bleich,  ausgehärmt 
und  arg  zerlitten 
von  des  Lebens 
Tag  auf  Tag. 

Aus  ihren  armen  Augen 
starrten  meine  Sünden 
mir  entgegen 
Mal  an  Mal. 

Und  aber,  da  ich  mich 
zu  ihren  Faltenhänden 
beugte,  neigte 
sie  sich  über  mich 
und  ihrer  Seele 
letzter  Hauch 
segnete  mich, 
wie  eine  Rose 
gelb  und  welk 
im  Fallen  noch 
den  Boden  küßt. 


—  28 


Pro  domo  et  mundo 

Von  Karl  Kraus 

Schöpferische  Menschen  können  sich  dem  Eindruck 
fremder  Schöpfung  sperren.  Darum  verhalten  sie  sich 
oft  zur  Welt  ablehnend,  wenngleich  sie  nicht  selten 
deren  UnvoUkommenheit  empfinden. 

Wenn  Gott  sah,  daß  es  gut  war,  so  hat  ihm  der 
Menschenglaube  zwar  die  Eitelkeit,  aber  nicht  die 
Unsicherheit  des  Schöpfers  zugeschrieben. 

• 

Der  Künstler  lasse  sich  nie  durch  Eitelkeit  zur 
Selbstzufriedenheit  hinreißen. 

» 

Der  Schwache  zweifelt  vor  der  Entscheidung.  Der 
Starke  hernach. 

• 

Es  gibt  einen  produktiven  Zweifel,  der  über  ein 
totes  Ultimatum  hinausgeht.  Ich  könnte  Hefte  mit 
den  Gedanken  füllen,  die  ich  bis  zu  einem  Gedanken, 
und  Bände  mit  jenen,  die  ich  nach  einem  Gedanken 
gedacht  habe. 

» 

Die  Fähigkeit,  nach  schneller  Entscheidung  zu 
zweifeln,  ist  die  höchste  und  männlichste. 

Meine  Mängel  gehören  mir.  Das  macht  mir  Mut, 
auch  meine  Vorzüge  anzusprechen. 

•  ^ 

Wenn  ich  über  sie  zu  schreiben  habe,  zweifle 
ich  an  der  Sonne  Klarheit,  von  der  ich  überzeugt  bin. 

« 

Manchmal  lege  ich  Wert  darauf,  daß  mich  ein 
Wort  wie  ein  offener  Mund  anspreche,  und  ich  setze 
einen  Doppelpunkt.  Dann  liabe  ich  diese  Grimasse  satt 
und  sähe    sie    lieber    zu    einem    Punkt    geschlossen. 


—  29  — 


Solche  Laune  befriedige  ich  erst  am  Antlitz  des  gedruckten 
Wortes.  Sie  bewirkt  oft  den  Verlust  von  dreitausend 
Bogen,  die  ich  um  alles  in  der  Welt  und  mit  dem  Aufwand 
lächerlicher  Kautelen  den  Augen  eines  Publikums  ent- 
ziehe, das  sich  dafür  interessiert,  was  ich  über  die 
Revolution  in  Portugal  zu  sagen  habe.  Dann  erfährt 
es,  daß  ich  nichts  darüber  zu  sagen  habe,  und  nimmt 
mir  die  Enttäuschung  übel.  Das  Publikum  hat  immer 
die  größten  Themen,  Aber  wenn  es  erst  ahnte,  mit  wie 
kleinen  Sorgen  ich  mir  inzwischen  Zeit  und  Gesund- 
heit vertreibe,  es  würde  keinen  Versuch  mehr  mit  mir 
machen. 


Wenn  ich  schreibe,  muß  ich  mir  immer  eine 
gräßliche  Stimme  vorstellen,  die  mich  zu  unterbrechen 
sucht.  Dieser  Widerpart  spricht  wie  irgendeiner,  den 
ich  einmal  bei  einer  Theaterpremiere  sich  wichtig 
machen  sah;  er  beugt  sich  über  mich  und  warnt  mich 
davor,  mir  Feinde  zu  machen;  er  grüßt  mich  aus  Furcht, 
daß  ich  ihn  einmal  nennen  könnte,  ich  danke  ihm 
nicht;  oder  er  ist  ein  Sozialpolitiker,  der  schlecht  riecht, 
oder  ein  Historiker,  der  »Ei,  siehe  da«  sagt  oder 
sonst  irgendein  Vertrauensmann,  den  ich  zu  meinen 
geheimen  Verhandlungen  als  Vertreter  der  Außenwelt  zu- 
lasse. Es  stellt  sich  sofort  jene  ausgesprochen  musische 
Beziehung  her,  wie  sie  der  echten  Lyrik  unentbehrlich 
ist.  Man  glaubt  es  nicht,  in  welche  Verzückung  ich 
so  entrückt  werde.  Nicht  faule  Äpfel,  faule  Köpfe 
brauche  ich  zur  Ekstase.  Manche  dieser  Typen  sind 
mir  unentbehrlich  geworden,  und  wenn  ich  nachts  zur 
Arbeit  komme,  horche  ich,  ob  nicht  ein  Rudolf  Lothar 
schon  im  Papierkorb  raschelt.  Als  ich  meine  Be- 
trachtung »Rhythmus  eines  österreichischen  Sommers« 
schrieb,  hörte  ich  hinter  mir  ganz  deutlich  eine  Frauen- 
stimme, die  immer  wieder  sagte :  »Roserl  ist  zwar  nicht 
offiziell,  aber  offizies  verlobt«.  Es  ist  eigentümlich,  aber 
gerade  das  hat  mich  bei  der  Arbeit  gehalten.  Ich  könnte  zu 


30 


jeder  einzelnen  Sache,  die  icli  je  geschrieben  habe,  ganz 
genau  die  Stimme  wiedergeben,  die  sie  mir  eingesagt  hat. 
Die  Amerikafahrt  des  Männergesangvereines  schien  einer 
zu  begleiten,  der  mir  immerfort  in  die  Rippen  stieß  und 
meinte:  I  bleib  viel  lieber  doder.  (Wie  ich  denn  über- 
haupt verraten  kann,  daß  mir  alles,  was  ich  je  an  Ver- 
drießlichem mir  über  das  Dasein  vom  Herzen  geschrieben 
habe,  in  dem  Worte  »doder«  seine  Wurzel  hat.)  Ganz 
genau  erinnere  ich  mich,  wie  es  in  meinem  Zimmer 
zugegangen  ist,  als  ich  die  Satire  auf  die  Entdeckung 
des  Nordpols  verfaßte.  Eben  als  ich  mich  betreffs  des 
Herrn  Cook  auf  die  Seite  der  Skeptiker  stellen  wollte  und 
schon  die  Witze  machte,  die  dann  einige  Monate  später 
auch  die  Idealisten  gemacht  haben,  fuhr  mir  ein  Ver- 
treter der  intelligenten  Mittelklasse  mit  seinem  Finger 
in  meine  Nase  und  sagte:  »Lassen  Sie's  gut  sein,  es 
ist  doch  eine  scheene  Leistung!«  »Daß  der  Nordpol  ent- 
deckt wurde,  ist  traurig«  entgegnete  ich;  »lustig  ist  dabei 
nur,  daß  er  nicht  entdeckt  wurde«.  »Lassen  Sie's  gut 
sein«,  sagte  es  hinter  mir,  »er  hat  ihn  entdeckt!« 
»Hat  er  ihn  wirklich  entdeckt?«  fragte  ich,  um  ganz 
sicher  zu  gehen  und  nichts  zu  überstürzen.  »Er  hat 
ihn  effektiv  entdeckt!«,  fuhr  es  da  auf,  als  wäre  es  von 
einer  Tarantel  gestochen.  Ein  abgeklärter  Nachbar,  der 
sich  dreinmischte,  sagte :  »Der  Cook  ist  natürlich  der 
letzte  Schwindler.  Aber  der  Peafy,  den  hab'  ich  sehr 
gut  gekannt.  Wir  haben  in  den  Vierzigerjahren  täglich 
zusammen  beim  Leidinger  Mittag  gegessen  und  schon 
vorher  an  der  Entdeckung  Amerikas  teilgenommen  . . .« 
So  entstand  mir  jene  Arbeit. 

• 

Ein  Gedanke  ist  nur  dann  echtbürtig,  wenn  man 
die  Empfindung  hat,  als  ertappe  man  sich  bei  einem 
Plagiat  an  sich  selbst. 

Den  Kleinen  ist  es  wichtiger,  daß  Einer  sein  Werk 
nicht  für  groß  halte,  als  daß  es  groß  sei. 


—  31 


Die  Impotenz  möchte  durch  ihre  Bitte  um  Be- 
scheidenheit die  Leistung  verhindern. 

Eitel  ist  bloß  die  Zufriedenheit,  die  nie  zum  Werk 
zurückkehrt. 

Man  soll  nicht  mehr  lernen,  als  man  unbedingt 
gegen  das  Leben  braucht. 

• 

Es  ist  Freiheit  notwendig,  um  zur  Erkenntnis  zu 
gelangen.  Aber  in  dieser  sind  wir  dann  mehr  eingesperrt 
als  im  Dogma. 

• 

Die  modernen  Psychologen,  die  die  Grenzen  der 
UnVerantwortlichkeit  hinausschieben,  haben  reichlich 
darin  Platz. 

• 

Weiber  sind  Grenzfälle. 

Oft  enttäuscht  eine  in  der  Nähe.  Man  fühlt  sich 
hingezogen,  weil  sie  so  aussieht,  als  ob  sie  Geist  hätte, 
und  sie  hat  ihn. 

• 

Für  die  wahren  Weiber  kommt  es  in  der  Kunst 
wie  in  der  Liebe  auf  das  Stoffliche  an. 

Die  Vergeßlichkeit  der  Frauen  wird  manchmal 
von  der  Diskretion  der  Männer  erschüttert. 

Bei  manchem  Frauenzimmer  kommt  die  Ent- 
rüstung vor  der  Zumutung.  Wie  ungalant,  diese  nicht 
einmal  nachzuholen! 

• 

Mit  dem  Teufel  Bekanntschaft  machen,  ohne  in 
der  Hölle  zu  braten,  das  paßte  so  mancher. 


—  32  — 


Man  muß  über  die  zweitausendjährige  Arbeit  der 
Kultur  am  Weibe  nicht  traurig  werden.  Ein  bißchen 
Neugierde  macht  alles  wieder  gut. 

» 

Was  tun  sie,  die  weiblichen  Mitglieder  der  Sittlich- 
keitsvereine? Sie  geben  sich  der  Abschaffung  der  Pro- 
stitution hin.  Es  geht  doch  um  den  Brand,  auch  wenn 
die  Weiber  nicht  mehr  brennen,  sondern  löschen  wollen. 
Es  geht  um  den  Brand! 

« 

Auch  die  Keuschheit  würde  lieber  zugeben,  dich  vor 
zwei  Jahren  erhört  als  vor  zwanzig  abgewiesen  zu 
haben. 

• 

Das  ist  der  ehrliche  Erfolg  der  Frauenemanzipa- 
tion, daß  man  dem  Weib,  welches  sich  dem  Hand- 
werk eines  Journalisten  gewachsen  zeigt,  heutzutag  nicht 
mehr  die  verdiente  Geringschätzung  vorenthalten  darf. 

Nur  auf  die  mittelbare  Geistigkeit  der  Frau  kommt 
es  an.    Die  unmittelbare  führt  zurück  in  die  Wollust. 

Wenn  das  Geschlecht  nur  an  der  Fortpflanzung 
beteiligt  wäre,  so  wäre  die  sexuelle  Aufklärung  ver- 
nünftig. Aber  das  Geschlecht  ist  auch  an  andern 
Funktionen  beteiligt,  zum  Beispiel  an  der  sexuellen 
Aufklärung. 

» 

Neapel  ist  eine  hochmoralische  Stadt,  in  der  man 
tausend  Kuppler  suchen  kann,  ehe  man  eine  Hure 
findet. 

* 

Wenn  man  die  Sprache  eines  Landes  nicht  versteht, 
so  kann  es  leicht  geschehen,  daß  man  einen  Strizzi  mit 
einem  Othello  verwechselt. 


—  33  — 


In  dieser  Spelunke,  in  der  ungarische  Pferdediebe 
ihre  Chancen  tauschen,  in  diesem  Qualm  von  Tabak 
und  Wucher,  höre  ich  zwischen  teschek  und  betschkerek 
plötzlich  das  Wort:  Glaukopis.  Breitmäulig  gesprochen, 
aber  mit  einer  Wirkung,  die  mich  durch  die  Jahrtausende 
reißt.  Schnell  wieder  komme  ich  zur  Besinnung,  da 
mir  einfällt,  daß  die  Göttin  ein  Rennpferd  sein  dürfte. 

• 

Die  Erotik  ist  von  der  Soziologie  nicht  mehr  zu 
trennen,  und  also  auch  nicht  von  der  Ökonomie.  In 
irgendeinem  Verhältnis  steht  die  Liebe  immer  zum 
Geld.  Es  muß  da  sein,  gleichgiltig  ob  man  es  gibt 
oder  nimmt. 


Die  Moralisten  sträuben  sich  noch  immer  dagegen, 
daß  der  Wert  der  Frau  ihren  Preis  bestimme.  Inzwischen 
bestimmt  längst  schon  der  Preis  ihren  Wert,  und  damit 
wird  keine  Moral  fertig. 

• 

Seit  einiger  Zeit  stehen  die  jungen  Weiber  und 
die  jungen  Schreiber  auf  hohem  Niveau.  Das  ist  das 
Geheimnis  der  Pariser  Schneider.  Aber  die  Weiber 
vermögen  gerade  dadurch,  daß  nichts  dahinter  ist,  die 
Phantasie  zu  beschäftigen.  Dagegen  kann  mir  eine 
Literatur  ohne  Busen  kaum  imponieren. 

Ihr  Gesicht  —  ein  mittelmäßiges  Ensemble,  in 
dem  die  Nase  hervorragt. 

Der  Mann  sah  wie  ein  Votivbild  der  sozialdemo- 
kratischen Kirche  aus. 

• 

Ich  kenne  einen  Humorlosen,  der  immer  auf- 
geregt ist.  Er  kocht  ohne  Wasser;  das  Email  stinkt 
schon. 


—  34  — 


Ein  Wolf  im  Wolfspelz.  Er  ist  ein  Filou,  unter 
dem  Vorwand  es  zu  sein. 

Die  Sozialpolitik  muß  ein  Ritus  sein.  Ich  kenne 
welche,  die  ganz  so  aussehen,  als  ob  sie  die  Schächter 
des  goldenen  Kalbes  wären. 


Der  österreichische  Liberalismus  umfaßte  mit 
gleicher  Liebe  die  alten  Achtundvierziger  und  die  alten 
Dreiundsiebziger.  Das  ergab  dann  so  ziemlich  im  Durch- 
schnitt die  alten  Sechsundsechziger. 

• 

Das  Wesen  des  Diplomaten  setzt  sich  aus  zwei 
Vorstellungen  zusammen:  Dejeuner  und  Courtoisie.  Was 
drüber  ist,  das  ist  vom  Übel. 


Es  gibt  Persönlichkeiten  im  Staate,  von  denen 
man  nichts  anderes  weiß,  als  daß  sie  nicht  beleidigt 
werden  dürfen. 

Auch  der  Wurm  krümmt  sich,  wenn  er  getreten 
wird.  Wenn  er  aber  von  einem  Wachmann  getreten 
wird,  begeht  er  öffentliche  Gewalttätigkeit. 

Der  Zuhälter  ist  das  Vollzugsorgan  der  Unsitt- 
lichkeit.  Das  Vollzugsorgan  der  Sittlichkeit  ist  der  Er- 
presser. 

« 

Ein  frecher  Kulturwitz  hat  die  »journalistische 
Hochschule«  ausgeheckt.  Sozialer  Ernst  müßte  eine 
journalistische  Gewerbeschule  verlangen. 


Die  bürgerliche  Gesellschaft   teilt  sich  in  solche, 
denen  der  Blinddarm  schon    herausgenommen   wurde. 


II 


—  So- 


und jene,    die    nicht    einmal   so   viel  haben,   um  den 
Franz  Josefsorden  bestreiten  zu  können. 


Wir  müssen,  ob  wir  wollen  oder  nicht,  an  der 
Wiege  des  Ruhmes  stehen,  der  den  Namen  eines  Gra- 
tulanten, eines  Kondolenten,  eines  Anwesenden,  eines 
Abwesenden  durch  die  Welt  trägt.  Unser  Hirn  wehrt 
sich  nicht  mehr  gegen  diese  fürchterliche  Nomenklatur, 
die  der  lokale  Teil  der  Zeitungen  bedeutet,  und  schließ- 
lich nehmen  wir  die  Grundlosigkeit  einer  Popularität 
für  jene  Tiefe,  zu  deren  Grund  man  nicht  mehr  findet. 
Wien  ist  der  Boden  der  Persönlichkeiten,  die  ihre 
Beliebtheit  ihrer  Popularität  verdanken.  Mit  einem  froh- 
gemuten »Wir  kennen  uns  ja  eh'«,  stellen  sie  sich  uns 
vor,  und  es  braucht  lange  Zeit,  bis  es  unsereinem  ge- 
lingt, sie  verkennen  zu  lernen. 

Mancher,  den  ich  nie  kennen  gelernt  habe,  grüßt 
mich,  wobei  er  hofft,  ich  würde  nach  so  langer  Zeit 
schon  vergessen  haben,  daß  ich  ihn  nie  kennen  gelernt 
habe,  und  den  neuen  Bekannten  als  alten  Bekannten 
zurück  grüßen.  Nun  weiß  ich  zwar  nicht  genau,  wen  ich 
kenne;  aber  ich  weiß  ganz  genau,  wen  ich  nicht 
kenne.  Da  ist  jeder  Irrtum  ausgeschlossen.  Sollte  es 
doch  einmal  passieren,  so  erinnert  mich  rechtzeitig 
der  Gruß,  daß  ich  den  Mann  nicht  kenne,  und  ich  merke 
mir  ihn  dann  bis  ans  Ende  meiner  Tage.  Wer  ist 
das,  der  Sie  soeben  —  fragt  ein  alter  Bekannter.  Den 
kennen  Sie  nicht?  Das  ist  doch  der,  der  geglaubt  hat, 
daß  ich  vergessen  habe,  daß  ich  ihn  nicht  kenne! 


Eine  Infamie  so  ein  Gruß.  Der  Kerl  hält  mich 
für  einen  Erpresser  und  glaubt,  es  gehe  ihm  an  den 
Kragen,  wenn  er  den  Hut  nicht  zieht.  Aber  noch  ver- 


36  — 


letzender  als  die  ethische  ist  die  literarische  Wertung, 
die  sich  darin  ausspricht.  Die  Leute  könnten  doch 
längst  beruhigt  sein  und  wissen,  daß  ich  nicht  mehr 
schaden  kann;  daß  ich  in  das  soziale  Getriebe  nicht 
mehr  eingreife,  sondern  vom  sozialen  Getriebe  nur 
nicht  belästigt  sein  will.  Wenn  ich  solch  ein  Individuum 
einmal  nenne,  so  geschieht  es  doch  wirklich  nur,  weil 
der  Name  ein  Humorelement  ist.  Das  sollte  es  sich 
sagen  und  die  etwa  eintretende  Verstimmung  durch 
eine  ostentative  Verweigerung  des  Grußes  bekunden. 
(Das  gilt  für  Schauspieler  und  kaiserliche  Räte.  Kellner 
grüßen  aus  andern  Motiven.) 


Daß  der  Österreicher  gesessen  ist,  während  der 
Deutsche  auch  in  diesem  Zustand  nicht  müßig  war, 
sondern  gesessen  hat,  bezeichnet  den  ganzen  Unter- 
schied der  Temperamente.  Jener  kennt  höchstens  eine 
Bewegung,  nämlich  die  vom  Ruhepunkt  zurück  führt.  Er 
gibt  nicht  zu,  daß  ihm  der  Zopf  hinten  hängt,  sondern 
»rückwärts«.  Er  spricht  auf  der  Straßenbahn  eigens  von 
einem  »rückwärtigen«  Wagen  statt  von  einem  hintern; 
weil  er  eben  gebildet  ist  und  sich  für  verpflichtet  hält, 
selbst  auf  die  ihm  geläufigste  Ideenverbindung  zu  ver- 
zichten. 

Es  paßt  mir  nicht  länger,  unter  einer  Bevölkerung 
zu  leben,  die  es  weiß,  daß  ich  vor  zehn  Jahren  ein 
Gemüse  bestellt  habe,  das  nicht  eingebrannt  war, 
und  die  noch  dazu  das  Gemüse  nicht  nach  mir,  sondern 
mich  nach  dem  Gemüse  benennt. 


In  der  Kunst  schätzen  sie  hierzulande  den  Betrieb 
und  im  Gasthaus  die  Persönlichkeit. 


—  37  — 


In  der  Kunst  bedeutet  das  Niveau  nichts,  die 
Persönlichkeit  alles.  Im  äußeren  Leben  ist  es  umgekehrt. 
Der  Berliner  möchte  die  Kunst  mit  Niveau,  der  Wiener 
den  Verkehr  mit  Persönlichkeit  durchhalten. 


Der  Geschlechtsverkehr  kann  sich  in  dieser  Ge- 
sellschaftsordnung nicht  ohne  Totschlag  abwickeln, 
genau  so  wie  in  Österreich  der  Bahnverkehr  nicht 
ohne  Amtsehrenbeleidigung  verläuft.  Die  Norm  dieser 
verkehrten  Welt  wäre,  daß  der  Geschlechtsverkehr  nur 
die  Ehre  und  der  Bahnverkehr  das  Leben  bedroht. 

• 

Herbst  in  Ischl:  Die  Witterung  hat  den  Unbilden 
des  Publikums  getrotzt.  Ich  komme  immer  erst  hin, 
wenn  schon  die  Abende  lang  werden.  Dann  ist  auch  der 
lange  Tag  nicht  mehr  fern,  der  die  Kurgäste  in  der 
Großstadt  versammelt.  Der  Regen  hat  die  Promena- 
den gesäubert,  den  letzten  Librettodieb  weggeschwemmt, 
und  frei  atmet  der  Wald  nach  dem  Hingang  einer 
Menschheit,  die  der  Bernhard  Buchbinder  nach  seinem 
Ebenbilde,  wenn  auch  nach  einer  fremden  Idee  er- 
schaffen hat. 

• 

Ich  kehre  spät  aus  Berlin  zurück.  Zehnmal  bin 
ich  auf  dem  Anhalter  Bahnhof  gewesen.  Aber  wie  eine 
unsichtbare  Hand  hielt  mich  immer  im  letzten  Augen- 
blick der  Gedanke  an  den  Nordwestbahnhof  zurück  und 
an  das  unentwirrbare  Chaos  der  drei  Einspänner.  Mit 
einem  von  den  dreien  werde  ich  es  zu  tun  bekommen, 
er  wird  mein  Leben  drosseln,  er  bringt  mich  nicht  ans 
Ziel.  Noch  geht  die  Fahrt  durch  Böhmen,  aber  dann, 
wenn  ich  ankomme,  werde  ich  die  Sprache  überhaupt 
nicht  mehr  verstehen.  Ich  fühle,  daß  ich  die  Furcht  vor  etwas 
nach  der  Ankunft,  vor  der  Taxe  mit  Zuschlag  für  Gepäck 
und  für  den  zweiten  Bezirk  und  weilsein  Bahnhof  ist  und 
weil  m'r  in  Wien  san,  den  Übermut  der  Ämter  und 


—  38  — 


die  Schmach,  die  Unwert  schweigendem  Verdienst  er- 
weist, nicht  ertragen  werde.  Auch  wollte  ich  die  Ent- 
wicklung in  jenen  Ländern,  deren  historische  Bedeutung 
es  isi,  ein  zuverlässiges  Bollwerk  gegen  die  Türken- 
gefahr zu  bilden  und  den  Schauplatz  des  Kampfes  der 
Statthalterei  um  den  Taxameter,  abwarten.  Inzwischen 
könnte  ja  am  Wiener  Hofe  die  Friedenspartei 
gesiegt  haben  und  alles  wäre  wieder  gut  . .  .  Das  ging 
mir  durch  den  Kopf,  während  ich  durch  die  Nacht 
fuhr.  »Gib  mir  ein  Zeichen,  Schicksal!  Der  soll's  sein, 
der  an  dem  nächsten  Morgen  mir  zuerst  entgegen- 
kommt mit  einem  Liebeszeichen!«  Bestimme,  Schicksal, 
mir  das  erste  Wort,  das  ich  auf  Wiener  Boden  höre, 
zur  Parole  meiner  Lebenslaune!  Wenn's  aber  jenes 
wäre,  das  ich  so  oft  schon  gehört?  Ist  es  unentrinn- 
bar? Ich  bin  da:  .  .  .  »Ochtanfuchzigaaa!«  »Ah  woos, 
lekmimoasch  .  .  .« 


Alle  Geräusche  der  Zeitlichkeit  seien  in  meinem 
Stil  gefangen.  Das  mache  ihn  den  Zeitgenossen  zum 
Verdruß.  Aber  Spätere  mögen  ihn  wie  eine  Muschel 
ans  Ohr  halten,  in  der  ein  Ozean  von  Schlamm 
musiziert. 

» 
Mein  Respekt  vor  den  Unbeträchtlichkeiten  wächst 
ins  Gigantische. 

• 

Ich  habe  schon  manches  Stilproblem  zuerst  durch 
den  Kopf,  und  dann  durch  Kopf  und  Adler  ent- 
schieden. 

• 

Was  ein  anderer  nicht  weiß,  entscheide  ich  dikta- 
torisch. Aber  ich  frage  ihn  gern  über  das,  was  ich  weiß. 

Ich  glaube  nicht,  daß  ich  mir  vor  der  Arbeit  den 
Rat    des    Weisen   und  nach  dem  Druck  die   Meinung 


I 


—  39  — 


des  Lesers  gefallen  ließe.  Aber  zwischen  Arbeit  und 
Druck  kann  ich  in  einen  Zustand  geraten,  in  dem  mir 
die  Hilfe  des  Druckereidieners  eine  Erlösung  bedeutet. 

Wer  Erlebnisse  großen  Formats  braucht,  wird  von 
ihnen  sicher  zugedeckt.  Ich  führe  Titanenkämpfe  mit 
Beistrichen. 

• 

Wer  seine  Haut  zu  Markt  getragen,  hat  mehr 
Recht  auf  Empfindlichkeit,  als  wer  dort  ein  Kleid 
erhandelt  hat. 

Ich  verpflichte  mich,  einen  Mann  an  den  Galgen 
zu  bringen,  wenn  ich  auf  der  Straße  mit  bestimm- 
tem Tonfall  ausrufe:  >Aha,  und  ein  farbiges  Hemd 
hat  er  auch  nochic  Es  würde  ein  Schrei  der  Entrüstung 
durch  die  Menge  gehen.  Durch  dieselbe  Menge,  auf 
die  man  jetzt  mit  Sinfonien  zu  wirken  sucht. 


Je  größer  das  Assoziationsmaterial,  desto  geringer 
die  Assoziationsfähigkeit.  Mehr  als  das  Gymnasium  von 
jenem  zuführt,  braucht  man  nicht.  Wer  etwa  das  Wort 
»Es  wandelt  niemand  ungestraft  unter  Palmen«  im 
»Nathan«  sucht,  hats  weiter  gebracht,  als  der  es  in 
den  »Wahlverwandtschaften«  findet. 


In  Berlin  hat  einer  einen  geschwollenen  Hals.  Das 
kommt  vom  vielen  Silbenschlucken.  Aber  der  Kopf  geht 
bei  solcher  Tätigkeit  leer  aus. 

Wer  sich  darauf  verlegt,  Präfixe  zu  töten,  dem 
gehts  nicht  um  die  Wurzel.  Wer  weisen  will,  beweist 
nicht;   wer  kündet,  hat  nichts  zu  verkünden. 


—  40  — 
Sein  Lachen  ist  ein  Regulativ  des  Irrsinns  der  Welt. 


Satiren,  die  der  Zensor  versteht,  werden  mit  Recht 
verboten. 


Psychologie  ist   so   müßig  wie   eine  Gebrauchs- 
anweisung für  Gift. 

Psychologen   sind  Durchschauer  der  Leere    und 
Schwindler  der  Tiefe. 


Ungerechtigkeit  muß  sein ;  sonst  kommt  man  zu 
keinem  Ende. 


Nachts  am  Schreibtisch,  in  einem  vorgerückten 
Stadium  geistigen  Genusses,  würde  ich  die  Anwesen- 
heit einer  Frau  störender  empfinden  als  die  Interven- 
tion eines  Germanisten  im  Schlafzimmer. 


Der  Gedanke  forderte   die  Sprache    heraus.    Ein 
Wort  gab  das  andere. 


Ich  spreche  von  mir  und  meine  die  Sache.    Sie 
sprechen  von  der  Sache  und  meinen  sich. 


Ein  Löwenmaul  für  meine  Ehre!  Es  sollte  eine 
Zentralstelle  der  Verleumdung  errichtet  werden.  Ich 
kann  diesen  regellosen  Einlauf  nicht  mehr  überblicken. 
In  meinem  Papierkorb  ist  jetzt  alle  Mißgunst  begra- 
ben, die  nur  organisiert  werden  müßte,  um  auch  mei- 
nen Feinden  eine  kleine  Freude  zu  machen.  Was 
haben  sie  denn  so  davon !  Strengste  Anonymität  könnte 


—  41 


nach  wie  vor  gewahrt  bleiben,  keiner,  der  frei  von  der 
Leber  sprechen  will,  ohne  daß  man  ihn  sieht,  brauchte 
eine  Vertolgung  zu  fürchten.  Alle  nur  denkbare  Rücksicht 
bliebe  vor  allem  der  Hysterie  vorbehalten,  jener,  die  Hosen 
trägt,  jener  gerade  an  mir  erhitzten,  die  mich  im  Haß  haben 
will,  wenn  es  denn  schon  einmal  die  Umstände  verbieten, 
daß  sie  mich  in  Liebe  hat;  in  keinem  Sanatorium  hätte 
sie  es  besser.  Nie .  würde  ich  mein  ärztliches  Berufs- 
geheimnis verletzen.  Nicht  einmal  die  Diskretion  des 
vielbegehrten  Mannes.  Alle  mir  entlaufenen  und  infolge- 
dessen verlassenen  Literaturgeliebten  mögen  mich  auf 
Alimente  verklagen,  alle  journalistischen  Bräute  wegen 
Verführung  unter  Zusage  der  Karriere  belangen.  Aber 
alle  zusammen,  da  ich  gegen  eine  wehrlos  bin.  Ich 
will  ja  nur  nicht  belästigt  werden.  Ich  will  ja  nur 
nicht,  daß  sich  der  Haß  an  mir  abgeilt.  Es  sind  Weiber- 
geschichten; aber  ich  bin  als  Mann  an  ihnen  nicht 
beteiligt.  Hatte  ich  das  Unglück,  die  Schwäche  anzu- 
ziehen, so  soll  sie  sich  mit  der  Erinnerung  befriedigen 
und  nicht  verlangen,  daß  ich  sie  mißhandle.  Ich  kann  ihr 
den  Kopf,  den  ich  ihr  verdreht  habe,  nicht  zurechtsetzen. 
Ich  kann,  wenn  verschmähte  Liebe  mich  ein  Schwein 
nennt,  zwar  das  Problem  interessant  finden,  aber  dem 
Einzelfall  nicht  die  Wonne  meiner  f)olemischen  Auf- 
merksamkeit bieten  und  nicht  die  Weihe  meiner  polemi- 
schen Kunst.  Das  taktische  Bedenken,  dem  Mist  Ver- 
breitung zu  geben,  hielte  mich  nicht  zurück:  man  soll  im 
Gegenteil  jedem  zu  dem  Erfolg  .verhelfen,  zu  dem 
er  geboren  ist,  und  mir  paßt  es  immer  noch  besser, 
daß  tausend  durch  die  Wahrheit  auf  die  Lüge  auf- 
merksam werden,  als  hundert  durch  die  Lüge.  Die  Furcht, 
daß  die  Seife  dem  Schmutz  zu  viel  Ehre  erweise,  würde 
mich  nicht  hindern.  Aber  das  Grauen,  so  tief  hinunter- 
steigen zu  müssen,  um  Recht  zu  bekommen,  ist  unüber- 
windlich. Wäre  ich  Privatperson,  ich  würde  mir  eine 
Feder  mieten,  die  mich  verteidigt,  ein  Gericht  anrufen, 
das  mich  schützt,  und  keine  Rücksicht  auf  die  lauernde 
Spekulation  würde  mich  abhalten,  den  geringsten  Makel, 


—  42  — 


der  mir  angeheftet  wurde,  durch  Tilgung  publik  zu 
machen.  Aber  unsereiner  soll  weniger  auf  die  Ehre 
als  auf  die  Perspektive  bedacht  sein,  darf  der  Berotzung 
nicht  das  Air  feindlicher  Berührung  geben  und  hat 
höchstens  das  Recht,  der  Gemeinheit  eine  Erkenntnis 
abzugewinnen.  Und  er  muß,  selbst  nur  auf  Schutz  vor 
Belästigung  bedacht,  in  verwickelter  psychologischer 
Lage  besonders  vorsichtig  sein.  Denn  es  geht  nicht 
an,  ohne  eigene  Neigung,  einer  Leidenschaft,  die 
nach  Schlägen  mehr  als  nach  Reklame  lechzt,  den 
Gefallen  zu  tun.  Auch  zum  Sadismus  gehören  zwei, 
sonst  artet  er  in  Roheit  aus,  und  zu  dieser  könnte 
mich  selbst  die  Nächstenliebe  nicht  hinreißen.  Gewiß, 
hätte  ein  umworbener  Mann  nicht  noch  Wichtigeres 
zu  tun,  so  dürfte  er  den  Schlampen,  den  er  durch 
das  bißchen  Gunst  einmal  zu  einer  intelligenten 
Lebenstührung  emporgehoben  hat,  auch  in  den  Zeiten 
des  Hasses  nicht  im  Stich  lassen,  müßte  er  nachhelfen 
wo  er  kann,  damit  der  Stil  nicht  zu  seiner  angebornen 
Schäbigkeit  zurückkehre  und  das  Vitriol  nicht  purer 
Dreck  sei.  Aber  rneine  männlichen  Verehrerinnen  — 
es  sind  weibliche  Ärzte  darunter  —  werden  so  lange 
an  mich  Liebesbriefe  schreiben,  bis  ich  einmal  wirk- 
lich sage:  Der  Roman,  den  du  von  mir  unter  dem 
Herzen  trägst,  erscheint  nicht  eher,  bis  du  Luder  alle 
Erlebnisse,  die  ich  dir  gegeben  habe,  und  alle  Ge- 
danken, die  du  mir  genommen  hast,  zurückgibst.  Bleibt 
dann  noch  etwas  übrig,  um  sich  an  mir  für  die  eigene 
Untreue  rächen  zu  können,  so  bin  ich  bereit,  es  zu 
redigieren  und  der  Wahrheit  und  der  Syntax  jene  Ehre 
zu  geben,  die  ihnen  zweifellos  gebührt.  Aber  warum 
kommt  man  nicht?  Warum  läßt  man  mich  die  Produkte 
des  Hasses  nicht  sehen,  die  doch  der  Nachhilfe  wahr- 
lich dringender  bedürfen  als  die  Werke  der  Liebe, 
denen  schon  mein  bloßes  Dasein  geholfen  hat?  Mein 
Mitleid  ist  erwacht,  und  ich  entziehe  mich  keiner  mora- 
lischen Verpflichtung.  Es  ist  klar,  daß  gerade  wer  nur 
durch  mich  schreiben  kann,  ohne  mich  nicht  schreiben 


43  — 


Kann  und  gegen  mich  schon  gar  nicht  schreiben  kann. 
Er  mag  an  alle  möglichen  Verhältnisse  die  Mittel 
meines  Humors  und  meines  Pathos  verschwenden,  aber 
er  kann  sie  eben  nicht  gegen  mich  brauchen,  verarmt 
an  dem,  woran  er  sich  bereichert  hat,  muß  die 
Quelle  dürftig  finden,  auf  mich  die  eigene  Armut 
übertragen,  und  ist  in  der  verzweifelten  Lage,  da5 
jinzige  Erlebnis,  das  er  selbst  gehabt  hat,  nicht  zur 
Gestalt  zu  bringen.  So  erfahre  ich  nie,  ob  ich  nicht  doch 
las  Schwein  bin,  das  die  unvermögende  Rache  aus  mir 
macht ;  und  hier  beginnt  meine  Tragik.  Ich  sehe  ja  alles 

in.  Meine  Geburt  ist  ein  verhängnißvoller  Fehler 
-lewesen.  Aber  —  es  müßte  sich  doch  schließlich  ein 
Modus  finden  lassen.  Es  müßte  sich  doch  einmal  klar 
formuliert  behaupten  lassen,  was  eigentlich  gegen  mich 
vorliegt,  beweisen  lassen,  die  und  jene  Handlung  oder 
Unterlassung  sei  aus  dem  und  jenem  nicht  in  ihr 
selbst  erkennbaren  Grund  begangen  worden,  der  Abfall 
von  Nachläufern  sei  ein  Akt  ethischer  Besinnung  und 
kein  Abfall  w^Rr  Blätter,  die  der  nächste  Wind  ver- 
weht, mein  tyrannischer  Neid  sei  schuld,  daß  einer, 
der  als  Kosinsky  zu  mir  stieß,  mich  als  Spiegelberg 
verläßt,  mein  Weltschmerz  sei  einer  Abweisung  durch 
lie  Neue  Freie  Presse,  mein  Humor  einer  Bestechung 
iurch  den  Simplicissimus  zuzuschreiben,  meine  Tat 
>ei  Eitelkeit,  die  stumme  Verachtung,  die  ich  finde,  zwar 
ehrlich  erworben,  aber  die  laute  Anerkennung,  die  ich 

riege,  bar  bezahlt  und  derlei  mehr,  und  alles  das 
gesammelt,  sagen  wir  einmal  im  Jahr,  an  sichtbarer 
Stelle  deponiert,  von  einem  vollsinnigen,  wohlgemerkt, 
einem  vollsinnigen  Gegner  vertreten,  müßte  mich  zur  Ver- 
eidigung zwingen,  ohne  daß  den  armen  Anklägern 
ein  Schimpf  oder  Schaden  entstünde.  Ich  lebe  in  dem 
Wahn,  daß  nur  der  Wahn  den  Tatbestand  meines 
Lebens  entstellen  kann;  daß  die  Tücke,  die  mich 
zeichnet,  nur  sich  selbst  in  mir  erkennen  will. 
Aber  ich  muß  ja  über  mich  nicht  informiert  sein, 
lenne   auch    mein    Unterbewußtsein    zu    wenig,    um 


—  44  — 


für  mich  einstehen  zu  können.  Vielleicht  erlebe 
ich  Überraschungen.  Mindestens  sei  es  meine  Strafe, 
mich  gelegentlich  in  die  Niederung  des  erweislich 
Wahren  hinabzerren  zu  lassen.  Eine  Vergangenheit, 
die  den  Ehrgeiz  hatte,  auf  solchem  Niveau  zu  bestehen, 
verlangt  nach  Sühne.  Aber  System  muß  sein.  Nur  keine 
Zersplitterung  des  Hasses,  die  bloß  meine  Nerven 
kränkt,  ohne  meine  Ehre  abzunützen!  Es  müßte  doch 
mit  dem  Teufel  zugehen,  wenn  ein  Schock  organi- 
sierter Kastraten  nicht  so  viel  Kraft  aufbringen  sollte 
wie  ein  Mann!  Viele,  mit  denen  ich  in  einem  viel- 
fachen Leben  verkehrt  habe,  haben  etwas  gegen  mich, , 
wissen  etwas  von  oder  auf  mir  (je  nachdem).  Und  — 
Herzklopfen  sagt  es  mir  —  sie  werden  auch  etwas 
gegen  mich  beweisen  können:  daß  ich  mit  ihnen  ver- 
kehrt habe. 

• 

Die  Sintflut  kommt,  ich  lebe  in  der  Arche  Noahs. 
Man  kann  es  mir  also  nicht  verübeliwdaß  ich  auch 
von  dem  Vieh  nach  seiner  Art  und  ^n  allerlei  Ge- 
würme  auf  Erden  nach  seiner  Art  in  den  Kasten  auf- 
genommen habe. 

• 

Der  Weltschmerz  ist  die  Gicht  des  Geistes.  Aber 
man  spürt  es  wenigstens,  wenn  das  schlechte  Wetter 
kommt. 

• 

Die  Außenwelt  ist  eine  lästige  Begleiterscheinung 
eines  unbehaglichen  Zustands. 

• 

Wenn  ich  die  Feder  in  die  Hand  nehme,  kann 
mir  nichts  geschehen.  Das  sollte  sich  das  Schicksal 
merken. 


Herausgeber    und    verantwortlicher    Redakteur:    Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3. 

ir 


<ARL  KRAVS 
3IE  CHINESI- 
SCHE MAVER 


ALBERT  LANGEN,  Mönchen 


EFTET  M  6.-,  IN  LEINEV  JEN  M  750,  IN  HALBFRANZ  UEBHABER- 

UND  M  !0.-.  BESTELLL.N^^-,    NIHMT   DER  VERLAG  ALBERT  LANGEN. 
CHCN,   KAULBACHSTRASSE  91    UND  JEDE  BUCHHANDLUNQ   ENTGEGEN 


In  Vorbereitung: 

Von  den  fröhlichen  und  unfröhlichen  Menschen 

Gesammelte  Essays  von  KABI»  HAUBB 

VERLAG  JAHODA  db  SIEGEL,  WIEN 


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WOCHENSCHRIFT  FÜR  KULTUR  UND  DIE  KÜNST^ 
HBRAUSGBGEBBN  von  HBRWARTH  WALDBN 

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Doppelnummer  in  Österreich  60  Heller,  in  Deutschland  50  Pfennig 

Zu    beziehen     durch     sämtliche    Bnchhandlungen 

Berliner  Bureau:  Haiensee,  Katharinenstraße  5 


INHALT  der  vorigen  Doppelnummer  307/308,  22.  September  1910: 
KARL  KRAUS:  Rhythmus  eines  österreichischen  Sommers/ 
STANISLAW  PRZYBYSZEWSKI:  Auf  Kains  Pfaden  /  BER- 
THOLD VIERTEL:  Sonntag  Abend  in  der  Großstadt  /  KARL 
KRAUS:  Glossen  /  SAMUEL  LUBLINSKI:  Das  Erlebnis  de5 
Kritikers  /  KARL  KRAUS:  Desperanto  /  Selbstanzeige  / 
KARL  KRAUS:  Der  Traum  ein  Wiener  Leben 


Herjn$gcb«r  und  verantwortlicher  Redakteur    Kar!  Kraus 
Druck  Yon  Jahoda  &  Siegel    WIea,  III.  Hintere  Zollanjtastr.  3 


|f(       Doppelnummer 

311/312  23,  NOVEMBER  1910         XII.  JAHR 


_^^-^^<^' 


)IE  FACKEL 


HERAUSGEBER 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

KRAUS :  Der  Freiherr                Z  MEHRING :  Ein  Fürst 

der  moder                             ^LBERT 
:     /    BERTHOLD 

NACHDRUCK  VERBOTEN 

S  DER  DOPPELNU                      ISLLER 
CHEINT  IN  2?X/A:                        OLGE 

^ 

DIE  FACKEL'.                         ^LJN 
£  zotlamtsst: 

J;"i 


KARL  KRAUS: 

Heine  und  die  Folgi 


I 

Verlag  ALBERT  LANGEN 


LUDWIG  SPEIDELS 
Schriften 

I.   und  II.   Band 

Bei  Meyer  und  Jessen,  Berlin  1910 


DIE  FACKEL 


Nr.  311/312  23.  NOVEMBER  1910  XELJAHR 


Der  Freiherr 

Von  Karl  Kraus 

Nicht  von  der  Parteien  Gunst  und  Haß  verwirrt, 
sondern  im  Gegenteil,  weil  er  jeder  einzelnen  sich 
anzubiedern  sucht,  schwankt  sein  Charakterbild  in  der 
Geschichte.  Dieses  unaufhörliche  Schwanken  ist  die 
Lage,  in  der  man  unter  allen  Umständen  sicher  sein 
kann,  ihn  anzutreffen.  Es  gibt  keine  Öffnung  öster- 
reichischer Gunst,  und  wäre  sie  noch  so  unwegsam 
oder  wäre  sie  noch  so  ausgefahren,  an  der  es  den 
Freiherrn  von  Berger  nicht  gelockt  hatte  seine  Ge- 
wandtheit zu  erproben,  und  durch  die  er  nicht  getrachtet 
hätte,  eine  lohnende  Aussicht  zu  gewinnen.  Bei  dem 
kolossalen  Andrang,  der  in  Österreich  an  solchen 
Stellen  herrscht,  ist  es  kein  Wunder,  daß  selbst  ein 
so  geschickter  Mann  wie  der  Freiherr  von  Berger  oft 
Pech  gehabt  oder  sich  wieder  dadurch,  daß  er  selbst 
schon  die  Gelegenheit  besetzt  hielt,  wenn  gerade  ein 
anderer  hineinwollte,  die  erbittertsten  Feinde  gemacht 
hat.  Ich  habe  nicht  zu  ihnen  gehört;  denn  ich  bin 
ehrgeizlos,  der  Baron  Berger  kann  mir  zwischen 
Leo -Gesellschaft  und  Konkordia  keine  Position 
wegnehmen,  und  von  der  Zeit,  da  er,  ein  Träumer, 
im  Ischler  Walde  so  für  sich  hinging,  um  nichts  zu 
suchen  und  zufällig  die  Frau  Schratt  zu  treffen,  bis 
zur  endlichen  Berufung  ins  Burgtheater,  habe  ich  ihn 
um  keinen  sozialen  Vorsprung  beneidet.  Man  weiß  im 
Gegenteil,  daß  ich  für  den  Baron  Berger  etwas  übrig 
hatte,  daß  ich  viel  dazu  beigetragen  habe,  seinen  Erfolgen 
das  Air  des  geistigen  Verdienstes  zu  schaffen,  und  daß 
ich   gutwillig  das  Odiura   übernahm,    es    sei    diesem 


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flinken  Einseifer,  dem  zum  Gurgelabschneider  die 
Konsequenz  fehlt,  immerhin  gelungen,  zugleich  der 
Neuen  Freien  Presse  und  der  Fackel  um  den  Bart 
zu  gehen.  Und  wiewohl  ich  jetzt  wieder  gerne  das 
Odium  auf  mich  nehme,  daß  irgendetwas  vorgefallen 
sein  müsse,  weil  eben  für  die  Kretins  immer  etwas 
vorgefallen  sein  muß,  wenn  ein  Mann  mit  einem  Weib 
fertig  wird,  so  stehe  ich  nicht  an,  dem  Freiherrn  von 
Berger  öffentlich  und  auch  für  den  Fall,  daß  er  sich 
noch  in  einer  Täuschung  darüber  befinden  sollte,  meine 
Gunst  zu  entziehen.  Ich  kann  mich  einer  Sympathie, 
zu  der  er  mir  einmal  Grund  bot,  nicht  schämen,  ich 
muß  es  ihm  überlassen,  sich  dessen  zu  schämen, 
daß  er  mir  heute  dazu  keinen  Grund  mehr  bietet. 
Ich  kann  auch  nicht  leugnen,  daß  ich  ihn  für  einen  viel- 
fältig begabten  Mann  hielt,  dessen  Unfähigkeit,  seine 
Gaben  zusammenzuhalten,  sich  mir  immer  wieder 
hinter  einer  reizvollen  Plauderei  verbarg.  Ich  nahm  mir 
nicht  die  Mühe,  die  Taten  zu  vermissen,  die  er  nicht 
tun  konnte,  oder  gar  jene  zu  erraten,  deren  er  fähig 
war.  Denn  in  die  Betrachtung  seines  wogenden 
Busens  versunken,  aus  dem  Epigramme  gegen  Hoch- 
gestellte und  Witzworte  über  Preßbuben  hervorkamen, 
während  sein  Auge  leuchtend  auf  dem  dankbaren 
Empfänger  ruhte,  konnte  man  nur  bedauern,  daß  solchem 
peripatetischen  Plauderer  die  Gelegenheit  gesperrt  sei, 
und  mußte  wünschen,  daß  ihm  endlich  die  Burg- 
theaterdirektion mit  dem  Recht  verliehen  werde,  im  Mittel- 
gang des  Parketts  herumzugehen  und  mit  seiner 
Erscheinung  und  Begabung  die  Zwischenakte  auszu- 
füllen. Ein  paar  Aufführungen  in  Hamburg  —  nicht 
seine  Aufführung,  als  er  von  Hamburg  ging  —  schafften 
mir  auch  den  Eindruck  eines  ungewöhnlichen  Regie- 
talents und  ein  paar  Federzüge  in  Büchern  und  Auf- 
sätzen den  Glauben  an  seine  novellistische  Begabung. 
Einer  größern  Schuld  habe  ich  mich  nicht  zu  zeihen, 
und  daß  ich  einen  Mann,  der  vielleicht  sogar  aus 
einem  Dutzend  halber  Männer  besteht,  nicht  überschätzt 


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3  — 


habe,  liegt  auf  der  Hand.  Er  könnte  mit  seinen  häufigen 
Talenten  wirklich  eine  Persönlichkeit  bedienen,  aber 
der  Jammer  ist,  daß  diese  Persönlichkeit  nicht  in  ihm 
ist,  so  daß  er  oft  den  Eindruck  eines  Menschen  macht, 
der  seinen  Körper  abgelegt  hat,  ehe  er  mit  den  Kleidern 
ins  Wasser  ging.  Dieser  Mangel  an  Persönlich- 
keit aber  tritt  mit  den  Jahren  so  sehr  in  Erschei- 
nung, daß  nach  dem  Chok  des  Erfolges,  einen 
zwanzigjährigen  Traum  erfüllt  zu  sehen,  überhaupt 
nichts  anderes  übrig  bleibt  als  der  Mangel  an  Persön- 
lichkeit. Herr  v.  Berger  hat  bewiesen,  daß  er  für  das 
Maß  an  Unehrlichkeit,  das  er  sich  aufgebürdet  hat, 
nicht  mehr  tragfähig  ist.  Er  ist  bei  weitem  nicht 
charaktervoll  genug,  um  einem  die  Untreue  zu  halten, 
um  einen  Gesinnungswechsel,  den  er  bei  flagranter 
Gelegenheit  ausgestellt  hat,  zu  prolongieren;  der  Wind, 
der  von  der  andern  Seite  weht,  wirft  ihn  um,  und 
ihm  bleibt  bloß  das  weibische  Vergnügen,  ein  kleines 
System  von  Rankünen,  die  einander  wie  die  Wan- 
derer in  der  hohlen  Gasse  kreuzen  —  des  Weges 
Enge  wehret  den  Verfolgern  — ,  als  l'art  pour 
l'art  auszuüben.  Nur  eine  Geistesgegenwart,  die  in 
der  Abwesenheit  des  Charakters  begründet  ist,  konnte 
ihn  auf  die  Idee  bringen,  Schiller  für  den  Klerikalismus 
zu  reklamieren,  und  nur  die  unerwartete  Rückkehr  des 
Charakters  im  Moment  der  Geistesabwesenheit  konnte 
ihn  veranlassen,  am  Grab  des  Schauspielers  Kainz 
die  Dringlichkeit  der  Leichenverbrennung  zu  ver- 
klären. Dieses  perpetuum  mobile  zwischen  schwarz  und 
gelb,  das  jetzt  einem  Prälaten  an  den  Hintern  tippt 
und  jetzt  einem  Reporter,  immer  der  Rückkehr  zum 
andern  Standpunkt  gewärtig,  ist  schließlich  eine  so 
unwürdige  Tatsache  unseres  öffentlichen  Lebens,  daß 
selbst  eine  Hoftheaterbehörde  des  Mannes  überdrüssig 
werden  könnte,  der  sich  heute  vor  ihr  mit  der  Verachtung 
jüdischer  Schmöcke  brüstet  und  morgen  den  jüdischen 
Schmöcken  die  Hoftheaterbehörde  gebunden  überliefert. 
Um  es  mit  einem  Wort  zu  sagen,   so  scheint  mir  die 


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:  Vereinigung  der  Würde  eines  Burgtheaterdirel^tors  (wo- 
fern man  heute  noch  von  einer  solchen  sprechen  kann) 
mit  der  Schmach  eines  fix  besoldeten  Mitarbeiters  der 
Neuen  Freien  Presse  (von  der  man  heute  gewiß 
sprechen  kann)  unerträglich,  und  der  Freiherr  v.  Berger 
wird  sich  nicht  wundern,  daß  ich  ihn,  nach  den 
Jahren,  da  ich  die  literarische  Leistung  des  verbannten 
Österreichers  um  ihrer  selbst  willen  gewürdigt  habe, 
mit  äußerstem  Mißtrauen  in  zwei  Stellungen  wirken 
sehe,  deren  Kuppelung  eine  absurde  Gefahr  für  das 
geistige  Leben  dieser  Stadt  bedeutet  (wofern  überhaupt 
noch  ein  Hund  an  das  geistige  Leben  dieser  Stadt 
riecht).  Herr  v.  Berger  ist  in  mein  Ressort  gefallen. 
Nicht  als  Theaterleiter;  denn  ich  befasse  mich  nicht 
berufsmäßig  mit  der  Verelendung  des  Burgtheaters.  Ich 

'  überzeuge  mich  von  ihr  höchstens  einmal  in  zwei  Jahren, 
und  ich  habe  mit  Wehmut  die  welken  Blätter  betrachtet, 
die  zur  Totenklage  der  Königinnen  in  »Richard  III.« 
von  den  Soffitten  fielen.  Dieser  Erneuerer,  dachte  ich, 
ist  ein  Restaurateur,  der  weniger  auf  das  gute  Fleisch 
sieht  als  auf  die  schlechte  Garnierung,  und  ich  hatte 
wieder  für  zwei  Jahre  genug.  Aber  die  Art,  wie  sich 
der  Burgtheaterdirektor  in  die  geistige  Szene  setzt  und 
wie  er  die  doppelten  Spiele  aufführt,  das  interessiert 
mich.  Und  wenn  ihm  meine  Kritik  zum  Erfolge 
nützen  sollte,  so  wäre  das  zwar  bedauerlich,  aber  ich 
kann  mindestens  so  wenig  heucheln  wie  der  Freiherr  von 
Berger  im  Falle  Harden,  und  man  wird  mir  nicht  zu- 
muten, daß  ich,  um  ihm  zu  schaden,  sein  Lob  singen 
sollte.  Wie  lange  sich  ein  Übel  erhält,  ist  gleichgültig; 
wichtiger  ist,  davon  zu  sprechen,  weil  man  so,  im  All- 
gemeinen, über  die  Übel  aufklärend  wirkt  und  neue 
verhindert.  Herr  v.  Berger  sehnt  sich  darnach,  von  mir 
angegriffen  zu  werden;  ich  tue  es  trotzdem.  Es  bedarf 
keiner  Provokation;  ich  seh'  schon  selbst,  was  los  ist. 
Dem  Freiherrn  v.  Berger  aber  genügt  es  nicht, 
bei  der  Neuen  Freien  Presse  sicher  zu  sitzen, 
er  hat  den  Drang,  Fleißaufgaben  zu   leisten,  und  wie 


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er  nach  der  Bekehrung  Schillers  zum  Katholizismus 
hundert  Juden  umarmt  hat,  bis  Herr  Benedikt  ihm  auf 
die  Schulter  klopfte  und  sagte:  »Lassen  Sie's  gut  sein, 
Berger,  es  ist  genug  für  heut!«,  so  will  er  jetzt  den 
Nachweis  erbringen,  daß  er  keine  Gemeinschaft  mit 
mir  hat.  Irgend  ein  Schurke  muß  ihn  doch  bei  der 
Neuen  Freien  Presse  angeschwärzt  haben.  Nun,  das 
Obersthofmeisteramt  besteht  auf  solchem  Schein  gewiß 
nicht.  Im  Gegenteil,  ich  kann  Herrn  v.  Berger  sogar  eine 
schlaflose  Nacht  mit  der  Mitteilung  machen,  daß  man  in 
gewissen  Kreisen  -  ich  sage  nichts  N^iheres,  ich  zwinkere, 
ich  zucke  die  Achseln  —  die  , Fackel*,  wenn  auch 
nicht  versteht,  so  doch  ernst  nimmt.  Dort  könnte  ich 
bei  einigem  guten  Willen  ihn  kompromittieren.  Aber 
ihm  bei  der  Neuen  Freien  Presse  zu  schaden,  liegt  mir 
so  wenig  im  Sinn,  daß  ich  sogar  alles  tun  werde,  ihm 
dort  zu  nützen  und  ihm  dazu  zu  verhelfen,  auch  noch  die 
paar  Stunden,  die  ihm  jetzt  die  Leitung  des  Burgtheaters 
wegnimmt,  der  journalistischen  Tätigkeit  widmen 
zu  können.  Er  wird  natürlich  sagen,  ich  tue  das,  weil 
ich  kein  Stück  geschrieben  habe  und  dieses  vom  Burg- 
theater nicht  angenommen  wurde.  Oder  er  wird  sagen, 
daß  irgend  eine  Gemeinheit,  die  das  Burgtheater  an 
irgend  einem  mir  nahestehenden  Autor  begeht,  mich 
erbittert  hat.  Auch  damit  täte  er  Unrecht.  Die  Zeiten, 
in  denen  mich  das  typische  Schicksal  der  der  Theater- 
ranküne ausgelieferten  Literatur  interessiert  hat,  sind 
vorbei,  und  ich  würde  dem  Herrn  v.  Berger  nicht 
raten,  irgendein  verletztes  Privatinteresse  mit  meiner 
gesunden  Abneigung  in  Konnex  zu  bringen.  Ich  würde 
ihm  nicht  raten,  die  Motive  meines  Angriffs  schäbig 
zu  machen  —  sonst  hätte  er  es  mit  mir  zu  tun !  Wenn 
dem  Herrn  v.  Berger  an  meiner  Aversion  gelegen  ist, 
so  soll  er  sie  auch  für  ehrlich  halten.  Und  wie  ehrlich 
sie  ist,  das  muß  er  gespürt  haben,  als  er  die 
Feder  ansetzte,  um  Ludwig  Speidel  zurück  in  den 
Journalismus  und  Herrn  Maximilian  Harden  in  die 
Ewigkeit    zu   bugsieren.    Wenn    er    es    nicht    darauf 


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abgesehen  hätte,  meinen  Zorn  zu  verdienen,  er  müßte 
doch  gespürt  haben,  wie  er  entstand,  wie  er  wuchs, 
wie  mir  die  Finger  zuckten,  wie  die  Hand  sich  erhob, 
um  einem  unehrlichen  Diener  am  Wort  der  Majorität, 
einem  zwischen  öffentHcher  Meinung  und  heimlicher 
Streberei  Beflissenen,  dem  Pfau  der  Presse,  der  sich 
vor  Hennen  spreizt,  dem  Freiherrn  unter  Frei- 
mädchen, dem  endlichen  Burgtheaterdirektor  endlich 
an  die  Gurgel  zu  fahren.  Er  trolle  sich  und  ver- 
stelle das  Gesichtsfeld  nicht.  Dieser  ewige  Wirbel  im 
Kinematographen,  in  den  einer  da  gerät,  über  Stock 
und  Stein  hinter  einer  Hoffung  her,  beim  rechten 
Loch  hinein,  beim  falschen  hinaus  —  paßt  mir  nicht! 
Diese  Sucht,  in  eine  Position  zu  kommen,  und  wäre 
es  auch  eine  schiefe,  ist  fatal.  Ich  bin  für  solche  Dinge 
umso  empfindlicher,  je  länger  ich  sie  nicht  gespürt 
habe,  und  nehme  sie  dann  als  persönliche  Beleidigung. 
In  dem  Augenblick,  da  Herr  Alfred  v.  Berger  Miene 
machte,  Speidel,  dessen  Andenken  man  kaum  aus  den 
Klauen  der  Neuen  Freien  Presse  befreit  hatte  —  die 
Herren  Wittmann  und  Benedikt  begleiteten  ihn  in  die 
Unsterblichkeit  — ,  der  Kollegenschaft  wieder  ein- 
zuliefern; in  dem  Augenblick,  da  er  —  kurz  nach- 
dem ich  die  Folgekrankheiten  des  Heineismus  beklagt 
hatte  —  die  Geschmackigkeit  des  Wiener  Feuilleton- 
geistes pries,  da  mußte  er  wissen,  daß  es  zwischen 
uns  keine  Verbindung  mehr  gab.  »Oberhalb  oder  im 
Norden  des  Striches  tobt  das  kalte  sturmgepeitschte 
Meer  der  Politik  und  des  wirklichen  Lebens,  im  Süden 
erstreckt  sich  die  grüne  sonnige  Küste  des  Feuilletons, 
der  Strich  selbst  wandert  auf  und  ab  wie  eine  Flut- 
marke; höchst  selten,  an  besonders  kritischen  Tagen, 
verschwindet  er  sogar,  wie  bei  Springflut,  unter  den 
hereinbrausenden  Wogen  des  Leitartikels.  Ober  dem 
Strich  ist  Krieg,  da  liefert  der  Geist  im  Dienste  politi- 
scher, sozialer  und  wirtschaftlicher  Ideen  und  Leiden- 
schaften seine  Schlachten.  Unter  dem  Strich  ist  Friede, 
da    legen    die    Gedanken    ihre  Waffenrüstung  ab  und 


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entladen  ihre  nackte  Kraft  nicht  im  Zwange  drängender 
Not,  sondern  in  freiem  Spiel .  .  .«  Nein,  der  Urheber 
dieser  schönen  Bildlichkeit  hat  nicht  erwartet,  von  mir 
loch  gegrüßt  zu  werden,  wenn  ich  ihm  zufällig  einmal 
jber,  unter  oder  auf  dem  Strich  begegne.  Der  Mann, 
der  einem  Speidel  nichts  besseres  nachzusagen  wußte, 
als  die  »feinfühligen  journalistischen  Instinkte«, 
lat  nicht  gehofft,  daß  er  sich  bei  mir  damit 
jines  seiner  Bildel  einlegt.  Nicht,  weil  er  weiß, 
laß  ich  weiß,  wie  er  über  diese  Dinge  denkt. 
!3as  weiß  ich  nämlich  gar  nicht.  Ich  verlasse  mich  nicht 
einmal  auf  die  Verachtung  der  journalistischen  Instinkte, 
die  Herr  v.  Berger  mir  gegenüber  hundertmal  betont 
hat.  Die  Lust  zu  fabulieren  ist  groß  und  die  Neigung 
es  so  zu  tun,  wie  es  der  andere  hören  will,  größer.  Aber 
das  Stoffliche  der  Gesinnung,  die  sich  vor  Herrn  Bene- 
dikt auftut,  paßt  mir  nicht.  Ich  räuchere  nicht  durch 
^wölf  Jahre  ein  Räubernest  aus,  damit  ein  Mann,  der 
nir  dazu  Beifall  geklatscht  hat,  sichs  drin  wohl  sein 
lasse.  Wenn  den  Mitarbeiter  der  Neuen  Freien  Presse 
der  Verkehr  mit  mir  nicht  kompromittiert  hat,  ich  mußte 
hm  die  Mitarbeit  nicht  übel  nehmen.  Aber  die  Glori- 
izierung  des  Schlimmsten,  was  mir  die  Journaille  an 
1er  Kultur  zu  verbrechen  scheint,  des  Feuilleton- 
Geistes,  der  die  Schurkerei  versüßt,  nehme  ich  nicht 
in.  Herr  v.  Berger  weiß  das  und  er  hat  mir  mit  dankens- 
wertem Entgegenkommen  den  Verzicht  auf  meine 
Achtung  erleichtert.  Er  kann  nämlich  nicht  lügen. 
Er  muß  Herrn  Maximilian  Harden  versichern,  daß  der 
Wert  seiner  Artikelsammlung  »Köpfe«  mit  den  Jahr- 
zehnten, und  wenn  sein  Gefühl  nicht  trügt,  mit  den 
'ahrhunderten  wachsen  wird.  Sein  Gefühl  trügt;  wie 
eder  Schein,  wie  alles,  was  Herr  v.  Berger  in  sich  hat, 
ind  nur  die  erweisliche  Wahrheit  siegt,  daß  das  Buch 
les  Herrn  Harden  die  Leistung  des  Buchbinders  ist, 
der  der  Welt  beweist,  wie  wesenlos  die  Gedanken 
zerflattern,  die  ein  geschminkter  Archivar  für  die 
Woche  erschwitzt  hat.  Herr  v.  Berger  kann  nicht  anders, 


er  muß.  Er  stand  stundenlang  auf  dem  Korridor 
des  Leipziger  Reichsgerichts,  um  nicht  für  Moltke  und 
nicht  gegen  Harden  zu  zeugen,  aber  um  für  seine 
Vermittlerrolle  zwischen  Aristokratie  und  Journaille  zu 
zeugen,  die  er  sich  in  seinem  unerforschlichen  Drang 
nach  diplomatischer  Betätigung  zugelegt  hatte.  Der 
wartende  Zeuge,  der  vor  dem  Reichsgericht  stand, 
als  ob  dieses  eine  Burgtheaterdirektion  zu  ver- 
geben hätte,  machte  nicht  den  besten  Eindruck,  und 
Zeugen  dieses  Wartens  wollen  beobachtet  haben,  daß 
Graf  Moltke  damals  ein  Gesicht  machte,  als  empfände 
er,  wie  vorsichtig  man  mit  den  Freiherren  sein  müsse. 
Adel,  der  in  der  Krachzeit  des  österreichischen  Libera- 
lismus erworben  ist  und  an  der  Neuen  Freien  Presse 
mitarbeitet,  läßt  Tintenflecke.  Der  arme  Graf  Moltke  ist 
wahrscheinlich  ein  so  schlechter  Menschenkenner  wie 
ich.  Aber  ich  wenigstens  wußte  schon  damals,  das  Feuille- 
ton des  Freiherrn  v.  Berger  über  den  Bürger  Harden 
sei  unvermeidlich.  Er  wird  das  »wunderbare  Phänomen 
seines  schier  unerschöpflich  scheinenden  Wissens,  das 
er  immer  bei  der  Hand  hat,  wenn  er  es  gerade  braucht«, 
uns  erklären.  Er  wird  leugnen,  daß  es  Zettelkästen  gibt, 
und  man  wird  noch  immer  nicht  wissen,  woher  die 
Hand  das  unerschöpflich  scheinende  Wissen  nimmt.  Sie 
nahm  es  kürzlich  aus  einer  parodistischen  Schmäh- 
schrift gegen  Friedrich  den  Großen,  und  Herr  Harden 
behauptete,  einen  Originalausspruch  des  »Fritzen«  ge- 
funden zu  haben.  Herr  Franz  Mehring  hat  in  der 
,Neuen  Zeit'  unter  dem  Titel  »Ein  Fürst  der  Gecken« 
die  tödliche  Blamage  des  gebildetsten  Deutschen  ent- 
hüllt, und  alle  Zettelkästen  zwischen  Konstanz  und 
Königsberg  barsten  vor  Scham  über  das  Malheur,  das 
einem  ihrer  Kollegen  passiert  war.  Ich  müßte  mich  um- 
bringen, wenn  ich  gewußt  hätte,  daß  ein  gewisser  Bonne- 
ville  1766  ein  Pamphlet  »Matinees  du  roi  de  Prusse« 
verfaßt  hat.  Herr  Harden  bringt  sich  nicht  um,  wiewohl 
sich  herausgestellt  hat,  daß  er  es  nicht  weiß.  Daß  er 
es  nicht  nur  nicht  weiß,  sondern  eine  geschichtsbekannte 


—    9 


Persiflage  der  Hohenzollern  ernst  genommen  und  die 
Worte,  die  Friedrich  der  Große  zu  seinem  Neffen 
spricht  (»Unser  Haus  hat,  wie  alle  andern,  seine  Achilles, 
seine  Ciceros,  seine  Nestors,  seine  Blödsinnigen  .  . .«) 
als  ungedrucktes  Bekenntnis  eines  Vorfahren,  der 
anders  als  Wilhelm  II.  vom  Gottesgnadentum  denke,  ver- 
öffentlicht hat.  Herr  Harden  war  interpelliert  worden, 
woher  er  das  dieswöchentliche  Zitat  habe,  und  antwortete 
in  einem  zweiten  Artikel,  er  sei,  fern  von  Berlin,  nur  auf 
sein  Gedächtnis  angewiesen,  das  freilich  auch  fern  von 
Berlin  unglaubich  leistungsfähig  ist  —  folgte  eine 
Serie  von  Namen  und  Zahlen  — ,  aber  er  verdanke 
irgendjemand  eine  Abschrift  dieser  bis  heute  un- 
gedruckten Worte.  Herr  v.  Berger  hat  nie  an  den 
Zettelkasten  geglaubt,  der  ja  auch  tatsächlich  zeitweise 
in  Unordnung  zu  sein  scheint.  Ich  denke  aber, 
daß  dies  nicht  das  Problem  ist,  welches  uns  hier 
zu  beschäftigen  hätte,  sondern  vielmehr  ein  anderes: 
ob  Herr  Harden  außer  dem  Zettelkasten,  den  er  nicht 
hat,  noch  etwas  anderes  hat.  Herr  v.  Berger  ist  ganz 
entschieden  der  Ansicht.  Der  Zettelkasten,  der  immer 
zur  Erklärung  des  Harden'schen  Wissens  herangezogen 
werde,  sagt  er,  verhält  sich  zu  Harden,  wie  Lord 
Bacon  zu  Shakespeare ;  die  Verlegenheit,  das  Shakes- 
peare-Wissen zu  erklären,  habe  die  Theorie  erzeugt, 
Shakespeare  sei  im  Geheimen  Lord  Bacon  gewesen, 
»wobei  Lord  Bacon  gewissermaßen  die  Rolle  eines 
Zwillingsbruders  des  Harden'schen  Zettelkastens  spielt«. 
Das  sind  komplizierte  Familienverhältnisse,  aber  ich 
möchte  immerhin  behaupten,  daß  Shakespeare  außer  sei- 
nem Wissen  noch  etwas  vorgestellt  hat,  während  bei 
Herrn  Harden  das  Wissen  die  störende  Hauptsache  ist 
und  außer  ihr  nichts  da  ist,  was  unser  Herz  erfreuen 
könnte.  Auch  möchte  ich  den  Zettelkasten  des  Herrn 
Harden,  wenn  sich  ihm  überhaupt  etwas  an  die 
Seite  stellen  läßt,  lieber  schon  mit  dem  Brustkasten  des 
Freiherrn  v.  Berger  verglichen  sehen,  aus  dem  ebenfalls 
manches  hervorkommt,    wofür  der  Besitzer  nicht  ver- 


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aiüwortlich  ist.  Wenns  freilich  auf  mich  ankommt,  würde 
ich  diesen  unvergleichlichen  Brustkorb  wieder  nur  mit 
einem  redenden  Papierkorb  vergleichen.  Denn  was 
hat  da  nicht  alles  Platz!  So  meint  Herr  v.  Berger  zum 
Beispiel,  Harden  sei  ein  Sprachkünstler.  Nun,  ich  kann 
da  nicht  mitreden.  Ich  bin  bloß  Übersetzer  und  als 
solcher  etwas  voreingenommen.  Aber  an  dem  Übel- 
befinden von  Tausenden,  denen  ich  die  Sprache  des 
Herrn  Harden  zugänglich  gemacht  habe,  merke  ich, 
daß  da  etwas  nicht  stimmen  muß.  Herr  v.  Berger  hebt 
allerdings  auch  rühmend  hervor,  daß  Herr  Harden,  der 
übrigens  einer  der  fleißigsten  Arbeiter  sei,  sich  in 
die  Persönlichkeiten,  die  er  schildert,  »hineinbohrt, 
bis  er  endlich  die  Empfindung,  wie  es  schmeckt, 
dieses  Ich  zu  sein,  einen  Augenblick  auf  der  eigenen 
Zunge  spürt«.  Da  kann  ich  auch  nicht  mitreden,  da 
ist  wieder  der  Freiherr  v.  Berger  kompetent.  Auch  er  hat 
es  oft  gespürt,  umsomehr  als  er  doppelzüngig  ist,  er 
hat  Tag  und  Nacht  gearbeitet  wie  Herr  Harden,  er  ist 
manchmal  gar  nicht  aus  den  Kleidern  der  Leute  heraus- 
gekommen. »Wenn  ich«,  schreibt  er,  »der  Natur,  als 
sie  Harden  schuf,  einen  guten  Rat  hätte  geben  können, 
so  würde  ich  ihr  gesagt  haben:  Gib  diesem  Drang 
nicht  nur  die  Kraft  des  denkenden  und  fühlenden  Ergrün- 
dens  und  lebendigsten  Schilderns,  sondern  die  Allmacht 
des  Gestaltens,  oder  gieß  ihr  wenigstens  schauspielerisches 
Vollblut  in  die  Adern!«  Man  kann  von  Glück  sagen, 
daß  der  liebe  Freiherr  nicht  dem  lieben  Herrgott 
geholfen  hat;  er  hätte  die  Menschen  am  Ende  nach 
seinem  Ebenbilde  geschaffen.  Schlechte  Freiherren  gibt 
es  genug.  Schlechte  Theaterdirektoren  auch.  Dagegen 
gibt  es  nicht  viele  gute  Schauspieler.  Die  Herren  Berger 
und  Harden  haben  Ansätze.  »Der  schauspielerische 
Trieb  muß  sehr  stark  gewesen  sein  in  dem  jugendlichen 
Harden«,  sagt  jener  und  rühmt  ihn  als  echten  Patrioten. 
Darin,  findet  er,  in  der  »leidenschaftlichen  Liebe  für 
das  Vaterland«  —  es  gibt  eigentlich  nur  Liebe  zum 
Vaterland,  aber    Liebe   für  Geld    —    gleiche    Harden 


I 


—  11  — 


keinem    geringern    als    Dante.    Diese    »weißglühende 
Leidenschaft*  nötigt  Herrn  v.  Berger  —  der  ja  auch 
sein  Vaterland    liebt,    aber    doch    nur,   wenn    es    ihn 
zur  Burgtheaterdirektion  ruft  —  geradezu  Ehrfurcht  ab: 
•Hardens  Patriotismus  ist    das  Gefährliche  in  ihm,  das 
zu  scheuen  ratsam  ist«.  Ich  bin  ganz  derselben  Meinung 
und  habe  schon  in  dem  Aufsatz  »Der  Patriot«  gesagt,  daß 
man  diesem  Patriotismus  lieber  ausweicht,  wenns  finster 
wird.  Harden  »nimmt,  wie  Goethes  Alba,  keine  Raison 
an« ;  dagegen  die  Informationen  des  Herrn  v.  Holstein,  die 
das  Vaterland  just  dann  in  einen  Krieg  treiben,  wenn  es 
gerade  am  wenigsten  dringend  ist.  Und  wieder  kommt, 
bei  aller  Echtheit  des  Patriotismus,  »das  starke  schau- 
spielerische Temperament«  des  Herrn  Harden  zu  Ehren, 
das  ihn  zwingt,  »die  Rollen  an  sich  zu  reißen,  die  der 
Moment  von  ihm  heischt,  abwechselnd  Prophet,  Weiser, 
Narr,  Warner,  Ankläger,  Richter  und  Nachrichter,  denn 
tausend  Seelen  wohnen  in  ihm«.    In    Herrn  v.  Berger 
trotz  größerer  Brust  erweislichermaßen  nur  zwei.   Und 
die    sind    zu    viel.    Und    nun    möchte    ich    ihn   zu 
seiner  Pflicht   rufen.    Denn  so  wahr    es    ist,    daß    er 
eher  noch  das  Burgtheater  vor  dem  Tode  seines  Welt- 
ruhms retten  als  daß  er  meinen  Harden  für  Deutsch- 
land lebendig  machen  wird,  so  dringend  nötig  ist  es, 
ihn  bei  der  Stange  zu  halten.  Da  er  sich  pflichtgemäß 
für  den  schauspielerischen  Nachwuchs  zu  interessieren 
hat,  so  unterlasse  er  es,  auf  den  literarischen  Schmie- 
ren Umschau   zu    halten.    Er    kümmere    sich    darum, 
wo    er    den    Nachfolger    für    Kainz,    wo    er    den  in- 
teressanten Schauspieler  findet,  dem  zuliebe  ein  Mensch 
in  Wien  noch  ein   Burgtheaterbillett  kauft,   und  gebe 
den   Versuch    auf,    die    schauspielerischen   Keime  bei 
Herrn  Harden,  der  nun  schon  einmal  den  Beruf  verfehlt 
hat,     zu    entdecken.    Wir    wollen    einen    Burgtheater- 
direktor und  nicht  einen  Rezensent€n,    der   ehemalige 
Provinzkomödianten     und     gegenwärtige      politische 
Gaukler   als  Stars  feiert.   Herr  v.  Berger  hat  in  einer 
lächerlichen   Notiz   erklärt,   daß  das  Burgtheater  auch 


12 


nach  dem  Tode  Kainz'  noch  bestehen  werde,  wie  es 
nach  dem  Tode  Sonnenthals  weitergelebt  habe.  Das 
mag  wahr  sein,  die  Mauern  sind  nicht  eingestürzt,  das 
Klosett  auf  der  rechten  Parkettseite  ist  noch  immer 
sanitätswidrig  und  auf  der  Galerie  ruft  der  Mann,  der 
heute  noch  die  Burgtheatertradition  verkörpert,  noch 
immer:  »Frisch  Wasser,  Frornes,  Lemrnad!«  Wenn  Herrn 
V.  Berger  ein  Schauspieler  stirbt,  so  sagt  er,  daß  mit 
Rücksicht  auf  dessen  Unersetzlichkeit  kein  Nachfolger 
engagiert  werde,  und  daß  das  Publikum  von  den 
Persönlichkeiten  entwöhnt  und  zur  Würdigung  des 
Ensembles  erzogen  werden  müsse.  Solcher  Aufschrei 
der  geplagten  Mittelmäßigkeit,  die  keinen  größeren 
Ehrgeiz  kennt,  als  den  Gymnasiasten  die  Lektüre  der 
Klassiker  zu  ersparen,  mag  rührend  sein;  aber  durch 
die  Entschuldigung,  daß  er  für  den  Tod  nichts  könne, 
wird  Herr  v.  Berger  der  Verantwortung  dafür,  daß  er 
das  Leben  nicht  ruft,  kaum  entgehen.  So  wird  sich  die 
Sache  schwerlich  halten.  Schon  gar  nicht,  wenn  sie 
immer  wieder  durch  Feuilletons  unterbrochen  wird. 
Wenn  der  Freiherr  bekennt,  er  habe  Harden  »genau 
studiert«,  so  ist  es  nur  zu  beklagen,  daß  er  seine 
freie  Zeit  nicht  besser  angewandt  hat:  vielleicht  hät- 
ten wir  jetzt  schon  bessere  Burgtheatervorstellungen. 
Und  wenn  er  mit  einer  deprezierenden  Gebärde  nach 
meinem  Schreibtisch  ausruft,  »er  könne  ihn  nicht  anders 
malen,  als  er  ihn  sieht«,  so  falle  ich  vom  Sessel  vor 
Bewunderung  solcher  Ehrlichkeit.  Denn  ich  kann  noch 
weniger  lügen  als  der  Freiherr  v.  Berger.  Hardens 
»Sprachgewalt«  flößt  diesem  ehrlichen  armen  Teufel 
Bewunderung  ein.  Hardens  »Leidenschaft«  bittet  er  nicht 
mit  ihrem  »schwächlich  reizbaren  Bruder,  dem  Affekt« 
zu  verwechseln.  Er  lasse  mir  die  Leidenschaft  des  Herrn 
Harden  in  Ruhe;  sonst  tut  sie  der  Sprache  Gewalt  an 
und  behauptet  am  Ende,  der  aus  der  Elbestadt  mit 
Stank  Geschiedene  habe  ihn,  den  im  Machtreich  Wohnen- 
den, mit  Klugschwatz  kirren  wollen!  —  Kann  solch 
decrepide  Leidenschaft  noch  einen  schwächlich  reizbaren 
Bruder   haben,   so  reize    er  die  Schwäche  nicht.    Sie 


—  13  — 

könnte  dem  Freiherrn  v.  Berger  Proben  geben,  daß  er 
die  Leidenschaft  des  Herrn  Harden  von  meinem  Affekt 
nicht  wird  unterscheiden  können !  Ich  würde  ihm  be- 
weisen, wie  zutreffend  die  Beschreibung  ist,  die  er 
von  jenen  gibt,  welche  seinem  Urteil  über  Herrn 
Harden  —  er  ahnt  es  —  widersprechen  werden:  psy- 
chologische Begabung  sei  für  sie  »die  Sucht  und  die 
Geschicklichkeit,  hinter  der  Fassade,  welche  eine  öffent- 
liche Persönlichkeit  dem  Publikum  zukehrt,  allerlei 
traurige  Menschlichkeiten  als  die  angebliche  Wahrheit 
aufzuspüren*.  Dieser  vielfältige  Mann  ahnt,  daß  er 
durch  die  Verteidigung  der  Fassade  des  Herrn  Harden 
seine  eigenen  Menschlichkeiten  dem  Auge  der  Psycho- 
logen entblößt  hat.  Ich  bin  aber  gar  nicht  für  Psycho- 
logie, ich  bin  bloß  für  Sauberkeit.  Ich  haue  Fassaden 
ein  und  mache  tabula  rasa  mit  den  Menschlichkeiten. 
Ich  leiste  Verzicht  auf  die  Verehrung,  deren  man  mich 
immer  bis  zu  dem  Moment  versichern  läßt,  in  dem 
man  meiner  Achtung  verlustig  gehen  will,  und  ich 
beklage  die  Feigheit,  die,  nicht  zufrieden  damit, 
daß  sie  über  mich  nicht  öffentlich  reden  darf, 
noch  ein  Übriges  tut  und  mir  in  den  Rücken  fällt, 
um  in  alle  Gemeinheit,  die  ich  bekämpfe,  in  alle 
Hohlheit,  die  ich  entlarve,  hineinzukriechen.  Wie 
eine  Konkursmasse  der  Gesinnung  geht  dieser  beleibte 
Freiherr  durch  ein  Leben,  wo  man  Händedrücke  aus- 
teilt, um  sich  Fußtritte  zu  ersparen.  Er  entziehe  mir 
seinen  Anblick.  Wir  sind  miteinander  quitt.  Er  hat  in 
der  Neuen  Freien  Presse  einmal  einen  »geistvollen 
Kritiker«  zitiert,  der  das  Wort  »Dilettanten  ohne  Lampen- 
fieber« geprägt  habe.  Er  hat  mir  damit  ein  Opfer  gebracht, 
das  ihm  die  Journaille  übelnehmen  könnte.  Ich  habe 
mich  revanchiert  und  als  ich  in  der  ,Fackel'  zum  erstenmal 
das  Wort  »Journaille«  zitierte,  dazu  geschrieben :  »Ein 
geistvoller  Mann  hat  mir  neulich,  da  wir  über  die 
Verwüstung  des  Staates  durch  die  Preßmaffia  klagten, 
diese  für  meine  Zwecke  wertvolle  Bezeichnung  empfoh- 
len, die  ich  hiemit  dankbar  dem  Sprachgebrauch  über- 
liefere«. Wir  sind  quitt. 


-  14  — 


Ein  Fürst  der  Gecken*) 

Von  Franz  Mehring 

Ein  Fürst  der  Gecken,  der  das  Zeug  hatte, 
in  den  Augen  törichter,  unaufrichtiger  Personen  zu 
glänzen,  ein  Mensch  ohne  Ehrfurcht  für  Wahrheit 
oder  menschliche  Vortrefflichkeit,  der  im  Grunde 
gar  nicht  zu  unterscheiden  weiß,  was  wahr  und 
was  falsch,  was  vortrefflich  oder  was  bloß  auf  der 
Höhe  der  Mode  ist ;  ein  scheinbar  höflicher  und 
bewanderter,  innerlich  aber  ein  unverschämter, 
obskurer  und  bloß  modisch-geckischer  Mensch, 
der,  wenn  er  je  dem  Rhadamanthus  in  den  Weg 
kommen  sollte,  eine  Tracht  Schläge  davontragen 
würde.**)  Thomas  Carlyle. 

Unter  den  zahllosen  Humbugs  der  bürgerlichen  Welt  steht 
Herr  Maximilian  Harden,  wenn  nicht  an  erster  Stelle,  so  doch  in 
erster  Reihe.  Die  Tatsache,  daß  seine  .Zukunft'  nun  bald  seit  zwei 
Jahrzehnten  die  gelesenste  Wochenschrift  der  deutschen  Bourgeoisie 
ist,  während  eine  im  bürgerlichen  Sinne  wirklich  gebildete  Wochen- 
schrift wie  die  .Nation'  an  Abonnentenschwindsucht  dahinstarb, 
wird  dermaleinst  von  den  Historikern  als  ätzendes  Brandmal  für 
das  betrachtet  werden,  was  sich  heute  als  »Bildung  und  Besitz« 
aufspreizt. 

Es  ist  wahr,  daß  einzelne  Organe  der  bü^^gerlichen  Presse 
sich  dagegen  aufgelehnt  haben.  Die  »Preußischen  Jahrbücher« 
haben  Herrn  Harden  wiederholt  gestriegelt,  wie  sich  gebührt;  im 
,März'  schreibt  Herr  Karl  Kraus***)  von  Zeit  zu  Zeit  ergötz- 
liche Parodien  auf  das  »Desperanlo«  der  .Zukunft'  und  selbst  das 
.Berliner  Tagblatt'  hat  das  perverse  Gemauschel,  das  Herr  Harden 
seinen  »Stil«  nennt,  kürzlich  zu  tadeln  gewagt,  freilich  nur  unter 
tiefer  Verbeugung  vor  dem  Genius  selbst.  Indessen  der  »Stil« 
gehört  zu  Herrn  Harden  wie  die  Narrenkappe  zum  Hanswurst, 
und  auf  den  Hanswurst  kommt  am  Ende  mehr  an  als  auf 
seine  Kappe. 


*)  Aus  dem  Aufsatz  der  .Neuen  Zeit'  (Stuttgart,  XXVIII.  Nr.  52). 

**)  Ist  bereits  geschehen. 

***)  Der  Verfasser  kennt  die  .Fackel'  nicht. 

Anm.  d.  Herausg. 


J 


—  15  — 

Unwissend  in  allen  historischen  uqd  politischen  Dingen, 
weiß  sich  Herr  Harden  seinem  >gebildeten«  Publikum  politisch 
dadurch  interessant  zu  machen,  daß  er  in  den  Schlafkammern 
prominenter  Personen  herumschnüffelt,  mit  Nüstern,  die  sich  um 
so  weiter  blähen,  je  perverser  es  darin  zugeht,  historisch  aber 
dadurch,  daß  er  im  Staube  der  Bibliotheken  nach  alten,  ganz  oder 
halb  vergessenen  Scharteken  kramt,  aus  denen  er  ellenlange  Zitate 
seinen  bewundernden  Lesern  um  die  Ohren  schlägt.  Welch  ein 
Mann  von  stupender  Gelehrsamkeit!  sagt  dann  der  gelehrige 
Professsor  der  Historie  in  Leipzig,  der  die  .Zukunft'  mit  seinen 
Beiträgen  schmückt,  und  der  naive  Junker  auf  seiner  hinter- 
pommerschen  Sandbüchse  ruft  nicht  minder  staimend:  Ein  ver- 
flixter Kerl,  dieser  Harden,  der  selbst  noch  S.  M.  an  Kenntnis  der 
Geschichte  übertrifft.  Und  nicht  bloß  der  naive  Junker  spricht  so, 
sondern  auch  die  nationalliberale  Presse,  die,  als  der  Kaiser  seine 
Königsberger  Rede  hielt,  sofort  ihre  Boten  an  Harüen  sandte,  ura 
das  Orakel  über  die  >Gnade  Gottes«  u.  s.  w.  zu  hören. 

Als  Autorität  in  monarchischen  Sachen  ist  Herr  Harden 
bekanntlich  durch  keinen  Geringeren  geweiht  worden  als  durch 
Bismarck,  der  mit  ihm  die  Flasche  Steinberger  ausstach,  die  der 
Kaiser  als  Versöhnungsspende  nach  Friedrichsnih  gesandt  hatte. 
Herr  Harden  ließ  sich  denn  auch  nicht  lange  bitten  und  entschied 
den  Königsberger  Fall:  der  Kaiser  ist  ein  durch  und  durch 
konstitutioneller  Fürst,  aber  —  denn  »pikant«  muß  die  , Zukunft' 
bei  aller  Gottesfurcht  und  Königstreue  sein  —  der  alte  Fritz 
drückte  sich  etwas  anders  aus  als  der  Kaiser,  indem  er  schrieb: 

Unser  Haus  hat,  wie  alle  anderen  seine  Achilles,  seine  Ciceros, 
seine  Nestors,  seine  Blödsinnigen,  seine  gelehrten  Frauen  und  bösen  Stief- 
mütter und  unstreitig  auch  seine  verliebten  Prinzessinnen  gehabt.  Wenn 
wir  die  vortreffichen  Eigenschaften  unserer  Vorfahren  überzählen,  so 
werden  wir  leicht  einsehen,  daß  unser  Haus  seine  Vergrößerung  ihren 
Vorzügen  gewiß  nicht  zu  verdanken  hat.  Die  meisten  Fürsten  aus 
unserem  Hause  haben  sich  nur  schlecht  aufgeführt;  aber  der  ungefähre 
Zufall  uud  die  Umstände  sind  uns  dienlich  gewesen.  ...  In  Ansehung 
der  königlichen  Würde  nimmt  man  alles,  was  man  kriegen  kann,  und 
man  hat  niemals  unrecht,    als  wenn  man    es  wieder  herausgeben    muß. 

Mit  welchem  diabolischen  Grinsen  Herr  Harden  diese  Zeilen 
geschrieben  haben  mag,  in  dem  Bewußtsein,  daß  er  seinem  »ge- 
bildeten<  Publikum  alles,  aber  auch  alles  bieten  dürfe.  Was  er 
zitiert,   hat  nämlich   der  alte  Fritz  nie   gesagt   oder   geschrieben, 


—  16  — 

sondern  es  steht  in  einem  alten  Pamphlet,  das  jedem,  der  sich  nur 
ein  wenig  in  der  preußischen  Geschichte  umgesehen  hat,  als  eine 
der  ihrer  Zeit  bekanntesten  Schmähschriften  auf  den  König  Friedrich 
bekannt  ist.  Sie  war  betitelt:  Matinees  du  roi  de  Prusse  und  ent- 
hielt unter  der  Form  von  Morgenunterhaltungen  des  Königs  mit 
seinem  Neffen  und  Thronfolger  die  bissigste  Satire  auf  das  fride- 
rizianische  Regiment.  Sie  erschien  zum  erstenmal  im  Jahre  1766 
ohne  Angabe  des  Verfassers  und  des  Druckortes  und  ist  dann  in 
verschiedenen  Ländern  verschiedentlich  nachgedruckt  worden,  zuletzt 
in  London  1863,  ohne  daß  bis  heute  mit  Sicherheit  festgestellt 
worden  ist,  wer  sie  verfaßt  hat.  Die  meiste  Wahrscheinlichkeit 
spricht  für  einen  gewissen  Bonneville,  nicht  des  Bonneville,  der 
aus  der  französischen  Revolution  als  Herausgeber  des  >Cercle  social« 
und  anderer  revolutionären  Blättern  bekannt  ist,  sondern  eines 
älteren  Bonneville,  der  im  Jahre  1750  als  Sekretär  des  Marschalls 
von  Sachsen  nach  Berlin  gekommen  war. 

Man  sagt  vielleicht,  bei  der  unglaublichen  Unwissenheit  des 
Herrn  Harden  in  historischen  Dingen  habe  er  in  gutem  Glauben 
die  Satire  für  echt  gehalten.  Aber  wenn  schon  den  von  ihm 
zitierten  Sätzen  die  Satire  stark  genug  aufgeprägt  ist,  so  müssen 
andere  Sätze  der  Schrift  auch  die  blindesten  Augen  öffnen,  bei- 
spielsweise die  folgenden  Sätze,  die  der  König  Friedrich  seinem 
Neffen  eingeprägt  haben  soll:  >Wir  (die  Hohenzollern)  sind  diese 
ganze  Zeit  hindurch  auf  dem  Wege  des  gewandten  Machiavellismus 
verfahren,  als  geschickte  Spieler  in  den  Geschäften  dieser  Welt  und 
emsige  Einsammler  ihrer  Güter,  mit  einem  Worte  als  andächtige 
Verehrer  Beelzebubs,  des  großen  Ordners  und  Belohners  der 
Sterblichen  hienieden.  Welchen  Glauben  wir,  die  Hohenzollern, 
befunden  haben,  und  ich  noch  immer  befinde,  als  den  wahren; 
lerne  auch  du  ihn,  mein  gescheiter  Neffe,  und  mögen  alle  Menschen 
ihn  lernen.  Durch  stetiges  Daranfesthalten  und  Wirken  in  diesem 
Geiste  früh  und  spät  haben  wir  es  so  weit  gebracht,  wie  du  siehst; 
—  und  werden  es  noch  weiter  bringen,  so  Beelzebub  will,  der  im 
allgemeinen  gnädig  ist  denen,  die  ihm  recht  dienen.<  Nein,  dieser 
waschechte  Monarchist,  der  an  den  Stufen  des  Thrones  steht  wie 
ein  Cherub  mit  flammendem  Schwerte,  hat  sich  einmal  einen 
rechten  Jux  machen  wollen  mit  der  völkischen  Eigenart  der  Volkheit, 
und  siehe  da !  es  ist  ihm  gelungen .... 


—  17  — 


....  Aber  das  Schönste  kommt  noch.  Da  selbst  in  unserer  pro- 
fanen Zeit  mitunter  noch  Wunder  geschehen,  so  gjbt  es  auch  unter 
den  zehn-  oder  zwölftausend  Lesern  der  .Zukunft'  noch  einige,  die 
-,ich  nicht  ganz  willenlos  einseifen  lassen.  Sie  haben  bei  Herrn 
Harden  angefragt,  wo  seine  famosen  Zitate  zu  finden  seien,  worauf 
ihnen  in  der  neuesten  Nummer  der  .Zukunft'  folgende  Handvoll 
Sand  in  die  schläfrigen  Augen  stiebt: 

Ich  glaube,  sie  sind  noch  nie  veröffentlicht  worden  (kanns  aber. 
Ja  mir,  fem  von  Berlin,  Kosers  Friedrichsbiographie  nicht  erreichbar  ist, 
nicht  sicher  feststellen).  Im  preußischen  Staatsarchiv  muß  ein  Manu- 
skript liegen,  das  man  ein  Vermächtnis  Fritzens  an  seinen  Neffen  (der 
als  König  Friedrich  Wilhelm  der  Zweite  und  im  Volk  der  dicke 
Wilhelm  hieß)  nennen  könnte.  Dieses  Manuskript  scheint  der  Sohn 
eines  Pastors,  der  seine  Pfarre  königlicher  Willkür  zu  danken  hatte, 
abgeschrieben  zu  haben.  >Der  Stadt  Anklam  steht  das  Patronatsrecht 
jn  beiden  Kirchen  zu;  sie  hat  es  im  Jahre  1633,  gegen  Zahlung  von 
zweitausendfünfhundert  Gulden,  von  dem  Herzog  Bogislaw  dem  Vier- 
zehnten käuflich  erworben.  Im  Jahre  1736  war,  durch  den  Tod  des 
N'ikolaus  Blocksdorf,  die  Stelle  des  Ersten  Geistlichen  an  der  Marien- 
kirche erledigt.  Die  Kirchengemeinde  schritt  alsbald  zur  Wahl  des 
Nachfolgers;  allein  der  König-Herzog,  Friedrich  Wilhelm  der  Erste, 
befahl,  daß  die  Stelle  dem  Feldprediger  bei  einem  Fußregiment,  Peter 
Qottlieb  Bluth,  gegeben  werden  solle:  und  der  Rat  der  Stadt  Anklam 
war  schwach  genug,  seine  und  der  Bürgerschaft  Gerechtsame  aufzugeben 
und  den  Schützling  des  Landesfürsten  zu  berufen,  obwohl  die  Wahl 
der  Bürgerschaft  auf  den  Diakonus  Johann  Bahr  gefallen  war,  der  schon 
seit  1712  als  Zweiter  Geistlicher  an  der  Marienkirche  gewirkt  hatte.« 
Bergbaus,  >Landbuch  von  Pommern  und  Rügen.«)  Der  Sohn  des  durch 
einen  Akt  selbstherrischer  Laune  in  sein  Amt  gebrachten  Primarpastors 
Jluth  war  Beamter  der  Stadt  Anklam  und  hinterließ  ein  dickes,  1784 
begonnenes  und  1828  abgeschlossenes  Manuskript,  das  mit  Kelch  und 
Kreuz  geziert  ist  und  dessen  erster  Teil  den  Titel  trägt:  >Königliche 
'^rühstunden;  ein  noch  ungedrucktes  Manuskript  von  Friedrich  dem 
Qroßen«.  Kapitelüberschriften:  V^on  der  Lage  meines  Königreiches;  von 
Jem  Grund  und  Boden  meiner  Staaten;  von  den  Sitten  der  Einwohner; 
von  der  Religion;  von  der  Gerechtigkeit;  von  der  Politik;  von  der 
esonderen  Politik;  von  den  Schönen  Wissenschschaften ;  von  besonderen 
kleinen  Umständen;  von  den  Ergötzlichkeiten;  drei  Grundsätze  der 
Staatspolitik.  Die  Abschrift  ist  durch  Vererbung  in  Privatbesitz  gelangt, 
und    der  Eigentümer    hatte    die  Güte,    uns    einiges    daraus  mitzuteilen. 

Hier  kann  man  trefflich  die  Mache  studieren,  wie  sie  der 
I  iumbug  des  Hum.bugs  treibt.  Kosers  Friedrichsbiographie,  Manu- 
skript im  preußischen  Staatsarchiv,  Vermächtnis  Fritzens  an  seinen 
?,'efien,    Patronatsrecht   der   Stadt  Anklam,    Herzog  Bogislaw   der 


—  18  — 


Vierzehnte,  Nikolaus  Blocksdorf,  Feldprediger  bei  einem  Fußregi- 
ment, Landbuch  von  Pommern  und  Rügen,  Kelch  und  Kreuz  usw. 
usw.  —  welch  stupende  Gelehrsamkeit,  wird  der  gelehrte  Professor 
sagen,  und  jeder  junkerliche  Brot-  und  Fleischwucherer  wird 
schnalzend  hinzufügen:  Ein  verflixter  Kerl,  dieser  Harden ! 

Und  so  hat  schließlich  doch  der  Fürst  der  Gecken  die 
Lacher  auf  seiner  Seite,  wenn  er  die  Pritsche  über  diese  mords- 
dämliche Gesellschaft  schwingt. 


Die  morgenländischen  Märchen  *) 
Von  Otto  Stoessl 

Die  erste  Schöpfung  einer  erwachenden  Volks- 
seele, ist  das  Märchen,  die  Dichtung  der  Kindheit,  für 
die  Jugend  der  Völker  als  Nahrung  des  eben  erregten 
Geistes  bestimmt,  der  noch  nichts  anderes  verlangt, 
als  unablässig  vorüberziehende  Eindrücke,  bunt  wie 
die  Erscheinungen,  aber  ohne  schicksalhafte  Be- 
stimmung. 

In  der  Märchensprache  klingt  alles  Elementare 
mit  seinen  Urlauten  an,  wie  von  einer  dumpfen  Zärt- 
lichkeit und  doch  leise  lehrhaft  gesagt.  Die  allem 
Epischen  innewohnende  breite  Rhythmik  sammelt  sich 
hier  in  gewisse  einfältig  konventionelle,  doch  stets  von 
neuem  durch  ihre  endgültige  Gewichtigkeit  über- 
raschende Formeln,  welche  dem  Lauschenden  über 
seine  etwa  beirrende  Logik  hinweghelfen.  Bleibt  doch  die 
Wirklichkeit  das  feindseligste  Rätsel  des  Kindes  und 
darum  auch  des  Märchens.  So  wird  sie  sanft  umhüllt 
und  von  Schleiern  der  Rede  ins  Traumhafte  gehoben. 
Unter  dem  Klang  und  Sinn  des  Märchens  schwebt  das 
Gemüt  wie  zwischen  Himmel  und  Erde,  den  Sternen 
oben,  wie  dem  Gras  unten  gleich  entrückt  und  dennoch 
die   geflügelten  Gaben  der  Dinge  und  Gedanken   be- 


*)  Ausgaben  des  > Insel < -Verlages  von  «1001  Nacht«,  >1001  Tag«. 
Leipzig, 


—  19  - 


rührend  und  wieder  entlassend,  von  keinem  Schmerz 
der  Erfahrung  um  das  Wunder  des  Eindrucks  betrogen, 
der  einzigen  Leidenschaft  der  Anschauung  hingegeben. 
Dieser  strahlende  Dämmerzustand  des  Märchens  scheint 
das  poetische  Geschwister  der  kindlichen  Seele  selbst, 
:n  welcher  sich  alle  Erscheinungen  zusammenfinden, 
aber  körperlos  ohne  Kampf  einander  durchdringen. 
Nichts  besteht  hier,  als  sinnliche  Mannigfaltigkeit  ohne 
Wertung,  Vieldeutigkeit  ohne  Wahl,  Folge  ohne  Be- 
dingtheit. 

Das  Märchen  ist  die  geistige  Nahrung  des  Kindes, 
^ut  wie  die  Muttermilch.  Die  Mütter  sind  denn  auch 
die  Märchenammen  der  Völker.  Sie  erleben,  wenn  sie 
ihr  Geschöpf  im  Schöße  tragen  und  noch  lange  nach 
der  Geburt  eine  wunderbare  Rückkehr  aus  dem  Be- 
wußten ins  Traumhafte.  Alles  Geistige  wandelt  sich 
ihnen  in  still  waltendes  Sinnliche,  wobei  eine  verinner- 
lichte  Wirklichkeit  zum  Nebelspiele  wird,  in  dessen 
Mitte,  fern,  als  Ahnung  spürbar,  doch  wesenhaft,  ein 
Sternschimmer:  das  Kind  ruht.  Aus  dieser  mütterlichen 
Entrücktheit  quillt  die  süße  Nahrung  des  Märchens, 
einer  Natur  verdankt,  die  dem  Kinde  geheimnisvoll 
angeglichen  worden. 

Der  stoffliche  und  geistige  Gehalt  des  Märchens 
bezieht  seine  Formen  und  Zeichen  aus  der  nächsten 
Umwelt  und  aus  den  fernsten  Regionen,  Gewohnheiten 
und  Vorgänge  des  gemeinen  Lebens  werden  auf  das 
großartigste  erhöht,  Wunder  der  Höhe  auf  das  ver- 
traulichste angenähert.  Wind  und  Welle  rauschen  in  die 
Fabel,  gute  und  böse  Tiere  spielen  sanft  oder 
feindselig  mit,  die  Elemente  und  die  Erscheinungen 
einer  Geisterwelt  treten  alltäglich,  die  üblichen  Um- 
stände jeder  Stunde  festlich  und  bedeutsam  auf.  Ein 
immerwährender  Tausch  der  Rollen,  ein  steter  Wechsel 
des  Gewichts  jeglichen  Charakters,  jeglicher  Situation 
bewirkt  eine  luftige  Freiheit  und  einen  hinreißenden 
Schwung.  Die  Wirklichkeit  leiht  nur  die  Instrumente, 
mit  denen  der  Geist  eine   bezaubernde  Musik  macht. 


20 


Die  innewohnende  Kraft  jeder  Kunst,  die  Realität  zu 
lösen,  zu  beseelen,  von  ihrer  Schwere  zu  befreien,  den 
Stoff  zu  entstofflichen,  aber  alles  Seelische  zu  verleib- 
lichen, nimmt  im  Märchen  ihren  verheißungsvollsten 
Anfang.  Es  eignet,  als  die  Dichtung  der  Kindheit,  einer 
jugendlichen  Nation  als  ihr  poetischer  Charakter  und 
darum  kann  keine  andere  Aussage  das  Volk  wahrhafter 
vergegenwärtigen.  Sie  läßt  seine  Triebe  sprechen. 

Im  Morgenland,  dessen  Name  schon  die  bleibende 
Frühe  einer  jungen  Welt  bezeichnet,  wirkt  eine  Nation 
von  Kindern  die  buntesten  Märchen,  deren  Motive  nach 
dem  Westen  gewandert,  in  die  Begriffssphären  anderer 
Sprachen  und  Sitten  umgedeutet  worden  sind. 

Nun  betrachtet  man  erstaunt  diese  Spiele  ewiger 
Kinder,  die  im  Rausch  des  Unwesentlichen  schwelgen. 
Ein  Land,  voll  Überfluß  in  der  Sonne  gährend,  nährt 
sie  ohne  allzuschwere  Arbeit,  leicht  und  wie  von 
ungefähr  bietet  sich  das  Notwendige,  überraschend 
kommt  das  Überflüssige  herbei,  Pflicht  und  Strenge 
gelten  nicht,  die  Muße  macht  jeden  vornehm,  geistreich 
und  umgänglich,  das  Klima  begünstigt  eine  tropische 
Lebenskraft  auch  des  Menschen,  die  in  tausend  Ein- 
bildungen lustvoll  verdampft,  ohne  die  Muskeln  zur 
Tat  verbrauchen  zu  müssen.  Das  ist  die  rechte  Kind- 
heits-  und  Brutwärme  des  Märchens. 

Die  gesellschaftliche  Ordnung  macht  denn  auch 
wahre  Kinderstaaten  aus,  in  denen  es  abenteuerlich 
und  nach  Launen  hergeht,  der  jeweils  Stärkste  gebietet, 
aber  fragwürdig  genug.  Vezier  und  Kadi,  der  reiche 
Kaufherr,  oder  der  tückische  Magier,  der  fromme 
Schaykh  oder  der  schlaue  Dieb  entfalten,  jeder  auf  seine 
Weise  so  vielfache,  einander  durchkreuzende,  im 
Augenblick  siegreiche,  im  nächsten  besiegte,  einander 
aufhebende  Gewalten,  daß  sie  jetzt  raubend,  jetzt  Beute, 
einem  fortwährenden  Widerruf  unterliegen.  Das  Ganze 
dieser  Welt  schaukelt  auf  und  nieder  in  einem  wahren 
Märchenrausch.  Gleichmut,  sinnreiches  Nichtstun, 
prahlerische    Beredsamkeit    und    wieder    beschauliche 


-  21  - 


Maulfrommheit  sind  einem  heftigsten  Begehren  gepaart, 
welches  ebenso  schnell  versinkt,  der  Wunsch  gibt  sich 
auch  mit  der  Scheinerfüllung  der  Erfindung  zufrieden. 
Das  Märchen  funkelt  also  von  Lüsternheit  nach  leckeren 
Speisen,  köstlichen  Gerüchen,  Prachtgewändern,  ge- 
würzten Liebesabenteuern.  Edelsteine  sind  gleich  zu 
Haufen  angeschüttet,  aber  mit  diesen  Vorstellungen 
fühlt  sich  der  genügsame  Geist  auch  schon  gesättigt,  wie  ja 
der  Körper  zur  Not  mit  einer  Handvoll  Datteln  aus- 
langt. Was  getan  wird,  geschieht  nicht  ohne  einen  ge- 
wissen Zwang,  als  könne  nur  ein  Anstoß  von  außen, 
kein  bestimmender  Wille  die  Handlung  entbinden.  Jeder 
läßt  sich  ins  Tun  wie  in  einen  Abgrund  hinabsinken. 
Der  Zufall  ist  willkommen,  weil  er  jeden  nötigt,  das 
Unabänderliche  mit  sich  bewirken  zu  lassen,  nach  Allahs 
Willen.  Und  immer  wieder  tauchen  aus  der  Wüste  des 
Lebens  die  grünen,  schattenkühlen  Augenblicke  eines  tief- 
atmenden, ruhenden  Glückes  auf,  wo  das  Schicksal 
sich  in  Gesang  und  gereimte  Wechselrede,  in  ein  Gast- 
mahl geistvoller  Zecher,  in  eine  Umarmung  zweier 
Liebender  auflöst.  Diese  Momente  sind  das  eigentliche 
Leben,  Arbeit  und  Abenteuer  nur  die  mißlichen  Umwege 
zu  einer  süßen  Stunde. 

Man  denke  sich  den  Schauplatz  dieser  Märchen. 
Sie  werden  vor  den  großen,  braunen,  hindämmernden, 
alten  Kindern  dieser  heißen  Städte  von  kundigen 
Erzählern  vorgetragen,  in  den  Basaren,  wo  die  Kauf- 
leute pfeiferauchend,  mit  übergeschlagenen  Beinen  vor 
ihren  Mokkatässchen  brüten,  eine  Schar  von  Fischern, 
Lebensmittelhändlern,  Wasserträgern,  Garköchen,  Sol- 
daten, Bettlern,  Krüppeln,  Knaben,  Sklaven  wimmelt 
umher,  gelegentlich  erhebt  sich  ein  wüster  Streit  mit 
kreischenden  Stimmen,  Hunde  bellen  drein,  da  jammert 
ein  Geprügelter.  Der  Erzähler  wartet,  bis  sich  der  Lärm 
halbwegs  gelegt  hat  und  fährt  mit  eintöniger, 
aber  vielsagender  Stimme  fort.  Eine  hohe,  verhüllte 
Frauengestalt  gleitet  durch  die  Zeltgänge  vorüber, 
ahnungsvolles   Begehren    erweckend.    Weiße  Augäpfel 


-^  22  - 


wenden  sich  nach  ihr  und  aus  blitzenden  Zähnen 
schleichen  ihr  Wünsche  nach,  die  Leidenschaften  knurren 
wie  Doggen  an  der  Kette.  Der  Märchenerzähler  spricht 
von  einer  Allerschönsten,  und  da  scheint  diese  Ent- 
schwundene plötzlich  in  seiner  Geschichte  sich  zu  ent- 
schleiern. Eine  holde  Verwirrung  des  Nichtstuns! 

Hier  lebt  sich  alles  aus,  was  von  der  Tatsachen- 
welt eingeschränkt  wird  und  in  welchem  Riesenwuchs 
von  Erscheinung  und  Bedeutung,  aber  gleichwohl  in 
strengen  Formen  voll  Würdigkeit.  Das  Konventionelle 
gibt  dem  Überschwang  einen  gewissen  Halt.  Maß  und 
Sitte  des  Betragens  macht  das  Unerhörte  etwa  glaub- 
haft, ja  zulässig.  Auf  jeden  Befehl  folgt  die  zuchtvolle 
Antwort:  »hören  und  gehorchen!«  Und  der  Trübselige 
wird  getröstet:  »Sei  aller  Sorgen  und  Kummers  bar 
und  halte  Dein  Auge  kühl  und  klar«.  Selbst  wer  einem 
Bettler  das  Almosen  verweigert,  bedient  sich  des  höf- 
lichen Ausdruckes :  »Allah  öffne  Dir  eine  andere  Tür«. 
Von  der  Schönheit  der  Sklavinnen  heißt  es,  sie  glichen 
dem  Mond  in  seiner  Fülle,  oder  sie  werden  gepriesen 
wie  sanft  sich  neigende  Weidenruten.  Beugt  sich  die 
Lautenspielerin  über  ihre  Laute,  so  scheint  sie  wie  eine 
Mutter  ihr  Kind  zu  fassen.  Treffende  Witzworte,  hübsche 
Antworten,  großmütige  Züge,  Moralisches  und  Lehr- 
haftes, alles  geht  mit  drein,  selbst  die  religiöse  Über- 
lieferung verschmäht  nicht  diese  höchst  volkstümliche 
Form  der  Mitteilung.  Kindlich  schmiegt  sich  eine  ganze 
Morgenwelt  in  des  Märchens  weiten  Mantel.  Seine 
läßliche  Rede  verwandelt  die  Geschichte  seines  Volkes 
in  lauter  Geschichten. 

So  speist  Wesen  und  Wirken,  Sinnen  und  Be- 
gehren, Erscheinung  und  Aussage  den  unversieglichen 
Brunnen  der  Erzählung.  Dieser  Brunnen  rauscht  seit 
Jahrhunderten  und  sein  Wasser  wird  silbern  klingen 
und  fließen,  wenn  die  Wirklichkeiten  von  heute  dereinst 
mit  sieben  Schichten  von  Erde  begraben  sind.  Im 
Morgenlande  ist  die  Zeit  ein  ruhendes,  kein  wandern- 
des Wesen.    Dort  bleiben  die  Menschen  die  gleichen, 


23  — 


weder  ihre  Namen,  noch  ihre  Gebärden  ändern  sich: 
Kalif,  Vezier,  Kadi,  Schaykh,  Sorbetverkäufer,  Sängerin, 
Bettler  und  Räuber,  Kurde  und  Armenier  leben  wie 
vor  tausend  Jahren,  so  heute  in  einem  ewigen  Morgen. 
Für  jeden  Einzelnen  wächst  nicht  bloß  der  brauchbare 
Ersatz,  sondern  völlig  der  gleiche  Erdensohn  nach, 
jeder  verharrt  widerruflich,  darum  erst  recht  unsterblich, 
als  gleichnishaftes,  nicht  als  unvertretbares  Wesen.  Diese 
Welt  von  Kindern  wimmelt  von  lauter  Typen.  Figuren 
treten  auf,  gehen  ab,  aber  keine  Persönlichkeiten. 
Attribute  wandeln  und  schlagen  sich  herum,  Masken 
fechten  ihre  Wirklichkeit  aus,  Fische  schnappen  nach 
einander  im  purpurnen  Meer. 

Das  morgenländische  Märchen  ist  die  Epik   der 
zeitlosen  Gattung. 


Gedichte 

Von  Hugo  Wolf  (Wien) 

Legende 

Sie  stand  mit  lüstern  lockender  Geberde 
und  rings  um  sie  verstummte  alles  Sein. 
Die  Arme  schnitten  in  den  Abend  ein, 
daß  sich  ihr  Leib  aufhob  von  dieser  Erde 
als  weißes  Kreuz,  ein  weißer,  starrer  Stein. 

Ich  hing  an  ihrem  Hals  —  ich,  Gott,  ich,  Zeit, 
starb,  um  mein  wildes  Blut  der  Welt  zu  geben. 
Unter  der  Sternenfluten  grimmigem  Beben 
ward  ihrer  Beine  Tempelherrlichkeit 
zum  schnellen  Grab  für  mein  so  junges  Leben. 

Lang  war  ich  tot  —  lang  war  mein  Traum   und  tief. 
Da  fuhr  ein  Morgenwind  hinab  die  feuchten 
Bergwände  und  der  Wald,  der  kauernd  schlief, 
wuchs  hoch  und  sauste.  Auferstehung  rief 
der  letzte  Tag  aus  ihres  Leibes  Leuchten! 


—  24  — 


UnvergeBllch 

Von  deinem  bleibenden  Antlitz  wehen 
noch  immer  die  großen  Gedanken,  greift 
noch  immer  dein  traumentschleiertes  Sehen 
dorthin,  wo  der  Tag  am  reichsten  reift. 

Noch  immer  rollt  wie  ein  Starres,  Rundes 
über  mich  dein  Wort,  das  sichergeschnellte, 
und  rinnt  das  Fieber  meines  Mundes 
in  deiner  Hände  Herbsteskälte. 


Der  Fötus 

Jüngst  war  er  noch  nur  Trieb  und  leises  Flimmern 
in  einem  Meer  von  Wünschen,  bis  ihn  heftig 
ein  Wollen  faßte,  das  aus  fernem  Schimmern 
ins  Dunkle  schoß.  Da  schwoll  er  groß  und  kräftig. 

Und  teilte  sich  und  hatte  Kopf  und  Beine  — 
gekrümmt,  gefaltet  —  wie  ein  Menschenleben 
nach  müden  Jahren.  Hilflos  hingen  seine 
Gedanken  an  der  Mutter  stillem  Weben. 

Die  geht  mit  schwerem  Schritt  ins  Abendrot. 
Sie  weiß,  bevor  den  Tag  ins  Tiefe  wehen 
die  milden  Nächte,  greift  hinein  der  Tod:  — 
und  da  ists  um  ihr  liebes  Kind  geschehen. 


Die  Toten 

Schreiten  wir  nicht  über  den  Ländern? 
Strecke  die  Hand,  so  zieh  ich  dich  empor. 
Wir  streichen  an  den  Wolkenrändern 
vorbei  und  aus  den  Dünsten  hervor. 


—  25  — 


Spürst  du  den  Hauch,  den  uns  die  Erde  schickt 
aus  Gräbern,  die  unser  Zeitliches  umschließen? 
Wie  uns  das  Sternenreich  mit  Flüstern  nickt  — 
die  Sterne  sprechen,  und  wir  leuchten,  fließen! 

Strecke  die  Hand,  da  uns  der  Sonnenwirbel  schleift 
nach  dem  Beginn,  wo  ich  und  du  im  Kranz 
der  hellsten  Stunden  herangereift, 
um  einst  so  ungeteilt  und  ganz 

in  unsre  weißen  Körper  zu  entsinken. 
Ich  denke  an  deine  Arme,  an  Opale 
und  blütenbehängte  Äste.  Wenn  wir  trinken, 
so  ist  es  aus  einer  roten,  feurigen  Schale. 

Und  wenn  wir  trauern,  müssen  wir  verklagen 
und  Leichen  schleifen  in  kühlen,  dunkeln  Booten. 
Und  wenn  wir  sterben,  müssen  wir  entsagen.  — 
Strecke  die  Hand,  zur  Höhe  geh'n  die  Toten! 

Wo  halten  wir  an?  Ich  weiß  einen  blauen  Saal, 

wo  alte  Gefährten  heiterselig  lärmen 

und  aus  einem  demantnen  Pokal 

das  Feuer  springt,  an  dem  sich  Geister  wärmen. 

Ich  weiß  einen  grünäugigen  Quell, 

aus  dem  sich  weiße  Schleier  aufwärts  winden 

und  Tiergestalten  mit  purpurgeflecktem  Fell 

des  Abends  betäubenden  Trunk  der  Liebe  finden. 

Auch  weiß  ich  eine  Erde  meinen  Händen, 
zu  wühlen,  zu  zeugen  und  Frucht  zu  geben. 
Willst  du  dahin  zurück?  So  laß  uns  wenden! 
Senke  den  Flug!  Du  liebst  wie  ich  das  Leben! 


26 


Beginn  des  50.  Psaimes 

Des  Ewigen  Rede  überbrückt 
nach  Sonnenauf-  und  Niedergang 
die  Erde.  Leuchtend  und  verzückt 
steigt  langsam  über  Zions  Hang  — 
Gott  hinan. 

Und  ruft  und  schweiget  nicht. 
Es  weht  von  seinem  Angesicht 
ein  Feuerstrahl  nach  ferner  Küste. 
Und  Stürme  blähen  ihre  Brüste. 


Beruhigung 

Wovor  fürchte  ich  mich?  Es  legt  die  Nacht 

ihre  sanfte  Hand 

auf  die  schlafende  Stirne  und  der  Brand 

der  Träume  ist  erwacht. 

Dann  wirft  der  Morgen  sein  Goldgewand 

um  den  Leib  und  wir  sehen  vor  uns  gestellt, 

was  die  Träume  zu  Stande  gebracht: 

den  Tag  und  die  Welt. 

Dann  ist's  der  Abend,  der  sich  krönt 

und  gürtet  mit  den  letzten  Sonnensplittern, 

bis  die  Stimme  der  Träume  wieder  tönt. 

In  seinem  Schwellen  und  Zittern 

scheint  er  fast  ein  Stück 

der  Wirklichkeit  zu  um  wittern  — 

da  hält  ihn  schon  die  Nacht  zurück. 

Wovor  fürchte  ich  mich? 

Keine  Stunde  wird  den  Schleier  gewinnen, 

der  über  die  Dinge  sich 

wie  ein  Dunsthauch  legt  und  schwer 

ihr  Wesen  drückt  nach  innen. 

Denn  wir  lieben  die  Träume  zu  sehr. 


stummes  Beieinanderleben 

Viel  Jahre  sind  wir  schon  beisammen. 
Wir  sahn  uns  morgens,  wenn  die  Laken 
des  Bettes  in  den  weichen  Flammen 
der  Sonne,  weiß  wie  Blüten,  schwammen 
und  unsre  Stirnen  fast  erschraken, 

daß  sich  so  jäh  des  Schlafes  Band, 

vom  Hauch  der  Nacht  traumdünn  gesponnen, 

auflöste  und  in  Nichts  verschwand: 

daß  unser  Sinn  nur  Weh  empfand, 

getaucht  in  Tages  hellen  Bronnen! 

Wir  sahn  uns  Abends  auch,  wenn  Schweres 
an  unsern  dunkeln  Herzen  zog 
und  so  die  welken  durch  ein  hehres 
Schweigen  —  wie  in  ein  Grundlosleeres  — 
dem  Mund  der  Nacht  entgegenbog. 

Kein  Jahr  hat  uns  in  Eins  verbunden 
noch  einem  Wort  den  Weg  gebahnt. 
Und  nur  ganz  seltne  reiche  Stunden 
entgruben  aus  vergrabnen  Wunden 
ein  Lippenzucken  —  kaum  geahnt! 

Großstadt  aus  der  Vogelperspektive 

Weißer,  wehender  Staub, 

durch  den  sickernd  die  Sonne  rinnt. 

Ein  mattes  Zittern  umspinnt 

die  Dinge  und  die  Farben. 

Häuser  sind  prunkend  gemalt  in  den  Raum, 

Türme  wie  aufrechte  Feuergarben. 

Rädergerassel,  sausendes  Zischen. 

Wie  eines  Goldmeers  abgestreifter  Schaum 

hängt  überall  Licht.  Dazwischen 

Menschen. 


^  28  - 

Gestalten,  wandernde  Fragen:  Wohin?  und  Wie? 

Sie  haben  Furcht  in  ihrem  Sprechen  und  Lachen, 

weil  ihre  Werke,  die  stärker  sind  als  sie, 

ihre  Wünsche  erschrecken  machen. 

Denn  viele,  die  sich  heute  ins  Helle  winden, 

wissen,  daß  sie  morgen  verzichten  müssen 

und  im  Leisen  verschwinden: 

Frauen,  die  im  Vorüberhasten 

kühneres  Leben  sich  erküssen, 

und  Männer,  die  mit  wuchtigen  und  blinden 

Händen  in  ungeheure  Genüsse 

tasten. 

Der  Boden  raucht.  Dünste  und  Dämpfe, 

wie  Atem  eines  Riesentieres,  umziehen 

das  Gesicht  des  Himmels.  Auf  die  Kämpfe, 

die  unter  ihnen  vorüberfliehen, 

schauen  marmordunkle  Monumente, 

schweigend, 

wie  Zeiger  am  Wege  in  Jahrzehnte 

und  Jahrhunderte.  Plötzlich,  wenn  strahlenneigend 

gespiegelte  Lichter  von  obern  Fenstern 

um  Säule  und  Sockel  niedCrschweben, 

ists  wie  ein  Reigen  von  Gespenstern, 

die  leben. 

Totengeläut 

Nach  dem  Französischen   des    Ivan   Gilkin 

O  Glocken,  schwer  und  langsam  tönend, 

höhnend, 

stöhnend; 
Glocken,  die  der  Schrecken  sucht, 

verflucht, 

verflucht; 
Glocken  in  Nöten  und  in  Gewittern 

wenn  Waffen  splittern, 

Tränen  zittern; 
O  Glocken  im  Blut,  Glocken  im  herben 

Sterben, 

Sterben ; 


—  29  — 


Näher  Glocken,  näher  Glocken 

euer  Stocken, 

euer  Locken; 
Läutet  Glocken  weit  und  breit 

Dunkelheit, 

Dunkeliieit! 
Hört,  wie  dumpf  durch  Luft  und  Licht 

Donner  bricht, 

Donner  bricht! 
Unter  Flammen  weiß  und  weich, 

Sodom  gleich, 

Sodoms  Reich  — 
Sinken  die  bösen  Städte  zusammen 

in  Flammen, 

in  Flammen! 
Glocken  über  den  Häusern  im  Brande 

der  Schande, 

der  Schande; 
und  über  den  Kirchen  Glockentöne, 

wo  Teufelssöhne, 

Teufelssöhne 
zum  Abendmahl  von  ihren  Lenden 

Hostien  spenden, 

Hostien  spenden; 
läutet  über  der  Unzucht  Fest 

die  Pest, 

die  Pest; 
und  über  des  Glaubens  müde  Zeit 

Hungersleid, 

Hungersleid ; 
und  über  Zorn  und  Haß  und  Sieg 

den  Krieg, 

den  Krieg! 

Doch  niemand  hört  auf  euer  Sagen, 

Glockenklagen, 

Glockenklagen, 
und  niemand  ist,  den  herzlich  freute, 

daß  ich  läute, 

ewig  läute! 


311—312 


-  3Ö--- 


Die  große  Hure  Babylon 

Ich  bin  die  Welt,  in  die  ihr  niedertaucht, 
um  mit  verstörten  Augen  aufzusteigen, 
voll  eines  Bildes,  eines  Nichts,  voll  Neigen 
des  Nebels,  der  aus  meiner  Seele  raucht. 

Ich  bin  die  Welt.  Aus  meinen  Schleiern   schwingen 
die  Wollustdünste,  die  gleich  Herbsteskränzen 
um  euch  sich  winden  und  bei  euren  Tänzen 
sich  schlimm  um  eurer  Glieder  Wahnsinn  schlingen. 

Ich  selbst  erschaure  vor  dem  Tieferdringen. 
Denn  drohend  steht  vorn  meine  Ewigkeit, 
die  Flügel  breit,  die  von  jeher  auffingen 
den  Sturm,  der  steil  aus  mir  ins  Dunkle  schreit. 


Der  tragische  Mensch  in  der  modernen  Literatur 

Von  Samuel  Lublinski 

Scheinbar  liegt  es  weit  ab  von  meinem  Gegen- 
stand, wenn  ich  mit  meiner  Auffassung  des  Napoleon- 
Problems  beginne.  Aber  ich  fasse  den  französischen 
Imperator  als  eine  allerdings  primitive  Form  des  tragi- 
schen Menschen  auf,  weshalb  es  mir  sehr  recht  ist, 
wenn  die  Historiker  mehr  und  mehr  festzustellen  be- 
ginnen, daß  er  nicht  der  titanische  Eroberer  und  uner- 
sättliche Weltverschlinger  gewesen  ist,  noch  sein  wollte, 
als  den  ihn  die  kleinbürgerliche  Romantikerphantasie 
früherer  Generationen  empfunden  hat.  Ihm  kam  es  nur 
darauf  an,  England  niederzuringen,  und  diese  Aufgabe 
hatte  er  von  der  Revolution  geerbt,  wie  auch  die 
Mittel  zu  ihrer  Bewältigung.  Weder  die  Kontinental- 
sperre, noch  der  ägyptische  Feldzug  waren  Original- 
ideen   des    Korsen;    das    alles    war    ihm    vorgedacht 


--  31 


worden,  das  alles  lag  in  der  Luft,  es  war  in  den  Ver- 
hältnissen begründet.  Sein  Originalbeitrag  war  nur  der: 
als  sich  die  Schwierigkeiten  immer  mehr  häuften,  so 
daß  die  anderen  verzagten,  da  gab  er  nicht  nach. 
Darin  allein  unterschied  er  sich  von  den  Zeitgenossen, 
daß  er  nicht  nachgab.  Er  hätte  nach  dem  Frieden  von 
Amiens  in  Ruhe  leben  und  den  Austrag  des  Kampfes, 
die  Lösung  der  Aufgabe,  späteren  Generationen  über- 
lassen können.  Aber  er  hatte  diese  an  sich  vernünftige 
und  geschichtlich  gegebene  Aufgabe  in  seinen  Willen 
aufgenommen  und  sich  mit  ihr  identifiziert,  weshalb 
er  lieber  zu  Grunde  ging  als  nachgab.  Hier  tritt  das 
Irrationale  des  menschlischen  Willens  an  das  Tages- 
licht. An  sich  steht  jeder,  in  dem  der  Wille  andere 
Eigenschaften  überwiegt,  dem  Rationalismus  ziemlich 
nahe,  weil  ein  wirkliches  Wollen  nicht  möglich  ist 
ohne  einen  Plan  und  dieser  nicht  ohne  scharf  formulierte, 
logisch  faßbare  Ziele.  Sobald  es  aber  zu  entsagen  gilt, 
weil  die  Hindernisse  unübersteigbar  erscheinen,  hört 
auf  einmal  die  Vernunft  des  großen  Wollenden  auf, 
und  er  überläßt  sich  der  Dämonie  der  ihn  beherr- 
schenden Seeleneigenschaft  und  geht  lieber  zu  Grunde, 
als  daß  er  seinen  Willen  abspannt.  Der  Fall  Napoleon 
ist  nur  ein  Beispiel  für  viele  und  noch  dazu  ein  sehr 
primitives  Beispiel. 

So  empfinde  ich  den  tragischen  Menschen.  Um 
ganz  subjektiv  zu  sprechen,  so  weiß  ich  für  meine 
Person  nicht,  was  es  noch  für  einen  größeren  Gegen- 
stand der  Dichtung  und  zumal  des  Dramas  geben 
könnte.  Allerdings  wünsche  auch  ich  eine  reichere 
Natur  als  einen  General  Bonaparte  im  Mittelpunkt  der 
dramatischen  Dichtung  zu  sehen,  eine,  die  von  der 
Differenziertheit  des  modernen  Seelenlebens  nicht 
unberührt  geblieben  ist.  Aber  der  Grundkern  ihres 
Wesens  muß  und  soll  —  ich  empfinde  nun  einmal  so 
und  nicht  anders  —  jene  klare  und  großzügig  logische 
Willensenergie  sein,  die  auf  einmal  aus  allem 
Vernünftigen      heraus    in    das    Dämonische    hinein- 


32 


wächst  und  sich  dann  gerade  am  machtvollsten  ent- 
faltet und  selbst  genießt.  Aus  dem  Rationalen  in  das 
Irrationale  hinein,  das  ist  mein  Glaube  von  der  Tragödie 
und  mein  Ziel,  das  ich  in  meinen  eigenen  Dramen 
zu  verwirklichen  suche  und  zum  Teil  schon  verwirk- 
licht habe. 

Aber  die  typische  moderne  Auffassung  von  der 
Tragödie  geht  vom  entgegengesetzten  Standpunkt  aus. 
Da  ist  nichts  vom  Willen  zu  spüren,  sondern  nur  von 
Willenslosigkeit.  Der  Dämon  wird  entweder  in  das 
Milieu  verlegt,  das  seinen  armen  und  wehrlosen  Opfern 
den  Garaus  macht:  das  ist  die  sattsam  bekannte  Tra- 
gödie des  Naturalismus,  der  angeblich  vollständig 
überwunden  ist.  In  Wirklichkeit  empfindet  die  Hof- 
mannsthal-Schule nicht  anders,  nur  daß  sie,  und  das 
ist  beklagenswert,  auch  noch  Psychologie  treibt.  Irgend 
ein  unendliches  Gefühl,  das  aus  den  Trieben  kommt 
und  nicht  aus  der  Metaphysik,  übt  eine  eben  solche 
Gewalt  aus,  wie  bei  den  Naturalisten  das  Milieu,  und 
der  »Held«  der  Tragödie  spannt  keineswegs  den  Willen 
an,  um  diesem  Schicksal  zu  entrinnen.  Wozu  auch, 
der  arme  Schelm  ist  von  vornherein  in  der  Mausefalle 
und  kann  höchstens  melodisch  piepsen.  Ich  verkenne 
nicht,  daß  in  diesen  Dichtungen  eine  starke  lyrische 
Ahnung  von  der  Problematik  des  Lebens  Ausdruck 
sucht  und  manchmal  findet,  aber  in  der  denkbar  un- 
geeignetsten Form,  die  sehr  rasch  das  tiefe  Gefühl 
verwässert,  nämlich  »psychologisiert.«  Das  instruktivste 
Beispiel  dieser  Art  ist  die  Mißdichtung  des  Hofmanns- 
thalschen  Ödipus.  Nach  der  alten  Sage  war  Ödipus 
zum  Vatermord  und  zur  Mutterehe  einfach  verurteilt, 
weil  es  einem  Gott  so  gefiel.  Bei  dem  modernen 
Dichter  aber  befindet  sich  Ödipus  im  Stadium  der 
Pubertät,  und  da  kann  man  freilich  nicht  wissen,  was 
noch  passieren  kann,  zumal  er  von  schlimmen  Vor- 
fahren allerlei  böse  Gelüste  geerbt  hat.  Da  haben  wir 
es:  die  Vererbungstheorie  und  die  Psychologie!  Manch- 
mal, so  besinnt  er  sich  genau  nach  dem  Orakelspruch, 


—  33 


hat  er  seiner  Mutter  mit  dunkler  Ahnung  nachgesehen 
und  einen  seltsamen  Groll  gegen  den  Vater  gespürt. 
Also  nimmt  er  schleunigst  Reißaus,  und  ich  beneide 
keinen,  der  nicht  den  fürchterlichen  Rationalismus 
durchschaut,  mit  dem  hier  das  Geschlechtsleben  zum 
Apparat  einer  Mausefalle  herabgewürdigt  wird.  Wer 
spürt  nicht  den  Professor  Freud?  Der  arme  Ödipus 
weiß  also  ganz  genau,  daß  keinerlei  Hemmungen  in 
ihm  sind,  und  daß  Schreckliches  geschieht,  wenn  er 
nicht  sofort  Korinth  verläßt.  Gewiß,  dahinter  steht  eine 
starke  Lebensangst,  die  sich  aber,  etwa  in  einer  Ballade, 
eine  andere  und  ihr  mehr  adäquate  Verkörperung  ge- 
schaffen hätte,  wenn  nicht  der  Herr  von  Hofmannsthal 
darüber  gekommen  wäre,  der  durchaus  eine  Tragödie 
schreiben  wollte.  Freilich  hat  er  damit  eine  Sehnsucht 
der  Zeit  vollinhaltlich  erfüllt.  Die  Zeit  will  ein  klein 
bißchen  religiös  sein  und  eine  mäßige  Portion  von 
Irrationalität  kann  da  ja  gar  nichts  schaden,  wenn  man 
nur  wieder  hübsch  analysieren  und  die  Sache  psycho- 
logisch begreifen  kann.  Dagegen  beileibe  keinen  Willens- 
menschen !  Der  ist  zunächst  von  einer  so  beleidigenden 
Klarheit,  von  einer  so  gradlinigen  Einfachheit,  daß 
er  einem  sensationshungrigen  großstädtischen  Mystiker 
nichts,  aber  auch  gar  nichts  zu  bieten  vermag.  Plötz- 
lich jedoch  wächst  dann  dieser  Unselige  über  alle  Logik 
hinaus,  in  eine  Atmosphäre  hinein,  die  zwar  ebenfalls 
irrational  und  vielleicht  sogar  religiös,  nämlich  tragisch 
ist,  der  sich  aber  mit  Professor  Freudscher  Psychologie 
und  mit  wissenschaftlicher  Analyse  absolut  nicht  bei- 
kommen läßt.  Und  das  kann  einem  großstädtischen 
Theaterpublikum  und  einer  dito  Kritik  doch  nicht  mehr 
gefallen. 

Diese  Vorausbemerkungen  waren  unerläßlich,  um 
Freunden  wie  Feinden  und  einem  neutralen  Publikum 
einen  Wink  darüber  zu  geben,  wie  mein  vor  zwei 
Jahren  erschienener  »Ausgang  der  Moderne,  ein 
Buch  der  Opposition«  (Dresden,  Carl  Reißner) 
gelesen  werden  muß.    Man   hat  sich  in   Zustimmung 


—  34 


wie  Gegnerschaft  an  allerlei  Einzelheiten  und  Vorder- 
grundserscheinungen des  Buches  gehalten,  und  nur 
ganz  wenige  haben  bemerkt,  daß  es  hauptsächlich  nach 
den  Lebensbedingungen  des  tragischen  Menschen  in 
der  modernen  Welt  suchte,  und  daß  es  bekämpfte, 
was  diesen  Bedingungen  nicht  entspricht,  zugleich 
aber  mit  einer  fast  übertriebenen  Liebe  auf  die  wenigen 
Keime  hinwies,  die  bei  entsprechender  Pflege  eine 
Verbesserung  des  tragischen  Milieu  erwirken 
könnten.  Schließlich  schrieb  ich  das  Buch  doch  nur 
aus  dem  starken  Glauben  heraus,  daß  die  gegenwärtige 
Welt  reif  sei  für  die  Geburt  einer  neuen  tragischen 
Grundempfindung.  Damit  aber  auch  für  eine  neue 
tragische  Dichtung  auf  dem  Gebiet  des  Dramas,  und 
da  alles  innerlich  zusammenhängt,  auch  für  neue  große 
Formen  in  der  Lyrik  (Hymnus  und  Balladen  aus  der 
modernen  Innerlichkeit  heraus)  und  in  der  Epik,  wenn 
es  gelingt,  unsere  starke  soziologische  Empfindung  aus 
der  »Soziologie«  heraus-  und  in  die  Sphäre  des 
Dichterischen,  der  Phantasie  und  Freiheit  hineinzu- 
heben. 

Zwei  Punkte  mußten  bei  einer  solchen  Unter- 
suchung ganz  von  selbst  in  den  Vordergrund  treten: 
die  moderne  Weltanschauung  und  die  moderne  Form. 
Für  jeden  schöpferischen  Menschen  gibt  es  freilich  im 
Grunde  nur  eine  einzige  Weltanschauung,  nämlich  den 
Glauben  an  die  Unabhängigkeit  und  Intaktheit  seiner 
inneren  Welt.  Er  lacht  derjenigen,  die  ihn  für  unfrei 
erklären,  für  »determiniert«,  weil  er  weiß,  daß  jede 
seiner  geistigen  Taten  dieses  Gerede  widerlegt.  So 
empfindet  ganz  naiv  der  schöpferische  Mensch,  wenn 
auch  gegenwärtig  seine  Theorie  seiner  wahren 
Empfindung  oftmals  wunderlich  widerspricht.  Selten 
noch  haben  die  Künstler  soviel  von  soziologischer 
Bedingtheit  ihrer  Kunst  gesprochen  und  sich  in  einer 
fast  prostituierenden  Weise  der  Wissenschaft  unter- 
geordnet. Diese  Verhaltungsweise  mag  aus  dem  Gefühl 
entspringen,    die   Kluft    zwischen   Kunst    und   Leben, 


35  - 


zwischen  Produktion  und  Wirkung,  nicht  bis  zur  Un- 
überbrückbarkeit zu  erweitem.  Draußen  im  Leben 
scheint  ja  die  Unfreiheit  zu  triumphieren,  scheinen 
Soziologie,  Naturwissenschaft  und  Technik  mit  ihren 
strengen  Bedingungen  das  Dasein  zu  beherrschen;  — 
folglich  muß  sich  die  Kunst  diesen  gleichen  Gesetzen 
beugen,  um  ebenfalls  annähernd  ähnliche  Wunder  wie 
Zeppelinsche  Luftschiffe  oder  Ehrlich  Hata  zu  erzeugen. 
Dieser  törichte  Glaube  ist  recht  eigentlich  die  Erbsünde 
der  Moderne;  er  hat  schon  viel  Schaden  angerichtet 
und  verhindert  mehr  als  etwa  Mangel  an  Talent  den 
Aufstieg  zur  großen  Kunst  und  zur  Tragödie.  Ich  habe 
in  meinem  Buch  gezeigt,  daß  die  Verhältnisse  umge- 
kehrt liegen.  Ohne  die  spontane  schöpferische  Tätig- 
keit des  freien  Geistes  wären  nicht  einmal  solche 
angenehme  Nebensächlichkeiten  wie  moderne  Technik 
und  Naturwissenschaft  entstanden.  Es  ist  daher  nicht 
nötig,  sich  von  diesen  Dingen  sonderlich  imponieren 
zu  lassen. 

Wichtiger,  viel  wichtiger,  als  alle  technischen 
Errungenschaften,  ist  die  Frage  der  modernen  Kunstforra. 
Es  ist  klar,  daß  eine  Tragödie  großen  Stils  ohne  strenge 
Form  nicht  möglich  ist,  und  ein  Gleiches  gilt  für  die 
Ballade  oder  Epik  von  hohem  Rang.  Außerdem  ist  die 
Form  der  vollkommenste  Ausdruck  der  menschlichen 
Freiheit  und  künstlerischen  Spontaneität,  sie  beweist, 
daß  sich  die  Persönlichkeit  eine  Sache,  der  Künstler 
einen  Stoff  vollkommen  angeeignet  hat.  Wenn  ein  Wort- 
spiel so  in  uns  widerklingt,  daß  nicht  der  Verstand 
diese  Verbindung  hergestellt  zu  haben  scheint,  sondern 
daß  sie  aus  einer  rätselhaften  mystischen  Einheit  er- 
wächst, so  ist  das  Form,  und  diese  kommt  aus  der 
inneren  Einheit  des  Künstlers,  der  sich  selbst  in  seiner 
Geschlossenheit  in  allen  Dingen  der  Welt  widerspiegelt. 
Ebenso  bedeutet  dramatische  Form,  daß  ein  Dramatiker 
die  Außenwelt  nach  seinem  Bilde  geschaffen  hat.  Ich 
will  den  Gedanken  nicht  weiter  verfolgen,  weil  mich 
diese    Andeutung    wohl  schon    gegen    den    Verdacht 


3G 


schützen  dürfte,  daß  ich  einen  mechanischen  äußeren 
Formalismus  gemeint  habe.  Dieser  Vorwand  und  Popanz 
wird  mir  von  allen  entgegengehalten,  die  den  Willen 
zur  Form  bekämpfen.  Soweit  darunter  junge  und  starke 
Individualitäten  sind,  die  im  ersten  mystischen  Rausch 
ihrer  entdeckten  Persönlichkeit  schwelgen  und  sich  einem 
unendlichen  Allgefühl  überlassen,  so  wird  diesen  Gegnern 
die  Zeit  selbst  die  Augen  öffnen,  wenn  sie  in  das  zweite 
und  eigentlich  schöpferische  Stadium  ihrer  Mystik  ein- 
treten und  sich  die  Außenwelt  unterwerfen  werden. 
Dagegen  darf  man  mit  gewissen  anderen  Gesellen 
kein  Erbarmen  haben.  Sie  sind  zu  schwächlich,  um 
ganze  Persönlichkeiten  und  überhaupt  irgend  etwas 
ganz  zu  sein.  Ihr  lyrisches,  ihr  dramatisches  oder  ihr 
malerisches  Talent  für  sich  allein  würde  nicht  genügen ; 
—  also  wird  eine  kitschige  Kombination  von  dem  allen 
zurecht  gemacht  und  wohl  gar  noch  für  »Form«  aus- 
gegeben. Von  diesen  Ragouts,  zum  Beispiel  der 
»Dramatiker«,  lebt  unter  anderem  die  Regiekunst  des 
bekannten  Reinhardt.  Diese  Herren  Mischmaschkünstler 
berufen  sich  mit  Vorliebe  auf  erlauchte  Ahnen,  auf 
Hebbel  und  Wagner,  die  allerdings  keine  geschlossene 
Form  aufwiesen,  sondern  sich  »zwischen  den  Künsten« 
tummelten  und  gelegentlich  vor  entschlossener  Mache 
nicht  zurückschreckten.  Aber  diese  Großen  lebten  in 
einer  Zeit  revolutionärer  Erschütterungen  und  politischer 
und  kultureller  Götterdämmerungen,  als  täglich  im 
Leben  da  draußen  ein  neuer  ungeahnter  Stoff  empor- 
quoll, für  den  es  noch  keine  künstlerischen  Mittel  gab, 
die  vielmehr  schleunigst  improvisiert  werden  mußten. 
Heute  sind  die  Zeiten  ruhiger  geworden,  und  die 
Epigonen  dieser  Heroen  haben  kein  Recht  zu  ihrem 
formlos  formalistischen  Kitsch,  und  ich  habe  sie  mit 
einer  Verachtung  behandelt,  für  die  jene  Herren  mit 
einem  Haß  quittierten,  der  sich  einmal  wenigstens  in 
Taten  Luft  machte,  als  der  bekannte  dickfellige  Sieg- 
fried die  Schmeißfliege  aus  dem  Hannövrischen  gegen 
mich  losließ. 


—  37 


Aber  mir  ist  weder  mit  dem  Haß,  noch  mit  der 
Liebe  gedient,  sondern  nur  mit  der  Diskussion.  Ich 
schrieb  das  Buch  vor  allem  als  ein  Suchender,  ich 
wollte  ein  Problem  zum  Bewußtsein  bringen.  Meine 
Formulierungen  sind  hingestellt,  um  die  Erörterung 
hervorzurufen,  und  ich  weiß  sehr  wohl:  »es  kommt 
immer  anders.*  Nicht  minder  aber  weiß  ich,  daß  nur 
dadurch  Entwicklung  und  Zukunft  entsteht,  daß  man 
seinen  Glauben  zum  Dogma  (jawohl,  zum  Dogma) 
formt  und  dieses  dann  wie  einen  Pfeil  in  den  Raum 
der  Zeit  hinausschwirren  läßt.  Was  tut  es,  ob  der 
Pfeil  ins  Schwarze  trifft,  wenn  er  nur  in  die  Zukunft 
weist,  und  wenn  darnach  auch  andere  den  Bogen 
spannen!  Ich  schrieb  mein  Buch  als  ein  Suchender, 
und  ich  fordere  die  andern  alle  auf,  sich  als  ebenfalls 
Suchende  mit  meinem  »Ausgang  der  Moderne«  aus- 
einanderzusetzen. Alle  jene  fordere  ich  dazu  auf,  die 
der  Gegenwart  zum  Trotz  an  die  Zukunft  der  tragi- 
schen Persönlichkeit  und  die  moderne  Kultursynthese 
und  Kulturfreiheit  noch  zu  glauben  vermögen. 


Mitgefühl 
Von  Albert  Ehren  stein 

Gewiß  war  ich  auch  schon  früher  nach  Ottakring  geraten, 
Freunde  hatten  mich  mehreremale  zum  Heurigen  geschleppt,  wir 
müssen  aber  wohl  die  Hauptstraße  hinaufgefahren  sein  oder  das 
Gespräch  der  Kameraden  lenkte  mich  ab,  sicher  ist:  ich  sah,  hörte, 
roch,  fühlte  damals  nichts  von  dem,  was  mir  heute  zustieß.  Sonst 
wäre  ich  doch  kaum  so  ratlos  dagestanden,  so  unfähig,  auf  die 
Beobachtungen  und  Gefühle,  die  mich  bedrängten,  eine  Antwort  zu 
finden.  Die  Sucht,  den  Gerüchen,  die  mir  entgegenschlugen,  dem 
Staub,  den  mir  Wind  und  Wagen  ins  Gesicht  warfen,  mit  einem 
Taschentuch  zu  begegnen,  diese  Sucht  wäre  mir,  glaube  ich,  nicht  so 
tief  egoistisch  und  daher  verwerflich  erschienen,   wenn  nicht  nach 


-  38  — 


und  nach  die  Pferdefleischhauer  zu  überwiegen  begonnen  hätten 
und,  Folge  notwendig  geringer  Sorgfalt,  ein  unglaublich  hoher 
Prozentsatz  von  Buckligen  und  Verwachsenen  unter  den  Kindern 
mich  nicht  verstört  hätte.  Es  gab  da  dünne  Arme,  große  Köpfe, 
Höcker  und  Ausladungen  mannigfaltigster  Art. 

Mein  Bestreben,  irgendwie  und  teilweise  Abhilfe  zu  schaffen, 
ist  ziemlich  schnell  hervorgetreten  und  noch  schneller  lächerlich 
gemacht  worden.  Ein  kleines,  vielleicht  achtjährigesMädchen,  ein  Kind 
an  jeder  Hand  und  hinter  sich  eine  auf  Rädern  ruhende  Kiste  mit  Wickel- 
kind, stand  vor  einer  fragwürdigen  Konditorei  und  schien  nicht  die 
Summe  von  einem  Kreuzer  aufbringen  zu  können,  um  sich  einen 
Neapolitaner  zu  kaufen,  von  einem  Indianer  nicht  zu  reden.  Ich  ver- 
anlaßte,  daß  ich  in  jenes  Geschäft  trat.  Ich  wußte  nicht,  was  sagen, 
ich  errötete.  Es  kann  auf  meine  Ungeschicklichkeit  zurückzuführen 
sein,  wenn  sich  die  Kinder  fürchteten,  scheu  zurückwichen  und  als 
ich  ihnen  näher  trat,  schreiend  davonliefen.  Noch  nicht  ich,  aber 
viele  andere  mochten  die  häßlichen  Worte  verdient  haben,  die  mir 
zuzurufen  und  nachzusenden  einige  ältere  Frauen  nicht  müde 
wurden.  Ich  dürfte  zu  elegant  gekleidet  gewesen  sein,  als  daß  man 
mir  anständige  Beweggründe  zugetraut  hätte.  Oder  ist  es  ein  Welt- 
gesetz, daß  niemand  für  einen  andern  etwas  in  Wahrheit  tun  kann 
und  darf?  .... 

Ich  vermag  es  nicht  zu  entscheiden,  ob  den  vielen  Kindern, 
die  in  dem  großen  Tümpel  ein  Bad  nahmen,  das  auf  einem 
niedrig  gelegenen  Baugrund  noch  vom  letzten  Regen  her  stehen 
geblieben,  das  Waten  und  Tauchen  in  dem  schmutzigen,  lehmigen 
Wasser  besonders  gesund  war.  Andere  sah  ich  um  und  in  Bedürfnis- 
anstalten »Fangerl«  spielen,  wieder  andere  haben  eine  neue  Art  zu 
»telephonieren«  erfunden.  Eine  Abteilung  ruft  bei  einem  Kanal- 
gitter  etwas  hinein,  die  andern  liegen  bei  dem  nächsten  Kanalloch 
platt  am  Boden,  horchen  und  antworten  ....  Was  sie  rufen? 
Einen  Ruf  habe  ich  vernommen,  er  war  vielleicht  gar  nicht  mit 
dem  Gefühl  beschwert,  das  ich  später  hinein  legte,  und  doch  werde 
ich  ihn  nie  vergessen.  >I  möcht  Erdbeer <  schrie  ein  Kind  in  den 
stinkenden  Kanal  hinab,  und  da  es  nicht  Weihnachten  war,  steht 
zu  befürchten,  daß  sein  Wunsch  nicht  in  Erfüllung  ging.  Der  beim 
andern  Gitter  dürfte  »I  a<  geantwortet  haben.  Beide  konnten  ihr 
Ideal  —  denn  es  gibt  kein  tieferes  Symbol  für  den  Begriff  >Ideal< 


-  39  - 


und  alles  Streben  der  Menschheit,  der  Wirklichkeit  zu  entrinnen, 
als  seine  Sehnsucht  nach  Erdbeeren  in  ein  Kanalloch  hinabzurufen 
—  ich  sage,  beide  konnten  ihren  Wunsch  nicht  erfüllt  sehen. 

Ich  kam  ins  Freie.  Es  lagen  so  viel  Leute  dort,  welche  die 
Gegend  offenbar  bewunderten  und  Mückenstiche  wie  Gerüche 
ignorierten,  daß  auch  ich  tapfer  standhielt,  und  mich  schließlich 
des  Stolzes  auf  dies  Standhalten  schämte.  Im  Schatten  einer  Wiege 
sitzen  vom  Gebären  erschöpfte  Frauen,  die  schon  wieder  schwanger 
sind,  und  dort  geht,  eng  an  einen  nett  gekleideten  Burschen 
geschmiegt,  ein  vierzehnjähriges  Mädchen  immer  weiter  ins  Freie 
hinaus.  Sie  ist  sauber  angezogen  und  weiß  noch  nichts,  aber  die 
Frauen,  die  dem  Paar  kopfschüttelnd  nachblicken,  die  wissen,  wenn 
sie  auch  kein  Wort  sagen...  Ein  kleiner  .Fratz,  einen  Papier- 
tschako auf  dem  Kopf,  dreht  sich  unaufhörlich  rundherum  und 
sagt  die  ganze  Zeit  über  verzückt  nichts  als:  »Flöh  und  Laus«. 
Aber  diese  Frühreife  ist  nur  zu  begreiflich.  Es  muß  nach 
Fabrikschluß  gewesen  sein,  die  Dampfpfeifen  hatten  ihr  Geheul 
bereits  eingestellt,  da  sah  ich  unter  niedrigem  Gestrüpp,  nicht  weit 
vom  Wege  drei  czechische  Burschen  in  Kleidern  mit  einem  eben- 
falls komplett  angezogenen  czechischen  Dienstmädchen  verschlungen 
im  Grase  sich  wälzen.  Andere  Burschen  und  Mädchen,  aber  auch 
Männer,  spielten  blinde  Kuh.  Die  jungen  Mädchen  wurden  beim 
Fangen  derb  angegriffen,  sie  brannten  darauf,  sie  sehnten  sich 
danach,  das  war  ja  das  einzige,  was  sie  hatten.  Und  die  Frauen 
saßen  ganz  ruhig  daneben,  wenn  ihre  Männer  die  Mädchen  packten. 
Knaben  auf  den  Schutthaufen  schössen  >Fitschifeil«  oder 
ließen  jämmerliche  »Raffler«  steigen,  eine  Schar  verfolgte 
einen  Epileptiker,  >Tepatar«  brüllend,  dann  kam  es  wie  Unken- 
rufe: sie  waren  wieder  zu  ihren  melancholischen  Kanalgittem 
heimgekehrt. 

Ein  alter  Mann  im  städtischen  Armenhaus  hustete  mühsam 
gottserbärmlich  beim  Fenster  vor  Staub  und  spuckte  sein  Leben 
in  Blutklumpen  auf  die  Straße  —  es  war  aufgespritzt  worden,  zum 
Hohn,  aber  das  Pflaster  war  so  schlecht,  daß  es  nichts  nützte. 
Meine  Hoffnung,  der  Greis  werde  mich  anspeien,  weil  ich  noch 
immer  Lackschuhe  trug,  der  Gedanke,  ich  sei  der  Gnade,  die  er 
walten  ließ,  nicht  würdig  —  diese  Redensarten  warf  das,  was  nun 
geschehen  sollte,  über  den  Haufen. 


40 


Auch  die  Lackschuhe  hatten  ihr  Gutes:  die  begegnenden 
Mädchen  gaben  sich  mir  mit  ihren  Augen,  wogegen  ein  anderer 
Jüngling  in  Sandalen  und  Sportkäppchen  unbeachtet,  wie  in  einer 
Tarnkappe  daherging.  Bis  ihm  die  Sache  zu  dumm  wurde  und  er 
ein  paar  grellgelbe  rehlederne  Handschuhe  enthüllte,  worauf  sich 
die  Aufmerksamkeit  der  Mädchen  zwischen  uns  teilte.  Und  von 
der  Anziehungskraft,  die  diese  geringen  Gebrauchsgegenstände 
ausübten,  war  nur  ein  Schritt  zu  dem  Wunsche  >Auch  ich  möcht' 
Erdbeer<,  und  ein  Weltverbesserer  starb,  während  die  Stimme  des 
Körpers  sieghaft  die  Idee  entwickelte,  durch  eine  zornige  Schilderung 
dieses  Milieus  ein  mir  noch  nicht  nahestehendes  Mädchen  in  die 
Gegend  zu  locken. 


Neue  Menschen 
Von  Berthold  Viertel 

»Herr  im  Spiel«  *)  heißt  der  erste  Roman  Otto 
Soykas,  der  vor  einigen  Monaten  erschien. 

Herr  im  Spiel  zu  werden,  ein  Traum  vieler  Seelen. 
Einer  jener  Träume,  die  vom  Tag-Bewußtsein  versucht 
werden,  wenn  der  Mensch  sich  eine  Pause  gönnt,  sich 
der  Kausalität  seiner  Verhältnisse  entreißt  und  die 
Wünsche  schwärmen  läßt.  Vielleicht  sind  solche  Tag- 
träume die  Quellen  aller  echten  Erzählerkunst. 

Die  kühne  und  kühle,  schroff  sachliche  und 
phantastisch  wesentliche  Erzählung  Otto  Soykas  ist 
durchaus  die  tragische  Konsequenz  eines  Gedankens, 
der  wiederum  die  Konsequenz  einer  tragischen  Persön- 
lichkeit ist.  Wir  sind  es  heute  gewohnt,  daß  die  Schrift- 
steller vor  allem  über  die  Schliche  des  Metiers  verfügen, 
über  vielfaches  Raffinement  der  Feder  —  ob  sich  dann 
irgend  ein  Gedanke  herbeiläßt,  sich  solcherart  behandeln 


*)  Hyperion-Verlag  Hans  v.  Weber,  Münclien   1910. 


41  — 


zu  lassen,  das  gilt  beinahe  für  eine  Frage,  deren  sich 
der  Gebildete  schämt,  Tausend  talentierte  Bücher 
belehren  uns,  daß  auch  irgendwelche  Lyrismen,  irgend- 
welche persönlichen  Anwandlungen  ausreichen.  Hier 
aber  beginnt  ein  Gedanke  zu  sprechen.  Seiner  selbst 
gewiß,  beschränkt  er  sich  auf  einen  ruhigen  Vortrag. 
Weil  er  vornehm  ist,  begnügt  er  sich  mit  wenigen 
Worten.  Ein  neuer  Typus  entwickelt  seine  spröde  und 
lapidare,  streng  intellektuelle  Form.  Dieses  Buch  kennt 
keine  Mode,  es  hat  scheinbar  nichts  gelesen,  bevor  es 
sich  zu  schreiben  begann.  Es  wagt  eine  puritanische 
Männlichkeit  mitten  in  einer  fast  allgemeinen  femininen 
Verfeinerung.  Es  ist  unzeitgemäß,  aber  es  hat  Tradition. 
Es  hat  eine  beinahe  asketisch  keusche  Art  der  Mit- 
teilung, die  keiner  nachahmen  kann,  die  immer 
wieder  neu  erfunden  werden  muß.  Es  hat  vielleicht 
von  angeblich  veralteten  Vorbildern  gelernt,  aber  es 
gibt  ein  Menschentum,  das  neuer  ist,  als  alles  Neueste, 
und  eine  Atmosphäre,  von  der  die  Zeit  zu  lernen 
hätte.  Und  die  merkwürdig  konzise  Fabel  dieses 
Buches  steht  nun  unerbittlich  da. 

Einer  will  Herr  im  Spiel  werden.  Er  beginnt 
damit,  daß  er  denkt  und  will.  Kaum  zwanzig  Jahre 
alt,  vor  die  Berufswahl  gestellt,  faßt  er  diesen  Ent- 
schluß, »bewußt  und  kühl  überlegend«.  Es  heißt  von 
ihm,  daß  er  die  »Konsequenz«  eines  »paradoxen  Ge- 
dankens« zieht.  Das  ist  sein  Unterscheidendes:  er  wird 
nicht,  er  macht  sich  selbst.  Er  ist  nicht  das  Resultat 
eines  Milieus,  er  schafft  bewußt  sein  Schicksal  nach  einem 
unerschütterlichen  Plane.  Er  denkt,  noch  nicht  zwanzig 
Jahre  alt,  einen  persönlichen  und  entscheidenden  Ge- 
danken, und  er  verbraucht  ein  kühnes  und  starkes 
Leben,  um  diesen  Gedanken  zu  verwirklichen. 

Es  gibt  andere  Möglichkeiten  des  Spielers.  Ich 
denke  da  an  den  »Spieler«  von  Dostojewski.  Dieser 
gibt  sich  der  Macht  des  Zufalls  mit  einer  großartigen 
Passivität  hin,  erfaßt  mit  ganzer  Seele  die  fatalistische 
Seite    des    Spieles.    Er    ist    inbrünstiger   Sklave    des 


42 


Schicksals,  leidenschaftlicher  Verschwender  seiner  selbst. 
So  spielt  der  Held  Dostojewskis,  ein  Russe,  und  so 
liebt  er  auch.  —  Jener  andere  aber  hat  das  Spiel 
erwählt,  um  über  den  Zufall  Herr  zu  werden.  Sein 
weitgehendes  und  umfassendes  Training  gilt  der  Selbst- 
beherrschung, und  durch  Selbstbeherrschung  der  Be- 
herrschung aller  anderen.  Dem  Zufall  wird  eine 
kristallene  Ruhe  der  Nerven,  eine  durch  keinen  Wechsel 
des  Geschicks  beirrbare  Tätigkeit  des  Intellekts  ent- 
gegengestellt; dem  empfindlichen  Medium  der  Hypno- 
tiseur,  dem    Sklaven    des  Lebens   der  Herr  im  Spiel. 

Dieser  Spieler  wählt  hiermit  die  eine  große  Mög- 
lichkeit des  Menschen:  die  Macht.  Unumschränkte 
Macht,  die  sich  vor  allem  der  eigenen  empirischen 
Person  versichern  muß.  Sein  Charakter  fordert  diese 
Situation.  Um  sie  zu  gewinnen,  hätte  er  auch  einen 
anderen  Beruf  ergreifen  können,  sicherlich.  Aber  seine 
Theorie  des  Spieles  entstammt  einem  radikalen  Ich,  dem 
die  bürgerlichen  Möglichkeiten  versagt  sind.  Hier  äußert  ^ 
sich  ein  anarchistischer  Zug  seines  Wesen.  Er  will  es 
mit  dieser  Gesellschaft  und  ihrem  Gesetz  «ufnehmen. 
Er  will  die  Sittlichkeit  zwingen,  ihn  anzuerkennen.  Er 
zersplittert  das  Konglomerat  der  Gesellschaft  in  einzelne 
Individuen,  um  sie.  Mann  gegen  Popanz,  zu  vernichten. 
—  Und  es  gelingt  ihm. 

Es  gelingt  ihm  nur  zu  gut.  Er  ist  daran,  auch 
den  gewöhnlichen,  vegetativen  Menschen  in  sich  selbst 
zu  töten,  das  eigene  Herz  auszujäten  und  durchaus 
ein  Instrument  der  Macht  zu  werden,  eine  vollkommene 
Maschine.  Weil  er  sich  so  weit  von  der  Gattung  ent- 
fernt, droht  ihn  die  Spannung  zu  entwurzeln.  Seine 
eigene  Wurzel  da  drunten  im  Erdreich  des  Menschen- 
tums beginnt  sich  zu  wehren.  Seine  Rechnung  hätte 
gestimmt,  wenn  die  menschliche  Natur  ein  rationales 
Exempel  wäre.  Sie  ist  es  nicht.  Während  er  sich  zu 
machen  glaubt,  wird  in  ihm  ein  anderer,  den  er 
nicht  beherrschen  kann.  Aus  einem  für  den  Verstand 
unkontrollierbaren  Winkel  seines  Ich  kriecht  es  hervor, 


—  43 


die  sinnlose  Lebenswärme,  das  Gefühl;  wird  Kraft, 
Idee,  Liebe. 

Der  Spieler  bewegt  sich  auf  dem  Grat  des  Ge- 
dankens, das  Weib,  dem  er  begegnet,  bleibt  in  der 
Ebene  des  Gefühls.  Eine  wunderbare  Feme  dämpft 
die  feine  Gestalt.  Nie  tritt  sie  ins  deutliche  Licht. 
Aber  man  spürt  die  unbeirrbare  Kraft  ihres  Gefühls. 
Sie  ist  selbstsicheres  Gefühl,  wie  er  selbständiger 
Intellekt  ist.  Ihre  mütterliche  Art  wählt  den  kindlich 
unbedeutenden  Andern,  im  Sinne  einer  gütigen  Er- 
haltung des  Lebens.  Der  tragische  Fremdling  bleibt 
ihr  tragisch  fremd.  Und  wie  aufrichtig  unüberzeugend 
ist  sein  Werben!  Welche  Ohnmacht  in  der  Sphäre  des 
Unmittelbaren  !  Erwirkt  immer  wie  ein  Dritter.  Er  spielt 
Vorsehung.  Er  beweist  Macht.  Er  interessiert,  wie  ein 
Problem,  wie  eine  Katastrophe.  Seine  kalten  Liebes- 
erklärungen widerlegen  ihn.  Weil  er  die  Ohnmacht 
seines  Wortes,  das  gemacht  ist  und  nicht  geworden, 
fühlt,  schneidet  er  sich  in  die  Hand,  um  die  klaffende 
Wunde  für  seine  Wahrheit  zeugen  zu  lassen.  Wie  tief 
hervorgeholt  aus  der  phantastischen  Realität  der  Gestalt 
sind  diese  Gewaltsamkeiten!  Wie  tragisch  rührend  die 
Unbeholfenheiten  dieses  Überlegenen.  Sein  hell- 
seherisches Verständnis  für  den  Wert  der  Frau  könnte 
ihn  zu  ihrem  Dichter  machen,  aber  nie  zu  ihrem  Partner. 
Und  seine  Versuche  an  Menschen  verraten  ihr  seine 
zerstörende  Tendenz. 

Die  Macht  ist  ihm  eine  Lüge  geworden.  Er  ergreift 
die  zweite  große  Möglichkeit:  das  Opfer.  Wie  eine 
tiefere,  umfassende  Wahrheit,  um  derentwillen  der  Irrtum 
seiner  Macht  ausgestrichen,  d  eses  verfehlte  Experiment 
seines  Lebens  abgebrochen  werden  muß.  Sein  Selbst- 
mord geschieht  nicht  aus  > unglücklicher  Liebe«.  Er  ist 
das  Glück  seiner  Liebe,  ihr  Fest.  Und  der  äußerste, 
endgültige  Triumph  seiner  Persönlichkeit.  Das  Ende 
ist  (in  der  beherrschten,  verschlossenen  Art  des  Buches) 
erfüllt  von  der  Weihe  dieses  Opfertodes.  So  schließt  sich 
die  Tragödie  eines  heroischen  Rationalismus.  — 


44 


Nun  liegt  ein  zweiter  Roman  Soykas  vor:  »Der 
Fremdling«.*)  Auch  dieser  eine  Tragödie  des  heroischen 
Rationalismus,  um  bei  meinem  Worte  zu  bleiben.  Die 
Produktion  Soykas  ist  wie  das  Weiterrücken  eines 
strengen  Gedankens,  ein  immer  klareres  Wachwerden. 
Der  Gedanke  rückt  tiefer  ins  Menschliche  hinein.  Er 
verinnerlicht  sich.  Obwohl  dieses  Buch  auf  den  ersten 
Blick  in  fast  bedenklichem  Sinn  äußerlich  scheint.  Es 
hat  eine  hinterhältige  Technik.  Es  beginnt,  sehr 
spannend,  als  Kriminalroman.  Lange  geht  es  fort  auf 
der  Spur  eines  Verbrechens.  Aber,  nach  krimineller 
Auffassung,  ist  'gar  kein  Verbrechen  geschehen.  Die 
enträtselnde  Logik  gelangt  schließlich  an  das  Irrationale 
einer  Seele,  wo  sie  endgültig  Halt  machen  muß.  Das 
Geheimnis  des  Falles  setzt  sich  in  die  unlösbare  Frage 
eines  Herzens  um.  —  Es  wird  eine  Befreiungsaktion 
geführt,  die  einem  vermeintlich  Schuldigen  gilt. 
Gesetz  und  Recht  lassen  sich  beeinflussen,  der  starke 
und  wissende  Wille  eines  Einzelnen  kann  den  Instinkt 
eines  Volkes  ablenken.  Aber  nicht  den  Willen  des 
Einzelnen,  der  sich  abgewandt  hat.  Die  krasse  Energie 
der  Handlung  löst  sich  an  der  tragischen  Ruhe  des  zu 
Rettenden  in  Nichts  auf.  So  setzt  sich  die  äußere 
Spannung  in  eine  seelische  Intensität  seltenster  Art  um. 
Ein  Wust  tatsächlicher  Nichtigkeiten  verflüchtigt  sich, 
um  eine  tragische  Verbindung  von  Menschen  mit  be- 
sonderer Kraft  zu  offenbaren. 

Der  »Fremdling«  ist  der  Leiter  der  verunglückten 
Rettungsaktion.  Ein  Nahverwandter  der  Herren  im 
Spiel.  Auch  er  ein  wissender  Wille,  der  das  Spiel  des 
Menschlichen  mit  Leichtigkeit  zu  meistern  scheint,  und 
es  verliert,  als  es  für  ihn  Wert  zu  haben  beginnt.  Ein 
Mensch,  der  bei  der  Geburt  viel,  allzuviel  Erfahrung 
im  Blute  mitgebracht  haben  muß.  Was  die  Andern 
mit  der  ganzen  Fülle  des  lebendigen  Momentes  er- 
fühlen, in  ihm  ist  es  bereits  als  ein  trockenes,  abstrak- 


*)  Albert  Langen,  München  1911. 


45  — 


tes  Resultat,  als  Intelligenz.  Er  trägt  die  Möglichkeiten 
des  Menschentums  wie  chemische  Formeln  im  Kopf. 
Und  er  hat  die  Entschlossenheit  solchen  Wissens,  eine 
Energie,  die  nicht  von  Furcht  und  Hoffnung  abgelenkt 
wird.  Die  Überlegenheit  dieses  Charakters  verschafft 
manche  lustvolle  Begleiterscheinung,  wie  sie  sich  ein 
wahrer  Wunschtraum  (von  Dumas  etwa)  nur  wünschen 
kann.  Köstliches  Spiel  der  Macht,  wenn  der  Gedanke 
die  Weltmaschine  durch  einige  leichte  Griffe  an  die 
wesentlichen  Hebel  beherrscht!  —  Aber  dieser  Fremd- 
ling hat  seine  trostlos  wache  Tragik. 

Furchtbare  Einsamkeit  des  Denkers,  der  nur 
mehr  vom  abstrakten  Rest  des  Lebens  zehrt.  Wissen 
heißt:  begehrt  haben.  Alles  wissen:  nichts  mehr 
begehren.  Der  Fremdling  interessiert  sich  wenig  für 
sein  Ich.  Aber  er  ist  ein  wunderbarer  Freund.  Die 
Freundschaft  bedeutet  diesem  Übermännlichen  eine 
letzte,  hohe  Möglichkeit  der  Liebe.  In  einem  vor- 
nehmen jungen  Menschen  findet  er  die  Essenz  seines 
Ich  wieder,  im  Leben  schreitend,  auf  den  Wegen  der 
Begabung.  In  dieser  Seele  könnte  der  Fremdling  noch 
einmal  heimisch  werden.  Könnte  schaffen,  wenn  er 
dem  Werdenden  seine  Resultate  geben  könnte.  —  Da 
wird  der  gute  Sinn  solcher  Entwicklung  in  Frage  ge- 
stellt durch  den  Irrsinn  einer  Liebe. 

Der  Fremdling  hat  mit  einer  Frau  um  den  Freund 
zu  kämpfen.  Und  wird  besiegt.  Sein  Verstand  hatte 
einst  die  Schönheit  gerade  dieser  Frau  kritisch  widerlegt. 
Der  ganz  neue  und  eigene  Weibtypus,  der  hier  auf- 
gestellt wird,  wäre  einer  genaueren  Betrachtung  wert. 
Diese  Gestalt  ist  phantastisch  aus  dem  Krankheitsbilde 
der  Hysterie  herausgeschaffen.  Eine  lügende  Gefühls- 
welt, welche  durch  ihre  sublime  Fraglichkeit  gerade 
den  vorwiegend  logischen  Menschen  verlockt.  Ein 
Wahnsinn,  der  eine  ideale  Methode  vorgaukelt.  Da- 
hinter findet  man,  wenn  man  den  Mechanismus  auf- 
deckt, eine  krankhaft  verwirrende  Menschlichkeit. 
Aber  vielleicht   verführt   gerade  das   innerst  Verlorene 


46  - 


und  Ohnmächtige  solch  einer  Natur  den  Starken  zur 
Selbstaufopferung.  Der  Fremdling  hat  sich,  einen  magi- 
schen Traum  zerreißend,  in  die  Nüchternheit  gerettet. 
Sein  junger  Freund  aber  will  glauben  und  sich  opfern. 

Solange  der  Fremdling  mit  einem  Mord,  mit 
einer  Schuld  rechnet,  ist  er  seines  Sieges  gewiß.  Ihm 
kann  der  Freund  nicht  der  Täter  dieser  einen  Tat  werden, 
er  bleibt  ihm  ein  Mensch  vieler  Werte.  Der  Fremdling 
erweist  sich  als  stark  genug,  um  der  Gesellschaft 
ihr  Opfer  zu  entreißen  (wobei  sich  eine  höhnisch- 
skurrile Darstellung  des  sozialen  Mechanismus  ergibt). 
Die  unbeirrbare  Logik  seiner  Freundschaft,  welche  ein 
objektives  Wissen  von  einem  Menschen  ist,  triumphiert 
über  das  wandelbare  Gewoge  der  Neigungen.  Den 
Schuldigen  könnte  er  befreien.  Was  aber  vermag  er 
gegen  den  Unschuldigen,  der  sich  opfern  will?  —  Er 
zögert  nicht  länger,  an  der  Seele  des  Freundes  seine 
Kraft  zu  versuchen.  Es  gelingt  ihm,  den  Zauber  zu 
brechen.  Er  banalisiert  die  Schönheit,  dechiffriert  den 
Reiz.  —  Und  hat  damit,  er  selbst,  den  Freund  getötet. 
Der  kann  nichts  mehr  wollen,  wenn  er  nicht  mehr 
glauben  kann.  Mit  seinem  Traum  hat  er  alles  verloren. 
Sein  Wissen  soll  nicht  sein  Gefühl  überleben.  Er  will 
kein  Fremdling  werden.  Er  wählt  den  Tod.  —  Der 
Fremdling  aber  geht,  eine  menschenleere  Menschheit 
verlassend,  zu  den  Pflanzen.  Vielleicht  lernt  er  dort, 
die  Wünsche  des  vegetativen  Seins  belauschend,  beim 
Anfang  alles  Lebens  neu  beginnend,  eine  andere 
Logik.  — 

Wenn  mao  die  Bücher  Otto  Soykas  auspreßte, 
man  erhielte  keinen  Tropfen  Farbe.  Hier  herrscht  die 
Linie.  Nichts  als  das  weiße  Licht  der  Denkfreudigkeit, 
welches  nur  der  Geist  wahrnimmt.  Es  fehlt  die  wohl- 
tuende Lebenswärme.  Nur  Fieberglut  und  Fieberfrost 
der  Leidenschaft.  Die  mit  Recht  beliebten  fünf  Sinne 
feiern.  Da  leben  nur  Intelligenzen  und  Energien.  Diese 
Kunst  hat  den  Zauber  eines  kühnen  Beweises.  Die 
Gestaltung  gleicht  der  Begriffsarchitektonik  eines  philo- 


-^  47 


sophischen  Systems.  Eine  Welt  hellseherischer  Deduktion 
(sehr  reizvoll,  wie  alles  Soziale  deduziert,  nicht  abge- 
zeichnet wird).  Der  neue  Mensch  Soykas  ist  wesentlich 
mehr  als  eine  beobachtete  Wirklichkeit,  er  ist  mensch- 
gewordene Idee,  Tat  des  Geistes.  Die  Methode  Soykas 
ist  eine  durchaus  selbständige  psychologische  Phantastik, 
die  man  wird  ergründen  müssen,  bevor  man  sie  beurteilt. 


Selbstanzeige 

Obersetzung  aus  dem  ,Pesti  Na plö'  (Budapest, 
2.  Oktober): 

Die  österreichische  Kaiserstadt  besitzt  einen  Schriftsteller,  dessen 
die  Wiener  Zeitungen  nie,  auch  mit  keiner  Zeile  Erwähnung  tun.  Dieser 
Schriftsteller  ist  Karl  Kraus,  der  Herausgeber  der  Wiener  Fackel  und 
einer  der  größten  Schreibkünstler  Österreichs,  ja  des  ganzen  Deutschtums. 
Die  Erklärung  dafür,  warum  man  Karl  Kraus  totschweigt,  liegt  in  der 
galligen  Persönlichkeit  des  Schriftstellers,  der  mit  seiner  scharfen  Feder 
und  beißenden  Satire  mehr  als  einer  aufgeblasenen  Wiener  Zeitung  an 
den  Leib  gerückt  ist  und  mehr  als  einem  Wiener  Journalisten,  dessen 
Anmaßung  größer  ist,  als  sein  Talent.  Die  aufgeblasenen  Größen,  die 
Pseudotalente,  die  Unanständigkeit  verfolgt  Karl  Kraus  mit  seltener  Kraft, 
und  obwohl  sein  Blatt,  die  Fackel,  eine  außerordentlich  beliebte  und 
sehr  verbreitete  Zeitschrift  in  Österreich  ist,  nehmen  die  offiziellen  Ver- 
treter der  österreichischen  Literatur  weder  von  dem  Blatt,  noch  von 
seinem  Redakteur  Notiz.  Diese  Gleichgültigkeit  ließ  den  Redakteur  der 
Fackel,  der  gleichzeitig  der  fleißigste  Mitarbeiter  seines  Blattes  ist,  nicht 
verzagen.  Die  Österreicher  wollten  ihn  vergeblich  totschweigen:  Karl 
Kraus  sammelte  seine  Artikel,  Studien,  Abhandlungen  in  Büchern  und 
gibt  sie  in  rascher  Folge  heraus. 

An  der  Vielbegehrtheit  der  Fackel  sah  er,  wie  sehr  sich  das 
Publikum  für  seine  Schriften  interessiert,  und  als  die  großen  Blätter 
Deutschlands  Beiträge  von  ihm  verlangten,  fühlte  er,  daß  die  Österreicher 
seine  literarische  Bedeutung  vergeblich  zu  verdunkeln  suchten.  Jedes 
seiner  Bücher  war  ein  Ereignis  in  der  deutschen  Literatur  und  auch 
jetzt,  da  unter  dem  Titel  >Die  chinesische  Mauer<  ein  neues  Buch 
erschien,  widerhallt  es  in  der  reichsdeutschen  Presse  von  dem  großartigen 
Lobe,  das  der  Persönlichkeit  Karl  Kraus"  gezollt  wird.  Uns  interessiert 
dieser  Schriftsteller  aus  zweierlei  Gründen,    erstens  weQ    er    in    seinem 


48 


neuen  Buche  stark  und  meisterhaft  Maximilian  Harden,  den  auch  in 
unserem  Lande  gut  gekannten  deutschen  Publizisten  angreift;  und  aus 
dem  andern  Grunde,  daß  er  in  seiner  feinen  und  wunderbar  kräftigen 
Art  viele  Mißstände  der  österreichischen  Literatur,  Politik  und  Justiz 
unter  das  Seziermesser  nimmt.  Die  reichsdeutschen  Blätter  erkennen  fast 
einmütig  an,  daß  es  keine  geistvollere,  stärkere,  an  Talent  und  Wissen 
tiefere  schriftstellerische  Persönlichkeit  in  der  heutigen  deutschen  Literatur 
gibt,  als  den  Verfasser  der  Chinesischen  Mauer.  Dieser  einsame  Wiener 
Mann,  dieser  so  vielen  Menschen  Unannehmlichkeiten  bereitende  Karl 
Kraus  hat  in  der  Literatur  ungefähr  dieselbe  Rolle,  wie  im  österreichischen 
Gemeinleben  Schöffel,  die  berühmte  Geißel  der  Korruption.  Was  aber 
seine  funkelnde  Schreibkunst  anlangt:  so  erscheint  dieser  Karl  Kraus  so, 
als  ob  er  die  direkte  Fortsetzung  des  großen  Frankfurter  Einsiedlers, 
Artur  Schopenhauers  wäre. 

,Danzer's  Armee-Zeitung'  (Wien,  20.  Oktober): 

Das  vorliegende  Buch,  das  den  dritten  Band  der  > Ausgewählten 
Schriften«  von  Karl  Kraus  darstellt,  enthält  vierzig  Aufsätze  aus  den 
letzten  drei  Jahrgängen  der  , Fackel'  und  des  ,Simplicissimus'.  Hier,  des 
pikanten  Aktualitätsreizes  ledig,  offenbaren  sich  die  heute  vielfach  noch 
weit  unterschätzten  literarischen  und  sozialkritischen  Qualitäten  dieser 
Arbeiten  mit  einer  Kraft,  die  gerade  jene  am  stärksten  überraschen  wird, 
die  sich  bisher  nur  mit  der  oberflächlichen  Lektüre  dieser  Meisterwerke 
sui  generis  in  der  , Fackel'  begnügten. 

»Literarischer  Ratgeber*  (Magdeburg,  Oktober): 

Das  Buch  ist  der  3.  Band  der  , Ausgewählten  Schriften  von 
Karl  Kraus'.  Es  enthält  eine  Sammlung  von  40  Satiren  und  Aufsätzen,  die 
1907/09  teils  in  der  , Fackel',  teils  im  ,Simplicissimus'  erschienen  sind 
und  vor  der  Buchausgabe  umgearbeitet  wurden.  Der  Titel  stammt  von 
der  letzten  Satire,  die  von  dem  Gedanken  beherrscht  wird,  daß  die 
abendländische  Moral  das  europäische  Geschlecht  wie  eine  chinesische 
Mauer  umgeben  habe,  innerhalb  deren  nun  das  Chaos  durch  Lüste,  Gier 
und  Leidenschaften  losgebrochen  sei,  während  das  Natürliche  den 
Menschen  fremd  wurde.  Das  ist  etwa  auch  der  Grundton  des  ganzen 
Buches.  Die  tiefe  satirische  Erfassung  der  menschlichen  Schwächen  in 
allen  Kulturerscheinungen,  Politik,  Kunst,  Presse  u.  s.  f.,  voller  Hohn 
und  voll  von  Leid,  oft  hart  an  die  Grenze  des  Anstößigen  streifend,  zeigt 
doch,  daß  diesem  Kulturkritiker  >ein  Idealismus  eingeboren  ist,  der  die 
Schönheit  der  Welt  an  ihrem  Widerspiel  sich  zu  bestätigen«  bemüht.  Man 
gewinnt  deshalb  nicht  leicht  ein  Verhältnis  zu  ihm;  besonders  auch, 
weil  sein  ganz  persönlicher,  gedankenbeladener,  manchmal  bis  zur  Un- 
verständlichkeit  überfüUter,  aphoristischer  Stil  das  Eindringen  erschwert. 
Aber  die  außerordentlich  starke  Denkkraft,  die  antithetische  Schreibweise, 
die  formale  Meisterschaft  und  die  pathetische  Satire  dieses  Schriftstellers 
imponieren,    so  daß   das  Buch   allen    gebildeten  Lesern  empfohlen    sei. 

Neuhaldensleben.  Mannsfeld  t. 


49  — 


Glossen 
Von  Karl  Kraut 

.    Librettisten 

Der  ehrliche  Viktor  Leon  hat  mit  der  Ausbeutung  der  geistigen 
Ordinärheit  des  Zeitalters  viel  Geld  verdient.  Selbstverständlich 
können  das  andere  auch,  die  Goldgrube  ist  noch  lange  nicht 
erschöpft,  und  die  vielen  Kavaliere,  die  man  jetzt  in  den  Kaffee- 
häusern sieht  und  die  noch  vor  wenigen  Jahren  mit  verhatschten 
Stiefeln  herumgingen  und  nicht  das  hatten,  was  man  in  ihren 
Kreisen  »Brot  auf  Hosen«  nennt,  sie  verdanken  ihren  plötzlichen 
Wohlstand  dem  Entschluß,  ein  »Buch«  zu  schreiben,  also  der 
Gelegenheit,  mit  irgend  einem  Trottel  bekannt  zu  werden,  dem 
ein  Walzer  durch  den  Kopf  geht.  Und  das  ist  durchaus  in  Ordnung. 
Es  wäre  grotesk,  eine  Möglichkeit  des  sozialen  Betruges  unter- 
binden zu  wollen.  Wie  weit  das  Publikum  hier  seine  wahren 
Bedürfnisse  gedeckt  findet,  wie  weit  es  darüber  hinaus  mit  den 
sympathischen  Ausbeutern  seiner  Dummheit  fraternisiert,  ist  seine 
Sache.  Anstatt  aber  Händler  und  Kunden  mit  einander  fertig  werden 
zu  lassen,  mischt  sich  die  Kritik  hinein  und  tut  so,  als  ob  sie 
selbst  daran  glaubte,  das  Theater  sei  eine  Kirche  und  keine  Börse. 
Sic  könnte  mit  demselben  Recht  ein  Rudel  jener  Persönlichkeiten, 
die  zwischen  >Ich  gebb<  und  »Ich  nemm«,  zwischen  »So  wahr  ich 
da  leb«  und  »Der  Schlag  soll  Sie  treffen«  die  Verschiedenheit 
ihrer  Standpunkte  bekunden,  an  die  Pflichten  der  Gottähnlichkeit 
erinnern.  Nie  haben  sich  die  Familienväter,  die  sich  mit  Gesangs- 
texten fortbringen  und  infolge  der  Beliebtheit  des  Artikels  heute 
vielleicht  auch  für  die  Kinder  unberufen  ausgesorgt  haben,  nie 
haben  sie  sich  eingebildet,  daß  ihre  reelle  oder  faule,  solvente  oder 
insolvente,  immer  nur  dem  Marktbericht  verantwortliche  Tätigkeit 
irgendetwas  mit  Literatur  zu  schaffen  habe.  Nie  hat  der  ehrliche 
Viktor  Leon  vorgegeben,  mein  Kollege  zu  sein.  Er  weiß  ganz  gut, 
daß  ich  bloß  schreiben  kann,  während  er  auch  diktieren  kann.  Er 
weiß  ganz  gut,  daß  mich  mit  dem  Mann,  der  mir  die  Kleider  fertig 


50  — 


liefert,  so  daß  ich  mit  Anprobieren  nicht  Zeit  und  Gedanken 
verliere,  mit  dem  Mann,  der  mir  das  schadhafte  Telephon  repariert, 
mit  dem  Wirt,  der  mich  bei  Tisch  nicht  durch  seinen  Gruß  auf- 
hält, mit  dem  Chauffeur,  der  sich  nicht  erst  bitten  läßt,  daß  mich 
mit  all  diesen  nüchternen  Elementen  eine  viel  engere  kulturelle 
Gemeinschaft  verbindet,  als  mit  ihm,  dem  Dichter,  der  mir  höchstens 
mit  der  Versicherung  im  Ohr  liegt: 

So  eine  Depesche  ist  oft  fatal  —  o  Elektrizität ! 
Es  gibt  Zeiten,    wo  man  wünschte, 
Daß  man    dich  nicht  erfunden  hat  — 

Er  weiß  das.  Dagegen  scheint  es  Herr  Felix  Saiten  noch 
nicht  zu  wissen.  Und  darum  ist  es  notwendig,  es  ihm  zu  sagen. 
Ihm  zunächst  zu  sagen,  wie  tief  er,  ein  durch  den  Erfolg  geblen- 
deter Epigone,  unter  dem  ehrlichen  Viktor  Leon  steht,  und  daß 
die  reinliche  Scheidung  ökonomischer  und  künstlerischer  Absichten 
und  nicht  deren  Vermengung  zu  den  vornehmsten  Pflichten  jener 
Männer  gehört,  die  in  das  Leben  hinaustreten  und  den  Ruf  der 
Zimmerreinheit  erwerben  wollen.  Denn  es  ist  durchaus  in  Ordnung, 
daß  die  emporgekommenen  Agenten  in  Wohlstand  leben  und  daß 
die  Künstler  krepieren,  es  ist  durchaus  in  Ordnung,  daß  frische 
Analphabeten,  bei  denen  mit  erfreulicher  Unmittelbarkeit  auf  das 
Ghetto  gleich  das  Libretto  folgt,  sich  Häuser  bauen  und  daß  die 
Schriftsteller  den  Zins  nicht  zahlen  können.  Und  ohne  Bitterkeit 
sei  gesagt,  daß  es  wirklich  trostlos  wäre,  wenn  die  Schwindler 
und  Pfuscher  zur  Entschädigung  für  das  Jammerleben,  das 
sie  nach  dem  Tod  zu  erwarten  haben,  für  die  Qualen  der 
Vergessenheit  und  für  das  Martyrium  des  Andenkens,  Re- 
präsentanten der  Kulturschande  gewesen  zu  sein,  nicht  ein- 
mal bei  Lebzeiten  sich  satt  essen  sollten.  Daß  sie  von  den 
andern  darum  beneidet  werden,  ist  eine  alberne  Fabel.  Je  mehr 
Geld  das  Publikum  für  geistige  Genüsse  heute  übrig  hat  —  und 
das  ist  der  Stolz  der  demokratischen  Errungenschaft  — ,  umso 
sicherer  ist,  daß  alles  dem  Rudolf  Lothar  gehören  soll  und 
nicht  dem  Mann,  der  die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  schriebe. 
Das  war  so,  ist  so  und  wird  immer  mehr  so  sein,  je  mehr  die 
öffentliche  Befriedigung  plebejischer  Instinkte  als  eines  jener 
Menschenrechte  behauptet  wird,  die  noch  immer  nicht  abgeschafft 


-  51  - 

sind  Dagegen  ist  a'so,  wofern  man  nicht  gegen  den  Lauf  der  Welt 
etwas  im  Schilde  führt,  nichts  einzuwenden.  Was  aber  entschieden 
tadelnswert  ist.  das  ist  der  Versuch  der  Kunst,  sich  dem  ehrlichen 
Handwerk  aufzudrängen.  Die  Librettisten  waren  anständig  und 
vermieden  bisher  jede  Berührung  mit  der  Literatur,  die 
sie  am  Wege  sterben  ließen,  dieweil  sie  ihre  Schafe  schoren. 
Jetzt  steht  aber  die  Literatur  auf  und  sagt:  Das  können 
wir  auch,  solcher  Gemeinheit  sind  wir  auch  fähig !  Natürlich 
sagt  das  nicht  die  wahre  Literatur.  Denn  die  kann  nie 
dort  enden,  wo  ein  gutes  Libretto  anfängt.  Aber  die  falsche 
Literatur,  die  nicht  bis  dorthin  reicht,  vermißt  sich  jetzt 
eines  kulturellen  Vorwandes,  um  ein  schlechtes  Libretto  zu  schreiben. 
HerrFelixSalten,  der  heute  nicht  erst  von  der  hohen  Kunst  in  diese 
Niederung  hinabsteigen  müßte,  wenn  er  sich  den  Umweg  seit 
Jahren  erspart  hätte,  nennt  das:  >intarsieren«.  Er  hat  sich  der 
Jobberidee,  den  Erinnerungswert  schlechter  Johann  Straußischer 
Texte  durch  eine  lästige  Qegenwärtigkeit  zu  ersetzen,  zur  Verfü- 
gung gestellt  und  läßt  sich  von  den  Theaterzetteln  eines  west- 
ungarischen Bühnenhändlers  als  den  Messias  des  gesungenen 
Schwachsinns  feiern.  Er  ist  bescheiden  genug,  sich  hinter 
zwei  Pseudonymen  erraten  zu  lassen,  weil  er  die  Zeit  noch 
nicht  gekommen  sieht,  wo  es  angeht,  die  Interessen  des  S.  Fischer- 
schen  Verlags  in  Berlin  mit  denen  des  Herrn  Kopacsi-Karczag 
offen  zu  verbinden.  Ich  könnte  ihn  aus  dem  Dilemma  befreien  und 
ihm  versichern,  daß  es  geht;  ja  daß  es  höchste  Zeit  ist,  die 
Identifizierung  endlich  vorzunehmen.  Ob  die  Möbelhändler  aus 
Budapest  in  Berlin  für  Erdgeruch  oder  in  Wien  für  Pikanterie 
sind,  ist  gehupft  wie  gesprungen.  Wer  in  allen  ausgeborgten  Sätteln 
so  gerecht  ist  wie  Herr  Saiten,  muß  nicht  so  zimperlich  sein,  und 
wer  am  Nachmittag  eine  Renaissance-Novelle  —  garantiert  echt  — , 
am  Abend  über  die  Weltflucht  Tolstois  und  nachts  einen  Hofball- 
bericht schreiben  kann,  der  darf  am  Morgen  als  erfolgreicher  Librettist 
erwachen.  Wie  hoch  man  die  Leistungsfähigkeit  des  Herrn  Saiten  ein- 
schätzt, tut  dabei  nichts  zur  Sache.  Man  kann  sagen,  es  sei  vom 
sozialen  Standpunkt  höchst  anerkennenswert,  daß  es  einen  so 
tüchtigen  Menschen  gibt,  einen  Mann,  der  die  neuen  literarischen 
Werte  zu  skontrieren  und  zu  disponieren  versteht.  Man  kann  aber 
auch  sagen,   daß  solch  eine  Einrichtung,  die  den  Pöbel  über   die 


—  52 


letzten  Geheimnisse  des  künstlerischen  Schaffens  wie  über  die 
letzten  Geheimnisse  der  Familie  Wölfling  auf  dem  Laufenden 
hält,  zwar  für  eine  Zeitung  unentbehrlich,  aber  für  eine 
Kultur  störend  sei.  Man  kann  sagen,  daß  ein  Impressionismus, 
der  von  der  >schlamperten  Grazie  der  Berger-Mädeln«  bis  zu  den 
»halt  schon  ein  bisserl«  abgetragenen  Beobachtungen  über  die 
jungen  österreichischen  Herren  beim  Stelzer  reicht,  auf  einen 
Mann  namens  Wantoch  Eindruck  machen  und  etwa  auch  Herrn  Sami 
Fischer  in  Berlin  zu  dem  Glauben  verleiten  kann,  hinter  dem 
Pseudonym  Saiten  verberge  sich  einer,  der  sicher  noch  einmal  in 
der  Kapuzinergruft  liegen  werde.  Man  kann  aber  auch  sagen, 
daß  diese  preziösen  Kommis,  die  im  Altwien  von  1895 
Furore  machten,  samt  und  sonders  so  abgewirtschaftet  haben, 
daß  heute  kein  Lokalredakteur,  der  auf  sich  hält,  eine  Schmuck- 
notiz von  ihnen  nimmt.  Vielleicht  ist  es  eben  darum  notwendig, 
daß  sie  in  das  Gebiet  flüchten,  wo  man  sich  nur  etwas  dümmer 
stellen  muß,  als  man  ist,  um  einen  Sack  voll  Tantiemen  nach- 
hause zu  tragen.  Beim  Sliwinski  münden  schließlich  alle  Sehnsüchte, 
die  in  den  neunz  ger  Jahren  durch  ihre  Richtungslosigkeit  über 
ihre  Gedankenlosigkeit  getäuscht  haben.  Da  ist  zum  Beispiel  Herr 
Hugo  V.  Hofmannsthal.  Ich  will  den  Mann,  der  edlere  Kulturen 
ersessen  hat,  nicht  in  einem  Atem  mit  seinen  Freunden  nennen. 
Aber  wie  ist  auch  dieses  edle  Sitzfleisch  eingeschrumpft !  Armer 
Yorick!  Wie  hat  eine  neue  Jugend  diesem  ganzen  Ästhetenbluff 
ein  Ende  gemacht.  Wie  haben  sie  alle  von  Gnaden  eines  Niveaus 
gelebt,  das  heute  von  den  letzten  Epigonen  neuer  Persönlichkeiten 
hinuntergestampft  ist.  Man  sehe  in  jenem  Katalog,  der  noch  immer 
nicht  von  einer  Wiener  Buchhandlung,  sondern  »vom  Buchhändler 
Hugo  Heller«  verlegt  ist,  wiewohl  solche  WeimarischeTitulaturensich 
seit  vorgestern  wirklich  überlebt  haben,  etwa  Rilke  neben  Herrn  v.  Hof- 
mannsthal. Dessen  Gedicht  >Zum  Gedächtnis  eines  Schauspielers« 
—  es  scheint  nach  dem  Tode  Mitterwurzers  geschrieben  und  könnte 
von  Herrn  Reinhardt  zum  Tode  Kainz'  verwendet  worden  sein  —  liest 
sich  wie  eine  feuilletonistische  Banalität,  nicht  anders,  als  ob  Herrn 
Saiten  selbst  die  Lust  angewandelt  hätte,  die  bedeutenden  Sachen,  die  er 
zu  sagen  hat,  einmal  ausnahmsweise  zu  skandieren.  Aber  jetzt  erst 
geht  ein  ehrfurchtsvolles  Rauschen  durch  den  Blätterwald,  wenn  Herr 
v.  Hofmannsthal,    schon    ein    Alter,    einer    kleinen  Soubrette  das 


\ 


-  53  — 

Patschhändchen  drückt.  »Liebgnädiges  Fräulein!  Sie  haben  mir 
gestern  abend  so  große  Freude  gemacht  und  mich  so  gerührt, 
daß  ich  Ihnen  gerne  danken  möchte.  Ihre  Stimme  und  etwas  in 
Ihrem  Gesicht  hat  etwas  sehr  rührendes  für  mich;  auch  wenn  Sie 
etwas  Lustiges  singen... <  Die  Köchin  der  Frau  v.  Stein  hat  nicht 
zarter  geschrieben.  So  viel  Impressionabilität  und  so  viel  Fragilität 
wird  sicherlich  zum  Libretto  des  »Rosenkavalier«  getaugt  haben. 
Man  kann  auf  ein  höchst  exklusives  und  empfindsames  Geschäft 
gefaßt  sein.  Der  ehrliche  Viktor  Leon,  den  die  Natur  aus  här- 
term  Stoffe  schuf,  sieht  sich  dem  sichern  Ruin  preisgegeben,  und 
hofft  auf  den  Nachruhm. 


Auferstehung 

Die  Neue  Freie  Presse  hatte  vor  allen  anderen  Blättern 
Gelegenheit,  den  Tod  Tolstois  zu  melden.  Man  hatte  schon  ge- 
fürchtet, daß  der  Erfolg  mit  Bjömson,  dessen  Vorableben  sie 
pünktlich  gebracht  hatte,  sie  diesmal  im  Stiche  lassen  werde.  Aber 
sie  blieb  auf  der  Höhe.  Der  Vorsprung,  den  der  Feuilletonist 
hat,  wenn  der  Tod  den  Menschen  auch  noch  so  rasch  antritt,  er 
war  auch  diesmal  zu  verzeichnen.  »Leo  Nikolajewitsch  Tolstoi  ist 
nicht  mehr«  rief  es,  und  der  Herr  Zifferer  erschien  mit  Stunden- 
glas und  Hippe.  Wie  die  Alten  den  Tod  gebildet,  das  war  doch 
noch  etwas  ganz  anderes.  Nur  begreift  man  nicht,  warum  die 
Neue  Freie  Presse  die  Toten,  die  sie  einmal  hat,  nicht  liegen  läßt, 
sondern  mit  einer  gewissen  Pikiertheit  ins  Leben  zurückstößt.  Im 
Abendblatt  wird  abgesagt.  Aber  die  Auferstehung  vollzieht 
sich  in  einer  Weise,  die  einige  Bitterkeit  im  weiteren  Verkehre 
zwischen  der  Neuen  Freien  Presse  und  dem  Leben  zurückläßt. 
Man  gewinnt  fast  den  Eindruck,  als  ob  es  dem  Blatt  nicht  ungele- 
gen wäre,  die  auferstandene  Persönlichkeit  durch  peinliche  Enthül- 
lungen lebensüberdrüssig  zu  machen  oder  sonst  irgendwie  aus  dem 
Wege  zu  räumen.  Eine  gewisse  Verachtung  bresthafter  Leute,  die 
am  Leben  hängen,  macht  sich  geltend.  »Vermutlich  ist  die  Todes- 


—  54 


nachricht  durch  eine  jener  schweren  Krisen  entstanden,  welche  bei 
Lungenentzündung  in  diesem  Alter  vorkommen.  Es  wird  auch 
heute  gemeldet,  daß  die  Herztätigkeit  Tolstois  eine  schwache 
ist«.  Sie  wird  von  der  redaktionellen  Tätigkeit  gewiß  beschämt. 
Aber  sonst  entsteht  in  der  Regel  durch  eine  jener  schweren  Krisen, 
welche  bei  Lungenentzündung  in  diesem  Alter  vorkommen,  der 
Tod,  und  nicht  die  Todesnachricht.  Wenn  die  Praxis  der  Vor- 
nachrufe sich  einbürgert,  so  wird  es  dazu  kommen  müssen,  daß 
man  die  für  alle  Fälle  vorbereiteten  Hyänen  anspuckt,  noch  ehe 
sie  das  Schlachtfeld  bezogen  haben. 


Reimers  über  Kainz:  ein  Nachruf 

>  .  .  .  Anfangs  wollte  er  nie  etwas  trinken,  überredete  ich  ihn 
dann  und  hatte  er  das  erste  oder  zweite  Krügel  in  sich,  dann  erzählte 
er  ununterbrochen,  so  heiter  und  interessant,  daß  man  ihm  kaum  folgen 
konnte  .  .  .« 

Ein  strenges  Maß,  fürwahr,  aber  ein  gerechtes. 


Heine-Reliquien 

Unter  diesem  Titel  werden  jetzt  Briefe  Heines  an  seinen 
Bruder  Gustav  und  an  andere  herausgegeben.  >Diese  Publikation«, 
sagt  der  liberale  Waschzettel,  »die  in  vieler  Hinsicht  ein  ganz 
neues  Licht  auf  Heines  Leben  wirft,  wird  eine  förmliche  Umwertung 
in  der  Beurteilung  Heinrich  Heines  bewirken«.  Das  könnte  wahr 
sein.  Ähnliches  verspreche  ich  mir  von  meiner  Schrift  > Heine  und 
die  Folgen«,  die  in  diesen  Tagen  erscheinen  wird.  Aber  mit  so 
grobem  Geschütz,  wie  die  Herausgeber  der  Heine-Reliquien,  bin  ich 
gegen  Heine  doch  nicht  aufgefahren.  Die  Neue  Freie  Presse  hat  vor 
allen   anderen   Heine- Verehrerinnen    den  kostbaren    Fund    in    der 


55  - 


Hand  gehabt.  Nun,  die  völlige  Verranntheit  des  liberalen  Geistes  wird 
an  der  Tatsache  offenbar,  daß  er  mit  Heines  Briefen  prunkt,  anstatt 
dieses  Material  vor  den  geschwomen  Gegnern  Heines  sorgsam 
zu  verbergen.  Nicht  der  schmalzige  Familienton,  und  nicht  daß  er 
offensichtlich  spekulativ  ist,  müßte  diese  Briefe  den  Augen  liberaler 
Leser  unsympathisch  machen.  Auch  nicht  die  Ausschließlichkeit 
und  Sachverständigkeit,  mit  der  hier  Ober  finanzielle  Transaktionen 
gesprochen  wird.  Aber  daß  gewisse  Dinge,  die  ja  unstreitig  im 
geistigen  Bild  Heines  die  journalistischen  Züge  auffinden  lassen, 
nicht  lieber  unentdeckt  geblieben  sind,  das  sollte  die  wahren  Verehrer 
mit  Gram  erfüllen.  Welche  Lyrik!  Vielleicht  habe  ich  die  Stellen 
mißverstanden.  Aber  ich  weiß  nicht  was  soll  es  bedeuten: 

.  .  .  Dann  auch  fürchtet  der  Mann,  daß  ich  ihm  etwas  thue  vor 
dem  21sten  dieses  Monats,  wo  durch  die  geringste  Böswilligkeit  von 
meiner  Seite  alle  seine  Hoffnungen  zertrümmert  werden  könnten;  er 
möchte  sich  vor  diesem  Termin  gegen  jeden  Angriff  sicher  stellen,  u. 
er  hat  auch  ganz  Recht,  wenn  er  sagt,  daß  ich  nichts  dadurch  erlange, 
wenn  ich  ihn  ruiniere,  u.  ich  im  Gegentheil  zu  meinem  Geld  komme, 
wenn  er  stehen  bleibt  .  .  .  Hat  er  wirklich  meine  Actien  auf  das  Gut- 
haben der  Iris  in  Rechnung  gebracht,  u.  sich  solchermaßen  in  Stand 
gesetzt,  aus  den  dortigen  Geldern  mich  zu  remboursieren:  so  habe  Ich 
erreicht,  was  ich  von  Anfang  an  wollte,  u.  ich  habe  wirklich  durch 
Furcht  vor  meinen  öffentlichen  Angriffen  den  Friedländer  gezwungen, 
das  Möglichste  für  mich  zu  thun.  Du  siehst  aus  seinem  Brief,  wie  groß 
seine  Furcht  ist;  aber  Intimidation,  lieber  Bruder!  ist  eine  Waffe,  die 
sich  mit  der  Zeit  abstumpft,  u.  nur  im  Momente  benutzt  werden  kann. 
In  dieser  Beziehung  mache  ich  Dich  darauf  aufmerksam,  daß  Du,  im 
Fall  Du  vor  dem  21sten  in  Prag  selbst  sein  kannst,  die  jetzige  Stimmung 
des  Helden  benutzest,  u.  für  jeden  Fall  so  viel  schriftlich  von  ihm  zu 
bekommen  suchst,  als  möglich  ist,  um  mich  zu  sichern,  u.  es  ihm 
unmöglich  zu  machen,  meine  Sache  zu  abandonniren. 

Das  Bewußtsein  des  »Rechtes  auf  die  Leistung«  steigert 
sich  zu  ethischer  Sicherheit: 

.  .  .  Drohen  darf  ich  diesem  daher  auf  alle  mögliche  Weise,  u. 
da  weder  sein  Schwager  noch  sein  Schwiegervater  große  Sympathie 
für  ihn  haben,  u.  dieser  Friedland  auch  die  feigeste  M  .  .  .  .  Ist, 
die  je  ihre  Hosen  besudelt  hat,  so  ist  energische  Drohung  hier  an 
ihrem  Platze. 

Die  Neue  Freie  Presse  hat  hier  das  rauhe  Wort  Memme 
punktiert.  Aber  auch  gegenüber  Heine  selbst  besinnt  sie  sich 
einer   gewissen  Pflicht  der  Schonung.  So  gibt  sie  einen  der  Briefe 


56 


nur  als  Bruchstück  wieder.    Leider   beginnt   er  gerade   dort,    wo 
die  wahre  Heine-Verchrurg  ihn  unterdrücken  müßte: 

.  .  .  was  ich  doch  bestimmt  wissen  muß,  um  darnach  zu  handeln 
und  den  guten  Moment  vorbeizulassen,  wo  jener  Mensch  noch  unter 
dem  Einfluß  der  Beängstigung  ist  .  .  . 

Sagen  wir,  daß  diese  Reliquien  nichts  gegen  die  Persön- 
lichkeit Heines  beweisen.  Warum  sie  aber  für  sie  sprechen,  neue 
Verehrer  werben,  Ungläubige  bekehren  sollen,  das  wird  das 
Rätsel  einer  liberalen  Literaturforschung  bleiben,  die  auf  der  Suche 
nach  Reliquien  die  Überbleibsel  menschlicher  Fragwürdigkeit 
zusammenklaubt.  Auch  ein  Heine-Feind  wird  Heines  Brief- 
geheimnis geschützt  wissen  wollen.  Nur  das  Geschmeiß,  das 
auf  seinem  Grab  Visitkarten  ablegt,  hat  kein  Gefühl  für  die 
Schäbigkeit,  daß  dieser  >Nachlaß<  ausgekramt  wird,  den  die 
Herausgeber  > sensationell  nennen  und  der  wirklich  eine  Umwertung, 
nämlich  einen  fünfzigprozentigen  Nachlaß  der  Pietät  bewirken 
könnte.  Sensationelle  Gelegenheit! 


Der  Roman 

>Herr  Karl  Kraus  hat,  um  einen  literarischen  Angriff  auf 
seine  Person  abzuwehren,  sich  bemüssigt  gesehen,  die  Gerichte 
anzurufen.  Aber  er,  der  in  der  Figur  des  »Benjamin  Eckelhaft' 
sich  wiedererkannt  hat  und  mit  Recht  getroffen  fühlt,  tritt  nicht 
selbst  als  Kläger  auf,  sondern  hat  andere,  und  zwar  eine  Dame  und 
einen  Kranken  vorgeschoben.  Dadurch  freilich  hat  er  erst  recht 
die  Aufmerksamkeit  auf  die  Sache  gelenkt  und  dem  satirischen 
Angriff  zu   der  denkbar   größten   Verbreitung  verhelfen. «=       Ich 

(Fortsetzung  folgt.) 


Herausgeber    und    verantwortlicher    Redakteur:    Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstrafie  3. 


KARL  KRÄV^ 
DIE  CHINESI 
SCHEMAVER 


ALBERT  LANGEN,  München 

GEHEFTET  M  6.-,  IN  LEINEN  GEBUNDEN  M  7.50,  IN  HALBFRANZ  LIEBHABER- 
EINBAND M  10.-.  BESTELLUNGEN  NIMMT  DER  VERLAG  ALBERT  LANGEN, 
MÜNCHEN,    KAÜLBACHSTRASSE   91    UND  JEDE   BUCHHANDLUNG   ENTGEGEN 


OTTO  STOESSL? 

'  EGON  und  DANITZA 

ERZÄHLUNO 
Georg  Müller,  München  and  Leipzig  1911 


OTTO  SOYKA: 

DER  FREMDLING 

ROMAN 
Albert  Langen,  München  1911 


Von  den  frötilichen  und  unfröhliclien  Menschen 

Gesammelte  Essays  vou  KABL  HÄ.U£B 

VERLAG  JAHODA  &  SIEGEL,  WIEN 

WOCHENSCHRIFT  FÜR  KULTUR  UND  DIE  KÜNSTE 
HERAUSGEGEBEN  von  HERWARTH  WALDEN 

Erscheinungstag:  Donnerstag  „  „  •  t.    ^  i^  o 

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versendet  Zeitungsausschnitte  über  jedes  gewünschte  Thema.Man  verlange  Prospekte 

Herausgeber  KARL  KRAUS 
erscheint  in  zwangloser   Folge  BEZÜOSBEDINGUNOEW : 

Für  Österreich-Ungarn:  18  JS'ummern,  portofrei K  4,50 

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Für  das  deutsche  Reich:  18  „  „  Mk.4.— 

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Das  Abonnement  erttreekt  sich  nicht  aaf  einen  Zeltraaiii,  gondern  aufetBe  by timmte  AniaM  Ten  Wummef n 

Einzelheft  in  Österreich  30  Heller,    in  Deu^ch/and  30 /Pfennig 
Doppalnummer  in  Österreich  60  Heller,  in  Deiks^hland  50  Pfennig 

Ztt    beziehen     durch     sämtliche— ^uchhAndlungan 

Berliner  Barean:  Haiensee,  Kalnarbienstraße  3 

INHALT  der  vorigen  Doppelnummer' 309/310,  31.  Oktober  1910: 
KARL  KRAUS:  Kempinski  / ELSE  LASKER-SCHÜLER:  Ge- 
dichte /  SAMUEL  LUßLINSKI:  Der  Erzähler  Otto  Stoessl/ 
Selbstanzeige  /  BERTHOLD  VIERTEL:  Rilkes  Buch  / 
ALEXANDER  SOLOMONICA:  Meinem  Freundschaft  /  ALBERT 
EHRENSTEIN :  Verzeihung  /  KARL  KRAUS :  Pro  domo  et  mundo 


Herausgeber  uud  verantwortUchcr  Redakteur   Karl  Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  IH.  Hintere  ZoUamtastr.  3 


Doppelnummer 

0,0,  JH  •        31.  DEZEMBER  1910         XII.  JAHR 


OIE  FACKEL 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAUS 


RAUSt    Q\oss^ 

KORNBERGER 

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SS:    D:e  Kindheit    f    S 

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Vorlesu 

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NACHDRUCK  VERBOTEN 

PREIS  DER  DOPPELNUMMER  60  HELLER 
ERSCHEINT  IN  ZWANGLOSER  FOLGE 

VERLAG:  ,DIE  FACKEL«,  W^  BERLIN 

.^E    ZOLLAMT  SE    3  N'r.     187 

:;EAU:       HA  .      KATH.  .SSE 


DURCH  ALLE  BUCHHANDLUNGEN  ZU  BEZIEHEN: 


KARL  KRAUS 

HEINE 

UND  DIE 

FOLGEN 


ALBERT  LANGEN  MUENCHEN 

80   Pf. 


DIE  FACKEL 


Nr.  313  314  31.  DEZEMBER  1910  XILJAHR 


Glossen 
Von  Karl  Kraus 

Der  kleine  Korngold 

Wäre  mir  zu  allen  Flüchen  auch  noch  der  Sinn  für  Musik 
gegeben,  ich  würde  jetzt  einen  Eingriff  in  das  Familienleben  des 
alten  Komgold  begehen,  mit  der  Beißzange  den  Dämon  hervor- 
holen, der  diesen  Vater  zwingt,  unaufhörlich  kritische  Tellsctiüsse 
auf  das  Haupt  seines  Kindes  abzugeben,  und  nachweisen,  daß  die 
.Musikpolitik  von  allen  Strebungen,  die  sich  in  einem  Kunsigebiet 
einnisten,  von  allen  Verbindungen  zwischen  Ideal  und  Leben  die 
gemeinste  und  gefährlichste  ist.  Ich  würde  es  tun,  wenn  ich  in- 
formiert wäre.  Ich  unterlasse  es,  weil  ich  nur  überzeugt  bin.  Ich 
habe  mehr  als  die  Gewißheit,  ich  habe  eine  Ahnung,  daß  jetzt 
die  ganze  reproduzierende  Tätigkeit  der  Musikanten,  die  wil- 
liger als  die  Vertreter  aller  andern  Kunstbranchen  dem  Preßwink 
folgien,  auf  den  kleinen  Korng  Id  eingestellt  ist.  Schauspieler  können 
nidit  auf  eigene  Faust  joumalistenstücke  annehmen,  sondern  unter- 
stehen der  Preßfurcht  des  Direktors.  Ich  habe  das  unbestimmte 
Gefühl,  daß  jetzt  alle  selbständigen  Virtuosen,  alle  Trios,  Klavier- 
stimmer und  Werkelmänner,  die  sich  der  Gnade  kritischer  Beach- 
tung würdig  erhalten  wollen,  und  aller  Schall,  der  fem  meinen 
Ohren  eina  Konzertsaison  füllt,  und  alle  Walzen,  Repertoirs, 
Programme  und  Tourneen  und  alle  Telegraphenämter  und  überhaupt 
die  ganze  irdische  Schöpfung  auf  die  Eingebungen  des  kleinen 
Komgold  warten,  die  ja  auch  der  Vater  selbst  mit  sympathi- 
scher Teilnahme  begleitet.  Das  >Gott  wie  talentvoll!«,  zu 
dem  sich  sonst  in  einem  geordneten  musikalischen  Familien- 
leben die  Überraschung  des  Va.ers  versteigt,  ist  hier  zu  einem 
europäischen  Schlagwort  geworden  und  zur  Parole,  die  einander 
die  Musikkritiker  aller  Zonen  abnehmen,  so  daß  der  Vaterstolz,  der 
sich  an  den  eigenen  Waschzetteln  berauscht,  durch  jede  Erfüllung 
begehrlicher  gemacht,    sich    nicht    mehr    beruhigt,    sondern   sich 


bäumt  und  in  die  Kissen  weint,  wenn  vor  der  schöpferischen 
Tätigkeit  des  Sohnes  die  Kritik  nicht  ruft:  >Talentvoll  wie  Gott!« 
Auch  das  hat  er  schon  erreicht.  Herr  Max  Kalbeck,  jener  Kollege, 
der  an  den  Kindern  gutmacht,  was  er  den  Männern  der 
Musik  angetan  hat,  jener  Herr  aus  der  Ära  des  Wagner-  und 
Brucknerhasses,  der  noch  den  toten  Hugo  Wolf  nicht  entdeckt  hat, 
aber  sich  nicht  nachsagen  lassen  will,  er  habe  einen  neugebornen 
Korngold  verkannt,  hat  die  Gewogenheit,  den  Satz  niederzuschrei- 
ben: »,Alle,  die  ihm  zuhörten,  verwunderten  sich  seines  Verstandes 
und  seiner  Antwort',  heißt  es  von  dem  zwölfjährigen  Jesusknaben, 
Möge  auch  Erich  Wolfgang  zunehmen  an  Weisheit,  Alter  und  Gnade 
bei  Gott  und  den  Menschen!«  Die  öffentliche  Duldung  dieses  Ver- 
gleichs ist  ein  erfreulicher  Beweis,  daß  sich  der  Geschmack  in  den 
Jahrzehnten  abgehärtet  hat,  da  die  Faustschläge  des  Journalismus  auf 
ihn  niedersausen.  Aber  dieserVergleichstimmteinerseits  deshalb  nicht, 
weil  das  Publikum,  das  Jesus  gekreuzigt  hat,  im  Bösendorfer-Saal  be- 
geistert ist,  und  weil  anderseits  der  bescheidene  Weltruhm,  zu  dem  die 
Heilslehre  gebrachtwerdenkonnte,  sich  nicht  mit  dem  Aufsehen  ver- 
gleichen läßt,  das  die  Wundertaten  des  kleinen  Korngold  bewirken. 
Mindestens  haben  damals  die  Korrespondenten  nicht  von  den 
Redaktionen  telegraphische  Ordre  bekommen,  günstig  zu  referieren. 
Peinlich  ist  auch  die  Vorstellung,  welche  Rolle  in  dem  Vergleich 
der  Vater  Korngold  spielt,  und  man  muß  rein  annehmen,  daß  sie 
ihm  selber  nicht  paßt.  Ihm  ist  der  Part  des  alten  Mozart  lieber, 
und  er  hat  auch  nicht  gezögert,  diesen  in  einem  Feuilleton  zu 
übernehmen.  Schließlich,  so  gut  wie  der  Onkel  Kornau  an 
Vereinsabenden  die  Burgschauspieler  kopiert,  macht  die  übrige 
Familie  ihre  Sache  auch.  Allerdings  muß  man  sehen,  wie 
schlecht  wieder  der  junge  Mozart,  der  zwar  auch  mit  Talent, 
aber  ohne  Presse  auf  die  Welt  kam,  bei  dem  Vergleich  abschneidet, 
und  man  mag  sich  fragen,  was  aus  diesem  andern  Wolfgang  hätte 
werden  können,  wenn  sein  Vater  so  die  Hand  im  göttlichen  Spiel 
gehabt  hätte  wie  der  alte  Korngold.  Aus  allen  Positionen  hat  die- 
ser den  jungen  Pseudo- Korngold  des  achtzehnten  Jahrhunderts 
verdrängt  und  in  alle  den  wahren  Mozart  des  zwanzigsten  schon 
gebracht.  Als  im  letzten  Sommer  infolge  eines  unliebsamen  Miß- 
griffs der  andere  in  Salzburg  gefeiert  wurde,  erschien  zum  Glück 
rechtzeitig  der  Vater  mit  dem  Sohne,  im  Nu  war  die  Aufmerk- 
samkeit der  internationalen  Gesellschaft  auf  das  wahre  Weltwunder 


—  3  — 


gerichtet,  und  es  war  vie  eine  Generalprobe  jener  Musikfeste,  die 
dereinst  in  Brunn  abgehalten  werden  sollen.  Was  aber  die  Eignung  des 
kleinen  Komgold  für  die  Ovationen  betrifft,  die  seinem  Andenken 
schon  jetzt  bereitet  werden,  so  ist  wohl  zu  sagen,  daß  man  nicht  Sach- 
verständiger sein  muß,  um  sie  unberechtigt  zu  finden.  Denn  ent- 
weder verrät  der  kleine  Komgold  wirklich  Spuren  einer  gei 
Begabung,  dann  soll  man  sie  nicht  weiter  verraten,  dann  . 
ein  raffiniertes  Verbrechen,  sie  in  der  Panik  des  publizistischen 
Tumultes  umkommen  zu  lassen,  und  die  Kinderrettungsgesellschaft, 
die  sich  nicht  immer  nur  geprügelter  Nachbarskinder  anzunehmen 
brauchte,  hätte  die  Pflicht,  einzuschreiten.  Oder  der  kleine  Komgold 
ist  um  seiner  Fertigkeit  willen  ein  Schauobjekt,  dann  ist  zwar  das 
Aufsehen  berechtigt,  aber  es  hat  sich  außerhalb  der  Sphäre  abzuspie- 
len, in  der  man  Kunst  wertet.  Und  selbst  dann  müßte  die  Kinder- 
rettungsgesellschaft einschreiten,  weil  es  sich  zwar  um  einen  Erwerbs- 
zweig handelt,  der  so  unreell  ist  wie  ein  anderer,  weil  aber  auch  die 
Frühreife  noch  einer  Entwicklung  fähig  wäre,  in  der  sie  künstlich 
gehemmt  wird,  um  den  Zwecken  der  Schausteller  zu  dienen.  Wunder- 
kinder sind  immer  zugleich  Wunder  der  Zurückgebliebenheit,  und  ein 
Krüppel,  der  turnen  kann,  gibt  dn  unerquickliches  Schauspiel.  Ich 
weiß  nicht,  ob  die  Kritik  recht.hat,  die  den  feiten  Knaben  als  »Pracht- 
jungen« preist,  »dessen  mächtiges  Talent  ein  der  Natur  verwandtes 
Geheimnis  bleibt<.  Ich  weiß  nicht,  ob  es  nicht  vielmehr  ein  der 
Neuen  Freien  Presse  verwandtes  Geheimnis,  also  ein  Redaktions- 
geheimnis und  ein  Familiengeheimnis  zugleich  ist.  In  jedem  Falle 
sollte  es  das  bleiben.  VC  enn  der  kleine  Komgold  «einer  bedeuten- 
den Zukunft  entgegengeht«,  so  möge  ihm  die  Genie-Korrespondenz 
des  Vaters  den  Weg  nicht  verstellen.  Wenn  er  aber  nur  ein 
Monstrum  ist,  so  lohnt  seine  Gegenwart  den  Rummel  nicht.  Mit 
solchen  traurigen  Fällen,  wo  einer  mit  diei  Jahren  die  llias  aus- 
wendig kann,  hat  sich  die  Wissenschaft  auf  Kongressen  abzugeben 
und  nicht  die  Kritik  in  den  Journalen.  Der  Knirps,  der 
Kopfrechnungen  mit  zehnstelligen  Zahlen  ausführt,  wird  im  Variete 
gezeigt,  aber  es  hat  noch  niemand  zu  schreiben  gewagt,  ein  zweiter 
Gauß  sei  erstanden.  Kinder,  die  man  mit  kritischem  Geist  bt- 
rauscht  macht,  bleiben  im  Wachstum  zurück,  und  das  nützt  zwar 
dem  Gescliäft,  aber  schadet  der  Gesundheit  Und  vor  allem  ist  zu 
sagen,  daß  die  Wunderkinder  heute  überhaupt  zu  ihrer  organischen 
.Winderwertigkeit  noch  ihren  Geltungswert  verloren  haben.  Denn  alle 


—    4 


Kinder  dieser  hypertrophischen  Zeit  sind  Wunderkinder.  Aufgeweckte 
Jungen,  die  sieh  als  Männernach  dem  Schlaf  sehnen  werden,  um  den 
die  Zeit  sie  gebracht  hat.  Sie  sind  auf  einem  schwindelhaften  Niveau 
geboren,  auf  dem  sie  alle  imponieren,  weil  es  keine  Gipfel  gibt. 
Sie  sprechen  druckreifer  als  die  Väter  geschrieben  haben.  Sie 
schreiben  flüssiger  als  die  Väter  gedacht  haben.  Sie  musizieren 
besser  als  die  Väter  gehört  haben.  Darum  der  grenzenlose  Stolz 
der  Väter.  Sie  konnten  solche  Kinder  zeugen.  Aber  die  Kinder 
dieser  kommen  tot  zur  Welt. 


Das  Haus  auf  dem  Michaelerplatz 

In  Wien  werden  die  Kinder  gepäppelt  und  die  Männer 
gepeinigt.  Der  niedliche  Kammerdiener  der  öffentlichen  Meinung 
aber,  der  uns  öfter  mit  seinem  Besuch  beehrt  und  den  Wienern  jenen 
Honig  ums  Maul  schmiert,  der  bekanntlich  in  ihrem  Lande  fließt  und 
den  wir  bisher  für  Straßendreck  hielten,  ist  anderer  Ansicht.  Er 
steht  wie  alljährlich  unter  dem  Christbaum  des  Moriz  Benedikt 
und  versichert  in  der  typischen  Oberflächenbetrachtung  des  Prob- 
lems Wien-Berlin,  daß  die  Wiener  die  Persönlichkeiten  lieben.  Ich 
gehe  weiter,  ich  sage,  die  Wiener  sind  Persönlichkeiten,  und  es  ist 
erweislich  wahr,  daß  aus  einem  Einspänner,  wenn  man  sich  in 
der  Verzweiflung  einmal  hinreißen  ließe,  Blut  flöße,  während  ein 
Berliner  Droschkenkutscher  bloß  in  seine  Bestandteile  zerfiele. 
Tatsächlich  al)er  darbt  die  Persönlichkeit  in  dieser  holden  Fülle, 
deren  der  adrette  Gastspieler  die  Wiener  jedesmal  versichert,  f  > 
lohnt  sich  nicht,  solchen  Schlachtenbummler,  den  an  der  Ent- 
wicklung ja  doch  nur  die  Jahreszahlen  interessieren,  vor  das 
Leichenfeld  der  Persönlichkeiten  zu  führen,  in  das  sich  die  liebe 
Wiener  Erde  sofort  veru'andelt,  wenn  man  an  der  Kurbel  dreht, 
und  es  auf  die  Enttäuschung  des  Fremden  abgesehen  hat.  Der 
einzige  Fremde,  der  seit  Jahr  und  Tag  nach  Wien  kommt,  ist  ja 
eben  Herr  Maximilian  Harden,  und  der  hat  zu  viel  Geschmack 
und  zu  wenig  Phantasie,  um  sich  täuschen  und  enttäuschen  zu 
lassen.  Wien  ist  die  Stadt  jener  erweislichen  Wahrheit,  die  ein 
für  allemal  erbaut  ist,  und  den  höheren  Wert  eines  Lebens,  das 
sich  täglich  von  neuem  erschafft, 'kann  ein  Gehirn  nicht  begreifen, 
das  bloß  ausspricht,  was  ist,  aber  nicht  was  schemt.  Das  eigene  Manko 
an    Persönlichkeit   muß   solchen    Kulturästheten    —  dieser   da   ist 


—    o    — 

noch  mit  »ökonomischen  Zusammenhängen«  begabt  —  der  Wald- 
und  Wesengürtel  ersetzen.  Sie  zweifeln  nicht,  daß  in  diesem  milden 
Klima,  in  dem  man  mit  dem  Kellner  »dischkurieren«  darf,  ehe 
man  >sein«  Rindfleisch  bekommt,  die  Persönlichkeit  sichs  wohl 
sein  lassen  muß.  Sie  sehen  nicht,  wie  dieser  walzerische  und 
malerische  Volksgeist,  der  selbst  Ton  und  Farbe  der  Persönlichkeit 
hat,  den  geistigen  Menschen  durch  die  Gassen  jagt  wie  den 
narrischen  Toni.  Wien  muß  ihn  verkennen,  wie  ihn  eben  die 
Familie  verkennt,  während  er  im  Hoteibetrieb  des  Berliner  Lebens, 
in  der  glücklichen  Neutralität  der  Berliner  Straße  wenigstens 
zu  sich  selbst  kommt.  Wahrlich,  die  sich  hierzulande  gegen  die 
Kunst  verschwören,  sehen  alle  so  aus,  als  ob  sie  Persönlichkeiten 
wären.  Der  Fremde  ist  entzückt,  wie  sie  im  Rudel  beisammen- 
stehen und  den  Verkehr  hindern.  Was  tun  sie  ?  Sie  erdrücken  eine 
Persönlichkeit  Wenn  sie  entkommt,  läuft  sie  Spießruten.  Das  schäbige 
Gewitzel  der  Statisten,  das  hier  allemal  losbricht,  wenn  einer  einmal 
gehen  möchte,  man  glaubt,  der  Fremde  selbst  müßte  es  hören.  Ein 
Geher  ist  hier  Adolf  Loos  und  darum  ein  Ärgernis  den  Leuten, 
die  zwischen  Graben  und  Michaelerplatz  herumstehen.  Er  hat 
ihnen  dort  einen  Gedanken  hingebaut.  Sie  aber  fühlen  sich  nur 
vor  den  architektonischen  Stimmungen  wohl  und  haben  darum 
beschlossen,  ihm  die  unentbehrlichen  Hindemisse  in  den  Weg  zu 
legen,  von  denen  er  sie  befreien  wollte.  Die  Mittelmäßigkeit 
revoltiert  gegen  die  Zweckmäßigkeit.  Die  selbstlosen  Hüter  der 
Vergangenheit,  die  sich  lieber  unter  dem  Schutt  baufälliger  Häuser 
begraben  sehen  als  in  neuen  leben  möchten,  sind  nicht  weniger 
empört,  als  die  Kunstraaurer,  die  eine  Gelegenheit  schnackiger 
Einfälle  versäumt  sehen  und  zum  erstenmal  fühlen,  wie  sie  das 
Leben  als  tabula  rasa  anstarrt.  Das  hätten  wir  auch  können !  rufen 
sie,  nachdem  sie  sich  erholt  haben,  während  er  vor  ihren  Fassaden 
bekennen  muß,  daß  er  es  nie  vermocht  hätte.  Denn  sein  schöpfe- 
rischer Mangel  würde  vergebens  an  den  Zierraten  stümpern, 
während  sie  ihm  vielleicht  auch  den  Respekt  vor  der  Notwendig- 
keit feuilletonistisch  luxen  könnten  und  dann  soviel  zustande  brächten, 
als  ein  Gedicht  von  Heine  ergibt,  dem  man  die  Reime  ausgebrochen 
hat.  Jenem  aber  gebührt  das  Verdienst,  daß  das  Stehenbleiben  der 
Wiener  einmal  einer  Angelegenheit  des  Fortschritts  gilt,  daß  vor 
seiner  Wirkung  der  Unterschied  zwischen  der  alten  und  der  neuen 
Idettiiosigkeit  schwindet  und  die   Kostgänger  von   Tradition   und 


6    — 


Sezession  zu  einem  übersehbaren  Verkehrshindernis  verschmelzen, 
bis  die  Polizei  im  Interesse  des  Bürgerfriedens  und  weil  es  bei 
Strafe  verboten  ist,  gewisse  Flächen  nicht  zu  verschandein,  den  Ent- 
haltsamen zur  Anbringung  von  Ornamenten  zwingt.  Hier  ist  freilich 
auch  eine  Hetzarbeit  geleistet  worden,  wie  sie  selbst  in  einem  Milieu, 
dessen  feiner  Geschmack  von  einer  ordinären  Gesinnung  noch  unter- 
stützt wird,  nicht  oft  geleistet  wurde.  Schon  von  dem  Aussehen, 
das  die  Planken  boten,  haben  die  Feuilletonisten  auf  das  Werk 
geschlossen.  Was  würde  der  A.  F.  Seligmann,  der,  weil  er  seinen 
Beruf  als  Malermeister  verfehlt  hat,  kunstkritischer  Journalist  ge- 
worden ist,  ohne  aber  diesen  Beruf  getroffen  zu  haben,  was  würde 
er  dazu  sagen,  wenn  er  rückfällig  würde,  eine  Vedute  zu  malen 
anfinge  und  der  flanierende  Pöbel  riefe,  das  Bild  sei  Schund, 
es  also  beurteilte,  als  ob  es  schon  fertig  wäre?  Was  möchte 
Herr  Wittmann,  dessen  geistige  Fläche  wahrlich  des  Ornaments 
bedarf  und  der  Feuilletonist  sein  muß,  weil  sonst  in  den  öden  Fenster- 
höhlen das  Grauen  wohnen  würde,  was  möchte  er  sagen,  wenn  man 
ihm  schon  sein  angefangenes  Feuilleton  in  den  Papierkorb  wünschte? 
Es  ist  nicht  meine  Sache,  zu  untersuchen,  ob  die  Leserin  Recht 
hat,  die  ihrem  Ekel  über  die  künstlerische  Wallung  des  Herrn 
Wittmann  in  dem  Ausruf  Luft  macht:  «Was  für  bodenlos  ge- 
meine, rein  persönliche  Interessen  müssen  da  dahinter  stecken!« 
Aber  man  wird  gut  tun,  die  »viereckigen  Fenster«,  die  Herr 
Wittmann  am  Loos'schen  Haus  gesehen  hat,  fest  verschlossen  zu 
halten,  damit  die  geistige  Luft  der  Stadt  nicht  eindringe.  Nicht  daß  die, 
die  geboren  sind,  später  Recht  zu  behalten,  von  der  zeitgenössischen 
Dummheit  verkürzt  werden,  ist  beklagenswert.  Aber  die  Distanz- 
losigkeit,  mit  der  sich  hierzulande  jeder  Sonntagsplaudercr  sofort 
in  den  Hohn  findet,  während  anderswo  der  feindlichen  Per- 
sönlichkeit wenigstens  Raum  vom  Haß  gelassen  wird,  ist  das 
Wienerische  an  dem  Fall  Adolf  Leos.  Es  verstand  sich  von 
selbst,  daß  die  Leute,  die  hier  das  Wort  gegen  die  Kunst  iühren, 
sich  auf  dem  Michaelerplatz  schlecht  benehmen  würden.  An  den 
Ecksteinen  der  Entwicklung  machen  sich  die  Preßköter  zu  schaffen. 

*  * 

Gabor  Steiners  Hamburgische  Dramaturgie 

»Donnerstag  den  24.  d.  findet  im  Hofburgtheater  die  Uraufführung 
von  Artur  Schniizlers  historischer  Tragödie  »Der  junge  Medardusc  statt. 
Diese  Vorstellung    beginnt    ausnahmsweise    pünktlich    um    halb    7  Uhr 


-    7 


abends.  Ein  so  früher  Anfang  einer  Vorstellung  ist  im  Burgthea*».»-  eine 
große  Seite'  heit  und  lange  nicht  vorgekommen  Nur  für  die  erste  Auf- 
führung der  neuen  Inszenierung  des  zweiten  Teiles  von  »Faust«  wai  gleich- 
falls eine  so  zeitliche  Siunde  des  Beginnes  angesetzt.  .  .  .  Der  Theaterzettel 
wird  von  einer  ungewöhnlichen  Linge  sein.  In  der  Buchausgabe  nimmt 
das  Personenverzeichnis  drei  Oktavseiten  ein.  78  Einzelpersonen  kommen 
vor,  außerdem  eine  Menge  Volk.  .  .  .  Natürlich  wird  diese  Vorstellung 
der  Hofbühne  große  Kosten  verursachen,  die  Spielhonorare  erreichen 
eine  ung<;:wöhiiliche  Höhe,  die  Löhne  für  die  Bediensteten,  die  eine 
beträchtlich  verlängerte  Arbeitszeit  haben,  erfahren  eine  Steigerung  und 
schließlich  sind  durch  die  lange  Dauer  der  Vorstellung  auch  die  Be- 
leuchtutigskoste.'i  vermehrt  .  .  .  Als  man  in  der  Vorwoche  das  Stück 
in  viereinhalb  Stunden  durchgespielt  hatte,  war  man  darüber  sehr  froh, 
denn  man  dachte,  daß  bei  einem  möglichst  raschen  Tempo  fünf  Stunden 
nötig  seien.  —  > Der  junge  Medardus«  besteht  aus  einem  Vorspiel  und  fünf 
.Aufzügen  mit  siebzehn  Verwandlungen.  Die  Bühnenbilder  wieder- 
holen sich  öfters.  Man  wird  ein  reizvolles  Stück  des  inneren  und 
äußeren  Wien  vom  Jahre  1809  schauen.  Stilvolle  bürgerliche  Interieurs 
wechseln  mit  luxuriösen  Salons  und  einem  Damenzimmer  der  herzog- 
lichen Familie  von  Valois  ab,  in  dessen  gartenumsäumten  Palais  die 
Szene  öfter«  spielt.  Die  Handlung  wird  weiters  verlegt  in  ein  kleines 
Wirtshaus  bei  den  Donau-Auen,  vor  dem  die  Leichen  der  Ertrunkenen 
ans  Land  geschwemmt  werden,  auf  eine  Straßenkreuzung  in  der  Vor- 
stadt, auf  die  Burgbastei  und  das  Glacis,  in  den  Schloßhof  von  Schön- 
brunn,  in  eine  Gefängniszelle  und  schließlich  zweimal  auf  den  Friedhof, 
wo  Beerdigungen  vorgenommen  werden.  Im  »Jungen  Medardus« 
geht  es  stellenw^eise  sehr  laut  zu.  Gewehrgeknatter,  Kanonendonner, 
Salven  wechseln  mit  dem  Flammenschein  in  die  Luft  gesprengter  Häuser 
ab.  Elf  Personen  sterben,  die  meisten  auf  gewaltsame  Art,  ein  Liebes- 
paar geht  ins  Wasser,  ein  kleines  Mädchen  wird  durch  einen  Granat- 
splitter getroffen,  zwei  Offiziere  durch  Schüsse,  mehrere  Personen 
erleiden  kriegsrechtlich  den  Tod  durch  Pulver  und  Blei,  zwei  Akteure 
werden  im  Duell  verwundet.  Es  kommen  auch  ein  Blinder  und 
ein  Buckliger  im  Stücke  vor.  Da  es  unmöglich  schien,  diese  große 
Zahl  von  Personen  bei  der  Fülle  der  rasch  wechselnden  Szenen  zu 
übersehen,  wurden  die  Inspizienten  ihres  Dienstes  für  die  Einzeidarsteller 
enthoben  und  haben  nur  dafür  zu  sorgen,  daß  bei  den  Massenszenen 
das  »Volk<  rechtzeitig  zur  Stelle  ist.  Die  Schauspieler  werden  im 
»Jungen  Medardus«  ausnahmsweise  nicht  vom  Inspizienten  auf  die 
Bühne  gerufen  werden,  sondern  wurden  verpflichtet,  selbst,  wenn  die 
Reihe  an  sie  kommt,  auf  der  Szene  zu  erscheinen.  Mit  dem  gemütlichen 
Zeitvertreib  in  den  Garderoben  und  im  Konversationszimmer 
wird  es  darum  diesmal  nichts  sein.« 


Wie  beschäftigt  man  also  den  Direktor' 


^    8 


Ein  Kandidat 

Da  der  Posten  eines  Burgtheaterdirektors  noch  immer  unbe- 
setzt ist,  wird  die  Frage  nach  dem  Nachfolger  Schienthers  endlich 
akut.  Man  wird  gut  tun,  unter  den  Freunden  und  Inserenten  der 
Neuen  Freien  Presse  Umschau  zu  halten ;  sicher  wird  man  markante 
und  noch  nicht  abgenützte  Persönlichkeiten  finden,  die  es  mit 
dem  Burgtheater  gut  meinen.  Ich  erinnere  mich,  daß  es  da  Leute 
gibt,  die  öfter  den  Wunsch  nach  einem  »dritten  Hoftheater«, 
nämlich  einem  zweiten  Burgtheater,  geäußert  haben.  Aber  da  wir 
an  dem  ersten  genug  haben,  so  sollte  man  wenigstens  den  Eifer  der 
Interessenten  benützen.  Jeder  ist  heute  geeignet,  die  Burg- 
theaterdirektion zu  übernehmen,  aber  nicht  jeder  ist  dazu  geneigt. 
Ein  älterer  Ausschnitt  aus  der  Neuen  Freien  Presse,  der  bis  jetzt 
vergebens  darauf  gewartet  hat,  daß  er  unter  meinem  Blick  zur 
Glosse  werde,  lächelt  mir  zu: 

Herr  Philipp  PoUak  in  Firma  Koppel,  Frisch  &  Cie.,  schreibt  uns: 
>Mit  großer  Freude  habe  ich  in  Ihrer  Sonntagsnummer  den  Artikel  ,Ein 
Platz  für  das  dritte  Hoftheater'  gelesen.  Ich  erinnere  an  meine  Ein- 
sendung .Neujahrswunsch',  welche  Sie  vergangenes  Jahr  in  Ihrem 
hochgeschätzten  Blatte  veröffentlichten.  Es  könnte  also  doch  noch  möglich 
sein,  daß  die  Verwirklichung  dieser  naheliegenden  Idee  noch  bei  meinen  Leb- 
zeiten — ■  ich  bin  schon  50  Jahre  alt  —  erfolgt.  Vielleicht  interessiert  es,  wenn 
ich  mitteile,  daß  nach  dem  Erscheinen  meiner  kurzgefaßten  vorjährigen  An- 
regung, es  möge  eine  zweite  intime  kleine  Burgtheaterbühne  geschaffen 
werden,  unzählige  freudig  zustimmende  Briefe  aus  den  verschiedensten 
Kreisen  an  mich  gelangten  und  daß  ich  damals  auch  telephonisch 
geradezu  bestürmt  wurde,  hierüber  nähere  Auskunft  zu  erteilen.  Kapitals- 
kräftige Wiener  boten  sogar  ihre  finanzielle  Beteiligung  an.  Wien 
hat  —  Gottlob  —  noch  Sinn  für  die  Kunst  I  Es  ist  der  Herzenswunsch 
vieler,  die  das  (Burg-)Theater  mit  Recht  auch  als  wirksame  Bildungs- 
stätte betrachten:  Ein  drittes  Hoftheater I« 

Da  Wien  gottlob  noch  Sinn  für  die  Kunst  hat,  wird  man 
wissen,  was  man  zu  tun  hat.  Sonst  könnte  es  mit  Recht  einmal  heißen, 
daß  das  Burgtheater  nebbich  zugrundegegarfgen  ist. 

* 
Ein  flotter  Plauderer 

Der  lesbarste  Wiener  Theaterkritiker  ist  doch  der  Max 
Burckhard  im  , Fremdenblatt'.  Er  schreibt  über  eine  Darstellerin 
im  »Jungen  Medardus« : 

Mit  kluger  Zurückhaltung  wäre  sie  ja  gewiß  auch  der  Ver- 
suchung, die  man  ihr  aber  schließlich  doch  teilweise  aus  dem  Wege 
geräumt  hatte,  ganz  autgewichen,  mit  der  Komödienirene  im  Park  jene 


L 


—    9    — 


Hefterkeitsausbrüche  zu  wecken,  zu  denen  der  Dichter  hier.  Im  Buch^ 
wenigstens,  seiner  Laune  die  Zügel  schießen  lassend,  gleichsam  die  Ver- 
lockung in  die  Luft  gestreut  halte,  die  aher  freilich  den  Erfolg  des  Abends 
zu  gefährden  vermöchten,  wenn  die  Darstellerin  mehr  an  ihre  Wirkung 
in  der  einen  Szene,  als  an  den  Eindruck  des  ganzen  Stückes  dächte. 

Das  ist  ein  tüchtiger  Schriftsteller,  den  lasse  ich  mir 
nicht  verekeln.  Und  wenn  auch  die  deutsche  Sprache  Pandekten 
kotzt  und  der  Jurisprudenz  selbst  übel  wird,  solAe  Schrift- 
sätze wie  diesen  Schriftsatz  schreibt  kein  zweiter  Burgtheater- 
kritiker. Die  andern  verstehen  vom  Theater  auch  nichts,  gewiß. 
Aber  so  können  sie 's  nicht  ausdrücken. 


Noch  ein  flotterer  Plauderer 

Auch  auf  den  Maximiüin  Harden  lasse  ich  nichts  kommen. 
Wenn  er  für  die  Neue  Freie  Presse  schreibt,  so  schnallt  er  den 
Kothomos  (oder  wie  er  sagen  würde:  den  Kothurn)  ab,  gibt  dem 
gallischen  Matthäus  (er  würde  Oallimatthias  sagen»  den  Laufpaß, 
laßt  im  Zeitungdienst  am  Weihnachttag  selbst  das  s  leben,  und 
schreibt  ganz  verständliche  Sätze,  wie  diesen: 

Alle  inneren  Schwierigkeiten  Preußens  stammen  daher,  daß  dieser 
Staat  (von  Friedrich  Wilhelm,  Fritz  und  Bismarck)  den  Notwendigkeiten 
einer  festländischen  Wikingerpolitik  angepaßt,  daß  vom  droit  de  l'homme 
bis  zum  Agrarrecht  alles  der  einen  Vorsorge  untergeordnet  wurde,  die 
größtmögliche  Menge  felddienstfähiger,  schon  im  •  Zivilverhältnis«  In 
straffe  Zucht  gepferchter  Menschen  zu  sichern,  um  morgen,  wenn's 
profiüich  scheint,  Krieg  anfangen  zu  können ;  und  daß  jetzt,  nach  vierzig 
Friedensjahren,  die  zur  AntR'ort  Berufenen  scheu  an  der  Frage  vorüber- 
schleichen, ob  wir  das  Repertoirestück  •  Kulturnation«,  nur  solange  der 
Vorhang  aufgezogen  ist,  den  Gründlingen  im  Parterre  vormimen  oder 
seiner  Inhaltsethik  nachleben,  ob  wir  die  Fetzen  der  Feudalzeit  in  den 
Raritätenschrank  sperren  oder  das  Stück  Barbarentum,  das  einem  politisch 
ungesättigten  Volk  die  Möglichkeit  raschen  Vorsprunges,  über  freiere, 
also  zum  Maschinendienst  minder  brauchbare  hinaus,  läßt,  auch  unter 
schweren  Opfern  bewahren  wollen,  bis  das  Kinderland  uns  nicht  mehr 
bestritten  werden  kann  und  der  Krieg,  das  heiligbarbarische  Handwerk, 
unnötig  und  (nur  darum)  undenkbar  geworden  ist.  Hier  liegt  die  tiefste 
Wurzel  des  PreuSenproblems  und  alle  müßten  in  diese  Tiefe  wenigstens 
hinabgeblickt  haben,  ehe  .... 

Sie  müßten,  aber  sie  können  nicht,  es  schwindelt  ihnen,  sie 
sind  hineingefallen. 


10  — 


Die  Mitarbeiter 

An  Sonntagen  tun's  Exzellenzen,  zu  Weihnachten  wäre  es 
schön,  wenn  man  ein  paar  Mitglieder  des  Kaiserhauses  haben  könnte, 
dachte  Herr  Benedikt,  und  selbst  dieses  Ziel  war  seiner  Tatkraft 
nicht  unerreichbar.  Der  Artikel  hieß:  >Die  geistige  Entwicklung 
der  Menschheit<.  Ein  ziemlich  schweres  Thema.  Darunter  stand: 
»Äußerungen  des  Herrn  Erzherzogs  Rainer«.  Man  war  ein  wenig 
verblüfft,  nicht  bloß  wegen  des  hohen  Themas,  sondern  auch  wegen 
des  hohen  Verfassers.  Freilich  stand  noch  darunter  zu  lesen :  »Aus  Ge- 
sprächen Sr.  kaiserlichen  und  königlichen  Hoheit  des  Herrn  Erzherzogs 
Rainer,  Kurators  der  kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften, 
mit  dem  Pi.lsidenten  Professor  Eduard  Sueß«.  Da  nun  nicht  gut 
anzunehmen  ist,  daß  bei  diesen  Gesprächen  einer  unserer  Redakteure 
Gelegenheit  hatte,  so  bliebe  nur  die  Vermutung,  daß  der 
Professor  Suell  die  Gelegenheit,  die  er  hatte,  benützt  hat,  um  der 
Neuen  Freien  IVesse  gefällig  zu  sein.  Aber  auch  diese  Vermutung 
ist  nicht  zu  halten.  Unmöglich  kann  ein  Erzherzog  seine  Erlaubnis 
zur  Verwertung  von  Äußerungen  gegeben  haben,  die  so  inhalts- 
leer sind,  als  ob  sie  von  einem  Professor  herrührten.  Darum  hat 
die  Hypothese  am  meisten  für  sich,  daß  es  sich  um  Gedanken  des 
Professor  Sueß  handelt,  die  er  zufällig  vor  dem  Erzherzog  zu  ent- 
wickeln Gelegenheit  hatte.  Dagegen  ist  die  unmittelbare  Mitarbeit 
der  Gräfin  Lonyay,  ehemaligen  Kronprinzessin  von  Österreich- 
Ungarn,  an  der  Neuen  Freien  Presse  eine  unbestreitbare  Tatsache. 
Die  hohe  Autorin  steht  in  ihrer  Weltanschauung  zwischen  der 
Jerusalem-Kotanyi  und  der  delle  Grazie,  in  ihrem  Stil  zwischen  der 
Cloeter  und  der  Schalek;  es  kann  aber  auch  umgekehrt  sein. 
Somit  wäre  alles  in  Ordnung.  Trotzdem  bin  ich  nicht  dafür,  daß 
Hoheiten  sich  journalistisch  betätigen.  Denn  es  ist  ein  unerträg- 
licher Gedanke,  daß  man  gegen  einen  Mitarbeiter  der  Neuen  Freien 

Presse  nicht  die  Ehrfurcht  verletzen  darf. 

*  * 

* 

Aus  aller  Welt 

Eine  einzige  Zeitung  zei^t,  in  welcher  Zeit  wir  leben.  Der 
König  von  England  ist  Freimaurer  geworden,  der  Kön'g  von  Italien 
hat  Gorki  cmp  angen  und  ihm  gesagt,  daß  er  Sozialist  sei,  der  Em  r 
Non  Buchara  hält  während  der  mohammedanischen  Tastenzeit  Gelage, 
und  der  Lippowitz  behauptet,  das  alles  seien  Originalnachrichten. 


—  11  — 

Ein  Notschrei 

>Ebenso  wie  der  Verbrauch  an  Gas  und  elektrischem  Licht 
heute  laut  Zähler  berechnet  wird,  sollte  auch  der  Wasserverbrauch  auf 
Orund  eines  Messers  zur  Verrechnung  gelangen.  Es  würde  auf  diese 
Weise  auch  dem  heute  häufig  vorkommenden  Mißbrauche  in  betreff  der 
Benützung  der  Badezimmer  endlich  einmal  gesteuert  werden.  Hoch- 
achtungsvoll .  .  .  .< 

So  wünscht  ein  langjähriger  Abonnent  der  Neuen  Fr:ien 
Presse.  Es  könnte  dann  festgestellt  werden,  wie  oft  er  in  der  ganzen 
Zeit  u.  s.  w.  Nehmen  wir  an,  daß  jedesmal  nach  Ablauf  des  Abonne- 
ments der  Wassermesscr  den  Verbrauch  anzeigt,  so  würde  sich  die 
Kommune  nicht  zu  beklagen  haben.  Indes  ist  doch  ztt  hoffen,  daß 
er,  ehe  se  auf  seinen  Vorschlag  eingeht,  ein  alter  Abonnent 
werden  wird. 

• 
Der  Tonfall 
ist  a,  was  mich  schaudern  macht : 

Der  Richter  Dr.  Wfistinger  sprach  die  Angeklagte,  die  wiederholt 
wegen  unsittlichen  Lebenswandels  vorbestraft  ist,  von  der  Übertretung 
der  Sittlichkeit  frei,  verurteilte  sie  aber  wegen  versuchter  Übertretung 
des  Vagabundengesetzes  zu  acht  Tagen  strengen  Arrests. 

Diese  irre  Gerechtigkeit  geht  von  der  Voraussetzung  aus, 
daß  es  im  Menschenleben  Augenblicke  gib:,  in  denen  sich  eine 
Frau  sagt:  Unsittlich  bin  ich  nicht,  weiß  Gott,   aber   ich  versuche 

soeben  das  Va2;abundengesetz  zu  übertreten. 

*  • 

• 

Ein  Akt  der  Frivolität 

»Schutz  dem  Familienleben It  rief  das  Neue  Wiener  Journal. 
Schon  mußte  man  fürchten,  auch  dieses  ehrliche  Blatt  sei  am  Ende 
gekauft  worden  und  habe  einen  Gesinnungswechsel  vorgenommen. 
Aber  als  man  den  Artikel  las,  merkte  man  sogleich,  daß  es  sich  um  die 
Volkszählung  handle,  und  daß  die  Intimitäten  des  Hauses  nicht, 
wie  man  schon  gefürchtet  hatte,  dem  Neuen  Wiener  Journal,  sondern 
bloß  dem  Hausmeister  entzogen  werden  sollen.  Hätte  sich  aber  in- 
folge der  etvas  unvorsichtigen  Überschrift  jenes  Leitartikels  in 
einem  Leser  des  Neuen  Wiener  Journals  das  leiseste  Mißtrauen 
gegen  ein  Blatt  geregt,  das  mit  leidenschaftlicher  Ehrlich- 
keit seit  fast  zwei  Jahrzehnten  seine  Pflicht  erfüllt,  die  Öffentlichkeit 
über  die  Privatsachen  auf  dem  Laufenden  zu  halten,  so  wird  er 
gewiß  durch  die  Erinnerung  an  eine  Affäre  beruhigt  werden,  in 
der  das  Neue  Wiener  Journal  einfach  glänzend  dasteht,  nachdem 


—   12  — 

es  beinahe  ein  Opfer  seiner  Pflichterfüllung  geworden  wäre.  Man 
höre  nur:  Die  Kammersängerin  X  hat  sich  mit  dem  Professor  Y 
vermählt.  Vorher  hat  sie  sich  mit  ihm  heimlich  verlobt.  Nichts  da, 
sagte  das  Neue  Wiener  Journal,  und  veröffentlichte  die  Nachricht. 
Die  Kammersängerin  X  aber  konzertierte  eben  in  Budapest,  da  brach 
der  Korrespondent  des  Neuen  Wiener  Tagblatts,  das  sich  zurück- 
gesetzt fühlte,  bei  ihr  ein  und  fragte  sie,  ob  es  denn  wirklich 
wahr  sei.  Denn  er  wußte,  die  echten  Originalnachrichten,  die 
das  Neue  Wiener  Journal  hat,  seien  aus  dem  Privat-  und 
Familienleben  und  zumeist  falsch.  Die  Kammersängerin  X,  die 
tatsächlich  heimlich  verlobt  war,  aber  es  vorläufig  bleiben  wollte, 
bat,  die  Nachricht  zu  dementieren,  weil  sie  erfunden  sei.  Vielleicht 
tat  die  Kammersängerin  X  Unrecht  an  der  Öffentlichkeit,  aber 
mein  Gott,  man  ist  egoistisch  und  gern  um  seine  Privatangelegenhdten 
besorgt.  Nun  konnte  aber  .die  Kammersängerin  X  auf  die  Dauer 
das  Neue  Wiener  Journal  nicht  schädigen,  sie  konnte  der  heim- 
lichen Verlobung  zuliebe  nicht  auf  die  öffentliche  Heirat  verzichten, 
und  als  nun  das  Neue  Wiener  Tagblatt  in  der  Lage  war  zu  melden, 
daß  diese  bereits  Sonntag,  den  4.  Dezember,  11  Uhr  vormittags 
im  Rathause  stattfinden  werde,  wodurch  es  beweisen  wollte,  daß 
CS  noch  besser  informiert  sei  als  das  Neue  Wiener  Journal,  da 
war  dieses  nicht  länger  zu  halten  und  im  Paroxysmus  des  be- 
freiten Wahrheitssuchers,  den  Lügner  Lügen  gestraft  hatten,  rief  es: 

Ein  neues,  eklatantes  Beispiel,  mit  welcher  Frivolität  Zeitungs- 
nachrichten dementiert  werden,  zeigt  der  folgende  Fall:  .... 

Hierauf  erzählte  es  seine  ganze  Leidensgeschichte,  und  schloß: 

Wir  sind  in  der  angenehmen  Lage,  die  Richtigkeit  dieser  Nach- 
richt und  damit  vor  allem  die  am  3.  November  vom  , Neuen  Wiener 
Journal'  gebrachte  Meldung  vollinhaltlich  zu  bestätigen.  Das  zeitung- 
lesende Publikum  sieht  auch  in  diesem  Fall  wieder,  was  es  von  Dementis, 
speziell  solchen,  welche  sich  gegen  das  ,Neue  Wiener  Journal'  richten, 
zu  halten  hat. 

Tatsächlich  hat  sich  die  Kammersängerin  X  einer  gröblichen 
Diskretion  gegenüber  dem  Neuen  Wiener  Journal  schuldig  gemacht. 
Es  könnte  ja  schließlich  noch  so  weit  kommen,  daß  der  ver- 
zweifelte Zustand  eines  Schwindsüchtigen  verheimlicht  und  abge- 
leugnet wird,  weil  die  Angehörigen  von  ihm,  der  noch  immer 
Zeitungen  liest,  die  tödliche  Wahrheit  fernhalten  möchten,  und  eine 
Woche  später  stirbt  er  wirklich.  Welche  bodenlose  Frivolität  dazu 
gehört,  angesichts  des  Todes  Herrn  Lippowitz  eine  Nachricht  vor- 
enthalten zu    wollen,   dafür    hat  dieses  Privat-  und  Familienleben 


13 


nicht  das  geringste  Gefühl.  Es  ist  höchste  Zeit,  die  Presse  vor  ihm 
zu  schützen! 

Ernst  ist  das  Leben,  heiter  war  die  Operette 

Es  ist  ein  eigenes  Verhängnis,  daß  es  ausgesucht  die  seichtesten 
Leute  sein  müssen,  die  jetzt  daran  gehen,  die  Operette  zu  vertiefen. 
Ich  will  von  Herrn  Felix  Saiten  schweigen,  aber  dieser  Ferdinand 
Stollberg  liefert  Operetten  texte,  die  so  fein  jjsychologisch  sind,  daß 
man  ihm  getrost  auch  die  Renaissance  der  Renaissancenovelle  utid 
sogar  das  Burgtheaterreferat  anvertrauen  könnte.  Und  dieser 
Lehar  schreibt  eine  Musik,  daß  man  meinen  könnte,  vom  Musik- 
feldwebel zum  Psychologen  sei  nur  ein  Schritt.  Nun  würde  man 
nur  noch  wünschen,  daß  man  vom  Tantieraenerwerb  dieser  Leute 
unbelästigt  dahinlebe.  Aber  gerade  das  wollen  sie  nicht. 
Sie  bringen  Rechtfertigungen  vor,  sie  haben  eine  Doktrin  bereit, 
sie  wehren  sich  gegen  den  Vorwurf,  daß  die  Wiener  Operette  und 
zwar  eben  seit  ihrer  Vertiefung  das  Gehirn  der  Welt  in  einen 
Brei  verwandelt  habe.  Die  ,Zeit',  in  der  Herr  Saiten  die  Geschäfte 
des  Herrn  StoÜberg  in  selbstlosester  Weise  unterstützt,  hat  eine 
Rundfrage  über  die  Operette  veranstaltet.  Da  erfuhr  man,  daß  der 
alte  Lecocq,  von  dem  man  schon  geglaubt  hatte,  er  drehe 
sich  zu  den  Wiener  Walzern  im  Grabe  um,  noch  am  Let>en  sei  und 
sich  bloß  die  Nase  zuhalte.  >Ich  gestehe  Ihnen  offen«,  schreibt  er, 
»daß  mir  kein  Buch,  das  den  gefeierten  Operetten  unserer  Tage 
zugrunde  liegt,  einen  musikalischen  Einfall  gegeben  hätte.«  Sogleich 
aber  wurde  der  Schaden  durch  Herrn  Lehar  gutgemacht  Die 
Operette  sei  in  letzter  Zeit  geradezu  wütenden  Angriffen  ausge- 
setzt. >Mir  entlocken  diese  Angriffe  nur  ein  Lächeln,  denn  ich 
weiß  es,  daß,  solange  wir  Operettenkomponisten  ehrlich  und  aus- 
dauernd fleißig  arbeiten  und  solange  wir  in  der  Wahl  unserer 
Textbücher  vorsichtig  sind,  man  uns  nichts  anhaben  kann  und 
das  voru  teilslose  Publikum  auf  unserer  Seite  steht.«  Ja,  das  Publi- 
kum ist  in  der  Tat  so  vorurteilslos,  und  die  Polizei  kann  ihnen  nichts 
anhaben.  Man  wirft  der  modernen  Operette  vor,  daß  sie  im 
Gegensatz  zur  alten  humorlos  sei?  >Dabei  vergißt  man,  daß 
seither  Jahrzehnte  vergangen  sind  und  daß  sich  eben  die  Zeiten 
ändern.  Alles,  alles,  jede  Kunstgattung  strebt  nach  Vertiefung  und 
nach  Verfeinerung,  und  nur  die  Operette  soll  auf  dem  alten 
Niveau  verbleiben?   Das  wäre  kein  Beharren,  sondern  ein  Zurück- 


14 


gehen. €  Man  will  dem  Herrn  Lehar  mit  Offenbach  kommen!  Man 
verlangt  von  ihm.  daß  er  Humor  habe!  Warum  er  keinen  hat? 
Weil  ihm  der  Ernst  heilig  ist.  Er  war  einmal  bei  der  Tann- 
häuser-Parodie: >Seither  konnte  ich  auch  der  großartigsten  Auf- 
führung des  ,Tannhäuser'  nicht  beiwohnen,  ohne  daß  sich  mir 
unwillkürlich  die  Erinnerung  an  jene  Parodie  aufgedrängt  hätte. 
Nicht  mehr  konnte  ich,  wie  ich  es  sonst  getan,  mich  dem  Bann 
des  Werkes  hingeben.«  Ganz  ähnlich  ging's  mir  mit  der  »Lustigen 
Witwe«.  Auch  ich  habe  einmal  die  Tannhäuser-Parodie  gehört: 
seither  konnte  ich  mich  nicht  mehr  dem  Bann  der  »Lustigen 
Witwe«  hingeben.  »Das  soll  nun  die  Lebensaufgabe  des  modernen 
Operetten komponisten  sein?  Verzerren  und  karikieren,  und  das  Er- 
habene in  den  Staub  herabziehen?«  Nein,  und  650mal  nein,  da  schafft 
Herr  Lehar  lieber  gleich  selbst  das  Erhabene !  Die  moderne  Operette 
habe  sich  »auch  tatsächlich  musikalisch  bewährt  und  auch  sicherlich 
auf  das  Publikum  veredelnd  eingewirkt«.  Herr  Lehar  ist  auf 
Widerspruch  gefaßt.  »Diese  Worte«,  meint  er,  »klingen  vielleicht 
wie  eine  Anmaßung,  sie  sind  es  aber  wahrlich  nicht.*  Gottseidank, 
die  Zeiten  haben  sich  geändert.  »Damals  waren  eben  die  Verhält- 
nisse ganz  anders,  und  man  hat  sich  mit  geringeren  Mitteln 
zufrieden  gegeben.«  Herr  Lehar  will  damit  nicht  auf  den 
Unterschied  des  Talents  zwischen  ihm  und  Offenbach  anspielen, 
sondern  nur  sagen,  daß  der  arme  Schlucker  bloß  sechzehn 
Leute  im  Orchester  hatte.  Die  Harfe  zum  Beispiel  sei  heute  auch 
der  kleinsten  Bühne  einfach  unentbehrlich,  »da  auch  hier  das 
Publikum  ein  feineres  Ohr  besitzt«.  Den  Vorwurf,  daß  die 
Operettenkomponisten  »dem  Geschmack  des  breiten  Publikums 
entgegenkommen«,  weist  Herr  Lehar  glatt  zurück.  Er  verpflichtet 
sich,  alle  seine  Partituren  dem  ernstesten  Musiker  zur  Prüfung 
vorzulegen,  der  »nirgends  die  ernste  Durchführung  eines  musikali- 
schen Gedankens  vermissen  wird«.  Daß  aber  der  Geschmack  des 
breiten  Publikums  dem  Herrn  Lehar  entgegenkommt,  darauf  ist 
er  stolz.  Und  noch  stolzer  auf  dje  volkswirtschaftlichen  Folgen  seiner 
Tätigkeit.  Man  macht  ihm  nämlich  auch  den  Vorwurf,  daß  er  sich 
bereichere,  ein  Vorwurf,  der  ja  in  der  Tat  lächerlich  ist,  ca  man 
doch  nicht  verlangen  kann,  daß  Herr  Lehar  das  Geld  begabteren 
Musikern,  denen  der  Geschmack  des  breiten  Publikums  weniger  ent- 
gegenkommt und  die  deshalb  häufiger  kein  Nachtmahl  haben,  schenke. 
Aber  sein  Verdienst  ist  auch  der  Verdienst  von   hundert  andern. 


15 


die  durch  ihn  verdienen.  Leben  und  leben  lassen!  »Ich  habe  viele 
Dankschreiben  erhalten  von  Personen,  deren  Existenz  ich  ver- 
bessern, ja  vielleicht  sogar  begründen  half.  Dutzende  von  Danilos 
wurden  entdeckt  und  haben  seither  Karriere  gemacht....« 
Herr  Lehar  brauchte  nicht  weitere  Beispiele  aufzuzählen.  Es  war 
vorauszusehen,  daß  die  »Lustige  Witwe«  jene  Veränderungen 
auf  der  Landkarte  Europas  bewirken  mußte,  die  Bonaparte  noch 
übriggelassen  hatte.  Aber  es  ist  nicht  nett,  daß  Herr  Lehar,  anstatt 
es  bei  den  Taten  bewenden  zu  lassen,  auch  zu  Drohungen  greift: 
Mir  steht  noch  ein  reicher  Melodienschatz  zur  Ver- 
fügung, und  wenn  ich  nur  skrupellos  aus  diesem  Schatze 
schöpfen  würde,  dann  könnte  ich  quantitativ  weit  mehr 
schaffen.«  Nun,  er  beruhigt  den  Hörer  sogleich  wieder;  denn  er 
>gebe  nichts  aus  der  Hand  und  überantworte  nichts  der  Öffent- 
lichkeit, ehe  er  es  sorgfältig  geprüft  und  durchgearbeitet  habe«. 
Er  wird  also  der  Residenz  nicht  sobald  wieder  eine  Geschichte 
komponieren,  wie  man  Präsident  wird.  Aber  man  soll  ihn  nicht 
durch  die  ewigen  Angriffe  und  durch  das  fortwährende  Verlangen 
nach  Humor  reizen.  Er  läßt  sich  nun  einmal  >von  der  Anschauung 
nicht  abbringen,  daß  dem  Zuhörer  mehr  als  leichte  Ware  gebührt.  Es 
genügt  nicht,  wenn  das  Publikum  während  der  Vorstellung  durch 
billige  Mittel  in  Heiterkeit  versetzt  wird.  Man  ist  dann  während 
der  Vorstellung  in  animierter  Stimmung,  lacht,  lacht  recht  herzlich 
sogar  —  wenn  man  aber  dann  aus  dem  Theater  kommt,  dann 
fühlt  man  eine  Leere  in  sich  und  ist  bei  ruhigem  Nachsinnen 
selbst  darüber  erstaunt,  was  einem  eigentlich  gefallen  hat.«  Darum 
ist  es  viel  besser,  das  Publikum  fühlt  während  der  Vorstellung  eine 
Leere  in  sich,  speist  dann  in  animierter  Stimmung  und  lacht  im 
Kaffeehaus  bei  der  Lektüre  der  Proteste  des  Herrn  Lehar,  der  wie 
ein  Pfarrer  gegen  die  Operette  wütet,  welchem  Herr  Viktor 
Leon  ein  Erbauungsbuch  geliefert  hat.  »Nein!«,  ruft  er,  »Mögen 
auch  einzelne  über  die  sogenannte  falsche  Sentimentalität  zettem 
und  wettern:  ich  lasse  mich  nicht  davon  abbringen,  daß  das 
Publikum  auch  in  der  Operette  ein  seelisches  und  künstlerisches 
Erlebnis  haben  soll.«  Seitdem  Herr  Saiten  es  einmal  bei  der  »Lustigen 
Witwe«  gehabt  hat,  kann  sich  Herr  Lehar  von  der  Psychologie  nicht 
trennen.  Er  glaubt  an  die  Entwicklung.  Was  soll  man  da  machen? 
Dem  Publikum,  das  die  Praxis  gesund  überstanden  hat,  wird  auch  bei 
der  Theorie  nicht  übel  werden.  Herr  Lehar  hofft,  daß  die  Operette 


16 


sich  weiter,  noch  weiter  entwickeln  werde,  >und  zwar  so,  daß  es 
zwischen  Oper  und  Operette,  was  Icünstlerische  Qualität  anlangt,  keine 
Scheidewand  mehr  geben  wird.  Dann  wird  man  nicht  mehr  sagen 
dürfen:  „Das  ist , nur'  eine  Operette",  sondern:  „Diese  Operette  ist 
schlecht!"  oder  „Diese  Operette  ist  gut",  wie  es  doch  auch  schlechte 
und  gute  Opern  gibt.«  Ich  weiß  nicht,  was  dieser  Feldwebel 
eigentlich  haben  will.  Herstellt.!  Ich  für  meine  Person  bin  der 
Entwicklung  immer  vorausgeeilt.  Ich  habe  schon  bei  der  >Lustigen 
Witwe«  nicht  mehr  gesagt:  >Das  ist  ,nur'  eine  Operette.«  Sonder» 
ich  habe  schon  damals  gesagt:  Diese  tiefe  Seelenanalyse,  diese 
subtile  Schilderung  eines  dekadenten  Milieus  und  diese  exakte 
Art,  in  der  das  Problem  der  anständigen  Frau  gelöst  ist,  ich  muß 
wirklich  zugeben,  diese  Operette  ist  schlecht! 


Lilis  Park  in  Österreich*) 
Von  Ferdinand  Kürnberger 

Das  war  ja  ein  interessantes  Schauspiel  öster- 
reichischer Widersprüche,  das  wir  in  der  letzten  »Börse 
des  Lebens«  Ihnen  zum.  Besten  gegeben!  Wie  anders 
schrieb  der  Licht-  und  Schattenbildner  von  Andrassy 
und  wie  anders  ich  selbst!  Zwei  Bilder,  einander  nicht 
im  mindesten  ähnlich!  Wir  haben  unsere  Sache  fast 
allzu  gut  gemacht  und  den  österreichischen  Zentrifugal- 
geist, sonst  nur  ein  Gegenstand  unserer  Worte,  diesmal 
gleich  durch  die  Tat  und  unser  eigenes  Beispiel  be- 
kundet. 

Aber  der  Widerspruch  mildert  sich,  wenn  wir 
Folgendes  bedenken.   Der   Licht-  und  Schattenbildner 


*)  Dieser  im  Thema  leider  noch  immer  aktuelle  Aufsatz  ist  im 
Jahre  1871  in  der  Berliner  Börsen-Zeitung  (Nr.  564,  Sonntags-Beilage 
>Börse  des  Lebens«)  erschienen,  also  völlig  unbekannt.  Seit  damals 
hätten  sich  auch  für  den  Verfasser,  könnte  er  heute  noch  politische 
Gedanken  äußern,  die  Zeiten  geändert.  Es  braucht  in  der  , Fackel'  nicht 
erst  zu  diesem  Anlaß  gesagt  zu  werden,  daß  inzwischen  der  Deutsche  in 
Österreich  zwar  nicht  die  Neigung,  aber  immerhin  die  Berechtigung 
verloren  hat,  auf  den   >Böhm«  und  den   > Ungar«   hinunterzusehen. 

Anm.  d.  Herausgeb. 


—  17 


schrieb  —  wie  ein  Deutscher  von  einem  Ungarn 
schreibt.  Ich  schrieb,  wie  ein  Deutscher  von  einem 
Ungarn  schreibt  —  wenn  er  ihn  als  geschimpften 
»Mongolen«  gegen  die  Böhmen  vertritt.  Nur  der 
Standpunkt  machte  den  Unterschied  und  nur  der  Unter- 
schied machte  den  Widerspruch.  Im  Übrigen  empfinde 
und  denke  ich  wie  der  Herr  Kollege  und  jener  wahr- 
scheinlich wie  ich. 

Also  wie  denkt  und  empfindet  der  Österreicher 
Oberhaupt  gegen  seine  interessanten  Mitnationalitäten? 
Das  wäre  die  Frage! 

In  der  Tat  eine  wichtige  Frage  und  schier  der 
Schlüssel  zu  unserer  ganzen  Politik! 

Interessen-Politik!  Aber  nachdem  das  natürlichste 
und  einzigste  Interesse:  den  Osten  zu  germanisieren, 
durch  den  deutschfeindlichen  Jesuitengeist  im  spanisch 
gelenkten  Staatsruder  flöten  gegangen  ist,  ist  in  Öster- 
reich, mehr  als  man  denkt,  die  Gefühls-Politik  be- 
rechtigt. Ist  es  Interesse  oder  Gefühl,  was  die  Tiere  zu 
unsern  Hausgenossen  macht?  In  Steiermark  und  Ober- 
österreich finde  ich  den  Fuchs  an  der  Kette  liegen, 
wie  bei  uns  den  Hund,  in  Galizien  spielen  die  Kinder 
mit  zahmgemachten  Schlangen,  wie  bei  uns  mit  den 
Katzen  und  in  Polen  und  Litthauen  wird  der  gezähmte 
Bär  als  Bratenwender  in  der  Küche  angestellt.  Wer 
hat  diese  Auswahl  getroffen:  das  Interesse  oder  die 
Liebhaberei,  die  Geschmackssache,  —  das  Gefühl? 

Und  so  fragt  sich  in  Lilis  politischem  Park  der 
Österreicher:  Wie  gefallen  mir  die  verschiedenen  Tiere 
und  Tierlein  (sans  comparaison!),  mit  denen  mir  mein 
Park  so  sonderbarlich  bevölkert  ist?  Diese  Frage  ist 
in  Wahrheit  die  Seele  der  österreichischen  Politik.  Ge- 
fallen und  Nichtgefallen,  Liebe  und  Haß,  Vertrauen 
und  Mißtrauen,  Achtung  und  Nichtachtung  und  wieder 
die  verschiedenen  Grade  und  Teilgrade  dieser  Gefühle, 
die  feineren  Schattierungen,  Nuancen  und  Abstufungen 
derselben,  ihr  gemischtes  Untereinander  und  in  welchen 
Verhältnissen  gemischt,  das  ist  der  Spiritus  rector  der 
österreichischen  Politik. 


—  18 


Aber  Sie  sehen  wohl,  für  Zeitungen  ist  dieser 
Spiritus  zu  fein.  In  den  Zeitungen  Österreichs  können  Sie 
ihn  nicht  finden,  daher  bleiben  sie  auswärtigen  Lesern 
noch  unverständlicher  und  lassen  denselben  eine  größere 
Lacüne  unausgefüllt,  als  die  Zeitungen  anderer  Länder. 
Das  Witzwort,  das  Spottwort,  die  Anekdote,  die  inter- 
nationale Neckerei  der  Völker  Österreichs,  wie  sie  nur 
am  Quell  des  Volkslebens  selbst  zu  schöpfen,  dort 
aber  in  einer  Freiheit  und  Ungeniertheit,  welche  die 
Zeitungsrücksicht  auch  nicht  annäherungsweise  erreichen 
dürfte,  das  ist  die  Ergänzung  der  österreichischen 
Zeitungslektüre,  aber  eine  Ergänzung  in  einer  stärkeren 
Quote  als  sonst  wo  auf  Erden. 

Manchrnal  bedarf  es  eines  feinen  Ohrs  und  einer 
langjährigen  Übung,  um  diesen  tonangebenden  Volkston 
richtig  zu  vernehmen  und  aufzufassen;  manchmal  ist 
er  so  elementarisch  leicht  und  allgemein  verständlich, 
wie  wir  die  Henne  verstehen,  wenn  sie  ein  Ei  gelegt, 
oder  den  Hund,  wenn  er  getreten  wurde.  So  wäre  zum 
Beispiel  nichts  leichter  gewesen,  als  in  der  Hohenwart- 
Affäre  österreichische  »Fühlung«.  Läge  es  in  der  Sitte 
der  Höfe,  zu  gehen,  anstatt  zu  fahren,  so  brauchte  »der 
Hof«  als  Fußgänger  durch  die  Straßen  Wiens  nur 
irgendwo  stehen  zu  bleiben  und  zuzusehen,  wie  sich 
der  deutsche  Lehrbube  mit  dem  böhmischen  prügelt, 
welche  »öffentliche  Meinung«  er  bei  dieser  Gelegenheit 
über  den  Böhmen  äußert,  wie  der  ungarische  Lehr- 
bube herzuläuft,  zu  welcher  Partei  er  sich  schlägt,  mit 
welcher  Energie  und  unter  welchen  begleitenden 
Redensarten:  und  »der  Hof«  könnte  mit  dem  Meinungs- 
ausdruck Meiner  getreuen  Völker  vollkommen  zufrieden 
sein.  Er  brauchte  weder  den  Beust  noch  den  Andrassy, 
noch  die  Proteste  sämtlicher  deutscher  Landtage:  er 
brauchte  nichts  als  die  drei  Lehrbuben.  Sie  hätten  ihm 
für  ewige  Zeiten  gezeigt,  was  in  Österreich  möglich 
ist  und  was  unmöglich. 

Damit  stehen  wir  auch  schon  mitten  in  »Lilis 
Park«.  Denn  die  meisten  Animalien  dieses  Parks 
kommen  uns  nicht  in  Betracht :  weder  Serben,  Moriachen, 


—  19  — 


Kroaten,  Walachen,  noch  Slovenen,  Ruthenen  und  die 
ganze  Schublade  von  herabgebrannten  Völker-Licht- 
stümpfchen,  die  ihr  anonymes  Dasein  erst  seit  unserem 
eigenen  Gedenken  getauft  und  benamset,  haben  uns 
je  soviel  Aufmerksamkeit  abgewonnen,  sie  nur  auszu- 
sprechen ;  was  wir  von  unseren  Indianerstämmen  kennen 
und  nennen,  das  sind  bloß  zwei:  die  Ungarn  und  die 
Böhmen,  ich  sage,  die  Böhmen,  denn  sogar  die 
»Czechen«  sind  ein  literarisches  Abstractum,  das  der 
Volksmund  nicht  kennt.  Freilich  fallen  in  die  Böhmen 
auch  die  Deutsch-Böhmen  hinein;  aber  in  diesem  Aus- 
druck ist  der  Deutsche  so  dignitär,  daß  er  den 
Böhmen  vollkommen  aufsaugt,  ungefähr  wie  einer,  der 
unsterbliche  Kameen  schneidet,  zwar  ein  Steinschneider 
ist,  aber  mit  nichten  ein  Schneider.  »Deutschböhm« 
kann  nie  mit  »Böhm«  verwechselt  werden.  Böhm  ist 
»Czech«,  aber,  wie  gesagt,  »der  Czeche«  ist  im  Volks- 
mund garnicht  »cegu«. 

Der  Böhm  nun  hat  in  Österreich  die  schwärzeste 
Nachrede,  die  nur  je  einem  Menschenkinde  —  nicht 
zu  wünschen  ist.  Der  ganze  Sagenumlauf  bezieht  sich 
—  auf  den  D  iebssinn  und  auf  den  Sinn  heimtückischer 
Verräterei!  Das  ist  das  Charakterbild.  Alle  Anekdoten, 
alle  ohne  Ausnahme  umschreiben  dieses  Bild  allein. 
Seltsam  ist  aber  folgendes.  Wenn  sich  die  Deutschen 
schimpfen :  »Du  bist  ein  Böhm«  (denn  Böhme  ist  ein 
Schimpfwort!),  so  sagen  sie  damit  nicht:  du  bist  ein 
Dieb  oder  Verräter  —  gleichsam  als  könne  ein  Deutscher 
überhaupt  nicht  so  tief  sinken  — ,  sondern  das  Wort 
hat  dann  eine  dritte  Bedeutung,  das  Wort  will  dann 
sagen:  du  bist  ein  verstockter  und  vernagelter  Kopf, 
ein  so  eigensinniger  und  hartnäckiger  Schädel,  daß 
du  die  Begriffe  des  Wahren  nicht  nur  aus  dir  selbst 
zu  erzeugen  unfähig  bist,  sondern  du  wirst  auch  mit 
vorgefaßtem  bösen  Willen  der  erkannten  Wahr- 
heit, welche  andere  dir  deutlich  machen,  absichtlich 
widerstreben.  Ich  definiere  genau;  so  sagt  der  Vor- 
wurf der  Deutschen  gegeneinander:  du  bist  ein  Böhm. 
Wenn  eine  Mutter  über  ihren  Knaben,  ein  Lehrmeister 


—  20 


über  seinen  Lehrbuben  im  Augenblicke  der  höchsten 
Verzweiflung  den  Notschrei  ausstoßen:  »In  den  Kerl 
ist  so  wenig  was  hineinzubringen,  wie  in  einen  Böhm«, 
so  sind  sie  gänzlich  ratlos,  ihre  Geduld  ist  zu  Ende, 
sie  haben  ihn  aufgegeben.  Denn  sie  sagen  damit:  er 
hat  nicht  nur  von  Natur  aus  einen  ungelehrigen  Kopf,  er 
hat  auch  noch  Trotz  und  Dummheit  dazu.  Mit  einem 
Wort:  die  deutsche  Volksmeinung  verurteilt  intellek- 
tuell und  moralisch  den  Böhmen;  zum  Böhmen 
herabsinken  ist  die  schrecklichste  Vorstellung  eines 
geistigen  und  sittlichen  Unglücks. 

Lassen  Sie  mich   dazu   die  Anmerkung  machen, 

—  welche  auch  wieder  ein  scheinbarer  Widerspruch 
ist  —  daß  wir  deshalb  Anstelligkeit,  Rührigkeit,  Schlau- 
heit und  praktische  Geriebenheit  dem  Böhmen  nicht 
nur  nicht  absprechen,  sondern  ausdrücklich  zuerkennen. 
Wir  erkennen  sein  Talent,  die  vorhandene  Welt 
sich  nutzbar  zu  machen;  desto  inniger  aber  graut 
uns  vor  seiner  Unfähigkeit,  eine  nicht  vorhandene  Welt 
schöpferisch  ins  Dasein  zu  rufen,  ohne  nächsten  sicht- 
baren Nutzen,  aus  reiner  Selbsttätigkeit  des  Gedankens, 
was  »der  Böhm«  mit  tückischem  Hohn  verlacht  und 
worin  der  Deutsche  seine  metaphysische  und 
künstlerische  Produktivkraft,  kurz,  seine  ideale 
Natur  achtet,  genießt  und  auslebt. 

Der  Ungar  führte  den  offiziellen  Kurialtitel  »der 
dumme  Ungar«  noch  in  der  vorigen  Generation,  ja, 
er  ist  auch  heute  nicht  verklungen.  Noch  in  diesem 
Sommer  erzählte  mir  ein  gebildeter  und  liebenswürdiger 
Szekler-Ungar  auf  einem  Ausflug  in  Siebenbürgen  — 
auch  unser  Mommsen  kennt  den  gastlichen  Mann  — 
aus  seiner  Jugend,  wo  er  Unterarzt  und  des  Deutschen 
kaum  mächtig  war,  folgendes:  Was  fehlt  diesem  Mann? 
fragte  der  Oberst  des  Regiments.  —  Herr  Oberst,  es  fehlt 
ihm  die  Gesundheit.  Der  Oberst  hält  sich  für  gefoppt 
und  beleidigt,  er  wird  zornesrot,  will  losbrechen,  besinnt 
sich  aber  doch  und  fragt  den  Unterarzt,  den  er  von 
oben  bis  unten  mißt:  Was  sind  Sie  für  ein  Landsmann? 

—  Ein  dummer  Ungar,  Herr  Oberst.  —  Das  seh'  ich. 


—  21  — 


Der  Jüngling  hatte  seine  Nation  nie  anders  als 
mit  jenem  Epitheton  nennen  gehört  und  glaubte,  beides 
gehöre    zusammen  wie   »der  hauptumlockte   Achaier«. 

Der  dumme  Ungar  war  also  die  Charakterstereo- 
type unseres  ungarischen  Sagenkreises  und  ein  Modell 
der  Sagenbildung  etwa  folgendes: 

Auf  dem  Stephansplatz  bewundert  ein  Ungar  an 
einem  Schaufenster  eine  Glaskugel,  worin  sich  der 
gegenüberstehende  Stephansturm  spiegelt.  Och,  dos  is 
schön!  Dos  is  prächtig!  Will  ich  gleich  meiner  Familie 
in  Bereghssasy  kaufen,  damit  sie  auch  sieht,  wie 
Stephansturm  ausschaut! 

Zu  Hause  packt  er  die  Glaskugel  aus,  aber  die 
Familie  sieht  keinen  Sfephansturm  darin.  Bassama! 
hot  mich  der  Spitzbub,  der  Schwob,  richtig  betrogen! 
Hot  er  so  lang  umbändelt,  bis  er  mir  hot  einpackt 
schlechte  Kugel  und  gute  hot  er  beholten.  Bassama, 
Schwob !  —  Stellen  wir  diesen  Scherz  als  thematischen 
Satz  hin,  der  das  deutsche  Kulturbewußtsein  mit 
asiatischer  Barbareneinfalt  kontrastiert.  So  einfach  bleibt 
aber  der  Satz  nicht  immer.  Im  Gegenteil,  das  Thema 
wird  so  merkwürdig  variiert,  weicht  in  so  wunderliche 
Tonarten  aus,  daß  die  Einfalt  sehr  doppelsinnig  und 
vieldeutig  zu  sprechen  weiß.  Z.  B.  folgende  zwei 
Bonmots  auf  die  ungarische  Kaiserreise  im  Jahre  1857. 

Wie  kommt  es,  fragt  der  Kaiser  den  Vizegespan, 
als  er  nach  den  slovakischen  Komitaten  das  erste  echt- 
ungarische betrat;  überall  riefen  sie  Eljen!  und  hier 
auf  einmal  rufen  sie  Yivat?  —  Jo,  Majestät,  hot  mir 
genug  Müh  kost,  die  Kerle  obzurichten.  Ober  loss  ich 
sie  Schrein:  Eljen,  so  schrein  sie  gleich:  Eljen  Kossuth! 
Es  liegt  uns  holt  so  im  Maul. 

In  einem  anderen  Orte  war  der  Empfang  besonders 
herzlich-warm  und  patriarchalisch.  Leutselig  wendet 
sich  der  Kaiser  im  Kreise  der  Bauern  herum  und  sagt 
mit  gnädiger  Genugtuung:  nun  hier  ist  man  überall 
gut  gesinnt,  scheints?  —  Jo,  Majestet,  san  wir  Olle 
gut  gesinnt;  nur  Schulmaster  wor  schwarzgelbe  Hund; 
hob'n  wir  ober  totg'schlog'n.  —  Ungarisch-gutgesinnt, 


—  22  — 


hieß  eo  ipso :  Kossuthisch  gesinnt,  und  daß  der  Ober- 
herr des  Schwarzgelbtums  soeben  Kaiserlich  anwesend 
dastand,  —  nun,  das  zu  vergessen,  ist  eine  kleine 
menschliche  Schwäche,  die  dem  »dummen  Ungarn«  schon 
passieren  kann!  Sie  sehen  aber,  wie  äußerst  verwendbar 
dieser  »dumme  Ungar« !  Kaum  der  Pasquino ist  es  mehr! 
Der  »dumme  Ungar«  ist  daher  sehr  cum  grano 
salis  zu  verstehen.  Ja,  er  ist  eher  ein  Kosenamen  als 
ein  Schimpfnamen.  Wird  der  Österreicher  ein  bißchen 
böse  und  ist  es  ihm  Ernst  mit  dem  Schimpf,  so  wendet 
er  zwei  'andere  Typen  dafür  an:  »Ungarische  Wirt 
Schaft«  und  »Ungarischer  Rauber«.  Aber  auch  dieser 
Satz  hat  seine  Variationen,  die  ihn  regeln  und  fast 
auch  aufheben.  Namentlich  ge^en  das  Ende  aller  Variatio- 
nen werden  Sie  fast  immer  eine  Fermate  hören,  die  wie 

—  der  Rakoczy-Marsch  klingt!  Das  wilde,  ewig  gesetzlose 
Räubervolk  hält  uns  auf  seinen  Heiden  und  Pußten 
doch    einen   Vorrat    von    Kriegermut    aufgespeichert, 

—  ein  gar  guter  Notnagel  für  teuere  Zeiten!  Diese 
Stimmung  klingt  immer  durch. 

Und  so  war  es  doch  ein  tieferer  Naturzug,  als 
jugendlicher  Unsinn,  daß  die  »Wiener  Legionäre«, 
verwöhnte  Söhnchen  aus  guten  Häusern,  Bem's  helden- 
mütigste Soldaten  geworden  und  sich  bis  zum  letzten 
Mann  totschlagen  ließen  für  ungarische  Freiheit.  Ja, 
es  ist  eine  schlechte  Freiheit,  eine  veraltete,  aristokratische, 
exklusive,  brutale,  egoistische,  gesetzlose,  gewalttätige, 
tyrannische,  —  ja,  tausendmal  ja!  Aber  . .  . 

Und  dieses  »Aber«  hat  Andrassy  nach  Wien  ge- 
führt! Und  dieses  »Aber«  würde  Wiener  Legionäre 
immer  wieder  nach  Ungarn  führen! 

Dagegen  ist  kein  Fall  denkbar,  in  der  ganzen 
Weltgeschichte  kein  einziger  möglicher  Fall,  daß  in 
einem  österreichischen  Bürgerkriege  Deutsche  an  der 
Seite  von  Böhmen  kämpften!  Setzen  wir  den  brillantesten 
Lehrfall:  einen  Hussitenkrieg!  Der  Österreicher,  der 
nach  Napoleon  immer  um  eine  Idee  zurück  ist,  kam 
erst  in  unserem  Jahrhundert  l)eim  Voltairianer  an,  wie 
der  Franzose  im  vorigen.  Dem  echten  Österreicher  wäre 


—  23  — 

daher  nichts  so  aus  der  Seele  gesprochen,  als  eine 
solide,  gemütliche  »Pfaffenhetz«.  Und  trotzdem!  Von 
Böhmen  unternommen  —  er  bliebe  kalt  und  höchstens 
würde  er  sagen:  Das  können  wir  auch  noch,  dazu 
brauchen  wir  den  Böhm  nicht. 

Ich  habe  natürlich  —  berichtet,  nicht  geurteilt. 
Aber  wie  bitterlich  hart  der  Bericht  in  Bezug  auf  die 
deutsche  Volksmeinung  über  die  Böhmen  klingt,  so 
darf  ich  mir  hinzuzusetzen  erlauben:  Tausende  von 
Böhmen  teilen  und  unterschreiben  diese  deutsche 
Volksmeinung.  Ich  kenne  selbst  viele  Wiener  Bürger 
und  Beamten,  deren  Namen  nicht  undeutlicher  klingen 
als  z.  B.  Swoboda  und  Prohaska,  Pablazek  und  Krali- 
tschek  kurz,  echte  Native-Czechen,  die  das  verwilderte 
Treiben  ihrer  gewesenen  Landsleute  mit  dem  ganzen 
Abscheu  germanischer  Augen  ansehen;  —  denn  was 
in  meiner  Kindheit  die  Regel  war,  werde  ich  auch 
in  meinem  Alter  nicht  gänzlich  verschwinden  sehen, 
nämlich  die  traditionelle  Praxis,  welche  Altösterreich 
wie  etwas  Selbstverständliches  befolgte:  daß,  wer 
immer  in  Österreich  sich  bildet,  damit  eo  ipso  ein 
Deutscher  wird  und  zum  Deutschtum  steht. 


Tolstois  »Was  ist  Kunst?« 

Von  Karl  Bleibtreu 

Als  Tolstoi  über  Shakespeare  herfiel,  zog  er  nur 
die  letzte  Konsequenz  seines  Buches  über  die  Kunst, 
und  mit  diesem  Anathema  wiederum  nur  die  Kon- 
sequenz seines  Gefühlsanarchismus,  der  uns  zum 
Urquell  der  Einfachheit  und  Wahrheit  zurückleiten 
will.  Doch  die  Pilatusfrage  ertönt:  Was  ist  Wahrheit? 
Und  was  ist  Einfachheit?  Die  ihm  sonst  durch  Dick 
und  Dünn  folgen,  machen  hier  Halt  mit  ablehnender 
Handbewegung.  Denn  der  Kunstkultus,  ein  allerheiligster 
Fetisch,  gleicht  dem  Marienkultus,  ein  Dogma  von 
unbefleckter  Empfängnis  des  Genies,  von  abstrakter 
Unfehlbarkeit  der  Muse.  Gleichwohl  müssen  wir  Tolstoi 
wohl  oder  übel  folgen,  wenn  er  an  diesem  Idol  rüttelt. 
Nachdem  man  unsern  Schulsack   mit  allerlei  Theorien 


24 


über  das  »Schöne«  bepackte,  sehen  wir  diese  beut  in 
Reih  und  Glied  aufmarschiert  wie  Falstaffrekruten, 
schief,  hinkend,  schielend.  Unter  allen  Definitionen  von 
Schiller  bis  Spencer  und  Volkelt  erscheint  uns  nur 
eine  bedeutsam  und  einleuchtend:  Schopenhauers  Aus- 
legung der  Kunst  als  Objektivierung  des  Willens  (was 
er  freilich  nicht  so  klar  und  bündig  ausdrückt).  Hiemit 
stimmt  überein,  daß  Vischer  wahre  Kunst  als  Ausdruck 
einer  Individualität  auffaßt.  In  so  weitgespanntem 
Rahmen  findet  natürlich  die  Phrase  vom  Wahren, 
Guten  und  Schönen  keinerlei  Unterkunft,  da  besonders 
das  Schöne  stets  nur  subjektiver  Wertung  unterliegt 
und  der  Objektivierung  widerspricht.  Als  bloße  Nach- 
ahmung der  Wirklichkeit  würde  andrerseits  die  Kunst 
nicht  dem  Zweck  genügen,  den  unser  Genießen  bei  ihr 
sucht,  nämlich  eine  höhere  Vorstellung  der  Welt  in  sie 
hineinzutragen.  »Vergnügen«  zu  erregen,  liegt  ihr  an 
und  für  sich  fern,  da  sie  sich  Selbstzweck  sein  muß 
und  das  Trostlose  mit  tragischem  Ernst  vorführen 
darf.  Spöttisch  bemerkt  Tolstoi  hierzu,  daß  Essen, 
Trinken  und  Erotik  dann  auch  schöne  Künste  sein 
müßten,  da  sie  »Vergnügen«  bereiten.  Er  schließt  sich 
nun  offenbar  der  alten  Philisterästhetik  an,  die  eine 
»Moral«  verlangte.  Aber  wenn  man  diesen  Begriff  nicht 
plump  äußerlich  faßt,  im  Sinne  der  berüchtigten 
poetischen  Gerechtigkeit,  so  liegt  auf  der  Hand,  daß 
der  objektivierende  Wille,  indem  er  aus  dem  be- 
schränkten Ich  heraustritt  und  unpersönlichen  Ausblick 
ins  All  erstrebt,  d.  h.  von  der  täglichen  Bühne  abtritt 
und  das  Schauspiel  von  außen  betrachtet,  unwillkürlich 
subjektiv  einen  tieferen  Sinn  hineinzaubert.  Schließt 
z.  B.  der  Pessimismus  jede  Versöhnung  aus  und  ver- 
ficht, daß  es  keine  immanente  Gerechtigkeit  gibt,  so 
ist  das  eben  seine  Moral.  Wohl  aber  trifft  zu,  was 
Tolstois  Moralverlangen  aus  dem  Felde  schlägt:  je 
objektivierter  der  Wille,  desto  weniger  verzerrt  er  das 
reproduzierte  Lebensbild  mit  vorgefaßtem  Moralisieren. 
Denn  die  Moral  der  Vorgänge  liegt  in  ihnen  selbst, 
in  der  inneren  Notwendigkeit  der  Kausalität.     So  ent- 


faltet  der  von  Tolstoi  geschmähte  Shakespeare  die 
Nemesis  mit  strenger  Folgerichtigkeit  ganz  unwillkürlich 
aus  den  Leidenschaften.  Nun  befriedigt  die  von  uqs 
gebotene  Definition  noch  nicht,  sie  erklärt  nur  den 
Kunsttrieb  selber,  doch  aus  Objektivierung  kann  wohl 
Kunst  als  Nachahmung  der  Wirklichkeit  entstehen, 
nicht  Höhendichtung.  Alles  Vergängliche  ist  nur  ein 
Gleichnis  und  es  verlohnte  der  Mühe  nicht,  ein  bloßes 
Spiegelbild  des  Lebens  zu  bieten,  das  uns  ja  oft 
kränkt  und  verwundet.  Deshalb  suchen  wir  im  Ob- 
jektivieren der  Kunst  gerade  im  Gegensatz  zu 
unserer  subjektiven  Lebensenge  eine  höhere  Ein- 
heit, ein  reicheres  Schauen,  einen  klareren  Standpunkt 
der  Betrachtung.  Darum  soll  die  Kunst  eine  Auslese 
halten  und  nur  das  Bedeutungsvolle  herausschälen. 

Tolstoi  aber  macht  sich  die  Sache  bequem,  indem 
er  Kunst  nur  als  Mittel  der  Mitteilung  von  Gedanken  und 
Anschauungen  auffaßt,  was  ja  ebensogut  auf  jede 
Volksrede  und  jeden  Zeitungsartikel  passen  würde. 
Wichtig  scheint  hierbei  nur  die  Logik,  daß  es  auf  das 
Was,  nämlich  die  Gedanken,  nicht  auf  das  Wie  an- 
kommt, also  nur  der  Inhalt  und  nie  die  Form  be- 
deutungsvoll sein  kann.  Richtig  finden  wir  dies  bis  zu 
einem  gewissen  Grade,  doch  Tolstois  Beispiele  für 
bedeutende  Literatur  machen  stutzig.  Mit  Cervantes 
und  Dostojewski  wirft  er  nicht  nur  Moliere  und 
Dickens,  sondern  auch  V.  Hugo  zusammen,  für  ihn 
sind  »Adam  Bede«  der  Eliot  und  gar  die  öde  Tendenz- 
fibel »Onkel  Toms  Hütte«  so  bedeutsam  wie  Don 
Quichote,  Homer  und  die  Bibel  viel  echtere  Dichtung 
als  Shakespeare  und  Goethe.  Da  für  ihn  nur  die 
demokratische  oder  religiöse  Nützlichkeit  entscheidet, 
will  er  das  niedere  Volk  als  Richter  einsetzen.  Das 
verrät  eine  sozusagen  barbarische  Ideologie.  Daß  der 
Muschik  nicht  begreife,  weshalb  man  einem  Puschkin 
eine  Statue  errichte,  der  doch  bloß  Verse  schrieb, 
hätte  Tolstoi  besser  nicht  anführen  sollen.  Daß  nur 
ein  Perzent  der  Nation  —  soll  wohl  heißen:  der 
russischen  —  unsere  Literatur  verstände,  beweist  nichts 


26 


dawider.  Denn  weil  nur  wenige  Champagner  trinken, 
darum  wird  er  doch  nicht  sauer!  Auch  fällt  der 
Spott,  zwei  Drittel  der  Menschheit  in  Asien  und  Afrika 
wtißten  nichts  von  unserer  Kunst,  auf  ihn  selbst  zurück. 
Denn  die  Aschanti  und  Kaffern  kann  sie  entbehren, 
umgekehrt  aber  hat  Asiens  Kunst  bei  uns  stets  Will- 
kommen gefunden  und  der  gebildete  Inder  oder  Japaner 
schätzt  Shakespeare  oder  Goethe:  also  müssen  Kunst- 
trieb und  Kunstbegriff  etwas  durchaus  Gemeinsames 
haben.  Er  täuscht  sich  ferner  über  das  unverfälschte 
Empfinden  des  Volkes,  das  zwar  die  ganze  Luxuskunst 
verwerfe,  aber  »Homer,  die  Bibel,  die  Reden  Buddhas 
und  die  Vedahymnen«  begeistert  verstehe.  Das 
Nibelungenlied  kennt  beiläufig  der  ganz  französisch 
gebildete  Tolstoi  nicht.  Lese  er  doch  seinen  Bauern 
dies  (der  zu  kunstmäßige  Homer  scheidet  ganz  aus) 
oder  die  Veden  vor,  ob  sie  nicht  jede  Kirmeßdudelei 
vorziehen!  In  der  Bibel  sucht  der  Ungebildete  nichts 
weniger  als  künstlerische  Erholung,  ihn  fesselt  am 
»Gotteswort«  nur  sein  »religiöser«  Egoismus.  Das 
Einfach-Erhabene  wird  künstlerisch  nur  dem  Höchst- 
gebildeten verständlich.  Die  ganze  Schlußfolgerung 
Tolstois  stellt  sich  daher  auf  den  Kopf:  gerade  was 
er  für  die  alleinwahre  Kunst  hält  und  wozu  logisch 
auch  Äschylos,  Shakespeare,  Goethe,  Byron  in  ihren 
reifsten  Erzeugnissen  gehören,  mag  seine  absichtliche 
Verblendung  sich  auch  dagegen  wehren,  wirkt  am 
wenigsten  auf  den  großen  Haufen.  Wenn  Tolstoi  sich 
über  die  französische  Dekadentenpoesie,  über  Haupt- 
mann und  Ibsen  lustig  macht,  so  will  er  nur  das 
l'art  pour  l'art  ins  Herz  treffen  und  da  folgen  wir  ihm 
gerne,  obschon  er  auch  hier  sehr  Verschiedenartiges 
ungerecht  in  einen  Topf  wirft.  Den  Inhaltsbankerott 
unter  formellen  Mätzchen  zu  verstecken,  vor  dem 
sinnlos  abstrakten  »Schönen«  einen  Weihrauchduft 
zerflossener  Stimmungssymbolistik  hinzuschmachten,  in 
ideenloser  Nachahmung  des  Alltags  eine  falsche 
Objektivierung  zu  suchen  —  sintemal  nur  die  Idee 
objektiviert  und  bloßes  lüsternes  Anschauen  der  Wirk- 


27  — 


lichkeit  stets  unwillkürlich  subjektive  Bezüge  auslöst — , 
dies  mag  ja  Tolstoi  als  Afterkunst  verachten.  Nur 
verwirrt  seine  ideologische  Volksliebe,  die  an  Rousseau 
erinnert,  auch  hier  wieder  die  Argumentierung.  Die 
drei  Faktoren  der  modernen  Literatur  »Ehre,  Patrio- 
tismus, Sinnlichkeit«  seien  dem  Volke  ein  Nichts?  Was 
der  Salonmensch  Ehre  nennt,  nimmt  beim  messer- 
stechenden betrunkenen  Muschik  nur  andere  Formen 
an,  Chauvinismus  als  Produkt  der  Unbildung  lebt 
nirgends  stärker  als  im  Volke,  übrigens  wendet  sich 
die  Kunst  nur  selten  an  diese  Instinkte,  denn 
Tolstoi  meint  ja  selber,  die  Sinnlichkeit  (Sexualliebe) 
sei  das  Hauptmotiv  aller  Kunstwerke  geworden.  Er 
wird  aber  wohl  schwerlich  behaupten,  dies  stehe  dem 
Volke  fern,  da  doch  so  gut  wie  alle  Volkslieder  dem 
gleichen  Motiv  fröhnen.  Mit  naivem  Selbstwiderspruch 
nennt  er  an  anderer  Stelle  selber  die  Geschlechtsliebe 
»das  niedrigste  und  deshalb  allen  Menschen  und 
Tieren  zugänglichste  Gefühl«.  Dann  wäre  also  die 
Kunst  laut  seiner  Verständlichkeitsdoktrin  auf  dem 
rechten  Wege  und  verdient  tatsächlich  nicht  den  Vor- 
wurf der  Exklusivität.  Sehr  wahr  betont  aber  Tolstoi,  daß 
die  Arbeit  die  reichste  Stoffauswahl  liefere.  Wohlge- 
merkt, nicht  nur  die  von  ihm  allein  gelobte  und  ge- 
liebte Handarbeit,  sondern  auch  die  aller  höheren 
Berufsstände.  Auch  gibt  es  politische,  religiöse  und 
gar  Rassenkonflikte,  was  alles  in  der  Kunst  meist 
brach  liegt,  die  sich  also  fälschlich  brüstet,  ein  ver- 
klärtes Lebensabbild  zu  bieten.  Daher  die  Eintönigkeit 
dieser  endlosen  Warenballen  von  Erotik,  wobei  selbst 
hier  die  Abhängigkeit  upd  Unaufrichtigkeit  der  Berufs- 
autoren, die  möglichst  gut  von  ihrem  Gehirnschweiß 
leben  wollen,  alles  wirklich  Bedeutsame  und  Neue 
über  Liebeszuchtwahl  ungeschrieben  läßt.  Die  Mache 
des  Kunststrebertums  kennt  keine  Zwecke  mehr,  nur 
Mittel  (Form).  »Die  äußere  Arbeit  der  Afterkunst  ist 
so  oft  sorgfältiger  als  die  der  wahren  und  erstere 
wirbt  scheinbar  stärker.«  Diese  goldenen  Worte  Tolstois 
prägen  das  aus,  was  er  eigentlich  suchen  wollte. 


—  28  — 

Dazu  bedurfte  es  nicht  optimistischer  Volksver- 
götterung, die  seine  Logik  trübte.  Nur  seine  Beweis- 
führung zerflattert  vor  näherer  Prüfung,  nicht  die 
tiefere  Wahrheit  seines  Erkennens.  So  seltsam  es 
anmutet,  einen  solchen  Könner  sich  im  Einzelnen  so 
kunstfremd  äußern  zu  hören,  wie  die  aus  verwandten 
Gesichtspunkten  die  Literatur  durchhechelnden  Carlyle 
und  Eugen  Düring,  hat  er  auch  hier  nur  durch 
fanatischradikale  Maßlosigkeit,  geradeso  wie  auf  anderen 
Gebieten,  die  Geradheit  und  Richtigkeit  seines  Wollens  ge- 
schädigt. Und  doch  wäre  heilsam,  wenn  jeder  Gebildete  — 
nicht  das  von  ihm  fälschlich  angerufene  Volk  —  nachdenk- 
lich Tolstois  Kunstauffassung  sich  zu  eigen  machte. 

Der  Sturm  und  die  Mutter 
Von  Otto  Stoessl 

Wiegt  die  Frau  ihr  Kind, 

Weht  im  Laub  der  Wind: 

»Vom  Ursprung  spring'  ich, 

Wo  das  Knäblein  schlief. 

Das  dein  Schoß  errief, 

Schicksal  bring  ich: 

Soll  er  sich  mit  seinem  Futter  begnügen 

Lebenlang  in  Windeln  liegen. 

Keinmal  nach  Gottes  Wunder  schrein, 

Sondern  zufrieden  sein 

Und  ohne  Leiden 

Auf  dieser  Erde  brav 

Weiden, 

In'  Himmel  eingehn,  ein  ehrbar  Schaf? 

Oder  soll  ich  den  Knaben 

Mit  Sturm  begaben, 

Mit  Lüsten  und  Lasten  und  Wanderfüßen, 

An  alle  Weltweiten  mit  Bettelgrüßen, 

Soll  ich  dir  ihn  mit  Dornen  gürten. 

Mit  Qualen  segnen 

Zum  Hirten, 

Soll  ich  deinen  Buben  mit  Regen  taufei?, 

Daß  er  durch  salzige  Not  mag  laufen, 

Dem  Herrn  begegnen?« 


29  - 


»Ich  will  keinen  Wurm, 
Gib  Sturm  ihm,  Sturm, 
Laß  ihn  tragen  und  fragen, 
Sich  freuen  und  sehnen, 
Und  laß  meinen  Knaben 
Ein  Leben  haben 
Und  seine  Tränen.« 
Rauscht:  »Ja«,  der  Wind, 
»So  wird  dein  Kind« 
Und  im  Weiterwehn: 
»Dir  werden  die  Augen  übergehn.« 
Die  Mutter  nickt:  »Seis  drum, 
Ists  doch  wohlgetan«. 

Im  Garten  schlägt  ein  Vogel  an, 
Der  Vogel  Weißnichtwarum. 


Die  Kindheit 

Von  Ernst  Blass 
Die  Knaben: 

Wir  sahn  im  Traume,  wie  ein  fiebrig  Sterben 
Da  war  und  unser  Glück  nervös  befaßte. 
Wir  sahn  im  Traume  unsre  Mutter  sterben. 
Die  Lampe  kam;  der  Tag  schlug  auf  die  Taste. 
Wir  stiegen  aus  dem  Bette,  weinend,  dumm. 
Nun  ist  es  Tag,  wir  gehen  in  die  Schule, 
Wir  spielen  Jagd;  auf  zu  Indianerfabeln! 

Die  Mädchen: 

In  unsern  Köpfen  hüpfen  blank  Vokabeln, 
Und  vor  Vokabeln  hüpfen  unsre  Köpfe. 
Es  fallen  auf  die  Mappen  unsre  Zöpfe. 

Die  Knaben: 

Wir  sind  ja  dumm  vor  Leben. 

Wir  sind  klein. 

In  unsern  Nächten  brechen  Mörder  ein. 

Und  unser  Morgen  kennt  dies  dumpfe  Beben 

Von  Unentrinnbarkeit  und  Lampenschein. 


—  30  — 


Selbstanzeige 

Die  , Fackel'  (Sonntagsblatt  der  ,Chicagoer  Arbeiterzeitung', 
6.  Nov.)  brachte  den  folgenden  Artikel: 

.  .  .  Diese  roten  Hefte  wirbelten  im  ersten  Jahr  ihres  Erscheinens 
in  Wien  keinen  geringen  Staub  auf;  man  riß  sich  förmlich  darum.  Leser 
der  .Fackel'  zu  sein  gehörte  damals  in  bürgerlichen  Kreisen  Wiens  zum 
guten  Ton.  Der  ungefähr  26  jährige  Karl  Kraus  führte  aber  auch  schon  in 
den  ersten  Heften  seiner  .Fackel'  eine  Sprache,  wie  sie  gleich  geistvoll 
in  Deutschland  von  einem  Publizisten  schon  lange  nicht  mehr  vernommen 
worden  war.  Nicht  was  er  bringe,  was  er  umbringe,  darauf  komme  es 
an,  erklärte  Kraus  in  seiner  Einführungsnummer.  Aber  da  er  zu  viel 
umbringen  wollte,  so  brachte  er  zunächst  sich  selber  um.  Das  heißt, 
sein  Blatt  fand  Abnehmer,  doch  ihn  ignorierte  die  Presse;  fortan  war 
Kraus  unter  den  Deutschen  der  am  meisten  totgeschwiegene  Schriftsteller. 
Selbst  die  sozialistische  Presse  nahm  teil  an  dieser  wie  auf  Verabredung 
geübten  Totschweigetaklik  gegen  Kraus.  Weil  Kraus  keiner  bestimmten 
Richtung  sich  anschloß,  hatte  er  sie  alle  gegen  sich.  Es  steckte  eine 
gute  Portion  >  Partei  Verblödung«,  über  die  Kraus  so  oft  sich  lustig 
gemacht  hat  und  viel  krämerhafte  Engherzigkeit  in  diesem  stillen  Kampfe, 
den  die  Zeitungen  gegen  ihn  führten. 

Ein  volles  Jahrzehnt  hat  diese  allgemeine  Totschweigetaktik  der 
deutschen  Presse  gegen  Kraus  gedauert;  nun  hat  er  sich  durchgesetzt. 
Heute  ist  man  gezwungen.  Notiz  zu  nehmen  von  ihm;  nur  die  Wiener 
Blätter  bleiben  noch  standhaft,  für  sie  existiert  Kraus  auch  jetzt  noch  nicht. 
Das  ist  kleinlich  gehandelt.  Was  immer  man  als  Parteimann  gegen  Kraus 
auch  einzuwenden  haben  mag  —  und  der  Einschränkungen  sind  mancherlei 
zu  machen  — ,  seinem  Kampfe  gegen  >den  Schwindelgeist,  der  es  auf 
die  Taschen  so  gut  wie  auf  die  Gehirne  abgesehen  hat«,  muß  man  An- 
erkennung zollen.  Kraus  stürzte  alte  Vorurteile  und  zerzaust  satirisch 
unbarmherzig  alle  ehrwürdigen  Puderperücken,  daß  es  nur  so  staubt. 
Das  ist  gewiß  eine  notwendige  Kulturarbeit,  wenn  sie  auch  nicht  gerade 
im  Rahmen  einer  geaichten  Parteirichtung  geleistet  wird.  Wie  ein  frischer 
Luftzug  oder  ein  gesundes  Lachen,  wirken  die  in  dem  vorliegenden 
Buche  gesammelten  Aufsätze  von  Kraus.  Unübertrefflich  ist  seine  Ver- 
höhnung der  Moralprozeduren  des  Staates  und  der  bürgerlichen  Justiz 
im  Allgemeinen.  Den  amerikanischen  Leser  wird  besonders  fesseln, 
was  Kraus  über  die  Ermordung  der  Tochter  des  Generals  Sigel  durch 
einen  Chinesen  in  New  York  und  im  Zusammenhange  damit  über 
Prostitution,  Mädchenhändel  und  die  »gelbe  Gefahr<  und  in  einem 
anderen  Aufsatze  über  die  Entdeckung  des  Nordpols  sagt.  Doch  auch 
von  den  übrigen  Aufsätzen  wird  der  Leser  keinen  überschlagen,  wenn 
er  erst  einen  davon  kennen  gelernt  hat.  Das  sind  keine  Essays  mehr, 
das  sind  Geschiebe  von  Aphorismen.  Gedankenkristalldrusen.  Beim 
Lesen  hat  man  das  Gefühl,  durch  eine  unwiderstehliche  Kette,  aber 
nicht  von  Schlüssen,  sondern  von  Kurzschlüssen  gezogen  zu  werden. 
Die  Grundstimmung  aller  dieser  Abhandlungen  ist  hellklirrend,  knisternd 
und  knatternd,  heiß  und  liebenswürdig  und  schalkhaft.  Deutschland  hat 
an  diesem  Schriftsteller  wieder  einen  Satiriker  großen  Stils. 


—  31  — 


Über  das  letzte  Heft  der  .Fackel'  schrieb  die  .Orazer 
Tigespost'  (13.  Dezember): 

.  .  .  eine  Studie  von  Karl  Kraus  über  den  Hofburgtheaterdirektor 
Beiger  (Der  Freiherr),  die  alle  Vorzüge  der  glänzenden  Stilkunst  und  der 
feinen  Krausschen  Satire  aufweist.  Wenn  man  auch  nicht  mit  der  Stellung 
einverstanden  ist,  die  Kraus  gegen  einen  Mann  wie  Harden  einnimmt  — 
jeder  falls  ein  Mann  von  Eigenart  — ,  so  müssen  wir  doch  sagen,  wir 
kennen  kein  so  fein  geschriebenes  deutsches  Blatt  wie  die  Fackel.  Ihr 
Erfolg  beruht  auch  zum  großen  Teil  darin,  so  weit  ihr  Erfolg  reicht  —  der 
Wien  leißt.  Denn  nur  in  der  Großstadt  finden  sich  genug  Genießer  und 
Freund«  auch  der  nobeln  Satire;  und  anderseits  schlösse  der  groß- 
städtisd«  Kulturboden  den  Erfolg  einer  plumpen  Heugabel-Satire  aus. 
Trotzden.  Kraus  die  Presse  bekämpft,  hat  er  ihr  nicht  geschadet,  und 
trotzdem  die  Presse  sich  durch  Totschweigen  gerächt  hat,  hat  sie  ihn 
nicht  umgebracht.  —  Sehr  lesenswert  sind  in  dem  Hefte  überdies  die 
Gedichte  dfs  Wieners  Hugo  Wolf  und  die  Glosse  über  die  Librettisten. 

In  der  , Gegen  wart'  (Berlin,  10.  und  17.  Dezember),  die 
eine  Enquete  über  die  hervorragyidsten  Erscheinungen  des  deut- 
schen Buchhaidels  1910  veranstaltet  hat,  standen  die  folgenden 
Äußerungen  über  die  »Chinesische  Mauer«: 

Als  die  testen  Bücher  eines  Jahres  möchten  nur  diejenigen 
mit  Recht  bezeichnet  werden,  welche  die  besten  vieler  Jahre  zu  bleiben 
versprechen.  Das  'Jrteil  hierüber  muß  freilich  willkürlich  erscheinen  und 
seine  Bestätigung  von  der  ungewissen  Zukunft  erwarten,  die  auch  den 
Werken  gegenüber  nicht  immer  gerecht  ist.  Was  aber  manche  Jahre 
bereits  in  der  Vergangenheit  als  Ideal  und  bedeutend  gewirkt,  hat  wohl 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  die  Probe  auf  seine  Dauerhaftigkeit 
für  die  Zukunft  bestatden. 

Darum  halte  ich  zwei  Sammlungen  längst  geschätzter  und  aus- 
erlesener Beiträge  für  besonders  nennenswert:  die  Schriften  Ludwig 
Sp eideis,  der,  Schwabt  von  Geburt,  in  Wien  heimisch  wurde  und  in 
der  kürzesten  Form  sprachlich  wie  geistig  gleich  Reizvolles  geschaffen 
hat.  Einer  ungemäßen  und  undankbaren  Tagespresse  anvertraut,  blieben 
diese  Aufsätze  der  Schätzung  der  weiteren  deutschen  Welt  entrückt.  Nach 
seinem  Tode  endlich  gesammelt,  bieten  sie  ein  köstliches  Ganzes.  Die  Kunst 
des  Essays  hat  seit  den  Gebrüdem  Grimm  in  unsrer  Sprache  nichts 
anmutigeres  und  reicheres  hervorgebracht,  als  diese  kleinen  Gebilde. 

Von  ganz  andrer  Art,  aber,  wie  mich  dünkt,  ebenso  bedeutend, 
ist  die  Auslese  von  Satiren,  welche  Karl  Kraus  unter  dem  Titel  »Die 
chinesische  Mauer«  veröffentliclite.  In  der  Wiener  .Fackel'  einzeln  er- 
schienen, haben  sie  allzumal  das  Entzücken  der  Bosheit  und  Schaden- 
freude einer  ganzen  Stadt  erweckt,  sie  verdienen  aber  die  Schätzung 
aus  höheren,  geistigen  Gründen,  weil  ihre  künstlerische  und  sittliche 
Kraft,  ihr  sinnvoller  Humor,  den  Augenblicksanlaß  überlebt  und  un- 
sterblich macht,  weil  ein  großartiger  Witz,  mit  der  Schärfe  des  Schwertes 
das  Einzelne  schlagend,  dabei  das  Ganze  unsrer  Zeit  satirisch  trifft 
darstellt  und  der  Zukunft  überliefert 


—  32 


Unter  den  eriählenden  Dichtungen  verdienen  Rainer  Maria 
Rilkes  »Aufzeichnungen  des  Malte  Laurids  Brigge«  den  Kranz. 

Otto  Stoessl  (Wien). 

Der  Verlag  Langen  in  München,  der  eine  Tafelrunde  des  Radi- 
kalismus versammelt,  erwarb  sich  ein  Verdienst  mit  Herausgabe  dieer 
Geistreichigkeiten,  die  mehrfach  an  das  wahrhaft  Bedeutende  strei/en. 
Der  Verfasser  überschätzt  zwar  den  positiven  Wert  seiner  negativen 
Anlage,  die  sich  in  blendenden  Aphorismen  und  glänzenden  Ejsays 
entladet.  Doch  überschätzen  tut  sich  am  Ende  jeder,  der  Größte  wie 
der  Kleinste,  und  es  kommt  nur  darauf  an,  ob  wir  lieh  etwas  dabei 
zu  schätzen  sei.  Und  das  trifft  vornehmlich  für  Kraus"  Stilistik  zu.  Ein 
Meister  der  Ironie,  tut  er  nur  in  seiner  Befehdung  Hardens,  den  er  einst 
anbetete,  des  Guten  zu  viel.  Nicht  als  ob  wir  die  unpersönlichen  und 
berechtigten  Gründe  seiner  psychologisch  begreiflichen  Erbitterang  nicht 
würdigten.  Doch  er  schüttet  das  Kind  mit  dem  Bade  aus  und  läßt  an 
Harden,  den  wir  nach  wie  vor  als  bedeutenden  Publizisten  trotz  all 
seiner  unleidlichen  Maniriertheit  bestehen  lassen,  kein  gutes  Haar  mehr. 
Absolute  Gerechtigkeit  ist  eben  eine  schwere  Tugend,  nicht  nur  des 
Charakters,  sondern  auch  des  Intellekts.  Im  übrigen  sei  Kraus'  Buch 
hier  warm  empfohlen.  Karl  Bleibtreu  (Zürich). 

In  der  tschechischen  Revue  ,Prehled'  (Prag,  18.  Nov.  1910) 
ist  ein  längerer  Aufsatz  von  Otto  Pick  unter  dem  Titel  >Karl  Kraus, 
ein  deutscher  Satiriker«  erschienen,  der  die  fo/genden  Stellen 
enthält: 

Karl  Kraus  ist  der  schärfste  Polemiker  der  jetzigen  deutschen  Litera- 
tur. ..  .  Selbst  wenn  seine  Aphorismen  und  Essays  eicht  bekannt  wären, 
so  müßte  das  deutsche  Publikum  Kraus  für  seinen  >Fall  Harden <  dank- 
bar sein,  weil  er  hierin  Harden,  diesen  allzugewaltigen  Journalisten, 
geradezu  wissenschaftlich  entlarvt.  Was  viele  erkannten,  jedoch  nicht 
auszusprechen  wagten,  sagte  Kraus  als  erster:  daß  Harden  ein  unfähiger 
langweili^'er  politischer  Leitartikler  ist,  dessen  Aufsätze  ein  Labyrinth 
von  Zitaten  und  überflüssigen  Retrospektiven  sfnd.  ...  Es  ist  notwendig, 
die  Redeweise  Hardens  mit  dem  Stil  der  »Chinesischen  Mauer«  zu 
vergleichen,  um  zu  erkennen,  welch  genauer,  reiner  und  über  alle  Maßen 
künstlerischer  Stilist  Kraus  ist,  seine  Redetechnik  besteht  neben  den 
besten  französischen  Essayisten  und  Aphoristen.  .  .  .  Jede  Silbe  ist  das 
Produkt  einer  langen  Seelenarbeit,  daher  könnte  jeder  Satz  aus  dem 
Zusammenhang  genommen  werden  und  doch  einen  lebensfähigen 
Aphorismus  bilden.  .  .  . 

Die  (Wiener  Mode': 

...  Es  sind  mit  großer  Sorgfalt  umgearbeitete  Essays  —  Ver- 
gleichungen  von  Einzelheiten  ungemein  lehrreich!  —  für  deren 
Sprachgewalt  man  ohne  Rücksicht  auf  der  Parteien  Haß  und  Gunst  Zeugnis 
ablegen  muß.  Der  »Stoff«  ist  gleichsam  ein  Vorwand,  das  Formen  des 
Ausdrucks  Zweck  für  diesen  Künstler. 


—  33  — 


Die  .Rhein-  und  Ruhrzeitung*  (13.  Nov.): 
Ein  starker  Band  blendend  geschriebener  Abhandlungen  von  dem 
Wiener  Essayisten  Karl  Kraus,  dem  stärksten  Temperamente  des  deutsch- 
österreichischen  Schrifttumsund  einem  der  glänzendsten  Stilisten  zugleich. 
Wer  die  457  Seiten  dieses  Buches  liest,  wird  sich,  wenn  er  des  Kraus'schen 
Tones  ungewohnt  ist,  möglicherweise  457  mal  vor  den  Kopf  gestoßen, 
aber  nicht  einmal  gelangweilt  fühlen.  In  der  Kunst  der  epigrammatisch 
zugespitzten  Gedankenprägung  ist  Karl  Kraus  ein  Meister  ersten  Ranges, 
aber  sein  geschliffener  Stil  ist  nicht  nur  um  seiner  selbst  willen  da, 
sondern  er  dient  Kraus  als  eine  haarscharfe  Waffe,  mit  der  er  den  Dingen, 
d.  h.  den  konventionellen  Anschauungen,  »öffentlichen  Meinungen«, 
morschen  Idealen  und  tönernen  Götzen  aller  Art  zuleibe  geht.  Wer 
Karl  Kraus'  Art  noch  nicht  näher  kennt,  der  beginne  mit  einem  der 
letzten  Artikel  »Die  Entdeckung  des  Nordpols«  .  .  .,  er  lese  dann  die 
humordurchblitzten  Essays:  »Lob  der  verkehrten  Lebensweise«,  »Die 
Malerischen«  und  »Von  den  Sehenswürdigkeiten«,  er  ersehe  dann  aus 
dem  Artikel  »Maximilian  Harden«,  mit  welchem  Draufgängertum  Karl  Kraus 
gegen  eine  ihm  total  konträre  Persönlichkeit  kämpfen  kann  und  dann 
lerne  es  der  Leser  ertragen,  wenn  er  sich  in  manchen  der  anderen 
Essays  in  seinen  eigenen  Empfindungen  von  den  Schlägen  einer  grau- 
samen Ironie  und  eines  oft  fast  wilden  Hohnes  etwas  schmerzlich 
getroffen  fühlt.  Indessen,  in  dem  Outsidertum  und  dem  subjektiven 
Radikalismus  der  Meinungen  liegt  schließlich  nichts,  was  Kart  Kraus 
nicht  auch  mit  anderen  »guten  Europäern«  teilte,  das  Besondere  aber  ist 
die  Künstlerschaft  seiner  souveränen  Stilgewalt,  mit  der  er  zu  sagen 
weiß,  was  zu  sagen  sein  heißes  Temperament  ihn  zwingt.  Und  darum 
ist  es  auch  gar  nicht  nötig,  daß  man  mit  Karl  Kraus  stets  überein- 
stimmt,   um    an    diesem  geistvollen  Feuerkopf    seine  Freude  zu  haben. 

Der  .Literarische  Jahresbericht',  herausgegeben  vom 
Dürerbund: 

Nicht  sehr  wesentlich  höher  steht  ein  Aufsatzband  >Die  chine- 
sische Mauer«  von  Karl  Kraus,  einem  Wiener  Publizisten,  der  in  dor- 
tigen Gymnasiasten-,  Studenten-  und  Nachtcaf^kreisen  sich  großer 
Beliebtheit  erfreut.  Was  er  zu  sagen  hat,  ist  dürftig,  trotz  der  empha- 
tischen Selbstgefälligkeit,  womit  K.  es  vorbringt.  Das  pathetisch  unreife 
Sichimgegensatzfühlen  zur  Umwelt  könnte  verleiten,  ihn  für  einen 
Kritiker  zu  nehmen,  wäre  sein  Horizont  nicht  auf  das  Weichbild  Wiens 
beschränkt  und  wäre  sein  —  im  Aphoristischen  zwar  ganz  glücklicher 
—  Stil  nicht  zumeist  eine  Ausgeburt  fadester,  spielerischer  Redseligkeit. 
Was  Sachlichkeit  und  Konzentration  ist,  könnte  dieser  Kaffeehaus-Predigt- 
amtskandidat noch  immer  von  M.  Harden  lernen,  den  er  mit  ebenso 
drolliger  wie  läppischer  Anmaßung  >erledigt<. 


-314 


—  34  -^ 

Ritter  Johann  des  Todes 

Yon  Albert  Ehrenstein*) 

Ritter  Johann  des  Todes  ritt  aus,  dem  Meere  zu  und  fernen 
Ländern.  Sprach  zu  ihm  sein  schwangeres  Weib,  diese  Loudmilla 
Qamperl  (die  Liebste  ihm,  bis  sie  kein  neues  Essen  und  Küssen 
mehr  wußte)  diese  Worte:  > Vergebens  fährst  du  aus!  Bleib!  Morgen 
gibts  Eichelsuppe  und  Geselchtes  mit  Spinat ....  Du  wirst  schon 
sehen!«  In  den  Ohren  klangs  dem  Ritter  und  dann  zu  noch 
donnerdicken  Nebelfernen  ritt  er,  denn  Weib-Köchin  schien  ihm 
am  Ende. 

Ritter  Johann  des  Todes  ritt  aus.  Traf  unterwegs  einen  lieb- 
lichen Drachen,  der  ihm  quer  in  den  Speer  lief  —  aus  Furcht, 
auch  dieser  Ritter  könnte  ihn  unerschlagen  sich  zu  Tode  kriechen 
lassen.  Lachte  Ritter  Johann  des  Todes  und  gab  ihm  sein  heiliges 
Kraut  Sarudsch  an  die  Wunde.  Gellt  der  Drache:  »Läßt  mich 
Drachen  unerschlagen!  ...  Du  wirst  schon  sehen!«  In  den  Ohren 
klangs  dem  Ritter  und  er  nahm  sichs  zum  Gedenkmai. 

Ritter  Johann  des  Todes,  auf  seinen  Fahrten,  traf  er  die 
Jungfrau,  die  alle  hundert  Jahre  aus  dem  Felsen  Not  hervorschießt. 
Die  Jungfrau  warf  sich  dem  Ritter  ihrer  Maidenschaft  an  den 
Hals  .  .  .  Lachte  Ritter  Johann  des  Todes  und  gab  ihr  seinen 
heiligen  Knappen  Nolpate  an's  Herz.  Redte  sich  aus:  »Du  bist  die 
Jnngfrau  jeder  hundert  Jahr!«  »Schmähst  die  Gabe«,  keift  sie, 
»aller  hundert  Jahre?  Du  wirst  schon  sehen!«  In  den  Ohren  klangs 
dem  Ritter  und  dann  zu  noch   donnerdicken  Nebelfernen   ritt  er. 

»Das  verfluchte  Kombinieren  alter  Speisen  in  ganz  neue!  — 
Ich  hab  es  satt!  In  der  Jugend  schlug  ich  fünfzehn  liebliche 
Drachen !  ich  hab  es  satt.  Und  die  liebe  Jungfrau  jeder  hundert 
Jahre:  ist  sie  schmacker  als  all  die  andern  Jungfern  von  Gewohnheit? 


*)  An  der  unartigen  Kraft  dieses  Autors  blamieren  sich  zur  Zeit 
die  meisten  Redakteure  deutscher  Revuen.  Nur  der  anmutige  Oskar  Bie, 
der  das  Leben  bejaht  und  die  .Neue  Rundschau'  leitet,  hat  ihn  durch 
ein  unbegreifliches  Mißverständnis  noch  nicht  aufgegeben,  sondern 
zu  Beiträgen  ermuntert,  die  »so  ganz  plaudernd  und  die  Wiener  Luft 
atmend«  sein  sollen.  Mag  das  Gefühl,  daß  die  Bitterkeit  des  neuen 
Mannes  die  Lebensfreude  eines  redigierenden  Dionysos  auf  zehn  Jahr- 
gänge hinaus  vergiften  könnte,  zu  der  Bitte  um  ein  »nettes  Thema« 
geführt  haben.  Die  Zumutung  ehrt  den  Kenner;  das  Verlangen  bezeichnet 
den  geistigen  Habitus  einer  Zeitschrift,  die,  ein  Prospekt  ihres  Verlegers, 
in  dem  feuchten  Element  zwischen  Wassermann  und  Fischer  noch 
immer  den  Katalog  der  Kultur  spielen  darf.  Anm.  d.  Herausgeb, 


35  — 


—  Ich  hab  es  sattl  Und  alle  gellen  und  keifen  sie:  Du  wirst 
sehon  sehen  .  .  .  Und  ich  sehe  doch  meine  Zukunft,  daß  ich  keine 
Zukunft  habe,  klar  und  dicht  vor  mir!« 

Ritter  Johann  des  Todes,  auf  seinen  Fahrten,  traf  er  sech^ 
alte  Weiber,  die  das  Ziel  erreicht  zu  haben  glaubten,  indem  sie, 
über  den  Weg  erhoben,  auf  Steinen  auf  den  Köpfen  stehend,  aus 
neuen  Flaschen  in  neuen  Gläsern  neuen  Branntwein  soffen,  den 
echten,  reinen,  patentierten  sogenannten  »Dolgoruki«.  Und  sie 
reichten  ihm  den  Branntwein.  Er  erschlug  sie,  weil  sie  's  Ziel 
erreicht  zu  haben  glaubten,  indem  sie,  über  den  VC'eg  erhob>en  auf 
Steinen  auf  den  Köpfen  stehend,  aus  neuen  Flaschen  in  neuen 
Gläsern  neuen  Branntwein  soffen,  den  echten,  reinen,  patentierten 
sogenannten  >Dolgoruki«.  Und  die  Weiber,  sterbend  auf  den 
Köpfen  stehend  —  alle  Sechse  keiften:  »Du  wirst  schon  sehen!« 
In  den  Ohren  klangs  dem  Ritter  und  er  nahm  sichs  zum  Ge- 
denkmai. 

Ritter  Johann  des  Todes,  auf  seinen  Fahrten,  schlug  noch 
viele  andere,  die  —  und  nicht  einmal  auf  die  rechte  Weis  —  die 
Erde  nach  blauen  Blumen  abgrasten  . . .  Und  im  Tode  schrien  sie 
alle  —  er  aber  lachte  bloß  — :  »Du  wirst  schon  sehen!«  In  den 
Ohren  klangs  dem  Ritter  und  stets  zu  noch  donnerdicken  Nebel- 
femen ritt  er. 

Ritter  Johann  des  Todes,  auf  seinen  Fahrten,  da  erbarmte  sich 
der  Teufel  und  kroch  vom  Himmel  zu  ihm  herunter,  um  ihm  das 
Neue  zu  sein.  Da  erschlug  ihn  der  Ritter  Johann  des  Todes  und 
lachte  herzhaft,  wie  er  noch  nie  gelacht,  daß  der  vom  Himmel 
heruntergekrochen,  um  ihm  das  Neue  zu  sein  und  dann  zu 
gellen:  »Du  wirst  schon  sehen!« 

Ritter  Johann  des  Todes  aß  Schlangen  und  gute  Steine. 

Ritter  Johann  des  Todes,  auf  seinen  Fahrten,  mußte 
heim,  da  die  Erde  zu  rund  war.  Sprach  zu  ihm  sein  schwangeres 
Weib,  diese  Loudmilla  Gamperl,  einen  jungen  Ritter  Johann  des 
Todes  an  der  Hand  haltend,  diese  Worte:  >Heute  gibts  Eichelsuppe 
und  Geselchtes  mit  Spinat!  Was  hab  ich  gesagt!« 

Ritter  Johann  des  Todes,  ich  muß  es  schon  sagen,  zu 
ihm  kam  nicht  der  Tod  und  er  war  ihn  ehrlicher  suchen  gegangen 
als  sein  Urgroßvater,  der  ewige  Jude. 

Der  Ritter  Johann  des  Todes,  auf  seinen  Fahrten,  hängte 
sich  auf.  Und  freute  sich  an  seinem  Tode,  dem  Neuen. 


-  36  - 

Ein  alter  Tibetteppich*) 
Von  Else  Lasker-Schüler 

Deine  Seele,  die  die  meine  liebet, 
Ist  verwirkt  mit  ihr  im  Teppichtibet 

Strahl  in  Strahl,  verliebte  Farben, 
Sterne,  die  sich  himmellang  umwarben. 

Unsere  Füße  ruhen  auf  der  Kostbarkeit 
Maschentausendabertausendweit. 

Süßer  Lamasohn  auf  Moschuspflanzenthron 

Wie  lange  küßt  dein  Mund  den  meinen  wohl 

Und  Wang  die  Wange  buntgeknüpfte  Zeiten  schon. 


Der  Kitsch 

Von  Leo  Popper 

>Der  Dilettant  wird  nie  den  Gegen- 
stand, immer  nur  sein  Gefütil  über  den 
Gegenstand  schildern.«  Goethe. 

Wenn  Kunst  ein  Gleichnis  für  die  Dinge  ist,  so  ist  der 
Kitsch  ihr  hinkender  Vergleich.  Die  Kunst  nimmt,  wie  ein  Frem- 
der, der  das  Niegesehene  mit  seinen  besten  heimatlichen  Namen 
zu  benennen  sucht,  die  besten  Stoffe  aus   ihrem    Reich,  um  dem 


*)  Nicht  oft  genug  kann  diese  taubstumme  Zeit,  die  die  wahren 
Originale  begrinst  (und  der  sonst  ernsthafte  Leute  wie  die  Brüder  Mann 
mit  einem  Zeugnis  für  die  >außer  Zweifel  stehende  dichterische  Begabung« 
eines  gutmütigen  anarchistischen  Witzboldes  imponieren  können),  nicht  oft 
genug  kann  sie  durch  einen  Hinweis  auf  Else  Lasker-Schüler  gereizt  werden, 
die  stärkste  und  unwegsamste  lyrische  Erscheinung  des  modernen 
Deutschland.  Wenn  ich  sage,  daß  manches  ihrer  Gedichte  >wunderschön« 
ist,  so  besinne  ich  mich,  daß  man  vor  zweihundert  Jahren  über  diese 
Wortbildung  ebenso  gelacht  haben  mag,  wie  heute  über  Kühnheiten, 
welche  dereinst  in  dem  Munde  aller  sein  werden,  denen  die  Sprache 
etwas  ist,  was  man  »gebraucht«,  um  sich  den  Mund  auszuspülen. 
Das  hier  aus  der  Berliner  Wochenschrift  ,Der  Sturm'  zitierte  Gedicht 
gehört  für  mich  zu  den  entzückendsten  und  ergreifendsten,  die 
ich  je  gelesen  habe,  und  wenige  von  Goethe  abwärts  gibt  es,  in 
denen  so  wie  in  diesem  Tibetteppich  Sinn  und  Klang,  Wort  und  Bild, 
Sprache  und  Seele  verwoben  sind.  Daß  ich  für  diese  neunzeilige 
Kostbarkeit  den  ganzen  Heine  hergebe,  möchte  ich  nicht  sagen.  Weil  ich 
ihn  nämlich,  wie  man  hoffentlich  jetzt  schon  weiß,   viel  billiger  hergebe. 

.^nm.  d.  Herausgeb. 


—  37  — 

Verglichenen  gerecht  zu  werden.  Sie  darf  die  allerbesten  nehmen, 
wenn  sie  weiß,  daß  es  reichen  wird  fürs  ganze  Ding.  Sie  hat  das 
Recht  zu  jeder  Höhe,  die  sie  einhalten  kann.  Der  Kitsch  aber 
nimmt  den  Grundton  seines  Vergleichs  entweder  ganz  niedrig  an 
und  blamiert  so  seine  Dinge,  oder  er  nimmt  ihn  hoch  an  und 
blamiert  den  Vergleich  selbst,  weil  er  gezwungen  ist,  ihn  augen- 
blicklich wieder  fallen  zu  lassen.  So  gibt  er  entweder  den  schiefen 
Tanz  der  Aufschwünge  und  Niederfälle,  oder  er  gibt,  wenn  er 
verzichtet,  eine  Einheit  niedrigsten  Grades.  Beides  genügt  zu  sei- 
nem Bestehen.  Denn  die  Leute  bemerken  so  wenig  das  Hinken, 
wie  die  Niedrigkeit  bei  dem  Vergleich.  Sie  nehmen  den  Kitsch  für 
die  Kunst,  gerade  wie  sie  die  Kunst  für  das  Leben  nehmen.  Der 
Mensch  hat  einen  wackligen  Distinktionssinn  für  das,  was  ihn 
nichts  angeht.  Aus  dem  sprengenden  Wirrsal  der  vielen  verschie- 
denen Dinge  rettet  er  sich  in  die  Ähnlichkeiten,  und  gibt  erst 
dann  wieder  Unterschiede  zu,  wenn  er  seinen  Geist  durch  sach- 
liche Beschränkung  geschützt  weiß.  Nur  zwischen  den  wenigen 
Sachen,  die  ihm  nahe  stehen,  sieht  er  Verschiedenheiten.  Und  so 
muß  er  Dinge,  die  ihm  so  ferne  stehen,  wie  Natur  und 
Kunst,  notwendig  verwechseln,  desgleichen  Kunst  und  Afterkunst. 
Ihm  genügen  die  Erkennungszeichen,  die  äußersten  Merkmale: 
das,  was  aus  dem  Räume  der  Realitäten  auf  die  Ebene  seines 
Augenmerks  gefallen  ist.  Und  was  ihm  genügt,  das  ist  der  Maß- 
stab: Kitsch  ist  die  Reduktion  des  Kunstwerks  auf  ein  wesens- 
fremdes Minimum. 

Aller  Kitsch  entsteht,  wo  eine  Form  jener  Forderungen  ver- 
lustig geht,  die  sie  her\'orgebracht  haben ;  wo  an  die  Stelle  ihrer 
Ursachen  andere  Ursachen  treten,  die  ihre  Werte  verneinen  und 
kompromittieren ;  oder :  wo  aus  der  Form  ein  zufälliger,  ihr  nicht 
wesentlicher  Genuß  fließt  und  eine  neue  Form  entsteht,  die  die- 
sen Genuß  allein  und  nichts  andres  hervorbringen  will,  das  ganze, 
umständliche  Werk  auf  dieses  Minimum  reduzierend.  In  allen  ver- 
schiedenen Fällen  des  Kitsches  ist  die  Reduktion  das  Gemeinsame. 
Sie  geschieht  am  häufigsten,  wo  der  Künstler  selbst,  mit  bestem 
Willen  nicht  mehr  aus  der  Form  ziehen  kann,  ob  er  nun  mehr 
in  ihr  sieht,  oder  nicht.  Seltener,  wo  er  auf  die  noch  geringere 
Unterscheidungskraft  des  Genießers  spekuliert  und  alles  wegläßt, 
was  fär  dessen  Bedürfnis  nicht  unbedingt  nötig  ist.  Und  dann,  im 
bedeutendsten  Fall,  wo  eine  Sensation,    ein   vager    Duft    aus  der 


—  38  — 

Form  hervorgegangen  ist,  der  dem  Künstler  mehr  scheint  als  die 
Pflanze,  der  ihm  der  Inbegriff  der  Pflanze  wird,  und  einzig  erstre- 
benswert. Das  ist  die  typisch  moderne  Spielart  des  Kitsches.  Die 
anderen  hat  es  immer  gegeben.  Von  den  Ägyptern  her  durch  alle 
Zeiten  läuft  ihre  undurchbrochene  Reihe  neben  der  Kunstreihe 
einher.  Aber  diese  da  hat  es  noch  nie  gegeben  in  der  bildenden 
Kunst.  Sie  ist  mit  dem  Impressionismus  entstanden.  Nicht  mit 
dem  der  großen  Franzosen,  den  es  bekanntlich  auch  schon  seit 
jeher  gibt  und  der  nur  seiner  Vision  nach  und  nicht  seiner  Moral 
nach  impressionistisch  ist,  sondern  mit  dem  unbedin^  neuen, 
frevelhaften,  wie  er  ungefähr  von  Whistler  kam  und  jetzt  überall 
verstanden  wird:  dem  Impressionismus  der  stilisierten  haut-goüts 
und  Patinas,  der  Kunst  des  Hauches,  der  sich  selbst  beriecht. 

Goethe,  der  die  Worte  des  Mottos  in  einem  Entwurf  >über 
den  sogenannten  Dilettantismus«  an  einer  Stelle  über  die  prag- 
matische Dichtkunst  niederschrieb,  hat  das  Wesen  eines  Schadens, 
und  zugleich  den  Kreuzschaden  einer  kommenden  Kunst  damit 
ausgesprochen.  Denn  wie  der  Dilettant  das  > Gefühl  über  den 
Gegenstand«  für  diesen  setzt,  so  setzt  der  Impressionist  die  Stim- 
mung der  Form  für  die  Form,  den  Hauch  der  Sache  für  die  Sache 
und  gibt  so  etwas,  das  sich  auf  der  Stelle  selbst  verzehren  muß, 
weil  es  die  Basis,  aus  der  es  sich  erneuen  könnte,  nicht  mit  sich 
führt.  So  bedarf  es  zu  seiner  Erneuerung,  wie  zu  seinem 
Bestehen  immer  der  Hilfe  des  ergänzenden  Genießers  und  es  vermag 
nichts  ohne  diesen.  Der  Kitscher  aber,  der  sich  nun  der  neuen 
billigen  Werte  bemächtigt,  findet  im  Genießer,  der  nun  schon  an 
die  Mitarbeit  gewohnt  und  überaus  sensibel  geworden  ist,  einen 
bereitwilligen  und  kritiklosen  Förderer.  —  In  der  bildenden  Kunst 
ist  diese  feinste  Idee  des  Kitsches  besonders  fruchtbar  gewesen. 
Was  es  außerdem  gibt,  kann  noch  entweder  gutgläubig  oder  ein- 
fach ordinär  sein:  Künstlerkitsch  oder  Leutekitsch.  Der  Mann 
der  ersten  Sorte  ist  oft  von  hohen  Wünschen  beseelt  und 
oft  nicht  ohne  Tragik.  Den  Blick  starr  auf  das  Beste  geheftet  — 
zu  keiner  Konzession  zu  haben  —  macht  er  das  Schlechte 
mit  sicherer  Hand.  Unbewußt  vollzieht  er  die  fatale  Reduktion. 
Der  Mann  der  zweiten  Sorte  vollzieht  sie  insgeheim:  er 
malt  immer  schlechter  und  schlechter  und  macht  erst  halt, 
wo's  der  Genießer  schon  bald  merken  würde.  Der  Feine  aber 
vollzieht   sie    offenkundig   und   im   Einverständnis   mit  dem   er- 


-  39  - 


gänzuTigskräftigen  Qenießer:  der  Maler  malt  immer  schlechter, 
aber  der  Genießer  genießt  immer  besser  und  da  gehen  Beide  so 
weit,  bis  sie  eben  nicht  mehr  weiterkönnen.  —  Leutekitsch  und 
Künstlcrkitsch  machen  dem  Forscher  nicht  viel  Schwierigkeiten. 
Nach  den  Gefühlen,  denen  sie  dienen,  sind  sie  zu  scheiden:  in 
patriotischen,  in  geschichtlichen,  in  religiös- sittlichen,  in  häuslich- 
und  in  frei-erotischen,  in  sozial-strengen  und  in  sozial-gemütlichen, 
in  pantheistischen  und  in  familienfrohen.  Die  Beispiele  weiß  jeder 
sich  selbst  aus  jeder  Zeit  zusammenzusuchen.  Der  Feine  aber  fußt 
auf  komplizierteren  Erscheinungen.  Das  l'art  pour  l'art  hatte  ge- 
hofft, die  Künstler  würden  besser  malen,  wenn  man  ihnen  jeden 
anderen  Zweck  abschnitte  und  ihnen  nur  die  Farben  ließe;  nun 
sieht  es  sich  arg  getäuscht,  denn  die  Künstler,  die  sich  jetzt  mit 
ihren  freigewordenen  Farben  viel  und  ohne  Vorurteil  beschäftigen 
können,  haben  bald  heraus,  daß  die  Farben  besser  malen,  als  sie 
selbst  und  ziehen  alle  Konsequenzen  aus  dieser  Erkenntnis.  So 
aber  kommt  es,  statt  zu  der  erhofften  Gesundung,  zum  Gegenteil. 
Den  immer  mehr  vereinfachten  Mitteln,  die  aus  einem  geschwächten 
Formalkönnen  fließen,  entspricht  eine  immer  mehr  vervielfachte 
Empfindsamkeit,  die  ihrerseits  zur  Auflösung  aller  Formwerte  führt. 
Denn  wo  einmal  empfunden  wird,  dort  wird  alles  empfunden: 
dort  wird  das  Nichts  empfunden  und  so  das  Nichts  geleistet.  Wo 
der  Genießer  einmal  mit  ins  Spiel  gezogen  ist,  dort  ist  das  Spiel 
verloren.  Es  begann  damit,  daß  statt  der  Dinge  die  Essenz  ge- 
geben wurde.  Aber  langsam  wurde  dieser  ihr  Accidens:  das 
Minimum  unterschoben.  Und  der  Genießer  fühlte  dennoch  immer 
stärkeren  Genuß,  weil  seine  Leistung  immer  mehr  wurde.  Und  der 
Schaffende  wurde  immer  mehr  ein  Genießer.  Mit  feinstem  Ver- 
ständnis kommt  er  den  eigenen  Absichten  entgegen:  ein  Wink 
von  sich  genügt  und  Welten  tun  sich  auf.  Sein  Gefühl  —  im 
tiefsten  schon  das  Gefühl  des  Kitschers  —  stellt  eine  Hypertrophie 
der  letzten  Nervenwerte  dar.  Die  körperlos  gewordene  Form  ist 
bis  zum  äußersten  beseelt:  sie  ist  kein  Ding  mehr,  sie  ist  nur 
Sinnbild ;  und  nicht  etwa  Symbol  für  ein  Gegebenes,  sondern  das 
Mietsymbol  für  alles,  was  in  ihr  sich  ausgedrückt  fühlen  will. 
Sie  ist  nur  Anregung,  und,  selbst  ganz  ungebunden,  kann  sie  nur 
>Löserin  von  Lebensinhalten«  werden.  Die  Farbe,  die  Linie  und  der 
Ton  sind  absolute  Werte  geworden,  was  sie  früher  niemals  werden 
konnten.  Die   Unfähigkeit,   sie  zu  leiten,  verwandelte  sich  in  eine 


—  40  — 


Überfähigkeit,  sich  von  ihnen  leiten  zu  lassen:  jetzt  flüstern  sie 
dem  Sensitiven  ein  Nervenleben  ein,  das  ihn  verhundertfacht  in 
seinen  Folgen,  während  es  ihm  den  größten  Teil  seiner  Arbeit 
erspart.  Die  Kunst  lehrt  ihn,  die  Natur  abschöpfen,  und  die  Natur, 
statt  ihm  vergebend  Schutz  zu  gewähren,  schickt  ihn  kupplerisch 
wieder  zur  Kunst  zurück.  Den  ungehemmt  auf  ihn  einströmenden 
Reizen  ist  er  hilflos  ausgeliefert.  Denn  er  hat  keine  Kontrolle  für 
sie :  keine  vom  Auge  her,  das  ihm  den  festen  Untergrund  der 
Reize  immer  nahe  hielte  und  keine  von  irgend  einem  Stil  her, 
der  ihm  zu  seinen  Überschwemmungen  die  Ufer  böte.  Er  hat  nur 
Eindrücke  und  nirgends  ein  Gegengewicht.  Er  hat  nie  zweierlei, 
wie  der  Künstler,  der  Augen  hat  und  Nerven  oder  Stil  und  Nerven : 
er  hat  Nerven  allein  und  die  müssen  wieder  ausströmen  lassen, 
was  bei  ihnen  eingeströmt  ist,  weil  nichts  da  ist,  es  zu  binden: 
keine  Form  zum  Gefühl,  kein  Altes  zum  Neuen,  keine  Ruhe  zum  Reiz. 

Es  war  vielleicht,  daß  die  Welt  dem  Künstler  doch  etwas 
zu  offen  stand.  Wohin  sein  Auge  blickte,  war  alles  erlaubt  und 
nichts  befohlen.  Der  Horizont  war  voll  von  neuen  Nuancen  und 
Sensationen.  Die  Exotik  brachte  ihre  reichen  Gewächse:  man 
nahm  ihnen  die  Schale  und  kleidete  alte  Kerne  darein.  Die  fremden 
Blumen  bestäubten  einander  wider  Willen  der  Natur.  Es  kam  ein 
Babel  von  Reizen  und  Lustwerten,  die  alle  zu  unendlicher,  wahl- 
loser Mischung  wild  durcheinanderflogen;  und  was  sich  da  ergab, 
war  eine  Kultur  des  grundlosen  Blütentums;  eine  Kultur  der 
unbekannten  Väter. 

Es  ist  natürlich,  daß  diese  Kunst,  die  nichts  Festes  zu 
verteidigen  hatte,  das  Gesetz  vermied,  das  ihr  in  ihrem  Frei- 
beutertum  unbequem  werden  konnte;  daß  sie  den  Individualismus 
aufstellte,  weil  sie  für  ihre  Zufälligkeiten  keine  andere  Recht- 
fertigung, als  die  der  Persönlichkeit  finden  konnte;  und  daß  sie 
die  Inkommensurabilität  hochhielt,  weil  sie  jeden  Vergleich  scheuen 
mußte.  —  Das  Ich,  welches  verlernt  hatte,  hinter  der  Form  zu 
verschwinden,  war  auf  eimal  überall  lästig  im  Wege,  wo  es  galt 
die  Wahrheit  zu  sehen.  Man  entschloß  sich  sie  »ä  travers  un 
temperament«  zu  betrachten.  Aber  das  Temperament  überwucherte 
bei  so  guter  Behandlung  und  bald  war  vor  ihm  keine  Wahrheit 
mehr  zu  sehen.  Was  war  nun  übrig,  als  den  Spruch  umzukehren 
und  zu  sagen,  die  Kunst  sei  gerade  jenes  Temperament,  jenes  Ich, 
durch   die  Natur   hindurch   gesehen.    Das   Hindernis  wurde  zur 


41   — 


Hauptsache,  die  Neuartigkeit  zum  Maßstab.  Man  wollte  das 
Gute  daran  erkennen,  daß  es  einem  unbekannt  war.  Die 
Persönlichkeit  hatte  keine  Kontrolle  für  die  umherfliegenden 
Reize  und  die  Kunst  hatte  keine  für  die  Persönlichkeiten. 
Denn  kontrollierbar  ist  nur  das  Unpersönliche  und  das 
Formale.  So  ist  es  selbstverständlich,  daß  Reize  und  Persönlichkeiten 
entstehen  und  \rirken  konnten  und  sich  überall  einschlichen,  wo 
sie  nicht  hingehörten;  daß  Kitscher  ohne  Zahl  aus  allen  Winkeln 
herv'orkrochen  und  —  mit  dem  Paß  ihrer  Namenlosigkeit  ver- 
sehen —  die  Grenzen  überschritten.  Die  Kitscher  kommen  unter 
die  Künstler,  die  Künstler,  mit  ihren  Reizen,  gehen  unter  die 
Handwerker  und  die  Handwerker  werden  angesteckt  und  verkaufen 
ihr  Seelenheil,  wenn  sie  nur  Kitscher  werden  dürfen. 

Hier,  in  diesem  Einbruch  in  ein  Gebiet,  wo  reinere  Gesetze 
gelten,  liegt  das  größte  Verbrechen  dieses  Individualismus.  In 
den  abstrakten  Künsten  ging  es  ja  noch  irgendwie.  Aber  wenn 
es  dort  schon  unangenehm  genug  war,  statt  eines  Dinges  einen 
Duft  zu  Gesicht  zu  bekommen,  so  wurde  es  hier  vollends 
unerträglich,  wenn  einem  zugemutet  wurde,  sich  auf  ein  Seelen- 
leben niederzusetzen  und  in  einem  Nervensystem  zu  wohnen. 
Man  war  auf  einmal  zur  Teilnahme  gezwungen,  an  allem  was 
einen  sonst  in  Ruhe  gelassen  hatte.  Der  Gedanke  der  Zimmer- 
einrichtung, jedes  Ding  so  richtig  an  seinen  Platz  zu  stellen, 
daß  es  sozusagen  mitten  im  Zimmer  unsichtbar  wird,  und  der 
Sinn  des  Möbels  waren  ganz  in  ihr  Gegenteil  verkehrt. 
Schränke  äußerten  ihr  Innenleben,  Stühle  machten  ihre  Menschen- 
rechte geltend :  und  der  Mensch  war  ein  Gebrauchsgegenstand  des 
Möbels  geworden.  Eine  Lebendigkeit  verzweifelter  Art  hatte  sich 
der  Dinge  bemächtigt.  Das  neue  Ornament,  von  nirgends  abgelfeitet, 
hemmungslos  hergestellt,  gemischt  und  übertragen,  hatte  im  Nu 
die  halbe  Welt  belebt.  Es  hat  ihr  einen  Schaden  zugefügt,  von 
dem  sie  sich  nach  Generationen  noch  nicht  erholt  haben  wird. 
Denn  die  Werke,  die  daran  tragen,  bleiben  bestehen.  Das 
Ornament  ist  Wind,  aber  es  ist  von  Eisen ;  es  hat  kein  Original, 
aber  es  hat  Millionen  Wiederholungen.  —  Denn  die  Maschine 
ist  willig.  Früher,  bei  der  Handarbeit,  war  jedes  Stück  gerichtet 
und  geprüft:  von  der  Tradition,  vom  Meister  und  vom  Material 
—  die  alle  sachverständig  waren  —  ging  Kontrolle  aus;  Her- 
stellbarkeit   und    Brauchbarkeit     waren    die     polaren    Kriterien, 


42 


zwischen  denen  es  kein  Entschlüpfen  gab.  Als  aber  die  Maschine 
kam,  ward  mit  einem  Schlage  alles  anders.  Vor  ihrer  Pracht 
war  Brauchbarkeit  auf  einmal  keine  Frage  mehr,  alles  war 
herstellbar,  kein  Material  widersetzte  sich,  die  Meister  wurden 
eingeschüchtert  und  vor  der  Fülle  der  Gesichte  wich  alle 
Tradition.  Der  Künstler  halte  eine  Anregung  und  wußte 
nicht  woher,  er  machte  einen  Entwurf  und  wußte  nicht  wozu; 
er  gab  ihn  dem  Handwerker,  der  ihn  ausführte,  und  wußte 
nicht  wovon;  und  die  Maschine  reproduzierte  das  Ganze:  »genau 
nach  Angabe«  und  mit  Präzision ;  und  führte  so  noch  ihre  schönste 
Eigenschaft  ad  absurdum.  Der  Individualismus,  der  aus  dem  all- 
gemeinen Nichtskönnen  jedem  das  seine  rettete,  und  die  Maschine, 
die  für  Verbreitung  dieser  Einzigkeiten  Sorge  trug,  sie  bereicherten 
ihr  Zeitalter  um  ungeahnte  Dinge.  Aber  dabei  blieb  es  nicht  stehen. 
Die  Möglichkeiten  der  Maschine  wirkten  zurück  auf  den  Künstler: 
sie  ging  nicht  nur  auf  alle  seine  Wünsche  ein,  sie  verführte  ihn 
auch  zu  neuen  Taten  »aus  ihrem  Geiste«,  wie  sie  fantastischer  und 
ungeheuerlicher  sein  eigener  nie  erdacht  hätte.  Und  jetzt  gab  es 
kein  Aufhalten  mehr.  Die  wechselwirkenden  Mächte  des  Bösen 
schufen  Greuel  auf  Greuel.  Stündlich  entstanden  neue  Stile.  Ein 
Gedanke,  ein  Druck  auf  einen  Hebel  und  die  Maschine  spie  ihre 
Ungeburt  der  wartenden  Welt  in  die  Arme.  —  Das  Unglück  hatte 
gewollt,  daß  die  beiden  gräßlichen  Erfindungen,  Individualismus 
und  Konfektion  gerade  zur  gleichen  Zeit  über  die  Menschheit 
hereinbrachen,  noch  im  Üblen  die  äußersten  Gegensätze, 
das  Unbrauchbar-feine  und  das  Unbrauchbar-rohe:  Cachet  und 
Gliche  waren  hier  aneinander  gebunden.  Und  das  große 
Zwischenglied  war  aus  der  Welt  verschwunden.  Die  beiden  Gegen- 
sätze hatten  es  aufgebraucht.  Das  alte  Gewerbe  hatte  Arbeit  und 
Schönheit  gehabt,  die  einander  nah  bedingten.  Nun  ging  hier  die 
Arbeit  in  der  Maschine  auf  und  dort  die  Schönheit  im  Rauch  der 
Reize.  Sie  verkamen  sozusagen  in  verschiedene  Welten  hinein, 
verloren  jede  Erinnerung  aneinander.  Und  so  konnte  es  nicht 
mehr  ohne  Unglück  geschehen,  als  sie  wieder  zueinanderstießen. 
Man  sucht  und  sucht  nach  einer  Kunst,  die  von  all  diesen 
Nöten  noch  unberührt  geblieben,  die  bisher  noch  nicht  verkitscht 
ist.  Und  man  findet:  den  Zirkus.  Der  Zirkus  ist  in  seinen  letzten 
Wirkungen  genau  so  hoch,  wie  die  Kunst;  er  unterscheidet  sich 
nur  darin  von  ihr,    daß  in  ihm   nicht  geschwindelt  werden    kann. 


—  43  — 


Er  ist,  wie  das  große  Kunstwerk,  einseitig  im  tiefsten  Sinne:  er 
kennt  nur  die  Leistung  und  von  der  Wirkung  weiß  er  nur,  daß 
sie  mit  jener  steht  und  fällt  Er  hat  keine  psychologische  oder  ipnst 
eine  Hintertür  und  für  das  Mißlingen  hat  er  keinen  Namen,  als 
den  Namen  >schlecht«.  Er  kennt  nur  die  Form;  für  Inhalte  hat  er 
keine  Verwendung.  Was  sind  seinem  unermeßlichen  Reichtum 
die  Schätze  an  Inhalten,  Symbolen  und  Reizen,  die  abertausend 
Bilder,  die  er  dem  Zuschauer  »draufgibt« ;  wie  würde  er 's  verschmähen, 
von  ihnen  je  Notiz  zu  nehmen.  Gerade  wie  ein  Johann  Sebastian 
Bach,  dem  man  erzählen  wollte,  was  einem  bei  dner  Fuge  alles 
durch  den  Kopf  gegangen  ist.  —  Und  das  ist  der  höllenweite 
Unterschied.  Hier  ist  die  Kraft,  die  vor  dem  großen  Kilschig- 
werden  Schutz  gewährt ;  die  alle  Verarmung,  alle  Schäbig- 
keit und  alle  Selbstverzehr ung  ewig  unmöglich  macht;  und  die  das 
Heil  verspricht,  nach  dem  die  >große  Kunst«  schon  lange  dürstet. 
Wer  heute  vor  dem  Kitsch  genügend  Angst  und  Ekel  hat,  der 
blicke  auf  den  Zirkus;  und  wenn  er  dessen  Sinn  gefaßt  hat,  so 
hat  er  das  Gebrecnen,  die  Grenze  und  den  neuen  Weg  gesehen, 
wie  nie  zuvor,  und  mag  sich  freuen. 

Den  Kitsch  gibt  es  seit  jeher  und  der  vom  alten  Prinzip 
ist  hundertfach  in  Überzahl.  Aber  ich  habe  lieber  den  neuen 
beschrieben,  denn  er  ist  sicher  das  tiefere  Übel. 


Schönherrs  Drama 
Von  Berthold  Viertel 
Diese  Dichtung  aus  der  Zeit  der  Gegenreformation 
in  den  österreichischen  Alpenländern  ist  kein  historisches 
Drama.  Sie  ist  geradezu  antihistorisch.  Sie  ist  ins 
Elementare  gerettet,  ist  sachlich,  menschlich,  ethisch 
elementar  und,  um  alles  mit  einem  Wort  zu  sagen, 
elementar  dichterisch;  nicht  ganz  ohne  die  fragwürdige 
Nebenbedeutung  des  Wortes  elementar.  Schönherr  hat 
auch  dieses  Thema  in  die  unmittelbare,  primitiv- 
menschliche Drastik  gezwungen,  die  ihn  vor  den 
Dramatikern  der  Zeit  auszeichnet.  Daß  er  die  »Heimat« 
anders  gestaltet,  als  die  Heimatkünstler  es  sich  träumen 
lassen,  und  mit  welchem  Können,  das  wußte  man  seit 
seiner  »Erde«.  Für  den  »Glauben«  fürchtete  ich.  Aber 
das  Werk  hat  mich  widerlegt.  In  »Erde«  hatte  Schön- 


44 


herr  die  Erdkraft  seines  Bauerntums  beschworen.  Nun 
beschwor  er  ihren  Bauerngeist.  Er  hat  nie  vorher  seine 
Menschlichkeit   mit  solcher  Inbrunst   ausgedrückt.    Er 
hat  sie  nie  zu  solcher  Höhe  gejagt.  Wie  seine  Menschen 
wurzeln,  wie  das  Leben  sie  nimmt  und  sie  das  Leben 
nehmen,  das  gab  er  schon  stark,  nun  gibt  er  es  stärker. 
Und   gibt   ein  Neues:    wie  sie  bekennen.    Er   drückt 
allerdings     den      »Glauben«  '  durch     die     »Heimat« 
aus.    Indem    er    zeigt,    was    sie    mit    ihrer    Heimat 
opfern,    und    wie    sie    es    doch    opfern    für    ihren 
Glauben.    Sie   haben  sich    in    ihrer  zähen,  schweren, 
aber   schließlich   doch   überzeugenden  Art  zum  Geiste 
gestellt.    Hier   lernt  man   fühlen,  welche   Aufgabe   es 
wäre,  sie  zu  brechen  oder  gar  zu  biegen.  Ihre  innerste 
Treue,    trotz  aller  irdischen  Gebundenheit,   singt  diese 
wilde,    zwingend    gesteigerte    Ballade.    Die    Begriffe 
»Katholizismus,  Protestantismus«  sind  belanglos  für  das 
lyrische  Pathos  ihrer  Blutzeugenschaft.  Es  ist  schwere, 
schwerste  Zeit,  und  schwerer  Sieg.   Katholizismus,  das 
bedeutet  nicht  viel  mehr  als  ein:    »Unser    gnädigster 
Herr  und  Kaiser  will  uns  Lutherische  nimmer  gedulden  1« 
mit  all  seinen  Konsequenzen.   Die  Konsequenzen  sind 
das  Wesentliche.  Protestantismus:   »Mein  G'wissen  ist 
noch  ein  viel  g'strengerer  Herr  als  Papst  und  Kaiser.« 
Möge  man  es  als  ein  lutherisches  Pamphlet  auffassen, 
aber  als  ein  Pamphlet  gegen  jede  Religion,  die  sich  als 
Macht  wider  ein  anderes  Bekenntnis  kehrt.  Und  als  Erlöser- 
schrei jeder  Religion,   die  zur  Zeit  wirklich  nichts   ist 
als  reines  Bekenntnis.    Es  gilt  nicht  die  Überprüfung 
eines  Gedankens,  ein  Menschentum  bewährt  sich:  sein 
heißer,  erdnaher  Lebensernst,  sein  zäher,  grobknochiger 
Wille,  sein  fanatisches,  unausrottbares  Herz.    Und  die 
ganze  kleine,   enge  Welt  dieser  Menschen  sättigt  sich 
mit  einer  Eindringlichkeit,   daß  man   überall   den  Ge- 
danken, der  in  ihr  so  unbarmherzig  treibt,  zu  spüren 
bekommt,    obwohl    man    ihn    nirgends    fassen    kann. 
»Erde«  ist  das  besser  verwurzelte  Werk,  aber  »Glaube 
und  Heimat«   ist  das  Lieblingskind    des  Dichters,   aus 
seiner  heißen  Liebe  geboren. 


45  — 


Macht  gegen  Bekenntnis:  ein  ewiges  Problem 
aller  Religion  auf  Erden.  Ohne  darüber  auch  nur  einen 
Augenblick  lang  zu  theoretisieren,  hat  Schönherr  seine 
Menschen  sofort  in  die  unmittelbare  Praxis  des  Beken- 
nens  gestellt.  Damit  das  E.xperiment  gelinge,  sind  alle 
Umstände  möglichst  vereinfacht.  Der  Zweifel  (das  höhere 
Religionsproblem)  ist  ausgeschaltet.  Die  lutherischen 
Bauern  zweifeln  hier  nie  an  der  Wahrheit  ihres 
Bekenntnisses,  aber  auch  nie  an  der  Berechtigung  der 
kaiserlichen  Befehle.  Daß  einer  irgendwie  den  Komplex 
»Heimat«  als  problematisch  empfände,  daran  ist  natür- 
lich gar  nicht  zu  denken.  Instinkte,  nicht  Begriffe. 
Heimat  ist  hier  ganz  konkret;  Besitz  vor  allem,  kt 
der  Acker,  den  sie  mit  Schweiß  und  Blut  betreut 
haben,  von  dessen  Ertrag  sie  gelebt  haben,  seit  sie  leben. 
Das  Vermögen  ist  bei  ihnen  zugleich  unentrinnbarer  Ge- 
brauch, Geräte,  Haustiere,  die  dienend  mit  den  Menschen 
leben,  von  deren  Dienst  die  Menschen  leben.  Der 
Boden  ist  ihre  absolute  Gegenwart,  aber  auch  die  Ver- 
gangenheit und  Zukunft  ihres  Geschlechtes,  sie  wurzeln 
in  ihm,  mit  ihren  tiefsten  G^tungsinstinkten.  Ihr 
Boden  ist  für  sie  Freiheit,  Selbstbestimmungsrecht, 
Menschenrecht,  Menschenwürde,  und  die  Sicherheit  all 
dieser  Güter.  Ist  der  ihrer  einzig  würdige  Aufenthalts- 
ort auch  noch  als  Grabstätte.  Ist  ihr  soziales  Selbst- 
bewußtsein, unbeirrbarer  Kastengeist.  Und  wie  sie 
selbst  im  Boden  wurzeln,  so  verwurzelt  sich  in  ihnen 
ein  Gedankenkeim,  der  in  die  Fruchterde  dieser  Seelen 
fällt.  Und  ihre  ganze  mütterliche  Treue  umfaßt  diese 
Pflanze  ihres  Innern,  eine  Treue  bis  zur  Selbstauf- 
opferung. Aus  diesen  primitiven,  unbeirrbaren  Kräften 
ergibt  sich  die  rauhe  Dynamik  des  Dramas. 

Es  gibt  natürlich  solche  Menschen  nicht,  aber 
es  gibt  seit  Schönherr  ein  solches  Drama.  Er  hat  seine 
Bauern  aus  einer  inneren  Primitivität,  aus  einer  irgend- 
wie zugleich  sehr  persönlichen  und  überpersönlichen 
Urmenschlichkeit  herausgeholt,  die  sich  nicht  weiter  aus 
einem  Milieu  ableiten,  die  sich  nur  künstlerisch  mit- 
erleben läßt.  Die  menschliche  Anlage  ist  hier  identisch 


46 


mit  einer  dramatischen  Begabung,  wird  restlos  durch 
eine  Technik  ausgedrückt.  Ein  Triumph  dieser  Technik 
scheint  mir  die  Vermenschhchung  der  Staatsmacht  und 
des  Besitzraubes  durch  zwei  Kraftgestalten.  Da  ist  der 
Reiter,  dieser  Mythenmensch,  wie  aus  der  Balladen- 
phantasie des  Volkes  geholt.  Ein  Würger  mit  Herz, 
den  man  persönlich  bekämpfen  und  seelisch  über- 
winden kann.  Der  ganzen  Konzeption  des  Werkes 
nach  soll  der  Katholizismus  den  Bauern  nur  erscheinen 
als  solch  ein  kaiserlicher  Reiter,  der  mit  seinen 
»Fanghunden«,  den  Soldaten,  die  Gegend  säubern 
kommt.  Die  Gestalt  entschädigt  dichterisch  für  solche 
krasse  Verkleinerung.  —  Und  der  andere,,  der  mächtige, 
humorhafte  »Häuserfraß«,  der  Geldbauer,  der  alle 
erledigten  Güter  zusammenkauft.  Auch  er,  seine  prächtig 
erfundene  Situation  und  Gesinnung,  wirkt  Person 
gegen  Person,  pointiert  das  Zurückweichen,  das  Opfern 
der  Anderen  menschlich.  Das  kann  Schönherr:  sach- 
liche Zusammenhänge  in  menschliche  Situationen, 
und  Innerlichkeiten  in  Gegenständliches  verwandeln.  — 
Aber  das  eigentlich  Neue  der  Schönherr'schen  Technik 
scheint  es  mir  zu  sein,  wie  alle  die  Menschen  mit 
sehr  raffinierter  Sparsamkeit,  die  reiche  Fülle  vortäuscht, 
rein  motivisch  verwendet  werden,  wie  sich  eigentlich 
nur  ein  dualistischer  Zustand  entwickelt,  die  Schicksale 
der  einzelnen  aber  nur  als  Bewegungsakzente  in 
diesem  Zustand  auftauchen,  während  er  fortschreitet. 
Schönherr  ist  ein  Meister  der  repräsentativen  Momente. 
Die  Ausführung  des  kaiserlichen  Befehls  bringt  in 
ihrem  natürlichen  Verlauf  eine  sorgfältigste  Steigerung 
des  Antagonismus  Glaube — Heimat,  Bedrängnis — Be- 
kenntnis, Enteignung — Opfer.  Eine  genaue  Artikulation 
bis  in  die  Abschiedsgebärden  hinein.  Es  ist  erstaunlich, 
vie  durchgreifend  die  wenigen  Elemente  verwertet 
werden,  wieviel  Bewegung  die  wenigen  Figuren  machen, 
wie  sie  die  Bewegung  weitergeben,  individualisieren, 
pointieren.  Wie  kunstvolle  Hemmung  und  Ver- 
zögerung sich  ergibt.  Die  beiden  Gesten  des  Fest- 
haltens   und    des  Aufgebenmüssens  sind  raffiniert  in- 


47  — 


einanderkomponiert.  Mit  wenigen  Mitteln  wird  sehr  stark 
der  Eindruck  des  sich  Ankrampfens,  des  Entwurzelt- 
werdens, des  von  der  Kraft  des  Glaubens  Ausgestemmt- 
werdens und  Fortgeschleiftwerdens  eru'eckt.  Und,  bei 
aller  Passivität,  der  Eindruck  des  Sich-Befreiens,  des 
Oberwindens.  Diewahrhaft  christliche  Selbstüberwindung 
des  Letzten  steht  am  Ende  einer  organischen  Reihe  und 
wirft  das  Licht  ihrer  Bedeutung  auf  alle  anderen  zurück. 
Wie  perspektivisch  das  Kleinleben  verteilt  ist,  die 
menschlichen  Züge.  Diese  sechs  Menschen  repräsentieren 
immerhin  Volk.  Wenn  ein  Anwesen  verkauft  wird, 
der  Schreiber  die  Leute  verliest,  die  der  Reiter  austreibt, 
dann  fühlt  man  stark  das  Losreißen  aus  einem 
Organismus.  Wie  die  Leute  sich  noch  einmal  um- 
wenden, oder  sich  ein  für  allemal  abwenden,  die 
Verschiedenheit  des  Schrittes,  der  sie  wegführt,  das 
merkt  man  sich.  Vergißt  nicht  mehr  tausendfaches 
Zaudern  und  doch  Müssen.  Der  Reiter  brauchte  gar 
nicht  sein  Schwert  zu  zerbrechen.  Man  weiß  ihn  besiegt. 


Meine  Vorlesungen 

Sie  sollen  der  Verbreitung  meiner  Bücher  dienen,  die  in 
Deutschland  unbekannt  sind  und  in  Österreich  als  bekannt 
vorausgesetzt  werden.  Darum  habe  ich  nach  dem  zweiten  Wiener 
Leseabend  am  3.  Juni  1910,  der,  wieder  vom  Akademischen  Verband 
für  Literatur  und  Musik  im  Architektensaal  veranstaltet,  noch  stär- 
keren Erfolg  als  der  erste  brachte  —  ich  mußte  nach  »Heine 
und  die  Folgen«  und  der  »Chinesischen  Mauer<  die  >Welt 
der  Plakate«,  den  damals  noch  ungedruckten  »Biberpelz«  und 
das  »Ehrenkreuz«  lesen  — ,  darum  habe  ich  also  die  Einla- 
dung emer  Münchener  Konzertdirektion  zu  einer  Tournee  angenom- 
men. Diese  hat  zunächst  fünf  Abende  umfaßt  und  wird  im  Frühjahr 
ihre  Fortsetzung  finden.  Die  Vorlesung  in  München  (30.  Novem- 
ber) wurde  von  der  Konzendirektion  selbst,  die  Vorlesungen  in 
Frank-furt  (2.  Dezember),  Aachen  (5.  ,  Prag  (12.)  und  Brunn  (14.)  wur- 
den von  den  literarischen  und  akademischen  Vereinen  dieser  Städte 
veranstaltet.  So  unbeträchtlich  zum  größeren  Teil,  in  Lob  und  Tadel, 
die  kritischen  Urteile  sind,  die  mir  gespendet  wurden,  so  notwendir 


48 


ist  es,  sie  hier  zu  zitieren,  weil  die  Wiener  Öffentlichkeit 
von  ihrer  Presse  in  solchem  Falle  noch  immer  nicht  einmal 
ein  Zeichen  bekommt,  daß  etwas  verschwiegen  wird.  Natür- 
lich ließe  sich  auch  an  den  Urteilen  der  fremden  Journalistik  die 
Uninformiertheit,  zu  der  der  Beruf  inkliniert,  durch  drollige  Proben 
beweisen,  und  jene  typische  Unfähigkeit,  auch  nur  die  greifbaren  Tat- 
sachen des  äußeren  Erfolges  darzustellen,  die  zu  den  bekannten 
Widersprüchen  führt,  vor  welchen  der  gläubigste  Leser  zweier 
Morgenblätter  an  der  Offenbarungskraft  der  Druckerschwärze  zu 
zweifeln  beginnt.  Schon  in  München,  wo  immerhin  fünfhundert 
Leute  erschienen  waren,  schwankte  die  Presse  zwischen  einem 
dichtgefüllten  Saal  und  leeren  Bänken.  Der  Herr  in  der  , Mün- 
chener Zeitung'  neigte  sich  der  pessimistischen  Auffassung  zu 
und  setzte  hierauf  das  Wesen  des  Lampenfiebers  auseinander: 

Sein  Auftreten  hat  etwas  Scheues,  Zaghaftes,  aber  wenn  er  erst 
darüber  hinweg  ist,  dann  trägt  er  mit  scharfer  Pointierung,  vielem 
Temperament  und  einer  klaren,  klingenden  Stimme  vor.  Seine  Satire 
richtet  sich  gegen  alles,  was  an  unserer  Kultur  schief  und  faul  ist.  Sein 
Witz  trifft  mitten  ins  Herz  der  Dinge,  und  von  seinem  Geiste  geformt, 
gewinnt  das  Gewagteste  eine  bestechende  Form.  Aber  —  man  sollte 
nicht  so  viel  davon  zu  hören  bekommen.  Und  manches,  wie  der  große 
Essay  >Die  chinesische  Mauer«  —  ein  gewaltiger  Panegyrikus  auf  die 
chinesische,  moralinfreie  Kultur  —  eignet  sich  überhaupt  nicht  für  den 
Vortrag,  da  es  selbst  dem  beweglichsten  Geiste  nicht  möglich  ist,  diesen 
wie  einWolkenbruch  niederprasselnden,  sich  überkugelnden,  verschlingenden 
und  wiedergebärenden  Gedanken,  Bildern,  Assoziationen  und  Konklusionen 
ohne  Ermüdung  bis  zum  Schlüsse  zu  folgen.  Ganz  abgesehen  davon,  daß 
Kraus  hier  dem  von  ihm  nach  Verdienst  zerzausten  Harden  zuweilen  doch 
ganz  bedenklich  nahe  kommt.  Und  wer  sich  selbst  manchmal  in  ein 
Glashaus  verirrt,  sollte  nicht  mit  Steinen  werfen.  Am  besten  gefiel  die 
Mehrzahl  der  funkelnden  Aphorismen  und  die  glänzende  Abfuhr 
Hardens  .... 

Der  Kritiker,  dem  das  Steinewerfen  ja  also  gefällt,  wollte 
vermutlich  sagen,  daß  wer  selbst  mit  Steinen  wirft,  sich  nicht 
manchmal  in  ein  Glashaus  verirren  sollte.  Die  Beleidigung  jedoch, 
daß  meine  > Chinesische  Mauer«  Herrn  Harden  bedenklich  nahe- 
kommt, muß  sich  dieser  nicht  gefallen  lassen;  das  hat  ihm  noch 
niemand  nachgesagt.  Die  , Münchner  Neuesten  Nachrichten' 
aber  schrieben : 

Karl  Kraus  erschien  gestern  abend  zum  erstenmale  im  Jahres- 
zeitensaale und  las  aus  seinen  Schriften  vor.  Seine  plastische  Art  zu 
sprechen,  gab  den  Dingen  Relief,  und  die  baritonale  Wienerische 
Färbung    störte  nur  anfänglich.    Die  Gedankenketten    und  Erkenntnisse, 


—  49  — 


die  Kraus  zutage  fördert,  sind  zu  bedeutend,  als  daß  man  sie  sich 
durch  irgendwelche  Landesfarben  maseriert  vorstellen  möchte.  Nach  der 
grotesken  Paraphrase  »Die  Welt  der  Plakate«  rezitierte  Kraus  einiges  aus 
den  Aphorismen.  Das  geschah  mit  Einfachheit,  aber  auch  ohne  die  Pose 
der  Schlichtheit.  Manches  schöne  Monument  der  Kunst  und  der  Kultur 
sahen  wir  unter  den  Hammerschlägen  dieses  Denkers  in  Trümmer  gehen, 
und  erkannten  im  Schutt,  daß  es  aus  schlechtem  Material  bestanden. 
Mit  den  hundert  nadelspitzen  Bosheiten  über  Maximilian  Hardens  Stil 
und  Art  schloß  der  erste  Teil  des  Programms.  Der  Satiriker  würde  ver- 
mutlich die  Wirkung  vertieft  haben,  wenn  er  die  Belegstellen  aus  der 
Desperanto-Sprache,  wie  er  Hardens  Deutsch  nennt,  dezimiert  hätte.  Daft 
Kraus  nicht  nur  zertrümmern,  sondern  auch  zu  bauen  vermag,  hat  der 
aus  einer  schöpferischen  Phantasie  gezeugte  Essay  Die  chinesische 
Mauer  dargetan.  Die  Ermordung  der  Elsie  Siegel  im  Chinesenviertel 
wird  hier  zum  Ausgangspunkt  einer  grandiosen  Rhapsodie,  die  in  Donnern 
zum  alten  Europa  redet.  Das  zahlreiche  Publikum  brach  nach  Beendigung 
der  Vorlesung  in  stürmischen  Beifall  aus  und  brachte  dem  Autoi 
Ovationen  dar.  E 

Die  , Münchener  Post'  schrieb-: 

Karl  Kraus,  der  uns  Münchnern  vor  allem  als  Mitarbeiter  iles 
Simplicissimus  bekannte  Herausgeber  der  Wiener  Fackel,  saß  Mittwoch 
abend  im  Festsaal  der  Vier  Jahreszeiten  am  Vortragspult  und  las  aus 
seinen  im  Verlag  Albert  Langen  erschienenen  Aphorismen  und  Aufsätzen 
ausgewählte  Bruchstücke.  Kraus  ist  ein  Verneiner  von  seltener  Rück- 
sichtslosigkeit, ein  Spötter  von  blitzender  Stilgewalt,  ein  Angreifer  von 
katzenhafter  Bissigkeit.  Ich  möchte  den  Dämon,  der  in  ihm  lauert,  eher 
eine  Ausgeburt,  denn  einen  Sohn  unserer  qualvoll  zerrissenen  Zeit 
nennen.  Seine  Ironie  sprüht  wie  brodelnder  Gischt  und  steigert  sich 
zum  pathetischen  Haß.  Mit  affenartiger  Behendigkeit  hüpft  sie  in  einem 
Satz  dem  Zeitgeist  ins  Genick  und  hetzt  ihn  hohnlachend  zu  Tode.  Zu 
jenem  Tode,  den  eben  nur  die  Lächerlichkeit  gebiert.  Doch  Krausens 
Lachen  klingt  selbst  abgehetzt,  nicht  befreiend.  Und  will  es  auch  gar 
nicht.  Es  ist  ein  kurzes,  stoßweis  meckerndes  Gelächter  voll  satanischer 
Bosheit.  Es  ist,  als  kläUjje  geheime  Lust  daraus,  daß  die  Welt  so 
schlecht  sei  !  Aber  dies  Lachen  ist  von  zeitgemäßer  Suggestionskraft. 
Diese  liegt  in  der  unberechenbaren  Sprunghaftigkeit  der  Krausschen 
Gedankengänge,  in  der  Verwegenheit  ihrer  Logik,  in  der  aphoristischen 
Knappheit  des  Ausdrucks.  So  bildeten  denn  auch  die  besten  der  vor- 
getragenen Aphorismen  und  kürzeren  Satiren  wohl  den  Angelpunkt  des 
Abends.  Den  tollen  Reigen  eröffnete,  frisch  und  frech  wie  ein  Attacke- 
ritt, und  durch  den  lebendigen  Vortrag  entsprechend  pointiert,  die 
Kultursatire  DieWeltder  Plakate.  Dann  folgte  der  beliebte  Frontangriff 
gegen  Ma.ximilian  Hardens  Schreibunarten,  für  die  Kraus  den  witzigen 
Namen  >Desperanto<  geprägt  hat  Doch  verlor  sich  hier  der  Vortrag  in 
die  Breite  und  büßte  so  manches  von  seiner  Wirkung  ein.  Unter  dem  Ober- 
maß von  spitzfindigen  Zumutungen  an  seine  Fassungskraft  ermattete  das 
Publikum  sichtlich  und  rasch.  Zumal  als  sich  der  Autor  schließlich  bei  der 
Vorlesung  des  Essays  Die  chinesische  Mauer  —  einer  leidenschaftlich 


—  50 


zugespitzten,  von  jüngeren  amerikanischen  Geschehnissen  veranlaßten 
Philippika  über  die  >gelbe  Gefahr«  und  den  Kulturbankrott  der  weißen 
Rasse  —  in  ein  rasendes,  von  keuchendem  Pathos  getragenes  Tempo 
hineinhetzte.  Doch  geizte  die  Verehrerschar  nicht  mit  ihrem  Beifall, 
der  zum  Schluß  dem  unentwegten  Skeptiker  auf  dem  Podium  sogar 
mehrfache  Verbeugungen  ablockte.  P. 

Die  , Augsburger  Postzeitung'  schrieb  unter  dem  Titel 
>Karl  Kraus  kontra  Harden<: 

Von  Karl  Kraus,  der  seit  elf  Jahren  in  Wien  die  Wochenschrift 
.Fackel'  herausgibt,  weiß  man  längst,  mit  welcher  diebischen  Freude  er 
die  raffiniert  berechnete  Mache  und  besonders  den  ungenießbaren  Stil 
Hardens  karikiert.  Darum  bot  die  von  Karl  Kraus  am  30.  November 
im  Jahreszeitensaal  in  München  veranstaltete  Vorlesung  auch  demjenigen 
Vergnügen,  der  sonst  für  den  Zynismus  des  Gesellschaftskritikers  vom 
,Simplicissimus',  von  der  .Fackel',  vom  ,März'  wenig  übrig  hat.  Kraus 
verlas  mit  guter  Pointierung  seinen  im  September  d.  J.  im  ,März' 
erschienenen  Aufsatz  >Desperanto,  Versuch  einer  Übersetzung  aus  Harden*, 
eine  mit  köstlichen  Bosheiten  durchspickte  Verulkung  des  Hardenschen 
Stils,  der  >Desperantosprache,  die  wie  keine  andere  die  Möglichkeit 
bietet,  sämtliche  Nationen  auf  dem  gemeinsamen  Boden  gegenseitigen 
Mißverstehens  zusammenzuführen«.  (Folgen  einige  Proben)  ....  Im 
übrigen  konnte  ich  mich  nur  mit  der  frischen,  originellen  Skizze  »Die 
Welt  der  Plakate«  aus  der  Aufsätze-Sammlung  >Die  chinesische  Mauer« 
befreunden,  auch  noch  mit  einigen  witzigen,  feingeschliffenen  Aphorismen 
aus  den  »Sprüchen  und  Widersprüchen«.  Als  der  Aufsatz  über  den 
Newyorker  Kuli-Mord  an  Elsie  Siegel  (Juli  IQOQ)  kam,  glaubte  ich,  daß 
die  in  der  Buchausgabe  enthaltenen  krassen  Zynismen  über  chinesische 
Päderastie  wegbleiben  werden;  aber  auch  diese  verlas  Kraus,  ohne  Rück- 
sicht auf  die  eleganteren  Forderungen  guten  Geschmacks  und  zur  größten 
Verlegenheit  der  zahlreich  anwesenden  Damen. 

Schon  am  übernächsten  Tag  fand  die  Vorlesung  in  Frankfurt 
statt.  Die  (Frankfurter  Nachrichten  und  Intelligenzblatt' 
hatten  einen  längeren  Artikel,  der  viel  Anerkennung,  die  Fest- 
stellung des  großen  Erfolges,  aber  leider  auch  eine  Inhaltsangabe 
des  Essays  »Die  chinesische  Mauer<  brachte: 

Der  Umstand,  daß  bei  diesem  Manne  zweitausend  Liebesbriefe 
weißer  Frauen  gefunden  wurden,  gebe  dem  Ereignis  seine  kulturbange 
Größe.  Dasselbe  zeige  sich,  wenn  Menschen  fremder  Rasse, 
die  Genuß  und  Ethik  auseinanderhalten,  sich  auf  unseren 
Jahrmärkten  zeigen.  Auch  diese  Auseindersetzung  in  ihrer  schlag- 
wortreichen Verallgemeinerung  fand  lebhaften  Beifall,  der  allerdings  zum 
Teil  der  blendenden  Fassung  und  der  feurigen  Wärme  des  Vortrags 
zuzuschreiben  ist.  ...  In  seinem  Buche  »Sprüche  und  Widersprüche«,  also 
im  Aphorismus  spricht  sich  seine  besondere  Veranlagung  am  besten 
aus  und  in  dieser  Abteilung  konnte  er  auch  seine  Stilkunst  in  blitzenden 
Pointen  ausstreuen.  .  .  .    Lebhafte  Hervorrufe   zum   Schluß  sagten   Ihm, 


51 


daß  er  mit  seinem   Debüt   gefallen   hatte,   er   wird  sie   als  Zustimmung 
ZQ  seinen  ethischen  Folgerungen  nehmen. 

Da  sei  Gott  vor.  Der  sozialdemokratischen  ,Volksstirame' 
ginge  ein  solcher  Umschwung  in  Frankfurt  auch  sehr  wider  den 
Strich.  Sie  ist  überhaupt  gegen  das  Niederreißen: 

Als  Kulturkämpfer  geißelt  Kraus  alle  Erscheinungen  an  Unkultur, 
indessen  er  gei&elt  bloß,  warum  das  so  ist  und  wie  man  die  Sache 
von  der  Wurzel  aus  positiv  bekämpfen  kann,  überläßt  er  besser  schon 
dem  .Kunstwart'. 

Dieser  tiefen  Bemerkung,  die  auch  im  ,Kunstwart'  stehen 
könnte,  reihen  sich  andere  an;  darunter  die  zugleich  taktlose,  daß 
ich  >einen  jener  berühmten  literarischen  Reklameprozesse  herauf- 
beschworen habe«.  Lästig  genug  war  bisher  der  Vorwurf,  daß 
ich  unkluger  Weise  einer  Reklame  gegen  mich  geholfen  hätte.  Zum 
guten  Ende  —  warten  wirs  ab  —  wird  dieser  Prozeß  am  wenigsten 
einer  Presse  zur  Reklame  gereichen,  die  ihre  schmutzige  Hand 
beschmutzt  hat,  als,  sie  ihn  berührte,  und  nicht  ahnend,  worum 
es  sich  handle,  mein  notgedrungenes  Tun  so  infam  mißdeutet 
hat  wie  mein  notgedrungenes  Schweigen.  Der  sozialdemo- 
kratische Kritiker  nennt  mich  im  Übrigen  »einen  Spaßmacher 
der  heutigen  großbürgerlichen  Gesellschaft«,  einen  »glänzenden 
Schriftsteller,  der  nicht  immer  ernst  genommen  wird,  der  aber 
immer  interessiert«  und  setzt  hinzu:  >etwa  wie  man  über  einen 
Dackel  lacht,  der  immer  das  Gegenteil  tut  von  dem,  was  man  ihm 
sagt«.  So  renitent  ist  ein  sozialdemokratischer  Preßköter  nicht. 
Er  gibt  sogar  positiv  zu,  daß  es  »ein  unterhaltsamer,  amüsanter 
Abend  war,  den  man  der  Gesellschaft  für  ästhetische  Kultur 
danken  kann<. 

Die  »Frankfurter  Zeitung*  aber  brachte  als  Vorl)ericht 
den  folgenden  Artikel: 

Unter  dem  Titel  »Die  chinesische  Mauer«  hat  der  Wiener 
Satiriker  Karl  Kraus  (der  heute  Abend  in  der  Frankfurter  Gesellschaft  für 
ästhetische  Kultur  aus  seinen  Werken  vorliest.  D.  Red.  bei  Albert  Langen 
in  München  einen  Band  gesammelter  Aufsätze  herausgegeben,  die 
ursprünglich  zum  Teil  in  der  .Fackel',  zum  Teil  im  .Simplicissimus' 
erschienen  sind.  Es  ist,  wie  sich  von  selbst  versteht,  ein  Band  Ketzereien, 
auch  viel  Kanalräumerarbeit  darunter,  aber  mit  silberner  Schaufel  ver- 
richtet. Mit  dem  Satiriker  darüber  zu  rechten,  wo  er  Recht  hat,  wo  er 
blutig  übertreibt,  wäre  Verkennung  des  Wesens  der  Satire,  die  ihr  gut 
Teil  Narrenfreiheit  beanspruchen  darf  und  davon  lebt,  sich  immer  von 
neuem  darüber  zu  entrüsten,  daß  der  Herrgott  bei  der  Erschaffung  des 


52 


Menschen  mehr  Lehm  als  göttlichen  Odem  verwendet  hat.  Der  Satiriker 
muß  nur  in  der  Tendenz,  nicht  in  der  Tonstärke  Recht  haben,  ja  die 
groteske  Übertreibung  ist  eines  der  Kunstmittel,  durch  die  er  wirkt. 
Und  in  der  Grundtendenz  hat  Kraus  Recht.  Er  verteidigt  die  feinnervige 
Persönlichkeit  gegen  die  überall  sich  breit  machende  selbstzufriedetie 
Trivialität,  gegen  die  Klischees  des  Gedankens  und  der  ungeprüften 
Moral.  In  der  Form  verleitet  ihn  die  witzige  Pointe;  in  der  Sache  ist 
er  ein  Fanatiker  seiner  Überzeugung  oder,  wenn  man  will,  seiner  Welt- 
anschauung. Uns  mutet  er  fast  tragisch  an.  Er  reibt  sich  die  Hände 
wund  in  den  Ekstasen  seiner  Entrüstung  und  seines  Absehens  und  muß 
erleben,  daß  seine  Wutausbrüche  von  derselben  Menge,  die  er  verhöhnt, 
als  Tafelsenf,  als  mixed  pickles  zum  täglichen  Rindfleisch  genossen 
werden.  Wir  wollen  es  abwarten,  wie  lange  er  den  aussichtslosen  Kampf 
gegen  das  Niederträchtige  und  Gemeine  in  allen  Formen  weiterkämpft. 
Vielleicht  erinnert  er  sich  einst  des  Sprüchleins  von  Goethe,  das  von 
solchem  Kampfe  abrät.  Bis  dahin  können  wir  uns  immerhin  bei  vielem 
Widerspruch  im  einzelnen  der  blutigen  Geißelhiebe  freuen,  die  er  aus- 
teilt. Die  meisten  Artikel  des  Bandes  sind  durch  >Aktualitäten<  veran- 
laßt; es  spricht  für  die  Qualität  der  Arbeit,  daß  sie  heute,  nachdem  der 
Anlaß  fast  unserem  Gedächtnis  entschwunden  ist,  noch  mit  dem  gleichen 
literarischen  Behagen  gelesen  werden  können  wie  zur  Zeit  ihres  Er- 
scheinens. Damals  wirkten  sie  wie  Schnaps  nach  schmalzigfetten  Ge- 
richten; jetzt  als  aromatischer  Likör.    —    Dr.   H.  G.  (Wien). 

Der  Bericht  über  den  Vortrag  lautete: 

Im  Saale  des  Kaufmännischen  Vereinshauses  las  gestern  Abend 
auf  Veranlassung  der  Gesellschaft  für  ästhetische  Kultur  Karl  Kraus, 
der  ,Fackel'- Kraus,  aus  seinem  Werk  vor.  Zuerst  die  phantastische 
Skizze  »Die  Welt  der  Plakate«,  in  der  die  Gesamtheit  der  uns  täglich 
und  stündlich  in  die  Augen  fallenden  Affichen  die  reale  Welt  verdrängt 
und  den  unglücklichen  Beschauer  zum  Wahnsinn  treibt;  dann  folgten 
Aphorismen.  Aphoristische  Geistesblitze  zu  verfassen  ist  bei  einigem 
Training  nicht  schwer.  Es  gibt  Leute,  die  täglich  nach  dem  Frühstück 
ein  Dutzend  fabrizieren.  Die  Aphorismen  von  Kraus  unterscheiden  iich 
von  gleichnamigen  Erzeugnissen  dadurch,  daß  sie  nicht  von  der  Freude 
am  Geistreichen  diktiert  sind,  sondern  von  dem  glühenden  Haß  gegen 
das  Philistertum  in  jeglicher  Gestalt;  und  so  gut  hassen  wie  Kraus 
können  nur  wenige.  Außer  einigen  Proben  aus  seinem  Harden-Lexikon 
brachte  der  zweite  Teil  des  Programms  den  Essay  »Die  chinesische 
Mauer«  (der  auch  dem  in  der  gestrigen  Nummer  besprochenen  Sammel- 
band den  Titel  gegeben  hat).  Es  ist  erstaunlich,  wie  Kraus  es  versteht, 
einen  fktuellen  Gegenstand,  wie  es  der  Mord  der  Elsie  Siegel  durch 
einen  Chinesen  war,  aus  der  zeitlichen  Sphäre  journalistischer  Aktualität 
zu  heben  und  in  den  denkbar  weitesten  Rahmen  großer  Kulturzusammen- 
hänge zu  spannen.  Die  Vortragsweise  Kraus',  die  zwar  in  der  Verteilung 
der  Höhepunkte  unökonomisch  verfährt,  aber  durch  das  energische 
Temperament  und  die  eindringliche  Überzeugungskraft  von  starker 
Wirkung  ist,  fand  bei  den  Zuhörern  vielen  Beifall.  —  x. 

Dem  Herrn  von  der  , Kleinen    Presse'  jedoch  waren  die 


--  53  — 

dreizehnhundert  Hörer  nicht  genug;  er  stellte  fest,  der  Saal  sei  nur 
halb  gefüllt  gewesen  und  tröstete  mich  damit,  daß  der  »Antipode 
Harden,  als  er  hier  auf  eigene  Rechnung  spielte,  noch  schlechtere 
Geschäfte  gemacht«  habe.  Der  Mann  hatte  den  Ehrgeiz,  in  einer 
längeren  Kritik  zu  beweisen,  daß  ich  ein  »glänzender  Journalist«, 
aber  »eben  doch  nur«  ein  dilettantischer  Vorleser  sei.  Im  Vortrag 
der  Glossen,  Satiren,  Aphorismen  sei  ich  zwar  vortrefflich.  Aber 
dort  wo  'ch  >;n  gedämpften,  verhaltenen,  wiegenden,  singenden 
Tönen  rede«,  da  gehe  es  nicht  mehr.  Und  mit  China  habe  ich 
auch  Unrecht. 

Diese  Pamphletisten,  die  so  geistreich  sind,  daß  sie  zuweilen 
schier  nicht  wissen,  wohin  mit  ihrem  Vermögen,  geben  eben  doch  nur 
sozusagen  das  Salz  zur  Suppe  und  in  einem  alten  Lesebuch  findet  sich 
der  Satz:  Rindfleisch  ohne  Senf  ist  besser  als  Senf    ohne    Rindfleisch. 

Darum  ist  es  gut,  daß  wenn  einmal  Senf  nach  Frankfurt 
kommt,  gleich  ein  ganzer  Ochs  da  ist.  Tief  enttäuscht  ist  der 
Kritiker  von  meinem  Aussehen.  Man  hat  sich  nach  meinen  Schrif- 
ten eine  eckige,  kantige  Stirn  vorgestellt  und  »sah  erstaunt  einen 
ganz  andern  Mann  auf  der  Bühne,   knochig   von    Gestalt  u.  s.  w« 

Im  Vergleich  zu  der  einstudierten  Schauspielerei  Hardens  eine 
angenehmere  Erscheinung.  Und  doch  auch  eine  Enttäuschung.  Aber  das 
kommt  von  dieser  neuen  Mode,  die  Literaten  statt  durch  ihre  Werke, 
persönlich  sprechen  zu  lassen.  Das  kann  immer  nur  eine  oberflächliche 
Bekanntschaft  zwischen  Autor  und  Publikum  geben,  und  manchmal 
sind  beide  Teile  damit  nicht  recht  zufrieden. 

Sehr  richtig.  Natürlich  wäre  es  besser  gewesen,  so  einen 
Frankfurter  wie  diesen  Frankfurter  näher  kennen  zu  lernen. 
Und  ganz  besonders  bedaure  ich  solche  Einbuße  bei  den 
dann  kommenden  Aachener  Individualitäten,  die  das  Malheur 
hatten,  meine  oberflächliche  Bekanntschaft  zu  machen,  ohne 
daß  es  mir  vergönnt  war,  sie  in  der  Nähe  zu  besichti- 
gen. In  Aachen,  wo  das  Leben  immer  nur  als  eine  Folge  ver- 
gangener Freuden  empfunden  wird,  fand  ich  eine  ziemlich  ge- 
drückte Stimmung  vor.  Ein  Bekannter  warnte  mich,  die  Bevöl- 
kerung sehe  einer  bangen  Zukunft  entgegen,  ich  sei  in  eine  ungünstig "^ 
Zeit  hineingekommen,  in  der  man  besonders  einem  Mann,  der 
direkt  aus  Frankfurt,  der  Stadt  Ehrlichs,  eintreffe,  mit  Mißtrauen 
begegnen  müsse.  Er  sollte  recht  behalten.  Aus  Furcht,  die  Aachener 
könnten  am  Ende  zum  Unterschiede  von  den  Frankfurtern  meinen  ethi- 
schen Folgerungen  zustimmen,  unterließ  ich  es,  ihnen  die  »Chinesische 
Mauer*  vorzulesen,  aber  ich  fand  sie  kalt  genug,  um  ihnen  dafür 


—  54  - 

die  »Entdeckung  des  Nordpols«  zu  bieten.  Die  Stelle:  »Wie  viele 
Pioniere  des  Gedankens  waren  verhun5>ert  und  wurden  ein  Fraß 
jener  wahren  Bestien  des  Eismeers,  deren  bloßes  Dasein  die 
Sperre  der  geistigen  Zone  bedeutet!«  brachte  ich  besonders  stark 
zur  Geltung.  Die  Worte:  >Man  hatte  so  lange  den  Walrossen 
Gedichte  vorgelesen,  bis  sie  schließlich  die  Entdeckung  des  Nord- 
pols mit  verständnisvollem  Kopfnicken  begleiteten<,  rief  ich  in  den 
Saal,  und  das  Publikum  applaudierte.  Der  liebenswürdige  Vorsitzende 
der  Literarischen  Gesellschaft,  der  sich  die  größte  Mühe  gibt,  die 
Bevölkerung  zu  literarischen  Neigungen  zu  verführen,  versicherte, 
daß  die  Aachener,  die  noch  mit  allen  Autoren  fertig  ge- 
worden sind,  mir  einen  Erfolg  bereitet  hätten.  Ich  glaubte  es 
nicht,  floh  den  Ort  und  tausend  Flüche  der  Aachener  Jour- 
nalistik donnerten  mir  nach.  Es  war,  als  ob  die  schweigende 
Rache  der  Wiener  Presse  sich  nach  Aachen  aufgemacht  hätte,  um 
dort  wider  mich  zu  zeugen.  Das  .Politische  Tageblatt' 
(amtlich,  unparteiisch)  war  noch  gnädig: 

Die  Literarische  Gesellscliaft  hatte  den  bekannten  Satiriker 
und  »Kulturkritiker«  Karl  Kraus  aus  Wien  zu  einem  Vortrag  aus  eigenen 
Werken  gewonnen.  Schon  lange  vor  Beginn  füllte  gestern  Abend  eine 
dichtgedrängte  Menge  den  großen  Erholungssaal,  um  den  geistreichen 
Herausgeber  der  ,Facker  und  Mitarbeiter  des  .Simplicissimus'  von  An- 
gesicht zu  Angesicht  zu  sehen.  Jedenfalls  werden  alle  der  Literarischen 
Gesellschaft  für  diese  Gelegenheit  dankbar  sein.  Ob  aber  der  Vor- 
tragende selbst  nicht  vielen  eine  kleine  Enttäuschung  brachte?  (Folgt 
eine  Inhaltsangabe) ....  Deutlicher  kam  des  Dichters  Absicht,  die  Schwäche 
der  Mitwelt  unbarmherzig  bloßzustellen,  in  den  nun  folgenden  Apho- 
rismen zum  Ausdruck.  Es  wäre  verlorene  Liebesmüh,  über  Recht  und 
Unrecht  dieser  kühnen  Geistesblitze  mit  dem  Verfasser  zu  rechten  und 
als  Splitterrichter  alle  ihre  offenkundigen  Übertreibungen  aufzuspüren 
(Folgen  Zitate) ....  Überhaupt  die  Zeitungen,  Redakteure,  Verleger,  Jour- 
nalisten, ja  selbst  das  Papier,  auf  dem  sie  schreiben  und  drucken,  schei- 
nen Herrn  Kraus  sehr  übel  mitgespielt  zu  haben,  denn  jeder  dritte 
Satz  enthielt  irgend  einen  mehr  oder  minder  blutigen  Seitenhieb  auf  die 
Presse,  den  »Kropf  der  Welt<.  Sie  ist  sogar  schuld  daran,  daß  —  — 
in  Österreich  die  Schmetterlinge  selten  werden.  (Folgt  Inhalt  von  Despe- 
ranto) ....  Dann  mußten  Cook  undPeary,  die  Nordpolsucht  der  Mensch- 
heit und  der  Naturforschungstrieb  im  allgemeinen  und  besonderen  her- 
halten, um  der  Menschheit  ganzen  Jammer  auch  von  dieser  Seite  mit 
beißendem  Spott  zu  übergießen.  Ob  aber  Herr  Kraus  die  Geißel  auch 
noch  so  eifrig  schwingt,  die  Masse,  die  er  treffen  will,  lächelt  ob 
seinem  zornigen  Übereifer  und  läßt  ihm  das  eigenartige  Vergnügen, 
sich  an  der  bunten  Welt  zu  reiben,  »um  zu  sehen,  ob  die  Farbe 
herutitergeht«.  Sie  freut  sich  an  der  blendenden  Hülle,  der  geist-  und 
pointenreichen  Sprache  seiner  Satiren,  den  bitteren  Kern  der    darin  ver- 


55 


steckten  Wahrheiten  herauszuschälen,  werden  sich  nur  wenige  Mfihe 
geben.  Viele  seiner  Satiren  sind  ja  auch  als  bloße  Humoresken  genom- 
men prächtige  Stücke,  die  das  Lesen  lohnen. 

Dagegen  freute  sich  das  klerikale  , Echo  der  Gegenwart', 
daß  die  Aphorismen  >niit  eisigem  Schweigen  aufgenommen«  wur- 
den. Die  andern  »Sächelchen<,  die  »hätten  sich  unter  wohlwollender 
Zuhilfenahme  des  Rotstifts  zu  ganz  interessanten  Zeitungsplau- 
dereien zusammenschweißen  lassen«.  Ich  hätte  das  Publikum  »nicht 
so  gelangweilt,  wenn  ich  nur  standfest  bei  der  .Entdeckung  des 
Nordpols' geblieben  wäre«.  »Die  Polizei«,  wünschte  das  Blatt,  möge 
mir  »mein  edles  Selbstbewußtsein  erhalten«.  Die  liberale  .Allge- 
meine Zeitung'  war  aber  auch  nicht  faul  und  rief  mir  das 
Schimpfwort  »Wiener  Journalist«  zu. 

Diese  Werke  waren  Feuilletons,  die,  wenn  ich  nicht  irre,  inder 
.Zeit'  oder  im  ,Neuen  Wiener  Tagblatt'  schon  längst  die  Drucker- 
schwärze erlitten  haben Beißender  Hohn,  stark  mit  Sentimentalität  von 

der  Donau  gemischt,  bisweilen  vortrefflich  glänzend,  in  der  Form,  aber 
doch  nur  Form,  nichts  von  Inhalt.  Am  besten  wohl  war  die  Ober- 
setzung aus  dem  Desperanto  der  Hardenschen  Sprache  in  das  gebräuch- 
liche Deutsch.  Aber  die  Einleitung  dazu  zeugte  von  dem  bedauerlichen 
Ton  eines  fast  neidisch  zu  nennenden  Urteils  über  die  deutsche 
Publizistik  und  ihre  besten  Vertreter.  Auch  die  Aphorismen  waren, 
wenn  auch  nicht  neu,  originell  oder  leicht,  so  doch  recht  bitter,  namentlich 
die  über  die  Presse,  den  »Kropf  der  Welt«.  Ober  den  Geschmack,  das 
eigene  Nest,  auf  dem  man  selbst  lange  Zeit  gesessen,  so  herab- 
zuziehen, läßt  sich  ja  streiten.  Aber  vielleicht  ist  Herr  Kraus 
auch  gar  nicht  einmal  im  wahren  Sinne  des  Wortes  Jour- 
nalist gewesen;  man  kann  zu  diesem  Schlüsse  kommen;  denn  sonst 
hätte  Herr  Kraus  —  Aktualität  ist  das  erste  Erfordernis  für 
einen  Journalisten  seiner  Art  —  uns  statt  des  Feuilletons 
über  Cooks  Entdeckung  des  Nordpols  besser  ein  solches  über  Cooks 
jetzigen  Rückzug  und  das  Geständnis  seiner  Verrücktheit  vorgelesen  .... 

Es  ist  noch  zu  übertreffen.  Während  mich  ein  Frankfurter 
als  dilettantischen  Vorleser  bezeichnet,  meint  der  Aachener  im 
,Volksfreund'  (sozial)  mit  Recht,  daß  ich  >im  Gegensatz  zu 
anderen  Selbstschaffenden  über  eine  anerkennenswerte  Vortrags- 
kunst verfüge,  die  dem  oft  äußerst  dürftigen  Inhalt  nicht  wenig 
zu  statten  kommt«.  Immerhin: 

»Die  Welt  der  Plakate«,  eine  übrigens  recht  frische  Skizze, 
leitete  die  Vorlesung  ein.  Wenn  sie  auch  auf  Originalität  weniger  An- 
spruch erheben  kann,  so  zählte  sie  doch  zum  besten  des  Abends.  Das 
gleiche  gilt  von  einer  bunten  Schar  mehr  oder  minder  geistreicher 
Aphorismen,    welche    des    kristallen     Schliffes     nicht     entbehren.     Die 


56  — 


Feuilletonisten  kommen  bei  Herrn  Kraus  nicht  besonders  weg.  Schlechte 
Erfahrungen? 

Auf  diese  Frage  läßt  sich  der  Kritiker  nicht  weiter  ein,  so 
wie  man  bekanntlich  auch  die  schlechten  Erfahrungen,  die  ein 
weiberfeindlicher  Philosoph  mit  den  Weibern  gemacht  haben  mag, 
nur  diskret  andeutet. 

Maximilian  Harden  zählt  nicht  zu  den  besten  Freunden  des 
Wiener  Satirikers;  mit  besonderer  Vorliebe  karikiert  er  den  bei  aller 
Härte  doch  nicht  ungenießbaren  Stil  Hardens;  er  ist  eben  etwas  Per- 
sönliches und  deshalb  mißlingen  auch  die  Versuche,  ihn  zu  kopieren, 
wie  sie  ja  Nanriy  Lambrecht  —  im  Roman  übrigens  noch  mehr 
deplaciert  —  unternommen  hat  .... 

Nachdem  dies  geschehen  war,  flog  ich  wie  eine  Motte  ins 
Licht,  nämlich  nach  Berlin.  Die  norddeutsche  Provinz  steht  um 
so  viel  hinter  der  Hauptstadt  zurück,  als  Wien  hinter  der  öster- 
reichischen Provinz.  In  Prag  und  Brunn  habe  ich  angenehme 
Tage  erlebt,  für  die  ich  den  Studenten,  die  mich  eingeladen  hatten, 
so  dankbar  sein  werde,  wie  sie  mir  für  die  Abende.  In  Prag  erhielt 
ich  vor  der  Vorlesung  von  einem  anonymen  Warner  die  fol- 
genden gutgemeinten  und  gutgedachten  Verse: 
An  Karl  Kraus 

Vergiftet  rinnt  des  Wissens  Quelle 

In  Ketten  liegt  des  Geistes  Kraft, 

Des  Volkes  Sinn  in  enger  Zelle 

Seufzt  in  des   > Freien  Druckes«  Haft. 

Das  freie  Wort  aus  freier  Feder  — 
Einst  Lehr'  und  Waffe,  Nutz  und  Trutz  — 
Zum  Schacher  sank  es,  öd  und  öder  — 
Der  Sprache  Gold  in  tiefsten  Schmutz  1 

Wo  überzeugter  Worte  Brausen 
Die  Welt  gewann,  Tyrannen  zwang,   — 
Da  folgen  kläffend  die  Banausen 
Des  Freibillets  dem  Zeilendrang. 

Du  hast's  gewagt!  Den  Ekel  zwingend 
Hell  aufgezeigt  die  Fratze  stumpf, 
Und  mit  der  Fackel  Leuchte  dringend 
Gewatet  in  dem  Irrlichtsumpf. 

Der  Wiener  Preßmob  flennt  von  Hieben  — 
Ein  Gott  an  Wissen  und  Talent, 
Ein  Vorbild,  täglich  abgeschrieben. 
Dem,  was  bei  uns  sich  »Prssse«  ntnnt. 


57 


O,  flieh  des  Schmocktums  Epigonen, 
Wo,  selbst  Im  Abklatsch  noch  verzerrt, 
Die  Reinkultur  der  Pressedrohnen 
Der  reinen  Luft  den  Weg  versperrt  I 

Dein  Wort,  was  solls  im  Kreis  der  Narren? 
Entweih  der  Sprache  Schätze  nicht! 
Schon  reih'n  sie  sie  an  ihren  Schmarren. 
Hält  man  im  Narrenhaus  Gericht' 

Lies  in  der  Wildnis !  Lies  vor  Tauben  I 
Den  Aussatz  flieh!  Noch  kannst  Du  flieh'nl 
Sie  werden  sonst  mit  Deinem  Glauben 
Dich  doch  zum  Mist  herunterzieh'n  I 

Ich  floh  nicht,  war  aber  entschlossen,  etwas  mehr  Aphoris- 
men über  die  Presse  zu  lesen  und  sie  beim  geringsten  Widerspruch 
durch  den  Vortrag  des  Gedichtes  zu  ergänzen.  Das  blieb  mir  erspart. 
Ich  gab  aber  bei  den  Aphorismen  miinisch  zu  erkennen,  daß  ich 
einige  ganz  bestimmte  Individualitäten  im  Saale  suche.  Eine  von 
ihnen  hatte  meinem  Vortrag  in  der  ,Bohemia'  präludiert.  Ein 
Feuilleton,  >Die  Atmosphäre  des  Hasses«,  geschrieben  von  der  Un- 
fähigkeit zum  Haß,  geschrieben  von  der  Begabung,  mit  vollem  Namen 
anonym  zu  bleiben,  hatte  ebenso  feige  wie  dreckige  Anspielungen 
auf  >den  Prozeß <  enthalten.  Der  Autor,  der  einst  in  Wien  seine 
untätige  Assistenz  bei  einer  Aktion  des  Hasses  gebüßt  hat,  wurde 
nicht  in  den  Vortrag  geschickt.  Dafür  ein  Kollege,  der  wiederum  auf 
dem  Umweg  über  Berlin  ein  Prager  Schmock  geworden  ist.  Aber  auch 
dieser  Herr,  der  ehedem  um  seines  literarischen  Anstands  gelobt 
wurde,  erfüllte  die  Aufgabe,  in  den  Vortragsbericht  eine  Anspie- 
lung auf  »den  Prozeß«  hineinzunehmen.  Diese  armen  Teufel,  die 
völlig  ahnungslos  immer  dorthin  laufen,  wo  sie  einen  »Gegner*  von 
mir  wittern,  tun  mir  schon  heute  so  leid,  daß  ich  am  liebsten 
reelle  Gelegenheiten  für  sie  erfinden  möchte,  wo  etwas  gegen  mich 
zu  holen  ist.  Diese  ist  es  nicht  —  rette  sich  wer  kann.  Ich  habe 
gewarnt  und  will  nicht,  daß  mir  hinterher  Vorwürfe  gemacht 
werden.  Wenn  man  nun  aber  anderseits  bedenkt,  daß  die  halbe 
Redaktion  der  ,Bohemia'  infolge  eines  anderen  Prozesses,  jenes, 
der  einst  auf  Wiener  Boden  gespielt  hat,  befangen  ist,  daß  die 
ganze  von  der  Neuen  Freien  Presse  abhängig,  der  Kritiker  ein 
Liebling  des  Herrn  Harden  ist,  und  schließlich  diesem  auch 
in    Prag  einige   Aphorismen   und   der   Presse    als   ganzer    sogar 


—  58  — 


viele    gewidmet    waren,  dann    muß    man  die  folgende  Rezension 
sehr  anständig  finden: 

Karl  Kraus  in  der  Lesehalle 

Er  ist  in  seine  zweite  Periode  eingetreten  und  die  .Fackel'  in 
ihren  zwölften  Jahrgang.  Er  ist  auch  nicht  mehr  der  Fackelkraus  allein. 
Er  gehört  zu  den  Autoren  des  Längen-Syndikats,  und  er  protegiert  den 
, Sturm' Er  ist  Sprachbildner,  und  er  bereist  die  Städte  zweier  Monar- 
chien. So  kam  er,  ein  Privatgelehrter,  auch  in  unser  melancholisches  Prag. 

Zum  Anfang  las  er  etliche  jener  Aphorismen,  wie  er  sie  eine  Zeit 
lang  in  Masse  produziert  hat.  Eine  Zahl  der  witzigsten  Perfidien  ist 
darunter  und  ein  ganzes  Schock  von  Erkenntnissen,  die  einem  tiefen 
Atemzug  gleichen.  Aber  noch  überwiegen  die  Aphorismen  aus  Inconti- 
nentia, aus  eiliger  Notdurft  des  Geistes,  die  Sprüche,  die  ein  lästiges 
>Niesen  des  Verstandes«  sind.  Beim  ersten  denkt  man  an  Schopenhauer, 
beim  zweiten  an  Lichtenberg.  Beim  dritten  an  Saphir.  Beim  vierten 
jedoch  an  den  unentrinnbaren  Oskar  Blumenthal  (der  ja  gleichfalls  von 
Bonhommie  frei  ist  und  Ranküne  genug  auf  Lager  hat).  Auch  der 
aphoristische  Witz  des  Herrn  Karl  Kraus  ist  oft  ein  Wortwitz  und  lebt 
von  Verzerrungen  und  Verschiebungen.  Es  ist  ein  Witz,  der  vergebens 
predigt,  daß  Kopfjucken  keine  Gehirntätigkeit  sei.  Wortwitz  darf  nur 
der  Skeptiker  treiben,  der  die  Welt  belächelt,  der  Zyniker,  der  die  Welt 
begrinst,  nicht  der  soi-disant  Fanatiker,  der  verlangt,  daß  diese  Welt 
ihn  ernst  nimmt. 

Erst  in  dem  großen  Manifest,  das  Herr  Kraus  zuletzt  gab,  wurde 
die  Wirkung  unmittelbar.  Dort,  wo  er  aufhört,  aus  der  Antithese  ein 
Gewerbe  zu  machen,  und  wo  er  zu  einem  Pathos  übergeht,  das 
visionäre  Glut  hat.  Er  las  nämlich  seinen  Artikel  über  die  Ermordung 
der  Elsie  Siegel  in  Chinatown,  einen  Artikel,  in  dem  er  gegen  die 
sexuelle  Heuchelei  und  Qual  aufschreit,  und  den  er  >Die  chinesische 
Mauer<  benennt.  Hier  stachelte  er  sich  zur  Ekstase,  und  hier  schlug  er 
mit  dem  Raffinement  seines  Vortrags  durch. 

Die  Mittelstücke  waren  Humoresken,  traumhafte  Psychologien 
und  Satiren  —  der  >Biberpelz«  (den  man  Herrn  Kraus  im  Kaffeehause 
gestohlen  hat),  die  >Welt  der  Plakate«  und  eine  Glosse  zur  Justiz  in 
Prostitutionssachen,  das  »Ehrenkreuz«.  So  oft  es  österreichisch  wurde, 
brach  das  Publikum  in  schallendes  Lachen  aus,  das  Herr  Kraus  erst 
wehmütig,  dann  mit  Hochgefühl  entgegennahm.  W. 

Man  sieht,  daß  der  Mann  nur  durch'  Umstände  verhindert 
war,  ehrlich  begeistert  zu  sein.  Wenn  man  ihn  schüttelt,  wird  er 
Belege  für  seine  Erinnerung  an  Saphir  und  Blumenthal  nicht  bei- 
bringen können.  Diese  Leute  sind  auf  die  Vorbehalte  dressiert. 
Dann  kommt  auf  einmal  die  Begeisterung  über  sie,  und  so  ge- 
schieht es,  daß  sie  »erst«  deni  Schlußstück  die  >unmittelbare  Wir- 
kung« einräumen  können  und  beim  Mittelstück  zugeben  müssen, 
daß  es  schallende  Heiterkeit  erregt  habe.  Das  , Prager  Tagblatt' 
aber  schrieb: 


—  59  — 


Kafl  Krans,  dessen  gestrige  Vorlesung  in  der  »Lesehalle«  eine 
Otse  in  der  dürren  Einförmigkeit  unserer  Vortragschroniic  bildete,  hat 
die  Anfänge  seiner  Popularität  der  l<ühnen  Polemik  zu  danken,  mit 
der  er  vor  Jahren  gegen  geist'ge  Werte  anzukämpfen  begann,  die  man 
in  Wien  sonst  nur  stillschweigend  anzuzweifeln  wagte.  Er  wirkte  durch 
die  Verwegenheit  seines  Streitrufes  und  die  oft  verblüffend  witzige  Form 
seiner  Satire.  Niemandem  wäre  es  damals  eingefallen,  ihn  für  etwas 
anderes  zu  halten  als  einen  oppositionellen  Journalisten,  der  sich  mit 
dem  fast  immer  erfolgsicheren  angreifenden  Pathos  des  Minoritats- 
bewufitseins  gegen  die  Mehrheit  kehrt.  Vielleicht  trug  die  ungewollte 
Einsamkeit  und  Abgeschlossenheit,  in  die  sich  Kraus  versetzt  sah  und 
die  im  Laufe  der  Zeit  fast  unentrinnbar  wurde,  dazu  bei,  daß  er  sein 
Schöpfertum  lediglich  der  Negation  zugute  kommen  ließ.  Vielleicht  auch 
war  die  Galligkeit  seiner  Natur  schuld  daran.  Dann  aber  kam  die  Zeit, 
wo  es  Kraus  vor  der  Gefolgschaft,  die  sich  jedem  Zerstörer  ungebeten 
zugesellt,  zu  grauen  begann  und  er  seine  Schriftstellerei  vom  Objelct 
unabhängig  zu  machen  versuchte.  Immer  wieder  verkündigt  er  jetzt,  daß 
er  kein  Polemiker  sei,  daß  es  sich  ihm  nicht  um  persönlichen  Angriff 
handle.  In  der  Tat  konnte  man  aus  den  Worten  seiner  letzten  Jahre 
eine  Art  Weltanschauung  erwachsen  sehen:  einen  naiven  Spiritualismus, 
der  die  Herrschaft  des  Geistes  predigt  und  mit  oft  ungerechter  Wut  die 
Materie  verwirft,  der  alle  Gedankenarbeit,  an  der  doch  notwendiger- 
weise ein  Klümpchen  Erdenschwere  haften  muß,  wenn  sie  auch  nur 
in  irgend  einer  Beziehung  fruchtbar  sein  soll,  unbarmherzig  ins  Reporter- 
haudwerk  verweist.  Seine  Sprache,  deren  Eigenart  und  Vorzüge  man 
anerkennen  würde,  auch  wenn  er  sie  nicht  beständig  im  Munde  führte, 
blitzt  und  schwirrt  in  den  Zuckungen  dieses  unruhigen  Geistes,  der  stets 
verneint.  Intuitiv  wachsen  Gedanken  aus  ihr  hervor,  und  dankbar  genug 
anerkennt  Kraus  —  diesmal  in  unbewußter  Obereinstimmung  mit  tiefsten 
Denkern  —  die  vom  Individuum  fast  unabhängige  Schöpferkraft  der 
Sprache.  Undankbar  ist  er  nur  gegen  die  Männer,  welche  ihr  die  Technik 
abgerungen  haben,  von  der  er  auch  ein  Teil  hat;  wie  es  denn  über- 
haupt sein  Verhängnis  ist,  daß  das  Satiriker-Temperament  immer  wieder 
von  der  Stofflosigkeit,  deren  es  sich  so  gern  rühmt,  abirrt  und  sich  zum 
Angriff  auf  oft  recht  unbedeutende  Gegenstände  wendet. 

Die  »chinesische  Mauer«,  die  er  gestern  vorlas,  gehört  darum  zu 
seinen  interessantesten  Arbeiten,  weil  hier  die  Leidenschaft  auf  ein 
Gebiet  sich  ergfießt,  dessen  Bestellung  für  die  Menschheit  immerhin 
eine  wichtigere  Aufgabe  ist,  als  die  Entrüstung  über  eine  unschön 
stilisierte  Lokalnotiz.  Das  spezifisch  Journalistische  an  Kraus  kommt 
hier  kraftvoll  zum  Durchbruch.  Ein  Kriminalfall  entzündet  ihn.  Unbeschwert 
von  Voraussetzungen  beginnt  er  Konsequenzen  zu  ziehen.  Die  Sprache 
flammt,  die  Sätze  rasen  und  ballen  sich  zur  Anklage  gegen  eine  Sexual- 
verfassung, die  das  geschlechtliche  Sich-Ausleben  unterbindet.  Die 
Polemik,  anfangs  aufs  Einzelne  gerichtet,  wächst  ins  Allgemeine,  bäumt 
sich  gegen  einen  ganzen  Erdteil,  eine  ganze  Kultur  und  strahlt  schaurig 
in  verzehrender  Weißglut.  In  solchen  Momenten  überkommt  den  Ana- 
lytiker das  Pathos  eines  Schöpfers. 

Auf  anderem  Niveau  steht  die  satirische  Skizze   »Das  Ehrenkrea2<. 


60 


deren  witzige  Logik  schon,  als  die  Glosse  vor  Jahren  in  der  .Ttckel' 
erschien,  heiteres  Aufsehen  erregte.  Feuilletons,  in  denen  sich  die 
Melancholie  und  der  Pessimismus  vor  karikaturistischer  Weltbetrachtung 
zum  guten  Teil  verflüchtigen,  sind  >Die  Welt  der  Plakate«  und  der 
>Biberpelz«.  Vorausgeschickt  wurde  eine  Reihe  von  Aphorismen,  deren 
Pointen,  soweit  der  Witz  die  Tiefe  verdeckte,  volles  Verständnis  fanden. 
Dem  Vortragenden  dürfte  es  aber  —  übrigens  die  Tragik  jedes  Origi- 
nellen —  nicht  entgangen  sein,  daß  die  Hörer  gerade  zum  Wertvollsten 
und  Ernsthaftesten  den  Weg  nicht  fanden. 

Eine  Überraschung  war  die  äußere  Form  der  Vorlesung.  Kraus 
ist  ein  vortrefflicher  Sprecher,  dessen  kühles  und  scharfes  Organ  sich 
schmiegsam  in  die  Ironie  eingräbt,  aber  mit  schöner,  voller  Stärke 
auch  dem  Pathos  folgt.  Die  Hörerschaft,  die  den  Saal  der  >Lesehalle« 
dicht  füllte,  begrüßte  Kraus  mit  erwartungsvoller  Sympathie  und  dankte 
für  die  Vorlesung  mit  stürmischem  Beifall.  st. 

Solch  redliches  Urteil  wäre  gewiß  auch  vor  der  Stelle,  wo 
es  die  > Stoff losigkeit«  und  die  »unbedeutenden  Gegenständec  in 
Widerspruch  bringt,  zur  Einsicht  zu  bringen.  Es  würde  den 
schöpferischen  Segen  im  Fluch  der  Realität  spüren,  und  nicht  im 
Format  des  Anlasses. 

.Deutsches  Abendblatt': 

Karl  Kraus,  der  vorgestern  als  Gast  der  Lesehalle  hier  vortrug, 
gilt  den  Leuten,  die  auch  ohne  die  , Fackel'  die  Druckfehler  der  ,N.  Fr. 
Presse'  entdecken,  als  der  verschmockteste  Schmock  von  Wien  .... 
Im  übrigen  ist  der  Fackelkraus  ein  ganz  ungefährlicher  Herr.  Er  hat 
zwar  vor  Jahren  eine  brandrote  Zeitschrift  gegründet,  um  seine  welt- 
bewegenden'Ideen  zum  Ausdruck  zu  bringen ;  Herr  Feigl  vom  , Extrablatt' 
und  Herr  Hirsch  von  der  , Presse'  müssen  »vor  Wut  platzen«.  Aber  er 
entthronte  diese  Größen  nicht  ....  Durch  solche  Mißerfolge  verstimmt, 
verlegte  sich  Kraus  auf  die  Philosophie  und  prägte  »geistvolle  Anti- 
thesen« ....  Außerdem  schrieb  er  über  weltbewegende  Ereignisse,  so 
z.  B.  über  die  Entwendung  eines  Pelzes  im  Kaffeehause,  allerhand 
Paraphrasen  —  die  Geschichte  »Der  Biberpelz«,  die  er  vorgestern  im 
mystischen  Halbdunkel  las.  Die  Vorlesung  war  ausgezeichnet  besucht, 
und  das  Publikum  klatschte  lebhaft.  Karl  Kraus  hat  es  selbst  gesagt: 
»Je  größer  der  Stiefel,  desto  größer  der  Absatz,« 

In  Brunn,  wo  ich  gleichfalls  außerhalb  des  Programms  das 
»Ehrenkreuz«  lesen  mußte,  schrieb  der  ,Mährisch-schlesische 
Korrespondent': 

.  .  ,  Mit  den  Humoresken  und  Satiren  erzielte  der  Vortragende  die 
nachhaltigste  Wirkung  und  den  größten  Erfolg  des  Abends.  Die  Vor- 
lesung wurde  hier  stellenweise  von  dem  homerischen  Gelächter,  das  sie 
im  Publikum  auslöste,  unterbrochen .  .  . 

Der  .Tagesbote  aus  Mähren  und  Schlesien': 

(Dr.  St.)  Im  kleinen  Festsaal  des  Deutschen  Hauses.  Eine 
spanische    Wand    verbindet    das    Künstlerzimmer    mit    dem    Vortrags- 


61 


podium.  Hinter  dieser  spanischen  Wand  kommt  Karl  Kraus  heran, 
ungesehen  vom  Publikum,  um  plötzlich  das  Podium  zu  besteigen. 
Er  ist  mit  einemmal  da,  im  Lichtkreis  der  Lampe,  verbeugt  sich 
kurz  und  beginnt,  nachdem  er  noch  längere  Zeit  an  der  Beleuchtung 
gebessert  hat,  seine  Aphorismen  zu  lesen.  Das  ist  wie  ein  unerwarteter 
Angriff.  Ein  Pfeilregen  ins  Publikum.  Und  man  ist  noch  über  dieses 
plötzliche  Losstürzen  so  verblüfft,  daß  man  die  ersten  Aphorismen  kaum 
erfaßt.  Ich  weiß  nicht,  ob  es  überhaupt  ein  glücklicher  Einfall  ist, 
Aphorismen  zu  lesen.  Aphorismen  sind  das  Gewürz  in  der  Küche  des 
Geistes.  Hier  und  da  ein  Körnchen,  aber  nicht  gleich  eine  ganze  Hand- 
voll. Und  dann:  keine  noch  so  vollendete  Vortragskunst  kann  das 
Satzbild  erse'.zen.  Die  Antithese  Ist  immer  wirksamer,  wenn  man  sie 
auch  sieht,  die  chiastische  Stellung  will  in  der  typographischen  Anord- 
nung erblickt  werden.  So  geschieht  es,  daß  gerade  die  besseren  und 
feineren  dieser  >Sprüche  und  Widersprüche«  nicht  ganz  verstanden 
werden  und  nur  jene  zu  voller  Wirkung  kommen,  die  sich  zum  Wort- 
witz neigen.  Man  muß  aber  sagen,  daß  selbst  diese  nicht  den  Arme- 
leutegeruch an  sich  haben,  der  sonst  am  Wortwitz  haftet,  daß  sie  mit 
ungewöhnlicher  Brillanz  sprachliche  Meisterschaft  verraten.  Den  Reigen 
dieser  Aphorismen  begleitet  also  abwechselnd  nachdenkliches  Schweigen 
oder  —  besonders  dort,  wo  die  Knappheit  des  Ausdrucks  das  Verständnis 
erleichtert  —  zustimmendes  Lachen.  (Folgen  Zitate) ....  Und  Karl  Kraus 
schmunzelt  zum  Vergnügen  des  Publikums.  >Nun,  ich  gefall'  mir  selber  gut«, 
wie  die  Bettina  von  Arnim  sagte.  Auf  die  Aphorismen  folgt  eine  Satire:  >Der 
Biberpelz«.  Eine  geistreiche,  witzige  Satire  mit  blendenden  Wendungen 
und  einer  Menge  feiner  Züge  zur  Psychologie  des  Wiener  Kaffeehauses. 
Aber  aus  einer  großen  Verbitterung  herausgewachsen.  Man  hat  Karl 
Kraus  jahrzehntelarg  totgeschwiegen  und  übersehen,  daß  Männer  wie 
er  zu  den  Notwendigkeiten  einer  Kultur  gehören.  Er  ist  ein  Gärungs- 
erreger, ein  Spaltpilz,  ein  Zersetzer,  ich  glaube,  wenn  er  ein  Glas 
Wasser  scharf  anschaut,  zerfällt  es  in  Wasserstoff  und  Sauerstoff.  Er  hat 
sicher  elektrische  Ströme  in  sich.  Seine  schwefelsäurehältige  Intelligenz 
frißt  Brandflecke  in  alle  öffentlichen  Meinungen.  Und  das  ist  gut:  man 
sieht  sich  veranlaßt,  sie  manchmal  zu  wechseln.  Er  hat  etwas  von 
Talleyrand  an  sich,  ist  zugleich  enfant  terrible  und  Pritschenmeister.  Und 
er  ist  eitel  wie  Talleyrand  und  alle  sehr  geistreichen  Leute.  Ich  glaube, 
wenn  man  ihn  rechtzeitig  anerkannt  hätte,  wäre  er  zahmer  geworden. 
Jetzt  geht  es  ihm  manchmal  nach  einem  Hebbelwort:  >Der  Mensch  ver- 
wandelt ein  kleines  Recht  dadurch,  daß  er  es  zu  eifrig  verfolgt,  sehr  oft 
in  ein  großes  Unrecht.«  Siehe  den  Fall  Harden.  Karl  Kraus  ist  eine 
seltsame  Mischung.  Diese  spanische  Wand  vom  Künstlerzimmer  zum 
Vortragstisch  gibt  zu  denken.  Sie  ist  das  Symbol  einer  Schüchternheit : 
dem  Autor  der  putzigsten  Aphorismen  und  Satiren  ist  es  unangenehm, 
auf  dem  kurzen  Weg  zum  Podium  vom  Publikum  beobachtet  zu  werden. 
Das  spricht  nicht  für  Gleichgültigkeit  gegen  Urteile,  nicht  für  eine  voll- 
kommene Jägersicherheit.  So  ist  in  seinem  Wesen  Durchschlagskraft 
und  Kleinlichkeit,  Schüchternheit  und  Bissigkeit  gemengt.  Und  ich 
meine,  wenn  Karl  Kraus  nicht  sehr  boshaft  sein  müßte,  so  wäre  er 
vielleicht  sehr  gutmütig.     Er  hat  im  Grunde  ein  gutes  Herz.     .\ber    er 


-  62 


verhärtet  es,  wenn  man  nicht  anerkennt,  daß  er  ein  gefährlicher  Mensch 
ist.  Alles  das  liest  sich  zwischen  den  Zeilen  der  Satire  »Der  Biber- 
pelz«. Mit  der  >Welt  der  Plakate«  gab  er  dann  noch  eine  Groteske 
auf  die  Reklameorgien  unserer  Tage,  auf  das  unerträgliche  Geschrei 
aus  allen  Winkeln  und  von  allen  Wandflächen  unseres  Alltages.  Die 
zweite  Abteilung  brachte  den  Essay  »Die  chinesische  Mauer«. 
(Folgt  eine  längere  Darstellung  des  Inhalts)  ....  Wir  haben 
hier  keine  Besonderheit  des  Christentums.  Aber  wenn  Karl 
Kraus  seine  wütende  Anklage  liest,  dann  wirkt  die  Kraft  einer 
ehrlichen  Überzeugung.  Die  geballte  rechte  Faust,  die  auf  dem  Tisch 
liegt,  in  der  grellen  Beleuchtung  der  Lampe,  zittert  vor  innerer 
Erregung.  Er  ist  von  der  Macht  seiner  Worte,  vom  Rhythmus  seiner 
Sätze,  vom  rasenden  Tempo  seiner  Gedanken  fortgerissen.  Und  zur 
Meisterschaft  der  Sprache  gesellt  sich  die  Meisterschaft  des  Vortrages, 
der  über  alle  Mittel  der  Technik  verfügt.  Ich  weiß  nicht,  warum  Karl 
Kraus  so  besonderen  Wert  darauf  legt,  festzustellen,  daß  er  keinen 
dramatischen  Unterricht  genossen  hat.  Jedenfalls  ist  dann  diese  Be- 
herrschung aller  Töne  und  Tempi,  diese  Plastik  und  Schwungkraft  umso 
erstaunlicher.  Und  diese  vollendete  Vortragskunst  trug  nicht  wenig  zu 
dem  außerordentlichen  Erfolg  des  Autors  bei,  für  dessen  interessante 
Bekanntschaft  wir  der  Neuen  akademischen  Vereinigung,  die  zu  einem 
ihrer  besten  Abende  zu  beglückwünschen  ist,  dankbar  sein  müssen. 

Die  Stelle  über  den  dramatischen  Unterricht  bezieht  sich 
darauf,  daß  ich  einen  der  Veranstalter  ersucht  hatte,  vor  dem 
Publikum  eine  peinliche  Zeitungsnachricht  richtigzustellen.  Die 
Schmach,  die  Wirkung  der  Chinesischen  Mauer  einem  von  Herrn 
Strakosch  überkommenen  dramatischen  R  zu  verdanken,  hätte  ich 
nicht  überlebt. 

In  Wien  sollte  ich  —  im  großen  Saale  der  »Urania«  —  am 
6.  Januar  lesen.  Die  für  den  28.  Dezember  im  Bösendorfer-Saal  geplante 
Vorlesung  konnte  nicht  stattfinden.  Infolge  plötzlicher  Indisposition 
des  Besitzers.  Er  hatte  erklärt,  daß  in  seinem  Saale  überhaupt  keine 
Vorträge  stattfinden  können,  nie  stattgefunden  haben  und  nie 
stattfinden  werden  —  alle  künftig  staltfindenden  sind  Ausnahms- 
fälle — ,  und  er  hat,  nachdem  ich  vergebens  bestürmt  worden  war, 
ein  Einsehen  zu  haben  und  auf  die  Wiener  Rücksichten  Rücksicht 
zu  nehmen,  den  Saal  tatsächlich  an  keinen  Autor,  sondern 
an  einen  Musikanten  vermietet.  Vor  drei  Jahren  -  erinnerte  ich 
mich  —  als  ich  noch  nicht  ans  Vorlesen  dachte,  hatte  sich  der 
damalige  Direktor  des  Saales  um  mich  als  Vorleser  beworben.  Es 
wäre  sympathisch,  sagte  ich  mir,  wenn  jetzt  das  Gericht  zu  prüfen 
hätte,  ob  hier  ein  unwiderstehlicher  Zwang  vorliegt.  Jedenfalls  liegt 
eine  Wiener  Tatsache  vor.    Aber  das  kommt  davon,  sagte  ich  mir. 


—  63  — 

▼enn  die  Saalinhaber  Patrizier  sind  und  die  Patrizier  mit  den 
Preßleuten  Tarocl<  spielen.  Man  darf  es  nicht  auf  sich  beruhen 
lassen  und  einfach  den  andern  Saal  beziehen,  den  die  Konzert- 
agentur einem  zuweist.  Denn,  sagte  ich  mir,  wie  leicht  könnte  im 
letzten  Moment  auch  die  »Urania«  absagen,  weil  dem  Direktorium 
unwohl  geworden  ist  Diese  Stadt  hat  ihr  eigenes  Klima  und  in 
dieser  Jahreszeit  muß  man  sich  vor  den  Influenzen  hüten.  Ich  hoffte 
indes  das  Beste,  lachte  mich  wegen  meiner  Besorgnisse  aus  und  war 
mir  klar  darüber,  daß  ich  die  Gesundheitsverhältnisse  der  >Urania« 
nur  zum  Vergleich  herangezogen  hatte.  Die  »Urania«  ist  ein  junger 
rüstiger  Verein,  während  Herr  Bösendorfer  ein  alter  Leser  der 
Neuen  Freien  Presse  ist  Und  ich  hatte  es  ja  schwarz  auf  weiß, 
daß  ich  am  6.  Januar  im  großen  Saale  der  »Urania«  lesen  werde, 
genau  so  wie  ich  den  Bösendorfer-Saal  schwarz  auf  gelb  —  — 
Ja,  da  hatte  sich  irgend  etwas  verfärbt.  Und  das  Telephon  klin- 
gelte. >Zu  meinem  größten  Bedauern  muß  ich  Ihnen  mit- 
teilen,   daß  die  Urania «    »Wie,   ist  sie  krank?«    »Nein«, 

erwidert  der  Agent  eines  Agenten,  dem  ein  Agent  den  Saal  un- 
widerruflich für  den  6.  Januar  vermietet  hatte,  »aber  sie  hat  nicht 
gewußt  —  sie  veranstaltet  übrigens  nur  Vorträge  im  eigenen 
Wirkungskreis,  sie  will  keine  Konkurrenz  und  überhaupt  war 
der  Vermieter  nicht  berechtigt,  den  Saal  zu  vermieten,  weil  er 
schon  vorher  anderweitig  vermietet  war  . . .«  Wäre  es  wahr,  so 
läge  eine  Unregelmäßigkeit  vor,  die  in  dieser  vielgeschäftigen 
Welt  der  Konzertagenturen  möglich  ist  Aber  ich  glaube  an  die 
Gewissenhaftigkeit  der  Agenten  und  zweifle  an  der  Aufrichtigkeit 
der  Saalinhaber.  Der  Saal  war  nicht  zweimal  vermietet;  aber  daß 
man  die  Schlamperei  als  Vorwand  benützt,  um  sich  gegen  das 
Recht  zu  schützen,  entbehrt  nicht  des  ethnographischen  Reizes.  Die 
notorische  Mißwirtschaft  dient  der  Feigheit  als  .Argument. 
Aber  lieber  als  mein  Recht  verlange  ich  jenen  Mut  zur  Feigheit, 
der  in  Wien  längst  abhanden  gekommen  ist  Wenn  diese  libe- 
ralen Gönner  und  Volksbildner  geständen,  sie  seien  nicht  bloß 
Saalvermieter  (als  die  sie  mich  ausschließlich  interessieren),  son- 
dern auch  Pächter  der  journalistischen  Gnade,  so  bin  ich  d«r 
letzte,  der  ihre  Gastfreundschaft  in  Anspruch  nimmt,  und  der 
erste,  der  sie  auf  der  Straße  nicht  grüßt,  um  ihnen  nicht  zu  scha- 
den. Um  sie  aber  zum  Geständnis  zu  bringen,  muß  ich  künftig 
selbst  und  nicht   durch   einen   entfernten  Vermittler,  den  ich  zur 


64 


Klage  nicht  zwingen  Icann,  die  Verträge  schließen,  die  sie  brechen 
wollen.  Außerdem  brauche  ich  auch  einen  Saal  zum  Vorlesen.  Der 
Charakter  der  Herren  ist  Nebensache.  Ich  lasse  ja  gern  eine  Zeitlang 
mit  mir  spielen;  aber  schließlich  wird  mir  das  Farbenspiel  zu  bunt. 
Immer  dasselbe,  und  man  müßte  doch  schon  wissen,  daß  ich  in 
einem  Relativsatz  Gesinnungen,  soziale  Bestrebungen,  öffentliche 
Rücksichten  und  rücksichtliche  Öffnungen  so  schmerzvoll  entblößen 
kann,  daß  kein  Leitartikel  mehr  Trost  verleiht.  Ich  brauche  einen 
Saal,  um  vorzulesen.  Denn  um  Erfahrungen  zu  machen,  dazu  ist 
die  Saison  zu  weit  vorgeschritten.  Auch  halte  ich  es  für  eine 
Ehrenpflicht,  die  Neue  Freie  Presse,  die  infolge  eines  Versehens 
die  Ankündigung  meines  Vortrags  gebracht  hat,  nicht  zu  des- 
avouieren. Sie  soll  nur  lügen,  wenn  sie  schweigt ! 


Samuel  Lublinski 

geboren  zu  Johannisburg  in  Ostpreußen  18.  Februar  1868 
gestorben  zu  Weimar     26.  Dezember  1910 

Der  Tod  hat  ein  geistiges  Leben  erwürgt, 
das  innerer  Bedeutung  überreich,  äußerer  Er- 
folge arm  war,  weil  die  Macht  der  Erkenntnis 
und  der  Zwang  zur  Wahrheit  eine  Welt  der 
Mittelmäßigkeit  beleidigte.  Aber  nicht  ihr  hat 

es  gelebt,  und  darum  wird  es  fortleben. 
Otto  Stoessl. 


Herausgeber    und    verantwortlicher    Redakteur:    Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 


^ron^z^nSrrlt?ion"  Albert  Gutmann 

BÖSENDORFER-SAAL 

Vorlesung  KARL  KRAUS 
28.  Dezember   1910,    abends    »/28   Uhr 
wegen  Veriiind 


GROSSER  URANIASAAL 

Vorlesung   KARL    KRAUS 

6.  Jänner  1911,  abends  VjjSUhr 

vtecen  Verliino'..  •  <      <     ■       "  rmieter 

Karten  in  Gutmanns  k.  u.  k'.  Hofmusikali^nhandlung 

.UDWIQ  SPEIDEL 

HEILIGE  ZEITEN 

DER  SCHRIFIEN  DRITTER  BAND 
Bei  Meyer  and  Jessen,  Berlin  1911 


DTTO  STOESSL 


EGON  und  DANITZA 

ERZÄHLUNG 
Georg  Müller,  München  und  Leipzig  1911 


)TTO  SOYKA 


DER  FREMDLING 

ROMAN  • 
Albert  Inneren.   Mnnrhf>n    tQü 


In  Vorbereitung: 

Yo8  den  frötiiichsj!  und  unfröhüchen  Menschen 

Gesammelte  Essays  von  KARL  HAUER 

VERLAG  JAHODA  &  SIEGEL,  WIEN 

WOCHENSCHRIFT  FÜR  KULTUR  UND  DIE  KÜNSTE 
HERAUSGEGEBEN  von  HERWARTH  WALDEN 

^"'''SSU^^rS'Ä  -  Jahresbezug:  K  5.-  HalbjahrsbezuR:  K  2  50 
v"rte'.hr?;eza.:  K  125.  -  Probenummern  kostenlos  durch  den  Verlag 
HFR    STURM     Halensee-Berlin,  KathannenstraBe  5  ,      « i   •  c 

DER  STURM  il.  in  Wien  .n   d.r  Tabaktraf.k  N.  Dischendorfer.  Franz  Josef  ska.  5 

und  in  d:fr  Trafik  Älserstraße  65  erhältlich 

ünierneiimen  für  ZeitvmgsauBschmtte 

OBSERVER,     Wien,  I.  ConcordlaplaU  Hr.  4  (Telephon  Hr.  i2801) 

ver.endet7Pitun^..ns..rhnm.fih.riedesgewün^hteThema.M»nverJangeProspp^t^ 

erscheint  ..  ..J^^^^^  -«i/zSS^I.DmOirNaEN  : 

Für  Österreich-Ungarn:  18  ISuramern,  portofrei i^  4.ou 

36  „  it 

Für  das  deutsche  Kelch:  18  ^  « 

27       •     .  » 

n»thn.,.»«Mer.tr.clct8tel.i.lchta»<>lneaZ.lt.a.m..S9nd9»auf«l«eb8«1lmn.teA«ial.lmW»mmer. 

Einzelheft  m  Österreich  30  Heller,    i^  0«"<^'='''^"*  3°  P*^";'Sj„ 
Doppelnummer  in  Österreich  60  Heller,  in  Deutschland  50  Pfennig 
Zu    beziehen     durch     sämtliche     Buchhandlungen 

Berliner  Bureau:  Hal»>ii>ee,  KathannenstraBe  5 


9.- 
Mk.4.— 
.   6.- 
7.25 


INHALT  der  vorigen  Doppelnummer  311/31 2  23.  Noy^^ 
KARL  KRAUS:  Der  Freiherr  /  FRANZ  MEHRING:  Em  Fii 
der  Gecken   /  OTTO  STOESSL:  Die  morgen^^änd,^^^^^^^^^^ 
chen   /   HUGO  WOLF:  Gedichte    /    SAMUEL  LUBLINSF' 
Der  tragische  Mensch  in  der  niodernen  Uteratur  /  ALBW 
EHRENSTEIN:  Mitgefühl  ./    BERTOOLD  VIERTEL: 
Menschen     /  .   Selbstanz.eige     /     KARL- KRAUS.  Glos^ 

Herausgel)er  und  vetantwortlicher  Redakteur    Karl  Kraul 
Druck  von  jahoda  &  Siegel,  Wien,  Hl.  Hintere  Zollimtastr.  3 


I 


AP 
30 
F32 

Nr. 293- 
3U 


Die  Fackel 


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