Skip to main content

Full text of "Die Fackel"

See other formats


LGNR.  418  —  422  APRIL  1916  XVm.  JAHR 

DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

Kierkegaard  und  die  Journalisten  /  Zum  ewigen  Gedäciitnis  / 
Die  Historischen  und  die  Vordringenden  /  Das  Lysoform-Gesicht  / 
Glossen  /  Fahrt  ins  Fextal  /  Notizen  /  Aus  jungen  Tagen  / 
Sonnenthal  /  Glossen  /  's  gibt  nur  an  Durchhalter!  /  Shakespeare 
und  die  Berliner  /  Zum  ewigen  Gedächtnis  /  Weltwende 


NACHDRUCK  VERBOTEN         ^ 

Preis  dieses  Heftes:         ^ 

1  Krone  50  Heller  =  1  Mark  25  Pf. 


VERLAG:  ,DIE  FACKEL*,  WIEN 

/O        UTXTT'C'DE'     TA^T  T    A  »«TCCTO  *  POTT        •>  T-Tt-T  r?r»TT/^XT        «.T— 


F.  M.  DOSTOJEWSK 


Gesamtausgabe 

R.  Piper  &  Co.»  Verlag,  MUnchen 

Roter   Leinenband    mit  Goidpressung    Mark  5. 
Broschiert  Mark  4.—  in  Halbfranz  Mark  8.^ 

Rodin  Raskolnikoff 

Der  Idiot 

Die  Dämonen 

Der  Jüngling 

Die  Brüder  Karamasoff 

Autobiographische  Schriften 

Literarische  Schriften 

Politische  Schriften 

Arme  Leute.  Der  Doppelgänger 

Helle  Nächte 

Das  Gut  Stepantschikowo 

Onkelchens  Traum 

Aus  einem  Totenhaus 

Die  Erniedrigten  u.  Beleidigten 

Aus  dem  Dunkel  der  Großstadt 

Der  Spieler.  Der  ewige  Gatte 

Ein  kleiner  Held 


Bd, 

.  12 

9f 

34 

99 

56 

99 

78 

99 

91 

99 

11 

99 

12 

99 

13 

99 

14 

99 

15 

99 

16 

99 

17 

99 

18 

99 

19 

99 

20 

99 

21 

99 

22 

DIE  FACKEL 

Nr.  418-422  8.  APRIL  1916  XVIIL  JAHR 


Wehe,  wehe  über  die  Tagespresse!  Käme 
Christus  jetzt  zur  Welt,  so  nähme  er,  so  wahr 
ich  lebe,  nicht  Hohepriester  aufs  Korn, 
sondern    die   Journalisten! 


Gott  im  Himmel  weiß:  Blutdurst  ist 
meiner  Seele  fremd,  und  eine  Vorstellung  von 
einer  Verantwortung  vor  Gott  glaube  ich  auch 
in  furchtbarem  Grade  zu  haben:  aber  den- 
noch, dennoch  wollte  ich  im  Namen  Gottes 
die  Verantwortung  auf  mich  nehmen,  Feuer 
zu  kommandieren,  wenn  ich  mich  nur  zu- 
vor mit  der  ängstlichsten,  gewissenhafte- 
sten Sorgfalt  vergewissert  hätte,  daß  sich 
vor  den  Gewehrläufen  kein  einziger  anderer 
Mensch,  ja  auch  kein  einziges  anderes 
lebendes  Wesen  befände  als  —  Journalisten. 

Sören  Kierkegaard,  1846. 

Und  nach  siebzig  Jahren,  wo  es  um  so  viel  siebzig- 
mal wünschenswerter  wäre,  als  es  siebzigmal  mehr 
Gewehrläufe  und  Journalisten  gibt,  stehen  sie  nicht 
vor  ihnen,  sondern  dahinter,  haben  sie  laden  geholfen 
und  sehen  zu,  man  zeigt  ihnen,  wie  es  schießt  und 
fließt,  und  wartet,  bis  sie  kommen,  es  zu  beschreiben. 
Welche  Verantwortung  nimmt  die  Erde,  die  solches 
will  und  erträgt,  im  Namen  Gottes  auf  sich! 


2  — 


Zum  ewigen 

Zwei 

Das  Leid  und  Elend,  das  die 
serbische  Bevölkerung,  vor  dem 
Feinde  fliehend,  ertragen  mußte,  ist 
schwer  in  Worten  zu  schildern. 
Schweren  Herzens,  ihre  einzige 
Hoffnung  auf  Gott  setzend,  verließen 
die  armen  Flüchtlinge  ihre  Heim- 
stätten. Greise,  Frauen,  Kinder  — 
alle  flohen!  Unabsehbare  Menschen- 
massen bewegten  sich  vorwärts  — 
weiter  und  immer  weiter.  .  .  .  Mit 
wieviel  Schmerz  undMitleid  gedenke 
ich  der  Kinder,  die  diesem  Zuge 
folgten.  Halbnackt,  mit  zerrissenen 
Sohlen,  beschmutzt,  gingen  sie  an 
der  Hand  der  Mutter,  die  oft  noch 
einen  wimmernden  Säugling  im 
Arme  trug.  Tränen  der  Rührung 
stiegen  mir  ins  Auge  beim  Anblick 
eines  zehnjährigen  Kindes,  das  sein 
kleines  Brüderchen  auf  die  Arme  hob 
und  ihm  sein  letztes  Stückchen  Brot 
in  das  weinende  Mäulchen  steckte. 
In  der  Menge,  die  sich  müde  und 
schwerfällig  gegen  Mitrowitza  und 
Ipek  schob,  fiel  mir  eine  hohe,  kräf- 
tige Bäuerin  aus  dem  Morawatal  auf. 
Sie  trug  die  schöne  undfarbenfreudige 
Kleidung  der  Frauen  jener  Gegend, 
dazu  einen  kleinen  Sack  auf  dem 
Rücken  und  ein  Körbchen  in  der 
Hand.  Ihr  zur  Seite  trippelte  ihr 
Söhnchen,  ein  gesundes  gutgepfleg- 
tes Bauernkind,  wie  man  sie  in  den 
gebirgigen  Gegenden  Serbiensfindet. 
»Wissen  Sie,  wo  die  Morawa- 
Division  ist?«  Diese  Frage  richtete 
die  Bäuerin  fast  an  jeden  Vorüber- 
gehenden. In  jener  Division  diente 
ihr  Mann ;  ihmbrachte  sie  das  Bündel 
Wäsche,  das  sie  auf  dem  Rücken 
trug —  Der  Vater,  der  seit  vier  Jahren 
im  Felde  steht,sollte  den  Kleinen  end- 


Gedächtnis 
Züge 

Der  Zug  hatte  die  Halle  des 
Wiener  Nordbahnhofes  verlassen. 
Die  Lichter  der  Residenz  ver- 
glühen in  der  Ferne;  der  Train 
donnert  der  ungarischen  Grenze 
zu.  Das  Handgepäck  ist  unterge- 
bracht. Dann  beginnt  das 
Abendessen  erster  Serie  in 
dem  Speisewagen,  der  uns 
bis  Budapest  begleitet.  Man 
bummelt  durch  die  Waggons,  man 
ist  neugierig.  Wer  fährt  mit 
dem  Zuge.  Die  Obersicht  ist  rasch 
vorhanden.  Vielleicht  hat  man  sich 's 
ein  wenig  anders  vorgestellt,  mehr 
würdenträgerartig,  mehr  repräsen- 
tativ; aber  zu  guter  Letzt  ist  man 
zufrieden.  Um  die  Bedeutung 
der  Fahrt  der  großen  Öffent- 
lichkeit zu  vermitteln,  sind 
zwei  Dutzend  Männer  von  der 
Presse  da.  Wir  vierÖsterreicher, 
zu  denen  sich  in  Budapest  vier 
Ungarn  gesellten,  haben  uns 
gleichfalls  organisiert,  und  es 
war  zu  unserem  Besten.  Ein 
anderes  Co\ip€   hat  ein   Herr,    der 


lieh  wieder  einmal  sehen  und  herzen 
können.  MitschmeichelnderStimme, 
die  großen  Augen  voll  Kinderun- 
schuld zu  mir  hebend,  streckte  das 
Kind  sein  Händchen  aus  und  bat: 
>Tschitscha,  daj  mihleba.«  (Onkel, 
gib  mir  Brot.)  Und  die  Mitgehenden, 
statt  des  Brotes,  das  sie  selbst  nicht 
hatten,  legten  eine  Geldmünze  in  das 
bittende  Händchen.  .  .  .  Hie  und  da 
überrascht  ein  schönes  Haus :  große 
Kasernen,  viele  Moscheen  fallen 
auf.  ...  In  der  Stadt  Tausende  von 

erschöpften,  blassen  Flüchtlingen 

So  schlief  man  denn  unter  freiem 
Himmel,  bei  15  Grad  Kälte,  ohne 
Feuer,  denn  es  gab  kein  Holz.  Die 
mitgeführten  Nahrungsmittel  waren 
fast  ganz  aufgezehrt.  Das  mitgeführte 
Vieh,  von  den  furchtbaren  Strapazen 
aufgerieben,  blieb  größtenteils  am 
Wege  liegen  ....  Angst  und 
Verzweiflung  erfüllte  sie  bei  dem 
Gedanken  an  das  Kommende.  Wie 
sollten  sie  mit  den  zarten  Kindern 
in  grimmiger  Kälte,  ohne  Brot,  über 
den  drohenden  steinernen  Wall,  der 
sich  vor  ihren  Augen  emporreckte, 
hinüberkommen?  .  .  .  Es  war  Sonn- 
tag. In  der  Kirche  des  Patriarchats 
feierte  man  den  Gottesdienst.  Der 
serbische  und  montenegrinische  Me- 
tropolit zelebrierten  die  Messe.  .  .  . 
Totenstille  herrschte  in  dem  großen 
Raum;  dann  tönte  traurig  das  Gebet 
des  alten  Metropoliten  von  den 
hohen  Wölbungen  wieder.  .  .  . 
»Tschitscha,  daj  mi"  hleba«,  unter- 
brach meinen  Gedankengang  ein 
zartes  Stimmlein.  Vor  mir  stand 
wieder  der  kleine  Knabe,  der  uns 
unterwegs  schon  mit  den  nämlichen 
Worten  angefleht  hatte.  .  .  .  Die 
Zeit  zur  Flucht  drängte.  .  .  .  Alles 
Gepäck  wurde  zurückgelassen.  Doch 
Brot  —  Brot  mußte  man  haben.  .  .  . 
Die  Kälte  und  das  Schneegestöber 


auch  in  diplomatischen  Diensten 
reist,  begleitet  von  seiner  liebens- 
würdigen Gemahlin  und  ihrem 
hübschen  Hündchen;  >Pucki«  ist 
der  ersteHund,  der  mit  dem 
Balkanzug  fuhr,  und  fühlt  sich 
heute  bereits  wie  ein  Pfau  .  .  . 
Ich  teilte  mein  Coupe  mit 
dem  Schriftsteller  Felix 
Saiten.  Nach  dem  Abend- 
essen machte  uns  Ludwig 
Ganghofe r,  der  von  München 
gekommen  war  und  nach  Nisch 
reiste,  den  ersten  Besuch. 
Es  war  eine  Visite  um  Mitter- 
nacht, denn  Budapest  hatten 
wir  einige  Minuten  vor  12  Uhr 
nachts  verlassen.  Man  hatte 
uns  dort  mit  magyarischer 
Glut  empfangen.  Die  Zigeuner- 
musik freilich  fehlte;  die  fiedelt 
jetzt  eins  den  Russen  zum 
blutigen  Tanz,  und  das  ist  wich- 
tiger. Ganghofer  war  frisch, 
lustig  und  herzlich  bewegt 
von  der  tiefen  Bedeutung  des 
Ereignisses,  dessen  Teilnehmer 
wir  waren.  Er  erzählte  wie  der 
Jüngste     und    wir    tauschten 


4  -.- 


nahmen  zu.  .  .  .  Müden  Schrittes 
setzte  sich  der  traurige  Zug  gegen 
das  berüchtigte  Zljeb  in  Bewegung. . 
Plötzlich  stockte  der  Zug.  Tausende 
von  Karren,  die  auseinandergenom- 
menen Batteiien,  Automobile,  ver- 
wirrten sich  ineinander.  Es  ging 
unmöglich  weiter.  Der  Befehl  wurde 
gegeben,  die  Wagen  zu  verbrennen, 
die  Kanonen  und  die  Munition  zu 
vernichten.  Alles,  was  man  nicht 
mittragen  konnte,  sollte  zerstört, 
einzig  die  Tiere  gerettet  werden.  .  .  . 
Wieder  mußte  die  Nacht  unter 
freiem  Himmel  zugebracht  werden, 
an  der  Stelle,  auf  der  man  sich  eben 
befand,  am  Feuer,  zu  dem  die 
Reste  der  zertrümmerten  Wagen  her- 
halten mußten.  .  .  .  man  schleppte 
Räder  und  Holzteile  herbei,  um 
nicht  auf  den  eisbedeckten  Steinen 
rasten  zu  müssen.  Leise,  traurig 
floß  das  Gespräch  dahin,  bis  die 
Müdigkeit  das  ihre  tat.  Stärker  wurde 
der  Frost,  immer  kleiner  das  Feuer. 
Das  erste  Morgenlicht  fiel  auf  ein- 
gefallene, blasse  Gesichter,  in  denen 
noch  das  Grauen  der  verbrachten 
Nacht  stand.  Die  frierenden  Kleinen 
äußerten  wimmernd  ihren  einzigen, 
bescheidenen  Wunsch.  Ein  Stück- 
chen Brot  nur,  der  schwarzen  Erde 
gleich,  eine  kalte  Kartoffel,  mußten 
das  Verlangen  der  bedauernswerten 

Kleinen  stillen Kanonen,  Karren, 

Ausrüstung  —  alles  wurde  in 
den  Abgrund  geschleudert.  Dann 
ging  es  weiter,  einer  hinter  dem 
andern;  über  vereiste  Felsen  und 
Geröll,  mehr  gebückt  als  aufrecht, 
rutschend  und  strauchelnd.  Da, 
plötzlich  ein  Schrei  —  ein  Pferd 
stürzte  von  dem  schmalen  Pfade  in 
die  Tiefe;  und  wieder  ein  Schrei, 
noch  verzweifelter  und  gellender 
als  der  erste:  sein  Führer  war  ihm 
nachgestürzt.  Die  Stunden  verrannen 


Kriegserinnerungen  aus.  Man 
mag  noch  soviel  gesehen  und 
erlebt  haben,  man  hört  ihm 
mit  inniger  Freude  zu.  Der 
Kehrreim  aller  seiner  Worte 
aber  ist  das  Lob  der  Schön- 
heit des  Krieges.  Er  plaudert 
von  dem  Humor,  der  selbst  in 
den  tragischesten  Momenten  des 
Kampfes  aufblitzt;  der  große 
ShakespearedesWelttheaters 
weiß  eben  Ernst  und  Scherz  auch 
auf  der  Kriegsbühne  richtig 
zusammenzuschüttein.  Ein 
Straßenkampf  tobt;  Reserven  drin- 
gen über  die  Leichen  der  Gefallenen 
vor  —  ein  junger  Unteroffizier 
springt  um  die  Ecke  —  auf 
einen  Toten.  Ein  rascher  Blick 
zurück,  ein  Stammeln:  »Pardon  .. . 
Bitte  um  Entschuldigung. ..< 
und  er  ist  verschwunden.  So  er- 
zählt Ganghofer,  und  wir  fahren 
durch  die  dunkle  Einsamkeit  der 
Puszta,  in  der  arme  Hirten- 
frauen von  ihren  >roten 
Teufeln«  träumen,  die  in 
Wolhynienkämpfen.DerBelgrader 


unter  mühseligem  Wandern,  von 
allen  Seiten  starrten  Tod  und  Ver- 
nictitung  den  Flüclitenden  entgegen. 
Da  lag  am  Wegesrand  ein  zu  Tode 
erschöpftes  Pferd,  dort  ein  Ochse 
mit  heraushängenden  Eingeweiden, 
weiter  unten  ein  Mensch  mit  zer- 
trümmertem Schädel.  .  .  .  Dort  blieb 
eine  Menge  entkräfteter,  müder  Tiere 
zurück.  Sie  standen  unbeweglich, 
nur  ihre  todtraurigen  Blicke  beglei- 
teten uns.  .  .  .  Und  wieder  umgab 
uns  tiefe  Nacht.  Mit  Händen  und 
Füßen  scharrten  wir  den  Schnee 
beiseite,  um  einen  Herd  zu  errichten. 
Aber,  wie  sollte  die  wärmende 
Flamme  entstehen,  da  alles  ringsum 
feucht  oder  gefroren  war?.  .  .  Ein 
Schluchzen  drang  an  unser  Ohr; 
ein  leises,  nicht  endenwollendes 
Weinen.  Wir  gingen  hin.  Bei  dem 
schwachen  Lichtschein  erkannten 
wir  jene  Bäuerin  aus  dem  Morawa- 
tale  wieder,  dia  uns  mit  ihrem 
Knaben  bis  hierher  begleitet  hatte. 
Mit  totenblassem  Antlitz  saß  sie 
an  einen  Tannenbaum  gelehnt 
da,  in  den  Armen  einen  leblosen 
kleinen  Körper  haltend,  zu  dessen 
Häupten,  mit  zitterndem  Lichte, 
eine  kleine  Wachskerze  brannte. 
»Mein  Kind  ist  gestorben  und  ich 
weiß  nicht,  wie  ich  es  begraben 
soll«,  sagte  die  arme  Mutter  mit 
bebenden  Lippen.  Der  Atem  stockte 
uns  —  wir  erschauerten.  Kälte, 
Hunger  und  Krankheit  hatten 
dieses  blühende  Leben  vernichtet, 
noch  ehe  ihn  der  geliebte  Vater, 
den  er  suchen  gegangen,  in  seine 
Arme  geschlossen  und  geküßt  hatte. 
Unter  der  Tanne,  wo  er  verschieden, 
wurde  ihm  das  Grab  bereitet,  und 
in  den  rauhen  Stamm  schnitten 
wir  seinen  Namen: 
»Slobodan  Ljubinkovits,  aus  Mora- 
wa  1908—1915.. 


Wagen,  der  von  München  kam, 
wird  abgekoppelt;  dafür  ist  der 
Schrei  nach  einem  Morgen- 
kaffee oder  einem  Speise- 
wagen vergeblich.  Es  ist  noch 
keine  Restauration  im  Be- 
trieb, und  der  Speisewagen 
erwartet  uns  erst  wieder  um 
2  Uhr  nachmittags  in  Nisch. 
Das  müssen  Passagiere  des 
Balkanzuges  zur  Notiz  neh- 
men. An  sanften  Waldbergen 
vorbei  führt  der  Schienenstrang 
nach  Jagodina.  Die  zierliche 
Moschee  mit  dem  maurischen 
Tore  und  dem  schlanken  Minarett 
interessiert  heute  alle  weniger 
als  die  kleine  Hütte  im  Bahnhof, 
in  der  ein  deutscher  Soldat  heißen 
Tee  schenkte.  Ich  hatte  mich 
schon  früher  gestärkt;  Qang- 
hofer,  der  an  Erfahrungen 
Reiche,  hatte  im  Coup^  Tee  ge- 
braut, ein  Hühnchen  aus  dem 
Eßkoffer  ausgepackt,  den 
ihm  seine  fürsorgliche  Frau 
ans   Herz    gelegt   hatte,    und 


Entblößten  Hauptes,  den  Blick 
voll  Trauer  auf  das  kleine  Grab 
geheftet,  bezeugten  wir  dem  un- 
glücklichen Kinde  die  letzte  Ehre. 
Sein  trauriges  Schicksal  wird  für 
uns  ewig  verflochten  sein  mit  der 
Erinnerung  an  den  Leidenszug  nach 
dem  schrecklichen  Zljeb.  Uns 
Glücklichen  aber,  denen  der  All- 
mächtige Kraft  gab,  so  viel  Mühsal 
und  Not  zu  ertragen  und  das 
Leben  zu  retten,  tönt  heute  noch 
das  traurige:  >Tschitscha,  daj  mi 
hleba«    des    armen  Knaben    nach. 


Saiten  und  mich  zum  Früh- 
stück geladen.  Ganghofers 
Frühstück  war  gewiß  eine 
Spezialitätdes  ersten  Balkan- 
zuges. Der  Speisewagen,  der 
heißersehnte,  wird  angekoppelt, 
—  ein  Sturm  auf  ihn  erfolgt. 
Hirsch. 


Die  Historischen  und  die  Vordringenden 
Ein  Wort  an  den  Adel 

Im  ungarischen  Parlament  hat  einer,  um  die  so- 
genannten Bankmagnaten  vor  Angriffen  zu  schützen, 
auf  die  Verbindung  der  Magnaten  mit  den  Banken  hin- 
gewiesen. Das  müssen  sie  sich  schon  gefallen  lassen,  daß 
ihr  Wappen,  einmal  für  Tantiemen  verkauft,  nicht  nur 
als  der  Schild  einer  Bankfirma,  sondern  auch  als  das 
Schild  der  Bankiers  seine  Dienste  tut.  Der  Graf  Tisza  aber 
war  wieder  der  Meinung,  daß  der  Burgfriede  zwischen  den 
in  Kompagnie  getretenen  Klassen  nicht  gestört  werden 
solle,  indem  auf  die  von  Natur  und  durch  Erziehung  gege- 
benen Gegensätze  hingewiesen  werde.  Sie  sollten  sich  im 
Gegenteil  vertragen  und  beide  von  einander  lernen.  Denn : 

>Die  historischen  Klassen  haben  von  den  jetzt  vor- 
dringenden neuen  Schichten  der  ungarischen  Gesellschaft 
viel  zu  lernen,  sehr  viele  Eigenschaften  und  sehr  viele  Tugenden  haben 
sie  sich  von  ihnen  anzueignen  und  sehr  viele  alte  Fehler  haben  sie 
abzustreifen.  Auf  anderer  Seite  aber  hat  es  gegen  niemanden  eine 
verletzende  Spitze,  wenn  wir  hinzufügen,  daß  auch  die  neuen 
Schichten  der  ungarischen  Gesellschaft  bemüht  sein  müssen,  all  das 
in  sich  aufzusaugen,  was  die  alten  Faktoren  der  Gesellschaft  an 
großen  Eigenschaften  von  ihren  Vorfahren  ererbt  haben  .  .  .  .« 

Man  kann  (nicht  übersehen,  daß  der  Graf  Tisza 
in   etwas   kategorischer  Form    seine    Standesgenossen 


7  — 


aufgefordert  hat,  im  Verdienen  tüchtiger  zu  werden, 
während  er  unter  höflichen  Entschuldigungen  die  Geld- 
juden ersucht  hat,  sich  endlich  auch  die  Manieren  der 
guten  Gesellschaft  anzueignen.  Aber  das  pädagogische 
Resultat  wird,  wenn  diese  Welt  noch  ein  paar  Jahr- 
zehnte so  weiter  läuft  und  der  Fortschritt  der  Weg- 
macher der  Entwicklung  bleibt,  nicht  ganz  den 
Erwartungen  jenes  Liberalismus,  der  auf  eine  gute 
Mischung  hinarbeitet,  entsprechen,  weil  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  schließlich  die  historischen  Klassen 
ohne  irdische  Güter  und  mit  schlechten  Manieren,  die  vor- 
dringenden Schichten  aber  mit  zweifachem  Besitzstand 
die  Gesellschaft  repräsentieren  werden.  Und  wann  hätte 
sich  diese  Evolution  besser  absehen  lassen  als  au 
jenem  Zustand  einer  heillosen  Vermengung,  der  eben 
der  Kriegszustand  ist?  Daß  die  Aristokratie  entschlossen 
scheint,  auf  jede  geistige  Verpflichtung  zu  Gunsten 
der  ihr  imponierenden  Intelligenz  und  auf  jede 
sittliche  Verantwortung  zu  Gunsten  der  sie  um- 
lagernden Crapüle  zu  verzichten;  daß  ein  ahnungs- 
loses Wetteifern  um  die  Gunst  des  Auswurfs  eingesetzt 
hat;  daß  im  eklen  Gemengsei  der  Wohltätigkeit  der 
Adel  eine  Erfrischung  erlebt  und  die  Gleichheit  im 
Schützengraben  von  der  Brüderlichkeit  im  Komitee 
ergänzt  wird;  daß  Leute  froh  sind,  am  Tisch  von 
Leuten  einen  Platz  zu  finden,  die  sie  ehedem  nicht 
am  Tisch  ihrer  Leute  geduldet  hätten,  und  daß 
heute  der  Herr  einen  Umgang  hat,  den  sein  Kammer- 
diener aus  Adelsstolz  ablehnen  würde  —  das  alles  springt 
aus  der  großen  Zeit  und  der  kleinen  Chronik  an  jedem 
neuen  Tag  ins  Auge.  Sinnfällig  kam  diese  Tendenz 
zum  Rollentausch  in  dem  Stolz  des  Grafen  Karolyi 
zum  Ausdruck,  der  die  voreilige  und  höchst  laienhafte 
Meinung,  der  Herr  Nordau  habe  mit  seinem  Umgang 
im  Konzentrationslager  renommiert,  hinterdrein  durch 
das  Bekenntnis  enttäuscht  hat,  er  habe  sich  vor  Glück 
gar  nicht  fassen  können,  den  Nordau  endlich  kennen 
zu  lernen,  und  dessen  eigenes  Staunen  mit  der  Ver- 
sicherung beruhigen  müssen,  es  werde  noch  schöner 


kommen  und  die  Klassenunterschiede  würden  völlig 
schwinden,  seitdem  man  einmal  zusammen  nicht  nur  im 
Interniertenlager,  sondern  auch  im  Schützengraben 
gelegen  sei.  Man  trifft  sich  längst  in  Redaktionen, 
auf  Jours,  in  der  Nächstenliebe  und  bei  allen 
Gelegenheiten,  wo  ein  Gedränge  ist,  und  vielleicht 
kommt  noch  die  Zeit,  wo  der  Adel  sogar  noch  die 
höchst  unadelige  Gesinnung  abstreift,  die  Leute,  denen 
er  den  Hof  macht  und  überläßt,  hinter  ihrem  Rücken 
grauslicher ,  zu  finden  als  in  ihrem  Gesicht.  Denn 
das  ist  ein  Vorurteil.  Auch  wird  er  sich  nicht 
lange  mehr  zu  schämen  haben,  mit  Bürgerlichen  zu 
verkehren,  denn  der  künftige  Adel  nimmt  bereits  in 
einer  Weise  überhand,  daß  es  bald  mehr  Ahnherren 
in  der  Kärntnerstraße  geben  wird,  als  solche,  die  ihre 
Ahnherren  schon  begraben  haben.  Viele  gibt  es,  die 
nicht  umsonst  an  Konserven  oder  Wolldecken  ver- 
dient haben  wollen,  ohne  die  Aussicht,  daß  in 
hundert  Jahren  ein  stolzes  Geschlecht  undefinierbaren 
Ursprungs,  aber  sicher  aus  der  Zeit  kriegerischer  Ver- 
dienste, blühen  und  gedeihen  wird,  abhold  der 
Vermischung,  unzugänglicher  als  die  fallsüchtige 
Gesellschaft  jener  Tage,  die  seinem  Ahnherrn  keinen 
Fußtritt  gab.  Eheschließungen  dürften  das  ihrige  dazu 
tun,  mit  der  Trennung  vom  Tisch,  die  so  lange  ein 
soziales  Hindernis  war,  aufzuräumen.  Denn  es  geschieht 
schon  häufig,  daß  hochgeborne  Herren  die  Koryphäen 
der  Ischler  Esplanade  nicht  nur  heiraten,  sondern 
sogar  mit  ihnen  nachtmahlen  gehen.  Jupiter  hat  seine 
erotischen  Neigungen  so  sehr  als  Privatsache  betrachtet, 
daß  er  sich  auch  mit  einer  Königstochter  nur  im 
Inkognito  eines  Stiers  abgegeben  hat:  und  konnte 
dennoch  nicht  verhindern,  daß  es  in  die  Mythologie 
kam.  Er  zeugte  mit  ihr  zwei  Gerichtspräsidenten. 
Was  für  eine  Generation  droht  aber  heraufzukommen, 
da  die  Väter  ahnungsloser  waren  als  die  Mütter? 
Die  Welt  hat  sich  auf  eine  undankbare  Art  bewiesen, 
daß  sie  noch  Blut  hat.  Jetzt  wird  es  ihr  auch  nicht 
mehr  darauf  ankommen,  es  zu  mischen,    und  es  wird 


sich  zeigen,  daß  die  Vordringenden,  deren  seit  Jahr- 
tausenden frischer  Stoßkraft  keine  Defensive  Widerstand 
leisten  konnte,  die  Sieger  dieses  kurzen  Kriegs  waren. 
Aber  hat  man  ihnen  nicht  die  Schlüssel  zu  den  sozialen 
Festungen  in  die  Hand  gedrückt,  als  wären  es  die 
zu  den  Ghettos?  Gibt  es  einen  Abgrund,  aus  dem 
man  sie  nicht  heraufgeholt  hat?  Eine  Strickleiter 
sozialer  Verbindung,  die  man  ihnen  nicht  gereicht 
halte?  Kinoschmierer,  Operettenlieblinge,  Agenten 
müssen  sich  den  Hochgestellten  nicht  mehr  auf- 
drängen, sie  werden  begehrt;  und  der  Parvenü 
braucht  sich  nicht  mehr  anzustrengen,  wenn  Hoheit 
ihm  auf  halbem  Weg  entgegenkommt.  Von  einer 
Fürstin  empfangen  werden,  ist  gefährlich,  weil  man 
sicher  sein  kann,  einen  Revolverjournalisten  bei  ihr 
zu  treffen,  die  phantastischesten  Zusammenstellungen 
sind  im  Geschmack  der  Zeit,  und  der  arme  »Würden- 
träger«, der  unter  der  Last  keucht,  ist  aer  mißbrauchte 
Dienstmann  des  Großindustriellen,  der  ihn  für  schlechte 
Behandlung  durch  gelegentliches  Essen  entschädigt. 
Kann  man  denn  mit  Fug  noch  von  Vordringenden 
sprechen,  wenn  die  Historischen  schon  hinter  ihnen  sind? 
Wahrlich,  nie  haben  sie  selbst  sich  das  Leben  so  leicht 
gemacht  wie  ihnen  der  Feind,  und  der  letzte  Hemm- 
schuh, den  die  historische  Welt  ihnen  in  den  Weg  legen 
wollte,  ward  durch  den  unerforschlichen,  aber  seit  Jahr- 
tausenden am  Sieg  wirkenden  Ratschluß  ihres  Gottes 
beseitigt.  Wie  sollte  eine  Rasse,  deren  Ambition  man 
nahetritt,  wenn  man  ihr  nur  die  Neigung  zu  greifbaren 
Gütern  vorwirft,  nicht  auch  auf  die  moralischen, 
die  doch  in  einem  so  verwandelten  Leben  das  billige 
Ornament  der  andern  sind,  Appetit  haben?  Kommt 
einst  der  Tag  —  und  wir  erleben  ihn  — ,  daß 
der  Wert  vollends  Ware  geworden  ist,  so  mag  noch 
eine  Gelegenheit  bleiben,  ihn  aus  dem  Markt  zu  ziehen, 
um  den  ewigen  Händlern  die  Chance  zu  verderben: 
der  Adel  beweise  sich,  indem  er  ihn  ablegt,  und  lasse 
die  Gesellschaft  als  ein  Ghetto  derNobilitierten  hinter  sieht 


—  10 


Das  Lysoform-Gesicht 

ist  das  der  Zeit.  Zu  sehen,  feixend,  an  allen  Planken.  Das 
Mittel  ist  eines  der  Mittel  —  auf  >— it«,  »— in<,  >— ol«  und 
»—form«,  —  die  die  Menschheit  erst  nötig  hat,  seitdem  sie  sie 
erfunden  hat,  und  ohne  welche  es  die  Leiden  nicht  gäbe,  gegen 
die  sie  erfunden  wurden.  Aber  das  Gesicht,  das  es  empfiehlt,  ist 
die  Zeit  selbst.  Hierzulande,  wo  aller  Vorfall  bunter  und  lauter 
ist  als  sonst  in  der  Welt,  vergeht  einem  Hören  und  Sehen,  wenn 
man  eine  Planke  entlang  geht,  nur  die  Zeit  steht  und  feixt 
Welch  ein  Tohuwabohu  von  Stillstand!  Eine  brüllende  Prolelen- 
kunst  feiert  ihren  orgiastischen  Abschied  vom  Sinn  des  Lebens.  Die 
Tobsucht  empfiehlt  das  Lebensmittel,  dessen  Tyrannei  den  Verstand 
so  weit  gebracht  hat.  Die  Ware  ist  rebellisch  worden  und  jauchzt, 
springt,  platzt  vor  Vergnügen,  weil  der  Händler  ihr  die  Haut  des 
Konsumenten  zur  Hülle  gab.  Nein,  an  keiner  Straßenecke  des 
Fortschritts  geht  es  so  hoch  her  wie  an  der  unsern.  Das  Ohr 
verspürt  noch  den  Druck  der  eben  verstummten  Siegesschreie,  deren 
Gewalt  die  Behörde  eingedämmt  hat,  weil  das  Papier,  nicht  weil 
die  Menschenwürde  auszugehen  drohte.  Das  Heroenzeitalter  der 
Wiener  Straße  —  bis  auf  den  Sonntag,  der  als  Unruhtag  eingesetzt 
wurde,  abgelaufen  —  hinterläßt  im  Gedächtnis  einen  letzten 
Glanzpunkt:  >Krosser  Sick  der  Türken  über  die  Russen:  Erzerum 
gehohmen  !«  Kein  Schweigegebot  aber  unterdrückt  die  gemalten 
Extraausgabenschreie,  die  das  Auge  betäuben,  die  vernichtenden 
Anschläge  der  Gewinnsucht  auf  den  Geschmack.  Mestizen  aus 
Weanern  und  Juden,  das  ewige  Hindernis  des  Trottoirs,  erscheinen 
in  liebevoller  Übertreibung  noch  an  die  Wand  gemalt;  ein  Variete 
von  Wucher  und  Wohltat  tanzt  vor  uns,  peitscht  den  Lebens- 
überdruß zum  Gaudeamus  und  eine  Quadrille  von  Zentauren, 
halb  Mensch,  halb  Ware,  bestürmt  uns,  kein  Spielverderber  zu 
sein.  Transzendente  Antlitze  von  Gastwirten,  melancholisch  über- 
schattete Judenbuben,  die  einen  heitern  Abend  versprechen,  obers- 
schaumgeborne  Aphroditen,  Bulldogs  mit  Hausmeistergesichtem, 
Mißgeburten,  die  strampelnd  schon  mit  Gummiabsätzen  zur  Welt 
kommen,  brave  Soldaten,  die  außer  sich  vor  Freude  sind,  weil  Anti- 
Mi  kotin  gesiegt  hat  —  und  über  dieser  Farbenhölle,  die  losgelassen  ist, 


—  11  — 


um  die  Zugkraft  des  Todes  für  ein  niedriges  Lebensinteresse 
zu  verwerten,  über  diesem  schüttelnden  Fleckfieber  der  Zeit,  über 
diesem  Gliederkrampf  von  lebloser  Feschität  und  ausgefressenem 
Marasmus:  das  gewitzte  Ponem  des  Lysoformbengels,  der  zu 
wissen  scheint,  was  er  weiß,  der  sagen  könnte,  was  er  nicht 
sagen  will,  nämlich  wofür  das  Mittel  auch  probat  ist.  Mit  der  lächelnden 
Miene  eines,  der  eine  Diskretion  begeht,  der  sich  auskennt,  der  in  dem 
Punkt  Erfahrungen  hat,  dem  schon  manches  untergekommen  ist,  der 
viel  erzählen  könnte,  wenn  er  wollte,  schweigt  er,  und  sagt:  >Unent- 
behrlich  für  die  Frauen.«  Schweigt  so  die  Zeit  nicht?  Sieht  sie  so  nicht 
aus?  Die  Moral,  die  das  Geschlecht  verbietet  und  als  Gegenstand  des 
Humors  für  geschlossene  Zirkel  zuläßt,  räumt  ein,  daß  die  Sache  ernst 
ausgehen  kann,  und  findet  das  komisch.  Der  Händler  illustriert  die 
Gefahr  durch  einen  wissenden,  eh  schon  wissenden  Laden- 
schwengel, der  mit  gekniffenem  Auge  und  dem  von  einem  Ohr, 
das  viel  gehört  hat,  bis  zum  andern  verzogenen  Lächeln  um 
keinen  Preis  verraten  will,  was  er  weiß,  aber  schließlich  mit  sich  reden 
läßt.  Die  Passantin,  der  ein  Rat  erteilt  wird,  wird  angegrinst  und 
entschließt  sich,  weil  Lysoform  nun  einmal  so  pikant  sein  soll, 
zu  einem  Kauf.  Diesem  Lockvogel  ist  nicht  zu  entgehen;  diesem 
eingeweihten  Schelm,  der  täglich  Lysoform  empfiehlt  und  am  Sonntag 
auch  die  Plauderei  schreibt,  kann  man  nicht  nein  sagen.  Keine  Frau, 
keine  Behörde.  Solches  Vorbild  einer  Moral,  die  längst  Herren- 
abend gemacht  hat,  begleitet  uns  auf  allen  Wegen.  So  angeschaut, 
so  von  allen  Sendboten  der  Hölle  angerufen  zu  werden,  ergötzt  uns, 
stört  uns  nicht.  Niemand  beklagt  sich,  kein  Steinhagel  macht  der  Zu- 
mutung ein  Ende.  Und  niemand  erschrickt  bei  dem  Gedanken,  daß  in 
einar  durch  gnädigen  Zauber  plötzlich  ausgestorbenen  Stadt  diese 
Gesichter  in  ihrer  überlebendigen  Überlebensgröße  überleben  und 
uns  in  die  Verwesung  nachstarren  könnten. 


—  12  — 


Glossen 


Lesestücke 


Aus  einem  im  Verlag  von  Karl  Meyer  in  Hannover 
erschienenen,  für  den  Schulgebrauch  bestimmten  Lesebuch  der 
Rektoren  Kappey  und  Koch  in  Hildesheim: 

>Regiment  greift  an<,  von  Leutnant  Hoppe  vom  Regiment  79: 


Da  drüben,  da  drüben  liegt  der  Feind 

In  feigen  Schützengräben, 

Wir  greifen  ihn  an,  und  ein  Hund  wer  meint, 

Heut  würde  Pardon  gegeben. 

Schlagt  alles  tot,  was  um  Gnade  fleht, 

Schießt  alles  nieder  wie  Hunde, 

JVlehr  Feinde,  Mehr  Feinde!  sei  euer  Gebet! 

In  dieser  Vergeltungsstunde ! 

Aus  drei  im  pädagogischen  Verlag  A.  Haasein  Prag  erschienenen 
Büchlein  des  Wiener  Lehrers  Weyrich : 

>Auf  daß  ihr  mit  wissendem  Herzen  und  Munde 
hasset,  halte  ich  euch  einen  Spiegel  vor,  aus  dem  euch  das  neidverzerrte 
und    haßverfärbte    Antlitz    des   falschen  Albion    entgegengrinst.« 

»Jetzt  freilich  möchte  ich  nur  wünschen,  daß  den  Russen  Galizien 
all  seine  Gaben:  Armut  und  Schmutz,  verseuchte  Brunnen  und  tolle 
Hunde,  Hunger  und  Seuchen  in  verschwenderischem  Maße  zuteil 
werden  läßt.« 

»Von  den  Kerlen  aber  ist  nichts  zu  sehen!  Schauen  in  ihren 
Monturen  aus,  als  wären  sie  aus  demselben  Lehm  und  Sand  geformt, 
um  den  wir  uns  nun  tagelang  raufen.  Sind  feige  Hunde,  die 
Erdfarbenen!«  * 

»Alles  schwarz  von  Russen,  grad  so  wie  in  einer  vernachlässigten 
Küche!  Man  braucht  nicht  zu  zielen:  einfach  losdrücken  und  schon 
liegt  einer.  Na,  da  knallten  wir  sie  nieder,  wie  die  Köchin 
raschen  Fußes  das  Ungeziefer  zertritt.« 

»Sakra,  dös  war  höllisch  fein!  Bald  hab'  i  's  Vurtl  heraußt 
g'habt.  Eini  das  Messer  ins  Russenfleisch  und  gach  umdraht!« 

»Hei,  da  haben  wir  mit  unseren  Karabinern  dreingehauen, 
als  gälte  es  Klötze  zu  spalten.  Hab'  auch  viele  Russen- 
schädel zerschlagen.  Hurra!« 

>Es  muß  ein  ganz  eigenartiges  Gefühl  sein:  Hier  zu  stehen,  den 
Feind  'rankommen  zu  sehen  und  ihn  niederknallen  zu  können, 
ohne  daß  er  einem  recht  ankann.« 


13 


»...  und  jetzt  darf  ihnen  (den  Russen,  die  sich  ergeben)  niemand 
mehr  etwas  tun  als:  gefangennehmen.  Und  hätten  doch  so  gern 
diese  Gazember  (magyarisches  Schimpfwort)  ein  bißl  massakriert.  .  .  .< 

»Jeden  einzelnen  von  uns  hat  der  Krieg  aus  dem 
Alltag  gerissen,  hat  ihn  umgeformt  und  sittlich  wachsen 
lassen.  Wir  alle  sind  bessere  Menschen,  bessere  Öster- 
reicher geworden!« 


Gebt  Feuer,  ihr  Berge!  Speit! 

»Wieder  einmal  nimmt  dasWiener  Kaffeehausleben  eine 
Umgruppierung  vor.  ...  die  Begriffe  Semmel,  Kipfel,  Baunzerl.  .  .  . 
gelbes  K  riegs  weckerl  .  .  bis  die  Wiener  Cafetiers  auch  diese 
Position  aufgeben  mußten.  .  .  .  Und  während  draußen  unsere 
Helden  stürmen  und  siegen,  standhalten  und  erobern,  nahm 
die  bürgerliche  Defensive  des  Wiener  Kaffeehausgastes  ihren 
nicht  immer  erwünschten,  aber  wirtschaftlich-strategisch  höchst  not- 
wendigen Fortgang.  .  .  .  das  Schlagobers,  das  üppig  und  lockend  die 
Wiener  Melange  zur  kulinarischen  Sehenswürdigkeit  erhob,  wurde  glatt- 
weg konfisziert,  und  nun  ist  eine  ganz  neue  Linie  bezogen  worden.  . 
Die  Nachmittagsjause  ist  auf  unbestimmte  Zeit  beurlaubt.  Heute  hatten 
die  Wiener  Kaffeehäuser  ihre  melangelose  Premiere.  Wenige  Minuten 
vor  2  Uhr.  ...  noch  ein  »Kapuziner«  oder  eine  Melange  »mehr  dunkel« 
oder  eine  >Obers  gespritz t<  serviert,  punkt  2  aber  ein  derartiges 
Begehren  mit  einem,  je  nach  der  Gemütsart  des  Kellners 
bedauernden  oder  ironischen  Achselzucken  verweigert.  Und  als 
späterhin  einige  Gäste  in  wenig  geschmackvoller  Weise  das  Milch- 
verbot umgehen  wollten,  indem  sie  ihren  Schwarzen  durch  mit- 
gebrachte Milch  zu  einem  Weißen  machten,  wurde  ihnen  klargemacht, 
daß  auch  dies  nicht  erlaubt  sei.  Der  Wiener  Kaffeehausgast  hat  aber  auch 
die  neueste  Probe  auf  seine  Bereitschaft  zum  Durchhalten 
vortrefflich  bestanden.  .  .  .  Denn  schließlich  gehen  ja  doch  die  meisten 
Wiener,  Herren  und  Damen,  in  erster  Linie  der  Gesellschaft  halber, 
um  Zeitungen  zu  lesen,  um  eine  Ruhepause  zu  genießen,  um  zu 
plauschen  und  zu  politisieren,  ins  Caf6,  das  ja  bei  uns  weniger 
>Lokal<  als  Klub  ist.  Ganz  schlaue  Leute  aber  .  .  wußten  sich  heute 
schon  zu  helfen.  Sie  erschienen  später  als  sonst,  erklärten  dem  Markör, 
daß  sie  noch  warten  wollen,  und  bestellten  dann  pünktlich  eine  Minute 
vor    7  Uhr:     »Markör,    eine    Teeschale    Melange,    sehr    licht.« 

Nein,  Doppelschlag! 


14  — 


Das  Gedankenleben 

Zwei  Stufen  des  Denkvermögens  gibt  es  jetzt.  Auf  der  einen, 
der  höhern,  sagt  man:  »Krieg  ist  Krieg.«  Hier  ist  außer  der  Erkennt- 
nis noch  der  Rat  inbegriffen,  sich  danach  einzurichten  oder  wenns 
nicht  paßt,  nach  einem  andern  Planeten  auszuwandern,  falls  man 
die  Grenzübertrittsbewilligung  bekommt.  Diese  Formel  berück- 
sichtigt die  unabsehbaren  Schwierigkeiten  und  Gefahren,  die  sich 
aus  der  einmal  gegebenen  Tatsache  ergeben,  ohne  jedoch  den,  der 
sie  anwendet,  an  diesen  Fatalitäten  schuldig  oder  beteiligt  erscheinen 
zu  lassen.  Nur  im  Munde  solcher,  die  nicht  daran  sterben,  ist 
diese  Definition  des  Krieges  gebräuchlich,  die  andern  wissen 
vielfach,  daß  der  Krieg  auch  etwas  anderes  ist  als  Krieg.  Auf 
der  zweiten  Stufe  aber  drücken  sich  die  Leute,  denen  es 
nicht  geschah,  weniger  kompliziert  aus,  sondern  sagen  einfach : 
>Jetzt  ist  Krieg.«  Diese  Erkenntnis  hält  sich  gleichfalls  an  die  ein- 
mal gegebene  Tatsache,  weist  aber  den  barsch  ab,  der  dem  Sprecher 
irgendwelche  Zumutungen  stellen  möchte,  denen  er  schon  im 
Frieden  nur  schlecht  oder  ungern  entsprochen  hat  und  von  rechts- 
wegen  auch  im  Krieg  zu  entsprechen  hätte,  also  nicht  als  ob  ihm  eine 
neue  Leistung  aufgebürdet  würde,  sondern  weil  die  alte  von  ihm 
verlangt  wird.  Es  ist  allenthalben  nicht  njar  das  Zauberwort,  das 
den  Wucherinstinkt  bis  zur  Aufopferung  des  letzten  Schamgefühls 
entfesselt  hat,  sondern  es  ist  auch  in  der  Niederung  jener,  die  vom  Krieg 
nichts  haben  können,  die  Ausrede  der  Lässigkeit  und  die  Ent- 
schuldigung der  Schlamperei,  und  man  hat  den  Eindruck,  als 
sollte  die  Felddiensttauglichkeit  anderer  die  eigene  Untauglichkeit 
zu  jedem  andern  Dienst  erfordern.  Man  muß  darauf  gefaßt  sein, 
daß  man  von  einem  Kellner,  dem  man  jetzt  etwa  raten  würde,  die 
Tür  geräuschloser  zu  schließen  oder  den  Finger  nicht  geradezu  in 
den  Teller  zu  stecken,  die  Antwoit  bekommt:  »Jetzt  ist  Krieg.« 
Blitzschnell  hat  diese  Erkenntnis  alle  Gebiete  des  öffentlichen  und 
des  privaten  Lebens,  jenseits  aller  Notwendigkeiten,  die  sich  aus  der 
Tatsache,  daß  Krieg  ist,  ohnehin  ergeben,  durchsetzt  und  den  Zustand 
eines  andern  Kriegs  geschaffen,  den  das  Hinterland  auf  eigene 
Faust  zu  führen  scheint.  Jener  Krieg  ist  dieser  Krieg.  Eben  dort,  wo 
noch   die   Bahn   des  Lebens  frei  wäre,   pflanzt   sich   die  störrige 


15  — 


Banalität  auf  und  zwingt  uns  zur  Umkehr  durch  die  vorgehaltene 
Warnung:  Jetzt  ist  Krieg.  Der  Gedanke  lebt  und  jeder 
nimmt  sich  seinen  Teil  von  dem  allgemeinen  Recht,  ein  Hindernis 
zu  sein.  Alles  andere  aber,  was  so  tagsüber  den  Leuten  aus  dem 
Mund  kommt,  ist  nur  die  feierliche  Redensart,  die  öfter  gestorben 
ist,  als  jener  Tod,  den  sie  bezeichnet,  erlitten  wurde.  Wer  hätte  denn  je 
gedacht,  daß  eine  Zeit  anbrechen  werde,  die  solcher  Menschen- 
ware den  Stolz  beibringt,  einer  »Epoche«  anzugehören !  Glotzende 
Fettaugen  auf  der  Wassersuppe  des  Lebens,  starren  uns  die 
heroischen  Worte  an,  als  wäre,  wenn  das  Ohr  versagt,  auch  dem  Aug 
noch  ein  Tort  erwünscht.  Dieser  Gallert,  nicht  zertreten,  kaum  bewegt 
vom  Ereignis,  schillert  in  den  Farben  der  Glorie,  und  ich 
weiß  nicht,  habe  ich  es  erfunden  oder  ist  es  nur  wahr:  in  einem 
Kaffeehaus,  in  dessen  Luft  ein  Schlachtenlärm  ist  von  Prozenten  und 
Miasmen,  in  einer  jener  großstädtischen  Lokalitäten,  in  die  der 
Kriegszwang  selten  eingreift,  seltener  die  Gerechtigkeit,  wiewohl 
sie  es  blind  vermöchte,  in  einer  jener  Baracken,  wo  sich  die  Ent- 
lausung des  Hinterlands  durch  den  Krieg  als  Utopie  herausstellt, 
sagt  einer  plötzlich:  »Was  heißt  nein?  Ich  sag  Ihnen  sein  Vorge- 
setzter selbst  hat  ihr  geschrieben,  so  wahr  ich  da  leb,  er  wird 
in  den  Annalen  fortleben.« 


Ein  Irrsinniger  auf  dem  Einspännergaul 

Wunder  gibts  jetzt  nur  in  der  Technik,  Symbole  wachsen 
in  der  lokalen  Chronik.  Hier  ist  eines,  das  ziemlich  gut  zeigt, 
wie  ich  mir  die  Lage  der  Welt  im  Krieg,  die  Lage  unserer  Welt, 
schon  immer  vorgestellt  habe. 

[Ein  Irrsinniger  auf  dem  Einspännergaul.]  Eine  auf- 
regende Straßenszene  hat  gestern  abend  an  der  Kreuzung  der  Aiser-  und 
Landesgerichtsstraße  eine  geraume  Zeit  lang  unter  den  vielen  Vorüber- 
gehenden großes  Aufsehen  erregt.  Gegen  halb  8  Uhr  fuhr  ein  Einspänner- 
wagen mit  zwei  Damen  als  Fahrgästen  und  Gepäck,  das  auf  dem  Bocke 
verstaut  war,  in  der  Universitätsstraße  gegen  die  Alserstraße.  Als  der 
Wagen  im  langsamen  Tempo  zur  Kreuzung  der  Aiser-  und  Landesgerichts- 
straße fuhr,  kam  ein  junger  Mann  in  Infanteristenuniform  plötzlich  im 
Laufschritt  auf  die  Straße  und  stürzte  sich  dem  Einspännerrosse  entgegen  ; 
er  faßte  es  an  dem  Zügel  und  wollte  das  Pferd  anhalten.  Der  Kutscher 


—  16  — 


war  überrascht,  die  beiden  Insassen  waren  erschrocken.  Der  Kutscher 
schlug  mit  der  Peitsche  auf  das  Pferd  ein,  um  es  zu  schnellerem  Trabe 
zu  veranlassen  und  dem  jungen  Menschen  zu  entkommen;  das  Pferd 
lief  auch  schneller,  da  sprang  der  junge  Mensch  wieder  an  den  Gaul 
heran  und  schwang  sich  auf  ihn.  Mit  der  bloßen  Hand  trieb  er  das 
arme  Tier  zu  noch  schnellerem  Laufe  an,  indem  er  dabei  wiederholt 
> Hurra«!  schrie.  Nun  hatte  der  Kutscher  die  Lenkung  über  das  Pferd 
ganz  verloren  und  der  sonderbare  Reiter  ließ  den  Gaul  ganz  umkehren. 
Im  Galopp  kam  das  Tier  mit  dem  schleudernden  Wagen  gegen  die 
Kreuzung.  Das  Abenteuer  hätte  noch  schlimm  enden  können,  wenn  nicht  . 
an  der  Kreuzung  ein  Sicherheitswachmann  das  Pferd  am  Zügel  gefaß'f 
und  zum  Stehen  gebracht  hätte.  Der  Wachmann  zog  den  Reiter  wieder 
auf  den  Boden  herab.  Kutscher  und  Fahrgäste  atmeten  auf.  Um  den 
Wagen  sammelte  sich  gleich  eine  große  Menge  an.  Der  junge  Mann, 
der  offenbar  geistesgestört  ist,  wurde  der  irrenärztlichen  Behandlung 
übergeben. 

Wann,   wann,   wann!     Wann   kommt   er,    der  Wachmann! 
Wenn  man  einen  braucht,  ist  natürlich  keiner  da. 


Wüßt'  ichs  doch! 


Wer  liefert 
8-cm-Stahlgranatenrohlinge? 

3000    bis    5000    Stück   per   Woche   während    drei   Monaten   von 

April  ab.   Gefällige   Offerten   unter  >Stahlgranatenrohlinge  4552« 

an  das  Ankündigungs-Bureau  dieses  Blattes. 


Bagatellen 

....  Tatsächlich  hatte  der  Unfall,  abgesehen  von  dem  erwähnten 
Verluste  an  Menschenleben  (9i,  nur  einen  rasch  gelöschten  Brand  zur 
Folge,  ohne  daß  durch  diesen  die  geringste  Betriebsstörung  eingetreten 
ist.  Derlei  Unfälle  sind  bei  der  so  umfangreichen,  auf  das  äußerste 
gesteigerten  Erzeugung  und  Verarbeitung  von  explosivem  Material  unver- 
meidlich, jedoch  für  die  Munitionsversorgung  ohne  Bedeutung. 


—  17  — 


Nämlich  im  Vergleich  mit  den  viel  größeren  Unfällen, 
die  späterhin  den  Zweck  und  nicht  die  Gefahr  der  Munitionsversorgung 
bedeuten.  Wenn  diese  eine  wohltätige  Einrichtung  zur  Vermehrung 
von  Menschenleben  wäre,  ließe  sich  von  der  Affäre  ein  Aufhebens 
machen.  Ebenso  unberechtigt  ist  es  aber,  wenn  von  dem  Verlust  an 
Menschenleben  Notiz  genommen  wird,  den  —  als  die  letzte  Wirkung 
der  erzeugten  Munition  —  unvorsichtiges  Hantieren  mit  einem 
vom  Vater  den  Kindern  mitgebrachten  Explosivgeschoß  hie  und  da 
verursacht.  Solche  nicht  beabsichtigten  Unfälle  sollten  am 
besten  aus  der  Diskussion  bleiben.  Was  sich  vorher  und 
nachher  mit  der  Munition  begibt,  zählt  nicht.  Die  Zeit  ist 
viel  zu  ernst,  um  sich  mit  solchen  Bagatellen  abzugeben. 


Ein  Protz 

Ein  Kinobesitzer  (der  doch  ohnehin  von  Berufs  wegen  sein 
Scherflein  beiträgt)  verklagt  einen  Feuerwächter  wegen  Ehren- 
beleidigung. 

. . .  Bei  der  Begründung  des  freisprechenden  Teiles  der  Klage  führte 
der  Richter  aus,  daß  nach  den  dem  Gerichte  völlig  glaubwürdig  er- 
scheinenden Angaben  der  beiden  Zeuginnen  der  Kläger  sich  selbst 
gebrüstet  habe,  daß  er  zu  einem  leichten  Dienst  gekommen  sei  und 
^p.Q  es  ihm  sehr  viel  Geld  gekostet  habe.  Bezüglich  dieser  daher 
von  dem  Angeklagten  nur  wiederholten  Äußerung  erachte  das  Gericht 
den  Wahrheitsbeweis  als  gelungen. 

Damit  ist  der  Gerechtigkeit  genüge  geschehen.  Bewiesen  ist 
wohl  außerdem,  daß  der  Kläger  renommiert  hat.  Man  hört 
oft  von  solchen  Protzereien,  aber  die  Zeit  ist  viel  zu  ernst,  um 
dergleichen  zu  beachten.  Die  Tatsache  der  Äußerung  kann 
Gegenstand  einer  Beweisführung  sein,  aber  nicht  ihr  Inhalt.  Das 
würde  zu  Weitläufigkeiten  führen  und  da  es  nicht  gelingen 
würde,  versucht  man  es  gar  nicht  erst,  sondern  geht  zur  Tages- 
ordnung über,  in  der  sich  der  schwere  Dienst  von  selbst  versteht. 


18 


Der  Mann  von  fünfzig  Jahren 
Goldene  Worte 

Professor  Dr.  K.  F.  Wenckebach,  der  Vorstand  der  Ersten 
medizinischen  Klinik  in  Wien,  hat  vor  mehr  als  2  Jahren,  kurz  nachdem 
er  seiner  Berufung  nach  Wien  Folge  geleistet  hatte,  einen  Vortrag  >Über 
den  Mann  von  fünfzig  Jahren«  gehalten,  der  erhebliches  Aufsehen  nicht 
nur  in  der  medizinischen  Welt,  sondern  auch  in  Laienkreisen,  vor  allem  aber 
in  den  Kreisen  der  Fünfziger  erregt  hat.  Dieser  Vortrag  ist  jetzt 
im  Verlag  Moritz  Perles,  Wien,  in  dritter  Auflage  als  kleines  Buch 
erschienen,  wohl  der  beste  Beweis,  wie  groß  das  allgemeine 
Interesse  an  der  von  Wenckebach  angeschnittenen  Frage  ist,  ob  auch 
der  Mann  um  die  fünfzig  herum  einer  schweren  Störung  seines  Allgemein- 
befindens unterworfen  erscheint. 

Kein  Zweifel,  denn  es  ist  der  Zeitpunkt,  wo  die  Natur  auf 
Wahrheit  dringt,  weil  sie  lange  genug  gewartet  hat,  daß  aus  jungen 
Männern  alte  Weiber  werden.  Besonders  bei  den  deutschen  Dichtern, 
die  dazu  inklinieren,  fünfzig  Jahre  alt  zu  werden;  und  man  erinnert 
sich  noch,  daß  nach  Ablauf  der  Periode,  da  Frau  Hermann  Bahr 
am  Lido  in  wallenden  Gewändern  sich  zeigte,  die  Epoche  begann, 
in  der  der  Kollege  Dehmel  sich  einen  Tschako  aufgesetzt  und 
sogar  Kriegsgedichte  verfaßt  hat. 

Nach  einer  allgemeinen  Übersicht  über  die  Entwicklungskrankheiten 
des  heranwachsenden  und  erwachsenen  Menschen  geht  der  hervorragende 
Wiener  Kliniker  auf  den  fünfzigjährigen  Mann  als  Patienten  über  und 
bemerkt:  »Es  fällt  uns  zuallererst  auf,  daß  die  Patienten  fast  nie  dem 
arbeitenden  Stande  angehören,  sondern  meist  besseren  und  besten 
Kreisen  entstammen,  und  wenn  man  sie  im  allgemeinen  charakterisieren 
soll,  könnte  man  sagen,  daß  es  Menschen  sind,  von  denen  das  Leben 
viel  verlangt  hat,    die    aber    auch  selbst    viel    vom    Leben    verlangen.« 

Gewiß,  die  Fünfzigjährigen  verlangen  vom  Leben  oft  mehr 
Geld  als  es  zu  geben  hat,  besonders,  wenn  sie  Medizin  studiert  haben. 
Wiewohl  sie  aber  dem  Leben  mit  dieser  Forderung  unaufhörlich 
nachlaufen  und  sich  gehörig  abstrapazieren,  nehmen  sie  nicht  nur 
an  Geld  zu,  sondern: 

»Meistens    ist  ein  gewisser  Grad    von  Fettsucht  vorhanden,    ein   dicker 
Bauch,  ein  festes,  pralles  Fett  .  .  .  .« 

Davon  kann  man  sich  bei  einem  Blick  auf  das  Hinterland 
überzeugen,  soweit  es  nicht  schon  anderweitig  mit  besserem  Erfolg 
gemustert  wurde.  Wenckebach  konstatiert  eine  Arrhythmie  des  Pulses. 
Von  oft  ausschlaggebender  Bedeutung  sei  die  Beruhigung  des  Patienten, 
der  zweite  Hauptpunkt  die  diätetische  Behandlung,  wobei  es  oft  not- 
wendig sei,  das  Körpergewicht  etwas  herabzusetzen.  Gewöhnlich  genügen 


aber  fünf  bis  zehn  Kilogramm  im  Laufe  von  Monaten  oder  einem 
Jahr  als  Gewichtsverlust.  Einschränkung  der  Fettzufuhr,  Sparsamkeit  mit 
Zucker,  nicht  ausschließlich  Fleisch,  nicht  viel  Gewürze,  nicht  schlemmen, 
im  Alkohol-  und  Tabakgenuß  Mäßigkeit  —  dies  hat  Professor  Wencke- 
bach  fast  immer  zum  Ziel  geführt. 

Dieser  Wenckebach  mag  sein  Fach  verstehen,  aber  man  kann 
nicht  leugnen,  daß  die  Größe  der  Zeit  seiner  Methode  wesentlich  zu 
Hilfe  kommt.  Zwar  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  die  jetzt  ohnedies  vor- 
geschriebene Kur,  das  Körpergewicht  etwas  herabzusetzen,  der 
Beruhigung  des  Patienten  geradezu  entgegenwirkt,  ja  daß  durch  die 
Notwendigkeit,  sich  ihr  zu  unterwerfen,  die  Arrhythmie  des  Pulses 
noch  verstärkt  wird.  Man  hat  jetzt  bei  Fünfzigjährigen  vielfach 
eine  Störung  des  Allgemeinbefindens  beobachtet,  die  bei  jüngeren 
Jahrgängen  sogar  häufig  zu  letalem  Ausgang  geführt  hat.  Aber 
Wenckebach,  der  kein  Chirurg  ist  und  überhaupt  im  tiefsten 
Frieden  zu  leben  scheint,  empfiehlt  auch  »eine  vernünftige 
Lebensweise«,  nämlich:  >geistige  Ausspannung  und  körperliche 
Bewegung«.  Erstere  ist  mangels  dessen,  was  auszuspannen  wäre,  schon 
lange  mit  den  größten  Schwierigkeiten  verbunden,  aber  für  die  letztere 
ist  jetzt  hinreichend  gesorgt,  und  wenn  es  ehedem  die  grausamste 
Betätigung  des  landesüblichen  Humors  war,  den  Dickwanst  tiefe 
Kniebeuge  machen  zu  sehen  und  lachend  zu  beobachten,  wie  der 
Nebenraensch  nichts  zu  lachen  hat,  so  sind  jetzt  ihrer  so  viele  in  solcher 
Lage,  daß  die  schadenfrohen  Zeugen  fehlen.  Wenckebach  mag  eine 
Kapazität  sein,  aber  es  dürfte  jetzt  kaum  Einer  seiner  Ratschläge  be- 
dürfen, wo  so  vielen,  auch  jenen,  die  jünger  oder  älter  als  fünfzig  sind, 
außer  der  körperlichen  Bewegung  Einschränkung  der  Fett2ufuhr, 
Sparsamkeit  mit  Zucker,  nicht  ausschließlich  Fleisch,  nicht  schlemmen, 
im  Alkohol-  und  Tabakgenuß  Mäßigkeit  gratis  ordiniert  wird.  Wem 
würde  heute,  wenn  er  in  ein  Gasthaus  kommt,  in  der  festen 
Absicht  zu  schlemmen,  nicht  von  der  Speisekarte  selbst  Ein- 
schränkung der  Fettzufuhr  und  Maßhalten  im  Fleischgenuß 
empfohlen,  von  der  Zuckerkarte  nicht  die  einschlägige  Diät,  wem 
nicht  von  der  Trafikantin  selbst,  die  doch  gewiß  ein  Faible  fürs 
Rauchen  hat,  Enthaltung  vom  Tabakgenuß  ?  Es  braucht  kein 
Wenckebach  vom  Katheder  herzukommen,  um  das  zu  sagen.  Es 
wären  denn  die  Worte,  die  er  zu  sagen  hat,  sogenannte  goldene  Worte. 
Und  zum  Schluß  spricht  Professor  Wenckebach  die  goldenen  Worte 
aus:  »Wenn  der  Patient  sieht,    daß    er  durch    eine  vernünftige  Lebens- 


20 


weise  sein  Wohlbefinden  zurückerlangt,  bekommt  er  Zutrauen  zu  seinem 
Arzt,  zugleich  aber  das  erhebende  Gefühl,  daß  er  kein  Patient  mehr  Ut 
und,  von  seinem  Arzt  nicht  mehr  abhängig,  sein  Los  wieder  selbst  be- 
stimmen kann.  Das  aber  ist  auch  der  höchste  Erfolg  für  den  Arzt, 
seinen  Patienten  so  weit  zu  bringen,  daß  er  den  Arzt  entbehren  kann!« 

Wenn  man  dazu  noch  bedenkt,  daß  bekanntlich  ein  guter  Arzt 
auch  ein  guter  Mensch  sein  muß  und  vice  versa  und  daß  somit 
Wenckebach  der  Nachfolger  Nothnagels  ist,  so  sind  das  entschieden 
Worte,  die  mehr  Gold  für  den  Patienten  als  für  den  Arzt  haben, 
dessen  Selbstaufopferung,  wenn  es  einmal  so  weit  kommt,  zu  den 
heroischesten  Erscheinungen  dieses  Zeitalters  gehört,  nur  vergleichbar 
dem  Harakiri  "des  Generals  Nogi.  Aber  abgesehen  davon,  daß  soeben 
allerorten  eine  »entsprechende  Erhöhung  der  Ärztehonorare« 
erwogen  wird,  wiewohl  doch  schon  der  Tarif  in  Friedenszeiten 
Preistreiberei  nicht  ausgeschlossen  hat,  und  abgesehen  von  der 
tnenschlichen  Erkenntnis,  daß  am  Golde  alles  hängt,  wäre  zu  bedenken, 
daß  die  Weisheit  der  Ostasiaten  in  einem  anderen,  praktischen 
Glanzpunkte  nachgeahmt  werden  könnte,  ohne  daß  die  medi- 
zinische Praxis  geradezu  eine  Katastrophe  erleiden  müßte.  Der 
Arzt  kann  nämlich  den  Patienten  am  Leben  lassen,  ohne  sich  umzu- 
bringen. Das  Geschäft  würde  allerdings  eine  materielle  Schmälerung 
riskieren,  aber  die  Seele  eines  sittlichen  Zuschusses  sicher  sein. 
Es  genügt,  sich  statt  des  Heroismus  nur  die  Weisheit  der  Ostasiaten 
zum  Vorbild  zu  nehmen  und  sich  einfach  statt  für  die  Krankheit 
für  die  Gesundheit  honorieren  zu  lassen.  Wenckebachs  Ent- 
sagung würde  kein  Echo  bei  der  Fakultät  finden.  Denn 
Hand  aufs  Herz  —  das  ja  menschlichen  Wallungen  genau  so 
ausgesetzt  ist  wie  das  des  fünzigjährigen  Patienten,  der  ein 
fünfundzwanzigjähriges  Jubiläum  als  Verdiener  feiert  und  vom 
Leben  für  die  Zukunft  noch  mehr  verlangt  — ,  das  ist  ja  alles 
ganz  gut,  ein  guter  Arzt  muß  ein  guter  Mensch  sein,  aber  ein  Arzt 
ist  eben  auch  ein  Mensch,  also  Hand  aufs  eigene  Herz:  welcher 
WienerUniversitä tsprofessor  und  Konsiliarius, welcher europäischeArzt 
lebt,  der  den  Tag  nicht  erwarten  kann,  wo  er  seine  Patienten  so  weit 
gebracht  haben  wird,  daß  diese  den  Arzt  entbehren  können?  Solange 
die  Ärzte  fürs  Kranksein  bezahlt  werden,  mag  ein  Heiliger  unter 
ihnen  der  Verlockung  widerstehen,  wenn  schon  nicht  das  Kranksein 
zu  verlängern,  so  doch  dem  Gesundwerden  mit  Besorgnis 
entgegenzusehen.    Kein  europäischer  Arzt  wird  sich  des  Wunsches 


überführen  können:  wenn  der  zudringliche  Mensch  von  einem 
Patienten  nur  schon  endlich  gesund  wäre,  damit  ich  ihn  nicht 
mehr  sehen  müßte  und  er  mich  entbehren  kann  der  Kerl  —  was 
ich  dem  koste,  das  ist  schon  wirklich  nicht  mehr  auszuhalten! 
Dagegen  in  Ostasien,  Herr  Kollega,  dort  sind  die  Ärzte  wirklich  sehr 
interessiert:  5ie  bekommen  nur  Honorar,  solange  der  Klient  gesund 
ist,  und  da  schauen  sie  wirklich  dazu,  daß  ers  bleibt.  Vielleicht, 
daß  eben  darum  dort  auch  die  Fünfzigjährigen  keiner  Störung 
des  Allgemeinbefindens  unterworfen  sind. 


Überreste  aus  der  Vergangenheit 

....  Sodann  protestiert  Redner  (Graf  Josef  Karolyi)  gegen  die 
Art  und  Weise,  in  der  Abgeordneter  Sandor  die  Träger  historiscfier 
Namen  mit  den  Geschäften  der  Großbanken  in  Verbindung  gebracht 
habe,  Wohl  haben,  erklärt  Redner,  die  Träger  historischer  Namen  in 
der  Vergangenheit  nach  dem  Beispiele  des  Grafen  Stephan  Szechenyi 
wie  in  den  anderen  Zweigen  des  volkswirtschaftlichen  Lebens  sich  auch 
im  Finanzleben  betätigt.  Aber  sie  taten  es  aus  Patriotismus,  nicht  aus 
Gewinnsucht.  Seitdem  ist  eine  neue  Klasse  erstanden,  welche  sich 
auf  volkswirtschaftlichem  Gebiet  betätigt  und  davon  lebt.  Seitdem  sind 
die  Träger  historischer  Namen  auf  diesem  Gebiete  immer  mehr  in  den 
Hintergrund  getreten.  (Zustimmung  links.)  Heute  gehören  Fachleute 
dazu,  um  an  der  Spitze  von  Banken  zu  stehen.  Wenn  heute  noch 
sporadisch  Träger  historischer  Namen  an  der  Spitze  von  Banken  ange- 
troffen werden,  so  sind  dies  Überreste  aus  der  Vergangenheit 
und  gehören  nicht  mehr  dorthin.  .  .  . 

Hier  ist  die  Entwicklung  anders  dargestellt,  als  man  sie 
sich  sonst  denkt.  Wo  sind  die  Zeiten,  klagt  hier  ein  Historischer,  da 
sich  die  alten  Adelsgeschlechter  noch  am  finanziellen  Leben  beteiligt 
haben.  Immer  sind  sie  an  der  Spitze  der  Banken  gestanden,  dann 
aber  sind  die  Fachleute  gekommen  und  haben  sie  verdrängt. 
Die  Historischen  nahmen  die  Vordringenden  in  den  Verwaltungs- 
rat auf,  der  Namen  wegen,  und  jetzt  sind  sie  selbst  draußen,  und 
an  der  Spitze  der  Banken  stehen  jetzt  Juden,  die  zu  einer  solchen 
aristokratischen  Beschäftigung  von  Natur  zwar  nicht  taugen, 
aber  sehr  schnell  verstanden  haben,  sich  mit  den  Positionen 
das  nötige  Fachwissen  anzueignen,  während  die  Historischen  nur 
mit  der  Ehre  beteiligt  waren. 


22 


Narben  und  Notizen 

(Verwundetenjause.)  Vorige  Woche  fand  im  Palais  des 
Kommerzialrates  Thury  v.  Thurybrugg  auf  der  Seilerstätle  eine 
Bewirtung  verwundeter  Soldaten  statt,  welche  von  der  Tochter  des 
Hauses,  Fräulein  Paula  v.  Thury  im  Palffy-Spital  gepflegt  werden.  Nach 
einer  Bewirtung  der  verwundeten  Soldaten  folgte  eine  Reihe  künstlerischer 
Vorträge.  Den  Reigen  eröffnete  ....  dann  sang ....  am  Klavier  begleitet 
von  ....  der  bekannte  Mitarbeiter  der  .Muskete'  ....  und  am  Schlüsse 
trug  ....  Unter  den  Gästen  bemerkte  man :  Gräfin  Hohenwart,  Mark- 
gräfin Helene  Pallavicini,  Baron  und  Baronin  Joachim  Brenner,  Gräfin 
Hilda  Attems;  Baronin  Foulon-Norbeck,  Frau  Anna  v.  Goldegg  mit 
Tochter,  FML.  v.  Feigl,  Generalkonsul  Stepsky  v.  DoUivar,  Frau  von 
Stepsky-Scoda,  Fräulein  Irma  v.  Wittek,  Herr  und  Frau  v.  Schönthan, 
Frau  Ferraris  mit  Tochter  usw.  Mit  sichtlicher  Freude  über  das  Gebotene 
und  unter  lebhaften  Dankesbezeigungen  wurden  die  Verwundeten  sodann 
wieder  in  das  Spital  zurückgeleitet 

Verwundetenjause  —  welch  ein  Wort!  Es  hieße  nicht  so, 
wenn  nur  Verwundete  jausten  und  nicht  auch  Gesunde  zuschauten. 
Arme  Teufel,  die  so  geführt  werden!  Warum,  warum  das  alles! 
Bürgerliche  wollen.  Aristokraten  können.  Aber  müssen  Verwundete? 


Friedensrisiko 

(>lm  Weltenbrand«)  Baronin  Stella  Berger-Hohenfels  wird  an 
ihrem  Vortragsabend,  der  demnächst  stattfindet,  unter  anderm  auch 
Kriegsliedgedichte  aus  der  Feder  des  Oberleutnants  Emil  Spitzer 
vortragen. 

Da?  sollte  sie  nicht. 

Diese  wie  viele  andere  Gedichte  von  Oberleutnant  Spitzer  sind 
jetzt  in  neunter  Auflage  als  Buch  unter  dem  Sammelnamen:  »Im  Welten- 
tfrand  —  Kriegslieder  aus  Österreich- Ungarns  und  Deutschlands  größter 
Zeit«  erschienen.  Das  mit  Illustrationen  reich  ausgestattete  Buch  enthält 
viel  Stimmungsvolles  und  gut  Empfundenes,  und  manches  der  Lieder 
eignet  sich  vorzüglich  zur  Vertonung  und  wird  wohl  den  Krieg  lange 
überleb  e  n. 

Wir  sind  für  den  Frieden,  aber  nicht  für  den  Frieden  um 
jeden  Preis. 


23 


Was  sie  gelehrt  hat 

(Die  letzte  große  Zeit)  liat  gelehrt,  daß  es  unnötig  ist, 
Bureaumöbel  amerikanischer  Herkunft  zu  kaufen,  nur  >Austria  Bureau- 
möbel«, Wilhelm  Fehlinger  u.  Söhne,  Wien,  4.  Bezirk,  Rittergasse  3 
und  1.  Bezirk,  Stubenring  16,  sind  heimisches,  erstklassiges  Erzeugnis. 

Die  letzte?  Nein,  sie  ist  noch  immer  groß. 


Die  Direktionskrise  im  Deutschen  Volkstheater 

—  nun  die  ist  aber  doch  schon  überstanden?  Die  Vertrags- 
bedingungen des  Vierverbands,  was  red  ich,  die  Friedens- 
bedingungen des  Fünferkomitees  sind  doch  abgelehnt,  was  red  icli, 
angenommen?  Wenn  aber  nicht,  und  wenn  vom  Herrn  Weiße 
noch  einmal  während  des  Weltkriegs  die  Rede  wäre,  dann  müßte 
ich  doch  glauben,  daß  der  Herr  Weiße  den  Weltkrieg  inszeniert 
hat,  weil  der  ja  so  gar  nicht  wirksam  ist! 


Endlich! 

Heute  hat  der  erste  Balkanzug  Wien  passiert  ....  Nach  achl- 
zehnmonatiger  Pause  rollt  heute  zum  erstenmal  wieder  ein  direkt  ver- 
kehrender Schnellzug  den  Donauweg  hinab,  durch  Serbien  und  Bulgarien 
nach  der  türkischen  Hauptstadt.  Die  weltbewegenden  Ereignisse  der  ab- 
gelaufenen anderthalb  Jahre  kommen  in  der  Instradierung  dieses  Zuges 
zu  sinnfälligem  Ausdruck. 

....  Die  glänzenden  Waffentaten  unserer  und  der  verbündeten 
Armeen  haben  mit  gewaltigen  Schlägen  diesen  Ring  gesprengt  und  die 
Bahn  freigemacht  für  die  unmittelbare  Verbindung  der  Länder,  die  seit 
Kriegsbeginn  einander  so  nahegetreten  waren  .... 

Der  Münchner  Zug  fuhr  nach  wenigen  Minuten  ein  und 
als  erster  entstieg  ihm  Dr.  Ludwig  Oanghofer.  .  .  . 


Ein  Pionier 

Auf  dem  Bahnhof  ein  Durcheinanderwimmeln  von  Kultur  und 
Orient,  von  schwarzen  Zylindern,  deutschen  Pickelhauben,  österreichischen 
Mützen,  türkischen  Tropenhelmen,  roten  Festulpen  und  farbigen  Turbanen. 


24 


Ein  Geschwirre  von  zwanzig  Sprachen  und  dann  die  freundliche  Frage: 
>Kann  ich  Ihnen  irgendwie  nützlich  sein?«  Ein  Herr  von  der 
deutschen  Botschaft  hat  den  Landsmann  in  mir  erkannt.  Wie 
nett  das  ist:  in  der  Fremde  sich  so  dienstwillig  behütet  zu  sehen 
von  der  Heimat  I 

Ja,  das  ist  die  Aufgabe  der  Heimat.  Überflüssig  zu  sagen, 
daß  der  Vertreter  der  Kultur,  dem  es  so  gut  ging,  der  Ganghofer 
war.  Aber  was  nüzt  das  alles  — 

Man  möchte  deutsche  Arbeit  im  Orient  verspüren,  möchte  deutsche 
Hoffnungen  stützen,  möchte  gleich  in  der  ersten  Stunde  mit  einem 
tiefen  erquic.k enden  Trunk  das  Aufblühen  der  Türkei  verkosten. 
Ich  guckte  mir  fast  die  Augen  aus. 

Der  tief  erquickende  Trunk  erfolgt  abends  im  Hotelsaal, 
aber  außer  den  dort  vei sammelten  Journalisten,  wieder  nur  ein 
Gewimmel  von  Kultur  und  Orient  —  »alles  Leute,  die  schon  seit 
Monaten  als  Pioniere  der  deutschen  Arbeit  auf  türkischem  Boden 
standen«,  freilich  nicht  als  Pioniere,  aber  doch  als  Kriegsberichterstatter 
—  ist  noch  nicht  viel  zu  sehen,  was  für  das  Aufblühen  der 
Türkei  charakteristisch  wäre.  Im  Gegenteil. 

Pera  ist  ein  Klein-Paris,  wie  die  Kintöppe  Kunsttempcl 
sind.  Von  denen  wimmelt  es  auf  dem  untürkischen  Ufer  des  Goldenen 
Horns.  Bis  in  die  Mitternachtsstunde  dudelten  und  quieksten  an  allen 
Ecken  und  Enden  der  Hauptstraße  die  maschinellen  Musikinstrumente 
dieser  zweifelhaften  Kulturfabriken,  die  das  romanische 
Abendland  dem  Morgenlande  bescherte  .... 

Demnach  müßte  Paris  selbst,  das  große,  doch  eigentlich 
das  sein,  was  man  >'ne  Nummer«  nennt.  Da  aber  von  dort  die 
Kinos  kommen,  so  hat  es  wieder  nicht  mehr  Kultur  als  Pera,  Eine 
spezifisch  romanische  Einrichtung  das;  die  Berliner  wissen  nichts 
davon  und  nennen  es  darum  statt  Kino  irrtümlich  Kintopp. 


Als  Liebesgabe 

ins  Feld 

eignet  sich  am  besten  ein  Abonnement  auf 
,,Dle  Zelt" 


25 


Zeitgemäß  l 

TOTENKULT  IM  ZIMMER! 

ZIMMERDENKMAL! 
RELIGIÖSE  ERHEBUNG! 


1916 

Im  Johann  Strauß-Theater  erreichte  die  > Csardasfürstin«  die  hundert- 
fünfundzwanzigste  Aufführung  .... 

Im  Carltheater  brachte  es  die  Operette  > Fürstenliebe«  zur  fünf- 
zigsten Aufführung  .... 

Im  Bürgertheater  wurde  die  Straus'sche  Operette  »Liebeszauber« 
zum  fünfzigsten  Male  wiederholt  .... 

Das  Lustspieltheater  feierte  die  hundertste  Aufführung  der 
> Prinzessin  Revue«  .... 


Die  Prager  Zensur 

hat  die  Aufführung   von   Shakespeares    > Heinrich    IV.«    verboten. 


Das  ist  einer! 

[Vortragsabend  Otto  Treßler.]  Herr  Treßler  vom  Burgtheater  hielt 
im  mittleren,  sehr  besuchten  Konzerthaussaale  einen  Vortragsabend  aus 
klassischen  Dichtungen.  Auch  in  seiner  Lesekunst  bleibt  Treßler 
durchaus  Schauspieler;  die  Beweglichkeit  seines  Naturells,  die  echt 
schauspielerische  Geschmeidigkeit,  sich  rasch  in  vielfache  Charaktere 
umzuwandeln,  durch  das  ungemein  lebendige  Mienenspiel  viele  Masken 
anzunehmen,  gibt  auch  seinen  rezitatorischen  Darbietungen  Reiz  und 
Farbe.  Die  hauptsächliche  Wirkung  erzielt  aber  Treßler  durch  die  auch 
literarisch  höchst  anregende  Art,  oft  übersehene  dramatische  Momente 
berühmter  Balladen  und  selbst  rein  lyrischer  Gedichte  hervorzuheben. 
So  gewann  diesmal  Goethes  »Zauberlehrling«  völlig  humoristische, 
um  nicht  zu  sagen,  parodistische  Deutung.  Treßler  formte  aus  der 
Ballade  ein  possierliches  Lustspiel,  in  dem  derwürdige  Meister 
und  der  drollig  betroffene  Lehrling  zu  allgemeiner  Heiter- 
keit anregten  ....   In  dem  zumeist    lehrhaft    aufgefaßten   Rflckertschen 


26 


Gedicht  »Vom  Bäumlein,  das  andere  Blätter  gewollt«,  schien 
das  Tannenbäumchen,  das  sich  bald  in  Gold,  bald  in  Glas  und  zuletzt 
wenigstens  in  Blätter  hüllen  möchte,  vor  dem  belustigten,  wenn  auch 
nicht  eben  lyrisch  gestimmten  Zuhörer  mehrere  Rollen  der  Reihe  nach 
zu  spielen,  und  selbst  das  Goethesche  »Heidenröslein«  gewann  einen 
piltanten  humoristischen  Klang.  Die  »Braut  von  Korinth« 
wirkte  völlig  als  dramatisches  Gebilde;  zumal  der  Augenbliclc,  da  die 
entsetzte  Mutter  die  Tochter  in  den  Armen  des  Fremden  findet,  erwecltte 
geradezu  Theaterspannung  .... 

Um  es  mit  einem  Wort,  und  zwar  dem  gräßlichsten,  das 
diese  neuösterreichische  Lebensrichtung  kennt,  zu  bezeichnen: 
die  Klassiker  sind  also  vielmehr  »Klassikaner«,  und  der  Herr 
Treßler  ist  ein  Lustikus.  Da  gegen  seine  Verwandlungsfähigkeit 
der  Fregoli  ein  steinerner  Gast  und  das  Chamäleon  ein  Nashorn 
ist  und  da  er  über  und  über  von  Spitzbübereien  steckt,  so  dürfte 
er  sich  zum  König  Lear  hingezogen  fühlen  und  riskieren,  daß  ihn. 
die  Töchter  einen  alten  Vokativus  nennen.  Zu  Possen  aufgelegt 
wie  ein  Tannenbäurachen,  das  andere  Rollen  hat  gewollt;  keck  wie 
ein  Zauberlehrling,  der  so  lang'  eine  spielt,  die  ihm  nicht  liegt, 
bis  der  Meister  kommt,  der  sie  ihm  wieder  abnimmt.  Aber  der 
kommt  nicht  mehr,  eine  Polizei,  die  die  Klassiker  gegen  den 
Beifall  eines  lachlustigen  Publikums  schützt,  das  sie  »klassisch« 
findet,  gibt  es  leider  auch  nicht,  und  von  der  Wandlung  dieses 
Begriffs  wie  von  solcher  Duldung  scheint  Herr  Treßler  das  Recht 
zu  seinen  Produktionen  abzuleiten. 


Das  ist  einel 

Einen  höchst  interessanten  Versuch  unternahm  gestern  Frau 
Hansi  Niese  ....  indem  sie  es  einmal  mit  dem  trotzigen  Käthchen  in 
Shakespeares  Lustspiel  »Der  Widerspenstigen  Zähmung*  versuchte. 
Natürlich  kann  es  nicht  die  Sache  der  Frau  Niese  sein,  auf 
das  vornehme  Hingleiten  des  Verses  zu  achten,  wie  es  ja 
auch  nicht  Sache  der  widerspenstigen  Katharina  ist.  Ihr  mut- 
williges Temperament  schlägt  ohne  viel  Umstände  die  steifen 
und  feierlichen  Jamben  entzwei,  läßt  hochgestellte  Worte  Purzel- 
bäume schlagen.  Man  sieht  schon,  wie  sich  die  Künstlerin  ihre  Rolle  zu 
eigen  macht.  Hansi  Niese  spielt  immer  gern  die  Einfachheit,  die  über 
Prunkhaftes  und  Prahlerisches  triumphiert.  Ihr  Humor  ist  am 


27 


wirksamsten,  wenn  er  die  Geziertheit  und  Humorlosigkeit  anderer 
verspottet.  So  stolpert  Hansi  Niese  manchmal  absichllich  über 
einen  Vers,  wie  sonst  wohl  über  eine  Schleppe  und  hat  die  Lacher 
auf  ihrer  Seite.  Dieses  böse  »Käthchen«  ist  ein  von  Grund  auf  gutes 
»Katherl«,  und  es  bedeutet  einen  Reiz  mehr,  daß  bei  ihr  im 
Affekt  die  Wiener  Mundart  zuweilen  ganz  leicht  anklingt.  Hansi 
Niese  führt  die  Rolle  auf  das  rein  Menschliche  zurück,  nicht  um 
die  präzise,  rein  äußerliche  Kontur  ist  es  ihr  zu  tun,  soadern 
um  das  seelische  Moment  .... 

Ja,  die  Niese!   Die  haut  den  Shakespeare  z'samm  und  reißt 
jedem  Vers  a  Haxen  aus! 


Die  Antike 

Caf6  Capua:  Spezialität  Capua-Kaffee. 

Cai€  Ilion:  GuUasch  und  Debreziner  mit  Kraut. 

Oh  säße  ich  doch  schon  auf  den  Ruinen  des  Cafe  Carthago ! 


Der  Pfarrer  der  Penaten 

Die  Totenmaske  der  Zeit  selbstformend  abzunehmen,  ist 
eigentlich  gar  nicht  nötig.  In  jedem  Satz,  den  sie  spricht  und 
schreibt,  ist  sie  enthalten  und  kann  sie  auf  die  Nachwelt  gebracht 
werden.  Auf  jedem  Schauplatz,  und  wär's  die  Sportrubrik  eines 
Schweizer  Hotelanzeigers,  liegt  sie  aufgebahrt: 

.  .  .  nachdem  unsere  bewährten  Sänger  einige  flotte  Lieder  ge- 
sungen hatten,  kehrten  wir  singend  und  johlend  zu  den  heimischen 
Penaten  zurück.  .  .  Eine  flotte  Rede  des  Herrn  Pfarrer  Hoffmann 
leitete  die  Preisverteilung  ein. 

Welch  ein  Aufzug  von  Totenmasken!  Die  Penaten  rieben 
sich  die  Augen  und  trauten  diesen  nicht.  Sie  kündigten  dem  Hausherrn. 


Die  Herren  trugen  Smoking 

Da   wir   uns  jetzt   in  unserer  Eleganz  selbständig  gemacht 
haben,    so    ist   es   kein   Wunder,    wenn    in   den    Berichten   über 


28 


jene  täglichen  tausend  Gelegenheiten,  wo  Leute  zum  nachtmahlen  zu- 
sammenkommen, ausdrücklich  betont  wird,  daß  »die  Herren  im 
Smoking«  erschienen  seien.  Dieses  Kleidungsstück  hat  seit  jeher 
bei  der  Mondänität  eines  Semmeringhotels  eine  grofk  Rolle 
gespielt  und  den  losen  Schelmen,  die  berufsmäßig  über  solche 
Milieus  vor  unserer  Öffentlichkeit  zu  plaudern  haben,  Respekt  ein- 
geflößt. Im  Weltkrieg  ist  es  aber  nicht  nur  ein  elegantes  Tragen, 
sondern  zeigt  auch  auf  den  ersten  Blick  die  Sicherheit  und  Unbe- 
fangenheit, mit  der  wir  uns,  und  wenn  die  Hölle  voller  Teufel 
war',  in  den  heikelsten  Situationen  zu  benehmen  wissen.  Es  dürfte 
ja  bei  den  Botokuden  kaum  je  vorgekommen  sein,  daß  ihre  Zeitungen 
ihnen  erzählt  hätten,  die  Herren  wären  zum  Abendessen  in  einem 
erstklassigen  botokudischen  Hotel  im  Smoking  erschienen.  Aber 
dort  kommt  es  freilich,  wiewohl  den  Zentral-Afrikanern  ein  gewisser 
Sinn  für  effektvolle  Zusammenstellungen  nicht  abzusprechen  ist, 
auch  ganz  gewiß  nicht  vor,  daß  sie  bei  besonders  feierlichen 
Anlässen  zum  Fiühstück  den  Frack  anziehen.  Wir  Bessern  sind 
doch  wilde  Menschen! 


So  sieht  das  aus 

...  Im  Zuschauerraum  waren:  Erzherzogin  Isabelle,  Erzherzogin 
Maria  Alice,  die  Herzogin  von  Parma,  Prinzessin  Hanna  Liechtenstein, 
Prinzessin  Alexandrine  Windisch-Graetz,  die  Präsidentin  des  Fürsorge- 
vereines Gräfin  Fünf  kirchen-Liechtenstein  ..  der  deutsche  Botschafter  Herr 
von  Tschirschky,  der  bulgarische  Gesandte  Toschew  mit  Gemahlin  und 
Sohn,  der  bulgarische  Generalkonsul  Stiaßny  und  viele  andere  Persön- 
lichkeiten der  Gesellschaft.  Als  die  Monarchenbegegnung  von  Nisch 
mit  Kaiser  Wilhelm  und  Zar  Ferdinand  im  Bilde  erschien,  brachte 
das  Publikum  lebhafte  Hochrufe  aus. 

Was  gesperrt  und  was  nicht  gesperrt  zu  erscheinen  hat,  das 
ordnet  sich  schon  von  selbst  an,  da  ist  gar  keine  Absicht  mehr  dabei, 
es  versteht  sich  einfach  von  selbst.  Die  Liechtenstein  und  die 
Windisch-Graetz,  die  damit  ganz  einverstanden  sind,  dürfen  sich 
nicht  einbilden,  daß  sie  vorangehen:  sie  haben  nur  nicht  den 
Stiaßny  von  den  Potentaten  zu  trennen. 


—  29 


Es  macht  sich 

dagegen  in  umgekehrter  Richtung.  Die  »Laubhütte«,  eine  Art 
Amtsblatt  in  Russisch-Polen,  veröffentlicht  die  folgenden,  in  jiddischer 
Sprache  verfaßten  amtlichen  Kundmachungen: 

Der  Termin,    sich  einzuraelden  in  der  Gewerberole  wert  verlengert 
bis'n     29.  Februar    1916  .  .  .  .   Gesellschaften  müssen  anmelden    seier 
Firme,  a  chuz  dem  müssen  besunder  gemeldet  werden  die   beschäftigte 
Direktoren  und  steierflichtige  Angestellte. 
Lodz,  28.  Januar   1916. 

Der  Kaiserlich  deitsche  Polizei-President: 
V.  Opern. 
Verordnung    b'naugea    der    Einführung    von    allgemeinem    Paß- 
Zwang  : 

Alle  Personen  vun'm  General  Gouvernement  musen  alt  werdendig 
15  Johr  hoben  a  Paß  und  dem  dosigen  ständig  trogen  bei  sich.  Wegen 
Verlieren  a  Paß  muß  teikef  gemeldet  weren  der  Ausgabeschtel. 

Der  Generalgouverneur: 

V.  Beseler, 
General  vun  Infanterie. 

Und  da  beklagt  man  sich  über  die  geringen  Aussichten  der 
Assimilation! 


Zuzug  fernzuhalten 

oder 

Wie  die  Russen  in  Galizien  gehaust  haben 

».  . .  In  einer  anderen  galizischen  Stadt,  so  wurde  uns  verbürgt 
erzählt,  geriet  der  Rabbiner  bald  nach  dem  Abzug  der  Russen  in  arge 
Verlegenheit.  Sein  Haus  wurde  täglich  von  jungen  Mädchen  und  Frauen 
förmlich  belagert.  Alle  waren  zu  ihm  gekommen,  um  von  ihm  eine  Be- 
scheinigung zu  begehren,  daß  Sie  während  der  Russenzeit  in  der  Stadt 
anwesend  und  der  Gewall  der  Russen  erlegen  waren.  Im  Anfang  gab 
der  Rabbiner  willig  dieses  Zeugnis. .  Aber  da  schließlich  jede  Frau  der  Stadt 
und  jedes  Mädchen  kam,  um  vonihmein  solches  >Sch  ändungszeugnis« 
zu  verlangen,  nahm  er  die  Zeugniswerberinnen  einzeln  ins  Gebet  und  er 
kam  sehr  bald  darauf,  daß  den  wenigsten  dieser  Frauen  von  den  Russen 
ein  Leid  angetan  worden  war.  Sie  wollten  sich  nur  »für  alle  Fälle«  mit 
einem  Zeugnis  versehen.  Nun  freilich  zog  der  Rabbiner  andere  Saiten 
auf  und  er  verweigerte  allen  Bewerberinnen  diese  Bescheinigung.  Aber 
viele  hatten  schon  den  Schein  im  Sacke,  daß  sie  »Opfer«  geworden  waren.« 


30 


Oehn  S'  weg  Sie  Schlimmer! 

Im  Selbstmord  hat  die  Menschheit  noch  die  Geistesgegenwart, 
an  die  Fortpflanzung  zu  denken.  Die  Geistesgegenwart  ist  jene 
Soziologie,  die  sich  jetzt  mit  der  Förderung  der  appetitlichen  und 
dieser  Menschheit  würdigen  Idee  befaßt,  daß  Urlaube  vom  Tod 
erteilt  werden,  um  geschwind  für  neues  Leben  zu  sorgen.  Der 
Causeur  der  anständigen  Gesellschaft,  ein  langjähriger  Schmunzler, 
behandelt  die  Frage  in  der  gutaufgelegten  Art,  die  den  Lesern 
eines  Familienblattes  umsomehr  Spaß  macht,  als  es  sich  ja  um 
eine  Familienangelegenheit  handelt.  Es  ist  ein  bejahrter  Bock,  der 
hier  zum  Gärtner  der  Fortpflanzung  bestellt  wurde.  Ich  war 
gespannt,  wie  sich  das  entwickeln  würde,  kam  nur  zum 
Schluß  und  habe  meinen  Ohren  nicht  getraut: 

.  .  .  Doch  getrost,  der  Landsturm  kommt,  kommt  auf  Urlaub,  und 
der  bringt  wahrhaftig  ein  anderes  System  aus  dem  Schützengraben  mit. 
Manches  junge  Weib  ist  ganz  erstaunt  über  das  veränderte  Wesen  ihres 
Mannes,  sein  stürmisches  Werben  ....  Wenn  sich  das  junge  Weib  zu- 
letzt trotzdem  ein  wenig  sträubt,  eben  nach  alter  Gewohnheit,  so  wird 
er  vielleicht  scherzhaft,  und  von  i  h  m,  der  hier  wie  dort  seine  Pflicht  erfüllt, 
wollen  wir  die  seichten  Späßchen  gerne  hinnehmen,  wollen  es 
nicht  wehren,  wenn  er  ihr  lächelnd  ins  Ohr  flüstert:  »Du  mußt  nämlich 
wissen,  meine  Guteste,  es  is  'ne  Staatsnotwendigkeit.«  Dabei  gibt  er  ihr 
einen  schallenden  Kuß,  und  in  dem  hellen  Schmatzlaut  singt  etwas 
mit,  das  wie  ein  paar  Takte  von  einem  Liede  klingt,  und  auch  eine 
Zeile  Text  glaubt  man  zu  hören,  Worte,  die  sonst  über  das  Schlachtfeld 
hinbrausen,  aber  auch  hier  im  stillen  Kämmerlein  ihren  Sinn  nicht  ver- 
lieren: »Lieb  Vaterland  magst  ruhig  sein.<  Die  zwei  mögen  das 
Lied  miteinander  zu  Ende  singen. 


Kriegsnamen 

Wie  sich  der  Krieg  in  Berliner  Standesämtern  zu  erkennen 
gibt,  davon  entwirft  das  Berliner  Tageblatt  eine,  offenbar  zufriedene, 
Schilderung : 

...EineFrau  hat  ihrem  neugeborenen  Sohn  den  Vornamen  »Belgrad« 
gegeben  .  .  Karl  Friedrich  Belgrad  Schulze  heißt  nun  der  junge  Erden- 
bürger. Wenigstens  im  standesamtlichen  Register  —  der  Pastor,  der  das 
Kind  taufen  sollte,  weigerte  sich,  den  Namen  Belgrad  anzunehmen,  da 
es  der  Name  einer  heidnischen  Gottheit  sei.  Die  Standesbeamten 
aber    weisen    alle   diese  Namen  keineswegs  zurück  —  nur  »anstößige« 


31  — 


Namen  sind  verboten  — ,  sondern  freuen  sich  im  Gegenteil, 
wenn  der  Patriotismus  sich  auf  diese  Weise  Luft  macht.  .Belgrad<  als 
,  Vorname  ist  durchaus  nicht  vereinzelt  geblieben.  Ein  Beamter  des  Admiral- 
stabes  nannte  seinen  Sohn  >Wilna«,  ein  Postsekretär  den  seinigen 
>Longwy«,  eine  westpreußische  Flüchtlingsfrau  ließ  »Tannenberg^ 
eintragen,  ein  Bauhandwerker  »Warschau«,  ein  Name,  der  überhaupt 
mehrfach  wiederkehrt.  Aber  wesentlich  häufiger  als  der  Gebrauch  von 
Städte-  oder  Schlachtennamen  ist  der  von  Heerführern .  .  Von  den 
Generälen  steht  natürlich  »Hindenburg<  obenan.  In  allen  Standesamts- 
bezirken, die  dafür  überhaupt  in  Betracht  kommen,  ist  Hindenburg  als 
Vorname  sehr  beliebt.  .  .  .  Nur  müssen  die  Standesbeamten  streng  darauf 
achten,  daß  »Hindenburg<  nicht  unmittelbar  vor  dem  üeschlechtsnamen 
stehen  darf  —  es  könnte  sonst  zu  leicht  ein  adeliger  Doppelname  daraus 
werden  ....  Neben  »Hindenburg€  ist  >Zeppelin<  am  häufigsten.  .  .  . 
Wesentlich  seltener  sind  andere,  die  eine  bestimmte  Tendenz  zum  Aus- 
druck bringen  sollen.  So  gab  ein  Oberlehrer  an  dem  Tage,  da  der  Abfall 
Italiens  bekannt  wurde,  seinem  neugeborenen  Töchterlein  den  Namen 
»Fides«  (Treue),  womit  er  jedenfalls  gegen  die  welsche  Untreue  protestieren 
wollte.  Ein  anderer  hatte  zu  Beginn  des  Krieges  noch  großes  Vertrauen 
zu  dem  südlichen  Bundesgenossen  und  wollte,  daß  sein  Sohn  »Dreibund« 
genannt  werde,  was  ihm  der  Standesbeamte  jedoch  ausgeredet  hat. 

In  einer  patriotischen  Berliner  Familie,  die  viele  Köpfe  hat, 
dürfte  es  dereinst  so  zugehen.  Vater:  >Jungens,  was  habt  ihr  denn 
nu  wieder?  Was  is'n  los?<  >Belgrad  is  gefallen!«  »Müßt  ihr  denn 
immer  'rumtollen?*  »Vater,  Hindenburg  pisackt  Tannenberg,  und 
da  kam  ik  denn  zwischen,  er  kriegte  mich  zu  fassen  und  da — «  »Nu 
gebt  doch  mal  Ruhe!  Nehmt  euch  ein  Beispiel  an  Zeppelin!«  »Nee^ 
is  nich,  Zeppelin  ist  der  ärgste,  vorhin  hat  er  gedroht,  daß  er 
über  Wilna  kommt!«  »Ihr  seid  mir  aber  Jören !«  »Sie  hat 
anjefangen!«  »Nu  man  stille!  Longwy,  laß  deine  Nase  in  Ruh! 
Ja  hört  mal,  wo  is  denn  Dreibund  ?«  «Wir  haben  Einkreisen  gespielt 
und  da  hat  er  sich  den  Stiefel  abgetreten,  's  war  zum  Schießen  !< 
»Das  will  mir  gar  nicht  gefallen,  benehmt  euch  doch.  Nanu,  wo  is 
denn  aber  Warschau?  (Warschau  erscheint  bleich  in  der  Tür.) 
»Vater,  ik  hab  mir  übergeben  müssen.« 


Der  Geschmack  wechselt 


Wantoch ; 


Jawohl,   es   ist   etwas  heiliges  um  die  Fahne.    Kein  sinnvollerer 
Festgruß  als  dieser.  »Das   Banner  hoch   hallen«,  sagt  die  Sprache.  Es 


—  32  — 


ist  das  Bekenntnis  zur  Fahne,  zur  gemeinsamen  Sache,  zu  unserem 
großen  Hoffen  Und  Wünschen,  das  wir  heute  an  unsere  Häuser  stecken. 
Von  unseren  Dächern,  unseren  Fenstern,  den  Erkern  und  Balkons  weht 
das  Bekenntnis,  daß  wir,  wir  alle,  50  Millionen  Menschen,  dabei  sind 
mit  Herz  und  Hirn  und  Haus  und  Heim. 

(Und  der  Hof  ist  ein  Hund?) 

Kann  ein  Giebel,  eine  Nische,  ein  Fenster  da  leer  bleiben  und 
ohne  das  wehende  Zeichen,  das  im  Wind  seinen  Atem  mit  dem 
Atem  von  Hunderttausenden  mischt?  Wie  arm  und  eng  wäre  der; 
denn  das  Schönste,  was  ein  Mensch  erleben  kann,  bleibt  doch 
immer  dies:  mit  daliei  zu  sein,  bei  einem  Hochgefühl  seines  Volkes, 
teilzuhaben  an  dem  Jubel  von  Millionen  I 

Shakespeare : 

»Ja,  Casca,  sag  uns,  was  sich  heut  begeben.  ,  .  .<  >Nun,  man 
bot  ihm  eine  Krone  an,  und  als  man  sie  ihm  anbot,  schob  er  sie  mit 
dem  Rücken  der  Hand  zurück:  so  — ;  und  es  erhob  das  Volk  ein 
Jauchzen.«  >  Worüber  jauchzten  sie  zum  andern  Mal!<  >Nun,  auch  darüber.« 
»Sie  jauchzten  dreimal  ja:  warum  zuletzt?«  >Nun,  auch  darüber.* 
>Wurd'  ihm  die  Krone  dreimal  angeboten?«  »Ei,  meiner  Treu  wurde  sie 's 
und  er  schob  sie  dreimal  zurück,  jedesmal  sachter  als  das  vorige  Mal,  und 
bei  jedem  Zurückschieben  jauchzten  meine  ehrlichen  alten  Freunde.  .  .  .« 
>Sagt  uns  die  Art  und  Weise,  lieber  Casca.«  «Ich  kann  mich  eben- 
sogut hängen  lassen,  als  euch  die  Art  und  Weise  erzählen:  es 
war  nichts  als  Possen,  ich  gab  nicht  acht  darauf,  .  .  .  Jedesmal, 
daß  er  sie  ausschlug,  kreischte  das  Gesindel  und  klatschte  in  die 
rauhen  Fäuste,  und  warfen  die  schweißigen  Nachtmützen  in  die  Höhe, 
und  gaben  eine  solche  Last  stinkenden  Atems  von  sich,  weil  Cäsar  die 
Krone  ausschlug,  daß  Cäsar  fast  daran  erstickt  wäre ;  denn  er  ward 
ohnmächtig  und  fiel  nieder,  und  ich  für  mein  Teil  wagte  nicht  zu 
lachen,  aus  Furcht,  ich  möchte  den  Mund  auftun  und  die  böse  Luft 
einatmen.«  »Still  doch!  ich  bitt  euch.  Wie?  er  fiel  in  Ohnmacht?«  >Er 
fiel  auf  dem  Marktplatz  nieder,  hatte  Schaum  vor  dem  Munde  und  war 
sprachlos.  .  .  .  Wenn  das  Lumpenvolk  ihn  nicht  beklatschte  und  aus- 
zischte, je  nachdem  er  ihnen  gefiel  oder  mißfiel,  wie  sie  es  mit  den 
Komödianten  auf  dem  Theater  machen,  so  bin  ich  kein  ehrlicher  Kerl.  .  .  . 
Als  er  wieder  zu  sich  selbst  kam,  sagte  er,  wenn  er  irgend  was 
unrechtes  getan  oder  gesagt  hätte,  so  bäte  er  Ihre  Edeln  es  seinem 
Obel  beizumessen.  Drei  oder  vier  Weibsbilder,  die  bei  mir  standen, 
riefen:  >Ach  die  gute  Seele I«  und  vergaben  ihm  von  ganzem  Herzen. 
Doch  das  galt  freilich  nicht  viel;  wenn  er  ihre  Mütter  totgeschlagen 
hätte,  sie  hätten 's  ebensogut  getan  ....  Lebt  wohll  Es  gab  noch  mehr 
Possen,  wenn  ich  mich  nur  darauf  besinnen  könnte.« 


—  33  — 


Nachrichten  aus  dem  Hinterlande 

[Benagelung  eines  Stammtisches.]  Im  Gasthause  des  Herrn 
Franz  Koci,  2.  Bezirk,  Blumauergasse  2,  fand  am  21.  d.  die  feierliche 
Benagelung  des  Stammtisches  der  »Freiwilligen  Helfer«  zur  Förderung 
der  offiziellen  Fürsorge  statt.  Als  Obmann  dieses  Stammtisches 
wurde  Herr  Leopold  Popper,  als  Kassier  wurde  Herr  Gustav  Fried 
gewählt.  In  einer  Ansprache  hob  Herr  Hermann  Landau  die 
großartigen  Leistungen  unserer  Truppen  hervor  und  ver- 
sicherte, daß  hier  im  Hinterlande  auch  ein  jeder  mit  der  gößten 
Opferwilligkeit  an  dem  Kampfe  teilnehme,  worauf  Herr  Samuel 
Bojnitzer  erwiderte.  Die  Benagelung  fand  unter  zahlreichem  Zuspruch 
der  Gäste  statt. 


Der  Russe 

Ein  Anekdotenerzähler  aus  Czernowitz  erfreut  uns  also: 
»Warum  wollen  denn  die  Russen  so  sehr  nach  Czernowitz?« 
Auf  die  Frage  wissen  die  Russen  folgende  Antwort:  »Weiß  ich?  Man 
hat  mich  genommen,  in  die  Uniform  gesteckt,  das  Gewehr  in  die 
Hand  gegeben  und  gesagt:  Stürm  und  schieß  oder  du  wirst  erschossen  It 
Das  besondere  Merkmal,  durch  das  die  russischen  Soldaten 
in  diesem  Punkt  sich  von  der  kulturellen  Bewußtheit  der  sonstigen 
europäischen  Völkergruppen  unterscheiden,  ist  gewiß  nicht  zu  über- 
sehen. Nur  ist  es  ganz  unmöglich,  daß  der  Russe  die  ihm  in  den 
Mund  gelegte  Frage  als  Antwort  gegeben  hat.  Denn  dazu  mußte  er 
schon  in  Czernowitz  eingebürgert  sein,  und  eben  dorthin  will  man 
ihn  doch,   ohne  daß  er  eine  Ahnung  hat,   warum,   erst   schicken. 


»Benzinmangel    in  England«,    »Kursrückgang    der    italie- 
nischen   Währung« ,     »Verhaftung      russischer      Heeres- 
lieferanten« 

—  also  bitte  ! 


»Papierknappheit  in  Italien« 

was,  so  gut  geht's  denen? 


—  34  - 

Die  Schaiek  irgendwo  an  der  Adria 

Die  Schaiek,  die  vom  KriCgspressequartier  einen  »Urlaube 
erhalten  hat,  ausnahmsweise,  um  in  Wien  ihren  50.  Vortrag  zu 
halten,  wiewohl  man  sie  an  der  Front  dringend  braucht  —  die 
Schaiek  hat  sich  zuletzt  für  die  Marine  interessiert,  nämlich  für  den 
>Krieg  in  den  Lüften  und  Gewässern«. 

Einmal,  als  ich  über  der  italienischen  Küste  dahinflog  — 

Nein,  nicht  die  Schaiek  selbst,  sondern  — 
sagt    mir    der    junge   Fregattenleutnant   von    der  Wasserfliegerabteilung, 
den  ich  irgendwo  an  der   Adria  in  seinem  Hangar  besuchte. 

Die  Schaiek  kommt  weit  herum,  und  warum  sollte  sie  da 
nicht  der  Zufall  auch  einmal  in  den  Hangar  eines  jungen  Fregatten- 
leutnants von  der  Wasserfliegerabteilung  führen,  besonders  wenn 
sie  ein  spezielles  Interesse  für  Hydroplane  hat.  Aber  die  Technik 
ist  nur  ein  Vorwand,  die  Hauptsache  bleibt  doch  die  Psychologie. 
Und  welches  unter  den  vielen  Problemen  des  Krieges,  glaubt 
man,  beschäftigt  die  Schaiek  am  meisten? 

Von  allen  Problemen  dieses  Krieges  beschäftigt  mich  am  meisten 
das  der  persönlichen  Tapferkeit.  Schon  vor  dem  Kriege  habe  ich 
oft  über  das  Heldische  gegrübelt,  denn  ich  bin  genug  JVlännern 
begegnet,  die  mit  dem  Leben  Ball  spielten  —  amerikanischen  Cowboys, 
Pionieren  der  Dschungeln  und  Urwälder,  JVlissionären  in  der  Wüste. 
Aber  die  sahen  zumeist  auch  so  aus,  wie  man  sich  Helden  vor- 
stellt,   jeder    Muskel    gestrafft,    sozusagen    in    Eisen    gehämmert. 

Wie  erstaunt  ist  nun  die  Schaiek,  daß  die  Helden,  denen 
sie  jetzt  im  Weltkrieg  gegenübersteht,  so  ganz  anders  gebaut  sind. 

Es  sind  Leute,  die  zu  den  harmlosesten  Witzen  neigen,  ein  stilles 
Schwärmen  für  Schokolade  mit  Obersschaum  haben  und 
zwischendurch  Erlebnisse  erzählen,  die  zu  den  erstaunlichsten  der  Welt- 
geschichte gehören. 

Dieser  Kontrast  gibt  der  Schaiek  zu  denken.  Sie  erzählt 
dann,  das  Kriegspressequartier  sei  jetzt  auf  einem  leeren  Dampf- 
schiff einquartiert,  das  in  einer  Bucht  verankert  liegt,  sozusagen  in 
einer  Bocche,  deren  Insassen  infolgedessen  Bocher  genannt  werden. 
Sie  sitzt  im  Speisesaal,  wo  abends,  wie  es  sich  für  solche  Gäste  des 
Kriegs  von  selbst  versteht,  »großes  Essen <  ist,  es  geht  bei  Musik 
hoch  her, 

schließt    man    die  Augen  —  fast    träumte    man   sich   zu  einem  fidelen 
Kasinoabend  zurück  — 

Die    Schaiek,     diese     erfahrene    Wasserratte,      spricht     wie    ein 


35 


Marineur  in   China,  der   die  schönen   Tage  von  Pola  nicht   ver- 
gessen kann  — 

wenn  nicht  eben  zwischen  Gesang  und  Musik  der  Fregattenleutnant 
neben  mir  diese  erstaunlichen  Dinge  erzählte. 

Wie  denn  ?  Da  hat  also  die  Schalek  plötzlich  eine  Ortsveränderung 
durchgemacht,  wieder  wie  ein  Marineur.  Sie  begann  doch  damit,  daß 
sie  den  Fregattenleutnant  irgendwo  an  der  Adria  in  seinem  Hangar 
besucht,  was  sich  sehr  schön  gemacht  hat,  und  nun  spielt  sich  die 
Unterredung  im  Pressequartier  beim  Essen  ab?  Das  tut  aber  nichts, 
im  Grübeln  über  das  Heldische  kann  man  sich  schon  ein  bißchen 
gehen  lassen,  um  dann  wieder  in  das  Gemütliche  einzukehren.  Der 
Fregattenleutnant  ist  kein  Spielverderber.  Er  erzählt  der  Schalek 
wirklich,  wie  man's  macht. 

»Gewöhnlich  kreist  man  ein  halbes  Stündchen  über  der  feind- 
lichen Küste,  läßt  auf  die  militärischen  Objekte  ein  paar  Bomben 
fallen,  sieht  zu,  wie  sie  explodieren,  photographiert  den  Zauber 
und  fährt  dann  wieder  heim.< 

Dabei  hatte  sein  Behälter  leider  ein  Leck  bekommen  —  was 
freilich  noch  immer  nicht  so  schlimm  ist,  wie  wenn  etwa  ein  Unter- 
seeboot die  Schalek  bekommt  —  und  er  war  in  Todesgefahr. 
Sofort  fragt  sie,  was  er  dabei  empfunden  habe. 

>Was  ich  dabei  empfunden  habe?«  Er  mustert  mich  ein 
wenig  mißtrauisch,  halb  unbewußt  abschätzend,  wie  viel  Ver- 
ständnis für  Unausgegorenes  er  mir  zumuten  dürfe.  Wir  Nicht- 
kämpfer  haben  so  erdrückend  fertige  Begriffe  von  Mut  und  Feigheit 
geprägt,  daß  der  Frontoffizier  stets  fürchtet,  bei  uns  für  die 
unendliche  Menge  von  Zwischenempfindungen,  die  in  ihm  fort- 
während abwechseln,  keine  Zugänglichkeit  zu  finden. 

Die  Schalek,  die  hier  ausdrücklich  zugibt,  daß  sie  eigent- 
lich ein  Nichtkänipfer  ist,  also  eine  Drückebergerin,  hört  interessiert 
zu,  ohne  daß  ihr  die  geringste  unausgegorene  Zwischenempfindung 
des  Frontoffiziers  entgeht.  Er  seinerseits  gibt  wieder  zu,  daß 
er  ein  Kämpfer  ist: 

»Ja,  das  war  sonderbar,  wie  wenn  ein  König  plötzlich  Bettler 
wird.  Man  kommt  sich  nämlich  fast  wie  ein  König  vor,  wenn  man 
so  unerreichbar  hoch  über  einer  feindlichen  Stadt  schwebt.  Die  da 
unten  liegen  wehrlos  da  —  preisgegeben.  Niemand  kann 
fortlaufen,  niemand  kann  sich  retten  oder  decken.  Man  hat 
die  Macht  über  alles.  Es  ist  etwas  Majestätisches,  alles  andere 
tritt  dahinter  zurück;  etwas  dergleichen  muß  in  Nero  vorge- 
gangen sein.  .  .  .< 


36 


Die  Schaiek,  die  nunmehr  Aufschluß  über  das  Heldische 
bekommen  hat,  lernt  außerdem  noch  einen  Caligula  kennen 
und  plaudert  mit  ihm  über  Bombenwürfe  auf  Venedig,  über  das 
sie  auch  schon  sattsam  gegrübelt  hat: 

Venedig  als  Problem  ist  auch  langen  Grübelns  wert.  Voll  von 
Sentimentalität  sind  wir  in  diesen  Krieg  gegangen,  mit  Ritter- 
lichkeit hatten  wir  ihn  zu  führen  vorgehabt.  Langsam  und  nach 
schmerzhaftem  Anschauungsunterricht  haben  wir  uns  das  abge- 
wöhnt. Wer  von  uns  hätte  nicht  vor  Jahresfrist  noch  bei  dem  Gedanken 
geschauert,  über  Venedig  könnten  Bomben  geworfen  werden!  .  .  .  Wenn 
aus  Venedig  auf  unsere  Soldaten  geschossen  wird,  dann  soll  auch  von 
den  Unsern  auf  Venedig  geschossen  werden,  ruhig,  offen  und  ohne 
Empfindsamkeit.  Akut  wird  das  Problem  ja  erst  werden,  bis  England  — 

Nein,  die  Schaiek,  ehedem  eine  Grüblerin,  gibt  keinen 
Pardon  und  der  Flieger  bestärkt  sie  darin: 

>In  Friedenszeiten  pflegte  ich  alle  Augenblicke  nach  Venedig  zu 
fahren,  ich  liebte  es  sehr.  Aber  als  ich  es  von  oben  bombardierte  — 
nein,  keinen  Funken  von  falscher  Sentimentalität  ver- 
spürte ich  dabei  in  mir.  Und  dann  fuhren  wir  alle  vergnügt 
nach  Hause.  Das  war  unser  Ehrentag  —  unser  Tag!* 

Neben  der  Schaiek  steht  ein  Offizier  von  einem  Torpedo- 
boot, »der  auch  ein  Erlebnis  weiß«,  auch  eine  sehr  lustige  Geschichte. 

»Nein,  wie  wir  gelacht  haben.  .  .  .«  Nur  in  Österreich  wird  eine 
Geschichte  von  Gefahr  und  Sterben  so  erzählt. 

Das  mag  schon  sein.  Und  am  nächsten  Tage  besucht  die  Schaiek 
ein  Unterseeboot,  damit  sie,  wenn  sie  schon  dabei  ist,  alle  Waffen- 
gattungen der  Marine  erprobt.  Sie  hantiert  denn  auch  gleich  mit 
Kalipatronen  und  Lancierrohren,  Diesel-Motoren  und  Wassertanks 
und  spricht  von  diesen  Dingen,  als  ob  sie  aufgewachsen  wäre 
bei  der  Marine.  Sie  kennt  das  alles  schon. 

Und  da  die  Erklärung  sich  nun  auf  den  Maschinenraum  erstreckt, 
bleibe  ich  auf  meinem  Platz  im  Vorschiff  zurück  und  lasse  mir  vom 
Maat  einiges  erzählen. 

Wiewohl  man  bisher  geglaubt  hat,  daß  ein  solcher  Maat 
anderes  zu  tun  habe  als  der  Schaiek  einiges  zu  erzählen.  Aber  wir 
müssen  uns  an  solche  Dinge  gewöhnen.  Diese  Männer  leben  unterm 
Wasser  und  die  ersten  Gesichter,  die  sie  wieder  sehen,  wenn  sie 
an  die  Luft  kommen,  sind  die  von  Journalisten.  Sie  mögen  wohl 
mit  ihrem  Schicksal  hadern  und  es  fragen,  ob  so  das  Leben  aus- 
sieht.   Aber   nützen  tut  es  ihnen  nichts.  Da  möchten  sie  wieder 


—  37 


untertauchen.  Halt!  rufen  jene,  das  gibts  nicht!  Denn  unterm 
Wasser  gibt  es  Details  und  die  müssen  sie  ihnen  bringen.  So 
lassen  die  Vertreter  des  Pressequartiers  den  armen  Maat 
nicht  mehr  aus.  > Einer  meiner  Kameraden«,  sagt  die  Schalek 
—  denn  die  Schalek  hatt'  einen  Kameraden  —  fragt  also  den  Maat 
nach  Details, 

Mir  selbst  ist  zumute,  als  habe  ich  die  Sprache  verloren. 

Aber  sie  hat  nicht.  Im  Gegenteil  hat  die  Schalek  die  Geistes- 
gegenwart, »an  noch  ein  dunkles  Problem  zu  rühren«.  Sie  will 
nämlich,  wieder  aus  Grübelei,  wissen,  was  der  Torpedooffizier 
»gefühlt  habe,  als  er  den  Riesenkoloß  mit  so  viel  Menschen  im 
Leib  ins  nasse,  stumme  Grab  hinabgebohrt«  habe.  Nach- 
dem er  ihr  versichert  hat,  daß  er  »zuerst  eine  wahnsinnige  Freude« 
gehabt  habe,  verläßt  die  Schalek  den  jour  und  schließt  mit 
den  Worten: 

Die  Adria  bleibt  wohl  unser. 

Es  gibt  aber  kaum  einen  Patrioten  mit  Schamgefühl,  der 
sie  nicht  bei  den  Friedensverhandlungen  gegen  die  Aussicht,  auch 
die  Schalek  dafür  hergeben  zu  können,  abtreten  würde. 


Ein  Sonderling 

»In  der  gestrigen  Sitzung  des  Magnatenhauses,  in  der  der  Regierungs- 
bericht über  die  Ausnahmsverfügungen  während  des  Krieges  verhandelt 
wurde,  machte  Graf  Anton  Sigray,  nach  dem  Bericht  des  Korrespondenz- 
büros, folgende  Bemerkungen:  Er  müsse  die  Aufmerksamkeit  auf  einen 
unlängst  vorgekommenen  Fall  lenken,  umsomehr,  da  er  eventuell 
geeignet  wäre,  ein  falsches  Licht  sowohl  auf  die  ungarische  Nation  als  auch 
auf  das  österreichisch-ungarische  Heer  und  dessen  Leitung  zu  werfen. 
Anläßlich  des  letztenLuftangriffes  auf  Mailand  erschienen  in  mehreren 
Blättern  Berichte,  die  danach  angetan  waren,  als  ob  die  Heeresleitung  mit 
diesem  Luftangriff  auch  politische  Ziele  verfolgt  hätte.  Auch  der  Erfolg 
dieses  Luftangriffes,  bei  dem  zahlreiche  bürgerliche  Personen  verletzt 
wurden,  wurde  in  einer  Weise  besprochen,  welche  dem  Verdacht 
Nahrung  geben  könnte,  daß  man  sich  bei  uns  darüber  freue, 
daß  Nichtkombattanten  dem  Luftangriff  zum  Opfer  fielen. 
Er  halte  es  für  notwendig,  vor  der  großen  Öffentlichkeit  darauf  hin- 
zuweisen, daß  er,  obwohl  er  nichts  Näheres  über  die  Aufgaben  und 
näheren  Ziele  dieser  Aktion  wisse,  sicher  sei,  daß  unsere  Heeresleitung 
damit  bloß  militärische  Ziele  verfolgte  und  daß  die  Angriffe  einzig  und 
allein  gegen  militärische  Objekte  gerichtet  waren.    Was    die   ungarische 


38 


Nation  anlangt,  ist  diese  derart  großherzig,  daß  sie  einen  Haß  gegen 
unsere  Feinde  nicht  kennt  ,  .  .  .« 

Die  Arbeiter -Zeitung  bemerkt  bei  Besprechung  dieser 
Anomalie: 

In  Wiener  Zeitungen  tritt  bei  solchen  traurigen  Notwendigkeiten 
—  denn  anderes  hat  man  in  dem  Bombenwerfen  auf  unbefestigte 
Städte  wohl  nicht  zu  sehen  —  schlechthin  eine  bestialische  Freude  hervor. 

Dazu  wäre  nur  noch  zu  sagen,  daß  man  eher  das  Bombenwerfen 
auf  befestigte  Städte  eine  traurige  Notwendigkeit  nennen  könnte. 
Das  Bombenwerfen  auf  unbefestigte  Städte  ist  eine  so  traurige 
Überflüssigkeit,  daß  sie  —  nicht  vorkommt. 


Wie  ein  König,  mit  Bomben  beladen,  wie  ein  Gott! 

».  .  .  Heute  morgen  habe  ich  einen  feinen  Flug,  meinen  dritten, 
über  Verdun  gemacht.  Um  ^/zlO  Uhr  bei  schlechtem  Wetter  aufge- 
stiegen, flog  ich  über  Gravelotte,  Amanweiler,  Saint-Privat,  Sainte-Marie- 
aux-Chenes  —  über  der  berühmten  Pappelallee  —  und  Briey  an  der 
Maas,  dann  südlich  über  Verdun,  wo  ich  zwanzig  Minuten  gekreist  bin 
und  meine  Bomben  abgeworfen  habe,  herunter  nach  Dupuy,  Etain 
und  nach  .  .  zurück,  wo  ich  um  12  Uhr  landete.  Es  war  die  ganze 
Zeit  über  sehr  bedeckter  Himmel,  so  daß  ich,  wenn  ich  etwas  sehen 
wollte,  sehr  niedrig  fliegen  mußte.  Ich  war  nie  höher  als  zweitausend 
Meter  und  über  Verdun  einmal  sogar  nur  achtzehnhundert  Meter.  Es  war 
ein  eigenes  Gefühl  für  mich,  wie  ein  König,  mit  Bomben  beladen, 
über  dasselbe  Gelände  zu  fliegen,  wo  mein  Vater  schon  vor  sechsund- 
vierzig Jahren  gekämpft  und  sich  das  Eiserne  Kreuz  erworben  hat. 
Ich  konnte  jedes  Haus  von  Saint-Privat  ganz  deutlich  sehen,  jeden 
Baum  an  der  Chaussee  nach  Sainte-Marie  erkennen,  und  das  alte  be- 
rühmte Schlachtfeld  lag  wie  ein  Spielzeug  unter  mir.  Wenn  ich  meine 
Bomben  geworfen  hätte,  hätte  ich  das  halbe  Dorf  kaput 
machen  können!  Über  Verdun  wurde  ich  sehr  stark  beschossen  — 
ich  hatte  zwei  Treffer  von  Schrapnellkugeln  im  rechten  Tragdeck,  wie 
ich  hernach  festgestellt  habe.  Ich  warf  alle  meine  Bomben  wohl- 
gezielt ab  und  sah,  wie  sie  unten  auseinanderkrachten!  Dann 
zählte  ich  noch  die  Brücken  über  die  Maas  und  flog  glücklich  nach 
Hause.  Noch  nie  in  meinem  Leben  habe  ich  etwas  so  Herr- 
liches erlebt!  Über  alles  Irdische  erhaben,  ruhig  und  sicher 
dahinfliegend,  kommt  man  sich  wie  ein  Gott  vor!  Tief  unten  auf 
der  Erde  lag  es  wie  ein  Kranz  von  Rauch  um  die  Stadt:  nichts  als 
krepierende  Granaten.  Die  Brände  lohten  zum  Himmel  auf,  die 
ganze  Erde  war  zerwühlt  und  aufgerissen  —  ein  schauriger 
Anblick!     Sonst    sieht    die    Erde    wie    ein    Spielzeug     aus,     grüne 


39 


Wiesen  und  Wälder  wechseln  mit  dem  braunen  Acker  und  darin 
liegen  die  Dörfer  wie  weiße  und  rote  Flecken.  Hier  ist  alles  Öde  und  grau,  als 
ob  ein  Strom  von  Lava  über  das  Land  geflossen  wäre.  Auf 
der  Erde  Loch  bei  Loch,  in  den  Dörfern  Rauchsäulen;  das  Aufblitzen 
der  platzenden  Geschosse  folgt  unmittelbar  dem  Feuerschein  und  Gelöse 
der  großen  Geschütze,  und  überall  Dampf,  Rauch  und  Feuerbrände  — 
eine  Höllel  —  Und  dann  denkt  man  an  die  Soldaten,  die 
da  unten  kämpfen  und  sich  jeden  Meter  blutig  erobern 
müssen,  und  an  die  Verlustel  —  und  ich?  Wie  ein  Gott 
schwebt  man  über  all  diesen  Schauern  und  schleudert  seine  Blitze 
auf  den  Feind  I  Man  denkt  an  keine  Gefahr,  fliegt  ruhig  seine  Bahn 
und  tut  seine  Pflicht. 


Es  war  einmal 

>Zum  ersten  Mal:  ,Königin  Schneewittchen  und  ihre  sieben  tapferen 
Kinder',  ein  Märchenspiel  von  Anna  Ethel,  Bearbeitung  für  die  Volks- 
oper von  Karl  Schreder. 

Mit  dem  neuen  Weihnachtsmärchen  hat  die  Volksoper  einen 
Treffer  ins  Volle  getan.  Alter  Märchenzauber,  geschickt  mit  der  alles 
bewegenden  Tagesgeschichte  verwoben,  wirkte  aufs  neue  seine  Wunder. 
Mit  schwarz-weiß-roten  und  schwarz-gelben  Fahnen  wurde 
das  Geäst  des  uralten  deutschen  Märchenwaldes  neu  aus- 
geschmückt; Zweiundvierziger,  Zeppeline  und  Untersee- 
boote, hergestellt  in  der  Felsenwerkstatt  der  deutschen  Wichielmännchen, 
fahren  im  sagenhaften  Traumland  zwei  Meilen  hinler  Weihnachten  auf, 
und  zwischen  Mäuschen,  Fröschlein  und  Fischlein  tummeln  sich  die 
feldgrauen  Unifoimen  und  blauen  Matrosenuniformen  der  verbündeten 
Deutschen,  Österreicher,  Türken  und  Bulgaren.  Der  alte  Rotbart  steigt 
aus  den  Tiefen  des  Kyffhäuser  und  segnet  die  Waffen  des  Gemahls  der 
Königin  Schneewittchen,  hinter  welchem  sich  kein  geringerer 
als  Wilhelm  der  Starke  verbirgt,  dessen  Krieger  im  Verein  mit 
jenen  des  Landes  »Danubia«  die  Völker  der  Bären,  Hyänen,  Ein- 
horne,  Hammeln  und  Wildkatzen  zu  Boden  strecken.  Auch  der 
deutsche  Michel  in  persona  und  der  lustige  Rudi  aus  der  essens- 
freudigen Wienerstadt  fehlen  ebensowenig  wie  der  Elefant  und 
das  Kamel  der  heiligen  drei  Könige  aus  dem  Morgenlande.  Mit  aus- 
nehmend kundiger  Hand  hat  die  Verfasserin  Anna  Ethel  aus  diesem 
bunten  Durcheinander  fünf  lebendige  Bühnenbilder  gestellt,  deren  viertes 
anscheinend  der  Zensur  zum  Opfer  gefallen  ist.  Nicht  minder 
geschickt  hat  Karl  Schreder  diese  Bilder  für  spezifisch  wienerische 
Verhältnisse  zugeschnitten.  Direktor  Simons  hat  sein  ganzes,  nicht 
geringes  szenisches  Können  in  den  Dienst  der  guten  Sache  gestellt,  und 
die  Mitwirkenden  wetteiferten,  ihre  dankbaren  Aufgaben  aufs  prächtigste  zu 
lösen  .  .  so  daß  der  Jubel  des  höchst  befriedigten  Publikums  kein 
Ende  nehmen  wollte,  zumal  das  Ganze  mit  den  feierlichen  Klängen  der 
Volkshymne  seine  Krönung  fand.« 


40 


Fahrt  ins  Fextal 

Als  deine  Sonne  meinen  Sciinee  beschien, 
ein  Sonntag  wars  im  blauen  Engadin. 

Der  Winter  glühte  und  der  Frost  war  heiß, 
unendlich  sprühten  Funken  aus  dem  Eis. 

Knirschend  ergab  sich  alle  Gegenwart, 
Licht  tanzte  zur  Musik  der  Schlittenfahrt. 

Wir  fuhren  jenseits  aller  Jahreszeit 
irgendwohin  in  die  Vergangenheit. 

Was  rauh  begonnen  war,  verlief  uns  hold, 

ein  Tag  von  Silber  dankt  dem  Strahl  von  Gold. 

Der  Zauber  führt  in  ein  versunknes  Reich. 
Wie  bettet  Kindertraum  das  Leben  weich! 

Voll  alter  Spiele  ist  das  weiße  Tal; 
die  Berge  sammeln  wir  wie  Bergkristall. 

Trennt  heut  die  Elemente  keine  Kluft? 
Ein  Feuerfluß  verbindet  Erd'  und  Luft. 

Wir  leben  anders.  Wenns  so  weiter  geht, 
ist  dies  hier  schon  der  andere  Planet! 

Ins  Helle  schwebend  schwindet  aller  Raum. 
So  schwerlos  gleitet  nach  dem  Tod  der  Traum. 

Nicht  birgt  die  Zeit  im  Vorrat  uns  ein  Weh. 
Bleicht  sich  das  Haar,  so  gibt  es  guten  Schnee. 

Uns  wärmt  der  Winter,  Leben  ist  ein  Tag, 
da  Silvaplanas  Wind  selbst  ruhen  mag. 

Nicht  Ziel,  nur  Rast  ist's,  die  das  Glück  sich  gab, 
hält  einmal  dieser  Schlitten  vor  dem  Grab. 


—  41 


Notizen 

Wo  Zeilen  wie  Augenlider  sind  und  zwischen  ihnen  ein 
Gesicht:  solche  Entdeckungen  macht  man  nicht  mehr  in  den 
Journalen,  doch  manchmal  noch  in  den  Briefen.  Jetzt,  in  jenen  vom 
Schlachtfeld  der  Menschheit  —  aber  wieder  nur  in  solchen,  die 
nicht  in  die  Zeitung  kommen  —  ist  es  ein  Menschenblick  des 
Verbannten,  voll  unverstehenden  Staunens,  welche  Interessen,  welch 
eines  Lebens,  ihr  Opfer  da  wollen,  voll  Neugier,  ob  Gott  sich  doch  eine 
letzte  DeutungdiesesWirrsals  aufgespart  habe,  und  voll  zustimmenden 
Dankes  an  einen,  der  ihnen  Mut  macht,  sich  im  Leiden  wohler 
zu  fühlen  als  die,  welche  vom  Leiden  leben.  Und  unter  den  vielen 
auf  solche  Art  geschriebenen  ein  Frauenbrief,  Bericht  vom 
Schlachtfeld  der  Natur: 

.  .  .  Eine  entsetzliche  Lawine  ist  von  der  Richtung  Hahnen- 
see niedergegangen.  Wir  hörten  und  sahen  sie:  eine  riesen- 
große Schneewolke  und  großes  Getöse.  Sie  hat  einen  breiten  Streifen 
Waldes  mitgenommen,  glatt  abgeschnitten.  Unter  dem  gehäuften 
Schnee  liegen  aufeinandergetürmt  und  vergraben  die  schönen  alten 
Bäume  samt  Wurzeln,  und  jeder  Baum  zerrissen,  zerzaust,  zerbrochen, 
undweiß  Gott,  wietief  das  geht. DerSchnee  ist  hartzusammengedrückt, 
man  steigt  darauf  herum.  Es  sieht  zu  traurig  aus,  ein  Bild  der 
trostlosesten  Verwüstung.  Dazu  ein  süßer  starker  Coniferenduft, 
denn  die  Zweige  sind  frisch  gebrochen,  und  aus  den  Stämmen 
fließt  das  Harz.  Wohl  das  grausamste  Blut. 

Ja,  dies  Mitleid  an  einem  süß  duftenden  Leichenfeld  ist  das 
wahre,  größere.  Denn  das  andere  meint  den  einzelnen,  der  ihm 
nahe  war  und  den  es  nun  so  verändert  sieht.  Mit  allen  aber  leidet 
es  nicht.  Nur  in  einem  geistigeren  Sinne  dann,  wenn  es  erbarmungs- 
los sagt:  So  und  nicht  anders  hat  die  Menschheit  gewollt.  Denn 
der  Wald  hat  die  Lawine  nicht  erfunden,  um  von  ihr  zerrissen  zu 
werden:  wohl  aber  der  Mensch  dieTechnik.  Der  Wald  war  unschuldig, 
und  der  Mensch  straft  sich  so  hart.  Auch  hinterläßt  das  Walten 
der  Unnatur  kein  Bild.  Getöse  hier  und  dort;  aber  dort  verheimlicht 
die  Macht  nicht  ihren  Anblick,  die  Waffe  ist  so  furchtbar  als  sie 
scheint.  Aus  den  Wunden  selbst  fließt  Balsam.  Der  Tod  duftet. 
Hier  siehst  du  nur  das  Werk.  Du  hast  Andacht  zu  vergeben,  aber 
es  fehlt  die  Lawine,  das  schmerzlich  schöne  Gesicht  des  Überwinders, 
ein  Begreifenkönnen  der  Notwendigkeit  und  die  um  so  größere 
Trauer,   daß  in  der  Schöpfung  nicht  nur  Blüte  ist,   sondern   auch 


—  42  — 


Untergang.    Hier  siehst  du  nur  zerrissene,   zerzauste,  zerbrochene 
Menschen.  Weiß  Gott,  wie  tief  das  geht.  Und  frisch  gebrochene  Zweige! 

•  * 

* 

Wo  ist  der  Dichter,  den  jetzt  noch  der  rasende  Lauf  der 
Menschenmaschine,  dies  unerschütterliche  Walten  der  entfesselten 
Quantität  zu  einer  segnenden  Gebärde  verleiten  möchte  und 
der  nicht  ein  Spekulant  wäre,  sondern  ein  Dichter?  Als  es 
begann,  gab  es  hingerissene  Schwach  köpfe.  Was  sagt  man  heute 
zu    den    Ausbrüchen    eines   Richard    Dthmel,    aus   der  Zeit,    da 

aus  Schleswig  und  Elsaß,  Tirol,  Mähren,  Krain  — 

nur  Deutscher  wollt'  endlich  jeder  sein  — 
die  Bruderscharen   kamen  >gegen  russischen,  welschen,  britischen 
Neid«  gefahren. 

Und  was  kommt   hintendrein   noch  getönt, 

was  stampft  so  eisern  die  Erde, 

daß  uns  die  Wand  des  Herzens  dröhnt? 

Das  waren  die  deutschen  Pferde. 

Mit  witternden  Nüstern  auf  der  Wacht 

trugen  auch  sie  ihr  Blut  zur  Schlacht 

für  Deutschlands  Ehre  und  Recht  und  Macht  — 

in  den  Dörfern  tobten  die  Hunde; 

Auch  unsre  Tiere  spürten  den  Ernst 

der  großen  Gottesslunde. 

Die  große  Gottesstunde  war  damals  nicht  darnach  angetan, 
einem  Dichterherzen  die  Erleuchtung  zu  bringen,  daß  Tiere  wohl 
die  tragischesten  Opfer  des  Willens  zur  Macht  sind,  da  ihnen  auch 
nicht  die  entfernteste  Schuld  an  dem  Zustandekommen  der  allge- 
meinen Wehrpflicht  beigemessen  werden  kann  und  daß  ihre  Unter- 
werfung unter  den  Begriff  desnationalen  Ehrgefühls  sicherlich  von  allen 
Kriegsgreueln  das  tollste  ist.  Damals  hat  einen  deutschen  Dichter 
noch  die  Vorstellung  inspiriert,  daß  ein  französisches  Pferd  aus 
Revanchelust,  das  eines  Kosaken  aus  Raubgier,  das  des  > Söldners« 
offenbar  aus  Konkurrenzneid  mitmache  und  nur  dann  kein  Schuft 
sei,  wenn  es  zu  den  eigenen  Pferden,  den  braven,  desertiere,  und 
daß  auch  alle  Pferde,  die  aus  Mähren  oder  Krain  requiriert  wurden, 
nichts  anderes  im  Sinne  hätten  als  den  Wunsch,  endlich  deutsche 
Pferde  zu  sein. 

Dieser  Dehmel  nannte  ehedem  nicht  nur  das  Geräusch  der 
Maschinengewehre  Sphärenmusik,  sondern  gab  uns  auch  die  Zeile: 
Marsch  marsch,  ruft  Gott,   schützt  euer  Land  I 


43  — 


Später  wurde  in  Österreich  das  > Reiterlied«  eines  Mannes 
berühmt,  der  Advokat  und  Zionist  war  und  sich  lyrisch  als  Reiters- 
mann getragen  hat,  dem  es  gleichgiltig  ist,  ob  er  am  Donaustrand 
oder  in  Polen  stirbt.  Jenes  gangbarste  Mißverständnis  über  die  Lyrik, 
das  die  Teilnahme  am  Ereignis  mit  dem  Erlebnis  verwechselt, 
während  doch  selbst  nicht  einmal  der  tieftraurige  Heldentod  des 
Eingerückten,  ob  er  nun  geschwiegen  oder  geschrieben  hat,  das 
allergeringste  für  das  Erlebnis  beweist,  hat  dem  Gedicht  etwas  von  der 
Glorie  verliehen,  mit  der  der  unvorhergesehene  Abschluß  einer  bürger- 
lichen Laufbahn  heute  so  häufig  registriert  wird.  Zwei  Dohlen,  die 
dort  am  Wegrand  sitzen,  spielen  neben  der  Aktivierung  der 
Deh meischen  Tierwelt  eine  rein  ornamentale  Rolle.  Aber  Zeit- 
genosse zu  sein  und  Zeuge  von  dem.  Schicksal  der  unter  die 
Maschine  geratenen  Kreatur:  dies  einzige  Erlebnis  von  heute,  das 
Herz  und  Mut  voraussetzt,  hat  noch  keine  Leier  gefimden.  Diese 
ganze  Versfußtruppe  ließ  sich  lange  genug  zur  Skandierung  der  ewigen 
Schande  antreiben  und  war  froh,  anstatt  zu  schweigen  in  zwei- 
fach gebundener  Rede  einem  Weltwillen  gerecht  zu  werden,  der 
ihr  keine  leiblichen  Strapazen  auferlegte,  keine  persönlichen  Ge- 
fahren, die  ja  doch  so  oft  einen  Abbruch  der  Romantik  bedeuten. 
Heute  sind  es  nur  noch  Spekulanten,  die  das  Geschäft  der  Leiden- 
schaft besorgen;  aber  zur  Empfindung  dessen,  was  jetzt  erst  zu 
empfinden  wäre,  jetzt  auch  von  den  vielen,  denen  ich  es  am  ersten 
Tage  vorempfunden  habe,  ist  noch  kein  Dichterherz  mobilisiert.  Doch, 
eines:  das  eines  Kesselschmieds,  namens  Heinrich  Lersch,  von 
dessen  Versen  (bei  Diederichs  in  Jena)  ich  in  einer  ausländischen 
Zeitung  die  folgenden  zitiert  finde: 

Ein  Kamerad 
Den  langen  Herbst  und  Winter  hielt  er  getreulich  stand, 
schuf  sich  aus  Krieg  und  Fremde  Heimat  und  Vaterland. 
Sein  Heimweh  tranken  die  Sterne,  es  floß  in  die  ruhende  Nacht, 
am  Tage  hat  er  der  Heimat  wie  einer  Toten  gedacht. 
Doch  als  der  Frühling  mit  erstem  Scheine  die  Luft  erfüllt, 
da  war  sein  hartleuchtend  Auge  von  dunkler  Trauer  umhüllt. 
Da  stöhnte  er  tief  im  Schlafe  und  wußte  es  selber  nicht, 
da  welkte  in  Träumen  und  Sehnen  sein  hartes  Kriegergesicht. 
Und  eines  Morgens  im  Dämmer,  da  sang  es  über  das  Land  — 
Da  stand  er,  bebenden  Mundes,  sein  Antlitz  zum  Himmel  gewandt, 
da  war  eine  erste  Lerche,  die  sang  zwischen  Krachen  und  Graus, 
da  floh  die  gefangene  Seele  aus  ihres  Willens  Haus. 


—  44  — 


Da  weinte  er.  Weinte  vor  Qual :  Jetzt  sah  er  erst  Tod  und  Schlacht, 
sah,  was  des  halben  Jahres  Krieg  über  die  Erde  gebracht. 
Er  griff  nicht  mehr  zum  Gewehre,  er  hat  seine  Wacht  versäumt, 
und  stand  er  auf  seinem  Posten,  da  hat  er  geschwärmt  und  geträumt. 
Er  küßte  die  nackte  Erde  und  warf  sich  an  ihre  Brust, 
hat  nichts  mehr  von  aller  Beschwerde,  nichts  mehr  vom  Kriege  gewußt. 
Er  hörte  auf  kein  Kommando,  nicht,  wenn  ein  Schrapnell  zersprang, 
kein  Schießen,  kein  Stürmen,  kein  Rufen  —  nur:  daß  die  Lerche  sang. 
Dieses  letzte  Erlebnis,  das  der  Zwang  zum  Sterben  dem 
Menschenherzen  gelassen  hat,  nach  solchem  Lärm  einen  Vogelruf  zu 
hören,  ist  so  überwältigend,  daß  es  nicht  allzuschwer  sein  mag, 
die  Sprache  zu  finden.  Und  gar,  da  statt  des  halben  Jahres  schon 
der  Krieg  der  anderthalb  Jahre,  im  zweiten  Frühling,  auf  die  Seele 
drückt.  Aber  außer  diesem  einen  ersten  Lerchenruf  haben 
wir  keinen  nächsten  vernommen.  Herr  Richard  Dehmel,  dessen 
Ausdruck  in  den  Mysterien  der  Liebe  verschlungener  und  in 
den  Mysterien  des  Krieges  primitiver  ist  als  die  Sprache  jenes 
Dilettanten,  sollte  nachträglich  empfinden,  welche  Macht  die 
Tiere  über  die  Menschen  haben  können,  wenn  die  nur  wieder 
zu  sehen  und  zu  hören  beginnen,  nachdem  sie  so  lange  das  Unnatür- 
liche getan  haben.  Einen  Undank,  wie  ihn  die  Großen  bei  Shakes- 
peare den  einmal  benützten  Mördern  zu  beweisen  pflegen,  müßten, 
so  sollte  man  hoffen,  bald  die  Patrioten  für  ihre  Lyriker  übrig  haben,  ein 
übernächtiges  Grauen  vor  der  Erinnerung,  daß  man  das  einst  habe  gut- 
heißen, wünschen  und  mitmachen  können.  Und  der  fette  Intellektuelle, 
dessen  in  den  sichersten  Gegenden  des  Hinterlands  entstandenen 
»Haßgesang«  jedes  Gesinnungswerkel  durch  ein  ganzes  Jahr  in  ganz 
Deutschland  gespielt  hat,  opfere  vollends  seine  Feder  auf  dem 
Altar  des  Vaterlandes,  wenn  er  das  Gedicht  jenes  Kesselschmieds 
liest,  in  dem  einer  in  die  Kugelgefahr  ging,  um  den  toten  Feind, 
der  vor  dem  Drahtverhau  lag,  zu  holen  und  zu  begraben: 

Es  irrten  meine  Augen  —  mein  Herz,  du  irrst  dich  nicht. 

Es  hat  ein  jeder  Toter  des  Bruders  Angesicht. 

Aber  in  den  Lesebüchern  wird  stehen:  >Eini  das  Messer  ins 
Russenfleisch  und  gach  umdraht!«,  und  daß  es  ein  Hochgefühl  sei, 
»den  Feind  'rankommen  zu  sehen  und  ihn  niederknallen  zu  können, 
ohne  daß  er  einem  recht  ankann. < 

Aufhören  zu  verzweifeln  —  das  werden  wir  nie!  Wo  aber 
sollen  wir  anfangen? 


—  45 


In  einer  deutschen  Zeitschrift  werden  zitiert: 

Graf  Alfred  de  Vigny: 

Ich  rufe  die  Empörung  des  Gewissens  eines  jeden  Menschen, 
der  mitangesehen  hat,  wie  das  Blut  seiner  Mitbürger  geflossen  ist,  oder 
der  selbst  daran  schuld  war,  zum  Zeugen  dafür  auf,  daß  eines  Menschen 
Kopf  nicht  genügt,  das  drückende  Gewicht  vieler  Morde  zu  ertragen. 
Dazu  braucht  es  so  vieler  Köpfe,  als  es  Kämpfende  gibt.  Um  die  Ver- 
antwortung für  dieses  Blutgesetz  zu  tragen,  das  man  geschaffen  hat,  muß 
man  es  zum  mindesten  gut  verstehen.  Aber  die  besten  Einrichtungen, 
von  denen  hier  die  Rede  ist,  werden  nur  vorübergehende  sein,  denn, 
ich  wiederhole  es  noch  einmal:  die  Heere  und  die  Kriege  haben  ihre 
Zeit.  Trotz  der  Worte  eines  Sophisten  .  .  ist  es  nicht  wahr,  daß  der  Krieg 
gegen  einen  Fremden  ein  >heiliger«  sei;  es  ist  eben  so  wenig  wahr,  daß 
die  Erde  >nach  Blut  dürste<.  Der  Krieg  ist  verflucht  von  Gott,  ja  sogar 
von  den  Menschen,  die  ihn  führen,  und  die  ein  geheimes  Grauen  vor 
ihm  empfinden.  Die  Erde  aber  dürstet  nach  nichts  anderem,  als  nach 
frischem  Regen  für  ihre  Flüsse  und  nach  reinem  Tau  für  ihre  Blumen. 

Jean  Paul: 

Das  Unglück  der  Erde  war  bisher,  daß  zwei  den  Krieg  beschlossen 
und  Millionen  ihn  ausführten  und  ausstanden,  indeß  es  besser,  wenn 
auch  nicht  gut,  gewesen  wäre,  daß  Millionen  beschlossen  hätten  und 
zwei  gestritten.  Denn  da  das  Volk  fast  allein  die  ganze  Kriegsfracht  auf 
Quetschwunden  zu  tragen  bekommt,  und  nur  wenig  von  dem  schönen 
Fruchtkorbe  des  Friedens,  und  oft  die  Lorbeerkränze  mit  Pechkränzen 
erkauft;  da  es  in  die  Mordlotterie  Leiber  und  Güter  einsetzt,  und  bei 
der  letzten  Ziehung  (der  des  Friedens)  oft  selber  gezogen,  oder  als  Niete 
herauskommt:  so  wird  seine  verlierende  Mehrheit  viel  seltner  als  die 
erbeutende  Minder-Zahl   ausgedehntes   Opfern    und   Bluten   beschließen. 

*  * 

• 

Einiges  von  dem  unter  den  »Glossen«  aufbewahrten  Material 
ist —  vgl.  S.  112  des  letzten  Heftes  —  wieder  der  , Arbeiter- 
Zeitung'  entnommen,  deren  Bemühen,  dem  durch  Tat  und 
Flucht   grausamen   Tag    etwas  Besinnung   beizubringen,    hier  auf 

haltbarerem  Papier  unterstützt  wird. 

*  « 

* 

Die  Tendenz  der  Sammlung  Schopenhauerscher  Worte  gegen 
die  deutsche  Kultur  im  letzten  Heft  war  nicht  nur  die  Absicht,  jener 
intellektuellen  Nachhut,  die  die  Soldaten  gegen  den  Vorwurf  des 
Barbarentums  durch  die  Beteuerung  schützen  will,  daß  die  Deutschen 
>das  Volk  Goethes  und  Schopenhauers«  seien,  dieses  Vorhaben 
auszureden.  Sie  war  vor  allem  das  Bestreben,  die  Nachhut  zur 
Vorsicht  anzuhalten  und  ihr  beizubringen,   daß  sie  ihrer   Heimat 


—  46 


den  schlechtesten  Dienst  erweise,  wenn  sie  Schopenhauer  nicht  nur 
als  Repräsentanten  ihres  Geisteslebens  —  das  ist  zu  dumm  — 
ausspiele,  sondern  als  Zeugen  gegen  eine  feindliche  Nation  — 
das  ist  gefährlich  —  bemühen  wolle.  Denn  was  immer  er  gegen 
andere  Kulturen  auf  dem  Herzen  gehabt  haben  mag,  jedenfalls 
taugt  er  heute  schlecht  zur  Aussage,  weil  er  eben  besser  gegen 
die  eigene  Nation  aussagen  könnte,  und  weil  es  doch  vom  Stand- 
punkt derer,  die  vom  Gegenteil  leben,  verfehlt  ist,  die  Feinde  auf 
solche  Chance  aufmerksam  zu  machen.  Kein  Autor  sollte  jetzt  von 
denen,  die  Gegenbeweise  gegen  Barbarentum  liefern  müssen  oder 
diesen  Vorwurf  auf  den  Feind  abzuwälzen  haben,  sorgfältiger 
versteckt  werden  als  Schopenhauer.  Ich  bin  zu  jenem  und  diesem  nicht 
verpflichtet,  und  seinen  Angriffen  gegen  das  Deutschtum,  welche  ja  nur 
die  Fronde  gegen  eine  heute  erst  besiegelte  Lebensrichtung  waren, 
die  sich  gegen  das  Leben  und  gegen  das  Gut  der  von  ihm  über 
alle  andern  gestellten  Sprache  kehrt,  habe  ich  seine  freundlichen 
Worte  über  die  Italiener  entgegengestellt,  wieder  nur  um  zu  zeigen, 
wie  unvorsichtig  die  Benützung  eines  andersgearteten  Ausspruchs  sei, 
den  ich  selbst  nicht  gefunden  hatte  und  der  eben  schwerer  zu  finden 
ist  als  die  vielen  andern.  Nun  wird  mir  mitgeteilt,  daß  diese 
Äußerung  Schopenhauers  gegen  die  Italiener  in  einem  Nachlaßband 
(»Neue  Paralipomena«)  feststellbar  sei.  Das  ändert  natürlich  nicht 
das  geringste  an  dem  Risiko,  das  deutsche  Journalisten  eingehen, 
wenn  sie  Schopenhauer  zu  einer  nationalen  Entscheidung 
anrufen,  ganz  abgesehen  von  der  Absurdität  der  Vorstellung, 
daß  gerade  er  auch  nur  mit  einem  Wort  Aufenthalt  in  solchen 
Mündern  nehmen  soll.  Ich  habe  die  Echtheit  jenes  Zitats  nicht 
bezweifelt  und  ihr  Beweis  bringt  mich  keineswegs  in  Verwirrung. 
Der  Sinn  meiner  Kollektion  —  viel  patriotischer  als  er  auf  den 
ersten  Blick  scheint  —  war,  an  einem  wirksamen  Beispiel  zu 
zeigen,  daß  eine  gewisse  nationale  Dummheit,  die  dem  Feind  die 
Waffe  liefert,  der  wahre  Feind  ist.  Deutsche  Literatur  kreise  aber,  von 
der  Fülle  Schopenhauerscher  Aversion  gegen  die  Deutschen  sichtlich 
überrascht,  erwarten  nun  von  meiner  »Gerechtigkeit«,  daß  ich 
nicht  nur  die  Auffindung  jenes  antiitalienischen  Ausspruchs  bestätige, 
sondern  auch  noch  die  folgenden  Sätze  wiedergebe,  die  Schopen- 
hauer am  29.  Oktober  1822  von  Florenz  aus  an  seinen  Freund 
Osann  in  Jena   geschrieben   habe   (Briefe,   Leipzig  1911,  S.  125): 


47  — 


....  wieder  lebe  ich  unter  der  verrufenen  Nation,  die  so  schöne 
Gesichter  und  so  schlechte  Gemüther  hat;  am  auffallendsten  ist  die 
unendliche  Heiterkeit  und  Fröhlichkeit  aller  Mienen:  sie  kommt  von 
ihrer  Gesundheit  und  diese  vom  Klima;  dabei  sehn  viele  so  geistreich 
aus,  als  ob  etwas  dahinter  stäke:  sie  sind  fein  und  schlau  und  wissen 
sogar,  sobald  sie  wollen,  brav  und  ehrlich  auszusehen,  und  sind  dennoch 
so  treulos,  ehrlos,  schamlos,  daß  die  Verwunderung  uns  den  Zorn  ver- 
gessen läßt.  Fürchterlich  sind  ihre  Stimmen:  wenn  in  Berlin  ein  einziger 
auf  der  Gasse  so  gellend  und  nachhallend  brüllte  wie  hier  Tausende,  so 
liefe  die  ganze  Stadt  zusammen ;  aber  auf  den  Theatern  trillern  sie  vortrefflich. 
Die  deutsche  Literatur  hat  also  nicht  vergebens  an  meine 
Gerechtigkeit  appelliert.  Schließlich  muß  Schopenhauer  selbst 
entscheiden,  ob  er  früher  oder  später  mit  den  Italienern  recht  gehabt 
hat,  und  wenn  man  schon  gerecht  ist,  wird  man  seine  reiferen 
Antipathien  für  die  besseren  halten  müssen.  Wäre  er  noch 
älter  geworden,  er  hätte  die  Fähigkeit,  »sobald  sie  wollen,  brav 
und  ehrlich  auszusehen«,  neidlos  einem  andern  Menschen- 
schlag zuerkannt.  Wie  recht  hatte  er  aber  schon  damals  mit 
der  Meinung,  daß  in  Berlin,  wenn  dort  ein  einziger  auf 
der  Gasse  brüllte,  die  ganze  Stadt  zusammenliefe.  An  das 
Gebrüll  der  Masse  gewöhnt  sich,  wer  unter  ihr  lebt;  an  die  Berliner 
Individualität  niemand.  1822  war  ihm  noch  die  Schönheit  der  Perfidie 
zuwider,  aber  später  hat  er  schon  gezweifelt,  ob  die  Häßlichkeit  das 
Gesicht  der  Treue  habe,  und  wie  ihm  heute  die  garantiert  zuver- 
lässige, einzig  authentische,  jeden  Zweifel  mühelos  abweisende 
Wolff-Bürro-Visage  behagen  würde,  das  weiß  ich  ganz  genau. 
>Treubruchnudeln«  und  > Schur kensalat«  hätte  er  nicht  gegessen. 
Und  die  deutsche  Literatur  soll  künftig  an  seinem  Geschmack, 
aber  nicht  an  meiner  Gerechtigkeit  zweifeln.  Und  vor  allem  nicht 
an  seiner  Konsequenz.  Denn  sie  mögen  seinen  italienischen 
Sympathien  getrost  seine  italienischen  Antipathien  entgegenstellen: 
in  Bezug  auf  die  Deutschen  werden  sie  ihm  sein  ganzes  geistiges 
Leben  lang  keinen  Widerspruch  nachweisen  können. 

* 
Der  in  Nr.  413—417  veröffentlichte  Aufsatz  »Die  Juden- 
frage« von  Dostojewski  ist  in  den  »Politischen  Schriften«  der  im 
Piper'schen  Verlag  erschienenen  Gesamtausgabe  enthalten,  die 
verdienstvoll  wäre,  auch  wenn  der  Prospekt  es  nicht  nötig  fände, 
die  Größe  Dostojewskis  durch  Bahr  und  Bierbaum  beglaubigen 
zu  lassen.  Da  die  Tatsache  eines  deutschen  Dostojewski   immerhin 


48  — 


wichtiger  ist  als  die  Existenz  sämtlicher  momentan  vorrätigen 
deutschen  Originale,  so  wird  hier  (wie  in  der  freiwilligen  Anzeige 
auf    dem     Umschlag)    auf    diese     Gesamtausgabe     hingewiesen. 


In  den  , Weißen  Blättern',  deren  Name  von  der  Farbe  des 
Schleims  kommt  und  die  bei  Kriegsbeginn  ihre  Ruhepause 
mit  der  im  Munde  der  Generation  nicht  unebenen  Erklärung 
begründet  hatten,  daß  »jetzt  die  Zeit  zum  Handeln«  gekommen  sei, 
glaubt  sich  Fräulein  Annette  Kolb  —  die  gewiß  menschlich  mit 
jenem  Milieu  nichts  zu  schaffen  hat  —  mit  mir  auseinandersetzen 
zu  müssen. 

....  Jetzt  aber  kann  man  der  Verwundeten  und  der  Gefangenen  nicht 
denken,  ohne  daß  sich  das  Mitgefühl  auch  jenen  Vereinzelten  zuwendet, 
deren  esheutein  allen  Ländern  gibt,  dievondemStromder  Gedanken- 
losigkeit, der  alles  umwarf,  nicht  fortgerissen  wurden,  sondern 
von  ihrer  brennenden  Erkenntnis,  wie  in  Einzelhaft  verwiesen,  allein  und 
abgetrennt,  ihnüberragen.  Man  schreibt  gewiß  nicht  ohnegroße  innere  Pein 
Sätze  nieder,  wie  ich  sie  heute  in  der  , Fackel'  finde:  »Der  kriegerische  Zu- 
stand scheint  den  geistigen  auf  das  Niveau  der  Kinderstube  herabzudrücken  ' ; 
und  man  stimmt  nicht  anders  als  bedrückten  Herzens  dem  Autor  bei. 
Aber  nicht  länger  bin  ich  des  Verfassers  Meinung  (was  nicht  geschieht, 
um  ihm  entgegenzukommen,  der  ein  paar  Seiten  weiter  die  Äußerung 
zu  Drucke  bringt:  »Eine  Frau  soll  nicht  einmal  meiner  Meinung  sein, 
geschweige  denn  ihrer«),  nicht  länger  teile  ich  seine  Meinung,  wenn  er 
auf  die  Frage,  die  er  auf  wirft:  »Was  kann  durch  den  Weltkrieg  entschieden 
werden?«  sich  selbst  zur  Antwort  gibt:  »Nicht  mehr,  als  daß  das 
Christentum  zu  schwach  war,  ihn  zu  verhindern«.  Ja,  ich  maße  mir  die 
Meinung  an,  daß  er  da  wirklich  mit  einer  unzureichenden  Leuchte  an 
das  Problem  herantritt. 

Nämlich  das  Christentum  war  nicht  zu  schwach,  sondern 
zu  stark,  die  Menschheit  evoluiere  langsam,  nur  Geduld,  es  wird 
schon  kommen. 

Aber  der  Gewalt  des  Christentums  tut  die  menschliche  Hinfällig- 
keit keinen  Abbruch;  ja  unerbittlicher  könnte  es  nicht  wider  uns 
triumphieren  .... 

Man  soll  nur  am  Christentum  festhalten,  sich  nicht  »durch 
das  Ekle  und  Scheußliche«,  das  den  Katholizismus  »tief  unter 
sich  begrub«,  irre  rnachen  lassen,  »um  in  der  Vermutung 
nicht  gestört  zu  werden,  daß  wo  einmal  dieser  viel  mißbrauchte 
Kult  zu  seinem  adäquaten  Ausdruck  gelangt,  eine  Höhe 
des    Daseins    sich    ergibt,    die    alles   andere    weit    unter    sich 


49 


läßt«  etc.  Dies  sei  zwar  sehr  selten  der  Fall.  Wenn  aber,  so 
tut  sich  erst  das  Weltall  auf. 

Daß  heute,  wo  die  Welt  wie  nie  zuvor  zu  einem  Jammertal  ver- 
sank, daß  sich  ihr  da  zum  ersten  Male  die  Umrisse  der  Gestalt  des 
Hirten  vollgültig  umschrieben,  ist  diese  Tatsache  keiner  Deutung  wert? 

Wer  hat  die  Tatsache  wahrgenommen?  Kein  Mensch,  aber 
schön  wär's: 

Nicht  Feind  vom  Feinde,  nicht  ihre  Konfessionen  scheidend,  ist 
Gleichgewicht,  das  hoch  und  einsam  über  die  gebeugten  Völker  ragt, 
bei  ihm  allein.  Ist  dies  kein  Innehalten  wert? 

Sie  halten  aber  gleichwohl  nicht  inne,  und  die  Völker 
bleiben  gebeugt. 

Die  wahre  Fahne,  die  alle  umwallt,  entrollte  nur  er.  Und  wer, 
Jud  oder  Heide,  spottet  heute  diese  Hirten  ohne  Herde  und  dennoch 
Hirten,  wie  nie  zuvor;  nie  zuvor  so  gebieterischen  und  so  weithin  deut- 
lichen Reliefs,  von  der  Wahrheit  selbst  gleichsam  emporgehalten  und 
hinausgestellt,  aus  der  Ohnmacht  erst  geschaffen,  wie  es  scheint. 

Wie  es  scheint.  Wem  ist  das  Relief  deutlich?  Keiner 
spottet,  aber  niemand  läßt  sich  stören. 

Oder  soll  ich  es  in  Währungen  ausdrücken,  da  sie  es  doch  sind, 
welche  diese  Zeit  in  ihre  Bahnen  warfen?  Nun,  wie  zwei  Münzen,  für 
was  sie  gelten  und  nur  auf  ihren  Klang  hin  und  ohne  Kommentar  werfe 
ich  sie  hin:  Wilson  und  Benedikt.  Denn  wer  hörte  nicht  von  selbst  die 
schwere,  gewaltige  vor  der  hohlen  und  hinfälligen  heraus?  Wen  er- 
schreckte da  nicht  der  Unterschied?  Sogar  Amerikaner.  So  viel 
Phantasie  haben  sogar  sie. 

Es  ist  gefehlt,  jetzt  etwas  in  Währungen  auszudrücken. 
Denn  die  Christen  entschädigen  sich  für  den  Kursverlust  am  Blut 
und  für  den  Blutverlust  am  Kurs.  Auch  legt  es  Zweifel  nahe, 
welchen  Benedikt  Fräulein  Kolb  eigentlich  meint,  den  mit  der 
schwersten  Münze,  oder  nur  mit  der  schweren,  den  starken  oder  den 
schwachen  Benedikt.  Sie  scheint  den  schwachen  zu  meinen  und 
findet,  er  habe  den  Klang  in  der  Welt.  Die  Dame  hat  mit 
allem  recht,  sie  wünscht,  daß  es  so  wäre,  und  sie  schreibt  gern. 
Ich  bin  ganz  ihrer  Meinung,  nur  sie  nicht  meiner  und  das 
ist  recht  so.  Was  kann  durch  den  Artikel  einer  Frau  bewiesen 
werden?  Nicht  mehr,  als  daß  ich  zu  schwach  war,  ihn  zu  ver- 
hindern. Beweist  das  etwas  gegen  meinen  Wert?  Im  Gegenteil, 
ich  war  nicht  zu  schwach,  sondern  zu  stark,  Schriftstellerinnen 
evoluieren  langsam  und  unerbittlicher  konnte  ich  nicht  wider 
das  Fräulein  Kolb  triumphieren.    Ist   dies   kein   Innehalten   wert? 


5Ü 


Sie  schreibt  aber  weiter.  Ich  lese  aber  nicht  weiter.  Nur  bis  zu 
der  Stelle,  wo  ich,  nachdem  sich  herausgestellt  hat,  daß  wir  beide 
das  Christentum,  von  der  kriegführenden  Menschheit  begraben, 
über  eine  kriegstaugliche  Menschheit  triumphieren  lassen  und  es  also 
höher  schätzen,  als  diese  ist  und  es  schätzt,   die  Worte  bemerke: 

Nein,  Herr  Kraus,   das  war  gedankenlos! 

Und  dies,  wiewohl  ich  doch  zu  jenen  gehöre,  die  »von 
dem  Strome  der  Gedankenlosigkeit  nicht  fortgerissen  wurden«, 
sondern  »ihn  überragen«,  nämlich  den  Strom,  sozusagen  ein 
schwimmender  Berg.  Da  hier  somit  eine  Frau  meinen  Rat,  nicht 
meiner  und  nicht  ihrer  Meinung  zu  sein,  denn  doch  völlig  erfüllt 
hat,  schiele  ich  neugierig,  aber  vorsichtig  zur  Fortsetzung  hinüber 
und  finde  das  folgende: 

Überhaupt  —  um  von  den  Männern  zu  reden  —  meine  ich, 
daß  gegenwärtig  kein  Grund  vorliegt  zu  ihrer  Überhebung.  Ich  bin  nie 
eine  Frauenrechtlerin  gewesen  und  dieser  Bewegung  gegenüber  stets 
passiv  geblieben;  aber  ich  muß  schon  sagen:  daß  nach  vielen  Dezennien 
eines  ausschließlichen  Männerregiments  ein  derartig  vollendeter  Wirr- 
warr zutage  gefördert  wurde,  gibt  doch  zu  denken. 

Fräulein  Kolb  will  also  jetzt  die  Aufmerksamkeit  auf  einen 
Wirrwarr  ablenken,  den  die  Männer  angerichtet  haben,  und  ich 
war  nur  ein  Übergang  zu  der  herzhaften  Hypothese, 
daß,  wenn  statt  der  Herren  Sonnino,  Berchtold,  Poincare,  Bülow, 
Churchill,  Iswolski  usw.  die  Damen  (ich  nenne  keine  be- 
liebigen, sondern  solche,  die  sich  schon  erprobten,  die  es 
wirklich  gegeben  hat,  die  mithin  irgendwie  weiter  vorhanden 
sind),  wenn  statt  ihrer  Damen  wie  die  Markgräfin  von  Bayreuth, 
Maria  Theresia,  Katharina  II.  und  die  von  Siena,  Julie  de  Lespinasse 
und  auch  die  alte  Queen,  daß  wenn  solche  Frauen  mehr  im  Vordergrunde 
gestanden  hätten,  statt  ausgeschaltet  zu  sein,  mit  zu  bestimmen, 
statt  zu  schweigen  gehabt  hätten,  daß  dann  —  —  es  läßt  sich 
nichts  beweisen. 

Das  ist  nur  zu  wahr,  daß  sich  nichts  beweisen  läßt.  Aber 
Fräulein  Kolb  hat  Namen  genannt,  keine  beliebigen,  sondern 
solche,  die  sich  schon  erprobt  haben.  Ärger,  sagt  sie,  könnten 
die  Dinge,  wie  sie  ohne  die  Mitwirkung  jener  Frauen,  >ohne  ihr 
Zutun <  —  was  beweisbar  ist  —  sich  jetzt  gestaltet  haben,  unmöglich 
sein.  Klar  erkennt  man,  daß  man  mindestens  nicht  schlecht 
gefahren  wäre,  wenn  man  mit  der  Katharina  oder  der  alten 
Queen,  die  irgendwie  vorhanden  sind,   die   man   aber   nicht  auf- 


"  51 


kommen  lassen  wollte  imd  die  jetzt  auf  Spitalsdienst,  Bridgespiel, 
Theosophie,  Kjöringfahren  oder  gar  Biicherschreiben  angewiesen 
sind,  einen  Versuch  gemacht  hätte.  Natürlich  hat  die  Dame  wieder 
ganz  recht  mit  der  Meinung,  daß  die  Frauen  das  Politisieren, 
das  ja  wirklich  sogar  leichter  als  Kochen  ist,  so  gut  treffen  würden 
wie  die  heutigen  Männer,  wiewohl  die  Unfähigkeit  der  Männer 
noch  kein  Beweis  dafür  ist,  daß  sie  es  besser  treffen  würden,  und 
ich  ja  auch  schon  erprobte  Namen  nennen  könnte  wie  Perikles, 
Macchiavelli,  Peter  der  Große,  Bismarck.  Soweit,  was  das  Politi- 
sieren anbelangt.  Was  aber  das  Denken  im  Allgemeinen  betrifft, 
so  ist  die  Frage,  ob  sich  hier  den  Frauen  ein  Beruf  eröffnet,  noch 
heikler.    Denn    meine  Unfähigkeit   dazu   beweist   schon  gar  nicht, 

daß  die  Annette  Kolb  es  kann. 

*  * 

• 

,  Eine  jetzt  in  Schwang  gekommene  Art  des  Feuilletonismus, 
die  deutsche  Hausmannskost  statt  der  französischen  Küche  bietet  und 
von  braven  Jungen  zubereitet  wird,  finde  ich  in  einer  Zuschrift 
mit  besserem  Geschick  parodistisch  dargestellt,  als  es  die  Bieder- 
keit selbst  vermöchte.  Die  Gemütsart  dieses  Typus  ist  zusammen- 
gesetzt aus  einer  Weltweisheit,  welche  die  irdischen  Genüsse,  wie 
das  Fahren  im  Schlafwagen,  schon  überwunden  hat,  und  einer  Fibel- 
einfalt, die  deren  gründliche  Kenntnis  nicht  verheimlicht.  Sie  zieht  das 
edle  Weidwerk  großstädtischen  Vergnügungen  auch  dann  vor,  wenn 
von  etwas  ganz  anderem  die  Rede  ist,  und  in  ihrem  Ausdruck  ist  sie 
ein  fortwährendes  Butzenscheibenschießen.  Sie  hat  das  Herz  auf 
dem  rechten  Fleck,  aber  das  Wort  immer  auf  dem  andern,  indem 
sie  den  Menschen  nicht  nur  als  Jägersmann  betrachtet,  sondern 
diesen  noch  als  >Jünger  Hubertus'«.  Ihr  Vorstellungslebe;i 
bewegt  sich  zwischen  einer  Volkstümlichkeit,  die  auf  einer  Kenner- 
schaft von  Land  und  Leuten  beruht  und  bis  zur  Befassung  mit  den 
seltensten  Gebrauchsgegenständen  geht,  und  herzhafter  Ablehnung 
jeglichen  Komforts,  dessen  Betätigung  sonst  von  einem  Feuilletonisteii 
verlangt  wurde,  der  bislang  wissen  mußte,  daß  in  einem  fashionablen 
Hotel  die  Grande-Dame  auf  das  vierte  Läuten  erscheint,  oder  andern- 
falls bereit  war,  sich  über  das  Fehlen  der  »dämonischen  Frau«  lustig 
zu  machen.  Hier  wird  etwas  ganz  Neues  geboten,  wie  man  unschwer 
an  der  schlichten,  im  weitläufigsten  Ausdruck  immer  doch  das 
Einfachste  bergenden  Sinnesart  erkennen  wird. 


—  52 


Hinterm  Vorhang  des  Lebens. 

An  einem  der  köstlichen  Tage,  die  der  liebe  Lenz  uns  jetzt 
beschert,  führte  uns  kürzlich  ein  Geschäft  frühmorgens  auf  einen 
unserer  großen  Bahnhöfe.  Die  herbe,  frische  Luft  rief  in  uns  allso- 
gleich  die  Erinnerung  an  manchen  fröhlichen  Pirschgang  wach, 
da  wir  im  grünen  Röcklein  des  Weidmannes,  die  blanke  Büchse 
über  der  Schulter,  der  ritterlichsten  und  männlichsten  Leibesübung 
oblagen.  Bald  galt  es  dem  graubraunen  Meister  Lampe,  bald  dem 
rostroten  Herrn  von  Reinecke  und  seiner  Gesponsin,  der  zier- 
lichen Fehe,  bald  gar  dem  wackeren  Vogel  mit  dem  langen  Gesicht, 
dessen  Anblick  jedem  echten  Jünger  Hubertus'  das  Herz  höher 
schlagen  läßt.  Mit  mitleidigem  Lächeln  gedachten  wir  wohl  auf 
solcher  Wanderung  jener  armen  Spötter  und  Hämlinge,  die  sich 
um  diese  Stunde  noch  in  den  weichen  Federn  gütlich  tun.  Freilich 
ist  es  nicht  immer  ihre  Schuld,  wenn  ihnen  manches  fehlt,  was 
das  Leben  köstlich  macht. 

Nun  führte  uns  unser  Weg  über  einen  offenen  Markt.  Zart- 
rote Lämmer  hängen  da  neben  schmackhaften  Öchslein  von  der 
Farbe  des  Chrysoberylls  und  neben  den  weiten  braunen  Körben 
mit  maigrünem  Inhalt  leuchten  goldige  Pyramiden,  aus  »süßen 
Früchten  gebildet.  Nicht  jeder  freilich  ist  imstande,  solche  Farben- 
symphonie zu  genießen,  und  lächelnd  gedenken  wir  unseres 
Freundes  Adolf,  dem  ein  knusperig  braunes  »Backhendel«  in  Be- 
gleitung eines  würzigen  Gurkensalates  über  alle  Kunstgenüsse  geht. 
Jetzt  freilich  muß  der  Arme  schon  seit  Wochen  auf  solche  Leckereien 
verzichten,  denn  die  Fieberhexe  hält  ihn  in  den  dürren  Fängen 
und  zwackt  ihn  weidlich. 

Nun  umfängt  uns  die  graulichweiße  Bahnhofshalle.  Nicht 
jedem  ist  es  gegeben,  in  dem  hier  herrschenden  Gewühle  Beob- 
achtungen zu  machen.  Aber  uns  fällt  sogleich  ein  behäbiges  Ehe- 
paar auf,  dessen  blitzblankes  Reisegepäck  noch  mehr  als  ihre  auf- 
geregten Mienen  verrät,  daß  sie  sich  den  Luxus  einer  Reise  nur 
selten  gönnen  dürfen.  Es  wäre  aber  Unrecht  zu  glauben,  daß  sie 
deshalb  für  den  Zauber  eines  schönen  Frühlingsmor^ens  unempfind- 
lich sind.  Vielleicht  genießen  sie  ihren  bescheidenen  Ausflug  mehr 
als  etwa  der  elegante  Globetrotter,  den  wir  hinter  dem  dicken 
Spiegelglas  eines  Abteils  L  Kl.  bemerken.  Er  lehnt  lässig  in  dem 
kirschroten  Samtpolster  und  hat  den  Arm  bequem  in  die  braune 
Lederschlinge  geschoben,  die  neben  dem  Fenster  herunterhängt. 
Über  seinem  Kopf  liegt  der  Frühstückskorb  mit  seinem  appetit- 
lichen Inhalt,  daneben  ein  Reisenecessaire,  in  dem  wir  wohl  mit 
Recht  zahlreiche  geschliffene  Kristallflakons  mit  dicken,  kugeligen 
Silberstöpseln  vermuten.  Diese  Gepäcksstücke  sind  mit  den  bunten 
Reklamemarken  vornehmer  Hotels  beklebt  und  natürlich  unbe- 
schreiblich verwahrlost.  Wer  weiß  aber,  ob  diesen  Weltmann,  dessen 
Benehmen  so  sicher  und  unbefangen  erscheint,  als  könnte  ihm  auf 
dem  Parkett  des  Lebens  nichts  mehr  zustoßen,  nicht  längst 
insgeheim  das  Zipperlein  plagt  . .  . 


53  — 


Im  Gedränge  fallen  uns  einige  verdächtig  aussehende  Bursclien 
auf,  denen  die  Nähe  eines  diensteifrigen  Wachmannes  übel  zu 
behagen  scheint.  Es  sind  ungute  Gesellen,  denen  man  nicht  des 
Nachts  allein  im  Walde  begegnen  möchte,  denn  das  Messer  (Mandl) 
sitzt  ihnen  locker  genug  im  Stiefel. 

Nun  zurück  in  die  Stadt.  Es  ist  die  Stunde,  da  die  Läden  und 
Büros  geöffnet  werden,  und  die  Straße  wimmelt  von  jungen  Ge- 
schöpfen in  einfacher,  aber  netter  Kleidung,  die  zur  Arbeit  eilen. 
Manchen  mag  das  wohl  sauer  ankommen,  aber  die  meisten  dieser 
guten  Kinder  verdienen  vielleicht  eher  die  Liebe  eines  braven 
Mannes,  als  manche  geputzte  Dame,  die  einige  Stunden  später 
auf  dem  Korso  erscheint,  um  ihr  buntes  Seidenkleid  und  ihren 
großen  Federnhut  bewundern  zu  lassen. 

Aber  vielleicht  hat  auch  diese  ihre  Berechtigung.  Nicht  jeder 
freilich  vermag  sie  zu  erkennen,  aber  wer  ein  wenig  tiefer  ins 
Leben  geblickt  und  manchen  Vorhang  gelüftet  hat,  der  deutet  sich 
alles  mit  jenem    indischen  Wort,  das  da  lautet:    »Nichts  ist  wahr 

und  das  bist  du!« 

«  » 

* 

Viel  Begeisterung  hat  der  Krieg  für  den  Rezitator  WüUner 
übriggelassen.  Es  dürfte  sich  um  einen  rhapsodisch  erhöhten 
Qregori  handeln.  Einer  der  ausführlichsten  Wüllner- Verehrer  schreibt: 

.  .  .  Vorleser  ist  er  nicht,  weil  er  niemals  vorliest,  alles  frei  und 
auswendig  vorträgt.  Um  ihn  Schauspieler  zu  nennen,  dazu  fehlt  ihm 
das  Um  und  Auf    der  Bühne. 

Ganz  richtig,  da  er  nur  in  Konzertsälen  auftritt. 

Sicherlich  steckt  schauspielerische  Begabung  in  ihm;  wie  weit 
sie  reicht,  können  nur  die  beurteilen,  die  ihn  auf  dem  Theater  gesehen 
haben. 

Zum  Beispiel  ich.  Alsjarl  Skule  in  den  > Kronprätendenten« 
von  Reinhardt,  einem  abendfüllenden  Sketch,  der  mir  damals  viel 
Spaß  gemacht  hat.  Es  war  ein  Versuch,  das  Leben  und  Treiben 
in  einem  Zirkus  auf  die  Bühne  zu  bringen,  lange  bevor  das  Gegen- 
teil sich  bewährt  hat. 

*  * 

* 

Vorlesung  im  Kleinen  Musikvereinssaal,  21  .•  Dezember:  I.  Vorwort 
(Ein  Irrsinniger  auf  dem  Einspännergaul)  /  Schmückedeinheim  /  Aus 
großer  Zeit  /  Aphorismen  /  Hopsdoderoh  /  »Drückeberger  in  Frankreich« 
u.  s.  w  /  Die  Freigelassenen  /  Hier  wird  deutsch  gespuckt  /  Aus 
Schopenhauer  /  Diana-Kriegs-Schokolade  /  Kinder  und  Vögel  sagen  die 
Wahrheit  /  Wiese  im  Park  /  Abschied  und  Wiederkehr  /  Sonnenthal  / 
Elegie  auf  den  Tod  eines  Lautes.  II.  Dialog  der  Geschlechter  /  Eeextra- 
ausgabeee  — !  —  Schweigen,  Wort  und  Tat. 


54 


In  Nr.  413-417  ist  zu  lesen:  S.  8,  13.  Zeile  von  unten,  statt: 
vom  Tagblad !  Extraausgabää  -!«  vom  Tagblad!«  -'Welthlad!  Extra- 
ausgabää  — /«/  S.  43,  1.  Zeile  nach  dem  Zitat,  statt:  Wenn  die  Herren, 
die  die  große  Zeit  Wenn  die  Herren  die  große  Zeit;  S.  104,  5.  Zeile 
von  unten,  statt:  und  dem  die  und  der  die. 


Im  »Verlag  der  Schriften  von  Karl  Kraus«,  Leipzig  (am 
Jahresbeginn  von  Herrn  Kurt  Wolff  errichtet)  ist  das  Buch 
>Worte  in  Versen<  erschienen.  Es  enthält  die  folgenden  Stücke: 

Verwandlung  /  Vergleichende  Erotik  /  Leben  ohne  Eitelkeit  ,  Zwei 
Läufer  /  Mein  Weltuntergang  /  Beim  Anblick  einer  sonderbaren  Parte  /  Tod 
und  Tango  /  Die  Leidtragenden  /  Kriegsberichterstatter  /  Eeextraaus- 
gabeee — !  /  Monolog  des  Nörglers  /  Beim  Anblick  eines  sonderbaren 
Plakates  /  Die  Grüngekleideten  /  Elegie  auf  den  Tod  eines  Lautes  ,'  In- 
schriften /  Eine  Prostituierte  ist  ermordet  worden  /  Grabschrift  /  Beim 
Anblick  einer  Schwangeren  /  Zum  wohltätigen  Zweck  /  Die  Kranken- 
schwestern /  Sonnenthal  /  Wiese  im  Park  /  Vor  einem  Springbrunnen  /  Aus 
jungen  Tagen  /  Abschied  und  Wiederkehr  /  Widmung  des  Wortes  /  Der 
sterbende  Mensch  /  Sendung. 

Die  »Inschriften<  enthalten: 
,  Vae   victoribus!  /  Fortschritt  /  Nach    Goethe  /  Sittlichkeit    und 

Kriminalität  /  Christlicher  Umlaut  /  Sexus    und    Eros  /  Elegisches    Vers- 
maß /  Heroischer  Vers  /  Norm  /  Reinigung  /  Kategorien. 

Bisher  ungedruckt  sind :  »Sendung«  und  > Heroischer  Vers«.  L 
Versform  neugeordnet  —  außerdem  im  letzten  Heft  veröffentlichte* 
»Eine     Prostituierte     ist     ermordet     worden«     —    die     Stücke'.' 
>Beim    Anblick    einer    sonderbaren    Parte«     und    »Sonnenthar^t" 
(aus  dem  Schluß  des  Aufsatzes :  Das  Denkmal  eines  Schauspielers)." 
Sonst  manche  Änderungen  in  Text  und  Titeln.  —  Das  Buch  ist  bei 
Drugulin  in  Leipzig  gedruckt. 


Irgendwo   wurde  kürzlich  festgestellt,    daß  das  Burgtheater; 
in  einem  kläglichen  Zustand  vor  der  Shakespeare- Feier  steht  und  • 
heute  nicht  imstande  wäre,  Macbeth,  Hamlet  und  Lear  aufzuführen, ; 
während  zum  Beispiel  das  tschechische  Landestheater  in  Prag  mit? 
fünfzehn  Werken  von  Shakespeare,   die  es  längst  in  seinem  Spiel- 
plan habe,  den  Gedenktag  feiern  werde.  Dieser  Angabe  opponiert 
eine  alberne,  geradezu  burgtheateroffiziöse  Zuschrift,  in  der  es,  ohne 
eine  Kenntnis  der  Prager  Theaterverhältnisse  zu  behaupten,  heißt, 
ts  komme  auf  die  Inszenierung  an,  auf  die  das  Burgtheater  bekannt- 


55 


lieh  so  viel  Sorgfalt  verwende,  daß  fünfzehn  Stücke,  die  man  in'e 
im  Repertoire  »stehen«  habe  —  man  muß  also  wohl  täglich  von 
neuem  inszenieren  —  überhaupt  nicht  herauszubringen  wären.  Die 
Hinweisung  auf  Prag,  so  interessant  sie  an  sich  sei,  werde  »doch 
dem  Burgtheater  nicht  ganz  gerecht«,  auch  in  Bezug  auf  die 
hVage  der  Darstellung: 

Wir  kennen  die  schauspielerische  Qualität  der  tschechischen 
Vorstellungen  nicht.  Wenn  es  sich  bloß  darum  h  andeln  würde, 
alle  die  fünfzehn  angeführten  Stücke  am  Burgtheater  zu  spielen,  so 
wäre  das  ja  auch  zu  machen.  Aber  man  würde,  gewöhnt  an  erste 
Darsteller  und  auch  von  ihnen  verwöhnt,  wenig  erbautdavon  sein,  daß 
hervorragende  Rollen  nicht  ihrem  Gewicht  gemäß  besetzt  wären. 
Man  weiß  doch,  wie  anspruchsvoll  das  Burgtheaterpublikum  ist. 

Und  setzt  voraus,  daß  es  sich  in  Prag  »bloß  darum  handelt 
etc«.  Dem  anspruchsvollen  Burgtheaterpublikum,  das  an  erste  Dar- 
steller gewöhnt  ist,  aber  sie  schon  so  lange  entbehren  kann,  und  das 
nun  seit  zwei  Jahrzehnten  von  Herrn  Reimers  verwöhnt  wird, 
wäre  offenbar  eine  Hauptrolle  mit  einem  Schauspieler  wie  dem  Prager 
Vojan  nicht  ihrem  Gewicht  gemäß  besetzt.  »Es  erscheint  wichtig«, 
schließt  die  Zuschrift,  »alle  Seiten  der  Sache  besonnen  zu  erwägen». 
Die  Verteidigung  scheint  mit  ihrer  Besonnenheit  zufrieden  zu  sein 

yd  stellt  somit  an  sich  selbst  geringere  Ansprüche,  als  das 
.jUblikum  ans  Burgtheater.  Dieses  ist  also  nicht  nur  faul  und 
mifähig,   sondern  bildet  sich    noch   etwas   darauf   ein    und   setzt 

's    selbstverständlich    voraus,     daß    eine    andere     Bühne    ihren 

-ifer  nicht  auf  einem  höheren  Niveau  betätigen  könne.  Es  hat  eine 
Tradition  zu  hüten,  der  vom  ganzen  heutigen  Personal  vielleicht 
noch  die  Toilettefrau  auf  der  linken  Seite  gerecht  wird,  und 
die,  nämlich  die  Tradition,  will  es  nun  einmal  nicht  kompro- 
mittieren. Aus  Furcht,  hinter  den  berechtigten  Anforderungen 
zurückzubleiben,  bleibt  es  hinter  den  berechtigten  Anforderungen 
zurück.  Denn  das  Burgtheaterpublikum  ist  so  anspruchsvoll, 
iaß   es   lieber  gar  keinen  Shakespeare    als  einen    unzulänglichen 

ehen  will,  es  ist  von  Herrn  Reimers  als  Othello  dermaßen 
verwöhnt,  daß  es  Herrn  Reimers  als  Macbeth  nicht  zu  sehen 
wünscht.  Anstatt  aber  die  Möglichkeit  einzuräumen,  daß  auf  dem 
heutigen  slavischen  Theaterboden  eher  Helden  wachsen,  als  auf  dem 
deutschen,  oder  anstatt,  wenn  das  Zugeständnis  inopportun  wäre, 
zu   schweigen,  wagt    man  es,  die  Leistung  zugunsten   des  Nicht- 


—  56  — 

geleisteten  herabzusetzen,  und  lehnt  es  stolz  ab,  Shakespeare  zu  spielen, 
weil  man  einen  Ruf  zu  wahren  habe.  Gewiß  ist  die  Unterlassung 
einer  Aufführung  des  Hamlet  die  würdigste  Shakespeare-Feier,  die 
das  Burgtheater  heute  zu  bieten  hat.  Aber  durch  welche  Leistung 
wird  es  dem  Rufe  gerecht,  wie  erweist  es  sich  der  Tradition 
würdig,  wie  erfüllt  es  die  Ansprüche  des  Publikums,  dessen 
Verwöhntheit  doch  auf  die  Dauer  nicht  damit  vorlieb  nehmen 
kann,  die  Werke,  die  es  nicht  schlecht  gespielt  sehen  will,  gar 
nicht  gespielt  zu  sehen?  Die  Zurückhaltung  des  Burgtheaters 
gegenüber  Shakespeare  in  allen  Ehren,  aber  sie  ist  eine  Inkonsequenz. 
Das  Burgtheater  kann  auch  Goethe,  Schiller,  Grillparzer  und  noch 
viele  andere  Autoren  nicht  spielen,  es  muß  Scribe,  Sardou  und 
andere  Zeugen  seiner  verblichenen  Lustspielherrlichkeit  verleugnen, 
und  es  sollte  deshalb  gegenüber  den  Ansprüchen  des  Publikums 
an  die  Darsteller  und  in  Anbetracht  der  zeitraubenden  Mühe  der 
Inszenierungen  einen  radikalen  Entschluß  fassen,  der  seiner  Korrekt- 
heit und  Pietät  angemessen  wäre,  um  endlich  Ruhe  zu  haben  und 
sowohl  dem  eigenen  Ruf  wie  dem  des  Wagentürlaufmachers, 
der  am  Schluß  jeder  Vorstellung  sein  >Aus  iii — s!<  in  die  Gegen- 
wart ruft,  im  feierlichsten  Sinne  gerecht  zu  werden. 


Wenn  das,  was  heute  in  deutscher  Sprache  zu  schreiben 
wagt,  ohne  ihres  Atems  einen  Hauch  mehr  zu  verspüren,  irgend- 
wie, von  einem  metaphysischeren  Anstoß  als  dem  Weltkrieg 
geschüttelt,  imstande  wäre,  noch  ein  Quentchen  Menschenwürde  und 
Ehrgefühl  aufzubringen,  so  müßte  die  Armee  von  Journalisten, 
Romansöldnern,  Freibeutern  der  Gesinnung  und  des  Worts  vor  das 
Grab  Adalbert  Stifters  ziehen,  das  stumme  Andenken  dieses 
Heiligen  für  ihr  lautes  Dasein  um  Verzeihung  bitten  und  hierauf 
einen  solidarischen  leiblichen  Selbstmord  auf  dem  angezündeten 
Stoß  ihrer  schmutzigen  Papiere  und  Federstiele  unternehmen.  In 
einer  kleinen  Biographie  —  wohl  der  einzigen  anständigen  Neu- 
erscheinung der  Reclam-Bibliothek  — ,  aus  der  man  auch  einiger- 
maßen die  Superiorität  der  vormärzlichen  Wiener  Gesellschaft  über 
den  heutigen  Mischmasch  feststellen  kann,  der  die  Verpoverung 
östep-eichischer  Werte  als  einen  Triumph  des  Heute  ausruft,  sagt 
der  Verfasser,   Alois    Raimund    Hein,   über   die   Beziehung   des 


57 


Dichters  (den  J.  V.  Widmann  den  Seelenfrieden-Stifter  genannt  hat)  zu 
einer  Epoche,  die  anfing,  ein  freches  Zeitbewußtsein  zu  bekommen: 
Stifter  trat  als  vollendetes  Original  vor  die  Schranken.  Sprache 
und  Empfindung  waren  ursprünglich  und  unvergleichlich;  das  bis  zu 
anbetender  Verehrung  gesteigerte  Naturgefühl,  das  liebevolle  Versenken 
in  zarte,  weiche  Stimmungen,  die  heilig-fromme  Gemütstiefe,  der  Reich- 
tum der  Phantasie  und  die  Fülle  des  Ausdruckes  bei  fast  ängstlicher 
Scheu  vor  allem,  was  den  Lärm  des  Tages  ausmacht  und  sich  im 
lauten  Ringen  der  Zeit  austobt,  alles  das  mußte  beifälligste  Bewunderung 
und  innigste  Zustimmung  finden  in  jenen  zahlreichen  Kreisen  des 
Vormärz,  Welche  den  gedämpften  Worten  rein-frohen,  wellfernen  Kinder- 
sinnes willfähriger  lauschen  mochten  als  den  eben  damals  mit  ungestümer 
Leidenschaftlichkeit  zornmütig  ausgestoßenen  Kampfrufen  der  literarischen 
TuMiultanten.  Inmitten  des  immer  stärker  anschwellenden  Aufruhrs  der  Mei- 
nungen, inmitten  der  Verwünschungen  und  des  Wutgeschreis  wegen  geistiger 
Knechtschaft,  Unterdrückung  der  bürgerlichen  Freiheit  und  Beschränkung 
der  höchsten  menschlichen  Güter  stand  Stifter  mit  seinem  glaubens- 
frohen Anhang  auf  einer  Insel  der  Glückseligen,  deren  den  ewigen 
Göttern  geweihter  Hain,  küslenfern  und  abgeschlossen,  unbehelligt  blieb 
von  der  tosenden  Brandung  der  Gezeiten.  Während  eine  auf  gewalt- 
same Umwälzung  hoffende,  dem  Umsturz  der  Dinge  in  schrillen  Tönen 
eindringlich  das  Wort  redende  Sängerschar  mit  den  bedrückenden  Er- 
scheinungen des  Alltags  ihre  murrenden  Strophen  füllte,  hielt  Stifter 
den  verzückten  Blick  auf  das  Ewige  und  Unendliche,  auf  das  Dauernde 
und  Unveränderliche  gerichtet.  Gleichwie  ihn  später,  als  die  Zeit  der 
Erfüllung  kam,  das  revolutionäre  Aufschäumen  der  Volkswut  erschreckte 
und  anwiderte,  so  fanden  auch  die  den  blutigen  Ereignissen  vorangehen- 
den Dithyramben  des  Freiheitsdranges  keinen  Weg  zu  seinem  Herzen. 
Was  die  Zeitwelle  hebt,  was  die  Zeitwelle  verschlingt,  das 
achtete  er  für  nichts.  Nach  seiner  Anschauung  vom  Leben 
erschien  ihm  der  Gedanke  widersinnig,  daß  die  Gewährung 
politischer  Freiheiten  an  die  Massen  das  Glück  des  einzelnen 
zu  erhöhen  vermöchte.  Denn  er  erblickte  das  höchste  individuelle 
Glück  in  dem  harmonischen  Einklang  der  Empfindungen,  in  der  stillen 
Ausgeglichenheit  des  Innenlebens,  in  der  erhabenen  Friedfertigkeit, 
welche  dem  Einsamen  abseits  vom  Wege  erblüht.  Dieses  Glück,  das 
jeder  einzelne  in  seiner  besonderen  Weise  sucht  und  aus  der  Tiefe 
seines  Wesens  gründet,  konnte  er  nicht  in  Zusammenhang  setzen  mit 
den  Kämpfen  und  Erschütterungen  einer  stürmisch  bewegten  Zeit.  Die 
politischen  und  gesellschaftlichen  Bestrebungen  erschienen  ihm  in  ihrer 
Wandelbarkeit  und  Unbeständigkeit  klein  gegen  das  unerschütterliche 
Walten  der  Natur.  Der  Halm,  welcher  genau  so  wie  heute  schon  vor 
Jahrtausenden  im  Kosen  der  Lüfte  sich  wiegte,  an  dessen  Wachstum 
alle  Leidenschaften,  alle  Erfindungen,  alle  Umwälzungen  der  Menschen- 
geschichte auch  in  der  fernsten  Zukunft  keine  Veränderung  bewirken 
können,  war  dem  stillen  Poeten  des  Waldes  bedeutender,  wertvoller, 
lieiligcr,  vertrauter  als  das  Kampfgelümmel  wechselvoller  Erscheinunger. .. . 


58 


Wohin  hätte  er  aus  der  heutigen  Welt  entkommen  mögen, 
in  welchen  Wald  entfliehen  können,  um  nicht  auf  Stacheldraht  zu 
stoßen?  Ihn  heute  lesen  und  sich  dann  wieder  umsehen,  in  welcher 
Welt  man  lebt,  verlangt  stärkere  Nerven  als  um  nur  in  dieser 
durchzuhalten.  Aber  als  Entschädigung  für  den  Genuß  der 
Heineschen  »Harzreise«,  deren  Sprachschwindel  mir  neulich  eine 
halbe  Stunde  leer  gemacht  hatte,  habe  ich  doch  wieder  einmal  jenen 
»Hochwald«  gelesen,  in  den  der  dreißigjährige  Krieg  nicht  dringt 
und  aus  dem  die  deutsche  Sprache  nicht  mehr  herauswill. 
Und  nach  einer  notwendigen  Durchsicht  jener  öden  Reimeschluderei 
»Deutschland«,  die  sich  ein  Wintermärchen  zu  nennen  wagt  und 
die  einst  den  aufgeweckten  deutschen  Schulbuben  so  imponiert  hat, 
daß  sie  später  viel  bessere  Kneipzeitungen  verfaßten,  bin  ich  vor 
Stifters  »Feldblumen«  gestanden.  Dieser  Jean  Paul  ohne 
Aufenthalt  hat  dort  eine  Stelle,  in  der  ihm,  wie  alles  und  vor 
allem  der  Wald,  die  Musik  zur  Sprache  wird.  Ich  frage,  ob  vor 
solchen  Sätzen  nicht  der  Krieg  und  seine  sämtlichen  Stilisten  ihr 
Dasein  einzustellen  hätten: 

». . .  Dann,  wenn  sie  vor  dem  Instrumente  sitzt,  zieht  ein 
neuer  Geist  in  dies  seltsame  Wesen;  sie  wird  ordentlich  größer, 
und  wenn  die  Töne  unter  ihren  Fingern  vorquellen  und  dies 
unbegreiflich  überschwengliche  Tonherz,  Beethoven,  sich  begeistert, 
die  Thore  aufreißt  von  seinem  Innern  tobenden  Universum  und 
einen  Sturmwind  über  die  Schöpfung  gehen  läßt,  daß  sich  unter 
ihm  die  Wälder  Gottes  beugen  —  —  und  wenn  der  wilde 
geliebte  Mensch  dann  wieder  sanft  wird  und  hinschmilzt,  um  Liebe 
klagt  oder  sie  fordert  für  sein  großes  Herz,  und  wenn  hierbei  ihre 
Finger  über  die  Tasten  gehen,  kaum  streifend  wie  ein  Kind  an- 
drücken würde,  und  die  guten,  frommen  Töne  wie  goldene  Bienen 
aus  den  vier  Händen  fliegen  und  draußen  die  Nachtigall  darein 
schmettert,  und  die  untergehende  Sonne  das  ganze  Zimmer  in 
Flammen  und  Blitze  setzt  —  und  ihr  gerührtes  Auge  so  groß  und 
lieb  und  gütig  auf  mich  fällt,  als  wäre  der  Traum  wahr,  als  liebte 
sie  mich:  dann  geht  eine  schöne  Freude  durch  mein  Herz,  wie 
eine  Morgenröte,  die  sich  aufhellt  —  die  Töne  werden,  wie  von 
ihr  an  mich  geredete  Liebesworte,  die  vertrauen  und  flehen  und 
alles  sagen,  was  der  Mund  verschweigt.  .  .  .« 


59 


Aus  jungen  Tagen 


Nie  kann  es  anders  sein. 
Nun  wirft  mein  Glaube  keinen  Schatten  mehr. 
Von  deinem  großen  Lichte  kam  er  her, 
von  des  Geschlechtes  rätselhaftem  Schein. 

Nun  bin  ich  ganz  im  Licht, 
d^s  milde  überglänzt  mein  armes  Haupt. 
Ich  habe  lange  nicht  an  Gott  geglaubt. 
Nun  weiß  ich  um  sein  letztes  Angesicht. 

Wie  es  den  Zweifel  bannt! 
Wie  wirst  du  Holde  klar  mir  ohne  Rest. 
Wie  halt'  ich  dich  in  deinem  Himmel  fest! 
Wie  hat  die  Erde  deinen  Werth  verkannt. 

Du  gabst  dich  zum  Geschenk 
der  Welt,  ich  hab  es  für  dich  aufbewahrt. 
Ich  habe  Gott  den  größten  Schmerz  erspart"! 
Geliebte,  bleibe  deiner  eingedenk! 

Wie  glänzt  mir  deine  Pracht. 
Dein  Menschliches  umarmt,  der  beten  will. 
Er  heiligt  es  im  Kuß,  Wie  ist  sie  still 
von  Sternen,  deiner  Nächte  tiefste  Nacht. 

Nie  soll  es  anders  sein. 

Ob  alles  Irdische  zerbricht  und  stirbt, 

nur  dein  Zerfall  ein  geistig  Glück  verdirbt. 

Vergib  dich  an  die  Erde  nicht,  sei  Dein! 


GO 


Sonnenthal 


Faßt  Mut  zum  Schmerz,  daß  seine  Thräne  nicht  mehr  fließt 
und  dieser  große  Chor  der  Jugendbühne  stumm  ist: 
Die  Glocke,  die  Charlotte  Wolter  hieß; 
derHammer,dermitLewinskysRede  dasGewissen  schlug; 
und  einer  Brandung  gleich  die  Stimme  des  Zyklopen 

Gabillon; 
Zerlinens  Flüstern;  und  Mitterwurzers  Wildstroms 

Gurgellaune ; 
eine  Tanne  im  Wintersturm  jedoch  war  Baumeisters  Ruf; 
und  schwebend,  eine  Lerche,  stieg  des  jungen 

Hartmann  Ton, 
vermählt  dem  warmen  Entenmutterlaut  Helenens; 
und  Hagel,  der  durch  schwülen  Sommer  prasselt, 

Krastels  Sang; 
und  edlen  Herbstes  Röcheln  Roberts  Stimme; 
und  Sonnenthals :  die  große  Orgel,  die  das  harte  Leben  löst. 
Und  all  der  Sänger  Stimme  und  Manier, 
die  noch  verstimmt,  von  solchem  Geiste  war, 
daß  sie  bewahrt  sei  gegen  alles  Gleichmaß, 
womit  die  Narren  der  Szene  und  der  Zeit 
die  lauten  Schellen  schlagen. 


61   — 


Glossen 

Ein  Druckfehler 

Die  Erinnerungen  der  Baronin  Ebner-Eschenbach  an  das  alte 
Burgtheater,  das  der  Löwe,  Fichtner,  Korn,  werden  irgendwo  zitiert. 
Wir  lesen,  sind  ganz  in  den  Tagen  der  dürftigen  Herrlichkeit,  da 
zwischen  zerfransten  Zimmerdekorationen  großartige  oder  liebens- 
würdige Menschen  auftraten,  und  so  entrückt,  müssen  wir  die, 
welche  es  erlebt  haben,  gar  nicht  um  ihre  Entrückungen  beneiden 
und  besinnen  uns  nicht  des  Schmerzes,  Zeitgenossen  der  prunkvollen 
Schäbigkeit  zu  sein.  Plötzlich,  ein  Blitz: 

Löwy  war  ja  herrlich  und  kam  uns  in  manchen  Rollen,  zum 
Beispiel  als  S  i  e  g  f  r  i  e  d  in  Raupachs  »Nibelungen«  wie  ein  Halbgott  vor 

So  selbstverständlich  hat  die  Hand  des  Setzers  das  Nächst- 
liegende ergriffen,  und  wüßten  wir  auch  nicht  gleich,  daß  dieser 
Siegfried  Löwy  ein  Löwe,  ein  Siegfried  war,  wir  spürten  doch 
den  Zusammensturz  von  Bühnen-  und  Lebenswerten  und  hörten 
den  Klang  des  neudeutschen  Siegfried.  Dieser  Druckfehler  ist 
wahrlich  des  Teufels. 


Rascher  Szenenwechsel 

oder 

Was  ihr  wollt 

Im  Feuilleton,  Seite  2  und  3: 

....  Der  Ulk  wächst,  schwillt  bis  zum  Ungeheuerlichen. 
Man  kann  sich  totlachen  an  diesen  Ausgelassenheiten,  muß  jedoch 
zugeben,  daß  sie  in  ihrem  Übermaß  das  Gleichgewicht  des  Werkes 
stören.  .  .  .  Und  was  noch  schlimmer,  das  tolle  Gebaren  färbt  auf  die 
anderen  Darsteller  ab  und  verleitet  sie  zu  der  irrigen  Meinung,  in  diesem 
Lustspiel  sei  überhaupt  nichts  ernst  zu  nehmen,  auch  nicht  Gefühl 
und  Empfindung,  nicht  Liebe  und  Liebesweh.  ...  So  schädigt  das 
aufdringliche  Vorwalten  des  Derbkomischen  den  Gesamt- 
eindruck, den  dieses  Lustspiel  hervorbringen  sollte.  Alles  Süße,  Holde, 


62 


Liebliche,  womit  es  der  Dichter  begnadete,  verliert  seinen  Duft,  der 
Dramatilcer  Shakespeare  kommt  selten  zum  Wort,  der  Lyriker  muß  ganz 
verstummen,  und  das  Märchen  entflieht  bestürzt  ans  andere  Ufer.  Sogar 
die  eigentlich  komischen  Rollen  werden  auf  die  Seite  gedrückt.  .  .  . 
Man  sollte  nun  glauben,  dieser  lustige  Karneval  würde  im  flottesten 
Tempo  erledigt  werden,  in  Saus  und  Braus  vorfiberstürmen.  Dem  ist 
aber  nicht  so.  Spiel  um  Spiel  wird  von  den  Darstellern  mit  äußerstem 
Behagen  ausgeführt,  und  Behagen  will  sich  Zeit  lassen,  liebt  die 
gemäch  liehe  Gangart.  Dazukommt  ein  anderer  Zeit  Verschwender: 
der  Zwischenvorhang.  Er  bietet  den  Vorteil,  daß  man  die  Szenen  so 
ziemlich  in  der  vom  Dichter  gesetzten  Reihe  bringen  kann,  unterbricht 
aber  dafür  jeden  Augenblick  den  Fluß  der  Handlung,  reißt  jeden  Augen- 
blick den  Zuschauer  aus  der  Stimmung.  ...  Es  läßt  sich  gar  nicht 
beschreiben,  wie  grausam  dieser  Spielverderber  die  Harmonie  des 
Ganzen  zerstört,  ein  so  schön  gebautes  Meisterwerk  zerstückelt  und 
zerhackt.  Um  dann  den  Zeitverlust  einzubringen,  den  er  verursacht, 
haben  sich  einschneidende  Kürzungen  als  notwendig  erwiesen.  .  .  . 
Alle  technischen  Bühnenreformen,  die  nicht  den  blitzschnellen 
Dekorationswech  sei  bei  offener  Szene  ermöglichen,  sind  keine  zwei 
Heller  wert.  Wir  haben  die  Schattenseiten  dieser  Vorstellung  vielleicht 
zu  stark  hervorgehoben.  Zum  Glück  fehlt  es  nicht  an  erfreulichsten 
Eindrücken.  .  .  . 

Hier  sind  sie  schon,  auf  Seite  18: 

Die  heutige  Wiederaufnahme  und  NeuinszenierungvonShakespeares 
Lustspiel  »Was  ihr  wollt«,  über  die  wir  im  Feuilleton  des  vor- 
liegenden Blattes  berichten,  fand  überaus  lebhafte  Zustimmung 
des  dichtbesuchten  Hauses.  Der  Szenenwechsel  vollzog  sich  in 
wünschenswerter  Raschhheit,  die  Bühnenbilder  selbst,  namentlich 
des  Strandes,  der  Halle  und  des  Parkgebäudes,  waren  von  prächtiger 
Wirkung.  Die  ernsten  Partien  sprachen  sinnvoll  an,  die  launigen 
erweckten  behagliche  Heiterkeit.  Auch  der  Shakespearische  Übermut 
der   grotesken    Rüpel-    und    Narrenscherze  fand    volles    Verständnis. 

Die  Harmonie  des  Ganzen  bleibt  immerhin  zerstört.  Wer's 
nicht  glaubt,  sehe  sich  das  Lustspiel,  das  der  autoritative  Schwachsinn 
am  12.  März  in  einer  und  derselben  Neuen  Freien  Presse  auf- 
geführt hat,  im  Original  an.  Daß  die  Hauptstadt  von  Montenegro 
noch  am  Tag  vor  der  Einnahme  ein  Misthaufen  und  am  Tag 
nachher  ein  Schmuckkästchen  war,  kann  man  für  möglich  halten. 
Krieg  ist  Krieg.  Aber  die  Unbekümmertheit,  mit  der  solch  eine 
Meinungshure  mit  demselben  Atemzug  zweierlei  bekennt,  ist 
doch  ein  Maßstab  für  die  Erweichung  der  Gehirne,  die 
einen  doppelten  Eindruck  schmerzlos  hinnehmen. 


63 


Verwandlungen 

....  die  intellektuelle  Kühnheit,  mit  der  der  Dichter  (Shaw) 
gegen  englische  Heuchelei,  gegen  englische  Überheblichkeit  und 
Beschränktheit  darin  zu  Felde  zieht,  würzt  noch  heute  diese  englische 

Komödie Er  macht  sich  den  Spaß,  zu  zeigen,  wie  einer,  den  die  gute 

bürgerliche  Gesellschaft  verachtet,  sich  unversehens  in  einen 
Helden  verwandelt,  der  sich  aus  purem  Edelmut  für  einen  anderen 
hängen  lassen  will,  während  dieser  andere,  der  bis  dahin  ein 
ehrsamer  Pastor  war,  sich  eben  so  schnell  in  einen  Raufbold 
und  Rebellen  verwandelt:  beide  kannten  sich  nicht,  noch  wir  sie, 
denn  nur  die  Tat  enträtselt  den  Charakter,  weshalb  der  Bürger- 
begriff von  Gut  und  Böse  nicht  viel  Wert  hat.  Dies  bildet  ungefähr  den 
geistigen  Kern  des  Stückes  .... 

Es  scheint  sich  also  doch  um  eine  allgemeine  Kritik  der 
Heuchelei  zu  handeln,  was  die  spezielle  Beschränktheit  nur  nicht 
sieht,  denn  sonst  könnte  sie  Herrn  Shaw,  den  Dichter,  auch  darauf 
aufmerksam  machen,  daß  die  beiden  Verwandlungen,  in  den 
Helden  und  in  den  Raufbold,  häufig  identisch  sind  und  daß 
somit  nicht  nur  der  früher  Verachtete,  sondern  sogar  der  ehrbare 
Pastor  unter  Umständen  ein  Held  sein  kann. 


Strindberg  und  Koofmich 

„Über  den  nicht  alltäglichen  Fall  einer  Erkrankung  als  Folge- 
erscheinung des  Krieges  wurde  in  der  letzten  Sitzung  der  zweiten 
Kammer  des  Berliner  Kaufmannsgerichts  verhandelt.  Anlaß  dazu 
bot  die  Klage  des  Kontoristen  Kurt  N.  gegen  die  Verlagsgesell- 
schaft »Häute  und  Leder«  ....  Auf  Grund  dieser  Mitteilung  hielt 
sich  die  Gesellschaft  für  berechtigt,  N.  als  sofort  entlassen  anzusehen. . . . 
fragte  der  Verhandlungsleiter  den  Gutachter,  ob  denn  nach  seiner 
Ansicht  N.  während  der  noch  gar  nicht  erloschenen  Krankheit  in  der 
Lage  gewesen  wäre,  seine  Tätigkeit  wieder  aufzunehmen.  Sanitätsrat 
Dr.  R.  erwiderte  darauf,  daß  es  ein  ganz  sicheres  objektives  Merkmal 
für  die  Arbeitsfähigkeit  eines  Menschen  überhaupt  nicht  gebe. 
Die  Möglichkeit,  daß  N.  beim  Aufbringen  der  nötigen  Energie  arbeiten 
konnte,  bestehe  jedenfalls.  Zeige  es  sich  doch  bei  vielen 
modernen  Dichtern  —  der  Gutachter  wies  bei  dieser  Gelegen- 
heit auch  auf  Strindberg  — ,  daß  sie  selbst  beim  Vorhandensein 
starker Hystero-Neurasthenie eine  rege  Schaffenskraft  entfalten  können. 
Andererseits  mußte  der  Sachverständige  zugeben,  daß  beim  Kläger  im 
Falle  der  Wiederaufnahme  der  Arbeit  die  Möglichkeit  bestand,  daß 
beim  Eintreten  neuer  psychischer  Erregungen  sich  die  Anfälle  in 
leichterer  Art  wiederholen  könnten.  .  .  .« 

Richtig  ist,  daß  die  meisten  modernen  Dichter  Deutsch- 
lands, deren  psychisches  Verhalten  ja  auch  eine  Folgeerscheinung  des 


—  64  — 

Krieges  ist,  ohne  aber  die  Einstellung  der  Arbeit  und  infolgedessen  die 
Entlassung  nach  sich  zu  ziehen,  eine  Schaffenskraft  entfalten,  die 
auf  dem  Vorhandensein  starker  Hystero-Neurasthenie  beruht.  Das 
Berliner  Kaufmannsgericht  kann  mir  als  einem  Sachverständigen 
aufs  Wort  glauben,  daß  diese  Erscheinung  sehr  häufig  ist.  Ich 
behaupte  aber,  daß  von  allen  Verlagshäusem  Deutschlands  aus- 
schließlich das  Verlagshaus  »Häute  und  Leder«  Anspruch  auf  die 
Schaffenskraft  dieser  Patienten  hat  und  daß  sie  verurteilt  werden 
müßten,  die  Arbeit,  diesieleider  noch  nie  eingestellt  haben,  ausschließ- 
lich dort  fortzusetzen.  Wiewohl  ich  aber  die  Identität  des  Kontoristen 
Kurt  N.,  der  das  einmal  gerichtlich  festgestellte  Übel  wiederum  ohne- 
weiters  für  die  Mitarbeit  an  einer  modernen  Revue  fruchtbar  machen 
könnte,  mit  allen  jenen,  die  schon  in  dieser  Lage  sind,  anerkenne, 
muß  ich  doch  sagen:  daß  ich  die  Zitierung  Strindbergs  vor  das 
Berliner  Kaufmannsgericht  behufs  Vergleiches  seiner  Arbeitsfähig- 
keit mit  der  Schaffenskraft  eines  deutschen  Kommis  für  einen 
kulturellen  Schlager  ersten  Ranges  halte,  der  mich  in  der  längst 
errungenen  Ansicht  bestärkt,  daß  die  Weltgeschichte  das  Kauf- 
mannsgericht ist. 

*  * 

Die  Metapher  ist  keine! 

.  .  .  Bei  der  Kaiserfeier  im  Rathaus  hielt  Oberbürgermeister  Wermuth 
eine  Rede,  in  der  er  hervorhob,  daß  kein  noch  so  heftiger  Anprall  das 
Guthaben  der  deutschen  und  verbündeten  Heere  zunichte  machen 
wird,  das  sie  in  unendlicher  JVlühsal  in  das  Kontobuch  der  Länder 
mit  stählernem  Griffel  eingetragen  haben.  .  .  . 


Von  der  Ware  gefangen 

....  hat  von  befreundeten  Zivilkriegsgefangenen  aus  Astrachan 
die  Nachricht  erhalten,  daß  Herr  Graf  und  der  Schokolad  en- Hilde  brand 
als  Kriegsgefangene  in  Astrachan  sind.  .  .  . 

Das  ist  traurig,  aber  noch  trauriger  ist,  daß  der  Mensch  selbst 
in  der  Gefangenschaft  nicht  aufhört,  der  Gefangene  seiner  Ware  zu 
sein.  Die  Hildebrand-Schokolade  mag  unser  Traum  bis  nach  Astrachan 
verschicken:  der  »Schokoladen-Hildebrand«  gehört  nach  Wien,  und 
eben  diese  Art  zu  assoziieren  macht  uns  untauglich  zum  Export. 


65  — 


Verwaltungsräte  der  Kunst 


Preisausschreiben  der  A  E  0 

Für  ein  künstlerisches  Plakat 

zur  Förderung  des  Vertriebs 
von    A  E   Q  -  Nitrallampen 

veranstalten  wir  ein  Preisausschreiben. 

Für  die  Preise  sind  insgesamt  M.8000  ausgesetzt. 

Preisrichter  sind:   die  Herren    Professor  Peter 

Behrens,  Gurt  Herrmann,  Professor  Emil  Orlik, 

Professor  E.  R.Weiß,  Kommerzienrat  Paul  Mam- 

roth,  Dr.  Walther  Rathenau,  Dr.  Ernst  Salomon. 

Die  Bedingungen  liegen  im  Sekretariat  der  AEG, 

Berlin    NW     40,     Friedrich-Karl  -  Ufer    2-4    auf. 

Allgemeine  Elektricitäts-Qesellschaft. 


Nanu,     wo    bleiben     denn    Avenarius,    Corinth,     Qurlitt, 
Mauthner,  Meier-Gräfe,  Naumann,  Simmel,  Sombart? 


Lichnowsky  und  Barnowsky 

.  .  .  Nach  dem  vierten  Bilde  konnte  die  Verfasserin  auf  der 
Bühne  erscheinen.  Ihr  Gatte  Prinz  Lichnowsky,  der  ehemalige  deutsche 
Botschafter  in  London,  wohnte  der  Vorstellung  in  der  Direktions- 
loge bei.  .  .  . 

Die  Welt  gäbe  viel  darum,  wenn  der  Herr  noch  in  einer 
bezahlten  Loge  eines  Londoner  Theaters  säße. 


Die  Verbindung 

Ein  als  »jüdische  Tragödie«  bezeichnetes  Drama  »Ritualmord 
in  Ungarn«  wird  wie  folgt  angekündigt: 

Die  germanische  Verbindung  von  mystischer  Phantastik  und 
wuchtig  gestaltendem  Realismus  zeigt  Arnold  Zweig  als  ein  dramatisches 
Talent  von  ganz  urgewaltiger  Kraft  und  Eigenart  .... 

Das  Germanische  inkliniert  zu  Verbindungen.  Es  ist  selbst 
eine,  dazu  kommt  noch  die  mit  dem  ändern,  das  auch  Verbindungen 
gern  hat  —  traun,  so  wahr  ich  da  leb,  etwas  viel  Verbindungen 
auf  einmal. 


66  — 


Es  geht  in  Einem 

.  .  .  Soin  >Reiterlied«,  das  an  die  kernigsten  Soldatenweisen 
aus  »Des  Knaben  Wunderhorn«  erinnert,  war  zum  deutschen  Volkslied 
geworden.  Auch  seinen  übrigen  Gedichten  stand  nun  der  Weg  zur 
Wirkung  offen.  —  —  —  —  —  Aus  allen  diesen  Gedichten,  namentlich 
aus  den  »Makkabäer«  überschriebenen  entschlossenen  Strophen  sprach 
starkes,  ungekünstelt  dichterisches  Gefühl  .... 


Eine  Chimäre 

Einheitspreis  für  alle  Sitze  (ausgenommen  Logen  und  Cercle  zu 

10,  6  und  4  Kronen)  3,  2  und  Eine  Krone  bei  den  Konzertkassen 

der  Heller'schen  Buchhandlung. 

Macht  nichts.  So  siehts  wohl  immer  mit  der  Einheit  aus. 
Der  einzige  Einheitspreis,  den  es  im  Chaos  gab,  war  noch  der 
Heller,  und  selbst  der  ist  ein  Phantom.  Der  Heller  ist  keinen 
Heller  mehr  wert. 


Er  ist  nie  seiner  Meinung 

Der  Kommentar,  Spalte  1:  Die  amtliche  Mitteilung,  Spalte  2  : 

....  Nach     der    amtlichen  Mit-  ;        ....  läßt  die  Verwendung  nur  in 
teilung  schließt  dies  die  Verwen-  1    jenen  Teilen   des    österreichischen 


düng  in  allen  jenen  Gebieten  aus, 
in  denen  die  politische  Verwaltung 
nicht  einem  militärischen  Koniman- 


Staatsgebietes  zu,  bezüglich  deren 
die  Befugnisse  der  politischen  Ver- 
waltung n  i  c  h  t  an  einen  militärischen 


dantsn  zusteht.  ...  |    Kommandanten  übertragen  sind. 

Unser  Ohr  hat  sich  daran  gewöhnt,  zu  allem  was  uns  die 
entsetzlichste  Stimme  auszurichten  hat,  auch  noch  ihren  Kommentar 
zu  hören.  Läßt  uns  Gott  oder  die  Regierung  etwas  sagen,  so 
bestellt  es  der  jüdische  Dienstmann  nicht  nur,  sondern  wiederholt 
es  auf  seine  Art  und  immer  schon  vor  der  Botschaft  selbst.  Das 
kann  dann  so  werden:  Jener  kommt  atemlos  gelaufen  und  sagt  »Sie 
müssen  nämlich  wissen,  er  meint  nämlich  —  —  <.  >Wer?  Was?« 
>Lassen  Sie  mich  ausreden,  er  meint,  Sie  sollen  —  — «  »Ich 
verstehe,  das  ist  unangenehm,  aber  geben  Sie  den  Brief  her  und 

schaun  Sie,  daß  Sie  weiterkommen.«  >Er  meint  also und  hier  hat 

er  es  aufgeschrieben,  sehn  Sie,  so  seht  das  aus.«  »Hier  steht  doch 


67 


das  gerade  Gegenteil !  Ja  was  haben  Sie  denn  liineinzuschauen,  seien  Sie 
froh,  daß  Sie  selbst  nicht  — ,  ich  bin  schön  erschrocken  und  jetzt 
stellt  sich  heraus,  Sie  Trottel  — «.  »Entschuldigen  Sie,  Herr  Dokter,  bei 
so  einer  wichtigen  Nachricht  kann  einem  das  schon  passieren.« 
»Abfahren!«  »Eine  gute  Partie  hätt  ich  noch  für  Sie  Herr  Dokter!  — « 


Der  Rausch  der  Titel 

Das  Schönste  sind  doch  die  Titel.  Oder  eigentlich  die  Unter- 
titel. Im  Abendblatt  nämlich,  wo  er  so  gern  >in  sich  hineinhört« 
und  aus  sich  herausredt.  Früher  v/ar  er  gar  lebhaft: ». .  und  . .  und  Vor- 
stoß gegen  einen  russischen  Flügel  und  Hineinwerfen  in  die 
masurischen  Sümpfe.«  Das  war  keine  Meldung,  sondern  ein  Kom- 
mando und  man  sah  und  hörte  förmlich,  wie  er  es  diktierte,  und 
schon  waren  sie  drin  in  den  masurischen  Sümpfen.  Jetzt  setzt  er 
ganz  ruhig  an.  Etwa:  »Die  Affäre  der  Lusitania.«  Darunter  aber: 
»Übertreibung  der  ganzen  Angelegenheit.«  Um  das  aus- 
zusprechen braucht  man  die  Hand  und  muß  den  Kopf  einige  Mal 
bewegen,  etwas  gereizt  über  eine  Störung,  deren  Grund  man  aber 
doch  nicht  ganz  übersehen  kann;  wie:  laßt's  mich  aus,  ich  hab 
andere  Sorgen.  Das  Wort  »ganz«  ist  eigentlich  ein  Attribut  von 
»Übertreibung«,  eine  Steigerung  dieser,  und  gehört  gar  nicht  zur 
»Angelegenheit«,  die  ja  ohnedies  als  ganze  hingenommen  werden 
muß.  Aber  man  kennt  den  Ton:  anstatt,  daß  ihm  der  Krieg  schon 
sehr  fad  sei,  sagt  er,  der  ganze  Krieg  sei  ihm  schon  fad.  Aber  der 
ganze  Text  ist  nicht  für  den  Leser,  sondern  für  den  Hörer 
geschrieben;  und  vor  allem  diese  übertriebenen  Titel.  Es  ist  der 
persönlichste  Schrei,  der  je  aus  Druckerwerk  in  die  Welt 
gedrungen  ist.  Langweilig  ist  diese  Lektüre  nicht;  um  bei  ihr  einzu- 
schlafen, müßte  man  sich  schon  die  Ohren  zuhalten.  Nur  ein 
purer  Zufall  ist  es,  daß  wir  nicht  den  Titel  gehört  haben: 
»Die  Einnahme  von  Erzerum«,  mit  dem  Untertitel:  »Nicht  der 
Rede  wert.«  Oder  es  heißt  etw'a:  »Die  Konferenzen  in  Rom.« 
Darunter:  »Kühle  Aufnahme  in  Paris.«  Und  gleich  wieder: 
»Kühle  Antwort  in  der  Duma.«  Man  glaubt  gar  nicht,  wie 
schwer  dieses  »Kühl«  auszusprechen  ist.  Kühl  ist  eine  überaus 
jüdische  Kopfbewegung,  womit  zugleich  der  Feind  »gedeftet«  und 
unsere   Leute   beschwichtigt   werden.    Für  Anfänger,   die  sich  im 


bü 


Jüdeln  ausbilden  wollen  —  was  sehr  bald  notwendig  sein  wird 
und  in  den  Schulen  obligat  werden  soll  — ,  ist  dieser  Kurs,  zwei- 
mal täglich,  eine  nicht  genug  zu  empfehlende  Gelegenheit.  Sowohl 
in  Bezug  auf  die  »Stimmungen«  wie  in  deren  korrekter  Aussprache 
bietet  diese  Methode  alles,  was  heutzutag  von  einem,  der  im 
praktischen  Leben  eine  Rolle  spielen  will,  verlangt  wird.  Die  text- 
lichen Erläuterungen  sind  überaus  lehrreich,  aber  die  Titel  allein 
sind  so  einprägsam,  daß  man  mehr  profitiert  als  wenn  man  ein 
Semester  auf  der  Börse  zugebracht  hätte.  Ganz  persönlich 
sind  aber  die  Titel,  wenn  ihnen  überhaupt  keine  Nachricht  folgt, 
sondern  nur  die  5676  te  Wiederholung  der  Gewißheit,  Überzeugung, 
Hoffnung,  Aussicht,  Möglichkeit,  daß  »sie«,  jenne,  zerschmettert, 
zerbrochen,  zertreten,  zermalmt,  ausdividiert  sind,  daß  sie  mit  einem 
Wort  auch  schon  genug  haben  und  daß  »die  Sorge  nagt«  oder 
es  wenigstens  im  Gemäuer  zu  rieseln  beginnt.  Sie  waren  nämlich 
zuerst  ganz  hin,  so  daß  kein  Hund  mehr  einen  Bissen  von  ihnen 
genommen  hat,  vor  Abscheu  über  »die  Verderbtheit«,  dann  waren  sie 
so  gut  wie  fertig,  dann  waren  sie  alle  schon  verdrossen,  später  hat 
sich  der  Zweifel  ausgebreitet,  jetzt  sind  sie  auch  nicht  mehr  das, 
was  sie  einmal  waren,  rosig  ist  ihre  Laune  grad  auch  nicht,  eine 
gewisse  Herabstimmung  und  Nachdenklichkeit  ist  bereits  zu 
bemerken,  man  sieht,  sie  sind  schon  sehr  gedeftet,  »und  vielleicht« 
werden  sie  bald  genug  haben.  Sie.  Wir  natürlich  nicht.  Denn  so 
leben  wir,  so  leben  wir  alle  Tage,  nun  schon  seit  fast  zwei  Jahren. 
Neulich  aber  kam  eine  Auffrischung: 

Beginn  einer  großen  Zeit. 
Die  Blicke  der  Völker  nach  dem  Westen  gerichtet. 
Was  folgte,  war  nicht  etwa  die  Meldung,  daß  die  große  Zeit  soeben 
begonnen  habe,  sondern  der  Monolog  eines  verstörten  Seelenlebens. 
Es  sind  nicht  Telegramme,  sondern  Visionen;  Umsetzungen  eines 
furchtbaren  Dialekts  in  Gesichte,  die  man  wieder  hören  muß,  und 
wieder  und  noch  einmal.  Es  war  kein  Bericht.  Denn  die  nüchterne 
Wirklichkeit  gibt  doch  zu  erkennen,  daß  die  große  Zeit  seit 
Kriegsausbruch  da  ist  und  darum  nicht  erst  im  neunzehnten 
Monat  beginnen  kann,  was  ja  eine  Fopperei  wäre,  und  daß  es 
in  einer  großen  Zeit  auch  nicht  mehrere  große  Zeiten  geben  kann, 
sondern  zum  Glück  nur  eine. 


t)*) 


Die  Einbildungskraft 

Frauen  mit  verweinten  Augen  sind  in  den  Straßen  von 
Paris  zu  sehen.  Sie  denlten  an  die  Sclilacht  auf  beiden  Ufern  der 
Maas,  und  Bangiglceit  überfällt  sie,  weil  dort  die  Jugend  von  Frankreich  in 
Kämpfen,  in  denen  zwei  große  Völker  um  ihre  Zukunft  ringen,  niedergemäht 
wird.  Die  Landleute  erzählen,  daß  sie  das  Rollen  der  Schüsse  aus 
schweren  JVlörsern  in  einer  Eniiernung  von  mehreren  hundert  Kilometern 
hören.  Vielleicht  ist  es  nur  Sinnestäuschung,  obgleich  bekannt  ist, 
daß  bei  günstiger  Windrichtung  der  Lärm  auf  den  Schlachtfeldern  weit- 
hin vernehmbar  wird.  Was  die  Ohren  nicht  vermögen,  kann  die  Ein- 
bildungskraft vortäuschen.  Die  Frauen  von  Paris  horchen 
nach  dem  Osten,  wo  die  Blüte  des  Volkes  vergeht  und  jeder 
Augenblick  vielen  Herzen  tiefe  Wunden  schlägt  und  den  Gatten,  den 
Sohn,  den  Bruder  hinwegrafft  .  .  . 

Die  Einbildungskraft  glaubt  —  nein,  »schwelgt  in  der  Vor- 
stellung« — ,  daß  nur  die  Mütter  derer,  die  in  einer  besiegten  Armee 
fallen,  verweinte  Augen  haben,  die  andern  aber,  deren 
Söhne  im  Angriff  gefallen  sind,  pure  Freudentränen  vergießen, 
wiewohl  selbst  deren  Enkel  schon  wissen,  daß  der  Sieg  zuweilen 
mehr  Opfer  kostet  als  die  Niederlage.  Die  Einbildungskraft  »stellt 
sich  vor«,  daß  nur  eine  Armee  kämpft,  nämlich  die  des  Feindes, 
und  daß  Frauen  nach  dem  Westen  (wohin  nur  die  Blicke  ge- 
richtet sind)  überhaupt  nicht  horchen  können,  erstens  weil 
die  Mörserschüsse  in  dieser  Richtung  nicht  vernommen 
vterden  und  zweitens  weil  es  da  nichts  zu  horchen  gibt, 
höchstens  aus  Neugierde,  und  neugierig,  wie  sie  schon  sind, 
sind  schließlich  die  Frauen  überall.  Aber  daß  die  Trottelei  noch 
nicht  niedergemäht  oder  hinweggerafft  ist,  sondern  täglich  neu 
ersteht,  zeigt  doch,  was  für  ein  Kinderspiel  die  Verwüstung  ist 
verglichen  mit  dem,  was  uns  bleibt.  Denn  weinende  Frauen, 
die  wohl  ein  Argument  gegen  den  Krieg  wären,  gegen 
einen  der  kriegführenden  Teile  ins  Treffen  zu  führen,  gelingt  nur 
einer  ausdauernden  Journalistik,  der  zwar  das  Feuer  das  Hirn 
verbrannt  hat,  deren  gewalttätige  Schmockerei  aber  das  Ereignis 
überleben  wird. 


Ein  Demosthenes  gesucht 

Der  Korrespondent  der  »Neuen  Freien  Presse«  in  Saloniki  ist 
auf  Befehl  des  französischen  Oberkommandanten  General  Sarrail  ver- 
haftet worden.  Das  Schicksal  dieses  Blattes  ist  es  schon  wieder- 
holt gewesen,    daß  die   Persönlichkeiten,  die  ihm  angehören,  die 


70 


Mitarbeiter  und  Korrespondenten,  von  den  Wirkungen  der 
Weltbegebenheiten  unmittelbar  und  persönlich  getroffen 
werden  .... 

Aber  was  nützen  alle  Hinauswürfe,  wenn  der  Betrieb 
weiter  geht.  Weltbegebenheiten,  die  nicht  einmal  die  Kraft  haben, 
da  etwas  zu  ändern,  sind  nicht  die  richtigen.  Ein  Weltkrieg  müßte 
doch  mindestens  und  zu  allererst  einem  sogenannten  Weltblatt  ein 
Ende  bereiten,  sei  es  durch  Verbot,  sei  es  durch  Bomben  oder 
wenigstens  dadurch,  daß  er  dem  Publikum  Mut  zur  Verachtung  macht. 
Statt  dessen  werden  die  Persönlichkeiten  üppig  und  beklagen  sich 
noch  darüber,  daß  der  Feind  sie  nicht  ganz  so  wichtig  nimmt  wie 
der  Abonnent.  Sie  erhoffen  sich  vom  Frieden  eine  Besserung 
dieser  Zustände: 

....  Der  glorreiche  Krieg,  den  wir  in  siebzehn  Monaten  geführt 
haben,  muß  jedem  einzelnen  von  uns  den  Vorteil  bringen,  sich  überall 
in  der  Welt,  wo  immer  der  Beruf  oder  die  Neigung  ihn  hinbringt,  sicher 
zu  fühlen.  Gerade  mit  einer  Spitze  gegen  Griechenland  .  .  hat  Lord 
Palmerston  in  seiner  Verteidigungsrede  das  Wort  gebraucht,  der  Eng- 
länder müsse  in  jedem  Winkel  der  Erde  das  Gefühl  haben  wie 
einst  im  Altertum,  da  es  keinen  besseren  Schutz  und  Schirm  gab, 
als  sagen  zu  können:  Ich  bin  ein  römischer  Bürger.  Die  gleiche 
Empfindung  sollen  auch  die  Bürger  von  Österreich  und  von  Ungarn  haben. 

Mit  einem  Wort,  der  glorreiche  Krieg  soll  dafür  geführt 
worden  sein,  daß  der  Nordau  oder  gar  der  Frischauer  wieder  in 
Paris  leben,  was  heißt  leben,  sich  sicher  fühlen  kann  wie 
einst  im  Altertum  und  den  geringsten  Versuch  der  Einschüchterung 
nur  mit  der  Antwort  abzuwehren  braucht :  Ich  bin  ein  römischer  Bürger. 
Daß  Griechenland  den  Korrespondenten,  der  sich  selbstredend 
durch  »Besonnenheit«  —  ein  Perikles!  —  hervorgetan  hat,  nicht 
besser  zu  schützen  wußte,  ist  ein  Kriegsgrund,  den  man  getrost 
zu  den  übrigen  legen  könnte. 

.  .  .  Aber  seine  jetzige  Neutralität,  die  sich  beständig  selber 
preisgibt,  fängt  an  unbegreiflich  zu  werden.  Ein  Demosthenes  wäre 
nötig,  um  Einsicht  und  Klarheit  zu  schaffen.  Wir  hoffen,  daß  unser 
Ministerium  des  Äußern  die  Angehörigen  der  Monarchie  mit  allem 
Nachdruck  schützen  werde. 

Wo  nimmt  man  nur  schnell  im  Ministerium  des  Äußern 
einen  Demosthenes  her,  der  die  Entfernung  des  Perikles  wett- 
machen könnte?  Am  besten,  man  versucht  es  mit  dem  Münz,  der 


schon  einmal  in  einer  griechischen  Angelegenheit  erfolgreich  inter- 
veniert hat  und  der  im  Weltkrieg  ohnedies  ungebührlich  ver- 
nachlässigt wird. 


Das  neue  Jahr 

ist  so  begrüßt  worden.  Vorn: 

Bekenntnis  zum  Optimismus. 

Hymnen  tönen  im  Herzen.  Das  Ausdrucksvermögen  fehlt, 
sie  in  Worten  ausklingen  zu  lassen,  aber  Dichter  solllen  in  rauschenden 
Versen  sagen,  daß  diesem  Lande,  daß  dem  deutschen  Volke  beschieden 
war,  in  einem  Kriege,  der  an  das  Leben  ging,  gebietend  zu  sein. 
Hymnen  tönen  im  Herzen,  weil  die  Sicherheit  in  unseren  Wohn- 
stätten von  keinem  Feinde  gestört  wird,  fast  überall  die  Äcker  bebaut, 
das  Handwerk  betrieben  werden  kann  und  die  Menschen,  von  Beschwer- 
lichkeiten, Kümmernissen,  Not  und  Trauer  heimgesucht,  dennoch  zu- 
kunftsfroh zu  dem  Tage  sich  hinüberdenken,  an  dem  zur  Erfüllung  und 
Erlösung  reifen  muß,  was  jetzt  sprießt  und  wächst.  Erinnert  euch  der 
Senke  beim  Duklapaß.  .  .  .  herrlich  ist  alles  geworden,  frei  ist  das  Land, 
zurückgeworfen  sind  die  Feinde,  ausgemerzt  die  serbischen  Truppen, 
zerstört  die  russischen  Festungen  ....  Die  Gedanken  kreisen  um  die 
Zukunft,  um  den  Feierabend,  aber  reich  ist  auch  der  Segen  in  der 
Gegenwart.  .  .  .  Rußland  und  Serbien  besiegt  und  Italien  gedemütigt! 
Hymnen  klingen  im  Herzen.  .  .  .  Der  Philosoph  Fichte  war 
zum  Landsturm  eingerückt,  und  die  Ernennung  zum  Offizier  halte 
er  mit  den  Worten  abgelehnt:  Hier  tauge  ich  nur  zum  Gemeinen.  Er  machte 
seine  Übungen  gemeinsam  mit  Buttmann,  berühmt  durch  seine 
Forschungen  im  griechischen  Altertum,  mit  dem  Geschichtsschreiber 
Rühs  und  dem  Theologen  Schleiermacher.  Buttmann  und 
Rühs  konnten  nicht  erlernen,  rechts  und  links  zu  unter- 
scheiden, und  seufzten,  wenn  sie  die  Wendung  wieder  einmal  verfehlt 
und  den  Spott  zu  ertragen  hatten,  das  sei  zu  schwer.  Diese  Zeit, 
die  so  viel  Ähnlichkeit  mit  unserer  hat,  reizt  die  Neugierde, 
und  vielleicht  kann  die  Vergangenheit  auf  die  Frage  antworten: 
Wie  ist  der  Verlauf  von  wirtschaftlichen  Krisen,  die  von 
einem  Kriege  hervorgerufen  werden?  Der  Vergleich  führt 
zu  auffallenden  Übereinstimmungen  bis  in  die  Einzelheiten... 
Erleben  wir  jetzt  nicht  das  Schöpfungswunder  in  der 
Stickstoffindustrie?  .  .  .  Wie  ein  Rausch  der  Hoffnungen  wird  es  durch 
unser  Land  ziehen  ....  Das  Bekenntnis  zum  Optimismus  hat  jedoch  noch 
eine  Voraussetzung  ....  nur  starke  Männer,  die  alles  von  sich  werfen,  was 
tot  ist  in   der  Vergangenheit    und    sich    den    Trieben    der    Gegen- 


—  72  — 


wart  hingeben  wie  die  Braut  dem  Bräutigam  .  .  nur  sie  können 
die  Krise  überwinden  ....  Die  Wirkungen  eines  politischen  und  wirt- 
schaftlichen Großbetriebes  können  wir  nur  ahnen  und  die  Ziffern 
selbst  durch  die  Einbildungskraft  uns  nicht  vorstellen  ....  Der 
Krieg  hat  besondere  Absatzstockungen  und  der  Friede  auch,  und  so 
schwingeo  die  Einflüsse  fort  und  der  Wechsel  braucht  eine  Leitung 
des  Staates,  die  in  das  Volk  hineinhorcht,  aus  ihm  heraushört 
nnd  in  den  zittrigen  Augenblicken  dieser  Veränderung  in  den  Bedürf- 
nissen und  in  der  Erzeugung  auf  der  Höhe  ihrer  Pflicht  ist.  Das  Jahr 
der  Erfüllung  kommt!  .  .  Rußland  gebeugt,  Serbien  zertreten,  Italien 
beschämt!  Die  Menschheit  ist  für  Jahrzehnte  entlastet,  das  Bohren 
in  den  Nerven  wird  nicht  mehr  empfunden  werden,  und  das  muß 
ein  Wohlgefühl  verbreiten  und  die  Einleitung  zu  Abschnitten  sein, 
in  denen  das  Staunen  über  die  wirtschaftliche  Entfaltung  uns  wieder 
gefangennimmt  .... 

Hinten : 

Theodor. 

Um  Gotteswillen  denke  Deiner  Kinder  und  das  Geschäft. 
Auflösung  in  Aussicht,  wenn  Du  nicht  in  einigen  Tagen  dort  bist.  Habe 
Mut  und  Vertrauen  zu  mir,  die  alles  verzeiht.  Kann  alles  noch  jetzt 
geregelt  werden,  nur  sofort  heimfahren.  Lese  > Fremdenblatt«. 


Und  noch  ein 

Bekenntnis  zum  Optimismus 

In  Cetinjehundertvierundfünfzig  Geschütze  und  zehntausend 

Gewehre  erbeutet,    Bestürzung  im  Vierverbande,   günstiger 

Verlauf  der  russischen  Neujahrsschlacht  in  Ostgallzien  und 

an  der  Grenze  von  Beßarabien. 

Wien,  15.  Januar. 
Der  verstorbene  Generalsekretär  der  Österreichisch- 
ungarischen  Bank,  Wilhelm  v.  Lucam,  ist  nahezu  vergessen. 
Der  jetzige  Gouverneur,  Herr  v.  Popovics,  hat  eine  Vergangenheit, 
die  zu  einer  Zukunft  berechtigt,  und  wir  begegnen  ihm  vielleicht 
dereinst  an  einer  Stelle  in  der  Monarchie,  wo  der  Gesichtskreis  noch 
weiterund  die  Verantwortungen  noch  ernster  sind.  .  .  .  Das  Bekenntnis 
zum  Optimismus  muß  ähnliche  Hilfsmittel  z  ur  Begründung 
anwenden.  Wir  stellen  uns  den  Offizier  und  den  Soldaten  vor,  der 
von  Cattaro  über  Geröll  und  Felsblöcke,  in  den  höheren  Lagen  über 
Eis  und  Schnee,  beständig  von  den  Geschoßen  des  Feindes  bedroht, 
auf  den  Lovcen  gestiegen  ist.  ...   Er  muß  ein  Anderer  geworden  sein   .  .  . 


Das  üre  zB  koflea  aHdOTM  Ah  so 
ist.    ckm 

D«5 


Icr&c 


Dcr 


Dbt 


feeia^B^Mrial 


Um^ifm^tA  öKg^aäm. 


r>»  ••!««.  Ter4«a 


ia  4ca  Aacca   4ic  Ge4] 


Vai^BDiti^    ZB 


74 


Demel  gehen  werde,  wo  eine  sehr  versierte  Gedankenleserin,  die 
sich  besonders  für  die  Champagne  interessiert,  auf  ihn  wartet,  und  hier- 
auf, um  mildem  angebrochenen  Abend  etwasanzufangen,  zurCsardas- 
fürstin,  das  heißt,  wenn  man  durch  Protektion  noch  eine  Karte  kriegt, 
denn  es  soll  dort  von  Leuten  wimmeln,  die  sich  Gedanken  über 
Verdun  machen. 


Zur  Darnachachtung 

»Das  k.  k.  Ministerium  für  Landesverteidigung  fand  mit  Erlaß 
vom  12.  Juli  1915,  Nr.  863/XIV,  im  Einverständnis  mit  dem  k.  u.  k. 
Kriegsministerium  zu  verfügen,  daß  im  Hinblick  auf  den  dermaligen 
Kriegszustand  —  in  gleicher  Weise,  wie  bereits  seinerzeit  mit  dem  Er- 
laß des  genannten  k.  k.  Ministeriums  vom  13.  Jänner  1915,  Dep.  XIV. 
Nr.  1596  ex  1914,  h.  o.  Erlaß  vom  18.  Jänner  1915,  ZI.  1068,  hin- 
sichtlich der  Begünstigung  nach  §  31  und  32  W.-G.  (als  Familienerhalter) 
angeordnet  —  auch  der  nach  §  109  I,  1.  Abs.,  §  118  I  und  §  121  I 
W.-V.  I.,  im  Juni  1915  zu  erbringende  Nachweis  des  Fortbestandes  der 
die  Begünstigungen  nach  §  30,  §  32  (als  Landwirt)  und  §  82  W.-O. 
(§  32  W.-G.  von  1889)  begründenden  Verhältnisse  bis  auf  weiteres  auf- 
gehoben wird,  wobei  die  bezeichneten  Begünstigungen  einstweilen  — 
die  Begünstigungen  nach  §  30  und  nach  §  32  mit  der  gemäß  §  108  I, 
zweiter  Absatz  W.-V.  I,  dem  termingemäß  erbrachten  Fortbestandsnach- 
weis zukommenden  Wirkung  —  als  fortbestehend  anzusehen  sind.« 


Unkenntnis  der  Zeitung  schützt  nicht  vor  Strafe 

»Je  einen  Tag  Gefängnis  erhielten  zwei  Leute  einer  Gemeinde  bei 
Osnabrück,  weil  sie  entgegen  der  verfügten  Beschlagnahme  einige  Pfund 
Schafwolle  verkauft  hatten.  Sie  brachten  zu  ihrer  Verteidigung  vor,  die 
Verordnung  sei  ihnen  unbekannt  geblieben,  da  sie  in  der  Gemeinde 
nicht  in  der  üblichen  Weise  bekanntgemacht  worden  war:  Zeitungen 
lesen  sie  nicht.  Das  Gericht  erklärte  aber:  ,Wer  jetzt  keine  Zeitung 
liest,  handelt  fahrlässig  und  kann  sich  bei  Kriegsverordnungen  auf 
Unkenntnis,  die  ihn  sonst  straffrei  machen  würde,  nicht  berufen.'« 

Unkenntnis  des  Gesetzes,  das  nicht  in  der  Zeitung  steht, 
würde  straffrei  machen.  Das  Delikt  besteht  also  nicht  in  der  Über- 
tretung des  Gesetzes,  sondern  in  der  Unterlassung  des  Abonnements. 
Die  wird  nicht  belohnt,  sondern  bestraft. 


/o 


Die  Amerikaner  sind  ungebildet  und  eingebildet 

Durch  die  gesamte  in  jener  Sprache  geschriebene  Presse, 
von  welcher  die,  die  sie  sprechen,  behaupten,  es  sei  die  deutsche, 
geht  eine  Notiz  »Jung-Amerikas  Bildung»,  in  der  das  Ergebnis 
einer  mit  amerikanischen  Studenten  vorgenommenen  Prüfung  dem 
Hohn  der  gebildeten  Mitteleuropäer  preisgegeben  wird.  An  die 
Studenten  waren  Fragen  gestellt  worden,  »die  sich  auf  den  Welt- 
krieg und  seine  Ereignisse  beziehen«,  und  die  Antworten  sind  so 
ungebildet  ausgefallen,  daß  das  vernichtende  Urteil  gefällt  werden 
konnte,  die  jungen  Leute  schienen  nur  Sinn  für  Sport  zu  haben, 
und  »sich  um  die  Zeitungen  und  ihre  Neuigkeiten  nicht  zu 
kümmern«.  Der  »Wissensstand  dieser  Vertreter  angelsächsischer 
Kultur«,  wie  ihre  Unbildung  mit  beißender  Ironie  bezeichnet 
wurde,  soll  sich  darin  manifestiert  haben,  daß  sie  nebst  Irrtümern  über 
die  geographische  Lage  von  Saloniki  und  Montenegro  zum  Teil  von 
den  Persönlichkeiten  der  Heerführer  und  Politiker  keinen  blauen  Dunst 
hatten  und  einer  sogar  der  Meinung  war,  der  Name  des  Königs  von 
Bulgarien  sei  August.  Die  Zeitungsleute,  die  dieses,  klägliche 
Resultat  verzeichnen,  geben  mit  einem  unterdrückten :  »Wie  wollen 
Sie  denn  da  ins  Leben  hinaustreten?«,  der  Überzeugung  Ausdruck, 
daß  »ein  aufgeweckter  Mittelschüler  von  13  Jahren  besser  Bescheid 
im  Weltkrieg  zu  wissen  scheint  als  diese  Blüte  der  amerikanischen 
Universitätsjugend«.  Das  ist,  wenn  es  sich,  wie  anzunehmen,  auf 
die  europäischen  Mittelschüler  bezieht,  ohne  Zweifel  richtig,  und 
bekanntlich  läßt  sich  ja  sogar  die  Oricntiertheit  der  Volksschulen 
über  den  Weltkrieg  nicht  in  Abrede  stellen,  sondern  im  Gegenteil 
beweisen.  Aber  nicht  nur  die  deutsche,  auch  die  englische 
und  die  amerikanische  Presse  haben  den  beschämenden 
Vorfall  erörtert,  und  ein  New  Yorker  Blatt,  das  sich  für  Munitions- 
lieferungen offenbar  mehr  interessiert  als  die  amerikanischen 
Studenten,  beklagte,  daß  diesen  »das  meiste  vom  menschlichen 
Fortschritt  unbekannt«  sei,  ein  Zugeständnis,  von  dem  die  mittel- 
europäische Presse  gerne  Notiz  genommen  hat.  Zu  dieser  Debatte 
erhalte  ich  nun  von  einem  in  München  lebenden  Amerikaner 
das  folgende  Nachwort: 

Daß  wir  Amerikaner  in  wenigstens  dem  einen  oder  dem  andern 
Punkt  etwas  vor  den  so  gebildeten  Deutschen  voraushaben,  fühlte  ich 
immer  nur  unbestimmt;    liier  habe  ich  aber  die  Gewißheit.  Wohl  haben 


"  /( 


wir    die    meisten,    die    feilsten,    und    die    am    schlechtesten   redigierten 
Zeitungen,  aber  —  wir  lesen  sie  nicht! 

Ich  hoffe,  daß  Sie  mir  diese  Zuschrift  verzeihen  werden:  ich 
weiß  ja  wie  ungern  Sie  von  Ihren  Lesern  solche  empfangen.  Doch  konnte 
ich  dieses  eine  Mal  der  Versuchung  nicht  wiederstehen,  Ihnen  den  Aus- 
schnitt zuzusenden.  ... 

Das  ist  wieder  so  ein  Stück  echt  amerikanischer  Groß- 
sprecherei. Denn  die  meisten  Zeitungen  mögen  sie  ja  haben. 
Aber  die  feilsten  und  die  am  schlechtesten  redigierten  haben  wir! 


Ein  Freund  der  Bescheidenheit 

Herr  Felix  Saiten,  der  sich  die  ersten  Sporen  im  Balkanzug 
verdient  hat,  bringt  etwas  aus  Konstantinopel  mit: 

»...Die  Büffel  und  Pferde  brachen  erschöpft  zusammen, 
aber  unsere  braven  Kanoniere,  in  deren  Schar  alle  österreichisch-ungarischen 
Nationalitäten  vertreten  sind,  arbeiteten  noch  die  ganze  Nacht  durch, 
und  am  24.  Dezember  um  die  Mittagsstunde  konnten  wir  bereits  dem 
Feinde  unsere  ersten  Weihnachtsgrüße  entbieten....  Den 
Abzug  des  Feindes  sahen  wir  mit  an,  auch  den  Angriff  der  türkischen 
Truppen,  die  unter  dem  Donner  der  Artillerie  die  Franzosen  und  Eng- 
länder bis  auf  den  letzten  Rest  ins  Meer  warfen  .  .  .  .« 

Das  hat  er  im  Teesalon  des  Pera-Palace-Hotels  erfahren, 
wo  die  Offiziere  »staubbedeckt,  gleichsam  noch  von  dem  Dampf 
der  Schlacht  umwallt«,  ihm  entgegenkamen,  um  ihm  zu  berichten. 
Natürlich  hat  er  auch  mit  Enver  Pascha  gesprochen.  Und  eine 
Abenddämmerung  auf  der  Perabrücke  -  ein  Naturschauspiel,  das 
jetzt  vor  Kriegsreportern  aufgeführt  wird  —  benützte  er,  um  einen 
türkischen  Offizier  nach  Stambul  zu  begleiten.  Das  Marmarameer 
erglänzte,   die   Linien   der  Hügel   verschwammen   und   er  erfuhr: 

»Wissen  Sie«,  sagte  der  türkische  Offizier,  »es  ist  wunderbar,  wie 
die  Österreicher  und  Ungarn  da  draußen  geschossen  haben.  Die 
feindlichen  Schützengräben  waren  stellenweise  nur  fünf  Meter  von 
den  unseren  entfernt,  und  da  feuerten  die  österreichisch-ungarischen 
Batterien  sogenau  hinein,  daß  unsere  Soldaten  einfach  zuschauen 

konnten <  Ich  unterbrach  ihn:  »Davon  haben  unsere  Herren 

nichts  erzähltl«  —  >Ach  was«,  entgegnete  er  lebhaft,  »die  Öster- 
reicher und  die  Ungarn  erzählen  überhaupt  zuwenig...,  immer... 
sie  sind  zu  bescheiden,  c 


77 


Und  immer,  wenn  die  Landsleute  zu  bcsclieiden  sind,  gibt 
Herr  Saiten  es  in  die  Zeitung,  Es  ist  jammerschade,  daß  das  Ensemble 
heimatlicher  Bescheidenheit  durch  die  Referenten  gestört  wird,  die 
nicht  wie  jene,  das  Licht  unter  den  Scheffel,  sondern  den  Namen 
unter  den  Artikel  setzen,  sich  mit  ihrer  ganzen  Persönlichkeit 
neben  die  Batterien  stellen  und  einfach  zuschauen  können,  wie 
geschossen   wird.    Hinein,    statt   daneben.    Daneben   statt  hinein. 


Wenn  es  nur  das  Ausland  nicht  erfährt! 

.  .  .  Wenn  ich  an  solchen  übertriebenen  Märztagen  durch  den 
Stadtpark  gehe  und  das  erste  zarte  Grün,  das  schfichterne  Knospen  der 
Sträucher  sehe,  so  wirkt  das  auf  mich  jedes  Jahr  sehr  ergreifend,  weil 
ich  da  merke,  daß  es  auch  für  unsereinen  Zeit  ist,  zu  knospen,  nämlich 
Krawatten  und  Hemden  zu  kaufen  und  zu  einigen  Anzügen 
Maß  nehmen  zu  lassen. 

Uniformen?  Gott  beschütze.  Aber  der  liebe  Schneck  will 
durchhalten. 

,  .  .  Jetzt,  wo  alles  umlernt,  sich  läutert,  einschränkt  und  nach 
der  Decke  streckt,  könnte  ich  es  wirklich  auch  wieder  einmal  ver- 
suchen, in  den  jahrelangen  sorglosen  Schlendrian  meines  Privatlebens 
ein  bißchen  Ordnung  zu  bringen  .  ,  .  .  Man  kann  auch  ganz  gut  zu 
Hause  kalt  nachtmahlen  ....  und  in  das  Herrenmodegeschäft  trete  ich 
mit  der  festen  Absicht  ein,  mir  nur  drei  Zephirhemden  machen  zu 
lassen  .... 

Und  das  wird  im  letzten  Winkel  einer  schäbigen  Seele 
nicht  nur  gefühlt,  von  Kommislippen  nicht  nur  gemurmelt, 
nein,  in  dem  unsere  Kultur  vor  der  Welt  vertretenden  Organ 
1916  als  Sonntagsplauderei  gedruckt.  Wie  schützen  wir  uns 
aber  dagegen,  daß  es  der  Feind  als  Probe  unserer  Gemütsart  und  — 
um  in  unserem  Sinne  zuzugeben,  daß  wir  unsere  Munterkeit 
nicht  eingebüßt  haben  —  in  eine  der  vielen  jetzt  verpönten  Sprachen 
übersetzt?  Times,  Figaro,  Nowoje  Wremja,  Corriere  della  Sera 
sollten  wirklich  das  dumme  Erfinden  von  Lügen  über  uns  auf- 
geben und  sich  damit  begnügen,  ihre  Informationen  aus  der 
Neuen  Freien  Presse  zu  nehmen.  Und  in  Anbetracht  dieser  Möglich- 
keit sollte  wieder  die  Behörde  statt  der  Einfuhr  feindlicher  Blätter, 
die  uns  ja  nicht  schaden  können,  solange  sie  nicht  die  Wahrheit 
über  uns  sagen,  die  Ausfuhr  der  unsrigen  verbieten. 


-    78 


Ein  Fauxpas 

.  .  .  Vor  allem  aber  wird  der  sogenannten  >Mehlhamsterei« 
ein  Ende  bereitet.  Dieses  Mehlhamstern  ist  im  Laufe  der  Zeit  zur  allge- 
meinen Völkerpsychose  der  Zentralmächte  geworden  .... 

Wenn  die  Lügen  der  Entente- Presse  alt  werden,  werden 
junge  Wahrheiten  der  unsrigen  daraus. 


Die  europäische  Melange 

Drei  Nachrichten  hintereinander,  mit  den  Titeln: 
Genügender  Kaffeevorrat  in  Deutschland. 

Milchmangel  in  Frankreich. 
Stürmische  Zuckernachfrage  in  England. 

»Was?  Ihr  habt  keine  Milch?  Wir  haben  genug  Kaffee!«  »Kaffee 

haben   wir  auch.    Habt  ihr  denn  Milch?«     »Wir   haben  Kaffee  in 

Hülle   und    Fülle.    Ihr  scheint   keinen  Zucker   zu  haben!«     »Wir 

haben  auch  Kaffee.    Ihr  scheint   auch    keinen  Zucker  zu   haben. '< 

»Wir?    Wer  sagt  das?    Ihr  habt  keine  Milch  und  keinen  Zucker! 

Wir  aber  haben  Kaffee!« 

*  * 

* 

Aus  eiserner  Zeit 

....  Der  Komiteepräsident  hat  besonders  darauf  geachtet,  das 
Büffet,  welches  in  eigener  Regie  des  Komitees  durch  den  Oberbaurat 
Fieger  des  Ministeriums  des  Innern  in  liebenswürdigster  Weise 
besorgt  wurde,  in  einer  dem  Ernste  der  Zeit  und  dem  finanziellen 
Zwecke  der  Veranstaltung  entsprechenden  Weise  unter  Vermeidung 
jedes   überflüssigen  Luxus    nur  auf    das    notwendigste    zu    beschränken. 


Durchhalten! 

Professor  Marcell  Salzer  hat  am  Tage  der  Eroberung  des  Lovcen 
im  österreichisch-ungarischen  Hauptquartier  dem  Feldmarschall  Erzherzog 
Friedrich  und  seinem  Gefolge  im  intimen  Kreise  Kriegsdichtungen  öster- 
reichischer und  reichsdeutscher  Dichter  vorgetragen. 

Der  bulgarische  Konsul  in  Wien  Rudolf  Stiaßny  hat  der  Gemeinde 
Sofia  eine  Wehrmannstatue  zum  Zwecke  der  Benagelung  für  die  Witwen 
und  Waisen  gefallener  bulgarischer  Krieger  angeboten.  .  .  . 


79 


Der  Private  Eduard  Beer  in  Wien  erhielt  vom  Kabinett  des 
Königs  Ludwig  von  Bayern  für  einen  anläßlich  des  Geburtsfestes  des 
Königs  an  ihn  gerichteten  poetischen  Glückwunsch  ein  hetzliches 
Dankschreiben. 

Auf  Anregung  des  Reisemarschalls  Franz  Meißner  hat 
kürzlich  Frau  Anna  Sacher  vierzig  österreichisch-ungarische  und  reichs- 
deutsche  verwundete  und  rekonvaleszente  Soldaten  aus  dem  Rudolfsspital 
zu  einer  Jause  ins  Hotel  Sacher  geladen. 

Frau  Tiny  Schweitzer,  Wien-Hietzing,  hat  für  ihr  Gedicht  > Huldigung 
für  das  türkische  Heere  mehrfache  Anerkennungsschreiben  von  den 
verbündeten  Herrschern  und  aus  höchsten  Militär-  und  Diplomaten- 
kreisen erhalten. 

Der  Herzog  von  Anhalt  hat  dem  Professor  Marcell  Salzer  für 
Verdienste  im  Kriege  das  Friedrichskreuz  am  grün-weißen  Bande  ver- 
liehen, das  bisher  nur  Militärs  erhielten. 


Immer  feste  druff 

Reichsdeutscher  (evang.) 

Kaufmann,  gebildet,  Vertrau- 
ensstellung bei  Aktien-Gesell- 
schaft in  Deutschland,  40  er, 
kerngesund,  militärische 
Erscheinung,  grundsolid, 
arbeits-  und  lebensfreudig, 
Natur-  und  Kunstfreund,  ohne 
Anhang.suchtLebensgefährtin. 
Witwe  nicht  ausgeschlossen, 
möglichst  durch  Einheirat 
in  Geschäft  oder  Fabrik.  Ge- 
fällige Anträge  unter  Chiffre 
»W.  O.  650t  an  Rud.  Mosse 
Wien,  1.,  Seilerstätte  2.  3755 


Hinten  ist  international 

Herr  sucht 

spanischen  Un  terricht  gegen 
Französisch.  Antwort  unter 
Chiffre  )»S.  M.  Nr.  25.«  an 
das  Ankündigung«  -  Bureau 
dieses  Blattes. 


—  80 


Der  Schalk 

».  .  .  Dies  komplizierte  Gebilde  konnten  die  Franzosen  allerdings 
nicht  abbauen,  als  sie  sich  zur  Cote  Loraine  zurückzogen.  Dazu  hatten 
sie  es  zu  eilig.  So  fiel  der  ganze  »Laden«  mitsamt  dem  unversehrten 
Geschütz  und  tüchtigem  Vorrat  an  Munition  in  deutsche  Hände,  denn 
auch  diese  Granätlein,  von  denen  jedes  an  45  Kilo  wiegt,  erschienen 
bei  dem  schleunigen  »Partir«  als  unbequemes  Reisegepäck.  Noch  am 
24.  Februar  und  bis  in  den  frühen  Morgen  des  25.  hatte  das  Maul, 
das  immer  noch  drohend  aus  seinem  Betonpanzer  herauszulugen 
scheint,  nach  Conflans  hinübergespien.  Noch  am  letzten  Tag  wurden 
über  fünfzig  Geschosse  verknattert.  Das  war  sein  Schwanengesang. 
Dann  legte  der  Unhold  sich  schlafen,  wieder  wie  Fafner  in  seiner  Höhle.« 

*  * 

Ein  Wahrwort 

....  Sie  (die  Asche)  kann  daher  mit  dem  Müll,  der  aus  verun- 
reinigtem Staub  und  anderen  von  Miasmen  durchsetzten  Körpern  besieht, 
nicht  in  einem  Atem  genannt  werden.  .  .  . 

«  * 

• 

Die  Sammelwut  der  Dichter 

Von  den  Sammlungen,  die  unsere  Dichter  von  heute 
ihr  Eigen  nennen,  ist  die  Uhrensammlung  der  Marie  v.  Ebner-Eschen- 
bach  besonders  zu  nennen.  .  .  . 

Ja,  ist  denn  das  ein  Merkmal  oder  eine  Qewolinheit  der 
Dichter,  eine  Sammlung  ihr  Eigen  zu  nennen?  Sammeln  sie  außer  ihren 
Werken,  die  nicht  sehr  wertvoll  sind,  noch  etwas  anderes  ?  Gewiß, 
zum  Beispiel  fremde  Werke.  Nicht  immer,  um  s'c  -.u.  verwerten, 
sondern  nur  um  sie  zu  bewahren.  Wie  gleich  darunter  eine 
andere  Notiz  dartut,  in  welcher  von  einem  Schriftsteller,  der  sammelt, 
die  Rede  ist: 

Der  schwedische  Schriftsteller  Graf  Birger  Mörner  hat  in  seiner 
Bibliothek  auf  Schloß  Mauritzberg  eine  interessante  Handschriften- 
sammlung .... 

Was  sammle  denn  ich?  Zeitungsausschnitte,  und  das  ist 
eine  Leidenschaft.  Denn  sobald  ich  nur  irgendwo  das  Gesicht 
eines  Trottels  zu  erkennen  glaube,  gleich  muß  ichs  haben.  Selbst 
dann,  wenn  es  nicht  der  Zeit  zum  Schreiben  ähnlich  sieht,  sondern 
nur  ein  Maß  ist  für  die  Lizenzen  der  Zeit,  die  jedem  Trottel 
erlaubt,  einen  Gedanken  unter  die  Leute  zu  bringen,  den  er  sonst 
nur  privatim  lallen  würde,  wie  zum  Beispiel  den  Hinweis  auf  die 
notorische  Tatsache,  daß  unsere  Dichter  von  heute  Sammlungen 
ihr  Eigen  nennen. 


—  81  — 


Einer,  den  die  Erlebnisse  herumgeworfen  haben 

[Ernst  Decsey.  »Krieg  im  Stein.«  Erlebtes,  Gesehenes, 
Gehörtes  aus  dem  Kampfgebiet  des  Karstes.  >Leykam«,  Graz.]  Der 
Krieg  hatte  eines  schönen  Tages  in  dem  bekannten  Musik- 
kritiker und  Feuilletonisten  den  längst  vergessenen  Reserve- 
leutnant aufgeweckt.  Wie  sah  ich  aus,  erzählt  Decsey. 
Gestreifte  Zivilhose,  grüner  Alpenrock,  weißer  Sturmkragen,  gelbe  Feld- 
binde, langer  Säbel,  und  auf  dem  Haupte,  dem  haarwallenden,  die 
rutschende  Offizierskappe.  Ich  hatte  nicht  mehr  Zeit  gehabt,  mich 
auszurüsten.  Samstag  noch  auf  der  steirischen  Alpe,  1200  Meter  hoch, 
Montag  früh  unten  am  Spiegel  des  Meeres,  so  hatten  mich  die 
Ereignisse  herumgeworfen. 

Der  Spiegel  des  Meeres  dürfte  erschrocken  sein,  als  er  das 
Bild  dieses  verwandelten  Decsey  sah. 

Jedenfalls  war  Decsey  bei  seiner  Kompagnie  der  erste  einge- 
rückte Offizier.  Das  Büchlein  schildert  die  Kriegserlebnisse  des 
Autors  von  den  Tagen  der  Mobilisierung  an. 

Die  Leute,  die  den  Decsey  von  den  Tagen  der  Mobili- 
sierung an  im  Vorraum  eines  Kriegsbureaus  in  Graz  gesehen 
haben  wollen,  sollen  der  Meinung  gewesen  sein,  es  sei  sein 
Spiegelbild,  so  frappant  war  die  Ähnlichkeit.  »Sie  irren  sich,  ich 
bin  nicht  der  Decsey,  alle  fallen  darauf  herein,  ich  bin  längst  unten!« 

Der  Krieg  im  Stein  ist  der  Krieg  am  Karst,  der  Kampf  an 
der  Isonzofront. 

Sehr  richtig  bemerkt,  aber  was  geht  das  den  Decsey  an? 
Doch. 

Dieser  deutsche  Steirer  empfindet  den  Verrat  Italiens  wie 
ejti-t  ihm  persönlich  zugefügte  tiefe  Beleidigung.  Vergeudete 
Ilsi7*je  läßt  immer  Scham  zurück.  Und  Ernst  Decsey  hat  zu  den 
b^istertsten  Italienschwärmern  gehört.  .  .  . 

Ich  weiß  nicht,  wie  lange  es  her  ist,  daß  der  Decsey 
jodeln  gelernt  hat.  Aber  daß  er  sich  jetzt  des  Verrates  Italiens 
schämt,  macht  ihm  alle  Ehre.  Er  hat  seine  Liebe  vergeudet,  er 
hat  vergebens  seine  Visitkarte  im  Hotel  abgegeben,  ganz  wie  seinerzeit 
in  Graz,  als  ich  dort  noch  Vorlesungen  hielt  und  hinterdrein  den  Decsey, 
der  für  mich  geschwärmt  hatte,  verriet.  Aber  in  Graz  kann  man 
doch  den  Krieg  nicht  so  recht  erleben,  nicht  gut  sehen,  man  hört 
höchstens  hin  und  wieder  etwas  von  ihm,  wenn  man  aus  dem 
Kriegsbureau     in     die    Redaktion     geht.    Deshalb    mußte    sich 


—  82 


Decsey  doch  persönlich  bemühen.   War  er  also  dabei  oder  war  er 
nicht  dabei?  Er  war  dabei. 

Die  Stimme  des  Krieges  hat  Decsey  so  deutlich  ver- 
nommen, als  er  einen  Zug  mit  Liebesgaben  an  die  Isonzo- 
front  geleitete.  Dort  hat  er  Land  und  Leute  gründlich  studiert, 
Offiziere  und  Mannschaft  beobachtet,  und  auch  er  singt 
mit  Inbrunst  das  hohe  Lied  von  dem  Großartigen  und 
Menschenunfaßbaren,  das  dort  geleistet  wird.  Zu  den  anziehendsten 
Kapiteln  des  Buches  gehört  sein  Hymnus  auf  die  Lasttiere,  die 
auf  dem  Karst  gebraucht  werden.  >Nur  kein  falscher  Genierer«, 
wie  man  gut  wienerisch  sagt.  Es  sind  Esel,  veritable  Esel,  keineswegs 
bildliche  Esel,  denen  dieses  Lob  gilt.  Diese  Karstesel  sind  Muster  an 
Bescheidenheit  und  Pflichterfüllung,  die  buchstäblich  für  andere  ins 
Feuer  gehen  und  die  Decsey  sehr  nett  die  Diurnisten  unter  den 
Vierfüßlern  tauft. 

Während  die  Journalisten  unter  den  Vierfüßlern  —  nun,  wie 
tauft  man  die?  Esel  sind  sie  jedenfalls  nicht.  Auf  den  Karst  gehen 
sie  nicht.  Dazu  sind  ja  die  Karstesel  da.  Meint  auch  der 
Rekommandeur,  der  mit  der  Chiffre  St— g  zeichnet,  als  hätte 
der  blutige  Hohn  hinter  die  tollgewordene  Trivialität  einen 
»Sterbetag«   gesetzt.    Aber   den   erleben   doch  nur   die  Karstesel! 

Was  täten  wir  auf  dem  Karst  ohne  sie?  Wir  könnten  diesen 
Krieg  nicht  führen.  Im  Kriege  wurden  die  Tugenden  des  Verkannten 
erst  entdeckt.  Ganz  wie  bei  gedrückten,  unscheinbaren  Zivilmenschen, 
die  sich  in  der  Schlacht  plötzlich  als  Helden  zeigen.  .  .  .  Das  ist  eine 
Stichprobe  des  liebenswürdigen  Humors,  der  nicht  zu  den 
wertlosesten  Eigenschaften  — 

Kusch!  Denn  Stichproben  gibt  es  jetzt,  eines  Ernstes,  die 
Millionen  erlitten  haben.  Und  den  Zehntausend,  die  ihr  Blut 
behalten,  erstarrt  es  nicht  im  Leibe?  Karstesel,  Kreaturen  Gottes, 
wenn  ihr  eure  Pflicht  getan  habt,  für  andere  ins  Feuer  zu  gehen  — 
kehrt  euch  und  trampelt  diese  Brut  zu  Tode! 


Gott  strafe  England 

».  .  .  Das  neue  englische  Gesetz  über  die  Dienstpflicht 
nimmt  Männer,  die  gegen  den  Kriegsdienst  Gewissensbeschwerden 
haben,  unter  bestimmten  Bedingungen  aus  ...  In  Godalming  war 
es  ein  Lehrer,  Roland  M.  J.  Knaster,  der  erklärte,  tiefe  religiöse 
und   moralische    Überzeugungen    zu    haben,    die    ihm  den  Kriegsdienst 


—  83  — 


und  alle  damit  zusammenhängenden  Dienste  verbäten.  Er  sagte, 
zu  jedem  Opfer  bereit  zu  sein,  wenn  das  Gericht  ihm  die  voll- 
ständige Befreiung  nicht  zubillige.  Im  Verhör  gab  er  an,  25  Jahre  alt 
zu  sein  und  der  englischen  Hochkirche  anzugehören.  Ins  Heer  zu  gehen, 
sagte  er,  würde  für  ihn  bedeuten,  daß  er  die  Gesellschaft  über  seine 
religiösen  Überzeugungen  stelle  und  dies  wolle  er  unter  keiner  Bedingung 
tun.  >lch  liebe  meine  Mutter  und  bin  ihre  einzige  Stütze,«  sagte  er. 
>Wenn  man  mich  ins  Gefängnis  schickt  oder  erschießt,  wird  sie  ver- 
hungern. Ich  stelle  meine  religiösen  Überzeugungen  meiner  Mutter  voran 
und  wenn  jemand  dazu  entschlossen  ist,  glaube  ich  nicht,  daß  er  noch 
mehr  tun  kann,  um  Sie  zu  überzeugen.«  —  Tribunalmitglied  Fletcher 
(Schulleiter  in  Charterhouse) :  Gesetzt  den  Fall,  daß  jemand  Gewalt  gegen 
Sie  anwendete,  was  täten  Sie?  —  Knaster:  Ich  würde  wahrscheinlich 
mit  ihm  diskutieren,  aber  ich  hoffe,  daß  ich  ihm  nicht  Schlag  um  Schlag 
zurückgeben  würde.  —  Als  man  ihn  fragte,  was  er  täte,  wenn  ein 
Deutscher  seine  Mutter  an  seiner  Seite  tötete,  erwiderte  Knaster,  das 
sei  eine  ungehörige  Frage,  die  er  nicht  beantworten  könne.  Der  Vor- 
sitzende Bürgermeister  verkündete  hierauf  die  Entscheidung,  daß  der 
Antragsteller  vom  aktiven  Kampf  dienst  vollkommen  befreit  und  auch 
von  jedem  anderen  militärischen  Dienste  solange  enthoben 
sei,  als  er  die  einzige  Stütze  seiner  Mutter  sei.  —  Die  Verhandlung 
in  Fulham  war  darum  merkwürdig,  weil  der  um  Befreiung  Ansuchende  ein 
Beamter  des  Kriegsamtes  war.  Der  jetzt  Neunzehnjährige  gab  an,  sich 
1911  bekehrt  zu  haben.  Sein  Gewissen  verbiete  ihm,  jemandem  das 
Leben  zu  nehmen,  sei  es  auch  sein  Feind.  Der  Vorsitzende  fragte  ihn, 
warum  er  dann  seinen  Posten  im  Kriegsamt  nicht  aufgegeben  habe. 
Der  Ansuchende  erwiderte,  daß  seine  Beschäftigung  mit  der  Feststellung 
der  Folgen  des  Krieges,  aber  nicht  mit  der  gegenwärtigen  Kriegführung 
zu  tun  habe.  Das  Ansuchen  wurde  abgewiesen.  Alderman  Evans  erklärte, 
Enthebung  vom  Dienste  könne  solange  nicht  gewährt  werden,  als  der 
Ansucher  seine  Stelle  im  Kriegsamt  nicht  aufgebe  .  .  .  .« 


Wie  es  in  Rom  zugeht 

».  .  .  Das  Straßenleben  ist  im  allgemeinen  so  bewegt  wie  sonst  In 
Friedenszeiten;  auf  dem  Korso  drängen  sich  die  Menschen  wie  immer 
geschäftig  oder  im  süßen  Nichtstun,  die  Schaufenster  sind  glänzend 
erleuchtet  und  die  großen  Kaffeehäuser  .  .  sind  überfüllt.  Aber  hinter  diesem 
äußeren  Bild  verbergen  sich  doch  erh.ebliche  Veränderungen.  Der  Klein- 
handel ist  ruiniert  und  auch  die  großen  Geschäfte  haben  schwer 
gelitten.  .  .  .  Die  Buchhandlungen  sind  überfüllt  mit  Kriegsschriften,  denn 
es  ist  ja  nötig,  immer  noch  den  Krieg  . .  zu  rechtfertigen,  das  gute  Recht .  . 
zu  beweisen,  Haß  und  Verachtung  des  Feindes  zu  verbreiten  .  . 
Spottkarten    und    Zerrbilder    müssen    dem    gleichen    Zweck  dienen,    sie 


—  84 


werden  einem  auf  Schritt  und  Tritt  angeboten,  in  Massen  verkauft  und 
finden  sich  in  allen  Händen.  In  den  Kinos  werden  die  Heldentaten  des  .  . 
Heeres  und  seiner  Verbündeten  in  schwindelhafter  Weise  verherrlicht.  .  .  . 
Der  Krieg  hat  die  Stadt  äußerlich  umgewandelt.  .  .  .  Auf  den  Dächern 
flattern  große  Standarten  im  Winde,  Bündel  von  Fähnchen  schmücken 
die  Fenster  und  Bänder  in  den  Nationalfarben  zieren  die  in  den 
Geschäften  ausgelegten  Waren.  Schuhfabriken,  Modeartikel-  und  Wäsche- 
läden bieten  dem  erstaunten  Kunden  .  .  mit  dem  Roten  Kreuz  ge- 
schmückte Börsen,  Mappen,  Notizbücher  usw.  an.  Aber  in  den  Stadt- 
vierteln, wo  die  armen  Leute  wohnen,  sieht  es  anders  aus.  Männer 
und  Frauen  zeigen  in  ihren  Mienen,  wenn  nicht  Besorgnis,  so  doch 
Gleichgültigkeit.  In  den  Unterhaltungen,  die  man  zufällig  mit  anhört, 
klingen  Müdigkeit  und  Angst  durch  vor  der  immer  schwerer  lastenden 
Lebensnot.  Die  gedrückte  Haltung  dieser  Leute  ist  zu  augenscheinlich, 
als  daß  man  sie  übersehen  könnte.  Der  Lebensunterhalt  ist  teurer 
geworden  und  die  Arbeitslosigkeit,  die  in  gewöhnlichen  Zeiten  schon 
groß  war,  ist  gestiegen,  die  Armen  stehen  täglich  von  neuem  vor  der 
bedrückenden  Frage,  wie  sie  ihren  Hunger  stillen  sollen.  Obgleich  die 
Kriegshetzer,  die  auf  die  einfältige  Leichtgläubigkeit  rechnen,  einen 
nahen  Sieg  vorspiegeln,  so  kommt  doch  in  der  dürftigen  Atmosphäre 
der  schmutzigen  Stadtviertel  die  Ruhmesgewißheit  nicht  zum  Durch- 
bruch und  gibt  sich  nicht  mit  der  hochmütigen  Roheit  kund,  welche 
die  Kriegsfreunde,  die  Eroberer  .  .  zur  Schau  tragen,  alle  die  Herren  und 
Damen,  die  mit  ihrem  Kleideraufwand,  ihren  Diamanten  und  wohl- 
genährten Backen  über  den  Korso  schlendern.  Diese  Leute,  die  mit 
einem  Lächeln  auf  den  Lippen  vorübergehen,  diese  Damen  in  hellen 
Kleidern,  die  Menschenmassen,  die  sich  unaufhörlich  in  den  Kaffee- 
häusern und  Weinschenken  drängen  .  .  die  überfüllten  Theater  und 
die  flatternden  Fahnen,  gehört  das  alles  wirklich  zur  Hauptstadt  eines 
Landes,  das  in  einem  schweren  Kriege  steht,  dessen  Grenzen  bedroht 
sind,  dessen  Söhne  in  großer  Anzahl  dahingemäht  werden?  Ein  Schau- 
spiel, das  ebensowohl  Staunen  wie  Trauer  erweckt.« 


In  Frankreich 

ist   nach  Originalbriefen  —  von  und  nach  der  Front  — ,    die  das 
Wolffsche  Bürro  veröffentlicht,  die  Stimmung  so: 

».  .  ,  Wir  wünschen  sehnlichst  das  Ende  des  Krieges  herbei; 
ich  bin  schon  seiner  überdrüssig  und  ich  glaube,  Kameraden  zu  haben, 
die  ebenso  denken  wie  ich  ...  .« 

».  .  .  Du  sagst  mir,  daß  wir  1200  Gefangene  gemacht  haben,  die 
Zeitungen  hätten  es  gebracht;  aber  was  sie  nicht  gesagt  haben,  ist, 
daß  die  Boches  ihrerseits  1800  der  Unserigen  zu  Gefangenen  gemacht 
haben  ....  Ich  frage  mich,  wie  das  enden  wird.  Jedermann  leidet  und 
hat  dieses  traurige  Dasein  satt  .  .  .  .« 


85  — 


».  .  .  Wir  haben  schwere  Verluste  ....  Ich  gäbe  alles  mögliche 
darum,  um  von  hier  wegzukommen  .  .  .  .* 

y.  .  .  Meine  Liebe,  wenn  Du  wüßtest,  welches  Blutbad  zurzeit 
hier  angerichtet  wirdi  ....  Wie  es  hier  zugeht!  ....  Man  sagt  wohl, 
daß  man  mutig  sein  soll;  ich  bin  es  ja  auch,  aber  manchmal  verläßt 
uns  doch  der  Mut,  wenn  wir  so  viele  Kameraden  unter  dem  Maschinen- 
gewehrfeuer fallen  sehen  ....  Ich  sehe  jetzt,  daß  unsere  Offiziere  unseren 
Tod  wollen.  Diese  Angriffe  sind  tatsächlich  unnütz  und  ich  sehe  nun 
schießlich.  ein,  daß  unsere  Offiziere  unsere  Feinde  sind  .  .  .  .< 

». . .  Es  ist  doch  traurig,  daß  sich  das  arme  Volk  so  hinrichten  und 
hinschlachten  lassen  muß,  bloß  um  einigen  Dutzend  Dickköpfen  Spaß  zu 
machen.  Sie  sind  die  einzig  Schuldigen;  sie  würden  es  verdienen,  ver- 
nichtet zu  werden,  und  nicht  das  Volk,  welches  nur  Frieden  und  seine 
Ruhe  verlangt  .  .  .  .« 

».  .  .  Unser  moralisches  und  materielles  Leben  liegt  in  den 
Händen  von  Verbrechern.  Du  kannst  dir  wohl  denken,  daß  sie  von  den 
Greueltaten,  die  sie  verbrechen,  nichts  erzählen.  In  den  Zeitungen  liest 
man  doch  nur  Lügen  .  .  .  .« 

».  .  .  Mir  scheint,  es  soll  dieser  Krieg  keine  Ende  nehmen  ....  Ich 
glaube,  wenn  der  Krieg  noch  lange  dauern  sollte,  weiß  Gott,  es  würde 
keine  Soldaten  mehr  geben.  Was  täglich  fällt,  das  ist   entsetzlich  .  .  .  .« 

».  .  .  Immer  länger  und  länger  wird  die  Liste,  ich  glaube,  der  Krieg 
wird  aus  Mangel  an  Kämpfern  aufhören  .  .  .  .< 

».  .  .  Wieder  ist  Allerheiligen  und  ich  habe  noch  keine  Handvoll 
Getreide  gesät ....  Wie  oft  hatten  Allerheiligen  viele  die  Aussaat 
beendet.  Man  verreckt  oder  schuftet  bis  zum  Ende  dieses  verfluchten, 
Krieges,  der  so  unzählig  viele  in  Kummer  und  Trauer  stürzt  und  gar 
manche  Familie  ins  Elend  für  immer  .  .  .  .« 

».  .  .  Alles  ist  ausgehoben  ....  Wenn  das  noch  lange  dauert, 
frage  ich  mich,  was  aus  uns  werden  soll  .  .  .  .« 

».  .  .  Diese  jungen  achtzehnjährigen  Leute  unter  den  Fahnen  zu 
sehen,  das  bedeutet  den  Ruin  der  Welt  und  vor  allem  der  Heimat. 
Dieser  Mangel  an  Arbeitshänden  bewirkt  für  die  Zurückbleibenden  eine 
große  Teuerung  ....  Viele  Güter,  die  kein  Kapital  haben,  lassen  sie 
einfach  brach  liegen  ....  Ich  fürchte,  im  nächsten  Jahre  wird  es  noch 
schlimmer  werden  .  .  .  .« 

».  .  .  Ich  werfe  nur  einen  Blick  auf  die  amtlichen  Kriegsdepeschen, 
wie  gewöhnlich  jeden  Abend.  Marie  fragte  mich,  was  es  Neues  gebe, 
und  ob  die  Zeitung  immer  wieder  diese  berühmten  Lügen  bringe.  Voll 
Zorn  nahm  sie  mir  dieselbe  weg  und  warf  sie  in  den  Ofen,  indem  sie 
zu  mir  sagte,  daß  dies  für  die  Blöden  gut  wäre.  In  der  Tat  glaubt 
man  den  Zeitungen  nichts  mehr,  wenn  man  die  Soldaten  aus  den 
Schützengräben  hat  erzählen  hören.  Sie  sagen  die  volle  Wahrheit  und 
sind  glaubwürdig,  aber  das  Papier  läßt  sich  ruhig  bedrucken.  .  .  .« 

».  .  .  O  daß  dieser  Krieg  doch  schnell  zu  Ende  ginge!  Es  ist 
jetzt  genug  .  .  .  .« 


—  86    - 


».  .  .  Man  ersehnt  nur  die  glücklichen  Tage  der  Befreiung,  wo  man 
sieb  in  guter  Gesundheit  wiedersehen  kann,  und  es  ist  zu  wünschen, 
daß  dieser  schreckliche  Krieg,  der  uns  so  viele  Tränen  verursacht,  so 
schnell  als  möglich  zu  Ende  gehe  .  .  .  .< 

».  .  .  Wenn  doch  nur  das  Ende  dieses  Krieges  käme  I  Denn  ihr 
müßt  doch  jetzt  sehr  müde  sein  und  ihr  habt  schon  so  viele  Leiden 
ausgestanden  seit  so  langer  Zeit.  Es  wird  gewiß  noch  viel  mehr  Kranke 
geben  als  Tote.  Wir  ersehnen  lebhaft  das  Ende  dieses  Alpdruckes  .  .  .  .« 


Bei  uns  ist  es  so! 


(Alpenglühen  im  Semmeringgebiet.)  Der  letzte  Sonntag  zählte  zu 
den  schönsten,  welchen  die  Wiener  Touristen  seit  langem  im  Semmering- 
gebiet erlebt  haben.  ...  Ein  prachtvoller  blauer  Himmel  wölbte  sich 
über  den  Bergen,  die  in  fleckenlosem  Weiß  dalagen,  Übergossen  von  den 
Strahlen  der  warmen  Frühjahrssonne,  die  das  Quecksilber  in  der  Mittags- 
stunde auf  dem  Sonnwendstein  bis  15  Grad  Wärme  hinauftrieb.  . .  .  Auf  allen 
Höhen  und  Hängen  tummelten  sich  Ausflügler  und  die  Sportsleute 
fanden  wieder  einmal  voll  ihre  Rechnung.  In  die  gehobene 
Stimmung  kam  dann  eine  weitere  Steigerung,  als  das  Telephon 
aus  Wien  die  Freudennachricht  vom  Falle  Durazzos  und 
von  den  weiteren  glänzenden  Erfolgen  der  Deutschen  vor 
Verdun  brachte.  Diese  Mitteilungen  weckten  natürlich  großen 
Jubel  und  waren  der  allgemeine  Gesprächsstoff.  Den  Brenn- 
punkt des  bunten  Treibens  bildete  wie  immer  die  Tetrasse  des 
Südbahnhotels,  auf  der  sich  jung  und  alt,  groß  und  klein 
versammelte,  um  das  prachtvolle  Gebirgsbild  zu  genießen,  das  die 
Aussicht  auf  Rax,  Schneeberg  und  Sonnwendstein  darbot.  Es  ist  dies 
ein  Fernblick,  der  wahrhaftig  mit  den  schönsten  Schweizer  Aussichten 
erfolgreich  zu  konkurrieren  vermag.  Bei  Sonnenuntergang  gab  es  dann 
eine  neue  Überraschung  für  das  Publikum.  Der  Abend 
schloß  nämlich  mit  einer  grandiosen  Höhenbeleuchtung, 
wie  sie  gleich  prächtig  nur  die  Natur  zu  inszenieren  vermag  —  mit 
einem  Alpenglühn,  wie  es  klare  Sommerabende  im  Hochgebirge  hervor- 
zubringen pflegen.  Alle  Berge  waren  von  den  Strahlen  der  scheidenden 
Sonne  in  herrliches  Purpurrot  getaucht  und  die  Berge  wetteiferten 
an  Farbenpracht  und  Schönheit.  Lange  blieb  die  Gesellschaft  auf 
der  Terrasse  des  Südbahnhotels  versammelt,  um  das  unvergeßlich  schöne 
Naturschauspiel  zu  genießen.  Der  Stimmung  der  Anwesenden  entsprach 
es,  als  eine  Touristin  mit  tiefer  Empfindung  die  Worte 
Heines  rezitierte: 


—  87 


»Schaust  du  diese  Bergesgipfel, 
Aus  der  Fern',  so  strahlen  sie 
Wie  geschmückt  mit  Oold  und  Purpur 
Fürstlich  stolz  im  Sonnenglanze.« 

Die  Sprecherin  erntete  reichen  Beifall.  Die  Getreuen  des 
Semmerings  blieben  noch  lange  in  stiller  Betrachtung  beisammen, 
und  unwillkürlich  drängte  sich  ihnen  der  Gedanke  auf,  ^daß 
die  Natur  diese  herrliche  Illumination  der  Bergspitzen  zu 
Ehren  der  Erstürmung  der  Hauptstadt  Albaniens  inszenierte, 
um  den  Siegern  ihre  Reverenz  zu  machen.  Unter  den  Besuchern 
des  Semmeringgebietes  vom  letzten  Sonntag  bemerkte  man  unter  andern 
nachstehende  unbedingte  Verehrer  desselben:  (folgen  dreizehn 

und    zwei  Gemahlinnen)   — —  — —  —  — 

sowie  Hofrat  Deutsch,  den  erfolgreichsten  und  unermüdlichsten 
Bergsteiger  und  eminenten  Distanzgeher  im  Semmeringgebiet,  von  dem 
ein  gleichfalls  der  Gesellschaft  angehörender  Humorist  behauptet,  er 
nütze  die  Zeit  am  Semmering  so  gewissenhaft  aus,  daß  er  auch  Ver- 
spätungen der  Südbahnzüge  ins  Kalkül  ziehe,  und  falls  diese  Verspätungen 
es  halbwegs  gestatten,  sogar  zu  Wiederholungen  von  Ausflügen 
auf  den  Sonnwendstein  im  Schritt,  Trab  oder,  wenn  die  Zeit 
drängt,  im  Galopp  benützt.  Für  die  Genauigkeit  seiner  Berechnungen 
und  seiner  touristischen  Meisterschaft  sprichtes,  daß  er  den  sogenannten 
>Tarockzug<  noch  nie  versäumt  hat. 

So  ist  es  bei  uns !  Du  gerechter  Gott  im  Himmel,  weißt 
du  das?  Bietet  es  sich  auch  dir,  das  Panorama,  uns  bietet  es  sich, 
wie  es  diese  in  -allem  Erden  leid  unveränderte  Gegend  noch  nie 
geboten  hat.  Auf  der  Semmeringterrasse,  du  hast  Blitze  und 
schleuderst  sie  nicht,  auf  der  Semmeringterrasse  —  wo  es  sich, 
weil  für  die  Siriusbewohner  ein  Spuckverbot  erlassen  wurde, 
auch  noch  im  Jahre  1916  wohl  sein  läßt  —  dort  haben  wir  es 
erlebt.  Die  Durchhalter  sind  vollzählig,  schwarz  und  rosenrot, 
Schakale  und  Hyänen,  vom  Hunger  genährt,  einverständigen 
Blicks,  daß  ihnen  das  Blut  der  Welt  gut  angeschlagen  hat,  jeder 
ist  sich  selbst  der  nächste  und  herausragen  die  Spitzen. 
Man  bemerkt  die  Spitzen  und  die  Spitzen  bemerken  die  Gipfel.  Die 
Natur  ächzt,  ihnen  zu  dienen,  und  tut  es  doch,  denn  es  ward  zu 
den  Bäumen  gesagt,  daß  sie  sich  zusammennähmen,  auf  daß  sie 
den  Semmeringbesuchern  eine  Freude  wären,  wenn  sie  kommen, 
zu  genießen.  Berge  wetteifern,  ihnen  zu  ifnponieren,  der  Himmel 
produziert  sich,  die  Sonne  taucht  unter  wie  noch  nie,  damit  ein 
erstklassiges  Alpenglühen  das  Antlitz  des  Verwaltungsrats  über- 
glänze.  Laßt   es   uns   von    dort    holen    und  zusehen,    ob    nicht 


besser  sei,  im  finstern  Grab  zu  liegen,  als  den  letzten  Sonnenstrahl 
aus  solchem  Prisma  zu  empfangen.  Irgendwo  ruhen  Sieger  auf 
Stroh  und  die  Natur  macht  ihre  Reverenz  den  Nehmern.  In  stiller 
Betrachtung  scheint  sie  vor  ihnen  versunken.  Ihr  Tagewerk  verklärt  sie, 
der  Magen  verrichtet  das  Abendgebet.  Vergiftete  Gase  gehen  von 
ihnen  aus,  die  Unschuldigen  zu  töten,  und  sie  selbst  haben 
noch  die  Geistesgegenwart,  zum  Telephon  zu  stürzen,  um  es  zu 
erfahren,  jetzt  wissen  sie,  der  Gedanke  drängt  sich  ihnen  auf, 
unwillkürlich:  der  Kosmos  hat  sie  gern,  er  hat  diesmal  wegen 
Durazzo  illuminiert,  also  indirekt  für  sie.  So  kommen  sie  doppelt 
auf  ihre  Rechnung,  mit  dem  Schnee  und  mit  dem  Export,  und 
es  ist  der  feierliche  Moment  eingetreten,  wo  die  Pflicht  jeden 
Mann  an  seinen  Posten  ruft  und  die  große  Heerschau  über  die 
unbedingten  Semmering-Verehrer  beginnt,  über  die  Getreuen, 
jung  und  alt,  groß  und  klein.  Wo  ist  Deutsch?  —  Bittich  schrei 
nicht,  Stukart  hört  —  Habts  ihr  gehört  von  Durazzo,  Kleinigkeit  — 
Das  Panorama  war  fabelhaft  —  Begierig  bin  ich,  ob  er  heut 
zurecht  kommt  —  Nutzt  nix,  Heine  ist  und  bleibt  der  größte 
deutsche  Dichter  und  wenn  sie  zerspringen  —  Ich  hab  den  Sektionschef 
gegrüßt,  er  hat  auch  gegrüßt  —  Sie  wern  sehn,  er  wird  in  den 
Annalen  fortleben  — Am  Sonnwendstein  will  er  herauf  hat  er  gesagt  — 
Nicht  wern  sie  Verdun  bekommen!  —  Sind  Sie  eigentlich 
ein  starker  Esser?  Ich  bin  nämlich  ein  starker  Esser  — 
Das  Panorama  war  fabelhaft  —  Ich  sag  dir,  im  Schritt,  er  hat 
Zeit  —  Die  Verluste  müssen  gesalzen  sein  —  Der  muß  auch 
hübsch  verdienen  —  Wie  sie  das  deklamiert  hat,  war  ich  effektiv 
begeistert  —  Wetten,  er  kommt  heut  im  Trab  —  Der  Dokter  hat 
gesagt,  unten  steht  es  glänzend  —  Ich  hätt  noch  drei  Waggons  — 
Wie  er  sich  getauft  hat,  hat  sie  sich  geschieden  —  Heut  ver- 
säumt er  aber  ja,  sag  ich  euch  —  Wenn  ihr  euch  kugeln  wollts, 
müßts  ihr  in  die  Josefstadt  —  Was  heißt  Truppentransporte? 
Der  Tarockzug  geht  immer!  —  Das  Panorama  war  fabelhaft  — 
Dorten  kommt  er  gelaufen,  was  hab  ich  gesagt.  Deutsch 
im  Galopp! 


—  89 


's  gibt  nur  an  Durchhalter! 

Zu  den  grauslichsten  Begleiterscheinungen  des  Durchhalten^, 
als  wär's  kein  Leiden,  sondern  eine  Passion,  gehört  dessen  tägliche 
Feststellung,  Belobigung  und  behagliche  Beschreibung.  Wie  der 
Wiener  schon  in  Friedenszeiten  davon  durchdrungen  war,  daß  er 
ein  Wiener  ist,  sich  das  täglich  zum  Frühstück  und  zur  Jause  nicht 
nur  selbst  ins  Ohr  sagte,  sondern  es  auch  zweimal  in  der  Zeitung 
zu  lesen  bekam,  und  in  einer  Art,  daß  wenn  ihm  erzählt  werden 
sollte,  viele  Leute  seien  auf  dem  Stefansplatz  herumgestanden, 
ihm  statt  dessen  gesagt  wurde,  es  seien  viele  Wiener  gewesen  —  so 
wird  in  der  Zeit  der  schweren  Not  keinem  das  Durchhalten  so 
leicht  gemacht  wie  dem  Wiener,  denn  keiner  trifft  es  so  leicht  wie 
der  Wiener,  weil  er  eben  vor  allem  ein  Wiener  ist  und  wiewohl 
der  Wiener  nicht  nur  Bedürfnisse  hat  wie  ein  anderer,  sondern  auch 
speziell  als  Wiener  einen  speziellen  Gusto  auf  Spezialitäten,  diese 
Triebe  doch  spielend  zu  unterdrücken  vermag,  indem  er  eben  ein 
Wiener  ist  und  deshalb  also  natürlich  auch  zu  seinem  Kaffee,  den  er 
nicht  bekommt,  Hab'  die  Ehre  sagt  und  wenn  er  schon  nicht  seine 
Kaisersemmel  dazu  hat,  so  doch  seinen  Humor  hat,  mit  dem  er  sich 
jederzeit  nicht  nur  über  die  Teuerung,  sondern  auch  über  den 
Mangel  leger  hinwegsetzen  kann  und  mit  dem  er  erforderlichen- 
falls sogar  ein  Zigarettl,  das  er  nicht  kriegt,  sich  anzuzünden  ver- 
mag, so  fesch  wie  es  außer  ihm  auf  der  weitea  Erde  eben  nur 
er  kann,  der  Wiener, 

Wie  die  Beziehung  des  Wieners  zur  Natur  sich  in  einer 
fortwährenden  Berufung  auf  die  »Anlagen«  ausspricht,  so  ist  die  Be- 
ziehung des  Wieners  zum  Leben  eine  unerschöpfliche  Auseinander- 
setzung mit  den  Viktualien,  und  es  muß  einen  tiefen  Grund  haben, 
daß  jene  häufige  Redensart,  durch  die  der  Wiener  dem  Ernst  einer 
Situation  gerecht  werden  will,  den  keine  Illusion  übriglassenden 
Wortlaut  hat:  »Da  gibts  keine  Wurschteln!«  Anstatt  sich  nun  mit 
dieser  Tatsache  im  gegebenen  Zeitpunkt  abzufinden,  läßt  sich  der 
Wiener  jetzt  unaufhörlich  versichern,  wie  vortrefflich  erdie  Wurschteln 
zu  entbehren  verstehe  und  daß  es  direkt  ein  Hochgenuß  sei,  auf 


—  90 


sie  zu  verzichten  —  eine  Wiener  Spezialität,  ein  Gustostückl, 
vom  Schicksal  eigens  für  den  Wiener  reserviert.  Nicht  nur  davon 
überzeugt,  daß  ihn  die  Schöpfung  als  ihren  eigentlichen  Zweck 
beabsichtigt  habe  und  daß  der  Stcphansturm  annähernd  Sitz  und 
Mittelpunkt  der  Verwaltung  des  Kosmos  sei,  ist  es  ihm  gelungen,  den 
Glauben,  daß  es  nur  eine  Kaiserstadt,  nur  ein  Wien  gebe  — einen 
ähnlichen  Hinweis  hat  bekanntlich  unlängst  der  englische  Zensor 
nach  Deutschland  mit  einem  >Gottseidank«  durchgehen  lassen  — , 
daß  es  nur  eine  Fürschtin  gebe,  die  Metternich  Paulin,  in  einer 
Art  sangbar  zu  machen,  daß  es  für  ihn  auf  der  Welt  nur  a 
Kaiserstadt,  nur  a  Wien  und  nur  a  Fürschtin  zu  geben  scheint, 
und  durch  den  gerechten  Zufall  eines  schlechtgebauten  Couplets 
hat  er  sich  des  Unvermögens  schuldig  bekannt,  nichts  sonst  zu 
sehen,  wo  immer  er  hinkommen  mag,  als  eben  diese  ihm  vertrauten 
Erscheinungen.  Wien  in  jeder  Stadt  suchend,  war  er  ungehalten, 
wenn  er  es  nicht  wiedererkannte,  fuhr  nach  Paris,  um  »auf  ein 
Rindfleisch«  zu  Spieß  ins  Restaurant  Viennois  zu  gehen,  verglich 
es  undankbar  mit  dem  von  Meißl  &  Schadn,  und  kehrte  an  Selbst- 
bewußtsein bereichert  zurück.  Wie  der  Deutsche,  ohne  auf  besondere 
Wünsche  des  Berliners  dabei  Rücksicht  zu  nehmen,  sich  in  jeder 
Lebenslage  einen  Deutschen  nennt  und  auch  vor  Leuten,  die  nie 
daran  gezweifelt,  ja  es  auf  den  ersten  Blick  selbst  bemerkt 
haben,  so  muß  der  Wiener  nicht  erst  vor  einem  Spiegel  stehen, 
um  sich  als  Wiener  zu  erkennen.  Man  mag  aber  zugeben, 
daß  der  Deutsche  in  der  Verwendung  der  Methode,  sich 
aus  sich  selbst  zu  definieren,  sparsam  ist  im  Vergleich  mit 
dem  verschwenderischen  Wiener,  der  seit  einigen  Jahrzehnten 
nicht  müde  wird,  sein  Gemüt  sowohl  wie  sein  Gemüse,  seinen 
Schick  sowohl  wie  seinen  Schan  als  spezifisch  wienerisch  zu 
bezeichnen,  und  sehr  wohl  imstande  wäre,  bei  der  Ausfertigung 
eines  Reisepasses,  der  ihn  heute  zwar  nicht  in  Konflikt  mit  der  Welt 
bringen  kann,  darauf  zu  dringen,  daß  sein  Geburtsort  zugleich  als  be- 
sonderes Kennzeichen  notiert  werde.  Denn  es  gibt  wohl  kaum  einen 
Wiener,  der  nicht  felsenfest  darauf  bauen  würde,  daß  er  ein  apartes 
Blut  mitbekommen  habe.  Das  wäre  freilich  noch  keine  Überhebung, 
sondern  nur  eine  ethnologische  Behauptung,  die  sich  am  Ende  sogar 
beweisen  ließe.  Das  Bedenkliche  aber  ist,  daß  er  von  sich  überzeugt 


91 


ist,  daß  überhaupt  n  u  r  er  ein  Blut  bekommen  habe  und  kein  anderer, 
denn  er  wäre  wohl  peinlich  überrascht,  wenn  er  eines  Tages  hörte, 
n  den  russischen  Zeitungen  sei  jetzt  etwas  von  einem  feschen 
Petersburger  Blut  zu  lesen.  Und  mit  ihm  wäre  die  ganze  Welt 
entaunt,  denn  es  ist  Tatsache,  daß  so  etwas  noch  nie  vorgekommen 
ist.  Es  kommt  eben  nur  in  Wien  vor,  wo  Leute,  die  daselbst 
schon  50  Jahre  und  mehr  ansässig  sind  und  längst  nicht  mehr 
ihre  Zuständigkeit  beweisen  müssen,  in  der  Zeitung  plötzlich  als 
>Wieier«  agnosziert  werden,  während  man  doch  noch  nie  gelesen 
hat,  diß  zur  Begrüßung  des  Königs  von  Schweden  sich  ein  Spalier 
von  zaHlosen  Stockholmern  gebildet  habe.  Höchstens  die  Schweizer 
noch  hiben  diese  Ehrlichkeit,  ohne  Umschweife  sich  selbst  als 
»Schweizerbürger«  anzusprechen,  wobei  aber  mehr  die  Anständigkeit, 
sich  an  enen  einmal  geleisteten  Eid  öfter  zu  erinnern,  mitspielt,  als 
die  Selbstgefälligkeit  einer  unverantwortlichen  Gegenwart.  Auch  sind 
die  Schweizer  die  unvergleichlich  besseren  Hoteliers,  die  nicht  so  unge- 
schicktwären, Ausländer  durch  eine  lästige  Hervorhebung  der  eigenen 
Vorzüge  vor  den  Kopf  zu  stoßen,  während  die  Wiener  den  Fremden- 
verkehr, zu  dem  sie  einen  unglücklichen  Hang  haben,  um  jeden 
Preis  heben  wollen,  ohne  zugleich  ihre  Einrichtungen  zu  heben, 
deren  Attraktion  sie  gerade  darin  erblicken,  daß  sie  um  ihrer 
selbst  willen  geschätzt  werden  müssen,  weil  sie  eben  spezifisch 
wienerisch  sind. 

DiesesMonopol  des  Wieners  auf  Einzigartigkeit  in  allen  Lebens- 
lagen, und  nun  sogar  im  Verzicht  auf  die  Lebensgüter  zu  verteidigen 
und  tagtäglich  zu  stützen,  dazu  hat  vorzüglich  die  israelitische 
Presse  einen  Tonfall,  dessen  Überredungskraft  es  nicht  nur  gelungen 
ist,  einen  Menschenschlag,  der  einst  an  der  noblen  und  welt- 
sinnigen Lebensführung  des  Vormärz  wie  kein  anderer  teilnahm, 
kulturell  einzukreisen,  sondern  ihm  auch  unter  täglicher  Entschädi- 
gung durch  eine  ekelhafte  Liebedienerei  einzureden,  das  Gegenteil 
sei  der  Fall  und  der  Wiener  habe  vor  dem  allgemeinen  Fortschritt, 
nämlich  dem,  der  mit  der  Eisenbahn  die  Menschen  weiterbringt,  noch 
seine  besondere  »Note«  voraus,  weil  er  eben  trotz  der  Fähigkeit,  sich  der 
Eisenbahn  zu  bedienen,  doch  mit  Leib  und  Seele  ein  Wiener  ge- 
blieben sei.  Wie  er  jetzt  nur  auf  die  Seele  angewiesen  ist,  um  diese 
Eigenschaft  zu  betätigen,  wie  er  ohne  Fett  selbstlos  geworden  ist. 


92 


das  hören  wir  jetzt  von  Tag  zu  Tag  bestätigt  und  gepriesen, 
und  der  Wiener  fühlt  sich,  gebildet  wie  er  ist,  besonders 
geschmeichelt,  wenn  ihm  sein  Entbehrungsschmock  nun  ver^ 
sichert,  daß  er  über  alles  Erwarten,  nein  mehr:  wie  man  nicht 
anders  von  ihm  erwarten  konnte,  und  akkurat  wie  es  bei  ihn 
vorauszusehen  war,  die  Opfer,  die  man  von  ihm  eigentlich  nicht 
verlangen  dürfte,  deshalb  bringt,  weil  sie  von  ihm  »geheischt«  werc'en. 

Es  hieße  Eulen  nach  Athen  tragen,  wollte  man  erst  aus- 
drücklich betonen,  daß  die  Schadenfreude  unserer  Gegner  siel  der 
bestimmten  Erwartung  hingab,  der  Aushungerungs-  und  Erschöjlungs- 
krieg  werde  den  als  leichtlebig  und  genußsüchtig  verschrienen  Wiener 
als  das  erste  Opfer  zur  Strecke  liefern.  Diese  Hoffnung  ist,  wie 
wir  alle  wissen,  gründlich  vereitelt  worden.  Wien  hat  sich  mit  heiterer 
Unbefangenheit  in  alle  Entbehrungen  zu  schicken  gewußt,  die  der 
Krieg  mit  sich  brachte.  Nach  einigen  leicht  begreiflichen  Unsiiherheiten 
schwenkte  die  ganze  Bevölkerung  mit  einer  Sicherkeit  und 
Promptheit,  die  auch  unseren  preußischen  Bundesbrüdern 
Ehre  gemacht  hätte,  in  das  System  der  Reglements  und  Verordnungen 
ein,  die  den  Verbrauch  der  notwendigen  Nahrungsmittel  regelten.  Die 
Brotkarte  ist  ebenso  eine  Selbstverständlichkeit  geworden,  wie  die 
fleischlosen  Tage.  Ohne  jede  Sentimentalität  gedenken  wir  des 
Wiener  Gebäcks. 

Freilich  könnte  die  gute  Laune  noch  gehoben  werden,  wenn 
man  Eulen,  die  vielleicht  ganz  schmackhaft  sind,  statt  immer  nur 
nach  Athen,  wo  man  an  einem  embarras  de  richesse  zugrunde 
geht,  zur  Abwechslung  einmal  nach  Wien  tragen  wollte,  und  die 
Frage,  ob  die  preußischen  Bundesbrüder,  auf  die  beim  Ein- 
schwenken geschaut  wurde,  es  nicht  doch  noch  besser  getroffen 
haben,  da  sie's  ja  gleichzeitig  üben  mußten,  bleibe  unentschieden. 
Aber  es  läßt  sich  nicht  leugnen,  die  Zeiten,  wo  einem  das 
Herz  aufging,  wenn  es  einem  Guglhupf  geschah,  sind  vorbei, 
und  auch  in  Bezug  auf  das  Rindfleisch  ist  der  Wiener  aus 
einem  Epikuräer  ein  Stoiker  geworden.  Und  ich  bin  Zyniker 
genug,  es  zu  beweisen : 

Wir  haben  die  liebevoll  gehätschelten  Idiosynkrasien  des  Wiener 
Geschmacks  abgelegt,  uns  zum  Schöpsernen  und  sogar  zum  Seefisch 
bekehrt.  Fallen  sehen  wir  Zweig  auf  Zweig!  Nach  dem  mit  ver- 
schwenderischer Auswahl  auf  den  Tisch  gestellten  Gebäckkörbchen 
verschwanden  die  Kaisersemmel,  das  Salzstangel  und  das  mürbe  Gebäck. . 
Wir  haben  die  Maisperiode  mit  klassischem  Stoizismus  übertaucht 


93 


und  fühlen  uns  magenkräftig  genug,  eine  neue  Maiszelt  mit  der  Hoffnung 
auf  Wandel  zu  überstehen. 

Man  beachte  die  nur  scheinbar  scherzhafte,  im  Innern 
—  oder  muß  man  jetzt  > Innerei«  sagen  —  ganz  ernsthafte  Ver- 
wendung der  religiös-philosophischen  Sphäre.  Der  Mangel  an 
Schweinernem  ist  Zuwag  an  Seelischem.  Es  gibt  noch  andere  krieg- 
führende Völker,  aber  keinem  trägt  das  brave  Durchhalten  eine  so 
gute  Sittennote  ein  wie  dem  Wiener,  dessen  Reife  nicht  nur  in  der 
Entsagung,  sondern  auch  in  der  heitern  Würde,  mit  der  sie  sich 
vollzieht  und  die  beinahe  an  die  Seelengröße  des  in  den  Tod 
gehenden  Sokrates  hinanreicht,  von  allen  Historikern  bemerkt 
wird.  »Ohne  Deklamation,  ohne  Ruhmredigkeiten«  haben  die 
Wiener,  nach  der  Versicherung  des  Herrn  Saiten,  auf  den  Jausen- 
kaffee verzichtet.  Bitte  —  könnte  ein  Wiener  einem  Londoner 
einmal  vorhalten  —  haben  Sie  damals  kein  Weißgebäck  gehabt? 
No  alstern,  nacher  reden  S'  nix!  Heute  aber  beißt  er  die  Zähne 
zusammen  und  schweigt.  Denn  so  dulden  kann  nur  er: 

Nicht  einmal  das  Wort  Patriotismus  wird  um  dieser  Dinge  willen 
bemüht.  Man  nimmt  sie  einfach  hin,  richtet  sich  danach  ein  und  spricht 
nicht  darüber. 

Nur  täglich  bißl  in  den  Zeitungen.  Eine  »Haltung,  die  in  ihrer 
gleichmäßigen  Ruhe  wie  in  ihrer  Würde  bewundernswert  und, 
nebenbei,  ergreifend  ist«,  rühmt  jener  Saiten  den  Wienern  nach. 

Natürlich  redet  man  vom  Krieg,  wo  zwei  Menschen  beisammen 
sind,  allein  Gespräche  über  Mehl,  Butter,  Milch  und  ähnliche 
Dringlichkeiten  gibt  es  fast  gar  nicht.  Wollte  jemand  in  Gesell- 
schaft oder  sonstwo  feierlich  erklären:  wir  müssen  durchhalten!  ...  er 
würde  dem  gleichen  kühlen  Schweigen  begegnen,  wie  ein  effekt- 
haschender Schauspieler.  Denn  das  Durchhalten  ist  selbstverständlich,  es 
wird  einfach  geschafft.  Aber  man  liebt  es  nicht,  daß  darüber  mit 
Pathos   geredet  wird.  .  .  . 

Vielleicht  unter  jenen,  die  Hunger  haben.  Aber  nicht  unter 
den  Armeelieferanten  und  Kriegsreportern,  also  in  der  Gesellschaft. 

Eine  Wiener  Eigenschaft  hat  sich  übrigens  auch  während  des 
Krieges  nicht  verändert.  Sie  stellen  ihr  Licht  noch  immer  ge- 
flissentlich hinter  den  Scheffel  und  nennen  das:  Diskretion. 

Sie  nennen  es  Diskretion  und  machen  draus  ein  Feuilleton. 
Der  Wiener  tut  seine  Pflicht,    aber    er   sagt    nicht,    daß   er  seine 


94 


Pflicht  tut,  sondern  er  »agt,  daß  er  nicht  sagt,  daß  er  seine  Pflicht 
tut  —  wer  sagt,  daß  er  nicht  seine  Pflicht  tut?  >Mit 
humorvollem  Lächeln«  verstehe  man  hier,  so  heißt  es,  Lasten 
zu  tragen,  man  mache  aber  >kein  Reklamegeschrei«.  Nun,  wenn 
einer  in  alle  Welt  hiiiausruft,  daß  er  ein  großer  Schweiger  sei, 
so  hat  die  Welt  allen  Grund,  es  zu  bezweifeln.  Und  vielleicht 
auch,  ob  er  wirklich  tue,  wovon  er  so  lärmend  zu  schweigen  versteht. 
Aber  die  Welt  täte  dem  Wiener  Unrecht.  Er  duldet  nicht  nur,  er 
duldet  nicht  nur  still,  sondern  so  dulden  und  so  still  dulden,  mit 
einem  Wort  so  schön  dulden,  das  kann  nur  er.  Schauen  wir 
uns  um  in  unserm  Weltblatt  weit  und  breit,  ob's  einer  dem 
Wiener  nachmacht!  Wenn  in  Petersburg  die  Musik  abgeschafft 
und  die  Speisekarte  geändert  wird,  so  ist  es,  ganz  abgesehen 
von  solchen  Symptomen  des  Zerfalls,  ein  »Tändeln  mit  dem 
Krieg«  und  beileibe  »kein  Zeichen  innerer  Teilnahme,  zu  der 
die  Genußmenschen  in  Petersburg  gar  nicht  fähig  sind«.  Wie 
anders  der  Wiener.  In  dem  Bewußtsein,  daß  er  ein  Wiener  ist 
und  daß  ihm  mit  Rücksicht  auf  diesen  Umstand  nichts  Ärgeres 
geschehen  kann,  benimmt  er  sich  auch  danach,  hält  er  die 
paar  selbstlosen  Tage  in  der  Woche  und  schweigt.  Gibts  keine 
Wurschteln,  so  hat  er  doch  noch  seine  Extrawurst.  Es  ist 
schwer  genug  ein  Licht  zu  haben,  wenn  Not  an  Kerzen  ist, 
und  es  noch  unter  den  Scheffel  zu  stellen,  in  dem  kein  Getreide 
ist.  Aber  man  tut's,  man  lebt  weiter,  man  schafft's,  und  schafft 
man's  nicht,  so  wird's  einem  geschafft.  So  ist  der  Wiener. 
Und  weil  es  seine  Haupteigenschaft  ist,  ein  Wiener  zu  sein, 
so  kann  er  sie  nun  bewähren  wie  nie  zuvor,  so  daß  er  auch 
jetzt  noch  etwas  vor  der  Welt  voraushat,  nämlich :  ein 
Durch  und  Durchhalter  zu  sein. 


95 


Shakespeare  und  die  Berliner 

»Max  Reinhardt  brachte  im  Deutschen  Theater 
den  .Macbeth'  zur  Aufführung.  ...  Die  Regie 
hatte  mit  ihren  Künsten  nicht  gespart.  .  .  . 
Beispielsweise  war  auf  der  Bühne  eine  Drei- 
teilung geschaffen,  bei  der  dem  Mittelstreifen  eine 
Art  symbolischer  Bedeutung  zugewiesen  war. 
Das  Hauptthema,  über  welches  die  Regie  ihre 
Variationen  spielte,  war  das  Blut.  Farben  und 
Beleuchtung  waren  auf  Blut  gestimmt,  und  als 
das  Ehepaar  Macbeth  den  Mordplan  ausheckte, 
umringelten  den  Hals  der  beiden  blutrote 
Streifen,  die  von  einem  Beleuchtungs- 
apparat projiziert  wurden.  Ein  blutbe- 
/  fleckter  Vorhang  ging  herunter,  als  der  Mord 

ausgeführt  war.  .  .  .« 

Die  Frage,  wann  der  Herr  Reinhardt,  nicht  aus 
irgendeinem  Bühnenverein,  sondern  aus  jedem  besseren 
Wohnzimmer  ausscheiden  werde,  ist  im  Weltlcrieg 
leider  nicht  aktuell.  Bis  zum  Weltkrieg  war  sie  es 
auch  nicht,  denn  sonst  wäre  er  nicht  entstanden.  Der 
Zusammenhang  ist  klar.  Wie  es  mit  den  geistigen 
Aussichten  einer  Nation  bestellt  sei,  deren  Ludimagister 
von  einem  verirrten  Bankprokuristen  dargestellt  wird 
und  deren  Hochadel  auf  den  Privatbällen  des  zum 
Diktator  aufgedunsenen  Theaterhändlers  die  Komparserie 
stellt,  das  konnte  bloß  dem  politischen  Blick  ver- 
borgen bleiben.  Daß  die  deutsche  Botschafterin  aus 
London  in  solchem  Milieu  sich  sowohl  dramatisch  wie 
gesellschaftlich  bewegt,  ist  ein  Symbol,  das  sich  einer 
Dichterin  erschließen  könnte,  wenn  sie  ein  Dichter 
wäre.  Aber  in  dieser  mechanischen  Wunderwelt, 
die  in  ihrer  ganzen  Auflage  ein  Generalanzeiger 
des  Weltuntergangs  ist,  grast  die  Fürstin  neben 
dem  Literaten,  und  wo  kein  Gras  mehr  wächst, 
gibt   es    doch    jene   echte    Sommernachtstraumwiese, 


—  96  — 


täglich  frisch  aus  der  Natur  gerupft,  durch  die  Herr 
Reinhardt  sich  längst  schon  um  Shakespeare  verdient 
gemacht  hat.  Es  besteht  eine  Beziehung  zwischen  den 
lebendigen  Versatzstücken  des  neudeutschen  Theaters 
und  den  Surrogaten  des  neudeutschen  Lebens,  das  um 
einen  Fleischersatz  so  wenig  je  verlegen  wird  wie  um 
eine  Stellvertretung  des  Geistes,  und  dessen  Wissen- 
schaft im  Bedarfsfall  auch  für  Homunculus-Reserven 
sorgen  wird.  Diese  Lebensrichtung  hat  einen  philo- 
sophischen Anhalt,  Es  ist  der  Bocksbart  des  Herrn 
Shaw,  des  unermüdlichen  Schalksnarren,  dessen  Weis- 
heit dem  Geist  paradox  gegenübersteht  und  dessen 
Dienste  kein  Shakespeare'scher  König  auch  nur  eine 
Stunde  lang  in  Anspruch  genommen  hätte.  Mit  dem 
von  Fall  zu  Fall  herübergerufenen  Tröste,  daß  seine 
Landsleute  die  wahre  Handelsnation  seien,  gehört  er 
ganz  in  den  Wurstkessel  einer  Kultur,  in  deren 
heilloser,  von  Reinhardt'schen  Hexen  zubereiteter 
Mischung  demnächst  der  Gedanke  entstehen  mag, 
mit  Bomben  erfolgreich  belegte  Brötchen  zu  erzeugen. 
Dieser  gut  ins  Englische  übersetzte  Trebitsch  hat  neulich 
den  Einfall  gehabt,  die  Würdigkeit,  Shakespeares 
300.  Todestag  zu  feiern,  den  Berlinern  zuzusprechen.  Sie 
haben  sich  das  nicht  zweimal  sagen  lassen  und,  m.  w., 
auf  den  Hals  Macbeths  blutrote  Streifen  projiziert. 
Die  Engländer,  neidig  wie  sie  sind,  glaubten  in  diesem 
Warenzeichen  jenes  bekannte  made  in  Germany  zu 
erkennen,  das  so  lange  die  englische  Provenienz  vor- 
getäuscht hat,  ehe  es  sich  zum  ehrlichen  deutschen 
Ursprung  bekennen  mußte.  Aber  jetzt  hat  sich  auch  auf  der 
deutschen  Szene,  wo  man  in  besseren  Zeiten  bekanntlich 
oft  mit  Wasser  gekocht  hat,  die  Erkenntnis  durchgesetzt, 
daß  Blut  dicker  sei.  Dekorativ  soll  se  wirken.  Das  ist  nicht 
so  wie  bei  armen  Leuten.  Ehedem  sind  bloß  Helden 
aufgetreten,  denen  das  Wort  des  Dichters  aus  dem  Hals 
kam,  ohne  daß  dieser  selbst  Spuren  der  dramatischen 
Absicht  verraten  hätte.  Traten  sie  von  der  Szene,  so  fiel  ein 


97 


Vorhang,  auf  dem  nichts  zu  sehen  war  als  eine  Land- 
schaft mit  einer  Göttin,  die  eine  Lyra  in  der  Hand 
hielt,  und  dennoch  war  der  Zwischenakt  voll  des 
Grauens  über  Macbeths  Tat.  Herr  Reinhardt  hat  zwar 
nicht  die  Kühnheit,  die  Shakespeare'schen  Akteure 
wie  die  Offenbachs  geradezu  durch  das  Parkett 
auftreten  zu  lassen,  um  jeden  einzelnen  Kommerzienrat 
von  dem  bevorstehenden  Mord  zu  avisieren,  aber  er 
läßt  immerhin  —  der  intelligentere  Teil  von  Berlin  MW 
wird's  schon  merken  —  einen  blutbefleckten  Vorhang 
niedergehen,  auf  daß  der  erschütterte  Goldberger  seiner 
Mitgenießerin  die  Worte  zuflüstere:  »Kolossal,  paß  mal 
auf,  Trude,  jetzt  wirste  sehn,  wie  Machbet  den  Schlaf 
mordet!«  Die  Berliner  allein  sind  würdig,  Shakespeare 
zu  feiern;  wenn  sie  ihn  aufführen,  ist  er  zum  drei- 
hundertsten Mal  gestorben.  »Mir  wars,  als  hört'  ich 
rufen:  Schlaft  nicht  mehr.  Reinhardt  mordet  den 
Shakespeare,  den  heil'gen  Shakespeare,  den  stärksten 
Nährer  bei  des  Lebens  Fest  —  Es  rief  im  ganzen  Hause : 
Schlaft  nicht  mehr.  .  .«  Solche  Avisos  und  Lichtsignale 
dem  feindlichen  Verständnis  zu  geben,  solcher  Einfall, 
den  Teufel,  den  das  Völkchen  nicht  spürt,  wenn  er  sie 
schon  am  Kragen  hat,  an  die  Wand  zu  malen,  ist  gewiß 
praktisch  gegenüber  einer  Zeitgenossenschaft,  deren 
Phantasie  von  einem  rechtschaffenen  Theatervorhang 
nichts  weiter  als  eine  gediegene  Fußwohl-Annonce 
erwartet.  Wie  war  doch  stets  und  in  jedem  Belang  die 
Bühne  ein  Wertmesser  der  Lebenskräfte !  Die  unheim- 
liche Identität  der  Aufmachung  eines  Reinhardt  mit 
der  Regie  des  jetzt  wirklich  vergossenen  Blutes  ist 
keineswegs  zu  übersehen.  Schöpfen  nicht  beide  aus 
Quantität  und  Technik,  aus  Komparserie  und  Mache 
den  Gedanken?  Und  nicht  ganz  ohne  Bedeutung  dürfte 
es  sein,  daß  der  Schauspieler,  solange  er  noch  Vagabund, 
Jongleur  und  Persönlichkeit  war,  von  der  guten 
Gesellschaft  gemieden  wurde,  aber  der  geschminkte 
Kommis     von     heute     ihr    von     seinem    Triumphsitz 


—  98  — 


Gnaden  austeilt.  Nein,  dies  alles  ist  nur  ein  Druckfehler 
der  Weltgeschichte,  dort  wo  sie  vom  Sieg  des 
iudogermanischen  Geistes  handelt.  Nein,  es  wäre  zu  schön, 
wenn  wir  mit  Anstand  eines  Morgens  aus  diesem  Angst- 
traum erwachten  und  sich  herausstellte,  daß  das 
Ganze  nur  die  Illusion  eines  Theaterabends  war,  und 
in  Wahrheit  werde  vor  einem  endlich  ernüchterten, 
endlich  begeisterten  Publikum  auf  der  deutschen 
Bühne  ein  echtes  Blutbad  veranstaltet,  und  das  viele 
Blut  in  der  Welt  war  nur  von  einem  Beleuchtungs- 
apparat projiziert. 


Zum  ewigen  Gedächtnis 
Zwei  Ergebnisse 


»Abends  auf  Feldwache  1  in 
dem  Schützengraben.  Ich  werde 
bestimmt  als  Horchposten  im  Draht- 
verhau vor  dem  Schützengraben.  Da 
sitze  ich  von  8  bis  12  Uhr  nachts 
in  meinem  Erdloch  und  spähe  gegen 
den  Feind.  DieNachtist  mondschein- 
klar und  mild.  Es  ist  ruhig.  Man  hört 
graben  und  schaufeln  auf  Seite  der 
Franzosen,  hastiges  Fahren  von  Auto- 
mobilen und  Wagen,  auch  einzelne 
stimmen.  Ich  mache  mir  klar,  was 
ich  zu  tun  habe,  wenn  feindliches 
Artilleriefeuer  einsetzt,  wenn  ich 
feindliche  Stimmen  höre,  wenn  feind- 
liche Patrouillen  bis  an  den  Draht- 
verhau herankommen.  In  allen 
Fällen  komme  ich  zu  dem  Ergeb- 
nis, daß  mein  Leben  gefährdet 
ist.  Ich  bemühe  mich,  mir  vorzu- 
stellen, daß  der  Tod  nichts  Furcht- 
bares ist.  Mein  Wachtdienst  verläuft 
indes  ohne  besondere  Zwischenfälle. 
Um  12  Uhr  nachts  muß  ich  noch  zum 
Schaufeln  in  den  Schützengraben  in 
die  Nähe  des  Unterofflziersposten- 


Das  chemische  Untersuchungs- 
amt der  Stadt  Düren  (Rheinland), 
dem  auch  die  Kreise  Düren, 
Erkelenz,  Jülich  und  Schieiden 
angeschlossen  sind,  veröffentlicht 
seinen  Jahresbericht.  Die  Ergeb- 
nisse derUntersuchung  beweisen  die 
vielfache  Übervorteilung  des 
Publikums,  ja  direkte  Fälschungen 
der  Nahrungs-  und  Genußmittel.  Be- 
sonders war  dies  der  Fall  bei  Waren, 
die  ausdrücklich  >für  unsere 
Feldgrauen«  angepriesen  waren. 
Ein  Liter  Milch,  der  aus  Tabletten 
kondensierter  Milch  hergestellt 
war,  stellte  sich  in  einem  Falle 
auf  7-50  Mark.  Ein  Pfund  Butter, 
das  in  Tuben  feldpostmäßig  ver- 
packt war,  berechnete  sich  bei 
Packungen  vier  verschiedener  Fir- 
men   auf    5-88    bis    10-41     Mark. 


99  — 


Unterstandes  und  der  Maschinen- 
gewehrabteilung eines  stark  vor- 
geschobenen Postens.  Da  plötzlich, 
während  ich  im  Graben  stehe  und 
schaufle,  ein  unheimlichesSchwirren, 
Pfeifen,  Knallen,  gleichzeitig  der 
Einschlag  in  der  Nähe.  Ich  werfe 
mich  mit  meiner  Schaufel  zu  Boden 
und  stürze  mit  dem  Knie  auf  das 
Eisen.  So  urplötzlich  und  unwill- 
kürlich ist  der  Drang,  sich  zu  ducken 
und  zu  decken.  Es  folgt  ein  furcht- 
bares Bombardement  auf  un- 
seren Flügel.  Dreimal  zwölf  Schüsse 
in  schneller  Folge.  .  .  .  Kaum  bin  ich 
ausgetreten  und  habe  mich  über  den 
Rand  des  Schützengrabens  hinaus- 
gestellt, als  mir  in  furchtbarer  Nähe 
eine  Granate  entgegenschlägt.  Ich 
sehe  das  blitzende  Explodieren  des 
Einschlags  und  die  aufsteigende 
Rauchwolke  im  Mondenschein, 
nehme  Reißaus  und  fliehe  in  den 
Unterstand  zurück.  Nun  geht  ein 
ungeheures  Granaten-  und 
Schrapnellfeuer  unmittelbar 
über  unsere  Feldwache  hinweg. 
Es  wurden  zweiundsiebzig 
Schüsse  gezählt.  Die  Balken 
dröhnen  in  den  Fugen,  die  Fenster- 
scheiben klirren,  das  Licht  flackert 
wild.  Ich  war  davon  so  lebhaft 
erregt,  daß  ich  die  ganze  Nacht 
mich  nicht  schlafen  gelegt,  sondern 
gelesen  und   gesonnen  habe  .... 


Schweineschmalz  war  mit  Baum- 
woUsaatöl  verfälscht.  Ein  Pfund  Him- 
beermarmelade in  Tuben  stellte  sich 
auf  5"33  Mark.  Naturhonig  war 
vielfach  nur  Kunsthonig.  Grog- 
würfel Marke  »Südrol«  enthielten 
0-5  Gramm  Alkohol,  ein  Liter 
Rum  würde  sich  danach  auf 
95-75  Mark  stellen.  Bei  »Rum- 
granaten«, die  für  1  Mark  die 
Schachtel  verkauft  wurden  und  nur 
einen  Kaffeelöffel  Rum  enthielten, 
kostet  der  Liter  Rum  80  Mark. 
Kaffee  war  stark  mit  Sojabohnen  ver- 
fälscht. Im  Idealkaffee  »Marke 
Pif<  konnte  Kaffee  nicht 
nachgewiesen  werden.  Marke 
»Schützengraben«  kostete  8 
Mark,  Tuti-Gusti-Kaffee,  mei- 
stens gemahlene  Zichorien,  1042 
Mark  das  Pfund,  Marke  »Unseren 
Kriegern  stets  das  Beste« 
11-90  Mark,  Drugies  Kaffeeta- 
bletten 10  Mark.  Ein  Pfund  Tee  stellt 
sich  bei  Atrol-Tabletten  auf  2604 
Mark,  bei  Drugies  Teetabletten  auf 
21-74  Mark,  bei  >Unseren  Kriegern 
stets  das  Beste«   auf  25*75  Mark. 


—  100 


Weltwende 

Das  Schauspiel  >Freier  Dienst«  von  Leo 
Feld,  das  derzeit  am  Deutschen  Volkstheater 
gegeben  wird,  ist  soeben  als  Buch  erschienen. 
Es  ist  Conrad  v,  Hötzendorf  mit  folgenden 
Worten  zugeeignet:  > Dieses  Schauspiel  ist  aus 
den  großen  Eindrücken  des  letzten  Jahres  er- 
wachsen. Aus  der  dankerfüllten  und  stau- 
nenden Ergriffenheit,  mit  der  wir  alle 
dem  unbesiegbaren  Opfermut  unseres  Heeres 
gefolgt  sind.  Aus  einem  Gefühl  der  Demut  und 
des  Stolzes,  wie  wir  es  nie  gekannt  haben.  Aus 
dem  Bewußtsein,  daß  eine  neue  Ordnung  unserer 
inneren  Mächte  der  letzte  und  versöhnende 
Gewinn  dieser  furchtbaren  Tage  sein  muß. 
Das  ist  unsere  Zuversicht.  Wie  unablässige 
Übung  körperliche  Kräfte  erhält  und  steigert,  so 
muß  die  Unnachgiebigkeit  dieses  harten  Jahres 
alle  sittlichen  Kräfte  der  Pflichterfüllung  und 
Hingabe  gehegt  und  vertieft  haben.  Es  hat  den 
Menschen  aus  einsiedlerischer  Beschaulichkeit 
oder  Armut  erlöst  und  ihn  das  größte  Glück 
fühlen  lassen,  das  uns  gegönnt  sein  mag:  opfer- 
bereiten Dienst  für  ein  höheres  als  es  das 
eigene  Leben  ist.  Unser  Heer  ist  uns  die 
Verkörperung  dieses  Geistes,  Eure  Exzellenz 
sind  uns  das  Symbol,  das  edle  Beispiel  dieses  glor- 
reichen Heeres.  Indem  ich  mein  bescheidenes 
Werk,  das  nichts  will,  als  das  allgemeine 
Gefühl  dieser  Tage  in  Worte  fassen.  Eurer 
Exzellenz  verehrungsvoll  zueigne,  weiß  ich,  daß 
ich  auch  hierin  nur  einem  Gefühl  Ausdruck  gebe, 
das  heute  jeden  Österreicher  erfüllt.  In  Eurer 
Exzellenz  lieben  wir  das  schlichte  und  lächelnde 
Heldentum  unserer  Offiziere. < 

In  dieser  Zeit  der  Weltwende,  in  der  die 
»Csardasfürstin«  auf  Monate  ausverkauft  ist  und 
alle  Anzeichen  dafür  sprechen,  daß  mit  dem  Fenriswolf 
noch  ein  kolossaler  Rebbach  zu  machen  sein  wird, 
geschieht  jeden  Augenblick  leibhaftig,  was  bis 
dahin  aus  dem  Bereich  des  Unvorstellbaren  nicht 
einmal  in  die  Region  fiebriger  Halbschlafgesichte 
gerückt  war.  Zeichne  allen  Wurmfraß  der  Welt  in  das 


101 


Dunkel  deines  Schlafzimmers,  und  er  wird  zur 
Hippokrene.  Dann  aber  geh  zu  den  Journalen,  zu  den 
Plakaten,  zu  den  Passanten,  sieh  mit  Augen  und  höre 
mit  Ohren  —  so  magst  vor  solcher  Erfüllung  des 
Unerfüllbaren,  vor  dem  Hexentanz  der  Kontraste,  vor 
dem  Kopfstehen  der  Werte,  vor  solcher  Heiligkeit  des 
Unrechts  und  dieser  unfaßbaren  Ergebung  unter  die 
Tyrannei  des  Nichts  du  glauben,  jetzt  müsse  doch  gleich, 
nein  jetzt,  aber  jetzt  ganz  sicher  werde  ein  Zeichen 
am  Himmel  stehen,  das  den  Ablauf  der  Zeit  verkündet, 
nicht  zu  mißdeutende  Absage  des  Universums  an  einen 
kompromittierten  Planeten,  der  die  Blutprobe  so  schlecht 
bestanden  hat!  Welche  Hoffnung  hält  uns?  »Gott,  wer 
kann  sagen :  schlimmer  kann's  nicht  werden  ?  's  ist 
schlimmer  nun,  als  je.  Und  kann  noch  schlimmer 
gehn;  's  ist  nicht  das  Schlimmste,  solang'  man  sagen 
kann:  dies  ist  das  Schlimmste.«  Wer  noch  eine  ferne 
Erinnerung  an  Menschenwürde  gefühlt,  wer  Luftbomben 
und  Stinkgase  nicht  für  den  eigentlichen  Sinn  der 
Schöpfung  gehalten,  wer  daran  gedacht  hatte,  daß  es 
Erdhöhlen,  Wassergrab  und  Trommelfeuer  gibt  und 
daß  von  rechtswegen  jetzt  jede  Stunde  mit  dem  letzten 
Schlag  von  tausend  unschuldigen  Herzen  durch  die 
Welt  dröhnen  müßte,  der  hatte  hoffen  können,  solange 
dieser  Zustand  andaure,  wenigstens  dem  Leo  Feld 
nicht  zu  begegnen.  Diese  letzte  Assoziation  des  sonst  un- 
entrinnbaren Feldlebens  hatte  man  sich  ersparen  wollen. 
Nicht  war  man  darauf  gefaßt,  daß  dieser  Feld,  dessen 
einzige  Beziehung  zur  vaterländischen  Idee  und  zum 
Kriegsgedanken  das  Opfer  seines  Namens  war  und  die 
Verstümmelung  zu  einem  nom  de  guerre,  sich  aus  einem 
Hirschfeld  gar  zu  einem  Schlachtfeld  entpuppen  könnte. 
Man  hätte  geglaubt,  daß  eine  so  unerbittliche  Gegenwart, 
wenn  sie  schon  die  Kraft  habe,  Armeelieferanten  aus  der 
Erde  zu  stampfen,  doch  wenigstens  auch  die  Energie 
aufbringen  werde,  Literaten  nicht  aufkommen  zu  lassen 
und  so  zu  schrecken,  daß  sie  sich  aus  einem  durch- 
sichtigen Pseudonym  in  das  finsterste  Inkognito  zurück- 


—  102  — 


ziehen.  Man  hat  das  Gegenteil  erlebt  und  die  große  Zeit 
war  zu  klein,  die  Kriegsgreuel  des  Wortes  zu  fassen.  Aber 
auf  den  Leo  Feld  war  man  nicht  vorbereitet!  Von  Blut 
Tantiemen  kriegen  —  daß  solches  geschehe,  hat  eine  er- 
barmungslose Untermenschheit  geduldet.  Daß  sich  unter 
den  Auspizien  des  Sternenhimmels  eine  Operette  des 
Namens:  »Gold  gab  ich  für  Eisen«  abspielen  konnte,  diese 
Tatsache  wird  den  Nachlebenden  mehr  über  den  Weltkrieg, 
den  wir  gleichzeitig  führten,  zu  denken  geben  als  alle 
GeschichtsbücherallerFriedjungs,  die  da  kommen  werden. 
Daß  an  dem  Tag,  an  dem  vierzigtausend  Söhne  von 
Müttern  an  elektrisiertem  Draht  gestorben  sind,  eben  dies 
im  Zwischenakt  von  der  Gerda  Walde  Smokinghemd- 
brüsten vorgelesen  und  eben  dafür  der  Viktor  Leon 
hervorgejubelt  wurde,  wird,  wenn  in  Äonen  noxh 
ein  Menschenherz  geboren  würde,  ihm  mehr  über  uns 
sagen  als  die  Taten  selbst,  die  unser  Erfindergeist 
ermöglicht  hatte.  Mit  dem  Abscheu  der  Ahnung  eines  vor- 
weltlichen Breis,  aus  dem  einstens  Menschenleiber, 
Maschinen  und  Druckwerke  nach  Bedarf  gebildet  wurden, 
als  ob  sie  noch  den  Schleim  und  Aussatz  an  ihren  Fingern 
fühlte,  wird  die  künftige  Menschheit  an  die  Betonperiode 
zurückdenken,  in  der  die  gepanzerte  Hinfälligkeit  Gott 
zum  Narren  gehalten  hat.  Da  hoffe  ich  denn  zuversichtlich, 
daß  das  Drama  des  Leo  Feld,  wenn  es  einmal  den 
Weltkrieg  überlebt  hat,  auch  noch  den  Anschluß  an 
jene  ferne  Gelegenheit  finden  wird,  die  sich  doch  irgend 
ergeben  mag,  um  unsere  sittliche  und  geistige  Ver- 
lassenschaft zu  sichten.  Ich  persönlich  kenne  die 
Dichtung  nicht,  denn  ach  die  Zeiten  sind  vorbei,  wo  ich 
das  Leben  vom  frischen  Quell  einer  Volkstheater- 
premiere bezogen  und  noch  nicht  mit  müdem  Blick  in  der 
papierenen  Nacht  gesucht  habe.  Ich  spreche  von 
dieser  Angelegenheit  wie  der  Blinde  von  einer  Farbe, 
die  ihn  geblendet  hat.  Aber  indem  ich  weiß,  daß  es 
jetzt  auch  so  viele  Menschen  gibt,  die  im  Auftrag 
eines  für  Exportinteressen  tätigen  Fatums  das  Augen- 
licht hingeben  mußten    und  darum    nie   mehr   in    der 


—  103  — 

Lage  sein  werden,  zu  sehen,  was  im  Deutsciien  Volks- 
theater aufgeführt  wird,  so  bescheide  ich  mich,  und 
wenn  ich  dann  überdies  höre,  daß  es  ein  Stück  ist, 
dessen  Autor  von  einem  Sturmangriff  Prozente 
bekommt,  während  ein  darin  auftretender  polnischer 
Jude  gratis  und  aus  purem  Edelmut  Spionage  gegen 
Rußland  treibt,  so  habe  ich  doch  einen  gewissen  Eindruck 
und  sage  mir,  daß  Blut  dicker  ist  als  Schmalz,  daß  Rußland 
wissen  dürfte,  warum  es  die  Juden  nicht  in  die  Zivili- 
sation läßt,  und  daß  diese  nur  selbstlos  sind,  solange 
sie  Spionage  und  nicht  bereits  Literatur  treiben.  Der 
»Freie  Dienst«  von  Feld  brauchte  aber  nichts  zur 
Repräsentation  vor  der  Nachwelt  als  sein  Geleitwort,  diese 
feierliche  Ansprache,  die  ein  vom  Felddienst  Freier 
an  den  Generalstabschef  zu  halten  so  frei  war. 
Solche  im  Staat  bloß  als  »Handlung  gegen  die 
Kriegsmacht«  qualifizierbare  Demonstration  geht 
nämlich  über  die  Grenzen  des  blutigen  Faschings,  den 
die  noch  immer  nicht  gelangweiite  Menschheit  nun 
schon  durch  zwei  Spielzeiten  tanzt.  Es  war  nicht  voraus- 
zusehen, daß  ein  Armeebefehl  des  Herrn  Leo  Feld 
kundgemacht  würde,  worin  er  sich  selbst  unter  jene 
einreiht,  die  zwar  nicht  dem  Heere,  jedoch  dessen 
unbesiegbarem  Opfermut  »gefolgt«  sind.  Aber  nun  ist 
er  erschienen  und  in  der  Theaterrubrik  angeschlagen 
worden.  Und  in  der  Tat  —  das  heißt  in  jener  Tat,  die  die 
andern  tun  müssen  — :  solange  das  Heer  unbesiegbar 
ist,  kann  ein  Theaterschmierer  noch  auf  den  »letzten  und 
versöhnenden  Gewinn  dieser  furchtbaren  Tage«  hoffen. 
Die  Zuversicht  eines  solchen  Bürgers  ist  mit  Recht  uner- 
schütterlich, denn  er  kann  den  »opferbereiten  Dienst  für 
ein  höheres  als  das  eigene  Leben«  nicht  nur  empfehlen, 
sondern  auch  aufführen  lassen.  Und  sein  »bescheidenes 
Werk  will  nichts  als  das  allgemeine  Gefühl  dieser  Tage 
in  Worte  fassen«.  Da  aber  das  allgemeine  Gefühl  dieser 
Tage  der  Wunsch  ist,  abgewandt  allem  nun  einmal 
syslemisierten  Grauen  und  Leiden  und  durch  eben 
dieses    einen    letzten    und    versöhnenden    Schab    zu 


104  — 


machen,  wobei  das  Friedensrisiko  ohneiiin  ein  großes 
ist  und  die  Aktualität  der  bezüglichen  Waren  "und 
Stoffe  jeden  Tag  eine  Passivpost  sein  kann,,  so 
bleibt  das  Volkstheaterrepertoire  so  ziemlich-  in 
Übereinstimmung  mit  dem  Weltgeschehen.  Und 
V  wie  die  Sprache  noch  als  Lüge  die  Wahrheit 
sagt  und  der  Satz  noch  als  Aussatz  die  Verwahrlosung 
der  Seele  beschreibt,  so  erschüttert  uns  wie  ein 
letzter  Ausdruck  unserer  Erdennot  das  Bekenntnis, 
das  ein  Gemeiner  der  Zeit  vor  dem  Generalstabschef 
ablegt:  dieser  Krieg  habe  »den  Menschen  aus  ein- 
siedlerischer Beschaulichkeit  oder  Armut  erlöst«,  je 
nachdem.  Fürwahr,  Worthändler  waren  Trappisten,  ehe 
er  begann,  und  Börseaner  waren  Bettler!  Aller  Orte 
und  Meere,  zu  Land  und  Luft  stirbt  es  sich  wohl  für 
den  Aufschwung  jener,  die  ihr  Leben  nicht  nur 
gerettet,  sondern  auch  bezahlt  haben  wollen,  Söldner 
fremden  Blutes,  die  sich  in  Nachrufen,  für  welche 
sie  noch  honoriert  werden,  neidlos  durch  die  An- 
erkennung der  »Helden«  revanchieren.  Denn  zuhause 
ist  das  Talent  und  draußen  »das  schlichte  und  lächelnde 
Heldentum«:  so  sind  die  Gaben  und  Berufe  verteilt! 
Wie  nun  die,  welche  im  Granatenfeuer  gekrochen  sind, 
es  tatsächlich  hinnehmen,  daß  ihnen  einer,  der  ein 
dreckiges  Saisonstück  daraus  macht,  das  schlichte 
und  lächelnde  Heldentum  ausdrücklich  attestiert,  das  weiß 
ich  nicht.  Wohl  aber  wünsche  ich:  Das  Heldentum, 
dem  es  zu  Gesicht  oder  Geruch  kommt,  sollte 
nicht  mehr  lächeln.  Nicht  in  eine  Lache  ausbrechen.  Nicht 
schelten,  nicht  fluchen.  Sondern  es  sollte,  um  nicht 
wahnsinnig  zu  werden  vor  Schmerz  über  diese  Hinter- 
bliebenen, heimgekehrt  alle  Waffen  zusammenraffen, 
die  ihm  das  Ingenium  der  Zeit  beigebracht  hat,  und 
den  heiligen  Krieg  erst  beginnen!  Mit  dankerfüllter  und 
staunender  Ergriffenheit  dieser  Bewegung,  dieser  Er- 
hebung, dieser  Vergeltung  folgend,  will  ich  ihrem 
Generalstabschef  mein  Werk  widmen.  Oder  er  selbst  sein! 


KARL   KRAUS 

WORTE  IN  VERSEN 


LEIPZIG 
VERLAG  DER  SCHRIFTEN  VON  KARL  KRAU! 

19  16 
Druck  der  Offizin  W.  Dru^ulin  y 


leiner  Konzerthoussoai 

(III.   Lothringerstraße  20) 
iontag  den  17.  APRIL  1916 

PRXZISE  HALB  8  UHR 

VORLESUNG 

CARL  KRAUS 


IRTEN  zu  K  10.—,  8.—,  6-—,  4.—,  2-—,  1-—  an  der 
Konzerthauskassa,  III.  Lothringerstraße  20,  bei 
Kehlendorffer,   I.  Krugerstrafte  3  und  in   der 
Buchhandlung  Friedländer,  Kärntnerstraße  44 

HALT  der  vorigen  fünffachen  Nummer  413-417,  10.  Dezem- 
r  1915:  Eeextraausgabeee  — !  /  Dialog  der  Geschlechter  / 
)kumente  /  Schweigen,  Wort  und  Tat  /  Glossen  /  Die  Leid- 
igenden /  Die  Judenfrage.  Von  F.  M.  Dostojewski  /  Eine  Prosti- 
erte ist  ermordet  worden  /  Glossen  /  Die  Kunst  im  Dienste 
s  Kaufmanns  /  Elegie  auf  den  Tod  eines  Lautes  /  Notizen  / 
.««■a  c^iirvnonVioiior  /  AhcrViipH  iinH  Wipfiprkehr  /  Wiese  im  Parki 


NR.  423  —  425  MAI  1916  XVm.  JAH] 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

3ie  letzten  Tage  der  Menschheit  /  Ein  Prophet  /  Verkündigung 
nschriften   /   Notizen   /   Briefe  Adalbert  Stifters   /  An  einen  alte: 
.ehrer    /    Gruß  an    Bahr    und    Hofmannsthal    /    Feldpostbrief 
'eldpostskriptum  /  Worte  Luthers  /  Gebet  an  die  Sonne  von  Gibeoi 

Mit  einer  Beilage 


NACHDRUCK   VERBOTEN 

Preis  dieses  Heftes: 

90  Heller  =  75  PL 

VERLAG:    .DIE   FArK-FT«     WTFM 


®rE)öret  mic|)! 


5luf  bem  6c^Iac^tfel6e  bei  6aarburg,  an  6er  6tra^c  ^mi\d)tn  QaavbutQ 

un6  "Btuöeröotf,  fte^t  ein  5lru3ifiF.  2Dä^rcnö  öcs  Äampfes  mut(>t  es 

tjon    einet    (Sranatc    getroffen,    öas    ^ol3freu3    louröe    3erfc^mettert, 

öie  (S^riftusfigur  aber  blieb  unoerfe^rt. 


DIEFACKEL 

Nr.  423-425  5,  MAI  1916  XVIII.  JAHR 


Die  letzten  Tage  der  Menschheit 

Tragödie 
(Schlußszene  eines  Aktes) 

Zimmer     im    Hause    des    Hofrats    Schwarz-Gelber.     Spät    am    Abend. 
Hofrat  und  Hofrätin  Schwarz-Gelber  treten  ein. 

Er  (schwer  atmend) :  Gottscis  getrommelt  und  gepfiffen, 
da  sind  wir  —  pufi  — 

Sie:  Tut  sich  was,  Märtyrer  was  du  bist. 

Er:  Das  letzte  Mal  —  das  letzte  Mal  —  darauf- 
kannst  du  dich  verlassen ! 

Sie:  Ich  mit  dir  auch!  Darauf  kannst  du  Gift  nehmen! 

(Sie  beginnt  sich  zu  enticleiden.  Er  läßt  sich  in  einen  Stuhl  fallen, 
stützt  die  Stirn  in  die  Hand,  springt  wieder  auf  und  geht  im  Zimmer 
umher.) 

E  r :  Warum  —  sag  mir  nur  bittich  warum  — 
warum,  nur  das  eine  sag  mir  hat  Gott  mich  mit  dir 
gestraft  —  grad  ich  ?  —  ausgerechnet  —  muß  dieses  Leben 
führen  —  warum  —  hätt  nicht  können  ein  anderer?!  — 
Gerackert  hab  ich  mich  —  bis  in  die  sinkende  Nacht 

—  für  dich  —  du  bringst  mich  um  mit  deiner  Kriegs- 
fürsorg  —  Hilfskomitees  und  Zweigstellen  und  was  weiß 
ich,  Konzerte  und  Nähstuben  und  Teestuben  und 
Sitzungen,  wo  man  herumsteht,  und  jeden  Tag  Spitäler 

—  Gott,  is  das  ein  Leben  —  (auf  sie  losgehend)  was  —  was 
willst  du  noch  von  mir  —  hast  du  noch  nicht  genug 

—  ich  —  ich  —  bin  nicht  gesund  —  ich  bin  nicht  — 
gesund  — 

Sie  (schreiend):  Was  schrcist  du  mit  mir?  Ich  zwing 
dich?   Du    zwingst    mich!    Ob  ich    einen  Tag  Ruh 


gehabt  hätt  vor  dir !  —  Ich  —  hab  ich  dir  nicht  helfen 
müssen  treppauf  treppab  —  bis  sie  gesagt  habe«,  damit 
sie  endlich  Ruh  haben  vor  dir  und  du  bist  Vizepräsident 
geworn!  Glaubst  du,  man  steht  um  dich  ?  M  i  r  verdankst 
du  —  wenn  ich  nicht  fort  war  hinter  ihm  hergewesen, 
Exner  —  Gott,  was  hab  ich  treten  müssen  —  Ich  wer 
dir  sagen  was  du  bist!  Ein  Idealist  bist  du,  wenn  du 
dir  einredst,  auf  andere  Art  wärst  du  geworn  was  du 
bist!  Auf  was  herauf?  Auf  dein  Ponem  herauf,  was? 
Auf  deinen  Tam  herauf,  was?  Daß  dus  weißt,  mir  hast 
du  zu  verdanken,  deine  ganze  Karrier,  mir,  mir,  mir 
—  Liharzik  ist  tot  —  heut  könntest  du  dort  stehn,  wo 
er  war,  überall  könntest  du  sein  —  ein  Potsch  bist  du!  — 
die  gebratenen  Tauben  werden  dir  ins  Maul  fhegen, 
ausgerechnet  —  ich  stoß  und  du  kommst  nicht  vom 
Fleck  —  möchten  möchtest  du  viel  und  zu  nix  hast 
du  die  Gewure! 

Er:  Gotteswillen  bittich  —  schweig  —  in  meiner 
Stellung  —  riskier  ich  genug  — 

Sie:  Ich  pfeif  auf  deine  Stellung,  wenn  wir  nicht 
weiterkommen.  Stellung!  Auch  wer!  Weil  ich  gelaufen 
bin,  hast  du  e  Stellung!  Bin  ich  für  mich  gerannt? 
Für  mich  hab  ich  Wege  gemacht?  Darauf  antwort  mir! 

Er:  Nu  na  nicht. 

Sie:  Hör  auf !  Ich  kann  dich  nicht  sehn !  Du  weißt 
am  besten,  wie  du  lügst.  Gott,  getrieben  hast  du,  wenn 
ich  nicht  heut  da  war  und  morgen  dort  -  gestuppt 
hast  du  mich  —  wenn  Grünfeld  gespielt  hat,  hab 
ich  reden  müssen  —  ausgestanden  hab  ich  —  ich  hab 
schon  nicht  mehr  gewußt,  is  Sitzung  bei  der  Berchtold 
oder  is  Tee  bei  der  Bienerth,  der  Blumentag  hab  ich 
geglaubt  is  für  die  Patenschaft  statt  für  die  Flücht- 
linge, da  hats  geheißen  Korngoldpremier,  fortwährend 
Begräbnisse,  Preisreiten,  Wehrmann  und  Wehrschild, 
wie  sie  den  Kriegsbecher  angeregt  haben,  gleich  warst  du 
aufgeregt,  ich  kenn  dich  doch,  aber  s  o  hab  ich  dich  noch 
nicht  gesehn,  schon  hast  du  dabei  sein  müssen,  warum, 


ohne  dich  wär's  nicht  gegangen,  ich  hab  dir  gesagt 
laß  mich  aus,  konträr,  gejagt  hast  du  mich,  in  die 
Tees  und  Komitees  hast  du  mich  förmlich  gestoßen,  gequält 
hast  du  mich  wegen  Lorbeer  für  unsere  Helden,  da 
bin  ich  gerannt,  dort  bin  ich  gerannt,  nix  wie  Hilfs- 
aktionen, zu  Gunsten  da,  zu  Gunsten  dort,  zu  wessen 
Gunsten,  frag  ich,  wenn  nicht  zu  deinen?  zu  meinen 
nicht!  An  den  heutigen  Tag  wer'  ich  zurückdenken  — 
Gott  —  von  einem  Spital  ins  andere  muß  man  sich 
schleppen  —  und  was  hat  man  davon?  Was  hat  man? 
Undank ! 

Er:  Um  Gotteswillen,  hör  auf!  Wenn  dich  einer 
reden  höret,  möcht  er  sich  schöne  Begriffe  machen  von 
deiner  Nächstenliebe,   die   Gall  geht  einem  heraus  — 

Sie:  Vor  dir!  Kann  ich  dafür,  daß  sie  dich  heut 
übersehn  haben?  Ich  kann  schwören,  ich  hab  mit  dem 
Delegierten  gesprochen,  ich  hab  ihm  gesagt,  wenn  sie 
kommen,  soll  er  trachten,  daß  wir  ganz  vorn  stehn,  weil 
wir  das  letzte  Mal  Pech  gehabt  haben,  ich  hab  ihm  im 
letzten  Moment  noch  einen  Stoß  gegeben,  er  weiß,  daß 
ich  Einfluß  hab  auf  Hirsch,  er  hat  ihn  schon  lang  nicht 
genannt  —  auf  mich  willst  du  deine  Wut  auslassen  ? 
Kann  ich  dafür,  daß  sich  im  letzten  Moment  Eisner 
vorgestellt  hat  mit  seinem  Koloß,  wo  er  alles 
verdeckt?  Pech  hast  du,  weil  er  größer  is,  und  ich 
muß  büßen!  Mir  — mir  machst  du  Vorwürfe  — ich 
—  ich  —  weißt  du  was  du  bist  —  ich  —  eine  Bardach 
(kreischend)  bin  viel  ZU  gut  für  einen  Menschen  wie  du 

(sie  wirft    das  Mieder  nach  ihm)   —   du    —    du   Nebbich  ! 

Er    (stürzt  auf  sie  los  und  hält  sie)  :      Duuu!     —      mich 

reg  nicht  auf  —  mich  reg  nicht  auf,  sag  ich  dir  —  ich 
steh  für  nichts  —  ich  vergreif  mich  an  dir  —  was  — 
was  —  willst  du  von  mir  —  Ausraum,  der  du  bist  — 
von  dir  sprichst  du  nicht?  —  Dein  Ehrgeiz  bringt  mich 
ins  Grab!  —  hättst  du  Kinder,  wärest  du  abgelenkt  — 
schau  mich  —  an  —  grau  bin  ich  geworn  durch  dich 
(schluchzend)    ^^   ich   —   War   —   bei  —   Hochsinger  — 


4  — 


das  Herz  is  —  nicht  mehr  —  wie  es  sein  soll  —  du 
bist  schuld  —  jetzt  sag  ich  dir  die  Wahrheit  —  weil 
du  nicht  erreicht  hast  —  eine  Flora  Dub  zu  sein!  — 
für  Hüte  hätt  ich  müssen  ein  Vermögen  —  woher  — 
nehm  ich  —  was  will  man  von  mir  — 

S  i  e  (in  Paroxysmus) :  Mit  —  Flora  —  Dub !  —  Du  wagst 
es!  —  mich  in  einem  Atem  —  Flora  —  mit  der  Dub!  — 
mich  —  eine  geborene  Bardach !  Weißt  du,  was  du 
bist  —  ein  Streber  bist  du!  Aus  der  Hefe  empor! 
Gelb  bist  du  vor  Ehrgeiz  !  Schwarz  wirst  du,  wenn  du  ein- 
mal nicht  genannt  wirst !  Wenn  du  an  Eisner  denkst,  wälzst 
du  dich  im  Schlaf!  Bin  ich  schuld,  daß  er  ein  Aristokrat 
is  ?   Geh  hin  zu  Fürstenberg  und  laß  dich  adaptieren ! 

E  r  (weicher  werdend) :  Ida  —  was  hab  ich  dir  getan  — 
schau  —  laß  ein  vernünftiges  Wörtl  —  schau  — 
Gotteswillen  —  was  —  was  bin  ich  — Hofrat  —  ich  —  lach- 
haft —  ein  Jud  bin  ich  !  —  (Er  fällt  schluchzend   in  den  Stuhl) 

—  Ausstehn  !  —  Ist  das  —  ein  Leben  —  is  das  ein 
Leben  —  immer  hinter  —  ganz  —  hinter  —  allen 
andern  —  auf  Hirsch  angewiesen  sein  —  beim  letzten 

—  letzten  —  Preis  —  treiben  —  reiten  —  man  hat  uns 

—  überhaupt  nicht  —  bemerkt  —  (gefaßter)  ich  hab 
dich  noch  gestoßen  —  die  Wydenbruck  hat  es  bemerkt 

—  sie  hat  Bemerkungen  gemacht  —  und  heut  —  der 
Skandal!  —  die  Leute  reden  —  ich  bin  fertig  — 
Spitzy  hat  gelacht  — 

Sie:  Laß  mich  aus  mit  Spitzy !  Der  hat  zu  reden! 
Spitzy  is  erst  durch  den  Weltkrieg  heraufgekommen. 
Nie  hat  man  früher  den  Namen  gelesen.  Jetzt?  Übel 
wird  einem  täglich  auf  jeder  Seite  von  Spitzy! 

Er:  von  Spitzy!?  Er  is  doch  noch  nicht  —  das 
fehlte  noch ! 

Sie:  Ich  sag  übel  wird  einem  von  Spitzy. 

Er:  Er  drängt  sich  unter  die  Spitzen. 

Sie:  Auf  ihm  hat  man  gewartet !  Mir  scheint  stark, 
er  bildet  sich  ein,   er  is  Spitzer. 


E  r :  Er  spitzt  auf  die  goldene. 

Sie:  Ich  hab  so  mit  dem  Delegierten  gesprochen. 
Er  hat  gesagt,  da  kann  man  nichts  machen,  das  is 
wieder  einmal  echt  wienerisch,  hat  er  gesagt,  bittsie  der 
Spitzy,  er  hat  die  Presse  und  außerdem  leistet  er 
für  die  Prothesen. 

Er:  Auf  den  Delegierten  soll  ich  sagen! 

Sie:  Ich  gift  mich  genug  über  ihm. 

Er:  Den  Unterschied  zwischen  der  Gartenbau 
heut  und  wie  der  Krieg  angefangen  hat,  möcht  ich 
Klavier  spielen.  Wenn  ich  zurückdenk,  damals  bei  der 
Schlacht  von  Lemberg,  du  weißt  doch,  wie  die  Presse 
das  Jubiläum  gefeiert  hat,  Weißkirchner  hat  ihr  gratuliert, 
neulich  erst  sag  ich  zu  Sieghart  — 

Sie:  Du,  zu  Sieghart? 

Er:  Du  —  weißt  —  nicht  mehr,  wie  ich  mit  Sieghart 
gesprochen  hab  ?  Das  hat  die  Welt  nicht  gesehn !  Wie 
er  gekommen  is,  wir  sollen  beitreten  zum  Subkomitee 
in  die  Hilfssekfion  —  du  weißt  doch,  er  hat  doch  die  Idee 
gehabt  zu  einer  Sammlung  »Kaviar  fürs  Volk«,  es 
is  eigentlich  eine  Anregung  von  Kulka  —  sag  ich 
also  zu  Sieghart,  Exzellenz,  sag  ich,  der  Delegierte 
gefällt  mir  etwas  nicht  und  der  Primarius  gefällt  mir 
nicht  und  die  ganze  Schmonzeswirtschaft  gefällt  mir 
nicht.  Er  schweigt,  aber  ich  hab  gesehn,  er  denkt  sich. 
Sag  ich  zu  ihm,  Exzellenz,  die  Zeit  ist  viel  zu  ernst. 
Ich  kann  dir  nur  soviel  sagen,  er  hat  nicht  nein  gesagt. 
Wieso  das  kommt,  frag  ich.  Er  zuckt  mit  die  Achseln 
und  sagt,  Krieg  is  Krieg.  No  hab  ich  doch  gewußt, 
woran  ich  war.  Jetzt  brauch  ich  nur  — 

Sie:  Wenn  du  damals,  bei  der  konstituierenden 
Versammlung  für  die  Walhalla  nicht  wie  ein  Nebbich 
dagestanden  wärst,   wäre  die  Sache   schon   erledigt. 

Er:  Erlaub  du  mir,  grad  bei  solchen  Gelegen- 
heiten vermeid   ich    aufzufallen.    Alle    haben    sie    sich 


den  Hals  ausgereckt,  wie  er  von  der  Korrespondenz 
Wilhelm  gekommen  is  — 

Sie:  Und  ich  hab  dir  Zeichen  gemacht,  du 
sollst  auch! 

Er:  Nein,  sag  ich.  Auf  geradem  Weg  gehts  nicht, 
so  hör  zu  meinen  Plan.  Mit  Eisner  wirst  du  sehn,  er 
is  imstand  und  geht  eines  schönen  Tages  hinauf  und 
wird  sichs  richten.    Aber  ich  hab  mir  fest  vorgenommen 

—  ich  wart  jetzt  nur  —  das  nächste  Mal  —  no  ich 
könnt  ihm  gut  schaden  —  er  hat,  aber  sag's  nicht,  er 
hat  eine  abfällige  Bemerkung  über  Hirsch  fallen  lassen! 

Sie:  Bitt  dich,  fang  dir  nichts  an!  Misch  dich 
in  nichts.  Ich  könnt  auch,  ich  halt  mich  genug  zurück, 
die  Dub  hat  etwas  über  die  Schalek  gesagt  —  daß  sie 
sich  patzig  macht  in  der  Schlacht  und  so  —  zur 
Odelga  könnt  ich  eine  Anspielung  machen,  Sonntag, 
schätz  ich,   kommt  sie  zum  Invalidentee  —  Sigmund 

—  hör  mich    an  —  weißt  du  was  —  sei  nicht  nervös 

—  du  bist  überanstrengt  —  ich  sag  dir,  wir  setzen  es 
durch !  Komm  zu  dir  —  ich  wett  mit  .dir,  Freitag  is 
eine  Gelegenheit,  wie  sie  noch  nicht  d  a  war  —  die 
Jause,  du  weißt  doch,  für  unsere  Gefangenen  in  Ost- 
sibirien. Oder  hör  zu,  wart,  noch  vernünftiger,  Samstag, 
für  die  deutschen  Krieger!  Du  wirst  sehn,  paß  auf,  du 
kriegst !  Wenn  nicht  die  erste,  so  die  zweite.  Ich  garantier 
dir.  Bis  zum  Kabarett  vom  Flottenverein  warten  wir  nicht! 
Jetzt  zeig  was  du  imstand  bist.  Nimm  dir  ein  Beispiel 
an  Riedl  von  Dobenau,  an  ihm,  mein  ich,  nicht  an  ihr  — 
siehst  du,  er  isnureinGoj,  abertüchtig!  Jetzt  entscheidet 
sich  alles.  Daß  du  mir  nicht  wieder  wie  ein  Stummerl 
dastehst,  hörst  du?  Sie  warten  bloß,  daß  du  den  Mund 
aufmachst.  Ich  kann  mir  nicht  helfen,  aber  ich  hab 
das  Gefühl,  wir  sind  sowieso  vorgemerkt  — 

Er:  Glaubst  du  wirklich  —  das  war  ja  —  lang 
genug  hätt  man  sich  geplagt  —  aber  woher  glaubst  du  ? 

Sie:  Was  heißt  ich  glaub,  ich  weiß!  Du  bist  der 
Meinung,  es  is  schon  alles  verpatzt.    Ich  sag  dir,  nix 


is  verpatzt.  Du  warst  von  jeher  ein  Pessimist  mit  dem 
Krieg.  Ich  kann  dir  nicht  alles  sagen,  aber  die  Frankl- 
Singer  von  der  »Sonn  und  Mon«  is  wie  du  weißt 
intim  mit  der  Lubomirska,  frag  mich  nicht.  Du  hättest 
das  Gesicht  von  der  Dub  sehn  sollen,  wie  sie  gesehn 
hat,  ich  Sprech  mit  ihr.  Was  soll  ich  dir  sagen,  sie 
hat  sich  gejachtet.  Sogar  Siegfried  Löwy  hat  mit  dem 
Kopf  geschüttelt,  da  hab  ich  alles  gewußt.  Es  wird 
vielleicht  eines  der  größten  Erfolge  sein,  wenn  mir 
das  gelingt.  Nur  bei  der  Ausspeisung  dürfen  sie  nichts 
erfahren,  sonst  zerspringen  die  Patronessen,  behauptet 
Polacco.  Selbst  heut  hab  ich  das  Gefühl  gehabt,  es  kann 
nicht  mehr  lange  dauern.  Weißt  du,  nämlich  wie  der  Lärm 
war,  und  sie  alle  hinüber  sind,  zu  dem  sterbenden 
Soldaten,  du  weißt  doch,  der  getrieben  hat,  weil  er 
geglaubt  hat,  unten  steht  seine  Mutter,  sie  haben  sie  nicht 
herauflassen  wollen,  es  is  verboten  wegen  der  Disziplin, 
Hirsch  hat  noch  gesagt,  er  wird  in  den  Annalen  fort- 
leben, er  gibt  ihn  hinein  —  da  hab  ich  das  Gefühl 
gehabt  —  nämlich,  wie  sie  so  gestanden  sind  —  da  hab 
ich  mir  eigens  achtgegeben,  ich  hab  hingeschaut  und 
da  hab  ich  deutlich  bemerkt,  wie  die  Palastdame 
hergeschaut  hat,  alle  sag  ich  dir  haben  sie  auf  uns 
gezeigt  —  ich  hab  dich  noch  aufmerksam  machen 
wollen  —  aber  da  hab  ich  Eisner  beobachten  müssen, 
ob  er  nicht  vorgeht,  der  Lange  —  und  dann  haben 
sie  noch  besprochen  —  grad  wie  Hirsch  die  Stimmung 
notiert  hat,  haben  sie  besprochen  wegen  dem  Konzert 
für  die  Witwen  und  Waisen  —  da  hab  ich  wieder  das 
Gefühl  gehabt  —  ich  kann  mir  nicht  helfen  —  aber 
wenn  du  nur  jetzt  nicht  wieder  bescheiden  bist  —  nur 
jetzt  nicht  —  meinetwegen  immer,  aber  um  Gottes- 
willen nicht  jetzt! 

Er  (eine  Weile  nachdenklich,  dann  entschlossen) :  WaS   haben 

wir  morgen? 

Sie  (sucht  Einladungen  hervor,  nach  einer  Pause):  Wien  für 

Ortelsburg  —  liegt  mir  stark  auf,  wir  gehn,  aber  wir 
müßten  auch  nicht.  Verwundetenjause  bei  Thury,  nicht 


der  Rede  wert,  aber  kann  nicht  schaden.  Konstituierende 
Sitzung  des  Exekutivkomitees  für  den  Blumenteufei- 
Rekonvaleszenten-Würsteltag  —  du,  da  muß  ich  als 
Patroneß.  Aber  da,  wart,  Kriegsfürsorgeamt,  musikalischer 
Tee,  der  Fritz  Werner  singt,  ich  Sprech  sicher  mit  ihm, 
er  hat  auch  immer  größeren  Einfluß  — 

Er:  Sagst  du! 

Sie:  Wenn  ich  dir  sag! 

Er:  Einfluß,  lächerlich  — 

Sie:  So !  Also  kürzlich  hat  er  ihm  das  Bild 
schicken  müssen.  Er  is  ein  großer  Verehrer,  Er  hat 
schon  fünzigmal  »Husarenblut«  gesehn. 

Er:  Zufällig  kennt  er  ihn  nur  flüchtig. 

Sie:  Wenn  du  also  besser  informiert  bist!  Gut, 
nehmen  wir  schon  an,  Werner  hat  nicht  Einfluß,  was 
is  aber  mit  Spitzer?  Wenn  ich  auf  keinen  halt,  auf 
Spitzer  halt  ich !  Man  brauch  nur  sehn,  was  sich 
da  tut  jedesmal,  was  sie  angeben,  wenn  er  kommt. 
Spitzer  is  heut  maßgebend,  alles  spricht  nur  von  Spitzers 
Karrier.  Ich  sag  dir,  man  muß  das  Eisen  schmieden,  solang 
man  Gold  dafür  kriegt.  Nur  jetzt  keine  Versäumnisse !  Du, 
hör  mich  an  —  was  nützt  das  alles  —  jetzt  nimm  dich 
zusamm,  sei  ein  Mann !  Mach  dich  beliebt !  Was  denkst 
du  so  nach?  Du  hasts  ja  bisher  getroffen,  warum 
nicht  weiter.  Also !  Jetzt  heißt  es  durchhalten. 

E  r     (die  Stirn  in  der  Hand) :     DaS     heut    IS    ZU    SChncll 

vorübergegangen.  Man  hat  gar  nicht  können  zu  sich 
kommen.  Ich  war  heut  nicht  auf  der  Höhe.  Ja,  ich 
hab  gleich  gespürt,  etwas  is  nicht  in  Ordnung.  Von 
allem  Anfang  hab  ich  bemerkt,  sie  bemerken  uns 
nicht,  und  zum  Schluß,  wie  sie  uns  ja  bemerkt  haben, 
war  ich  zerstreut.  Ich  sag  dir,  es  is  das  Herz.  Hochsinger 
is  unbedingt  für  Schonen,  schonen  sagt  er  und  wiederum 
schonen.  Aber  wie  soll  man  —  Gott  —  du  sag  mir 
bittich,  wie  war  das  eigentlich,  wie  sie  alle  mit  Spitzer 
geredet  haben,  wie  er  — 


—  9  — 

Sie:  Mit  Spitzer?  Das  war  doch  nicht  heut!  Das 
war  doch  Sonntag! 

Er:  Gotteswillen,  ein  Kreuz  is  das,  Sonntag  — 
alles  geht  einem  durcheinander  im  Kopf  —  also  gut  — 
ärger  is  wenn  ich  Gottbehüt  vergessen  hätt  mit  Sieghart  zu 
sprechen.  Wie,  also  was,  also  sag  mir  mit  Spitzer, 
das  intressiert  mich  — 

Sie:  Sonntag?  No  ja,  da  war  es  doch  schon  auf 
ein  Haar  so  weit,  daß  der  Delegierte,  ich  hab  schon 
geglaubt  —  hast  du  gezweifelt?  No  hörst  du,  das  is 
doch  so  klar,  wie  nur  etwas!?  Wenn  nicht  die  Schwester 
dazwischengekommen  war,  das  Skelett,  du  weißt  doch, 
die  den  Schigan  hat,  den  ganzen  Tag  zu  pflegen, 
überhaupt  eine  bekannt  exzentrische  Person,  grad  wie  ich 
zum  Bett  hingehen  will,  Pech,  kommt  sie  daher,  einen 
Schritt  war  ich  — 

Er:  Moment!  Das  —  wart  —  wo  sind  sie  da 
gestanden?  Das  war  doch,  wo  die  Rede  war,  daß  man 
wieder  sammeln  gehn  soll,  etwas  einen  'Gardenientag 
weiß  ich!,  haben  sie  beschlossen  für  Wiener  Mode 
im  Hause  oder  — 

Sie:  Freilich,  Trebitsch  hat  noch  erzählt,  daß  er 
tausend  Kronen  anonym  gegeben  hat  — 

E  r :  Bekannter  Wichtigmacher,  gibt  sich  jetzt  aus  für 
intim  mit  Reitzes  —  siehst  du,  jetzt  hab  ich,  also  wart  — 
ob  ich  weiß!  unterbrich  mich  nicht,  da  war,  ich  wer  dir 
sagen,  da  war  auch  die  Rede  von  Aufnahmen  im  Spital, 
für  den  Sascha-Film,  wächst  mir  auch  schon  zum  Hals 
heraus,  siehst  du,  daß  ich  weiß?  Aber  nur  —  wo  sind 
sie  gestanden?  Die  Situation?  Wir  sind  nicht  durch- 
gekommen, so  viel  weiß  ich  — 

Sie:  Du  kannst  dich  nicht  erinnern?  Ich  seh's 
vor  mir!  Bei  dem  Bett  von  dem  Soldaten  — 

Er:  Bei  dem  Bett  —  mit  der  Mutter  der? 

Sie:  Geh  weg!  Das  war  doch  heut! 

Er:  Wart.  Der  Blinde! 


-  10  -  > 


Sie:  Das  war  doch  Dienstag  in  der  Poliklinik! 
Der  Blinde!  Ich  seh  es  vor  mir!  Damals,  du  weißt  doch, 
Hirsch  hat  sich  notiert  — 

Er:  Entschuldige,  aber  das  war  bei  der  Staats- 
bahn beim  Labedienst!  Wo  sich  noch  die  Löbl-Speiser 
vorgedrängt  hat,  die  Geschiedene  — 

Sie:  Konträr,  damals  is  es  sehr  günstig  gestanden, 
wenn  du  mir  nur  gefolgt  hättst,  ich  hab  dir  noch  geraten, 
mach  dich  an  an  Stiaßny. 

Er:  An  Stiaßny?  Das  war  doch  beim  Wehrmann! 
Siehst  du,  jetzt  verwechselst  du! 

Sie  (lauter):  Ich  verwechsel!  Du  verwechselst!  Beim 
Wehrmann!  Wer  redt  heut  vom  Wehrmann? 

Er:  Also  wart  —  beim  Bett  —  übrigens  was 
gibst  du  Rebussen  auf,  sag  mir  den  Soldaten  und  fertig. 

Sie:  Grad  nicht!  Siehst  du,  wenn  ich  nicht  war 
mit  meinem  Gedächtnis  — 

Er  (lauter):  Laß  mich  aus  mit  deinem  Gedächtnis! 
Was  nutzt  mir  dein  Gedächtnis!  Es  is  alles  für  die  Katz! 

Sie:  Du  marterst  mich  —  ich  lauf  mir  die  Füße 
wund  —  soll  ich  dir  noch  helfen  erinnern! 

Er:  Schrei  nicht  —  ich  laß  alles  stehn  und 
liegen  —  ich  geh  morgen  nicht  —  du  kannst  allein 
gehn  ausspeisen  —  ich  hab  es  satt  —  der  ganze  Krieg 
Icann  mir  gestohlen  wern  —  das  hat  uns  noch  gefehlt 
—  als  ob  früher  nicht  genug  Lauferei  war  —  geh  mir 
aus  den  Augen!  —  jetzt  reißt  mir  die  Geduld!  —  von 
mir  aus  soll  — 

Sie  (schreiend):  Du  schrcist  mit  mir,  weil  du 
kein  Gedächtnis  hast!  Du  weißt  nicht  mehr,  wem 
du  grüßt!  Du  grüßt  Leute,  wo  es  nicht  nötig  is,  und 
wo  es  ja  nötig  is,  grüßt  du  nicht!  Jedesmal  am  Graben 
muß  ich  dich  stoßen!  Ich  hab  für  dich  gearbeitet  — 
du  —  weißt  du,  was  du  ohne  mich  bist?  Ohne  mich 
bist  du  ein  Tineff  für  die  Gesellschaft! 


11 


Er  (sich  die  Otiren  zulialtend,  mit  einem  Blick  zum  Plafond); 
Ordinär  — !    (nach  einer  Pause,  in  der  er  herumgeht)     Möchtest 

du  jetzt   die    Güte   haben    —    bist  du  jetzt  vielleicht 
beruhigt  —  also  sag  mir  — 

Sie:  Grad  sag  ichs  nicht —  Sonntag  —  wie  sie 
alle  um  das  Bett  gestanden  sind  —  ich  bin  vorgegangen 
—  alle  sind  sie  — 

Er:  Moment!  Laß  mich  ausreden  —  im  ganzen 
Belegraum  — 

Sie  (schreiend):  Du  quälst  mich  aufs  Blut  —  jetzt 
tust  du  als  ob  du  nicht  bis  drei  zählen  könntest  — . 
ich   lauf   mir  die  Füße   wund  — 

Er:  Das  weiß  ich  zu  schätzen.  Leicht  is  es  nicht. 

Sie:  Also  gib  Ruh  und  bohr  nicht  in  mich  — 
daß  du's  endlich  weißt  und  frag  mich  nicht  mehr  —  ich 
hab  Recht  und  nicht  du  —  ich  hab  dir  gesagt,  Sonntag 
hat  man  uns  bemerkt,  wie  sie  beim  Bett  gestanden  sind  — 

Er:  Noo-o!  Also  beim  Bett  —  mir  scheint,  du 
redst  dir  da  was  ein  — 

Sie:  So  wahr  ich  da  leb!  Beim  Bett  von  dem 
Soldaten,  wo  der  Primarius  alles  gezeigt  hat  — 

Er:  Ah  jetzt  —  weiß  ich!  Was  sagst  du  nicht 
gleich?  Der  mit  den  abgefrorenen  Füßen!? 

Sie:  Ja  —  und  mit  der  Tapferkeitsmedaille ! 


12 


Ein  Prophet 

5.  September  1848. 

—  —  —  Mein  Leben  und  mein  Geist  sind  im 
leeren  Räume,  und  die  Tiefe  des  Schmerzes  ein  un- 
ergründliclier  Abgrund,  da  ich  vergebens  das  darin 
versunkene  theure  Vaterland  noch  zu  erblicken  suche. 
Ach !  armes  Vaterland !  zerfleischt  von  Juden  und 
Knaben,  zerwühlt  von  deinen  eigenen  Söhnen,  gequack- 
salbert von  der  Ignoranz  und  Anmassung! 

19.  September  1848. 

Derjenige,  welcher  mit  eigenen  Augen  die 
erschreckliche  Verwirrung  der  Geister  und  Thaten  sieht. 
Derjenige,  der  sich  überzeugt,  wie  Keiner  der  Schau- 
thäter  weiß,  welches  Stück  eigentlich  aufgeführt  wird, 
wie  Keiner  das  Geheimniß  seiner  eigenen  Rolle  kennt, 
muß  entweder  die  Geschichte  wie  eine  beängstigende 
Komödie  ansehen,  welche  der  Zufall  mit  menschlichen 
Puppen  spielt,  und  verzweifeln,  oder  an  die  Vorsehung 
glauben,  an  jene  unnennbare  höchste  Weisheit,  welche 
das  Chaos  ordnen  und  der  blinden  Bewegung  Wesen 
und  Gestalt  geben  wird,  die  jede  menschliche  Berech- 
nung als  eitle  Anmassung  zeichnet. 

Man  druckt  in  Wien,  so  viel  und  so  vielerlei, 
daß  die  Pressen  seufzen.  Man  hat  die  Freiheit  der 
Presse  erzwungen ;  es  ist  aber  noch  die  Fähigkeit 
ihres  Gebrauches  für  Schreiben  und  für  Lesen  zu 
erringen.  Es  ist  übrigens  eine  der  gewöhnlichen 
Täuschungen  unserer  Tage,  die  Gewährung  zum 
Gebrauche,  mit  der  Geschicklichkeit  des  Gebrauches 
zu  verwechseln;  das  Recht  des  Gedankens,  für  die 
Fähigkeit  des  Denkens,  das  Recht  zum  Handeln  für 
die  Kraft  der  That,  das  Recht  zur  Freiheit  schon  für 
die  Freiheit  selbst  anzusehen. 


—  13 


20.  September  1848. 

Unglückliches  Oestreich !  Theueres  Vaterland ! 
Gegen  Außen  stehst  Du  da  als  schwebender  Schatten. 
Da,  wo  Du  noch  Friede  hast,  bist  Du  ohne  Einfluß, 
und  dort,  wo  Deine  Helden  den  Sieg  erkämpften, 
wirst  Du,  von  Deinen  eigenen  entarteten  Söhnen  ver- 
rathen  und  Deines  guten  Rechtes  gefährdet.  Du 
kannst  nicht  auf  Deinen  nächsten  guten  Nachbar 
zählen,  denn  er  sieht  in  Dir  mit  Schauder  einen 
Kranken,  den  man  flieht,  um  nicht  angesteckt  zu 
werden.  Dein  Revoluzionsschwindel  kann  Dir  auch  bei 
den  Völkern  keine  Sympathie,  keine  Achtung  erringen, 
denn  er  ist  das  Ergebniß  feiger  Unwissenheit,  die 
Dich  als  Beute  dem  Auswurfe  der  Gesellschaft,  der 
Dich  fortschleppt  und  schändlich  mißbraucht,  Preis 
gibt!  Im  Innern  schnappst  Du  nach  Freiheit!  Weißt 
Du,  was  Freiheit  ist  ?  Für  Dich  ist  sie  nur  die 
schaudervolle  Macht,  Ehre,  Ruhm  und  Grösse  Deines 
Landes  zu  zerstören ;  Eigenthum,  Wohlstand,  Vertrauen 
und  Familienglück  zu  vernichten,  und  den  blutigsten 
wie  den  schmählichsten  Selbstmord,  an  Dir  selbst,  zu 
vollziehen. 

Ach!  wie  bin  ich  in  der  tiefsten  Seele  verwundet; 
Alles  reitzt  mich.  Alles  betrübt  mich  !  Der  Anblick 
des  Untergangs  der  Sonne  allein,  erleichtert  mein 
Herz.  Er  ist  das  Bild  des  Todes,  der  wahren  Freiheit, 
der  Befreiung  von  dem  Gefühle  des  kummervollen 
Schmerzes  über  die  Schmach  und  Erniedrigung  des 
herrlichen  Reiches,  dessen  ruhmvolle  Vergangenheit 
die  Schamröthe  über  die  unwürdige  Gegenwart  er- 
glühen macht. 

Aus  den  »Tagebüchern  des  Carl  Friedrich  Freiherrn 
Kübeck  von  Kübau«. 


14 


Verkündigung 


Am  Tag  des  Blutes  und  der  Auferstehung,  in 
dem  Blatt,  das  von  dieser  Welt  ist,  am  dreihundertsten 
Todestag  von  Shakespeare  und  Cervantes: 

Ich  habe  die  Ehre,   mich  vorzustellen 

Friedrich  Müller,  38  Jahre,  grosse  technische  Erfahrungen  im  praktischen 

Maschinenbau    und    im    kommerziellen    Aufbau     grosser     Sachen. 

Bekannte  Erfolge. 

Lange  in  Amerika  gelebt,  in  Europa  grosse  Abschlüsse  für  nordamerik. 

Firmen  getätigt,  in  Oesterreich-Ungarn  Geschäfte  begründet  und  Markt 

kennen  gelernt;  sehr  bekannt  in  der  Branche. 

Intime  praktische  Kenntnisse  in  Masch.-  und  mech.-Apparatenbau,  lang- 
jährige internationale  Beobachtungen  sich  fühlbar  macliender  Bedürfnisse 
des   Marktes,    last,    not   least,    ein  Plus  an   Energie  und  Unter- 
nehmungsgeist, Hessen  mich  die  Lücke  finden,  wo 

viel  Geld  leicht  zu  machen  ist. 

Der  amerik.  Erfolg  des  Artikels,  den  ich  vertrat,  genügte  mir  nicht: 

Besser    machen,    und    zwar    mit    den    Rohmaterialien    des    Inlandes, 

unabhängig  von  draussen  sein  —  das  war  mein  Ziel. 

Nach  jahrelanger  Arbeit  —  mit  eigenem  Kapital,  denn  ich  bin 
mein  eigener  Prophet  — gelang  mir  soeben  die  gänzliche  Umwälzung 
des  amerikanischen  Konstruktionsprinzips  und  es  entstand  nicht  nur  eine 
gänzlich  neue  Erfindung,  sondern  auch  eine  derartige  Vervollkommnung 
des  amerik.  Originals,  dass  meine  einfache  Maschine  eine  der  grössten 
Nützlichkeiten  des  privaten  und  ein  unentbehrlicher  Faktor  des  ge- 
schäftlichen Lebens  werden  muss;  so  sagen  einige  hervorragende 
Oesterreicher. 

Und  diesen  Artikel  —  die  eigene  Arbeit  meiner  besten  Jahre  —  will  ich 

Ihnen  in  fertigen,  pat.  Maschinen-Modellen  im  Gebrauche  praktisch  zeigen  und 

erklären  und  alles  Für  und  Wider  offen  und  ehrlich  mit  Ihnen  besprechen 

—  als  ob  Sie  mein  Bruder  wären. 


—  15 


Sie    sollen    sich    dann    selbst    Ihr   eigenes   Urteil  über  den  Wert  meiner 

Erfindung  bilden   und  sich  ruhig  klar  werden,  ob  Sie  an  dem  glücklichen 

Ergebnis  ernsten  Studiums  und  harter  Arbeit  mit  mir 

dick  verdienen 

wollen;  natürlich  bitte  ich  nur  dann  um  Ihre  Adresse,  wenn  Sie  ein 
ernster,  vermögender  Mann  sind,  Ihr  Kapital  investieren  und  ein 
grosser  Fabrikant  sein  wollen  (einzig  in  Europa),  und  —  nach 
behördlichen  Äusserungen  zu  schliessen  —  obendrein  sogar  gerade  jetzt 
noch  ein  gesuchter  Wohltäter. Gefl. Zuschriften  unter  „Fritz  Müller" 
an  Rudolf  Mosse,  Wien,  I.,  Seilerstätte  2. 

Er  kam,  wie  aus  der  Kanone  geschossen.  Er  war 
nicht  zu  erfinden.  Er  ist  erstanden.  So  muß  er  heißen. 
An  dem  Ort,  wo  das  Wunder  geschah,  sprach  der 
Dichter :  »Die  heutige  Zeit  kennt  keinen  tieferen  Drang, 
als  über  sich  selber  hinauszukommen.«  Aber  die  Zeit 
ist  erfüllt  und  er  ist  sein  eigener  Prophet.  Besser 
machen  war  sein  Ziel.  Und  er  ruft  den  Menschen, 
seinen  Bruder,  der  ein  ernster,  vermögender  Mann  ist. 
Und  lehrte  sie  dick  verdienen  bis  ans  Ende  der  Welt. 


16 


Inschriften 

Einem  schwerhörigen  Freunde 

Glaubst  du  noch  jetzt,  es  geh'  zu  Gott  empor? 
Mißtrau  dem  Aug,  hat  dich  getäuscht  dein  Ohr. 
Hätt'st  du  so  gut  gesehn,  v/ie  schlecht  gehört, 
du  wüßtest,  daß  sich's  gegen  Gott  empört. 

Dem  Schönfärber 

Der  beste  Teil  ist  noch  das  Eingeweide. 
Wie  rosig  malt  Kokoschka  manchen  Wicht! 
Ihn  zu  entlarven,  das  gelingt  ihm  nicht. 
Wie  anders  Schattenstein.  Der  malt  am  Kleide! 

Das  Buch  und  die  Frau 

Sprach  einem  Buch  sie  zu,  so  sprach's  ihr  zu. 
Es  machte  nicht  viel  Kopfzerbrechen, 
und  ließ  das  Herz  in  Ruh. 

Sprach  sie  von  einem  Buch,  so  sprach  sie  gut. 
Sie  haben  beide  mit  sich  sprechen  lassen, 
und  waren  leicht  zu  fassen. 

Doch  einmal  nahmen  beide  es  genau: 
die  Sprache  selbst  und  selbst  die  Frau. 
Sie  zeigten  höhern  Mut 
und  konnten  zu  einander  sprechen. 

Verzicht 

Man  sagt,  zu  sauer  seien  uns  die  Trauben. 

Sie  hängen  höher,  als  man  glaubt. 

Begehre  jeder,  was  er  raubt! 

Wir  glauben  nicht  mehr  an  die  Welt.   Wir  glauben. 


—  17  — 


Notizen 


Vorlesung  im  Kleinen  Konzerthaussaal,  17.  April: 
1.  Kierkegaard  und  die  Journalisten  /  Es  war  einmal  /  Ein 
2 V2  jähriges  Kind  zeichnet  Kriegsanleihe  /  Kinder  und  Vögel  sagen  die 
Wahrheit/ Elegie  auf  den  Tod  eines  Lautes  /  Der  kleine  Brockhaus  / 
Kriegsnamen  /So?  /  Endlich  I  /  Als  Liebesgabe  /  Gedankenleser  /  's  gibt 
nur  an  Durchhalter!/ Die  Panik.../  Die  Grüngekleideten  /  Zur  Darnach- 
achtung  /  Die  Direktionskrise  im  Deutschen  Volkstheater  /  Lichnowsky 
und  Barnowsky  /  Die  europäische  Melange  /  »Drückeberger  in  Frank- 
reich« etc.  /  >Benzinmangel  in  England«  etc.  /  »Papierknappheit  in  Italien«  / 
Bei  uns  ist  es  so!  /  Leben  und  Taten  der  Schalek  /  Weltwende. 
II.  Dialog  der  Geschlechter /Eeextraausgabeee  — I  III.  Gebet 
an  die  Sonne  von  Gibeon. 

Ein  Teil    des   Ertrags  wurde   der  Kinder-Schutz-  und   Rettungs- 
Gesellschaft  zugewendet. 


Die  nächste  Vorlesung  findet  in  demselben  Saal  am  12.  Mai  statt. 

Eine  Shakespeare-Feier  (Vorlesung  der  »Lustigen  Weiber  von 
Windsor«),  deren  gesamter  Ertrag  den  Gefangenen  in  Beresowka 
{Transbaikal)  gewidmet  wird,  folgt  am  24.  Mai. 


In  Nr.  418—422  ist  zu  lesen:  S.  32,  im  Shakespeare-Zitat,  4.  Zeile, 
statt:  „Mall"  Mal?;  S.  90,  9.  Zeile,  statt:  ,,nur  eine  Fürschtin  gibt" 
nur  eine  Fürschtin  gibt;  ebenda,  13.  Zeile,  statt:  ,, bekannt,  nichts" 
bekannt:  nichts;  S.  91,  13.  Zeile  von  unten,  statt:  ,, Lebensgüter  zu 
verteidigen"  Lebensgüter,  zu  verteidigen;  S,  93,  7.  Zeile,  statt:  „Völker, 
aber"  Völker;  aber;  ebenda,  im  3.  Zitat  ist  unter  den  Worten:  ,,gibt  es 
fast  gar   nicht''  nur  das  Wort /as/  als  gesperrt  zu  lesen. 


Bibliographisch  es:  »Der  Sozialismus  als  Ware«  von  Constantln 
Jurenew  (Bern)  im  , Arohiv  für  die  Geschichte  des  Sozialismus  und  der 
Arbeiterbewegung'  (herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Carl  Grünberg,  Wien), 
Band  VI,  Heft  2,  S  270  bis  272.  —  »Kultur,  Kunst  und  der  Krieg« 
von  Paul  Wengraf  (Verlag  Konegen,  Wien  1916;,  S.  64  bis  68. 


—  11 


EinTitelimletztenVorlesungsprogramm:  »Leben  und  Taten  der 
Schalek«  wies  auf  die  folgende,  an  jener  Stelle  gesprochene 
Erklärung  hin: 

Ich  wollte  nun  eine  jener  Glossen  vorlesen,  die  von  der 
eigentlichen  Heldin  dieser  großen  Zeit,  von  der  Schalek 
handeln  und  in  denen  sie,  wie  ich  hoffe,  als  eine  einprägsame  satirische 
Figur  fortleben  mag,  zur  Erbauung  der  Nachwelt,  die  sich  verflucht 
wundern  wird  und  von  der  ich  überhaupt  glaube,  dafi  sie  mich 
für  einen  der .  größten  Erfinder  dieser  technischen  Epoche  halten 
wird!  Ich  will  aber  keine  jener  Gestaltungen,  in  denen  ich  das 
Novum  einer  Jourjüdin,  die  sich  untersteht,  ihre  Neugierde  in 
Unterständen  zu  befriedigen,  das  Monstrum  eines  Bramarbas  mit 
Lorgnon  festgehalten  habe,  dem  Gelächter  einer  Hörerschaft  preis- 
geben. Denn  abgesehen  davon,  daß  die  Wirklichkeit,  dieser 
täglich  nachwachsende  Teufel,  den  Hohn  zuschanden  macht  und 
der  täglich  erneute  Heldenmut  der  Schalek  neue  Preislieder 
verlangt,  abgesehen  davon  ist  die  Sache  viel  zu  traurig!  Wohl  ist 
die  Schalek  an  und  für  sich  eines  der  ärgsten  Kriegsgreuel,  die  der 
Menschenwürde  in  diesem  Kriege  angetan  wurden.  Aber  darüberhinaus 
bietet  sie  noch  das  Schauspiel  einer  Entartung,  das  unsere 
besondere  kulturelle  Situation  als  eine  vor  dem  übrigen  Europa  weit 
avancierte  zeigt.  Denn  es  ist  möglich  geworden  —  und  ich  sage  das  mit 
deutlicher  Betonung  gegenüber  einer  Schreiberin,  die  den  Anspruch 
erhebt,  wehrfähig  zu  sein!  —  es  ist  möglich  geworden,  daß 
unsere  Öffentlichkeit  die  obszönen  Tagebuchblätter  vorgesetzt 
bekommt,  die  ein  Frauenzimmer  verfaßt  hat,  das  sich  für 
seine  Weiblichkeit  kein  anderes  Feld  der  Anregung  zu 
verschaffen  wußte  als  das  Feld  der  Ehre  —  ausgerechnet!  Pfui 
Teufeil  Auf  Galanterie  erhebt  dieser  Kriegsberichterstatter 
keinen  Anspruch.  Aber  mit  tiefer  Betrübnis  wollen  wir  der 
Tatsache  eingedenk  bleiben,  daß  sie  —  sie  durfte  sich  dessen 
rühmen!  —  in  allen  Felsenklüften,  wo  jetzt  Menschen  schießen  und 
geschossen  werden,  einen  gedeckten  Tisch  gefunden  hat,  und  daß 
tapfere  Soldaten  noch  immer  die  Todesverachtung 
der  Schalekverachtung  vorziehen  und  der  Verachtung 
einer  Dreckpresse,  gegen  deren  entsetzliche  Macht  ich  als 
wahrer  Patriot  und  Freund  der  Menschheit  meinemVaterlandmehr 
Mut  wünschen  möchte  als  gegen  seine   sämtlichen  Feinde! 


—  19 


Nur  damit  man  sehe,  daß  ich  einem  Bericht  der  Schalek 
auch  eine  Wahrheit,  eine  mein  Herz  folternde  Wahrheit  entnehmen 
kann,  will  ich  die  folgende  Gegenüberstellung,  die  ich  ihr  verdanke, 
bekanntmachen : 


— Das  sind  die   alten 

Arbeiter,  die  mit  ihren  Tragtieren 
Naclit  für  Naclit  den  Proviant  zu 
den  Stellungen  bringen  —  —  — 
ob  er  Angst  vor  Granaten  empfindet, 
ob  er  Kinder  im  Felde  hat  oder 
daheim  ein  hungerndes  Weib  —  fragt 
einer  darnach?  Im  Finstern,  im 
Regen,  in  der  Bora  und  zwischen 
Granaten  hindurch  trottet  er  immer 
wieder    500    Meter    bergauf     und 

bergab.  Armer  alter  Held! 

Ich  wünschte,  ich  vermöchte  das 
Bild  ihres  eintönigen,  allnächt- 
lichen Marsches  durch  die 
Feuerlinie  mit  stählernen  Worten 
zu  schildern,  tief  in  die  Seele 
wollt'  ich   es  jedem  prägen 

»Ihr  Hörn  Viecher,  ihr  gottver- 
dammten I  Werd's  auseinander- 
rücken I  Müßt  ihr  von  einer  Granate 
alle     gleichzeitig      hin     werden?« 

Man  —  hat  —  gewartet! 


Mitten  in  meine  andächtige  Be- 
wunderung tönt  es  hinein,  kräftig 
und  nicht  mißzuverstehen.  »En  t- 
schuldigen  Sie  den  tempera- 
mentvollen Empfang,«;  begrüßt 
mich  lachend  der  Kommandant 
—  —  Alle  Herren  sind  zu 
unserem  Empfange  oben  ver- 
sammelt. Sonst  hockt  jeder  wohl- 
gedeckt oder  er  schläft,  jedenfalls 
hütet  er  sich  sehr,  hier  offen 
spazieren  zugehen.  Aber  weil  der 
erste  Kriegsberichterstatter 
angekündigtwordenist,  sitzen 
die  Herren  gemütlich  wie  im  Rathaus- 
keller beisammen  und  erwarten 
uns  —  —  —  Man  hat  mit 
der  Beschießung  gewartet, 
bis  wir  oben  angelangt  sind, 
weil  sonst  das  »Vergeltungs- 
schießen« uns  den  Weg  recht  un- 
angenehm hätte  gestalten    können. 


Zu  diesem  Thema  sei  nunmehr  auch  nachgetragen,  daß  man 
bei  mir  Einblick  in  die  zahlreichen  Zuschriften  von  der  Front  nehmen 
kann,mitdenen  mir  Offizierealler  Grade,  einzelne  und  Offiziersmessen, 
ihren  Dank  für  die  Besprechung  dieses  Schauspiels  abstatten,  das  sich 
vor  ihren  Augen  abspielen  darf  und  die  Trauer  jenes,  in  dem  sie 
mitwirken,  ihnen  selbst  vermehrt. 


—  20  — 


In  dem  Roman  »Die  Vogesenwacht«  erzählt  Anny  Wothe  —  Seite 
57  bis  59  — ,  wie  dem  Unteroffizier  Meisel  im  Felde  seine  Frau  die  Geburt  eines 
Jungen  mitteilt.  »Jott  sei  Dank  wieder  een  Soldat, <  schreibt  die  Frau 
ihrem  Manne.  Sie  habe  ihren  Jungen  Wilhelm  genannt  nach  dem  Kaiser, 
weil  sie  meint,  >der  Junge  muß  dann  ooch  so  kreuzbrav,  so  frei  und 
fest  werden,  wie  unser  Kaiser  is,  und  druff  schlagen,  dat  de  Stücken 
man  so  fliegen«.  Und  dann  heißt  es  in  dem  Briefe:  »Ik  kann  bald 
wieder  arbeeten,  und  ik  wer  die  fünfe  schon  satt  kriegen.  Die  Jungen 
beten  alle  Dag e,  du  solltest  recht  ville  Franzosen  dotschlagen. 
Ik  bete  oock,  aber  nicht  um  Dein  Leben.  Det  steht  bei  Jott.  Ik 
beet,  det  Du  ordentlich  deine  Pflicht  dust,  det  Du  nich  ruckst, 
wenn  de  Kugel  kommt,  un  det  Du  ruhig  stirbst,  wenn  et  sein 
muß,  vor  unser  Vaterland,  un  unsern  Kaiser,  un  nich  an  uns  denkst. .  . 
Und  wenn  Du  vor  Deinen  Hauptmann  sterben  kannst,  so 
denke  och  nich  an  uns...  Die  fünfe  grüßen  Dir  mit  mir.  Bei  der 
Taufe  von  Wilhelm  wollen  sie  >Heil  dir  im  Siegerkranz«  singen,  womit 
ik  verbleibe  Deine  treue  Jattin.«  .  .  .  Der  Hauptmann  hatte  einen 
Augenblick  die  Hand  über  die  Augen  gelegt,  um  die  tiefe  Bewegung 
zu  verbergen.  Er  streckte  seinem  Unteroffizier  die  Hand  entgegen  und 
lobte  ihn:  Sie  können  stolz  sein  auf  Ihre  Frau.«  .  .  . 


Eine  Jötterjattin. 


Der  , Kunstwart',  der  jetzt  selbstverständlich  .Deutscher  Wille' 
heißt,  aber  schon  im  Frieden  ein  rechtschaffener  Schund  war,  also 
mehr  deutscher  Wart  als  Kunstwille,  bringt  aus  der  Feder  des 
unverwüstlichen  Avenarius  —  ein  Fremdwort,  das  man  nun  einmal 
hinnehmen  muß  —  die  folgende  charmante  Anregung: 

Das  vergnügte  Büchel 

Die  im  Felde  wollen  nicht  immer  aus  dem  Sauertopf 
essen,  sie  wollen  auch  was  Fröhliches  haben,  sie  erst  recht.  So  hat  der 
Kunstwart  von  Avenarius'  Fröhlichem  Buch  einen  Auszug  auf 
Dünnd  ruckpap  ier  als  Taschenausgabe  soeben  herausgegeben.  Schicke 
mandenalsOstergruß  hinaus,  das  >  Vergnügte  Büchel«  findet  ja  hoffentlich 
seinen  gesetzten  Bruder,  die  Taschenausgabe  vom  >Hausbuch« 
draußen  schon  vor.  Es  selber  bringt  zwar  die  eingehefteten  Bilder- 
beilagen des  »Fröhlichen  Buches«  nicht,  aber  eingedruckt  eine  große 
Menge  der  geist-  und  sinnreichsten  Zeichnungen  der  deutschen  Kunst. 
Auch  diese  »bedenklich  verkleinerte«  Ausgabe  ist  immer  noch  nicht 
weniger  als  376  Seiten  stark.  Dabei  kostet  sie  in  lustigem  Einbände 


21   — 


doch  trotz  der  teuren  Zeiten  nur  zwei  Mark.  Mit  dem  >Fröhlichen 
Buch<,  von  dem  schon  50000  Stück  gedruckt  sind,  kam  der  Humor 
als  Seelsorger  ins  deutsche  Haus,  mit  dem  »Vergnügten  Büchel« 
zieht  er  als  Kamerad  Feldgeistlicher  in  die  Gräben. 

Ist  das  ein  Vokativus  dieser  Avenarius!  Einen  Schluck  aus 
des  Kunstwarts  Humor  und  dann  sterben !  Aber  läßt  sich  der  Tod 
das  wirklich  gefallen?  Macht  er  nicht  den  Soldaten  lebendig  und 
nimmt  mit  dem  Seelsorger  vorlieb?  Im  Schützengraben  soll's  erst 
heiter  werden,  wenn  Kamerad  Feldgeistlicher  dran  glauben  mußte. 
Welch  eine  Bagage!  Warum  wirft  der  Soldat,  ohne  sich  erst  auf 
umständliche  Unterscheidungen  zwischen  dem  Fröhlichen  Buch 
und  dem  Vergnügten  Büchel  einzulassen,  dem  guten  Kameraden 
nicht  beide  an  den  Schädel  und  seinen  Sauertopf  dazu?  Nach 
so  viel   Humor  soll  doch  endlich  einmal  Ernst   gemacht  werden ! 


» —  —  —  — -  —  Gott  ist  ihm  weit  mehr  als  ein  theologischer 
Begriff;  er  wird  ihm,  ohne  dabei  ein  >Gott  der  Deutschen«  zu  werden, 
gerade  in  der  Schlacht  in  seiner  ganzen  überwältigenden  Größe  bewußt. 
In  einer  packenden,  weit  mehr  als  geistreichen  Umwertung  schließt  er 
ein  Gedicht,  in  dem  die  Bajonette  aufgepflanzte  Kreuze,  die  Schrapnelle 
Weihwasser  sind,  die  Granaten  Weihrauch  qualmen,  die  Handgranaten 
am  Gürtel  Rosenkränze  bedeuten  und  das  Händefalten  zum  Krallen  um 
Gurkhagurgeln  wird,  mit  den  Worten: 

»Und  wir  kreuzigen  die  Liebe, 
Daß  sie  euch  erlösen  will.« 
Von  diesem   religiösen  Erleben   kommt   er  zur  Vaterlandsliebe: 
>So  muß  das  deutsche  Vaterland 
Sieb  selber  Heiland  werden. 
Bis  daß  durch  seine  starke  Hand 
Der  Friede  kommt  auf  Erden. 
Bis  daß  das  schwere  Werk  vollbracht 
Und  neu  die  Welt  gereinigt. 
Bis  Schicksalsgang  und  unsre  Macht 
In  uns  sich  hat  vereinigt. 
Und   so  lang   muß  noch    Weib  und  Mann 
Den  Weg  des  Leidens  gehen, 
Bis  über  Tod  und  Not  hinan 
Kommt  groß  das  Auferstehen.« 


22  — 


Hier  zeigt  er,  wie  starlc  in  ihm  Religiosität  und  nationales 
Empfinden  verknüpft  sind,  und  zwar  in  einer  durchaus  unkonfessionellefi 
Weise:  in  der  Art,  wie  wir  Deutsche  nun  einmal  zu  allerletzt  den  Begriff 
Religion  fassen.  Im  engeren  Sinne  ist  nun  freilich  L.  schon  deshalb  ein 
guter  Deutscher,  weil  er  ein  guter  Soldat  ist.« 

Und  außerdem  noch  leider  identisch  mit  dem  guten  Kessel- 
schmied, welcher  hier  kürzlich  um  jenes  Naturlautes  willen  gerühmt 
wurde,  der  die  ganze  Schmach  der  deutschen  Kriegslyrik  weg- 
zurufen schien.  Die  Poesie  ist  heutzutage  eine  so  zweideutige 
Beschäftigung,,  daß  man  das  dichterische  Wertobjekt  nicht  rühmen 
darf,  ehe  man  sich  vergewissert  hat,  ob  es  einen  Schöpfer  oder  nur 
einen  Besitzer  hat.  Aber  das  Lerchengedicht  wurde  hier  nicht  als 
Kunstwerk,  sondern  als  Dokument  gewertet  und  sicherlich  ist,  was 
auch  literarische  Anpassungsfähigkeit  an  vorhandene  Stimmungswene 
sein  könnte,  hier  der  innere  Umschwung  einer  reinen  Seele. 
Denn  der  Durchbruchsversuch  der  Menschlichkeit  in  diesem 
Krieg  war  ja  eben  das  Neue.  Der  Autor  war  nur  so 
I  weit  Literat,  als  der  Rausch  der  gehirnstürmenden  Phrase  den 
L  Dilettanten  dazu  machen  konnte,  später  erst  wurde  er  wieder 
der  Kesselschmied,  der  er  vorher  war,  und  schrieb  das 
«  Gedicht  von  der  Lerche.  Von  der  Andacht  vor  umkrallten 
Gurkhagurgeln  bis  dahin  ist  ein  weiter  und  furchtbarer  Weg; 
nicht  jeder,  der  deutsch  sprechen  kann,  ist  ihn  so  reuig%gegangen. 
Es  mußte  hier  aber  zurückgeschaut  werden,  damit  nicht  der 
Verdacht  aufkomme,  ich  hätte  einen  Kriegslyriker,  von  dem  ich 
nur  eine  Probe  kannte  und  nicht  das  Buch,  geschweige  denn 
den  Menschen,  vorschnell  gerühmt.  Welche  Verschiebungen  nebst 
allem  andern  »des  halben  Jahres  Krieg  über  die  Erde  gebracht«, 
mag  das  Beispiel  eines  aus  der  Fackel  hervorgegangenen  Lyrikere 
zeigen,  der,  als  die  Zeit  plötzlich  groß  wurde,  an  jenem  übelsten 
Ort,  wo  Blut  sich  mit  Druckerschwärze  zum  Humor  verbindet, 
ein  Schützengrabengedicht  abgelagert  hat,  worin  er  beteuerte, 
daß  er  nichts  anderes  im  Sinn  habe,  als  Wut  gegen  die  >russische 
Kanaille«  und  Glut  auf  die  >güldene  Medaille«,  und  solchem 
Vorrat  von  Sehnsucht  Rhythmus  gab.  Später  aber  hat  er  das 
Bekenntnis  abgelegt: 

.  .  .  Diese  »Katakomben«  sind  endlich  das  Ereignis,  von  dem  ich 
fürchtete,  es  könnte  ausbleiben.  Umso  unwahrscheinlicher  und  grauenhafter 
wirkt  es  jetzt,  daß  im  Kriege  fast  alle  Geister  versagt  haben.  Nur  K.  vermochte 


—  23 


es,  in  74  Seiten  Prosa  (>Nachts«)  alles  zu  leisten,  was  eine  Myriade  von 
Schriftstellern  in  einer  ganzen  Kriegsbibliothek  antileistete.  Der  Krieg 
hat  K.  nicht  gebrochen,  im  Gegenteil,  er  hat  ihn  erst  so  recht  bestätigt, 
begründet,  unterstrichen!  Ich  ....  habe  das,  was  er  gestaltet,  alles  mit 
unsäglichsten  Gefühlen  erlebt  und  bin  fast  erstickt  an  dem  Bewußtsein 
meiner  S  t  u  m  m  h  e  i  t,  meiner  ewigen  Stummheit ....  Wenn  ich  irgendetwas 
vom  Krieg  gelernt  haben  sollte,  so  ist  es  gerade  das,  was  K.,  da  es 
mit  ihm  geboren  war,  schon  vor  dem  Kriege  wußte  ....  Ich  werde 
meinen  Dank  geistig  bewirken  und  das,  was  ich  hier  sage,  jederzeit 
und  unter  allen  Umständen  sagen.  Es  steht  fest,  außer  und  über 
aller  Wandlung. 

So  darf  es  auch  hier  gesagt  sein.  Und  nichts  wäre  erfreuh'clier 
als  eine  Wandlung  bis  dorthin,  wo  man  nicht  bereuen  muß,  weil 
man  vergaß,  daß  man  sich  vergessen  konnte.  Ich  bin  der  letzte, 
einer  Begabung,  die  sich  hinreißen  ließ,  zu  sprechen,  was  Millionen 
nicht  empfinden,  noch  dann  zu  mißtrauen,  wenn  sie  wieder  den 
Anschluß  an  ein  Gefühl  gefunden  hat.  Von  den  tausend  Anhängern, 
die  ich  durch  die  Lockung  jenes  andern  Machtworts  losgeworden 
bin,  unter  dessen  Gebot  man  die  Persönlichkeit  nicht  sein  darf, 
die  man  ehedem  nicht  sein  konn.te,  fehlt  mir  keiner  und  in 
all  dem  verwünschten  Chaos  gibt  mir  noch  der  Gedanke  Ruhe,  daß 
es  auch  den  Verehrern  eine  Erleichte- ung  war,  nun  zu  den  Verheerern 
zählen  zu  müssen,  zu  können.  Aber  ich  habe  kein  Recht,  den 
nicht  zu  achten,  der  zwar  durch  eine  Probe  von  Selbstverleugnung, 
die  ein  schlechteres  Heldentum  ist  als  das  des  Schützengrabens, 
zur  Kriegslyrik  gekommen  war,  aber  dann  durch  einen  Akt 
des  Vergessens,  der  ein  besseres  Heldentum  ist,  als  das  der 
Schützengrabenpoesie,  wieder  zur  Besinnung  kam.  Nicht  zu 
mir,  aber  zu  sich.  Denn  es  würde  mir  leid  tun,  nicht  glauben 
zu  sollen,  daß  in  vier  Zeilen,  die  hier  einmal  veröffentlicht  waren: 
»W.enn  der  Tag  zu  Ende  gebrannt  ist  /  ist  es  schwer  nach  Hause 
zu  gehn  /  wo  viermal  die  starre  Wand  ist  /  und  die  leeren  Stühle 
stehn«  —  mehr  Leben  und  Erlebnis  ist  als  in  einem  Weltbrand, 
der  eben  begonnen  hat. 


Ein  langer  Satz,  der  aber  dafür  auch  alles  enthält.  Nämlich: 

Eines  unter  jenen  Tinterln,  die  jetzt  Bluterl  sind,  aber  eines, 

das  schon  im  Frieden  ein  Krafttinterl  war,   unruhig  hin  und  her 


—  24 


bewegt  zwischen  dem  Herrn  Roosevelt  (der  auch  Shaw  heißt)  und 
trotzalledem  mir,  an  dem  es  litt  wie  alle:  so  daß  es  mich  in  einem 
Stil  von  meinem  Stil  —  und  keine  größere  Strafe  gibt  es  doch  als 
meinen  Stil  in  fremder  Hand  — ,  mit  einer  Wutverzerrung  meines 
Gesichts  in  Broschüren  beschimpfte,  deren  Absatz  von  meinem 
Namen  auf  dem  Titelblatt  garantiert,  aber  nicht  durchgesetzt  wurde  ; 
einer  von  den  vielen,  die  im  Konflikt  zwischen  dem  Erlebnis  meiner 
Gegenwart  und  dem  tiefer  gefühlten  ihrer  Unwesenheit  aufgewachsen 
sind,  aber  ein  ganzer  Mann,  weil  er  außer  für  mich  ja  auch  noch  für 
die  Elektrodynamik  schwärmte,  und  dessen  Schreiben  ein  Amoklauf 
war  in  der  Reportage,  ein  epileptischer  Anfall  auf  mich,  ein  Krampf- 
husten vom  Hin  und  Her  zwischen  solchen  Sphären;  hei,  ein  frisch 
Zugreifender,  dessen  geistige  Verläßlichkeit  meine  Abstellung  des 
Falles  Harden  auf  die  mir  neue  Tatsache  zurückführte,  daß  er  mit 
Bierbaum  befreundet  war,  den  ich  eben  deshalb  wieder  >Bierbaum- 
bach«  nannte,  was  ich  schon  zwanzig  Jahre  vorher  tat,  und  so,  oder 
umgekehrt;  viel  Rotz,  jetzt  gewaffnet,  hat  sich  gegen  mich  erhoben, 
mich  mit  sich  selbst  beworfen,  mich  gar  zu  psychoanalysieren  gesucht: 
dieser  aber  war  aus  Erz,  höchstens  daß  auch  er  leider,  auch  er,  schade, 
schade,  ein  so  gesundes  Gehirn,  sich  vorübergehend  dazu  hinreißen 
ließ,  mein  Werk  aus  dem  »Inzestmotiv«  zu  erklären;  —  mit  einem 
Wort,  so  einer  hat  jetzt,  hei,  nebbich,  einen  Artikel  geschrieben, 
>Isonzobibel<,  der  beginnt  schlicht  und  herb:  »Wir  sind  Frontleute«, 
erhebt  —  ein  männlicher,  aber  nicht  ganz  so  männlicher  Schalek 
—  Anspruch  auf  Heiligerklärung  durch  die  Nachwelt,  und  beweist 
immerhin,  daß  wir  am  Isonzo  noch  die  Geistesgegenwart  hatten,  an 
S.  Fischer  Berlin,  zu  denken,  unsern  Lieben  in  der  Heimat ;  selbstredend 
wird  es  jetzt  ein  ganz  neues  Österreich,  bis  dahin  hatte  die  Generation 
gelitten,  wie  die  Juden  in  der  Wüste  —  der  Vergleich  liegt  so  nahe, 
daß  er  fast  gar  keiner  ist  —  hatten  sie  Prüfungen  zu  bestehen, 
die  vom  akademischen  Verband,  nämlich  außer  den  Staatsprüfung^en, 
die  sie  nicht  bestanden;  wie  Pferde  im  Stall  —  der  Vergleich  ist 
schmeichelhaft,  denn  er  ist  von  mir  —  nein,  wie  Automobile  in 
der  Garage,  haben  sie  ungeduldig  gestampft,  Taten  zu  tun  waren 
sie  gesonnen,  fähig  und  bereit,  aber  man  hat  sie  nicht  gelassen  —  und 
jetzt,  ah,  wie  das  wohltut:  jetzt  wird  das  Leben  einfach  angekurbelt 
werden,  siehste  so,  und  es  wird  gehen,  nur  daß  man  früher,  um 
zu  zeigen,  daß  man  4  Wochen  in  Amerika  war,  also  beinahe  ein 
Cowboy,  bei  jeder  Gelegenheit,  zum  Beispiel  statt  guten  Tag 
»allright!<  gesagt  hat,  während  man  das  jetzt  nicht  mehr  darf, 
sondern  Gott  strafe  Amerika  sagen  wird  oder  schlicht:  m.  w.,  also 
mit  einem  Wort  wie  die  Juden  in  der  Wüste  hatten  sie  gelitten. 

Aber  waren  wir  nicht  weniger  wehleidig?  Machten  wir  nicht 
weniger  Wesens  daraus?  Es  soll  noch  geschehen.  Wir  wollen 
hernach,  in  den  friedlichen  Jahren,  ein  Wesens  daraus  machen,  zum 
ewigen  Gedenken  und  zur  Erbauung  und  Besinnung  behaglicherer 
Menschheit. 


—  25 


Da  haben  wir's.  Das  ist  es,  was  ich  immer  befürchtet  hatte. 
Die  Generation  war  bescheiden,  sie  hat  sich  in  Adjektiven  aus- 
gelebt, und  das  rächt  sich  jetzt.  Aber  es  wird  kein  prunkender 
Kriegsbericht,  sondern  nur  eine  anspruchslose  Bibel  werden: 

Wir  wollen  unsere  Bibel  noch  in  Demut  und  Bescheidenheit 
erst  schreiben,  nicht  eine  prunkende  Geschichte  aus  dem  Ärmel  ge- 
schüttelter Siege.  .  .  .  Unsern  Sieg  wollen  wir  feiern,  weil  er  uns 
instandsetzt,  unsere  Bibel  zu  schreiben,  unsere  Psalmen  zu  sammeln, 
unsere  Choräle  zu  erheben.  .  .  .  Und  so  wollen  wir  unsern  Sieg  feiern 
in  einer  alltäglichen  Sprache  und  Art. 

Da  hat  sich  schneller  als  man  geahnt  hätte  eine  Gelegenheit 
geboten.  Wir  sind  Frontleute.  Frisch  vom  Isonzo  kommt  einer 
nach  Wien,  um  das  folgende  Referat  zu  übernehmen: 

Der  regenerierte  Verein  für  Kunst  und  Kultur  hat  es  als  Nach- 
folger des  ehemaligenakademischen  Verbandes  unternommen,  ein  nach- 
gerade allgemeines  Bedürfnis  zu  decken  und  die  Genießer- 
solidarität einer  gewissen  Wiener  intellektuellen  Schicht 
wiederherzustellen.  Der  erste  Versuch  war  vielversprechend.  Er  gelang 
im  diskreten  Format  einer  Alfred  Grunewald-Vorlesung;  Ort:  Saal  des 
Wissenschaftlichen  Klubs:  äußerer  Umfang:  voller  Saal.  Alfred  Grünewald 
kennt  man.  Vor  nicht  ganz  10  Jahren  wurde  er  unter  der  Serie 
jungdeutscher  Lyrik  mit  George  und  Rilke  zugleich  genannt.  (I)  .  .  .  Seine 
Entwicklung  ....  zeigt  .  .  eine  Art  dichterischen  Gewerbefleißes,  die 
Solidarität,  die  bürgerliche  Dämonie,  die  patriarchisch-legendarische 
Autorität  eines  Hans  Sachs....  Modern  und  entzückend  für  den 
Hörer  ist  der  Wörterwille  des  Dichters,  seine  schaffigen  Bilder 
sind  tüchtig  und  ehrenwert  wie  Prosaisteneinfall;  dies  muß  zur  heutigen 
guten  Stunde  unserer  deutschen  Prosa  als  ein  Lob  für  den  Lyriker 
genommen  werden ...  Sie  (die  Vorleserin)  stilisierte  die  an  und  für  sich 
melodischeLyrikzurNoch-einmal-Melodie,  zu  einem  zweiten,  sehr  schlichten 
Gesang,  zu  sich:  zu  melodisch  für  den  immerhin  männlichen  Dichter, 
aber  reizend  musiziert  aus  dereigenen  streng  getonten  Seele(der,  neben- 
bei, auch  das  schnittig  geschulte  Gesicht  im  Halbdunkel  entsprach.)- 
Grünewald  selbst  als  Sprecher  in  seiner  trockenen,  verknaxten,  stets 
vom  Leben  erreichten  und  poetisch  deformierten,  in  seiner 
(wenn  bewährt,  schön  erklingend)  steifen  Haltung,  seiner 
fähigen  Stimme,  seiner  barocken  Figurenfreude  war  eine  Nummer. 
>Kunst  und  Kultur«  möge  deren  mehr  erbringen. 

Krieg  ist  Krieg. 


»Pau|  Wegener  ist  als  Filmdarsteller  für  die  Berliner  Filmfabrik 
.Union'  vef^flichtet  worden.  Er  wird  ziemlich  zwei  Films  herstellen^ 
für  die  er  ein  verträgliches  Honorar  von  60.000  iMark  erhält. < 

Welch  eine  Friedenswelt! 


26  — 


Es  kommt  die  Zeit,  wo  im  Hinterland  viel  geschossen  werden 
wird.  Aber  warum  darf  man  es  nicht  jetzt  schon  in  Fällen,  wo  es 
angebracht  ist?  Zum  Beispiel: 

Mk.  100.—  Prämie  


für  das  beste  Gedicht  I 

Kriegsgedichte! 

Ernst,  Humor,  Satire,  Ironie,  Scherz,  nur 
selbst  verfaßte,  aus  allen  Schichten  des 
Volkes  gesucht  für  unser  nationales  Sam- 
melwerk Deutsch -österreichische  >Volks- 
pöesie  aus  großer  Zeit*.  (Rücksendung 
der  Manuskripte  findet  nur  bei  Portobei- 
fügung statt.)  Annahme  von  nur  Original- 
gedichten bis  31.  März 

Hall    &   Ackermann, 

Deutscher   Literatur-Verlag,    Köln    a.    Rh. 

Antwerpenerstraße  4. 


Es  meldeten  sich  Freiwillige  in  unübersehbarer  Zahl,  Sie  alle 
"wurden  genommen.  Und  zwar  so: 

Deutscher  Literatur-Verlag 
Hall  &  Ackermann 
Baarzahlungen 
werden  erbeten  auf  Reichsbank-Giroconto 

des  Barmer  Bank-Vereines  Köln  a.  Rh.  den  10.  April  1916 

Hinsberg,  Fischer  &  Comp.,  Köln        Direktion:  Agrippina-Haos 

Herrn  .... 

Wien  .... 
Anschließend  an  unsere  Karte  teilen  wir  Ihnen  mit,  daß  das  von  Ihnen 
eingesandte  Gedicht  »....«  in  unserem  nationalhistorischen  Werke 

„>Volks-Poesie  aus  großer  Zeitc 
Band  I.  aufgenommen  wird.  Die  Prämiierung  des  besten  Gedichtes  wird 
bei  Drucklegung  der  Gesamtmanuskripte  unter  Leitung  unseres  literarischen 
Mitarbeiters,  Herrn  Schriftsteller  und  Nationaldichter  Hall 
erfolgen  und  ist  ihr  Gedicht  unter  No.  .  .  bereits  mit  in  die 
eng.ere  Wahl  gefallen. 

In  Anbetracht  des  einzig  und  unerreich  t  dastehenden 
ku  turhistorischen  Werkes  und  ganz  besonders  auf  Anregung 
unserer  vielen  Mitarbeiter,  hoher  und  höchster  HÄrschaften 
haben  wir,  spec.  auch  um  der  allgewaltigen  großen  N  aMonalsache 
Rechnung  zu  tragen,  uns  entschlossen,  im  Werk  nicht  nur  die  Namen 
der  Verfasser  und  Verfasserinnen,  sondern  gleichzeitig  auch  das  Bildnis 
derselben  mit  aufzunehmen,  um  der  Nachwelt  ein  ganz  eigenartiges 


—  27 


Zeitdokumera  zu  überliefern,  um  der  Jugend  der  Zukunft  im  Spiegel 
der  Literatur  die  Größe  unserer  heutigen  Zeit  anschaulich 
und  lehrreich  vor  Augen  zu  führen. 

Da  wir  mit  der  Drucklegung  in  etwa  8  Tagen  beginnen,  so  bitten 
wir,  sofern  Sie  noch  Ihr  Bild  mitherein  haben  wollen,  um 
sofortige  Einsendung  der  Photographie. 

Die  Verbildlich ung  wird  einheitlich  gehalten  und  stellt  sich 
der  Durchschnitts-Selbstkostenpreis  für  Klichee  etc.  auf  nur 
Mark  5,80,  welcher  Betrag  uns  ebenfalls  mit  Einsendung  des  Photos 
zu  übersenden  wäre,  damit  wir  in  der  korrekten  Zusammen- 
stellung des  Ganzen  nicht  aufgehalten  werden. 

Wir  bemerken  aber  hierzu  ausdrücklich,  daß  das  Gedicht  auch 
ohne  Bild  aufgenommen  wird,  mithin  die  Aufnahme  nicht  von  der 
Verbildlichung  abhängt,  jedoch  möchten  wir  gerne,  da  einmal  der 
Wunsch  angeregt  ist,  auch  demzufolge  alles  einheitlich  gestalten 
und  für  alle  Zeiten  etwas  schaffen,  wie  solches  auf  dem  Gebiete 
der  Literatur  bisher  noch  nicht  herausgebracht  wurde.  Deshalb 
hoffen  wir,  daß  auch  Sie  sich  den  Wünschen  Anderer  mit  der  Tat 
anschließen  werden. 

Der  I.  Band  des  Werkes  wird  in  etwa  4  Wochen  erscheinen 
und  werden  wir  unseren  Mitarbeitern,  zu  denen  nun  auch  Sie  zählen, 
dasselbe  zum  Vorzugs-Groß-Buchhändlerpreise  überlassen.  Der 
genaue  Preis  kann  heute  noch  nicht  angegeben  werden,  da  wir  in 
Anbetracht  der  Prachtbandausführung  mit  Illustrationen  etc.  noch  nicht 
festlegend  kalkulieren  können.  Jedenfalls  wird  aber  der  Preis  auf 
Grund  der  nationalen  Sache  billig  sein. 

Sofern  Sie  sich  nun  auch  das  Werk  zulegen  wollen,  bitten  wir 
Sie,  da  die  erste  Auflage  schon  zum  größten  Teile  durch  den  Buch- 
handel vergriffen  ist,  uns  gleichzeitig  mitteilen  zu  wollen,  wieviel 
Exemplare  wir  evtl.  außerdem  für  Sie  reservieren  dürfen,  da  wir 
annehmen,  daß  Sie  doch  wohl  auch  in  Ihrem  Bekanntenkreise 
einige  Werke  unterzubringen  beabsichtigen. 

Wir  sehen  Ihren  postwendenden  Nachrichten  und  Einsendung 

an    unsere   Adresse    (Büro  Agrippina-Haus)    entgegen    und    zeichnen 

hochachtungsvoll 

Deutscher   Literatur-Verlag 

Hall  &  Ackermann 

R.  Ackermann 
«  « 

* 

>.  .  .  es  ist  durchsetzt  mit  einer  ins  Tragische  hinauf  gesteigerten 
Ironie;  es  vibriert  hierin  manchen  Zeilen  eine  so  tiefe,  gereizte  Bitterkeit, 
daß  man  wohl  annehmen  darf,  Shakespeare  habe  hier  die  eigenste 
schmerzliche  Welterfahrung  niedergelegt.  .  .  . 

.  .  .  Der  hier  erreichte  Grad  von  Welthaß  und  Weltverachtung 
wird  den  meisten  unverständlich  bleiben;  die  tragisch-ironische  Verzerrung 
der  ganzen  Welt  ist  dem  großen  Publikum  an  und  für  sich  kaum 
willkommen.  .  .  . 


28  — 


.  .  .  Die  Szenen  sind  voll  lebendigsten  Lebens;  Menschen-Art 
und  Menschen-Unart  findet  hier  einen  blanken,  mitunter  etwas  böse, 
immer  aber  geistreich  verzerrenden  Spiegel  .  .  .  .  « 

Das  war  irgendwo  über  »Troilus  und  Cressida«  zu  lesen. 
Wenn  somit  der  Dichter  der  Welt  zwar  etwas  böse,  aber  immerhin 
geistreich  mitspielt,  so  wird  ja  auch  das  große  Publikum  nicht 
mehr  böse  sein. 


Der  Stifter-Biograph,  Alois  Raimund  Hein,  schreibt: 

—  —  —  Hätte-  ich   nicht   bereits   vor  einer  Woche  nach  Berlin 

an    Herrn    Studienrat    Prof.    Dr die    Absage   auf   die  Einladung 

geschrieben,  an  dem  von  ihm  und  zahlreichen  Geheimräten  und  geheimen 
Hofräien  geplanten  Werke  >Deutsche  Dichter  und  der  Krieg«  durch  Über- 
nahme des  Abschnittes  >Adalbert  Stifter  und  der  Krieg«  mitzuwirken, 

so  wäre  die  Darreichung  ihrer  letzten Fackel'-Nummer  die  deutlichste, 

überzeugendste  und  verständlichste  Ablehnung  der  ungeheuerlichen  Absicht 
gewesen,  Stifter  in  die  blutrünstige  Kriegsliteratur  unserer  arg  verblendeten 
Zeit  hineinzerren  zu  wollen.  Man  kann  jetzt  nicht  scharf  genug  Vorsicht  gegen 
literarische  und  journalistische  Scharfmacher  einschärfen.  Gott  sei 
Dank!  Sie  tun  esl 

Es  ist  doch  kein  Tag  ohne  Überraschung.  Hat  der  Fasching 
der  Geister,  die  sich  mit  fremdem  Blut  beschmieren,  seinen 
Höhepunkt  erreicht?  Adalbert  Stifter  soll  mittun!  Fragte  man  so 
einen  gebildeten  Arrangeur,  warum,  wozu,  weshalb,  wieso,  er  würde 
nur  lallen:  Na  hören  Sie  mal,  erlauben  Sie  mal,  sehn  Sie  mal, 
bedenken  Sie  mal,  Stifter  war  doch  immerhin  'ne  Nummer,  und  der 
Krieg,  das  können  Sie  nicht  leugnen,  ist  doch  auch  'ne  Nummer,  also 
müßte  es  fesselnd  für  jeden  Gebildeten  sein,  die  Beziehung 
Stifters  zum  Krieg  —  na  sehn  Sie!  Und  überdies  kommt  ja  im  »Hoch- 
wald« sogar  der  Dreißigjährige  Krieg  vor!  .  .  .  Oder  sollte  die  Frage 
nach  dem  Kriegsstifter  bei  dem  großen  Lärm  ein  Mißverständnis 
hervorgerufen  haben?  Oder  sollte  nebst  dem  Interesse  eines 
Studienrats  für  den  Krieg  etwa  die  Beziehung  eines  Studienrats  zum 
Dichter  der  »Studien«  die  Sache  aufklären?  —  Was  fängt  man 
aber  mit  den  vielen  geheimen  Räten,  die  der  Krieg  übrig  lassen 
wird,  an?  Man  hätte  sie  schon  vorher  umbringen  sollen.  Denn 
gäb's  keinen  geheimen  Rat,  gäb's  keine  laute  Tat.  Aber  sollten 
sie,  einmal  zur  Ruhe  gewiesen,  noch  weiter  Lust  haben,  sich  an 
Stifter  zu  vergreifen,  so  wird  auch  ein  lautes  Wort  am  Platze  sein! 


29 


Briefe  Adalbert  Stifters 

(herausgegeben  von  Johannes  Aprent.    Pest,   Verlag   von  Gustav 
Heckenast,  1869) 

An  Gustav  Heckenast. 

Linz,  am  25.  Mai  1848. 

Ich  bin  ein  Mann  des  Maßes  und  der 

Freiheit  —  beides  ist  jetzt  leider  gefährdet,  und  Viele 
meinen,  die  Freiheit  erst  recht  zu  gründen,  wenn  sie 
nur  sehr  weit  von  dem  früheren  Systeme  abgehen,  aber 
da  kommen  sie  an  das  andere  Ende  der  Freiheit. 
Nicht  in  der  Alleingewalt,  sondern  in  der  Vertheilung 
liegt  sie.  Solange  die  Leidenschaft  forthastet  und  nie  genug 
gegen  den  Gegner  gethan  zu  haben  meint,  ist  meine 
Stimme  nicht  vernehmlich  und  sind  Gründe  nicht 
zugänglich.  Deshalb  bin  ich  stumm,  bis  man  Meinungen 

überhaupt  sucht,  nicht  mehr  blos  Meinungsgenossen 

Betrübend  ist  die  Erscheinung,  daß  so  Viele,  welche 
die  Freiheit  begehrt  haben,  nun  selber  von  Despoten- 
gelüsten heimgesucht  werden;  es  ist  auch  im  Gange 
der  Dinge  natürlich;  wer  den  Übermuth  Anderer  früher 
ertragen  mußte,  wird,  sobald  er  frei  ist,  nicht  etwa 
gerecht,  sondern  nur  seinerseits  übermüthig;  das  ist  der 
'große  Unterschied,  aus  Gehorsam  gehorchen 
oder  aus  Achtung  vor  dem  Gesetze.  Die  früher 
blos  gehorsam  waren,  die  werden  nun  willkürlich, 
und  möchten,  daß  man  ihnen  gehorsame;  die  ihrem 
Innern,  eigenen  Gesetze  Genüge  thaten,  thun  es 
auch  jetzt,  und  sind  gerecht.  Solche  sind  Männer  der 
Freiheit,  die  andern  müssen  es  erst  werden.  Erst,  wenn 
die  Anzahl  Männer,  die  sich  selbst  zügeln  können  und 
die  ihnen  im  Übermaße  zuströmende  Gewalt  als 
Gleichgewicht  in  irgend   eine  andere  Schale  zu  legen 


—  30  — 


vermögen,  sehr  groß  wird,  ist  das  Gonstitutionelle 
Leben  fertig.  Und  das  ist  schwerer,  als  man  denkt. 
Die  Edelsten,  welche  lange  Jahre  gehorsamt  haben, 
kennen  nur  Gehorsam,  und  kommen,  wenn  sie 
selber  anzuordnen  haben,  ins  Befehlen  statt  ins 
Organisiren,  so  wie  Kinder,  wenn  sie  Eltern 
spielen,  nur  die  ihrigen  copiren  können. 
Durch  Überwachung  seiner  selbst,  durch  fleißiges 
Studiren  der  Engländer,  die  die  längste  Schule 
haben,  und  durch  Ergründung  der  Ursachen  mancher 
Gleichgewichtsanstalten  der  Geschichte  können  wir  den 
Lernweg  abkürzen,  sonst  wird  er  lang,  und  enthält  alle 
Fehler,  die  unerfahrene  Vorgänger  schon  früher  gemacht 
und  gebüßt  haben.  Und  es  sind  schon,  meine  ich, 
bedeutende  Fehler  in  unserem  neuen  constitutionellen 
Gebahren  vorgefallen.  Eine  andere  für  den  Menschen- 
beobachter merkwürdige  Thatsache  kommt  auch  jetzt 
zum  Vorscheine:  mancher  Ehrenmann  ist  jetzt  plötzlich 
von  bösen  Leidenschaften  und  gierigen  Gelüsten 
beherrscht  —  er  war  nämlich  nie  ein  Ehrenmann, 
sondern  seine  Triebe  waren  blos  gehemmt,  jetzt  fühlt 
er  den  Damm  weg,  und  sie  strömen  aus.  .  .  .  Unter 
Manchen,  die  ich  kannte,  sind  die  sprudelndsten 
Stürmer  jetzt  die,  die  früher  die  Schwächsten 
waren.  Sie  können  eben  sich  selber  nicht  widerstehen. 
Das  ist  der  Stoff  zu  Tyrannen.  .  .  .  Möge  ein  günstiger 
Gott  alle  unsere  deutschen  Männer  segnen,  daß  sie 
bei  so  vielen  herrlichen  Eigenschaften  unserm  uralten 
Fehler  der  Uneinigkeit  nicht  wieder  unterliegen,  und 
die  Ohnmacht  des  schönen  Landes  forterben.  Möge 
Europa  sich  bald  in  der  theils  neu  errungenen,  theils 
schon  länger  bestandenen  Freiheit  festigen  und  ordnen 
—  sonst  gehen  wir  bei  dem  Auftauchen  so 
vieler  nicht  meßbarer  Gewalten  einer  düstern 
Zukunft  entgegen. .  .  . 


—  31  — 

An  Joseph  Türk. 


Linz.  28.  Juni  1848. 


So  viele  Freunde  versprachen  mir  bei  meiner 
Abreise  Briefe,  und  kein  einziger  hat  Wort  gehalten. 
Von  Dir  habe  ich  einige  Zeilen  erhalten,  die  ich  beant- 
worten wollte,  aber  anfänglich  nicht  dazu  kam,  und 
dann  wartete,  bis  ich  überhaupt  mehr  zu  schreiben 
hätte  —  allein  ich  habe  nichts  zu  schreiben,  denn 
hier  geschieht  nichts  von  Belang,  als  daß  sich 
die  Natur  mit  unermeßlichem  Schmuck  und, 
Gott  sei  Dank,  auch  mit  unermeßlichem  Ernte- 
segen beladet,  aber  wer  schaut  jetzt  auf  die 
Natur.  .  .  .  Möge  der  Himmel  das  schöne  Land  und 
die  herrliche  Stadt  beschützen,  daß  seine  Bewohner,  die 
fast  den  schönsten  Schatz  von  Gemüth  und  Herz  unter 
allen  deutschen  Stämmen  bewahrt  haben,  auch  Rath, 
Weisheit,  Mäßigung  bewahren,  daß  sie  (auf  beiden 
Seiten)  die  Leidenschaft  nicht  hören  mögen,  die  hier 
zu  Befürchtungen,  dort  zu  Rache  anspornt,  sondern 
daß  sie  wie  entzweite  Freunde  anfangen,  nicht  mehr 
das  Böse  an  einander,  sondern  das  Gute  zu  sehen, 
und  daß  so  die  Einigung,  die  Versöhnung  und  als 
schönste  Tochter  beider,  die  Kraft,  hervorgehe.  Selbst 
die  Tschechen,  die  uns  aus  Verblendung  und  Ver- 
kennung so  schwere  Stunden  bereiten,  und  die  in 
letzter  Zeit  eine  traurige  Erfahrung  gemacht 
haben,  sollen  wir  mit  Vergessenheit  alles  Geschehenen 
als  Brüder  aufnehmen,  wenn  sie  sich  uns  wieder  nähern, 
und  von  uns  die  Gewährung  aller  ihrer  Sitten, 
Gewohnheiten,  Sprache  empfangen,  so  wie  sie 
dem  Deutschen,  wo  er  vereinzelt  in  ihrer  Mitte  ist, 
nach  seiner  Art  und  Weise  gewähren  lassen  sollen. .  . . 
Was  aber  den  allergrößten  Schaden  bringt,  sind  die 
unreifen  Politiker,  die  in  Träumen,  Declamationen  und 
Phantasien  herum  irren,  und  doch  so  drängen,  daß  nur 
das  Ihrige  geschehe.  Könnte  jeder,  der  die  Sache 
nicht  versteht,  dies  nur  auch  mit  solcher  Gewiß- 


32  — 


heit  wissen,  wie  daß  er  keine  Uhr  machen  kann, 
ufld  würde  er  auch  mit  so  viel  Bescheidenheit 
begabt  sein,  das,  was  er  nicht  kann,  auch  nicht 
machen  zu  wollen  —  so  wäre  uns  fast  aus 
aller  Verlegenheit  geholfen.  .  .  . 

An  Gustav  Heckenast. 

Linz,  am  8.  September  1848. 

Der  Mensch  kann  nicht  leben  ohne  dem 

sittlich  Großen,  ja,  wenn  es  ihm  entzogen  wird,  ver- 
langt er  darnach  mit  heftigerem  Hunger,  als  nach  jedem 
andern  Dinge  dieser  Erde.  Schon  jetzt  ist  eine  Ent- 
rüstung über  die  Schandliteratur  unserer  Tage 
in  allen  Gemüthern,  und  sie  verlangen  mit  Sehnsucht 
wie  nach  einem  Tropfen  Quellwasser  in  der  Wüste 
nach  dem  Edleren.  Wenn  einmal  die  Welt  im  Grimme 
aufstehen  wird,  um  all  das  Bubenhafte,  das  in 
unsern  äußern  Zuständen  ist,  zu  zertrümmern, 
dann  wird  die  geschändete  Schönheitsgöttin  auch  wieder 
mit  ihrem  reinen  Antlitze  unter  uns  wandeln,  ja,  statt 
der  bisherigen  blos  lieblichen  oder  naiven  Miene  wird 
sie  das  höhere,  würdigere  und  siegesreichere  Angesicht 
der  wahren  Göttin  tragen.  Geschähe  das  nicht,  so 
wären  wir  alle  ohnehin  verloren,  und  das 
Proletariat  würde,  wie  ein  anderer  Hunnenzug, 
über  den  Trümmern  der  Musen-  und  Gottheitstempel  in 
trauriger  Entmenschung  prangen.  Das  ist  aber  heute 
und  im  heutigen  Europa  unmöglich  —  eher  bricht 
die  Knute  über  uns  herein.  ... 

An  Gustav  Heckenast. 

Linz,  am  6.  März   1849. 

Das  war  ein  fürchterliches  Jahr!     Ich 

habe  mich  in  Bezug  der  Dinge,  die  da  kommen  werden, 
keinen  Augenblick  getäuscht,  als  ich  nur  einmal  von 
der     Haupttäuschung    frei     war,    nämlich    von     der, 


33 


von  unser  n  sogenannten  gebildeten  Leuten  etwas 
zu  halten.  Von  da  an  habe  ich  fast  buchstäblich  die 
Ereignisse  vorausgesagt,  in  Linz  sind  viele  Zeugen 
über  diese  Tatsache,  die  mich  damals  ausgelacht  haben. 
Den  ungarischen  Krieg  sagte  ich  am  15.  März  1848 
zu  Grillparzer  voraus  (ich  glaube,  an  diesem  Tage 
wurden  die  Separatministerien  bewilligt).  Ich  sagte 
einmal  zu  Zedlitz :  Wenn  einmal  eineBewegung  ausbräche, 
dann  behüte  uns  Gott  vor  den  Journalisten  und 
Professoren.  Gewiß  wird  sich  Zedlitz  dieses  Satzes 
jetzt  oft  erinnern.  —  Wir  hatten  eine  furchtbare  Zeit, 
wo  sich  die  Staatskomödianten  im  Grenzboten  etc.  etc. 
recht  entwickelten,  nur  nicht  die  Staatsmänner,  und 
wer  ein  schlechter  Dichter,  ein  ruinirter  Student  u.  s.  w. 
war,  wird  jetzt  Staatsmann.  —  Das  Ideal  der  Freiheit 
ist  auf  lange  Zeit  vernichtet.  Wer  sittlich  frei  ist, 
kann  es  staatlich  sein, ja  ist  es  immer,  den  andern 
können  alleMächte  der  Erde  nicht  dazu  machen. 
Es  gibt  nur  eine  Macht,  die  es  kann:  Bildung.  Darum  er- 
zeugte sich  in  mir  eine  ordentliche  krankhafte  Sehnsucht, 
die  da  sagt:  »Lasset  die  Kleinen  zu  mir  kommen,«  denn 
durch  die,  wenn  der  Staat  ihre  Erziehung  und  Mensch- 
werdung in  erleuchtete  Hände  legt,  kann  allein  die 
Vernunft,  die  Freiheit  gegründet  werden,  sonst  ewig 
nie!  —  »Unsere  Schule  wird  eben  die  Übung  sein,« 
sagte  ein  Freund.  »Ja«  —  antwortete  ich  —  »mein 
Knabe  muß  schwimmen  lernen,  dazu  muß  er  ins  Wasser, 
also  werfe  ich  ihn  von  der  Brücke  in  die  Donau!«  Ich 
habe  diesen  Sommer  durch  so  vieles  Schlechte, 
Freche,  Unmenschliche  und  Dumme,  das  sich 
dreist  machte  und  für  Höchstes  ausgab,  unsäglich 
gelitten.Wasin  mir  groß,gut,schön  und  vernünftig 
war,  empörte  sich,  selbst  Tod  ist  süßer,  als  solch' 
ein  Leben,  wo  Sitte,  Heiligkeit,  Kunst,  Gött- 
liches nichts  mehr  ist,  und  jeder  Schlamm  und 
jede  Thierheit,  weil  jetzt  Freiheit  ist,  ein  Recht 
zu  haben  wähnt,  hervorzubrechen;  ja,  nicht  bios 
hervorzubrechen,    sondern  zu  terrorisiren.    Das  Thier 


34  — 


kennt  nicht  Vergleich  mit  dem  Gegner,  sondern 
nur  dessen  Vernichtung.  Sind  diese  Menschen  frei? 
fragte  ich  oft.  Früher  lag  der  Stein  der  Polizei  auf 
ihren  Lastern,  jetzt  treten  dieselben  auf,  und  die 
Besitzer  werden  von  ihnen  zerrissen.  Sind  sie  frei? 
Darum  gibt  es  nur  das  einzige  Mittel:  »Bildung!« 
Ich  habe  im  Mai,  Juni,  Juli  fleißig  in  der  Geschichte 
zu  meiner  Erzählung  gearbeitet.  Später  war  ich  unmächtig. 
Ich  habe  einmal  zu  Ihnen  gesagt:  »Nur  Krankheit 
kann  mich  hindernj«  aber  Krankheit  wäre  ein  Labsal 
gewesen  in  Vergleich  mit  diesen  Seelenleiden.  Jetzt,  wo 
wenigstens  äußere  Ruhe  ist,  lebe  ich  sehr  zurückgezogen, 
arbeite  sehr  viel,  und  lebe  von  meiner  eigenen,  Innern 

Gestalt Viele  Menschen  in  Wien  kennen  mich,  manche 

Stimmen  nennen  mich,  und  wenn  der  Boden  so  ist, 
daß  ein  Samenkorn  sittliche  Früchte  bringen  kann, 
dann  werde  ich  gewiß  redlich  dazu  arbeiten  helfen. 
Daß  ich  keinen  Ehrgeiz  habe,  so  weit  werden  Sie 
mich  kennen  (ich  hätte  sonst  wohl  schon  irgendwo 
zugetappt),  aber  daß  ich  einen  Thatengeiz  hätte,  d.  h. 
die  menschliche  Bildung  wesentlich  fördern  möchte, 
das  wissen  Sie  auch.  Mein  Gott,  ich  gäbe  gerne 
mein  Blut  her,  wenn  ich  die  Menschheit  mit 
einem  Rucke  auf  die  Stufe  sittlicher  Schönheit 
heben  könnte,  auf  der  ich  sie  wünschte.  Unter 
einem  Minister  arbeiten,  der  die  Weite  und  Größe 
rein  menschlichen  Blickes  hätte,  der  mit  einfacher 
Formel  die  große  Menschheit  zusammenfaßt,  und  sie 
als  Endziel  der  einzelnen  Strebungen  hinstellt,  welche 
Seligkeit!  Etwa  Grillparzer?  Er  fällt  mir  immer  dabei 
ein.  Um  einen  solchen  Mann  dann  die  beigearteten 
Kräfte  gruppirt,  daß  sie  ihn  begriffen  und  die  Theile 
ausfüllten  —  welch'  ein  schönes  Bild.  Aber  dann 
müßte  es  kein  Unterrichtsministerium  geben,  das  immer 
mit  den  andern  abdankt,  sondern  eine  Unterrichts- 
commission (oder  dergleichen),  die  bleibt.  Ich  habe 
einen  ganzen  Plan  über  Volksschulen  (Unterricht  — 
[Fachschule])  und  Erziehung  —  [Humanitarschule]  ins 


35 


Detail  ausgearbeitet.  Meine  jetzige  Lage  ist  sehr 
schlecht,  alle  Bestrebungen  sind  im  Augenblicke 
unmöglich.  ... 

Nach  6  (der  „Studien")  erhalten  Sie  zwei  oder 
drei  Bändchen  für  Kinder,  die  Sie  bandweise  ausgeben 
können,  Kinder  revolutioniren  nicht,  und  Mütter  auch 
nicht,  also  schauen  Sie  auf  das  Werk.  .  .  . 

An  Joseph  TQrk. 

Linz,  am  26.  April  1849. 

Ich  habe  oft  Tage,  wo   mir  das  Herz 

brechen  möchte.  Jetzt  nimmt  man  allerlei  Anläufe,  aber  das 
oberste  Prinzip  steht  noch  nirgends  fest;  daß  nämlich 
Erziehung  die  erste  und  heiligste  Pflicht  des  Staates 
ist;  denn  darum  haben  wir  ja  den  Staat,  daß  wir 
in  ihm  Menschen  seien,  und  darum  muß  er  uns 
zu  Menschen  machen,  daß  er  Staatsbürger  habe 
und  ein  Staat  sei,  keine  Strafanstalt,  in  der  man 
immer  Kanonen  braucht,  daß  die  wilden  Thiere 
nicht  losbrechen.  Man  bessert  jetzt  in  den  bereits 
bestehenden  Anstalten  immer  herum,  als  wie  wenn 
jemand  am  Senegal  einen  eisernen  Ofen  hätte,  der  ihm 
in  der  Regenzeit  allemal  verdirbt,  und  den  er  allemal 
mit  neuem  Bleche  flickt.  Ich  habe  hier  manche  derlei 
Arbeiten  gehabt.  Wie  war  ich  dabei  traurig.  .  .  . 

An  Gustav  Heckenast. 

Linz,  am  4.  September  1849. 

Könnte    ich    Ihnen    nur   zum   zehnten 

Theile  schildern,  was  ich  seit  März  1848  gelitten  habe. 
Als  ich  sah,  welchen  Gang  die  Dinge  nehmen,  bemäch- 
tigte sich  meiner  die  tiefste  und  düsterste  Nieder- 
geschlagenheit um  die  Menschheit,  ich  folgte  den 
Ereignissen  mit  einer  Aufmerksamkeit  und  Ergriffenheit, 
die  ich  selber  nie  an  mir  vermuthet  hatte.  Als  die 
Unvernunft,  der  hohle  Enthusiasmus,  dann  die 


—  36 


Schlechtigkeit,  die  Leerheit,  und  endlich  sogar 
das  Verbrechen  sich  breit  machten,  und  die 
Welt  in  Besitz  nahmen:  da  brach  mir  fast  buch- 
stäblich das  Herz  .... 

Die  Verhältnisse  sehen,  und  doch  die  Verwirrung 
und  Schlechtigkeit  geschehen  lassen  müssen,  ist  ein 
Schmerz,  der  sich  kaum  beschreiben  läßt.  Ich  habe  in 
diesem  Jahre  Gefühle  kennen  gelernt,  von  denen  ich 
früher  keine  Ahnung  hatte.  Alles  Schöne,  Große, 
Menschliche  war  dahin,  das  Gemüth  war  zerrüttet,  die 
Poesie  gewichen.  Erst  langsam  kehren  die  schönen 
Gestalten  wieder  zurück,  der  Fels,  der  Baum, 
der  Himmel  beginnen  wieder  zu  sprechen,  und 
edle  Menschen  gibt  es  ja  auch,  die  man  lieben  kann, 
und  die  man  mit  desto  heißerer  Liebe  liebt,  je  treuer 
sie  geblieben  waren,  als  so  viele  zu  den  Schlechten 
abfielen.  .  .  . 

An  Gustav  Heckenast. 

Linz,  am  16.  October  1849. 

Ich   machte   mir  den  Grundsatz,   mich 

zu  beherrschen  und  gerecht  und  rechtschaffen  zu  sein, 
nebstbei  nie  in  etwas  einzugreifen,  von  dem  mir  mein 
Gewissen  sagte,  daß  ich  es  nicht  verstehe,  und  ließ 
dann  die  Welt  urtheilen,  wie  sie  wollte.  Meinten  doch 
auch  Viele,  die  Kunst  sei  dem  Ernste  und  der  Größe 
der  Zeit  gegenüber  unbedeutend,  und  auf  viele  Jahre 
hin  würden  sich  die  Menschen  mit  dieser  Spielerei 
nicht  mehr  abgeben.  Ich  sagte  darauf,  die  Kunst  sei 
nicht  nur  höher  als  alle  Welthändel,  sondern 
sie  sei  nebst  der  Religion  das  Höchste,  und 
ihrer  Würde  und  ihrer  Größe  gegenüber  seien 
die  eben  laufenden  Dinge  nur  thörichte  Rauf- 
händel; wenn  die  Menschen  nicht  alles  Selbstgefühles 
bar  geworden  sind,  werden  sie  sich  bald  von  dem 
trüben  und  unreinen  Strudel  abwenden,  und  wieder 
die  stille,    einfache,    aber   heilige   und  sittliche  Göttin 


37  — 


anbeten.  Und  siehe,  so  ist  es.  Ja,  des  iiohlen  und 
öden  Phrasenthums  müde  und  ekel,  werden  sie  das- 
selbe jetzt  auch  in  der  Kunst  erkennen,  wenn  es  auf- 
tritt, werden  es  verschmähen,  und  es  steht  daher  diesem 
schönsten  irdischen  Dinge  der  Menschen  eine  Reinigung 
bevor.  Die  Revolution  ist  sogar  aus  dem  Phrasenthume 
der  Afteriiteratur  hervorgegangen.  Ich  habe  Briefe  aus 
der  Gegenwart  zu  schreiben  begonnen,  sie  sollten  in  die 
Allgemeine  Zeitung  kommen,  aber  ich  that^es  nicht.  In 
denselben  wird  die  Revolution  aus  der  Hohlheit 
unserer  Sitten  und  Literatur  hergeleitet.  Vielleicht 
wäre  in  Kurzem  die  Zeit,  wo  eine  solche  ruhige, 
philosophische  Entwicklung  Anklang  fände. 

Seien  Sie  getrost  und  heiter,  wir  wollen  sehr 
thätig  sein,  und  Gott  wird  helfen.  Vertrauen  Sie  mir, 
meine  Kräfte  sind  aus  dem  Sturme  der  Zeiten 
fester  hervorgegangen,  als  sie  früher  waren,  wie 
man  nach  einer  Krankheit  oft  gesünder  ist,  als  vorher 

An  Louise  Baronesse  von  Eichendorf. 

Linz,  am  23.  März   1852. 

Ich  habe,  wie  ich   in    der  Vorrede    zu 

den  Studien  sagte,  nie  auf  Schriftsteller-  oder  Dichterruhm 
Anspruch  gemacht ;  Ruhm  ist  etwas  so  Eitles  und  Kurz- 
dauerndes, daß  das  Streben  darnach  nur  einem  nieder- 
stehenden Geiste  zukommt,  und  ein  Dichter  (ich  meine 
ein  echter,  ein  hoher  Priester  der  Menschheit)  ist  wieder 
etwas  so  Erhabenes,  daß  ich  beides  nicht  anstrebe:  aber 
guten  Menschen  eine  gute  Stunde  zu  bereiten,  Gefühle 
und  Ansichten,  die  ich  für  hohe  halte,  mitzutheilen, 
an  edleren  Menschen  zu  erproben,  ob  diese  Gefühle 
wirklich  hohe  sind,  und  das  Reich  des  Reinen,  Ein- 
fachen, Schönen,  das  nicht  nur  häufig  aus  der  Literatur, 
sondern  auch  aus  dem  Leben  zu  verschwinden  droht, 
auszubreiten  und  in  einer  nicht  ganz  unschönen  Ge- 
stalt vor  die  Leser  treten  zu  lassen,  das  war  und  ist 
das  Streben  meiner  Schriften.  Daher  ist  es  mir  immer 


38 


eine  große  Freude,  wenn  ich  an  höheren  Menschen 
wahrnehme,  daß  ich  in  meinem  Streben  nicht  ganz 
geirrt  habe,  und  ein  schönes  Gefühl,  ein  heiteres 
Lächeln,  eine  sittliche  Freude,  die  mir  entgegen  kommt, 
und  sich  als  Frucht  meiner  Schriften  ankündigt,  ist 
meinem  Herzen  weit  wohlthuender,  als  alle  gelehrten 
und  lobspendenden  Kritiken.  Namentlich  freut  mich 
die  Wirkung  an  einfachen,  ungekünstelten  Gemüthern, 
denn  sie  stehen  der  Natur  näher,  und  an  die  reine 
Natur  wollte  ich  mich  wenden.  Mit  Menschen  mensch- 
lich sein,  mit  Höheren  das  Höhere  lieben,  an  Gottes 
Schöpfung  sich  freuen,  die  festgegründete  Erde  nicht 
verachten,  sich  einem  piaktischen  Handeln  hingeben, 
es  nicht  verachten,  wie  Maria  in  den  »Schwestern« 
selbst  Gemüse  zu  pflanzen  und  Gartenbeete  zu  düngen 
und  doch  ein  höherer,  opferfreudiger  Mensch  zu  sein, 
endlich  mit  fühlenden,  geistigen  Menschen  gleichsam 
einen  unsichtbaren  Umgang  zu  haben,  das  war  un- 
gefähr die  Grundlage  meiner  Schriften. 

Sie  haben  mir  so  lieb  und  dankbar  geschrieben, 
daß  mir  Ihr  Brief  theuer  ist,  und  wenn  ich  Ihnen  einen 
Theil  Zufriedenheit  wieder  gegeben  habe,  wenn  ich  das 
vielleicht  an  andern  Menschen  auch  noch  zu  thun  ver- 
mag, so  ist  ja  das  ein  Lohn,  der  weit  das  Verdienst 
meiller  anspruchlosen  Bücher  übersteigt,  und  ich  kann 
Gott  nicht  genug  danken,  daß  er  mir  ins  Herz  ge- 
geben hat,  die  Feder  zu  nehmen,  und  Dinge  nieder- 
zuschreiben, wie  sie  mir  ungefähr  im  Gemüthe  waren. 
Ich  habe  kein  Verdienst  an  meinen  Arbeiten,  ich  habe 
nichts  gemacht,  ich  habe  nur  das  Vorhandene  aus- 
geplaudert. Von  Kindheit  an  mit  einem  gesunden 
Körper  ausgestattet,  schloß  ich  mich  mit  Freude  an 
alle  Naturdinge,  liebte  an  Menschen  die  Äußerungen 
unverdorbenen  Gemüthes,  liebte  überhaupt  die 
Menschen,  war  (bis  1848  wenigstens)  heiter 
wie  die  antiken  Völker  —  und  diese  Dinge 
mochten  auch  in  meine  Schriften  gekommen  sein.  .  .  . 


39  — 


An  einen  alten  Lehrer 

(Henricus  Stephanus  Sedlmayer) 


Da  neulich  sah  ich  wie  in  der  Jugendzeit 
Dich  weißen  Hauptes,  irgendwohin  den  Blick 
Gerichtet  nach  einer  Vokabel, 

Welche  ein  Schüler  verloren  hatte. 

Ein  andrer  mußte,  nicht  auf  den  Ruf  gefaßt, 
Eh  er  sich  fassen  konnte,  sie  fassen  schon, 
Und  war  auch  er  es  nicht  imstande. 
Nanntest  du  es  eine  Seelenroheit. 

Von  strenger  Milde  war  dieser  Unterricht. 
Du  guter  Lehrer  hattest  den  Schüler  gern. 
Doch  näher  deinem  reinen  Herzen 

Lag  wohl  das  Wohl  eines  armen  Wortes. 

Latein  und  Deutsch :  du  hast  sie  mir  beigebracht 
Doch  dank  ich  Deutsch  dir,  weil  ich  Latein  gelernt. 
Wie  wurde  deutsch  mir,  als  ich  deinen 
Lieben  Ovidius  lesen  konnte! 

Denn  jenes  wahrlich  machte  mir  Schwierigkeit. 
Mir  fehlten  Worte,  und  es  gelang  mir  nicht, 
Den  Frühling,  den  ich  erst  erlebte. 
In  einem  Aufsatz  auch  zu  beschreiben. 

Ovid  ja  selber  hätte  es  nicht  vermocht. 
Und  Goethe  länger  als  eine  Stund  gebraucht  — 
Wie  sollte  es  ein  Schulbub  treffen, 

Wenn  er  nicht  grade  ein  Journalist  war? 


40  — 


Du  guter  Lehrer  wußtest  das  nur  zu  gut. 
Du  übtest  Nachsicht  und  weil  ich  in  Latein 
Doch  vorzüglich  bestanden  hatte, 

Gabst  du  in  Deutsch  mir  nicht  nichtgenügend. 

So  kam  ich  durch  und  besserte  später  mich, 
Weil  ich  es  fühlte,  daß  ich  dir  schuldig  war, 
Im  deutschen  Aufsatz  nach  der  Schule 
Deinen  Erwartungen  zu  entsprechen. 

Hätt'  ich  schon  damals  gleich  zwischen  acht  und  neun 
So  Deutsch  geschrieben,  wie  zwischen  zehn  und  elf 
Latein  ich  las,  war'  diese  Ode 

Diese  horazische  nicht  entstanden. 

Nimm  diese  Fleißaufgabe  als  Jugendgruß. 
Denn  du  stehst  milde  heute  wie  einst  vor  mir. 
In  Bild  und  Wort  bist  du  mir  nahe. 
Als  ob  ich  heute  noch  vor  dir  säße. 

Ich  sehe  dich,  wie  du  mit  der  feinen  Hand 
Die  Stirn  dir  streichst,  die  sorgende,  als  ob  du 
Ein  krankes  Wort  betreuen  müßtest  — 
Heilige  Pflicht  vor  profanen  Zeugen. 

Schneeweiß  wie  damals,  neigend  den  Kopf,  doch  hoch 
Den  Sinn  wie  damals,  traf  ich  dich  auf  dem  Weg 
Zur  Schule  neulich  und  es  war  mir. 
Daß  ich  mit  dir  in  die  Schule  ginge. 

Wohin  verlor  sich,  sag  mir,  dein  Altersblick, 
Mir  unverloren?  Lehrest  du  immer  noch 
Verlorner  Gegenwart  die  Sprache? 
Folg  mir  und  lasse  die  Klasse  fallen! 


—  41   — 


Gruß  an  Bahr  und  Hofmannsthal 


Qruß  an  Hofmannsthal 

Ich  weiß  nur,  daß  Sie  in  Waffen  sind,  lieber  Hugo, 
doch  niemand  kann  mir  sagen,  wo.  So  will  ich  Ihnen  durch  die 
Zeitung  schreiben.  Vielleicht  weht's  der  liebe  Wind  an  Ihr 
Wachtfeuer  und  grüßt  Sie  schön  von  mir. 

Mir  fällt  ein,  daß  wir  uns  eigentlich  niemals  näher  waren, 
als  da  Sie  Ihr  Jahr  bei  den  Dragonern  machten.  Erinnern  Sie  sich  noch  ?  Sie 
holten  mich  gern  abends  ab  und  wir  gingen  zusammen  und  ich  weiß 
noch,  wie  seltsam  es  mir  oft  war,  wenn  wir  im  Gespräch  immer  höher 
in  die  Höhe  stiegen,  über  alle  Höhen  uns  verstiegen,  und  dann  mein 
Blick,  zurückkehrend,  wieder  auf  Ihre  Uniform  fiel;  sie  paßte  nicht  recht  zu 
den  gar  nicht  uniformen  Gedanken.  Im  Oktober  werden's  zwanzig  Jahre  I  Seit- 
dem ist  man  >berühmt<  geworden,  es  hat  uns  an  nichts  gefehlt,  aber 
wer  wagt  zu  sagen,  daß  diese  zwanzig  Jahre  gut  für  uns  waren?  Wie  sind 
sie  jetzt  plötzlich  so  blaß  geworden  in  diesem  heiligen 
Augenblickl  Es  war  eine  Zeit  der  Trennung,  der  Entfernung,  der 
Vereinsamung;  jeder  ging  vom  anderen  weg,  jeder  stand  für  sich,  nur 
für  sich  allein,  da  froren  wir.  Jetzt  hat  es  uns  wieder  zusammen- 
geblasen, alle  stehen  für  einander,  da  haben  wir  warm.  Jeder 
Deutsche,  daheim  oder  im  Feld,  trägt  jetzt  die  Uniform. 
Das  ist  das  ungeheure  Glück  dieses  Augenblicks.  Mög  es  uns 
Gott  erhaltenl 

Und  nun  ist  auf  einmal  auch  alles  weg,  was  uns  zur  Seite  trieb. 
Nun  sind  wir  alle  wieder  auf  der  einen  großen  deutschen  Straße.  Es  ist 
der  alte  Weg,  den  schon  das  Nibelungenlied  ging,  und 
Minnesang  und  Meistergesang,  unsere  Mystik  und  unser  deutsches 
Barock,  Klopstock  und  Herder,  Goethe  und  Schiller,  Kant  und  Fichte, 
Bach,  Beethoven  und  Wagner.  Dann  aber  hatten  wir  uns  vergangen,  auf 
manchen  Pfad  ins  Verzwickte,  Jetzt  hat  uns  das  grorße  Schicksal  wieder 
auf  den  rechten  Weggebracht.  Das  wollen  wir  uns  aber  verdienen. 

Glückauf,  lieber  Leutnant.  Ich  weiß,  Sie  sind  froh. 
Sie  fühlen  das  Glück,  dabei  zu  sein.  Es  gibt  kein  größeres. 
Und  das  wollen  wir  uns  jetzt  merken  für  alle  Zeit:  es  gilt, 
dabei  zu  sein.  Und  wollen  dafür  sorgen,  daß  wir  hinfort  immer 
etwas  haben  sollen,  wobei  man  sein  kann.  Dann  wären  wir  am 
Ziel  des  deutschen  Wegs,  und  Minnesang  und  Meistersang,  Herr  Walter 
von  der  Vogelweide  und  Hans  Sachs,  Eckhart  und  Tauler,  Mystik  und 
Barock,  Klopstock  und  Herder,  Goethe  und  Schiller,  Kant  und  Fichte, 
Beethoven  und  Wagner  wären  dann  erfüllt.  Und  das  hat  unserem  armen 
Geschlecht  der  große  Gott  beschert! 


—  42 


Nun  müßt  ihr  aber  doch  bald  in  Warschau  seini  Da 
gehen  Sie  nur  gleich  auf  unser  Konsulat  und  fragen  nach, 
ob  der  österreichisch-ungarische  Generalkonsul  noch  dort 
ist:  Leopold  Andrian.  Das  ist  nun  auch  gerade  zwanzig  Jahre  her, 
daß  Andrian  den  »Garten  der  Erkenntnis«  schrieb,  diese  stärkste  Ver- 
heißung. Er  wird  sie  schon  noch  halten,  mir  ist  nicht  bang:  ein  Buch 
mit  zwanzig,  eins  mit  vierzig,  eins  mit  sechzig  Jahren,  weiter  nichts,  in 
jedem  aber  volle  zwanzig  Jahre  drin,  dann  wird  er  der  Dichter  der  drei 
Bücher  sein,  das  ist  auch  ganz  genug.  Und  wenn  ihr  so  ver- 
gnügt beisammen  seid,  und  während  draußen  dieTrommeln 
schlagen,  der  Poldi  durchs  Zimmer  stapft  und  mit  seiner 
heißen  dunklen  Stimme  Baudelaire  deklamiert,  vergeßt  mich 
nicht,  ich  denk  an  euchl 

Es  geht  euch  ja  so  gut,    und   es   muß    einem   ja    da    doch 

auch  schrecklich  viel  einfallen,  nicht? 

Auf  Wiedersehen  I 

Bayreuth,  16.  August  1914. 

Hermann  Bahr. 

Heute  kann's  ja  doch  endlich  zugestellt  und  ohne  Verletzung 
des  Briefgeheimnisses  verbreitet  werden.  Heute  muß  ja  der  Humor 
dieser  brieflichen  Feuertaufe  von  durchschlagendem  Effekt  sein. 
Denn  damals,  als  das  Grauen  noch  eine  Sensation  war  und  man 
noch  aufhorchte,  wenn  Mörser  losgingen,  ist  die  Wirkung  verpufft. 
Und  doch  war  dieses  Schreiben  des  damals  national,  jetzt  katholisch 
spekulierenden  Literaturfilous,  das  ihn  zugleich  von  der  Seite  jener 
Dummheit  zeigte,  die  das  aussichtsvollste  Geschäft  verderben 
kann,  —  und  doch  war  es  damals,  ernsthaft,  in  den  Zeitungen  ver- 
öffentlicht, bei  uns  und  in  Berlin,  und  wurde  von  dem  Meister 
noch  in  ein  Buch,  das  er  »Kriegssegen«  nannte,  aufgenommen. 
Das  Glück,  dabei  zu  sein,  wurde  von  diesem  Hermann  Bahr  allerdings 
zu  einer  Zeit  empfunden,  wo  die  Kriegsleistungspflicht  noch  nicht 
auf  die  50-  bis  55  jährigen  ausgedehnt  war.  Aber  schließlich,  wer 
hätte  denn  je  gefürchtet,  daß  man  auf  Herrn  Bahrs  Dienste 
reflektieren  würde,  solange  die  Charge  eines  Kriegshanswurstes 
eine  freiwillige  und  noch  nicht  systemisiert  ist?  Er  ist  darum  noch 
kein  Soldat,  weil  er  den  Kriegsausbruch  einen  »heiligen  Augen- 
blick« nennt,  wie  er  darum  noch  kein  Heiliger  ist,  weil  er  einen 
katholischen  Roman  geschrieben  und  ihn  »Himmelfahrt«  genannt  hat. 
Es  handelt  sich  indes  nicht  um  sein  Wohl  und  Wehe,  von  dem  man 
überzeugt  sein  kann,  daß  er  es  in  den  Dienst  jeder  guten  Sache  stellen 
würde,  die  gerade  aktuell  ist,  da  er  ja  überall  unabkömmlich  ist  und 


43 


nie  daran  dächte,  sich  anders  als  auf  die  bisherige  Art  reklamieren 
zu  lassen.  Es  handelt  sich  vielmehr  um  die  Einziehung  des  Herrn 
V.  Hofmannsthal  in  die  kriegerische  Sphäre,  die  hier  auf  eine 
in  der  Geschichte  der  Mobilisierungen  noch  nicht  erhörte  Weise 
besorgt  wird.  Was  die  Verhältnisse  der  Wirklichkeit  anlangt,  in 
der  Herr  v.  Hofmannsthal  lebt  und  in  der  er,  wenn  schon  nicht 
mit  seinem  Ruhme,  so  doch  mit  seiner  Gesundheit  den  Weltkrieg 
überleben  wird,  so  läßt  sich  nur  sagen,  daß  es  keine  privatere 
Angelegenheit  auf  dieser  blutigen  Erde  geben  könnte  als  die  Frage, 
ob  einer  mit  größerer  oder  geringerer  Begeisterung  dabei  ist,  wo 
er  dabei  sein  muß ;  daß  es  die  letzte  Privatangelegenheit  ist,  die  der 
heutige  Mensch  hat;  und  daß  es  höchstens  Sache  des  Staates,  nie 
aber  des  Mitmenschen  sein  darf,  der  Kreatur  den  ungestörten  Genuß 
des  Erdenglücks  zu  mißgönnen.  Aber  die  völlige  Schamlosigkeit, 
mit  der  in  diesem  Fall  auf  publizistischem  Wege  die  Gewißheit 
verbreitet  wurde,  daß  der  Herr  von  Hofmannsthal  »in  Waffen« 
sei  und  irgendwo  —  wer  weiß  wo  -  an  einem  Wachtfeuer  sitze, 
an  das  der  »Wind«  den  Gruß  des  Altmeisters,  des  daheim 
sitzenden,  leidernicht  mehr  mitkönnenden,  wehen  möge — bitte,  wehen 
möge!  —  nur  dieser  übertriebene  Optimismus  fordert  zu  der  tat- 
sächlichen Feststellung  heraus,  daß  selbst  im  Krieg,  der  bekanntlich 
Krieg  ist,  auf  die  postalischen  Verbindungen  mehr  Verlaß  ist  als  auf 
den  Wind.  Denn  die  Post  kann,  wenn  es  ihr  auch  noch  so  schwer 
gemacht  wird,  immerhin  findig  sein,  während  der  Wind  ein 
von  Natur  schwanker  Geselle  ist,  ehrgeizlos  und  ein  Blatt 
öfter  auf  einen  Misthaufen  wehend,  als  Mist  zu  einem  Wacht- 
feuer, an  dem  ein  vaterländischer  Dichter,  wenn  er  gerade  nichts 
zu  singen  und  zu  sagen  hat,  der  Lieben  in  der  Heimat  gedenkt, 
welche  jetzt  Briefe  an  ihn  schreiben  mögen,  die  ihn  nicht  erreichen. 
Aber  auf  die  Post  kann  man,  wenn  sich  nicht  die  Zensur  ins  Mittel 
legt,  Häuser  bauen,  die  sie  dann  eins  nach  dem  andern  abläuft, 
bis  sie  den  Adressaten  gefunden  hat,  und  der  Briefträger  hätte  dem 
Herrn  Bahr,  der  sich  einmal  beklagt  hat,  daß  ihm  die  Briefe  der 
Cosima  Wagner  nicht  zugestellt  werden,  während  die  von  Gabor 
Steiner  ankamen,  triumphierend  beweisen  können,  daß  er  den  Leutnant 
Hofmannsthal  gefunden  habe,  gleich  beim  Ausbruch  des  Weltkriegs 
und  die  ganze  große  Zeit  hindurch,  an  einem  Wachtfeuer,  das  im 
Kriegsfürsorgeamt  brennt  und  wo  die  Meinung  des  Herrn   Bahr, 


44 


daß  man  dort  warm  habe  und  alle  für  einander  stehen, 
durchaus  zutrifft.  Wer  weiß  wo:  ehedem  der  schwermütige  Refrain 
eines  Soldatenliedes,  ist  in  diesem  Fall  nicht  einmal  ein  Post- 
vermerk, da  es  sich  keineswegs  um  die  Feldpost  handelt,  deren 
Arbeit  selbst  bei  zustellbaren  Briefen  immerhin  durch  die  Truppen- 
bewegungen erschwert  wird.  Denn  es  ist  einfach  nicht  wahr,  daß 
es  je  eine  Zeit  gab  und  wäre  sie  noch  so  groß  gewesen,  da 
niemand  sagen  konnte,  wo  Herr  v.  Hofmannsthal,  und  hätte  er 
selbst  in  Waffen  gestarrt,  sich  aufhalte.  Er  hat  vor  zwanzig  Jahren 
als  Dragoner  Herrn  Bahr  begleitet;  er  wäre,  da  er  in  solcher 
Eigenschaft  den  Weltkrieg  keineswegs  begleitet  hat,  von  Herrn  Bahr  zu 
finden  gewesen.  Diesem  ist  nur  eingefallen,  »daß  sie  sich  eigentlich 
niemals  näher  waren«,  als  damals.  Aber  es  hätte  ihm  eigentlich  einfallen 
können,  daß  sie  sich  jetzt  noch  näher  sind.  Zum  Beispiel  dem 
Setzer,  der  diesen  meinen  Gruß  gesetzt  hat,  ist  es  gleich  beim 
Anblick  des  Bahr'schen  Grußes,  wiewohl  der  ihm  schon 
gedruckt  vorlag,  eingefallen,  und  er  hat  die  Stelle,  wo  es  von 
jenen  zwanzig  Jahren  heißt,  daß  »sie«  so  blaß  geworden  seien, 
irrtümlich  für  einen  Druckfehler  gehalten  und  richtig  so 
gesetzt:  »Wie  sind  Sie  jetzt  plötzlich  so  blaß  geworden  in 
diesem  heiligen  Augenblick!«  Und  er  hat  ein  Übriges  getan:  er 
hat  die  Stelle,  wo  Herr  Bahr  von  dem  Glück,  dabei  zu  sein,  spricht, 
von  dem  ungeheuren  Glück  des  Augenblicks:  »Mög  es  uns  Gott 
erhalten!«,  er  hat  auch  diese  für  einen  Druckfehler  angesehen  und 
als  ein  gründlicher  Kenner  derwahren  Seelenbeschaffenheit  der  beiden 
Herren  die  Worte  hingesetzt:  »Möge  uns  Gott  erhalten !«  Warum  auch 
nicht?  Es  hat  ja  den  beiden  Herren  durch  all  die  zwanzig  Jahre  »an 
nichts  gefehlt«,  sie  hatten  sich  so  viel  verdient,  nun  wollen  sie  sich 
auch  noch  das  Glück  des  Augenblicks  verdienen  und  einen  Schluß 
auf  Heroismus  machen,  wenn  die  Geschäftsspesen  nicht  allzu  groß 
sind,  Gott  möge  sie  erhalten.  Gott  weiß,  wie  es  der  Setzer  weiß, 
wie  es  der  Briefträger  und  alle  Welt  weiß:  wo  Herr  v.  Hofmanns- 
thal jenes  Glück,  von  dem  Herr  Bahr  behauptet,  daß  es  kein 
größeres  gibt,  tatsächlich  erlebt  hat.  Nur  Herr  v.  Hofmannsthal 
selbst  hat  gezögert,  es  zu  sagen;  und  da  er  die  Bescheidenheit 
hatte,  den  offenen  Brief  des  Mentors  nicht  auf  der  Stelle 
offen  zu  beantworten  und  nicht  in  jenen  Zeitungen,  die  ihn 
gedruckt  hatten,  zu  erklären,  er  sei  zwar  noch  nicht  in  Warschau, 


—  45  - 


werde  aber  in  Wien  bleiben,  weil  er  nicht  mehr  in  Rodaun 
sein  könne  —  so  ist  es  erlaubt,  an  seiner  Statt  nachträglich 
die  Berichtigung  vorzunehmen.  Dem  rapiden  Sturmlauf  der  Ent- 
wicklung vom  Nibelungenlied  über  Herrn  Walther  von  der  Vogel- 
weide, Mystik  und  Barock,  Klopstock,  Kant,  Schiller,  Beethoven  bis  zu 
der  Erwartung:  »Nun  müßt  ihr  aber  doch  bald  in  Warschau  sein!<, 
will  ich  mich  dabei  nicht  hinderlich  in  den  Weg  stellen,  da  ja  der  Weg 
zweifellos  der  »rechte«  ist.  Indes,  der  Aufgeber  des  verloren  gegange- 
nen, aber  viel  gelesenen  Briefes,  der  Autor  dieses  von  der  eigenen 
Windigkeit  verwehten  Bekenntnisses,  dürfte  längst  wissen,  daß 
am  16.  August  1914  oder  in  den  folgenden  Tagen  die  Öster- 
reicher im  Allgemeinen  noch  nicht  in  Warschau  waren,  daß 
speziell  aber  der  Leutnant  Hofmannsthal  überhaupt  nie  so  weit 
vorgedrungen  ist,  wenn  ihm  nicht  etwa  nach  der  Einnahme 
dieser  Festung  Gelegenheit  geboten  war,  mit  Liebesgaben- 
paketen oder  in  sonst  einer  honorigen  Mission  des  Kriegsfürsorge- 
amtes dortsei  bst  zu  erscheinen.  Was  nun  vollends  die  andere  Erwartung 
des  Herrn  Bahr  anlangt,  Hofmannsthal  werde,  sobald  er  mit  der  öster- 
reichischen Armee  seinen  Einzug  in  Warschau  halte,  die  Gelegenheit 
benützen,  den  dortigen  österreichischen  Generalkonsul  aufzusuchen, 
so  gehört  sie  so  sehr  in  den  Bereich  jener  Vorstellungen,  die  der 
kleine  Moriz  vom  Kriege  hat  und  die  keineswegs  zu  verwechseln 
sind  mit  den  Vorstellungen  des  großen  Moriz,  die  wir  tagtäglich 
im  Leitartikel  mitmachen,  daß  man  sich  wundern  muß,  wie  die 
Setzer,  die  es  das  erstemal  zum  Druck  brachten,  die  Setzer 
des  Herrn  Bahr,  doch  zweifellos  von  Gelächter  geschüttelt,  keinen 
Mißgriff  gemacht  haben.  Ich  habe,  wie  schon  erwähnt,  die 
meinen  vor  Ausschreitungen  bewahren  müssen.  Denn  mit  den  Setzern 
ist  nicht  zu  spaßen,  wenn  sie  einmal  etwas  Spaßiges  in 
die  Arbeit  kriegen;  da  ist  ihnen  kein  Augenblick  heilig.  Daß 
aber  die  Leser,  ergriffen  von  dem  Vorbild  der  Treue  im 
Hinterland,  wo  auch  der  alternde  Dichter  seiner  Lieben  im 
Felde  gedenkt,  nicht  gelacht  haben,  ist  begreiflich.  Was  könnte 
man  ihnen,  die  zu  jedem  vaterländischen  Opfer  des  Intellekts 
bereit  sind,  in  einem  heiligen  Augenblick  nicht  alles  zumuten! 
Herr  Bahr  aber,  der  ja  auch  damals  schon  mehr  als  50  Jahre  alt 
war,  also  in  einem  Alter  stand,  das  ihn  zum  Waffendienst  wie 
zum  Ammenmärchen    in    gleicher  Weise   untauglich    macht,    war 


—  46  — 


ernstlich  der  Meinung,  daß  der  müde  Sieger  Hofmannsthal  gleich 
beim  Einmarsch  und  ehe  er  sich  noch  im  Hotel  die  Hände  vom 
Blut  gereinigt  hat,  aufs  Konsulat  gehen  werde,  das  an  einem 
Tage,  wo  österreichische  Truppen  einziehen,  natürlich  noch  nach 
zwei  Uhr  offen  hat,  und  dort  fragen  werde,  ob  der  Poldi,  nämlich 
der  Generalkonsul,  da  sei  oder  zufällig  außer  Haus.  Denn  es 
versteht  sich  von  selbst,  daß  ein  österreichischer  Generalkonsul 
in  einer  russischen  Festung  bei  Ausbruch  eines  Krieges  nicht 
davonläuft,  sich  aber  andererseits  auch  nicht  fangen  läßt,  sondern 
auf  seinem  Posten  ausharrt,  bis  die  braven  Österreicher  kommen, 
die  Eigenen,  zu  deren  Empfang  er  natürlich  anwesend  ist, 
nicht  etwa  nur  aus  Gründen  der  Repräsentation,  sondern  auch, 
um  den  einziehenden  Truppen  das  im  Krieg  notwendige  Paß-Visum 
zu  erteilen.  Fragt  sich  höchstens,  ob  noch  der  Poldi  —  Herr  Bahr 
scheint  darüber  nicht  informiert  —  das  Amt  hat,  das  er  vielleicht 
schon  an  den  Rudi  abgetreten  hat,  während  er  selbst  in  Moskau 
amtiert,  wo  er  vorläufig  noch  auf  die  österreichische  Armee  warten 
muß.  Vielleicht  ist  aber  der  Poldi  noch  in  Warschau.  Wenn  ja,  wird  er 
zweifellos  zur  Feier  des  Tages,  »und  während  draußen  die  Trommeln 
schlagen«,  nicht  nur  in  vergnügtem  Beisammensein  mit  seinem 
Gast  aus  Wien,  mit  dem  Hugerl,  des  gemeinsamen  Gönners  in  der 
Heimat  gedenken,  sondern  auch,  durchs  Konsulat  stapfend,  Baudelaire 
deklamieren,  wie  einst  im  Mai.  Beiden  aber,  dem  Generalkonsul  und 
dem  Eroberer  Warschaus  wird  »schrecklich  viel  einfallen«,  mehr 
noch  als  dem  Bahr,  dem  es  die  Zeitungen  in  Wien  und  Berlin 
gedruckt  haben.  Nein,  die  Druckereien  sind  nicht  geborsten  vor 
Heiterkeit,  denn  sie  waren  sich  der  Wichtigkeit  ihrer  Mission 
bewußt,  die  sonst  unbestellbare  Botschaft  an  Leutnant  Hofmanns- 
thal weiterzugeben,  der  am  Wachtfeuer  wohl  selten  einen  Brief,  aber 
immer  pünktlich  seine  Zeitung  bekommt.  Sie  sind  ja  dazu  da,  den 
Wind  zu  machen  statt  des  Windes,  wiewohl  selbst  sie  nicht  ver- 
hindern können,  daß,  wenn  künftig  einmal  ein  rechtschaffener 
Wind  Mist  heranwehen  sollte,  ich  glauben  werde,  es  sei  ein 
schöner  Gruß  vom  Hermann  Bahr.  .  .  .  Nun  müßte  man  allerdings 
meinen,  daß  ein  Mensch,  dem  das  aus  der  Feder  geflossen  ist, 
auf  Lebenszeit  verhindert  wäre,  eine  »Himmelfahrt«  niit  Erfolg 
auf  den  Markt  zu  bringen,  weil  es  ja  doch  unmöglich  sei,  daß 
sich    die    Leser   je    noch    von    einem    solchen    Salzburger    etwas 


47 


erzählen  lassen  werden.  Denn  wenn  es  bekannt  ist,  daß  es  keine  hyper- 
trophischeren Formen  in  der  Welt  der  Erscheinungen  geben  kann 
als  einen  Christen,  der  ein  Schmock,  und  einen  Juden,  der  dumm  l 
ist,  so  könnte  eine  Verbindung  dieser  verschiedenen  Eigen- 
schaften und  Zustände  nicht  eben  das  Ragout  sein,  das  die  Fein- 
schmecker in  der  Belletristik  vertragen.  Aber  was  vertragen 
sie  nicht!  Wenn  sich  ein  Herrgottsschwindler  in  einem  Feldpost- 
brief, den  er  in  Wien  durch  einen  Dienstmann  abgeben  könnte, 
nur  auf  Eckhart  und  Tauler  beruft,  so  glauben  sie  ihm  sogar 
die  Mystik;  und  wenn  ein  ausgewitzter  Literaturschieber  von  einem 
heiligen  Augenblick  sprach  und  sich  als  sterbender  Atting- 
hausen  noch  einmal  aufrichtete,  um  den  Krieg  zu  segnen  und 
die  beiden  Jünger,  die  an  ihm  auf  so  exponiertem  Posten  teil- 
nehmen, mit  der  Bitte  zu  entlassen,  ihn,  während  sie  Baudelaire 
singend  in  den  Tod  ziehen,  nicht  zu  vergessen,  da  stand  wohl  in 
manchem  Auge  eine  Träne.  Hätten  wir  unberufen  die  Einbildungs- 
kraft des  größten  Moriz,  so  »möchten  wir  uns  das  Gesicht  des  Herrn 
Hofmannsthal  vorstellen«,  wenn  er  dem  alten  Mystiker  zum  erstenmal 
wieder  auf  einem  Jour  bei  Schlesingers  begegnet  und  wenn  der  die 
Frage  stellt,  wie  sich  das  damals  in  Warschau  gemacht  habe.  Aber  die 
beiden  Herren,  der  Grüßer  und  der  Gegrüßte,  müssen  sich  irgend- 
wie auf  den  Schlachtenruhm  geeinigt  haben,  denn  das  Buch,  in 
dem  der  Brief  steht,  ist  im  Handel  geblieben  und  gewiß  sind  sie 
einverständlich  zu  dem  Entschluß  gekommen,  es  in  dieser  großen  Zeit 
nicht  einstampfen  zulassen.  Mindestensistnicht  bekanntgeworden, daß 
Herr  v.  Hof  mannsthal  aus  Wien  einen  Feldpostbrief  nach  Salzburg,  das 
doch  immerhin  zum  weiteren  Kriegsgebiet  gehört,  geschrieben  hat,  des 
Inhalts:  »Lieber  Bahr,  machen  Sie  sich  meinetwegen  keine  Sorgen. 
Weit  entfernt,  in  Warschau  zu  sein,  bin  ich  in  Wien,  ich  bin 
gesund  und  arbeite  an  einem  »Prinzen  Eugen«.  Ob  ich  das  Glück 
fühle,  dabei  zu  sein  ?  Ob  ich  es  fühle ! » Ich  weiß,  Sie  sind  froh «,  schreiben 
Sie.  Wie  Sie  das  erraten  haben,  Sie  Kenner.  Ob  ich  froh  bin !  Mir 
fällt  schrecklich  viel  ein,  zum  Beispiel,  daß  wir  uns  eigentlich 
niemals  näher  waren  als  jetzt.  Ich  meine  das  nicht  im  lokalen 
Sinne,  denn  Sie  sind  in  Salzburg;  sondern  im  Punkt  der  Gesinnung. 
Sie  können  sich  noch  erinnern,  wie  ich  Dragoner  war.  Sehen  Sie,  es 
ist  das  einzige,  was  ich  ganz  vergessen  hatte.  Ja,  Sie  haben  recht.' 
Wie  sagt  doch  Baudelaire:    Was  wir  vor  zwanzig  Jahr'n  für  zwei 


—  48  — 


Hallodri  war'n !  Sonst  hat  sich  wenig  verändert.  Was  den  Poldi  anlangt, 
an  dessen  Stimme  Sie  sich  seit  damals  dunkel  erinnern,  so  kann 
ich  Ihnen  mitteilen,  daß  auch  bei  ihm  sich  wenig  verändert 
hat,  es  wäre  denn,  daß  die  Umstände  schon  zu  der  Zeit,  wo  ich 
nicht  vor  Warschau  stand,  ihn  verhindert  haben,  dort  General- 
konsul zu  sein.  Ich  hätte  ihn  also  nicht  getroffen;  gut,  daß  ich 
nicht  dort  war.  Das  Buch,  das  er  mit  vierzig  Jahren  hätte  schreiben 
sollen,  ist  noch  nicht  erschienen,  und  zu  dem  mit  sechzig,  sagt 
er,  hat  er  noch  Zeit.  Tatsächlich  aber  hat  er  neulich,  während  draußen 
die  Burgmusik  spielte,  Baudelaire  deklamiert,  um  Ihre  Illusionen, 
Sie  lieber  Phantast,  nicht  ganz  zu  enttäuschen.  Er  hat  durch- 
gehalten. Die  Zeit  ist  ernst;  die  Stimmung  zuversichtlich.  In  diesem 
Sinne  grüße  ich  Sie.«  So  ungefähr  hätte  Herr  v.  Hofmannsthal 
sich  aussprechen  sollen,  ohne  gezwungen  zu  sein,  auch  nur  anzu- 
deuten, daß  er  im  Krieg  eine  Tätigkeit  ausübe,  mit  der  verglichen 
die  im  Kriegsarchiv  auf  der  Mariahilferstraße  gefahrvoll  ist,  von 
denHelden  derKriegsberichterstattungnichtzureden,  die  doch  oftden 
Rauch  der  Kaffeehäuser  im  engeren  Kriegsgebiete  zu  schlucken  kriegen, 
und  ganz  zu  schweigen  von  manch  einer  draufgängerischen  Kollegin, 
die  eben  dort,  wo  Männer  auf  Eroberungen  ausgehen,  am  liebsten  auch 
die  Hände  nicht  in  den  Schoß  gelegt  hätte.  Die  Dienstleistung  aber, 
die  Herr  v.  Hofmannsthal  erwählt  hat,  bietet  dafür  den  Vorteil,  daß 
sie  den  Funktionär  in  einem  angenehmen  Inkognito  erhält,  dem 
zwar  kein  Lorbeer  blüht,  das  aber  den  Glauben,  er  stehe  vor  Warschau, 
weder  hervorruft  noch  ausdrücklich  in  Abrede  stellt.  Hätte  Herr 
v.  Hofmannsthal  der  Gnade  des  Schicksals  oder  wie  die  Protektion 
heißen  mag,  die  ihn  unsichtbar  gemacht  hat,  sich  durch  den  Vorsatz 
würdig  gezeigt,  auf  Kriegsdauer  auch  unhörbar  zu  sein,  so  hätte 
ich  gern  davon  Abstand  genommen,  die  Verlegenheit,  in  die  ihn 
der  taktlose  Gruß  des  Herrn  Bahr  gebracht  hat,  zu  vergrößern. 
Niemand  hätte  ihm  vorgeworfen,  daß  er,  der  doch  einst  als  Dragoner 
sein  Jahr  an  der  Seite  des  Bahr  absolviert  hat,  das  Glück,  dabei  zu 
sein,  in  einer  ziemlich  versteckten  Filiale  des  Kriegs  verspiele.  Er 
hätte  nichts  zu  tun  gebraucht,  als  den  gewagten  Ausspruch, 
mit  dem  er  seine  > Österreichische  Bibliothek«  eingeleitet  hat:  »Es 
ist  etwas  Stummes  um  Österreich«,  für  seine  Person  wfihr  zu 
'machen.  Er  hätte  nichts  zu  tun  gehabt,  als  zu  schweigen,  in  einer 
Zeit,  in  der  manche  >nichtgediente«  Kollegen,  die  zum  Wort  eine, 


41) 


wenn  auch  nicht  so  erlesene,  so  doch  tiefere  Beziehung  haben  als  er, 
es  der  Tat,  zu  der  sie  nicht  geboren  wurden,  opfern  mußten!  In  dem 
Augenblick,  als  er  Musenalmanache  auf  das  Jahr  1916  herausgab, 
schwarz-gelbe  Büchel  aussteckte  und  die  unleugbare  Popularität  des 
Prinz  Eugen-Marsches  für  literarische  Zwecke  zu  fruktifizieren  begann, 
war  jede  Diskretion  über  die  weite  Entfernung,  in  der  sich  seine 
einwandfreieGesinnungvondem  ihr  ^gemessenen  Schauplatzaufhält, 
überflüssig.  In  dem  Augenblick,  als  er  hervortrat,  war  es  klar,  daß 
er  nicht  in  Warschau  sei.  Er  mußte  es  nicht  mehr  dementieren. 
Er  konnte  die  Theaternotizen,  in  denen  von  seinem  Abmarsch  an 
die  Front  berichtet  wurde,  unwidersprochen  lassen.  Er  konnte  die  Ehre, 
die  ihm  durch  das  Manifest  des  Bahr  angetan  wurde,  auf  sich 
sitzen  lassen!  Jeder  wußte  es  und  konnte  ihm  ins  Gesicht  sagen, 
daß  er  in  Wien  sei,  und  an  diesem  Zustand  ist  nichts  unstatthaft 
als  der  volle  Mund  einer  Kriegsfürsorge,  die  anderen  den  Krieg 
besorgen  möchte  und  sich  selbst  mit  der  Literatur  zufrieden  gibt. 
Denn  da  möchte  ich  doch  bitten:  wenn  einer  bei  Kriegsaus- 
bruch im  Vorzimmer  einer  Wohltätigkeitsanstalt  gesehen  wurde, 
von  des  Gedankens  Blässe  angekränkelt,  wenn  einer  in  einem 
heiligen  Augenblick  so  verfallen  aussah,  wie  zwanzig  Jahre  in  der 
Erinnerung,  so  hat  er  auf  Kriegsdauer  jede  Annäherung  an  den 
Prinzen  Eugen  zu  unterlassen;  wiewohl  dieser  auch  wenig  Freude 
an  dem  Weltkrieg  gehabt  hätte,  aber  selbst  heute  und  trotz  dem 
Bündnis  mit  der  Türkei  das  mit  der  Brücken  nicht  so  gemeint 
hätte,  daß  man  könnt  hinüberrucken  ins  Kriegsfürsorgeamt!  Es 
ist  unwürdig,  sich  von  einem  Professionsgrüßer  ein  »Glückauf, 
lieber  Leutnant«  zurufen  zu  lassen,  wenn  man  bei  sich  selbst  weiß 
und  sich  jeden  Tag  davon  überzeugen  kann,  daß  man  das  Glück 
hat,  hinauf  in  ein  Bureau  gekommen  zu  sein.  Man  hat  den 
Zuruf  >Ich  weiß,  Sie  sind  froh«  in  solcher  Lage  mit  einem  lauten 
und  vernehmlichen  Ja  zu  quittieren,  ganz  als  stünde  man  vor 
einem  andern  Altar  als  dem  des  Vaterlandes.  Niemand  hat  von 
Leuten  wie  Bahr  und  Hofmannsthal  Bravourstückein  in  den 
Dolomiten  erwartet;  von  Hofmannsthal  nicht,  weil  er  dazu  zu  gut 
erzogen  ist,  und  vom  Bahr  nicht,  wiewohl  der  Alterston  des 
Abschiednehmers,  der  zwar  nicht  mehr  mittun  kann,  aber  von  der 
rüstigen  Jugend  nicht  vergessen  werden  will,  keineswegs  darüber 
hinwegtäuschen  darf,  daß  die  Biederkeit  auch  waffenfähig   ist  und 


50 


daß  schon  ältere  Älpler  in  diesem  Krieg  losgegangen  sind.  Item; 
man  war  nie  so  herzlos,  die  Namen  der  beiden  Herren  in  einer 
Verlustliste  zu  vermissen  —  obgleich  sie  schon  manch  wertvollere, 
wortärmere  Menschen  angeführt  hat  und  wenige,  von  deren  Fortleben 
sich  eine  ungünstigere  kulturelle  Wendung  befürchten  ließ.  Aber  der 
Übermut,  der,  nicht  zufrieden,  daß  das  Glück  des  Augenblicks 
lebenslänglich  erstreckt  wird,  noch  täglich  in  der  traurigen  Gewinn- 
liste desHinterlandsfigurieren  will,  istwahrlich  dielästige  Kehrseite  des 
Mutes,  der  einem  erlassen  wird.  Herr  Hofmannsthal  hatte  erst  zu 
dementieren  und  dann  ein  Patriot  zu  sein!  Oder  zu  schweigen 
und  dann  auch,  solange  der  Krieg  dauert,  keine  Musik  dazu  zu 
machen !  Wenn  er  nicht  bis  Warschau  gekommen  ist,  so  hatte  er  auch 
nicht  nach  Berlin  zu  gehen  Und  dort  nebst  einigen  anerkennenden 
Worten'  für  »Hindenburgs  Siegeszug  nach  Warschau«  eine  Rede 
über  den  Krieg  gegen  Italien  als  >unseren  Krieg«  zu  halten  und 
durch  solche  Wendungen  den  schon  ganz  konfusen  Bahr  in 
Versuchung  zu  bringen,  bei  ihm  anzufragen,  ob  er  nun  bald  in 
Venedig  sein  werde,  nämlich  am  Lido,  wo  Bahr  selbst  schon  in  den 
buntesten  Uniformen  Aufsehen  erregt  hat.  Aber  niemand  hat  dem 
Herrn  v.  Hofmannsthal,  den  der  Treubruch  Italiens  einen  Dreck 
angeht  —  privat  mag  er  ihn  schmerzen,  weil  er  ihn  verhindert, 
Goethes  dritte  italienische  Reise  zu  machen  — ,  niemand  hat  ihm 
außer  dem  Kriegsfürsorgeamt  noch  das  Amt  gegeben,  die  Nation 
zu  vertreten.  Er  mag  ja,  was  nicht  schwer  ist,  eine  ehrlichere  Haut 
sein  als  der  d'Annunzio,  aber  es  ist  kompletter  Größen- 
wahn, der  ihn  in  die  künstlerische  wie  politische  Rivalität 
treibt,  denn  abgesehen  davon,  daß  er  mit  dem  bißchen 
ästhetischen  Kram  in  Österreich  weit  weniger  Staat  machen  kann, 
als  jener  mit  seiner  melodischen  Fülle  in  Italien,  wird  doch 
d'Annunzio  aus  diesem  Krieg  mit  etwas  geschwächter  Sehkraft 
hervorgehen,  während  Herr  Hofmannsthal  schon  heute  mit  zwei 
blauen  Augen  davongekommen  ist.  Wenn  einer  statt  vor  Warschau  zu 
stehen,  im  Kriegsfürsorgeamt  sitzt,  statt  in  Venedig  einen  Bombenerfolg 
zu  haben,  auf  dem  Podium  der  Berliner  Singakademie  steht  und  statt  in 
Belgrad  einzurücken,  im  Verlag  der,Muskete'  einen  Prinzen  Eugen  mit 
Bildein  herausgibt  —  dann  hat  selbst  einer,  der  sonst  der  letzte  wäre, 
aus  jenen  Unterlassungen  jemand  einen  Strick  zu  drehen,  das 
Recht,  sie  festzustellen.  Der  alte  Weg,  den  schon  das  Nibelungenlied 


51 


ging,  ist  jener  gerade  nicht,  den  der  Herr  Hofmannstha!  gegangen 
ist,  aber  sicher  hat  der  alte  Mentor  recht,  wenn  er  bezweifelt,  ob 
diese  zwanzig  Jahre,  die  so  blaß  wurden,  als  sollten  sie  gehalten 
werden,  gut  für  uns  waren.  Was  sein  Telemach  — 
>griechisch:  Telemachos,  der  aus  der  Ferne  Kämpfende«  —  getan 
hat,  entspricht  höchstens  der  Sorge,  »immer  etwas  zu  haben,  wobei 
man  sein  kann«,  oder  wo  man  dabei  sein  kann.  Gewiß,  man  soll 
ihm  nicht  vorwerfen,  daß  er  die  große  Zeit  nur  mit  dem 
Erlebnis  der  Bündnistreue  hingebracht  hat  und  damit,  andere 
patriotisch  zu  ermuntern:  er  war  wie  bei  manchem  harten 
Strauß  auch  wieder  bei  jenem  beteiligt,  dem  er  die  Libretti 
liefert,  und  er  hat  die  Gelegenheit  nicht  vorübergehen  lassen, 
zu  Ehren  Shakespeares  ein  intellektuelles  Feuerwerk  abzu- 
brennen, bei  dem  die  Einfälle  knallten,  ehe  sie  leuchteten  und 
durch  den  Widerspruch,  mit  dem  sie  aufeinander  losplatzten,  einiges 
Aufsehen  entstand.  Er  sprach  davon,  daß  die  »heutige  Zeit  keinen 
tieferen  Drang  kenne,  als  über  sich  selber  hinauszukommen«  — 
Glückauf!  —  und  wenn  Shakespeare  bisher  der  Geist  war,  der^ 
alles  sagt,  »was  in  Momenten  ungeheurer  Ereignisse  sich  in  den 
Herzen  der  Menschen  verbirgt,  was  ein  Gemüt  ängstlich  versteckt«, 
so  werde  »einem  anderen  Geschlechte  ein  stummer  Shakespeare 
entgegentreten«.  Shakespeare  hätte  das  Gemütsleben  einer  Zeit,  an  der 
nichts  ungeheuer  ist  als  der  Kontrast  von  ängstlich  versteckten  Ge- 
danken und  angemaßten  Taten,  wohl  zur  Gestalt  gebracht;  aber  was 
uns  vorderhand  genügen  würde,  ist  nicht  so  sehr  die  Erwartung 
eines  stummen  Shakespeare,  als  die  Vermeidung  eines  lauten 
Hofmannsthal.  Denn  eben  dieser  ist  eines  der  hervorragendsten  \ 
Beispiele  aus  der  Armee  von  Literaten,  die  zur  Verherrlichung  von  ' 
Ereignissen  ausgesendet  wurden,  welche  sie  um  keinen  Preis  erleben 
möchten,  und  denen  im  Krieg  »schrecklich  viel  eingefallen«  ist.  Sein  ■ 
ganzer  Ruhm,  der  immer  auf  so  schwachen  Beinen  stand,  daß  er  nun 
vollends  militärtauglich  wurde,  ist  ihm  dabei  eingefallen.  Der  Krieg  hat 
durch  die  Anziehung,  die  er  auf  die  schwerpunktlosen  Gehirne, 
auf  das  Scheinmenschentum,  auf  die  dekorationsfähige  Leere  aus- 
geübt hat,  Unwerte  vernichtet  und  srch  wenigstens  darin  von 
seiner  positiven  Seite  gezeigt.  Herr  Hofmannsthal,  der  vom  Vater- 
land erwartet,  daß  es  ihn  nicht  rufe,  wenn  er  von  Schlachtenruhm 
träumt,  aber  wenn  er  erwacht,  ihm  Grillparzers  Ehren  erweise,  er, 


—  52  — 

der  nie  mehr  war  als  ein  tauglicher  Übersetzer  fremder  Werte  oder 
ihr  kunstgebildeter  Vertreter,  nie  mehr  als  der  gefällige  Platzhalter 
eines  vor  ihm  gegebenen  Niveaus,  auf  dem  sich  die  Natur  unwohl 
gefühlt  hat,  dieser  Hugo  Hofmannsthal  ist  wie  kaum  einer 
aus  der  Schar  geistiger  Flüchtlinge  um  sein  bißchen  Besitzstand 
gebracht.  Österreich  irrt  wie  immer,  wenn  es  in  einem,  der  heute 
eben  noch  die  Geschicklichkeit  hat,  sich  mit  den  Landesfarben  zu 
schminken,  seinen  geistigen  Vertreter  sieht.  Es  müßte  ihm  die 
Lizenz  entziehen,  das  Wort  in  vaterländisch  er  Sachemitmehr  Anspruch 
auf  Glaubhaftigkeit  zu  führen  als  ein  beliebiger  Journalist,  und 
ihn  endgiltig  in  die  Redaktion  verweisen,  aus  der  Sphäre  der 
Wohltat,  wo  an  Literaten  Kriegsfürsorge  geübt  wird,  in  einen  jener 
dunkeln  Privatbetriebe,  wo  Worte  unerlebten  Gesinnungen 
dienen  müssen.  Schon  damit  Herr  Bahr,  dessen  Wehrfähigkeit 
trotz  der  Musterung,  der  er  sich  am  Lido  freiwillig  unterzog,  nicht 
mehr  in  Anspruch  genommen  wird  und  dessen  nationale  Bestre- 
bungen weniger  die  politische  Arena  als  die  eines  Zirkus  ver- 
langen —  schon  damit  er  wisse,  wo  er  ihn  und  seinesgleichen  zu 
finden  hat,  ihn  nicht  vergebens  am  Wachtfeuer  suche  und  dort  auch 
nicht  vermisse! 


53 


Feldpostbrief 

(Einer  von  vielen) 

3.  II.  16 

Ich  bekam  hier  im  Felde  zwei  Hefte  der  Fackel 
aus  den  Jahren  1912/13  in  die  Hand.  Also  schon 
damals,  im  Balkankrieg,  haben  Sie  die  Kriegsbericht- 
erstatter erkannt. 

Ich-  bin  seit  Beginn  im  Felde.  Im  Frieden 
ein  Alleingeher,  das  Leben  mein  schwankender  Gegner, 
die  Welt  mein  verhaßter  Feind. 

Leider  ist  sich  die  Menschheit  über  die  Ursache 
des  Krieges  noch  nicht  klar  geworden  und  kläglich 
muten  einen  die  Versuche  der  Nationen  an,  einander 
die  Schuld  zu  geben. 

Wir  haben,  was  wir  verdienen.  Daran  ist  nicht 
zu  rütteln.  Der  Krieg  hat  die  Schufte  gelassen,  der 
Gemeinheit  die  Hand  gegeben,  den  Unsinn  zur 
Tragödie  gewandelt,  Worte  zu  Taten  gemacht.  Die 
wenigen  Rechtwinkeligen  an  Leib  und  Seele  nieder- 
gepreßt mit  allen  Krallen. 

In  manch  ein  gebrochenes  Auge  habe  ich  geblickt, 
manch  einen  zerfetzten  Leib  verscharren  gesehen.  Es 
hat  mir  nicht  so  weh  getan  wie  die  Berichte  vom 
Krieg,  die  Verstümmelungen  im  Innern.  Dieses  in  den 
Kot  treten  der  Wahrheit,  des  Unbeschreiblichen ;  das 
Wort  »Held«  in  der  Feder  solcher  Kreaturen!  Schütteln 
möcht's  einen  vor  Abscheu.  In  allen  Lagern  der 
Nationen  betreiben  sie  ihre  gefährliche  Giftmischerei. 
Was  haben  sie  aus  dem  Krieg  gemacht!  Eine  Hure, 
die  sie  außerdem  noch  vergewaltigen.  Und  kein'^Mittel, 
dieser  Brut  die  Gurgel  zuzudrücken?  Keine  Seele  im 
Hinterland,  die  begreift?  Die  diesen  feilen  Schändern 
das  Handwerk  legt? 

Nimm's  wie's  kommt!  Aber  da  muß  einem 
das  Blut  in  den  Kopf  schießen,  wenn  so  ein 
Schuft  von  der  Feder  mit  seiner  Unwissenheit,  die 
nur   von    seiner    verantwortungslosen  Frechheit    über- 


—  54 


troften  wird,  uns  zu  loben  wagt!  Wenn  er  das  Seelen- 
leben des  Soldaten  schildert,  den  Krieg,  seine  Wirkun- 
gen, seine  Höhen  und  Tiefen.  Und  dieses  Gift  wird 
als  Serum  gegen  die  Wahrheit  eingeimpft.  Diese  Lehre 
bleibt  Evangelium  für  alt  und  jung.  Schmutz  auf 
Schmutz  gehäuft,  und  dann  ein  Wundern,  weils  stinkt. 
Statt  zum  Weg  zurück,  bringt  uns  der  Krieg  noch 
mehr  seitab. 

Und  es  ist  alles  umsonst.  Als  ich  Ihre  Hefte  las, 
hat's  mich  im  Innern  berührt:  Also  doch  Einer! 
Darum  schreib'  ich  Ihnen. 

Wenn  man  schon  früher  zu  sterben  hat,  so  wüßte 
man  auch  gerne,  warum!  Für  die  gegenwärtige 
Menschheit  es  zu  müssen,  ist  —  ironisch. 

Mit  Handschlag  ein  Ihnen  unbekannter 

Mensch 


Feld  postSkriptum 

Wien,  9.  April  1916 

Ich  weiß  nicht,  ob  Ihnen  diese  Zeilen  willkommen 
sein  werden  oder  nicht. 

Dennoch  will  ich  aussprechen,  daß  ich  Ihnen 
danken  muß  und  dies  aus  innerstem  Bedürfnis,  dafür, 
daß  Sie  in  dieser  Welt,  in  der  kraftlose  Dummheit  und 
brutalste  Verderbtheit  dualistisch  regieren,  der  einzige 
Schriftsteller  sind,  der  die  Wahrheit  anzudeuten  wagt. 

Wenn  auch  das  Vergnügen,  geboren  zu  sein, 
durch  das  Leben-  und  Sterbenmüssen  für  diese 
Menschheit  wahrlich  allzu  teuer  bezahlt  ist,  so  bleibt 
doch  auch  dem  tiefen  Dunkel  dieser  Gegenwart  das 
Erwarten  der  vereinzelten  Lichtschimmer,  welche  die 
Fülle  Ihrer  Gedanken  verbreiten  wird,  wenn  vielleicht 
einmal  glücklichere  Enkel  bessere  Menschen  zu  sein 
bestrebt  sein  werden  als  die  Generation  von 
Sklaven  und  Aufsehern,  die  uns  umtobt. 

Ein  Kriegsinvalider. 


—  55  — 
Worte  Luthers 

Tischreden  von   Kriegen. 

»Büchsen  und  das  Geschütz  ist  ein  grausam, 
schädlich  Instrument,  zersprengt  Mauern  und  Felsen, 
und  führt  die  Leute  in  die  Luft.  Ich  glaube,  daß  es 
des  Teufels  in  der  Hölle  eigen  Werk  sei,  der  es 
erfunden  hat,  als  der  nicht  streiten  kann  sonst  mit 
leiblichen  Waffen  und  Fäusten.  Gegen  Büchsen  hilft 
keine  Stärke  noch  Mannheit,  er  ist  todt,  ehe  man  ihn 
sieht.  Wenn  Adam  das  Instrument  gesehen  hätte,  das 
seine  Kinder  hätten  gemacht,  er  wäre  für  Leid  gestorben.« 

Eines  großen  Helden  und  Kriegsmanns  Amt. 

»Eines  guten,  frommen,  vortrefflichen  Kriegsmanns 
Wille  und  Meinung  ist,  daß  er  lieber  will  einen  Bürger 
oder  Mann,  der  Freund  ist,  erhalten,  denn  tausend  von 
Feinden  umbringen;  wie  Scipio  der  Heide  und  der 
Römer  oberster  Feldherr  sagte.  Darum  fähet  kein 
rechter  Kriegsmann  leichtlich  und  ohne  große  Ursache 
ein  Krieg  an,  liefert  nicht  gerne  eine  Schlacht,  noch 
belagert  eine  Stadt.« 

Tischreden  von  Juden. 

».  .  .  Aber  unser  Herr  Gott  kann  diese  Kinder 
fein  scheiden,  denn  diesen  gibt  er  hier  ihren  Lohn, 
jenen  behält  er  ins  künftige  Leben.  Doch  haben  sich 
die  Juden  Abrahams  gerühmt,  nicht  um  seinet,  sondern 
um  ihrer  Ehre  willen.  .  .  .« 

»Die  Juden  haben  ihre  Zauberei  gleich  sowohl 
als  andere  Zauberer,  sie  gedenken  also:  Geräth's  uns, 
so  stehet's  wohl  um  uns;  wo  nicht,  so  ist's  um  einen 
Christen  gethan;  was  liegt  uns  daran?  Denn  sie  achten 
eines  Christen,  wie  eines  Hundes. .  .  .  Noch  sitzen  sie 
bei  uns  in  großen  Ehren.« 


—  56  — 

».  .  .  sind  allenthalben  im  Reich  zerstreut,  räch 
ihren  Worten,  die  sie  zu  Pilato  sagten:  ,Wir  haben 
keinen  König,  denn  den  Kaiser.'  Es  ist  aber  ein 
schändlich  Volk,  es  erschöpft  Alles  aus  mit  dem  Wucher; 
wo  sie  einer  Obrigkeit  tausend  Gulden  geben,  so  saugen 
sie  dagegen  von  den  armen  Untersassen  zwanzig- 
tausend Gulden.« 

Darnach  las  der  Doctor  aus  einem  ebräischen 
Buch  etliche  ihrer  sehr  stolzen  Gebete,  darinnen  sie 
Gott  loben  und  anrufen,  als  wären  sie  allein  sein  Volk, 
und  verfluchen  alle  andern  Völker;  dazu  brauchen  sie 
den  23,  Psalm:  ,Der  Herr  ist  mein  Hirt,  mir  wird 
nichts  mangeln';  gleich  als  wäre  er  eigentlich  und 
vornehmlich  von  ihnen  geschrieben.  Summa,  den  armen 
Leuten  ist  nicht  zu  helfen,  sie  wollen  Gottes  Wort 
nicht  hören,  sondern  ihre  Gedanken  und  Fündlein. 

».  .  .  Die  Juden  können  sich  mit  den  Türken 
viel  besser  vergleichen,  denn  mit  den  Christen,  denn 
Juden  und  Türken  sind  eins,  und  bekennen,  daß  nur  Ein 
Gott  sei.  .  .  .« 

».  .  .  Nimmermehr  hält  ein  Christ  so  fest  an  seinem 
Christo,  als  ein  Jude  oder  auch  ein  Schwärmer  an  seiner 
Lehre  hält.  Denn  obwohl  ein  Christ  auch  dabei  bleibt, 
bis  in  den  Tod,  doch  strauchelt  er  oft,  und  beginnet  zu 
zweifeln.  .  .  ,« 

Tischreden  von  Landen  und  Städten. 

». .. .  Daß  Gott  allein  uns  ernähret,  nicht  Geld  und 
Gut;  denn  dasselbe,  da  es  vorhanden  ist,  machet  uns 
faul  und  sicher;  deß  sind  die  Venediger,  das  doch  die 
allerreichste  Stadt  ist,  ein  Exempel,  die  bei  unsern 
Zeiten  große  Theuerung  erlitten  haben.  .  . .« 

»Es  ist  keine  verachtetere  Nation,  denn  die 
Deutschen.  Italiäner  heißen  uns  Bestien;  Frankreich 
und  England  spotten  unser,  und  alle  andern  Länder. 
Wer  weiß,  was  Gott  will  und  wird  aus  den  Deutschen 


I 


57 


machen;    wiewol   wir  eine  gute   Staupe  vor  Gott  wol 
verdient  haben.« 

».  ,  .  Gott  gäbe  uns  ja  gern  Allen  genug,  wenn 
wir  seine  Gaben  nicht  so  schändlich  mißbrauchten, 
und  mit  unserm  Geiz  verderbten.« 

Der  Welt  Bild. 

»Die  Welt  ist  gleich  wie  ein  trunkener  Bauer, 
hebt  man  ihn  auf  einer  Seite  in  den  Sattel,  so 
fällt  er  zur  andern  wieder  herab;  man  kann  ihm  nicht 
helfen,  man  stelle  sich  wie  man  wolle.  Also  will  die 
Welt  auch  des  Teufels  sein.« 

Ein  Anders  von  Undankbarkeit. 

»Wer  seinen  Besitz  nicht  verlieren  will,  der  sterbe 
vor  dem  Verlust  desselben. . . .  Die  Welt  ist  ein  solcher 
Haufe,  der  die  väterlichen  Wohlthaten  so  hinnimmt, 
und  dieselben  mit  Lästerungen  und  Undank  vergilt.« 

Wie  Gott  D.  Martin  Luthern  wider  der  Welt  Toben  erhalten  hat. 

».  .  .  Ich  halt,  daß  Keiner  in  hundert  Jahren 
gelebt  hat,  dem  die  Welt  so  feind  gewesen,  als  mir. 
Ich  bin  der  Welt  auch  feind,  und  weiß  nichts  im  ganzen 
Leben,  da  ich  Lust  zu  hätte,  und  bin  gar  müde  zu 
leben.  Unser  Herr  Gott  komme  nur  bald  und  nehme 
mich  flugs  hin,  und  sonderlich  komme  er  mit  seinem 
jüngsten  Tage,  ich  will  ihm  der  Worten  gern  den  Hals 
herstrecken,  daß  er  ihn  mit  einem  Donner  dahin  schlage, 
daß  ich  liege.« 


58 


Gebet  an  die  Sonne  von  Gibeon 


Sonne,  immer  du  noch  purpurnen  Abschied  nimms:, 
immer  docli  unbeirrt,  immer  den  Erdentag 
segnend,  der  ins  Gesicht  dir  in  Finsternis  prahlt  — 
wieder  vorbei  dem  Menschenkreis. 


Keines  irrenden  Sterns  zitternder  Funke  war 
je  verborgener  den  vom  Dunkel  Verblendeten 
als  dein  flammendes  Meer,  das  den  Abend  umarmt 
wie  ein  brennendes  Gottesherz, 


Sonne,  dankloser  dir,  dunkler  sich  selbst  verbleibt 
alles  Lebendige,  das  nicht  Athem  der  Pflanze  hat, 
nicht  die  Weisheit  des  Thiers  —  wahllose  Geberin, 
nur  du,  Sonne  du,  weißt  es  nicht! 


Sieh  diese  Kugel  aus  Kot,  die  einst  der  Teufel  warf 
in  die  Planetenbahn,  wie  sie  sich  um  sich  dreht, 
und  nur  um  dich,  daß  sie   in  gutem  Lichte  sei, 
Spielball  eigener  Eitelkeit. 


Oder  aus  Raum  und  Zeit  sprang  dieser  Wechselbalg, 
wähnt  sich  selbst  eine  Welt,  wähnt,  daß  die  Welten  nur 
seine  Trabanten  sind  —  doch  für  den  Sternenlauf 
lebt  er   ein  ewiges  Hindernis. 


59 


Daß  du   noch  Farben   hast,   Sonne,   ob  solchem  Grab 
aller  Liebe,  die  je  kosmischer  Geist  vergab! 
Daß  du  noch  prangen  kannst  vor  der  Armseligkeit  — 
Wunder  dieser  Entgötterung ! 


Nicht  das  Gold  deines  Strahls  hält  ihren  Blick  gebannt, 
für  einen  Silberling  ist  eine  Andacht  feil. 
Daß  vor  höchstem  Gericht  du  ihres  dunkeln  Sinns 
zeugtest,  fürchtet  die  Erde  nicht. 


Liehe  die  ewige  Nacht  ihr  eine  Aussicht  nur 
auf  noch  besseres  Gold  als  sie  dem  Tage  stahl, 
gingst  du  auf  immer  dahin,  keine  Thräne  dir  nach 
flöß'  aus  erloschenem  Menschenaugr. 


Welcher  Sinn  denn  befiehlt  irdischen  Lebens  Gang? 
Nicht  in  Athem  und  Dank  an  Gott,  daß  er  Athem  gab, 
lebt  der  Mensch  seine  Zeit,  sondern  er  zahlt  damit, 
endlich  schuldig  nur  an  sich  selbst. 


Gibt  es  der  Götter  noch,  denen  das  All  sich  beugt: 
blieb  der  Bezirk,  worin  Wahn  mit  der  Gier  regiert, 
blieb  die  Stätte,  worauf  Menschliches  irregeht, 
unvermindert  Jehovahs  Reich. 


Heil  dir,  o  Israel!    wer  ist  wie  du,  vor  ihm, 
der  deiner  Hilfe  Schild  und  deines  Sieges  Schwert? 
Siehe,  es  schmeicheln  dir  deine  Feinde,  o  Volk, 
aber  du  trittst  auf  ihre  Höhen ! 


60  — 


Keiner  von  ihnen  soll  vor  dir  be^tehn,  und  du, 
fürchtest  du  Gott  allein,  aber  sonst  nichts  in  der  Welt 
durch  alle  Wässer  gehst  trockenen  Fußes  durch, 
immer  den  Kopf  zum  Ziel  gewandt. 


Durch  die  Schärfe  des  Schwerts  schlugst  du  sie,  immer  sind 
gottverschworner  Vertilgung  alle  sie  ausgesetzt. 
Und  es  fielen  vom  Himmel    große  Steine  auf  sie. 
-.Denn  der  Herr  stritt  für  Israel. 


Sie  zu  vertilgen  gab   er  sie  in  Israels  Hand, 
daß  es  setzte  den  Fuß  auf  der  Könige  Hals; 
alles  Lebendige  gab,  alle  Seelen  der  Gott 
gottverschworener  Rache  preis. 


Und  so  wird  es  der  Herr  all  ihren  Feinden  thun, 
.denn  er  stritt  wider  sie,  stritt  nur  für  Israel. 
Denn  ihr  Herz  war  verstockt,   daß  sie  sich  weigerten, 
Zins  zu  geben  dem  Gottesvolk. 


Nicht  Weib  noch  Mann  entrann,  nicht  Kind  und  Greis 

dem  Schwert, 
verschont  nur  ward  und  geehrt,  wer  den  Verrath  ersann, 
und  alles  Silber  und  Gold  und  alles  Geräth  aus  Erz 
legten  sie  zu  dem  Schatz  des  Herrn. 


Doch  die  zu  Gibeon  hielten  zu  Israel. 
Denn  sie  fürchteten  sich.  Nicht  erwürgt  wurden  sie', 
nur  verflucht  wurden  sie,  ewig  Sklaven  zu  sein 
für  die  Gemeine  Israels. 


61 


Weil  sie  schlössen  den  Bund,  wurden  sie  nur  bestimmt, 
Holz  zu  hauen  und  auch  Wasserträger  zu  sein 
für  die  Gemeine   und   auch   für  den  Altar  des  Herrn, 
desselbigen  Tags  bis  auf  diesen  Tag. 


Doch  der  Geschlechter  Geschlacht  nichts  Lebendiges  ließ, 
und  so  plünderten  sie  alle  Beute  für  sich. 
Und  es  war  auch  kein  Tag  diesem  erwählten  gleich, 
vor  ihm  keiner  und  nach  ihm  nicht. 


Denn  zur  Feier  des  Siegs  am  Himmel  ein  Wunder  war 
und  die  Sonne  blieb  stehn,  die  Sonne  zu  Gibeon, 
und  auch  der  Mond  im  Thal  stand  stille  zu  Ajalon. 
Denn  es  geschah  für  Israel. 


Mitten  am  Himmel  stand,  wie  es  geboten  war, 
beinah  sie  den  ganzen  Tag,  nicht  eilte  sie  unterzugehn, 
bis  das  Volk  sich  gerächt  an  seinen  Feinden.  Dies 
im  Buch  des  Frommen  geschrieben  steht. 


Und  der  eifrige  Gott,  welcher  am  siebenten  Tag 
der  Zerstörung  nicht  ruht,  hieß  sie  vollenden,  bis 
sie  der  besiegten  Welt  den  Fuß  auf  den  Nacken  gesetzt 
und  ein  Geschrei  erheben  gedurft. 


Denn  es  ward  ihnen  gesagt,  nicht  zu  erheben  so  lang 
Geschrei,  bis  ihnen  gesagt,  daß  sie  erheben  Geschrei, 
dieses  hielten  sie  ein,  dann  aber  gingen  sie  hin, 
Geschrei  zu  erheben  wie  ihnen  gesagt. 


62  — 


Wie  das  Geschrei  nun  erscholl,  da  fiel  die  Mauer  ein, 
und  wie  das  Volk  es  sah,  daß  da  die  Mauer  fiel 
auf  das  Geschrei,  das  Volk  ein  großes  Geschrei  erhob, 
herzufallen  über  die  Stadt  sogleich. 


Völker,  die  es  gehört,  wurden  hörig  dem  Volk; 
alle  schrieen  wie  es,  alles  ward  Israel. 
Alle  Sprachen  durchdrang  einzig  die  Melodie, 
deren  Schalmei  das  Geld  anlockt. 


Und  sein  Wechsel  verlangt  anderen  Wechsel  auch   - 
Schwarz  von  Tinte  der  Tag,  rot  vom  Blute  die  Nacht! 
Aber  welche  es  sei:    Fluth,  die  im  Wechsel  wuchs: 
Israel  ging  trocken  durch. 


Ist  die  Erde  ein  Meer,  so  braucht  die  Erde  mehr, 
mischt  das  Blut  mit  dem  Meer,  immernoch  mehr  und  mehr - 
Rache,  der  Raubfisch,  steigt,  Drache,  hoch  in  die  Luft, 
daß  sie  Freistatt  des  Mordes  sei! 


Näher,  mein  Gott,  zu  dir!  Näher  der  Sonne  zu! 
Sonne,  dir  angethan  bleibt  es  in  Ewigkeit! 
Leuchtest  wieder  und  lachst  ?  Hingang  und  Wiederkehr 
bleibt  die  Uhr  dieses  Menschentags? 


Wirft  diese  Erdenschmach  keinen  Schatten  auf  dich? 
Sonne,  quält  es  dich  nicht,  wenn  du  im  Mittag  stehst, 
daß  der  Strahl  deines  Augs  fällt  auf  das  Leichenfeld, 
wo  die  Hyäne  Mahlzeit  hält? 


63 


Lasse  stehen  die  Zeit!  Sonne,  vollende  du! 
Mache  das  Ende  groß!  Künde  die  Ewigkeit! 
Recke  dich  drohend  auf,  Donner  dröhne  dein  Licht, 
daß  unser  schallender  Tod  verstummt! 


Goldene  Glocke  du,  schmilz  in  eigener  Gluth, 
werde  Kanone  du   gegen  den  kosmischen  Feind! 
Schieß  ihm  den  Brand  ins  Gesicht!  Wäre  mir  Josuas Macht, 
wisse,  wieder  war'  Gibeon! 


Richte  dich  auf  zum  Gericht!    Eile  nicht  unterzugehn, 
bis  sich  das  Licht  gerächt  an  dem  dunkeln  Geschlecht, 
und  deine  blutige  Pracht  trockne  sein  elendes  Blut 
gottverschworener  Rache  gemäß! 


Keiner  von  ihnen  soll  vor  dir  bestehn,  und  du 
auf  ihre  Höhen  tritt,  zum  dunkeln  Untergang 
brenne,  leuchte  herab,  lache  Sonne,  daß  du 
es  nun  doch  an  den  Tag  gebracht! 


Aber  ein  Wunder  hier    thu  auch  an  Pflanze  und  Thier. 
Flamme  des  Menschentods  sei  ihnen  Wärme  nur. 
Rufe  Frühling  zurück  allem,  was  unterthan 
rauchgeborenem  Leben  war. 


Allem  Erschöpften  gib  Farbe  und  Lust  zurück. 
Laß  den  Menschen  jedoch,  Henker  an  allem  was 
mit  der  Natur  verwandt,  laß  die  Maschingeburt 
sterbend  sehn,  wie  das  Gras  gedeiht! 


—  64  — 


Und  das  Ttiier,  das  er  trieb,  seine  Ware  zu  ziehn 
und  in  den  Kampf  zu  ziehn  um  seiner  Ware  Heil 
labe  es,  wenn  du  statt   Strahlen  doch  Blitze  hast, 
zu  vertilgen  den  Seelenfeind. 


Wenn  du  ein  Ende  gemacht  hochmüthiger  Niedertracht 
und  du  dem  Blutgeschäft  unendlichen  Sieg  entreißt  — 
von  deiner  Glorie  schweigt  irdischer  Lobgesang, 
weil  sie  den  Schmeichler  hinweggerafft. 


Aber  es  rauschen  dir  erwachende  Sphären.    Dank 
tönet  im  Äther,  wo  Harfen  der  Liebe  sind. 
Welch  einen  Wandel  führst  du  den  Sternen  herauf! 
Staunend  erkennt  die  Schönheit  sich. 


Es  wird  ein  Sonntag  sein.   Götter  kommen  zum  Fest. 
Ursprungs  eilen  herbei  Geister,  ledig  der  Zeit. 
Ohne  den  Menschen  ist  Freude.  Am  neuen  Tag 
sonnt  sich,  der  dich  geschaffen  hat. 


Und  die  Liebe  um  dich  höret  nun  nimmer  auf, 
und  die  Musik  im  All  schallt  deiner  Herrlichkeit, 
und  dein  erhabener  Glanz  ist  ohnegleichen  heut, 
weil  ihm  das  Menschenauge  brach! 


KARL   KRAUS 

WORTE  IN  VERSEr 


LEIPZIG 

KREUZSTRASSE  3  b 

VERLAG  DER  SCHRIFTEN  VON  KARL  KRAl 

19  16 

Druck  der  Offizin  W.  Drugulln 


INHALT  der  vorigen  fünffaclien  Nummer  418-422,  8.  April  191 
Kierkegaard  und  die  Journalisten  /  Zum  ewigen  Gedächtnis 
Die  Historischen  und  die  Vordringenden  /  Das  Lysoform-Gesicht 


[leiner  Konzertliaussaal 

(III.   Lothringerstraße  20) 
FREITAG  DEN  12.  MAI  1916 

PRWZISE  HALB  8  UHR 

VORLESUNG 

<ARL  KRAUS 


ARTEN  zu  K  10.—,  8.~,  6.—,  4.—,  2.—,  1.—  an  der 
Konzerthauskassa,  Hl.  Lothringerstraße  20,  bei 
Kehiendorfer,  I.  Krugerstraße  3  und   in   der 
Buchhandlung  Friedlaender,  Kärntnerstraße  44 

In  Teil  ,'des   Ertrages  wird  |der   Kinderfürsorge  zugeführt) 

BENDA,  MITTWOCH  DEN.24.  MAI 

PR»ZISE  HALB  8  UHR 

iHAKESPEARE-FEIER 

>ie  lustigen  Weiber  von  Windsor 
vorgelesen  von  KARL  KRAUS 

ARTEN   zu   K  6.—,  4.—,  3.—,  2.—,  1.—,  50  Heller 
an  den  oben  angegebenen  Verkaufsstellen 

er  gesamte  Reinertrag  wird  den  Gefangenen  in  Beresowka; 


i>ii\.  4^0  -—  4JU  j  UINI  1916  XVTII.  JAI 


DIE  FACKEI 


HERAUSGEBER 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

Das  übervolle  Haus  jubelte  den  Helden  begeistort  zu,  die  stran 
salutierend  dankten   /   Das  Gegenstück  /  Glossen   /   Der  tragisc 
Karneval    /    Notizen    /    Der  Krieg   im   Schulbuch    /   Glossen 
Desertion  in  den  Tod   /   Die  Fundverheimlichung 


NACHDRUCK   VERBOTEN 

Preis  dieses  Heftes; 

1  Krone  50  Heller  =  1  Mark  25  Pf. 

VERLAG:  .DIE  FACKEL',   WIEN 


DIE  FACKEL 

Nr,  426-430  15.  JUNI  1916  XVIII.  JAHR 


2  — 


—  3 


—    4 


—   5    — 


6    — 


Das  Gegenstück 

Aus  München  wird  uns  geschrieben:  Unter  dem  Schlagworte 
»Die  Feldgrauen  für  die  Feldgrauen«  veranstalten  Offiziere  und 
Mannschaften  der  hiesigen  Ersatzformationen  ein  ganz  eigenes 
Theater,  wobei  sie  das  von  einem  Feldgrauen  verfaßte  Stück  »Der  Hias« 
zur  Aufführung  bringen.  Im  Rahmen  einer  dreialctigen  Komödie  werden 
uns  einzelne  Bilder  aus  dem  Leben  in  Feindesland  vor  Augen  geführt, 
und  wir  lernen  so  ziemlich  alles  kennen,  was  der  Krieg  an  Aben- 
teuerlichem, Verwegenem  und  Überraschendem,  nicht  minder 
aber  auch  an  herzhaft  Erfrischendem  und  Ergreifendem  mit  sich  bringt. 
Patrouillengänge,  Gefangennahme,  Kriegsgericht  gegen 
> deutsche  Barbarei«,  französischer  Chauvinismus  und  frohgemutes  Lager- 
leben wie  die  Feier  des  Königsgeburtstages  wechseln  in  bunter 
Reihe  ab,  wobei  ganz  besonders  das  kameradschaftliche  Zusammenleben 
der  Offiziere  und  sonstigen  Vorgesetzten  mit  der  Mannschaft  und  deren 
treues  Zusammenhalten  geschildert  wird.  Die  Anhänglichkeit  der 
Mannschaft  an  die  Offiziere  zeigt  sich  im  schönsten  Licht,  —  und 
solch  ein  Muster  echt  bayerischer  Art  ist  der  Offiziersbursche  Hias, 


der  durch  seine  rasche  Entschlossenheit,  seine  Tapferkeit  und 
seine  Klugheit  seinen  verwundeten  Leutnant  vor  schmachvollem 
Ende  in  den  Händen  der  Franzosen  rettet  und  die  Schuldigen  der 
gerechten  Vergeltung  zuführt.  Aber  um  die  Fabel  des  Stückes  handelt 
es  sich  gar  nicht;  was  uns  bei  diesem  Theater  so  mächtig  packt,  ist 
der  frische  Zug,  der  es  durchweht,  ist  die  Ursprünglichkeit  und 
Echtheit,  die  ihm  anhaften.  Es  ist  Theater  und  doch  keines,  vielmehr  i 
in  höherem  Sinne  wahrhaftiges  Leben,  das  durch  die  unbeholfene  / 
Darstellung  nur  noch  gewinnt.  Was  diese  Feldgrauen  uns  jetzt  auf  der 
Bühne  des  Münchner  Volksthealers  »vorspielen  <,  das  ist  nur  die 
Wiedergabe  des  Erlebten,  wenn  auch  in  anderer  Form,  das  ist  aus 
ihren  Empfindungen  herausgeboren  und  wohl  nur  ein  Spiegelbild  ihres 
ureigensten  Wesens,  wie  es  sich  draußen  im  Felde  gebildet  hat.  Am 
deutlichsten  zeigt  sich  dies  im  zweiten  Akte,  da  der  »Geburtstag  des  Kini« 
(Königs)  gefeiert  wird  und  die  Soldaten  nun  durch  ihre  bescheidenen, 
von  den  Kameraden  bejubelten  Darbietungen  das  Fest  verschönern  und  für 
deren  Erheiterung  sorgen.  Und  während  Schnadahüpfeln  gesungen 
werden  und  ein  unverfälscht  bayrischer  Schuhplattler  getanzt  wird 
—  dabei  zwei  Soldaten  als  fesche  Dearndln  — ,  arbeitet  am 
Offizierstische  das  Feldtelefon,  werden  Meldungen  entgegengenommen 
und  abgegeben,  arbeitet  die  Kriegsmaschine  ihren  eisernen, 
unerbittlichen  Gang!  Dieser  Akt  ist  vom  Publikum  beklatscht 
worden,  wie  dies  noch  keine  Kunstleistung  erfahren  hat. 
In  den  Zwischenpausen  spielte  das  Militärorchester  patriotische  Lieder 
und  Märsche.  Es  ist  wohl  überflüssig  zu  betonen,  daß  sämtliche  Mit- 
wirkenden, denen  sich  auch  einige  Damen  der  Gesellschaft 
angeschlossen  haben,  keinerlei  Spielhonorar  beziehen,  die  gesamten 
Einnahmen  aus  diesen  Vorstellungen  fließen  dem  Roten  Kreuz  für 
militärische  Wohlfahrtseinrichtungen  zu.  Und  da  es  also  auch  nach 
dieser  Richtung  hin  kein  Theater  im  üblichen  Sinne  sein  will,  nennt 
der  Theaterzettel  keinen  einzigen  Namen  der  Mitwirkenden,  ja,  nicht 
einmal  der  Verfasser  des  Stückes  tritt  aus  seiner  be- 
scheidenen Zurückhaltung  heraus.  Im  dritten  Akte  sollte  auch 
ein  Film  vorgeführt  werden,  aber  leider  hat  die  Polizei  ihn  wegen 
Feuers gef  ah r  gestrichen,  so  daß  wir  darum  kamen,  die  Auffahrt  der 
Artillerie,  Handgranatenkampf,  Handgemenge  und  Nahkampf 
zu  sehen.  Zum  Schlüsse  endlich  gab  es  noch  ein  in  großen  Dimensionen 
gehaltenes  lebendes  Bild  »Krieg  und  Frieden*,  das  ebenfalls  sehr 
viel  Beifall  fand.  Wie  uns  mitgeteilt  wird,  beabsichtigt  das  Theater 
der  Feldgrauen,  das  in  München  nur  acht  Vorstellungen  veranstaltet, 
das  ganze  Land  zu  bereisen;  es  wird  sicherlich  überall  herzliche 
Aufnahme  finden,  um  so  mehr,  als  in  diesem  Stück  so  manches 
kluge,  liebe  und  zuversichtliche  Wort  fällt,  das  lebhaftes 
Echo  in  den  Herzen  der  Zuhörer  weckt.  Und  dazwischen  viel  Scherz 
und  gesunder,  kräftiger,  echt  baj uvarischer  Humor,  der 
wirklich  zündend  wirkte.  Daß  schließlich  auch  unserer  Verbündeten, 
ganz  besonders  aber  der  ruhmreichen  österreichisch-ungarischen  Armee, 


gedacht  wird,  versteht  sich  von  selbst.  Kein  Zweifel,  der  >boarische 
Hias«,  der  unverfälschte  Typus  des  »bayrischen  Löwen«,  wird  auf 
seiner  Rundfahrt  durch  die  deutschen  Gaue  seinen  Weg  machen, 
und  er  wird  sicherlich  überall  herzhaftem  Verständnis  begegnen, 
—  jenem  stillen,  behäbigen,  guten  Lächeln,  das  so  sehr 
die  Seele  erwärmen  kann. 

Nur  daß  wir  hier,  gemäß  der  Volksart,  mehr  aufs 
Individuelle  gegangen  sind,  die  dort  mehr  aufs  All- 
gemeine. Aber  auch  dies  ist  so  schön,  so  in  höherem 
Sinne  wahrhaftiges  Leben,  so  traulich  ist  es,  dazu- 
sitzen, während  die  Kriegsmaschine  auf  der  Bühne 
ihren  eisernen  unerbittlichen  Gang  arbeitet,  und  Soldaten 
zu  sehen,  die  Soldaten  spielen  und,  solche  wieder,  die 
fesche  Dearndln  sind,  und  Damen  der  Gesellschaft,  die 
mittun,  und  nur  der  Handgranatenkampf  entfällt  wegen 
Feuersgefahr,  aber  der  Tod  stellt  lebende  Bilder,  die 
andern  sind  im  Nahkampf  umgekommen,  wir  sind  um 
den  Nahkampf  gekommen,  aber  gesunder  Humor  bringt 
Ersatz,  und  so  ans  Herz  geht  es,  daß  man  hoffen  kann 
durchzuhalten,  bis  man  mit  jenem  stillen,  behäbigen, 
guten  Lächeln,  das  die  Seele  erwärmt,  einst  im  ewigen 
Frieden  zu  sich  kommt.  Kein  Handgemenge  —  Schuh- 
plattler gibt's  heut!  Kein  Nahkampf  —  Schnadahüpfeln! 
Kein  Ärgernis  in  der  Welt.  Ich  habe  die  Regie. 
»Was  für  eine  Gesellschaft  ist  es?  . . .  Wie  kommt  es,  daß 
sie  umherstreifen?,  .  .«  »Die  besten  Schauspieler  in 
der  Welt,  sei  es  für  Tragödie,  Komödie,  Historie,  Pastorale, 
Pastoral-Komödie,  Historiko-Pastorale,  Tragiko-Historie, 
Tragiko-Komiko-Historiko- Pastorale,  für  unteilbare 
Handlung  oder  fortgehendes  Gedicht.  Seneka  kann  für 
sie  nicht  zu  traurig,  noch  Plautus  zu  lustig  sein.  Für 
das  Aufgeschriebne  und  für  den  Stegreif  haben  sie 
ihres  Gleichen  nichl.«  ».  ,  .  der  Natur  gleichsam 
den  Spiegel  vorzuhalten:  der  Tugend  ihre  eignen 
Züge,  der  Schmach  ihr  eignes  Bild,  und  dem 
Jahrhundert  und  Körper  der  Zeit  den  Abdruck  seiner 
Gestalt  zu  zeigen  ....  O  es  gibt  Schauspieler,  die 
ich    habe    spielen    sehn    und    von    andern    preisen 


10 


hören,  und  das  höchlich,  die,  gelinde  zu  sprechen, 
weder  den  Ton  noch  den  Gang  von  Christen,  Heiden 
oder  Menschen  hatten,  und  so  stolzierten  und  blökten, 
daß  ich  glaubte,  irgend  ein  Handlanger  der  Natur 
hätte  Menschen  gemacht,  und  sie  wären  ihm  nicht 
geraten;  so  abscheulich  ahmten  sie  die  Menschheit 
nach  ....  Und  die  bei  euch  den  Narren  spielen,  laßt 
sie  nicht  mehr  sagen,  als  in  ihrer  Rolle  steht:  denn 
es  gibt  ihrer,  die  selbst  lachen,  um  einen  Haufen 
alberne  Zuschauer  zum  Lachen  zu  bringen,  wenn  auch 
zu  derselben  Zeit  irgend  ein  notwendiger  Punkt  des 
Stückes  zu  erwägen  ist.«  ». . .  Die  Schauspieler  können 
nichts  geheim  halten,  sie  werden  alles  ausplaudern.« 
». . .  Habt  ihr  den  Inhalt  gehört?  Wird  es  kein  Ärgernis 
geben?  —  Nein,  nein;  sie  spaßen  nur,  vergiften  im 
Spaß,  kein  Ärgernis  in  der  Welt.  —  Wie  nennt  ihr 
das  Stück?  —  Die  Mausefalle.  Und  wie  das?  Meta- 
phorisch. . . .«  »Der  König  steht  auf.  —  Wie?  Durch 
falschen  Feuerlärm  geschreckt  .  .  .?«  »Ei,  der  Gesunde 
hüpft  und  lacht,  dem  Wunden  ists  vergällt;  der  eine 
schläft,  der  andere  wacht,  das  ist  der  Lauf  der  Welt. 
Sollte  nicht  dies,  und  ein  Wald  von  Federbüschen 
(wenn  meine  sonstige  Anwartschaft  in  die  Pilze  geht) 
nebst  ein  paar  gepufften  Rosen  auf  meinen  erhöhten 
Schuhen,  mir  zu  einem  Platz  in  einer  Schauspieler- 
gesellschaft verhelfen?. . .«  »Ha  ha!  Kommt,  Musik! 
kommt,  die  Flöten!  Denn  wenn  der  Kini  von  dem 
Stück  nichts  hält,  ei  nun!  vielleicht  —  daß  es  ihm 
nicht  gefällt.«  O  lieber  Horatio,  ich  wette  Tausende 
auf  das  Wort  des  Geistes! 


Glossen 

Die  Welt  als  Vorstellung 

Was  die  Behauptung  Cadornas  betrifft,  daß  die  von  unseren 
Truppen  bisher  erstürmten  Stellungen  nur  »Vorstellungen«  seien, 
so  sei  nur  neuerdings  — 

Erschütternd,  wie  hier  der  neue  Sinn  des  Worts  zum  alten  zurück- 
findet, ohne  Vorstellung  davon.  Denn  die  von  uns  genommenen 
Stellungen  sind  keine  Vorstellungen,  sondern  richtige  Stellungen, 
und  die  Behauptung  Cadornas,  daß  es  bloße  Vorstellungen  und 
nur  in  unserer  Vorstellung  existierende  Stellungen  seien,  ist  eine 
falsche  Vorstellung.  Nun  war  aber  auch  kürzlich  von  den  Stellungs- 
pflichtigen und  den  > Vorstellungspflichtigen <  zu  lesen.  Hier  ist 
wieder  Zuwachs  zum  Leid  der  Menschheit,  durch  das  Leid  der  Sprache. 
Sind  es  solche,  die  verpflichtet  sind,  eben  hievon  eine  Vorstellung  zu 
haben  ?  Nein ;  es  wäre  von  übel.  Solche,  .die  verpflichtet  sind,  sich 
irgendwo  vorzustellen?  Ja  und  nein.  Etwas  vorzustellen?  Danach 
wird  nicht  gefragt.  Einem  etwas  vorzustellen,  wie  ihre  Jugend,  ihr  Alter, 
ihre  Krankheit,  ihre  Unentbehrlichkeit?  Das  können  oder  brauchen  sie 
nicht.  Einem  Vorstellungen  zu  machen?  Keineswegs.  Solche,  die 
verpflichtet  sind,  Vorstellungen  zu  beziehen  oder  zunehmen?  Noch 
nicht.  An  Vorstellungen  mitzuwirken?  Auch  noch  nicht.  Sich  vor  die 
anderen  zu  stellen?  Das  dürfen  sie  nicht.  Also  was  denn?  Sich  vor 
den  anderen  zu  stellen,  früher  als  die  andern  zustellen!  Das  muß 
es  sein,  denn  eine  andere  Vorstellung  kann  man  sich  darunter 
nicht  vorstellen.  Die  Sprache  hat  ohnehin  mehr  gesagt,  als  sie  von 
rechtswegen  verpflichtet  wäre.  Mehr  vorstellungsptlichtig  ist  sie 
nicht.  Aber  muß  man  denn  in  einer  Zeit,  die  so  viel  Worte  hat, 
gerade  mit  den  besten  durchhalten  und  so,  daß  man  sie  zu  jeder 
Verrichtung  benützt?  Eher  sollte  man  Wortkarten  einführen  und 
auf  eine  solche  nicht  mehr  Vorstellungen  beziehen  dürfen,  also 
auch  auf  eine  »Vorstellung«  nicht  mehr  Vorstellungen,  als  Zucker 
zum  Kaffee.  Denn  eben  wo  zu  viel  Begriffe  sind,  da  dankt  ein  Wort, 
das  auf  sich  hält  und  selbst  dort,  wo  nur  Taten  gelten,  noch  etwas 
vorstellen  will,  zur  rechten  Zeit  ab. 


—  12 


Die  Phrase  des  Kriegs  im  Krieg  gegen  den  Krieg  der  Phrase 

Dicht  nebeneinander  die  Titel : 

Der  heldenmütige  Vorstoß  bei  Olyka. 

Der  Vorstoß  gegen  die  englische  Regierung  in  der 
Relcrutierungsfrage. 

Oder: 

Cadorna  hat  gesiegt. 

Wie? 

.  .  .  Der  Rücktritt  Zupellis,  der  im  Gegensatz  zu  Cadorna  als 
Vorkämpfer  der  vom  Dreiverband  gewünschten  Erweiterung  der 
italienischen  Militärkonventionen  gilt,  ist  perfekt  geworden. 

Wenn  nur  diese  Vorstoßer  und  Vorkämpfer  einmal  beim 
Vorstoßen  und  Vorkämpfen  dabei  wären! 


Eine  waffenbrüderliche  Vereinigung 

.  .  .  Wie  in  Deutschland  und  Ungarn,  werden  auch  bei  uns  in 
Österreich  alle  Kräfte  des  öffentlichen  Lebens  und  des  geistigen 
Schaffens    der    waffenbrüderlichen    Vereinigung    zugeführt     werden. 

Aber  da  muß  man  denn  doch  wohl  gefragt  werden !  Gegen 
die  Zuführung  des  Wilhelm  Exner  habe  ich  ja  nichts  einzu- 
wenden.   Er  ist  auch  schon  dabei  und  sagt: 

...  Es  gibt  ja  unzählige  kulturelle  Gebiete,  auf  denen  ein 
gegenseitiges  Sichkennenlernen  und  eine  innige  Befreundung 
erfolgen  kann  und  soll.  Alle  diese  möglichen  Beziehungen,  die  zu  einem 
regen  Gedankenaustausch  und  noch  mehr  zu  einerregen  Wechsel- 
wirkung führen,  sollen  von  der  Vereinigung  gepflegt  werden. 

Aber  warum  solche  Zusammenkünfte  von  nichtgedienten 
Gschaftlhubern  älterer  Jahrgänge  gerade  »waffenbrüderliche  Ver- 
einigung« heißen  müssen,  ist  nicht  ganz  klar.  Das  Schlaraffen-Leben 
scheint  zu  Ende  zu  sein  und  die  Greise  wollen  es  in  der  Militari- 
sierung den  Kindern  gleichtun.  Eine  »führende  Persönlichkeit  der 
österreichischen  Vereinigung«,  die  offenbar  nicht  genannt  sein 
will,  bezeichnet  als  eines  der  Mittel  zur  Verwirklichung  des 
Zieles  —  nun,  was  denn?  Also  natürlich  die  Hebung  des  Fremden- 
verkehrs. Hat  ihn  schon.  Dieser  Staatsmann  dürfte  der  Suckfüll 
sein,  dessen  Riesenschatten  bereits  am  Horizont  der  Völkerver- 
söhnung auftaucht.  Er  rast  mit  dem  Fenriswolf  um  die  Wette,  holt 
ihn  aber  ein,  setzt  ihn  matt  und  serviert  die  Friedenstaube,  eine 
Spezialität,  ganz  frisch,  wenn  auch  etwas  teuer.  (Man  glaubt  mir  ja 


solche  Dinge  nicht:  daß  der  Zufall  oder  das  Unterbewußtsein  des 
Setzers  oder  wie  man  das  Ding  an  sich  nennen  will,  für  mich  arbeiten : 
Oben  stand  im  ersten  Druck  >Sackfüll<.)  Ich  hoffe  nicht,  daß  ich  ge- 
nommen werde,  wenn  dieses  Ressort  des  geistigen  Schaffens  in  Öster- 
reich der  waffenbrüderlichen  Vereinigung  zugeführt  wird.  Ja,  der 
Fremdenverkehr!  Ein  Leichnam  zuckt  hierzulande,  wenn  man  vor 
ihm  das  Wort  » Fremdenverkehr <  ausspricht.  Alles  ist  wie  elektrisiert, 
gerät  ins  Zappeln,  schürzt  die  Hemdärmel,  macht  Anstrengungen, 
zu  heben,  anzufauchen,  und  jeder  antwortet  auf  einen  unausge- 
sprochenen Vorwurf  wegen  Saumseligkeit:  »Schieb  i  denn  net  eh 
an?«  Oder  wie  sagt  doch  Hans  Müller?  >Aus  den  Gräbern  selbst 
die  Toten  tanzen  heute  Brust  an  Brust <,  wobei  ja  das  Schulter 
an  Schulter-Motiv  deutlich  anklingt.  Mitten  im  Krieg  regen  sich 
bereits  die  Keime.  Die  Grenzen  sind  gesperrt,  damit  keine  Fremden 
hereinkommen.  Aber  wenn  man  dem  Österreicher  sagte,  es  könne  dem 
Fremdenverkehr  schaden,  würde  er  den  Nachteil  der  Maßregel  in 
vollem  Umfang  erfassen.  Selbst  die  Mitglieder  der  waffen- 
brüderlichen Vereinigung  können  jetzt  —  mit  Recht  —  schwer  zu 
einander  gelangen.  Aber  die  Verständigung  ist  bereits  »angebahnt« 
und  im  Entwurf  ist  der  Himmel  auf  Erden  fertig.  Als  einer  der 
Hauptpunkte  ist  ein  Professorenaustausch  geplant.  Das  kann  nie 
schaden,  ist  lustigund  bildet  schon  einen  integrierenden  Bestandteil  der 
Hebung  des  Fremdenverkehrs.  Und  vor  allem  verlieren  weder  wir  noch 
die  Deutschen,  wenn  man  etwa  den  Brockhausen  gegen  den  Kohler  aus- 
tauscht; oder  den  Arnold  gegen  denWalzel,  um  auch  etwas  Bewegung 
in  die  Literaturgeschichte  zu  bringen.  Den  Hirth  würde  ich  ohne 
Anspruch  auf  Gegenwert  draufgeben.  Professorenaustauschen  —  das 
ist  ein  Spiel,  um  das  die  Schulbuben  von  ehedem  die  Regierungen  von 
heute  beneidet  hätten.  Das  ist  viel  mehr  als  eine  >Cap  der  guten 
Hoffnung«  hingeben  und  eine  »Bolivia«  bekommen  und  höchstens 
noch  ein  Stückerl  Amethyst  dazu.  Du  liebe  Zeit.  Die  Marken- 
sammlung war  schöner;  aber  heute  ist's  bunter.  Was  es  jetzt 
für  Abwechslung  gibt!  Ein  Gedankenaustausch  ist  auch 
geplant.  Etwas  riskant  ist  das  insofern,  als  man  ja  nicht 
wissen  kann,  ob  er  nicht  durch  den  geplanten  Professoren- 
austausch ins  Stocken  geraten  würde  und  umgekehrt.  Aber 
zunächst  ist  es  gut,  daß  überhaupt  ein  Wollen  da  ist, 
daß     die     Kräfte     des     öffentlichen     Lebens     sich      zu     regen 


14  — 


beginnen,  daß  man  nach  dem  vielen  Tod  wieder  einmal 
sieht,  wie  das  wahre  Leben  ausschaut,  daß  ein  biß!  aufgemischt 
wird,  daß  man  den  Wunsch  hat,  sich  endlich  gegenseitig  kennen 
zu  lernen  und  eine  allfällige  Enttäuschung  nicht  weiter  übel- 
zunehmen. So  sprechen  denn  alle  Anzeichen  dafür,  daß  der  kommende 
Friede  sehr  animiert  verlaufen  wird. 


Drei  Engel  —  drei  Räuber 

oder 
Gerhart  Hauptmanns  Höllenfahrt 

1894:  1914: 


Erster  Engel 

Auf  jenen  Hügeln  die  Sonne, 
Sie  hat  dir  ihr  Gold  nicht  gegeben. 
Das  wehende  Grün  in  den  Thälern, 
Es  hat  sich  für  dich  nicht  gebreitet. 

Zweiter  Engel 

Das  goldne  Brod  auf  den  Äckern, 
Dir  wollt'  es  den  Hunger  nicht 

stillen; 
Die  Milch   der  weidenden  Rinder, 
Dir  schäumte  sie  nicht  in  den  Krug. 

Dritter  Engel 

Die  Blumen  und  Blüthen  der  Erde 
Gesogen  voll  Duft  und  voll  Süße, 
Voll  Purpur  und  himmlischer 

Bläue, 
Dir  säumten  sie  nicht  deinen  Weg. 


Erster  Engel 

Wir  bringen  ein  erstes  Grüßen 
Durch  Finsternisse  getragen; 
Wir  haben  auf  unsern  Federn 
Ein  erstes  Hauchen  von  Glück. 


Es  kam  wohl  ein  Franzos  daher.  — 

Wer  da,  wer?  — 

Deutschland,   wir  wollen  an  deine 

Ehr'!  — 
Nimmermehr  I  I 
Schon  wecken  die  Trompeten  durchs 

Land. 
Jeder  hat  ein  Schwert  zur  Hand. 
Man  kennt  es  gut,  dies  gute  Schwert, 
vonSpichern,  Weißenburg  und  Wörth, 
das  deutsche  Schwert. 

Es  Icam  ein  schwarzer  Russ' daher. — 

Wer  da,  wer?  — 

Deutschland,   wir  wollen  an  deine 

Ehr'l  — 
Nimmermehr !  ! 

Ein  Kaiser  spricht  es  hoch  vom  Sitz. 
VielFeind',vielEhr',wiederalteFritz. 
Sein  Nimmermehr  ist  mehr  als  Schall, 
's  ist  Donnerrollen  und  Blitzesknall, 
's  ist  Wetterstrahl. 

Da  kam  ein  Englishman  daher.  — 

Wer  da,  wer?  — 

Deutscliland,   wir  wollen  an  deine 

Ehr'!  — 
Nimmermehr  I  ! 
Nimmermehr  ist  unser  Wort, 
es  braust  durch  alle  Gaue  fort, 
ein  Cherub  trägt  es   vor   uns   iier: 
Nimmermehr  I  Nimmermehr  I 
Nimmermehr ! 


ID 


Zweiter  Engel 

Wir  führen  am  Saume  unsrer 

Kleider 
Ein  erstes  Duften  des  Frühlings; 
Es  blühet  von  unsern  Lippen 
Die  erste  Röthe  des  Tags. 


Dritter  Engel 

Es  leuchtet  von  unseni  Füßen 
Der  grüne  Schein  unsrer  Heimath ; 
Es  blitzen  im  Grund  unsrer  Augen 
Die  Zinnen  der  ewigen  Stadt. 


Es  kamen  drei  Räuber  auf  einmal 

daher.  — 
Wer  da,  wer?  — 
Deutschland,   wir  wollen  an  deine 

Ehr'!  — 
Nimmermehr  I ! 
Und  wär't  ihr  nicht  drei,  sondern 

wäret  ihr  neun, 
meine  Ehr'  und  mein  Land  blieben 

ewig  mein: 
Nimmer  nimmt  sie  uns  irgendwer, 
dafür  sorgt  Gott, Kaiser  und  deutsches 

Heer.  — 
Nimmermehr! 


Ein  Verletzter 

.  .  .  Wie  der  Vertreter  Ganghofers,  Dr.  Fritz  Hlawacek,  ausführte, 
erhob  Ganghofer  die  Beschwerde  deshalb,  weil  sein  Rechtsempfinden 
durch  die  Entscheidung  des  Ministeriums  aufs  tiefste  verletzt  worden  sei. 
Ganghofer    ist  Mitpächter    der  ärarischen   Jagd    im  Gaistal    (Tirol)  .... 

Der  Rekurs  an  das  Ministerium  des  Innern  blieb  erfolglos.  Nun- 
mehr ergriff  Dr.  Ludwig  Ganghofer  die  Beschwerde  an  den  Verwaltungs- 
gerichtshof. Dr.  Hlawacek  führte  in  längerer  Rede  aus,  das  Rechts- 
bewußtsein des  Dichters  sei  durch  die  Entscheidung  der  Landes- 
stelle,  beziehungsweise  des  Ministeriums,  auf  das  tiefste  verletzt  .... 

Wenn  ein  anderer  Geschäftsmann  Klage  führt,  ist  es  nicht 
üblich  zu  sagen,  das  Rechtsempfinden  >des  Geschäftsmannes«  sei 
auf  das  tiefste  verletzt.  Der  Verwaltungsgerichtshof,  der  sich  von  der 
Verkleidung  nicht  imponieren  ließ,  erkannte  wohl,  daß  am  Herrn 
Ganghofer  nur  das  Jagagmüat  echt  sei,  und  wies  eben  dieses  ab.  Auch 
dürften  ihm  die  Plaudereien  des  Klägers  von  allen  erdenklichen 
Fronten  bekannt  gewesen  sein,  diese  in  der  Geschichte  des  Druck- 
wesens beispiellosen  Sudeleien  aus  picksüßer  Sentimentalität  und 
viehischer  Roheit  —  nein,  menschlicher;  das  andere  Wort  wäre 
eine  Roheit  gegen  das  Vieh  — ,  kurz  ein  Betrieb,  durch  den  Herr 
Ganghofer  jenes  Rechtsbewußtsein  auf  das  tiefste  verletzt  hat,  das 
sich  gegen  die  Möglichkeit,  Duldung  und  Förderung  derartiger 
Begleiterscheinungen  des  Grauens  aufbäumt.  Sollte  die  endlose  Qual 
dieser  dokumentarischen  Sintflut  mir  noch  einmal  die  Hervorsuchung 
älterer  Fakten  erlauben,  so  werde  ich  nicht  versäumen,  die  Szene 
wiederzugeben,  wie  der  Herr  Ganghofer  die  Gesichter   englischer 


—  16  — 


Leichen  verhöhnt  und  mit  seinem  Spazierstock  den  Brief  einer 
Mutter  aufstöbert  und  durchh'est.  Und  wenn  sich  die  Wasser 
dereinst  verzogen  haben,  erzählen,  was  Zeugen  aus  dem  Munde 
jenes  Edlen  gehört  haben,  unter  dessen  Augen  für  den  Herrn 
Ganghofer  ein  Schauspiel,  ein  Trauerspiel  aufgeführt  wurde,  jenes 
toten  Majors  Graf  Walterskirchen,  dessen  Name  die  Verlustliste  der 
gleichen  Zeitungsnummer  anführt,  die  von  dem  verletzten  Rechts- 
empfinden des  Dichters  Ganghofer  berichtet.  Diesem  und  allen 
übrigen  Wortgesellen  dessen,  was  sich  in  dieser  Zeit  begeben  hat, 
bürge  ich  dafür,  daß  wir  uns  noch  sprechen  werden,  wenn  die  Tat 
nicht  mehr  ist  und  ich  noch  das  Wort  habe! 


Religion  und  Rechnung 

Samstag  den  13.  d.  findet  die  feierliche  Einweihung  der  Kirche 
des  k.  u.  k.  Reservespitals  Nr.  11  (Orthopädisches  Spital  und  Invaliden- 
schulen) in  Favoriten,  Schleiergasse-Hebbelplatz,  statt.  Die  Initiative  zum 
Bau  dieser  Kirche  ist  von  Herrn  k.  u.  k.  Militärbaudirektor  Generalmajor 
Bayer  ausgegangen.  Die  Kosten  der  Errichtung  der  Kirche  wurden 
von  der  Ungarischen  Bank- und  Handels-Aktiengesellschaft 
Filiale  Wien  getragen,  Das  k.  u.  k.  Reservespital  Nr.  11,  das 
eigentlich  als  ein  ausgedehntes  orthopädisches  Spital  und  als  Invaliden- 
schule größten  Stils  angesehen  werden  muß,  erhält  durch  die  Errichtung 
der  Kirche  eine  überaus  dankenswerte  Ergänzung,  indem  den  religiösen 
Empfindungen  der  Bewohner  des  Reservespitals  nunmehr  voll  und 
ganz  Rechnung  getragen  werden  kann.  Die  Invaliden,  welche  ihre  Treue 
zum  Vaterland  mit  dem  Einsatz  ihres  körperlichen  Gutes  bezahlten, 
sollen  wieder  zu  Arbeitsmenschen  herangebildet  werden  und  dabei  auch 
Gelegenheit  finden,  sich  ihren  religiösen  Gefühlen  hinzugeben. 

Religiösen  Gefühlen  Rechnung  tragen  —  das  ist  die  rechte 
Methode.    Es  reimt  sich  wie:    die  Kirche  hat  einen  guten  Magen, 

die  Kosten  wurden  von  der  Bank  getragen. 

*  *         ' 

• 

Das  sind  Sachen! 

Ja,  was  hat  denn  die  Mea  Gräfin  Boos-Waldeck  für 
»Erinnerungen  an  den  Kriegsausbruch <,  gleich  auf  der  zweiten 
Seite,  kaum  daß  die  Weltgeschichte  ihre  Blasen  in  dem  Gehirn 
jenes  sonderbaren  Schwärmers  aufgeworfen  hat,  der  vom  Leutnant 
Mlaker  zum  Bankhaus  Arnstein  und  Eskeles  springt  und  auf  dem 
Weg  von  Arnstein  zu  Eskeles  noch  bei  der  Gestalt  der  alten 
Arnstein    verweilt,    an   der   >alles  Wellenlinien  war«,    um  zu  ver- 


1/ 


sichern,  daß  ein  goldenes  Zeitalter  eingebrochen,  eine  Milliarde 
im  Handumdrehn  zu  verdienen  ist  und  daß  wir  an  Mlaker 
glauben,  als  wäre  er  ein  Makler. . . .  Aber  eine  Gräfin?  Ja,  Grafen  haben 
sich  schon  öfter  eine  Ehre  daraus  gemacht,  die  Bacchanten  dieses 
zinsfüßigen  Pan  abzugeben,  dieses  Schalks,  der  am  Morgen  die  Hirten- 
flöte bläst,  um  am  Abend  eine  Panik  zu  erzeugen.  Aber  Gräfinnen  ? 

Meine  Erinnerungen  an  die  Zeit  vor  Kriegsausbruch  gegen  Italien 
sind  um  so  lebhafter,  als  ich  eine  große  Optimistin  bin,  an  Krieg 
absolut  nicht  glauben  wollte  und  bis  in  die  letzten  Tage  hinein  noch 
mit  meinen  Kindern  auf  unserem  Besitze  in  St.  Peter  bei  Görz,  den 
wir  ganzjährig  bewohnen,  weilte  ....  So  gewöhnte  ich  mich  nach  und 
nach,  überhaupt  nichts  zu  glauben  und  mich  von  meinem 
rosigen  Optimismus  durch  nichts  abbringen  zu  lassen  ....  Die 
Kirschen  waren  schon  abgepflückt,  die  Erdbeeren  reif  und  ein  genuß- 
reicher Sommer  lag  vor  uns. 

Dazu  kamen  »unsere  glänzenden  Erfolge  in  den  Karpathen«, 
so  daß  sie  »fest  davon  überzeugt  war«, 
daß  wir  den  Sommer  wie  alle  Jahre  auf  dem  Schlosse  zubringen  würden. 

Da  —  was  geschah  da?   Ihr  Mann  drang  darauf,    und  sie 
nahm  infolgedessen  auch  keineswegs  besonders  viel  Gepäck 
mit  .... 

Und  ich  sollte  mit  meinem  Glauben  Recht  behalten.  Denn 
trotzdem  wir  so  nahe  der  Grenze  sind,  haben  unsere  Besitzungen 
nicht  gelitten  und  nur  die  durchwegs  zersprungenen  Scheiben  des 
Hauptgebäudes,  die  bei  der  Explosion  einer  großkalibrigen  Granate  zer- 
brochen wurden  ....  legen  Zeugnis  davon  ab,  daß  nahe  von  uns 
Schreckliches  geschehen. 

>Damals  aber«,  nämlich  als  sie  mit  ihrer  Familie  nach  München 
fuhr,  lag  ihr  der  Krieg  >mit  keinem  Gedanken  im  Kopfe«.  Er  lag 
ihr  sogar  stark  auf.  Von  einer  Rückkehr  nach  St.  Peter  »war  nun 
keine  Idee  mehr«.  Sie  hatte  aber  »die  Italiener  durchaus  richtig 
eingeschätzt«.  Ihre  Stimmung  wurde  »immer  besser  und  zuver- 
sichtlicher«. Alle  Nachrichten,  die  sie  von  ihren  Leuten  bekommt, 
sind  voll  froher  Hoffnung  auf   den  Sieg  »unserer  guten  Sache<. 

Von  den  Fenstern  unseres  Hauptgebäudes  aus  sieht  man  die 
italienischen  Schützengräben  auf  der  Podgora,  die  Hausleute  beobachten 
tagtäglich  mit  dem  Opernglas  alle  Vorgänge  und  berichten  immer 
und  immer  wieder,  daß  die  Italiener  nicht  weiter  kommen  und  immer 
wieder  neue  Verluste  erleiden.  Das  Leben  auf  dem  Schlosse  geht 
seinen  Gang,  und  in  den  letzten  Tagen  erst  haben  wir  wieder 
wunderschöne  Rosen  und  Spargel  von  dort  bekommen  .... 


18  — 


Wenn  ich  die  Zeit  vor  Kriegsausbruch  heute  überdenke,  kommt  sie 
mir  wie  ein  Traum  vor,  aus  welchem  ich  nur  schwer  zu  erwecken 
war  und  den  ich  erst  austräumen  werde,  wenn  wir  wieder  daheim 
in  St.  Peter  unsere  Zelte  aufschlagen. 

Als  ich  das  las  und  mich  die  Möglichkeit  solcher  Dinge,  in 
Weltanschauung  und  Sprache,  so  sehr  die  Einheit  von  allem 
ahnen  ließ,  da  nahm  ich  mich  beim  Wort  >Ahnen<,  ließ  mir  den 
Gotha  geben  und  erkannte,  daß  es  eine  Kubinzky  sei.  Sie  hat  mit 
ihrem  Glauben  Recht  behalten. 


Eine  Neuerung 

—  Dem  Oberleutnant  Horaz  Ritter  v Inspektionsoffirier 

in  der  Rotunde  .  .  .  zweiter  KlaSse  .  .  .  Kriegsdekoration 

Wer  die  Hof-  imd  Personalnachrichten  besser  als  die  Oden 
und  Epoden  gelernt  hat,  kennt  nur  die  unregelmäßige  Form  »Horace«. 
Die  Ehre  wird  den  Franzosen,  die  es  sich  selbst  zuzuschreiben  haben, 
jetzt  abgesprochen.  Warum  sie  aber  den  Römern  angetan  wird  und 
wodurch  es  der  Liebling  des  Augustus  und  der  Götter  verdient 
hat,  der  doch  procul  negoliis  leben  wollte,  also  absichtlich 
1924  Jahre  vor  dem  Weltkrieg  starb,  ist  unerfindlich.  Den  alten 
Adel  mögen  sie  haben  —  aber  um  die  alten  Namen  ist's  schade ! 
Eine  Perle  aus  dem  Kronschatz  geweihter  Vorstellungen  brechen, 
als  ob's  nicht  genug  schöne  jüdische  Vornamen  gäbe,  ist  der  pure 
Mutwille. 


Das  war  eine  köstliche  Zeit 

.  .  .  Denn  dieser  intimverschwiegene  uralte  Park  mit  seinen  ver- 
witterten Steinfiguren,  den  in  ihrer  Laubüppigkeit  schattigen,  fast  melan 
cholischen  Alleen,  die  von  köstlichen  Wesen  unterbrochen  werden, 
dieser  Garten  mit  den  sanft  ansteigenden  Terrassen,  die  den  Überblick 
über  das  alte  Wien  gestatten,  ist  von  so  köstlicher  Schönheit,  daß 
er  zum  Rahmen  für  ein  Fest  wie  geschaffen  ist. 

.  .  .  Und  weiter  hinauf  auf  die  nächste  Terrasse  ziehen  sich  Buden 
und  improvisierte  Schenken,  darunter  ein  im  Sturm  genommenes 
Oulaschrestaurant.  .  .  . 

...  So  wurde  denn  die  Stimmung  immer  fröhlicher,  und  als  spät 
am  Nachmittag  sich  die  Kunde  von  den  neuen  glänzenden  Waffentaten 
unserer  Armee  verbreitete,  herrschte  heller  Jubel,  der  auf  Stunden  die 
Schwere  der  Zeit  vergessen  ließ.  .  .  .  Landau  .  .  .  Jarzebecka  .  .  .  Spitzy, 
Herzmansky  .  .  .  Gerda  Walde  .  .  .  Frau  Hofrat  Wolf  .  .  .  Flora  Dub  .  .  . 


19 


Der  Lenz  ist  gekommen, 

Frau  Angelika  v.  Glaser-Lindner  schreibt  uns:  Maiensonne  und  Maien- 
grün, werbendes  Vogelgezwilscher  in  blühenden  Zweigen,  bunte, 
leuchtende  Blumen  auf  Beeten  und  Rabatten,  am  Teiche  goldgelbe  junge 
Entlein,  unter  den  Weiden,  die  ihre  langen  Äste  wie  einen  schützenden 
Vorhang  im  Wasser  wiegen,  junge  Schwäne  in  silbergrauem  Flaum  und 
auf  smaragdgrüner  Böschung  die  Gluckhenne,  die  mit  gurrendem  Lockruf 
ihre  buntscheckige  Küchleinschar  ruft:  ein  Drängen  und  Treiben, 
ein  Knospen  und  Sprießen  allüberall  in  emsig  sich  erneuernder  Urkraft 
des  jungen  Lenzes!  Und  in  all  den  Frühlingszauber  hinein 
jauchzen  und  schluchzen  süße  Melodien,  die  schmeicheln- 
den Weisen  unserer  Operetten,  dirigiert  von  derHand  ihrer 
Komponisten:  Edmund  Eysler,  Leo  Fall,  Emmerich  Kaiman, 
Franz  Lehar  und  Oskar  Straus  ....  All  dies  blühende 
Lenzesleben  ringsum,  ist  es  nicht  wie  ein  Symbol  der 
Kriegspatenschaft  selbst?  .  .  .  Das  alte,  wahre  Wort:  Der 
Mensch  ist  das  kostbarste  Gut  des  Staates,  gilt  nun  in  diesem 
mörderischesten  aller  Kriege  noch  tausendmal  mehr  ....  Darum  ist  es 
unsere  heiligste  patriotische  Pflicht,  unser  Scherflein  beizusteuern  .... 
Möge  zum  Lenzesfest  der  Meisterkomponisten  das  ganze 
patriotische  Wien  herbeiströmen,  um  zu  zeigen,  daß  es  die  große 
Idee   der    Zukunft  des  Reiches  erfaßt  hat  .... 


Musik 

[»Hoch  Hindenburgl«)    Unter  diesem  Titel  überseiidet  uns  Oeza 
Graf  Zichy  nachstehendes  Gedicht: 

Ein  Gruß  aus  fernem  Ungarland, 
Der  soll  dich  auch  erreichen. 
Ich  drücke  dir  die  starke  Hand, 
Dir,  Großem,  Siegesreichem. 

Ich  bin  ja  auch  ein  Jubilar 
Und  will  nicht  ruhn  und  rasten. 
Ich  sitze  volle  fünfzig  Jahr 
An  meinem  Klapperkasten. 

Ich  dresche  weiter,    drisch  auch  du. 
Mach  keine  langen  Pausen, 
Schwing  den  Taktierstock,  immerzu, 
Laß  dein  Orchester  brausen, 
etc. 


—  20  — 


Kriegsgreuel 

[KarIWeinbergieff.]  Unter  diesem  Pseudonym  birgt  sich  niemand 
anderer  als  der  bekannte  Wiener  Operettenkomponist  Karl  Weinberger. 
Er  verdankt  die  Russifizierung  seines  Namens  einem  findigen  italienischen 
Agenten.  .  .  .  Nach  der  italienischen  Kriegserklärung  hielt  sich  der  Agent 
berechtigt,  auch  aus  anderen  Weinbergerschen  Operetten  Melodien 
herauszunehmen  und  sie  der  Operette  »Der  Schmetterling«  will- 
kürlich   einzuverleiben.  .  .  . 

Das  dürfte  zur  Verschärfung  der  Gegensätze  beitragen, 
wiewohl  eigentlich  der  treubrüchige  Agent  mit  den  anderen 
Weinbergerschen  Operetten  nichts  anderes  vorgenommen  hat 
als  der  Schöpfer  selbst  mit  anderen.  Was  die  Namensänderung 
anlangt,  so  liegt  ein  schweres  Unrecht  vor,  an  dem  nur 
die  Anerkennung  des  deutschen  Vornamens  sympathisch  berührt. 
Denn  Weinbergieff  gehört  zu  jenen  von  unseren  Leuten, 
die  im  Krieg  heimgefunden  haben,  und  ähnlich  einem  Winterfeld, 
der  freilich  schon  in  Klammem  seinen  alten  Anspruch  auf  den 
Jean  Gilbert  zu  behaupten  anfängt,  verzichtet  er  fortan  darauf, 
Charles  zu  heißen,  so  lange  bis  das  Vaterland  von  der  Gefahr, 
daß  weniger  Tantiemen  verdient  werden,  befreit  ist. 


Es  brost  ein  Ruf 

Dem  Schriftsteller  Alfred  Deutsch -Ger  man  wurde  das 
Kommandeur  kreuz  des  bulgarischen  nationalen  Ordens  für  Zivil- 
verdienste verliehen. 

Der  Atztensgattin  Flora  Kohn,  Präsidentin  der  Flüchtlings- 
ausspeisungsaktion  in  der  Rotensterngasse  23,  wurde  vom  Oberst- 
hofmeisteramte des  Kaisers  im  Wege  der  Statthalterei  der  Dank  für  das 
von  ihr  verfaßte  und  der  Kabinettskanzlei  unterbreitete  >Kampflied< 
übermittelt. 

Herr  Alfred  Po  Hak  in  Baden  hat  an  den  Generalobersten 
Freiherrn  Conrad  v.  Hötzendorf  ein  selbstverfaßtes  Gedicht  gesandt, 
worauf  er  nach  wenigen  Tagen  eine  liebenswürdige  Antwort  erhielt,  die 
>den  herzlichsten  Dank  für  das  schöne  Gedicht«  und  die  »besten 
Grüße«  brachte. 


Ein  Kunsttag 

Eine  Abordnung  des  Präsidiums  der  unter  dem  Ehrenpräsidium 
der  Fürstin  Metternich-Sandor  stehenden  »Allgemeinen  Kunstfürsorge«, 
gestehend  aus  dem  ersten  Vizepräsidenten  Schriftsteller  Paul  Wilhelm, 


Feldmarschalleutnant  Artur  Qrünzweig  v.  Eichensieg,  Hofschau- 
spieler Treßler  und  kaiserlichem  Rat  Lehr,  erschien  Freitag  beim 
Minister  des  Innern  Prinzen  Hohenlohe-Schillingsfürst,  um  von  ihm  die 
Bewilligung  für  einen  im  Juni  geplanten  > Kunsttag«  zu  erbitten.  Der 
Minister  empfing  die  Herren  in  liebenswürdigster  Weise  und  erteilte 
bereitwilligst  die  erbetene  Zustimmung.  Im  weiteren  Gespräch  ließ  sich 
der  Minister  über  die  in  den  Kunstkreisen  aller  Kunstgattungen 
herrschende  Situation  informieren  und  bat  die  Herren,  die  durch 
die  Kriegslage  so  außerordentlich  schwer  betroffene  Künstlerschaft  seiner 
wärmsten  Teilnahme  zu  versichern,  indem  er  hinzufügte,  daß  er  die  für 
Künstler  aller  Kunstgattungen  unternommene  Hilfsaktion  mit  vollster 
Sympathie  begleite  und  ihr  den  besten  Erfolg  wünsche.  Die  Herren 
sprachen  dem  Minister  im  Namen  des  Präsidiums  den  herzlichsten  Dank  aus. 

Über  die  in  den  Kunstkreisen  aller  Kunstgattungen  »herr- 
schende Situation  €  hätte  ich  dem  Minister  besser  als  eine  >  Ab- 
ordnung«, bestehend  aus  einem  Schriftsteller,  einem  Feldmarschalleut- 
nant, einem  Hofschauspieler  und  einem  kaiserlichen  Rat,  Auskunft 
geben  können.  Ich  hätte  dem  Minister  gesagt,  daß  sie,  nämlich  die  Situ- 
ation, wahrhaft  trostlossei.Abernichtinfolge  des  Kriegs,  sondern  schon 
vom  Frieden  her.  Denn  daß  ein  Feldmarschalleutnant  und  ein  kaiser- 
licher Rat  irgendwelche  Kunstgattungen  vertreten,  kann  schon  sein  ; 
wer  aber  hat  die  Herren  Wilhelm  und  Treßler  beauftragt?  Ein 
Kunsttag  im  Jahr  wäre  ja  nicht  übel,  und  Arme  sollte  man  täglich 
unterstützen.  Aber  wenn  etwa  geplant  ist,  Leute  auf  der  Straße 
anzusprechen,  damit  gewissen  Kunstkreisen  das  Malen  oder  das 
Schreiben  erleichtert  werde,  so  gebe  ich  keinen  Heller! 


Zusammenhänge 

.  .  .  Auf  den  Vorhalt  des  Richters,  daß  es  wohl  nicht  üblich  sei, 
wenn  man  etwas  kaufen  wolle,  den  Gegenstand  an  sich  zu  nehmen,  bevor 
man  noch  bedient  wurde,  erwiderte  die  Angeklagte:  >Ich  habe  gedanken- 
los gehandelt.  Ich  war  damals  ganz  traumverloren.« 

Der  Verteidiger  brachte  vor,  daß  die  Angeklagte,  die  nebst  ihrem 
Berufe  als  Klavierspielerin  auch  Dichterin  und  Schriftstellerin  sei, 
auf  der  Fahrt  mit  der  Elektrischen  ins  Warenhaus  auf  losen  Blättern, 
wie  es  ihre  Gewohnheit  sei,  etwas  niedergeschrieben  habe,  woraus 
sich  ihre  Gedankenlosigkeit  im  Geschäfte  erklärt. 

Die  aber  schon  in  der  Elektrischen  gewirkt  haben  muß. 


—  22  — 


San  mr  fesch ! 

(»Die  Herrenwelt.«)  Die  soeben  erschienene  dritte  Nummer  der 
ausgezeichneten  Wiener  Zeitschrift  für  die  Herrenmode  >Die  Herrenwelt« 
steht  im  Zeichen  des  Sports,  speziell  des  Reitsports,  über  den  es  in 
dem  einleitenden  Artikel  »Sportherren«  sehr  richtig  heißt:  ».  .  .  .  Kein 
anderes  Kleidungsstüclt  stellt  körperliche  Vorzüge  in  so  günstiges  Licht 
wie  der  Sportrock,  und  kaum  in  einem  andern  vermag  man  anderseits 
so  gut  , nachzuhelfen'  und  .auszugleichen'  —  da  lohnt  es  sich  schon, 
ein  wenig  nachdenklich  zu  sein.  Ist  man  vielleicht  auch  ein 
Mann,  der  in  den  sogenannten  Äußerlichkeilen  nicht  aufgeht,  so  freut 
man  sich  darüber,  wenn  es  heißt:  »Schauen  Sie  sich  den  dort 
drüben  an,  ist  der  nicht  ein  fescher  Mensch?  .  .  .  .« 
Ein  Artikel  beschäftigt  sich  mit  der  »Hemdärmelgemütlichkeit«  und  den 
»Hemdärmelherren«,  die  es  noch  immer  vorziehen,  in  Hemdärmeln 
zu  erscheinen,  statt  in  dem  so  hübschen  und  praktischen  Sporthemd, 
und  eine  amüsante  Plauderei  schildert  den  »Salonlöwen«  von  seinem 
ersten  Auftreten  in  der  Öffentlichkeit  bis  zu  seinem  seligen  Ende,  das 
heißt  bis  er  in  den  Hafen  der  Ehe  einzieht  oder  sich  mit  zu- 
nehmendem Alter  in  den  »Zuckerlonkel«  verwandelt.  Der 
Vizedirektor  des  Österreichischen  Museums  für  Kunst  und 
Industrie  Regierungsrat  Dr.  Dreger  ist  mit  einer  historischen. 
Studie  über  die  Entwicklung  des  Reitanzuges  vertreten.  .  .  . 

Zu  dieser  Gründung  haben  sich  Regierungsräte,  Hofräte 
und  dergleichen  amtliche  Förderer  von  Kunst  und  Industrie, 
Schokolade  und  Knofel,  die  jetzt  eine  heimische  Mode  »ins  Leben« 
—  was  das  schon  für  ein  Leben  ist  —  >rufen<  wollen  —  was 
das  schon  für  Rufer  sind  — ,  zusammengefunden.  Keine  Hemd- 
ärmelherren, auch  nicht  gerade  Salonlöwen,  wohl  aber  Zuckerlonkel, 
und  zwar  solche,  die  immer  Diana-Kriegs-Schokolade  für  die  braven 
Kinder  in  der  Tasche  haben.  Arme  Teufel,  die  von  der  fixen  Idee 
besessen  sind,  bald  dem  Fremdenverkehr,  bald  der  heimischen  Mode 
zuzureden,  und  sonstigen  Erscheinungen,  die  sich  nicht  zwingen 
lassen,  denen  sie  aber  durch  gemütliche  Scherze  beizukommen  hoffen. 
Sind  das  nicht  fesche  Menschen?  Nirgend  besser  als  in  diesen 
österreichischen  Förderungen,  wo  entweder  Organisches  durch 
Komiteesitzungen  oder  Sachliches  durch  eine  g'schmackige  Zube- 
reitung entstehen  soll,  zeigt  es  sich,  daß  die  große  Armut  von 
der  großen  Powerteh  herkommt.  Oder  nein,  Onkel  Bräsig  (kein  Zuckerl- 
onkel!) hatte  unrecht :  die  Powerteh  von  der  Armut.  Wo  in  aller  Welt 
außer  in  dieser  windverdrahten  und  drahtverhauten  Gegend  wären 
solche  Entschlüsse,  täglich  ein  neues  Leben  zu  beginnen  und  auf  den 


Ruinen  blühen  zu  lassen,  noch  möglich  ?Ham  mr  nix,  so  mach' mr  was. 
San  mr  traurig,  gibts  an  Gspaß.  Nicht  zu  waschen  is  die  Wasch'  — 
aber  heimisch!  San  mr  fesch! 


Es  ist  vorgesorgt 

Das  stellvertretende  Generalkommando  des  7.  Armeekorps  hatte 
eine  Eingabe  des  Verbandes  Westmark  der  »deutschvölkischen«  Partei 
Aber  die  Modefrage  an  das  Kriegsministerium  zur  Erwägung  weitergegeben, 
ob  nicht  für  das  ganze  Reich  gegen  den  »Modeunfug«  durch- 
greifende Maßregeln  getroffen  werden  könnten.  Dem  Verband  ist  nunmehr 
vom  stellvertretenden  Generalkommando  in  Münster  folgender  Bescheid 
zugegangen:  Laut  Mitteilung  des  Kriegsministeriums  ist  vorgesorgf,  daß 
die  Herbst-  und  Wintermode  eine  andere  Richtung  einschlägt. 


Ein  freies  Leben  führen  wir 

Die  Polizei: 

Die  Münchener  Polizeidirektion  befahl  den  Schutzleuten,  nach 
eigenem  Ermessen  auffallend  gekleidete  Frauen  zur  Wache 
zu  bringen.  Tatsächlich  wurde  gestern  schon  auf  dem  Bahnhofplatz 
eine  Dame  verhaftet,  die  eben  auf  dem  Wege  zu  einem  Stelldichein 
mit  einem  Offizier  war.  Nach  energischem  Vorhalt  des  Unziem- 
lichen ihrer  auffallenden  Kleidung  durch  den  Polizeibeamten  und 
nachdem  ihr  ein  Polizist  den  ihr  im  Gesicht  aufgetragenen 
Puder  abgestaubt  hatte,  wurde  sie  entlassen. 

Die  Presse: 

(Die  verhaftete  »Mode«.)  Um  »ihn«  zu  treffen,  kam  »sie«  auf 
den  Bahnhofplatz.  Nach  ihrer  Meinung  war  sie  über  alle  Maßen  »schick« 
gekleidet:  Dunkelblaues  Kleid  mit  Glockenrock,  ein  durch  Außer- 
gewöhnlichkeit entzückender  Hut,  Pelz,  graue  Schuhe  mit  riesenhohen 
Absätzen,  die  Locken  kokett  in  die  Stirn  fallend,  Schminke  und  Puder 
waren  nicht  gespart  —  mußte  sie  nicht  gefallen?  Da  stört  ein  Schutz- 
mann ihre  erwartungsvollen  Hoffnungen,  heißt  sie,  ihm  zu  folgen. 
Bald  steht  sie  in  der  Polizeidirektion  dem  diensttuenden  Beamten  gegenüber, 
der  sich  lebhaft  für  die  »Aufmachung«  der  Dame  interessiert.  Das  Fräulein, 
eine  Schmuckverkäuferin,  erklärte  gekränkt,  daß  sie  die  gleiche  Kleidung 
bei  jedem  Ausgang  trage;  vielleicht  habe  sie  diesmal  nur  etwas  zuviel 
Puder  aufgetragen,  denn  sie  habe  Eile  gehabt,  um  ihren  Bekannten  nicht  zu 


24  — 


versäumen.  Der  Beamte  tadelt  die  dem  Ernst  der  Zeit  nicht  ent- 
sprechende Tracht,  reinigt  die  Modepuppe  von  der  Überfülle 
des  Puders  und  läßt  sie  ziehen.  Wie  sie  sich  wohl  entschuldigt 
hat,  als  sie  verspätet  zum  Stelldichein  eintraf?  Diese  Geschichte, 
die  sich  am  Dienstag  abend  abspielte,  wird  hoffentlich  eine 
deutliche  Warnung  sein  für  alle  Sklavinnen  verrückter 
Übermode. 


Was  ist  grauenhafter? 


Lauschigstes  Eckchen  der  Welt 

(Das  Hindenburg-Bierstübl)  Kärntnerstraße  Nr.  22,  wurde 
den  Zeitverhältnissen  Rechnung  tragend,  vom  Erdgeschoß 
nach  dem  Souterrain  verlegt  und  findet  dieser  gemütliche  Raum 
echter  Zechstimmung  im  Kreise  der  Bierfreunde  volle  Anerkennung. 
Ebenso  bewährt  sich  der  Grundzug  der  Selbstbedienung  und  der 
Freiheit,  sich  die  >Unterlage«  selbst  mitbringen  zu  können,  umso- 
mehr,  als  diese  Einführung  dem  allseitigen  Bedürfnis  desSparens  entspricht. 
Im  übrigen  besteht  die  Absicht,  das  trauliche  >Stübl«  nach  Maßgabe  der 
immer  schwieriger  werdenden  Küchenverhältnisse  nach  und  nach  zu 
vergrößern,  so  daß  es  sich  zu  einem  Hindenburg-Keller  aus- 
bilden wird,  in  dem  das  Meisterwerk  des  volkstümlichen  Bildhauers 
Zelezny,  der  martialische  Kopf  des  großen  Feldmarschalls  Hindenburg, 
erst  voll  und  ganz  zur  Geltung  kommen  wird.  Wenn  auch  das 
weiße  Tischtuch  immer  mehr  verschwinden  wird,  so  werden  sich  die  Gäste 
nicht  minder  wohl  fühlen  in  den  Hallen  echt  deutschen  Wesens 
und  unbeugsamen  Frohsinns  wienerischer  Lebensfreude. 


Riesigstes  Sortiment  der  Monarchie 

Der  Maler  Professor  Hugo  Vogel  hat  jetzt  ein  19  Meter  langes 
und  8  Meter  hohes  Wandgemälde,  »Prometheus  bringt  den  Menschen 
das  Feuer<,  in  der  Berliner  Charite  vollendet,  das  mit  152  Quadratmeter 
das  größte  Wandgemälde  ist,  das  die  deutsche  Reichshauptstadt  besitzt. 

Kalassal !  Funfzehntausend  können  es  gleichzeitig  ansehn  und 
sich  überzeugen,  daß  Prometheus  tatsächlich  den  Menschen  das 
Feuer  gebracht  hat,  durch  das  sie  jetzt  für  ihre  Ideale  gehen. 


Der  Atem  der  Weltgeschichte 

»Dieser    Abend    brachte    Barnowskys    wertvollste    Gabe. 
Die  Aufführung    hatte  Gedrungenheit  und  Größe.     Der   Abend    kann 


—  zo  — 


historisch  werden.  In  Geschichtsbüchern  könnte  dereinst 
stehen:  Am  Tage,  da  Amerikas  Note  in  Berlin  veröffentlicht  wurde, 
hatten  die  Bürger  innere  Stärke  und  Freiheit  genug,  die  Troerinnen  des 
Euripides  andächtig  anzuhören  If 

Vorläufig  steht  es  in  der  Vossischen  Zeitung,  nicht  von  Klio,  aber 
von  Herrn  Großmann,  den  wir  leider  in  waffenbrüderlicher  Ver- 
blendung an  Berlin  abgegeben  haben.  Er  muß  überrascht  gewesen 
sein.  Zu  der  Zeit,  da  er  noch  kein  angelangter,  sondern  nur  ein 
ringender  Schmock  war,  der,  wie  die  Euripides-Zuhörer  sagen,  nicht 
Brot  auf  Hosen  hatte  und  darum  anarchistischen  Idealen  anhing, 
hätte  er  das  den  Bürgern  gar  nicht  zugetraut.  »Hören  Se  mal, 
Katzenelbogen,  was  sagen  Se  zu  Wilson ?<  »Wir  wollen  uns  heute 
die  Troerinnen,  Barnowskys  wertvollste  Gabe  anhören,  in  der 
Bearbeitung  von  Euripides,  'nem  tüchtjen  jungen  Österreicher,  nach 
'ner  Idee  von  Werfel.«  »Nu  haste  Worte!  Ausgerechnet  heute? 
Katzenelbogen,  bedenken  Sie,  was  die  Weltjeschichte  dazu  sagen 
wird!<  »Was  soll  sie  sagen,  wenn  das  Metropol  ausverkauft  ist?« 
»Ja  sind  Sie  denn  heute  in  der  Stimmung  für  Andacht?«  »Erlauben 
Sie  mal,  da  bin  ich  aber  ganz  anderer  Ansicht !  Grade  an  so  'nem  Tag 
muß  man  beweisen,  daß  man  innere  Stärke  und  Freikarten  genug 
hat,  zu  Barnowsky  zu  gehen.  Der  Abend  kann  historisch  werden !« 
(Krotoschiner  steht  kopfschüttelnd  da  und  entfernt  sich,  das  Lied 
summend:  »Ach  Puppe,  sei  nicht  so  neutral!«) 


1916 

»Im  Johann  Strauß-Theater  wurde  die  Operette  »Die  Csardas- 
fürstin« zum  hundertfünfzigstenmal  aufgeführt  ....  Im  Carltheater  wurde 
Samstag  die  Operette  »Fürstenliebe«  zum  fünfundsiebzigstenmal  ge- 
geben ....  Im  Bürgertheater  fand  Sonntag  abend  die  zweihundertste 
Aufführung  der  Operette  »Ein  Tag  im  Paradies«  statt  .  .  .  .« 


Verzweiflung  in  London 

Das  Neue  Wiener  Journal,  das  seine  Lügen  nicht  etwa  verstohlen 
stiehlt,  sondern  es  in  balkendicken  Lettern  anzeigt,  ist  das  Opfer  eines 
Zeppelinbombardements  auf  London  geworden.  Man  hat  ihm  eine 


26  — 


Original-Nachricht  anvertraut,  die  es  unter  dem  Titel  »Verzweiflung 
in  London«  produziert: 

...  In  London  herrschte  während  des  ganzen  Sonntags  tiefe 
Niedergeschlagenheit.  Die  meisten  Theater,  Varietes  und  Kinos 
waren  geschlossen  .... 

Und  das  ist  noch  eine  sehr  glimpfliche  Darstellung.  Denn 
an  jenem  Sonntag  sollen  in  London  sogar  sämtliche  Theater, 
Varietes  und  Kinos  geschlossen  gewesen  sein.  Und  wenn  das  Neue 
Wiener  Journal  erst  die  volle  Wahrheit  wüßte  I  Es  soll  nämlich  jetzt 
vorsichtshalber  an  jedem  Sonntag  der  Fall  sein  und  wie  man 
sagt,  schon  seit  Jahrzehnten  in  Erwartung  der  Zeppeline  der  Fall 
gewesen  sein.  Immer  an  Sonntagen  fürchten  sie  dort,  daß  Zeppeline 
kommen,  und  schließen  darum  sämtliche  Theater,  Varietes  und 
Kinos.  Bei  uns  würde  man  eher  Bomben  riskieren  als  die  Sperrung 
von  Rideamus.  Wir  halten  durch  und  offen,  und  wenns  Schuster- 
buben regnet.  In  London  gibts  zwar  auch  nicht  jeden  Sonntag  ein 
Zeppelinbombardement,  aber  man  kann  hundert  gegen  eins  wetten, 
daß  diese  Feiglinge  von  nun  an  immer  geschlossen  haben  werden.  Ja, 
als  die  Zeppeline  noch  nicht  erfunden  waren,  hätte  man  ihnen  zugute- 
halten können,  sie  täten  's  aus  religiösen  Gründen,  mit  einem  Wort 
aus  Heuchelei,  aber  jetzt  halten  sie  am  Sonntag  geschlossen  aus 
Furcht,  und  wenn  die  Zeppeline  an  Wochentagen  kommen,  so 
halten  sie  offen  aus  Leichtsinn.  Denn  man  weiß  ja:  sie  »tändeln 
mit  dem  Krieg«.  Automobile  sollen  sogar  bei  ihnen  verkehren. 
Sie  leben  in  Saus  und  Braus.  Und  das  tun  sie  immer  dann,  wenn 
sie  nicht  verzweifelt  sind.  Wenn  sie  aber  schon  die  längste  Zeit 
getändelt  haben  oder  verzweifelt  waren,  dann  »müssen  sie  endlich 
beginnen  nachdenklich  zu  werden«.  Und  dann  schließen  sie  täglich! 


Das  Gesellschaftsspiel 

».  .  .  Schon  die  Aufmachung  der  Sache  mit  der  einleitenden 
Schilderung  des  Speisewagens  ist  kennzeichnend  für  den  italienischen 
Pressestil,  der  auf  das  oberflächliche  Unterhaltungsbedürfnis  berechnet 
ist.  Der  »Held  von  Laibach«  ist  kein  anderer  als  der  Fliegerhauptmann 
Salomone,    der  den  Angriff    der  Caproni-Flugzeuge    auf    die  Hauptstadt 


von  Krain  geführt  hat,  durch  den  zahlreiche  friedliche  Bürger  der  öster- 
reichischen Stadt  ums  Leben  gekommen  sind.  Als  österreichische 
Flieger  über  italienischen  Städten  Norditaliens  Bomben  mit  töd- 
licher Wirkung  geworfen  hatten,  konnte  die  .Tribuna'  sich  nicht  genug 
tun  im  wüsten  Schimpfen  über  die  deutschen  Mörder,  Banditen 
u.  s.  w.,  denen  es  Freude  bereite,  wehrlose  Frauen  und  Kinder  umzu- 
bringen. Den  italienischen  Hauptmann  dagegen  sieht  sie,  da  er  an 
österreichischen  Bürgern  dasselbe  verübt  hat,  >im  leuchtenden 
und  unauslöschlichen  Glänze  des  Ruhmes«  ....  Solche  widerliche 
Zeugnisse  des  in  der  Presse  Italiens  herrschenden  Geistes  könnte  man 
zu  Hunderten  sammeln,  eines  immer  schlimmer  als  das  andere.  Man 
kann  wahrlich  für  weitaus  die  meisten  Zeitungsschreiber 
des  uns  ehemals  verbündeten  Landes  nichts  anderes  mehr 
empfinden  als  tiefste  Verachtung.« 


Ein  Geduldspiel  für  Groß  und  Klein 

>Die  vom  Kriegsfürsorgeamt  in  den  Verschleiß  gebrachten 
heurigen  Osterkarten  haben  durch  den  »Russentod«  eine  er- 
freuliche Ergänzung  erfahren.  Der  >Russentod«,  eine  sinnreiche 
Erfindung  der  Gräfin  Taaffe,  ist  ein  für  Groß  und  Klein  interes- 
santes Geduldspiel,  ein  Erzeugnis  der  Verwundeten  des  Roten  Kreuz- 
Lazaretts  auf  der  Kleinseite,  wo  die  Gräfin  als  Oberschwester  Samariter- 
dienste versieht.  In  einem  sehr  geschmackvoll  ausgeführten  Osterei 
erscheint  eine  Miniaturfestung  mit  Drahthindernissen  und 
Sumpf  dargestellt,  nebst  kämpfenden  verbündeten  und  russi- 
schen Soldaten.  Durch  Schütteln  des  Eies  müssen  die  Ver- 
bündeten in  die  Festung  hereingebracht  und  die  Russen  in  den 
Sumpf  getrieben  werden.  Der  »Russentod«  bildet  ein  ge- 
eignetes Ostergeschenk  nicht  nur  für  die  Jugend,  sondern 
auch  für  die  Soldaten  in  den  Spitälern,  denen  es  eine  angenehme 
Zerstreuung  und  spannende  Unterhaltung  bietet.  Das  »Russen- 
tod«-Osterei,  in  sehr  geschmackvoller  schwar;^-gelb-seidener 
Ausführung,  kostet  3.60  Kronen  und  ist  in  der  Prager  Zentralverkaufs- 
stelle des  Kriegsfürsorgeamtes  erhältlich.« 


Initiative  und  Pagat-UItimo 

—  Wir  haben  im  Morgenblatte  über  den  namens  des  freiheitlich- 
bürgerlichen  Gemeinderatsverbandes  (vom  Gemeinderat  Hein)  gestellten 
Antrag  berichtet,  dem  Generalobersten  Freiherrn  v.  Conrad  das  Ehren- 
bürgerrecht der  Stadt  Wien  zu  verleihen.  Die  Initiative  zu  diesem 
Antrage  hatte  Gemeinderat  Josef  Stein  ergriffen. 


—  28 


Also  nicht  Hein,  sondern  im  Gegenteil  Stein.  Hein  und 
Stein  sind  die  zwei  Genien  des  Fortschritts,  auf  die  die  Leopold- 
stadt annähernd  mit  derselben  Inbrunst  schwört  wie  ehedem  auf 
Stein  und  Bein.  Dem  Generalstabschef,  dem  schon  zugemutet 
wurde,  daß  die  Praterstraße  »fortan«  nach  ihm  heißen  solle,  dürfte 
diese  Vordringlichkeit  bis  an  die  Front  und  das  opferlose  Ergreifen 
von  Initiativen  zu  einer  Reklamenotiz  doch  einige  Aufschlüsse  über 
die  Beschaffenheit  jenes  Hinterlandes  gewähren  können,  in  dessen 
Interesse  es  letzten  Endes  eine  Front  gibt.  Bedürfte  es  außer  dem 
Instinkt  und  der  Information  durch  freiheitliche  Anträge  noch  einer 
weiteren  Aufklärung  darüber,  aus  welchen  Milieus  da  der  Anschluß 
an  die  Glorie  versucht  wird,  so  wäre  vielleicht  diese  hier,  einen 
zivilistischen  Erfolg  betreffend,  der  dem  Triumph  auf  dem  Fuße 
folgte,  geeignet,  den  Gegenstand  zu  erschöpfen: 

(Wegen  eines  Pagat-Ultimo.)  Der  Fabrikant  und 
Gemeinderat  Josef  Stein  trat  heute  beim  Bezirksgerichte  Josefstadt  als 
Kläger  gegen  den  Holzhändler  Deutschberger  auf,  weil  e  r  ihm  bei  einer 
Tarockpartie  zugerufen  haben  soll:  »Sie  sind  der  unanständigste  Spieler, 
den  ich  kenne!«  In  der  .  .  Verhandlung  gab  der  Angeklagte  .  .  an,  daß  er  am 
2.  Januar  im  Cafe  Prückl  bei  einer  Tarockpartie  mit  dem  Kl^er  und  dem 
Realitätenbesitzer  Goldsand  beim  letzten  Spiel  einen  Pagat-Ultimo  angesagt 
habe,  der  todsicher  war.  Beim  Ausspielen  der  Karten  habe  ersieh,  während 
die  Partner  schon  kein  Tarock  mehr  im  Blatt  hatten,  vergriffen  und  mit  dem 
Pagat  eingestochen,  obzwai  er  noch  sechs  andere  Tarock  im  Blatt  hatte.  Herr 
Stein  habe  sofort  erklärt,  daß  dies  eine  Renonce  sei,  habe  die  Karten 
weggeworfen  und  habe  sich  den  Pagat-Ultimo  von  ihm  noch  bezahlen 
lassen  ....  Herr  Stein  gab,  als  Zeuge  vernommen,  an,  daß  er  in  der 
ständigen  Partie  mit  dem  Angeklagten  stets  größere  Beträge  verloren 
habe.  Am  kritischen  Abend  habe  zufällig  Herr  Deutschberger  Pech 
gehabt  und  sei  deshalb  während  des  Spieles  sehr  aufgeregt  gewesen. 
Als  er  mit  dem  Pagat-Ultimo  aus  Versehen  eingestochen  habe,  habe  er 
den  Pagat  wieder  ins  Blatt  nehmen  wollen ;  er  (Stein)  habe  dies  jedoch 
nicht  zugegeben,  da  eine  Renonce  gelten  müsse  ....  Schließlich 
erlärte  der  Kläger,  daß  er  den  Betrag  für  den  verlorenen  Pagat-Ultimo, 
und  zwar  achtzig  Heller,  nicht  genommen,  sondern  das  Geld  auf 
dem  Tische  liegen  gelassen  habe  ....  Der  Richter  verurteilte  den 
Beschuldigten  wegen  Ehrenbeleidigung  im  Sinne  der  Klage  zu  einer 
Geldstrafe  von  hundert  Kronen  .... 

Daß  eine  Renonce  gelten  muß,  ist  doch  wohl  die  primitivste 
völkerrechtliche  Errungenschaft,  die  aus  diesem  Ringen  noch  übrig 
geblieben  ist.  Aber  ganz  abgesehen  davon  mußte  eine  Vertirteilung 
erfolgen,    weil   es   von    unpatriotischer   Gesinnung   zeugt,    einem 


—  29 


Manne,  der  das  Verdienst  hat,  die  Initiative  zu  jenem  monu- 
mentalen Antrag  ergriffen  zu  haben,  so  etwas  anzutun.  In  dieser 
todsichern  Zeit  einen  Pagat-Ultimo  ansagen,  mag  ein  Trumpf 
sein;  aber  das  Scherflein  von  achtzig  Hellern  liegen  lassen  und 
dafür  eine  Initiative  ergreifen,  das  ist  ein  Triumph,  mit  dem  man 
in  die  Annalen  kommt  und  für  den  sich  dereinst  noch  das  auf 
dem  Schoß  sitzende  Enkerl  interessieren  wird. 


Kosaken  in  Wien! 

....  Er  sei  plötzlich  in  die  Mitte  des  Kaffeehauses  getreten 
und  habe  ihm,  auf  eine  Ecart^epartie  anspielend,  zugerufen:  »Es  ist 
ein  Skandal,  daß  Sie  Kosaken  in  Ihrem  Kaffeehause  dulden. 
Sie  wollen  ein  anständiger  Kaffeesieder  sein?  Sie  sind  ein 
Kaffeesieder  wie  ich  ein  Seiltänzer  bin!< 


Das  Los  unserer  Gefangenen  in  Rußland 

—  Der  Realschüler  Paul  Kramer,  Sohn  des  Prokuristen  Berthold 
Kramer  der  Ostrauer  Mineralölraffinerie  Max  Böhm  &  Co.,  hatte  zuin 
18.  August  vorigen  Jahres  an  G.  d.  I.  v.  Kusmanek  ein  patriotisches 
Gedicht  gesandt,  worauf  er  kürzlich  ein  Schreiben  des  Generals  aus 
Nishni-Nowgorod,  vom  10.  März  1916  datiert,  erhielt,  in  welchem  es 
heißt:  ».  .  .  Besten  Dank  für  Ihre  patriotische  Kundgebung  vom  18. 
August  1915,  welche  mir  erst  kürzlich  zugekommen  ist.  Ich  begrüße  Sie 
und  knüpfe  daran  den  Wunsch,  daß  es  stets  Ihr  eifrigstes  Bestreben 
sein  möge,  dereinst  ein  wackerer  und  tüchtiger  Sohn  unseres  schönen 
V'aterlandes  zu  werden,     v,  Kusmanek.- 


Der  Flüchtling 

(Unsere  Ärzte  in  Taschkent  und  Samarkand.)  Unter  Bezugnahme 
auf  die  Mitteilung  über  das  Schicksal  des  kriegsgefangenen  Meteorologen 
Dr.  v.  Ficker  in  Sibirien  wird  uns  von  geschätzter  Seite  geschrieben: 
Taschkent  und  Samarkand  ....  sind  mir  leider  viel  zu  gut  bekannt  und 
geläufig,  habe  ich  doch  selbst  fast  sechzehn  Monate  in  Samarkand  und 


—  30 


auch  kurze  Zeit  in  Taschkent  gelebt.  ...  In  Samarkand  war  ich  bis 
zum  22.  Januar  laufenden  Jahres  im  dortigen  Kriegsgefangenen- 
lager interniert,  bis  ich  zu  fliehen  vermochte....  Verhältnis- 
mäßig geht  es  unseren  Ärzten  in  der  Kriegsgefangenschaft  leidlich. 
Sie  besitzen  in  den  meisten  Städten  einige  Freiheit 
und  dfirfen  ohne  Konvoi  ausgehen.  ...  Ich  habe  noch 
die  Beteilung  der  Mannschaft  mit  diesen  Liebesgaben  aus  der  Heimat 
knapp  vor  meiner  Flucht  erlebt.  Nie  werde  ich  diese 
Glückseligkeit  und  Dankbarkeit,  die  aus  den  Augen  der  Beteilten  strahlte; 
vergessen.  Die  kompetenten  Militärbehörden  und  Fürsorgestellen  suchen 
alle  Mittel  und  Wege,  das  Los  unserer  Kriegsgefangenen  in  Rußland  zu 
erleichtern,  doch  auch  unsere  Privatwohltätigkeit  könnte  hier  außer- 
ordentlich segensreich  einsetzen.  Ich  bitte  alle,  die  einen  Angehörigen 
in  russischer  Kriegsgefangenschaft  im  Turkestangebiete  haben,  der  in  so 
weiter  Ferne  in  einem  anderen  Weltfeil  schmachtenden  Kranken  und 
Siechen  zu  gedenken  und  ein  Scherflein  beizutragen  zur  Milderung  des 
Loses  dieser  wahrhaft  Unglücklichen, 

Aber  es  wird  leider  wenig  helfen,  und  sogar  die  freien 
Ausgänge  der  Gefangenen  werden  jedesmal,  wenn  einem  von 
ihnen  die  Flucht  geglückt  ist,  eingeschränkt.  »Sie  besitzen  in  den 
meisten  Städten  einige  Freiheit  und  dürfen  ohne  Konvoi  ausgehen«, 
so  lange,  bis  einer  von  ihnen  das  Wort  bricht  und  alle  übrigen 
seine  Flucht  zu  büßen  haben.  Der  mit  Recht  anonyme  Samariter, 
der  eine  geschätzte  Seite  bleibt,  während  andere  in  Wien  sogar 
Vorträge  über  ihre  Flucht  halten,  hat  eben  noch  die  Freude  seiner 
Kameraden  beim  Eintreffen  der  Liebesgaben,  aber  eben  nicht  ihre 
Trauer  über  die  infolge  seiner  Flucht  verfügte  Freiheitsentziehung 
mitgemacht.  Der  Überläufer  des  Schlachtfeldes  bringt  sich  in  Ge- 
fangenschaft und  verrät  seine  Kameraden  nicht.  Das  tut  er  erst,  wenn 
er  aus  der  Gefangenschaft  in  die  Freiheit  überläuft.  Aber  auch  diese 
selbstischeste  Handlung,  die  immerhin  noch  in  einer  Niederung 
von  Menschlichkeiten  spielt,  könnte  als  Rettung  aus  einem  uner- 
freulichen Leben  mit  Schweigen  hingenommen  werden,  wenn  sie  sich 
selbst  zum  Schweigen  verurteilte.  Wohl  ist  ein  solcher  Zeuge  in 
der  Lage,  über  das  Los  der  Kameraden,  die  er  zurückgelassen  hat, 
Zuverlässiges  auszusagen,  aber  keiner  ist  dazu  weniger  berufen; 
denn  er  weiß  recht  gut,  daß  keine  Hilfeleistung,  die  er  durch- 
zusetzen vermöchte,  den  Gefangenen  mehr  nützen  kann,  als  seine 
Entfernung,  die  ihn  zur  Aussage  befähigt,  aber  nicht  berechtigt, 
ihnen  geschadet  haben  muß,  und  daß  die  so  gewonnene  Freiheit 
ihnen  abgezogen  wird,  deren  jeder  jetzt  gerade  um  so  Tiel  weniger 


31  — 


davon  hat,  als  jener  zu  viel  hat,  und  deren  jedem  jetzt  um  so  viel 
mehr  Freiheit  genommen  ist,  als  jener  sich  nahm.  Von  Helfern, 
die  das  Unheil  vermehren  halfen,  läßt  sich  das  Gewissen  nicht 
gern  mahnen.  Nur  wenn  am  Ziel  der  Flucht  die  Sicherheit 
zu  holen  wäre,  auch  die  Befreiung  der  anderen  durchzusetzen, 
wäre  der  Ankömmling  ein  willkommener  Bote.  Wenn  er  uns  aber 
zu  Scherflein  für  solche  auffordert,  die  seither  noch  weniger 
haben,  so  wollen  wir  sie  beitragen,  aber  ihn  nicht  grüßen. 
Für  Zeitungen  mag  er  eine  geschätzte  Seite  sein.  Leser  sollten  auf 
die  andere  Seite  schauen.  Das  peinliche  Erlebnis:  die  Freiheit,  die  die 
Verengung  verschuldet  hat  und  die  das  wissen  und  gewußt  haben 
muß,  über  die  Gefangenschaft  klagen  zu  hören,  ist  eine  der 
bunten  Möglichkeiten  dieser  verrotteten  Gegenwart. 


Eine  Beruhigung 

.  .  .  Das  so  gesammelte  Geld  wird  für  die  Aufbesserung  der 
Kost,  für  Bekleidung,  für  die  Instandhaltung,  die  Reinlichkeit,  kurz  für 
die  notwendigsten  Bedürfnisse  verwendet.  Durch  dieses  Werk  der 
Menschenliebe  können  sich  unsere  armen  Kriegsgefangenen  gesünder 
erhalten,  und  es  kommt  nicht  zuletzt  unseren  kriegsgefangenen  Vätern, 
Männern,  Söhnen,  Verlobten,  Brüdern  zugute,  indem  durch  Reinlichkeit 
und  richtige  Ernährung  das  Ausbrechen  von  Krankheiten,  speziell  in  den 
Mannschaftslagern  verhindert  wird  .... 


Der  Gipfel  der  Nibelungentreue 

(Vielgereuth.)  Von  Mund  zu  Mund  geht  jetzt  dieser  Name,  der 
mit  einem  so  schönen  Erfolg  unserer  tapferen  Verbündeten 
verknüpft  ist.     Die  Hochfläche  von  Lafraun   und  Vielgereuth    —  —  — 

Das  ist  der  , Wiener  Mittags-Zeitung' passiert.  Es  erklärt  sich 
o:  sie  hat  es  einem  reichsdeutschen  Blatt,  als  sie  gerade  Schulter 
au  Schulter  mit  ihm  stand,  entwendet. 


—  32  — 


Ein  seltener  Fall 

Konstantinopel,  1.  Mai.  Die  Kunde  von  der  Kapitulation  der 
englischen  Armee  in  Kut-el-Amara  hat  hier  eine  riesige  Begeisterung 
wachgerufen.  Alle  Straßen  sind  in  den  türkischen  Farben  und  denen 
der  Verbündeten  beflaggt.  Höhere  türkische  Militärs  bezeichnen  die 
Kapitulation  als  das  letzte  Werk  Feldmarschalls  von  der  Goltz,  der  im 
Tode  noch  den  Triumph  der  von  ihm  reorganisierten  Armee  erlebte. 


Er  war  ein  Mann,  nehmt  alles  nur  in  allem 

».  .  .  geradezu  hassen  tat  er  (Kitchener)  die  Kriegs- 
berichterstatter der  Presse,  denen  er  die  Teilnahme  am  Feldzug 
—  bei  der  Macht,  welche  die  Presse  in  England  bedeutet  —  nicht 
wohl  versagen  konnte.  Er  machte  sich  hin  und  wieder  in  unlieb- 
samer Weise  bei  ihnen  bemerklich,  so  zum  Beispiel,  wenn  er  ihnen 
als  Lagerplatz  eine  Stelle  anweisen  ließ,  die  unter  Wind 
der  Soldatenlatrinen  gelegen  war.« 

Ich  werde  nimmer  seinesgleichen  sehn. 


Gut  erzogen 

».  .  .  Viele  der  interessanten  und  eingehenden  Ausführungen  in  der 
Besprechung  >Die  Einführung  der  Sommerzeit«  in  Ihrem  geehrten 
Morgenblatte  vom  27.  d.  werden  gewiß  in  dem  großen  Kreise 
Ihrer  Leser  sympathische  Zustimmung  finden  .  .  .  .« 


Sommerzeit! 

Es  war  vorauszusehen,  daß  »das  Thema  Sommerzeit«  am 
30.  April  um  11  Uhr,  aber  auch  schon  wochenlang  vorher  täglich 
und  zu  jeder  Stunde  wie  auch  lange  nachher  »an  allen  Tischen 
den  Gesprächsstoff  bilden«  werde.  Die  Sachverständigen,  die  schon 
warteten,  um  gefragt  zu  werden,  wie  viel  Uhr  es  sei,  wenn 
es  erst  elf  ist  und  schon  zwölf  ist,    und   was   man   da   tun   solle, 


33  — 


hatten  den  Rat  gegeben,  in  solchen  Fällen  den  Zeiger  der  Uhr 
»einfach  um  eine  Stunde  vorzurücken«,  aber  die  Wiener  starrten 
ihre  Taschenuhren  an  und  nahmen  sie  in  den  Mund.  Weniger 
schüchterne  und  mehr  zu  ausgelassener  Fröhlichkeit  neigende 
Naturen  glaubten,  es  sei  Sylvester  und  begrüßten  die  öffentlichen 
Uhren  »mit  Applaus  und  Bravorufen  <.  Bei  den  privaten  machten 
sie  eine  Ausnahme.  Ich  weiß  das  alles  nur  aus  den  Essays,  die 
darüber  erschienen  sind;  ich  hatte  damit  gerechnet  und  war  des- 
halb schon  vor  dem  kritischen  Tag  mit  meiner  Uhr  in  die  Schweiz 
geflüchtet.  Daß  »Tausende  und  Abertausende«  bis  Mitternacht  »auf- 
bleiben« würden,  um  es  einmal  zu  erleben,  wie  das  ist,  wenn  um  elf 
zwölf  ist,  zu  komisch -das  hatte  ich  gewußt,  ehe  sie  noch  den  Plan 
gefaßt  hatten.  »Kaum  einer«,  las  ich  nachträglich,  »der  im  Besitze 
einer  Taschenuhr  ist,  verabsäumte,  zur  festgesetzten  Stunde  die 
Vorrückung  des  Uhrzeigers  zu  vollziehen«.  Da  wollte  ich  nicht 
dabei  sein.  Ob  aus  der  großen  Menge  der  Fachleute,  die  sich  da 
bewährt  haben,  einige  herausgegriffen  und  interviewt  wurden,  weiß 
ich  nicht.  Aber  die  Befragung  der  Cafetiers,  der  kompetentesten 
Persönlichkeiten  auf  dem  Gebiet  jeder  Neuerung,  die  sich  im  Welt- 
all und  mithin  speziell  in  Wien  begibt,  habe  ich  noch  erlebt 
und  Riedls  Äußerungen  anregend  gefunden.  Wie  es  auf  den 
Fremdenverkehr  einwirken  wird,  muß  sich  erst  herausstellen,  bis 
er  kommt;  man  hofft  aber  allgemein,  daß  er  um  eine  Stunde  früher 
hereinbrechen  wird.  Auch  war  ich  gar  nicht  überrascht,  bei  meiner 
Rückkunft  zu  hören,  daß  sich  die  Wiener  mit  der  ihnen  speziell  ange- 
borenen Anpassungsfähigkeit  an  den  neuen  Zustand  gewöhnt  hatten. 
In  der  Zeitung  fand  ich  die  meisten  Geschäfte  angeführt,  die  sofort 
eine  Stunde  früher  geöffnet  und  infolgedessen  auch  eine  Stunde  früher 
geschlossen  haben.  Auch  waren  alle  Ämter  lobend  erwähnt,  die  sich 
ähnlich  verhalten  hatten.  Bei  der  Südbahn  wurde  die  Sache  so  arrangiert, 
daß  etwa  ein  Zug,  der  um  sieben  hätte  eintreffen  sollen,  pünktlich 
um  sieben  eintraf.  »Selbstverständlich«,  hieß  es,  »haben  auch  die 
Postanstalten  sich  bereits  die  Sommerzeit  zu  eigen  gemacht«,  aber 
wiewohl  es  selbstverständlich  ist,  wurde  es  dennoch  hervorgehoben. 
Dann  gab  es  »Straßenbilder«.  Berichterstatter  waren  ausgeschickt 
worden,  um  zu  beobachten,  wie  es  »auf  dem  Hof«  zuging,  »auf 
dem  Stephansplatz«,  der  besonders  in  Mitleidenschaft  gezogen  ist, 
u.  s.  w.    Auf  dem  Hof  hatte  »eine  Anzahl  von  Genauigkeitsfexen 


—  34  — 


Aufstellung  genommen«,  die  harrten  voll  Spannung,  endlich  kam 
der  >große  Ruck«,  als  aber  der  Zeiger  »um  fünf  Minuten 
zu  weit  ging«,  fand  man,  daß  das  zu  weit  gehe,  und  es 
ertönte  »ein  vielstimmiges  Veto«.  >Beschämt  blieb  er  stehen.« 
Auf  dem  Stephansplatz  hingegen  »hatte  eine  wirklich  festlich 
gestimmte  Menge  Aufstellung  genommen<,  die  sich  »die  Wartezeit 
mit  Witzen  und  auch  giftigen  Apostrophen  über  die  Neuein- 
führung vertrieb«.  Sie  selbst  wurde  nicht  vertrieben.  Und  dann, 
siehe  da,  erschien  die  Zahl  zwölf,  »was  ein  Höllengelächter 
zur  Folge  hatte«.  Mit  den  Turmuhren  wars  aber  ein  rechtes 
Gfrett.  Sie  machten  nur  »zwölf  gravitätische  Schläge  und 
nicht  um  ein  Jota  mehr«.  Alle  131  wurden  übrigens  pünktlich  um 
eine  Stunde  vorgerückt,  »und  es  war  keine  Uhr,  die  nicht  eine 
Menschenansammlung  verursacht  hätte«.  Die  Wiener  haben  da  sehr 
genaue  Kontrolle  geübt.  Auf  ihre  Akkuratesse  in  solchen  Fällen  kann 
man  sich  verlassen.  Die  Uhren  selbst  mögen  die  verschiedensten  Zeiten 
anzeigen :  die  Wiener  sind  pünktlich  zur  Stelle,  um  nachzusehn.  Wie 
sie  späterhin  gehen  werden,  nämlich  die  Uhren,  ist  wurscht;  jetzt 
hat's  zu  stimmen!  Besonders  interessant  war,  was  die  Hausfrauen  in 
den  seriöseren  Zeitungen  auszusagen  hatten,  und  namentlich  eine, 
intelligentere,  war  so  gewissenhaft,  auch  die  Äußerungen  ihrer  Dienst- 
mädchen und  ihres  vierjährigen  Mäderls  wiederzugeben,  so  daß  wir  also 
auch  über  die  Wirkung  der  Sommerzeit  auf  den  Haushalt  und  auf  das 
Familienleben  vollauf  beruhigt  wurden.  Natürlich  wurde,  nachdem 
schon  alle  Berufe  abgelaust  waren,  auch  »der  Standpunkt  der 
Astronomie«  zur  Geltung  gebracht.  Der  Mann  von  der  Sternwarte,  der 
ja  als  Mann  der  Wissenschaft  einen  Schmock  nicht  einfach  hinauswerfen 
kann,  begnügte  sich,  seinen  Standpunkt  mit  den  Worten  zu  präzi- 
sieren, »als  Astronom  betone  er  vor  allem,  daß  die  Angelegenheit 
die  Astronomie  nichts  angeht«  und  daß  »für  uns  Astronomen  am 
Himmel  keine  Änderung  vor  sich  geht,  mögen  nun  die  Leute  ihre 
Uhr  stellen  wie  sie  wollen.«  Das  ist  nur  zu  wahr  und  gewiß  geht 
die  Sommerzeit  die  Kaffeesieder  mehr  an  als  die  Astronomen,  aber 
sicher  ist  auch,  daß  die  Änderungen  am  Himmel  nicht  für  die 
Astronomen  vor  sich  gehen,  mögen  nun  diese  ihre  Fernrohre  stellen 
wie  sie  wollen.  Und  ebenso  sicher  ist,  daß  keine  Änderungen 
am  Himmel  vorgehen,  wiewohl  auf  Erden,  wo  scheinbar  die  Sünde 
Jahresregent  ist,   noch  so  viel  Dummheit  ihre  Sommerzeit   erlebt! 


35 


Der  tragische  Karneval 

Die  Münchner  Polizei  hat  bereits  in  zwei 
Fällen  Veranlassung  genommen,  gegen  auf- 
fallend gekleidete  Damen  einzuschreiten.  Am 
Montag  ereignete  sich  der  dritte  derartige 
Fall  ....  Sie  trug  einen  blauen  Kittel,  einen 
Iturzen  weißen  Rock,  weiße  Schuhe,  blaue 
Strümpfe  und  am  Kopf  eine  blauseidene 
Zipfelmütze  ....  Ein  Polizist  war  über  den 
Aufzug  empört  und  führte  die  Dame  zur 
Polizeidirektion.  Der  Polizeipräsident  er- 
innerte das  Fräulein  daran,  »daß  wir 
nicht  im  Karneval  leben«.  Unter 
Tränen  bat  die  Zurechtgewiesene  um  Ent- 
schuldigung. 

Dem  Siegeslauf  der  Schalek,  die  jetzt  die  Front  am  Isonzo 
abgeht  und  augenblicklich  die  Honveds  auf  Doberdo  inspiziert» 
auch  nur  auf  einem  Abschnitt  zu  folgen,  ist  einstweilen,  da  die 
Wachsamkeit  an  hundert  andern  Einbruchsstellen  der  Kultur- 
schande beschäftigt  ist,  unmöglich.  Unmöglich  auf  andere  Art,  als 
das,  was  geschieht,  unmöglich  ist  und  die  Schalek  selbst  ein 
Ding  der  Unmöglichkeit.  Leicht  macht  sie  es  mir  ja  nicht.  Ver- 
such' ich  wohl  sie  diesmal  festzuhalten  und  fasse  ich  sie  satirisch, 
so  meint  man,  ich  hätte  zur  gegebenen  Kontrastwirkung  noch  eins 
hinzugetan.  Zitiere  ich  sie  aber,  so  glaubt  man,  ich  hätte  den 
Text  gefälscht.  Sage  ich,  wie  ich  oben  getan,  die  Schalek  sei  die 
Front  abgegangen,  so  hält  man  es  für  meinen  Witz;  denn  die 
Komik  ihres  Dabeiseins  so  auszudrücken,  als  täte  sie  es  nicht  bloß 
einem  Soldaten  gleich,  sondern  gar  einem  General,  könnte  doch  nur 
Übertreibung  sein.  Zitiere  ich  sie  aber,  behaupte  ich,  sie  habe 
neulich  mit  den  Worten  begonnen:  »Schritt  für  Schritt  bin  ich 
die  Front  am  Isonzo  längs  des  Görzer  Abschnittes  abgegangen«, 
so  wird  man  verwirrt,  und  der  Humor  der  Erscheinung  leidet 
durch  den  Zweifel,  ob  nicht  eben  das  nur  Erfindung  sei.  Es  bleibt 
nichts  übrig,  als  eine  Kampfpause  der  Schalek  abzuwarten,  und 
indem  ich  sie  selbst  sprechen  lasse,  durch  Ausführlichkeit  die 
Echtheit  zu  beglaubigen.  Vorläufig  ist  kein  Ende  abzusehen.  Allen 


—  36 


Einflüsterungen  der  Kommandierenden  zum  Trotz,  die,  statt  zu 
kommandieren,  ihr  den  Rat  gaben:  »Fahren  Sie  weg!«,  ist  sie 
geblieben,  und  wiewohl  man  ihr  sagte:  >Sie  brauchen  ja  nicht  im 
Schrapnellhagel  zu  schreiben!«,  wollte  sie  nicht  als  Auäkneiferin 
dastehen  und  treibt  sich  ausgerechnet  überall  dort  herum,  wo  es 
am  gefährlichsten  ist.  So  steht  die  Schalek  mitten  im  Kugelregen, 
ißt  Spargel  am  Tisch  des  Divisionärs,  schlüpft  in  Unterstände, 
scheut  die  Beobachter  auf  der  Podgora  nicht,  besucht  sie,  und 
findet,  wenn  sie  des  Abends  kampfmüde  heimkehrt,  ihr  Zimmer, 
das  keineswegs  bombensicher  ist,  mit  Rosen  gefüllt.  Der  Nieder- 
schlag dieser  vielfältigen  Erlebnisse  ist  eine  unerbittliche  Serie  von 
Feuilletons,  die  von  der  durchhaltenden  Geschmacklosigkeit  eines 
gegen  Hohngelächter  gepanzerten  Herausgebers  fortgesetzt  wird, 
die  sich  aber  durch  den  Vermerk  »Nachdruck  verboten«  vergebens 
gegen  das  Schicksal  zu  schützen  versuchen  wird,  als  Zeitdokument 
schwersten  Kalibers  jenen  kommenden  Geschlechtern  übermittelt 
zu  werden,  die  vielleicht  wieder  zwischen  Mann  und  Weib  unter- 
scheiden möchten—  bewahrt  zu  werden  als  die  nicht  mehr  steige- 
rungsfähige Karikatur  der  Mißgestalt,  in  der  ein  völlig  schäm-, 
hemmungs-  und  verantwortungsloser  Zeitgeist  seine  blutigen  Possen 
getrieben  hat.  Denn  sage  ich,  die  Schalek  habe  nicht  als  Auskneiferin 
dastehen  wollen,  so  wird  man's  so  lange  für  meinen  Witz  halten,  bis 
ich  dartue,  daß  es  ihr  Ernst  ist.  Ihre  Worte  in  ihrem  Druck  fangen 
nicht:  man  lacht  und  vergißt.  Meine  in  meinem  sind  nur  meine 
Wirkung.  Ihre  Worte  in  meinem  Druck  werden  es  bezeugen!  Wer 
vermöchte  gleich  mir  die  Welt  zu  erschüttern  durch  nichts  als 
daß  er  alles,  was  sie  schon  weiß,  wiederholt?  Sieht  man  jetzt  Weiber 
militärisch  verkleidet  und  empfängt  man,  weil  man  sie  trotzdem 
grüßt,  statt  eines  Kopfnickens,  das  die  Disziplin  des  Geschlechts 
noch  immer  vorschreiben  sollte,  ein  stramm  Salutieren,  so  mag 
man  staunen,  wie  der  abgestandene  Operettenwitz,  der  veraltet  war, 
ehe  das  soziale  Leben  den  ersten  Mißbrauch  der  Weiblichkeit  an- 
kündigte, der  schale  Ulk  der  komischen  Alten  als  Feldwebel  oder 
bemoostes  Haupt,  jetzt  auf  realen  Leichenfeldern  Zugkraft  erhält. 
In  dem  schrecklichen  Einzelfall  der  Reporterin  jedoch,  die  dank 
dem  faulen  Zauber  der  Hysterie  (der  die  Menschheit  anästhesiert 
und  einzig  zu  jener  aktiven  und  passiven  Standhaftigkeit  vor  der 
Maschine  befähigt,  welche  Heldentum  heißt  und  größer  ist  als  Hektors 


37  — 


Mut,  ders  mit  keinem  Mörser  aufgenommen  hätte),  in  der  Schreiberin 
also,  die  vermöge  der  antreibenden  Gewalt  seelischer  Unterernährtheit 
alle  Sensationen  dieser  welthysterischen  Zerrüttung  erleben  kann  und 
der  glaubwürdige  Gewährsmann  dieses  Kriegs  wird:  in  dem 
stärksten  Monstrum  dieser  Ausnahmszeit  ist  der  ganze  tragische 
Karneval  enthalten.  Die  Sage  von  uns  wird  erzählen,  daß  Frauen, 
die  als  Frauen,  also  auffallend  gekleidet  gingen,  verhaftet  wurden. 
Den  Amazonen  aber  ward  in  der  Kindheit  die  rechte  Brust  abge- 
brannt, um  sie  zum  Bogenspannen,  noch  nicht  zum  Schreiben 
tauglich  zu  machen,  und  die  Fabelphantasie  keines  Zeitalters  hätte 
ausgereicht,  die  Schalek  auf  dem  Kriegspfad  zu  erfinden. 

Sie  findet  ihr  Gegenstück  etwa  in  den  entmannten 
Männern  der  Wissenschaft,  die  dort,  wo  sie  nur  schießen  hören, 
gleich  mit  einem  Ehrendoktorat  zur  Stelle  sind,  und  noch  eine 
Begründung  hiefür  bereit  haben.  Nicht  errötend  folgen  sie  den 
geistigen  Spuren  der  Schalek.  die  ja  die  kulturelle  Gleichstellung 
Skodas  mit  Kant  als  erste  befürwortet  hat.  Generale  aber,  die  ihre  Pflicht 
nicht  zuletzt  in  deren  Absonderung  von  anderen  Idealen  erkennen, 
für  das  Wesen  und  die  mit  keiner  metaphysischen  Sphäre  ver- 
einbare Fachlichkeit  ihres  Berufs  ein  korrektes  und  somit  besseres 
Verständnis  haben  als  Philosophieprofessoren,  die  die  Ehre  ihres 
Studiums  an  die  Erfolge  des  Kriegs  vergeben,  empfangen  im  düstern 
Umkreis  ihres  Wirkens  nur  dann  einen  heiteren  Eindruck,  wenn 
Rektor  und  Prodekan  aus  der  Operette  ins  Quartier  kommen  und  das 
Doktorat  hervorziehen.  Es  wäre  ihnen  ja  lästig,  wenn  sie  nicht  lachen 
müßten  und  ihnen  nicht  zur  Revanche  die  Frage  auf  der  Zunge 
läge,  ob  die  Herren  Philosophen  vielleicht  Lust  hätten,  länger 
zu  bleiben  und  Feldwebel  honoris  causa  zu  werden.  Kein  Auftrag, 
als  der  der  immer  beunruhigten  Streberseele  und  etwa  noch  die 
kindische  Sucht,  aus  allem  ein  Ornament  zu  machen  und  eine 
Auszeichnung  wenigstens  am  andern  zu  sehen,  wiewohl  sie  zum 
Verdienst  so  paßt  wie  das  Auge  zur  Faust  —  kein  Auftrag, 
kein  Zwang,  kein  Wunsch  hats  ihnen  geschafft.  Niemand  hätte 
es  vermißt,  wenn's  nicht  geschehen  wäre.  Die  Generale  wissen 
nicht,  was  sie  damit  anfangen  sollen,  aber  die  Philosophen, 
die  mit  jedem  Tage  seit  dem  Tod  Schopenhauers  und  vor  allem 
seit  Kriegsbeginn  größere  Optimisten  werden,  sind  unerschöpflich 
in    der    Hingabe    ihrer    Ehre,    so    daß    es   fast    den   Anschein 


38  — 


hat,  als  wollten  sie  den  Siegen  zuvorkommen  und  als  wären  diese 
an  den  einstimmigen  Beschluß  der  Fakultät  geknüpft.  Austausch- 
professoren mögen  unterwegs  in  Streit  geraten,  wer  mehr  Ehren- 
doktorate verliehen  hat.  Die  Empfänger  aber  sind  sich  nicht  im  reinen 
darüber,  ob  das  Doktorat  der  Philosophie  für  sie  eine  honoris  causa 
ist.  So  viel  nur  wissen  sie  und  haben  auch  sie  aus  der  Philosophie  ge- 
lernt, daß  solche  Gabe  für  die  jetzt  tief  unter  dem  Niveau  der  Schopen- 
hauerschen  Mißachtung  stehenden  Verleiher  in  Wahrheit  eine  causa 
turpis  ist!  Wäre  zum  Glück  nicht  überall  dort,  wo  der  Rang  ist, 
auch  die  Fähigkeit  —  was  ja  sogar  von  den  Universitäten  ange- 
nommen wird  — ,  und  gäbe  es  im  Reich  der  Erscheinungen,  in  das 
jetzt  die  Philosophie  mit  Ehrendoktoraten  eintritt,  Unterschiede 
wie  etwa  zwischen  einem  Napoleon  und  einem,  dem  der  Krieg 
nur  vom  Kino  bekannt  wäre  und  der  vor  jedem  Bild,  das  fallende 
Menschen  vorführt,  nichts  zu  sagen  wüßte  als  etwa:  >Bumsti!<  oder 
>Aha!«  —  die  Vertreter  der  optimistischen  Weltanschauung  würden 
manche  Enttäuschung  erleben.  Ich  spreche  nicht  aus  Neid ;  ich  weiß, 
daß  esmir  auf  Lebenszeit  versagt  ist,  das  Ehrendoktorat  der  Philosophie 
zu  erringen,  selbst  wenn  ich  nachweisen  könnte,  daß  ich  Leibniz 
für  einen  Fabrikanten  von  >Keks«  halte.  Denn  dieses  Verdienst 
würde  reichlich  aufgewogen  durch  meine  Erkenntnis,  daß  Professoren 
der  Philosophie,  die  dem  Weltuntergang  mit  Ehrendoktoraten 
schmeicheln,  von  allen  Karnevalstypen,  auf  die  der  Mond  dieser 
Mordnacht  grinst,  die  weitaus  lächerlichsten  und  verächtlichsten  sind. 
Und  eins  in  dieser  Erkenntnis  sind  mit  mir  jene  Exponenten 
des  Unglücks,  deren  menschlichem  Sinn  die  Pflicht  noch  immer 
besser  zusagt  als  die  Abwechslung  durch  einen  Firlefanz,  der  sie 
erschwert.  Eins  in  der  Ansicht,  daß  Philosophen  und  Weiber,  die 
die  Ehren  ihrer  Berufe  dort  ablagern,  wo  sie  nicht  hingehören  und 
wo  man  sie  nicht  braucht,  daß  Dekane,  die  der  Glorie  noch 
den  Doktorhut  aufstülpen  wollen,  und  Jourkoryphäen,  die  an 
Artilleriestellungen  ihre  Neugierde  befriedigen  möchten,  nicht  jene 
Botschaft  aus  dem  Hinterlande  bringen,  die  sie  zum  Dank  für  die 
Mühe,  es  zu  schützen,  von  dort  zu  empfangen  gehofft  haben.  Noch 
warten  wir  aber  auf  eine  von  ihnen,  die  uns  die  tröstende  Gewiß- 
heit brächte,  daß  sie  solche  Zumutungen  künftighin  mindestens  so 
mühelos  abweisen  werden  wie  den  Angriff  des  Gegners.  Von  einem 
Hinauswurf  der  Professoren  haben   wir   noch    nichts   vernommen. 


—  39  — 


Aber  die  günstige  Nachricht  sei  weitergegeben,  daß  die  Schalek  nicht 
überall  durchbrechen  konnte,  von  der  Südwestfront  zurückgeworfen 
wurde  und  daß  wenigstens  dieser  Teil  des  Kriegsschauplatzes  zu 
einer  unwirtlichen  Gegend  für  den  innern  Feind  geworden  ist, 
von  dem  uns  die  Abwehr  des  äußern  keineswegs  befreit  hat,  den 
aber  von  einem  bestimmten  Punkte  zu  verjagen  in  beispielgebender 
Weise  geglückt  scheint.  Die  Schalek  mußte  zurückgehen,  kein 
Unterstand  wurde  ihr  gewährt  und  nichts  zu  essen  gegeben.  Wir 
entbieten  den  tapferen  Offizieren  für  dieses  Vollbringen  unsern  Gruß 
wie  es  in  jener  Zeitung  heißt,  von  der  jetzt  wenigstens  das  Tot- 
schweigen einer  Front,  deren  Männer  nicht  imstande  waren,  der 
Schalek  ins  Auge  zu  sehen,  gern  zu  erwarten  ist.  Allen,  trotz 
allem  äußeren  Gelingen  Verzagten  sei  diese  Kunde  von  einer 
vorbildlichen  patriotischen  Tat  gebracht,  durch  die  es  mit  einem 
kühnen  Handstreich  geglückt  ist,  einmal  die  inneren  Grenzen  zu 
schützen.  Wie  schön  wäre  es,  wenn  sich  in  einer  Zeit,  die  für 
JVlitteilungen  gegenteiligen  Inhalts,  für  Interviews  u.  dgl.,  Rücksichten 
nicht  kennt,  kein  formales"^  Hindernis  gegen  die  Beglaubigung 
solcher  Nachricht  stellte.  Die  Verhüllung  hat  sonst  den  Sinn,  dem 
Gegner  nicht  mehr  zu  verraten  als  was  er  ohnedies  schon 
weiß.  Dem  Todfeind  sollte  mit  aller  Deutlichkeit  gesagt  werden 
können,  an  welchem  Punkt  er  keine  Aussicht  hat  vorwärts  zu 
kommen,  aber  die  Sicherheit,  mit  der  langen  Nase,  mit  der 
er  gekommen  ist,  abzuziehen.  Es  sollte  der  Gegenwart  gemeldet 
werden,  die  solches  noch  nicht  gehört  und  im  Glauben  an  eine 
Macht,  die  bis  zu  den  höchsten  Spitzen  der  Natur  und  der 
Gesellschaft  reichen  müsse,  allen  Mut  verloren  hat.  Es  werde  der 
Zukunft  verkündet,  die  uns  um  des  Beispiels  willen,  das  mutige 
Männer  auf  dem  vorgeschobenen  Posten  einer  verlorenen  Zeit 
gegeben  haben,  nicht  ganz  verwerfen  wird,  um  des  Vorzugs  willen, 
in  dem  tragischen  Karneval,  den  wir  uns  leisten  konnten,  doch 
einmal  für  einen   Augenblick   die  Besinnung  gefunden  zu  haben! 


—  40  — 


Notizen 


Ein  Brief  mit  Trauerrand,  namenlos  wie  sein  Schmerz. 
Hier  als  Epitaph  gesetzt,  bedeute  er,  daß  ich  den  Dank  der  Mutter 
zurückgebe  und  in  dem  einen  Unbekannten  aller  so  dem  Leben 
entrissenen  Jugend  Ehre  erbiete. 


16.  Mai  16 

Am  Abschlüsse  seiner  Universitätsstudien  rückte  unser 
Sohn  Josef  zum  Feldkanonenregiment  Nr.  30  ein. 

Er  war  der  Tüchtigsten  und  Bravsten  einer,  hieß  es. 

Am  29.  Februar  ereilte  ihn  sein  Schicksal.  Als  Fähnrich 
am  Beobachterstand  traf  ihn  die  feindliche  Kugel. 

Die  große  silberne  Tapferkeitsmedaille  sandte  man  seinen 
Eltern  zu,   deren  einziges  Kind  und  einziges  Glück  er  war. 

Er  selbst  ruht  in  Rarancze  neben  dem  Glockenturm  der 
hölzernen  Kirche,  und  sein  Grab  grünt  und  blüht. 

Karl  Kraus! 
Nimm  seinen  letzten  Gruß  entgegen! 

Du  hast  ihn  nicht  gekannt  und  doch  standest  Du  ihm 
am  Nächsten  in  der  Welt! 

Er  gehörte  zu  Deiner  Gemeinde  und  war  Dein  treuester 
Anhänger  und  Streiter.  Wie  liebte  er  dich!  Dein  Bild 
schmückt  sein  Zimmer.  Deine  Bücher  zieren  es.  Mit 
Menschen,  die  ihm  nicht  würdig  schienen,  vermied  er  es  von 
Dir  zu  sprechen;  ich  seine  Mutter  wußte,  was  Du  ihm  warst! 

Es  ist  mir  wie  ein  heiliges  Vermächtnis,  ich  mußte  Dir 
es  sagen,  denn  er  war  Deiner  nicht  unwürdig! 

Ich  blicke  auf  das  letzte  Bändchen  der  Fackel,  das  ich 
in  Händen  halte  —  ich  könnte  vergehen  vor  Schmerz  und 
Jammer,  daß  sein  Auge  nie  mehr  darauf  ruhen  wird,  und  daß 
dieser  edle  Jüngling  sterben  mußte  für  diese  Menschheit! 

Sein  letzter  Gruß,  sein  letzter  Dank  sei  Dir  Karl  Kraus 

geweiht  von  .        »«  ^ 

*  semer  Mutter, 


—  41 


Lieber  Fackel-Kraus! 
Man  sollte  jetzt  andere  Sorgen  haben,  aber  einmal  muß  ich  mir 
wo  Luft  machen.  So  oft  ich  das  humoristische  Wochenblatt  »S"  lustige 
Großwien«  in  die  Hand  nehme,  muß  ich  mich  ärgern  — 

Es  gibt  also  Menschen,  die  's  lustige  Großwien  in  die  Hand 
nehmen.  Es  sind  dieselben,  welche  den  »Fackelkraus«  kennen  und 
eine  briefliche  Ansprache  immerhin  riskieren  dürfen.  Der  so 
Angesprochene  ist  dazu  geschaffen,  daß  sie  sich  an  ihm  Luft 
machen  können.  Welch  eine  Luft!  Wenn  aber  die  über- 
wiegende Mehrzahl  meiner  Leser  ahnte,  wie  unerquicklich  mir 
die  Vorstellung  ist,  daß  sie  die  , Fackel'  in  die  Hand  nehmen,  sie 
würden  die  paar  Stunden,  die  sie  dem  , lustigen  Großwien'  dadurch 
entziehen,  bitter  bereuen.  Möge  die  unsägliche  Banalität,  die  noch 
immer  den  Postweg  betritt,  sich  vor  jedem  Versuch  dreimal  besinnen 
und  endlich  wissen,  daß  ich  kein  Herz  für  Abonnenten, 
treue,  aber  lästige  Leser  habe  und  deren  Abfall  jederzeit 
ihrer  Annäherung  vorziehe. 


Aus   dem  Feld 
Sehr  geehrter  Herr, 

Vor  Jahren  hörte  ich  Sie  in  Prag.  .  .  .  Das  Publikum  —  was  für 
ein  Publikum,  du  lieber  Gott  —  glaubte,  Sie  meinten  die  anderen, 
während  Sie  gerade  diese  meinten.  Es  jubelte  Ihnen  zu,  statt  Sie 
zu  lynchen. 

....  Lange  las  oder  hörte  ich  nichts  von  Ihnen. 

Bei  Kriegsausbruch  habe  auch  ich  wie  hypnotisiert  frohen  Herzens 
Frau  und  Heim  im  Stich  gelassen.  Wie  bald  fielen  mir  die  Schuppen 
von  den  Augen!  Und  als  ich  krank  zurückkam  und  das  Treiben  sah, 
da  hätte  ich  weinen  können  wie  ein  Kind.  .  .  . 

Dann  kam  mir  in  die  Hand,  was  Sie  seit  Kriegsbeginn  geschrieben 
haben.  Ich  hatte  geglaubt,  daß  mein  Skeptizismus  schon  den  ganzen  Betrug 
entlarvt  hätte.  Mit  brennenden  Wangen  mußte  ich  da  lesen,  wie  naiv 
ich  trotz  allem  noch  war,  und  oft  war  mir,  als  ob  ich  kassandra- 
gleich  meine  Blindheit  von  Ihnen  wieder  fordern  müßte. 

Und  diesmal  muß  ich  dankend  zu  Ihnen  kommen.  Weil  Sie  der 
einzige,  der  wahre  Held  sind,  der  Einzige,  der  diesen  Namen  wirklich 
verdient.  Als  Einziger,  ohne  äußeren  Zwang,  einer  Sturmfluth  trotzen, 
der  ganzen  Meute  von  Profit-  und  Ehren  Jägern  die  Stirn  bieten,  jeder 
Macht  ins  Gesicht  höhnen  und  mit  der  Stimme  eines  Menschen 
den    Orkan    der    Menschheit    überschreien    —    das    ist    ein    Bild,    so 


42 


ergreifend,  so  bewundernswert,  so  übermenschlich,  daß  ich  Ihnen  in 
tiefstem  Dank  die  Hand  drücken  muß.  Und  Sie  müssen  es  dulden,  ob 
ich  dessen  würdig  bin  oder  nicht.  In  wahrer  Verehrung 

ein   Offizier. 

Aus  dem  Hinterland 
Wer  ist  der  größte  Feigling?  Siel  Wer  ist  der  größte  Krakehler? 
Siel  Um  jeden  Preis  wollen  Sie  beachtet  werden,  aber  es  gelingt  Ihnen 
nicht,  weil  man  so  einen  Menschen  nicht  ernst  nimmt,  der  nur 
niederreißen  kann.  Das  lassen  Sie  sich  gesagt  sein  und  regen  Sie  sich 
nicht  auf,  daß  andere  verdienen.  In  jeder  Zeile  spürt  man  bei  Ihnen 
den  Neidl  Lernen  Sie  erst  schreiben,  wie  Hans  Müller,  dann  wird  man 
Sie  ernst  nehmen,  heute  sind  Sie  der  Niemand.  Mit  der  Ihnen  ge- 
bührenden Mißachtung 

ein  Patriot. 


Was  ist  denn  los?  Einer  ist  losl  Hinter  ihm  die  Menge.  Gellende 
Hilferufe  bringt  mir  die  Post.  Alle  Kuverts  enthalten  denselben 
Ausschnitt,  denselben  Ruf.  > Haben  Sie  den  »Serbischen  Frühling« 
in  der  , Mittagszeitung'  gelesen?  Und  das  wagt  man  uns  Wienern 
statt  eines  Mittagmahles  vorzusetzen!  Bitte,  nehmen  Sie  sich,  wie 
so  oft  schon,  unser  an!«  »Könnten  Sie  nicht  durchsetzen,  daß  für 
solche  Ausgeburten  einer  gigantischen  Schmockerei  endlich  doch 
die  Zuchthausstrafe  eingeführt  wird??<  »Betrachten  Sie  bitte  dieses 
Monstrum  von  Sprachschändung,  Gedankenarmut  und  Anmaßung! 
Es  kränkt  mich,  daß  ein  verhungerndes  Weib  abgestraft  wird,  wenn 
es  sich  ohne  Geld  Brot  verschafft  und  daß  es  gegen  derartige 
Verbrechen  keine  gesetzliche  Handhabe  gibt.  Alle  übrigen  Gedanken, 
die  ich  mir  dazu  mache,  sind  bewußte  und  unbewußte  Fackel zi täte!« 
»Wenn  Sie  es  nicht  waren,  der  den  neuen  Mann  erfunden  hat,  dann 
empfehle  ich  ihn  Ihrer  Beachtung!*  Zivilistenund  Offiziere,  alle  Berufe, 
Groß  und  Klein  schreien  durcheinander,  alles  ist  in  höchster  Erregung, 
gestikuliert,  winkt  mir.  Ja,  was  kann  denn  ich  dafür,  was  kann  denn 
ich  dagegen?  Brief  auf  Brief!  Genug,  oder  ich  renne  auf  und 
davon,  mit  jenem  Ungeheuer.  Der  hats  gut;  der  ist  nach  Serbien, 
die  , Mittagszeitung'  hat  es  schwarz  auf  weiß: 

Wir  veröffentlichen  hier  den  Beginn  der  Artikelserie  unseres 
serbischen  R.  M. -Korrespondenten: 

EineEbene  quillt  über  inChlorophillfontänen,  ballt  sich  klumpig 
in  Buschserien  zu  einem  blitzblauen  Himmel,  quirlt  sich  staudicht  in 
Haine  zusammen,  die  millionenhaft  weiße,  wohlriechende  Blüten  ab- 
schuppen; diese  Ebene  knäuelt  sich  förmlich  aus  einer  Tafel  Grün  zu 


43  — 


Formen,  die  dickgrünen  Segel  sanft  ansteigender  Laubwälder  sind  halb- 
schräg  vor  den  gleißenden  Horizont  gespannt.  Ist  es  Oberitalien,  von 
dem  Licht,  Duft,  Farbe  auf  die  Sinne  schnellen?  Es  ist  Nordserbien, 
Gegend  Wladenovac — Lazarevac.  Dunklere  Rauten  saftigen  Gebüsches 
säumen  Bäche,  weißgesogene  Landstraßen,  aus  denen  Kalkbrocken 
gleißen,  punktieren  Kastanienalleen  ins  hellere  Grün.  Dieses  Gebiet 
gleicht  den  Landschaften  jungwiener  Maler,  ihrem  Gesicht  von  Italien.  Seine 
dickversponnene  Grüne,  seine  knorrige  Saftigkeit,  seine  überschüssig 
wachsende  Gartenenergie  unter  dem  blau  erhitzten  Metall  des  Gewölbes 

muten  wie  Frühlingserde  der  Poebcne  an  — 

Es  ist  mir  nicht  gegeben,  zu  sehen  ohne  zu  denken, 
zu  beobachten  ohne  sinnvoll  zu  organisieren,  und  sei's  mit 
einem  Kommando,  mit  einer  letzten,  höchsten  metaphysischen 
Art  von  Initiative.  Ich  bin  ein  Deutscher.  .  .  .  Alle  Künstler 
sind  Deutsche.  Ich  käme  mir  grundschlecht  vor,  verlogen  im 
höheren  Begriff,  wollte  ich  nur  beschreiben  und  nicht  ordnend 
folgern. .  .  . 

Er  ist  tatsächlich,  so  sonderbar  das  klingt,  ein  Ooi.  Aber 
tüchtig.  Es  ist  niemand  anderer  als  der  Prophet,  dessen  Plan,  eine 
»Isonzobibel«  zu  fördern,  hier  jüngst  gewürdigt  wurde.  Vorläufig 
ist  er  unser  serbischer  R.  M.-Korrespondent  und  heißt  —  also 
damit  man  es  endlich  weiß  und  die  arme  Seele  selbst  eine  Ruh 
hat  —  Müller.  Alle  bessern  Federn  heißen  jetzt  so.  Ein  Geriß 
ist  um  den  Namen.  Schlichtheit,  Gesundheit,  anspruchslose  Fröh- 
lichkeit, mit  einem  Wort  Deutschheit,  können  keine  bessere  Wahl 
empfehlen.  Man  liest  Müller  und  ist  beruhigt.  Ich  bin  ein  Müller  — 
alle  Künstler  sind  Müller.  >Wir  sind  Frontleute«;  aber  man  hat  ihn 
nach  Serbien  geschickt,  zu  beschreiben,  nämlich  zu  organisieren. 
Ein  wackerer  Geselle,  hei.  Spezial-Wanderbursche  der  Mittags- 
zeitung. Wie  sich  doch  diese  deutsche  Welt  vereinfacht  hat,  seitdem 
des  Müllers  Lust  auch  das  Schreiben  ist !  .  .  .  Aber  jetzt,  da  man  es 
weiß,  soll  man  kein  Aufsehen  machen,  auf  das  Schlimmste 
gefaßt  sein  und  mich  nicht  mehr  sekkieren. 


Vorlesung  in  Zürich,  Schwurgerichtssaal,  am  4.  Mai: 
I.  Kierkegaard  und  die  Journalisten  /  >Nachts<  /  Der  kleine 
Brockhaus  /  Beim  Anblick  eines  sonderbaren  Plakates  /  >Nachts«  / 
Endlich I  /  > Drückeberger  in  Frankreich«  usw.  /  Kriegsnamen  /  >Nachts«  / 
Kriegsberichterstatter  /  Grabschrift  /  »Nachts<  /  Elegie  auf  den  Tod 
eines  Lautes.  II.  Shakespeare  und  die  Berliner  /  Timon  von 
Athen  (aus  1.  2.  und  3.  Akt).  III.  Gebet  an  die  Sonne  von  Gibeon. 
Der  ganze  Ertrag  wurde  dem  Schweizerischen  Roten  Kkuz  zugeführt. 


44  — 


.Neue  Züricher  Zeitung',  Vorbesprechungen  vom  30.  April  und 
4.  Mai;  Feuilletons:  »Karl  Kraus<  von  Hans  Adler  am  3.  und 
>Karl  Kraus-Abend«  von  E.  K.  am  6.  Mai. 

Aus  diesem  (gleich  den  anderen  Nummern)  nicht  nach  Österreich 
gelangten  Aufsatz: 

Karl  Kraus  rennt  auf  das  Podium,  und  sofort  schwirren 
Schwerter  und  Messer  in  der  Luft.  Auf  welche  Seite  stellt  er  sich  im 
Kriege?  Welche  Frage!  Nicht  auf  die  Seite  aller  Deutschsprechenden, 
aber  auf  die  Seite  der  deutschen  Sprache,  die  sich  bei  jedem  Wort 
ihre  Sache  denkt.  Höre  man,  wie  er  ohne  die  Zugabe  eines  eigenen 
Wortes  etwa  folgendes  sagt:  >Pater  noster«  heißt  ein  Liftaufzug, 
»Bethlehem«  ist  ein  Ort  in  Amerika,  in  dem  sich  eine  Munitionsfabrik 
befindet.  Man  hört  es  an  wie  eine  Begriffsdämmerung.  Der  Irrsinn, 
nicht  der  Sprache,  aber  der  Sprache  der  Zeit,  ist  erkannt:  Er  stellt  die 
zwei  in  ewiger  Verwechslung  lebenden  Wörter  »Der  Schild«  und  »Das 
Schild«  als  Verbindung  von  Merkur  und  Mars  vor.  Oder  er  legt  den 
verdächtigen  Bedeutungswandel  des  aktuellen  Worlinhaltes,  »Die  Vor- 
stellung«, bloß,  und  es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  unser  Ohr  in  einer 
Abendstunde  von  einem  ungeheuren  Verdachte  gegen  die  Worte  unserer 
Zeit  beängstigt  wird,  weil  hier  Wesen  und  Surrogat  des  Wortes  wie 
Wasser  und  Öl  sich  scheiden.  Philologie  mit  innerem  Herzton,  Kultur- 
philosophie mit  Gewissen,  Erkenntnis  mit  leidenschaftlicher  Beziehung 
zum  Leben,  das  die  Larven  wenn  nicht  ablegen,  so  doch  eingestehen 
sollte.  Aber  auch  über  die  Akustik  des  einmal  geprägten  Wortes  sagte 
der  Abend  im  Schwurgerichtssaal  Entscheidendes.  Das  geschriebene 
Wort  bei  Karl  Kraus  hat  Zeilen,  die  »wie  Augenlider  sind  und  zwischen 
ihnen  ein  Gesicht«.  Die  Worte  schreien  nach  ihrem  Schöpfer,  er  allein 
gibt  ihnen  mündlich  die  rhythmische  und  tonale  Beglaubigung,  die  sie  als 
»Drucksache«  nicht  haben.  Ich  verweise  auf  seine  »Worte  in  Versen« 
(der  letzte  Gedicht-Band  von  Karl  Kraus,  Leipzig  1916)  und  wage  zu 
zweifeln,  ob  viele  seiner  Zuhörer  den  Übergang  aus  der  Rede  in  den 
Vers  (Kriegsberichterstalter«)  entdeckt  hätten.  Von  der  Gewalt  seines 
leidenschaftlichen  Vortrags  bleiben  gewisse  Sätze  haften,  man  hat  sozusagen 
als  Mitbetroffener  eine  Beule  von  ihnen  bekommen,  z.  B.:  »Es  handelt 
sich  in  diesem  Krieg  .  .  .«  «Jawohl,  es  handelt  sich  in  diesem  Krieg!« 
Unvergessen  wird  -das  Kulturbild  sein,  in  dem  er  die  erschreckende 
Zweideutigkeit  zeigt,  mit  der  Kultur-  und  Kriegssymbole  zur  Einheit 
verschmolzen  werden.  Er  stellt  uns  ein  Plakat  vor  Augen  für  Mozarts 
Requiem :  —  —  — 

Vor  seiner  Shakespeare-Vorlesung  legte  Kraus  noch  einen  Kiesel- 
stein auf  seine  Davidsschleuder,  der  galt  den  Shakespeare  feiernden 
Berlinern:  »Die  Berliner  allein  sind  würdig,  Shakespeare  zu  feiern; 
wenn  sie  ihn  aufführen,  ist  er  zum  dreihundertstenmal  gestorben.« 
Dann  nahm  sich  Karl  Kraus  des  der  Bühne  fremden,  von  Fragezeichen 
umstellten  Shakespeare-Stückes  »Timon  von  Athen«  an:  Die  Geschichte 
von  Timon  Misanthropos,  in  der  Karl  Kraus,  groß,  überschwenglich 
groß  in  der  Haßgebärde,  mit  dem  Verbitterten  eins  wird,  vor  dem  sich 


—  45  — 


die  Freunde  als  falsches  Gold  erweisen.  Die  Meisterschaft  seines  Vortrags 
schreitet  hier  weit  über  den  Bereich  des  Schauspielers,  weil  er  nicht 
»Rollen<  sieht,  sondern  den  tiefen  menschlichen  Zusammenhang.  Bei 
der  Rede  des  Timon,  in  der  die  Lügenbrut  der  Freunde  statt  des 
lockenden  Gelages  nur  Schüsseln  mit  warmem  Wasser  erhält,  lodern  alle 
Haßbrände  auf,  und  man  merkt  den  Widerspruch  kaum,  daß  Timon 
ihnen  die  Schüsseln  und  das  heiße  Wasser  nachwirft,  ein  Edelmann 
aber  wimmert:  »Juwelen  schenkt'  er  gestern  uns,  heut  wirft  er  uns  mit 
Steinen.«  In  der  neuen  Shakespeare-Ausgabe  von  Wolfgang  Keller  erklärt 
der  Herausgeber  mit  einer  andern  Vorlage  des  Stoffes  »die  Steine«, 
indem  dort  Timon  den  Freunden  wie  Artischocken  bemalte  Kieselsteine 
vorsetzt.  Sicher  hat  der  Vortrag  von  Kraus  beides  in  seinen  Schüsseln : 
die  heiße  Glut  und  den  Stein  der  Satire. 

Mit  Sören  Kierkegaards  Brandwort  über  Journalisten  begann  er 
den  Freitagabend  im  Schwurgerichtssaal,  mit  Shakespeare  schloß  er  ihn. 
Er  dulde  keine  Götter  neben  sich,  sagen  solche,  die  Kraus  in  Ruhestand 
versetzte.  Wer  ihn  hörte,  kam  der  Wahrheit  näher  und  wird  diesen 
Meister  des  Wortes  und  seines  Klanges,  diesen  Rüttler  und  Schüttler  nicht 
aus  dem  Auge,  besser,  nicht  aus  dem  Gewissen  verlieren.  (Folgen  Zitate.) 

Der  Widerspruch  zwischen  der  Wassersuppe  und  den  Steinen 
im  Gastmahl  des  Timon  (der  der  Erklärung  »wie  Artischocken 
bemalte  Kieselsteine«  nicht  bedarf,  da  er  wohl  durch  den  rein  meta- 
phorischen Sinn  der  >Steine«  aufgehoben  ist,  und  dessen  der 
Züricher  Hörer  schon  darum  nicht  inne  werden  konnte,  weil  ich 
die  Gespräche  der  Lords  nach  Timons  Abgang  nicht  mehr  gesprochen 
habe)  findet  ein  greifbareres  Pendant  in  einem  lustigeren  Gastmahl, 
das  jetzt  zum  Beweis  der  Tatsache,  »daß  schon  vor  hundert  Jahren 
Lebensmittel  zurückgehalten  wurden«,  herangezogen  wird: 

Gustav  Parthey  erzählt  in  seinen  »Jugenderinnerungen«  ein 
lustiges  Geschichtchen  von  der  »Steinsuppe«,  die  zwei  Reisende  aus 
einem  Dutzend  sauber  gewaschener  Bachkiesel  von  der  Wirtin  zurichten 
ließen,  als  diese  hartnäckig  bei  der  Versicherung  blieb,  sie  habe  kein 
Essen.  Aber  sie  wurde  doch  neugierig,  ob  die  Steine  weich  werden 
könnten,  als  die  Reisenden  anordneten,  sie  müßten  zunächst  in 
Wasser  gekocht  werden.  Als  das  nichts  half,  wurde  Salz  und  etwas 
Butter  hinzugesetzt.  Dann  forderten  die  klugen  Leutchen  einige  Eier; 
nachdem  auch  diese  eingeschlagen  waren,  wurde  etwas  Petersilie  und 
gehörig  Brot  hinzugetan.  Endlich  folgte  etwas  Mehl.  Nun  begannen  die 
Reisenden  die  Steinsuppe,  die  nach  und  nach  genießbar  und  recht 
nahrhaft  geworden  war,  mit  großem  Appetit  zu  verzehren.  Wirt  und 
Wirtin  sahen  mit  Erstaunen  zu,  bemerkten  aber  dann,  daß  die  Steine 
übrigblieben.  Als  sie  nun  äußerten:  >Aber  ihr  eßt  ja  die  Steine  doch 
nicht!«,  erfolgte  prompt  die  Antwort:  »Die  sind  wieder  hart  geworden; 
wenn  ihr  sie  aber  essen  wollt,  so  müßt  ihr  sie  morgen  noch  einmal 
aufkochen!« 


46  — 


In  der  Übersetzung  der  Dorothea  Tieck  findet  sich  keine 
Andeutung,  daß  die  »Schüsseln  voll  warmen  Wassers«  eine  Stein- 
suppe ohne  genießbaren  Zusatz  enthalten  hätten,  wiewohl  freilich 
die  Verszeile,  die  vor:  ».  .  .  heut  wirft  er  uns  mit  Steinen«  steht, 
die  Worte  hat:  »Lord  Timon  rast.«  —  >Ich  fühl's  in  den  Gebeinen.« 
Aber  die  szenische  Anmerkung:  >Er  wirft  ihnen  die  Schüsseln 
nach  . .  .«  erklärt  dieses  Gefühl  hinreichend. 


Aus  der  Schrift  »Eine  frohe  Botschaft  für  alle,  die  das  Leid 
der  Menschheit  fühlen,  das  in  dem  Grauen  des  Weltkrieges  offenbar 
geworden  ist«  (anonym,  Wien  1915,  Kommissionverlag  Andreas  Pichl), 
S.  23  und  24: 

.  .  .  Ich  kann  nicht  vergleichen,  aber  ich  weiß,  daß  das  Leid 
ungeheuer  ist,  ungeheuer  der  Abstand  des  Menschen  von  dem,  was  er 
sein  kann,  seine  Abwendung  von  Gott.  Ich  will  hier  einige  Propheten 
unserer  Zeit  nennen,  in  deren  Werken  der  Verfall  des  alten  Lebenslcreises 
sich  abbildet.  Der  Verfall  findet  einen  großen  Bildner  in  dem  Satiriker 
Karl  Kraus.  Nun  ist  dieses  einer  der  Wege  des  Menschen  und 
vielleicht  neigt  gerade  der  Künstler  leicht  dahin :  Indem  der  Mensch 
sich  vom  Stoffe  losreißt  und  zum  Ursprung  zurückgeht,  läßt  sein  letztes 
Haften  an  der  Sinnlichkeit  ihn  das  Bild  Gottes,  welches  er  im  Innern 
trägt,  im  Äußern,  in  der  Offenbarung  als  ein  vollkommenes  suchen,  wo 
nicht  Vollkommenheit  ist,  in  den  andern  nicht  wie  in  ihm  nicht.  Er 
sucht  und  glaubt  und  liebt  Gott  im  Menschen.  Furchtbares  Erwachen. 
Gott,  wo  bist  du?  Aber  dennoch,  er  weiß  noch  nicht,  daß  es  auch  bei 
den  andern  im  Inrern  ist,  hinter  vielen  Hüllen  unverändert  strahlt,  und 
neigt  dazu,  nur  die  Hüllen  des  Göttlichen  zu  sehen,  und  deren  sind 
in  unserer  Zeit  viele.  Das  besondere  Hervortreten  vielleicht  einer  solchen 
Wesensart  in  Karl  Kraus  bannt  sein  Sehen  —  diese  Erscheinung  selbst 
ein  Zeichen  der  Zeit  —  in  ein  Rund  hoffnungsloser  Verwesung.  »Der 
Satiriker  steht  am  Ende  einer  Entwicklung,  die  sich  der  Kunst  versagt. 
Er  ist  ihr  Produkt  und  ihr  hoffnungsloses  Gegenteil.  Er  organisiert  die 
Flucht  des  Geistes  vor  der  Menschheit,  er  ist  die  Rückwärtskonzentrierung. 
Nach  ihm  die  Sintfluth.«  (»Neslroy  und  die  Nachwelt».  1912)  »Die  Dinge 
haben  eine  Entwicklung  genommen,  für  die  in  historisch  feststellbaren 
Epochen  kein  Beispiel  ist.«  (»Sprüche  und  Widersprüche«,  S.  93.  Verlag 
Langen.  1909)  Der  Gedanke  des  Unterganges  unserer  geistigen  Welt  ist 
der  bewegende  Mittelpunkt  von  Karl  Kraus.  Andere  Propheten  unserer 
Zeit,  Menschen,  in  welche  die  geistigen  Kräfte  mit  großer  Macht  eintreten 
und  in  denen  die  Zeit  ihre  Schlachten  schlägt,  sind  Strindberg,  Tolstoi, 
der  englische  Schriftsteller  Carpenter,  Jörg  von  Lanz-Liebenfels.  .  .  . 


—  47  — 

Am  24.  Mai  im  Kleinen  Konzerthaussaal:  zur  Feier  von 
Shakespeares  300.  Todestag  eine  Vorlesung  der  >Lustigen  Weiber 
von  Windsor«,  aus  der  Übersetzung  von  Wolf  Heinrich  Graf 
Baudissin  (Schlegel-Tiecksche  Ausgabe).  —  Die  Kürzung  betraf  nur 
etliche  Sätze  in  den  meisten  Szenen  sowie  die  kleine  zweite  Szene 
des  ersten  und  die  zweite  Szene  des  dritten  Aktes.  Nach  dem 
zweiten  und  dem  dritten:  Vorhang  und  Pausen,  in  denen  — 
wie  auch  vor  dem  ersten  Aufgehen  des  Vorhangs  —  hinter  der  Szene 
die  Musik  von  Nicolai  gespielt  wurde  (Klavier:  Herr  Egon  Kornauth). 

Der  gesamte  Ertrag  ist  den  Gefangenen  in  Beresowka 
(Transbaikal)  zugewendet  worden. 

Das  Programm  enthielt  außer  dem  Personenverzeichnis  den 
olgenden  Text: 

Das  Werk  ist  im  Burgtheater  zum  ersten  Mal  gespielt  worden 
>zum  Vorteile  des  k.  k.  Hofschauspielers  und  Regisseurs  Josef 
Koberwein  bei  seinem  Abschied  von  der  Bühne«  am  16.  Dezember  1846; 
wiederholt:  am  17.,  20.,  27.  Dezember,  am  6.  Jänner  1847,  am  14. 
und  21.  Jänner  1849.  Von  da  an  erscheint  es  nicht  mehr  im 
Repertoire,  wiewohl  es  seit  den  Tagen,  da  Falstaff  La  Roche, 
Fluth  Löwe,  Page  Anschütz,  der  Wirt  Koberwein  und  Beckmann 
waren,  das  echteste  Burgtheaterstück  geblieben  ist,  so  dort  einge- 
pflanzt, daß  der  Vorleser  sich  an  die  Aufführung  mit  Baumeister, 
Hartmann,  Lewinsky  und  Gabillon,  des  weiteren  mit  Thimig, 
Arnsburg,  Schöne  und  den  Damen  Gabillon,  Mitterwurzer  und  Helene 
Hartmann  erinnert,  ohne  sie  nachweisen  zu  können,  und  die  Lust 
nicht  bereut,  ein  fernes  Echo  solcher  Stimmen  manchmal  anklingen 
zu  lassen.  Warum  diese  Krönung  des  Falstaff-Humors,  aus  der  königs-  "' 
dramatischen  Episode  zur  Bühnenfülle  eines  tragischen  Hanswurstes, 
warum  diese  vollkommene  Heiterkeit  der  Fluth-Szenen  mit  ihrem 
gewendeten  Othello-Pathos  der  letzten  Schauspielergeneration  ent- 
gehen mußte,  ist  unbegreiflich.  Das  Publikum,  das  wohl  schon 
damals  sein  heutiges  Burgtheater,  welches  Shakespeare-Aufführungen 
aus  Takt  unterläßt,  verdient  hat,  scheint  hier  dem  Besten,  was 
seine  Bühne  geben  konnte,  sich  ebenso  gesperrt  zu  haben  wie 
vor  dem  durchgefallenen  Gogol'schen  > Revisor«.  Angesichts  der  red- 
lichen Unzulänglichkeit  des  neuesten  Burgtheaters  und  der  un- 
redlichen jenes  Berliner  Managers  möchte  es  die  Stimme  des  Vorlesers 
verlocken,  ein  dekorationsfreies  Shakespeare-Theater   ins  Leben  zu 


—  48  — 


rufen,  auf  dem  alle  Organe,  die  uns  einst  so  viel  zu  sagen  hatten, 
wieder  lebendig  würden,  wobei  sie  dem  Verdachte  varietehaft 
äußerlicher  Nachbildung  einer  Vielheit  wohl  zu  entgehen  wüßte. 
Sie  würde  es  sich  zutrauen,  Vorstellungen  von  Werken  wie  Lear, 
Macbeth,  Wintermärchen,  Die  Widerspenstige  mit  einer  bis 
in  die  kleinsten  Rollen  bewahrten  Treue  so  nachzugestalten, 
daß  ein  geschlossenes  Auge  und  ein  offenes  Ohr  der  Zeugen 
jener  lebendigen  Herrlichkeit  nicht  mehr  den  Apparat  vermißte, 
der  heute  für  das  offene  Auge  und  das  geschlossene  Ohr  seine 
toten  Wunder  verrichtet.  Ein  so  rekonstruiertes  älteres  Burgtheater, 
freilich  ohne  Stammsitze  für  die  Kritik,  wäre  vielleicht  wichtiger  als 
ein  Phonograph,  der  die  Stimmen  der  heutigen  Schauspieler  für 
die  Nachwelt  aufbewahrt,  und  geeignet,  diese  schnell  noch  etwas 
profitieren  zu  lassen,  wenn's  ihnen  gestattet  wäre,  zu  hören 
statt  zu  sprechen.  Der  heutige  Versuch,  dem,  weil  denn  die  Zeit 
andere,  schwerere  Aufgaben  vom  Organ  des  Vorlesers  verlangt, 
vermutlich  doch  keine  weiteren, folgen  werden,  will  sich  —  ohne 
Konsequenz  —  mit  der  Markierung  von  Stimmen  begnügen, 
die  eben  nie  an  der  Darstellung  der  »Lustigen  Weiber  von 
Windsor«  beteiligt  waren.  Er  findet  seine  Rechtfertigung  in  der 
Gewißheit,  daß  Menschheitstypen  von  der  Zeit  her,  wo  »der 
Spiegel  und  die  abgekürzte  Chronik  des  Zeitalters«  noch  Besseres 
auszusagen    hatte,   an   die  Burgtheaterstimmen   gebunden    bleiben. 

(Wo  im  Text  des  Programms  von  >der  redlichen  Unzulänglichkeit 
des  neuesten  Burgthealers  und  der  schwindelhaften  jenes  Berliner 
Managers«  die  Rede  war,  ist  jetzt  >unredlichen«  gesetzt,  weil  das 
stärker  ist.  Ein  JVlanager  ist  eo  ipso  ein  Schwindler.) 


Der  Versuch  ist  durchaus  gelungen.  Ein  Wiener  Schauspieler 
soll  ihm  beigewohnt  haben.  In  einer  Züricher  Kritik  war  einmal  — 
siehe  Nr.  395/96/97  —  zu  lesen: 

.  .  .  Ein  Wiener  Bühnenkünstler  erzählte  mir  vor  einiger  Zeit,  die 
Schauspieler  besuchten  die  Vortragsabende  von  Kraus  in  Wien  aus  eigent- 
lichem Fachinteresse.  Dieser  lesende  Publizist  kann  wirklich  einen 
Schauspieler  lehren  .... 

Der  Wiener  Bühnenkünstler  sollte  sich  bei  Zusicherung 
voller  Straflosigkeit  melden  und  mit  ihm  die  Kollegen,  die  er  etwa 
gemeint  hat.    Der  Pfarrer,   den  ein  Komödiant  lehren  könnte,  hat 


—  49 


die  Aufsichtsbehörde  nicht  zu  fürchten.  Dem  Schauspieler  aber 
genügt  es  nicht,  daß  man  ihm  garantiert,  die  in  meinen  Vorlesungen 
nicht  anwesende  Presse  werde  seine  Anwesenheit  nicht  bemerken 
und  darum  nicht  übelnehmen.  Er  fürchtet  selbst  die  Kritik,  die 
nicht  ihn  betrifft,  sondern  einen  andern  ignoriert.  Diese  Erscheinung 
sei  nur  zur  Darstellung  des  Gesamtzustands  und  zur  Berichtigung 
der  dazu  gehörigen  Verlogenheit  festgestellt,  keinesfalls  beklagt. 
Im  Gegenteil :  das  Glück,  dort  wo  man  das  Malheur  hat  zu  leben, 
wenigstens  einen  pressereinen  Saal  zu  haben,  wäre  nicht  voll- 
ständig, wenn  die  Vertreter  eines  von  Preßfurcht  niedergehaltenen 
Standes,  dessen  Befreiung  ja  in  den  paar  Stunden  nicht 
möglich  ist,  fortwährend  zur  Tür  blickend,  ob  nicht  doch  ein 
Aufseher  komme,  im  Saal  vorhanden  wären  und  die  einheitliche 
Stimmung  durch  die  Sorge  zerrissen  würde,  was  der  Löwy  sagen 
wird,  wenn  er  erfährt.  Um  aber  den  armen  Teufeln,  denen  so 
oft  gesagt  wird,  sie  könnten  bei  meinen  Vorlesungen  etwas  lernen, 
das  Leben  zu  erleichtern,  wäre  ein  bühnengenossenschaftlicher 
Entschluß  wünschenswert,  der  ihnen  den  Besuch  meiner  Vor- 
lesungen aus  Rücksicht  auf  die  durch  die  obige  Erklärung  verletzte 
Standesehre  einfach  verbietet. 


Und  um  ihnen  auch  die  beruflichen  Anstrengungen  tunlichst 
zu  erleichtern,  wie  auch  den  Inhabern  der  Geschäfte,  in  denen  sie 
tätig  sind,  jeden  kostspieligen  Aufwand  an  Dekorationen  und  Kostümen 
zu  ersparen,  zu  dem  sie  sich  mangels  der  Fähigkeit,  den  Geist  in 
Szene  zu  setzen  und  durch  das  Wort  Illusionen  zu  schaffen,  doch 
immer  wieder  bemüßigt  fühlen,  werde  ich  in  ihrer  nächsten  Saison, 
wenn  anders  die  andere  Arbeit  es  gestattet,  meine  Shakespeare-Bühne 
einrichten  und  nebst  einer  Wiederholung  der  »Lustigen  Weiber  von 
Windsor«  >Viel  Lärm  um  nichts«  (was  aber  keine  spezielle  Absicht 
gegen  den  Ruhm  des  Herrn  Wüllner  bedeuten  wird),  »Lear«, 
»Der  Widerspenstigen  Zähmung«  (worauf  allerdings  die  Frau  Niese 
Shakespeare  Ruhe  geben  wird),  den  >Sturm«,  »Macbeth«,  »Timon«, 
»Cymbelinc«,  >Wintermärchen«,  >Sommernachtstraum«  —  zu 
wohltätigem  Zweck  nach  außen  und  innen  —  in  mein  Repertoire 
aufnehmen. 


50 


Vorlesung  im  Kleinen  Konzerthaussaal,  12.  Mai: 
I.  Ein  Irrsinniger  auf  dem  Einspännergaul /AusLuther  (Vom  Geschütz) 
Der  Aufstieg  der  Seele  durchs  Jahrhundert:  Jean  Paul's  Schluß  aus 
dem  »Kampaner  Thal«  —  Wie  ein  König,  mit  Bomben  beladen,  wie 
ein  Gott!  /  Die  chinesische  Mauer.  11.  Die  Kinder  der  Zeit  /  Beim 
Anblick  einer  Schwangeren  /  >Nachts«  /  Vor  einem  Springbrunnen  , 
Beim  Anblick  eines  sonderbaren  Plakates  /  »Nachts«'  /  Gedankenleser  ' 
Es  ist  vorgesorgt  /  Zur  Darnachachtung  /  > Drückeberger  in  Frankreich« 
u.  s.  w.  /  Bei  uns  ist  es  so! /Zum  ewigen  Gedächtnis  (Zwei  Züge). 
111.  Gebet  an  die  Sonne  von  Gibeon. 

Ein  Teil   des    Ertrages   wurde  der  Kinder-Schutz-   und   Rettungs- 
Gesellschaft  zugewendet. 


Der  »Aufschwung  der  Seele  durchs  Jahrhundert«  war  mit  den 
Worten  eingeleitet: 

»Nun  wollen  wir  den  Weg  mitmachen,  den  die  deutsche  Seele 
durchs  Jahrhundert  genommen  hat,  von  den  Tagen,  als  Jean  Paul  die 
erhabenen  Sätze  über  den  Aufstieg  einer  Montgolfiere  schrieb,  bis  zu 
dem,  was  heute  zu  lesen  ist  —  — « 

»Zum  ewigen  Gedächtnis  (Zwei  Züge)«,  absatzweise  durcheinander 
gelesen,  war  eingeleitet: 

»Jetzt  folgen  zwei  Zeitungsberichte,  die  so  entsetzlich  sind,  daß 
nichts  übrig  bleibt,  als  aus  dem  einen  in  den  andern  zu  entfliehen < 


Ein  Druckfehler,  nicht  etwa  Jargon-Absicht,  ist  das  in  Nr.  423—425. 
S.  8  des  Dialogs,  12.  Z.,  in  einem  kleinen  Teil  der  Auflage  enthaltene 
Wort:   »fünzigmal«. 


In  einer  Zeit,  die  so  groß  ist,  daß  der  Ausdruck  »Vor- 
stellungen nehmen <  nur  in  Armeeberichten  vorkommt,  mag  es  frivol 
sein,  darzutun,  daß  man  zu  einer  Befassung  mit  solchen  Problemen 
in  einem  viel  niedrigeren  Sinne,  also  zu  Wortkämpfen  Zeit  hat.  Da 
man  aber  sogar  Lust  dazu  hat  und  genug  Mut,  solche  Betätigung 
für  die  letztlich  wichtigere  zu  halten,  so  findet  hier  dieser  Briefwechsel 
zwischen  einem  Leser  und  einem  Freunde  Platz,  dessen  Inhalt  in 
eben  solchem  Kontrast  zum  großen  Lärm  steht,  wie  jenes  Echo, 
dessen  Studium  er  betrifft;  wie  jedes  Eriebnis  und  Geheimnis, 
das  Sprache  und  Natur  der  lauten  Welt  vergebens  anbieten: 


51 


Wien,  3.  Mai   1916 

Ich  las  eben  —  zum  wievielten  Male?!  —  Ihr  Gedicht  »Abschied 
und  Wiederkehr«,  in  dem  Ihnen  das  Wunder  geglückt  ist,  dem  tiefsten 
Mysterium  dichterische  Unmittelbarkeit  zu  verleihen.  Und  wieder  ver- 
mochte ich  mit  der  14.  Zeile  der  Legende:  »er  rief  mich  aller  Wände 
aus  dem  All.«  —  im  besonderen  mit  den  beiden  unterstrichenen  Worten 
—  keinerlei  Sinn  zu  verbinden.  Das  für  mich  Qualvolle  der  Vorstellung, 
Sie,  den  ich  als  das  größte  lebende  Genie  der  Sprache  und  als  Künstler 
von  peinlichster  Redlichkeit  im  Ausdruck  schätzen  darf,  hätten  zwei 
Worte  ohne  eignen  Sinn,  nur  dem  Rhythmus  zuliebe,  hingesetzt,  hat 
sich  nunmehr  zur  Unerträglichkeit  soweit  gesteigert,  daß  ich  mich  nicht 
mehr  enthalten  konnte,  Sie  selbst  darüber  zu  befragen,  obgleich  Ich  mir 
der  darin  liegenden  anmaßenden  Unbescheidenheit  wohl  bewußt  bin. 
Ich  hoffe  aber  sehr,  daß  Sie  diese  Anfrage  nur  als  die  Gewissenssache 
auffassen  werden,  die  sie  mir  ist,  und  als  solche  entschuldigen.  Ver- 
zeihen Sie  bitte  die  Belästigung  und  gestatten  Sie  mir  den  Ausdruck 
höchster  Verehrung.  .  .  . 


Wien,  am   12.  Mai   1916> 


Sehr  geehrter  Herr! 


Herr  K.  K.  hat  mir  Ihren  Brief  gezeigt,  worin  Sie  um  eine 
Aufklärung  in  Bezug  auf  einen  Vers  seines  Gedichtes  »Legende« 
ersuchen.  Da  es  ihm,  ich  möchte  fast  sagen,  unschicklich  erscheint 
mit  einem  einzelnen  Leser  über  eine  eigene  Arbeit  privat  zu  korrespondieren, 
so  habe  ich  mich  bereit  erklärt,  Ihr  Schreiben  an  seiner  Stelle  zu 
beantworten,  zumal  der  Ernst  und  der  gute  Wille,  mit  dem  Sie  der 
scheinbaren  Unklaiheit  beizukommnn  suchten,  deutlich  in  Ihrem  Briefe 
zum  Ausdruck  kommt  und  wie  ich  Ihnen  versichern  kann,  von  Herrn 
K.  K.  dankbar  gewürdigt  wird. 

Es  ist  schade,  daß  dieser  eine  Vers  Ihnen  so  bedeutende 
Schwierigkeiten  gemacht  hat,  da  Sie,  wie  aus  dem  Schreiben  hervorgeht, 
die  Idee  und  die  Perspektive  des  Ganzen  wohl  erfaßt  haben.  Es  wäre 
doch  so  leicht  gewesen,  an  die  Wendungen  >aller  Orient,  »aller  Wege«, 
»aller  Enden«,  anzuknüpfen.  Von  da  ergibt  sich  dann  mühelos  Folgendes: 

Der  Schall,  der  ein  Ruf  aus  dem  All  ist,  rief  mich  von  allen 
Wänden,  die  das  Leben  mir  entgegengestellt.  Diese  Wände  aber  bieten 
tiefste  Entschädigung  durch  ihre  Echofähigkeit,  denn  überall  empfange 
ich  den  Schall.  So  daß  selbst  der  Lebensverlust  (Wände,  Schranken) 
zum  fördernden  Element  wird.  Die  grammatische  Erlaubnis,  gleich 
>aller  Orten«  u.  Ä.  »aller  Wände«  zu  setzen,  eine  Art  Lokativ,  ist 
sicher  gegeben.  Die  gedankliche  Überwertigkeit  der  »Wände«  vor  der 
farblosen  Ortsbestimmung  »Orten«  bedarf  keines  Hinweises.  Man  beachte 
überdies,  daß  durch  diese  Wortwahl  die  Unheimlichkeit  des  Begriffes 
»Wand«  zugleich  gesetzt  und  aufgelöst  wird.  Die  Assonanz  aller  und  All 
erhebt  die  plötzlich  hergestellte  Identität  der  Wandwelt  und  der  AUweU 


—  52 


vollends  zur  Gestalt,  die  Stelle  ist  also  gerade  eine  der  wichtigsten, 
sie  ist  organische  Einheit  von  Gedanke,  äußerem  Sinn  und  Klang- 
wirkung, die  wahre  Plastik  des  Schallmotivs.  Ihre  Befürchtung,  daß 
hier  etwas  zur  äußeren  Ausfüllung  des  Verses  so  beiläufig  gesetzt 
wate,  ist  grundlos. 

Ich  hoffe,  Sie  durch  meinen  Interpretationsversuch  auf  die  richtige 
Spur  gebracht  zu  haben,  und  bitte  die  dargelegte  Auffassung  als  mit  der 
des  Autors  übereinstimmend  zur  Kenntnis  nehmen  zu  wollen.  Da 
aber  gerade  diese  Auseinandersetzung  die  an  einem  Vers  zu  leistende 
Arbeit  beweisen  kann,  so  ist  es  nicht  ganz  ausgeschlossen,  daß  jener 
selbst  einmal  das  Beispiel  in  der  Fackel  zur  prinzipiellen  Erörterung 
bringt.  Er  dankt  Ihnen  für  diese  Gelegenheit  wie  vor  allem  für  Ihr 
freundliches  Interesse  auf  das  wärmste.  Es  zeichnet  in  Hochachtung  und 
Ergebenheit.  .  .  . 

Wien,  15.  Mai  1916 
Sehr  geehrter  HerrI 
Für  Ihre  im  Namen  des  Herrn  K.  K.  gegebenen,  ungemein 
aufklärenden  und  erschöpfenden  Ausführungen  bitte  ich  Sie,  die  Ver- 
sicherung meines  aufrichtigen  und  wärmsten  Dankes  entgegennehmen 
zu  wollen.  Das  Problem,  welches  Sie  zu  einer  —  von  Ihnen  ebenso 
liebenswürdigen  wie  für  mich  lehrreichen  —  so  eingehenden  Erörterung 
wohl  veranlaßt  haben  dürfte,  bleibt  offenbar,  ob  die  Konzentration  von 
Gedanklichem  und  Bildhaftem  in  einem  Wort,  nicht  auch  eine  allzugroße 
werden  kann,  so  daß  selbst  dem  hingebungsvoll  bereiten  Sinn  des 
leidenschaftlich  bemühten  Lesers  ohne  solche  Erklärung  der  künstlerischen 
Absicht,  das  Verständnis  —  wie  im  vorliegenden  Falle  —  verwehrt 
bleiben  muß.  Mit  dem  Ausdruck  besonderer  Hochschätzung  ergebenst.  . .  . 

Wien,  am  19.  Mai  1916 
Sehr  geehrter  Herr! 
Für  Ihren  überaus  freundlichen  Brief  danke  ich  Ihnen  herzlich, 
nur  glaube  ich  doch,  daß  Sie  in  einem  Punkte  fehlgreifen.  Der  einfachste 
.  Satz  mag  recht  wohl  die  komplizierteste  Erklärung  ermöglichen,  auch 
wenn  er  sie  nicht  erfordert.  Gründlichkeit  eines  Kommentars  muß  kein 
Beweis  für  die  Schwierigkeit  eines  Textes  sein.  Die  Worte  >Über  allen 
Wipfeln  ist  Ruh«  könnten  ein  Buch  als  Erklärung  zur  Folge  haben, 
welches  freilich  überflüßig  ist,  wenn  die  >  Konzentration  von  Gedanklichem 
und  Bildhaftem«,  die  in  diesem  Satz  enthalten  ist,  sich  von  selbst 
versteht  oder  fühlt.  Das  soll  nur  eine  Ablehnung  der  Auffaßung  sein,  als 
ob  gerade  durch  die  Umständlichkeit  einer  Erklärung  die  Schwierigkeit 
eines  Satzes  dargetan  wäre,  aber  beileibe  kein  Vorwurf  gegen  den,  der 
die  Erklärung  gewünscht  hat;  denn  ganz  sicher  ist  es  möglich,  daß  ohne 
die  geringste  Schuld  des  Lesers  irgend  ein  Zufall,  der  ihn  vielleicht 
falsche  Assoziationen  festhalten  ließ,  das  Verständnis  erschwert  hat.  Es 
gibt  eben  Leser,  denen  der  Lokativ  »aller  Wände«  als  solcher  sofort 
einleuchtet  —  und  diesen  ist  die  Stelle  durchsichtig,  —  während  andere, 


I 


53 


in  eine  falsche  Bahn  gelockt,  nicht  mehr  zum  Sinn  zurückfinden.  Solcher 
Gefahr  ist  aber  der  Leser  oder  vielmehr  der  Autor  selbst  mit  jedem 
Wort  ausgesetzt.  Die  Erklärung  des  Einfachsten  ist  immer  schwierig  und 
es  bleibt  nichts  übrig,  als  bei  jenem  Leser,  der  sicher  müheloser  als 
viele  andere  über  vieles  Andere  hinwegkam,  den  Zweifel,  der  gerade 
sein  Verständnis  beweist,  freudig  anzuerkennen,  was  ich  hiermit  für 
den  Autor  gerne  tue.     Es  zeichnet  in  Ergebenheit.  .  .  . 


Daß  nach  dem  Gedicht  »Ein  Kamerad«  von  Heinrich  Lersch, 

in  dem  immerhin  der  Natur  rückerstattet  ward,  was  die  Menschen 

ihr  genommen  haben,  ein  deutscher  Reimer  es  noch  wagen  kann, 

eine  Lerche  anzurufen  und  für  Kriegszwecke  zu  requirieren  —  war 

zu  erwarten. 

Der  Lerche  Lied  in  Flandern. 

Hörst  Du  der  Lerche  Frühlingssang 

Im  Lärm  der  Schlacht?  Welch'  süßer  Klang! 

Schau,  wie  das  Vöglein  im  Lichte  sich  wiegt, 

Wie  es  hell  jubelnd  dem  Himmel  zu  fliegt  1 

Klang  nicht  ihr  Lied  beim  letzten  Wandern 

Im  Heimatland?  Nun  tönt's  in  Flandern.  — 

Lerche,  bei  deinem  fröhlichen  Singen 

Will  mir  vor  Heimweh  das  Herz  zerspringen. 

Aber  du  mahnst  an  des  Kriegers  Sinn: 

Gib  um  die  Heimat  das  Leben  hini 

Wieso  tut  das  die  Lerche? 

>Was  ist,  Kamerad?«   —    >Die  Kugel  traf  gut.« 

Er  sinkt  mir  zu  Füßen.  Sein  warmes  Blut 

Rötet  den  Acker.  Das  Auge  bricht. 

Während  die  Lerche  im  Sonnenlicht 

Das  alte  Lied  der  Heimat  singt. 

»Schlaf  wohl,  Kamerad!«  Ein  Wort  entringt, 

Ein  letztes,  den  bleichen  Lippen  sich: 

»Die  Heimat.«  Ich  schluchze  bitterlich.   — 

»Er  starb  für  die  Heimat,  der  junge  Held.« 

Die  Lerche  jubelt's  hoch  über  dem  Feld. 

Ist  schon  assentiert,  die  Lerche!  In  ,Westermanns  Monats- 
heften', »fürs  deutsche  Haus«  —  beides  gibts  noch  immer.  Der 
eine  hört  eine  Lerche  singen,  und  es  macht  Eindruck  auf  ihn;  der 
andere  hat  von  einer  Lerche  gehört  und  läßt  sie  singen,  was  ihm 
paßt:  der  ganze  Unterschied  zwischen  Dichter  und  Zuckerbäcker. 
Der  Krieg  hatte  sich  der  Lerche  ergeben  —  hier  singt  die  Lerche 
eine  Verlustliste.  Solcher  Greuel  ist  nur  ein  nationaler  Geist  fähig, 


—  54  — 


der  in  sündiger  Vermischung  lebt  und  dem  die  Natur  die  Symbole 
seiner  kriegerischen  Tätigkeit  zu  liefern  hat,  der  also  letzten  Endes 
doch  wieder  nur  die  Lerche  im  Dienste  des  Kaufmanns  bejaht. 


Das  schöne  Menschheitsdokument,  als  Gedicht  nur 
problematisch  geworden  durch  jene  kriegerische  Vorlyrik  des 
Kesselschmieds,  entwertet  durch  den  Beifall  des  Herrn  Busse,  wird 
in  einem  Feldpostbrief  —  von  dem  Angehörigen  eines  Qebirgs- 
artillerieregiments  —  so  angesehen: 

»  .  .  .  .  aber  zur  Empfindung  dessen,  was  jetzt  erst  zu  empfinden 
wäre,  jetzt  auch  von  den  vielen,  denen  ich  es  am  ersten  Tage  vor- 
empfunden habe,  ist  noch  kein  Dichterherz  mobilisiert.  Doch,  eines: 
das  eines  Kesselschmieds.  .  .  .< 

Vorempfunden  am  ersten  Tage,  um  von  vielen  nachempfunden 
zu  werden  —  so  weit  das  Gefühl,  das  faßbar  für  uns  ist,  reicht!  Aber 
das  Gefühl  steht  plötzlich  still,  wie  der  Gedanke  ....  Das  Ohr,  das 
sich  müde  gehört  hat  am  Lärm  des  Tages,  faßt  nicht  die  Stille.  Die 
Gedanken,  die  nicht  vorwärtskommen,  sondern  zurückgehen  und  sich 
hier  einzurichten  trachten  wie  daheim,  sind  keine  Gedanken  mehr. 
Wir  leben  nicht  mehr  —  wir  erinnern  uns  müde  an  ein  Leben.  Es 
hatte  die  Kunst,  die  das  Leben  ergänzte  —  das  Leben  hier  ist  so  nackt, 
so  zufrieden,  so  ganz,  daß  kein  Bedürfnis  es  beunruhigt.  Hier  lebt 
kein  Künstler.  Wer  hier  Kunst  treibt,  ist  nicht  hier.  Wer  nicht  hier  ist, 
weiß  nichts  von  uns!  »Der  Kamerad«  macht  einem  Hinterland  Ehre  — 
uns  ist  er  ein  Fremder  und  hat  nicht  »des  Bruders  Angesicht«.  Heinrich 
Lersch  mag  hier  gewesen  sein  und  dort  nachempfunden  haben,  was  er 
hier  nicht  empfunden  hat.  Vielleicht  war  es  ihm  innerstes  Bedürfnis, 
die  Leere  dieser  Zeit  nachfühlend  zu  beleben,  dem  Sinnlosen  nachsinnend 
einen  Sinn  zu  geben.  Die  Empfindungen  einer  friedlichen  Vergangenheit 
sind  in  ihm  erwacht,  stärker,  bewußter:  die  Augen,  die  hier  die  Leere 
nicht  fassen  konnten,  haben  dort  die  Dinge  gesehen.  Er  fühlte  als 
Arbeiter,  der  —  nach  jahrelanger  Fabriksarbeit  in  einer  großen  fremden 
Stadt  —  einen  Frühling  erlebt:  »Er  hörte  .  .  .  nur  —  daß  die  Lerche 
sang!«  Auch  wir  hören  die  Lerche  singen;  wir  sagen  vielleicht  auch, 
daß  wir  sie  singen  hören;  aber  so,  als  sprächen  wir  nicht  von  uns. 
Unser  Leben  kennt  kein  Erleben  mehr. 


Auch  andere  Feldpostbriefe  beziehen  sich  auf  den 
Lerchenruf  und  auf  meine  Betrachtung  des  Stadiums,  in  dem  er 
mir  erlebt  schien.  Solche  Mitteilungen  —  Lebenszeichen  aus  der 
Seelenverbannung   und    Bekenntnisse   der   Anhänglichkeit  an   ein 


DO 


geistiges  Leben  und  an  den,  der  es  zu  behüten  scheint  —  gehören 
ganz  gewiß  nicht  zu  jenen  unerwünschten  Korrespondenzen,  deren 
Verfasser  mich  entweder  für  einen  Beleuchter  von  Übelständen 
halten  oder  für  mich  wie  die  Mücken  um  ein  Licht  schwärmen. 
Wie  sehr  der  Autor  der  folgenden  Zeilen,  deren  Inhalt  der 
Menschheit  zur  Ehre  gereichte,  wenn  er  der  Inhalt  der  Menschheit 
wäre,  unrecht  getan  hat,  sein  Schreiben  in  die  bezeichnete  Kate- 
gorie zu  stellen,  mag  ihm  —  dem  mir  beruflich  wie  persön- 
lich unbekannten  Rezitator  von  Gedichten,  jetzt  Füsilier  —  die 
Veröffentlichung  beweisen : 

25.  5.   16.  Frankreich 

(Erdhöhle) 

Hochzuverehrender  Herr  Karl  Kraus!  Wie  lange,  wie  lange 
wollte  ich  Ihnen  irgend  ein  Zeichen  des  Dankes,  meiner  Verehrung, 
meiner  Liebe  geben.  Ich  unterließ  es  immer;  bestärkt,  als  ich  las,  wie 
wenig  willkommen  Ihnen  Briefe  dieser  Art  sind.  Da  wollte  ich 
Ihnen  aus  der  Ferne  danken,  an  meinem  Vortragsabend,  meinem 
Abschied  vor  dem  Ausrücken,  und  mit  aller  Kraft  und  Echtheit 
aus  dem  heiligen  Gefühl  für  Ihr  Werk,  zwei  Gedichte  sprechen: 
Der  sterbende  Mensch  und  Vor  einem  Springbrunnen.  Zwei  Tage 
vorher  zog  ich  aus,  kam  gleich  ins  Schwerste,  vor  Verdun,  und 
dort,  in  Grauen  und  Tod  schrieb  ich  Ihnen  und  schickte  den  Brief 
nicht  ab  —  aus  alter  Scheu.  Nun  halte  ich  das  Heft  der  Fackel 
in  Händen  mit  dem  Gedicht  Aus  jungen  Tagen  und  lese  so  vieles 
was  ich  erlebt  habe  in  Weh  und  Entsetzen.  Ich  schrieb  Ihnen 
damals:  »Was  ist  das  Ergreifendste?  Der  Vogelsang  bei  Sonnen- 
aufgang in  diesen  ganz  entstellten  Wäldern,  in  denen  kein  Baum 
unbeschossen  ist—  und  die  Vögel  singen  darin.  Das  Granaten- 
feuer: die  Entartung,  die  krachend  platzt;  der  Vogelgesang:  Gottes 
ewige  Melodie,  der  tönende  Ursprung.  Ach,  die  Tiere!  Meine 
lieben,  lieben  Pferde;  hier  liegen  sie  zu  Hunderten,  manche  mit 
dem  Ausdruck  eines  Schmerzes  wie  am  Ende  eines  großen  Lebens.« 
—  Es  bedarf  ja  nicht  meines  Zeugnisses  zum  Beweise,  daß  ein 
großer  Künstler  alles  weiß;  ich  möchte  Ihnen  aber,  dankbar  und 
ergriffen,  diesen  Satz  mitteilen,  der  aus  dem  Weh  des  nächsten 
Erlebens  stammelte,  was  Sie  aus  der  Ferne  gestaltet  haben 
(S.  42/44  Nr  418-22) 

Und  so  erlauben  Sie  mir  gütigst,  daß  ich  diesmal  Ihnen 
danke  in  unwandelbarer  Verehrung 

Ihr  Ludwig  Hardt. 

Gefreiter  im  Füsilier  Reg.  ...  11.  Komp.  .  .  .  Inf.  Div. 


56 


Der  Krieg  im  Schulbuch 

Eine  Berliner  Zeitung  hatte  am  16.  April  die  folgende  Notiz 
gebracht: 

Aus  dem  Aprilheft  der  Wiener  Zeitschrift  Die  Fackel  ersehen 
wir,  daß  im  Verlage  von  Karl  Meyer,  Hannover,  ein  für  den  Schul- 
gebrauch bestimmtes  Lesebuch  der  Rektoren  Kappey  und  Koch 
in  Hildesheim  erschienen  ist,  das  u.  a.  ein  Gedicht  > Regiment  greift  an* 
enthält.  Die  folgende  Strophe  gibt  eine  Probe  dieses  Gedichtes: 

Da  drüben,  da  drüben  liegt  der  Feind 

In  feigen  Schützengräben, 

Wir  greifen  ihn  an,  und  ein  Hund  wer  meint, 

Heut  würde  Pardon  gegeben. 

Schlagt  alles  tot,  was  um  Gnade  fleht, 

Schießt  alles  nieder  wie  Hunde, 

Mehr  Feinde,  Mehr  Feinde!  sei  euer  Gebet! 

In  dieser  Vergeltungsstunde  I 

Dagegen  haben  wir  nur  eine  Frage  an  die  zuständigen  Stellen: 
wer  überwacht  die  Schulliteratur?;  und  ist  dieses  Lesebuch  wirklich 
zum  Schulgebrauch  unserer  Kinder  zugelassen?! 

Ein  deutscher  Verlag  schrieb  an  die  Fackel: 
Im  »Börsenblatt  für  den  deutschen  Buchhandel«  wurde  neulich 
ein  ganz  unglaubliches  Gedicht  »Regiment  greift  an«  zitiert,  welches 
Sie  zuerst  in  einem  deutschen  Lesebuch  für  den  Schulgebrauch  gefunden 
und  getadelt  haben.  (Anm.:  Das  Zitat  war  der  Arbeiter-Zeitung 
entnommen.)  Die  Tatsache,  daß  solche  Verse  in  einem  deutschen 
Lesebuch  Aufnahme  finden  können,  finde  ich  so  entsetzlich,  daß  ich 
gelegentlich  einen  meiner  Autoren  veranlassen  möchte,  an  geeigneter 
Stelle  auf  diese  Sache  zurückzukommen.  Würden  Sie  die  Freundlichkeit 
haben  mir  mitzuteilen,  in  welchem  Lesebuch  sich  dieses  Gedicht  findet 

Inzwischen  war,  am  4.  Mai,  in  jener  Berliner  Zeitung  die 
folgende  Notiz  erschienen: 

Wir  haben  am  16.  April,  nach  der  Wiener  Zeitschrift  Die  Fackel,  ein 
einigermaßen  gewalttätig  gesinntes  Gedicht  »Regiment  greift  an« 
erwähnt,  das  in  ein  für  den  Schulgebrauch  bestimmtes  Lesebuch  der  Rektoren 
Kappey  und  Koch  aufgenommen  worden  war  und  das  in  seiner  Art 
nicht  gerade  für  kindliche  Gemüter  geeignet  schien.  Wir  erfahren  jetzt 
durch  das  Oberkommando  in  den  Marken,  daß  dieses  Gedicht,  das 
von  einem  mittlerweile  gefallenen  Kriegsteilnehmer  zuerst  in  einer 
hannoverschen   Zeitung    veröffentlicht     worden     war,     erfreulicherweise 


—  57  — 


auf  Verfügung  des  stellvertretenden  Generalkommandos 
des  X.  Armeekorps  aus  dem  Lesebuch  ausgemerzt  werden 
mußte  und  im  Neudruck  des  Buches  nicht  mehr  enthalten  ist.  Die 
Verfügung  ist  übrigens  schon  am  29.  Januar,  also  lange  vor  dem 
Erscheinen  der  Aprilnummer  der  Fackel,  erlassen  worden. 

Was  dieser  nicht  bekannt  sein  konnte.  Sonst  hätte  sie  gleich 
die  löbliche  Austilgung  zur  Kenntnis  genommen,  um  fest- 
zustellen, daß  es  existent  war;  daß  es  entstehen  und  aufgenommen 
werden  konnte  und  daß  deutsche  Pädagogen  sich  von  deutschen 
Militärs  erziehen  lassen  mußten.  Die  Reproduktion  in  der  Fackel 
hat  zwar  nicht  das  behördliche  Einschreiten  zur  Folge  gehabt  — 
davon  hätte  sie  kaum  etwas  erfahren  — ,  sondern  mehr:  dessen 
Verlautbarung.  Auf  diesem  gangbaren  Weg,  die  pädagogische 
Schande  nicht  nur  auszumerzen,  sondern  es  auch  bekanntzumachen, 
möge  nun  fortgefahren  werden.  Ich  verspreche  feierlich,  daß  ich 
es  mir  nicht  als  Erfolg  anrechnen  werde.  Vielmehr  bin  ich  in  jedem 
einzelnen  der  folgenden  Fälle  bereit,  festzustellen,  daß  die  Verfü- 
gung schon  lange  vor  dem  Erscheinen  der  Fackel  erlassen  worden  ist. 

• 

»Deutsches  Lesebuch  für  höhere  Lehranstalten,  in 
acht  nach  Klassenstufen  geordneten  Abteilungen  und  zwei  Vorschul- 
Teilen,  neu  bearbeitet  vom  Geh.  Studienrat  Professor 
Dr.  Alfred  Biese,  Direktor  des  Königl.  Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums 
in  Frankfurt  a.  M.«,  enthält  unter  den  »Lesestücken  aus  der  Kriegs- 
literatur für  die  Unter-Klassen  Sexta  bis  Quarta  nebst  dem  gräßlichen 
>Reiterlied<  (Wer  da,  wer)  des  Gerhart  Hauptmann,  dem  der  Krieg 
Herz  und  Hirn  requiriert  hat,  noch  die  folgenden  Dokumente 
jener  unnennbaren  Schande,  die  aus  Herzverhärtung  und  Gehirn- 
erweichung Verse  gemacht  hat: 

Berliner   Landsturm. 
Von  Hans  Brennert. 

Es  pfeift  die  Eisenbahne  — 
adieu,  Frau  Nachbar  Schmidt! 
Der  Landsturm  muß  zur  Fahne  — 
der  Landsturm,  der  geht  mit. 
in  Frankreich  und  in  Polen, 
da  müssen  wir  versohlen 
ganz  schnelle  ja 
die  Felle  ja 
Franzosen,  Russ'  und  Brit'  I 


—  58  — 


Der  tapfre  Landsturmmann  —  er  rückt  an,  er  rückt  an! 
Auf  — !  Landsturm  mit  Waffe, 
Mit  Knarre  und  mit  Affe  — 
Steig  ein  I  Steig  ein !  Steig  ein  t 
Zur  Weichsel  und  zum  Rhein ! 

Und  ist  uns  auch  zu  enge 

der  Rock  blau  oder  grau  — 

ihr  kriegt  doch  eure  Senge 

nicht  weniger  genau  I 

Wir  schworen  es  ja  Muttern, 

daß  wir  euch  würden  futtern, 

ihr  Söhnekens, 

mit  Böhnekens, 

die  sind  so  heiß  und  blaul 
Der  tapfre  Landsturmma;in  —  er  rückt  an,  er  rückt  an  I 
Auf  —  I  Landsturm  mit  Waffe, 
Mit  Knarre  und  mit  Affe  — 
Steig  ein !  Steig  ein !  Steig  ein ! 
Zur  Weichsel  und  zum  Rhein ! 

Lernt  schießen  schnell!  —  Ihr  Jungen! 

Kommt  nach!  Zieht  bald  mit  aus! 

Es  ist  genug  gesungen 

die  Wacht  am  Rhein  zu  Haus! 

Wir  müssen  an  die  Seene! 

Auf,  Jungens,  rührt  die  Beene, 

die  Wade,  marsch!  — 

Parademarsch !  I ! 

Und  drescht  den  Nikolaus!  — 
Der  tapfre  Landsturmmann  —  er  rückt  an,  er  rückt  an  t 
Auf  — !  Landsturm  mit  Waffe, 
Mit  Knarre  und  mit  Affe  — 
Steig  ein!  Steig  ein!  Steig  ein! 
Zur  Weichsel  und  zum  Rhein! 


O  Nikolaus,  o  Nikolaus! 
Von  Wilhelm  Platz. 

O  Nikolaus,  o  Nikolaus,  du  bist  ein  schlechter  Bruder, 

du  predigst  uns  von  Frieden  vor 

und  rüstest  heimlich  Korps  um  Korps, 

0  Nikolaus,  o  Nikolaus,  du  bist  ein  falsches  Luder. 

O  Engelland,  o  Engelland,  wie  hast  du  dich  benommen, 

als  wie  ein  rechter  Krämersmann, 

der  nimmt,  so  oft  und  viel  er  kann. 

O  Engelland,  o  Engelland,  das  wird  dir  schlecht  bekommen. 


59  — 


Der  Franzmann  auch,  der  Franzmann  auch,  zeigt  wieder  seine   Krallen, 

er  möchte  gern  den  schönen  Rhein, 

wir  aber  nach  Paris  hinein, 

das  will  ihm  nicht,  das  will  ihm  nicht,   das  will  ihm  nicht  gefallen. 

Und  wenn  die  Welt  voll  Feinde  war' 

und  keinem  war'  zu  trauen, 

so  fürchten  wir  uns  dennoch  nicht, 

wir  halten's,  wie  der  Kaiser  spricht: 

Wir  werden  sie,  wir  werden  sie,  wir  werden  sie  verhauen. 


Die  Geschichte  von  Lüttich. 
Von  Friedrich  Hussong. 


Unsere  Kerrels,  die  wollten  ins  Franltreich  hinein, 
in  einem  Ritt  nach  Paris  vom  Rhein. 
Da  lag  das  Lültich  mitten  im  Weg; 
nicht  links,   nicht  rechts  Pfad  oder  Steg. 
Da  sprach  der  General  Emmich: 
»Gottsakerment,  das  nemm  ich.« 


Gotts  Dunner,  wie  will  er  das  nehmen  ein, 
wo  so  viel  Forts  und  Kanonen  sein? 
Da  sagte  der:   >Wir  rennen  ein  Loch, 
paBt  auf,  ihr  Kerls,  und  nehmen  es  doch. 
Daß  die  uns  hindern,  würmt  mich, 
aber  paßt  auf,  das  stürmt  sich.« 

Herr  General  Emmich,  ich  sag's  mit  Gunst, 
ein  Ding  ist's  gegen  die  Regel  und  Kunst; 
man  muß  da  erst  lange  vor  liegen 
and  das  Lüttich  geduldig  bekriegen ; 
doch  der:  »Das  sind  eitel  Dünste, 
die  regelrechten  Künste,  t 


Und  die  Kerrels  stürmten  und  rannten  ein  Loch 
and  kriegten's  trotz  Forts  und  Kanonen  doch 
und  sind  auf  dem  Weg  ins  Frankreich  hinein, 
in  einem  Ritt  nach  Paris  vom  Rhein. 
Wie  sagt  der  General  Emmich? 
> Gottsakerment,  das  nemm  ich.« 


—  60  — 


De    dicke    Berta. 
Von  Gorch  Fock. 


Dicke  Berta  heet  ik, 
tweeunveertig  meet  ik, 
wat  ik  kann,  dat  weet  ikl 
Söben  Milen  scheet  ik, 
Steen  un  Isen  freet  ik, 
dicke  Muern  biet  ik, 
grote  Locker  riet  ik, 
dusend  Mann  de  smiet  ikl 
Beuse  Klüten  kok  ik, 
Blitz  un  Donner  mok  ik, 
heete  Suppen  broo  ik, 
grote  Reisen  do  ik: 
erst  vor  Lüttich  stunn  ik, 
Huy  un  Namur  funn  ik, 


ok  Givet,  dat  kreeg  ik, 

un  Maubeuge  sehg  ik, 

um  Antwerpen  stuk  ik, 

un  Ostende  duk  ik. 

Vor  Verdun,  dor  stoh  ik, 

no  Paris  hen  goh  ik, 

ok  no  London,  gleuf  ik: 

op  den  Tag  dor  teuf  ikl 

Schient  de  Sünn,   denn  summ  ik, 

schient  de  Moon,  denn  brumm  ik 

ganz  verdübelt,  meen  ik! 

Mienen  Kaiser  deen  ik, 

dicke  Berta  heet  ik, 

tweeunveertig  meet  ik, 

wat  ik  kann,  det  weet  ik! 


Eine  Dichtung  des  Herrn  Cäsar  Flaischlen  —  was  für  eine 
Sorte  doch  ehedem  zur  »Literatur«  gehört  hat!  —  beginnt  so: 

Sie  haben  das  sehr  schön  sich  ausgedacht 
von  hüben  wie  von  drüben 
und  mit  unserer  deutschen  Ritterlichkeit 
seit  Jahren  Schindluder  getrieben. 

Sie  haben  seit  Jahren  uns  umstellt 
an  allen  Ecken  und  Kanten, 
Verträge  und  Klauseln  ausgeheckt 
und  einander  Schmiere  gestanden. 

Feig,  wie  sie  sind,  vermeinten  sie, 
uns  heimlich  zu  Boden  zu  knebeln 
und  bei  der  ersten  Gelegenheit 
uns  einfach  zusammenzusäbeln. 


Nicht  einer  hatte  den  traurigen  Mut, 
offen  das  Schwert  zu  erheben: 
sie  kauften  sich  einen  kleinen  Mann, 
die  Fackel  ans  Haus  zu  legen. 

►Schrei  auf,  mein  Herz!«  Und  du,  Michel,  greif  zum  Schwert: 

Und  hau  nach  hinten  und  hau  nach  vom, 
hau  zu,  wie  nur  zu  hauen, 
wohin  es  trifft,  ein  jeder  Hieb 
sei  Grausen  und  sei  Grauen! 


61 


Hau  drauf  und  drein,  durch  Eisen  und  Stein, 
mit  Kolben  und  Kanonen  — 
wir  wissen  ja  endlich,  woran  wir  sind, 
Und  brauchen  niemand  zu  schonen! 

Und  geht  die  ganze  Welt  kaputt 
in  Blut-  und  Flammenwehen, 
und  wird  es  wirklich  Jüngster  Tag  — 
wir  bleiben  und  wir  stehen! 

Wir  bleiben,  Michel,  und  wir  stehn 
vor  Gottes  Thron  zu  sagen: 
allwie  man  ihn  und  seine  Welt 
an  elende  Habsucht  verraten! 

Der  Hans  Heinz  Ewers  jedoch,  der  in  Amerika  den  Deutschen- 
haß, den  er  erweckt,  nach  Möglichkeit  zu  bekämpfen  sucht  und  zu 
seinem  größten  Bedauern  rechtzeitig  verhindert  war,  zurückzu- 
kommen, singt  den  Gymnasiasten  eins  von  der  > Emden«  vor: 

Der  Kapitän  der  »Emden«  sprach: 

> Verdammt  noch  mal  und  zugenäht! 

Nun  liegt  der  deutsche    Handel  brach! 

—  John  Bull  hat  mächtig  aufgedreht 
und  bläht  sich  hinter  jedem  Riff; 

es  kapert  sich  der  Lausebrit' 
so  manches  gute  deutsche  Schiff. 
Verdammt;  da  tu'  ich  auch  noch  mit 
mir  meiner  braven  .Emden' ! « 

Der  Japse  schwimmt  vor  Tsingtaus  Gischt 
und  lauert  früh  und  lauert  spät  — 
da  ist  zur  Nacht  ihm  was  entwischt, 
verdammt  noch  mal  und  zugenäht! 
Die  Katze,  die  ihm  schon  im  Sack, 
will  noch  einmal  aufs  Mausen  gehnl 

—  Und  auf  das  gelbe  Lumpenpack 
pfeift  unser  blonder  Kapitän 

Karl  Müller  von  der  >  Emden  <! 

Verschwunden!  Weg!  Das  Schiff  ist  weg! 

—  Wie  Brite  auch  und  Japse  späht, 
sie  finden  nimmer  das  Versteck, 
verdammt  noch  mal  und  zugenäht! 


—  62  — 


Sie  fahren  hin,  sie  fahren  her 
und  haben  weidlich  durchgesucht 
sechs  Wochen  lang  des  Ostens  Meer  — 
—  da  schwimmt  sie  in  Bengalens  Bucht, 
die  liebe  kleine  »Emden«! 

Und  so.  In  der  letzten  Strophe  schlägt  der  Dichter  den  Qrafen- 
titelfürden  Kapitän  der  »Emden«  vor,  indem  er  »als  Poet«  den  Wappen- 
spruch: »Verdammt  noch  mal  und  zugenäht!«  ihm  »dreingibt«.  Herr 
Ewers,  wiewohl  durch  die  Umstände  an  der  aktiven  Mitwirkung  bei  der 
Glorie  rechtzeitig  verhindert  und  gezwungen,  in  amerikanischen 
Varietes  für  die  deutsche  Sache  einzutreten,  hat  sich  schon  zu  Kriegs- 
beginn durch  ein  stimmungsvolles  Gedicht  verdient  gemacht,  in 
welchem  er  sein  Mütterchen  besang,  dasein  kleines,  stilles  Häuschen  am 
Rhein  besitze  und  es  nunmehr  natürlich  in  ein  Spital  verwandelt  habe. 
Zwischen  den  Buddhas,  ausgerechnet,  und  ähnlichen  exotischen  Kost- 
barkeiten, die  Herr  Ewers  von  seinen  Weltreisen  mitgebracht  hat,  ruhen 
nun,  so  schrieb  er,  brave  Jungens  von  jenen  Strapazen  aus,  die  dem 
Dichter  selbst  erspart  geblieben  sind,  während  das  Mütterchen  un- 
verdrossen der  Pflege  obliegt  und  ihr  Scherflein  beiträgt.  Einer 
dieser  braven  Jungens  sei  blind,  denn  »sie  stachen  ihm  bei  Namur« 
oder  Maubeuge  oder  sonst  irgendwo,  wo  Herr  Ewers  sich  nicht 
durch  persönlichen  Augenschein  von  den  Gefahren  des  Krieges  über- 
zeugt hat,  »die  Augen  aus«.  Als  der  Dreck  erschien,  ließ  sich 
ein  Mitarbeiter  des  ,Vorwärts',  der  jene  Lunte,  die  Herr  Ewers  nicht 
gerochen  hat,  zu  riechen  begann,  die  Mühe  nicht  verdrießen, 
beim  Mütterchen  des  Herrn  Ewers  sich  nach  dem  blinden  Soldaten 
zu  erkundigen.  Aus  Teilnahme,  warum  nicht.  Wiewohl  aber 
sonst  jedes  Mütterchen  in  Deutschland  Bescheid  weiß  — 
dieses  eine  ward  verlegen  und  erklärte  sich  umsomehr 
außerstande,  den  blinden  Soldaten  vorzuführen,  als  sich 
herausstellte,  daß  sie  zwar  ein  Häuschen  am  Rhein  bewohne,  aber 
der  Spitalstätigkeit  nie  obgelegen  habe.  Aber  auch  sonst  habe  sie 
in  ganz  Düsseldorf  weit  und  breit  einen  blinden  Soldaten  nicht 
gesehen,  was  sei  denn  das  nur,  so  oft  sei  schon  wegen 
des  schönen  Gedichtes  ihres  Sohnes,  auf  den  sie  stolz  sei,  bei  ihr 
angefragt  worden,  sie  möchte  es  auch  gern  lesen,  aber  sie  habe  wirklich 
kein  Spital  und  wisse  auch  nichts  davon,  daß  wo  anders  einer  liege, 
dem   die  Augen   ausgestochen   worden   seien,   das   wäre  ja   auck 


—  63  — 


gar  zu  schrecklich,  aber  der  gute  Junge,  an  alles  denkt  er  doch, 
immer  habe  er  schon  eine  lebhafte  Phantasie  gehabt,  und  kehre 
er  dereinst  gesund  heim,  das  Mutteraug  werde  ihn  zuverlässig 
erkennen. . .  .  Verdammt  noch  mal  und  zugenäht.  Herr  Ewers 
aber  vertritt  seitdem  die  deutsche  Sache  in  Amerika 
und  kämpft  in  Versen  gegen  allerlei  Lumpenpack,  Und  in  den 
Unterklassen  von  Sexta  bis  Quarta,  geführt  von  einem  Geheimen 
Studienrat,  liest  es  die  deutsche  Jugend. 


Ich  würde  mich  freuen,  feststellen  zu  können,  daß  auf  Ver- 
fügung eines  österreichischen  Militärkommandos  die  zugleich  mit 
»Regiment  greift  an«  zitierten  Sätze  eines  Wiener  Pädagogen  lange 
vor  dem  Erscheinen  des  Aprilheftes  jeder  Möglichkeit  künftigen 
Schulgebrauches  entzogen  waren.  Sie  seien  zum  Gebrauch  für  eine 
künftige  Menschheit  hieher  gesetzt,  die  einen  Leitfaden  durch  unser 
Labyrinth  der  Nächstenliebe  nötig  haben  wird,  worin,  wenn  man 
schon  glaubte,  beinahe  im  Freien  zu  sein,  schnell  noch  Aristokratinnen 
ein  Kinderspiel  » Russentod  <  erfunden  haben  und  Pädagogen  die 
Theorie  dazu: 

»Auf  daß  ihr  mit  wissendem  Herzen  und  Munde 
hasset,  halte  ich  euch  einen  Spiegel  vor,  aus  dem  euch  das  neid verzerrte 
und    haßverfärbte    Antlitz    des  falschen  Albion    entgegengrinst.< 

»Jetzt  freilich  möchte  ich  nur  wünschen,  daß  den  Russen  Qalizien 
all  seine  Gaben:  Armut  und  Schmutz,  verseuchte  Brunneri  und  tolle 
Hunde,  Hunger  und  Seuchen  in  verschwenderischem  Maße  zuteil 
werden  läßt.« 

»Von  den  Kerlen  aber  ist  nichts  zu  sehen!  Schauen  in  ihren 
Monturen  aus,  als  wären  sie  aus  demselben  Lehm  und  Sand  geformt, 
um  den  wir  uns  nun  tagelang  raufen.  Sind  feige  Hunde,  die 
Erdfarbenenl« 

»Alles  schwarz  von  Russen,  grad  so  wie  in  einer  vernachlässigten 
KQchel  Man  braucht  nicht  zu  zielen:  einfach  losdrücken  und  schon 
liegt  einer.  Na,  da  knallten  wir  Sie  nieder,  wie  die  Köchin 
raschen  Fußes  das  Ungeziefer  zertritt.« 

»Sakra,  dös  war  höllisch  fein!  Bald  hab'  i  's  Vurtl  herauBt 
g  habt.  Eini  das  Messer  ins  Russenfleisch  und  gach  umdrahtl« 


—  64 


»Hei,  da  haben  wir  mit  unseren  Karabinern  dreingehauen, 
als  gälte  es  Klötze  zu  spalten.  Hab'  auch  viele  Russen- 
schädel zerschlagen.  Hurra!« 

»Es  muß  ein  ganz  eigenartiges  Gefühl  sein:  Hier  zu  stehen,  den 
Feind  'rankommen  zu  sehen  und  ihn  niederknallen  zu  können, 
ohne  daß  er  einem  recht  ankann.« 

».  .  .  und  jetzt  darf  ihnen  (den  Russen,  die  sich  ergeben)  niemand 
mehr  etwas  tun  als:  gefangennehmen.  Und  hätten  doch  so  gern 
diese  Gazember  (magyarisches  Schimpfwort)  ein  bißl  massakriert....« 

»Jeden  einzelnen  von  uns  hat  der  Krieg  aus  dem 
Alltag  gerissen,  hat  ihn  umgeformt  und  sittlich  wachsen 
lassen.  Wir  alle  sind  bessere  Menschen,  bessere  Öster- 
reicher  gewordenl« 


Zum  versöhnlichen  Ausgang  aber  sei  noch  angemerkt,  daß 
jene  Berliner  Zeitung  durch  das  Oberkommando  in  den  Marken 
offenbar  auch  erfahren  haben  will,  das  Gedicht  -  das  Gedicht!  -  sei 
»von  einem  mittlerweile  gefallenen  Kriegsteilnehmer  zuerst  in  einer 
hannoverschen  Zeitung  veröffentlicht  worden.«  An  dieser  Mitteilung 
ist  zwar  die  literarhistorische  Genauigkeit  rührend,  aber  keineswegs 
die  Mitteilung,  daß  der  Dichter  inzwischen  gefallen  sei.  Es  kann  auch 
unmöglich  beabsichtigt  sein,  durch  den  Hinweis  darauf,  daß  ein 
Mann  seinen  Untergang  in  der  nämlichen  Begebenheit  gefunden 
habe,  in  die  er  mit  einem  »Gebet«  um  »mehr  Feinde«  und  mit  der 
Parole  »Schießt  alles  nieder  wie  Hunde«  eingegriffen  hat,  eine  mildere 
Beurteilung  dieses  Standpunktes  zu  erwirken,  umso  weniger,  als 
ja  das  Niederschießen  von  Hunden  in  Friedenszeiten  auch 
nicht  gerade  gang  und  gäbe  oder  zumindest  die  Übung  höher 
gesitteter  Naturen  war.  Eher  müßte  man  schon  sagen,  daß  ein  Kriegs- 
teilnehmer, der  als  Dichter  dazu  beigetragen  hat,  daß  »alles  tot- 
geschossen wird,  was  um  Gnade  fleht«,  zwar  durch  sein  persön- 
liches Fortleben  Aufsehen  erregen  würde,  aber  im  andern  Fall 
das  Faktum  nur  folgerichtig  und  das  Diktum  nicht  sympathischer 
erschiene.  Wie  dem  nun  immer  sein  mag,  das  Oberkommando 
in  den  Marken  dürfte  eine  gute  Absicht  an  unrichtiger  Stelle 
betätigt  haben.  Denn  es  gibt  eine  Instanz,  die  es  noch  besser 
mit  dem  Dichter  meint: 


65 


Hannover,  den  19.  5.  16. 

Soeben  erfahre  ich  durch  Zufall,  daß  in  Ihrer  Aprilnummer  ein 
Gedicht  meines  Schwiegersohnes  besprochen  ist  und  möchte 
ich  Sie  höfl.  bitten,  ein  Exemplar  Ihrer  Zeitschrift  an  genannten 
Herrn  möglichst  gleich  abzusenden.  Adresse  ist:  Leutnant 
F.  L.  Hoppe,  X.  Armeekorps,  20.  Inf.  Division,  Inf.  Reg,  79, 
3.  Bat.,  11.  Komp. 

Hochachtend,  im  Voraus  bestens  dankend 

Frau  G.  Haase 
Hannover,  Geibelstr.  27 

Das  heiße  ich  einen  versöhnlichen  Ausgang !  Belegexemplare 
für  solche  Rezensionen  über  solche  Gedichte  pflegen  zwar  nicht 
abgesandt  zu  werden.  Aber  wenn  hinter  Maschingewehren  als  deus  ex 
machina  solch  eine  freundlich  besorgte  Frau  am  Schluß  erscheint 
und  das  unnennbare  Grauen  dieses  Weltabends  zu  einem  deutschen 
Schwiegermutterscherz  wendet,  so  sind  wir's  auch  zufrieden. 


—  66  — 

Glossen 

Also  Dichter  und  Denker,  nicht  Barbaren 

Da  die  Chose,  in  der  jetzt  eine  endgiltig  hergestellte 
Mischung  aus  Landsknecht  und  Ingenieur  triumphiert,  von  hervor- 
ragend weidmännischem  Interesse  ist,  hat  die  deutsche  Jagd- 
zeitschrift >Wild  und  Hund«  den  folgenden  instruktiven  Bericht 
veröffentlicht: 

Auf  der  Russenfährte. 

Von  Frundsberg. 

(Nachdruck  verboten.) 

.  .  .  Dies  Jahr  zählt  doppelt  und  dreifach  gegen  lummrige 
Friedensjahre  und  wnd  sich  nie  aus  meinem  Leben  fortwischen  lassen. 
—  Und  soll's  auch  nicht  I  Gut  Gejaid  allezeit  und  harte  Kriegsarbeit 
gab's  in  Feindesland.  .  .  . 

Und  es  gab  herrliche  Tage,  wenn  man  als  Sieger  dem  ge- 
schlagenen Feind  auf  den  Fersen  saß,  ihn  zustande  hetzte,  bis  er, 
zu  Tode  erschöpft,  sich  dem  Sieger  ergab.  .  .  . 

.  .  .  Das  alte  Landknechtsleben  blühte  wieder  auf,  reiten  und 
streiten,  essen  und  trinken,  jagen  und  lieben.  Es  war  wohl  wie  in 
alten  Zeiten.  Man  fand  sich  furchtbar  schnell  darein.  Krieg  ist 
doch  wohl  die  natürlichste  Beschäftigung  des  Mannes.  .  .  . 
Ein  Jahr,  ein  schönes,  langes  Jahr  hab  ich's  so  getrieben.  .  .  .  Aber 
es  gab  damals  auch  einen  Wundbalsam,  der  alles  wieder  gut  machte,  den 
ich  mir  kaum  zu  erträumen  gewagt:  das  Kreuz  von  Eisen  ohne  Bandl.  .  . 

...  Ab  und  zu  mußte  man  schon  die  alte  Feldpulle 
zwischen  die  Zähne  nehmen,  um  sich  wenigstens  innerlich  etwas 
anzuwärmen.  Man  wird  besinnlich  in  solchen  Momenten  und  unsere 
Gedanken  brauchten  nicht  weit  zu  reisen,  um  sich  besserer  Tage  zu 
besinnen.  ...  an  den  schönen  lustigen  Franzosenkrieg,  wie  wir  .  . 
die  feindliche  Kavallerie  in  den  Dreck  ritten,  wo  sie  nur  ein 
Pferdebein  zeigte  .  .  um  schließlich  in  der  sonnigen  Champagne 
unsere  Rosse  zu  tummeln.  Man  bekam  ein  verdächtiges  Schlucken  in 
den  Hals,  wenn  man  an  all  den  guten  Schampus  dachte,  der 
einem  damals  durch  die  Kehle  gerieselt  war.  —  Weiterführten 
einen  die  Gedankenmit  einem  kleinen  Hupf  in  ein  neues  Feindesland: 
Belgien I  Fruchtbare  Felder,  reiche  Städte,  dicht  gedrängt  erwarteten 
uns  da.  .  ,  .  Einen  himmelblauen  Gurka  und  zwei  belgische 
Radler  konnte  ich  damals  in  mein  Schußbuch  eintragen.  .  .  . 
Und  dann  ....  die  Grenzpfähle  nach  Polenland  wegzufegen  Und,  beim 
großen  Zeus,  unsere  Flinten  und  Lanzen  sollten  auch  hier  nicht  rosten! 

...  Es  war  eine  Kavalleriedivision,  die  wir  schon  aus  Frankreich 
kannten,    und  die  auch  mit  von  der  Partie  sein  wollte.  Nichts  ist 


—  67 


spaßiger,  als  wenn  sich  belcannte  Truppen  auf  einem  anderen  Kriegs- 
schauplatz wiedersehen.  Und  so  jagte  auch  bald  ein  grober  Witz 
den  andern.  Himmel,  wie  sahen  die  Jungens  aber  auch  ausi  Auch 
in  einem  Rutsch  aus  dem  noch  sommerlichen  Franlcenlande  kommend, 
hatten  sie  ihre  Wintersachen  nicht  mehr  erhalten.  Aber  was  macht  das. 
JVlan  weiß  sich  zu  helfen.  Aus  Teppichen,  Pelzen,  Fellen  waren 
im  Nu  warme  Mäntel,  Ohrenschützer,    Handschuhe  gemacht.  .  .  . 

.  .  .  Donnerwetter  ja,  in  Polen  sollen  ja  stramme  Hirsche 
wachsen.  Die  alte  Büchse  zappelt  ungeduldig  auf  dem  Rüclcen,  als  ob 
sie  sich  nach  Arbeit  sehnte.  Warte  nur,  mein  Hase,  du  kommst 
auch  noch  rani 

Vorläufig  gab's  aber  noch  nichts  zu  schießen.  Feind 
fehlte  noch  wegen  Mangel  an  Beteiligung.  Ein  paar  herum- 
streunende Kosaken  waren  schon  von  den  Patrouillen  aus  dem  Felde 
geschlagen  oder  vielmehr  geschossen  worden.  Zu  Pferde  kriegt  man 
die  Lümmels  schlecht,  vorm  Schießen  haben  sie  aber  einen  Höllen- 
dampf. —  Nach  endlosem  Marsch,  als  es  schon  völlig  dunkel  war,  kamen 
wir  ins  Quartier.  Au  je,  das  war  doch  überwältigend!  Wer  eine 
solche  Panjebude  nicht  kennt,  der  ahnt  überhaupt  nicht,  was  es  alles 
gibt.  Beschreiben  läßt  es  sich  nicht,  das  muß  man  sehen  und  fühlen.  .  .  . 
Die  Kosakis  hatten  sich  nun  doch  ermannt  und  uns  den  Weg  ober 
eine  Brücke  verlegt.  Es  war  allerdings  auch  dicke  Infanterie  dabei. 
Eine  Schwadron  von  uns  war  schon  beim  Angreifen,  erhielt  aber  ein 
wahnsinniges  Feuer,  das  ziemlich  schaurig  durch  die  düstre  Nacht 
gellte.  Bei  Tagesanbruch  griff  dann  das  ganze  Regiment  an  und  trieb 
die  Brüder  zu  Paaren.  Allerdings  ging  es  ziemlich  heiß  her.  Ein 
Leutnant  von  uns  bekam  eine  Kugel  durch  beide  Arme  und  mitten 
durch  die  Brust.  Ist  aber  heute  schon  wieder  qiiietschf idel.  Ein 
anderer  hatte  einen  Streifschuß  am  Kopf,  daß  die  Knochensplitter 
man  so  flogen.  .  .  . 

Auf  leisen  Sohlen  heranbirschend,  hatten  wir  bereits  die  Vorposten 
getötet....  p  eng,  fällt  ein  Schuß,  peng,  peng,  zweiter,  dritterl  Und 
dann  ging  eine  maßlose  Knallerei  losl  .  .  rumbums!  spricht  unsere 
Kanone;  kladderadomsl  die  Handgranaten,  die  die  albernen 
Russen  aus  den  Fenstern  zu  schmeißen  für  gut  befanden...  . 
über  die  Straße  laufen  alle  möglichen  Leute,  kein  Schwein  kann  aber 
im  Dunkel  erkennen,  von  welcher  Partei  sie  sind.  Wir  drückten  uns 
an  ein  großes  Haus,  um  mal  erst  abzuwarten,  wem  die  Siegesgöttin 
heute  wohlgesinnt  wäre.  Der  Skandal  dauerte  aber  immer  weiter,  und 
die  Kriegslage  schien  sich  gar  nicht  klären  zu  wollen.  .  .  . 

Die  Kerls,  die  jetzt  immer  zahlreicher  auf  der  Straße  standen, 
waren  doch  Russen;  wir  mußten  uns  also  möglichst  gewandt  hindurch- 
schlängeln.   Wenn  einer  nicht  Platz  machte,   kriegte  er  einfach  einen 

Tritt Ich  müßte  schamlos  lügen,  wenn  ich  dieses  Situatiönchen 

besonders  angenehm  und  lieblich  nennen  würde,  aber  wir  kamen  durch, 
und  es  solLe  sich  nachher  bezahlt  machen.  150  Schritt  hinter  der 
Stadt    buddelten    wir    uns    schnell    bis  an  den  Kragenknopf  ein.  .  .  . 


68 


Wir  warteten  freudig  erregt  der  Dinge  und  Russen,  die  da 
kommen  sollten.  ...  Wir  acht  Männerchen  waren  augenblicklich 
wohl  die  einzigen  hier,  die  die  Wacht  am  Rhein  singen  konnten. 
—  Wir  lagen  mucksmäuschenstill,  den  Finger  am  Abzug.  Meiner 
Kriegsknechte  war  ich  mir  ziemlich  sicher.  Ohne  Befehl  würde 
keiner  knallen.  .  .  .  Neben  mir  schnatterte  ein  junger  Kriegs- 
freiwilliger laut  und  ungeniert  mit  den  Zähnen.  Ich  boxte 
ihm  schnell  noch  in  die  Rippen....  >Lebhaft  weiterfeuern*, 
kommandierte  ich  dann  mit  gellender  Stimme,  um  den  Brüdern  da 
drüben  mal  den  Wohlklang  einer  Preußischen  Kommando- 
stimme zu  Gehör  zu  bringen.  Und  ich  mußte  auch  laut  schreien, 
denn  auf  die  erste  Salve  ertönte  drüben  ein  Geheul,  so  entsetzlich, 
markerschütternd,  daß  mir  die  Haare  zu  Berge  standen,  und  als  unsere 
Büchsen  lustig  in  den  dichten  Knäuel  knallten,  da  stürzten  sie 
zurück,  fielen  über  die  Toten  und  Verwundeten.  .  .  .  und  dazu  fort- 
während diese  entsetzlichen  Schreie  höchster  Todesnot!  .  .  . 
und  schon  waren  wir  mit  brüllendem  Hurra  hinterher!.  .  . 

...WiedieTiere  drängte  sich  ein  ganzer  Haufen  in  die  vorderste 
Haustür.  Wir  hätten  sie  in  aller  Ruhe  abschießen  können. ..  . 
Sie  waren  noch  total  halali  und  konnten  vor  Angst  keinen 
Ton  sagen.  .  .  .  Die  ganze  Sache  schien  einzuschlafen. 

Zur  Belebung  des  Panoramas  erschienen  plötzlich  zwei 
polnische  Weiber  von  rückwärts. .  .  .  Wir  machten  uns  also  etwas  klein, 
griffen  sie,  als  sie  neben  uns  waren,  und  wollten  sie  harmlos 
lächelnd  neben  die  Gefangenen  setzen.  Aber  da  fielen  wir  schön 
rein.  Die  Weiber  bissen,  kratzten,  schrieen  und  strampelten  wie  wahnsinnig. 
Wer  weiß,  was  die  von  deutschen  Soldaten  dachten!  .  .  . 

...  Da  wir  in  der  Eile  nichts  zu  essen  mitgenommen  hatten, 
machten  wir  eine  kleine  Anleihe  bei  unseren  neugewonnenen 
Freunden,  und  so  futterten  wir  zusammen  Brot  und  ausgezeichnete 
Fleischkonserven.  Selbst  die  Damen  zeigten  sich  jetzt  von  einer  liebens- 
würdigen Seite  und  reichten  die  famosen  russischen  Bonbons  herum. 
Leider  konnten  wir  uns  nicht  recht  verständigen,  sonst  hätte  es  ein 
gemütliches  Schwätzchen  gegeben.  Das  einzige  was  uns  noch  fehlte, 
war  ein  Alkohölchen.  .  .  . 

.  .  .  Das  ganze  Theater  von  vorhin  wiederholte  sich.  Auf  5  0 
Schritt  knatterten  unsere  wohlgezielten  Schüsse  da- 
zwischen. .  .  . 

...  ich  hatte  aber  doch  so  das 
eine  Biesterei  vorhatten.  .  .  .  Den 
mal  selbst  etwas  näher  besehen, 
einige  sichere  Kugeln  helfen.  .  .  . 
Kopf,  ein  Tupf  auf  den  Stecher:  plautz,  da  lag  der  erste  Kerl! 
Schnell  repetiert  und  wieder  gestochen.  Nr.  2  und  3  fielen  um 
wie  die  Säcke,  bevor  sie  sich  von  ihrem  ersten  Schreck 
erholt  hatten.  Da  kam  Leben  in  die  Gesellschaft,  sie  schienen 
nur    noch    nicht    zu    wissen,     wohin   sie    sollten.    Der    nächste  Russe, 


Gefühl,    daß  sie  noch  irgend 

Feind    hinten    wollte    ich    mir 

Hier     konnten    nur    noch 

Da  zog  ich  die  Büchse  an  den 


—  69  — 


Nummer  4,  erhielt  die  Kugel  etwas  zu  kurz.  Es  war  vielleicht 
für  mich  von  Vorteil,  denn  der  arme  Kerl  schrie  ganz  ent- 
setzlich ....  Ich  hatte  schnell  den  Karabiner  meines  Begleiteis  ge- 
nommen und  ließ  die  nächsten  fünf  Kugeln  in  den  dichten 
Klumpen  am  Gartenzaun.  Einige  Schreie  zeigten,  daß  auch 
diese  Kugeln  nicht  umsonst  abgefahren  waren.  Diese  letzten 
Schüsse  waren  mir  ja  etwas  eklig,  besonders  weil  ich  gar  nicht 
das  Gefühl  der  Gefahr  hatte,  denn  die  Russen  dachten  gar  nicht 
ans  Schießen.  Aber  was  hilfts;  jeder  ist  sich  selbst  der 
nächste,  und  ich  habe  ja  den  Krieg  nicht  angefangen!  Die 
Flanke  war  gesäubert;  ich  ging  befriedigt  zu  meinen  Knaben 
zurück.  .  .  . 

.  .  .  Die  russischen  Offiziere  machten  ein  recht  dummes  Gesicht, 
als  sie  uns  sechs  Männerchen  da  stehen  sahen.  Mein  liebens- 
würdiges Benehmen  beschwichtigte  aber  ihre  Bedenken.  Wir 
schüttelten  uns  herzlich  die  Hände,  ich  mit  einem  gönnerhaften 
Siegerlächeln.  Es  war  immerhin  ein  netter  Augenblick,  und  der 
militärische  Erfolg  doch  außerordentlich  schön.'Selbander  zogen  wir 
auf  den  Markt,  wo  alles  voll  von  Russen  stand.  . . .  Bei  dem  Artillerie- 
kapitän bedankte  ich  mich  für  die  gutsitzenden  Schrapnells,  dann 
mußte  ich  zur  Division  und  berichten.  Allgemeine  Zufriedenheit.  Meine 
sechs  Soldaten  bekamen  gleich,  wie  sie  gebacken  waren,  das  Eiserne 
Kreuz.  ...  Ich  wurde  zur  ersten  Klasse  eingegeben,  was  aber  erst  nach 

beinahe  einem  Jahr  in  die  Erscheinung  trat. 

*  • 

* 

Deutschland,  Deutschland  über  allesi 

Neuheit  I  Neuheit  I 

Für    unsere    heimkehrenden    Krieger    ist 

das    schönste    Geschenk,   um  auszuruhen 

von  ihren  Taten,  das 

Helden  kissen 

(D.  R.  G.  M.) 

Es  enthält: 

1.  Die  sinnreiche  Anrede: 
Siegreiche  Krieger. 

2.  Das  Eiserne  Kreuz. 

3.  Den  Namen  des  Kriegers,  von  einem 
Eichenkranz  umgeben  als  Sinnbild 
deutscher  Stärke. 

4.  Deutsche  und  österreichische  Fähnchen 
als  Zeichen  der  Bundestreue. 

5.  Willkommen  in  der  Heimat  I 

Kissen  mit  Vorzeichnung    .    .    Mk.  3,50 

Nachnahme. 

Nur  zu  beziehen  durch  — 

Dazu  gehört  aber  schon  ein  sehr  gutes  Gewissen! 


70 


Kriegsrisiko 

»Vor  dem  Schöffengericht  Berlin-Mitte  hatte  sich  am  Mittwoch 
der  Militärinvalide  Wilhelm  Reich  wegen  groben  Unfuges  zu  ver- 
antworten. Eines  Tages  hatte  er  auf  der  Straßenbahn  zu  einer  jungen 
Dame  geäußert,  der  Krieg  werde  nur  zu  Gunsten  der  Reichen 
geführt;  die  Arbeiter  müßten  sich  die  Knochen  zerschießen  lassen  und 
noch  bezahlen.  Diese  Äußerung  vernahm  ein  mitfahrender  Subdirelttor 
einer  Versicherungsgesellschaft.  Dieser  ließ  den  Mann  feststellen  und 
gegen  ihn  wurde  ein  Strafverfahren  wegen  groben  Unfuges  eingeleitet. 
Das  Gericht  verurteilte  den  Angeklagten  zu  sechs  Wochen  Haft.< 


Friedensrisiko 

»Die  Felixdorfer  Weberei  und  Appretur  erhöht  ihre  Dividende 
von  6  auf  17 ^h  Prozent.  Das  günstige  Ergebnis  des  verflossenen  Jahres 
ist,  wie  sie  erklärt,  hauptsächlich  auf  den  Umstand  zurückzuführen,  daß 
es  infolge  der  Unterbindung  jeglicher  Zufuhr  des  Rohmaterials 
möglich  wurde,  einen  großen  Teil  der  Lagerbestände  zu  hohen 
Preisen  abzusetzen.« 


Händler  und  Helden 

Alles  will  ich  nehmen,  wie's  kommt,  nicht  murren  will  ich; 
aber  eines  ertrage  ich  nicht  mehr:  den  Körnerschen  Jüngling,  mit 
Blick  gen  Himmel,  noch  immer,  nach  zwei  Jahren  noch,  im  Schau- 
fenster bei  Neumann,  mit  dem  Text: 

Vater,  ich  rufe  Dich! 

's  ist  ja  kein  Kampf  für  die  Güter  der  Erde; 

Das  Heiligste  schützen  wir  mit  dem  Schwerte  —  — 
Täglich  schreiten  dort  Schlachtlieferanten  vorüber,  »allen 
jüdischen  Kindern  gesagt,  was  heute  in  Schmieröl  zu  verdienen 
ist«,  sagte  einer  grad,  als  er  vor  dem  Bilde  stand  und  der  Körnersche 
Jüngling  blickte  unverwandt  gen  Himmel.  Also  weg  mit  diesem, 
da  jener  nicht  zu  entfernen  ist.  Und  auch  den  Landsknecht,  der 
an  jeder  Straßenecke  für  die  Kriegsanleihe  wirbt,  als  ob  nicht  das 
Konterfei  irgend  eines  kühnen  Landesberger  oder  verwegenen 
Sieghart  sie  besser  propagierte  —  den  lege  man  zum  alten 
Eisen.  Und  spiele  man  überhaupt  nicht  mit  den  alten   Gewehren, 


71 


wenn  die  neuen  von  selbst  losgehen !  Und  gewöhne  man  sich  endlich, 
den  Unterschied  »Händler  und  Helden«  reinlich  so  zu  erfassen,  daß 
man  nicht  gerade  jene,  die  zum  Handel  nicht  den  Vorwand  des 
Heldentums  brauchen,  für  die  Händler  hält.  Daß  die  Engländer 
»Christus  sagen  und  Kattun  meinen«  —  diese  von  Fontane  bezogene 
Anschauung  ist  jetzt  wahrlich  ein  ganzes  Kontinentalsystem  von 
Ideologie.  Als  ob  wir,  wenn  wir  Kattun  sagen,  ausgerechnet  Christus 
meinten!  Jene  wollen  nur  sechs  Stunden  im  Tag  für  Kattun  leben 
und  wenn  sie  dann  Muße  haben  möchten  für  Heuchelei,  so  ist 
es  ein  geistiges  Streben.  Jedenfalls  wollen  sie  nicht  vierundzwanzig 
Stunden  im  Tag  für  Kattun  leben  und  jedenfalls  sagen  sie  nicht, 
wenn  sie  ihn  an  den  Mann  bringen  wollen,  eben  das  geschehe 
um  Christi  willen  oder  der  Mantel  der  Nächstenliebe  sei  aus  Kattun. 
Sie  mögen  eine  sehr  oberflächliche  Beziehung  zu  den  inneren  Dingen 
haben,  aber  es  ist  eine  ziemlich  eindeutige,  also  saubere.  Keineswegs 
sagen  und  meinen  sie  Kattun  und  Christus  in  Einem  und  durcheinander. 
Keineswegs  wickeln  sie  ihre  Waren  in  Meßgewänder,  weil  es  eine 
aparte  Aufmachung  ist,  und  wenn  sie  auf  die  Börse  gehen,  weil  das 
irgendwie  notwendig  sein  mag,  um  heute  zu  leben,  so  verkleiden  sie  ihre 
Stockjobber  nicht  als  Landsknechte.  Söldner  ist,  wer  Sold  nimmt  für 
die  Erledigung  materieller  Aufgaben.  Wer  aber  diese  für  ideelle 
ausgibt  und  aus  Begeisterung  Sold  nimmt  —  kann  zweierlei  sein, 
ein  Schubiak  oder  ein  Dummkopf,  oder  —  verfluchte  Mischung  — 
beiderlei ! 


Das  kommt  davon 

.  .  .  Die  Schäden  dürften  ernst  sein.  Die  englische  Zensur  verbirgt 
sie  und  gestattet  keine  genaueren  Angaben,  aber  jeder  iVlensch,  der 
als  Reisender  durch  die  City  gegangen  ist  oder  sie  durch 
längeren  Aufenthalt  näher  kennt,  weiß,  daß  keine  Bombe  ihr  Ziel  ver- 
fehlen konnte  und  daß  die  Verwüstungen  unheimlich  sein  mußten. 

Davon  kommt  aber  nicht  nur  das  Wissen,  sondern  der  Zu- 
stand  selbst.    Es  sind  zu  viel    Reisende  durch  die  City  gegangen. 


—  12  — 


Ein  Märchenerzähler 

Die  vierte  Kriegsanleihe  ist  wie  eine  Erzählung  aus  dem 
Wunderlande.  .  .  .  geheimnisvolle  Ausstrahlungen.  .  .  .  Was  uns  bei  den 
Milliarden  anzieht  und  beschäftigt,  ist  der  Gedanke  an  die  Personen, 
welche  sie  zeichnen. 

Mich  würde  der  Gedanke  bei  den  Milliarden  eher  abstoßen. 

Die  Kriegsanleihen  sind  die  Frucht  des  Zinsfußes  und  der  Moral. 

Daß  die  Moral  sich  mit  dem  Zinsfuß  eingelassen  hat,  ist 
sehr  unmoralisch  von  der  Moral  und  die  Frucht  sieht  nach  der 
Sünde  aus.  Es  wird  Kindern  und  Kindeskindern  heimgezahlt 
werden  und  es  wird  sich  rächen  an  Zinsen  und  Zinseszinsen. 

Die  Nachdenklichkeit  wird  durch  die  vierte  Zeichnung  noch  mehr 
angeregt  ....  und  ein  Wunderland  ist  es  wahrhaftig,  wenn  die  kaum 
faßbaren  Ziffern  doch  wieder  erreicht  wurden. 

Der  Denker  verliert  sich  wieder  in  den  Märchenglauben. 

Eine  Verwertung  des  in  Staatspapieren  angelegten  Kapitals,  wie 
sie  nie  erträumt  werden  konnte.  .  .  , 

Der  Traum  versteigt  sich: 

Bei  der  Aufzehrung  unserer  Vorräte  haben  wir  die  Überlegenheit, 
verglichen  mit  den  Feinden,  daß  wir  niemandem  Tribut  für  die  Einfuhr 
kostspieliger  Waren,  welche  die  Armee  braucht,  zu  entrichten  haben. 

Selbst  nicht  für  solche,  die  das  Hinterland  braucht.  Der 
wache  Verstand  antwortet:  nebbich  wie  glücklich  wären  wir,  wenn 
wir  Tribut  entrichten  dürften.  Kann  man  Kriegsanleihe  essen?  soll 
Falstaff  gefragt  haben. 

Reichsritter  von  Hohenblum  spricht  nicht  mehr  von  den  großen 
Hüten  der  städtischen  Damen. 

Das  ist  wieder  ein  Vorteil. 

Die  Frau  des  Grundbesitzers  ist  sehr  elegant  geworden,  und  die 
Duldsamkeit  der  Verzehrer  landwirtschaftlicher  Erzeugnisse  macht  ihr 
aus  dem  Sinn  für  Geschmack  keinen  Vorwurf. 

Die  Verzehrer  landwirtschaftlicher  Erzeugnisse  wären  noch 
duldsamer,  wenn  sie  noch  mehr  zu  verzehren  hätten. 

Die  Milliarde,  um  die  das  Einkommen  in  Preußen  während  eines 
der  ernstesten  Kriegsjahre  abgenommen  hat,  will  uns  nicht  aus  dem  Sinn. 

Sie    ist    aber    kein    Märchen    aus    uralten   Zeiten,   sondern 
für  Preußen  kaum  eine  Hautwunde 
mit  einem  Wort  ein  Tineff. 

Waren,  die  verkauft  worden  sind,  wurden  früher  zu  Waren. 
Jetzt  werden  sie  Kriegsanleihe. 


—  73 


Was  sollten  sie  sonst  werden? 

Das  einfachste  Beispiel  ist  ein  Laden  mit  Sommerstoffen  oder  eines 
der  großen  Warenhäuser,  wo  sich  im  Frühling,  Herbst,  Sommer  und  Winter 
mit  einem  Wort,  das  ganze  Jahr 

gewisse  Reste,  die  von  der  iVlode  überholt  worden  sind,  im  Lager 
aufhäufen.  Das  wurde  früher  zu  Spottpreisen  verkauft  und  wird  jetzt 
mit  Gold  aufgewogen. 

Für  das  freilich  die  Bedeckung  an  Papier  zu  fehlen  beginnt, 
weil  alles  für  die  Blätter  gebraucht  wird.  Man  gibt  massenhaft 
Qold  aus.  Sogar  die  Brotmarken^  sollen  auszugehen  beginnen, 
weil  die  Anweisungen  auf  geistiges  Brot  in  der  Erzeugung  vorangehen. 

Dieses  Aufräumen  sämtlicher  Lager  wird  in  Zukunft  manchen 
Nachteil  haben.  .  .  .  Aber  wir  leben  jetzt  nur  in  der  Gegenwart.  .  .  . 
und  die  Sorgen,  die  das  Heute  nicht  unmittelbar  berühren,  müssen  dem 
Morgen  überlassen  werden.  .  .  .  Denken  wir  zunächst  nicht  daran,  was 
sich  entwickeln  werde,  wenn  die  geleerten  Vorratskammern  im  künftigen 
Frieden  wieder  zu  füllen  sein  werden.  .  .  . 

....  Der  Erfolg  ist  blendend. 


Ein  sympathischer  Planet! 

»Vor  dem  iWargaretener  Bezirksrichter  Dr.  Immervoll  stand  gestern 
der  taubstumme  Privatangestellte  Wenzel  Haller,  weil  er  auf  der 
Wiedener  Hauptstraße  eine  große  Scheibe  eines  Schuhgeschäftes,  die 
150  Kronen  wert  war,  zertrümmert  hatte.  Der  Angeklagte  verständigte 
sich  mit  dem  Richter  auf  schriftlichem  Wege.  Er  gab  an,  er  sei  von 
Prag  nach  Wien  gekommen.  Hier  sei  ihm  das  Geld  ausgegangen  und  er 
sei  hungrig  und  obdachlos  gewesen.  Um  Kost  und  Unterstand 
zubekommen,  habe  er  das  Auslagefenster  eingeschlagen. 
Der  Richter  verurteilte  den  Angeklagten  zu  vierundzwanzig  Stunden 
Arrest.  Als  der  Stumme  das  ihm  vom  Richter  aufgeschriebene 
Urteil  gelesen  hätte,  schüttelte  er  betrübt  den  Kopf  und 
gab  durch  Zeichen  zu  verstehen,  daß  er  eine  viel  höhere 
Strafe  erwartet  habe.« 


Das  Opfer 

Hochwohlgeboren  Herrn  Moriz  Benedikt,  etc. 
Sehr  geehrter  Herr  Chefredakteurl     Ihren  vielen  überaus  freund- 
lichen   Bemühungen    um    das  Blühen    und  Gedeihen    des    k.   k.    öster- 


—  74  — 


reichischen  Mililärwitwen-  und  Waisenfonds,  an  dessen  Spitze  mich  die 
Gnade  Seiner  Majestät  des  Kaisers  als  Stellvertreter  Seiner  Majestät 
im  Protektorat  des  Vereines  gestellt  hat,  haben  Sie  neuerdings  einen 
außerordentlich  dankenswerten  Beweis  tatkräftigster  Mit- 
hilfe an  unseren  großen  kriegshumanitären  Zielen  gegeben,  indem  Sie 
in  Ihrer  Donnerstagnummer  vom  20.  April  eine  halbe  Seite  Ihres 
Blattes  völlig  kostenlos  für  einen  Aufruf  des  Witwen-  und  Waisen- 
fonds zur  Verfügung  gestellt  haben.  Ich  nehme  gern  Veranlassung,  Ihnen 
für  diesen  neuerlichen  Beweis  Ihres  großen  Interesses,  das  Sie 
dem  k.  k.  österreichischen  Militärwitwen-  und  Waisenfonds  seit  seiner 
Gründung  entgegenzubringen  die  große  Freundlichkeit 
hatten,  allerherzlichst  zu  danken.  Gerade  diese  vorbildliche 
Mithilfe  der  Presse  ist  es,  welche  dem  Witwen-  und  Waisenfonds  bis 
jetzt  schon  so  viel  Not  und  Elend  hat  lindern  helfen  und  von  der  wir 
uns  auch  für  die  Zukunft  tatkräftigste  Unterstützung  erbitten  und  er- 
hoffen. Genehmigen  Sie,  sehr  geehrter  Herr  Chefredakteur,  den  Aus- 
druck meiner  vorzüglichsten  Hochachtung,  mit  welcher  ich  zeichne  Erz- 
herzog Leopold  Salvator. 

Die  Selbstlosigkeit,  die  nicht  bloß  Kostenlosigkeit  bedeutet, 
geht  bis  zum  Abdruck  dieser  treffenden  Anerkennung  gegen  einen 
Millionär,  der  seine  positiven  Wohltaten  bisher  im  Stillen  geübt 
hat.  Die  Größe  des  Opfers  aber  läßt  sich  nach  dem  folgenden  Tarif 
bemessen : 

>.  .  .  Zur  Beurteilung  der  Angelegenheit  wird  es  vielleicht  nicht 
uninteressant  sein,  daß  nach  verläßlichen  Schätzungen  die  Veröffent- 
lichung dieser  Satzschrift  in  den  heutigen  Blättern  zwischen  60.000  und 
70.000  Kronen  kostet.  Es  wäre  nicht  unwesentlich,  zu  erfahren,  aus 
welchen  Geldern  diese  beträchtliche  Summe  genommen  wurde.  Zur 
Aufklärung  Uneingeweihter  über  die  Gründe,  weshalb  sich  die  Zeitungen 
so  bereit  finden,  derartige  Mitteilungen  abzudrucken,  sei  noch  die 
Tatsache  mitgeteilt,  daß  der  Abdruck  in  der  , Neuen  Freien 
Presse'  allein  rund  5000  Kronen  kostet.  Es  sind  nämlich  ungefähr 
dreihundert  Zeilen,  für  die  sie  15  Kronen  die  Zeile  berechnet,  nebst 
einem  Teuerungszuschlag  von  10.  v.  H.,  den  sie  kürzlich  für 
derartige  redaktionelle  Mitteilungen  eingeführt  hat.  .  .  .« 

Wobei  zur  Aufklärungbemerkt  werdenmuß,daß  ein  Teuerungs- 
zuschlag die  kürzeste  Formel  für  den  ans  Vaterland  erfolgten 
Anschluß  bedeutet  und  daß  »v.  H.<  nicht  etwa  die  Chiffre  des 
Herrn  v.  Hofmannsthal  vorstellt,  sondern  die  Prozente,  die  die 
Verdiener  des  Vaterlands  seit  Kriegsausbruch  nur  noch  auf 
deutsch  nehmen. 


75  - 


Das  Maul 

Jetzt  ist  wieder  einmal  die  militärische  Lage  so  gestaltet, 
daß  der  publizistische  Wortführer  des  Auswurfs  der  Menschheit 
»der  Armee  und  der  Flotte  einen  Gruß<  entbieten  darf.  Ohne  das 
ein  Vertreter  von  Armee  oder  Flotte  ihm  aufs  Maul  schlägt. 

Durch!  Dieses  Wort  haben  wir  unserer  Armee  und  unserer 
Flotte  zugerufen,  als  der  Kampf  begann  ....  Durch !  Heute,  ein  Jahr 
nach  Beginn  des  Krieges,  spüren  wir,  wie  der  Atem  weltgeschichtlichen 
Geschehens  immer  stärker 

und  immer  schlechter  wird!  Und  weit  und  breit  keiner,  der  jenem 
das  Maul  hält! 


Schöne  neue  Titel 

Bewegte  Zeiten. 

Deren  Merkmale  in  den  vorliegenden  Nachrichten. 

Die  Räumung  Asiagos. 
Von  der  Zivilbevölkerung. 

Greys  Liebe  zu  Konferenzen. 
In  den  Ausführungen  seiner  Rede  im  Unterhause. 

Der  vereitelte  Plan  einer  gemeinsamen  Offensive  der  Entente. 

Durch  die  österreichisch-ungarische  Aktion. 

Und  nichts  als  große  Verdienste.  Mit  dem  Krieg.  Und 
glücklich  zustandegekommene  Partien.  Durch  die  Zeitung.  Und 
kein  verlorenes  Abonnement.  Wegen  Gemauschel. 


Out!  Setz  dich! 

Der  Schauplatz  der  Seeschlacht. 

Von  Universitätsprofessor  Dr.  Eduard  Brückner. 
Präsident  der  geographischen  Gesellschaft. 

Wien,  2.  Juni. 
Der  Schauplatz  der  Seeschlacht  liegt  unmittelbar  westlich  der 
Westküste  von  Jütland.  Als  Skagerrak  wird  der  Ausläufer  der  Nordsee 
bezeichnet,  der  zwischen  Norwegen  und  Dänemark  nach  Nordosten 
vordringt.  Der  Horns  Riff  liegt  ziemlich  weit  südlich,  etwas  westlich 
der  Küste  Jütlands,  dort  wo  diese  spornförmig  nördlich  der  deutschen 
Reichsgrenze  ins  Meer  vorspringt  .... 


I 


—  76  — 


.  .  .  Hier  hat  die  Wissenschaft  dem  Unterseebootkriege  wichtige 
Fingerzeige  gewähren  können. 

Besonders  diesen.  Es  ist  erfreulich  zu  wissen,  daß  der 
Präsident  der  geographischen  Gesellschaft  in  Geographie  nicht 
durchfallen  würde.  Aber  daß  die  Männer  der  Wissenschaft  sich 
auch  dann  rufen  lassen,  wenn  die  Männer  der  Presse  zu  faul  sind, 
im  kleinen  Brockhaus  nachzuschlagen,  darüber  hilft  der  größte 
Seesieg  nicht  hinweg. 


Lieblinge  des  Publikums 

Die  Nachricht  von  der  großen  Seeschlacht  und  von  dem  Erfolge 
der  deutschen  Flotte  ist  in  der  verbündeten  Monarchie  mit  lebhafter 
Befriedigung  aufgenommen  worden.  Die  österreichisch-ungarische  und 
die  deutsche  Flotte  gehören  längst  zu  den  Lieblingen  des 
Publikums.  Um  so  herzlicher  wird  es  der  deutschen  Flotte  vergönnt, 
daß  sie  Gelegenheit  fand,  sich  in  einer  großen  Seeschlacht  ruhmvoll 
ihren  Platz  in  der  Kiegsgeschichte  zu  sichern. 

Wenn  nur  der  Werner  und  die  Zwerenz  nichts  dagegen  haben! 


Die  englische  Flotte  hingegen 

wacht  über  die  Sicherheit  und  schützt  das  Kapital,  daß  es  nicht  verloren 
gehe.  Sie  treibt  Schulden  ein,  ist  die  Hüterin  britischer  Anlagen  in 
weiter  Ferne  ....  Deshalb  ist  eine  persönliche  Beziehung  zwischen  jedem 
Bürger  und  der  Kriegsmacht  zur  See,  der  stillen  Gesellschafterin 
des  britischen  Kaufmanns,  der  Wächterin  über  die  Ziffern  des  Haupt- 
buches und  der  Bringerin  sorglosen  Schlafes  ....  Die  Flotte  ist  die 
Mitschöpferin  der  Weltherrschaft,  der  von  den  großen  Dichtern 
gepriesene  Eichenwall  rings  um  die  heimatlichen  Inseln  .... 


Mythologie 
Adoption 

von  aktivem  Mars  gesucht. 
Bedingung:  über  42  Jahre  alt, 
adelig,  gesellschaftlich  hoch- 
stehend. Nichtanonymes  unter 
,;Engadin  6537"  an  das 
Ank.-Bur.  d.  Blattes. 


n 


Worauf  sich  eine  kapriziert 

Eine  vermögende,  distinguierte 
Dame 

mit  intelligentem,  sicherem 
Berufe  sucht  eine  ihrem  Stande 
entsprechende  Heirat  mit 
einem  Juden  in  mittl. 
Alter.  >Salambo<,  Gazetta 
Wieczorna,  Lemberg. 


Fremdwörter-Erraten 

Junger,  fescher 
Arzt 
sucht  behufs  Spezialisierung 
und  späterer  Übernahme  eines 
Sanatoriums  sehr  vermögende 
Dame  zur  sofortigen  Heirat. 
Lichtbild  erwünscht.  Anträge 
erbeten  unter  > Zukunftsstern 
L.  649€ 

Also  eine  Patientin  gesucht.  Aber  nur  keine  Fremdwörter! 
Ich  würde  statt  Spezialisierung  Sonderschwindel  und  statt  Sanatorium 
Krankengeschäft  vorschlagen,  dafür  statt  Lichtbild  unbedingt 
Photographie ! 


Die  Provinz  will  nicht  zurückstehen 

Operettenlibrettl 
mit  herrlicher  Poesie  und  lebens- 
kräftiger Prosa  und  fascinierenden 
Handlungen  an  tüchtige  Komponisten 
zu  vergeben.  Gefällige  Zuschriften  an 
HanslMfiller,  Linz,  Walterstr. 2, 2. Stock. 

Ja,  hat  denn  jetzt  jede  Landeshauptstadt  ihren  Hans  Müller  ? 
Da  soll  man  nur  beizeiten  dazu  schauen,  daß  nicht  wieder  dereinst, 
wie  beim  Homer,  ein  Zuständigkeitskonflikt  ausbricht! 


—  78 


Neues  vom  alten  Korngold 

Von  Musik  verstehe  ich  gar  nichts.  Aber  ich  habe  kürzlich  Vater 
und  Sohn  Korngold  in  lebhaftem  Gespräch  mit  ihrem  als  schmucken 
Vorkämpfer  des  Kriegsarchivs  verkleideten  Librettisten  gesehen, 
und  man  wird  doch  nicht  ernstlich  von  mir  verlangen,  daß  ich 
mich  erst  in  ein  so  umstrittenes  Gebiet  wie  die  Musik  einlassen 
soll,  anstatt  nach  meinem  BlickJür  Gesichter  und  Gebärden  und 
zumal  für  ein  solches  Zusammenspiel  mir  das  Urteil  zuzutrauen : 
Und  ob  der  Junge  ein  Talent  ist!  Hätte  ich  ihn  allein  gesehen, 
so  könnte  ich  ihn  möglicherweise  noch  für  ein  Genie  halten,  da 
ja  ein  solches  oft  die  sonderbarsten  Verkleidungen  und  Körper- 
hüllen wählt,  um  die  Menschheit  zu  überraschen.  Aber  jetzt  könnte 
ich  als  Gerichtssachverständiger  für  Kontrapunkt  die  Erklärung 
abgeben,  daß  er  ein  Talent  ist.  Talent  ist  der  unheimliche  Trick  der 
Natur,  das  Individuum  bis  an  die  Schwelle  der  Schöpfung  zu 
führen  und  sich  so  gebärden  zu  lassen,  als  wäre  es  drin,  aber 
vermöge  dieser  Gabe,  durch  die  es  dem  Genie  den  Ausgang  in 
die  Welt  verstellt,  es  auch  so  mit  Musik  zu  füllen,  daß  es  vor  allem 
in  den  Taschen  klimpert.  Talent  hat  deshalb  bei  den  alten  Griechen 
und  bei  den  alten  Juden,  die  es  sich  zurückgelegt  und  bis  auf  die 
heutige  Zeit  erhalten  haben,  während  jene  zugrundegegangen  sind, 
auch  eine  bestimmte,  nur  dem  Talent  erreichbare  Geldsumme 
bedeutet.  Die  Musik,  die  es  von  sich  gibt,  ist  zugleich  im  Klang 
der  Rede  enthalten,  die  es  spricht,  und  wenn  ich  den  nach  der 
flüchtigen  Begegnung  mit  den  Korngolds  wiedergeben  wollte, 
würde  man  an  meiner  musikalischen  Kompetenz  nicht  mehr 
zweifeln.  Trotzdem  muß  ich,  soweit  meine  Erinnerung  an  Zeiten, 
die  ich  nicht  erlebt  habe,  reicht,  offen  bekennen,  daß  das  Leben  zwar 
nicht  so  geräuschvoll  war,  aber  doch  noch  mehr  Musik  hatte,  als 
der  andere  Wolfgang,  der  weniger  gefeierte,  mit  seinem  Vater  und 
dem  Librettisten  Schikaneder  an  der  Ecke  der  Krugerstraße  in  ein 
Gespräch  vertieft  war.  Diese  schmale  Gasse  im  Handumdrehnzu  einer 
Hauptverkehrsader  und  zu  einem  Handelsemporium  zu  machen,  wäre 
ihnen  sicherlich  nicht'geglückt,  und  kein  Ton  hätte  verraten,  daß  über- 
haupt irgendeinmaldieZeit  anbrechen  könnte,  woderMark-t  die  schwere 
Identität  solcher,  die  Wolle,  und  solcher,  die  Musik  bringen,  darböte. 
Was  den  Schikaneder    betrifft,    so  hat  er  zwar  nicht  so  perfekt 


—  79  — 


schreiben  können  wie  dieser  Hans  Müller,  dessen  Zeitgenosse  zu 
sein  ein  Gedanke  ist,  der  mir  manchmal  beim  Erwachen  Schwierig- 
keit macht  und  höchstens  den  Mut,  den  Schlaf  mit  beiden  Fäusten 
zurückzuhalten.  Aber  dafür  konnte  jenem  auch  in  keiner  Kritik 
nachgesagt  werden: 

Alles  jauchzt  das  bacchantische  Liebeslied  des  Festes:  »Aus 
den  Gräbern  selbst  die  Toten  tanzen  heute  Brust  an  Brust...« 

Der  »Taumel  einer  Karnevalsnacht  in  Venedig«,  den  ich 
fürs  Leben  gern  ohne  die  Erläuterung  des  Herrn  Müller  einmal 
mitgemacht  hätte,  hat  für  mich  nunmehr  auch  jeden  Reiz  ver- 
loren. Was  das  andere  Werk  anlangt,  so  scheint  es  bereits  außer 
Mozart  den  Richard  Wagner  vom  Repertoire  verdrängt  zu  haben. 
Wenigstens  liest  man: 

Ist  >Violanta<  stellenweise  im  schweren  Stil  einer  deutsch- 
italienischen Oper  geprägt,  so  ist  im  Ring  der  Stil  einer  behaglichen 
deutschen  Biedermeieroper  getroffen;  beides  mit  einer  erstaunlichen 
Selbstverständlichkeit  und  Sicherheit. 

Alles  treffen  sie,  glühend  und  biedermeierisch,  und  ob  sie 
so  das  ganze  Trottoir  des  Lebens,  den  Bürgersteig,  besetzt 
halten  und  die  Kunst  freibleibend  offerieren,  ob  sie  wie  immer 
Kontra-  und  Rekontrapunkt  ausspielen,  sie  gewinnen  jede  Partie. 
In  der  Violanta  machen  sie's  von  unten,  »im  Ring«  von  oben. 
Nibelungen-  oder  Schottenring?  Nein,  es  ist  nur  vom  Ring  des 
Teweles  die  Rede,  einem  Kleinod,  das  man  getrost  in  die  Flut  werfen 
soll  —  wetten,  er  kommt  wieder  hinauf  und  es  stellt  sich  heraus, 
daß  er  dem  Fisch,  der  ihn  frißt,  im  Magen  liegen  geblieben  ist. 
Aber  wenn  der  Gast  sich  noch  einen  Funken  eines  ehrlichen, 
durch  keine  Preßtyrannis,  der  alles  untertänig,  beeinflußten 
Urteils  erhalten  hat,  so  wendet  er  sich  mit  Grausen. 


Ein  Versuch  mit  untauglichen  Mitteln 

[Druckfehlerberichtigung.]  In  dem  im  gestrigen  Sonntagsblatte 
veröffentlichten  Artikel:  >Beethoven  als  Bankaktionär«  von 
Dr.  Max  Reinitz,  soll  es  in  der  zweiten  Spalte  statt  »von  ihm  für 
100  Gulden  Papier  (=  294  Gulden  in  Silber)«  richtig:  »für  1000  Gulden 
Papier«  heißen. 

Das   wird    ihn    den  Großaktionären   nicht   näher   bringen. 


80  — 


Von  den  Dingen  im  Himmel  und  auf  Erden 

[Tartaruga-Abend  in  der  >Urania<.]  ....  veranstaltete 
Tartaruga-Abend  brachte  sowohl  in  Bezug  auf  die  Gediegenheit  und 
Reichhaltigkeil  des  Programms  als  auch  auf  den  Besuch.  .  .  .  Texte  von 
Tartaruga. ...  die  ebenfalls  Tartaruga-Lieder  sangen.  .  .  .  Solovorträge 
Tartarugas  ....  in  dem  aufregenden  Sketch  »Zehn  Minuten  Aufent- 
halt« von  Tartaruga.  .  .  . 

Aufhören!  Urania,  das  weiß  man,  ist  die  Himmlische. 
Aber  Tartaruga  —  ist  das  so  was  wie  eine  Muse  der  Unterwelt? 
Und  wenn  man  schon  weiß,  daß  dies  Fremdwort  nicht  so 
sehr  eine  der  Musen,  als  vielmehr  einen  von  ihr  Geküßten 
bezeichnet  —  was  ist  das:  ein  Tartaruga-Abend?  Wir  hatten 
Benke-Abende;  wir  hatten  Homunkulus-Abende,  deren  faustisches 
Experiment  sich  immer  wieder  als  ein  Hereinfall  erwies  —  aber 
wir  haben  nicht  gewußt,  daß  es  einmal  auch  Tartaruga-Abende 
geben  werde!  Rief  zur  Urania  eine  Stimme  aus  dem  Tartarus, 
wo  ein  abgestrafter  Titan  nicht  weiß,  was  er  mit  dem  ange- 
brochenen Abend  anfangen  soll?  Nein,  es  ist  der  Polizeikommissär 
Ehrenfreund,  der  eine  dichterische  Ader  hat,  und  das  tut  weh. 


Name  und  Beruf  des  Vaters 

(Graf  Tolstoi,)  ein  Sohn  des  verstorbenen  russischen  Schriftstellers 
Leopold  Tolstoi  war  als  russischer  Kadett  in  Gefangenschaft  geraten 
und  in  Millwitz  in  Böhmen  interniert  worden.  Nachdem  er  dort  einige 
mißlungene  Fluchtversuche  unternommen  hatte,  wurde  er  Ende  der  vorigen 
Woche  in  das  Kriegsgefangenenlager  nach  Braunau  übergeffihrt. 


Der  Vorstoß  des  Pogatschnigg 

Der  Reichsbund  deutscher  Postler  Österreichs  erläßt  die 
folgende  Mitteilung:  Der  reichsdeutsche  Abgeordnete  Hubrich,  der  dem 
Sozialdemokraten  Liebknecht  in  gerechter  Empörung  über  dessen  vater- 
landsverräterische Worte  das  Manuskript  wegriß  und  zu  Boden  schleuderte, 
ist  seinem  Beruf  nach  Postbeamter.  Der  Reichsbund  deutscher  Postler 
Österreichs  hat  ihm  daher  den  folgenden  Drahtgruß  geschickt:  Herrn 
Hubrich,  Mitglied  des  Reichstages  und  Generalsekretär  des  Verbandes 
mittlerer  Post- und  Telegraphenbeamten,  Berlin.  Die  Kunde  von  Ihrem 
mannhaften  Auftreten  gegen  die  schädlichen  und  schändlichen  Phrasen 


81 


Liebknechts  hat  uns  hoch  erfreut  und  wir  entbieten  Ihnen  in  treuer 
Bundesbrüderschaft  herzlichen  kameradschaftlichen  Heilgruß.  Für  den 
Reichsbund  deutscher  Postler  Österreichs:  Paul  Pogatschnigg,  Obmann. 
Wenn  die  deutschen  Postler  Österreichs  sich  um  die 
schnellere  Beförderung  sonstiger  Kunden  aus  Deutschland  nach 
Österreich  kümmern  wollten,  so  wäre  das  sehr  verdienstvoll.  Dieses 
Herumposteln  ist  jetzt  etwas  unerfreulich. 


Immer  feste  druff 

Aus  der  »Potsdamer  Tageszeitung,  Potsdamer  Intelligenzblatt' : 
Endlich  hat  ihn  sein  Schicksal  erreicht.  Freund  Liebknecht, 
der  sich  in  seinem  übergroßen  Biereifer  sein  Grab  endlich  allein  ge- 
graben hat.  So  hatte  die  Armierungstätigkeit  für  diesen  Helden  auch  ihr 
Gutes  gehabt  und  die  Schipperwaffe  segensreich  gewirkt.  Der  Arm  der 
Gerechtigkeit  hat  diesen  vaterlandslosen  Gesellen  in  Feldgrau  endlich 
erwischt,  der  sich  nicht  genugtun  konnte,  sein  Abgeordnetenmandat  in 
frechster  Weise  auszunützen  und  in  landesverräterischen  Gemeinplätzen 
zu  schwelgen.  Eigentlich  ist  es  zu  verwundern,  daß  dieser 
Schipper  mit  heilen  Knochen  aus  Feindesland  zurückkehren 
konnte.  Im  Lager  der  Ententebrüder,  sowohl  bei  den  Engländern  als 
auch  bei  den  Franzosen,  hätte  man  einen  solchen  Burschen  längst 
verschwinden  lassen,  gerade  wie  jetzt  in  Irland,  ganz  abgesehen 
von  den  offiziell  zum  Tode  verurteilten,  sicherlich  noch  mancher  Un- 
bequeme ganz  still  verschwinden  wird,  wie  zum  Beispiel  der 
brave  Casement,  den  man  schon  in  Schweden  heimlich  abmurksen 
lassen  wollte. 

Wird  es  nach  Friedensschluß  noch  möglich  sein,  die  Lebens- 
luft dieser  Menschheit  einzuatmen? 


Die  wahre  Chronik 

»Die  bayrischen  Löwen  sind  stark  im  Kampf,  aber  recht  schwach 
im  Briefschreiben.  Als  ein  drolliges  Beispiel  dieser  bayrischen  Eigenart 
führt  die  , Kriegszeitung  der  IV.  Armee'  des  Mossacher  Oberhofbauern 
Ältesten,  den  Hiesl  Niedermaier,  an,  der  ....  die  gesamte  Chronik  des 
großen  Weltkrieges  kurz  und  bündig  in  fünf  Feldpostkarten  zusammen- 
faßte. .  .  .  Die  erste  dieser  Karten  kam  ....  aus  Belgien  und  brachte  die 
frohe  Kunde:  ,Mir  get's  guat;  's  ist  ziemli  warm!'  Drei  Monate  später 
kam  die  zweite.  Aus  den  Argonnen:  , Mir  get's  guat;  naß  is!'    Die  dritte 


82 


(mit  dem  Stempel  des  Lenzbeginntages  1915)  brachte  Nachricht  aus 
Galizien.  Sechs  Worte:  ,Mir  get's  guat;  i  hob  LäusI'  Fünf  Monate 
später  folgte  die  vierte.  Aus  der  Gegend  von  Riga:  ,Mir  get's  guat; 
ein  Ohrwaschel  fehlt,  elendige  Bazi,  die  Russen!' Die  fünfte  und 
letzte  Karte,  die  Hiesl  Niedermaier  mit  Hieroglyphen  bemalte,  roch 
nach  dem  Balkan,  trug  das  Datum  des  Heiligenabends  1915  und 
meldete  kurz,  aber  eindrucksvoll :  ,  Mir  get's  guat;  die  Serben  san  alle!'« 


Fleisch  und  Blut 

Dem  gutgenährten  Bürgermeister  von  Wien  wurde  zur 
Motivierung  seiner  Ehrenbürgerschaft  das  folgende  ins  Gesicht  gesagt: 

Sie  sind  der  Bevölkerung  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen, 
alle  deine  Werke,  die  der  Kriegsfürsorge  gewidmet  sind:  die  Fürsorge- 
zentrale im  Rathause. ...  die  öffentlichen  Ausspeisestellen  und  Nähstuben, 
das  wirtschaftliche  Hilfsbureau.  ...  die  Fürsorge  für  notleidende  Künstler 
und  Handelsangestellte,  die  Errichtung  von  Depots  zur  Unterbringung 
von  Betriebsmitteln  von  verarmten  Gewerbetreibenden,  die  Jugend-  und 
Lehrlingsfürsorge,  die  Hilfsaktion  für  die  Kriegsflüchtlinge  und  so 
vieles  andere. 

Besonders  schwierig  muß  es  für  die  Errichtung  von  Depots 
zur  Unterbringung  von  Betriebsmitteln  von  verarmten  Gewerbe- 
treibenden gewesen  sein,  der  Bevölkerung  in  Fleisch  und  Blut 
überzugehen.  Ferner  ist  ihr  aber  auch  noch  das  Kühl-  und  Gefrier- 
haus in  Fleisch  und  Blut  übergangen,  ferner  ein  Mühlenuntemehmen 
und  manches  andere.  Im  Blut  ist  es  noch  nachweisbar.  Im 
Fleisch  möchte  sie's  erst  zu  spüren  bekommen. 


Aus  dem  Gerichtssaal 

In  Wien  wird  jetzt  rücksichtslos  gegen  Wirte  vorgegangen, 
die  zum  Beispiel  für  zwei  poschierte  Eier  in  Paradeissauce  K  1.20 
verlangen.  Der  Richter  verurteilt  einen  solchen  zu  hundert  Kronen, 
der  staatsanwaltschaftliche  Funktionär  meldet  wegen  zu  niedriger 
Strafe  die  Berufung  an.  Oder  es  verkauft  einer  eine  Kartoffelsuppe 
um  30  Heller.  »Eine  teure  Portion  Kartoffelsuppe.  Nach  fünfmaliger 
Verhandlung  gelangte  heute  .  .  .  .«   Strafe  50  Kronen.    Einer  wird 


83 


freigesprochen,  wiewohl  er  für  eine  Portion  Butter  den  »exorbitant 
hohen  Preis«  von  40  Heller,  für  zwei  Spiegeleier  einmal  eine  Krone, 
»ein  anderes  Mal  wieder  80  Heller«  berechnet  hat;  nach  längerer 
Beratung  hebt  der  Appellsenat  den  Freispruch  auf  und  verurteilt  zu 
2000  Kronen.  Allmählich  wird,  da  kein  Tag  ohne  solche  Urteile 
vergeht,  die  Richtlinie  erkennbar  und  die  Mehrzahl  der  Wirte  weiß 
auch  bereits,  was  sie  zu  tun  haben,  um  dem  Verdacht  der  Preis- 
treiberei zu  entgehen.  Sie  verlangen  für  zwei  poschierte  Eier  in 
Paradeissauce,  für  Kartoffelsuppe  und  für  eine  Portion  Butter  min- 
destens das  doppelte,  vorsichtshalber  das  dreifache.  Wenn  man  aus 
dem  Hexenkessel  von  Widersinn,  in  dem  uns  der  Tag  die  Nahrung 
für  jeden  Sinn  bereitet,  das  Problem  der  Gasthausjudikatur  heraus- 
fischt, dann  hat  man  oft  den  Eindruck,  daß  das  Rechtsgut  die 
Preistreiberei  ist,  daß  Wirte,  die  das  Essen  billiger  abgeben  als 
andere  in  Friedenszeit,  wegen  unlauterer  Konkurrenz  verfolgt 
werden  und  daß  wegen  zu  niedriger  Preise  die  Berufung  ange- 
meldet wird,  während  Wirte,  die  gleich  bei  Kriegsausbruch  die 
Salzgurke  um  K  1.40,  zwanzig  Kirschen  um  K  2.—  und  Pilzling 
mit  Ei  um  K  2.50  verkauft  haben,  seither  Ruhe  haben  ,  .  .  Überhaupt 
hat  die  Gerichtssaalrubrik  ihre  Reize  durch  den  Krieg  nicht  ver- 
loren: mag  die  Welt  in  Brüche  gehn,  Ehebruchsverhandlungen 
sind  noch  immer  die  beste  Kost,  und  wenn  es  von  einer  heißt: 
»Einen  interessanten  Verlauf  nahm«,  und  wäre  sie  selbst  durch  und 
durch  voll  Ödigkeit,  so  kann  man  sicher  sein,  daß  dann  der 
Name  des  Herrn  Osio,  der  ja  als  Richter  fast  so  beliebt  ist  wie 
die  Schalek  als  Dichter,  uns  überraschen  wird,  wiewohl  sich  diese 
Gestalt  sicher  ebenso  eindrucksvoll  als  Zeuge  in  lebemännischen 
Prozessen  verwenden  ließe.  Es  gibt  noch  Richter  in  Österreich,  aber 
hauptsächlich  doch  den  Osio,  's  gibt  überhaupt  nur  an  Osio,  und 
dieses  Unheils,  das  weniger  Strafgericht  als  egyptische  Plage  be- 
deutet, ist  kein  Ende.  Wenn  aber  wider  Erwarten  etwas  im  Zivil- 
gericht einen  interessanten  Verlauf  nimmt,  so  kann  man  sicher 
sein,  auf  den  Namen  Drawe  zu  stoßen.  Denn  überall  haben  die 
Interessenten  ihre  Interessanten,  unsere  Leute  ihre  Leute,  selbst 
wenn  die  weniger  von  Geburt  als  aus  Neigung  zu  unseren 
Leuten  gehören.  Einen  gefährlichen  Rivalen  haben  diese  höchstens 
im  Herrn  Pick,  dessen  Urteile  aber  mehr  nach  der  salomonischen 
Seite  hin  ins  Gewicht  fallen.    In  Rußland  sind  »reaktionäre  Maß- 


—  84  — 


nahmen«  erfolgt,  mit  der  Begründung,  >es  gebe  jetzt  Wichtigeres 
zu  tun,  als  sich  mit  jüdischen  Angelegenheiten  zu  befassen«.  Wir 
hier  können  nur  den  Kopf  schütteln  und  fragen,  ob  es  denn 
überhaupt  Wichtigeres  geben  könne. 


Aller  Anfang  ist  schwer 

»Gestern  nachmittag  beschäftigten  sich  mehrere  Jungen  auf  dem 
Kaiserplatz  nächst  der  Franz  Josefs-Brücke  damit,  einen  »Schützengraben < 
auszuheben.  Plötzlich  gab  das  Erdreich  nach  und  die  Erdmassen  füllten 
die  Grube  aus.  Während  sich  die  anderen  Jungen  rechtzeitig  in  Sicherheil 
bringen  konnten,  wurde  der  1 6  jährige  Lehrling  Franz  Bayer,  Kaiserplatz 
Nr.  15  wohnhaft,  von  den  Erdmassen  völlig  verschüttet.  Man  berief 
die  Feuerwehr  und  die  Rettungsgesellschaft.  Der  Feuerwehr  gelang  es 
nach  kurzer  Zeit,  den  Lehrling  zu  bergen.  Er  wies  Erstickungserscheinungen 
auf  und  war  betäubt.  Die  Rettungsgesellschaft  brachte  ihn  wieder  zum 
Bewußtsein.  Dann  wurde  er  ins  Spital  der  Barmherzigen  Brüder  gebracht.« 


Hoher  Sinn  liegt  oft  in  kind'schem  Spiel 

,  .  .  Schließlich  gab  der  Angeklagte  zu,  daß  ihn  seine  Frau 
wiederholt  aufmerksam  gemacht  habe,  derartige  Geschoßstücke 
nicht  nach  Hause  zu  bringen,  da  die  Kinder  schon  genug  von 
diesem  Zeug  haben.  ».  .  .  Ich  hab'  ja  nur  meinen  Kindern  eine  Freude 
machen  wollen.«  . . 

Die  Frau  des  Angeklagten  gab  als  Zeugin  an,  sie  habe  ihren 
Mann  zweimal  davor  gewarnt,  Geschoßstücke  zu  bringen,  zuletzt  noch 
am  Tage  vor  dem  Unglück.  ».  .  .  Ich  hatte  sechs  Kinder,  drei  habeu 
bei  der  Explosion  das  Leben  verloren,  das  vierte  ist  ein 
armer  Krüppel. <  . . 

Der  Verteidiger  meinte  .  .  der  Mann,  der  seine  Kinder  über 
alles  geliebt  habe,  habe  die  Geschoßstücke  nach  Hause  gebracht, 
um  den  patriotischen  Sinn  und  das  vaterländische  Denken 
seiner  Kinder  zu  stärken.  Er  habe  als  armer  Mann  seinen  Kindern, 
denen  er  Freude  bereiten  wollte,  nichts  kaufen  können  und  ihnen  mit 
den  Geschoßstücken  ein  Geschenk  gemacht,  das  ihn  nichts  gekostet  hat. 
Der  Verteidiger  bat  deshalb,  den  Angeklagten,  der  von  einem  edlen 
Beweggrund  geleitet  gewesen  und  der  ohnehin  verzweifelt  sei, 
freizusprechen  .... 


85  — 


Das  eben  ist  der  Fluch  der  bösen  Tat 

»Vor  dem  Prager  Landwehrdivisionsgericht  wurde  kürzlich 

I  n  der  Begründung  wird  darauf  verwiesen,  daß  sich  diefalschen 
Anzeigen  und  die  Erpressungen  an  den  Angezeigten  häufen 
and  daß  viele  Personen  deshalb  unschuldig  in  Unter- 
suchung Icamen.« 


Früh  übt  sich,  was  ein  Meister  werden  will 

»Am  29.  Jänner  kamen  die  Schulknaben  Johann  und  Martin 
Schröpfer  aus  Linz  zu  ihrer  Großmutter  Marie  Ledwina  in  Alt-Possigkau. 
Die  Knaben  ließen  sich  mit  der  Dienstmagd  Barbara  Lang  in  ein 
Gespräch  ein,  in  dessen  Verlauf  die  Magd  Äußerungen  gemacht  haben 
soll,  die  das  Verbrechen  der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  und  das  Ver- 
brechen der  Beleidigung  eines  Mitgliedes  des  kaiserlichen  Hauses  enthalten. 
Noch  am  selben  Tage  wurde  von  diesem  Gespräch  mittelst 
anonymen  Schreibens  der  Gendarmerie  die  Anzeige  gemacht. 
Barbara  Lang  wurde  verhaftet  und  hatte  sich  am  31.  März  vor  dem 
Landwehrdivisionsgericht  in  Pilsen  zu  verantworten.  Während  die  An- 
geklagte darauf  beharrte,  daß  sie  die  Äußerungen  nicht  getan  habe,  und 
ihre  Rechtfertigung  teilweise  auch  von  ihrer  Dienstgeberin,  die  bei  dem 
Gespräch  zugegen  gewesen  war,  bestätigt  wurde,  verharrten  die  beiden 
Knaben  bei  ihren  Beschuldigungen,  wichen  jedoch  in  Einzelheiten 
mehrfach  von  ihren  ursprünglichen  Aussagen  ab.  Das  Kriegsgericht 
vermochte  deshalb  die  Überzeugung  von  der  Schuld  der  Angeklagten 
nicht  zu  gewinnen  und  fällte  ein  freisprechendes  Erkenntnis.« 


Der  Krieg  der  Geschlechter 


Von  der  Geliebten   denunziert. 

Der  vierundzwanzigjährige  Ge- 
schäftsreisende V.  Studnicny  hatte 
sich  vor  dem  Prager  Landwehr- 
divisionsgericht wegen  Verbrechens 
der  Majestätsbeleidigung  zu  ver- 
antworten. Er  hatte  zu  seiner 
Geliebten  eine  Äußerung  getan. 
Als  er  das  Mädchen  verließ,  er- 
stattete sie  gegen  ihn  die 
Strafanzeige.  Studnicny  wurde  zu 
zwanzig  Monaten  schweren  Kerkers 
verurteilt. 


Selbstmord  aus  Angst  vor  dem 
aus  dem  Felde  zurückgekehrten 
Manne.  Die  in  der  Brigittenau, 
Marchfeldstraße  Nr.  5  wohnhafte 
35  jährige  Anna  K.  sprang  Dienstag 
aus  Angst  vor  ihrem  aus  dem  Felde 
zurückgekehrten  Manne  vom  Dach- 
fenster des  vierstöckigen  Hauses 
in  den  Hof  und  starb  bald.  Vor 
dem  Selbstmord  begoß  die  Frau 
die  Einrichtungsgegenstände  iiirer 
Wohnung  mit  Petroleum  und  zündete 
sie  an. 


86  - 


Eine  Familienangelegenheit 

In  Raudnitz  hat  der  Maschinenmeister  JohanQ  Kutzi- 
bauch  seinen  Sohn  erdrosselt  und  sodann  vor  eine  Lokomotive 
geworfen,  die  ihn  zermalmte.  Er  beging  diese  Tat  an  seinem  Sohne, 
weil  dieser  ein  Gewohnheitsdieb  war  und  alle  Ermahnungen  nichts 
fruchteten. 

Das  hätte  der  Vater  an  dem  Sohne  vor  dem  Krieg  auch 
nicht  getan.  Man  mußte  es  vorher  wissen  und  darum  war  er  nicht 
zu  führen.  Aber  jetzt,  spielt  es  eine  Rolle?  Es  ist  eine  Familien- 
angelegenheit. Eine  Überschreitung  des  häuslichen  Züchtigungs- 
rechtes. Eine  übertriebene  Anwendung  des  pädagogischen  Grund- 
satzes, daß  wer  nicht  hören  will  fühlen  muß.  Kutzibauchs  Junge 
wird  sichs  merken.  Aber  was  hier  der  Vater  tat:  der  Maschinen- 
meister tuts  jetzt  täglich  und  allerorten.  Nur  daß  es  die  vielen 
Söhne  anderer  sind.  Doch  solange  der  Maschinenmeister  nicht 
sein  richtiges  Kind  zermalmt,  die  Maschine  —  um  die  Stiefsöhne 
muß  ihm  nicht  bange  sein. 


Blutunterlauf  ungen 


Vor  dem  Bezirksgericht  Josefstadt  war  gestern  der  Friseur  Rudolf 
Matuja  und  seine  Frau  Anna  wegen  Kindesmißhandlung  angeklagt.  Die  Haus- 
besorgerin Anna  Laßman  hatte  nämlich  bei  der  Polizei  angezeigt,  daß  die 
beiden  ihre  vierjährige  voreheliche  Tochter  lieblos  behandeln  und  derart 
züchtigen,  daß  das  Kind,  wenn  nicht  Abhilfe  geschaffen  werde,  in  kurzer  Zeit 
zugrundegehen  müsse!  Der  Polizeiarzt  sah  an  verschiedenen  Körperstellen 
des  Kindes  von  Mißhandlungen  herrührende  Striemen  und  Blut  unter- 
laufungen. In  der  Verhandlung  erklärte  die  Frau,  daß  sie  die  Mizzi 
nicht  schlechter  behandle  als  ihre  beiden  ehelichen  Kinder,  daß  sie  sie 
jedoch  mitunter  arg  züchtigen  müsse,  weil  das  Kind  sehr  unfolgsam  sei. 
Der  Angeklagte  gab  an,  er  sei  längere  Zeit  auf  dem  Kriegsschau- 
platz gewesen,  leide  an  Herzneurose,  gerate  deshalb  leicht  in  Auf- 
regung. Wenn  das  Kind  Strafe  verdiene,  züchtige  er  es,  aber  nicht 
übermäßig.  Der  Richter  verurteilte  die  Angeklagten  zur  Stiafe  des  Ver- 
weises und  trat  den  Akt  an  die  Pflegschaftsbehörde  ab,  damit  sie  für 
entsprechende  Unterbringung  des  Kindes  Sorge  trage. 


—  87 


Es  ist  ja  bekannt,  daß  wir  ein  Gesetz  haben,  welches  zwischen 
lebenslänglicher  Strafe  für  einen,  der  einer  Frau  eine  Handtasche 
zu  entreißen  versucht,  und  dem  Verweis  für  diese  selbst,  wenn  sie 
ihr  Kind  mit  Erfolg  auf  dem  häuslichen  Herd  geröstet  hat,  Verstand 
und  Herz  zum  Narren  hält.  Wenn  man  nun  bedenkt,  daß  das 
ziemlich  allgemeine  Privileg,  auf  dem  Kriegsschauplatz  gewesen  zu 
sein,  gleichwohl  eine  Umstülpung  aller  Lebensverhältnisse  bewirken 
und  Grund  sowohl  wie  Ausrede  jeder  Ungebühr  bilden  wird,  so 
kann  man  den  ziemlich  allgemeinen  Nachteil,  der  den  Kindern 
heimgekehrter  Väter,  zumal  den  vorehelichen,  in  Aussicht  steht, 
schon  heute  mit  schmerzlicher  Bewegung  abschätzen.  Es  wäre  eine 
kleine  logische  Entschädigung  im  Chaos,  wenn  sich  die  Gewalt 
entschließen  könnte,  noch  vor  dem  Friedensschluß  —  der 
wirklich  nicht  nur  für  die  Verdiener  ein  Risiko  ist  —  ein 
Gesetz  zu  diktieren,  das  Vätern,  die  sich  für  ausgestandene 
Strapazen  dereinst  an  den  Kindern  rächen  wollten,  statt  eines  Ver- 
weises lieber  den  Galgen  androht.  Denn  es  wäre  doch  zu  infam,  daß 
unter  einer  Menschheit,  die  es  schließlich  verdient  hat,  die  Beute 
ihrer  demokratischen  Ambition  oder  das  Opfer  ihrer  törichten 
Weltpolitik  zu  sein,  die  Unschuldigen  am  schwersten  zu  büßen  hätten. 
Wehe  den  Erwachsenen,  von  deren  blutigem  Spiel  die  Unter- 
laufungen am  Rücken  der  Kinder  zeugen! 


—  88 


Desertion  in  den  Tod 

Ward  auch  die  Wohltat  noch  versagt  dem  Elend, 
Durch  Tod  zu  endigen?  Trost  wars  doch  immer. 
Wenn  Jammer  könnt'  sich  der  tyrannschen  Wuc 
Entziehn,     und     ihre     stolze    Willkür     täuschen. 

Shakespeare,  König  Lear  IV.  6. 

Vor  dem  Prager  Landwehrdivisionsgericht  wurde  am  Mittwoch 
ein  düstertrauriger  Fall  verhandelt.  Die  dreißigjährige  Dienstmagd  Erna 
Putzmann  hat  den  Sohn  eines  Prager  Professors  erschossen.  Sie  liebte 
den  jungen  Menschen,  von  dem  sie  ein  Kind  hatte,  mit  starker  Leiden- 
schaft und  tötete  ihn  eigentlich,  um  ihn  den  Gefahren  des 
Krieges  zu  entreißen.  Der  junge  Mann  war  Ende  Juli  1914  ein- 
gerückt, kämpfte  in  Serbien  und  in  den  Karpathen  und  kam  Anfang 
Mai  des  vorigen  Jahres  auf  Urlaub  nach  Prag.  In  der  Verhandlung  er- 
zählte die  Angeklagte,  der  Ermordete  habe  ihr  aus  dem  Felde  schreck- 
liche Sachen  geschrieben,  zum  Beispiel,  daß  man  den  Gefangenen  oft 
den  Kopf  abhackt,  und  ähnliche  Greueltaten.  Auch  habe  er  ihr  nach 
seiner  Rückkehr  erzählt,  vor  kurzem  sei  eine  Granate  in  seiner  unmittel- 
baren Nähe  geplatzt.  Ein  andermal  sei  knapp  neben  ihm  eine  Kugel 
vorbeigeflogen  und  habe  ein  Brett  durchbohrt.  —  Verhandlungsleiter: 
Wenn  die  Kugel  ein  Brett  durchbohrt,  so  ist  das  ja  nicht 
so  gefährlich.  —  Die  Angeklagte  sagt,  alle  diese  Bilder  hätten  sie 
derart  aufgeregt,  daß  sie  beschlossen  habe,  mit  ihrem  Geliebten  vor 
seinem  Abgang  ins  Feld  zu  sterben.  In  der  Nacht  vor  der  Tat  habe  sie 
die  Briefe  geschrieben  und  einen  Rosenkranz  gebetet.  —  Verhandlungs- 
leiter: Woran  haben  Sie  gedacht  beim  Beten?  —  Angekl. :  Ich  hab'  nur 
daran  gedacht,  daß  ich  mit  ihm  sterben  will.  —  Verhandlungsleiter: 
Ist  Ihnen  nicht  beim  Beten  eingefallen,  daß  es  eine  Sünde  wäre,  wenn 
Sie  ihn  erschießen?  —  Angekl.:  Nein.  —  ...  Verhandlungsleiter: 
Erzählen  Sie  uns,  was  Sie  weiter  gemacht  haben,  nachdem  Sie  mit  ihm 
vor  der  Tat  zusammengekommen  waren.  —  Angekl.  (schluchzend) :  Wir 
sind  eine  Weile  zusammen  gestanden  und  haben  einander  geküßt.  — 
Verhandlungsleiter:  Und  weiter?  —  Angekl.  (heftig  weinend):  Dann 
habe  ich  losgedrückt.  —  Verhandlungsleiter:  Was  geschah  dann?  — 
Angekl.:  Dann  habe  ich  mich  selbst  erschießen  wollen.  Ich 
hab'  mich  aufs  Bett  gelegt  und  hab' noch  einmal  mit  aller  Gewalt  mich 
erschießen  wollen,  es  ist  aber  nicht  gegangen.  Dann  ist  der  Heizer  ge- 
kommen und  hat  mir  den  Revolver  weggenommen.  —  Verhandlungs- 
leiter: Haben  Sie  sich  gewehrt?  —  Angekl.:  Ich  hab'  mich  fest  gewehrt 
und  hab'  ihm  gesagt:  >Um  Gottes  willen,  haben  Sie  Mitleid,  lassen 
Sie  mir  den  Revolver l<  —  Verhandlungsleiter:  Dann  sind  Sie  zum 
Fenster  hinausgesprungen.  Wohin  sind  Sie  gegangen^  Angekl.: 
Ich  bin  zur  Palackybrücke  gelaufen  und  stromabwärts  gegangen.  — 
Verhandlungsleiter:  Und  dann  haben  Sie  sich  ins  Wasser  gestürzt. 
—  Angekl. :  Nein,  ich  bin  in  ein  Haus  gegangen  und  wollte  hinauf  auf 


89 


den  Boden.  —  Verhandlungsleiter;  Was  wollten  Sie  dort  machen?  — 
Angekl. :  Ich  wollte  michaufhängen.  —  Verhandlungsleiter :  Also  der 
Boden  war  zugesperrt.  Was  haben  Sie  dann  gemacht?  —  Angekl.:  Ich 
bin  die  Stiegen  wieder  hinuntergelaufen  und  in  den  Keller  hinein.  Dort 
habe  ich  mich  mit  dem  Unterrockbandel  aufhängen  wollen.  —  Ver- 
handlungsleiter: Woran  wollten  Sie  sich  erhängen?  —  Angekl.:  Es  war 
ein  Holzverschlag  dort.  —  Verhandlungsleiter:  Und  wieso  sind  Sie 
wieder  hinausgekommen?  —  Angekl.:  Ich  habe  draußen  eine  Frau  rufen 
gehört:  >Wer  ist  da?<  Darauf  hab'  ich  mich  losgemacht  und  bin  davon- 
gerannt.  —  Verhandlungsleiter:  Was  war  weiter?  —  Angekl.:  Ich  bin 
in  der  Nähe  der  Sophieninsel  ins  Wasser  gesprungen.  —  Ver- 
handlungsleiter: Wissen  Sie,  was  später  mit  Ihnen  geschehen  ist?  — 
Angekl. :  Ich  hab'  die  unangenehmen  Wasserschlucke  gemacht  und  dann 
bin  ich  gleich  eingeschlafen.  —  Verhandlungsleiter:  Wann  sind  Sie 
wieder  zu  sich  gekommen?  —  Angekl.:  Im  Krankenhause.  —  Ver- 
handlungsleiter: Hat  Ihnen  dann  die  Tat  nicht  leid  getan?  —  Angekl.: 
Ich  war  so  unglücklich.  Ich  hab'  mit  ihm  zusammen  sterben  wollen.  — 
Wie  der  Gefangenhausarzt  aussagte,  habe  die  Angeklagte  Strangu- 
lierungsstreifen  am  Halse  aufgewiesen,  die  vierzehn  Tage  später 
noch  deutlich  sichtbar  waren.  Er  hält  einen  Selbsterdrosselungs- 
versuch der  Angeklagten  für  sehr  wahrscheinlich.  Sie  hat  im  Gefängnis 
mehrmals  Selbstmordversuche  unternommen.Einmal  hat  sie  versucht, 
sich  mit  Glasscherben,  einmal  mit  einer  Haarnadel  am  Unter- 
schenkel Adern  zu  öffnen,  um  zu  verbluten.  Die  Angeklagte 
bat  wiederholt,  er  solle  ihr  dazu  verhelfen,  daß  sie  bald 
hingerichtet  werde.  Der  Gerichtshof  beschloß,  über  den  Geistes- 
zustand des  unglücklichens  Mädchens  ein  Gutachten  der  Pragef 
Universität  einzuholen    und    bis    dahin    die   Verhandlung    zu   vertagen. 

Wenn  man  dereinst  noch  den  Mut  haben  sollte, 
Kindern  und  Kindeskindern  etwas  zu  erzählen,  so  möge 
man  unter  allen  Heldentaten  diese  verbürgte  auswählen ! 


90 


Die  Fundverheimlichung 

Wien,  26.  April.  (Das  Ende  eines  zugelaufenen  Hundes.) 
Der  19jährige  Straßenbahnschaffner  Josef  Schüch  hatte  sich  heute  vor  dem 
Bezirksrichter  Dr.  Fialla  (Josefstadt)  gegen  eine  durch  ihre  Begleit- 
umstände merkwürdige  Anklage  wegen  Fundverheimlichung 
zu  verantworten.  Nach  einer  vom  Volksschullehrer  Franz  Wltschek  er- 
statteten polizeilichen  Anzeige  soll  der  Beschuldigte  ^m  6.  März  einen 
ihm  auf  der  Straße  zugelaufenen  Hund,  der  sehr  groß  war,  in  seine 
Wohnung  mitgenommen,  daselbst  am  nächsten  Tage  mit  einem  Stocke 
erschlagen,  kunstgerecht  zerlegt  und  dann  das  Fleisch  gekocht  und  ge- 
meinsam mit  seinem  Onkel,  dem  Offizial  Franz  Schüch,  verzehrt  haben. 

Der  Angeklagte  erklärte  in  der  heute  durchgeführten  Verhandlung, 
daß  er  während  seiner  Dienstfahrt  auf  der  Elektrischen  von  mehreren 
Fahrgästen  auf  den  Hund  aufmerksam  gemacht  wurde,  der  während 
der  Fahrt  auf  die  Elektrische  aufgesprungen  war.  Er  habe  den  Hund, 
der  ohne  Btißkorb  und  Marke  war  und  ganz  verwahrlost  aussah,  vom 
Wagen  weggejagt.  Der  Hund  sei  jedoch  der  Elektrischen  stets  nach- 
gelaufen und  sei  schließlich,  als  er  am  Abend  den  Dienst  verlassen 
hatte,  bis  in  seine  Wohnung  nachgefolgt.  —  Richter:  Was  haben  Sie 
dann  mit  dem  Hund  gemacht?  —  Angekl.:  Aus  Mitleid  habe  ich  den 
Hund,  der  ganz  abgemagert  war,  in  meine  Wohnung  genommen  und 
ihn  zunächst  ordentlich  gefüttert.  Am  nächsten  Tage  habe  ich  dann  den 
Hund,  weil  er  meine  Wohnung  verunreinigte  und  auf  mich  losgehen 
wollte,  aus  Angst  mit  einem  Beil  erschlagen,  habe  dann  den  Hund 
kunstgerecht  zerlegt  und  die  einzelnen  Stücke  nach  und 
nach  in  dem  Zimmerofen  verbrannt.  —  Richter:  Sie  sollen  den  Hund 
verzehrt  haben?  —  Angekl.:  Ich  werde  doch  das  Fleisch  von  einem 
solchen  Hunde,  der  ein  gewöhnlicher  Köter  war  und  Zeichen 
von  Räude  hatte,  nicht  essen. 

Auf  den  Vorhalt  des  Richters,  warum  er  den  Hund  nicht  einfach 
auf  die  nächste  Wachstube  gebracht  hatte,  erwiderte  der  Angeklagte: 
Daran  habe  ich  nicht  gedacht. 

Der  Zeuge  Franz  Schüch,  der  Onkel  des  Angeklagten,  gab  an, 
daß  letzterer  in  seiner  Gegenwart  den  Hund  erst  durch  Schläge  mit 
einem  Pracker  betäubt  und  dann,  da  er  gestöhnt  habe,  vollends  mit 
einem  Beil  erschlagen  habe.  Als  der  Hund  tot  war,  habe  der  Neffe  gleich- 
falls in  seiner  Anwesenheit  den  Kadaver  tranchiert  und  die  einzelnen 
Stücke  im  Ofen  verbrannt.  —  Richter:  Es  wird  behauptet,  daß  Sie  und  Ihr 
Neffe  den  Hund  gegessen  haben  sollen?  —  Zeuge:  Ich  werde  doch 
als  Mann  von  sozialer  Stellung  kein  Hundefleisch  essen.  — 
Richter:  Das  ist  Geschmacksache.  —  Zeuge:  Der  Hund  hatte 
überhaupt  keine  Rasse  gehabt.  Er  war  ganz  abgemagert 
und  schäbig. 

In  drastischer  Weise  schilderte  die  Zeugin  Theresia  Reinisch,  eine 
Nachbarin  des  Angeklagten,  das  traurige  Ende  des  Hundes.  Sie  erklärt, 
daß  der  Hund    erst  fürchterlich    gequietscht,    dann  leise  gestöhnt  habe. 


91  — 


Sie  habe  in  die  Wohnung  des  Angeklagten  durch  ein  Gangfenster  sehen 
können  und  beobachtet,  wie  der  Angeklagte  dem  Hund  die  Haut  abge- 
zogen und  ihn  dann  in  kleine  Stücke  zerlegt  habe.  —  Richter  (zur 
Zeugin):  Wissen  Sie  auch,  ob  der  Angeklagte  und  sein  Onkel  den  Hund 
gegessen  haben?  —  Zeugin:  Das  habe  ich  nicht  gesehen,  aber  die 
Frau  Schüch  hat  mir  auf  meine  Frage,  was  mit  dem  Hund  eigentlich 
geschehen  sei,  gesagt:  »Der  Seppl«  —  das  ist  der  Angeklagte  —  >hat 
ihn  gekocht  und  gegessen.«  Ich  habe  darauf  erwidert:  >Das  ist  gemein, 
und  es  wundert  mich,  daß  so  was  gebildeten  Menschen  erlaubt  ist.« 

Die  als  Zeugin  vorgerufene  Frau  Marie  Schüch,  die  Tante  des 
Angeklagten,  erklärte,  sich  der  Zeugenaussage  gegen  ihren  Neffen  ent- 
schlagen zu  wollen. 

Der  als  Zeuge  vernommene  Volksschullehrer  Franz  Wltschek  gab 
an,  daß  ihm  die  Nachbarn  der  Familie  Schüch  sehr  aufgeregt  die 
Geschichte  vom  Hund  erzählt  und  unter  anderm  angegeben  hätten,  daß 
der  Angeklagte  das  Fleisch  bei  der  Wasserleitung  gewaschen  und  dann 
im  gekochten  Zustande  mit  seinem  Onkel  gegessen  habe.  Auf  die 
Frage  des  Richters  an  den  Zeugen,  wie  der  Hund  lebend  ausgesehen 
habe,  erwiderte  der  Zeuge;  Ich  habe  den  Hund  nicht  gesehen,  aber 
eine  Trafikantin,  bei  der  Herr  Schüch  mit  dem  Hund  war,  bemerkte: 
»Das  ist  aber  ein  schöner  Hund«. 

Der  Richter  konstatierte  aus  dem  Akt,  daß  sich  bisher  der 
Eigentümer  des  Hundes  nicht  gemeldet  habe. 

Der  staatsanwaltschaftliche  Funktionär  Auskultant  Dr.  Herzl 
beantragte  die  Bestrafung  des  Angeklagten  wegen  Fundverheimlichung, 
da  er  nach  dem  Gesetze  verpflichtet  gewesen  wäre,  von  dem  ihm  zuge- 
laufenen Hunde  bei  der  Polizei  die  Fundanzeige  zu  machen. 

Der  Richter  sprach  den  Angeklagten  frei  mit  der  Begründung, 
daß  der  ohne  Beißkorb  und  Marke  dem  Angeklagten  zugelaufene  Hund 
als  eine  herrenlose,  von  dem  früheren  Eigentümer  jedenfalls 
preisgegebene  Sache  anzusehen  ist. 

Wenn  dieses  hier,  wie  es  ist,  aus  dem  Blatt,  das 
die  deutsch -österreichische  Kultur  vertritt,  in  Times, 
Figaro,  Nowoje  Wremja  oder  Corriere  della  Sera  über- 
geht, so  ist  es  die  größte  Greuellüge,  die  je  über  uns 
erfunden  wurde.  Wenn  es  als  Bericht  über  eine 
Gerichtsverhandlung  in  London,  Paris,  Petersburg  oder 
Rom  erschiene,  wär's  der  unwiderleglichste  Beweis 
für  den  kulturellen  Zusammenbruch  der  dort  hausenden 
Nationen.  Es  ist  ein  Fall,  in  welchem  die  noch  auf  den 
Trümmern  des  Menschentums  quälende  Auseinander- 
setzung zwischen  Mensch  und  Tier  mit  der  Stummheit 
des  Tiers  zum  Himmel  schreit,  Rache,  Pest  und  Sint- 
flut herabfordernd  auf  eine  entartete  Abart  von  Tier, 


92  — 


die  nur  zwei  Beine  hat,  doch  zwei  Arme 
zum  Morden.  Nicht  daß  Fleischnot  den  Menschen, 
unter  dessen  Messer  ja  auch  Kalb  und  Huhn 
nicht  mit  dankbarem  Blick  verscheiden,  zwänge,  vom 
Hund  zu  essen,  ist  das  Entsetzliche,  und  der  Witz  des 
Richters,  es  sei  Geschmacksache,  mag  der  logische 
Ruhepunkt  sein,  von  dem  man  schaudernd  dieses  Wirr- 
sal  des  Gefühls  überblickt.  Daß  ein  Offizial  und  ein 
Tramwaykondukteur  es  als  gebildete  Menschen  ableh- 
nen oder  es  mit  ihrer  sozialen  Stellung  unvereinbar 
finden,  das  Fleisch  eines  rasselosen  Hundes  zu  essen  — 
das  ist  wohl  eine  Möglichkeit  innerhalb  der  Ordnung 
dieses  Planeten,  verständlich  dem,  der  sich  dort  zur 
Not  eingerichtet  hat.  Das  Grauen  beginnt  bei  der 
Unschuld.  Bei  der  Glaubhaftigkeit  der  Versicherung, 
der  Hund  sei  nicht  für  den  Appetit  geschlachtet 
worden,  und  bei  dem  Zugeständnis,  daß  es  mit  den 
Standesvorurteilen  vereinbar  sei,  einen  Hund  zu 
tranchieren,  den  man  nicht  essen  möchte.  Wäre  das 
kunstgerechte  Zerlegen  nicht  l'art  pour  l'art  gewesen, 
sondern  die  Tat  des  Hungers,  der  Mensch  hätte  tierisch 
gehandelt,  und  das  wäre  in  der  Zeit  der  schweren 
Not  entschuldbar,  wo  Menschen  nichts  zu  essen 
haben,  weil  Menschen  geschlachtet  werden,  damit 
Menschen  mehr  zu  essen  haben.  Da  es  nicht  der 
Fall  ist,  so  hat  der  Mensch  nur  menschlich  gehandelt. 
»,Das  wildste  Tier  kennt  doch  des  Mitleids  Regung.' 
,Ich  kenne  keins,  und  bin  daher  kein  Tier.'«  Menschlich 
ist  die  Anklage  auf  Fundverheimlichung;  menschlich 
Laune  und  Fragestellung  des  Richters,  der  den  Wert  des 
Funds  nach  der  Eignung  zum  Lebensmittel,  diese  nach 
der  Angabe  schätzen  will,  »wie  der  Hund  lebend  ausge- 
sehen habe« ;  menschlich  der  Freispruch  mit  der  Begrün- 
dung, der  herrenlose  Hund  sei  eine  preisgegebene  Sache 
gewesen;  menschlich  der  Bericht,  der  die  Sachlichkeit 
der  Beschreibung  durch  die  Objektivität  der  Meinung 
ergänzt,  es  sei  »eine  durch  ihre  Begleitumstände  merk- 
würdige Anklage  wegen  Fundverheimlichung«.  Mensch- 


93 


lieh  alles  an  dieser  Tragödie,  in  der  —  über  alle  noch 
so  tieftraurige  Begebenheit  hinaus,  die  heute  den 
Menschen  im  ohnmächtigen  Kampf  gegen  die  von  ihm 
verschuldete  Maschine  den  Tod  sterben  läßt,  welchen  man 
Heldentod  nennt  —  das  Tier  den  wahren  Opfertod  der 
Treue  erleidet,  der  Treue  als  der  zum  Tier  geflohenen 
Eigenschaft,  die  wieder  Schutz  sucht  beim  Menschen, 
unbehütet  vom  menschlichen  Verstand  und  darum  ohne 
Wissen  um  die  Gefahr,  ohne  Arg,  ohne  Witterung,  daß 
eben  er  sein  Mörder  sei.  Um  der  Treue  als  Idee  willen, 
ihr  bis  zum  letzten  Atemzug  treu,  fällt  das  Tier  in  dem 
einzig  tragischen  Konflikt  zwischen  der  Lust,  zu  leben, 
und  der  Pflicht,  das  letzte  Pfand  des  Schöpfers  aus 
der  vom  Menschen  verratenen  Schöpfung  zu  retten. 
»Kreatur«,  im  Mund  des  Menschen  zum  Schimpf  ge- 
worden, läuft  ihm,  wie  die  bewußtlose  Natur  des 
Weibs  dem  Lustmörder,  zu,  und  er  tötet  sie  —  wie  der 
nicht  aus  Raubsucht  —  aus  Hunger  nicht,  sondern  für 
die  Lust,  die  ihm  die  Überlegenheit  gewährt. 
Schwein,  Esel,  Ochs  und  Hund  —  Schimpfworte,  um 
seinesgleichen,  die  tief  unter  jenen  Gattungen  stehen, 
zu  bezeichnen,  hat  der  Mensch  daraus  gemacht.  Aber 
Schopenhauer  hätte  seinen  Hund  nicht  »Mensch« 
rufen  sollen,  wenn  er  den  Hund  doch  erhöhen  und  den 
Menschen  herabsetzen  wollte.  Armeen  brauchen  Hunde 
und  rufen  sie  als  ihre  »treuen,  braven  und  unentbehr- 
lichen Helfer«  an.  Sie  der  Maschine  aussetzen,  heißt 
Unwissenheit  über  die  Idee  zum  größeren  Opfer  ver- 
pflichten. Nur  das  Tier,  das  dem  Menschen  erliegt,  ist 
der  Held.  O  daß  doch  die  Menschheit  in  einen  Traum 
verfiele,  in  dem  sie  vor  Lastwagen  gespannt  und  von 
klugen  Pferden,  die  schon  Hü  und  Hott  erlernt  haben, 
mit  der  Peitsche  vorwärts  getrieben  würde !  In  dem 
der  räudige,  schlechtrassige  Mensch  einem  Hund  zu- 
läuft, weil  sein  verkommener  Instinkt  in  ihm  den  letzten 
Retter  ersehnt,  und  von  ihm  dafür  kunstgerecht  tranchiert 
wird !  Wann  tötete  je  der  Hund  den  Menschen  ?  In 
einen  Schacht  gestürzt,    von  Hunger  zur   Tollwut   ge- 


—  94 


trieben,  wenn  ihm  dortliin  ein  Verunglückter  nachkam, 
biß  er  ihn  und  ließ  dann  von  dem  Fund.  Der  hier 
springt,  den  verlornen  Herrn  in  jeder  Gestalt  suchend, 
auf  eine  Maschine  und  muß  am  Biß  des  tollen 
Menschen  sterben.  Er  glaubte  sich  nahe  am  Ziel, 
er  sprang,  wie  Hunde  selten  tun,  auf  die  Straßenbahn; 
er  wird  verjagt,  springt  wieder  auf,  verläßt  den  Mann 
nicht  mehr  und  folgt  ihm  in  die  Wohnung.  Weil  er  ihm 
die  verunreinigt  und  weil  er  auf  ihn  losgehen  will,  der 
Ordnung  h.-^lb  und  halb  aus  Angst,  erschlägt  ihn  jener 
mit  dem  Beil.  Aus  Mitleid  habe  er  ihn  aufgenommen, 
dazu  kam  Furcht,  das  gibt  ein  Trauerspiel.  Nachdem  er 
ihn  erlegt,  zerlegt  er  ihn  und  Stück  für  Stück  bestattet 
er  im  Ofen.  Der  Ordnung  halb  und  halb  aus  Lust.  Ich 
sah  ihn  oft.  Solch  einer,  der  keiner  Fliege  ein  Haar 
krümmen  kann,  sitzt  einem  vis-ä-vis  im  Zug  und  schlägt, 
damit  die  Fahrt  schneller  vergeht,  mit  seiner  Schlächter- 
pratze eine  tot.  Totschlag  der  Zeit,  die  nicht  vorüber- 
fliegt, nur  kriecht  und  justament  am  Fenster  sitzt,  bloß 
für  ein  Weilchen,  das  den  Tod  ihr  bringt.  Patsch  —  und 
lacht.  Trifft  ihn  der  Schlag,  so  jammern  die  Verwandten. 
Ich  saß  ihm  gegenüber,  er  fragte,  ob  er  die  Zeitung  nehmen 
dürfe,  aber  er  fragte  nicht,  ob  es  erlaubt  sei,  die  Fliege 
zu  töten.  »Seitdem  erfuhr  ich  mehr;  was  Fliegen  sind 
den  müß'gen  Knaben,  das  sind  wir  den  Göttern;  sie 
töten  uns  zum  Spaß.«  Hätte  ich  die  Wahl  gehabt,  über 
ihm  oder  der  Fliege  Schicksal  zu  sein,  ich  hätte  gewählt! 
Wie  es  da  auf  dem  Fenster  lief,  war's  ein  Mechanismus, 
den  er  nicht  erfinden  konnte.  Sein  Stolz  verträgt  es 
nicht,  es  kränkt  ihn,  wenn  er's  gleich  nicht  weiß.  Fliegen 
kann  er  auch,  aber  das  Unnütze  stört  ihn,  und  über- 
legen ist  er  den  Tieren,  weil  er  vor  all  seiner  Stummheit 
ihre  Sprache  nicht  hört.  Hätte  ich  die  Wahl  ge- 
habt, einen  Hund  oder  dessen  Schlächter  zu  tranchieren, 
ich  hätte  gewählt!  Aber  in  dem  großen  Schlachthaus, 
in  das  wir  geboren  werden,  ist  der  Hund,  der  seinen 
Herrn  sucht,  nur  der  Fund  des  andern,  und  ein  Recht, 
das  die  Folterung  von   Kindern  gewährt,   erlaubt  die 


95  — 


Massakrierung  von  Hunden.  Er  war  sehr  groß, 
doch  dunkler  Herkunft  und  schlecht  genährt.  Er  war 
eine  preisgegebene  Sache.  Nun,  die  ihr  richtet  über 
Menschen  und  Hunde,  hört:  Solch  eine  Sache  kann 
vieles,  was  ein  Mensch  nicht  kann.  Solch  eine  Sache 
kann  ihm  all  das  sagen,  was  niemals  er  zur  Sache 
sprechen  könnte.  Unsäglich  leidet  sie  um  ihn,  sucht 
ihn  ihr  Auge,  durch  das  allein  sie  es  ihm  sagen  kann, 
der  es  versagt  ist,  es  ihm  anzusagen,  der  Gott,  zu 
schweigen,  was  sie  leidet,  gab;  unwissend,  ob  sie  preis- 
gegeben ist,  stets  preisgegeben  ihrem  Menschen- 
glauben, traut  sie  uns  auf  ihr  ehrliches  Gesicht! 
Solch  eine  Sache  trägt  jede  Bürde  des  Gefühls,  die 
das  Bewußtsein  uns  erleichtern  hilft.  Man  sieht  sie 
sitzen,  aber  niemand  ahnt,  daß  in  der  Sache  eine  Seele 
sitzt,  daß  ein  Gefühl  jetzt  schmerzt,  daß  eine  Hoffnung  in 
ihr  jetzt  treibt,  ihr  aufgetragen  hat,  just  an  der  Stelle 
hier  zu  warten.  So  sitzt  sie  wartend  hier  vor  einem 
Bahnhof,  wo  ihre  Herrin  —  denn  die  Sache  war  ein 
Hund  —  davongefahren  ist  vor  ein  paar  Stunden . . .  Als 
man  Abschied  nahm,  schritt  die  Sache,  der  Hund,  groß, 
traurig  und  ergeben,  hinter  dem  Begleiter  den  Berg- 
hang hinauf,  blieb  immer  wieder  stehn  und  sah  zurück. 
Noch  sieht  man  sie;  nicht  anders  geht  ein  schweres  Herz. 
Bald  ist  die  Sache  verschwunden  dem  Blick  .  .  .  Bald 
ist  sie  entschwunden  dem  Hüter.  Sie  wird  gesucht, 
gefunden:  an  der  Bahn  —  denn  jetzt  ist  ungefähr 
die  Stunde,  daß  einst  die  Herrin  angekommen  war.  Nun 
kommt  sie  nicht.  Enttäuscht  verschmäht  die  Sache 
jede  Nahrung,  selbst  sonst  geliebte  Leckerbissen.  Wendet 
sich  ab  von  allem,  was  sie  tierisch  je  begehrt,  gibt 
sich  dem  Hunger  preis;  verzehrt  sich  selbst.  Nach 
ein  paar  Tagen  führt  man  den  Hund  zur  Bahn,  denn 
eine  Freundin,  die  mit  der  Herrin  fortgereist  war,  kommt. 
Sie  selbst  kommt  nicht.  Er  aber  rührt  sich  nicht  vom  Fleck, 
blickt  auf  den  Wagen  nur  und  sucht  und  sucht.  Er  ißt  noch 
immer  nichts,  nimmt  etwas  Milch  nur  an,  so  viel  gerade 
nötig,  um    nicht   am  Leid  zu  sterben.    Das  geht    so 


—  96 


eine  Woche  lang.  »Er  war  ganz  abgemagert«, 
sagt  der  Zeuge.  Arsen,  Einsicht  ins  Unabänder- 
liche, Gewöhnung  an  die  stellvertretende  Güte  bringen 
ihn  wieder  hinauf.  Man  hört  es  wie  ein  Märchen, 
Schulkindern  erzählt,  die  ihr  beginnendes  Menschen- 
tum nicht  im  Schützengrabenspiel  verschütten  und 
noch  aufhorchen  können,  wenn  Beispiele  sittlicher 
Haltung  ihnen  dicht  ans  Herz  gerückt  werden.  Seht 
doch  nur  hin!  O  du  erhabnes  Vorbild  in  dieser  Zeit 
profaner  Hungersnot!  Von  deinem  Hunger  trenn'  ich 
mich  nicht  mehr.  Es  risse  einen  von  der  Menschheit  weg, 
war'  man  nicht  längst  schon  über  alle  Berge.  Dort  lebt  ein 
Hund.  Gott  hör's:  Der  Menschenehre  ersten  Preis,  der 
Ehre,  die  sich  preisgegeben  hat,  sich  selber  preis- 
gegebner Menschheit  Preis  geb'  ich  dem  Hund! 
Und  die  Andacht  möchte  nicht  mehr  fort  von  der 
Stelle,  wo  das  wartende  Tier,  für  eine  halbe  Stunde  herren- 
los, länger  verlassen,  dasitzt,  und  will  die  Hand  über  der 
Sache,  dem  Fund,  dem  Hund  halten,  damit  ihn  nicht  der 
Mensch,  der  Schinder  finde,  verheimliche,  der  noch  nie 
aus  Sehnsucht  gehungert  hat,  der  das  Fleisch  dieses 
Hundes  nur  verschmäht,  weil  es  gramverzehrt  ist,  widrig 
dem  Geschmack  und  Stand  des  Mörders,  und  der  dieses 
Gottesgeschöpf  dennoch  töten  würde,  weil  es  ein  Tier  ist, 
und  er,  er,  ein  Mensch! 


KARL   KRAUS 

VORTE  IN  VERSEN 


LEIPZIG 
iRLAG  DER  SCHRIFTEN  VON  KARL  KRAUS 

(KURT  WOLFF) 

19  16 

Druck  der  Offizin  W.  Drugulin 

In  Leinen  gebunden  Mk.  4.— 
Bfitten-Ausgabe  vergriffen 

HALT  der  vorigen  dreifachen  Nummer  423-425,  5.  Mai  1916: 
e  letzten  Tage  der  Menschheit  /  Ein  Prophet  /  Verkündigung  / 
ichriften  /  Notizen  /  Briefe  Adalbert  Stifters  /  An  einen  alten 
hrer    /    Gruß   an    Bahr    und    Hofmannsthal    /    Feldpostbrief   /^i 


Kleiner  Konzerthoussaal 

(ill.   Lothringerstraße  20) 
SAMSTAG  DEN  17.  JUNI  191C 

PRÄZISE  HALB  8  UHR 

VORLESUNG 

KARL  KRAUS 


KARTEN  zu  K  1Ö-— ,  8.—,  6.—,  4.—,  2.-,  1.—  an 
Konzerthauskassa,  IIB.  Lotlirins@?straAe  20,  bei 
Kehlendorfer,  I.  Krugersftraße  3  und  in  der 
Buchhandlung  Friedlaender,  Kärntnerstraße  44 

[Ein  Teil  cSes  Ertrages  wird  Vereinen  für  Kinderschutz  und  fü 
Tiersciiutz  zugewendet) 


^m.  431—436  AUGUST  1916  XVIIL  JAH 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

Feiertage  /  Hunde,  Menschen,  Journalisten  /  Giosseii  /  Diplomater 
Notizen  /  Solche  Kontraste  gibt's  nur  an  der  Front  /  Von  eine 
Mann  namens  Ernst  Posse   /   Glossen    /   Die  Laufkatze  /  Grana 

gegen  Sterne  ^ 

Mit  einer  Illustration 


NACHDRUCK    VERBOTEN 

Preis  dieses  Keftes: 

1  Krone  80  Heller  =  1  Mark  50  Pf. 

Ti7T7DT    K  r\  .        r\TC     T?  A  OT/T7T  •        IvrfTTlLT 


'Bruöeröorf  1915 
2tltor  in  6er  Jlotlirc^e,   ^crgeftcttt  aus  (Sranats  unö  ec^tapneUftüden 


Deutsche  Ansichtskarte 
(Verlag  Fritz  Knecht) 


DIE  FACKEL 

Nr.  431—436  2.  AUGUST  1916  XVIII.  JAHR 


Feiertage 

>.  .  .  Bereits  am  Himmelfahrtstage  seien  in  Bar-le-Duc Bomben 
mitten  in  die  Volksmenge  gefallen,  die  sich  mittags  bei  der 
Ankunft  des  Pariser  Zuges  immer  zu  versammeln  pflegt.  50  Personen 
seien  getötet  und  80  verwundet  worden  ....  Die  Aufregung  über 
den  Angriff  auf  die  unbefestigte  Stadt  sei  furchtbar  und  habe 
mehrere  Tage  gedauert.« 

». .  .  Am  22.  d.  war  Fronleichnamstag  .  .  .  Das  schwerste 
Unheil  richteten  die  Bomben  am  Festplatz  von  Karlsruhe  an, 
wo  die  Menagerie  Hagenbeck  einen  Anziehungspunkt  bildete  .... 
Getötet  wurden  110  Personen;  verletzt  wurden  147  Personen  .... 
Die  Erbitterung  über  den  zwecklosen  Angriff  auf  die  offene  Stadt 

ist  allgemein   und  tief.« 

* 

».  .  .  Aber  die  nutzlose  Bosheit,  die  an  Frauen  und  Kindern 
von  französischen  Fliegern  verübt  wurde,  das  Morden  als  Selbst- 
zweck, die  Roheit  im  Gewände  einer  Kriegshandlung  ist  ein 
besonderes  Ereignis,  gegen  das  niemand  abgestumpft  sein  kann. . . 
Wir  möchten  die  nicht  Offiziere  nennen,  welche  die  Bomben  in 
Karlsruhe  auf  harmlose  Frauen  und  Kinder,  auf  die  Zuschauer 
vor  einer  Menagerie  geworfen  haben.  .  .  Wenn  die  Zeppeline  über 
Paris  schweben  und  Bomben  herunterschleudern,  so  ist  das  Ziel 
eine  militärische  Anlage,  so  ist  der  Wille  darauf  gerichtet,  den 
Feind  in  seinen  Vorkehrungen  zum  Kriege  zu  treffen,  Bahnhöfe, 
Geleise  und  militärische  Gebäude  zu  zerstören.  .  .  .  Die  Zeppeline 
haben  wiederholt  Fahrten  nach  London  unternommen.  Niemals 
hat  jedoch  einer  ihrer  Befehlshaber  auch  nur  daran  gedacht, 
Bomben  auf  Schauspielhäuser  oder  ähnliche  Erholungsstätten,  wo 
friedliche  Menschen  sich  zu  harmlosen  Vergnügungen  zusammen- 
finden, zu  schleudern Schon  die  Erziehung  schließt  bei  ihm 

jede  Versuchung  aus.  Wehrlose  durch  eine'  Waffe  zu  treffen.  Es 
macht  gar  keinen  Unterschied,  ob  ein  Soldat  ruhige  Spaziergänger 
in  der  Straße  mit  der  Pistole  in  der  Hand  niederstreckt  oder  aus 
dem  Lufträume  durch  Bomben  absichtlich  schwer  verwundet,  daß 
sie  qualvoll  zugrunde  gehen  oder  in  Stücke  gerissen  werden  und 
das  Pflaster  mit  ihrem  Blute  röten.  Für  das  Außerordentliche  des 
Krieges  braucht  jeder  Offizier,  den  die  Pflicht  anweist,  Leben  nicht 


2    — 


zu  schonen,  die  innere  sittliche  Überzeugung,  daß  er  militärischen 
Notwendigkeiten  gehorcht  und  nicht  etwa  die  ihm  anvertraute 
Macht  dazu  gebraucht,  den  Hang  zur  Grausamkeit  zu  befriedigen 
oder  unter  dem  Vorwande  des  Krieges  seinen  nationalen  Haß 
auszutoben.  .  . .  Ein  österreichisch-ungarischer  oder  ein  deutscher 
Flieger  schleudert  keine  Bomben  gegen  Frauen,  mögen  sie 
Fürstinnen  sein  oder  nicht.  Es  ist  gar  nicht  auszudenken, 
wie  ein  Mensch  beschaffen  sein  und  bis  zu  welchem  Grade  er  den 
Rechtssinn  verloren  haben  muß,  bis  er  sich  entschließt,  auf  eine 
Festversammlung  zu  lauern  und  die  dichten  Reihen  durch  seine 
Bomben  auseinanderzusprengen.  .  .  .« 

Die  Predigt 
>.  .  .  Es  ist  deshalb  auch  nicht  nur  das  Recht«,  sagte 
Pastor  Philipps,  »sondern  unter  Umständen  sogar  die  Pflicht 
gegen  die  Nation,  mit  Kriegsbeginn  Verträge  und 
was  es  sonst  auch  sein  mag,  als, Fetzen  Papier' 
zu  betrachten,  die  man  zerreißt  und  ins  Feuer 
wirft,  wenn  man  die  Nation  dadurch  retten  kann.  .  .  . 
Krieg  ist  eben  die  »Ultima  ratio«,  das  letzte  Mittel 
Gottes,  die  Völker  durch  Gewalt  zur  Raison  zu  bringen,  wenn 
sie  sich  anders  nicht  mehr  leiten  und  auf  den  gottgewollten 
Weg  führen  lassen  wollen.  Kriege  sind  Gottesgerichte  und 
Gottesurteile  in  der  Weltgeschichte.  .  .  .  Darum  ist  es  aber 
auch  der  Wille  Gottes,  daß  die  Völker  im  Kriege  alle  ihre 
Kräfte  und  Waffen,  die  er  ihnen  in  die  Hand 
gegeben  hat,  Gericht  zu  halten  unter  den  Völkern,  zur  vollen 
Anwendung  bringen  sollen.  ...  Darum  mehr  Stahl  ins 
Blut!  Auch  deutsche  Frauen  und  Mütter  gefallener  Helden 
können  eine  sentimentale  Betrachtungsweise  des  Krieges  nicht  mehr 
ertragen.  Wo  ihre  Liebsten  im  Felde  stehn  oder  gefallen  sind, 
wollen  auch  sie  keine  jammerseligen  Klagen  hören.  Gott  will 
uns  jetzt  erziehen  zu  eiserner  Willensenergie  und  äußerster  Kraft- 
entfaltung. Darum  noch  einmal:  Mehr  Stahl  ins  Blut!« 

Welche  ultima  ratio!  Der  Mensch  am  Feiertag, 
der  Erbauung  durch  das  höhere  Wesen  gewärtig, 
blickt  hinauf:  Zerstörung  kommt!  Was  zur 
Entscheidung  reift,  ist  die  Frage,  ob  Jaguare  und 
Leoparden,  wenn  sie  aus  irgend  einem  Grund 
einander  zerfleischen  wollten,  auf  die  Idee  verfielen, 
auch  die  Mütter  und  Jungen  mitzunehmen,  und  ob 
ihre  Triebe  durch  die  Erwägung  entfesselt  würden, 
daß  die  Gegend  befestigt  sei.  Feiertage  haben  sie 
nicht.    Welch   eine  Stunde  der  Menschheit! 


—  3  — 


Hunde,  Menschen,  Journalisten 

Strzebowitz,  16.  Juni  16 
—  -  —  Ich  danke  Ihnen.  Es  wird  einem  das  Bewußtsein,  Zeit- 
genosse zu  sein,  weniger  schmerzlich. 

Ich  habe  es  kürzlich  in  meinem  Dorf  erlebt,  daß  50  arme 
zuckende  Hundeleiber  von  Schlächtern  totgeschlagen  worden  sind. 

Der  Schuß  kostete  20  Heller  und  kein  Hundebesitzer 
opferte  die  20  Heller,  jeder  überließ   die  Hinrichtung   dem  Stock. 

Meine  Adjunktin  sprang  auf  den  Qensdarm  und  den  Lehrer 
los  und  schrie:  »Und  ihr  duldet  das?«  Worauf  der  Qensdarm 
lachend  sagte:  >Im  Krieg  gehts  auch  nicht  anders  zu.« 


»Hunde  oder  —  Kinder?«  Von  Stefan  Großmann. 

(Vossische  Zeitung,  11.  Juni,   Prager  Tagblatt,  22.  Juni) 

Der  Hund  in  der  Stadt ....  war  mir  stets  ein  Greuel.  Auf 
dem  Lande  lasse  ich  mir  den  Hund  gefallen  . , . .  Ein  Hund  vor 
einem  einsam  gelegenen  Landhaus,  ein  Hund  bei  einer  Alpenhütte 
im  Gebirge,  der  Hund  des  Schäfers  und  der  Hund  des  Jägers, 
da  sagt  man  natürlich  Ja  und  Amen  .... 

Ich  würde  mit  einem  Manne,  der  tagsüber  in  seiner  Wohnung 
das  Gezappel  und  Gezerr,  das  Geschnupper  und  Zwischen-die-Beine- 
Laufen  eines  ewig  beweglichen  Rattlers  um  sich  duldet,  kein  ernstes 

Geschäft  abschließen Mit  Menschen,  die  mit  einem  Hündchen 

leben,  das  in  einem  Ärmel  oder  in  eine  Seitentasche  versteckt  werden 

kann....  würdeich  kein  ernsthaftes  Gespräch  führen  können 

Wie  kann  ein  ernster,  zurechnungsfähiger  Mensch  diese 
Unsummen  unproduktiver  Arbeit  täglich  verrichten  .... 

Doch,  ich  bin  gemütlos,  ich  empfinde  das  Anspringen  der 
Hunde,  ihr  Ablecken  als  Zeichen  der  Liebeserklärung,  ihr 
schmutziges  Betatzen  nur  als  Behelligung  ....  Damen,  die  sich 
hüten  würden,  je  einen  Bissen  gebratenes  Fleisch  mit  den  Fingern 
in  den  Mund  zu  schieben,  sah  ich  schon  mit  Hunden  spielen, 
von  ihrem  Speichel  beleckt,  von  ihrer  kalt-nassen  Nase  be- 
schnuppert werden.  Das  ist  eben die  Liebe. 

Und  damit  bin  ich  bei  der  Kernfrage,  die  ich  anschneiden 
wollte.  Die  Hunde  sind  deshalb  vielen  Menschen  so  unentbehrlich 
geworden,  weil  sie,  zeitgemäß  gesprochen,  das  landläufige 
Menschen-Ersatzmittel  darstellen.  .  .  . 

Es  wäre  gewiß  grausam  und  ungerecht  gewesen,  wenn 
jemand  dem  einsamen  Arthur  Sch'openhauer  seinen  Hund 
mißgönnt  hätte.  .  .  .  Die  Bedienerin  konnte  das  schrullige 
Genie  die  Treppe  hinunterschmeißen,  den  Hund  nahm  er  als 
Symbol  mit   theoretisch    begründeter   Liebe  auf  und  lebte 


deshalb  in  Frieden  mit  ihm  ....  Aus  diesem  inneren  Überfluß 
stammt  die  Entartung  der  Hundefürsorge,  stammen  die  ver- 
fetteten Hunde,  die  Hundefriedhöfe  und  Hundesanatorien. 
Der  natürliche  Ausweg,  ihre  Kinder  zu  beglücken,  ist  diesen 
armen  Menschen  versagt .... 

Das  alles  mochte  bisher  hingehen.  Heute  ist  diese 
Hundeliebe  töricht,  ja  sündhaft.  .  .  . 

Wenn  wir  aus  dem  Zeitalter  der  unfruchtbaren,  niedrigen 
Bequemlichkeit  herauskommen  wollen,  dann  werden  schlechtere 
Tage  für  die  Hunde  kommen,  aber  gesegnete  Jahre  für  die 
Kinder.  Ich  habe  es  nie  verstanden 

Bleibt  nur  die  Frage,  ob  nicht  aucii  dem  Hund  in 
der  Stadt  der  Stefan  Großmann  stets  ein  Greuel  war,  und 
ob  der  auf  dem  Land  sich  ihn  gefallen  läßt.  Ob  der 
vor  dem  einsam  gelegenen  Landhaus  Ja  und  Amen 
sagt,  wenn  der  Stefan  Großmann  vorbeigeht.  Ob  ein 
ernster  Hund  in  einer  Wohnung  noch  ein  Geschäft 
verrichten  würde,  in  der  Herr  Großmann  sich  aufhält, 
dessen  Geschnupper  undZwischen-die-Beine-laufen  aller- 
dings die  größere  journalistische  Karriere  verbürgt. 
Ferner,  wie  ein  Hund  das  Anspringen  und  schmutzige 
Betatzen  des  Journalisten  an  einflußreiche  Persönlich- 
keiten empfände,  wenn  diese  es  schon  ertragen  können, 
von  seinem  Speichel  beleckt  zu  werden.  Ob  ein  Hund 
der  Meinung  wäre,  daß  Herr  Großmann  das  landläufige 
Menschen-Ersatzmittel  darstellt.  Ob  ein  Kind,  das 
von  Herrn  Großmann  an  Hundesstatt  angenommen 
wird,  es  gut  hätte.  Ob  Schopenhauer  nicht  vor  der 
Bedienerin  den  Herrn  Großmann  die  Treppe  hinunter- 
geschmissen hätte,  wenn  dieser  ihm  etwas  »gegönnt« 
hätte,  wiewohl  sein  Haus  doch  nicht  die  Freie  Volks- 
bühne war.  Ob  er  es  nötig  gehabt  hätte,  den  groß- 
mütigen Besucher  als  Symbol  anzufassen  und  seine 
Aversion  erst  theoretisch  zu  begründen.  Ob  nicht  viel- 
mehr bei  Hundebesitzern,  also  bei  besseren  Menschen, 
der  Instinkt  die  Hauptrolle  spielt.  Schließlich,  ob  je  schon 
ein  Hund,  wiewohl  er  doch  häufig  genug  zu  unsaubern 
Zielen  strebt,  seineanarchistische  Gesinnungpreisgegeben 
hätte,  um  Theaterdirektor  zu  werden,  und  ob  ihm.  nicht 
der  verwittertste  Eckstein  lieber  wäre  als  die  Vossische 


—    5    — 


Zeitung.  Bis  diese  Fragen  von  Hunden  beantwortet  sind, 
müssen  Hunde  es  sich  gefallen  lassen,  von  Journa- 
listen wie  ihresgleichen  behandelt  zu  werden. 

>Erzählungen  Kriegsgefangener. c  Von  Ludwig  Bauer. 

(Prager  Tagblatt,  18.  Juni) 
Auf  einer  kleinen  Insel  bei  Marseille  mußten  wir  in  einem 
Steinbruch  arbeiten,  etwa  dreißig  Mann.  Es  ging  uns  hunde- 
schlecht. Einer  bekam  einen  Anfall  von  Epilepsie,  aber  wie  er 
dem  Arzt  gemeldet  ward,  sah  ihn  dieser  kaum  an  und  steckte  ihn 
auf  dreißig  Tage  als  Simulanten  in  Arrest.  Wir  haben  ihm  aber 
Essenssachen  durch  den  Luftschacht  hinuntergeschickt,  sonst  wäre 
er  ganz  zugrimde  gegangen.  Ja,  dort  ging  es  uns  sehr  schlecht. 
Manchmal  kam  in  den  Steinbruch  ein  großer  Hund,  der  wohl 
niemandem  gehörte,  erwar  recht  wild,  aber  er  fühlte  wohl, 
daß  wir  auch  elend  seien,  und  so  schloß  er  sich  uns  an. 
Die  französischen  Antreiber  und  Aufseher  jagten  ihn  fort,  aber 
er  kam  immer  wieder.  Einmal  während  der  Nacht  hatten 
wir  einen  Einfall,  wir  machten  uns  aus  verschiedenen  Fetzen 
eine  Art  schwarzweißroter  Fahne,  und  darauf  schrieb  ein 
Kamerad  mit  riesigen  Buchstaben,  daß  Frankreich  den  Krieg 
verlieren  würde,  natürlich  schrieb  er's  französisch,  und  dann 
nahmen  wir  einen  kleinen  Stock  und  banden  die  Fahne  mit 
der  Inschrift  sehr  gut  und  fest  am  Körper  des  Hundes  an. 
Es  war  ja  nicht  nett  von  uns,  denn  es  belästigte  das  arme  Tier, 
aber  was  sollten  wir  tun,  wir  wollten  uns  eben  an  den  Franzosen 
rächen,  die  dort  so  abscheulich  gegen  uns  waren.  Ja,  und  wie  der 
Hund  dann  zum  erstenmale  in  die  Stadt  lief,  gab  es  dort  einen 
förmlichen  Ausbruch  von  Raserei,  das  Volk  rottete  sich 
zusammen,  aus  allen  Häusern  liefen  sie,  die  Weiber  schrieen,  und 
alles  warf  Steine  auf  den  armen  Hund.  Aber  in  ihrer  Wut 
zielten  sie  schlecht,  keiner  traf  ihn,  der  Hund  rannte  fort.  Jetzt 
suchten  sie  ihn  zu  fangen,  ob  Sie  es  glauben  oder  nicht,  sie 
unternahmen  regelrechte  Expeditionen  gegen  den  Hund,  aber  es 
gibt  dort  eine  Menge  Wälder  und  Steinbrüche,  sie  bekamen  ihn 
nicht.  Natürlich  plagte  den  Köter  der  Hunger,  und  dann 
erschien  er  auf  einmal,  so  überraschend,  daß  sie  gar  nicht  wußten, 
was  tun,  und  er  trug  seine  Fahne  mit  der  Inschrift,  daß  Frankreich 
den  Krieg  verlieren  würde,  weiter,  wie  wenn  er  es  ihnen  zum 
Trotz  täte.  Natürlich  wollten  die  i  ranzosen  herausbekommen,  wer 
ihnen  den  Streich  spielte,  aber  keiner  gab  es  an.  Wie  die  Aufseher 
nicht  zusahen,  kam  der  Hund  zu  uns,  und  wir  gaben  ihm  von 
unserem  Brote,  so  wenig  wir  hatten;  er  war  ja  unser  Bundes- 
genosse und  er  trug  seine  Fahne  gut,  die  Fahne  der  armen 
Gefangenen.  Und  als  wirweg  kamen,  da  hatten  die  Franzosen  oft 
auf  ihn  geschossen,  aber  die  Fahne  bekamen  sie  nicht. 


—   6    — 


Die  Hunde  sind  die  »treuen,  braven  und  unent- 
behrlichen Helfer  der  Armeen«.  Dies  aber  war  das 
größte  Schurkenstück  dieser  Weltschurkerei. 


Kleine  Skizzen. 
Von  Peter  Altenberg. 

Die  Hunde-Steuer 

(Prager  Tagblatt,  29.  Juni) 

Die  Erhöhung  der  Hunde-Steuer  in  Wien  läßt  Einige,  die 
es  gar  nichts  angeht,  neuerdings  ihr  patzweiches  Herz  öffentlich 
zur  bewundernden  Schau  stellen.  Ich  kann  mich  diesen  Philosophen 
des  Mitleids  mit  jeglicher  Kreatur  hienieden,  nicht  in  Bausch  und 
Bogen  anschließen.  Denn  erstens  finde  ich  den  Hundebraten 
zwar  billig,  aber  durchaus  nicht  schmackhaft,  obzwar  ich 
zugebe,  daß  er  durch  eine  zarte  Brühe  bedeutend  verbessert 
werden  kann  oder  durch  gekochte  Zwiebel.  Auch  ist  es  ja 
richtig,  daß  man  den  Zimmerteppichen  eine  sorgfältigere 
Reinigung  zuteil  werden  läßt,  wenn  sich  dazu  ein  plausiblerer 
Orund  vorfindet,  wie  ihn  der  Hund  in  selbstloser  Art  gerne  gibt. 
Auch  huldige  ich  dem  Prinzipe:  lieber  alle  Hunde  ausrotten, 
als  einen  einzigen  Menschen  von  derHundswut  befallenlassen, 
obzwar  man  es  hinwiederum  in  seinem  innersten  besseren  Innern 
Einigen  doch  gönnen  würde,  ohne  es  natürlich  direkt  zu  veranlassen! 
Und  dann,  sieh'  mal,  Du  willst  Dich  für  ein  erlittenes  Leid  durch  die 
Hunde-Treue  trösten?!  Wollte  Dante  je  einen  Hund  haben,  um 
Beatrix  zu  vergessen?!  Nun  also! 

In  zerrissener  Zeit  kann  plötzlich  das  Gefühl, 
wie  sehr  die  niedrigste  Menschenklasse,  die  Journali- 
sten, hinter  der  höchsten  Tierklasse,  den  Hunden, 
zurückstehe,  sich  in  Verzweiflung  Luft  machen,  und 
so  mag  es  zu  erklären  sein,  daß  da  und  dort,  zumal 
in  den  nördlichen  Gegenden  dieses  Reiches,  wo  das 
nationale  Bewußtsein  stärker  ist  und  sozusagen  auch 
deutsch  gesprochen  wird,  eine  förmliche  Hetze  auf  die 
von  der  Natur  bevorzugten  Geschöpfe  organisiert  und 
speziell  in  Prag  die  Wut  auf  Hunde  ausgebrochen 
scheint.  Was  den  Dichter  Peter  Altenberg,  der  Auf- 
regungen leicht  zugänglich  ist,  anlangt,  so  steht  der 
Fall  so:  Wäre  die  »kleine  Skizze«  —  die  wirklich  nur 
ein  Entwurf  des  Untermenschentums   ist,  ein  Plan  zu 


—    7 


einer  Grauslichkeit,  zu  deren  Tat,  Verantwortung  oder 
auch  nur  Zeugenschaft  der  Dichter  der  Seele  niemals  fähig 
wäre  —  wäre  die  Anregung  von  einer  durchschnitt- 
lichen Intelligenz  ausgegangen,  so  wäre  es  wohl 
geboten,  an  einem  Beispiel  die  Möglichkeiten  der  von 
der  Technik  an  den  Teufel  verratenen  Zeit  zu  erörtern. 
Hier  macht  uns  nicht  der  Schutz  des  Hundes  gegen 
den  Menschen  Sorge,  der  ihn  dem  Schinder  überant- 
worten will,  sondern  der  Schutz  des  Dichters  gegen 
den  Redakteur,  der  ihn  dem  Drucker  überliefert. 
Da  man  so  jahraus  jahrein  in  verschiedenen 
elenden  Tagesblättern  kleine  Skizzen  des  Peter 
Altenberg  liest,  schwankt  man  zwischen  dem  Bedauern, 
daß  jene  gelegentlichen  Meisterstücke,  in  denen 
der  Griff  zugleich  die  Gestalt  ist,  in  solchem 
Rahmen  Unterkunft  finden,  und  dem  Schmerz,  daß 
jene  vielen  Nichtigkeiten,  in  denen  der  Schmißzugleich  der 
Dreck  ist,  solchen  Namen  eines  Dichters  tragen,  und  man 
möchte  dem  Preßgesetz  einen  Paragraphen  wünschen, 
der  einem  Zeitungsverleger  den  Mißbrauch  der  unbe- 
wachten, in  Selbstverschleuderung  preisgegebenen 
Natur  verbietet  und  ihn  zwingt,  ihr  den  Preis,  den  sie 
braucht  oder  will,  ohne  geistigen  Gegenwert  zu  ver- 
abreichen. So  oft  ich  die  Ansicht  ausgesprochen  habe, 
daß  die  deutsche  Prosa  wenig  Fälle  aufweise,  bei 
denen  wie  bei  Peter  Altenberg  im  Wort  so  alle  Gnade 
von  Humor,  Lyrik  und  zuweilen  Weisheit  darge- 
bracht sei  und  daß  dieser  Dichter  aus  der  ganzen 
Unzucht  des  sprachlichen  Kunstgewerbes  von  heute 
überleben  werde,  wurde  ich  gefragt,  ob  ich  im 
Gehudel  seiner  täglichen  Geldschreie,  Firmenhymnen 
und  Nachtlokalverheißungen  mit  dem  ganzen  Inhalt 
von  »erstklassiger«  Banalität  und  demonstrativem 
Unverstand  auch  meine  Beweise  für  die  Ansicht 
finde,  daß  der  Urheber  solchen  Lärms  und  solcher 
Leere  über  die  Schnitzler,  Bahr  und  Hofmannsthal 
zu  stellen  sei.  Ich  mußte  die  Frage  herzhaft  bejahen, 
freilich  nicht  ohne  einzuräumen,  daß  ihre  Möglichkeit 


an  ein  Literaturproblem  rühre.  Die  Persönlichkeits- 
ftille  jenes  durch  keine  Rücksicht  auf  sein  Werk 
gehemmten  und  durch  ein  System  des  Mißbrauchs 
kompromittierten  Autors,  der  oft  aus  sich  selbst  und 
öfter  von  selbst  schreibt,  erleidet  in  solchen  Aus- 
schweifungen keinen  Abbruch:  wohl  aber  müßten 
diese  als  das  Rohmaterial  eines  Lebens,  das  noch  auf 
seinen  eigentlichen  Künstler  wartet,  der  Betrachtung 
und  dem  schäbigen  Spott  des  alltäglichen  Lesers 
entzogen  bleiben.  Statt  dessen  wird  einer  der  merk- 
würdigsten Menschen  dieser  Zeit,  ein  mit  allen 
Möglichkeiten  verbundener  und  von  allen  unberührter, 
einer,  der  alle  Eigenschäften  hat,  die  besten  und 
die  schlechtesten  zugleich  und  abwechselnd,  und  dessen 
lebendiger  Überfluß  für  den  Mangel  sozialer,  logischer  und 
selbst  künstlerischer  Bewußtseins-  und  Verantwortungs- 
fähigkeit hinreichend  entschädigt,  dem  grinsenden  Ver- 
ständnis eines  Pöbels  ausgesetzt,  der  auch  an  den 
dem  Zufall  verdankten  Meisterwerken  nur  die  Abnormität 
bemerkt,  um  einen  Dichter  dauernd  als  tägliche  Jahrmarkts- 
figur einzuschätzen.  Darum  sollte  es  den  journalistischen 
Mäcenen,  die  es  ihrerseits  gerade  auf  diesen  Erfolg  der 
Entwürdigung  abgesehen  haben,  verboten  sein,  mit  der 
Unterstützung  eines  geldliebenden  Weisen  auch  das  Übel 
einer  Produktion  zu  unterstützen,  die  den  lachlustigen 
Leser  hinter  dem  Paraventjeder  landschaftlichen  Stimmung 
oder  seelischen  Betrachtung  pünktlich  mit  einer  Rechnung 
überrascht.  Der  Eingeweihte  versteht  es,  wenn  dieser 
sonderbare  Verkünder,  der  die  bunte  Dreieinigkeit  aus 
Falstaff,  Heiland  und  Harpagon  vorstellt,  lachend  die 
Wahrheit  sagt,  die  im  Weine  ist,  das  Geld  als  den 
nervus  rerum  verherrlicht,  und  mit  umgelegten  Händen 
segnet;  aber  jede  einzelne  seiner  Symptomhandlungen, 
die  alle  zusammen  die  wunderbarste  Figur  bilden 
würden  (lebte  die  nachgestaltende  Kraft,  sie  zu  ver- 
einigen), ist  in  der  Norm  des  Tagesberichts  ein  Greuel 
dem  Leser,  ein  Ärgernis  dem  fühlenden  Zeugen  dieses 
Zustands.     Dies    ganze    Lebensdurcheinander,    worin 


jeder  Atemzug  eine  Anekdote  ist,  von  einem  verbin- 
denden Auge  angeseiin  und  von  einer  berufenen 
Hand  festgehalten,  ergäbe  ein  hundertmal  besseres 
Werk  noch  als  die  Buchliteratur  Peter  Altenbergs, 
die  doch  erst  in  der  Reduzierung  auf  ihren  Kunstgehalt, 
in  der  Verkürzung  um  den  Wust  des  Wertlosen  den 
bleibenden  und  weithin  sichtbaren  Vorzug  vor  der 
schreibenden  Zeitgenossenschaft  empfängt.  Daß  er 
selbst  diesen  Vorzug  in  seiner  Hemmungslosigkeit 
sieht,  auf  Wert  und  Würde  pfeift  und  die  Empfehlung 
eines  Pürees  für  die  größere  Gedankentat  hält  als  einen 
Satz  von  Peter  Altenberg,  der  das  Schicksal  einer 
Liebe  nebst  der  Ewigkeit  einer  Landschaft  enthält, 
gehört  mit  in  jenes  Lebensbuch.  Daß  er  kritik-  und 
kontrollos  alles,  was  ihm  der  Tag  zuträgt  und 
wie  er  es  auch  dann  sieht,  wenn  er  nicht  ausge- 
schlafen ist,  also  mit  seinen  hellsten,  wunderbarsten 
Eingebungen  zugleich  den  ärgerlichsten  Mist,  den  er 
in  trüben  Minuten  von  sich  gibt,  ja,  selbst  was  er  nur  sieht 
und  was  ihm  schmeckt,  einen  Armeebefehl  des  Generals 
Dankl  und  eine  Kritik  des  Herrn  Saiten,  in  Bücher  wirft: 
das  eben  ist  eine  Wesenseigenschaft,  die  man  sich  aus 
ihm  nicht  wegdenken  kann,  die  aber  als  Kommentar 
zu  seiner  Literatur  hinzugedacht  werden  muß,  um  diese 
in  ihrer  vollen  Menschlichkeit  und  nicht  bloß  in 
ihrer  künstlerischen  Torsohaftigkeit  zu  begreifen. 
Wozu  indes  der  willige  Leser  vor  einem  Buch  vielleicht 
selbst  heute  noch  die  Fähigkeit  hätte,  dazu  ist  der 
Schnelläufer  des  Tags  weder  gewillt  noch  imstande, 
und  der  hat  nur  ein  triumphierendes  oder  mitleidiges 
Lächeln,  wenn  seine  dürftige  Vollsinnigkeit  bemerkt, 
daß  ihm  der  hochgestimmte  Unsinn  mit  Ruf-  und 
Fragezeichen  ins  Gesicht  springt,  zu  einer  Akrobaten- 
truppe zuredet  oder  ihm  versichert,  eine  Schau- 
spielerin spiele  so  diskret,  daß  sie  »nur  Punkte  auf 
die  i's  setze,  wo  sie  gerade  unbedingt  hingehören!« 
Peter  Altenberg  erklärt  Italien  den  Wirtschaftskrieg, 
verbrennt,   während   seine  heilige  Freundin   dazu   ein 


10  — 


Gebet  murmelt,  ein  Buch  des  Deutschenfeinds 
Maeterlinck,  weil  es  —  im  Gegensatz  zu  dem  deutsch- 
freundlichen und  daher  die  Gunst  durchhaltenden 
Herrn  Friedell  —  nicht  mehr  P.  A.'s  »Lebens-Bibel« 
ist  und  treibt  sonst  noch  allerlei  vor  den 
Augen  des  erstaunten  Lesers.  Auch  daß  er,  sich 
angstvoll  ans  seinem  Fenster  beugend,  dem  vis-ä-vis 
arbeitenden  Dachdecker  zuruft:  »Wie  viel  ver- 
dienen Sie?«  —  dem  Kenner  eine  unverlierbar 
humoristische  Attitüde  und  der  endgiltige  Ausdruck 
dieser  zentralen  Sorge  wie  der  Gabe,  sie  lachend  zu 
bekennen  — ,  muß  als  Information  dem  Leserverstand 
unbegreiflich  bleiben.  All  dies,  mit  allem  Reiz  der 
Besonderheit  und  mit  allem  Verdruß  der  Abgeschmackt- 
heit, wäre  als  Privathandlung  ebenso  interessant  wie 
der  Besitz  einer  »patriotischen  Tür«  vor  dem  Hotelzimmer 
und  der  Entschluß  eines  Nichtinvaliden,  auf  seiner  Brust 
fünf  Kriegsabzeichen  und  um  den  Hals  eine  Tafel  »Gott 
strafe  England«  zu  tragen,  was  sich  ein  Hund  gewiß 
nicht  gefallen  ließe.  In  die  Öffentlichkeit  hinausgestellt, 
kann  es  nur  Verwirrung  stiften,  indem  es  auf  ein 
Wirrsal  ohne  Verbindung  mit  der  auch  im  Guten 
ungewöhnlichen  Persönlichkeit  hindeutet.  Was  aber  soll 
man  zu  der  Verwahrlosung  eines  publizistischen  Ge- 
wissens sagen,  das  sich  selbst  und  einem  Dichter,  der 
doch,  ehe  er  ein  ewiger  Gläubiger  des  Geldes  wurde, 
auch  ein  Gläubiger  der  ewigen  Seele  war,  und  als 
Dichter  der  Frauenseele  sogar  leider  in  weiten  Kreisen 
beliebt  geworden  ist,  die  Veröffentlichung  dieses  Produkts 
gestattet: 

Der  40fache  Frauenmörder.    Von  Peter  Altenberg. 

Bela  Kiß,  in  seinem  Gärtchen  in  Czinkota,  mit  seinem 
Komplizen  und  Freunde  Na gy,  auf  einer  Bank  sitzend  vor  20  Jahren: 

Nagy:  >Und  wie  die  Blumen  heut  duften  und  die 
Insekten  summen!  Wenn  man  nur  ein  bißl  ein  Geld 
hätt'  in  dieser  schönen  Welt!« 

Bela  Kiß:  »Und  weißt  Du,  was  mir  noch  verhaßter  ist  als 
meine  Armut?!  Das  sind   diese   Läuse   im  Gewände   des  starken 


—  11 


alleinstehenden  Mannes,  die  dann  mit  nichts  mehr  wieder  heraus- 
zukriegfen  sind.  Das  sind  diese  entsetzlich  wertlosen  Geschöpfe, 
die  noch  viel  ärmer  sind  als  wir  und  eben  deshalb  sich  an 
uns  heranmachen.  Das  sind  diese  häßlichen  ungepflegten  alten 
Mädchen  der  dienenden  Klasse,  die,  nachdem  sie  die  »Überfuhr« 
im  Leben  versäumt  haben,  sich  mit  ihren  verrunzelten  Gesichtern, 
ihren  scheußlichen  Händen  und  Füßen,  ihren  verwelkten  Brüsten, 
ihrem  meistens  unreinen  Atem,  ihren  ungeheuren  geistigen 
Beschränktheiten,  sich  vermittelst  ihrer  blöd-mühsam 
zusammengesparten  700  Kronen  in  einem  schmutzigen 
Strumpfe  unter  ihrer  Mairatze,  sich  also  dann  und  deshalb  an  uns 
heranschleichen,  damit  wir  diese  Lebens-Ruinen  Tag  und 
Nacht,  ein  Leben  lang  am  Buckel  haben,  diese  mensch- 
lichen Gewandläuse  des  starken  alleinstehenden  Mannes! 
Diese   alle   einfangen,   abdrosseln,    und  das  Geld  gut  und 

richtig  verwenden — !« 

Nagy:  »Gar  ka  schlechte  Idee,  mein  Lieber!  Wie 
die  Blumen  heut  duften  und  die  Insekten  schön  summen! 
Wenn  man  nur  ein  bißl  Geld  hätt'  auf  dieser  schönen  Welt!« 

»Wirf's  in  die  Welt  und  laß  dich  kreuzigen!« 
hat  Peter  Altenberg  einmal  gesagt.  Ob  er  Märtyrer 
genug  wäre,  die  Folgen  solcher  Propaganda  durch- 
zustehen und  gegebenenfalls,  wenn  ein  angeregter  Raub- 
mörder oder  sonst  ein  starker  alleinstehender  Mann,  der 
700  Kronen  braucht  und  zu  diesem  Zweck  die  Gewand- 
laus entfernt,  die  er  zu  diesem  Zweck  gesucht  hat,  sich 
auf  die  Lektüre  des  Prager  Tagblatts  und  den  Impuls  durch 
ein  Dichterwort  beriefe?!?  Ob  er  nicht  eher  die  Geistes- 
gegenwart hätte,  ärztliche  Zeugnisse  sammeln  zu  gehen, 
in  denen  etwa,  wenn  sie  sehr  sachverständig  wären,  auch 
nachgewiesen  sein  könnte,  daß  in  einer  reichen  Natur, 
in  der  Mann,  Weib  und  Kind  mit  allen  Eigenschaften 
wohnen,  auch  die  Seele  eines  alten  Mädchens  Platz 
hat,  dessen  Furcht,  die  700  Kronen  und  das  Leben 
zu  verlieren,  und  dessen  Verlangen  nach  weiteren 
700  Kronen,  den  Wunsch  erzeugt,  lieber  der  Raub- 
mörder zu  sein  als  das  Opfer,  und  mithin  auch  den 
Schein  eines  Blutdurstes,  dessen  man  diesen  Dichter 
mit  Unrecht  beschuldigen  würde !  ? !  Der  Fall  ist  tieftraurig; 
und  schmerzlich  die  Pflicht,  einen  kostbaren  Menschen 
und   oft  verehrten    Dichter  gegen  das  grausame  Miß- 


—  12 


Verständnis  schützen  zu  müssen,  mit  dem  ihn  wie  keine 
andere  Erscheinung  von  heute  der  Tag  umklammert 
hält.  Die  Statuierung  von  Dichterpreisen,  die  den 
honorierten  Mißbrauch  entbehrlich  machen  und  uns 
den  peinlichen  Anblick  solcher  Veräußerung  von  Roh- 
material ersparen  würden,  wäre,  ob  nun  Not  oder 
Geldliebe  des  Übels  Wurzel  sei,  unerläßlich.  Denn 
wichtig  wie  der  Tierschutz  ist  der  Dichterschutz.  Wir 
wollen  gerecht  sein.  Peter  Altenberg  braucht  es  nicht 
zu  sein;  und  er  mag  hinter  seinem  Beschützer,  der 
ihm  nichts,  keine  grausame  Propaganda  in  Wort  und 
Schrift,  Brief  und  Druck;  selbst  den  Tod  durch  ihn 
nicht  übel  nimmt,  die  übelste  Nachrede  laut  werden 
lassen.  Aber  er  ist  höchst  ungerecht,  wenn  er  das  Leben 
des  Hundes  unter  das  Problem  der  Reinhaltung  von 
Teppichen  stellt:  ein  Hund  würde  doch  nicht  jeden 
Dreck  überall  ablagern! 


Jakob  Boehme 

»Denn  es  ist  eine  Kraft  in  jedem  Tiere,  welche  unzerbrechlich 
ist,  welche  der  spiritus  mundi  in  sich  zeucht,  zur  Scheidung  des 
letzten  Gerichtes.« 

Goethe 

»Er  hat  Vernunft,  doch  braucht  er  sie  allein, 
Um  tierischer  als  jedes  Tier  zu  sein.« 

»Wundern  kann  es  mich  nicht, 
daß  Manche  die  Hunde  so  lieljen.« 

Schopenhauer 

»Wundem  darf  es  mich  nicht,  daß  Manche  die  Hunde  verleumden, 
Denn  es  beschämet  zu  oft  leider  den  Menschen  der  Hund.« 

»Die  Flamme,  welche  aus  den  Augen  aller  Tiere  hervorleuchtet, 
ist  eine  ewige;  wenngleich  wir  sie  erkennen  müssen  als  das  zeitliche 
Produkt  des  vergänglichen  Organismus  und  seiner  in  stetem  Wan- 
del begriffenen  Säfte.« 

»Der  Leichnam  jedes  Tieres  oder  Menschen  wirkt  darum  so 
melancholisch  auf  uns,  weil  er  aufs  deutlichste  aussagt,  daß  diese  Gestalt 
nicht  die  Idee,  sondern  bloß  ihre  Erscheinung  war.« 


13  — 


»Ich  muß  es  aufrichtig  gestehn:  der  Anblick  jedes  Tiers  erfreut 
mich  unmittelbar,  und  mir  geht  dabei  das  Herz  auf;  am  meisten 
der  der  Hunde  und  sodann  der  aller  freien  Tiere,  der  Vögel,  der 
Insekten,  und  was  es  sei.  Hingegen  erregt  der  Anblick  der 
Menschen  fast  immer  meinen  entschiedenen  Widerwillen:  denn  er 
bietet,  durchgängig  und  mit  seltenen  Ausnahmen,  die  widerwärtigsten 
Verzerrungen  dar,  in  jeder  Art  und  Hinsicht,  physische  Häßlich- 
keit, den  moralischen  Ausdruck  niedriger  Leidenschaften  und  ver- 
ächtlichen Strebens,  Zeichen  von  Narrheiten  und  intellektueller 
Verkehrtheiten  und  Dummheiten  jeder  Art  und  Größe,  endlich 
auch  das  Schmutzige,  in  Folge  ekelhafter  Gewohnheiten:  darum 
wende  ich  mich  davon  ab  v:nd  fliehe  zur  vegetabilischen  Natur, 
erfreut,  wenn  mir  Tiere  begegnen.  Sagt  was  ihr  wollt!  der 
Wille  auf  der  obersten  Staffel  seiner  Objektivation  gewährt  keinen 
schönen  Anblick,  sondern  einen  widerwärtigen  .  .  .  .< 

»So  entfernt  ist  aber  die  Vernunft  davon,  Quelle  der  Moralität 
zu  sein,  daß  erst  sie  uns  fähig  macht  Bösewichter  zu  sein,  was 
Tiere  nicht  können. < 

»Wegen  des  Mangels  an  Vernunft,  also  an  Allgemeinbegriffen, 
ist  das  Tier,  wie  der  Sprache,  so  auch  des  Lachens  unfähig.  Dieses 
ist  daher  ein  Vorrecht  und  charakteristisches  Merkmal  des  Menschen. 
Jedoch  hat,  bt-iläufiggesagt,  auch  sein  einziger  Freund,  der  Hund,  einen 
analogen,  ihm  allein  eigenen  und  charakteristischen  Akt  vor  allen 
andern  Tieren  voraus,  nämlich  das  so  ausdrucksvolle,  wohlwollende 
und  grundehrliche  Wedeln.  Wie  vorteilhaft  stiehl  doch  diese,  ihm  von 
der  Natur  eingegebene  Begrüßung  ab,  gegen  die  Bücklinge  imd 
grinzenden  Höflichkeitsbezeugungen  der  Menschen,  deren  Ver- 
sicherung inniger  Freundschaft  und  Frgebenheit  es  an  Zuverlässig- 
keit, wenigstens  für  die  Gegenwart,  tausend  Mal  übertrifft.« 

>Auch  gehört  hierher,  daß  sehr  kluge  Hunde,  welciie  bekannt- 
lich einen  Teil  der  menschlichen  Rede  verstehn,  wenn  ihr  Herr  zu  ihnen 
spricht  und  sie  sich  anstrengen,  den  Sinn  seiner  Worte  herauszubringen, 
den  Kopf  abwechselnd  auf  die  eine  und  auf  die  andere  Seite  legen; 
welches  ihnen  ein  höchst  intelligentes  und  ergötzliches  Ansehn  gibt.« 

». . .  Dieser  obligate  Optimismus  nötigt  den  Spinoza  noch  zu 
manchen  andern  falschen  Konsequenzen,  unter  denen  die  absurden 
und  sehr  oft  empörenden  Sätze  seiner  Moralphilosophie  oben  an 
stehen,  welche  im  16.  Kap.  seines  tractatus  theologico-politicus  bis 
zur  eigentlichen  Infamie  anwachsen.  Hingegen  läßt  er  biswe  len 
die  Konsequenz  da  aus  den  Augen,  wo  sie  zu  richtigen  Ansichten 
geführt  haben  würde,  z.  B.  in  seinen  so  unwürdigen  wie  falschen 
Sätzen  über  die  Tiere . .  Hier  redet  er  eben  wie  ein  Jude  es  ver- 
steht, gemäß  den  Kap.  1  und  9  der  Genesis,  so  daß  dabei  uns 
Andern,  die  wir  an  reinere  und  würdigere  Lehren  gewöhnt  hind, 
der   foetor   judaicus   übermannt.     Hunde  scheint  er  ganz  und  gar 


14 


nicht  gekannt  zu  haben.  Auf  den  empörenden  Satz,  mit  dem 
besagtes  Kap.  26  anhebt:  Praeter  homines  nihil  singulare  in  natura 
novimus,  cujus  mente  gaudere  et  quod  nobis  amicitia,  aut  aliquo 
consuetudinis  genere  jüngere  possumus,  erteilt  die  beste  Antwort 
ein  spanischer  Belletrist  unserer  Tage  (Larra,  pseudonym  Figaro, 
im  Doncel  c.  33):  El  que  no  ha  tenido  un  perro,  no  sabe  lo  que 
es  querer  y  ser  querido.  (Wer  nie  einen  Hund  gehalten  hat, 
weiß  nicht  was  lieben  und  geliebt  sein  ist.)  Die  Tierquälereien, 
welche,  nach  Coleru>,  Spinoza,  zu  seiner  Belustigung  und  unter 
herzlichem  Lachen,  an  Spinnen  und  Fliegen  zu  verüben  pflegte, 
entsprechen  nur  zu  sehr  seinen  hier  gerügten  Sätzen  wie  auch 
besagten  Kapiteln  der  Genesis.  Durch  alles  dieses  ist  denn  Spinoza's 
,Ethica'  durchweg  ein  Gemisch  von  Falschem  und  Wahrem, 
Bewunderungswürdigem  und  Schlechtem.  . .  .« 

»O,  um  einem  Asmodäus  der  Moral ität,  welcher  seinem 
Günstlinge  nicht  bloß  Dächer  und  Mauern,  sondern  den  über 
Alles  ausgebreiteten  Schleier  der  Verstellung,  Falschheit,  Heuchelei, 
Orimace,  Lüge  und  Trug  durchsichtig  machte,  und  ihn  sehn  ließe, 
wie  wenig  wahre  Redlichkeit  in  der  Welt  zu  finden  ist,  und  wie  so  oft, 
auch  wo  man  es  am  wenigsten  vermutet,  hinter  allen  den  tugendsamen 
Außenwerken,  heimlich  und  im  innersten  Receß,  die  Unrechtlich- 
keit  am  Ruder  sitzt.  —  Daher  eben  kommen  die  vierbeinigen  Freund- 
schaften so  vieler  Menschen  besserer  Art:  denn  freilich,  woran 
sollte  man  sich  von  der  endlosen  Verstellung,  Falschheit 
und  Heimtücke  derMensclien  erholen,  wenn  die  Hunde 
nicht  wären,  in  deren  ehrliches  Gesicht  man  ohne  Miß- 
trauen schauen  kann?  —  Ist  doch  unsere  zivilisierte  Welt 
nur  eine  große  Maskerade.  Man  triftt  daselbst  Ritter,  Pfaffen, 
Soldaten,  Doktoren,  Advokaten,  Priester,  Philosophen,  und  was  nicht 
alles  an!  Aber  sie  sind  nicht  was  sie  vorstellen:  sie  sind  bloße  Masken, 
unter  welchen,  in  der  Regel,  Geldspekulanten  (moneymakers)  stecken. 
Doch  nimmt  auch  wohl  einer  die  Maske  des  Rechts,  die  er  sich 
dazu  beim  Advokaten  geborgt  hat,  vor,  bloß  um  auf  einen 
Andern  tüchtig  losschlagen  zu  können ;  wieder  Einer  hat,  zum 
selben  Zwecke,  die  des  öffentlichen  Wohls  und  des  Patriotismus 
gewählt  ....  Zu  allerlei  Zwecken  hat  schon  Mancher  die  Maske 
der  Philosophie,  wohl  auch  der  Philanthropie  u.  dgl.  m.  vor- 
gesteckt ....  Meistens  stecken,  wie  gesagt,  lauter  Industrielle, 
Handelsleute  und  Spekulanten  unter  diesen  sämtlichen  Masken. 
In  dieser  Hinsicht  machen  den  einzigen  ehrlichen  Stand  die  Kauf- 
leute aus;  da  sie  allein  sich  für  Das  geben,  was  sie  sind,  sie  gehn  also 
unmaskiert  herum;  stehn  daher  auch  niedrig  im  Rang.  —  Es  ist  sehr 
wichtig,  schon  früh,  in  der  Jugend  darüber  belehrt  zu  werden, 
daß  man  sich  auf  der  Maskerade  befinde.  Denn  sonst  wird  man 
manche  Dinge  gar  nicht  begreifen  und  aufkriegen  können,  sondern 
davor  stehn  ganz  verdutzt  ....  der  Art  sind  die  Gunst,  welche 
die    Niederträchtigkeit   findet,    die   Vernachlässigung,    welche    das 


lö  — 


Verdienst,  selbst  das  seltenste  und  größte,  von  den  Leuten  seines 
Faches  erleidet,  das  Verhaßtsein  der  Wahrheit  und  der  großen 
Fähigkeiten,  die  Unwissenheit  der  Gelehrten  in  ihrem  Fach,  und 
daß  fast  immer  die  echte  Ware  verschmäht,  die  bloß  scheinbare 
gesucht  wird.  Also  werde  schon  der  Jüngling  belehrt,  daß  auf 
dieser  Maskerade  die  Äpfel  von  Wachs,  die  Blumen  von  Seide,  die 
Fische  von  Pappe  sind,  und  Alles,  Alles  Tand  und  Spaß  ....  Aber 
ernstere  Betrachtungen  sind  anzustellen  und  schlimmere  Dinge  zu 
berichten.  Der  Mensch  ist  im  Grunde  ein  wildes,  entsetz- 
liches Tier.  Wir  kennen  es  bloß  im  Zustande  der  Bändigung 
und  Zähmung,  welcher  Zivilisation  heißt:  daher  erschrecken  uns 
die  gelegentlichen  Ausbrüche  seiner  Natur.  Aber  wo  und  wann 
einmal  Schloß  und  Kette  der  gesetzlichen  Ordnung  ab- 
fallen und  Anarchie  eintritt,  da  zeigt  sich  was  er  ist.  — 
Wer  inzwischen  auch  ohne  solche  Gelegenheit  sich  darüber  aufklären 
möchte,  der  kann  die  Überzeugung,  daß  der  Mensch  an  Grau- 
samkeit und  Unerbittlichkeit  keinem  Tiger  und  keiner 
Hyäne  nachsteht,  aus  hundert  alten  und  neuen  Berichten 
schöpfen  ....  Da  nistet  in  Jedem  zunächst  ein  kolossaler  Egoismus, 
der  die  Schranke  des  Rechts  mit  größter  Leichtigkeit  überspringt; 
wie  dies  das  tägliche  Leben  im  Kleinen  und  die  Geschichte,  auf 
jeder  Seite,  im  Großen  lehrt.  Liegt  denn  nicht  schon  in  der 
anerkannten  Notwendigkeit  des  so  ängstlich  bewachten 
Europäischen  Gleichgewichts  das  Bekenntnis,  daß  der 
Mensch  ein  Raubtier  ist,  welches,  sobald  es  einen 
Schwächeren  neben  sich  erspäht  hat,  unfehlbar  über 
ihn  herfällt?  ....  Gobineau  hat  den  Menschen  l'animal  mechant 
par  excellence  genannt,  welches  die  Leute  übel  nehmen,  weil  sie 
sich  getroffen  fühlen;  er  hat  aber  Recht:  denn  der  Mensch  ist 
das  einzige  Tier,  welches  Andern  Schmerz  verursacht, 
ohne  weitern  Zweck,  als  eben  diesen.  Die  andern  Tiere 
tun  es  nie  anders,  als  um  ihren  Hunger  zu  befriedigen, 
oder  im  Zorn  des  Kampfes  ....  Kein  Tier  jemals  quält, 
bloß  um  zu  quälen;  aber  dies  tut  der  Mensch,  und  dies 
macht  den  teuflischen  Charakter  aus,  der  weit  ärger 
ist,  als  der  bloß  tierische....  Hat  man  etwan  über 
eine  Störung  oder  sonstige  kleine  Unannehmlichkeit  sein  Miß- 
behagen geäußert,  so  wird  es  nicht  an  Leuten  fehlen,  die  sie  gerade 
deshalb  zuwege  bringen:  animal  mechant  par  excellence!  Dies  ist 
so  gewiß,  daß  man  sich  hüten  soll,  sein  Mißfallen  an  kleinen 
Übelständen  zu  äußern;  sogar  auch  umgekehrt  sein  Wohlgefallen 
an  irgend  einer  Kleinigkeit.  Denn  im  letztem  Fall  werden  sie  es 
machen  wie  jener  Gefängniswärter,  der,  als  er  entdeckte,  daß  sein 
Gefangener  dasmühsame  Kunststück  vollbracht  hatte,  eine  Spinne  zahm 
zu  machen,  und  an  ihr  seine  Freude  hatte,  sie  sogleich  zertrat:  l'animal 
m^hant  par  excellence!  Darum  fürchten  alle  Tiere  instinkt- 
mäßig den  Anblick,   ja   die   Spur   des   Menschen,  —  des 


—  16 


animal  mechant  par  excellence  . . .  .Wirklich  also  liegt  im 
Herzen  eines  Jeden  ein  wildes  Tier,  das  nur  auf  Gelegenheit 
lauert,  um  zu  toben  und  zu  rasen,  indem  es  Andern  wehe  tun 
und,  wenn  sie  gar  ihm  den  Weg  versperren,  sie  vernichten  möchte: 
es  ist  eben  das,  woraus  alle  Kampf-  und  Kriegslust 
entspringt  .  .  .  .« 

».  .  .  Wenn  nun  also  auch  nur  wenige  Tiere  natürlichen 
Todes  sterben,  die  meisten  aber  nur  so  viel  Zeit  gewinnen,  ihr 
Geschlecht  fortzupflanzen,  und  dann,  wenn  nicht  schon  früher,  die 
Beute  eines  andern  werden,  der  Mensch  allein  hingegen  es  dahin 
gebracht  hat,  daß,  in  seinem  Geschlechte,  der  sogenannte  natu r- 
licheTod  zur  Regel  geworden  ist,  die  inzwischen  beträcht- 
liche Ausnahmen  leidet;  so  bleiben,  aus  obigem  Grunde,  die 
Tiere  doch  im  Vorteil.  Überdies  aber  erreicht  er  sein  wirklich 
natürliches  Lebensziel  eben  so  selten,  wie  jene;  weil  die  Wider- 
natürlichkeit  seiner  Lebensweise,  nebst  seinen  Anstrengungen  und 
Leidenschaften,  und  die  durch  alles  dieses  entstandene  Degeneration 
der  Rasse  ihn  selten  dahin  gelangen  läßt.  Die  Tiere  sind  viel 
mehr,  als  wir,  durch  das  bloße  Dasein  befriedigt  ....  Das  Tier 
ist  die  verkörperte  Gegenwart ....  Aber  eben  in  Folge  hievon  er- 
scheinen die  Tiere,  mit  uns  verglichen,  in  Einem  Betracht,  wirklich 
weise,  nämlich  im  ruhigen,  ungetrübten  Genüsse  der  Gegenwart: 
die  augenscheinliche  Gemütsruhe,  deren  sie  dadurch  teilhaft  sind, 
beschämt  oft  unsern,  durch  Gedanken  und  Sorgen  häufig  unruhigen 
und  unzufriedenen  Zustand  ....  Eben  dieses  den  Tieren  eigene, 
gänzliche  Aufgehn  in  der  Gegenwart  trägt  viel  bei  zu  der  Freude, 
die  wir  an  unsern  Haustieren  haben:  sie  sind  die  personifizierte 
Gegenwart  und  machen  uns  gewissermaßen  den  Wert  jeder  unbe- 
schwerten und  ungetrübten  Stunde  fühlbar,  während  wir  mit 
unsern  Gedanken  meistens  über  diese  hinausgehn  und  sie  unbe- 
achtet lassen.  Aber  die  angeführte  Eigenschaft  der  Tiere,  mehr,  als 
wir,  durch  das  bloße  Dasein  befriedigt  zu  sein,  wird  vom 
egoistischen  und  herzlosen  Menschen  mißbraucht  und  oft  dermaßen 
ausgebeutet,  daß  er  ihnen,  außer  dem  bloßen  kahlen  Dasein, 
nichts,  gar  nichts  gönnt:  den  Vogel,  der  organisiert  ist,  die  halbe 
Welt  zu  durchstreifen,  sperrt  er  in  einen  Kubikfuß  Raum,  wo  er 
sich  langsam  zu  Tode  sehnt  und  schreit ....  imd  seinen  treuesten 
Freund,  den  so  intelligenten  Hund,  legt  er  an  die  Kette!  Nie 
sehe  ich  einen  solchen  ohne  inniges  Mitleid  mit  ihm  und  tiefe 
Indignation  gegen  seinen  Herrn,  und  mit  Befriedigung  denke  ich 
an  den  vor  einigen  Jahren  von  den  Times  berichteten  Fall,  daß 
ein  Lord,  der  einen  großen  Kettenhund  hielt,  einst,  seinen  Hof 
durchschreitend,  sich  beigehn  ließ,  den  Hund  liebkosen  zu  wollen, 
darauf  dieser  sogleich  ihm  den  Arm  von  oben  bis  unten  aufriß,  — 
mit  Recht!  er  wollte  damit  sagen:  ,Du  bist  nicht  mein  Herr, 
sondern  mein  Teufel,  der  mir  mein  kurzes  Dasein  zur  Hölle 
macht.'  Möge  es  Jedem  so  gehn,  der  Hunde  ankettet.« 


—  17 


>Den  alleinigen  wahren  Gefährten  und  treuesten  Freund 
des  Menschen,  diese  kostbarste  Eroberung,  die  jeder  Mensch 
gemacht  hat,  wie  Fr.  Cüvier  sagt,  und  dabei  ein  so  höchst 
intelligentes  und  fein  fühlendes  Wesen,  wie  einen  Verbrecher  an 
die  Kette  legen,  wo  er  vom  Morgen  bis  zum  Abend  nichts,  als 
die  stets  erneuefe  und  nie  befriedigte  Sehnsucht  nach  Freiheit  und 
Bewegung  empfindet,  sein  Leben  eine  langsame  Marter  ist,  und  er 
durch  solche  Grausamkeit  endlich  enthundet  wird,  sich  in  ein 
liebloses,  wildes,  untreues  Tier,  vor  dem  Teufel  Mensch  stets 
zitterndes  und  kriechendes  Wesen  verwandelt!  Lieber  wollte  ich 
einmal  bestohlen  werden,  als  solchen  Jammer,  dessen  Ursache  ich 
wäre,  stets  vor  Augen  haben.  Es  sollte  verboten  sein  und  die 
Polizei   auch    hier   die   Sielle   der   Menschlichkeit   vertreten  .  .  .  .« 

»Ein  anderer,  bei  dieser  Gelegenheit  zu  erwähnender,  aber 
nicht  weg  zu  erklärender  und  seine  heillosen  Folgen  täglich  mani- 
fest'erender  Grundfehler  des  Christentums  ist,  daß  es  widernatür- 
licherweiäe  den  Menschen  losgerissen  hat  von  der  Tierwelt,  welcher 
er  doch  wesentlich  angehört,  und  ihn  nun  ganz  allein  gelten 
lassen  will,  die  Tiere  geradezu  als  Sachen  betrachtend;  während 
Brahmanismus  und  Buddhaismus,  der  Wahrheit  getreu,  die  augen- 
fällige Verwandtschaft  des  Menschen,  wie  im  Allgemeinen  mit  der 
ganzen  Natur,  so  zunächst  und  zumeist  mit  der  tierischen,  ent- 
schieden anerkennen  und  ihn  stets,  durch  Metempsychose  und  sonst, 
in  enger  Verbindung  mit  der  Tierwelt  darstellen.  Die  bedeutende 
Rolle,  welche  im  Brahmanismus  und  Buddhaismus  durchweg  die 
Tiere  spielen,  verglichen  mit  der  totalen  Nullität  derselben  im 
Juden-Christentum,  bricht,  in  Hinsicht  auf  Vollkommenheit, 
diesem  letztern  den  Stab;  so  sehr  man  auch  an  solche  Absurdität 
in  Europa  gewöhnt  sein  mag.  Jenen  Grundfehler  zu  beschönigen, 
wirklich  aber  ihn  vergrößernd,  finden  wir  den  so  erbärmlichen, 
wie  unverschämten,  bereits  in  meiner  Ethik  gerügten  Kunstgriff, 
alle  die  natürlichen  Verrichtungen,  welche  die  Tiere  mit  uns 
gemein  haben  und  welche  die  Identität  unserer  Natur  mit  der  ihrigen 
zunächst  bezeugen,  wie  Essen,  Trinken,  Schwangerschaft,  Geburt, 
Tod,  Leichnam  u.  a.  m.  an  ihnen  durch  ganz  andere  Worte  zu 
bezeichnen,  als  beim  Menschen.  Dies  ist  wirklich  ein  nieder- 
trächtiger Kniff.  Der  besagte  Grundfehler  nun  aber  ist  eine  Folge 
der  Schöpfung  aus  Nichts,  nach  welcher  der  Schöpfer,  Kap.  1 
und  9  der  Genesis,  sämtliche  Tiere,  ganz  wie  Sachen  und  ohne 
alle  Empfehlung  zu  guter  Behandlung,  wie  sie  doch  meistens  selbst  ein 
Hundeverkäufer,  wenn  er  sich  von  seinem  Zöglinge  trennt,  hinzu- 
fügt, dem  Menschen  übergibt,  damit  er  über  sie  herrsche,  also 
mit  ihnen  tue  was  ihm  beliebt;  worauf  er  ihn,  im  zweiten  Kapitel, 
noch  daz»  zum  ersten  Professor  der  Zoologie  bestellt,  durch  den 
Auftrag,  ihnen  Namen  zu  geben,  die  sie  fortan  führen  sollen; 
welches  eben  wieder  nur  ein  Symbol  ihrer  gänzlichen  Abhängig- 
keit von  ihm,  d.  h.  ihrer  Rechtlosigkeit  ist.  —  Heilige  Ganga!  Mutter 


unsers  Geschlechts!  dergleichen  Historien  wirken  auf  mici;, 
wie  Judenpech  und  foetor  judaicus!  Aber  leider  machen  die  Folgen 
davon  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  fühlbar;  weil  sie  auf  das 
Ctiristentum  übergegangen  sind,  welchem  nachzurühmen,  daß  seine 
Moral  die  allervollkommenste  sei,  man  eben  deshalb  ein  Mal  auf- 
hören sollte.  Sie  hat  wahrlich  eine  große  und  wesentliche  Unvoii- 
kommenheit  darin,  daß  sie  ihre  Vorschriften  auf  den  Menschen 
beschränkt  und  die  gesamte  Tierwelt  rechtlos  läßt.  Daher  nun,  in 
Beschützung  derselben  gegen  den  rohen  und  gefühllosen,  oft  mehr 
als  bestialischen  Haufen,  die  Polizei  die  Stelle  der  Religion  ver- 
treten muß  und,  weil  Dies  nicht  ausreicht,  heut  zu  Tage  Gesellschaften 
zum  Schutze  der  Tiere,  überall  in  Europa  und  Amerika,  sicti 
bilden,  welche  hingegen  im  ganzen  unbeschnittenen  Asien  die 
überflüssigste  Sache  von  der  Welt  sein  würde,  als  wo  die  Religion 
die  Tiere  genugsam  schützt  und  sogar  sie  zum  Gegenstand  posi- 
tiver Wohltätigkeit  macht,  deren  Früchte  wir  z.  B.  im  großen 
Tierspital  zu  Surate  vor  uns  haben,  in  welches  zwar  auch  Christen, 
Mohammedaner  und  Juden  ihre  kranken  Tiere  schicken  können, 
solche  aber,  nach  gelungener  Kur,  sehr  richtig,  nicht  wiedererhalten; 
und  ebenfalls  wann,  bei  jedem  persönlichen  Glücksfall,  jedem 
günstigen  Ausgang,  der  Brahmanist  oder  Buddhaist  nicht  elwan 
ein  Te  Deum  plärrt,  sondern  auf  den  Markt  geht  und  Vögel  kauft, 
um  vor  dem  Stadttor  ihre  Käfige  zu  öffnen;  wie  man  dies  schon 
in  Astrachan,  wo  Bekenner  aller  Religionen  zusammentreffen,  zu 
beobachten  häufig  Gelegenheit  hat;  und  noch  in  hundert  ähn- 
lichen Dingen.  Dagegen  sehe  man  die  himmelschreiende 
Ruchlosigkeit,  mit  welcher  unser  christlicher  Pöbel 
gegen  die  Tiere  verfährt,  sie  völlig  zwecklos  und 
lachend  tödtet,  oder  verstümmelt,  oder  martert,  und 
selbst  die  von  ihnen,  welche  unmittelbar  seine  Er- 
nährer sind,  seine  Pferde,  im  Alter,  auf  das  äußerste 
anstrengt,  um  das  letzte  Mark  aus  ihren  armen  Knochen 
zu  arbeiten,  bis  sie  unter  seinen  Streichen  erliegen. 
Man  möchte  wahrlich  sagen:  die  Menschen  sind  die 
Teufel  der  Erde,  und  die  Tiere  die  geplagten  Seelen. 
Das  sind  die  Folgen  jener  Installations-Szene  im  Garten  des 
Paradieses.  Denn  dem  Pöbel  ist  nur  durch  Gewalt  oder  durch 
Religion  beizukommen:  hier  aber  läßt  das  Christentum  uns 
schmählich  im  Stich  ....  ,Der  Gerechte  erbarmt  sich  seines 
Viehes'.  , Erbarmt!'  —  welch  ein  Ausdruck!  Man  erbarmt  sich 
eines  Sünders,  eines  Missetäters,  nicht  aber  eines  unschuldigen 
treuen  Tieres,  welches  oft  der  Ernährer  seines  Herrn  ist  und 
nichts  davon  hat  als  spärliches  Futter.  ,Erbarmt!'  Nicht  Erbarmen, 
sondern  Gerechtigkeit  ist  man  dem  Tiere  schuldig  —  unc^bleibt  sie 
meistens  schuldig,  in  Europa,  diesem  Weltteil,  der  vom  foetor 
judaicus  so  durchzogen  ist,  daß  die  augenfällige  simple  Wahrheit: 
,das  Tier    ist    im    Wesentlichen    das    Selbe    wie    der    Mensch' 


19 


ein  anstößiges  Paradoxon  ist.  Der  Schutz  der  Tiere  fällt  also  den  ihn 
bezweckenden  Gesellschaften  und  der  Polizei  anheim,  die  aber 
beide  gar  wenig  vermögen  gegen  jene  allgemeine  Ruchlosigkeit 
des  Pöbels,  hier,  wo  es  sich  um  Wesen  handelt,  die  nicht  klagen 
können,  und  wo  von  hundert  Grausamkeiten  kaum  eine  gesehn 
wird,  zumal  da  auch  die  Strafen  zu  gelinde  sind.  In  England  ist 
kürzlich  Prügelstrafe  vorgeschlagen  worden,  die  mir  auch  ganz 
angemessen  scheint.« 

»Erst,  wenn  jene  einfache  und  über  allen  Zweifel  erhabene 
Wahrheit,  daß  die  Tiere  in  der  Hauptsache  und  im 
Wesentlichen  ganz  das  Selbe  sind,  was  wir,  in's  Volk 
gedrungen  sein  wird,  werden  die  Tiere  nicht  mehr  als  rechtlose 
Wesen  dastehn  und  demnach  der  bösen  Laune  und  Grausamkeit 
jedes  rohen  Buben  preisgegeben  sein;  —  und  wird  es  nicht  jedem 
Medikaster  freistehn,  jede  abenteuerliche  Grille  seiner  Unwissenheit 
durch  die  gräßlichste  Qual  einer  Unzahl  Tiere  auf  die  Probe  zu 
stellen,  wie  heut  zu  Tage  geschieht  ....  Und  leider  wird  zu  den 
Vivisektionen  am  häufigsten  das  moralisch  edelste  aller  Tiere 
genommen :  der  Hund,  —  welchen  überdies  sein  sehr  entwickeltes 
Nervensystem  für  den  Schmerz  empfänglicher  macht.« 

». .  .  Heut  zu  Tage  hingegen  hält  jeder  Medikaster  sich 
befugt,  in  seiner  Marterkammer  die  grausamste  Tierquälerei  zu 
treiben,  um  Probleme  zu  entscheiden,  deren  Lösung  längst  in 
Büchern  steht,  in  welche  seine  Nase  zu  stecken  er  zu  faul  und 
unwissend  ist.  Unsere  Ärzte  haben  nicht  mehr  die  klassische 
Bildung,  wie  ehemals,  wo  sie  ihnen  eine  gewisse  Humanität  und 
einen  edlen  Anstrich  verlieh.  Das  geht  jetzt  möglichst  früh  auf 
die  Universität,  wo  es  eben  nur  sein  Pflasterschmieren  lernen  will, 
um  dann  damit  auf  Erden  zu  prosperieren  ....  Lassen  denn  diese 
Herren  vom  Skalpel  und  Tiegel  sich  gar  nicht  träumen,  daß  sie 
zunächst  Menschen  und  sodann  Chemiker  sind?  Wie  kann  man 
ruhig  schlafen,  während  man  harmlose,  von  der  Mutter  gesäugte 
Tiere  unter  Schloß  und  Riegeln  hat,  den  martervollen,  langsamen 
Hungertod  zu  erleiden?  Schrickt  man  da  nicht  auf  im  Schlaf?  .... 
Was  in  aller  Welt  hat  das  arme,  harmlose  Kaninchen  verbrochen, 
daß  man  es  einfängt,  um  es  der  Pein  des  langsamen  Hungertodes 
hinzugeben?  ....  Offenbar  ist  es  an  der  Zeit,  daß  der  jüdischen 
Naturauffassung  in  Europa,  wenigstens  hinsichtlich  der  Tiere, 
ein  Ende  werde  und  das  ewige  Wesen,  welches,  wie  in  uns, 
auch  in  allen  Tieren  lebt,  als  solches  erkannt,  geschont  und 
geachtet  werde.  Man  muß  an  allen  Sinnen  blind  oder  durch  den 
toetor  judaicus  förmlich  chloroformiert  sein,  um  nicht  einzusehn, 
daß  das  Tier  im  Wesentlichen  und  in  der  Hauptsache  durchaus 
das  Selbe  ist,  was  wir  sind,  und  daß  der  Unterschied  bloß  im 
Accidenz,  dem  Intellekt  liegt,  nicht  in  der  Substanz,  welche  der 
Wille    ist.      Die     Welt      ist      kein     Machwerk     und 


20 


dieTierekeinFabrikat  zuunsermGebrauch.  Der- 
gleichen Ansichten  sollten  d  en  Sy  nagogen  un  d 
den  philosophischen  Auditorien  überlassen 
bleiben,  welche  im  Wesentlichen  nicht  so  sehr  verschieden 
sind  ....  Missionäre  schicken  sie  den  Brahmanen 
undBuddhaisten,  um  ihnenden,wahrenGlauben 
beizubringen;  aber  diese,  wenn  sie  erfahren, 
wie  in  Europa  mit  den  Tieren  umgegangen  wird, 
fassen  den  tiefsten  Abscheu  gegen  Europäer 
und   ihre  Glaubenslehren.« 

>Man  sollte  alle  zu  schlachtenden  Tiere  zuvor  chloro- 
formieren: das  würde  ein  edeles,  die  Menschen  ehrendes  Verfahren 
sein,  bei  welchem  die  höhere  Wissenschaft  des  Occidents  und  die 
höhere  Moral  des  Orients  Hand  in  Hand  gingen,  indem  Brahma- 
nismus  und  Buddhaismus  ihre  Vorschriften  nicht  auf  ,den  Nächsten' 
beschränken,  sondern  ,alle  lebenden  Wesen'  unter  ihren  Schutz 
nehmen.« 

».  .  .  was  des  Menschen  Leben  so  reich,  so  künstlich  und 
so  schrecklich  macht,  daß  er,  in  diesem  Occident,  der  ihn  weiß 
gebleicht  hat  und  wohin  ihm  die  alten,  wahren,  tiefen  Ur-Religionen 
seiner  Heimat  nicht  haben  folgen  können,  seine  Brüder 
nicht  mehr  kennt,  sondern  wähnt,  die  Tiere  seien  etwa? 
von  Grund  aus  Anderes,  als  er,  und,  um  sich  in  diesem  Wahne 
zu  befestigen,  sie  Bestien  nennt,  alle  ihre  ihm  gemeinsamen 
Lebensver richtungen  an  ihnen  mit  Schimpfnamen  belegt 
und  sie  für  rechtlos  ausgibt,  indem  er  gegen  die  sich  aufdrängende 
Identität   seines  Wesens  in  ihm  und  ihnen  sich  gewaltsam  verstockt.« 

>Die  vermeinte  Rechtlosigkeit  der  Tiere,  der  Wahn,  daß 
unser  Handeln  gegen  sie  ohne  moralische  Bedeutung  sei,  oder, 
wie  es  in  der  Sprache  jener  Moral  heißt,  daß  es 
gegen  Tiere  keine  Pflichten  gebe,  ist  geradezu  eine  empörende 
Rohheit  und  Barbarei  des  Occidents,  deren  Quelle  im  Judentum  liegt.« 

».  .  .  Daher  auch  sind  die  Tiere  weder  des  Vorsatzes,  noch 
der  Verstellung  fähig:  sie  haben  nichts  im  Hinterhalt.  In  dieser 
Hinsicht  verhält  sich  der  Hund  zum  Menschen,  wie  ein  gläserner  zu 
einem  metallenen  Becher,  und  dies  trägt  viel  bei,  ihn  uns  so  wert  zu 
machen  ....  Überhaupt  spielen  die  Tiere  gleichsam  mit  offenen 
Karten:  daher  sehen  wir  mit  so  vielem  Vergnügen  ihrem  Tun  und 
Treiben  unter  einander  zu  ...  .  Eines  eigentlichen  Vorsatzes  nämlich 
ist  kein  Tier  fähig  ....  Zwar  kann  ein  Instinkt,  wie  der  der  Zug- 
vögel, der  der  Bienen,  ferner  auch  ein  bleibender,  anhaltender 
Wunsch,  eine  Sehnsucht,  wie  die  des  Hundes  nach 
seinem  abwesenden  Herrn,  den  Schein  des  Vorsatzes 
hervorbringen,  ist  jedoch  mit  diesem  nicht  zu  verwechseln.« 


—  21 


»...Solchen  Sophistikationen  der  Philosophen  entsprechend 
finden  wir,  auf  dem  populären  Wege,  die  Eigenheit  mancher 
Sprachen,  namentlich  der  deutschen,  daß  sie  für  das  Essen,  Trinken, 
Schwangersein,  Gebären,  Sterben  und  den  Leichnam  der  Tiere 
ganz  eigene  Worte  haben,  um  nicht  die  gebrauchen  zu  müssen, 
welche  jene  Akte  beim  Menschen  bezeichnen,  und  so  unter  der 
Diversität  der  Worte  die  vollkommene  Identität  der  Sache  zu  ver- 
stecken. Da  die  alten  Sprachen  eine  solche  Duplicität  der  Aus- 
drücke nicht  kennen,  sondern  unbefangen  die  selbe  Sache  mit  dem 
selben  Worte  bezeichnen,  so  ist  jener  elende  Kunstgriff  ohne 
Zweifel  das  Werk  europäischer  Pfaffenschaft,  die,  in  ihrer 
Profanität,  nicht  glaubt  weit  genug  gehen  zu  können  im  Ver- 
Seugnen  und  Lästern  des  ewigen  Wesens,  welches  in  allen  Tieren 
iebt;  wodurch  sie  den  Grund  gelegt  hat  zu  der  in  Europa  üblichen 
Härte  und  Grausamkeit  gegen  Tiere,  auf  welche  ein  Hqchasiate 
nur  mit  gerechtem  Abscheu  hinsehen  kann  ....  Die  alten  Ägypter, 
deren  ganzes  Leben  religiösen  Zwecken  geweiht  war,  setzten  in 
den  selben  Grüften  die  Mumien  der  Menschen  und  die  der  Ibisse, 
Krokodile  u.  s.  w.  bei:  aber  in  Europa  ist  es  ein  Greuel 
und  Verbrechen,  wenn  der  treue  Hund  neben  derRuhe- 
stätte  seines  Herrn  begraben  wird,  auf  welcher  er  bis- 
weilen, aus  einer  Treue  und  Anhänglichkeit,  wie  sie 
beim  Menschengeschlechte  nicht  gefunden  wird,  seinen 
eigenen  Tod  abgewartet  hat.« 

»...So  einem  occidentalischen,  judaisierten  Tier- 
verächter und  Vernunftidolater  muß  man  in  Erinnerung 
bringen,  daß,  wie  Er  von  seiner  Mutter,  so  auch  der  Hund  von 
der  sein  igen  gesäugt  worden  ist.« 

».  .  .  In  seiner  1838  zu  Bombay  erschienenen  Reise  erzählt 
er  (Wilhelm  Harris),  daß,  nachdem  er  den  ersten  Elephanten, 
welches  ein  weiblicher  war,  erlegt  hatte  und  am  folgenden  Morgen 
das  gefallene  Tier  aufsuchte,  alle  anderen  Elephanten  aus  der 
Gegend  entflohen  waren:  bloß  das  Junge  des  gefallenen  hatte  die 
Nacht  bei  der  todten  Mutter  zugebracht,  kam  jetzt,  alle  Furcht 
vergessend,  den  Jägern  mit  den  lebhaftesten  und  deutlichsten 
Bezeugungen  seines  trostlosen  Jammers  entgegen,  und  umschlang 
?ie  mit  seinem  kleinen  Rüssel,  um  ihre  Hülfe  anzurufen.  Da,  sagt 
Harris,  habe  ihn  eine  wahre  Reue  über  seine  Tat  ergriffen  und 
sei  ihm  zu  Mute  gewesen,  als  hätte  er  einen  Mord  begangen  .... 
Zum  Ruhme  der  Engländer  sei  es  gesagt,  daß  bei  ihnen  zuerst  das 
Qe?etz  auch  die  Tiere  ganz  ernstlich  gegen  grausame  Behandlung 
in  Schutz  genommen  hat,  und  der  Bösewicht  es  wirklich  büßen 
muß,  daß  er  gegen  Tiere,  selbst  wenn  sie  ihm  gehören,  gefrevelt 
hat.  Ja,  hiemit  noch  nicht  zufrieden,  besteht  in  London  eine  zum 
Schutz  der  Tiere  freiwillig  zusammengetretene  Gesellschaft,  Society 


99 


for  the  prevention  of  cruelly  to  animals,  welche,  auf  Privatwegen, 
mit  bedeutendem  Aufwände,  sehr  viel  tut,  um  der  Tierquälerei 
entgegen  zu  arbeiten.  Ihre  Emissarien  passen  heimlich  auf,  um 
nachher  als  Denunzianten  der  Quäler  sprachloser,  empfindender 
Wesen  aufzutreten,  und  iiberall  hat  man  deren  Gegenwart  zu 
befürchten.  'Wie  ernstlich  die  Sache  genommen  wird,  zeigt  das 
folgende  ganz  frische  Beispiel,  welches  ich  aus  dem  Birmingham- 
Journal  vom  Dezember  1839  übersetze:  .Gefangennehmung 
einer  Gesellschaft  von  84  Hundehetzern.  —  Da  man  er- 
fahren hatte,  daß  gestern  auf  dem  Plan  in  der  Fuchsstraße  zu 
Birmingham  eine  Hundehetze  Statt  finden  sollte,  ergriff  die 
Gesellschaft  der  Tierfreunde  Vorsichtsmaßregeln,  um  sich  der  Hülfe 
der  Polizei  zu  versichern,  von  welcher  ein  starkes  Detachement 
nach  dem  Kampfplatze  marschierte  und,  sobald  es  eingelassen 
worden,  die  gesamte  gegenwärtige  Gesellschaft  arretierte.  Diese 
Teilnehmer  wurden  nunmehr  paarweise  mit  Hand- 
schlingen aneinandergebunden  und  dann  das  Ganze 
durch  ein  langes  Seil  in  der  Mitte  vereinigt:  so  wurden 
sie  nach  dem  Polizeiamt  geführt  .  .  .  .'  Aber  ein  noch 
strengeres  Exempel  aus  neuerer  Zeit  finden  wir  in  den  Times 
vom  6.  April  1855,  S.  6,  und  zwar  eigentlich  von  dieser  Zeitung 
selbst  statuiert.  Sie  berichtet  nämlich  den  gerichtlich  gewordenen 
Fall  der  Tochter  eines  sehr  begüterten  Schottischen  Baronets. 
welche  ihr  Pferd  höchst  grausam,  mit  Knüttel  und  Messer,  gepeinigt 
hatte,  wofür  sie  zu  5  Pfund  Sterling  Strafe  verurteilt  worden  war  .... 
,Wir  können  nicht  umhin,  zu  sagen,  daß  ein  paar  Monat  Gefängnis- 
strafe, nebst  einigen,  privatim,  aber  vom  handfestesten  Weibe  im 
Hampshire  applizierten  Auspeitschungen  eine  viel  passendere 
Bestrafung  der  Miss  N.  N.  gewesen  sein  würde.  Eine  Elende  dieser 
Art  hat  alle  ihrem  Geschlechte  zustehenden  Rücksichten  und  Vor- 
rechte verwirkt:  wir  können  sie  nicht  mehr  als  ein  Weib  be- 
trachten.' —  Ich  widme  diese  Zeitungsnachrichten  besonders  den 
jetzt  in  Deutschland  errichteten  Vereinen  gegen  Tierquälerei,  damit 

sie  sehen,  wie  man  es  angreifen  muß,  wenn  es  etwas  werden  soll ) 

Bei  steilen  Brücken  in  London  hält  die  Gesellschaft 
ein  Gespann  Pferde,  welches  jedem  schwer  beladenen 
Wagen  unentgeltlich  vorgelegt  wird.  Ist  das  nicht 
schön?  Erzwingt  es  nicht  unsern  Beifall,  so  gut 
wie   eine  Wohltat   gegen   Menschen?« 

».  .  .  Daher  bietet  der  Anblick  jeder  Tiergestalt  uns  eine 
Ganzheit,  Einheit,  Vollkommenheit  und  streng  durchgeführte 
Harmonie  aller  Teile  dar,  die  so  ganz  auf  seinem  Grundgedanken 
beruht,  daß  beim  Anblick,  selbst  der  abenteuerlichsten  Tiergestalt, 
es  Dem,  der  sich  darin  vertieft,  zuletzt  vorkommt,  als  wäre  sie 
die  einzig  richtige,  ja  mögliche,  und  könne  es  gar  keine  andere 
Form  des  Lebens,  als  eben  diese,  geben.« 


—  23 


». . .  Für  das  Bedürfnis  aufheiternder  Unterhaltung  und  um  der 
Einsamkeit  die  Öde  zu  benehmen,  empfehle  ich  hingegen  die 
Hunde,  an  deren  moralischen  und  intellektuellen  Eigenschaften 
mau  fast  allemal  Freude  und  Befriedigung  erleben  wird.« 

».  .  .  Auf  dem  zuerst  Gesagten  aber  beruht  unsere  Freude 
an  Hundeii.,  Affen,  Katzen  u.  s.  w.:  die  vollkommene  Naivität 
aller  ihrer  Äußerungen  ist  es,  die  uns  so  sehr  ergötzt.  —  Welchen 
eigentümlichen  Genuß  gewährt  doch  der  Anblick  jedes  freien 
Tieres,  wenn  es  ungehindert  für  sich  allein  sein  Wesen  treibt, 
seiner  Nahrung  nachgeht,  oder  seine  Jungen  pflegt,  oder  zu  anderen 
seines  Gleichen  sich  gesellt  u.  s.  w.  Dabei  so  ganz  was  es  sein 
soll  und  kann.  Und  sei  es  nur  ein  V^ögelein,  ich  kann  ihm  lange 
mit  Vergnügen  zusehn;  —  ja  einer  Wasserratte,  einem  Frosch: 
doch  lieber  einem  Igel,  einem  Wiesel,  einem  Reh  oder  Hirsch!  — 
Daß  uns  der  Anblick  der  Tiere  so  sehr  ergötzt,  beruht  hauptsächlich 
darauf,  daß  es  uns  freut,  unser  eigenes  Wesen  so  sehr  verein- 
facht vor  uns  zu  sehn.  -  Es  gibt  auf  der  Weltnur  ein  lügen- 
haftes Wesen:  es  ist  der  Mensch.  Jedes  andere  ist  wahr  und 
aufrichtig,  indem  es  sich  unverhohlen  gibt  als  das,  was  es  ist, 
und  sich  äußert,  wie  es  sich  fühlt.  Ein  emblemaiischer,  oder  alle- 
gorischer Ausdruck  dieses  Fundamentalunterschiedes  ist,  daß  alle 
Tiere  in  ihrer  natürlichen  Gestalt  umhergehn,  was  viel  beiträgt 
zu  dem  so  erfreulichen  Eindruck  ihres  Anblicks,  bei  dem  mir, 
zumal  wenn  es  freie  Tiere  sind,  stets  das  Herz  aufgeht;  —  während 
der  Mensch  durch  die  Kleidung  zu  einem  Fratz,  zu  einem  Monstrum 
geworden  ist,  dessen  Anblick  schon  dadurch  widerwärtig  ist,  und 
nun  gar  unterstützt  wird  durch  die  ihm  nicht  natürliche  weiße 
Farbe,  und  durch  alle  die  ekelhaften  Folgen  widernatürlicher 
Fleischnahrung,  spirituoser  Getränke,  Tabacks,  Ausschweifungen 
und  Krankheiten.  Er  steht  da  als  ein  Schandfleck  der 
Natur!  ..  .« 

>Eine  große  Menge  schlechter  Schriftsteller  lebt  allein  von 
der  Narrheit  des  Publikums,  nichts  lesen  zu  wollen,  als  was  heute 
gedruckt  ist:  —  die  J  o  u  r  n  a  1  i  s  t  e  n.  Treffend  benannt!  Ver- 
deutscht würde  es  heißen  ,Tagelöhner'.< 

>.  .  .  diese  letzte  Klasse  aller  Druckschreiber,  welche  für  den 
Tag,  auf  den  Tag,  in  den  Tag  hinein  schreibt.  Ich  habe  sie  schon, 
in  dieser  Hinsicht,  der  polizeilichen  Aufsicht  empfohlen.« 

».  .  .  Daher  auch  sind  alle  Zeitungsschreiber,  von  Handwerks 
wegen,  Allarmisten:  dies  ist  ihre  Art  sich  interessant  zu  machen. 
Sie  gleichen  aber  dadurch  den  kleinen  Hunden,  die  bei  Allem, 
was  sich  irgend  regt,  sogleich  ein  lautes  Gebell  erheben.« 


—  24  — 

Glossen 

Es  war  die  Nachtigall  und  nicht  die  Lerche 

»Unser  Brüsseler  Korrespondent  schreibt  uns  vom  24,  d.  : 
Ein  an  der  Yserfront  stehender  belgischer  Soldat,  der  in  diesen 
schönen  Maientagen  des  Nachts  am  Saume  eines  Waldes  Wache  stand, 
vernahm  stundenlang  den  prächtigen  Triller  einer  Nachtigall  und  ent- 
zückte sich  an  ihren  Klängen.  Ringsum  erscholl  ein  furchtbarer  Kanonen- 
donner, denn  die  deutsche  Artillerie  beschießt  Tag  und  Nacht  das 
belgische  Lager  an  der  Yser  und  die  belgische  Artillerie  beantwortet  den 
deutschen  Geschoßregen  mit  der  größten  Kraft.  Dieser  ohrenzerreißende 
Kriegslärm,  der  den  in  einsamer  Wacht  stehenden  Soldaten  bis  ins 
Mark  erschütterte,  schien  dem  gefiederten  Sänger  keinerlei  Beängstigung 
zu  bereiten.  Der  kleine  Waldvogel  kümmerte  sich  um  den  gewaltigen 
Völkerkrieg  nicht  im  mindesten  und  ließ  seine  Arien  los,  als  herrschte 
tiefster  Friede  im  Walde  in  dieser  herrlichen,  vom  Monde  beschienenen 
Frühlingsnacht.« 

Sie    sang    des     Nachts  auf  dem    Granatbaum    dort   .  .  . 

«  * 

* 

Mir  nicht  unbekannt 

»In  einer  Rede,  die  Vandervelde  im  Mai  in  Ronen  gehalten  hat, 
machte  er  folgende  Bemerkungen:  .  .  .  Der  Krieg  hat  so  vollständig 
seinen  Charakter  verändert,  daß  man  ihm  nicht  durch  Bedingungen, 
die  nach  der  Vergangenheit  berechnet  sind,  ein  Ende  setzen  könnte. 
Die  größte  Beachtung  muß  man  vielmehr  der  Tatsache  widmen,  daß 
die  ganze  Zivilisation  ein  Opfer  der  Wissenschaft  geworden 
ist,  die  sie  geboren  und  genährt  hat  ....  Die  Festungen  sind 
keine  Hindernisse  mehr.  Die  Tiefen  des  Meeres  schützen  die  Todes- 
maschinen, die  unbemerkt  eine  Flotte  im  Zeitraum  einer  Nacht  zerstören 
können.  Die  Luft  wie  der  Schoß  des  Meeres  öffnen  den  Weg  für 
Maschinen,  die  in  Brand  stecken  und  die  töten.  Auf  der  Erde  bedroht 
die  noch  in  ihren  Anfängen  steckende  militärische  Chemie  ganze 
Regionen  mit  Erstickung  und  Vergiftung.  Die  drahtlose  Elektrizität  hat 
noch  ihr  militärisches  Ideal  zu  verwirklichen,  das  darin  besteht,  auf 
Entfernungen  hin  Munitionsdepots,  Werkstätten,  selbst  Städte  in  die 
Luft  zu  sprengen;  aber  sie  kann  es  morgen  verwirklichen,  sie  ist  auf 
dem  Wege  zu  diesem  Erfolg  I  ...  Es  handelt  sich  deshalb  darum,  den 
»tollen  Hundt  für  immer  zu  bändigen,  der  die  Welt  bedrohe,  die 
Wissenschaft,  die  in  den  Dienst  der  Zerstörung  gestellt 
ist,  einer  strengen  Disziplin  zu  unterwerfen,  in  der  ganzen  Welt  die 
Mittel  des  Kollektivmordes  zu  verbieten,  die  Mechanik  und  die  Chemie 
den  Werken  des  Friedens  zuzuführen!« 


—  25  — 


(Eine  Königin  über  den  Krieg.)  Für  eine  von  dem  Vizepräsi- 
denten der  Kammer,  Jon  Filipescu,  neu  gegründete  rumänische  Zeit- 
schrift hat  Königin  Marie  einen  Beitrag  geliefert;  sie  schreibt:  >Im 
gegenwärtigen  Kriege  rächt  sich  die  iVlascliine  am  Mensch en. 
Der  Mensch  dünkte  sich  als  Herr  der  Welt.  Da  erhoben  sich  gegen 
ihn  seine  eigenen  Erfindungen,  um  ihm  noch  einmal  zu  zeigen,  wie 
klein  er  in  Wh-kiichkeit  jetzt  einer  Macht  gegenübersteht,  die  er  selbst 
entfachte  und  nun  nicht  mehr  beherrschen  kann.  Es  gibt  keinen 
Menschen  von  Fleisch  und  Blut,  und  sei  er  auch  ein  noch  so  großer 
Held,  der  sich  mit  dem  messen  könnte,  was  menschliches  Gehirn  ge- 
schaffen hat,  um  den  Mitmenschen  zu  vernichten.  Sein  eigenes  Werk 
erhebt  sich  gegen  ihn  und  entreißt  seiner  Hand  den  Sieg.  Der  Mensch 
hat  Dinge  erfunden,  die  stärker  sind  als  seine  Macht.  Heute  lernt  der 
Mensch    die  Wahrheit    kennen,    daß    seine  Kraft  eine  beschränkte    ist.< 

Wenn  Sozialisten  und  Königinnen  am  1.  August  1914  mich 
interviewt  hätten,  wäre  ihnen  manche  Überraschung  erspart  ge- 
bh'eben.  Aber  auch  schon  vorher  hätte  ich  ihnen  bei  mir  Buch- 
einsicht gewährt.  ^  ^ 

* 

Die  Zeit  ist  also  doch  groß 

Europa  ist  heldenhaft  ....  Zur  Stunde,  wo  sich  aller  Nationen 
Heldenkraft  zerstörend  aneinander  abmüdet,  geht  dem  Gedankenlosesten 
ein  Begriff  davon  auf,  welch  titanische  Kraft  in  diesem  bald  kleinsten 
Teile  der  Erde  aufgespeicheit  war.  Sie  abzumessen  oder  auszudenken 
geht  über  unser  Vermögen.  Die  Schlachten  von  Karkemisch  und  den 
Katalaunischen  Gefilden  sind  gegen  das  Ringen  um  Verdun  oder 
die  Strypa  ein  Kinderspiel  gewesen.  Der  Blutstrom  dieser  zwei  Jahre 
hat  die  gesamte  Ritterromantik  des  Mittelalters  und  alle  Heldenlegenden 
des  Altertums  ersäuft,  unsere  militärische  Vorgeschichte  verschrumpft 
ins  Unbeträchtliche.  Feueresse  und  Steinhagel  des  Doberdo,  Gas-  und 
Flammenschwaden  und  Geschoßregen  von  Verdun  oder  Czernowitz 
unterwerfen  das  Häuflein  Warmblut,  das  sich  Mensch  nennt,  einer 
grimmigeren  Nerven-  und  Willensprobe  als  alle  zwölf  Versuchungen 
des  Herkules  zusammen  ....  Wer  hätte  geahnt,  wessen  der  Europäer 
fähig  ist!  Welch  kühnstes  Unternehmen  ist  noch  auszudenken,  das  wir 
ihm  niciit  zumuten  dürften! 

Und  diese  Kunst  der  Organisation!  Von  unseren  Altvordern 
wurde  erzählt,  daß  es  der  Ruhm  der  Häuptlinge  war,  eine  große 
Gefolgschaft  wehrhafter  Männer  um  sich  zu  sammeln.  Die  Gefolgschaften 
der  Großen  mochten  in  die  Hunderte  zählen  —  der  abdankende 
Lear  bedingt  sich  hundert  Ritter  aus.  Die  gesteigerte  Zucht 
immer  größerer  Staatswesen  versammelt  Heergefolge  von 
mehreren  Millionen  Menschen!  Die  Sage  der  Vorfahren  knüpft 
den  Sieg  an  ein  berühmtes  Schlachtroß,  ein  wunderbares  Schwert,  eine 
geweihte  Lanze.  Die  Wunder  der  Vorwelt  hat  die  Wissenschaft  über- 
boten: Jene  alten  Wunder  werden  kindische  Märchen,    die  Wirklichkeit 


26  — 


von  heule  aber  wird  zum  unfaßbaren  Wunder.  Die  quelll<lare  Verstandes- 
arbeit, die  Wissenschaft,  ist  beinahe  zur  mythischen  Gewalt,  zum  unent- 
rätselbaren  Dämon  geworden.  Niemals  hat  der  Keil  des  Donnergottes 
solche  Verheerungen  angerichtet  wie  eines  unserer  Riesengeschosse 
Menschen,  Kinder  der  Scholle,  tauchen  in  die  Weltmeere  und  durch- 
kreuzen sie  unsichtbar,  heben  sich  in  Firnhöhe  und  kreisen  über 
Türmen  und  Burgen  so  sicher  und  rascher  als  der  Adler!  Das  alte 
Wort,  der  Mensch  vermöge  seines  Leibes  Maß  doch  keine  Elle  hinzu- 
zufügen, ist  nun  sichtlich  absurd  geworden.  Denn  des  Menschen  Arm 
langt  hoch  über  Bergeshöhen,  indes  sein  Fuß  über  Meeresgründe 
dahinschwebt. 

Der  Mensch  ist  gewaltig  .... 

Das  Steht  in  der  Arbeiter-Zeitung.  Aber  nicht  zitiert,  sondern 
geschrieben.  Sie  sei  deshalb  mit  Quellenangabe  zitiert. 


Auch  du,  mein  Sohn  Brutus 

.  .  .  Was  wollen  Sie  sehen?  Was  interessiert  Sie  besonders?  Ich 
bitte  die  Herren  sich  alles  anzuschauen,  sich  über  alles  zu  unterrichten, 
sprechen  Sie,  bitte,  auch  mit  den  Mannschaften,  es  würde  mich 
freuen,  wenn  die  Herren  sich  über  die  Verhältnisse  an  der  Front 
erkundigen  und  mir  Ihre  Meinung  sagen.  Mit  solcher  Aufforderung 
entließ  uns  Exzellenz  v.  F.,  Kommandant  der  .  .  R.  Division.  .  .  . 

Von  der  , Arbeiter-Zeitung',    .^us  ihr  zitiert,    nicht  von  ihr! 


Kriegsausstellung 


Im  Pavillon  der  Kunstausstellung 
des  Kriegspressequartiers  begrüßte 
der  Vorstand  des  Kriegspresse- 
quartiers und  Direktor  des  Kriegs- 
archivs Generalmajor  Maximilian 
Ritter  v.  Hoen  den  Erzherzog  und 
stellte  sich  ihm  zur  Führung  in 
dieser  Abteilung  zur  Verfügung.  In 
diesem  Pavillon  hatte  sich  ein 
großer  Teil  der  Maler  und 
Künstler  des  Kriegspresse- 
quartiers eingefunden,  die  sich 
beim  Rundgang  des  Erzherzogs 
den  ihn  begleitenden  Persön- 
lichkeiten anschlössen. 


Großes  Interesse  erregte  das 
Konzert  des  Prothesenorche- 
sters, das  aus  40  einarmigen 
Musikernbesteht,  diemitden 
künstlichen  Armen  ihre  In- 
strumente vorzüglich  zu  mei- 
stern verstehen  und  die  schwie- 
rigsten Vortragsstücke  künstlerisch 
interpretieren.  Ungemein  wirksam 
war  abends  die  Beleuchtung 
des  »Karstes«  und  des  Kampf- 
vorfeldes durch  die  elektrischen 
Riesenscheinwerfer.  Die  »Tiroler 
Soldatenzeitungc,  die  in  der  im 
Blockhause  der  genannten  Zeitung 
befindlichen  Druckerei  gleichsam 
vor  den  Augen  das  Aus- 
stellungspublikums gedruckt 
wird,  fand  reißenden  Absatz. 


27 


Und  zur  > Eröffnung«  dieses  wurde  ich  eingeladen!  Nämlich 
die  »Redaktion  der  Fackel«.  Aber  eine  solche  gibts  nicht.  Sie  tritt 
nur  in  Funktion,  um  Einladungen  zurückzuschicken,  damit 
wenigstens  Strafporto  auf  den  Versuch  gesetzt  sei.  Der  ausgestellte 
Krieg!  Ich  würde  eine  Friedensausstellung  besuchen,  in  der  aber 
nichts  zu  sehen  sein  dürfte  als  aufgehängte  Kriegsgewinner,  die 
Helden  des  Geldkriegs,  die,  als  das  Vaterland  rief,  verstanden 
haben :  Jetzt  heißt  es  sich  zusammenscharren !  Oder  gäbs  kein 
Entree  mehr  für  so  etwas,  weil  die  Ausgestellten  alles  hätten?  In 
eine  Kriegsausstellung,  in  der  sie  Aussteller  sind,  gehe  ich  keineswegs. 
Gleichsam  vor  meinen  Augen  soll  die  »Tiroler  Soldatenzeitung« 
gedruckt  werden?  In  der  Beleuchtung  des  »Karstes«,  im  Lichte 
der  Riesenscheinwerfer  sollte  ich  die  Parasitenschaft  Wiens  erkennen 
müssen?  Die  allerentsetzlichste  Schaustellung  eines  »Protheseo- 
orchesters«  —  welchen  Clou  wird  die  Antimenschheit  noch  er- 
sinnen? -  sollte  ich  betrachten  und  im  grimmen  Kontrast  dazu  die 
Versammlung  jener  anderen  Künstler,  die  schlechte  Maler  geworden 
wären,  auch  wenn  sie  ohne  Arme  auf  die  Welt  gekommen  wären.  Wie 
unnennbar  ist  das  alles,  wenn  man  sich  nur  vorstellt,  daß  es  aus- 
gestellt werden  kann!  Lockte  die  Menschheit  nicht  doch  noch 
mehr  eine  Kriegs-Einstellung?   Ich  würde  die  Einladung  annehmen. 


Was  in  der  Kriegsausstellung  fehlt 

Der  jetzt  28  Jahre  alte  Ingenieur  und  Chemiker  Theodor  v. 
Friedberg  hatte  sich  bei  Beginn  des  Krieges  freiwillig  zum  Militär 
gemeldet.  Er  kam  nach  der  Ausbildung  an  die  Front  und  erhielt  in 
einem  Gefecht  vier  Schüsse  in  das  linke  Knie.  Das  Bein  wurde 
steif  und  kürzer,  so  daß  Friedberg  jetzt  nur  mühselig  mit  Stöcken 
gehen  kann.  Überdies  erlitt  er  infolge  des  Luftdrucks  einer  Granate 
eine  Nervenerschütterung  und  er  ist  seit  diesem  Unglück  Epi- 
leptiker. Während  seiner  Dienstzeit  ist  er  Korporal  geworden.  Im 
vorigen  Jahre  wurde  Friedberg  als  zu  jedem  Militärdienst  ungeeignet 
und  bürgerlich  erwerbsunfähig  aus  dem  Heeresverband  entlassen. 
Es  wurde  ihm  die  gesetzliche  Invalidenpension  von  sechs  Kronen 
monatlich  vorläufig  auf  die  Dauer  von  zwei  Jahren  angewiesen 
und  vielleicht  noch  ein  paar  Kronen  Verwundungszulage.  Am 
10.    Juni    d.    J.'  kam    der    Kriegskrüppel    in    einer    Korporalsbluse    zu 


—  28 


dem  ihm  von  früher  her  bekannten  Chemiker  Selig  mann,  Besitzer 
der  Fettstoffabrik  Karl  Seligmann,  und  bat  ihn  mit  Hinweis  auf  sein 
großes  Elend  um  irgend  eine  Arbeit.  Seligmann  hatte  bereits  früher 
einmal  gegen  Friedberg  eine  Anzeige  wegen  unbefugten  Tragens 
der  Uniform  erstaltet  und  er  ließ  jetzt  den  Kriegskrüppel 
durch  einen  Wachmann  verhaften.  Gestern  war  der  Unglückliche 
wegen  unbefugten  Tragens  der  Korporalsuniform  vor  dem  Bezirksgericht 
Josefstadt  angeklagt.  Bezirksrichter  Dr.  Pohl  gestattete  ihm,  sich  sitzend 
zu  verantworten.  Friedberg  gab  an,  daß  er  in  der  Zukunft  einmal 
die  Aussicht  auf  ein  Majorat  habe,  jetzt  aber  außer  seiner  Invaliden- 
pension kein  Einkommen  habe,  da  er  wegen  seines  Körperzustandes 
nirgends  Arbeit  finden  könne.  Er  habe  nach  seiner  Entlassung  aus  dem 
Heeresverband  die  Militäruniform  weiter  getragen,  weil  er  sich  keine 
Zivilkleidung  kaufen  könne.  —  Der  Richter  sprach  den  Ange- 
klagten frei,  denn  dieser  habe  unter  unwiderstehlichem  Zwange  ge- 
handelt, wenn  er  den  Soldatenrock,  in  dem  er  dem  Vaterland  seine 
Gesundheit  und  seine  Arbeitsfähigkeit  opferte,  so  lange  getragen  habe, 
bis  er  in  der  Lage  ist,  sich  Zivilkleider  anzuschaffen.  —  Der  Ange- 
klagte nahm  das  Urteil  unter  Dankesbezeugungen  entgegen.  Als  er  aus 
dem  Saale  hinaushumpelte,  drehte  er  sich  um  und  sagte  zum  Richter : 
>Aber  schön  war  das  nicht  von  Herrn  Seligmann  1« 

Wie  ist  das  alles  nur  möglich,  da  es  doch  nicht  vorgestellt 
werden  kann?  Wenn  alles  andere  möglich  war,  dort  der  Krieg 
und  hier  die  Anzeige,  wie  kann  darüber  zu  Gericht  gesessen 
werden?  Wie  ist  da  ein  einfacher  Freispruch  möglich?  Was 
geschieht  mit  dem  Anzeiger?  Das  Delikt  ist  doch  die  Anzeige. 
Warum  wird  darüber  nicht  verhandelt?  Wie  kann  das,  was  uns 
als  der  Inbegriff  des  Frevelhaften  erscheinen  muß,  Inhalt  einer 
Klage  sein  und  am  Gericht  vorüberkommen?  Der  dort  soll  Armee- 
lieferant sein.  Warum  läßt  der  Kriegskrüppel  den  Armeelieferanten 
nicht  verhaften?  Warum  ist  das  so?  Warum  tun  sie  das?  Warum 
gibt  es  das?  Warum  gibt  es  das  nicht  in  der  Kriegsausstellung? 
Wie  werden  wir,  wenn  wir  diesen  Krieg  überleben,  diese  Anzeige 
überleben?  Wie  ist  das  alles  nur  möglich?  .  .  .  Aus  dem  fernsten 
Winkel  der  Erinnerung,  zwischen  Schlaf  und  Wachen,  unter 
dem  Druck  eigenen  Schicksals  stürmen  die  Dostojewski-Menschen 
solche  Fragen  an.  Uns  müssen  sie  auf  der  Ringstraße  und  bei 
jedem  Blick  in  die  Zeitung  packen.  Langt  keine  Hand  herunter, 
die  dem  Spuk  ein  Ende  macht?  Warum  gibt  es  das  alles?  Warum 
tun  sie  das?  Wie  ist,  wie  war  —  wie  wird  das  alles  möglich  sein ! 


—  29 


Das  Ziel 

»Viel  haben  uns  in  dieser  Beziehung  die  Bestrebungen  der 
Krüppelfürsorge  in  Friedenszeiten  gelehrt.  Schon  bisher  waren  wir 
bestrebt  ....  aus  einem  bedrückten  und  abhängigen  einen  selb- 
ständigen, eigene  Werte  schaffenden  Menschen,  aus  einem 
A  Im  osene  mpfänger  einen  Steuerzahler  zu  machen.  So 
sind  wir  auch  heute  am  Werke,  durch  Rat  und  Tat  den  Kriegs- 
verstümmelten —  — « 


Das  hat  Hand  und  Fuß 

Verbrecherzunahme  in  Italien 

Berlin,  18.  April.  (Tel.  des  „Fremdenblatt".)  ...  Die  Zahl  der 
Verbrechen  gegen  Leben  und  Eigentum  steigt  in  Italien  fortdauernd  und 
selbst  hohe  Staatsbeamte  und  Offiziere  gehören  unter 
die  Schuldigen.  So  wurde  heute  wieder  von  der  Ermordung 
des    Steuereinnehmers   von    Palermo  berichtet. 


Das  Gesellschaftsspiel 

»Twells  Brex,  der  beliebte  Feuilletonist  der  , Daily  Mail',  schreibt 
Folgendes  über  die  englischen  , Munitionsritter',  die  merkwürdigen 
Existenzen,  die  aus  der  namenlosen  Menge  hervorgingen  und  den  Krieg 
als  erstklassiges  Gelegenheitsgeschäft  auszunützen  wußten.  ,Die  Munitions- 
macher sind  die  neuen  Herren  Englands,  kein  Einberufungsbefehl  droht 
ihr  üppiges  Leben  zu  stören,  und  alles  ist  ihnen  Untertan.  Die  Juweliere 
machen  ganz  unerwartete  Geschälte,  und  die  Munitionsritter  und  ihre 
Familien  wandeln  beringt  und  mit  Kostbarkeiten  geschmückt  wie 
orientalische  Märchenfürsten  umher.  .  .  Überall  stößt  man  sich  an  der 
Unbildung,  Protzenhaftigkeit  und  unpatriotischen  Rücksichtslosigkeit  dieser 
neuen  Herrenklasse.  Auf  den  behördlichen  Anschlägen  kann  man  lesen, 
daß  das  Automobilfahren  zum  Vergnügen  gegenwärtig  aus  Gründen  des 
Krieges  unterlassen  werden  müsse;  aber  auf  allen  Landstraßen  in  der 
Umgebung  Londons  sieht  man  eine  Unzahl  kostspieliger  Autos,  in  denen 
die  Munitionsritter  sich  stolz  und  sorglos  dem  Volke  zeigen.  Auf  den 
behördlichen  Anschlägen  ist  weiterhin  zu  lesen,  daß  auffallende  Kleidung 
nicht  nur  geschmacklos,  sondern  gegenwärtig  wegen  der  hierzu  ver- 
wendeten Materialien  auch  höchst  unpatriolisch  sei;  aber  die  Frauen  der 
Munitionsunternehmer  hüllen  sich  in  Seiden  und  teure  Stoffe  und  bringen 
auf  ihren  Hüten  wahre  Türme  exotischer  Federn  an.  Es  ist  ein  Karneval 
der  Geschmacklosigkeit  und  des  Egoismus,  nichts  ist  tadelnswerter  und 
verächtlicher  als  diese  neue  Gesellschaftsklasse,  die  dem  öffentlichen 
Leben  Englands  ein  bisher  unbekanntes  Gepräge  verleiht  .  .  . '< 


30  — 


Der  Unterschied  ist  nur,  daß  die  dortigen  beliebten  Feuille- 
tonisten  es  sagen,  und  daß  es  dem  hiesigen  öffentlichen  Leben 
kein  bisher  unbekanntes  Gepräge  verleiht,  weil  wir  mit  Recht  behaupten 
können,  daß  sich  unser  Geschmack  durch  den  Krieg  nicht  ver- 
schlechtert hat. 


Sehn  S',  so  heiter  is  das  Leben  bei  uns  —  in  Petersburg! 

»Aus  den  Berichten  von  Leuten,  die  sich  In  der  letzten  Zeit  in 
Petersburg  aufgehalten  haben,  und  aus  Privatbriefen,  die  von  dorther 
kommen,  gewinnt  man  den  Eindruck,  daß  man  sich  in  Petersburg  nur 
von  dem  einen  Gedanken  leiten  läßt:  genießen,  genießen,  soviel  als 
möglich,  was  natürlich  dazu  nötigt,  soviel  als  möglich  zu  verdienen. 
Trotz  der  unerhörten  Teuerung  gibt  es  Geld  wie  Mist,  die  Theater  sind 
überfüllt  ....  Das  Leben  ist  mindestens  doppelt  so  teuer  geworden 
und  jede  Annehmlichkeit  oder  irgend  ein  Luxus  kostet  das  Dreifaciie  .  . . 
Man  sollte  glauben,  daß  der  Platz  dieser  eleganten  Jünglinge  eher  an 
der  Front  wäre,  aber  scheinbar  bereitet  ihnen  die  Verteidigung  von 
Mütterchen  Rußland  keine  Unruhe.  Dazu  ist  doch  der  graue  namenlose  Haufe 
der  Muschik  da,  die  dort  irgendwo  an  der  Front  unter  dem  Hagel  der 
Geschosse  fallen. 

In  Petersburg  denkt  man  darüber  nicht  nach,  dort  machen  die 
Leute  nur  Geschäfte ....  Man  spricht  nur  von  Geschäften,  Lieferungen, 
Transporten  usw.  Alle  sind  fieberhaft  tätig  ....  Rings  um  den  Krieg 
und  die  Goldquelle  der  Lieferungen  haben  schon  viele  geschickte,  aber 
wenig  skrupulöse  Macher  massenhaft  Geld  verdient,  Leute,  die  gestern 
noch  niemand  kannte  und  die  heute  sich  in  den  erstklassigen  Restaurants, 
bei  Premieren  und  in  allen  Lokalen,  in  denen  die  verrückt  gewordene 
leichtsinnige  Hauptstadt  sich  vergnügt,  herumtreiben  ....  Noch  nie 
haben  die  Juweliere  solche  Geschäfte  gemacht.  .  . .  Auf  dem  Petersburger 
Gesellschaftshorizont  tauchen  neue  unbekannte  Namen  auf,  neue  Leute, 
die  ihr  Haus  auf  großem  Fuße  führen.  Für  sie  ist  der  Krieg  kein  Elend, 
er  bringt  ihnen  nicht  Trauer,  sondern  nur  Geld,  das  man  um  jeden 
Preis  sich  beschafft,  durch  Verrat,  Betrug,  Veruntreuungen  und  vielleicht 
auch  für  Blut. 

Petersburg  tobt.  Der  Krieg  scheint  aus  der  lustigen,  sich  an 
Vergnügungen  berauschenden  Stadt  verbannt  zu  sein.  Seine  Spuren  sind 
bloß  in  den  Sälen  der  Spitäler  zu  finden  und  in  den  Gäßchen  der 
Vorstädte,  in  denen  das  Elend  haust,  schrecklicher  als  jemals  zuvor.  .  .  . 
Aber  diese  dumpfen  Schatten  beeinträchtigen  nicht  die  Stimmung  des 
lebenslustigen  Petersburg,  das  sich  weiter  unterhält  und  vom  Kriege  mit 
Geringschätzung  spricht  und  ihn  mit  der  Bemerkung  abtut:  Es  wird 
schon  gehen I  ...» 


—  31  — 


Geldadel  in  England 

Nach  unermüdlichen  Bemühungen  ist  es  William  Waldorf-Astor, 
dem  amerikanischen  Nabob,  der  in  England  lebt,  gelungen,  dort  geadelt 
zu  werden  ....  Im  Jahre  1899  wurde  er  britischer  Staatsbürger  und 
seither  war  sein  ganzes  Sinnen  und  Trachten  auf  die  Erwerbung  des 
Adels  gerichtet.  Er  verschenkte  Millionen  von  Dollars  an  Stiftungen, 
die  unter  dem  Protektorat  des  Königs  standen.  Aber  König  Eduard 
dachte  gar  nicht  daran,  auf  die  Wünsche  des  Multimillionärs  einzu- 
gehen ....  In  den  amerikanischen  Blättern  liest  man  jetzt  eine  aus- 
führliche Zusammenstellung  der  Beträge,  die  Astor  geopfert  hat,  um 
den  Adel  zu  erreichen:  17 Millionen  Mark  an  die  Torypartei,  22  Millionen 
Mark  für  die  ,Pall  Mall  Gazette',  10  Millionen  Mark  .für  Krankenhäuser 
und  Wohltätigkeitseinrichtungen,  4  Millionen  Mark  für  Feste,  die  er 
seinen  königlichen  Gästen  zu  Ehren  gab,  4  Millionen  Mark  an  ein- 
flußreiche Politiker,  6  Millionen  Mark  zur  Linderung  der  Kriegsnot, 
zusammen  63  Millionen  Mark  .... 

>0b  man  einen  Moment  Ruh  hätt!  Können  Sie  nicht  lesen, 
daß  hier  Betteln  und  Hausieren  verboten  is?<  »Ja,  aber  einen 
schönen  Adel  hätt  ich!«  >Kostet?«  >150.000.<  >Nicht  zu  machen. 
60.000!«  »Kost'  mich  selbst  so  viel.  90.000!<  »Ausgeschlossen, 
70.000!«  >Bitt  Sie,  Sie  werden  sich  doch  nicht  herstellen,  ein 
Mann    wie  Sie!«    >Also  80.000!«    »Gemacht,    Herr   von   Abeles!« 


Feudales 

...  die  Vermählung  des  k.  u.  k.  Kämmerers  und  Herrenhaus- 
mitgliedes Karl  Grafen  von  Abensperg  und  Traun  mit  Karoline 
Gräfin  Nostitz-Rieneck  statt.  .  .  .  Als  Trauzeugen  fungierten  die 
Geheimen  Räte  Rudolf  Graf  von  Abensperg  und  Traun  und  Anton 
Graf  Ludwigstorff,  Feldmarschalleutnant  Graf  Albert  Nostitz  und 
Geheimer  Justizrat  Regierungsrat  Dr,  Adolf  Edler  v.  Bachrach. 


Es  bleibt  alles  beim  Alten 

Den  Herren  Karl,  Emil  und  Adolf  Kohn,  Söhnen  des  ver- 
storbenen Herrn  N.  J.  Kohn,  Kaufmannes  in  Prag,  Obstgasse  7,  wurde 
von  der  Statthalterei  die  Annahme  des  Familiennamens  »Kienzl«  bewilligt. 

Der  Familie  Kienzl,  die  in  Literatw  und  Musik  das  deutsch- 
österreichische Wesen  verkörpert  und  daher  eine  natürliche  Inklination 
zum  Namen  Kohn  hat,  wird  die  Statthalterei  wohl  auch  keine 
Schwierigkeiten  in  den  Weg  legen. 


—  32  — 


Haben  Sie  nicht  den  jungen  Rothschild  gesehn? 

>Der  glückliche  Besitzer  des  Derbysiegers,  Baron  Alfons  Rothschild, 
der  sich  zur  Zeit  im  Felde,  und  zwar  bei  der  Armee  Dankl,  befindet, 
hat  die  Nachricht  von  dem  Erfolge  seiner  Farben  sehr  rasch  erhalten, 
denn  man  konnte  ihm  dieselbe  telephonisch  übermitteln.« 

>Mit  lautem  Beifall  wurde  der  Sieger  bei  der  Rückkehr  zur 
Wage  begrüßt,  freudestrahlend  nahm  Baronin  Rothschild  in  Begleitung 
Barons  Twickel  die  Glückwünsche  entgegen.  Baron  Alfons  Rothschild 
selbst  war  nicht  anwesend,  er  hatte  sich  zum  Kurgebrauch  nach  dem 
Süden  begeben.« 

Die  Zeit  wird  immer  größer.  Opfer  und  Strapazen 
genug,  sich  jetzt  zum  Kurgebrauch  nach  dem  Süden  begeben. 
Aber  im  Feld  sein  und  vom  Hinterland  zum  Telephon  gerufen 
werden  können  —  das  muß  das  Schwerste  sein.  Ich  habe  manchen 
werten  Freund  bei  der  Armee  Dankl,  wie  oft  dachte  ich  mir, 
hier  ist  ein  Telephon,  Lokalverbindungen  sind  ja  unmöglich,  aber 
wie  schön  wär's,  du  könntest  jetzt  —  wozu  gibt's  denn  diese  ver- 
fluchte Technik  —  schnell  erfahren,  ob  dieser  gute  Mensch,  der 
keineswegs  zum  »Stürmen«  geboren  war,  es  heil  überstanden  hat 
und  ob  er  es  nicht  wenigstens  nötig  hätte,  im  Süden,  wohin  er  sich 
nun  schon  einmal  begeben  hat,  zum  Kurgebrauch  zu  bleiben.  Sicher 
ist,  daß  er  beides  zugleich  nicht  vermöchte,  und  das  Telephon 
sagt  nicht,  wie  er  sich  entschieden  hat.  Aber  dem  Derbysieger  im 
Weltkriegistdie  Welt  offen  wie  eh  und  je,  und  wenn  auch  in  ihr  an 
einem  Tag  mehr  Geld  verpulvert  wird  als  der  Rothschild  im  Ver- 
mögen hat,  der  Name  des  Herrn,  der  der  Welt  zum  erstenmal  die 
Ehrfurcht  vor  der  Milliarde  beigebracht  hat,  sei  gepriesen. 


Also  doch 

Rußland?  Nein: 

Das  Derby. 

Sanskrit   —    Sieger. 

Also  doch.  Schon  vor  einigen  Wochen  hub  das  Geflüster  an 
und  wurde  immer  lauter:  Sanskrit  macht  das  Derby.  Warum,  wußte 
man  nicht.  Aus  jedem  Strauß,  den  der  Rothschildsche  Hengst  bisher  mit 


33 


den  anderen  Derbykandidaten  ausgef  ochten  hatte,  war  er  geschlagen 
zurückgekehrt.  Er  zog  gegen  Przemysl  den  kürzeren  und  mußte 
sich  vor  Fuvolas  beugen  ....  Man  konnte  also  den  Anhängern 
Sanskrits  nichts  Positives  entgegenhalten.  Schließlich:  warum  sollte 
der  Rothschildstall  nach  so  langer  Zeit  nicht  wieder  ein  Derby  gewinnen? 

Warum  nicht  —  von  mir  aus! 

Dazu  kam  der  heillose  Wirrwarr  auf  dem  Wettmarkt.  Die 
Favorits  wechselten  von  Tag  zu  Tag.  Zuerst  war  es  um  die  falschen 
Götzen  des  Vorjahres  geschehen.  Celsius,  Quargel,  Bankar  öcscse 
brachen  kläglich  zusammen  und  ihre  Namen  zerstoben  wie  Spreu 
im  Wind. 

Was  besonders  bei  Quargel  sympathiscli  ist. 

Dann  kam  ein  längeres  Vakuum  ohne  Favorits,  als  die  Derby- 
vorproben dieses  Jahres  neue  Kandidaten  in  die  Höhe  brachten : 
Przemysl  und  Fuvolas.  Zu  ihnen  gesellte  sich  in  letzter  Minute  Parsifal 
aus  dem  Dreherstall  .... 

Also  Parsifal  kommt  aus  dem  Dreherstall  und  Sanskrit 
lernt  man  bei  Rothschild.  »Glaukopis«  sagte  einmal  einer  neben 
mir,  der  zu  ihr  paßte  wie  die  Faust  auf  ihr  schönes  Auge,  und 
ich  verstand  erst  allmählich,  daß  man  heute  auf  eine  Göttin  einen 
»Tip«  haben  kann.  Sollte  diese  Gesellschaft  nicht  gezwungen 
werden  können,  lieber  doch  bei  Quargel  zu  bleiben  ?  Dieser  heil- 
lose Wirrwarr  auf  dem  Wettmarkt,  dieses  unsichere  Tipen  zwischen 
Götter,  Helden  und  Napagedl  müßte  endlich  ein  Ende  haben, 
damit  nicht  Kinder  und  Kindeskinder  die  heroische  Nebenbedeutung 
gewisser  Namen  vergessen  und  sich  dereinst  nur  erinnern,  daß 
Sanskrit  das  Derby  »gemacht«  hat.  Gewiß  steht  ein  edles  Rennpferd 
turmhoch  über  seinem  Besitzer;  aber  der  Übermut,  zu  dem  der 
Name  Rothschild  berechtigt,  ist  bei  weitem  noch  kein  Grund, 
Sanskrit  in  die  hunderttausend  üblen  Münder  eines  Renntags 
zu  bringen.  Weg  damit! 


Gottes  Allmacht  und  die  Realitäten 

In  einer  und  derselben  Prager  Zeitungsnummer  erläßt  ein 
Patriot,  Klassiker  und  Wohltäter  der  Menschheit  die  folgende 
Kundmachung : 


und  diese: 


34  — 


Bestellungen 

werden     entgegengenommen 
auf  das 

Buchdrama 
»Allmacht  Oottes« 

und  von 

Sr.  Majestät 
huldvollst        angenommenen 
Buchdramas 

»Edler  Monarch«, 
zusammen  5  K,  wovon  10  o/o 
blinden  Soldaten    und    8  "/o 
Witwen    und    Waisen     über- 
tragen werden,  vom  Verfasser 

Carl  A  If  ons  Klein, 
Besitzer  Allerh.  belob.  Aner- 
erkennungen,  zw.  belob.  An- 
erk.  für  Lebensrettungen, 
k.  u.  k.  Kriegs- Jub. -Med, 
Prag,     Tuchmachergasse    14. 

Realitäten 

Mehrere  Millionen 
für  Finanzierungen, 
Darlehen,  Transaktionen, 
Umwandlungen, 
Kauf,  Verkauf, 
wenn    auf   solider    Basis  be- 
ruhend,   event.    Tausch    von 
Herrschaften,     Gütern,     Häu- 
sern, auch 

einzelner  schlagbarer 
Waldbestände  besorgt 

Carl  Alfons  Klein, 
altren.    konz.    Kanzlei,    Prag, 

Tuchmachergasse   14. 
Verbindungen    In-    u.    Aus!. 

Die  Blinden  in  Prag,  die  seinen  Tritt  kennen,  sollen  gerührt 
gewesen  sein,  als  sie  vernahmen,  daß  für  sie  Buchdramen  ge- 
schrieben worden  seien,  aber  die  Witwen  und  Waisen  äußerten, 
daß  sie  lieber  an  den  Darlehen  die  8°/o  verdient  hätten.  Die 
Allmacht  Gottes  aber  staunte,  daß  der  tragische  Karneval,  der 
jetzt  auf  Erden  abgehalten  wird,  gar  für  solche  Venx'andlungen 
Raum  habe. 


—  35 


Ein  Bahnbrecher 

ist  der  Setzer,  der  im  Organ  der  Warenhäuser,  fasziniert  durch 
die  Namen,  die  er  am  häutigsten  setzt,  als  Premiere 
Emilia  Galott  i. 
Ein  Trauerspiel  in  fünf  Aufzügen 
von  Lessner 
geboten  hat.  Und  —  Erfinderlos  I  —  er  hat  nichts  davon,  während 
die  Administration  vielleicht  schon  einkassieren  gegangen  ist. 
Absicht  wars  wohl  nicht ;  aber  auf  eine  gute  Idee  hat  er  sie 
gebracht  und  vielleicht  fügt  es  ein  Druckfehler,  daß  nächstens 
auch  Medea  von  Gerngroß  aufgeführt  wird.  Dann  würde  in  Berlin 
Iphigenie  von  Gerson  folgen,  aber  in  Prag  die  Jungfrau  von  Orleans 
von  Schiller  -  und  hier  würde  sich  zwischen  dem  Chef  des  Hauses 
und  dem  Vertreter  des  Prager  Tagblatts  der  folgende  Dialog  ent- 
spinnen: »Wir  haben  gebracht,  daß  die  Jungfrau  von  Orleans  von 
Schiller  is.  Sie  wern  einsehn  —  <  »Was  soll  ich  da  einsehn?  Ich 
seh  ein,  daß  sie  von  Schiller  is.  Oder  is  sie  vielleicht  von  Goethe?« 
>Sie  is  zufällig  von  Schiller,  aber  es  is  ein  Druckfehler.  Gemeint 
sind  Siel«  »Wenn  wir  gemeint  sind,  so  is  es  doch  kein  Druck- 
fehler?« »Wenn  es  kein  Druckfehler  is,  so  müssen  Sie  mehr  zahlen!« 
»Moment,  wenn  es  kein  Druckfehler  is,  so  sind  wir  nicht  gemeint!« 
»Wenn  Sie  aber  ja  gemeint  sind?«  »Wenn  wir  ja  gemeint  sind, 
so  is  es  ein  Druckfehler,  und  wenn  es  ein  Druckfehler  is,  brauchen 
wir  nicht  zu  zahlen.«  »Wer  denn  muß  zahlen,  wenn  nicht  Sie?« 
»Wieso  ich?  Is  die  Jungfrau  von  Orleans  von  mir?«  »Von  wem 
denn?  Jeder  Mensch  in  Prag  glaubt  selbstredend  — «.  »Die  Jungfrau 
von  Orleans  is  zufällig  eine  Firma  in  Paris,  kassieren  Sie  dort  ein.« 
»Das  sind  Witze,  Sie  wissen  selbst,  daß  jetzt  Krieg  is.«  »Also  gut, 
ich  zahl,  aber  wie  revanchiern  Sie  sich?«  »Ich  wer'  Ihnen  sagen, 
nächstens  is  Emilia  Galotti,  wir  haben  gar  kein  Interesse  an  Lessner 
in  Wien,  wir  wern  irrtümlich  bringen,  sie  is  von  Schiller!* 


Ein  anregender  Mensch 

(Eine  Anregung  für  die  Maturitätsprüfungen.)  Man  schreibt  uns: 
»Die  Zeit  der  Reifeprüfung  für  unsere  Mittelschüler  naht  heran.  Ich 
denke   heute    nach    23  Jahren    an    das  Thema,    das    uns    der  .Deutsch- 


36  — 


Professor'  zur  Bearbeitung  aufgegeben  hatte.  Dieses  Thema  lautete: 
.Durch  Seefahrten  und  Kriege  zur  Entwicklung  zu  reifen,  war  nun 
einmal  die  Bestimmung  des  Menschengeschlechtes'.  Dieser  Satz, 
der  dem  Geschichtswerke  Rankes  entnommen  ist,  wie  herrlich 
ließe  er  sich  heute  ausführen!  Ich  bin  überzeugt,  daß  so  mancher 
Jüngling,  begeistert  durch  die  Heldentaten  unserer  Armee  und  unter 
dem  Eindrucke  der  moralischen  Umwertung  aller  Werte, 
unter  dem  Eindrucke  der  realen  Wirklichkeit,  sich  heute  den  ersehnten 
Einser  sicherer  holen  würde,  als  Anno  dazumal  im  Jahre  1893,  als 
wir  im  tiefsten  Frieden  lebten  und  von  dem  , Eisenbad'  des  Krieges 
blutwenig  wußten....  Es  würde  sich  empfehlen,  das  Thema  als 
Preisaufgabe  auszuschreiben,  an  dem  sich  nur  Absolventen  der  Mittel- 
schulen zu  beteiligen  hätten.  Ich  würde  mich  freuen,  wenn  Sie  die 
Güte  hätten,  meine  Anregung  in  die  rechten  Bahnen  zu  lenken.  Hoch- 
achtungsvoll Dr.  Rosenthal.  < 

Diese  Bahnen  haben  nie  Verspätung.  Die  uns  ei^artende 
Nachwelt  wird  über  die  moralische  Umwertung  aller  Werte 
paff  sein. 


Die  Umwertung  aller  Werte 

In  einem  der  hunderttausend  Prospekte  und  Aufrufe  für  die 
Kriegsanleihe,  aber  nicht  in  einem  der  Banken,  sondern  in  dem 
vom  Präsidium  des  Witwen-  und  Waisenfonds  unterzeichneten, 
waren  die  Sätze  enthalten: 

Ist  es  ein  Opfer,  die  Kriegsanleihe  zu  zeichnen,  oder  ist  es 
vielleicht  auch  ein  gutes  Geschäft? 

Auch  darauf  kommt  es  an.  Die  Kriegsanleihe  ist  kein  Opfer, 
das  man  dem  Staate  bringt,  sondern  die  Kriegsanleihe  ist  ein  aus- 
gezeichnetes Geschäft.  .  .  . 

Es  ist  also  für  jedermann  das  beste  Geschäft,  soviel  an  Kriegs- 
anleihe zu  zeichnen,  als  man  heute  erspart  hat  und  sich  bis  Ende  1917, 
d.  i.  also  in  den  nächsten  zwei  Jahren  zu  ersparen  hofft. 

Niemand  soll  aus  Nachlässigkeit  der  Feind  seines  eigenen 
Geldes  sein,  jeder  soll  tief  in  die  Tasche  greifen,  weil  er  damit  nicht 
nur  ein  gutes  Werk  tut,  sondern  auch  tüchtig  verdienen,  d.  h.  sein 
Einkommen  ganz  bedeutend  steigern  kann!  .  .  . 


Der  Wille  zur  Macht 

»Die  Kriegsmillionäre  werden  von  Franz  Molnär  folgendermaßen 
geschildert:  ,Ich  sah  dies  neue  Budapester  Publikum,  wie  es  in 
Restaurants  Tausendkronennoten  zählte,  Hundertkronennoten  in  Päckchen 


37   - 


reihte.  Ich  sah,  wie  Leute  zwischen  Suppe  und  Mehlspeise  einander 
zehn  bis  fünfzehn  Tausendkronennoten  übergaben  und  dann  weiter  aßen  .  .  . 
Andere  haben  noch  schönere  Dinge  beobachtet.  Die  alte  Logenschließerin 
des  Nationaltheaters  sah,  daß  während  einer  Shakespeare-Vorstellung  in 
einer  der  teuersten  Logen  Leute  saßen,  die  Papier  auf  die  Brüstung 
breiteten  und  auf  dieses  Papier  Salamispalten  und  Gurken  legten.  Dieser 
Anblick  erregte  Aufsehen  im  Theater.  Eine  bejahrte  Logendame  im 
Vordergrund  machte  dieses  neue  Publikum,  das  sich  auf  die  Eßware 
stürzen  wollte,  darauf  aufmerksam,  daß  man  den  roten  Samt  der  Brüstung 
nicht  beschmutzen  dürfe.  Doch  das  neue  Publikum  erklärte,  es  hätte  die 
Loge  bezahlt  und  könne  nunmehr  darin  tun,  was  ihm  beliebe.'« 

Die  Loge  bezahlt?  Die  Welt  aller  Ränge  bezahlt!  Und 
die  hiesigen  beliebten  Feuilletonisten  sagen  es  also  auch?  >Es  sagen  's 
aller  Orten  alle  Herzen  unter  dem  himmlischen  Tage,  jedes  in 
seiner  Sprache;  warum  nicht  ich  in  der  meinen?«  Und  ich  wundere 
mich  nur,  daß  es  in  Budapest  Aufsehen  erregt,  Salamipapier  auf 
Logenbrüstungen  —  das  ist  doch  Wurst.  Das  ist  doch  ehrlich. 
Schlimmer  wird  das  nachfolgende  Stadium  der  Kultur  sein,  und 
auch  das  hat  Budapest  schon  hinter  sich. 


Jenseits  von  Gut  und  Böse 

.  .  .  Der  Richter  sprach  aber  die  Angeklagten  frei,  denn  er 
wisse,  daß  polnische  Juden,  denen  ihr  Vorname  nicht  gefalle,  ihn  mit 
einem  besser  klingenden  vertauschen,  ohne  daß  sie  dabei  die  Absicht 
verfolgen,  die  Behörde  in  Irrtum  zu  führen.  Es  sei  bekannt,  daß  sich 
viele  polnische  Juden,  die  sich  Moses  nennen  sollten,  als  Moriz  eintragen. 

Da  sind  sie  so  noch  bescheiden.  Jene,  denen  dann  der 
Moriz  nicht  gefällt,  nennen  sich  Maurice.  Und  wer  den  Hersch 
nicht  ehrt,  will  des  Horace  wert  sein  und  heißt  dann,  weil  Frankreich 
der  Feind  ist,  eines  Tages  Horaz.  Es  sollten  Höchstnamen  eingeführt 
werden.  Bis  zum  Moriz  gehe  ich  noch  mit,  aber  dann  versagt 
das  Verständnis. 


Menschliches  Allzumenschliches 

—  Prinzessin  Gisela  von  Bayern,  hat  der  Frau  Dr.  Sophie 
Großmann  für  ein  Glückwunschtelegramm  zum  60.  Geburtstage  durch 
die  Kammervorstehung  folgendes  Telegramm  zugehen  lassen:  Ihre  kaiser- 
liche Hoheit  Frau  Prinzessin  Gisela  lassen  Ihnen  für  Ihre  so  warmen 
Glückwünsche  herzlich  danken.  Perfall. 


38 


Die  fröhliche  Wissenschaft 

Bei  der  Abhaltung  der  Vorlesungen  trat  allerdings  nur  zu  oft 
das  Kuriosum  ein,  daß  ich,  wenn  ein  Satz  gerade  beendet  war,  eine 
kleinePause  eintreten  lassen  mußte,  um  den  Donner  der  Geschütze 
verhallen  zu  lassen.  Denn  die  Fenster  waren  wegen  der  hohen 
Temperatur  geöffnet  und  so  setzten  die  Geschütze  die  Kommas  und 
die  Schlußpunkte  unter  alle  Sätze. 

So  erzählt  ein  Czernowitzer  Universitätsprofessor,  und  den 
Geschützen,  die  genug  akademische  Würde  hatten,  ihn  ausreden 
zu  lassen  und  nicht  schon  im  Satz  zu  unterbrechen,  läßt  sich 
immerhin  nachsagen,  daß  sie  es  mit  der  InterpunMon  halten,  die 
in  einer  so  großen  Zeit  vielfach  als  Nebensache  behandelt  wird. 
Aber  die  Beherztheit  eines  Czernowitzer  Universitätsprofessors, 
die  auf  dem  vorgeschobensten  Posten  deutsch-österreichischer  Kultur 
keine  Grenze  kennt,  findet  noch  ihre  Steigerung: 

Am  Tage  darauf  wurde  ich  neugierig  und  ging,  selbstver- 
ständlich mit  einem  Passierschein,  nach  Mahalla. 

Nachdem  er  s  ch  so  vor  dem  Leser  ausgewiesen  hat  und 
keinen  Anstand  mehr  haben  kann,  entschließt  er  sich  endlich, 
auch  westwärts  abzugehen. 

Um  1  Uhr  nachts  verließ  ich  meine  Wohnung,  meinen  Koffer 
in  der  Hand;  denn  ich  wollte  mich  von  meinen  Schriften  und  einigen 
unentbehrlichen  Büchern  nicht  trennen. 

Aber  das  ist  es  eben.  ,Bei  Geschriebenem  und  Gedrucktem 
lassen  sich  die  Geschütze  auf  Korrekturen  nicht  mehr  ein.  Da 
streichen  sie  das  Ganze.  Darum  sollte  man,  um  ihre  Tätigkeit 
vollends  zu  rehabilitieren,  die  Universitätsprofessoren  in  Sicherheit 
bringen  und  nur  die  Bedingung  stellen,  daß  sie  ihre  unent- 
behrlichsten Schriften  zurücklassen. 


Die  Geburt  der  Tragödie 

(Der  Schützengraben  während  der  Firmwoche.)  Für  das  leicht- 
empfängliche  Kindergemüt  kann  wohl  kaum  etwas  Fesseln- 
deres gedacht  werden,  als  der  Schützengraben  mit  seiner 
Romantik,  und  so  ist  es  begreiflich,  daß  wohl  jeder  Firmpate  und 
jede  Firmpatin  in  das  für  ihren  Firmling  zusammengestellte  Unter- 
haltungsprogramm einen  Besuch  des  Schützengrabens  im  Prater 
eingesetzt  haben.  Die  naturgetreue  Anlage  des  Schützengrabens 
mit  seinen  Unterständen,  die  vor  ihnen  errichteten  Drahtverhaue,  über 
die  hinweg  man  die  — 


39 


—  Zeit  verhauen  möchte!  Nichts  als  dies  brauchte  von  ihr  zu  bleiben, 
um  sie  den  Nachlebenden  zum  Greuel  und  Scheuel  zu  machen. 
Ehedem  hat  der  »Göd<  dem  Firmung  eine  Uhr  und  dazu  eine 
Watschen  zum  Geschenk  gemacht.  Jetzt,  da  die  Uhr  die  große 
Zeit  anzeigt,  täte  man  besser,  die  Watschen  dem  >Göd<  zu  über- 
reichen, der  die  Absicht  hat,  das  leichtempfängliche  Kindergemüt 
zum  Schützengraben  zu  führen.  Die  naturgetreue  Anlage  des 
Schützengrabens  und  die  naturgetreue  Anlage  des  Kindergemüts: 
eine  Mörderwelt  sieht  nicht,  daß  sie  dieses  in  jenem  begräbt,  und 
setzt  beides  in  ihr  Unterhaltungsprogramm! 


Der  Übermensch 

Das  Bruchstück: 

Unter  dem  Schlagworte  »Die  Feldgrauen  für  die  Feldgrauen« 
veranstalten  Offiziere  und  Mannschaften  der  hiesigen  Ersatzformationen 
ein  ganz  eigenes  Theater,  wobei  sie  das  von  einem  Feldgrauen  ver- 
faßte Stück  »Der  Hias«  zur  Aufführung  bringen.  Im  Rahmen  einer 
dreiaktigen  Komödie  werden  uns  einzelne  Bilder  aus  dem  Leben  vor 
Augen  geführt,  und  wir  lernen  so  ziemlich  alles  kennen,  was  der  Krieg 
an  Abenteuerlichem,  Verwegenem  und  Überraschendem,  nicht 
minder  aber  auch  an  herzhaft  Erfrischendem  und  Ergreifendem  mit 
sich  bringt.  Patrouillengänge,  Gefangennahme,  Kriegsgericht  gegen 
»deutsche  Barbarei«,  französischer  Chauvinismus  und  frohgemutes  Lager- 
leben wie  die  Feier  des  Königsgeburtstages  wechseln  in  bunter  Reihe 
ab,  wobei  ganz  besonders  das  kameradschaftliche  Zusammenleben  der 
Offiziere  und  sonstigen  Vorgesetzten  mit  der  Mannschaft  und  deren 
treues  Zusammenhalten  geschildert  wird.  Die  Anhänglichkeit  der  Mannschaft 
an  die  Offiziere  zeigt  sich  im  schönsten  Licht,  —  und  solch  ein 
Muster  echt  bayerischer  Art  ist  der  Offiziersbursche  Hias  .... 
Es  ist  Theater  und  doch  keines,  vielmehr  im  höheren  Sinne  wahr- 
haftiges Leben  ....  das  ist  nur  die  Wiedergabe  des  Erlebten,  wenn 
auch  in  anderer  Form,  das  ist  aus  ihren  Empfindungen  heraus- 
geboren und  wohl  nur  ein  Spiegelbild  ihres  ureigensten  Wesens, 
wie  es  sich  draußen  im  Felde  gebildet  hat  ....  Dieser  Akt  ist 
vom  Publikum  beklatscht  worden,  wie  dies  noch  keine  Kunstleistung 
erfahren  hat  ....  Und  da  es  also  nach  dieser  Richtung  hin  kein  Theater 
im  üblichen  Sinne  sein  will,  nennt  der  Theaterzettel  keinen  einzigen 
Namen  der  Mitwirkenden,  ja,  nicht  einmal  der  Verfasser  des 
Stückes  tritt  aus  seiner  bes  cheidenen  Zurückhaltung  heraus. 
Im  dritten  Akte  sollte  auch  ein  Film  vorgeführt  werden,  aber  leider  hat 
die    Polizei      ihn     wegen     Feuersgefahr     gestrichen,      so     daß      wir 


—  40  — 


darum  kamen,  die  Auffahrt  der  Artillerie,  Handgranalenkampf,  Hand- 
gemenge und  Nahkampf  zu  sehen.  Zum  Schlüsse  endlich  .... 
so  manches  kluge,  liebe  und  zuversichtliche  Wort ....  gesunder, 
kräftiger,  echt  bajuvarischer  Humor  .... 

Das  Nachgeholte: 

(Faustrecht  eines  Theaterdichters.)  Zurzeit  wird  im  Nürnberger 
Stadttheater  das  feldgraue  Spiel:  »Der  Hias*  von  H.  Gilardone 
aufgeführt.  Der  Verfasser  hat  sich  herausgenommen,  unter  gröblichsten 
Beleidigungen  und  unter  Androhung  körperlicher  Gewalt, 
außerdem  mit  Unterschiebung  materieller  Interessen,  gegen  den  Referenten 
und  den  verantwortlichen  Redakteur  des  .Nürnberger  Anzeigers'  vor- 
zugehen. Er  verlangte  unter  diesen  Drohungen  und  Beleidigungen  den 
Widerruf  der  Besprechung.  Der  »Journalisten-  und  Schriftstellerverein 
Nürnberg  und  Umgebung«  hat  sich  in  seiner  Sitzung  vom  8.  Juni  1916 
mit  der  Angelegenheit  befaßt  und  erklärte  sich  angesichts  dieses  unerhörten 
Verhaltens  solidarisch  mit  seinen  beiden  angegriffenen  Mitgliedern,  verurteilt 
das  Vorgehen  des  Herrn  Gilardone  aufs  schärfste  und  billigt  den  beiden 
angegriffenen  Mitgliedern  den  Rechtsschutz  des  Vereins  zu. 


Zur  Genealogie  der  Moral 

Auf  Grund  einer  vom  Wachtmeister  Berger  erstatteten  Anzeige 
hatte  sich  die  Schneiderin  Karoline  M.  wegen  Übertretung  gegen  die 
öffentliche  Sittlichkeit  zu  verantworten,  weil  sie  am  4.  April,  auf  dem 
Heimwege  begriffen,  gegen  Mitternacht  in  der  Mariahilferstraße  den 
Rock  bis  zu  den  Hüften  hinauf  gehoben  haben  soll.  Die  Angeklagte 
hatte  sich  zur  kritischen  Zeit  in  Gesellschaft  zweier  Herren  befunden, 
während  der  Anzeiger,  der  die  Arretierung  der  Angeklagten  veranlaßte, 
in  Begleitung  seiner  Frau  und  eines  anderen  Soldaten  war.  In  der  heute 
durchgeführten  Verhandlung  stellte  die  Angeklagte  entschieden  in  Abrede, 
den  Rock  in  einer  das  Sittlichkeitsgefühl  verletzenden  Weise  gehoben 
zu  haben.  Sie  erklärte,  daß  sie  damals  den  Rock  höher  gehoben  habe 
als  sonst,  nämlich  bis  zur  halben  Höhe  der  Strümpfe,  was  um  so 
weniger  auffällig  war,  als  sie  auch  Reformunterkleider  trug.  Die  als 
Zeugin  vernommene  Wachtmeistersgattin  Anna  Berger  gab  an,  daß  die 
Angeklagte  den  Rock  bis  zur  Hüfte  gehoben,  dabei  sich  gebückt  und 
noch  gelacht  habe.  Durch  dieses  Verhalten  sei  das  Sittlichkeitsgefühl 
der  hinter  ihr  gehenden  Personen  arg  verletzt  worden,  zumal  die  Ange- 
klagte, wie  sie  sah,  keine  Unterkleider  getragen  habe.  Gegenüber  dieser 
Aussage  erklärte  die  Angeklagte,  sie  habe  den  Rock  nicht  allzu  hoch 
heben  können,  weil  sie  damals  in  zwei  Herren  eingehängt  war.  Der 
Zeuge  Franz  Wiedel,  der  zur  kritischen  Zeit  in  Gesellschaft  dei  Ange- 
klagten war,  gab  an,  daß  die  Angeklagte,  als  sie  vom  Trottoir  auf  die 
Straße  ging,    den    Rock    so    hoch  gehoben    habe,    wie    die  Damen  ihn 


41 


heben,  wenn  es  regnet.  —  Richter:  Hat  es  damals  geregnet?  — Zeuge: 
Nein.  —  Der  Zeuge  gab  schließlich  noch  an,  daß  die  Angeklagte  und 
ihre  beiden  Begleiter  zur  kritischen  Zeit  in  sehr  animierter  Stimmung 
sich  befanden  und  daß,  seiner  Ansicht  nach,  durch  das  Heben  des 
Rockes  bis  zu  den  Knöcheln  das  Sittlichkeitsgefühl  irgendeiner  Person 
nicht  verletzt  werden  konnte.  Der  Richter  sprach  schließlich  die  Ange- 
klagte frei,  da  bei  den  widersprechenden  Zeugenaussagen  nicht  genau 
festgestellt  werden  konnte,  wie  hoch  denn  die  Angeklagte  eigentlich 
den  Rock  gehoben  habe.  Der  Richter  ermahnte  zum  Schlüsse  die  Ange- 
klagte, beim  Heben  des  Rockes  vorsichtiger  zu  sein. 

Hoch  der  Rock,  die  Waffen  nieder! 


Die  blonde  Bestie 

(Die  Mädchen  von  S.  und  die  ungalantenBoches.)  Aus  der 
Westfront  wird  folgende  heitere  Episode  berichtet:  Als  die  deutschen 
Eroberer  das  Dörfchen  S.  besetzt  hatten,  veranlaßten  sie  die  Gemeinde- 
behörden, »aus  Gründen  der  Ordnung«  an  der  Tür  eines  jeden  Gebäudes 
ein  Verzeichnis  aller  dort  wohnhaften  Personen  anzuschlagen.  Es  ge- 
nügte ihnen  aber  nicht  etwa,  Name  und  Beruf  zu  wissen,  nein,  sogar 
das  Alter  der  einzelnen  Personen  mußte  mit  angegeben  sein  und  — 
wie  peinlich  —  obendrein  vom  Dorfschulzen  als  richtig  beglaubigt. 
Die  wenigen  noch  im  Ort  befindlichen  Männer  besahen  die  Sache 
allerdings  mit  Gleichmut,  und  auch  die  Greisinnen  und  die  ehrwürdigen 
Matronen  fügten  sich.  Ja,  es  gab  einen  kleinen  weiblichen  Kreis  im 
Dorfe,  der  die  Maßnahmen  sogar  mit  Genugtuung  begrüßte:  die  von 
18  bis  24!  Anders  aber  die  Schönen  des  »Mittelalters«.  Sie  fühlten 
sich  in  aller  Öffentlichkeit  an  den  Pranger  gestellt.  Was  nützt 
jetzt  zum  Beispiel  der  kleinen,  zierlichen  Wäscherin  Valentine 
Roussi  alle  Munterkeit  und  Anmut,  wo  der  vermaledeite  Wisch  da 
draußen  zu  jeder  Stunde  auf  die  Gasse  hinausschrie,  daß  sie  »schon« 
26  Jahre  alt  ist?  Und  welchen  Sinn  hat  es  denn  noch  für  die  in  ihrer 
ganzen  bäuerlichen  Schönheit  erblühte  Madeleine  Thuillard,  ihrer 
vollen  Figur  eine  schlanke  Taille  abzutrotzen  oder  mit  Hilfe  des 
schwarzen  Samtbandes  ihrem  sonnengebräunten  Hals  einen  so  »vorteil- 
haft« wirkenden  Schmuck  zu  verleihen,  wo  der  in  ihrem  Hause  in 
Quartier  liegende  Kriegsmann  lediglich  vor  die  Tür  zu  gehen  braucht, 
um  sich  über  Dichtung  und  Wahrheit  bei  Madeleine  Gewißheit  zu 
verschaffen?  Reicht  doch  die  dreifache  Fingerreihe  nicht  mehr  hin,  ihre 
Lenze  aufzuzählen.  Kurz  und  gut,  der  Zustand  war  wirklich  uner- 
träglich. Und  eines  Abends,  als  es  dunkelte,  raffte  sich  eine  resolute 
Neunundzwanzigjährige  zur  Tat  auf.    Sie  nahm  ein  Messer,  schlich  vor 


42 


die  Haustür  und  kratzte  mit  zitternder  Hand  und  klopfenden  Herzens 
den  vielsagenden  Einer  der  zweistelligen  Zahl  ihres  Alters  —  die  neun  — 
von  dem  blütenweißen  Amtspapier  hinweg.  Den  Zehner  —  die 
zwei  —  ließ  sie  unberührt,  denn  sie  wollte  ja  durchaus  nicht  leugnen,  daß 
es  mit  ihr  so  um  die  20  herum  stand.  Und  siehe  da:  das  Ver- 
fahren machte  schnell  Schule,  so  daß  heute  die  Einwohnerverzeichnisse 
in  bezug  auf  das  Alter  der  holden  Weiblichkeit  zwischen  25  und 
40  Jahren  fast  durchwegs  nur  noch  die  geheimnisvolle  Zehnerziffer 
aufweisen.  Die  deutsche  Ortskommandantur  hat  den  gewiß  höchst  be- 
zeichnenden Akt  der  Selbsthilfe  gekränkter  französischer  Dorf- 
schönen offenbar  in  seiner  ganzen  Harmlosigkeit  erfaßt  und  läßt  den 
Missetäterinnen  stillschweigend  den  kleinen  Triumph  ihrer  Eitelkeit. 

Nein,  die  Boches  sind  nicht  ungalant,  sondern  sie  haben 
Humor.  Die  resolute  Neunundzwanzigjährige  hat  ganz  recht  getan, 
sozusagen  ein  Beispiel  gegeben;  und  der  in  ihrem  Hause  liegende 
Kriegsmann,  dem  es  um  die  >erweisliche  Wahrheit«  zu  tun  war, 
ist  um  den  Erfolg  seiner  Neugierde  betrogen.  Hätte  sie  aber 
geahnt,  daß  diese  bei  weitem  nicht  so  ordinär  sei  wie  die  Scherz- 
haftigkeit,  über  die  er  erforderlichenfalls  auch  verfügt,  sie  hätte  es 
unterlassen.  Denn  Unappetitlicheres  als  dieser  Humor  preisgebender 
Diskretion,  als  dieses  Lachen  des  sexuellen  Verzichts,  diese  Blamierung 
des  >Mittelalters«  und  diese  Musterung  der  »Lenze<,  die  ihre 
Heiterkeit  von  den  , Fliegenden'  auf  die  Flieger  vermacht  hat, 
läßt  sich  vor  dem  unsere  Lebensart  mehr  bestaunenden  als  hassenden 
Europa  nicht  ersinnen.  Die  Feinde  werden  endlich  lernen, 
daß  es  wirksamer  sei,  unsere  Pikanterien  zu  berichten,  als  unsere 
Greuel  zu  erfinden. 


Die  ewige  Wiederkunft 

aber  könnte  von  dieser  umwertenden  Welt,  vor  der  gestorben  zu 
sein  weit  größere  Ehre  ist  als  für  sie  gestorben  zu  sein,  höchstens 
so  erlebt  werden: 

Im  Lustspieltheater  wurde  dieser  Tage  die  Operette  »Mädel, 
küsse  michl<  zum  fünfundsiebzigstenmal  gegeben  ....  Die  Zugkraft 
der  Operette  >Die  Csardasfürstin  €  im  Johann  Strauß-Theater  erwies  sich 
auch  kürzlich  bei  ihrer  zweihundertfünfundzwanzigsten  Wiederholung  .... 
In  der  Residenzbühne  hat  >Der  Regimentspapa«  die  fünfzigste  Auf- 
führung hinter  sich  .... 


43 


Eine  leider  nur  vorübergehende  Veranstaltung 

.  .  .  wurde  in  diesen  Tagen  eine  eigenartige  Ausstellung  eröffnet. 
»Das  verschwindende  Gfietto<  nennt  sie  sich  ....  Diese  Ausstellung  bietet 
ein  ungemein  interessantes  Bild  der  Entwicklung  des  Amsterdamer  Juden- 
tums. Lange  hat  der  Kampf  gedauert,  bis  der  Entschluß,  das  Judenviertel 
niederzulegen,  sich  durchzusetzen  vermochte  ....  Auch  die  bis  in  die 
kleinsten  Einzelheiten  gehende  Nachbildung  eines  typischen  Ghettozimmers 
mit  all  den  Gegenständen  für  die  rituellen  Gebräuche  ist  von  besonderem 
Interesse  ....  Und  so  sind  es  hundert  Dinge,  die  das  Auge  fesseln, 
und  man  kann  beim  Durchwandern  der  Ausstellung  fast  bedauern, 
daß  es  sich  hier  um  eine  nur  vorübergehende  Veranstaltung 
handelt. 

Was  heißt  fast?  Ganz!  Was  heißt  Amsterdam?  Wien! 
Was  heißt  typisches  Ghettozimmer?  Von  Olbrich! 


Fleißig  nur  im  Talmud  lesen! 

Die  Polizei  hat  den  aus  Satoraljaujhely  gebürtigen  24jährigen 
Talmudisten  Ludwig  Pahmer  verhaftet,  der  in  letzter  Zeit  große 
Mengen  von  Lebensmitteln  eingekauft,  eingelagert  und  dadurch  die 
Preise  der  Lebensmittel  künstlich  in  die  Höhe  getrieben  hatte. 

Ist  schon  alles  dagewesen! 


Merks  Wien 

Gegenüber  jenem  fashionablen  (feinen)  Hotel  (Haus)  Bristol 
(Vöslau),  das  den  Anforderungen  der  Zeit  entsprechend  einen 
»Rostraum«  (Grillroom)  eingeführt  hat  und  wo  die  Berliner 
Armeelieferanten  deshalb  ein-  und  ausgehen  können,  steht  eine 
Plakatsäule,   auf  der  die  folgende  Sammlung  von  Ankündigungen 

zu  lesen  ist: 

Zuckerzusatzkarte 
Kaffeekarte 

Ablieferung  von  Metallgeräten 
Säuglingsfürsorge 
Und  über  all  dem: 

»Volk  in  Not« 
Der   Kleber  war   ein   Zeit-    und  Raumkünstler. 


—  44 


Sie  exzediert  schon 

Einen  bemerkensweiten  Verlauf  nahm  heute  beim 
Bezirksgerichte  Josefstadt  eine  Verhandlung,  in  der  die  Hilfsarbeiterin 
Marie  Grill  wegen  Wachebeleidigung  angeklagt  war.  Als  Frau  Grill, 
deren  Mann  im  Feld  steht,  am  5.  Mai  gegen  6  Uhr  abends  von  der 
Arbeit  heimkehrte,  fand  sie  ihre  armselige,  aus  Kabinett  und  Küche 
bestehende  Wohnung  ganz  ausgeräumt  vor.  Die  geringen  Fahrnisse 
waren  auf  einen  Handwagen  in  der  Hauseinfahrt  aufgeladen.  Um  den 
Wagen  standen  die  drei  Kinder  der  Frau  Grill  und  weinten.  Die  Haus- 
besorgerin im  Hause  Hernalser  Hauptstraße  210  hatte  wegen  eines 
Zinsrückstandes  von  11  K  die  Delogierung  der  Frau  Grill  erwirkt 
und  sie  in  Abwesenheit  der  Frau  Grill  vornehmen  lassen.  Die  Delogierte, 
die  noch  keine  Wohnung  hatte,  machte  Miene,  sich  mit  ihrem  jüngsten, 
schwerkranken  Buben  auf  die  Schienen  der  Elektrischen  zu  werfen, 
wurde  jedoch  von  den  Passanten,  die  sich  in  großer  Zahl  angesammelt 
hatten,  zurückgehalten.  .  .  .  wegen  Straßen  ex  zesses  für  verhaftet  erklärte 
und  sie,  begleitet  von  mehreren  hundert  Personen,  aufs  Kommissariat 
eskortierte.  Während  der  Eskorte  soll  Frau  Grill  dem  Wachmanne 
zugerufen  haben:  >Sie  sind  von  der  Hausmeisterin  gespickt  worden. 
Sie  gehören  eigentlich  ins  Feld,  nur  sind  Sie  dazu  zu  feigl«...  ihre  drei 
Kinder,  von  denen  das  jüngste  kürzlich  an  beiden  Füßen  operiert. . . . 
Die  Hausbesorgerin,  die  ihr  gehässig  sei,  und  die  allein  im  Hause 
das  Regiment  führe,  habe  ihr  gekündigt  und  auch  die  Delogierung 
bewirkt.  Am  5.  Mai  sei  sie  nachmittags  auf  Arbeit  ausgegangen  und 
als  sie  am  Abend  zurückkehrte,  habe  ihr  die  Hausbesorgerin  schon  von 
weitem  zugerufen:  »Na,  ich  hab'  a  schöne  Überraschung  für  Sie 
vorbereitet!«  Sie  habe  dann  zu  ihrem  Entsetzen  ihre  armseligen 
Sachen  in  der  Hauseinfahrt  gesehen.  Sie  habe  sehr  geweint,  da  sie 
nicht  wußte,  wohin  sie  mit  ihren  Kindern  gehen  solle.  Auf  einen  Wink 
der  Hausbesorgerin  sei  der  Wachmann  Bayer  herbeigeeilt,  habe  sie,  als  sie 
weinte,  sofort  beim  Arm  gepackt  und  dabei  gerufen:  »Oes  Reservisten- 
weiberl  Ich  werd'  euch  schon  helfenl«....  Richter:  Geben  Sie 
zu,  den  Wachmann  während  der  Eskorte  mit  der  in  der  Anzeige 
inkriminierten  Äußerung  beschimpft  zu  haben?  Angekl.:  Wie  mich 
der  Wachmann  wie  eine  Diebin  eskortiert  hat,  so  daß  ich  mich  vor  den 
Leuten  geschämt  habe,  habe  ich  ihm  nur  gesagt:  >Sie  gehören  ins  Feld, 
damit  Sie  die  Sachen  auch  kennen  lernen,  wie  mein  Mann  sie  kennen  gelernt 
hat.«  .  .  .  Der  als  Zeuge  unter  Diensteid  vernommene  Wachmann  Ferdinand 
Bayer  erklärte,  daß  die  Hausbesorgerin  ihm  schon  vor  der  Vornahme 
der  Delogierung  sagte,  daß  Frau  Grill,  wenn  sie  nach  Hause  kommen 
wird,  sicher  exzedieren  werde.  Gegen  6  Uhr  abends  habe  ihn  dann 
die  Hausbesorgerin  mit  den  Worten  gerufen:  >Sie  ist  schon  da,  sie 
exzediert  schon.«...  arretiert...  eskortiert...  inkriminierte 
Weise  .  .  . 

Das  Ganze  heißt  Wien.  Es  beginnt  mit  ein  paar  arm- 
seligen »Fall missen«,  nimmt  dann  einen  bemerkenswerten  Verlauf 


—  45 


und  endet  mit  Delogierung,  Elektrischer,  Passanten,  Kommissariat, 
Regiment,  operiert,  exzediert,  arretiert,  eskortiert,  inkriminiert.  Die 
Hausmeisterin  bietet  a  schöne  Überraschung.  Die  Armut,  die  nur 
ein  paar  Fahrnisse  hat,  gerät  in  allerlei  Fährnisse,  unter  Fremd- 
wörter, die  sie  nicht  versteht,  sieht  sich  plötzlich  vor  einem 
Richter,  den  sie  mit  >Herr  kaiserlicher  Rat«  oder  gar  »Herr 
kaiserlicher  Adler<  anspricht.  Es  kommt  ins  Weltblatt,  wo  es  der 
wahre  kaiserliche  Rat,  ein  richtiger  Adler  zum  Frühstück  liest. 
»Fahrnisse  hat  sie  gehabt,  nicht  der  Rede  wert.«  Sie  exzediert 
schon?  Nein,  noch  nicht.  O  oes  Reservisten weiber,  könnte  ich 
euch  doch  helfen! 


Jetzt  ist  Krieg 

Das  vernichtende,  in  seiner  totsicheren  Stupidität  fast 
wunderbare  Argument :  daß  jetzt  Krieg  ist  —  welches  die  Raubgier 
wie  die  Faulheit  bereit  halten,  um  den  wegmüden  Wanderer,  den 
ja  auf  Verlust  und  Hindernis  gefaßten,  aber  von  solcher  Vehemenz 
überraschten  Bürger  anzufallen,  in  den  Straßengraben  zuwerfen 
und  nur  gegen  ein  neuerliches  Lösegeld  am  Leben  zu  lassen  —  es 
wird  die  letzte  Erkenntnis  einer  Menschheit  sein,  die,  wie  immer 
er  ende,  die  Beute  ihres  Krieges  bleibt.  Plusmachertum  und 
Schlamperei  scheinen  seit  den  Tagen,  da  der  Fortschritt  sich  in 
Bewegung  setzte,  darauf  gewartet  zu  haben,  einmal  mit  einigem 
Anspruch  auf  Glaubhaftigkeit  sagen  zu  können  :  jetzt  ist  Krieg ! 
Bliebe  uns  noch  so  viel  Nervenkraft,  alle  Attentate  auf  eben  diese 
im  Gedächtnis  zu  bewahren,  wir  hinterließen  ein  Lesestück  für  die 
Enkel,  in  dem  erzählt  wird,  was  sich  im  Hintergrund  der  blutigen 
Begebenheit  täglich  abgespielt  hat,  wenn  wir  kauften,  speisten, 
reisten  (o  Sagenwelt  der  Paßlabyrinthe  und  Klauselabenteuer),  wenn 
wir  Briefe  schickten  und  empfangen  sollten.  Da  vernehme  ich, 
daß  der  brausende  Schmock,  der  uns  eine  »Isonzobibel«  versprochen 
hat,  vorläufig  so  entgegenkommend  war,  eine  philosophische 
Rechtfertigung  des  österreichischen  Daseins  zu  versuchen.  Ztmi  Glück 
gibt  es  wieder  andere  Schmöcke,  die  Rezensionen  schreiben  und 
die  Quintessenz    eines    »psychopolitischen   Systems«    durch    ein 


—  46  — 


glückliches  Zitat  vorwegnehmen.  Die  österreichische  Schlamperei 
wird  also  als  eine  »in  Laß  und  Lust  gewordene  und  eine  den 
musischen  Tugenden  entsprechende  wahnverwaltende  Verwaltung« 
definiert.  Nie  wäre  mir  eine  solche  Formulierung  geglückt, 
wiewohl  ich  doch  immer  erkannt  habe,  daß  die  ganze  Verspätung 
unseres  Daseins  auf  den  musischen  Zeitvertreib  der  Südwahn-  und 
Nordwahnverwaltung  zurückzuführen  sei,  zu  deren  Laß  und 
Lust  wir  ja  eigens  auf  die  Welt  gekommen  sind.  Daß  es 
Dichter  seien,  die  unsere  Lebensnotwendigkeiten  bestellen, 
haben  wir  oft  auf  dem  Südwahnhof  erfahren,  wenn  unsere 
Frage  nach  der  Ankunft  eines  Zuges  m.it  der  Versicherung 
beschwichtigt  wurde:  »So  um'ra  elfe  kummt  er  gern«;  und  wie 
froh  wurde  mir  ums  Herz,  als  mir  neulich  auf  die  Erkundigung,  ob 
man  sich  denn  auf  die  einstündige  Verspätung,  die  angeschrieben  sei, 
verlassen  könne,  die  Auskunft  wurde:  »Ah  wos,  wos  waß  denn  i, 
die  wissen  an  Dreck,  und  wann  s'  wos  wissen,  wern  s'  es  do  net 
dem  Publikum  auf  d'  Nasn  binden!«  > Warum  denn  nicht?« 
»Weil  s'  selber  an  Dreck  wissen!«  >So.  Aber  es  ist  doch  eine  ein- 
stündige Verspätung  angeschrieben.«  »Jo,  ongschrieben,  aber 
kummen  tut  er  um  zwa  Stund  später.«  »Ist  das  die  Regel?« 
»Na,  die  Regel  is  grad  not,  aber  dös  müßt  rein  a  Ausnahm  sein, 
daß  er  net  zwa  Stunden  hot.«  »Ja,  aber  warum  wird  denn  das 
nicht  angeschrieben?«  »Z'weg'n  wos?  Z'weg'n  so  an  Dreck  von 
an  Personenzug?«  »Ja,  aber  warum  wird  denn  dann  die  ein- 
stündige Verspätung  angeschrieben?«  »Weil  dös  eben  ka  Mensch 
not  wissen  kann,  dö  draußt  melden's  not  herein  und  dö  herint 
sagen  nix.«  »Halt,  ich  glaube,  jetzt  kommt  er.«  »No  alstan, 
sehn  S',  dös  is  der  reine  Zufall!«  »Ja,  aber  wie  kommt 
das,  daß  er  doch  kommt?«  »Mei  Haber  Herr,  da  müssn  S'  wen 
andern  fragen,  dös  san  eben  die  Verspätungen,  wir  herint 
kriegen  keine  Meldung  nicht,  jetztn  bei  dem  Verkehr  kann 
man  gar  nix  sagen,  jetzt  is  Krieg  — !«  Ähnliche  Aufklärungen 
würden  einen  auch  bei  einer  Post-  und  Telegraphenbeschwerde 
schadlos  halten.  Daß  es  Dichter  sind,  weiß  man  nicht  nur 
vom  Neujahr  her,  wo  sie  sich  einander  so  schöne  Verse  drahten. 
Die  »Postler«,  die  schon  immer  nicht  recht  wollten,  berufen 
sich  jetzt  auf  die  »Bahner«  und  beide  zusammen  auf  die 
Krieger.  Aber  wenigstens  haben  wir  kürzlich  erfahren,  daß  es  einen 


47 


Reichsbund  deutschler  Postler  Österreichs  gibt,  der  unter  der 
Ägide  eines  Obmanns  namens  Pogatschnigg  (was  wie  ein  ent- 
schlossener Pallawatsch  klingt)  einem  Kameraden  im  >Reich«  einen 
Drahtgruß  entboten  hat,  weil  dieser  in  seiner  Eigenschaft  als 
Abgeordneter  dem  Sozialdemokraten  Liebknecht  das  Manuskript  aus 
der  Hand  gerissen  hatte.  Man  konnte  daraus  ersehen,  was  den  öster- 
reichischen Postlern  Freude  macht,  Sie  sind  immer  lieber  dafür, 
daß  einem  ein  Schriftstück  weggerissen  als  daß  es  einem  zugestellt 
wird.  Was  aberdie  Meinung  deutschvölkischerMänner  über  Liebknecht 
anlangt,  so  ist  es  nicht  nötig  hervorzuheben,  daß  dieser  ein  Ehren- 
mann ist,  was  jenen  noch  kein  kriegsgerichtliches  Urteil  nachgesagt 
hat,  sondern  die  Sache  liegt  vielmehr  so,  daß  man  sich  über  die 
Postler  nur  ärgern  muß  und  daß  dem  Futtermangel,  unter  dem 
jetzt  die  Tiere  zu  leiden  haben,  durch  eine  geschickte  Verarbeitung 
von  Deutschnationalen  abzuhelfen  wäre.  Es  wäre  ja  ein  Betrug. 
Aber  wissen  wir  denn,  woraus  dänische  Konserven  gemacht  sind, 
und  von  welchem  Tiere  das  »Kriegsfleisch«  kommt,  das  uns  jetzt  aus 
manchem  Schaufenster  Ersatz  verheißt?  Wir  wissen  unter 
dem  vielen,  was  wir  nicht  wissen  können,  nicht  wissen  dürfen  und 
nicht  wollen,  nur  eines:  daß  jetzt  Krieg  ist,  nämlich  jener,  den  die 
Politiker  gemacht  haben,  und  daß  es  human  wäre,  alle  jene,  die  die 
Menschheit  zur  Schlachtbank  geführt  haben,  zur  Schlachtbank  zu 
führen,  damit  wenigstens  die  Tiere  sich  wieder  satt  essen  können. 


Die  Beispiellosen 

Es  wird  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  es  in  dieser 
großen  Zeit  nicht  genügt,  statt  eines  Fremdwortes  eine  Phrase 
bei  der  Hand  zu  haben,  sondern  daß  es  auch  die  richtige  sein 
muß.  Man  bedenkt  nicht,  welches  Unheil  entstehen  kann,  wenn 
im  entscheidenden  Moment  die  Phrasen  verwechselt  werden.  Das 
volkstümliche  Denken  inkliniert  —  bitte,  inkliniert  sage  ich  und 
nicht  neigt,  denn  ich  halte  es  für  besseres  Deutsch  —  inkliniert  sehr 
dazu,  von  zwei  Vorstellungen,  die  ein  deutsches  Wort  immer 
eröffnen  kann,  die  nächste  zu  beziehen.  Wenn  die  Polizei  sagt,  daß 


—  48  — 


der  fehlende  Betrag  hundert  Kronen  »betrugt,  so  glaubt  dasV'olk, 
daß  hier  schon  das  Delikt  bezeichnet  ist,  und  wenn  sie  einen 
»Angestellten«  sucht,  so  sieht  es  darin  schon  die  Beschuldigung, 
daß  er  etwas  angestellt  habe.  Eine  ähnlich  faszinierende  Wirkung 
hat  das  Wort  »Beispiel»,  das  aus  der  unverständlichen  Zusammen- 
setzung »beispielgebend«,  in  der  es  der  Sprecher  als  Beispiel 
empfiehlt,  in  die  geläufigere  »beispiellos«  zurückversetzt  wird,  in  der 
es  der  besprochenen  Handlung  gefehlt  hat.  Selbst  der  Geist  offizi- 
eller Verlautbarungen  ist  von  einem  Beispiel  immer  so  hingerissen, 
daß  er  es  unrichtig  anwendet.  So  wurde  zu  Beginn  einer  Zeit,  die  von 
Beispielen  wimmelt  und  in  der  zum  Ersatz  für  Menschlichkeit  und 
Lebensmittel  nichts  anderes  täglich  gegeben  wird  als  Beispiele  und 
Scherflein,  der  Entschluß  eines  Hofbeamten,  wieder  aktiver  Offizier 
zu  werden,  mit  den  Worten  verkündet,  er  habe  »sich  in  beispiel- 
loser Weise  zum  Frontdienst  gemeldet«.  Nun  kann  der  tausendste, 
der  es  tut,  noch  immer  den  folgenden  ein  Beispiel  geben,  aber 
vom  hunderttausendsten,  der  doch  noch  mehr  Vorbilder  hat,  wird 
unfehlbar  gesagt  werden,  er  habe  beispiellos  gehandelt.  Es  mag  dies 
mit  dem  Drang  des  Österreichers  nach  Individualität  zusammen- 
hängen. Er  steht  dem  Leben  als  Restaurateur  in  jedem  Sinne  des 
Wortes  gegenüber,  richtet  sein  Etablissement  immer  wieder  auf 
den  Glanz  her,  und  wenn  er  sagt,  es  sei  das  erste  Restaurant  der 
Welt,  so  hat  er  insofern  recht,  als  es  zwar  nicht  das  beste  ist, 
aber  immer  wieder  der  Versuch,  eine  Einrichtung,  die  sich  für 
die  übrige  Menschheit  von  selbst  versteht,  mit  dem  größten  Anspruch 
auf  Beachtung,  schwitzend  und  grüßend,  in  beispielloser  Weise  zu- 
sammenzuflicken. Denn  der  Hanswurst  benimmt  sich  immer  so, 
als  wäre  nicht  knapp  zuvor  ihm  von  heroischer  Seite  ein  Beispiel 
gegeben  worden. 


Alles  was  recht  is  —  da  gibts  nix! 

>.  .  .  Man  darf  wohl  feststellen,  daß  weder  bei  uns  noch 
bei  unseren  Verbündeten  ein  Verunglimpfen  des  Gegners  zulässig  ist 
und  daß  ein  solches  weder  bei  unseren  Soldaten  noch  im  Hinter- 
land Beifall   ernten   könnte.    Dies  entspräche  eben  der  ritterlichen 


49  — 


Denkungsart  unserer  Soldaten  nicht.  Pemgegenüber  ist  in  der 
Ententepresse  von  Anfang  an  die  roheste  Beschimpfung  und  Ver- 
leumdung des  Gegners  der  Grundton  der  Tagespresse  und  der 
Kriegsliteratur  gewesen  .  .  .  .« 


Was  gibts  Neues? 

»In  Chemnitz  ist  ein  , Haßgesang  auf  Kitchener'  zu  dessen  Tod 
entstanden,  der  nun  öffentlich  verbreitet  und  in  öffentlichen  Lokalen 
gesungen  wird.« 


Ein  Nachruf 

Kein  General  kann  gezwungen  werden,  auf  dem  Kriegs- 
schauplatz zu  sterben.  Es  gibt  auch  solche,  die  in  der  Bognergasse 
fallen,  wenn  unversehens  ein  Auto  kommt,  oder  von  einem 
Omnibus  bei  der  Karlskirche  verwundet  werden  oder  in  der 
Avenue  de  l'Opera  oder  wer  weiß  wo.  Aber  eine  Menschlichkeit, 
die  solche  Vorfälle  natürlich  bedauert  und  der  es  nicht  in  den 
Sinn  kommt,  sie  mit  dem  Maße  des  kriegerischen  Nachruhms  zu 
messen,  der  in  derselben  Zeit  zu  holen  wäre,  fühlt  sich  doch  von  Zorn 
und  Ekel  gepackt,  wenn  sie  in  nächster  Nähe  die  Überschrift  liest: 

Das  Ende  Lord  Kitcheners. 

Der  ruhmlose  Abschluß  einer  großen  Laufbahn. 

Unter  den  Titeln,  mit  denen  uns  dieser  wutkranke  Börseaner 
allabendlich  anfällt,  wohl  einer,  der  uns  mit  tiefster  Trauer  vor 
unserer  Wehrlosigkeit  erfüllt.  Gäbe  es  in  Österreich  einen  Menschen, 
der  Mut  im  Sinne  einer  kulturellen  Offensive  hat,  ein  solcher  wüßte, 
was  er  zu  tun  hat,  damit  nie  mehr  wieder  an  einem  Tage,  an  dem 
sich  alle  Weltfeindschaft  im  Schweigen  vor  dem  Riesenmaß  eines 
Todes  findet,  das  schmutzigste  Maul  dieser  Zeit  und  das  unver- 
antwortlichste, sich  solchen  Nachgebells  erfreche.  Wann  wird 
der  Schinder  kommen  diesem  Lande! 


50  — 


Der  ruhmlose  Abschluß  einer  großen  Laufbahn 

Wien,  21.  Juni. 
Das  holländische  Blatt  >Vaderland«  hatte  vor  einigen  Tagen 
die  Möglichkeit  erwähnt,  daß  Kitchener  in  der  Seeschlacht  vor  dem 
Skagerrak  sein  Ende  gefunden  habe.  Einer  näheren  Prüfung  hält  diese 
Lesart,  wie  die  >Kölnische  Zeitung«  ausführt,  nicht  stand.  Das 
ergibt  sich  aus  folgenden  Tatsachen  ....  Feststeht,  daß  Kitchener 
durch  eine  deutsche  Waffe,  mag  es  nun  eine  Mine  oder  ein  Torpedo 
gewesen  sein,  seinen  Tod  fand. 

Feststeht  und  treu. 


Der  ruhmlosere  Abschluß 

>.  .  .  .  hat  durch  übereinstimmende  Zeugenaussagen  der  zwölf 
überlebenden  Matrosen  Aufschluß  über  die  letzten  Augenblicke  des 
britischen  Generals  gegeben  ....  daß  Kitchener  das  Schiff  nicht  verließ, 
sondern  mit  ihm  unterging  ....  verlor  keinen  Augenblick  seine  bekannte 
Kaltblütigkeit  und  Geistesgegenwart,  vielmehr  trug  er  eine  erstaunliche 
Ruhe  und  Gleichgültigkeit  zur  Schau.  Als  die  Minenexplosion  eintrat, 
kam  Kitchener,  der  sich  gerade  in  seiner  Kabine  befand,  ruhigen  Schrittes 
ans  Deck,  wo  er  gleichmütig  mit  zwei  Offizieren  sprach  ....  so  daß 
die  Boote  und  alle,  die  darin  Platz  genommen  hatten,  mit  in  die  Tiefe 
herabgezogen  wurden.  Während  das  Dutzend  Matrosen  sich  auf  etliche 
schwimmende  Flöße  retteten  ....  stand  Kitchener  noch  immer  an  Deck 
im  Gespräch  mit  seinen  Adjutanten.  Er  und  der  Kommandant  waren 
die  letzten,  welche  mit  dem  > Hampshire«  untergingen.« 

Oder  auf  deutsch: 

Man  fühlt  es  schmerzlich  und  betroffen : 
Herr  Kitchener  ist  nun  zwar  ersoffen  — 
Doch  Grey?  Da  bleibt  noch  viel  zu  hoffen. 

Das  ist  im  Simplicissimus  gestanden,  in  jenem  Simplicissimus, 
der  seine  Vergangenheit  an  das  Vaterland  verraten  hat; 
dessen  ruhmloses  Ende  der  traurigste  Witz  der  Zeitgeschichte  war 
und  dessen  wir  uns  unter  allem  was  seit  1914  in  deutscher  Sprache 
erschienen  ist,  dereinst  am  meisten  zu  schämen  haben  werden. 
Kein  Zweifel,  diesen  Bulldogg  hätte  Schopenhauer  an  die 
Kette  gewünscht! 


51  - 


Sehr  richtig! 

>.  .  .  Deshalb  muß  Frankreich  als  Bittsteller  sich  nach  London 
wenden,  obgleich  das  innere  Wesen  beider  Völker  die  Entwicklung  der 
Herzlichkeit  ausschließt  und  die  Kräfte,  die  abstoßen,  im  Kriege  trotz 
der  politischen  und  militärischen  Gemeinschaft  noch  stärker  geworden 
sind  als  im  Frieden.  Franzosen  und  Engländer  können  sich  gegenseitig 
nicht  ausstehen,  und  dazu  kommt  das  Mißtrauen,  das  in  Paris  weite 
Schichten  erfaßt  hat  ...  .« 


Das  Leben  ohne  Phrase 

Pbrasenaustausch  zwischen  Boselli,  Asquith  und  Briand 

Lugano,  25.  Juni. 

Der  italienische  Ministerpräsident  Boselli  hat  an  den  Premier- 
minister Asquith  und  an  den  Ministerpräsidenten  Briand  Telegramme 
gesandt,  in  denen  er  ihnen  seine  Ämtsübernahme  anzeigt. 

In  seinem  Telegramm  an  Premierminister  Asquith  erklärt  Minister- 
präsident Boselli  .... 

Premierminister  Asquith  erwiderte,  indem  er  ...  , 

In  seinem  Telegramm  an  Ministerpräsidenten  Briand  gebraucht 
Ministerpräsident  Boselli  die  Phra-e,  daß  die  französische  und  die 
italienische  Nation  in  einem  Bündnisse  verknüpft  seien,  das  von 
gemeinsamen  Erinnerungen  und  Vorsätzen  zur  Geltendmachung  der 
nationalen  Rechte  beseelt  sei. 

Ministerpräsident  Briand  erwiderte  mit  der  Versicherung,  daß 
Bosellis  Gefühle  in  Frankreich  ein  treues  Echo  finden  und  beide  Nationen 
von  einem  gemeinsamen  Ideal  getrieben  werden,  um  einträchtig  und 
mit  gleicher  Energie  bis  zum  Endsieg  zu  kämpfen. 

Etwas  ganz  anderes  ist  es,  wenn  sich  anderwärts  nicht  nur 
Sprach-  und  Stammesgemeinschaft,  sondern  auch  die  Überein- 
stimmung des  Kriegszieles  und  die  natürliche  Solidarität  der 
Gefühle  in  Kundgebungen  äußern.  Denn  bekanntlich  sind  die 
Angehörigen  der  romanischen  Rasse  nur  durch  Mißtrauen  anein- 
ander gebunden,  während  sich  die  Sympathie  zwischen  einem 
Braunschweiger  und  einem  Debrecziner,  einem  Klagenfurter  und 
einem  Kleinasiaten  von  selbst  versteht. 


—  52  — 


Austausch  von  Wahrheiten 

Wir  haben  allerdings  triftigen  Grund,  uns  über  den  Austausch 
von  Phrasen  zwischen  den  Feinden  lustig  zu  machen,  da  wir  uns 
höchstens  gegenseitig  Komplimente  über  unsere  Aufrichtigkeit 
machen  könnten: 

Im  Schlaraffenland 
Dieser  blitzhaft  über 

Berlin  W.  W. 
hinleuchtende  Gesellschaftsroman  spiegelt  die  Welt  der  oberen  Zehntausend 
der  Reichshauptstadt  in  unvergleichlicher  Satire  wieder.  Fäulnis  und 
Trubel  der  Metropole,  die  genußgierige  Welt  der  Geldleute, 
Schieber,  literarischen  Streber  und  Hochstapler  zieht  im  Zerr- 
spiegel schlemmend  an  uns  vorbei:  Schlaraffenland,  Schlaraffenland 
der  feinen  Leute! 

Der  Golem 

Ist  man  mit  der  Lektüre  zu  Ende,  so  faßt  man  sich  wohl  selbst 
an  den  Kopf  und  sinnt,  ob  man  nicht  auch  träume.  .  .  . 

Aber  nicht,  daß  man  den  »Golem«,  sondern  daß  man  jenes 
über  Berlin  W.  W.  gelesen  hat.  Im  Annoncenteil,  also  wenn  sie 
dafür  Geld  kriegt,  nimmt  sich  die  österreichische  Presse  kein 
Blatt  vor  den  Mund.  Vielleicht  zur  Revanche,  weil  neulich  im 
Textteil  des  Berliner  Tageblatts  die  Worte  zu  lesen  waren: 

Schallende  Heiterkeit  weckte  der  Frosch  Max  Pallenbergs,  in  Ton 
und  Maske  das  Abbild  eines  echten    österreichischen  Trottels. 

Dieser  droht  nun  scherzhaft  mit  dem  Finger  und  sagt:  >Sie 
sind  doch  bekannt,  mein  Lieber,  als  Schieber,  als  SchieberN 


Eine  Feststellung 

Berlin,   13.  Juli. 

Die  Blätter  veröffentlichen  einen  Bericht  aus  dem  Großen  Haupt- 
quartier, worin  es  heißt: 

Vom  ersten  Tage  des  Krieges  haben  wir  als  einzige  von  allen 
kämpfenden  Nationen  die  Heeresberichte  unserer  sämtlichen  Gegner 
ohne  jede  Kürzung  veröffentlicht,  denn  grenzenlos  ist  unser  Vertrauen 
in  die  Standhaftigkeit  der  Daheimgebliebenen.  Aber  unsere  Feinde 
machten  sich  dieses  Vertrauen  zunutze.  .  .  . 


53  - 


>  Bundestheater« 

.  .  .  das  Orchester  spielte  die  Hymnen  der  verbündeten  Mächte 
und  das  Publikum,  in  dem  manche  offizielle  Persönlichkeit  zu  sehen 
war,  hörte  die  weihevollen  und  martialischen  Tonstücke  stehend  an 
und  akklamierte  sie  lebhaft  ....  Der  angejahrte  Ehemann  aus  der 
Provinz  macht  Einkaufsreisen  nach  Wien,  die  immer  ein  Nachtlokal  und 
eine  schöne  Tänzerin  zum  Ziele  haben.  Die  strenge  Gattin  kommt  der 
Sache  auf  die  Spur  und  deshalb  wird  die  Tänzerin  als  neu  aufgenommene 
Verkäuferin  ausgegeben,  aus  welchen  Lügenfäden  dann  im  zweiten  Akt 
die  kompliziertesten  und  amüsantesten  Verwicklungen  gedreht  werden, 
worauf  im  letzten  Akt  eine  ebenso  heitere  Entwirrung  folgt  ....  Er 
hat  keine  anspruchsvolle  Musik  geschrieben,  sondern  eine  legere  und 
liebenswürdige,  sie  geht  weniger  ins  Gemüt  und  mehr  ins  Ohr,  besonders 
aber  in  die  Beine.  Das  gilt  namentlich  von  dem  sehr  »reißerischen«  Walzer 
»Wir  bleiben  beim  Walzer<  und  von  dem  Hauptschlager  der 
Operette,  dem  grotesken  Terzett  »Adeline,  wie  bist  du  schön!«  . 
Außerdem  gibt  es  noch  einige  hübsche  und  zierliche  Polkamotive, 
Walzer  und  Märsche,  lauter  angenehme  und  unaufdringliche  Wiener 
Melodien,  die  sich  dazu  eignen,  um  bei  ihrem  Klang  an  schönen 
Sommerabenden  im  Freien  zu  nach  tm ah  len.  Manches  davon  wird 
wohl  den  Ausstellungssommer  überleben  und  noch  im  nächsten 
Herbst  und  Winter  gespielt,    gesungen  und  gepfiffen  werden.  .  .  . 


Der  Blick  hat  sich  verändert 

.  .  .  Heute  stehen  wir  zwei  Jahre  im  Weltkrieg  und  die  durch  ihn 
geschaffene  Notwendigkeit,  die  Frauen  zu  allen  Männerberufen  heran- 
zuziehen, läßt  uns  das  Lustspiel  Strindbergs  mit  anderen  Augen 
schauen  .... 

.  .  .  Heute  wird  es  uns  schwer,  den  Kampf  der  Geschlechter, 
wie  ihn  Wedekind  mit  dem  ihm  eigenen  Hang  zum  Absonderlichen 
in  dramatischem  Freskostil  ausmalt,  neben  der  tragischen  Wucht  des 
Weltkrieges  als  tragisches  Wellbild  gelten  zu  lassen  .... 

So  in  dem  Kulissentratschblatt  eines  tragischen  Leo  Stein, 
der  dem  Weltkrieg  die  Libretti  liefert. 


Nestroy  und  die  Berliner 

»In  Berlin  spielt  man  jetzt  im  Lessing-Theater  Nestroys  ,Lumpaci- 
vagabundus'.  Darüber  äußert  sich  der  Kritiker  der  ,Täglichen  Rundschau' 
folgendermaßen:  Es  gibt  Leute,  die  Nestroy  gern  mögen  und  den 


—  54 


jLumpacivagabundus'  im  besonderen.  Es  gibt  auch  Leute,  die  sich  über 
die  faden  Spaße  der  Clowns  im  Zirkus  freuen.  Raimund  -  munkelt 
man  —  hat  sich  Nestroys  wegen  ums  Leben  gebracht.  Die  Literatur- 
geschichte behauptet,  er  hätte  es  aus  Kummer  über  HerrnNestroys 
Erfolge  getan . .  .  ich  würde  auch  andere  Gründe  verstehen  I  Herrschaften 
—  man  stelle  sich  vor,  der  Herr  Forest  und  der  Herr  Adalbert  wären 
gestern  als  Schuster  Knieriera  und  Schneider  Zwirn  nicht  so  gut  auf- 
gelegtgewesen, wäre  es  da  nicht  einfach  zum  Davon  laufen  gewesen? 
Und  auch  noch  so  lichteten  sich  die  Parkettreihen  gestern  nach  dem 
fünften  Bild  schon  bedenklich.  Zuweilen,  weil  ich  mich  genierte, 
nahm  ich  einen  verzweifeltenAnlauf,  über  das  liederliche  Kleeblatt  doch 
auch  einmal  zu  lachen.  Aber  ich  gelangte  über  eben  diesen  verzweifelten 
Anlauf  beim  besten  Willen  nicht  hinweg.  Lieber  genierte  ich 
mich  weiter.  Das  liegt  natürlich  an  mir.  So'n  bißchen  weanerisch 
ist  ja  sehr  nett  —  ab  und  zu  und  ab  und  an  — ,  aber  auf 
die  Dauer?  Ich  glaube,  da  muß  man  doch  schon  unterm  Stephansturm 
groß  geworden  sein,  um  an  den  Späßchen  seinen  Spaß  zu  haben.  Das 
ändert  aber  alles  nichts  an  der  Tatsache,  daß  das  Lessing-Theater  das 
Fernsein  seines  Herrn  und  Gebieters  dazu  mißbraucht  hat, 
diesen  Nestroy  wieder  einmal  aus  wohlverdientem  Schlafe  zu  erwecken, 
und  mir  bleibt  übrig,  diese  Tatsache  mit  bedauerlichem  Achsel- 
zucken zu  verbuchen.  .  .  .« 

Der  Herr  Nestroy  ist  ein  halbes  Jahrhundert  vor  der  Expansion 
dieses  Oreckgehims  dahingegangen  und  denkt  sich  jetzt  sein  Teil.  Der 
Herr  und  Gebieter,  dessen  Fernsein  man  mißbraucht,  um  Nestroy 
aufzuführen,  heißt  Barnowsky.  Das  ist  nun  einmal  so,  die  Welt 
will's  nun  einmal  so  und  man  kann  nichts  machen.  Man  kann 
höchstens  hoffen,  daß  sie  auf  kein'  Fall  mehr  lang  lang  lang  steht. 


Gemeinsames 

, Neues  Wiener  Journal' : 

Der  amerikanische  Botschafter  in  Berlin,  Exzellenz  Gerard  war 
so  freundlich,  heute  mittag  den  Vertreter  des  >Neuen  Wiener  Journals< 
zu  empfangen  und  ihm  wieder  einige  Mitteilungen  zu  machen 

, Vossische  Zeitung': 

Ich  empfing  Herrn  E.  Fr.  in  Gegenwart  einer  Dame  und 
antwortete  auf  seine  Fragen,  daß  ich  ihm  nichts  weiter  sagen 
könne,  als  daß  sich  das  Mitglied  der  amerikanischen  Botschaft  Herr  Grew, 
dessen  Abreise  nach  Amerika  gemeldet  war,  nur  in  Familienangelegenheiten 
in  New- York  aufhalte.  Auf  jede  weitere  Frage  des  Herrn  E.  Fr.  ver- 
weigerte   ich    die    Auskunft.    Als    Herr  E.    Fr.    nach    einiger  Zeit 


—  55 


wiederkam  und  mir  ein  Manuskript  brachte,  in  dem  meine  an- 
geblichen Äußerungen  wiedergegeben  sein  sollten,  und  mich  um 
Bestätigung  dieser  Unterredung  bat,  gab  ich  Herrn  E.  Fr.  zu  verstehen, 
daß  ich  kein  Wort  von  dem  gesagt  habe,  was  mir  in  den 
Mund  gelegt  worden  war.  In  der  Erregung  über  die  an  mich 
gestellte  Zumutung,  zerriß  ich  das  mir  überreichte  Manu- 
skript in  Gegenwart  des  früheren  Botschaftsrates  Jackson 
der  aus  seiner  zwölfjährigenehemaligen  Amtstätigkeit  an  der  amerikanischen 
Botschaft  in  Berlin  bekannt  ist,  in  Stücke  und  warf  es  in  den 
Papierkorb.  Es  kann  nach  alledem  von  einer  »authentischen  Unterredung< 
mit  mir  seitens  des  Herr  E.  Fr.  nicht  im  entferntesten  die  Rede 
sein,  so  daß  ich  jede  Verantwortung  für  dieses  Interview  strikt 
ablehne.  Hätte  sich  H err  Graf  Westarp  vor  seiner  Kundgebung 
im  Reichstag  erkundigt,  so  würde  er  erfahren  haben,  daß  es  sich 
um  apokryphe  Äußerungen  handelt.  Bei  der  vornehmen  Gesinnung 
des  Führers  der  konservativen  Partei  darf  ich  annehmen,  daß  er  angesichts 
der  hier  mitgeteilten  Tatsachen  Gelegenheit  ergreifen  wird,  auf  Grund 
dieser  meiner  Erklärung  die  mir  fälschlich  in  den  Mund  gelegten  Äußer- 
ungen zu  widerrufen.  Ich  lese  zwar  die  großen  deutschen  Blätter  in 
deutscher  Sprache,  die  ich  leidlich  gut  beherrsche;  aber  ich  kann  nicht 
alles  lesen,  was  mir  zugeschickt  wird.  Und  so  ist  mir  auch  die 
angebliche  Unterredung  erst  später  zu  Gesicht  gekommen.  Hätte  ich 
ahnen  können,  daß  sie  zum  Gegenstand  einer  Erörterung 
vor  dem  Forum  des  Reichstages  erhoben  werden  würde,  so 
wäre  ich  sogleich  eingeschritten.  Daß  die  Unterredung  nicht  zu- 
traf, habe  ich  Ihnen  ja  vor  wenigen  Tagen  mitgeteilt.  Jetzt  ist  es  an  der 
Zeit,  die  Wahrheit  rückhaltslos  zum  Ausdruck  zu  bringen, 
denn  die  Wahrheit  kommt  niemals  zu  spät. 

Trotzdem  hatte  noch  der  Fürst  Leopold  zur  Lippe  Appetit: 

Seine  hochffirstliche  Durchlaucht  der  regierende  Fürst  Leopold  IV. 
zur  Lippe  hatte  die  besondere  Freundlichkeit,  jüngst  bei  einem 
Aufenthalt  in  Berlin,  von  der  Front  kommend,  dem  Korrespondenten 
des  »Neuen  Wiener  Journals«  in  Gegenwart  des  Chefs  seines 
Geheimen  Zivilkabinets,  des  Geheimen  Kabinetsrates  Professors 
Dr.  V.  Eppstein,  eine  Audienz  zu  gewähren. 

Also  vorsichtshalber  ein  männUcher  Zeuge.  Aber  es  dürfte  wahr 
sein,  daß  er  das  gesagt  hat: 

».  .  .  Wir  werden  in  den  ersten  Jahren  nach  dem  Kriege  keinesfalls 
die  alten  Exportziffern  erreichen  können, aber  wir  werden  exportieren. 

.  .  .  die  beiden  Kaiserreiche  werden  im  wesentlichen  nach  den- 
selben Grundsätzen  regiert  und  verwaltet.  Wir  haben  auch  fast  den- 
selben Menschentypus,  dieselbe  hochentwickelte  Kultur, 
beinahe  dasselbe  Volks-,  JVlittel-  und  Hochschulsystem  und  beinahe  dieselbe 
Rechtsordnung.  Der  eine  Kaiserstaat  hat  in  die  Organisation  des  andern 


56 


genau  hineinsehen  können.  Und  daß  man  einander  so  intim  kennen 
gelernt  hat,  das  verpflichtet.  Österreich-Ungarn  und  Deutschland  haben 
heute  vor  einander  keine  Geheimnisse. 

.  .  .  Die  ungarischen  Schweine  und  das  ungarische  Hornvieh  werden 
uns  willkommener  sein,  als  die  russischen  Schweine  und  die  russischen 
Rinder  .  .  .  .<  Dr.  Egon  Friedegg. 

Ob  damit  auf  den  regeren  Import  von  Journalisten,  Librettisten, 
Verlegern,  Theaterdirektoren,  die  schon  vor  dem  Krieg  in  Berlin 
ihr  Glück  gemacht  haben,  angespielt  werden  sollte,  ist  mindestens 
zweifelhaft.  Was  die  Ähnlichkeit  des  Hochschulsystems  anlangt, 
so  ist  es  richtig,  daß  die  reichsdeutschen  und  die  österreichischen 
Fakultäten  in  gleicher  Weise  bestrebt  waren,  die  Zahl  der  Ehrendoktoren 
zu  vermehren.  Was  die  gemeinsame  Rechtsordnung  betrifft,  so  läßt 
sich  nur  sagen,  daß  Menschentypen,  die  wegen  unbefugten  Tragens 
des  Doktortitels  in  Berlin  abgestraft  wurden,  also  Ehrendoktoren 
sind,  ihn  in  Wien  weiterführen  können  und  daß  Interview- 
Fälschungen,  die  von  österreichischer  Seite  in  Berlin  begangen  und 
in  Wien  veröffentlicht  werden,  straflos  bleiben.  Sonst  aber  geht 
es  der  Kultur  gut,  und  wir  werden  exportieren. 


Vom  berechtigten  Optimismus 

>Auf  den  ersten  Blick  hat  es  allerdings  den  Anschein,  als  ob 
unseren  Gegnern  schier  unermeßliche  Hilfsquellen  zu  Gebote  stünden, 
allein  eine  Revision  derselben  wird  uns  die  Überzeugung  verschaffen, 
daß  dieses  vermeintliche  Übergewicht  absolut  nicht  in  einem  derartigen 
Maßstabe  vorhanden  ist,  der  uns  die  volle  Zuversicht  auf  den  endgültigen 
Sieg  auch  nur  trüben  könnte.  Zunächst  gebieten  unsere  Gegner  zwar 
über  ein  ganz  kolossales  Menschenmaterial,  allein  ebensowenig  wie 
sich  England  wohlweislich  hüten  würde,  selbst  wenn  es  könnte,  seine 
Hunderte  von  Millionen  Inder  zu  einem  europäischen  Kampfe  aufzubieten, 
ebensowenig  wird  sich  Frankreich  hüten,  die  große  Masse  seiner 
Kongo-  und  sonstigen  Neger,  seiner  Anamiten,  Araber  und  Mauren  usw. 
mit  Repetiergewehren  auszurüsten  und  militärisch  zu  schulen  .  .  .  .« 

Und: 

>Stark  im  Vertrauen,  daß  der  König  und  die  Abgeordneten,  die 
das  Volk  vertreten,  an  den  Tag  legen,  beabsichtigt  die  griechische 
Regierung  nicht,  dem  Drucke  des  Vierverbandes,  dessen  Zweck,  wie  erklärt 
wurde,  der  Eintritt  Griechenlands  in  den  Krieg  ist,    nicht  nachzugeben.« 


—  57 


Und  tatsächlich  hatte  sie  inzwischen  nachgegeben.  Und 
ebenso  werden  sie  sich  ebensowenig  hüten.  Das  i<ommt  davon  : 
der  Österreicher  ist  ein  Idealist,  der  zum  positiven  Erfolg  auf  dem 
Wege  der  doppelten  Negation  gelangt.  Sein  Optimismus  ist  In- 
differentismus, und  dieser  findet  je  nach  dem  sonstigen  Glaubens- 
bekenntnis, seinen  Ausdruck  entweder  in  der  Maxime:  »Gar  net 
ignorieren!«  oder  in  der  Formel  »Nicht  —  Nicht!« 


Die  Denkgesetze 

Überall  ist  es  jetzt  die  Aufgabe  aller,  aus  der  Depression 
der  andern  den  eigenen  Mut  zu  schöpfen.  Bei  uns  geht's  am 
leichtesten.  Der  Hanswurst  unseres  Optimismus,  der  täglich  und  zumal 
abendlich  »die  Sorge«  (der  andern)  zu  messen  und  namentlich 
bei  den  Franzosen  einen  >starken  Rückschlag  auf  die  Stimmungen« 
zu  konstatieren  oder  wenigstens  zu  erhoffen  hat,  während  wir 
natürlich  wie  der  Herrgott  in  Frankreich  leben,  gibt  ihnen  zu 
bedenken: 

.  .  .  Die  Franzosen  haben  jetzt  schwere  Sorgen,  welche  sie  un- 
mittelbar berühren  und  die  nur  wenig  durch  die  russischen  Schlacht- 
berichte gemildert  werden.  Auch  die  erstaunlichen  geographischen 
Kenntnisse  über  die  Bukowina  lenken  die  Aufmerksamkeit  von 
Verdun  nicht  ab.  Die  Bukowina  ist  ein  Land,  das,  so  oft  es  unter 
russische  Botmäßigkeit  gekommen  ist,  immer  wieder  befreit  werden  konnte. 
Wenn  der  alte  scholastische  Spruch  richtig  ist,  daß  nach 
den  Denkgesetzen  nichts  gewesen  ist,  was  nicht  auch  wieder  sein 
kann,  so  müßten  die  Franzosen  schon  daraus  schließen,  daß  es 
mit  der  Bukowina  eine  eigene  Bewandtnis  haben  dürfte  und 
daß  die  Russen  gezwungen  werden  könnten,  dorthin  zu  gehen,  woher 
sie  gekommen  sind. 

Daß  die  Denkgesetze  nicht  auch  für  Verdun  gelten 
können,  ist  nur  daraus  zu  erklären,  daß  sie  auch  in  Österreich 
nur  für  Czemowitz  gelten  und  sonst  infolge  des  Kriegszustandes 
aufgehoben  sind.  Aber  unberufen  berufen  werden  sie  bereits.  Es 
ist  wieder  wie  vor  zwei  Jahren.  »Das  Auge  bohrt  sich<  wieder  »hinein 
in  den  Qeneralstabsbericht«  oder  er  wird  »verschlungen«.  Die  schöne 
Spannungdes  daumenhaltenden  jüdischen  Onkels,  der  schon  zufrieden 
ist,  wenn  der  Patient  einen  Löffel  Suppe  zu  sich  genommen  hat 
(unberufen),   kehrt   wieder:    »Wir  möchten   nicht  vorschnell  .  .  .  .« 


—  58  — 


Die  vielen  »und«,  die  in  den  Zeiten  des  Stellungskrieges  überwunden 
waren,  brechen  wieder  hervor;  die  > Einbildungskraft«  beginnt  sich 
zu  regen ;  die  einfachen  Denkgesetze  sind  schon  da.  Es  ist  entsetz- 
lich. Wenn  die  russische  Offensive  nicht  völlig  zum  Stillstand 
gebracht  wird,  können  wir  bald  wieder  >  Laienfragen  und  Laien- 
antworten« bekommen. 


Metaphysik  der  Schweißfuße 

Aus  einem  Buch  des  Herrn  Karl  Hans  Strobl: 

.  .  .  Und  all  das  Grün  ist  mit  Mondlicht  durchwirkt,  weit  hinaus 
ergossen,  bis  zu  fernen,  weißglänzenden  Häusern  und  dunkeln  Bergen, 
wie   Eichendorf  fs  al  lerholdseligstes    Sommernachtsgedicht. 

Wie  ich  wieder  aus  dem  dunkeln  Saal  auf  die  Terrasse  trete, 
hat  der  Fähnrich  sein  großes  Taschenmesser  in  der  Hand,  schneidet 
ein  Stück  Geselchtes  herunter  und  sagt  so  beiläufig  und  obenhin: 
»Mit  diesem  Messer  hab'  ich  ein  paar  Russen  den  Hals 
abgeschnitten.« 

Auf  Schleichpatrouillen,  in  polnischen  Wäldern,  in  den  Karpathen, 
wo  es  gilt,  Vorposten  des  Feindes  rasch  und  ohne  Lärm  unschädlich 
zu  machen.  Schießen  ist  unmöglich  und  Gefangennehmen  ein  selbst- 
mörderisches Getümmel.  Anschleichen,  Aufspringen,  bei  der 
Kehle  nehmen,  basta!  Oder  im  Nahkampf,  wenn  die  letzte 
Revolverpatrone  verschossen  ist  .  .  . 

Huldschiner  zündet  eine  neue  Zigarre  an.  —  —  Ob  er 
sich  die  Goldene  im  Russischen  Krieg  erworben  habe? 

Nein,  die  habe  er  jetzt  bekommen,  im  Kampf  gegen  die  Katzei- 
macher. Jetzt  hilft  ihm  nichts  mehr,  und  er  muß  erzählen.  Es  sei 
weiter  nichts  Besonderes  gewesen,  er  habe  sich  halt  einmal  durch  die 
italienischen  Linien  geschlichen  und  Kundschaft  mitgebracht,  wo  sie 
ihre  Reserven  sammelten,  da  hätte  dann  die  Artillerie  fein  gemütlich 
hinschießen  und  die  ganze  Gesellschaft  zersprengen  können.  .  .  . 

Ich  will  ja  dem  Herrn  Karl  Hans  Strobl  und  ähnlichen 
gambrinusartig  aussehenden  Herren  der  Literatur  nicht  persönlich 
nahetreten,  's  sind  wackere  Bursche,  wenn  sie  auch  all  jenes  nur 
beschreiben  und  loben  und,  weil  sie  dieses  treffen,  nicht  selbst 
mitmachen  müssen,  ich  gönne  jeglicher  Seel'  die  bequemste 
Art,  durch  diesen  Krieg  zu  ihrem  Frieden  zu  kommen,  nicht  will  ich 
tadeln,  warum  jener  Schwächliche,  jener  Gütige,  jener  Geistige  dort 
hinab  mußte  und  dieser  Mastbürger  hier,  dessen  treudeutsch 
Auge  allein  die  Wacht  am  Rhein  zu  garantieren  scheint,  allheil 
bleibt,  indem  er  sich   zusammentut   mit  Juden   im    Pressquartier, 


—  59 


alle  geduckt,  doch  in  Sicherheit  vor  dem  Gewitter,  und  indem  er 
für  »Ullstein«  —  schon  der  Name  ist  das  Weltübei  —  Kriegs- 
bücher  leisten  kann;  nicht  will  ich  anklagen,  daß  es  vor  dem  Tod 
noch  Unterschiede  gab,  Kontraste  und  daß  alles,  was  der  füg- 
samen Welt  im  Namen  des  Unrechts  geschah,  noch  entstellt  war 
durch  Ungerechtigkeit.  Aber:  wenn  man  mich  als  Sachverstän- 
digen vor  dem  jüngsten  Gericht  zuziehen  wollte,  und  ich  hörte 
dort  den  Ankläger  sagen:  Hatte  einer  wirklich  einen  Herzfehler, 
der  ihn  davon  befreit  hat,  einem  andern  das  Bajonett  ins  gesunde  Herz 
zu  stoßen,  und  holte  ers  schriftlich  nach,  indem  er  sagte,  das  gefalle 
ihm  SO;  tat  er  so,  so  wollen  wir  solchem  Herzen  einen  langen  Ruhstand 
in  der  Hölle  gönnen  —  da  würde  ich  einwerfen :  Nein,  glaubet  mir,  alles 
dies,  all  diese  viehische  Selbstverständlichkeit  des  Hantierens  mit 
fremdem  Blut,  dieses  losgelassene  Glück  der  Unmenschlichkeit,  dieses 
Messerwetzen  im  Wort  »Katzeimacher«,  diese  bunte  Verbindung 
von  Eichendorff,  Geselchtem  und  Gurgelschnitt  —  all  dies  kam 
von  den  Schweißfüßen!  Nicht  daß  ich  sie  dem  Verewigten 
selbst  imputierte,  das  wäre  eine  Rohheit,  als  amputierte  ich 
sie  ihm  gar,  dem  Nichtgedienten,  und  keineswegs  nachweisbar:  wohl 
aber  der  ewigen  Seele,  die  hier  vor  uns  steht!  Diese  Seele  hat 
Schweißfüße,  sie  war  ihr  Lebtag  stolz  auf  sie,  insgeheim  aber 
laborierte  sie  daran  gewissermaßen  und  rächte  sich  an  jeglichem  Ding, 
das  keine  hatte.  Es  ist  eine  Art  Redlichkeit,  die  sich  zurückgesetzt 
fühlt:  die  meisten  Dichter  und  Denker  schreiben  mit  Schweiß- 
füßen und  die  Welt  will  das  nicht  anerkennen.  .  .  Und  würde  auf 
die  Frage  des  Vorsitzenden,  ob  ich  denn  glaube,  daß  Schweiß- 
füße eine  metaphysische  Eigenschaft  seien,  erwidern:  Na,  und  ob! 
Hauptsächlich!  Davon  eben  ist  alles  gekommen.  Es  ist  geradezu 
eine  Weltanschauung,  nämlich  die  unter  allen  Umständen  ideale. 
Es  bildet  sich  heraus,  wenn  etwas  immer  feststeht  und  treu,  immer 
auf  demselben  idealen  Knotenpunkt  des  Gemüts  und  des  Verkehres. 
Dann  wollte  es  sich  Luft  machen,  Bewegung,  Expansion,  aber 
das  half  ihm  nicht  und  verdroß  nur  die  Umgebung.  So  ist  alles 
gekommen.  Ich  bin  nicht  für  die  Hölle,  weil  sich  dort  kultivierte 
Sünder  beschweren  könnten,  sondern  für  einen  Abort  der  Hölle, 
wo  die  Autoren  und  Leser  der  Ullstein-  und  Staackmann-Büchereien 
mehr  unter  sich  sind  und  wo  der  Ganghofer  die  Honneurs 
macht.  Hinunter! 


60 


Liebesgabe 

Der  bekannte  Schriftsteller  Hauptmann  Franz  Xaver  Kappus 
hat  90  Exemplare  seines  Buches  »Hai  Welche  Lust  .  .  .<  der  Aktion 
> Bücher  ins  Feld<  kostenlos  zur  Verfügung  gestellt. 

Ha,  welche  Lust! 


Ein  starker  Esser  und  ein  schwacher  Esser 

Ich  esse  zu  viel. 

Von  Ludwig  Hirschfeld. 

Man  läßt  mich  bis  zur  Besinnungslosigkeit  Eier  essen, 

man  gibt  mir  Speisekartan  zur  Lektüre,  reichhaltig  wie  eine  moderne 
Orchesterpartitur,  man  lädt  mich  an  fleischlosen  Tagen  ein  und  serviert 
mir  Filet  ...  da  kann  man  nichts  tun.  Das  heißt,  man  könnte  schon 
etwas  tun.  Man  müßte  es  mir  eben  erschweren,  mich  verhindern,  es 
mir  unmöglich  machen,  so  gedankenlos  üppig  zu  leben,  müßte  mich 
zur  Einfachheit  und  Mäßigkeit  zwingen  . Ich  habe  meine  Schuldig- 
keit getan  und  die  maßgebenden  Behörden  und  Instanzen  auf  mein 
üppiges  Treiben  aufmerksam  gemacht.  Es  ist  höchste  Zeit,  daß  endlich 
gegen  mich  energisch  eingeschritten  wird. 

Der  Schalk  hat  ganz  recht.  Es  wäre  herzlos,  selbst  angesichts 
der  sich  vorschiebenden  Individualitäten  die  Frage  nach  der  Wehr- 
fähigkeit zu  erörtern.  Was  aber  unbedingt  zu  erörtern  ist  und  von 
den  maßgebenden  Behörden  abzustellen  wäre,  ist  der  erbitternde 
Kontrast,  daß  man  an  einem  Tag,  an  dem  solch  gesundes  Nichts 
sich  scherzhaft  anklagen  darf,  den  Feldpostbrief  eines  edlen 
Freundes  erhält,  der,  einen  Monat  nach  einem  Sturmangriff,  die 
Worte  spricht: 

Ich  bin  am  Leben  und  unverwundet,  aber  die  Strapazen  und 
Entbehrungen  der  letzten  Wochen  haben  mich  so  erschöpft  —  auch 
bin  ich  bedeckt  mit  Schorf  und  schwärendem  Ausschlag  — ,  daß  ich 
Ihnen  vorderhand  nichts  weiter  sagen  kann  als  Dank,  innigsten  Dank  für 
Ihre  mir  so  teuren  Grüße !  —  —  Ich  bin  zu  müde,  um  —  — 

Nein,  er  sage  nichts  weiter.  Wir  wissen  alles. 


—  61 


Diplomaten 

Oraf  Szögyeny  am  Tage  des  Kriegs- 
ausbruches. 

Von  Franz  Freiherrn  v.  Haymerle. 
K.  u.  k.  Botschaftsrat. 

—   19.  Juni 
An  die 

Löbliche  Redaktion  der  »Neuen  Freien  Presse« 

Wien. 

(Das  sind  acht  Zeilen,  weil  zum  Glück  der  Ausbruch  auf 
den  Krieg  folgt  und  die  Löbliche  mit  großem  L  geschrieben 
wird,  während  es  sonst  nur  sechs  gewesen  wären.  Da  er  also  anhub, 
dürfte  wohl  die  Fortsetzung  so  sein,  daß  die  Welt  aufhorchen 
wird.  Halten  wir  den  Atem  an,  mag  uns  dies  umso  schwerer 
fallen,  als  die  folgenden  Gedanken  auch  jeder  für  sich  einen  eigenen 
Absatz  haben,  bezähmen  wir  die  kunstvoll  gesteigerte  Neugierde  — 
der  Lohn,  der  uns  winkt,  wird  so  sein,  daß  der  Österreicher  sagt: 
>Es  ist  dafür  gestanden«,  während  der  Deutsche  das  nicht  versteht 
und  nach  einigem  Nachdenken  sagt:  >Ach  so,  Sie  meinen  wohl,  es 
hat  sich  gelohnt?  Na  hören  Sie  mal,  das  meine  ich  nun  ganz  und 
gar  nicht!«  Der  arme  Graf  Szögyeny  dürfte  oft  sein  Kreuz  (Schwierig- 
keit) gehabt  haben,  zwischen  solchen  Sprachbesonderheiten  den 
Dolmetsch  zu  machen.  Und  was  hatte  der  Freiherr  v.  Haymerle 
dabei  zu  tun?) 

Ich  wäre  Ihnen  dankbar,  wenn  Sie  nachstehende  Zeilen 
in  Ihr  geschätztes  Blatt  aufnehmen  wollten. 

Ich  hatte  die  Ehre,  seit  Ende  Januar  1914  als  k.  u.  k.  Bot- 
schaftsrat in  Berlin  unter  dem  Befehle  Sr.  Exzellenz  des  Grafen 
Szögyeny-Marich  zu  stehen. 

Näheres  über  die  Zeit  kurz  vor  Ausbruch  des  Weltkrieges 
zu  sagen,  liegt  nicht  in  meiner  Absicht,  noch  bin  ich  dazu 
berechtigt;  ich  möchte  nur  eine  für  den  großen  Staatsmann 
charakteristische    und    zugleich    ehrende    Episode    erwähnen. 

Es  war  am  Abend  der  Kriegserklärung  zwischen  Serbien 
und  der  k.  u.  k.  Monarchie. 

Ich  war,  mit  der  Bitte  um  eine  Unterschrift,  noch  um 
Vj9  Uhr  abends  zu  Sr.  Exzellenz  aus  der  Kanzlei  hinunter- 
gekommen. 

Der  Botschafter  war  eben  im  Begriff,  aus  dem  Eßzimmer 
in  sein  Schreibzimmer  zurückzukehren. 


—  62  — 

(Ein  Shakespearescher  König  wäre  hier  ungeduldig  geworden 
und  hätte  etwa  gesagt: 

Bursche,  mach's  kurz.  Armserge  Botschaft  bringt, 

Wer  mit  geschäft'ger  Miene  also  anhebt. 

Solch  Augendrehn  und  Lippenmurmeln  kenn'  ich, 

Und  wind'ge  Worte  schlag  ich  in  den  Wind. 

Bist  du  ein  Botschaftsrat,  so  rat'  ich  dir, 

Halt  kurz  die  Botschaft;  bringst  du  gute  Zeitung, 

So  ist  die  Zeitung  schlecht,  der  du  sie  bringst. 

Und  nur  mein  Ohr  geschaffen,  sie  zu  hören. 

Wer  viel  zu  sagen  hat,  sagt  nicht  so  viel; 

Zum  Ernst  der  Tat  paßt  nicht  der  Rede  Spiel. 

Was  also  geschah,  als  der  Botschafter,  eben  im  Begriffe,  aus 
dem  Eßzimmer  in  sein  Schreibzimmer  zurückzukehren,  noch  um 
V29  Uhr  abends,  also  statt  ins  Schlafzimmer  zu  gehen,  den  Botschafts- 
rat empfing?) 

Als  er  mich  sah,  frug  er  mich,  seiner  Gewohnheit 
gemäß,  auch  dann  immer  zuerst  seine  Besucher  oder 
Beamten  zu  fragen,  ob  etwas  Neues  los  sei,  selbst  dann, 
wenn  er  selbst  Wichtiges  mitteilen  wollte:  »Was  gibt's 
Neues?«  Auf  meine  Antwort,  mir  sei  nichts  Wichtiges 
bekannt,  sah  mich  der  alte  Herr  mit  einem  ganz  eigentümlichen, 
halb  stolzen,  halb  wehmütigen  Blicke  an  und  sagte,  mir 
tief  ergriffen  die  Hand  reichend:  »Soeben  haben  wir  Serbien 
den  Krieg  erklärt.« 

(Der  Botschaftsrat,  V29  Uhr  abends,  wußte  das  noch  nicht. 
Dagegen  das  Volk:  es  wußte  es.) 

Buchstäblich  in  dem  gleichen  Augenblicke  ertönte 
bere its in  der Moltkestraße (die zwischen  demBotschaftspalais 
und  dem  preußischen  Kriegsministerium  hindurchführt), 
ein  donnerndes  vielfaches  Hoch  und  gleich  darauf  wurde  unsere 
geliebte  Volkshymne  von  Hunderten  von  Menschen  aller  Stände  — 
Offiziere,  Herren  im  Zylinder,  Damen  in  Abendtoilette, 
Frauen  aus  dem  Volke,  Arbeiter,  Soldaten  und  Kinder  —  ange- 
stimmt, und  alles  rief  wie  aus  einem  Munde  nach  dem  Botschafter. 
>Ans  Fenster«,  »ans  Fenster«,  »er  soll  sich  zeigen«,  »wir 
wollen  ihn  sehen!« 

(Ans  Fenster?  Es  ist  halt  ein  Kreuz.  Alstern  ans  Fenster, 
wozu  hätten  denn  die  Herrschaften  sonst  Abendtoilette  gemacht? 
Aber  wie  war  nur  diese  Überraschung  zu  erklären?) 


—  63  — 


Es  fühlte  eben  bereits  damals  mit  dem  der  großen 
Menge  eigenen  Spürsinn  das  deutsche  Volk,  wie  innig  — 

(Sympathie  geht  eben  schneller  als  Diplomatie.) 

Se.  Exzellenz  war  so  tief  ergriffen,  daß  ich  nur  mit 
Mühe  ihn  dazu  bewegen  konnte,  ans  Fenster  seines 
Schreibzimmers  zu  treten. 

Graf  Szög>eny  war  so  erschüttert,  daß  er  der  begeisterten 
Menge  nur  mit  der  Hand  seinen  Dank  zuwinken  konnte.  Doch 
Tränen  rannen  ihm  über  die  Wangen.  Und  ich  schäme 
mich  nicht,  einzugestehen,  daß  auch  mir,  der  im  Hinter- 
grund stehend  diesen  erhebenden  Moment  miterleben  durfte, 
die  schweren  Tränen  kamen. 

Für  den  Botschafter  war  es  aber  wohl  der  größte 
und  schönste  Moment  seines  schicksalsschweren  Lebens,  als 
der  bedeutende  Staatsmann  kurz  vor  dem  Scheiden  aus 
seinem  seit  zweiundzwanzig  Jahren  innegehabten  Amte  noch 
erleben  konnte,  welche  für  unser  geliebtes  Vaterland  unschätz- 
baren Früchte  .... 

Hoch  achtungsvollst 

Freiherr  v.  Haymerle, 
k.  u.  k.  Botschaftsrat,  zurzeit  im  Felde. 

Mit  solchen  unschätzbaren  Lesefrüchten,  die  die  Welt  der 
Erwachsenen  und  Verantwortlichen  im  Lichte  der  Fibel  zeigen, 
vertreiben  wir  uns  die  große  Zeit.  Sie  haben  geweint;  es  wird 
wieder  in  der  Fibel  stehn,  damit  man  den  Enkeln  nichts  mehr 
zu  erzählen  brauche.  Alle  drei  haben  geweint,  denn  der 
Botschafter  war  erschüttert,  wie  er  fühlte,  daß  er  selbst,  nämlich 
der  bedeutende  Staatsmann  erschüttert  war:  das  sind  zwei, 
und  der  Botschaftsrat,  der  dabei  stand :  macht  drei.  In  der  Aus- 
einandersetzung zwischen  dem  Betmann  Hohlweg  und  Sir 
Goschen  soll  nur  einer  geweint  haben,  denn  jeder  der  beiden 
behauptet,  daß  der  andere  geweint  habe.  Immerhin  ist  festgestellt: 
daß  aus  einem  großen  Moment  eine  große  Zeit  entstanden  ist.  Und 
daß  Ende  Juli  1914  zwischen  den  Diplomaten  mehr  Tränen  als 
Noten  ausgetauscht  worden  sind.  Später  wurden  dann  in  Europa 
die  Noten  ganz  eingestellt  und  nur  noch  den  Tränen  freier  Lauf  ge- 
lassen. Wenn  Europa  sie  getrocknet  haben  wird  und  wieder  mit 
klaren  Augen  in  die  Welt  sieht,  wird  es  vielleicht  verhindern,  daß 
es  künftig  einen  so  traurigen  Beruf  wie  die  Diplomatie  noch  geben 
könne  und  gar  einen  so  trostlosen  wie  die  Journalistik,    und    vor 


64 


allem,  daß  durch  die  Verknüpfung  von  Botschaft  und  Zeitung  so 
viel  Gelegenheit  in  die  Welt  komme,  Tränen  und  allerlei  sonst  zu  ver- 
gießen. Ein  Shakespearescher  König  hätte,  nachdem  der  Botschafts- 
rat endlich  geendet,  etwa  die  Worte  gesprochen: 

O  Haymerle,  zu  viel  der  Tränen  flössen, 
Seitdem  geschehen,  was  dir  Tränen  schuf. 
Und  eh  du  es  berichtet.   Spar  die  Tränen, 
Daß  künftig  sie  der  Menschheit  nicht  mehr  fließen. 
Du  Bote  blutig  tränenvoller  Tat, 
Ich  dank'  dir  nicht!  Zieh  wieder  ab  ins  Feld, 
Bring  bessre  Botschaft;  bring  auch  bessre  Zeitung! 
Du  Haymerle  des  Unheils,  mach  dich  fort. 
Ermüde  jiicht  das  Ohr  mit  dem  Bericht 
Der  Jovis  Donner  macht  zum  Schwatz  des  Pöbels. 
Was  malst  du  Pinsel  uns  den  grauen  Himmel 
Zum  Sonnentag,  das  Elend  zur  Idylle? 
Harmloser  Bote  du  des  Schaudervollen, 
Zu  lang'  hat  Trauer  unter  uns  geweilt: 
Du  bannst  sie  nimmermehr  durch  Langeweile! 
Und  merk,  vielfältig  greuliches  Erlebnis 
Wird  durch  die  Einfalt  kindischer  Erzählung 
Nicht  ausgetilgt.  Wer  hat  dich  hergesandt 
Zum  Spott  auf  uns  und  dieses  heil'ge  Land? 
Unhaymerle,  ich  geb'  dir  diesen  Rat: 
Die  Rede  spare,  spare  auch  die  Tat. 
Hättst  noch  nach  neun  du  nichts  von  ihr  erfahren, 
so  käme  all  dies  Unglück  nicht  zu  Jahren. 
O  war',  was  nachher,  heute  noch  zuvor! 
Botschaft  und  Zeitung  lähmten  Aug  und  Ohr. 
Nimm  meinen  Zorn,  es  sei  dir  nicht  verhehlt: 
Man  liest,  hört,  glaubt  euch,  weil  der  Glaube  fehlt! 


65 


Notizen 

Die  Konfiskation  im  letzten  Heft  war  nur  deshalb  auf- 
fallend, weil  sie  nicht  das  Geringste  mit  sonstigen  Maßnahmen 
dieser  Art  zu  schaffen  hatte  und  ein  Werk  der  Sprache  durch  ein 
mindestens  ebenso  wirksames  Werk  des  Schweigens  ersetzte. 
Sie  zeigte  auf  den  ersten  Blick  ihren  Sinn:  nicht  den  Inhalt  eines 
Gesagten  zu  verwerfen,  sondern  den  Inhalt  eines  Geschehenen, 
und  dieses  so  sehr  ungeschehen  zu  wünschen,  daß  sie,  weil  das 
nicht  mehr  möglich  ist,  wenigstens  jenes  ungesagt,  ja  unzitiert 
macht.  Ginge  es  mir  um  die  unmittelbare  Wirkung  der 
Worte:  die  Austilgung  der  Fakten  —  keinen  größeren  Erfolg 
wüßte  ich  mir  als  das  Verbot,  jetzt  das  auszusprechen,  was  aus 
der  konservativsten,  die  Würde  eben  jener  Macht  bejahenden 
Ansicht  gesprochen  war,  die  ein  Wort  noch  verhindern  kann, 
wenn  eine  Tat  schon  geschehen  ist.  Ich  könnte  Genugtuung 
darüber  empfinden,  daß  wenigstens  eine  der  uns  quälenden 
Erinnerungen  gelöscht  sein  soll.  Die  nachträgliche  Unterlassung 
spricht  eine  so  eindringliche  Sprache,  daß  beinahe  die  Hoffnung 
erlaubt  ist,  Dinge,  die  nicht  geschehen  sein  sollten,  würden  auch 
künftig  nicht  mehr  geschehen,  jede  leere  Seite  bedeute  eine 
Hemmung  im  Tun,  nicht  erst  im  Sagen,  und  Scham  sei  nur  ein 
roter  Umschlag  für  das  Weiß  der  Unschuld.  Daß  dies  der  Sinn 
der  Konfiskation  war,  wird  vollends  der  Augenschein  lehren,  wenn  der 
Tag  kommt,  der  dem  konfiszierten  Wort  wieder  ans  Licht  hilft. 
Denn  ich  strebe  keineswegs  danach,  in  die  Zeit  zu  wirken,  und 
bin  mit  dem  Erfolg,  daß  eine  Tat  für  ungeschehen  erklärt  sei, 
bei  weitem  nicht  zufrieden.  Mein  Stoff  ist  nicht  die  Wirklichkeit, 
sondern  die  Möglichkeit,  und  ihre  Gestaltung  läßt  sich  ans  der 
Sprache  nicht  mehr  zurückziehen.  Der  Macht,  die  eine  ihr  nicht 
genehme  Kritik  oder  Meldung  entfernt,  bin  ich  nicht  abhold  und 
ich  räume  ihr  eine  sittliche  Stufe  über  der  Presse  ein.  Die  Maß- 
regeln, die  von  jener  auf  diese  zielen  und  leider  nicht  ganz  und 
gar  treffen,  berühren  mein  Wort  nicht.  Daß  sie  dieses  in 
bestimmtem  Fall  für  den  Ausdruck  einer  ihr  nahen  Sachlichkeit 
hält,  der  Wunsch,  daß  Schweigen  ein  konfisziertes  Faktum  begleite, 
ist  ein  Erfolg,  mit  dem  ich  nicht  auskomme.  Man  wird  schon  sehen, 
daß  Taten  vergessen  werden  können,  wie  es  sich  gebührt,  aber 
von  Worten  noch  Kinder  und  Kindeskinder  erzählen  werden. 


66  — 


In  Nr.  426 — 430  (in  der  natürlich  nur  die  leeren  Seiten  1  —  7, 
aber  nicht  die  freien  Seitenenden  auf  Seite  65  und  87  eine  Konfiskation 
bedeutet  haben)  ist  auf  S.  15,  2.  Zeile  links  (im  Hannele-Zitat)  statt 
>Saume«:  Saum;  S.  28,  9.  Zeile  von  unten  statt  >erlärte«:  erklärte; 
S,  30,  9.  Zeile  statt  des  Strichpunkts  ein  Beistrich;  S.  33, 
5.  Zeile,  statt  »Sylvester  und« :  Sylvester,  und;  S.  44,  6.  Zeile  von 
unten  statt  »Berfiner«:  Berliner;  S.  50,  13.  Zeile  statt  »Aufschwung«: 
Aufstieg;  S.  61,  H.Zeile  von  unten  statt  »mir«:  mit;  S,  63.  4.  Zeile 
von  unten  statt  »Sie«:  sie;  S.  75,  3.  Zeile  statt  >das«:  daß;  S.  76, 
16.  Zeile  statt  >Kiegsgeschichte« :  Kriegsgeschichte  zu  lesen. 

In  Nr.  418 — 422  werde  nachträglich  korrigiert:  S.  10,  6.  Zeile, 
statt  »Vorfall«:  Verfall;  ebenda,  letzte  Zeile,  statt  »weil  Antinikotin 
gesiegt  hat  —  und  über  dieser  Farbenhölle« :  weil  Antinikotin  gesiegt 
hat,  während  die  Entente-Leute  verbluten,  weil  sie  nicht  beimjacobi 
kaufen  —  und  über  dieser  Farbenhölle. 


Bibliographisches.  ,Vilag'  (Budapest,  25.  Juni):  eine  Nach- 
dichtung »Öreg  tanäromhoz  (Henricus  Stephanus  Sedlmayer)  von 
Kosztolänyi  Dezsö.  —  »Gott,  Mensch  und  Menschheit«,  Aphorismen 
von  Alois  Essigmann,  Axel  Juncker  Verlag  Berlin  1916  (25.  Band  der 
Orplidbücher),  S.  16  und  26. 

*       .       * 

Vorlesung  im  Kleinen  Konzerthaussaal,  17.  Juni:  I.  Er  war  ein 
Mann,  nehmt  alles  nur  in  allem  /  Aphorismen  (»Nachts«)  /  Verdammt 
noch  mal  und  zugenäht  /  Aphorismen  (»Nachts«)  /  Das  Lysoform- 
Gesicht  /  Ich  glaube  .  .  .  (»Nachts«)  /  Ein  Geduldspiel  für  Groß  und 
Klein  /  Ein  2 1/2  jähriges  Kind  zeichnet  Kriegsanleihe  /  Das  war  eine 
köstliche  Zeit  /  Der  Lenz  ist  gekommen  /  Neues  vom  alten  Korngold  / 
Ein  sonderbares  Imperfektum  (März  1914)/Der  Atem  der  Weltgeschichte  / 
Strindberg  und  Koofmich  /  Wien-Berlin  (Vorbemerkung)  /Der  Traum  ein 
Wiener  Leben  /  Monolog  des  Nörglers.  II.  Sommerzeit  /  Fleisch 
und  Blut  /  Blutunterlaufungen  /  Gedichte:  Grabschrift;  Aus  jungen 
Tagen;  Vor  einem  Springbrunnen;  Abschied  und  Wiederkehr;  Fahrt  ins 
Fextal;  Die  Krankenschwestern;  Sonnenthal;  An  einen  alten  Lehrer  / 
Die  Schuldigkeit.  III.  Die  Fundverheimlichung  /  Der  ster- 
bende Mensch. 

Ein  Teil  des  Ertrages  wurde  Vereinen  für  Kinderschutz   und  für 

Tierschutz  zugewendet. 

* 

Vorbemerkung  zu  »Der  Traum  ein  Wiener  Leben«: 
Niemand,  der  mich  und  meine  Antithese  Wien-Berlin  zu  lesen 
wußte,  wird  auch  nur  einen  Augenblick  im  Zweifel  darüber  gewesen 
sein,  wie  ich  zwischen  dem  Heiligenkreuzerhof  und  der  Friedrich- 
straße als  Kulturzielen  mich  entscheide  und  daß  ich  diese  nur  vorzog, 
weil  sie  mir  alle  Mittel  bot,  schneller  und  leichter  zu  jenem  zu  gelangen. 
Alle  Klage   galt    nur  der  Qual  einer   minderwertigen  Individualität,    die 


67  — 


den  Zugang  sperrte;  alles  Lob  nur  der  entseelten  Dutzendware  von 
Menschheit,  die  die  Straße  glatt  hielt,  damit  man  zu  sich  gelangen 
könne.  Eben  diese  Wertung  und  keine  andere  entspricht  dem  Gefühls- 
zustand, der  der  Satire  »Der  Traum  ein  Wiener  Leben«  zugrundeliegt. 
Sie  ist  in  dem  folgenden  Aphorismus  zusammengefaßt  (folgte:  »Es  ist  in 
alten  Mären  .  .  .«  aus  >Nachts«). 

«  * 

* 

Ein  Brief,  der  zeigt,  wie  der  »einfache  Mann  an  der  Front«, 
den  das  begeisterte  Hinterland  beständig  im  Maule  führt,  über 
eben  dieses  denkt: 

(»Stuttgart,  10.  Juli,   militärischerseits   unter   Kriegsrecht   geöffnet, 
geprüft  und  freigegeben.«) 

Im  Schützengraben,  8—7 — 16. 
an  der  Westfront 
Sehr  geehrter  Herr  Kraus! 

Durch  Zufall  gelangte  ich  in  den  Besitz  Ihrer  satyrischen 
Monatsschrift  ,Die  Fackel'  und  bereitete  es  mir  und  noch  manch 
anderen  unter  uns  eine  ganz  besondere  Freude  zu  sehen,  wie  sich 
darin  mancher  unserer  innersten  Gedanken. gedruckt  findet  und  daß 
wenigstens  einer  den  Mut  hat,  sie  an  die  Öffentlichkeit  zu  bringen. 

Wenn  man,  wie  wir  seit  IV2  Jahren  im  Schützengraben 
liegt  und  dann  in  Zeitungen,  Zeitschriften,  Büchern  Berichte, 
Seelenschilderungen,  Haßgesänge  und  dergleichen  liest,  da  ist  es 
nur  schade,  daß  sich  sein  geistiger  Urheber  nicht  gerade  bei  uns 
befindet,  er  könnte  manches  an  seinen  geistreichen  Gedanken  kästen 
bekommen,  daß  ihm  die  Lust,  unser  Leben  zu  schildern  bald  vergehen 
würde.  Es  ist  ja  fast  unglaublich,  was  da  alles  beschrieben  wird  von 
Leuten,  die  die  Verhältnisse,  die  sie  schildern,  meist  nur  vorüber- 
gehend gesehen,  vielleicht  aber  auch  nur  »gehört«  haben,  ohne 
von  dem  Seelenleben  auch  nur  eine  Ahnung  zu  haben.  Und 
wie  dann  sogenannte  »Feldpostbriefe«  veröffentlicht  werden,  die 
voll  von  glühender  Begeisterung,  Haß  und  Mordlust  sind,  jetzt 
noch  nach  2  Jahren  Krieg,  und  schlimmer  steht  es  wenn  solche 
Gefühle  vollends  in  Reime  gebracht  werden.  Es  wird  ja  bei  uns 
in  vorderer  Linie  auch  gedichtet,  und  oft  sogar  wenn  es  nicht 
einmal  besonders  luhig  ist  oder  war,  aber  da  kommen  andere 
Stimmungsbilder  zu  Stande.  .  .  . 

Wir  haben  den  Schützengrabenkrieg  fast  von  Anfang  an 
mitgemacht  und  gefäh;  liehe  und  ungefährliche  Stellungen  in  Ent- 
fernungen von  70—600  m  vom  Feind  innegehabt;  Stellungen  in 
denen  man  keine  Sekunde  vor  irgend  einem  verderbenbringenden 
Explosivkörper  sicher  war;  aber  gehässige  Stimmungen  gegen  unsere 
gegenüber  liegenden  Kameraden  (in  unserem  Falle  die  Franzosen, 
z.  Zt.  Truppen,  die  von  Verdun  kommen)  existieren  nicht.  Es  gibt 
natürlich  immer  vereinzelte  Temperamente,  die  hitziger  sind  und  für 


—  68  - 


alles  gleich  Vergeltung  wollen ;  dazu  hätten  sie  dann  schließlich  immer 
noch  ein  gewisses  Recht,  aber  gewiß  nicht  solche,  die  dies  nichts  angeht 
und  die  von  zu  Hause  schimpfen,  womöglich  nur  weil  ihnen  eine  Be- 
quemlichkeit von  früher  abgeht.  Es  ist  gerade  genug,  wenn  es 
Tote,  Verstümmelte  und  Verwundete  im  Falle  des  »Muß«  und  der 
bitteren  Notwendigkeit  gibt  und  ist  es  schade  für  jeden,  ob 
Freund  oder  Feind,  der  sein  Leben  lassen  muß,  denn  zum  Ver- 
gnügen ist  gewiß  keiner  im  Krieg.  .  .  . 

Ihnen  zu  schreiben,  war  mir  ein  Bedürfnis  und  danke  ich 
Ihnen  im  Namen  vieler,  daß  Sie  so  offen  gegen  diese  Schäden  in 
der  Presse  auftreten,  da  wir  seither  nicht  geglaubt  haben,  daß 
dies  überhaupt  möglich  sei. 

Mit  Gruß  und  Handschlag 

Ein  Feldgrauer. 

P.  S.  In  unserer  Kompagnie  sind  alle  Jahresklassen  von 
23—40  vertreten. 

(Durch  Urlauber  befördert.) 


Solche    Kontraste    gibt's    nur    an    der    Front 

Nachdruck  verboten. 
Bei    der    Isonzoarmee. 

Von  Alice  Schale k. 

(Vom  Kriegspressequartier  genehmigt.) 

Trommelteuer  auf  dem  Monte  San  Michele. 

Nach  langem  Bitten  bekomme  ich  die 
Erlaubnis  mitzugehen.  Natürlich  auf  eigene  Gefahr  und 
Verantwortung  .  .  Ich  fühle,  wie  die  Freiwilligkeit  die  Last  erschwert. 
Daß  ich  nicht  mitgehen  muß,  verursacht  den  Innern  Hader  .  . 
Zur  angegebenen  Stunde,  um  5  Uhr  nachmittags,  melde  ich 
mich  beim  General  als  abmarschbereit..  Ich 
aber  bitte  darum,  mit  einem  Herrn  gehen  zu  dürfen, 
der  ohnedies  heute  in  Stellung  muß.  Durch  mich  soll 
keiner  gefährdet  werden,  von  dem  es  der  Dienst 
nicht  verlangt  .  .  Ein  blutjunger  Leutnant,  der  über  die 
sich  eröffnende  Abwechslung  seelen  vergn  üg  t 
ist,  biegt  mit  mir  am  Fuße  des  Berges  ab,  den  wir  umgehen, 
um  ihn  dann  von  der  Flanke  anzufassen  Vorher 
bekomme  ich  den  Befehl,  punkt  9  Uhr  wieder  an  der  Ausgangs- 
stelle zu  sein  .  .  Tiu,  tiu,  tiuuu  —  geht  es  uns  von  der 
Seite  an  .  .    Und   plaudernd    bummelten  wir  durch 


69 


die  Mondnacht  wiederum  heim  ..  Beim  Artillerie- 
beobachter der  Podgora  bin  ich  gesessen,  atemlos 
harrend,  was  sich  in  seinem  Abschnitte  begeben  würde  ,  . 
Eine  Bejahung  der  Instinkte,  eine  Betonung  der 
Persönlichkeit  hat  Platz  gegriffen,  wie  sie  nie 
vordem  hätte  gezeigt  werden  dürfen  .  .  Oberhalb 
der  Parkmauer  des  Schlosses  bin  ich  neulich  beschossen  worden  .  . 
Nur  die  Unsern  halten  es  aus  .  .  Wir  stehen  da,  ohne 
Regung.  Mag  derFeind  uns  sehen!..  Kein  Wort  haben  wir 
noch  gesprochen.  Jetzt  sehe  ich  ihn  an.  Dünn  ist  er  und 
blaß.  Nicht  viel  über  Zwanzig  .  .  Etwas  Sonderbares  geht 
in  mir  vor.  Ich  seheden  Leutnant  an;  Volksschullehrer 
ist  er  in  einem  ungarischen  Dorf  .  .  Und  wie  ein  blendendes  Licht 
steigt  in  mir  eine  Erkenntnis  auf  ..  Während  des 
Trommelfeuers  auf  dem  San  Michele  erleuchtet 
ein  neues  Verstehen  jede  Windung  meines 
Gehirns  .  .  Der  Leutnant  ahnt  nicht,  wie  seine  Haltung  auf 
jneineErkenntnis  wirkt..  Er  sieht  mich  an  und  lächelt. 
Er  fühlt,  daß  ich  mit  ihm  denke,  unsere  Nerven 
schwingen  während  des  Trommelfeuers  im  Takt 
.  .  Es  klingt  wie  eine  Solonummer  im  Orchester  .  .  Tk,  tk,  tk  — 
geht  es  los  .  .  Der  erste  Ton  ists  des  Morgens,  wenn  ich  um 
halb  vier  aufstehe,  um  in  die  Stellung  zu  gehen.. 
Tiu,  tiu,  tiu  —  tk,  tk,  tk  —  kings !  .  .  Aber  auch  nicht  der 
Gedanke  daran,  daß  man  ungehorsam  sein,  den  Befehl  miß- 
achten könnte,  kommt  einem  von  uns  beiden  in  den  Sinn.  D  i  e 
ungeheure  Triebkraft  eines  Befehls  verspüre 
ich  jetzt  am  eigenen  Leib..  Der  Leutnant  bleibt 
stehen  .  .  Eine  Nachtigall  lockt  und  die  Akazien  duften  betäubend  .  . 
jetzt  freilich  kommt  es  von  der  anderen  Seite;  nicht  mehr  so 
peitschend  und  eilig,  sondern  langsam  brüllend,  fast  hohn- 
voll singend.  Der  Leutnant  zerrt  mich  an  die  Wand. 
Wu  —  wu  —  wu  —  —  ..  Ein  Blindgänger  war's  .  .  Kein 
Gedanke  daran,  stehen  zu  bleiben  oder  Deckung  zu  suchen. 
Befehl:  Um  neun  Uhr  stellig  zu  sein.  Zum 
erstenmal  kann  ich  ganz  mit  der  Mannschaft 
fühlen.  Was  für  eine  Erleichterung  ist  ein  Befehl!.. 
Wunderbar  leicht  kommt  man  durchs  Feuer, 
wenn  der  Befehl  es  heischt..  Wohl  jenem 
Volk,  das  im  Befehl  leben  dürfte  .  .  vertrauend,  gläubig,  daß 
der  Befehl  auch  der  richtige  sei,  von  den  Besten  der  Besten 
ersonnen ;  so  wie  es  hier  der  vorwärtsdrängende  und  jeden  Rückfall 
abschneidende,  das  Eigentum  schützende  Befehl  vom 
Isonzo  ist.  Verwundete  holen  uns  ein  .  .  Einer  ist  taubstumm 
geworden.  Er  winkt  und  deutet,  was  ihm  geschah  .  .  Die  Autos  warten 
und  bald  sind  wir  im  Quartier.  DerTisch  ist  gedeckt  und  in  dampfenden 
Schüsseln    wird    das   Mahl    aufgetragen.     In   jedem    Auge    stehi 


—  70 


noch  der  Abglanz  des  Erlebnisses.  Alles  schweigt.  Aber 
wir  essen  ganz  tüchtig  und  schlafen  prächtig 
und  nächsten  Mittag  spielt  die  Militärmusik 
bei  der  Offiziersmesse  auf.  Wir  haben  ja  den  benötigten 
Graben.  Im  Freien  wird  gespeist,  die  Spargel  schmecken 
gar  köstlich  und  süße  Walzermelodien  wetteifern  mit  dem 
Kuckuck  und  mit  dem  Specht ..  In  Rom  erfährtSalandra 
wohl  nichts,  als  daß  er  heute  einen  Graben  verlor. 

Die  Honveds  auf  dem  Monte  San  Michele. 
Wenn  man  des  Morgens  um""vier  zur  F  r  o  n  t  hinaus 
fährt,  muß  man  unterwegs  jedesmal  ein  wenig  halten,  um 
die  Verwundetenzüge  vorbeizulassen  .  .  Die  Leichtverletzten  nehmen 
noch  Haltung  an  und  salutieren,  andere  heben  matt  den  Blick 
und  versuchen,  mit  der  Hand  nach  der  Mütze  zu  fahren,  viele 
aber  liegen  unbeweglich,  haben  den  Mantel  übers  Gesicht  gezogen 
und  sehen  und  hören  nichts  .  .  Das  Gefecht  ist  zu 
Ende.    Wir  können  also  gehen.... 

|Nach  San  Martino  del  Carso. 

Den  Monte  San  Michele  lasse  ich  heute 
rechts  liegen..  Auf  den  frontseitigen  Mauern  stehen  mit  Erde 
gefüllte  Papierkörbe  zum  Schutz  gegen  die  Gewehrkugeln  .  . 
Heute  führtmich  mein  WegzurNachbardivision, 
zu  den  ungarischen  Truppen  des  Heeres  ..  Leichengeruch 
weht  über  die  Straße  weg..  Kein  Korso  einer  Großstadt 
ist  so  menschenbelebt  wie  diese  granatenbestrichene  Straße  . . 
Hier  liegen  seit  acht  bis  zehn  Monaten  zwischen  den  Stellungen  ganz 
mumifizierte,  durchlöcherte  Leichen.  .  Die  Gräben  sind 
eng,  fast  nur  mannsbreit  und  die  Leute  schlafen  langausgestreckt  auf 
ihrem  Grunde.  Man  steigt  über  sie  weg,  aber  sie  wachen 
nicht  auf .  .  Sechs  Einschläge  zählen  wir  und  eine  rasche 
Aufnahme  gelingt  .  .  Ich  darf  durch  einen 
Panzerschild  hinausschauen  und  den  Trichter 
bestaunen..  Ich  stehe  inmitten  der  Arbeiterabteilung,  die 
eben  dabei  ist,  die  Zertrümmerungen  unseres  Grabens  auszubessern. 
Ihr  Kitt  hinterläßt  lehmartige  Flecke  auf  meiner  Jacke,  denn  um 
den  Trichter  zu  sehen,  muß  ich  mich  dicht  an  die  frisch- 
gestrichene Mauer  schmiegen.  Das  amüsiert  sie  und  sie 
lachen  .  .  und  freiwillig  schildern  sie  tausendundeine  Einzelheit 
dieser  Nacht. .  Ein  Mann  legt  sich  eben  eine  Schnurrbartbinde 
an..  Beim  Bataillonskommandanten  bekomme 
ich  ein  Glas  Eierschnaps.  Das  tut  wohl.  Die  Nerven 
vibrieren  doch  von  dem  ewigen  Krachen  ringsum. 
»Decken  Sie  frisches  Zeitungspapier  auf«,  ruft 
der  gastfreie  Offizier  ..  Sechs  Schüsse  —  sechs  Voll- 
treffer .  .  Und  während  ich  Platte  auf  Platte  mit  Bildern 
für   die  Zukunft   fülle,   eilt  die  Mannschaft  von  allen  Ecken 


—  71  — 


herbei.  Sie  möchten  mit  auf  das  Bild.  Beim  Brigadier 
wartet  ein  Frühstücl<  auf  uns;  dankbar  nehme 
ich 's  an..  Weil  mich  Cadorna  heute  wiederum 
verschonte,  weil  die  Granate  wiederum  gerade 
um  ein  Viertelstiindchen  zu  spät  kam,  gibts  eine 
Flasche  echten  Champagners  und  als  besonderen 
Lohn  eine  Dose  wirklichen  Kaviars.  Knusprige 
Kipfel  und  bunte  Blumen,  Radieschen  und  ein  Damastgedeck  — 
solche   Kontraste  gibt's   nur    an    der   Front.... 

Wien,  13.  Juli. 

...  An  solchen  Ausartungen  der  weiblichen  Natur  können 
wir  nicht  schweigend  vorübergehen,  weil  sie  manches  erklären,  was 
zu  den  Erlebnissen  dieses  Krieges  gehört,  und  weil  uns  in  solcher 
Denkweise  und  in  solchen  Handlungen  etwas  Fremdartiges  ent- 
gegentritt, zu  dessen  Verständnis  die  bisherigen  Erfahrungen  wenig 
zu  sagen  haben  ....  diese  abstoßende  Unweiblichkeit,  diese  auf 
der  Gasse  zur  Schau  getragene  Gemütlosigkeit  sind  Merkmale 
ernster  Verwilderung. 

.  .  .  Eine  Frau,  die  den  Beruf,  zu  dem  sie  geschaffen  ist, 
nicht  erfüllt,  muß  durch  Anlage  und  Erziehung  gütig  sein,  damit 
sich  nicht  Besonderheiten  herausbilden,  die  aus  den  Störungen  im 

körperlichen  Gleichgewichte  entstehen  mögen Wie  das  immer 

zu  sein  pflegt,  daß  die  Frau,  wenn  sie  aus  der  Eigenart  des 
Geschlechtes  heraustritt,  ihre  Zartheit  abstreift  und  sich  zum 
Mannweib  verunstaltet,  zu  einer  seltsamen  Grausamkeit  neigt,  hat 
sich  diese  Erfahrung  auch  in  England  wiederholt.  .  .  . 

(Ach  so!) 

Da  werden  Weiber  zu  Hyänen.  Die  Spinster  .  .  darf 
nicht  mit  ihrer  festländischen  Schwester  verglichen  werden. 
Diese  ist  gewöhnlich  ein  liebes,  gutmütiges  und  bescheidenes 
Wesen  ....  Die  Spinster  in  England  .  .  will  durch  Erfolg  und 
Macht  im  öffentlichen  Leben  entschädigt  sein. 

...  Sie  kann  die  Kriegsleidenschaften  schüren  und 
auch  fanatische  Frauen  mit  sich  fortreißen,  da  sie  den  Schmerz 
einer  Mutter  nicht  spürt.  Wenn  es  nur  wirklich  Leidenschaft 
und  Fanatismus  wäre.  Es  kann  auch  sein,  daß  die  Suffragetten 
sich  in  ein  nüchternes  Geschäft  mit  der  Kriegspartei  eingelassen 
haben  ....  und  vielleicht  wurden  sie  gemietet,  um  die  erlöschende 
Glut  wieder  anzufachen.  .  .  .  Dem  Himmel  sei  Dank,  daß  eine 
österreichische  Frau  .  .  im  Kriege  dort  ihren  Platz  gewählt 
hat,  wo  Kranke  zu  pflegen.  Müde  zu  erfrischen  und  Bedrückte  zu 
trösten  sind  .... 


—  12  — 


Von  einem  Mann  namens  Ernst  Posse 

Der  Sinn  der  waffenbrüderlichen  Vereinigung  wäre  unvoll- 
I<ommen,  wenn  nicht  zur  Hebung  des  Fremdenverkehrs  und  zum 
Austausch  der  Professoren  auch  ein  Wechselga^spiel  von  Redakteuren 
käme,  etwa  so,  daß  der  Chef  des  .Fremdenblatts'  seinen  infor- 
mierten Mist  in  der  .Kölnischen  Zeitung'  ablagert  und  der  Chef 
der,KöInischen'dafürseinen  Kohl  im, Fremdenblatt' pflanzt.  Pfingsten, 
ein  Fest,  das,  wie  Weihnachten  und  Ostern  ihre  Heiligkeit,  längst 
seine  Lieblichkeit  unter  Zeitungspapier  begraben  hat,  war  die 
Gelegenheit: 

»Zum  ersten  Male  nimmt  der  hervorragende  erste  Schriftleiter 
der  .Kölnischen  Zeitung',  jenes  ausgezeichneten  Blattes  von  wohl- 
verdientem Weltruf,  das  in  mehr  als  hundertjähriger  ununterbrochener 
Überlieferung  uneigennützig  im  Dienste  großer  und  gerechter 
Sachen  steht,  im  Weltkriege  das  Wort  in  der  österreichischen 
Presse:   wir  sind  ihm    dafür  zu    besonderem   Danke   verpflichtet. < 

Ähnlich  dürfte  sich  an  dem  gleichen  Tage  Köln  über  VC'ien 
geäußert  haben.  Der  geistige  Vertreter  jener  Stadt,  die,  wie  man 
gleich  sehen  wird,  ihren  Geruch  in  der  Welt  mit  weit  mehr  Recht 
dem  Kölnischen  Wasser  als  der  Kölnischen  Zeitung  anvertraut,  heißt 
Ernst  Posse,  ist  aber  nur  in  seinem  Zunamen  ernst  zu  nehmen.  Da 
das  Fremdenblatt  dem  Aufsatz  die  Bemerkung  nachschickt,  daß 
Nachdruck  mit  Quellenangabe  erlaubt  und  erwünscht  sei,  so  will  ich's 
unternehmen.  Man  wird  nicht  nur  daraus  ersehen,  was  von  einem 
Geisteszustand  zu  erhoffen  ist,  dessen  maßgebendster  publizistischer 
Vertreter  mit  Recht  den  Namen  Posse  führt,  sondern  auch  erfahren, 
wie  der  Vorwurf,  daß  ich  die  Presse  überschätze,  an  dem  eigenen 
Machtwahn  dieser  Standesgenossenschaft  zu  Schanden  wird. 
Unter  dem  Titel  »Wie  gründen  wir  Mitteleuropa?«  zeigt  ein 
Schwätzer  den  einzig  richtigen  Weg,  der  zu  solcher  Gründung 
führen  kann:  mit  der  Phrase  dort  zu  beginnen,  wo  man  mit  ihr 
geendet  hat;  denn  neues  Leben  blüht  aus  den  Ruinen.  Wäre  die 
Sorte  Menschheit,  die  es  probieren  will,  weil  ihr  dieser  Wechsel  vom 
Hörensagen  bekannt  ist,  nicht  völlig  ausgehöhlt  und  auch  nur 
eines  Gedankens  noch  fähig,  sie  würde  ihre  Wortführer  mit  nassen 
Fetzen  aus  den  Redaktionen  des  Weltbrands  jagen.  Der  geistige 
Austausch  der  Herren  Szeps  und  Posse  hat  aber  seine  Vorgeschichte: 


73  — 


Wir  im  Reiche  werden  uns  erinnern,  daß  Minnesangs 
Frühling  an  der  Donau  blühte,  daß  Walther  von.,  der  Vogelweide, 
der  Preiser  deutscher  Art  und  deutscher  Sitte,  in  Österreich  singen 
und  sagen  lernte,  daß  unser  nationales  Lied  von  der  Nibelungen 
Not  und  Tod  zuerst  am  Wiener  Hofe  vorgelesen  wurde;  und  in 
den  verbündeten  Ländern  wird  man  jetzt  noch  tiefer  empfinden 
als  vordem,  daß  die  Dichter  und  Denker  der  Wirkungszeit  des 
großen  Friedrich,  mag  ihre  Wiege  im  geschmeidigen  Süden,  in 
Franken,  in  Schwaben  oder  im  spröderen  preußischen  Norden 
gestanden  sein,  in  ihrer  Muttersprache  auch  für  sie  dichteten  und 
dachten,  daß  ihre  Werke  deutsches  Gemeingut  sind. 

Das  gemeinste  deutsche  Gut  dürfte  die  Anwendung  dieses 
Wortes  sein.  Die  Dichter  und  Denker  im  Reich,  die  Singer  und 
Sager  in  Österreich  —  unter  denen  aber  die  Singer  in  der 
Majorität  sind  — :  diese  alte  Wechselbeziehung  in  Ehren.  In 
Wahrheit  wird  kein  Mensch  im  >Reiche«  sich  je  an  einen  andern 
geistigen  Zusammenhang  mit  Österreich  erinnern,  als  daß  die 
Reinhardt  und  S.  Fischer  aus  Budapest  in  Berlin  reüssiert  haben. 
Aber  die  Theaterdirektoren  müssen  sich  aufs  Kino  verlegen  und 
die  Tage  der  Verleger  sind  gezählt.  Dafür  bricht  die  Zeit  der 
Minnesänger  wieder  an.  Hört,  hört: 

Uns  Journalisten  wird  in  einer  Zeit,  wo  Bücher 
kaum  noch  gelesen  werden,  eine  ähnliche  Aufgabe  zu- 
fallen wie  die,  welche  unsere  Vorläufer  in  den  Jahrhunderten  vor 
Erfindung  der  Druckkunst,  als  Bücher  noch  nicht  gelesen  wurden, 
zu  erfüllen  hatten,  indem  sie,  fahrende  Sänger  und  Vaganten, 
von  Hof  zu  Hof  zogen,  um  ihren  Zeitgenossen  in  einer  ihrem 
Verständnis  und  ihrem  Geschmack  angemessenen  Form  die 
Zeitung  zu  künden.  Allen  denen  unter  uns  aber,  die  gedanken- 
los in  den  Tag  hineinlebten,  und  den  nicht  minder  Zahl- 
reichen, die  sich  gegen  den  Einfluß  der  Presse  weg- 
werfend spreizten  und  sperrten,  hat  der  Krieg  offen- 
bart, welche  Macht  der  moderne  Zeitungsschreiber  in 
der  Hand  hält.  Man  denke  sich,  wenn  man  kann,  die 
Zeitung  weg  in  diesem  internationalen  Aufruhr  der 
Gemüter;  wäre  ohne  sie  der  Krieg  überhaupt  möglich 
geworden,  möglich  in  seinen  Entstehungsursachen, 
möglich  auch  in  seiner  Durchführung?  Ich  will  hier  nicht 
untersuchen,  ob  der  Offenbarer  Krieg,  der  den  Menschen  und  den 
Dingen  bis  auf  den  Grund  ihres  Wesens  schaut,  an  der  Presse 
mehr  Schatten- als  Lichtseiten  erkannt  hat.  Jedenfalls  wird 
für  die  Beurteilung  der  Zeitung  die  Beleuchtung,  in 
die  der  Krieg  sie  gerückt*  hat,  auf  lange  hinaus  maß- 
gebend sein. 


—  74 


Ach,  daß  wir's  hoffen  könnten !  Und  daß  wir's  endlich 
gehört  haben!  Endlich  auch  das  schwarz  auf  weiß  haben!  Ohne 
die  Presse  wäre  der  Krieg  überhaupt  nicht  möglich  gewesen! 
In  seinen  Entstehungsursachen  nicht  und  nicht  in  seiner  Durch- 
führung! Der  Wiener  Rädelsführer  des  Weltverbrechens  hat 
einmal  geschrieben: 

»Vor  einigen  Tagen  war  in  den  englischen  Blättern,  die  seit 
Jahren  die  Holzstöße  zum  Weltbrande  herbeigeschleppt  haben, 
zu  lesen  .  .  .  .< 

Wenn  so  etwas  der  englischen  Presse  nachgesagt  wird, 
dachte  ich,  dann  wird  der  Presse  als  solcher  ja  die  Fähigkeit  dazu 
nachgerühmt.  Dieser  indirekte  Beweis  für  mein  Recht,  die  Presse 
zu  überschätzen,  wird  nun  durch  das  direkte  Geständnis  über- 
trumpft. Und  allerorten  beginnt  jetzt  die  Presse,  sich  des  Einflusses 
rühmend,  den  sie  der  feindlichen  Presse  zum  Vorwurf  macht,  sich 
stolz  der  Urheberschaft  am  Weltkrieg  anzuklagen.  Tua  culpa, 
tua  culpa,  mea  maxima  culpa.  Das  Kinderspiel  der  Erwachsenen 
>Wer  hat  angefangen?«  wird  auch  in  den  Lagern  der  inter- 
nationalen Journalistik  und  hier  mit  dem  berufsgenossenschaftlichen 
Stolz,  der  die  fremde  Schuld  zum  eigenen  Ruhm  macht,  erörtert. 
Der  Journalismus  ist  die  einzige  Internationale,  die  durchgehalten 
hat,  denn  Journalisten  kämpfen  ja  nicht  gegeneinander,  sondern 
gegen  die  Völker  der  anderen.  Einig  bleiben  sie  in  dem  allge- 
meinen Siegerbewußtsein,  daß  es  doch  schön  sei,  in  einer  Welt 
zu  leben,  die  man  vermöge  jener  unumgänglichen  Verbindung 
von  Abhub  und  Druckerschwärze  und  jener  unwiderstehlichen 
Wirkung  von  Druckerschwärze  auf  Geistesschwäche  zerstören  kann. 
Da  und  dort  beeilen  sie  sich  nun,  ihre  Opfer  durch  den  Vorschlag  von 
Reformen  zu  entschädigen,  empfehlen  internationale  Überwachungs- 
bureaux,  Journalistenakademien  und  natürlich  den  Austausch  von 
Berufsgenossen,  und  einer  versteigt  sich  sogar  zu  der  Meinung,  daß  »die 
Hauptsache  doch  immer  das  Verantwortungsgefühl«  sei.  Wie  sich 
jene  aber  eine  Heilung  des  Weltkrebses  durch  kosmetische  Scherze 
vorstellen,  wie  sich  dieser  das  Fortbestehen  einer  Presse  bei  Züchtung 
einer  Eigenschaft  denkt,  die  den  Lebensnerv  der  Presse  zerstört,  beides 
ist  gleich  rätselhaft.  Journalistenakademien  —  das  bedeutet  die 
Qraduierung  der  Schande;  es  ist  das  Projekt  des  Größenwahns,  der 
mit   einer   Gewerbeschule   des  Verbrechens   nicht   mehr  auskäme. 


75 


Austausch  von  Journalisten  -  das  wäre  der  Entschluß,  im  eigenen 
Staat  das  falsche  Geld  des  andern  anzuerkennen.  Internationale 
Überwachungsbureaux:  die  Überwacher  der  Presse  hätten  genug 
zu  tun,  sie  auf  Reklamenotizen  für  ihre  Tätigkeit  zu  durchsuchen. 
Was  soll  aber  vollends  die  Einführung  eines  V'erantwortungsgefühls, 
da  doch  die  Presse  als  ganze  eben  den  mechanischen  Ersatz  eines 
solchen  bedeutet?  Schon  meldet  sich  ein  Gegner  derartiger  Reformen, 
der  offen  erklärt,  daß  es  nicht  angehen  würde,  beim  Verantwortungs- 
gefühl stehen  zu  bleiben,  >ohne  dessen  Grenzen  nach  oben  und 
unten  zu  untersuchen«.  Das  Verantwortungsgefühl  muß  seine  Grenzen 
haben.  »Die  IVlitschuld  der  Presse  am  Kriege  ist  nicht  zu  be- 
streiten—aber kann  man  ihn  aus  dieser  Tatsache  allein  erklären?« 
Was  der  Presse  —  natürlich  nur  der  feindlichen  —  an  Verant- 
wortungsgefühl gefehlt  habe,  habe  ganz  Europa  gefehlt.  Immerhin 
wird  die  Wirkung  der  Druckerschwärze,  deren  Verschleißer  sich 
meinen  Angriffen  durch  den  Hinweis  auf  ihre  Vergänglichkeit  zu 
entziehen  pflegten,  jetzt  unter  die  Kriegsursachen  eingereiht,  dem 
Feinde  zur  Schmach,  dem  Berufe  zum  Stolz.  Beides  aber,  die 
Abwälzung  der  Schuld  und  die  Reklamierung  der  Macht,  ist  wieder 
ein  Teil  von  jener  Kraft,  die  noch  mehr  Verderben  durch  die  Phrase 
des  Guten  als  durch  den  Effekt  des  Bösen  hervorgebracht  hat. 
Weil  aber  Geberdenspäher  und  Geschichtenträger,  die  es  schwarz 
auf  weiß  bringen,  des  Übels  mehr  auf  dieser  Welt  getan  haben, 
als  Blausäure  und  Bomben  in  Fliegers  Hand  nicht  konnten,  so 
gibt  es  gegen  die  Presse  keine  andere  Reform  als  die  Abschaffung. 
Dieser  Erkenntnis  war  ich  der  Rufer  in  der  Wüste:  jetzt,  in  einer 
Wüste  gewordenen  Welt  ruft  sie  allenthalben  das  Echo.  >  Hätte  man«  — 
so  bricht  eine  deutsche  Frau  jetzt  aus  -  »nur  zehntausend  hetzerische 
Zeitungsschreiber  aus  allen  Ländern  zusammengetrieben  .  ,  .  hätte 
man  sie  nur  rechtzeitig  zusammengetrieben,  die  heute  weiterkläffen 
von  allen  Ufern  des  Roten  Meeres,  das  gespeist  wird  von  dem 
Blute  Millionen  Unschuldiger  ...  ja,  hätte  man  zehntausend 
hetzerische  Journalisten  aus  allen  Ländern  zusammengetrieben  und 
gehenkt,  o  wie  viel  wertvolle,  hoffnungsvolle  Menschen  wären  in 
all  diesen  Ländern  heute  am  Leben!  Statt  dessen  seid  ihr  es,  die 
ihr  noch  lebt,  die  ihr  einer  bösen  Schwäre  gleich  Europa  von 
einem  Ende  zum  andern  überzieht,  ihr,  die  Hetzer,  die  Mit- 
schuldigen an  diesem  Kriege,  deren  Knochen  wie  die  der  Schacher 


—  76  — 


hätten  zerbrochen  werden  sollen,  bevor  wir  zuließen,  was  jetzt 
geschieht!«  Und  ein  biederes  Provinzblatt,  das  zugibt,  die  Presse 
habe  sich  >in  ihrer  überwältigenden  Weltmacht  noch  nie  so  gezeigt 
wie  in  diesem  Kriege«  und  es  sei  >sicher,  daß  die  Freunde  des 
Friedens  mit  einem  schlauen  und  heimtückischen  Feind  zu  tun 
haben,  der  mit  Holzpapier  und  Druckerschwärze  arbeitet«,  bedauert 
doch,  daß  es  »nicht  an  Leuten  fehlt,  wie  z.  B.  die  erwähnte  Für- 
sprecherin einer  radikalen  Maßregel,  die  aus  Ärger,  daß  sich  das 
gedruckte  Wort  oft  stärker  erweist  als  unumstößliche  Tatsachen, 
das  Kind  mit  dem  Bade  ausschütten«.  Der  Schwachsinn  ent- 
schuldigt die  Presse  mit  ihrem  Verbrechen  und  hält  es  nicht  für 
richtig,  das  Kind  mit  eben  jenem  Blutbad,  das  es  angerichtet  hat, 
auszuschütten.  Aber  die  Harmlosigkeit,  die  Anklage  und  Verteidi- 
gung in  einem  besorgt,  schreibt  mit  derselben  roten  Tinte  wie 
der  Mord.  Und  die  Hetzarbeit  der  Weltpresse  hat  nicht  ärgeren 
Schaden  gestiftet  als  die  allgemeine  Möglichkeit,  durch  eine  Suggestion 
des  Tonfalls  verschwommener  Meinung  geistige  Werte  zu  ersetzen. 
Durch  falsche  Tatsachen  die  Völker  zu  verhetzen,  würde  nicht 
gelingen,  wenn  es  nicht  schon  längst  gelungen  wäre,  durch  falschen 
Geist  das  Volk  zu  verderben.  Was  noch  knapp  vor  einem  Krieg  geschieht, 
lyenn  die  Menschheit  einmal  für  ihn  reif  geworden  ist,  wäre  das 
Geringste,  und  die  schlimmsten  Greuel  sind  durch  Jahrzehnte  wahr 
gewesen,  ehe  andere  erlogen  wurden.  Das  Resultat  des  leiblichen 
Mords  gibt  freilich  den  Weg  an,  wie  dem  Übel  künftig  zu  steuern 
wäre.  Es  empfiehlt  die  einfache  Schätzung:  was  vernünftiger  ist, 
hunderttausend  intellektuell  mittelwüchsige,  ethisch  wertlose  Indivi- 
duen in  soziale  Berufe  zu  zwingen,  auf  die  Gefahr  hin,  daß  die  Neu- 
gierde der  Massen  und  die  Eitelkeit  der  Führenden  um  die  Nähr- 
väter gebracht  würden,  oder  zehn  Millionen  Menschen  zu  opfern. 
Deren  Erhaltung  ist,  wie  sich  gezeigt  hat,  ohne  die  Beseitigung  der 
Presse  nicht  möglich.  Wird  die  Menschheit  eine  andere  Entschuldigung 
als  die  des  Irrsinns  haben,  wenn  sie  in  einem  lichten  Augenblick 
gewahr  wird,  daß  sie  die  Fülle  ihrer  Besten  geopfert  hat,  und  schlimmer : 
daß  ihr  die  Gruppe  ihrer  Schlechtesten,  die  es  bewirkt  hat,  übrig  blieb? 
Daß  diese  überleben,  weil  sie  an  einem  Krieg  nicht  teilnehmen 
mußten,  den  sie  gemacht  und  dem  sie  den  Frieden  ferngehalten 
haben?  Schreibt  sich  die  Wehrfähigkeit  aller  noch  immer  nicht 
von    der    Schreibfähigkeit   der    vielen     her?    Hat     es    die    Welt 


—  77 


noch  immer  nicht  schwarz  auf  rot,  und  ist  ihr,  was  es  an  Papier 
auf  Erden  gibt,  noch  immer  nicht  das  Leichentuch  für  Menschheit 
und  Wälder?  Was  hülfe  der  Frieden  den  Nationen,  wenn  seine 
erste  Bedingung  nicht  der  Krieg  aller  gegen  die  Presse  wäre? 
Die  Verpflichtung,  jenen,  die  uns  künftig  noch  »die  Zeitang 
künden«  wollen,  sie  rechtzeitig  zu  kündigen?  Mehr  Beweis, 
um  ihnen  den  Prozeß  zu  machen,  braucht  man  nicht  als 
ihr  freches  Geständnis,  »der  Krieg  habe  offenbart,  welche  Macht 
der  moderne  Zeitungsschreiber  in  seiner  Hand  hält«,  als  die 
hämische  Aufforderung,  »sich,  wenn  man  kann,  die  Zeitung 
in  diesem  internationalen  Aufruhr  der  Gemüter  wegzudenken«, 
als  die  Frage  des  Siegers  über  allen  Staaten,  »ob  der  Krieg  ohne 
sie  überhaupt  möglich  gewesen  wäre«.  Ich  hab's  ja  immer  mit 
Ernst  behauptet.  Aber  daß  es  jetzt  auch  der  Posse  zugibt,  ist 
erschütternd.  Ernst  Possart  —  das  war  ehedem  die  Bezeichnung 
für  den  durchschnittlichen  deutschen  Tragödienspieler.  Der  Welt- 
krieg wird  einst  Ernst  Posse  geheißen  haben!  Man  denke  sich, 
wenn  man  kann,  die  Zeitung  weg  aus  dem  Weltkrieg.  Nein,  ich 
kann  es  nicht!  Ich  konnte  es  nicht,  ehe  er  ausbrach!  Ultra  Posse 
nemo  tenetur.  Aber  wenn  die  Beleuchtung,  in  die  der  Krieg  die 
Presse  dank  dem  Krieg  und  der  Fackel  gerückt  hat,  noch  durch 
etliche  Laternenpfähle  ergänzt  werden  könnte,  so  würde  die 
Bevölkerung  aller  ehedem  befreundeten  und  verfeindeten  Staaten 
einen  internationalen  Austausch  von  Chefredakteuren  als  einen 
Glanzpunkt  des  Friedensfestes  ansehen.  Die  Form  dazu  würde  sich, 
wenn  sie  ohnedies  wieder  als  fahrende  Sänger  von  Hof  zu  Hof 
ziehen,  um  die  Zeitung  zu  künden,  leicht  finden  lassen,  man 
würde  sie,  da  infolge  der  rapiden  Hebung  des  Fremdenverkehrs 
kein  Obdach  für  sie  vorhanden  wäre,  einladen,  unter  freiem 
Himmel  zu  übernachten,  und  eine  Menschheit,  deren  Machthaber 
es  versäumt  hatten,  Zeitungsartikel  niedriger  zu  hängen,  wäre 
es  zufrieden,  dafür  die  Verfasser  höher  hängen  zu  sehen. 


78  - 


Glossen 


Eine  Bombe 

»Bekanntlich  war  gleich  zu  Beginn  des  Krieges,  am  2.  August  1914, 
die  (seitdem  oft  wiederholte  und  meist  geglaubte)  Nachricht  in  die 
deutschen  Zeitungen  übergegangen,  daß  ,auf  der  Strecke  Nürnberg — 
Kissingen  sowie  auf  der  Strecke  Nürnberg — Ansbach  Flieger 
gesehen  wurden,  die  Bomben  auf  die  Bahnstrecke  warfen'. 
Diese  Nachricht  ist  neuerdings  von  J.  Schwalbe,  dem  Herausgeber  der 
.Deutschen  medizinischen  Wochenschrift',  in  einem  Artikel  am  16.  März 
1916  in  der  Form  wiederholt  worden:  .Nachdem  noch  vor  der  Kriegs- 
erklärung ein  französischer  Flieger  auf  Nürnberg  Bomben  abgeworfen 

hatte In  der  Nummer    vom  18.  Mai  1916  sieht  sich  jetzt  Schwalbe 

genötigt,  zu  berichtigen,  daß  es  sich  bei  jener  Nachricht  nicht  um 
Nürnberg,  sondern  um  die  obenerwähnten  Bahnstrecken 
gehandelt,  daß  aber  auch  diese  Nachricht  unzutreffend 
gewesen.  Er  schreibt:  »Aus  einem  weiteren  Schriftwechsel  von  Geheimrat 
Riedel  und  dem  Magistrat  von  Nürnberg  hat  sich  ergeben,  daß  diese 
Behauptung,  die  bisher  niemals  berichtigt,  vielmehr 
allgemein  bei  uns  als  ein  Beweis  für  den  Bruch 
des  Völkerrechts  angenommen  worden  ist,  tatsäch- 
lich nicht  zutrifft.  Der  Nürnberger  Magistrat  schreibt  nämlich  am 
3.  April  d.  J. :  ,Dem  stellvertretenden  Generalkommando  des  III.  bayrischen 
Armeekorps  hier  ist  nichts  davon  bekannt,  daß  auf  die  Bahnstrecke 
Nürnberg— Kissingen  und  Nürnberg — Ansbach  vor  und  nach  Kriegs- 
ausbruch je  Bomben  von  feindlichen  Fliegern  geworfen  worden  sind. 
Alle  diese  Behauptungen  und  Zeitungsnachrichten 
haben    sich    als    falsch    herausgestellt.'« 

Diese  Bombe  traf  eines  der  stärksten  Fundamente  des 
Hasses  und  der  Begeisterung.  Und  die  Wahrheit  unterscheidet  sich 
von  anderen  schweren  Gegenständen,  die  aus  dem  blauen  Himmel  ge- 
worfen werden,  dadurch,  daß  sie  nicht  daneben  haut,  daß  das 
Wurfziel  immer  getroffen  wird  und  daß  statt  eines  Bahnhofs  kein 
Tiepolo  zu  Schaden  kommt.  Die  interessante  Frage,  wer  angefangen 
hat,  ist  damit  zur  guten  Hälfte  abgetan.  Wenn  noch  die  andere 
Halbscheit  des  Seelenaufschwungs  durch  tatsächliche  Berichtigungen 
ramponiert  wird,  mag  sich  die  Welt  die  Augen  reiben  und 
sagen:  Ja,  woran  soll  man  denn  noch  glauben,  wenn  man  nicht 
mehr  an  die  Berechtigung  des  Weltkriegs  glauben  kann?  Und 
darum  Räuber  und  —  Wächter! 


79 


Bei  den  Kismet-Knöppen 

Die  .Süddeutschen  Monatshefte',  die  aber  auch  Deutschtum 
genug  für  die  anderen  deutschen  Himmelsrichtungen  haben,  werden 
nicht  müde,  in  Ausgaben,  die  den  feindlichen  Kulturen  ge- 
widmet sind,  die  Überlegenheit  der  deutschen  zu  beweisen.  Ali 
das  aber  ist  Selbstbetrug  und  Vertreib  der  großen  Zeit  neben  dem 
wert-  und  gewichtvollen  Inhalt  eines  einzigen  Aufsatzes,  der  im 
Balkan-Heft  (September  1915)  erschienen  ist  und  der  alle  Ein- 
wände, die  die  Welt  gegen  die  allerchristlichste  Innerei  von 
Europa  vorbringen  könnte,  weit  in  den  Schatten  stellt.  Diesem 
Aufsatz  einer  wohlberatenen  und  wohlgeratenen  deutschen  Frau, 
> Türkische  Sitten«  von  Else  Marquardsen,  geb.  von  Kamphö vener, 
seien  hier  einige  Stellen  entnommen,  damit  jene  Welt,  die  uns 
nur  von  der  »Russenfährte«  und  deren  blutigen  Freuden  kennt, 
auch  das  Gegenstück  unserer  kulturellen  Ambition  erfahre,  vor 
allem  aber  auch,  daß  es  einen  halbverschollenen  deutschen  Typus 
gibt,  der  Mut  zum  Schamgefühl  vor  Gott  und  der  bewohnten 
Erde  hat.  Für  diesen  einen  Beitrag  sei  den  , Süddeutschen  Monats- 
heften' ihre  sonstige  Existenz  im  Kriege  vergeben. 

...  Ich  habe  vom  Anfang  der  achtziger  Jahre  bis  zum  Sturze 
des  Sultan  Abdul  Hamid  mein  Leben  in  der  türkischen  Hauptstadt  ver- 
bracht. Bei  Besuchen  in  der  Heimat  waren  die  stereotypen  Fragen,  die 
an  einen  gerichtet  werden,  stets  ungefähr  folgende: 

Waren  Sie  schon  einmal  in  einem  Harem? 

Wieviel  Frauen  hat  der  Sultan? 

Können  Sie  auch  türkisch? 

Hatte  man  auf  diese  Fragen,  mit  im  Laufe  der  Jahre  ebenfalls 
stereotyp  gewordenen  Antworten  erwidert,  so  war  die  Neugier  befriedigt. 
Ja,  mehr  als  das;  das  wohh'ge  Gruseln,  das  Männlein  wie  Weiblein 
beschlich  beim  Aussprechen  des  Wortes  »Harem«,  erweckte  im  Frager 
die  Vorstellung,  er  habe  sich  ganz  unerhört  weit  vorgewagt  auf 
schlüpfriger  Bahn. 

Keiner,  der  nicht  selbst  unter  den  Osmanen  gelebt  hat,  kann 
sich  vorstellen,  wie  unbeschreiblich  untergeordnet  diese  Art  der  Be- 
wertung dortiger  Lebensverhältnisse  demjenigen  erscheint,  der  eben  den 
Orient  kennt.  Dieses  gewisse  Spielen  mit  einem  pikanten  Begriff,  von 
dem  man  eigentlich  nichts  zu  wissen  vorgeben  sollte,  wirkt,  wenn 
man  dagegen  im  Geiste  die  Anschauung  des  Orientalen  hält, 
abstoßend. 

.  .  .  Wie  ich  schon  vorhin  andeutete,  bleibt  für  den  Osmanen 
die  Mutter  immer  die  höchste  Instanz,  und  auch  der  ältere  Mann  in 
hoher  Stellung  bringt  ihr  die  hingehendste  Ehrerbietung   dar.    Ich  habe 


80  — 


öfters  beobachten  können,  wie  der  Sultan  Abdul  Hamid  seiner  Mutter 
gegenüber  sich  verhielt;  dieser  Herrscher,  der  im  Schatten  seiner 
absoluten  Macht  wie  unter  einem  Fluche  lebte,  wurde  vor  seiner 
Mutter  ein  bescheidener  Knabe,  der  ehrerbietig  der  höchsten  Autorität 
lauscht.  Wie  die  Mutter  ist,  spielt  hiebei  Iceine  Rolle.  Es  wird  einer 
Idee  gehuldigt,  nicht  einem  Menschen. 

.  .  .  All  diese  Vorgänge,  ebenso  wie  Heiraten  der  Töchter,  bevor- 
stehende Geburten  und  ähnliches,  werden  in  größter  Natürlichkeit  und 
Öffentlichkeit  von  allen  Verwandten,  männlichen  wie  weiblichen,  gemein- 
sam besprochen.  Es  gibt  da  kein  Vertuschen  und  Verheimlichen,  eine 
fast  nüchterne  Selbstverständlichkeit  umgibt  alle  natürlichen  Vorkomm- 
nisse, die  von  vorneherein  jedes  lüsterne  Tasten  der  Gedanken  aus- 
schließt. Gerade  das,  was  man  hier  mit  dem  Begriff  >Harem«  ver- 
knüpft, jenes  Schwüle  und  verderblich  Berauschende,  gerade  das  fehlt. 
Faul  und  bequem  geht  es  dort  wohl  zu,  aber  gesund,  harmlos  kindlich 
und  geradezu  verblüffend  ehrlich  I  Und  es  entwickelt  sich  beim  Manne 
aus  dieser  Atmosphäre  einfacher  Natürlichkeit  dem  Natürlichen 
gegenüber  heraus  eine  Achtung  vor  der  Frau,  die  in  ihrer  Art  sehr 
merkwürdig  ist. 

Es  ist  eine  Art  Achtung,  wie  sie  etwa  ein  Vater  haben  mag  vor 
der  Unberührtheit  seiner  Tochter,  zärtlich  und  ein  wenig  mitleidig,  sie 
ihrer  Reinheit  halber  eifersüchtig  bewachend.  Er  mag  sie  als  geistig 
nicht  auf  seiner  Höhe  stehend  betrachten,  sie  hat  im  Rate  des  Lebens 
keine  gewichtige  Stimme,  und  doch  steht  sie  ihm  hoch,  um  ihrer  kind- 
lichen Reinheit  willen. 

.  .  .  Wenn  auch  viel  zu  sagen  ist  gegen  das  Frauen-  und  Familien- 
leben des  Osmanen  vom  fortschrittlichen  Standpunkte  aus,  wenn  auch  die 
Frauenbewegung  sttts  die  armen  Opfer  »dort  hinten  weit  in  der  Türkei« 
mit  ihrem  besonderen  Mitleid  bedachte:  dieses  ist  sicher,  aus  der  reinen 
und  seelisch  gesunden  Abgeschlossenheit  dieses  Lebens  heraus  ist  — 
im  Durchschnitt  —  für  das  heranwachsende  Geschlecht  mehr  Segen 
erwachsen,  als  bei  den  Kindern  von  Frauen  der  Fall  sein 
mag,  die  geistig  strebend  in  der  Öffentlichkeit  stehen. 

.  .  .  Aus  der  dämmerigen  Haremsluft,  aus  der  verträumten  Harems- 
stille heraus  erwachsen  jene  still  zurückhaltenden  Männer,  die  keinen  Blick  zu 
einer  Frau  heben,  auf  daß  sie  nicht  einen  Mangel  an  Ehrerbietung 
darin  sähe.  Jene  Männer,  die  gleich  ritterlich,  gleich  unpersönlich, 
gleich  vornehm  sind,  ob  sie  nun  an  den  Stufen  des  Thrones  aufwachsen  oder 
in  der  armen  Holzhütte  Stambuls.  —  —  — 

...  In  all  den  langen  Jahren,  da  ich  mit  Mohammedanern  nahe 
und  vertraut  zusammenkam,  habe  ich  nie  einen  Fall  von  Intoleranz 
erlebt.  Ich  habe  stets  gefunden,  daß  die  Intoleranten  und 
oft  verletzend  Mißachtenden  die  Christen  waren.  Der 
Mohammedaner  bemitleidet  den  Christen  viel  zu  sehr,  um 
eifernd  gegen  ihn  vorzugehen,  und  daß  er  das  tut,  ist  des 
Christen  eigene  Schuld.  Wo  immer  sich  Konflikte  ergeben  haben, 
bei  denen  nur  entfernt  ein  Glaubensmotiv  angenommen  werden  konnte. 


81 


der  Christ  hat  es  hervorgezerrt.  Immer  findet  es  der  Christ  bei 
Differenzen  nötig,  zu  argumentieren  oder  zu  beschimpfen;  der  Moham- 
medaner antwortet  ruhig,  nachdem  er  ihn  still  angehört  hat,  hie  und 
da  sich  vor  seiner  Erregung  etwas  zurücicbeugend :  »Was  willst  du, 
ich  greife  deinen  Glauben  nicht  an,  rühre  du  nicht  an  meinen;  ein 
Jeder  glaube,  was  ihm  recht  dünkt.«  Er  wird  stets  nur  ähnliches  erwidern 
und  kann  er  sich  gar  nicht  mehr  helfen,  sich  still  entfernen, 
neidlos  dem  andern  den  Schauplatz  überlassend. 

Oftmals  trat  ich  auf  Wanderungen  durch  Stambul  in  diese  oder 
jene  Moschee  ein,  ihre  wundervolle,  weltabgeschiedene  Stille  genießend, 
dem  Spiel  des  Sonnenlichtes  folgend,  wie  es  sich  unter  der  Kuppel  sammelt. 
Und  leider  oft  ist  es  mir  begegnet,  Touristen  beobachten  zu 
können,  die  zur  Besichtigung  eintraten.  Mir  sind  besonders  zwei 
junge  Herren  in  Erinnerung  geblieben,  Landsleute  und  den  besten 
Kreisen  angehörig,  deren  Verhalten  als  typisch  anzusehen 
ist.  Ich  hörte  jenseits  des  Moscheevorhanges  schon  ihre 
Stimmen,  laut  und  lachend,  wie  sie  sich  anfangs  weigerten, 
die  großen  Strohschlappen  anzuziehen,  ohne  die  man  nicht 
eintreten  kann.  —  Der  Osmane  trägt  immer  feste  Lederüberschuhe 
über  weichen,  fast  sohlenlosen  Stiefeln ;  diese  Überschuhe  läßt  er  draußen, 
bevor  er  einen  Raum  im  Inneren  eines  Hauses  betritt.  Der  Arbeiter  zieht 
seine  groben  Schuhe  aus  und  tritt  in  Strümpfen  ein;  dieser  Gewohnheit 
ist  auch  die  gute  Konservierung  alter  orientalischer  Teppiche  zu  ver- 
danken. —  Also  die  beiden  jungen  Herren  traten  sehr  laut  in  die 
stille  Moschee  ein;  neben  ihnen,  mit  gesenktem  Kopf,  die  Hände 
in  seinen  weiten  Ärmeln  versteckt,  lautlos  gleitend,  der  führende  Laien- 
priester, der  Imam.  Sie  fanden  alles  »gottvoll«,  »famose  Chose«, 
^verdrehter  Kram«,  und  sie  behielten  ihre  Hüte  auf  dem 
Kopf;  die  Hände  hatten  sie  in  die  Taschen  gesteckt  und 
führten  eine  Art  Schi  itlerparlie  auf  ihren  Strohschlappen 
auf,  die  sie  natürlich  beständig  verloren.  Es  waren  gewiß  im 
Grunde  harmlose  Jungen s,  überströmend  von  Vergnügen  am 
Leben;  aber  sie  fühlten  sich  dem  allen  weit  überlegen,  irgend 
etwas  Achtungswertes  bedeutete  ihnen  der  »verdrehte  Kram«  in  keiner 
Weise,  sie  hätten  sich  bei  der  Besichtigung  eines  Hottentotten-Kraals 
genau  so  benommen. 

Der  Imam  versuchte  einige  Male,  sie  auf  ihre  Kopfbedeckungen 
aufmerksam  zu  machen;  sie  verstanden  wohl  nicht,  was  der  >ulkige 
Kunde«  ihnen  pantomimisch  klarmachen  wollte.  Schließlich  glitt  er 
leise  zu  mir  heran  und  bat:  >Sage  ihnen,  sie  seien  im  Hause  des 
Gebets.«  Ich  tat  nach  seinem  Wunsch  und  es  entwickelte  sich  ungefähr 
folgender  Dialog:  »Der  Imam  bittet  mich,  Ihnen  zu  sagen,  Sie  seien 
im  Hause  des  Gebets,  wollen  Sie  darum  nicht  Ihre  Hüte  abnehmen?« 

»Aber  gewiß  doch,  wen n's  ihm  Spaß  machtl«  — Lachen.  — 
»Ich    würde  Ihnen  raten,    etwas  leiser  zu  sein;    in    einer  Kirche 
würden  Sie  doch  auch  nicht  so  laut  lachen?« 


-  82  — 


>Ja,  aber  was  hat  denn  dieses  hier  mit  einer  Kirche 
zu  tun?« 

>Es  ist  eben  auch   ein  Gotteshaus.« 

»Ach  wo,  diese  verrückte  Bude  hier!« 

»So  verletzen  Sie  wenigstens  nicht  die  Gefühle  derjenigen,  denen 
es  ihr  Heiligstes  ist.« 

>Ach,  den  Kismet-Knöppen  ist  ja  doch  alles  wurscht; 
na  schön,  Morgenl« 

Sie  meinten  es  nicht  böse,  doch  gedankenlose  Nichtachtung 
ist  fast  noch  verletzender,  wenn  sie  uns  Heiligem  gilt,  als  bewußt  böse 
Absicht,  welche  etwas  des  Angriffs  Wertes  anerkennt.  Der  Imam  sagte 
mir,  als  ich  beim  Hinausgehen  ihn  wieder  traf:  »Gräme  dich  nicht  um  jener 
Kinder  Torheit;  so  sicher,  wie  Gott  über  sie  lächelt,  lasse  es  auch 
uns  tun.«  Dieses  Mannes  Art  ist  keine  Ausnahme;  so  denken  fast  alle, 
so  gütig  und  groß. 

Aber  daß  die  Christeh  ihnen  Anlaß  geben,  so  sprechen 
zu  müssen,  das  ist  der  Jammer;  daß  wir  ihnen  leid  tun,  weil 
wir  so  gar  nicht  das  sind,  was  einer  wird,  »der  im  Schatten  des 
Höchsten  wandelt«. 

Wieviel  lassen  wir  hier  an  uns  vorübergehen  I 

Sie  verstehen  unsren  Glauben  nicht;  gewiß.  Aber  statt,  daß  das 
Nichtverstehen  Schärfe  und  eifernde  Feindlichkeit  weckt,  Bekehrungswut 
und  Mißachtung,  zeitigt  es  ein  großes  Mitleid  für  die  Armen,  die  nicht 
»im  Schatten  des  Höchsten  wandeln«.  Und  jedes  Mitleid  enthält  immer 
einige  Verachtung.  Zwar  eine  Verachtung,  die  nicht  alles  einbegreift;  — 
denkt  doch  noch  heute  der  Osmane  wie  das  arabische  Sprichwort: 
»Gott  gab  dem  Europäer  die  Wissenschaft,  dem  Orientalen 
die  Majestät.«  Diese  Majestät  ist  aber  nicht  nur  Äußerliches  —  sie 
ruht  festgefügt  im  philosophischen  Empfinden  eines  naiv  und  tief 
religiösen  Fühlens. 

Es  ist  ja  bekannt,  wie  die  türkischen  Soldaten  am 
Heiligen  Grabe  zu  Jerusalem  die  sich  in  ihrem  Eifer  prügeln- 
den Christen  trennen  müssen,  um  Blutvergießen  zu  verhüten. 
Das  sind  natürlich  nur  traurige  Auswüchse.  Aber  wie  seltsam  mutet  es  an, 
wenn  in  den  Straßen  Konstantinopels  dietürkischenSoIdatenSpalier 
bilden  bei  christlichen  Prozessionen,  Sie  ziehen  auf,  halten 
die  Menge  zurück  und  stehen  da  unbeweglichen  Gesichtes,  während  die 
lange  Reihe  der  Heiligenbilder  und  singenden  Menschen  vorbeizieht.  Nie 
ein  Scherzwort,  nie  ein  Lächeln;  keine  noch  so  nebensächliche 
Bemerkung  untereinander,  auf  daß  es  nicht  den  Anschein  habe,  sie 
sprächen  über  die  Glaubenszeichen,  die  vorbeigetragen 
werden  »und  das  Herz  jener,  denen  sie  heilig  sind,  könne  sich  verbittern 
von  einem  Gedanken  der  Verachtung  ihres  Heiligen«.  Was  ich  hier  anführe, 
sind  keine  geschriebenen  Regeln,  keine  Verordnungen;  es  sind  hier 
und  dort  gehörte  Worte  des  einfachen  Mannes,  die  sein  Denken  wider- 
spiegeln. Wenn  es  auch  nicht  hierher  gehört,  möchte  ich  nur  ganz  kurz 
die   wunderschöne,    bei    Beerdigungen    herrschende  Sitte    streifen.     Der 


83  — 


Sarg  wird  von  vier  Freunden  des  Verstorbenen  aus  seinem  Hause  ge- 
tragen; wer  immer  von  unbekannten,  zufällig  vorübergehenden  Männern 
den  Zug  trifft,  gibt  seine  Schulter  her,  eine  kurze  Strecke  den  Sarg  zu 
tragen :  »denn  eines  jeden  Last  ist  Kummer  und  Tod 
des    Bruders.« 

Nun  dürften  sich  ja  Szenen  in  Moscheen,  wie  die  von  der 
vortrefflichen  Frau  beschriebene,  häufig  genug  ereignen.  Nun 
dürfte  das  Wort  »Kismet-Knöppc«  ja  öfter  fallen.  Die  Wege 
der  Politik  sind  unerforschlich;  auf  denen  Gottes  werden  wir 
nach  und  nach  lernen,  in  den  Strohschlappen  gesittet  aufzutreten. 
Ich  hatte,  ehe  ich  jenes  las,  einmal  geschrieben,  daß  es  Gegenden 
gebe,  in  denen  »gottvoll«  der  Superlativ  von  »komisch«  ist.  Den 
Emissären  jener  Gegenden  ist  es  vorbehalten  geblieben,  ein  Gottes- 
haus gottvoll  zu  finden!  »Es  waren  gewiß  im  Grunde  harmlose 
Jungens«,  »den  besten  Kreisen  angehörig«,  sie  »meinten  es  nicht 
böse«.  Das  ist  es  eben.  Sie  führten  nichts  Arges  im  Schilde, 
höchstens  den  Export,  und  wie  man  sich  im  Kaufhaus  zu  benehmen 
habe,  das  verstanden  sie  längst  aus  dem  ff,  und  kein  Prokurist 
mußte  sie  auf  das  Unziemliche  ihres  Auftretens  aufmerksam 
machen.  Da  nahmen  sie  alles  ernst.  Und  als  der  Osten  ins 
Kaufhaus  des  Westens  aufgenommen  war,  und  die  alten  Bekenner 
sich  mit  den  neuen  Gebräuchen  noch  nicht  auskannten  und  sich 
das  Hemd  nicht  schon  beim  Eintritt  ausziehen  lassen  wollten,  da 
sprach  einer,  den  Finger  auf  dem  Mund:  »Sage  ihnen,  sie  seien 
im  Hause  des  Kommerzes.« 


Eine  angenehme  Menage 

Der  deutsche  Mann 
(Aus  der  Ostdeutschen  Rundschau) 

Hier  ist  es  gut  sein;  Speise  und  Trank  reichlich  vorhanden.  Vom 
feisten  Schwein  ein  artig  Lendenstücklein,  mit  zartgebräunten  Erd- 
äpfeln —  in  wirklicher  und  wahrhaftiger  Butter  duftig  gebraten  —  kleine 
zierliche  Gurken,  wie  sie  Znaims  Wonnegefilden  nicht  hold- 
seliger entsprießen,  dazu  ein  dunkler  Gerstensaft  aus 
Kulmbachs  bajuwarisch en  Gauen,  ein  herzhaft  Brot,  aus 
Roggen  schmackh  aft  geknetet  und  gebacken,  eine  Schüssel  mit  Dunst- 
obst, ein  leckerer  Salat  —  und  alle  diese  Herrlichkeiten  kosten,  Wodan 
ist  mein  Schwurzeuge,  zwei  Mark  und  zwanzig  Reichspfennige ! 


—  84  — 


.  .  .  stolze  Vindobona  am  alten  Nibelungenstrome, 
vieles  ist  herrlich  und  wonnesam  unvergleichlich  an  dir,  aber 
ein  solches  Lendenstück  vom  knusprigen  Schwein  mit  so  schmack- 
hafter Zutat  ....  ist  bei  dir  in  allen  21   Bezirken  nicht  zu  finden.  .  .  . 

Als  ich  in  Tetschen  der  hochnotpeinlichen  Leibesuntersuchung 
—  bis  auf  die  Haut  —  nach  genauester  Prüfung  meines  Passes  glücklich 
entronnen  war  —  ich  tadele  diese  Ordnung  nicht,  ich  segne  sie  viel- 
mehr —  kletterte  ich  mit  lebhaftem  Reisefieber  in  mein  sächsisches 
Abteil  und  sauste,  ratterte  und  knatterte  gen  Elbflorenz  ....  auf 
allen  Haltestellen  bis  Leipzig  Himmel  und  Soldaten.  .  .  . 

.  .  .  Das  möge  Wodan  in  Ewigkeit  verhüten!  .  .  .  der 
herrliche  Angriff  auf  die  Welschen,  der  diese  Abruzzenschufte  aus 
Tirols  ewigen  Bergen  hoffentlich  für  immerdar  hinausbefördert, 
findet  begeisterte  Lobpreiser.  Zuversichtlich  erwartet  man,  daß  auch 
der  moskowitische  Bär,  mit  blutenden  Pranken  weidwund 
heimschleicht.,..  Teut. 

Die  deutsche  Frau 
(Aus  den  Leipziger  Neuesten  Nachrichten) 

Strickend  haben  wir  das  alte  Jahr  beendet,  und  strickend  fangen 
wir  das  neue  wieder  an.  Nie  sind  unsere  Gedanken  mehr  bei  denen 
draußen  im  Felde  als  jetzt,  wo  Schnee  mit  Reg^n  und  Glatteis  abwechselt 
und  wo  wir  uns  fragen,  was  für  unsere  tapferen  Krieger  das 
Härteste  ist:  die  rote  Sonnenkugel,  die  an  einem  kalten  Himmel 
hängt,  oder  das  Wasser,  das  unaufhörlich  und  trübselig  in  die  Schützen- 
gräben rinnt.  Aber  bei  uns  Frauen  mischt  sich  nun  einmal 
das  Lächeln  gern  unter  die  Tränen,  und  selbst  im  Schmerz 
zeigen  wir  noch  das  Bedürfnis,  hübsch  zu  sein.  Schmückte  sich  nicht 
auch  Kleopatra  zum  Sterben? 

Wenn  die  Welt  wieder  offen  steht  und  so  ein  Paar  wieder 
hinausdarf,  sollte  da  nicht  ein  Haß  entstehen,  gegen  den  der  bis- 
herige ein  Kinderspiel  war?  Das  knusperige  Schwein  und  die 
Kleopatra:  zum  erstenmal  wieder  ausgelassen  —  Wodan  sei  mein 
Schwurzeuge  und  möge  es  verhüten,  aber  gut  kann  das 
nicht  enden.  Es  wird  vorsichtig  sein,  noch  lange  nach 
Friedensschluß  mit  den  Grenzübertrittsbewilligungen  hauszuhalten. 
Haus  zuhalten! 


Der  Enkel  wird  segnen 

Jeden  Augenblick  meldet  sich  jetzt  irgend  ein  Trottel,  der 
ehedem  höchstens  Telephonbeschwcrden  hatte  oder  als  Nichtraucher 
unsterblich  werden  wollte,  später  etwa  zu  den  Problemen  >Der 
Wehrmann  und  die  Fliege«  oder  --Der  Mistbauer  in  Eisen«  Stellung 


85 


nahm  oder  gar  zu  so  etwas  eine  »Anregung«  gab,  und  gibt  der 
Neuen  Freien  Presse,  diesem  durchhaltenden  Klosett  aller  Dummheit, 
Schmierigkeit,  Zudringlichkeit,  Betulichkeit  und  heroischen  Feigheit, 
ein  »prophetisches  Gedicht«  ein.  Darunter  ist  ein  solches  zu  ver- 
stehen, das  ein  Dichter,  der  natürlich  auch  keiner  war,  vor  vierzig 
Jahren  über  den  Weltkrieg  und  Deutschlands  Sieg  verfaßt  haben  soll. 
Ist  ihm  natürlich  nicht  im  Dichtertraum  eingefallen;  denn  das  Wesen 
des  prophetischen  Gedichtes  ist  es,  daß  sich  hinterdrein  heraus- 
stellt: es  war  eine  Fälschung  und  irgendein  zeitgenössischer 
Wicht  hatte  sich  etwa  das  Pseudonym  Hamerling  beigebogen.  Jetzt 
hat  jene  oft  nur  aus  reiner  Stupidität  allen  Schlechtigkeiten  dienst- 
bare Zeitung  wieder  eine  aus  Fälschland  stammende  Dichtung 
veröffentlicht,  in  der  dem  Schweizer  Dichter  Leuthold  im  Jahre  1871 
die  prophetische  Strophe  geglückt  sein  soll: 

Meine  Mahnung  wird  erst  der  Enkel  segnen, 
Wenn  er  unverdrossen  die  Waffen  wahrte 
Menschenalter  hin,  bis  es  ihm  obliegt, 
Im  Weltkrieg  zu  siegen. 

Die  vorhergehende  geistig  nicht  gerade  bedeutende  Mahnung 
an  das  damals  eben  gegründete  Etablissement  wäre  auch  besser 
nicht  von  Leuthold  gewesen.  (Wenn  man  von  der  unfreiwillig 
guten  Stelle  absieht:  »Nicht  des  Geistes,  sondern  des  Sch\/ertes 
Schärfe  gab  dir  alles,  wiedererstandenes  Deutschland«.)  Aber  mit 
der  prophetischen  Strophe  steht  das  Zeug  in  einer  Literaturgeschichte 
jenes  bedenklichen  Biese,  der,  wie  kürzlich  hier  beklagt  ward,  für 
den  Schulgebrauch  allerlei  blutigen  Schund  ediert  hat.  Eine  Schweizer 
Zeitung  sagt  dazu : 

Eine  halbe  Seite  ist  Leutholds  Ode  »Das  Eisen«  eingeräumt,  in 
der  bekanntlich  der  Schweizer  Dichter  den  deutschen  Sieg  im  Weltkrieg 
prophezeit  haben  soll.  »Meine  Mahnung  wird  erst  der  Enkel  segnen, 
wenn  er  unverdrossen  die  Waffen  wahrte  Menschenalter  hin,  bis  es  ihm 
obliegt,  im  Weltkrieg  zu  siegen.«  Ist  es  wirklich  nicht  möglich,  davon  Notiz 
zu  neh men,  daß  in  dieser  Strophe  kein  Wort  von  Leuthold  stammt, 
sondern  daß  sie  eine  freche  Fälschung  eines  emeritierten 
Hauptmanns  mit  einigen  literarischen  Neigungen  ist;  ferner, 
daß  sie  nicht  von  1871,  sondern  etwa  von  1909  datiert,  also  aus  einer  Zeit, 
als  es  keiner  übernatürlichen  Gaben  mehr  bedurfte,  um  den  Weltkrieg  zu 
ahnen  und  sich  darauf  in  sapphischem  Metrum  seinen  Vers  zu  machen? 
Um  die  geräuschlose  Erledigung  der  Sache  in  meiner  kritischen  Leuthold- 
Ausgabe  hat  sich  Biese  nicht  gekümmert,  wie   denn  authentische  Texte 


offenbar  für  ihn  von  untergeordneter  Bedeutung  sind;  hingegen  war  die 
Aufklärung  ja  auch  an  leichter  zugänglichen  Stellen  zu  lesen.  Ich  habe 
es  natürlich  damals  abgelehnt,  den  Betrug  als  »für die  deutschen  Methoden 
charakteristisch«  bezeichnen  und  verwerten  zu  lassen;  aber  wenn  diese 
Prophetenphilologie  nun  bereits  auf  die  Literarhistorie  Einfluß  gewinnt, 
ist  doch  endlich  scharfer  Protest  am  Platze.« 

Und  die  , Arbeiter-Zeitung'  fügt  hinzu: 

.  .  .  Diesem  scharfen  Protest  möchten  wir  uns  für  unseren  Teil 
anschließen;  derlei  Schwindeleien  bringen  ja  den  bisherigen  guten 
Ruf  deutscher  Literaturforschung  in  ernste  Gefahr. 

Hier  setzt  mein  schärferer  Protest  ein.  Den  bisherigen 
guten  Ruf  deutscher  Literaturforschung,  da  mag  lieb  Vaterland 
ruhig  sein,  kann  nichts  mehr  in  Gefahr  bringen.  Sie  war 
schon  lange  vor  dem  Weltkrieg,  und  eh  dieser  Traum  von  einer 
Walhalla  für  Fertigware  über  uns  hereinbrach,  das  schlimmste 
Handwerk  akademischer  Plünderer  und  graduierter  Schänder  der 
Wahrheit.  In  zahllosen  Semestern  habe  ich  es  bewiesen.  O  mein 
prophetisches  Gemüt!  Meine  Mahnung  wird  erst  der  Enkel  segnen. 


Wozu  man  sich  bekennt 

»Ein  Streit  um  den  Eisernen  Hindenburg  in  Berlin  ist  ausge- 
brochen. Bisher  galt  als  sein  Schöpfer  der  Maler  Georg  Marschall. 
Im  Verfolg  einer  Polemik  hat  aber  jetzt  der  Bildhauer  Schimmel- 
pfennig in  Berlin  eine  Erklärung  veröffentlicht,  in  der  es  u.  a.  heißt: 
.  .  .  Das  Hilfsmodell  zum  Eisernen  Hindenburg  in  Berlin  in  einzehntel 
Naturgröße  ist  ausschließlich  von  mir  mit  ganz  geringer  untergeord- 
neter Hilfeleistung  des  Malers  Georg  Marschall  modelliert  worden.  Die 
Ausführung  des  Originals  lag  ausschließlich  in  meinen  Händen, 
der  Kopf  ist  ausschließlich  mein  persönliches  Werk....  Ich 
würde  schon  längst  mit  allen  Mitteln  eine  Klarheit  der  Autorschaft 
herbeigeführt  haben,  wenn  es  sich  um  ein  Kunstwerk  handelte,  auf 
welches  ich  stolz  sein  könnte.  Zu  einem  solchen  Kunst- 
werk konnte  ich  es  aber  n  i  c  h  t  m  e  h  r  gestalten,  da  die  Auftrag- 
geber auf  der  Fertigstellung  in  der  bestimmten 
kurzen    Frist   um   jeden    Preis   bestanden.« 

Wenn  man  ihm  nur  ein  wenig  Zeit  gelassen  hätte,  wäre 
ein  Kunstwerk  draus  geworden.  Da  er  sich  trotzdem  dazu  bekennt 
und  es  vor  aller  Welt  auf  sich  nimmt,  besteht  kein  Grund,  es  ihm 
nicht  zuzutrauen.  So  daß  in  den  Kreisen  der  Benageier  jetzt 
Klarheit  herrschen  wird:  den  Marschall  hat  der  Schimmelpfennig 
geschaffen,  der  Marschall  hat  nur  ein  Scherflein  beigetragen. 


87  — 


Nicht  doch: 

».  .  .  Nachdem  der  Bildhauer  Schimmelpfennig  die  Urheberschaft 
für  sich  beansprucht  hat,  antwortet  jetzt  geharnischt  der  Maler 
Georg  Marschall:  .  .  .  Der  ganze  Plan,  die  Idee  und  vor  allen  Dingen 
der  Entwurf  für  den  Eisernen  Hindenburg  von  Berlin  stammen 
lediglich  von  mir....  Die  Ausführung  des  Modells  lag  lediglich 
in  meinen  Händen  und  unter  meiner  alleinigen  Leitung 
ist  auch  dann  der  Eiserne  Hindenburg  ausgeführt  und  aufgestellt  worden. 
Somit  bin  ich  wohl  zweifellos  der  Urheber  und  Schöpfer  des 
Eisernen  Hindenburg.« 

Da  die  Dinge  so  stehn  und  nach  reiflicher  Überlegung,  bin 
ich  jetzt  auch  der  Ansicht,  daß  dem  Marschall  das  Verdienst 
gebührt.  Oder  sollte  sich  Deutschland  wieder  einmal  freuen 
dürfen,  daß  es  zwei  solche  Kerle  hat? 


Marke:  »über  alles« 


Neu!  D.   R.   G.  M.  No.  636407.  Neu! 

Würfelt    den   ersehnten    »Frieden«     mit     dem  neuen 

hochinteressanten 

Kriegs-Spiel-Kreisel 

Dieses  neue  Spiel  darf  in  keiner  deutschen 

Familie  fehlen  und  gewährt  in  jeder  Familie, 

jeder  Gesellschaft,  bei  jeder  Gelegenheit  eine 

Spannende  Unterhaltung  für  jung  und  alt! 

Spielregel: 
Zunächst  wird  von    jedem  Teilnehmer   ein  Einsatz  in  die 
Kasse  gemacht.  Sodann  wird  der  Kreisel  von  jedem  Teil- 
nehmer   der   Reihe    nach    mit    den    Fingern  in   kreisende 
Bewegung    versetzt.     Die    Buchstaben    und  Zahlen  haben 

nachstehende  Bedeutung: 
Rußland:  (R- g-    0)  gewinnt  >Nichts«. 

England:  (E.  v.  Vi)  verliert    den    ganzen   Einsatz. 

Frankreich:  (F.  v.  1/2)  verliert     den    halben    Einsatz 

des  einzelnen  Spielers. 
(T.  g.  V3)  gewinnt  ein  Drittel  v.  d.  Kassa. 
(O.g.  V2)  gewinnt  die  Hafte  v.  d.  Kassa. 
(D.  g.  a)  gewinnt  die  ganze  Kasse. 


Türkei : 
Österreich : 
Deutschland : 
(über  alles) 
Hochinteressant! 


Spannend! 


Allerlei  Patrioten 

»Der  Landrat  in  Insterburg  hat  folgende  Bekanntmachung  ver- 
öffentlichen müssen:  Wiederholt  ist  es  auch  jetzt  wiederum  vorgekommen, 
daß  kreiseingesessene  Besitzer,  die  um  Zuweisung  von  Arbeitskräften  gebeten 
hatten,  deutsche  Soldaten  zurückgeschickt  haben,  weil  sie 
lieber  russische  Gefangene  haben  möchten.  Ich  bringe  zur  all- 
gemeinen Kenntnis,  daß  Kreiseingesessene,  die  die  Hilfe  deutscher 
Soldaten  ausschlagen,  auf  die  Zuweisung  von  Gefangenen  auch  nicht 
zu  rechnen  haben.« 

Die  Veröffentlichung  war  ungeschickt.  Sie  klingt  fast  wie: 
>Wer  den  Heller  nicht  ehrt  — « 


Wissenschaft  ist  Macht 

Im  deutschen  Reichstag  wurde  gesagt : 

Mit  der  Schutzhaft  wird  eine  wahre  Willkür-  und  Schreckens- 
herrschaft getrieben.  Das  Belagerungszustandsgesetz  gibt  kein  Recht  zur 
Verhängung  der  Schutzhaft.  Wohl  sind  die  Garantien  der  persönlichen 
Freiheit  aufgehoben,  aber  es  ist  keine  Rede  davon,  daß  Hunderte  und 
Tausende  ohne  Grund  eingesperrt  werden  dürfen  ....  Auch  die  Militär- 
behörden sollten  wissen,  daß  man  auf  Bajonetten  nicht  sitzen  kann  .... 
Heute  sitzen  auf  schuftige  Denunziationen  Menschen  grundlos  in  Schutz- 
haft, obwohl  sie  freigesprochen  sind  oder  der  Staatsanwalt  die  Anklage- 
erhebung gegen  sie  abgelehnt  hat.  Ihre  Angehörigen,  denen  man  die 
Ehre  geraubt  hat,  erhalten  keine  Unterstützung,  zum  moralischen  und  gesell- 
schaftlichen Ruin,  zu  Sorge  und  Kummer  wird  Hunger  und  Elend  über 
sie  verhängt.  In  Berlin  sitzt  seit  sieben  Monaten  ein  Ungar  in  Schutz- 
haft. Er  hatte  zivilrechtliche  Differenzen  mit  Leuten  in  Frankfurt,  die 
ihm  mit  ihren  einflußreichen  Verbindungen  drohten  und  ihn  schließlich, 
als  er  sich  nicht  fügte,  beim  Reichsanwalt  wegen  Spionage  denunzierten. 
Dieser  lehnte  eine  Verfolgung  sogar  ohne  Vernehmung  ab.  Der  Mann 
sitzt  seit  sieben  Monatenl  (Stürmische  Hört!  HörtI  links.)  .  .  . 
Gegen  den  österreichischen  Staatsangehörigen  Sand  hat  man 
die  unsinnige  Beschuldigung  erhoben,  er  wolle  in  Zinntuben  Salvarsan 
nach  Rumänien  ausführen.  Deswegen  wurde  der  Mann  in  Haft  genommen. 
Er  durfte  keine  geschäftlichen  Angelegenheiten  ordnen  und  in  keiner 
Weise  mit  seinen  Familienangehörigen  zusammenkommen.  Die  Frau 
des  Mannes  vergiftete  sich  schließlich  aus  Verzweiflung 
wenige  Tage  vor  Weihnachten.  Sand  wurde  aber  auch  dann  noch 
nicht  zu  ihr  gelassen  und  durfte  sie  erst  sechsunddreißig  Stunden  nach 
ihrem  Tode  sehen.  (Laute  HörtI  Hört!  und  Entrüstungsrufe  bei  den 
Sozialdemokraten.)  Er  selbst  hatte  durch  diese  Schicksalsschläge  an  seiner 
Gesundheit  gelitten  und  war  durch  ein  ärztliches  Attest  für  haftunfähig 
erklärt  worden.     Trotzdem  wurde  noch  ein   anderes  Attest  von  einem 


89 


Medizinalrat  eingeholt  und  der  erklärte  Sand  für  haftfähig.  So  wurde 
der  schwerkranke  Mann  noch  drei  Monate  in  Haft  gehalten.  Endlich 
wurde  er  nach  vielen  Schwierigkeiten  entlassen,  aber  zugleich  aus- 
gewiesen. (Rufe:  Deutsches  Recht!  bei  der  Sozialdemokratischen  Arbeits- 
gemeinschaft.) Nach  der  Haftentlassung  wurde  er  sofort  über  die  Grenze 
geschoben,  ohne  daß  man  ihm  Zeit  gelassen  hätte,  seine  Geschäfte  zu 
ordnen  oder  mit  seinen  Familienangehörigen  zu  sprechen.  (Pfuirufe.) 
Sieben  Monate  seines  Lebens  hat  man  dem  Manne  so  geraubt,  sein 
Familienglück  und  seine  Existenz  vernichtet.  Wer  wagt  es,  eine 
solche  Barbarei  hier  rechtfertigen  zu  wollen! 
Dafür  sollen  die  Militärbefehlshaber  nur  dem  Kaiser  verantwortlich 
sein?  Begreift  man  nicht,  welche  Konsequenzen  eine  solche  Theorie 
heraufbeschwört?  Gerade  die  Vertreter  der  Monarchie  sollten  dieser 
gefährlichen  Theorie  ein  Ende  machen,  die  tausendfältiges  Blut  auf  das 
Haupt  des  Kaisers  lädt  und  ihn  zum  Blitzableiter  für  die  Sünden  der 
anderen  macht.  (Lebhafte  Zustimmung  bei  der  Sozialdemokratischen 
Arbeitsgemeinschaft.) 

Nichts  da!  Macht  ist  nur  sich  selbst  verantwortlich.  Aber 
Wissenschaft,  die  doch  auch  Macht  ist  und  sich  der  Verantwortung 
zu  Gunsten  der  Macht  begibt  und  die  Menschlichkeit  an  den  Meist- 
bietenden verkauft?  Her  mit  dem  Medizinalrat!  Her  mit  den  ärztlichen 
Kollegen,  die  einen  Berliner  Universitätsprofessor,  der  militärischen 
Spitalsdienst  machte,  wegen  irgendwelcher  Äußerungen  denunziert 
haben!  Machthaber  können  irren.  Gebildete  irren  nie.  Gebildete 
sind,  wenn  sie  einmal  Schurken  sind,   Doktoren    der  Schurkerei. 


Fortschritte  der  Wissenschaft 

(Gehirnchirurgie.)  ....  Anfangs  des  Jahres  1915  hat  Doktor 
Gu^pin  einem  Soldaten  in  zwei  Operationen  einen  sehr  großen  Teil 
der  Hirnmasse  weggenommen  ....  Der  Verwundete  hat  sich  nach 
seiner  Genesung  das  Kriegskreuz  und  die  Militärmedaille  auf  dem 
Schlachtfelde  verdient.  .  .  . 


Ein  deutsches  Ärgernis  und  seine  Definition 

»Der  Historiker  und  Professor  an  der  Universität  München 
Dr.  Erich  Marcks  beleuchtet  in  den  .Münchener  Neuesten  Nachrichten'.... 
die  durch  Försters  Aufsatz  in  der  , Friedenswarte'  entstandene  Streit- 
frage .... 


—  90 


Die  Fakullät,  aus  deren  Mitte  dieses  Ärgernis  geltommen 
war,  hat,  sobald  sie  von  ihm  erfahren  und  die  Gelegenheit  einer 
Prüfung  des  beschlagnahmten  Aufsatzes  erhalten  hatte,  ihre  Mißbilligung 
der  Kritik,  die  Förster  geübt  hatte,  ausgesprochen,  nach  Tendenz,  Stunde, 
Ort  und  Tonart,  und  zwar  einstimmig  über  alle  Verschiedenheiten  von 
Meinung,  Bekenntnis  und  Partei  hinweg.  Sie  hat  zu  jener  Entgleisung 
eines  hemmungslosen  Idealismus,  die  einem  ihrer  Mit- 
glieder zugestoßen  war,  zu  der  Beunruhigung,  die  daraus  gefolgt 
war,  nicht  schweigen  können  und  wollen.  .  .  .« 


Von  Schmieristen 

»(Stilgebauer),  der  schlechte  Roman  Schreiber,  hat,  wie 
die  , Gazette  de  Hollande'  in  einem  langen  Artikel  über  den  , be- 
rühmten deutschen  Dichter'  mitteilt,  einen  neuen  Roman  fabriziert, 
der  der  Verherrlichung  Belgiens  dient.  Erst  vor  kurzem  hatte  dem 
gleichen  Schriftsteller  ein  Aufsatz  von  ähnlicher  Tendenz  in  einem 
Amsterdamer  Blatt  kräftiges  Lob  der  englischen  und  französischen 
Presse  eingetragen.  Nachdem  der  , Schmierist'  mit  seinem  ,Götz 
Kraft'  in  Deutschland  genug  Geld  gemacht  hat,  sucht  er  nun 
auch  nach  ,Ruhm'.« 

Daß  der  Stilgebauer  schon  ein  Schmierist  war,  bevor  er 
Belgien  verherrlicht  hat,  war  etlichen  Kennern  bekannt.  Die 
deutsche  Presse,  die  ihn  zu  jenem  »berühmten  deutschen  Dichter« 
gemacht  hat,  den  sie  jetzt  ironisch  anzweifelt,  die  ihn  den  Ruhm 
finden  ließ,  den  er  jetzt  erst  suchen  muß,  und  die  ihn  genau  so 
viel  Geld  verdienen  ließ,  als  sie  ihm  jetzt  mißgönnt,  findet  erst 
dann,  daß  einer  ein  schlechter  Romanschreiber  sei,  vceim  er  für 
das  jahrelange  Lob,  daß  er  ein  guter  Romanschreiber  sei,  sich 
undankbar  zeigt.  Die  französische  Presse  sagt  der  Wahrheit 
gemäß,  daß  der  Stilgebauer  ein  berühmter  deutscher  Dichter  sei. 
Daß  er  ein  guter  deutscher  Dichter  sei,  sagt  sie  nicht;  aber  man 
müßte  ihr's  nicht  übelnehmen,  wenn  sie  —  auf  dem  Niveau,  auf 
dem  alle  Preßgesinnung  lebt  —  im  Krieg  aus  einem  Lob  der 
Tendenz  ein  Werturteil  machte.  Daß  ein  Tadel  der  Tendenz  das 
einmal  gefällte  Werturteil  aufhebe,  ist  die  Einsicht  des  deutschen 
Journalismus.  Wäre  die  Zeit  so  groß,  daß  man  auch  mehr  Zeit 
hätte,  ihr  ihre  Winzigkeit  in  jedem  Belang  zu  beweisen,  so  würde 
es  mir  unfehlbar  gelingen,  die  heutige  Meinung  eben  jenes 
Schmierblattes,  daß  der  Stilgebauer  ein  Schmierist  sei,    mit  seiner 


91 


vorigen  Meinung,  daß  er  ein  Qenie  sei,  zu  konfrontieren,  und  die 
Welt  würde  erkennen,  um  wie  viel  unverdächtiger  es  sei,  Belgien 
zu  verherrlichen,  als  sich  von  Deutschland  verherrlichen  zu  lassen. 


Wie  die  Franzosen  vor  Neid  zersprangen 

Die  Leipziger  Operette  in  Lille.  Aus  Nordfrankreich  schreibt 
uns  unser  O. Seh. -Mitarbeiter:  Man  darf  dem  Deutschen  Theater  in  Lillenach- 
rühmen, daß  PS  versteht,  seinem  feldgrauen  Publikum  aus  dem  theatralischen 

Heimatreich  Fülle  und  Abwechslung  zu  spenden. Nach  der  hehren 

Kunst  der  »Meistersinger«  durch  die  Stuttgarter  Hofoper  hielt  jetzt  die 
leichter  beschwingte  Muse  des  Leipziger  Städtischen  Operettentheaters 
ihren  fröhlichen  Einzug.  Sie  brachte  einen  seltenen  Gast  mit:  Der 
Meister  des  Dreivierteltaktes  und  der  jungen  Wiener 
Operette  kam  selbst,  um  über  seine  weiche  zärtliche  Musik  den 
Stab  zu  schwingen.  Die  feldgrauen  Musiker  begrüßten  ihn  mit 
Rosen  und  Tusch,  das  vollbesetzte  Haus  mit  Beifall.  Unter  seiner 
Hand  bekam  das  Orchester  Farbe  und  wurde  rhythmisch  lebendig.  Auf 
der  Bühne  entfalteten  die  Leipziger  Spiellaune  und  Temperament.  I  m 
Walzertakt  schwuren  der  Graf  von  Luxemburg  (Walter  Grave) 
und  Angele  Didier  (Meta  Bamberger)  vom  Stadttheater  in  Chemnitz 
sich  Liebe  und  Treue  bis  in  die  Ewigkeit...  Die  Musik  gab 
dem  Hause  eine  leichte  Sektstimmung,  der  zuliebe  man  die 
Sünden  dieser  parfümierten  Operettenkunst,  d'er  von 
unserem  Kriegsdasein  abgrundtief  geschiedenen,  wohl  ver- 
gessen konnte.  Daß  ihr  ein  patriotischer  Prolog  in  Gestalt 
eines  von  Lehar  dem  Deutschen  Kaiser  gewidmeten,  von 
Walter  Grave  mit  Orchester  und  Chor  gesungenen  Trutzliedes  vor- 
angeschickt wurde,  trug  weniger  dazu  bei.  Um  so  viel  schöner, 
weil  echter,  war  ein  neu  komponiertes  Ballettzwischenspiel,  das  im 
zweiten  Akt  für  Ohr  und  Auge  eine  Freude  war.  —  —  Nach  einigen  Auf- 
führungen des  Grafen  von  Luxemburg  kommt    auch  noch  Leo  Fall  mit 

dem  »Lieben  Augustin«  zu  Worte. Ein  reiches  Stück  Arbeit 

ist  damit  beendet.  Wie  viel  harmlos  genießende  Freude  empfingen  an 
dieser  Stätte  unsere  Kämpfer.  Mit  aufrichtigem  Neid  sah  die 
französische  Bevölkerung  auf  diesen  Vorposten  deutscher 
Kunst  —  ihr  blieben  die  Tore  zu  all  diesen  Genüssen  ver- 
sperrt. Jetzt  endlich  sehen  sie  ihren  sehnsüchtigen  Wunsch 
erfüllt,  die  Kommandantur  Lille  wird,  soweit  Platz  vorhanden,  auch 
den  Lillern  Zutritt  gewähren.  Sie  weiß,  auch  mit  unserer  Kunst  ist 
ein  gutes  Teil  unserer  siegenden  Kraft  begründet. 

Wiewohl  diese  unsere  Kunst  von  unserem  Kriegsdasein 
abgrundtief  geschieden  ist.  Aber  ein  echter  deutscher  Mann,  der 
keinen  Champagner  leiden  mag,  hat  eben  Sekt  so   gern,   daß   er 


92 


ihm  zuliebe  sogar  Parfüm  verzeiht.  Die  Bevöllcerung  von  Lille  aber, 
die  natürlich  wieder  nur  auf  Parfüm  fliegt,  stand  mit  aufrichtigem 
Neid  vor  dem  Vorposten  deutscher  Kunst,  die  Tore  zu  all  diesen 
Genüssen  blieben  ihr  versperrt,  bis  endlich  die  Kommandantur 
Lille  (der  deutsche  Romandichter  Paul  Oskar  Höcker)  es  nicht  mehr 
übers  Herz  bringen  konnte,  ihr  Lehar  vorzuenthalten.  Da  erkannten  sie, 
daß  wir  keine  Barbaren  seien,  und  schworen  Liebe  und  Treue 
bis  in  die  Ewigkeit.  Worauf  die  Dame  aus  Chemnitz,  nachdem 
der  Kollege  mit  einem  Trutzlied  nicht  durchgedrungen  war,  den 
Haßgesang  auf  Kitchener  immer  feste  druffgeben  konnte. 


Lehar  spricht 

Der  einzige  Künstler,  dessen  Befreiung  von  der  allgemeinen 
Wehrpflicht  >auf  Kriegsdauer«  sich  von  selbst  versteht,  hat  an  der 
Westfront  den  > Grafen  von  Luxemburg«  dirigiert  und  erzählt  nun: 

.  .  .  Auf  der  Fahrt  durch  Lüttich  und  Loewen  wurden  mir 
natürlich  die  schweren  Kämpfe  in  Erinnerung  gebracht,  welche  die 
Deutschen  nach  Ausbruch  des  Krieges  auf  belgischem  Boden  zu  bestehen 
hatten.  An  der  französischen  Grenze  mußten  sämtliche  Zivilpersonen  den 
Zug  verlassen,  ich  setzte  die  Fahrt  mit  einem  eigens  für  mich  ausge- 
stellten Reiseschein  der  Kommandantur  Lille  in  Begleitung  des  Ober- 
regisseurs des  Leipziger  Stadttheaters  Herrn  Josef  Groß,  eines  gebürtigen 
Wieners,  fort.  Meine  Ankunft  in  Lille  erfolgte  am  12.  d.;  auf  der  Fahrt 
dorthin,  konnte  ich  überall  die  Spuren  des  heftigen  Wider- 
standes sehen,  der  bei  den  Kämpfen  seitens  der  Franzosen  seinerzeit 
geleistet  worden  ist  .  .  .  Ich  stieg  im  Hotel  Royal  ab,  wo  mir  sofort 
nach  meiner  Ankunft  eine  Brotmarke  und  eine  Fleischmarke 
für  60  Gramm  per  Tag  überreicht  wurde,  und  ging  dann  in  das 
Stadtlheater,  das  vollständig  frei  steht  und  gänzlich  unversehrt 
geblieben  ist.  .  .  .  ich  fand  das  Dirigentenpult  bekränzt  vor.  Alles 
spielte  mit  größter  Begeisterung  vor  dem  übervollen  Hause,  da  —  bei 
einer  Pianostelle  — hört  man  plötzlich  das  Knattern  eines  Maschinen- 
gewehres, ein  Zeichen,  daß  ein  feindlicher  Flieger  über  der  Stadt  kreist... 
Die  Vorstellung  aber  geht  weiter,  als  ob  nichts  geschehen  wäre.  Nach 
Schluß  der  Aufführung,  die  von  den  Feldgrauen  mit  großem  Beifall  auf- 
genommen wurde,  erfuhren  wir,  daß  ein  englischer  Flieger  in  der 
Zwischenzeit  abgeschossen  worden  war.  .  .  Nachts  beginnt  dann 
regelmäßig  das  Donnern  der  Geschütze,  es  dauert  oft  ein  bis  zwei 
Stunden,  dazwischen  das  eintönige  Knattern  der  Maschinengewehre.  Am 
Horizont  sieht  man  da  oft  rötlich  aufleuchtende  Blitze,  dann  wieder 
Leuchtkugeln,  die  geworfen  werden,  um  das  Gelände  zu  erhellen. 


93  — 


Nein,  damit  der  Feind  den  Lehar  besser  sehen  kann. 
Das  Knattern  des  Maschinengewehres  ist  nach  der  Auffassung 
eines  feldgrauen  Dichters  »Sphärenmusik«.  Seitdem  es  eine  Piano- 
stelle bei  Lehar  begleitet,  weiß  man  erst,  wie  recht  jener  hat. 
Von  dieser  kleinen  Störung  abgesehen  freut  er  sich  aber,  wie 
korrekt  alles  zugeht: 

In  der  Stadt  herrscht,  wie  ich  mich  überzeugen  konnte, 
strenge  Ordnung  und  Ruhe.  Viele  französische  Familien  sind  seiner- 
zeit geflohen  und  haben  ihr  Hab  und  Gut  in  der  Stadt  zurück- 
gelassen. Sie  ahnen  gar  nicht,  daß  in  den  Palais,  die  den  Offizieren 
gegenwärtig  zum  Aufenthalt  zugewiesen  wurden,  alles  am  alten 
Fleck  steht,  ebenso  wie  sie  es  verlassen  haben,  und  daß  sie 
ihre  Behausungen  seinerzeit  wiederfinden  sollen  mit 
all  den  wertvollen  Nippes,  Bildern,  Silber  und  Kleinodien,  die  sie 
dort  zurückließen.  Ich  hatte  Gelegenheit,  ein  Palais  zu  besichtigen, 
in  dem  sich  Silberzeug  im  Werte  von  über  100.000  Francs 
auf  das  sorgfältigste  verwahrt  befand.  Da  konnte  ich  eben  meine 
Betrachtungen  über  die  »deutschen  Barbaren«  anstellen  I 

Also  mitgenommen  haben  sie  nichts.  Aber  Musik  von 
Lehar  haben  sie  gebracht! 


Der  Musikmarkt 

Musik-,     Gesang-,    Theater- 
und  Variet€-Kräfte 

Theaterengagement  be- 
sorgt  .... 

Kinopianist,  Allein- 
spieler mit  großem  Re- 
pertoire .... 

Suche  Bratschisten  und 
nur  perfekten  Klavierspieler 
für  Kammermusik  .... 

Einpauker  für  das  recht s- 
und  staatswissenschaftliche 
Doktorat  gesucht.  Anbote  mit 
Angabe  von  Ansprüchen  und 
Nachfragen  unter  »Möglichst 
rasch  45131«   an  die  Exped. 


—  94  — 


Die  Not  schafft  seltsame  Bettgenossen 

Heinrich  Rienößl.  >Wien  im  Kriege.«  Novellen  und  Skizzen. 
Hans  Hübner-Verlag,  Hannover. 

Friedrich  Hölderlin.  »Hyperion«  oder  > Der  Eremit  in  Griechen- 
land«.  Verlag  Gustav  Kiepenheuer,  Weimar,  1916. 


Ein  interessanter  Mensch 

Aussichtsloser  Versuch, 

ein  weibliches  Wesen  zu 
finden,  das  seelisch-geistigen 
Adel  u.  körperl.  Schönheit 
vereint,  schlank  und  groß 
ist  und  meine  schrift- 
stell. Fähigkeiten  nach 
Rückkehr  zu  intensi- 
verem Schaffen  anregen 
könnte;  bis  dahin  Korre- 
spondenz. Das  hier  nötige 
Selbstlob  und  Fehlerbekennt- 
nis: mit  körperl,  und 
geistigen  Vorzügen  aus- 
gestattet, Charakter, 
witzig,  vielseitig  gebildet, 
Idealist,  Realist  und 
Romantiker  zugleich, 
Ästhet,  Don  Juan-Qui- 
chotte, faustisch  suchend 
u.  selten  befriedigt,  daher 
dieser  Versuch,  der  sonst 
Armutszeugnis  wäre.  Strengste 
Verschwiegenheit  zugesichert 
u.  erwartet.  Unter  >  Ferne 
Prinzessin  9905«  a.  d.  Ank.- 
Bur.  d.  Bl.  Antw.  braucht 
zka.  10  Tage. 

Der  dürfte  im  Kriegspressequartier  sein. 


Die  Wahrheit  ist  immer  in  der  Mitte 

....  gestern  einen  glänzenden  Erfolg  errungen.  .  .  . 

So  etwas  steht  jetzt  öfter  in  Referaten,  die  irgendein  zur 
Disposition  gestellter  Theaterreporter  über  kriegerische  Leistungen 
veröffentlicht.  Während  aber  die  Theaterreferate  nur  mit  den  Anfangs- 


95 


buchstaben  unterzeichnet  waren,  tragen  die  Kriegsrezensionen  den 
ausgeschriebenen  Zunamen,  der  zumeist  ein  nom  de  guerre  ist 
und  furchtbar  dezidiert  klingt,  so  als  ob  der  Herr,  der  ehedem 
über  eine  Premiere  ein  ziemlich  unsicheres  Urteil  hatte,  die  volle 
Verantwortung  für  einen  Sturmangriff  übernehmen  wollte.  Solche 
kurze  und  bündige,  von  einem  frischen  Offensivgeist  durchwehte 
Erklärungen  bieten  manchmal  gar  einen  gleichzeitigen  Ausblick 
auf  zwei  Kriegsschauplätze,  die  von  einander  fast  so  weit  entfernt 
sind,  wie  der  Kritiker  von  beiden.  Etwa  so: 

.  .  .  Am  Südteil  der  Strypa-Front  und  in  der  Bukowina  waren 
keine   besonderen    Ereignisse    und   die  Lage  ist  dort  eine  unveränderte. 

An  der  Südwestfront  griffen  die  Italiener  wieder  bei  Selz  an  und 
wurden  auch  wieder  geworfen.  Im  Marmolata-Gebiet  zwischen  Etsch 
und  Brenta  wurden  kleinere  italienische  Vorstöße  abgewehrt. 

Geyer. 

In  Friedenszeiten  wäre  die  Gleichzeitigkeit  der  Bericht- 
erstattung über  eine  Volkstheater-  und  eine  Carltheaterpremiere 
trotz  der  lokalen  Möglichkeit,  sich  mittelst  Autos  von  dem 
Fortschreiten  beider  Aktionen  zu  überzeugen,  kaum  statthaft  ge- 
wesen. Im  Kriege,  wo  bekanntlich  Blut  fließt,  wenn  glänzende 
Erfolge  erzielt  werden,  aber  der  Referent  nicht  bis  zur  Garderobe 
vordringt,  ist  solcher  Einsatz  des  Namens,  solch  ehrenwörtliche 
Garantie  für  das  Erlebnis  zweier  Fronten  tagtäglicher  Usus. 
Die  objektive  Abschätzung  zwischen  Strypa  und  Brenta  wird,  da 
der  Referent  doch  unmöglich,  um  nicht  in  den  Verdacht  der 
Befangenheit  zu  kommen,  einer  der  beiden  Fronten  den  Vorzug 
geben  kann,  nur  dadurch  gewährleistet,  daß  die  Wahrheit  eben 
immer  in  der  Mitte  ist,  nämlich,  der  sie  zu  vertreten  hat,  in  Wien. 


Spät  kommt  ihr,  doch  ihr  kommt 

dürfte  der  Poldi,  der  österreichische  Generalkonsul  in  Warschau, 
falls  er  wieder  dort  ist,  zum  Hugo  sagen,  und  der  Bahr,  der  schon 
am  16.  August  1Q14  ausgerufen  hat:  >Nun  müßt  ihr  aber  doch 
bald  in  Warschau  sein!«  freut  sich,  daß  er  das  doch  noch  erleben 
kann.  Auch  ich  habe  die  Möglichkeit  nicht  völlig  in  Abrede  gestellt: 


96  — 


.  .  .  wenn  ihm  nicht  etwa  nach  der  Einnahme  dieser  Festung 
Gelegenheit  geboten  war,  mit  Liebesgabenpaketen  oder  in  sonst  einer 
honorigen    Mission    des    Kriegsfürsorgeamtes   dortselbst   zu   erscheinen. 

Ob  die  Mission  eine  honorige  ist,  mag  dahingestellt  bleiben. 
Aber  es  läßt  sich  nun  nicht  mehr  leugnen,  daß  der  Leutnant 
Hof  mannsthal  in  Warschau  eingerückt  ist.  Die , Deutsche  Warschauer- 
Zeitung'  —  so  etwas  gibts  schon  —  berichtet  am  5.  Juli  1916,  also 
fast  zwei  Jahre  nach  dem  Ausbruch  Bahr'scher  Ungeduld: 

Hugo  V.  Hofmannsthal, 
der  bekannte,  feinsinnige  Wiener  Poet,  weilt    gerade    jetzt    hier    in 
Warschau.  Ursprünglich  schien  es,  als  würde  er,  der  im  Jahre  1874 
in  Wien  geboren  wurde, 
früher  in  Warschau  einrücken?  Nein: 

sich  zu  einem  ganz  verträumten  Lyriker  entwickeln,  der  sich  und  andere 
nur  in  lyrischen  Klängen  ergötzte;  als  wäre  ihm,  dem  Versonnenen, 
die  Kunst  dramatischen  Gestaltens  versagt.  Dann  aber  fand  er  auch 
dazu  die  Kraft.  Von  seinen  Dramen,  die  über  die  meisten  großen  öster- 
reichischen und  deutschen  Bühnen  gingen,  seien  genannt:  >Die  Hochzeit 
der  Sobeide«,  >Der  Abenteurer  und  die  Sängerin«,  >Elektra«,  »Das 
gerettete  Venedig«,  >Oedipus  und  die  Sphinx«,  »Jedermann«  und  >Der 
Rosenkavalier«. 

Diese  Werke  sind  reich  an  lyrischem  Reiz  und  voll  fremdartiger, 
großartiger  Sprachschönheit.  Hof  mann  sthals  Wesen  am  verwandtesten 
ist  unter  den  Modernen  wohl  Stefan  George. 

Hugo  v.  Hofmannsthal  wird,  wie  wir  hören,  ain  7.  Juli  hier  in 
Warschau  einen  öffentlichen  Vortrag  halten  über  »Österreich  im 
Spiegel  seiner  Dichtung«. 

Näheres  darüber  wird  noch  bekanntgegeben  werden. 

Kein  Zweifel.  Und  Österreich  verhänge  den  Spiegel.  Aber  der 
Poldi  wird  eine  Freud'  haben  und  wenn  er  schon  nicht  Baudelaire 
deklamiert,  während  draußen  die  Reklametrommeln  schlagen,  so 
wird  er  doch  Schiller  zitieren.  Er  hat  gewartet: 

Aus  Warschau  wird  berichtet:  .  .  .  Neben  dem  General- 
gouverneur Exzellenz  v.  Beseler  war  auch  der  Delegierte  des 
k.  u.  k.  Ministeriums  des  Äußern  Baron  Andrian  anwesend. 
Hofmannsthal  sagte  unter  anderm:  Betrachten  wir  die  neuere  öster- 
reichische Dichtung  als  ein  Ganzes,  so  wird  das  gleiche  Bild 
entgegentreten,  das  von  den  militärischen  Leistungen 
der  durch  historisclies  Schicksal  zu  einer  Einheit  verknüpften  öster- 
reichischen Länder  gegeben  wird.  In  der  Tat  wie  im  Kunstwerk 
wird  menschliches,  volkliches  Dasein  zu  Geist.  Sie  beide,  die  Tat  wie 
das  Kunstwerk,  reden  allein  reine  Wahrheit.  .  .  . 

Die  aber  eigentlich  in  der  Mitte  ist,   im   Kriegsfürsorgeamt. 


—  97  — 

Monumentum  aere  perennius 

Unsere    Generale    und    Flaggenoffiziere    im    Weltkrieg 

Herausgegeben     zu    Gunsten    des    k.    k.    österr.    Militär -Witwen-    und 

Waisenfonds    von    Geh.    Rat    General    der    Infanterie    Franz     Freiherr 

von  Schönaich,    Kriegsminister  a.  D. 

Unter  Leitung  des  Geh.  Rates  General  der  Infanterie  Emil  von  Woinovich, 
Direktor  des  k.  u.  k.  Kriegsarchivs   und   des   Generalmajor  Max  Ritter 

von  Hoen,   Kommandant  des  Kriegspressequartiers 
Redigiert      von      Oberstleutnant      Alois      Veltze,      Abteilungsvorstand 
im    k.    u.    k.    Kriegsarchiv.     Künstlerische    Leitung:     Eugen     Willoner 

Leiter  der  graphischen  Abteilung:    Julius  Klinger 
Wien  I,  Stock  im  Eisen  Nr.  3  Fernspecher  1488  Postsparkassenkonlo  150313 

Wien,   23.  Mai    1916 

Euer  Hochwohlgeboren  I 

Wir  beehren  uns  im  Nachstehenden  einen  Prospekt  des  im 
Verlage  des  k.  k.  Militär -Witwen-  und  Waisenfonds  erscheinenden 
Prachtwerkes 

Monumentum  aere  perennius 
zu  überreichen  und  bitten,  ihm  Ihre  geneigte  Aufmerksamkeit  zu 
schenken.  Wir  erwähnen  gleich,  daß  unsere  neueste  Publikation 
nicht  die  Bestimmung  hat,  die  zahlreichen  dem  Kriege  und  der 
Kriegsliteratur  gewidmeten  Werke  zu  vermehren.  Unser  Prachtwerk 
muß  vielmehr  schon  vermöge  seiner  äußeren  Aufmachung  auf 
Popularität  im  üblichen  Sinne  des  Wortes  verzichten  und 
wendet  sich  nur  an  die  ersten  Kreise  der  Gesellschaft,  die  in 
ihren  Salons  dieses  bleibende  Denkmal  an  die  große  Zeit  auf- 
richten und  damit  die  hehrste  Aufgabe  unserer  Kriegsfürsorge,  die 
Witwen-  und  Waisenfürsorge,  unterstützen  werden. 

Das  Werk  verspricht  sowohl  dem  Laien  wie  auch  dem  Sammler 
und  Bibliophilen  eine  reiche  Fülle  künstlerischer  Genüsse.  Zwei  hervor- 
ragende Künstler  haben  ihr  ganzes  Können  in  seinen  Dienst  gestellt 
und  ein  Literat  vom  Range  des  Direktors  des  k.  u.  k.  Kriegs-Archivs  hat 
die  redaktionelle  Leitung  übernommen. 

Das  vornehmste  Agitationsmittel  für  den  Absatz  des  Werkes 
muß  jedoch  sein,  daß  sein  Erträgnis  für  die  Witwen  und  Waisen  unserer 
gefallenen  Helden  bestimmt  ist  und  darum  die  Förderung  aller  guten 
Patrioten  verdient. 

Wir  laden  im  Hinblick  auf  diese  berücksichtigungswerten  Um- 
stände Euer  Hochwohlgeboren  zur  Subskription  ein  und  zeichnen 
mit  dem  Ausdrucke 

ergebener  Hochachtung 

Monumentum  aere  perennius 

für  die  Vertriebsabteilung 


—  98  — 

Iliade 

V/ien,  21.  April. 
Echtes  Soldatenblut  pulst  in  den  Adern  dieses  Feldherrn,  der .... 
Durch    die    ganze  Monarchie  kreuz    und  quer    war    Puhallos  Vater    mit 
dem  Säbel  in  der  Faust  .... 

Das  kann  schon  sein,  aber  es  sollte  doch  nicht  an  einem 
und  demselben  Tage  gleichlautend  in  allen  Zeitungen  stehen. 
Es  mag  schwer  sein,  wie  ein  Maßgebender  jüngst  beklagt  hat,  heute 
einen  Homer  zu  finden ;  aber  es  sollte  noch  schwerer  sein,  ein 
Korrespondenzbureau  zu  finden. 


Heldentod  und  Kondolenz 

Der  frühere  Regimentskommandant  Oberst  ....  hat  einen  schweren 
Verlust  erlitten.  Sein  Sohn  .  .  Leutnant  ....  Als  er  an  der  Spitze  seines 
Deutschmeisterzuges  stürmend  in  die  feindliche  Stellung  drang,  streckte 
ihn  ein  Kopfschuß  nieder  ....  aus  der  Wiener-Neustädter  Militär- 
Akademie  als  Jahrgangserster  ausgemustert  ....  von  glühender  Liebe 
für  seinen  Soldatenberuf  erfüllt  und  berechtigte  seine  Vorgesetzten  und 
seine  Eltern,  deren  einziges  Kind  er  war,  zu  den  schönsten 
Hoffnungen.  Dem  schwergeprüften  Vater  ....  wenden  sich  die 
allgemeinen  Sympathien  der  Wiener  Gesellschaft  zu. 

Mit  Recht.  Was  aber  des  Rechts  entbehrt,  ist  die  —  im 
Millionensterben  an  jeden  einzelnen  Fall  geknüpfte  —  Auffassung, 
als  ob  der  Heldentod  nicht  ^twa  die  Glorie,  nicht  einmal  das 
Risiko  des  Berufs,  sondern  ein  fataler  Zwischenfall  wäre, 
der  eine  zu  den  schönsten  Hoffnungen  berechtigende  Laufbahn 
abbricht,  noch  dazu,  wenn  diese  die  militärische  ist.  Zu  welchen 
schöneren  Hoffnungen  könnte  ein  Jüngling,  der  nicht  nur  deshalb 
dem  Ruf  des  Vaterlands  folgt,  weil  er  muß,  sondern  weil  er  will, 
seine  Vorgesetzten  und  seinen  Vater,  der  ein  Vorgesetzter  ist, 
berechtigen  als  zu  der  Erwartung,  er  werde  auch  den  größten  und 
letzten  Beweis  dafür,  daß  er  für  das  Vaterland  gelebt  hat,  nicht 
schuldig  bleiben?  Oder  nicht?  Oder  ist  die  Zeit  noch  sonderbarer 
als  groß?  Ein  Höherer  als  dieser  Vater  hat,  als  ihm  desgleichen 
geschah,  den  Heldentod  einen  >  grausamen  Schicksalsschlag« 
genannt.  Als  aber  ein  eingerückter  deutscher  Kaufmann  starb, 
sagten  die  Hinterbliebenen,  »die  Nom«  habe  ihm  »die  Wege  verlegt«. 


—  99  ~- 

Die  Kondolenlen  der  Zeit  tun  gut,  sich  an  die  heroische  Phrase  zu 
halten;  wenn  sie  die  bürgerliche  nehmen,  kommen  sie  am  Ende  in 
Gefahr,  die  Wahrheit  zu  sagen  und  vielleicht  gar  zu  fühlen. 


Gebet  nach  der  Schlacht 

>.  .  .  Das  sind  Erscheinungen  siedender  Hitze,  der  in  der  Natur 
wie  in  der  Politik  jähe  Rückschläge  zu  folgen  pflegen.  London  und 
Paris  dürften  heute  recht  verdrossen  sein.  Konsols  sind  auf  dem 
T  i  e  f  s  t  a  n  d  e.« 


Die  neue  Benedikt'sche  Formel 

Am  Morgen: 

Was  kannst  du?  Diese  Frage,  die  im  einfachsten  Leben  die 
Voraussetzung  des  Erfolges  ist,  wird  im  Kriege  zum  Schicksal. 

Am  Abend: 

In  der  Politik  wie  in  allen  menschlichen  Dingen,  in  denen  ein 
Erfolg  durchzusetzen  ist,  muß  die  Frage  aufgeworfen  werden: 
Was  kannst  du? 

Dieses  Tat-twam-asi  des  Börsenmanns  dürfte  für  die  nächste 
Zeit  die  Formel  bleiben.  Angewendet,  wenn  die  Reden  der  Entente- 
Politiker,  in  der  politischen  Sprache  auch  »Schmonzes«,  mit  den 
militärischen  Tatsachen,  in  der  strategischen  Sprache  auch  »Tachles« 
genannt,  keineswegs  übereinzustimmen  scheinen.  Was  kannst  du? 
Es  ist  eine  sogenannte  »Laienfrage«.  Die  Laienanlwort:  Kusch! 
wird  hiemit  im  Vollmachtsnamen  Europas  erteilt. 


Zum  Sprechen  ähnlich 

Die  Zensur  und  die  >Neue  Freie  Presse«:. 

Wien,  3.  Juli. 

Das  Sonntagblatt  der  »Neuen  Freien  Presse«  ist  verstümmelt  in 
die  Hände  der  Leser  gekommen  ....  das  Zusammenfassen  politischer 
Wirkungen  der  Kriegsereignisse,  das  Sprechen  zum  Publikum  an  Tagen, 
an  denen  es  eine  Stimme  hören  will,  die  es  aufrichtet  und  in 
der  es  sich  selbst  erkennt,  müssen  frei  sein  .... 

Wir  glauben,  einiges  dazu  beigetragen  zu  haben,  wenn  im 
Volke  in  der  bangen  Zeit  des  zweijährigen  Krieges  die  Zuversicht  be- 
festigt und  der  Kleinmut  verscheucht  wurde.  Bei  den  Eingriffen 


100 


in  den  lebendigen  Organismus  einer  Zeitung,  die  i  m  Kriege  auch  mit 
wirtschaftlichen    Sorgen    belastet    ist,  soll  die  Preßpolitik 

Das  muß  ein  feines  Publikum  sein,  welches  sich  nicht  nur 
sagen  läßt,  daß  es  diese  Stimme  hören  will  und  von  ihr  aufge- 
richtet wird,  sondern  daß  es  sich  in  ihr  selbst  erkennt!  Es  fühlt 
sich  nicht  getroffen,  sich  getroffen  zu  sehen.  Es  fühlt  sich  ge- 
schmeichelt. Es  sieht  so  aus,  wie  jener  redt! 

*  * 

* 

Der  Spiegel  für  die  Schönheit  der  Seele 

An  unsere  Leser  t 

Die  »Neue  Freie  Presse«  hat  bisher  an  Beiträgen  zur  Milderung 
der  Kriegsnot  zehn  Millionen  ausgewiesen. 

Das  Leben  österreichischer  Publizisten  ist  auch  im  Frieden  mühe- 
voll, aber  der  Krieg  hat  die  Arbeit,  die  Sorge  und  die  Gefahren 
noch  vervielfältigt.  Die  Stöße,  die  von  dem  Wechsel  der  Ereignisse  aus- 
gehen, treffen  das  Herz,  das  um  den  Verlauf  des  Tages  bangt,  die 
kleinsten  Schwingungen  mit  seinem  Schlage  begleitet  und  Erregungen, 
wie  noch  keine  Zeit  sie  hervorgerufen  hat,  widerstehen  muß. 

Die  Beschwerlichkeiten,  die  in  solchen  Krisen  auf  einem  Berufe 
lasten,  dessen  Gebieterin  die  Stunde  ist,  und  vieles,  das  besonders 
nahegeht,  alles  schrumpft  zur  Nichtigkeit  zusammen,  verglichen  mit 
der  Erhabenheit  einer  Welt  im  schmerzhaften  Werden,  mit  dem  weiten 
Meere  von  Leiden,  aber  auch  mit  der  Größe,  zu  der  unsere 
heutige  Gesellschaft,  zu  der  sich  alle  Schichten  erheben, 
zu  der  einfachen  Hingabe,  mit  der  die  Heimsuchungen  des  Krieges 
getragen  werden. 

.  .  .  wie  auf  den  Schlachtfeldern  und  im  Hinterlande  nie  geahnte 
Größenverhältnisse  sich  zeigten  ....  ist  auch  das  Mitleid  gewachsen, 
hat  sich  die  Erlcenntnis  vertieft,  daß  die  Nächstenliebe  nur  eine 
Erhöhung  und  Verfeinerung  der  Selbstliebe  ist  ...  . 

Die  machtvolle  Welle  des  Mitleids,  welche  die  Monarchie  durch- 
stürmt, hat  zehn  Millionen  Kronen  in  die  >Neue  Freie 
Presse«  gebracht,  eine  Summe,  nie  vorher  an  einer  einzelnen 
Sammelstelle  erreicht,  aus  großen  und  aus  vielen  kleinen  Spenden 
aus  den  Widmungen  aller  Klassen  zusammengesetzt,  oft  mit  Worten 
eingesendet,  die  das  Merkmal  der  Ergriffenheit  über 
persönliche  Erlebnisse  hatten. 

.  .  .  Krone  auf  Krone  haben  wir  in  jedem  Ausweise  gezählt  und 
immer  daran  gedacht,  daß  der  bescheidenste  Betrag  die  Macht,  gütig  zu 
sein,  vermehrt,  in  matten  Augen  die  Hoffnung  aufschimmern  läßt,  die 
Schönheit  der  Seele  widerspiegelt  .... 

Diese  zehn  Millionen  haben  die  Leser  der  >Neuen  Freien 
Presse«  uns  anvertraut  und  in  den  Ausweisen  gesehen,  daß 
sie  gewissenhaft  verwaltet  worden  sind  .... 


—  101 


Als  Erlös  eines  von  Frau  Charlotte  Preis,  derzeit  Parksanatorium 
Hütteldorf-Hacking  versteigerten  Salzstangerls  300  K. 

Parksanatorium  Hütteldorf-Hacking  als  Versteigerungserlös  eines 
von  dem  Kurgast  M.  Halphen  gewonnenen  und  von  demselben  mit 
einem  persönlichen  Einsatz  von  300  K  zu  weiterer  Versteigerung 
angebotenen  Salzstangerls  500  K.  .  .  . 

Musikgesellschaft  Pistollackel  als  Belohnung  für  ein  unterbliebenes 
Duett  1604  Kronen  .... 

Otto  Ni.  aus  Leilmeritz  und  Robert  Bi.  aus  Theresienstadt 
gratulieren  Rusi  Ni.  in  Wien  zum  freudigen  Famlienereignis :  »Gut  is' 
gangen,  nix  is  g'scheh'n!«  2.07  Kronen 

Und  alles  gewissenhaft  abgeführt. 


Parasiten  des  Weltuntergangs 

Administration  des 

«Neuen   Wiener   Journals" 

Telephon    16940. 

Wien,  I.,  im  Juli  1916. 
Euer  Hochwohlgeboren  I 

Anläßlich  der  Eröffnung  der  Kriegsausstellung  konnten 
wir  konstatieren,  daß  der  Pavillon  »Gewerbeförderung  des  Landes 
Niederösterreich«  sehr  hübsche  und  gelungene  Erzeugnisse  zur 
Schaustellung  beinhaltet. 

Dies  veranlaßt  uns,  Sie  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
daß  es  sehr  vorteilhaft  wäre,  wenn  das  große  Publikum  die  von 
Ihnen  ausgestellten  Gegenstände  in  der  Kriegsausstellung  gelegentlich 
besichtigen  würde.  Dies  zu  veranlassen  ist  nur  dann  gut  möglich, 
wenn  wir  im  Einvernehmen  mit  den  übrigen  Ausstellern,  soweit  diese 
im  Katalog  der  »Gewerbeförderung«  aufgezählt  erscheinen,  einen 
Artikel  in  unserem  >Neuen  Wiener  Journal«  publizieren. 
Sollte  dieser  Artikel  an  einem  Wochentag  erscheinen,  so  berechnen 
wir  für  die  Zeile  7  Kronen,  an  Sonntagen  8  Kronen. 

Wir  beabsichtigen,  diese  Publikation  ehebaldigst  zu  bringen,  und 
ersuchen  um  gefällige  Mitteilung,  in  welchem  Umfang  Sie  sich  auf 
Grund  der  vorgenannten  Preise  an  diesem  Artikel  zu  be- 
teiligen wünschen. 

Wir  übermitteln  Ihnen  in  der  Anlage  Retourcouvert  und  gewärtigen 
ehebaldigst  Ihre  zustimmende  Erledigung.  Inzwischen  zeichnen  wir 
Hochachtungsvoll 

Administration  des 
„Neuen  Wiener  Journals". 

Ist  alles   verboten   und   nur  das  erlaubt? 


102 


's  ist  etwas  faul  im  Staate  Dänemark 


Eine  in  ihrer  Art  einzig  da- 
stehende Freilichtaufführung  des 
> Hamlet«  inHelsingör  bildete  dieser 
Tage  den  Abschluß  der  künst- 
lerischen Veranstaltungen  in  Däne- 
mark zur  Feier  des  Shakespeare- 
Jubiläums.  Schon-  vor  Monaten 
wurde  von  dem  dänischen  Schrift- 
stellerklub der  Plan  gefaßt,  das 
Hamlet-Drama  an  jener  Stelle  zur 
Darstellung  zu  bringen,  auf  die 
Shakespeare  selbst  den  Schau- 
platz der  Handlung  verlegte  .... 
Ein  Überbleibsel  alter  Zeit  in- 
mitten neuer  Anlagen,  bildet  der 
massive  Bau  einen  merkwürdigen 
Gegensatz  ....  zu  dem  an- 
grenzenden, im  Frühjahr  und 
Sommer  von  Badegästen  be- 
völkerten Park  des  berühmten 
Kurhotels  »Marienlyst«,  wo  dem 
Besucher  neben  einer  Hamlet- 
Statue  auch  das  angebliche  Grab 
des  unglücklichen  Königssohnes 
gezeigt  wird  ....  Die  3000 
Zuhörer  folgten  mit  außerordent- 
lichem Interesse  der  Aufführung, 
und  die  Stimmung  des  nächt- 
lichen Renaissanceschlosses,  das 
Darsteller  und  Publikum  als 
grandiose  Dekoration  sozusagen 
in  einem  märchenhaften  Rahmen 
erscheinen  ließ,  steigerte  sich 
von  Szene  zu  Szene.  Dem 
Stücke  selbst  ging  ein  von 
Helge  Rode,  dem  Bruder  des 
dänischen  Ministers  des  Innern, 
verfaßter  Prolog  voraus,  in  dem 
die  Stunde  geschildert  wurde, 
in  der  Shakespeare  anläßlich 
eines  Besuches  von  Helsingör 
den  Plan  zur  Niederschrift  seines 
berühmten  Werkes  faßte.  Dann 
hielt  Georg  Brandes  einen  Vor- 
trag  zu   Ehren   des    Dichters  .... 


...  Es  ist  ja  auch  ganz  natür- 
lich, daß  sich  in  Kopenhagen  jetzt 
die  Jobber    niedergelassen    haben, 

denn  Kopenhagen  ist  Jetzt eine 

abenteuerliche  Stadt  geworden,  von 
wo  aus  die  Drähte  der  europäischen 
Spionagezentralen  ausgehen  .... 
Es  ist  ja  ganz  natürlich,  daß  hier  auch 
die  »Gulaschbarone«  ihr  Hauptquar- 
tier aufgeschlagen  haben  ....  Die 
winkenden  schwindelnden  Gewinne 
sind  es,  die  diesen  Typ  prägen  .... 
Aber  es  gibt  noch  andere,  weniger 
korrekte  Herren,  die  es  außerordent- 
lich gut  verstehen,  die  Gesetze  zu  um- 
gehen, die  Behörden  zu  narren  und 
Vermögen  zu  verdienen,  indem  sie 
Waren,  deren  Export  verboten  ist, 
aus  dem  Lande  schmuggeln.  Manch- 
mal wird  einer  dieser  modernen 
Schmuggler  festgenommen  und  dann 
gibt  es  einen  Skandal  für  die  Sen- 
sationspresse ....  Denn  in  Lizenzen 
wird  in  Malmö  tüchtig  gehandelt. 
Ob  nun  dieses  Papier  wirklich  vor- 
handen oder  ob  von  dem  Vor- 
handensein desselben  nur  per  Tele- 
phon oder  Telegraph  Mitteilung 
gemacht  wird,  jedenfalls  ist  es  der 
Ausgangspunkt  der  ungeheuerlich- 
sten Spekulationen  an  Malmös 
Börse  ....  Alle  verfolgen  nur  das 
eine  Ziel,  mit  dem  Goldstrome  dem 
Reichtum  entgegenzuschwimmen.... 
In  Kramers  Hotel  geht  alles  nicht 
so  offen  her  ....  Hier  werden  die 
wirklich  großen  Geschäfte  abge- 
schlossen; man  empfindet  dies 
mehr,  als  man  es  wirklich  sieht .... 
Die  Hauptsache  bleibt  natürlich 
auch  hier  der  Gewinn;  man  steckt 
ihn  ein,  und  später  fragt  kein  Mensch 
mehr,  wie  man  ihn  erworben  hat. 
Derneue  Adel  mit  dem  Gulaschbaron 
im  Schilde  hat  auch  seinen  Stolz  .... 


103  — 


Aus  der  Welt  des  Kino 

»Zu  den  zahlreichen  färstlichen  Gönnern,  die  sich  das  Kino 
während  der  verhältnismäßig  kurzen  Zeit  seines  Bestandes  gewonnen 
hat,  gehört  ganz  besonders  der  deutsche  Kaiser.  Er  entzieht  sich  einer 
Kinoaufnahme  nicht  im  geringsten,  ja,  wenn  man  die  Films,  die  ihn 
zeigen,  genauer  betrachtet,  merlct  man  unschwer  seine  Bereitwilligkeit, 
sich  in  die  Anforderungen  der  kinematographischen  Aufnahme  zu  fügen. 
Daß  Kaiser  Wilhelm  der  meistverfilmte  Herrscher  der  Erde  ist,  das 
haben  bekanntlich  seinerzeit  anläßlich  des  25jährigen  Regierungs- 
jubiläums die  illustrierten  Blätter  hervorgehoben.  Wir  erinnern  uns  an  ein 
Bild  in  einer  reichsdeutschen  Zeitschrift,  das  den  Kaiser  beim  Empfang 
eines  originellen  Geschenkes  darstellt:  einige  Kilometer  Film,  auf  dem 
er  selbst  zu  sehen  ist,  werden  ihm  überreicht.  Der  deutsche  Kaiser 
wird  aber  nicht  nur  sehr  oft  auf  den  Film  gebracht,  er  hat  in  Friedens- 
zeiten auch  sein  eigenes  Kino.  Im  Theatersaal  des  Neuen  Palais  fanden 
nämlich  in  den  letzten  Jahren  des  öfteren  Kinovorstellungen  statt. 
Übrigens  ist  es  für  das  Kino  charakteristisch,  daß  es  außer 
Kaiser  Wilhelm  noch  viele  andere  gekrönte  Häupter  zu  seinen  Freunden 
zählt.  Vielleicht  hängt  das  außer  mit  dem  natürlichen  Bedürfnis,  sich 
der  Nachwelt  in  vollem  Leben  zu  überliefern,  noch  damit  zusammen, 
daß  das  Kino  einem  klugen  Herrscher  Gelegenheit  bietet,  durch  die 
Sympathie,  die  er  dem  Kino  entgegenbringt,  Industrie  und  Handel 
zu  fördern,  c 


Die  gut  abgeschnittene  Sprache 

Oberleutnant  Immelmann,der  ruhmreiche  Fliegeroffizier,  dessenTod 
allgemein  bedauert  wird,  sandte  dieser  Tage  dem  Berliner  Schrift- 
stellet iVlackowsky,  derein  Buch  über  die  deutschen  Flieger  vorbereitet, 
auf  dessen  Ersuchen  einen  Brief  mit  biographischen  Daten,  den  die 
>B.  Z.  am  JVlittag«  veröffentlicht:  Der  letzte  Teil  dieser  im  Telegramm- 
stil abgefaßten  Selbstbiographie  Immelmanns  lautet  folgender- 
maßen: Tätigkeit  vor  dem  Kriege:  Schon  in  der  Jugend  starkes 
Interesse  für  Maschinen.  Erste  Absicht:  Maschinenbauer  werden. 
Im  Kadettenkorps  sehr  guter  Mechaniker  gewesen,  Sprachen  weniger 
gut  abgeschnitten.  Dienst  bei  Eisenbahnregiment  wenig  befriedigend, 
deshalb  alten  Plan  aufgenommen,  Maschinenbau  studiert  ....  Bei 
Kriegsausbruch  in  Eisenbahnregiment  eingezogen.  Unkriegerische 
Bautätigkeit  unbefriedigend  ....  Am  1.  August  mein  erster 
Kriegsflug  auf  Fokker-Eindecker;  gleich  einen  abgeschossen.... 
am    11.  Oktober    zum    erstenmal    im    Heeresbericht    mit    vier    abge- 


—  104 


schossenen  Gegnern  genannt  ....  bis  Anfang  Juni  fünfzehn 
Engländer  abgeschossen,  von  denen  vierzehn  auf  eigenem  Gebiete 
liegen;  eine  Anzahl,  auf  die  ich  allein  zurückblicken  kann. 
Tod  ist  immer  traurig,  ob  nun  den  trifft,  der  getroffen 
wird,  oder  den,  der  trifft.  Aber  Lebenslauf  sollte  nicht  immer 
dazu  dienen,  auf  dem  Laufenden  zu  erhalten.  Immermann,  der 
auch  ein  guter  Deutscher  war,  hätte  sich  nicht  so  lapidar  aus- 
gedrückt. Schopenhauer  hätte  an  den  gut  abgeschossenen  feindlichen 
Menschen  und  an  der  gut  abgeschnittenen  deutschen  Sprache  kaum 
seine  Freude  gehabt.  Der  »dieser  Tage«  telegraphisch  abgesandte,  wohl 
aus  dem  Jenseits  runtergeworfene  Lebenslauf  dürfte  einem  nach- 
lebenden Berliner  Schriftsteller,  der  immerhin  tief  unter  einem 
Flieger  lebt,  Pinke  Pinke  bringen. 


Eingedeutschtes 

(Leutnant  —  Leitmann.)  Wir  finden  in  deutschen  Blättern:  Es 
war  mir  eine  große  Freude,  Ihre  Mitteilung  von  der  hübschen  Ein- 
deutschung des  schauerlichen  >Trottoirs«  in  »Trottweg«  zu 
lesen,  zumal  ich  dadurch  an  eine  ähnliche  Wortbildung  erinnert  werde, 
die  mein  Sohn,  der  jetzt  als  Reserveleutnant  im  Felde  steht,  verbrochen 
hat,  als  ich  mich  mit  ihm  mal  über  Heeressachen  unterhielt.  Mit  dem 
Worte  Leutnant  konnte  er  gar  nicht  fertig  werden  und  machte 
daraus  >Leitmann«.  Das  gefiel  mir  so,  daß  ich  wiederholt  an- 
regte, die  Verdeutschung  aufzugreifen  und  an  Stelle  des  damals  noch 
üblichen  > Lieutenant«  anzuwenden.  Leider  fand  ich  keine  Gegen- 
liebe. Aber  vielleicht  könnten  Sie  durch  den  großen  Einfluß  Ihres 
Blattes,  zumal  in  der  heutigen  Zeit,  besser  darauf  hinwirken,  daß 
dieser  nach  meiner  Ansicht  ganz  vortreffliche  Ausdruck  mal  zur 
allgemeinen  Einführung  in  Erwägung  gezogen  wird.  Zum  »Hauptmannc 
würde  »Leitmann«  auch  dem  Wortsinn  nach  ganz  gut  passen  und 
ebenso  wohl  der  militärischen  Stellung  entsprechen.  Fleischhauer, 
Ober  leitmann  d.  L.  a.  D. 

Das  Trottoir,  das  gemeinhin  nur  dann  schauerlich  ist,  wenn 
die  Passanten,  die  dortselbst  trotten,  zumal  in  der  heutigen  Zeit, 
in  Trottel  übersetzt  werden  müssen,  wäre  also  bereits  mit  Erfolg 
»eingedeutscht«.  Eindeutschen  —  das  ist  die  Tätigkeit  jener  in  der 
Außenwelt  unbeliebten  Leute,  die  nach  erfolgter  Ablehnung  den 
heroischen  Entschluß  gefaßt  haben,  »sich  auf  sich  selbst  zu  besinnen«, 
wie  man  jetzt  sagt,  sich  also  gewissermaßen  freiwillig  in  ein  inneres 


—  105  — 

Konzentrationslager  zu  verfügen  und  von  einer  Walhalla  mit 
Exportabteilung  zu  träumen.  Da  es  kaum  gelingen  dürfte, 
sämtliche  fremden  Kulturen  einzudeutschen,  so  ist  es  nicht  unklug,  sich 
wenigstens  rechtzeitig  an  ein  paar  Fremdwörtern  zu  vergreifen,  sie 
als  Geiseln  zurückzubehalten  und  sich  an  ihnen  für  die  eigene 
Unbeliebtheit  zu  rächen.  Eindeutschen  —  ist  es  eine  Tortur? 
Eine  Strafe  ist  es.  Eine  »Heimsuchung«  ist  es  sicher.  »Eingedeutscht 
sollst  du  werden!«  Ist  es  eine  Zubereitung?  »Wir  haben  heute  zu 
Mittag  Eingedeutschtes  gehabt.«  Eindeutschen  —  das  ist  fast  eine  so 
vorsichtige  Tätigkeit,  wie  bei  Zeiten,  zumal  in  der  heutigen  Zeit, 
Dunstobst  einlegen.  Tatsächlich  werden  auch  mit  Vorliebe 
schon  alle  Speisen  eingedeutscht,  die  dann  weit  schmack- 
hafter sein  sollen  und,  soweit  erhältlich,  eben  darum  mehr 
kosten.  Nun  wäre  zwar  manch  einem  ein  Rumpsteak,  das  zu 
haben  ist,  lieber  als  ein  blutiges  Zwischenlendenstück,  das,  zumal 
in  der  heutigen  Zeit,  nicht  zu  haben  ist;  aber  die  beruhigende 
Gewißheit,  daß  man  es  unter  allen  Umständen  eindeutschen  kann, 
ist  auch  etwas  wert.  Ich  für  meinen  Geschmack  würde  eine  ein- 
gedeutschte Speise  wohl  nicht  mit  der  Feuerzange  anrühren  und 
wählte  den  Hungertod,  ehe  ich  davon  äße.  Würde  ich  nur  krank,  so 
würde  ich  an  deutschem  Wesen  sicher  nicht  genesen.  Aber  ich  würde 
auch  nie  behaupten,  daß  ich  mal  durch  ein  abgekürztes  Mal  satt 
geworden  wäre,  und  dann  behaglich  auf  dem  Trottweg  herumspaziert 
wäre,  so  bis  zum  nächsten  Fleischhauer,  um  auch  dort  nichts  zu 
kriegen,  höchstens  zu  erfahren,  daß  er  derzeit  seinen  Beruf  wo 
anders  ausübe,  nämlich  im  Feld,  nämlich  als  Oberleitmann. 
Sein  Sohn  hat  das  Geschäft  auch  nicht  übernehmen  können;  er 
hätte  es  als  Reservelcutnant  können,  hat  aber  als  Vorrats- 
leitmann einrücken  müssen.  Nein,  da  ist  nichts  zu  holen. 
Nein,  so  lebe  ich  nicht.  So  einer  bin  ich  nicht.  Ich  weiß,  daß  die 
Zeit  ernst  ist,  die  heutige.  Voll  Taten,  aber  auch  voll  Gedanken.  Voll 
Aufregungen,  aber  auch  voll  Anregungen.  Und  wenn  sie  sich  nur  den 
Respekt  vor  dem  Leitmann,  der  ihr  doch  wahrlich  in  Fleisch  und 
Blut  übergegangen  ist,  erhält,  so  kann  ihr  am  Ende  nichts  mehr 
fehlen  als  ein  paar  Fremdwörter,  zu  deren  Beseitigung  sie  das 
heroischeste  Opfer  auf  sich  genommen  hat,  nämlich  das  des 
Intellekts. 


106  — 


Ein  Scharmör 


>.  .  .  Süsser  (der  Verfasser  des  Werkes  .Deutscher,  sprich  deutscht'; 
regt  dann  an,  die  Fremdwörter  in  der  Schreibweise  zu  verdeutschen,  so 
zwar,  daß  man  ,Soße',  ,Palä',  ,Budoar'  usw.  schriebe.  .  .  .< 

Du  Süßer! 


Pfleget  die  deutsche  Sprache 

Der  Unterrichtsminister  hat  an  die  Landesschulräte  nachfolgenden 
Erlaß  gerichtet:  Während  d^s  gegenwärtigen  Krieges  hat  die 
Pflege  der  deutschen  Sprache  in  überaus  erfreulicher 
Weise  an  Kraft  und  Umfang  zugenommen  .... 

.      So? 

Den  Schulen  jeder  Art  erwächst  daher  die  Aufgabe,  in  der 
Bekämpfung  dieser  Unsitte 

nämlich  des  Gebrauches  der  Fremdwörter 

nicht  zu  erlahmen,  vielmehr  den  Reichtum  der  deutschen  Sprache  mehr 
und  mehr  den  Schülern  zu  eigen  zu  machen  und  durch  eine  nach 
der  Altersstufe  fortschreitende  Pflege  der  Form  von  Rede  und  Schrift 
das  Sprachgefühl  so  zu  stärken  und  eine  solche  Herrschaft 
über  das  Wort  zu  erringen,    daß  .... 

Aber  die  haben  sie  doch  eh! 

Es  darf  aber  anderseits  in  dem  Bestreben  ....  nicht  über  ein 
verständiges  Maß  ....  Die  richiige  Pflege  der  deutschen  Sprache 
erheischt  es,  bei  der  Bildung  und  Anwendung  neuer  Ersatzwörter  mit 
Vorsicht  und  nicht  ohne  sprachkundige  Beratung  vorzugehen 

Diese  Warnungstafel  sollte,  wie  jene  in  den  »Abteilen«,  in 
allen  Sprachen  gehalten  sein,  wobei  »dangereux«  auf  deutsch  natürlich 
»verboten«  hieße.  Aber  der  Unterrichtsminister  wird  mir  vielleicht 
nicht  abstreiten,  daß  ich  sprachkundig  bin,  und  dennoch  versichere 
ich  ihm,  daß  ich  jeden,  der  mich  auf  der  Bahn  um  Rat  fragen 
wollte,  ob  er  ruhigen  Gewissens  statt  Coupe  Abteil  sagen  dürfe, 
im  Namen  der  .deutschen  Sprache  auffordern  würde,  sich  zum 
Fenster  hinauszubeugen.  Der  Unterrichtsminister  verlangt  viel.  Er 
wünscht  sowohl  die  Vermeidung  entbehrlicher  Fremdwörter  wie 
die  Anwendung  solcher,  >für  die  noch  kein  vollgiltiges  Ersatzwort 


107  — 


eingebürgert  ist.«  Aber  wie  soll  sich  denn  ein  solches  einbürgern, 
wenn  der  Bürger  es  nicht  ausprobieren  darf? 

Bei  der  Auswahl  des  Lesestoffes  für  die  Sctiuljugend  jedes  Alters 
werden  neben  den  Meisterwerken  der  deutschen  Literatur  jene  Bücher 
den  Vorzug  verdienen,  die  der  sprachlichen  Richtigkeit  des  Gedanken- 
ausdrucks volle  Sorgfalt  widmen  und,  frei  von  entbehrlichen  Fremdwörtern 
wie  von  gekünstelter  Schreibweise,  auch  durch  sprachliche  Ausdrucks- 
form belehren. 

Mit  einem  Wort,  Ganghofer.  Ich  komme,  wiewohl  hin 
und  wieder  mit  mir  schon  Versuche  angestellt  wurden,  keineswegs 
in  Betracht,  da  ich  ja  der  sonderbaren  Meinung  anhänge, 
daß  ein  Aufsatz  von  mir,  der  aus  lauter  Fremdwörtern  bestände, 
besseres  Deutsch  sei  als  einer  von  Bartsch,  der  aus  lauter  deutschen 
Wörtern  zusammengesetzt  ist.  Der  Unterrichtsminister  spricht  die 
bestimmte  Erwartung  aus,  daß  außer  dem  »achtsamen  Lesen 
solcher  Bücher< 

ebenso  das  Hören  der  in  gutem  Deutsch  gehaltenen  Rede,  also  vor 
allem  das  Beispiel  des  Lehrers,  dem  das  richtige  Sprechen  nicht 
bloß    Pflicht    beim    Unterricht,    sondern    steter    Brauch    sein    soll 

bei  der  heranwachsenden  Jugend  das  Sprachgefühl  verfeinern 
werde.  Nämlich  sie  daran  gewöhnen  werde,  überflüssige  Fremd- 
wörter zu  vermeiden.  Aber  auch  schon  während  des  gegenwärtigen 
Kriegs  hat  ja  die  Pflege  der  deutschen  Sprache  in  überaus  erfreu- 
licher Weise  an  Kraft  und  Umfang  zugenommen,  indem  man  statt 
Roastbeef  blutiges  Rindslcndendoppelzwischenstück  mit  Barbaren- 
tunke zu  sagen  hat.  Und  dies  alles,  die  Auffassung  vom  »Sprach- 
gefühl« als  einer  Scheu  vor  Fremdwörtern,  die  Aufforderung,  »die 
Herrschaft  über  das  Wort  zu  erringen«,  und  dergleichen  mehr 
spielt  sich  vor  meinen  Augen,  im  achtzehnten  Jahr  der  Fackel 
ab,  für  deren  Stellung  zum  Phraseninhalt  dieser  achtzehn  Jahre 
dem  Unterrichtsminister  ein  gewisses  Verständnis  nachgerühmt 
wurde.  Nun  hantiert  er  zwischen  Begriffen  wie  »Sprachschatz«  und 
»Sprachgebrauch«,  glaubt,  weil  Andacht  auch  vor  dem  täglichen 
Brot  sich  schickt,  daß  Bäcker  und  Esser  an  dem  Geheimnis  teil- 
haben, aus  dem  das  Korn  entsteht,  und  hatte,  weil  deutschvolk- 
licher  Irrsinn  die  Sprache  für  politischen  Besitz  hält  und  weil  öster- 
reichischer Ehrgeiz  vermeint,  die  Schule  sei  dazu  da,  die  deutsche 
Sprache  wie  den  Fremdenverkehr  zu  pflegen  und  beides  tunlichst 
ohne  Fremdwörter  —  und  hatte,  weil  wir  gar  keine  andern  Sorgen 


—  108  — 


haben  und  darum  täglich  Vereinsbeschlüsse  über  die  Schöpfung 
fassen  müssen,  nicht  so  viel  Sprachgefühl,  mir  diesen  Erlaß 
zu  erlassen. 


Blätter  und  Folgen 

Die  nächste  Folge  der  »Tiroler  Soldatenzeitung«  bringt  über 
die  Einnahme  des  Panzerwerkes  Casa  Ratti  .... 

Was  ist  denn  das:  die  >Folge«  einer  Zeitung?  Ich  hasse 
Fremdwörter.  Die  Folge  einer  Zeitung  muß  etwas  Übles  sein. 
Vielleicht  ist  eine  Nummer  gemeint?  Es  ist  ja  doch  von  einem 
Zeitungsblatt  die  Rede,  oder  nicht? 

Die  Einnahme  von  Caisa  Ratti  wird  daher  stets  eines  der 
schönsten  Blätter  im  Ruhmeskranze  .... 

Jetzt  kenne  ich  mich  nicht  mehr  aus.  Ist  die  Einnahme  von 
Casa  Ratti  oder  die  nächste  Folge  der  »Tiroler  Soldatenzeitung«, 
die  sie  beschreibt,  eines  der  schönsten  Blätter? 

Die  in  einzelnen  Blättern  gebrachte  Nachricht,  daß  an  dieser 
Unternehmung  Jäger  beteiligt  gewesen  wären  .... 

Blätter?  Die  vom  Ruhmeskranz  oder  die  Folgen?  Ja,  das  sind 
die  Folgen,  wenn  eine  Sprache  sich  auf  den  Kampf  mit  Fremd- 
wörtern einläßt  und  dem  Ruhmeskranz,  den  sie  erwirbt,  nur  die 
ihr  angestammten  Phrasen  erhalten  will.  Aber  ich  lasse  meinen 
Patriotismus  (Vaterlandsliebe)  von  keinem  Idioten  (Trottel)  anzweifeln, 
wenn  ich  zum  Beispiel  den  Schwur  ablege,  daß  ich  ein  Rovereto,  das 
zu  Österreich  gehört,  einem  Rovreit,  das  die  Italiener  haben,  immer 
vorziehen  und  keinen  Schritt  über  die  Schwelle  von  Lafraun  setzen 
werde,  bis  es,  so  oder  so,  wieder  Lavarone  heißt.  Und  das  weiß  man 
Gottseidank,  daß  ich  für  die  Verbrennung  sämtlicher  Blätter  bin,  weil 
jede  ihrer  Nummern  außer  solchem  elenden  Hanswurstspiel,  mit 
dem  wir  dumm  gemacht  werden  sollen,  noch  andere,  weit  entsetz- 
lichere Folgen  auf  dem  Gewissen  hat! 


Gerüchte 

Die   englische   Offensive  —  im   Sumpfe   stecken  geblieben? 

Berlin,   1.  Juli.  Das  > Berliner  Tageblatt«  meldet  aus  Amsterdam: 
Nach    privaten    Berichten  Londoner    Zeitungen    aus    dem    Hauptquartier 


109 


wird  offen  eingeräumt,  daß  die  mit  vieltägigem  furchtbaren  Trommel- 
feuer vorbereitete  englische  Generalaktion  im  Sumpfe  stecken 
blieb    und    nirgends  über  die  ersten  Teilangriffe  hinausgekommen  ist. 

»Haben  Sie  schon  gehört,  die  Engländer  sind  im  Sumpf 
stecken  geblieben.«  »Also  wie  damals  die  Russen!«  Die  Phrase  ist 
gerüchtbildend.  Wo  ist  denn  in  dortiger  Gegend  ein  Sumpf?  Der 
Titel  selbst  fragt  wie  im  Zweifel  (der  fragende  Bote  ist  neuestens 
eine  der  lästigsten  Erscheinungen):  >Die  englische  Offensive  — 
im  Sumpfe  stecken  get)lieben?«  Da  heißt  es  von  der  russischen 
Offensive  mit  viel  mehr  Recht:  »daß  die  Ereignisse  noch  im  Fluß 
sind.«  Denn  dort  ist  einer. 


Eine  Schreckensnachricht 

Dezimierung     der     russischen    Studentenschaft 

Stockholm,  21.  Juli.  (Tel.  der  .Wiener  Allg.  Ztg.')  Infolge  der 
Einberufung  der  russischen  Studenten  in  die  Armee  ist  die  Moskauer 
Universität,  wie  die  neue  jnskriptionsperiode  ergibt,  fast  ausgestorben. ... 

Schon  infolge  der  Einberufung! 


Es  zieht! 

[Die  Kunst  in  der  Kriegsausstellung.]  ...um  die 
Palme  ringen  .  .  .  .  Die  imposanten  Winterlandschaften 
stellen  gewissermaßen  die  kriegerischen  Ereignisse  in  den 
Schatten  ....  Schattenstein  ....  fesselt  der  Blick  ....  Mehrere 
Landschafter  der  Wiener  Künstlervereinigungen  haben  gewissermaßen 
durch  den  Krieg  an  Tiefe  und  geistiger  Auffassung 
gewonnen  .  .  .  .  Das  Ölgemälde  »Operation  einer  Schußwunde« 
....  im  Vordergrunde  unsere  braven  Soldaten  ....  in  dieser 
flüchtigen  Übersicht  ....  ein  Ruhmestitel  unserer  Kriegsmaler  .... 
Aufmachung....  kennzeichnen  den  ehrlich-künstlerischen  Zug, 
der  durch  alle  Säle  geht. 

Zumachen ! 


110 


Die  Lebensmittelfälscher 

(Echte  Butter  als  Margarine  verkauft.)  Aus  Brixen  wird 
uns  berichtet:  Eine  Bäuerin  bei  Brixen  hatte  sich  zwei  Kübel  Margarine 
erworben,  diese  Kübel  dann  mit  echter  Butter  gefüllt  und  die  echte 
Butter  als  Margarine  weiterverkauft.  Der  Grund  hiefür  ist  darin  zu  finden, 
daß  in  Brixen  das  Kilogramm  Margarine  sechs  Kronen  und  das  Kilogramm 
Butter  vier  Kronen  kostet.  Der  Käufer  dieser  »Margarine«  war  mit  dem 
Kauf  durchaus  nicht  unzufrieden,  sondern  gab  vielmehr  seiner  Freude 
darüber  Ausdruck,  daß  sich  die  gekaufte  > Margarine«  als  echte  Butter 
entpuppte.  So  kam  die  Geschichte  auch  den  Margarinefabrikanten  zu 
Ohren,  und  diese  zeigten  die  Bäuerin  wegen  »Lebensmittel Verfälschung« 
an.  Das  Bezirksgericht  Brixen  sprach  wohl  nach  Einvernehmung  der 
Zeugen  die  Bäuerin  von  dem  Delikt  der  Lebensmittelverfälschung  frei, 
doch  die  höhere  Instanz,  das  Kreisgericht  von  Bozen,  verurteilte  diese 
wegen  Lebensmittelverfälschung  zu  24  Stunden  Arrest. 

Der  Fall  hat  mit  Naturnotwendigkeit  eintreten  müssen.  Nur 
daß  man  ihn  statt  nach  Bozen  in  eine  nördlichere  Gegend  ver- 
setzt hätte,  von  der  es  bekannt  ist,  daß  sie  in  besseren  Zeiten  nur 
echte  Margarine  bevorzugt  hat,  die  aber  gewiß  jetzt  auch  mit  ge- 
wöhnlicher Butter  vorlieb  nehmen  würde.  Als  dort  irgendwo  einmal 
der  Girardi  gastierte,  wurde  er  ja  auch  mit  dem  Hinweis  darauf,  daß 
er  den  Josephi  kopiere,  abgelehnt.  Was  aber  dort  nationale  Eigenart 
war,  ist  jetzt  der  Zug  der  Zeit,  die  überall  den  Schwindlern,  die 
das  Echte  für  ein  Surrogat  ausgeben  möchten,  scharf  auf  die 
Finger  sieht.  Weils  an  den  Surrogaten  zu  fehlen  beginnt,  kann 
darum  doch  kein  Mensch  gezwungen  werden,  Naturprodukte  zu 
verzehren,  das  fehlte  noch!  Die  Bäuerin  war  freilich  nicht  wegen 
Verfälschung,  sondern  wegen  Betrugs  zu  verurteilen.  Sie  hat  sich 
den  Umstand,  daß  in  Brixen  für  .Margarine  sechs  und  für  Butter 
vier  Kronen  gezahlt  werden,  zunutze  gemacht.  Weil  aber  die 
Margarinefabrikanten  der  Ansicht  sind,  daß  schon  die  Kuh  Lebens- 
mittelfälschung treibe,  so  konnte  sich  das  Kreisgericht  in  Bozen 
nicht  anders  helfen.  Ich  würde  glauben,  ich  sei  wegen  Betrugs 
zu  verurteilen,  wenn  ich  dem  Publikum  verschiedener  deutscher 
und  ungarischer  Städte  statt  der  dort  erscheinenden  >Fackel«  die 
meine  anhängen  wollte.  Nur  wenn  auch  in  Brixen  eine  erschiene, 
könnte  deren  Herausgeber  mich  mit  Erfolg  wegen  Plagiats  belangen. 


—  111 


Philosophie  des  Mangels 

Ein  ungarischer  Journalist  behauptet,  der  Präsident  des 
deutschen  Kriegsernährungsamtes  habe  zu  ihm  gesagt: 

Die  Verteilung  der  Lebensmittel  war  bisher  keine  ideale.  ..  . 
Gegen  den  Fleischmangel  kann  man  leider  gegenwärtig  nichts  tun, 
da  die  zur  Verfügung  stehende  Menge  gering  ist  ...  .  Von  einem 
drohenden  Fleischmangel  ist  keine  Rede.  Der  Verbrauch  an 
Kartoffeln  ist  jetzt  größer,  weil  wir  an  den  anderen  Lebensmitteln  keinen 
Oberfluß  haben. 

Solche  Verwirrung  entsteht,  wenn  die  Arbeit  von  guten 
Reden  begleitet  wird.  Wenn  von  einem  drohenden  Fleischmangel 
keine  Rede  ist,  so  hätte  der  Präsident  des  deutschen  Kriegs- 
ernährungsamtes sie  auch  nicht  halten  sollen.  Denn  er  wollte  doch 
wohl  nicht  sagen,  daß  von  einem  drohenden  Fieischmangel 
deshalb  keine  Rede  sei,  weil  er  selbst  einen  schon  bestehenden  zuge- 
geben hat,  gegen  den  man  nichts  tun  könne,  >da  die  zur  Verfügung 
stehende  Menge  gering  ist«  oder,  um  eine  andere  Definition  des 
Mangels  zu  geben,  da  wir  > keinen  Überfluß  haben«.  Auch  könnte 
selbst  eine  Weltanschauung,  die  die  Lebensmittel  ideologisch  verklärt, 
von  deren  Verteilung  unmöglich  sagen,  sie  sei  keine  ideale 
gewesen,  wenn  sie  nicht  einmal  eine  reale  war.  Es  ist  ja  schwer, 
an  jedem  Symptom  die  Wurzel  des  Übels  aufzuzeigen.  Aber  wenn 
die  Führenden  plötzlich  einsehen  wollten,  daß  sie  durch  den 
Umgang  mit  den  Schreibenden  das  Kraut  niciit  fett  machen,  traun, 
es  würde  von  selbst  wieder  feit! 


Diebstahl,  nicht  Fundverheimlichung 

Wien,  8.  Juni.  (Kriegsgefangene  auf  der  Flucht.)  Vor  dem  Heeres- 
divisionsgericht unter  dem  Vorsitze  des  Obersten  Vogel  und  unter 
Lehung  des  Oberleutnantauditors  Dr.  Zenta  hatte  sich  heute  der  russische 
Kriegsgefangene  Andrej  Semonowitsch  Nikolajew  wegen  eines  eigen- 
artigen Diebstahls  zu  verantworten.  Nach  Inhalt  der  vom  Oberleutnant- 
auditor Dr.  Robert  Kramer  vertretenen  Anklage  halte  der  Beschuldigte 
am  Ostermontag  gemeinsam  mit  einem  anderen  Kriegsgefangenen  den 
ihm  zugewiesenen  Arbeitsort  in  Leoben  eigenmächtig  verlassen,  war 
dann  in  einem  Walde  herumgeirrt.  ...  Im  Walde  begegnete  den  beiden 


112  — 


eine  Ziege.  Die  Kriegsgefangenen  erschlugen  das  Tier  mit  einem 
Steine,  zogen  die  Haut  ab,  und  nährten  sich  mehrere  Tage  von 

dem  Fleisch  der  Ziege In  der  Anklageschrift  wurde  die  Ziege  mit 

Rücksicht  auf  die  gegenwärtigen  Preis  Verhältnisse  mit  80  K 
bewertet,  weshalb  gegen  Nikolajew  die  Anklage  wegen  Verbrechens  des 
Diebstahls  mit  einer  Schadenssumme  von  über  50  K,  ferner  wegen 
eigenmächtigen  Verlassens  des  Dienstortes  erhoben  wurde.  In  der  heute 
durchgeführten  Verhandlung  erklärte  der  Angeklagte.  .  .  .  daß  er  die  Ziege 
erschlagen  und  einen  Teil  des  Fleisches  gegessen  habe,  weil  der  Mundvorrat 
zur  Neige  ging  und  weil  er  glaubte,    daß  es  eine  wilde  Ziege  sei.  .  .  . 

Der  Verteidiger  stellte  an  den  Sachverständigen  die  Frage,  wie 
viel  in  normalen  Zeiten  eine  Ziege  wert  gewesen  sei,  worauf  der  Sach- 
verständige erwiderte,  daß  vor  dem  Kriege  eine  Ziege  kaum  ein  Viertel 
dessen  gekostet  habe,  was  sie  heute  kostet.  Der  Militäranwalt  beantragte 
die  Verurteilung  des  Angeklagten  wegen  Verbrechens  des  Gesellschafts- 
diebstahls unter  Annahme  eines  Schadens  von  über  50  K  und  betonte, 
daß  der  Angeklagte  auch  eine  herrenlose  Ziege,  die  dem  Eigentümer 
des  betreffenden  Grundstückes  zufalle,  sich  anzueignen  nicht  berechtigt 
war.  Der  Verteidiger  trat  für  den  Freispruch  des  Angeklagten  ein,  da 
dieser  die  Ziege  offenbar  unter  dem  Zwange  des  Hungers 
erschlagen  und  gegessen  habe,  und  die  Vermutung  dafür  spreche,  daß 
die  Ziege  herrenloses  Gut  war. 

Das  Kriegsgericht  verurteilte  den  Beschuldigten  im  vollen  Um- 
fange der  Anklage  zu  vier  Monaten  schweren  Kerkers,  verschärft 
durch  einen  Fasttag  und  einmal  hartes  Lager  in  je  14  Tagen,  sowie 
durch  Einzelhaft  in  der  Dauer  von  zwei  Wochen  während  des  ersten 
und  letzten  Monats  der  Strafe.  .  .  . 

Ja,  eine  Ziege  ist  eben  kein  Hund,  ein  Nahrungsmittel 
kein  Fund,  Hunger  kein  Grund  und  ein  Russe  kein  Tramway- 
kondukteur! 


Nunc  est  bibendum 

Der  Zugsführer  Franz  Türke  erstattete  bei  der  Polizei  die 
Anzeige,  daß  ihm  am28. Februar  derKaufmann  Anton  Rziha  in  einem 
Gasthause  in  der  Pöchlarnstraße  durch  den  Wurf  eines  Halbliterglases 
Verletzungen  an  der  rechten  Hand  sowie  eine  Blutbeule  am 
linken  Auge  beigebracht  habe.  Gestern  war  Rziha  beim  Bezirks- 
gericht Leopoldstadt  wegen  leichter  Körperverletzung  angeklagt.  Er 
erzählte:  Der  Asphaltunternehmer  Franz  Kietzander  und  noch  einige 
meiner  Freunde  haben  mich  im  Spaß  auf  eine  Bank  nieder- 
gedrückt, so  daß  ich  mich  nicht  habe  wehren  können.  Dabei 
haben  sie  mich  mit    Wein    begossen.    Als    ich    mich    endlich    habe 


113 


loswinden  können,  habe  ich  in  einem  plötzlichen  Wutanfall  ein  Bier- 
kfügel  gegen  die  Wand  geschleudert.  Es  hat  leider  den  mir 
völlig  unbekannten  Zugsführer  getroffen.  —  Bezirksrichter  Dr.  Wüstinger: 
Ich  muß  nur  staunen,  daß  Leute,  die  nicht  mehr  so  jung  sind,  in  so 
ernster  Zeit  zu  solchen  Ulken  aufgelegt  sind.  —  Angekl.:  Wir  waren 
damals  so  übermütig  vor  lauter  Freude  über  die  siegreichen 
Fortschritte  vor  Verdun,  daß  wir  den  Sieg  zu  feiern 
beschlossen.  Erst  waren  wir  ja  auch  ganz  ernst  und  hielten  unter  uns 
so  manchen  feierlichen  Trinkspruch,  wie  das  aber  beim  Weintrinken 
schon  ist,  als  wir  zuviel  hatten,  war  es  mit  dem  Ernst  zu  Ende.  — 
Richter:  Unterlassen  Sie  künftig  solche  Siegesfeiern,  denn  wenn  Sie 
jedesmal,  wo  wir  doch  jetzt  Tag  für  Tag  so  herrliche  Siege 
erringen,  solche  Feiern  abhalten,  wird  es  ihrem  Patriotismus  keine 
Ehre  machen.  Das  soll  das  Ende  einer  Siegesfeier  sein,  daß  ein  Soldat, 
der  harmlos  im  Gasthause  seine  Erholung  sucht,  mit  einem  Bierkrügel 
verletzt  wirdi  —  Der  Richter  verurteilte  den  Angeklagten  bloß  zu  zehn 
Kronen  Geldstrafe. 

Ein  Soldat  wird  verwundet,  weil  das  Hinterland  einen  Sieges- 
rausch hat.  Besoffenheit  ist  ein  Milderungsgrund  für  Gewalt- 
tätigkeit, Patriotismus  ist  ein  Milderungsgrund  für  Besoffenheit. 
Aber  ich  als  Richter  hätte  keinen  Milderungsgrund  für  Patriotismus 
gefunden  und  das  Hinterland  zur  Front  verurteilt. 


Papiermange]  in  Österreich 

(Papiermangel,  Fahrscheine  und  Papierservietten.)  Eine  Dame 
schreibt  uns:  >Die  vielen  lausend  Fahrscheine,  die  täglich  beim 
Aussteigen  aus  der  Elektrischen  weggeworfen  werden,  könnten,  gesammelt, 
dem  Papi  er  mangel  tüchtig  aufhelfen.  Es  müßten  entsprechende 
Sammelkörbe  bei  jeder  Haltestelle  aufgestellt  oder  an  den  Wagen 
angebracht  werden,  und  auch  die  Fahrgäste  der  Stellwagen  könnten 
ihre  Fahrscheine  beisteuern.  Die  wenigen  vorhandenen  Abfallbehälter 
genfigen  nicht,  und  vor  allem  müßten  auffällige  Ankündigungen 
entsprechenden  Inhalts  in  den  Wagen  und  bei  den  Haltestellen  ange- 
bracht werden.  Ebenso  würde  das  Sammeln  der  jetzt  üblichen  Papier- 
servietten in  Konditoreien,  Kaffeehäusern,  Gasthäusern  und  Bahn- 
restaurationen ansehnliche  Mengen  Papier  ergeben.« 


—  114  — 


Einen  Fahrschein  beisteuern  —  das  wäre  ein  so  kleines 
Scherflein,  daß  es  wirklich  dem  Mangel  aufhelfen  könnte.  Aber 
helfen  wir  einer  Fülle  ab!  Sammeln  wir  Zeitungspapier!  Und 
schon,  ehe  es  bedruckt  wird!  Da  wären  wir  fein  heraus.  Aber 
wozu  braucht  man  denn  eigentlich  Papier?  Für  die  Banknoten? 
Für  die  Millionen  Aufrufe  zur  Kriegsanleihe,  die  die  Banken  an  einem 
Tag  durch  keuchende  Briefträgerinnen  in  die  Häuser  schicken  und  die, 
wie  die  Millionen  Aufrufe  zur  Wohltätigkeit,  von  keinem  Menschen 
gelesen,  in  die  eigens  aufgestellten  Papierkörbe  wandern?  Wenn 
dieses  ungeheure  Material  —  die  Prospekte  der  Urania  und  der 
Drogisten  gar  nicht  gerechnet  —  wenigstens  nach  erfolgter  Ver- 
geudung von  Menschenkräften  wieder  der  Papierfabrikation  zuge- 
führt würde,  so  wäre  das  Ergebnis  wohl  auch  ein  größeres  als  das  aus 
den  Fahrscheinen.  Was  diese  anlangt,  so  könnte  man  sie  freilich 
wieder  in  Papier  verwandeln,  um  die  Ankündigungen  herstellen 
zu  können,  durch  die  auf  die  Fahrscheinsammlung  hingewiesen 
wird.  Wie  aber  kriegt  man  bei  den  notigen  Zeiten  die  nötigen 
Sammelkörbe?  Könnte  man  sie  aus  Papierservietten  herstellen,  so 
gings  ja  zur  Not.  Wären  aber  Papierkörbe  aus  Papier,  so  hätte 
man  bald  keins  mehr  zum  Hineinwerfen.  Es  ist  halt  schwer.  Die 
deutsche  Chemie  hat  noch  kein  Verfahren  gefunden  —  sie  arbeitet  wohl 
daran  — ,  aus  Schmutz  Seife  zu  machen.  Aber  das  Ganze  ist  ein 
geistiges  Problem :  man  wird  sich  endlich  entscheiden  müssen,  was 
man  eigentlich  verwerten  und  was  man  erzielen  will.  Jetzt  und 
überhaupt  im  Leben.  Da  man  am  dringendsten  Zeitungen  braucht, 
so  entschließe  man  sich,  jeder  andern  Form  von  Papier  zu  entsagen. 
Papierservietten  sind  ein  Luxus  in  einer  Zeit,  in  der  man  von 
der  Hand  in  den  Mund  lebt,  demnach  sich  so  auch  abwischen  kann. 
Fahrscheine  auf  der  Elektrischen  sind  selbst  in  besseren  Zeiten  ein 
Unfug,  der  nur  den  Größenwahn  der  Kondukteure  fördert.  Sinn- 
voll sind  höchstens  Eisenbahnbillets;  und  wenn  die  nicht  mehr 
gedruckt  werden  könnten  —  eins,  hoffe  ich,  wird  immer  noch  zu 
haben  sein! 


115  — 


Vor  dem  Höllentor 

[Eröffnung  des  Gesellscfiaflsheimes  der  Österreichischen  politischen 
Gesellschaft]  ....  Hofrat  Dr.  Friedrich  Freiherr  v.  Wieser  eine  längere 
Rede  ....  Er  sagte  unter  anderm:  ».  .  .  Der  Krieg  hat  uns  den  Glauben 
an  uns  wiedergebracht,  und  dieser  Glaube  wird  uns  bleiben  .... 
Phalanx  ....  Österreich  den  Österreichern!  >.  .  .  und  im  Innern  sollen 
nur  die  zum  Woite  kommen  dürfen,  die  sich  zum  Staate  bekennen. 
Wer  nicht  durch  Liebe  und  Ehrfurcht  zu  ihm  hingezogen  ist, 
der  soll  durch  die  Furcht  niedergehalten  werden,  in  die  ihn 
die  Macht  des  öffentlichen  Gewissens  bannt .  .  . .«  ...  Landesberger .... 
Bezirksrat  Stiglitz  ....  kaiserlicher  Rat  Berl  ....  Kommerzialrat 
Koffmahn  ....  Neurath  ....  Herzfelder  .... 

Der  Freisinn  sagte  es,  der  Zensorfeind.  Aber  ich  bin  fest 
entschlossen,  nach  Beendigung  dieses  Krieges  Deutsch  als  Umgangs- 
sprache zu  verlernen  und  mich  vor  den  Beherrschern  der  deutschen 
Sprache  in  diese  selbst  zurückzuziehen,  um,  alle  Vorstellungen 
aufgebend,  sie  zu  bewahren  und  das  Gebiet  zu  räumen,  welches 
ich  behalte.  In  gebrochenem  Deutsch  wird  sich  meine  Konversation 
bewegen,  und  zu  dem  Worte,  das  sich  in  ihrem  Munde  wohl 
fühlt,  will  ich  nicht  kommen  und  lasse  es  nicht  zu  mir  kommen, 
so  daß  keiner  von  jenen  mehr  verstehen  wird,  wie  ichs  meine,  selbst 
wenn  ich  nicht  schreibe,  nur  spreche.  Phalanx,  werde  ich  sagen, 
nix  deuts,  ich  nicht  lieben  Stiglitz,  ich  nicht  Ehrfurcht  Landesberger, 
ich  fürchten  Neurath,  ja  ich  fürchten,  dieser  Glaube  uns  bleiben  — 
ich  niedergehalten  —  Preise  hoch  —  ich  fürchten,  böse  Zeit  kommen  — 
große  böse  Zeit  —  ich  fortfahren  zu  Nigger  —  dort  nicht  sehn 
kaiserlicher  Rat,  nicht  sehn  Berl,  Herzfelder,  nicht  sehn  Bezirksrat, 
Kommerzialrat,  Kaufmann,  Koffmahn,  Koofmich  —  nicht  mich 
koofen  —  ich  nicht  mehr  bemerken  Anwesende  —  nicht  mehr 
hören  —  nicht  mehr  sprechen  —  ich  fürchten  —  fürchten  —  fürchten  — 


—  116 


Die  Laufkatze 

Ein  Lieblingsgedanke  des  Erfinders  des  Gruben- 
hundes ist  endlich  realisiert  worden :  der  Neuen  Freien 
Presse  auch  eine  Laufkatze  anzuhängen.  Die  »Katzen - 
Steuer«,  zu  der  eine  Persönlichkeit  die  Anregung 
gegeben   hatte,  war  die  gefundene  Gelegenheit: 

(Die  Katzensteuer.)  Zu  der  in  unserem  Blatte  von  Herrn 
Viktor  Lustig  gegebenen  Anregung  der  > Katzensteuer«  schreibt 
man  uns:  »Es  wäre  noch  hinzuzufügen,  daß  sich  die  Katzenplage 
in  den  äußeren  Bezirken  besonders  fühlbar  macht.  Es  müßte  ihr 
auch  vom  humanitären  Standpunkt  gesteuert  werden,  weil  speziell 
in  Döbling  jetzt  viele  Ruhebedürftige  sich  befinden.  In  der 
Nähe  meiner  Wohnung  befindet  sich  der  geräumige  Hof  einer 
Fabrik,  wo  Tag  und  Nacht  eine  große  Anzahl  Laufkatzen  mit 
ihren  Jungen  einen  unerträglichen  Lärm  verursachen,  ohne  daß, 
trotz  lebhaften  Protestes  der  Anrainer,  diesem  Übelstande  bisher 
gesteuert  werden  konnte.  Behördliche  Intervention  wäre  dringend 
geboten  und  sie  wird  nach  Publikation  in  Ihrem  hochgeschätzten 
Blatte  auch  gewiß  erfolgen.  Dr.  Gabriel  Bardach.« 

Vor  allem:  der  »Zivilingenieur  Berdach«,  seit 
Friedenszeiten  unvergessen,  legt  Wert  auf  die  Fest- 
stellung, daß  er  mit  dem  oben  Genannten  nicht  identisch, 
nur  gesinnungsverwandt  ist.  Er  freut  sich  aber,  daß  in 
einer  Epoche,  in  der  so  viele  Anregungen  gegeben 
werden,  sein  Beispiel  fortwirkt.  Und  mit  ihm  erfreut, 
daß  alles  noch  beim  Alten  sei,  las  ich,  fern  von  Wien, 
die  zustimmende  Betrachtung,  welche  die  Arbeiter- 
Zeitung  dem  Vorfall  gewidmet  hat: 

•Die  Schwester  des  Grubenhundes:  die  Laufkatze. 
Der  bellende  Grubenhund,  mit  dem  die  ,Neue  Freie  Presse' 
seinerzeit  so  viel  Aufsehen  und  (unbeabsichtigte)  Heiterkeit  erregte, 
hat  ein  Schwesterchen  bekommen:  die  Laufkatze.  Die  ,Neue  Freie 
Presse'  hat  kürzlich  eine  »Anregung«  veröffentlicht,  daß  eine 
Katzensteuer  eingeführt  werden  solle,  also  kann  wie  der  Erfinder 
dieser  Idee  jeder  mit  vollem  Namen  in  das  Blatt  kommen,  der  zu 
dieser  Anregung  eine  Zuschrift  an  die  Redaktion  schickt.  Das  ist 
eine  alte  Einführung  bei  der  ,N.  Fr.  Pr.',  die  in  der  »Gesellschaft« 
so  beliebt  macht.  Von  dieser  Sitte  läßt  sie  nicht,  obwonl  ihr  dabei 
schon   so    mancherlei   Blamage   unterlaufen  ist.  Auch  diesmal  hat 


—  117 


cken,  in  der  diese  Anregung 

t«    begrüßt    wird,    weil   sich 

'ürftige  befinden«.  (Natürlich: 

^r   noblen    Bezirken  braucht 

der  abgedruckten   Zuschrift 

'.an     also    besteuern    soll; 
Strana  6  ^^>    ^^^   Laufkatzen   keine 

* J   in    Fabriken    aufhalten. 

7  "■*    ZTZIZi    '■      ~    ^„j  «liehen    Katzen,    sondern 

PftI  NEVOLNOSTl  3«  P"f°.^"^Jnde),  bewegliche  Wagen, 
Frantiäka  Josefa  pfijemnö  uömku^^^  ^.^  LeitToUen  für  die 
prostfedek,  ktery  i  v  mal^m  mnozstv^^^^.^^^  ^^^^^^  ^^^^^^^ 
znaönö  obtiäe.  Lekarsky  vrele  doporu.^^^  Aufsitzer   leicht  er- 

> Gesellschaft«  abdruckte. 


1  Republikänsky  autoklub  v  Kl»en,  wenn  es  sich  zur 
ücasti  nekolika  ±up  pofädä  hroma.as  ein  Einsender  schicW, 
na  Chodsko  a  Sumavu  o  velikonoen  eine  Laufkatze  eine  Geld- 
dne  12.  a  13.  dubna  t.  r.  2ädäme  oder  eine  blinde  Kuh  ist. 
värniky  naseho   dorostu,   nasi    Don  ,  .        .    n    •   ^ 

publikänske   organisace,    aby   uv6d-in   mocnie,   oau  jeuer 

eienstvo  a  toto  se  v  poctu  hromaore  —  eine  Kränkung 

nilo  a  pozdravilo  nasi  novou  or&A^inkler,  deSSen  Adels- 
jest  Republikänsky  autoklub.  8^^^^^^^^^^^  ^j^g  Qj-^^^j^. 
12.   dubna  0   10.   hod.  dop.   na  kl      •   ,  ■   ,      .n  • 

m63ti.  kam  rovnfeÄ  pfijede  hvte.)  SlCtlCr  eS  ISt  Oaß  im 
cyklistickä    Republikänsköho    dorchte  JÜdlSChe   Name    in 

naSi  iupy  pizenske.  an   das   hochgeschätzte 

^.c...  u.X.^^«te»^.  f^*f*^P*^'|?^^f  die  Behörden  Wunder 
gewirkt  hat,  so  Yieß  sicü*  'äoch  dem  Kommentar  der 
Arbeiter-Zeitung  die  erfreuliche  Vermutung  abgewinnen, 
daß  sich  die  Nachricht  wie  eine  Laufkatze  ver- 
breitet habe,  und  diese  Annahme  wurde  zur  Gewiß- 
heit, als  mir  am  nächsten  Tage  die  erdbebenartige 
Detonation  eines  Zornes  zu  Gehör  kam,  der  die  Heiter- 
keit steigerte,  durch  die  er  entfesselt  war.  Über  dieses 
Nachspiel  hat  die  Arbeiter-Zeitung  ein  Protokoll  auf- 
genommen, das  den  unter  dem  Titel  »Bübereien  im 
Kriege«  erschienenen  Ausbruch  enthält  und  das  hier 
mit  den  Zwischenbemerkungen  der  ,Arbeiter-Zeitung', 
aber  mit  den  mir  passenden  Unterstreichungen  wieder- 
gegeben wird: 


—  118  — 


*Die  Laufkatze  und  der  übergeschnappte  Heraus- 
geber. Die  Laufkatze  mit  ihren  Jungen,  die  die  Döblinger  Ruhe- 
bedürftigen stört,  hat  in  der  Redaktion  der  ,N,  Fr,  Pr.'  ein  gar 
schreckliches  Uniieil  angerichtet:  Der  Herr  Herausgeber  ist  ob  des 
letzten  Reinfalls  nämlich  komplett  meschugge  geworden.  Die 
fröhliche  Heiterkeit,  die  sein  neuester  Aufsitzer  in  Wien  ver- 
breitet hat,  veranlaßt  ihn  zu  einem  furchtbaren  Zornesausbruch. 
Da  man  sieht,  wie  er  vor  Wut  zerspringt,  wird  man  nur  immer 
fröhlicher;  also  müssen  das  die  Leser  wörtlich  lesen: 

Millionen  unserer  Mitbürger  sind  an  der  Front  und 
Millionen  im  Hinterland  sorgen  mit  ihnen  und  fühlen  die  Schwere 
einer,  die  Völker  von  Europa  bedrückenden  Krise.  In  einer  solchen 
Zeit,  die  namentlich  der  Presse  die  härtesten  Pflichten 
auferlegt  und  den  Dienst  für  das  Publikum  und  die  Erhaltung 
der  Angehörigen  des  Blattes  so  schwierig  macht  (man 
achte  auf  Benedikts  Zartsinh!  Red.  d.  Arb.-Ztg.)  haben  die 
Bübereien  in  der  Publizistik  nicht  aufgehört  und  werden  von 
Leuten  unterstützt,  die  durch  Teilnahme  oder  Ermunterung 
beweisen  (da  meint  er  uns!  Red.),  daß  sie  gar  keinen  Zusammen- 
hang mit  den  Stimmungen  des  Volkes  haben  und  daß  ihnen 
jeder  Ernst  feh lt.  Welche  Freude,  wenn  es  gelingt,  einen  durch 
Nachtarbeit  im  Kriege  abgehetzten  Redakteur  (Abend- 
blatt! Red.)  durch  einen  Brief  mit  Fälschung  einer  im  Wohnungs- 
verzeichnis befindlichen  Angabe  von  Namen  und  Wohnung  zu 
täuschen  (Aber  Dr.  Gabriel  Bardach  steht  im  Wohnungsverzeichnis 
nicht!  Red.)  und  ihn,  dessen  Gedanken  und  Empfindungen 
vom  Kriege  in  Anspruch  genommen  sind,  zu  einem  Über- 
sehen zu  bringen.  Wie  gefährlich  solche  Versuche  der  Irre- 
führung gerade  im  Kriege,  da  es  so  schwer  ist,  zwischen 
Gerücht  und  Wahrheit  zu  unterscheiden,  werden  können, 
wie  infam  dieses  verbrecherischeTreiben  ist,  darüber  werden 
die  Staatsbehörden  sich  zweifellos  eine  Ansicht  bilden 
und  die  entsprechenden  Folgen  ziehen  müssen. 

In  dem  Falle,  von  dem  wir  heute  sprechen,  sind  allerdings 
die  Betrüger  um  den  Erfolg  des  Betruges  gekommen. 
Wir  haben  eine  Notiz  veröffentlicht,  worin  die  Besteuerung  der 
Katzen  beantragt  wurde.  Wir  erhielten  eine  zweite  Zuschrift,  in 
der  von  Laufkatzen  gesprochen  worden  ist.  Da  es  uns  bekannt 
war,  daß  darunter  auch  eine  technische  Einrichtung  zu  verstehen 
ist,  so  haben  wir  im  Wörterbuch  der  deutschen  Sprache 
von  Dr.  Daniel  Sanders  nachgesehen,  ob  diese  Bezeichnung 
auch  in  dem  Sinne  von  läufig  angewendet  werden  könne.  Daniel 
Sanders  sagt  darüber:  >Läufig,  von  manchen  Tieren,  zum 
Beispiel  von  Katzen,  laufig.«  Da  in  dem  Wörterbuch  von 
Sanders  auf  diesen  Sprachgebrauch  ausdrücklich  hin- 
gewiesen wird,  ist  die  Büberei  im  Kriege  ohne  weiteren 


—  119  — 


Schaden  verprasselt.  Aber  welche  Niedrigkeit  gehört  zu  dem 
Versuch,  an  solchen  bewegten  Tagen  einen  mit  Arbeit  und 
Mühe  überlasteten  Redakteur  in  einen  Irrtum  bringen  zu  wollen. 
Wir  können  mit  voller  Wahrheit  und  mit  der  ernstesten 
Gewissenhaftigkeit  gegen  das  Publikum  versichern,  daß  der 
Redakteur  unseres  Blattes,  den  diese  Buben  antasten  wollten,  an 
Charakter,  Wissen  und  Sorgfalt  der  Arbeit  den  Müßig- 
gängern, die  diese  Gemeinheiten  aushecken,  weit  über- 
legen ist,  und  daß  jene,  die  in  einer  so  schweren  Krise  die 
Fratzerei  solcher  Fälschungen  begehen  wollten,  von  jedem 
Publizisten,  der  auf  seinen  Stand  hält  und  Standesgefühl  hat,  aus 
tiefstem  Herzen  verachtet  werden.  Die  Buben  sind  nicht  wert, 
daß  wir  sie  mit  dem  Fuße  wegstoßen,  aber  wir  glauben, 
daß  wir  einen  Vorfall,  der  in  keinem  anderen  Lande  der 
Welt  in  so  bösen  Tagen  auch  nur  denkbar  wäre,  ohne 
Rücksicht  darauf,  daß  die  Einsender  sich  lächerlich  gemacht 
haben,  öffentlich  besprechen  müssen,  weil  in  Kriegszeiten,  in 
denen  das  Publikum  zuweilen  von  starken  Er- 
schütterungen bewegt  ist,  solche  Infamien  ernste, 
weite  Kreise  berührende  Nachteile  haben  könnten. 

An  dieser  monumentalen  Frechheit  wird  jeder  Spott  zu 
Schanden;  es  ist  ja  so,  als  ob  sich  der  Herr  Herausgeber  selbst 
parodieren  wollte.  Aber  die  Schamlosigkeit,  den  »durch  Nachtarbeit 
gehetzten  Redakteur«  vorzuschieben,  kann  dem  Schwindler  nicht 
nachgesehen  werden.  Daß  man  einen  Redakteur  hineinfallen  lassen 
kann,  wäre  nichts  Besonderes;  ihm  eine  Falle  zu  legen  wäre  kein 
Verdienst.  Aber  es  sind  nicht  die  Redakteure,  die  da  aufsitzen,  es 
ist  das  System  Benedikt,  das  bloßgestellt  wird.  Das  System 
nämlich,  jeder  Zuschrift  von  jedem  Bardach  unweigerlich  Aufnahme 
zu  gewähren;  der  »Bardach«  ist  es,  dem  die  »gütige  Veröffent- 
lichung« sicher  ist.  Der  Ulk  dieser  Zuschriften  ist  nur  ein  Hilfs- 
mittel, um  dem  Publikum  dieses  System  klarzumachen:  daß  sogar 
aufgelegter  Unsinn  durch  die  Flagge  > Bardach«  gedeckt  wird. 
Die  Redakteure  der  ,N.  Fr.  Pr.'  —  die  es  doch  nicht  verschuldet 
haben,  daß  ein  Mensch  wie  Moriz  Benedikt  in  ihrem  Namen 
reden  darf;  sie  werden  das  Los  bitter  genug  tragen  —  die  würden 
die  »Zuschriften«  wohl  gern  in  den  Papierkorb  werfen,  wenn  eben 
der  Herr  Herausgeber,  diese  Verkörperung  der  Beziehungen  zu 
den  »Bardachs«  aller  Grade,  ihnen  die  sorgfältigste  Pflege  des 
Mischpochismus  nicht  zur  unwiderruflichen  Pflicht  gemacht  hätte. 
Und  daß  sich  jemand  die  Mühe  genommen  hat,  den  Nachweis  zu 
führen,  daß  an  dem  schmierigen  Wesen  der  ,N.  Fr.  Pr.'  auch  der 
Krieg  nichts  geändert  hat,  ist  ihm  nur  zu  danken,  obwohl  der 
Beweis  überflüssig  war:  hat  doch  das  Schandblatt  den  ganzen 
Krieg  überhaupt  nur  als  Reklame  für  sich  benützt.  Nicht  die 
intellektuelle   Unzulänglichkeit   der   ,N.   Fr.   Pr.',    ihre   moralische 


—  120 


Minderwertigkeit  wird  durch  die  lustigen  > Zuschriften«  aufgedeckt, 
und  die  Leute  lachen  nicht  darüber,  daß  man  dort  einen  Aufsitzer 
von  einer  ernsten  Sache  nicht  zu  unterscheiden  weiß,  sondern 
freuen  sich,  daß  die  schäbige  Eitelkeit  des  Herrn  Herausgebers  in 
die  klug  gelegte  Falle  geraten  ist.  Das  freut  alle,  die  die  ,N.  Fr.  Pr.' 
verachten,  und  verachtet  wird  sie  von  jedem,  der  sie  nur  einmal 
in  der  Hand  gehabt  hat.  Die  Tage  der  Grubenhunde  sind  die 
erquicklichsten  im  Leben  der  Abonnenten  der  ,N.  Fr.  Pr.'. 

Das  ist  nichts.  Das  sind,  um  in  der  Tonart  dieser 
gräßlichsten  Stimme,  die  je  das  Ohr  der  Welt  gepeinigt 
hat,  zu  sprechen,  »Sticheleien«.  Das  tut  nicht  weh. 
Man  muß  diesen  Schreihals  würgen,  bis  ihm  die  Lust 
vergeht,  sich  den  Freipaß  für  seine  Unsauberkeiten 
durch  Berufung  auf  die  Millionen  unserer  Mitbürger, 
die  an  der  Front  sind,  zu  verschaffen.  Man  muß  diesem 
rabiaten  Wucherer,  der,  anstatt  Jehovah  auf  den  Knien 
zu  danken,  daß  sein  Geschäft  unter  den  Augen  von 
Steueradministration,  Landesgericht  und  Kriegsgewalt 
florieren  kann,  die  Staatsbehörden  gegen  kulturelle 
Bestrebungen  aufzurufen  wagt,  so  auf  das  Maul 
schlagen,  daß  die  »Sorge«,  die  er  seit  zwei  Jahren 
täglich  am  Poincare  »nagen«  sieht,  ihn  wie  ein 
Schüttelfrost  befällt.  Er  meint,  weil  sich  nach  acht- 
zehnjährigem Schweigen  und  dem  riskantesten  In  sich- 
Geschäft  der  Wut,  das  die  Finanzgeschichte  kennt, 
eben  »die  Stiche  in  der  Leber  melden«,  die  er  dem 
Großfürsten  Nikolajewitsch  zugeschrieben  hat,  er  meint, 
wiewohl  ich  doch  die  Laufkatze  nicht  erfunden,  höchstens 
angeregt  habe  —  er  meint  mich  und  spricht  von 
Buben.  Ich  sage  Benedikt  und  meine  ihn!  Man  muß 
diesen  Banditen,  dessen  Gewalttätigkeit  gegen  die 
letzten  Überreste  eines  öffentlichen  Schamgefühls  von 
der  Unterworfenheit  hochgestellter  Preßknechte  erhitzt 
wird,  derart  überschreien,  daß  er  die  Glorie,  die  ihm 
zum  Alibi  seines  Handels  gut  genug  scheint,  er- 
schreckt aus  der  Pranke  fallen  läßt  und  nie  wieder 
auf  die  Idee  verfällt,  die  große  Zeit,  an  der  seine 
Opfer  leiden,  als  seine   eigene  Schonzeit    aufzufassen 


—  121   — 


und  sich  aus  dem .  blutigen  Strafgericht  der  Welt  eine 
Amnestie  herauszufetzen.  Man  muß,  wenn  ein 
solches  Individuum,  dessen  Raubgier  die  journalistische 
Schande  noch  um  eine  persönliche  Note  bereichert  und 
das  in  die  Pest  der  Zeit  noch  seinen  Atem  zu  senden  wagt, 
wenn  es  endlich  einmal  mit  seiner  gekränkten  Ehre  aus  dem 
Käfig  auf  die  Straße  läuft,  die  Gelegenheit  benützen  und 
ihm  so  scharf  in  die  Pupille  sehen,  daß  ihm  die  Stimme 
für  ein  paar  Leitartikel,  der  Gusto  auf  ein  paar  Börsen- 
manöver zwischen  Morgen-  und  Abendblatt  vergeht 
und  daß  es  »im  Gemäuer«  seines  Ansehens  vernehmlicher 
»zu  rieseln  beginnt«  als  in  dem  der  Entente,  so  ver- 
nehmlich, daß  etlichen  Botschaftern,  Feldzeugmeistern 
und  Fürsten  doch  einmal  bange  wird,  auf  die  Mitarbeit 
an  solchem  Handwerk  stolz  zu  sein.  Man  muß  den  ver- 
derblichsten Betrüger  der  mitteleuropäischen  Dummheit, 
der  sich  sein  patriotisches  Opfer  bestätigen  läßt,  wenn 
er  ein  paar  Spalten  seines  Bordells  einmal  gratis  zur  Ver- 
fügung gestellt  hat,  und  der  ins  Herrenhaus  gelangen 
möchte,  weil  er  bis  heute  straflos  an  der  Leichtgläubigkeit 
Millionen  verdient  hat,  man  muß  ihn  fragen,  ob  er 
ernstlich  glaubt,  daß  es  »in  einer  solchen  Zeit«  nicht 
dringlicher  als  in  irgendeiner  früheren  Zeit  geboten 
ist,  sein  Handwerk,  das  den  Offenbarungsglauben  für 
Unwissen  und  Unmoral  anspricht,  zu  entlarven,  eben 
jenes  Handwerk  zu  stigmatisieren,  das  den  äußersten 
Kontrast  zum  Schein  der  Zeit  bedeutet  und  sie  selbst 
auf  das  blutigste  stigmatisiert  hat.  Man  muß  ihn  fragen, 
ob  er  unter  der  Erhaltung  der  Angehörigen  »des  Blattes« 
(hundert  Hiebe  für  den  Größenwahn  dieser  schlichten 
Bezeichnung,  die  die  Welt  als  Zubehör  des  Blattes 
auffaßt !),  ob  er  unter  der  Erhaltung  dieser  »Angehörigen«, 
die  er  für  die  Angehörigen  der  Frontkämpfer  hält, 
ob  er  darunter  etwas  anderes  versteht  als  die  einer  irre- 
geführten Autorität  erpreßte  Möglichkeit,  seine  Plauderer, 
Laufburschen  und  Laufkatzenfänger  für  unentbehr- 
lich zu   erklären.    Ob    er  —  von    der   schon    lustigen 


—  122 


Blödheit  abgesehen,  die  jeden  um  11  Uhr  vormittag 
(nach  der  Sommerzeit!)  blamierten  Schmock  zum  ge- 
plagten »Nachtredakteur«  stempelt  —  ob  er  denn  toll 
geworden  sei,  daß  er  von  einem  »durch  Nachtarbeit 
im  Kriege  abgehetzten  Redakteur«  zu  sprechen  wagt, 
als  wäre  so  einer  direikt  aus  dem  Trommelfeuer  ge- 
kommen, um  die  Anregungen  zum  »Mistbauer  und 
die  Fliege«  zu  bewältigen  und  nun  die  Rubrik  »Katzen- 
steuer« zu  redigieren.  Man  muß  ihn  fragen,  ob  er 
durch  die  Lektüre  seiner  Leitartikel  so  um  alles  Maß 
gebracht  sei,  daß  er  wirklich  glaube,  es  könne  einen 
Menschen  in  Zentraleuropa  geben,  der  sich  die  Kriegs- 
sorsre  in  der  Figur  eines  Lokalredakteurs  der  Neuen 
Freien  Presse  verkörpert  denkt,  und  ob  er  endlich  gesonnen 
sei,  wenigstens  diese  fortwährende  Verwechslung  seines 
Geschreis  mit  dem  Weltgetöse  einzustellen,  die  uns 
noch  weit  lästiger  auf  die  Ohren  fällt  als  Krieg  und  Kriegs- 
geschrei. Ob  er  glaubt,  daß  die  Gedanken  und  Empfin- 
dungen seiner  Kommis,  die  »dem  Blatt«  zu  erhalten  ihm 
Sorge  macht,  mehr  vom  Krieg,  der  ihnen  —  siehe 
Sanders  —  »stagelgrün  aufliegt«,  in  Anspruch  genommen 
sind  als  von  der  beständigen  Furcht  vor  einer  Stimme,  die 
aus  Schmalz  in  »Gegralz«  übergehend,  auf  Sammtpfoten 
heranschleicht,  um  plötzlich  in  ein  Berserkergebrüll  zu 
entarten,  und  die  unerträglicher  ist  als  selbst  der  Lärm 
von  tausend  Laufkatzen  mit  ihren  Jungen  speziell  in 
Döbling.  Man  muß  ihn  fragen,  was  er  eigentlich  unter 
»Fälschung«  verstehe:  die  schlichte  Erfindung  eines 
echten,  in  jeder  Lebenslage  glaubhaften  jüdischen 
Namens,  auf  den  —  schon  aus  Pietät  für  den  ähn- 
lichen Berdach  in  der  Glockengasse  —  die  Neue 
Freie  Presse  unfehlbar  anbeißt,  oder  die  dummfreche 
Behauptung,  es  sei  die  »Fälschung  einer  im  Wohnungs- 
verzeichnis befindlichen  Angabe  von  Namen  und 
Wohnung«  begangen  worden,  wenn  dort  eine  solche 
sich  tatsächlich  nicht  befindet.  Ob  er  glaubt,  daß  die 
Enthüllung,  die  Neue  Freie  Presse  habe  einem  Bardach 


—  123  — 


zuliebe  eine  Laufkatze  Junge  werfen  lassen,  »im  Kriege« 
gefährlicher  als  im  Frieden  sei  und  ungünstig  auf  die 
russische  Offensive  wirken  könnte.  Ob  er,  weil  es  nun 
einmal  so  schwer  ist,  im  Kriege  zwischen  Gerücht  und 
Wahrheit  zu  unterscheiden,  glaubt,  daß  das  Gerücht, 
eine  Laufkatze  habe  in  die  Neue  Freie  Presse 
Junge  geworfen,  schädlicher  sei  und  geeigneter,  dem 
Völkerhaß  Nahrung  zu  geben,  als  die  seinerzeit  gern 
gedruckte  und  heute  noch  nicht  widerrufene  Wahrheit, 
die  Franzosen  hätten  Bomben  auf  Nürnberg  geworfen. 
Ob  die  Verwendung  von  Laufkatzen  im  Kriege 
von  der  Haager  Konvention  verpönt  sei,  während 
der  Gebrauch  von  Grubenhunden  im  Frieden  unan- 
gefochten geblieben  ist  und  bis  heute  schweigend  hin- 
genommen wurde.  Ob  dem  gewissenhaften  Redakteur 
damals  »bekannt  war«,  daß  ein  Grubenhund  »auch 
eine  technische  Einrichtung«  bedeuten  könne,  und 
ob  er  damals  im  Sanders  nachgeschlagen  und  fest- 
gestellt habe,  daß  diese  Bezeichnung  auch  im  Sinne 
von  »in  der  Grube  lebend«  angewendet  werden  kann. 
Was  den  Erfolg  des  heutigen  »Betruges«  anlangt,  der 
ja  hinlänglich  mißraten  scheint,  so  wäre  die  Unschuld, 
deren  Irreführung  versucht  wurde,  auf  die  Frage  fest- 
zunageln, warum  sie,  um  der  gefährlichen  Neben- 
bedeutung willen,  die  ihr  bekannt  war,  die  Laufkatze, 
die  in  der  Redaktion  eingelaufen  war,  nicht  vorsichts- 
halber doch  lieber  verscheucht,  sondern  um  eines 
Bardach  willen,  dessen  Bedeutung  ihr  einwand- 
frei schien  und  der  an  ein  hochgeschätztes  Blatt 
appellierte,  welchem  die  Behörden  gegen  Laufkatzen 
so  schnell  parieren  werden  wie  gegen  deren  Erfinder, 
sich  so  viel  Kopfzerbrechen  gemacht  und  so  viel  von 
der  großen  Zeit  verloren  hat.  Insbesondere  müßte 
gefragt  werden,  ob  die  Angabe,  es  sei  »bekannt« 
gewesen  und  trotzdem  sei  aus  Gewissenhaftigkeit 
noch  im  Sanders  nachgesehen  worden,  ohne  eine 
Spur  von  Schamröte  aufrecht  gehalten  wird  und  ob  nicht. 


124 


wenn  es  dabei  bleibt,  die  Lüge  die  Blamage 
vervollständigt,  weil  ja  außer  dem  »Übersehen« 
auch  noch  zum  Überfluß  Nachsehen  mitgewirkt 
hätte.  Ob  der  Aufsitzer,  dessen  Absicht  die  denkbar 
einfachste  war,  nicht  erst  durch  die  Aufklärung 
zu  vollem  Effekt  gelangt,  so  als  wollte  der  Irregeführte 
dem  Verführer  zeigen,  daß  es  noch  viel  komischer  sei,  als 
er  selbst  geglaubt  hat.  Ob  die  Vermutung,  eine  Lauf- 
katze könne  vielleicht  »auch«  eine  läufige  Katze  sein, 
nicht  eher  durch  die  Verbindung  mit  den  Jungen,  die 
schon  einen  unerträglichen  Lärm  verursachen,  ehe  sie 
geboren  sind,  berichtigt,  als  durch  die  Auskunft  des 
Sanders  bestätigt  wird.  Und  ob  die  Vermutung,  daß  eine 
Laufkatze  >auch  in  dem  Sinne  von  läufig  angewendet 
werden  kann«,  wirklich  durch  die  Auskunft  des  Sanders 
bestätigt  wird:  »Läufig,  von  manchen  Tieren,  zum 
Beispiel  von  Katzen,  laufig.«  Ob  nicht  vielmehr  eine 
solche  Vermutung  erst  durch  die  nicht  erteilbare  Auskunft 
bestätigt  würde:  »Läufig,  von  manchen  Tieren,  zum 
Beispiel  von  Katzen,  daher  auch  Laufkatzen  genannt« 
oder:  »Laufkatze  a)  technische  Einrichtung  b)  läufige 
Katze«.  Ob  nicht  der  Schluß:  »da  in  dem  Wörterbuch 
von  Sanders  auf  diesen  Sprachgebrauch  ausdrücklich 
hingewiesen  wird«  die  allerfrechste  Fälschung  und 
Blödmacherei  des  Lesers  bedeutet,  da  im  Sanders  aller- 
dings auf  »diesen«  Sprachgebrauch  hingewiesen  wird, 
»dieser«  Sprachgebrauch  aber  nichts  für  jenen  Sprach- 
gebrauch beweist,  der  unter  einer  Laufkatze  eine 
läufige  Katze  verstehen  ließe;  da  niemand  bezweifelt 
hat,  daß  es  »läufige  Katzen«  im  Sprachgebrauch 
gibt,  diese  Gewißheit  vielmehr  erst  die  Irreführung 
wirksam  macht;  und  da  der  »Sprachgebrauch«  einer 
Laufkatze  im  Sinne  von  läufiger  Katze  weder  im 
Sanders  noch  sonst  im  Leben  vorkommt.  Es  ist  doch 
der  stärkste  Beweis  für  die  Möglichkeit,  dem  Leser 
mehr  als  dem  Redakteur  zuzumuten,  wenn  man  ihm 
den    Gedankengang    serviert:    da    im     Sanders    ein 


—  125  — 


anderer  Sprachgebrauch  ausdrücklich  bestätigt  wird, 
so  erkannten  wir,  daß  der  Sprachgebrauch  bestätigt  ist. 
»Idiot«  kann  allerdings  sowohl  Dummkopf  als  auch  Privat- 
mann bedeuten.  Wenn  nun  aber  ein  solcher  behauptet, 
er  habe  sich  beruhigt  so  nennen  lassen  können,  weil 
er  im  Fremdwörterbuch  bestätigt  gefunden  habe,  daß 
»Idealist«  von  manchen  Menschen,  zum  Beispiel  von 
Börseanern,  angewendet  wird,  so  bedeutet  Idiot  auch 
Schwindler.  Bis  zu  welchem  Grade  er  das  ist,  wäre 
erst  durch  die  Frage  festzustellen,  ob  er  wirklich 
im  Sanders,  in  dem  er  natürlich  nicht  vor  dem 
Erscheinen  der  Laufkatze,  sondern  erst  nach  entstandenem 
Schaden  das  Nachsehen  hatte  —  ob  er  dort  wirklich 
die  Erklärung  gefunden  hat :  »Läufig,  von  manchen 
Tieren,  zum  Beispiel  von  Katzen,  laufig.«  Es  mag  ja 
sein,  daß  der  Sanders  —  die  Wissenschaft  kommt  der 
Presse  gern  entgegen  —  schnell  eine  Auflage  ver- 
anstaltet hat,  in  der  eine  Deutung  von  »läufig«  steht, 
die  durch  die  Zitierung  des  Beispiels  der  Katze  und 
durch  die  aparte,  höchstens  im  Wiener  Dialekt  mög- 
liche Form  »laufig«  dem  Wortbild  der  »Laufkatze« 
nahekommt,  ohne  diese  selbst  anzuführen.  Ich  weiß 
es  nicht  und  ich  will  nicht  in  Abrede  stellen,  daß  der 
Schwindler  eine  solche  neuere,  verstärkte  Auflage  des 
Sanders  —  der  ihm  ja  stark  aufliegt  —  besitzt,  die 
es  ihm  durch  die  Darbietung  einer  »laufigen  Katze« 
ermöglicht,  dem  Leser  einzureden,  es  sei  dort  »aus- 
drücklich« eine  Laufkatze  offeriert.  In  meiner  Auflage 
des  Sanders,  die  es  mit  Recht  verschmäht,  irgendwelche 
Tiergattung  als  Beispiel  anzuführen,  um  nicht  den 
läufigen  Katzen  vor  den  läufigen  Hunden  den  Vorzug 
zu  geben,  und  der  es  auch  nicht  einfällt,  durch  die 
Anführung  des  seltenen  »laufig«  dem  »Lauf-«  näher- 
zukommen, ist  die  Sache  so  dargestellt:  »Läufig,  -isch, 
a. :  V,  manchen  Tieren  (u.  verächtl.  v.  Menschen) : 
v.  d.  Brunst  ergriffen  (s.  laufen  2).«  Wie  dem 
immer    aber    sein    mag,    so    neu    kann    gar    keine 


126 


Auflage  des  Sanders  sein,  daß  man  aus  ihr  heraus- 
lesen könnte,  eine  Laufkatze  sei  eine  laufige  Katze, 
und  so  alt  ist  keine,  daß  sie  nicht  diese  Version  als  einen 
Druckfehler,  nämlich  als  lausig  erkennen  ließe.  Aber 
der  von  keiner  Scham  mehr  gebändigte  Schwindler, 
der  seine  Leser  mit  demselben  Tonfall  der  Plausi- 
bilität  hineinlegt,  mit  dem  man  ihn  selbst 
bezwungen  hat,  wäre  nun  noch  zu  fragen,  ob  nicht  die 
Beteuerung,  dem  beruhigenden  Aufschluß  des  Sanders 
sei  es  zu  verdanken,  daß  »die  Büberei  im  Kriege 
ohne  weiteren  Schaden  verprasselt^  sei,  ob  solche  Rede 
nicht  vielmehr  der  Kausalnexus  eines  Paranoikers  im  fort- 
geschrittenen Stadium  ist  oder,  wie  eben  dieser  einmal 
von  Sir  Grey  gesagt  hat,  Europa  der  Spielball  eines 
»Wirren«.  Ob  die  Anklage,  die  Irreführung  sei  »an 
solchen  bewegten  Tagen«  an  einem  Redakteur  began- 
gen worden,  der  an  solchen  bewegten  Tagen  mit  der 
Einrichtung  der  Lustig-  und  Bardachbriefe  über  die 
Katzenplage  betraut  war,  und  die  Befriedigung,  daß 
zum  Glück  kein  weiterer  Schaden  im  Krieg  gestiftet 
worden  sei,  weil  im  Sanders  das  Wort  »läufig«  vorkommt  — 
ob  solches  Auf  und  Ab  nicht  eben  das  klinische  Bild 
ergibt,  das  man  in  bewegten  Zeiten  schon  oft  an 
aufgeregten  Leuten,  speziell  in  Döbling,  beobachtet 
hat,  an  solchen,  die  schon  vor  der  Irreführung  sich  an 
deren  Ziel  befunden  haben.  Ob  der  Kranke  aber 
nicht  doch  einen  hellen  Moment  hat,  wo  er  er- 
kennt, daß  die  Versicherung,  sein  Dienstbote  für  Lokales 
sei  irgendeinem  »Müßiggänger«,  nicht  etwa  nur  den 
Anregern  kulturell  höchst  wertvoller  Versuche,  »an 
Charakter,  Wissen  und  Sorgfalt  der  Arbeit  überlegen«, 
keineswegs  ernsteste  Gewissenhaftigkeit,  sondern  blanke 
Vermessenheit  war.  Ob  er  dann  noch  die  Entschuldi- 
gung der  schweren  Krise  Europas  für  die  Unfälle  einer 
Redaktion  geltend  machen  könnte,  die  niemand  in 
ihrem  Recht  auf  Unwissenheit  antasten  wird,  aber  jeder  in 
ihrem  frechen  Anspruch  auf  Allwissenheit  zu  erschüttern 


127 


die  Pflicht  hat.  Denn  es  braucht  nicht  zum  hundert- 
sten Mal  gesagt  zu  werden,  daß  kein  Mensch  außer 
einem  Alleswisser  wissen  muß,  was  eine  Laufkatze  ist, 
und  daß  es  ein  höchst  verdienstvolles  »Vollbringen« 
im  Kriege  ist,  zu  dem  wir  »unsern  Gruß  entbieten«,  einem 
Land- und  Seeräuber,  der  Kitcheners  Tod  ein  ruhmloses 
Ende  nennt,  aber  jedem  Bardach  zu  einem  ruhmvollen 
Leben  verhilft  und  um  solches  Respekts  willen  den 
Schiffbruch  seiner  Wissenschaft  erleben  muß.  Anstand 
und  Bescheidenheit  zu  lehren.  Daß  es  nicht  gelingt, 
hängt  mit  der  UnvoUkommenheit  aller  technischen 
Einrichtungen  zusammen.  Denn  immernoch  wird  es  einem 
Schwindler  leichter  glücken,  der  Dummheit  seiner 
Leser  Entrüstung  über  einen  Satiriker,  als  dem 
Satiriker,  ihr  Mißtrauen  gegen  einen  Schwindler  bei- 
zubringen. Dieser  fängt  sie  mit  dem  Krieg,  redet  ihr 
ein,  eine  Laufkatze  verbreite  sich  wie  ein  Gerücht, 
und  hat  die  Stirn,  wie  einst,  da  ein  Pfuscher  durch  die 
leere  Erfindung  einer  an  sich  möglichen  Explosion  ihm 
leichtes  Spiel  ließ,  in  dem  Geschrei  über  »vert)recherische 
Irreführung  der  Neuen  Freien  Presse«  den  Grubenhund 
und  Berdachs  Erdbebenbeobachtungen  als  »falsche 
Nachrichten«  zu  verschütten,  ohne  doch  mit  einem 
Sterbenswörtchen  auf  solchen  Ursprung  alles  Wehs 
hinzudeuten,  geschweige  denn  auf  den  Lebensschmerz, 
der  sich  ihm  in  meinem  ganzen  Dasein  verkörpert.  Könnte 
daraus  ein  Leitartikel  werden,  so  würde  der  sagen: 
»man  kann  sich  vorstellen«,  wie  dieses  Kapital  an 
Rachsucht  brach  liegen  muß  und  wie  es  wurmen  mag, 
daß  die  einzige  Waffe  des  Totschweigens  den  Feind 
nicht  zu  leben  gehindert  hat,  und  wie  man,  wenn 
man  sich  nicht  durch  gelegenthche  allgemeine  Aus- 
brüche Luft  machte,  in  Gefahr  käme,  sich  selbst  zu 
Tod  zu  schweigen.  Ich  lehne  es  durchaus  nicht  ab, 
dem  schwer  Ringenden  im  tragischen  Konflikt  zwischen 
seinem  Gelübde  und  seiner  Galle  zu  helfen  und  mich 
zwar  nicht  getroffen,  aber  gemeint  zu  fühlen,  wenn  er 


—  128 


irgendein  Schimpfwort  ausgestoßen  hat.  Nie  vermöchte 
seine  Rede  mich  so  sehr  anzugreifen,  wie  ihn  sein 
Schweigen,  und  er  weiß,  daß  sein  noch  so  lautes 
Gebärdenspiel  mich  nie  abhalten  wird,  zu  ihm  zu 
sprechen,  und  daß  ich,  wenn  ich  einmal  Lust  verspüre, 
etliche  »Laienfragen«  an  ihn  zu  stellen,  dies  ohne 
Rücksicht  darauf  tun  werde,  ob  er  die  bezüglichen 
Laienantworten  erteilt.  Er  weiß,  daß  ich  ihn  bekämpfe, 
weil  ich  ihn  für  die  Pest  halte,  nicht  weil  er  mich 
gekränkt  hat.  Er  weiß,  daß  er  mich  nie  gekränkt  hat, 
daß  ich  als  Knabe  die  Chance,  meine  Seele  anstecken 
zu  lassen,  zurückgewiesen  habe,  und  daß  alle  anders- 
gerichtete Version  Verleumdung  ist,  bezogen  aus  dem 
jüdischen  Sagenkreis,  in  dem  ein  Angriff  nur  als 
Revanche  für  einen  entzogenen  Vorteil  gedacht  werden 
kann.  Er  weiß,  daß  die  aus  den  tiefsten  Quellen  der 
Kommerzseele  geschöpfte  Frage :  »Was  haben  Sie  gegen 
den  Benedikt?«  von  keiner  Aufklärung  beruhigt  werden 
kann.  Er  weiß  um  eine  Selbstlosigkeit,  die  ihn  und 
alle  verachtet,  die  um  seine  Gunst  Meinung  und  Ehre 
verkaufen.  Er  weiß,  daß  ich  der  ganzen  judenchristlichen 
Welt  dieses  Hinterlandes,  die  auf  das  Wort  eines 
besessenen  Börseaners  lauscht,  dem  Kitcheners  Ende 
nicht  ruhmvoll  genug  ist,  reinsten  Herzens  Kitcheners 
Latrinen  wünsche.  Vergißt  er's  und  übernimmt  er  sich, 
so  werde  er  mit  aller  erdenklichen  Entschiedenheit 
befragt,  ob  er  nicht  dennoch  sich  so  viel  Besinnung 
bewahrt  habe,  daß  er  zugeben  muß,  die  Zurück- 
weisung des  Kultuigestanks  beweise  immerhin 
einen  bessern  Zusammenhang  mit  den  »Stimmungen« 
als  sein  Betrieb,  und  daß  es  weit  ehrenvoller  sei,  vom 
Fuße  des  Herrn  Benedikt  weggestoßen  zu  werden 
als  die  Hand  des  Herrn  Benedikt  drücken  zu  dürfen. 
Und  ob  er  —  hier  aber  fasse  man  ihn  fest  ins  Auge; 
hier  stelle  man  ein  an  allen  Fronten  verachtetes  Indi- 
viduum, dessen  eigene  Front  den  furchtbaren  Sieger- 
glanz des  Ritualräubers  trägt;  hier  trete  man  dicht  an 


129 


das  numidische  Ponem  eines  Jugurtha,  der  seinen 
Fuß  auf  den  Nacken  Roms  und  aller  Christenerde 
setzt;  hier  frage  man:  ob  er  mit  voller  Wahrheit 
und  mit  der  ernstesten  Gewissenhaftigkeit  versichern 
kann,  daß  es  frivoler  sei,  in  Kriegszeiten,  in  denen 
das  Publikum  und  die  Börse  zuweilen  von  starken 
Erschütterungen  bewegt  sind,  dem  schädlichsten  Para- 
siten solcher  Bewegtheit  einen  Possen  zu  spielen,  als 
in  solchen  Zeiten,  also  gelegentlich  einer  Schlacht  bei 
Lemberg  durch  vierzehn  Tage  das  Jubiläum  »des 
Blattes«  zu  feiern  und  im  Moratorium  von  den  Banken 
Gelder  für  hundert  Annoncenseiten  zu  erpressen. 
Ob  ein  Mensch,  der  das  Eisen,  unter  dem  die 
Millionen  sterben,  von  dem  Anteil  an  den  Millionen  jener 
kennt,  die  vom  Eisen  leben,  ob  ein  Redakteur,  der  unter 
dem  eisernen  Diktat  eines  Vertreters  des  Eisenkartells 
eine  Berichtigung  gratis  schreiben  muß,  anstatt  durch 
den  Angriff  eineErhöhung  des  Pauschales  erzielt  zu  haben, 
ob  ein  Zoolog,  der  sich  unter  allen  Arten  von  Katzen  nur 
mit  den  Geldkatzen  auskennt,  die  ihm  freilich  auch  Junge 
abwerfen,  ob  ein  Philosoph,  der  das  Leben  eines  Mönches 
führt,  weil  er  in  der  Welt  Bankdirektoren  treffen 
könnte,  die  einzigen  Wesen  im  Staat,  die  sein  An- 
sehen tarifmäßig  berechnen  können  —  ob  so  einer,  wenn 
er  uns  schon  mit  seinen  Meinungen  und  Leiden- 
schaften und  Einbildungen  und  Stimmungen  und  mit 
den  Einzelheiten  und  mit  den  Details  das  Ohr  betäuben 
darf,  nicht  wenigstens  doch  das  Recht  verwirkt  hat,  sich 
mit  seiner  Ehre  laut  zu  machen.  Ob  es  selbst  dem 
Hirnverbrannten  erlaubt  ist,  darauf  zu  rechnen,  daß  die 
Behörden  gegen  die  Plage  der  Laufkatzen  so  schnell 
intervenieren  werden  wie  gegen  die  Katzenplage: 
Notiz  in  der  Freien  Presse  genügt,  arretiere 
sofort.  Ob  sich  der  »lächerlich  gemacht«  hat,  der,  in 
guter  Erfassung  meines  seit  anno  Erdbeben  propa- 
gierten kultursatirischen  Ernstes,  vom  Grubenhund, 
von    dessen   verheimlichtem    Biß  die   Tollwut  stammt. 


-  130  — 


glücklich  fortgeschritten  ist  und  heute  den  Mut  hat, 
eine  Laufkatze  eine  Laufkatze  zu  nennen  —  und  nicht 
vielmehr  jener,  der  lächerlich  wurde,  weil  es  gelang,  und 
wäre  er  trotzdem  ernst  zu  nehmen,  durch  die  ver- 
zweifelte Abwehr,  bei  der  der  Größenwahn  die  Dumm- 
heit um  Hilfe  anbrüllt.  Denn  den  Aufsitzer  könnte  er 
schweigend  überleben;  die  Beschwerde  wegen  Miß- 
brauchs der  redaktionellen  Nervenzerrüttung  im  Kriege 
könnte  er  vor  Trotteln  mit  einigem  Anspruch  auf  Be- 
dauern vorbringen  —  aber  so  dumm  sollte  kein  Leser  in 
den  Zentralstaaten  sein,  daß  er  die  Verteidigung 
einer  Wachsamkeit,  die  um  den  einen  Sinn  der 
Laufkatze  gewußt  haben  will  und  den  andern  erfüllt 
gefunden  hat,  der  also  nicht  das  geringste  passiert 
ist  und  die  sich  trotzdem  so  rabiat  gebärdet,  hingehen 
lassen  könnte.  Einem  Schläfer  Maikäfer  ins  Bett 
praktizieren,  ist  keine  Kulturtat:  sie  wird  es  erst,  wenn 
dort  sonst  nur  Wanzen  sind,  die  jener  für  Edelsteine 
ausgibt;  und  wenn  er  gar  nachträglich  behauptet,  er  habe 
nicht  geschlafen  und  die  Maikäfer  seien  auch  Edel- 
steine, aber  insofern  sie  Maikäfer  seien,  liege  eine 
Büberei  vor,  so  ist  das  Experiment  bis  zu  einem  Grade 
geglückt,  daß  man  annehmen  müßte,  die  Nachbar- 
schaft werde  mit  dieser  vielfachen  Unsauberkeit  in 
Bett  und  Gehirn  endlich  einmal  aufräumen.  Die  ein- 
zige Hemmung  für  solche  Gründlichkeit  ist  das  Mitleid, 
und  diese  hält  auch  das  Verhör  durch  die  Frage  auf, 
die  man  sich  selbst  zu  stellen  hätte:  ob  es  nicht  wirklich 
frivol  ist,  einem  Zeitungsmenschen,  dessen  Midasgabe, 
alles  was  er  berührt  in  Humor  zu  verwandeln,  das  Tages- 
gespräch bildet,  noch  durch  gelegentliche  Mitarbeit 
aufhelfen  zu  wollen;  dem  Leitartikler,  dessen  tägliche 
Sorge  die  Sorge  Poincares  ist,  dessen  »Einbildungs- 
kraft« das  letzte  Lachen  einer  verblutenden  Welt  sichert, 
der  die  Nase  der  Kleopatra  gemessen  hat,  von  Puschkins 
Geliebter  über  das  Bankhaus  Eskeles  zum  Leutnant 
Mlaker    stürmt,    »die   Milliarde«    umarmt,    der   Armee 


—  131  — 


seinen  Gruß  entbietet  und,  bald  Springinsgeld,  bald 
Patriot,  zugleich  Märchenerzähler  und  Bilanzknecht,  die 
Leserschaft  durch  täglich  neue  Kapriolen  entzückt.  Ob  es 
nicht  an  sich  schon  lächerlich  ist,  dem  Vortänzer  des 
tragischen  Karnevals,  wenn  der  in  seinem  Maskenzug 
nichts  führte  als  die  Schalek,  auch  noch  eine  Lauf- 
katze anzuhängen!  Diese  Erwägung  aber,  die  wieder 
vor  einem,  der  nachweislich  diesseits  der  Schwelle  des 
Tollhauses  sein  Gewerbe  treibt  und  sich  andauernd 
des  Zuspruchs  der  höchsten  Kundschaft  erfreut,  über- 
triebene Rücksicht  wäre,  weicht  der  Erbitterung  über 
eine  Frechheit,  die  nicht  nur  Haltet  den  Dieb !  ruft, 
sondern  das  Verdienst,  dem  Staatsfeind  auf  die  Finger 
zu  sehen,  als  Kriegsverrat  ausgeben  möchte.  Aug  in 
Aug,  die  Hand  am  Schreihals,  werde  der  Heuchler, 
der  den  Versuch,  Verwirrung  in  einer  Diebshöhle  an- 
zustiften, für  ein  verbrecherisches  Treiben  hält  und 
dessen  Unzurechnungsfähigkeit  keinen  Milderungsgrund, 
nur  die  tägliche  phantastische  Abwechslung  dieses 
blutmaschinellen  Einerleis  bedeutet,  verhört  bis  zur 
letzten,  unerbittlichen  Frage:  ob  er  denn  glaubt,  daß 
nicht  eben  der  Krieg  der  geeignete  Zeitpunkt  sei,  den 
Burgfrieden  der  Hyänen  zu  stören.  Aber  ich  weiß, 
eher  wird  eine  solche  zum  Samariter  werden  und 
eher  wird  eine  Laufkatze  Junge  kriegen,  bevor 
jener  mir  darauf  Antwort  gibt! 


—  132 


Granaten  gegen  Sterne 

Traum  und  Verzicht  des  Fortschritts 

(Der  Weg  zu  d  en  S  t  er  nen.j  Ein  Flieger,  der  in 
der  Sekunde  etwa  28  Meter  zurücklegt,  würde  nach  fünfmonatiger 
ununterbrochener  Fahrt  den  Mond  erreichen,  währender 
5800  Jahre  unterwegs  sein  müßte,  um  zum  Abendstern  zu 
gelangen.  Wollte  er  dagegen  der  Sonne  einen  Besuch  abstatten, 
so  brauchte  er  nicht  weniger  als  17.000  Jahre  zu  dieser  Reise,  die 
ein  Lichtstrahl  bei  einer  Geschwindigkeit  von  300.000  Metern  pro 
Sekunde  in  knapp  8V2  Minuten  bewältigen  könnte.  Der  gleiche 
Lichtstrahl,  der  in  I74  Sekunden  den  Mond  und  in  etwas  über 
4  Stunden  den  Neptun,  den  der  Erde  fernsten  Planeten,  erreichen 
würde,  müßte  doch  10.000  Jahre  das  unermeßliche  Weltall  durch- 
eilen, um  zu  den  äußersten  Sternen  derMiichstraße  zu 
gelangen,  die  von  einer  von  der  Erde  abgefeuerten 
Granate  erst  nach  Verlauf  von  3bis  4  Milliarden 
Jahren  getroffen  würden.  5  Jahre  brauchte  sie  allein 
bis  zur  Sonne,  dagegen  nur  41/2  Tage  bis  zum  Mond, 
der  unser  nächster  Nachbar  im  Weltraum  ist.  In  die  Tat  lassen 
sich  derartige  Berechnungen  freilich  nicht  umsetzen,  denn  dazu 
reicht  unsere  schwache  Kraft  nicht  aus,  aber  sie 
geben  uns  immerhin  ein  anschauliches  Bild  von  der  ungeheuren 
Ausdehnung  des  unsere  winzige  Erde  umschließenden  Universums. 

Und  von  der  ungeheueren  Ausdehnung  unserer 
das  Universum  umschHeßenden  Bestialität! 


r   gesamten    Auflage   dieses   Heftes  ist   ein  Prospekt   des 
erlags    der  Schriften    von   Karl  Kraus,    Leipzig«    beigelegt 


iALT  der  vorigen  fünffachen  Nummer  426—430,  15.  Juni  1916: 
s  übervolle  Haus  jubelte  den  Helden  begeistert  zu,  die  stramm 
utierend  dankten  /  Das  Gegenstück  /  Glossen  /  Der  tragische 
rneval    /    Notizen     /    Der   Krie?    im    Schulbuch     /    Glossen    / 


Kleiner  Konzertltflusson 

Uli.   Lothringerstraße  20) 
MONTAG,  18.  SEPTEMBER  191 

PRÄZISE  HALB  8  UHR 

VORLESUNG 

KARL  KRAU! 


KARTEN  XU  K  10.—,  8.—,  6-—,  4.—,  2-—,  1.—  an  d( 
Konzerthauskassa,  III.  Lothringerstraße  20,  bei 
Kehlendorffer,  I.  Krugerstraße  3  und  in  der 
Buchhandlung  Friedlaender,  Kirntnerstraße  44 


NR,  437—442       NOVEMBER  1916       XVin.  JAH] 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

Tagebuch  /  Zum  ewigen  Gedächtnis  /  Glossen  /  Epigram 
aufs  Hochgebirge  /  Made  in  Germany  /  Der  soziale  Standpun 
vor  Tieren  /  Glossen  /  Memoiren  /  Notizen  /  Sendung 
Landschaft  /  Glossen  /  Auf  der  Suche  nach  dem  Menschen  i 
Heros  /  Klärungen  /  Das  Unterbewußtsein  im  Kriege  /  Glossen 
Gebet  während  der  Schlacht 


NACHDRUCK   VERBOTEN 

Preis  dieses  Heiles: 

1  Krone  SO  Heller  ==  1  Mark  50  PS. 


VERLAG  DER  SCHRIFTEN  VON  KARL  KRAU 

(KURT  WOLFF) 


WORTE  IN  VERSEf 

In  3.  Auflage: 

Die  Chinesische  Mauei 

Essays 


Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  durch  den  Verh 
Leipzig,  Kreuzstraße  3  b 

erscheint  in  zwangloser  Folge. 

Das  Abonnement   erstreckt  sich    nicht   auf   einen   Zeitraum,    sondern   auf  ei 
bestimmte  Anzahl  von  Nummern. 

Für  Österreich-Ungarn:         FürdasDeutsche  Reich:  Weltpostverein: 

18  Nummern     K  4.50         18  Nummern  Mk.  4.—         18  Nummern    K    6.— 
36         „  „  9.-         36         „  „    8.-         36         „  „  12.- 


INHALT  der  vorigen  sechsfachen  Nummer  431—436,  2.  August  191 
Feiertage  /  Hunde,  Menschen,  Journalisten  /  Glossen  /  Diplomaten 
Notizen  /  Solche  Kontraste  gibt's  nur  an  der  Front  /  Von  eine 
Mann  namens  Ernst  Posse   /  Glossen   /   Die  Laufkatze  /  Granat( 

gegen  Sterne 
Mit  einer  Illustration  : 


DIE  FACKEL 

Nr.  437-442  31.  OKTOBER  1916  XVIII.  JAHR 


Tagebuch 


2     — 


Zum  ewigen  Gedächtnis 


Eingänge:  II.  Taborstraße  8.   —    II.  Praterstraße  13. 


Heute  Eröffnung!  Vorstellungen  um  e  und  SUhr  abends.  ÜBUte  ErÖffflUng ! 
DiP"  Erstaufführung  von   ~va 

:B  o  s  d  a  m     »  t  i  rriL  o  f  f 

Von  Alfred  Deutsch-German. 

Der  König Zar  Ferdinand  von  Bulgarien 

Bogdan Herr  Georg  Reimers  (Burgtheater) 

Anja     Frau  Lotte  Medelsky  (Burglheater) 

Max  Falk Herr  Eugen  Frank  (Burgtheater) 

Die  Fee  der  Treue  .  Frau  Marietta  Piccaver 

Giovanni Herr  Lackner  (Volkstheater) 

Anna Fräulein  Kutschera  (Burgtheater) 

usw.  usw.  usw. 

Ort  der  Handlung:  Im  Vorspiel  Bulgarien,  im  1.  Akt 
Amerika,  im  2.  Akt  auf  dem  Ozean,  im  3.  und  4.  Akt  auf 
dem  Schlachtfelde  Bulgariens  und  am  Königshof  zu  Sofia. 


Der  billigste  Platz  ist  6  Meter  von  der  Bildfläche  entfernt.    Preise  von  60  Hellet  an. 


Glossen 

Stimmen  der  Presse 

»[Eine  Ovation  für  Zar  Ferdinand  der  Bulgaren]  ....  Unter 
den  Gästen  sah  man  den  bulgarischen  Gesandten  Dr.  Toscheff, 
den  Legationsrat  Dr.  Georgieff,  den  Militärkommandanten  von  Wien 
Baron  Kirchbach,  FML.  v.  Löbl,  v.  Bellmond,  Vizeadmiral  Baron 
.Jedina,  Hofschauspieler  Georg  Reimers,  Gemeinderat  Dr.  v.  Dorn, 
Altgraf  Salm  und  viele  andere.  Als  die  Szene  den  König 
Ferdinand  im  Gespräch  mit  Georg  Reimers  zeigte, 
brach  das  Publikum  in  minutenlangen  Beifall  aus, 
und  verlangte  die  bulgarische  Hymne  zu  hören, 
die  es  stehend  anhörte.  Die  Ovationen  wiederholten  sich 
immer,  wenn  König  Ferdinand  in  die  Handlung  ein- 
griff, ebenso  bei  der  letzten  Szene,  da  König  Ferdinand 
Reimers  (Stimoff)  mit  der  Tapferkeitsmedaille 
bedenkt.  —  Der  Filmaufführung  ging  ein  Prolog  voraus,  den  Frau 
Sektionschef  v.  Jarzebecka  sprach.  .  .  .« 

».  .  .  mit  dem  sagenhaften  Namen,  der  dem  Film  zum  Titel  dient, 
verbindet  sich  das  für  die  Geschichte  der  Kinematographie  epochale 
Ereignis,  daß  ein  regierender  Monarch  in  dieser 
seiner  Eigenschaft  auch  eine  Rolle  eines  Films 
übernahm.,..  Es  war  eine  ganz  besondere  Weihe,  die  festzu- 
halten sein  mag  für  alle  Zukunft  des  Kinotheaters,  und  es  war, 
als  ob  die  erlesene  Gesellschaft,  die  sich  zum  Filmspiel  vereinigt 
hatte,  auch  ihr  Spiegelbild  fand  in  dem  zu  lautlos  gespanntem  Schauen 
vereinigten  Publikum.« 

».  .  .  Man  erinnert  sich,  daß  Zar  Ferdinand  von  Bulgarien, 
dessen  Gemahlin  und  Töchter  sich  willig  in  den  Dienst 
der  guten  Sache  stellten,  und  so  erscheinen  denn  der 
Herrscher  und  seine  Familienmitglieder  als 
Mitwirkende,  bewegen  sich  in  diesen  für 
sie  gewiß  etwas  außergewöhnlichen  Situationen 
mit  einer  Sicherheit  und  Natürlichkeit,  um  die 
sie  mancher  zünftige  Schauspieler  beneiden 
dürfte....  Reimers  in  der  Titelrolle  von  wuchtiger  Eindringli«h- 
keit  und  ausgeprägter  Eigenart.  Ganz  ausgezeichnet  dünkt  uns  der 
Dorftrottel  Herrn  Götz',  für  den  wir  bei  dieser  Gelegenheit  über- 
haupt eine  Lanze  brechen  möchten.  .  .  .  Zusammenfassend : 
Der  Film  , Bogdan  Stimoff  wird  sich  behaupten.  Verdientermaßen! 
Seinen  Wert  kann  auch  der  strengste  Kritiker  nicht  leugnen.  (Elite- 
Kino,  Opern-Kino,  Imperial-Kino,  Central-Kino.)« 


Ein  Abbild  modernen  Lebens 

(►S  ch  u  h  p  a  1  a  s  t    Pinkus«)  Ein  Film  deutscher  Provenienz, 
'1er  zu  dem  Besten  gehört,  was  die  Lustspiel-Kinematographie  der  letzten 


Zeit  hervorgebrachl  hat.  Klein  Moritz-  Geschichten  in  größerem 
Format,  die  im  Milieu  des  Schuhwarenhauses  spielen.  Prächtige 
Szenen  aus  dem  deutschen  Warenhausleben  als  Hintergrund 
für  das  Treiben  eines  kecken  Lehrlings.  Pinkus  jun.  wird  wegen  seiner 
Streiche  aus  der  Schule  gewiesen,  und  nun  tritt  er  seine  Wanderung 
durch  eine  ganze  Reihe  Schuhwarenhäuser  an.  Mutterwitz  und  keckes 
Auftreten  verschaffen  ihm  überall  Zutritt,  er  arbeitet  sich  hinauf,  er- 
schmeichelt sich  Kredit  und  macht  sich  selbständig.  — 
Einblick  in  die  Entwicklung  des  deutschen  Geschäfts- 
lebens, grandiose  Reklame  - 1  d  e  e  n,  die  im  Film  entwickelt 
werden,  eine  großartige  Aufmachung  des  Warenhaus- 
betriebes, die  Vorführung  von  Schuhmannequins  usw.  geben,  ganz 
losgelöst  von  dem  schlagenden  Humor,  dem  Film  den  Wert  eines 
Abbildes  modernen  Lebens.  Regie  und  Inszenierung 
glänzend. 


Bogdan  Stimoff 
Unter  persönlicher  Mit- 
wirkung   des    Königs 
Ferdinand 
von  Bulgarien 


Die  Planke 

Feierlicher 

Gottesdienst 

Erstklassige   Kantoren 


U  r  s  c  h  u  1  a 

geh   her,    genier  dich 

nicht  I 


Unter  dem  Heiligenschein 

»Amtlich  wird  aus  Budapest  depeschiert :  ,In  den  Räumen  des  Landes- 
verbandes der  ungarischen  Texlilindustriellen  wurde  heute  die  konstituierende 
Generalversammlung  der  Baumwollzentrale  der  Länder 
der  heiligen  ungarischen  Krone,  Aktiengesellschaft, 
abgehalten.  .  .  .' « 

Ist  es  nicht,  als  ob  mir  bewiesen  werden  sollte,  daß  für 
Bäiim\x'olle  zu  sterben  doch  schön  ist? 


Das  Schwert  der  Professoren 

Der  Rektor  der  Berliner  Universität  v.  Wilamowitz-Möllendorf 
und  die  Professoren  Otto  v.  Gierke,  Wilhelm  Kahl,  Eduard  Meyer, 
Dietrich  Schäfer,  Reinhold  Seeberg  und  Adolf  Wagner,  veröffentlichen 
einen   Aufruf  zum  Durchhalten,  in  dem  es  heißt: 

Deutschland  darf  sein  Schwert  nicht  in  die 
Scheide  stecken,  ohne  einen  Frieden  gesichert  zu  haben,  den 
auch  die  Feinde  zu  halten    gezwungen    sind.    Der    ist    aber     nicht     zu 


5    - 


erlangen,  ohne  Mehrung  unserer  Maclitausdelinung, 
des  Bereiches,  in  dem  unser  Wille  über  Krieg  und  Frieden  entscheidet. 
Unsere  Gegner  sind  noch  nicht  bereit,  uns  diesen  Frieden  zuzugestehen, 
so  wollen  wir  denn  durchhalten  und  unerschütterlich  durchhalten,  und 
siegen,  weil  —  wollen  wir  uns  nicht  selber  aufgeben  —  wir  gar  nicht 
anders  können. 

Offenbar  ist  es  den  Herren,  die  bereits  alle  in  Betracht 
kommenden  Persönlichkeiten  zu  Ehrendoktoren  gemacht  haben, 
darum  zu  tun,  nunmehr  zu  Ehrenfeldherrn  ernannt  zu  werden. 
Das  in  Gedanken  stehen  gebliebene  Schwert  soll  fortan  die  Devise 
des  zerstreuten  deutschen  Professors  sein.  Die  Fliegenden  Blätter, 
die  seit  siebzig  Jahren,  in  Krieg  und  Frieden,  ob's  was  zu  essen 
oder  durchzuhalten  gibt,  außer  dem  Regenschirm  die  Wurst  und 
das  Maßkrügel  als  Symbol  des  deutschen  Humors  kultiviert  haben, 
werden  in  jenem  einen  Punkte  nun  doch  eine  Auffrischung 
erleben  müssen. 


/    — 


Ein  deutsches  Kriegsgedicht 

»[RumänenHed.]     Im     Jag'      dichtet     .Gottlieb«     folgendes 
Runiäiienlied : 

In  den  klainsten  Winkelescu 

Fiel  ein  Russen-Trinkgeldescu, 
Fraidig  ibten  wir  Verratul  — 
Politescu  schnappen  Drahtul. 

Alle  Velker  staunerul, 

San  me  große  Gaunerul. 
Ungarn,  Siebenbürginescu 

Mechten  wir  erwürginescu. 

GebrüUescu  voll  Triumphul 

Mitten  im  Korruptul-Sumpful 
In  der  Hauptstadt  Bukurescht, 

Wo  sich  kainer  Fiße  wäscht. 

Leider  kriegen  wir  die  Paitsche 
Vun  Bulgaren  und  vun  Daitsche; 

Zogen  flink-flink  in  Dobrudschul, 
Feste  Tutrakan  ist  futschul! 

Aigentlich  sind  wir,  waiß  Gottul, 

Dann  heraingefallne  Trottul, 
Haite  noch  auf  stolzem  Roßcu, 

Murgens  eins  auf  dem  Poposcu !« 

Hinter  dem  Pseudonym  verbirgt  sich  mit  Recht  Herr  Alfred  Kerr. 
In  seiner  Prosa  zu  sprechen :  Solche  Dinge  werden  einmal  .  .  . 
in  Deutschland  möglich  gewesen  sein,  ecco.  Interessant  ist  bei 
all  dem,  daß  das  Vorleben  eines  Feindes  sich  von  seiner 
schwärzesten  Seite,  also  von  den  ungewaschenen  Füßen,  in  dem 
Moment  zeigt,  in  dem  dessen  Entscheidung,  aus  der  Neutralität 
herauszutreten,  zu  unseren  Ungunsten  fällt.  Aber  der  Übelstand,  daß  in 
der  Hauptstadt  Bukurescht  kainer  sich  die  Fiße  wäscht  — '  r,/ 
X.  ■•:  l-x,  — ,  muß  doch  jahrzehntelang  bekannt  gewesen  sein, 
und  entweder  darf  auf  die  Bundesgenossenschaft  eines  solchen 
Volkes  nicht  der  geringste  Wert  gelegt  oder  es  muß  auch  in 
diesem  Fall  offen  herausgesagt  werden.  Die  Unterlassung  des 
Füßewaschens  vollzieht  sich  ja  nicht  so  überraschend  wie 
eine  Kriegserklärung,  sondern  ist  ein  Zusland,  zu  dessen  Beobachtung 
die  Diplomaten  jahrzehntelang  Gelegenheit  hatten.  Aber  die 
deutsche  Literatur,  die  persönlich  mit  der  Sitte  längst  vertraut  ist, 
holt  die  unwiderbringlichsten  Versäumnisse  nach  und  riskiert 
ihrerseits  nur  den  Verdacht  ungewaschener  Versfüße. 


-   6 


Morituri  te  salutantl 

(Der  Krieg  und  die  Dichter.)  Aus  Berlin  wird  tele- 
graphiert :  Zum  Abschluß  des  zweiten  Kriegsjahres 
hat  die  ,B.Z.'  an  eine  Reihe  von  Dichtern  die  Frage  gerichtet,  was 
aus  der  Fülle  des  gewaltigen  Geschehens  und  Erlebens  in  diesen 
zwei  Jahren  den  stärksten  Eindruckaufsiegemach  t 
habe.  Hermann  Sudermann  schreibt:  »Wenn  auch  die 
seelischen  Erlebnisse  innerhalb  dieser  zwei  Jahre  neue 
Bahnen  schufen,  auf  jeden  von  uns  gewirkt  haben,  so  wird  es 
nur  wenigen  beschieden  sein,  einen  Eindruck  aus  der  Summe  des 
Ganzen  so  herauszunehmen,  daß  er  imstande  wäre,  ihr  künftiges 
Gewicht  von  diesem  Kriege  für  die  Lebensdauer 
zu  bestimmen.  Aber  wir  sind  noch  weit  vom  Schluß 
entfernt,  darum  wollen  wir  in  Geduld  dem  großen  Tag  entgegen- 
harren, der  Deutschland  endgültig  von  seinen  Feinden  befreit. 

Es  ist  ja  gewiß  wichtig,  was  da  der  Herr  Sudermann,  den 
ich  immer  für  einen  der  geistigsten  Menschen  Deutschlands  ge- 
halten habe,  sagt.  Nur  ist  nicht  ganz  klar,  wessen  »künftiges 
Gewicht  von  diesem  Kriege  für  die  Lebensdauer  bestimm.t«  werden 
soll,  und  er  hat  darum  ganz  recht,  wenn  er  sagt,  daß  das  so 
schwer  ist.  Ob  er  meint,  daß  es  ein  Krieg  für  die  Lebensdauer 
ist  —  nicht  nur  jener,  die  an  ihm  teilnehmen  — ,  ob  er  nur  ein 
künftiges  Gewicht  vom  Kriege  bestimmen  will  und  was  das 
heißen  soll,  ist  kaum  zu  erschließen.  Sicher  ist,  daß  weder  der 
Verfasser  von  >Sodoms  Ende«  noch  der  von  »Morituri« 
genug  Gewicht  hat,  um  sich  im  Kriege  laut  zu  machen.  Und 
keiner  von  jenen,  die  so  weit  vom  Schuß  sind  wie  die  andern 
vom  Schluß.  Es  bringt  uns  alle  nicht  weiter  von  jenem  und  nicht 
näher  zu  diesem,  und  es  ist  völlig  überflüssig,  zu  vernehmen, 
was  auf  solche  Leute  im  Krieg  den  stärksten  Eindruck  gemacht  hat. 
Nichts  kann  aus  diesem  »Geschehen«  einen  stärkeren  Eindruck 
auf  sie  gemacht  haben  als  das  »Erleben«,  daß  ihre  Tantiemen 
in  Gefahr  kommen  könnten,  und  die  angenehme  Überraschung, 
daß  es  doch  nicht  der  Fall  war.  Sie  mögen  in  Geduld  dem  großen 
Tag  entgegenharren,  der  Deutschland  endgültig  von  seinen  Feinden 
befreit.  Wir  wollen  in  Ungeduld  dem  weit  größeren  Tag  entgegen- 
harren, der  es  endgültig  von  Leuten  befreit,  die  das  Maul  der 
Gegenwart  Dichter  zu  nennen  wagt  und  die,  anstatt  >zum  Abschluß 
des  zweiten  Kriegsjahres«  nicht  mehr  bemerkt  zu  werden,  wenn 
sie  schon  leiblich  fortexistieren  —  befragt  werden,  wie  es  ihnen 
gefallen  hat. 


Die  Welt  des  Rekords 

[Der  Rekord  der  Kriegstrauer.]  Uns'er  Amsterdamer 
Korrespondent  schreibt  uns:  Die  lange  Dauer  des  Weltkrieges  hat  be- 
kanntlich in  allen  kriegführenden  Ländern  einzelne  Familien  durch  zahl- 
reiche Todesfälle  ihrer  Mitglieder  auf  den  Schlachtfeldern  besonders 
hart  getroffen,  und  der  Fall,  daß  greise  Eltern  drei  oder  selbst  vier 
ihrer  Söhne  verloren  haben,  bildet  leider  keine  Seltenheit  mehr.  Aber 
den  Rekord  in  dieser  traurigen  Sache  dürfte  wohl  die  englische 
Familie  Loring  erreicht  haben.  Mr.  Loring,  der  in  Bedford  wohnt, 
empfing  nämlich  dieser  Tage  vom  Londoner  Kriegsamt  die  Meldung, 
daß  seine  beiden  im  Felde  stehenden  Söhne,  Charles  und  Robert,  beide 
Leutnants,  in  den  jüngsten  Sommeschlachten  gefallen  sind.  Der  älteste 
seiner  Söhne,  Hauptmann  Edward  Loring,  wurde  am  11.  September  1916 
schwer  verwundet  und  mußte  sich  im  Militärspital  der  Abnahme  beider 
Gliedmaßen  unterziehen.  Überdies  hat  Mr.  Loring  seine  drei  Brüder  verloren, 
nämlich  den  Obersten  William  Loring,  den  Major  Louis  und  den  Haupt- 
mann John  Loring,  somit  sechs  Mitglieder  seiner  Familie. 

Ja,  die  Welt  des  Rekords,  die  eben  die  Welt  der  Quantität 
ist,  bliebe  unvollständig,  wenn  solcher  Rekord  nicht  erreicht  würde. 


Nebeneinander 


Der  Papstzu  den  Kindern 
bei  der  Kommunion: 
»Ihr,  die  ihr  heute  Zuschauer 
der  düstersten  Tragödie  seid,  die 
jemals  menschlicher  Haß  und 
menschliche  Leidenschaft  entfacht 
haben,  ihr  müßt  wissen,  daß  heute 
die  schrecklichste  Lästerung  gegen 
Gott  geschieht,  die  jemals  von  der 
sündigen  Menschheit  begangen 
worden  ist.  Wir,  der  Vater  aller 
Gläubigen,  leiden,  ermahnen  und 
bitten  seit  zwei  Jahren.  Unsere 
Ermahnungen,  die  Waffen  nieder- 
zulegen und  den  Streit  auf  dem 
Wege  der  Vernunft  und  Gerechtig- 
keit zu  schlichten,  sind  erfolglos 
geblieben.  Deshalb  wollen  wir 
Gott  durch  das  allmächtige  Mittel 
eurer  Unschuld  um  Hilfe  bitten € 


Aus  dem  Feldpostbrief 
eines  Standschützen: 
»Wir  halten  jetzt  einen  Angriff 
abzuwehren  gehabt,  aber  ohne 
Verluste.  Vom  Feinde  konnten  wir 
nur  einen  toten  Italiener  herauf- 
schaffen, denn  sie  hatten  alle  Ver- 
wundeten und  Toten  mitgenommen, 
Der  eine  Tote  stammte  aus  Turin. 
Dieser  Angriff  war  interessant. 
Am  Abend  hatten  vier  von  uns, 
unter  ihnen  auch  ich,  gebeichtet, 
am  Morgen  war  Messe  und 
Kommunion.  Doch  mitten 
in  der  Messe  auf  einmal: 
, Alarm!'  und  in  einer  Se- 
kunde stehtHochwflrden 
Herr  Sora,  der  Feldkaplan, 
allein  am  Altar.  Draußen  aber 
geht  die  H  e  t  z  e  los.  Die  Kugeln 
sangen  in  allen  Tonarten  und  da- 
zwischen krachten  unsere  Hand- 
granaten und  auf  einmal  ist 
der  Platz  geräumt ;  dann  gehen 
wir  wieder  zur  Kommunion. 
Ja,  ja,  es  ist  halt  Krieg....« 


—  10 


Bestimmung  der  Verantwortlichkeiten 

Ein  Leser,  der  einer  Predigt  des  Pfarrers  von  Altaussee 
beigewohnt  hat,  berichtet : 

Nachdem  er  —  im  Angesichte  des  Altares  —  von  Feinden  und 
Siegen  gesprochen  und  zu  diesen  Begriffen  jenen  der  christlichen  Demut 
geflochten  hatte,  durch  welche  allein  der  Sieg  über  die  Feinde  —  nicht 
errungen  werden  könne,  sondern  errungen  werden  wird,  gipfelten 
seine  Ausführungen  in  dem  folgenden,  wortgetreu  wiedergegebenen 
Satze:  »Wer  hat  zu  rechter  Zeit  Regen  und  Sonnenschein  über  unsere 
Felder  gesandt ?  Gott.  Wer  hat  unseren  Feldherrn  ihre 
Pläne  eingegeben?  Gott.t 

Ist  es  ein  Vorwurf  gegen  Gott? 


Die  vier  Ströme 

In  einem  Aufruf  zur  Wohltätigkeit  wird  jetzt  entdeckt,  daß 
unsern  Herzen  »nur  noch  die  Ahnung  des  anonymen  Blutgeschehens 
dämmert«.  Aber  das  war  schon  in  meiner  Rede  von  »dieser 
großen  Zeit<  gesagt.  Von  drei  Flußbetten  wird  gesprochen:  das 
des  Blutes  und  das  der  Tränen  seien  bis  zum  Rand  gefüllt,  »der 
Strom  des  Goldes  aber  schleicht  der  Versumpfung  entgegen«. 
Nein,  er  ist  so  voll  wie  die  beiden  andern.  Aber  solange  der 
vierte  Strom,  der  der  Tinte,  nicht  ausgetrocknet  ist,  von  dem  durch 
ein  unterirdisches  Wunder  der  Natur  der  des  Blutes  sich  füllt, 
und  von  diesem  der  der  Tränen,  aber  auch  der  des  Goldes:  so- 
lange dies  nicht  geschieht  —  sind  wir  alle  arme  Menschen. 


Ein  Herzenseinbrecher 

Zwölf  Millionen. 

Nur  mit  leiser  Befangenheit  sprechen  wir 
heute  von  uns  selbst....  Der  tückischeste  Feind,  di  e 
Hyäne  des  Schlachtfeldes,  hat  sich  aufunsgestürzt, 
und  der  Plan  dieser  politischen  Mordbrenner  will  bewirken,  daß  wir, 
das  Deutsche  Reich  und  Bulgarien  ausgeblutet  und  verstümmelt  a  ni 
Boden  liegen,  und  jede  Erneuerungsfähigkeit  und 
politische    Zeugungskraft      verlieren.      Trotz    dieses 


11 


natürlichen  Gefühls  müssen  wir  unseren  Lesern  das  Ergebnis 
einer  werktätigen  Arbeit  mitteilen  ....  Ein  kleines  Zeichen  fQr 
das  was  Österreich  vermag  und  wieviel  Mark  und  Kern 
sich  hinter  den  Äußerlichkeiten  verbirgt  und  wieviel 
Gutes  in  seinem  Innern  schlummert,  sind  auch  die  zwölf  Millionen 
unserer  Sammlungen.  Jeder,  der  erfährt,  daß  in  den  engeren  Grenzen, 
die  einer  Wohltätigkeit  gezogen  sind,  die  kein  Lock- 
mittel der  Eitelkeit  zur  Verfügung  hat,  etwa  170.000 
Männer  und  Frauen  Beträge  spendeten  .  .  wird  die  innerste  Not- 
wendigkeit empfinden,  daß  solche  Höchstleistungen  ihren  Dank  und  ihre 
Würdigung  erhalten. 

Ohne  Überhebung,  aber  auch  ohne  falsche  Be- 
scheidenheit dürfen  wir  behaupten,  durch  diese  Summe  ist  vieles 
geschehen,  um  die  Schmerzen  einer  mehr  als  zweijährigen  Kriegszeit 
erträglicher  zu  machen.  Aus  eigener  Erfahrung  vermögen  wir 
festzustellen,  mit  welcher  Sorgfalt  und  mit  welcher  ernsten  Bedachtsam- 
keit die  Beträge  verwendet  werden  ....  Nichts  Ergreifenderes  kann  es 
geben,  als  dem  Entwicklungsgang  dieser  scheinbar  für  jedes  Glück  Ver- 
lorenen nachzuspüren ;  wie  sich  die  Talente  gleichsam  unter  der 
Versteinerung  des  Unglückes  regen  .  .  Gliedmaßen  werden  zusammen- 
gefügt ....  Wir  wissen  es:  nur  die  Sache  hat  sie  zu  dieser 
Anspannung  getrieben,  aber  dennoch  glauben  wir  etwas  Persön- 
liches herauszufühlen,  ein  Band,  das  sich  zwischen  ihnen  und 
einem  Blatte  knüpft,  das  keinen  höheren  Ehrgeiz 
kennt,  als  in  dieser  Kriegszeit  mitzuwirken,  daß  die  Leiden  gemildert, 
die  Tränen  getrocknet  und  die  Zerstörungen  wenigstens  teilweise  wieder 
gut  gemacht  werden  ....  noch  ist  der  Siegfried  nicht 
gefunden,  der  die  Lohe  dieses  Weltbrandes  durchschreitet  und  vor 
dessen  Gewalt  die  Flammen  erlöschen  und  die  Braut    erwacht  .... 

Der  Siegfried  ist  gefunden,  er  heißt  Löwy  und  hat  kürzlich 
im  Hauptquartier  geweilt. 


Der  unvorsichtige  Händedruck 

Es  mag  ja  dahingestellt  bleiben,  ob  der  Staat  nicht  vor- 
ziehen sollte,  daß  ihm  die  Hand  verdorre,  ehe  sie  aus  der 
schmutzigsten  Hand  des  Landes  jenes  Scherflein  zur  Linderung  der 
Kriegsnot  in  Empfang  nähme,  das  zwar  groß  genug  ist,  um 
Reklame,  aber  bei  weitem  zu  klein,  um  Hilfe  zu  bringen,  und 
dessen  Darbietung  zumeist  die  stammelnde  Selbstanzeige  eines 
Kriegsgewinnes  ist,  der  sich  zu  allen  Lebensvorteilen  auch  noch 
von  blinden  und  verkrüppelten  Soldaten  ein  gutes  Gewissen  er- 
kaufen möchte.  Worüber  aber  kein  Zweifel  bestehen  kann,  das  ist 
die  Überflüssigkeit  jener  Danksagungen,  zu  denen  sich  die  Staats- 


—   12 


rcpräsentanten  einem  Zeitungsmann  gegenüber  bemüßigt  fühlen, 
dessen  prononcierte  Eigenart,  über  alle  Verächtlichkeit  des  Berufs 
hinaus,  doch  jedem  einzelnen  von  ihnen  längst  ein  tiefgefütlter 
Greuel  ist.  Wenn  sie  aber  wirklich  selbst  bis  zur  Absendung  ihres 
Schreibens  noch  im  Zweifel  über  die  Qualität  des  Empfängers 
wären,  so  müßte  der  Anblick  ihres  Gedruckten  und  des  beigege- 
benen Kommentars,  das  Schauspiel  der  Explosion  eines  sonst  nur 
von  geschätzter  Seite  bedienten,  aber  diesmal  von  einer  hohen 
Seite  angesprochenen  Geldberserkers  ihnen  für  alle  Zukunft  einen 
solchen  Schrecken  einflößen,  daß  sie  geloben,  sich  ihn  künftig 
drei  Spalten  vom  Leib  zu  halten.  Man  weiß,  daß  dieses  Temperament 
die  Gewohnheit  hat,  alles  nicht  dreimal,  sondern  neunmal  zu 
sagen,  aber  so  klar  macht  er  es  einem  nie,  wie  wenn  er  ein  Dank- 
schreiben bekommen  hat.  Dann  lautet  der  Inhalt  seiner  Botschaft:  Wir 
haben  ein  Dankschreiben  bekommen,  das  heißt,  wir  haben  ein 
Dankschreiben  bekommen,  er  hat  nämlich  gesagt,  er  dankt 
uns,  das  heißt,  er  dankt  uns,  man  sieht  deutlich,  daß  es  ein 
Dankschreiben  ist,  das  Dankschreiben  sieht  nämlich  so  aus,  und 
es  ist  ein  Dankschreiben,  das  er  uns  geschickt  hat  und  das  wir 
bekommen  haben  und  in  Ehren  halten,  und  wir  danken  ihm  dafür, 
daß  er  uns  gedankt  hat.  Und  ganz  übersichtlich  werden  das  Er- 
eignis und  sein  Kommentar  nebeneinandergestellt: 

Bitte  links:  Bitte  rechts: 

».  .  .  In  diesen  schweren  Tagen  ...Er  bemerkt  in  seinem  Te- 

ist  es   ein  Trost  und    ein  sicheres  i  legramm,  es  ist  in  diesen  schwe- 

Pfand       für     unsere     gemeinsame  j  ren  Tagen  ein  Trost  und  ein  sicheres 

Zukunft,    daß   die    beiden    Staaten  :  Pfand  für   unsere  gemeinsame  Zu- 

der  Monarchie  nicht  nur  durch  histo-  i  kunft,  daß  die  beiden  Staaten  der 

rische   und    staatsrechtliche   Bande  !  Monarchienichtnurdurchhistorische 

miteinander  verknüpft  sind,  sondern  i  und  staatsrechtliche  Bande  miteinan- 

auch       in       den      Stunden       der  i  der  verknüpft  sind,  sondern  in  den 

Erprobung    fest   zueinander  halten  Stunden  der  Erprobung  fest  zuein- 

und     sich    heute     seelisch     näher  ander  halten  und  sich  heute  seelisch 

stehen  denn  je.  .  .  .«  j  näher  stehen  denn  je.  .  .  . 

Dieses  nachgejüdelte  Zitieren  in  scheinbar  indirekter  Rede, 
dieses:  »Er  bemerkt,  es  ist«,  dieser  Beistrich  gehört  jetzt  zu  den 
aufregendsten  Dingen,  die  einem  das  Durchhalten  schwer  machen. 
Der  ungarische  Ministerpräsident  —  über  Geruchsempfindungen 
läßt  sich  nicht   streiten  —   spricht   rühmend   von   dem    >warmen 


13 


Hauch,  der  in  dieser  Aktion  der  , Neuen  Tteieii  Preise'  von  Österreich 
zu  uns  herüberweht«.  Der  berufene  Vertreter  Österreichs  antwortet 
(ich  zitiere  wie  er),  jedes  Wort  macht  den  Eindruck,  als  würde 
sich  eine  Hand  entgegenstrecken  ....  Jawohl,  aber  leider  anders. 
Denn  auch  vom  Verkehr  zwischen  ungarischen  Staatsmännern  und 
österreichischen  Publizisten  gilt  das  Wort  Nestroy's  —  Achtung  auf 
den  Beistrich!  — ,  es  is  so  edel,  wenn  man  seine  Hand  einem 
Menschen  in  die  Hand  legt,  dem  man  s'  von  rechtswegen  in 's 
G'sicht  legen  sollt. 


Der  Dank 

des  Herausgebers  für  den  Dank  des  Ministerpräsidenten  hat 
nun  diesen  so  ergriffen,  daß  er  sich  entschlossen  hat,  ihm  dafür 
zu  danken.  Er  spürt  wieder  Wärme.  Nämlich  den  »warmen  Wider- 
hall«, den  seine  Dankworte  gefunden  haben  und  um  den  er  sich 
mit  der  »ganzen  Wärme  seiner  Seele«  verdient  machen  will.  Alles 
müsse  aus  dem  Wege  geräumt  werden,  was  »Reibungen  erzeugt« 
(wiewohl  diese  doch  wieder  Wärme  erzeugen),  und  nennt  sich  und 
den  Chefredakteur  > Kampfgenossen  für  dieselbe  edle  Sache«.  Der 
Chefredakteur  kann  nicht  umhin  für  den  Dank  für  den  Dank  für 
den  Dank  zu  danken.  Denn  er  spürt  jetzt  die  von  der  Gestalt  des 
ungarischen  Ministerpräsidenten  »ausstrahlende  Kraft*.  Er  bedauert 
bei  dieser  Gelegenheit,  daß  der  ungarische  Ministerpräsident 
»die  persönlichen  Beziehungen  zu  den  Führern  der  österreichischen 
Politik  und  Gesellschaft»  bisher  so  wenig  gepflegt  hat,  daß  er 
also  noch  keinen  Besuch  in  der  Redaktion  gemacht  hat:  »wir 
sehen  ihn  nur  durch  die  Stadt  eilen,  wenn  der  amtliche  Verkehr 
ihn  zu  kurzem  Aufenthalt  zwingt.«  Nun  aber  zeigt  er  sich  von 
der  menschlichen  Seite.  Und  so,  daß  man  einfach  überrascht  ist: 
>Aus  der  Marmorbrust  strömt  ein  warmer  Quell  heraus«.  Ein  Bild, 
das  in  pikantem  Gegensatz  zu  dem  vom  Großfürsten  Nikolajewitsch 
gezeichneten  steht,  vor  dessen  Gestalt  bekanntlich  der  Wunsch, 
daß  ihm  die  Gall'  herausgehen  möge,  des  Gedankens  Vater 
gewesen  ist.  »Wir  lesen  nicht  ohne  Bewegung  die  Worte: 
(Seien  Sie  versichert,    daß  ich.  .  .  .  mit  der  ganzen  Wärme  meiner 


14 


Seele  ..,.'«  Der  Graf  Tisza  hat  sich  jetzt  sehr  genützt. 
»Er  weicht  der  Wirklichkeit  nicht  aus,  und  das  gefällt  uns.« 
Nein,  er  weicht  dem  Chefredakteur  nicht  aus,  und  das  gefällt 
diesem.  Darum  verspricht  er,  immer  Kampfgenosse  des  Grafen  Tisza  zu 
bleiben,  nämlich  im  Trommelfeuer  der  Einbildungskraft.  »Berufen, 
österreichische  Interessen  zu  vertreten«,  unberufen,  wisse  er,  daß 
auch  dort  drüben  »eine  Heimat  wenigstens  im  Rahmen  der  Pragma- 
tischen Sanktion  sei«.  Was  heißt  Pragmatische  Sanktion?  Im 
Rahmen  des  Geburtszeugnisses  dürfte  es  auch  gehn.  Aber  er  dankt. 
Wenn  der  Graf  Tisza  noch  einen  Funken  von  Wärme  in  sich  hat, 
wird  er  nicht  umhin  können,  zu  danken. 


Die  Sorge  beginnt  wieder 

Typus  für  die  Predigt  am  Morgen  und  für  das  Gebet  am 
Abend.  Am  Morgen  spricht  er  zum  Volk,  am  Abend  redt  er  mehr 
zu  sich.  Am  Morgen  beklagt  er  die  Verderbtheit,  am  Abend  findet 
er  Anzeichen  für  Stimmungen  für  einen  Rückschlag.  Am  Morgen 
schreit  er,  wie  schlecht  sie  sind;  am  Abend  murmelt  er,  daß  ihnen 
auch  schon  mies  ist.  Am  Morgen  kann  man  sich  vorstellen  und 
die  Einbildungskraft  schwelgt  und  die  Leidenschaften  sind  auf- 
gewiegelt; am  Abend  wird  Kassa  gemacht.    Am  Morgen: 

Viele  Menschen  hatten  sich  am  Tage  der  Kriegserklärung  vor  dem 
königlichen  Palais  in  der  Calea  Victoriei  versammelt  ....  In  der  Calea 
Victoriei,  in  der  Siegesstraße  von  Bukarest,  war  das  Leben  nachdem  Sonntag, 
an  dem  die  Kriegserklärung  in  Wien  überreicht  worden  ist,  noch  üppiger  als 
gewöhnlich.  Glanzvolle  Equipagen  fuhren  über  die  Boulevards,  unge- 
zügelter Luxus,  sorgloser  Übermut,  freches  Siegesgefühl  waren  die 
Merkmale  der  Stimmung  in  der  Hauptstadt  eines  Landes,  das  einen 
Kampf  auf  Tod  und  Leben  unternommen  hatte.  Geputzte  Frauen 
saßen  an  den  Tischen  in  den  hellerleuchtetenSälen 
der  Hotels,  die  Kleider,  die  Schminke,  der  Parfüm,  lauter  schlechte 
Nachahmungen  von  Paris. 

Plötzlich  schlägt  das  Grollen  des  Kanonendonners  ans  Ohr. 
Der  Wein  fließt  in  Strömen,  das  Gelage  wird  zur 
Orgie,  und  in  den  wilden  Taumel  bricht  die  Nachricht  hinein,  daß 
der  Brückenkopf  bei  Tutrakan  gefallen  ist,  einundzwanzigtausend  Soldaten 
gefangen,  weit  mehr  erschlagen  und  verwundet  worden  sind  und  daß 
viele    Leichen    Inder    Donau      schwimmen....      Die 


bemaltenWeiber  inBukarest  erbleichen,  die  Sciireiliälse 
werden  still,  und  Schrecken  breitet  sich  aus  über  die 
Stadt.  Die  Bahnhöfe  werden  gestürmt,  viele  wandern  zu  Fuß 
in  der  Richtung  gegen  die  Berge....  und  so  endet  der 
erste  Abschnitt  eines  Krieges,  für  dessen  Ausgelassenheit 
in  den  Beweggründen  und  in  den  Formen  jedes  Maß 
fehlt  ....Wenn  eine  Schraube  auf  die  Offensive  gestellt 
ist  und  zur  Defensive  umgedreht  werden  soll,  kann  sie  leicht 
brechen.  Die  moralischen  Voraussetzungen  eines  Kampfes 
für  Eroberungen  sind  ganz  verschieden  von  den 
Stimmungen,  die  ein  Volk  bei  der  Verteidigung 
braucht.  Schon  dieser  Umsturz  muß  Verwirrung  in  Rumänien  hervor- 
rufen und  kann  nicht  ohne  Rückschlag  auf  die  bereits 
verstümmelte,  auf  leichte  Siege  hoffende  Armee  sein. 

Der  Rückschlag  ist  also  schon  da,  Erlebnisse  strahlen  aus, 
Kränze  werden  für  Briand  geflochten,  aber  das  ist  ein  Tineff, 
man  wird  schon  sehn  im  Abendblatt,  wo  die  Eindrücke  kommen 
mit  den  Einzelheiten  und  die  Sorge  da  ist. 

.  .  .  Ein  Beispiel  für  solchen  Zynismus  gegen  das  eigene  Volk 
wäre  nur  in  einem  politischen  Pittaval,  wo  die  berühmtesten  Fälle  von 
Landesverrat  aufgezählt  werden,  zu  finden  .... 

Also  das  hat  die  Welt  nicht  gesehn. 

Die  Entente  hat  schon  seit  vielen  Wochen  nichts  anderes  durch- 
gesetzt als  ein  Zerstören  von  Menschenleben  und  ein  gegenseitiges 
Zerfleischen. 

Seit  vielen  Wochen?  Seit  mehr  als  zwei  Jahren  vergeht  kein 
Abendblatt,  wo  das  nicht  unter  dem  Titel  »Die  Wahrheit  auf  den 
Schlachtfeldern  von  Frankreich«  oder  »Eindrücke  in  den  Ländern 
der  Entente«  zu  lesen  ist.  Der  Rückschlag  ist  besonders  empfindlich, 
wenn  der  Feind  zugleich  ein  Verräter  ist.  Aber  der  »Treubrüchige 
am  Po*  ist  nur  ein  Katzeimacher  im  Vergleich  zu  dem  Tiger, 
der  an  der  Donau  Verrat  geübt  hat.  Selbst  der  Großfürst 
Nikolajewitsch  hat  nichts  zu  lachen  gehabt,  als  ihm  von  einem 
der  kühnsten  Internisten  vorgehalten  wurde:  »Da  kommen  die 
Stiche  in  der  Leber  und  es  melden  sich  die  Erscheinungen  einer 
verderbten  Galle<  oder  so  ähnlich.  Nun  heißt  es: 

Die  Zweifel  verstummten  und  ein  Gefühl  gänzlicher  Sicherheit 
verbreitete  sich.  Da  kommen  die  Nachrichten  über 
Tutrakan  und  Silistria.  Die  Überraschung  ist  außerordentlich,  d  i  e 
Sorge  beginfit  wieder,  die  Stimmung  ist  noch  nicht  ver- 
flogen, aber  nicht  melir  so  einheitlich  .... 


-   16 


Man  kann  auf  die  Entwicklung  der  Meldungen  über  die 
Stimmungen  bis  zur  Verzweiflung  herauf  gespannt  sein,  und  man 
wird  schon  rechtzeitig  die  Eindrücke  von  den  Einzelheiten  über  die 
Details  erfahren.  Die  Welt  ist  müde.  Im  Abendblatt  mauschelt  er  so 
für  sich  hin,  um  nichts  zu  suchen,  er  legt  noch  Wert  auf  das  Wort 
»wichtig«,  das  Wörtchen  »auch«,  das  bei  den  Feinden  fast  eine  so  große 
Rolle  spielt  wie  bei  uns  »das  Wörtchen  ,noch'«,  taucht  auf, 
und  nachdem  er  versichert  hat,  daß  sie  alle  schon  hin  sind, 
meint  er,  daß  sie  auch  schon  genug  haben  werden . . .  Wir  nicht. 
Und  das  Ohr  dieser  Zeit  und  dieser  Qegend  erträgt  es  seit  mehr 
als  zwei  Jahren  ! 


Der  Ausbruch  des  Mont  Pel6 

Der  Lorbeerkranz  von  Plewna  ist  zeipflückt  worden.  Von 
der  Fahne  der  rumänischen  Armee  .  .  ist  er  heruntergerissen 
worden  ....  mit  Hinzurechnung  der  Toten  und  Verwundeten  ein  wesent- 
licher Prozentsatz  des  ganzen  rumänischen  Heeres  ....  die  Kriegs- 
erklärung der  verrotteten  Gesellschaft  von  Bukarest,  des  Gemenges  von 
Parfüm  und  Schmutz,  von  Boulevardfirnis  und  Bojarenroheit  wurde  von 
der  Entente  als  Beweis  ausgeschrien  .... 

.  .  .  Das  ist  Verderbtheit....  Die  Waffentat  der  Bulgaren 
bei  Turtukai  hat  auch  deshalb  ein  so  starkes  Aufsehen  gemacht, 
weil  sie  mit  solcher  Frische  aus  dem  Handgelenk 
gekommen  ist....  Bratianu  ..wird  jetzt  böse  Nächte 
haben  ....  In  den  Straßen  von  Bukarest  ..  werden  jetzt 
manche  herumgehen  mit  dem  Zweifel  im  Herzen....  ein 
Bacchanal  von  Üppigkeit  und  Lust  ....  Jetzt  kommt  die  schrille, 
blutige  Nachricht.  Einundzwanzigtausend  Gefangene,  vielleicht  nicht 
viel  weniger  Tote  und  Verwundete  ....  die  Reizung.,  war  so  stark, 
daß  der  bulgarische  Sieg  bei  Turtukai  ein  Bedürfnis  be- 
friedigte .  .  .  .  die  Neutralen  ..  werden  nachdenklich. 

...Wir  können  uns  die  Wirkung  auf  das  rumänische  Volk  .  . 
vorstellen.  ...die  Sorge..  ..  Zweifel  in  den  Herzen  ....Da 
bricht  der  Schrecken  im  Heere  an  der  südlichen  Donau  aus  und 
pflanzt  sich  weiter  an  das  Nordufer  und  immer  weiter  bis  nach 
Bukarest,  das  aus  der  tollen  Jagd  nach  Vergnügen  plötzlich  herausgerissen 
wird  ....Jetzt  hören  sie  bereits  den  Kanonendonner  von 
Tutrakan  und  Silistria  in  den  Straßen  von  Bukarest.... 
Mancher,  der  am  lautesten  .  .  mag  heute  schon  ....  Er  vernin.mt  den 
Kanonendonner  und  weiß,  wie  viele  von  den  Toten,  Ver- 
wundeten und  Gefangenen  auf  die  Lastenseite  zu 
verrechnen  sind  .  .  .  . 


—   17 


.  .  .  Heute  werden  sie  in  London  erfahren  ....  Auf  dem  Ballon 
werden  sie  es  vernehmen  ....  die  Nachricht  wird  sich  über  die  Erde 
verbreiten  .  .  und  vielleicht  .  .  und  vielleicht  .  .  und  .  .  und  .  .  und  .... 


Warum  dann  also? 

».  .  .  Ähnliche  Beweggründe  mögen  es  gewesen  sein,  die 
unsere  vorgeschobenen  Truppenabteilungen  in  rückwärts  angelegte 
und  planmäßig  zugewiesene  Stellungen  dirigiert  haben,  aber  erst 
nachdem  die  feindlichen  Truppen  überrall  mit  blutigen  Köpfen  heim- 
geschickt   wurden.« 


Heimg'funden 

Zu  den  schönsten  Unternehmungen  gehört  die  Heimkehr 
eines  Gesandten.  Man  würde  glauben,  daß  sich  die  des  Grafen 
Czernin  möglichst  geräuschlos  hätte  vollziehen  müssen,  um  doch 
einigermaßen  ein  Gegengewicht  für  die  Bewegtheit  herzustellen, 
mit  der  sich  der  Ortswechsel  der  armen  siebenbürgischen  Bevöl- 
kerung vollzogen  hat.  Nicht  doch: 

Die  schlanke  sehnige,  fast  jugendlich  aussehende  Gestalt  des 
Gesandten  war  sofort  von  Herren  und  Damen  umringt,  die  ihm  ihr 
Willkommen  boten.  Neben  dem  Grafen  wurde  seine  junge  Tochter, 
die  in  ihrer  blühenden  mädchenhaften  Schönheit  ganz  den  Typus  der 
österreichischen  Aristokratie  verkörpert,  herzlich  begrüßt. 

Also  die  Weltgeschichte  ist  wieder  ein  ,Salonblatt',  das 
aber  nicht  vollständig  wäre,  wenn  nicht  noch  ein  Familienporträt 
hinzukäme.  Unter  den  Anwesenden 

fiel  der  junge  Sohn  des  Grafen  Czernin  auf,  ein  Einjährig-Freiwilliger 
bei  den  Dragonern,  der,  wenn  die  Dinge  sich  nicht  so 
entwickelt  hätten,  sehr  bald  ins  Feld  gegangen  wäre,  ohne 
vorher  den  Vater  noch  zu  sehen. 

Man  sieht,  daß  die  Diplomatie  auch  Erfolge  erzielen 
kann  und  daß  es  mancherlei  Entschädigung  gibt.  Natürlich 
schwirrt  eine  Frage  von  allen  Lippen :  »Nun,  wie  war  es?« 
Anstatt  aber  die  kurze  Antwort  zu  geben:  Euer  Gnaden  wissen 
eh,  mir  wem  kan  Richter  brauchen,  lassen  sich  Diplomaten  noch 
am  Ziel  ihrer  Tätigkeit  mit  Journalisten  in  Gespräche  ein,  und  da 
alles   von   der    anständigen  Behandlung   in  Rnßland   entzückt  ist, 


18 


führt  »einer  der  Herren,  ein  Diplomat«,  indem  er  »lächelnd  eine  launige 
Bemerkung  machte«,  diesen  Umstand  auf  die  Kriegsmüdigkeit  der 
Russen  zurück.  Ob  er  nicht  vielleicht  vorher  aus  der  Unhöflichkeit 
der  Rumänen  auf  deren  Kriegsbereitschaft  hätte  schließen  können, 
das  verschweigt  er  diplomatisch.  Feststeht,  daß  Graf  Czernin 
von  seinem  Sohne  begrüßt  wurde,  der  jetzt  als  Einjährig- 
Freiwilliger  dient.  Das  ist  so  ausgemacht,  daß  man  sich  durch  die 
Wiederholung  des  Umstandes  nicht  irremachen  lassen  soll. 
Ferner  waren  zum  Empfang  Funktionäre  erschienen,  unter  denen 
der  Leutnant  Pick  vom  Bahnhofskommando  auffiel,  aber  Spielvogel 
und  Zawadil  vermißt  werden.  Großes  Interesse  erweckten  Auto- 
mobiltaxameter, die  vor  dem  Bahnhof  standen,  eine  Erscheinung, 
deren.  Realität  wiederholt  bekräftigt  wird.  Da  solches  sonst 
nur  in  London  vorkommt,  so  ist  der  Verdacht  gegeben,  daß  sie  bei 
uns  »mit  dem  Krieg  tändeln«.  Der  Graf  Czernin  beginnt  sich  zu 
äußern.  Er  kann  aber  keine  Äußerungen  abgeben,  da  er  sich 
vorerst  im  Ministerium  des  Äußern  äußern  muß.  Der  Legations- 
sekretär meint,  es  habe  alles  geklappt,  später  hätten  sich  allerdings 
»einige  Schwierigkeiten«  ergeben,  und  zwar  wegen  der  Schlafwagen, 
die  der  Feind  nicht  zur  Verfügung  gestellt  hatte,  während  für  die 
Abreise  der  Grenzbewohner  bequeme  Viehwagen  für  je  sechzig 
Personen  zur  Stelle  waren.  Der  Konsul  sagt,  in  Rumänien  sei 
es  fahrplanmäßig  gegangen.  Nun  ist  man  aber  zuhause,  der 
üesandtschaftszug  hat  Verspätung,  und  was  alle  Ankömmlinge 
anzuheimeln  scheint,  ist  der  Umstand,  daß  sogar  die  Meinungen 
auseinandergehen,  ob  um  eine  Stunde  oder  um  mehrere,  was 
aber    offenbar    auf    die    Winterzeit    zurückzuführen    sein    dürfte. 


Die  aus  Sibirien  in  die  Presse  flüchten 

Die  von  mir  erörterte  Schande,  daß  Individuen,  denen  die 
Flucht  aus  der  Kriegsgefangenschaft  imd  somit  die  schwerste  Ge- 
fährdinig  ihrerzurückgebliebenen  Kameraden  geglückt  ist,  sich,  anstatt 
zu  kuschen,  dessen  in  der  Presse  und  in  öffentlichen  Vorträgen  noch 
rühmen. 


—  19 


uns  die  Schmach  der  großen  Zeit,  der  aus  dem  Konkubinat 
von  Krieg  und  Presse  entsprossenen,  diesen  Alpdruck  aus 
Roda  Roda  und  Schaiek  Schalek  einigermaßen   erleichtern  könnte. 


Umso  schwerer  hoffentlich  die  Schandpresse,  die  sich  der 
Mitteilsamkeit  des  wortbrüchigen  Verräters  seiner  Mitgefangenen 
und  seiner  Helfer  bedient.  Genauso,  wie  esnicht  genügt,  annoncierende 
Kettenhändler  zu  bestrafen,  sondern  wie  man  an  die  einmal  gefaßte 
Kette  auch  den  jeweils  vom  Schandgeld  lebenden  Benedikt  zu  legen 
hätte.  Jeder  Verbrecher  von  heute  ist  nur  ein  Mitschuldiger,  oft  nur 
das  Opfer  eines  in  sich  verbrecherischen  Berufes,  der  alle  Zweige 
umfaßt.  Dennoch  mag  sich  die  Gewissenslast  eines  Menschen  nicht 
leicht  durch  das  weitere  Leben  tragen  lassen,  der  die  Nachricht 
empfängt,  daß  für  seine  elende  Wiener  Reklame  die  verlassenen 
Kameraden  hungern  und  jene,  die  ihm  dazu  verholten  haben, 
sterben  müssen.  Wahrlich,  über  allen  Zwang  des  Krieges  hinaus  ist 
diese  Menschheit  abscheulich  ! 


—  20  — 


Ist  das  ein  Ungeziefer! 

[Die  Entlassung  des  Abgeordneten  Grafen  Michael  Karolyi  aus 
der  französischen  Gefangenschaft.]  Aus  Budapest  wird  uns  berichtet : 
In  einer  der  letzten  Sitzungen  des  Abgeordnetenhauses  hat,  wie  seiner- 
zeit berichtet,  der  Abgeordnete  Andreas  Rath  auf  den  Vorwurf  des 
Abgeordneten  Ludwig  v.  Szilagyi,  daß  er  als  Oberleutnant  nicht  an 
der  siebenbürgischen  Front  stehe,  erlclärt,  er  sei  nur  gegen  sein  schrift- 
liches Ehrenwort  aus  der  französischen  Gefangenschaft  entlassen  worden. 
Nun  berichtet  das  »8-Uhr-Abendblatt«,  daß  auch  den  Abgeordneten 
Grafen  Michael  Karolyi  und  Stephan  Zlinsky  ein  solcher  Revers  vorge- 
legt worden  sei,  daß  diese  aber  ihre  Unterschrift  verweigerten.  Graf 
Karolyi  wurde  aann  ohne  weitere  Bedingungen  entlassen.  Im  Laufe  der 
vielfachen  Aktionen,  die  im  Interesse  der  Frei- 
lassung der  Internierten  in  Frankreich  eingeleitet 
wurden,  nahm  man  auch  die  Vermittlung  des  früheren  Mitgliedes 
der  ungarischen  Oper,  Parvis,  eines  persönlichen  Bekannten  des  Präsi- 
denten Poincare  und  seiner  Gemahlin,  in  Anspruch.  Parvis  begab  sich 
nach  Paris  und  wurde  von  Poincare  empfangen.  Als  ihn  der  Diener 
anmeldete,  hörte  Parvis  durch  die  offene  Tür,  wie  Poincare  die  Weisung 
gab,  ihm  das  >Karolyi-Dossier«  zu  bringen.  Kaum  hatte  Parvis  seine 
Bitte  vorgetragen,  als  Poincare  auch  schon  im  gereizten  Tone  erklärte: 
»Ich  bedauere,  daß  Sie  sich  vergeblich  nach  Paris  bemüht  haben. 
Ich  kann  für  einen  Ungarn  nichts  tun.  Ich  habe  Karolyi  loyal 
freigelassen  und  jetzt  lesen  Sie  einmal  den  folgen- 
den Artikel  in  der  .Neuen  Freien  Presse'.«  Dann 
drückte  er  P  a  r  v  i  s  e  i  n  e  N  u  m  m  e  r  der  .Neuen  Freien 
Presse'  in  d  i  e  H  a  n  d,  in  der  ein  Interview  mit  Karolyi  mit  dem 
Rotstift  angestrichen  war.  Poincare  bemerkte  dazu:  >Er  soll  seine 
Befreiung  einer  Unregelmäßigkeit  verdankt  haben.  Das  ist  nicht  wahr. 
In  Frankreich  gibt  es  keine  Unregelmäßigkeiten.  Seine  Befreiung  erfolgte 
in  normalen,  loyalen  Formen.«  Später  begab  sich  Parvis  noch  einmal 
nach  Paris,  wurde  aber  von  Poincare  nicht  mehr  empfangen. 

Und  der  Herausgeber  dieses  ehrlosesten  Blattes  der  Welt 
ist  so  stolz  darauf,  daß  der  Poincare  es  in  der  Hand  gehabt  hat, 
daß  ihn  weder  der  Nachweis  seiner  Unsauberkeit  noch  auch  das 
Los  der  internierten  Landsleute,  die  sich  beim  interviewenden  Heirn 
Nordau  bedanken  mögen,  auch  nur  im  geringsten  alteriert.  Der 
Sänger  ist  stolz  auf  den  Empfang  und  der  Herausgeber  auf  den 
Hinauswurf.    Was  dazwischen  liegt,  ist  egal. 


21 


Bojaren,  Maharadschas  und  Blumenteufel 

Die  Bojaren  aus  der  Walachei,  die  nach  den  Belgiern,  Japanern, 
Portugiesen  und  dem  ganzen  Troß  der  schwarzen  und  gelben  Hilfsvölker 
zum  Schutze  des  stolzen  Albions  angerufen  worden  sind,  haben  ver- 
sagt. Die  Engländer  sind  ganz  unbedenklich  in  der  Wahl  ihrer  Mittel, 
sie  verschmähen  auch  die  niedrigste  Unterstützung  nicht  und  auch 
nicht  die  Ausbeutung  der  kleinsten  Kräfte. 

Wenn  die  Unterstützung  so  niedrig  und  die  Kräfte  so  klein 
sind,  so  war  ja  auf  die  Entscheidung  der  »Bojaren«  kein  so  großer 
Wert  zu  legen.  Von  der  kulturellen  Überlegenheit  der  Neger  über 
die  Leopoldstädter  muß  man  gar  nicht  sprechen.  Die  Japaner  haben 
immerhin  auch  bewiesen,  daß  sie  es  mit  den  Kagranern  noch  auf- 
nehmen können.  Die  Portugiesen  kenne  ich  nicht.  Was  die  Belgier 
betrifft,  so  möchte  ich  Gift  drauf  nehmen,  daß  sie  mit  den 
schwarz-gelben  Hilfsvölkern,  die  in  Ischl  hausen,  noch  konkurrieren 
können.  Aber  die  Bojaren  aus  der  Walachei,  die  endlich  ange- 
. rufen  worden  sind,  die  schließen  schon  etymologisch  jedes  Merkmal 
der  Niedrigkeit  aus,  denn  sie  bedeuten :  »(von  boljär,  vornehmer  Herr, 
von  bölii,  groß,  erhaben)  adelige  Gutsbesitzer,  Freiherrn«.  Die 
paar  Bojaren,  die  in  der  rumänischen  Armee  den  Engländern  zur  Seite 
stehen,  sind  freilich  eine  mäßige  Unterstützung.  Da  dürften 
schon  mehrindischeGroßkönigemittun,wenn  man  sich  nämlich  an  die 
Meldung  erinnert,  daß  an  der  englischen  Front  >Scharen  von 
Maharadschas«  aufgetreten  sind,  deren  malerisches  Aussehen  allge- 
mein auffiel.  Das  war  freilich  noch  in  «der  Zeit,  als  den  Feinden 
jede  mögliche  Überraschung  zuzutrauen  war,  vor  allem 
den  Russen,  denen  die  Neue  Freie  Presse  das  Ärgste  nachzusagen 
wußte,  zum  Beispiel,  daß  »die  charakteristischen  Verwundungen 
unserer  Soldaten  an  den  Außenflächen  der  Hände  und  Füße« 
(oder  so  ähnlich)  den  Beweis  lieferten,  daß  »die  Russen  den  Flanken- 
angriff lieben«,  gegen  welches  »tückische  Vorgehen«  aber  recht- 
zeitig Vorkehrungen  getroffen  seien  . . .  Was  wird  dereinst,  wenn  von 
der  Zeitung  auf  die  Zeit  geschlossen  werden  wird,  als  das  hervor- 
stechendere Merkmal  ihrer  Größe  die  Augen  der  Welt  blenden: 
die  bewußte  Technik  der  täglichen  Dummacherei  und  die  Absicht, 
den  Verstand  in  die  Fibelregion  zu  strecken,  in  der  man  tagtäglich 
mit  Begriffen  wie  »feldgrau«,  »brav«,  »Schulter  an  Schulter«, 
»durchhalten«,    mit   der  Unterscheidyng   zwischen    Bhnnenteufelii, 


—  22  — 

roten  Teufeln  und  andern,  zum  Beispiel  armen  Teufeln  sein  Aus- 
kommen finden  mußte  und  auf  die  Intelligenzkarte  die  dürftigste 
Ration  bekam?  Oder  der  ungewollte  Kretinismus,»  mit  dem  der 
weltbeherrschende  Mauschel  dank  den  ihm  zugeflogenen  strategischen, 
ethnologischen  und  geographischen  Ausdrücken  der  von  Autorität  und 
Nervosität  niedergeprackten  Besinnung  zu  imponieren  gewußt  hat! 


Fata  morgana 

[Eine  Druckerei  in  der  Wüste.]  Aus  einem  Briefe 
an  den  ,Tanin'  geht  hervor,  daß  in  der  Sinaiwüste  eine  Druckerei, 
die  »Tschölmat  -  haasy»  (Wüstendruckerei)  errichtet  worden  ist,  die 
einen     Militärkalender    erscheinen  ließ. 


Aus  der  Welt  der  Prothesen 

[Die  Bitte  eines  Ästhetikers.]  Ein  Leser  schreibt 
uns:  Bekanntlich  besitzt  Wien  an  der  Albrechtsrampe  einen  herr- 
lichen Brunnen,  die  Donau  und  deren  bedeutendste  Nebenflüsse 
darstellend.  Bedauerlicherweise  ist  seit  einiger  Zeit  an  einer  der  größeren 
Figuren  (am  Inn)  der  rechte  Arm  gebrochen  und  es  fehlen  die  Hand 
und  der  Unterarm  bis  zum  Ellbogen.  Jeder  Vorübergehende  wird  es 
mit  warmem  Dank  begrüßen,  wenn  der  Schaden  alsbald  ausgebessert 
und  der  Unterarm  und  die  fehlende  Hand  wieder  hergestellt  werden 
würden. 

Und  so  ein  Vandale  wird  noch  Ästhetiker  genannt.  Anstatt 
froh  zu  sein,  daß  die  bekannte  Gelegenheit  für  die  vor  dem 
Jockeiklub  wartenden  Fiakerkutscher,  zu  erfahren,  wie  die  Drau 
und  die  Sau  aussehen,  endlich  ein  wenig  reduziert  wird,  beklagt 
sich  der  Mensch  noch.  Aber  angesichts  der  Tatsache,  daß  an  den 
Ufern  der  Nebenflüsse  des  Inn  der  Verlust  von  Armen  und  Händen 
jetzt  so  häufig  vorkommt,  dürfte  uns  die  persönliche  Invalidität 
des  Inn  kalt  lassen.  Es  könnte  nämlich  auch  sein,  daß  ^•-  '^ 
-■■■■'■         .  .'.'•  ■•    ■  ■      ■'  •  A>.\  -•■•  V  »^.vc':'^    At'..,-  . 


23 


Epigramm  aufs  Hochgebirge 

Text  einer  Ansichtskarte: 
>Wenn    diese    Berge    dem 
größten  Dichter    neue   Kräfte 
geben  könnten    —    wie  viel 
schöner  wären  siel« 

Es  ist  der  schönsten  Berge  Eigenschaft: 

sie  geben  nicht  dem  Geist,  sie  nehmen  Kraft. 

Der  Bürger  fühlt  sich  im  Gebirg  erhoben ; 
talwärts  ist  meine  Phantasie  zerstoben. 

Am  Alpenglühn  entflammen  keine  Lichter. 
Vor  höherm  Berg  gibts  nur  geringern  Dichter. 

Die  Luft  der  Alpe  schafft  des  Alpdrucks  Qual. 
Um  hoch  zu  steigen,  bleibe  ich  im  Tal. 

Den  Höhenrausch  trink'  ich  nicht  von  den  Höh'n. 
Um  Sturm  zu  haben,  brauch'  ich  nicht  den  Föhn. 

Zu  andrer  Freiheit  bin  ich  aufgerafft; 
die  hier  bringt  meine  Sinne  in  Verhaft. 

Den  Gletschern  dank'  ich  keine  Geistesfrische ; 
mir  liegt  nicht  allzusehr  das  Malerische. 

Oft  wirkt  Natur  der  Leere  nur  das  Kleid. 
Mich  lockte  nie  die  Sehenswürdigkeit. 

Wo  so  viel  fertige  Schönheit  gegenwärtig, 
ist  keine  Dichtung,  nur  der  Dichter  fertig. 

Und  keine  Lyrik,  Epos  oder  Drama 
schenkt  sich  dem  sogenannten  Panorama. 

Umsonst  ist's,  daß  ich  auf  den  Genius  warte. 
Natur  ist  häufig  eine  Ansichtskarte. 

Der  schönste  Schnee  wird  schließlich  docii  zum  Schlamm. 
Es  ist  die  Landschaft  für  ein  Epigramm! 


24  — 


Made  in  Gertnany 

Fünftausend  Dokumente,  deren  jedes  für  sich  der  Nachwelt 
die  Schande  zum  Bewußtsein  brächte,  von  dieser  Welt  zu  stammen, 
h'egen  noch  in  meinem  Schrank.  Aber  den  Vorrang,  ihr  den  Tort 
anzutun,  hat  jeder  neue  Tag,  und  unter  allen  Nachrichten  sind 
die  neuesten  am  besten  und  unter  den  neuesten  Nachrichten 
wieder  die  Leipziger  Neuesten  Nachrichten.  Die  zentrale  Eigenart 
des  Denkens,  vor  der  das  Staunen  der  europäischen  Umgebung 
sicherlich  größer  ist  als  das  Hassen,  findet  wohl  nirgendwo  einen 
planeren  Ausdruck.  Ein  Leser,  dessen  Ehrgeiz,  mich  an  die  Quelle 
zu  führen,  keine  Rücksicht  auf  meine  Pflicht  nimmt,  dem  Jahr- 
hundert zwar  »den  Abdruckseiner  Gestalt  zu  zeigen*,  jedoch  nur 
>die  abgekürzte  Chronik  des  Zeitalters  zu  sein«,  bringt  mich 
mit  etlichen  Ausschnitten  in  Versuchung.  Aber  nirgend  kommt  die 
Gemütsart,  die  die  rechte  Hand  nicht  wissen  läßt,  daß  die  linke 
Bomben  wirft,  sondern  es  niederschreiben  läßt,  daß  es  der  Feind 
tut,  nirgend  kommt  sie  so  schön  zur  Geltung. 

Daß  die  Vorführung  einer  Schlacht  im  Film  zum  täglichen 
Brot  der  deutschen  Kinobesitzer  gehört,  weiß  man.  Da  nun  die 
technische  Kanaille  in  London,  wenngleich  sicherlich  mit  größerem 
Können,  dasselbe  tut  und  Aufnahmen  von  der  Offensive 
an  der  Somme  vorgeführt  hat,  heißt  es  in  Leipzig: 

.  .  .  Die  gefilmte  Schlacht,  die  gefilmte  Majestät  des  Sterbens  und 
des  Todes.  Daß  die  Engländer  eine  unwissende  und  ungebildete  Gesell- 
schaft sind,  wissen  wir  ja,  der  vorliegende  Fall  zeigt  aber  auch,  bis  zu 
welcher  Gefühlsroheit    Neid    und  Lüge  führen. 

So  heißt  es  in  Leipzig.  Da  der  Neid  aber  ein  hervorragendes 
Motiv  für  das  Kinorepertoire  ist,  meldet  sich  die  , Kölnische  Zeitung' 
(Ausgabe  für  das  Feld),  die  auch  zu  bescheiden  ist,  von  den  deutschen 
Schlachtfilms  außerhalb  der  Annoncenrubrik  etwas  zu  wissen,  und 
regt  an,  die  Roheit  und  Unbildung  der  Engländer  sogleich  in 
Deutschland  einzuführen : 

.  .  .  Wäre  es  nicht  erwünscht,  daß  man  auch  dem  Deutschen  hinter 
der  Front  solche  lebenswahren  Bilder  der  jüngsten  Ereignisse  vorführte? 
An  Gelegenheiten,  die  geeignete  Bilder  zur  Aufnahme  bieten,  dürfte 
kein  Mangel  sein.  Die  Taten  unserer  Soldaten,  im  Bilde  vorgeführt, 
gäben  wahrhaftig  Stoff  genug  für  mehr  als  einen  Film,  und  das  Volk, 
das  am  Bilde  manchmal  mehr  hängt,  als  am  Worte,  würde  solchen 
Vorführungen  ein  gewaltiges  Interesse  entgegenbringen,    auch  wenn  wir 


25 


auf  die  Ausschmückungen  im  Interesse  nationaler  Selbstverhimmlung, 
die  Engländer  und  Franzosen  nötig  haben,  verzichten. 

Versteht  sich.  Machen  wir.  Zwar  ist  es  längst  gemacht,  aber 
das  vergessen  wir,  um  den  Feinden,  die  es  auch  machen,  teils 
Gefühlsroheit  vorwerfen,  teils  beweisen  zu  können,  daß  wir's  noch 
besser  machen  werden.  Nur  daß  ein  deutscher  Ulan,  der  mir  den 
Ausschnitt  von  der  Front  schickt,  dazu  schreibt,  »jetzt  habe  das 
Sterben  des  armen  Schützengnabensoldaten  wirklich  einen  Zweck: 
es  dürfe  mit  allem  Dreck  von  Reinhardt  um  den  Beifall  des 
deutschen  Kinopöbels  konkurrieren«.  Leipzig  aber,  das  die  Erbärm- 
lichkeit, um  die  Köln  die  Engländer  beneidet,  auf  den  Neid  der 
Engländer  zurückführt,  veröffentlicht  eine  Kritik  des  durch  das 
Oenie  und  die  Persönlichkeit  seines  Autors  berühmt  gewordenen 
»Hias«: 

(Berliner  Theater.  »Der  Hias<.)  Unter  dem  Krachen  aller 
Feuerwaffen  und  mit  Sturmgeschrei  ging  gestern  abend 
>Der  Hias<,  ein  feldgraues  Spiel  in  drei  Akten,  über  die  Bretter  des 
Berliner  Theaters.  Der  Zettel  verschwieg  den  Namen  des  Verfassers; 
aber  ein  Feldgrauer  soll  das  Stück  geschrieben  haben,  und  Feldgraue 
(Offiziere  und  Mannschaften  Berliner  und  bay- 
rischer Ersatz-Truppenteile,  unter  denen  gewiß  einige  von 
schauspielerischer  Herkunft  waren,  führten  es  auf.  Für  die  Frauen- 
rollen stellten  sich  Frauen  der  Aristokratie  zur 
Verfügung.  Das  Stück,  nicht  besser  als  die  meisten  seiner  Art,  gab 
Gelegenheit,  Lagerleben  und  blutige  Kämpfe  mit  erstaunens- 
wertem Naturalismus  vorzuführen.  Die  echten 
Soldaten  auf  der  Bühne  spielten,  als  ob  sie  an 
der  Front  wären.  Dort,  wo  die  kriegerischen  Vorgänge  der  tech- 
nischen Mittel  der  Bühne  spotteten,  sprang  der  Film  ein  und 
der  Apparat  rollte  (im  letzten  Akte)  eine  Reihe  von  geschickt  in 
die  Szene  des  Stückes  eingelegten  Schlacht  bildern  ab. 
Erhöht  wurde  der  Eindruck  durch  den  Lärm  der 
Maschinengewehre  und  Handgranaten  und  durch  das 
Ächzen  und  Stöhnen  der  Gefallenen. 

Freilich  bemerkt  Leipzig,  um  nicht  ganz  in  den  Verdacht 
zu  kommen,  daß  es  ein  klein  London  sei,  dazu: 

Die  mörderische  Abspiegelung  ging  auf  die  Nerven,  ohne  daß 
sie  durch  die  Kunst  geadelt  zur  Höhe  der  zeit- 
geschichtlichen Ereignisse  emporgetragen  worden 
wäre.  Von  einem  dichterischen  Atem  ist  in  dem  Stück  kein 
Hauch  zu  verspüren. 

Ein  Unrecht  am  »Hias<.  Wenngleich  nicht  gerade  durch  die 
Kunst,  sondern  nur  durch  die  Mitwirkung  der  deutschen  Aristokratinnen 


26  — 


geadelt,  ist  er  doch  zur  Höhe  der  zeitgeschichtlichen  Ereignisse 
emporgetragen.  Die  echten  Soldaten  auf  der  Bühne  spielten,  als 
ob  sie  an  der  Front  wären,  und  für  zwei  Mark  fünfzig  kann  man  das 
Ächzen  und  Stöhnen  der  Gefallenen  hören,  was  viel  lohnender  ist 
als  die  gefilmte  Majestät  des  Sterbens  in  London,  die  doch  stumm 
bleibt.  Den  Neid,  der  die  Engländer  darob  befallen  müßte,  könnte 
man  ihnen  schon  jetzt  vorhalten.  Aber  ein  Beispiel  für  deren  Ver- 
logenheit wird  gleich  angeführt: 

Eine  englische  Denkmünze  auf  die  See- 
schlacht im  Skagerrak.  Nachdem  die  Engländer  ihre  schwere 
Niederlage  vom  Skagerrak  auf  dem  Papier  allmählich  in  einen  Sieg  um- 
gemodelt haben,  setzen  sie  diesem  Lügenverfahren  da- 
durch die  Krone  auf,  daß  sie  eine  Denkmünze  auf  die  Seeschlacht 
prägen,  womit  sie  sie  offenbar  in  eine  Reihe  mit  anderen  Seeschlachten 
stellen  wollen,  die  seit  dem  Vorbilde  der  Königin  Elisabeth,  die  auf  den  Unter- 
gang der  Armada  im  Jahre  1588  eine  berühmte  Münze  prägen  ließ, 
durch  Denkmünzen  als  Siege  verherrlicht  worden  sind  .  .  .  Rund  herum 
läuft  die  Inschrift :  »Der  ruhmreichen  Erinnerung  derer, 
die  an  jenem  Tage  fielen.«  ImVergleichmit  neueren 
deutschen  Denkmünzen  kann  diese  englische  als 
gedankenarm  und  u n k ü n s 1 1 e  r  i  s c h  bezeichnet 
werden.  Der  Text,  der  nichts  von  Sieg  enthält,  ist 
für  englische  Verhältnisse  ziemlich  bescheiden.  .  .  .  Die 
Denkmünzen  sollen  käuflich  sein  —  die  goldene  zu  230  Mk., 
und  der  Gesamtertrag  soll  den  Hinterbliebenen 
der  gefallenen  Seeleute  zukommen.  —  So  ver- 
abscheu u  n  g  s  w  ü  r  d  i  g  diese  e  n  g  1  i  s  ch  e  V  e  r  1  o  g  e  n  h  e  it 
auch  ist,  kann  man  es  nicht  in  Abrede  stellen,  daß  sie  System 
hat  und  sicher  auch  Erfolg  haben  wird,  denn  es  unterliegt  keinem 
Zweifel,  daß  auch  auf  diesen  englischen  Schwindel  wieder 
eine  ganze  Menge  neutraler  Untertanen  hereinfallen  wird. 

Man  muß  die  gedankenreichen  und  künstlerischen  deutschen 
Denkmünzen  keineswegs  zum  Vergleich  heranziehen,  um  sich  von  der 
Bescheidenheit  und  Käuflichkeit,  kurz  von  der  verabscheiiungs- 
würdigen  Verlogenheit  dieser  englischen  Denkmünze,  deren  Text 
nichts  von  Sieg  enthält  und  deren  Gesamtertrag  den  Hinterbliebenen 
der  gefallenen  Seeleute  zukommt,  eine  Vorstellung  machen  zu  können. 
Sie  gilt  der  Erinnerung  derer,»  die  an  jenem  Tage  gefallen  sind, 
ihr  Ertrag  der  Unterstützung  derer,  die  sie  zurückgelassen  haben : 
man  mache  sich  von  diesem  englischen  Schwindel^  der  wie  gesagt 
nichts  von  Sieg  enthält,  also  als  völlig  gedankenarm  und  unkünst- 
lerisch bezeichnet  werden  kann,  ein  Bild.  Wovon  man  sich  hingegen 


27 


kein  Bild  machen  l<ann,  ist  die  Geistesverfassung,  die  hier 
vor  den  blutigsten  Kontrasten  ihrer  dummacherischen  Übung 
nicht  satt  wird  und  aus  dem  Abhub  der  Phrase  noch  ein 
Surrogat  der  Gesinnung  herzustellen  vermag,  von  dem  sie  mit 
verzücktem  Augenaufschlag  weiterlebt.  Da  wird  links  »von  unsrem 
römischen  Mitarbeiter«  über  den  > Kampf  gegen  den  deutschen 
Geist  in  Italien<  berichtet: 

Die  verzweifelten  Versuche  der  italienischen  Über- 
patrioten, den  Kampf  gegen  Deutschland  auch  auf  den  deutschen 
Geist  und  auf  die  deutsche  Wissenschaft  auszu- 
dehnen, erleben  immer  wieder  neue  Niederlagen,  die  dann 
ihrerseits  2u  den  erheiterndsten  Klagen  in  der  italienischen 
l'atriotenpresse  führen.  So  finden  wir  in  dem  römischen  ,Giornale 
d'Italla'  vom  8.  September,  das  den  höchsten  Deutschenhaß  mit  der 
größten  eigenen  Ignoranz  verbindet,  eine  herzbewegende  Klage  über 
zwei  Veröffentlichungen  der  allerletzten  Zeit  in  Italien  .... 

Aber  eine  Veröffentlichung  gleich  rechts  in  den  , Leipziger 
Neuesten  Nachrichten'  würde  den  italienischen  Überpatrioten  eine 
kleine  Genugtuung  verschaffen  und  ihren  verzweifelten  Versuchen,  den 
Kampf  gegen  Deutschland  auch  auf  den  deutschen  Geist  und  die 
deutsche  Wissenschaft  auszudehnen,  zum  Durchbruch  verhelfen: 

Die  Lauterberger  Weltanschauungswoche. 
Für  die  vom  2.  bis  7 .  Oktober  in  Bad  Lauterberg  im  Harz  i  ni 
städtischen  Kurhause  in  Aussicht  genommene 
»Weltanschauungswoche«  haben  Geheimrat  Natorp-Marburg, 
Professor  Leser-Erlangen  und  Professor  Hunzinger-Hamburg  je  6  s  t  ü  n- 
dige  Vorlesungen  über:  »Die  hauptsächlichsten  Weltanschauungstypeii 
der  führenden  Kulturvölker  und  der  Kulturberuf  unseres  Volkes«,  > Fichte 
und  wir«  und  »Die  Wellanschauung  unserer  Klassiker«  zugesagt. 
Außerdem  wird  Dr,  Ferdinand  Avenarius-Dresden  einen 
Einzelvortrag  halten.  Für  die  Nachmittage  sind  gemeinsame 
Wanderungen,  für  die  Abende  gesellige  Zusammen- 
künfte vorgesehen.  Der  Preis  der  Teilnehmerkarte  ist  auf  10  Mark 
festgesetzt  worden.  Die  Vorlesungen  beginnen  um  8  Ulir 
vormittags    und    dauern    bis    11    Uhr. 

Da  das  nur  um  drei  Stunden  zu  viel  wäre,  so  dürfte  jeder 
der  drei  Gelehrten  zwei  Vormittage  innehaben,  wobei  aber 
Avenarius-Dresden  in  die  gemeinsamen  Wanderungen  oder 
geselligen  Zusammenkünfte  eingeschoben  werden  müßte.  Das 
Arrangement  ist  schwierig.  Aber  die  Natur  einer  im  städtischen 
Kurhause  in  Aussicht  genommenen  Weltanschauungswoche  bringt 
das   mit   sich.    Warum  veranstaltet  man  sie  nicht  bei  Wertheim? 


—  28  — 


Was  es  alles  gibt  und  was  für  bunte  Dinge  auf  diesem  kärgsten 
Stück  Erde  wachsen!  Alles  was  sie  dort  nicht  haben,  bekommen 
sie  geliefert.  Und  so  auch  'ne  Weltanschauung.  Da  es  jetzt  dank 
solchen  Möglichkeiten,  also  dank  einer  Weitanschauung,  die  deren 
Herstellung  als  Fertigware  nebst  Aufmachung  garantiert,  unmöglich 
geworden  ist,  sich  die  Welt  anzuschauen,  so  möchte  ich  gern  die 
Lauterberger  Weltanschauungswoche  mitmachen.  Die  Welt  schaut 
Lauterberg  an,  Lauterberg  die  Welt,  und  beide  verstehen  einander 
doch  nicht.  Aber  ein  Hauptspaß  muß  es  sein,  und  Filmaufnahmen 
sollten  von  dem  belehrenden  Teil  sowohl  wie  insbesondere  von  den 
geselligen  Zusammenkünften  in  der  Welt  verbreitet  werden.  Man  müßte 
den  Avenarius  sprechen  sehen  und  eindrucksvoller  als  die  gefilmte 
Majestät  des  Sterbens  wäre  einmal  die  gefilmte  Humilität  des  Lebens. 
Was  es  aber  mit  der  deutschen  Weltanschauung,  soweit  sie  sich  ohne 
Grenzübertrittsbewilligung  entfalten  kann,  für  eine  Bewandtnis  hat, 
und  wie  das  deutsche  Wort  dem  deutschen  Volk  sogar  den  Film 
ersetzt,  bewies  der  folgende  Bericht,  den  Leipzig  von  Köln 
bezogen  hat: 

Kaiser  Wilhelm  als  Feldarbeiter.  Aus  Oberschlesien 
geht  der  ,Köln.  Vlksztg.'  die  folgende  hübsche  Schilderung  eines  Vor- 
ganges zu,  der  sich  dort  vor  einiger  Zeit  abspielte : 

Bekanntlich  reiste  der  Kaiser  an  die  Ostfront.  Seine  schlesischen 
Truppen  erfreute  Seine  Majestät  durch  persönliche  Anerkennung  und 
durch  seinen  Dank  für  ihre  Tapferkeit.  Des  freute  sich  ganz  Schlesien. 
Aber  ganz  Schlesien  freute  sich  noch  über  etwas  anderes. 

Was  rennt  das  Volk,  was  läuft  die  Schar  hinaus  auf  die 
abgemähten  Felder?  Den  Kaiser  zu  sehen.  Nachmittags  zwischen  5  und 
7  Uhr  ist  es.  Munteres  Volk  birgt  die  kostbaren  Ährengarben 
auf  bereitstehende  Wagen.  Plötzlich  ruhen  alle  Hände,  Stille  tritt  ein, 
alle  Mützen  fliegen  vom  Kopfe,  Staunen  ergreift  alle:  Der  Kaiser 
kommt !  Er  ist  schon  da,  zieht  den  Rock  aus  und  —  in  Hemds- 
ärmeln beginnt  des  Deutschen  Reiches  Oberhaupt  mit  Hand  anzu- 
legen an  die  Feldarbeit.  Auf  dem  mit  goldenen  Getreide- 
garben besäten  durchfurchten  Boden  unseres 
1  i e b e n  V a t e r 1 a n d e s  e r h e i t e r t  d a s  d u r c h  dieSorgen 
der  Kriegs]' ahre  tief  durchfurchtete  Antlitz 
Seiner  Majestät  munteres  Lächeln.  Er  hilft  selbst,  mit 
höchsteigener  Person,  den  »von  oben«  gespendeten  Segen  für  sein 
Volk  einzuheimsen.  Wie  der  Herr,  so  der  Knecht.  Dem 
Kaiser  tun  es  seine  Begleiter,  hohe  Herren  und  Offiziere,  nach. 
»Siehst  du  da  nicht  auch  unsern  Reichskanzler  bei 
der  Feldarbeit?»  —  »Wahrhaftig,  er  ist's.« 


29 


Von  der  Stirne  heiß,  rinnen  muß  der  Schweiß 
hei  solcher  Arbeit.  Überrascht  schaut  das  zuschauende 
Voll«,  wie  Seine  Majestät  den  von  der  Stirne  perlenden  Schweiß 
mit  dem  Hemdärmel  ein  übers  andre  Mal  abwischt;  denn 
in  brennender  Sonnenhitze  mit  der  Garbengabel  Wagen  voUzuladen,  wenn 
auch  mit  aufgestreiften  Hemdärmeln,  macht  schwitzen  —  und  Durst.  Und 
so  haben  wir  wieder  das  schöne  Bild:  Seine  Majestät  sitzt 
mitten  in  seinem  ihm  treu  ergebenen  oberschlesischen  Volk,  auf 
das  er  sich  verlassen  kann,  sitzt  auf  einem  Feldrain  und 
trinkt  aus  einem  gewöhnlichen  Krug  frisches  Wasser. 

Herablassend  winkt  er  den  Kindern  und  spricht  wie  ein  Vater 
traulich  zu  ihnen.  Sie  sollen  versuchen,  über  die  Stoppeln  zu 
laufen.  Sie  tun  es.  Herzlich  lacht  Seine  Majestät  über  der  Kinder 
Vergnügen  und  schenkt  ihnen  etwas  als  Lohn  für  ihre  Mühe  und 
die  Freude,  die  sie  ihm  bereitet  haben. 

Ist  da  nicht  alles,  was  es  gibt,  wie  im  Qesamtkunstwerk 
vereinigt?  Der  Kaiser  sitzt  mitten  in  seinem  Volk,  auf  das  er  sich 
verlassen  kann,  auf  einem  Feldrain,  was  rennt  das  Volk,  das 
Oberhaupt  streift  die  Hemdärmel  auf,  von  der  Stirne  heiß,  der 
Segen  kommt  in  einem  doppelten  Sinne  von  oben,  wie  der  Knecht 
so  der  Herr,  wie  der  Herr  so  der  Knecht,  nämlich  unser  Reichs- 
kanzler, siehst  du  da  nicht,  wahrhaftig  er  ist's,  die  Welt  ist  verkehrt, 
die  Genitive  sind  vorangestellt,  es  ist  der  Kinder  Vergnügen,  des 
Reiches  Oberhaupt  legt  Hand  an,  und  so  haben  wir  wieder  das 
schöne  Bild  —  aber  selbst  Ganghofer  hätte  den  Text  nicht  zustande- 
gebracht: >Auf  dem  mit  goldenen  Getreidegarben  besäten 
durchfurchten  Boden  unseres  lieben  Vaterlandes  erheitert  das 
durch  die  Sorgen  der  Kriegsjahre  tief  durchfurch  tete  Antlitz 
Seiner  Majestät  munteres  Lächeln«.  Man  beachte  die  unwillkürliche 
Steigerung  von  »durchfurcht«  und  den  Vorgang,  wie  auf  dem 
Boden,  der  mit  Garben  besät  ist,  munteres  Lächeln  das  Antlitz 
erheitert.  Nie  ist  ein  deutscherer  Satz  geglückt.  Wie  ein  durch 
alle  Gefahren  heimgeführtes  Unterseehandelsboot  mutet  er  an.  Ein 
Londoner  Film  muß  vor  Neid  zerspringen.  Eine  Lauterberger 
Weltanschauungswoche  kann  etwas  zulernen. 


—  30  — 


Der  soziale  Standpunkt  vor  Tieren 

Die  sozialdemokratische  Presse  findet  ihr  tragisches  Durch- 
kommen zwischen  jener  größeren  Organisation,  die  das  Menschen- 
tum tief  unterhalb  allen  freiheitlichen  Bestandes,  also  aller 
politischen  Daseinsberechtigung  verschüttet  hat,  und  jenem  allein 
bewahrten  Rest  von  Menschlichkeit,  der  sie  auf  die  Pflicht  der 
Zeugenschaft  nicht  verzichten  lassen  will.  Diesem  Widerspruch,  zu 
bestehen,  wo  sie  nicht  mehr  bestehen  kann,  wird  sie  durch  ein 
Nebeneinander  von  Strategie  und  Dokumentensammlung  gerecht, 
so  daß  vorn  entweder  die  Zufriedenheit  der  Kölnischen  Zeitung 
oder  gar,  wenn's  die  Leistungen  eines  Unterseebotes  gilt,  die 
Einbildungskraft  der  Neuen  Freien  Presse  erreicht  wird,  und  gleich 
daneben  Tatsachen  hinausgestellt  werden,  deren  himmelschreiender 
Inhalt  von  jener  Sphäre  bezogen  ist,  deren  Ereignisse  eben  noch 
aus  einer  denkbar  unrevolutionären,  sachlich  beruhigten  oder 
weltzufriedenen  Gemütslage  gewürdigt  wurden.  Ob  nicht  ein 
besserer  Ausgleich  zwischen  dem  Zustand  der  Welt  und  dem 
durch  ihn  erledigten  Standpunkt  der  Entschluß  gewesen  wäre, 
sich  auf  eine  Sammlung  von  Tatsachen  zu  beschränken  und  auf 
jede  Meinung  zu  verzichten,  die  vorweg  im  Verdacht  ist,  eine 
erlaubte  Meinung,  eine  mit  dem  größten  Exzeß  der  Gesellschafts- 
ordnung zufriedene  zu  sein,  bleibe  unerörtert.  Jedenfalls  ist  die 
gewissenhafte  Aufreihung  jener  Fakten,  die  der  Menschheit  den 
Krieg  als  ein  abschreckendes  Beispiel  vorführen  sollen,  der  einzige  Fall 
von  publizistischer  Sauberkeit,  den  die  schmutzigste  Epoche  auf- 
zuweisen hat,  anerkannt  auch  von  deren  einsichtigeren  Akteuren 
als  ein  Beweis,  daß  die  weltflüchtige  Menschenwürde  sich  immer- 
hin in  zwei  bis  drei  Wiener  Zeitungsspalten  niederlassen  darf; 
als  eine  Ausnahme  von  jener  furchtbaren  Regel,  nach  der  diese 
schwerverwundete  Menschheit  sich  noch  eine  Blutvergiftung  durch 
Druckerschwärze  zuziehen  mußte.  Und  auch  diesem  Unglück 
sucht  die  heilsame  Arbeit  der  sozialdemokratischen  Chronik 
nach  Kräften  entgegenzuwirken,  aus  der  ehrlichen  Erkenntnis,  daß 
die  bürgerliche  Journalistik  die  niedrigste  Gattung  unter  jenen 
Lebewesen  vorstellt,  die  der  Krieg  übriggelassen  hat.  Umso 
betrüblicher  erscheint  die  daneben  beobachtete  Neigung,  den 
eigentlichen  Tieren  gegenüber  auf  einem  vorrevolutionären  Stand- 


31 


punkt  zu  beharren,  ihnen  nicht  nur  die  von  Schopenhauer  zu- 
erkannten Rechte,  sondern  sogar  das  Erbarmen  zu  versagen,  das 
der  Gerechte  aufzubringen  hat  —  ja  geradezu  dort,  wo  der 
Sammler  von  Menschengreueln  auf  werktätige  Sympathie  für  Tiere 
stößt,  solche  Regungen  als  Kontraste  zum  Welttreiben  höhnisch 
abzutun.  Er  hat  nicht  genug  ironische  Punkte  und 
Gedankenstriche,  einen  englischen  Aufruf  »zu  Gunsten  .  .  .  unserer 
stummen  Freunde«,  nämlich  der  Pferde,  zu  verspotten,  der  ihm 
umso  lächerlicher  erscheint,  als  der  Schutz  auf  die  Pferde  aller 
kriegführenden  Länder  ausgedehnt  werden  soll.  Aber  ganz  ab- 
gesehen davon,  daß  dieser  internationale  Standpunkt  eine  Kostbarkeit 
in  einer  Zeit  ist,  in  der  von  den  drei  großen  Internationalen  nur 
die  journalistische  sich  ausleben  konnte,  und  daß  solcher  Gedanke 
sittlich  hoch  über  der  Kriegslyrik  eines  Richard  Dehmel  steht,  der  den 
deutschen  Pferden  eine  besondere  Offensivkraft  zugetraut  hat  —  ist  es 
ein  Denkfehler,  hier  bitter  zu  werden  und  einen  frivolen  Gegensatz  zu 
den  in  den  Krieg  oder  in  die  Munitionsfabrik  gestellten  Menschen 
zn  behaupten.  Der  Unterschied  ist  ein  ganz  anderer,  nämlich  der, 
daß  die  Menschen,  so  unschuldig  jeder  einzelne  von  ihnen  an 
seinem  Schicksal  sein  mag,  alle  zusammen  es  verschuldet  haben, 
indem  sie  den  Willen  hatten,  die  Maschine  zu  erfinden,  die  ihnen 
den  Willen  nahm,  während  doch  den  Pferden  an  einer  technischen  Ent- 
wicklung, die  ihre  Sklaverei  verschärft  hat,  keinerlei  Anteil  nachzu- 
weisen wäre.  Den  Pferden  ist  nicht  der  Hunger  versagt,  wohl  aber 
eine  Organisation,  durch  die  sie  es  ihren  Vorgesetzten  wenigstens 
kundmachen  könnten,  daß  auch  sie  im  Krieg  mehr  hungern  als  im 
Frieden.  So  ganz  verschlossen  sollte  sich  das  Sozialgewissen  nicht 
vor  dem  Umstand  zeigen,  daß  in  dieser  Welt,  die  sich  zu  helfen 
weiß,  ein  Surrogat  für  Futter  auch  mehr  Peitschenhiebe  sein  können. 
Man  muß  schon  die  Scheuklappen  des  Pferdes  haben,  um  nicht 
täglich  auf  der  Wiener  Straße  zu  sehen,  wie  sich  die  Bestialität 
am  Tier  für  die  schlechten  Zeiten  schadlos  hält.  Es  ist  ferner  auch 
vollkommen  blicklos,  sich  über  eine  deutsche  Gräfin,  die  ihrem 
magenkranken  Hund  Suppe  gegeben  hat  und  wegen  Verfütterung 
von  Brotgetreide  gerichtlich  verurteilt  wurde,  über  die  Krankheit 
des  Hundes  also  und  über  dessen  Pflege  in  Sperrdruck  lustig 
zu  machen.  Wenn  wir  uns  selbst  die  Verfütterung  von  Getreide 
lür  einen   bestimmten    Hund    als   eine   Grausamkeit  gegen  einen 


—  32  — 

unbestimmten  Menschen  konsequent  zu  Ende  denken  könnten,  so 
müssten  wir  uns  doch  wieder  fragen,  ob  nicht  die  Gesamtheit 
der  unschuldigen  Menschen,  die  durch  solches  Verhalten  zu 
Schaden  kommt,  mehr  Schuld  hat  an  der  Misere  als  die 
Gesamtheit  der  unschuldigen  Tiere.  Zwischen  dem  mir  bekannten 
Menschen  und  dem  mir  bekannten  Hund  kann  ich,  wenn's  sein 
muß,  entscheiden,  welches  von  beiden  Individuen  mir  »näher  steht« 
—  zwischen  den  beiden  Gattungen  bleibt  mir  im  Anblick  des 
Benehmens  der  einen  gar  nicht  die  Wahl.  Und  wie  erst,  wenn 
ich  zwischen  dem  mir  befreundeten  Hund  und  der  menschlichen 
Gesamtheit  zu  wählen  habe?  Dies  eine  Tier,  nicht  jener  Mensch, 
dem  ich  die  Nahrung  verkürze,  steht  vor  meinen  Augen,  leidet, 
und  ich  mache  gar  kein  Hehl  aus  dem  Zynismus,  mit  dem  ich,  jeder 
sozialpolitischen  Phantasie  ermangelnd,  das  Bequemere  tue  und  meine 
Nächstenliebe  dem  bedürftigen  Nächsten  zuwende.  Eine  weit  bessere 
Phantasie  belehrt  uns,  daß  die  Menschlichkeit,  die  dem  kranken  Hund 
hilft—  und  wäre  es  nur  der  eigene  Hund  — ,  mehr  einer  Menschheit 
hilft  als  alle  Organisation  der  Nächstenliebe,  die  doch  zu  schwach 
war,  jene  des  Nächstenhasses  zu  verhindern.  SyJ^y^^^  4^ 

/,  .   ■'  I-  .,,"  r  und   die   deutsche  Aristo- 

kfatiit,  von  der  die  Qerichtssaalrubrik  erzählt,  hebt  sich  recht  vor- 
teilhaft von  jenen  Standesgenossinnen  ab,  die  in  der  Theaterrubrik 
erwähnt  werden,  weil  sie  an  einer  Vorstellung  des  >Hias«  mit- 
gewirkt haben.  Wenn  die  deutsche  Gräfin,  die  in  der  Zeit  der 
Not  ihre  Hunde  nährt,  verhöhnt  wird,  so  müßte  die  deutsche 
Artistin,  die  sich  in  der  Zeit  der  Not  von  ihren  Hunden  nährt, 
Anerkennung  finden.  Solche  Konsequenz  würde  aber  allzu  grau- 
sam dem  Bestreben  der  Arbeiter-Zeitung,  Spuren  von  Menschen- 
würde im  Schutt  der  großen  Zeit  zu  entdecken  und  zu  er- 
halten, widersprechen.  Wenn  ich  Notizen  sehe,  die  den  Titel 
führen  >Pferde  und  Menschen«  oder  »Die  magenleidenden  Hunde 
der  Gräfin«,  so  fände  ich  es  schön,  wenn  darin  beklagt  würde,  daß 
die  Pferde  jetzt  durch  die  Menschen  ins  Unglück  gekommen  sind 
und  daß  magenleidende  Hunde  jetzt  nichts  zu  essen  haben.  Denn 
durch  die  Hilfe,  die  sie  den  Tieren  entzieht,  wird  sich  die  Mensch- 
heit nicht  auf   ihre  Beine  helfen   und  nicht  von    ihren  Prothesen. 


33 


Glossen 

Jaur^s  erbarmt  sich  Großmanns 

....  Da  ging  ein  junger  Kerl  an  uns  vorbei,  der  trug  ein 
Ferkel.  Es  schrie  jämmerlich,  denn  er  hielt  es  an  den  Ohren.  Ich, 
Städter,  drehte  mich  nur  nervös  nach  dem  Gequietsch  um,  Jaurös  aber 
ging  auf  den  jungen  Menschen  zu  und  sagte  ihm  sachlich-ruhig:  >Lieber 
Freund,  Sie  haben  noch  nicht  viele  Schweine  getragen?  Man  muß  sie 
da  anfassen.«  Er  zeigte  ihm  sofort  den  richtigen  Griff  und  das  erlöste 
Schwein  hörte  auf  zu  schreien. 

....  Nachmittags  fuhren  wir  in  einem  Wagen  hinaus  in  die 
Berge,  Jauris,  ich  und  ein  Dritter.  Von  den  Cevennen  her  wehte  frische 
Bergluft.  Der  Meister  saß  neben  mir  im  Überzieher,  m  i  t 
aufgestelltem  Kragen  und  zusammengepreßten 
Lippen.  Nach  seiner  langen  Rede  konnte  er  sich  leicht  verkühlen 
und  heiser  werden  und  das  durfte  er  jetzt  auf  keinen  Fall.  Es  wurde 
abendlich  kühl.  Ich  hatte  keinen  Mantel  mitgenommen.  Da  nahm  er 
die  Decken  und  stopfte  die  stillschweigend 
um  mich,  dann  wieder  stellte  er  mir  den  Kragen  des 
Anzuges  auf,  dann  legte  er  seinen  Arm  hinter  mich 
und  um  mich,  weil  das  wärmte.  Das  war  nicht  Liebenswürdigkeit, 
geschweige  denn  Politik,  sondern  einfach  nur  das  Bedürfnis,  gut  zu 
sein.  Ich  kam  mir  wohlig  geborgen  vor,  wie  ein  Sohn,  der  im 
Arm  des  Vaters  dahinfährt. 

Das  ist  ja  der  Erlkönig! 
Er     sorgte     für     mich      aus     derselben      natürlichen 
Güte,     die     er     für     das    schreiende    Schwein      übrig 
hatte....  Stephan  Großmann. 

Da  sieht  man,  der  gütige  Jaures  hatte  mehr  übrig  für  die 
Schweine,  als  Herr  Qroßmann  für  die  Hunde. 


Der  durchhaltende  Ton 

Es  gibt  in  unserer  Presse,  besonders  in  jener,  die  wir  alle 
lieben,  einen  intelligenten  Lebensmittelhumor,  der  noch  in  den  Zeiten 
geringer  Zufuhr  als  Abführmittel  wirkt  und  vor  dem  es  der  Sau 
grausen  würde,  wenn  eine  da  wäre.  Ich  kann  die  Schilderung  vom 
ersten  Brotkartentag  in  Wien,  die  in  jene  Zeit  fiel,  in  der  mich 
die-  fortwirkende  Schande  noch  stumm  machte,  vorläufig  nicht 
finden,  aber  ich  verspreche,  daß  man  es  einmal  nicht  für  möglich 
halten  wird.  Welchen  Tonfall  ich  meine  und  welcher  nun  schon 
seit  zwei  Jahren  durchhält,  weiß  man  sofort,  wenn  ich  die  Be- 
zeichnung »kulinarische  Strategen«  zitiere.    Man  würde   sich  gern 


—  34 


übergeben,  wenn  man  etwas  zum  essen  hätte;  die  harte  Zeit 
schützt  den  Schmock  vor  solcher  Demonstration.  Es  ist  derselbe, 
der  etwa  im  Frieden  den  Engländer  »bädeckerbewaffnet«  genannt 
hätte.  Mit  einem  Wort,  es  sind  Dinge,  die  man  in  ihrer  Unver- 
änderlichkeit  zu  den  Härten  des  veränderten  Lebens  auch  noch 
hinnehmen  muß.  Jede  neue  Verschärfung  der  Speisevorschriften, 
die  der  Tag  bringt,  mobilisiert  diese  Tonart,  hinter  der  ich  eine 
Individualität  vermute,  die  manchmal  den  Mut  hat,  unter  der 
Spitzmarke  >St— g«  hervorzutreten.  Wie  doch  ein  einziger  Mensch 
eine  Bevölkerung  martern  kann!  Jetzt,  da  die  eiserne  Zeit  auf  uns 
lastet   und   im  Umkreis  '  ein   Deka   Butter  zum 

Problem  geworden  ist,  jetzt,  da  der  Verkauf  von  Brot  in 
Gasthäusern  verboten  ist,  zählt  er  alle  Einschränkungen  auf,  die 
den  > Junggesellen«,  der  immer  schon  eine  Zielscheibe  des  Humors 
war,  bisher  betroffen  haben.  Nein,  nicht  betroffen,  sondern  »sehr 
empfindlich  in  seinem  Dasein  am  ,Tischlein  deck  dich'  gestört« 
haben.  Früher  »konnte  der  Hagestolz  noch  immer  seinen  Obers- 
kaffee« und  alles  mögliche  bekommen,  aber  jetzt?  Nun,  ein  Trost 
ist,  daß  es  1916  trotz  Krieg  und  Einheiratsannoncen  noch  Hage- 
stolze gibt.  Mit  einigem  guten  Willen  wird  der  Hagestolz  natürlich 
durchhalten,  das  heißt,  die  Unbequemlichkeiten  in  Kauf  nehmen, 
was  wahrhaftig  nicht  viel  verlangt  ist,  weil  es  jetzt  sowieso  das 
einzige  und  letzte  ist,  was  er  in  Kauf  nehmen  kann.  Ist  man 
aber  einmal  bei  dieser  Erkenntnis  angelangt,  so  ist  man  auf  alles 
gefaßt  und  empfänglichen  Sinnes  lauscht  man  den  Äußerungen  des 
Besitzers  des  Cafe  de  l'Europe  Herrn  Ludwig  Riedl. 


Eine  Lügennachricht 

Verbot   des  Brotverkaufes   in    den   Gasthäusern    in    Wien    und    ganz 
Niederösterreich. 

Was  aber  nicht  ausschließt,  daß,  nicht  etwa  ein  paar  Wochen 
vorher,  sondern  dicht  unter  der  Meldung,  als  charakteristisch  für  die 
Lügen  der  Entente-Presse  bemerkt  sein  könnte,  daß  man  dort  be- 
hauptet, bei  uns  sei  der  Brotverkauf  in  den  Gasthäusern  ver- 
boten worden. 


—  35 


Ein  Ammenmärchen 

[Die  Lflgenmeldungen  in  Amerika  über  die  wirtschaftlichen  Ver- 
hä'tnJsse  von  Wien.]  Eine  Dame  schreibt  uns:  Die  Amme  meines 
jüngeren  Kindes  hat  nach  beendetem  Dienstein  meinem  Hause  in  Wien 
ihr  Glück  in  der  neuen  Welt  gesucht.  Die  Unterstützungen,  die  ihr  seit 
dem  Verlassen  meines  Hauses  von  mir  und  meinen  Angehörigen  zuteil 
geworden  sind,  hat  sie  nun  in  wahrhaft  rührender  Weise  dadurch 
quittiert,  daß  sie  mir  in  einem  vor  wenigen  Tagen  aus  Chicago  ein- 
gelaufenen Briefe  zwei  Dollar  zukommen  ließ,  > damit  ich  mir  was  kaufen 
könne«.  Sie  schrieb,  sie  habe  in  den  amerikanischen  Zeitungen  gelesen, 
daß    wir    großen    Hunger    leiden! 

-.i:.k  -..ji*'5  ^j^Sifi^  ^Ju  "va-  .<K/vv>f cüw'-s.  iu 


Ein  Zwischenspiel 

Die  Neue  Freie  Presse  meldet  am  14.  Oktober  1916: 
[Brotverteilung  im  B  u  r  g  t  h  e  a  t  e  r.]  Als  dieser  Tage 
im  Burglheater  »Götz  von  Berlichingen«  aufgeführt  wurde,  kam  es  zu 
einem  merkwürdigen  kleinen  Zwischenspiel.  Im 
dritten  Akt  —  die  Burg  Götzens  ist  von  den  Kaiserlichen  belagert  — 
erscheint  die  Frau  Götz  von  Berlichingens  auf  der  Szene  mit  einem 
enormen  Brotlaib  am  Arm,  von  dem  sie  bedächtig  für  ihre 
Familie  und  den  Troß  Schnitte  auf  Schnitte  herunterzuschneiden  beginnt. 
In  diesem  Moment  bemächtigte  sich  des  dichtgefüllten  Hauses  eine 
eigenartige  Aufregung.  Ein  Raunen  und  Wispern 
ging  durch  das  Publikum,  und  die  Störung,  die  dadurch  entstand,  teilte 
sich  den  Schauspielern  mit,  von  denen  einzelne  ihr  Lachen  nicht  ver- 
bergen konnten,  so  daß  durch  einige  Augenblicke  das  Spiel  stockte. 
Schließlich  trat  die  notwendige  Ruhe  wieder  ein  und  das  Drama 
konnte    ungestört    seinen    Fortgang    nehmen. 

Es  ist  ja  schon  egal,  ob  solche  merkwürdige  kleine 
Zwischenspiele  und  deren  Publikation  zur  Lügenbildung  in  der 
Entente  -  Presse  beitragen.  Wichtiger  ist  die  Perspektive  in 
den  Wandel  der  künstlerischen  Zeiten.  Die  Kunst  mag  immer 
nach  Brot  gegangen  sein;  nur  dürfte  der  Unterschied  zwischen 
guten  und  schlechten  Burgtheaterzeiten  sich  etwa  so  formulieren 
lassen,  daß  zwar  heute  wie  ehedem  Massenanstellungen  vor  einer 
Qötz-Aufführung  stattfinden,  aber  ehedem  wegen  der  Wolter,  der 
Hohenfels,  wegen  Baumeister,  Hartmann  und  Robert,  und  heute,  weil 
die  Frau  Götz  Brot  verteilt,  wobei  die  Zuschauer  aber  doch  nur 
zuschauen  dürfen.    In  der  Epoche  der  echten  Ausstattungswunder 


—  36 


gehört  ein  enormer  Brotlaib,  von  dem  Herr  Reimers  als  Göt^ 
keineswegs  abzuleni<en  vermag,  sicherlich  zu  jenen  Versa tzstückai, 
denen  das  Publikum  minutenlang  applaudiert.  Stundenlang  stehen 
jetzt  die  Leute  vor  dem  Burgtheater.  Nach  der  Vorstellung,  daein 
empfängliches  Publikum  ehedem  den  Darsteller  des  Franz  Noor 
geprügelt  hat,  warten  viele  auf  die  Darstellerin  der  Frau  Götz 
und  suchen  sie  durch  Artigkeiten  für  sich  zu  gewinnen.  Genau 
wie  sie  es  mit  den  Kommis  im  Konsumverein  machen,  die  ja  auch 
Blumen  bekommen.  Die  Direktion  weiß  jetzt,  daß  sie  nur  Stücke, 
in  denen  gegessen  wird,  aufführen  darf.  Da  hängt  dacn  an  der 
Kassa  wie  vor  dem  Bäckerladen  die  Tafel  »Ausverkauft«. 
Man  sucht  jetzt  im  alten  Repertoire  nach  einem  Stück,  in  dem 
Fleisch  vorkommt,  und  will  auf  diese  Art  die  Saison  retten. 
In  einer  sonst  trostlosen  »Lear«-Aufführung  —  bekanntlich  hat 
Wien  im  Drang  der  Zeit  noch  die  Geistesgegenwart,  dem  öden 
Wüllner  nachzulaufen  —  wird  von  einer  findigen  Regie  der  Satz 
des  Narren:  »Gib  mir  ein  Ei,  Gevatter!«  durch  Darbietung  eines 
Eies  illustriert,  was  auch  lebhafte  Bewegung  hervorruft.  Ob  eine 
Butterkarte  zum  Bezug  von  Butter  berechtigt,  ist  fraglich;  als 
Burgtheaterbillet  sollte  sie  anerkannt  werden.  Rauchen  war  im 
Theater  schon  immer  verboten:  wie  müßte  heute  eine  Zigarre 
auf  der  Bühne  zündend  wirken !  Was  immer  sich  dort 
begeben  mag  —  es  wird  ein  Raunen  und  Wispern  durch  das 
Publikum  gehen.  Aber  schließlich  ist  es  ja  doch  nur  ein  Theater, 
und  das  Drama  nimmt  ungestört  seinen  Fortgang. 


Na  alstern! 

»Eine  angenehme  Überraschung  ist  den  Rauchern  österreichischer 
Virginierzigarren  dadurch  zuteil  worden,  daß  der  Hauptverlag  der  öster- 
reichischen Tabakregie  den  Verkaufspreis  für  Virginier,  der  vor  kurzem 

....    hinaufgesetzt    wurde erniedrigt    hat.    Diese    Ermäßigung 

ist  auf  die  Bestimmung  der  Reichspreisstelle  zurückzuführen,  daß 
Tabak  und  Zigarren  zu  Gegenständen  des  täglichen  Bedarfes  gehören 
und  daß  nur  ein  ziffernmäßiger  und  nicht  ein  perzentualer  Friedensnutzen 
genommen  werden  darf.« 

>Na  alstern!  Man  kriegt  Zigarren  und  sogar  billiger !< 
»Aber  das  wird  doch  aus  München  gemeldet!  Hier  kriegt  man 
sie  um  keinen  Preis!«  »Um  keinen  Preis?  Wenn  S'  die  Fahrt  hin 


37 


und  zurück  zahlen?«  »Jetzt  kriegt  man  aber  so  schwer  eine 
ürenzübertrittsbewilligung !«  »Wieso?  Sic  brauchen  nur  einen 
triftigen  Grund,  Sagen  S',  daß  Sie  rauchen  wollen.«  >Wenn  ich 
in  Deutschland  rauchen  will,  so  ist  das  doch  kein  Grund,  um 
mich  hineinzulassen?«  »Wann  S'  aber  in  Österreich  rauchen 
wollen!  's  kost'  nur  den  Zoll.  Da  müssen  S'  freilich  Gold  haben.« 
>Das  wäre  das  geringste.  Aber  in  Deutschland  ist  jetzt  Ausfuhr- 
verbot für  Zigarren.«  »Das  is  fatal.  Wissen  S'  was,  da  stecken  S' 
Ihna  eine  Virginier  in  Deutschland  an  und  blasen  S'  den  Rauch  in 
Österreich  aus.«  »Das  würde  ihnen  aber  in  die  Nase  steigen. 
Es  ist  jetzt  ein  Staat  für  Nichtraucher.  Seitdem  so  viel  Feuer 
gegeben  wird,  darf  man  nicht  mehr  rauchen.«  »Ja,  jetzt  is  — « 
> Krieg!«  »Na  alstern!« 


Eine  jetzt   erst  recht   unverständliche  Wiener  Redensart 

»Harn  S'  scho  g'hört?  Im  Gasthaus  kriegt  ma  kein  Brot 
mehr!  Wo  kriegt  man  denn  nacher  ein  Brot?«  »Wo  man  ein 
Brot  kriegt?  No,  beim  Backen!«  »Ja,  beim  Backen!« 


Entrevue  (Zusammenkunft) 


Eine  Anregung 

[Keine  Beglückwünschungen  anläßlich  von  Auszeichnungen.] 
Von  geschätzter  Seite  werden  wir  um  Veröffentlichung  nachstehender 
Zuschrift  ersucht:  Anläßlich  der  Auszeichnungen,  deren  Verleihung 
jetzt  amtlich  mitgeteilt  wird,  erscheint  es  wünschenswert,  darauf 
aufmerksam  zu  machen,  daß  mit  Rücksicht  auf  die  durch  den  Krieg 
bewirkte  besondere  Inanspruchnahme  aller  Arbeitskräfte  von  der 
sonst   üblichen  Beglückwünschung  der  Ausgezeichneten  abzusehen  wäre 


—  38    - 


W«nn  noch  in  weiterer  Verfolgung  des  praktischen 
Gedankens  von  den  Auszeichnungen  selbst,  von  den  Zuschriften, 
von  den  geschätzten  Seiten  und  von  allem  andern  abgesehen  wird, 
auf  das  wir  trotz  dem  Millionensterben  hinsehen  müssen,  so 
hätten  ja  die  Arbeitskräfte  gute  Zeiten.  Aber  der  Anreger  wird, 
wenn  ihm  die  Einstellung  der  Gratulationen  geglückt  ist,  kaum 
darauf  verzichten  wollen,  daß  sie  ihm  zukommen.  Was  in  der 
Zeit  der  großen  Offensiven  von  selbst  und  ohne  Zureden  aufzuhören 
hätte,  ist  die  Vordringlichkeit.  Aber  darauf  ist,  solange  ihr  der 
Nährboden  der  Druckerschwärze  bleibt,  solange  also  von  der 
Presse  nicht  abgesehen  wird,  keineswegs  zu  hoffen.  Die  Arbeits- 
kräfte, die  an  diesem  Grundübel  wirken,  der  Munitionserzeugung 
zuzuführen,  wenn  man  ihnen  schon  das  Opfer  nicht  zumuten  darf, 
zu  ihr  in  eine  passive  Verbindung  zu  treten,  wäre  ein  wahrer 
Segen.  Denn  man  würde  plötzlich  erkennen,  daß,  wenn  die 
Angestellten  der  Presse  Munition  erzeugen  helfen,  diese  sich 
plötzlich  vermindert,  weil  das  Schreiben  sie  vermehren  geholfen 
hat,  weil  eben  die  Erfindung  des  Schießpulvers  in  progressivem 
Verhältnis  zu  den  Erfindungen  der  Buchdruckerkunst  steht. 

*  * 

* 

Aus  der  Epoche  der  Anregungen 

[Die  Anregung  einer  Wienerin.]  Wir  erhallen  folgende 
Zuschrift :  Geehrte  Redaktion !  DerAnregung  einer  Wienerin 
in  Ihrem  Morgenblatte  vom  2.  d.  zur  Selbstbeschränkung  im  Haushalte 
stimme  ich  mit  vollem  Herzen  bei. 

Vermutlich  auch  mit  vollem  Magen. 

Der  Vorschlag,  durch  Freigabe  der  weiblichen  Bediensteten  in 
Haushaltungen  Kämpfer  für  das  Heer  zu  bekommen  und 
überdies  noch  Mittel  für  patriotische  Spenden  zu  gewinnen,  wird  — 
wie  ich  hoffe  —  Nachahmung  finden. 

Gutes  Beispiel  heißt  jenes,   womit   man   vorangeht. 

Auch  werden  wohl  alle  Frauen  und  Mädchen  die  in  Kriegszeiten 
innegehabten  Stellen  um  so  lieber  den  heimkehrenden 
Helden  wieder  überlassen,  als  sie  ihnen  für  die 
Beschützung  des  Vaterlandes  und  des  heimischen  Herdes 
zu    größtem    Dank    verpflichtet    sind. 

Wacker. 

Sie  finden  den  schönsten  Lohn  in  dem  erhebenden  Gefühl,  im 
Hinterlande  auch  ihr  Teil  am  errungenen  Erfolge  beigetragen  zu  haben. 
Zuerst  müssen  natürlich  jene  berücksichtigt  werden, 


—  39  — 


die  für  das  Vaterland  Gesundheit  und  Leben  einsetzten,  und 
erst,  wenn  diese  nicht  ausreichen,  ist  auf  jene  weiblichen 
Kräfte  zu  greifen,  die  durch  den  Verlust  ihrer  Ernährer  am 
tiefsten  geschädigt  wurden. 

Out  ist,  wenig  Seife  brauchen. 

Besser  noch  ist,  gar  nicht  rauchen; 

Aber  weite  Kleider  tragen. 

Öfter  gar  mit  vielen  Kragen, 

Hohe  Lederschuh'  am  Bein, 

Das  muß  wahrlich  auch  nicht  seini 

Statt  darauf  das  Geld  zu  wenden, 

Soll  dem  Vaterland  man's  spenden. 

Ein  Wiener. 
Das   meiste,    was  jetzt  erscheint,    ist   ein  Vordruck   aus  der 
Fackel,  den  ich  leider  nicht  verhindern  kann. 


Meine  Anregung 


Ein  Wahrwort 

Gern  erinnere  ich  mich  jetzt  öfter  des  Ausspruchs,  den 
gleich  bei  Eröffnung  der  großen  Zeit,  damals  als  sich  noch  die 
Menschheit  damisch  darauf  freute,  sterben  zu  müssen,  aber  nicht 
ahnte,  daß  sie  auch  kein  Rindfleisch  bekommen  werde,  ein  welt- 
kluger und  wegen  seines  gutmütigen  Dialekts  beliebter  Chef- 
redakteur getan  hat,  als  es  seinen  Plauderer  mächtig  trieb,  den 
Kriegspfad  zu  betreten,  freiwillig,  ehe  noch  ein  eigenes  Pressequartier 
vorhanden  war.  Er  wollte  solchen  »ausgefallenen  Ideen<  nicht 
leicht  nachgeben,  weil  er  mit  Recht  fand,  daß  es  daheim  wärmer 
sei,  willigte  nur  ungern  in  die  Anschaffung  eines  »Schlafsackes«, 
der  schon  während  des  Balkankriegs  viel  ventiliert  worden  war  und 
dessen  definitive  Bereitschaft  für  Österreich  damals  den  Ernstfall 
bedeutet  hätte.  Später  aber,  als  es  wirklich  ernst  wurde,  wußte  man 
in  journalistischen  und  andern  beteiligten  Kreisen  noch  nicht,  was 
der  Krieg  sei,  wiewohl  die  Versicherung  »c'est  la  guerre^  die  Devise 


—  40  — 


des  Tages  war,  und  der  Plauderer,  einer,  der  seinen  Humor  am  edelen 
Weidwerk,  dem  sogenannten  Gejaide,  gestählt  hatte,  machte  Miene, 
alle  Entbehrungen  für  das  Blatt  stracks  auf  sich  zu  nehmen.  Der  Chef- 
redakteur schüttelte  baß  den  Kopf  und  meinte  im  übrigen,  es  werde 
schon  nicht  so  arg  sein.  Als  ihm  endlich  der  Liebling  versicherte, 
daß  ihm  die  Ernährungsfrage  in  Feindesland  schier  ernstliche  Sorgen 
mache,  meinte  der  gutmütige  Brotgeber,  der  zwar  von  internationalen 
Pressekongressen  das  gediegenste  Essen  gewohnt  war,  aber  doch 
wußte,  daß  man  unter  Umständen  auch  Opfer  bringen  muß,  den 
Kopf  heftig  schüttelnd:  »Ach  was,  nehmen  Sie  sich  einen  Sack 
Kartoffeln  mit,  frische  Butter  bekommt  man  überall!«  Wenn  ich 
dieses  Worts  gedenke,  verspüre  ich  die  Lust,  Kriegsberichterstatter 
zu  werden.  Hei ! 


Einer  der  Ärgsten 

Der  Herr  Emil  Ludwig,  eine  Geißel  des  Balkans,  schreibt: 

Lautlos  floß  der  alte  Kahn,  auch  hier  ein  Einbaum,  über  die 
See-Ecke,  um  uns  die  letzte  Stunde  im  Sattel  zu  ersparen. 

Armer  Kahn,  beneidenswertes  Pferd!  Von  den  >letzten 
Österreichern  und  Deutschen«  in   Monastir  meint  er: 

...  sie  lebten  zitte  rnder  oder  in  dunklerer  Todesstimmung 
als  selbst  die  letzten  in  Saloniki;  denn  dort  gab  ihnen  der  Gedanke 
und  der  Anblick  ihrer  Konsulate  und  ihrer  Fahnen  .  . 
einen  moralischen  Rückhalt. 

Dieser  Ludwig,  fürchte  ich,  wird  uns  das  Durchhalten 
zur  Pein  machen. 


Der  Allerärgste 


-  41  — 


42 


Geza    Herczeg. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  der  ungarische  Schriftsteller 
Franz  Herczeg  weder  identisch  noch  verwandt  ist. 


Er  garantiert 

.  .  .  Die  Russen  pausieren  in  den  letzten  Tagen.  Südöstlich  Brzezany 
liaben  iiinen  unsere  Truppen  gestern  neuerlich  ein  Grabenstück  weg- 
genommen. Sonst  herrscht  an  der  russischen  Front  Ruhe.      Geyer. 


Beginnende  Einsicht  in  Rußland 

Militärfreie  Redakteure.  Der  Zar  hat  durch  einen 
Erlaß  bestimmt,  daß  die  Mitglieder  der  Zeitungsredaktionen  vom  Militär- 
dienste befreit  sein  sollen,  denn  ihre  Tätigkeit  sei  für  die  Organisierung 
des  ganzen  Landes  zur  kräftigen  Fortführung  des  Krieges  von  großer 
nationaler  Bedeutung. 

Die  Rückständigkeit  der  russischen  Kultur  zeigt  sich  in  der 
Notwendigkeit,  solche  Dinge  erst  durch  einen  Erlaß  zu  regeln. 
Bei  uns  wird  diese  Truppe  längst  als  Aufklärer  im  Hinterland 
verwendet. 


Man  muß  sich  rein  für  England  schämen 

In  London  werden  Menschenjagden  veranstaltet.  Soldaten  mit 
aufgepflanzten  Bajonetten  empfangen  die  harmlosen  Reisenden  in  den 
Bahnhofshallen,  und  wer  das  Aussehen  eines  Militärdienstpflichtigen  hat, 
wird  verhaftet,  in  einen  abgesondertenRaum  geführt  und 
muß  beweisen,  daß  er  kein  Betrüger  ist  und  sich  nicht  seinem  Dienste 
in  der  Armee  entzogen  hat.  Bei  den  öffentlichen  Unterhaltungen,  bei  den 
großen  Fußballspielen  und  in  den  Theatern,  überall  finden  diese  schauer- 
lichen Szenen  statt,  die  jedem  Engländer,  der 'noch  eine  Spur 
von  dem  alten  Sinne  für  persönliche  Freiheit  besitzt,  die  Schamröte  ins 
Gesicht  treiben  müssen. 


--  43 


Kurz,  während  sein  Land  früher  ein  gemütlicher  Grill-room 
war,  sieht  er  es  jetzt  in  einen  Rost-Raum  verwandelt.  Da  mag  er 
wohl  sinnend  der  alten  Zeit  gedenken  und  neidig  wie  er  ist  zu  uns  her- 
überschauen und  ausrufen:  »Goddam,  Vater  Radetzky  schau  oba,  dieses 
Österreich  hat  es  gut,  es  ist  der  letzte  Hort  der  europäischen  Freiheit 
sozusagen,  long,  longago,  daß  dort  eine  Patrouille  einen  angeredet 
hat,  und  geschieht  es  alle  heiligen  Zeiten  einmal,  so  fragen  s'  einen 
höflich :  Pardon,  will  der  Herr  vielleicht  unter  die  Soldaten, 
so  muß  er  haben  ein  Gewehr,  worauf  der  Österreicher  erwidert: 
Bedaure,  kann  nicht  mehr  dienen.  Ja  fürwahr,  das  ist  ein  freies 
Volk!  Dienen  oder  nicht  dienen,  das  ist  dort  die  Frage,  dient  er, 
is  gut,  dient  er  nicht,  auch  gut.  Dort  ham  s'  dafür  auch  lauter  Frei- 
willige, während  wir  —  durch  die  Bank  —  zuerst  Söldner  waren,  und 
jetztn  san  ma  die  reinen  Sklaven  -  Yorick  nebbich  !<  Wenn  aber  dann 
der  alte  Engländer  merken  wird,  daß  er  bei  uns  auf  gar  keine 
Gegenliebe  stößt,  indem  Old  England  nunmehr  schlankweg 
>Horditz«  heißt  und  daß  es  da  gar  keine  Rücksicht  gibt,  während 
das  Cafe  Westminster  al»  Cafe  Westmünster  noch  durchrutscht, 
dann,  ja  dann  mag  er  endlich  erkennen:  That  is  the  truc  beginning 
of  our  end!  =,=  * 

Die  Lage  in  Frankreich 


«  « 


So  leben  wir  alle  Tage 


*  * 


Auch  so  leben  wir  alle  Tag« 


44 


In  einem  und  demselben  schlechten  Atem 

wird  um  6  Uhr  Abend  (Sommerzeit  schon  5)  das  Folgende  gesagt: 
»Mangel    an  Humanität    und    Ritterlichkeit    lassen    wir    uns  von 
unseren  Gegnern  nicht  vorwerfen  .  .  .  .« 

»Er  ist  für  sein  Land  zu  Lebzeiten  nicht  billig  ge- 
wesen .  ...  Er  war  gewohnt,  ein  anständiges  Salair  zu  beziehen  .... 
Und  nun,  da  K.  o  f  K.  nicht  mehr  unter  den  Lebenden, 
sondern  auf  dem  Grund  des  Meeres  weilt,  ist  er  seiner 
Nation  noch  immer  der  teure  Mann,  der  er  ihr  stets  gewesen. 
Da  K.  o  f  K.  nämlich  noch  immer  nicht  aufgefunden  ist  und  da  man 
es  —  keineswegs  aus  Pietät  —  zu  wünschen  scheint,  daß 
dies  doch,  und  zwar  möglichst  bald  geschehe,  so  haben  die  englischen 
Behörden  die  ausgesetzte  Belohnung  auf  Auffindung  seiner  sterblichen 
Reste  ansehnlich  erhöht.  Die  Summe  beträgt  heute  schon  280.000  Mark, 
Auch  in  Entente-Kreisen  nimmt  dies  Wunder  und  man  fragt  sich  nach 
der  Ursache  dieser  Maßnahme.  Italienische  Blätter  mutmaßen,  daß  dies 
aus  dem  Grunde  geschehe,  weil  Kitchener  wahrscheinlich  wichtige 
Dokumente  bei  sich  hatte,  von  denen  man  nicht  gern  möchte,  daß  sie 
in  die  Hände  der  Deutschen  fielen.  Und  so  etwas  lassen  die 
Gentlemen  sich  eben  28  0.0  00  Mark  kosten  .  .  .« 

Womit  freilich  sogar  ein  lebendiger  Wiener  Sauschmock  stark 
überzahlt  wäre. 

Im  Dschungel 

Der  »Schriftsteller  Kipling«,  jetzt  auch  »Herr  Rudyard  Kipling« 
genannt,  ist  an  die  italienische  Front  abgegangen,  worüber  einem, 
dem   es   just   nicht   passierte,   das   Herz  wie   folgt  entzweibricht: 

Der  Schriftsteller,  der  in  seinen  Dschungelbüchern  die  zarteste 
und  originellste  Psychologie  zu  treiben  wußte,  dessen  poetische  Liebe 
die  Tiere  des  Waldes  mit  seltener  Anmut  umfaßte,  hat  keinen  Moment 
gezögert,  jeden  Deutschen  für  eine  Bestie  zu  erklären,  die  erschlagen 
werden  müsse,  solle  der  Welt  der  Frieden  wiedergegeben  werden.  Hier 
stimmt  etwas  nicht. 

Natürlich  nicht.  Aber  welche  Gefahr  hat  die  Anwesenheit 
des  Herrn  Kipling,  der  sich  noch  dazu  vom  Conan  Doyle  vertreten 
läßt,  an  der  Front?  Jener,  in  einem  Organ  des  Auswärtigen 
Amtes,  gibt  Aufschluß: 

Er  wird  zwischen  Deutschen,  Österreichern   oder  Ungarn  derzeit 
wohl    keinen    großen    Unterschied    machen,    und    man  darf  , 
darauf    gefaßt   sein,    daß    sich    die  Zahl    der    »österreichischen  Greuel« 
in  den  nächsten  Tagen  in  den  Londoner  Blättern  sehr  vermehren  wird. 

Ja,  soll  denn  zwischen  Deutschen,  Österreichern  und  Ungarn 
ein  Unterschied  gemacht  werden? 


—  45  — 

Die  kalte  Schulter 

Einem  reichsdeutschen  Fachorgan  entnimmt  die  , Arbeiter- 
Zeitung'  die  folgende  Erzählung: 

Ein  deutscher  Zeitungsverlag  hatte  auf  der  Kriegsausstellung 
in  Wien  die  von  ihm  herausgegebenen,  für  das  Ausland  bestimmten 
Aufklärungsschriften  zur  Schau  gebracht.  Im  Zusammenhang  hiemit  er- 
hielt er  folgendes  Schreiben: 

,Die    Zeit'  Wien,   14.  Juli  1916. 

Wiener  Tageszeitung. 

Herausgeber : 

Professor  Dr.  J.  Singer, 

Dr.  Heinrich  Kanner. 

Euer  Wohlgeboren! 

Wir  beabsichtigen  demnächst,  in  die  Gruppe  22  der  Kriegsaus- 
stellung jemanden  zu  entsenden,  um  die  daselbst  zur  Schau 
gestellte  Kriegsliteratur    in    Augenschein  zu    nehmen. 

Über  den  Rundgang  durch  die  oben  erwähnte  Gruppe,  in 
welcher  Sie  ebenfalls  als  Aussteller  figurieren,  wollen  wir  sodann  in 
einer  eigenen  Abhandlung  in  unserem  Blatte  referieren.  Zu  diesem 
Zwecke  würden  wir  ersuchen,  uns  gefälligst  bekanntzugeben,  ob  Sie  sich 
mit  Ihrem  Ausstellungsobjekt  an  dieser  Berichterstattung, 
welche  zugleich  nicht  nur  Information  für  das  Publikum,  sondern 
gleichzeit  ig  eine  wertvolle  geschäftliche  Propaganda  für  Ihr  Unter- 
nehmen darstellen  würde,  zu  beteiligen  wünschen.  In  diesem 
Falle  bitten  wir,  uns  gefälligst  mit  wenigen  Schlagwörtern  jene  Daten 
bekanntzugeben,  auf  deren  Betonung  Sie  besonderen  Wert  legen,  um 
auch  diese,  insofern  sie  für  den  Rahmen  unseres  Referats 
geeignet  erscheinen,  in  die  Berichterstattung  mitaufzunehmen. 

Der  Kostenpunkt  dieser  Propaganda  würde  sich  für  die  Druck- 
zeile auf  vier  Mark  stellen  und  bitten  wir  Sie,  uns  dann  gefälligst 
bekanntzugeben,  auf  welchen  Umfang  Sie  ungefähr  reflektieren 
werden. 

Hochachtungsvoll 

Direktion  der  Wiener  Tageszeitung 
,Die  Zeit' 

Der  Verlag  antwortete,  daß  er  für  das  An- 
erbieten kein  Verständnis  habe,  da  es  in  reichs- 
deutschen Zeitungen  nicht  üblich  sei,  redaktionelle 
Artikel  bezahlen  zu  lassen.  In  ganz  ähnlicher  Weise  ist 
das  .Neue  Wiener  Journal'  vorgegangen,  nur  fordert  diese 
Zeltung  für  die  Zeile  des  Reklameartikels  sieben  Kronen,  in  Sonntags- 
'  nummern  acht  Kronen. 

Ein  derartiges  Gebaren  ist  so  verwerflich, 
daß  wir  kein  Wort  darüber  zu  verlieren   brauchen.  .  .  , 


—  4G  — 


Daß  von  der  Größe  der  Zeit  auch  die  nach  ihr  benannte 
Zeitung  profitieren  will,  ist  begreiflich.  Aber  einer  der  beiden 
Herausgeber  dieses  als  Schmutzkonkurrenz  der  Korruption  gegrün- 
deten Blattes  ist  ein  Wiener  Universitätsprofessor,  Da  er,  sobald 
er  etwas  in  Augenschein  nimmt,  zugleich  vier  Mark  pro  Zeile 
nimmt,  so  fragt  es  sich,  ob  die  Fakultät,  der  er  angehört, 
vielleicht  auf  dem  sittlichen  Niveau  der  Concordia  angelangt  ist.  Wenn 
solche  Dinge,  anstatt  in  der  Kriegsausstellung,  hinter  ihr  Platz 
haben,  so  dürfte  die  Ernennung  von  Feldherrn  zu  Doktoren 
honoraris  causa  nicht  mehr  lange  auf  sich  warten  lassen.  Wirklich  und 
wahrhaftig,  ein  Professor  figuriert  in  der  Firma,  die  diese  Offerte 
gemacht  hat.  Ich  würde  glauben,  daß  die  Ehre  einer  Bevölkerung, 
die  solches  hinnimmt,  nachdem  sie  von  bundesgenossen- 
schaftlicher Seite  darauf  aufmerksam  gemacht  wurde,  keine  Druck- 
zeile der  ,Zeit'  wert  ist!       *  « 

* 

Gegen  Säumige 

[Zeitungslesen  im  Kriege  eine  Pflicht]  Aus  Brunn  wird  uns 
berichtet:  Der  Brünner  Stadtrat  wendet  sich  mit  einer  Kundmachung, 
in  der  erneut  auf  die  Wichtigkeit  hingewiesen  wird,  die  der  gewissen- 
haften Lektüre  der  Zeitung  zukommt,  an  die  Bevölkerung.  In  der  Kund- 
machung heißt  es:  »Die  Verlautbarung  durch  Zeitungen  ist  gegenwärtig 
das  empfehlenswerteste  Mittel  der  öffentlichen  Kundmachung.  Leider  aber 
wird  auch  den  amtlichen  Veröffentlichungen  in  der  Presse  viel  zu  wenig 
Wert  beigemessen.  Trotzdem  die  Herausgeber  der  Tagesblätter  ohne 
Unterschied  der  Partei  und  Nation  den  Behörden  gegenüber  das  größte 
Entgegenkommen  an  den  Tag  legen  und  deren  Verlautbarungen  bereit- 
willigst auch  wiederholt  in  ihr  Blatt  aufnehmen,  wird  doch  keine  Wirkung 
erzielt.  Diese  Teilnahmslosigkeit  der  Bevölkerung  zwingt  die  Behörden 
zu  schärferen  Maßnahmen.  Es  wird  in  Hinkunft  gegen  Säumige 
mit  der  vollsten  Strenge  des  Gesetzes  vorgegangen  werden  und,  da  der 
gute  Wille  nicht  auf  andere  Weise  zu  erzielen  ist,  wird  das  abschreckende 
Beispiel  wirken  müssen.  Die  landläufige  Entschuldigung: 
>W  i  r  lesen  keine  Zeitungen«  —  wird  nicht  mehr  als 
solche  angenommen  werden.  Jedermann  ist  eben  heute  verpflichtet, 
die  öffentlichen  Verordnungen  der  Behörden  in  der  Presse  zu  lesen, 
und  den  so  kundgemachten  Verordnungen  zu  entsprechen.«  Diese 
Kundmachung  des  Brünner  Stadtrates  dürfte  eine  Folge  der 
Mißachtung  sein,  mit  der  die  amtliche  Aufforderung  zur 
Anmeldung  der  diesjährigen  Ernteerträge  beantwortet  wurde. 

Nein,  sie  ist  nur  eine  Folge  der  Hochachtung.  Qegen  rück- 
ständige Abonnenten  wird  vorgegangen.  Wer  nicht  abonnieren  will, 
muß  fühlen. 


—  47  — 

Was  es  alles  gibt 

Das  Wolff-Bürrro,  dessen  Zeitgenosse  zu  sein  micii  vor  dem 
Einschlafen  hinwirft  und  vor  dem  Aufstehen  lähmt,  versendet  auch 
Theaterkritiken,  freilich  nur  wenn  es  sich  um  Bombenerfolge 
handelt.  So  sonderbar  die  Möglichkeit  ist,  daß  sich  unter  solchen 
Schreibfäusten  Goethes  »Egmont«  befinde,  versendet  das  Wolff- 
Bürrro  eine  Kritik  der  Aufführung  am  Berliner  Hoftheater, 
eine  halbamtliche  Darstellung,  die  —  anno  1916!  —  etwas 
von  > pietätvoller  Treue  gegen  Geist  und  Wort  des  Dichters* 
enthält,  offenbar  aber  nur,  weil  der  Egmont-Korrespondent  der 
Meinung  war,  daß  ein  älteres  Werk  Qanghofers  gespielt  wurde. 
Die  ,Vossische  Zeitung'  nun,  auch  ein  Unternehmen,  dem  man  sein 
Alter  gar  nicht  ansehen  würde,  hat  zu  fragen  gewagt,  ob  sie  sich 
einer  Störung  des  Burgfriedens  aussetze,  wenn  sie  sich  diesmal 
nicht  in  voller  Übereinstimmung  mit  dem  Wolff-Bürrro  befinde. 
Die  Antwort  ist  noch  unbekannt,  man  kann  sich  aber  darauf 
verlassen,    daß    die    Angriffe    der    feindlichen  Kritik"  inzwischen 

mühelos  abgewiesen  wurden. 

*  * 

« 

Der  Unerschöpfliche 

Das  Massenprinzip  des  modernen  Krieges,  das  auch  im 
modernen  Hinterland  zur  Geltung  kommt,  wird  durch  die  Häufig- 
keit und  Unerschöpflichkeit  des  Hugo  Heller  anschaulich  gemacht. 
Kürzlich  hat  in  sämtlichen  Rubriken  unseres  Lieblingsblattes,  dessen 
Setzern  vor  ihrer  Unentbehrlichkeit  bange  werden  mag,  ein  so  sinn- 
loser Verbrauch,  eine  solghe  Vergeudung  von  Hugo  Heller  geherrscht, 
daß  der  erschöpfte  einfache  Mann,  der  die  Theaterrubrik  zu  be- 
dienen hatte,  es  war  ihm  eben  schon  alles  egal,  schließlich  auch 
noch  zu  einem  Gottfried  Heller-Abend  eingeladen  hat.  So  kann's 
nicht  lange  mehr  weiter  gehen.  Einmal  muß  doch  der  letzte  Heller 

ausgegeben  sein!  ,  • 

» 

Shaw  ist  sechzig,  Trebitsch  gratuliert 

Heute  bist  du  also  sechzig  Jahre  alt  geworden,  Bernard  Shaw  ; 
und  mir  ist  leider  Jeder  trauliche  Weg  versperrt,  dies  dir  gegenüber 
anzumerken,    ich  muß  es  vor  aller  Welt  tun  oder  sein  lassen. 

Das  sind  die  Nachteile  der  Kriegführung.  Aber  warum  im 
Zweifclsfalle  es  nicht  sein  lassen? 


48  — 


Am  1 .  August  1914,  als  das  gigantische  Unheil  schon  im  Zuge  war, 
im  Zuge  aus  Ostende  nach  der  Heimat 

erhielt  ich  das  letzte  große  Freundschaftszeichen  aus  Fremdland: 
deine  Büste  von  Meister  Rodin,  die  du  mir  mit  gütigen  Worten  gestiftet 
hast.  Nun  stehe  ich  vor  diesem  ewigen  Werk  und  blicke  in  deine  Züge: 
Ja,  so  siehst  du  aus  und  so  bist  du.  .  .  .  Versteher,  aber  auch  zugleich 
Verkenner  des  Wunderreiches  Deutschland,  das  deine  geistige  Heimat 
ist  und  bleibt,  du  Fortinbras  aus  Dublin,  protestierender 
Protestant.  Du  bist  kühn  für  uns  eingetreten,  da  du  uns 
kanntest,  und  du  hast  mit  dem  belauernden,  weithinklingenden  Worte 
allzuschnell  auch  gegen  uns  gesprochen  ....  Du  gabst  uns  dein  Werk 
und  das  geben  wir  nicht  mehr  heraus.  Es  hat  uns 
reicher  gemacht.  Du  bist  ein  Freund.  Ich  grüße  dich  und  deine  Jugend, 
und  hoffe  dich  wiederzusehen ;  denn  schon  dämmert  im 
Osten    der    Tag. 

Wer  sagt  das?  Mit  der  Dämmerung  haperts.  Aber  das 
Qeburtstagsversprechen,  das  Werk  des  Herrn  Shaw  nicht  mehr 
herauszugeben,  könnte  gehalten  werden. 


Etsch  I 

[Papiermangel  in  Frankreich.]  Aus  Amsterdam  wird  gemel- 
det :  Nach  einem  hiesigen  Blatte  melden  die  , Times'  aus  Paris : 
Die  französischen  Blätter  beschlossen,  Papier  zu  sparen.  Sie  werden 
an  zwei  Tagen  der  Woche  nur  mit  zwei  Seiten  Text  erscheinen,  an  den 
übrigen  Tagen  wie  gewöhnlich. 


Der  Fall 

Wien,  23.  September.  (Unfall  eines  Passanten.)  Die  Hausbesor- 
gerin Anna  Pauer  war  beim  Bezirksgericht  Josefstadt  angeklagt,  am  13. 
Februar  d.  J.  trotz  herrschenden  Glatteises  vor  dem  Hause  Operngasse  2 
das  Pflaster  nicht  bestreut  zu  haben,  so  daß  der  Kommerzialrat  Eugen  Marx 
stürzte  und  sich  eine  schwere  Verletzung  zuzog.  Herr  Marx  war  gegen 
Mittag  von  Hütteldorf  in  die  Stadt  gekommen.  Er  hatte  eben  die  Straßen- 
bahn verlassen  und  wollte  durch  die  Operngasse  in  die  Singerstraße 
gehen.  Beim  Hause  Operngasse  2  rutschte  er  infolge  des  Glatteises  aus 
und  zog  sich  — 

Nur  eine  vielleicht  unbescheidene  Frage,  die  aber  von  der 
Sorge  diktiert  ist,  daß  bei  dem  herrschenden  Mangel  an  Papier 
und  mit  Rücksicht  auf  die  durch  den  Krieg  bewirkte  besondere 
Inanspruchnahme  aller  Arbeitskräfte  wie  auch  wegen  der  vielfachen 
Ablenkung  des  Interesses  auf  jene,   die  seit   dem  1.  August  1914 


49  — 


nicht  mehr  Gelegenheit  haben,  vor  dem  Hause  Operngasse  2  zu 
fallen,  tunlichst  das  Wissenswerteste  in  knappster  Form  mitgeteilt 
werden  möge  —  nur  die  vielleicht  unbescheidene  Frage:  Ist  zur 
Beurteilung  des  Falles,  nämlich  sowohl  des  Falles  des  Kommerzial- 
rates  Eugen  Marx  vor  dem  Hause  Operngasse  2,  also  des  Unfalles 
wie  des  juristischen  Falles,  nämlich,  ob  die  Hausbesorgerin  Anna 
Pauer  fahrlässig  gehandelt  hat,  das  Moment  relevant  oder  gar 
unentbehrlich,  daß  der  Kommerzialrat  Eugen  Marx,  ehe  er  vor 
dem  Hause  Operngasse  2  zu  Falle  kam,  gegen  Mittag  von 
Hütteldorf,  just  von  Hütteldorf  in  die  Stadt  gekommen  war, 
eben  die  Straßenbahn  verlassen  hatte  und  durch  die  Opern- 
gasse in  die  Singerstraße,  gerade  in  die  Singerstraße  gehen 
wollte?  Sollte  es  nicht  der  Fall  sein,  nämlich  der  Fall,  daß 
es  zur  Beurteilung  des  Falles  und  des  Unfalles  relevant  oder  gar 
unentbehrlich  ist,  so  würde  ich  mir  mit  Rücksicht  darauf, 
daß  jetzt  Krieg  ist,  j^  ^«\«i^k««U«  :4jtji.  ^v«-  ^-^  - 

Anregung  erlauben,  daß  das  uns  allen  teure  Pflaster  von  Wien,  schon 
um  der  Einheitlichkeit  willen,  in  künstliches  Glatteis  verwandelt  werde, 
damit  jene,  deren  Beruf  es  ist,  die  Gehirne  mit  interessanten  Tat- 
sachen zu  füttern,  und  jene,  die  das  gern  haben,  wenn  schon 
nichts  anderes  vom  Krieg,  wenigstens  die  Leidensgeschichte  des 
Kommerzialrats  Eugen.  Marx  mit  allen  Details  erleben,  ohne 
daß  es  aber,  wegen  Verhinderung  der  Berichterstatter  in  die 
Zeitung  kommt  —  o  meine  Bürger,  welch  ein  Fall  war'  das,  da 
fielet  ihr  und  ich,  wir  alle  fielen  und  über  uns  frohlockte  blut'ge 
Tücke ! 


Et  hoc  meminisse  juvabit 

—  Der  General-Gendarmerieinspektor  G.  d.  I.  Tisljar  v.  Lentulis 
besuchte  Sonntag  mit  Frau  und  Tochter  das  Atelier  des  Malers 
Tom  V.  Dreger. 


50  — 


Ein  Gewinn 

Der  steirische  Dichter   Ottokar  Kernstock    wird  mit  Ende  dieses 
Monats  nach  Wien  übersiedeln. 


Ein  Verlust 

[Ein  Autographenalbum,]  das  Widmungen,  Kompositionen  und 
poetische  Beiträge  zahlreicher  Mitglieder  des  Wiener  Männergesang- 
vereines enthält,  ist  im  Monat  Juli  dieses  Jahres  einem  unrichtigen 
Boten  übergeben  worden  und  seither  unauffindbar  .... 


Ein  Symptom  der  Entspannung 

[Kunstwanderungen.]  Dr.  Ludwig  W.  Abels  wird  in  diesem  Winter 
nach  zweijähriger  Pause  wieder  seine  Vorträge  und  Kunstwanderungen 
aufnehmen. 


Ein  Plan 

[Das  belgische  Problem.]  Donnerstag  den  28.  d.  will  Professor 
Dr.  Friedrich  Hirth  in  einem  Vortrage,  der  in  der  > Urania«  stattfindet, 
zeigen,  daß  die  bisherige  Stellung  und  Gestaltung  Belgiens  den  Frieden 
Europas  immer  aufs  schärfste  bedrohte  und  hier  seit  Jahrhunderten  der 
Keim  für  blutige  Verwicklungen  gelegt  war  und  nur  die  dauernde  Be- 
freiung Belgiens  von  französischer  und  englischer  Abhängigkeit,  in  der 
dieser  Pufferstaat  immer  stand,  Europa  den  längst  ersehnten  Frieden 
bringen  könne. 


Der  Ausweg 

Berlin,  14.  September.  (,Voss.  Ztg.')  Die  Offiziere  des  vierten 
griechischen  Korps,  das  sich  —  wie  berichtet  —  unter  deutschen 
Schutz  begeben  hat,  werden  von  ihren  Familien  begleitet  werden.  Die 
Offiziere  wollen  dadurch  verhüten,    daß  ihre  Frauen  und  Kinder,    dank 

der  Entente,  verhungern. 

*  » 

* 

Krieg  ist  Krieg 

Baron  Burian  sagte  ferner:  ....  Rumänien  hätte  gern  die  Zeit 
abgewartet,  wo  unsere  Feinde  uns  ganz  niederbrachen, 
um  sich  dann  ohne  Gefahr  auf  die  Beute  zu  stürzen. 

Ein  Transitivum,  das  wohl  durch  die  Translation  aus  dem 
Transleithanischen  entstanden  ist.  Ach,  die  Sprache  ist  immer  die 
Beute,  auf  die  sich  der  Feind  ohne  Gefahr  stürzt. 


51 


Nur  keine  Fremdwörter! 

.  .  .  Trotzdem  hat  der  hohe  bulgarische  Offizier  seine 
Tätigkeit  in  der  Alctivität  beim  Eintritt  Bulgariens  in  den 
Weltkrieg  sofort  aufgenommen. 

Ich  bitte  pardon  um  Verzeihung:  seine  Tätigkeit  in  der 
Tätiglceit ! 


Derzeit 

Budapest,  7.  August. 

Emmerich  Ivanka,  gegen  den  gegenwärtig  in  Preßburg  ein  Militär- 
lieferungsprozeß im  Zuge  ist,  hat  den  Entschluß  gefaßt,  auf  sein  Ab- 
geordnetenmandat zu  verzichten.  Ivanka  ist  derzeit  mit  der  Abfassung 
seines  Resignationsschreibens  beschäftigt. 

Hoffentlich  war  es  fertig,  ehe  die  Depesche  eingetroffen  ist. 


Von  Ihnen,   von  mir,   bisher  und  bishin 

»Geehrte  Redaktion! 

Die  von  Ihnen  für  die  von  mir  geleitete  Zen- 
tralstelle der  Fürsorge  für  K r i e g s f 1 ü c h t 1 i n g e 
eingeleitete  Sammlung  hat  gestern  ein  Ergebnis  von  mehr 
als  einer  halben  Million  Kronen  ausgewiesen. 

Ich  benütze  diesen  Anlaß,  um  Ihnen  für  die  den  von 
mir  geleiteten  Flüchtlingsfürsorge-Institutionen 
in  entgegenkommenderweise  geleistete  wertvolle 
journalistische  Unterstützung  den  herzlichsten  und  auf- 
richtigsten Dank  zu  sagen. 

An  meinen  Dank  knüpfe  ich  gleichzeitig  die  ergebene  Bitte, 
mir  diese  Unterstützung  auch  weiterhin  gütigst  angedeihen  zu 
lassen.  —   - 

—  —  daher  der  angenehmen  Hoffnung  h  i  n,  daß  die  große 
Öffentlichkeit  wie  bisher  auch  weiterhin  in  ihrer  während  dieses 
Krieges  so  oft  bewährten  —  —  mit  Ihrer  gütigen  Mithilfe  der  Zentral- 
stelle die  Möglichkeit  gewähren  wird,  den  bisher  geübten  Brauch 
fortsetzen  zu  können.  ■ —  — * 

Das  unterschreibt  ein  Gemeinderat,  heißt  Doktor  gar  und 
wundert  sich  dann  noch,  daß  es  Flüchth'nge  gibt. 


—  52  — 

Ein  Reiseabenteuer 

Ich  hatte,  weit  weg  von  dieser  Region,  im  Ausland,  einen 
Monat  an  nichts  derlei  gedacht.  Da  fällt  mir  irgendwo  auf  einem 
Bahnhof  ein  Morgenblatt  —  o  Heimat!  —  in  die  Hand  un8  mein 
Blick  auf  die  Stelle: 

Wie  alljährlich,  so  auch  heuer  —  —  Oberrabbiner  Schnur  hielt 
eine  —  — 

Man  kann  sich  vorstellen  —  nein,  ich  verrate  nichts  über 
meine  Aufregung.  Im  Leitartikel  stand,  man  kann  sich  vorstellen. 
In  jenem  Morgenblatt,  immer,  wie  alltäglich  so  auch  heute. 
Also  kann  man  sich  vorstellen. 


Thau  aus  Stanislau,  derzeit  Vöslau 

[>Der  Weltkrieg  in  der  Prophetie  Daniels.«]  Der 
Kaufmann  Paisach  Thau  aus  Stanislau,  derzeit  Vöslau-Gainfarn, 
hat  eine  Abhandlung  »Der  Weltkrieg  in  der  Prophetie  Daniels«  an  die 
Kabinettskanzlei  des  Kaisers  und  an  den  Chef  des  Generalstabs,  General- 
obersten Freiherrn  von  Conrad,  eingesendet  und  von  beiden  Stellen 
Dankschreiben  erhalten.  Der  E*r lös  des  dritten  Teiles  der 
Abhandlung  ist  dem  k.  u.  k.  Oesterreichischen  Militär-Witwen-  und 
Waisenfonds  gewidmet. 

Also  bitte,  das  ist  der  einzige  Thau,  dem  die  Deutschen 
das  h  gelassen  haben!  •  • 

Eine  neue  Erleichterung 

[Teilung  der  Zweikronennoten.]  Der  drückende  Mangel 
an  Kleingeld,  der  eine  Folge  des  Krieges  ist,  hat  das  Publikum  zur  Selbsthilfe 
veranlaßt.  Im  Verkehre  werden  vielfach  die  Zweikronennoten  in  mehrere 
Teile  zerschnitten  und  mit  diesen  Noten  kleine  Zahlungen  geleistet.  Das 
hatte  bisher  eine  Entwertung  zur  Folge,  weil  die  Oesterreichisch-ungarische 
Bank  —  —  Durch  eine  kürzlich  erflossene  Verfügung  werden  aber 
sämtliche  Hauptanstalten  und  Filialen  der  Oesterreichisch-ungarischen 
Bank  angewiesen  —  — 

Speisevorschriften  werden  erlassen,  aus  Gram  zerreißen 
sie  ihre  Zweikronennoten,  wenn  sie  jetzt  noch  Asche  auf  ihr 
Haupt  streuen  und  die  Österreichisch-ungarische  Bank  diese  an 
Zahlungsstatt  nimmt,  so  wird  der  Rachegott  im  Leitartikel,  der 
täglich  über  die  Plagen  und  die  Heimsuchungen  und  die  Stim- 
mungen der  Feinde  Buch  führt,  sagen,  daß  es  gut  sei,  und  wird 
jenen  zum  Munde  sprechen,  die  da  gern  im  Schweiße  ihres  An- 
gesichts ihr  Brot  essen  möchten,  wenn  sie  sicher  wären,  daß  sie  es 
auch  kriegen,  von  Butter  gar  nicht  zu  reden  und  auf  Fleisch  ver- 
zichtet man  sowieso. 


53  — 


Wie  Tier  und  Pflanze  durchhalten 

[Die  Wirkung  der  Gasangriffe  auf  Tiere.]  In 
der  Jagdzeitung  ,Wild  und  Hund'  macht  Leutnant  Toews  Mitteilung  von 
einer  Beobachtung,  wie  giftige  Gase  auf  Kleinwild  wirken.  Bäume  und 
Sträucher  litten  stark  unter  den  Phosphor-  und  Chlordämpfen,  die  vom 
Feinde  mehrere  Stunden  lang  zu  unseren  Schützengräben  herübergeschickt 
wurden  und  wie  ein  dichter  Nebelschleier  sich  auf  das  Land  legten. 
Die  Blätter  vertrockneten  und  die  Blumen  ver- 
dorrten. Dagegen  waren  die  Tiere  widerstandsfähiger, 
ihnen  schadet  das  Gas  anscheinend  gar  nicht.  Die  in  unmittelbarer  Nähe 
der  vordersten  Gräben  vorhandenen  zahlreichen  Feldhühnervölker  zeigten 
nach  dem  Abziehen  der  Dämpfe  keinerlei  Veränderung  in  ihrem  Verhalten, 
weder  die  Alten  noch  die  Jungen,  die  unsere  Feldgrauen 
im  Geiste  schon  lieblich  in  der  Pfanne  schmurgeln  sehen. 
Auch  die  Hasen  und  Kaninchen  hatten  siegreich  demAngriff 
getrotzt,  so  daß  auch  von  ihnen  manches  Exemplar 
in  das  Einerlei  der  Küche  unserer  Soldaten  eine  willkommene  Abwechs- 
lung bringen   wird.    Ebenso   trugen   die  Hunde   keinen  Schaden  davon. 

Der  in  Mannheim  soll  sogar,  als  man  ihm  die  Sache  aus- 
einandersetzte, gesagt  haben:  »Buckelsteigen!«  Er  sagt  es,  sooft 
sich  ihm  ein  Universitätsprofessor  nähert,  um  ihn  zu  prüfen. 
Er  wird  es,  solange  diese  Sachlage  andauert,  immer  sagen.  Die 
Erde  ist  jetzt  eine  große  Hundsgrotte,  in  der  das  bei  Neapel 
verbotene  Experiment  wiederholt  wird.  Ja,  es  ist  ein  chlorreicher 
Krieg!  Was  durchgehalten  hat,  dient  dem  Durchhalten.  Die 
Blumen  sind  vertrocknet.  Doch  die  Blätter  —  nein,  die  ver- 
dorren nicht  ! 


Gott,  Deine  Wunder  sind  groß! 

[Moderne  Geschwindigkeit.]  Das  neueste  technische 
Kunststück  ist,  Fichtenbäume  innerhalb  12  Stunden  in  Papier  zu  ver- 
wandeln. Des  Morgens  um  '/2  6  Uhr  wurden  zwei  grünende  Fichten  ge- 
fällt. Die  Stämme  wurden  sofort  in  der  Fabrik  entrindet,  zerkleinert  und 
gleich  darauf  gedämpft.  Nachmittags  ward  dann  das  braune  gedämpfte 
Holz  zu  Holzstoff  geschlissen,  die  nassen  Bogen  wurden  mit  Dampf 
getrocknet,  und  geglättet;  schon  um  3  Uhr  war  ein  Teil  des  Papieres 
fertiggestellt  und  um  5  Uhr  konnte  es  unter  die  Presse  des  Buchdruckers 
gebracht  werden.  Die  Fichten,  die  noch  vor  kurzem  sich  am  Abhänge 
des  romantischen  Fhöhatales  im  Morgenwinde  wiegten,  waren  am  Abend 
schon   —  Zeitungsblälter! 

Auf  diesem  Gedankenstrich  will  ich  balancieren  und  vor 
dem  Ziel  schwindelnd  —  kopfüber  in  die  Unendlichkeit ! 


—  54 


Memoiren 

Bang  war  das  Herz.  Mit  ahnendem  üemüthe 
sah  ich  ins  Land,  als  mir  der  Frühling  blühte. 

Vor  jedem  Schritte  stand  als  Schicksalswende, 
ob  morgen  in  der  Schule  ich  bestände. 

Soweit  die  Rätsel  von  zehn  Jahren  reichen, 
ward  alles  da  von  allem  mir  zum  Zeichen. 

Als  sie  zum  erstenmal  die  Liebe  nannten, 
löst'  ich  die  Gleichung  mit  der  Unbekannten. 

Erfüllt  von  Lust  war's,  auf  die  Lust  zu  warten. 
Durch  alle  Gitter  sah  ich  in  den  Garten. 

Von  allen  Seiten  sah  ich  in  die  Stunde: 

um  ein  Geheimnis  ging  ihr  Gang  die  Runde. 

Nachts  sitzt  ein  Ding,  das  fiebrig  mich  befühlt, 
auf  meiner  Brust,  die  sich  ins  Chaos  wühlt. 

Was  ist  es  nur,  das  so  mit  Zentnerlast 
mir  alle  Sinne  gleich  zusammenfaßt, 

daß  ein  Geräusch  mir  ein  Gesicht  erschließt, 
Geschmack  und  Tastsinn  mir  zusammenfließt? 

Das  war  die  Botschaft  aus  dem  neuen  Land; 
der  Teufel  war  vom  Leben  vorgesandt. 

Will  heute  ich,  daß  ich  ein  Kind  noch  sei, 
schnell,  eh'  ich  einschlaf',  ruf  ich  ihn  herbei. 

Doch  aller  Ängste  heiliges  Wunder  du  — 
ich  schloß  die  Hölle  mir  von  innen  zu. 

Ich  schmeckte  aller  Zweifel  Süßigkeit, 

ich  schuf  die  Hemmung,  wenn  das  Ziel  noch  weit. 

Daß  ich  zu  ihm  mein  Leblang  nicht  gelange, 
lud  zum  Verweilen  eine  Kletterstange. 


—  55  — 


Schon  vor  dem  Kuß  der  Seligkeit  entbunden, 
hab'  nie  zur  l^ahlen  Endlichkeit  gefunden. 

Zu  eurem  Schein,  der  nur  was  ist  begreift, 
ist  nie  mein  Glück  der  Scheinbarkeit  gereift. 

Ihr  habt  nur,  was  ihr  habt,  kurz  ist  die  Weile, 
dieweil  ich  mir  die  Ewigkeit  verteile. 

Ihr  zehrt  von  des  Geschlechtes  Proviant. 
Verflucht  zum  Mannsein»  seid  ihr  gleich  entmannt. 

Verwesung  weist  mir  eures  Samens  Spur, 
verbraucht  im  Kreuzzug  gegen  die  Natur. 

Entweibtes,  das  im  Schlaf  ich  schauen  mußt', 
ein  Zug  von  Leichen  folgte  eurer  Lust. 

Jetzt  tönt  die  Glocke  zu  dem  Hochgericht, 
jetzt  blitzt  ein  Blitz  aus  tragischem  Gesicht. 

Im  Wolterton  unendlich  ruft  von  hinnen 
die  Klage  Shakespearischer  Königinnen. 

Nicht  länger  zögernd,  Zeuge  muß  ich  sein! 
Laßt  mich  durch  dieses  Tor  zum  Richter  ein, 

daß  ich  für  Gottes  Absicht  mich  verbürge 
und  endlich  doch  einmal  den  Teufel  würge! 

Viel  totes  Leben  drängt  sich  an  der  Pforte, 
hier  wimmern  Weiber  und  hier  weinen  Worte. 

Wer  wehrt  mir?  Weh,  wer  stellt  mir  Hindernisse, 
Natur  zu  heilen  von  dem  blutigen  Risse? 

Da  hat  es  mich  und  sitzt  mir  auf  der  Brust! 
Und  macht  der  armen  Kindheit  mich  bewußt, 
im  Lohn  der  Last  und  in  dem  Leid  der  Lust. 


—  56  — 


Notizen 

Das  zweite  Goethe-Zitat  über  Hunde  (Nr.  431—436,  S.  12) 
ist  zu  streichen.  Goethe  erscheint,  wiewohl  er  im  ersten  das  Tier 
über  den  Menschen  erhebt  und  auch  im  richtig  gestellten  zweiten 
den  Menschen  nicht  über  das  Tier  erhebt,  keineswegs  als  Hunde- 
freund,  Eine  hämische  Zuschrift  klärt  mich  darüber  auf: 

Goethe  bei  Kraus:  Goethe  allein: 

> Wundern  kann  es  mich  nicht,  |  »Wundern  kann  es  mich  nicht, 
daß  Manche  die  Hunde  so  i  daß  Menschen  die  Hunde  so 
lieben.«  lieben, 

denn       ein       erbärmlicher 
Zitiert  i.  d.  Fackel  Nr.  431— 436,       Schuft     ist    ja     der    Mensch 
pag.   12.  I    wie  der  Hund.« 

Es  hat  sozusagen  mit  Verlaub  den  Anschein,  als  ob  die  zweite 
Zeile  des  Distichons  nicht  ganz  unwesentlich  und  selbst  das  gebrachte 
Fragment  ungenau  zitiert  wäre.  Hm?  Ein   »Pedant«. 

Der  »Pedant«  ist  keiner  und  hat  recht.  Unrecht  nur  mit  dem 
angedeuteten  Vorwurf,  daß  die  fragmentarische  und  im  Wortlaut 
falsche  Zitierung  Absicht  sei.  Die  wäre  zu  dumm.  Der  Verdacht 
würde  auch  Schopenhauer  treffen,  mich  trifft  nur  der  Vorwurf  einer  bei 
der  Übernahme  der  Schopenhauer-Fülle  verzeihlichen  Nachlässigkeit. 
Es  hat  damit  die  folgende  Bewandtnis.  Das  Goethe-Zitat  war  nicht 
aus  Goethe  —  das  wäre  freilich  eine  hirnverbrannte  Fälschung  — , 
sondern  aus  Schopenhauer  entnommen.  Im  Namen-  und  Sach- 
register, das  dem  IV.  Nachlaßband  (Neue  Paralipomena)  der 
Reklam'schen  Ausgabe  beigeschlossen  ist,  findet  sich  auch  ein  Hinweis 
auf  die  Seite  474,  die  schon  zum  bibliographischen  Anhang  gehört. 
Dort   heißt  es  gelegentlich    der  Berichtigung   eines   Druckfehlers: 

Zu  dieser  Stelle  hat  Schopenhauer  an  den  Rand 
geschrieben: 

Wundern  kann  es  mich  nicht,  daß  Manche  die  Hunde  so  lieben. 

Goethe. 

Genau  so  steht  es  dort,  nicht  mehr  als  dieses  Bruchstück, 
und  mit  der  Version  »Manche«.    Schopenhauer  mußte,  da  es  ihm 


—  57  — 

nur  ein  Erinnerungsbehelf  war,  nicht  ausführh'cher  sein.  Ich  aber 
konnte  glauben,  daß  es  ein  abgeschlossenes  Goethe-Zitat  sei.  Die 
Lektüre  des  §  594,  auf  den  sich  die  bibliographische  Notiz 
bezieht,  hätte  mich  darauf  aufmerksam  machen  können,  daß 
Jener  Text  nicht  den  Sinn  abschließen  soll.  Denn  es  heißt 
dort:  ».  .  .  als  ob  die  Menschen  ihre  Freundschaft  nach  dem  Wert 
und  Verdienst  verschenkten!  als  ob  sie  nicht  viehnehr  ganz  und 
gar,  wie  die  Hunde  wären,  die  den  lieben,  der  sie  streichelt  oder 
gar  ihnen  Brocken  gibt,  und  weiter  sich  um  nichts  bekümmern!« 
Diese  Meinung,  die  den  Menschen  mit  dem  Hund  vergleicht,  um 
ihn  herabzusetzen,  steht  recht  im  Gegensatz  zu  allem,  was  Schopen- 
hauer sonst  über  Hunde  geschrieben  hat,  wie  die  Fülle  der  Zitate 
im  letzten  Heft  klar  genug  beweist.  Somit  könnte  auch  Goethe 
über  Hunde  anders  gedacht  haben  als  in  jenem  vervollständigten 
Zitat,  und  gewiß  ist  ihm  durch  die  Imputierung  eines  hunde- 
freundlichen Standpunkts  kein  sittliches  Unrecht  geschehen.  Schopen- 
hauers wörtlich  übernommene  Randbemerkung  beweist,  daß  keine 
Absicht  dabei  im  Spiel  war.  Mit  seinem  gleich  darnach  zitierten 
Epigramm : 

Wundern  darf  es  mich  nicht,  daß  Manche  die  Hunde  verleumden, 
Denn  es  beschämet  zu  oft  leider  den  Menschen  der  Hund 

wollte  Schopenhauer  nicht  Goethes  Ansicht  fortsetzen,  sondern 
gegen  sie  auf  das  allerschärf ste  und  persönlichste  polemisieren. 
Ich  hatte  den  Titel  »Antistrophe  zum  73sten  Venetianischen 
Epigramm«  (Parerga  II.)  nicht  genügend  beachtet  und  mich 
deshalb  auch  nicht  veranlaßt  gesehen,  das  73  ste  Venetianische 
Epigramm  im  Original  zu  lesen.  In  der  Cotta'schen  Ausgabe  von 
1840  erscheint  es  als  das  74  ste  und  lautet: 

Wundern  kann  es  mich  nicht,  daß  Menschen  die  Hunde  so  lieben ; 
Denn  ein  erbärmlicher  Schuft  ist,  wie  der  Mensch,  so  der  Hund. 

(Somit  gäbe  es  über  dem  »Pedanten«  noch  eine  Instanz.)  Es 
ist  nun  ganz  klar,  daß  Schopenhauers  Wort  nicht,  wie  es  bei  bloßer 
Übernahme  der  Randbemerkung  den  Eindruck  machen  mußte, 
die  Fortsetzung  eines  Goethe'schen  Motivs  ist,  sondern  ein  vehe- 
menter Einspruch  —  umso  auffallender,  daß  Schopenhauer  die 
ihm  doch  geläufige  Goethe'sche  Meinung  eben  damals  wieder  zur 
Bekräftigung  der  eigenen,  menschen-  und  hundefeindlichen,  sick 
notiert    hat.     Dort   also,    wo    Schopenhauer    ein    herbes    Wort 


58  — 


über  Hunde  hinschreibt,  läßt  er  durch  unvollständiges  Zitieren 
Goethe  als  Hundefreund  erscheinen.  Damit  treten  weder  er  noch 
ich,  der  den  Text  einfach  wiederholt  hat,  Goethe  zu  nahe,  viel  weniger 
nahe  als  sonst  Schopenhauer,  der  Goethe  geradezu  als  einen  von  jenen 
»manchen«  Hundeverleumdern  anspricht,  die  sich  vom  Hunde  be- 
schämen lassen  müssen.  Diese  Meinung  soll  nicht  übernommen,  aber 
jedenfalls  muß  darauf  verzichtet  werden,  Goethe  als  Zeugen  für  die 
Hunde  anzurufen.  (Womit  er  natürlich  noch  bei  weitem  kein  Zeuge 
für  Herrn  Großmann  geworden  ist,  dem  ja  die  zweite  Zeile  des 
Goethe'schen  Epigramms  auch  nicht  passen  dürfte.j  Daß  sich  zu 
diesem  Amt,  vor  Gottes  Thron  das  Tier  ins  Recht  zu  setzen,  sonst 
noch  jeder  außerordentliche  Mensch  tauglich  und  willig  gezeigt 
hat,  wird  kein  Pedant  in  Abrede  stellen,  der  vielleicht  der  Meinung 
ist,  nun  sei  Schopenhauers  Hundeliebe  (die  nur  einmal  dem 
Menschenhaß  weichen  muß)  durch  ein  Goethe-Wort  erledigt, 
während  in  Wahrheit  Goethes  Hundehaß  durch  ein  Schopenhauer- 
Wort  getroffen  ist.  Da  seine  Zeugenschaft  entfällt,  -ist  für  Ersatz 
zu  sorgen.  Und  ein  guter  ist  bereit.  Von  seinen  Hunden, 
Sultan  und  dessen  Vorgänger  Tyras,  erzählt  Bismarck  (nach  Hans 
Blum): 

»Wenn  ich  verreiste,  so  suchte  er  mich  überall  mit  großer 
Traurigkeit.  Endlich  ergriff  er  dann  zu  seinem  Tröste  .meine  weiße 
Militärmütze  und  meine  hirschledernen  Handschuhe,  trug  diese  in  den 
Zähnen  in  mein  Arbeitszimmer  und  blieb  dort,  mit  der  Nase  an  meinen 
Sachen,  liegen,  bis  ich  wiederkam.  —  Auch  der  alte  Tyras  war  sehr 
intelligent  und  treu.  Wenn  ich  nach  dem  Reichstag  ging,  so  nahm  ich 
den  Weg  durch  den  Garten  hinter  dem  Reichskanzlerpalais,  öffnete  hier 
die  Pforte  nach  der  Königgrätzer-Straße,  drehte  mich  gegen  Tyras  um, 
der  mich  bis  dahin  vergnügt  begleitet  hatte,  und  sagte  bloß: 
Reichstag!  Sofort  ließ  der  Hund  Kopf  und  Schwanz 
hängen  und  zog  niedergeschlagen  von  dannen. 
Einst  hatte  ich  meinen  Stock,  den  ich  auf  die  Straße  nicht  mitnehmen 
konnte,  da  ich  in  Uniform  ging,  an  die  Innenmauer  des  Gartens 
gestellt,  ehe  ich  durch  die  Pforte  schritt.  Nach  vier  Stunden  kam  ich 
aus  dem  Reichstag  zurück.  Tyras  begrüßte  mich  nicht  beim  Eintritt  ins 
Haus,  wie  sonst  stets,  und  ich  fragte  daher  den  Schutzmann,  wo  der 
Hund  sei.  Der  steht  seit  vier  Stunden  hinten  an  der  Gartenmauer  und 
läßt  niemand  zu  Euer  Durchlaucht  Stock,  erwiderte  der  Mann.  Ein 
andermal  ging  ich  in  Varzin  in  Begleitung  von  Tyras  spazieren  und  sah 
auf  einer  Karre  eine  Fuhre  Holz  liegen,  die  ich  für  gestohlen  hielt, 
weil  sie  aus  grünem  Holze  gehauen  war.  Ich  gebot  dem  Hund,  bei 
der  Karre    zu  bleiben,    und    entfernte  mich,   um  jemand  zu  holen,    der 


59  — 


die  Sache  aufklären  könne.  Als  ich  zurück  sah,  gewahrte  ich  aber,  daß 
Tyras  mir  leise  und  geduckt  nachschlich.  Ich  kehrte  zurück  und  legte 
meinen  Handschuh  auf  die  Karre.  Da  blieb  Tyras  dort  stehen  wie  ange- 
wurzelt.« —  Über  das  Ende  des  tüchtigen  Tieres  erzählte  dann  der 
Fürst:  »Tyras  ist  an  Altersschwäche  eingegangen.  Einen  Tag  vor 
seinem  Tode  war  er  schon  so  steif,  daß  ich  ihn  wie  einen  Hammel 
von  oben  (dem  ersten  Stock  in  Varzin)  in  mein  Arbeitszimmer 
tragen  lassen  mußte.  Dann,  als  ich  nach  Hause  kam,  wedelte  er  noch. 
Das  nächste  Mal,  an  seinem  Todestage,  konnte  er  auch  nicht  mehr 
wedeln  und  gab  nur  durch  seinen  Ausdruck  zu  verstehen,  daß  er  mich 
erkannt  habe.  Während  ich  dann  am  Tische  schrieb,  sah  ich  ihn 
plötzlich  in  mein  Schlafzimmer  sich  schilpen  und  gleich  darauf  sagte 
mir  der  Diener,  der  ins  Schlafzimmer  getreten  war:  Der  Tyras  liegt 
tot  ausgestreckt  im  Schlafzimmer.« 


Aus  der  Fülle  der  Gesichte  und  Gerüchte,  die  noch  immer 
den  Postweg  nicht  scheuen,  um  zu  mir  zu  gelangen,  und  gegen 
die  nur  mehr  die  Hoffnung  des  verteuerten  Portos  bleibt  —  ein 
Angebot: 

Verzeihen  Sie,  daß  ich  mir  die  Freiheit  nehme,  an  Sie  mit  einem 
Ersuchen  heranzutreten.  Ich  biete  mich  mit  diesem  Schreiben  als 
Literaturkritiker  für  Ihre  geschätzte  Zeitschrift  an 
und  bin  sehr  gerne  bereit,  jede  Gattung  (Lyrik,  Epik,  Drama- 
tik) streng  künstlerisch-ästhetisch  zu  vertreten.  Als  akademisch 
Gebildeter  bin  ich  speziell  auf  dem  Gebiet  der 
modernen  Literatur  besonders  vertraut.  Ich  habe 
bereits  mehrere  eigene  Gedichte  veröffentlicht,  ferner  Buchbesprechungen 
im    >Merker<,     bin    in    Verbindung    mit    Ernst    Lissauer 

und    gegenwärtig  —  in     Sachen    meines    Dramas — 

mit  dem  Kritiker  des   > Literarischen  Echos«  Hans  Franck. 

Sollten  Sie  auf  meinen  Vorschlag  eingehen,  würde  es  mich 
ungemein  freuen  und  ehren.  Ich  stehe  jederzeit  zu  Ihrer  Verfügung  und 
bin  hochachtungsvoll  Ihr  ergebener 

Ich  schwanke  noch.  Daß  er  als  akademisch  Gebildeter 
speziell  auf  dem  Gebiet  der  modernen  Literatur  besonders  ver- 
traut ist,  hat  viel  für  sich.  Er  scheint  sich  auszukennen.  Er  scheint 
vor  allem  ein  gründlicher  Kenner  der  Fackel  selbst  zu  sein.  Er 
hat  für  den  »Merker«  geschrieben,  das  ist  gut.  Daß  er  in 
Verbindung  mit  Lissauer  ist,  ist  ein  Vorzug,  so  etwas  suche 
ich  schon  lange.  Auch  hat  er  sich  in  Sachen  Seines  Dramas  bereits 
mit    Franck    verständigt,    vom    Literarischen    Echo.    Das    kann 


60 


mir  auch  nützen.  Die  Sache  hat  viel  für  sich.  Ich  will  es  über- 
schlafen. Er  soll  sich  beim  Portier  die  Antwort  holen,  ob  er  auf- 
genommen ist. 


Vorlesung  im  Kleinen  Konzerthaussaal,  18.  September: 
I.  Grenzen  der  Menschheit  /  Die  Welt  als  Vorstellung  /  Händler 
und  Helden  /  Jetzt  ist  Krieg  /  Sie  exzediert  schon  /  Zur  Darnachachtung  / 
Alles  was  recht  is  —  da  gibts  nixl  /  Was  gibts  Neues?  /  Ein  Nach- 
ruf /  Der  ruhmlosere  Abschluß  /  Wie  die  Franzosen  vor  Neid  zersprangen  / 
Metaphysik  der  Schweißfüße  /  -Drückeberger  in  Frankreich«  usw.  /  Die 
europäische  Melange  /  Fleisch  und  Blut  /  Von  einem  Mann 
namens  Ernst  Posse  /  Lichnowsky  und  Barnowsky  / 
Diplomaten.  II.  Gruß  an  Hofmannsthal  /  Eingedeutschtes  /  Papier- 
mangel in  Österreich  /  Beim  Anblick  einer  Schwangeren  /  Dialog 
der  Geschlechter  /  Vor  dem  Höllentor.  III.  Blutunterlaufungen  / 
Die  F u n d V e r h e i m 1 i ch u n g  /  Gebet  an  die  Sonne 
von    Gibeon. 

Ein  Teil  des  Ertrages  wurde  Vereinen  für  Kinderschutz  und  für 
Tierschutz  zugewendet. 


Vor  Beginn  dieser  Vorlesung  soll  im  Vestibüle  eine  Schrift 
»Karl  Kraus«  verkauft  worden  sein.  Der  Vorleser,  der  davon  erst 
am  andern  Tag  erfahren -hat,  also  verhindert  war,  auf  der  Stelle 
ein  Kolportageverbot  zu  erlassen  und  für  dessen  Durchführung 
durch  Saalbedienstete  zu  sorgen,  fürchtet  nicht,  daß  die  Käufer 
der  Schrift  ihn  der  Mitwissenschaft  und  Begünstigung  des  Unter- 
nehmens für  fähig  halten  könnten.  Immerhin  muß  er,  der  nie 
geduldet  hätte,  daß  sein  eigener  Verleger  solch  gute  Gelegen- 
heit, seine  eigenen  Bücher  an  den  Mann  zu  bringen,  benütze, 
seine  Ahnungslosigkeit  ausdrücklich  feststellen  und  die  Versicherung 
abgeben,  daß  eine  Wiederholung  der  Begebenheit  ausgeschlossen 
ist.  Der  Unternehmer  selbst  wird  nicht  behaupten,  daß  eben  das, 
was  auf  meinem  Rücken  geschehen  sollte,  nicht  aiKh  hinter  meinem 
Rücken  geschah.  Aber  die  Feststellung  ist  eine  tatsächliche  Berichti- 
gung des  kommenden  Gerüchtes,  ich  hätte  einmal  vor  einer  Vor 
lesung  eine  Lobschrift  über  mich  verkaufen  lassen,  ist  also  zum  Schutz 
gegen  jene  Talente  geboten,  die  sich  erfahrungsgemäß  immer  dann, 
wenn  sie  keine  Gegenliebe  finden,  mit  der  Legende  rächen.  Noch  in  der 
Schweiz  trat  sie  mir  heuer  entgegen  und  behauptete,  ich  hätte  mir 


61 


einst  in  Berlin  »ein  eigenes  Bureau  zur  Rel<lame  für  mich  gehalten«, 
und  ich  mußte  auch  tatsächlich  zugeben,  daß  ich  seinerzeit  den 
Fortbestand  eines  Berliner  Bureaus  mit  großen  Opfern  ermöglicht 
hatte  und  unter  der  ausdrücklichen  Bedingung,  daß  die  dort  heraus- 
gegebene Zeitschrift  meinen  Namen  nicht  nenne,  ja  selbst  die 
Zitierung  der  Fackel  im  Zeitschrifteneinlauf  oder  in  einer  Annonce 
unterlasse.  Ich  konnte  also  das  Semper  aliquid  haeret  wieder 
einmal  nicht  abstreiten.  Der  neue  Verlag  meiner  Schriften  hat  die 
kontraktliche  Verpflichtung  übernommen,  sich  jedes  Rezensions- 
exemplars zu  enthalten,  womit  aber  nicht  völlig  auch  die  Möglichkeit 
beseitigt  ist,  daß  einer,  dem  es  verweigert  wurde,  einmal  erzähle 
oder  drucke,  ich  hätte  es  ihm  aufdrängen  wollen,  und  das  eigene 
Bureau  in  Leipzig  sei  zur  Reklame  für  mich  errichtet.  In  der 
Metropole  des  literarhysterischen  Betriebs  hatte  ehedem  einer, 
natürlich  ein  unglücklich  Verliebter,  mit  der  Enthüllung  Sensation 
gemacht,  ich  sei  einmal  im  Literaturcafe  »schmunzelnd  dagesessen« 
und  hätte  beobachtet,  wie  der  Ansichtskartenautomat  gegen  Einwurf 
einer  Münze  mein  Porträt  herausgab  oder  dergleichen.  Der  Fall 
wurde  von  einem  Fachmann  untersucht  und  es  stellte  sich  heraus, 
daß  ich,  der  tatsächlich  ein  paar  Mal  studienhalber  in  jene  Hölle 
geraten  war,  vermutlich  einmal  schmunzelnd  dasaß,  aber  nicht  in 
Hinblick  auf  den  Automaten,  der  entweder  nicht  vorhanden  war 
oder  von  dessen  Existenz  ich  nichts  wußte,  sondern  vom  heitern 
Staunen  über  die  Fülle  der  Gesichte  und  über  das  Pathos  des 
Drecks,  zu  dem  man  mit  der  Untergrundbahn  gelangen  konnte. 
Seit  jenem  Ereignis,  das  umso  mehr  Staub  aufgewirbelt  hat,  je 
klarer  sich  herausstellte,  daß  ich  daran  unbeteiligt  war,  habe  ich 
jeden  einzelnen  der  tausend  Verehrerbriefe,  die  aus  der  Gegend 
der  strammen  Neurasthenie  kamen,  um  meiner  bekannten  Eitelkeit 
zu  schmeicheln,  unbeantwortet  gelassen  und  keiner  der  tausend 
Zeitschriften,  die  dort  aus  der  Verbindung  von  Expressionisten 
und  Koofmichs  entstehen,  das  erbetene  Tauschexemplar 
bewilligt.  Man  schützt  sich,  so  gut  man  kann.  Wenn  aber  zehn 
Minuten  vor  Beginn  einer  Vorlesung,  zu  der  ich  nicht  durch 
das  Vestibüle  gelange,  eine  enthusiastische  Broschüre  über  mich 
verkauft  wird,  weil  die  Gelegenheit  günstig  ist  und  der  Holunder- 
strauch ihn  mir  verbirgt,  kann  ich  nur  die  Wiederholung  solcher 
Teiltaten  verhindern.     Die  Diener,  die  bloß  auf  die  Hintanhaltung 


62 


von  Eeextraausgabeeen  dressiert  sind  und  vielleicht  aus  dem  Titel 
auf  Erlaubnis  oder  gar  Wunsch  des  Veranstalters  geschlossen 
haben  —  worauf  das  Unternehmen  wohl  auch  gegründet  war  — , 
sind    angewiesen,    solche    Zugabe    zum     Programm    künftig    zu 

vereiteln. 

* 

Nachschrift:  Die  Untersuchung  des  Falles  hat,  wie  gerne 
festgestellt  wird,  ergeben,  daß  der  Verkäufer  keineswegs  auf  die 
Unwissenheit  der  Dienerschaft  spekuliert  hat.  Er  hat  sich  vielmehr 
offen  und  ehrlich  auf  meinen  Auftrag  berufen. 


Bibliographisches.  , Der  Abend'  (Wien,  25.  Sept.) 
>Karl  Kraus.  Ein  Eindruck.«  —  .Arbeiter-Zeitung'  (Wien,  26.  Sept.) 
»Vorlesung  Karl  Kraus.« 


Das  Gedicht  »Sendung«  (S.  72)  ist  das  letzte  aus  dem  Buche 
>Worte  in  Versen«. 


Vorlesung  im  Kleinen  .Konzerthaussaal,  3.  Oktober:  >D  i  e 
lustigen  Weiber  von  Windsor«.  Arrangement,  Musik  und 
Programmtext  wie  am  24.  Mai.  —  Der  gesamte  Ertrag  ist  der  k.  k. 
n.-ö.  Statthalterei  zur  Fürsorge  für  erblindete  Soldaten  überwiesen  worden. 


Vorlesung  im  Kleinen  Konzerthaussaal,  18.  Oktober: 
I.  Worte  Luthers  /  Er  war  ein  Mann,  nehmt  alles  nur  in  allem  / 
Der  Krieg  /  Das  Drama  nimmt  ungestört  seinen  Fortgang  /  Na  alstern!  / 
Trophäen  /  Teil  sagt  /  Gruß  an  Bahr  und  Hofmannsthal/ 
Diplomaten.  II.  Man  muß  sich  rein  für  England  schämen  /  Die 
europäische  Melange  /  Auch  so  leben  wir  alle  Tage  /  Zur  Darnach- 
achtung  /  Ein  sonderbares  Imperfektum  /  Weitere  Folgerungen  /  Die 
Schalek  und  der  einfache  Mann  /  Das  ist  mein  Wien,  die  Stadt  der  Lieder  / 
Die  Laufkatze.  III.  Worte  in  Versen:  Elegie  au.'  den  Tod 
eines  Lautes;  Die  Grüngekleideten;  Vor  einem  Springbrunnen;  Aus 
jungen  Tagen;  Fahrt  ins  Fextal;  An  einen  alten  Lehrer;  Memoiren; 
Gebet  während  der  Schlacht. 


63 


Ein    Teil    des  Ertrages    wurde    Vereinen    für    Kinderschutz    und 
Tierschutz  zugewendet. 

Die   Verschiebung    vom    14.    auf    den     18.   Oktober    war 
erfolgt,     um    den   ungestörten   Verlauf  des    an    jenem   Tage    in 
j  demselben  Hause  angesetzten  Vortrags  der  Kriegsberichterstatterin 
zu  sichern. 


In  Nr.  431-436,  S.  47,  20.  Zeile  werde  anstatt  »nicht  wollen«: 
nicht  wissen  wollen,  S.  87,  4.  Zeile  von  unten  anstatt  »Häftec  :  Hälfte, 
S.  132,  9.  Zeile  anstatt  »Metern«  Kilometern  gelesen. 

(»Betmann  Hohlweg«  auf  S.  63,  11.  Zeile  von  unten,  ist  kein 
Druckfehler.) 


Daß  eine  Seite  der  Fackel  ihre  Perspektive  bewahrt,  wenn 
sie  ihrer  stofflichen  Voraussetzung  und  persönlichen  Beziehung 
verlustig  geht,  wird  zwar  noch  lange  kein  Stoff-  und  Namens- 
leser verstehen,  aber  es  bestätigt  sich  an  der  in  Nr.  431—436  ent- 
haltenen Glosse  >Was  in  der  Kriegsausstellung  fehlt<.  Man  muß 
andere  Namen  einsetzen,  damit  sie  wahr  sei.  Die  Namen,  die 
bis  jetzt  dort  stehen,  sind  falsch,  und  jenseits  der  Berechtigung, 
auch  das  zu  gestalten,  was  nur  möglich,  also  mehr  als  wirklich 
ist,  muß  die  Tatsache  festgestellt  werden,  daß  der  Kriegs- 
krüppel des  Gerichtssaalberichtes,  den  der  Richter  freigesprochen 
hat,  nachträglich  »polizeilich  als  Schwindler  entlarvt«  worden 
ist.  Gericht  und  Polizei  müssen  es  sich  demnach  auch  unter- 
einander ausmachen,  wie  die  ursprüngliche,  für  den  Anzeiger 
so  ungünstige  Auffassung  entstehen  und  verbreitet  werden  konnte. 
Sie  beruhte  auf  der  Stelle  des  Gerichtssaalberichtes:  »Am  10.  Juni  d.  J. 
kam  der  Kriegskrüppel  in  einer  Korporalsbluse  zu  dem  ihm  von 
früher  her  bekannten  Chemiker  Seligmann  ....  und  bat  ihn  mit 
Hinweis  auf  sein  großes  Elend  um  irgend  eine  Arbeit.  Seligmann 
hatte  bereits  früher  einmal  gegen  Friedberg  eine  Anzeige  wegen 
unbefugten  Tragens  der  Uniform  erstattet  und  er  ließ  jetzt  den 
Kriegskrüppel  durch  einen  Wachmann  verhaften.«  Die  danach  mögliche 


64 


Frage,  warum  der  Kriegskrüppel  den  Anzeiger  nicht  verhaften  lasse, 
findet  durch  die  nachträglichen  Feststellungen,  die  den  gericht- 
lichen Freispruch,  die  Tendenz  des  Berichts  wie  die  verbreitete 
Auffassung  des  Falles  berichtigen,  eine  wesentlich  andere  Antwort. 
Es  ist  aber  auch  nicht  einmal  wahr,  daß  er  den  angeblichen 
Kriegskrüppel,  dem  ein  Richter  nicht  weniger  Vertrauen  geschenkt 
hat  als  der  Zeitungsleser,  wegen  des  Tragens  der  Uniform  ange- 
zeigt hatte,  und  wahr  ist  nur,  daß  er  ihm  von  früher  als  Schwindler 
bekannt  war.  Dem  Anzeiger,  der  auch  kein  Armeelieferant  ist, 
also  nicht  jenen  Kreisen  angehört,  denen  eine  größere  Strenge 
gegen  Kriegskrüppel  zuzutrauen  ist,  würde  auch  jetzt  kein  sub- 
jektives Unrecht  geschehen  sein,  wenn  er  den  nun  der  Polizei 
erschlossenen  Tatbestand  damals  nicht  gekannt  hätte,  wofür  ja 
der  Verlauf  der  Gerichtsverhandlung  hinlänglich  zu  sprechen  schien. 
Aber  er  hat  es  nur  unterlassen  oder  versäumt,  seine  Kenntnis  mit 
berechtigtem  Nachdruck  an  Ort  und  Stelle  durchzusetzen,  und  es 
steht  außer  allem  Zweifel,  daß  ihn  der  Vorwurf  der  Grausamkeit 
nicht  treffen  kann.  Der  gegebene  Fall  bleibt  auf  das  Übel  einer 
Judikatur  oder  einer  Berichterstattung  beschränkt,  die  solchen 
Vorwurf  ermöglicht  hat.  Daß  die  nie  verlegene  Realität,  die  meine 
Betrachtung  so  sehr  nährt,  daß  sie  fast  wieder  von  ihr  lebt,  auch  noch 
falsche  Anlässe  liefert,  ist  zu  viel;  nachdem  dieser  eine  richtiggestellt 
ist,  bleibt  zu  sagen:  Wenn  eine  Tatsache,  und  noch  dazu  eine  von 
einem  Gerichtsurteil  bestätigte,  unwahr  ist,  so  ist  das  Zitat  nicht 
dafür  verantwortlich.  Wäre  aber  nicht  allein  der  Prozeß  lücken- 
haft gewesen,  sondern  der  Bericht  erfunden,  so  bliebe  doch  nur 
die  Berichtigung  des  Falles  zu  besorgen,  nicht  seiner  Möglichkeit 
Man  kann  das  Grauen  der  europäischen  Welt  auch  an  den  Anlässen 
darstellen,  die  falsch  waren.  Immer  ist  es  da,  auch  wenn  ein 
Polizeibericht  einen  Gerichtssaalbericht  Lügen  straft,  und  die 
einmal  gesetzte  Perspektive,  von  den  Namen,  die  ihr  die  Unordnung 
eingesetzt  hat,  befreit,  wartet  auf  die  rechten. 


Der  Verlag  der  Fackel  kann  die  Vermittlung  von  wohltätigen 
Spenden    nicht   übernehmen.    21  Kronen,   die   mit   unbestimmter 


65 


Weisung,  aber  unter  einer  nach  dem  Humor  der  ,Musitete' 
zuständigen  Chiffre  aus  dem  Feld  eingelangt  sind,  und  100  Kronen, 
die  mit  der  Bemerkung:  »Zu  wohltätigem  Zweck«  von  einem 
freundlichen  Leser  aus  Szepsi  in  Ungarn,  dessen  Name  unleserlich  ist, 
gesandt  wurden,  sind  der  Statthalterei  zur  Fürsorge  für  erblindete 
Soldaten  überwiesen  worden.  Wer  einen  ähnlichen  Wunsch  wie  jene 
beiden  Spender  hat  und  nicht  dieanrüchige  Vermittlung  benützen  will, 
durch  die  seit  zwei  Jahren  täglich  Gold  für  Reklame,  also  Papier 
für  Papier  gegeben  wird,  soll  mit  dem  Zweck  auch  das  Ziel  seiner 
Wohltätigkeit  zu  finden  wissen.  Die  Leser,  die  nach  so  vielen 
Jahren  endlich  davon  überzeugt  wurden,  daß  die  Fackel  keine 
>Redaktion<  hat,  mögen  auch  zur  Kenntnis  nehmen,  daß  ihre 
Administration  über  keinen  Apparat  verfügt,  der  die  Verwaltung  von 
Spenden  ermöglichen  würde,  und  daß  sie  unter  keinen  Umständen 
in  das  Ressort  einer  Publizistik  eingreifen  kann,  die,  ohne  selbst 
einen  Heller  zu  opfern,  fremde  Rachmones  als  Schmuck  trägt  und 
das  Schertlein  zum  Zins  macht,  den  das  Elend  der  Eitelkeit  bezahlt. 
(Ein  Leser,  der  etwa  beim  Wort  >Rachmones«  stutzt  und 
nicht  weiß,  was  soll  es  bedeuten,  möge  Heine  lesen,  aber  nicht 
das  Buch  der  Lieder,  sondern  den  Briefwechsel  mit  Rothschild.) 
Gewiß,  die  Anzeiger  der  Wohltat  sind  nur  die  Hehler 
des  Wuchers,  und  eine  Charitas,  die  sich  in  solchen 
Häusern  prostituiert,  macht  aus  der  Not  ein  Laster.  Würde 
aber  selbst  von  den  Annonceuren  und  den  Annoncierten  der 
Nächstenliebe  ein  gutes  Beispiel  gegeben,  so  böte  die 
Fackel,  die  die  Kriegsschäden  doch  in  wenig  positiver 
Art  betrachtet,  dem  Publikum  eine  recht  unzulängliche 
Gelegenheit,  seine  werktätigen  Absichten  durchzuführen. 
Welchen  Sinn  es  vollends  haben  soll,  eine  Guttat  mit  schmutzigem 
Text  zu  begleiten,  wie  dies  von  jener  Feldpostchiffre  geübt  wurde, 
ist  unerfindlich.  Bei  dieser  Gelegenheit  seien  sämtliche  Kriegs- 
fürsorgeämter ersucht,  die  Fackel  von  ihrer  Adreßliste  zu  streichen 
und  sich  das  jetzt  rare  Papier  wenigstens  in  diesem  einen  aussichts- 
losen Fall  zu  ersparen.  Sie  mögen  sich  darauf  verlassen,  daß 
die  Verlockung,  gemeinsam  mit  der  Menschenbrut,  die  in  der 
großen  Zeit  sich  die  Ehre  vom  Mund  abspart,  an  irgend  einem 
Monumentum  aere  perennius  mitzuarbeiten,  ein  Herz,  das  nur 
sich  selbst  nachgibt,  versteinern  wird.  Insbesondere  sei  der  Prokurist, 


66 


der  eine  »Organisation  für  Liebesgaben<  ins  Leben  gerufen  hat, 
und  der  behauptet,  ich  hätte  ihm  »bisher«  meine  Unterstützung 
zugewendet,  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  ich  es  erst  dann 
tun  werde,  wenn  er  sich  mit  der  Ablehnung  des  Ordens,  den  er 
bekommen  wird,  vor  mir  ausweisen  kann.  Mit  den  Wohltätern 
habe  ich  so  wenig  zu  schaffen  wie  mit  den  Blutvergießern. 
Man  soll  das  Wirrsal  nicht  vermehren  und  aus  dem  Strick, 
an  dem  man  Journalisten  und  Armeelieferanten  nicht  auf- 
gehängt hat,  keinen  gordischen  Knoten  machen.  Ist  es  geschehen, 
so  durchhaue  man  ihn.  Staaten,  die  den  Mut  haben,  einen  Krieg 
zu  führen,  müßten  auch  die  Courage  haben,  jenen,  die  am 
Zustand  verdienen,  den  Gewinst  wieder  abzunehmen  und  es 
nicht  dabei  bewenden  zu  lassen,  daß  ein  Scherflein  davon  in  die 
Zeitung  kommt.  Als  Entschädigung  könnte  man  dem  Gesindel 
zusichern,  daß  die  Schande  nicht  in  die  Zeitung  kommt. 


Der  »Verlag  Englands  , Kultur',  Wien,  III/2.,  Kolonitzgasse  9«, 
schreibt  mir: 

Hochlöbliche  Schriftleitung! 

Mit  Diesem  bitte  ich  Sie  höflich,  anliegende  Besprechung 
schon  aus  patriotischen  Rücksichten  recht  bald  im 
redaktionellen  Teile  Ihres  werten  Blattes  bringen  zu  wollen.  Dieselbe 
wird  zweifello.s  in  Ihrem  Leserkreise  außerordentlich  interessieren. 

Leider  ist  es  uns  heute  noch  nicht  möglich,  Ihnen  das  Rezensions- 
exemplar zu  überreichen,  da  die  Druckerei  infolge  Einrückens  von 
Personal  aufgehalten  wurde.  Sowie  wir  die  ersten  Exemplare  erhalten, 
senden  wir  Ihnen  eines  sofort  zu.  Wenn  wir  Sie  trotzdem  bitten,  die 
Besprechung  in  kurzem  zu  bringen,  liegt  dies  an  der  Dringlichkeit 
die  Sache  in  die  Öffentlichkeit  zu  bringen. 

Wir  werden  wahrscheinlich  nicht  ermangeln,  Ihnen 
auf  erbetenes  Offert  ein  Inserat  zukommen  zu  lassen,  was  von 
Ihrem    Preise    abhängt. 

Im  Voraus  verbindlichsten  Dankl 

Mit    k  o  1 1  e  g  i  a  1 1  e  m    Gruß ! 
Verlag  Englands  »Kultur« 

Dieser  Zuschrift  liegt  ein  »Waschzettel  H.«  bei.  »Wasch- 
zettel I.«,  den  die  .Arbeiter-Zeitung'  erhalten  hat,  ist  interessanter 
und  lautet: 


67 


In  dem  uns  im  Bürstenabzug  vorliegenden, 
in  kürzester  Zeit  erscheinenden  Buche:  Englands  »Kultur«  in  »barbari- 
scher« Beleuchtung  (Verlag  Englands  >Kultur<,  französisch:  Les  Scandales 
de  Londres  1885)  ist  uns  und  unseren  lieben  Lesern  eine  große  Freude 
widerfahren.  Daß  das  Buch  allen  willkommen  sein  wird,  dessen  sind 
wir  sicher.  Gilt  es  doch,  in  vornehmer  Form  dem  ursächlichen 
Friedensbrecher  Europas  eins  am  Zeuge  zu  flicken  und  daß 
der  Herausgeber  des  Buches  die  Streitaxt  aus  feindlichem  Boden 
grub,  indem  er  einfach  ein  Stück  Kulturgeschichte  aus  der  ,Pall 
Mal!  Gazette'  in  London  aus  dem  Jahre  1885  abdruckt,  ist  ebenso 
charakteristisch  als  das  Vorwort  zur  französischen  Ausgabe  aus 
derselben  Zeit  von  E,  Dentu  und  ist  in  jetziger  Zeit  ein  Kernschuß 
erster  Güte.  Das  Buch  wird  in  der  ganzen  wahren  Kultur- 
welt   das  ungeheuerste  Interesse  erwecken. 

Der  Hinweis  auf  die  patriotischen  Rücksichten  hat  im 
Original  Sperrdruck.  Wiewohl  »ich«  zwar  ein  Verlag  ist,  aber  ich 
keine  Schriftleitung  bin,  muß  ich  mir  doch  einen  »kollegiallen« 
Gruß  gefallen  lassen.  Die  Anführungszeichen  in  der  Firma 
bedeuten  Ironie  und  sollen  zur  Verhütung  des  Verdachts  dienen, 
als  ob  jemand  in  der  Kolonitzgasse  ernsthaft  von  einer  Kultur 
Englands  reden  könnte.  Mir  ist  es  nun  nicht  bekannt,  ob  es 
in  England  Leute  gibt,  die  jetzt  ein  so  schäbiges  Geschäft  machen 
und  abschließen  wollen.  Es  ist  mir  auch  nicht  bekannt,  ob  es  in 
^jigland  Leute  gibt,  die  so  schlecht  englisch  schreiben  können,  wie 
deren  Feinde  deutsch,  und  ob  es  möglich  wäre,  daß  dort  einer 
Deutschland  eins  am  Zeug  flicken  will,  indem  er  mit  einer  Streit- 
axt einen  Kernschuß  abgibt  und  diesen  noch  als  Inserat  aufgibt. 
Daß  Druckereien  infolge  Einrückens  von  Personal  aufgehalten 
werden,  finde  gerade  ich  beklagenswert,  für  meine  eigene  Arbeit 
und  sonst  im  weiten  Umkreis  des  in  Österreich  Gedruckten 
hauptsächlich  wegen  der  Einrückung  und  nicht  wegen  des  Auf- 
enthalts. Aber  schließlich  bedarf  es  nicht  erst  eines  Buches, 
um  die  kulturelle  Überlegenheit  des  Verlags  Englands  »Kultur« 
über  England  zu  beweisen,  sondern  es  genügt  der  Versuch, 
Patriotismus  und  die  Hoffnung  auf  ein  Inserat  Schulter  an  Schulter 
zu  der  Förderung  eines  Geschäfts  aufzustacheln.  Der  Inhaber  will 
also  mit  dem  Abdruck  von  Enthüllungen  aus  der  ,Pall  Mall 
Gazette'  von  1885  so  viel  Geld  verdienen,  daß  er  auch  den 
Wiener  Blättern  etwas  zukommen  lassen  kann.  Was  mich  betrifft, 
an  den  er  sich  unvorsichtigerweise  auch  gewandt  hat,  so  verlange  ich, 
kollegiall  wie  ich  bin,  für  ein  ganzseitiges  Inserat:  die  Einstellung 


68  — 


des  Verlages  Englands  »Kultur«  nebst  der  Verfütterung  aller  jener, 
die  am  Völkerhaß  noch  jetzt  verdienen  wollen,  zwecks  Ausspeisung 
hungernder  Hyänen,  die  auf  den  Schlachtfeldern  das  Nach- 
sehen hatten. 


Die  Verleger  werden  ersucht,  die  völlig  aussichtslose 
Zusendung  von  Rezensionsexemplaren  an  die  Fackel  endlich  zu 
unterlassen  und  sich  durch  die  Papiernot  bestimmt  zu  fühlen, 
wenn  schon  nicht  die  ganze  Auflage,  so  doch  wenigstens  dieses 
eine  Exemplar  ungedruckt  zu  lassen. 


,Die  Neue  Hochschule',  Freistudentische  Halbmonatschrift 
(I.,  Nr.  10,  Königsberg  i.  Pr.)  bringt  die  folgende  freundliche 
Enthüllung: 

Eine  Zeitschrift  edelster  Art  ist  die  von  Karl  Kraus  in  Wien 
herausgegebene  .Fackel',  deren  Studium  nicht  dringend  genug  angeraten 
werden  kann.  Nirgends  in  Deutschland  wird  mit  solchem  Ernst, 
solchem  Geist,  solcher  Eindringlichkeit,  solcher  Wucht  gegen  die 
Niedrigkeit  der  Presse  und  der  öffentlichen  Meinung,  gegen  die 
Merkantilisierung  und  Journalisierung  des  Lebens  gekämpft  wie  hier. 
Es  ist  kein  gutes  Zeichen,  daß  die, Fackel'  in  der  deutschen 
Studentenschaft    sehr    wenig    bekannt    ist. 

Von  allen  diesen  Behauptungen  kann  ich,  auf  die  Gefahr 
hin,  daß  es  das  stärkste  Selbstlob  sei,  die  eine  getrost  bestätigen, 
nämlich  daß  die  Fackel  in  der  deutschen  Studentenschaft 
sehr  wenig  bekannt  ist.  Aber  eben  dieser  Umstand  dürfte  mit 
der  Merkantilisierung  und  Journalisierung  des  Lebens  wesentlich 
zusammenhängen.  (Mein  Setzer  wollte  gar  eine  Merkantilisierung 
und  Generalisierung  des  Lebens  daraus  machen.)  Und  wenn  jetzt 
noch  ein  Teil  der  deutschen  Studentenschaft  der  geplanten 
Hochschule  für  Journalistik  zuströmen  wird,  wirds  mit  dem  Ruf  der 
Fackel  in  Deutschland,  sagen  wir,  alle  Sein.  Wozu  über  solche  Tat- 
sachen Klage  führen  ?  Klagen  wir  über  die  Ursachen !  Wäre  es  möglich, 
daß  die  Fackel,  die  doch  in  deutscher  Sprache  geschrieben  ist,  in 


—  69  — 


Deutschland  bekannt  ist,  so  wäre  ja  kein  Weltkrieg  möglich.  Nicht  daß 
tue  Fackel  ihn  verhindert  hätte.  Aber  die  geistige  Beschaffenheit 
der  deutschen  Menschen,  von  der  ja  im  Wesentlichen  die  Entscheidung 
abhängt,  ob  das  Leben  in  den  Dienst  des  Kaufmanns  und  somit 
auch  in  den  Dienst  der  den  kaufmännischen  Interessen  dienst- 
baren Schutzmittel  gestellt  (also  merkantilisiert  und  generalisiert) 
werden  soll,  wäre  eine  andere.  Keine  der  neuzeitlichen  Tatsachen 
habe  ich  durch  meine  geistigen  Lebtage  besser  verstanden,  als  daß 
die  Fackel  in  Deutschland,  also  vor  allem  in  der  deutschen 
Studentenschaft,  sehr  wenig  bekannt  ist.  Wäre  sie  es,  so  wäre  sie  nicht. 


In  der  .Neuen  Züricher  Zeitung'  —  in  einer  jener  Ausgaben, 
die  nicht  zu  uns  kommen  —  war  im  vergangenen  Sommer  ein 
Zitat  aus  einem  kürzlich  entdeckten  >Büchlein  von  Goethe« 
zu  lesen,  das  im  Todesjahr,  1832,  »von  Mehreren,  die  in  seiner 
Nähe  lebten,  zum  bessern  Verständnis  seines  Lebens  und  Wirkens< 
in  Penig  (Sachsen)  herausgegeben  wurde.  Die  Verfasser,  die, 
unter  Zusammensetzung  von  fünf  Buchstaben  mit  dem  spanischen 
Wort  »AMIGO«  unterzeichnen,  im  Herder-  und  Klopstock-Kreise 
vermutet  werden  und  deren  Geistigkeit  jede  Verbindung  mit  den 
»Goethe  -  Feinden  (Kotzebue,  Pustkuchen,  Menzel,  Börne  und 
Saphir)«  undenkbar  erscheinen  läßt,  sollen  manches  zumal  nach 
heutiger  Auffassung  Abträgliche  über  Goethes  Persönlichkeit  aus- 
zusagen wissen,  bis  heute  Unbekanntes,  aber  auch  die  literar- 
historisch feststehende  These:  »Er  hat  —  soweit  es  das  Vaterland 
betraf  —  für  unser  Volk  kein  Herz  gehabt!«  Worin  natürlich  nicht 
Goethe,  sondern  das  Vaterland  problematisch  wird,  und  wozu  zu 
sagen  wäre,  daß  vor  den  heutigen  Wortführern  des  Vaterlandes 
Goethes  anationales  Denken  getrost  als  antinationales  verteidigt 
werden  soll.  Das  mit  dem  Mangel  an  patriotischem  Herzen, 
wie  mit  dem  Mangel  an  Herz  überhaupt  verhält  sich  nämlich  so: 
man  könnte  mit  solchen  Maßstäben  Goethe  zur  Not  richten,  wenn 
man  mit  ihnen  zu  ihm  hinaufkäme.  Die  »Fehler  Goethes«  können 
mit  freiem  deutschen  Auge  nur  deshalb  bemerkt  werden,  weil  sie 
so  weit,  so  hoch  über  der  Ebene  liegen,  auf  der  sich  die  Betrachtung 


70 


vollzieht.  Ich  weiß  nicht,  wie  nahe  die  jetzt  entdeckte  Schrift,  die 
ja  etliche  Verfasser  hat,  dieses  Niveau  streift.  Sie  muß  aber  manches 
enthalten,  das  hoch  genug  im  Geiste  ist,  um  sich  von  der  land- 
läufigen Literaturgeschichte  zu  entfernen  und  Goethe  anschauen 
zu  dürfen.  So  enthält  sie  eine  Schilderung,  deren  Lebendigkeit  für 
ihre  Wahrheit  spricht  und  welche  als  Kunstwerk  einer  Beschreibung, 
die  alle  Impressionismen  heutiger  Literaturpässe  beschämt, 
zumal  aber  als  das  zwingend  echteste  Porträt  Goethes,  als  mächtige 
und  absichtliche  Korrektur  der  gemalten,  aufbewahrt  werden  muß. 
Durch  alle  Zeit  hindurch :  durch  eine  Zeit,  die  sich  nur  dafür 
interessiert,  wie  ihre  Handelsunterseebootkapitäne  ausgeschaut 
haben,  —  hindurch! 

Seine  Gestalt. 

Ich  stand  in  frischer  Jugend,  er  in  hohem  Greisenalter,  als 
ich  zum  erstenmal  zu  ihm  kam.  Und  schon  als  er  eintrat,  fing 
seine  Herrschaft  an,  obgleich  er  noch  in  der  Türe  weilte,  und 
ich  eben  meine  tiefe  Verbeugung  dem  Minister  endigte;  denn  er, 
auf  dem  schon  die  Last  reicher,  gewichtiger  Jahre  lag,  hatte  eine 
weit  geradere  Haltung  als  ich,  dem  die  kräftigste  Jugend  voll  Lust 
und  Nahrung  und  Genuß  noch  die  eigenen  Jünglingsjahre  als  feste 
Stütze  gab.  Er  stand  wirklich  wie  ein  geborner  König  da,  und 
man  sah,  daß  seine  Locken  die  Wolken  streiften,  mit  denen  Sturm 
und  Regen,  Blitz  und  Donner  über  unseren  Häuptern  vorüberziehen. 
Ich  habe  nicht  Poesie  genug  in  meinem  Vermögen,  diesen  Urtypus 
einer  Greisennatur  zu  beschreiben,  aber  ich  will's  versuchen,  so 
gut  ich 's  kann. 

Das  Göttliche,  das  die  Natur  ihm  mitgegeben  auf  der 
Wanderung  durch  die  Erde,  zeigte  sich  am  deutlichsten  in  den 
oberen  Teilen  seines  Körpers  wie  seines  Gesichtes.  Eine  hohe 
Jupiterstirn,  gewölbt  wie  die  Wölbung  des  Himmels,  unter  dem  die 
Erde  ruht;  die  Brauen  kühn  gezogen;  die  Nase  gebogen  und  doch 
edel;  der  Mund  etwas  gekniffen:  teils  vom  Alter,  teils  vom  Ver- 
schweigen, das  er  sehr  liebte;  denn  er  tat  oft  und  gern  geheimnis- 
voll mit  dem  Gewöhnlichsten  geradezu  denen,  die  ihm  am  nächsten 
standen.  Um' den  Mund  hatten  sich  die  Furchen  des  Egoismus  in 
vielfachen  krausen  Linien  gesammelt,  und  es  lag  wohl  manches 
Große,  aber  wenig  Edles  darin.  Sein  Auge  zu  malen  und  zu  deuten, 
ist  fast  unmöglich;  es  rollte  weder  in  schönem  Wahnsinn  (in  a  fine 
frenzy),  wie  Shakespeare  sagt,  und  wie  es  auf  Stielers  Bilde  erscheint, 
noch  war  es  träumerisch  und  matt  wie  in  Vogels  Zeichnung;  es 
hatte  keinen  breiten  und  keinen  scharfen  Blick,  und  doch  einen 
ganz  eigentümlichen,  ich  möchte  ihn  gewölbt  nennen.  Ich  habe 
es  oftmals  angeschaut  dieses  Auge,  in  den  verschiedensten  Momenten, 


—  71  — 


und  fand  es  immer  sich  gleicii  und  doch  immer  neu.  Die  Augäpfel 
lagen  erhaben  auf  ihrem  weißen  Felde,  als  wären  sie  nicht  mit  dem 
Auge  entstanden,  sondern  ihm  später  eingedrückt;  sie  bewegten 
sich  langsam,  aber  was  sie  faßten,  faßten  sie  fest  und  hielten  es 
sicher,  bis  ans  Ende.  Sie  waren  wirklich  die  Repräsentanten  der 
Sicherheit  seines  geistigen  Blicks.  Seine  Brust  zeigte  sich  breit, 
sein  übriger  Körper  im  vollsten  Ebenmaß,  sein  Fuß  klein.  Jede 
Bewegung  war  schön,  und  vom  Mittelpunkte  nach  außen,  selten 
eingekehrt,  nie  eckig.  Er  sprach  langsam,  mit  vollem  Ton,  und 
selbst  im  Eifer  des  Zorns  in  Ruhe;  nur  wenn  er  im  Gehen  mit 
sich  selbst  redete,  was  er  oft  tat,  stieß  er  die  Worte  schneller  heraus, 
doch  immer  rund  und  deutlich;  er  verschwieg  zuweilen  den  Schluß 
des  Gedankens,  aber  er  verschluckte  ihn  nie;  dagegen  mußten  zu- 
zeiten einfache  Laute  die  Stelle  der  Wörter  vertreten. 

So  ist  er  mir  oft  erschienen,  und  mein  Blut  kreiste  jedesmal 
ängstlich  schnell  durch  meine  Adern  und  drängte  zum  Herzen, 
wenn  ich  vor  ihm  stand;  das  machte  aber  eben  nur  das  Göttliche 
in  seinem  Wesen,  denn  gerade  in  persönlicher  Zusammenkunft  zeigte 
er  des  Irdischen  gar  viel  und  spielte  gern  Verstecken  mit  denen, 
die  ihn  umgaben,  oder  fand  Gefallen  am  weniger  als  Gewöhnlichen, 
weil  er  sich  ausruhend  damit  beschäftigte. 

Er  trug  gewöhnlich  einen  langen  blauen  oder  braunen  Über- 
rock, im  Sommer  einen  weißen  oder  gelben  Schlafrock  von  Nanking, 
zu  dem  sein  Garten  hinter  dem  Hause  mit  den  vielen  reichblühenden 
Rosenbüschen  ihm  gar  wohl  stand.  Sein  weißes  Halstuch  lose  um  den 
Nacken  geschlagen,  ohne  Schleife  oder  Knoten,  deckte,  von  einer 
einfachen  goldnen  Nadel  gehalten,  mit  den  übereinander  liegenden 
Zipfeln  den  Oberteil  der  Brust.  Der  Rock  war  ziemlich  hoch  hinauf 
zugeknöpft.  Sein  Galaanzug  war  ganz  schwarz,  Frack  und  lange 
Beinkleider;  auf  der  Brust  ein  einziger  Stern;  sein  Haar  obwohl 
grau,  doch  dunkel  und  kräftig,  ward  dann  gewöhnlich  durch  Kunst 
gelockt,  doch  rief  die  Natur  auch  ohne  Zwang  diese  Locken  hervor. 
Anderen  Schmuck  als  jenen  Stern  habe  ich  nie  an  ihm  bemerkt. 

Eine  wahrhaft  antike  Ruhe  herrschte  in  seiner  ganzen 
Erscheinung  vor;  ich  sah  einmal  den  modern-eiteln  August  Wilhelm 
v.  S.  (Schlegel)  ihm  gegenüber;  es  war  als  ob  —  verzeih'  das  un- 
edle Bild,  aber  es  ist  deutlich  und  trifft  —  es  war  als  ob  ein 
gelecktes  Bologneserhündchen  um  eine  edle  Dogge  herumspränge 
und  kläffte.  Um  beide  schlang  sich  damals  ein  Kranz  von  Blumen 
und  schwarzen  Krähen,  und  jener  Abend  mit  seinen  Kontrasten 
wird  vielleicht  noch  manchem  erinnerlich  sein. 


72 


Sendung 

Der  tote  Bruder  schickt  mich  in  dein  Leben 

und  läßt  dir  sagen:  Nie  verläßt  er 

die  Freundin,  ihm  verloren  nur  als  Schwester. 

Etwas  von  ihm  blieb  hier,  sich  zu  verweben 

mit  einem  Teil  von  dir;  sich  so  zu  binden, 

daß  du  ihn  sollst  im  Diesseits  wiederfinden. 

Beklagst  Verlust  du,  ist  Gewinn  daneben. 

So  still  er  ist,  gestillt  ist  auch  sein  Sehnen; 

nur  der  Erfüllung  fließen  deine  Thränen. 

Zu  klarer  Aussicht  sollst  den  Blick  du  heben! 

Ganz  nah  dort,  Freundin,   auf  dem   lichten   Hügel 

spielt  er  und  in  dem  Erdenspiegel, 

den  uns  des  Lebens  Schatten  noch  umgeben, 

beschaut  er  gern  sein  unverblichnes  Bild, 

und  staunt,  daß  er  es  sei:  so  mild 

vor  der  Vollkommenheit,  sie  anzustreben 

so  feurig;  und  das  ganze  Herz  bereit, 

zu  Gott  zu  fliehen  aus  der  engen  Zeit, 

der  Staub  und  Blut  an  Kerkerfenstern  kleben. 

Er  will  nicht,  daß  du  weinst.  Es  sprach  der  Tote: 

»Geh  du  zu  ihr,  sei  Ich  ihr,  sei  mein  Bote ! 

Tod  heißt  nur:  zwischen  ihren  Sternen  schweben.« 


73 


Landschaft 

(Thierfehd  am  Tödi,   1916) 

Thierfehd  ist  hier:  das  sagt  dem  Menschsein  ab, 

daß  er  es  werde  — 

wie  an  der  Wand  empor  zum  Himmel  reicht 

die  Erde. 

Was  hinter  uns,  war  schwer.  Hier  ist  es  leicht. 

Die  Welt  verläuft  in  einem  grünen  Grab. 

Ein  Stern  riß  mich  aus  jenes  Daseins  Nacht 

in  neue  Tage. 

Fern  webt  von  blutiger  Erinnerung 

die  Sage. 

Der  weltbefreite  Geist  ist  wieder  jung, 

nichts  über  uns  vermag  die  Menschenmacht. 

Du  Tal  des  Tödi  bist  vom  Tod  der  Traum. 

Hier  ist  das  Ende. 

Die  Berge  stehen  vor  der  Ewigkeit 

wie  Wände. 

Das  Leben  löst  sich  von  dem  Fluch  der  Zeit 

und  hat  nur  Raum,  nur  diesen  letzten  Raum. 


—  74  — 
Glossen 

Kernstock  der  Jugend! 

so  heischt  die  , Reichspost'  und  schon  ist  es  ja  erfüllt.  Denn : 

Eine  Kunde  voll  freudvoller,  bedeutsamer  Wichtigkeit:  Ottokar 
Kernstock  ist  als  Dozent  in  die  Lehrerakademie  des  Wiener  Pädagogiums 
berufen  worden,  wo  er  über  Poetik,  Rhetorik  und  Stilistik  lesen  wird. 
Heute  noch  die  Bedeutung  Kernstocks  als  Dichter  erörtern  zu  wollen, 
hieße  Eulen  nach  Athen  — 

Nicht  doch,  gebt  uns  Eulen  und  sehet  ab  von  der 
Verzehrungssteuer!  Dichter  haben  wir  genug  im  Krieg.  Aber 
Eulen  —  not  immer  nur  nach  Athen,  wo  ohnedies  die  Entente 
aufpaßt.  Wir  aber  müssen  uns  mit  dem  Kernstock  durchfretten. 
Er  kommt  also  von  der  Festenburg,  wo  er  oft  >  schwärmerischen 
Jünglingen  und  Mädchen  eine  Erinnerung  ins  Stammbuch«  ge- 
schrieben hat.  Aber  was  denn  nur  für  eine?  Jahr  um  Jahr  flogen  von 
dort  »seine  Lieder  ins  Land,  Lieder  von  kraftvoller,  dabei  doch 
sinniger  und  oft  unbeschreiblich  zarter  Eigenart,  Lieder  — <  Ja 
welche  denn  nur?  Nun  wird  er  in  mündlichem  Vortrag  der  Jugend 
>die  Schönheiten  der  Dichtkunst  erschließen«.  Ja  aber,  welche  denn 
nur?  Und  sie  alle  werden  »entflammt  an  seiner  Flamme,  das 
Empfangene  dereinst  als  Lehrer  tausendfältig  weitergeben  und  in 
die  Herzen  einer  neuen  Jugend  wird  versenkt  werden,  was  dieser 
eine  Mann  auf  seiner  waldumrauschten,  einsamen  Burg  in  jahr- 
zehntelanger Arbeit  ergründete«.  Ja  aber  was  denn  nur?  Ein 
Mann,  »der  mit  feuriger,  begnadeter  Zunge  alle  lebendigen 
Schönheiten  der  Gotteswelt  zu  preisen  versteht«.  No  ja  aber 
welche  denn  nur? 

Gebet    vor    der    Hunnenschlacht. 

Bedrängt  und  hart  geängstigt  ist 
Dein  Volk  von  fremden  Horden, 
Durch  Übermut  und  Hinterlist, 
Mit  Sengen  und  mit  Morden. 
Wir  schrei'n  zu  dir  aus  tiefster  Not 
Der  deutsche  Name  ist  zum  Spott 
Der  schnöden  Heiden  worden. 

O  Herr,  der  uns  am  Kreuz  erlöst, 

Erlös'  uns  von  der  Hunnenpest ! 
Kyrie  eleison  I 


75  — 


Gerecht,  Herr,  ist  dein  Strafgericht ! 

Die  Schuld  ist  unser  Eigen. 

Uns  schlug  der  Feind  ins  Angesicht  — 

Wir  litten  es  mit  Schweigen. 

Wir  hatten  nicht  des  Windleins  acht, 

Und  als  der  Sturmwind  dran  erwacht, 

Ließ  mancher  Mann  sich  beugen. 

O  Herr,  der  uns  am  Kreuz  erlöst, 

Erlös'  uns  von  der  Hunnenpest ! 
Kyrie  eleison! 

Wir  flohn  den  frischen  Kampf ;  uns  war 
Ejn  iauler  Frieden  werter. 
Wir  boten  Gold  und  Geiseln  dar  — 
Der  Drang  ward  immer  härter  .  .  . 

etc. 

Es  kann  somit  »nicht  ausbleiben,  daß  Kernstock,  geadelt 
durch  seinen  Priesterberui,  auch  als  Mensch  die  allertiefste  und 
nachhaltigste  Wirkung  auf  seine  jungen  Zuhörer  ausüben  wird«. 
Wie  denn  auch  anders  ? 

Mit  uns  sind  die  himmlischen  Scharen  all, 

Sankt  Michel  ist  unser  Feldmarschall. 

Ja,  immerhin,  »einen  Augenblick  lang  wird  ja  der  Pfarrherr 
von  der  Festenburg  gezögert  haben,  seine  verträumte,  stille 
Poetenklause  im  steirischen  Wald  mit  dem  Lärm  der  Großstadt 
/u  vertauschen.  Einen  Augenblick  lang  nur  — < : 

Da    winkte    Gott    —    der  Rächer  kam. 

Das  Racheschwert  zu  zücken 

Und,    was    dem    Schwert    entrann,    im  Schlamm 

Der    Sümpfe    zu    ersticken. 

Etsch.  »Dann  wird  wohl  die  Erkenntnis  in  ihm  gesiegt  haben, 
welch  hoher  Beruf  sich  ihm  hier  erschließt,  welch  neue  Möglichkeiten 
ethischer,  künstlerischer,  kulturfördernder  Be- 
tätigung sich  ihm  hier  bieten.  Und  die  Stimme  dieser  Erkennt- 
nis wird  bald  die  Oberhand  gewonnen  haben  über  das  verlockende 
Rauschen  der  Tannenforste  um  die  Festenburg  — «,  denn: 

St. e  irische    Holzer,    holzt    mir    gut 

Mit    B ü c h s e n k o 1 b e n    die    SerbenbrutI 

Steirische    Jäger,    trefft    mir    glatt 

Den    russischen    Zottelbären    aufs    Blattl 

Steirische    Winzer    preßt    mir    fein 

Aus    We  1  s  c  h  1  a  n  d  f  r  ü  c  h  t  c  h  e  n    blutroten    WeinI 

So  schön  hat  das  die  Reichspost  g'schrieben  übern  Kemstock, 
ak,  des  niüssn  S'  lesen ! 


76 


Meine  Zusage 

Ich  habe  diese  Aufforderung  erhalten : 

Wien,  den   15.  September   1916. 
Euer  Hochwohlgeboren  I 

Der  Vorstand  des  k.  k.  österr.  Militär-  Witwen-  und  Waisenfo.ides 
gedenkt  einen  Kalender  größeren  Stiles,  der  sowohl  ein  Nach- 
schlagewerk für  alle  Bedürfnisse  des  täglichen  Lebens,  als  auch  ein 
Sammelwerk  literarischen  Inhalts  sein  soll,  noch  im  Laufe  dieses  Jahres 
herauszugeben.  Dieser  Almanach  des  k.  k.  österr.  Militär- 
Witwen-  und  Waisenfondes,  wenn  man  ihn  so 
nennen  darf,  soll  dann  jedes  Jahr  erscheinen  und  dem  der  Unter- 
stützung so  sehr  bedürftigen  k.  k.  österr.  Militär- Witwen-  und  V/aisenfonde 
eine  Quelle  ständiger  Einnahmen  sein. 

Für  den  literarischen  Teil  des  Kalenders  bitten  wir 
nun  Euer  Hochwohlgeboren  recht  herzlich  um  freundliche  Mitarbeit. 

Es  würde  uns  eine  ganz  besondere  Ehre  sein,  Euer  Hochwohl- 
geboren mit  einem  Beitrag  vertreten  zu  sehen  und  wären  für  gütige 
Überlassung  einer  literarischen  Arbeit,  welcher  Art 
immer,    sehr  zu  Dank  verpflichtet. 

Sollten  Sie  die  große  Liebenswürdigkeit  haben,  uns  durch  einen 
Beitrag  zu  erfreuen,  so  möchten  wir  um  recht  baldige 
Einsendung  des  Manuskriptes  bitten,  da  die  Zeit  zur 
Drucklegung  sehr  drängt. 

Bei  Übersendung  eines  allfälligen  Manuskriptes  aus  Ihrer  geschätzten 
Feder  bitten  wir  freundlichst  anzugeben,  welches  Honorar  wir  für 
dasselbe  überweisen  dürfen. 

Genehmigen  Sie  die  Versicherung  ausgezeichneter  Hochschätzung, 
mit  welcher  zeichnet 

Für  den  Vorstand  des 

k.  k.  österr.  Militär-Witwen-  und  Waisenfondes 

unleserlich  unleserlich 

Vice-Präsident.  Vorstandsmitglied. 

P.  S.  Alle  Zuschriften  und  Sendungen   in    dieser  Angelegenheit  wollen 

Sie   gütigst  an    die  Zentralkanzlei  des  k.  k.   österr.  Militär-Witwen-  und 

W^aisenfondes,      zuhanden      unseres     Vorstandsmitgliedes,      Hauptmann 

Paul  Siebertz,  WLn  III.  Auenbruggergasse  2  der  mit  der  Redaktion  des 

Kalenders  betraut  ist,  adressieren. 


11 


Ausdrücklich  betone  ich, 
daß  ich  sowohl  für  das  Manuskript  wie  für  einen  Nachdruck  auf 
jedes  Honorar  verzichte,  dieses  vielmehr  eben  dem  Zweck  überlasse, 
dem  das  Werk  zugedacht  ist,  und  daß  ich  sogar  so  weit  gehe, 
meine  sämtlichen  Kollegen,  die  mit  Beiträgen  vertreten  sein 
werden  und  dafür  Honorare  genommen  haben,  abgesehen  davon, 
daß  sie  schlechte  SchriftsteHer  sind,  für  unanständige  Menschen 
zu  halten,  weil  sie,  anstatt  die  Literatur  zu  verkürzen»»  und  einen 
wohltätigen  Fonds  zu  vermehren,  es  umgekehrt  gemacht  haben. 


Ein   Fachmann 
Direktor  v.  Gwinner  über  den  Krieg. 

Berlin,    16.  August. 
Der  »Lokalanzeiger«    gibt  einen  in  einer  Feldzeitung  im  Westen 
veröifentlichten    Brief    des    Direktors    der    Deutschen  Bank,    Artur    von 
Gwinner,  an  seinen  Neffen  wieder,    der  sich  mit  der  Frage  der  Kriegs- 
anleihe befaßt  .... 

Er  rät,    »den  Krieg  bis  zu    einem    siegreichen  Ende  fortzu- 
setzen«. Dieser  Goldonkel  scheint  ein  Kriegsgwinner  zu  sein. 


Wahrung  berechtigter  Interessen 

»Leutnant  Wilhelm  Frankl,  der  in  Anerkennung  seiner  hervor- 
ragenden Leistungen  als  Fliegeroffizier  nach  seiner  Beteiligung  an  den 
erfolgreichen  Luftkämpfen  südlich  von  Bapaume  am  9.  August  vom 
Kaiser  Wilhelm  mit  dem  Orden  Pour  le  m^rite  ausgezeichnet  wurde,  ist, 

wie  bereits  gemeldet  wurde,  ein  Hamburger  und  steht  im  22.  Lebensjahre 

Sein  Bruder  ist  der  Chef  des  an  der  Ecke  der 
KärntnerstraBe  und  der  Schwangasse  befindli- 
chen    Geschäftshauses,      der     mit     persischen     und 


—  78  — 


antiken  Teppichen  Handel  treibt.  Auch  Hermann  Frankl 
war  zu  Beginn  des  Krieges  eingerückt,  wurde  aber  dann  aus  dem 
Kriegsdienste  entlassen.  Er  und  seine  Umgebung  verfolgen 
mit  begreiflichem  Interesse  die  Tätigkeit  des 
jüngeren    Bruders    als    Flieger.« 


Er  stellt  sich  vor  auf  der  ersten  Seite  die  Zarin 

Wien,  19.  August. 

Alix  von  Hessen  ist  der  Mädchenname  der  Kaiserin  Maria 
Feodorowna  ....noch  in  der  Baumschule  des  Lebens 
und  bereits  in  der  Rinde  gekerbt....  Sie  ist  Kaiserin 
Maria  Feodorowna  und  darf  sich  nicht  einmal  gestehen,  daß  sie 
beim  Abschied  geschluchzt  hat....  Was  ist  aus  Alix, 
die  auch  nicht  beten  darf,  wie  die  verstorbene  Mutter  sie  es  gelehrt 
hatte,  geworden,  nachdem  sie  von  der  Politik  hinausgestoßen 
wurde  in  die  düstere  Verlassenheit  an  der  Seite  eines  Zaren- 
thrones .  .  .  .  Der  Anlaß  zu  dieser  Frage  ist  die  eigen- 
tümliche Meldung,  daß  die  Kaiserin  bis  in  die  vordersten 
Linien  der  russischen  Front,  wo  die  deutschen  Stellungen  bereits  in 
Sicht  waren,  gegangen  sei.  Vielleicht  sind  auch  jüngere  und  ältere 
Männer  aus  Hessen  in  den  Schützengräben  gewesen,  die  Maria  Feodo- 
rowna bei  dem  Besuche  auf  dem  Schlachtfelde  gesehen  hat;  vielleicht 
hat  ein  Zufall  es  gefügt,  daß  es  Freunde  aus  der  Jugendzeit 
waren,  Söhne  oderGatten  ihrerGespielinnen,  Nach- 
barskinder und  jedenfalls  Landsleute  und  Deutsche.  Alix  stand 
am  Rande  des  russischen  Drahtverhaues  und 
schaute  hinüber  nach  Wiesen  und  Feldern,  die  nur 
wenige  Meter  von  ihr  entfernt  gewesen  sind  und  von  wo  ein 
Windstoß  manchen  Laut  zu  ihr  hinübertragen  konnte,  der  ihr 
trotz  aller  Wandlungen  vertraut  bleiben  mußte  .... 

Alix  lebt  noch  in  der  Kaiserin  Maria  Feodorowna  ....  Sie 
ist  nicht  in  die  vordersten  Linien  gekommen,  um  den  Russen  zu 
beweisen  ....  Sie  wollte  nicht  zeigen,  daß  sie  ausgelöscht  habe,  was 
an  Liebe  dereinst  dem  deutschen  Volke  gehörte,  und  daß  sie 
voll  Haß  wie  eine  Russin  h  i  n  ü  b  e  r  b  1  i  c  k  e  auf  den 
Feind.  Sie  hat  sich  nicht  von  ihrer  Vergangenheit  schroff  abheben 
wollen  und  sich  vor  der  Nachwelt  mit  solchem 
Trotze,  der  jeder  Menschenwürde  gespottet  hätte,  bloßgestellt. 
Sie  ist  eine  unglückliche,  gebrochene  Frau  .  .  beständig  von  einem 
Kummer  gequält,  der  sich  in  ihren  Kopf  hineinbohrt  und  nicht 
losläßt,  bis  die  Nerven  erliegen.  Sie  hat  um  die  Gesundheit  ihres 
Sohnes  gezittert  und  mit  gerungenen  Händen  zum  Himmel 
aufgeschrien  ....  Den  Namen  konnten  die  Russen  ihr 
ausziehen,    als    wäre    er    nur  ein  Kleid.    Ein  Gebetbuch  .  . 


79 


onnten  sie  ihr  aufzwingen,  aber  das  deutsche  Gemüt  war  nicht  aus 
[ir    herauszureißen  ....    Eine    Spur    von    Alix    muß 

och  vorhanden   sein,... 

...und    schaute  hinüber    zu    den  Deutschen,  wo 

u  c  h  kostbares  Blut  fließt,  und  dachte  vielleicht  an  ihre 
iroßmutter  .  .  .  .  Den  natürlichen  Wunsch  einer  Frau,  der 
(chrecklichen  Metzelei,  der  Kümmernis  und  der  Not  ein  Ende  zu 
lachen,  traut  sich  der  Mund  nicht  auszusprechen,  weil  die  Kaiserin 
ilaria  Feodorowna  der  Alix  nicht  zu  viel  nachgeben 
I  a  r  f.  Sie  schaute  hinüber,  und  auf  ihren  verschlossenen  Lippen 
:nochle  das  Wort  vom  Frieden  schweben  .... 

.  .  .Vielleicht  haben  sie  den  Ausschnitt  eines  Salonkrieges 
;ür  sie  hergerichtet  ....  Das  langsame  Abklingen  der  Krise  .  . 
nag  in  Petersburg  nach  dem  Aufschäumen  des  Erfolges  noch 
licht  erkannt  werden  ....  Der  Zaf  hört  auf  sie,  und  Alix, 
lie  weggetauft  wurde,  ist  ihm  mehr  als  Maria  Feodorowna. 

Und  in  der  Stadt,  die  es  liest,  bricht  nicht  eine  Panik  der 
Heiterkeit  aus. 


[Er  stellt  sich  vor  auf  der  zweiten  Seite   die  Frau  König 

Wien,   19.  August. 

Der  Kapitän  der  >  Deutschland«  steht  am  Sehrohr  ....  Wie 
Gladiatoren  möchten  sie  ihn  durch  Netze  umstricken,  wie  einem  nicht 
zu  bändigenden  Pferde  möchten  sie  ihm  die  Schlinge  überwerfen,  das 
eiserne  Lasso  der  Torpedoboote,  um  ihn  zu  verderben  .... 

.  .  .  Aber  als  der  Krieg  sie  vor  die  harte  Frage  stellt, 
wählt  sie  nicht  ihn,  nicht  das  Vaterland,  das  sie  durch  ihn  erhalten 
hat,  sondern  sie  kehrt  in  ihr  England  zurück,  vielleicht  aus 
innerer  Kühle,  die  volles  Hingeben  verhindert, 
vielleicht  in  der  Hoffnung,  ihr  Gatte  werde  in  der 
Menge  verschwinden  ....  So  dämmert  sie  durch  die  Monate,  durch 
die  Jahre  des  Krieges  hin,  immer  in  der  Hoffnung,  es  wird  sich 
doch  ein  Ausgleich  ergeben  zwischen  ihrem  englischen  Ge- 
fühl und  der  Gemeinschaft  mit  dem  Gatten  .... 

Da  eines  Tages  .  .  liest  sie  ...  .  Die  erste  Regung  war  Stolz. 
Ihr  Paul  war  doch  ein  anderer  als  die  anderen  ..Der  ließ  sich 
nicht  rammen  und  nicht  erdrosseln.  Der  kannte  sein  Geschäft, 
der  hatte  auch  den  Ernst  und  den  Willen  dazu  .... 

.  .  .Fort  mit  dem  freundlichen  Bild.  England  muß  siegen  und  jeder, 
der  es  beleidigt,  ist  geächtet,  sei  es  ihr  Gatte  oder  ihr  Kind,  und 
müßte  sie  sich  auch  selbst  mit  ihrem  ganzen  Dasein  opfern  und  zu 
Grunde  gehen.     Sie  weinte. 

Dann  aber  kamen  Stunden  der  Einkehr.  Sie,  die  bisher 
in    der  steten    Arbeit    der   Tage  nur    wenig    die   Ereignisse    und    ihre 


80 


Einzelheiten  verfolgt  hatte,  vertiefte  sich  in  die 
Zeitungen....  Und  da  löste  sich  leise  etwas  in 
ihrem    Innern  .  . 

.  .  .  und  sie  blieb  doch  Angehörige  ihres  Vaterlandts, 
patriotisch  bis  in  die  Fingerspitzen,  Engländerin, 
Mutter  englischer  Kinder  I 

Englischer  Kinder?  Eben  jetzt  flogdieTür  auf 
Und  ein  Dreizehnjähriger  stürmte  mit  glühenden  Wangen  vom  Spielplatz 
herein,  packte  die  Mutter  förmlich  gewaltsam  an,  umarmte  sie  und 
schrie :  Ist  das  wahr  von  Papa?  Und  als  sie  es  bejahte,  küßte 
sie  das  Kind  noch  heftiger  und  stieß  hervor:  Ich  bin  stolz 
auf  ihn.  Sie  wollte  ihm  leise  verstandesmäßig  widersprechen,  aber  sie 
vermochte  es  nicht;  sie  neigte  ihr  Haupt  und  sah  in  die  Augen 
des  Jungen,  sah  tief  hinein  und  glaubte  auf  ihrem  Grunde  ein  neues  Bild 
aufschimmern  zu  sehen,  das  Bild  eines  reineren  gegenseitigen  Verstehens, 
einer  stärkeren  Anpassungsfähigkeit,  einer  besseren  Zukunft. 

Vielleicht  hat  sie  es  so  empfunden,  die  Gattin  des  Kapitäns 
der  »Deutschland<.  Vielleicht  wird  aus  ihrem  Erleben  die  Erkenntnis 
sich  verstärken,  daß  es  auch  im  Völkerdasein  nichts  ganz  Gradliniges 
gibt,  daß  überall  dieKreuzungsflächensichschneiden.... 
Dann  wird  sie  sich  vielleicht  in  einer  stillen  Stunde  an  ihn 
schmiegen  und  ihn  leise  fragen:  Wie  war  das  bei  der 
Rückfahrt?  Ich  habe  solche  Angst  gehabt  ....  Und  er  wird  in 
Erinnerung  an  so  viel  Arbeit  und  so  viel  Leiden  die  Augen 
schließen  und  sie  küssen. 

Ward  je  in  solcher  Laun'  ein  Weib  gefreit?  Sie  also  wird 
ihn  interviewen  und  er  wird  sie  dafür  küssen.  Und  der  Mann,  der 
unberufen    eine    Einbildungskraft   hat,    wird   sich   vorstellen  -    er 

wird  sich  vorstellen,  damit  kein  Unberufener  zuschaut. 

*  « 

* 

Ein  Korybant 

»Deutschland«,  sei  gegrüßt! 

Von   Generaldirektor  W.  Kestranek. 

Die  »Deutschland«  ist  zurückgekehrt!  Welch  tiefe  Bewegung  löste 
diese  Freudenbotschaft  aus.  Ergriffenheit,  die  nicht  mit 
der  Zunge  sprechen  kann,  sondern  sich  nur  in 
tränenfeuchten  Augen  spiegelt,  fesselt  uns  zuerst  in  ihren 
Bann;  dann  löst  er  sich  plötzlich  in  den  widerhallenden  Jubelruf:  Die 
»Deutschland«  ist  zurückgekehrt!  —  Staunen,  Bewunderung,  Dankbarkeit, 
Erhebung,  Siegesgefühl  —  alle  diese  hervorstürzenden  Empfindungen 
wühlen  unsere  bebende  Seele  mächtig  auf.  Es  straffen  sich  die 
Muskeln,  es  ballen  sich  die  Fäuste  und  unseren  Körper 
durchströmt  erhöhtes  Kraftbewußtsein,  wie  nach  einem  großen  Sieg  .... 

Prager  Eisen  muß  glänzend  stehn. 


11  — 


Das  Monument 

.  .  ,  Hier  oben  steht  Kapitän  König,  blond  und  wettergebräunt, 
in  nasses,  ölgetränktes  Lederzeug  gehüllt,  Jacke,  Hose,  Gamaschen  und 
Stulphandschuhe.  Er  ist  ein  Mann,  der  zähe  und  mutig,  mit  klarem  Kopf 
und  scharfem  Auge  tausend  Gefahren  und  Mühen  überwunden  hat  und 
sich  ihrer  Spuren  nicht  schämt.  Er  ist  auch  nicht  feierlich 
und  großartig,  sondern  einfach,  vergnügt  und  glücklich.  Er  schwingt 
ununterbrochen  die  Mütze,  wenn  ihm  zugejubelt  wird.  Er  nimmt  sein 
Sprachrohr  und  schreit  uns  ein  dreifaches  Hurra 
auf  die  neutrale,  verbündete  und  deutsche  Presse  zu. 

Sogar  interviewen  kann  man  den  Kapitän, 
wenn  auch  nur  in  der  lakonischesten  Form,  ein  amerikanischer  Kollege 
zeigt  uns  das  Kunststück. 

>Hallo,  Captain  König  I«  brüllt  er  aus  Leibeskräften, 
>wie    gefällt    Ihnen    Baltimore?* 

»Ausgezeichnet!«  schreit  König  durch  das  Sprachrohr 
zurück.   >Es  war  sehr  schön  da....< 


Einzelheiten 

...Man  fragte  weiter,  ob  der  freundliche  Empfang  in  Baltimore  nicht 
etwa  nur  der  Ausfluß  des  amerikanischen  Vergnü- 
gens   an  der  Sportleistung  gewesen  sei. 

> Keineswegs«,  erwiderte  der  Kapitän,  »es  war  ein  wirklich 
herzliches  Entgegenkommen.« 

Dutzende  Postkarten  und  Speisekarten  der  Festtafel  wurden  ihm 
zur  Unterschrift  dargereicht.  >Oho!  Ohol«  rief  er,  »das  ist  bei- 
nahe so  wie  in  Amerika.« 

Jemand  warf  dazwischen:  »Sie  müßten  sich  eine 
Sekretärin    anschaffen.« 

Lächelnd  antwortete  er:  »Ein  Sekretär  wäre  mir  lieber.  Mit 
einer    Sekretärin    weiß   man   nie,    wie    man    dran   ist.« 

»Aber  gut  sehen  Sie  aus,  Kapitän«,  sagte  ein 
anderer.  Und  König  darauf:   »Das  ist  die  Sonne  von  Baltimore.« 


Details 

Ein  Gespräch  mit  Kapitän  König. 
Mitteilungen  über  die  Fahrt  der  »Deutschland«^. 

In  einer  Unterredung    mit    unserem  Spezialberich  t 
e  r  s  t  a  1 1  e  r. 

Bremen,  25.  August. 

Ihr  Spezialberichterstatter    hatte   eine    Unterredung    mit 
Kapitän  König. 


82 


Kapitän  König  erschien  mit  Präsidenten  Lohtnann  zu  einem 
Frühstück  und  empfing  dort  eine  Anzahl  Journalisten. 

Kapitän  König  äußerte  sich  folgendermaßen : 

»...Unsere  Fahrt  verlief  sehr  gut.  Über  die 
Fahrt  selbst   kann   ich   kein  Wort   mehr  sagen.« 


Schnell  gealtert 

25.  August,  Abendblatt,  3.  Spalte  unten,  vorletzte  Zeile: 
Kapitän  König  hat  seine    erste  Fahrt    mit    dem  Handelsuntersee- 
boot »Deutschland<  nicht  als  Jüngling  gemacht.  Er  steht  heute  im  Alter 
von    50  Jahren,    hat    aber    nach    dem    Urteil    jener,    die  ihn  kennen, 
nicht  das  Aussehen  eines  älteren  Mannes. 

26.  August,  Abendblatt,  3.  Spalte  unten,  vorletzte  Zeile: 
Man  würde    diesen     49jährigen  Seefahrer,    der  jedoch   viel  älter 

aussieht,  am  ersten  für  einen  niederdeutschen  Ackerbauer  halten,  der 
von  Jugend  an  hinter  dem  Pfluge  zu  gehen  gewohnt  ist,  namentlich 
wenn  er  die  Züge  zum  Lächeln  verzieht. 


Nicht  Beethoven,  sondern  Lohmann 

»Beim  Rathause  zu  Bremen  steht,  mit  dem  Schwerte  in  der 
Hand  .  .  der  Roland,  der  Schützer  der  Freiheit  der  Gemarkung 
....  und  frei  wie  er  ist  der  Geist  geblieben,  der  im  wildesten 
Schlachtenlärm  sich  zu  Schöpfungen    des  Genies    erhebt ....«: 

Gemeint  ist  das  Handelsunterseeboot,  wiewohl  dieses  doch 
in  Konstruktion  und  Bestimmung  einigermaßen  mit  dem  wilden 
Schlachtenlärm  zu  tun  hat. 


Schlfisse  auf  Bewunderung 

Der  Eindruck  der  Fahrt  der  »Deutschland«. 

Nach  der  nämlichen  Quelle  hat  während  des  ganzen  Krieges  auf 
die  Briten  kein  Ereignis  solchen  Eindruck  gemacht,  wie  die 
Amerikafahrt  des  Handelsunterseebootes  »Deutschland«.  Als  die  Zeppelin« 
über  London  erschienen  und  Bomben  warfen,  war  zwar  die  Em- 
pörung allgemein.  Aber  allen  Zorn  durchklang  hinwieder  n  a  r 
die  Bewunderung  der  für  jede  sportliche  wagemutige  Leistung 
so  empfänglichen  Engländer.  Ihr  Verhalten  der  Reise  des  Untersee- 
schiffes gegenüber,  das  diesmal  kein  Wort  der  Bewunderung 
und    Anerkennung    aufkommen  ließ,    beweist    am    besten    den 


—  83 


ungeheuren    Eindruck  und  die  Überraschung,    die  jenseits  des 
Kanals  gerade  diese  Fahrt  hervorgerufen  hat. 

Das  ist  ein  praktischer  Maßstab.  Sind  sie  empört,  so  ist  e& 
klar,  daß  sie  voll  Bewunderung  sind.  Um  so  klarer  ist  das,  wenn 
sie  nicht  empört  sind,  aber  auch  kein  Wort  der  Bewunderung 
verlauten  lassen.  Denn  dann  sind  sie  eben  so  voll  von  Bewunderung, 
daß  es  ihnen  die  Rede  verschlagen  hat. 


Die  Ehrenbilanz 

>.  .  .  Dieser  einfache  und  schlichte  Mann,  der  die  »Deutschland« 
heimzuführen  gewußt  hat,  ist  ein  deutscher  Meister,  und  a  n  d  a  s 
Volksfest  auf  der  Festwiese  in  den  >M  e  i  s  t  e  r- 
singernt  mahnt  der  Empfang,  den  ihm  heute  seine  dank- 
baren Mitbürger  bereitet  haben.  >Ehret  eure  deutschen 
Meister,  dann  bannt  ihr  gute  Geister  I«  Im  Zeichen 
dieses  Dichterwortes  standen  die  Empfangsfeierlichkeiten,  die 
dem  Kapitän  König  und  der  Mannschaft  der  »Deutschland«  im  Hafen 
von  Bremen  zuteil  wurden. 

...Eine  Ehrenbilanz  dessen,  was  dank  der  zähen  Opfer- 
willigkeit und  dem  unentwegten  Pflichtbewußtsein  des  Kapitäns  König, 
und  der  Seinen  geleistet  worden  ist,   hat  Herr  Lohmann  gezogen  . .  .  .« 

>Paul  König,  der  Kapitän  des  Unterseefrachtschiffes  > Deutschland« 
hat  eine  Schilderung  seiner  ersten  Reise  nach  Amerika  geschrieben,, 
dieselbe  erscheint  in  den  nächsten  Tagen  im  Verlag  Ullstein  &  Co.« 


Die  Bilanz 

Ferner  hatte  Ihr  Berichterstatter  Gelegenheit,  mit  einem  der 
Direktoren  der  Deutschen  Ozeanreederei  zu  sprechen,  und  richtete  einige 
Fragen  an  ihn.    Das    Gespräch    verlief    wie    folgt: 

Frage:   >Ist  die  »Deutschland«  schon  ausgeladen?« 

Antwort:  »Die  »Deutschland«  ist  noch  nicht  ausgeladen  und  ihre 
Ladung  wird  genau  so  behandelt  werden,  wie  die  jedes  Handelsschiffes.« 

Frage:  »Sind  die  Annahmen  zutreffend,  daß  die 
Deutsche  Ozeanreederei  durch  die  Fahrt  der  > Deutschland«  einen 
Gewinn    von    mehreren    Millionen    hat?« 

Antwort:  »Diese  Frage  ist  so  einfach  nicht  zu  beantworten.  Das 
ist  ein  Geschäftsgeheimnis  der  Deutschen  Ozeanreederei. 
Aber  so  viel  kann  ich  Ihnen  sagen,  daß  wir  mit  dem: 
Ergebnisse  der  Fahrt    zufrieden    sind I« 

Frage:  »Erhalten  Kapitän  und  Mannschaft  der  »Deutschland«  eine 
besondere    Belohnung?« 

Antwort:    »Von   einer  außergewöhnlich  hohen   Belohnung   kana 


84 


■nicht  gesprochen  werden.  Kapitän  und  Mannschaft  der  »Deutschland< 
erhalten  aber  natürlich  außer  ihren  Bezügen  noch  eine  besondere  Be- 
lohnung von  uns.€ 


Der  Erfolg  der  Wikingerfahrt 

.  . .  Die  Pressevertreter  vereinigten  sich  zu  einem  Mahle  in  dem 
herrlichen  Patriziersaale  des  Alt-Bremer  Hauses. 


Was  sich  tat 

....  hatte  die  seltene  Gelegenheit  ....  als  gestern  in  dem  all- 
gemeinen Gedränge  möglich  war  ....  Seine  kräftigen,  eher  derben 
Züge  verraten  die  ländliche  Abstammung,  aber  der  kluge  Ausdruck  des 
wettergebräunten  rasierten  Gesichtes  zeigt  einen  Mann,  der  gewohnt 
ist,  sich  in  allen  möglichen  gefahrvollen  Situationen 
zurechtzufinden. 

Denn: 

Mildtätige  Hände  entzogen  ihn  der  Bedrängnis,  so  daß  er 
endlich  ein  Plätzchen  zum  Niedersetzen  fand,  wobei  er  alsbald  seiner 
Nachbarin,  dem  einzigen  anwesenden  Pressevertreter 
weiblichen  Geschlechtes,  das  für  einen  Journalisten  wenig 
tröstliche  Wort  zuflüsterte:  »Ich  darf  ja  über  meine  Reise  gar  nichts 
^agen.< 

(In  diesem  Moment  unterbricht  mich  die  Schalek  und  er- 
sucht mich  festzustellen,  daß  sie  nicht  identisch  ist.  Sie  hätte  nicht 
mitgegessen,  sagt  sie,  wenn  sie  nicht  mitgefahren  wäre ;  und  sie 
wäre  mitgefahren,  denn  mit  Gefahren,  sagt  sie,  läßt  sie  sich  immer 
ein,  und  ausruhn  tut  sie  nur  auf  Lorbeeren.) 

Natürlich  wurde  jetzt  eine  Rede  auf  den  Mann  der 
T  a  t  gehalten,  welcher  Pläne  und  Ideen  glanzvoll  verwirklicht  habe. 

Kapitän  König  nahm  die  Ansprache  entgegen,  verbeugte  sich, 
stieß  mit  an  und  meinte  hierauf  zu  seinen  engeren  Tischgenossen :  >Ich 
bin  kein  Mann  des  Wortes,  sondern  nur  Kapitän.« 

Inzwischen  war  die  Zeit  vorgerückt,  und  die  Herren  von 
der    Ozeanreederei    mahnten  zum  Aufbruch  ..  .  . 

Es  ist  eben  ein  Unterschied  zwischen  den  Männern  der  Tat 
und  den  Herren  von  der  Reederei.  Aber  die  Menge,  he,  was  tat 
sie?  Sie  harrte.  Aber  was  noch? 

....  draußen  stand  harrend  die  Menge  und  rief  > Hurra!«,  als 
<er  davonfuhr. 


—  85 


Aus  dem  Sprachschatz  des  deutschen  Bürgertums 

»Deutsches  Bürgertum  ist  es,  Millionen  aufzuwenden,, 
wenn  es  das  Höchste  gilt,  trotz  der  Unsicherheit  des  Erfolges. 
Deutsches  Bürgertum  ist  es  auch,  sich  nicht  entmutigen  zu 
lassen,  auf  immer  neue  Auskunftsmittel  zu  sinnen  und  —  wir 
haben  keinen  deutschen  Ausdruck  dafür  —  zu 
riskieren.  Was  heißt  riskieren?  Handeln  auf  eigene 
Verantwortung  .  .  .  .< 


Mann  und  Frau 

»Nein,  meine  Liebe,« 
sagte  der  Kapitän  König  zu  seiner  Frau,  die  eine  Engländerin  ist^ 
»in  diesen  schweren  Zeiten  muß  ein  jeder  treu  zu  seinem  Vaterlande 
stehen,  du  zu  dem  deinigen,  ich  zu  dem  meinigen,  wir  würden 
keiner  von  beiden  einen  Schuß  Pulver  wert  sein,  wenn  wir 
nicht  so  handelten.« 

Wie  dem  deutschen  Kapitän  das  rechte  Wort  zur  rechten 
Zeit  einfiel!  Wie  doch  die  Phrase  scheinbar  von  der  Sache  be- 
zogen ist  und  dennoch  lügt !  Wir  würden  einen  Schuß  Pulver 
wert  sein,  wenn  wir  nicht  so  handelten.  Wir  sind  aber  auch 
einen  Schuß  Pulver  wert,  indem  wir  so  handeln.  Wir  sind  in 
jedem  Falle  einen  Schuß  Pulver  wert.  Ob  diese  Menschheit  noch 
eine  Zeit  erleben  mag,  in  der  ein  Gespräch  zwischen  Mann  und 
Frau  keine  so  unerbittliche  Alternative  bedeutet? 


Seid  ihr  alle  auch  gesund? 
Jawoll,  jawoll,  jawoll ! 

Möchte  meinen  Bruder,   Israelit,  Heirat    oder    Einheirat 

gerne    glücklich    an    hübschem,    t    wünscht      tüchtiger,      mosaischer, 
bescheidenem   Fräulein    verheiratet 

sehen.    Derselbe  ist  Prokurist  und    i    jedoch  vollkommen  freidenkender 
Ingenieur  eines  größeren  Industrie-       protokollierter   Großkaufmann,    30 

Unternehmens   in  Landeshauptstadt       ,  .  ,.      ,  j 

^,-,         ,„.  -i»-    t       ■     ;    Jahre     alt,     kerngesund,     ver- 

Nähe      Wiens,       militarfrei,  '  *  ' 

zirka  160  Zentimeter  hoch,    j    mögend,       militärfrei    .    .    . 
35    Jahre,     gesund    —   —    —       Konfession  Nebensache    —  —  — 

Ein  30  jähriger  Israelit,  8000 
Kronen  Einkommen,  enthoben, 
wünscht  zu  heiraten  —  —  —  — 


86 


Die  neue  Welt 


Aus  »Hygienischen  Betrachtungen«  eines  Regimenfsarztes 
und  Dozenten  in  den  , Feldärztlichen  Blättern',  die  vom  Preß- 
bureau des  Kriegsministeriums  an  die  Tagespresse  weitergegeben 
werden : 

.  .  .  Der  Wert  dieser  Aktion  lag  nicht  allein  in  der  Entlausung 
....  Das  regelmäßige  Bad,  oft  gewürzt  durch  Kinovor- 
stellungen .  .  hatte  einen  hohen  seelischen  Einfluß  auf  die  Mann- 
schaften, hob  ihre  Leistungsfähigkeit  und  Dienstfreude.  Ein  wichtiger 
Schritt  nach  vorwärts  zur  Erhaltung  des  Mannes. 

Einzig  und  allein  die  Geschlechtskrankheiten  sind  es,  die  uns 
Sorge  machen  ....  Bedenken  wir,  daß  sich  während  dieses  Feldzuges 
wohl  schon  eine  namhafte  Anzahl  von  Soldaten  infiziert  haben,  daß  die 
Geschlechtskrankheiten  unter  der  Zivilbevölkerung  des  Kriegsgebietes 
und  namentlich  auch  des  Hinterlandes  in  unheimlicher  Weise  verbreitet 
sind,  bedenken  wir,  daß  die  Volkszahl  ohnehin  unmittelbar  durch  den 
Krieg  einen  Verlust  von  vielen  im  kräftigsten  Mannesalter  stehen- 
den Soldaten    eingebüßt    hat  —  — 

Alles  nur  zu  wahr,  sogar,  daß  der  Krieg  den  Verlust  von 
vielen  im  kräftigsten  Mannesalter  stehenden  Soldaten  mit  sich 
bringt,  nur  daß  leider  dieser  Verlust  noch  immer  nicht  eingebüßt 
wurde.  Und  nun  werden  die  Mittel  zur  Bekämpfung  und  Ver- 
hütung der  Geschlechtskrankheiten  angeführt,  mit  denen  fertig 
zu  werden  eher  einem  Zauberlehrling  hätte  gelingen  können, 
wenn  er  sich  die  Abwesenheit  des  Meisters  zunutze  gemacht  hätte 
um  einen  Weltbrand  loszulassen.  Er  hat  aber  lieber  mit  dem 
Wasser  gespielt,  weil  er  eben  doch  mehr  Phantasie  gehabt  hat 
als  die  ganze  Diplomatie  der  Welt.  Um  nun  wenigstens  wie  der 
andere  Diplomat  in  der  Fabel  die  Quelle  bei  Donau-Eschingen'^mit 
dem  Finger  zuzuhalten,  versucht  die  offizielle  Welt  allerlei  Mittel 
gegen  die  Syphilis  und  sie  gerät  dabei  endlich  so  weit,  die 
Staatsgrundgesetze  der  Sittlichkeit  aufzuheben  und  einen  Aus- 
nahmszustand  der  Schamfreiheit  anzuerkennen.  Not  lehrt  lieben. 
Wie  aber  drückt  sich  das  in  der  Sprache  der  ofiiziellen  Welt  aus? 
Wie  sagt  es  der  Regimentsarzt? 

Wirhaben  Bordelle  mit  einwandfreiem  Material 
unter  strengster  militärischer  Kontrolle  etabliert 


—  87 


und    verteilen    soweit    es    nur    geht,     unentgeltlich    Prophylaktika    an 
Offiziere  und  Mannschaften. 

Welch   ein  Umschwung  welcher  Welt!  Nein,  diese  Freiheit 
meine    ich    nicht! 


Einen  bemerkenswerten  Verlauf  nahm 

Hätte  sich  ein  Siriusbewohner  das  vorstellen  können,  daß 
zwischen  den  irdischen  Schlachtbänken  mit  einer  täglichen 
Lieferung  von  Zehntausenden  noch  drei  Spalten  für  den  Ehebruchs- 
prozeß des  73jährigen  kaiserlichen  Rates  Anton  H.  übrig  bleiben 
würden?  Für  die  Erörterung,  ob  M.  M.,  wie  der  73jährige 
Angeklagte  behauptet,  nur  »Mrs.  Mary«  bedeute  oder  wie  der  Richter 
argwöhnt,  »Meine  Mutz«?  Ob  er  sie  in  das  nahe  Hotel  nur  geführt 
habe,  >damit  sie  sich  dort  auf  das  Bett  legen  und  ausruhen  könne«, 
oder  zu  demselben  Zwecke?  Ob  der  Richter  recht  hat  mit  der 
Mahnung,  daß  es  viel  näherliegend  gewesen  wäre,  ein  Auto  oder 
einen  Wagen  zu  nehmen  und  die  Frau  in  ihre  Wohnung  zu 
führen,  oder  der  73jährige  Angeklagte  mit  der  Versicherung,  daß 
es  in  der  gegenwärtigen  Zeit  vergeblich  gewesen  wäre,  ein  Auto 
oder  einen  Wagen  zu  finden  —  eine  Frage,  die  der  Siriusbewohner 
zu  Gunsten  des  Angeklagten  entscheidet,  da  er  sich  oft  über  das 
Geschrei  einer  ganzen  Stadt  nach  dem  einen  vorüberfahrenden 
»Auto!«,  auf  das  sämtliche  Arme  und  Schirme  weisen,  beklagt  hat 
und  da  es  ihm  auch  bekannt  ist,  daß  der  Chauffeur  des  zweiten, 
stehenden  Autos  wie  einer,  der  seine  Pflicht  hienieden  bereits 
erfüllt  hat,  den  Verzicht  stöhnt:  »Hob  ka  Luuft!«,  während  sie  in 
London  bekanntlich  durch  andauernden  Automobilverkehr  beweisen, 
daß  sie  mit  dem  Krieg  tändeln.  Zum  Herzen  gehend  in  dieser 
schweren  Zeit  ist  die  Erinnerung  des  Richters,  daß  er,  der 
73jährige  Angeklagte,  bei  seinem  Bildungsgrade  und  seiner  sozialen 
Stellung,  also  als  kaiserlicher  Rat,  hätte  wissen  müssen,  daß  man 
eine  Frau,  die  zwar  leidend,  aber  anständig  ist,  nicht  in  ein  Hotel 
führe,  weil  dies  entweder  ihren  Ruf  »auf  das  höchste  gefährden« 
oder  die  Gefühle  des  Gatten  »auf  das  höchste  verletzen«  müsse. 
(Goldene  Worte.  Immer  ist  die  Welt  von  neuem  erschaffen,  ehe  sie 


88  — 


vors  Bezirksgericht  kommt,  und  siehe,  es  ist  das  erste  Gspusi,  das 
sich  bis  dato  ereignet  hat,  nicht  nur  im  Weltkrieg,  sondern  seit 
Erschaffung  der  Welt,  und  darum  mit  frischem,  unverbrauchtem  Pathos 
anzugehen.)  Warum  er,  um  Gotteswillen,  es  ist  einfach  unfaßbar,  nicht 
wenigstens  nachher  dem  Gatten  das  Ganze  erzählt  habe,  da  hätte 
er  ihm  doch  sagen  können;  »So,  da  hast  du  deine  Frau,  bedanke 
dich  bei  mir!«  Auf  weiteres  Befragen  gibt  der  73jährige  Angeklagte  an, 
daß  seine  eigene  Frau  63  Jahre  alt  ist.  Er  selbst  ist  73  Jahre  alt. 
Die  angeklagte  Frau  behauptet  natürlich,  daß  nichts  Unrechtes 
vorgefallen  sei,  das  kennt  man.  Sie  wird  scharf  ins  Verhör 
genommen,  sie  ist  auf  dem  Sprung,  einen  Lebenswandel  geführt 
zu  haben.  Sie  weist  es  von  sich.  Ihr  Vater  war  an  dem  Tag  todkrank, 
er  wurde  operiert,  da  werde  sie  doch  nicht.  Der  Richter  fragt  sie, 
ob  sie  sich  nicht  bewußt  gewesen  sei,  daß  eine  anständige  Frau  »mit 
einem  andern  Mann«,  nämlich  einem  andern  als  dem  Gatten,  nicht 
in  ein  solches  Quartier  gehen  darf.  Und  dann  das  mit 
dem  Brief,  wo  Mutz  oder  gar  Mutzi  steht.  Und  noch  ein 
dunkler  Punkt.  Auf  dem  Weg  ins  Hotel,  das  haben  zwei  Privat- 
detektivs erhoben,  im  Westbahnpark,  soll  er  sie  geküßt  haben. 
Das  ist  nicht  wahr.  Der  Angeklagte  ist  73  Jahre  alt,  schwerhörig, 
er  hat  sich  herabbeugen  müssen,  was  in  der  Dunkelheit  von  den 
Detektivs  als  Kuß  gedeutet  worden  sei.  Nun  kommt  der  spannende 
Moment.  Es  wird  sich  zeigen.  >  Der  Richter  läßt  die  beiden  Angeklagten 
sich  nebeneinander  stellen  und  konstatiert,  daß  der  viel  größere  Mann 
sich  zu  der  Frau  herabbeugen  muß,  wenn  er  mit  ihr  spricht.«  Während 
nun  der  Privatdetektiv  Max  Neumann  entschieden  erklärt,  daß  sich 
die  beiden  geküßt  haben,  läßt  Wenzel  Dimek  die  Möglichkeit 
offen,  daß  er  sich  wegen  der  Dunkelheit  getäuscht  habe.  Die  Ver- 
teidigung macht  geltend,  daß  der  Touristenanzug  des  73jährigen 
Angeklagten  —  mit  Rucksack  —  dagegen  spreche,  daß  er  auf  ein 
galantes  Abenteuer  ausging.  Und  schon  gar  nicht  sei  es  der  Frau 
zUSUrftuten.weil  sie  ihrerseits  wieder  vom  Krankenbett  des  Vaters  kam. 
Das  macht  auf  den  Bezirksrichter  Mihatsch  Eindruck  und  er  nimmt 
nicht  Ehebruch,  wohl  aber  Verletzung  der  ehelichen  Treue  an, 
was  fünfzig  Kronen  kostet.  Die  Begründung  ist  interessant.  Der 
Richter  hob  hervor,  und  man  kann  sich  denken,  daß  er  selbst 
von  der  Bewegung,  die  im  Auditorium  entstand,  fortgerissen 
ward,  »er  halte  es   für  unmöglich,    daß  eine   Frau   einen   solchen 


89 


Grad  von  Herzlosigkeit  und  Gefühlsroheit  haben  sollte,  daß  sie 
vom  sterbenden  Vater  weg  in  die  Arme  des  Geliebten  eilen  sollte, 
einem  zärtlichen  Abenteuer  entgegen.  Dies  erscheine  dem  Richter 
horrend,  unmenschlich  und  unglaublich.  Den  Kuß  hält  der  Richter 
gleichfalls  für  nicht  erwiesen,  da  bei  dem  horrenden  Straßenlärm, 
der  gerade  an  der  Westbahn  herrscht,  es  glaublich  sei,  daß  der 
Angeklagte,  selbst  wenn  er  nicht  schwerhörig  wäre,  sich  zu  der 
Frau  herabbeugen  mußte,  um  sich  mit  ihr  zu  verständigen.«  Da- 
gegen das  Hotel  und  Mutz,  das  seien  Dinge,  die  einer  anständigen 
Frau  unwürdig  sind.  Mihatsch  neigt  also  bezüglich  des  Kusses  der 
Auffassung  Dimeks  zu.  Treffend  ist  die  Bemerkung,  daß  die  Mög- 
lichkeit, eine  Frau  könnte  vom  sterbenden  Vater  weg  in  die  Arme 
des  Geliebten  eilen,  ebenso  horrend  ist  wie  der  Straßenlärm  bei 
der  Westbahn.  Beide  Übel  werden  sich  aber  auch,  solang'  die  Welt 
steht,  nicht  aus  derselben  schaffen  lassen.  Freilich  könnte  man  von 
einem  Bezirksrichter  verlangen,  daß  er  zwar  pferdepeitschende 
Fuhrknechte  fleißiger  abstrafe,  aber  sich  nicht  als  Vorsitzender 
des  Weltgerichts  gebärde,  daß  er,  solange  diese  Welt  sich  mit 
Trommelfeuer,  Bomben  und  giftigen  Gasen  die  Zeit  vertreibt, 
sich  bei  moralischen  Wertungen  einige  Bedenkfrist  offen  lasse 
und  unter  den  unmenschlichen  Dingen,  die  ihm  heutzutag  bekannt 
werden,  sich  nicht  allzu  lange  und  gewichtig  bei  Privatangelegen- 
heiten aufhalte,  die  immer  menschlicher  sind  als  alles  was  von 
Staatswegen  geschieht.  Unsittlicher  als  die  Begebenheit,  über  die 
im  Chaos  öffentlich  rechtzusprechen  kein  Kriegsparagraph  bisher 
verboten  hat,  ist  das  Interesse,  das  dadurch  genährt  wird,  und 
der  Heißhunger,  mit  dem  sich  eine  von  Not  und  Tod  unberührte 
Gesellschaft  auf  die  »Ehebruchsklage  gegen  einen  73jährigen  Mann« 
wirft,  ist  unter  allen  Scheußlichkeiten  einer  Zeit,  die  die  Stirn  in 
Eisen  hat,  sich  die  große  zu  nennen,  das  Scheußlichste.  Wenn 
ich  vorn  in  drei  Zeilen  sehe,  daß  vor  unseren  Stellungen  ein  Wall 
von  Leichen  aufgetürmt  ist,  und  hinten  in  drei  Spalten  dieses  Hoch- 
gericht über  Mutz  und  ihren  Alten,  so  bin  ich  auch  ein  Richter 
und  weiß,  daß  nicht  die  Dinge,  sondern  die  Kontraste  mir  horrend, 
unmenschlich  und  unglaublich  erscheinen. 


90  — 


Von  der  Behelligung  der  Öffentlichkeit 

Hat  der  Gerichtssaalreporter  dem  öffentlichen  Interesse  durch 
drei  lange  Spalten  Rechnung  getragen,  so  kommt  der  alte  Sach- 
verständige für  Liebeshändel,  der  beliebte  Faun  Wittmann,  ein 
73  jähriger  Zeuge,  ein  rechtes  Sonntagskind,  an  dessen  Wiege,  es 
war  natürlich  auch  an  einem  Sonntag,  sich  die  Charitinnen  und  die 
sympathischen  Masseusen  ein  Rendezvous  gegeben  haben,  und 
spendet  noch  acht  Feuilletonspalten.  Dieser  muntere  Seifensieder, 
der,  nicht  ahnend  die  Gefahren,  welche  die  Heimkehr  des  Reservisten 
über  Familie,  Nation  und  Menschheit  heraufbeschwört,  scherzhaft 
die  an  und  für  sich  ekelhafte  Fortpflanzungspolitik  befürwortet 
hat,  ergänzt  die  Leistung  des  Reporters,  um  sich  unter  dem  Vorwand 
der  Mißbilligung  einer  Ehebruchsjudikatur  über  den  Fall  noch 
breiter  ausschmusen  zu  können,  natürlich  nicht  ohne  Seitensprünge 
in  jenes  ihm  geläufige  Memoirengebiet,  wo  der  Graf  de  Stainville 
seine  Gattin  einsperrt  und  der  Herr  de  Gramont  der  seinen 
Schranken  auferlegt,  weil  ja  die  hausmeisterische  Dürftigkeit  unseres 
Lasters  die  Zutat  aus  jenen  Zeiten,  in  denen  es  noch  einen  »Alkoven« 
gab,  gern  hat.  Das  Übel,  das  der  Gerichtsfall  entschleiert 
hat,  war,  wie  auch  unser  alter  Vokativus  erkennt,  nicht  die  Ge- 
schlechtssünde, sondern  deren  Kriminalität  und  viel  mehr  noch 
als  diese  deren  Publizität.  Er  hat  also,  wofern  er  nicht  selbst  zu 
ihr  beiträgt,  ganz  recht.  Wenn  Vorfälle,  die  sich  in  einem  Hotel- 
zimmer abgespielt  haben,  bloß  noch  ein  Gerichtszimmer  passieren 
müßten,  so  würden  wir's  ja,  so  trostlos  der  Eingriff  in  die  Mensch- 
lichkeit ist,  hinnehmen.  Der  Abscheu  setzt  erst  bei  den  offenen  Türen 
des  Gerichtszimmers  ein  und  bei  der  Arbeit,  die  man  die 
Aasgeier  des  Interessanten  verrichten  sieht  und  die  schon  im 
tiefsten  Frieden  ein  Verdruß  war.  Was  soll  man  aber  dazu  sagen, 
daß  in  demselben  Blatte,  das  den  Fall  ausgewalkt  hat  und  das  wie 
kein  anderes  solche  pikante  Abstecher  aus  dem  weltpolitischen 
Qemauschel  liebt,  nachträglich  die  Sätze  erscheinen  können: 

....  Doch  seither  ist  die  Welt  größer,  Wien  eine  Zweimillionenstadt 
geworden  ....  Um  die  tausende  Möglichkeiten  ehelicher  Treuverletzung, 
um  jeden  kleinen  Riß  und  Biß  hat  sich  das  Gesetz  wirklich  nicht  zu 
kümmern.  Alle  diese  ekelhaften  Familienskandälchen 
schon  von  der  Schwelle  des  Gerichtes  abzuweisen, 
sollten  Mittel  und  Wege  gefunden  werden.  Sie  gehören  höchstens  in 
einen  Scheidungsprozeß,  der    hinter    verschlossenen    Türen 


geführt  wird.  Was  erwarten  denn  eigentlich  die  eifersüchtigen  Männer 
oder  Frauen,  wenn  sie  die  Öffentlichkeit  mit  ihrem 
häuslichen  Jammer  behelligen?  Ihr  Glück  ist  dahin,  die 
l^iebe  verflogen,  und  nur  einen  Wunsch  haben  sie  noch,  den,  sich  zu 
rächen.  Ist  aber  die  Staatsgewalt  dazu  da,  dem  einzelnen  bei  Befriedigung 
seines  Rachedurstes  Handlangerdienste  zu  leisten? 

Nein,  aber  die  Presse  ist  dazu  da.  Sie  kann,  wenn  sie  eine 
nir  nicht  gerade  verschlossen  findet,  nicht  draußen  bleiben.  Sie 
muß  hinein.  Kein  Mensch  außer  den  Beteiligten  und  ein  paar 
(jerichtssaalschmarotzern  würde  etwas  von  den  Dingen,  die 
die  Zeitung  so  ekelhaft  findet,  erfahren.  Darum  müssen  sie  in  die 
Zeitung  kommen,  damit  die  größere  Welt,  die  Zweimillionenstadt 
auch  etwas  davon  hat.  Und  nachdem  es  geschehen  ist,  müssen  sich  die 
Beteiligten,  die  ihr  Ehebruch  schließlich  immer  noch  mehr  angeht  als 
Herrn  Wittmann,  von  der  Zeitung  nachsagen  lassen,  daß  s  i  e  die 
Öffentlichkeit  mit  ihrem  häuslichen  Jammer  behelligen.  Und  es 
geschieht  ihnen  schließlich  recht,  wenn  sie  auf  diesen  Vorwurf 
nicht  die  Antwort  finden,  daß  sie  den  Reporter,  der  ins  Qerichts- 
zimmer  gekommen  ist,  und  den  Feuilletonisten,  der  ihnen  daraus 
einen  Vorwurf  macht,  mit  einem  und  demselben  nassen  Fetzen 
traktieren. 


Es  gibt  noch  Richter  in  Ungarn 

Heirat! 

Bin  50  Jahre  alt,  kalh.,  S  e  n  a  t  s- 
präsident  eines  Ober- 
gerichtes, mit  15.000  K 
jährl.  Gehalt,  habe  Aussicht,  in 
Kürze  in  die  Rangsklasse  mit 
24.000  K  jährl.  Gehalt  vorzu- 
rücken, bin  vollk.  gesund  und 
rüstig,  hoffähig.  Meiner  Gattin 
werde  ich  der  liebevollste  und 
zärtlichste  Genosse  u.  Lebens- 
gefährte sein,  wie  es  eben 
unter  Gebildeten  ent- 
spricht. Näheres  unentgelt- 
lich bei  Franz  Davidovics, 
Budapest,  Visegradi-utca    23. 


92 


Einen  feschen  Ministerialsekretär  hat  er  auch 
Ministerlalsekretär 

in  Wien,  40  Jahre,  kath.,  ledig, 
Einkommen  10.000  Kronen, 
Vermögen  60.000Kronen,  von 
sehr  vorteilhaftem,  feschen 
Äußeren,  wünscht  geb.  Dame 
mit  mäßigem  Vermögen  zu 
heiraten.  Näheres  diskret  bei 
Franz  Davidovics,  Budapest, 
Visegradi-utca  23. 
*  * 

Phryne  und  Müller 

(Die    Arlistin    im  Eva-Kostüm.)     Die    Artistin  Hilda  St 

erschien  im  Vormonate  in  einem  Kaffeehause  in  der  Alleegasse  auf  der 
Wieden,  angetan  nur  mit  einem  Regenmantel.  Da  ihre  Kleidung  bei 
den  anderen  Gästen  natürlich  Anstoß  erregte,  wurde  die  St.  zur 
Polizei  gebracht  und  dort  fand  man  in  der  Tasche  des  Regenmantels 
ein  von  einem  Herrn  unterschriebenes  Rosabriefchen,  auf  welchem  die 
Worte  zu  lesen  waren:  »Liebe  Hilda!  Komme  heute  in  derselben 
Toilette  in  das  Kaffeehaus,  in  welcher  Du  neulich  bei  mir  gewesen 
bist.<  —  Zur  gestrigen  Verhandlung  vor  dem  Bezirksgericht  Margareten 
war  die  Artistia  nicht  erschienen.  Da  sich  ihre  persönliche  Einvernahme 
als  dringend  notwendig  erwies,  beschloß  der  Richter  die  Vertagung 
und  ordnete  für  den  Fall,  als  Hilda  St.  auch  zur  nächsten  Verhandlung 
nicht  kommen  sollt«,  deren  Vorführung  an. 

Die  Vorladung  dürfte  kaum  die  Bitte  enthalten  haben,  in 
derselben  Toilette  bei  Gericht  zu  erscheinen,  in  welcher  sie 
neulich  im  Kaffeehaus  erschienen  ist.  Denn  die  Zeiten,  wo  Phrynen 
auf  Bezirksrichter  Eindruck  gemacht  haben,  sind  vorbei.  Was  hin- 
reichend aus  der  Tatsache  hervorgeht,  daß  der  Freispruch,  den  der 
Richter  in  der  Schlußverhandlung  gefällt  hat  und  gegen  den  weit 
weniger  einzuwenden  ist  als  gegen  die  Publizierung  des  Ereignisses, 
Entrüstung  hervorgerufen  hat,  und  eine,  die  sich  sonderbarerweise 
in  Zuschriften  an  mich  Luft  macht.  Ein  deutscher  Mann,  der  tat- 
sächlich »Friedrich  Müller«  heißt  und  mir  versichert,  daß  meine  letzte 
Vorlesung  »alle  Veranstaltungen  in  unserem  lieben  Nürnberg  weit 
übertraf«  —  was  ich  nicht  erwartet  hätte  — ,  meint,  daß  das 
Empfinden  jedes  sittlich  denkenden  Menschen  auf  das  tiefste  ver- 
letzt sei. 

Ich  hoffe  zuversichtlich,  daß  es  der  Meisterschaft  Ihrer  Kritik 
gelingen  wird,  einen  Richter    des    uns    verbündeten    Staates 


93  — 


in  Hinkunit  davon  abzuliallen,  gegen  solch  schamloses  Treiben  in  dieser 
ernsten  Zelt  mit  einem  Freispruche  vorzugehen.  In  der  Hoffnung,  die 
Angelegenheit  vor  das  richtige  Forum  hiemit  gebracht  zu  haben,  zeichne 
icii  Euer  Hochwohlgeb.  ganz  ergebener  .... 

Es  scheint  eine  Verletzung  der  Nibelungentreue  ultra  dimidium 
vorzuliegen.  Der  Bürger  des  uns  verbündeten  Staates  hat  sich  in 
dem  Forum,  vor  dem  er  sie  belangt,  nicht  getäuscht.  Wenn  das 
Schreiben  selbst  fingiert  wäre,  so  gäbe  es  doch  das  Bild  jener  vor- 
handenen Gesinnung,  die  mich  als  Richter  dauernd  davon  abhält, 

gegen  die  ernste  Zeit  mit  einem  Freispruch  vorzugehen. 

*  « 

Pranger  und  Presse  in  Preußen 

In  Berliner  Blättern  heißt  es: 

An  den  Pranger.  Der  Amtsvorsteher  von  Berlin-Britz  gibt 
öffentlich  bekannt,  daß  wegen  würdelosen  Verhaltens  gegenüber 
russischen  Gefangenen  die  Ehefrau  Bertha  Panzer  geb.  Reinhardt 
zu  Britz,  Bürgerstraße  32  wohnhaft,  auf  Anordnung  des  Oberkommandos 
in  den  Marken    ernstlich    verwarnt    worden    ist. 


Was  die  Behörde  bewilligt 

(Ein  bedenklicher  Kaffeehausbesuch.)  Die  Private  Rosa  K 

ein  20jähriges  hübsches  Mädchen,  wurde  vor  einiger  Zeit,  als  sie  gegen 
Mitternacht  das  Cafe  Ankerhof  am  Hohen  Markt  verließ,  von  einem 
Polizeiagenten  verhaftet  und  dem  Bezirksgericht  Josefstadt  unter  dem 
Verdachte,  ohne  behördliche  Bewilligung  dem 
liederlichen  Lebenswandel  sich  ergeben  zu  haben, 
eingeliefert.  .  .  . 

Es  ist  eine  alte  Geschichte,  aber  so  schön  stoßen  auf 
dem  Felde  von  Sittlichkeit  und  Krimina' ität  die  Begriffe  selten 
zusammen,  wie  hier,  wo  die  behördliche  Bewilligung  zur  Lieder- 
lichkeit vermißt  wird.     Die  Behörde   bewilligt,   liederlich  zu  sein, 

aber  sie  bewilligt  nicht,  liederlich  zu  sein,  ohne  daß  sie  es  bewilligt. 

*  « 

Das  entschleierte  Bild  der  Sais 

Dem  Paul  Lindau,  einem  alten  Schwerenöter  von  Beruf,  ist 
es  geglückt,  den  Schleier  der  Sais  zu  lüften. 

» —  —  und  kaum  hatte  ich  den  Schleier  der  Sais  ein  wenig 
gelüftet  —   — < 

Der  alte  Mann,  der  in  Berlin  eine  ähnliche  delikate  Tätigkeit 

ausübt    wie    der    Kollege    Wittmann    in  Wien    und  Schulter    an 


94 


Schulter  mit  diesem  in  angenehmen  Erinnerungen  schwelgt,  muß 
eine  rechte  Freude  dabei  gehabt  haben.  Zwischen  dem  verschleier- 
ten Bild  zu  Sais,  der  Hetäre  Lais  und  dem  Schleier  der  Maja 
hatte  sich  ihm,  >der  schon  manchen  Grad  mit  schnellem  Geist 
durcheilt  hatte«,  eine  erotische  Verbindung  eingestellt,  der  er  restlos 
verfallen  war,  so  daß  er  nicht  nur  seine  Gesittung,  sondern  auch 
seine  Bildung  dabei  verleugnen  mußte.  »Besinnungslos  und  bleich, 
so  fanden  ihn  am  andern  Tag  die  Priester  am  Fußgestell  der 
Isis«,  was  sag'  ich,  der  Sais,  der  Mais,  nein  der  Laja,  ausgestreckt. 
Zu  seiner  Entschuldigung  könnte  er  höchstens  sagen,  daß  er  der 
Versuchung  der  Neuen  Freien  Presse,  in  deren  Hause  ihm  das 
passiert  ist,  erlegen  war,  wo  es  bunt  zugeht  und  kurz  zuvor  eine 
Laufkatze  Junge  gekriegt  hatte. 


Die  Schalek  und  der  einfache  Mann 

Zwischen  der  Schalek,  die  an  der  Tiroler  Front  empfind- 
liche Rückschläge  erlitten  hat  und  nachdem  es  ihr  gelungen  war 
in  einen  Teil  unserer  Schützengräben  einzudringen,  gleich  darauf 
wieder  hinausgeworfen  wurde,  ja  einmal  auch  knapp  vor  unseren 
Artilleriestellungen  einen  strategischen  Rückzug  antreten  mußte, 
zwischen  der  Schalek  und  einem  dort  beschäftigten  Kanonier  halte  sich 
ein  Dialog  entsponnen.  Sie  wollte  hinausgehen,  dort  wo  der  ein- 
fache Mann  ist,  der  namenlos  ist,  und  fragte  den  Kanonier,  dessen 
Aufgabe  es  ist,  am  Mörser  den  (im  Hinterland  jetzt  raren)  Spagat  an- 
zuziehen, was  für  Empfindungen  er  dabei  habe.  Der  einfache  Mann  an 
der  Front  verstand  nicht.  Da  wollte  die  Schalek  wissen,  was  für  Er- 
kenntnisse er  habe.  Auch  dies  verstand  der  einfache  Mann  nicht, 
der  nur  so  viel  verstand,  daß  eine  Frau  die  Frage  an  ihn  richtete, 
wiewohl  er  nicht  verstand,  wie  das  möglich  sei.  Er  sah  die  Schalek 
an  und  schwieg  betroffen.  Da  sagte  die  Schalek:  »Ich  meine,  was 
Sie  sich  dabei  denken,  wenn  Sie  den  Mörser  abfeuern,  Sie  müssen 
sich  doch  etwas  dabei  denken,  also  was  denken  Sie  sich  dabei?« 
Da  verstand  der  einfache  Mann,  der  namenlos  ist,  und  sagte  die  Worte: 
>Gar  nix!«  Da  wandte  sich  die  Schalek  enttäuscht,  und  ging 
weiter  die  Front  ab.  Der  einfache  Mann  aber  wurde  strafweise 
nicht  genannt. 


Das  ist  mein  Wien,  die  Stadt  der  Lieder 

Das  Witzblatt,  dessen  fachlicher  Humor  die  so  zeitgemäße 
Verbindung  von  Dreck  und  Feuer  ist,  bringt  von  einem  seiner 
Handwerker  eine  Karikatur  der  Königin  von  Rumänien  und  von 
einem  seiner  Mundwerker  den  Text  dazu: 

»Ich  lasse  mich  grundsätzlich  mit  Lilien  photographieren.  Die 
geben  einen  prachtvollen  Kontrast  zu  meinem  politischen  und 
sexualen  Leben.« 

Keine  Hundspeitsche  würde  sich  auf  solches  Niveau  herab- 
lassen wollen.  Das  muß  auch  der  einfachste  Mann  an  der  Front 
zugeben,  dem  bis  dahin  die  Unterscheidung  von  Humor  und 
Niedrigkeit  noch  nicht  in  allen  Fällen  geglückt  wäre.  Denn  die 
(jemeinheit  besteht  nicht  in  ihr  selbst,  sondern  in  der  Bereitschaft, 
sie  auszusprechen,  wenn  es  infolge  einer  politischen  Wendung 
erlaubt  ist  und  die  Neutralität  eines  Staates  die  Beschmutzung  seiner 
Königin  nicht  mehr  verbietet. 


Daß  sie  die  wehrlosen  Orts- 
genossen dieser  Schande  gewesen  sind!  Diese  ehrvergessene  Stadt, 
die  die  Auswucherung  ihres  heiligen  Schubert  durch  Operetten- 
konsortien zuläßt  und  unterstützt  und  schon  darum  allein  Pest 
und  Bomben  verdient  hat;  die  einem  leichenphotographierenden 
Weib  in  den  Konzertsaal  nachläuft  und  es  zwar  schicklich  findet, 
(laß  die  »alleinstehende  Frau«  an  die  Isonzofront,  aber  unschicklich, 
daß  sie  ins  Kaffeehaus  geht;  die  ihre  Zahlkellner,  ihre  wahrsten 
Kulturrepräsentanten  beauftragt,  in  der  Epoche  der  Truppentranspoi  te 
den  Mangel  an  »Herrenbegleitung«  zu  beanstanden  -  dieses  Wien 
ist  offenbar  von  einem  Dämon  dazu  verdammt  worden,  nicht 
unterzugehen,  sondern  im  Gegenteil  täglich  sich  selbst  zu  ertragen, 
sich  hören  zu  müssen,  sich  sehen  zu  müssen,  und  die  bitterste  aller 
Schickungen  durchzuhalten    -  sein  eigenes  Dasein  ! 


9G 


Auf  der  Suche  nach  dem  Menschen  im  Heros 


Der  Auswurf  der  gewiß  nicht  planetreinen  europäischen 
Bevölkerung,  also  die  Presse,  ist,  abgesehen  von  der  kleinen 
Meinungsverschiedenheit,  die  zum  Völkerblutbad  geführt  hat, 
völlig  einig  in  dem  Verlangen  nach  mehr  Preßfreiheit,  die 
bekanntlich  eine  der  kostbarsten  Errungenschaften  der  Menschheit 
bedeutet  und  von  dem  Oute  der  menschlichen  Freiheit  als  solcher 
nicht  zu  trennen  ist.  Wiewohl  nun  das  Recht,  Mensch  zu 
sein,  nicht  das  geringste  mit  der  Meinungsfreiheit,  wie  sie  die 
Wegelagerer  des  Fortschritts  propagieren,  zu  schaffen 
hat  und  man  sich  die  vollkommenste  Verfügung  über  die  Lebensgüter 
recht  wohl  ohne  eine  tägliche  Presse  vorstellen  könnte,  wird  dem  Volk 
der  unauflösliche  Zusammenhang  alles  dessen,  was  der  Mensch  vom 
Leben  zu  fordern  ein  Recht  hat,  mit  einer  unzensurierten 
Journalistik  so  tief  eingeleitartikelt,  daß  man  sich  wirklich  eher 
Malkontente  in  einer  presselosen  Zeit  als  in  einer  brotlosen  vor- 
stellen könnte.  Mehr  denn  je  wagt  es  diese  Profession  von 
Tagdieben,  die  ihren  Beruf  verfehlt  haben,  geistige  Freiheit  in 
Verbindung  mit  dem  Amt  zu  bringen,  die  Menschenwürde 
täglich  ungestraft  zur  Kanaille  zu  machen.  Daß  eine  Staats- 
anwaltschaft Nachrichten  verbietet  oder  Kom- 
mentare, derenLektüre  vielleicht  keinenSchaden 
am  Staatsinteressebewirken  würde,  deren  Unter- 
drückung aber  dort  keinen  edleren  Teil  verletzen 
kann,  wird  nur  so  laut  beklagt,  um  dieLeserschaft 
vergessen  zu  machen,  daß  eine  Kulturanwalt- 
schaft fehlt,  die  alles  das  zu  verbieten  hätte,  was 
jene  noch  erlaubt.  Die  sittliche  Verfassung,  in  der  diese 
Gemeinschaft  Anklagen  gegen  die  Zensur  erhebt,  wird  kaum  besser 
als  durch  die  Schrankenlosigkeit  der  Befugnisse  illustriert  werden 
können,  die  sie  sich  tagtäglich  gegen  die  Überreste  unserer  Scham 


97 


und  unserer  Vernunft  herausnimmt.  Auf  einer  einzigen  Seite  drängen 
sich  täglich  hundert  Beispiele,  die  solches  Übermaß  an  Freiheit  be- 
weisen wollen.  Aber  keines  hat  in  den  letzten,  ach  so  reichen  Kriegs- 
wochen so  gellend  nach  Beachtung  gerufen  wie  der  Entschluß  des 
Herrn  Arpäd  Pasztor,  Sonderberichterstatter  des  »Az  Est«  — 
totenübel  wird  einem  schon  vor  der  Fülle  der  Abenteuer,  die 
solche  Namens-,  Berufs-  und  Firmenverbindung  enthält  — ,  also  der 
Entschluß  dieses  Mutigen,  »Casement  in  Berlin«  für  das  , Berliner 
Tageblatt'  auszuforschen,  Nachdruck  verboten.  Er  macht  sich  auf 
den  Weg,  den  Lebensspuren  des  Mannes  nachzugehen,  der  den 
Märtyrertod  gestorben  ist,  um  den  Würmern  die  Gelegenheit  zugeben. 

In  Berlin  verweilend  fiel  mir  ein  :  Wäre  es  nicht  zweckmäßig,  fern 
von  der  Politik  einen  Mann  zu  suchen,  der  ihm  nahestand,  oder  die 
Erinnerung,  die  von  ihm  zurückblieb,  oder  vielleicht  die 
Hotels  aufzusuchen,  wo  er  lebte,  die  Frau,  für  die  er 
vielleicht  Neigung  hatte,  und  dies  alles  noch  heute? 
Ich  möchte  die  noch  vibrierenden  Minuten  erfassen, 
denn  morgen,  in  ein  paar  Jahren,  flieht  schon  die  Zeit 
wie  hundert  Jahre  vorüber,  und  in  dem  Heros 
sieht  man  nicht  mehr  den  Menschen  .  ,  .  Und  gerade 
der  Mensch  ist  doch    das    ewige    Problem..,. 

Bei  der  Wahl,  einen  Mann,  eine  Erinnerung  oder  ein  Hotel 
zu  suchen,  entscheidet  er  sich  für  dieses,  und  der  Hotelportier  des 
eigenen  Hotels  hilft  schon,  das  ewige  Problem  zu  lösen. 

Der,  Hotelportier  denkt  nach  auf  meine  Frage, 
ob  er  wüßte,  wo  Casement  gewohnt  hat  ? 

Der  Hotelportier  weiß  es  nicht,  aber  es  wird  festgestellt, 
daß  Casement  in  der  Bar  des  Hotel  Bristol  verkehrt  hat.  Die 
Kellner  werden  interviewt. 

Anton  Schramm  und  Willy  Rhön  kannten  ihn.  Ich  gebe  weiter, 
was  diese  mir  erzählten. 

Dann  gehts  ans  Forschen. 

>Trank  er  gern?«  »Nein.  Er  trank  nicht  viel.  Am  liebsten 
Martini-Cocktail. < 

Das  ewige  Problem  ist  aber  damit  beiweitem  nicht  erschöpft. 
Die  Frage  der  Fragen  bleibt  noch  offen: 

»Sah    man    ihn    in    Damengesellschaft?« 


98 


Niemals.  Schwere  Enttäuschung  bemächtigt  sich  Arpäds. 
Er  wendet  sich  verdrossen  der  Politik  zu  und  interviewt  Herrn 
V.  Puttkamer,  dem  er  den  Ausspruch  entreißt: 

>.  .  .  .  Einen  Casement  hängt  man  nicht  ....  Einen  Casement, 
wie  irgendeinen  Dieb  oder  Mörder?  Das  ist  eine  richtiggehende 
englische  Niedertracht.« 

Herr  v.  Puttkamer  verwendet  absichtlich  den  Vergleich  mit 
Dieben  und  Mördern,  weil  man  einen  Journalisten  noch  nicht 
gehängt  hat.  Die  Menschheit  fühlt  sich  unter  der  Presse 
zu  wohl,  um  ihre  Tyrannen  an  den  Galgen  zu  wünschen. 
Sie  erträgt  es  gern,  daß  nach  dem  Tod  eines  Märtyrers  der 
Reporter  in  die  Hotels  läuft  und  fragt,  ob  er  Damenbesuche 
empfangen  hat. 

Hospiz"  am  Brandenburger  Tor.  Hier  wohnte  er  zuerst  in  Berlin. 
>Christliches  Hotel  ersten  Ranges«  nennt  es  sich,  und  möglich,  daß 
Casements  Wahl  darum  auf  dieses  Hospiz  fiel. 

So  wird  der  Portier  ins  Gebet  genommen. 

>...Was    für  Menschen  kamen    her  zu  ihm?« 
»Amerikaner,  und  ein-,  zweimal  ein  Hindu  .  .  .« 
»Damenniemals?« 
>Nie  .  .  .< 

Die  drei  Punkte  sollen  die  Sprachlosigkeit  des  Fragers  aus- 
drücken. Im  Hotel  Fürstenhof  aber  ist  noch  weniger  herauszu- 
kriegen. Zum  Glück  wird  in  einem  andern  Hotel  ein  Amerikaner 
aufgetrieben,  der  etwas  zu  wissen  scheint. 

>War  er  aufgeregt,  als  er  sich  von  Ihnen  verabschiedete  .  .  . 
Weinte    er    vielleicht?« 

»Ja.  Aber  lassen  wir  das,  wir  stehen  ja  den  Ereignissen 
so  nahe,  und  diese  sind  ja  so  private  Angelegen- 
heiten...« 

»Bittel  ...  Werden  Sie  es  nicht  aber  einmal 
beschreiben?« 

Arpäd  ist  auch  taktvoll,  wenn  einer  grob  wird  oder  es  speziell 
verlangt;  aber  es  wäre  ihm  sehr  unangenehm,  wenn  dieser  selbst 
schreiben  wollte,  was  er  nicht  sagen  will.  Er  wickelt  sich  los  von 
dem  unwirtlichen  Amerikaner.  Es  gibt  noch  Informations- 
möglichkeiten 1 


99 


Frida  Scholtz,  Stubenmädchen  im  »Hotel 
Saxonia«.  —  Casement  wohnte  im  Zimmer  416,  und  Frida 
Scholtz    hat    aucli    sein   Zimmer    aufgeräumt. 

»Erinnern  Sie  sich  noch  an  ihn?  Was  für  ein  Mensch 
war  er?« 

Das    liebe    deutsche    Mädchen    lächelt : 
»Ja,  der  Herr  war  ein  icomischer  Mensch  .  .  .    Nicht  so  wie  die 
übrigen  Gäste,  man  Itann  ihn  nicht  so  rasch  vergessen.« 
»Um    wie    viel    Uhr    stand    er    auf?« 
»Jeden  Morgen    um    9  Uhr.    Dann    mußte    man    ihm    den  Tee 
herein  tragen.    Er  zog  sich  an,  ging  ins  Lesezimmer  oder  etwas 
spazieren,     während    dieser    Zeit     mußte     sein    Zimmer 
in    Ordnung    gebracht    werden.« 

Nun  ist  der  Moment  gekommen,  wo  Arpäd  die  vibrierenden 
Minuten  erfassen  kann.  Man  sieht  bereits  in  dem  Heros  den  Menschen, 
wie  er  >jeden  Früh,  wenn  er  aufkommt  und  aufsteht,  seinen  Tee 
trinkt«,  den  man  ihm  hereintragen  muß,  und  später  verlangt  er, 
daß  sein  Zimmer  in  Ordnung  gebracht  wird.  Aber  das  ewig« 
Problem  ist  noch  nicht  ganz  gelöst.  Frida  Scholtz  gibt  sich 
alle  Mühe. 

».  ..  nie  wurde  er  vertraulich,  immer  ver- 
schlossen.« 

Jetzt  ist  Arpäd  am  Ziel. 

>Damen    haben    ihn    nicht    aufgesucht?« 
»Nein.    Nie  ...     Nur     Frau    B.     vom     Zimmer     40  5. 
Sie     schickte    Herrn    Casement    oft    Blumen,     nach     dem     Mittagbrot 
kamen  Casement  und  seine  Freunde  bei  ihr  zusammen,  plauderten.« 

>Moment!«  denkt  Arpäd,  das  wollen  wir  doch  ein  wenig 
untersuchen. 

»Wie    alt    war    die    Dame?« 

Ȇber  vierzig  ...  Nein,  nein,  mein  Herr,  das  war 
keine  Liebe...  Nur  eine  große  Freundschaft.  Bewunderung  .  .  . 
Wir    wüßten    es    ja  .  .  .< 

Frida  hat  Arpäds  Gedanken,  die  sich  in  drei  Punkten  in 
einem  Punkt  zusammenfassen  lassen,  erraten.  Er  beeilt  sich,  noch 
ein  paar  Daten  über  Frau  B.  zu  erraffen,  und  kommt  dann  wieder 
auf  das  Problem  zurück. 

»War  Herr  Casement  zerstreut '•'< 


100 


Sie  verneint  es.  Er  hat  sogar  nicht  vergessen,  ihr  vor  ckr 
Abreise  ein  Trinkgeld  zu  geben.  Sie  weiß  darüber  eine  inter- 
essante Mitteilung  zu  machen. 

».Hier,  Fräulein',  sagte  er,  als  er  ging,  und 
gab    mir    2    Marie    50    Pfennig    als    Trinltgeld.« 

Nun  wäre  ja  alles  so  ziemlich  festgestellt.  Bleibt  nur 
noch  eins. 

Der     Hotelportier     Planner    erzählt  von  der  Abreise. 
Dies  und  das. 

Das  ist  alles,  was  ich  in  Berlin  über  Casement  erfuhr.  In  der 
weiten,  geschichtlichen  Perspektive  habe  ich  die  kleinen, 
menschlichen  Züge  zu  schildern  versucht.  Wie  sein  Wagen 
vom  Hotel  Saxonia  durch  die  Budapester  Straße  fuhr  .  .  . 

Die  früher  auch  anders  geheißen  haben  dürfte. 

Das  Übrige,  was  geschah,  ist  ja  schon  ein  düsterer  Shakespeare- 
scher Akt. 

Bis  dahin  ist  es  von  Arpäd  Päsztor,  Sonderberichterstatter 
des  »Az  Est«,  austauschweise  dem  Berliner  Tageblatt  zugeteilt,  und 
so  ehrt  man  in  den  Zentralstaaten  die  Märtyrer  des  perfiden  Albion, 
indem  man  herauszukriegen  sucht,  ob  sie  Damenbesuche  empfangen 
haben.  Ein  Akkord  in  Moll  klingt  nach: 

Beim  Morgengrauen  am  Karfreitag.  In  den  hügeligen 
irischen    Häfen... 

Im  Morgenblatt  des  20.  August.  Im  Berliner  Tageblatt . .  . 
Und  wenn  man  nach  dieser  Stimmungspause  bedenkt,  daß  da 
einer  für  seine  Überzeugung  gehängt  wurde  und  so  etwas,  mit 
solcher  Moralität  und  Manier,  überlebt,  Einfluß  hat,  von 
Ministern  und  Generalen  so  leicht  Auskunft  bekommt  wie  von 
Hotelportiers  und  Stubenmädchen,  uns  belehrt,  ergötzt,  durchs 
Leben  und  in  den  Tod  führt  —  so  ist  es  wahrlich  höchste  Zeit; 
mehr  Preßfreiheit  zu  verlangen! 


101 


Klärungen 

An  der  iieudeutschen  Verbindung  von  Modisch ulprofessur 
und  Unterseeboot  sind  die  (Süddeutschen  Monatshefte'  hervorragend 
tätig  und  ihr  Herausgeber,  der  Herr  Professor  Cossniann,  benützt 
seine  freie  Zeit  zur  Abfassung  von  Protokollen  mit  anders  ge- 
sinnten Kollegen.  Sie  bilden  den  Inhalt  eines  Briefwechsels  zwischen 
dem  Reichskanzler  und  dem  Großadmiral,  welchen  Herr  Cossmann 
zum  Schutze  eben  jener  > persönlichen  Ehre«  veröffentlicht,  die  sowohl 
durch  das  Protokoll  wie  durch  die  Publikation  in  Mitleidenschaft 
gezogen  wird.  Die  ziemlich  düstere  Angelegenheit,  die  durch  keinen 
Heiligenschein  zu  erhellen  ist  und  doch  den  Typus  des  Nationalliberal- 
professoralradikalen  deutlich  hervortreten  läßt,  wird  noch  durch  die 
Anwandlungen  einer  kulturellen  Reue,  zu  denen  sich  die  (Süd- 
deutschen Monatshefte'  zuweilen  hinreißen  lassen,  ein  wenig  ver- 
wirrt. Daß  diese  Zeitschrift  seit  Kriegsausbruch  nichts  ist 
als  eine  Monatsausgabe  des  groben  Unfugs,  der  sich  an  Zerrbildern 
von  sämtlichen  außergermanischen  Kulturen  berauscht,  und  daß 
sie  es  für  die  > Neuorientierung«  des  deutschen  Lebens  in  der  Regel 
mit  jenen  hält,  die  von  »Kismet-Knöppen«  sprechen,  wenn  sie 
sich  statt  in  einem  Warenhaus  ausnahmsweise  in  einer  Moschee 
befinden,  ist  hier  gelegentlich  einer  wohltuenden  Ausnahme  be- 
sprochen worden.  Die  Unterseeprofessoren  haben  aber  doch  auch 
einen  gewissen  Ehrgeiz,  vor  der  Kulturkritik  bestehen  zu  können, 
und  daraus  mag  sich  die  folgende  Zuschrift  der  , Süddeutschen 
Monatshefte'  erklären  lassen: 

Verehrter  Herr  Kraus! 

Aus  Ihrer  Bemerkung  auf  Seite  79  der  neuen  Fackel  hatte 
ich  den  Eindruck,  daß  Sie  einen  Beitiag  unserer  Kriegshefte  über- 
sehen haben,  nämlich  die  stenographischen  Aufzeichnungen  aus 
dem  Münchner  Schlachthaus  im  Aprilheft  1916;  ich  schicke  Ihnen 
daher  gleichzeitig  dieses  Heft. 

Mit  vorzüglicher  Hochachtung 

Cossmann 
München,  11.  August  1916. 

Meine  Verpflichtung,  einen  Beitrag  der , Süddeutschen  Monats- 
hefte' nicht  zu  übersehen,  schien  mir  nicht  einleuchtend.  Immerhin 
war  mir  so  viel  klar,  daß  Herr  Cossmann,  dem  ich  nachrühmte, 
daß  er  einmal  einen  Beitrag  gebracht  habe,  der  >Mut  zum  Schani- 


102 


gefühl  vor  Gott  und  der  bewohnten  Erde«  hat,  dessen  Inhalt 
»wert-  und  gewichtvoll«,  sei  und  für  den  ich  den  , Süddeutschen 
Monatsheften'  »ihre  sonstige  Existenz  im  Kriege  vergeben  wolle«, 
bei  seinem  Ehrgeiz  gepackt  war.  Er  legt  —  so  viel  entnahm  ich 
aus  seinem  Schreiben,  ehe  ich  das  eingesandte  Heft  noch  angesehen 
hatte  —  einigen  Wert  auf  die  Feststellung,  daß  er  noch  ein  zweites- 
mal einen  anständigen  Beitrag  gebracht  habe.  Ein  nicht  so  deutsch 
gesinnter  Mann  würde  vielleicht,  wenn  er  sich  mit  dem  Tadler 
überhaupt  in  eine  Diskussion  einläßt,  sein  ganzes  übriges  Inventar 
verteidigt  und  geantwortet  haben:  Oho,  alle  meine  Kriegshefte 
enthalten  nur  anständige  Beiträge!  Herr  Cossmann  aber  fühlt  ent- 
weder, daß  ich  recht  habe,  oder  er  legt  Wert  darauf,  von  einem 
anerkannt  zu  werden,  der  sein  Wesentliches  verwirft.  Er  gibt  seine 
Richtung  preis,  um  das  Lob  seiner  Fehltritte  zu  ernten.  Der 
Artikel,  den  er  meiner  Beachtung  empfiehlt,  hätte  keineswegs  diesen 
Erfolg;  er  ist  Material,  aus  dessen  Drucklegung  kaum  mehr  als  die 
Tendenz  ersichtlich  ist,  Roheiten,  die  im  Münchner  Schlachthaus 
geschehen, zu  mißbilligen. Wiesolchesden,SüddeutschenMonatsheften' 
Verzeihung  für  ihre  Tendenz  erwirken  sollte,  die  Welt  in  ein 
Münchner  Schlachthaus  zu  verwandeln,  ist  unerfindlich.  Das  Vorzeigen 
dieser  Leistung  kann  den  günstigen  Eindruck,  den  die  Kontrastierung 
deutscher  und  türkischer  Sitten  erweckt  hat,  nur  abschwächen,  und 
der  Herausgeber  der  (Süddeutschen  Monatshefte'  sollte  nicht  so 
freigebig  in  der  Darbietung  von  Gegenbeweisen  gegen  sich  selbst 
sein.  Nicht  der  Artikel,  den  er  so  brav  war  aufzunehmen,  höchstens 
die  Bravheit,  ihn  vorzuzeigen,  könnte  ihm  bei  mir  nützen. 
Dagegen  bin  ich  gern  bereit,  ihm  beizustehen  und  aus 
dem  September-Heft  der  , Süddeutschen  Monatshefte'  eine  höchst 
anständige,  gegen  die , Süddeutschen  Monatshefte'  geradezu  aggressive 
Notiz,  auf  die  er  mich  bisher  nicht  aufmerksam  gemacht  hat,  zu 
zitieren; 

Wir  möchten  jedem  Deutschen  die  Gabe  wünschen,  daß  er 
seine  Zeitungen  einmal  eine  halbe  Stunde  lang  mit  den  Augen 
eines  Ausländers  lesen  könnte.  Er  würde  erröten,  wie  jämmerlich 
und  albern  die  moralischen  Klage-  und  Anklagefluten  aussehen, 
die  sich  alltäglich  über  die  Schurkerei  und  die  Treulosigkeit  unserer 
einst  verbündeten  Feinde  und  ihrer  Staatsmänner  ergießen.  Wir 
wollen  uns  einmal  ganz  ruhig  die  Frage  vorlegen,  welcher  Staats- 
mann seinen  Zweck  besser  erfüllt:  ein  sogenannter  schuftiger,   der 


103 


die  Ziele  erreicht,  die  er  für  seinen  Staat  erstrebt,  oder  ein  so- 
genannter ehrlicher,  der  sich  und  seinen  Staat  jedesmal  daneben  setzt. 
Die  oberste  Pflicht  jedes  Staates,  er  sei  groß  oder  klein,  ist 
die  Selbsterhaltung:  das  ist  bei  jedem  Bündnisvertrag  stillschweigend 
miteinverstanden,  und  hierin  hat  alle  Treue  im  bürgerlichen  Sinne 
ihre  Grenze.  Die  Aufgabe  der  Staatsmänner  ist  es,  die  eigenen 
Bündnisse  so  zu  wählen  und  zu  erhalten,  daß  sie  sich  im  Qebrauchs- 
fall  wirklich  mit  dem  Vorteil  aller  Beteiligten  decken  und  daß  die 
Beteiligten  hievon  auch  immer  überzeugt  bleiben.  Wer  sich  aber 
seiner  selbst  nicht  sicher  zeigt,  der  beleidigt  lediglich  die  anderen, 
wenn  er  von  ihnen  erwartet,  daß  sie  so  töricht  sind,  auf  seine 
Karte  zu  setzen.  Da  bleibt  dann  nur  mehr  übrig,  daß  die  Waffen 
noch  einmal  alle  Rechnungen  von  Grund  aus  überprüfen.  Und 
dabei  kommt  gottlob  oft  wieder  etwas  ganz  anderes  heraus,  als 
die  listigsten  Rechenkünstler  sich  ausgetüftelt  haben. 

Wenngleich  hierin  wohl  ein  Unterseeboot  verborgen 
ist  und  ein  realpolitischer  Vorbehalt  für  jenes  professorale 
Expansionsbedürfnis  steckt,  das  keine  Grenzen  kennt  und  anerkennt, 
so  muß  doch  die  Ablehnung  des  idiotischen  Treubruch-Motivs 
und  die  Abweichung  von  der  Melodie  der  ,Süddeutschen 
Monatshefte'  anerkannt  werden. 

Solcher  Vorurteilslosigkeit  sollte  aber  noch  eine  andere 
Aufklärung  gelingen.  Noch  ein  zweites  Motiv  aus  der  Ideologie 
des  politischen  Gemütslebens,  also  einer  nicht  durch  den 
Krieg  und  nicht  durch  ihr  eigenes  Dasein  alterierten  Sittlichkeit, 
also  der  Dummheit,  belebt  andauernd  die  polemische  Debatte 
jener,  die  dem  Blutbad  einen  heilsamen  Zusatz  von  Tinte  ver- 
gönnen: die  Aushungerung.  In  Kürze  gesagt:  hier  klagt  die 
Dummheit  die  einzige  Raison  an,  die  in  diesem  Chaos  von  Gefühls- 
verrottung  bisher  merkbar  wurde.  Raison  im  Umkreis  der  Hand- 
lungen, die  das  sichtbate  Leben  bestimmen,  kann  nie  anderes 
bedeuten  als  die  Übereinstimmung  von  Mittel  und  Zweck. 
Zweck  des  kriegführenden  Menschenturas  ist  essen,  mehr  essen, 
handeln,  mehr  handeln,  um  mehr  zu  essen,  um  mehr  zu 
handeln.  Der  Kriegszweck  ist,  was  der  Lebenszweck  ist: 
das  Lebensmittel.  Was  sollte  das  Kriegsmittel  sein?  Ist 
es  sittlicher,  für  das  Lebensmittel  zu  sterben  als  dafür 
zu  hungern  ?  Die  Parteien  sind  geschieden  nach  der  größeren 
Begehrlichkeit  und  dem  größeren  Widerstreben,  ihr  nachzu- 
geben.   Hier   könnte  der  »Neid<  einen  Rest    von  Menschenwürde 


104 


decken.  So  oder  so,  und  wenn  der  Zweck  auch  hier  nichts 
anderes  wäre  als  mehr  essen  und  mehr  handeln,  so  entscheidet  doch 
nur  die  Macht  auf  dem  Lebensmittelmarkt.  Nun  gibt  es  zweierlei 
Mittel,  sich  hierselbst  zur  Geltung  zu  bringen:  die  Hacke  oder 
den  Hunger.  Organischer  ist  dieser,  von  der  Materie  des  Streits 
bezogen,  die  im  wahren  Sinne  des  Wortes  Materie  ist.  Aushungern 
war  ein  Kriegsmittel  in  Religionskriegen  und  selbst  da  sittlich,  weil 
der  Zweck  das  Mittel,  mit  dem  er  sich  nicht  deckte,  doch  geheiligt  hat, 
weil  der  Kampf  um  eine  Idee  ging,  in  deren  Idee  es  ist,  über  den 
Körper  zu  siegen.  Um  die  Kirche  zu  schützen,  war  der  Hunger 
ein  probateres  Mittel,  als  es  die  Hacke  ist,  um  die  Küche 
zu  schützen.  Wie  könnte  ein  Zweifel  bestehen,  daß  der 
Esser,  der  die  Küche  absperrt,  geistiger  handelt  als  der,  der 
Blausäure  und  Flammenwerfer  zu  Hilfe  ruft?  Es  kann  der 
Moment  eintreten,  wo  er  gegen  solche  Mittel,  die  einer  anwendet, 
um  in  die  Küche  zu  gelangen,  sie  selbst  anwenden  muß.  Wenn 
sie  mit  den  Küchenmörsern  beide  aufeinander  losgehen,  scheidet  die 
Frage  nach  Mittel  und  Zweck  aus  der  Debatte.  Solange  es  aber 
genügt,  den  Schlüssel  umzudrehen,  versündigt  nicht  der,  der's  tut, 
sich  an  der  dürftigen  Idee  des  Kampfes,  sondern  der  andere,  der 
in  Ritterrüstung  und  mit  Theodor  Körner'schem  Augenaufschlag  eine 
höhere  Idee  vorgibt  und  die  Welt  vergessen  machen  möchte,  daß 
nicht  die  ewige  Seligkeit  erhungert  werden  soll,  sondern  das  Essen,  und 
daß  er  nicht  am  Leibe  gestraft  wird  für  den  Geist,  sondern  für  den 
Leib.  Auch  er  versucht  es,  dem  andern  die  Küche  zu  sperren, 
verleugnet  aber  diese  moralische  Handlung,  um  sie  dem  andern 
vorzuwerfen.  Denn  Moral  ist  ihm  immer  das,  wogegen  der  andere 
verstößt,  wenn  er's  selber  tut.  Darum  liegt  ihm  die  blutige 
Vergeltung,  die  allen  Widerspruch  ausgleicht.  Er  vermißt  diese 
Methode,  wenn  dort,  wo  einzig  der  Proviant  den  Erfolg  und  der 
Mangel  den  Mißerfolg  bedeutet,  seine  Ideologie  ihm  die  Genug- 
tuung bietet,  er  sei  »nicht  durch  Gewalt,  sondern  durch  Hunger« 
unterlegen.  Er  wird  immer  dort  ein  Turnier  aufführen,  wo  eigentlich 
ein  Vergleich  der  Hauptbücher  den  Streit  beenden  oder  überflüssig 
machen  könnte.  Er  nur  schiebt  die  Ideale  vor,  um  irdische  Dinge  zu 
erreichen,  und  verficht  Vorwand  und  Zweck  mit  dem  Blut,  das 
weder  demZweck  angemessen  ist  noch  dem  Vorwand.  Die  Reduzierung 
des  Vorwands  auf  den  Zweck  nun  besorgt  das  Mittel,   das   diesem 


105 


angemessen  ist.  Die  Aushungerung  ist  hier  nicht  bloß  ein  Kriegs- 
mittel wie  ein  anderes,  sondern  eine  Bereinigung  der  Sachlage  und 
eine  Aufklärung  der  Lebensdinge  gegen  eine  Moral,  die  nicht 
Aug  um  Auge,  sondern  die  Faust  aufs  Auge  haben  möchte.  Der 
Buchhalter  als  solcher,  der  gegen  den  gepanzerten  Buchhalter 
mit  der  seiner  Sphäre  erreichbaren  Macht  aufkommen  will,  solange 
es  geht,  handelt  nicht  unnatürlich,  da  er  dort  handelt,  wo  eine 
unselige  Verirrung  des  Menschengeistes  das  Schießen  zugelassen  hat. 
Es  ist  eine  völlig  völkerrechtsverdrehte  Ansicht,  grausam  wie  nur 
eine  Grausamkeit,  die  von  populären  Gefühlen  bedient  wird: 
Flammenwerfer  gegen  »Kombattanten«  bei  der  Austragung  von 
Exportangelegenheiten  für  sittlicher  zu  halten  als  Einfuhrsperre 
gegen  »Nichtkombattanten«,  die  in  der  Epoche  der  allgemeinen 
Wehrpflicht  von  jenen  kaum  durch  das  Alter,  vorläufig 
noch  durch  das  Geschlecht  unterscheidbar  sind.  Als  ob  die 
Kombattanten  nicht  ebenso  unschuldig  oder  schuldig  wären 
wie  die  Nichtkombattanten,  nicht  ebenso  wehrhaft  oder  wehrlos 
gegen  den  trostlosen  Hunger  wie  jene  gegen  die  trostlose  Maschine ; 
als  ob  das  allgemeine  Grauen,  das  in  der  Einstellung  des 
demokratischen  Prinzips  unter  den  Machtbegriff  beschlossen  ist, 
Abstufungen  zuließe.  Die  Mobilisierung  der  Moral  in  einem 
Krieg,  dessen  Möglichkeit  die  Moral  negiert,  ist  das  Kriterium 
eines  Geisteszustandes,  der  die  Welt  durch  sein  heilloses  Talent 
die  neuen  Ideale  mit  den  alten  Emblemen  zu  garnieren, 
vor  den  Kopf  gestoßen  hat,  ihr  nun  noch  diesen  zerschlagen 
möchte,  und  der  es  ja  möglich  gemacht  hat,  daß  sich  jetzt 
jeder  Warenknecht  nicht  nur  Gott  und  die  Kunst,  sondern 
auch  die  Glorie  auf  sein  Schild  schmiert.  Wie  die  Entrüstung 
über  Treubruch  in  einem  Lebensgebief,  dessen  Wesen  nicht  die 
Treue,  sondern  der  Export  ist,  so  ist  die  Sentimentalität  der 
A4agenfrage  ein  Symptom  jener  furchtbaren  Gefühlsverschlingung, 
die  die  heutige  Situation  besser  erklärt  als  jeder  politische 
und  strategische  Aufschluß.  Wenn  die  , Süddeutschen  Monatshefte', 
die  bei  einwandfreier  nationaler  Gesinnung  den  Ethikern  der 
Presse  den  Treubruch  ausgeredet  haben,  sie  nun  noch  über  die 
Aushungerung  beruhigen  wollten,  würtlen  sie  sich  dauernd  mein 
Wohlgefallen  erwerben. 


%^f^f 


—  106  — 

Das  Unterbewußtsein  im  Kriege 

Ein  Politiker   hat  an   den  Verlag  der  Fackel  die 
folgende  Aufforderung  gerichtet: 

Die  neuere  Psychologie  hat,  soweit  mein  Wissen 
davon  reicht,  bisher  bloß  die  Erscheinung  des  »Ver- 
sprechens« beobachtet.  Der  vorliegende  Fall  von  Ver- 
schreiben —  freilich  eines  langjährigen  Redners, 
der  sich  auch  im  Schreiben  reden  hört,  und  lebhafter, 
v/eil  ihm  das  Parlament  verschlossen  ist  — ,  ergibt 
ein  umso  berückenderes  Beispiel  von  Einmischung 
des  Unterbewußtseins,  als  der  Schreiber  nicht  einmal 
durch  die  optische  Kontrolle  des  (hier  in  verkleinertem 
Format  wiedergegebenen)  Bekenntnisses  irre  zu  machen 
war.  Seine  Fortsetzung  würde  der  Fall  in  den  Seelen 
jener  Leser  finden,  deren  Blick  so  wenig  stolpern  wird 
wie  seine  Feder.  Ich  schätze  dieses  Autogramm,  das 
ein  Datum  mit  so  furchtbarer  Sicherheit  verfehlt  hat 
und  dessen  Verfasser  selbst  in  keine  schuldvolle 
Beziehung  zu  der  Welt  des  Kriegsgewinnes,  aber  mehr: 
in  die  der  Zeugenschaft  und  Kennerschaft  gebracht 
werden  soll,  als  eines  der  stärksten  Dokumente  zur 
Natur  dieses  Krieges. 


—    107 


Glossen 

Trophäen 
Kriegslieferant 

wünscht  bis  zirka  2,000.0  00  Kioneii 
für  alte  Kunstgegenstände  bar 
anzulegen  und  kauft  vorwiegend:  1.  alte 
Gemälde  (holländ  ,  französ.,  englische  und 
Alt-Wiener  Schule);  2.  Miniaturen  16.  bis 
19.  Jahrh.,  Aquarelle  und  Pastelle;  3.  alte 
Kupfer-  und  Farbenstiche;  4.  Autographen, 
alte  Stamm-  und  Wappenbücher,  Zeichnungen ; 
5.  altes  Porzellan,  Bronzen,  Antiquitäten, 
Kunstmöbel,  Gobelins,  Dosen,  etc.  Nur 
echte  Stücke  erwünscht.  Offerte  (auch 
a.  d.  Provinz)  erbeten  und  sofortige  Erle- 
digung. Anträge  unter  »Kunstsammlung 
Nr.  914«  an  die  Expedition  dieses  Blattes. 

Ist  es  da  nicht  immer  noch  tröstlicher,  daß  Kimstschätze 
durch  Fliegerbomben  zugrundegehen?  Die  Bombe  will  ein  Arsenal 
treffen  und  weiß  nicht,  daß  sie  einen  Tiepolo  erreichen  wird.  Der 
Kriegslieferant  bedient  das  Arsenal  und  weiß,  daß  er  dafür  den 
Tiepolo  kriegt.  Wenn  man  der  aufgeschwungenen  Menschheit  am 
1.  August  1914  diese  Annonce  im  Licht  eines  Riesenscheinwerfers 
als  die  Erfüllung  ihres  Glaubens  hätte  vorführen  können!  Ich  sah  sie 
im  Traum. 


Seelenwanderung 

F.inige  Zeit,   nachdem  sich  dies  begeben  hatte,  war,    wieder 
im  .Fremdenblatt',    dem  Organ   des  auswärtigen  Amtes,  zu  lesen  : 

Groß!ndustr?eller 
wünsciit  bis  zirka  2,000.000  Kronen  für  alte  Kunstgegenstände  —  even- 
tuell ganze  Sammlung  —  bar   anzulegen   und    kauft  vorwiegend  -     — 

Da  war  offenbar  dem  Borstenviehlieferanten  bedeutet  worden, 
daß  er,  wenn  er  schon  einen  Tiepolo  brauche,  doch  nicht  so 
offen  die  Provenienz  der  Summe  bekennen  solle.  So  wird  eine 
ehrliche  Neigung  im  Keim  erstickt.  Als  ob  zu  einem  Groß- 
industriellen ein  Tiepolo  besser  paßte!  In  Karlsbad,  »bei  Pupp« 
-     eine    Bezeichnung,     in     der     eine     ganze     Gründerepoche 


108 


frühstückt  —  sollen  in  diesem  schönen  Sommer  die  Armee- 
lieferanten die  Tausendkronennoten  in  der  Luft  geschwenkt  haben, 
wenn  sie  die  Kellner  herbeiwinkcn  wollten,  während  gutturale 
Laute  hörbar  wurden,  die  wie  die  Anklage  klangen:  >Die  Daitschen 
kommen  sich  herundessensichAierspaismitsechsAiern!<  ...  Für  diese 
Welt  stirbt  die  Welt.  Aber  da  das  Benehmen  etwas  auffallend  ist,  wurde 
den  Armeelieferanten  offenbar  kundgetan,  daß  sie  sich  wenigstens  beim 
Ankauf  alter  Gemälde  und  Gobelins  verstellen  mögen.  In  öffent- 
lichen Lokalen  mögen  sie  mit  den  Händen,  zuhause  mit  den 
Füßen  essen,   aber  im  , Fremdenblatt'   sollen   sie   sich   moderieren. 


Zeichen  und  Wunder 

Es  war  die  Zeit  der  großen  Weltwende  und  der  Götze 
Ben  Tieber,  der  einzige,  dem  Macht  gegeben  war  über  den 
Moloch,  gebot  über  Leben  und  Tod.  Da  trat  einer  vor  ihn 
hin,  der  war  gn  Sänger  des  Krieges,  und  sprach:  Rette 
mich.  Du  allein  entscheidest,  ob  ich  leben  werde  oder  sterben 
oder  dem  Aussatz  verfallen  und  schwärenden  Wunden.  Ben  Tieber 
aber  sprach:  Bleibe  bei  mir  und  du  sollst  es  gut  haben.  Und  machte  ihn 
zum  Dramaturgen  für  >Urschula!«  Und  er  mußte  nicht  mehr  und 
blieb,  und  sang  über  den  Krieg.  Dann  ging  wieder  einer  umher, 
der  sagte,  er  wolle.  Denn  es  sei  katholisch,  zu  leiden,  wenn  die 
andern  leiden,  und  mochten  sie  auch  sagen:  Siehe,  auch  dieser 
muß,  wiewohl  er  betagt  ist  und  schreiben  kann,  so  sagte  er,  er  müsse, 
weil  der  Spiritus  über  ihn  gekommen  sei,  der  ihm  gesagt  habe: 
Gehe  hin,  wo  die  andern  sind.  Da  kam  einer,  der  mächtig  war, 
aber  nicht  mächtig  wie  Ben  Tieber,  aber  auch  mächtig.  Der  war 
Herr  über  dem  ganzen  Spiritus  im  Lande  und  sagte  zu  jenem :  Siehe, 
du  machst  dir  Gedanken,  aber  mein  Wort  ist  wie  die  Tat.  Und 
machte  ihn  in  derselben  Stunde  zu  seinem  Sekretär  und  enthob 
ihn  zu  sich  empor  und  hatte  Freude  an  Bildern  und  dieser  riet  ihm  zu 
kaufen.  Viele  gingen  umher  und  sagten,  sie  seien  unentbehrlich 
wie  jene,  aber  man  glaubte  ihnen  nicht  und  hielt  sie  für  falsche 
Propheten.  Siehe,  sprachen  sie,  sind  wir  nicht  wie  der  dort,  wir 
aber  müssen  und  er  darf?  Sie  aber  wollten  daheim  bleiben,  denn  ihr 
Herz  war  verzagt.  Andere  blieben  daheim  und  waren  verkleidet  als 
Kriegsknechte.  Überall  hatten  sie  schon  ihr  Gold  und  ihr  Geschmeide 


109 


zusammengetragen  und  ihr  kupfernes  Gerät  und  ihr  Gerät  aus 
Messing.  Sie  wollten  dafür  Brot  haben,  aber  man  gab  ihnen  Eisen 
und  es  war  eine  schwere  Zeit.  Da  gingen  sie  hin  und  zerrissen 
ihre  Papiere  und  machten  aus  zwei  Kronen  zwei,  aber  es  half 
ihnen  nicht.  Es  waren  aber  Sänger  und  Spielleute,  die  sangen  zum 
Herzen  des  Volks  und  in  sein  Ohr  und  erheiterten  jene,  die 
darbten,  denn  ihnen  ward  die  Gabe  gegeben,  einen  Reim  zu 
finden  von  Souper  auf  Separee  oder  gar  auf  Tetate.  Des  ver- 
wunderte sich  das  Volk,  sie  aßen  nicht  und  freuten  sich  der  Ver- 
heißung, und  gaben  Zins  den  Spielleuten  und  diese  wurden 
begütert,  obschon  sie  früher  nichts  gehabt  hatten  und  nicht  gehabt 
hatten  Brot  auf  Hosen.  Jetzt  aber  gewannen  sie  Schätze  und  das 
Volk  schmeichelte  ihnen,  wie  sie  geschmeichelt  hatten  dem  Volk 
und  fand  Gefallen  an  den  Spielleuten  und  ließ  sie  gewähren 
\iele  hundertmal.  Dieses  begab  sich,  da  viele  durch  das  Schwert 
umkamen  und  viele  sagten,  daß  jetzt  Krieg  sei,  denn  der  Herr  stritt  für 
Israel  wider  seine  Feinde  und  Neider.  Am  Morgen  aber  und  am  Abend 
hörten  sie,  wie  einer  ein  großes  Geschrei  erhob  und  haderte  mit  den 
Feinden  Israels  und  riet  dem  Volk,  die  Speisegesetze  zu  halten  um 
Golteswillen.  Das  Volk  aber  geriet  in  Zorn  und  wollte  ihn  steinigen, 
aber  tat  es  doch  nicht,  sondern  hörte  zu,  wie  er  redete.  Da 
geschah  es,  daß  ein  Zeichen  am  Himmel  war,  und  sie  erkannten, 
daß  einer  unter  ihnen  war,  der  das  Wort  des  Herrn  hatte.  Der 
trat  vor  die  Mächtigen  und  riet  ihnen,  wie  sie  das  Volk  leiten 
sollten,  daß  es  nicht  murre,  denn  es  war  ein  Murren  unter 
dem  Volk.  Und  er  sprach  zu  ihnen  und  riet  ihnen,  daß  sie  das 
Volk  beschwichtigten,  damit  nicht  Erhebungen  im  Volke  wären. 
Da  sprachen  die  Mächtigen,  daß  sie  die  Erhebungen 
pflegen  wollten.  Er  aber  sagte,  daß  eben  dieses  abzuwenden  sei,  denn 
der  Herr  habe  ihm  anvertraut,  daß  sie  es  nicht  mehr  tun  sollten 
und  nicht  mehr  Erhebungen  pflegen  sollten,  wie  sie  gewohnt 
waren  bis  auf  diesen  Tag.  Und  er  sprach,  der  Herr  habe  ihm 
auferlegt,  es  ihnen  zu  sagen,  und  daß  es  eine  Eingebung  sei, 
der  es  nicht  geziemt  zu  widerstehen,  den  Amtleuten  nicht  und 
nicht  den  Landpflegern.  Da  traten  sie  zusammen  und  sprachen 
zu  ihm:   Mochen    S'  eine  Eingabe! 


10 


Auf  Fürbitte  des  heiligen  Josef 

Die  , Reichspost'  hat  das  Verdienst,  mich  auf  die  Offerten 
jener,  die  unter  Berufung  auf  ihre  Militärfreiheit  einheiraten 
möchten,  aufmerksam  gemacht  zu  haben.  Worauf  sie  mich  jedoch 
nicht  aufmerksam  gemacht  hat,  was  ich  vielmehr  andernorts 
gefunden  habe,  ist  ein  Dokument,  welches  deutlich  beweist,  daß 
die  Militärfreiheit  vielfach  nicht  nur  als  Empfehlung  zur  Gründung 
eines  ehelichen  Hausstandes  gewertet  wird,  was  schließlich  — 
wiewohl  dieser  Hausstand  einer  der  ärgsten  Übelstände  ist 
—  manches  für  sich  hat,  sondern  daß  die  Ehrlichkeit  der  Auf- 
fassung in  diesen  Dingen  auch  zum  Glaubensbekenntnis  jener 
Kreise  gehört,  die  keine  vollkommenen  Freidenker  sind.  Aus  dem 
tragischen  Konflikt,  in  dem  sich  die  klerikale  Presse  zwischen 
einem  Patriotismus  befindet,  der  mit  dem  ehrwürdigen  Kernstock 
die  Feinde  dreschen  möchte  und  »aus  Welschlandfrächtchen  blut- 
roten Wein  zu  pressen  <  empfiehlt,  und  der  päpstlichen  Meinung, 
nach  der  der  Krieg  eine  > ehrlose  Menschenschlächterei«  ist,  hilft 
ihr  vielleicht  das  Beispiel  einer  Offenherzigkeit,  die  das  Dreschen 
gewiß  gern  hat,  aber  nicht  selbst  dabei  sein  möchte: 

In  der  Wiener  Monatsschrift  >Der  Sendbote  des  heiligen  Josef« 
lesen  wir  auf  Seite  27  des  ersten  Heftes  von  1916  unter  ».  .  .  Der 
Fürbitte  des  heiligen  Josef  und  dem  Gebet  der  Vereinsmitglieder  werden 
folgende  Anliegen  empfohlen«,  unter  anderem:  um  Befreiung 
vom  Militär,  baldige  Heimkehr  und  Befreiung  vom 
Militär  u.  s.  w.«  Und  auf  Seite  28:  >Öffentlicher  Dank 
dem  heiligen  Josef  für  schnelle  a  u  f  f  a  1 1  e  n  d  e  H  il  f  e 
in  Militärangelegenheiten«  und  weiter  auf  Seite  70:  »Ich 
und  meine  beiden  Töchter  hielten  eine  Novene,  und  was  niemand 
geglaubt  hätte,  geschah:  mein  Vertrauen  wurde  belohnt,  und 
mein    Sohn    ging    frei.« 

Was  vielleicht  doch  jenem  Klerikalismus,  der  in  einer  miß- 
verstehenden Fortsetzung  des  alten  >  Weihwedel  und  Säbel  «-Motivs 
der  Verbindung  von  Weihrauch  und  giftigen  Gasen  das  Wort 
spricht,  zu  denken  geben  und  die  , Reichspost'  bestimmen  wird, 
von  der  Benagelung  eines  »Kernstock  in  Eisen«  abzustehen.  Wozu 
Schlachtgebete,    wenn    der    heilige  Josef   es   einem  richten  kann? 


—  111  — 

Warum  nicht,  recht  hat  er 


Hohe  Protektion 

gesucht.  Unter  »Entspre- 
chendes Honorar  14667t 
an  das  Ankündigungs-Bureau 
dieses  Blattes.  14667 


Der  Lärm 

».  .  .  Geht  dann  aber  erst  die  richtige  Höllenmusik  los,  mit  dem 
Sausen  und  Pfeifen,  Krachen  und  Platzen  der  Geschosse,  hebt  das 
Wimmern  und  Schreien  der  Verwundeten  an,  und  ist  die  Luft  verpestet 
von  dem  Rauch  der  Explosivstoffe  und  den  erstickenden,  tränenreizenden 
Gasen,  so  stehen  die  unglücklichen  Verteidiger,  ganz  verwirrt  und  schreck- 
gelähmt .  unter  dem  Bann  der  qualvollen  Todesangst,  die  dem 
Weltuntergang  voraufgehen  soll.  Mit  wachsendem  Entsetzen  sehen  sie, 
wie  die  Risse  im  Unterstand  immer  größer  und  größer  werden  .... 
Gelingt  es  dem  Feind,  dank  den  Staub-  und  Rauchwolken  und  dem 
entsetzlichen  Getöse,  das  sein  Herannahen  verbirgt,  unvermutet  in  den 
Graben  der  ersten  Linie  zu  kommen,  so  gibt  es  für  dessen  Insassen 
nur  iJbergabe  oder  erbarmungsloses  Niedergemetzeltwerden.  Jeder  Wider- 
stand der  Verteidiger  wird  durch  Handgranaten  erstickt.  Aber  sie  denken 
ja  gar  nicht  an  Widerstand,  denn  in  ihnen  lebt  nur  ein  einziger  Gedanke 
und  ein  einziger  Instinkt:  nur  ein  Ende,  nur  ein  Ende  dieses  schrecklichen 
Höllenfeuers,  lieber  sterben,  als  das  noch  länger  ertragen !  Darum  spricht 
auch  aus  den  Gesichtern  der  Toten  so  oft  ein  unendliches  Glück,  das 
weder  Worte  noch  der  Pinsel  schildern  können.  Man  sieht  es  diesen 
Gesichtern  der  Erlösten  an,  daß  sie  noch  Zeit  hatten,  den  Tod  zu  segnen, 
der  zu  ihnen  als  Befreier  kam,  daß  sie  mit  dem  letzten  Rest  ihres 
Bewußtseins  noch  die  Vorstellung  hatten,  daß  für  sie  nun  die  Rulie 
käme,  eine  Ruhe  ohne  Trommelfeuer,   ohne  Granaten  und  Schrapnells.« 


Die  Stille 

—  In  aller  Stille  feierte  vor  einigen  Tagen  der  Herausgeber  der 
, Illustrierten  Kurorte-Zeitung',  Herr  Eduard  O  ratsch,  in  Kloster- 
neuburg seinen  50.  Geburtstag. 

Pst,  lärmt  nicht  so.  Er  hat  sich  Kundgebungen  verbeten. 
Er  ist  ausgewichen.  Er  ist  schon  fünfzig.  Andere,  erst  fünfzig,  mögen 
im  Lärm  der  Schlacht  ihren  Lebensabend  begehen.  Er  will  Ruh  haben. 


—    112    — 

In  Klosterneuburg.  In  einem  Qarterl.  Nichts  dringt  hin.  Er  hats 
hinter  sich.  Er  hat  gewirkt.  Geschaffen.  Die  .Illustrierte  Kurorte- 
Zeitung'.  Dort  sind  Bilder.  Von  Toten,  die  erlöst  sind,  glücklich. 
Stört  sie  nicht.  Stört  ihn  nicht.  Lärmt  nicht.  Er  hält  sich  die 
Ohren  jru.  Wie  ihr  ihn  bedrängt.  O  ratscht  nicht,  jubelt  nicht, 
gebt  keine  Salven  nicht.  Euch  haben  sie  nicht  gelebt,  die  Großen. 
Laßt  den  Dank  jenen,  die  nach  euch  sind.  Wollet  ihr  dennoch?  Wie 
sie  herbeidrängen.  Er  kann  ihnen  nicht  entrinnen.  Sie  erreichen 
ihn.  Er  liest  es.  Es  dringt  in  seine  Stille.  Er  wollte  nicht.  Sie  haben 
es  sich  nicht  nehmen  lassen.  Sie  feiern  ihn.  Sie  sagen,  was  er  ihnen 
bedeute.  Er,  müde  abwinkend:  Zu  spät  — ! 


Selbstverständlichkeiten 

».  .  .  Honvedminister  Baron  Hazai  erklärt,  er  sei  nicht  geneigt, 
dem  Wunsche  des  Abgeordnelen  zu  entsprechen,  weil  dies  entschieden 
gesetzwidrig  wäre.  .  .  .  Ebenso  wie  der  Landsturm  auf  Befehl 
Sr.  Majestät  aufgerufen  werde,  könne  er  auch  nur  auf  Befehl 
Sr.  Majestät  aufgelöst  werden.  Es  sei  selbstverständlich,  daß  dies 
inmitten  des  Krieges  nicht  geschehen  könne,  und  untere  Sol- 
daten würden  inmitten  des  Krieges  auch  nicht 
heimziehen,. ..< 


Zur  besseren  Übersicht 

Mitteilungen  und  Ausweise. 

Aufzeichnungen   in  Anerkennunj;   vorzüglicher  ülenstleUtunsr  vor   dem 
Feinde.  —  Zulassung  Invalider  Unteroffiziere  zur  Probepraxis.  —   Für- 
sorge für  Kriegerwitwen.  —  Versicherung  Kriegsgefangener,   Internierter 
und  Evakuierter.  —  Bleischrot  für  Jagdzwecke. 

Wir  veröffentlichen  auf  Seite  16  des  vorliegenden  Blattes  nach- 
stehende Mitteilungen  und  Ausweise  : 

>Auszeichnungen  in  Anerkennung  vorzüg- 
licher Dienstleistung  vor  dem  Feinde«,  >Zulassung 
invalider  Unteroffiziere  zur  Probepraxisc,  >Für- 
sorge  f  ü  r  K  r  i  eg  e  r  w  i  t  w  e  n«,  >Versicherung  Kriegs- 
gefangener, Internierter  und  Evakuierter<  und 
»B  leise  h  rot    für    Jagdzwecke«. 

Zumal  beim  Bleischrot  kann  es  nicht  schaden,  die  jagd- 
zwecke deutlich  zu  machen. 


—   113  — 


Ein  aufgeweckter  Kopf 

Gestern  M  i  1 1  w  o  ch,  den  9.  August,  wurden  folgende  Mit- 
teilungen verlautbart:  »Die  heftigen  Kämpfe  im  Räume  von  Görz 
dauern  fort.  Gestern  nachmittag  erreichten  einzelne  feindliche 
Abteilungen  die  Stadt.  Am  Monte  San  IWichele  und  bei  San  Martino 
wiesen  unsere  Truppen  wiederholte  Angriffe  unter  schwersten  Verlusten 
der  Italiener  ab.« 

Fortdauer  der  Schlacht. 

Aus  diesem  kurzen  Rückblicke  ist  zu  erkennen,  daß  die 
italienische  Angriffsschlacht,  die  am  vorigen  Donnerstag  begonnen  hat, 
vorgestern  Dienstag,  bis  zum  Dienstag  nachmittag  reichen  die 
Meldungen,  noch  fortgedauert   hat. 


Eine  unterrichtete  Seite 

Die  Bedeutung  des  Kanzlerbesuches. 

Mitteilungen    von    unterrichteter    Seite. 

Wien,   10.  August. 

Der  deutsche  Reichskanzler  Herr  v.  Beth mann- Hollweg  trifft 
morgen  zu  einem  mehrtägigen  Aufenthalt  in  Wien  ein  ...  . 

Es  ist  naheliegend  und  selbstverständlich, 
daß  diese  Besuche  politischen  Charakter  haben.  Sie  gelten  der  Be- 
sprechung der  durch  den  Krieg  aufgeworfenen 
Fragen  und  man  kann  annehmen,  daß  auch  der  diesmalige 
Besuch,  auf  dem  Herr  v.  Bethmann-Hollweg  wieder  von  Herrn  v.  Jagow 
begleitet  ist,  der  Erörterung  aller  schwebenden  Fragen 
gewidmet  sein  wird. 

Daß  mit  dem  Reichskanzler  auch  der  Staatssekretär  des  Aus- 
wärtigen Amtes  nach  Wien  kommt,  drückt  den  zu  erwartenden  Bespre- 
chungen auch  diesmal  einen  wichtigen  Charakter    auf. 


Weitere  Folgerungen 

Die  politischen  Besprechungen  in  Wien. 

Konferenzen  zwischen  den  deutschen  und  den  österreichisch- 
ungarischen Staatsmännern. 

Wien,  12.  August. 
Aus  der  amtlichen  Mitteilung  über  die  Zwecke  der  Reise  des 
Herrn  v.  Bethmann  Hollweg  und  des  Staatssekretärs  v.  Jagow  nach  Wien 
war  zu  entnehmen,  daß  es  sich  darum  handelt, 
einen  persönlichen  Meinungsaustausch  mit  dem  Minister  des  Äußern 
Baron  Burian  über  verschiedene  aktuelle  Fragen  zu  pflegen. 
Aktuelle  Fragen  sind  naturgemäß  wichtige  Fragen, 


—    114   — 


wie  schon  ausder  Tatsache  zu  schließen  ist,  daS  die 
im  Kriege  noch  mehr  als  sonst  mit  Arbeit  überlasteten  Staatsmänner 
ihre  Konferenzen  mehrere  Tage  fortsetzen.  Daraus  kann  jedoch 
die  weitere  Folgerung  gezogen  werden,  daß  die  letzten 
Vorfälle  auf  dem  Kriegsschauplatz  an  Stellen,  wo  das  Urteil  sich  auf 
die  volle  Kenntnis  der  Verhältnisse  stützen  kann,  keinen  Einfluß 
auf  die  Absicht  hatten,  die  großen  Fragen,  die,  wie 
es  sich  von  selbst  versteht,  die  höchste  politische 
Bedeutung  haben  müssen,  jetzt  einer  Aussprache 
zu  unterziehen  und  darüber  zu  gemeinsamen  Auffassungen  und 
Beschlüssen  zu  kommen.  Diese  eingehenden  politischen  Konferenzen  in 
Wien  zwischen  den  österreichisch-ungarischen  und  deutschen  Staatsmännern 
sind  ein  auch  dem  großen  Publikum  erkennbares 
Zeichen,  daß  die  leitenden.  Kreise  in  Wien  und  Berlin  an  der 
bisherigen  Meinung  über  die  Entwicklung  der  Verhältnisse 
festhalten  und  ihr  Urteil  nicht  geändert  haben.  Die 
mehrtägigen  Konferenzen  über  Fragen,  die  als  aktuelle 
bezeichnet  worden  sind,  woraus  hervorgeht,  daß 
sie  mit  dem  Kriege  zusammenhängen,  zeigen  auch  die 
Wertung  dieser  Ereignisse  bei  den  für  die  Leitung  der 
Politik  maßgebenden  Persönlichkeiten  der  Monarchie  und  des  Deutschen 
Reiches. 

Und    setzt    nicht    vielleicht    eine  Generaloffensive  in   Form 
einer  Watschen  ein? 


Neuerungen 

»Wir  stehen  vor  Fogaras!« 

Das  Ausrufungszeichen  im  deutschen  Bericht 

Wien,  5.  Oktober. 
Eine  kleine  Tatsache  hat  vielfach  den  Gegenstand  der  Aufmerk- 
samkeit gebildet.  Zum  erstenmal  wird  im  deutschen  Bericht  eine  Meldung 
durch  ein  Ausrufungszeichen  in  ihrer  Wirkung  gesteigert.  Bei  der  Spar- 
samkeit und  Sachlichkeit,  mit  welcher  die  verbündeten  Heeresleitungen  sich 
über  die  Kriegslage  äußern,  ist  diese  zum  erstenmal  angewendete  Kenn- 
zeichnung eines  wichtigen  Ereignisses  im  Publikum  stark  bemerkt  worden. 
Wir  stehen  vor  Fogaras!  Das  Ausrufungszeichen  im  deutschen  Bericht 
ist  sicherlich  nicht  ohne  Absicht  erfolgt. 

Und  der  gleichzeitige  österreichische  hat  zum  erstenmal  die 
Wendung: 

Das  Ergebnis  des  von  der  Entente  mit  gewohnter  Aufmachung 
verkündeten  Vorstoßes  der  Rumänen  —  — 


—   115  — 

Zur  Aufklärung 

Wien,  27.  Juli   1916 

Die  allgemeine  Aufmerksamkeit  wendet  sich  den  Kämpfen  im 
Osten  zu,  wo  seit  dem  Beginne  der  russischen  Offensive  in  den 
ersten  Tagen  des  Monats  Juni  in  Schlachten  und  Gefechten  um  Leben 
und  Sieg  gerungen  wird.  Der  Krieg  wird  zwischen  den 
beiden  großen  Staatengruppen,  zwischen  der  En- 
tente und  der  Vereinigung  der  Mittelmächte  ge- 
führt  


Definitionen 

Stanislau  ist  so  recht  ein  Rufzeichen,  das  den  Übermut  des 
Generals  Brussilow  dämpfen  und  ihn  erinnern  muß,  wie  vergänglich  an 
dieser  Stelle  russische  Eroberungen  gewesen  sind. 

Wie  sich  die  Regierung  gegenüber  diesem  Drucke  verhalten  werde, 
dürfte  übrigens,  wenn  auch  nicht  am  14.  August,  aber  vielleicht  an 
einem  Tage  mit  einem  anderen  Datum  bekannt  werden. 

Die  österreichischen  Städte  haben  ja  noch  zu  wenig  Beziehung 
untereinander:  was  verbindet  den  Czernowitzer  mit  dem  Marburger,  was 
den  Brünner  mit  dem  Rovigneser?  Der  Krieg  mußte  sie  zusammenführen. 

Die  Linien  oder  die  Flächen  sind  in  der  Wirklichkeit  vom  Körper 
nicht  zu  trennen,  und  dennoch  arbeitet  das  Denkvermögen  mit  ihnen 
und  baut  Sätze  auf  mit  unbedingter  Wahrheit,  obgleich  die  Breite  und 
Tiefe  vernachlässigt  werden.  Die  Schlachten  an  der  Somme  sind  eine 
der  schlimmsten  Enttäuschungen. 

Als  die  Kriegserklärung  in  Bukarest  beschlossen  worden  ist, 
haben  sich  die  Führer  der  Entente  benommen,  als  hätten  sie  Dämpfe 
von  indischem  Hanf  eingeatmet. 

Die  Diplomaten  der  Entente  sind  wie  die  Söhne  des  Noah,  welche 
die  Blöße  ihres  trunkenen  Vaters  zugedeckt  haben. 

Die  Hagia  Sophia  ist  die  Fata  Morgana  für  die  russische  Ver- 
größerungspolitik. Das  Versprechen  der  Beihilfe  zur  Verwirklichung 
dieses  Spiegelbildes  ist  der  Nasenring,  an  dem  die  englische  Politik  den 
russischen  Bären  führte  und  noch  führt. 

Görz  ist  ein  Hautritz. 

Brody  ist  ein  Schmerz. 


Teil  sagt 

England  ist  nicht  bedroht,  keine  Hand  streckt  sich  nach  seinem 
Besitze  aus,  und  nie  ist  von  Deutschland  gefordert  worden,  was  dem 
britischen  Reiche  gehört.  England  ist  Angreifer  und  nicht  Verteidiger. 
Teil  sagt,  jeder  geht  an  sein  Geschäft  und  meines 
ist  der  Mord. 


116 


Dieses  höchst  israelitische  Komma,  das  eine  indirekte  Rede 
als  direkte  einleitet  ist  hier  geradezu  der  Ausgangspunkt  zu  einer 
Katastrophe.  Man  muß  sich  das  von  einer  schmalzigen  Zunge  nur 
so  hingewälzt  vorstellen.  Meines  ist  der  Mord,  das  heißt,  nicht  meines, 
sondern  seines,  das  heißt  nicht  seines,  sondern  Teils,  das  heißt  nicht 
Teils,  sondern  Englands.  Aber  was  heißt  Englands?  England  ist  An- 
greifer und  nicht  Verteidiger.  Teil  sagt,  er  ist  Verteidiger  und  nicht 
Angreifer.  Denn  er  sagt  doch,  die  armen  Kindlein,  die  unschuldigen, 
das  treue  Weib  muß  ich  vor  deiner  Wut  beschützen,  Landvogt.  Wenn 
England  Teil  war',  war'  Deutschland  Geßler,  während  wir  doch 
bisher  gelernt  haben,  England  ist  Geßler  und  Deutschland  ist  Teil. 
England  sagt,  es  will  jeden,  der  an  sein  Geschäft  geht,  morden. 
Also  ist  England  nicht  Teil.  Teil  sagt,  ich  lebte  still  und  harmlos, 
du  hast  aus  meinem  Frieden  mich  herausgeschreckt.  Also  ist 
England  nicht  Teil,  sondern  konträr  Geßler.  Teil  sagt,  in  pures 
Drachengift  hast  du  die  Milch  der  frommen  Denkart  mir 
verwandelt.  Das  ist  Verderbtheit.  Also  ist  nicht  England  Teil, 
sondern  konträr  Deutschland.  Teil  sagt,  entrann'  er  jetzo  kraft- 
los meinen  Händen,  ich  habe  keinen  zweiten  zu  versenden. 
Also  könnte  zwar  wegen  Munitionsmangel  in  England 
England  Teil  sein,  aber  das  weitere  stimmt  wieder  nicht,  wo  er 
sagt,  an  euch  nur  denkt  er,  liebe  Kinder,  euch  zu  verteid'gen, 
eure  holde  Unschuld  zu  schützen  vor  der  Rache  des  Tyrannen, 
will  er  zum  Morde  jetzt  den  Bogen  spannen.  Und  außerdem  sagt 
Teil,  gilt  es  das  Herz  des  Todfeinds,  der  mich  will  verderben,  und 
was  die  Vorbereitung  betrifft,  sagt  er,  mein  ganzes  Leben  lang 
hab'  ich  den  Bogen  gehandhabt,  mich  geübt  nach  Schützenregel, 
während  England  doch  erst  den  Militarismus  nachholen  muß  und 
sich  darum  mit  Schmach  bedeckt  vor  Europa.  Wie  stehts  aber  mit 
dem  Geschäft?  Teil  sagt,  hier  geht  der  sorgenvolle  Kaufmann, 
der  düstre  Räuber  und  der  heitre  Spielmann,  womit  er  vielleicht 
auf  die  Armeelieferanten  und  auf  Edmund  Eysler  anspielen  will, 
denn  jede  Straße  führt  ans  End'  der  Welt,  also  nach  dem  Orient 
und  sie  alle  ziehen  ihres  Weges  fort  an  ihr  Geschäft  und  meines 
ist  der  Mord.  Teil  sagt  mit  Bedauern,  jeder  geht  an  sein  Geschäft, 
nur  ausgerechnet  er  nicht,  Teil  mordet  keinen,  der  an  sein 
Geschäft  geht,  sondern  den  Geßler,  der  jeden,  der  an  sein 
Geschäft    geht,    mordet.     Also    ist    England    nicht    Teil,     denn 


117 


England  mordet  jeden,  der  an  sein  Geschäft  geht,  sondern 
Geßler.  Wenn  also  Teil  sagt,  so  meint  er  anders,  und  in  Wirk- 
lichkeit stellt  sich  die  Situation  so  dar,  Deutschland  ist  der  sorgen- 
volle Kaufmann,  der,  man  kann  sich  vorstellen,  ruhig  an  sein 
Geschäft  geht,  und  England  ist  Geßler,  während  die  Rolle  des 
Wilhelm  Teil  teilweise  unbesetzt  bleiben  muß,  da  doch  England 
mordet  und  nicht  Deutschland  und  Deutschland  gegen  die  Tyrannei 
aufsteht,  aber  nicht  England.  Englands  Geschäft  ist  nicht 
der  Mord,  sondern  der  Mord  ist  sein  Geschäft.  Deutschland 
sagt,  es  kann  der  Frömmste  nicht  im  Frieden  bleiben,  wenn  es 
dem  bösen  Nachbar  nicht  gefällt.  Englarid  macht  seine  Rechnung, 
und  Teil  sagt,  mach  deine  Rechnung  mit  dem  Himmel,  Vogt. 
England  ist  nicht  bedroht.  Teil  sagt,  noch  lebt  ein  Gott, 
zu  strafen  und  zu  rächen.  Hier  fällt  uns  das  Wörtchen  »noch« 
auf  und  das  Auge  bohrt  sich  hinein  in  den  Teil-Monolog 
und  jetzt  werden  sie  zu  hören  bekommen  und  der  Schrecken 
breitet  sich  aus  und  Attinghausen  hat  gesagt,  seid  einig. 
Woraus  auch  für  den  Laien  klar  hervorgeht,  welche  Verwirrung 
entsteht,  wenn  Tel!  sagt  und  Benedikt  schreibt,  und  wie 
wenig  man  auf  die  Telisage  geben  kann,  die  höchstens 
wert  ist,  unter  dem  Titel  verlautbart  zu  werden:  Voraus- 
sichtliches Kommen  Geßlers  durch  die  hohle  Gasse  und  unbe- 
stätigte Gerüchte  über  den  bevorstehenden  Heldentod  Geßlers 
durch  Teil  bei  Küßnacht  und  Hineinwerfen  in  den  Vierwald- 
stättersee,  und  mit  dem  Untertitel:  In  den  heutigen  Schweizer 
Blättern. 


Das  Volk  will  Steuern  zahlen 

»...  Wie  nüchtern  man  auch  die  Stimmung  der  Bevölkerung  gegen- 
über den  Maßnahmen  zur  Erschließung  neuer  Einnahmsquellen  des 
Staates  beurteilen  mag,  eine  gewisse  Steuerfreudigkeit 
ist  doch  unverkennbar.  Beinahe  Größe  liegt  ja  in  der  R  e- 
signation,  mit  welcher  die  Bevölkerung  die  neuen,  nicht  unerheb- 
lichen Lasten  der  Steuerreform  auf  sich  nimmt.  .  .  .« 

». . .  Alle  die  angeführten  Momente  sieht  die  Bevölkerung  auch  ein, 
das  beweist  die  interessante  Erscheinung,  daß  immer 
mehr  Stimmen  in  der  Bevölkerung  laut  wurden, 
die  neue  Steuern  forderten.  So  paradox  das  auch  klingen 
mag,    es   wird     volll<ommen    verständlich,    wenn  wir  daran 


—  lli 


denken,  was  eingangs  von  der  durch  den  Krieg  herbeigeführten  Wandlung 
in  dem  Verhältnisse  zwischen  Staat  und  Bürger  gesagt  wurde.  Der 
einzelne  steht  dem  Staate  nicht  mehr  kühl  gegen- 
über, er  zahlt  seine  Steuer  nicht,  weil  hinter  dem  Staate  d  i  e 
Zwangsgewalt  steht,  sondern  er  zahlt,  weil  er  weiß,  daß  der 
Staat  sein  Geld  zum  Leben  braucht,  und  weil  er  will,  daß  der  Staat 
lebe  .  .  .  .« 

Sehr  interessant  wäre,  ohne  jede  Zwangsgewalt,  nur  durch  ein- 
fache Vorladung  festzustellen,  wie  der  einzelne,  der  die  volkswirtschaft- 
liche Rubrik  redigiert  und  das  Ganze  herausgibt,  in  diesem  Punkt  zum 
Staat  steht.  Ob  die  Börsengewinne,  Bestechungssummen  und  alles  sonst 
unter  der  Hand  Empfangene  in  dem  fatierten  Einkommen  aus  einem 
Journalunternehmen  inbegriffen  sind  oder  ob  jenes  nur  den  aus 
dem  Abonnement  und  den  Annoncengeldern  stammenden  Gewinn 
darstellt.  Gewiß  aber  bedarf  es  nicht  einmal  der  Nachfrage, 
da  in  dem  beängstigenden  Gedränge,  das  seit  Kriegsausbruch  vor 
der  Steueradministration  herrscht,  die  mit  Angeboten  förmlich 
belästigt  wird  —  das  Publikum  stellt  sich  an  — ,  ein  Zeitungseigen- 
tümer doch  nicht  ausbleiben  kann,  der  Einfluß  genug  hat,  um 
seinen  sofortigen  Empfang  durchzusetzen  und  sein  Bekenntnis  selbst 
vor  einem  Beamten,  der  sich  etwa  die  Ohren  zuhalten  wollte, 
anzubringen. 


Goldene  Worte  für  Eisen 

Der  Bürgermeister: 

...  Ich  habe  schon  darauf  hingewiesen,  welch  unsinnige 
Gerüchte  geglaubt  und  verbreitet  werden.  Es  ist  Ihre  Pflicht,  solchen 
Gerüchten  immer  auf  das  entschiedenste  entgegenzutreten.  Wir  müssen 
die  Bevölkerung  beruhigen,  nicht  daß  durch  solche  unsinnige  Gerüchte, 
wie,  es  wird  ein  brotloser  Tag  eingeführt,  die  Bäcker  dürfen  nur  mehr 
an  zwei  Tagen  backen,  die  Bevölkerung  in  eine  Panik  l'.inein^ehetzt 
wird.  Also  ruhig  Blut  bewahren,  und  vor  allem  — 
Blut  bewahren  ! 


Für  Gasthäuser 

»Die  Triester  Statthalterei  erließ  eine  Vorschrift,  wonach  der  Siadt- 
magistrat  in  jedem  Gasthause  in  Triest  die  Anbringung  des  Kaiserbildes 
anzuordnen  habe.  Auch  sei  jedem  Gasthause  die  Anschaffung  einer 
schwarz-gelben  Fahne  und  deren  Bereithaltung  für  kaiserliche  und 
patriotische  Feste  anzubefehlen.« 


—     llif 


Für  Kirchen 

>Die  .Preußische  Kirchenzeitung'  schreibt:  In  einer  Berliner  Kirche 
soll  am  1 .  August  ein  Gottesdienst  mit  folgender  Ordnung  stattgefunden 
haben:  1.  Gemeinde:  Wir  treten  zum  Beten  vor  Gott  dem  Gerechten 
u.  s.  w.  2.  Geistlicher:  Eingangsgebet.  Schriftverlesung:  2.  Kön.  23,  1 
bis  3.  3.  Gemeinde:  Ein  Lied  von  E.  M.  Arndt  und  Eine 
feste  Burg.  4.  Geistlicher:  Verlesung  der  Botschaft  des 
Kaisers  an  das  deutsche  Volk.  Predigt  über  Sam.  7,  12. 
5.  Gemeinde:  Vaterunser.  6.  Gemeinde:  Die  Wacht  am 
Rhein.  7.  Zum  Schluß:  Ein  dreimalig  gewaltig  durch 
die  ehrwürdigen  Räume  des  Gotteshauses  brau- 
sendes   Hoch    auf    den    Kaiser.... < 


Walhalla  mit  Exportabteilung 

.  .  .  Aus  den  begeisterten  jungen  Soldaten,  die  singend  aus- 
zogen, sind  Männer  von  grimmigem  Ernst  geworden;  zu  den  strengen 
großen  Linien  der  ausdrucksvollen  Köpfe,  die  eines  Hodlers  Kunst  reizen 
müßten,  paßt  das  einfache  graue  Kriegsgewand  viel  schöner  als  das 
frühere  bunte  Waffenkleid.  Zu  dem  Bilde  des  deutschen  Kämpfers  im 
Weltkrieg  gehört  auch  der  neue  Stahlhelm,  dem  man  jetzt  auch  in  den 
Straßen  der  Reichshauptstadt  nicht  selten  begegnet  ....  es  ist,  als  hätte 
man  einen  Reisigen  aus  der  Zeit  der  Frundsberge  vor  sich  .... 

Ich  glaube  nicht,  daß  die  Ziele  dieses  Krieges  solchen 
Eingriff  in  den  Schatz  farbiger  Vorstellungen  und  in  die  Erlebnis- 
sphäre des  Malers  Hodler  oder  auch  nur  in  das  Kostümatelier 
des  Malers  Hollitzer  rechtfertigen,  der  ja  als  Landsknecht  in 
Kabaretts  und  Preßquartieren  seinen  Mann  gestellt  hat.  Wohl 
aber  glaube  ich,  daß  die  Wesensart,  die  sich  an  den  Realien  in 
solcher  Verpackung  berauschen  kann,  eine  der  Grundursachen 
dieses  Krieges  ist.  Frundsberg,  so  nannte  sich  tatsächlich  der 
Autor  des  Artikels  »Auf  der  Russenfährte«.  Ich  würde  manche 
unter  jenen,  die  das  Auge  des  Schilderers  bestochen  haben,  unschwer 

als  Weinreisige  erkennen. 

*  * 

Walhalla 

»Aus  den  Nachrichten  der  Sektion  des  Deutschen  und  Öster- 
reichischen Alpenvereines  (September):  Unser  Mitglied  Oberleutnant  .... 
ist  vor  kurzem  auf  dem  südwestlichen  Kriegsschauplatz,  beim  Erklettern 
einer  Felswand  im  feindlichen  Feuer  von  zwei  Kugeln  getroffen,  gefallen. 
Ihn,  den  alle  lieb  hatten,  die  ihn  kannten,  weil  er  licht  und  freundlich 
war  wie    B  a  1  d  u  r,    liederfroh  wie    B  r  a  g  i    und  stark  wie    A  s  a  t  o  r, 


120   — 


trug  die  wieder  zur  Walküre  erwachte  S  a  1  i  g  e  von  der  Keller- 
wand quer  vor  sicii  im  Sattel  vor  Walhalls  goldenes  Tor. 
Weit  sprang  das  auf;  denn  gern  öffnet  es  sich  dem,  der  an  blutender 
Wunde  für  Volk  und  Freiheit  starb.    Heil  ...  I< 


Ein  Ausschnitt  vorn  und  hinten 


Vor  n : 
Eine  ganz  außergewöhnliche  und 
bisher  noch  niemals  dagewesene 
Operation  ist  dieser  Tage  im  Mili- 
tärspital zu  Bordeaux  an  einem 
französischen  Kriegsverwundeten 
vorgenommen  und  glücklich  aus- 
geführt worden.  Der  ärztlichen 
Kunst  ist  es  nämlich  gelungen, 
einem  Soldaten  durch  eine  schwere 
Verwundung  verloren  gegangene 
wichtige  Teile  des  Gesichtes  durch 
künstliche  Apparate  vollkommen  zu 
ersetzen.  Es  handelt  sich  um  einen 
Kriegsverwundeten,  einen  sehr 
kräftigen,  jungen  Mann,  dem  die 
ganze  rechte  Gesichtshälfte  unter- 
halb des  Auges  durch  Granatsplitter 
fast  völlig  weggerissen  wurde. 
Teile  der  Nase,  Wange  und  Ohr 
vollständig,  ebenso  große  Teile  des 
Oberkiefers,  der  ganze  rechte  Unter- 
kiefer und  die  gesamte  Bezah- 
nung  der  rechten  Mundhälfte.  Der 
Mann  schien  verloren,  als  der  Chef- 
chirurg des  Spitales,  Dr.  Crile,  ein 
Mittel  fand,  dem  Unglücklichen  das 
Leben  zu  retten.  Zum  Wiederersatz 
aller  verlorenen  Knochen  überpflanz- 
te der  Chirurgzunächst  zu  einem  ganz 
geringen  Teile  Knochen  von  dem  Pa- 
tienten selber;  der  Hauptteil  jedoch, 
so  fast  der  ganze  Unterkiefer  und 
das  ganze  Gebiß  wurden  aus  einem 
kunstvollen  Aluminiumgerippe  auf- 
gebaut, das  natürlich  stark  genug  sein 
muß,  um  bei  dem  gewaltigen  Kau- 
drucke nicht  die  Form  zu  verlieren.    , 

Ja,  das  Gesicht  dieser  Welt 


Hinten: 
Der  von  Malcolm  Poß  gezeich- 
nete Bericht  sagt,  daß  die  eng- 
lischen Batterien  bei  dem  letzten 
großen  Bombardement,  das  den 
eigentlichen  Stürmen  vorausging, 
mindestens  zwölf  Millionen  Gra- 
naten gegen  die  deutschen  Linien 
geworfen  haben.  Der  englische 
Feuerorkan  habe  alle  Vorstellungen 
überstiegen,  die  man  sich  von 
einem  Bombardement  nur  immer 
machen  konnte.  Die  deutschen 
Soldaten  seien  in  einer  wahren 
Hölle  gewesen  und  man  könne  sich 
kaum  vorstellen,  daß  Lebewesen 
eine  solche  Beschießung  über- 
stehen können,  ohne  irrsinnig  zu 
werden.  Nur  Schutt  und  Asche 
bleibt  dort  zurück,  wohin  dieser 
Sturm  von  Stahl  und  Feuer  ge- 
schlagen. Als  die  Sturmtruppen 
in  den  Regionen,  über  die  dieser 
Granatenhagel  stundenlang  er- 
barmungslos niedergeprasselt  war, 
noch  Lebewesen  fanden,  die  sich 
verteidigten,  faßte  sie  Respekt 
und  Erstaunen  über  diesen 
Gegner.  Die  Zähigkeit  der 
deutschen  Verteidigung  sei  eine 
derartige,  daß  sie  durch  jene 
Mittel,  mit  denen  man  bisher 
Kriege  zu  führen  gedachte, 
nicht  gebrochen  werden  könne. 
Dieser  außerordentliche  Widerstand 
erfordert  auch  außerordentliche 
Mittel.  Die  Engländer  seien  auf 
dem      Wege,      sie      zu      finden. 

wird  eine  Prothese  sein! 


121    — 


Was  lese  ich  da, 


»der  tapfere  General,  dessen  Truppen  überall  da  ein- 
gesetzt wurden,  wo  der  Kampf  am  heißesten  tobte....«? 
Der  Arme,  was  muß  der  gelitten  haben ! 


Mit  der  Uhr  in  der  Hand 

Berlin,  22.  September.  Das  Wölfische  Bureau  meldet:  Eines 
unserer  Unterseeboote  hat  am  17.  September  im  Mittelmeer  einen  voll- 
besetzten feindlichen  Truppentransportdampfer  versenkt.  Das  Schiff  sank 
innerhalb  43  Sekunden. 

Dies  ist  das  Aug  in  Aug  der  Technik  mit  dem  Tod. 
Krieger,  Freunde  blutiger  Entscheidung,  Anhänger  des  Wunsches, 
daß  der  Tapferkeit  Anteil  gebühre  an  der  Macht,  müßten  auf- 
stehen und  sagen,  diese  Möglichkeit  liege  ihnen  fern,  es  sei  nicht 
das  Richtige,  es  sei  selbst  dem  Schlachtengott,  der  aus  der 
Maschine  kommt,  kein  Opfer,  nur  der  Maschine.  Wohl,  hier  ist  die 
Entwicklung  in  der  Sackgasse.  Wenn  der  Menschengeist  so  weit 
kam,  Mörser  zu  bauen,  um  vor  ihrer  Wirkung  wieder  unter  die 
Erde  zu  kriechen,  wenn  er  Riesen  konstruiert  hat,  um  mit 
der  Uhr  in  der  Hand  zuzuschauen,  wie  die  der  Zwerg  überwältigt  — 
dann  zeigt  die  Uhr  dreizehn  und  es  ist  Zeit,  zur  Ruhe  zu  gehen. 
Überschlafen  wir's.  Sonst  sitzt  uns  eines  Tages  ein  kriegs- 
untauglicher Ingenieur  am  Bureautisch  und  gibt  zur  Verbesserung 
des  Agios  oder  wie  der  unselige  Vorteil  sonst  heißt,  durch  einen 
Druck  auf  den  Taster  zu  verstehen,  daß  jetzt  eine  Festung  in  die 
Luft  fliegen  wird.  Ihr  geht  an  dieser  Möglichkeit  zugrunde  und 
umsomehr,  wenn  der  Apparat  vom  Zinsfuß  bedient  wird,  und  ganz 
und  gar,  wenn  ihr  die  unselige  Verbindung  noch  mit  dem  alten 
Ideal  verbindet  und  das  Ding  Glorie  nennt ! 


—   122  — 


Der  Krieg 

soll  immerhin,  wenigstens,  also  wenn  er  schon  sonst  nichts  für  sich 
hat,  ein  Aderlaß  an  der  Menschheit  sein.  Wobei  aber  die 
Gesundheitspolitiker  außer  acht  lassen,  daß  das  übrigbleibende 
Blut  nicht  eben  jenes  ist,  aus  dem  sie  sich  fortpflanzen  könnte, 
so  daß  wieder  die  Fortpflanzungspolitiker  eingreifen  und  für  eine 
praktische  Ausnützung  der  Urlaube  agitieren  müssen.  Sympathisch 
mag  ja  diese  Menschheit  nicht  sein;  daß  sie  tüchtig  ist  bis  zum 
letzten  Atemzug,  muß  ihr  der  Neid  der  Marsbewohner  lassen. 
Nur,  daß  noch  keiner  auf  die  Idee  gekommen  ist,  zur  Herbei- 
führung des  Aderlasses  statt  der  Soldaten  die  Armeelieferanten, 
die  doch  in  sämtlichen  Staaten  auch  ein  starkes  Kontingent  stellen, 
zu  opfern.  Oder,  wenn  zur  Ausfindigmachung  dieser  Sorte  es  doch 
wieder  eines  Kriegsausbruchs  bedürfte,  jene  Berufe,  die  den  Kri^ 
vorbereiten  helfen  und  die  um  den  Vorrang  streiten,  ob  Bismarcks 
Wort  von  der  Feder,  die  die  Leistung  des  Schwerts  verderbe, 
sich  auf  sie  oder  auf  sie  beziehe:  Journalisten  und  Diplomaten. 
Und  vor  allem  jene,  die  im  Frieden  wie  im  Krieg  in  Lokalen 
sitzen  und  plötzlich  ausrufen :  >Ich  geh  mit!«,  worauf  der  andere 
opferbereit  entgegnet:  »Von  mir  aus!«  und  sich  ein  mir  völlig 
unverständlicher  Dialog  entwickelt  wie:  »Ich  hab  einen  Treff!« 
»Mit  absolut!«  »Ich  hab  Sie  sanft  hineingelassen !«,  bis  endlich 
einer  »Ich  hab  e  Wonnock!«c  ruft.  Das  gäbe  einen  ganz  aus- 
giebigen Aderlaß,  ohne  daß  andere,  die  im  Frieden  vielleicht  eine 
nützliche  oder  auch  nur  geistige  Tätigkeit  ausgeübt  haben,  2500 
Meter  hoch  unter  Zeltblättem,  an  einem  schmalen  Felsband  eng 
aneinander  gekeilt,  längs  schwindelnden  Abgrunds  angeklammert 
an  ein  Drahtseil,  stehend,  hängend,  dem  feindlichen  Trommelfeuer 
ausgesetzt  sein  müßten.  Die  Staaten  sollten  sich  im  künftigen 
Frieden  verpflichten,  Hinterländer  zu  bleiben  und  den  notwendigen 
Aderlaß  in  eigener  Regie  zu  besorgen. 


—   123  — 

Theater,  Kunst  und  Literatur 

>Der  Kommandant  des  Kriegspressequartiers  Generalmajor 
Ritter  v.  H  o  e  n  wird  bei  dem  Vortrag  der  Kriegsberichterstatterin 
Alice  Schalek  >Drei  Monate  an  der  Insonzofront<  am  14.  d. 
im  mittleren  Konzerthaussaale  einige  einleitende  Worte  sprechen. 
Zu  diesem  Vortrag  sind  nur  noch  wenige  Karten  in  Gutmanns 
Hof musikalienhandlung  erhältlich. « 

>.  .  .  Nicht  aus  Neugierde,  so  bemerkte  Fräulein  Schalek, 
sei  ihre  Reise  an  die  Front  erfolgt  sie  wollte  dem  Krieg  in  das 
Angesicht  schauen « 


>.  . .  und  als  Fräulein  Schalek  ihren  Vortrag  beendet  hatte, 
da  meinte  so  mancher  Zuhörer,  er  habe  hier  einen  unserer  Helden 
selbst  von  den  harten  Kämpfen  gegen  die  Italiener  erzählen  hören.« 


124 


Lyrik 

Beim  Eierdetailverschleiß  ist  gleichfalls  außer 
den  Preisen  die  Provenienz  anzuschreiben  sowie  ob  die  Eier 
geleuchtet  sind  oder  nicht. 


Die  Krankenpflegerin. 

Tiefen  Atem  holt  der  Bleiche 
Schwebend  in   Deliriums  Reiche, 
Leise  flüstern  seine  Lippen : 
»Laß  von  deinem  Mund  mich  nippen I« 
Lieb!  Ade,  Lieb!  Ade. 

Zwölfe  schlägt  es     -   Mitternachtsstunde, 
Noch  ein  Säftchen  ihm  zum  Munde 
Führt  der  Pfleg'rin  Hand  so  weiß. 
Trocknet  seine  Stirn  vom  Schweiß. 

Bleicher  Krieger  streckt  die  Glieder, 
Aus  dem  schlaffen  Munde  wieder 
Tönt  es  diesmal  laut  und  klar: 
Ich  geh'  von  hinnen,  es  ist  wahr. 
Lieb   —    Ade,  Lieb   —   Ade. 

Bleiche  Lippen,  habt  gesprochen. 
Müdes  Auge,  bist  gebrochen! 
Und  der  Pflegerin  Hand,  so  weiß. 
Trocknet  deine  Stirn  vom  Schweiß. 

Robert   Schletter. 


Lokalbericht. 

[Kriegsausstellung     Wien     1916.]      Kommen- 
den    Samstag      findet     im      Bundestheater     das     zweite     populäre 


Larven  und  Lemuren 

(Leichenbegängnis.)  —  —  Riedl  —  —  Er  war  ein  Bruder  des 
Besitzers  des  —  —  Unter  den  zahlreichen  Trauergästen  waren  außer 
der  Familie:  FML.  Kontz,  Ministerialrat  Zborzil,  die  Obersten  Padewit 
und  Weichberger,  Platzkommandant  Oberstleutnant  Fechner,  Hauptmann 
a.  D.  Schriftsteller  Lenhard,  viele  Offiziere,  ferner  eine  Halbkompagnie 
des  Marine-  und  Militärkriegervereines  >Tegetthoff«  unter  dem  Kommando 
des  Oberstleutnants  Glaser  —  —  Kaffeesiedergenossenschaft  —  — 
Stellvertreter mit  den  Bezirksräten und  viele  andere  — 


125 


Aber  das  war  doch  schon.  Das  hats  doch  immer  gegeben. 
Der  Kondukt  ging  immer  und  geht  weiter,  was  auch  geschehe. 
Nie  löst  sich  diese  Reihe. 

Es  sind  die  um  Riedl.  Nichts  von  außen  bewegt 
die  Leichenstarre  der  Gemütlichkeit.  Dieses  Wien  hat  Erfüllungen, 
an  denen,  und  war'  auch  ein  Jahrzehnt  des  Weltuntergangs  da- 
zwischen, kein  Zweifel  rüttelt.  Die  alte  Garde  lebt,  aber  auch  die 
junge  ist  da,  es  behielt  sie  nicht.  Geh  außer  Landes  und 
nimm  dir  vor,  übers  Jahr  auf  den  Tag  um  halb  eins  auf  dem 
linken  Trottoir  der  Kärntnerstraße  diese  rüstige  Kompagnie  dem 
Zivilstande  Angehöriger  zu  finden.  Die  Zeit  ging  hin  mit  ihren 
Stürmen.  Lebfroh,  todfroh,  von  der  Sonne  beschienen,  stehen  sie 
da.  Verkleidete,  mit  kurzem  Rockerl  und  Monokerl  treten  lachend 
hinzu.  Scherzworte  schwirren.  Rings  hat  sich  manches  doch  ver- 
ändert, mehr  Krücken  kommen  vorbei,  wo  jene  stehn,  kaum  ist 
Platz  zum  Vorbeihumpeln.  Die  Stadt  war  sich  immer  unent- 
behrlich, aber  nun  erst  scheint  sie  zu  wissen,  wie  recht  sie  hatte, 
's  wird  schöne  Maderln  geben  und  wir  wem  immer  leben.  Und 
indem  ich  sie  ganz  nahe  betrachte,  ob  nicht  doch  eine  Falte  auf 
die  geschichtliche  Umwälzung  weist,  entdecke  ich,  daß  sie  alle 
längst  gestorben  sind  und  nur  aus  Prestigerücksichten  mittags  aus- 
gestellt werden.  Lebten  sie,  sie  hätten  im  großen  Durcheinander 
doch  wenigstens  eine  Stunde  wahrhaft  erlebt,  nämlich  die,  welche 
zwischen  Sommerzeit  und  Winterzeit  ist. 


Ein  Genuß!    -  Ein  Genußl  —  Ein  Genuß! 

>(D  er  Schützengraben  imPrater)  ist  jetzt  in  diesen 
heißen  Sommertagen  ein  idyllischer  Aufenthaltsort;  wenn  man  all 
das  Interessante,  das  im  Schützengraben  zu  sehen  ist,  genossen  hat, 
kann  man  sich  unter  den  mächtigen  alten  Eichen,  bei  trefflicher  Militär- 
muaik,  in  den  Restaurants  und  Cafes  köstlich  erholen  .  .  .  .« 


126 


Grenzen  der  Menschheit 

».  .  .  Die  Ereignisse  von  gestern  haben  dem  Gegner  zwischen 
Maurepas  und  der  Somme  unsere  vorderen  Gräben  gegeben,  oder  besser, 
ein  Chaos  von  Sand  und  Stein  und  Erde,  wie  es  die  Millionen  von 
Granaten  in  den  jüngsten  Tagen  geschaffen  hatten.  .  .  .  Die  Muni.ion 
war  in  einer  noch  nie  dagewesenen  Menge  aufgestapeli.  Der  Feind  hatte 
zu  einem  artilleristischen  Hauptschlag  gerüstet.  Das  Feuer  hielt  schon 
seit  Tagen  in  dem  starken  Takt  an,  den  ihm  der  moderne  Krieg  gegeben 
hat.  Ich  sah  in  der  jüngsten  Zeit  die  unzähligen  Einschläge  der  feind- 
lichen Granaten,  die  erst  die  Einleitung  zu  dem  Trommelfeuer  neuesten 
Stils  bildeten.  Es  tobte  die  ganze  Sommefront  entlang,  aber  es  war 
immer  noch  der  Beginn,  der  schwächere  Anfang  zu  dem  tollsten 
Geschützfeuer,  das  die  Welt  j^  erlebte  .  .  .  .« 

>.  .  .  Seit  Wochen  schon  bildete  es  in  Wiener  Theaterkreisen 
eine  Sensation,  daß  Mizzi  Zwerenz  und  Fritz  Werner  sich  als  neue  Stätte 
für  ihr  künstlerisches  Wirken  das  Apollotheater  erkoren  hatten.  .  .  . 
Das  Entree  der  Zwerenz:  »Ich  sing  den  ganzen  Tage,  dann  das  Duett 
mit  Werner:  »Urschula  geh'  her,  genier' dich  nicht<,  schlugen  im 
Vorspiel  kräftig  ein.  Der  >Millionenmarsch«  ist  der  richtige  Reißer  und 
scheint  berufen,  der  Nachfolger  des  »F  1  i  e  g  e  r  marsches«  zu  werden. 
Einschmeichelnd  und  süß  ist  das  Duett  Werner-Zwerenz :  »Beim  Tanzen, 
da  kommen  die  Leut'  zusamm'<.  Ein  richtiger  Schlager  ist  dann 
wieder  das  Duett  Zwerenz- Werner  im  Schlußbilde:  »Junges  Weib  und 
junger  Wein.«  .  .  .  Die  Walzertraumzeiten  des  siegreichen  Niki  und 
der  herzigen  Franzi  sind  wieder  erstanden.  Werner  sang  und  tanzte  in 
übermütiger  Laune,  die  Mitspieler  und  das  Publikum  mitreißend.  .  .  . 
Zweifellos  ist  Direktor  Ben  Tieber  für  lange  lange  Zeit  aller 
Spielplansorgen  enthoben,  zweifellos  hat  auch  der  an  Operettenerfolgen 
reiche  Wiener  Musikverleger  Herzmansky  einen  neuen  Voll- 
treffer   zu  verzeichnen.« 

>  .  .  .  Die  russischen  Stutmkolonnen  mußten  durch  das  Feuer 
der  eigenen  Geschütze  und  Minenwerfer  aus  den  Gräben  herausgetrieben 
werden,  da  sie  angesichts  des  mit  den  Leichen  lausender  Kameraden 
bedeckten  Vorfeldes  dem  Angriffsbefehl  nicht  Folge  leisten  wollten.  Als 
sie  dann  zwischen  beiden  Fronten  von  dem  mörderischen  Schnellfeuer 
der  Unseren  überschüttet  wurden  und  wieder  ins  Wanken  kamen,  legten 
russische  Batterien  und  Maschinengewehre  erneut  Sperrfeuer  hinter  sie, 
um  ihnen  dadurch  jede  Hoffnung  auf  Umkehr  zu  nehmen  Daraufhin 
stürzten  die  Russen  sich  zwar  mit  dem  Mut  der  Verzweiflung  in  unsere 
Hinderniszone,  wurden  aber  von  unseren  Schrapnells,  Maschinengewehren, 
Granatwerfern  und  Handgranaten  vollends  abgetan.  Die  Zahl  der  gestern 
hier  Gefallenen  wird  auf  abermals  mindestens  fünftausend  geschätzt,  so 
daß  der  Gegner  allein  in  diesem  zehn  Kilometer  langen  Frontabschnitt 
binnen  drei  Tagen  über   zehntausend  Mann   an  Toten  verloren  hat....« 


127  — 


Gebet  während  der  Schlacht 


128 


Nie  wird  bis  auf  den  Grund  meiner  Erscheinung 
der  l<;ühnste  Rotstift  eines  Zensors  dringen. 
Verzichtend  auf  die  Freiheit  einer  Meinung, 
will  ich  die  Dinge  nur  zur  Sprache  bringen. 


Mittlerer  Konzertiimissod 

(III.  Lothringerstraße  20) 

FREITAG,  17.  NOVEMBER  191( 

-    7  UHR  ^^^^ 

VORLESUNG 

KARL  KRAUS 

AUS  EIGENEN  SCHRIFTEN 


KARTEN  zu  K  10-—,  8.—,  6-—,  5.—,  4.—,  3.—,  2-—,  1 . 
an  der  Konzerthaygkassa,  III.  Lothringerstr.  20, 
bei  Kehlendorfer,  I.  Krugerstrafie  3  und  tn  €^qt 
Buclihandlung  Richard  Länyi,  Kärntnerstrsße  4^ 

Ein  TeiB  des  Ertrages  wird  wohiiätEgen  Zwecicen  gewidm« 


Kleiner  Konzerttiaassam,  Hontas.  4.Dezeinl)i 
Vorlesung  Karl  Kray 

NESTROY:  Die     beiden    Nachtwandler    oc 

Das  Notwendige  und  das  übe 
flüssige 

RAIMUND  s         Der  Alpenkönig  und  der  Mensch® 

ffeind   (Aus  dem  I.  Aufzug) 

Das    HObeliied  (niavier:  Egon  Korns 

KARL  KRAUS:    Worte  in  Versen 

Der     volle    Ertrag    wird    wohltätigen    Zw^äcken    gewidm 


NR.  443/444  MITTE  NOVEMBER  1916  XVIIL  JAHl 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER 


KARL  KRAUS 


♦  INHALT: 

Mythologie  /  Zuflucht  /  Abenteuer  der  Arbeit  /   »Alle  Vögel  sin 
schon  da«  /  An  den  Schnittlauch  /  Grabschrift  für  ein  Hündchen 
Inschriften  /  Zitate  aus  Schiller,  Goethe,  Jean  Paul  /  Inschriften 
Elysisches  /  Bekenntnis  /  Der  Irrgarten  /  Der  Ratgeber  /  Der  Reim 
Vor  dem  Einschlafen   /   Gebet. 


NACHDRUCK   VERBOTEN 

Preis  dieses  Heftes: 

60  Heller  =  50  Pfennig 

■\7^trT3T  An.      rvTtr    TTA/^t^rrt*      ivj-TT^xT 


{LAG  DER  SCHRIFTEN  VON  KARL  KRAUS 

(KÜRT  WOLFF) 

^ORTE  IN  VERSEN 

In  3.  Auflage: 

ie  Chinesische  Mauer 

Essays 

Im  Druckt 

Nachts,    Aphorismen 

itergang  der  Welt  durch  schwarze  Magie 

Essays  ^ 

beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  und  durch  den  Verlag 
Leipzig,  Kreuzstraße  3  b 

erscheint  In  zwangloser  Folge. 

Abonnement  erstreckt  sich   nicht  auf  einen   Zeitraum,    sondern  auf  eine 
bestimmte  Anzahl  von  Nummern. 

ir  Österreich-Ungarn:        FürdasDeutsche  Reich :  Weltpostverein: 

t  Nummern     K  4.50         18  Nummern  Mk.  4.-         18  Nummern    K   6.- 
I         „  „  9.-        36        „  „    8.-        36         „  „  12.- 

1  ALT  der  vorigen  sechsfachen  Nummer  437—442, 3 1 .  Oktober  1916: 
rebuch  /  Zum  ewigen  Gedächtnis  /  Glossen  /  Epigramm 
5  Hochgebirge  /  Made  in  Germany  /  Der  soziale  Standpunkt 
Tieren  /  Glossen  /  Memoiren  /  Notizen  /  Sendung  / 
idschaft  /   Glossen   /  Auf  der  Suche  nach  dem  Menschen  im 


T   T     -J.-_l 


DIE  FACKEL 


Nr.  443—444         16.  NOVEMBER  1916  XVIII.  JAHR 


Mythologie 


Was?  Es  kann  sprechen?  Dieser  Schlauch  hier  ist 

ein  Mensch? 
Und  dieser  Bauch  hier,  jener  Blasebalg  ist  einer? 
Und  hier  der  Leguan,    der  Hamster   dort  sinds  auch? 
Der  links  am  Fenster,  einem  Schlafsack  gleich, 
der  rechts,  einer  Matratze  gleich,  auch  der? 
Dort  öffnet  sich  ein  Maul  wie  ein  Lavoir, 
Hier  naht  ein  Walroß  und  bestellt  die  Zeitung, 
und  dieses,  meint  man,  habe  Blut  wie  wir? 
Selbst  dieser,  der  so  aufgeregt  sehderanda 
sich  herkommt,  als  ob  er,  noch  ganz  in  Schaum, 
persönlich  jener  Kreuzigung  beigewohnt 
und  nun  erzählen  wollte,  wie's  gewesen, 
und  wer  dabei  gewesen  unter  andern, 
und  was  er  angehabt,  den  sie  nun  los  sind? 
Hier  röchelt  etwas  und  es  ruft :  Ich  nehm ! 
Was  ist  das?  Wär's  ein  Tier,  so  hätt's  Fasson. 
Es  ist  eins  und  doch  keines,  doch  kein  Mensch. 
Was  ?  Es  kann  sprechen  ?  Atmen  kann  es  auch  ? 


—  2 


Dies  ward  geboren?  Mitgeborne  sinds? 

Ein  Weib  trug  Schmerzen,  viele  freuten  sich, 

als  es  zur  Welt  kam?  Heute  offeriert  es 

freihändig,  hat  per  Zufall  tausend  Kilo 

von  dem  und  jenem,  und  noch  vier  Waggons 

von  Prima-Seife  und  ein  Aquarell. 

Und  vieles  gibt  es,  während  dies  da  ist. 

Und  Amethyste  gibts  und  in  den  Pampas 

schaukelt  —  oh  sieh  —  ein  blauer  Schmetterling. 

Da  reißt  sich  einer  los  und  brüllt:  Auf  Ihnen 

hat  man  gewartet,  Kleinigkeit,  wer  sind  Sie? 

Und  Zähne  hat  das  Ding,  dem  Eber  gleich, 

die  hacken  sich  ins  Fleisch  und  mahlen  alles 

mit  wilder  Wut  zu  hunderten  Prozenten. 

Der  Apparat  dort  kommt  nicht  leicht  zu  sich. 

Doch  tippt  man  an,  so  sagt  er:  Ausgerechnet! 

Hat  das  auch  Milz  und  Nieren  so  wie  wir? 

Es  kam  wie  wir  aus  dem  Geheimnisse 

und  wird  wie  wir  in  das  Geheimnis  eingehn? 

Ist  dieses  nicht  ein  größeres  Geheimnis? 

Die  Luft  ist  voll  von  Ziffern  und  Miasmen. 

Ich  sitze  da  und  bin  narkotisiert, 

ich  fühle,  diese  sind  nicht,  doch  wie  lange 

wohl  dieser  Übergang  noch  dauern  mag. 

Und  ob  er  glaube,  frag  ich  meinen  Nachbarn, 

daß  es  noch  Hoffnung  gibt  oder  schon  jetzt 

dem  Bottich  dort,  der  eben  ein  Getränk 

einschlürft,  Verständnis  zuzutrauen  sei 

für  mein  Problem,  nämlich  ob  hier  ein  Beistrich 

statt  eines  Strichpunkts  wohl  am  Platze  wäre 

und  wie  das  Wort  »chiastische  Umarmung« 

in  Sinn  und  Form  und  Klang  erfüllt  erscheint, 

und  ob  nicht,  wenn  ich  ihm  die  Stelle  zeige, 

dies  auch  vielleicht  die  Zauberformel  war' 

und  ob  das  Chaos  war',  wenn  ich  ihn  weckte. 

Mein  Nachbar  schweigt  erschrocken  und  er  blickt 

starr  wie  ich  selbst  auf  diesen  Kreis  von  Formen, 


die  durch  den  rätselhaften  Ratschluß  Eines 

doch  sprechen  und  sich  leicht  verständigen  können, 

nur  nicht  mit  uns.  Da  wird  es  lebhafter, 

weil  sie,  im  Vielerlei  des  Gelderwerbes 

ein  Ideales  fest  im  Aug  behaltend, 

auf  Pferde  setzen  und  von  Pferden  wissen, 

daß  sie  geschaffen  sind,  um  zu  gewinnen 

für  sie,  da  umgekehrt  ja  doch  die  Pferde 

auf  sie  zu  setzen  nicht  imstande  sind. 

So  sitzen  wir  im  Schlaf  und  hören  zu. 

Da  würgt  mich  etwas  und  es  ist  ein  Wort, 

und  jenes  Maul,  auf  das  wir  beide  starren, 

hat  jetzt  ein  wunderbares  Wort  gesagt, 

obschon  gesagt  im  Dialekt  der  Hölle: 

Glaukopis!  —  und  was  er  verdienen  wird. 


Zuflucht 


Hab'  ich  dein  Ohr  nur,  find'  ich  schon  mein  Wort: 
wie  sollte  mir's  dann  an  Gedanken  fehlen? 
Von  zwei  einander  zugewandten  Seelen 
ist  meine  flüchtig,  deine  ist  der  Hort. 

Ich  komme  aus  dem  Leben,  jenem  Ort, 

wo  sie  mit  Leidenschaft  das  Leben  quälen 

und  sich  die  Menschen   zu   der  Menschheit  zählen, 

und  technisch  meistern  sie  den  Tag  zum  Tort. 

So  zwischen  Schmach  und  Schönheit  eingesetzt, 
rückwärts  die  Welt  und  vorwärts  einen  Garten 
ersehend,  bleibt  die  Seele  unverletzt. 

Fern  zeigt  das  Leben  seine  blutigen  Scharten, 
an  mir  hat  es  sich  selber  wundgehetzt. 
Öffne  dein  Ohr,  um  meines  Worts  zu  warten! 


Abenteuer  der  Arbeit 


Was  leicht  mir  in  den  Schoß  fiel, 
wie  schwer  muß  ich's  erwerben, 
bang  vor  des  Worts  Verderben. 
O  daß  mir  dieses  Los  fiel ! 

Zuerst  war's  in  der  Hand  mir, 
dann  wollt'  es  sich  entfernen, 
da  mußt'  ich  suchen  lernen ; 
es  schwindelt  der  Verstand  mir. 

Das  Wort  hier  ist  ein  Zunder 
für  das  an  jener  Stelle. 
Gleich  brennt  die  ganze  Hölle. 
Das  Wort  ist  mir  ein  Wunder. 

Wie  öffnet  es  die  Lider, 
die  sonst  geschlossen  waren. 
Hier  gibt  es  nur  Gefahren. 
Ich  kenn'  das  Wort  nicht  wieder. 

Tausch'  ich  es,  wird's  mich  täuschen. 
Wie  es  sich  an  mich  klettet, 
seitdem  ich  es  gerettet 
aus  vielfachen  Geräuschen. 

Das  was  mir  einfiel,  hat  mich, 
der  ich's  nie  haben  werde, 
ich  steh'  auf  schwanker  Erde 
und  setze  selber  matt  mich. 


Ich  wähl'  im  Zweifelsfalle 
von  zweien  Wegen  beide. 
Ich  röste  mich  am  Leide, 
bin  in  der  Teufelsfalle. 

Ein  unerschrockner  Tadler 
will  ich  mir  nichts  erlauben, 
als  aus  dem  reinsten  Glauben 
zu  spielen  Kopf  und  Adler. 

Und  wenn  der  Kopf  aufs  Wort  kam, 

der  Adler  fällt  getroffen  — 

so  blieb  der  Zweifel  offen, 

ich  weiß  nicht,  wie  ich  fortkam. 

Wer  mit  dem  Geist  verwandt  ist, 
in  Bildern  und  in  Schemen 
die  Welt  beim  Wort  zu  nehmen  — 
beim  Himmel  kein  Pedant  ist ! 

In  sprachzerfallnen  Zeiten 
im  sichern  Satzbau  v/ohnen : 
dies  letzte  Glück  bestreiten 
noch  Interpunktionen. 

Wie  sie  zu  rasch  sich  rühren, 
wie  sie  ins  Wort  mir  zanken  — 
ein  Strich  durch  den  Gedanken 
wird  mich  ins  Chaos  führen  ; 

obgleich  ein  Strichpunkt  riefe  , 
dem  Komma  nicht  zu  trauen  : 
ein  Doppelpunkt  läßt  schauen 
in     eines    Abgrunds     Tiefe  ! 

Dort  droht  ein  Ausrufzeichen 
wie  von  dem  jüngsten  Tage. 
Und  vor  ihm  kniet  die  Frage: 
Läßt  es  sich  nicht  erweichen  ? 


—  7  — 

Wie  ich  es  nimmer  wage, 
und  wie  icli's  immer  wende, 
ein  Werk  ist  nie  zu  Ende  — 
am  Ausgang  steht  die  Frage. 

Und  eh'  mein  Herz  verzage, 
den  Ausgang  zu  erreichen, 
setz'  heimlich  ich  ein  Zeichen  — 
dem  Zeichen  folgt  die  Frage. 

Es  zündet  immer  weiter 
der  Blitz,  der  mich  zerrissen. 
Mein  eignes  besseres  Wissen 
will  Antwort  vom  Begleiter. 

Mit  angstverbrannter  Miene 
stock'  ich  vor  jeder  Wendung, 
entreiß'  mich  der  Vollendung 
durch  eine  Druckmaschine. 

Wie  schön  ist  es  gewesen, 
am  Wege  waren  Wonnen. 
Was  heimlich  süß  begonnen, 
nun  werden 's  Leute  lesen. 

O  Glück  im  Wortverstecke 
des  unerlösten  Denkens, 
Versagens  und  sich  Schenkens  — 
was  bog  dort  um  die  Ecke? 

Noch  nicht  erseh'n,  ersehn'  ich's. 
Vorweltlich  Anverwandtes, 
eh'  ich's  gesetzt  hab',  stand  es, 
und  nun  mir  selbst  entlehn'  ich's. 

Entzückung  fand  der  Gaffer 
am  tausendmal  Geschauten. 
Aus  tagverlornen  Lauten 
erlöst  er  die  Metapher. 


8  — 


Im  Hin-  und  Wiederfluten 
der  holden  Sprachfiguren 
folgt  er  verbotnen  Spuren 
posthumer  Liebesgluten. 

In  Hasses  Welterbarmung 
verschränkt  sich  Geist  und  Sache 
zu  weltverhurter  Sprache 
chiastischer  Umarmung. 

Wer  sprechen  kann,  der  lache 
und  spreche  von  den  Dingen. 
Mir  wird  es  nie  gelingen, 
sie  bringen  mich  zur  Sprache, 

Das  Wort  trieb  mit  den  Winden 

und  spielt  mit  Wahngestalten. 
Im  Wortspiel  sind  enthalten 
Gedanken,  die  mich  finden. 

Wenn  ich  so  weiter  fortspiel', 
vor  solchem  kühnen  Zaudern 
wird  es  die  Nachwelt  schaudern. 
Denn  alles  war  im  Wortspiel. 

Dem  ewigen  Erneuern, 
zum  Urbild  zu  gelangen, 
entrinn'  ich  nur,  gefangen 
in  neuen  Abenteuern. 

Durch  jedes  Tonfalls  Fessel 
gehemmt  aus  freien  Stücken, 
erlebt  sich  das  Entrücken 
auf  einem  Schreibtischsessel. 

Was  leicht  mir  in  den  Schoß  fiel, 
wie  schwer  muß  ich's  erwerben, 
bang  vor  des  Worts  Verderben. 
O  daß  mir  dieses  Los  fiel ! 


—  9 


Alle  Vögel  sind  schon  da< 


Das  Zimmer  schweigt  und  vor  dem  Fenster 
brütet  der  Sonntag  seinen  Plan, 
führt  auf  dies  stumme  Ab  und  An, 
die  Pantomime  der  Gespenster. 

Und  rechts  und  links  in  meinem  Zimmer 
hängt  was  gewesen  an  der  Wand, 
ein  toter  Freund  reicht  seine  Hand 
und  was  gewesen  ist,  bleibt  immer. 

Es  schweigt  mich  an  wie  eine  Sage, 
ein  jedes  Ding  von  seinem  Ort. 
Die  heimgegangne  Göttin  dort 
ruft  des  Geschlechtes  heilige  Klage. 

Wie  laut  wird  alles,  was  da  schweigt. 
Nun  bin  ich  schon  im  frühsten  Alter. 
Da  wird  die  Stille  rings  zum  Psalter, 
zu  dem  des  Nachbars  Junge  geigt. 

Des  ersten  Frühlings  Glückerleben 

wird  wieder  mir  so  greifbar  nah. 

Ach,  »alle  Vögel  sind  schon  da«! 

Ich  seh'  sie  durch  das  Zimmer  schweben. 


—   lU 


An  den  Schnittlauch 

O  gutes  Grün,  wie  sprichst  du  mich  zärtlich  an, 
Wie  heilig  schweigst  du  von  dem  Geheimnisse. 
Du  letzter  Schmuck  der  armen  Mutter, 
Die  ihren  Schoß  mit  der  Söhne  Blut  färbt. 

Daß  du  zugleich  bist  und  daß  mit  dir  zugleich 
Der  Wille  lebt,  an  dem  eine  Menschheit  stirbt  — 
Ach,  irdisch  Unmaß!  und  dir  wird  nicht 
Fahler  die  Farbe,  du  grüne  Hoffnung. 

O  letztes  Leben  und  wie  das  Leben  auch 
Verkannt,  du  Anbot  wahrster  Bescheidenheit, 
Du  selbstgenügsam  stille  Pflanze, 
Die  nur  wie  Schnittlauch    schmeckt  und  duftet. 

Nach  etwas  suchend,  welches  kein  andres  ist. 
Im  Kreis  des  Lebens,  das  im  Ersatz  sich  lebt, 
Bloß  deine  gute  Gabe  sah  ich. 
Chemischem  Zauber  unerreichbar. 

Daß  gleichwohl,    grüne  Freundschaft,    du   eßbar  seist, 
Wenn  auf  dem  Teller  treu  du  dich  hingestreut  — 
Es  rührt  noch  von  dem  alten  Hunger. 
Stets  hat  der  Mensch   von  der  Seele  gegessen. 


11 


Grabschrift  für  ein  Hündchen 

(Woodie,  gestorben  22.  Mai  1913.) 

Ein  kleiner  Hund  mit  langem  Haar,  den  ich  persönlich 

kannte, 
er  lachte,  wenn  man  zu  ihm  sprach,  er  weinte,  weil  er 

stumm  war, 
sein  Blick    war  Dank   der  Kreatur,    für  sich   und  für 

die  andern. 
Da  kam  ein  Wagen  ohne  Pferd  und  tötete  das 

Hündchen. 
Wer  hatte  es  so  eilig,  ach,  wer  hatte  es  so 

eilig. 
Wie  wenig  Raum  hat  der  Passant  für  sich  gebraucht 

im  Leben. 
Wie  eine  Schlange  konnte  er,    wenn    du   ihm  pfiffst, 

erscheinen. 
Wer  füllt  die  schmale  Stelle  aus?  Unwürdige  sind 

am  Leben, 
sie    brauchen  mehr  und  dennoch  bleibt   der  Würdige 

unersetzlich. 
Und  auch  sein  Beispiel  bessert  nicht,  sein  Opfer   nicht 

die  andern, 
die  immer  allzu  übrig  sind.  Der  dort  ging  seines 

Weges 
und  starb  daran.  Die  kleine  Frau,  sie  sah  sich  um  und 

rief  ihn, 
sie  rief  und  rief  und  sah  ihn   nicht,  da  lag  er  in  der 

Sonne. 
So  wenig  Stelle  nahm  er  ein.  Und  so  viel  Stille  bleibet, 

wo  Leben  keine  Worte  hat. 


12  - 


Inschriften 


Der  Besiegte 


Streit'  ich  vergebens  gegen  allen  Schmutz  der  Gosse, 
entschädigt  mich  die  Ohnmacht  vor  dem  Licht. 
Das  Leben,  meistens  greller  als  die  Glosse, 
ist  manchmal  schöner  doch  als  ein  Gedicht. 


Der  Unähnliche 

Wenn  ich  mich  so  in  eurem  Spiegel  sehe, 

so  seh'  ich  ein:  ich  habe  oft  geirrt. 

Doch  wäre  ich's  darum  noch  immer. 

Ein  andres  ist  es,  was  mein  Bild  verwirrt, 

und  die  Entstellung  ist  weit  schlimmer. 

Daß  ich  es  nur  gestehe: 

Der  Spiegel  hat  sich  oft  in  mir  geirrt. 


—   13 


Zitate 

Schiller: 
(»Über  naive  und  senlimentalische  Dichtung«) 
Die  Dichter  sind  überall,  schon  ihrem  Begriffe  nach,  die 
Bewahrer  der  Natur.  Wo  sie  dieses  nicht  ganz  mehr  sein 
können,  und  schon  in  sich  selbst  den  zerstörenden  Einfluß  will- 
kürlicher und  künstlicher  Formen  erfahren  . . .,  da  werden  sie  als  die 
Zeugen  und  als  die  Rächer  der  Natur  auftreten. 

Satirisch  ist  der  Dichter,  wenn  er  die  Entfernung  von  der 
Natur  und  den  Widerspruch  der  Wirklichkeit  mit  dem  Ideale  (in 
der  Wirkung  auf  das  Gemüt  kommt  Beides  auf  Eins  hinaus)  zu 
seinem  Gegenstände  macht.  Qies  kann  er  aber  sowohl  ernsthaft  und  mit 
Affekt  als  scherzhaft  und  mit  Heiterkeit  ausführen,  je  nachdem  er 
entweder  im  Gebiete  des  Willens  oder  im  Gebiete  des  Verstandes 
verweilt.  Jenes  geschieht  durch  die  strafende  oder  pathetische, 
dieses  durch  die  scherzhafte  Satire. 

• 

Die  pathetische  Satire  muß  jederzeit  aus  einem  Gemüte 
fließen,  welches  von  dem  Ideale  lebhaft  durchdrungen  ist.  Nur  ein 
herrschender  Trieb  nach  Übereinstimmung  kann  und  darf  jenes 
tiefe  Gefühl  moralischer  Widersprüche  und  jenen  glühenden 
Unwillen  gegen  moralisciie  Verkehrtheit  erzeugen,  welcher  in 
einem  Juvenal,  Swift,  Rousseau,  Haller  und  andern  zur  Begeisterung 
wird.  Die  nämlichen  Dichter  würden  und  müßten  mit  demselben 
Glück  auch  in  den  rührenden  und  zärtlichen  Gattungen  gedichtet 
haben,  wenn  nicht  zufällige  Ursachen  ihrem  Gemüt  frühe  diese 
bestimmte  Richtung  gegeben  hätten;  auch  haben  sie  es  zum  Teil 
wirklich  getan.  Alle  die  hier  Genannten  lebten  entweder  in  einem 
ausgearteten  Zeitalter  und  hatten  eine  schauderhafte  Erfahrung 
moralischer  Verderbnis  vor  Augen,  oder  eigene  Schicksale  hatten 
Bitterkeit  in  ihre  Seele  gestreut. 

So  lange  Lukian  bloß  die  Ungereimtheit  züchtigt, 

bleibt  er  Spötter,  und  ergötzt  uns  mit  seinem  fröhlichen  Humor; 
aber  es  wird  ein  ganz  anderer  Mann  aus  ihm  in  vielen  Stellen  ..... 
wo  seine  Satire  auch  die  moralische  Verderbnis  trifft  ....  Bei 
solchen  und  ähnlichen  Anlässen  muß  sich  der  hohe  Ernst  des 
Gefühls  offenbaren,  der  allem  Spiele,   wenn   es  poetisch  sein  soll, 

zum  Grunde  liegen  muß. 

» 

....  die  N  a  t  u  r  w  i  d  r  i  g  k  e  i  t  unserer  Verhältnisse,  Zustände 
und  Sitten  treibt  uns  an,  dem  erwachenden  Triebe  nach  Wahrheit 
und  Simplizität,  der,  wie  die  moralische  Anlage,  aus  welcher  er  fließt, 


—  14 


unbestechlich  und  unaustilgbar  in  allen  menschlichen  Herzen  liegt, 
in  der  physischen  Welt  eine  Befriedigung  zu  verschaffen,  die  in  der 
moralischen  nicht  zu  hoffen  ist.  Deswegen  ist  das  Gefühl,  womit 
wir  an  der  Natur  hangen,  dem  Gefühle  so  nahe  verwandt,  womit 
wir  das  entflohene  Alter  der  Kindheit  und  der  kindlichen  Unschuld 
beklagen.  Unsere  Kindheit  ist  die  einzige  unverstümmelte  Natur, 
die  wir  in  der  kultivierten  Menschheit  noch  antreffen;  daher  es  kein 
Wunder  ist,  wenn  uns  jede  Fußstapfe  der  Natur  außer  uns  auf 
unsere  Kindheit  zurückführt. 


Goethe: 
(Sprüche,  in  Prosa) 

Die  größte  Achtung,  die  ein,  Autor  für  sein  Publikum 
haben  kann,  ist,  daß  er  niemals  bringt  was  man  erwartet, 
sondern  was  er  selbst,  auf  der  jedesmaligen  Stufe  eigner  und 
fremder  Bildung  für  recht  und  nützlich  hält. 

• 

Es  ist  nicht  immer  nötig,  daß  das  Wahre.sich  verkörpere; 
schon  genug  wenn  es  geistig  umher  schwebt  und  Übereinstimmung 
bewirkt;  wenn  es  wie  Glockenton  ernst-freundlich  durch  die 
Lüfte  wogt. 

* 

Tief  und  ernstlich  denkende  Menschen  haben  gegen  das 
Publikum  einen  bösen  Stand. 


Für  das  größte  Unheil  unserer  Zeit,  die  nichts  reif  werden 
läßt,  muß  ich  halten,  daß  man  im  nächsten  Augenblick  den 
vorhergehenden  verspeist,  den  Tag  im  Tage  vertut,  und  so  immer 
aus  der  Hand  in  den  Mund  lebt,  ohne  irgend  etwas  vor  sich  zu 
bringen.  Haben  wir  doch  schon  Blätter  für  sämtliche  Tageszeiten! 
Ein  guter  Kopf  könnte  wohl  noch  eins  und  das  andere  interkalieren. 
Dadurch  wird  alks  was  ein  jeder  tut,  treibt,  dichtet,  ja  was  er  vor- 
hat, ins  Öffentliche  geschleppt.  Niemand  darf  sich  freuen  oder 
leiden  als  zum  Zeitvertreib  der  übrigen,  und  so  springt's  von 
Haus  zu  Haus,  von  Stadt  zu  Stadt,  von  Reich  zu  Reich  und 
zuletzt  von  Weltteil  zu  Weltteil,  alles  veloziferisch. 


Die  Lust  der  Deutschen  am  Unsichern  in  den  Künsten 
kommt  aus  der  Pfuscherei  her:  denn  wer  pfuscht,  darf  das  Rechte 
nicht  gelten  lassen,  sonst  wäre  er  gar  nichts. 


—  15  — 


Der  Deutsche  hat  Freiheit  der  Gesinnung  und  daher  merkt 
er  nicht,  wenn  es  ihm  an  Geschmacks-  und  Geistes-Freiheit  fehlt. 


Alle  Gegner  einer  geistreichen  Sache  schlagen  nur  in  die 
Kohlen,  diese  springen  umher  und  zünden  da,  wo  sie  sonst  nicht 
gewirkt  hätten. 

* 

Man  sagt:  eitles  Eigenlob  stinket;  das  mag  sein:  was  aber 
fremder  und  ungerechter  Tadel  für  einen  Geruch  habe,  dafür  hat 
das  Publikum  keine  Nase. 


Der    Aberglaube    ist    die    Poesie    des    Lebens,    deswegen 
schadet's  dem  Dichter  nicht  abergläubisch  zu  sein. 


Aufrichtig  zu  sein    kann   ich    versprechen;    unparteiisch  zu 
sein  aber  nicht. 


Wir  alle  sind  so  borniert,  daß  wir  immer  glauben  Recht 
zu  haben;  und  so  läßt  sich  ein  außerordentlicher  Geist  denken, 
der  nicht  allein  irrt,  sondern  sogar  Lust  am  Irrtum  hat. 


Der  Appell  an  die  Nachwelt  entspringt  aus  dem  reinen 
lebendigen  Gefühl,  daß  es  ein  Unvergängliches  gebe,  und,  wenn 
auch  nicht  gleich  anerkannt,  doch  zuletzt  aus  der  Minorität  sich 
der  Majorität  werde  zu  erfreuen  haben. 


Wenn  ich  von  liberalen  Ideen  reden  höre,  so  verwundere 
ich  mich  immer,  wie  die  Menschen  sich  gern  mit  leeren  Wort- 
schällen hinhalten;  eine  Idee  darf  nicht  liberal  sein.  Kräftig  sei 
sie,  tüchtig,  in  sich  selbst  abgeschlossen,  damit  sie  den  göttlichen 
Auftrag,  produktiv  zu  sein,  erfülle;  noch  weniger  darf  der  Begriff 
liberal  sein,  denn  der  hat  einen  ganz  andern  Auftrag. 

Wo  man  die  Liberalität  aber  suchen  muß,  das  ist  in  den 
Gesinnungen  und  diese  sind  das  lebendige  Gemüt. 

Gesinnungen  aber  sind  selten  liberal,  weil  die  Gesinnung 
unmittelbar  aus  der  Person,  ihren  nächsten  Beziehungen  und 
Bedürfnissen  hervorgeht. 

Weiter  schreiben  wir  nicht;  an  diesen  Maßstab  halte  man, 
was  man  tagtäglich  hört. 


—  16 


Der  Irrtum  wiederholt  sich  immerfort  in  der  Tat,  deswegen 
muß  man  das  Wahre  unermüdlich  in  Worten  wiederholen. 


Wie  in  Rom  außer  den  Römern  noch  ein  Volk  von 
Statuen  war,  so  ist  außer  dieser  realen  Welt  noch  eine  Welt  des 
Wahns,  viel  mächtiger  beinahe,  in  der  die  Meisten  leben. 


Unser   ganzes  Kunststück    besteht    darin,    daß    wir    unsere 
Existenz  aufgeben  um  zu  existieren. 


Alles  was  wir  treiben  und-  tun  ist  ein  Abmüden;  wohl  dem 
der  nicht  müde  wird. 


Es  ist  nun  schon  bald  zwanzig  Jahre,  daß  die  Deutschen 
sämtlich  transszendieren.  Wenn  sie  es  einmal  gewahr  werden, 
müssen  sie  sich  wunderlich  vorkommen. 


Zu  allen  Zeiten  sind  es  nur  die  Individuen,  welche  für  die 
Wissenschaft  gewirkt,  nicht  das  Zeitalter.  Das  Zeitalter  war's,  das 
den  Sokrates  durch  Gift  hinrichtete;  das  Zeitalter,  das  Hussen 
verbrannte;  die  Zeitalter  sind  sich  immer  gleich  geblieben. 


Eigentlich  lernen  wir  nur  aus  den  Büchern,  die  wir  nicht 
beurteilen  können.  Der  Autor  eines  Buchs,  das  wir  beurteilen 
köimten,  müßte  von  uns  lernen. 


Kein  Wunder,  daß  wir  uns  alle  mehr  oder  weniger  im 
Mittelmäßigen  gefallen,  weil  es  uns  in  Ruhe  läßt;  es  gibt  dts 
behagliche  Gefühl  als  wenn  man  mit  seinesgleichen  umginge. 


Niemand  ist  lästiger  als  ein  täppischer  Mensch  vom  Zivil- 
stande. Von  ihm  könnte  man  die  Feinheit  fordern,  da  er  sich  mit 
nichts  Rohem  zu  beschäftigen  hat. 


Selbst  im  Augenblick  des  höchsten  Glücks  und  der  höchsten 
Not  bedürfen  wir  des  Künstlers. 


—  17 


Das  Schwierige    leiclit  behandelt    zu    sclien,    gibt   uns  das 
Anschauen  des  Unmöglichen. 


Alles  ist  gleich,  alles  ungleich,  alles  nützlich  und  schädlich, 
sprechend  und  siumni,  vernünftig  und  unvernünftig.  Und  was 
man  von  einzelnen  Dingen  bekennt,  widerspricht  sich  öfters. 


So   wie   der  Weihrauch    das  Leben   einer  Kohle   erfrischet, 
so  erfrischet  das  Gebet  die  Hoffnungen  des  Herzens. 


Der  Deutsche  läuft  keine  größere  Gefahr,  als  sich  mit  und 
an  seinen  Nachbarn  zu  steigern;  es  ist  vielleicht  kein^  Nation 
geeigneter  sich  aus  sich  selbst  zu  entwickele,  deswegen  es  ihr  zum 
größten  Vorteil  gereichte,  daß  die  Außeriwelt  von  ihr  so  spät  Notiz 
nahm. 


Daß  Friedrich  der  Große  aber  gar  nichts  von  ihnen  wissen 
wollte,  das  verdroß  die  Deutschen  doch,  und  sie  taten  das  Möglichste, 
als  Etwas  vor  ihm  zu  erscheinen. 


Wenn  man,  einige  Monate  die  Zeitungen  nicht  gelesen  hat, 
und  man  liest  sie  alsdann  zusammen,  so  zeigt  sich  erst,  wie  viel 
Zeit  man  mit  diesen  Papieren  verdirbt.  .  ,  . 


Was  ist  das  für  eine  Zeit,  wo  man  die  Begrabenen  beneiden  muß ! 


Was  man  mündlich  ausspricht,    muß  der   Gegenwart,  dem 

Augenblick  gewidmet  sein;  was  manschreibt,  widme  man  der  Ferne, 

der  Folge. 

* 

Wer  einem  Autor  Dunkelheit  vorwerfen  will,  sollte  erst  sein 
eigenes  Innere  beschauen,  ob  es  denn  da  auch  recht  hell  ist.  In 
der  Dämmerung  wird  eine  sehr  deutliche  Schrift  unlesbar. 


Die  höheren   Forderungen   sind  an  sich   schon  schätzbarer 
auch  unerfüllt,  als  niedrige  ganz  erfüllte. 


Alles  wahre  Apergu  kommt  aus  einer  Folge  und  bringt  Folge. 
Es  ist  ein  Mittelglied  einer  großen  produktiv  aufsteigenden  Kette. 

Vis    superba    formae.    Ein    schönes    Wort    von   Johannes 
Sekundus. 


Das  Absurde  mit  Geschmack  dargestellt,  erregt  Widerwillen 
tmd  Bewunderung. 

Der  lebendig  begabte  Geist,  sich  in  praktischer  Absicht  ans 
Allernächste  haltend,  ist  das  Vorzüglichste  auf  Erden. 

• 

Die  originalsten  Autoren  der  neuesten  Zeit  sind  es  nicht 
deswegen,  weil  sie  etwas  Neues  hervorbringen,  sondern  allein,  weil 
sie  fähig  sind,  dergleichen  Dinge  zu  sagen,  als  wenn  sie  vorher 
niemals  wären  gesagt  gewesen. 


Säen  ist  nicht  so  beschwerlich  als  ernten. 


Ein    jeder,    weil    er    spricht,     glaubt    auch 
über    die    Sprache    sprechen    zu    können. 


(zu  Eckermann) 

».  .  .  Die  Franzosen  haben  bisher  immer  den  Ruhm  gehabt, 
die  geistreichste  Nation  zu  sein,  und  sie  verdienen  es  zu  bleiben « 


»Der  Dichter  wird  als  Mensch  und  Bürger  sein  Vaterland 
lieben,  aber  das  Vaterland  seiner  poetischen  Kräfte  und  seines 
poetischen  Wirkens  ist  das  Gute,  Edle  und  Schöne,  das  an  keine 
besondere  Provinz,  und  an  kein  besonderes  Land  gebunden  ist, 
und  das  er  ergreift  und  bildet,  wo  er  es  findet.  Er  ist  darin  dem 
Adler  gleich,  der  mit  freiem  Blick  über  Ländern  schwebt,  und  dem 
es  gleichviel  ist,  ob  der  Hase,  auf  den  er  herabschießt,  in  Preußen 
oder  in  Sachsen  läuft. 

>Und  was  heißt  denn:  sein  Vaterland  lieben,  und  was  heißt 
denn:  patriotisch  wirken?  Wenn  ein  Dichter  lebenslänglich  bemüht 
war,  schändliche  Vorurteile  zu  bekämpfen,  engherzige  Ansichten  zu 


beseitigen,  den  Geist  seines  Volks  aufzuklären,  dessen  Geschmack 
zu  reinigen,  und  dessen  Gcsinnungs-  und  Denkweise  zu  veredeln: 
was  soll  er  denn  da  Besseres  tun?  und  wie  soll  er  denn  da  patrio- 
tischer wirken?  An  einen  Dichter  so  ungehörige  und  undankbare 
Anforderungen  zu  machen,  wäre  ebenso  als  wenn  man  von  einem 
Regimentschef  verlangen  wollte:  er  müsse,  um  ein  rechter  Patriot 
zu  sein,  sich  in  politische  Neuerungen  verflechten  und  datüber 
seinen  nächsten  Beruf  vernachlässigen.  1)35 Vaterland  einesRegiments- 
chefs  aber  ist  sein  Regiment  .... 

»Sie  wissen,  ich  kümmere  mich  im  ganzen  wenig  um  das, 
was  über  mich  geschrieben  wird,  aber  es  kommt  mir  doch  zu  Ohren, 
und  ich  weiß  recht  gut,  daß,  so  sauer  ich  es  mir  auch  mein  Lebe- 
lang habe  werden  lassen,  all  mein  Wirken  in  den  Augen  gewisser 
Leute  für  nichts  geachtet  wird,  eben  weil  ich  verschmäht  habe, 
mich  in  politische  Parteiungen  zu  mengen.  ...» 


»Denken  Sie  sich  aber  diesen  selben  Beranger,  anstatt  in 
Paris  geboren  und  in  dieser  Weltstadt  herangekommen,  als  den 
Sohn  eines  armen  Schneiders  zu  Jena  oder  Weimar,  und  lassen  Sie 
ihn  seine  Laufbahn  an  gedachten  kleinen  Orten  gleich  kümmerlich 
fortsetzen,  und  fragen  Sie  sich,  welche  Früchte  dieser  selbe  Baum, 
in  einem  solchen  Boden  und  in  einer  solchen  Atmosphäre  aufge- 
wachsen, wohl  würde  getragen  haben. 

»Also,  mein  Guter,  ich  wiederhole:  es  kommt  darauf  an, 
daß  in  einer  Nation  viel  Geist  und  tüchtige  Bildung  in  Kurs  sei, 
wenn  ein  Talent  sich  schnell  und  freudig  entwickeln  soll.  .  .  . 

»Nehmen  Sie  Burns.  Wodurch  ist  er  groß,  als  daß  die  alten 
Lieder  seiner  Vorfahren  im  Munde  des  Volks  lebten,  daß  sie  ihm 
sozusagen  bei  der  Wiege  gesungen  wurden,  daß  er  als  Knabe  unter 
ihnen  heranwuchs  und  die  hohe  Vortrefflichkeit  dieser  Muster  sich 
ihm  so  einlebte,  daß  er  darin  eine  lebendige  Basis  hatte,  worauf 
er  weiter  schreiten  konnte.  Und  ferner,  wodurch  ist  er  groß,  als 
daß  seine  eigenen  Lieder  in  seinem  Volke  sogleich  empfängliche 
Ohren  fanden,  daß  sie  ihm  alsobald  im  Felde  von  Schnittern  und 
Binderinnen  entgegenklangen,  und  er  in  der  Schenke  von 
heitern  Gesellen  damit  begrüßt  wurde.  Da  konnte  es  freilich  etwas 
werden ! 

»Wie  ärmlich  sieht  es  dagegen  bei  uns  Deutschen  aus!  Was 
lebte  denn  in  meiner  Jugend  von  unsern  nicht  weniger  be- 
deutenden alten  Liedern  im  eigentlichen  Volke?  Herder  und  seine 
Nachfolger  mußten  erst  anfangen  sie  zu  sammeln  und  der  Ver- 
gessenheit zu  entreißen;  dann  hatte  man  sie  doch  meistens  gedruckt 
in  Bibliotheken.  Und  später,  was  haben  nicht  Bürger  und  Voß 
für  Lieder  gedichtet!  Wer  wollte  sagen,  daß  sie  geringer  und 
weniger  volkstümlich  wären  als  die  des  vortrefflichen  Burns!  Allein 


20 


was  ist  davon  lebendig  geworden,  so  daß  es  uns  aus  dem  Volke  wieder 
entgegenklänge?  Sic  sind  geschrieben  und  gedruckt  worden  und  stehen 
in  Bihliotlieken,  ganz  gemäß  dem  allgemeinen  Lose  deutscher  Dichter. 
Von  meinen  eigenen  Liedern  was  lebt  denn?  Es  wird  wohl  eins 
und  das  andere  einmal  von  einem  hübschen  Mädchen  am  Klaviere 
gesungen,  allein  im  eigentlichen  Volke  ist  alles  stille.  Mit  welchen 
Empfindungen  muß  ich  der  Zeit  gedenken,  wo  italienische  Fischer 
mir  Stellen  des  »Tasso<  sangen! 

»Wir  Deutschen  sind  von  gestern.  Wir  haben  zwar  seit  einem 
Jahrhundert  ganz  tüchtig  kultiviert;  allein  es  können  noch  ein  paar 
Jahrhunderte  hingehen,  ehe  bei  unsern  Landsleuten  so  viel  Geist 
und  höhere  Kultur  eindringe  und  allgemein  werde,  daß  sie  gleich 
den  Griechen  der  Schönheit  huldigen,  daß  sie  sich  für  ein  hübsches 
Lied  begeistern,  und  daß  man  von  ihnen  wird  sagen  können,  es 
sei  lange  her,  daß  sie  Barbaren  gewesen.« 


»Kriegslieder  schreiben  und  im  Zimmer  sitzen  —  das  wäre 
meine  Art  gewesen !  Aus  dem  Biwak  heraus,  wo  man  nachts  die 
Pferde  der  feindlichen  Vorposten  wiehern  hört:  da  hätte  ich  es 
mir  gefallen  lassen.  Aber  das  war  nicht  mein  Leben  und  nicht 
meine  Sache,  sondern  die  von  Theodor  Körner.  Ihn  kleiden  seine 
Kriegslieder  ganz  vollkommen.  Bei  mir  aber,  der  ich  keine  krie- 
gerische Natur  bin  und  keinen  kriegerischen  Sinn  habe,  würden 
Kriegslieder  eine  Maske  gewesen  sein,  die  mir  sehr  schlecht  zu 
Gesicht  gestanden  hätte. 

»Ich  habe  in  meiner  Poesie  nie  affektiert.  Was  ich  nicht 
lebte  und  was  mir  nicht  auf  die  Nägel  brannte  und  zu  schaffen 
machte,  habe  ich  auch  nicht  gedichtet  und  ausgesprochen.  Liebes- 
gedichte habe  ich  nur  gemacht  wenn  ich  liebte.  Wie  hätte  ich  nun 
Lieder  des  Hasses  schreiben  können  ohne  Haß!  Und,  unter  uns, 
ich  haßte  die  Franzosen  nicht,  wiewohl  ich  Gott  dankte,  als  wir 
sie  los  waren.  Wie  hätte  auch  ich,  dem  nur  Kultur  und  Barbarei 
Dinge  von  Bedeutung  sind,  eine  Nation  hassen  können,  die  zu 
den  kultiviertesten  der  Erde  gehört  und  der  ich  einen  so  großen 
Teil  meiner  eigenen  Bildung  verdankte! 

> Überhaupt«,  fuhr  Goethe  fort,  »ist  es  mit  dem  Nationalhaß 
ein  eigenes  Ding.  Auf  den  untersten  Stufen  der  Kultur  werden  Sie 
ihn  immer  am  stärksten  und  heftigsten  finden.  Es  gibt  aber  eine 
Stufe,  wo  er  ganz  verschwindet  und  wo  man  gewissermaßen  über 
den  Nationen  steht,  und  man  ein  Glück  oder  ein  Wehe  seines 
Nachbarvolkes  empfindet  als  wäre  es  dem  eigenen  begegnet.  Diese 
Kulturstufe  war  meiner  Natur  gemäß,  und  ich  hatte  mich  darin 
lange  befestigt,  ehe  ich  mein  sechzigstes  Jahr  erreicht  hatte.« 


.  m 


—  21  — 

Jean    Paul: 

(Levana  oder  Erzieh-Lehre) 

Sie  sagen,  dünkt  mich,  in  einem  Ihrer  Briefe,  die  Sättigung 
der  Fürsten  am  Lobe  und  Wettstreite  untergeordneter  Menschen 
werde  leicht  zur  kriegerischen  Sehnsucht  nach  einem  Wettkampfe 
mit  Fürsten,  Feinden  und  vor  Europa.  Recht  wahr!  mit  dem  Qähn- 
fieber,  woran  im  siebenten  Jahrhundert  so  viele  in  Italien  starben, 
steckt  die  böse  Hofluft  leicht  an;  durch  Schießpulver  will  man  die 
Luft  wieder  erfrischen. 

.  .  .  Werden  Sie  gleich  mir  eine  Friedenspredigt  vor  dem 
Kriege  an  den  Fürsten,  der  eben  den  Brandbrief  zum  Kriegsfeuer 
hinwerfen  will,  etwa  so  halten?  »Bedenk'  es,  ein  Schritt  über  dein 
Qrenzwappen  verwandelt  zwei  Reiche,  hinter  dir  verzerrt  sich 
deines  -  vor  dir-  das  fremde.  -  Ein  Erdbeben  wohnt  und  arbeitet 
dann  unter  beiden  fort  -  alle  alte  Rechtsgebäude,  alle  Richter- 
stühle stürzen,  Höhen  und  Tiefen  werden  ineinander  verkehrt. 
—  Ein  Jüngster  Tag  voll  auferstehender  Sünder  und  voll  fallender 
Sterne,  ein  Weltgericht  des  Teufels,  wo  die  Leiber  die  Geister  richten, 
die  Faustkraft  das  Herz.  Bedenk'  es,  Fürst!  Jeder  Soldat  wird  in 
diesem  Reich  der  Gesetzlosigkeit  dein  gekrönter  Bruder  auf  fremdem 
iioden  mit  Richtschwert,  aberohne  Wage,  und  gebeut  unumschränkter 
als  du;  jeder  feindliche  Packknecht  ist  dein  Fürst  und  Richter,  mit 
Kette  und  Beil  für  dich  in  der  Hand!  —  Nur  die  Willkür  der 
Faust  und  des  Zufalls  sitzt  auf  dem  Doppelthrone  des  Gewissens 
und  Lichts.  -  Zwei  Völker  sind  halb  in  Sklavenhändler,  halb  in 
Sklaven  verkehrt,  unordentlich  durcheinander  gemischt.  Für  höhere 
Wesen  ist  das  Menschenreich  ein  gesetz-  und  gewissenloses  taub- 
blindes  Tier-  und  Maschinenreich  geworden,  das  raubt,  frißt, 
schlägt,  blutet  und  stirbt.  —  Immerhin  sei  du  gerecht,  du  lassest 
doch  durch  die  erste  Manifestzeile  wie  durch  ein  Erdbeben  die 
gefesselte  Ungerechtigkeit  aus  ihren  Kerkern  los!  Auch  ist  ja  die 
Willkür  so  hergebracht  groß,  daß  dir  kleinere  Mißhandlungen  gar 
nicht,  und  große  nur  durch  ihre  Wiederholung  vor  die  Ohren 
kommen.  Denn  die  Erlaubnis,  zugleich  zu  töten  und  zu  beerben,  schließt 
jede  kleinere  in  sich.  Sogar  der  waffenlose  Bürger  tönt  in  die  Miß- 
und  Schreitöne  ein;  vertauschend  alle  Lebenspläne  gegen  Minuten- 
genuß und  ungesetzliche  Freiheit,  und  von  den  befreundeten 
Kriegern  als  ein  halber,  von  den  anfeindenden  als  ein  ganzer 
Feind  behandelt  und  aufgereizt.  Dies  bedenke,  Fürst,  bevor  du  in 
die  Heuschreckenwolke  des  Kriegs  alles  dein  Licht  verhüllst,  und 
in  dein  bisher  so  treu  verwaltetes  Land  alle  Krieger  eines  fremden 
zu  Obrigkeiten  und  Henkern  einsetzest,  oder  deine  Krieger  ebenso 
ins  frem(le!<  — 

Wenigstens  ließe  sich  noch  manches  tun.  Man  löse  doch 
in     der    Geschichte     und    Zeitung     die     so     kurz     und    leicht 


22  — 


hinschwindenden  Laute:  >Schlachtfeld,  Belagerungsnot,  hundert  Wagen 
Verwundete«  .  .  einmal  recht  in  ihre  entsetzlichen  Bestandteile  auf, 
in  die  Schmerzen,  die  ein  Wagen  trägt  und  tiefer  reißet,  in  einen 
Jammertag  eines  Verschmachtenden.  Nicht  nur  die  Geschichte,  in 
welcher  ganze  Zeiten  und  Länder  verbluten,  sogar  die  gemeine 
Zeitung  und  Sprechart,  und  die  wissenschaftliche  Ansicht  der  Kriegs- 
und der  Wundarziieianleitungen  verwandeln  Wunden  in  Worte, 
das  ungeheure  All-Weh  in  einen  Buchstaben.  Daher  denselben 
Minister,  welcher  die  Regentabelle  des  kriegerischen  Blut-  und 
Aschenregens  ruhig  liniiert,  und  heiter  zweien  Ländern  ein  Blut- 
bad verordnet,  eine  Bühnenwunde  und  -Träne  erschfittert,  bloß 
weil  die  Dichtkunst  das  Wort  wieder  rückwärts  in  die  lebendige 
Gegenwart  verwandelt.  Auch  könnte  man  einen  Prinzen  von 
bedenklichen  Anlagen  mit  demselben  Warnvorteil  auf  ein  blutiges 
Schlachtfeld  führen,  als  Kinder  von  ganz  andern  in  ein  verwesen- 
des Krankenhaus;  aber  mög'  es  stets  der  Menschheit  an  solchen 
Schul-  und  Heilanstalten  fehlen !  — 

Eigentlich  sollte  nur  das  Volk  —  dies  könnte  man  wenigstens 
einem  Erbprinzen  erziehend  sagen  —  über  den  Krieg  mit  einem 
andern,  d.  h.  über  die  Rückkehr  in  den  ersten  Naturzustand, 
besonders  da  nur  dessen  harte  Früchte,  nicht  dessen  süße  auf 
dasselbe  fallen,  abzustimmen  haben,  ob  es  sich  als  Totenopfer 
dem  Gewitter  und  Sturm  des  Krieges  weihe  oder  nicht. 

.  .  .  Denn  auf  der  Erde  ist  ein  feiges  Volk  noch  seltener,  als 
ein  Kühner  Mann ;  welche  Völker  der  alten  und  neuen  Zeit  waren 
nicht  tapfer?  Jetzo  z.  B,  fast  ganz  Europa,  die  Russen,  Dänen, 
Schweden,  Österreicher,  Sachsen,  Engländer,  Hessen,  Franzosen, 
Bayern  und  Preußen  —  Je  tiefer  Roms  freier  Geist  einsank,  desto 
wilder  und  kräftiger  hob  sich  der  tapfere  empor;  Catilina,  Cäsar, 
August  hatten  siegende  Knechte.  Die  häufige  Bewaffnung  der  alten 
Sklaven  (wie  in  der  neuern  die  der  Bettler)  beweiset  gegen 
den  Wert  der  gemeinen  Faust  und  Wundeiitapferkeit.  Der  Athener 
Iphikrates  sagte:  raub-  und  lustgierige  Soldaten  sind  die  besten; 
und  der  General  Fischer  setzte  dazu:  Landstreicher.  —  Kann  ein 
Fürst  in  die  Nachwelt  mit  nichts  als  mit  den  schönen  Tigerflecken 
der  Eroberer  strahlen  wollen,  womit  ihn  die  Timurs,  Attilas,  Dessa- 
lines und  andre  Geißeln  Gottes  oder  Knuten  des  Teufels  überbieten? 
Wie  kalt  geht  man  in  der  Geschichte  über  die  unzähligen  Schlacht- 
felder, welche  die  Erde  mit  Todesbeeten  umziehen?  Und  mit  welchen 
Flüchen  eilt  man  vor  der  Krone  vorüber,  welche  die  sogenannte 
Ajüstagen  oder  Blechaufsätze  nur  auf  dem  fortspritzenden  Wasser- 
strahl der  Fontänen,  ebenso  nur  auf  emporspringenden  Blutströmen 
in  der  Höhe  sich  erhalten!  Wo  aber  einige  Helden  davon  ein  ewiger 
Nachschimmer  überschwebet,  wie  Marathons  Ebene,  Termopyläs 
Tiefe:  da  kämpften  und  opferten  andre  Geister;  —  himmlische  Er- 
scheinungen, der  Freiheitsmut,  und  welcher  einzelne  in  der  Geschichte 
groß  dasteht,   und  ihre  Räume  erfüllt,   der  tut  es  nicht  auf  einer 


23  - 


Pyramide  von  Totenköpfen  aus  Schlachten,  sondern  eine  große 
Seele  schwebet,  wie  die  Gestalt  einer  überirdischen  Welt,  verklärt 
in  der  Nacht,  und  berührt  Sterne  und  Erde. 

Denn  es  gibt  eine  höhere  Tapferkeit,  welche  einmal,  obwohl 
nicht  lange,  Sparta,  Athen  und  Rom  besaßen,  die  Tapferkeit  des 
Friedens  und  der  Freiheit,  der  Mut  zu  Hause.  Wenn  manches 
andre  Volk,  im  Vaterland  ein  feigduldender  Knecht,  außer  demselben 
ein  kühnfassender  Held,  dem  Falken  gleicht  (nur  weniger  durch  Schlaf- 
losigkeit wie  er,  als  durch  Einschläfern  zahm  geworden),  welcher 
vom  Falkenmeister  so  lange  verkappt  auf  der  Faust  getragen  wird, 
bis  er  als  augenblicklicher  Freier  des  Aethers  in  alte  Wildheit  los- 
gelassen, kühn  und  klug  einen  neuen  Vogel  überwältigt  und  mit 
ihm  auf  die  Sklavenerde  niederstürzt:  so  führt  das  recht-  und  frei- 
mutige Volk  zu  Hause  seinen  Freiheitskrieg,  folglich  den  längsten 
und  kühnsten,  gegen  jede  Hand,  die  den  Flug  und  Blick  einschränkt; 
der  einzige  Krieg,  der  keinen  Waffenstillstand  haben  soll.  Ebenso 
tapfer  im  höhern  Sinne  kann  der  einzelne  Fürst  sein.  Das  Ideal  in 
der  Kunst,  Größe  in  Ruhe  darzustellen,  sei  das  Ideal  auf  dem 
Throne.  Das  Kriegsfeuer  zu  besprechen,  ist  eines  Fürsten  würdiger, 
sowie  schwerer,  als  es  anzuzünden.  Ist  aber  diese  Tapferkeit  des 
Friedens  vorhanden  —  womit  man  allein  sich  vor  der  Geschichte 
noch  auszeichnen  kann  —  so  ist  die  zweite  des  Kriegs,  sobald  er 
nötig  ist,  die  leichtere,  und  jede  Wunde  ein  Glück  und  ein  Spiel. 
Daher  sind  die  Großen  der  alten  Geschichte  mehr  durch  Charakter 
als  Taten,  mehr  durch  Friedens-  als  Kriegszüge  bezeichnet.  .  .  . 

Von  dieser  Geschichtseite  und  Öffnung  müßte,  dünkt  mich, 
ein  junger  Fürst  in  die  Zukunft  schauen,  die  er  bauen  und  füllen 
hilft;  auf  diese  Weise  müßte  er  der  schönern  Tapferkeit  die 
niedere  unterordnen. 


24 


Inschriften 


Wiener  Mahlzeit 

Die  Nahrungsfrage  abzuwickeln, 
findet  der  Dialekt  Verwendung. 
Er  hat  es  schwer  mit  den  Artikeln 
und  leugnet  doch  der  Speisen  Endung. 

Ach  Gott,  es  fehlt  uns  an  der  Fetten, 
wir  müssen  fleischlos  uns  bequemen. 
Wenn  wir  nur  einen  Butter  hätten, 
wir  würden  auch  die  Schinke  nehmen. 


Gespräche 

Die  beiden  ließen  sich  durch  mein  Gespräch  nicht  stören. 
Sie  horchte  auf,  wenn  er  dazwischen  sprach. 
Es  war  so  wichtig  ihr,  mir  zuzuhören, 
daß  sie  mich,  sagt  sie,  unterbrach. 


Selbstlose  Gesellschaft 

Mit  jenen  schlimmen  Schwindlern  Vorsicht  übe, 
die  sich  in  deine  Sachen  mischen. 
Sie  machen  dir  das  Wasser  trübe, 
ohne  darin  zu  fischen. 

Sie  mengen  sich  in  deine  Interessen 

zu  einem  ganz  selbstlosen  Zwecke. 

Sie  möchten  nicht  von  deinem  Tische  essen, 

nur:  daß  es  dir  nicht  schmecke. 


'l^ 


Gerüchte 

Der  Mann  war  das  leibhaftige  Gerücht. 
Lief  er  auf  leisen  Sohlen  durch  den  Saal, 
so  war  es  ein  Skandal, 
und  man  erfuhr  die  Quelle  nicht. 

Wie  gleich  und  gleich  sich  gleich  verflicht, 
die  Gattin,  die  er  nahm,  sah  aus  wie  Fama. 
Das  gab  ein  Ehedrama, 
das  Kind  war  ein  Gerücht. 

Und  eh  die  Ehe,  die  nicht  ehern,  bricht, 
gesellt  sich  einer  zu  dem  Pärchen, 
erzählte  ihr  ein  Märchen. 
Was  war  die  Folge?    Ein  Gerücht. 


Den  Neubildnern 

Wer  seinen  Durst  am  Sprachquell  stillet, 
dem  winken  ungeahnte  Wonnen. 
Wem  sich  das  alte  Wort  erfüllet, 
der  hat  es  wahrlich  neu  begonnen. 

Es  schwelgen  mißgeborne  Knaben 
in  adjektivischen  Gefilden. 
Sie  müssen  eine  Krankheit  haben : 
der  Krebs  nur  neigt  zu  Neugebildcn. 


26  — 


Elysisches 

Melancholie  an  Kurt  Wolff 

Dort  in  Prag,  wo  neukatholsche  Cliristcn 
heimisch  sind,  teils  aber  Pantheisten, 
hingeschwellt  am  Tag, 
dort  ertönt  manch  morgendlicher  Triller 
aus  der  Jugendbrust  des  andern  Schiller; 
ausgerechnet  das  geschieht  in  Prag. 

Aus  dem  Orkus  in  das  Grenzenlose 

wird  gewendet  eine  alte  Hose, 

was  Ergetzung  schafft. 

Der  dort  schaukelt  auf  der  Morgenröte, 

der  hier  hat  den  Ton  des  alten  Goethe; 

denn  Gewure  heißt  auf  deutsch  die  Kraft. 

Aber  besser  noch  sind  zwo  Gewuren, 

denn  das  zeucht  dann  hin  wie  Dioskuren, 

was  nur  mich  nicht  freut, 

unterscheid'  ich  unbeirrter  Mahner 

junge  Prager,  alte  Weimaraner; 

doch  Talent  hat  schließlich  jeder  heut. 

Wer  im  Himmel  oder  unberufen 
gar  an  des  Olympus  heiligen  Stufen 
wie  das  Kind  im  Haus, 
morgen  hat  er  wieder  andre  Sorgen, 
etwa  zwischen  Hölty  und  Laforgen 
kennt  er  sich  mit  jeder  Note  aus. 

Wer  entzückt  im  Flügelkleide  wandelt 
oder  andrer  Art  mit  Büchern  handelt, 
Gott  gefallen  mag. 

Die  hier  gehn  nur  —  merkt  auf  das  Exempv 
nebst  der  Kirche  in  den  Sonnentempel 
und  erscheinen  auch  im  »Jüngsten  Tag«. 


z/ 


Reingebadet  in  entlieh'nen  Lenzen, 

läßt  der  Seele  Überschwang  nicht  Grenzen 

fremdem  Element. 

Heute  ist  sie  ä  la  Rimbaud  tropisch, 

morgen  schlicht  kopiert  sie  schon  den  Kopisch, 

hat  ein  ausgesprochenes  Formtalent. 

Solchem  Wesenswandel  wehrt  kein  Veto, 

hin  zu  Goethen  geht  es  auS  dem  Ghetto 

in  der  Zeilen  Lauf, 

aus  dem  Orkus  in  das  Cafe  Arco, 

dorten.  Freunde,  liegt  der  Nachruhm,  stark  o 

liegt  er  dort  am  jüngsten  Tage  auf. 

Wer  in  altem  oder  Neugetöne, 

jedenfalls  in  ausgeborgter  Schöne 

sich  dahin  ergeußt, 

pochend  mit  der  Jugend  Nervenmarke 

letzt  sich  noch  mit  seinem  letzten  Quarke 

an  der  Quelle,  die  da  für  ihn  fleußt. 

Denn  vom  schönen  Einfluß  der  Kamönen 

können  sie  sich  nun  mal  nicht  entwöhnen, 

und  kein  Hindernis 

ist  es  für  der  Phantasei  Erfindung 

und  die  literarische  Verbindung. 

Diesen  Faden  keine  Parze  riß! 

Und  geklagt  sei  es  dem  ewigen  Gotte, 

daß  der  Literaten  heutige  Rotte 

ihr  Elysium 

findet,  denn  wer  nur  am  Worte  reibt  sich, 

wird  gedruckt  bei  Drugulin  in  Leipzich. 

Edler  Jüngling  Wolff,  ich  klage  drum. 


28  - 


Bekenntnis 


Ich  bin  nur  einer  von  den  Epigonen, 

die  in  dem  alten  Haus  der  Sprache  wohnen. 

Doch  hab'  ich  drin  mein  eigenes  Erleben, 
ich  breche  aus  und  ich  zerstöre  Theben. 

Komm'  ich  auch  nach  den  alten  Meistern,  später, 
so  räch'  ich  blutig  das  Geschick  der  Väter. 

Von  Rache  Sprech'  ich,  will  die  Sprache  rächen 
an  allen  jenen,  die  die  Sprache  sprechen. 

Bin  Epigone,  Ahnenwerthes  Ahner, 
Ihr  aber  seid  die  kundigen  Thebaner! 


-  29 


Der  Irrgarten 


Die  Sprache  ist,  dies  glaubt  mir  auf  mein  Wort, 

ein  Zwist,  bei  dem  ein  Wort  das  andre  gibt. 

Es  leben  Lust  und  Zweifel  immerfort 

im  Zwiespalt  und  es  neckt  sich,  was  sich  liebt. 

Was  treibt  es  nur?  Geburt  zugleich  und  Mord? 

Ich  steh'  dabei  und  habe  nichts  verübt. 

Wie  kam  ich  an  den  zauberischen  Ort? 

Die  Welt  ist  durch  das  Sieb  des  Worts  gesiebt. 


—  30 


Der  Ratgeber 

Was  immer  sich  in  meinen  Traum  gedrängt, 
iiat  stets  mit  meinem  Tage  sicli  vermengt. 

Doch  nimmt  der  Traum  das  Leben  leicht  in  Schutz. 
An  seinem  Dunkel  klärt  sich  aller  Schmutz. 

Wie  sich  im  Wechsel  da  die  Dinge  drehn, 
wird  Schönes  häßlich,  Häßliches  wird  schön. 

Schon  manche  Freundschaft  plötzlich  mir  entschwand, 
weil  ich  durch  einen  Traum  den  Freund  erkannt. 

Schon  manche  Feindschaft  habe  ich  versäumt, 
weil  mir  einmal  vom  Feinde  hat  geträumt. 

Der  Todfeind,  den  ich  auf  der  Straße  traf, 

das  war  der  Freund  von  meinem  letzten  Schlaf, 

Der  freundlich  meinem  Tage  sich  genaht, 
an  meiner  Nacht  übt  heimlich  er  Verrat. 

Tagsüber  wüßt'  ich  nicht,  wie  mir  geschah, 
wenn  ich  den  andern  andern  Augs  besah. 

Es  narrt  mich  etwas,  doch  ich  weiß  nicht  was, 
da  ich  des  Winks  der  letzten  Nacht  vergaß. 

Zur  nächsten  erst  hängt  wieder  an  dem  Flaum 
des  Bettes  der  am  Tag  vergessne  Traum, 


31 


Der  Reim 

Der  Reim  ist  nur  der  Spraclie  Gunst, 
niciit  nebenher  noch  eine  Kunst. 

Geboren  wird  er,  wo  sein  Platz, 
aus  einem  Satz  mit  einem  Satz. 

Er  ist  kein  eigenwillig  Ding, 
das  in  der  Form  spazieren  ging. 

Er  ist  ein  Inhalt,  ist  kein  Kleid, 
das  heute  eng  und  morgen  weit. 

Er  ist  nicht  Ornament  der  Leere, 
des  toten  Wortes  letzte  Ehre. 

Nicht  Würze  ist  er,  sondern  Nahrung, . 
er  ist  nicht  Reiz,  er  ist  die  Paarung, 

Er  ist  das  Ufer,  wo  sie  landen, 
sind  zwei  Gedanken  einverstanden. 

Er  ist  so  seicht  und  ist  so  tief 
wie  jede  Sehnsucht,  die  "ihn  rief. 

Er  ist  so  einfach  oder  schal 
wie  der  Empfindung  Material. 

Er  ist  so  neu  und  ist  so  alt 
wie  des  Gedichtes  Vollgestalt. 

Orphischen  Liedes  Reim,  ich  wette, 
er  steht  auch  in  der  Operette. 

Wenn  Worte  ihren  Wert  behalten, 
kann  nie  ein  alter  Reim  veralten. 

Fühlt  sich  am  Vers  ein  Puls,  ein  Herz, 
so  fühlt  es  auch  den  Reim  auf  Schmerz. 

Aus  ailgemeinrer  Sachlichkeit 

glückt  neu  der  Reim  von  Leid  auf  Zeit. 


32 


Weist  mich  das  Wort  in  weitere  Fernen  - 
o  staunend  Wiedersehn  mit  Sternen! 

Der  erdensichern  Schmach  Verbreitung 
bedingt  dafür  die  Tageszeitung 

und  leicht  trifft  einem  irdnen  Tropf 
der  Reim  den  Nagel  auf  den  Kopf. 

Dem  Wortbekenner  ist  das  Wort 
ein  Wunder  und  ein  Gnadenort. 

Der  Reim,  oft  nur  der  Verse  Leim, 
ist  der  Gedanken  Honigseim. 

Hier  bietet  die  Natur  den  Schatz, 
dort  Technik  süßeren  Ersatz. 

Ein  Wort,  das  nie  am  Ursprung  lügt, 
zugleich  auch  den  Geschmack  betrügt. 

Dort  ist's  ein  eingemischter  Klang, 
hier  eingeboren  in  den  Drang. 

Sei  es  der  Unbedeutung  Schall: 
ein  Schöpfer  ruft  es  aus  dem  All. 

Dort  deckt  der  Reim  die  innre  Lücke 
und  dient  als  eine  Versfußkrücke. 

Hier  nimmt  er  teil  am  ganzen  Muß, 
die  Fessel  eines  Genius, 

Gebundnes  tiefer  noch  zu  binden. 
Was  sich  nicht  suchen  läßt,  nur  finden, 

was  in  des  Wortglücks  Augenblick, 
nicht  aus  Geschick,  nur  durch  Geschick 

da  ist  und  was  von  selbst  gelingt, 
aus  Mutterschaft  der  Sprache  springt: 
das  ist  der  Reim.  Nicht,  was  euch  singt! 


66 


Vor  dem  Einschlafen 


Wovor  ist  mir  denn  bang? 
Was  soll  mir  denn  geschehen? 
Ich  werde  Neues  sehen. 
Und  bis  dahin  ist's  lang. 

Was  das  nur  heute  ist. 
Es  kommt  doch  immer  näher. 
Entging'  ich  doch  dem  Späher! 
Täuscht'  ich  ihn  nur  mit  List! 

Oh  das  verlorne  Glück! 
O  stände  doch  die  Stunde! 
O  ging'  es  in  der  Runde 
zum  Anfang  doch  zurück! 

Nehmt  alle  Uhren  fort ! 
Die  Zeit  klopft  mir  im  Herzen. 
Wie  flackern  schon  die  Kerzen. 
Wie  dunkel  wird  der  Ort. 

O  gäb's  doch  Aufenthalt! 
Geheimnis,  brich  dein  Siegel. 
Zerbrecht  mir  dort  den  Spiegel! 
Ich  trotze  der  Gewalt! 

Schlaf,  rett'  mich  vor  dem  Tod. 
Laß  mich  vom  Leben  borgen. 
Bring  wieder  mir  den  Morgen. 
Beende  diese  Not. 


34  — 


Hier  neigt  sich  mir  ein  Bild, 
und  durch  ein  weises  Walten 
verwandeln  sich  Gestalten, 
es  fließt  um  mich  so  mild. 

Dies  alles  war  einmal. 
Jetzt  wird  die  Last  mir  linder. 
Wir  waren  einmal  Kinder. 
Ich  sinke  in  mein  Tal.  . 

Schon  weicht  mir  das  Gesicht. 
Es  kommen  die  Gesichter. 
Verlösch'  ich  noch  die  Lichter, 
so  wird  es  wieder  licht. 

Nun  fühle  ich  schon  Mut. 
Es  schwindet  das  Bewußtsein. 
Ah,  es  wird  eine  Lust  sein. 
Nun  wird  mir  wieder  gut. 


öt)    — 


Gebet 


Du  großer  Gott,  laß  mich  nicht  Zeuge  sein! 
Hilf  mir  hinab  ins  Unbewußte. 
Daß  ich  nicht  sehen  muß,  wie  sie  mit  Wein 
zur  Not  ersetzen  ihre  Blutverluste. 

Du  großer  Gott,  vertreib  mir  diese  Zeit! 

Hilf  mir  zurück  in  meine  Kindheit. 

Der  Weg  zum  Ende  ist  ja  doch  so  weit, 

und  wie  die  Sieger  schlage  mich  mit  Blindheit. 

Du  großer  Gott,  so  mach  den  Mund  mir  stumm! 
Nicht  sprechen  will  ich  ihre  Sprache. 
Erst  machen  sie  sich  tot  und  dann  noch  dumm, 
es  lügt  ihr  Haß,  nimmt  an  der  Wahrheit  Rache. 

Du  großer  Gott,  der  den  Gedanken  gab, 

ihr  Wort  hat  ihm  den  Rest  gegeben. 

Ihr  Wort  ist  allem  Werte  nur  ein  Grab, 

selbst  Tat  und  Tod  kam  durch  das  Wort  ums  Leben. 

Du  großer  Gott,  verschließ  dem  Graus  mein  Ohr, 

die  Weltmusik  ist  ungeheuer! 

Dem  armen  Teufel  in  der  Hölle  fror, 

er  fühlt  sich  wohl  in  diesem  Trommelfeuer. 

Du  großer  Gott,  der  die  Erfinder  schuf 
und  Odem  haucht'  in  ihre  Nasen, 
schufst  du  die  Kreatur  zu  dem  Beruf, 
daß  sie  dir  dankt  mit  ihren  giftigen  Gasen? 

Du  großer  Gott,  warum  beriefst  du  mich 
in  diese  gottverlassene  Qualzeit? 
Strafst  du  mit  Hunger,  straflos  setzte  sich 
der  Wucher  zu  der  fetten  Totenmahlzeit. 


36 


Du  großer  Gott,  warum  in  dieser  Frist, 

wozu  ward  ich  im  blutigen  Hause, 

wo  jeder,  der  noch  nicht  getötet  ist, 

sich  fröhlich  setzt  zu  seinem  Leichenschmause? 

Du  großer  Gott,  dies  Land  ist  ein  Plakat, 
auf  dem  sie  ihre  Feste  malen 
mit  Blut.  Ihr  Lied  übt  an  dem  Leid  Verrat, 
der  Mord  muß  ftir  die  Hetz'  die  Zeche  zahlen. 

Du  großer  Gott,  hast  du  denn  aus  Gemüt 
Vampyre  dieser  Welt  erschaffen? 
Befrei  mich  aus  der  Zeit,  aus  dem  Geblüt, 
unseligem  Volk  von  Henkern  und  Schlaraffen! 

Du  großer  Gott,  erobere  mir  ein  Land, 
wo  Menschen  nicht  am  Gelde  sterben, 
und  wo  im  ewig  irdischen  Bestand 
sie  lachend  nicht  die  reiche  Schande  erben! 

Du  großer  Gott,  kennst  du  die  Mittel  nicht, 
die  diese  Automaten  trennten, 
wenn  sie  sich  trotz  dem  letzten  Kriegsgericht 
bedrohen  mit  Granaten  und  Prozenten? 

Du  großer  Gott,  raff  mich  aus  dem  Gewühl  l 
Führ  mich  durch  diese  blutigen  Räume ! 
Verwandle  mir  die  Nacht  zu  dem  Gefühl, 
<1aß  ich  von  deinem  jüngsten  Tage  träume. 


Mmnm  KARL  KRAUS 

REITAG,  17.  NOVEMBER,  7  UHR 
Mittlerer  Konzerthaussaal 
AUS  EIGENEN  SCHRIFTEN 

I  Teil  des  Ertrages  wird  wohltätigen  Zwecicen  gewidmet. 

lONTACl,  4.  DEZEMBER,  7  UHR 
Kleiner  Konzerthaussaal 

ilNESISCKE  KRIEGSLYRIK 

ESTROY:  Die    beiden    Nachtwandler    oder 

Das  Notwendige  und  das  Über- 
flüssige 

UMUNDs  Der  Alpenkönig  und  der  Menschen- 
feind (Aus  dem  I.  Aufzug) 

Das   Hobellied  (KlavIer:  Egon  Kornaufh) 

LRL  KRAUS:    Worte  in  Versen 

r     volle    Ertrag    wird    wohltätigen     Zwecken    gewidmet. 


REITAG,  15.  DEZEMBER,  7  UHR 
Mittlerer  Konzerthaussaal 
AUS  EIGENEN  SCHRIFTEN 

Teil  de.  Ertrages  wird  wohltätigen  Zwecken  gewldnet. 

nbestimmt)  Dienstag,  19.  Dezember,  7  Uhr 

Kleiner   Konzerthaussaal 
hakespeares  „Maß  für  Maß" 


00 

o 
o 


H 
(D 

M 
ü 
cd 


CD 

H 


0«2 

<l 
00 
H 


Dh  ^Jq   Pm 


University  of  Toronto 
Library 


DO  NOT 

REMOVE 

THE 

CARD 

FROM 

THIS 

POCKET 


Acme  Library  Card  Pocket 
LOWE-MARTIN  CO.  LIMITED