LGNR. 418 — 422 APRIL 1916 XVm. JAHR
DIE FACKEL
HERAUSGEBER
KARL KRAUS
INHALT:
Kierkegaard und die Journalisten / Zum ewigen Gedäciitnis /
Die Historischen und die Vordringenden / Das Lysoform-Gesicht /
Glossen / Fahrt ins Fextal / Notizen / Aus jungen Tagen /
Sonnenthal / Glossen / 's gibt nur an Durchhalter! / Shakespeare
und die Berliner / Zum ewigen Gedächtnis / Weltwende
NACHDRUCK VERBOTEN ^
Preis dieses Heftes: ^
1 Krone 50 Heller = 1 Mark 25 Pf.
VERLAG: ,DIE FACKEL*, WIEN
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F. M. DOSTOJEWSK
Gesamtausgabe
R. Piper & Co.» Verlag, MUnchen
Roter Leinenband mit Goidpressung Mark 5.
Broschiert Mark 4.— in Halbfranz Mark 8.^
Rodin Raskolnikoff
Der Idiot
Die Dämonen
Der Jüngling
Die Brüder Karamasoff
Autobiographische Schriften
Literarische Schriften
Politische Schriften
Arme Leute. Der Doppelgänger
Helle Nächte
Das Gut Stepantschikowo
Onkelchens Traum
Aus einem Totenhaus
Die Erniedrigten u. Beleidigten
Aus dem Dunkel der Großstadt
Der Spieler. Der ewige Gatte
Ein kleiner Held
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DIE FACKEL
Nr. 418-422 8. APRIL 1916 XVIIL JAHR
Wehe, wehe über die Tagespresse! Käme
Christus jetzt zur Welt, so nähme er, so wahr
ich lebe, nicht Hohepriester aufs Korn,
sondern die Journalisten!
Gott im Himmel weiß: Blutdurst ist
meiner Seele fremd, und eine Vorstellung von
einer Verantwortung vor Gott glaube ich auch
in furchtbarem Grade zu haben: aber den-
noch, dennoch wollte ich im Namen Gottes
die Verantwortung auf mich nehmen, Feuer
zu kommandieren, wenn ich mich nur zu-
vor mit der ängstlichsten, gewissenhafte-
sten Sorgfalt vergewissert hätte, daß sich
vor den Gewehrläufen kein einziger anderer
Mensch, ja auch kein einziges anderes
lebendes Wesen befände als — Journalisten.
Sören Kierkegaard, 1846.
Und nach siebzig Jahren, wo es um so viel siebzig-
mal wünschenswerter wäre, als es siebzigmal mehr
Gewehrläufe und Journalisten gibt, stehen sie nicht
vor ihnen, sondern dahinter, haben sie laden geholfen
und sehen zu, man zeigt ihnen, wie es schießt und
fließt, und wartet, bis sie kommen, es zu beschreiben.
Welche Verantwortung nimmt die Erde, die solches
will und erträgt, im Namen Gottes auf sich!
2 —
Zum ewigen
Zwei
Das Leid und Elend, das die
serbische Bevölkerung, vor dem
Feinde fliehend, ertragen mußte, ist
schwer in Worten zu schildern.
Schweren Herzens, ihre einzige
Hoffnung auf Gott setzend, verließen
die armen Flüchtlinge ihre Heim-
stätten. Greise, Frauen, Kinder —
alle flohen! Unabsehbare Menschen-
massen bewegten sich vorwärts —
weiter und immer weiter. . . . Mit
wieviel Schmerz undMitleid gedenke
ich der Kinder, die diesem Zuge
folgten. Halbnackt, mit zerrissenen
Sohlen, beschmutzt, gingen sie an
der Hand der Mutter, die oft noch
einen wimmernden Säugling im
Arme trug. Tränen der Rührung
stiegen mir ins Auge beim Anblick
eines zehnjährigen Kindes, das sein
kleines Brüderchen auf die Arme hob
und ihm sein letztes Stückchen Brot
in das weinende Mäulchen steckte.
In der Menge, die sich müde und
schwerfällig gegen Mitrowitza und
Ipek schob, fiel mir eine hohe, kräf-
tige Bäuerin aus dem Morawatal auf.
Sie trug die schöne undfarbenfreudige
Kleidung der Frauen jener Gegend,
dazu einen kleinen Sack auf dem
Rücken und ein Körbchen in der
Hand. Ihr zur Seite trippelte ihr
Söhnchen, ein gesundes gutgepfleg-
tes Bauernkind, wie man sie in den
gebirgigen Gegenden Serbiensfindet.
»Wissen Sie, wo die Morawa-
Division ist?« Diese Frage richtete
die Bäuerin fast an jeden Vorüber-
gehenden. In jener Division diente
ihr Mann ; ihmbrachte sie das Bündel
Wäsche, das sie auf dem Rücken
trug — Der Vater, der seit vier Jahren
im Felde steht,sollte den Kleinen end-
Gedächtnis
Züge
Der Zug hatte die Halle des
Wiener Nordbahnhofes verlassen.
Die Lichter der Residenz ver-
glühen in der Ferne; der Train
donnert der ungarischen Grenze
zu. Das Handgepäck ist unterge-
bracht. Dann beginnt das
Abendessen erster Serie in
dem Speisewagen, der uns
bis Budapest begleitet. Man
bummelt durch die Waggons, man
ist neugierig. Wer fährt mit
dem Zuge. Die Obersicht ist rasch
vorhanden. Vielleicht hat man sich 's
ein wenig anders vorgestellt, mehr
würdenträgerartig, mehr repräsen-
tativ; aber zu guter Letzt ist man
zufrieden. Um die Bedeutung
der Fahrt der großen Öffent-
lichkeit zu vermitteln, sind
zwei Dutzend Männer von der
Presse da. Wir vierÖsterreicher,
zu denen sich in Budapest vier
Ungarn gesellten, haben uns
gleichfalls organisiert, und es
war zu unserem Besten. Ein
anderes Co\ip€ hat ein Herr, der
lieh wieder einmal sehen und herzen
können. MitschmeichelnderStimme,
die großen Augen voll Kinderun-
schuld zu mir hebend, streckte das
Kind sein Händchen aus und bat:
>Tschitscha, daj mihleba.« (Onkel,
gib mir Brot.) Und die Mitgehenden,
statt des Brotes, das sie selbst nicht
hatten, legten eine Geldmünze in das
bittende Händchen. . . . Hie und da
überrascht ein schönes Haus : große
Kasernen, viele Moscheen fallen
auf. ... In der Stadt Tausende von
erschöpften, blassen Flüchtlingen
So schlief man denn unter freiem
Himmel, bei 15 Grad Kälte, ohne
Feuer, denn es gab kein Holz. Die
mitgeführten Nahrungsmittel waren
fast ganz aufgezehrt. Das mitgeführte
Vieh, von den furchtbaren Strapazen
aufgerieben, blieb größtenteils am
Wege liegen .... Angst und
Verzweiflung erfüllte sie bei dem
Gedanken an das Kommende. Wie
sollten sie mit den zarten Kindern
in grimmiger Kälte, ohne Brot, über
den drohenden steinernen Wall, der
sich vor ihren Augen emporreckte,
hinüberkommen? . . . Es war Sonn-
tag. In der Kirche des Patriarchats
feierte man den Gottesdienst. Der
serbische und montenegrinische Me-
tropolit zelebrierten die Messe. . . .
Totenstille herrschte in dem großen
Raum; dann tönte traurig das Gebet
des alten Metropoliten von den
hohen Wölbungen wieder. . . .
»Tschitscha, daj mi" hleba«, unter-
brach meinen Gedankengang ein
zartes Stimmlein. Vor mir stand
wieder der kleine Knabe, der uns
unterwegs schon mit den nämlichen
Worten angefleht hatte. . . . Die
Zeit zur Flucht drängte. . . . Alles
Gepäck wurde zurückgelassen. Doch
Brot — Brot mußte man haben. . . .
Die Kälte und das Schneegestöber
auch in diplomatischen Diensten
reist, begleitet von seiner liebens-
würdigen Gemahlin und ihrem
hübschen Hündchen; >Pucki« ist
der ersteHund, der mit dem
Balkanzug fuhr, und fühlt sich
heute bereits wie ein Pfau . . .
Ich teilte mein Coupe mit
dem Schriftsteller Felix
Saiten. Nach dem Abend-
essen machte uns Ludwig
Ganghofe r, der von München
gekommen war und nach Nisch
reiste, den ersten Besuch.
Es war eine Visite um Mitter-
nacht, denn Budapest hatten
wir einige Minuten vor 12 Uhr
nachts verlassen. Man hatte
uns dort mit magyarischer
Glut empfangen. Die Zigeuner-
musik freilich fehlte; die fiedelt
jetzt eins den Russen zum
blutigen Tanz, und das ist wich-
tiger. Ganghofer war frisch,
lustig und herzlich bewegt
von der tiefen Bedeutung des
Ereignisses, dessen Teilnehmer
wir waren. Er erzählte wie der
Jüngste und wir tauschten
4 -.-
nahmen zu. . . . Müden Schrittes
setzte sich der traurige Zug gegen
das berüchtigte Zljeb in Bewegung. .
Plötzlich stockte der Zug. Tausende
von Karren, die auseinandergenom-
menen Batteiien, Automobile, ver-
wirrten sich ineinander. Es ging
unmöglich weiter. Der Befehl wurde
gegeben, die Wagen zu verbrennen,
die Kanonen und die Munition zu
vernichten. Alles, was man nicht
mittragen konnte, sollte zerstört,
einzig die Tiere gerettet werden. . . .
Wieder mußte die Nacht unter
freiem Himmel zugebracht werden,
an der Stelle, auf der man sich eben
befand, am Feuer, zu dem die
Reste der zertrümmerten Wagen her-
halten mußten. . . . man schleppte
Räder und Holzteile herbei, um
nicht auf den eisbedeckten Steinen
rasten zu müssen. Leise, traurig
floß das Gespräch dahin, bis die
Müdigkeit das ihre tat. Stärker wurde
der Frost, immer kleiner das Feuer.
Das erste Morgenlicht fiel auf ein-
gefallene, blasse Gesichter, in denen
noch das Grauen der verbrachten
Nacht stand. Die frierenden Kleinen
äußerten wimmernd ihren einzigen,
bescheidenen Wunsch. Ein Stück-
chen Brot nur, der schwarzen Erde
gleich, eine kalte Kartoffel, mußten
das Verlangen der bedauernswerten
Kleinen stillen Kanonen, Karren,
Ausrüstung — alles wurde in
den Abgrund geschleudert. Dann
ging es weiter, einer hinter dem
andern; über vereiste Felsen und
Geröll, mehr gebückt als aufrecht,
rutschend und strauchelnd. Da,
plötzlich ein Schrei — ein Pferd
stürzte von dem schmalen Pfade in
die Tiefe; und wieder ein Schrei,
noch verzweifelter und gellender
als der erste: sein Führer war ihm
nachgestürzt. Die Stunden verrannen
Kriegserinnerungen aus. Man
mag noch soviel gesehen und
erlebt haben, man hört ihm
mit inniger Freude zu. Der
Kehrreim aller seiner Worte
aber ist das Lob der Schön-
heit des Krieges. Er plaudert
von dem Humor, der selbst in
den tragischesten Momenten des
Kampfes aufblitzt; der große
ShakespearedesWelttheaters
weiß eben Ernst und Scherz auch
auf der Kriegsbühne richtig
zusammenzuschüttein. Ein
Straßenkampf tobt; Reserven drin-
gen über die Leichen der Gefallenen
vor — ein junger Unteroffizier
springt um die Ecke — auf
einen Toten. Ein rascher Blick
zurück, ein Stammeln: »Pardon .. .
Bitte um Entschuldigung. ..<
und er ist verschwunden. So er-
zählt Ganghofer, und wir fahren
durch die dunkle Einsamkeit der
Puszta, in der arme Hirten-
frauen von ihren >roten
Teufeln« träumen, die in
Wolhynienkämpfen.DerBelgrader
unter mühseligem Wandern, von
allen Seiten starrten Tod und Ver-
nictitung den Flüclitenden entgegen.
Da lag am Wegesrand ein zu Tode
erschöpftes Pferd, dort ein Ochse
mit heraushängenden Eingeweiden,
weiter unten ein Mensch mit zer-
trümmertem Schädel. . . . Dort blieb
eine Menge entkräfteter, müder Tiere
zurück. Sie standen unbeweglich,
nur ihre todtraurigen Blicke beglei-
teten uns. . . . Und wieder umgab
uns tiefe Nacht. Mit Händen und
Füßen scharrten wir den Schnee
beiseite, um einen Herd zu errichten.
Aber, wie sollte die wärmende
Flamme entstehen, da alles ringsum
feucht oder gefroren war?. . . Ein
Schluchzen drang an unser Ohr;
ein leises, nicht endenwollendes
Weinen. Wir gingen hin. Bei dem
schwachen Lichtschein erkannten
wir jene Bäuerin aus dem Morawa-
tale wieder, dia uns mit ihrem
Knaben bis hierher begleitet hatte.
Mit totenblassem Antlitz saß sie
an einen Tannenbaum gelehnt
da, in den Armen einen leblosen
kleinen Körper haltend, zu dessen
Häupten, mit zitterndem Lichte,
eine kleine Wachskerze brannte.
»Mein Kind ist gestorben und ich
weiß nicht, wie ich es begraben
soll«, sagte die arme Mutter mit
bebenden Lippen. Der Atem stockte
uns — wir erschauerten. Kälte,
Hunger und Krankheit hatten
dieses blühende Leben vernichtet,
noch ehe ihn der geliebte Vater,
den er suchen gegangen, in seine
Arme geschlossen und geküßt hatte.
Unter der Tanne, wo er verschieden,
wurde ihm das Grab bereitet, und
in den rauhen Stamm schnitten
wir seinen Namen:
»Slobodan Ljubinkovits, aus Mora-
wa 1908—1915..
Wagen, der von München kam,
wird abgekoppelt; dafür ist der
Schrei nach einem Morgen-
kaffee oder einem Speise-
wagen vergeblich. Es ist noch
keine Restauration im Be-
trieb, und der Speisewagen
erwartet uns erst wieder um
2 Uhr nachmittags in Nisch.
Das müssen Passagiere des
Balkanzuges zur Notiz neh-
men. An sanften Waldbergen
vorbei führt der Schienenstrang
nach Jagodina. Die zierliche
Moschee mit dem maurischen
Tore und dem schlanken Minarett
interessiert heute alle weniger
als die kleine Hütte im Bahnhof,
in der ein deutscher Soldat heißen
Tee schenkte. Ich hatte mich
schon früher gestärkt; Qang-
hofer, der an Erfahrungen
Reiche, hatte im Coup^ Tee ge-
braut, ein Hühnchen aus dem
Eßkoffer ausgepackt, den
ihm seine fürsorgliche Frau
ans Herz gelegt hatte, und
Entblößten Hauptes, den Blick
voll Trauer auf das kleine Grab
geheftet, bezeugten wir dem un-
glücklichen Kinde die letzte Ehre.
Sein trauriges Schicksal wird für
uns ewig verflochten sein mit der
Erinnerung an den Leidenszug nach
dem schrecklichen Zljeb. Uns
Glücklichen aber, denen der All-
mächtige Kraft gab, so viel Mühsal
und Not zu ertragen und das
Leben zu retten, tönt heute noch
das traurige: >Tschitscha, daj mi
hleba« des armen Knaben nach.
Saiten und mich zum Früh-
stück geladen. Ganghofers
Frühstück war gewiß eine
Spezialitätdes ersten Balkan-
zuges. Der Speisewagen, der
heißersehnte, wird angekoppelt,
— ein Sturm auf ihn erfolgt.
Hirsch.
Die Historischen und die Vordringenden
Ein Wort an den Adel
Im ungarischen Parlament hat einer, um die so-
genannten Bankmagnaten vor Angriffen zu schützen,
auf die Verbindung der Magnaten mit den Banken hin-
gewiesen. Das müssen sie sich schon gefallen lassen, daß
ihr Wappen, einmal für Tantiemen verkauft, nicht nur
als der Schild einer Bankfirma, sondern auch als das
Schild der Bankiers seine Dienste tut. Der Graf Tisza aber
war wieder der Meinung, daß der Burgfriede zwischen den
in Kompagnie getretenen Klassen nicht gestört werden
solle, indem auf die von Natur und durch Erziehung gege-
benen Gegensätze hingewiesen werde. Sie sollten sich im
Gegenteil vertragen und beide von einander lernen. Denn :
>Die historischen Klassen haben von den jetzt vor-
dringenden neuen Schichten der ungarischen Gesellschaft
viel zu lernen, sehr viele Eigenschaften und sehr viele Tugenden haben
sie sich von ihnen anzueignen und sehr viele alte Fehler haben sie
abzustreifen. Auf anderer Seite aber hat es gegen niemanden eine
verletzende Spitze, wenn wir hinzufügen, daß auch die neuen
Schichten der ungarischen Gesellschaft bemüht sein müssen, all das
in sich aufzusaugen, was die alten Faktoren der Gesellschaft an
großen Eigenschaften von ihren Vorfahren ererbt haben . . . .«
Man kann (nicht übersehen, daß der Graf Tisza
in etwas kategorischer Form seine Standesgenossen
7 —
aufgefordert hat, im Verdienen tüchtiger zu werden,
während er unter höflichen Entschuldigungen die Geld-
juden ersucht hat, sich endlich auch die Manieren der
guten Gesellschaft anzueignen. Aber das pädagogische
Resultat wird, wenn diese Welt noch ein paar Jahr-
zehnte so weiter läuft und der Fortschritt der Weg-
macher der Entwicklung bleibt, nicht ganz den
Erwartungen jenes Liberalismus, der auf eine gute
Mischung hinarbeitet, entsprechen, weil aller Wahr-
scheinlichkeit nach schließlich die historischen Klassen
ohne irdische Güter und mit schlechten Manieren, die vor-
dringenden Schichten aber mit zweifachem Besitzstand
die Gesellschaft repräsentieren werden. Und wann hätte
sich diese Evolution besser absehen lassen als au
jenem Zustand einer heillosen Vermengung, der eben
der Kriegszustand ist? Daß die Aristokratie entschlossen
scheint, auf jede geistige Verpflichtung zu Gunsten
der ihr imponierenden Intelligenz und auf jede
sittliche Verantwortung zu Gunsten der sie um-
lagernden Crapüle zu verzichten; daß ein ahnungs-
loses Wetteifern um die Gunst des Auswurfs eingesetzt
hat; daß im eklen Gemengsei der Wohltätigkeit der
Adel eine Erfrischung erlebt und die Gleichheit im
Schützengraben von der Brüderlichkeit im Komitee
ergänzt wird; daß Leute froh sind, am Tisch von
Leuten einen Platz zu finden, die sie ehedem nicht
am Tisch ihrer Leute geduldet hätten, und daß
heute der Herr einen Umgang hat, den sein Kammer-
diener aus Adelsstolz ablehnen würde — das alles springt
aus der großen Zeit und der kleinen Chronik an jedem
neuen Tag ins Auge. Sinnfällig kam diese Tendenz
zum Rollentausch in dem Stolz des Grafen Karolyi
zum Ausdruck, der die voreilige und höchst laienhafte
Meinung, der Herr Nordau habe mit seinem Umgang
im Konzentrationslager renommiert, hinterdrein durch
das Bekenntnis enttäuscht hat, er habe sich vor Glück
gar nicht fassen können, den Nordau endlich kennen
zu lernen, und dessen eigenes Staunen mit der Ver-
sicherung beruhigen müssen, es werde noch schöner
kommen und die Klassenunterschiede würden völlig
schwinden, seitdem man einmal zusammen nicht nur im
Interniertenlager, sondern auch im Schützengraben
gelegen sei. Man trifft sich längst in Redaktionen,
auf Jours, in der Nächstenliebe und bei allen
Gelegenheiten, wo ein Gedränge ist, und vielleicht
kommt noch die Zeit, wo der Adel sogar noch die
höchst unadelige Gesinnung abstreift, die Leute, denen
er den Hof macht und überläßt, hinter ihrem Rücken
grauslicher , zu finden als in ihrem Gesicht. Denn
das ist ein Vorurteil. Auch wird er sich nicht
lange mehr zu schämen haben, mit Bürgerlichen zu
verkehren, denn der künftige Adel nimmt bereits in
einer Weise überhand, daß es bald mehr Ahnherren
in der Kärntnerstraße geben wird, als solche, die ihre
Ahnherren schon begraben haben. Viele gibt es, die
nicht umsonst an Konserven oder Wolldecken ver-
dient haben wollen, ohne die Aussicht, daß in
hundert Jahren ein stolzes Geschlecht undefinierbaren
Ursprungs, aber sicher aus der Zeit kriegerischer Ver-
dienste, blühen und gedeihen wird, abhold der
Vermischung, unzugänglicher als die fallsüchtige
Gesellschaft jener Tage, die seinem Ahnherrn keinen
Fußtritt gab. Eheschließungen dürften das ihrige dazu
tun, mit der Trennung vom Tisch, die so lange ein
soziales Hindernis war, aufzuräumen. Denn es geschieht
schon häufig, daß hochgeborne Herren die Koryphäen
der Ischler Esplanade nicht nur heiraten, sondern
sogar mit ihnen nachtmahlen gehen. Jupiter hat seine
erotischen Neigungen so sehr als Privatsache betrachtet,
daß er sich auch mit einer Königstochter nur im
Inkognito eines Stiers abgegeben hat: und konnte
dennoch nicht verhindern, daß es in die Mythologie
kam. Er zeugte mit ihr zwei Gerichtspräsidenten.
Was für eine Generation droht aber heraufzukommen,
da die Väter ahnungsloser waren als die Mütter?
Die Welt hat sich auf eine undankbare Art bewiesen,
daß sie noch Blut hat. Jetzt wird es ihr auch nicht
mehr darauf ankommen, es zu mischen, und es wird
sich zeigen, daß die Vordringenden, deren seit Jahr-
tausenden frischer Stoßkraft keine Defensive Widerstand
leisten konnte, die Sieger dieses kurzen Kriegs waren.
Aber hat man ihnen nicht die Schlüssel zu den sozialen
Festungen in die Hand gedrückt, als wären es die
zu den Ghettos? Gibt es einen Abgrund, aus dem
man sie nicht heraufgeholt hat? Eine Strickleiter
sozialer Verbindung, die man ihnen nicht gereicht
halte? Kinoschmierer, Operettenlieblinge, Agenten
müssen sich den Hochgestellten nicht mehr auf-
drängen, sie werden begehrt; und der Parvenü
braucht sich nicht mehr anzustrengen, wenn Hoheit
ihm auf halbem Weg entgegenkommt. Von einer
Fürstin empfangen werden, ist gefährlich, weil man
sicher sein kann, einen Revolverjournalisten bei ihr
zu treffen, die phantastischesten Zusammenstellungen
sind im Geschmack der Zeit, und der arme »Würden-
träger«, der unter der Last keucht, ist aer mißbrauchte
Dienstmann des Großindustriellen, der ihn für schlechte
Behandlung durch gelegentliches Essen entschädigt.
Kann man denn mit Fug noch von Vordringenden
sprechen, wenn die Historischen schon hinter ihnen sind?
Wahrlich, nie haben sie selbst sich das Leben so leicht
gemacht wie ihnen der Feind, und der letzte Hemm-
schuh, den die historische Welt ihnen in den Weg legen
wollte, ward durch den unerforschlichen, aber seit Jahr-
tausenden am Sieg wirkenden Ratschluß ihres Gottes
beseitigt. Wie sollte eine Rasse, deren Ambition man
nahetritt, wenn man ihr nur die Neigung zu greifbaren
Gütern vorwirft, nicht auch auf die moralischen,
die doch in einem so verwandelten Leben das billige
Ornament der andern sind, Appetit haben? Kommt
einst der Tag — und wir erleben ihn — , daß
der Wert vollends Ware geworden ist, so mag noch
eine Gelegenheit bleiben, ihn aus dem Markt zu ziehen,
um den ewigen Händlern die Chance zu verderben:
der Adel beweise sich, indem er ihn ablegt, und lasse
die Gesellschaft als ein Ghetto derNobilitierten hinter sieht
— 10
Das Lysoform-Gesicht
ist das der Zeit. Zu sehen, feixend, an allen Planken. Das
Mittel ist eines der Mittel — auf >— it«, »— in<, >— ol« und
»—form«, — die die Menschheit erst nötig hat, seitdem sie sie
erfunden hat, und ohne welche es die Leiden nicht gäbe, gegen
die sie erfunden wurden. Aber das Gesicht, das es empfiehlt, ist
die Zeit selbst. Hierzulande, wo aller Vorfall bunter und lauter
ist als sonst in der Welt, vergeht einem Hören und Sehen, wenn
man eine Planke entlang geht, nur die Zeit steht und feixt
Welch ein Tohuwabohu von Stillstand! Eine brüllende Prolelen-
kunst feiert ihren orgiastischen Abschied vom Sinn des Lebens. Die
Tobsucht empfiehlt das Lebensmittel, dessen Tyrannei den Verstand
so weit gebracht hat. Die Ware ist rebellisch worden und jauchzt,
springt, platzt vor Vergnügen, weil der Händler ihr die Haut des
Konsumenten zur Hülle gab. Nein, an keiner Straßenecke des
Fortschritts geht es so hoch her wie an der unsern. Das Ohr
verspürt noch den Druck der eben verstummten Siegesschreie, deren
Gewalt die Behörde eingedämmt hat, weil das Papier, nicht weil
die Menschenwürde auszugehen drohte. Das Heroenzeitalter der
Wiener Straße — bis auf den Sonntag, der als Unruhtag eingesetzt
wurde, abgelaufen — hinterläßt im Gedächtnis einen letzten
Glanzpunkt: >Krosser Sick der Türken über die Russen: Erzerum
gehohmen !« Kein Schweigegebot aber unterdrückt die gemalten
Extraausgabenschreie, die das Auge betäuben, die vernichtenden
Anschläge der Gewinnsucht auf den Geschmack. Mestizen aus
Weanern und Juden, das ewige Hindernis des Trottoirs, erscheinen
in liebevoller Übertreibung noch an die Wand gemalt; ein Variete
von Wucher und Wohltat tanzt vor uns, peitscht den Lebens-
überdruß zum Gaudeamus und eine Quadrille von Zentauren,
halb Mensch, halb Ware, bestürmt uns, kein Spielverderber zu
sein. Transzendente Antlitze von Gastwirten, melancholisch über-
schattete Judenbuben, die einen heitern Abend versprechen, obers-
schaumgeborne Aphroditen, Bulldogs mit Hausmeistergesichtem,
Mißgeburten, die strampelnd schon mit Gummiabsätzen zur Welt
kommen, brave Soldaten, die außer sich vor Freude sind, weil Anti-
Mi kotin gesiegt hat — und über dieser Farbenhölle, die losgelassen ist,
— 11 —
um die Zugkraft des Todes für ein niedriges Lebensinteresse
zu verwerten, über diesem schüttelnden Fleckfieber der Zeit, über
diesem Gliederkrampf von lebloser Feschität und ausgefressenem
Marasmus: das gewitzte Ponem des Lysoformbengels, der zu
wissen scheint, was er weiß, der sagen könnte, was er nicht
sagen will, nämlich wofür das Mittel auch probat ist. Mit der lächelnden
Miene eines, der eine Diskretion begeht, der sich auskennt, der in dem
Punkt Erfahrungen hat, dem schon manches untergekommen ist, der
viel erzählen könnte, wenn er wollte, schweigt er, und sagt: >Unent-
behrlich für die Frauen.« Schweigt so die Zeit nicht? Sieht sie so nicht
aus? Die Moral, die das Geschlecht verbietet und als Gegenstand des
Humors für geschlossene Zirkel zuläßt, räumt ein, daß die Sache ernst
ausgehen kann, und findet das komisch. Der Händler illustriert die
Gefahr durch einen wissenden, eh schon wissenden Laden-
schwengel, der mit gekniffenem Auge und dem von einem Ohr,
das viel gehört hat, bis zum andern verzogenen Lächeln um
keinen Preis verraten will, was er weiß, aber schließlich mit sich reden
läßt. Die Passantin, der ein Rat erteilt wird, wird angegrinst und
entschließt sich, weil Lysoform nun einmal so pikant sein soll,
zu einem Kauf. Diesem Lockvogel ist nicht zu entgehen; diesem
eingeweihten Schelm, der täglich Lysoform empfiehlt und am Sonntag
auch die Plauderei schreibt, kann man nicht nein sagen. Keine Frau,
keine Behörde. Solches Vorbild einer Moral, die längst Herren-
abend gemacht hat, begleitet uns auf allen Wegen. So angeschaut,
so von allen Sendboten der Hölle angerufen zu werden, ergötzt uns,
stört uns nicht. Niemand beklagt sich, kein Steinhagel macht der Zu-
mutung ein Ende. Und niemand erschrickt bei dem Gedanken, daß in
einar durch gnädigen Zauber plötzlich ausgestorbenen Stadt diese
Gesichter in ihrer überlebendigen Überlebensgröße überleben und
uns in die Verwesung nachstarren könnten.
— 12 —
Glossen
Lesestücke
Aus einem im Verlag von Karl Meyer in Hannover
erschienenen, für den Schulgebrauch bestimmten Lesebuch der
Rektoren Kappey und Koch in Hildesheim:
>Regiment greift an<, von Leutnant Hoppe vom Regiment 79:
Da drüben, da drüben liegt der Feind
In feigen Schützengräben,
Wir greifen ihn an, und ein Hund wer meint,
Heut würde Pardon gegeben.
Schlagt alles tot, was um Gnade fleht,
Schießt alles nieder wie Hunde,
JVlehr Feinde, Mehr Feinde! sei euer Gebet!
In dieser Vergeltungsstunde !
Aus drei im pädagogischen Verlag A. Haasein Prag erschienenen
Büchlein des Wiener Lehrers Weyrich :
>Auf daß ihr mit wissendem Herzen und Munde
hasset, halte ich euch einen Spiegel vor, aus dem euch das neidverzerrte
und haßverfärbte Antlitz des falschen Albion entgegengrinst.«
»Jetzt freilich möchte ich nur wünschen, daß den Russen Galizien
all seine Gaben: Armut und Schmutz, verseuchte Brunnen und tolle
Hunde, Hunger und Seuchen in verschwenderischem Maße zuteil
werden läßt.«
»Von den Kerlen aber ist nichts zu sehen! Schauen in ihren
Monturen aus, als wären sie aus demselben Lehm und Sand geformt,
um den wir uns nun tagelang raufen. Sind feige Hunde, die
Erdfarbenen!« *
»Alles schwarz von Russen, grad so wie in einer vernachlässigten
Küche! Man braucht nicht zu zielen: einfach losdrücken und schon
liegt einer. Na, da knallten wir sie nieder, wie die Köchin
raschen Fußes das Ungeziefer zertritt.«
»Sakra, dös war höllisch fein! Bald hab' i 's Vurtl heraußt
g'habt. Eini das Messer ins Russenfleisch und gach umdraht!«
»Hei, da haben wir mit unseren Karabinern dreingehauen,
als gälte es Klötze zu spalten. Hab' auch viele Russen-
schädel zerschlagen. Hurra!«
>Es muß ein ganz eigenartiges Gefühl sein: Hier zu stehen, den
Feind 'rankommen zu sehen und ihn niederknallen zu können,
ohne daß er einem recht ankann.«
13
»... und jetzt darf ihnen (den Russen, die sich ergeben) niemand
mehr etwas tun als: gefangennehmen. Und hätten doch so gern
diese Gazember (magyarisches Schimpfwort) ein bißl massakriert. . . .<
»Jeden einzelnen von uns hat der Krieg aus dem
Alltag gerissen, hat ihn umgeformt und sittlich wachsen
lassen. Wir alle sind bessere Menschen, bessere Öster-
reicher geworden!«
Gebt Feuer, ihr Berge! Speit!
»Wieder einmal nimmt dasWiener Kaffeehausleben eine
Umgruppierung vor. ... die Begriffe Semmel, Kipfel, Baunzerl. . . .
gelbes K riegs weckerl . . bis die Wiener Cafetiers auch diese
Position aufgeben mußten. . . . Und während draußen unsere
Helden stürmen und siegen, standhalten und erobern, nahm
die bürgerliche Defensive des Wiener Kaffeehausgastes ihren
nicht immer erwünschten, aber wirtschaftlich-strategisch höchst not-
wendigen Fortgang. . . . das Schlagobers, das üppig und lockend die
Wiener Melange zur kulinarischen Sehenswürdigkeit erhob, wurde glatt-
weg konfisziert, und nun ist eine ganz neue Linie bezogen worden. .
Die Nachmittagsjause ist auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Heute hatten
die Wiener Kaffeehäuser ihre melangelose Premiere. Wenige Minuten
vor 2 Uhr. ... noch ein »Kapuziner« oder eine Melange »mehr dunkel«
oder eine >Obers gespritz t< serviert, punkt 2 aber ein derartiges
Begehren mit einem, je nach der Gemütsart des Kellners
bedauernden oder ironischen Achselzucken verweigert. Und als
späterhin einige Gäste in wenig geschmackvoller Weise das Milch-
verbot umgehen wollten, indem sie ihren Schwarzen durch mit-
gebrachte Milch zu einem Weißen machten, wurde ihnen klargemacht,
daß auch dies nicht erlaubt sei. Der Wiener Kaffeehausgast hat aber auch
die neueste Probe auf seine Bereitschaft zum Durchhalten
vortrefflich bestanden. . . . Denn schließlich gehen ja doch die meisten
Wiener, Herren und Damen, in erster Linie der Gesellschaft halber,
um Zeitungen zu lesen, um eine Ruhepause zu genießen, um zu
plauschen und zu politisieren, ins Caf6, das ja bei uns weniger
>Lokal< als Klub ist. Ganz schlaue Leute aber . . wußten sich heute
schon zu helfen. Sie erschienen später als sonst, erklärten dem Markör,
daß sie noch warten wollen, und bestellten dann pünktlich eine Minute
vor 7 Uhr: »Markör, eine Teeschale Melange, sehr licht.«
Nein, Doppelschlag!
14 —
Das Gedankenleben
Zwei Stufen des Denkvermögens gibt es jetzt. Auf der einen,
der höhern, sagt man: »Krieg ist Krieg.« Hier ist außer der Erkennt-
nis noch der Rat inbegriffen, sich danach einzurichten oder wenns
nicht paßt, nach einem andern Planeten auszuwandern, falls man
die Grenzübertrittsbewilligung bekommt. Diese Formel berück-
sichtigt die unabsehbaren Schwierigkeiten und Gefahren, die sich
aus der einmal gegebenen Tatsache ergeben, ohne jedoch den, der
sie anwendet, an diesen Fatalitäten schuldig oder beteiligt erscheinen
zu lassen. Nur im Munde solcher, die nicht daran sterben, ist
diese Definition des Krieges gebräuchlich, die andern wissen
vielfach, daß der Krieg auch etwas anderes ist als Krieg. Auf
der zweiten Stufe aber drücken sich die Leute, denen es
nicht geschah, weniger kompliziert aus, sondern sagen einfach :
>Jetzt ist Krieg.« Diese Erkenntnis hält sich gleichfalls an die ein-
mal gegebene Tatsache, weist aber den barsch ab, der dem Sprecher
irgendwelche Zumutungen stellen möchte, denen er schon im
Frieden nur schlecht oder ungern entsprochen hat und von rechts-
wegen auch im Krieg zu entsprechen hätte, also nicht als ob ihm eine
neue Leistung aufgebürdet würde, sondern weil die alte von ihm
verlangt wird. Es ist allenthalben nicht njar das Zauberwort, das
den Wucherinstinkt bis zur Aufopferung des letzten Schamgefühls
entfesselt hat, sondern es ist auch in der Niederung jener, die vom Krieg
nichts haben können, die Ausrede der Lässigkeit und die Ent-
schuldigung der Schlamperei, und man hat den Eindruck, als
sollte die Felddiensttauglichkeit anderer die eigene Untauglichkeit
zu jedem andern Dienst erfordern. Man muß darauf gefaßt sein,
daß man von einem Kellner, dem man jetzt etwa raten würde, die
Tür geräuschloser zu schließen oder den Finger nicht geradezu in
den Teller zu stecken, die Antwoit bekommt: »Jetzt ist Krieg.«
Blitzschnell hat diese Erkenntnis alle Gebiete des öffentlichen und
des privaten Lebens, jenseits aller Notwendigkeiten, die sich aus der
Tatsache, daß Krieg ist, ohnehin ergeben, durchsetzt und den Zustand
eines andern Kriegs geschaffen, den das Hinterland auf eigene
Faust zu führen scheint. Jener Krieg ist dieser Krieg. Eben dort, wo
noch die Bahn des Lebens frei wäre, pflanzt sich die störrige
15 —
Banalität auf und zwingt uns zur Umkehr durch die vorgehaltene
Warnung: Jetzt ist Krieg. Der Gedanke lebt und jeder
nimmt sich seinen Teil von dem allgemeinen Recht, ein Hindernis
zu sein. Alles andere aber, was so tagsüber den Leuten aus dem
Mund kommt, ist nur die feierliche Redensart, die öfter gestorben
ist, als jener Tod, den sie bezeichnet, erlitten wurde. Wer hätte denn je
gedacht, daß eine Zeit anbrechen werde, die solcher Menschen-
ware den Stolz beibringt, einer »Epoche« anzugehören ! Glotzende
Fettaugen auf der Wassersuppe des Lebens, starren uns die
heroischen Worte an, als wäre, wenn das Ohr versagt, auch dem Aug
noch ein Tort erwünscht. Dieser Gallert, nicht zertreten, kaum bewegt
vom Ereignis, schillert in den Farben der Glorie, und ich
weiß nicht, habe ich es erfunden oder ist es nur wahr: in einem
Kaffeehaus, in dessen Luft ein Schlachtenlärm ist von Prozenten und
Miasmen, in einer jener großstädtischen Lokalitäten, in die der
Kriegszwang selten eingreift, seltener die Gerechtigkeit, wiewohl
sie es blind vermöchte, in einer jener Baracken, wo sich die Ent-
lausung des Hinterlands durch den Krieg als Utopie herausstellt,
sagt einer plötzlich: »Was heißt nein? Ich sag Ihnen sein Vorge-
setzter selbst hat ihr geschrieben, so wahr ich da leb, er wird
in den Annalen fortleben.«
Ein Irrsinniger auf dem Einspännergaul
Wunder gibts jetzt nur in der Technik, Symbole wachsen
in der lokalen Chronik. Hier ist eines, das ziemlich gut zeigt,
wie ich mir die Lage der Welt im Krieg, die Lage unserer Welt,
schon immer vorgestellt habe.
[Ein Irrsinniger auf dem Einspännergaul.] Eine auf-
regende Straßenszene hat gestern abend an der Kreuzung der Aiser- und
Landesgerichtsstraße eine geraume Zeit lang unter den vielen Vorüber-
gehenden großes Aufsehen erregt. Gegen halb 8 Uhr fuhr ein Einspänner-
wagen mit zwei Damen als Fahrgästen und Gepäck, das auf dem Bocke
verstaut war, in der Universitätsstraße gegen die Alserstraße. Als der
Wagen im langsamen Tempo zur Kreuzung der Aiser- und Landesgerichts-
straße fuhr, kam ein junger Mann in Infanteristenuniform plötzlich im
Laufschritt auf die Straße und stürzte sich dem Einspännerrosse entgegen ;
er faßte es an dem Zügel und wollte das Pferd anhalten. Der Kutscher
— 16 —
war überrascht, die beiden Insassen waren erschrocken. Der Kutscher
schlug mit der Peitsche auf das Pferd ein, um es zu schnellerem Trabe
zu veranlassen und dem jungen Menschen zu entkommen; das Pferd
lief auch schneller, da sprang der junge Mensch wieder an den Gaul
heran und schwang sich auf ihn. Mit der bloßen Hand trieb er das
arme Tier zu noch schnellerem Laufe an, indem er dabei wiederholt
> Hurra«! schrie. Nun hatte der Kutscher die Lenkung über das Pferd
ganz verloren und der sonderbare Reiter ließ den Gaul ganz umkehren.
Im Galopp kam das Tier mit dem schleudernden Wagen gegen die
Kreuzung. Das Abenteuer hätte noch schlimm enden können, wenn nicht .
an der Kreuzung ein Sicherheitswachmann das Pferd am Zügel gefaß'f
und zum Stehen gebracht hätte. Der Wachmann zog den Reiter wieder
auf den Boden herab. Kutscher und Fahrgäste atmeten auf. Um den
Wagen sammelte sich gleich eine große Menge an. Der junge Mann,
der offenbar geistesgestört ist, wurde der irrenärztlichen Behandlung
übergeben.
Wann, wann, wann! Wann kommt er, der Wachmann!
Wenn man einen braucht, ist natürlich keiner da.
Wüßt' ichs doch!
Wer liefert
8-cm-Stahlgranatenrohlinge?
3000 bis 5000 Stück per Woche während drei Monaten von
April ab. Gefällige Offerten unter >Stahlgranatenrohlinge 4552«
an das Ankündigungs-Bureau dieses Blattes.
Bagatellen
.... Tatsächlich hatte der Unfall, abgesehen von dem erwähnten
Verluste an Menschenleben (9i, nur einen rasch gelöschten Brand zur
Folge, ohne daß durch diesen die geringste Betriebsstörung eingetreten
ist. Derlei Unfälle sind bei der so umfangreichen, auf das äußerste
gesteigerten Erzeugung und Verarbeitung von explosivem Material unver-
meidlich, jedoch für die Munitionsversorgung ohne Bedeutung.
— 17 —
Nämlich im Vergleich mit den viel größeren Unfällen,
die späterhin den Zweck und nicht die Gefahr der Munitionsversorgung
bedeuten. Wenn diese eine wohltätige Einrichtung zur Vermehrung
von Menschenleben wäre, ließe sich von der Affäre ein Aufhebens
machen. Ebenso unberechtigt ist es aber, wenn von dem Verlust an
Menschenleben Notiz genommen wird, den — als die letzte Wirkung
der erzeugten Munition — unvorsichtiges Hantieren mit einem
vom Vater den Kindern mitgebrachten Explosivgeschoß hie und da
verursacht. Solche nicht beabsichtigten Unfälle sollten am
besten aus der Diskussion bleiben. Was sich vorher und
nachher mit der Munition begibt, zählt nicht. Die Zeit ist
viel zu ernst, um sich mit solchen Bagatellen abzugeben.
Ein Protz
Ein Kinobesitzer (der doch ohnehin von Berufs wegen sein
Scherflein beiträgt) verklagt einen Feuerwächter wegen Ehren-
beleidigung.
. . . Bei der Begründung des freisprechenden Teiles der Klage führte
der Richter aus, daß nach den dem Gerichte völlig glaubwürdig er-
scheinenden Angaben der beiden Zeuginnen der Kläger sich selbst
gebrüstet habe, daß er zu einem leichten Dienst gekommen sei und
^p.Q es ihm sehr viel Geld gekostet habe. Bezüglich dieser daher
von dem Angeklagten nur wiederholten Äußerung erachte das Gericht
den Wahrheitsbeweis als gelungen.
Damit ist der Gerechtigkeit genüge geschehen. Bewiesen ist
wohl außerdem, daß der Kläger renommiert hat. Man hört
oft von solchen Protzereien, aber die Zeit ist viel zu ernst, um
dergleichen zu beachten. Die Tatsache der Äußerung kann
Gegenstand einer Beweisführung sein, aber nicht ihr Inhalt. Das
würde zu Weitläufigkeiten führen und da es nicht gelingen
würde, versucht man es gar nicht erst, sondern geht zur Tages-
ordnung über, in der sich der schwere Dienst von selbst versteht.
18
Der Mann von fünfzig Jahren
Goldene Worte
Professor Dr. K. F. Wenckebach, der Vorstand der Ersten
medizinischen Klinik in Wien, hat vor mehr als 2 Jahren, kurz nachdem
er seiner Berufung nach Wien Folge geleistet hatte, einen Vortrag >Über
den Mann von fünfzig Jahren« gehalten, der erhebliches Aufsehen nicht
nur in der medizinischen Welt, sondern auch in Laienkreisen, vor allem aber
in den Kreisen der Fünfziger erregt hat. Dieser Vortrag ist jetzt
im Verlag Moritz Perles, Wien, in dritter Auflage als kleines Buch
erschienen, wohl der beste Beweis, wie groß das allgemeine
Interesse an der von Wenckebach angeschnittenen Frage ist, ob auch
der Mann um die fünfzig herum einer schweren Störung seines Allgemein-
befindens unterworfen erscheint.
Kein Zweifel, denn es ist der Zeitpunkt, wo die Natur auf
Wahrheit dringt, weil sie lange genug gewartet hat, daß aus jungen
Männern alte Weiber werden. Besonders bei den deutschen Dichtern,
die dazu inklinieren, fünfzig Jahre alt zu werden; und man erinnert
sich noch, daß nach Ablauf der Periode, da Frau Hermann Bahr
am Lido in wallenden Gewändern sich zeigte, die Epoche begann,
in der der Kollege Dehmel sich einen Tschako aufgesetzt und
sogar Kriegsgedichte verfaßt hat.
Nach einer allgemeinen Übersicht über die Entwicklungskrankheiten
des heranwachsenden und erwachsenen Menschen geht der hervorragende
Wiener Kliniker auf den fünfzigjährigen Mann als Patienten über und
bemerkt: »Es fällt uns zuallererst auf, daß die Patienten fast nie dem
arbeitenden Stande angehören, sondern meist besseren und besten
Kreisen entstammen, und wenn man sie im allgemeinen charakterisieren
soll, könnte man sagen, daß es Menschen sind, von denen das Leben
viel verlangt hat, die aber auch selbst viel vom Leben verlangen.«
Gewiß, die Fünfzigjährigen verlangen vom Leben oft mehr
Geld als es zu geben hat, besonders, wenn sie Medizin studiert haben.
Wiewohl sie aber dem Leben mit dieser Forderung unaufhörlich
nachlaufen und sich gehörig abstrapazieren, nehmen sie nicht nur
an Geld zu, sondern:
»Meistens ist ein gewisser Grad von Fettsucht vorhanden, ein dicker
Bauch, ein festes, pralles Fett . . . .«
Davon kann man sich bei einem Blick auf das Hinterland
überzeugen, soweit es nicht schon anderweitig mit besserem Erfolg
gemustert wurde. Wenckebach konstatiert eine Arrhythmie des Pulses.
Von oft ausschlaggebender Bedeutung sei die Beruhigung des Patienten,
der zweite Hauptpunkt die diätetische Behandlung, wobei es oft not-
wendig sei, das Körpergewicht etwas herabzusetzen. Gewöhnlich genügen
aber fünf bis zehn Kilogramm im Laufe von Monaten oder einem
Jahr als Gewichtsverlust. Einschränkung der Fettzufuhr, Sparsamkeit mit
Zucker, nicht ausschließlich Fleisch, nicht viel Gewürze, nicht schlemmen,
im Alkohol- und Tabakgenuß Mäßigkeit — dies hat Professor Wencke-
bach fast immer zum Ziel geführt.
Dieser Wenckebach mag sein Fach verstehen, aber man kann
nicht leugnen, daß die Größe der Zeit seiner Methode wesentlich zu
Hilfe kommt. Zwar läßt sich nicht leugnen, daß die jetzt ohnedies vor-
geschriebene Kur, das Körpergewicht etwas herabzusetzen, der
Beruhigung des Patienten geradezu entgegenwirkt, ja daß durch die
Notwendigkeit, sich ihr zu unterwerfen, die Arrhythmie des Pulses
noch verstärkt wird. Man hat jetzt bei Fünfzigjährigen vielfach
eine Störung des Allgemeinbefindens beobachtet, die bei jüngeren
Jahrgängen sogar häufig zu letalem Ausgang geführt hat. Aber
Wenckebach, der kein Chirurg ist und überhaupt im tiefsten
Frieden zu leben scheint, empfiehlt auch »eine vernünftige
Lebensweise«, nämlich: >geistige Ausspannung und körperliche
Bewegung«. Erstere ist mangels dessen, was auszuspannen wäre, schon
lange mit den größten Schwierigkeiten verbunden, aber für die letztere
ist jetzt hinreichend gesorgt, und wenn es ehedem die grausamste
Betätigung des landesüblichen Humors war, den Dickwanst tiefe
Kniebeuge machen zu sehen und lachend zu beobachten, wie der
Nebenraensch nichts zu lachen hat, so sind jetzt ihrer so viele in solcher
Lage, daß die schadenfrohen Zeugen fehlen. Wenckebach mag eine
Kapazität sein, aber es dürfte jetzt kaum Einer seiner Ratschläge be-
dürfen, wo so vielen, auch jenen, die jünger oder älter als fünfzig sind,
außer der körperlichen Bewegung Einschränkung der Fett2ufuhr,
Sparsamkeit mit Zucker, nicht ausschließlich Fleisch, nicht schlemmen,
im Alkohol- und Tabakgenuß Mäßigkeit gratis ordiniert wird. Wem
würde heute, wenn er in ein Gasthaus kommt, in der festen
Absicht zu schlemmen, nicht von der Speisekarte selbst Ein-
schränkung der Fettzufuhr und Maßhalten im Fleischgenuß
empfohlen, von der Zuckerkarte nicht die einschlägige Diät, wem
nicht von der Trafikantin selbst, die doch gewiß ein Faible fürs
Rauchen hat, Enthaltung vom Tabakgenuß ? Es braucht kein
Wenckebach vom Katheder herzukommen, um das zu sagen. Es
wären denn die Worte, die er zu sagen hat, sogenannte goldene Worte.
Und zum Schluß spricht Professor Wenckebach die goldenen Worte
aus: »Wenn der Patient sieht, daß er durch eine vernünftige Lebens-
20
weise sein Wohlbefinden zurückerlangt, bekommt er Zutrauen zu seinem
Arzt, zugleich aber das erhebende Gefühl, daß er kein Patient mehr Ut
und, von seinem Arzt nicht mehr abhängig, sein Los wieder selbst be-
stimmen kann. Das aber ist auch der höchste Erfolg für den Arzt,
seinen Patienten so weit zu bringen, daß er den Arzt entbehren kann!«
Wenn man dazu noch bedenkt, daß bekanntlich ein guter Arzt
auch ein guter Mensch sein muß und vice versa und daß somit
Wenckebach der Nachfolger Nothnagels ist, so sind das entschieden
Worte, die mehr Gold für den Patienten als für den Arzt haben,
dessen Selbstaufopferung, wenn es einmal so weit kommt, zu den
heroischesten Erscheinungen dieses Zeitalters gehört, nur vergleichbar
dem Harakiri "des Generals Nogi. Aber abgesehen davon, daß soeben
allerorten eine »entsprechende Erhöhung der Ärztehonorare«
erwogen wird, wiewohl doch schon der Tarif in Friedenszeiten
Preistreiberei nicht ausgeschlossen hat, und abgesehen von der
tnenschlichen Erkenntnis, daß am Golde alles hängt, wäre zu bedenken,
daß die Weisheit der Ostasiaten in einem anderen, praktischen
Glanzpunkte nachgeahmt werden könnte, ohne daß die medi-
zinische Praxis geradezu eine Katastrophe erleiden müßte. Der
Arzt kann nämlich den Patienten am Leben lassen, ohne sich umzu-
bringen. Das Geschäft würde allerdings eine materielle Schmälerung
riskieren, aber die Seele eines sittlichen Zuschusses sicher sein.
Es genügt, sich statt des Heroismus nur die Weisheit der Ostasiaten
zum Vorbild zu nehmen und sich einfach statt für die Krankheit
für die Gesundheit honorieren zu lassen. Wenckebachs Ent-
sagung würde kein Echo bei der Fakultät finden. Denn
Hand aufs Herz — das ja menschlichen Wallungen genau so
ausgesetzt ist wie das des fünzigjährigen Patienten, der ein
fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Verdiener feiert und vom
Leben für die Zukunft noch mehr verlangt — , das ist ja alles
ganz gut, ein guter Arzt muß ein guter Mensch sein, aber ein Arzt
ist eben auch ein Mensch, also Hand aufs eigene Herz: welcher
WienerUniversitä tsprofessor und Konsiliarius, welcher europäischeArzt
lebt, der den Tag nicht erwarten kann, wo er seine Patienten so weit
gebracht haben wird, daß diese den Arzt entbehren können? Solange
die Ärzte fürs Kranksein bezahlt werden, mag ein Heiliger unter
ihnen der Verlockung widerstehen, wenn schon nicht das Kranksein
zu verlängern, so doch dem Gesundwerden mit Besorgnis
entgegenzusehen. Kein europäischer Arzt wird sich des Wunsches
überführen können: wenn der zudringliche Mensch von einem
Patienten nur schon endlich gesund wäre, damit ich ihn nicht
mehr sehen müßte und er mich entbehren kann der Kerl — was
ich dem koste, das ist schon wirklich nicht mehr auszuhalten!
Dagegen in Ostasien, Herr Kollega, dort sind die Ärzte wirklich sehr
interessiert: 5ie bekommen nur Honorar, solange der Klient gesund
ist, und da schauen sie wirklich dazu, daß ers bleibt. Vielleicht,
daß eben darum dort auch die Fünfzigjährigen keiner Störung
des Allgemeinbefindens unterworfen sind.
Überreste aus der Vergangenheit
.... Sodann protestiert Redner (Graf Josef Karolyi) gegen die
Art und Weise, in der Abgeordneter Sandor die Träger historiscfier
Namen mit den Geschäften der Großbanken in Verbindung gebracht
habe, Wohl haben, erklärt Redner, die Träger historischer Namen in
der Vergangenheit nach dem Beispiele des Grafen Stephan Szechenyi
wie in den anderen Zweigen des volkswirtschaftlichen Lebens sich auch
im Finanzleben betätigt. Aber sie taten es aus Patriotismus, nicht aus
Gewinnsucht. Seitdem ist eine neue Klasse erstanden, welche sich
auf volkswirtschaftlichem Gebiet betätigt und davon lebt. Seitdem sind
die Träger historischer Namen auf diesem Gebiete immer mehr in den
Hintergrund getreten. (Zustimmung links.) Heute gehören Fachleute
dazu, um an der Spitze von Banken zu stehen. Wenn heute noch
sporadisch Träger historischer Namen an der Spitze von Banken ange-
troffen werden, so sind dies Überreste aus der Vergangenheit
und gehören nicht mehr dorthin. . . .
Hier ist die Entwicklung anders dargestellt, als man sie
sich sonst denkt. Wo sind die Zeiten, klagt hier ein Historischer, da
sich die alten Adelsgeschlechter noch am finanziellen Leben beteiligt
haben. Immer sind sie an der Spitze der Banken gestanden, dann
aber sind die Fachleute gekommen und haben sie verdrängt.
Die Historischen nahmen die Vordringenden in den Verwaltungs-
rat auf, der Namen wegen, und jetzt sind sie selbst draußen, und
an der Spitze der Banken stehen jetzt Juden, die zu einer solchen
aristokratischen Beschäftigung von Natur zwar nicht taugen,
aber sehr schnell verstanden haben, sich mit den Positionen
das nötige Fachwissen anzueignen, während die Historischen nur
mit der Ehre beteiligt waren.
22
Narben und Notizen
(Verwundetenjause.) Vorige Woche fand im Palais des
Kommerzialrates Thury v. Thurybrugg auf der Seilerstätle eine
Bewirtung verwundeter Soldaten statt, welche von der Tochter des
Hauses, Fräulein Paula v. Thury im Palffy-Spital gepflegt werden. Nach
einer Bewirtung der verwundeten Soldaten folgte eine Reihe künstlerischer
Vorträge. Den Reigen eröffnete .... dann sang .... am Klavier begleitet
von .... der bekannte Mitarbeiter der .Muskete' .... und am Schlüsse
trug .... Unter den Gästen bemerkte man : Gräfin Hohenwart, Mark-
gräfin Helene Pallavicini, Baron und Baronin Joachim Brenner, Gräfin
Hilda Attems; Baronin Foulon-Norbeck, Frau Anna v. Goldegg mit
Tochter, FML. v. Feigl, Generalkonsul Stepsky v. DoUivar, Frau von
Stepsky-Scoda, Fräulein Irma v. Wittek, Herr und Frau v. Schönthan,
Frau Ferraris mit Tochter usw. Mit sichtlicher Freude über das Gebotene
und unter lebhaften Dankesbezeigungen wurden die Verwundeten sodann
wieder in das Spital zurückgeleitet
Verwundetenjause — welch ein Wort! Es hieße nicht so,
wenn nur Verwundete jausten und nicht auch Gesunde zuschauten.
Arme Teufel, die so geführt werden! Warum, warum das alles!
Bürgerliche wollen. Aristokraten können. Aber müssen Verwundete?
Friedensrisiko
(>lm Weltenbrand«) Baronin Stella Berger-Hohenfels wird an
ihrem Vortragsabend, der demnächst stattfindet, unter anderm auch
Kriegsliedgedichte aus der Feder des Oberleutnants Emil Spitzer
vortragen.
Da? sollte sie nicht.
Diese wie viele andere Gedichte von Oberleutnant Spitzer sind
jetzt in neunter Auflage als Buch unter dem Sammelnamen: »Im Welten-
tfrand — Kriegslieder aus Österreich- Ungarns und Deutschlands größter
Zeit« erschienen. Das mit Illustrationen reich ausgestattete Buch enthält
viel Stimmungsvolles und gut Empfundenes, und manches der Lieder
eignet sich vorzüglich zur Vertonung und wird wohl den Krieg lange
überleb e n.
Wir sind für den Frieden, aber nicht für den Frieden um
jeden Preis.
23
Was sie gelehrt hat
(Die letzte große Zeit) liat gelehrt, daß es unnötig ist,
Bureaumöbel amerikanischer Herkunft zu kaufen, nur >Austria Bureau-
möbel«, Wilhelm Fehlinger u. Söhne, Wien, 4. Bezirk, Rittergasse 3
und 1. Bezirk, Stubenring 16, sind heimisches, erstklassiges Erzeugnis.
Die letzte? Nein, sie ist noch immer groß.
Die Direktionskrise im Deutschen Volkstheater
— nun die ist aber doch schon überstanden? Die Vertrags-
bedingungen des Vierverbands, was red ich, die Friedens-
bedingungen des Fünferkomitees sind doch abgelehnt, was red icli,
angenommen? Wenn aber nicht, und wenn vom Herrn Weiße
noch einmal während des Weltkriegs die Rede wäre, dann müßte
ich doch glauben, daß der Herr Weiße den Weltkrieg inszeniert
hat, weil der ja so gar nicht wirksam ist!
Endlich!
Heute hat der erste Balkanzug Wien passiert .... Nach achl-
zehnmonatiger Pause rollt heute zum erstenmal wieder ein direkt ver-
kehrender Schnellzug den Donauweg hinab, durch Serbien und Bulgarien
nach der türkischen Hauptstadt. Die weltbewegenden Ereignisse der ab-
gelaufenen anderthalb Jahre kommen in der Instradierung dieses Zuges
zu sinnfälligem Ausdruck.
.... Die glänzenden Waffentaten unserer und der verbündeten
Armeen haben mit gewaltigen Schlägen diesen Ring gesprengt und die
Bahn freigemacht für die unmittelbare Verbindung der Länder, die seit
Kriegsbeginn einander so nahegetreten waren ....
Der Münchner Zug fuhr nach wenigen Minuten ein und
als erster entstieg ihm Dr. Ludwig Oanghofer. . . .
Ein Pionier
Auf dem Bahnhof ein Durcheinanderwimmeln von Kultur und
Orient, von schwarzen Zylindern, deutschen Pickelhauben, österreichischen
Mützen, türkischen Tropenhelmen, roten Festulpen und farbigen Turbanen.
24
Ein Geschwirre von zwanzig Sprachen und dann die freundliche Frage:
>Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?« Ein Herr von der
deutschen Botschaft hat den Landsmann in mir erkannt. Wie
nett das ist: in der Fremde sich so dienstwillig behütet zu sehen
von der Heimat I
Ja, das ist die Aufgabe der Heimat. Überflüssig zu sagen,
daß der Vertreter der Kultur, dem es so gut ging, der Ganghofer
war. Aber was nüzt das alles —
Man möchte deutsche Arbeit im Orient verspüren, möchte deutsche
Hoffnungen stützen, möchte gleich in der ersten Stunde mit einem
tiefen erquic.k enden Trunk das Aufblühen der Türkei verkosten.
Ich guckte mir fast die Augen aus.
Der tief erquickende Trunk erfolgt abends im Hotelsaal,
aber außer den dort vei sammelten Journalisten, wieder nur ein
Gewimmel von Kultur und Orient — »alles Leute, die schon seit
Monaten als Pioniere der deutschen Arbeit auf türkischem Boden
standen«, freilich nicht als Pioniere, aber doch als Kriegsberichterstatter
— ist noch nicht viel zu sehen, was für das Aufblühen der
Türkei charakteristisch wäre. Im Gegenteil.
Pera ist ein Klein-Paris, wie die Kintöppe Kunsttempcl
sind. Von denen wimmelt es auf dem untürkischen Ufer des Goldenen
Horns. Bis in die Mitternachtsstunde dudelten und quieksten an allen
Ecken und Enden der Hauptstraße die maschinellen Musikinstrumente
dieser zweifelhaften Kulturfabriken, die das romanische
Abendland dem Morgenlande bescherte ....
Demnach müßte Paris selbst, das große, doch eigentlich
das sein, was man >'ne Nummer« nennt. Da aber von dort die
Kinos kommen, so hat es wieder nicht mehr Kultur als Pera, Eine
spezifisch romanische Einrichtung das; die Berliner wissen nichts
davon und nennen es darum statt Kino irrtümlich Kintopp.
Als Liebesgabe
ins Feld
eignet sich am besten ein Abonnement auf
,,Dle Zelt"
25
Zeitgemäß l
TOTENKULT IM ZIMMER!
ZIMMERDENKMAL!
RELIGIÖSE ERHEBUNG!
1916
Im Johann Strauß-Theater erreichte die > Csardasfürstin« die hundert-
fünfundzwanzigste Aufführung ....
Im Carltheater brachte es die Operette > Fürstenliebe« zur fünf-
zigsten Aufführung ....
Im Bürgertheater wurde die Straus'sche Operette »Liebeszauber«
zum fünfzigsten Male wiederholt ....
Das Lustspieltheater feierte die hundertste Aufführung der
> Prinzessin Revue« ....
Die Prager Zensur
hat die Aufführung von Shakespeares > Heinrich IV.« verboten.
Das ist einer!
[Vortragsabend Otto Treßler.] Herr Treßler vom Burgtheater hielt
im mittleren, sehr besuchten Konzerthaussaale einen Vortragsabend aus
klassischen Dichtungen. Auch in seiner Lesekunst bleibt Treßler
durchaus Schauspieler; die Beweglichkeit seines Naturells, die echt
schauspielerische Geschmeidigkeit, sich rasch in vielfache Charaktere
umzuwandeln, durch das ungemein lebendige Mienenspiel viele Masken
anzunehmen, gibt auch seinen rezitatorischen Darbietungen Reiz und
Farbe. Die hauptsächliche Wirkung erzielt aber Treßler durch die auch
literarisch höchst anregende Art, oft übersehene dramatische Momente
berühmter Balladen und selbst rein lyrischer Gedichte hervorzuheben.
So gewann diesmal Goethes »Zauberlehrling« völlig humoristische,
um nicht zu sagen, parodistische Deutung. Treßler formte aus der
Ballade ein possierliches Lustspiel, in dem derwürdige Meister
und der drollig betroffene Lehrling zu allgemeiner Heiter-
keit anregten .... In dem zumeist lehrhaft aufgefaßten Rflckertschen
26
Gedicht »Vom Bäumlein, das andere Blätter gewollt«, schien
das Tannenbäumchen, das sich bald in Gold, bald in Glas und zuletzt
wenigstens in Blätter hüllen möchte, vor dem belustigten, wenn auch
nicht eben lyrisch gestimmten Zuhörer mehrere Rollen der Reihe nach
zu spielen, und selbst das Goethesche »Heidenröslein« gewann einen
piltanten humoristischen Klang. Die »Braut von Korinth«
wirkte völlig als dramatisches Gebilde; zumal der Augenbliclc, da die
entsetzte Mutter die Tochter in den Armen des Fremden findet, erwecltte
geradezu Theaterspannung ....
Um es mit einem Wort, und zwar dem gräßlichsten, das
diese neuösterreichische Lebensrichtung kennt, zu bezeichnen:
die Klassiker sind also vielmehr »Klassikaner«, und der Herr
Treßler ist ein Lustikus. Da gegen seine Verwandlungsfähigkeit
der Fregoli ein steinerner Gast und das Chamäleon ein Nashorn
ist und da er über und über von Spitzbübereien steckt, so dürfte
er sich zum König Lear hingezogen fühlen und riskieren, daß ihn.
die Töchter einen alten Vokativus nennen. Zu Possen aufgelegt
wie ein Tannenbäurachen, das andere Rollen hat gewollt; keck wie
ein Zauberlehrling, der so lang' eine spielt, die ihm nicht liegt,
bis der Meister kommt, der sie ihm wieder abnimmt. Aber der
kommt nicht mehr, eine Polizei, die die Klassiker gegen den
Beifall eines lachlustigen Publikums schützt, das sie »klassisch«
findet, gibt es leider auch nicht, und von der Wandlung dieses
Begriffs wie von solcher Duldung scheint Herr Treßler das Recht
zu seinen Produktionen abzuleiten.
Das ist einel
Einen höchst interessanten Versuch unternahm gestern Frau
Hansi Niese .... indem sie es einmal mit dem trotzigen Käthchen in
Shakespeares Lustspiel »Der Widerspenstigen Zähmung* versuchte.
Natürlich kann es nicht die Sache der Frau Niese sein, auf
das vornehme Hingleiten des Verses zu achten, wie es ja
auch nicht Sache der widerspenstigen Katharina ist. Ihr mut-
williges Temperament schlägt ohne viel Umstände die steifen
und feierlichen Jamben entzwei, läßt hochgestellte Worte Purzel-
bäume schlagen. Man sieht schon, wie sich die Künstlerin ihre Rolle zu
eigen macht. Hansi Niese spielt immer gern die Einfachheit, die über
Prunkhaftes und Prahlerisches triumphiert. Ihr Humor ist am
27
wirksamsten, wenn er die Geziertheit und Humorlosigkeit anderer
verspottet. So stolpert Hansi Niese manchmal absichllich über
einen Vers, wie sonst wohl über eine Schleppe und hat die Lacher
auf ihrer Seite. Dieses böse »Käthchen« ist ein von Grund auf gutes
»Katherl«, und es bedeutet einen Reiz mehr, daß bei ihr im
Affekt die Wiener Mundart zuweilen ganz leicht anklingt. Hansi
Niese führt die Rolle auf das rein Menschliche zurück, nicht um
die präzise, rein äußerliche Kontur ist es ihr zu tun, soadern
um das seelische Moment ....
Ja, die Niese! Die haut den Shakespeare z'samm und reißt
jedem Vers a Haxen aus!
Die Antike
Caf6 Capua: Spezialität Capua-Kaffee.
Cai€ Ilion: GuUasch und Debreziner mit Kraut.
Oh säße ich doch schon auf den Ruinen des Cafe Carthago !
Der Pfarrer der Penaten
Die Totenmaske der Zeit selbstformend abzunehmen, ist
eigentlich gar nicht nötig. In jedem Satz, den sie spricht und
schreibt, ist sie enthalten und kann sie auf die Nachwelt gebracht
werden. Auf jedem Schauplatz, und wär's die Sportrubrik eines
Schweizer Hotelanzeigers, liegt sie aufgebahrt:
. . . nachdem unsere bewährten Sänger einige flotte Lieder ge-
sungen hatten, kehrten wir singend und johlend zu den heimischen
Penaten zurück. . . Eine flotte Rede des Herrn Pfarrer Hoffmann
leitete die Preisverteilung ein.
Welch ein Aufzug von Totenmasken! Die Penaten rieben
sich die Augen und trauten diesen nicht. Sie kündigten dem Hausherrn.
Die Herren trugen Smoking
Da wir uns jetzt in unserer Eleganz selbständig gemacht
haben, so ist es kein Wunder, wenn in den Berichten über
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jene täglichen tausend Gelegenheiten, wo Leute zum nachtmahlen zu-
sammenkommen, ausdrücklich betont wird, daß »die Herren im
Smoking« erschienen seien. Dieses Kleidungsstück hat seit jeher
bei der Mondänität eines Semmeringhotels eine grofk Rolle
gespielt und den losen Schelmen, die berufsmäßig über solche
Milieus vor unserer Öffentlichkeit zu plaudern haben, Respekt ein-
geflößt. Im Weltkrieg ist es aber nicht nur ein elegantes Tragen,
sondern zeigt auch auf den ersten Blick die Sicherheit und Unbe-
fangenheit, mit der wir uns, und wenn die Hölle voller Teufel
war', in den heikelsten Situationen zu benehmen wissen. Es dürfte
ja bei den Botokuden kaum je vorgekommen sein, daß ihre Zeitungen
ihnen erzählt hätten, die Herren wären zum Abendessen in einem
erstklassigen botokudischen Hotel im Smoking erschienen. Aber
dort kommt es freilich, wiewohl den Zentral-Afrikanern ein gewisser
Sinn für effektvolle Zusammenstellungen nicht abzusprechen ist,
auch ganz gewiß nicht vor, daß sie bei besonders feierlichen
Anlässen zum Fiühstück den Frack anziehen. Wir Bessern sind
doch wilde Menschen!
So sieht das aus
... Im Zuschauerraum waren: Erzherzogin Isabelle, Erzherzogin
Maria Alice, die Herzogin von Parma, Prinzessin Hanna Liechtenstein,
Prinzessin Alexandrine Windisch-Graetz, die Präsidentin des Fürsorge-
vereines Gräfin Fünf kirchen-Liechtenstein .. der deutsche Botschafter Herr
von Tschirschky, der bulgarische Gesandte Toschew mit Gemahlin und
Sohn, der bulgarische Generalkonsul Stiaßny und viele andere Persön-
lichkeiten der Gesellschaft. Als die Monarchenbegegnung von Nisch
mit Kaiser Wilhelm und Zar Ferdinand im Bilde erschien, brachte
das Publikum lebhafte Hochrufe aus.
Was gesperrt und was nicht gesperrt zu erscheinen hat, das
ordnet sich schon von selbst an, da ist gar keine Absicht mehr dabei,
es versteht sich einfach von selbst. Die Liechtenstein und die
Windisch-Graetz, die damit ganz einverstanden sind, dürfen sich
nicht einbilden, daß sie vorangehen: sie haben nur nicht den
Stiaßny von den Potentaten zu trennen.
— 29
Es macht sich
dagegen in umgekehrter Richtung. Die »Laubhütte«, eine Art
Amtsblatt in Russisch-Polen, veröffentlicht die folgenden, in jiddischer
Sprache verfaßten amtlichen Kundmachungen:
Der Termin, sich einzuraelden in der Gewerberole wert verlengert
bis'n 29. Februar 1916 . . . . Gesellschaften müssen anmelden seier
Firme, a chuz dem müssen besunder gemeldet werden die beschäftigte
Direktoren und steierflichtige Angestellte.
Lodz, 28. Januar 1916.
Der Kaiserlich deitsche Polizei-President:
V. Opern.
Verordnung b'naugea der Einführung von allgemeinem Paß-
Zwang :
Alle Personen vun'm General Gouvernement musen alt werdendig
15 Johr hoben a Paß und dem dosigen ständig trogen bei sich. Wegen
Verlieren a Paß muß teikef gemeldet weren der Ausgabeschtel.
Der Generalgouverneur:
V. Beseler,
General vun Infanterie.
Und da beklagt man sich über die geringen Aussichten der
Assimilation!
Zuzug fernzuhalten
oder
Wie die Russen in Galizien gehaust haben
». . . In einer anderen galizischen Stadt, so wurde uns verbürgt
erzählt, geriet der Rabbiner bald nach dem Abzug der Russen in arge
Verlegenheit. Sein Haus wurde täglich von jungen Mädchen und Frauen
förmlich belagert. Alle waren zu ihm gekommen, um von ihm eine Be-
scheinigung zu begehren, daß Sie während der Russenzeit in der Stadt
anwesend und der Gewall der Russen erlegen waren. Im Anfang gab
der Rabbiner willig dieses Zeugnis. . Aber da schließlich jede Frau der Stadt
und jedes Mädchen kam, um vonihmein solches >Sch ändungszeugnis«
zu verlangen, nahm er die Zeugniswerberinnen einzeln ins Gebet und er
kam sehr bald darauf, daß den wenigsten dieser Frauen von den Russen
ein Leid angetan worden war. Sie wollten sich nur »für alle Fälle« mit
einem Zeugnis versehen. Nun freilich zog der Rabbiner andere Saiten
auf und er verweigerte allen Bewerberinnen diese Bescheinigung. Aber
viele hatten schon den Schein im Sacke, daß sie »Opfer« geworden waren.«
30
Oehn S' weg Sie Schlimmer!
Im Selbstmord hat die Menschheit noch die Geistesgegenwart,
an die Fortpflanzung zu denken. Die Geistesgegenwart ist jene
Soziologie, die sich jetzt mit der Förderung der appetitlichen und
dieser Menschheit würdigen Idee befaßt, daß Urlaube vom Tod
erteilt werden, um geschwind für neues Leben zu sorgen. Der
Causeur der anständigen Gesellschaft, ein langjähriger Schmunzler,
behandelt die Frage in der gutaufgelegten Art, die den Lesern
eines Familienblattes umsomehr Spaß macht, als es sich ja um
eine Familienangelegenheit handelt. Es ist ein bejahrter Bock, der
hier zum Gärtner der Fortpflanzung bestellt wurde. Ich war
gespannt, wie sich das entwickeln würde, kam nur zum
Schluß und habe meinen Ohren nicht getraut:
. . . Doch getrost, der Landsturm kommt, kommt auf Urlaub, und
der bringt wahrhaftig ein anderes System aus dem Schützengraben mit.
Manches junge Weib ist ganz erstaunt über das veränderte Wesen ihres
Mannes, sein stürmisches Werben .... Wenn sich das junge Weib zu-
letzt trotzdem ein wenig sträubt, eben nach alter Gewohnheit, so wird
er vielleicht scherzhaft, und von i h m, der hier wie dort seine Pflicht erfüllt,
wollen wir die seichten Späßchen gerne hinnehmen, wollen es
nicht wehren, wenn er ihr lächelnd ins Ohr flüstert: »Du mußt nämlich
wissen, meine Guteste, es is 'ne Staatsnotwendigkeit.« Dabei gibt er ihr
einen schallenden Kuß, und in dem hellen Schmatzlaut singt etwas
mit, das wie ein paar Takte von einem Liede klingt, und auch eine
Zeile Text glaubt man zu hören, Worte, die sonst über das Schlachtfeld
hinbrausen, aber auch hier im stillen Kämmerlein ihren Sinn nicht ver-
lieren: »Lieb Vaterland magst ruhig sein.< Die zwei mögen das
Lied miteinander zu Ende singen.
Kriegsnamen
Wie sich der Krieg in Berliner Standesämtern zu erkennen
gibt, davon entwirft das Berliner Tageblatt eine, offenbar zufriedene,
Schilderung :
...EineFrau hat ihrem neugeborenen Sohn den Vornamen »Belgrad«
gegeben . . Karl Friedrich Belgrad Schulze heißt nun der junge Erden-
bürger. Wenigstens im standesamtlichen Register — der Pastor, der das
Kind taufen sollte, weigerte sich, den Namen Belgrad anzunehmen, da
es der Name einer heidnischen Gottheit sei. Die Standesbeamten
aber weisen alle diese Namen keineswegs zurück — nur »anstößige«
31 —
Namen sind verboten — , sondern freuen sich im Gegenteil,
wenn der Patriotismus sich auf diese Weise Luft macht. .Belgrad< als
, Vorname ist durchaus nicht vereinzelt geblieben. Ein Beamter des Admiral-
stabes nannte seinen Sohn >Wilna«, ein Postsekretär den seinigen
>Longwy«, eine westpreußische Flüchtlingsfrau ließ »Tannenberg^
eintragen, ein Bauhandwerker »Warschau«, ein Name, der überhaupt
mehrfach wiederkehrt. Aber wesentlich häufiger als der Gebrauch von
Städte- oder Schlachtennamen ist der von Heerführern . . Von den
Generälen steht natürlich »Hindenburg< obenan. In allen Standesamts-
bezirken, die dafür überhaupt in Betracht kommen, ist Hindenburg als
Vorname sehr beliebt. . . . Nur müssen die Standesbeamten streng darauf
achten, daß »Hindenburg< nicht unmittelbar vor dem üeschlechtsnamen
stehen darf — es könnte sonst zu leicht ein adeliger Doppelname daraus
werden .... Neben »Hindenburg€ ist >Zeppelin< am häufigsten. . . .
Wesentlich seltener sind andere, die eine bestimmte Tendenz zum Aus-
druck bringen sollen. So gab ein Oberlehrer an dem Tage, da der Abfall
Italiens bekannt wurde, seinem neugeborenen Töchterlein den Namen
»Fides« (Treue), womit er jedenfalls gegen die welsche Untreue protestieren
wollte. Ein anderer hatte zu Beginn des Krieges noch großes Vertrauen
zu dem südlichen Bundesgenossen und wollte, daß sein Sohn »Dreibund«
genannt werde, was ihm der Standesbeamte jedoch ausgeredet hat.
In einer patriotischen Berliner Familie, die viele Köpfe hat,
dürfte es dereinst so zugehen. Vater: >Jungens, was habt ihr denn
nu wieder? Was is'n los?< >Belgrad is gefallen!« »Müßt ihr denn
immer 'rumtollen?* »Vater, Hindenburg pisackt Tannenberg, und
da kam ik denn zwischen, er kriegte mich zu fassen und da — « »Nu
gebt doch mal Ruhe! Nehmt euch ein Beispiel an Zeppelin!« »Nee^
is nich, Zeppelin ist der ärgste, vorhin hat er gedroht, daß er
über Wilna kommt!« »Ihr seid mir aber Jören !« »Sie hat
anjefangen!« »Nu man stille! Longwy, laß deine Nase in Ruh!
Ja hört mal, wo is denn Dreibund ?« «Wir haben Einkreisen gespielt
und da hat er sich den Stiefel abgetreten, 's war zum Schießen !<
»Das will mir gar nicht gefallen, benehmt euch doch. Nanu, wo is
denn aber Warschau? (Warschau erscheint bleich in der Tür.)
»Vater, ik hab mir übergeben müssen.«
Der Geschmack wechselt
Wantoch ;
Jawohl, es ist etwas heiliges um die Fahne. Kein sinnvollerer
Festgruß als dieser. »Das Banner hoch hallen«, sagt die Sprache. Es
— 32 —
ist das Bekenntnis zur Fahne, zur gemeinsamen Sache, zu unserem
großen Hoffen Und Wünschen, das wir heute an unsere Häuser stecken.
Von unseren Dächern, unseren Fenstern, den Erkern und Balkons weht
das Bekenntnis, daß wir, wir alle, 50 Millionen Menschen, dabei sind
mit Herz und Hirn und Haus und Heim.
(Und der Hof ist ein Hund?)
Kann ein Giebel, eine Nische, ein Fenster da leer bleiben und
ohne das wehende Zeichen, das im Wind seinen Atem mit dem
Atem von Hunderttausenden mischt? Wie arm und eng wäre der;
denn das Schönste, was ein Mensch erleben kann, bleibt doch
immer dies: mit daliei zu sein, bei einem Hochgefühl seines Volkes,
teilzuhaben an dem Jubel von Millionen I
Shakespeare :
»Ja, Casca, sag uns, was sich heut begeben. , . .< >Nun, man
bot ihm eine Krone an, und als man sie ihm anbot, schob er sie mit
dem Rücken der Hand zurück: so — ; und es erhob das Volk ein
Jauchzen.« > Worüber jauchzten sie zum andern Mal!< >Nun, auch darüber.«
»Sie jauchzten dreimal ja: warum zuletzt?« >Nun, auch darüber.*
>Wurd' ihm die Krone dreimal angeboten?« »Ei, meiner Treu wurde sie 's
und er schob sie dreimal zurück, jedesmal sachter als das vorige Mal, und
bei jedem Zurückschieben jauchzten meine ehrlichen alten Freunde. . . .«
>Sagt uns die Art und Weise, lieber Casca.« «Ich kann mich eben-
sogut hängen lassen, als euch die Art und Weise erzählen: es
war nichts als Possen, ich gab nicht acht darauf, . . . Jedesmal,
daß er sie ausschlug, kreischte das Gesindel und klatschte in die
rauhen Fäuste, und warfen die schweißigen Nachtmützen in die Höhe,
und gaben eine solche Last stinkenden Atems von sich, weil Cäsar die
Krone ausschlug, daß Cäsar fast daran erstickt wäre ; denn er ward
ohnmächtig und fiel nieder, und ich für mein Teil wagte nicht zu
lachen, aus Furcht, ich möchte den Mund auftun und die böse Luft
einatmen.« »Still doch! ich bitt euch. Wie? er fiel in Ohnmacht?« >Er
fiel auf dem Marktplatz nieder, hatte Schaum vor dem Munde und war
sprachlos. . . . Wenn das Lumpenvolk ihn nicht beklatschte und aus-
zischte, je nachdem er ihnen gefiel oder mißfiel, wie sie es mit den
Komödianten auf dem Theater machen, so bin ich kein ehrlicher Kerl. . . .
Als er wieder zu sich selbst kam, sagte er, wenn er irgend was
unrechtes getan oder gesagt hätte, so bäte er Ihre Edeln es seinem
Obel beizumessen. Drei oder vier Weibsbilder, die bei mir standen,
riefen: >Ach die gute Seele I« und vergaben ihm von ganzem Herzen.
Doch das galt freilich nicht viel; wenn er ihre Mütter totgeschlagen
hätte, sie hätten 's ebensogut getan .... Lebt wohll Es gab noch mehr
Possen, wenn ich mich nur darauf besinnen könnte.«
— 33 —
Nachrichten aus dem Hinterlande
[Benagelung eines Stammtisches.] Im Gasthause des Herrn
Franz Koci, 2. Bezirk, Blumauergasse 2, fand am 21. d. die feierliche
Benagelung des Stammtisches der »Freiwilligen Helfer« zur Förderung
der offiziellen Fürsorge statt. Als Obmann dieses Stammtisches
wurde Herr Leopold Popper, als Kassier wurde Herr Gustav Fried
gewählt. In einer Ansprache hob Herr Hermann Landau die
großartigen Leistungen unserer Truppen hervor und ver-
sicherte, daß hier im Hinterlande auch ein jeder mit der gößten
Opferwilligkeit an dem Kampfe teilnehme, worauf Herr Samuel
Bojnitzer erwiderte. Die Benagelung fand unter zahlreichem Zuspruch
der Gäste statt.
Der Russe
Ein Anekdotenerzähler aus Czernowitz erfreut uns also:
»Warum wollen denn die Russen so sehr nach Czernowitz?«
Auf die Frage wissen die Russen folgende Antwort: »Weiß ich? Man
hat mich genommen, in die Uniform gesteckt, das Gewehr in die
Hand gegeben und gesagt: Stürm und schieß oder du wirst erschossen It
Das besondere Merkmal, durch das die russischen Soldaten
in diesem Punkt sich von der kulturellen Bewußtheit der sonstigen
europäischen Völkergruppen unterscheiden, ist gewiß nicht zu über-
sehen. Nur ist es ganz unmöglich, daß der Russe die ihm in den
Mund gelegte Frage als Antwort gegeben hat. Denn dazu mußte er
schon in Czernowitz eingebürgert sein, und eben dorthin will man
ihn doch, ohne daß er eine Ahnung hat, warum, erst schicken.
»Benzinmangel in England«, »Kursrückgang der italie-
nischen Währung« , »Verhaftung russischer Heeres-
lieferanten«
— also bitte !
»Papierknappheit in Italien«
was, so gut geht's denen?
— 34 -
Die Schaiek irgendwo an der Adria
Die Schaiek, die vom KriCgspressequartier einen »Urlaube
erhalten hat, ausnahmsweise, um in Wien ihren 50. Vortrag zu
halten, wiewohl man sie an der Front dringend braucht — die
Schaiek hat sich zuletzt für die Marine interessiert, nämlich für den
>Krieg in den Lüften und Gewässern«.
Einmal, als ich über der italienischen Küste dahinflog —
Nein, nicht die Schaiek selbst, sondern —
sagt mir der junge Fregattenleutnant von der Wasserfliegerabteilung,
den ich irgendwo an der Adria in seinem Hangar besuchte.
Die Schaiek kommt weit herum, und warum sollte sie da
nicht der Zufall auch einmal in den Hangar eines jungen Fregatten-
leutnants von der Wasserfliegerabteilung führen, besonders wenn
sie ein spezielles Interesse für Hydroplane hat. Aber die Technik
ist nur ein Vorwand, die Hauptsache bleibt doch die Psychologie.
Und welches unter den vielen Problemen des Krieges, glaubt
man, beschäftigt die Schaiek am meisten?
Von allen Problemen dieses Krieges beschäftigt mich am meisten
das der persönlichen Tapferkeit. Schon vor dem Kriege habe ich
oft über das Heldische gegrübelt, denn ich bin genug JVlännern
begegnet, die mit dem Leben Ball spielten — amerikanischen Cowboys,
Pionieren der Dschungeln und Urwälder, JVlissionären in der Wüste.
Aber die sahen zumeist auch so aus, wie man sich Helden vor-
stellt, jeder Muskel gestrafft, sozusagen in Eisen gehämmert.
Wie erstaunt ist nun die Schaiek, daß die Helden, denen
sie jetzt im Weltkrieg gegenübersteht, so ganz anders gebaut sind.
Es sind Leute, die zu den harmlosesten Witzen neigen, ein stilles
Schwärmen für Schokolade mit Obersschaum haben und
zwischendurch Erlebnisse erzählen, die zu den erstaunlichsten der Welt-
geschichte gehören.
Dieser Kontrast gibt der Schaiek zu denken. Sie erzählt
dann, das Kriegspressequartier sei jetzt auf einem leeren Dampf-
schiff einquartiert, das in einer Bucht verankert liegt, sozusagen in
einer Bocche, deren Insassen infolgedessen Bocher genannt werden.
Sie sitzt im Speisesaal, wo abends, wie es sich für solche Gäste des
Kriegs von selbst versteht, »großes Essen < ist, es geht bei Musik
hoch her,
schließt man die Augen — fast träumte man sich zu einem fidelen
Kasinoabend zurück —
Die Schaiek, diese erfahrene Wasserratte, spricht wie ein
35
Marineur in China, der die schönen Tage von Pola nicht ver-
gessen kann —
wenn nicht eben zwischen Gesang und Musik der Fregattenleutnant
neben mir diese erstaunlichen Dinge erzählte.
Wie denn ? Da hat also die Schalek plötzlich eine Ortsveränderung
durchgemacht, wieder wie ein Marineur. Sie begann doch damit, daß
sie den Fregattenleutnant irgendwo an der Adria in seinem Hangar
besucht, was sich sehr schön gemacht hat, und nun spielt sich die
Unterredung im Pressequartier beim Essen ab? Das tut aber nichts,
im Grübeln über das Heldische kann man sich schon ein bißchen
gehen lassen, um dann wieder in das Gemütliche einzukehren. Der
Fregattenleutnant ist kein Spielverderber. Er erzählt der Schalek
wirklich, wie man's macht.
»Gewöhnlich kreist man ein halbes Stündchen über der feind-
lichen Küste, läßt auf die militärischen Objekte ein paar Bomben
fallen, sieht zu, wie sie explodieren, photographiert den Zauber
und fährt dann wieder heim.<
Dabei hatte sein Behälter leider ein Leck bekommen — was
freilich noch immer nicht so schlimm ist, wie wenn etwa ein Unter-
seeboot die Schalek bekommt — und er war in Todesgefahr.
Sofort fragt sie, was er dabei empfunden habe.
>Was ich dabei empfunden habe?« Er mustert mich ein
wenig mißtrauisch, halb unbewußt abschätzend, wie viel Ver-
ständnis für Unausgegorenes er mir zumuten dürfe. Wir Nicht-
kämpfer haben so erdrückend fertige Begriffe von Mut und Feigheit
geprägt, daß der Frontoffizier stets fürchtet, bei uns für die
unendliche Menge von Zwischenempfindungen, die in ihm fort-
während abwechseln, keine Zugänglichkeit zu finden.
Die Schalek, die hier ausdrücklich zugibt, daß sie eigent-
lich ein Nichtkänipfer ist, also eine Drückebergerin, hört interessiert
zu, ohne daß ihr die geringste unausgegorene Zwischenempfindung
des Frontoffiziers entgeht. Er seinerseits gibt wieder zu, daß
er ein Kämpfer ist:
»Ja, das war sonderbar, wie wenn ein König plötzlich Bettler
wird. Man kommt sich nämlich fast wie ein König vor, wenn man
so unerreichbar hoch über einer feindlichen Stadt schwebt. Die da
unten liegen wehrlos da — preisgegeben. Niemand kann
fortlaufen, niemand kann sich retten oder decken. Man hat
die Macht über alles. Es ist etwas Majestätisches, alles andere
tritt dahinter zurück; etwas dergleichen muß in Nero vorge-
gangen sein. . . .<
36
Die Schaiek, die nunmehr Aufschluß über das Heldische
bekommen hat, lernt außerdem noch einen Caligula kennen
und plaudert mit ihm über Bombenwürfe auf Venedig, über das
sie auch schon sattsam gegrübelt hat:
Venedig als Problem ist auch langen Grübelns wert. Voll von
Sentimentalität sind wir in diesen Krieg gegangen, mit Ritter-
lichkeit hatten wir ihn zu führen vorgehabt. Langsam und nach
schmerzhaftem Anschauungsunterricht haben wir uns das abge-
wöhnt. Wer von uns hätte nicht vor Jahresfrist noch bei dem Gedanken
geschauert, über Venedig könnten Bomben geworfen werden! . . . Wenn
aus Venedig auf unsere Soldaten geschossen wird, dann soll auch von
den Unsern auf Venedig geschossen werden, ruhig, offen und ohne
Empfindsamkeit. Akut wird das Problem ja erst werden, bis England —
Nein, die Schaiek, ehedem eine Grüblerin, gibt keinen
Pardon und der Flieger bestärkt sie darin:
>In Friedenszeiten pflegte ich alle Augenblicke nach Venedig zu
fahren, ich liebte es sehr. Aber als ich es von oben bombardierte —
nein, keinen Funken von falscher Sentimentalität ver-
spürte ich dabei in mir. Und dann fuhren wir alle vergnügt
nach Hause. Das war unser Ehrentag — unser Tag!*
Neben der Schaiek steht ein Offizier von einem Torpedo-
boot, »der auch ein Erlebnis weiß«, auch eine sehr lustige Geschichte.
»Nein, wie wir gelacht haben. . . .« Nur in Österreich wird eine
Geschichte von Gefahr und Sterben so erzählt.
Das mag schon sein. Und am nächsten Tage besucht die Schaiek
ein Unterseeboot, damit sie, wenn sie schon dabei ist, alle Waffen-
gattungen der Marine erprobt. Sie hantiert denn auch gleich mit
Kalipatronen und Lancierrohren, Diesel-Motoren und Wassertanks
und spricht von diesen Dingen, als ob sie aufgewachsen wäre
bei der Marine. Sie kennt das alles schon.
Und da die Erklärung sich nun auf den Maschinenraum erstreckt,
bleibe ich auf meinem Platz im Vorschiff zurück und lasse mir vom
Maat einiges erzählen.
Wiewohl man bisher geglaubt hat, daß ein solcher Maat
anderes zu tun habe als der Schaiek einiges zu erzählen. Aber wir
müssen uns an solche Dinge gewöhnen. Diese Männer leben unterm
Wasser und die ersten Gesichter, die sie wieder sehen, wenn sie
an die Luft kommen, sind die von Journalisten. Sie mögen wohl
mit ihrem Schicksal hadern und es fragen, ob so das Leben aus-
sieht. Aber nützen tut es ihnen nichts. Da möchten sie wieder
— 37
untertauchen. Halt! rufen jene, das gibts nicht! Denn unterm
Wasser gibt es Details und die müssen sie ihnen bringen. So
lassen die Vertreter des Pressequartiers den armen Maat
nicht mehr aus. > Einer meiner Kameraden«, sagt die Schalek
— denn die Schalek hatt' einen Kameraden — fragt also den Maat
nach Details,
Mir selbst ist zumute, als habe ich die Sprache verloren.
Aber sie hat nicht. Im Gegenteil hat die Schalek die Geistes-
gegenwart, »an noch ein dunkles Problem zu rühren«. Sie will
nämlich, wieder aus Grübelei, wissen, was der Torpedooffizier
»gefühlt habe, als er den Riesenkoloß mit so viel Menschen im
Leib ins nasse, stumme Grab hinabgebohrt« habe. Nach-
dem er ihr versichert hat, daß er »zuerst eine wahnsinnige Freude«
gehabt habe, verläßt die Schalek den jour und schließt mit
den Worten:
Die Adria bleibt wohl unser.
Es gibt aber kaum einen Patrioten mit Schamgefühl, der
sie nicht bei den Friedensverhandlungen gegen die Aussicht, auch
die Schalek dafür hergeben zu können, abtreten würde.
Ein Sonderling
»In der gestrigen Sitzung des Magnatenhauses, in der der Regierungs-
bericht über die Ausnahmsverfügungen während des Krieges verhandelt
wurde, machte Graf Anton Sigray, nach dem Bericht des Korrespondenz-
büros, folgende Bemerkungen: Er müsse die Aufmerksamkeit auf einen
unlängst vorgekommenen Fall lenken, umsomehr, da er eventuell
geeignet wäre, ein falsches Licht sowohl auf die ungarische Nation als auch
auf das österreichisch-ungarische Heer und dessen Leitung zu werfen.
Anläßlich des letztenLuftangriffes auf Mailand erschienen in mehreren
Blättern Berichte, die danach angetan waren, als ob die Heeresleitung mit
diesem Luftangriff auch politische Ziele verfolgt hätte. Auch der Erfolg
dieses Luftangriffes, bei dem zahlreiche bürgerliche Personen verletzt
wurden, wurde in einer Weise besprochen, welche dem Verdacht
Nahrung geben könnte, daß man sich bei uns darüber freue,
daß Nichtkombattanten dem Luftangriff zum Opfer fielen.
Er halte es für notwendig, vor der großen Öffentlichkeit darauf hin-
zuweisen, daß er, obwohl er nichts Näheres über die Aufgaben und
näheren Ziele dieser Aktion wisse, sicher sei, daß unsere Heeresleitung
damit bloß militärische Ziele verfolgte und daß die Angriffe einzig und
allein gegen militärische Objekte gerichtet waren. Was die ungarische
38
Nation anlangt, ist diese derart großherzig, daß sie einen Haß gegen
unsere Feinde nicht kennt , . . .«
Die Arbeiter -Zeitung bemerkt bei Besprechung dieser
Anomalie:
In Wiener Zeitungen tritt bei solchen traurigen Notwendigkeiten
— denn anderes hat man in dem Bombenwerfen auf unbefestigte
Städte wohl nicht zu sehen — schlechthin eine bestialische Freude hervor.
Dazu wäre nur noch zu sagen, daß man eher das Bombenwerfen
auf befestigte Städte eine traurige Notwendigkeit nennen könnte.
Das Bombenwerfen auf unbefestigte Städte ist eine so traurige
Überflüssigkeit, daß sie — nicht vorkommt.
Wie ein König, mit Bomben beladen, wie ein Gott!
». . . Heute morgen habe ich einen feinen Flug, meinen dritten,
über Verdun gemacht. Um ^/zlO Uhr bei schlechtem Wetter aufge-
stiegen, flog ich über Gravelotte, Amanweiler, Saint-Privat, Sainte-Marie-
aux-Chenes — über der berühmten Pappelallee — und Briey an der
Maas, dann südlich über Verdun, wo ich zwanzig Minuten gekreist bin
und meine Bomben abgeworfen habe, herunter nach Dupuy, Etain
und nach . . zurück, wo ich um 12 Uhr landete. Es war die ganze
Zeit über sehr bedeckter Himmel, so daß ich, wenn ich etwas sehen
wollte, sehr niedrig fliegen mußte. Ich war nie höher als zweitausend
Meter und über Verdun einmal sogar nur achtzehnhundert Meter. Es war
ein eigenes Gefühl für mich, wie ein König, mit Bomben beladen,
über dasselbe Gelände zu fliegen, wo mein Vater schon vor sechsund-
vierzig Jahren gekämpft und sich das Eiserne Kreuz erworben hat.
Ich konnte jedes Haus von Saint-Privat ganz deutlich sehen, jeden
Baum an der Chaussee nach Sainte-Marie erkennen, und das alte be-
rühmte Schlachtfeld lag wie ein Spielzeug unter mir. Wenn ich meine
Bomben geworfen hätte, hätte ich das halbe Dorf kaput
machen können! Über Verdun wurde ich sehr stark beschossen —
ich hatte zwei Treffer von Schrapnellkugeln im rechten Tragdeck, wie
ich hernach festgestellt habe. Ich warf alle meine Bomben wohl-
gezielt ab und sah, wie sie unten auseinanderkrachten! Dann
zählte ich noch die Brücken über die Maas und flog glücklich nach
Hause. Noch nie in meinem Leben habe ich etwas so Herr-
liches erlebt! Über alles Irdische erhaben, ruhig und sicher
dahinfliegend, kommt man sich wie ein Gott vor! Tief unten auf
der Erde lag es wie ein Kranz von Rauch um die Stadt: nichts als
krepierende Granaten. Die Brände lohten zum Himmel auf, die
ganze Erde war zerwühlt und aufgerissen — ein schauriger
Anblick! Sonst sieht die Erde wie ein Spielzeug aus, grüne
39
Wiesen und Wälder wechseln mit dem braunen Acker und darin
liegen die Dörfer wie weiße und rote Flecken. Hier ist alles Öde und grau, als
ob ein Strom von Lava über das Land geflossen wäre. Auf
der Erde Loch bei Loch, in den Dörfern Rauchsäulen; das Aufblitzen
der platzenden Geschosse folgt unmittelbar dem Feuerschein und Gelöse
der großen Geschütze, und überall Dampf, Rauch und Feuerbrände —
eine Höllel — Und dann denkt man an die Soldaten, die
da unten kämpfen und sich jeden Meter blutig erobern
müssen, und an die Verlustel — und ich? Wie ein Gott
schwebt man über all diesen Schauern und schleudert seine Blitze
auf den Feind I Man denkt an keine Gefahr, fliegt ruhig seine Bahn
und tut seine Pflicht.
Es war einmal
>Zum ersten Mal: ,Königin Schneewittchen und ihre sieben tapferen
Kinder', ein Märchenspiel von Anna Ethel, Bearbeitung für die Volks-
oper von Karl Schreder.
Mit dem neuen Weihnachtsmärchen hat die Volksoper einen
Treffer ins Volle getan. Alter Märchenzauber, geschickt mit der alles
bewegenden Tagesgeschichte verwoben, wirkte aufs neue seine Wunder.
Mit schwarz-weiß-roten und schwarz-gelben Fahnen wurde
das Geäst des uralten deutschen Märchenwaldes neu aus-
geschmückt; Zweiundvierziger, Zeppeline und Untersee-
boote, hergestellt in der Felsenwerkstatt der deutschen Wichielmännchen,
fahren im sagenhaften Traumland zwei Meilen hinler Weihnachten auf,
und zwischen Mäuschen, Fröschlein und Fischlein tummeln sich die
feldgrauen Unifoimen und blauen Matrosenuniformen der verbündeten
Deutschen, Österreicher, Türken und Bulgaren. Der alte Rotbart steigt
aus den Tiefen des Kyffhäuser und segnet die Waffen des Gemahls der
Königin Schneewittchen, hinter welchem sich kein geringerer
als Wilhelm der Starke verbirgt, dessen Krieger im Verein mit
jenen des Landes »Danubia« die Völker der Bären, Hyänen, Ein-
horne, Hammeln und Wildkatzen zu Boden strecken. Auch der
deutsche Michel in persona und der lustige Rudi aus der essens-
freudigen Wienerstadt fehlen ebensowenig wie der Elefant und
das Kamel der heiligen drei Könige aus dem Morgenlande. Mit aus-
nehmend kundiger Hand hat die Verfasserin Anna Ethel aus diesem
bunten Durcheinander fünf lebendige Bühnenbilder gestellt, deren viertes
anscheinend der Zensur zum Opfer gefallen ist. Nicht minder
geschickt hat Karl Schreder diese Bilder für spezifisch wienerische
Verhältnisse zugeschnitten. Direktor Simons hat sein ganzes, nicht
geringes szenisches Können in den Dienst der guten Sache gestellt, und
die Mitwirkenden wetteiferten, ihre dankbaren Aufgaben aufs prächtigste zu
lösen . . so daß der Jubel des höchst befriedigten Publikums kein
Ende nehmen wollte, zumal das Ganze mit den feierlichen Klängen der
Volkshymne seine Krönung fand.«
40
Fahrt ins Fextal
Als deine Sonne meinen Sciinee beschien,
ein Sonntag wars im blauen Engadin.
Der Winter glühte und der Frost war heiß,
unendlich sprühten Funken aus dem Eis.
Knirschend ergab sich alle Gegenwart,
Licht tanzte zur Musik der Schlittenfahrt.
Wir fuhren jenseits aller Jahreszeit
irgendwohin in die Vergangenheit.
Was rauh begonnen war, verlief uns hold,
ein Tag von Silber dankt dem Strahl von Gold.
Der Zauber führt in ein versunknes Reich.
Wie bettet Kindertraum das Leben weich!
Voll alter Spiele ist das weiße Tal;
die Berge sammeln wir wie Bergkristall.
Trennt heut die Elemente keine Kluft?
Ein Feuerfluß verbindet Erd' und Luft.
Wir leben anders. Wenns so weiter geht,
ist dies hier schon der andere Planet!
Ins Helle schwebend schwindet aller Raum.
So schwerlos gleitet nach dem Tod der Traum.
Nicht birgt die Zeit im Vorrat uns ein Weh.
Bleicht sich das Haar, so gibt es guten Schnee.
Uns wärmt der Winter, Leben ist ein Tag,
da Silvaplanas Wind selbst ruhen mag.
Nicht Ziel, nur Rast ist's, die das Glück sich gab,
hält einmal dieser Schlitten vor dem Grab.
— 41
Notizen
Wo Zeilen wie Augenlider sind und zwischen ihnen ein
Gesicht: solche Entdeckungen macht man nicht mehr in den
Journalen, doch manchmal noch in den Briefen. Jetzt, in jenen vom
Schlachtfeld der Menschheit — aber wieder nur in solchen, die
nicht in die Zeitung kommen — ist es ein Menschenblick des
Verbannten, voll unverstehenden Staunens, welche Interessen, welch
eines Lebens, ihr Opfer da wollen, voll Neugier, ob Gott sich doch eine
letzte DeutungdiesesWirrsals aufgespart habe, und voll zustimmenden
Dankes an einen, der ihnen Mut macht, sich im Leiden wohler
zu fühlen als die, welche vom Leiden leben. Und unter den vielen
auf solche Art geschriebenen ein Frauenbrief, Bericht vom
Schlachtfeld der Natur:
. . . Eine entsetzliche Lawine ist von der Richtung Hahnen-
see niedergegangen. Wir hörten und sahen sie: eine riesen-
große Schneewolke und großes Getöse. Sie hat einen breiten Streifen
Waldes mitgenommen, glatt abgeschnitten. Unter dem gehäuften
Schnee liegen aufeinandergetürmt und vergraben die schönen alten
Bäume samt Wurzeln, und jeder Baum zerrissen, zerzaust, zerbrochen,
undweiß Gott, wietief das geht. DerSchnee ist hartzusammengedrückt,
man steigt darauf herum. Es sieht zu traurig aus, ein Bild der
trostlosesten Verwüstung. Dazu ein süßer starker Coniferenduft,
denn die Zweige sind frisch gebrochen, und aus den Stämmen
fließt das Harz. Wohl das grausamste Blut.
Ja, dies Mitleid an einem süß duftenden Leichenfeld ist das
wahre, größere. Denn das andere meint den einzelnen, der ihm
nahe war und den es nun so verändert sieht. Mit allen aber leidet
es nicht. Nur in einem geistigeren Sinne dann, wenn es erbarmungs-
los sagt: So und nicht anders hat die Menschheit gewollt. Denn
der Wald hat die Lawine nicht erfunden, um von ihr zerrissen zu
werden: wohl aber der Mensch dieTechnik. Der Wald war unschuldig,
und der Mensch straft sich so hart. Auch hinterläßt das Walten
der Unnatur kein Bild. Getöse hier und dort; aber dort verheimlicht
die Macht nicht ihren Anblick, die Waffe ist so furchtbar als sie
scheint. Aus den Wunden selbst fließt Balsam. Der Tod duftet.
Hier siehst du nur das Werk. Du hast Andacht zu vergeben, aber
es fehlt die Lawine, das schmerzlich schöne Gesicht des Überwinders,
ein Begreifenkönnen der Notwendigkeit und die um so größere
Trauer, daß in der Schöpfung nicht nur Blüte ist, sondern auch
— 42 —
Untergang. Hier siehst du nur zerrissene, zerzauste, zerbrochene
Menschen. Weiß Gott, wie tief das geht. Und frisch gebrochene Zweige!
• *
*
Wo ist der Dichter, den jetzt noch der rasende Lauf der
Menschenmaschine, dies unerschütterliche Walten der entfesselten
Quantität zu einer segnenden Gebärde verleiten möchte und
der nicht ein Spekulant wäre, sondern ein Dichter? Als es
begann, gab es hingerissene Schwach köpfe. Was sagt man heute
zu den Ausbrüchen eines Richard Dthmel, aus der Zeit, da
aus Schleswig und Elsaß, Tirol, Mähren, Krain —
nur Deutscher wollt' endlich jeder sein —
die Bruderscharen kamen >gegen russischen, welschen, britischen
Neid« gefahren.
Und was kommt hintendrein noch getönt,
was stampft so eisern die Erde,
daß uns die Wand des Herzens dröhnt?
Das waren die deutschen Pferde.
Mit witternden Nüstern auf der Wacht
trugen auch sie ihr Blut zur Schlacht
für Deutschlands Ehre und Recht und Macht —
in den Dörfern tobten die Hunde;
Auch unsre Tiere spürten den Ernst
der großen Gottesslunde.
Die große Gottesstunde war damals nicht darnach angetan,
einem Dichterherzen die Erleuchtung zu bringen, daß Tiere wohl
die tragischesten Opfer des Willens zur Macht sind, da ihnen auch
nicht die entfernteste Schuld an dem Zustandekommen der allge-
meinen Wehrpflicht beigemessen werden kann und daß ihre Unter-
werfung unter den Begriff desnationalen Ehrgefühls sicherlich von allen
Kriegsgreueln das tollste ist. Damals hat einen deutschen Dichter
noch die Vorstellung inspiriert, daß ein französisches Pferd aus
Revanchelust, das eines Kosaken aus Raubgier, das des > Söldners«
offenbar aus Konkurrenzneid mitmache und nur dann kein Schuft
sei, wenn es zu den eigenen Pferden, den braven, desertiere, und
daß auch alle Pferde, die aus Mähren oder Krain requiriert wurden,
nichts anderes im Sinne hätten als den Wunsch, endlich deutsche
Pferde zu sein.
Dieser Dehmel nannte ehedem nicht nur das Geräusch der
Maschinengewehre Sphärenmusik, sondern gab uns auch die Zeile:
Marsch marsch, ruft Gott, schützt euer Land I
43 —
Später wurde in Österreich das > Reiterlied« eines Mannes
berühmt, der Advokat und Zionist war und sich lyrisch als Reiters-
mann getragen hat, dem es gleichgiltig ist, ob er am Donaustrand
oder in Polen stirbt. Jenes gangbarste Mißverständnis über die Lyrik,
das die Teilnahme am Ereignis mit dem Erlebnis verwechselt,
während doch selbst nicht einmal der tieftraurige Heldentod des
Eingerückten, ob er nun geschwiegen oder geschrieben hat, das
allergeringste für das Erlebnis beweist, hat dem Gedicht etwas von der
Glorie verliehen, mit der der unvorhergesehene Abschluß einer bürger-
lichen Laufbahn heute so häufig registriert wird. Zwei Dohlen, die
dort am Wegrand sitzen, spielen neben der Aktivierung der
Deh meischen Tierwelt eine rein ornamentale Rolle. Aber Zeit-
genosse zu sein und Zeuge von dem. Schicksal der unter die
Maschine geratenen Kreatur: dies einzige Erlebnis von heute, das
Herz und Mut voraussetzt, hat noch keine Leier gefimden. Diese
ganze Versfußtruppe ließ sich lange genug zur Skandierung der ewigen
Schande antreiben und war froh, anstatt zu schweigen in zwei-
fach gebundener Rede einem Weltwillen gerecht zu werden, der
ihr keine leiblichen Strapazen auferlegte, keine persönlichen Ge-
fahren, die ja doch so oft einen Abbruch der Romantik bedeuten.
Heute sind es nur noch Spekulanten, die das Geschäft der Leiden-
schaft besorgen; aber zur Empfindung dessen, was jetzt erst zu
empfinden wäre, jetzt auch von den vielen, denen ich es am ersten
Tage vorempfunden habe, ist noch kein Dichterherz mobilisiert. Doch,
eines: das eines Kesselschmieds, namens Heinrich Lersch, von
dessen Versen (bei Diederichs in Jena) ich in einer ausländischen
Zeitung die folgenden zitiert finde:
Ein Kamerad
Den langen Herbst und Winter hielt er getreulich stand,
schuf sich aus Krieg und Fremde Heimat und Vaterland.
Sein Heimweh tranken die Sterne, es floß in die ruhende Nacht,
am Tage hat er der Heimat wie einer Toten gedacht.
Doch als der Frühling mit erstem Scheine die Luft erfüllt,
da war sein hartleuchtend Auge von dunkler Trauer umhüllt.
Da stöhnte er tief im Schlafe und wußte es selber nicht,
da welkte in Träumen und Sehnen sein hartes Kriegergesicht.
Und eines Morgens im Dämmer, da sang es über das Land —
Da stand er, bebenden Mundes, sein Antlitz zum Himmel gewandt,
da war eine erste Lerche, die sang zwischen Krachen und Graus,
da floh die gefangene Seele aus ihres Willens Haus.
— 44 —
Da weinte er. Weinte vor Qual : Jetzt sah er erst Tod und Schlacht,
sah, was des halben Jahres Krieg über die Erde gebracht.
Er griff nicht mehr zum Gewehre, er hat seine Wacht versäumt,
und stand er auf seinem Posten, da hat er geschwärmt und geträumt.
Er küßte die nackte Erde und warf sich an ihre Brust,
hat nichts mehr von aller Beschwerde, nichts mehr vom Kriege gewußt.
Er hörte auf kein Kommando, nicht, wenn ein Schrapnell zersprang,
kein Schießen, kein Stürmen, kein Rufen — nur: daß die Lerche sang.
Dieses letzte Erlebnis, das der Zwang zum Sterben dem
Menschenherzen gelassen hat, nach solchem Lärm einen Vogelruf zu
hören, ist so überwältigend, daß es nicht allzuschwer sein mag,
die Sprache zu finden. Und gar, da statt des halben Jahres schon
der Krieg der anderthalb Jahre, im zweiten Frühling, auf die Seele
drückt. Aber außer diesem einen ersten Lerchenruf haben
wir keinen nächsten vernommen. Herr Richard Dehmel, dessen
Ausdruck in den Mysterien der Liebe verschlungener und in
den Mysterien des Krieges primitiver ist als die Sprache jenes
Dilettanten, sollte nachträglich empfinden, welche Macht die
Tiere über die Menschen haben können, wenn die nur wieder
zu sehen und zu hören beginnen, nachdem sie so lange das Unnatür-
liche getan haben. Einen Undank, wie ihn die Großen bei Shakes-
peare den einmal benützten Mördern zu beweisen pflegen, müßten,
so sollte man hoffen, bald die Patrioten für ihre Lyriker übrig haben, ein
übernächtiges Grauen vor der Erinnerung, daß man das einst habe gut-
heißen, wünschen und mitmachen können. Und der fette Intellektuelle,
dessen in den sichersten Gegenden des Hinterlands entstandenen
»Haßgesang« jedes Gesinnungswerkel durch ein ganzes Jahr in ganz
Deutschland gespielt hat, opfere vollends seine Feder auf dem
Altar des Vaterlandes, wenn er das Gedicht jenes Kesselschmieds
liest, in dem einer in die Kugelgefahr ging, um den toten Feind,
der vor dem Drahtverhau lag, zu holen und zu begraben:
Es irrten meine Augen — mein Herz, du irrst dich nicht.
Es hat ein jeder Toter des Bruders Angesicht.
Aber in den Lesebüchern wird stehen: >Eini das Messer ins
Russenfleisch und gach umdraht!«, und daß es ein Hochgefühl sei,
»den Feind 'rankommen zu sehen und ihn niederknallen zu können,
ohne daß er einem recht ankann. <
Aufhören zu verzweifeln — das werden wir nie! Wo aber
sollen wir anfangen?
— 45
In einer deutschen Zeitschrift werden zitiert:
Graf Alfred de Vigny:
Ich rufe die Empörung des Gewissens eines jeden Menschen,
der mitangesehen hat, wie das Blut seiner Mitbürger geflossen ist, oder
der selbst daran schuld war, zum Zeugen dafür auf, daß eines Menschen
Kopf nicht genügt, das drückende Gewicht vieler Morde zu ertragen.
Dazu braucht es so vieler Köpfe, als es Kämpfende gibt. Um die Ver-
antwortung für dieses Blutgesetz zu tragen, das man geschaffen hat, muß
man es zum mindesten gut verstehen. Aber die besten Einrichtungen,
von denen hier die Rede ist, werden nur vorübergehende sein, denn,
ich wiederhole es noch einmal: die Heere und die Kriege haben ihre
Zeit. Trotz der Worte eines Sophisten . . ist es nicht wahr, daß der Krieg
gegen einen Fremden ein >heiliger« sei; es ist eben so wenig wahr, daß
die Erde >nach Blut dürste<. Der Krieg ist verflucht von Gott, ja sogar
von den Menschen, die ihn führen, und die ein geheimes Grauen vor
ihm empfinden. Die Erde aber dürstet nach nichts anderem, als nach
frischem Regen für ihre Flüsse und nach reinem Tau für ihre Blumen.
Jean Paul:
Das Unglück der Erde war bisher, daß zwei den Krieg beschlossen
und Millionen ihn ausführten und ausstanden, indeß es besser, wenn
auch nicht gut, gewesen wäre, daß Millionen beschlossen hätten und
zwei gestritten. Denn da das Volk fast allein die ganze Kriegsfracht auf
Quetschwunden zu tragen bekommt, und nur wenig von dem schönen
Fruchtkorbe des Friedens, und oft die Lorbeerkränze mit Pechkränzen
erkauft; da es in die Mordlotterie Leiber und Güter einsetzt, und bei
der letzten Ziehung (der des Friedens) oft selber gezogen, oder als Niete
herauskommt: so wird seine verlierende Mehrheit viel seltner als die
erbeutende Minder-Zahl ausgedehntes Opfern und Bluten beschließen.
* *
•
Einiges von dem unter den »Glossen« aufbewahrten Material
ist — vgl. S. 112 des letzten Heftes — wieder der , Arbeiter-
Zeitung' entnommen, deren Bemühen, dem durch Tat und
Flucht grausamen Tag etwas Besinnung beizubringen, hier auf
haltbarerem Papier unterstützt wird.
* «
*
Die Tendenz der Sammlung Schopenhauerscher Worte gegen
die deutsche Kultur im letzten Heft war nicht nur die Absicht, jener
intellektuellen Nachhut, die die Soldaten gegen den Vorwurf des
Barbarentums durch die Beteuerung schützen will, daß die Deutschen
>das Volk Goethes und Schopenhauers« seien, dieses Vorhaben
auszureden. Sie war vor allem das Bestreben, die Nachhut zur
Vorsicht anzuhalten und ihr beizubringen, daß sie ihrer Heimat
— 46
den schlechtesten Dienst erweise, wenn sie Schopenhauer nicht nur
als Repräsentanten ihres Geisteslebens — das ist zu dumm —
ausspiele, sondern als Zeugen gegen eine feindliche Nation —
das ist gefährlich — bemühen wolle. Denn was immer er gegen
andere Kulturen auf dem Herzen gehabt haben mag, jedenfalls
taugt er heute schlecht zur Aussage, weil er eben besser gegen
die eigene Nation aussagen könnte, und weil es doch vom Stand-
punkt derer, die vom Gegenteil leben, verfehlt ist, die Feinde auf
solche Chance aufmerksam zu machen. Kein Autor sollte jetzt von
denen, die Gegenbeweise gegen Barbarentum liefern müssen oder
diesen Vorwurf auf den Feind abzuwälzen haben, sorgfältiger
versteckt werden als Schopenhauer. Ich bin zu jenem und diesem nicht
verpflichtet, und seinen Angriffen gegen das Deutschtum, welche ja nur
die Fronde gegen eine heute erst besiegelte Lebensrichtung waren,
die sich gegen das Leben und gegen das Gut der von ihm über
alle andern gestellten Sprache kehrt, habe ich seine freundlichen
Worte über die Italiener entgegengestellt, wieder nur um zu zeigen,
wie unvorsichtig die Benützung eines andersgearteten Ausspruchs sei,
den ich selbst nicht gefunden hatte und der eben schwerer zu finden
ist als die vielen andern. Nun wird mir mitgeteilt, daß diese
Äußerung Schopenhauers gegen die Italiener in einem Nachlaßband
(»Neue Paralipomena«) feststellbar sei. Das ändert natürlich nicht
das geringste an dem Risiko, das deutsche Journalisten eingehen,
wenn sie Schopenhauer zu einer nationalen Entscheidung
anrufen, ganz abgesehen von der Absurdität der Vorstellung,
daß gerade er auch nur mit einem Wort Aufenthalt in solchen
Mündern nehmen soll. Ich habe die Echtheit jenes Zitats nicht
bezweifelt und ihr Beweis bringt mich keineswegs in Verwirrung.
Der Sinn meiner Kollektion — viel patriotischer als er auf den
ersten Blick scheint — war, an einem wirksamen Beispiel zu
zeigen, daß eine gewisse nationale Dummheit, die dem Feind die
Waffe liefert, der wahre Feind ist. Deutsche Literatur kreise aber, von
der Fülle Schopenhauerscher Aversion gegen die Deutschen sichtlich
überrascht, erwarten nun von meiner »Gerechtigkeit«, daß ich
nicht nur die Auffindung jenes antiitalienischen Ausspruchs bestätige,
sondern auch noch die folgenden Sätze wiedergebe, die Schopen-
hauer am 29. Oktober 1822 von Florenz aus an seinen Freund
Osann in Jena geschrieben habe (Briefe, Leipzig 1911, S. 125):
47 —
.... wieder lebe ich unter der verrufenen Nation, die so schöne
Gesichter und so schlechte Gemüther hat; am auffallendsten ist die
unendliche Heiterkeit und Fröhlichkeit aller Mienen: sie kommt von
ihrer Gesundheit und diese vom Klima; dabei sehn viele so geistreich
aus, als ob etwas dahinter stäke: sie sind fein und schlau und wissen
sogar, sobald sie wollen, brav und ehrlich auszusehen, und sind dennoch
so treulos, ehrlos, schamlos, daß die Verwunderung uns den Zorn ver-
gessen läßt. Fürchterlich sind ihre Stimmen: wenn in Berlin ein einziger
auf der Gasse so gellend und nachhallend brüllte wie hier Tausende, so
liefe die ganze Stadt zusammen ; aber auf den Theatern trillern sie vortrefflich.
Die deutsche Literatur hat also nicht vergebens an meine
Gerechtigkeit appelliert. Schließlich muß Schopenhauer selbst
entscheiden, ob er früher oder später mit den Italienern recht gehabt
hat, und wenn man schon gerecht ist, wird man seine reiferen
Antipathien für die besseren halten müssen. Wäre er noch
älter geworden, er hätte die Fähigkeit, »sobald sie wollen, brav
und ehrlich auszusehen«, neidlos einem andern Menschen-
schlag zuerkannt. Wie recht hatte er aber schon damals mit
der Meinung, daß in Berlin, wenn dort ein einziger auf
der Gasse brüllte, die ganze Stadt zusammenliefe. An das
Gebrüll der Masse gewöhnt sich, wer unter ihr lebt; an die Berliner
Individualität niemand. 1822 war ihm noch die Schönheit der Perfidie
zuwider, aber später hat er schon gezweifelt, ob die Häßlichkeit das
Gesicht der Treue habe, und wie ihm heute die garantiert zuver-
lässige, einzig authentische, jeden Zweifel mühelos abweisende
Wolff-Bürro-Visage behagen würde, das weiß ich ganz genau.
>Treubruchnudeln« und > Schur kensalat« hätte er nicht gegessen.
Und die deutsche Literatur soll künftig an seinem Geschmack,
aber nicht an meiner Gerechtigkeit zweifeln. Und vor allem nicht
an seiner Konsequenz. Denn sie mögen seinen italienischen
Sympathien getrost seine italienischen Antipathien entgegenstellen:
in Bezug auf die Deutschen werden sie ihm sein ganzes geistiges
Leben lang keinen Widerspruch nachweisen können.
*
Der in Nr. 413—417 veröffentlichte Aufsatz »Die Juden-
frage« von Dostojewski ist in den »Politischen Schriften« der im
Piper'schen Verlag erschienenen Gesamtausgabe enthalten, die
verdienstvoll wäre, auch wenn der Prospekt es nicht nötig fände,
die Größe Dostojewskis durch Bahr und Bierbaum beglaubigen
zu lassen. Da die Tatsache eines deutschen Dostojewski immerhin
48 —
wichtiger ist als die Existenz sämtlicher momentan vorrätigen
deutschen Originale, so wird hier (wie in der freiwilligen Anzeige
auf dem Umschlag) auf diese Gesamtausgabe hingewiesen.
In den , Weißen Blättern', deren Name von der Farbe des
Schleims kommt und die bei Kriegsbeginn ihre Ruhepause
mit der im Munde der Generation nicht unebenen Erklärung
begründet hatten, daß »jetzt die Zeit zum Handeln« gekommen sei,
glaubt sich Fräulein Annette Kolb — die gewiß menschlich mit
jenem Milieu nichts zu schaffen hat — mit mir auseinandersetzen
zu müssen.
.... Jetzt aber kann man der Verwundeten und der Gefangenen nicht
denken, ohne daß sich das Mitgefühl auch jenen Vereinzelten zuwendet,
deren esheutein allen Ländern gibt, dievondemStromder Gedanken-
losigkeit, der alles umwarf, nicht fortgerissen wurden, sondern
von ihrer brennenden Erkenntnis, wie in Einzelhaft verwiesen, allein und
abgetrennt, ihnüberragen. Man schreibt gewiß nicht ohnegroße innere Pein
Sätze nieder, wie ich sie heute in der , Fackel' finde: »Der kriegerische Zu-
stand scheint den geistigen auf das Niveau der Kinderstube herabzudrücken ' ;
und man stimmt nicht anders als bedrückten Herzens dem Autor bei.
Aber nicht länger bin ich des Verfassers Meinung (was nicht geschieht,
um ihm entgegenzukommen, der ein paar Seiten weiter die Äußerung
zu Drucke bringt: »Eine Frau soll nicht einmal meiner Meinung sein,
geschweige denn ihrer«), nicht länger teile ich seine Meinung, wenn er
auf die Frage, die er auf wirft: »Was kann durch den Weltkrieg entschieden
werden?« sich selbst zur Antwort gibt: »Nicht mehr, als daß das
Christentum zu schwach war, ihn zu verhindern«. Ja, ich maße mir die
Meinung an, daß er da wirklich mit einer unzureichenden Leuchte an
das Problem herantritt.
Nämlich das Christentum war nicht zu schwach, sondern
zu stark, die Menschheit evoluiere langsam, nur Geduld, es wird
schon kommen.
Aber der Gewalt des Christentums tut die menschliche Hinfällig-
keit keinen Abbruch; ja unerbittlicher könnte es nicht wider uns
triumphieren ....
Man soll nur am Christentum festhalten, sich nicht »durch
das Ekle und Scheußliche«, das den Katholizismus »tief unter
sich begrub«, irre rnachen lassen, »um in der Vermutung
nicht gestört zu werden, daß wo einmal dieser viel mißbrauchte
Kult zu seinem adäquaten Ausdruck gelangt, eine Höhe
des Daseins sich ergibt, die alles andere weit unter sich
49
läßt« etc. Dies sei zwar sehr selten der Fall. Wenn aber, so
tut sich erst das Weltall auf.
Daß heute, wo die Welt wie nie zuvor zu einem Jammertal ver-
sank, daß sich ihr da zum ersten Male die Umrisse der Gestalt des
Hirten vollgültig umschrieben, ist diese Tatsache keiner Deutung wert?
Wer hat die Tatsache wahrgenommen? Kein Mensch, aber
schön wär's:
Nicht Feind vom Feinde, nicht ihre Konfessionen scheidend, ist
Gleichgewicht, das hoch und einsam über die gebeugten Völker ragt,
bei ihm allein. Ist dies kein Innehalten wert?
Sie halten aber gleichwohl nicht inne, und die Völker
bleiben gebeugt.
Die wahre Fahne, die alle umwallt, entrollte nur er. Und wer,
Jud oder Heide, spottet heute diese Hirten ohne Herde und dennoch
Hirten, wie nie zuvor; nie zuvor so gebieterischen und so weithin deut-
lichen Reliefs, von der Wahrheit selbst gleichsam emporgehalten und
hinausgestellt, aus der Ohnmacht erst geschaffen, wie es scheint.
Wie es scheint. Wem ist das Relief deutlich? Keiner
spottet, aber niemand läßt sich stören.
Oder soll ich es in Währungen ausdrücken, da sie es doch sind,
welche diese Zeit in ihre Bahnen warfen? Nun, wie zwei Münzen, für
was sie gelten und nur auf ihren Klang hin und ohne Kommentar werfe
ich sie hin: Wilson und Benedikt. Denn wer hörte nicht von selbst die
schwere, gewaltige vor der hohlen und hinfälligen heraus? Wen er-
schreckte da nicht der Unterschied? Sogar Amerikaner. So viel
Phantasie haben sogar sie.
Es ist gefehlt, jetzt etwas in Währungen auszudrücken.
Denn die Christen entschädigen sich für den Kursverlust am Blut
und für den Blutverlust am Kurs. Auch legt es Zweifel nahe,
welchen Benedikt Fräulein Kolb eigentlich meint, den mit der
schwersten Münze, oder nur mit der schweren, den starken oder den
schwachen Benedikt. Sie scheint den schwachen zu meinen und
findet, er habe den Klang in der Welt. Die Dame hat mit
allem recht, sie wünscht, daß es so wäre, und sie schreibt gern.
Ich bin ganz ihrer Meinung, nur sie nicht meiner und das
ist recht so. Was kann durch den Artikel einer Frau bewiesen
werden? Nicht mehr, als daß ich zu schwach war, ihn zu ver-
hindern. Beweist das etwas gegen meinen Wert? Im Gegenteil,
ich war nicht zu schwach, sondern zu stark, Schriftstellerinnen
evoluieren langsam und unerbittlicher konnte ich nicht wider
das Fräulein Kolb triumphieren. Ist dies kein Innehalten wert?
5Ü
Sie schreibt aber weiter. Ich lese aber nicht weiter. Nur bis zu
der Stelle, wo ich, nachdem sich herausgestellt hat, daß wir beide
das Christentum, von der kriegführenden Menschheit begraben,
über eine kriegstaugliche Menschheit triumphieren lassen und es also
höher schätzen, als diese ist und es schätzt, die Worte bemerke:
Nein, Herr Kraus, das war gedankenlos!
Und dies, wiewohl ich doch zu jenen gehöre, die »von
dem Strome der Gedankenlosigkeit nicht fortgerissen wurden«,
sondern »ihn überragen«, nämlich den Strom, sozusagen ein
schwimmender Berg. Da hier somit eine Frau meinen Rat, nicht
meiner und nicht ihrer Meinung zu sein, denn doch völlig erfüllt
hat, schiele ich neugierig, aber vorsichtig zur Fortsetzung hinüber
und finde das folgende:
Überhaupt — um von den Männern zu reden — meine ich,
daß gegenwärtig kein Grund vorliegt zu ihrer Überhebung. Ich bin nie
eine Frauenrechtlerin gewesen und dieser Bewegung gegenüber stets
passiv geblieben; aber ich muß schon sagen: daß nach vielen Dezennien
eines ausschließlichen Männerregiments ein derartig vollendeter Wirr-
warr zutage gefördert wurde, gibt doch zu denken.
Fräulein Kolb will also jetzt die Aufmerksamkeit auf einen
Wirrwarr ablenken, den die Männer angerichtet haben, und ich
war nur ein Übergang zu der herzhaften Hypothese,
daß, wenn statt der Herren Sonnino, Berchtold, Poincare, Bülow,
Churchill, Iswolski usw. die Damen (ich nenne keine be-
liebigen, sondern solche, die sich schon erprobten, die es
wirklich gegeben hat, die mithin irgendwie weiter vorhanden
sind), wenn statt ihrer Damen wie die Markgräfin von Bayreuth,
Maria Theresia, Katharina II. und die von Siena, Julie de Lespinasse
und auch die alte Queen, daß wenn solche Frauen mehr im Vordergrunde
gestanden hätten, statt ausgeschaltet zu sein, mit zu bestimmen,
statt zu schweigen gehabt hätten, daß dann — — es läßt sich
nichts beweisen.
Das ist nur zu wahr, daß sich nichts beweisen läßt. Aber
Fräulein Kolb hat Namen genannt, keine beliebigen, sondern
solche, die sich schon erprobt haben. Ärger, sagt sie, könnten
die Dinge, wie sie ohne die Mitwirkung jener Frauen, >ohne ihr
Zutun < — was beweisbar ist — sich jetzt gestaltet haben, unmöglich
sein. Klar erkennt man, daß man mindestens nicht schlecht
gefahren wäre, wenn man mit der Katharina oder der alten
Queen, die irgendwie vorhanden sind, die man aber nicht auf-
" 51
kommen lassen wollte imd die jetzt auf Spitalsdienst, Bridgespiel,
Theosophie, Kjöringfahren oder gar Biicherschreiben angewiesen
sind, einen Versuch gemacht hätte. Natürlich hat die Dame wieder
ganz recht mit der Meinung, daß die Frauen das Politisieren,
das ja wirklich sogar leichter als Kochen ist, so gut treffen würden
wie die heutigen Männer, wiewohl die Unfähigkeit der Männer
noch kein Beweis dafür ist, daß sie es besser treffen würden, und
ich ja auch schon erprobte Namen nennen könnte wie Perikles,
Macchiavelli, Peter der Große, Bismarck. Soweit, was das Politi-
sieren anbelangt. Was aber das Denken im Allgemeinen betrifft,
so ist die Frage, ob sich hier den Frauen ein Beruf eröffnet, noch
heikler. Denn meine Unfähigkeit dazu beweist schon gar nicht,
daß die Annette Kolb es kann.
* *
•
, Eine jetzt in Schwang gekommene Art des Feuilletonismus,
die deutsche Hausmannskost statt der französischen Küche bietet und
von braven Jungen zubereitet wird, finde ich in einer Zuschrift
mit besserem Geschick parodistisch dargestellt, als es die Bieder-
keit selbst vermöchte. Die Gemütsart dieses Typus ist zusammen-
gesetzt aus einer Weltweisheit, welche die irdischen Genüsse, wie
das Fahren im Schlafwagen, schon überwunden hat, und einer Fibel-
einfalt, die deren gründliche Kenntnis nicht verheimlicht. Sie zieht das
edle Weidwerk großstädtischen Vergnügungen auch dann vor, wenn
von etwas ganz anderem die Rede ist, und in ihrem Ausdruck ist sie
ein fortwährendes Butzenscheibenschießen. Sie hat das Herz auf
dem rechten Fleck, aber das Wort immer auf dem andern, indem
sie den Menschen nicht nur als Jägersmann betrachtet, sondern
diesen noch als >Jünger Hubertus'«. Ihr Vorstellungslebe;i
bewegt sich zwischen einer Volkstümlichkeit, die auf einer Kenner-
schaft von Land und Leuten beruht und bis zur Befassung mit den
seltensten Gebrauchsgegenständen geht, und herzhafter Ablehnung
jeglichen Komforts, dessen Betätigung sonst von einem Feuilletonisteii
verlangt wurde, der bislang wissen mußte, daß in einem fashionablen
Hotel die Grande-Dame auf das vierte Läuten erscheint, oder andern-
falls bereit war, sich über das Fehlen der »dämonischen Frau« lustig
zu machen. Hier wird etwas ganz Neues geboten, wie man unschwer
an der schlichten, im weitläufigsten Ausdruck immer doch das
Einfachste bergenden Sinnesart erkennen wird.
— 52
Hinterm Vorhang des Lebens.
An einem der köstlichen Tage, die der liebe Lenz uns jetzt
beschert, führte uns kürzlich ein Geschäft frühmorgens auf einen
unserer großen Bahnhöfe. Die herbe, frische Luft rief in uns allso-
gleich die Erinnerung an manchen fröhlichen Pirschgang wach,
da wir im grünen Röcklein des Weidmannes, die blanke Büchse
über der Schulter, der ritterlichsten und männlichsten Leibesübung
oblagen. Bald galt es dem graubraunen Meister Lampe, bald dem
rostroten Herrn von Reinecke und seiner Gesponsin, der zier-
lichen Fehe, bald gar dem wackeren Vogel mit dem langen Gesicht,
dessen Anblick jedem echten Jünger Hubertus' das Herz höher
schlagen läßt. Mit mitleidigem Lächeln gedachten wir wohl auf
solcher Wanderung jener armen Spötter und Hämlinge, die sich
um diese Stunde noch in den weichen Federn gütlich tun. Freilich
ist es nicht immer ihre Schuld, wenn ihnen manches fehlt, was
das Leben köstlich macht.
Nun führte uns unser Weg über einen offenen Markt. Zart-
rote Lämmer hängen da neben schmackhaften Öchslein von der
Farbe des Chrysoberylls und neben den weiten braunen Körben
mit maigrünem Inhalt leuchten goldige Pyramiden, aus »süßen
Früchten gebildet. Nicht jeder freilich ist imstande, solche Farben-
symphonie zu genießen, und lächelnd gedenken wir unseres
Freundes Adolf, dem ein knusperig braunes »Backhendel« in Be-
gleitung eines würzigen Gurkensalates über alle Kunstgenüsse geht.
Jetzt freilich muß der Arme schon seit Wochen auf solche Leckereien
verzichten, denn die Fieberhexe hält ihn in den dürren Fängen
und zwackt ihn weidlich.
Nun umfängt uns die graulichweiße Bahnhofshalle. Nicht
jedem ist es gegeben, in dem hier herrschenden Gewühle Beob-
achtungen zu machen. Aber uns fällt sogleich ein behäbiges Ehe-
paar auf, dessen blitzblankes Reisegepäck noch mehr als ihre auf-
geregten Mienen verrät, daß sie sich den Luxus einer Reise nur
selten gönnen dürfen. Es wäre aber Unrecht zu glauben, daß sie
deshalb für den Zauber eines schönen Frühlingsmor^ens unempfind-
lich sind. Vielleicht genießen sie ihren bescheidenen Ausflug mehr
als etwa der elegante Globetrotter, den wir hinter dem dicken
Spiegelglas eines Abteils L Kl. bemerken. Er lehnt lässig in dem
kirschroten Samtpolster und hat den Arm bequem in die braune
Lederschlinge geschoben, die neben dem Fenster herunterhängt.
Über seinem Kopf liegt der Frühstückskorb mit seinem appetit-
lichen Inhalt, daneben ein Reisenecessaire, in dem wir wohl mit
Recht zahlreiche geschliffene Kristallflakons mit dicken, kugeligen
Silberstöpseln vermuten. Diese Gepäcksstücke sind mit den bunten
Reklamemarken vornehmer Hotels beklebt und natürlich unbe-
schreiblich verwahrlost. Wer weiß aber, ob diesen Weltmann, dessen
Benehmen so sicher und unbefangen erscheint, als könnte ihm auf
dem Parkett des Lebens nichts mehr zustoßen, nicht längst
insgeheim das Zipperlein plagt . . .
53 —
Im Gedränge fallen uns einige verdächtig aussehende Bursclien
auf, denen die Nähe eines diensteifrigen Wachmannes übel zu
behagen scheint. Es sind ungute Gesellen, denen man nicht des
Nachts allein im Walde begegnen möchte, denn das Messer (Mandl)
sitzt ihnen locker genug im Stiefel.
Nun zurück in die Stadt. Es ist die Stunde, da die Läden und
Büros geöffnet werden, und die Straße wimmelt von jungen Ge-
schöpfen in einfacher, aber netter Kleidung, die zur Arbeit eilen.
Manchen mag das wohl sauer ankommen, aber die meisten dieser
guten Kinder verdienen vielleicht eher die Liebe eines braven
Mannes, als manche geputzte Dame, die einige Stunden später
auf dem Korso erscheint, um ihr buntes Seidenkleid und ihren
großen Federnhut bewundern zu lassen.
Aber vielleicht hat auch diese ihre Berechtigung. Nicht jeder
freilich vermag sie zu erkennen, aber wer ein wenig tiefer ins
Leben geblickt und manchen Vorhang gelüftet hat, der deutet sich
alles mit jenem indischen Wort, das da lautet: »Nichts ist wahr
und das bist du!«
« »
*
Viel Begeisterung hat der Krieg für den Rezitator WüUner
übriggelassen. Es dürfte sich um einen rhapsodisch erhöhten
Qregori handeln. Einer der ausführlichsten Wüllner- Verehrer schreibt:
. . . Vorleser ist er nicht, weil er niemals vorliest, alles frei und
auswendig vorträgt. Um ihn Schauspieler zu nennen, dazu fehlt ihm
das Um und Auf der Bühne.
Ganz richtig, da er nur in Konzertsälen auftritt.
Sicherlich steckt schauspielerische Begabung in ihm; wie weit
sie reicht, können nur die beurteilen, die ihn auf dem Theater gesehen
haben.
Zum Beispiel ich. Alsjarl Skule in den > Kronprätendenten«
von Reinhardt, einem abendfüllenden Sketch, der mir damals viel
Spaß gemacht hat. Es war ein Versuch, das Leben und Treiben
in einem Zirkus auf die Bühne zu bringen, lange bevor das Gegen-
teil sich bewährt hat.
* *
*
Vorlesung im Kleinen Musikvereinssaal, 21 .• Dezember: I. Vorwort
(Ein Irrsinniger auf dem Einspännergaul) / Schmückedeinheim / Aus
großer Zeit / Aphorismen / Hopsdoderoh / »Drückeberger in Frankreich«
u. s. w / Die Freigelassenen / Hier wird deutsch gespuckt / Aus
Schopenhauer / Diana-Kriegs-Schokolade / Kinder und Vögel sagen die
Wahrheit / Wiese im Park / Abschied und Wiederkehr / Sonnenthal /
Elegie auf den Tod eines Lautes. II. Dialog der Geschlechter / Eeextra-
ausgabeee — ! — Schweigen, Wort und Tat.
54
In Nr. 413-417 ist zu lesen: S. 8, 13. Zeile von unten, statt:
vom Tagblad ! Extraausgabää -!« vom Tagblad!« -'Welthlad! Extra-
ausgabää — /«/ S. 43, 1. Zeile nach dem Zitat, statt: Wenn die Herren,
die die große Zeit Wenn die Herren die große Zeit; S. 104, 5. Zeile
von unten, statt: und dem die und der die.
Im »Verlag der Schriften von Karl Kraus«, Leipzig (am
Jahresbeginn von Herrn Kurt Wolff errichtet) ist das Buch
>Worte in Versen< erschienen. Es enthält die folgenden Stücke:
Verwandlung / Vergleichende Erotik / Leben ohne Eitelkeit , Zwei
Läufer / Mein Weltuntergang / Beim Anblick einer sonderbaren Parte / Tod
und Tango / Die Leidtragenden / Kriegsberichterstatter / Eeextraaus-
gabeee — ! / Monolog des Nörglers / Beim Anblick eines sonderbaren
Plakates / Die Grüngekleideten / Elegie auf den Tod eines Lautes ,' In-
schriften / Eine Prostituierte ist ermordet worden / Grabschrift / Beim
Anblick einer Schwangeren / Zum wohltätigen Zweck / Die Kranken-
schwestern / Sonnenthal / Wiese im Park / Vor einem Springbrunnen / Aus
jungen Tagen / Abschied und Wiederkehr / Widmung des Wortes / Der
sterbende Mensch / Sendung.
Die »Inschriften< enthalten:
, Vae victoribus! / Fortschritt / Nach Goethe / Sittlichkeit und
Kriminalität / Christlicher Umlaut / Sexus und Eros / Elegisches Vers-
maß / Heroischer Vers / Norm / Reinigung / Kategorien.
Bisher ungedruckt sind : »Sendung« und > Heroischer Vers«. L
Versform neugeordnet — außerdem im letzten Heft veröffentlichte*
»Eine Prostituierte ist ermordet worden« — die Stücke'.'
>Beim Anblick einer sonderbaren Parte« und »Sonnenthar^t"
(aus dem Schluß des Aufsatzes : Das Denkmal eines Schauspielers)."
Sonst manche Änderungen in Text und Titeln. — Das Buch ist bei
Drugulin in Leipzig gedruckt.
Irgendwo wurde kürzlich festgestellt, daß das Burgtheater;
in einem kläglichen Zustand vor der Shakespeare- Feier steht und •
heute nicht imstande wäre, Macbeth, Hamlet und Lear aufzuführen, ;
während zum Beispiel das tschechische Landestheater in Prag mit?
fünfzehn Werken von Shakespeare, die es längst in seinem Spiel-
plan habe, den Gedenktag feiern werde. Dieser Angabe opponiert
eine alberne, geradezu burgtheateroffiziöse Zuschrift, in der es, ohne
eine Kenntnis der Prager Theaterverhältnisse zu behaupten, heißt,
ts komme auf die Inszenierung an, auf die das Burgtheater bekannt-
55
lieh so viel Sorgfalt verwende, daß fünfzehn Stücke, die man in'e
im Repertoire »stehen« habe — man muß also wohl täglich von
neuem inszenieren — überhaupt nicht herauszubringen wären. Die
Hinweisung auf Prag, so interessant sie an sich sei, werde »doch
dem Burgtheater nicht ganz gerecht«, auch in Bezug auf die
hVage der Darstellung:
Wir kennen die schauspielerische Qualität der tschechischen
Vorstellungen nicht. Wenn es sich bloß darum h andeln würde,
alle die fünfzehn angeführten Stücke am Burgtheater zu spielen, so
wäre das ja auch zu machen. Aber man würde, gewöhnt an erste
Darsteller und auch von ihnen verwöhnt, wenig erbautdavon sein, daß
hervorragende Rollen nicht ihrem Gewicht gemäß besetzt wären.
Man weiß doch, wie anspruchsvoll das Burgtheaterpublikum ist.
Und setzt voraus, daß es sich in Prag »bloß darum handelt
etc«. Dem anspruchsvollen Burgtheaterpublikum, das an erste Dar-
steller gewöhnt ist, aber sie schon so lange entbehren kann, und das
nun seit zwei Jahrzehnten von Herrn Reimers verwöhnt wird,
wäre offenbar eine Hauptrolle mit einem Schauspieler wie dem Prager
Vojan nicht ihrem Gewicht gemäß besetzt. »Es erscheint wichtig«,
schließt die Zuschrift, »alle Seiten der Sache besonnen zu erwägen».
Die Verteidigung scheint mit ihrer Besonnenheit zufrieden zu sein
yd stellt somit an sich selbst geringere Ansprüche, als das
.jUblikum ans Burgtheater. Dieses ist also nicht nur faul und
mifähig, sondern bildet sich noch etwas darauf ein und setzt
's selbstverständlich voraus, daß eine andere Bühne ihren
-ifer nicht auf einem höheren Niveau betätigen könne. Es hat eine
Tradition zu hüten, der vom ganzen heutigen Personal vielleicht
noch die Toilettefrau auf der linken Seite gerecht wird, und
die, nämlich die Tradition, will es nun einmal nicht kompro-
mittieren. Aus Furcht, hinter den berechtigten Anforderungen
zurückzubleiben, bleibt es hinter den berechtigten Anforderungen
zurück. Denn das Burgtheaterpublikum ist so anspruchsvoll,
iaß es lieber gar keinen Shakespeare als einen unzulänglichen
ehen will, es ist von Herrn Reimers als Othello dermaßen
verwöhnt, daß es Herrn Reimers als Macbeth nicht zu sehen
wünscht. Anstatt aber die Möglichkeit einzuräumen, daß auf dem
heutigen slavischen Theaterboden eher Helden wachsen, als auf dem
deutschen, oder anstatt, wenn das Zugeständnis inopportun wäre,
zu schweigen, wagt man es, die Leistung zugunsten des Nicht-
— 56 —
geleisteten herabzusetzen, und lehnt es stolz ab, Shakespeare zu spielen,
weil man einen Ruf zu wahren habe. Gewiß ist die Unterlassung
einer Aufführung des Hamlet die würdigste Shakespeare-Feier, die
das Burgtheater heute zu bieten hat. Aber durch welche Leistung
wird es dem Rufe gerecht, wie erweist es sich der Tradition
würdig, wie erfüllt es die Ansprüche des Publikums, dessen
Verwöhntheit doch auf die Dauer nicht damit vorlieb nehmen
kann, die Werke, die es nicht schlecht gespielt sehen will, gar
nicht gespielt zu sehen? Die Zurückhaltung des Burgtheaters
gegenüber Shakespeare in allen Ehren, aber sie ist eine Inkonsequenz.
Das Burgtheater kann auch Goethe, Schiller, Grillparzer und noch
viele andere Autoren nicht spielen, es muß Scribe, Sardou und
andere Zeugen seiner verblichenen Lustspielherrlichkeit verleugnen,
und es sollte deshalb gegenüber den Ansprüchen des Publikums
an die Darsteller und in Anbetracht der zeitraubenden Mühe der
Inszenierungen einen radikalen Entschluß fassen, der seiner Korrekt-
heit und Pietät angemessen wäre, um endlich Ruhe zu haben und
sowohl dem eigenen Ruf wie dem des Wagentürlaufmachers,
der am Schluß jeder Vorstellung sein >Aus iii — s!< in die Gegen-
wart ruft, im feierlichsten Sinne gerecht zu werden.
Wenn das, was heute in deutscher Sprache zu schreiben
wagt, ohne ihres Atems einen Hauch mehr zu verspüren, irgend-
wie, von einem metaphysischeren Anstoß als dem Weltkrieg
geschüttelt, imstande wäre, noch ein Quentchen Menschenwürde und
Ehrgefühl aufzubringen, so müßte die Armee von Journalisten,
Romansöldnern, Freibeutern der Gesinnung und des Worts vor das
Grab Adalbert Stifters ziehen, das stumme Andenken dieses
Heiligen für ihr lautes Dasein um Verzeihung bitten und hierauf
einen solidarischen leiblichen Selbstmord auf dem angezündeten
Stoß ihrer schmutzigen Papiere und Federstiele unternehmen. In
einer kleinen Biographie — wohl der einzigen anständigen Neu-
erscheinung der Reclam-Bibliothek — , aus der man auch einiger-
maßen die Superiorität der vormärzlichen Wiener Gesellschaft über
den heutigen Mischmasch feststellen kann, der die Verpoverung
östep-eichischer Werte als einen Triumph des Heute ausruft, sagt
der Verfasser, Alois Raimund Hein, über die Beziehung des
57
Dichters (den J. V. Widmann den Seelenfrieden-Stifter genannt hat) zu
einer Epoche, die anfing, ein freches Zeitbewußtsein zu bekommen:
Stifter trat als vollendetes Original vor die Schranken. Sprache
und Empfindung waren ursprünglich und unvergleichlich; das bis zu
anbetender Verehrung gesteigerte Naturgefühl, das liebevolle Versenken
in zarte, weiche Stimmungen, die heilig-fromme Gemütstiefe, der Reich-
tum der Phantasie und die Fülle des Ausdruckes bei fast ängstlicher
Scheu vor allem, was den Lärm des Tages ausmacht und sich im
lauten Ringen der Zeit austobt, alles das mußte beifälligste Bewunderung
und innigste Zustimmung finden in jenen zahlreichen Kreisen des
Vormärz, Welche den gedämpften Worten rein-frohen, wellfernen Kinder-
sinnes willfähriger lauschen mochten als den eben damals mit ungestümer
Leidenschaftlichkeit zornmütig ausgestoßenen Kampfrufen der literarischen
TuMiultanten. Inmitten des immer stärker anschwellenden Aufruhrs der Mei-
nungen, inmitten der Verwünschungen und des Wutgeschreis wegen geistiger
Knechtschaft, Unterdrückung der bürgerlichen Freiheit und Beschränkung
der höchsten menschlichen Güter stand Stifter mit seinem glaubens-
frohen Anhang auf einer Insel der Glückseligen, deren den ewigen
Göttern geweihter Hain, küslenfern und abgeschlossen, unbehelligt blieb
von der tosenden Brandung der Gezeiten. Während eine auf gewalt-
same Umwälzung hoffende, dem Umsturz der Dinge in schrillen Tönen
eindringlich das Wort redende Sängerschar mit den bedrückenden Er-
scheinungen des Alltags ihre murrenden Strophen füllte, hielt Stifter
den verzückten Blick auf das Ewige und Unendliche, auf das Dauernde
und Unveränderliche gerichtet. Gleichwie ihn später, als die Zeit der
Erfüllung kam, das revolutionäre Aufschäumen der Volkswut erschreckte
und anwiderte, so fanden auch die den blutigen Ereignissen vorangehen-
den Dithyramben des Freiheitsdranges keinen Weg zu seinem Herzen.
Was die Zeitwelle hebt, was die Zeitwelle verschlingt, das
achtete er für nichts. Nach seiner Anschauung vom Leben
erschien ihm der Gedanke widersinnig, daß die Gewährung
politischer Freiheiten an die Massen das Glück des einzelnen
zu erhöhen vermöchte. Denn er erblickte das höchste individuelle
Glück in dem harmonischen Einklang der Empfindungen, in der stillen
Ausgeglichenheit des Innenlebens, in der erhabenen Friedfertigkeit,
welche dem Einsamen abseits vom Wege erblüht. Dieses Glück, das
jeder einzelne in seiner besonderen Weise sucht und aus der Tiefe
seines Wesens gründet, konnte er nicht in Zusammenhang setzen mit
den Kämpfen und Erschütterungen einer stürmisch bewegten Zeit. Die
politischen und gesellschaftlichen Bestrebungen erschienen ihm in ihrer
Wandelbarkeit und Unbeständigkeit klein gegen das unerschütterliche
Walten der Natur. Der Halm, welcher genau so wie heute schon vor
Jahrtausenden im Kosen der Lüfte sich wiegte, an dessen Wachstum
alle Leidenschaften, alle Erfindungen, alle Umwälzungen der Menschen-
geschichte auch in der fernsten Zukunft keine Veränderung bewirken
können, war dem stillen Poeten des Waldes bedeutender, wertvoller,
lieiligcr, vertrauter als das Kampfgelümmel wechselvoller Erscheinunger. .. .
58
Wohin hätte er aus der heutigen Welt entkommen mögen,
in welchen Wald entfliehen können, um nicht auf Stacheldraht zu
stoßen? Ihn heute lesen und sich dann wieder umsehen, in welcher
Welt man lebt, verlangt stärkere Nerven als um nur in dieser
durchzuhalten. Aber als Entschädigung für den Genuß der
Heineschen »Harzreise«, deren Sprachschwindel mir neulich eine
halbe Stunde leer gemacht hatte, habe ich doch wieder einmal jenen
»Hochwald« gelesen, in den der dreißigjährige Krieg nicht dringt
und aus dem die deutsche Sprache nicht mehr herauswill.
Und nach einer notwendigen Durchsicht jener öden Reimeschluderei
»Deutschland«, die sich ein Wintermärchen zu nennen wagt und
die einst den aufgeweckten deutschen Schulbuben so imponiert hat,
daß sie später viel bessere Kneipzeitungen verfaßten, bin ich vor
Stifters »Feldblumen« gestanden. Dieser Jean Paul ohne
Aufenthalt hat dort eine Stelle, in der ihm, wie alles und vor
allem der Wald, die Musik zur Sprache wird. Ich frage, ob vor
solchen Sätzen nicht der Krieg und seine sämtlichen Stilisten ihr
Dasein einzustellen hätten:
». . . Dann, wenn sie vor dem Instrumente sitzt, zieht ein
neuer Geist in dies seltsame Wesen; sie wird ordentlich größer,
und wenn die Töne unter ihren Fingern vorquellen und dies
unbegreiflich überschwengliche Tonherz, Beethoven, sich begeistert,
die Thore aufreißt von seinem Innern tobenden Universum und
einen Sturmwind über die Schöpfung gehen läßt, daß sich unter
ihm die Wälder Gottes beugen — — und wenn der wilde
geliebte Mensch dann wieder sanft wird und hinschmilzt, um Liebe
klagt oder sie fordert für sein großes Herz, und wenn hierbei ihre
Finger über die Tasten gehen, kaum streifend wie ein Kind an-
drücken würde, und die guten, frommen Töne wie goldene Bienen
aus den vier Händen fliegen und draußen die Nachtigall darein
schmettert, und die untergehende Sonne das ganze Zimmer in
Flammen und Blitze setzt — und ihr gerührtes Auge so groß und
lieb und gütig auf mich fällt, als wäre der Traum wahr, als liebte
sie mich: dann geht eine schöne Freude durch mein Herz, wie
eine Morgenröte, die sich aufhellt — die Töne werden, wie von
ihr an mich geredete Liebesworte, die vertrauen und flehen und
alles sagen, was der Mund verschweigt. . . .«
59
Aus jungen Tagen
Nie kann es anders sein.
Nun wirft mein Glaube keinen Schatten mehr.
Von deinem großen Lichte kam er her,
von des Geschlechtes rätselhaftem Schein.
Nun bin ich ganz im Licht,
d^s milde überglänzt mein armes Haupt.
Ich habe lange nicht an Gott geglaubt.
Nun weiß ich um sein letztes Angesicht.
Wie es den Zweifel bannt!
Wie wirst du Holde klar mir ohne Rest.
Wie halt' ich dich in deinem Himmel fest!
Wie hat die Erde deinen Werth verkannt.
Du gabst dich zum Geschenk
der Welt, ich hab es für dich aufbewahrt.
Ich habe Gott den größten Schmerz erspart"!
Geliebte, bleibe deiner eingedenk!
Wie glänzt mir deine Pracht.
Dein Menschliches umarmt, der beten will.
Er heiligt es im Kuß, Wie ist sie still
von Sternen, deiner Nächte tiefste Nacht.
Nie soll es anders sein.
Ob alles Irdische zerbricht und stirbt,
nur dein Zerfall ein geistig Glück verdirbt.
Vergib dich an die Erde nicht, sei Dein!
GO
Sonnenthal
Faßt Mut zum Schmerz, daß seine Thräne nicht mehr fließt
und dieser große Chor der Jugendbühne stumm ist:
Die Glocke, die Charlotte Wolter hieß;
derHammer,dermitLewinskysRede dasGewissen schlug;
und einer Brandung gleich die Stimme des Zyklopen
Gabillon;
Zerlinens Flüstern; und Mitterwurzers Wildstroms
Gurgellaune ;
eine Tanne im Wintersturm jedoch war Baumeisters Ruf;
und schwebend, eine Lerche, stieg des jungen
Hartmann Ton,
vermählt dem warmen Entenmutterlaut Helenens;
und Hagel, der durch schwülen Sommer prasselt,
Krastels Sang;
und edlen Herbstes Röcheln Roberts Stimme;
und Sonnenthals : die große Orgel, die das harte Leben löst.
Und all der Sänger Stimme und Manier,
die noch verstimmt, von solchem Geiste war,
daß sie bewahrt sei gegen alles Gleichmaß,
womit die Narren der Szene und der Zeit
die lauten Schellen schlagen.
61 —
Glossen
Ein Druckfehler
Die Erinnerungen der Baronin Ebner-Eschenbach an das alte
Burgtheater, das der Löwe, Fichtner, Korn, werden irgendwo zitiert.
Wir lesen, sind ganz in den Tagen der dürftigen Herrlichkeit, da
zwischen zerfransten Zimmerdekorationen großartige oder liebens-
würdige Menschen auftraten, und so entrückt, müssen wir die,
welche es erlebt haben, gar nicht um ihre Entrückungen beneiden
und besinnen uns nicht des Schmerzes, Zeitgenossen der prunkvollen
Schäbigkeit zu sein. Plötzlich, ein Blitz:
Löwy war ja herrlich und kam uns in manchen Rollen, zum
Beispiel als S i e g f r i e d in Raupachs »Nibelungen« wie ein Halbgott vor
So selbstverständlich hat die Hand des Setzers das Nächst-
liegende ergriffen, und wüßten wir auch nicht gleich, daß dieser
Siegfried Löwy ein Löwe, ein Siegfried war, wir spürten doch
den Zusammensturz von Bühnen- und Lebenswerten und hörten
den Klang des neudeutschen Siegfried. Dieser Druckfehler ist
wahrlich des Teufels.
Rascher Szenenwechsel
oder
Was ihr wollt
Im Feuilleton, Seite 2 und 3:
.... Der Ulk wächst, schwillt bis zum Ungeheuerlichen.
Man kann sich totlachen an diesen Ausgelassenheiten, muß jedoch
zugeben, daß sie in ihrem Übermaß das Gleichgewicht des Werkes
stören. . . . Und was noch schlimmer, das tolle Gebaren färbt auf die
anderen Darsteller ab und verleitet sie zu der irrigen Meinung, in diesem
Lustspiel sei überhaupt nichts ernst zu nehmen, auch nicht Gefühl
und Empfindung, nicht Liebe und Liebesweh. ... So schädigt das
aufdringliche Vorwalten des Derbkomischen den Gesamt-
eindruck, den dieses Lustspiel hervorbringen sollte. Alles Süße, Holde,
62
Liebliche, womit es der Dichter begnadete, verliert seinen Duft, der
Dramatilcer Shakespeare kommt selten zum Wort, der Lyriker muß ganz
verstummen, und das Märchen entflieht bestürzt ans andere Ufer. Sogar
die eigentlich komischen Rollen werden auf die Seite gedrückt. . . .
Man sollte nun glauben, dieser lustige Karneval würde im flottesten
Tempo erledigt werden, in Saus und Braus vorfiberstürmen. Dem ist
aber nicht so. Spiel um Spiel wird von den Darstellern mit äußerstem
Behagen ausgeführt, und Behagen will sich Zeit lassen, liebt die
gemäch liehe Gangart. Dazukommt ein anderer Zeit Verschwender:
der Zwischenvorhang. Er bietet den Vorteil, daß man die Szenen so
ziemlich in der vom Dichter gesetzten Reihe bringen kann, unterbricht
aber dafür jeden Augenblick den Fluß der Handlung, reißt jeden Augen-
blick den Zuschauer aus der Stimmung. ... Es läßt sich gar nicht
beschreiben, wie grausam dieser Spielverderber die Harmonie des
Ganzen zerstört, ein so schön gebautes Meisterwerk zerstückelt und
zerhackt. Um dann den Zeitverlust einzubringen, den er verursacht,
haben sich einschneidende Kürzungen als notwendig erwiesen. . . .
Alle technischen Bühnenreformen, die nicht den blitzschnellen
Dekorationswech sei bei offener Szene ermöglichen, sind keine zwei
Heller wert. Wir haben die Schattenseiten dieser Vorstellung vielleicht
zu stark hervorgehoben. Zum Glück fehlt es nicht an erfreulichsten
Eindrücken. . . .
Hier sind sie schon, auf Seite 18:
Die heutige Wiederaufnahme und NeuinszenierungvonShakespeares
Lustspiel »Was ihr wollt«, über die wir im Feuilleton des vor-
liegenden Blattes berichten, fand überaus lebhafte Zustimmung
des dichtbesuchten Hauses. Der Szenenwechsel vollzog sich in
wünschenswerter Raschhheit, die Bühnenbilder selbst, namentlich
des Strandes, der Halle und des Parkgebäudes, waren von prächtiger
Wirkung. Die ernsten Partien sprachen sinnvoll an, die launigen
erweckten behagliche Heiterkeit. Auch der Shakespearische Übermut
der grotesken Rüpel- und Narrenscherze fand volles Verständnis.
Die Harmonie des Ganzen bleibt immerhin zerstört. Wer's
nicht glaubt, sehe sich das Lustspiel, das der autoritative Schwachsinn
am 12. März in einer und derselben Neuen Freien Presse auf-
geführt hat, im Original an. Daß die Hauptstadt von Montenegro
noch am Tag vor der Einnahme ein Misthaufen und am Tag
nachher ein Schmuckkästchen war, kann man für möglich halten.
Krieg ist Krieg. Aber die Unbekümmertheit, mit der solch eine
Meinungshure mit demselben Atemzug zweierlei bekennt, ist
doch ein Maßstab für die Erweichung der Gehirne, die
einen doppelten Eindruck schmerzlos hinnehmen.
63
Verwandlungen
.... die intellektuelle Kühnheit, mit der der Dichter (Shaw)
gegen englische Heuchelei, gegen englische Überheblichkeit und
Beschränktheit darin zu Felde zieht, würzt noch heute diese englische
Komödie Er macht sich den Spaß, zu zeigen, wie einer, den die gute
bürgerliche Gesellschaft verachtet, sich unversehens in einen
Helden verwandelt, der sich aus purem Edelmut für einen anderen
hängen lassen will, während dieser andere, der bis dahin ein
ehrsamer Pastor war, sich eben so schnell in einen Raufbold
und Rebellen verwandelt: beide kannten sich nicht, noch wir sie,
denn nur die Tat enträtselt den Charakter, weshalb der Bürger-
begriff von Gut und Böse nicht viel Wert hat. Dies bildet ungefähr den
geistigen Kern des Stückes ....
Es scheint sich also doch um eine allgemeine Kritik der
Heuchelei zu handeln, was die spezielle Beschränktheit nur nicht
sieht, denn sonst könnte sie Herrn Shaw, den Dichter, auch darauf
aufmerksam machen, daß die beiden Verwandlungen, in den
Helden und in den Raufbold, häufig identisch sind und daß
somit nicht nur der früher Verachtete, sondern sogar der ehrbare
Pastor unter Umständen ein Held sein kann.
Strindberg und Koofmich
„Über den nicht alltäglichen Fall einer Erkrankung als Folge-
erscheinung des Krieges wurde in der letzten Sitzung der zweiten
Kammer des Berliner Kaufmannsgerichts verhandelt. Anlaß dazu
bot die Klage des Kontoristen Kurt N. gegen die Verlagsgesell-
schaft »Häute und Leder« .... Auf Grund dieser Mitteilung hielt
sich die Gesellschaft für berechtigt, N. als sofort entlassen anzusehen. . . .
fragte der Verhandlungsleiter den Gutachter, ob denn nach seiner
Ansicht N. während der noch gar nicht erloschenen Krankheit in der
Lage gewesen wäre, seine Tätigkeit wieder aufzunehmen. Sanitätsrat
Dr. R. erwiderte darauf, daß es ein ganz sicheres objektives Merkmal
für die Arbeitsfähigkeit eines Menschen überhaupt nicht gebe.
Die Möglichkeit, daß N. beim Aufbringen der nötigen Energie arbeiten
konnte, bestehe jedenfalls. Zeige es sich doch bei vielen
modernen Dichtern — der Gutachter wies bei dieser Gelegen-
heit auch auf Strindberg — , daß sie selbst beim Vorhandensein
starker Hystero-Neurasthenie eine rege Schaffenskraft entfalten können.
Andererseits mußte der Sachverständige zugeben, daß beim Kläger im
Falle der Wiederaufnahme der Arbeit die Möglichkeit bestand, daß
beim Eintreten neuer psychischer Erregungen sich die Anfälle in
leichterer Art wiederholen könnten. . . .«
Richtig ist, daß die meisten modernen Dichter Deutsch-
lands, deren psychisches Verhalten ja auch eine Folgeerscheinung des
— 64 —
Krieges ist, ohne aber die Einstellung der Arbeit und infolgedessen die
Entlassung nach sich zu ziehen, eine Schaffenskraft entfalten, die
auf dem Vorhandensein starker Hystero-Neurasthenie beruht. Das
Berliner Kaufmannsgericht kann mir als einem Sachverständigen
aufs Wort glauben, daß diese Erscheinung sehr häufig ist. Ich
behaupte aber, daß von allen Verlagshäusem Deutschlands aus-
schließlich das Verlagshaus »Häute und Leder« Anspruch auf die
Schaffenskraft dieser Patienten hat und daß sie verurteilt werden
müßten, die Arbeit, diesieleider noch nie eingestellt haben, ausschließ-
lich dort fortzusetzen. Wiewohl ich aber die Identität des Kontoristen
Kurt N., der das einmal gerichtlich festgestellte Übel wiederum ohne-
weiters für die Mitarbeit an einer modernen Revue fruchtbar machen
könnte, mit allen jenen, die schon in dieser Lage sind, anerkenne,
muß ich doch sagen: daß ich die Zitierung Strindbergs vor das
Berliner Kaufmannsgericht behufs Vergleiches seiner Arbeitsfähig-
keit mit der Schaffenskraft eines deutschen Kommis für einen
kulturellen Schlager ersten Ranges halte, der mich in der längst
errungenen Ansicht bestärkt, daß die Weltgeschichte das Kauf-
mannsgericht ist.
* *
Die Metapher ist keine!
. . . Bei der Kaiserfeier im Rathaus hielt Oberbürgermeister Wermuth
eine Rede, in der er hervorhob, daß kein noch so heftiger Anprall das
Guthaben der deutschen und verbündeten Heere zunichte machen
wird, das sie in unendlicher JVlühsal in das Kontobuch der Länder
mit stählernem Griffel eingetragen haben. . . .
Von der Ware gefangen
.... hat von befreundeten Zivilkriegsgefangenen aus Astrachan
die Nachricht erhalten, daß Herr Graf und der Schokolad en- Hilde brand
als Kriegsgefangene in Astrachan sind. . . .
Das ist traurig, aber noch trauriger ist, daß der Mensch selbst
in der Gefangenschaft nicht aufhört, der Gefangene seiner Ware zu
sein. Die Hildebrand-Schokolade mag unser Traum bis nach Astrachan
verschicken: der »Schokoladen-Hildebrand« gehört nach Wien, und
eben diese Art zu assoziieren macht uns untauglich zum Export.
65 —
Verwaltungsräte der Kunst
Preisausschreiben der A E 0
Für ein künstlerisches Plakat
zur Förderung des Vertriebs
von A E Q - Nitrallampen
veranstalten wir ein Preisausschreiben.
Für die Preise sind insgesamt M.8000 ausgesetzt.
Preisrichter sind: die Herren Professor Peter
Behrens, Gurt Herrmann, Professor Emil Orlik,
Professor E. R.Weiß, Kommerzienrat Paul Mam-
roth, Dr. Walther Rathenau, Dr. Ernst Salomon.
Die Bedingungen liegen im Sekretariat der AEG,
Berlin NW 40, Friedrich-Karl - Ufer 2-4 auf.
Allgemeine Elektricitäts-Qesellschaft.
Nanu, wo bleiben denn Avenarius, Corinth, Qurlitt,
Mauthner, Meier-Gräfe, Naumann, Simmel, Sombart?
Lichnowsky und Barnowsky
. . . Nach dem vierten Bilde konnte die Verfasserin auf der
Bühne erscheinen. Ihr Gatte Prinz Lichnowsky, der ehemalige deutsche
Botschafter in London, wohnte der Vorstellung in der Direktions-
loge bei. . . .
Die Welt gäbe viel darum, wenn der Herr noch in einer
bezahlten Loge eines Londoner Theaters säße.
Die Verbindung
Ein als »jüdische Tragödie« bezeichnetes Drama »Ritualmord
in Ungarn« wird wie folgt angekündigt:
Die germanische Verbindung von mystischer Phantastik und
wuchtig gestaltendem Realismus zeigt Arnold Zweig als ein dramatisches
Talent von ganz urgewaltiger Kraft und Eigenart ....
Das Germanische inkliniert zu Verbindungen. Es ist selbst
eine, dazu kommt noch die mit dem ändern, das auch Verbindungen
gern hat — traun, so wahr ich da leb, etwas viel Verbindungen
auf einmal.
66 —
Es geht in Einem
. . . Soin >Reiterlied«, das an die kernigsten Soldatenweisen
aus »Des Knaben Wunderhorn« erinnert, war zum deutschen Volkslied
geworden. Auch seinen übrigen Gedichten stand nun der Weg zur
Wirkung offen. — — — — — Aus allen diesen Gedichten, namentlich
aus den »Makkabäer« überschriebenen entschlossenen Strophen sprach
starkes, ungekünstelt dichterisches Gefühl ....
Eine Chimäre
Einheitspreis für alle Sitze (ausgenommen Logen und Cercle zu
10, 6 und 4 Kronen) 3, 2 und Eine Krone bei den Konzertkassen
der Heller'schen Buchhandlung.
Macht nichts. So siehts wohl immer mit der Einheit aus.
Der einzige Einheitspreis, den es im Chaos gab, war noch der
Heller, und selbst der ist ein Phantom. Der Heller ist keinen
Heller mehr wert.
Er ist nie seiner Meinung
Der Kommentar, Spalte 1: Die amtliche Mitteilung, Spalte 2 :
.... Nach der amtlichen Mit- ; .... läßt die Verwendung nur in
teilung schließt dies die Verwen- 1 jenen Teilen des österreichischen
düng in allen jenen Gebieten aus,
in denen die politische Verwaltung
nicht einem militärischen Koniman-
Staatsgebietes zu, bezüglich deren
die Befugnisse der politischen Ver-
waltung n i c h t an einen militärischen
dantsn zusteht. ... | Kommandanten übertragen sind.
Unser Ohr hat sich daran gewöhnt, zu allem was uns die
entsetzlichste Stimme auszurichten hat, auch noch ihren Kommentar
zu hören. Läßt uns Gott oder die Regierung etwas sagen, so
bestellt es der jüdische Dienstmann nicht nur, sondern wiederholt
es auf seine Art und immer schon vor der Botschaft selbst. Das
kann dann so werden: Jener kommt atemlos gelaufen und sagt »Sie
müssen nämlich wissen, er meint nämlich — — <. >Wer? Was?«
>Lassen Sie mich ausreden, er meint, Sie sollen — — « »Ich
verstehe, das ist unangenehm, aber geben Sie den Brief her und
schaun Sie, daß Sie weiterkommen.« >Er meint also und hier hat
er es aufgeschrieben, sehn Sie, so seht das aus.« »Hier steht doch
67
das gerade Gegenteil ! Ja was haben Sie denn liineinzuschauen, seien Sie
froh, daß Sie selbst nicht — , ich bin schön erschrocken und jetzt
stellt sich heraus, Sie Trottel — «. »Entschuldigen Sie, Herr Dokter, bei
so einer wichtigen Nachricht kann einem das schon passieren.«
»Abfahren!« »Eine gute Partie hätt ich noch für Sie Herr Dokter! — «
Der Rausch der Titel
Das Schönste sind doch die Titel. Oder eigentlich die Unter-
titel. Im Abendblatt nämlich, wo er so gern >in sich hineinhört«
und aus sich herausredt. Früher v/ar er gar lebhaft: ». . und . . und Vor-
stoß gegen einen russischen Flügel und Hineinwerfen in die
masurischen Sümpfe.« Das war keine Meldung, sondern ein Kom-
mando und man sah und hörte förmlich, wie er es diktierte, und
schon waren sie drin in den masurischen Sümpfen. Jetzt setzt er
ganz ruhig an. Etwa: »Die Affäre der Lusitania.« Darunter aber:
»Übertreibung der ganzen Angelegenheit.« Um das aus-
zusprechen braucht man die Hand und muß den Kopf einige Mal
bewegen, etwas gereizt über eine Störung, deren Grund man aber
doch nicht ganz übersehen kann; wie: laßt's mich aus, ich hab
andere Sorgen. Das Wort »ganz« ist eigentlich ein Attribut von
»Übertreibung«, eine Steigerung dieser, und gehört gar nicht zur
»Angelegenheit«, die ja ohnedies als ganze hingenommen werden
muß. Aber man kennt den Ton: anstatt, daß ihm der Krieg schon
sehr fad sei, sagt er, der ganze Krieg sei ihm schon fad. Aber der
ganze Text ist nicht für den Leser, sondern für den Hörer
geschrieben; und vor allem diese übertriebenen Titel. Es ist der
persönlichste Schrei, der je aus Druckerwerk in die Welt
gedrungen ist. Langweilig ist diese Lektüre nicht; um bei ihr einzu-
schlafen, müßte man sich schon die Ohren zuhalten. Nur ein
purer Zufall ist es, daß wir nicht den Titel gehört haben:
»Die Einnahme von Erzerum«, mit dem Untertitel: »Nicht der
Rede wert.« Oder es heißt etw'a: »Die Konferenzen in Rom.«
Darunter: »Kühle Aufnahme in Paris.« Und gleich wieder:
»Kühle Antwort in der Duma.« Man glaubt gar nicht, wie
schwer dieses »Kühl« auszusprechen ist. Kühl ist eine überaus
jüdische Kopfbewegung, womit zugleich der Feind »gedeftet« und
unsere Leute beschwichtigt werden. Für Anfänger, die sich im
bü
Jüdeln ausbilden wollen — was sehr bald notwendig sein wird
und in den Schulen obligat werden soll — , ist dieser Kurs, zwei-
mal täglich, eine nicht genug zu empfehlende Gelegenheit. Sowohl
in Bezug auf die »Stimmungen« wie in deren korrekter Aussprache
bietet diese Methode alles, was heutzutag von einem, der im
praktischen Leben eine Rolle spielen will, verlangt wird. Die text-
lichen Erläuterungen sind überaus lehrreich, aber die Titel allein
sind so einprägsam, daß man mehr profitiert als wenn man ein
Semester auf der Börse zugebracht hätte. Ganz persönlich
sind aber die Titel, wenn ihnen überhaupt keine Nachricht folgt,
sondern nur die 5676 te Wiederholung der Gewißheit, Überzeugung,
Hoffnung, Aussicht, Möglichkeit, daß »sie«, jenne, zerschmettert,
zerbrochen, zertreten, zermalmt, ausdividiert sind, daß sie mit einem
Wort auch schon genug haben und daß »die Sorge nagt« oder
es wenigstens im Gemäuer zu rieseln beginnt. Sie waren nämlich
zuerst ganz hin, so daß kein Hund mehr einen Bissen von ihnen
genommen hat, vor Abscheu über »die Verderbtheit«, dann waren sie
so gut wie fertig, dann waren sie alle schon verdrossen, später hat
sich der Zweifel ausgebreitet, jetzt sind sie auch nicht mehr das,
was sie einmal waren, rosig ist ihre Laune grad auch nicht, eine
gewisse Herabstimmung und Nachdenklichkeit ist bereits zu
bemerken, man sieht, sie sind schon sehr gedeftet, »und vielleicht«
werden sie bald genug haben. Sie. Wir natürlich nicht. Denn so
leben wir, so leben wir alle Tage, nun schon seit fast zwei Jahren.
Neulich aber kam eine Auffrischung:
Beginn einer großen Zeit.
Die Blicke der Völker nach dem Westen gerichtet.
Was folgte, war nicht etwa die Meldung, daß die große Zeit soeben
begonnen habe, sondern der Monolog eines verstörten Seelenlebens.
Es sind nicht Telegramme, sondern Visionen; Umsetzungen eines
furchtbaren Dialekts in Gesichte, die man wieder hören muß, und
wieder und noch einmal. Es war kein Bericht. Denn die nüchterne
Wirklichkeit gibt doch zu erkennen, daß die große Zeit seit
Kriegsausbruch da ist und darum nicht erst im neunzehnten
Monat beginnen kann, was ja eine Fopperei wäre, und daß es
in einer großen Zeit auch nicht mehrere große Zeiten geben kann,
sondern zum Glück nur eine.
t)*)
Die Einbildungskraft
Frauen mit verweinten Augen sind in den Straßen von
Paris zu sehen. Sie denlten an die Sclilacht auf beiden Ufern der
Maas, und Bangiglceit überfällt sie, weil dort die Jugend von Frankreich in
Kämpfen, in denen zwei große Völker um ihre Zukunft ringen, niedergemäht
wird. Die Landleute erzählen, daß sie das Rollen der Schüsse aus
schweren JVlörsern in einer Eniiernung von mehreren hundert Kilometern
hören. Vielleicht ist es nur Sinnestäuschung, obgleich bekannt ist,
daß bei günstiger Windrichtung der Lärm auf den Schlachtfeldern weit-
hin vernehmbar wird. Was die Ohren nicht vermögen, kann die Ein-
bildungskraft vortäuschen. Die Frauen von Paris horchen
nach dem Osten, wo die Blüte des Volkes vergeht und jeder
Augenblick vielen Herzen tiefe Wunden schlägt und den Gatten, den
Sohn, den Bruder hinwegrafft . . .
Die Einbildungskraft glaubt — nein, »schwelgt in der Vor-
stellung« — , daß nur die Mütter derer, die in einer besiegten Armee
fallen, verweinte Augen haben, die andern aber, deren
Söhne im Angriff gefallen sind, pure Freudentränen vergießen,
wiewohl selbst deren Enkel schon wissen, daß der Sieg zuweilen
mehr Opfer kostet als die Niederlage. Die Einbildungskraft »stellt
sich vor«, daß nur eine Armee kämpft, nämlich die des Feindes,
und daß Frauen nach dem Westen (wohin nur die Blicke ge-
richtet sind) überhaupt nicht horchen können, erstens weil
die Mörserschüsse in dieser Richtung nicht vernommen
vterden und zweitens weil es da nichts zu horchen gibt,
höchstens aus Neugierde, und neugierig, wie sie schon sind,
sind schließlich die Frauen überall. Aber daß die Trottelei noch
nicht niedergemäht oder hinweggerafft ist, sondern täglich neu
ersteht, zeigt doch, was für ein Kinderspiel die Verwüstung ist
verglichen mit dem, was uns bleibt. Denn weinende Frauen,
die wohl ein Argument gegen den Krieg wären, gegen
einen der kriegführenden Teile ins Treffen zu führen, gelingt nur
einer ausdauernden Journalistik, der zwar das Feuer das Hirn
verbrannt hat, deren gewalttätige Schmockerei aber das Ereignis
überleben wird.
Ein Demosthenes gesucht
Der Korrespondent der »Neuen Freien Presse« in Saloniki ist
auf Befehl des französischen Oberkommandanten General Sarrail ver-
haftet worden. Das Schicksal dieses Blattes ist es schon wieder-
holt gewesen, daß die Persönlichkeiten, die ihm angehören, die
70
Mitarbeiter und Korrespondenten, von den Wirkungen der
Weltbegebenheiten unmittelbar und persönlich getroffen
werden ....
Aber was nützen alle Hinauswürfe, wenn der Betrieb
weiter geht. Weltbegebenheiten, die nicht einmal die Kraft haben,
da etwas zu ändern, sind nicht die richtigen. Ein Weltkrieg müßte
doch mindestens und zu allererst einem sogenannten Weltblatt ein
Ende bereiten, sei es durch Verbot, sei es durch Bomben oder
wenigstens dadurch, daß er dem Publikum Mut zur Verachtung macht.
Statt dessen werden die Persönlichkeiten üppig und beklagen sich
noch darüber, daß der Feind sie nicht ganz so wichtig nimmt wie
der Abonnent. Sie erhoffen sich vom Frieden eine Besserung
dieser Zustände:
.... Der glorreiche Krieg, den wir in siebzehn Monaten geführt
haben, muß jedem einzelnen von uns den Vorteil bringen, sich überall
in der Welt, wo immer der Beruf oder die Neigung ihn hinbringt, sicher
zu fühlen. Gerade mit einer Spitze gegen Griechenland . . hat Lord
Palmerston in seiner Verteidigungsrede das Wort gebraucht, der Eng-
länder müsse in jedem Winkel der Erde das Gefühl haben wie
einst im Altertum, da es keinen besseren Schutz und Schirm gab,
als sagen zu können: Ich bin ein römischer Bürger. Die gleiche
Empfindung sollen auch die Bürger von Österreich und von Ungarn haben.
Mit einem Wort, der glorreiche Krieg soll dafür geführt
worden sein, daß der Nordau oder gar der Frischauer wieder in
Paris leben, was heißt leben, sich sicher fühlen kann wie
einst im Altertum und den geringsten Versuch der Einschüchterung
nur mit der Antwort abzuwehren braucht : Ich bin ein römischer Bürger.
Daß Griechenland den Korrespondenten, der sich selbstredend
durch »Besonnenheit« — ein Perikles! — hervorgetan hat, nicht
besser zu schützen wußte, ist ein Kriegsgrund, den man getrost
zu den übrigen legen könnte.
. . . Aber seine jetzige Neutralität, die sich beständig selber
preisgibt, fängt an unbegreiflich zu werden. Ein Demosthenes wäre
nötig, um Einsicht und Klarheit zu schaffen. Wir hoffen, daß unser
Ministerium des Äußern die Angehörigen der Monarchie mit allem
Nachdruck schützen werde.
Wo nimmt man nur schnell im Ministerium des Äußern
einen Demosthenes her, der die Entfernung des Perikles wett-
machen könnte? Am besten, man versucht es mit dem Münz, der
schon einmal in einer griechischen Angelegenheit erfolgreich inter-
veniert hat und der im Weltkrieg ohnedies ungebührlich ver-
nachlässigt wird.
Das neue Jahr
ist so begrüßt worden. Vorn:
Bekenntnis zum Optimismus.
Hymnen tönen im Herzen. Das Ausdrucksvermögen fehlt,
sie in Worten ausklingen zu lassen, aber Dichter solllen in rauschenden
Versen sagen, daß diesem Lande, daß dem deutschen Volke beschieden
war, in einem Kriege, der an das Leben ging, gebietend zu sein.
Hymnen tönen im Herzen, weil die Sicherheit in unseren Wohn-
stätten von keinem Feinde gestört wird, fast überall die Äcker bebaut,
das Handwerk betrieben werden kann und die Menschen, von Beschwer-
lichkeiten, Kümmernissen, Not und Trauer heimgesucht, dennoch zu-
kunftsfroh zu dem Tage sich hinüberdenken, an dem zur Erfüllung und
Erlösung reifen muß, was jetzt sprießt und wächst. Erinnert euch der
Senke beim Duklapaß. . . . herrlich ist alles geworden, frei ist das Land,
zurückgeworfen sind die Feinde, ausgemerzt die serbischen Truppen,
zerstört die russischen Festungen .... Die Gedanken kreisen um die
Zukunft, um den Feierabend, aber reich ist auch der Segen in der
Gegenwart. . . . Rußland und Serbien besiegt und Italien gedemütigt!
Hymnen klingen im Herzen. . . . Der Philosoph Fichte war
zum Landsturm eingerückt, und die Ernennung zum Offizier halte
er mit den Worten abgelehnt: Hier tauge ich nur zum Gemeinen. Er machte
seine Übungen gemeinsam mit Buttmann, berühmt durch seine
Forschungen im griechischen Altertum, mit dem Geschichtsschreiber
Rühs und dem Theologen Schleiermacher. Buttmann und
Rühs konnten nicht erlernen, rechts und links zu unter-
scheiden, und seufzten, wenn sie die Wendung wieder einmal verfehlt
und den Spott zu ertragen hatten, das sei zu schwer. Diese Zeit,
die so viel Ähnlichkeit mit unserer hat, reizt die Neugierde,
und vielleicht kann die Vergangenheit auf die Frage antworten:
Wie ist der Verlauf von wirtschaftlichen Krisen, die von
einem Kriege hervorgerufen werden? Der Vergleich führt
zu auffallenden Übereinstimmungen bis in die Einzelheiten...
Erleben wir jetzt nicht das Schöpfungswunder in der
Stickstoffindustrie? . . . Wie ein Rausch der Hoffnungen wird es durch
unser Land ziehen .... Das Bekenntnis zum Optimismus hat jedoch noch
eine Voraussetzung .... nur starke Männer, die alles von sich werfen, was
tot ist in der Vergangenheit und sich den Trieben der Gegen-
— 72 —
wart hingeben wie die Braut dem Bräutigam . . nur sie können
die Krise überwinden .... Die Wirkungen eines politischen und wirt-
schaftlichen Großbetriebes können wir nur ahnen und die Ziffern
selbst durch die Einbildungskraft uns nicht vorstellen .... Der
Krieg hat besondere Absatzstockungen und der Friede auch, und so
schwingeo die Einflüsse fort und der Wechsel braucht eine Leitung
des Staates, die in das Volk hineinhorcht, aus ihm heraushört
nnd in den zittrigen Augenblicken dieser Veränderung in den Bedürf-
nissen und in der Erzeugung auf der Höhe ihrer Pflicht ist. Das Jahr
der Erfüllung kommt! . . Rußland gebeugt, Serbien zertreten, Italien
beschämt! Die Menschheit ist für Jahrzehnte entlastet, das Bohren
in den Nerven wird nicht mehr empfunden werden, und das muß
ein Wohlgefühl verbreiten und die Einleitung zu Abschnitten sein,
in denen das Staunen über die wirtschaftliche Entfaltung uns wieder
gefangennimmt ....
Hinten :
Theodor.
Um Gotteswillen denke Deiner Kinder und das Geschäft.
Auflösung in Aussicht, wenn Du nicht in einigen Tagen dort bist. Habe
Mut und Vertrauen zu mir, die alles verzeiht. Kann alles noch jetzt
geregelt werden, nur sofort heimfahren. Lese > Fremdenblatt«.
Und noch ein
Bekenntnis zum Optimismus
In Cetinjehundertvierundfünfzig Geschütze und zehntausend
Gewehre erbeutet, Bestürzung im Vierverbande, günstiger
Verlauf der russischen Neujahrsschlacht in Ostgallzien und
an der Grenze von Beßarabien.
Wien, 15. Januar.
Der verstorbene Generalsekretär der Österreichisch-
ungarischen Bank, Wilhelm v. Lucam, ist nahezu vergessen.
Der jetzige Gouverneur, Herr v. Popovics, hat eine Vergangenheit,
die zu einer Zukunft berechtigt, und wir begegnen ihm vielleicht
dereinst an einer Stelle in der Monarchie, wo der Gesichtskreis noch
weiterund die Verantwortungen noch ernster sind. . . . Das Bekenntnis
zum Optimismus muß ähnliche Hilfsmittel z ur Begründung
anwenden. Wir stellen uns den Offizier und den Soldaten vor, der
von Cattaro über Geröll und Felsblöcke, in den höheren Lagen über
Eis und Schnee, beständig von den Geschoßen des Feindes bedroht,
auf den Lovcen gestiegen ist. ... Er muß ein Anderer geworden sein . . .
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74
Demel gehen werde, wo eine sehr versierte Gedankenleserin, die
sich besonders für die Champagne interessiert, auf ihn wartet, und hier-
auf, um mildem angebrochenen Abend etwasanzufangen, zurCsardas-
fürstin, das heißt, wenn man durch Protektion noch eine Karte kriegt,
denn es soll dort von Leuten wimmeln, die sich Gedanken über
Verdun machen.
Zur Darnachachtung
»Das k. k. Ministerium für Landesverteidigung fand mit Erlaß
vom 12. Juli 1915, Nr. 863/XIV, im Einverständnis mit dem k. u. k.
Kriegsministerium zu verfügen, daß im Hinblick auf den dermaligen
Kriegszustand — in gleicher Weise, wie bereits seinerzeit mit dem Er-
laß des genannten k. k. Ministeriums vom 13. Jänner 1915, Dep. XIV.
Nr. 1596 ex 1914, h. o. Erlaß vom 18. Jänner 1915, ZI. 1068, hin-
sichtlich der Begünstigung nach § 31 und 32 W.-G. (als Familienerhalter)
angeordnet — auch der nach § 109 I, 1. Abs., § 118 I und § 121 I
W.-V. I., im Juni 1915 zu erbringende Nachweis des Fortbestandes der
die Begünstigungen nach § 30, § 32 (als Landwirt) und § 82 W.-O.
(§ 32 W.-G. von 1889) begründenden Verhältnisse bis auf weiteres auf-
gehoben wird, wobei die bezeichneten Begünstigungen einstweilen —
die Begünstigungen nach § 30 und nach § 32 mit der gemäß § 108 I,
zweiter Absatz W.-V. I, dem termingemäß erbrachten Fortbestandsnach-
weis zukommenden Wirkung — als fortbestehend anzusehen sind.«
Unkenntnis der Zeitung schützt nicht vor Strafe
»Je einen Tag Gefängnis erhielten zwei Leute einer Gemeinde bei
Osnabrück, weil sie entgegen der verfügten Beschlagnahme einige Pfund
Schafwolle verkauft hatten. Sie brachten zu ihrer Verteidigung vor, die
Verordnung sei ihnen unbekannt geblieben, da sie in der Gemeinde
nicht in der üblichen Weise bekanntgemacht worden war: Zeitungen
lesen sie nicht. Das Gericht erklärte aber: ,Wer jetzt keine Zeitung
liest, handelt fahrlässig und kann sich bei Kriegsverordnungen auf
Unkenntnis, die ihn sonst straffrei machen würde, nicht berufen.'«
Unkenntnis des Gesetzes, das nicht in der Zeitung steht,
würde straffrei machen. Das Delikt besteht also nicht in der Über-
tretung des Gesetzes, sondern in der Unterlassung des Abonnements.
Die wird nicht belohnt, sondern bestraft.
/o
Die Amerikaner sind ungebildet und eingebildet
Durch die gesamte in jener Sprache geschriebene Presse,
von welcher die, die sie sprechen, behaupten, es sei die deutsche,
geht eine Notiz »Jung-Amerikas Bildung», in der das Ergebnis
einer mit amerikanischen Studenten vorgenommenen Prüfung dem
Hohn der gebildeten Mitteleuropäer preisgegeben wird. An die
Studenten waren Fragen gestellt worden, »die sich auf den Welt-
krieg und seine Ereignisse beziehen«, und die Antworten sind so
ungebildet ausgefallen, daß das vernichtende Urteil gefällt werden
konnte, die jungen Leute schienen nur Sinn für Sport zu haben,
und »sich um die Zeitungen und ihre Neuigkeiten nicht zu
kümmern«. Der »Wissensstand dieser Vertreter angelsächsischer
Kultur«, wie ihre Unbildung mit beißender Ironie bezeichnet
wurde, soll sich darin manifestiert haben, daß sie nebst Irrtümern über
die geographische Lage von Saloniki und Montenegro zum Teil von
den Persönlichkeiten der Heerführer und Politiker keinen blauen Dunst
hatten und einer sogar der Meinung war, der Name des Königs von
Bulgarien sei August. Die Zeitungsleute, die dieses, klägliche
Resultat verzeichnen, geben mit einem unterdrückten : »Wie wollen
Sie denn da ins Leben hinaustreten?«, der Überzeugung Ausdruck,
daß »ein aufgeweckter Mittelschüler von 13 Jahren besser Bescheid
im Weltkrieg zu wissen scheint als diese Blüte der amerikanischen
Universitätsjugend«. Das ist, wenn es sich, wie anzunehmen, auf
die europäischen Mittelschüler bezieht, ohne Zweifel richtig, und
bekanntlich läßt sich ja sogar die Oricntiertheit der Volksschulen
über den Weltkrieg nicht in Abrede stellen, sondern im Gegenteil
beweisen. Aber nicht nur die deutsche, auch die englische
und die amerikanische Presse haben den beschämenden
Vorfall erörtert, und ein New Yorker Blatt, das sich für Munitions-
lieferungen offenbar mehr interessiert als die amerikanischen
Studenten, beklagte, daß diesen »das meiste vom menschlichen
Fortschritt unbekannt« sei, ein Zugeständnis, von dem die mittel-
europäische Presse gerne Notiz genommen hat. Zu dieser Debatte
erhalte ich nun von einem in München lebenden Amerikaner
das folgende Nachwort:
Daß wir Amerikaner in wenigstens dem einen oder dem andern
Punkt etwas vor den so gebildeten Deutschen voraushaben, fühlte ich
immer nur unbestimmt; liier habe ich aber die Gewißheit. Wohl haben
" /(
wir die meisten, die feilsten, und die am schlechtesten redigierten
Zeitungen, aber — wir lesen sie nicht!
Ich hoffe, daß Sie mir diese Zuschrift verzeihen werden: ich
weiß ja wie ungern Sie von Ihren Lesern solche empfangen. Doch konnte
ich dieses eine Mal der Versuchung nicht wiederstehen, Ihnen den Aus-
schnitt zuzusenden. ...
Das ist wieder so ein Stück echt amerikanischer Groß-
sprecherei. Denn die meisten Zeitungen mögen sie ja haben.
Aber die feilsten und die am schlechtesten redigierten haben wir!
Ein Freund der Bescheidenheit
Herr Felix Saiten, der sich die ersten Sporen im Balkanzug
verdient hat, bringt etwas aus Konstantinopel mit:
»...Die Büffel und Pferde brachen erschöpft zusammen,
aber unsere braven Kanoniere, in deren Schar alle österreichisch-ungarischen
Nationalitäten vertreten sind, arbeiteten noch die ganze Nacht durch,
und am 24. Dezember um die Mittagsstunde konnten wir bereits dem
Feinde unsere ersten Weihnachtsgrüße entbieten.... Den
Abzug des Feindes sahen wir mit an, auch den Angriff der türkischen
Truppen, die unter dem Donner der Artillerie die Franzosen und Eng-
länder bis auf den letzten Rest ins Meer warfen . . . .«
Das hat er im Teesalon des Pera-Palace-Hotels erfahren,
wo die Offiziere »staubbedeckt, gleichsam noch von dem Dampf
der Schlacht umwallt«, ihm entgegenkamen, um ihm zu berichten.
Natürlich hat er auch mit Enver Pascha gesprochen. Und eine
Abenddämmerung auf der Perabrücke - ein Naturschauspiel, das
jetzt vor Kriegsreportern aufgeführt wird — benützte er, um einen
türkischen Offizier nach Stambul zu begleiten. Das Marmarameer
erglänzte, die Linien der Hügel verschwammen und er erfuhr:
»Wissen Sie«, sagte der türkische Offizier, »es ist wunderbar, wie
die Österreicher und Ungarn da draußen geschossen haben. Die
feindlichen Schützengräben waren stellenweise nur fünf Meter von
den unseren entfernt, und da feuerten die österreichisch-ungarischen
Batterien sogenau hinein, daß unsere Soldaten einfach zuschauen
konnten < Ich unterbrach ihn: »Davon haben unsere Herren
nichts erzähltl« — >Ach was«, entgegnete er lebhaft, »die Öster-
reicher und die Ungarn erzählen überhaupt zuwenig..., immer...
sie sind zu bescheiden, c
77
Und immer, wenn die Landsleute zu bcsclieiden sind, gibt
Herr Saiten es in die Zeitung, Es ist jammerschade, daß das Ensemble
heimatlicher Bescheidenheit durch die Referenten gestört wird, die
nicht wie jene, das Licht unter den Scheffel, sondern den Namen
unter den Artikel setzen, sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit
neben die Batterien stellen und einfach zuschauen können, wie
geschossen wird. Hinein, statt daneben. Daneben statt hinein.
Wenn es nur das Ausland nicht erfährt!
. . . Wenn ich an solchen übertriebenen Märztagen durch den
Stadtpark gehe und das erste zarte Grün, das schfichterne Knospen der
Sträucher sehe, so wirkt das auf mich jedes Jahr sehr ergreifend, weil
ich da merke, daß es auch für unsereinen Zeit ist, zu knospen, nämlich
Krawatten und Hemden zu kaufen und zu einigen Anzügen
Maß nehmen zu lassen.
Uniformen? Gott beschütze. Aber der liebe Schneck will
durchhalten.
, . . Jetzt, wo alles umlernt, sich läutert, einschränkt und nach
der Decke streckt, könnte ich es wirklich auch wieder einmal ver-
suchen, in den jahrelangen sorglosen Schlendrian meines Privatlebens
ein bißchen Ordnung zu bringen . , . . Man kann auch ganz gut zu
Hause kalt nachtmahlen .... und in das Herrenmodegeschäft trete ich
mit der festen Absicht ein, mir nur drei Zephirhemden machen zu
lassen ....
Und das wird im letzten Winkel einer schäbigen Seele
nicht nur gefühlt, von Kommislippen nicht nur gemurmelt,
nein, in dem unsere Kultur vor der Welt vertretenden Organ
1916 als Sonntagsplauderei gedruckt. Wie schützen wir uns
aber dagegen, daß es der Feind als Probe unserer Gemütsart und —
um in unserem Sinne zuzugeben, daß wir unsere Munterkeit
nicht eingebüßt haben — in eine der vielen jetzt verpönten Sprachen
übersetzt? Times, Figaro, Nowoje Wremja, Corriere della Sera
sollten wirklich das dumme Erfinden von Lügen über uns auf-
geben und sich damit begnügen, ihre Informationen aus der
Neuen Freien Presse zu nehmen. Und in Anbetracht dieser Möglich-
keit sollte wieder die Behörde statt der Einfuhr feindlicher Blätter,
die uns ja nicht schaden können, solange sie nicht die Wahrheit
über uns sagen, die Ausfuhr der unsrigen verbieten.
- 78
Ein Fauxpas
. . . Vor allem aber wird der sogenannten >Mehlhamsterei«
ein Ende bereitet. Dieses Mehlhamstern ist im Laufe der Zeit zur allge-
meinen Völkerpsychose der Zentralmächte geworden ....
Wenn die Lügen der Entente- Presse alt werden, werden
junge Wahrheiten der unsrigen daraus.
Die europäische Melange
Drei Nachrichten hintereinander, mit den Titeln:
Genügender Kaffeevorrat in Deutschland.
Milchmangel in Frankreich.
Stürmische Zuckernachfrage in England.
»Was? Ihr habt keine Milch? Wir haben genug Kaffee!« »Kaffee
haben wir auch. Habt ihr denn Milch?« »Wir haben Kaffee in
Hülle und Fülle. Ihr scheint keinen Zucker zu haben!« »Wir
haben auch Kaffee. Ihr scheint auch keinen Zucker zu haben. '<
»Wir? Wer sagt das? Ihr habt keine Milch und keinen Zucker!
Wir aber haben Kaffee!«
* *
*
Aus eiserner Zeit
.... Der Komiteepräsident hat besonders darauf geachtet, das
Büffet, welches in eigener Regie des Komitees durch den Oberbaurat
Fieger des Ministeriums des Innern in liebenswürdigster Weise
besorgt wurde, in einer dem Ernste der Zeit und dem finanziellen
Zwecke der Veranstaltung entsprechenden Weise unter Vermeidung
jedes überflüssigen Luxus nur auf das notwendigste zu beschränken.
Durchhalten!
Professor Marcell Salzer hat am Tage der Eroberung des Lovcen
im österreichisch-ungarischen Hauptquartier dem Feldmarschall Erzherzog
Friedrich und seinem Gefolge im intimen Kreise Kriegsdichtungen öster-
reichischer und reichsdeutscher Dichter vorgetragen.
Der bulgarische Konsul in Wien Rudolf Stiaßny hat der Gemeinde
Sofia eine Wehrmannstatue zum Zwecke der Benagelung für die Witwen
und Waisen gefallener bulgarischer Krieger angeboten. . . .
79
Der Private Eduard Beer in Wien erhielt vom Kabinett des
Königs Ludwig von Bayern für einen anläßlich des Geburtsfestes des
Königs an ihn gerichteten poetischen Glückwunsch ein hetzliches
Dankschreiben.
Auf Anregung des Reisemarschalls Franz Meißner hat
kürzlich Frau Anna Sacher vierzig österreichisch-ungarische und reichs-
deutsche verwundete und rekonvaleszente Soldaten aus dem Rudolfsspital
zu einer Jause ins Hotel Sacher geladen.
Frau Tiny Schweitzer, Wien-Hietzing, hat für ihr Gedicht > Huldigung
für das türkische Heere mehrfache Anerkennungsschreiben von den
verbündeten Herrschern und aus höchsten Militär- und Diplomaten-
kreisen erhalten.
Der Herzog von Anhalt hat dem Professor Marcell Salzer für
Verdienste im Kriege das Friedrichskreuz am grün-weißen Bande ver-
liehen, das bisher nur Militärs erhielten.
Immer feste druff
Reichsdeutscher (evang.)
Kaufmann, gebildet, Vertrau-
ensstellung bei Aktien-Gesell-
schaft in Deutschland, 40 er,
kerngesund, militärische
Erscheinung, grundsolid,
arbeits- und lebensfreudig,
Natur- und Kunstfreund, ohne
Anhang.suchtLebensgefährtin.
Witwe nicht ausgeschlossen,
möglichst durch Einheirat
in Geschäft oder Fabrik. Ge-
fällige Anträge unter Chiffre
»W. O. 650t an Rud. Mosse
Wien, 1., Seilerstätte 2. 3755
Hinten ist international
Herr sucht
spanischen Un terricht gegen
Französisch. Antwort unter
Chiffre )»S. M. Nr. 25.« an
das Ankündigung« - Bureau
dieses Blattes.
— 80
Der Schalk
». . . Dies komplizierte Gebilde konnten die Franzosen allerdings
nicht abbauen, als sie sich zur Cote Loraine zurückzogen. Dazu hatten
sie es zu eilig. So fiel der ganze »Laden« mitsamt dem unversehrten
Geschütz und tüchtigem Vorrat an Munition in deutsche Hände, denn
auch diese Granätlein, von denen jedes an 45 Kilo wiegt, erschienen
bei dem schleunigen »Partir« als unbequemes Reisegepäck. Noch am
24. Februar und bis in den frühen Morgen des 25. hatte das Maul,
das immer noch drohend aus seinem Betonpanzer herauszulugen
scheint, nach Conflans hinübergespien. Noch am letzten Tag wurden
über fünfzig Geschosse verknattert. Das war sein Schwanengesang.
Dann legte der Unhold sich schlafen, wieder wie Fafner in seiner Höhle.«
* *
Ein Wahrwort
.... Sie (die Asche) kann daher mit dem Müll, der aus verun-
reinigtem Staub und anderen von Miasmen durchsetzten Körpern besieht,
nicht in einem Atem genannt werden. . . .
« *
•
Die Sammelwut der Dichter
Von den Sammlungen, die unsere Dichter von heute
ihr Eigen nennen, ist die Uhrensammlung der Marie v. Ebner-Eschen-
bach besonders zu nennen. . . .
Ja, ist denn das ein Merkmal oder eine Qewolinheit der
Dichter, eine Sammlung ihr Eigen zu nennen? Sammeln sie außer ihren
Werken, die nicht sehr wertvoll sind, noch etwas anderes ? Gewiß,
zum Beispiel fremde Werke. Nicht immer, um s'c -.u. verwerten,
sondern nur um sie zu bewahren. Wie gleich darunter eine
andere Notiz dartut, in welcher von einem Schriftsteller, der sammelt,
die Rede ist:
Der schwedische Schriftsteller Graf Birger Mörner hat in seiner
Bibliothek auf Schloß Mauritzberg eine interessante Handschriften-
sammlung ....
Was sammle denn ich? Zeitungsausschnitte, und das ist
eine Leidenschaft. Denn sobald ich nur irgendwo das Gesicht
eines Trottels zu erkennen glaube, gleich muß ichs haben. Selbst
dann, wenn es nicht der Zeit zum Schreiben ähnlich sieht, sondern
nur ein Maß ist für die Lizenzen der Zeit, die jedem Trottel
erlaubt, einen Gedanken unter die Leute zu bringen, den er sonst
nur privatim lallen würde, wie zum Beispiel den Hinweis auf die
notorische Tatsache, daß unsere Dichter von heute Sammlungen
ihr Eigen nennen.
— 81 —
Einer, den die Erlebnisse herumgeworfen haben
[Ernst Decsey. »Krieg im Stein.« Erlebtes, Gesehenes,
Gehörtes aus dem Kampfgebiet des Karstes. >Leykam«, Graz.] Der
Krieg hatte eines schönen Tages in dem bekannten Musik-
kritiker und Feuilletonisten den längst vergessenen Reserve-
leutnant aufgeweckt. Wie sah ich aus, erzählt Decsey.
Gestreifte Zivilhose, grüner Alpenrock, weißer Sturmkragen, gelbe Feld-
binde, langer Säbel, und auf dem Haupte, dem haarwallenden, die
rutschende Offizierskappe. Ich hatte nicht mehr Zeit gehabt, mich
auszurüsten. Samstag noch auf der steirischen Alpe, 1200 Meter hoch,
Montag früh unten am Spiegel des Meeres, so hatten mich die
Ereignisse herumgeworfen.
Der Spiegel des Meeres dürfte erschrocken sein, als er das
Bild dieses verwandelten Decsey sah.
Jedenfalls war Decsey bei seiner Kompagnie der erste einge-
rückte Offizier. Das Büchlein schildert die Kriegserlebnisse des
Autors von den Tagen der Mobilisierung an.
Die Leute, die den Decsey von den Tagen der Mobili-
sierung an im Vorraum eines Kriegsbureaus in Graz gesehen
haben wollen, sollen der Meinung gewesen sein, es sei sein
Spiegelbild, so frappant war die Ähnlichkeit. »Sie irren sich, ich
bin nicht der Decsey, alle fallen darauf herein, ich bin längst unten!«
Der Krieg im Stein ist der Krieg am Karst, der Kampf an
der Isonzofront.
Sehr richtig bemerkt, aber was geht das den Decsey an?
Doch.
Dieser deutsche Steirer empfindet den Verrat Italiens wie
ejti-t ihm persönlich zugefügte tiefe Beleidigung. Vergeudete
Ilsi7*je läßt immer Scham zurück. Und Ernst Decsey hat zu den
b^istertsten Italienschwärmern gehört. . . .
Ich weiß nicht, wie lange es her ist, daß der Decsey
jodeln gelernt hat. Aber daß er sich jetzt des Verrates Italiens
schämt, macht ihm alle Ehre. Er hat seine Liebe vergeudet, er
hat vergebens seine Visitkarte im Hotel abgegeben, ganz wie seinerzeit
in Graz, als ich dort noch Vorlesungen hielt und hinterdrein den Decsey,
der für mich geschwärmt hatte, verriet. Aber in Graz kann man
doch den Krieg nicht so recht erleben, nicht gut sehen, man hört
höchstens hin und wieder etwas von ihm, wenn man aus dem
Kriegsbureau in die Redaktion geht. Deshalb mußte sich
— 82
Decsey doch persönlich bemühen. War er also dabei oder war er
nicht dabei? Er war dabei.
Die Stimme des Krieges hat Decsey so deutlich ver-
nommen, als er einen Zug mit Liebesgaben an die Isonzo-
front geleitete. Dort hat er Land und Leute gründlich studiert,
Offiziere und Mannschaft beobachtet, und auch er singt
mit Inbrunst das hohe Lied von dem Großartigen und
Menschenunfaßbaren, das dort geleistet wird. Zu den anziehendsten
Kapiteln des Buches gehört sein Hymnus auf die Lasttiere, die
auf dem Karst gebraucht werden. >Nur kein falscher Genierer«,
wie man gut wienerisch sagt. Es sind Esel, veritable Esel, keineswegs
bildliche Esel, denen dieses Lob gilt. Diese Karstesel sind Muster an
Bescheidenheit und Pflichterfüllung, die buchstäblich für andere ins
Feuer gehen und die Decsey sehr nett die Diurnisten unter den
Vierfüßlern tauft.
Während die Journalisten unter den Vierfüßlern — nun, wie
tauft man die? Esel sind sie jedenfalls nicht. Auf den Karst gehen
sie nicht. Dazu sind ja die Karstesel da. Meint auch der
Rekommandeur, der mit der Chiffre St— g zeichnet, als hätte
der blutige Hohn hinter die tollgewordene Trivialität einen
»Sterbetag« gesetzt. Aber den erleben doch nur die Karstesel!
Was täten wir auf dem Karst ohne sie? Wir könnten diesen
Krieg nicht führen. Im Kriege wurden die Tugenden des Verkannten
erst entdeckt. Ganz wie bei gedrückten, unscheinbaren Zivilmenschen,
die sich in der Schlacht plötzlich als Helden zeigen. . . . Das ist eine
Stichprobe des liebenswürdigen Humors, der nicht zu den
wertlosesten Eigenschaften —
Kusch! Denn Stichproben gibt es jetzt, eines Ernstes, die
Millionen erlitten haben. Und den Zehntausend, die ihr Blut
behalten, erstarrt es nicht im Leibe? Karstesel, Kreaturen Gottes,
wenn ihr eure Pflicht getan habt, für andere ins Feuer zu gehen —
kehrt euch und trampelt diese Brut zu Tode!
Gott strafe England
». . . Das neue englische Gesetz über die Dienstpflicht
nimmt Männer, die gegen den Kriegsdienst Gewissensbeschwerden
haben, unter bestimmten Bedingungen aus ... In Godalming war
es ein Lehrer, Roland M. J. Knaster, der erklärte, tiefe religiöse
und moralische Überzeugungen zu haben, die ihm den Kriegsdienst
— 83 —
und alle damit zusammenhängenden Dienste verbäten. Er sagte,
zu jedem Opfer bereit zu sein, wenn das Gericht ihm die voll-
ständige Befreiung nicht zubillige. Im Verhör gab er an, 25 Jahre alt
zu sein und der englischen Hochkirche anzugehören. Ins Heer zu gehen,
sagte er, würde für ihn bedeuten, daß er die Gesellschaft über seine
religiösen Überzeugungen stelle und dies wolle er unter keiner Bedingung
tun. >lch liebe meine Mutter und bin ihre einzige Stütze,« sagte er.
>Wenn man mich ins Gefängnis schickt oder erschießt, wird sie ver-
hungern. Ich stelle meine religiösen Überzeugungen meiner Mutter voran
und wenn jemand dazu entschlossen ist, glaube ich nicht, daß er noch
mehr tun kann, um Sie zu überzeugen.« — Tribunalmitglied Fletcher
(Schulleiter in Charterhouse) : Gesetzt den Fall, daß jemand Gewalt gegen
Sie anwendete, was täten Sie? — Knaster: Ich würde wahrscheinlich
mit ihm diskutieren, aber ich hoffe, daß ich ihm nicht Schlag um Schlag
zurückgeben würde. — Als man ihn fragte, was er täte, wenn ein
Deutscher seine Mutter an seiner Seite tötete, erwiderte Knaster, das
sei eine ungehörige Frage, die er nicht beantworten könne. Der Vor-
sitzende Bürgermeister verkündete hierauf die Entscheidung, daß der
Antragsteller vom aktiven Kampf dienst vollkommen befreit und auch
von jedem anderen militärischen Dienste solange enthoben
sei, als er die einzige Stütze seiner Mutter sei. — Die Verhandlung
in Fulham war darum merkwürdig, weil der um Befreiung Ansuchende ein
Beamter des Kriegsamtes war. Der jetzt Neunzehnjährige gab an, sich
1911 bekehrt zu haben. Sein Gewissen verbiete ihm, jemandem das
Leben zu nehmen, sei es auch sein Feind. Der Vorsitzende fragte ihn,
warum er dann seinen Posten im Kriegsamt nicht aufgegeben habe.
Der Ansuchende erwiderte, daß seine Beschäftigung mit der Feststellung
der Folgen des Krieges, aber nicht mit der gegenwärtigen Kriegführung
zu tun habe. Das Ansuchen wurde abgewiesen. Alderman Evans erklärte,
Enthebung vom Dienste könne solange nicht gewährt werden, als der
Ansucher seine Stelle im Kriegsamt nicht aufgebe . . . .«
Wie es in Rom zugeht
». . . Das Straßenleben ist im allgemeinen so bewegt wie sonst In
Friedenszeiten; auf dem Korso drängen sich die Menschen wie immer
geschäftig oder im süßen Nichtstun, die Schaufenster sind glänzend
erleuchtet und die großen Kaffeehäuser . . sind überfüllt. Aber hinter diesem
äußeren Bild verbergen sich doch erh.ebliche Veränderungen. Der Klein-
handel ist ruiniert und auch die großen Geschäfte haben schwer
gelitten. . . . Die Buchhandlungen sind überfüllt mit Kriegsschriften, denn
es ist ja nötig, immer noch den Krieg . . zu rechtfertigen, das gute Recht . .
zu beweisen, Haß und Verachtung des Feindes zu verbreiten . .
Spottkarten und Zerrbilder müssen dem gleichen Zweck dienen, sie
— 84
werden einem auf Schritt und Tritt angeboten, in Massen verkauft und
finden sich in allen Händen. In den Kinos werden die Heldentaten des . .
Heeres und seiner Verbündeten in schwindelhafter Weise verherrlicht. . . .
Der Krieg hat die Stadt äußerlich umgewandelt. . . . Auf den Dächern
flattern große Standarten im Winde, Bündel von Fähnchen schmücken
die Fenster und Bänder in den Nationalfarben zieren die in den
Geschäften ausgelegten Waren. Schuhfabriken, Modeartikel- und Wäsche-
läden bieten dem erstaunten Kunden . . mit dem Roten Kreuz ge-
schmückte Börsen, Mappen, Notizbücher usw. an. Aber in den Stadt-
vierteln, wo die armen Leute wohnen, sieht es anders aus. Männer
und Frauen zeigen in ihren Mienen, wenn nicht Besorgnis, so doch
Gleichgültigkeit. In den Unterhaltungen, die man zufällig mit anhört,
klingen Müdigkeit und Angst durch vor der immer schwerer lastenden
Lebensnot. Die gedrückte Haltung dieser Leute ist zu augenscheinlich,
als daß man sie übersehen könnte. Der Lebensunterhalt ist teurer
geworden und die Arbeitslosigkeit, die in gewöhnlichen Zeiten schon
groß war, ist gestiegen, die Armen stehen täglich von neuem vor der
bedrückenden Frage, wie sie ihren Hunger stillen sollen. Obgleich die
Kriegshetzer, die auf die einfältige Leichtgläubigkeit rechnen, einen
nahen Sieg vorspiegeln, so kommt doch in der dürftigen Atmosphäre
der schmutzigen Stadtviertel die Ruhmesgewißheit nicht zum Durch-
bruch und gibt sich nicht mit der hochmütigen Roheit kund, welche
die Kriegsfreunde, die Eroberer . . zur Schau tragen, alle die Herren und
Damen, die mit ihrem Kleideraufwand, ihren Diamanten und wohl-
genährten Backen über den Korso schlendern. Diese Leute, die mit
einem Lächeln auf den Lippen vorübergehen, diese Damen in hellen
Kleidern, die Menschenmassen, die sich unaufhörlich in den Kaffee-
häusern und Weinschenken drängen . . die überfüllten Theater und
die flatternden Fahnen, gehört das alles wirklich zur Hauptstadt eines
Landes, das in einem schweren Kriege steht, dessen Grenzen bedroht
sind, dessen Söhne in großer Anzahl dahingemäht werden? Ein Schau-
spiel, das ebensowohl Staunen wie Trauer erweckt.«
In Frankreich
ist nach Originalbriefen — von und nach der Front — , die das
Wolffsche Bürro veröffentlicht, die Stimmung so:
». . , Wir wünschen sehnlichst das Ende des Krieges herbei;
ich bin schon seiner überdrüssig und ich glaube, Kameraden zu haben,
die ebenso denken wie ich ... .«
». . . Du sagst mir, daß wir 1200 Gefangene gemacht haben, die
Zeitungen hätten es gebracht; aber was sie nicht gesagt haben, ist,
daß die Boches ihrerseits 1800 der Unserigen zu Gefangenen gemacht
haben .... Ich frage mich, wie das enden wird. Jedermann leidet und
hat dieses traurige Dasein satt . . . .«
85 —
». . . Wir haben schwere Verluste .... Ich gäbe alles mögliche
darum, um von hier wegzukommen . . . .*
y. . . Meine Liebe, wenn Du wüßtest, welches Blutbad zurzeit
hier angerichtet wirdi .... Wie es hier zugeht! .... Man sagt wohl,
daß man mutig sein soll; ich bin es ja auch, aber manchmal verläßt
uns doch der Mut, wenn wir so viele Kameraden unter dem Maschinen-
gewehrfeuer fallen sehen .... Ich sehe jetzt, daß unsere Offiziere unseren
Tod wollen. Diese Angriffe sind tatsächlich unnütz und ich sehe nun
schießlich. ein, daß unsere Offiziere unsere Feinde sind . . . .<
». . . Es ist doch traurig, daß sich das arme Volk so hinrichten und
hinschlachten lassen muß, bloß um einigen Dutzend Dickköpfen Spaß zu
machen. Sie sind die einzig Schuldigen; sie würden es verdienen, ver-
nichtet zu werden, und nicht das Volk, welches nur Frieden und seine
Ruhe verlangt . . . .«
». . . Unser moralisches und materielles Leben liegt in den
Händen von Verbrechern. Du kannst dir wohl denken, daß sie von den
Greueltaten, die sie verbrechen, nichts erzählen. In den Zeitungen liest
man doch nur Lügen . . . .«
». . . Mir scheint, es soll dieser Krieg keine Ende nehmen .... Ich
glaube, wenn der Krieg noch lange dauern sollte, weiß Gott, es würde
keine Soldaten mehr geben. Was täglich fällt, das ist entsetzlich . . . .«
». . . Immer länger und länger wird die Liste, ich glaube, der Krieg
wird aus Mangel an Kämpfern aufhören . . . .<
». . . Wieder ist Allerheiligen und ich habe noch keine Handvoll
Getreide gesät .... Wie oft hatten Allerheiligen viele die Aussaat
beendet. Man verreckt oder schuftet bis zum Ende dieses verfluchten,
Krieges, der so unzählig viele in Kummer und Trauer stürzt und gar
manche Familie ins Elend für immer . . . .«
». . . Alles ist ausgehoben .... Wenn das noch lange dauert,
frage ich mich, was aus uns werden soll . . . .«
». . . Diese jungen achtzehnjährigen Leute unter den Fahnen zu
sehen, das bedeutet den Ruin der Welt und vor allem der Heimat.
Dieser Mangel an Arbeitshänden bewirkt für die Zurückbleibenden eine
große Teuerung .... Viele Güter, die kein Kapital haben, lassen sie
einfach brach liegen .... Ich fürchte, im nächsten Jahre wird es noch
schlimmer werden . . . .«
». . . Ich werfe nur einen Blick auf die amtlichen Kriegsdepeschen,
wie gewöhnlich jeden Abend. Marie fragte mich, was es Neues gebe,
und ob die Zeitung immer wieder diese berühmten Lügen bringe. Voll
Zorn nahm sie mir dieselbe weg und warf sie in den Ofen, indem sie
zu mir sagte, daß dies für die Blöden gut wäre. In der Tat glaubt
man den Zeitungen nichts mehr, wenn man die Soldaten aus den
Schützengräben hat erzählen hören. Sie sagen die volle Wahrheit und
sind glaubwürdig, aber das Papier läßt sich ruhig bedrucken. . . .«
». . . O daß dieser Krieg doch schnell zu Ende ginge! Es ist
jetzt genug . . . .«
— 86 -
». . . Man ersehnt nur die glücklichen Tage der Befreiung, wo man
sieb in guter Gesundheit wiedersehen kann, und es ist zu wünschen,
daß dieser schreckliche Krieg, der uns so viele Tränen verursacht, so
schnell als möglich zu Ende gehe . . . .<
». . . Wenn doch nur das Ende dieses Krieges käme I Denn ihr
müßt doch jetzt sehr müde sein und ihr habt schon so viele Leiden
ausgestanden seit so langer Zeit. Es wird gewiß noch viel mehr Kranke
geben als Tote. Wir ersehnen lebhaft das Ende dieses Alpdruckes . . . .«
Bei uns ist es so!
(Alpenglühen im Semmeringgebiet.) Der letzte Sonntag zählte zu
den schönsten, welchen die Wiener Touristen seit langem im Semmering-
gebiet erlebt haben. ... Ein prachtvoller blauer Himmel wölbte sich
über den Bergen, die in fleckenlosem Weiß dalagen, Übergossen von den
Strahlen der warmen Frühjahrssonne, die das Quecksilber in der Mittags-
stunde auf dem Sonnwendstein bis 15 Grad Wärme hinauftrieb. . . . Auf allen
Höhen und Hängen tummelten sich Ausflügler und die Sportsleute
fanden wieder einmal voll ihre Rechnung. In die gehobene
Stimmung kam dann eine weitere Steigerung, als das Telephon
aus Wien die Freudennachricht vom Falle Durazzos und
von den weiteren glänzenden Erfolgen der Deutschen vor
Verdun brachte. Diese Mitteilungen weckten natürlich großen
Jubel und waren der allgemeine Gesprächsstoff. Den Brenn-
punkt des bunten Treibens bildete wie immer die Tetrasse des
Südbahnhotels, auf der sich jung und alt, groß und klein
versammelte, um das prachtvolle Gebirgsbild zu genießen, das die
Aussicht auf Rax, Schneeberg und Sonnwendstein darbot. Es ist dies
ein Fernblick, der wahrhaftig mit den schönsten Schweizer Aussichten
erfolgreich zu konkurrieren vermag. Bei Sonnenuntergang gab es dann
eine neue Überraschung für das Publikum. Der Abend
schloß nämlich mit einer grandiosen Höhenbeleuchtung,
wie sie gleich prächtig nur die Natur zu inszenieren vermag — mit
einem Alpenglühn, wie es klare Sommerabende im Hochgebirge hervor-
zubringen pflegen. Alle Berge waren von den Strahlen der scheidenden
Sonne in herrliches Purpurrot getaucht und die Berge wetteiferten
an Farbenpracht und Schönheit. Lange blieb die Gesellschaft auf
der Terrasse des Südbahnhotels versammelt, um das unvergeßlich schöne
Naturschauspiel zu genießen. Der Stimmung der Anwesenden entsprach
es, als eine Touristin mit tiefer Empfindung die Worte
Heines rezitierte:
— 87
»Schaust du diese Bergesgipfel,
Aus der Fern', so strahlen sie
Wie geschmückt mit Oold und Purpur
Fürstlich stolz im Sonnenglanze.«
Die Sprecherin erntete reichen Beifall. Die Getreuen des
Semmerings blieben noch lange in stiller Betrachtung beisammen,
und unwillkürlich drängte sich ihnen der Gedanke auf, ^daß
die Natur diese herrliche Illumination der Bergspitzen zu
Ehren der Erstürmung der Hauptstadt Albaniens inszenierte,
um den Siegern ihre Reverenz zu machen. Unter den Besuchern
des Semmeringgebietes vom letzten Sonntag bemerkte man unter andern
nachstehende unbedingte Verehrer desselben: (folgen dreizehn
und zwei Gemahlinnen) — — — — — —
sowie Hofrat Deutsch, den erfolgreichsten und unermüdlichsten
Bergsteiger und eminenten Distanzgeher im Semmeringgebiet, von dem
ein gleichfalls der Gesellschaft angehörender Humorist behauptet, er
nütze die Zeit am Semmering so gewissenhaft aus, daß er auch Ver-
spätungen der Südbahnzüge ins Kalkül ziehe, und falls diese Verspätungen
es halbwegs gestatten, sogar zu Wiederholungen von Ausflügen
auf den Sonnwendstein im Schritt, Trab oder, wenn die Zeit
drängt, im Galopp benützt. Für die Genauigkeit seiner Berechnungen
und seiner touristischen Meisterschaft sprichtes, daß er den sogenannten
>Tarockzug< noch nie versäumt hat.
So ist es bei uns ! Du gerechter Gott im Himmel, weißt
du das? Bietet es sich auch dir, das Panorama, uns bietet es sich,
wie es diese in -allem Erden leid unveränderte Gegend noch nie
geboten hat. Auf der Semmeringterrasse, du hast Blitze und
schleuderst sie nicht, auf der Semmeringterrasse — wo es sich,
weil für die Siriusbewohner ein Spuckverbot erlassen wurde,
auch noch im Jahre 1916 wohl sein läßt — dort haben wir es
erlebt. Die Durchhalter sind vollzählig, schwarz und rosenrot,
Schakale und Hyänen, vom Hunger genährt, einverständigen
Blicks, daß ihnen das Blut der Welt gut angeschlagen hat, jeder
ist sich selbst der nächste und herausragen die Spitzen.
Man bemerkt die Spitzen und die Spitzen bemerken die Gipfel. Die
Natur ächzt, ihnen zu dienen, und tut es doch, denn es ward zu
den Bäumen gesagt, daß sie sich zusammennähmen, auf daß sie
den Semmeringbesuchern eine Freude wären, wenn sie kommen,
zu genießen. Berge wetteifern, ihnen zu ifnponieren, der Himmel
produziert sich, die Sonne taucht unter wie noch nie, damit ein
erstklassiges Alpenglühen das Antlitz des Verwaltungsrats über-
glänze. Laßt es uns von dort holen und zusehen, ob nicht
besser sei, im finstern Grab zu liegen, als den letzten Sonnenstrahl
aus solchem Prisma zu empfangen. Irgendwo ruhen Sieger auf
Stroh und die Natur macht ihre Reverenz den Nehmern. In stiller
Betrachtung scheint sie vor ihnen versunken. Ihr Tagewerk verklärt sie,
der Magen verrichtet das Abendgebet. Vergiftete Gase gehen von
ihnen aus, die Unschuldigen zu töten, und sie selbst haben
noch die Geistesgegenwart, zum Telephon zu stürzen, um es zu
erfahren, jetzt wissen sie, der Gedanke drängt sich ihnen auf,
unwillkürlich: der Kosmos hat sie gern, er hat diesmal wegen
Durazzo illuminiert, also indirekt für sie. So kommen sie doppelt
auf ihre Rechnung, mit dem Schnee und mit dem Export, und
es ist der feierliche Moment eingetreten, wo die Pflicht jeden
Mann an seinen Posten ruft und die große Heerschau über die
unbedingten Semmering-Verehrer beginnt, über die Getreuen,
jung und alt, groß und klein. Wo ist Deutsch? — Bittich schrei
nicht, Stukart hört — Habts ihr gehört von Durazzo, Kleinigkeit —
Das Panorama war fabelhaft — Begierig bin ich, ob er heut
zurecht kommt — Nutzt nix, Heine ist und bleibt der größte
deutsche Dichter und wenn sie zerspringen — Ich hab den Sektionschef
gegrüßt, er hat auch gegrüßt — Sie wern sehn, er wird in den
Annalen fortleben — Am Sonnwendstein will er herauf hat er gesagt —
Nicht wern sie Verdun bekommen! — Sind Sie eigentlich
ein starker Esser? Ich bin nämlich ein starker Esser —
Das Panorama war fabelhaft — Ich sag dir, im Schritt, er hat
Zeit — Die Verluste müssen gesalzen sein — Der muß auch
hübsch verdienen — Wie sie das deklamiert hat, war ich effektiv
begeistert — Wetten, er kommt heut im Trab — Der Dokter hat
gesagt, unten steht es glänzend — Ich hätt noch drei Waggons —
Wie er sich getauft hat, hat sie sich geschieden — Heut ver-
säumt er aber ja, sag ich euch — Wenn ihr euch kugeln wollts,
müßts ihr in die Josefstadt — Was heißt Truppentransporte?
Der Tarockzug geht immer! — Das Panorama war fabelhaft —
Dorten kommt er gelaufen, was hab ich gesagt. Deutsch
im Galopp!
— 89
's gibt nur an Durchhalter!
Zu den grauslichsten Begleiterscheinungen des Durchhalten^,
als wär's kein Leiden, sondern eine Passion, gehört dessen tägliche
Feststellung, Belobigung und behagliche Beschreibung. Wie der
Wiener schon in Friedenszeiten davon durchdrungen war, daß er
ein Wiener ist, sich das täglich zum Frühstück und zur Jause nicht
nur selbst ins Ohr sagte, sondern es auch zweimal in der Zeitung
zu lesen bekam, und in einer Art, daß wenn ihm erzählt werden
sollte, viele Leute seien auf dem Stefansplatz herumgestanden,
ihm statt dessen gesagt wurde, es seien viele Wiener gewesen — so
wird in der Zeit der schweren Not keinem das Durchhalten so
leicht gemacht wie dem Wiener, denn keiner trifft es so leicht wie
der Wiener, weil er eben vor allem ein Wiener ist und wiewohl
der Wiener nicht nur Bedürfnisse hat wie ein anderer, sondern auch
speziell als Wiener einen speziellen Gusto auf Spezialitäten, diese
Triebe doch spielend zu unterdrücken vermag, indem er eben ein
Wiener ist und deshalb also natürlich auch zu seinem Kaffee, den er
nicht bekommt, Hab' die Ehre sagt und wenn er schon nicht seine
Kaisersemmel dazu hat, so doch seinen Humor hat, mit dem er sich
jederzeit nicht nur über die Teuerung, sondern auch über den
Mangel leger hinwegsetzen kann und mit dem er erforderlichen-
falls sogar ein Zigarettl, das er nicht kriegt, sich anzuzünden ver-
mag, so fesch wie es außer ihm auf der weitea Erde eben nur
er kann, der Wiener,
Wie die Beziehung des Wieners zur Natur sich in einer
fortwährenden Berufung auf die »Anlagen« ausspricht, so ist die Be-
ziehung des Wieners zum Leben eine unerschöpfliche Auseinander-
setzung mit den Viktualien, und es muß einen tiefen Grund haben,
daß jene häufige Redensart, durch die der Wiener dem Ernst einer
Situation gerecht werden will, den keine Illusion übriglassenden
Wortlaut hat: »Da gibts keine Wurschteln!« Anstatt sich nun mit
dieser Tatsache im gegebenen Zeitpunkt abzufinden, läßt sich der
Wiener jetzt unaufhörlich versichern, wie vortrefflich erdie Wurschteln
zu entbehren verstehe und daß es direkt ein Hochgenuß sei, auf
— 90
sie zu verzichten — eine Wiener Spezialität, ein Gustostückl,
vom Schicksal eigens für den Wiener reserviert. Nicht nur davon
überzeugt, daß ihn die Schöpfung als ihren eigentlichen Zweck
beabsichtigt habe und daß der Stcphansturm annähernd Sitz und
Mittelpunkt der Verwaltung des Kosmos sei, ist es ihm gelungen, den
Glauben, daß es nur eine Kaiserstadt, nur ein Wien gebe — einen
ähnlichen Hinweis hat bekanntlich unlängst der englische Zensor
nach Deutschland mit einem >Gottseidank« durchgehen lassen — ,
daß es nur eine Fürschtin gebe, die Metternich Paulin, in einer
Art sangbar zu machen, daß es für ihn auf der Welt nur a
Kaiserstadt, nur a Wien und nur a Fürschtin zu geben scheint,
und durch den gerechten Zufall eines schlechtgebauten Couplets
hat er sich des Unvermögens schuldig bekannt, nichts sonst zu
sehen, wo immer er hinkommen mag, als eben diese ihm vertrauten
Erscheinungen. Wien in jeder Stadt suchend, war er ungehalten,
wenn er es nicht wiedererkannte, fuhr nach Paris, um »auf ein
Rindfleisch« zu Spieß ins Restaurant Viennois zu gehen, verglich
es undankbar mit dem von Meißl & Schadn, und kehrte an Selbst-
bewußtsein bereichert zurück. Wie der Deutsche, ohne auf besondere
Wünsche des Berliners dabei Rücksicht zu nehmen, sich in jeder
Lebenslage einen Deutschen nennt und auch vor Leuten, die nie
daran gezweifelt, ja es auf den ersten Blick selbst bemerkt
haben, so muß der Wiener nicht erst vor einem Spiegel stehen,
um sich als Wiener zu erkennen. Man mag aber zugeben,
daß der Deutsche in der Verwendung der Methode, sich
aus sich selbst zu definieren, sparsam ist im Vergleich mit
dem verschwenderischen Wiener, der seit einigen Jahrzehnten
nicht müde wird, sein Gemüt sowohl wie sein Gemüse, seinen
Schick sowohl wie seinen Schan als spezifisch wienerisch zu
bezeichnen, und sehr wohl imstande wäre, bei der Ausfertigung
eines Reisepasses, der ihn heute zwar nicht in Konflikt mit der Welt
bringen kann, darauf zu dringen, daß sein Geburtsort zugleich als be-
sonderes Kennzeichen notiert werde. Denn es gibt wohl kaum einen
Wiener, der nicht felsenfest darauf bauen würde, daß er ein apartes
Blut mitbekommen habe. Das wäre freilich noch keine Überhebung,
sondern nur eine ethnologische Behauptung, die sich am Ende sogar
beweisen ließe. Das Bedenkliche aber ist, daß er von sich überzeugt
91
ist, daß überhaupt n u r er ein Blut bekommen habe und kein anderer,
denn er wäre wohl peinlich überrascht, wenn er eines Tages hörte,
n den russischen Zeitungen sei jetzt etwas von einem feschen
Petersburger Blut zu lesen. Und mit ihm wäre die ganze Welt
entaunt, denn es ist Tatsache, daß so etwas noch nie vorgekommen
ist. Es kommt eben nur in Wien vor, wo Leute, die daselbst
schon 50 Jahre und mehr ansässig sind und längst nicht mehr
ihre Zuständigkeit beweisen müssen, in der Zeitung plötzlich als
>Wieier« agnosziert werden, während man doch noch nie gelesen
hat, diß zur Begrüßung des Königs von Schweden sich ein Spalier
von zaHlosen Stockholmern gebildet habe. Höchstens die Schweizer
noch hiben diese Ehrlichkeit, ohne Umschweife sich selbst als
»Schweizerbürger« anzusprechen, wobei aber mehr die Anständigkeit,
sich an enen einmal geleisteten Eid öfter zu erinnern, mitspielt, als
die Selbstgefälligkeit einer unverantwortlichen Gegenwart. Auch sind
die Schweizer die unvergleichlich besseren Hoteliers, die nicht so unge-
schicktwären, Ausländer durch eine lästige Hervorhebung der eigenen
Vorzüge vor den Kopf zu stoßen, während die Wiener den Fremden-
verkehr, zu dem sie einen unglücklichen Hang haben, um jeden
Preis heben wollen, ohne zugleich ihre Einrichtungen zu heben,
deren Attraktion sie gerade darin erblicken, daß sie um ihrer
selbst willen geschätzt werden müssen, weil sie eben spezifisch
wienerisch sind.
DiesesMonopol des Wieners auf Einzigartigkeit in allen Lebens-
lagen, und nun sogar im Verzicht auf die Lebensgüter zu verteidigen
und tagtäglich zu stützen, dazu hat vorzüglich die israelitische
Presse einen Tonfall, dessen Überredungskraft es nicht nur gelungen
ist, einen Menschenschlag, der einst an der noblen und welt-
sinnigen Lebensführung des Vormärz wie kein anderer teilnahm,
kulturell einzukreisen, sondern ihm auch unter täglicher Entschädi-
gung durch eine ekelhafte Liebedienerei einzureden, das Gegenteil
sei der Fall und der Wiener habe vor dem allgemeinen Fortschritt,
nämlich dem, der mit der Eisenbahn die Menschen weiterbringt, noch
seine besondere »Note« voraus, weil er eben trotz der Fähigkeit, sich der
Eisenbahn zu bedienen, doch mit Leib und Seele ein Wiener ge-
blieben sei. Wie er jetzt nur auf die Seele angewiesen ist, um diese
Eigenschaft zu betätigen, wie er ohne Fett selbstlos geworden ist.
92
das hören wir jetzt von Tag zu Tag bestätigt und gepriesen,
und der Wiener fühlt sich, gebildet wie er ist, besonders
geschmeichelt, wenn ihm sein Entbehrungsschmock nun ver^
sichert, daß er über alles Erwarten, nein mehr: wie man nicht
anders von ihm erwarten konnte, und akkurat wie es bei ihn
vorauszusehen war, die Opfer, die man von ihm eigentlich nicht
verlangen dürfte, deshalb bringt, weil sie von ihm »geheischt« werc'en.
Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man erst aus-
drücklich betonen, daß die Schadenfreude unserer Gegner siel der
bestimmten Erwartung hingab, der Aushungerungs- und Erschöjlungs-
krieg werde den als leichtlebig und genußsüchtig verschrienen Wiener
als das erste Opfer zur Strecke liefern. Diese Hoffnung ist, wie
wir alle wissen, gründlich vereitelt worden. Wien hat sich mit heiterer
Unbefangenheit in alle Entbehrungen zu schicken gewußt, die der
Krieg mit sich brachte. Nach einigen leicht begreiflichen Unsiiherheiten
schwenkte die ganze Bevölkerung mit einer Sicherkeit und
Promptheit, die auch unseren preußischen Bundesbrüdern
Ehre gemacht hätte, in das System der Reglements und Verordnungen
ein, die den Verbrauch der notwendigen Nahrungsmittel regelten. Die
Brotkarte ist ebenso eine Selbstverständlichkeit geworden, wie die
fleischlosen Tage. Ohne jede Sentimentalität gedenken wir des
Wiener Gebäcks.
Freilich könnte die gute Laune noch gehoben werden, wenn
man Eulen, die vielleicht ganz schmackhaft sind, statt immer nur
nach Athen, wo man an einem embarras de richesse zugrunde
geht, zur Abwechslung einmal nach Wien tragen wollte, und die
Frage, ob die preußischen Bundesbrüder, auf die beim Ein-
schwenken geschaut wurde, es nicht doch noch besser getroffen
haben, da sie's ja gleichzeitig üben mußten, bleibe unentschieden.
Aber es läßt sich nicht leugnen, die Zeiten, wo einem das
Herz aufging, wenn es einem Guglhupf geschah, sind vorbei,
und auch in Bezug auf das Rindfleisch ist der Wiener aus
einem Epikuräer ein Stoiker geworden. Und ich bin Zyniker
genug, es zu beweisen :
Wir haben die liebevoll gehätschelten Idiosynkrasien des Wiener
Geschmacks abgelegt, uns zum Schöpsernen und sogar zum Seefisch
bekehrt. Fallen sehen wir Zweig auf Zweig! Nach dem mit ver-
schwenderischer Auswahl auf den Tisch gestellten Gebäckkörbchen
verschwanden die Kaisersemmel, das Salzstangel und das mürbe Gebäck. .
Wir haben die Maisperiode mit klassischem Stoizismus übertaucht
93
und fühlen uns magenkräftig genug, eine neue Maiszelt mit der Hoffnung
auf Wandel zu überstehen.
Man beachte die nur scheinbar scherzhafte, im Innern
— oder muß man jetzt > Innerei« sagen — ganz ernsthafte Ver-
wendung der religiös-philosophischen Sphäre. Der Mangel an
Schweinernem ist Zuwag an Seelischem. Es gibt noch andere krieg-
führende Völker, aber keinem trägt das brave Durchhalten eine so
gute Sittennote ein wie dem Wiener, dessen Reife nicht nur in der
Entsagung, sondern auch in der heitern Würde, mit der sie sich
vollzieht und die beinahe an die Seelengröße des in den Tod
gehenden Sokrates hinanreicht, von allen Historikern bemerkt
wird. »Ohne Deklamation, ohne Ruhmredigkeiten« haben die
Wiener, nach der Versicherung des Herrn Saiten, auf den Jausen-
kaffee verzichtet. Bitte — könnte ein Wiener einem Londoner
einmal vorhalten — haben Sie damals kein Weißgebäck gehabt?
No alstern, nacher reden S' nix! Heute aber beißt er die Zähne
zusammen und schweigt. Denn so dulden kann nur er:
Nicht einmal das Wort Patriotismus wird um dieser Dinge willen
bemüht. Man nimmt sie einfach hin, richtet sich danach ein und spricht
nicht darüber.
Nur täglich bißl in den Zeitungen. Eine »Haltung, die in ihrer
gleichmäßigen Ruhe wie in ihrer Würde bewundernswert und,
nebenbei, ergreifend ist«, rühmt jener Saiten den Wienern nach.
Natürlich redet man vom Krieg, wo zwei Menschen beisammen
sind, allein Gespräche über Mehl, Butter, Milch und ähnliche
Dringlichkeiten gibt es fast gar nicht. Wollte jemand in Gesell-
schaft oder sonstwo feierlich erklären: wir müssen durchhalten! ... er
würde dem gleichen kühlen Schweigen begegnen, wie ein effekt-
haschender Schauspieler. Denn das Durchhalten ist selbstverständlich, es
wird einfach geschafft. Aber man liebt es nicht, daß darüber mit
Pathos geredet wird. . . .
Vielleicht unter jenen, die Hunger haben. Aber nicht unter
den Armeelieferanten und Kriegsreportern, also in der Gesellschaft.
Eine Wiener Eigenschaft hat sich übrigens auch während des
Krieges nicht verändert. Sie stellen ihr Licht noch immer ge-
flissentlich hinter den Scheffel und nennen das: Diskretion.
Sie nennen es Diskretion und machen draus ein Feuilleton.
Der Wiener tut seine Pflicht, aber er sagt nicht, daß er seine
94
Pflicht tut, sondern er »agt, daß er nicht sagt, daß er seine Pflicht
tut — wer sagt, daß er nicht seine Pflicht tut? >Mit
humorvollem Lächeln« verstehe man hier, so heißt es, Lasten
zu tragen, man mache aber >kein Reklamegeschrei«. Nun, wenn
einer in alle Welt hiiiausruft, daß er ein großer Schweiger sei,
so hat die Welt allen Grund, es zu bezweifeln. Und vielleicht
auch, ob er wirklich tue, wovon er so lärmend zu schweigen versteht.
Aber die Welt täte dem Wiener Unrecht. Er duldet nicht nur, er
duldet nicht nur still, sondern so dulden und so still dulden, mit
einem Wort so schön dulden, das kann nur er. Schauen wir
uns um in unserm Weltblatt weit und breit, ob's einer dem
Wiener nachmacht! Wenn in Petersburg die Musik abgeschafft
und die Speisekarte geändert wird, so ist es, ganz abgesehen
von solchen Symptomen des Zerfalls, ein »Tändeln mit dem
Krieg« und beileibe »kein Zeichen innerer Teilnahme, zu der
die Genußmenschen in Petersburg gar nicht fähig sind«. Wie
anders der Wiener. In dem Bewußtsein, daß er ein Wiener ist
und daß ihm mit Rücksicht auf diesen Umstand nichts Ärgeres
geschehen kann, benimmt er sich auch danach, hält er die
paar selbstlosen Tage in der Woche und schweigt. Gibts keine
Wurschteln, so hat er doch noch seine Extrawurst. Es ist
schwer genug ein Licht zu haben, wenn Not an Kerzen ist,
und es noch unter den Scheffel zu stellen, in dem kein Getreide
ist. Aber man tut's, man lebt weiter, man schafft's, und schafft
man's nicht, so wird's einem geschafft. So ist der Wiener.
Und weil es seine Haupteigenschaft ist, ein Wiener zu sein,
so kann er sie nun bewähren wie nie zuvor, so daß er auch
jetzt noch etwas vor der Welt voraushat, nämlich : ein
Durch und Durchhalter zu sein.
95
Shakespeare und die Berliner
»Max Reinhardt brachte im Deutschen Theater
den .Macbeth' zur Aufführung. ... Die Regie
hatte mit ihren Künsten nicht gespart. . . .
Beispielsweise war auf der Bühne eine Drei-
teilung geschaffen, bei der dem Mittelstreifen eine
Art symbolischer Bedeutung zugewiesen war.
Das Hauptthema, über welches die Regie ihre
Variationen spielte, war das Blut. Farben und
Beleuchtung waren auf Blut gestimmt, und als
das Ehepaar Macbeth den Mordplan ausheckte,
umringelten den Hals der beiden blutrote
Streifen, die von einem Beleuchtungs-
apparat projiziert wurden. Ein blutbe-
/ fleckter Vorhang ging herunter, als der Mord
ausgeführt war. . . .«
Die Frage, wann der Herr Reinhardt, nicht aus
irgendeinem Bühnenverein, sondern aus jedem besseren
Wohnzimmer ausscheiden werde, ist im Weltlcrieg
leider nicht aktuell. Bis zum Weltkrieg war sie es
auch nicht, denn sonst wäre er nicht entstanden. Der
Zusammenhang ist klar. Wie es mit den geistigen
Aussichten einer Nation bestellt sei, deren Ludimagister
von einem verirrten Bankprokuristen dargestellt wird
und deren Hochadel auf den Privatbällen des zum
Diktator aufgedunsenen Theaterhändlers die Komparserie
stellt, das konnte bloß dem politischen Blick ver-
borgen bleiben. Daß die deutsche Botschafterin aus
London in solchem Milieu sich sowohl dramatisch wie
gesellschaftlich bewegt, ist ein Symbol, das sich einer
Dichterin erschließen könnte, wenn sie ein Dichter
wäre. Aber in dieser mechanischen Wunderwelt,
die in ihrer ganzen Auflage ein Generalanzeiger
des Weltuntergangs ist, grast die Fürstin neben
dem Literaten, und wo kein Gras mehr wächst,
gibt es doch jene echte Sommernachtstraumwiese,
— 96 —
täglich frisch aus der Natur gerupft, durch die Herr
Reinhardt sich längst schon um Shakespeare verdient
gemacht hat. Es besteht eine Beziehung zwischen den
lebendigen Versatzstücken des neudeutschen Theaters
und den Surrogaten des neudeutschen Lebens, das um
einen Fleischersatz so wenig je verlegen wird wie um
eine Stellvertretung des Geistes, und dessen Wissen-
schaft im Bedarfsfall auch für Homunculus-Reserven
sorgen wird. Diese Lebensrichtung hat einen philo-
sophischen Anhalt, Es ist der Bocksbart des Herrn
Shaw, des unermüdlichen Schalksnarren, dessen Weis-
heit dem Geist paradox gegenübersteht und dessen
Dienste kein Shakespeare'scher König auch nur eine
Stunde lang in Anspruch genommen hätte. Mit dem
von Fall zu Fall herübergerufenen Tröste, daß seine
Landsleute die wahre Handelsnation seien, gehört er
ganz in den Wurstkessel einer Kultur, in deren
heilloser, von Reinhardt'schen Hexen zubereiteter
Mischung demnächst der Gedanke entstehen mag,
mit Bomben erfolgreich belegte Brötchen zu erzeugen.
Dieser gut ins Englische übersetzte Trebitsch hat neulich
den Einfall gehabt, die Würdigkeit, Shakespeares
300. Todestag zu feiern, den Berlinern zuzusprechen. Sie
haben sich das nicht zweimal sagen lassen und, m. w.,
auf den Hals Macbeths blutrote Streifen projiziert.
Die Engländer, neidig wie sie sind, glaubten in diesem
Warenzeichen jenes bekannte made in Germany zu
erkennen, das so lange die englische Provenienz vor-
getäuscht hat, ehe es sich zum ehrlichen deutschen
Ursprung bekennen mußte. Aber jetzt hat sich auch auf der
deutschen Szene, wo man in besseren Zeiten bekanntlich
oft mit Wasser gekocht hat, die Erkenntnis durchgesetzt,
daß Blut dicker sei. Dekorativ soll se wirken. Das ist nicht
so wie bei armen Leuten. Ehedem sind bloß Helden
aufgetreten, denen das Wort des Dichters aus dem Hals
kam, ohne daß dieser selbst Spuren der dramatischen
Absicht verraten hätte. Traten sie von der Szene, so fiel ein
97
Vorhang, auf dem nichts zu sehen war als eine Land-
schaft mit einer Göttin, die eine Lyra in der Hand
hielt, und dennoch war der Zwischenakt voll des
Grauens über Macbeths Tat. Herr Reinhardt hat zwar
nicht die Kühnheit, die Shakespeare'schen Akteure
wie die Offenbachs geradezu durch das Parkett
auftreten zu lassen, um jeden einzelnen Kommerzienrat
von dem bevorstehenden Mord zu avisieren, aber er
läßt immerhin — der intelligentere Teil von Berlin MW
wird's schon merken — einen blutbefleckten Vorhang
niedergehen, auf daß der erschütterte Goldberger seiner
Mitgenießerin die Worte zuflüstere: »Kolossal, paß mal
auf, Trude, jetzt wirste sehn, wie Machbet den Schlaf
mordet!« Die Berliner allein sind würdig, Shakespeare
zu feiern; wenn sie ihn aufführen, ist er zum drei-
hundertsten Mal gestorben. »Mir wars, als hört' ich
rufen: Schlaft nicht mehr. Reinhardt mordet den
Shakespeare, den heil'gen Shakespeare, den stärksten
Nährer bei des Lebens Fest — Es rief im ganzen Hause :
Schlaft nicht mehr. . .« Solche Avisos und Lichtsignale
dem feindlichen Verständnis zu geben, solcher Einfall,
den Teufel, den das Völkchen nicht spürt, wenn er sie
schon am Kragen hat, an die Wand zu malen, ist gewiß
praktisch gegenüber einer Zeitgenossenschaft, deren
Phantasie von einem rechtschaffenen Theatervorhang
nichts weiter als eine gediegene Fußwohl-Annonce
erwartet. Wie war doch stets und in jedem Belang die
Bühne ein Wertmesser der Lebenskräfte ! Die unheim-
liche Identität der Aufmachung eines Reinhardt mit
der Regie des jetzt wirklich vergossenen Blutes ist
keineswegs zu übersehen. Schöpfen nicht beide aus
Quantität und Technik, aus Komparserie und Mache
den Gedanken? Und nicht ganz ohne Bedeutung dürfte
es sein, daß der Schauspieler, solange er noch Vagabund,
Jongleur und Persönlichkeit war, von der guten
Gesellschaft gemieden wurde, aber der geschminkte
Kommis von heute ihr von seinem Triumphsitz
— 98 —
Gnaden austeilt. Nein, dies alles ist nur ein Druckfehler
der Weltgeschichte, dort wo sie vom Sieg des
iudogermanischen Geistes handelt. Nein, es wäre zu schön,
wenn wir mit Anstand eines Morgens aus diesem Angst-
traum erwachten und sich herausstellte, daß das
Ganze nur die Illusion eines Theaterabends war, und
in Wahrheit werde vor einem endlich ernüchterten,
endlich begeisterten Publikum auf der deutschen
Bühne ein echtes Blutbad veranstaltet, und das viele
Blut in der Welt war nur von einem Beleuchtungs-
apparat projiziert.
Zum ewigen Gedächtnis
Zwei Ergebnisse
»Abends auf Feldwache 1 in
dem Schützengraben. Ich werde
bestimmt als Horchposten im Draht-
verhau vor dem Schützengraben. Da
sitze ich von 8 bis 12 Uhr nachts
in meinem Erdloch und spähe gegen
den Feind. DieNachtist mondschein-
klar und mild. Es ist ruhig. Man hört
graben und schaufeln auf Seite der
Franzosen, hastiges Fahren von Auto-
mobilen und Wagen, auch einzelne
stimmen. Ich mache mir klar, was
ich zu tun habe, wenn feindliches
Artilleriefeuer einsetzt, wenn ich
feindliche Stimmen höre, wenn feind-
liche Patrouillen bis an den Draht-
verhau herankommen. In allen
Fällen komme ich zu dem Ergeb-
nis, daß mein Leben gefährdet
ist. Ich bemühe mich, mir vorzu-
stellen, daß der Tod nichts Furcht-
bares ist. Mein Wachtdienst verläuft
indes ohne besondere Zwischenfälle.
Um 12 Uhr nachts muß ich noch zum
Schaufeln in den Schützengraben in
die Nähe des Unterofflziersposten-
Das chemische Untersuchungs-
amt der Stadt Düren (Rheinland),
dem auch die Kreise Düren,
Erkelenz, Jülich und Schieiden
angeschlossen sind, veröffentlicht
seinen Jahresbericht. Die Ergeb-
nisse derUntersuchung beweisen die
vielfache Übervorteilung des
Publikums, ja direkte Fälschungen
der Nahrungs- und Genußmittel. Be-
sonders war dies der Fall bei Waren,
die ausdrücklich >für unsere
Feldgrauen« angepriesen waren.
Ein Liter Milch, der aus Tabletten
kondensierter Milch hergestellt
war, stellte sich in einem Falle
auf 7-50 Mark. Ein Pfund Butter,
das in Tuben feldpostmäßig ver-
packt war, berechnete sich bei
Packungen vier verschiedener Fir-
men auf 5-88 bis 10-41 Mark.
99 —
Unterstandes und der Maschinen-
gewehrabteilung eines stark vor-
geschobenen Postens. Da plötzlich,
während ich im Graben stehe und
schaufle, ein unheimlichesSchwirren,
Pfeifen, Knallen, gleichzeitig der
Einschlag in der Nähe. Ich werfe
mich mit meiner Schaufel zu Boden
und stürze mit dem Knie auf das
Eisen. So urplötzlich und unwill-
kürlich ist der Drang, sich zu ducken
und zu decken. Es folgt ein furcht-
bares Bombardement auf un-
seren Flügel. Dreimal zwölf Schüsse
in schneller Folge. . . . Kaum bin ich
ausgetreten und habe mich über den
Rand des Schützengrabens hinaus-
gestellt, als mir in furchtbarer Nähe
eine Granate entgegenschlägt. Ich
sehe das blitzende Explodieren des
Einschlags und die aufsteigende
Rauchwolke im Mondenschein,
nehme Reißaus und fliehe in den
Unterstand zurück. Nun geht ein
ungeheures Granaten- und
Schrapnellfeuer unmittelbar
über unsere Feldwache hinweg.
Es wurden zweiundsiebzig
Schüsse gezählt. Die Balken
dröhnen in den Fugen, die Fenster-
scheiben klirren, das Licht flackert
wild. Ich war davon so lebhaft
erregt, daß ich die ganze Nacht
mich nicht schlafen gelegt, sondern
gelesen und gesonnen habe ....
Schweineschmalz war mit Baum-
woUsaatöl verfälscht. Ein Pfund Him-
beermarmelade in Tuben stellte sich
auf 5"33 Mark. Naturhonig war
vielfach nur Kunsthonig. Grog-
würfel Marke »Südrol« enthielten
0-5 Gramm Alkohol, ein Liter
Rum würde sich danach auf
95-75 Mark stellen. Bei »Rum-
granaten«, die für 1 Mark die
Schachtel verkauft wurden und nur
einen Kaffeelöffel Rum enthielten,
kostet der Liter Rum 80 Mark.
Kaffee war stark mit Sojabohnen ver-
fälscht. Im Idealkaffee »Marke
Pif< konnte Kaffee nicht
nachgewiesen werden. Marke
»Schützengraben« kostete 8
Mark, Tuti-Gusti-Kaffee, mei-
stens gemahlene Zichorien, 1042
Mark das Pfund, Marke »Unseren
Kriegern stets das Beste«
11-90 Mark, Drugies Kaffeeta-
bletten 10 Mark. Ein Pfund Tee stellt
sich bei Atrol-Tabletten auf 2604
Mark, bei Drugies Teetabletten auf
21-74 Mark, bei >Unseren Kriegern
stets das Beste« auf 25*75 Mark.
— 100
Weltwende
Das Schauspiel >Freier Dienst« von Leo
Feld, das derzeit am Deutschen Volkstheater
gegeben wird, ist soeben als Buch erschienen.
Es ist Conrad v, Hötzendorf mit folgenden
Worten zugeeignet: > Dieses Schauspiel ist aus
den großen Eindrücken des letzten Jahres er-
wachsen. Aus der dankerfüllten und stau-
nenden Ergriffenheit, mit der wir alle
dem unbesiegbaren Opfermut unseres Heeres
gefolgt sind. Aus einem Gefühl der Demut und
des Stolzes, wie wir es nie gekannt haben. Aus
dem Bewußtsein, daß eine neue Ordnung unserer
inneren Mächte der letzte und versöhnende
Gewinn dieser furchtbaren Tage sein muß.
Das ist unsere Zuversicht. Wie unablässige
Übung körperliche Kräfte erhält und steigert, so
muß die Unnachgiebigkeit dieses harten Jahres
alle sittlichen Kräfte der Pflichterfüllung und
Hingabe gehegt und vertieft haben. Es hat den
Menschen aus einsiedlerischer Beschaulichkeit
oder Armut erlöst und ihn das größte Glück
fühlen lassen, das uns gegönnt sein mag: opfer-
bereiten Dienst für ein höheres als es das
eigene Leben ist. Unser Heer ist uns die
Verkörperung dieses Geistes, Eure Exzellenz
sind uns das Symbol, das edle Beispiel dieses glor-
reichen Heeres. Indem ich mein bescheidenes
Werk, das nichts will, als das allgemeine
Gefühl dieser Tage in Worte fassen. Eurer
Exzellenz verehrungsvoll zueigne, weiß ich, daß
ich auch hierin nur einem Gefühl Ausdruck gebe,
das heute jeden Österreicher erfüllt. In Eurer
Exzellenz lieben wir das schlichte und lächelnde
Heldentum unserer Offiziere. <
In dieser Zeit der Weltwende, in der die
»Csardasfürstin« auf Monate ausverkauft ist und
alle Anzeichen dafür sprechen, daß mit dem Fenriswolf
noch ein kolossaler Rebbach zu machen sein wird,
geschieht jeden Augenblick leibhaftig, was bis
dahin aus dem Bereich des Unvorstellbaren nicht
einmal in die Region fiebriger Halbschlafgesichte
gerückt war. Zeichne allen Wurmfraß der Welt in das
101
Dunkel deines Schlafzimmers, und er wird zur
Hippokrene. Dann aber geh zu den Journalen, zu den
Plakaten, zu den Passanten, sieh mit Augen und höre
mit Ohren — so magst vor solcher Erfüllung des
Unerfüllbaren, vor dem Hexentanz der Kontraste, vor
dem Kopfstehen der Werte, vor solcher Heiligkeit des
Unrechts und dieser unfaßbaren Ergebung unter die
Tyrannei des Nichts du glauben, jetzt müsse doch gleich,
nein jetzt, aber jetzt ganz sicher werde ein Zeichen
am Himmel stehen, das den Ablauf der Zeit verkündet,
nicht zu mißdeutende Absage des Universums an einen
kompromittierten Planeten, der die Blutprobe so schlecht
bestanden hat! Welche Hoffnung hält uns? »Gott, wer
kann sagen : schlimmer kann's nicht werden ? 's ist
schlimmer nun, als je. Und kann noch schlimmer
gehn; 's ist nicht das Schlimmste, solang' man sagen
kann: dies ist das Schlimmste.« Wer noch eine ferne
Erinnerung an Menschenwürde gefühlt, wer Luftbomben
und Stinkgase nicht für den eigentlichen Sinn der
Schöpfung gehalten, wer daran gedacht hatte, daß es
Erdhöhlen, Wassergrab und Trommelfeuer gibt und
daß von rechtswegen jetzt jede Stunde mit dem letzten
Schlag von tausend unschuldigen Herzen durch die
Welt dröhnen müßte, der hatte hoffen können, solange
dieser Zustand andaure, wenigstens dem Leo Feld
nicht zu begegnen. Diese letzte Assoziation des sonst un-
entrinnbaren Feldlebens hatte man sich ersparen wollen.
Nicht war man darauf gefaßt, daß dieser Feld, dessen
einzige Beziehung zur vaterländischen Idee und zum
Kriegsgedanken das Opfer seines Namens war und die
Verstümmelung zu einem nom de guerre, sich aus einem
Hirschfeld gar zu einem Schlachtfeld entpuppen könnte.
Man hätte geglaubt, daß eine so unerbittliche Gegenwart,
wenn sie schon die Kraft habe, Armeelieferanten aus der
Erde zu stampfen, doch wenigstens auch die Energie
aufbringen werde, Literaten nicht aufkommen zu lassen
und so zu schrecken, daß sie sich aus einem durch-
sichtigen Pseudonym in das finsterste Inkognito zurück-
— 102 —
ziehen. Man hat das Gegenteil erlebt und die große Zeit
war zu klein, die Kriegsgreuel des Wortes zu fassen. Aber
auf den Leo Feld war man nicht vorbereitet! Von Blut
Tantiemen kriegen — daß solches geschehe, hat eine er-
barmungslose Untermenschheit geduldet. Daß sich unter
den Auspizien des Sternenhimmels eine Operette des
Namens: »Gold gab ich für Eisen« abspielen konnte, diese
Tatsache wird den Nachlebenden mehr über den Weltkrieg,
den wir gleichzeitig führten, zu denken geben als alle
GeschichtsbücherallerFriedjungs, die da kommen werden.
Daß an dem Tag, an dem vierzigtausend Söhne von
Müttern an elektrisiertem Draht gestorben sind, eben dies
im Zwischenakt von der Gerda Walde Smokinghemd-
brüsten vorgelesen und eben dafür der Viktor Leon
hervorgejubelt wurde, wird, wenn in Äonen noxh
ein Menschenherz geboren würde, ihm mehr über uns
sagen als die Taten selbst, die unser Erfindergeist
ermöglicht hatte. Mit dem Abscheu der Ahnung eines vor-
weltlichen Breis, aus dem einstens Menschenleiber,
Maschinen und Druckwerke nach Bedarf gebildet wurden,
als ob sie noch den Schleim und Aussatz an ihren Fingern
fühlte, wird die künftige Menschheit an die Betonperiode
zurückdenken, in der die gepanzerte Hinfälligkeit Gott
zum Narren gehalten hat. Da hoffe ich denn zuversichtlich,
daß das Drama des Leo Feld, wenn es einmal den
Weltkrieg überlebt hat, auch noch den Anschluß an
jene ferne Gelegenheit finden wird, die sich doch irgend
ergeben mag, um unsere sittliche und geistige Ver-
lassenschaft zu sichten. Ich persönlich kenne die
Dichtung nicht, denn ach die Zeiten sind vorbei, wo ich
das Leben vom frischen Quell einer Volkstheater-
premiere bezogen und noch nicht mit müdem Blick in der
papierenen Nacht gesucht habe. Ich spreche von
dieser Angelegenheit wie der Blinde von einer Farbe,
die ihn geblendet hat. Aber indem ich weiß, daß es
jetzt auch so viele Menschen gibt, die im Auftrag
eines für Exportinteressen tätigen Fatums das Augen-
licht hingeben mußten und darum nie mehr in der
— 103 —
Lage sein werden, zu sehen, was im Deutsciien Volks-
theater aufgeführt wird, so bescheide ich mich, und
wenn ich dann überdies höre, daß es ein Stück ist,
dessen Autor von einem Sturmangriff Prozente
bekommt, während ein darin auftretender polnischer
Jude gratis und aus purem Edelmut Spionage gegen
Rußland treibt, so habe ich doch einen gewissen Eindruck
und sage mir, daß Blut dicker ist als Schmalz, daß Rußland
wissen dürfte, warum es die Juden nicht in die Zivili-
sation läßt, und daß diese nur selbstlos sind, solange
sie Spionage und nicht bereits Literatur treiben. Der
»Freie Dienst« von Feld brauchte aber nichts zur
Repräsentation vor der Nachwelt als sein Geleitwort, diese
feierliche Ansprache, die ein vom Felddienst Freier
an den Generalstabschef zu halten so frei war.
Solche im Staat bloß als »Handlung gegen die
Kriegsmacht« qualifizierbare Demonstration geht
nämlich über die Grenzen des blutigen Faschings, den
die noch immer nicht gelangweiite Menschheit nun
schon durch zwei Spielzeiten tanzt. Es war nicht voraus-
zusehen, daß ein Armeebefehl des Herrn Leo Feld
kundgemacht würde, worin er sich selbst unter jene
einreiht, die zwar nicht dem Heere, jedoch dessen
unbesiegbarem Opfermut »gefolgt« sind. Aber nun ist
er erschienen und in der Theaterrubrik angeschlagen
worden. Und in der Tat — das heißt in jener Tat, die die
andern tun müssen — : solange das Heer unbesiegbar
ist, kann ein Theaterschmierer noch auf den »letzten und
versöhnenden Gewinn dieser furchtbaren Tage« hoffen.
Die Zuversicht eines solchen Bürgers ist mit Recht uner-
schütterlich, denn er kann den »opferbereiten Dienst für
ein höheres als das eigene Leben« nicht nur empfehlen,
sondern auch aufführen lassen. Und sein »bescheidenes
Werk will nichts als das allgemeine Gefühl dieser Tage
in Worte fassen«. Da aber das allgemeine Gefühl dieser
Tage der Wunsch ist, abgewandt allem nun einmal
syslemisierten Grauen und Leiden und durch eben
dieses einen letzten und versöhnenden Schab zu
104 —
machen, wobei das Friedensrisiko ohneiiin ein großes
ist und die Aktualität der bezüglichen Waren "und
Stoffe jeden Tag eine Passivpost sein kann,, so
bleibt das Volkstheaterrepertoire so ziemlich- in
Übereinstimmung mit dem Weltgeschehen. Und
V wie die Sprache noch als Lüge die Wahrheit
sagt und der Satz noch als Aussatz die Verwahrlosung
der Seele beschreibt, so erschüttert uns wie ein
letzter Ausdruck unserer Erdennot das Bekenntnis,
das ein Gemeiner der Zeit vor dem Generalstabschef
ablegt: dieser Krieg habe »den Menschen aus ein-
siedlerischer Beschaulichkeit oder Armut erlöst«, je
nachdem. Fürwahr, Worthändler waren Trappisten, ehe
er begann, und Börseaner waren Bettler! Aller Orte
und Meere, zu Land und Luft stirbt es sich wohl für
den Aufschwung jener, die ihr Leben nicht nur
gerettet, sondern auch bezahlt haben wollen, Söldner
fremden Blutes, die sich in Nachrufen, für welche
sie noch honoriert werden, neidlos durch die An-
erkennung der »Helden« revanchieren. Denn zuhause
ist das Talent und draußen »das schlichte und lächelnde
Heldentum«: so sind die Gaben und Berufe verteilt!
Wie nun die, welche im Granatenfeuer gekrochen sind,
es tatsächlich hinnehmen, daß ihnen einer, der ein
dreckiges Saisonstück daraus macht, das schlichte
und lächelnde Heldentum ausdrücklich attestiert, das weiß
ich nicht. Wohl aber wünsche ich: Das Heldentum,
dem es zu Gesicht oder Geruch kommt, sollte
nicht mehr lächeln. Nicht in eine Lache ausbrechen. Nicht
schelten, nicht fluchen. Sondern es sollte, um nicht
wahnsinnig zu werden vor Schmerz über diese Hinter-
bliebenen, heimgekehrt alle Waffen zusammenraffen,
die ihm das Ingenium der Zeit beigebracht hat, und
den heiligen Krieg erst beginnen! Mit dankerfüllter und
staunender Ergriffenheit dieser Bewegung, dieser Er-
hebung, dieser Vergeltung folgend, will ich ihrem
Generalstabschef mein Werk widmen. Oder er selbst sein!
KARL KRAUS
WORTE IN VERSEN
LEIPZIG
VERLAG DER SCHRIFTEN VON KARL KRAU!
19 16
Druck der Offizin W. Dru^ulin y
leiner Konzerthoussoai
(III. Lothringerstraße 20)
iontag den 17. APRIL 1916
PRXZISE HALB 8 UHR
VORLESUNG
CARL KRAUS
IRTEN zu K 10.—, 8.—, 6-—, 4.—, 2-—, 1-— an der
Konzerthauskassa, III. Lothringerstraße 20, bei
Kehlendorffer, I. Krugerstrafte 3 und in der
Buchhandlung Friedländer, Kärntnerstraße 44
HALT der vorigen fünffachen Nummer 413-417, 10. Dezem-
r 1915: Eeextraausgabeee — ! / Dialog der Geschlechter /
)kumente / Schweigen, Wort und Tat / Glossen / Die Leid-
igenden / Die Judenfrage. Von F. M. Dostojewski / Eine Prosti-
erte ist ermordet worden / Glossen / Die Kunst im Dienste
s Kaufmanns / Elegie auf den Tod eines Lautes / Notizen /
.««■a c^iirvnonVioiior / AhcrViipH iinH Wipfiprkehr / Wiese im Parki
NR. 423 — 425 MAI 1916 XVm. JAH]
DIE FACKEL
HERAUSGEBER
KARL KRAUS
INHALT:
3ie letzten Tage der Menschheit / Ein Prophet / Verkündigung
nschriften / Notizen / Briefe Adalbert Stifters / An einen alte:
.ehrer / Gruß an Bahr und Hofmannsthal / Feldpostbrief
'eldpostskriptum / Worte Luthers / Gebet an die Sonne von Gibeoi
Mit einer Beilage
NACHDRUCK VERBOTEN
Preis dieses Heftes:
90 Heller = 75 PL
VERLAG: .DIE FArK-FT« WTFM
®rE)öret mic|)!
5luf bem 6c^Iac^tfel6e bei 6aarburg, an 6er 6tra^c ^mi\d)tn QaavbutQ
un6 "Btuöeröotf, fte^t ein 5lru3ifiF. 2Dä^rcnö öcs Äampfes mut(>t es
tjon einet (Sranatc getroffen, öas ^ol3freu3 louröe 3erfc^mettert,
öie (S^riftusfigur aber blieb unoerfe^rt.
DIEFACKEL
Nr. 423-425 5, MAI 1916 XVIII. JAHR
Die letzten Tage der Menschheit
Tragödie
(Schlußszene eines Aktes)
Zimmer im Hause des Hofrats Schwarz-Gelber. Spät am Abend.
Hofrat und Hofrätin Schwarz-Gelber treten ein.
Er (schwer atmend) : Gottscis getrommelt und gepfiffen,
da sind wir — pufi —
Sie: Tut sich was, Märtyrer was du bist.
Er: Das letzte Mal — das letzte Mal — darauf-
kannst du dich verlassen !
Sie: Ich mit dir auch! Darauf kannst du Gift nehmen!
(Sie beginnt sich zu enticleiden. Er läßt sich in einen Stuhl fallen,
stützt die Stirn in die Hand, springt wieder auf und geht im Zimmer
umher.)
E r : Warum — sag mir nur bittich warum —
warum, nur das eine sag mir hat Gott mich mit dir
gestraft — grad ich ? — ausgerechnet — muß dieses Leben
führen — warum — hätt nicht können ein anderer?! —
Gerackert hab ich mich — bis in die sinkende Nacht
— für dich — du bringst mich um mit deiner Kriegs-
fürsorg — Hilfskomitees und Zweigstellen und was weiß
ich, Konzerte und Nähstuben und Teestuben und
Sitzungen, wo man herumsteht, und jeden Tag Spitäler
— Gott, is das ein Leben — (auf sie losgehend) was — was
willst du noch von mir — hast du noch nicht genug
— ich — ich — bin nicht gesund — ich bin nicht —
gesund —
Sie (schreiend): Was schrcist du mit mir? Ich zwing
dich? Du zwingst mich! Ob ich einen Tag Ruh
gehabt hätt vor dir ! — Ich — hab ich dir nicht helfen
müssen treppauf treppab — bis sie gesagt habe«, damit
sie endlich Ruh haben vor dir und du bist Vizepräsident
geworn! Glaubst du, man steht um dich ? M i r verdankst
du — wenn ich nicht fort war hinter ihm hergewesen,
Exner — Gott, was hab ich treten müssen — Ich wer
dir sagen was du bist! Ein Idealist bist du, wenn du
dir einredst, auf andere Art wärst du geworn was du
bist! Auf was herauf? Auf dein Ponem herauf, was?
Auf deinen Tam herauf, was? Daß dus weißt, mir hast
du zu verdanken, deine ganze Karrier, mir, mir, mir
— Liharzik ist tot — heut könntest du dort stehn, wo
er war, überall könntest du sein — ein Potsch bist du! —
die gebratenen Tauben werden dir ins Maul fhegen,
ausgerechnet — ich stoß und du kommst nicht vom
Fleck — möchten möchtest du viel und zu nix hast
du die Gewure!
Er: Gotteswillen bittich — schweig — in meiner
Stellung — riskier ich genug —
Sie: Ich pfeif auf deine Stellung, wenn wir nicht
weiterkommen. Stellung! Auch wer! Weil ich gelaufen
bin, hast du e Stellung! Bin ich für mich gerannt?
Für mich hab ich Wege gemacht? Darauf antwort mir!
Er: Nu na nicht.
Sie: Hör auf ! Ich kann dich nicht sehn ! Du weißt
am besten, wie du lügst. Gott, getrieben hast du, wenn
ich nicht heut da war und morgen dort - gestuppt
hast du mich — wenn Grünfeld gespielt hat, hab
ich reden müssen — ausgestanden hab ich — ich hab
schon nicht mehr gewußt, is Sitzung bei der Berchtold
oder is Tee bei der Bienerth, der Blumentag hab ich
geglaubt is für die Patenschaft statt für die Flücht-
linge, da hats geheißen Korngoldpremier, fortwährend
Begräbnisse, Preisreiten, Wehrmann und Wehrschild,
wie sie den Kriegsbecher angeregt haben, gleich warst du
aufgeregt, ich kenn dich doch, aber s o hab ich dich noch
nicht gesehn, schon hast du dabei sein müssen, warum,
ohne dich wär's nicht gegangen, ich hab dir gesagt
laß mich aus, konträr, gejagt hast du mich, in die
Tees und Komitees hast du mich förmlich gestoßen, gequält
hast du mich wegen Lorbeer für unsere Helden, da
bin ich gerannt, dort bin ich gerannt, nix wie Hilfs-
aktionen, zu Gunsten da, zu Gunsten dort, zu wessen
Gunsten, frag ich, wenn nicht zu deinen? zu meinen
nicht! An den heutigen Tag wer' ich zurückdenken —
Gott — von einem Spital ins andere muß man sich
schleppen — und was hat man davon? Was hat man?
Undank !
Er: Um Gotteswillen, hör auf! Wenn dich einer
reden höret, möcht er sich schöne Begriffe machen von
deiner Nächstenliebe, die Gall geht einem heraus —
Sie: Vor dir! Kann ich dafür, daß sie dich heut
übersehn haben? Ich kann schwören, ich hab mit dem
Delegierten gesprochen, ich hab ihm gesagt, wenn sie
kommen, soll er trachten, daß wir ganz vorn stehn, weil
wir das letzte Mal Pech gehabt haben, ich hab ihm im
letzten Moment noch einen Stoß gegeben, er weiß, daß
ich Einfluß hab auf Hirsch, er hat ihn schon lang nicht
genannt — auf mich willst du deine Wut auslassen ?
Kann ich dafür, daß sich im letzten Moment Eisner
vorgestellt hat mit seinem Koloß, wo er alles
verdeckt? Pech hast du, weil er größer is, und ich
muß büßen! Mir — mir machst du Vorwürfe — ich
— ich — weißt du was du bist — ich — eine Bardach
(kreischend) bin viel ZU gut für einen Menschen wie du
(sie wirft das Mieder nach ihm) — du — du Nebbich !
Er (stürzt auf sie los und hält sie) : Duuu! — mich
reg nicht auf — mich reg nicht auf, sag ich dir — ich
steh für nichts — ich vergreif mich an dir — was —
was — willst du von mir — Ausraum, der du bist —
von dir sprichst du nicht? — Dein Ehrgeiz bringt mich
ins Grab! — hättst du Kinder, wärest du abgelenkt —
schau mich — an — grau bin ich geworn durch dich
(schluchzend) ^^ ich — War — bei — Hochsinger —
4 —
das Herz is — nicht mehr — wie es sein soll — du
bist schuld — jetzt sag ich dir die Wahrheit — weil
du nicht erreicht hast — eine Flora Dub zu sein! —
für Hüte hätt ich müssen ein Vermögen — woher —
nehm ich — was will man von mir —
S i e (in Paroxysmus) : Mit — Flora — Dub ! — Du wagst
es! — mich in einem Atem — Flora — mit der Dub! —
mich — eine geborene Bardach ! Weißt du, was du
bist — ein Streber bist du! Aus der Hefe empor!
Gelb bist du vor Ehrgeiz ! Schwarz wirst du, wenn du ein-
mal nicht genannt wirst ! Wenn du an Eisner denkst, wälzst
du dich im Schlaf! Bin ich schuld, daß er ein Aristokrat
is ? Geh hin zu Fürstenberg und laß dich adaptieren !
E r (weicher werdend) : Ida — was hab ich dir getan —
schau — laß ein vernünftiges Wörtl — schau —
Gotteswillen — was — was bin ich — Hofrat — ich — lach-
haft — ein Jud bin ich ! — (Er fällt schluchzend in den Stuhl)
— Ausstehn ! — Ist das — ein Leben — is das ein
Leben — immer hinter — ganz — hinter — allen
andern — auf Hirsch angewiesen sein — beim letzten
— letzten — Preis — treiben — reiten — man hat uns
— überhaupt nicht — bemerkt — (gefaßter) ich hab
dich noch gestoßen — die Wydenbruck hat es bemerkt
— sie hat Bemerkungen gemacht — und heut — der
Skandal! — die Leute reden — ich bin fertig —
Spitzy hat gelacht —
Sie: Laß mich aus mit Spitzy ! Der hat zu reden!
Spitzy is erst durch den Weltkrieg heraufgekommen.
Nie hat man früher den Namen gelesen. Jetzt? Übel
wird einem täglich auf jeder Seite von Spitzy!
Er: von Spitzy!? Er is doch noch nicht — das
fehlte noch !
Sie: Ich sag übel wird einem von Spitzy.
Er: Er drängt sich unter die Spitzen.
Sie: Auf ihm hat man gewartet ! Mir scheint stark,
er bildet sich ein, er is Spitzer.
E r : Er spitzt auf die goldene.
Sie: Ich hab so mit dem Delegierten gesprochen.
Er hat gesagt, da kann man nichts machen, das is
wieder einmal echt wienerisch, hat er gesagt, bittsie der
Spitzy, er hat die Presse und außerdem leistet er
für die Prothesen.
Er: Auf den Delegierten soll ich sagen!
Sie: Ich gift mich genug über ihm.
Er: Den Unterschied zwischen der Gartenbau
heut und wie der Krieg angefangen hat, möcht ich
Klavier spielen. Wenn ich zurückdenk, damals bei der
Schlacht von Lemberg, du weißt doch, wie die Presse
das Jubiläum gefeiert hat, Weißkirchner hat ihr gratuliert,
neulich erst sag ich zu Sieghart —
Sie: Du, zu Sieghart?
Er: Du — weißt — nicht mehr, wie ich mit Sieghart
gesprochen hab ? Das hat die Welt nicht gesehn ! Wie
er gekommen is, wir sollen beitreten zum Subkomitee
in die Hilfssekfion — du weißt doch, er hat doch die Idee
gehabt zu einer Sammlung »Kaviar fürs Volk«, es
is eigentlich eine Anregung von Kulka — sag ich
also zu Sieghart, Exzellenz, sag ich, der Delegierte
gefällt mir etwas nicht und der Primarius gefällt mir
nicht und die ganze Schmonzeswirtschaft gefällt mir
nicht. Er schweigt, aber ich hab gesehn, er denkt sich.
Sag ich zu ihm, Exzellenz, die Zeit ist viel zu ernst.
Ich kann dir nur soviel sagen, er hat nicht nein gesagt.
Wieso das kommt, frag ich. Er zuckt mit die Achseln
und sagt, Krieg is Krieg. No hab ich doch gewußt,
woran ich war. Jetzt brauch ich nur —
Sie: Wenn du damals, bei der konstituierenden
Versammlung für die Walhalla nicht wie ein Nebbich
dagestanden wärst, wäre die Sache schon erledigt.
Er: Erlaub du mir, grad bei solchen Gelegen-
heiten vermeid ich aufzufallen. Alle haben sie sich
den Hals ausgereckt, wie er von der Korrespondenz
Wilhelm gekommen is —
Sie: Und ich hab dir Zeichen gemacht, du
sollst auch!
Er: Nein, sag ich. Auf geradem Weg gehts nicht,
so hör zu meinen Plan. Mit Eisner wirst du sehn, er
is imstand und geht eines schönen Tages hinauf und
wird sichs richten. Aber ich hab mir fest vorgenommen
— ich wart jetzt nur — das nächste Mal — no ich
könnt ihm gut schaden — er hat, aber sag's nicht, er
hat eine abfällige Bemerkung über Hirsch fallen lassen!
Sie: Bitt dich, fang dir nichts an! Misch dich
in nichts. Ich könnt auch, ich halt mich genug zurück,
die Dub hat etwas über die Schalek gesagt — daß sie
sich patzig macht in der Schlacht und so — zur
Odelga könnt ich eine Anspielung machen, Sonntag,
schätz ich, kommt sie zum Invalidentee — Sigmund
— hör mich an — weißt du was — sei nicht nervös
— du bist überanstrengt — ich sag dir, wir setzen es
durch ! Komm zu dir — ich wett mit .dir, Freitag is
eine Gelegenheit, wie sie noch nicht d a war — die
Jause, du weißt doch, für unsere Gefangenen in Ost-
sibirien. Oder hör zu, wart, noch vernünftiger, Samstag,
für die deutschen Krieger! Du wirst sehn, paß auf, du
kriegst ! Wenn nicht die erste, so die zweite. Ich garantier
dir. Bis zum Kabarett vom Flottenverein warten wir nicht!
Jetzt zeig was du imstand bist. Nimm dir ein Beispiel
an Riedl von Dobenau, an ihm, mein ich, nicht an ihr —
siehst du, er isnureinGoj, abertüchtig! Jetzt entscheidet
sich alles. Daß du mir nicht wieder wie ein Stummerl
dastehst, hörst du? Sie warten bloß, daß du den Mund
aufmachst. Ich kann mir nicht helfen, aber ich hab
das Gefühl, wir sind sowieso vorgemerkt —
Er: Glaubst du wirklich — das war ja — lang
genug hätt man sich geplagt — aber woher glaubst du ?
Sie: Was heißt ich glaub, ich weiß! Du bist der
Meinung, es is schon alles verpatzt. Ich sag dir, nix
is verpatzt. Du warst von jeher ein Pessimist mit dem
Krieg. Ich kann dir nicht alles sagen, aber die Frankl-
Singer von der »Sonn und Mon« is wie du weißt
intim mit der Lubomirska, frag mich nicht. Du hättest
das Gesicht von der Dub sehn sollen, wie sie gesehn
hat, ich Sprech mit ihr. Was soll ich dir sagen, sie
hat sich gejachtet. Sogar Siegfried Löwy hat mit dem
Kopf geschüttelt, da hab ich alles gewußt. Es wird
vielleicht eines der größten Erfolge sein, wenn mir
das gelingt. Nur bei der Ausspeisung dürfen sie nichts
erfahren, sonst zerspringen die Patronessen, behauptet
Polacco. Selbst heut hab ich das Gefühl gehabt, es kann
nicht mehr lange dauern. Weißt du, nämlich wie der Lärm
war, und sie alle hinüber sind, zu dem sterbenden
Soldaten, du weißt doch, der getrieben hat, weil er
geglaubt hat, unten steht seine Mutter, sie haben sie nicht
herauflassen wollen, es is verboten wegen der Disziplin,
Hirsch hat noch gesagt, er wird in den Annalen fort-
leben, er gibt ihn hinein — da hab ich das Gefühl
gehabt — nämlich, wie sie so gestanden sind — da hab
ich mir eigens achtgegeben, ich hab hingeschaut und
da hab ich deutlich bemerkt, wie die Palastdame
hergeschaut hat, alle sag ich dir haben sie auf uns
gezeigt — ich hab dich noch aufmerksam machen
wollen — aber da hab ich Eisner beobachten müssen,
ob er nicht vorgeht, der Lange — und dann haben
sie noch besprochen — grad wie Hirsch die Stimmung
notiert hat, haben sie besprochen wegen dem Konzert
für die Witwen und Waisen — da hab ich wieder das
Gefühl gehabt — ich kann mir nicht helfen — aber
wenn du nur jetzt nicht wieder bescheiden bist — nur
jetzt nicht — meinetwegen immer, aber um Gottes-
willen nicht jetzt!
Er (eine Weile nachdenklich, dann entschlossen) : WaS haben
wir morgen?
Sie (sucht Einladungen hervor, nach einer Pause): Wien für
Ortelsburg — liegt mir stark auf, wir gehn, aber wir
müßten auch nicht. Verwundetenjause bei Thury, nicht
der Rede wert, aber kann nicht schaden. Konstituierende
Sitzung des Exekutivkomitees für den Blumenteufei-
Rekonvaleszenten-Würsteltag — du, da muß ich als
Patroneß. Aber da, wart, Kriegsfürsorgeamt, musikalischer
Tee, der Fritz Werner singt, ich Sprech sicher mit ihm,
er hat auch immer größeren Einfluß —
Er: Sagst du!
Sie: Wenn ich dir sag!
Er: Einfluß, lächerlich —
Sie: So ! Also kürzlich hat er ihm das Bild
schicken müssen. Er is ein großer Verehrer, Er hat
schon fünzigmal »Husarenblut« gesehn.
Er: Zufällig kennt er ihn nur flüchtig.
Sie: Wenn du also besser informiert bist! Gut,
nehmen wir schon an, Werner hat nicht Einfluß, was
is aber mit Spitzer? Wenn ich auf keinen halt, auf
Spitzer halt ich ! Man brauch nur sehn, was sich
da tut jedesmal, was sie angeben, wenn er kommt.
Spitzer is heut maßgebend, alles spricht nur von Spitzers
Karrier. Ich sag dir, man muß das Eisen schmieden, solang
man Gold dafür kriegt. Nur jetzt keine Versäumnisse ! Du,
hör mich an — was nützt das alles — jetzt nimm dich
zusamm, sei ein Mann ! Mach dich beliebt ! Was denkst
du so nach? Du hasts ja bisher getroffen, warum
nicht weiter. Also ! Jetzt heißt es durchhalten.
E r (die Stirn in der Hand) : DaS heut IS ZU SChncll
vorübergegangen. Man hat gar nicht können zu sich
kommen. Ich war heut nicht auf der Höhe. Ja, ich
hab gleich gespürt, etwas is nicht in Ordnung. Von
allem Anfang hab ich bemerkt, sie bemerken uns
nicht, und zum Schluß, wie sie uns ja bemerkt haben,
war ich zerstreut. Ich sag dir, es is das Herz. Hochsinger
is unbedingt für Schonen, schonen sagt er und wiederum
schonen. Aber wie soll man — Gott — du sag mir
bittich, wie war das eigentlich, wie sie alle mit Spitzer
geredet haben, wie er —
— 9 —
Sie: Mit Spitzer? Das war doch nicht heut! Das
war doch Sonntag!
Er: Gotteswillen, ein Kreuz is das, Sonntag —
alles geht einem durcheinander im Kopf — also gut —
ärger is wenn ich Gottbehüt vergessen hätt mit Sieghart zu
sprechen. Wie, also was, also sag mir mit Spitzer,
das intressiert mich —
Sie: Sonntag? No ja, da war es doch schon auf
ein Haar so weit, daß der Delegierte, ich hab schon
geglaubt — hast du gezweifelt? No hörst du, das is
doch so klar, wie nur etwas!? Wenn nicht die Schwester
dazwischengekommen war, das Skelett, du weißt doch,
die den Schigan hat, den ganzen Tag zu pflegen,
überhaupt eine bekannt exzentrische Person, grad wie ich
zum Bett hingehen will, Pech, kommt sie daher, einen
Schritt war ich —
Er: Moment! Das — wart — wo sind sie da
gestanden? Das war doch, wo die Rede war, daß man
wieder sammeln gehn soll, etwas einen 'Gardenientag
weiß ich!, haben sie beschlossen für Wiener Mode
im Hause oder —
Sie: Freilich, Trebitsch hat noch erzählt, daß er
tausend Kronen anonym gegeben hat —
E r : Bekannter Wichtigmacher, gibt sich jetzt aus für
intim mit Reitzes — siehst du, jetzt hab ich, also wart —
ob ich weiß! unterbrich mich nicht, da war, ich wer dir
sagen, da war auch die Rede von Aufnahmen im Spital,
für den Sascha-Film, wächst mir auch schon zum Hals
heraus, siehst du, daß ich weiß? Aber nur — wo sind
sie gestanden? Die Situation? Wir sind nicht durch-
gekommen, so viel weiß ich —
Sie: Du kannst dich nicht erinnern? Ich seh's
vor mir! Bei dem Bett von dem Soldaten —
Er: Bei dem Bett — mit der Mutter der?
Sie: Geh weg! Das war doch heut!
Er: Wart. Der Blinde!
- 10 - >
Sie: Das war doch Dienstag in der Poliklinik!
Der Blinde! Ich seh es vor mir! Damals, du weißt doch,
Hirsch hat sich notiert —
Er: Entschuldige, aber das war bei der Staats-
bahn beim Labedienst! Wo sich noch die Löbl-Speiser
vorgedrängt hat, die Geschiedene —
Sie: Konträr, damals is es sehr günstig gestanden,
wenn du mir nur gefolgt hättst, ich hab dir noch geraten,
mach dich an an Stiaßny.
Er: An Stiaßny? Das war doch beim Wehrmann!
Siehst du, jetzt verwechselst du!
Sie (lauter): Ich verwechsel! Du verwechselst! Beim
Wehrmann! Wer redt heut vom Wehrmann?
Er: Also wart — beim Bett — übrigens was
gibst du Rebussen auf, sag mir den Soldaten und fertig.
Sie: Grad nicht! Siehst du, wenn ich nicht war
mit meinem Gedächtnis —
Er (lauter): Laß mich aus mit deinem Gedächtnis!
Was nutzt mir dein Gedächtnis! Es is alles für die Katz!
Sie: Du marterst mich — ich lauf mir die Füße
wund — soll ich dir noch helfen erinnern!
Er: Schrei nicht — ich laß alles stehn und
liegen — ich geh morgen nicht — du kannst allein
gehn ausspeisen — ich hab es satt — der ganze Krieg
Icann mir gestohlen wern — das hat uns noch gefehlt
— als ob früher nicht genug Lauferei war — geh mir
aus den Augen! — jetzt reißt mir die Geduld! — von
mir aus soll —
Sie (schreiend): Du schrcist mit mir, weil du
kein Gedächtnis hast! Du weißt nicht mehr, wem
du grüßt! Du grüßt Leute, wo es nicht nötig is, und
wo es ja nötig is, grüßt du nicht! Jedesmal am Graben
muß ich dich stoßen! Ich hab für dich gearbeitet —
du — weißt du, was du ohne mich bist? Ohne mich
bist du ein Tineff für die Gesellschaft!
11
Er (sich die Otiren zulialtend, mit einem Blick zum Plafond);
Ordinär — ! (nach einer Pause, in der er herumgeht) Möchtest
du jetzt die Güte haben — bist du jetzt vielleicht
beruhigt — also sag mir —
Sie: Grad sag ichs nicht — Sonntag — wie sie
alle um das Bett gestanden sind — ich bin vorgegangen
— alle sind sie —
Er: Moment! Laß mich ausreden — im ganzen
Belegraum —
Sie (schreiend): Du quälst mich aufs Blut — jetzt
tust du als ob du nicht bis drei zählen könntest — .
ich lauf mir die Füße wund —
Er: Das weiß ich zu schätzen. Leicht is es nicht.
Sie: Also gib Ruh und bohr nicht in mich —
daß du's endlich weißt und frag mich nicht mehr — ich
hab Recht und nicht du — ich hab dir gesagt, Sonntag
hat man uns bemerkt, wie sie beim Bett gestanden sind —
Er: Noo-o! Also beim Bett — mir scheint, du
redst dir da was ein —
Sie: So wahr ich da leb! Beim Bett von dem
Soldaten, wo der Primarius alles gezeigt hat —
Er: Ah jetzt — weiß ich! Was sagst du nicht
gleich? Der mit den abgefrorenen Füßen!?
Sie: Ja — und mit der Tapferkeitsmedaille !
12
Ein Prophet
5. September 1848.
— — — Mein Leben und mein Geist sind im
leeren Räume, und die Tiefe des Schmerzes ein un-
ergründliclier Abgrund, da ich vergebens das darin
versunkene theure Vaterland noch zu erblicken suche.
Ach ! armes Vaterland ! zerfleischt von Juden und
Knaben, zerwühlt von deinen eigenen Söhnen, gequack-
salbert von der Ignoranz und Anmassung!
19. September 1848.
Derjenige, welcher mit eigenen Augen die
erschreckliche Verwirrung der Geister und Thaten sieht.
Derjenige, der sich überzeugt, wie Keiner der Schau-
thäter weiß, welches Stück eigentlich aufgeführt wird,
wie Keiner das Geheimniß seiner eigenen Rolle kennt,
muß entweder die Geschichte wie eine beängstigende
Komödie ansehen, welche der Zufall mit menschlichen
Puppen spielt, und verzweifeln, oder an die Vorsehung
glauben, an jene unnennbare höchste Weisheit, welche
das Chaos ordnen und der blinden Bewegung Wesen
und Gestalt geben wird, die jede menschliche Berech-
nung als eitle Anmassung zeichnet.
Man druckt in Wien, so viel und so vielerlei,
daß die Pressen seufzen. Man hat die Freiheit der
Presse erzwungen ; es ist aber noch die Fähigkeit
ihres Gebrauches für Schreiben und für Lesen zu
erringen. Es ist übrigens eine der gewöhnlichen
Täuschungen unserer Tage, die Gewährung zum
Gebrauche, mit der Geschicklichkeit des Gebrauches
zu verwechseln; das Recht des Gedankens, für die
Fähigkeit des Denkens, das Recht zum Handeln für
die Kraft der That, das Recht zur Freiheit schon für
die Freiheit selbst anzusehen.
— 13
20. September 1848.
Unglückliches Oestreich ! Theueres Vaterland !
Gegen Außen stehst Du da als schwebender Schatten.
Da, wo Du noch Friede hast, bist Du ohne Einfluß,
und dort, wo Deine Helden den Sieg erkämpften,
wirst Du, von Deinen eigenen entarteten Söhnen ver-
rathen und Deines guten Rechtes gefährdet. Du
kannst nicht auf Deinen nächsten guten Nachbar
zählen, denn er sieht in Dir mit Schauder einen
Kranken, den man flieht, um nicht angesteckt zu
werden. Dein Revoluzionsschwindel kann Dir auch bei
den Völkern keine Sympathie, keine Achtung erringen,
denn er ist das Ergebniß feiger Unwissenheit, die
Dich als Beute dem Auswurfe der Gesellschaft, der
Dich fortschleppt und schändlich mißbraucht, Preis
gibt! Im Innern schnappst Du nach Freiheit! Weißt
Du, was Freiheit ist ? Für Dich ist sie nur die
schaudervolle Macht, Ehre, Ruhm und Grösse Deines
Landes zu zerstören ; Eigenthum, Wohlstand, Vertrauen
und Familienglück zu vernichten, und den blutigsten
wie den schmählichsten Selbstmord, an Dir selbst, zu
vollziehen.
Ach! wie bin ich in der tiefsten Seele verwundet;
Alles reitzt mich. Alles betrübt mich ! Der Anblick
des Untergangs der Sonne allein, erleichtert mein
Herz. Er ist das Bild des Todes, der wahren Freiheit,
der Befreiung von dem Gefühle des kummervollen
Schmerzes über die Schmach und Erniedrigung des
herrlichen Reiches, dessen ruhmvolle Vergangenheit
die Schamröthe über die unwürdige Gegenwart er-
glühen macht.
Aus den »Tagebüchern des Carl Friedrich Freiherrn
Kübeck von Kübau«.
14
Verkündigung
Am Tag des Blutes und der Auferstehung, in
dem Blatt, das von dieser Welt ist, am dreihundertsten
Todestag von Shakespeare und Cervantes:
Ich habe die Ehre, mich vorzustellen
Friedrich Müller, 38 Jahre, grosse technische Erfahrungen im praktischen
Maschinenbau und im kommerziellen Aufbau grosser Sachen.
Bekannte Erfolge.
Lange in Amerika gelebt, in Europa grosse Abschlüsse für nordamerik.
Firmen getätigt, in Oesterreich-Ungarn Geschäfte begründet und Markt
kennen gelernt; sehr bekannt in der Branche.
Intime praktische Kenntnisse in Masch.- und mech.-Apparatenbau, lang-
jährige internationale Beobachtungen sich fühlbar macliender Bedürfnisse
des Marktes, last, not least, ein Plus an Energie und Unter-
nehmungsgeist, Hessen mich die Lücke finden, wo
viel Geld leicht zu machen ist.
Der amerik. Erfolg des Artikels, den ich vertrat, genügte mir nicht:
Besser machen, und zwar mit den Rohmaterialien des Inlandes,
unabhängig von draussen sein — das war mein Ziel.
Nach jahrelanger Arbeit — mit eigenem Kapital, denn ich bin
mein eigener Prophet — gelang mir soeben die gänzliche Umwälzung
des amerikanischen Konstruktionsprinzips und es entstand nicht nur eine
gänzlich neue Erfindung, sondern auch eine derartige Vervollkommnung
des amerik. Originals, dass meine einfache Maschine eine der grössten
Nützlichkeiten des privaten und ein unentbehrlicher Faktor des ge-
schäftlichen Lebens werden muss; so sagen einige hervorragende
Oesterreicher.
Und diesen Artikel — die eigene Arbeit meiner besten Jahre — will ich
Ihnen in fertigen, pat. Maschinen-Modellen im Gebrauche praktisch zeigen und
erklären und alles Für und Wider offen und ehrlich mit Ihnen besprechen
— als ob Sie mein Bruder wären.
— 15
Sie sollen sich dann selbst Ihr eigenes Urteil über den Wert meiner
Erfindung bilden und sich ruhig klar werden, ob Sie an dem glücklichen
Ergebnis ernsten Studiums und harter Arbeit mit mir
dick verdienen
wollen; natürlich bitte ich nur dann um Ihre Adresse, wenn Sie ein
ernster, vermögender Mann sind, Ihr Kapital investieren und ein
grosser Fabrikant sein wollen (einzig in Europa), und — nach
behördlichen Äusserungen zu schliessen — obendrein sogar gerade jetzt
noch ein gesuchter Wohltäter. Gefl. Zuschriften unter „Fritz Müller"
an Rudolf Mosse, Wien, I., Seilerstätte 2.
Er kam, wie aus der Kanone geschossen. Er war
nicht zu erfinden. Er ist erstanden. So muß er heißen.
An dem Ort, wo das Wunder geschah, sprach der
Dichter : »Die heutige Zeit kennt keinen tieferen Drang,
als über sich selber hinauszukommen.« Aber die Zeit
ist erfüllt und er ist sein eigener Prophet. Besser
machen war sein Ziel. Und er ruft den Menschen,
seinen Bruder, der ein ernster, vermögender Mann ist.
Und lehrte sie dick verdienen bis ans Ende der Welt.
16
Inschriften
Einem schwerhörigen Freunde
Glaubst du noch jetzt, es geh' zu Gott empor?
Mißtrau dem Aug, hat dich getäuscht dein Ohr.
Hätt'st du so gut gesehn, v/ie schlecht gehört,
du wüßtest, daß sich's gegen Gott empört.
Dem Schönfärber
Der beste Teil ist noch das Eingeweide.
Wie rosig malt Kokoschka manchen Wicht!
Ihn zu entlarven, das gelingt ihm nicht.
Wie anders Schattenstein. Der malt am Kleide!
Das Buch und die Frau
Sprach einem Buch sie zu, so sprach's ihr zu.
Es machte nicht viel Kopfzerbrechen,
und ließ das Herz in Ruh.
Sprach sie von einem Buch, so sprach sie gut.
Sie haben beide mit sich sprechen lassen,
und waren leicht zu fassen.
Doch einmal nahmen beide es genau:
die Sprache selbst und selbst die Frau.
Sie zeigten höhern Mut
und konnten zu einander sprechen.
Verzicht
Man sagt, zu sauer seien uns die Trauben.
Sie hängen höher, als man glaubt.
Begehre jeder, was er raubt!
Wir glauben nicht mehr an die Welt. Wir glauben.
— 17 —
Notizen
Vorlesung im Kleinen Konzerthaussaal, 17. April:
1. Kierkegaard und die Journalisten / Es war einmal / Ein
2 V2 jähriges Kind zeichnet Kriegsanleihe / Kinder und Vögel sagen die
Wahrheit/ Elegie auf den Tod eines Lautes / Der kleine Brockhaus /
Kriegsnamen /So? / Endlich I / Als Liebesgabe / Gedankenleser / 's gibt
nur an Durchhalter!/ Die Panik.../ Die Grüngekleideten / Zur Darnach-
achtung / Die Direktionskrise im Deutschen Volkstheater / Lichnowsky
und Barnowsky / Die europäische Melange / »Drückeberger in Frank-
reich« etc. / >Benzinmangel in England« etc. / »Papierknappheit in Italien« /
Bei uns ist es so! / Leben und Taten der Schalek / Weltwende.
II. Dialog der Geschlechter /Eeextraausgabeee — I III. Gebet
an die Sonne von Gibeon.
Ein Teil des Ertrags wurde der Kinder-Schutz- und Rettungs-
Gesellschaft zugewendet.
Die nächste Vorlesung findet in demselben Saal am 12. Mai statt.
Eine Shakespeare-Feier (Vorlesung der »Lustigen Weiber von
Windsor«), deren gesamter Ertrag den Gefangenen in Beresowka
{Transbaikal) gewidmet wird, folgt am 24. Mai.
In Nr. 418—422 ist zu lesen: S. 32, im Shakespeare-Zitat, 4. Zeile,
statt: „Mall" Mal?; S. 90, 9. Zeile, statt: ,,nur eine Fürschtin gibt"
nur eine Fürschtin gibt; ebenda, 13. Zeile, statt: ,, bekannt, nichts"
bekannt: nichts; S. 91, 13. Zeile von unten, statt: ,, Lebensgüter zu
verteidigen" Lebensgüter, zu verteidigen; S, 93, 7. Zeile, statt: „Völker,
aber" Völker; aber; ebenda, im 3. Zitat ist unter den Worten: ,,gibt es
fast gar nicht'' nur das Wort /as/ als gesperrt zu lesen.
Bibliographisch es: »Der Sozialismus als Ware« von Constantln
Jurenew (Bern) im , Arohiv für die Geschichte des Sozialismus und der
Arbeiterbewegung' (herausgegeben von Prof. Dr. Carl Grünberg, Wien),
Band VI, Heft 2, S 270 bis 272. — »Kultur, Kunst und der Krieg«
von Paul Wengraf (Verlag Konegen, Wien 1916;, S. 64 bis 68.
— 11
EinTitelimletztenVorlesungsprogramm: »Leben und Taten der
Schalek« wies auf die folgende, an jener Stelle gesprochene
Erklärung hin:
Ich wollte nun eine jener Glossen vorlesen, die von der
eigentlichen Heldin dieser großen Zeit, von der Schalek
handeln und in denen sie, wie ich hoffe, als eine einprägsame satirische
Figur fortleben mag, zur Erbauung der Nachwelt, die sich verflucht
wundern wird und von der ich überhaupt glaube, dafi sie mich
für einen der . größten Erfinder dieser technischen Epoche halten
wird! Ich will aber keine jener Gestaltungen, in denen ich das
Novum einer Jourjüdin, die sich untersteht, ihre Neugierde in
Unterständen zu befriedigen, das Monstrum eines Bramarbas mit
Lorgnon festgehalten habe, dem Gelächter einer Hörerschaft preis-
geben. Denn abgesehen davon, daß die Wirklichkeit, dieser
täglich nachwachsende Teufel, den Hohn zuschanden macht und
der täglich erneute Heldenmut der Schalek neue Preislieder
verlangt, abgesehen davon ist die Sache viel zu traurig! Wohl ist
die Schalek an und für sich eines der ärgsten Kriegsgreuel, die der
Menschenwürde in diesem Kriege angetan wurden. Aber darüberhinaus
bietet sie noch das Schauspiel einer Entartung, das unsere
besondere kulturelle Situation als eine vor dem übrigen Europa weit
avancierte zeigt. Denn es ist möglich geworden — und ich sage das mit
deutlicher Betonung gegenüber einer Schreiberin, die den Anspruch
erhebt, wehrfähig zu sein! — es ist möglich geworden, daß
unsere Öffentlichkeit die obszönen Tagebuchblätter vorgesetzt
bekommt, die ein Frauenzimmer verfaßt hat, das sich für
seine Weiblichkeit kein anderes Feld der Anregung zu
verschaffen wußte als das Feld der Ehre — ausgerechnet! Pfui
Teufeil Auf Galanterie erhebt dieser Kriegsberichterstatter
keinen Anspruch. Aber mit tiefer Betrübnis wollen wir der
Tatsache eingedenk bleiben, daß sie — sie durfte sich dessen
rühmen! — in allen Felsenklüften, wo jetzt Menschen schießen und
geschossen werden, einen gedeckten Tisch gefunden hat, und daß
tapfere Soldaten noch immer die Todesverachtung
der Schalekverachtung vorziehen und der Verachtung
einer Dreckpresse, gegen deren entsetzliche Macht ich als
wahrer Patriot und Freund der Menschheit meinemVaterlandmehr
Mut wünschen möchte als gegen seine sämtlichen Feinde!
— 19
Nur damit man sehe, daß ich einem Bericht der Schalek
auch eine Wahrheit, eine mein Herz folternde Wahrheit entnehmen
kann, will ich die folgende Gegenüberstellung, die ich ihr verdanke,
bekanntmachen :
— Das sind die alten
Arbeiter, die mit ihren Tragtieren
Naclit für Naclit den Proviant zu
den Stellungen bringen — — —
ob er Angst vor Granaten empfindet,
ob er Kinder im Felde hat oder
daheim ein hungerndes Weib — fragt
einer darnach? Im Finstern, im
Regen, in der Bora und zwischen
Granaten hindurch trottet er immer
wieder 500 Meter bergauf und
bergab. Armer alter Held!
Ich wünschte, ich vermöchte das
Bild ihres eintönigen, allnächt-
lichen Marsches durch die
Feuerlinie mit stählernen Worten
zu schildern, tief in die Seele
wollt' ich es jedem prägen
»Ihr Hörn Viecher, ihr gottver-
dammten I Werd's auseinander-
rücken I Müßt ihr von einer Granate
alle gleichzeitig hin werden?«
Man — hat — gewartet!
Mitten in meine andächtige Be-
wunderung tönt es hinein, kräftig
und nicht mißzuverstehen. »En t-
schuldigen Sie den tempera-
mentvollen Empfang,«; begrüßt
mich lachend der Kommandant
— — Alle Herren sind zu
unserem Empfange oben ver-
sammelt. Sonst hockt jeder wohl-
gedeckt oder er schläft, jedenfalls
hütet er sich sehr, hier offen
spazieren zugehen. Aber weil der
erste Kriegsberichterstatter
angekündigtwordenist, sitzen
die Herren gemütlich wie im Rathaus-
keller beisammen und erwarten
uns — — — Man hat mit
der Beschießung gewartet,
bis wir oben angelangt sind,
weil sonst das »Vergeltungs-
schießen« uns den Weg recht un-
angenehm hätte gestalten können.
Zu diesem Thema sei nunmehr auch nachgetragen, daß man
bei mir Einblick in die zahlreichen Zuschriften von der Front nehmen
kann,mitdenen mir Offizierealler Grade, einzelne und Offiziersmessen,
ihren Dank für die Besprechung dieses Schauspiels abstatten, das sich
vor ihren Augen abspielen darf und die Trauer jenes, in dem sie
mitwirken, ihnen selbst vermehrt.
— 20 —
In dem Roman »Die Vogesenwacht« erzählt Anny Wothe — Seite
57 bis 59 — , wie dem Unteroffizier Meisel im Felde seine Frau die Geburt eines
Jungen mitteilt. »Jott sei Dank wieder een Soldat, < schreibt die Frau
ihrem Manne. Sie habe ihren Jungen Wilhelm genannt nach dem Kaiser,
weil sie meint, >der Junge muß dann ooch so kreuzbrav, so frei und
fest werden, wie unser Kaiser is, und druff schlagen, dat de Stücken
man so fliegen«. Und dann heißt es in dem Briefe: »Ik kann bald
wieder arbeeten, und ik wer die fünfe schon satt kriegen. Die Jungen
beten alle Dag e, du solltest recht ville Franzosen dotschlagen.
Ik bete oock, aber nicht um Dein Leben. Det steht bei Jott. Ik
beet, det Du ordentlich deine Pflicht dust, det Du nich ruckst,
wenn de Kugel kommt, un det Du ruhig stirbst, wenn et sein
muß, vor unser Vaterland, un unsern Kaiser, un nich an uns denkst. . .
Und wenn Du vor Deinen Hauptmann sterben kannst, so
denke och nich an uns... Die fünfe grüßen Dir mit mir. Bei der
Taufe von Wilhelm wollen sie >Heil dir im Siegerkranz« singen, womit
ik verbleibe Deine treue Jattin.« . . . Der Hauptmann hatte einen
Augenblick die Hand über die Augen gelegt, um die tiefe Bewegung
zu verbergen. Er streckte seinem Unteroffizier die Hand entgegen und
lobte ihn: Sie können stolz sein auf Ihre Frau.« . . .
Eine Jötterjattin.
Der , Kunstwart', der jetzt selbstverständlich .Deutscher Wille'
heißt, aber schon im Frieden ein rechtschaffener Schund war, also
mehr deutscher Wart als Kunstwille, bringt aus der Feder des
unverwüstlichen Avenarius — ein Fremdwort, das man nun einmal
hinnehmen muß — die folgende charmante Anregung:
Das vergnügte Büchel
Die im Felde wollen nicht immer aus dem Sauertopf
essen, sie wollen auch was Fröhliches haben, sie erst recht. So hat der
Kunstwart von Avenarius' Fröhlichem Buch einen Auszug auf
Dünnd ruckpap ier als Taschenausgabe soeben herausgegeben. Schicke
mandenalsOstergruß hinaus, das > Vergnügte Büchel« findet ja hoffentlich
seinen gesetzten Bruder, die Taschenausgabe vom >Hausbuch«
draußen schon vor. Es selber bringt zwar die eingehefteten Bilder-
beilagen des »Fröhlichen Buches« nicht, aber eingedruckt eine große
Menge der geist- und sinnreichsten Zeichnungen der deutschen Kunst.
Auch diese »bedenklich verkleinerte« Ausgabe ist immer noch nicht
weniger als 376 Seiten stark. Dabei kostet sie in lustigem Einbände
21 —
doch trotz der teuren Zeiten nur zwei Mark. Mit dem >Fröhlichen
Buch<, von dem schon 50000 Stück gedruckt sind, kam der Humor
als Seelsorger ins deutsche Haus, mit dem »Vergnügten Büchel«
zieht er als Kamerad Feldgeistlicher in die Gräben.
Ist das ein Vokativus dieser Avenarius! Einen Schluck aus
des Kunstwarts Humor und dann sterben ! Aber läßt sich der Tod
das wirklich gefallen? Macht er nicht den Soldaten lebendig und
nimmt mit dem Seelsorger vorlieb? Im Schützengraben soll's erst
heiter werden, wenn Kamerad Feldgeistlicher dran glauben mußte.
Welch eine Bagage! Warum wirft der Soldat, ohne sich erst auf
umständliche Unterscheidungen zwischen dem Fröhlichen Buch
und dem Vergnügten Büchel einzulassen, dem guten Kameraden
nicht beide an den Schädel und seinen Sauertopf dazu? Nach
so viel Humor soll doch endlich einmal Ernst gemacht werden !
» — — — — - — Gott ist ihm weit mehr als ein theologischer
Begriff; er wird ihm, ohne dabei ein >Gott der Deutschen« zu werden,
gerade in der Schlacht in seiner ganzen überwältigenden Größe bewußt.
In einer packenden, weit mehr als geistreichen Umwertung schließt er
ein Gedicht, in dem die Bajonette aufgepflanzte Kreuze, die Schrapnelle
Weihwasser sind, die Granaten Weihrauch qualmen, die Handgranaten
am Gürtel Rosenkränze bedeuten und das Händefalten zum Krallen um
Gurkhagurgeln wird, mit den Worten:
»Und wir kreuzigen die Liebe,
Daß sie euch erlösen will.«
Von diesem religiösen Erleben kommt er zur Vaterlandsliebe:
>So muß das deutsche Vaterland
Sieb selber Heiland werden.
Bis daß durch seine starke Hand
Der Friede kommt auf Erden.
Bis daß das schwere Werk vollbracht
Und neu die Welt gereinigt.
Bis Schicksalsgang und unsre Macht
In uns sich hat vereinigt.
Und so lang muß noch Weib und Mann
Den Weg des Leidens gehen,
Bis über Tod und Not hinan
Kommt groß das Auferstehen.«
22 —
Hier zeigt er, wie starlc in ihm Religiosität und nationales
Empfinden verknüpft sind, und zwar in einer durchaus unkonfessionellefi
Weise: in der Art, wie wir Deutsche nun einmal zu allerletzt den Begriff
Religion fassen. Im engeren Sinne ist nun freilich L. schon deshalb ein
guter Deutscher, weil er ein guter Soldat ist.«
Und außerdem noch leider identisch mit dem guten Kessel-
schmied, welcher hier kürzlich um jenes Naturlautes willen gerühmt
wurde, der die ganze Schmach der deutschen Kriegslyrik weg-
zurufen schien. Die Poesie ist heutzutage eine so zweideutige
Beschäftigung,, daß man das dichterische Wertobjekt nicht rühmen
darf, ehe man sich vergewissert hat, ob es einen Schöpfer oder nur
einen Besitzer hat. Aber das Lerchengedicht wurde hier nicht als
Kunstwerk, sondern als Dokument gewertet und sicherlich ist, was
auch literarische Anpassungsfähigkeit an vorhandene Stimmungswene
sein könnte, hier der innere Umschwung einer reinen Seele.
Denn der Durchbruchsversuch der Menschlichkeit in diesem
Krieg war ja eben das Neue. Der Autor war nur so
I weit Literat, als der Rausch der gehirnstürmenden Phrase den
L Dilettanten dazu machen konnte, später erst wurde er wieder
der Kesselschmied, der er vorher war, und schrieb das
« Gedicht von der Lerche. Von der Andacht vor umkrallten
Gurkhagurgeln bis dahin ist ein weiter und furchtbarer Weg;
nicht jeder, der deutsch sprechen kann, ist ihn so reuig%gegangen.
Es mußte hier aber zurückgeschaut werden, damit nicht der
Verdacht aufkomme, ich hätte einen Kriegslyriker, von dem ich
nur eine Probe kannte und nicht das Buch, geschweige denn
den Menschen, vorschnell gerühmt. Welche Verschiebungen nebst
allem andern »des halben Jahres Krieg über die Erde gebracht«,
mag das Beispiel eines aus der Fackel hervorgegangenen Lyrikere
zeigen, der, als die Zeit plötzlich groß wurde, an jenem übelsten
Ort, wo Blut sich mit Druckerschwärze zum Humor verbindet,
ein Schützengrabengedicht abgelagert hat, worin er beteuerte,
daß er nichts anderes im Sinn habe, als Wut gegen die >russische
Kanaille« und Glut auf die >güldene Medaille«, und solchem
Vorrat von Sehnsucht Rhythmus gab. Später aber hat er das
Bekenntnis abgelegt:
. . . Diese »Katakomben« sind endlich das Ereignis, von dem ich
fürchtete, es könnte ausbleiben. Umso unwahrscheinlicher und grauenhafter
wirkt es jetzt, daß im Kriege fast alle Geister versagt haben. Nur K. vermochte
— 23
es, in 74 Seiten Prosa (>Nachts«) alles zu leisten, was eine Myriade von
Schriftstellern in einer ganzen Kriegsbibliothek antileistete. Der Krieg
hat K. nicht gebrochen, im Gegenteil, er hat ihn erst so recht bestätigt,
begründet, unterstrichen! Ich .... habe das, was er gestaltet, alles mit
unsäglichsten Gefühlen erlebt und bin fast erstickt an dem Bewußtsein
meiner S t u m m h e i t, meiner ewigen Stummheit .... Wenn ich irgendetwas
vom Krieg gelernt haben sollte, so ist es gerade das, was K., da es
mit ihm geboren war, schon vor dem Kriege wußte .... Ich werde
meinen Dank geistig bewirken und das, was ich hier sage, jederzeit
und unter allen Umständen sagen. Es steht fest, außer und über
aller Wandlung.
So darf es auch hier gesagt sein. Und nichts wäre erfreuh'clier
als eine Wandlung bis dorthin, wo man nicht bereuen muß, weil
man vergaß, daß man sich vergessen konnte. Ich bin der letzte,
einer Begabung, die sich hinreißen ließ, zu sprechen, was Millionen
nicht empfinden, noch dann zu mißtrauen, wenn sie wieder den
Anschluß an ein Gefühl gefunden hat. Von den tausend Anhängern,
die ich durch die Lockung jenes andern Machtworts losgeworden
bin, unter dessen Gebot man die Persönlichkeit nicht sein darf,
die man ehedem nicht sein konn.te, fehlt mir keiner und in
all dem verwünschten Chaos gibt mir noch der Gedanke Ruhe, daß
es auch den Verehrern eine Erleichte- ung war, nun zu den Verheerern
zählen zu müssen, zu können. Aber ich habe kein Recht, den
nicht zu achten, der zwar durch eine Probe von Selbstverleugnung,
die ein schlechteres Heldentum ist als das des Schützengrabens,
zur Kriegslyrik gekommen war, aber dann durch einen Akt
des Vergessens, der ein besseres Heldentum ist, als das der
Schützengrabenpoesie, wieder zur Besinnung kam. Nicht zu
mir, aber zu sich. Denn es würde mir leid tun, nicht glauben
zu sollen, daß in vier Zeilen, die hier einmal veröffentlicht waren:
»W.enn der Tag zu Ende gebrannt ist / ist es schwer nach Hause
zu gehn / wo viermal die starre Wand ist / und die leeren Stühle
stehn« — mehr Leben und Erlebnis ist als in einem Weltbrand,
der eben begonnen hat.
Ein langer Satz, der aber dafür auch alles enthält. Nämlich:
Eines unter jenen Tinterln, die jetzt Bluterl sind, aber eines,
das schon im Frieden ein Krafttinterl war, unruhig hin und her
— 24
bewegt zwischen dem Herrn Roosevelt (der auch Shaw heißt) und
trotzalledem mir, an dem es litt wie alle: so daß es mich in einem
Stil von meinem Stil — und keine größere Strafe gibt es doch als
meinen Stil in fremder Hand — , mit einer Wutverzerrung meines
Gesichts in Broschüren beschimpfte, deren Absatz von meinem
Namen auf dem Titelblatt garantiert, aber nicht durchgesetzt wurde ;
einer von den vielen, die im Konflikt zwischen dem Erlebnis meiner
Gegenwart und dem tiefer gefühlten ihrer Unwesenheit aufgewachsen
sind, aber ein ganzer Mann, weil er außer für mich ja auch noch für
die Elektrodynamik schwärmte, und dessen Schreiben ein Amoklauf
war in der Reportage, ein epileptischer Anfall auf mich, ein Krampf-
husten vom Hin und Her zwischen solchen Sphären; hei, ein frisch
Zugreifender, dessen geistige Verläßlichkeit meine Abstellung des
Falles Harden auf die mir neue Tatsache zurückführte, daß er mit
Bierbaum befreundet war, den ich eben deshalb wieder >Bierbaum-
bach« nannte, was ich schon zwanzig Jahre vorher tat, und so, oder
umgekehrt; viel Rotz, jetzt gewaffnet, hat sich gegen mich erhoben,
mich mit sich selbst beworfen, mich gar zu psychoanalysieren gesucht:
dieser aber war aus Erz, höchstens daß auch er leider, auch er, schade,
schade, ein so gesundes Gehirn, sich vorübergehend dazu hinreißen
ließ, mein Werk aus dem »Inzestmotiv« zu erklären; — mit einem
Wort, so einer hat jetzt, hei, nebbich, einen Artikel geschrieben,
>Isonzobibel<, der beginnt schlicht und herb: »Wir sind Frontleute«,
erhebt — ein männlicher, aber nicht ganz so männlicher Schalek
— Anspruch auf Heiligerklärung durch die Nachwelt, und beweist
immerhin, daß wir am Isonzo noch die Geistesgegenwart hatten, an
S. Fischer Berlin, zu denken, unsern Lieben in der Heimat ; selbstredend
wird es jetzt ein ganz neues Österreich, bis dahin hatte die Generation
gelitten, wie die Juden in der Wüste — der Vergleich liegt so nahe,
daß er fast gar keiner ist — hatten sie Prüfungen zu bestehen,
die vom akademischen Verband, nämlich außer den Staatsprüfung^en,
die sie nicht bestanden; wie Pferde im Stall — der Vergleich ist
schmeichelhaft, denn er ist von mir — nein, wie Automobile in
der Garage, haben sie ungeduldig gestampft, Taten zu tun waren
sie gesonnen, fähig und bereit, aber man hat sie nicht gelassen — und
jetzt, ah, wie das wohltut: jetzt wird das Leben einfach angekurbelt
werden, siehste so, und es wird gehen, nur daß man früher, um
zu zeigen, daß man 4 Wochen in Amerika war, also beinahe ein
Cowboy, bei jeder Gelegenheit, zum Beispiel statt guten Tag
»allright!< gesagt hat, während man das jetzt nicht mehr darf,
sondern Gott strafe Amerika sagen wird oder schlicht: m. w., also
mit einem Wort wie die Juden in der Wüste hatten sie gelitten.
Aber waren wir nicht weniger wehleidig? Machten wir nicht
weniger Wesens daraus? Es soll noch geschehen. Wir wollen
hernach, in den friedlichen Jahren, ein Wesens daraus machen, zum
ewigen Gedenken und zur Erbauung und Besinnung behaglicherer
Menschheit.
— 25
Da haben wir's. Das ist es, was ich immer befürchtet hatte.
Die Generation war bescheiden, sie hat sich in Adjektiven aus-
gelebt, und das rächt sich jetzt. Aber es wird kein prunkender
Kriegsbericht, sondern nur eine anspruchslose Bibel werden:
Wir wollen unsere Bibel noch in Demut und Bescheidenheit
erst schreiben, nicht eine prunkende Geschichte aus dem Ärmel ge-
schüttelter Siege. . . . Unsern Sieg wollen wir feiern, weil er uns
instandsetzt, unsere Bibel zu schreiben, unsere Psalmen zu sammeln,
unsere Choräle zu erheben. . . . Und so wollen wir unsern Sieg feiern
in einer alltäglichen Sprache und Art.
Da hat sich schneller als man geahnt hätte eine Gelegenheit
geboten. Wir sind Frontleute. Frisch vom Isonzo kommt einer
nach Wien, um das folgende Referat zu übernehmen:
Der regenerierte Verein für Kunst und Kultur hat es als Nach-
folger des ehemaligenakademischen Verbandes unternommen, ein nach-
gerade allgemeines Bedürfnis zu decken und die Genießer-
solidarität einer gewissen Wiener intellektuellen Schicht
wiederherzustellen. Der erste Versuch war vielversprechend. Er gelang
im diskreten Format einer Alfred Grunewald-Vorlesung; Ort: Saal des
Wissenschaftlichen Klubs: äußerer Umfang: voller Saal. Alfred Grünewald
kennt man. Vor nicht ganz 10 Jahren wurde er unter der Serie
jungdeutscher Lyrik mit George und Rilke zugleich genannt. (I) . . . Seine
Entwicklung .... zeigt . . eine Art dichterischen Gewerbefleißes, die
Solidarität, die bürgerliche Dämonie, die patriarchisch-legendarische
Autorität eines Hans Sachs.... Modern und entzückend für den
Hörer ist der Wörterwille des Dichters, seine schaffigen Bilder
sind tüchtig und ehrenwert wie Prosaisteneinfall; dies muß zur heutigen
guten Stunde unserer deutschen Prosa als ein Lob für den Lyriker
genommen werden ... Sie (die Vorleserin) stilisierte die an und für sich
melodischeLyrikzurNoch-einmal-Melodie, zu einem zweiten, sehr schlichten
Gesang, zu sich: zu melodisch für den immerhin männlichen Dichter,
aber reizend musiziert aus dereigenen streng getonten Seele(der, neben-
bei, auch das schnittig geschulte Gesicht im Halbdunkel entsprach.)-
Grünewald selbst als Sprecher in seiner trockenen, verknaxten, stets
vom Leben erreichten und poetisch deformierten, in seiner
(wenn bewährt, schön erklingend) steifen Haltung, seiner
fähigen Stimme, seiner barocken Figurenfreude war eine Nummer.
>Kunst und Kultur« möge deren mehr erbringen.
Krieg ist Krieg.
»Pau| Wegener ist als Filmdarsteller für die Berliner Filmfabrik
.Union' vef^flichtet worden. Er wird ziemlich zwei Films herstellen^
für die er ein verträgliches Honorar von 60.000 iMark erhält. <
Welch eine Friedenswelt!
26 —
Es kommt die Zeit, wo im Hinterland viel geschossen werden
wird. Aber warum darf man es nicht jetzt schon in Fällen, wo es
angebracht ist? Zum Beispiel:
Mk. 100.— Prämie
für das beste Gedicht I
Kriegsgedichte!
Ernst, Humor, Satire, Ironie, Scherz, nur
selbst verfaßte, aus allen Schichten des
Volkes gesucht für unser nationales Sam-
melwerk Deutsch -österreichische >Volks-
pöesie aus großer Zeit*. (Rücksendung
der Manuskripte findet nur bei Portobei-
fügung statt.) Annahme von nur Original-
gedichten bis 31. März
Hall & Ackermann,
Deutscher Literatur-Verlag, Köln a. Rh.
Antwerpenerstraße 4.
Es meldeten sich Freiwillige in unübersehbarer Zahl, Sie alle
"wurden genommen. Und zwar so:
Deutscher Literatur-Verlag
Hall & Ackermann
Baarzahlungen
werden erbeten auf Reichsbank-Giroconto
des Barmer Bank-Vereines Köln a. Rh. den 10. April 1916
Hinsberg, Fischer & Comp., Köln Direktion: Agrippina-Haos
Herrn ....
Wien ....
Anschließend an unsere Karte teilen wir Ihnen mit, daß das von Ihnen
eingesandte Gedicht »....« in unserem nationalhistorischen Werke
„>Volks-Poesie aus großer Zeitc
Band I. aufgenommen wird. Die Prämiierung des besten Gedichtes wird
bei Drucklegung der Gesamtmanuskripte unter Leitung unseres literarischen
Mitarbeiters, Herrn Schriftsteller und Nationaldichter Hall
erfolgen und ist ihr Gedicht unter No. . . bereits mit in die
eng.ere Wahl gefallen.
In Anbetracht des einzig und unerreich t dastehenden
ku turhistorischen Werkes und ganz besonders auf Anregung
unserer vielen Mitarbeiter, hoher und höchster HÄrschaften
haben wir, spec. auch um der allgewaltigen großen N aMonalsache
Rechnung zu tragen, uns entschlossen, im Werk nicht nur die Namen
der Verfasser und Verfasserinnen, sondern gleichzeitig auch das Bildnis
derselben mit aufzunehmen, um der Nachwelt ein ganz eigenartiges
— 27
Zeitdokumera zu überliefern, um der Jugend der Zukunft im Spiegel
der Literatur die Größe unserer heutigen Zeit anschaulich
und lehrreich vor Augen zu führen.
Da wir mit der Drucklegung in etwa 8 Tagen beginnen, so bitten
wir, sofern Sie noch Ihr Bild mitherein haben wollen, um
sofortige Einsendung der Photographie.
Die Verbildlich ung wird einheitlich gehalten und stellt sich
der Durchschnitts-Selbstkostenpreis für Klichee etc. auf nur
Mark 5,80, welcher Betrag uns ebenfalls mit Einsendung des Photos
zu übersenden wäre, damit wir in der korrekten Zusammen-
stellung des Ganzen nicht aufgehalten werden.
Wir bemerken aber hierzu ausdrücklich, daß das Gedicht auch
ohne Bild aufgenommen wird, mithin die Aufnahme nicht von der
Verbildlichung abhängt, jedoch möchten wir gerne, da einmal der
Wunsch angeregt ist, auch demzufolge alles einheitlich gestalten
und für alle Zeiten etwas schaffen, wie solches auf dem Gebiete
der Literatur bisher noch nicht herausgebracht wurde. Deshalb
hoffen wir, daß auch Sie sich den Wünschen Anderer mit der Tat
anschließen werden.
Der I. Band des Werkes wird in etwa 4 Wochen erscheinen
und werden wir unseren Mitarbeitern, zu denen nun auch Sie zählen,
dasselbe zum Vorzugs-Groß-Buchhändlerpreise überlassen. Der
genaue Preis kann heute noch nicht angegeben werden, da wir in
Anbetracht der Prachtbandausführung mit Illustrationen etc. noch nicht
festlegend kalkulieren können. Jedenfalls wird aber der Preis auf
Grund der nationalen Sache billig sein.
Sofern Sie sich nun auch das Werk zulegen wollen, bitten wir
Sie, da die erste Auflage schon zum größten Teile durch den Buch-
handel vergriffen ist, uns gleichzeitig mitteilen zu wollen, wieviel
Exemplare wir evtl. außerdem für Sie reservieren dürfen, da wir
annehmen, daß Sie doch wohl auch in Ihrem Bekanntenkreise
einige Werke unterzubringen beabsichtigen.
Wir sehen Ihren postwendenden Nachrichten und Einsendung
an unsere Adresse (Büro Agrippina-Haus) entgegen und zeichnen
hochachtungsvoll
Deutscher Literatur-Verlag
Hall & Ackermann
R. Ackermann
« «
*
>. . . es ist durchsetzt mit einer ins Tragische hinauf gesteigerten
Ironie; es vibriert hierin manchen Zeilen eine so tiefe, gereizte Bitterkeit,
daß man wohl annehmen darf, Shakespeare habe hier die eigenste
schmerzliche Welterfahrung niedergelegt. . . .
. . . Der hier erreichte Grad von Welthaß und Weltverachtung
wird den meisten unverständlich bleiben; die tragisch-ironische Verzerrung
der ganzen Welt ist dem großen Publikum an und für sich kaum
willkommen. . . .
28 —
. . . Die Szenen sind voll lebendigsten Lebens; Menschen-Art
und Menschen-Unart findet hier einen blanken, mitunter etwas böse,
immer aber geistreich verzerrenden Spiegel . . . . «
Das war irgendwo über »Troilus und Cressida« zu lesen.
Wenn somit der Dichter der Welt zwar etwas böse, aber immerhin
geistreich mitspielt, so wird ja auch das große Publikum nicht
mehr böse sein.
Der Stifter-Biograph, Alois Raimund Hein, schreibt:
— — — Hätte- ich nicht bereits vor einer Woche nach Berlin
an Herrn Studienrat Prof. Dr die Absage auf die Einladung
geschrieben, an dem von ihm und zahlreichen Geheimräten und geheimen
Hofräien geplanten Werke >Deutsche Dichter und der Krieg« durch Über-
nahme des Abschnittes >Adalbert Stifter und der Krieg« mitzuwirken,
so wäre die Darreichung ihrer letzten Fackel'-Nummer die deutlichste,
überzeugendste und verständlichste Ablehnung der ungeheuerlichen Absicht
gewesen, Stifter in die blutrünstige Kriegsliteratur unserer arg verblendeten
Zeit hineinzerren zu wollen. Man kann jetzt nicht scharf genug Vorsicht gegen
literarische und journalistische Scharfmacher einschärfen. Gott sei
Dank! Sie tun esl
Es ist doch kein Tag ohne Überraschung. Hat der Fasching
der Geister, die sich mit fremdem Blut beschmieren, seinen
Höhepunkt erreicht? Adalbert Stifter soll mittun! Fragte man so
einen gebildeten Arrangeur, warum, wozu, weshalb, wieso, er würde
nur lallen: Na hören Sie mal, erlauben Sie mal, sehn Sie mal,
bedenken Sie mal, Stifter war doch immerhin 'ne Nummer, und der
Krieg, das können Sie nicht leugnen, ist doch auch 'ne Nummer, also
müßte es fesselnd für jeden Gebildeten sein, die Beziehung
Stifters zum Krieg — na sehn Sie! Und überdies kommt ja im »Hoch-
wald« sogar der Dreißigjährige Krieg vor! . . . Oder sollte die Frage
nach dem Kriegsstifter bei dem großen Lärm ein Mißverständnis
hervorgerufen haben? Oder sollte nebst dem Interesse eines
Studienrats für den Krieg etwa die Beziehung eines Studienrats zum
Dichter der »Studien« die Sache aufklären? — Was fängt man
aber mit den vielen geheimen Räten, die der Krieg übrig lassen
wird, an? Man hätte sie schon vorher umbringen sollen. Denn
gäb's keinen geheimen Rat, gäb's keine laute Tat. Aber sollten
sie, einmal zur Ruhe gewiesen, noch weiter Lust haben, sich an
Stifter zu vergreifen, so wird auch ein lautes Wort am Platze sein!
29
Briefe Adalbert Stifters
(herausgegeben von Johannes Aprent. Pest, Verlag von Gustav
Heckenast, 1869)
An Gustav Heckenast.
Linz, am 25. Mai 1848.
Ich bin ein Mann des Maßes und der
Freiheit — beides ist jetzt leider gefährdet, und Viele
meinen, die Freiheit erst recht zu gründen, wenn sie
nur sehr weit von dem früheren Systeme abgehen, aber
da kommen sie an das andere Ende der Freiheit.
Nicht in der Alleingewalt, sondern in der Vertheilung
liegt sie. Solange die Leidenschaft forthastet und nie genug
gegen den Gegner gethan zu haben meint, ist meine
Stimme nicht vernehmlich und sind Gründe nicht
zugänglich. Deshalb bin ich stumm, bis man Meinungen
überhaupt sucht, nicht mehr blos Meinungsgenossen
Betrübend ist die Erscheinung, daß so Viele, welche
die Freiheit begehrt haben, nun selber von Despoten-
gelüsten heimgesucht werden; es ist auch im Gange
der Dinge natürlich; wer den Übermuth Anderer früher
ertragen mußte, wird, sobald er frei ist, nicht etwa
gerecht, sondern nur seinerseits übermüthig; das ist der
'große Unterschied, aus Gehorsam gehorchen
oder aus Achtung vor dem Gesetze. Die früher
blos gehorsam waren, die werden nun willkürlich,
und möchten, daß man ihnen gehorsame; die ihrem
Innern, eigenen Gesetze Genüge thaten, thun es
auch jetzt, und sind gerecht. Solche sind Männer der
Freiheit, die andern müssen es erst werden. Erst, wenn
die Anzahl Männer, die sich selbst zügeln können und
die ihnen im Übermaße zuströmende Gewalt als
Gleichgewicht in irgend eine andere Schale zu legen
— 30 —
vermögen, sehr groß wird, ist das Gonstitutionelle
Leben fertig. Und das ist schwerer, als man denkt.
Die Edelsten, welche lange Jahre gehorsamt haben,
kennen nur Gehorsam, und kommen, wenn sie
selber anzuordnen haben, ins Befehlen statt ins
Organisiren, so wie Kinder, wenn sie Eltern
spielen, nur die ihrigen copiren können.
Durch Überwachung seiner selbst, durch fleißiges
Studiren der Engländer, die die längste Schule
haben, und durch Ergründung der Ursachen mancher
Gleichgewichtsanstalten der Geschichte können wir den
Lernweg abkürzen, sonst wird er lang, und enthält alle
Fehler, die unerfahrene Vorgänger schon früher gemacht
und gebüßt haben. Und es sind schon, meine ich,
bedeutende Fehler in unserem neuen constitutionellen
Gebahren vorgefallen. Eine andere für den Menschen-
beobachter merkwürdige Thatsache kommt auch jetzt
zum Vorscheine: mancher Ehrenmann ist jetzt plötzlich
von bösen Leidenschaften und gierigen Gelüsten
beherrscht — er war nämlich nie ein Ehrenmann,
sondern seine Triebe waren blos gehemmt, jetzt fühlt
er den Damm weg, und sie strömen aus. . . . Unter
Manchen, die ich kannte, sind die sprudelndsten
Stürmer jetzt die, die früher die Schwächsten
waren. Sie können eben sich selber nicht widerstehen.
Das ist der Stoff zu Tyrannen. . . . Möge ein günstiger
Gott alle unsere deutschen Männer segnen, daß sie
bei so vielen herrlichen Eigenschaften unserm uralten
Fehler der Uneinigkeit nicht wieder unterliegen, und
die Ohnmacht des schönen Landes forterben. Möge
Europa sich bald in der theils neu errungenen, theils
schon länger bestandenen Freiheit festigen und ordnen
— sonst gehen wir bei dem Auftauchen so
vieler nicht meßbarer Gewalten einer düstern
Zukunft entgegen. . . .
— 31 —
An Joseph Türk.
Linz. 28. Juni 1848.
So viele Freunde versprachen mir bei meiner
Abreise Briefe, und kein einziger hat Wort gehalten.
Von Dir habe ich einige Zeilen erhalten, die ich beant-
worten wollte, aber anfänglich nicht dazu kam, und
dann wartete, bis ich überhaupt mehr zu schreiben
hätte — allein ich habe nichts zu schreiben, denn
hier geschieht nichts von Belang, als daß sich
die Natur mit unermeßlichem Schmuck und,
Gott sei Dank, auch mit unermeßlichem Ernte-
segen beladet, aber wer schaut jetzt auf die
Natur. . . . Möge der Himmel das schöne Land und
die herrliche Stadt beschützen, daß seine Bewohner, die
fast den schönsten Schatz von Gemüth und Herz unter
allen deutschen Stämmen bewahrt haben, auch Rath,
Weisheit, Mäßigung bewahren, daß sie (auf beiden
Seiten) die Leidenschaft nicht hören mögen, die hier
zu Befürchtungen, dort zu Rache anspornt, sondern
daß sie wie entzweite Freunde anfangen, nicht mehr
das Böse an einander, sondern das Gute zu sehen,
und daß so die Einigung, die Versöhnung und als
schönste Tochter beider, die Kraft, hervorgehe. Selbst
die Tschechen, die uns aus Verblendung und Ver-
kennung so schwere Stunden bereiten, und die in
letzter Zeit eine traurige Erfahrung gemacht
haben, sollen wir mit Vergessenheit alles Geschehenen
als Brüder aufnehmen, wenn sie sich uns wieder nähern,
und von uns die Gewährung aller ihrer Sitten,
Gewohnheiten, Sprache empfangen, so wie sie
dem Deutschen, wo er vereinzelt in ihrer Mitte ist,
nach seiner Art und Weise gewähren lassen sollen. . . .
Was aber den allergrößten Schaden bringt, sind die
unreifen Politiker, die in Träumen, Declamationen und
Phantasien herum irren, und doch so drängen, daß nur
das Ihrige geschehe. Könnte jeder, der die Sache
nicht versteht, dies nur auch mit solcher Gewiß-
32 —
heit wissen, wie daß er keine Uhr machen kann,
ufld würde er auch mit so viel Bescheidenheit
begabt sein, das, was er nicht kann, auch nicht
machen zu wollen — so wäre uns fast aus
aller Verlegenheit geholfen. . . .
An Gustav Heckenast.
Linz, am 8. September 1848.
Der Mensch kann nicht leben ohne dem
sittlich Großen, ja, wenn es ihm entzogen wird, ver-
langt er darnach mit heftigerem Hunger, als nach jedem
andern Dinge dieser Erde. Schon jetzt ist eine Ent-
rüstung über die Schandliteratur unserer Tage
in allen Gemüthern, und sie verlangen mit Sehnsucht
wie nach einem Tropfen Quellwasser in der Wüste
nach dem Edleren. Wenn einmal die Welt im Grimme
aufstehen wird, um all das Bubenhafte, das in
unsern äußern Zuständen ist, zu zertrümmern,
dann wird die geschändete Schönheitsgöttin auch wieder
mit ihrem reinen Antlitze unter uns wandeln, ja, statt
der bisherigen blos lieblichen oder naiven Miene wird
sie das höhere, würdigere und siegesreichere Angesicht
der wahren Göttin tragen. Geschähe das nicht, so
wären wir alle ohnehin verloren, und das
Proletariat würde, wie ein anderer Hunnenzug,
über den Trümmern der Musen- und Gottheitstempel in
trauriger Entmenschung prangen. Das ist aber heute
und im heutigen Europa unmöglich — eher bricht
die Knute über uns herein. ...
An Gustav Heckenast.
Linz, am 6. März 1849.
Das war ein fürchterliches Jahr! Ich
habe mich in Bezug der Dinge, die da kommen werden,
keinen Augenblick getäuscht, als ich nur einmal von
der Haupttäuschung frei war, nämlich von der,
33
von unser n sogenannten gebildeten Leuten etwas
zu halten. Von da an habe ich fast buchstäblich die
Ereignisse vorausgesagt, in Linz sind viele Zeugen
über diese Tatsache, die mich damals ausgelacht haben.
Den ungarischen Krieg sagte ich am 15. März 1848
zu Grillparzer voraus (ich glaube, an diesem Tage
wurden die Separatministerien bewilligt). Ich sagte
einmal zu Zedlitz : Wenn einmal eineBewegung ausbräche,
dann behüte uns Gott vor den Journalisten und
Professoren. Gewiß wird sich Zedlitz dieses Satzes
jetzt oft erinnern. — Wir hatten eine furchtbare Zeit,
wo sich die Staatskomödianten im Grenzboten etc. etc.
recht entwickelten, nur nicht die Staatsmänner, und
wer ein schlechter Dichter, ein ruinirter Student u. s. w.
war, wird jetzt Staatsmann. — Das Ideal der Freiheit
ist auf lange Zeit vernichtet. Wer sittlich frei ist,
kann es staatlich sein, ja ist es immer, den andern
können alleMächte der Erde nicht dazu machen.
Es gibt nur eine Macht, die es kann: Bildung. Darum er-
zeugte sich in mir eine ordentliche krankhafte Sehnsucht,
die da sagt: »Lasset die Kleinen zu mir kommen,« denn
durch die, wenn der Staat ihre Erziehung und Mensch-
werdung in erleuchtete Hände legt, kann allein die
Vernunft, die Freiheit gegründet werden, sonst ewig
nie! — »Unsere Schule wird eben die Übung sein,«
sagte ein Freund. »Ja« — antwortete ich — »mein
Knabe muß schwimmen lernen, dazu muß er ins Wasser,
also werfe ich ihn von der Brücke in die Donau!« Ich
habe diesen Sommer durch so vieles Schlechte,
Freche, Unmenschliche und Dumme, das sich
dreist machte und für Höchstes ausgab, unsäglich
gelitten.Wasin mir groß,gut,schön und vernünftig
war, empörte sich, selbst Tod ist süßer, als solch'
ein Leben, wo Sitte, Heiligkeit, Kunst, Gött-
liches nichts mehr ist, und jeder Schlamm und
jede Thierheit, weil jetzt Freiheit ist, ein Recht
zu haben wähnt, hervorzubrechen; ja, nicht bios
hervorzubrechen, sondern zu terrorisiren. Das Thier
34 —
kennt nicht Vergleich mit dem Gegner, sondern
nur dessen Vernichtung. Sind diese Menschen frei?
fragte ich oft. Früher lag der Stein der Polizei auf
ihren Lastern, jetzt treten dieselben auf, und die
Besitzer werden von ihnen zerrissen. Sind sie frei?
Darum gibt es nur das einzige Mittel: »Bildung!«
Ich habe im Mai, Juni, Juli fleißig in der Geschichte
zu meiner Erzählung gearbeitet. Später war ich unmächtig.
Ich habe einmal zu Ihnen gesagt: »Nur Krankheit
kann mich hindernj« aber Krankheit wäre ein Labsal
gewesen in Vergleich mit diesen Seelenleiden. Jetzt, wo
wenigstens äußere Ruhe ist, lebe ich sehr zurückgezogen,
arbeite sehr viel, und lebe von meiner eigenen, Innern
Gestalt Viele Menschen in Wien kennen mich, manche
Stimmen nennen mich, und wenn der Boden so ist,
daß ein Samenkorn sittliche Früchte bringen kann,
dann werde ich gewiß redlich dazu arbeiten helfen.
Daß ich keinen Ehrgeiz habe, so weit werden Sie
mich kennen (ich hätte sonst wohl schon irgendwo
zugetappt), aber daß ich einen Thatengeiz hätte, d. h.
die menschliche Bildung wesentlich fördern möchte,
das wissen Sie auch. Mein Gott, ich gäbe gerne
mein Blut her, wenn ich die Menschheit mit
einem Rucke auf die Stufe sittlicher Schönheit
heben könnte, auf der ich sie wünschte. Unter
einem Minister arbeiten, der die Weite und Größe
rein menschlichen Blickes hätte, der mit einfacher
Formel die große Menschheit zusammenfaßt, und sie
als Endziel der einzelnen Strebungen hinstellt, welche
Seligkeit! Etwa Grillparzer? Er fällt mir immer dabei
ein. Um einen solchen Mann dann die beigearteten
Kräfte gruppirt, daß sie ihn begriffen und die Theile
ausfüllten — welch' ein schönes Bild. Aber dann
müßte es kein Unterrichtsministerium geben, das immer
mit den andern abdankt, sondern eine Unterrichts-
commission (oder dergleichen), die bleibt. Ich habe
einen ganzen Plan über Volksschulen (Unterricht —
[Fachschule]) und Erziehung — [Humanitarschule] ins
35
Detail ausgearbeitet. Meine jetzige Lage ist sehr
schlecht, alle Bestrebungen sind im Augenblicke
unmöglich. ...
Nach 6 (der „Studien") erhalten Sie zwei oder
drei Bändchen für Kinder, die Sie bandweise ausgeben
können, Kinder revolutioniren nicht, und Mütter auch
nicht, also schauen Sie auf das Werk. . . .
An Joseph TQrk.
Linz, am 26. April 1849.
Ich habe oft Tage, wo mir das Herz
brechen möchte. Jetzt nimmt man allerlei Anläufe, aber das
oberste Prinzip steht noch nirgends fest; daß nämlich
Erziehung die erste und heiligste Pflicht des Staates
ist; denn darum haben wir ja den Staat, daß wir
in ihm Menschen seien, und darum muß er uns
zu Menschen machen, daß er Staatsbürger habe
und ein Staat sei, keine Strafanstalt, in der man
immer Kanonen braucht, daß die wilden Thiere
nicht losbrechen. Man bessert jetzt in den bereits
bestehenden Anstalten immer herum, als wie wenn
jemand am Senegal einen eisernen Ofen hätte, der ihm
in der Regenzeit allemal verdirbt, und den er allemal
mit neuem Bleche flickt. Ich habe hier manche derlei
Arbeiten gehabt. Wie war ich dabei traurig. . . .
An Gustav Heckenast.
Linz, am 4. September 1849.
Könnte ich Ihnen nur zum zehnten
Theile schildern, was ich seit März 1848 gelitten habe.
Als ich sah, welchen Gang die Dinge nehmen, bemäch-
tigte sich meiner die tiefste und düsterste Nieder-
geschlagenheit um die Menschheit, ich folgte den
Ereignissen mit einer Aufmerksamkeit und Ergriffenheit,
die ich selber nie an mir vermuthet hatte. Als die
Unvernunft, der hohle Enthusiasmus, dann die
— 36
Schlechtigkeit, die Leerheit, und endlich sogar
das Verbrechen sich breit machten, und die
Welt in Besitz nahmen: da brach mir fast buch-
stäblich das Herz ....
Die Verhältnisse sehen, und doch die Verwirrung
und Schlechtigkeit geschehen lassen müssen, ist ein
Schmerz, der sich kaum beschreiben läßt. Ich habe in
diesem Jahre Gefühle kennen gelernt, von denen ich
früher keine Ahnung hatte. Alles Schöne, Große,
Menschliche war dahin, das Gemüth war zerrüttet, die
Poesie gewichen. Erst langsam kehren die schönen
Gestalten wieder zurück, der Fels, der Baum,
der Himmel beginnen wieder zu sprechen, und
edle Menschen gibt es ja auch, die man lieben kann,
und die man mit desto heißerer Liebe liebt, je treuer
sie geblieben waren, als so viele zu den Schlechten
abfielen. . . .
An Gustav Heckenast.
Linz, am 16. October 1849.
Ich machte mir den Grundsatz, mich
zu beherrschen und gerecht und rechtschaffen zu sein,
nebstbei nie in etwas einzugreifen, von dem mir mein
Gewissen sagte, daß ich es nicht verstehe, und ließ
dann die Welt urtheilen, wie sie wollte. Meinten doch
auch Viele, die Kunst sei dem Ernste und der Größe
der Zeit gegenüber unbedeutend, und auf viele Jahre
hin würden sich die Menschen mit dieser Spielerei
nicht mehr abgeben. Ich sagte darauf, die Kunst sei
nicht nur höher als alle Welthändel, sondern
sie sei nebst der Religion das Höchste, und
ihrer Würde und ihrer Größe gegenüber seien
die eben laufenden Dinge nur thörichte Rauf-
händel; wenn die Menschen nicht alles Selbstgefühles
bar geworden sind, werden sie sich bald von dem
trüben und unreinen Strudel abwenden, und wieder
die stille, einfache, aber heilige und sittliche Göttin
37 —
anbeten. Und siehe, so ist es. Ja, des iiohlen und
öden Phrasenthums müde und ekel, werden sie das-
selbe jetzt auch in der Kunst erkennen, wenn es auf-
tritt, werden es verschmähen, und es steht daher diesem
schönsten irdischen Dinge der Menschen eine Reinigung
bevor. Die Revolution ist sogar aus dem Phrasenthume
der Afteriiteratur hervorgegangen. Ich habe Briefe aus
der Gegenwart zu schreiben begonnen, sie sollten in die
Allgemeine Zeitung kommen, aber ich that^es nicht. In
denselben wird die Revolution aus der Hohlheit
unserer Sitten und Literatur hergeleitet. Vielleicht
wäre in Kurzem die Zeit, wo eine solche ruhige,
philosophische Entwicklung Anklang fände.
Seien Sie getrost und heiter, wir wollen sehr
thätig sein, und Gott wird helfen. Vertrauen Sie mir,
meine Kräfte sind aus dem Sturme der Zeiten
fester hervorgegangen, als sie früher waren, wie
man nach einer Krankheit oft gesünder ist, als vorher
An Louise Baronesse von Eichendorf.
Linz, am 23. März 1852.
Ich habe, wie ich in der Vorrede zu
den Studien sagte, nie auf Schriftsteller- oder Dichterruhm
Anspruch gemacht ; Ruhm ist etwas so Eitles und Kurz-
dauerndes, daß das Streben darnach nur einem nieder-
stehenden Geiste zukommt, und ein Dichter (ich meine
ein echter, ein hoher Priester der Menschheit) ist wieder
etwas so Erhabenes, daß ich beides nicht anstrebe: aber
guten Menschen eine gute Stunde zu bereiten, Gefühle
und Ansichten, die ich für hohe halte, mitzutheilen,
an edleren Menschen zu erproben, ob diese Gefühle
wirklich hohe sind, und das Reich des Reinen, Ein-
fachen, Schönen, das nicht nur häufig aus der Literatur,
sondern auch aus dem Leben zu verschwinden droht,
auszubreiten und in einer nicht ganz unschönen Ge-
stalt vor die Leser treten zu lassen, das war und ist
das Streben meiner Schriften. Daher ist es mir immer
38
eine große Freude, wenn ich an höheren Menschen
wahrnehme, daß ich in meinem Streben nicht ganz
geirrt habe, und ein schönes Gefühl, ein heiteres
Lächeln, eine sittliche Freude, die mir entgegen kommt,
und sich als Frucht meiner Schriften ankündigt, ist
meinem Herzen weit wohlthuender, als alle gelehrten
und lobspendenden Kritiken. Namentlich freut mich
die Wirkung an einfachen, ungekünstelten Gemüthern,
denn sie stehen der Natur näher, und an die reine
Natur wollte ich mich wenden. Mit Menschen mensch-
lich sein, mit Höheren das Höhere lieben, an Gottes
Schöpfung sich freuen, die festgegründete Erde nicht
verachten, sich einem piaktischen Handeln hingeben,
es nicht verachten, wie Maria in den »Schwestern«
selbst Gemüse zu pflanzen und Gartenbeete zu düngen
und doch ein höherer, opferfreudiger Mensch zu sein,
endlich mit fühlenden, geistigen Menschen gleichsam
einen unsichtbaren Umgang zu haben, das war un-
gefähr die Grundlage meiner Schriften.
Sie haben mir so lieb und dankbar geschrieben,
daß mir Ihr Brief theuer ist, und wenn ich Ihnen einen
Theil Zufriedenheit wieder gegeben habe, wenn ich das
vielleicht an andern Menschen auch noch zu thun ver-
mag, so ist ja das ein Lohn, der weit das Verdienst
meiller anspruchlosen Bücher übersteigt, und ich kann
Gott nicht genug danken, daß er mir ins Herz ge-
geben hat, die Feder zu nehmen, und Dinge nieder-
zuschreiben, wie sie mir ungefähr im Gemüthe waren.
Ich habe kein Verdienst an meinen Arbeiten, ich habe
nichts gemacht, ich habe nur das Vorhandene aus-
geplaudert. Von Kindheit an mit einem gesunden
Körper ausgestattet, schloß ich mich mit Freude an
alle Naturdinge, liebte an Menschen die Äußerungen
unverdorbenen Gemüthes, liebte überhaupt die
Menschen, war (bis 1848 wenigstens) heiter
wie die antiken Völker — und diese Dinge
mochten auch in meine Schriften gekommen sein. . . .
39 —
An einen alten Lehrer
(Henricus Stephanus Sedlmayer)
Da neulich sah ich wie in der Jugendzeit
Dich weißen Hauptes, irgendwohin den Blick
Gerichtet nach einer Vokabel,
Welche ein Schüler verloren hatte.
Ein andrer mußte, nicht auf den Ruf gefaßt,
Eh er sich fassen konnte, sie fassen schon,
Und war auch er es nicht imstande.
Nanntest du es eine Seelenroheit.
Von strenger Milde war dieser Unterricht.
Du guter Lehrer hattest den Schüler gern.
Doch näher deinem reinen Herzen
Lag wohl das Wohl eines armen Wortes.
Latein und Deutsch : du hast sie mir beigebracht
Doch dank ich Deutsch dir, weil ich Latein gelernt.
Wie wurde deutsch mir, als ich deinen
Lieben Ovidius lesen konnte!
Denn jenes wahrlich machte mir Schwierigkeit.
Mir fehlten Worte, und es gelang mir nicht,
Den Frühling, den ich erst erlebte.
In einem Aufsatz auch zu beschreiben.
Ovid ja selber hätte es nicht vermocht.
Und Goethe länger als eine Stund gebraucht —
Wie sollte es ein Schulbub treffen,
Wenn er nicht grade ein Journalist war?
40 —
Du guter Lehrer wußtest das nur zu gut.
Du übtest Nachsicht und weil ich in Latein
Doch vorzüglich bestanden hatte,
Gabst du in Deutsch mir nicht nichtgenügend.
So kam ich durch und besserte später mich,
Weil ich es fühlte, daß ich dir schuldig war,
Im deutschen Aufsatz nach der Schule
Deinen Erwartungen zu entsprechen.
Hätt' ich schon damals gleich zwischen acht und neun
So Deutsch geschrieben, wie zwischen zehn und elf
Latein ich las, war' diese Ode
Diese horazische nicht entstanden.
Nimm diese Fleißaufgabe als Jugendgruß.
Denn du stehst milde heute wie einst vor mir.
In Bild und Wort bist du mir nahe.
Als ob ich heute noch vor dir säße.
Ich sehe dich, wie du mit der feinen Hand
Die Stirn dir streichst, die sorgende, als ob du
Ein krankes Wort betreuen müßtest —
Heilige Pflicht vor profanen Zeugen.
Schneeweiß wie damals, neigend den Kopf, doch hoch
Den Sinn wie damals, traf ich dich auf dem Weg
Zur Schule neulich und es war mir.
Daß ich mit dir in die Schule ginge.
Wohin verlor sich, sag mir, dein Altersblick,
Mir unverloren? Lehrest du immer noch
Verlorner Gegenwart die Sprache?
Folg mir und lasse die Klasse fallen!
— 41 —
Gruß an Bahr und Hofmannsthal
Qruß an Hofmannsthal
Ich weiß nur, daß Sie in Waffen sind, lieber Hugo,
doch niemand kann mir sagen, wo. So will ich Ihnen durch die
Zeitung schreiben. Vielleicht weht's der liebe Wind an Ihr
Wachtfeuer und grüßt Sie schön von mir.
Mir fällt ein, daß wir uns eigentlich niemals näher waren,
als da Sie Ihr Jahr bei den Dragonern machten. Erinnern Sie sich noch ? Sie
holten mich gern abends ab und wir gingen zusammen und ich weiß
noch, wie seltsam es mir oft war, wenn wir im Gespräch immer höher
in die Höhe stiegen, über alle Höhen uns verstiegen, und dann mein
Blick, zurückkehrend, wieder auf Ihre Uniform fiel; sie paßte nicht recht zu
den gar nicht uniformen Gedanken. Im Oktober werden's zwanzig Jahre I Seit-
dem ist man >berühmt< geworden, es hat uns an nichts gefehlt, aber
wer wagt zu sagen, daß diese zwanzig Jahre gut für uns waren? Wie sind
sie jetzt plötzlich so blaß geworden in diesem heiligen
Augenblickl Es war eine Zeit der Trennung, der Entfernung, der
Vereinsamung; jeder ging vom anderen weg, jeder stand für sich, nur
für sich allein, da froren wir. Jetzt hat es uns wieder zusammen-
geblasen, alle stehen für einander, da haben wir warm. Jeder
Deutsche, daheim oder im Feld, trägt jetzt die Uniform.
Das ist das ungeheure Glück dieses Augenblicks. Mög es uns
Gott erhaltenl
Und nun ist auf einmal auch alles weg, was uns zur Seite trieb.
Nun sind wir alle wieder auf der einen großen deutschen Straße. Es ist
der alte Weg, den schon das Nibelungenlied ging, und
Minnesang und Meistergesang, unsere Mystik und unser deutsches
Barock, Klopstock und Herder, Goethe und Schiller, Kant und Fichte,
Bach, Beethoven und Wagner. Dann aber hatten wir uns vergangen, auf
manchen Pfad ins Verzwickte, Jetzt hat uns das grorße Schicksal wieder
auf den rechten Weggebracht. Das wollen wir uns aber verdienen.
Glückauf, lieber Leutnant. Ich weiß, Sie sind froh.
Sie fühlen das Glück, dabei zu sein. Es gibt kein größeres.
Und das wollen wir uns jetzt merken für alle Zeit: es gilt,
dabei zu sein. Und wollen dafür sorgen, daß wir hinfort immer
etwas haben sollen, wobei man sein kann. Dann wären wir am
Ziel des deutschen Wegs, und Minnesang und Meistersang, Herr Walter
von der Vogelweide und Hans Sachs, Eckhart und Tauler, Mystik und
Barock, Klopstock und Herder, Goethe und Schiller, Kant und Fichte,
Beethoven und Wagner wären dann erfüllt. Und das hat unserem armen
Geschlecht der große Gott beschert!
— 42
Nun müßt ihr aber doch bald in Warschau seini Da
gehen Sie nur gleich auf unser Konsulat und fragen nach,
ob der österreichisch-ungarische Generalkonsul noch dort
ist: Leopold Andrian. Das ist nun auch gerade zwanzig Jahre her,
daß Andrian den »Garten der Erkenntnis« schrieb, diese stärkste Ver-
heißung. Er wird sie schon noch halten, mir ist nicht bang: ein Buch
mit zwanzig, eins mit vierzig, eins mit sechzig Jahren, weiter nichts, in
jedem aber volle zwanzig Jahre drin, dann wird er der Dichter der drei
Bücher sein, das ist auch ganz genug. Und wenn ihr so ver-
gnügt beisammen seid, und während draußen dieTrommeln
schlagen, der Poldi durchs Zimmer stapft und mit seiner
heißen dunklen Stimme Baudelaire deklamiert, vergeßt mich
nicht, ich denk an euchl
Es geht euch ja so gut, und es muß einem ja da doch
auch schrecklich viel einfallen, nicht?
Auf Wiedersehen I
Bayreuth, 16. August 1914.
Hermann Bahr.
Heute kann's ja doch endlich zugestellt und ohne Verletzung
des Briefgeheimnisses verbreitet werden. Heute muß ja der Humor
dieser brieflichen Feuertaufe von durchschlagendem Effekt sein.
Denn damals, als das Grauen noch eine Sensation war und man
noch aufhorchte, wenn Mörser losgingen, ist die Wirkung verpufft.
Und doch war dieses Schreiben des damals national, jetzt katholisch
spekulierenden Literaturfilous, das ihn zugleich von der Seite jener
Dummheit zeigte, die das aussichtsvollste Geschäft verderben
kann, — und doch war es damals, ernsthaft, in den Zeitungen ver-
öffentlicht, bei uns und in Berlin, und wurde von dem Meister
noch in ein Buch, das er »Kriegssegen« nannte, aufgenommen.
Das Glück, dabei zu sein, wurde von diesem Hermann Bahr allerdings
zu einer Zeit empfunden, wo die Kriegsleistungspflicht noch nicht
auf die 50- bis 55 jährigen ausgedehnt war. Aber schließlich, wer
hätte denn je gefürchtet, daß man auf Herrn Bahrs Dienste
reflektieren würde, solange die Charge eines Kriegshanswurstes
eine freiwillige und noch nicht systemisiert ist? Er ist darum noch
kein Soldat, weil er den Kriegsausbruch einen »heiligen Augen-
blick« nennt, wie er darum noch kein Heiliger ist, weil er einen
katholischen Roman geschrieben und ihn »Himmelfahrt« genannt hat.
Es handelt sich indes nicht um sein Wohl und Wehe, von dem man
überzeugt sein kann, daß er es in den Dienst jeder guten Sache stellen
würde, die gerade aktuell ist, da er ja überall unabkömmlich ist und
43
nie daran dächte, sich anders als auf die bisherige Art reklamieren
zu lassen. Es handelt sich vielmehr um die Einziehung des Herrn
V. Hofmannsthal in die kriegerische Sphäre, die hier auf eine
in der Geschichte der Mobilisierungen noch nicht erhörte Weise
besorgt wird. Was die Verhältnisse der Wirklichkeit anlangt, in
der Herr v. Hofmannsthal lebt und in der er, wenn schon nicht
mit seinem Ruhme, so doch mit seiner Gesundheit den Weltkrieg
überleben wird, so läßt sich nur sagen, daß es keine privatere
Angelegenheit auf dieser blutigen Erde geben könnte als die Frage,
ob einer mit größerer oder geringerer Begeisterung dabei ist, wo
er dabei sein muß ; daß es die letzte Privatangelegenheit ist, die der
heutige Mensch hat; und daß es höchstens Sache des Staates, nie
aber des Mitmenschen sein darf, der Kreatur den ungestörten Genuß
des Erdenglücks zu mißgönnen. Aber die völlige Schamlosigkeit,
mit der in diesem Fall auf publizistischem Wege die Gewißheit
verbreitet wurde, daß der Herr von Hofmannsthal »in Waffen«
sei und irgendwo — wer weiß wo - an einem Wachtfeuer sitze,
an das der »Wind« den Gruß des Altmeisters, des daheim
sitzenden, leidernicht mehr mitkönnenden, wehen möge — bitte, wehen
möge! — nur dieser übertriebene Optimismus fordert zu der tat-
sächlichen Feststellung heraus, daß selbst im Krieg, der bekanntlich
Krieg ist, auf die postalischen Verbindungen mehr Verlaß ist als auf
den Wind. Denn die Post kann, wenn es ihr auch noch so schwer
gemacht wird, immerhin findig sein, während der Wind ein
von Natur schwanker Geselle ist, ehrgeizlos und ein Blatt
öfter auf einen Misthaufen wehend, als Mist zu einem Wacht-
feuer, an dem ein vaterländischer Dichter, wenn er gerade nichts
zu singen und zu sagen hat, der Lieben in der Heimat gedenkt,
welche jetzt Briefe an ihn schreiben mögen, die ihn nicht erreichen.
Aber auf die Post kann man, wenn sich nicht die Zensur ins Mittel
legt, Häuser bauen, die sie dann eins nach dem andern abläuft,
bis sie den Adressaten gefunden hat, und der Briefträger hätte dem
Herrn Bahr, der sich einmal beklagt hat, daß ihm die Briefe der
Cosima Wagner nicht zugestellt werden, während die von Gabor
Steiner ankamen, triumphierend beweisen können, daß er den Leutnant
Hofmannsthal gefunden habe, gleich beim Ausbruch des Weltkriegs
und die ganze große Zeit hindurch, an einem Wachtfeuer, das im
Kriegsfürsorgeamt brennt und wo die Meinung des Herrn Bahr,
44
daß man dort warm habe und alle für einander stehen,
durchaus zutrifft. Wer weiß wo: ehedem der schwermütige Refrain
eines Soldatenliedes, ist in diesem Fall nicht einmal ein Post-
vermerk, da es sich keineswegs um die Feldpost handelt, deren
Arbeit selbst bei zustellbaren Briefen immerhin durch die Truppen-
bewegungen erschwert wird. Denn es ist einfach nicht wahr, daß
es je eine Zeit gab und wäre sie noch so groß gewesen, da
niemand sagen konnte, wo Herr v. Hofmannsthal, und hätte er
selbst in Waffen gestarrt, sich aufhalte. Er hat vor zwanzig Jahren
als Dragoner Herrn Bahr begleitet; er wäre, da er in solcher
Eigenschaft den Weltkrieg keineswegs begleitet hat, von Herrn Bahr zu
finden gewesen. Diesem ist nur eingefallen, »daß sie sich eigentlich
niemals näher waren«, als damals. Aber es hätte ihm eigentlich einfallen
können, daß sie sich jetzt noch näher sind. Zum Beispiel dem
Setzer, der diesen meinen Gruß gesetzt hat, ist es gleich beim
Anblick des Bahr'schen Grußes, wiewohl der ihm schon
gedruckt vorlag, eingefallen, und er hat die Stelle, wo es von
jenen zwanzig Jahren heißt, daß »sie« so blaß geworden seien,
irrtümlich für einen Druckfehler gehalten und richtig so
gesetzt: »Wie sind Sie jetzt plötzlich so blaß geworden in
diesem heiligen Augenblick!« Und er hat ein Übriges getan: er
hat die Stelle, wo Herr Bahr von dem Glück, dabei zu sein, spricht,
von dem ungeheuren Glück des Augenblicks: »Mög es uns Gott
erhalten!«, er hat auch diese für einen Druckfehler angesehen und
als ein gründlicher Kenner derwahren Seelenbeschaffenheit der beiden
Herren die Worte hingesetzt: »Möge uns Gott erhalten !« Warum auch
nicht? Es hat ja den beiden Herren durch all die zwanzig Jahre »an
nichts gefehlt«, sie hatten sich so viel verdient, nun wollen sie sich
auch noch das Glück des Augenblicks verdienen und einen Schluß
auf Heroismus machen, wenn die Geschäftsspesen nicht allzu groß
sind, Gott möge sie erhalten. Gott weiß, wie es der Setzer weiß,
wie es der Briefträger und alle Welt weiß: wo Herr v. Hofmanns-
thal jenes Glück, von dem Herr Bahr behauptet, daß es kein
größeres gibt, tatsächlich erlebt hat. Nur Herr v. Hofmannsthal
selbst hat gezögert, es zu sagen; und da er die Bescheidenheit
hatte, den offenen Brief des Mentors nicht auf der Stelle
offen zu beantworten und nicht in jenen Zeitungen, die ihn
gedruckt hatten, zu erklären, er sei zwar noch nicht in Warschau,
— 45 -
werde aber in Wien bleiben, weil er nicht mehr in Rodaun
sein könne — so ist es erlaubt, an seiner Statt nachträglich
die Berichtigung vorzunehmen. Dem rapiden Sturmlauf der Ent-
wicklung vom Nibelungenlied über Herrn Walther von der Vogel-
weide, Mystik und Barock, Klopstock, Kant, Schiller, Beethoven bis zu
der Erwartung: »Nun müßt ihr aber doch bald in Warschau sein!<,
will ich mich dabei nicht hinderlich in den Weg stellen, da ja der Weg
zweifellos der »rechte« ist. Indes, der Aufgeber des verloren gegange-
nen, aber viel gelesenen Briefes, der Autor dieses von der eigenen
Windigkeit verwehten Bekenntnisses, dürfte längst wissen, daß
am 16. August 1914 oder in den folgenden Tagen die Öster-
reicher im Allgemeinen noch nicht in Warschau waren, daß
speziell aber der Leutnant Hofmannsthal überhaupt nie so weit
vorgedrungen ist, wenn ihm nicht etwa nach der Einnahme
dieser Festung Gelegenheit geboten war, mit Liebesgaben-
paketen oder in sonst einer honorigen Mission des Kriegsfürsorge-
amtes dortsei bst zu erscheinen. Was nun vollends die andere Erwartung
des Herrn Bahr anlangt, Hofmannsthal werde, sobald er mit der öster-
reichischen Armee seinen Einzug in Warschau halte, die Gelegenheit
benützen, den dortigen österreichischen Generalkonsul aufzusuchen,
so gehört sie so sehr in den Bereich jener Vorstellungen, die der
kleine Moriz vom Kriege hat und die keineswegs zu verwechseln
sind mit den Vorstellungen des großen Moriz, die wir tagtäglich
im Leitartikel mitmachen, daß man sich wundern muß, wie die
Setzer, die es das erstemal zum Druck brachten, die Setzer
des Herrn Bahr, doch zweifellos von Gelächter geschüttelt, keinen
Mißgriff gemacht haben. Ich habe, wie schon erwähnt, die
meinen vor Ausschreitungen bewahren müssen. Denn mit den Setzern
ist nicht zu spaßen, wenn sie einmal etwas Spaßiges in
die Arbeit kriegen; da ist ihnen kein Augenblick heilig. Daß
aber die Leser, ergriffen von dem Vorbild der Treue im
Hinterland, wo auch der alternde Dichter seiner Lieben im
Felde gedenkt, nicht gelacht haben, ist begreiflich. Was könnte
man ihnen, die zu jedem vaterländischen Opfer des Intellekts
bereit sind, in einem heiligen Augenblick nicht alles zumuten!
Herr Bahr aber, der ja auch damals schon mehr als 50 Jahre alt
war, also in einem Alter stand, das ihn zum Waffendienst wie
zum Ammenmärchen in gleicher Weise untauglich macht, war
— 46 —
ernstlich der Meinung, daß der müde Sieger Hofmannsthal gleich
beim Einmarsch und ehe er sich noch im Hotel die Hände vom
Blut gereinigt hat, aufs Konsulat gehen werde, das an einem
Tage, wo österreichische Truppen einziehen, natürlich noch nach
zwei Uhr offen hat, und dort fragen werde, ob der Poldi, nämlich
der Generalkonsul, da sei oder zufällig außer Haus. Denn es
versteht sich von selbst, daß ein österreichischer Generalkonsul
in einer russischen Festung bei Ausbruch eines Krieges nicht
davonläuft, sich aber andererseits auch nicht fangen läßt, sondern
auf seinem Posten ausharrt, bis die braven Österreicher kommen,
die Eigenen, zu deren Empfang er natürlich anwesend ist,
nicht etwa nur aus Gründen der Repräsentation, sondern auch,
um den einziehenden Truppen das im Krieg notwendige Paß-Visum
zu erteilen. Fragt sich höchstens, ob noch der Poldi — Herr Bahr
scheint darüber nicht informiert — das Amt hat, das er vielleicht
schon an den Rudi abgetreten hat, während er selbst in Moskau
amtiert, wo er vorläufig noch auf die österreichische Armee warten
muß. Vielleicht ist aber der Poldi noch in Warschau. Wenn ja, wird er
zweifellos zur Feier des Tages, »und während draußen die Trommeln
schlagen«, nicht nur in vergnügtem Beisammensein mit seinem
Gast aus Wien, mit dem Hugerl, des gemeinsamen Gönners in der
Heimat gedenken, sondern auch, durchs Konsulat stapfend, Baudelaire
deklamieren, wie einst im Mai. Beiden aber, dem Generalkonsul und
dem Eroberer Warschaus wird »schrecklich viel einfallen«, mehr
noch als dem Bahr, dem es die Zeitungen in Wien und Berlin
gedruckt haben. Nein, die Druckereien sind nicht geborsten vor
Heiterkeit, denn sie waren sich der Wichtigkeit ihrer Mission
bewußt, die sonst unbestellbare Botschaft an Leutnant Hofmanns-
thal weiterzugeben, der am Wachtfeuer wohl selten einen Brief, aber
immer pünktlich seine Zeitung bekommt. Sie sind ja dazu da, den
Wind zu machen statt des Windes, wiewohl selbst sie nicht ver-
hindern können, daß, wenn künftig einmal ein rechtschaffener
Wind Mist heranwehen sollte, ich glauben werde, es sei ein
schöner Gruß vom Hermann Bahr. . . . Nun müßte man allerdings
meinen, daß ein Mensch, dem das aus der Feder geflossen ist,
auf Lebenszeit verhindert wäre, eine »Himmelfahrt« niit Erfolg
auf den Markt zu bringen, weil es ja doch unmöglich sei, daß
sich die Leser je noch von einem solchen Salzburger etwas
47
erzählen lassen werden. Denn wenn es bekannt ist, daß es keine hyper-
trophischeren Formen in der Welt der Erscheinungen geben kann
als einen Christen, der ein Schmock, und einen Juden, der dumm l
ist, so könnte eine Verbindung dieser verschiedenen Eigen-
schaften und Zustände nicht eben das Ragout sein, das die Fein-
schmecker in der Belletristik vertragen. Aber was vertragen
sie nicht! Wenn sich ein Herrgottsschwindler in einem Feldpost-
brief, den er in Wien durch einen Dienstmann abgeben könnte,
nur auf Eckhart und Tauler beruft, so glauben sie ihm sogar
die Mystik; und wenn ein ausgewitzter Literaturschieber von einem
heiligen Augenblick sprach und sich als sterbender Atting-
hausen noch einmal aufrichtete, um den Krieg zu segnen und
die beiden Jünger, die an ihm auf so exponiertem Posten teil-
nehmen, mit der Bitte zu entlassen, ihn, während sie Baudelaire
singend in den Tod ziehen, nicht zu vergessen, da stand wohl in
manchem Auge eine Träne. Hätten wir unberufen die Einbildungs-
kraft des größten Moriz, so »möchten wir uns das Gesicht des Herrn
Hofmannsthal vorstellen«, wenn er dem alten Mystiker zum erstenmal
wieder auf einem Jour bei Schlesingers begegnet und wenn der die
Frage stellt, wie sich das damals in Warschau gemacht habe. Aber die
beiden Herren, der Grüßer und der Gegrüßte, müssen sich irgend-
wie auf den Schlachtenruhm geeinigt haben, denn das Buch, in
dem der Brief steht, ist im Handel geblieben und gewiß sind sie
einverständlich zu dem Entschluß gekommen, es in dieser großen Zeit
nicht einstampfen zulassen. Mindestensistnicht bekanntgeworden, daß
Herr v. Hof mannsthal aus Wien einen Feldpostbrief nach Salzburg, das
doch immerhin zum weiteren Kriegsgebiet gehört, geschrieben hat, des
Inhalts: »Lieber Bahr, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen.
Weit entfernt, in Warschau zu sein, bin ich in Wien, ich bin
gesund und arbeite an einem »Prinzen Eugen«. Ob ich das Glück
fühle, dabei zu sein ? Ob ich es fühle ! » Ich weiß, Sie sind froh «, schreiben
Sie. Wie Sie das erraten haben, Sie Kenner. Ob ich froh bin ! Mir
fällt schrecklich viel ein, zum Beispiel, daß wir uns eigentlich
niemals näher waren als jetzt. Ich meine das nicht im lokalen
Sinne, denn Sie sind in Salzburg; sondern im Punkt der Gesinnung.
Sie können sich noch erinnern, wie ich Dragoner war. Sehen Sie, es
ist das einzige, was ich ganz vergessen hatte. Ja, Sie haben recht.'
Wie sagt doch Baudelaire: Was wir vor zwanzig Jahr'n für zwei
— 48 —
Hallodri war'n ! Sonst hat sich wenig verändert. Was den Poldi anlangt,
an dessen Stimme Sie sich seit damals dunkel erinnern, so kann
ich Ihnen mitteilen, daß auch bei ihm sich wenig verändert
hat, es wäre denn, daß die Umstände schon zu der Zeit, wo ich
nicht vor Warschau stand, ihn verhindert haben, dort General-
konsul zu sein. Ich hätte ihn also nicht getroffen; gut, daß ich
nicht dort war. Das Buch, das er mit vierzig Jahren hätte schreiben
sollen, ist noch nicht erschienen, und zu dem mit sechzig, sagt
er, hat er noch Zeit. Tatsächlich aber hat er neulich, während draußen
die Burgmusik spielte, Baudelaire deklamiert, um Ihre Illusionen,
Sie lieber Phantast, nicht ganz zu enttäuschen. Er hat durch-
gehalten. Die Zeit ist ernst; die Stimmung zuversichtlich. In diesem
Sinne grüße ich Sie.« So ungefähr hätte Herr v. Hofmannsthal
sich aussprechen sollen, ohne gezwungen zu sein, auch nur anzu-
deuten, daß er im Krieg eine Tätigkeit ausübe, mit der verglichen
die im Kriegsarchiv auf der Mariahilferstraße gefahrvoll ist, von
denHelden derKriegsberichterstattungnichtzureden, die doch oftden
Rauch der Kaffeehäuser im engeren Kriegsgebiete zu schlucken kriegen,
und ganz zu schweigen von manch einer draufgängerischen Kollegin,
die eben dort, wo Männer auf Eroberungen ausgehen, am liebsten auch
die Hände nicht in den Schoß gelegt hätte. Die Dienstleistung aber,
die Herr v. Hofmannsthal erwählt hat, bietet dafür den Vorteil, daß
sie den Funktionär in einem angenehmen Inkognito erhält, dem
zwar kein Lorbeer blüht, das aber den Glauben, er stehe vor Warschau,
weder hervorruft noch ausdrücklich in Abrede stellt. Hätte Herr
v. Hofmannsthal der Gnade des Schicksals oder wie die Protektion
heißen mag, die ihn unsichtbar gemacht hat, sich durch den Vorsatz
würdig gezeigt, auf Kriegsdauer auch unhörbar zu sein, so hätte
ich gern davon Abstand genommen, die Verlegenheit, in die ihn
der taktlose Gruß des Herrn Bahr gebracht hat, zu vergrößern.
Niemand hätte ihm vorgeworfen, daß er, der doch einst als Dragoner
sein Jahr an der Seite des Bahr absolviert hat, das Glück, dabei zu
sein, in einer ziemlich versteckten Filiale des Kriegs verspiele. Er
hätte nichts zu tun gebraucht, als den gewagten Ausspruch,
mit dem er seine > Österreichische Bibliothek« eingeleitet hat: »Es
ist etwas Stummes um Österreich«, für seine Person wfihr zu
'machen. Er hätte nichts zu tun gehabt, als zu schweigen, in einer
Zeit, in der manche >nichtgediente« Kollegen, die zum Wort eine,
41)
wenn auch nicht so erlesene, so doch tiefere Beziehung haben als er,
es der Tat, zu der sie nicht geboren wurden, opfern mußten! In dem
Augenblick, als er Musenalmanache auf das Jahr 1916 herausgab,
schwarz-gelbe Büchel aussteckte und die unleugbare Popularität des
Prinz Eugen-Marsches für literarische Zwecke zu fruktifizieren begann,
war jede Diskretion über die weite Entfernung, in der sich seine
einwandfreieGesinnungvondem ihr ^gemessenen Schauplatzaufhält,
überflüssig. In dem Augenblick, als er hervortrat, war es klar, daß
er nicht in Warschau sei. Er mußte es nicht mehr dementieren.
Er konnte die Theaternotizen, in denen von seinem Abmarsch an
die Front berichtet wurde, unwidersprochen lassen. Er konnte die Ehre,
die ihm durch das Manifest des Bahr angetan wurde, auf sich
sitzen lassen! Jeder wußte es und konnte ihm ins Gesicht sagen,
daß er in Wien sei, und an diesem Zustand ist nichts unstatthaft
als der volle Mund einer Kriegsfürsorge, die anderen den Krieg
besorgen möchte und sich selbst mit der Literatur zufrieden gibt.
Denn da möchte ich doch bitten: wenn einer bei Kriegsaus-
bruch im Vorzimmer einer Wohltätigkeitsanstalt gesehen wurde,
von des Gedankens Blässe angekränkelt, wenn einer in einem
heiligen Augenblick so verfallen aussah, wie zwanzig Jahre in der
Erinnerung, so hat er auf Kriegsdauer jede Annäherung an den
Prinzen Eugen zu unterlassen; wiewohl dieser auch wenig Freude
an dem Weltkrieg gehabt hätte, aber selbst heute und trotz dem
Bündnis mit der Türkei das mit der Brücken nicht so gemeint
hätte, daß man könnt hinüberrucken ins Kriegsfürsorgeamt! Es
ist unwürdig, sich von einem Professionsgrüßer ein »Glückauf,
lieber Leutnant« zurufen zu lassen, wenn man bei sich selbst weiß
und sich jeden Tag davon überzeugen kann, daß man das Glück
hat, hinauf in ein Bureau gekommen zu sein. Man hat den
Zuruf >Ich weiß, Sie sind froh« in solcher Lage mit einem lauten
und vernehmlichen Ja zu quittieren, ganz als stünde man vor
einem andern Altar als dem des Vaterlandes. Niemand hat von
Leuten wie Bahr und Hofmannsthal Bravourstückein in den
Dolomiten erwartet; von Hofmannsthal nicht, weil er dazu zu gut
erzogen ist, und vom Bahr nicht, wiewohl der Alterston des
Abschiednehmers, der zwar nicht mehr mittun kann, aber von der
rüstigen Jugend nicht vergessen werden will, keineswegs darüber
hinwegtäuschen darf, daß die Biederkeit auch waffenfähig ist und
50
daß schon ältere Älpler in diesem Krieg losgegangen sind. Item;
man war nie so herzlos, die Namen der beiden Herren in einer
Verlustliste zu vermissen — obgleich sie schon manch wertvollere,
wortärmere Menschen angeführt hat und wenige, von deren Fortleben
sich eine ungünstigere kulturelle Wendung befürchten ließ. Aber der
Übermut, der, nicht zufrieden, daß das Glück des Augenblicks
lebenslänglich erstreckt wird, noch täglich in der traurigen Gewinn-
liste desHinterlandsfigurieren will, istwahrlich dielästige Kehrseite des
Mutes, der einem erlassen wird. Herr Hofmannsthal hatte erst zu
dementieren und dann ein Patriot zu sein! Oder zu schweigen
und dann auch, solange der Krieg dauert, keine Musik dazu zu
machen ! Wenn er nicht bis Warschau gekommen ist, so hatte er auch
nicht nach Berlin zu gehen Und dort nebst einigen anerkennenden
Worten' für »Hindenburgs Siegeszug nach Warschau« eine Rede
über den Krieg gegen Italien als >unseren Krieg« zu halten und
durch solche Wendungen den schon ganz konfusen Bahr in
Versuchung zu bringen, bei ihm anzufragen, ob er nun bald in
Venedig sein werde, nämlich am Lido, wo Bahr selbst schon in den
buntesten Uniformen Aufsehen erregt hat. Aber niemand hat dem
Herrn v. Hofmannsthal, den der Treubruch Italiens einen Dreck
angeht — privat mag er ihn schmerzen, weil er ihn verhindert,
Goethes dritte italienische Reise zu machen — , niemand hat ihm
außer dem Kriegsfürsorgeamt noch das Amt gegeben, die Nation
zu vertreten. Er mag ja, was nicht schwer ist, eine ehrlichere Haut
sein als der d'Annunzio, aber es ist kompletter Größen-
wahn, der ihn in die künstlerische wie politische Rivalität
treibt, denn abgesehen davon, daß er mit dem bißchen
ästhetischen Kram in Österreich weit weniger Staat machen kann,
als jener mit seiner melodischen Fülle in Italien, wird doch
d'Annunzio aus diesem Krieg mit etwas geschwächter Sehkraft
hervorgehen, während Herr Hofmannsthal schon heute mit zwei
blauen Augen davongekommen ist. Wenn einer statt vor Warschau zu
stehen, im Kriegsfürsorgeamt sitzt, statt in Venedig einen Bombenerfolg
zu haben, auf dem Podium der Berliner Singakademie steht und statt in
Belgrad einzurücken, im Verlag der,Muskete' einen Prinzen Eugen mit
Bildein herausgibt — dann hat selbst einer, der sonst der letzte wäre,
aus jenen Unterlassungen jemand einen Strick zu drehen, das
Recht, sie festzustellen. Der alte Weg, den schon das Nibelungenlied
51
ging, ist jener gerade nicht, den der Herr Hofmannstha! gegangen
ist, aber sicher hat der alte Mentor recht, wenn er bezweifelt, ob
diese zwanzig Jahre, die so blaß wurden, als sollten sie gehalten
werden, gut für uns waren. Was sein Telemach —
>griechisch: Telemachos, der aus der Ferne Kämpfende« — getan
hat, entspricht höchstens der Sorge, »immer etwas zu haben, wobei
man sein kann«, oder wo man dabei sein kann. Gewiß, man soll
ihm nicht vorwerfen, daß er die große Zeit nur mit dem
Erlebnis der Bündnistreue hingebracht hat und damit, andere
patriotisch zu ermuntern: er war wie bei manchem harten
Strauß auch wieder bei jenem beteiligt, dem er die Libretti
liefert, und er hat die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen,
zu Ehren Shakespeares ein intellektuelles Feuerwerk abzu-
brennen, bei dem die Einfälle knallten, ehe sie leuchteten und
durch den Widerspruch, mit dem sie aufeinander losplatzten, einiges
Aufsehen entstand. Er sprach davon, daß die »heutige Zeit keinen
tieferen Drang kenne, als über sich selber hinauszukommen« —
Glückauf! — und wenn Shakespeare bisher der Geist war, der^
alles sagt, »was in Momenten ungeheurer Ereignisse sich in den
Herzen der Menschen verbirgt, was ein Gemüt ängstlich versteckt«,
so werde »einem anderen Geschlechte ein stummer Shakespeare
entgegentreten«. Shakespeare hätte das Gemütsleben einer Zeit, an der
nichts ungeheuer ist als der Kontrast von ängstlich versteckten Ge-
danken und angemaßten Taten, wohl zur Gestalt gebracht; aber was
uns vorderhand genügen würde, ist nicht so sehr die Erwartung
eines stummen Shakespeare, als die Vermeidung eines lauten
Hofmannsthal. Denn eben dieser ist eines der hervorragendsten \
Beispiele aus der Armee von Literaten, die zur Verherrlichung von '
Ereignissen ausgesendet wurden, welche sie um keinen Preis erleben
möchten, und denen im Krieg »schrecklich viel eingefallen« ist. Sein ■
ganzer Ruhm, der immer auf so schwachen Beinen stand, daß er nun
vollends militärtauglich wurde, ist ihm dabei eingefallen. Der Krieg hat
durch die Anziehung, die er auf die schwerpunktlosen Gehirne,
auf das Scheinmenschentum, auf die dekorationsfähige Leere aus-
geübt hat, Unwerte vernichtet und srch wenigstens darin von
seiner positiven Seite gezeigt. Herr Hofmannsthal, der vom Vater-
land erwartet, daß es ihn nicht rufe, wenn er von Schlachtenruhm
träumt, aber wenn er erwacht, ihm Grillparzers Ehren erweise, er,
— 52 —
der nie mehr war als ein tauglicher Übersetzer fremder Werte oder
ihr kunstgebildeter Vertreter, nie mehr als der gefällige Platzhalter
eines vor ihm gegebenen Niveaus, auf dem sich die Natur unwohl
gefühlt hat, dieser Hugo Hofmannsthal ist wie kaum einer
aus der Schar geistiger Flüchtlinge um sein bißchen Besitzstand
gebracht. Österreich irrt wie immer, wenn es in einem, der heute
eben noch die Geschicklichkeit hat, sich mit den Landesfarben zu
schminken, seinen geistigen Vertreter sieht. Es müßte ihm die
Lizenz entziehen, das Wort in vaterländisch er Sachemitmehr Anspruch
auf Glaubhaftigkeit zu führen als ein beliebiger Journalist, und
ihn endgiltig in die Redaktion verweisen, aus der Sphäre der
Wohltat, wo an Literaten Kriegsfürsorge geübt wird, in einen jener
dunkeln Privatbetriebe, wo Worte unerlebten Gesinnungen
dienen müssen. Schon damit Herr Bahr, dessen Wehrfähigkeit
trotz der Musterung, der er sich am Lido freiwillig unterzog, nicht
mehr in Anspruch genommen wird und dessen nationale Bestre-
bungen weniger die politische Arena als die eines Zirkus ver-
langen — schon damit er wisse, wo er ihn und seinesgleichen zu
finden hat, ihn nicht vergebens am Wachtfeuer suche und dort auch
nicht vermisse!
53
Feldpostbrief
(Einer von vielen)
3. II. 16
Ich bekam hier im Felde zwei Hefte der Fackel
aus den Jahren 1912/13 in die Hand. Also schon
damals, im Balkankrieg, haben Sie die Kriegsbericht-
erstatter erkannt.
Ich- bin seit Beginn im Felde. Im Frieden
ein Alleingeher, das Leben mein schwankender Gegner,
die Welt mein verhaßter Feind.
Leider ist sich die Menschheit über die Ursache
des Krieges noch nicht klar geworden und kläglich
muten einen die Versuche der Nationen an, einander
die Schuld zu geben.
Wir haben, was wir verdienen. Daran ist nicht
zu rütteln. Der Krieg hat die Schufte gelassen, der
Gemeinheit die Hand gegeben, den Unsinn zur
Tragödie gewandelt, Worte zu Taten gemacht. Die
wenigen Rechtwinkeligen an Leib und Seele nieder-
gepreßt mit allen Krallen.
In manch ein gebrochenes Auge habe ich geblickt,
manch einen zerfetzten Leib verscharren gesehen. Es
hat mir nicht so weh getan wie die Berichte vom
Krieg, die Verstümmelungen im Innern. Dieses in den
Kot treten der Wahrheit, des Unbeschreiblichen ; das
Wort »Held« in der Feder solcher Kreaturen! Schütteln
möcht's einen vor Abscheu. In allen Lagern der
Nationen betreiben sie ihre gefährliche Giftmischerei.
Was haben sie aus dem Krieg gemacht! Eine Hure,
die sie außerdem noch vergewaltigen. Und kein'^Mittel,
dieser Brut die Gurgel zuzudrücken? Keine Seele im
Hinterland, die begreift? Die diesen feilen Schändern
das Handwerk legt?
Nimm's wie's kommt! Aber da muß einem
das Blut in den Kopf schießen, wenn so ein
Schuft von der Feder mit seiner Unwissenheit, die
nur von seiner verantwortungslosen Frechheit über-
— 54
troften wird, uns zu loben wagt! Wenn er das Seelen-
leben des Soldaten schildert, den Krieg, seine Wirkun-
gen, seine Höhen und Tiefen. Und dieses Gift wird
als Serum gegen die Wahrheit eingeimpft. Diese Lehre
bleibt Evangelium für alt und jung. Schmutz auf
Schmutz gehäuft, und dann ein Wundern, weils stinkt.
Statt zum Weg zurück, bringt uns der Krieg noch
mehr seitab.
Und es ist alles umsonst. Als ich Ihre Hefte las,
hat's mich im Innern berührt: Also doch Einer!
Darum schreib' ich Ihnen.
Wenn man schon früher zu sterben hat, so wüßte
man auch gerne, warum! Für die gegenwärtige
Menschheit es zu müssen, ist — ironisch.
Mit Handschlag ein Ihnen unbekannter
Mensch
Feld postSkriptum
Wien, 9. April 1916
Ich weiß nicht, ob Ihnen diese Zeilen willkommen
sein werden oder nicht.
Dennoch will ich aussprechen, daß ich Ihnen
danken muß und dies aus innerstem Bedürfnis, dafür,
daß Sie in dieser Welt, in der kraftlose Dummheit und
brutalste Verderbtheit dualistisch regieren, der einzige
Schriftsteller sind, der die Wahrheit anzudeuten wagt.
Wenn auch das Vergnügen, geboren zu sein,
durch das Leben- und Sterbenmüssen für diese
Menschheit wahrlich allzu teuer bezahlt ist, so bleibt
doch auch dem tiefen Dunkel dieser Gegenwart das
Erwarten der vereinzelten Lichtschimmer, welche die
Fülle Ihrer Gedanken verbreiten wird, wenn vielleicht
einmal glücklichere Enkel bessere Menschen zu sein
bestrebt sein werden als die Generation von
Sklaven und Aufsehern, die uns umtobt.
Ein Kriegsinvalider.
— 55 —
Worte Luthers
Tischreden von Kriegen.
»Büchsen und das Geschütz ist ein grausam,
schädlich Instrument, zersprengt Mauern und Felsen,
und führt die Leute in die Luft. Ich glaube, daß es
des Teufels in der Hölle eigen Werk sei, der es
erfunden hat, als der nicht streiten kann sonst mit
leiblichen Waffen und Fäusten. Gegen Büchsen hilft
keine Stärke noch Mannheit, er ist todt, ehe man ihn
sieht. Wenn Adam das Instrument gesehen hätte, das
seine Kinder hätten gemacht, er wäre für Leid gestorben.«
Eines großen Helden und Kriegsmanns Amt.
»Eines guten, frommen, vortrefflichen Kriegsmanns
Wille und Meinung ist, daß er lieber will einen Bürger
oder Mann, der Freund ist, erhalten, denn tausend von
Feinden umbringen; wie Scipio der Heide und der
Römer oberster Feldherr sagte. Darum fähet kein
rechter Kriegsmann leichtlich und ohne große Ursache
ein Krieg an, liefert nicht gerne eine Schlacht, noch
belagert eine Stadt.«
Tischreden von Juden.
». . . Aber unser Herr Gott kann diese Kinder
fein scheiden, denn diesen gibt er hier ihren Lohn,
jenen behält er ins künftige Leben. Doch haben sich
die Juden Abrahams gerühmt, nicht um seinet, sondern
um ihrer Ehre willen. . . .«
»Die Juden haben ihre Zauberei gleich sowohl
als andere Zauberer, sie gedenken also: Geräth's uns,
so stehet's wohl um uns; wo nicht, so ist's um einen
Christen gethan; was liegt uns daran? Denn sie achten
eines Christen, wie eines Hundes. . . . Noch sitzen sie
bei uns in großen Ehren.«
— 56 —
». . . sind allenthalben im Reich zerstreut, räch
ihren Worten, die sie zu Pilato sagten: ,Wir haben
keinen König, denn den Kaiser.' Es ist aber ein
schändlich Volk, es erschöpft Alles aus mit dem Wucher;
wo sie einer Obrigkeit tausend Gulden geben, so saugen
sie dagegen von den armen Untersassen zwanzig-
tausend Gulden.«
Darnach las der Doctor aus einem ebräischen
Buch etliche ihrer sehr stolzen Gebete, darinnen sie
Gott loben und anrufen, als wären sie allein sein Volk,
und verfluchen alle andern Völker; dazu brauchen sie
den 23, Psalm: ,Der Herr ist mein Hirt, mir wird
nichts mangeln'; gleich als wäre er eigentlich und
vornehmlich von ihnen geschrieben. Summa, den armen
Leuten ist nicht zu helfen, sie wollen Gottes Wort
nicht hören, sondern ihre Gedanken und Fündlein.
». . . Die Juden können sich mit den Türken
viel besser vergleichen, denn mit den Christen, denn
Juden und Türken sind eins, und bekennen, daß nur Ein
Gott sei. . . .«
». . . Nimmermehr hält ein Christ so fest an seinem
Christo, als ein Jude oder auch ein Schwärmer an seiner
Lehre hält. Denn obwohl ein Christ auch dabei bleibt,
bis in den Tod, doch strauchelt er oft, und beginnet zu
zweifeln. . . ,«
Tischreden von Landen und Städten.
». .. . Daß Gott allein uns ernähret, nicht Geld und
Gut; denn dasselbe, da es vorhanden ist, machet uns
faul und sicher; deß sind die Venediger, das doch die
allerreichste Stadt ist, ein Exempel, die bei unsern
Zeiten große Theuerung erlitten haben. . . .«
»Es ist keine verachtetere Nation, denn die
Deutschen. Italiäner heißen uns Bestien; Frankreich
und England spotten unser, und alle andern Länder.
Wer weiß, was Gott will und wird aus den Deutschen
I
57
machen; wiewol wir eine gute Staupe vor Gott wol
verdient haben.«
». , . Gott gäbe uns ja gern Allen genug, wenn
wir seine Gaben nicht so schändlich mißbrauchten,
und mit unserm Geiz verderbten.«
Der Welt Bild.
»Die Welt ist gleich wie ein trunkener Bauer,
hebt man ihn auf einer Seite in den Sattel, so
fällt er zur andern wieder herab; man kann ihm nicht
helfen, man stelle sich wie man wolle. Also will die
Welt auch des Teufels sein.«
Ein Anders von Undankbarkeit.
»Wer seinen Besitz nicht verlieren will, der sterbe
vor dem Verlust desselben. . . . Die Welt ist ein solcher
Haufe, der die väterlichen Wohlthaten so hinnimmt,
und dieselben mit Lästerungen und Undank vergilt.«
Wie Gott D. Martin Luthern wider der Welt Toben erhalten hat.
». . . Ich halt, daß Keiner in hundert Jahren
gelebt hat, dem die Welt so feind gewesen, als mir.
Ich bin der Welt auch feind, und weiß nichts im ganzen
Leben, da ich Lust zu hätte, und bin gar müde zu
leben. Unser Herr Gott komme nur bald und nehme
mich flugs hin, und sonderlich komme er mit seinem
jüngsten Tage, ich will ihm der Worten gern den Hals
herstrecken, daß er ihn mit einem Donner dahin schlage,
daß ich liege.«
58
Gebet an die Sonne von Gibeon
Sonne, immer du noch purpurnen Abschied nimms:,
immer docli unbeirrt, immer den Erdentag
segnend, der ins Gesicht dir in Finsternis prahlt —
wieder vorbei dem Menschenkreis.
Keines irrenden Sterns zitternder Funke war
je verborgener den vom Dunkel Verblendeten
als dein flammendes Meer, das den Abend umarmt
wie ein brennendes Gottesherz,
Sonne, dankloser dir, dunkler sich selbst verbleibt
alles Lebendige, das nicht Athem der Pflanze hat,
nicht die Weisheit des Thiers — wahllose Geberin,
nur du, Sonne du, weißt es nicht!
Sieh diese Kugel aus Kot, die einst der Teufel warf
in die Planetenbahn, wie sie sich um sich dreht,
und nur um dich, daß sie in gutem Lichte sei,
Spielball eigener Eitelkeit.
Oder aus Raum und Zeit sprang dieser Wechselbalg,
wähnt sich selbst eine Welt, wähnt, daß die Welten nur
seine Trabanten sind — doch für den Sternenlauf
lebt er ein ewiges Hindernis.
59
Daß du noch Farben hast, Sonne, ob solchem Grab
aller Liebe, die je kosmischer Geist vergab!
Daß du noch prangen kannst vor der Armseligkeit —
Wunder dieser Entgötterung !
Nicht das Gold deines Strahls hält ihren Blick gebannt,
für einen Silberling ist eine Andacht feil.
Daß vor höchstem Gericht du ihres dunkeln Sinns
zeugtest, fürchtet die Erde nicht.
Liehe die ewige Nacht ihr eine Aussicht nur
auf noch besseres Gold als sie dem Tage stahl,
gingst du auf immer dahin, keine Thräne dir nach
flöß' aus erloschenem Menschenaugr.
Welcher Sinn denn befiehlt irdischen Lebens Gang?
Nicht in Athem und Dank an Gott, daß er Athem gab,
lebt der Mensch seine Zeit, sondern er zahlt damit,
endlich schuldig nur an sich selbst.
Gibt es der Götter noch, denen das All sich beugt:
blieb der Bezirk, worin Wahn mit der Gier regiert,
blieb die Stätte, worauf Menschliches irregeht,
unvermindert Jehovahs Reich.
Heil dir, o Israel! wer ist wie du, vor ihm,
der deiner Hilfe Schild und deines Sieges Schwert?
Siehe, es schmeicheln dir deine Feinde, o Volk,
aber du trittst auf ihre Höhen !
60 —
Keiner von ihnen soll vor dir be^tehn, und du,
fürchtest du Gott allein, aber sonst nichts in der Welt
durch alle Wässer gehst trockenen Fußes durch,
immer den Kopf zum Ziel gewandt.
Durch die Schärfe des Schwerts schlugst du sie, immer sind
gottverschworner Vertilgung alle sie ausgesetzt.
Und es fielen vom Himmel große Steine auf sie.
-.Denn der Herr stritt für Israel.
Sie zu vertilgen gab er sie in Israels Hand,
daß es setzte den Fuß auf der Könige Hals;
alles Lebendige gab, alle Seelen der Gott
gottverschworener Rache preis.
Und so wird es der Herr all ihren Feinden thun,
.denn er stritt wider sie, stritt nur für Israel.
Denn ihr Herz war verstockt, daß sie sich weigerten,
Zins zu geben dem Gottesvolk.
Nicht Weib noch Mann entrann, nicht Kind und Greis
dem Schwert,
verschont nur ward und geehrt, wer den Verrath ersann,
und alles Silber und Gold und alles Geräth aus Erz
legten sie zu dem Schatz des Herrn.
Doch die zu Gibeon hielten zu Israel.
Denn sie fürchteten sich. Nicht erwürgt wurden sie',
nur verflucht wurden sie, ewig Sklaven zu sein
für die Gemeine Israels.
61
Weil sie schlössen den Bund, wurden sie nur bestimmt,
Holz zu hauen und auch Wasserträger zu sein
für die Gemeine und auch für den Altar des Herrn,
desselbigen Tags bis auf diesen Tag.
Doch der Geschlechter Geschlacht nichts Lebendiges ließ,
und so plünderten sie alle Beute für sich.
Und es war auch kein Tag diesem erwählten gleich,
vor ihm keiner und nach ihm nicht.
Denn zur Feier des Siegs am Himmel ein Wunder war
und die Sonne blieb stehn, die Sonne zu Gibeon,
und auch der Mond im Thal stand stille zu Ajalon.
Denn es geschah für Israel.
Mitten am Himmel stand, wie es geboten war,
beinah sie den ganzen Tag, nicht eilte sie unterzugehn,
bis das Volk sich gerächt an seinen Feinden. Dies
im Buch des Frommen geschrieben steht.
Und der eifrige Gott, welcher am siebenten Tag
der Zerstörung nicht ruht, hieß sie vollenden, bis
sie der besiegten Welt den Fuß auf den Nacken gesetzt
und ein Geschrei erheben gedurft.
Denn es ward ihnen gesagt, nicht zu erheben so lang
Geschrei, bis ihnen gesagt, daß sie erheben Geschrei,
dieses hielten sie ein, dann aber gingen sie hin,
Geschrei zu erheben wie ihnen gesagt.
62 —
Wie das Geschrei nun erscholl, da fiel die Mauer ein,
und wie das Volk es sah, daß da die Mauer fiel
auf das Geschrei, das Volk ein großes Geschrei erhob,
herzufallen über die Stadt sogleich.
Völker, die es gehört, wurden hörig dem Volk;
alle schrieen wie es, alles ward Israel.
Alle Sprachen durchdrang einzig die Melodie,
deren Schalmei das Geld anlockt.
Und sein Wechsel verlangt anderen Wechsel auch -
Schwarz von Tinte der Tag, rot vom Blute die Nacht!
Aber welche es sei: Fluth, die im Wechsel wuchs:
Israel ging trocken durch.
Ist die Erde ein Meer, so braucht die Erde mehr,
mischt das Blut mit dem Meer, immernoch mehr und mehr -
Rache, der Raubfisch, steigt, Drache, hoch in die Luft,
daß sie Freistatt des Mordes sei!
Näher, mein Gott, zu dir! Näher der Sonne zu!
Sonne, dir angethan bleibt es in Ewigkeit!
Leuchtest wieder und lachst ? Hingang und Wiederkehr
bleibt die Uhr dieses Menschentags?
Wirft diese Erdenschmach keinen Schatten auf dich?
Sonne, quält es dich nicht, wenn du im Mittag stehst,
daß der Strahl deines Augs fällt auf das Leichenfeld,
wo die Hyäne Mahlzeit hält?
63
Lasse stehen die Zeit! Sonne, vollende du!
Mache das Ende groß! Künde die Ewigkeit!
Recke dich drohend auf, Donner dröhne dein Licht,
daß unser schallender Tod verstummt!
Goldene Glocke du, schmilz in eigener Gluth,
werde Kanone du gegen den kosmischen Feind!
Schieß ihm den Brand ins Gesicht! Wäre mir Josuas Macht,
wisse, wieder war' Gibeon!
Richte dich auf zum Gericht! Eile nicht unterzugehn,
bis sich das Licht gerächt an dem dunkeln Geschlecht,
und deine blutige Pracht trockne sein elendes Blut
gottverschworener Rache gemäß!
Keiner von ihnen soll vor dir bestehn, und du
auf ihre Höhen tritt, zum dunkeln Untergang
brenne, leuchte herab, lache Sonne, daß du
es nun doch an den Tag gebracht!
Aber ein Wunder hier thu auch an Pflanze und Thier.
Flamme des Menschentods sei ihnen Wärme nur.
Rufe Frühling zurück allem, was unterthan
rauchgeborenem Leben war.
Allem Erschöpften gib Farbe und Lust zurück.
Laß den Menschen jedoch, Henker an allem was
mit der Natur verwandt, laß die Maschingeburt
sterbend sehn, wie das Gras gedeiht!
— 64 —
Und das Ttiier, das er trieb, seine Ware zu ziehn
und in den Kampf zu ziehn um seiner Ware Heil
labe es, wenn du statt Strahlen doch Blitze hast,
zu vertilgen den Seelenfeind.
Wenn du ein Ende gemacht hochmüthiger Niedertracht
und du dem Blutgeschäft unendlichen Sieg entreißt —
von deiner Glorie schweigt irdischer Lobgesang,
weil sie den Schmeichler hinweggerafft.
Aber es rauschen dir erwachende Sphären. Dank
tönet im Äther, wo Harfen der Liebe sind.
Welch einen Wandel führst du den Sternen herauf!
Staunend erkennt die Schönheit sich.
Es wird ein Sonntag sein. Götter kommen zum Fest.
Ursprungs eilen herbei Geister, ledig der Zeit.
Ohne den Menschen ist Freude. Am neuen Tag
sonnt sich, der dich geschaffen hat.
Und die Liebe um dich höret nun nimmer auf,
und die Musik im All schallt deiner Herrlichkeit,
und dein erhabener Glanz ist ohnegleichen heut,
weil ihm das Menschenauge brach!
KARL KRAUS
WORTE IN VERSEr
LEIPZIG
KREUZSTRASSE 3 b
VERLAG DER SCHRIFTEN VON KARL KRAl
19 16
Druck der Offizin W. Drugulln
INHALT der vorigen fünffaclien Nummer 418-422, 8. April 191
Kierkegaard und die Journalisten / Zum ewigen Gedächtnis
Die Historischen und die Vordringenden / Das Lysoform-Gesicht
[leiner Konzertliaussaal
(III. Lothringerstraße 20)
FREITAG DEN 12. MAI 1916
PRWZISE HALB 8 UHR
VORLESUNG
<ARL KRAUS
ARTEN zu K 10.—, 8.~, 6.—, 4.—, 2.—, 1.— an der
Konzerthauskassa, Hl. Lothringerstraße 20, bei
Kehiendorfer, I. Krugerstraße 3 und in der
Buchhandlung Friedlaender, Kärntnerstraße 44
In Teil ,'des Ertrages wird |der Kinderfürsorge zugeführt)
BENDA, MITTWOCH DEN.24. MAI
PR»ZISE HALB 8 UHR
iHAKESPEARE-FEIER
>ie lustigen Weiber von Windsor
vorgelesen von KARL KRAUS
ARTEN zu K 6.—, 4.—, 3.—, 2.—, 1.—, 50 Heller
an den oben angegebenen Verkaufsstellen
er gesamte Reinertrag wird den Gefangenen in Beresowka;
i>ii\. 4^0 -— 4JU j UINI 1916 XVTII. JAI
DIE FACKEI
HERAUSGEBER
KARL KRAUS
INHALT:
Das übervolle Haus jubelte den Helden begeistort zu, die stran
salutierend dankten / Das Gegenstück / Glossen / Der tragisc
Karneval / Notizen / Der Krieg im Schulbuch / Glossen
Desertion in den Tod / Die Fundverheimlichung
NACHDRUCK VERBOTEN
Preis dieses Heftes;
1 Krone 50 Heller = 1 Mark 25 Pf.
VERLAG: .DIE FACKEL', WIEN
DIE FACKEL
Nr, 426-430 15. JUNI 1916 XVIII. JAHR
2 —
— 3
— 4
— 5 —
6 —
Das Gegenstück
Aus München wird uns geschrieben: Unter dem Schlagworte
»Die Feldgrauen für die Feldgrauen« veranstalten Offiziere und
Mannschaften der hiesigen Ersatzformationen ein ganz eigenes
Theater, wobei sie das von einem Feldgrauen verfaßte Stück »Der Hias«
zur Aufführung bringen. Im Rahmen einer dreialctigen Komödie werden
uns einzelne Bilder aus dem Leben in Feindesland vor Augen geführt,
und wir lernen so ziemlich alles kennen, was der Krieg an Aben-
teuerlichem, Verwegenem und Überraschendem, nicht minder
aber auch an herzhaft Erfrischendem und Ergreifendem mit sich bringt.
Patrouillengänge, Gefangennahme, Kriegsgericht gegen
> deutsche Barbarei«, französischer Chauvinismus und frohgemutes Lager-
leben wie die Feier des Königsgeburtstages wechseln in bunter
Reihe ab, wobei ganz besonders das kameradschaftliche Zusammenleben
der Offiziere und sonstigen Vorgesetzten mit der Mannschaft und deren
treues Zusammenhalten geschildert wird. Die Anhänglichkeit der
Mannschaft an die Offiziere zeigt sich im schönsten Licht, — und
solch ein Muster echt bayerischer Art ist der Offiziersbursche Hias,
der durch seine rasche Entschlossenheit, seine Tapferkeit und
seine Klugheit seinen verwundeten Leutnant vor schmachvollem
Ende in den Händen der Franzosen rettet und die Schuldigen der
gerechten Vergeltung zuführt. Aber um die Fabel des Stückes handelt
es sich gar nicht; was uns bei diesem Theater so mächtig packt, ist
der frische Zug, der es durchweht, ist die Ursprünglichkeit und
Echtheit, die ihm anhaften. Es ist Theater und doch keines, vielmehr i
in höherem Sinne wahrhaftiges Leben, das durch die unbeholfene /
Darstellung nur noch gewinnt. Was diese Feldgrauen uns jetzt auf der
Bühne des Münchner Volksthealers »vorspielen <, das ist nur die
Wiedergabe des Erlebten, wenn auch in anderer Form, das ist aus
ihren Empfindungen herausgeboren und wohl nur ein Spiegelbild ihres
ureigensten Wesens, wie es sich draußen im Felde gebildet hat. Am
deutlichsten zeigt sich dies im zweiten Akte, da der »Geburtstag des Kini«
(Königs) gefeiert wird und die Soldaten nun durch ihre bescheidenen,
von den Kameraden bejubelten Darbietungen das Fest verschönern und für
deren Erheiterung sorgen. Und während Schnadahüpfeln gesungen
werden und ein unverfälscht bayrischer Schuhplattler getanzt wird
— dabei zwei Soldaten als fesche Dearndln — , arbeitet am
Offizierstische das Feldtelefon, werden Meldungen entgegengenommen
und abgegeben, arbeitet die Kriegsmaschine ihren eisernen,
unerbittlichen Gang! Dieser Akt ist vom Publikum beklatscht
worden, wie dies noch keine Kunstleistung erfahren hat.
In den Zwischenpausen spielte das Militärorchester patriotische Lieder
und Märsche. Es ist wohl überflüssig zu betonen, daß sämtliche Mit-
wirkenden, denen sich auch einige Damen der Gesellschaft
angeschlossen haben, keinerlei Spielhonorar beziehen, die gesamten
Einnahmen aus diesen Vorstellungen fließen dem Roten Kreuz für
militärische Wohlfahrtseinrichtungen zu. Und da es also auch nach
dieser Richtung hin kein Theater im üblichen Sinne sein will, nennt
der Theaterzettel keinen einzigen Namen der Mitwirkenden, ja, nicht
einmal der Verfasser des Stückes tritt aus seiner be-
scheidenen Zurückhaltung heraus. Im dritten Akte sollte auch
ein Film vorgeführt werden, aber leider hat die Polizei ihn wegen
Feuers gef ah r gestrichen, so daß wir darum kamen, die Auffahrt der
Artillerie, Handgranatenkampf, Handgemenge und Nahkampf
zu sehen. Zum Schlüsse endlich gab es noch ein in großen Dimensionen
gehaltenes lebendes Bild »Krieg und Frieden*, das ebenfalls sehr
viel Beifall fand. Wie uns mitgeteilt wird, beabsichtigt das Theater
der Feldgrauen, das in München nur acht Vorstellungen veranstaltet,
das ganze Land zu bereisen; es wird sicherlich überall herzliche
Aufnahme finden, um so mehr, als in diesem Stück so manches
kluge, liebe und zuversichtliche Wort fällt, das lebhaftes
Echo in den Herzen der Zuhörer weckt. Und dazwischen viel Scherz
und gesunder, kräftiger, echt baj uvarischer Humor, der
wirklich zündend wirkte. Daß schließlich auch unserer Verbündeten,
ganz besonders aber der ruhmreichen österreichisch-ungarischen Armee,
gedacht wird, versteht sich von selbst. Kein Zweifel, der >boarische
Hias«, der unverfälschte Typus des »bayrischen Löwen«, wird auf
seiner Rundfahrt durch die deutschen Gaue seinen Weg machen,
und er wird sicherlich überall herzhaftem Verständnis begegnen,
— jenem stillen, behäbigen, guten Lächeln, das so sehr
die Seele erwärmen kann.
Nur daß wir hier, gemäß der Volksart, mehr aufs
Individuelle gegangen sind, die dort mehr aufs All-
gemeine. Aber auch dies ist so schön, so in höherem
Sinne wahrhaftiges Leben, so traulich ist es, dazu-
sitzen, während die Kriegsmaschine auf der Bühne
ihren eisernen unerbittlichen Gang arbeitet, und Soldaten
zu sehen, die Soldaten spielen und, solche wieder, die
fesche Dearndln sind, und Damen der Gesellschaft, die
mittun, und nur der Handgranatenkampf entfällt wegen
Feuersgefahr, aber der Tod stellt lebende Bilder, die
andern sind im Nahkampf umgekommen, wir sind um
den Nahkampf gekommen, aber gesunder Humor bringt
Ersatz, und so ans Herz geht es, daß man hoffen kann
durchzuhalten, bis man mit jenem stillen, behäbigen,
guten Lächeln, das die Seele erwärmt, einst im ewigen
Frieden zu sich kommt. Kein Handgemenge — Schuh-
plattler gibt's heut! Kein Nahkampf — Schnadahüpfeln!
Kein Ärgernis in der Welt. Ich habe die Regie.
»Was für eine Gesellschaft ist es? . . . Wie kommt es, daß
sie umherstreifen?, . .« »Die besten Schauspieler in
der Welt, sei es für Tragödie, Komödie, Historie, Pastorale,
Pastoral-Komödie, Historiko-Pastorale, Tragiko-Historie,
Tragiko-Komiko-Historiko- Pastorale, für unteilbare
Handlung oder fortgehendes Gedicht. Seneka kann für
sie nicht zu traurig, noch Plautus zu lustig sein. Für
das Aufgeschriebne und für den Stegreif haben sie
ihres Gleichen nichl.« ». , . der Natur gleichsam
den Spiegel vorzuhalten: der Tugend ihre eignen
Züge, der Schmach ihr eignes Bild, und dem
Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner
Gestalt zu zeigen .... O es gibt Schauspieler, die
ich habe spielen sehn und von andern preisen
10
hören, und das höchlich, die, gelinde zu sprechen,
weder den Ton noch den Gang von Christen, Heiden
oder Menschen hatten, und so stolzierten und blökten,
daß ich glaubte, irgend ein Handlanger der Natur
hätte Menschen gemacht, und sie wären ihm nicht
geraten; so abscheulich ahmten sie die Menschheit
nach .... Und die bei euch den Narren spielen, laßt
sie nicht mehr sagen, als in ihrer Rolle steht: denn
es gibt ihrer, die selbst lachen, um einen Haufen
alberne Zuschauer zum Lachen zu bringen, wenn auch
zu derselben Zeit irgend ein notwendiger Punkt des
Stückes zu erwägen ist.« ». . . Die Schauspieler können
nichts geheim halten, sie werden alles ausplaudern.«
». . . Habt ihr den Inhalt gehört? Wird es kein Ärgernis
geben? — Nein, nein; sie spaßen nur, vergiften im
Spaß, kein Ärgernis in der Welt. — Wie nennt ihr
das Stück? — Die Mausefalle. Und wie das? Meta-
phorisch. . . .« »Der König steht auf. — Wie? Durch
falschen Feuerlärm geschreckt . . .?« »Ei, der Gesunde
hüpft und lacht, dem Wunden ists vergällt; der eine
schläft, der andere wacht, das ist der Lauf der Welt.
Sollte nicht dies, und ein Wald von Federbüschen
(wenn meine sonstige Anwartschaft in die Pilze geht)
nebst ein paar gepufften Rosen auf meinen erhöhten
Schuhen, mir zu einem Platz in einer Schauspieler-
gesellschaft verhelfen?. . .« »Ha ha! Kommt, Musik!
kommt, die Flöten! Denn wenn der Kini von dem
Stück nichts hält, ei nun! vielleicht — daß es ihm
nicht gefällt.« O lieber Horatio, ich wette Tausende
auf das Wort des Geistes!
Glossen
Die Welt als Vorstellung
Was die Behauptung Cadornas betrifft, daß die von unseren
Truppen bisher erstürmten Stellungen nur »Vorstellungen« seien,
so sei nur neuerdings —
Erschütternd, wie hier der neue Sinn des Worts zum alten zurück-
findet, ohne Vorstellung davon. Denn die von uns genommenen
Stellungen sind keine Vorstellungen, sondern richtige Stellungen,
und die Behauptung Cadornas, daß es bloße Vorstellungen und
nur in unserer Vorstellung existierende Stellungen seien, ist eine
falsche Vorstellung. Nun war aber auch kürzlich von den Stellungs-
pflichtigen und den > Vorstellungspflichtigen < zu lesen. Hier ist
wieder Zuwachs zum Leid der Menschheit, durch das Leid der Sprache.
Sind es solche, die verpflichtet sind, eben hievon eine Vorstellung zu
haben ? Nein ; es wäre von übel. Solche, .die verpflichtet sind, sich
irgendwo vorzustellen? Ja und nein. Etwas vorzustellen? Danach
wird nicht gefragt. Einem etwas vorzustellen, wie ihre Jugend, ihr Alter,
ihre Krankheit, ihre Unentbehrlichkeit? Das können oder brauchen sie
nicht. Einem Vorstellungen zu machen? Keineswegs. Solche, die
verpflichtet sind, Vorstellungen zu beziehen oder zunehmen? Noch
nicht. An Vorstellungen mitzuwirken? Auch noch nicht. Sich vor die
anderen zu stellen? Das dürfen sie nicht. Also was denn? Sich vor
den anderen zu stellen, früher als die andern zustellen! Das muß
es sein, denn eine andere Vorstellung kann man sich darunter
nicht vorstellen. Die Sprache hat ohnehin mehr gesagt, als sie von
rechtswegen verpflichtet wäre. Mehr vorstellungsptlichtig ist sie
nicht. Aber muß man denn in einer Zeit, die so viel Worte hat,
gerade mit den besten durchhalten und so, daß man sie zu jeder
Verrichtung benützt? Eher sollte man Wortkarten einführen und
auf eine solche nicht mehr Vorstellungen beziehen dürfen, also
auch auf eine »Vorstellung« nicht mehr Vorstellungen, als Zucker
zum Kaffee. Denn eben wo zu viel Begriffe sind, da dankt ein Wort,
das auf sich hält und selbst dort, wo nur Taten gelten, noch etwas
vorstellen will, zur rechten Zeit ab.
— 12
Die Phrase des Kriegs im Krieg gegen den Krieg der Phrase
Dicht nebeneinander die Titel :
Der heldenmütige Vorstoß bei Olyka.
Der Vorstoß gegen die englische Regierung in der
Relcrutierungsfrage.
Oder:
Cadorna hat gesiegt.
Wie?
. . . Der Rücktritt Zupellis, der im Gegensatz zu Cadorna als
Vorkämpfer der vom Dreiverband gewünschten Erweiterung der
italienischen Militärkonventionen gilt, ist perfekt geworden.
Wenn nur diese Vorstoßer und Vorkämpfer einmal beim
Vorstoßen und Vorkämpfen dabei wären!
Eine waffenbrüderliche Vereinigung
. . . Wie in Deutschland und Ungarn, werden auch bei uns in
Österreich alle Kräfte des öffentlichen Lebens und des geistigen
Schaffens der waffenbrüderlichen Vereinigung zugeführt werden.
Aber da muß man denn doch wohl gefragt werden ! Gegen
die Zuführung des Wilhelm Exner habe ich ja nichts einzu-
wenden. Er ist auch schon dabei und sagt:
... Es gibt ja unzählige kulturelle Gebiete, auf denen ein
gegenseitiges Sichkennenlernen und eine innige Befreundung
erfolgen kann und soll. Alle diese möglichen Beziehungen, die zu einem
regen Gedankenaustausch und noch mehr zu einerregen Wechsel-
wirkung führen, sollen von der Vereinigung gepflegt werden.
Aber warum solche Zusammenkünfte von nichtgedienten
Gschaftlhubern älterer Jahrgänge gerade »waffenbrüderliche Ver-
einigung« heißen müssen, ist nicht ganz klar. Das Schlaraffen-Leben
scheint zu Ende zu sein und die Greise wollen es in der Militari-
sierung den Kindern gleichtun. Eine »führende Persönlichkeit der
österreichischen Vereinigung«, die offenbar nicht genannt sein
will, bezeichnet als eines der Mittel zur Verwirklichung des
Zieles — nun, was denn? Also natürlich die Hebung des Fremden-
verkehrs. Hat ihn schon. Dieser Staatsmann dürfte der Suckfüll
sein, dessen Riesenschatten bereits am Horizont der Völkerver-
söhnung auftaucht. Er rast mit dem Fenriswolf um die Wette, holt
ihn aber ein, setzt ihn matt und serviert die Friedenstaube, eine
Spezialität, ganz frisch, wenn auch etwas teuer. (Man glaubt mir ja
solche Dinge nicht: daß der Zufall oder das Unterbewußtsein des
Setzers oder wie man das Ding an sich nennen will, für mich arbeiten :
Oben stand im ersten Druck >Sackfüll<.) Ich hoffe nicht, daß ich ge-
nommen werde, wenn dieses Ressort des geistigen Schaffens in Öster-
reich der waffenbrüderlichen Vereinigung zugeführt wird. Ja, der
Fremdenverkehr! Ein Leichnam zuckt hierzulande, wenn man vor
ihm das Wort » Fremdenverkehr < ausspricht. Alles ist wie elektrisiert,
gerät ins Zappeln, schürzt die Hemdärmel, macht Anstrengungen,
zu heben, anzufauchen, und jeder antwortet auf einen unausge-
sprochenen Vorwurf wegen Saumseligkeit: »Schieb i denn net eh
an?« Oder wie sagt doch Hans Müller? >Aus den Gräbern selbst
die Toten tanzen heute Brust an Brust <, wobei ja das Schulter
an Schulter-Motiv deutlich anklingt. Mitten im Krieg regen sich
bereits die Keime. Die Grenzen sind gesperrt, damit keine Fremden
hereinkommen. Aber wenn man dem Österreicher sagte, es könne dem
Fremdenverkehr schaden, würde er den Nachteil der Maßregel in
vollem Umfang erfassen. Selbst die Mitglieder der waffen-
brüderlichen Vereinigung können jetzt — mit Recht — schwer zu
einander gelangen. Aber die Verständigung ist bereits »angebahnt«
und im Entwurf ist der Himmel auf Erden fertig. Als einer der
Hauptpunkte ist ein Professorenaustausch geplant. Das kann nie
schaden, ist lustigund bildet schon einen integrierenden Bestandteil der
Hebung des Fremdenverkehrs. Und vor allem verlieren weder wir noch
die Deutschen, wenn man etwa den Brockhausen gegen den Kohler aus-
tauscht; oder den Arnold gegen denWalzel, um auch etwas Bewegung
in die Literaturgeschichte zu bringen. Den Hirth würde ich ohne
Anspruch auf Gegenwert draufgeben. Professorenaustauschen — das
ist ein Spiel, um das die Schulbuben von ehedem die Regierungen von
heute beneidet hätten. Das ist viel mehr als eine >Cap der guten
Hoffnung« hingeben und eine »Bolivia« bekommen und höchstens
noch ein Stückerl Amethyst dazu. Du liebe Zeit. Die Marken-
sammlung war schöner; aber heute ist's bunter. Was es jetzt
für Abwechslung gibt! Ein Gedankenaustausch ist auch
geplant. Etwas riskant ist das insofern, als man ja nicht
wissen kann, ob er nicht durch den geplanten Professoren-
austausch ins Stocken geraten würde und umgekehrt. Aber
zunächst ist es gut, daß überhaupt ein Wollen da ist,
daß die Kräfte des öffentlichen Lebens sich zu regen
14 —
beginnen, daß man nach dem vielen Tod wieder einmal
sieht, wie das wahre Leben ausschaut, daß ein biß! aufgemischt
wird, daß man den Wunsch hat, sich endlich gegenseitig kennen
zu lernen und eine allfällige Enttäuschung nicht weiter übel-
zunehmen. So sprechen denn alle Anzeichen dafür, daß der kommende
Friede sehr animiert verlaufen wird.
Drei Engel — drei Räuber
oder
Gerhart Hauptmanns Höllenfahrt
1894: 1914:
Erster Engel
Auf jenen Hügeln die Sonne,
Sie hat dir ihr Gold nicht gegeben.
Das wehende Grün in den Thälern,
Es hat sich für dich nicht gebreitet.
Zweiter Engel
Das goldne Brod auf den Äckern,
Dir wollt' es den Hunger nicht
stillen;
Die Milch der weidenden Rinder,
Dir schäumte sie nicht in den Krug.
Dritter Engel
Die Blumen und Blüthen der Erde
Gesogen voll Duft und voll Süße,
Voll Purpur und himmlischer
Bläue,
Dir säumten sie nicht deinen Weg.
Erster Engel
Wir bringen ein erstes Grüßen
Durch Finsternisse getragen;
Wir haben auf unsern Federn
Ein erstes Hauchen von Glück.
Es kam wohl ein Franzos daher. —
Wer da, wer? —
Deutschland, wir wollen an deine
Ehr'! —
Nimmermehr I I
Schon wecken die Trompeten durchs
Land.
Jeder hat ein Schwert zur Hand.
Man kennt es gut, dies gute Schwert,
vonSpichern, Weißenburg und Wörth,
das deutsche Schwert.
Es Icam ein schwarzer Russ' daher. —
Wer da, wer? —
Deutschland, wir wollen an deine
Ehr'l —
Nimmermehr ! !
Ein Kaiser spricht es hoch vom Sitz.
VielFeind',vielEhr',wiederalteFritz.
Sein Nimmermehr ist mehr als Schall,
's ist Donnerrollen und Blitzesknall,
's ist Wetterstrahl.
Da kam ein Englishman daher. —
Wer da, wer? —
Deutscliland, wir wollen an deine
Ehr'! —
Nimmermehr I !
Nimmermehr ist unser Wort,
es braust durch alle Gaue fort,
ein Cherub trägt es vor uns iier:
Nimmermehr I Nimmermehr I
Nimmermehr !
ID
Zweiter Engel
Wir führen am Saume unsrer
Kleider
Ein erstes Duften des Frühlings;
Es blühet von unsern Lippen
Die erste Röthe des Tags.
Dritter Engel
Es leuchtet von unseni Füßen
Der grüne Schein unsrer Heimath ;
Es blitzen im Grund unsrer Augen
Die Zinnen der ewigen Stadt.
Es kamen drei Räuber auf einmal
daher. —
Wer da, wer? —
Deutschland, wir wollen an deine
Ehr'! —
Nimmermehr I !
Und wär't ihr nicht drei, sondern
wäret ihr neun,
meine Ehr' und mein Land blieben
ewig mein:
Nimmer nimmt sie uns irgendwer,
dafür sorgt Gott, Kaiser und deutsches
Heer. —
Nimmermehr!
Ein Verletzter
. . . Wie der Vertreter Ganghofers, Dr. Fritz Hlawacek, ausführte,
erhob Ganghofer die Beschwerde deshalb, weil sein Rechtsempfinden
durch die Entscheidung des Ministeriums aufs tiefste verletzt worden sei.
Ganghofer ist Mitpächter der ärarischen Jagd im Gaistal (Tirol) ....
Der Rekurs an das Ministerium des Innern blieb erfolglos. Nun-
mehr ergriff Dr. Ludwig Ganghofer die Beschwerde an den Verwaltungs-
gerichtshof. Dr. Hlawacek führte in längerer Rede aus, das Rechts-
bewußtsein des Dichters sei durch die Entscheidung der Landes-
stelle, beziehungsweise des Ministeriums, auf das tiefste verletzt ....
Wenn ein anderer Geschäftsmann Klage führt, ist es nicht
üblich zu sagen, das Rechtsempfinden >des Geschäftsmannes« sei
auf das tiefste verletzt. Der Verwaltungsgerichtshof, der sich von der
Verkleidung nicht imponieren ließ, erkannte wohl, daß am Herrn
Ganghofer nur das Jagagmüat echt sei, und wies eben dieses ab. Auch
dürften ihm die Plaudereien des Klägers von allen erdenklichen
Fronten bekannt gewesen sein, diese in der Geschichte des Druck-
wesens beispiellosen Sudeleien aus picksüßer Sentimentalität und
viehischer Roheit — nein, menschlicher; das andere Wort wäre
eine Roheit gegen das Vieh — , kurz ein Betrieb, durch den Herr
Ganghofer jenes Rechtsbewußtsein auf das tiefste verletzt hat, das
sich gegen die Möglichkeit, Duldung und Förderung derartiger
Begleiterscheinungen des Grauens aufbäumt. Sollte die endlose Qual
dieser dokumentarischen Sintflut mir noch einmal die Hervorsuchung
älterer Fakten erlauben, so werde ich nicht versäumen, die Szene
wiederzugeben, wie der Herr Ganghofer die Gesichter englischer
— 16 —
Leichen verhöhnt und mit seinem Spazierstock den Brief einer
Mutter aufstöbert und durchh'est. Und wenn sich die Wasser
dereinst verzogen haben, erzählen, was Zeugen aus dem Munde
jenes Edlen gehört haben, unter dessen Augen für den Herrn
Ganghofer ein Schauspiel, ein Trauerspiel aufgeführt wurde, jenes
toten Majors Graf Walterskirchen, dessen Name die Verlustliste der
gleichen Zeitungsnummer anführt, die von dem verletzten Rechts-
empfinden des Dichters Ganghofer berichtet. Diesem und allen
übrigen Wortgesellen dessen, was sich in dieser Zeit begeben hat,
bürge ich dafür, daß wir uns noch sprechen werden, wenn die Tat
nicht mehr ist und ich noch das Wort habe!
Religion und Rechnung
Samstag den 13. d. findet die feierliche Einweihung der Kirche
des k. u. k. Reservespitals Nr. 11 (Orthopädisches Spital und Invaliden-
schulen) in Favoriten, Schleiergasse-Hebbelplatz, statt. Die Initiative zum
Bau dieser Kirche ist von Herrn k. u. k. Militärbaudirektor Generalmajor
Bayer ausgegangen. Die Kosten der Errichtung der Kirche wurden
von der Ungarischen Bank- und Handels-Aktiengesellschaft
Filiale Wien getragen, Das k. u. k. Reservespital Nr. 11, das
eigentlich als ein ausgedehntes orthopädisches Spital und als Invaliden-
schule größten Stils angesehen werden muß, erhält durch die Errichtung
der Kirche eine überaus dankenswerte Ergänzung, indem den religiösen
Empfindungen der Bewohner des Reservespitals nunmehr voll und
ganz Rechnung getragen werden kann. Die Invaliden, welche ihre Treue
zum Vaterland mit dem Einsatz ihres körperlichen Gutes bezahlten,
sollen wieder zu Arbeitsmenschen herangebildet werden und dabei auch
Gelegenheit finden, sich ihren religiösen Gefühlen hinzugeben.
Religiösen Gefühlen Rechnung tragen — das ist die rechte
Methode. Es reimt sich wie: die Kirche hat einen guten Magen,
die Kosten wurden von der Bank getragen.
* * '
•
Das sind Sachen!
Ja, was hat denn die Mea Gräfin Boos-Waldeck für
»Erinnerungen an den Kriegsausbruch <, gleich auf der zweiten
Seite, kaum daß die Weltgeschichte ihre Blasen in dem Gehirn
jenes sonderbaren Schwärmers aufgeworfen hat, der vom Leutnant
Mlaker zum Bankhaus Arnstein und Eskeles springt und auf dem
Weg von Arnstein zu Eskeles noch bei der Gestalt der alten
Arnstein verweilt, an der >alles Wellenlinien war«, um zu ver-
1/
sichern, daß ein goldenes Zeitalter eingebrochen, eine Milliarde
im Handumdrehn zu verdienen ist und daß wir an Mlaker
glauben, als wäre er ein Makler. . . . Aber eine Gräfin? Ja, Grafen haben
sich schon öfter eine Ehre daraus gemacht, die Bacchanten dieses
zinsfüßigen Pan abzugeben, dieses Schalks, der am Morgen die Hirten-
flöte bläst, um am Abend eine Panik zu erzeugen. Aber Gräfinnen ?
Meine Erinnerungen an die Zeit vor Kriegsausbruch gegen Italien
sind um so lebhafter, als ich eine große Optimistin bin, an Krieg
absolut nicht glauben wollte und bis in die letzten Tage hinein noch
mit meinen Kindern auf unserem Besitze in St. Peter bei Görz, den
wir ganzjährig bewohnen, weilte .... So gewöhnte ich mich nach und
nach, überhaupt nichts zu glauben und mich von meinem
rosigen Optimismus durch nichts abbringen zu lassen .... Die
Kirschen waren schon abgepflückt, die Erdbeeren reif und ein genuß-
reicher Sommer lag vor uns.
Dazu kamen »unsere glänzenden Erfolge in den Karpathen«,
so daß sie »fest davon überzeugt war«,
daß wir den Sommer wie alle Jahre auf dem Schlosse zubringen würden.
Da — was geschah da? Ihr Mann drang darauf, und sie
nahm infolgedessen auch keineswegs besonders viel Gepäck
mit ....
Und ich sollte mit meinem Glauben Recht behalten. Denn
trotzdem wir so nahe der Grenze sind, haben unsere Besitzungen
nicht gelitten und nur die durchwegs zersprungenen Scheiben des
Hauptgebäudes, die bei der Explosion einer großkalibrigen Granate zer-
brochen wurden .... legen Zeugnis davon ab, daß nahe von uns
Schreckliches geschehen.
>Damals aber«, nämlich als sie mit ihrer Familie nach München
fuhr, lag ihr der Krieg >mit keinem Gedanken im Kopfe«. Er lag
ihr sogar stark auf. Von einer Rückkehr nach St. Peter »war nun
keine Idee mehr«. Sie hatte aber »die Italiener durchaus richtig
eingeschätzt«. Ihre Stimmung wurde »immer besser und zuver-
sichtlicher«. Alle Nachrichten, die sie von ihren Leuten bekommt,
sind voll froher Hoffnung auf den Sieg »unserer guten Sache<.
Von den Fenstern unseres Hauptgebäudes aus sieht man die
italienischen Schützengräben auf der Podgora, die Hausleute beobachten
tagtäglich mit dem Opernglas alle Vorgänge und berichten immer
und immer wieder, daß die Italiener nicht weiter kommen und immer
wieder neue Verluste erleiden. Das Leben auf dem Schlosse geht
seinen Gang, und in den letzten Tagen erst haben wir wieder
wunderschöne Rosen und Spargel von dort bekommen ....
18 —
Wenn ich die Zeit vor Kriegsausbruch heute überdenke, kommt sie
mir wie ein Traum vor, aus welchem ich nur schwer zu erwecken
war und den ich erst austräumen werde, wenn wir wieder daheim
in St. Peter unsere Zelte aufschlagen.
Als ich das las und mich die Möglichkeit solcher Dinge, in
Weltanschauung und Sprache, so sehr die Einheit von allem
ahnen ließ, da nahm ich mich beim Wort >Ahnen<, ließ mir den
Gotha geben und erkannte, daß es eine Kubinzky sei. Sie hat mit
ihrem Glauben Recht behalten.
Eine Neuerung
— Dem Oberleutnant Horaz Ritter v Inspektionsoffirier
in der Rotunde . . . zweiter KlaSse . . . Kriegsdekoration
Wer die Hof- imd Personalnachrichten besser als die Oden
und Epoden gelernt hat, kennt nur die unregelmäßige Form »Horace«.
Die Ehre wird den Franzosen, die es sich selbst zuzuschreiben haben,
jetzt abgesprochen. Warum sie aber den Römern angetan wird und
wodurch es der Liebling des Augustus und der Götter verdient
hat, der doch procul negoliis leben wollte, also absichtlich
1924 Jahre vor dem Weltkrieg starb, ist unerfindlich. Den alten
Adel mögen sie haben — aber um die alten Namen ist's schade !
Eine Perle aus dem Kronschatz geweihter Vorstellungen brechen,
als ob's nicht genug schöne jüdische Vornamen gäbe, ist der pure
Mutwille.
Das war eine köstliche Zeit
. . . Denn dieser intimverschwiegene uralte Park mit seinen ver-
witterten Steinfiguren, den in ihrer Laubüppigkeit schattigen, fast melan
cholischen Alleen, die von köstlichen Wesen unterbrochen werden,
dieser Garten mit den sanft ansteigenden Terrassen, die den Überblick
über das alte Wien gestatten, ist von so köstlicher Schönheit, daß
er zum Rahmen für ein Fest wie geschaffen ist.
. . . Und weiter hinauf auf die nächste Terrasse ziehen sich Buden
und improvisierte Schenken, darunter ein im Sturm genommenes
Oulaschrestaurant. . . .
... So wurde denn die Stimmung immer fröhlicher, und als spät
am Nachmittag sich die Kunde von den neuen glänzenden Waffentaten
unserer Armee verbreitete, herrschte heller Jubel, der auf Stunden die
Schwere der Zeit vergessen ließ. . . . Landau . . . Jarzebecka . . . Spitzy,
Herzmansky . . . Gerda Walde . . . Frau Hofrat Wolf . . . Flora Dub . . .
19
Der Lenz ist gekommen,
Frau Angelika v. Glaser-Lindner schreibt uns: Maiensonne und Maien-
grün, werbendes Vogelgezwilscher in blühenden Zweigen, bunte,
leuchtende Blumen auf Beeten und Rabatten, am Teiche goldgelbe junge
Entlein, unter den Weiden, die ihre langen Äste wie einen schützenden
Vorhang im Wasser wiegen, junge Schwäne in silbergrauem Flaum und
auf smaragdgrüner Böschung die Gluckhenne, die mit gurrendem Lockruf
ihre buntscheckige Küchleinschar ruft: ein Drängen und Treiben,
ein Knospen und Sprießen allüberall in emsig sich erneuernder Urkraft
des jungen Lenzes! Und in all den Frühlingszauber hinein
jauchzen und schluchzen süße Melodien, die schmeicheln-
den Weisen unserer Operetten, dirigiert von derHand ihrer
Komponisten: Edmund Eysler, Leo Fall, Emmerich Kaiman,
Franz Lehar und Oskar Straus .... All dies blühende
Lenzesleben ringsum, ist es nicht wie ein Symbol der
Kriegspatenschaft selbst? . . . Das alte, wahre Wort: Der
Mensch ist das kostbarste Gut des Staates, gilt nun in diesem
mörderischesten aller Kriege noch tausendmal mehr .... Darum ist es
unsere heiligste patriotische Pflicht, unser Scherflein beizusteuern ....
Möge zum Lenzesfest der Meisterkomponisten das ganze
patriotische Wien herbeiströmen, um zu zeigen, daß es die große
Idee der Zukunft des Reiches erfaßt hat ....
Musik
[»Hoch Hindenburgl«) Unter diesem Titel überseiidet uns Oeza
Graf Zichy nachstehendes Gedicht:
Ein Gruß aus fernem Ungarland,
Der soll dich auch erreichen.
Ich drücke dir die starke Hand,
Dir, Großem, Siegesreichem.
Ich bin ja auch ein Jubilar
Und will nicht ruhn und rasten.
Ich sitze volle fünfzig Jahr
An meinem Klapperkasten.
Ich dresche weiter, drisch auch du.
Mach keine langen Pausen,
Schwing den Taktierstock, immerzu,
Laß dein Orchester brausen,
etc.
— 20 —
Kriegsgreuel
[KarIWeinbergieff.] Unter diesem Pseudonym birgt sich niemand
anderer als der bekannte Wiener Operettenkomponist Karl Weinberger.
Er verdankt die Russifizierung seines Namens einem findigen italienischen
Agenten. . . . Nach der italienischen Kriegserklärung hielt sich der Agent
berechtigt, auch aus anderen Weinbergerschen Operetten Melodien
herauszunehmen und sie der Operette »Der Schmetterling« will-
kürlich einzuverleiben. . . .
Das dürfte zur Verschärfung der Gegensätze beitragen,
wiewohl eigentlich der treubrüchige Agent mit den anderen
Weinbergerschen Operetten nichts anderes vorgenommen hat
als der Schöpfer selbst mit anderen. Was die Namensänderung
anlangt, so liegt ein schweres Unrecht vor, an dem nur
die Anerkennung des deutschen Vornamens sympathisch berührt.
Denn Weinbergieff gehört zu jenen von unseren Leuten,
die im Krieg heimgefunden haben, und ähnlich einem Winterfeld,
der freilich schon in Klammem seinen alten Anspruch auf den
Jean Gilbert zu behaupten anfängt, verzichtet er fortan darauf,
Charles zu heißen, so lange bis das Vaterland von der Gefahr,
daß weniger Tantiemen verdient werden, befreit ist.
Es brost ein Ruf
Dem Schriftsteller Alfred Deutsch -Ger man wurde das
Kommandeur kreuz des bulgarischen nationalen Ordens für Zivil-
verdienste verliehen.
Der Atztensgattin Flora Kohn, Präsidentin der Flüchtlings-
ausspeisungsaktion in der Rotensterngasse 23, wurde vom Oberst-
hofmeisteramte des Kaisers im Wege der Statthalterei der Dank für das
von ihr verfaßte und der Kabinettskanzlei unterbreitete >Kampflied<
übermittelt.
Herr Alfred Po Hak in Baden hat an den Generalobersten
Freiherrn Conrad v. Hötzendorf ein selbstverfaßtes Gedicht gesandt,
worauf er nach wenigen Tagen eine liebenswürdige Antwort erhielt, die
>den herzlichsten Dank für das schöne Gedicht« und die »besten
Grüße« brachte.
Ein Kunsttag
Eine Abordnung des Präsidiums der unter dem Ehrenpräsidium
der Fürstin Metternich-Sandor stehenden »Allgemeinen Kunstfürsorge«,
gestehend aus dem ersten Vizepräsidenten Schriftsteller Paul Wilhelm,
Feldmarschalleutnant Artur Qrünzweig v. Eichensieg, Hofschau-
spieler Treßler und kaiserlichem Rat Lehr, erschien Freitag beim
Minister des Innern Prinzen Hohenlohe-Schillingsfürst, um von ihm die
Bewilligung für einen im Juni geplanten > Kunsttag« zu erbitten. Der
Minister empfing die Herren in liebenswürdigster Weise und erteilte
bereitwilligst die erbetene Zustimmung. Im weiteren Gespräch ließ sich
der Minister über die in den Kunstkreisen aller Kunstgattungen
herrschende Situation informieren und bat die Herren, die durch
die Kriegslage so außerordentlich schwer betroffene Künstlerschaft seiner
wärmsten Teilnahme zu versichern, indem er hinzufügte, daß er die für
Künstler aller Kunstgattungen unternommene Hilfsaktion mit vollster
Sympathie begleite und ihr den besten Erfolg wünsche. Die Herren
sprachen dem Minister im Namen des Präsidiums den herzlichsten Dank aus.
Über die in den Kunstkreisen aller Kunstgattungen »herr-
schende Situation € hätte ich dem Minister besser als eine > Ab-
ordnung«, bestehend aus einem Schriftsteller, einem Feldmarschalleut-
nant, einem Hofschauspieler und einem kaiserlichen Rat, Auskunft
geben können. Ich hätte dem Minister gesagt, daß sie, nämlich die Situ-
ation, wahrhaft trostlossei.Abernichtinfolge des Kriegs, sondern schon
vom Frieden her. Denn daß ein Feldmarschalleutnant und ein kaiser-
licher Rat irgendwelche Kunstgattungen vertreten, kann schon sein ;
wer aber hat die Herren Wilhelm und Treßler beauftragt? Ein
Kunsttag im Jahr wäre ja nicht übel, und Arme sollte man täglich
unterstützen. Aber wenn etwa geplant ist, Leute auf der Straße
anzusprechen, damit gewissen Kunstkreisen das Malen oder das
Schreiben erleichtert werde, so gebe ich keinen Heller!
Zusammenhänge
. . . Auf den Vorhalt des Richters, daß es wohl nicht üblich sei,
wenn man etwas kaufen wolle, den Gegenstand an sich zu nehmen, bevor
man noch bedient wurde, erwiderte die Angeklagte: >Ich habe gedanken-
los gehandelt. Ich war damals ganz traumverloren.«
Der Verteidiger brachte vor, daß die Angeklagte, die nebst ihrem
Berufe als Klavierspielerin auch Dichterin und Schriftstellerin sei,
auf der Fahrt mit der Elektrischen ins Warenhaus auf losen Blättern,
wie es ihre Gewohnheit sei, etwas niedergeschrieben habe, woraus
sich ihre Gedankenlosigkeit im Geschäfte erklärt.
Die aber schon in der Elektrischen gewirkt haben muß.
— 22 —
San mr fesch !
(»Die Herrenwelt.«) Die soeben erschienene dritte Nummer der
ausgezeichneten Wiener Zeitschrift für die Herrenmode >Die Herrenwelt«
steht im Zeichen des Sports, speziell des Reitsports, über den es in
dem einleitenden Artikel »Sportherren« sehr richtig heißt: ». . . . Kein
anderes Kleidungsstüclt stellt körperliche Vorzüge in so günstiges Licht
wie der Sportrock, und kaum in einem andern vermag man anderseits
so gut , nachzuhelfen' und .auszugleichen' — da lohnt es sich schon,
ein wenig nachdenklich zu sein. Ist man vielleicht auch ein
Mann, der in den sogenannten Äußerlichkeilen nicht aufgeht, so freut
man sich darüber, wenn es heißt: »Schauen Sie sich den dort
drüben an, ist der nicht ein fescher Mensch? . . . .«
Ein Artikel beschäftigt sich mit der »Hemdärmelgemütlichkeit« und den
»Hemdärmelherren«, die es noch immer vorziehen, in Hemdärmeln
zu erscheinen, statt in dem so hübschen und praktischen Sporthemd,
und eine amüsante Plauderei schildert den »Salonlöwen« von seinem
ersten Auftreten in der Öffentlichkeit bis zu seinem seligen Ende, das
heißt bis er in den Hafen der Ehe einzieht oder sich mit zu-
nehmendem Alter in den »Zuckerlonkel« verwandelt. Der
Vizedirektor des Österreichischen Museums für Kunst und
Industrie Regierungsrat Dr. Dreger ist mit einer historischen.
Studie über die Entwicklung des Reitanzuges vertreten. . . .
Zu dieser Gründung haben sich Regierungsräte, Hofräte
und dergleichen amtliche Förderer von Kunst und Industrie,
Schokolade und Knofel, die jetzt eine heimische Mode »ins Leben«
— was das schon für ein Leben ist — >rufen< wollen — was
das schon für Rufer sind — , zusammengefunden. Keine Hemd-
ärmelherren, auch nicht gerade Salonlöwen, wohl aber Zuckerlonkel,
und zwar solche, die immer Diana-Kriegs-Schokolade für die braven
Kinder in der Tasche haben. Arme Teufel, die von der fixen Idee
besessen sind, bald dem Fremdenverkehr, bald der heimischen Mode
zuzureden, und sonstigen Erscheinungen, die sich nicht zwingen
lassen, denen sie aber durch gemütliche Scherze beizukommen hoffen.
Sind das nicht fesche Menschen? Nirgend besser als in diesen
österreichischen Förderungen, wo entweder Organisches durch
Komiteesitzungen oder Sachliches durch eine g'schmackige Zube-
reitung entstehen soll, zeigt es sich, daß die große Armut von
der großen Powerteh herkommt. Oder nein, Onkel Bräsig (kein Zuckerl-
onkel!) hatte unrecht : die Powerteh von der Armut. Wo in aller Welt
außer in dieser windverdrahten und drahtverhauten Gegend wären
solche Entschlüsse, täglich ein neues Leben zu beginnen und auf den
Ruinen blühen zu lassen, noch möglich ?Ham mr nix, so mach' mr was.
San mr traurig, gibts an Gspaß. Nicht zu waschen is die Wasch' —
aber heimisch! San mr fesch!
Es ist vorgesorgt
Das stellvertretende Generalkommando des 7. Armeekorps hatte
eine Eingabe des Verbandes Westmark der »deutschvölkischen« Partei
Aber die Modefrage an das Kriegsministerium zur Erwägung weitergegeben,
ob nicht für das ganze Reich gegen den »Modeunfug« durch-
greifende Maßregeln getroffen werden könnten. Dem Verband ist nunmehr
vom stellvertretenden Generalkommando in Münster folgender Bescheid
zugegangen: Laut Mitteilung des Kriegsministeriums ist vorgesorgf, daß
die Herbst- und Wintermode eine andere Richtung einschlägt.
Ein freies Leben führen wir
Die Polizei:
Die Münchener Polizeidirektion befahl den Schutzleuten, nach
eigenem Ermessen auffallend gekleidete Frauen zur Wache
zu bringen. Tatsächlich wurde gestern schon auf dem Bahnhofplatz
eine Dame verhaftet, die eben auf dem Wege zu einem Stelldichein
mit einem Offizier war. Nach energischem Vorhalt des Unziem-
lichen ihrer auffallenden Kleidung durch den Polizeibeamten und
nachdem ihr ein Polizist den ihr im Gesicht aufgetragenen
Puder abgestaubt hatte, wurde sie entlassen.
Die Presse:
(Die verhaftete »Mode«.) Um »ihn« zu treffen, kam »sie« auf
den Bahnhofplatz. Nach ihrer Meinung war sie über alle Maßen »schick«
gekleidet: Dunkelblaues Kleid mit Glockenrock, ein durch Außer-
gewöhnlichkeit entzückender Hut, Pelz, graue Schuhe mit riesenhohen
Absätzen, die Locken kokett in die Stirn fallend, Schminke und Puder
waren nicht gespart — mußte sie nicht gefallen? Da stört ein Schutz-
mann ihre erwartungsvollen Hoffnungen, heißt sie, ihm zu folgen.
Bald steht sie in der Polizeidirektion dem diensttuenden Beamten gegenüber,
der sich lebhaft für die »Aufmachung« der Dame interessiert. Das Fräulein,
eine Schmuckverkäuferin, erklärte gekränkt, daß sie die gleiche Kleidung
bei jedem Ausgang trage; vielleicht habe sie diesmal nur etwas zuviel
Puder aufgetragen, denn sie habe Eile gehabt, um ihren Bekannten nicht zu
24 —
versäumen. Der Beamte tadelt die dem Ernst der Zeit nicht ent-
sprechende Tracht, reinigt die Modepuppe von der Überfülle
des Puders und läßt sie ziehen. Wie sie sich wohl entschuldigt
hat, als sie verspätet zum Stelldichein eintraf? Diese Geschichte,
die sich am Dienstag abend abspielte, wird hoffentlich eine
deutliche Warnung sein für alle Sklavinnen verrückter
Übermode.
Was ist grauenhafter?
Lauschigstes Eckchen der Welt
(Das Hindenburg-Bierstübl) Kärntnerstraße Nr. 22, wurde
den Zeitverhältnissen Rechnung tragend, vom Erdgeschoß
nach dem Souterrain verlegt und findet dieser gemütliche Raum
echter Zechstimmung im Kreise der Bierfreunde volle Anerkennung.
Ebenso bewährt sich der Grundzug der Selbstbedienung und der
Freiheit, sich die >Unterlage« selbst mitbringen zu können, umso-
mehr, als diese Einführung dem allseitigen Bedürfnis desSparens entspricht.
Im übrigen besteht die Absicht, das trauliche >Stübl« nach Maßgabe der
immer schwieriger werdenden Küchenverhältnisse nach und nach zu
vergrößern, so daß es sich zu einem Hindenburg-Keller aus-
bilden wird, in dem das Meisterwerk des volkstümlichen Bildhauers
Zelezny, der martialische Kopf des großen Feldmarschalls Hindenburg,
erst voll und ganz zur Geltung kommen wird. Wenn auch das
weiße Tischtuch immer mehr verschwinden wird, so werden sich die Gäste
nicht minder wohl fühlen in den Hallen echt deutschen Wesens
und unbeugsamen Frohsinns wienerischer Lebensfreude.
Riesigstes Sortiment der Monarchie
Der Maler Professor Hugo Vogel hat jetzt ein 19 Meter langes
und 8 Meter hohes Wandgemälde, »Prometheus bringt den Menschen
das Feuer<, in der Berliner Charite vollendet, das mit 152 Quadratmeter
das größte Wandgemälde ist, das die deutsche Reichshauptstadt besitzt.
Kalassal ! Funfzehntausend können es gleichzeitig ansehn und
sich überzeugen, daß Prometheus tatsächlich den Menschen das
Feuer gebracht hat, durch das sie jetzt für ihre Ideale gehen.
Der Atem der Weltgeschichte
»Dieser Abend brachte Barnowskys wertvollste Gabe.
Die Aufführung hatte Gedrungenheit und Größe. Der Abend kann
— zo —
historisch werden. In Geschichtsbüchern könnte dereinst
stehen: Am Tage, da Amerikas Note in Berlin veröffentlicht wurde,
hatten die Bürger innere Stärke und Freiheit genug, die Troerinnen des
Euripides andächtig anzuhören If
Vorläufig steht es in der Vossischen Zeitung, nicht von Klio, aber
von Herrn Großmann, den wir leider in waffenbrüderlicher Ver-
blendung an Berlin abgegeben haben. Er muß überrascht gewesen
sein. Zu der Zeit, da er noch kein angelangter, sondern nur ein
ringender Schmock war, der, wie die Euripides-Zuhörer sagen, nicht
Brot auf Hosen hatte und darum anarchistischen Idealen anhing,
hätte er das den Bürgern gar nicht zugetraut. »Hören Se mal,
Katzenelbogen, was sagen Se zu Wilson ?< »Wir wollen uns heute
die Troerinnen, Barnowskys wertvollste Gabe anhören, in der
Bearbeitung von Euripides, 'nem tüchtjen jungen Österreicher, nach
'ner Idee von Werfel.« »Nu haste Worte! Ausgerechnet heute?
Katzenelbogen, bedenken Sie, was die Weltjeschichte dazu sagen
wird!< »Was soll sie sagen, wenn das Metropol ausverkauft ist?«
»Ja sind Sie denn heute in der Stimmung für Andacht?« »Erlauben
Sie mal, da bin ich aber ganz anderer Ansicht ! Grade an so 'nem Tag
muß man beweisen, daß man innere Stärke und Freikarten genug
hat, zu Barnowsky zu gehen. Der Abend kann historisch werden !«
(Krotoschiner steht kopfschüttelnd da und entfernt sich, das Lied
summend: »Ach Puppe, sei nicht so neutral!«)
1916
»Im Johann Strauß-Theater wurde die Operette »Die Csardas-
fürstin« zum hundertfünfzigstenmal aufgeführt .... Im Carltheater wurde
Samstag die Operette »Fürstenliebe« zum fünfundsiebzigstenmal ge-
geben .... Im Bürgertheater fand Sonntag abend die zweihundertste
Aufführung der Operette »Ein Tag im Paradies« statt . . . .«
Verzweiflung in London
Das Neue Wiener Journal, das seine Lügen nicht etwa verstohlen
stiehlt, sondern es in balkendicken Lettern anzeigt, ist das Opfer eines
Zeppelinbombardements auf London geworden. Man hat ihm eine
26 —
Original-Nachricht anvertraut, die es unter dem Titel »Verzweiflung
in London« produziert:
... In London herrschte während des ganzen Sonntags tiefe
Niedergeschlagenheit. Die meisten Theater, Varietes und Kinos
waren geschlossen ....
Und das ist noch eine sehr glimpfliche Darstellung. Denn
an jenem Sonntag sollen in London sogar sämtliche Theater,
Varietes und Kinos geschlossen gewesen sein. Und wenn das Neue
Wiener Journal erst die volle Wahrheit wüßte I Es soll nämlich jetzt
vorsichtshalber an jedem Sonntag der Fall sein und wie man
sagt, schon seit Jahrzehnten in Erwartung der Zeppeline der Fall
gewesen sein. Immer an Sonntagen fürchten sie dort, daß Zeppeline
kommen, und schließen darum sämtliche Theater, Varietes und
Kinos. Bei uns würde man eher Bomben riskieren als die Sperrung
von Rideamus. Wir halten durch und offen, und wenns Schuster-
buben regnet. In London gibts zwar auch nicht jeden Sonntag ein
Zeppelinbombardement, aber man kann hundert gegen eins wetten,
daß diese Feiglinge von nun an immer geschlossen haben werden. Ja,
als die Zeppeline noch nicht erfunden waren, hätte man ihnen zugute-
halten können, sie täten 's aus religiösen Gründen, mit einem Wort
aus Heuchelei, aber jetzt halten sie am Sonntag geschlossen aus
Furcht, und wenn die Zeppeline an Wochentagen kommen, so
halten sie offen aus Leichtsinn. Denn man weiß ja: sie »tändeln
mit dem Krieg«. Automobile sollen sogar bei ihnen verkehren.
Sie leben in Saus und Braus. Und das tun sie immer dann, wenn
sie nicht verzweifelt sind. Wenn sie aber schon die längste Zeit
getändelt haben oder verzweifelt waren, dann »müssen sie endlich
beginnen nachdenklich zu werden«. Und dann schließen sie täglich!
Das Gesellschaftsspiel
». . . Schon die Aufmachung der Sache mit der einleitenden
Schilderung des Speisewagens ist kennzeichnend für den italienischen
Pressestil, der auf das oberflächliche Unterhaltungsbedürfnis berechnet
ist. Der »Held von Laibach« ist kein anderer als der Fliegerhauptmann
Salomone, der den Angriff der Caproni-Flugzeuge auf die Hauptstadt
von Krain geführt hat, durch den zahlreiche friedliche Bürger der öster-
reichischen Stadt ums Leben gekommen sind. Als österreichische
Flieger über italienischen Städten Norditaliens Bomben mit töd-
licher Wirkung geworfen hatten, konnte die .Tribuna' sich nicht genug
tun im wüsten Schimpfen über die deutschen Mörder, Banditen
u. s. w., denen es Freude bereite, wehrlose Frauen und Kinder umzu-
bringen. Den italienischen Hauptmann dagegen sieht sie, da er an
österreichischen Bürgern dasselbe verübt hat, >im leuchtenden
und unauslöschlichen Glänze des Ruhmes« .... Solche widerliche
Zeugnisse des in der Presse Italiens herrschenden Geistes könnte man
zu Hunderten sammeln, eines immer schlimmer als das andere. Man
kann wahrlich für weitaus die meisten Zeitungsschreiber
des uns ehemals verbündeten Landes nichts anderes mehr
empfinden als tiefste Verachtung.«
Ein Geduldspiel für Groß und Klein
>Die vom Kriegsfürsorgeamt in den Verschleiß gebrachten
heurigen Osterkarten haben durch den »Russentod« eine er-
freuliche Ergänzung erfahren. Der >Russentod«, eine sinnreiche
Erfindung der Gräfin Taaffe, ist ein für Groß und Klein interes-
santes Geduldspiel, ein Erzeugnis der Verwundeten des Roten Kreuz-
Lazaretts auf der Kleinseite, wo die Gräfin als Oberschwester Samariter-
dienste versieht. In einem sehr geschmackvoll ausgeführten Osterei
erscheint eine Miniaturfestung mit Drahthindernissen und
Sumpf dargestellt, nebst kämpfenden verbündeten und russi-
schen Soldaten. Durch Schütteln des Eies müssen die Ver-
bündeten in die Festung hereingebracht und die Russen in den
Sumpf getrieben werden. Der »Russentod« bildet ein ge-
eignetes Ostergeschenk nicht nur für die Jugend, sondern
auch für die Soldaten in den Spitälern, denen es eine angenehme
Zerstreuung und spannende Unterhaltung bietet. Das »Russen-
tod«-Osterei, in sehr geschmackvoller schwar;^-gelb-seidener
Ausführung, kostet 3.60 Kronen und ist in der Prager Zentralverkaufs-
stelle des Kriegsfürsorgeamtes erhältlich.«
Initiative und Pagat-UItimo
— Wir haben im Morgenblatte über den namens des freiheitlich-
bürgerlichen Gemeinderatsverbandes (vom Gemeinderat Hein) gestellten
Antrag berichtet, dem Generalobersten Freiherrn v. Conrad das Ehren-
bürgerrecht der Stadt Wien zu verleihen. Die Initiative zu diesem
Antrage hatte Gemeinderat Josef Stein ergriffen.
— 28
Also nicht Hein, sondern im Gegenteil Stein. Hein und
Stein sind die zwei Genien des Fortschritts, auf die die Leopold-
stadt annähernd mit derselben Inbrunst schwört wie ehedem auf
Stein und Bein. Dem Generalstabschef, dem schon zugemutet
wurde, daß die Praterstraße »fortan« nach ihm heißen solle, dürfte
diese Vordringlichkeit bis an die Front und das opferlose Ergreifen
von Initiativen zu einer Reklamenotiz doch einige Aufschlüsse über
die Beschaffenheit jenes Hinterlandes gewähren können, in dessen
Interesse es letzten Endes eine Front gibt. Bedürfte es außer dem
Instinkt und der Information durch freiheitliche Anträge noch einer
weiteren Aufklärung darüber, aus welchen Milieus da der Anschluß
an die Glorie versucht wird, so wäre vielleicht diese hier, einen
zivilistischen Erfolg betreffend, der dem Triumph auf dem Fuße
folgte, geeignet, den Gegenstand zu erschöpfen:
(Wegen eines Pagat-Ultimo.) Der Fabrikant und
Gemeinderat Josef Stein trat heute beim Bezirksgerichte Josefstadt als
Kläger gegen den Holzhändler Deutschberger auf, weil e r ihm bei einer
Tarockpartie zugerufen haben soll: »Sie sind der unanständigste Spieler,
den ich kenne!« In der . . Verhandlung gab der Angeklagte . . an, daß er am
2. Januar im Cafe Prückl bei einer Tarockpartie mit dem Kl^er und dem
Realitätenbesitzer Goldsand beim letzten Spiel einen Pagat-Ultimo angesagt
habe, der todsicher war. Beim Ausspielen der Karten habe ersieh, während
die Partner schon kein Tarock mehr im Blatt hatten, vergriffen und mit dem
Pagat eingestochen, obzwai er noch sechs andere Tarock im Blatt hatte. Herr
Stein habe sofort erklärt, daß dies eine Renonce sei, habe die Karten
weggeworfen und habe sich den Pagat-Ultimo von ihm noch bezahlen
lassen .... Herr Stein gab, als Zeuge vernommen, an, daß er in der
ständigen Partie mit dem Angeklagten stets größere Beträge verloren
habe. Am kritischen Abend habe zufällig Herr Deutschberger Pech
gehabt und sei deshalb während des Spieles sehr aufgeregt gewesen.
Als er mit dem Pagat-Ultimo aus Versehen eingestochen habe, habe er
den Pagat wieder ins Blatt nehmen wollen ; er (Stein) habe dies jedoch
nicht zugegeben, da eine Renonce gelten müsse .... Schließlich
erlärte der Kläger, daß er den Betrag für den verlorenen Pagat-Ultimo,
und zwar achtzig Heller, nicht genommen, sondern das Geld auf
dem Tische liegen gelassen habe .... Der Richter verurteilte den
Beschuldigten wegen Ehrenbeleidigung im Sinne der Klage zu einer
Geldstrafe von hundert Kronen ....
Daß eine Renonce gelten muß, ist doch wohl die primitivste
völkerrechtliche Errungenschaft, die aus diesem Ringen noch übrig
geblieben ist. Aber ganz abgesehen davon mußte eine Vertirteilung
erfolgen, weil es von unpatriotischer Gesinnung zeugt, einem
— 29
Manne, der das Verdienst hat, die Initiative zu jenem monu-
mentalen Antrag ergriffen zu haben, so etwas anzutun. In dieser
todsichern Zeit einen Pagat-Ultimo ansagen, mag ein Trumpf
sein; aber das Scherflein von achtzig Hellern liegen lassen und
dafür eine Initiative ergreifen, das ist ein Triumph, mit dem man
in die Annalen kommt und für den sich dereinst noch das auf
dem Schoß sitzende Enkerl interessieren wird.
Kosaken in Wien!
.... Er sei plötzlich in die Mitte des Kaffeehauses getreten
und habe ihm, auf eine Ecart^epartie anspielend, zugerufen: »Es ist
ein Skandal, daß Sie Kosaken in Ihrem Kaffeehause dulden.
Sie wollen ein anständiger Kaffeesieder sein? Sie sind ein
Kaffeesieder wie ich ein Seiltänzer bin!<
Das Los unserer Gefangenen in Rußland
— Der Realschüler Paul Kramer, Sohn des Prokuristen Berthold
Kramer der Ostrauer Mineralölraffinerie Max Böhm & Co., hatte zuin
18. August vorigen Jahres an G. d. I. v. Kusmanek ein patriotisches
Gedicht gesandt, worauf er kürzlich ein Schreiben des Generals aus
Nishni-Nowgorod, vom 10. März 1916 datiert, erhielt, in welchem es
heißt: ». . . Besten Dank für Ihre patriotische Kundgebung vom 18.
August 1915, welche mir erst kürzlich zugekommen ist. Ich begrüße Sie
und knüpfe daran den Wunsch, daß es stets Ihr eifrigstes Bestreben
sein möge, dereinst ein wackerer und tüchtiger Sohn unseres schönen
V'aterlandes zu werden, v, Kusmanek.-
Der Flüchtling
(Unsere Ärzte in Taschkent und Samarkand.) Unter Bezugnahme
auf die Mitteilung über das Schicksal des kriegsgefangenen Meteorologen
Dr. v. Ficker in Sibirien wird uns von geschätzter Seite geschrieben:
Taschkent und Samarkand .... sind mir leider viel zu gut bekannt und
geläufig, habe ich doch selbst fast sechzehn Monate in Samarkand und
— 30
auch kurze Zeit in Taschkent gelebt. ... In Samarkand war ich bis
zum 22. Januar laufenden Jahres im dortigen Kriegsgefangenen-
lager interniert, bis ich zu fliehen vermochte.... Verhältnis-
mäßig geht es unseren Ärzten in der Kriegsgefangenschaft leidlich.
Sie besitzen in den meisten Städten einige Freiheit
und dfirfen ohne Konvoi ausgehen. ... Ich habe noch
die Beteilung der Mannschaft mit diesen Liebesgaben aus der Heimat
knapp vor meiner Flucht erlebt. Nie werde ich diese
Glückseligkeit und Dankbarkeit, die aus den Augen der Beteilten strahlte;
vergessen. Die kompetenten Militärbehörden und Fürsorgestellen suchen
alle Mittel und Wege, das Los unserer Kriegsgefangenen in Rußland zu
erleichtern, doch auch unsere Privatwohltätigkeit könnte hier außer-
ordentlich segensreich einsetzen. Ich bitte alle, die einen Angehörigen
in russischer Kriegsgefangenschaft im Turkestangebiete haben, der in so
weiter Ferne in einem anderen Weltfeil schmachtenden Kranken und
Siechen zu gedenken und ein Scherflein beizutragen zur Milderung des
Loses dieser wahrhaft Unglücklichen,
Aber es wird leider wenig helfen, und sogar die freien
Ausgänge der Gefangenen werden jedesmal, wenn einem von
ihnen die Flucht geglückt ist, eingeschränkt. »Sie besitzen in den
meisten Städten einige Freiheit und dürfen ohne Konvoi ausgehen«,
so lange, bis einer von ihnen das Wort bricht und alle übrigen
seine Flucht zu büßen haben. Der mit Recht anonyme Samariter,
der eine geschätzte Seite bleibt, während andere in Wien sogar
Vorträge über ihre Flucht halten, hat eben noch die Freude seiner
Kameraden beim Eintreffen der Liebesgaben, aber eben nicht ihre
Trauer über die infolge seiner Flucht verfügte Freiheitsentziehung
mitgemacht. Der Überläufer des Schlachtfeldes bringt sich in Ge-
fangenschaft und verrät seine Kameraden nicht. Das tut er erst, wenn
er aus der Gefangenschaft in die Freiheit überläuft. Aber auch diese
selbstischeste Handlung, die immerhin noch in einer Niederung
von Menschlichkeiten spielt, könnte als Rettung aus einem uner-
freulichen Leben mit Schweigen hingenommen werden, wenn sie sich
selbst zum Schweigen verurteilte. Wohl ist ein solcher Zeuge in
der Lage, über das Los der Kameraden, die er zurückgelassen hat,
Zuverlässiges auszusagen, aber keiner ist dazu weniger berufen;
denn er weiß recht gut, daß keine Hilfeleistung, die er durch-
zusetzen vermöchte, den Gefangenen mehr nützen kann, als seine
Entfernung, die ihn zur Aussage befähigt, aber nicht berechtigt,
ihnen geschadet haben muß, und daß die so gewonnene Freiheit
ihnen abgezogen wird, deren jeder jetzt gerade um so Tiel weniger
31 —
davon hat, als jener zu viel hat, und deren jedem jetzt um so viel
mehr Freiheit genommen ist, als jener sich nahm. Von Helfern,
die das Unheil vermehren halfen, läßt sich das Gewissen nicht
gern mahnen. Nur wenn am Ziel der Flucht die Sicherheit
zu holen wäre, auch die Befreiung der anderen durchzusetzen,
wäre der Ankömmling ein willkommener Bote. Wenn er uns aber
zu Scherflein für solche auffordert, die seither noch weniger
haben, so wollen wir sie beitragen, aber ihn nicht grüßen.
Für Zeitungen mag er eine geschätzte Seite sein. Leser sollten auf
die andere Seite schauen. Das peinliche Erlebnis: die Freiheit, die die
Verengung verschuldet hat und die das wissen und gewußt haben
muß, über die Gefangenschaft klagen zu hören, ist eine der
bunten Möglichkeiten dieser verrotteten Gegenwart.
Eine Beruhigung
. . . Das so gesammelte Geld wird für die Aufbesserung der
Kost, für Bekleidung, für die Instandhaltung, die Reinlichkeit, kurz für
die notwendigsten Bedürfnisse verwendet. Durch dieses Werk der
Menschenliebe können sich unsere armen Kriegsgefangenen gesünder
erhalten, und es kommt nicht zuletzt unseren kriegsgefangenen Vätern,
Männern, Söhnen, Verlobten, Brüdern zugute, indem durch Reinlichkeit
und richtige Ernährung das Ausbrechen von Krankheiten, speziell in den
Mannschaftslagern verhindert wird ....
Der Gipfel der Nibelungentreue
(Vielgereuth.) Von Mund zu Mund geht jetzt dieser Name, der
mit einem so schönen Erfolg unserer tapferen Verbündeten
verknüpft ist. Die Hochfläche von Lafraun und Vielgereuth — — —
Das ist der , Wiener Mittags-Zeitung' passiert. Es erklärt sich
o: sie hat es einem reichsdeutschen Blatt, als sie gerade Schulter
au Schulter mit ihm stand, entwendet.
— 32 —
Ein seltener Fall
Konstantinopel, 1. Mai. Die Kunde von der Kapitulation der
englischen Armee in Kut-el-Amara hat hier eine riesige Begeisterung
wachgerufen. Alle Straßen sind in den türkischen Farben und denen
der Verbündeten beflaggt. Höhere türkische Militärs bezeichnen die
Kapitulation als das letzte Werk Feldmarschalls von der Goltz, der im
Tode noch den Triumph der von ihm reorganisierten Armee erlebte.
Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem
». . . geradezu hassen tat er (Kitchener) die Kriegs-
berichterstatter der Presse, denen er die Teilnahme am Feldzug
— bei der Macht, welche die Presse in England bedeutet — nicht
wohl versagen konnte. Er machte sich hin und wieder in unlieb-
samer Weise bei ihnen bemerklich, so zum Beispiel, wenn er ihnen
als Lagerplatz eine Stelle anweisen ließ, die unter Wind
der Soldatenlatrinen gelegen war.«
Ich werde nimmer seinesgleichen sehn.
Gut erzogen
». . . Viele der interessanten und eingehenden Ausführungen in der
Besprechung >Die Einführung der Sommerzeit« in Ihrem geehrten
Morgenblatte vom 27. d. werden gewiß in dem großen Kreise
Ihrer Leser sympathische Zustimmung finden . . . .«
Sommerzeit!
Es war vorauszusehen, daß »das Thema Sommerzeit« am
30. April um 11 Uhr, aber auch schon wochenlang vorher täglich
und zu jeder Stunde wie auch lange nachher »an allen Tischen
den Gesprächsstoff bilden« werde. Die Sachverständigen, die schon
warteten, um gefragt zu werden, wie viel Uhr es sei, wenn
es erst elf ist und schon zwölf ist, und was man da tun solle,
33 —
hatten den Rat gegeben, in solchen Fällen den Zeiger der Uhr
»einfach um eine Stunde vorzurücken«, aber die Wiener starrten
ihre Taschenuhren an und nahmen sie in den Mund. Weniger
schüchterne und mehr zu ausgelassener Fröhlichkeit neigende
Naturen glaubten, es sei Sylvester und begrüßten die öffentlichen
Uhren »mit Applaus und Bravorufen <. Bei den privaten machten
sie eine Ausnahme. Ich weiß das alles nur aus den Essays, die
darüber erschienen sind; ich hatte damit gerechnet und war des-
halb schon vor dem kritischen Tag mit meiner Uhr in die Schweiz
geflüchtet. Daß »Tausende und Abertausende« bis Mitternacht »auf-
bleiben« würden, um es einmal zu erleben, wie das ist, wenn um elf
zwölf ist, zu komisch -das hatte ich gewußt, ehe sie noch den Plan
gefaßt hatten. »Kaum einer«, las ich nachträglich, »der im Besitze
einer Taschenuhr ist, verabsäumte, zur festgesetzten Stunde die
Vorrückung des Uhrzeigers zu vollziehen«. Da wollte ich nicht
dabei sein. Ob aus der großen Menge der Fachleute, die sich da
bewährt haben, einige herausgegriffen und interviewt wurden, weiß
ich nicht. Aber die Befragung der Cafetiers, der kompetentesten
Persönlichkeiten auf dem Gebiet jeder Neuerung, die sich im Welt-
all und mithin speziell in Wien begibt, habe ich noch erlebt
und Riedls Äußerungen anregend gefunden. Wie es auf den
Fremdenverkehr einwirken wird, muß sich erst herausstellen, bis
er kommt; man hofft aber allgemein, daß er um eine Stunde früher
hereinbrechen wird. Auch war ich gar nicht überrascht, bei meiner
Rückkunft zu hören, daß sich die Wiener mit der ihnen speziell ange-
borenen Anpassungsfähigkeit an den neuen Zustand gewöhnt hatten.
In der Zeitung fand ich die meisten Geschäfte angeführt, die sofort
eine Stunde früher geöffnet und infolgedessen auch eine Stunde früher
geschlossen haben. Auch waren alle Ämter lobend erwähnt, die sich
ähnlich verhalten hatten. Bei der Südbahn wurde die Sache so arrangiert,
daß etwa ein Zug, der um sieben hätte eintreffen sollen, pünktlich
um sieben eintraf. »Selbstverständlich«, hieß es, »haben auch die
Postanstalten sich bereits die Sommerzeit zu eigen gemacht«, aber
wiewohl es selbstverständlich ist, wurde es dennoch hervorgehoben.
Dann gab es »Straßenbilder«. Berichterstatter waren ausgeschickt
worden, um zu beobachten, wie es »auf dem Hof« zuging, »auf
dem Stephansplatz«, der besonders in Mitleidenschaft gezogen ist,
u. s. w. Auf dem Hof hatte »eine Anzahl von Genauigkeitsfexen
— 34 —
Aufstellung genommen«, die harrten voll Spannung, endlich kam
der >große Ruck«, als aber der Zeiger »um fünf Minuten
zu weit ging«, fand man, daß das zu weit gehe, und es
ertönte »ein vielstimmiges Veto«. >Beschämt blieb er stehen.«
Auf dem Stephansplatz hingegen »hatte eine wirklich festlich
gestimmte Menge Aufstellung genommen<, die sich »die Wartezeit
mit Witzen und auch giftigen Apostrophen über die Neuein-
führung vertrieb«. Sie selbst wurde nicht vertrieben. Und dann,
siehe da, erschien die Zahl zwölf, »was ein Höllengelächter
zur Folge hatte«. Mit den Turmuhren wars aber ein rechtes
Gfrett. Sie machten nur »zwölf gravitätische Schläge und
nicht um ein Jota mehr«. Alle 131 wurden übrigens pünktlich um
eine Stunde vorgerückt, »und es war keine Uhr, die nicht eine
Menschenansammlung verursacht hätte«. Die Wiener haben da sehr
genaue Kontrolle geübt. Auf ihre Akkuratesse in solchen Fällen kann
man sich verlassen. Die Uhren selbst mögen die verschiedensten Zeiten
anzeigen : die Wiener sind pünktlich zur Stelle, um nachzusehn. Wie
sie späterhin gehen werden, nämlich die Uhren, ist wurscht; jetzt
hat's zu stimmen! Besonders interessant war, was die Hausfrauen in
den seriöseren Zeitungen auszusagen hatten, und namentlich eine,
intelligentere, war so gewissenhaft, auch die Äußerungen ihrer Dienst-
mädchen und ihres vierjährigen Mäderls wiederzugeben, so daß wir also
auch über die Wirkung der Sommerzeit auf den Haushalt und auf das
Familienleben vollauf beruhigt wurden. Natürlich wurde, nachdem
schon alle Berufe abgelaust waren, auch »der Standpunkt der
Astronomie« zur Geltung gebracht. Der Mann von der Sternwarte, der
ja als Mann der Wissenschaft einen Schmock nicht einfach hinauswerfen
kann, begnügte sich, seinen Standpunkt mit den Worten zu präzi-
sieren, »als Astronom betone er vor allem, daß die Angelegenheit
die Astronomie nichts angeht« und daß »für uns Astronomen am
Himmel keine Änderung vor sich geht, mögen nun die Leute ihre
Uhr stellen wie sie wollen.« Das ist nur zu wahr und gewiß geht
die Sommerzeit die Kaffeesieder mehr an als die Astronomen, aber
sicher ist auch, daß die Änderungen am Himmel nicht für die
Astronomen vor sich gehen, mögen nun diese ihre Fernrohre stellen
wie sie wollen. Und ebenso sicher ist, daß keine Änderungen
am Himmel vorgehen, wiewohl auf Erden, wo scheinbar die Sünde
Jahresregent ist, noch so viel Dummheit ihre Sommerzeit erlebt!
35
Der tragische Karneval
Die Münchner Polizei hat bereits in zwei
Fällen Veranlassung genommen, gegen auf-
fallend gekleidete Damen einzuschreiten. Am
Montag ereignete sich der dritte derartige
Fall .... Sie trug einen blauen Kittel, einen
Iturzen weißen Rock, weiße Schuhe, blaue
Strümpfe und am Kopf eine blauseidene
Zipfelmütze .... Ein Polizist war über den
Aufzug empört und führte die Dame zur
Polizeidirektion. Der Polizeipräsident er-
innerte das Fräulein daran, »daß wir
nicht im Karneval leben«. Unter
Tränen bat die Zurechtgewiesene um Ent-
schuldigung.
Dem Siegeslauf der Schalek, die jetzt die Front am Isonzo
abgeht und augenblicklich die Honveds auf Doberdo inspiziert»
auch nur auf einem Abschnitt zu folgen, ist einstweilen, da die
Wachsamkeit an hundert andern Einbruchsstellen der Kultur-
schande beschäftigt ist, unmöglich. Unmöglich auf andere Art, als
das, was geschieht, unmöglich ist und die Schalek selbst ein
Ding der Unmöglichkeit. Leicht macht sie es mir ja nicht. Ver-
such' ich wohl sie diesmal festzuhalten und fasse ich sie satirisch,
so meint man, ich hätte zur gegebenen Kontrastwirkung noch eins
hinzugetan. Zitiere ich sie aber, so glaubt man, ich hätte den
Text gefälscht. Sage ich, wie ich oben getan, die Schalek sei die
Front abgegangen, so hält man es für meinen Witz; denn die
Komik ihres Dabeiseins so auszudrücken, als täte sie es nicht bloß
einem Soldaten gleich, sondern gar einem General, könnte doch nur
Übertreibung sein. Zitiere ich sie aber, behaupte ich, sie habe
neulich mit den Worten begonnen: »Schritt für Schritt bin ich
die Front am Isonzo längs des Görzer Abschnittes abgegangen«,
so wird man verwirrt, und der Humor der Erscheinung leidet
durch den Zweifel, ob nicht eben das nur Erfindung sei. Es bleibt
nichts übrig, als eine Kampfpause der Schalek abzuwarten, und
indem ich sie selbst sprechen lasse, durch Ausführlichkeit die
Echtheit zu beglaubigen. Vorläufig ist kein Ende abzusehen. Allen
— 36
Einflüsterungen der Kommandierenden zum Trotz, die, statt zu
kommandieren, ihr den Rat gaben: »Fahren Sie weg!«, ist sie
geblieben, und wiewohl man ihr sagte: >Sie brauchen ja nicht im
Schrapnellhagel zu schreiben!«, wollte sie nicht als Auäkneiferin
dastehen und treibt sich ausgerechnet überall dort herum, wo es
am gefährlichsten ist. So steht die Schalek mitten im Kugelregen,
ißt Spargel am Tisch des Divisionärs, schlüpft in Unterstände,
scheut die Beobachter auf der Podgora nicht, besucht sie, und
findet, wenn sie des Abends kampfmüde heimkehrt, ihr Zimmer,
das keineswegs bombensicher ist, mit Rosen gefüllt. Der Nieder-
schlag dieser vielfältigen Erlebnisse ist eine unerbittliche Serie von
Feuilletons, die von der durchhaltenden Geschmacklosigkeit eines
gegen Hohngelächter gepanzerten Herausgebers fortgesetzt wird,
die sich aber durch den Vermerk »Nachdruck verboten« vergebens
gegen das Schicksal zu schützen versuchen wird, als Zeitdokument
schwersten Kalibers jenen kommenden Geschlechtern übermittelt
zu werden, die vielleicht wieder zwischen Mann und Weib unter-
scheiden möchten— bewahrt zu werden als die nicht mehr steige-
rungsfähige Karikatur der Mißgestalt, in der ein völlig schäm-,
hemmungs- und verantwortungsloser Zeitgeist seine blutigen Possen
getrieben hat. Denn sage ich, die Schalek habe nicht als Auskneiferin
dastehen wollen, so wird man's so lange für meinen Witz halten, bis
ich dartue, daß es ihr Ernst ist. Ihre Worte in ihrem Druck fangen
nicht: man lacht und vergißt. Meine in meinem sind nur meine
Wirkung. Ihre Worte in meinem Druck werden es bezeugen! Wer
vermöchte gleich mir die Welt zu erschüttern durch nichts als
daß er alles, was sie schon weiß, wiederholt? Sieht man jetzt Weiber
militärisch verkleidet und empfängt man, weil man sie trotzdem
grüßt, statt eines Kopfnickens, das die Disziplin des Geschlechts
noch immer vorschreiben sollte, ein stramm Salutieren, so mag
man staunen, wie der abgestandene Operettenwitz, der veraltet war,
ehe das soziale Leben den ersten Mißbrauch der Weiblichkeit an-
kündigte, der schale Ulk der komischen Alten als Feldwebel oder
bemoostes Haupt, jetzt auf realen Leichenfeldern Zugkraft erhält.
In dem schrecklichen Einzelfall der Reporterin jedoch, die dank
dem faulen Zauber der Hysterie (der die Menschheit anästhesiert
und einzig zu jener aktiven und passiven Standhaftigkeit vor der
Maschine befähigt, welche Heldentum heißt und größer ist als Hektors
37 —
Mut, ders mit keinem Mörser aufgenommen hätte), in der Schreiberin
also, die vermöge der antreibenden Gewalt seelischer Unterernährtheit
alle Sensationen dieser welthysterischen Zerrüttung erleben kann und
der glaubwürdige Gewährsmann dieses Kriegs wird: in dem
stärksten Monstrum dieser Ausnahmszeit ist der ganze tragische
Karneval enthalten. Die Sage von uns wird erzählen, daß Frauen,
die als Frauen, also auffallend gekleidet gingen, verhaftet wurden.
Den Amazonen aber ward in der Kindheit die rechte Brust abge-
brannt, um sie zum Bogenspannen, noch nicht zum Schreiben
tauglich zu machen, und die Fabelphantasie keines Zeitalters hätte
ausgereicht, die Schalek auf dem Kriegspfad zu erfinden.
Sie findet ihr Gegenstück etwa in den entmannten
Männern der Wissenschaft, die dort, wo sie nur schießen hören,
gleich mit einem Ehrendoktorat zur Stelle sind, und noch eine
Begründung hiefür bereit haben. Nicht errötend folgen sie den
geistigen Spuren der Schalek. die ja die kulturelle Gleichstellung
Skodas mit Kant als erste befürwortet hat. Generale aber, die ihre Pflicht
nicht zuletzt in deren Absonderung von anderen Idealen erkennen,
für das Wesen und die mit keiner metaphysischen Sphäre ver-
einbare Fachlichkeit ihres Berufs ein korrektes und somit besseres
Verständnis haben als Philosophieprofessoren, die die Ehre ihres
Studiums an die Erfolge des Kriegs vergeben, empfangen im düstern
Umkreis ihres Wirkens nur dann einen heiteren Eindruck, wenn
Rektor und Prodekan aus der Operette ins Quartier kommen und das
Doktorat hervorziehen. Es wäre ihnen ja lästig, wenn sie nicht lachen
müßten und ihnen nicht zur Revanche die Frage auf der Zunge
läge, ob die Herren Philosophen vielleicht Lust hätten, länger
zu bleiben und Feldwebel honoris causa zu werden. Kein Auftrag,
als der der immer beunruhigten Streberseele und etwa noch die
kindische Sucht, aus allem ein Ornament zu machen und eine
Auszeichnung wenigstens am andern zu sehen, wiewohl sie zum
Verdienst so paßt wie das Auge zur Faust — kein Auftrag,
kein Zwang, kein Wunsch hats ihnen geschafft. Niemand hätte
es vermißt, wenn's nicht geschehen wäre. Die Generale wissen
nicht, was sie damit anfangen sollen, aber die Philosophen,
die mit jedem Tage seit dem Tod Schopenhauers und vor allem
seit Kriegsbeginn größere Optimisten werden, sind unerschöpflich
in der Hingabe ihrer Ehre, so daß es fast den Anschein
38 —
hat, als wollten sie den Siegen zuvorkommen und als wären diese
an den einstimmigen Beschluß der Fakultät geknüpft. Austausch-
professoren mögen unterwegs in Streit geraten, wer mehr Ehren-
doktorate verliehen hat. Die Empfänger aber sind sich nicht im reinen
darüber, ob das Doktorat der Philosophie für sie eine honoris causa
ist. So viel nur wissen sie und haben auch sie aus der Philosophie ge-
lernt, daß solche Gabe für die jetzt tief unter dem Niveau der Schopen-
hauerschen Mißachtung stehenden Verleiher in Wahrheit eine causa
turpis ist! Wäre zum Glück nicht überall dort, wo der Rang ist,
auch die Fähigkeit — was ja sogar von den Universitäten ange-
nommen wird — , und gäbe es im Reich der Erscheinungen, in das
jetzt die Philosophie mit Ehrendoktoraten eintritt, Unterschiede
wie etwa zwischen einem Napoleon und einem, dem der Krieg
nur vom Kino bekannt wäre und der vor jedem Bild, das fallende
Menschen vorführt, nichts zu sagen wüßte als etwa: >Bumsti!< oder
>Aha!« — die Vertreter der optimistischen Weltanschauung würden
manche Enttäuschung erleben. Ich spreche nicht aus Neid ; ich weiß,
daß esmir auf Lebenszeit versagt ist, das Ehrendoktorat der Philosophie
zu erringen, selbst wenn ich nachweisen könnte, daß ich Leibniz
für einen Fabrikanten von >Keks« halte. Denn dieses Verdienst
würde reichlich aufgewogen durch meine Erkenntnis, daß Professoren
der Philosophie, die dem Weltuntergang mit Ehrendoktoraten
schmeicheln, von allen Karnevalstypen, auf die der Mond dieser
Mordnacht grinst, die weitaus lächerlichsten und verächtlichsten sind.
Und eins in dieser Erkenntnis sind mit mir jene Exponenten
des Unglücks, deren menschlichem Sinn die Pflicht noch immer
besser zusagt als die Abwechslung durch einen Firlefanz, der sie
erschwert. Eins in der Ansicht, daß Philosophen und Weiber, die
die Ehren ihrer Berufe dort ablagern, wo sie nicht hingehören und
wo man sie nicht braucht, daß Dekane, die der Glorie noch
den Doktorhut aufstülpen wollen, und Jourkoryphäen, die an
Artilleriestellungen ihre Neugierde befriedigen möchten, nicht jene
Botschaft aus dem Hinterlande bringen, die sie zum Dank für die
Mühe, es zu schützen, von dort zu empfangen gehofft haben. Noch
warten wir aber auf eine von ihnen, die uns die tröstende Gewiß-
heit brächte, daß sie solche Zumutungen künftighin mindestens so
mühelos abweisen werden wie den Angriff des Gegners. Von einem
Hinauswurf der Professoren haben wir noch nichts vernommen.
— 39 —
Aber die günstige Nachricht sei weitergegeben, daß die Schalek nicht
überall durchbrechen konnte, von der Südwestfront zurückgeworfen
wurde und daß wenigstens dieser Teil des Kriegsschauplatzes zu
einer unwirtlichen Gegend für den innern Feind geworden ist,
von dem uns die Abwehr des äußern keineswegs befreit hat, den
aber von einem bestimmten Punkte zu verjagen in beispielgebender
Weise geglückt scheint. Die Schalek mußte zurückgehen, kein
Unterstand wurde ihr gewährt und nichts zu essen gegeben. Wir
entbieten den tapferen Offizieren für dieses Vollbringen unsern Gruß
wie es in jener Zeitung heißt, von der jetzt wenigstens das Tot-
schweigen einer Front, deren Männer nicht imstande waren, der
Schalek ins Auge zu sehen, gern zu erwarten ist. Allen, trotz
allem äußeren Gelingen Verzagten sei diese Kunde von einer
vorbildlichen patriotischen Tat gebracht, durch die es mit einem
kühnen Handstreich geglückt ist, einmal die inneren Grenzen zu
schützen. Wie schön wäre es, wenn sich in einer Zeit, die für
JVlitteilungen gegenteiligen Inhalts, für Interviews u. dgl., Rücksichten
nicht kennt, kein formales"^ Hindernis gegen die Beglaubigung
solcher Nachricht stellte. Die Verhüllung hat sonst den Sinn, dem
Gegner nicht mehr zu verraten als was er ohnedies schon
weiß. Dem Todfeind sollte mit aller Deutlichkeit gesagt werden
können, an welchem Punkt er keine Aussicht hat vorwärts zu
kommen, aber die Sicherheit, mit der langen Nase, mit der
er gekommen ist, abzuziehen. Es sollte der Gegenwart gemeldet
werden, die solches noch nicht gehört und im Glauben an eine
Macht, die bis zu den höchsten Spitzen der Natur und der
Gesellschaft reichen müsse, allen Mut verloren hat. Es werde der
Zukunft verkündet, die uns um des Beispiels willen, das mutige
Männer auf dem vorgeschobenen Posten einer verlorenen Zeit
gegeben haben, nicht ganz verwerfen wird, um des Vorzugs willen,
in dem tragischen Karneval, den wir uns leisten konnten, doch
einmal für einen Augenblick die Besinnung gefunden zu haben!
— 40 —
Notizen
Ein Brief mit Trauerrand, namenlos wie sein Schmerz.
Hier als Epitaph gesetzt, bedeute er, daß ich den Dank der Mutter
zurückgebe und in dem einen Unbekannten aller so dem Leben
entrissenen Jugend Ehre erbiete.
16. Mai 16
Am Abschlüsse seiner Universitätsstudien rückte unser
Sohn Josef zum Feldkanonenregiment Nr. 30 ein.
Er war der Tüchtigsten und Bravsten einer, hieß es.
Am 29. Februar ereilte ihn sein Schicksal. Als Fähnrich
am Beobachterstand traf ihn die feindliche Kugel.
Die große silberne Tapferkeitsmedaille sandte man seinen
Eltern zu, deren einziges Kind und einziges Glück er war.
Er selbst ruht in Rarancze neben dem Glockenturm der
hölzernen Kirche, und sein Grab grünt und blüht.
Karl Kraus!
Nimm seinen letzten Gruß entgegen!
Du hast ihn nicht gekannt und doch standest Du ihm
am Nächsten in der Welt!
Er gehörte zu Deiner Gemeinde und war Dein treuester
Anhänger und Streiter. Wie liebte er dich! Dein Bild
schmückt sein Zimmer. Deine Bücher zieren es. Mit
Menschen, die ihm nicht würdig schienen, vermied er es von
Dir zu sprechen; ich seine Mutter wußte, was Du ihm warst!
Es ist mir wie ein heiliges Vermächtnis, ich mußte Dir
es sagen, denn er war Deiner nicht unwürdig!
Ich blicke auf das letzte Bändchen der Fackel, das ich
in Händen halte — ich könnte vergehen vor Schmerz und
Jammer, daß sein Auge nie mehr darauf ruhen wird, und daß
dieser edle Jüngling sterben mußte für diese Menschheit!
Sein letzter Gruß, sein letzter Dank sei Dir Karl Kraus
geweiht von . »« ^
* semer Mutter,
— 41
Lieber Fackel-Kraus!
Man sollte jetzt andere Sorgen haben, aber einmal muß ich mir
wo Luft machen. So oft ich das humoristische Wochenblatt »S" lustige
Großwien« in die Hand nehme, muß ich mich ärgern —
Es gibt also Menschen, die 's lustige Großwien in die Hand
nehmen. Es sind dieselben, welche den »Fackelkraus« kennen und
eine briefliche Ansprache immerhin riskieren dürfen. Der so
Angesprochene ist dazu geschaffen, daß sie sich an ihm Luft
machen können. Welch eine Luft! Wenn aber die über-
wiegende Mehrzahl meiner Leser ahnte, wie unerquicklich mir
die Vorstellung ist, daß sie die , Fackel' in die Hand nehmen, sie
würden die paar Stunden, die sie dem , lustigen Großwien' dadurch
entziehen, bitter bereuen. Möge die unsägliche Banalität, die noch
immer den Postweg betritt, sich vor jedem Versuch dreimal besinnen
und endlich wissen, daß ich kein Herz für Abonnenten,
treue, aber lästige Leser habe und deren Abfall jederzeit
ihrer Annäherung vorziehe.
Aus dem Feld
Sehr geehrter Herr,
Vor Jahren hörte ich Sie in Prag. . . . Das Publikum — was für
ein Publikum, du lieber Gott — glaubte, Sie meinten die anderen,
während Sie gerade diese meinten. Es jubelte Ihnen zu, statt Sie
zu lynchen.
.... Lange las oder hörte ich nichts von Ihnen.
Bei Kriegsausbruch habe auch ich wie hypnotisiert frohen Herzens
Frau und Heim im Stich gelassen. Wie bald fielen mir die Schuppen
von den Augen! Und als ich krank zurückkam und das Treiben sah,
da hätte ich weinen können wie ein Kind. . . .
Dann kam mir in die Hand, was Sie seit Kriegsbeginn geschrieben
haben. Ich hatte geglaubt, daß mein Skeptizismus schon den ganzen Betrug
entlarvt hätte. Mit brennenden Wangen mußte ich da lesen, wie naiv
ich trotz allem noch war, und oft war mir, als ob ich kassandra-
gleich meine Blindheit von Ihnen wieder fordern müßte.
Und diesmal muß ich dankend zu Ihnen kommen. Weil Sie der
einzige, der wahre Held sind, der Einzige, der diesen Namen wirklich
verdient. Als Einziger, ohne äußeren Zwang, einer Sturmfluth trotzen,
der ganzen Meute von Profit- und Ehren Jägern die Stirn bieten, jeder
Macht ins Gesicht höhnen und mit der Stimme eines Menschen
den Orkan der Menschheit überschreien — das ist ein Bild, so
42
ergreifend, so bewundernswert, so übermenschlich, daß ich Ihnen in
tiefstem Dank die Hand drücken muß. Und Sie müssen es dulden, ob
ich dessen würdig bin oder nicht. In wahrer Verehrung
ein Offizier.
Aus dem Hinterland
Wer ist der größte Feigling? Siel Wer ist der größte Krakehler?
Siel Um jeden Preis wollen Sie beachtet werden, aber es gelingt Ihnen
nicht, weil man so einen Menschen nicht ernst nimmt, der nur
niederreißen kann. Das lassen Sie sich gesagt sein und regen Sie sich
nicht auf, daß andere verdienen. In jeder Zeile spürt man bei Ihnen
den Neidl Lernen Sie erst schreiben, wie Hans Müller, dann wird man
Sie ernst nehmen, heute sind Sie der Niemand. Mit der Ihnen ge-
bührenden Mißachtung
ein Patriot.
Was ist denn los? Einer ist losl Hinter ihm die Menge. Gellende
Hilferufe bringt mir die Post. Alle Kuverts enthalten denselben
Ausschnitt, denselben Ruf. > Haben Sie den »Serbischen Frühling«
in der , Mittagszeitung' gelesen? Und das wagt man uns Wienern
statt eines Mittagmahles vorzusetzen! Bitte, nehmen Sie sich, wie
so oft schon, unser an!« »Könnten Sie nicht durchsetzen, daß für
solche Ausgeburten einer gigantischen Schmockerei endlich doch
die Zuchthausstrafe eingeführt wird??< »Betrachten Sie bitte dieses
Monstrum von Sprachschändung, Gedankenarmut und Anmaßung!
Es kränkt mich, daß ein verhungerndes Weib abgestraft wird, wenn
es sich ohne Geld Brot verschafft und daß es gegen derartige
Verbrechen keine gesetzliche Handhabe gibt. Alle übrigen Gedanken,
die ich mir dazu mache, sind bewußte und unbewußte Fackel zi täte!«
»Wenn Sie es nicht waren, der den neuen Mann erfunden hat, dann
empfehle ich ihn Ihrer Beachtung!* Zivilistenund Offiziere, alle Berufe,
Groß und Klein schreien durcheinander, alles ist in höchster Erregung,
gestikuliert, winkt mir. Ja, was kann denn ich dafür, was kann denn
ich dagegen? Brief auf Brief! Genug, oder ich renne auf und
davon, mit jenem Ungeheuer. Der hats gut; der ist nach Serbien,
die , Mittagszeitung' hat es schwarz auf weiß:
Wir veröffentlichen hier den Beginn der Artikelserie unseres
serbischen R. M. -Korrespondenten:
EineEbene quillt über inChlorophillfontänen, ballt sich klumpig
in Buschserien zu einem blitzblauen Himmel, quirlt sich staudicht in
Haine zusammen, die millionenhaft weiße, wohlriechende Blüten ab-
schuppen; diese Ebene knäuelt sich förmlich aus einer Tafel Grün zu
43 —
Formen, die dickgrünen Segel sanft ansteigender Laubwälder sind halb-
schräg vor den gleißenden Horizont gespannt. Ist es Oberitalien, von
dem Licht, Duft, Farbe auf die Sinne schnellen? Es ist Nordserbien,
Gegend Wladenovac — Lazarevac. Dunklere Rauten saftigen Gebüsches
säumen Bäche, weißgesogene Landstraßen, aus denen Kalkbrocken
gleißen, punktieren Kastanienalleen ins hellere Grün. Dieses Gebiet
gleicht den Landschaften jungwiener Maler, ihrem Gesicht von Italien. Seine
dickversponnene Grüne, seine knorrige Saftigkeit, seine überschüssig
wachsende Gartenenergie unter dem blau erhitzten Metall des Gewölbes
muten wie Frühlingserde der Poebcne an —
Es ist mir nicht gegeben, zu sehen ohne zu denken,
zu beobachten ohne sinnvoll zu organisieren, und sei's mit
einem Kommando, mit einer letzten, höchsten metaphysischen
Art von Initiative. Ich bin ein Deutscher. . . . Alle Künstler
sind Deutsche. Ich käme mir grundschlecht vor, verlogen im
höheren Begriff, wollte ich nur beschreiben und nicht ordnend
folgern. . . .
Er ist tatsächlich, so sonderbar das klingt, ein Ooi. Aber
tüchtig. Es ist niemand anderer als der Prophet, dessen Plan, eine
»Isonzobibel« zu fördern, hier jüngst gewürdigt wurde. Vorläufig
ist er unser serbischer R. M.-Korrespondent und heißt — also
damit man es endlich weiß und die arme Seele selbst eine Ruh
hat — Müller. Alle bessern Federn heißen jetzt so. Ein Geriß
ist um den Namen. Schlichtheit, Gesundheit, anspruchslose Fröh-
lichkeit, mit einem Wort Deutschheit, können keine bessere Wahl
empfehlen. Man liest Müller und ist beruhigt. Ich bin ein Müller —
alle Künstler sind Müller. >Wir sind Frontleute«; aber man hat ihn
nach Serbien geschickt, zu beschreiben, nämlich zu organisieren.
Ein wackerer Geselle, hei. Spezial-Wanderbursche der Mittags-
zeitung. Wie sich doch diese deutsche Welt vereinfacht hat, seitdem
des Müllers Lust auch das Schreiben ist ! . . . Aber jetzt, da man es
weiß, soll man kein Aufsehen machen, auf das Schlimmste
gefaßt sein und mich nicht mehr sekkieren.
Vorlesung in Zürich, Schwurgerichtssaal, am 4. Mai:
I. Kierkegaard und die Journalisten / >Nachts< / Der kleine
Brockhaus / Beim Anblick eines sonderbaren Plakates / >Nachts« /
Endlich I / > Drückeberger in Frankreich« usw. / Kriegsnamen / >Nachts« /
Kriegsberichterstatter / Grabschrift / »Nachts< / Elegie auf den Tod
eines Lautes. II. Shakespeare und die Berliner / Timon von
Athen (aus 1. 2. und 3. Akt). III. Gebet an die Sonne von Gibeon.
Der ganze Ertrag wurde dem Schweizerischen Roten Kkuz zugeführt.
44 —
.Neue Züricher Zeitung', Vorbesprechungen vom 30. April und
4. Mai; Feuilletons: »Karl Kraus< von Hans Adler am 3. und
>Karl Kraus-Abend« von E. K. am 6. Mai.
Aus diesem (gleich den anderen Nummern) nicht nach Österreich
gelangten Aufsatz:
Karl Kraus rennt auf das Podium, und sofort schwirren
Schwerter und Messer in der Luft. Auf welche Seite stellt er sich im
Kriege? Welche Frage! Nicht auf die Seite aller Deutschsprechenden,
aber auf die Seite der deutschen Sprache, die sich bei jedem Wort
ihre Sache denkt. Höre man, wie er ohne die Zugabe eines eigenen
Wortes etwa folgendes sagt: >Pater noster« heißt ein Liftaufzug,
»Bethlehem« ist ein Ort in Amerika, in dem sich eine Munitionsfabrik
befindet. Man hört es an wie eine Begriffsdämmerung. Der Irrsinn,
nicht der Sprache, aber der Sprache der Zeit, ist erkannt: Er stellt die
zwei in ewiger Verwechslung lebenden Wörter »Der Schild« und »Das
Schild« als Verbindung von Merkur und Mars vor. Oder er legt den
verdächtigen Bedeutungswandel des aktuellen Worlinhaltes, »Die Vor-
stellung«, bloß, und es läßt sich nicht leugnen, daß unser Ohr in einer
Abendstunde von einem ungeheuren Verdachte gegen die Worte unserer
Zeit beängstigt wird, weil hier Wesen und Surrogat des Wortes wie
Wasser und Öl sich scheiden. Philologie mit innerem Herzton, Kultur-
philosophie mit Gewissen, Erkenntnis mit leidenschaftlicher Beziehung
zum Leben, das die Larven wenn nicht ablegen, so doch eingestehen
sollte. Aber auch über die Akustik des einmal geprägten Wortes sagte
der Abend im Schwurgerichtssaal Entscheidendes. Das geschriebene
Wort bei Karl Kraus hat Zeilen, die »wie Augenlider sind und zwischen
ihnen ein Gesicht«. Die Worte schreien nach ihrem Schöpfer, er allein
gibt ihnen mündlich die rhythmische und tonale Beglaubigung, die sie als
»Drucksache« nicht haben. Ich verweise auf seine »Worte in Versen«
(der letzte Gedicht-Band von Karl Kraus, Leipzig 1916) und wage zu
zweifeln, ob viele seiner Zuhörer den Übergang aus der Rede in den
Vers (Kriegsberichterstalter«) entdeckt hätten. Von der Gewalt seines
leidenschaftlichen Vortrags bleiben gewisse Sätze haften, man hat sozusagen
als Mitbetroffener eine Beule von ihnen bekommen, z. B.: »Es handelt
sich in diesem Krieg . . .« «Jawohl, es handelt sich in diesem Krieg!«
Unvergessen wird -das Kulturbild sein, in dem er die erschreckende
Zweideutigkeit zeigt, mit der Kultur- und Kriegssymbole zur Einheit
verschmolzen werden. Er stellt uns ein Plakat vor Augen für Mozarts
Requiem : — — —
Vor seiner Shakespeare-Vorlesung legte Kraus noch einen Kiesel-
stein auf seine Davidsschleuder, der galt den Shakespeare feiernden
Berlinern: »Die Berliner allein sind würdig, Shakespeare zu feiern;
wenn sie ihn aufführen, ist er zum dreihundertstenmal gestorben.«
Dann nahm sich Karl Kraus des der Bühne fremden, von Fragezeichen
umstellten Shakespeare-Stückes »Timon von Athen« an: Die Geschichte
von Timon Misanthropos, in der Karl Kraus, groß, überschwenglich
groß in der Haßgebärde, mit dem Verbitterten eins wird, vor dem sich
— 45 —
die Freunde als falsches Gold erweisen. Die Meisterschaft seines Vortrags
schreitet hier weit über den Bereich des Schauspielers, weil er nicht
»Rollen< sieht, sondern den tiefen menschlichen Zusammenhang. Bei
der Rede des Timon, in der die Lügenbrut der Freunde statt des
lockenden Gelages nur Schüsseln mit warmem Wasser erhält, lodern alle
Haßbrände auf, und man merkt den Widerspruch kaum, daß Timon
ihnen die Schüsseln und das heiße Wasser nachwirft, ein Edelmann
aber wimmert: »Juwelen schenkt' er gestern uns, heut wirft er uns mit
Steinen.« In der neuen Shakespeare-Ausgabe von Wolfgang Keller erklärt
der Herausgeber mit einer andern Vorlage des Stoffes »die Steine«,
indem dort Timon den Freunden wie Artischocken bemalte Kieselsteine
vorsetzt. Sicher hat der Vortrag von Kraus beides in seinen Schüsseln :
die heiße Glut und den Stein der Satire.
Mit Sören Kierkegaards Brandwort über Journalisten begann er
den Freitagabend im Schwurgerichtssaal, mit Shakespeare schloß er ihn.
Er dulde keine Götter neben sich, sagen solche, die Kraus in Ruhestand
versetzte. Wer ihn hörte, kam der Wahrheit näher und wird diesen
Meister des Wortes und seines Klanges, diesen Rüttler und Schüttler nicht
aus dem Auge, besser, nicht aus dem Gewissen verlieren. (Folgen Zitate.)
Der Widerspruch zwischen der Wassersuppe und den Steinen
im Gastmahl des Timon (der der Erklärung »wie Artischocken
bemalte Kieselsteine« nicht bedarf, da er wohl durch den rein meta-
phorischen Sinn der >Steine« aufgehoben ist, und dessen der
Züricher Hörer schon darum nicht inne werden konnte, weil ich
die Gespräche der Lords nach Timons Abgang nicht mehr gesprochen
habe) findet ein greifbareres Pendant in einem lustigeren Gastmahl,
das jetzt zum Beweis der Tatsache, »daß schon vor hundert Jahren
Lebensmittel zurückgehalten wurden«, herangezogen wird:
Gustav Parthey erzählt in seinen »Jugenderinnerungen« ein
lustiges Geschichtchen von der »Steinsuppe«, die zwei Reisende aus
einem Dutzend sauber gewaschener Bachkiesel von der Wirtin zurichten
ließen, als diese hartnäckig bei der Versicherung blieb, sie habe kein
Essen. Aber sie wurde doch neugierig, ob die Steine weich werden
könnten, als die Reisenden anordneten, sie müßten zunächst in
Wasser gekocht werden. Als das nichts half, wurde Salz und etwas
Butter hinzugesetzt. Dann forderten die klugen Leutchen einige Eier;
nachdem auch diese eingeschlagen waren, wurde etwas Petersilie und
gehörig Brot hinzugetan. Endlich folgte etwas Mehl. Nun begannen die
Reisenden die Steinsuppe, die nach und nach genießbar und recht
nahrhaft geworden war, mit großem Appetit zu verzehren. Wirt und
Wirtin sahen mit Erstaunen zu, bemerkten aber dann, daß die Steine
übrigblieben. Als sie nun äußerten: >Aber ihr eßt ja die Steine doch
nicht!«, erfolgte prompt die Antwort: »Die sind wieder hart geworden;
wenn ihr sie aber essen wollt, so müßt ihr sie morgen noch einmal
aufkochen!«
46 —
In der Übersetzung der Dorothea Tieck findet sich keine
Andeutung, daß die »Schüsseln voll warmen Wassers« eine Stein-
suppe ohne genießbaren Zusatz enthalten hätten, wiewohl freilich
die Verszeile, die vor: ». . . heut wirft er uns mit Steinen« steht,
die Worte hat: »Lord Timon rast.« — >Ich fühl's in den Gebeinen.«
Aber die szenische Anmerkung: >Er wirft ihnen die Schüsseln
nach . . .« erklärt dieses Gefühl hinreichend.
Aus der Schrift »Eine frohe Botschaft für alle, die das Leid
der Menschheit fühlen, das in dem Grauen des Weltkrieges offenbar
geworden ist« (anonym, Wien 1915, Kommissionverlag Andreas Pichl),
S. 23 und 24:
. . . Ich kann nicht vergleichen, aber ich weiß, daß das Leid
ungeheuer ist, ungeheuer der Abstand des Menschen von dem, was er
sein kann, seine Abwendung von Gott. Ich will hier einige Propheten
unserer Zeit nennen, in deren Werken der Verfall des alten Lebenslcreises
sich abbildet. Der Verfall findet einen großen Bildner in dem Satiriker
Karl Kraus. Nun ist dieses einer der Wege des Menschen und
vielleicht neigt gerade der Künstler leicht dahin : Indem der Mensch
sich vom Stoffe losreißt und zum Ursprung zurückgeht, läßt sein letztes
Haften an der Sinnlichkeit ihn das Bild Gottes, welches er im Innern
trägt, im Äußern, in der Offenbarung als ein vollkommenes suchen, wo
nicht Vollkommenheit ist, in den andern nicht wie in ihm nicht. Er
sucht und glaubt und liebt Gott im Menschen. Furchtbares Erwachen.
Gott, wo bist du? Aber dennoch, er weiß noch nicht, daß es auch bei
den andern im Inrern ist, hinter vielen Hüllen unverändert strahlt, und
neigt dazu, nur die Hüllen des Göttlichen zu sehen, und deren sind
in unserer Zeit viele. Das besondere Hervortreten vielleicht einer solchen
Wesensart in Karl Kraus bannt sein Sehen — diese Erscheinung selbst
ein Zeichen der Zeit — in ein Rund hoffnungsloser Verwesung. »Der
Satiriker steht am Ende einer Entwicklung, die sich der Kunst versagt.
Er ist ihr Produkt und ihr hoffnungsloses Gegenteil. Er organisiert die
Flucht des Geistes vor der Menschheit, er ist die Rückwärtskonzentrierung.
Nach ihm die Sintfluth.« (»Neslroy und die Nachwelt». 1912) »Die Dinge
haben eine Entwicklung genommen, für die in historisch feststellbaren
Epochen kein Beispiel ist.« (»Sprüche und Widersprüche«, S. 93. Verlag
Langen. 1909) Der Gedanke des Unterganges unserer geistigen Welt ist
der bewegende Mittelpunkt von Karl Kraus. Andere Propheten unserer
Zeit, Menschen, in welche die geistigen Kräfte mit großer Macht eintreten
und in denen die Zeit ihre Schlachten schlägt, sind Strindberg, Tolstoi,
der englische Schriftsteller Carpenter, Jörg von Lanz-Liebenfels. . . .
— 47 —
Am 24. Mai im Kleinen Konzerthaussaal: zur Feier von
Shakespeares 300. Todestag eine Vorlesung der >Lustigen Weiber
von Windsor«, aus der Übersetzung von Wolf Heinrich Graf
Baudissin (Schlegel-Tiecksche Ausgabe). — Die Kürzung betraf nur
etliche Sätze in den meisten Szenen sowie die kleine zweite Szene
des ersten und die zweite Szene des dritten Aktes. Nach dem
zweiten und dem dritten: Vorhang und Pausen, in denen —
wie auch vor dem ersten Aufgehen des Vorhangs — hinter der Szene
die Musik von Nicolai gespielt wurde (Klavier: Herr Egon Kornauth).
Der gesamte Ertrag ist den Gefangenen in Beresowka
(Transbaikal) zugewendet worden.
Das Programm enthielt außer dem Personenverzeichnis den
olgenden Text:
Das Werk ist im Burgtheater zum ersten Mal gespielt worden
>zum Vorteile des k. k. Hofschauspielers und Regisseurs Josef
Koberwein bei seinem Abschied von der Bühne« am 16. Dezember 1846;
wiederholt: am 17., 20., 27. Dezember, am 6. Jänner 1847, am 14.
und 21. Jänner 1849. Von da an erscheint es nicht mehr im
Repertoire, wiewohl es seit den Tagen, da Falstaff La Roche,
Fluth Löwe, Page Anschütz, der Wirt Koberwein und Beckmann
waren, das echteste Burgtheaterstück geblieben ist, so dort einge-
pflanzt, daß der Vorleser sich an die Aufführung mit Baumeister,
Hartmann, Lewinsky und Gabillon, des weiteren mit Thimig,
Arnsburg, Schöne und den Damen Gabillon, Mitterwurzer und Helene
Hartmann erinnert, ohne sie nachweisen zu können, und die Lust
nicht bereut, ein fernes Echo solcher Stimmen manchmal anklingen
zu lassen. Warum diese Krönung des Falstaff-Humors, aus der königs- "'
dramatischen Episode zur Bühnenfülle eines tragischen Hanswurstes,
warum diese vollkommene Heiterkeit der Fluth-Szenen mit ihrem
gewendeten Othello-Pathos der letzten Schauspielergeneration ent-
gehen mußte, ist unbegreiflich. Das Publikum, das wohl schon
damals sein heutiges Burgtheater, welches Shakespeare-Aufführungen
aus Takt unterläßt, verdient hat, scheint hier dem Besten, was
seine Bühne geben konnte, sich ebenso gesperrt zu haben wie
vor dem durchgefallenen Gogol'schen > Revisor«. Angesichts der red-
lichen Unzulänglichkeit des neuesten Burgtheaters und der un-
redlichen jenes Berliner Managers möchte es die Stimme des Vorlesers
verlocken, ein dekorationsfreies Shakespeare-Theater ins Leben zu
— 48 —
rufen, auf dem alle Organe, die uns einst so viel zu sagen hatten,
wieder lebendig würden, wobei sie dem Verdachte varietehaft
äußerlicher Nachbildung einer Vielheit wohl zu entgehen wüßte.
Sie würde es sich zutrauen, Vorstellungen von Werken wie Lear,
Macbeth, Wintermärchen, Die Widerspenstige mit einer bis
in die kleinsten Rollen bewahrten Treue so nachzugestalten,
daß ein geschlossenes Auge und ein offenes Ohr der Zeugen
jener lebendigen Herrlichkeit nicht mehr den Apparat vermißte,
der heute für das offene Auge und das geschlossene Ohr seine
toten Wunder verrichtet. Ein so rekonstruiertes älteres Burgtheater,
freilich ohne Stammsitze für die Kritik, wäre vielleicht wichtiger als
ein Phonograph, der die Stimmen der heutigen Schauspieler für
die Nachwelt aufbewahrt, und geeignet, diese schnell noch etwas
profitieren zu lassen, wenn's ihnen gestattet wäre, zu hören
statt zu sprechen. Der heutige Versuch, dem, weil denn die Zeit
andere, schwerere Aufgaben vom Organ des Vorlesers verlangt,
vermutlich doch keine weiteren, folgen werden, will sich — ohne
Konsequenz — mit der Markierung von Stimmen begnügen,
die eben nie an der Darstellung der »Lustigen Weiber von
Windsor« beteiligt waren. Er findet seine Rechtfertigung in der
Gewißheit, daß Menschheitstypen von der Zeit her, wo »der
Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters« noch Besseres
auszusagen hatte, an die Burgtheaterstimmen gebunden bleiben.
(Wo im Text des Programms von >der redlichen Unzulänglichkeit
des neuesten Burgthealers und der schwindelhaften jenes Berliner
Managers« die Rede war, ist jetzt >unredlichen« gesetzt, weil das
stärker ist. Ein JVlanager ist eo ipso ein Schwindler.)
Der Versuch ist durchaus gelungen. Ein Wiener Schauspieler
soll ihm beigewohnt haben. In einer Züricher Kritik war einmal —
siehe Nr. 395/96/97 — zu lesen:
. . . Ein Wiener Bühnenkünstler erzählte mir vor einiger Zeit, die
Schauspieler besuchten die Vortragsabende von Kraus in Wien aus eigent-
lichem Fachinteresse. Dieser lesende Publizist kann wirklich einen
Schauspieler lehren ....
Der Wiener Bühnenkünstler sollte sich bei Zusicherung
voller Straflosigkeit melden und mit ihm die Kollegen, die er etwa
gemeint hat. Der Pfarrer, den ein Komödiant lehren könnte, hat
— 49
die Aufsichtsbehörde nicht zu fürchten. Dem Schauspieler aber
genügt es nicht, daß man ihm garantiert, die in meinen Vorlesungen
nicht anwesende Presse werde seine Anwesenheit nicht bemerken
und darum nicht übelnehmen. Er fürchtet selbst die Kritik, die
nicht ihn betrifft, sondern einen andern ignoriert. Diese Erscheinung
sei nur zur Darstellung des Gesamtzustands und zur Berichtigung
der dazu gehörigen Verlogenheit festgestellt, keinesfalls beklagt.
Im Gegenteil : das Glück, dort wo man das Malheur hat zu leben,
wenigstens einen pressereinen Saal zu haben, wäre nicht voll-
ständig, wenn die Vertreter eines von Preßfurcht niedergehaltenen
Standes, dessen Befreiung ja in den paar Stunden nicht
möglich ist, fortwährend zur Tür blickend, ob nicht doch ein
Aufseher komme, im Saal vorhanden wären und die einheitliche
Stimmung durch die Sorge zerrissen würde, was der Löwy sagen
wird, wenn er erfährt. Um aber den armen Teufeln, denen so
oft gesagt wird, sie könnten bei meinen Vorlesungen etwas lernen,
das Leben zu erleichtern, wäre ein bühnengenossenschaftlicher
Entschluß wünschenswert, der ihnen den Besuch meiner Vor-
lesungen aus Rücksicht auf die durch die obige Erklärung verletzte
Standesehre einfach verbietet.
Und um ihnen auch die beruflichen Anstrengungen tunlichst
zu erleichtern, wie auch den Inhabern der Geschäfte, in denen sie
tätig sind, jeden kostspieligen Aufwand an Dekorationen und Kostümen
zu ersparen, zu dem sie sich mangels der Fähigkeit, den Geist in
Szene zu setzen und durch das Wort Illusionen zu schaffen, doch
immer wieder bemüßigt fühlen, werde ich in ihrer nächsten Saison,
wenn anders die andere Arbeit es gestattet, meine Shakespeare-Bühne
einrichten und nebst einer Wiederholung der »Lustigen Weiber von
Windsor« >Viel Lärm um nichts« (was aber keine spezielle Absicht
gegen den Ruhm des Herrn Wüllner bedeuten wird), »Lear«,
»Der Widerspenstigen Zähmung« (worauf allerdings die Frau Niese
Shakespeare Ruhe geben wird), den >Sturm«, »Macbeth«, »Timon«,
»Cymbelinc«, >Wintermärchen«, >Sommernachtstraum« — zu
wohltätigem Zweck nach außen und innen — in mein Repertoire
aufnehmen.
50
Vorlesung im Kleinen Konzerthaussaal, 12. Mai:
I. Ein Irrsinniger auf dem Einspännergaul /AusLuther (Vom Geschütz)
Der Aufstieg der Seele durchs Jahrhundert: Jean Paul's Schluß aus
dem »Kampaner Thal« — Wie ein König, mit Bomben beladen, wie
ein Gott! / Die chinesische Mauer. 11. Die Kinder der Zeit / Beim
Anblick einer Schwangeren / >Nachts« / Vor einem Springbrunnen ,
Beim Anblick eines sonderbaren Plakates / »Nachts«' / Gedankenleser '
Es ist vorgesorgt / Zur Darnachachtung / > Drückeberger in Frankreich«
u. s. w. / Bei uns ist es so! /Zum ewigen Gedächtnis (Zwei Züge).
111. Gebet an die Sonne von Gibeon.
Ein Teil des Ertrages wurde der Kinder-Schutz- und Rettungs-
Gesellschaft zugewendet.
Der »Aufschwung der Seele durchs Jahrhundert« war mit den
Worten eingeleitet:
»Nun wollen wir den Weg mitmachen, den die deutsche Seele
durchs Jahrhundert genommen hat, von den Tagen, als Jean Paul die
erhabenen Sätze über den Aufstieg einer Montgolfiere schrieb, bis zu
dem, was heute zu lesen ist — — «
»Zum ewigen Gedächtnis (Zwei Züge)«, absatzweise durcheinander
gelesen, war eingeleitet:
»Jetzt folgen zwei Zeitungsberichte, die so entsetzlich sind, daß
nichts übrig bleibt, als aus dem einen in den andern zu entfliehen <
Ein Druckfehler, nicht etwa Jargon-Absicht, ist das in Nr. 423—425.
S. 8 des Dialogs, 12. Z., in einem kleinen Teil der Auflage enthaltene
Wort: »fünzigmal«.
In einer Zeit, die so groß ist, daß der Ausdruck »Vor-
stellungen nehmen < nur in Armeeberichten vorkommt, mag es frivol
sein, darzutun, daß man zu einer Befassung mit solchen Problemen
in einem viel niedrigeren Sinne, also zu Wortkämpfen Zeit hat. Da
man aber sogar Lust dazu hat und genug Mut, solche Betätigung
für die letztlich wichtigere zu halten, so findet hier dieser Briefwechsel
zwischen einem Leser und einem Freunde Platz, dessen Inhalt in
eben solchem Kontrast zum großen Lärm steht, wie jenes Echo,
dessen Studium er betrifft; wie jedes Eriebnis und Geheimnis,
das Sprache und Natur der lauten Welt vergebens anbieten:
51
Wien, 3. Mai 1916
Ich las eben — zum wievielten Male?! — Ihr Gedicht »Abschied
und Wiederkehr«, in dem Ihnen das Wunder geglückt ist, dem tiefsten
Mysterium dichterische Unmittelbarkeit zu verleihen. Und wieder ver-
mochte ich mit der 14. Zeile der Legende: »er rief mich aller Wände
aus dem All.« — im besonderen mit den beiden unterstrichenen Worten
— keinerlei Sinn zu verbinden. Das für mich Qualvolle der Vorstellung,
Sie, den ich als das größte lebende Genie der Sprache und als Künstler
von peinlichster Redlichkeit im Ausdruck schätzen darf, hätten zwei
Worte ohne eignen Sinn, nur dem Rhythmus zuliebe, hingesetzt, hat
sich nunmehr zur Unerträglichkeit soweit gesteigert, daß ich mich nicht
mehr enthalten konnte, Sie selbst darüber zu befragen, obgleich Ich mir
der darin liegenden anmaßenden Unbescheidenheit wohl bewußt bin.
Ich hoffe aber sehr, daß Sie diese Anfrage nur als die Gewissenssache
auffassen werden, die sie mir ist, und als solche entschuldigen. Ver-
zeihen Sie bitte die Belästigung und gestatten Sie mir den Ausdruck
höchster Verehrung. . . .
Wien, am 12. Mai 1916>
Sehr geehrter Herr!
Herr K. K. hat mir Ihren Brief gezeigt, worin Sie um eine
Aufklärung in Bezug auf einen Vers seines Gedichtes »Legende«
ersuchen. Da es ihm, ich möchte fast sagen, unschicklich erscheint
mit einem einzelnen Leser über eine eigene Arbeit privat zu korrespondieren,
so habe ich mich bereit erklärt, Ihr Schreiben an seiner Stelle zu
beantworten, zumal der Ernst und der gute Wille, mit dem Sie der
scheinbaren Unklaiheit beizukommnn suchten, deutlich in Ihrem Briefe
zum Ausdruck kommt und wie ich Ihnen versichern kann, von Herrn
K. K. dankbar gewürdigt wird.
Es ist schade, daß dieser eine Vers Ihnen so bedeutende
Schwierigkeiten gemacht hat, da Sie, wie aus dem Schreiben hervorgeht,
die Idee und die Perspektive des Ganzen wohl erfaßt haben. Es wäre
doch so leicht gewesen, an die Wendungen >aller Orient, »aller Wege«,
»aller Enden«, anzuknüpfen. Von da ergibt sich dann mühelos Folgendes:
Der Schall, der ein Ruf aus dem All ist, rief mich von allen
Wänden, die das Leben mir entgegengestellt. Diese Wände aber bieten
tiefste Entschädigung durch ihre Echofähigkeit, denn überall empfange
ich den Schall. So daß selbst der Lebensverlust (Wände, Schranken)
zum fördernden Element wird. Die grammatische Erlaubnis, gleich
>aller Orten« u. Ä. »aller Wände« zu setzen, eine Art Lokativ, ist
sicher gegeben. Die gedankliche Überwertigkeit der »Wände« vor der
farblosen Ortsbestimmung »Orten« bedarf keines Hinweises. Man beachte
überdies, daß durch diese Wortwahl die Unheimlichkeit des Begriffes
»Wand« zugleich gesetzt und aufgelöst wird. Die Assonanz aller und All
erhebt die plötzlich hergestellte Identität der Wandwelt und der AUweU
— 52
vollends zur Gestalt, die Stelle ist also gerade eine der wichtigsten,
sie ist organische Einheit von Gedanke, äußerem Sinn und Klang-
wirkung, die wahre Plastik des Schallmotivs. Ihre Befürchtung, daß
hier etwas zur äußeren Ausfüllung des Verses so beiläufig gesetzt
wate, ist grundlos.
Ich hoffe, Sie durch meinen Interpretationsversuch auf die richtige
Spur gebracht zu haben, und bitte die dargelegte Auffassung als mit der
des Autors übereinstimmend zur Kenntnis nehmen zu wollen. Da
aber gerade diese Auseinandersetzung die an einem Vers zu leistende
Arbeit beweisen kann, so ist es nicht ganz ausgeschlossen, daß jener
selbst einmal das Beispiel in der Fackel zur prinzipiellen Erörterung
bringt. Er dankt Ihnen für diese Gelegenheit wie vor allem für Ihr
freundliches Interesse auf das wärmste. Es zeichnet in Hochachtung und
Ergebenheit. . . .
Wien, 15. Mai 1916
Sehr geehrter HerrI
Für Ihre im Namen des Herrn K. K. gegebenen, ungemein
aufklärenden und erschöpfenden Ausführungen bitte ich Sie, die Ver-
sicherung meines aufrichtigen und wärmsten Dankes entgegennehmen
zu wollen. Das Problem, welches Sie zu einer — von Ihnen ebenso
liebenswürdigen wie für mich lehrreichen — so eingehenden Erörterung
wohl veranlaßt haben dürfte, bleibt offenbar, ob die Konzentration von
Gedanklichem und Bildhaftem in einem Wort, nicht auch eine allzugroße
werden kann, so daß selbst dem hingebungsvoll bereiten Sinn des
leidenschaftlich bemühten Lesers ohne solche Erklärung der künstlerischen
Absicht, das Verständnis — wie im vorliegenden Falle — verwehrt
bleiben muß. Mit dem Ausdruck besonderer Hochschätzung ergebenst. . . .
Wien, am 19. Mai 1916
Sehr geehrter Herr!
Für Ihren überaus freundlichen Brief danke ich Ihnen herzlich,
nur glaube ich doch, daß Sie in einem Punkte fehlgreifen. Der einfachste
. Satz mag recht wohl die komplizierteste Erklärung ermöglichen, auch
wenn er sie nicht erfordert. Gründlichkeit eines Kommentars muß kein
Beweis für die Schwierigkeit eines Textes sein. Die Worte >Über allen
Wipfeln ist Ruh« könnten ein Buch als Erklärung zur Folge haben,
welches freilich überflüßig ist, wenn die > Konzentration von Gedanklichem
und Bildhaftem«, die in diesem Satz enthalten ist, sich von selbst
versteht oder fühlt. Das soll nur eine Ablehnung der Auffaßung sein, als
ob gerade durch die Umständlichkeit einer Erklärung die Schwierigkeit
eines Satzes dargetan wäre, aber beileibe kein Vorwurf gegen den, der
die Erklärung gewünscht hat; denn ganz sicher ist es möglich, daß ohne
die geringste Schuld des Lesers irgend ein Zufall, der ihn vielleicht
falsche Assoziationen festhalten ließ, das Verständnis erschwert hat. Es
gibt eben Leser, denen der Lokativ »aller Wände« als solcher sofort
einleuchtet — und diesen ist die Stelle durchsichtig, — während andere,
I
53
in eine falsche Bahn gelockt, nicht mehr zum Sinn zurückfinden. Solcher
Gefahr ist aber der Leser oder vielmehr der Autor selbst mit jedem
Wort ausgesetzt. Die Erklärung des Einfachsten ist immer schwierig und
es bleibt nichts übrig, als bei jenem Leser, der sicher müheloser als
viele andere über vieles Andere hinwegkam, den Zweifel, der gerade
sein Verständnis beweist, freudig anzuerkennen, was ich hiermit für
den Autor gerne tue. Es zeichnet in Ergebenheit. . . .
Daß nach dem Gedicht »Ein Kamerad« von Heinrich Lersch,
in dem immerhin der Natur rückerstattet ward, was die Menschen
ihr genommen haben, ein deutscher Reimer es noch wagen kann,
eine Lerche anzurufen und für Kriegszwecke zu requirieren — war
zu erwarten.
Der Lerche Lied in Flandern.
Hörst Du der Lerche Frühlingssang
Im Lärm der Schlacht? Welch' süßer Klang!
Schau, wie das Vöglein im Lichte sich wiegt,
Wie es hell jubelnd dem Himmel zu fliegt 1
Klang nicht ihr Lied beim letzten Wandern
Im Heimatland? Nun tönt's in Flandern. —
Lerche, bei deinem fröhlichen Singen
Will mir vor Heimweh das Herz zerspringen.
Aber du mahnst an des Kriegers Sinn:
Gib um die Heimat das Leben hini
Wieso tut das die Lerche?
>Was ist, Kamerad?« — >Die Kugel traf gut.«
Er sinkt mir zu Füßen. Sein warmes Blut
Rötet den Acker. Das Auge bricht.
Während die Lerche im Sonnenlicht
Das alte Lied der Heimat singt.
»Schlaf wohl, Kamerad!« Ein Wort entringt,
Ein letztes, den bleichen Lippen sich:
»Die Heimat.« Ich schluchze bitterlich. —
»Er starb für die Heimat, der junge Held.«
Die Lerche jubelt's hoch über dem Feld.
Ist schon assentiert, die Lerche! In ,Westermanns Monats-
heften', »fürs deutsche Haus« — beides gibts noch immer. Der
eine hört eine Lerche singen, und es macht Eindruck auf ihn; der
andere hat von einer Lerche gehört und läßt sie singen, was ihm
paßt: der ganze Unterschied zwischen Dichter und Zuckerbäcker.
Der Krieg hatte sich der Lerche ergeben — hier singt die Lerche
eine Verlustliste. Solcher Greuel ist nur ein nationaler Geist fähig,
— 54 —
der in sündiger Vermischung lebt und dem die Natur die Symbole
seiner kriegerischen Tätigkeit zu liefern hat, der also letzten Endes
doch wieder nur die Lerche im Dienste des Kaufmanns bejaht.
Das schöne Menschheitsdokument, als Gedicht nur
problematisch geworden durch jene kriegerische Vorlyrik des
Kesselschmieds, entwertet durch den Beifall des Herrn Busse, wird
in einem Feldpostbrief — von dem Angehörigen eines Qebirgs-
artillerieregiments — so angesehen:
» . . . . aber zur Empfindung dessen, was jetzt erst zu empfinden
wäre, jetzt auch von den vielen, denen ich es am ersten Tage vor-
empfunden habe, ist noch kein Dichterherz mobilisiert. Doch, eines:
das eines Kesselschmieds. . . .<
Vorempfunden am ersten Tage, um von vielen nachempfunden
zu werden — so weit das Gefühl, das faßbar für uns ist, reicht! Aber
das Gefühl steht plötzlich still, wie der Gedanke .... Das Ohr, das
sich müde gehört hat am Lärm des Tages, faßt nicht die Stille. Die
Gedanken, die nicht vorwärtskommen, sondern zurückgehen und sich
hier einzurichten trachten wie daheim, sind keine Gedanken mehr.
Wir leben nicht mehr — wir erinnern uns müde an ein Leben. Es
hatte die Kunst, die das Leben ergänzte — das Leben hier ist so nackt,
so zufrieden, so ganz, daß kein Bedürfnis es beunruhigt. Hier lebt
kein Künstler. Wer hier Kunst treibt, ist nicht hier. Wer nicht hier ist,
weiß nichts von uns! »Der Kamerad« macht einem Hinterland Ehre —
uns ist er ein Fremder und hat nicht »des Bruders Angesicht«. Heinrich
Lersch mag hier gewesen sein und dort nachempfunden haben, was er
hier nicht empfunden hat. Vielleicht war es ihm innerstes Bedürfnis,
die Leere dieser Zeit nachfühlend zu beleben, dem Sinnlosen nachsinnend
einen Sinn zu geben. Die Empfindungen einer friedlichen Vergangenheit
sind in ihm erwacht, stärker, bewußter: die Augen, die hier die Leere
nicht fassen konnten, haben dort die Dinge gesehen. Er fühlte als
Arbeiter, der — nach jahrelanger Fabriksarbeit in einer großen fremden
Stadt — einen Frühling erlebt: »Er hörte . . . nur — daß die Lerche
sang!« Auch wir hören die Lerche singen; wir sagen vielleicht auch,
daß wir sie singen hören; aber so, als sprächen wir nicht von uns.
Unser Leben kennt kein Erleben mehr.
Auch andere Feldpostbriefe beziehen sich auf den
Lerchenruf und auf meine Betrachtung des Stadiums, in dem er
mir erlebt schien. Solche Mitteilungen — Lebenszeichen aus der
Seelenverbannung und Bekenntnisse der Anhänglichkeit an ein
DO
geistiges Leben und an den, der es zu behüten scheint — gehören
ganz gewiß nicht zu jenen unerwünschten Korrespondenzen, deren
Verfasser mich entweder für einen Beleuchter von Übelständen
halten oder für mich wie die Mücken um ein Licht schwärmen.
Wie sehr der Autor der folgenden Zeilen, deren Inhalt der
Menschheit zur Ehre gereichte, wenn er der Inhalt der Menschheit
wäre, unrecht getan hat, sein Schreiben in die bezeichnete Kate-
gorie zu stellen, mag ihm — dem mir beruflich wie persön-
lich unbekannten Rezitator von Gedichten, jetzt Füsilier — die
Veröffentlichung beweisen :
25. 5. 16. Frankreich
(Erdhöhle)
Hochzuverehrender Herr Karl Kraus! Wie lange, wie lange
wollte ich Ihnen irgend ein Zeichen des Dankes, meiner Verehrung,
meiner Liebe geben. Ich unterließ es immer; bestärkt, als ich las, wie
wenig willkommen Ihnen Briefe dieser Art sind. Da wollte ich
Ihnen aus der Ferne danken, an meinem Vortragsabend, meinem
Abschied vor dem Ausrücken, und mit aller Kraft und Echtheit
aus dem heiligen Gefühl für Ihr Werk, zwei Gedichte sprechen:
Der sterbende Mensch und Vor einem Springbrunnen. Zwei Tage
vorher zog ich aus, kam gleich ins Schwerste, vor Verdun, und
dort, in Grauen und Tod schrieb ich Ihnen und schickte den Brief
nicht ab — aus alter Scheu. Nun halte ich das Heft der Fackel
in Händen mit dem Gedicht Aus jungen Tagen und lese so vieles
was ich erlebt habe in Weh und Entsetzen. Ich schrieb Ihnen
damals: »Was ist das Ergreifendste? Der Vogelsang bei Sonnen-
aufgang in diesen ganz entstellten Wäldern, in denen kein Baum
unbeschossen ist— und die Vögel singen darin. Das Granaten-
feuer: die Entartung, die krachend platzt; der Vogelgesang: Gottes
ewige Melodie, der tönende Ursprung. Ach, die Tiere! Meine
lieben, lieben Pferde; hier liegen sie zu Hunderten, manche mit
dem Ausdruck eines Schmerzes wie am Ende eines großen Lebens.«
— Es bedarf ja nicht meines Zeugnisses zum Beweise, daß ein
großer Künstler alles weiß; ich möchte Ihnen aber, dankbar und
ergriffen, diesen Satz mitteilen, der aus dem Weh des nächsten
Erlebens stammelte, was Sie aus der Ferne gestaltet haben
(S. 42/44 Nr 418-22)
Und so erlauben Sie mir gütigst, daß ich diesmal Ihnen
danke in unwandelbarer Verehrung
Ihr Ludwig Hardt.
Gefreiter im Füsilier Reg. ... 11. Komp. . . . Inf. Div.
56
Der Krieg im Schulbuch
Eine Berliner Zeitung hatte am 16. April die folgende Notiz
gebracht:
Aus dem Aprilheft der Wiener Zeitschrift Die Fackel ersehen
wir, daß im Verlage von Karl Meyer, Hannover, ein für den Schul-
gebrauch bestimmtes Lesebuch der Rektoren Kappey und Koch
in Hildesheim erschienen ist, das u. a. ein Gedicht > Regiment greift an*
enthält. Die folgende Strophe gibt eine Probe dieses Gedichtes:
Da drüben, da drüben liegt der Feind
In feigen Schützengräben,
Wir greifen ihn an, und ein Hund wer meint,
Heut würde Pardon gegeben.
Schlagt alles tot, was um Gnade fleht,
Schießt alles nieder wie Hunde,
Mehr Feinde, Mehr Feinde! sei euer Gebet!
In dieser Vergeltungsstunde I
Dagegen haben wir nur eine Frage an die zuständigen Stellen:
wer überwacht die Schulliteratur?; und ist dieses Lesebuch wirklich
zum Schulgebrauch unserer Kinder zugelassen?!
Ein deutscher Verlag schrieb an die Fackel:
Im »Börsenblatt für den deutschen Buchhandel« wurde neulich
ein ganz unglaubliches Gedicht »Regiment greift an« zitiert, welches
Sie zuerst in einem deutschen Lesebuch für den Schulgebrauch gefunden
und getadelt haben. (Anm.: Das Zitat war der Arbeiter-Zeitung
entnommen.) Die Tatsache, daß solche Verse in einem deutschen
Lesebuch Aufnahme finden können, finde ich so entsetzlich, daß ich
gelegentlich einen meiner Autoren veranlassen möchte, an geeigneter
Stelle auf diese Sache zurückzukommen. Würden Sie die Freundlichkeit
haben mir mitzuteilen, in welchem Lesebuch sich dieses Gedicht findet
Inzwischen war, am 4. Mai, in jener Berliner Zeitung die
folgende Notiz erschienen:
Wir haben am 16. April, nach der Wiener Zeitschrift Die Fackel, ein
einigermaßen gewalttätig gesinntes Gedicht »Regiment greift an«
erwähnt, das in ein für den Schulgebrauch bestimmtes Lesebuch der Rektoren
Kappey und Koch aufgenommen worden war und das in seiner Art
nicht gerade für kindliche Gemüter geeignet schien. Wir erfahren jetzt
durch das Oberkommando in den Marken, daß dieses Gedicht, das
von einem mittlerweile gefallenen Kriegsteilnehmer zuerst in einer
hannoverschen Zeitung veröffentlicht worden war, erfreulicherweise
— 57 —
auf Verfügung des stellvertretenden Generalkommandos
des X. Armeekorps aus dem Lesebuch ausgemerzt werden
mußte und im Neudruck des Buches nicht mehr enthalten ist. Die
Verfügung ist übrigens schon am 29. Januar, also lange vor dem
Erscheinen der Aprilnummer der Fackel, erlassen worden.
Was dieser nicht bekannt sein konnte. Sonst hätte sie gleich
die löbliche Austilgung zur Kenntnis genommen, um fest-
zustellen, daß es existent war; daß es entstehen und aufgenommen
werden konnte und daß deutsche Pädagogen sich von deutschen
Militärs erziehen lassen mußten. Die Reproduktion in der Fackel
hat zwar nicht das behördliche Einschreiten zur Folge gehabt —
davon hätte sie kaum etwas erfahren — , sondern mehr: dessen
Verlautbarung. Auf diesem gangbaren Weg, die pädagogische
Schande nicht nur auszumerzen, sondern es auch bekanntzumachen,
möge nun fortgefahren werden. Ich verspreche feierlich, daß ich
es mir nicht als Erfolg anrechnen werde. Vielmehr bin ich in jedem
einzelnen der folgenden Fälle bereit, festzustellen, daß die Verfü-
gung schon lange vor dem Erscheinen der Fackel erlassen worden ist.
•
»Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, in
acht nach Klassenstufen geordneten Abteilungen und zwei Vorschul-
Teilen, neu bearbeitet vom Geh. Studienrat Professor
Dr. Alfred Biese, Direktor des Königl. Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums
in Frankfurt a. M.«, enthält unter den »Lesestücken aus der Kriegs-
literatur für die Unter-Klassen Sexta bis Quarta nebst dem gräßlichen
>Reiterlied< (Wer da, wer) des Gerhart Hauptmann, dem der Krieg
Herz und Hirn requiriert hat, noch die folgenden Dokumente
jener unnennbaren Schande, die aus Herzverhärtung und Gehirn-
erweichung Verse gemacht hat:
Berliner Landsturm.
Von Hans Brennert.
Es pfeift die Eisenbahne —
adieu, Frau Nachbar Schmidt!
Der Landsturm muß zur Fahne —
der Landsturm, der geht mit.
in Frankreich und in Polen,
da müssen wir versohlen
ganz schnelle ja
die Felle ja
Franzosen, Russ' und Brit' I
— 58 —
Der tapfre Landsturmmann — er rückt an, er rückt an!
Auf — ! Landsturm mit Waffe,
Mit Knarre und mit Affe —
Steig ein I Steig ein ! Steig ein t
Zur Weichsel und zum Rhein !
Und ist uns auch zu enge
der Rock blau oder grau —
ihr kriegt doch eure Senge
nicht weniger genau I
Wir schworen es ja Muttern,
daß wir euch würden futtern,
ihr Söhnekens,
mit Böhnekens,
die sind so heiß und blaul
Der tapfre Landsturmma;in — er rückt an, er rückt an I
Auf — I Landsturm mit Waffe,
Mit Knarre und mit Affe —
Steig ein ! Steig ein ! Steig ein !
Zur Weichsel und zum Rhein !
Lernt schießen schnell! — Ihr Jungen!
Kommt nach! Zieht bald mit aus!
Es ist genug gesungen
die Wacht am Rhein zu Haus!
Wir müssen an die Seene!
Auf, Jungens, rührt die Beene,
die Wade, marsch! —
Parademarsch ! I !
Und drescht den Nikolaus! —
Der tapfre Landsturmmann — er rückt an, er rückt an t
Auf — ! Landsturm mit Waffe,
Mit Knarre und mit Affe —
Steig ein! Steig ein! Steig ein!
Zur Weichsel und zum Rhein!
O Nikolaus, o Nikolaus!
Von Wilhelm Platz.
O Nikolaus, o Nikolaus, du bist ein schlechter Bruder,
du predigst uns von Frieden vor
und rüstest heimlich Korps um Korps,
0 Nikolaus, o Nikolaus, du bist ein falsches Luder.
O Engelland, o Engelland, wie hast du dich benommen,
als wie ein rechter Krämersmann,
der nimmt, so oft und viel er kann.
O Engelland, o Engelland, das wird dir schlecht bekommen.
59 —
Der Franzmann auch, der Franzmann auch, zeigt wieder seine Krallen,
er möchte gern den schönen Rhein,
wir aber nach Paris hinein,
das will ihm nicht, das will ihm nicht, das will ihm nicht gefallen.
Und wenn die Welt voll Feinde war'
und keinem war' zu trauen,
so fürchten wir uns dennoch nicht,
wir halten's, wie der Kaiser spricht:
Wir werden sie, wir werden sie, wir werden sie verhauen.
Die Geschichte von Lüttich.
Von Friedrich Hussong.
Unsere Kerrels, die wollten ins Franltreich hinein,
in einem Ritt nach Paris vom Rhein.
Da lag das Lültich mitten im Weg;
nicht links, nicht rechts Pfad oder Steg.
Da sprach der General Emmich:
»Gottsakerment, das nemm ich.«
Gotts Dunner, wie will er das nehmen ein,
wo so viel Forts und Kanonen sein?
Da sagte der: >Wir rennen ein Loch,
paBt auf, ihr Kerls, und nehmen es doch.
Daß die uns hindern, würmt mich,
aber paßt auf, das stürmt sich.«
Herr General Emmich, ich sag's mit Gunst,
ein Ding ist's gegen die Regel und Kunst;
man muß da erst lange vor liegen
and das Lüttich geduldig bekriegen ;
doch der: »Das sind eitel Dünste,
die regelrechten Künste, t
Und die Kerrels stürmten und rannten ein Loch
and kriegten's trotz Forts und Kanonen doch
und sind auf dem Weg ins Frankreich hinein,
in einem Ritt nach Paris vom Rhein.
Wie sagt der General Emmich?
> Gottsakerment, das nemm ich.«
— 60 —
De dicke Berta.
Von Gorch Fock.
Dicke Berta heet ik,
tweeunveertig meet ik,
wat ik kann, dat weet ikl
Söben Milen scheet ik,
Steen un Isen freet ik,
dicke Muern biet ik,
grote Locker riet ik,
dusend Mann de smiet ikl
Beuse Klüten kok ik,
Blitz un Donner mok ik,
heete Suppen broo ik,
grote Reisen do ik:
erst vor Lüttich stunn ik,
Huy un Namur funn ik,
ok Givet, dat kreeg ik,
un Maubeuge sehg ik,
um Antwerpen stuk ik,
un Ostende duk ik.
Vor Verdun, dor stoh ik,
no Paris hen goh ik,
ok no London, gleuf ik:
op den Tag dor teuf ikl
Schient de Sünn, denn summ ik,
schient de Moon, denn brumm ik
ganz verdübelt, meen ik!
Mienen Kaiser deen ik,
dicke Berta heet ik,
tweeunveertig meet ik,
wat ik kann, det weet ik!
Eine Dichtung des Herrn Cäsar Flaischlen — was für eine
Sorte doch ehedem zur »Literatur« gehört hat! — beginnt so:
Sie haben das sehr schön sich ausgedacht
von hüben wie von drüben
und mit unserer deutschen Ritterlichkeit
seit Jahren Schindluder getrieben.
Sie haben seit Jahren uns umstellt
an allen Ecken und Kanten,
Verträge und Klauseln ausgeheckt
und einander Schmiere gestanden.
Feig, wie sie sind, vermeinten sie,
uns heimlich zu Boden zu knebeln
und bei der ersten Gelegenheit
uns einfach zusammenzusäbeln.
Nicht einer hatte den traurigen Mut,
offen das Schwert zu erheben:
sie kauften sich einen kleinen Mann,
die Fackel ans Haus zu legen.
►Schrei auf, mein Herz!« Und du, Michel, greif zum Schwert:
Und hau nach hinten und hau nach vom,
hau zu, wie nur zu hauen,
wohin es trifft, ein jeder Hieb
sei Grausen und sei Grauen!
61
Hau drauf und drein, durch Eisen und Stein,
mit Kolben und Kanonen —
wir wissen ja endlich, woran wir sind,
Und brauchen niemand zu schonen!
Und geht die ganze Welt kaputt
in Blut- und Flammenwehen,
und wird es wirklich Jüngster Tag —
wir bleiben und wir stehen!
Wir bleiben, Michel, und wir stehn
vor Gottes Thron zu sagen:
allwie man ihn und seine Welt
an elende Habsucht verraten!
Der Hans Heinz Ewers jedoch, der in Amerika den Deutschen-
haß, den er erweckt, nach Möglichkeit zu bekämpfen sucht und zu
seinem größten Bedauern rechtzeitig verhindert war, zurückzu-
kommen, singt den Gymnasiasten eins von der > Emden« vor:
Der Kapitän der »Emden« sprach:
> Verdammt noch mal und zugenäht!
Nun liegt der deutsche Handel brach!
— John Bull hat mächtig aufgedreht
und bläht sich hinter jedem Riff;
es kapert sich der Lausebrit'
so manches gute deutsche Schiff.
Verdammt; da tu' ich auch noch mit
mir meiner braven .Emden' ! «
Der Japse schwimmt vor Tsingtaus Gischt
und lauert früh und lauert spät —
da ist zur Nacht ihm was entwischt,
verdammt noch mal und zugenäht!
Die Katze, die ihm schon im Sack,
will noch einmal aufs Mausen gehnl
— Und auf das gelbe Lumpenpack
pfeift unser blonder Kapitän
Karl Müller von der > Emden <!
Verschwunden! Weg! Das Schiff ist weg!
— Wie Brite auch und Japse späht,
sie finden nimmer das Versteck,
verdammt noch mal und zugenäht!
— 62 —
Sie fahren hin, sie fahren her
und haben weidlich durchgesucht
sechs Wochen lang des Ostens Meer —
— da schwimmt sie in Bengalens Bucht,
die liebe kleine »Emden«!
Und so. In der letzten Strophe schlägt der Dichter den Qrafen-
titelfürden Kapitän der »Emden« vor, indem er »als Poet« den Wappen-
spruch: »Verdammt noch mal und zugenäht!« ihm »dreingibt«. Herr
Ewers, wiewohl durch die Umstände an der aktiven Mitwirkung bei der
Glorie rechtzeitig verhindert und gezwungen, in amerikanischen
Varietes für die deutsche Sache einzutreten, hat sich schon zu Kriegs-
beginn durch ein stimmungsvolles Gedicht verdient gemacht, in
welchem er sein Mütterchen besang, dasein kleines, stilles Häuschen am
Rhein besitze und es nunmehr natürlich in ein Spital verwandelt habe.
Zwischen den Buddhas, ausgerechnet, und ähnlichen exotischen Kost-
barkeiten, die Herr Ewers von seinen Weltreisen mitgebracht hat, ruhen
nun, so schrieb er, brave Jungens von jenen Strapazen aus, die dem
Dichter selbst erspart geblieben sind, während das Mütterchen un-
verdrossen der Pflege obliegt und ihr Scherflein beiträgt. Einer
dieser braven Jungens sei blind, denn »sie stachen ihm bei Namur«
oder Maubeuge oder sonst irgendwo, wo Herr Ewers sich nicht
durch persönlichen Augenschein von den Gefahren des Krieges über-
zeugt hat, »die Augen aus«. Als der Dreck erschien, ließ sich
ein Mitarbeiter des ,Vorwärts', der jene Lunte, die Herr Ewers nicht
gerochen hat, zu riechen begann, die Mühe nicht verdrießen,
beim Mütterchen des Herrn Ewers sich nach dem blinden Soldaten
zu erkundigen. Aus Teilnahme, warum nicht. Wiewohl aber
sonst jedes Mütterchen in Deutschland Bescheid weiß —
dieses eine ward verlegen und erklärte sich umsomehr
außerstande, den blinden Soldaten vorzuführen, als sich
herausstellte, daß sie zwar ein Häuschen am Rhein bewohne, aber
der Spitalstätigkeit nie obgelegen habe. Aber auch sonst habe sie
in ganz Düsseldorf weit und breit einen blinden Soldaten nicht
gesehen, was sei denn das nur, so oft sei schon wegen
des schönen Gedichtes ihres Sohnes, auf den sie stolz sei, bei ihr
angefragt worden, sie möchte es auch gern lesen, aber sie habe wirklich
kein Spital und wisse auch nichts davon, daß wo anders einer liege,
dem die Augen ausgestochen worden seien, das wäre ja auck
— 63 —
gar zu schrecklich, aber der gute Junge, an alles denkt er doch,
immer habe er schon eine lebhafte Phantasie gehabt, und kehre
er dereinst gesund heim, das Mutteraug werde ihn zuverlässig
erkennen. . . . Verdammt noch mal und zugenäht. Herr Ewers
aber vertritt seitdem die deutsche Sache in Amerika
und kämpft in Versen gegen allerlei Lumpenpack, Und in den
Unterklassen von Sexta bis Quarta, geführt von einem Geheimen
Studienrat, liest es die deutsche Jugend.
Ich würde mich freuen, feststellen zu können, daß auf Ver-
fügung eines österreichischen Militärkommandos die zugleich mit
»Regiment greift an« zitierten Sätze eines Wiener Pädagogen lange
vor dem Erscheinen des Aprilheftes jeder Möglichkeit künftigen
Schulgebrauches entzogen waren. Sie seien zum Gebrauch für eine
künftige Menschheit hieher gesetzt, die einen Leitfaden durch unser
Labyrinth der Nächstenliebe nötig haben wird, worin, wenn man
schon glaubte, beinahe im Freien zu sein, schnell noch Aristokratinnen
ein Kinderspiel » Russentod < erfunden haben und Pädagogen die
Theorie dazu:
»Auf daß ihr mit wissendem Herzen und Munde
hasset, halte ich euch einen Spiegel vor, aus dem euch das neid verzerrte
und haßverfärbte Antlitz des falschen Albion entgegengrinst.<
»Jetzt freilich möchte ich nur wünschen, daß den Russen Qalizien
all seine Gaben: Armut und Schmutz, verseuchte Brunneri und tolle
Hunde, Hunger und Seuchen in verschwenderischem Maße zuteil
werden läßt.«
»Von den Kerlen aber ist nichts zu sehen! Schauen in ihren
Monturen aus, als wären sie aus demselben Lehm und Sand geformt,
um den wir uns nun tagelang raufen. Sind feige Hunde, die
Erdfarbenenl«
»Alles schwarz von Russen, grad so wie in einer vernachlässigten
KQchel Man braucht nicht zu zielen: einfach losdrücken und schon
liegt einer. Na, da knallten wir Sie nieder, wie die Köchin
raschen Fußes das Ungeziefer zertritt.«
»Sakra, dös war höllisch fein! Bald hab' i 's Vurtl herauBt
g habt. Eini das Messer ins Russenfleisch und gach umdrahtl«
— 64
»Hei, da haben wir mit unseren Karabinern dreingehauen,
als gälte es Klötze zu spalten. Hab' auch viele Russen-
schädel zerschlagen. Hurra!«
»Es muß ein ganz eigenartiges Gefühl sein: Hier zu stehen, den
Feind 'rankommen zu sehen und ihn niederknallen zu können,
ohne daß er einem recht ankann.«
». . . und jetzt darf ihnen (den Russen, die sich ergeben) niemand
mehr etwas tun als: gefangennehmen. Und hätten doch so gern
diese Gazember (magyarisches Schimpfwort) ein bißl massakriert....«
»Jeden einzelnen von uns hat der Krieg aus dem
Alltag gerissen, hat ihn umgeformt und sittlich wachsen
lassen. Wir alle sind bessere Menschen, bessere Öster-
reicher gewordenl«
Zum versöhnlichen Ausgang aber sei noch angemerkt, daß
jene Berliner Zeitung durch das Oberkommando in den Marken
offenbar auch erfahren haben will, das Gedicht - das Gedicht! - sei
»von einem mittlerweile gefallenen Kriegsteilnehmer zuerst in einer
hannoverschen Zeitung veröffentlicht worden.« An dieser Mitteilung
ist zwar die literarhistorische Genauigkeit rührend, aber keineswegs
die Mitteilung, daß der Dichter inzwischen gefallen sei. Es kann auch
unmöglich beabsichtigt sein, durch den Hinweis darauf, daß ein
Mann seinen Untergang in der nämlichen Begebenheit gefunden
habe, in die er mit einem »Gebet« um »mehr Feinde« und mit der
Parole »Schießt alles nieder wie Hunde« eingegriffen hat, eine mildere
Beurteilung dieses Standpunktes zu erwirken, umso weniger, als
ja das Niederschießen von Hunden in Friedenszeiten auch
nicht gerade gang und gäbe oder zumindest die Übung höher
gesitteter Naturen war. Eher müßte man schon sagen, daß ein Kriegs-
teilnehmer, der als Dichter dazu beigetragen hat, daß »alles tot-
geschossen wird, was um Gnade fleht«, zwar durch sein persön-
liches Fortleben Aufsehen erregen würde, aber im andern Fall
das Faktum nur folgerichtig und das Diktum nicht sympathischer
erschiene. Wie dem nun immer sein mag, das Oberkommando
in den Marken dürfte eine gute Absicht an unrichtiger Stelle
betätigt haben. Denn es gibt eine Instanz, die es noch besser
mit dem Dichter meint:
65
Hannover, den 19. 5. 16.
Soeben erfahre ich durch Zufall, daß in Ihrer Aprilnummer ein
Gedicht meines Schwiegersohnes besprochen ist und möchte
ich Sie höfl. bitten, ein Exemplar Ihrer Zeitschrift an genannten
Herrn möglichst gleich abzusenden. Adresse ist: Leutnant
F. L. Hoppe, X. Armeekorps, 20. Inf. Division, Inf. Reg, 79,
3. Bat., 11. Komp.
Hochachtend, im Voraus bestens dankend
Frau G. Haase
Hannover, Geibelstr. 27
Das heiße ich einen versöhnlichen Ausgang ! Belegexemplare
für solche Rezensionen über solche Gedichte pflegen zwar nicht
abgesandt zu werden. Aber wenn hinter Maschingewehren als deus ex
machina solch eine freundlich besorgte Frau am Schluß erscheint
und das unnennbare Grauen dieses Weltabends zu einem deutschen
Schwiegermutterscherz wendet, so sind wir's auch zufrieden.
— 66 —
Glossen
Also Dichter und Denker, nicht Barbaren
Da die Chose, in der jetzt eine endgiltig hergestellte
Mischung aus Landsknecht und Ingenieur triumphiert, von hervor-
ragend weidmännischem Interesse ist, hat die deutsche Jagd-
zeitschrift >Wild und Hund« den folgenden instruktiven Bericht
veröffentlicht:
Auf der Russenfährte.
Von Frundsberg.
(Nachdruck verboten.)
. . . Dies Jahr zählt doppelt und dreifach gegen lummrige
Friedensjahre und wnd sich nie aus meinem Leben fortwischen lassen.
— Und soll's auch nicht I Gut Gejaid allezeit und harte Kriegsarbeit
gab's in Feindesland. . . .
Und es gab herrliche Tage, wenn man als Sieger dem ge-
schlagenen Feind auf den Fersen saß, ihn zustande hetzte, bis er,
zu Tode erschöpft, sich dem Sieger ergab. . . .
. . . Das alte Landknechtsleben blühte wieder auf, reiten und
streiten, essen und trinken, jagen und lieben. Es war wohl wie in
alten Zeiten. Man fand sich furchtbar schnell darein. Krieg ist
doch wohl die natürlichste Beschäftigung des Mannes. . . .
Ein Jahr, ein schönes, langes Jahr hab ich's so getrieben. . . . Aber
es gab damals auch einen Wundbalsam, der alles wieder gut machte, den
ich mir kaum zu erträumen gewagt: das Kreuz von Eisen ohne Bandl. . .
... Ab und zu mußte man schon die alte Feldpulle
zwischen die Zähne nehmen, um sich wenigstens innerlich etwas
anzuwärmen. Man wird besinnlich in solchen Momenten und unsere
Gedanken brauchten nicht weit zu reisen, um sich besserer Tage zu
besinnen. ... an den schönen lustigen Franzosenkrieg, wie wir . .
die feindliche Kavallerie in den Dreck ritten, wo sie nur ein
Pferdebein zeigte . . um schließlich in der sonnigen Champagne
unsere Rosse zu tummeln. Man bekam ein verdächtiges Schlucken in
den Hals, wenn man an all den guten Schampus dachte, der
einem damals durch die Kehle gerieselt war. — Weiterführten
einen die Gedankenmit einem kleinen Hupf in ein neues Feindesland:
Belgien I Fruchtbare Felder, reiche Städte, dicht gedrängt erwarteten
uns da. . , . Einen himmelblauen Gurka und zwei belgische
Radler konnte ich damals in mein Schußbuch eintragen. . . .
Und dann .... die Grenzpfähle nach Polenland wegzufegen Und, beim
großen Zeus, unsere Flinten und Lanzen sollten auch hier nicht rosten!
... Es war eine Kavalleriedivision, die wir schon aus Frankreich
kannten, und die auch mit von der Partie sein wollte. Nichts ist
— 67
spaßiger, als wenn sich belcannte Truppen auf einem anderen Kriegs-
schauplatz wiedersehen. Und so jagte auch bald ein grober Witz
den andern. Himmel, wie sahen die Jungens aber auch ausi Auch
in einem Rutsch aus dem noch sommerlichen Franlcenlande kommend,
hatten sie ihre Wintersachen nicht mehr erhalten. Aber was macht das.
JVlan weiß sich zu helfen. Aus Teppichen, Pelzen, Fellen waren
im Nu warme Mäntel, Ohrenschützer, Handschuhe gemacht. . . .
. . . Donnerwetter ja, in Polen sollen ja stramme Hirsche
wachsen. Die alte Büchse zappelt ungeduldig auf dem Rüclcen, als ob
sie sich nach Arbeit sehnte. Warte nur, mein Hase, du kommst
auch noch rani
Vorläufig gab's aber noch nichts zu schießen. Feind
fehlte noch wegen Mangel an Beteiligung. Ein paar herum-
streunende Kosaken waren schon von den Patrouillen aus dem Felde
geschlagen oder vielmehr geschossen worden. Zu Pferde kriegt man
die Lümmels schlecht, vorm Schießen haben sie aber einen Höllen-
dampf. — Nach endlosem Marsch, als es schon völlig dunkel war, kamen
wir ins Quartier. Au je, das war doch überwältigend! Wer eine
solche Panjebude nicht kennt, der ahnt überhaupt nicht, was es alles
gibt. Beschreiben läßt es sich nicht, das muß man sehen und fühlen. . . .
Die Kosakis hatten sich nun doch ermannt und uns den Weg ober
eine Brücke verlegt. Es war allerdings auch dicke Infanterie dabei.
Eine Schwadron von uns war schon beim Angreifen, erhielt aber ein
wahnsinniges Feuer, das ziemlich schaurig durch die düstre Nacht
gellte. Bei Tagesanbruch griff dann das ganze Regiment an und trieb
die Brüder zu Paaren. Allerdings ging es ziemlich heiß her. Ein
Leutnant von uns bekam eine Kugel durch beide Arme und mitten
durch die Brust. Ist aber heute schon wieder qiiietschf idel. Ein
anderer hatte einen Streifschuß am Kopf, daß die Knochensplitter
man so flogen. . . .
Auf leisen Sohlen heranbirschend, hatten wir bereits die Vorposten
getötet.... p eng, fällt ein Schuß, peng, peng, zweiter, dritterl Und
dann ging eine maßlose Knallerei losl . . rumbums! spricht unsere
Kanone; kladderadomsl die Handgranaten, die die albernen
Russen aus den Fenstern zu schmeißen für gut befanden... .
über die Straße laufen alle möglichen Leute, kein Schwein kann aber
im Dunkel erkennen, von welcher Partei sie sind. Wir drückten uns
an ein großes Haus, um mal erst abzuwarten, wem die Siegesgöttin
heute wohlgesinnt wäre. Der Skandal dauerte aber immer weiter, und
die Kriegslage schien sich gar nicht klären zu wollen. . . .
Die Kerls, die jetzt immer zahlreicher auf der Straße standen,
waren doch Russen; wir mußten uns also möglichst gewandt hindurch-
schlängeln. Wenn einer nicht Platz machte, kriegte er einfach einen
Tritt Ich müßte schamlos lügen, wenn ich dieses Situatiönchen
besonders angenehm und lieblich nennen würde, aber wir kamen durch,
und es solLe sich nachher bezahlt machen. 150 Schritt hinter der
Stadt buddelten wir uns schnell bis an den Kragenknopf ein. . . .
68
Wir warteten freudig erregt der Dinge und Russen, die da
kommen sollten. ... Wir acht Männerchen waren augenblicklich
wohl die einzigen hier, die die Wacht am Rhein singen konnten.
— Wir lagen mucksmäuschenstill, den Finger am Abzug. Meiner
Kriegsknechte war ich mir ziemlich sicher. Ohne Befehl würde
keiner knallen. . . . Neben mir schnatterte ein junger Kriegs-
freiwilliger laut und ungeniert mit den Zähnen. Ich boxte
ihm schnell noch in die Rippen.... >Lebhaft weiterfeuern*,
kommandierte ich dann mit gellender Stimme, um den Brüdern da
drüben mal den Wohlklang einer Preußischen Kommando-
stimme zu Gehör zu bringen. Und ich mußte auch laut schreien,
denn auf die erste Salve ertönte drüben ein Geheul, so entsetzlich,
markerschütternd, daß mir die Haare zu Berge standen, und als unsere
Büchsen lustig in den dichten Knäuel knallten, da stürzten sie
zurück, fielen über die Toten und Verwundeten. . . . und dazu fort-
während diese entsetzlichen Schreie höchster Todesnot! . . .
und schon waren wir mit brüllendem Hurra hinterher!. . .
...WiedieTiere drängte sich ein ganzer Haufen in die vorderste
Haustür. Wir hätten sie in aller Ruhe abschießen können. .. .
Sie waren noch total halali und konnten vor Angst keinen
Ton sagen. . . . Die ganze Sache schien einzuschlafen.
Zur Belebung des Panoramas erschienen plötzlich zwei
polnische Weiber von rückwärts. . . . Wir machten uns also etwas klein,
griffen sie, als sie neben uns waren, und wollten sie harmlos
lächelnd neben die Gefangenen setzen. Aber da fielen wir schön
rein. Die Weiber bissen, kratzten, schrieen und strampelten wie wahnsinnig.
Wer weiß, was die von deutschen Soldaten dachten! . . .
... Da wir in der Eile nichts zu essen mitgenommen hatten,
machten wir eine kleine Anleihe bei unseren neugewonnenen
Freunden, und so futterten wir zusammen Brot und ausgezeichnete
Fleischkonserven. Selbst die Damen zeigten sich jetzt von einer liebens-
würdigen Seite und reichten die famosen russischen Bonbons herum.
Leider konnten wir uns nicht recht verständigen, sonst hätte es ein
gemütliches Schwätzchen gegeben. Das einzige was uns noch fehlte,
war ein Alkohölchen. . . .
. . . Das ganze Theater von vorhin wiederholte sich. Auf 5 0
Schritt knatterten unsere wohlgezielten Schüsse da-
zwischen. . . .
... ich hatte aber doch so das
eine Biesterei vorhatten. . . . Den
mal selbst etwas näher besehen,
einige sichere Kugeln helfen. . . .
Kopf, ein Tupf auf den Stecher: plautz, da lag der erste Kerl!
Schnell repetiert und wieder gestochen. Nr. 2 und 3 fielen um
wie die Säcke, bevor sie sich von ihrem ersten Schreck
erholt hatten. Da kam Leben in die Gesellschaft, sie schienen
nur noch nicht zu wissen, wohin sie sollten. Der nächste Russe,
Gefühl, daß sie noch irgend
Feind hinten wollte ich mir
Hier konnten nur noch
Da zog ich die Büchse an den
— 69 —
Nummer 4, erhielt die Kugel etwas zu kurz. Es war vielleicht
für mich von Vorteil, denn der arme Kerl schrie ganz ent-
setzlich .... Ich hatte schnell den Karabiner meines Begleiteis ge-
nommen und ließ die nächsten fünf Kugeln in den dichten
Klumpen am Gartenzaun. Einige Schreie zeigten, daß auch
diese Kugeln nicht umsonst abgefahren waren. Diese letzten
Schüsse waren mir ja etwas eklig, besonders weil ich gar nicht
das Gefühl der Gefahr hatte, denn die Russen dachten gar nicht
ans Schießen. Aber was hilfts; jeder ist sich selbst der
nächste, und ich habe ja den Krieg nicht angefangen! Die
Flanke war gesäubert; ich ging befriedigt zu meinen Knaben
zurück. . . .
. . . Die russischen Offiziere machten ein recht dummes Gesicht,
als sie uns sechs Männerchen da stehen sahen. Mein liebens-
würdiges Benehmen beschwichtigte aber ihre Bedenken. Wir
schüttelten uns herzlich die Hände, ich mit einem gönnerhaften
Siegerlächeln. Es war immerhin ein netter Augenblick, und der
militärische Erfolg doch außerordentlich schön.'Selbander zogen wir
auf den Markt, wo alles voll von Russen stand. . . . Bei dem Artillerie-
kapitän bedankte ich mich für die gutsitzenden Schrapnells, dann
mußte ich zur Division und berichten. Allgemeine Zufriedenheit. Meine
sechs Soldaten bekamen gleich, wie sie gebacken waren, das Eiserne
Kreuz. ... Ich wurde zur ersten Klasse eingegeben, was aber erst nach
beinahe einem Jahr in die Erscheinung trat.
* •
*
Deutschland, Deutschland über allesi
Neuheit I Neuheit I
Für unsere heimkehrenden Krieger ist
das schönste Geschenk, um auszuruhen
von ihren Taten, das
Helden kissen
(D. R. G. M.)
Es enthält:
1. Die sinnreiche Anrede:
Siegreiche Krieger.
2. Das Eiserne Kreuz.
3. Den Namen des Kriegers, von einem
Eichenkranz umgeben als Sinnbild
deutscher Stärke.
4. Deutsche und österreichische Fähnchen
als Zeichen der Bundestreue.
5. Willkommen in der Heimat I
Kissen mit Vorzeichnung . . Mk. 3,50
Nachnahme.
Nur zu beziehen durch —
Dazu gehört aber schon ein sehr gutes Gewissen!
70
Kriegsrisiko
»Vor dem Schöffengericht Berlin-Mitte hatte sich am Mittwoch
der Militärinvalide Wilhelm Reich wegen groben Unfuges zu ver-
antworten. Eines Tages hatte er auf der Straßenbahn zu einer jungen
Dame geäußert, der Krieg werde nur zu Gunsten der Reichen
geführt; die Arbeiter müßten sich die Knochen zerschießen lassen und
noch bezahlen. Diese Äußerung vernahm ein mitfahrender Subdirelttor
einer Versicherungsgesellschaft. Dieser ließ den Mann feststellen und
gegen ihn wurde ein Strafverfahren wegen groben Unfuges eingeleitet.
Das Gericht verurteilte den Angeklagten zu sechs Wochen Haft.<
Friedensrisiko
»Die Felixdorfer Weberei und Appretur erhöht ihre Dividende
von 6 auf 17 ^h Prozent. Das günstige Ergebnis des verflossenen Jahres
ist, wie sie erklärt, hauptsächlich auf den Umstand zurückzuführen, daß
es infolge der Unterbindung jeglicher Zufuhr des Rohmaterials
möglich wurde, einen großen Teil der Lagerbestände zu hohen
Preisen abzusetzen.«
Händler und Helden
Alles will ich nehmen, wie's kommt, nicht murren will ich;
aber eines ertrage ich nicht mehr: den Körnerschen Jüngling, mit
Blick gen Himmel, noch immer, nach zwei Jahren noch, im Schau-
fenster bei Neumann, mit dem Text:
Vater, ich rufe Dich!
's ist ja kein Kampf für die Güter der Erde;
Das Heiligste schützen wir mit dem Schwerte — —
Täglich schreiten dort Schlachtlieferanten vorüber, »allen
jüdischen Kindern gesagt, was heute in Schmieröl zu verdienen
ist«, sagte einer grad, als er vor dem Bilde stand und der Körnersche
Jüngling blickte unverwandt gen Himmel. Also weg mit diesem,
da jener nicht zu entfernen ist. Und auch den Landsknecht, der
an jeder Straßenecke für die Kriegsanleihe wirbt, als ob nicht das
Konterfei irgend eines kühnen Landesberger oder verwegenen
Sieghart sie besser propagierte — den lege man zum alten
Eisen. Und spiele man überhaupt nicht mit den alten Gewehren,
71
wenn die neuen von selbst losgehen ! Und gewöhne man sich endlich,
den Unterschied »Händler und Helden« reinlich so zu erfassen, daß
man nicht gerade jene, die zum Handel nicht den Vorwand des
Heldentums brauchen, für die Händler hält. Daß die Engländer
»Christus sagen und Kattun meinen« — diese von Fontane bezogene
Anschauung ist jetzt wahrlich ein ganzes Kontinentalsystem von
Ideologie. Als ob wir, wenn wir Kattun sagen, ausgerechnet Christus
meinten! Jene wollen nur sechs Stunden im Tag für Kattun leben
und wenn sie dann Muße haben möchten für Heuchelei, so ist
es ein geistiges Streben. Jedenfalls wollen sie nicht vierundzwanzig
Stunden im Tag für Kattun leben und jedenfalls sagen sie nicht,
wenn sie ihn an den Mann bringen wollen, eben das geschehe
um Christi willen oder der Mantel der Nächstenliebe sei aus Kattun.
Sie mögen eine sehr oberflächliche Beziehung zu den inneren Dingen
haben, aber es ist eine ziemlich eindeutige, also saubere. Keineswegs
sagen und meinen sie Kattun und Christus in Einem und durcheinander.
Keineswegs wickeln sie ihre Waren in Meßgewänder, weil es eine
aparte Aufmachung ist, und wenn sie auf die Börse gehen, weil das
irgendwie notwendig sein mag, um heute zu leben, so verkleiden sie ihre
Stockjobber nicht als Landsknechte. Söldner ist, wer Sold nimmt für
die Erledigung materieller Aufgaben. Wer aber diese für ideelle
ausgibt und aus Begeisterung Sold nimmt — kann zweierlei sein,
ein Schubiak oder ein Dummkopf, oder — verfluchte Mischung —
beiderlei !
Das kommt davon
. . . Die Schäden dürften ernst sein. Die englische Zensur verbirgt
sie und gestattet keine genaueren Angaben, aber jeder iVlensch, der
als Reisender durch die City gegangen ist oder sie durch
längeren Aufenthalt näher kennt, weiß, daß keine Bombe ihr Ziel ver-
fehlen konnte und daß die Verwüstungen unheimlich sein mußten.
Davon kommt aber nicht nur das Wissen, sondern der Zu-
stand selbst. Es sind zu viel Reisende durch die City gegangen.
— 12 —
Ein Märchenerzähler
Die vierte Kriegsanleihe ist wie eine Erzählung aus dem
Wunderlande. . . . geheimnisvolle Ausstrahlungen. . . . Was uns bei den
Milliarden anzieht und beschäftigt, ist der Gedanke an die Personen,
welche sie zeichnen.
Mich würde der Gedanke bei den Milliarden eher abstoßen.
Die Kriegsanleihen sind die Frucht des Zinsfußes und der Moral.
Daß die Moral sich mit dem Zinsfuß eingelassen hat, ist
sehr unmoralisch von der Moral und die Frucht sieht nach der
Sünde aus. Es wird Kindern und Kindeskindern heimgezahlt
werden und es wird sich rächen an Zinsen und Zinseszinsen.
Die Nachdenklichkeit wird durch die vierte Zeichnung noch mehr
angeregt .... und ein Wunderland ist es wahrhaftig, wenn die kaum
faßbaren Ziffern doch wieder erreicht wurden.
Der Denker verliert sich wieder in den Märchenglauben.
Eine Verwertung des in Staatspapieren angelegten Kapitals, wie
sie nie erträumt werden konnte. . . ,
Der Traum versteigt sich:
Bei der Aufzehrung unserer Vorräte haben wir die Überlegenheit,
verglichen mit den Feinden, daß wir niemandem Tribut für die Einfuhr
kostspieliger Waren, welche die Armee braucht, zu entrichten haben.
Selbst nicht für solche, die das Hinterland braucht. Der
wache Verstand antwortet: nebbich wie glücklich wären wir, wenn
wir Tribut entrichten dürften. Kann man Kriegsanleihe essen? soll
Falstaff gefragt haben.
Reichsritter von Hohenblum spricht nicht mehr von den großen
Hüten der städtischen Damen.
Das ist wieder ein Vorteil.
Die Frau des Grundbesitzers ist sehr elegant geworden, und die
Duldsamkeit der Verzehrer landwirtschaftlicher Erzeugnisse macht ihr
aus dem Sinn für Geschmack keinen Vorwurf.
Die Verzehrer landwirtschaftlicher Erzeugnisse wären noch
duldsamer, wenn sie noch mehr zu verzehren hätten.
Die Milliarde, um die das Einkommen in Preußen während eines
der ernstesten Kriegsjahre abgenommen hat, will uns nicht aus dem Sinn.
Sie ist aber kein Märchen aus uralten Zeiten, sondern
für Preußen kaum eine Hautwunde
mit einem Wort ein Tineff.
Waren, die verkauft worden sind, wurden früher zu Waren.
Jetzt werden sie Kriegsanleihe.
— 73
Was sollten sie sonst werden?
Das einfachste Beispiel ist ein Laden mit Sommerstoffen oder eines
der großen Warenhäuser, wo sich im Frühling, Herbst, Sommer und Winter
mit einem Wort, das ganze Jahr
gewisse Reste, die von der iVlode überholt worden sind, im Lager
aufhäufen. Das wurde früher zu Spottpreisen verkauft und wird jetzt
mit Gold aufgewogen.
Für das freilich die Bedeckung an Papier zu fehlen beginnt,
weil alles für die Blätter gebraucht wird. Man gibt massenhaft
Qold aus. Sogar die Brotmarken^ sollen auszugehen beginnen,
weil die Anweisungen auf geistiges Brot in der Erzeugung vorangehen.
Dieses Aufräumen sämtlicher Lager wird in Zukunft manchen
Nachteil haben. . . . Aber wir leben jetzt nur in der Gegenwart. . . .
und die Sorgen, die das Heute nicht unmittelbar berühren, müssen dem
Morgen überlassen werden. . . . Denken wir zunächst nicht daran, was
sich entwickeln werde, wenn die geleerten Vorratskammern im künftigen
Frieden wieder zu füllen sein werden. . . .
.... Der Erfolg ist blendend.
Ein sympathischer Planet!
»Vor dem iWargaretener Bezirksrichter Dr. Immervoll stand gestern
der taubstumme Privatangestellte Wenzel Haller, weil er auf der
Wiedener Hauptstraße eine große Scheibe eines Schuhgeschäftes, die
150 Kronen wert war, zertrümmert hatte. Der Angeklagte verständigte
sich mit dem Richter auf schriftlichem Wege. Er gab an, er sei von
Prag nach Wien gekommen. Hier sei ihm das Geld ausgegangen und er
sei hungrig und obdachlos gewesen. Um Kost und Unterstand
zubekommen, habe er das Auslagefenster eingeschlagen.
Der Richter verurteilte den Angeklagten zu vierundzwanzig Stunden
Arrest. Als der Stumme das ihm vom Richter aufgeschriebene
Urteil gelesen hätte, schüttelte er betrübt den Kopf und
gab durch Zeichen zu verstehen, daß er eine viel höhere
Strafe erwartet habe.«
Das Opfer
Hochwohlgeboren Herrn Moriz Benedikt, etc.
Sehr geehrter Herr Chefredakteurl Ihren vielen überaus freund-
lichen Bemühungen um das Blühen und Gedeihen des k. k. öster-
— 74 —
reichischen Mililärwitwen- und Waisenfonds, an dessen Spitze mich die
Gnade Seiner Majestät des Kaisers als Stellvertreter Seiner Majestät
im Protektorat des Vereines gestellt hat, haben Sie neuerdings einen
außerordentlich dankenswerten Beweis tatkräftigster Mit-
hilfe an unseren großen kriegshumanitären Zielen gegeben, indem Sie
in Ihrer Donnerstagnummer vom 20. April eine halbe Seite Ihres
Blattes völlig kostenlos für einen Aufruf des Witwen- und Waisen-
fonds zur Verfügung gestellt haben. Ich nehme gern Veranlassung, Ihnen
für diesen neuerlichen Beweis Ihres großen Interesses, das Sie
dem k. k. österreichischen Militärwitwen- und Waisenfonds seit seiner
Gründung entgegenzubringen die große Freundlichkeit
hatten, allerherzlichst zu danken. Gerade diese vorbildliche
Mithilfe der Presse ist es, welche dem Witwen- und Waisenfonds bis
jetzt schon so viel Not und Elend hat lindern helfen und von der wir
uns auch für die Zukunft tatkräftigste Unterstützung erbitten und er-
hoffen. Genehmigen Sie, sehr geehrter Herr Chefredakteur, den Aus-
druck meiner vorzüglichsten Hochachtung, mit welcher ich zeichne Erz-
herzog Leopold Salvator.
Die Selbstlosigkeit, die nicht bloß Kostenlosigkeit bedeutet,
geht bis zum Abdruck dieser treffenden Anerkennung gegen einen
Millionär, der seine positiven Wohltaten bisher im Stillen geübt
hat. Die Größe des Opfers aber läßt sich nach dem folgenden Tarif
bemessen :
>. . . Zur Beurteilung der Angelegenheit wird es vielleicht nicht
uninteressant sein, daß nach verläßlichen Schätzungen die Veröffent-
lichung dieser Satzschrift in den heutigen Blättern zwischen 60.000 und
70.000 Kronen kostet. Es wäre nicht unwesentlich, zu erfahren, aus
welchen Geldern diese beträchtliche Summe genommen wurde. Zur
Aufklärung Uneingeweihter über die Gründe, weshalb sich die Zeitungen
so bereit finden, derartige Mitteilungen abzudrucken, sei noch die
Tatsache mitgeteilt, daß der Abdruck in der , Neuen Freien
Presse' allein rund 5000 Kronen kostet. Es sind nämlich ungefähr
dreihundert Zeilen, für die sie 15 Kronen die Zeile berechnet, nebst
einem Teuerungszuschlag von 10. v. H., den sie kürzlich für
derartige redaktionelle Mitteilungen eingeführt hat. . . .«
Wobei zur Aufklärungbemerkt werdenmuß,daß ein Teuerungs-
zuschlag die kürzeste Formel für den ans Vaterland erfolgten
Anschluß bedeutet und daß »v. H.< nicht etwa die Chiffre des
Herrn v. Hofmannsthal vorstellt, sondern die Prozente, die die
Verdiener des Vaterlands seit Kriegsausbruch nur noch auf
deutsch nehmen.
75 -
Das Maul
Jetzt ist wieder einmal die militärische Lage so gestaltet,
daß der publizistische Wortführer des Auswurfs der Menschheit
»der Armee und der Flotte einen Gruß< entbieten darf. Ohne das
ein Vertreter von Armee oder Flotte ihm aufs Maul schlägt.
Durch! Dieses Wort haben wir unserer Armee und unserer
Flotte zugerufen, als der Kampf begann .... Durch ! Heute, ein Jahr
nach Beginn des Krieges, spüren wir, wie der Atem weltgeschichtlichen
Geschehens immer stärker
und immer schlechter wird! Und weit und breit keiner, der jenem
das Maul hält!
Schöne neue Titel
Bewegte Zeiten.
Deren Merkmale in den vorliegenden Nachrichten.
Die Räumung Asiagos.
Von der Zivilbevölkerung.
Greys Liebe zu Konferenzen.
In den Ausführungen seiner Rede im Unterhause.
Der vereitelte Plan einer gemeinsamen Offensive der Entente.
Durch die österreichisch-ungarische Aktion.
Und nichts als große Verdienste. Mit dem Krieg. Und
glücklich zustandegekommene Partien. Durch die Zeitung. Und
kein verlorenes Abonnement. Wegen Gemauschel.
Out! Setz dich!
Der Schauplatz der Seeschlacht.
Von Universitätsprofessor Dr. Eduard Brückner.
Präsident der geographischen Gesellschaft.
Wien, 2. Juni.
Der Schauplatz der Seeschlacht liegt unmittelbar westlich der
Westküste von Jütland. Als Skagerrak wird der Ausläufer der Nordsee
bezeichnet, der zwischen Norwegen und Dänemark nach Nordosten
vordringt. Der Horns Riff liegt ziemlich weit südlich, etwas westlich
der Küste Jütlands, dort wo diese spornförmig nördlich der deutschen
Reichsgrenze ins Meer vorspringt ....
I
— 76 —
. . . Hier hat die Wissenschaft dem Unterseebootkriege wichtige
Fingerzeige gewähren können.
Besonders diesen. Es ist erfreulich zu wissen, daß der
Präsident der geographischen Gesellschaft in Geographie nicht
durchfallen würde. Aber daß die Männer der Wissenschaft sich
auch dann rufen lassen, wenn die Männer der Presse zu faul sind,
im kleinen Brockhaus nachzuschlagen, darüber hilft der größte
Seesieg nicht hinweg.
Lieblinge des Publikums
Die Nachricht von der großen Seeschlacht und von dem Erfolge
der deutschen Flotte ist in der verbündeten Monarchie mit lebhafter
Befriedigung aufgenommen worden. Die österreichisch-ungarische und
die deutsche Flotte gehören längst zu den Lieblingen des
Publikums. Um so herzlicher wird es der deutschen Flotte vergönnt,
daß sie Gelegenheit fand, sich in einer großen Seeschlacht ruhmvoll
ihren Platz in der Kiegsgeschichte zu sichern.
Wenn nur der Werner und die Zwerenz nichts dagegen haben!
Die englische Flotte hingegen
wacht über die Sicherheit und schützt das Kapital, daß es nicht verloren
gehe. Sie treibt Schulden ein, ist die Hüterin britischer Anlagen in
weiter Ferne .... Deshalb ist eine persönliche Beziehung zwischen jedem
Bürger und der Kriegsmacht zur See, der stillen Gesellschafterin
des britischen Kaufmanns, der Wächterin über die Ziffern des Haupt-
buches und der Bringerin sorglosen Schlafes .... Die Flotte ist die
Mitschöpferin der Weltherrschaft, der von den großen Dichtern
gepriesene Eichenwall rings um die heimatlichen Inseln ....
Mythologie
Adoption
von aktivem Mars gesucht.
Bedingung: über 42 Jahre alt,
adelig, gesellschaftlich hoch-
stehend. Nichtanonymes unter
,;Engadin 6537" an das
Ank.-Bur. d. Blattes.
n
Worauf sich eine kapriziert
Eine vermögende, distinguierte
Dame
mit intelligentem, sicherem
Berufe sucht eine ihrem Stande
entsprechende Heirat mit
einem Juden in mittl.
Alter. >Salambo<, Gazetta
Wieczorna, Lemberg.
Fremdwörter-Erraten
Junger, fescher
Arzt
sucht behufs Spezialisierung
und späterer Übernahme eines
Sanatoriums sehr vermögende
Dame zur sofortigen Heirat.
Lichtbild erwünscht. Anträge
erbeten unter > Zukunftsstern
L. 649€
Also eine Patientin gesucht. Aber nur keine Fremdwörter!
Ich würde statt Spezialisierung Sonderschwindel und statt Sanatorium
Krankengeschäft vorschlagen, dafür statt Lichtbild unbedingt
Photographie !
Die Provinz will nicht zurückstehen
Operettenlibrettl
mit herrlicher Poesie und lebens-
kräftiger Prosa und fascinierenden
Handlungen an tüchtige Komponisten
zu vergeben. Gefällige Zuschriften an
HanslMfiller, Linz, Walterstr. 2, 2. Stock.
Ja, hat denn jetzt jede Landeshauptstadt ihren Hans Müller ?
Da soll man nur beizeiten dazu schauen, daß nicht wieder dereinst,
wie beim Homer, ein Zuständigkeitskonflikt ausbricht!
— 78
Neues vom alten Korngold
Von Musik verstehe ich gar nichts. Aber ich habe kürzlich Vater
und Sohn Korngold in lebhaftem Gespräch mit ihrem als schmucken
Vorkämpfer des Kriegsarchivs verkleideten Librettisten gesehen,
und man wird doch nicht ernstlich von mir verlangen, daß ich
mich erst in ein so umstrittenes Gebiet wie die Musik einlassen
soll, anstatt nach meinem BlickJür Gesichter und Gebärden und
zumal für ein solches Zusammenspiel mir das Urteil zuzutrauen :
Und ob der Junge ein Talent ist! Hätte ich ihn allein gesehen,
so könnte ich ihn möglicherweise noch für ein Genie halten, da
ja ein solches oft die sonderbarsten Verkleidungen und Körper-
hüllen wählt, um die Menschheit zu überraschen. Aber jetzt könnte
ich als Gerichtssachverständiger für Kontrapunkt die Erklärung
abgeben, daß er ein Talent ist. Talent ist der unheimliche Trick der
Natur, das Individuum bis an die Schwelle der Schöpfung zu
führen und sich so gebärden zu lassen, als wäre es drin, aber
vermöge dieser Gabe, durch die es dem Genie den Ausgang in
die Welt verstellt, es auch so mit Musik zu füllen, daß es vor allem
in den Taschen klimpert. Talent hat deshalb bei den alten Griechen
und bei den alten Juden, die es sich zurückgelegt und bis auf die
heutige Zeit erhalten haben, während jene zugrundegegangen sind,
auch eine bestimmte, nur dem Talent erreichbare Geldsumme
bedeutet. Die Musik, die es von sich gibt, ist zugleich im Klang
der Rede enthalten, die es spricht, und wenn ich den nach der
flüchtigen Begegnung mit den Korngolds wiedergeben wollte,
würde man an meiner musikalischen Kompetenz nicht mehr
zweifeln. Trotzdem muß ich, soweit meine Erinnerung an Zeiten,
die ich nicht erlebt habe, reicht, offen bekennen, daß das Leben zwar
nicht so geräuschvoll war, aber doch noch mehr Musik hatte, als
der andere Wolfgang, der weniger gefeierte, mit seinem Vater und
dem Librettisten Schikaneder an der Ecke der Krugerstraße in ein
Gespräch vertieft war. Diese schmale Gasse im Handumdrehnzu einer
Hauptverkehrsader und zu einem Handelsemporium zu machen, wäre
ihnen sicherlich nicht'geglückt, und kein Ton hätte verraten, daß über-
haupt irgendeinmaldieZeit anbrechen könnte, woderMark-t die schwere
Identität solcher, die Wolle, und solcher, die Musik bringen, darböte.
Was den Schikaneder betrifft, so hat er zwar nicht so perfekt
— 79 —
schreiben können wie dieser Hans Müller, dessen Zeitgenosse zu
sein ein Gedanke ist, der mir manchmal beim Erwachen Schwierig-
keit macht und höchstens den Mut, den Schlaf mit beiden Fäusten
zurückzuhalten. Aber dafür konnte jenem auch in keiner Kritik
nachgesagt werden:
Alles jauchzt das bacchantische Liebeslied des Festes: »Aus
den Gräbern selbst die Toten tanzen heute Brust an Brust...«
Der »Taumel einer Karnevalsnacht in Venedig«, den ich
fürs Leben gern ohne die Erläuterung des Herrn Müller einmal
mitgemacht hätte, hat für mich nunmehr auch jeden Reiz ver-
loren. Was das andere Werk anlangt, so scheint es bereits außer
Mozart den Richard Wagner vom Repertoire verdrängt zu haben.
Wenigstens liest man:
Ist >Violanta< stellenweise im schweren Stil einer deutsch-
italienischen Oper geprägt, so ist im Ring der Stil einer behaglichen
deutschen Biedermeieroper getroffen; beides mit einer erstaunlichen
Selbstverständlichkeit und Sicherheit.
Alles treffen sie, glühend und biedermeierisch, und ob sie
so das ganze Trottoir des Lebens, den Bürgersteig, besetzt
halten und die Kunst freibleibend offerieren, ob sie wie immer
Kontra- und Rekontrapunkt ausspielen, sie gewinnen jede Partie.
In der Violanta machen sie's von unten, »im Ring« von oben.
Nibelungen- oder Schottenring? Nein, es ist nur vom Ring des
Teweles die Rede, einem Kleinod, das man getrost in die Flut werfen
soll — wetten, er kommt wieder hinauf und es stellt sich heraus,
daß er dem Fisch, der ihn frißt, im Magen liegen geblieben ist.
Aber wenn der Gast sich noch einen Funken eines ehrlichen,
durch keine Preßtyrannis, der alles untertänig, beeinflußten
Urteils erhalten hat, so wendet er sich mit Grausen.
Ein Versuch mit untauglichen Mitteln
[Druckfehlerberichtigung.] In dem im gestrigen Sonntagsblatte
veröffentlichten Artikel: >Beethoven als Bankaktionär« von
Dr. Max Reinitz, soll es in der zweiten Spalte statt »von ihm für
100 Gulden Papier (= 294 Gulden in Silber)« richtig: »für 1000 Gulden
Papier« heißen.
Das wird ihn den Großaktionären nicht näher bringen.
80 —
Von den Dingen im Himmel und auf Erden
[Tartaruga-Abend in der >Urania<.] .... veranstaltete
Tartaruga-Abend brachte sowohl in Bezug auf die Gediegenheit und
Reichhaltigkeil des Programms als auch auf den Besuch. . . . Texte von
Tartaruga. ... die ebenfalls Tartaruga-Lieder sangen. . . . Solovorträge
Tartarugas .... in dem aufregenden Sketch »Zehn Minuten Aufent-
halt« von Tartaruga. . . .
Aufhören! Urania, das weiß man, ist die Himmlische.
Aber Tartaruga — ist das so was wie eine Muse der Unterwelt?
Und wenn man schon weiß, daß dies Fremdwort nicht so
sehr eine der Musen, als vielmehr einen von ihr Geküßten
bezeichnet — was ist das: ein Tartaruga-Abend? Wir hatten
Benke-Abende; wir hatten Homunkulus-Abende, deren faustisches
Experiment sich immer wieder als ein Hereinfall erwies — aber
wir haben nicht gewußt, daß es einmal auch Tartaruga-Abende
geben werde! Rief zur Urania eine Stimme aus dem Tartarus,
wo ein abgestrafter Titan nicht weiß, was er mit dem ange-
brochenen Abend anfangen soll? Nein, es ist der Polizeikommissär
Ehrenfreund, der eine dichterische Ader hat, und das tut weh.
Name und Beruf des Vaters
(Graf Tolstoi,) ein Sohn des verstorbenen russischen Schriftstellers
Leopold Tolstoi war als russischer Kadett in Gefangenschaft geraten
und in Millwitz in Böhmen interniert worden. Nachdem er dort einige
mißlungene Fluchtversuche unternommen hatte, wurde er Ende der vorigen
Woche in das Kriegsgefangenenlager nach Braunau übergeffihrt.
Der Vorstoß des Pogatschnigg
Der Reichsbund deutscher Postler Österreichs erläßt die
folgende Mitteilung: Der reichsdeutsche Abgeordnete Hubrich, der dem
Sozialdemokraten Liebknecht in gerechter Empörung über dessen vater-
landsverräterische Worte das Manuskript wegriß und zu Boden schleuderte,
ist seinem Beruf nach Postbeamter. Der Reichsbund deutscher Postler
Österreichs hat ihm daher den folgenden Drahtgruß geschickt: Herrn
Hubrich, Mitglied des Reichstages und Generalsekretär des Verbandes
mittlerer Post- und Telegraphenbeamten, Berlin. Die Kunde von Ihrem
mannhaften Auftreten gegen die schädlichen und schändlichen Phrasen
81
Liebknechts hat uns hoch erfreut und wir entbieten Ihnen in treuer
Bundesbrüderschaft herzlichen kameradschaftlichen Heilgruß. Für den
Reichsbund deutscher Postler Österreichs: Paul Pogatschnigg, Obmann.
Wenn die deutschen Postler Österreichs sich um die
schnellere Beförderung sonstiger Kunden aus Deutschland nach
Österreich kümmern wollten, so wäre das sehr verdienstvoll. Dieses
Herumposteln ist jetzt etwas unerfreulich.
Immer feste druff
Aus der »Potsdamer Tageszeitung, Potsdamer Intelligenzblatt' :
Endlich hat ihn sein Schicksal erreicht. Freund Liebknecht,
der sich in seinem übergroßen Biereifer sein Grab endlich allein ge-
graben hat. So hatte die Armierungstätigkeit für diesen Helden auch ihr
Gutes gehabt und die Schipperwaffe segensreich gewirkt. Der Arm der
Gerechtigkeit hat diesen vaterlandslosen Gesellen in Feldgrau endlich
erwischt, der sich nicht genugtun konnte, sein Abgeordnetenmandat in
frechster Weise auszunützen und in landesverräterischen Gemeinplätzen
zu schwelgen. Eigentlich ist es zu verwundern, daß dieser
Schipper mit heilen Knochen aus Feindesland zurückkehren
konnte. Im Lager der Ententebrüder, sowohl bei den Engländern als
auch bei den Franzosen, hätte man einen solchen Burschen längst
verschwinden lassen, gerade wie jetzt in Irland, ganz abgesehen
von den offiziell zum Tode verurteilten, sicherlich noch mancher Un-
bequeme ganz still verschwinden wird, wie zum Beispiel der
brave Casement, den man schon in Schweden heimlich abmurksen
lassen wollte.
Wird es nach Friedensschluß noch möglich sein, die Lebens-
luft dieser Menschheit einzuatmen?
Die wahre Chronik
»Die bayrischen Löwen sind stark im Kampf, aber recht schwach
im Briefschreiben. Als ein drolliges Beispiel dieser bayrischen Eigenart
führt die , Kriegszeitung der IV. Armee' des Mossacher Oberhofbauern
Ältesten, den Hiesl Niedermaier, an, der .... die gesamte Chronik des
großen Weltkrieges kurz und bündig in fünf Feldpostkarten zusammen-
faßte. . . . Die erste dieser Karten kam .... aus Belgien und brachte die
frohe Kunde: ,Mir get's guat; 's ist ziemli warm!' Drei Monate später
kam die zweite. Aus den Argonnen: , Mir get's guat; naß is!' Die dritte
82
(mit dem Stempel des Lenzbeginntages 1915) brachte Nachricht aus
Galizien. Sechs Worte: ,Mir get's guat; i hob LäusI' Fünf Monate
später folgte die vierte. Aus der Gegend von Riga: ,Mir get's guat;
ein Ohrwaschel fehlt, elendige Bazi, die Russen!' Die fünfte und
letzte Karte, die Hiesl Niedermaier mit Hieroglyphen bemalte, roch
nach dem Balkan, trug das Datum des Heiligenabends 1915 und
meldete kurz, aber eindrucksvoll : , Mir get's guat; die Serben san alle!'«
Fleisch und Blut
Dem gutgenährten Bürgermeister von Wien wurde zur
Motivierung seiner Ehrenbürgerschaft das folgende ins Gesicht gesagt:
Sie sind der Bevölkerung in Fleisch und Blut übergegangen,
alle deine Werke, die der Kriegsfürsorge gewidmet sind: die Fürsorge-
zentrale im Rathause. ... die öffentlichen Ausspeisestellen und Nähstuben,
das wirtschaftliche Hilfsbureau. ... die Fürsorge für notleidende Künstler
und Handelsangestellte, die Errichtung von Depots zur Unterbringung
von Betriebsmitteln von verarmten Gewerbetreibenden, die Jugend- und
Lehrlingsfürsorge, die Hilfsaktion für die Kriegsflüchtlinge und so
vieles andere.
Besonders schwierig muß es für die Errichtung von Depots
zur Unterbringung von Betriebsmitteln von verarmten Gewerbe-
treibenden gewesen sein, der Bevölkerung in Fleisch und Blut
überzugehen. Ferner ist ihr aber auch noch das Kühl- und Gefrier-
haus in Fleisch und Blut übergangen, ferner ein Mühlenuntemehmen
und manches andere. Im Blut ist es noch nachweisbar. Im
Fleisch möchte sie's erst zu spüren bekommen.
Aus dem Gerichtssaal
In Wien wird jetzt rücksichtslos gegen Wirte vorgegangen,
die zum Beispiel für zwei poschierte Eier in Paradeissauce K 1.20
verlangen. Der Richter verurteilt einen solchen zu hundert Kronen,
der staatsanwaltschaftliche Funktionär meldet wegen zu niedriger
Strafe die Berufung an. Oder es verkauft einer eine Kartoffelsuppe
um 30 Heller. »Eine teure Portion Kartoffelsuppe. Nach fünfmaliger
Verhandlung gelangte heute . . . .« Strafe 50 Kronen. Einer wird
83
freigesprochen, wiewohl er für eine Portion Butter den »exorbitant
hohen Preis« von 40 Heller, für zwei Spiegeleier einmal eine Krone,
»ein anderes Mal wieder 80 Heller« berechnet hat; nach längerer
Beratung hebt der Appellsenat den Freispruch auf und verurteilt zu
2000 Kronen. Allmählich wird, da kein Tag ohne solche Urteile
vergeht, die Richtlinie erkennbar und die Mehrzahl der Wirte weiß
auch bereits, was sie zu tun haben, um dem Verdacht der Preis-
treiberei zu entgehen. Sie verlangen für zwei poschierte Eier in
Paradeissauce, für Kartoffelsuppe und für eine Portion Butter min-
destens das doppelte, vorsichtshalber das dreifache. Wenn man aus
dem Hexenkessel von Widersinn, in dem uns der Tag die Nahrung
für jeden Sinn bereitet, das Problem der Gasthausjudikatur heraus-
fischt, dann hat man oft den Eindruck, daß das Rechtsgut die
Preistreiberei ist, daß Wirte, die das Essen billiger abgeben als
andere in Friedenszeit, wegen unlauterer Konkurrenz verfolgt
werden und daß wegen zu niedriger Preise die Berufung ange-
meldet wird, während Wirte, die gleich bei Kriegsausbruch die
Salzgurke um K 1.40, zwanzig Kirschen um K 2.— und Pilzling
mit Ei um K 2.50 verkauft haben, seither Ruhe haben , . . Überhaupt
hat die Gerichtssaalrubrik ihre Reize durch den Krieg nicht ver-
loren: mag die Welt in Brüche gehn, Ehebruchsverhandlungen
sind noch immer die beste Kost, und wenn es von einer heißt:
»Einen interessanten Verlauf nahm«, und wäre sie selbst durch und
durch voll Ödigkeit, so kann man sicher sein, daß dann der
Name des Herrn Osio, der ja als Richter fast so beliebt ist wie
die Schalek als Dichter, uns überraschen wird, wiewohl sich diese
Gestalt sicher ebenso eindrucksvoll als Zeuge in lebemännischen
Prozessen verwenden ließe. Es gibt noch Richter in Österreich, aber
hauptsächlich doch den Osio, 's gibt überhaupt nur an Osio, und
dieses Unheils, das weniger Strafgericht als egyptische Plage be-
deutet, ist kein Ende. Wenn aber wider Erwarten etwas im Zivil-
gericht einen interessanten Verlauf nimmt, so kann man sicher
sein, auf den Namen Drawe zu stoßen. Denn überall haben die
Interessenten ihre Interessanten, unsere Leute ihre Leute, selbst
wenn die weniger von Geburt als aus Neigung zu unseren
Leuten gehören. Einen gefährlichen Rivalen haben diese höchstens
im Herrn Pick, dessen Urteile aber mehr nach der salomonischen
Seite hin ins Gewicht fallen. In Rußland sind »reaktionäre Maß-
— 84 —
nahmen« erfolgt, mit der Begründung, >es gebe jetzt Wichtigeres
zu tun, als sich mit jüdischen Angelegenheiten zu befassen«. Wir
hier können nur den Kopf schütteln und fragen, ob es denn
überhaupt Wichtigeres geben könne.
Aller Anfang ist schwer
»Gestern nachmittag beschäftigten sich mehrere Jungen auf dem
Kaiserplatz nächst der Franz Josefs-Brücke damit, einen »Schützengraben <
auszuheben. Plötzlich gab das Erdreich nach und die Erdmassen füllten
die Grube aus. Während sich die anderen Jungen rechtzeitig in Sicherheil
bringen konnten, wurde der 1 6 jährige Lehrling Franz Bayer, Kaiserplatz
Nr. 15 wohnhaft, von den Erdmassen völlig verschüttet. Man berief
die Feuerwehr und die Rettungsgesellschaft. Der Feuerwehr gelang es
nach kurzer Zeit, den Lehrling zu bergen. Er wies Erstickungserscheinungen
auf und war betäubt. Die Rettungsgesellschaft brachte ihn wieder zum
Bewußtsein. Dann wurde er ins Spital der Barmherzigen Brüder gebracht.«
Hoher Sinn liegt oft in kind'schem Spiel
, . . Schließlich gab der Angeklagte zu, daß ihn seine Frau
wiederholt aufmerksam gemacht habe, derartige Geschoßstücke
nicht nach Hause zu bringen, da die Kinder schon genug von
diesem Zeug haben. ». . . Ich hab' ja nur meinen Kindern eine Freude
machen wollen.« . .
Die Frau des Angeklagten gab als Zeugin an, sie habe ihren
Mann zweimal davor gewarnt, Geschoßstücke zu bringen, zuletzt noch
am Tage vor dem Unglück. ». . . Ich hatte sechs Kinder, drei habeu
bei der Explosion das Leben verloren, das vierte ist ein
armer Krüppel. < . .
Der Verteidiger meinte . . der Mann, der seine Kinder über
alles geliebt habe, habe die Geschoßstücke nach Hause gebracht,
um den patriotischen Sinn und das vaterländische Denken
seiner Kinder zu stärken. Er habe als armer Mann seinen Kindern,
denen er Freude bereiten wollte, nichts kaufen können und ihnen mit
den Geschoßstücken ein Geschenk gemacht, das ihn nichts gekostet hat.
Der Verteidiger bat deshalb, den Angeklagten, der von einem edlen
Beweggrund geleitet gewesen und der ohnehin verzweifelt sei,
freizusprechen ....
85 —
Das eben ist der Fluch der bösen Tat
»Vor dem Prager Landwehrdivisionsgericht wurde kürzlich
I n der Begründung wird darauf verwiesen, daß sich diefalschen
Anzeigen und die Erpressungen an den Angezeigten häufen
and daß viele Personen deshalb unschuldig in Unter-
suchung Icamen.«
Früh übt sich, was ein Meister werden will
»Am 29. Jänner kamen die Schulknaben Johann und Martin
Schröpfer aus Linz zu ihrer Großmutter Marie Ledwina in Alt-Possigkau.
Die Knaben ließen sich mit der Dienstmagd Barbara Lang in ein
Gespräch ein, in dessen Verlauf die Magd Äußerungen gemacht haben
soll, die das Verbrechen der Störung der öffentlichen Ruhe und das Ver-
brechen der Beleidigung eines Mitgliedes des kaiserlichen Hauses enthalten.
Noch am selben Tage wurde von diesem Gespräch mittelst
anonymen Schreibens der Gendarmerie die Anzeige gemacht.
Barbara Lang wurde verhaftet und hatte sich am 31. März vor dem
Landwehrdivisionsgericht in Pilsen zu verantworten. Während die An-
geklagte darauf beharrte, daß sie die Äußerungen nicht getan habe, und
ihre Rechtfertigung teilweise auch von ihrer Dienstgeberin, die bei dem
Gespräch zugegen gewesen war, bestätigt wurde, verharrten die beiden
Knaben bei ihren Beschuldigungen, wichen jedoch in Einzelheiten
mehrfach von ihren ursprünglichen Aussagen ab. Das Kriegsgericht
vermochte deshalb die Überzeugung von der Schuld der Angeklagten
nicht zu gewinnen und fällte ein freisprechendes Erkenntnis.«
Der Krieg der Geschlechter
Von der Geliebten denunziert.
Der vierundzwanzigjährige Ge-
schäftsreisende V. Studnicny hatte
sich vor dem Prager Landwehr-
divisionsgericht wegen Verbrechens
der Majestätsbeleidigung zu ver-
antworten. Er hatte zu seiner
Geliebten eine Äußerung getan.
Als er das Mädchen verließ, er-
stattete sie gegen ihn die
Strafanzeige. Studnicny wurde zu
zwanzig Monaten schweren Kerkers
verurteilt.
Selbstmord aus Angst vor dem
aus dem Felde zurückgekehrten
Manne. Die in der Brigittenau,
Marchfeldstraße Nr. 5 wohnhafte
35 jährige Anna K. sprang Dienstag
aus Angst vor ihrem aus dem Felde
zurückgekehrten Manne vom Dach-
fenster des vierstöckigen Hauses
in den Hof und starb bald. Vor
dem Selbstmord begoß die Frau
die Einrichtungsgegenstände iiirer
Wohnung mit Petroleum und zündete
sie an.
86 -
Eine Familienangelegenheit
In Raudnitz hat der Maschinenmeister JohanQ Kutzi-
bauch seinen Sohn erdrosselt und sodann vor eine Lokomotive
geworfen, die ihn zermalmte. Er beging diese Tat an seinem Sohne,
weil dieser ein Gewohnheitsdieb war und alle Ermahnungen nichts
fruchteten.
Das hätte der Vater an dem Sohne vor dem Krieg auch
nicht getan. Man mußte es vorher wissen und darum war er nicht
zu führen. Aber jetzt, spielt es eine Rolle? Es ist eine Familien-
angelegenheit. Eine Überschreitung des häuslichen Züchtigungs-
rechtes. Eine übertriebene Anwendung des pädagogischen Grund-
satzes, daß wer nicht hören will fühlen muß. Kutzibauchs Junge
wird sichs merken. Aber was hier der Vater tat: der Maschinen-
meister tuts jetzt täglich und allerorten. Nur daß es die vielen
Söhne anderer sind. Doch solange der Maschinenmeister nicht
sein richtiges Kind zermalmt, die Maschine — um die Stiefsöhne
muß ihm nicht bange sein.
Blutunterlauf ungen
Vor dem Bezirksgericht Josefstadt war gestern der Friseur Rudolf
Matuja und seine Frau Anna wegen Kindesmißhandlung angeklagt. Die Haus-
besorgerin Anna Laßman hatte nämlich bei der Polizei angezeigt, daß die
beiden ihre vierjährige voreheliche Tochter lieblos behandeln und derart
züchtigen, daß das Kind, wenn nicht Abhilfe geschaffen werde, in kurzer Zeit
zugrundegehen müsse! Der Polizeiarzt sah an verschiedenen Körperstellen
des Kindes von Mißhandlungen herrührende Striemen und Blut unter-
laufungen. In der Verhandlung erklärte die Frau, daß sie die Mizzi
nicht schlechter behandle als ihre beiden ehelichen Kinder, daß sie sie
jedoch mitunter arg züchtigen müsse, weil das Kind sehr unfolgsam sei.
Der Angeklagte gab an, er sei längere Zeit auf dem Kriegsschau-
platz gewesen, leide an Herzneurose, gerate deshalb leicht in Auf-
regung. Wenn das Kind Strafe verdiene, züchtige er es, aber nicht
übermäßig. Der Richter verurteilte die Angeklagten zur Stiafe des Ver-
weises und trat den Akt an die Pflegschaftsbehörde ab, damit sie für
entsprechende Unterbringung des Kindes Sorge trage.
— 87
Es ist ja bekannt, daß wir ein Gesetz haben, welches zwischen
lebenslänglicher Strafe für einen, der einer Frau eine Handtasche
zu entreißen versucht, und dem Verweis für diese selbst, wenn sie
ihr Kind mit Erfolg auf dem häuslichen Herd geröstet hat, Verstand
und Herz zum Narren hält. Wenn man nun bedenkt, daß das
ziemlich allgemeine Privileg, auf dem Kriegsschauplatz gewesen zu
sein, gleichwohl eine Umstülpung aller Lebensverhältnisse bewirken
und Grund sowohl wie Ausrede jeder Ungebühr bilden wird, so
kann man den ziemlich allgemeinen Nachteil, der den Kindern
heimgekehrter Väter, zumal den vorehelichen, in Aussicht steht,
schon heute mit schmerzlicher Bewegung abschätzen. Es wäre eine
kleine logische Entschädigung im Chaos, wenn sich die Gewalt
entschließen könnte, noch vor dem Friedensschluß — der
wirklich nicht nur für die Verdiener ein Risiko ist — ein
Gesetz zu diktieren, das Vätern, die sich für ausgestandene
Strapazen dereinst an den Kindern rächen wollten, statt eines Ver-
weises lieber den Galgen androht. Denn es wäre doch zu infam, daß
unter einer Menschheit, die es schließlich verdient hat, die Beute
ihrer demokratischen Ambition oder das Opfer ihrer törichten
Weltpolitik zu sein, die Unschuldigen am schwersten zu büßen hätten.
Wehe den Erwachsenen, von deren blutigem Spiel die Unter-
laufungen am Rücken der Kinder zeugen!
— 88
Desertion in den Tod
Ward auch die Wohltat noch versagt dem Elend,
Durch Tod zu endigen? Trost wars doch immer.
Wenn Jammer könnt' sich der tyrannschen Wuc
Entziehn, und ihre stolze Willkür täuschen.
Shakespeare, König Lear IV. 6.
Vor dem Prager Landwehrdivisionsgericht wurde am Mittwoch
ein düstertrauriger Fall verhandelt. Die dreißigjährige Dienstmagd Erna
Putzmann hat den Sohn eines Prager Professors erschossen. Sie liebte
den jungen Menschen, von dem sie ein Kind hatte, mit starker Leiden-
schaft und tötete ihn eigentlich, um ihn den Gefahren des
Krieges zu entreißen. Der junge Mann war Ende Juli 1914 ein-
gerückt, kämpfte in Serbien und in den Karpathen und kam Anfang
Mai des vorigen Jahres auf Urlaub nach Prag. In der Verhandlung er-
zählte die Angeklagte, der Ermordete habe ihr aus dem Felde schreck-
liche Sachen geschrieben, zum Beispiel, daß man den Gefangenen oft
den Kopf abhackt, und ähnliche Greueltaten. Auch habe er ihr nach
seiner Rückkehr erzählt, vor kurzem sei eine Granate in seiner unmittel-
baren Nähe geplatzt. Ein andermal sei knapp neben ihm eine Kugel
vorbeigeflogen und habe ein Brett durchbohrt. — Verhandlungsleiter:
Wenn die Kugel ein Brett durchbohrt, so ist das ja nicht
so gefährlich. — Die Angeklagte sagt, alle diese Bilder hätten sie
derart aufgeregt, daß sie beschlossen habe, mit ihrem Geliebten vor
seinem Abgang ins Feld zu sterben. In der Nacht vor der Tat habe sie
die Briefe geschrieben und einen Rosenkranz gebetet. — Verhandlungs-
leiter: Woran haben Sie gedacht beim Beten? — Angekl. : Ich hab' nur
daran gedacht, daß ich mit ihm sterben will. — Verhandlungsleiter:
Ist Ihnen nicht beim Beten eingefallen, daß es eine Sünde wäre, wenn
Sie ihn erschießen? — Angekl.: Nein. — ... Verhandlungsleiter:
Erzählen Sie uns, was Sie weiter gemacht haben, nachdem Sie mit ihm
vor der Tat zusammengekommen waren. — Angekl. (schluchzend) : Wir
sind eine Weile zusammen gestanden und haben einander geküßt. —
Verhandlungsleiter: Und weiter? — Angekl. (heftig weinend): Dann
habe ich losgedrückt. — Verhandlungsleiter: Was geschah dann? —
Angekl.: Dann habe ich mich selbst erschießen wollen. Ich
hab' mich aufs Bett gelegt und hab' noch einmal mit aller Gewalt mich
erschießen wollen, es ist aber nicht gegangen. Dann ist der Heizer ge-
kommen und hat mir den Revolver weggenommen. — Verhandlungs-
leiter: Haben Sie sich gewehrt? — Angekl.: Ich hab' mich fest gewehrt
und hab' ihm gesagt: >Um Gottes willen, haben Sie Mitleid, lassen
Sie mir den Revolver l< — Verhandlungsleiter: Dann sind Sie zum
Fenster hinausgesprungen. Wohin sind Sie gegangen^ Angekl.:
Ich bin zur Palackybrücke gelaufen und stromabwärts gegangen. —
Verhandlungsleiter: Und dann haben Sie sich ins Wasser gestürzt.
— Angekl. : Nein, ich bin in ein Haus gegangen und wollte hinauf auf
89
den Boden. — Verhandlungsleiter; Was wollten Sie dort machen? —
Angekl. : Ich wollte michaufhängen. — Verhandlungsleiter : Also der
Boden war zugesperrt. Was haben Sie dann gemacht? — Angekl.: Ich
bin die Stiegen wieder hinuntergelaufen und in den Keller hinein. Dort
habe ich mich mit dem Unterrockbandel aufhängen wollen. — Ver-
handlungsleiter: Woran wollten Sie sich erhängen? — Angekl.: Es war
ein Holzverschlag dort. — Verhandlungsleiter: Und wieso sind Sie
wieder hinausgekommen? — Angekl.: Ich habe draußen eine Frau rufen
gehört: >Wer ist da?< Darauf hab' ich mich losgemacht und bin davon-
gerannt. — Verhandlungsleiter: Was war weiter? — Angekl.: Ich bin
in der Nähe der Sophieninsel ins Wasser gesprungen. — Ver-
handlungsleiter: Wissen Sie, was später mit Ihnen geschehen ist? —
Angekl. : Ich hab' die unangenehmen Wasserschlucke gemacht und dann
bin ich gleich eingeschlafen. — Verhandlungsleiter: Wann sind Sie
wieder zu sich gekommen? — Angekl.: Im Krankenhause. — Ver-
handlungsleiter: Hat Ihnen dann die Tat nicht leid getan? — Angekl.:
Ich war so unglücklich. Ich hab' mit ihm zusammen sterben wollen. —
Wie der Gefangenhausarzt aussagte, habe die Angeklagte Strangu-
lierungsstreifen am Halse aufgewiesen, die vierzehn Tage später
noch deutlich sichtbar waren. Er hält einen Selbsterdrosselungs-
versuch der Angeklagten für sehr wahrscheinlich. Sie hat im Gefängnis
mehrmals Selbstmordversuche unternommen.Einmal hat sie versucht,
sich mit Glasscherben, einmal mit einer Haarnadel am Unter-
schenkel Adern zu öffnen, um zu verbluten. Die Angeklagte
bat wiederholt, er solle ihr dazu verhelfen, daß sie bald
hingerichtet werde. Der Gerichtshof beschloß, über den Geistes-
zustand des unglücklichens Mädchens ein Gutachten der Pragef
Universität einzuholen und bis dahin die Verhandlung zu vertagen.
Wenn man dereinst noch den Mut haben sollte,
Kindern und Kindeskindern etwas zu erzählen, so möge
man unter allen Heldentaten diese verbürgte auswählen !
90
Die Fundverheimlichung
Wien, 26. April. (Das Ende eines zugelaufenen Hundes.)
Der 19jährige Straßenbahnschaffner Josef Schüch hatte sich heute vor dem
Bezirksrichter Dr. Fialla (Josefstadt) gegen eine durch ihre Begleit-
umstände merkwürdige Anklage wegen Fundverheimlichung
zu verantworten. Nach einer vom Volksschullehrer Franz Wltschek er-
statteten polizeilichen Anzeige soll der Beschuldigte ^m 6. März einen
ihm auf der Straße zugelaufenen Hund, der sehr groß war, in seine
Wohnung mitgenommen, daselbst am nächsten Tage mit einem Stocke
erschlagen, kunstgerecht zerlegt und dann das Fleisch gekocht und ge-
meinsam mit seinem Onkel, dem Offizial Franz Schüch, verzehrt haben.
Der Angeklagte erklärte in der heute durchgeführten Verhandlung,
daß er während seiner Dienstfahrt auf der Elektrischen von mehreren
Fahrgästen auf den Hund aufmerksam gemacht wurde, der während
der Fahrt auf die Elektrische aufgesprungen war. Er habe den Hund,
der ohne Btißkorb und Marke war und ganz verwahrlost aussah, vom
Wagen weggejagt. Der Hund sei jedoch der Elektrischen stets nach-
gelaufen und sei schließlich, als er am Abend den Dienst verlassen
hatte, bis in seine Wohnung nachgefolgt. — Richter: Was haben Sie
dann mit dem Hund gemacht? — Angekl.: Aus Mitleid habe ich den
Hund, der ganz abgemagert war, in meine Wohnung genommen und
ihn zunächst ordentlich gefüttert. Am nächsten Tage habe ich dann den
Hund, weil er meine Wohnung verunreinigte und auf mich losgehen
wollte, aus Angst mit einem Beil erschlagen, habe dann den Hund
kunstgerecht zerlegt und die einzelnen Stücke nach und
nach in dem Zimmerofen verbrannt. — Richter: Sie sollen den Hund
verzehrt haben? — Angekl.: Ich werde doch das Fleisch von einem
solchen Hunde, der ein gewöhnlicher Köter war und Zeichen
von Räude hatte, nicht essen.
Auf den Vorhalt des Richters, warum er den Hund nicht einfach
auf die nächste Wachstube gebracht hatte, erwiderte der Angeklagte:
Daran habe ich nicht gedacht.
Der Zeuge Franz Schüch, der Onkel des Angeklagten, gab an,
daß letzterer in seiner Gegenwart den Hund erst durch Schläge mit
einem Pracker betäubt und dann, da er gestöhnt habe, vollends mit
einem Beil erschlagen habe. Als der Hund tot war, habe der Neffe gleich-
falls in seiner Anwesenheit den Kadaver tranchiert und die einzelnen
Stücke im Ofen verbrannt. — Richter: Es wird behauptet, daß Sie und Ihr
Neffe den Hund gegessen haben sollen? — Zeuge: Ich werde doch
als Mann von sozialer Stellung kein Hundefleisch essen. —
Richter: Das ist Geschmacksache. — Zeuge: Der Hund hatte
überhaupt keine Rasse gehabt. Er war ganz abgemagert
und schäbig.
In drastischer Weise schilderte die Zeugin Theresia Reinisch, eine
Nachbarin des Angeklagten, das traurige Ende des Hundes. Sie erklärt,
daß der Hund erst fürchterlich gequietscht, dann leise gestöhnt habe.
91 —
Sie habe in die Wohnung des Angeklagten durch ein Gangfenster sehen
können und beobachtet, wie der Angeklagte dem Hund die Haut abge-
zogen und ihn dann in kleine Stücke zerlegt habe. — Richter (zur
Zeugin): Wissen Sie auch, ob der Angeklagte und sein Onkel den Hund
gegessen haben? — Zeugin: Das habe ich nicht gesehen, aber die
Frau Schüch hat mir auf meine Frage, was mit dem Hund eigentlich
geschehen sei, gesagt: »Der Seppl« — das ist der Angeklagte — >hat
ihn gekocht und gegessen.« Ich habe darauf erwidert: >Das ist gemein,
und es wundert mich, daß so was gebildeten Menschen erlaubt ist.«
Die als Zeugin vorgerufene Frau Marie Schüch, die Tante des
Angeklagten, erklärte, sich der Zeugenaussage gegen ihren Neffen ent-
schlagen zu wollen.
Der als Zeuge vernommene Volksschullehrer Franz Wltschek gab
an, daß ihm die Nachbarn der Familie Schüch sehr aufgeregt die
Geschichte vom Hund erzählt und unter anderm angegeben hätten, daß
der Angeklagte das Fleisch bei der Wasserleitung gewaschen und dann
im gekochten Zustande mit seinem Onkel gegessen habe. Auf die
Frage des Richters an den Zeugen, wie der Hund lebend ausgesehen
habe, erwiderte der Zeuge; Ich habe den Hund nicht gesehen, aber
eine Trafikantin, bei der Herr Schüch mit dem Hund war, bemerkte:
»Das ist aber ein schöner Hund«.
Der Richter konstatierte aus dem Akt, daß sich bisher der
Eigentümer des Hundes nicht gemeldet habe.
Der staatsanwaltschaftliche Funktionär Auskultant Dr. Herzl
beantragte die Bestrafung des Angeklagten wegen Fundverheimlichung,
da er nach dem Gesetze verpflichtet gewesen wäre, von dem ihm zuge-
laufenen Hunde bei der Polizei die Fundanzeige zu machen.
Der Richter sprach den Angeklagten frei mit der Begründung,
daß der ohne Beißkorb und Marke dem Angeklagten zugelaufene Hund
als eine herrenlose, von dem früheren Eigentümer jedenfalls
preisgegebene Sache anzusehen ist.
Wenn dieses hier, wie es ist, aus dem Blatt, das
die deutsch -österreichische Kultur vertritt, in Times,
Figaro, Nowoje Wremja oder Corriere della Sera über-
geht, so ist es die größte Greuellüge, die je über uns
erfunden wurde. Wenn es als Bericht über eine
Gerichtsverhandlung in London, Paris, Petersburg oder
Rom erschiene, wär's der unwiderleglichste Beweis
für den kulturellen Zusammenbruch der dort hausenden
Nationen. Es ist ein Fall, in welchem die noch auf den
Trümmern des Menschentums quälende Auseinander-
setzung zwischen Mensch und Tier mit der Stummheit
des Tiers zum Himmel schreit, Rache, Pest und Sint-
flut herabfordernd auf eine entartete Abart von Tier,
92 —
die nur zwei Beine hat, doch zwei Arme
zum Morden. Nicht daß Fleischnot den Menschen,
unter dessen Messer ja auch Kalb und Huhn
nicht mit dankbarem Blick verscheiden, zwänge, vom
Hund zu essen, ist das Entsetzliche, und der Witz des
Richters, es sei Geschmacksache, mag der logische
Ruhepunkt sein, von dem man schaudernd dieses Wirr-
sal des Gefühls überblickt. Daß ein Offizial und ein
Tramwaykondukteur es als gebildete Menschen ableh-
nen oder es mit ihrer sozialen Stellung unvereinbar
finden, das Fleisch eines rasselosen Hundes zu essen —
das ist wohl eine Möglichkeit innerhalb der Ordnung
dieses Planeten, verständlich dem, der sich dort zur
Not eingerichtet hat. Das Grauen beginnt bei der
Unschuld. Bei der Glaubhaftigkeit der Versicherung,
der Hund sei nicht für den Appetit geschlachtet
worden, und bei dem Zugeständnis, daß es mit den
Standesvorurteilen vereinbar sei, einen Hund zu
tranchieren, den man nicht essen möchte. Wäre das
kunstgerechte Zerlegen nicht l'art pour l'art gewesen,
sondern die Tat des Hungers, der Mensch hätte tierisch
gehandelt, und das wäre in der Zeit der schweren
Not entschuldbar, wo Menschen nichts zu essen
haben, weil Menschen geschlachtet werden, damit
Menschen mehr zu essen haben. Da es nicht der
Fall ist, so hat der Mensch nur menschlich gehandelt.
»,Das wildste Tier kennt doch des Mitleids Regung.'
,Ich kenne keins, und bin daher kein Tier.'« Menschlich
ist die Anklage auf Fundverheimlichung; menschlich
Laune und Fragestellung des Richters, der den Wert des
Funds nach der Eignung zum Lebensmittel, diese nach
der Angabe schätzen will, »wie der Hund lebend ausge-
sehen habe« ; menschlich der Freispruch mit der Begrün-
dung, der herrenlose Hund sei eine preisgegebene Sache
gewesen; menschlich der Bericht, der die Sachlichkeit
der Beschreibung durch die Objektivität der Meinung
ergänzt, es sei »eine durch ihre Begleitumstände merk-
würdige Anklage wegen Fundverheimlichung«. Mensch-
93
lieh alles an dieser Tragödie, in der — über alle noch
so tieftraurige Begebenheit hinaus, die heute den
Menschen im ohnmächtigen Kampf gegen die von ihm
verschuldete Maschine den Tod sterben läßt, welchen man
Heldentod nennt — das Tier den wahren Opfertod der
Treue erleidet, der Treue als der zum Tier geflohenen
Eigenschaft, die wieder Schutz sucht beim Menschen,
unbehütet vom menschlichen Verstand und darum ohne
Wissen um die Gefahr, ohne Arg, ohne Witterung, daß
eben er sein Mörder sei. Um der Treue als Idee willen,
ihr bis zum letzten Atemzug treu, fällt das Tier in dem
einzig tragischen Konflikt zwischen der Lust, zu leben,
und der Pflicht, das letzte Pfand des Schöpfers aus
der vom Menschen verratenen Schöpfung zu retten.
»Kreatur«, im Mund des Menschen zum Schimpf ge-
worden, läuft ihm, wie die bewußtlose Natur des
Weibs dem Lustmörder, zu, und er tötet sie — wie der
nicht aus Raubsucht — aus Hunger nicht, sondern für
die Lust, die ihm die Überlegenheit gewährt.
Schwein, Esel, Ochs und Hund — Schimpfworte, um
seinesgleichen, die tief unter jenen Gattungen stehen,
zu bezeichnen, hat der Mensch daraus gemacht. Aber
Schopenhauer hätte seinen Hund nicht »Mensch«
rufen sollen, wenn er den Hund doch erhöhen und den
Menschen herabsetzen wollte. Armeen brauchen Hunde
und rufen sie als ihre »treuen, braven und unentbehr-
lichen Helfer« an. Sie der Maschine aussetzen, heißt
Unwissenheit über die Idee zum größeren Opfer ver-
pflichten. Nur das Tier, das dem Menschen erliegt, ist
der Held. O daß doch die Menschheit in einen Traum
verfiele, in dem sie vor Lastwagen gespannt und von
klugen Pferden, die schon Hü und Hott erlernt haben,
mit der Peitsche vorwärts getrieben würde ! In dem
der räudige, schlechtrassige Mensch einem Hund zu-
läuft, weil sein verkommener Instinkt in ihm den letzten
Retter ersehnt, und von ihm dafür kunstgerecht tranchiert
wird ! Wann tötete je der Hund den Menschen ? In
einen Schacht gestürzt, von Hunger zur Tollwut ge-
— 94
trieben, wenn ihm dortliin ein Verunglückter nachkam,
biß er ihn und ließ dann von dem Fund. Der hier
springt, den verlornen Herrn in jeder Gestalt suchend,
auf eine Maschine und muß am Biß des tollen
Menschen sterben. Er glaubte sich nahe am Ziel,
er sprang, wie Hunde selten tun, auf die Straßenbahn;
er wird verjagt, springt wieder auf, verläßt den Mann
nicht mehr und folgt ihm in die Wohnung. Weil er ihm
die verunreinigt und weil er auf ihn losgehen will, der
Ordnung h.-^lb und halb aus Angst, erschlägt ihn jener
mit dem Beil. Aus Mitleid habe er ihn aufgenommen,
dazu kam Furcht, das gibt ein Trauerspiel. Nachdem er
ihn erlegt, zerlegt er ihn und Stück für Stück bestattet
er im Ofen. Der Ordnung halb und halb aus Lust. Ich
sah ihn oft. Solch einer, der keiner Fliege ein Haar
krümmen kann, sitzt einem vis-ä-vis im Zug und schlägt,
damit die Fahrt schneller vergeht, mit seiner Schlächter-
pratze eine tot. Totschlag der Zeit, die nicht vorüber-
fliegt, nur kriecht und justament am Fenster sitzt, bloß
für ein Weilchen, das den Tod ihr bringt. Patsch — und
lacht. Trifft ihn der Schlag, so jammern die Verwandten.
Ich saß ihm gegenüber, er fragte, ob er die Zeitung nehmen
dürfe, aber er fragte nicht, ob es erlaubt sei, die Fliege
zu töten. »Seitdem erfuhr ich mehr; was Fliegen sind
den müß'gen Knaben, das sind wir den Göttern; sie
töten uns zum Spaß.« Hätte ich die Wahl gehabt, über
ihm oder der Fliege Schicksal zu sein, ich hätte gewählt!
Wie es da auf dem Fenster lief, war's ein Mechanismus,
den er nicht erfinden konnte. Sein Stolz verträgt es
nicht, es kränkt ihn, wenn er's gleich nicht weiß. Fliegen
kann er auch, aber das Unnütze stört ihn, und über-
legen ist er den Tieren, weil er vor all seiner Stummheit
ihre Sprache nicht hört. Hätte ich die Wahl ge-
habt, einen Hund oder dessen Schlächter zu tranchieren,
ich hätte gewählt! Aber in dem großen Schlachthaus,
in das wir geboren werden, ist der Hund, der seinen
Herrn sucht, nur der Fund des andern, und ein Recht,
das die Folterung von Kindern gewährt, erlaubt die
95 —
Massakrierung von Hunden. Er war sehr groß,
doch dunkler Herkunft und schlecht genährt. Er war
eine preisgegebene Sache. Nun, die ihr richtet über
Menschen und Hunde, hört: Solch eine Sache kann
vieles, was ein Mensch nicht kann. Solch eine Sache
kann ihm all das sagen, was niemals er zur Sache
sprechen könnte. Unsäglich leidet sie um ihn, sucht
ihn ihr Auge, durch das allein sie es ihm sagen kann,
der es versagt ist, es ihm anzusagen, der Gott, zu
schweigen, was sie leidet, gab; unwissend, ob sie preis-
gegeben ist, stets preisgegeben ihrem Menschen-
glauben, traut sie uns auf ihr ehrliches Gesicht!
Solch eine Sache trägt jede Bürde des Gefühls, die
das Bewußtsein uns erleichtern hilft. Man sieht sie
sitzen, aber niemand ahnt, daß in der Sache eine Seele
sitzt, daß ein Gefühl jetzt schmerzt, daß eine Hoffnung in
ihr jetzt treibt, ihr aufgetragen hat, just an der Stelle
hier zu warten. So sitzt sie wartend hier vor einem
Bahnhof, wo ihre Herrin — denn die Sache war ein
Hund — davongefahren ist vor ein paar Stunden . . . Als
man Abschied nahm, schritt die Sache, der Hund, groß,
traurig und ergeben, hinter dem Begleiter den Berg-
hang hinauf, blieb immer wieder stehn und sah zurück.
Noch sieht man sie; nicht anders geht ein schweres Herz.
Bald ist die Sache verschwunden dem Blick . . . Bald
ist sie entschwunden dem Hüter. Sie wird gesucht,
gefunden: an der Bahn — denn jetzt ist ungefähr
die Stunde, daß einst die Herrin angekommen war. Nun
kommt sie nicht. Enttäuscht verschmäht die Sache
jede Nahrung, selbst sonst geliebte Leckerbissen. Wendet
sich ab von allem, was sie tierisch je begehrt, gibt
sich dem Hunger preis; verzehrt sich selbst. Nach
ein paar Tagen führt man den Hund zur Bahn, denn
eine Freundin, die mit der Herrin fortgereist war, kommt.
Sie selbst kommt nicht. Er aber rührt sich nicht vom Fleck,
blickt auf den Wagen nur und sucht und sucht. Er ißt noch
immer nichts, nimmt etwas Milch nur an, so viel gerade
nötig, um nicht am Leid zu sterben. Das geht so
— 96
eine Woche lang. »Er war ganz abgemagert«,
sagt der Zeuge. Arsen, Einsicht ins Unabänder-
liche, Gewöhnung an die stellvertretende Güte bringen
ihn wieder hinauf. Man hört es wie ein Märchen,
Schulkindern erzählt, die ihr beginnendes Menschen-
tum nicht im Schützengrabenspiel verschütten und
noch aufhorchen können, wenn Beispiele sittlicher
Haltung ihnen dicht ans Herz gerückt werden. Seht
doch nur hin! O du erhabnes Vorbild in dieser Zeit
profaner Hungersnot! Von deinem Hunger trenn' ich
mich nicht mehr. Es risse einen von der Menschheit weg,
war' man nicht längst schon über alle Berge. Dort lebt ein
Hund. Gott hör's: Der Menschenehre ersten Preis, der
Ehre, die sich preisgegeben hat, sich selber preis-
gegebner Menschheit Preis geb' ich dem Hund!
Und die Andacht möchte nicht mehr fort von der
Stelle, wo das wartende Tier, für eine halbe Stunde herren-
los, länger verlassen, dasitzt, und will die Hand über der
Sache, dem Fund, dem Hund halten, damit ihn nicht der
Mensch, der Schinder finde, verheimliche, der noch nie
aus Sehnsucht gehungert hat, der das Fleisch dieses
Hundes nur verschmäht, weil es gramverzehrt ist, widrig
dem Geschmack und Stand des Mörders, und der dieses
Gottesgeschöpf dennoch töten würde, weil es ein Tier ist,
und er, er, ein Mensch!
KARL KRAUS
VORTE IN VERSEN
LEIPZIG
iRLAG DER SCHRIFTEN VON KARL KRAUS
(KURT WOLFF)
19 16
Druck der Offizin W. Drugulin
In Leinen gebunden Mk. 4.—
Bfitten-Ausgabe vergriffen
HALT der vorigen dreifachen Nummer 423-425, 5. Mai 1916:
e letzten Tage der Menschheit / Ein Prophet / Verkündigung /
ichriften / Notizen / Briefe Adalbert Stifters / An einen alten
hrer / Gruß an Bahr und Hofmannsthal / Feldpostbrief /^i
Kleiner Konzerthoussaal
(ill. Lothringerstraße 20)
SAMSTAG DEN 17. JUNI 191C
PRÄZISE HALB 8 UHR
VORLESUNG
KARL KRAUS
KARTEN zu K 1Ö-— , 8.—, 6.—, 4.—, 2.-, 1.— an
Konzerthauskassa, IIB. Lotlirins@?straAe 20, bei
Kehlendorfer, I. Krugersftraße 3 und in der
Buchhandlung Friedlaender, Kärntnerstraße 44
[Ein Teil cSes Ertrages wird Vereinen für Kinderschutz und fü
Tiersciiutz zugewendet)
^m. 431—436 AUGUST 1916 XVIIL JAH
DIE FACKEL
HERAUSGEBER
KARL KRAUS
INHALT:
Feiertage / Hunde, Menschen, Journalisten / Giosseii / Diplomater
Notizen / Solche Kontraste gibt's nur an der Front / Von eine
Mann namens Ernst Posse / Glossen / Die Laufkatze / Grana
gegen Sterne ^
Mit einer Illustration
NACHDRUCK VERBOTEN
Preis dieses Keftes:
1 Krone 80 Heller = 1 Mark 50 Pf.
Ti7T7DT K r\ . r\TC T? A OT/T7T • IvrfTTlLT
'Bruöeröorf 1915
2tltor in 6er Jlotlirc^e, ^crgeftcttt aus (Sranats unö ec^tapneUftüden
Deutsche Ansichtskarte
(Verlag Fritz Knecht)
DIE FACKEL
Nr. 431—436 2. AUGUST 1916 XVIII. JAHR
Feiertage
>. . . Bereits am Himmelfahrtstage seien in Bar-le-Duc Bomben
mitten in die Volksmenge gefallen, die sich mittags bei der
Ankunft des Pariser Zuges immer zu versammeln pflegt. 50 Personen
seien getötet und 80 verwundet worden .... Die Aufregung über
den Angriff auf die unbefestigte Stadt sei furchtbar und habe
mehrere Tage gedauert.«
». . . Am 22. d. war Fronleichnamstag . . . Das schwerste
Unheil richteten die Bomben am Festplatz von Karlsruhe an,
wo die Menagerie Hagenbeck einen Anziehungspunkt bildete ....
Getötet wurden 110 Personen; verletzt wurden 147 Personen ....
Die Erbitterung über den zwecklosen Angriff auf die offene Stadt
ist allgemein und tief.«
*
». . . Aber die nutzlose Bosheit, die an Frauen und Kindern
von französischen Fliegern verübt wurde, das Morden als Selbst-
zweck, die Roheit im Gewände einer Kriegshandlung ist ein
besonderes Ereignis, gegen das niemand abgestumpft sein kann. . .
Wir möchten die nicht Offiziere nennen, welche die Bomben in
Karlsruhe auf harmlose Frauen und Kinder, auf die Zuschauer
vor einer Menagerie geworfen haben. . . Wenn die Zeppeline über
Paris schweben und Bomben herunterschleudern, so ist das Ziel
eine militärische Anlage, so ist der Wille darauf gerichtet, den
Feind in seinen Vorkehrungen zum Kriege zu treffen, Bahnhöfe,
Geleise und militärische Gebäude zu zerstören. . . . Die Zeppeline
haben wiederholt Fahrten nach London unternommen. Niemals
hat jedoch einer ihrer Befehlshaber auch nur daran gedacht,
Bomben auf Schauspielhäuser oder ähnliche Erholungsstätten, wo
friedliche Menschen sich zu harmlosen Vergnügungen zusammen-
finden, zu schleudern Schon die Erziehung schließt bei ihm
jede Versuchung aus. Wehrlose durch eine' Waffe zu treffen. Es
macht gar keinen Unterschied, ob ein Soldat ruhige Spaziergänger
in der Straße mit der Pistole in der Hand niederstreckt oder aus
dem Lufträume durch Bomben absichtlich schwer verwundet, daß
sie qualvoll zugrunde gehen oder in Stücke gerissen werden und
das Pflaster mit ihrem Blute röten. Für das Außerordentliche des
Krieges braucht jeder Offizier, den die Pflicht anweist, Leben nicht
2 —
zu schonen, die innere sittliche Überzeugung, daß er militärischen
Notwendigkeiten gehorcht und nicht etwa die ihm anvertraute
Macht dazu gebraucht, den Hang zur Grausamkeit zu befriedigen
oder unter dem Vorwande des Krieges seinen nationalen Haß
auszutoben. . . . Ein österreichisch-ungarischer oder ein deutscher
Flieger schleudert keine Bomben gegen Frauen, mögen sie
Fürstinnen sein oder nicht. Es ist gar nicht auszudenken,
wie ein Mensch beschaffen sein und bis zu welchem Grade er den
Rechtssinn verloren haben muß, bis er sich entschließt, auf eine
Festversammlung zu lauern und die dichten Reihen durch seine
Bomben auseinanderzusprengen. . . .«
Die Predigt
>. . . Es ist deshalb auch nicht nur das Recht«, sagte
Pastor Philipps, »sondern unter Umständen sogar die Pflicht
gegen die Nation, mit Kriegsbeginn Verträge und
was es sonst auch sein mag, als, Fetzen Papier'
zu betrachten, die man zerreißt und ins Feuer
wirft, wenn man die Nation dadurch retten kann. . . .
Krieg ist eben die »Ultima ratio«, das letzte Mittel
Gottes, die Völker durch Gewalt zur Raison zu bringen, wenn
sie sich anders nicht mehr leiten und auf den gottgewollten
Weg führen lassen wollen. Kriege sind Gottesgerichte und
Gottesurteile in der Weltgeschichte. . . . Darum ist es aber
auch der Wille Gottes, daß die Völker im Kriege alle ihre
Kräfte und Waffen, die er ihnen in die Hand
gegeben hat, Gericht zu halten unter den Völkern, zur vollen
Anwendung bringen sollen. ... Darum mehr Stahl ins
Blut! Auch deutsche Frauen und Mütter gefallener Helden
können eine sentimentale Betrachtungsweise des Krieges nicht mehr
ertragen. Wo ihre Liebsten im Felde stehn oder gefallen sind,
wollen auch sie keine jammerseligen Klagen hören. Gott will
uns jetzt erziehen zu eiserner Willensenergie und äußerster Kraft-
entfaltung. Darum noch einmal: Mehr Stahl ins Blut!«
Welche ultima ratio! Der Mensch am Feiertag,
der Erbauung durch das höhere Wesen gewärtig,
blickt hinauf: Zerstörung kommt! Was zur
Entscheidung reift, ist die Frage, ob Jaguare und
Leoparden, wenn sie aus irgend einem Grund
einander zerfleischen wollten, auf die Idee verfielen,
auch die Mütter und Jungen mitzunehmen, und ob
ihre Triebe durch die Erwägung entfesselt würden,
daß die Gegend befestigt sei. Feiertage haben sie
nicht. Welch eine Stunde der Menschheit!
— 3 —
Hunde, Menschen, Journalisten
Strzebowitz, 16. Juni 16
— - — Ich danke Ihnen. Es wird einem das Bewußtsein, Zeit-
genosse zu sein, weniger schmerzlich.
Ich habe es kürzlich in meinem Dorf erlebt, daß 50 arme
zuckende Hundeleiber von Schlächtern totgeschlagen worden sind.
Der Schuß kostete 20 Heller und kein Hundebesitzer
opferte die 20 Heller, jeder überließ die Hinrichtung dem Stock.
Meine Adjunktin sprang auf den Qensdarm und den Lehrer
los und schrie: »Und ihr duldet das?« Worauf der Qensdarm
lachend sagte: >Im Krieg gehts auch nicht anders zu.«
»Hunde oder — Kinder?« Von Stefan Großmann.
(Vossische Zeitung, 11. Juni, Prager Tagblatt, 22. Juni)
Der Hund in der Stadt .... war mir stets ein Greuel. Auf
dem Lande lasse ich mir den Hund gefallen . , . . Ein Hund vor
einem einsam gelegenen Landhaus, ein Hund bei einer Alpenhütte
im Gebirge, der Hund des Schäfers und der Hund des Jägers,
da sagt man natürlich Ja und Amen ....
Ich würde mit einem Manne, der tagsüber in seiner Wohnung
das Gezappel und Gezerr, das Geschnupper und Zwischen-die-Beine-
Laufen eines ewig beweglichen Rattlers um sich duldet, kein ernstes
Geschäft abschließen Mit Menschen, die mit einem Hündchen
leben, das in einem Ärmel oder in eine Seitentasche versteckt werden
kann.... würdeich kein ernsthaftes Gespräch führen können
Wie kann ein ernster, zurechnungsfähiger Mensch diese
Unsummen unproduktiver Arbeit täglich verrichten ....
Doch, ich bin gemütlos, ich empfinde das Anspringen der
Hunde, ihr Ablecken als Zeichen der Liebeserklärung, ihr
schmutziges Betatzen nur als Behelligung .... Damen, die sich
hüten würden, je einen Bissen gebratenes Fleisch mit den Fingern
in den Mund zu schieben, sah ich schon mit Hunden spielen,
von ihrem Speichel beleckt, von ihrer kalt-nassen Nase be-
schnuppert werden. Das ist eben die Liebe.
Und damit bin ich bei der Kernfrage, die ich anschneiden
wollte. Die Hunde sind deshalb vielen Menschen so unentbehrlich
geworden, weil sie, zeitgemäß gesprochen, das landläufige
Menschen-Ersatzmittel darstellen. . . .
Es wäre gewiß grausam und ungerecht gewesen, wenn
jemand dem einsamen Arthur Sch'openhauer seinen Hund
mißgönnt hätte. . . . Die Bedienerin konnte das schrullige
Genie die Treppe hinunterschmeißen, den Hund nahm er als
Symbol mit theoretisch begründeter Liebe auf und lebte
deshalb in Frieden mit ihm .... Aus diesem inneren Überfluß
stammt die Entartung der Hundefürsorge, stammen die ver-
fetteten Hunde, die Hundefriedhöfe und Hundesanatorien.
Der natürliche Ausweg, ihre Kinder zu beglücken, ist diesen
armen Menschen versagt ....
Das alles mochte bisher hingehen. Heute ist diese
Hundeliebe töricht, ja sündhaft. . . .
Wenn wir aus dem Zeitalter der unfruchtbaren, niedrigen
Bequemlichkeit herauskommen wollen, dann werden schlechtere
Tage für die Hunde kommen, aber gesegnete Jahre für die
Kinder. Ich habe es nie verstanden
Bleibt nur die Frage, ob nicht aucii dem Hund in
der Stadt der Stefan Großmann stets ein Greuel war, und
ob der auf dem Land sich ihn gefallen läßt. Ob der
vor dem einsam gelegenen Landhaus Ja und Amen
sagt, wenn der Stefan Großmann vorbeigeht. Ob ein
ernster Hund in einer Wohnung noch ein Geschäft
verrichten würde, in der Herr Großmann sich aufhält,
dessen Geschnupper undZwischen-die-Beine-laufen aller-
dings die größere journalistische Karriere verbürgt.
Ferner, wie ein Hund das Anspringen und schmutzige
Betatzen des Journalisten an einflußreiche Persönlich-
keiten empfände, wenn diese es schon ertragen können,
von seinem Speichel beleckt zu werden. Ob ein Hund
der Meinung wäre, daß Herr Großmann das landläufige
Menschen-Ersatzmittel darstellt. Ob ein Kind, das
von Herrn Großmann an Hundesstatt angenommen
wird, es gut hätte. Ob Schopenhauer nicht vor der
Bedienerin den Herrn Großmann die Treppe hinunter-
geschmissen hätte, wenn dieser ihm etwas »gegönnt«
hätte, wiewohl sein Haus doch nicht die Freie Volks-
bühne war. Ob er es nötig gehabt hätte, den groß-
mütigen Besucher als Symbol anzufassen und seine
Aversion erst theoretisch zu begründen. Ob nicht viel-
mehr bei Hundebesitzern, also bei besseren Menschen,
der Instinkt die Hauptrolle spielt. Schließlich, ob je schon
ein Hund, wiewohl er doch häufig genug zu unsaubern
Zielen strebt, seineanarchistische Gesinnungpreisgegeben
hätte, um Theaterdirektor zu werden, und ob ihm. nicht
der verwittertste Eckstein lieber wäre als die Vossische
— 5 —
Zeitung. Bis diese Fragen von Hunden beantwortet sind,
müssen Hunde es sich gefallen lassen, von Journa-
listen wie ihresgleichen behandelt zu werden.
>Erzählungen Kriegsgefangener. c Von Ludwig Bauer.
(Prager Tagblatt, 18. Juni)
Auf einer kleinen Insel bei Marseille mußten wir in einem
Steinbruch arbeiten, etwa dreißig Mann. Es ging uns hunde-
schlecht. Einer bekam einen Anfall von Epilepsie, aber wie er
dem Arzt gemeldet ward, sah ihn dieser kaum an und steckte ihn
auf dreißig Tage als Simulanten in Arrest. Wir haben ihm aber
Essenssachen durch den Luftschacht hinuntergeschickt, sonst wäre
er ganz zugrimde gegangen. Ja, dort ging es uns sehr schlecht.
Manchmal kam in den Steinbruch ein großer Hund, der wohl
niemandem gehörte, erwar recht wild, aber er fühlte wohl,
daß wir auch elend seien, und so schloß er sich uns an.
Die französischen Antreiber und Aufseher jagten ihn fort, aber
er kam immer wieder. Einmal während der Nacht hatten
wir einen Einfall, wir machten uns aus verschiedenen Fetzen
eine Art schwarzweißroter Fahne, und darauf schrieb ein
Kamerad mit riesigen Buchstaben, daß Frankreich den Krieg
verlieren würde, natürlich schrieb er's französisch, und dann
nahmen wir einen kleinen Stock und banden die Fahne mit
der Inschrift sehr gut und fest am Körper des Hundes an.
Es war ja nicht nett von uns, denn es belästigte das arme Tier,
aber was sollten wir tun, wir wollten uns eben an den Franzosen
rächen, die dort so abscheulich gegen uns waren. Ja, und wie der
Hund dann zum erstenmale in die Stadt lief, gab es dort einen
förmlichen Ausbruch von Raserei, das Volk rottete sich
zusammen, aus allen Häusern liefen sie, die Weiber schrieen, und
alles warf Steine auf den armen Hund. Aber in ihrer Wut
zielten sie schlecht, keiner traf ihn, der Hund rannte fort. Jetzt
suchten sie ihn zu fangen, ob Sie es glauben oder nicht, sie
unternahmen regelrechte Expeditionen gegen den Hund, aber es
gibt dort eine Menge Wälder und Steinbrüche, sie bekamen ihn
nicht. Natürlich plagte den Köter der Hunger, und dann
erschien er auf einmal, so überraschend, daß sie gar nicht wußten,
was tun, und er trug seine Fahne mit der Inschrift, daß Frankreich
den Krieg verlieren würde, weiter, wie wenn er es ihnen zum
Trotz täte. Natürlich wollten die i ranzosen herausbekommen, wer
ihnen den Streich spielte, aber keiner gab es an. Wie die Aufseher
nicht zusahen, kam der Hund zu uns, und wir gaben ihm von
unserem Brote, so wenig wir hatten; er war ja unser Bundes-
genosse und er trug seine Fahne gut, die Fahne der armen
Gefangenen. Und als wirweg kamen, da hatten die Franzosen oft
auf ihn geschossen, aber die Fahne bekamen sie nicht.
— 6 —
Die Hunde sind die »treuen, braven und unent-
behrlichen Helfer der Armeen«. Dies aber war das
größte Schurkenstück dieser Weltschurkerei.
Kleine Skizzen.
Von Peter Altenberg.
Die Hunde-Steuer
(Prager Tagblatt, 29. Juni)
Die Erhöhung der Hunde-Steuer in Wien läßt Einige, die
es gar nichts angeht, neuerdings ihr patzweiches Herz öffentlich
zur bewundernden Schau stellen. Ich kann mich diesen Philosophen
des Mitleids mit jeglicher Kreatur hienieden, nicht in Bausch und
Bogen anschließen. Denn erstens finde ich den Hundebraten
zwar billig, aber durchaus nicht schmackhaft, obzwar ich
zugebe, daß er durch eine zarte Brühe bedeutend verbessert
werden kann oder durch gekochte Zwiebel. Auch ist es ja
richtig, daß man den Zimmerteppichen eine sorgfältigere
Reinigung zuteil werden läßt, wenn sich dazu ein plausiblerer
Orund vorfindet, wie ihn der Hund in selbstloser Art gerne gibt.
Auch huldige ich dem Prinzipe: lieber alle Hunde ausrotten,
als einen einzigen Menschen von derHundswut befallenlassen,
obzwar man es hinwiederum in seinem innersten besseren Innern
Einigen doch gönnen würde, ohne es natürlich direkt zu veranlassen!
Und dann, sieh' mal, Du willst Dich für ein erlittenes Leid durch die
Hunde-Treue trösten?! Wollte Dante je einen Hund haben, um
Beatrix zu vergessen?! Nun also!
In zerrissener Zeit kann plötzlich das Gefühl,
wie sehr die niedrigste Menschenklasse, die Journali-
sten, hinter der höchsten Tierklasse, den Hunden,
zurückstehe, sich in Verzweiflung Luft machen, und
so mag es zu erklären sein, daß da und dort, zumal
in den nördlichen Gegenden dieses Reiches, wo das
nationale Bewußtsein stärker ist und sozusagen auch
deutsch gesprochen wird, eine förmliche Hetze auf die
von der Natur bevorzugten Geschöpfe organisiert und
speziell in Prag die Wut auf Hunde ausgebrochen
scheint. Was den Dichter Peter Altenberg, der Auf-
regungen leicht zugänglich ist, anlangt, so steht der
Fall so: Wäre die »kleine Skizze« — die wirklich nur
ein Entwurf des Untermenschentums ist, ein Plan zu
— 7
einer Grauslichkeit, zu deren Tat, Verantwortung oder
auch nur Zeugenschaft der Dichter der Seele niemals fähig
wäre — wäre die Anregung von einer durchschnitt-
lichen Intelligenz ausgegangen, so wäre es wohl
geboten, an einem Beispiel die Möglichkeiten der von
der Technik an den Teufel verratenen Zeit zu erörtern.
Hier macht uns nicht der Schutz des Hundes gegen
den Menschen Sorge, der ihn dem Schinder überant-
worten will, sondern der Schutz des Dichters gegen
den Redakteur, der ihn dem Drucker überliefert.
Da man so jahraus jahrein in verschiedenen
elenden Tagesblättern kleine Skizzen des Peter
Altenberg liest, schwankt man zwischen dem Bedauern,
daß jene gelegentlichen Meisterstücke, in denen
der Griff zugleich die Gestalt ist, in solchem
Rahmen Unterkunft finden, und dem Schmerz, daß
jene vielen Nichtigkeiten, in denen der Schmißzugleich der
Dreck ist, solchen Namen eines Dichters tragen, und man
möchte dem Preßgesetz einen Paragraphen wünschen,
der einem Zeitungsverleger den Mißbrauch der unbe-
wachten, in Selbstverschleuderung preisgegebenen
Natur verbietet und ihn zwingt, ihr den Preis, den sie
braucht oder will, ohne geistigen Gegenwert zu ver-
abreichen. So oft ich die Ansicht ausgesprochen habe,
daß die deutsche Prosa wenig Fälle aufweise, bei
denen wie bei Peter Altenberg im Wort so alle Gnade
von Humor, Lyrik und zuweilen Weisheit darge-
bracht sei und daß dieser Dichter aus der ganzen
Unzucht des sprachlichen Kunstgewerbes von heute
überleben werde, wurde ich gefragt, ob ich im
Gehudel seiner täglichen Geldschreie, Firmenhymnen
und Nachtlokalverheißungen mit dem ganzen Inhalt
von »erstklassiger« Banalität und demonstrativem
Unverstand auch meine Beweise für die Ansicht
finde, daß der Urheber solchen Lärms und solcher
Leere über die Schnitzler, Bahr und Hofmannsthal
zu stellen sei. Ich mußte die Frage herzhaft bejahen,
freilich nicht ohne einzuräumen, daß ihre Möglichkeit
an ein Literaturproblem rühre. Die Persönlichkeits-
ftille jenes durch keine Rücksicht auf sein Werk
gehemmten und durch ein System des Mißbrauchs
kompromittierten Autors, der oft aus sich selbst und
öfter von selbst schreibt, erleidet in solchen Aus-
schweifungen keinen Abbruch: wohl aber müßten
diese als das Rohmaterial eines Lebens, das noch auf
seinen eigentlichen Künstler wartet, der Betrachtung
und dem schäbigen Spott des alltäglichen Lesers
entzogen bleiben. Statt dessen wird einer der merk-
würdigsten Menschen dieser Zeit, ein mit allen
Möglichkeiten verbundener und von allen unberührter,
einer, der alle Eigenschäften hat, die besten und
die schlechtesten zugleich und abwechselnd, und dessen
lebendiger Überfluß für den Mangel sozialer, logischer und
selbst künstlerischer Bewußtseins- und Verantwortungs-
fähigkeit hinreichend entschädigt, dem grinsenden Ver-
ständnis eines Pöbels ausgesetzt, der auch an den
dem Zufall verdankten Meisterwerken nur die Abnormität
bemerkt, um einen Dichter dauernd als tägliche Jahrmarkts-
figur einzuschätzen. Darum sollte es den journalistischen
Mäcenen, die es ihrerseits gerade auf diesen Erfolg der
Entwürdigung abgesehen haben, verboten sein, mit der
Unterstützung eines geldliebenden Weisen auch das Übel
einer Produktion zu unterstützen, die den lachlustigen
Leser hinter dem Paraventjeder landschaftlichen Stimmung
oder seelischen Betrachtung pünktlich mit einer Rechnung
überrascht. Der Eingeweihte versteht es, wenn dieser
sonderbare Verkünder, der die bunte Dreieinigkeit aus
Falstaff, Heiland und Harpagon vorstellt, lachend die
Wahrheit sagt, die im Weine ist, das Geld als den
nervus rerum verherrlicht, und mit umgelegten Händen
segnet; aber jede einzelne seiner Symptomhandlungen,
die alle zusammen die wunderbarste Figur bilden
würden (lebte die nachgestaltende Kraft, sie zu ver-
einigen), ist in der Norm des Tagesberichts ein Greuel
dem Leser, ein Ärgernis dem fühlenden Zeugen dieses
Zustands. Dies ganze Lebensdurcheinander, worin
jeder Atemzug eine Anekdote ist, von einem verbin-
denden Auge angeseiin und von einer berufenen
Hand festgehalten, ergäbe ein hundertmal besseres
Werk noch als die Buchliteratur Peter Altenbergs,
die doch erst in der Reduzierung auf ihren Kunstgehalt,
in der Verkürzung um den Wust des Wertlosen den
bleibenden und weithin sichtbaren Vorzug vor der
schreibenden Zeitgenossenschaft empfängt. Daß er
selbst diesen Vorzug in seiner Hemmungslosigkeit
sieht, auf Wert und Würde pfeift und die Empfehlung
eines Pürees für die größere Gedankentat hält als einen
Satz von Peter Altenberg, der das Schicksal einer
Liebe nebst der Ewigkeit einer Landschaft enthält,
gehört mit in jenes Lebensbuch. Daß er kritik- und
kontrollos alles, was ihm der Tag zuträgt und
wie er es auch dann sieht, wenn er nicht ausge-
schlafen ist, also mit seinen hellsten, wunderbarsten
Eingebungen zugleich den ärgerlichsten Mist, den er
in trüben Minuten von sich gibt, ja, selbst was er nur sieht
und was ihm schmeckt, einen Armeebefehl des Generals
Dankl und eine Kritik des Herrn Saiten, in Bücher wirft:
das eben ist eine Wesenseigenschaft, die man sich aus
ihm nicht wegdenken kann, die aber als Kommentar
zu seiner Literatur hinzugedacht werden muß, um diese
in ihrer vollen Menschlichkeit und nicht bloß in
ihrer künstlerischen Torsohaftigkeit zu begreifen.
Wozu indes der willige Leser vor einem Buch vielleicht
selbst heute noch die Fähigkeit hätte, dazu ist der
Schnelläufer des Tags weder gewillt noch imstande,
und der hat nur ein triumphierendes oder mitleidiges
Lächeln, wenn seine dürftige Vollsinnigkeit bemerkt,
daß ihm der hochgestimmte Unsinn mit Ruf- und
Fragezeichen ins Gesicht springt, zu einer Akrobaten-
truppe zuredet oder ihm versichert, eine Schau-
spielerin spiele so diskret, daß sie »nur Punkte auf
die i's setze, wo sie gerade unbedingt hingehören!«
Peter Altenberg erklärt Italien den Wirtschaftskrieg,
verbrennt, während seine heilige Freundin dazu ein
10 —
Gebet murmelt, ein Buch des Deutschenfeinds
Maeterlinck, weil es — im Gegensatz zu dem deutsch-
freundlichen und daher die Gunst durchhaltenden
Herrn Friedell — nicht mehr P. A.'s »Lebens-Bibel«
ist und treibt sonst noch allerlei vor den
Augen des erstaunten Lesers. Auch daß er, sich
angstvoll ans seinem Fenster beugend, dem vis-ä-vis
arbeitenden Dachdecker zuruft: »Wie viel ver-
dienen Sie?« — dem Kenner eine unverlierbar
humoristische Attitüde und der endgiltige Ausdruck
dieser zentralen Sorge wie der Gabe, sie lachend zu
bekennen — , muß als Information dem Leserverstand
unbegreiflich bleiben. All dies, mit allem Reiz der
Besonderheit und mit allem Verdruß der Abgeschmackt-
heit, wäre als Privathandlung ebenso interessant wie
der Besitz einer »patriotischen Tür« vor dem Hotelzimmer
und der Entschluß eines Nichtinvaliden, auf seiner Brust
fünf Kriegsabzeichen und um den Hals eine Tafel »Gott
strafe England« zu tragen, was sich ein Hund gewiß
nicht gefallen ließe. In die Öffentlichkeit hinausgestellt,
kann es nur Verwirrung stiften, indem es auf ein
Wirrsal ohne Verbindung mit der auch im Guten
ungewöhnlichen Persönlichkeit hindeutet. Was aber soll
man zu der Verwahrlosung eines publizistischen Ge-
wissens sagen, das sich selbst und einem Dichter, der
doch, ehe er ein ewiger Gläubiger des Geldes wurde,
auch ein Gläubiger der ewigen Seele war, und als
Dichter der Frauenseele sogar leider in weiten Kreisen
beliebt geworden ist, die Veröffentlichung dieses Produkts
gestattet:
Der 40fache Frauenmörder. Von Peter Altenberg.
Bela Kiß, in seinem Gärtchen in Czinkota, mit seinem
Komplizen und Freunde Na gy, auf einer Bank sitzend vor 20 Jahren:
Nagy: >Und wie die Blumen heut duften und die
Insekten summen! Wenn man nur ein bißl ein Geld
hätt' in dieser schönen Welt!«
Bela Kiß: »Und weißt Du, was mir noch verhaßter ist als
meine Armut?! Das sind diese Läuse im Gewände des starken
— 11
alleinstehenden Mannes, die dann mit nichts mehr wieder heraus-
zukriegfen sind. Das sind diese entsetzlich wertlosen Geschöpfe,
die noch viel ärmer sind als wir und eben deshalb sich an
uns heranmachen. Das sind diese häßlichen ungepflegten alten
Mädchen der dienenden Klasse, die, nachdem sie die »Überfuhr«
im Leben versäumt haben, sich mit ihren verrunzelten Gesichtern,
ihren scheußlichen Händen und Füßen, ihren verwelkten Brüsten,
ihrem meistens unreinen Atem, ihren ungeheuren geistigen
Beschränktheiten, sich vermittelst ihrer blöd-mühsam
zusammengesparten 700 Kronen in einem schmutzigen
Strumpfe unter ihrer Mairatze, sich also dann und deshalb an uns
heranschleichen, damit wir diese Lebens-Ruinen Tag und
Nacht, ein Leben lang am Buckel haben, diese mensch-
lichen Gewandläuse des starken alleinstehenden Mannes!
Diese alle einfangen, abdrosseln, und das Geld gut und
richtig verwenden — !«
Nagy: »Gar ka schlechte Idee, mein Lieber! Wie
die Blumen heut duften und die Insekten schön summen!
Wenn man nur ein bißl Geld hätt' auf dieser schönen Welt!«
»Wirf's in die Welt und laß dich kreuzigen!«
hat Peter Altenberg einmal gesagt. Ob er Märtyrer
genug wäre, die Folgen solcher Propaganda durch-
zustehen und gegebenenfalls, wenn ein angeregter Raub-
mörder oder sonst ein starker alleinstehender Mann, der
700 Kronen braucht und zu diesem Zweck die Gewand-
laus entfernt, die er zu diesem Zweck gesucht hat, sich
auf die Lektüre des Prager Tagblatts und den Impuls durch
ein Dichterwort beriefe?!? Ob er nicht eher die Geistes-
gegenwart hätte, ärztliche Zeugnisse sammeln zu gehen,
in denen etwa, wenn sie sehr sachverständig wären, auch
nachgewiesen sein könnte, daß in einer reichen Natur,
in der Mann, Weib und Kind mit allen Eigenschaften
wohnen, auch die Seele eines alten Mädchens Platz
hat, dessen Furcht, die 700 Kronen und das Leben
zu verlieren, und dessen Verlangen nach weiteren
700 Kronen, den Wunsch erzeugt, lieber der Raub-
mörder zu sein als das Opfer, und mithin auch den
Schein eines Blutdurstes, dessen man diesen Dichter
mit Unrecht beschuldigen würde ! ? ! Der Fall ist tieftraurig;
und schmerzlich die Pflicht, einen kostbaren Menschen
und oft verehrten Dichter gegen das grausame Miß-
— 12
Verständnis schützen zu müssen, mit dem ihn wie keine
andere Erscheinung von heute der Tag umklammert
hält. Die Statuierung von Dichterpreisen, die den
honorierten Mißbrauch entbehrlich machen und uns
den peinlichen Anblick solcher Veräußerung von Roh-
material ersparen würden, wäre, ob nun Not oder
Geldliebe des Übels Wurzel sei, unerläßlich. Denn
wichtig wie der Tierschutz ist der Dichterschutz. Wir
wollen gerecht sein. Peter Altenberg braucht es nicht
zu sein; und er mag hinter seinem Beschützer, der
ihm nichts, keine grausame Propaganda in Wort und
Schrift, Brief und Druck; selbst den Tod durch ihn
nicht übel nimmt, die übelste Nachrede laut werden
lassen. Aber er ist höchst ungerecht, wenn er das Leben
des Hundes unter das Problem der Reinhaltung von
Teppichen stellt: ein Hund würde doch nicht jeden
Dreck überall ablagern!
Jakob Boehme
»Denn es ist eine Kraft in jedem Tiere, welche unzerbrechlich
ist, welche der spiritus mundi in sich zeucht, zur Scheidung des
letzten Gerichtes.«
Goethe
»Er hat Vernunft, doch braucht er sie allein,
Um tierischer als jedes Tier zu sein.«
»Wundern kann es mich nicht,
daß Manche die Hunde so lieljen.«
Schopenhauer
»Wundem darf es mich nicht, daß Manche die Hunde verleumden,
Denn es beschämet zu oft leider den Menschen der Hund.«
»Die Flamme, welche aus den Augen aller Tiere hervorleuchtet,
ist eine ewige; wenngleich wir sie erkennen müssen als das zeitliche
Produkt des vergänglichen Organismus und seiner in stetem Wan-
del begriffenen Säfte.«
»Der Leichnam jedes Tieres oder Menschen wirkt darum so
melancholisch auf uns, weil er aufs deutlichste aussagt, daß diese Gestalt
nicht die Idee, sondern bloß ihre Erscheinung war.«
13 —
»Ich muß es aufrichtig gestehn: der Anblick jedes Tiers erfreut
mich unmittelbar, und mir geht dabei das Herz auf; am meisten
der der Hunde und sodann der aller freien Tiere, der Vögel, der
Insekten, und was es sei. Hingegen erregt der Anblick der
Menschen fast immer meinen entschiedenen Widerwillen: denn er
bietet, durchgängig und mit seltenen Ausnahmen, die widerwärtigsten
Verzerrungen dar, in jeder Art und Hinsicht, physische Häßlich-
keit, den moralischen Ausdruck niedriger Leidenschaften und ver-
ächtlichen Strebens, Zeichen von Narrheiten und intellektueller
Verkehrtheiten und Dummheiten jeder Art und Größe, endlich
auch das Schmutzige, in Folge ekelhafter Gewohnheiten: darum
wende ich mich davon ab v:nd fliehe zur vegetabilischen Natur,
erfreut, wenn mir Tiere begegnen. Sagt was ihr wollt! der
Wille auf der obersten Staffel seiner Objektivation gewährt keinen
schönen Anblick, sondern einen widerwärtigen . . . .<
»So entfernt ist aber die Vernunft davon, Quelle der Moralität
zu sein, daß erst sie uns fähig macht Bösewichter zu sein, was
Tiere nicht können. <
»Wegen des Mangels an Vernunft, also an Allgemeinbegriffen,
ist das Tier, wie der Sprache, so auch des Lachens unfähig. Dieses
ist daher ein Vorrecht und charakteristisches Merkmal des Menschen.
Jedoch hat, bt-iläufiggesagt, auch sein einziger Freund, der Hund, einen
analogen, ihm allein eigenen und charakteristischen Akt vor allen
andern Tieren voraus, nämlich das so ausdrucksvolle, wohlwollende
und grundehrliche Wedeln. Wie vorteilhaft stiehl doch diese, ihm von
der Natur eingegebene Begrüßung ab, gegen die Bücklinge imd
grinzenden Höflichkeitsbezeugungen der Menschen, deren Ver-
sicherung inniger Freundschaft und Frgebenheit es an Zuverlässig-
keit, wenigstens für die Gegenwart, tausend Mal übertrifft.«
>Auch gehört hierher, daß sehr kluge Hunde, welciie bekannt-
lich einen Teil der menschlichen Rede verstehn, wenn ihr Herr zu ihnen
spricht und sie sich anstrengen, den Sinn seiner Worte herauszubringen,
den Kopf abwechselnd auf die eine und auf die andere Seite legen;
welches ihnen ein höchst intelligentes und ergötzliches Ansehn gibt.«
». . . Dieser obligate Optimismus nötigt den Spinoza noch zu
manchen andern falschen Konsequenzen, unter denen die absurden
und sehr oft empörenden Sätze seiner Moralphilosophie oben an
stehen, welche im 16. Kap. seines tractatus theologico-politicus bis
zur eigentlichen Infamie anwachsen. Hingegen läßt er biswe len
die Konsequenz da aus den Augen, wo sie zu richtigen Ansichten
geführt haben würde, z. B. in seinen so unwürdigen wie falschen
Sätzen über die Tiere . . Hier redet er eben wie ein Jude es ver-
steht, gemäß den Kap. 1 und 9 der Genesis, so daß dabei uns
Andern, die wir an reinere und würdigere Lehren gewöhnt hind,
der foetor judaicus übermannt. Hunde scheint er ganz und gar
14
nicht gekannt zu haben. Auf den empörenden Satz, mit dem
besagtes Kap. 26 anhebt: Praeter homines nihil singulare in natura
novimus, cujus mente gaudere et quod nobis amicitia, aut aliquo
consuetudinis genere jüngere possumus, erteilt die beste Antwort
ein spanischer Belletrist unserer Tage (Larra, pseudonym Figaro,
im Doncel c. 33): El que no ha tenido un perro, no sabe lo que
es querer y ser querido. (Wer nie einen Hund gehalten hat,
weiß nicht was lieben und geliebt sein ist.) Die Tierquälereien,
welche, nach Coleru>, Spinoza, zu seiner Belustigung und unter
herzlichem Lachen, an Spinnen und Fliegen zu verüben pflegte,
entsprechen nur zu sehr seinen hier gerügten Sätzen wie auch
besagten Kapiteln der Genesis. Durch alles dieses ist denn Spinoza's
,Ethica' durchweg ein Gemisch von Falschem und Wahrem,
Bewunderungswürdigem und Schlechtem. . . .«
»O, um einem Asmodäus der Moral ität, welcher seinem
Günstlinge nicht bloß Dächer und Mauern, sondern den über
Alles ausgebreiteten Schleier der Verstellung, Falschheit, Heuchelei,
Orimace, Lüge und Trug durchsichtig machte, und ihn sehn ließe,
wie wenig wahre Redlichkeit in der Welt zu finden ist, und wie so oft,
auch wo man es am wenigsten vermutet, hinter allen den tugendsamen
Außenwerken, heimlich und im innersten Receß, die Unrechtlich-
keit am Ruder sitzt. — Daher eben kommen die vierbeinigen Freund-
schaften so vieler Menschen besserer Art: denn freilich, woran
sollte man sich von der endlosen Verstellung, Falschheit
und Heimtücke derMensclien erholen, wenn die Hunde
nicht wären, in deren ehrliches Gesicht man ohne Miß-
trauen schauen kann? — Ist doch unsere zivilisierte Welt
nur eine große Maskerade. Man triftt daselbst Ritter, Pfaffen,
Soldaten, Doktoren, Advokaten, Priester, Philosophen, und was nicht
alles an! Aber sie sind nicht was sie vorstellen: sie sind bloße Masken,
unter welchen, in der Regel, Geldspekulanten (moneymakers) stecken.
Doch nimmt auch wohl einer die Maske des Rechts, die er sich
dazu beim Advokaten geborgt hat, vor, bloß um auf einen
Andern tüchtig losschlagen zu können ; wieder Einer hat, zum
selben Zwecke, die des öffentlichen Wohls und des Patriotismus
gewählt .... Zu allerlei Zwecken hat schon Mancher die Maske
der Philosophie, wohl auch der Philanthropie u. dgl. m. vor-
gesteckt .... Meistens stecken, wie gesagt, lauter Industrielle,
Handelsleute und Spekulanten unter diesen sämtlichen Masken.
In dieser Hinsicht machen den einzigen ehrlichen Stand die Kauf-
leute aus; da sie allein sich für Das geben, was sie sind, sie gehn also
unmaskiert herum; stehn daher auch niedrig im Rang. — Es ist sehr
wichtig, schon früh, in der Jugend darüber belehrt zu werden,
daß man sich auf der Maskerade befinde. Denn sonst wird man
manche Dinge gar nicht begreifen und aufkriegen können, sondern
davor stehn ganz verdutzt .... der Art sind die Gunst, welche
die Niederträchtigkeit findet, die Vernachlässigung, welche das
lö —
Verdienst, selbst das seltenste und größte, von den Leuten seines
Faches erleidet, das Verhaßtsein der Wahrheit und der großen
Fähigkeiten, die Unwissenheit der Gelehrten in ihrem Fach, und
daß fast immer die echte Ware verschmäht, die bloß scheinbare
gesucht wird. Also werde schon der Jüngling belehrt, daß auf
dieser Maskerade die Äpfel von Wachs, die Blumen von Seide, die
Fische von Pappe sind, und Alles, Alles Tand und Spaß .... Aber
ernstere Betrachtungen sind anzustellen und schlimmere Dinge zu
berichten. Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetz-
liches Tier. Wir kennen es bloß im Zustande der Bändigung
und Zähmung, welcher Zivilisation heißt: daher erschrecken uns
die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann
einmal Schloß und Kette der gesetzlichen Ordnung ab-
fallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich was er ist. —
Wer inzwischen auch ohne solche Gelegenheit sich darüber aufklären
möchte, der kann die Überzeugung, daß der Mensch an Grau-
samkeit und Unerbittlichkeit keinem Tiger und keiner
Hyäne nachsteht, aus hundert alten und neuen Berichten
schöpfen .... Da nistet in Jedem zunächst ein kolossaler Egoismus,
der die Schranke des Rechts mit größter Leichtigkeit überspringt;
wie dies das tägliche Leben im Kleinen und die Geschichte, auf
jeder Seite, im Großen lehrt. Liegt denn nicht schon in der
anerkannten Notwendigkeit des so ängstlich bewachten
Europäischen Gleichgewichts das Bekenntnis, daß der
Mensch ein Raubtier ist, welches, sobald es einen
Schwächeren neben sich erspäht hat, unfehlbar über
ihn herfällt? .... Gobineau hat den Menschen l'animal mechant
par excellence genannt, welches die Leute übel nehmen, weil sie
sich getroffen fühlen; er hat aber Recht: denn der Mensch ist
das einzige Tier, welches Andern Schmerz verursacht,
ohne weitern Zweck, als eben diesen. Die andern Tiere
tun es nie anders, als um ihren Hunger zu befriedigen,
oder im Zorn des Kampfes .... Kein Tier jemals quält,
bloß um zu quälen; aber dies tut der Mensch, und dies
macht den teuflischen Charakter aus, der weit ärger
ist, als der bloß tierische.... Hat man etwan über
eine Störung oder sonstige kleine Unannehmlichkeit sein Miß-
behagen geäußert, so wird es nicht an Leuten fehlen, die sie gerade
deshalb zuwege bringen: animal mechant par excellence! Dies ist
so gewiß, daß man sich hüten soll, sein Mißfallen an kleinen
Übelständen zu äußern; sogar auch umgekehrt sein Wohlgefallen
an irgend einer Kleinigkeit. Denn im letztem Fall werden sie es
machen wie jener Gefängniswärter, der, als er entdeckte, daß sein
Gefangener dasmühsame Kunststück vollbracht hatte, eine Spinne zahm
zu machen, und an ihr seine Freude hatte, sie sogleich zertrat: l'animal
m^hant par excellence! Darum fürchten alle Tiere instinkt-
mäßig den Anblick, ja die Spur des Menschen, — des
— 16
animal mechant par excellence . . . .Wirklich also liegt im
Herzen eines Jeden ein wildes Tier, das nur auf Gelegenheit
lauert, um zu toben und zu rasen, indem es Andern wehe tun
und, wenn sie gar ihm den Weg versperren, sie vernichten möchte:
es ist eben das, woraus alle Kampf- und Kriegslust
entspringt . . . .«
». . . Wenn nun also auch nur wenige Tiere natürlichen
Todes sterben, die meisten aber nur so viel Zeit gewinnen, ihr
Geschlecht fortzupflanzen, und dann, wenn nicht schon früher, die
Beute eines andern werden, der Mensch allein hingegen es dahin
gebracht hat, daß, in seinem Geschlechte, der sogenannte natu r-
licheTod zur Regel geworden ist, die inzwischen beträcht-
liche Ausnahmen leidet; so bleiben, aus obigem Grunde, die
Tiere doch im Vorteil. Überdies aber erreicht er sein wirklich
natürliches Lebensziel eben so selten, wie jene; weil die Wider-
natürlichkeit seiner Lebensweise, nebst seinen Anstrengungen und
Leidenschaften, und die durch alles dieses entstandene Degeneration
der Rasse ihn selten dahin gelangen läßt. Die Tiere sind viel
mehr, als wir, durch das bloße Dasein befriedigt .... Das Tier
ist die verkörperte Gegenwart .... Aber eben in Folge hievon er-
scheinen die Tiere, mit uns verglichen, in Einem Betracht, wirklich
weise, nämlich im ruhigen, ungetrübten Genüsse der Gegenwart:
die augenscheinliche Gemütsruhe, deren sie dadurch teilhaft sind,
beschämt oft unsern, durch Gedanken und Sorgen häufig unruhigen
und unzufriedenen Zustand .... Eben dieses den Tieren eigene,
gänzliche Aufgehn in der Gegenwart trägt viel bei zu der Freude,
die wir an unsern Haustieren haben: sie sind die personifizierte
Gegenwart und machen uns gewissermaßen den Wert jeder unbe-
schwerten und ungetrübten Stunde fühlbar, während wir mit
unsern Gedanken meistens über diese hinausgehn und sie unbe-
achtet lassen. Aber die angeführte Eigenschaft der Tiere, mehr, als
wir, durch das bloße Dasein befriedigt zu sein, wird vom
egoistischen und herzlosen Menschen mißbraucht und oft dermaßen
ausgebeutet, daß er ihnen, außer dem bloßen kahlen Dasein,
nichts, gar nichts gönnt: den Vogel, der organisiert ist, die halbe
Welt zu durchstreifen, sperrt er in einen Kubikfuß Raum, wo er
sich langsam zu Tode sehnt und schreit .... imd seinen treuesten
Freund, den so intelligenten Hund, legt er an die Kette! Nie
sehe ich einen solchen ohne inniges Mitleid mit ihm und tiefe
Indignation gegen seinen Herrn, und mit Befriedigung denke ich
an den vor einigen Jahren von den Times berichteten Fall, daß
ein Lord, der einen großen Kettenhund hielt, einst, seinen Hof
durchschreitend, sich beigehn ließ, den Hund liebkosen zu wollen,
darauf dieser sogleich ihm den Arm von oben bis unten aufriß, —
mit Recht! er wollte damit sagen: ,Du bist nicht mein Herr,
sondern mein Teufel, der mir mein kurzes Dasein zur Hölle
macht.' Möge es Jedem so gehn, der Hunde ankettet.«
— 17
>Den alleinigen wahren Gefährten und treuesten Freund
des Menschen, diese kostbarste Eroberung, die jeder Mensch
gemacht hat, wie Fr. Cüvier sagt, und dabei ein so höchst
intelligentes und fein fühlendes Wesen, wie einen Verbrecher an
die Kette legen, wo er vom Morgen bis zum Abend nichts, als
die stets erneuefe und nie befriedigte Sehnsucht nach Freiheit und
Bewegung empfindet, sein Leben eine langsame Marter ist, und er
durch solche Grausamkeit endlich enthundet wird, sich in ein
liebloses, wildes, untreues Tier, vor dem Teufel Mensch stets
zitterndes und kriechendes Wesen verwandelt! Lieber wollte ich
einmal bestohlen werden, als solchen Jammer, dessen Ursache ich
wäre, stets vor Augen haben. Es sollte verboten sein und die
Polizei auch hier die Sielle der Menschlichkeit vertreten . . . .«
»Ein anderer, bei dieser Gelegenheit zu erwähnender, aber
nicht weg zu erklärender und seine heillosen Folgen täglich mani-
fest'erender Grundfehler des Christentums ist, daß es widernatür-
licherweiäe den Menschen losgerissen hat von der Tierwelt, welcher
er doch wesentlich angehört, und ihn nun ganz allein gelten
lassen will, die Tiere geradezu als Sachen betrachtend; während
Brahmanismus und Buddhaismus, der Wahrheit getreu, die augen-
fällige Verwandtschaft des Menschen, wie im Allgemeinen mit der
ganzen Natur, so zunächst und zumeist mit der tierischen, ent-
schieden anerkennen und ihn stets, durch Metempsychose und sonst,
in enger Verbindung mit der Tierwelt darstellen. Die bedeutende
Rolle, welche im Brahmanismus und Buddhaismus durchweg die
Tiere spielen, verglichen mit der totalen Nullität derselben im
Juden-Christentum, bricht, in Hinsicht auf Vollkommenheit,
diesem letztern den Stab; so sehr man auch an solche Absurdität
in Europa gewöhnt sein mag. Jenen Grundfehler zu beschönigen,
wirklich aber ihn vergrößernd, finden wir den so erbärmlichen,
wie unverschämten, bereits in meiner Ethik gerügten Kunstgriff,
alle die natürlichen Verrichtungen, welche die Tiere mit uns
gemein haben und welche die Identität unserer Natur mit der ihrigen
zunächst bezeugen, wie Essen, Trinken, Schwangerschaft, Geburt,
Tod, Leichnam u. a. m. an ihnen durch ganz andere Worte zu
bezeichnen, als beim Menschen. Dies ist wirklich ein nieder-
trächtiger Kniff. Der besagte Grundfehler nun aber ist eine Folge
der Schöpfung aus Nichts, nach welcher der Schöpfer, Kap. 1
und 9 der Genesis, sämtliche Tiere, ganz wie Sachen und ohne
alle Empfehlung zu guter Behandlung, wie sie doch meistens selbst ein
Hundeverkäufer, wenn er sich von seinem Zöglinge trennt, hinzu-
fügt, dem Menschen übergibt, damit er über sie herrsche, also
mit ihnen tue was ihm beliebt; worauf er ihn, im zweiten Kapitel,
noch daz» zum ersten Professor der Zoologie bestellt, durch den
Auftrag, ihnen Namen zu geben, die sie fortan führen sollen;
welches eben wieder nur ein Symbol ihrer gänzlichen Abhängig-
keit von ihm, d. h. ihrer Rechtlosigkeit ist. — Heilige Ganga! Mutter
unsers Geschlechts! dergleichen Historien wirken auf mici;,
wie Judenpech und foetor judaicus! Aber leider machen die Folgen
davon sich bis auf den heutigen Tag fühlbar; weil sie auf das
Ctiristentum übergegangen sind, welchem nachzurühmen, daß seine
Moral die allervollkommenste sei, man eben deshalb ein Mal auf-
hören sollte. Sie hat wahrlich eine große und wesentliche Unvoii-
kommenheit darin, daß sie ihre Vorschriften auf den Menschen
beschränkt und die gesamte Tierwelt rechtlos läßt. Daher nun, in
Beschützung derselben gegen den rohen und gefühllosen, oft mehr
als bestialischen Haufen, die Polizei die Stelle der Religion ver-
treten muß und, weil Dies nicht ausreicht, heut zu Tage Gesellschaften
zum Schutze der Tiere, überall in Europa und Amerika, sicti
bilden, welche hingegen im ganzen unbeschnittenen Asien die
überflüssigste Sache von der Welt sein würde, als wo die Religion
die Tiere genugsam schützt und sogar sie zum Gegenstand posi-
tiver Wohltätigkeit macht, deren Früchte wir z. B. im großen
Tierspital zu Surate vor uns haben, in welches zwar auch Christen,
Mohammedaner und Juden ihre kranken Tiere schicken können,
solche aber, nach gelungener Kur, sehr richtig, nicht wiedererhalten;
und ebenfalls wann, bei jedem persönlichen Glücksfall, jedem
günstigen Ausgang, der Brahmanist oder Buddhaist nicht elwan
ein Te Deum plärrt, sondern auf den Markt geht und Vögel kauft,
um vor dem Stadttor ihre Käfige zu öffnen; wie man dies schon
in Astrachan, wo Bekenner aller Religionen zusammentreffen, zu
beobachten häufig Gelegenheit hat; und noch in hundert ähn-
lichen Dingen. Dagegen sehe man die himmelschreiende
Ruchlosigkeit, mit welcher unser christlicher Pöbel
gegen die Tiere verfährt, sie völlig zwecklos und
lachend tödtet, oder verstümmelt, oder martert, und
selbst die von ihnen, welche unmittelbar seine Er-
nährer sind, seine Pferde, im Alter, auf das äußerste
anstrengt, um das letzte Mark aus ihren armen Knochen
zu arbeiten, bis sie unter seinen Streichen erliegen.
Man möchte wahrlich sagen: die Menschen sind die
Teufel der Erde, und die Tiere die geplagten Seelen.
Das sind die Folgen jener Installations-Szene im Garten des
Paradieses. Denn dem Pöbel ist nur durch Gewalt oder durch
Religion beizukommen: hier aber läßt das Christentum uns
schmählich im Stich .... ,Der Gerechte erbarmt sich seines
Viehes'. , Erbarmt!' — welch ein Ausdruck! Man erbarmt sich
eines Sünders, eines Missetäters, nicht aber eines unschuldigen
treuen Tieres, welches oft der Ernährer seines Herrn ist und
nichts davon hat als spärliches Futter. ,Erbarmt!' Nicht Erbarmen,
sondern Gerechtigkeit ist man dem Tiere schuldig — unc^bleibt sie
meistens schuldig, in Europa, diesem Weltteil, der vom foetor
judaicus so durchzogen ist, daß die augenfällige simple Wahrheit:
,das Tier ist im Wesentlichen das Selbe wie der Mensch'
19
ein anstößiges Paradoxon ist. Der Schutz der Tiere fällt also den ihn
bezweckenden Gesellschaften und der Polizei anheim, die aber
beide gar wenig vermögen gegen jene allgemeine Ruchlosigkeit
des Pöbels, hier, wo es sich um Wesen handelt, die nicht klagen
können, und wo von hundert Grausamkeiten kaum eine gesehn
wird, zumal da auch die Strafen zu gelinde sind. In England ist
kürzlich Prügelstrafe vorgeschlagen worden, die mir auch ganz
angemessen scheint.«
»Erst, wenn jene einfache und über allen Zweifel erhabene
Wahrheit, daß die Tiere in der Hauptsache und im
Wesentlichen ganz das Selbe sind, was wir, in's Volk
gedrungen sein wird, werden die Tiere nicht mehr als rechtlose
Wesen dastehn und demnach der bösen Laune und Grausamkeit
jedes rohen Buben preisgegeben sein; — und wird es nicht jedem
Medikaster freistehn, jede abenteuerliche Grille seiner Unwissenheit
durch die gräßlichste Qual einer Unzahl Tiere auf die Probe zu
stellen, wie heut zu Tage geschieht .... Und leider wird zu den
Vivisektionen am häufigsten das moralisch edelste aller Tiere
genommen : der Hund, — welchen überdies sein sehr entwickeltes
Nervensystem für den Schmerz empfänglicher macht.«
». . . Heut zu Tage hingegen hält jeder Medikaster sich
befugt, in seiner Marterkammer die grausamste Tierquälerei zu
treiben, um Probleme zu entscheiden, deren Lösung längst in
Büchern steht, in welche seine Nase zu stecken er zu faul und
unwissend ist. Unsere Ärzte haben nicht mehr die klassische
Bildung, wie ehemals, wo sie ihnen eine gewisse Humanität und
einen edlen Anstrich verlieh. Das geht jetzt möglichst früh auf
die Universität, wo es eben nur sein Pflasterschmieren lernen will,
um dann damit auf Erden zu prosperieren .... Lassen denn diese
Herren vom Skalpel und Tiegel sich gar nicht träumen, daß sie
zunächst Menschen und sodann Chemiker sind? Wie kann man
ruhig schlafen, während man harmlose, von der Mutter gesäugte
Tiere unter Schloß und Riegeln hat, den martervollen, langsamen
Hungertod zu erleiden? Schrickt man da nicht auf im Schlaf? ....
Was in aller Welt hat das arme, harmlose Kaninchen verbrochen,
daß man es einfängt, um es der Pein des langsamen Hungertodes
hinzugeben? .... Offenbar ist es an der Zeit, daß der jüdischen
Naturauffassung in Europa, wenigstens hinsichtlich der Tiere,
ein Ende werde und das ewige Wesen, welches, wie in uns,
auch in allen Tieren lebt, als solches erkannt, geschont und
geachtet werde. Man muß an allen Sinnen blind oder durch den
toetor judaicus förmlich chloroformiert sein, um nicht einzusehn,
daß das Tier im Wesentlichen und in der Hauptsache durchaus
das Selbe ist, was wir sind, und daß der Unterschied bloß im
Accidenz, dem Intellekt liegt, nicht in der Substanz, welche der
Wille ist. Die Welt ist kein Machwerk und
20
dieTierekeinFabrikat zuunsermGebrauch. Der-
gleichen Ansichten sollten d en Sy nagogen un d
den philosophischen Auditorien überlassen
bleiben, welche im Wesentlichen nicht so sehr verschieden
sind .... Missionäre schicken sie den Brahmanen
undBuddhaisten, um ihnenden,wahrenGlauben
beizubringen; aber diese, wenn sie erfahren,
wie in Europa mit den Tieren umgegangen wird,
fassen den tiefsten Abscheu gegen Europäer
und ihre Glaubenslehren.«
>Man sollte alle zu schlachtenden Tiere zuvor chloro-
formieren: das würde ein edeles, die Menschen ehrendes Verfahren
sein, bei welchem die höhere Wissenschaft des Occidents und die
höhere Moral des Orients Hand in Hand gingen, indem Brahma-
nismus und Buddhaismus ihre Vorschriften nicht auf ,den Nächsten'
beschränken, sondern ,alle lebenden Wesen' unter ihren Schutz
nehmen.«
». . . was des Menschen Leben so reich, so künstlich und
so schrecklich macht, daß er, in diesem Occident, der ihn weiß
gebleicht hat und wohin ihm die alten, wahren, tiefen Ur-Religionen
seiner Heimat nicht haben folgen können, seine Brüder
nicht mehr kennt, sondern wähnt, die Tiere seien etwa?
von Grund aus Anderes, als er, und, um sich in diesem Wahne
zu befestigen, sie Bestien nennt, alle ihre ihm gemeinsamen
Lebensver richtungen an ihnen mit Schimpfnamen belegt
und sie für rechtlos ausgibt, indem er gegen die sich aufdrängende
Identität seines Wesens in ihm und ihnen sich gewaltsam verstockt.«
>Die vermeinte Rechtlosigkeit der Tiere, der Wahn, daß
unser Handeln gegen sie ohne moralische Bedeutung sei, oder,
wie es in der Sprache jener Moral heißt, daß es
gegen Tiere keine Pflichten gebe, ist geradezu eine empörende
Rohheit und Barbarei des Occidents, deren Quelle im Judentum liegt.«
». . . Daher auch sind die Tiere weder des Vorsatzes, noch
der Verstellung fähig: sie haben nichts im Hinterhalt. In dieser
Hinsicht verhält sich der Hund zum Menschen, wie ein gläserner zu
einem metallenen Becher, und dies trägt viel bei, ihn uns so wert zu
machen .... Überhaupt spielen die Tiere gleichsam mit offenen
Karten: daher sehen wir mit so vielem Vergnügen ihrem Tun und
Treiben unter einander zu ... . Eines eigentlichen Vorsatzes nämlich
ist kein Tier fähig .... Zwar kann ein Instinkt, wie der der Zug-
vögel, der der Bienen, ferner auch ein bleibender, anhaltender
Wunsch, eine Sehnsucht, wie die des Hundes nach
seinem abwesenden Herrn, den Schein des Vorsatzes
hervorbringen, ist jedoch mit diesem nicht zu verwechseln.«
— 21
»...Solchen Sophistikationen der Philosophen entsprechend
finden wir, auf dem populären Wege, die Eigenheit mancher
Sprachen, namentlich der deutschen, daß sie für das Essen, Trinken,
Schwangersein, Gebären, Sterben und den Leichnam der Tiere
ganz eigene Worte haben, um nicht die gebrauchen zu müssen,
welche jene Akte beim Menschen bezeichnen, und so unter der
Diversität der Worte die vollkommene Identität der Sache zu ver-
stecken. Da die alten Sprachen eine solche Duplicität der Aus-
drücke nicht kennen, sondern unbefangen die selbe Sache mit dem
selben Worte bezeichnen, so ist jener elende Kunstgriff ohne
Zweifel das Werk europäischer Pfaffenschaft, die, in ihrer
Profanität, nicht glaubt weit genug gehen zu können im Ver-
Seugnen und Lästern des ewigen Wesens, welches in allen Tieren
iebt; wodurch sie den Grund gelegt hat zu der in Europa üblichen
Härte und Grausamkeit gegen Tiere, auf welche ein Hqchasiate
nur mit gerechtem Abscheu hinsehen kann .... Die alten Ägypter,
deren ganzes Leben religiösen Zwecken geweiht war, setzten in
den selben Grüften die Mumien der Menschen und die der Ibisse,
Krokodile u. s. w. bei: aber in Europa ist es ein Greuel
und Verbrechen, wenn der treue Hund neben derRuhe-
stätte seines Herrn begraben wird, auf welcher er bis-
weilen, aus einer Treue und Anhänglichkeit, wie sie
beim Menschengeschlechte nicht gefunden wird, seinen
eigenen Tod abgewartet hat.«
»...So einem occidentalischen, judaisierten Tier-
verächter und Vernunftidolater muß man in Erinnerung
bringen, daß, wie Er von seiner Mutter, so auch der Hund von
der sein igen gesäugt worden ist.«
». . . In seiner 1838 zu Bombay erschienenen Reise erzählt
er (Wilhelm Harris), daß, nachdem er den ersten Elephanten,
welches ein weiblicher war, erlegt hatte und am folgenden Morgen
das gefallene Tier aufsuchte, alle anderen Elephanten aus der
Gegend entflohen waren: bloß das Junge des gefallenen hatte die
Nacht bei der todten Mutter zugebracht, kam jetzt, alle Furcht
vergessend, den Jägern mit den lebhaftesten und deutlichsten
Bezeugungen seines trostlosen Jammers entgegen, und umschlang
?ie mit seinem kleinen Rüssel, um ihre Hülfe anzurufen. Da, sagt
Harris, habe ihn eine wahre Reue über seine Tat ergriffen und
sei ihm zu Mute gewesen, als hätte er einen Mord begangen ....
Zum Ruhme der Engländer sei es gesagt, daß bei ihnen zuerst das
Qe?etz auch die Tiere ganz ernstlich gegen grausame Behandlung
in Schutz genommen hat, und der Bösewicht es wirklich büßen
muß, daß er gegen Tiere, selbst wenn sie ihm gehören, gefrevelt
hat. Ja, hiemit noch nicht zufrieden, besteht in London eine zum
Schutz der Tiere freiwillig zusammengetretene Gesellschaft, Society
99
for the prevention of cruelly to animals, welche, auf Privatwegen,
mit bedeutendem Aufwände, sehr viel tut, um der Tierquälerei
entgegen zu arbeiten. Ihre Emissarien passen heimlich auf, um
nachher als Denunzianten der Quäler sprachloser, empfindender
Wesen aufzutreten, und iiberall hat man deren Gegenwart zu
befürchten. 'Wie ernstlich die Sache genommen wird, zeigt das
folgende ganz frische Beispiel, welches ich aus dem Birmingham-
Journal vom Dezember 1839 übersetze: .Gefangennehmung
einer Gesellschaft von 84 Hundehetzern. — Da man er-
fahren hatte, daß gestern auf dem Plan in der Fuchsstraße zu
Birmingham eine Hundehetze Statt finden sollte, ergriff die
Gesellschaft der Tierfreunde Vorsichtsmaßregeln, um sich der Hülfe
der Polizei zu versichern, von welcher ein starkes Detachement
nach dem Kampfplatze marschierte und, sobald es eingelassen
worden, die gesamte gegenwärtige Gesellschaft arretierte. Diese
Teilnehmer wurden nunmehr paarweise mit Hand-
schlingen aneinandergebunden und dann das Ganze
durch ein langes Seil in der Mitte vereinigt: so wurden
sie nach dem Polizeiamt geführt . . . .' Aber ein noch
strengeres Exempel aus neuerer Zeit finden wir in den Times
vom 6. April 1855, S. 6, und zwar eigentlich von dieser Zeitung
selbst statuiert. Sie berichtet nämlich den gerichtlich gewordenen
Fall der Tochter eines sehr begüterten Schottischen Baronets.
welche ihr Pferd höchst grausam, mit Knüttel und Messer, gepeinigt
hatte, wofür sie zu 5 Pfund Sterling Strafe verurteilt worden war ....
,Wir können nicht umhin, zu sagen, daß ein paar Monat Gefängnis-
strafe, nebst einigen, privatim, aber vom handfestesten Weibe im
Hampshire applizierten Auspeitschungen eine viel passendere
Bestrafung der Miss N. N. gewesen sein würde. Eine Elende dieser
Art hat alle ihrem Geschlechte zustehenden Rücksichten und Vor-
rechte verwirkt: wir können sie nicht mehr als ein Weib be-
trachten.' — Ich widme diese Zeitungsnachrichten besonders den
jetzt in Deutschland errichteten Vereinen gegen Tierquälerei, damit
sie sehen, wie man es angreifen muß, wenn es etwas werden soll )
Bei steilen Brücken in London hält die Gesellschaft
ein Gespann Pferde, welches jedem schwer beladenen
Wagen unentgeltlich vorgelegt wird. Ist das nicht
schön? Erzwingt es nicht unsern Beifall, so gut
wie eine Wohltat gegen Menschen?«
». . . Daher bietet der Anblick jeder Tiergestalt uns eine
Ganzheit, Einheit, Vollkommenheit und streng durchgeführte
Harmonie aller Teile dar, die so ganz auf seinem Grundgedanken
beruht, daß beim Anblick, selbst der abenteuerlichsten Tiergestalt,
es Dem, der sich darin vertieft, zuletzt vorkommt, als wäre sie
die einzig richtige, ja mögliche, und könne es gar keine andere
Form des Lebens, als eben diese, geben.«
— 23
». . . Für das Bedürfnis aufheiternder Unterhaltung und um der
Einsamkeit die Öde zu benehmen, empfehle ich hingegen die
Hunde, an deren moralischen und intellektuellen Eigenschaften
mau fast allemal Freude und Befriedigung erleben wird.«
». . . Auf dem zuerst Gesagten aber beruht unsere Freude
an Hundeii., Affen, Katzen u. s. w.: die vollkommene Naivität
aller ihrer Äußerungen ist es, die uns so sehr ergötzt. — Welchen
eigentümlichen Genuß gewährt doch der Anblick jedes freien
Tieres, wenn es ungehindert für sich allein sein Wesen treibt,
seiner Nahrung nachgeht, oder seine Jungen pflegt, oder zu anderen
seines Gleichen sich gesellt u. s. w. Dabei so ganz was es sein
soll und kann. Und sei es nur ein V^ögelein, ich kann ihm lange
mit Vergnügen zusehn; — ja einer Wasserratte, einem Frosch:
doch lieber einem Igel, einem Wiesel, einem Reh oder Hirsch! —
Daß uns der Anblick der Tiere so sehr ergötzt, beruht hauptsächlich
darauf, daß es uns freut, unser eigenes Wesen so sehr verein-
facht vor uns zu sehn. - Es gibt auf der Weltnur ein lügen-
haftes Wesen: es ist der Mensch. Jedes andere ist wahr und
aufrichtig, indem es sich unverhohlen gibt als das, was es ist,
und sich äußert, wie es sich fühlt. Ein emblemaiischer, oder alle-
gorischer Ausdruck dieses Fundamentalunterschiedes ist, daß alle
Tiere in ihrer natürlichen Gestalt umhergehn, was viel beiträgt
zu dem so erfreulichen Eindruck ihres Anblicks, bei dem mir,
zumal wenn es freie Tiere sind, stets das Herz aufgeht; — während
der Mensch durch die Kleidung zu einem Fratz, zu einem Monstrum
geworden ist, dessen Anblick schon dadurch widerwärtig ist, und
nun gar unterstützt wird durch die ihm nicht natürliche weiße
Farbe, und durch alle die ekelhaften Folgen widernatürlicher
Fleischnahrung, spirituoser Getränke, Tabacks, Ausschweifungen
und Krankheiten. Er steht da als ein Schandfleck der
Natur! .. .«
>Eine große Menge schlechter Schriftsteller lebt allein von
der Narrheit des Publikums, nichts lesen zu wollen, als was heute
gedruckt ist: — die J o u r n a 1 i s t e n. Treffend benannt! Ver-
deutscht würde es heißen ,Tagelöhner'.<
>. . . diese letzte Klasse aller Druckschreiber, welche für den
Tag, auf den Tag, in den Tag hinein schreibt. Ich habe sie schon,
in dieser Hinsicht, der polizeilichen Aufsicht empfohlen.«
». . . Daher auch sind alle Zeitungsschreiber, von Handwerks
wegen, Allarmisten: dies ist ihre Art sich interessant zu machen.
Sie gleichen aber dadurch den kleinen Hunden, die bei Allem,
was sich irgend regt, sogleich ein lautes Gebell erheben.«
— 24 —
Glossen
Es war die Nachtigall und nicht die Lerche
»Unser Brüsseler Korrespondent schreibt uns vom 24, d. :
Ein an der Yserfront stehender belgischer Soldat, der in diesen
schönen Maientagen des Nachts am Saume eines Waldes Wache stand,
vernahm stundenlang den prächtigen Triller einer Nachtigall und ent-
zückte sich an ihren Klängen. Ringsum erscholl ein furchtbarer Kanonen-
donner, denn die deutsche Artillerie beschießt Tag und Nacht das
belgische Lager an der Yser und die belgische Artillerie beantwortet den
deutschen Geschoßregen mit der größten Kraft. Dieser ohrenzerreißende
Kriegslärm, der den in einsamer Wacht stehenden Soldaten bis ins
Mark erschütterte, schien dem gefiederten Sänger keinerlei Beängstigung
zu bereiten. Der kleine Waldvogel kümmerte sich um den gewaltigen
Völkerkrieg nicht im mindesten und ließ seine Arien los, als herrschte
tiefster Friede im Walde in dieser herrlichen, vom Monde beschienenen
Frühlingsnacht.«
Sie sang des Nachts auf dem Granatbaum dort . . .
« *
*
Mir nicht unbekannt
»In einer Rede, die Vandervelde im Mai in Ronen gehalten hat,
machte er folgende Bemerkungen: . . . Der Krieg hat so vollständig
seinen Charakter verändert, daß man ihm nicht durch Bedingungen,
die nach der Vergangenheit berechnet sind, ein Ende setzen könnte.
Die größte Beachtung muß man vielmehr der Tatsache widmen, daß
die ganze Zivilisation ein Opfer der Wissenschaft geworden
ist, die sie geboren und genährt hat .... Die Festungen sind
keine Hindernisse mehr. Die Tiefen des Meeres schützen die Todes-
maschinen, die unbemerkt eine Flotte im Zeitraum einer Nacht zerstören
können. Die Luft wie der Schoß des Meeres öffnen den Weg für
Maschinen, die in Brand stecken und die töten. Auf der Erde bedroht
die noch in ihren Anfängen steckende militärische Chemie ganze
Regionen mit Erstickung und Vergiftung. Die drahtlose Elektrizität hat
noch ihr militärisches Ideal zu verwirklichen, das darin besteht, auf
Entfernungen hin Munitionsdepots, Werkstätten, selbst Städte in die
Luft zu sprengen; aber sie kann es morgen verwirklichen, sie ist auf
dem Wege zu diesem Erfolg I ... Es handelt sich deshalb darum, den
»tollen Hundt für immer zu bändigen, der die Welt bedrohe, die
Wissenschaft, die in den Dienst der Zerstörung gestellt
ist, einer strengen Disziplin zu unterwerfen, in der ganzen Welt die
Mittel des Kollektivmordes zu verbieten, die Mechanik und die Chemie
den Werken des Friedens zuzuführen!«
— 25 —
(Eine Königin über den Krieg.) Für eine von dem Vizepräsi-
denten der Kammer, Jon Filipescu, neu gegründete rumänische Zeit-
schrift hat Königin Marie einen Beitrag geliefert; sie schreibt: >Im
gegenwärtigen Kriege rächt sich die iVlascliine am Mensch en.
Der Mensch dünkte sich als Herr der Welt. Da erhoben sich gegen
ihn seine eigenen Erfindungen, um ihm noch einmal zu zeigen, wie
klein er in Wh-kiichkeit jetzt einer Macht gegenübersteht, die er selbst
entfachte und nun nicht mehr beherrschen kann. Es gibt keinen
Menschen von Fleisch und Blut, und sei er auch ein noch so großer
Held, der sich mit dem messen könnte, was menschliches Gehirn ge-
schaffen hat, um den Mitmenschen zu vernichten. Sein eigenes Werk
erhebt sich gegen ihn und entreißt seiner Hand den Sieg. Der Mensch
hat Dinge erfunden, die stärker sind als seine Macht. Heute lernt der
Mensch die Wahrheit kennen, daß seine Kraft eine beschränkte ist.<
Wenn Sozialisten und Königinnen am 1. August 1914 mich
interviewt hätten, wäre ihnen manche Überraschung erspart ge-
bh'eben. Aber auch schon vorher hätte ich ihnen bei mir Buch-
einsicht gewährt. ^ ^
*
Die Zeit ist also doch groß
Europa ist heldenhaft .... Zur Stunde, wo sich aller Nationen
Heldenkraft zerstörend aneinander abmüdet, geht dem Gedankenlosesten
ein Begriff davon auf, welch titanische Kraft in diesem bald kleinsten
Teile der Erde aufgespeicheit war. Sie abzumessen oder auszudenken
geht über unser Vermögen. Die Schlachten von Karkemisch und den
Katalaunischen Gefilden sind gegen das Ringen um Verdun oder
die Strypa ein Kinderspiel gewesen. Der Blutstrom dieser zwei Jahre
hat die gesamte Ritterromantik des Mittelalters und alle Heldenlegenden
des Altertums ersäuft, unsere militärische Vorgeschichte verschrumpft
ins Unbeträchtliche. Feueresse und Steinhagel des Doberdo, Gas- und
Flammenschwaden und Geschoßregen von Verdun oder Czernowitz
unterwerfen das Häuflein Warmblut, das sich Mensch nennt, einer
grimmigeren Nerven- und Willensprobe als alle zwölf Versuchungen
des Herkules zusammen .... Wer hätte geahnt, wessen der Europäer
fähig ist! Welch kühnstes Unternehmen ist noch auszudenken, das wir
ihm niciit zumuten dürften!
Und diese Kunst der Organisation! Von unseren Altvordern
wurde erzählt, daß es der Ruhm der Häuptlinge war, eine große
Gefolgschaft wehrhafter Männer um sich zu sammeln. Die Gefolgschaften
der Großen mochten in die Hunderte zählen — der abdankende
Lear bedingt sich hundert Ritter aus. Die gesteigerte Zucht
immer größerer Staatswesen versammelt Heergefolge von
mehreren Millionen Menschen! Die Sage der Vorfahren knüpft
den Sieg an ein berühmtes Schlachtroß, ein wunderbares Schwert, eine
geweihte Lanze. Die Wunder der Vorwelt hat die Wissenschaft über-
boten: Jene alten Wunder werden kindische Märchen, die Wirklichkeit
26 —
von heule aber wird zum unfaßbaren Wunder. Die quelll<lare Verstandes-
arbeit, die Wissenschaft, ist beinahe zur mythischen Gewalt, zum unent-
rätselbaren Dämon geworden. Niemals hat der Keil des Donnergottes
solche Verheerungen angerichtet wie eines unserer Riesengeschosse
Menschen, Kinder der Scholle, tauchen in die Weltmeere und durch-
kreuzen sie unsichtbar, heben sich in Firnhöhe und kreisen über
Türmen und Burgen so sicher und rascher als der Adler! Das alte
Wort, der Mensch vermöge seines Leibes Maß doch keine Elle hinzu-
zufügen, ist nun sichtlich absurd geworden. Denn des Menschen Arm
langt hoch über Bergeshöhen, indes sein Fuß über Meeresgründe
dahinschwebt.
Der Mensch ist gewaltig ....
Das Steht in der Arbeiter-Zeitung. Aber nicht zitiert, sondern
geschrieben. Sie sei deshalb mit Quellenangabe zitiert.
Auch du, mein Sohn Brutus
. . . Was wollen Sie sehen? Was interessiert Sie besonders? Ich
bitte die Herren sich alles anzuschauen, sich über alles zu unterrichten,
sprechen Sie, bitte, auch mit den Mannschaften, es würde mich
freuen, wenn die Herren sich über die Verhältnisse an der Front
erkundigen und mir Ihre Meinung sagen. Mit solcher Aufforderung
entließ uns Exzellenz v. F., Kommandant der . . R. Division. . . .
Von der , Arbeiter-Zeitung', .^us ihr zitiert, nicht von ihr!
Kriegsausstellung
Im Pavillon der Kunstausstellung
des Kriegspressequartiers begrüßte
der Vorstand des Kriegspresse-
quartiers und Direktor des Kriegs-
archivs Generalmajor Maximilian
Ritter v. Hoen den Erzherzog und
stellte sich ihm zur Führung in
dieser Abteilung zur Verfügung. In
diesem Pavillon hatte sich ein
großer Teil der Maler und
Künstler des Kriegspresse-
quartiers eingefunden, die sich
beim Rundgang des Erzherzogs
den ihn begleitenden Persön-
lichkeiten anschlössen.
Großes Interesse erregte das
Konzert des Prothesenorche-
sters, das aus 40 einarmigen
Musikernbesteht, diemitden
künstlichen Armen ihre In-
strumente vorzüglich zu mei-
stern verstehen und die schwie-
rigsten Vortragsstücke künstlerisch
interpretieren. Ungemein wirksam
war abends die Beleuchtung
des »Karstes« und des Kampf-
vorfeldes durch die elektrischen
Riesenscheinwerfer. Die »Tiroler
Soldatenzeitungc, die in der im
Blockhause der genannten Zeitung
befindlichen Druckerei gleichsam
vor den Augen das Aus-
stellungspublikums gedruckt
wird, fand reißenden Absatz.
27
Und zur > Eröffnung« dieses wurde ich eingeladen! Nämlich
die »Redaktion der Fackel«. Aber eine solche gibts nicht. Sie tritt
nur in Funktion, um Einladungen zurückzuschicken, damit
wenigstens Strafporto auf den Versuch gesetzt sei. Der ausgestellte
Krieg! Ich würde eine Friedensausstellung besuchen, in der aber
nichts zu sehen sein dürfte als aufgehängte Kriegsgewinner, die
Helden des Geldkriegs, die, als das Vaterland rief, verstanden
haben : Jetzt heißt es sich zusammenscharren ! Oder gäbs kein
Entree mehr für so etwas, weil die Ausgestellten alles hätten? In
eine Kriegsausstellung, in der sie Aussteller sind, gehe ich keineswegs.
Gleichsam vor meinen Augen soll die »Tiroler Soldatenzeitung«
gedruckt werden? In der Beleuchtung des »Karstes«, im Lichte
der Riesenscheinwerfer sollte ich die Parasitenschaft Wiens erkennen
müssen? Die allerentsetzlichste Schaustellung eines »Protheseo-
orchesters« — welchen Clou wird die Antimenschheit noch er-
sinnen? - sollte ich betrachten und im grimmen Kontrast dazu die
Versammlung jener anderen Künstler, die schlechte Maler geworden
wären, auch wenn sie ohne Arme auf die Welt gekommen wären. Wie
unnennbar ist das alles, wenn man sich nur vorstellt, daß es aus-
gestellt werden kann! Lockte die Menschheit nicht doch noch
mehr eine Kriegs-Einstellung? Ich würde die Einladung annehmen.
Was in der Kriegsausstellung fehlt
Der jetzt 28 Jahre alte Ingenieur und Chemiker Theodor v.
Friedberg hatte sich bei Beginn des Krieges freiwillig zum Militär
gemeldet. Er kam nach der Ausbildung an die Front und erhielt in
einem Gefecht vier Schüsse in das linke Knie. Das Bein wurde
steif und kürzer, so daß Friedberg jetzt nur mühselig mit Stöcken
gehen kann. Überdies erlitt er infolge des Luftdrucks einer Granate
eine Nervenerschütterung und er ist seit diesem Unglück Epi-
leptiker. Während seiner Dienstzeit ist er Korporal geworden. Im
vorigen Jahre wurde Friedberg als zu jedem Militärdienst ungeeignet
und bürgerlich erwerbsunfähig aus dem Heeresverband entlassen.
Es wurde ihm die gesetzliche Invalidenpension von sechs Kronen
monatlich vorläufig auf die Dauer von zwei Jahren angewiesen
und vielleicht noch ein paar Kronen Verwundungszulage. Am
10. Juni d. J.' kam der Kriegskrüppel in einer Korporalsbluse zu
— 28
dem ihm von früher her bekannten Chemiker Selig mann, Besitzer
der Fettstoffabrik Karl Seligmann, und bat ihn mit Hinweis auf sein
großes Elend um irgend eine Arbeit. Seligmann hatte bereits früher
einmal gegen Friedberg eine Anzeige wegen unbefugten Tragens
der Uniform erstaltet und er ließ jetzt den Kriegskrüppel
durch einen Wachmann verhaften. Gestern war der Unglückliche
wegen unbefugten Tragens der Korporalsuniform vor dem Bezirksgericht
Josefstadt angeklagt. Bezirksrichter Dr. Pohl gestattete ihm, sich sitzend
zu verantworten. Friedberg gab an, daß er in der Zukunft einmal
die Aussicht auf ein Majorat habe, jetzt aber außer seiner Invaliden-
pension kein Einkommen habe, da er wegen seines Körperzustandes
nirgends Arbeit finden könne. Er habe nach seiner Entlassung aus dem
Heeresverband die Militäruniform weiter getragen, weil er sich keine
Zivilkleidung kaufen könne. — Der Richter sprach den Ange-
klagten frei, denn dieser habe unter unwiderstehlichem Zwange ge-
handelt, wenn er den Soldatenrock, in dem er dem Vaterland seine
Gesundheit und seine Arbeitsfähigkeit opferte, so lange getragen habe,
bis er in der Lage ist, sich Zivilkleider anzuschaffen. — Der Ange-
klagte nahm das Urteil unter Dankesbezeugungen entgegen. Als er aus
dem Saale hinaushumpelte, drehte er sich um und sagte zum Richter :
>Aber schön war das nicht von Herrn Seligmann 1«
Wie ist das alles nur möglich, da es doch nicht vorgestellt
werden kann? Wenn alles andere möglich war, dort der Krieg
und hier die Anzeige, wie kann darüber zu Gericht gesessen
werden? Wie ist da ein einfacher Freispruch möglich? Was
geschieht mit dem Anzeiger? Das Delikt ist doch die Anzeige.
Warum wird darüber nicht verhandelt? Wie kann das, was uns
als der Inbegriff des Frevelhaften erscheinen muß, Inhalt einer
Klage sein und am Gericht vorüberkommen? Der dort soll Armee-
lieferant sein. Warum läßt der Kriegskrüppel den Armeelieferanten
nicht verhaften? Warum ist das so? Warum tun sie das? Warum
gibt es das? Warum gibt es das nicht in der Kriegsausstellung?
Wie werden wir, wenn wir diesen Krieg überleben, diese Anzeige
überleben? Wie ist das alles nur möglich? . . . Aus dem fernsten
Winkel der Erinnerung, zwischen Schlaf und Wachen, unter
dem Druck eigenen Schicksals stürmen die Dostojewski-Menschen
solche Fragen an. Uns müssen sie auf der Ringstraße und bei
jedem Blick in die Zeitung packen. Langt keine Hand herunter,
die dem Spuk ein Ende macht? Warum gibt es das alles? Warum
tun sie das? Wie ist, wie war — wie wird das alles möglich sein !
— 29
Das Ziel
»Viel haben uns in dieser Beziehung die Bestrebungen der
Krüppelfürsorge in Friedenszeiten gelehrt. Schon bisher waren wir
bestrebt .... aus einem bedrückten und abhängigen einen selb-
ständigen, eigene Werte schaffenden Menschen, aus einem
A Im osene mpfänger einen Steuerzahler zu machen. So
sind wir auch heute am Werke, durch Rat und Tat den Kriegs-
verstümmelten — — «
Das hat Hand und Fuß
Verbrecherzunahme in Italien
Berlin, 18. April. (Tel. des „Fremdenblatt".) ... Die Zahl der
Verbrechen gegen Leben und Eigentum steigt in Italien fortdauernd und
selbst hohe Staatsbeamte und Offiziere gehören unter
die Schuldigen. So wurde heute wieder von der Ermordung
des Steuereinnehmers von Palermo berichtet.
Das Gesellschaftsspiel
»Twells Brex, der beliebte Feuilletonist der , Daily Mail', schreibt
Folgendes über die englischen , Munitionsritter', die merkwürdigen
Existenzen, die aus der namenlosen Menge hervorgingen und den Krieg
als erstklassiges Gelegenheitsgeschäft auszunützen wußten. ,Die Munitions-
macher sind die neuen Herren Englands, kein Einberufungsbefehl droht
ihr üppiges Leben zu stören, und alles ist ihnen Untertan. Die Juweliere
machen ganz unerwartete Geschälte, und die Munitionsritter und ihre
Familien wandeln beringt und mit Kostbarkeiten geschmückt wie
orientalische Märchenfürsten umher. . . Überall stößt man sich an der
Unbildung, Protzenhaftigkeit und unpatriotischen Rücksichtslosigkeit dieser
neuen Herrenklasse. Auf den behördlichen Anschlägen kann man lesen,
daß das Automobilfahren zum Vergnügen gegenwärtig aus Gründen des
Krieges unterlassen werden müsse; aber auf allen Landstraßen in der
Umgebung Londons sieht man eine Unzahl kostspieliger Autos, in denen
die Munitionsritter sich stolz und sorglos dem Volke zeigen. Auf den
behördlichen Anschlägen ist weiterhin zu lesen, daß auffallende Kleidung
nicht nur geschmacklos, sondern gegenwärtig wegen der hierzu ver-
wendeten Materialien auch höchst unpatriolisch sei; aber die Frauen der
Munitionsunternehmer hüllen sich in Seiden und teure Stoffe und bringen
auf ihren Hüten wahre Türme exotischer Federn an. Es ist ein Karneval
der Geschmacklosigkeit und des Egoismus, nichts ist tadelnswerter und
verächtlicher als diese neue Gesellschaftsklasse, die dem öffentlichen
Leben Englands ein bisher unbekanntes Gepräge verleiht . . . '<
30 —
Der Unterschied ist nur, daß die dortigen beliebten Feuille-
tonisten es sagen, und daß es dem hiesigen öffentlichen Leben
kein bisher unbekanntes Gepräge verleiht, weil wir mit Recht behaupten
können, daß sich unser Geschmack durch den Krieg nicht ver-
schlechtert hat.
Sehn S', so heiter is das Leben bei uns — in Petersburg!
»Aus den Berichten von Leuten, die sich In der letzten Zeit in
Petersburg aufgehalten haben, und aus Privatbriefen, die von dorther
kommen, gewinnt man den Eindruck, daß man sich in Petersburg nur
von dem einen Gedanken leiten läßt: genießen, genießen, soviel als
möglich, was natürlich dazu nötigt, soviel als möglich zu verdienen.
Trotz der unerhörten Teuerung gibt es Geld wie Mist, die Theater sind
überfüllt .... Das Leben ist mindestens doppelt so teuer geworden
und jede Annehmlichkeit oder irgend ein Luxus kostet das Dreifaciie . . .
Man sollte glauben, daß der Platz dieser eleganten Jünglinge eher an
der Front wäre, aber scheinbar bereitet ihnen die Verteidigung von
Mütterchen Rußland keine Unruhe. Dazu ist doch der graue namenlose Haufe
der Muschik da, die dort irgendwo an der Front unter dem Hagel der
Geschosse fallen.
In Petersburg denkt man darüber nicht nach, dort machen die
Leute nur Geschäfte .... Man spricht nur von Geschäften, Lieferungen,
Transporten usw. Alle sind fieberhaft tätig .... Rings um den Krieg
und die Goldquelle der Lieferungen haben schon viele geschickte, aber
wenig skrupulöse Macher massenhaft Geld verdient, Leute, die gestern
noch niemand kannte und die heute sich in den erstklassigen Restaurants,
bei Premieren und in allen Lokalen, in denen die verrückt gewordene
leichtsinnige Hauptstadt sich vergnügt, herumtreiben .... Noch nie
haben die Juweliere solche Geschäfte gemacht. . . . Auf dem Petersburger
Gesellschaftshorizont tauchen neue unbekannte Namen auf, neue Leute,
die ihr Haus auf großem Fuße führen. Für sie ist der Krieg kein Elend,
er bringt ihnen nicht Trauer, sondern nur Geld, das man um jeden
Preis sich beschafft, durch Verrat, Betrug, Veruntreuungen und vielleicht
auch für Blut.
Petersburg tobt. Der Krieg scheint aus der lustigen, sich an
Vergnügungen berauschenden Stadt verbannt zu sein. Seine Spuren sind
bloß in den Sälen der Spitäler zu finden und in den Gäßchen der
Vorstädte, in denen das Elend haust, schrecklicher als jemals zuvor. . . .
Aber diese dumpfen Schatten beeinträchtigen nicht die Stimmung des
lebenslustigen Petersburg, das sich weiter unterhält und vom Kriege mit
Geringschätzung spricht und ihn mit der Bemerkung abtut: Es wird
schon gehen I ...»
— 31 —
Geldadel in England
Nach unermüdlichen Bemühungen ist es William Waldorf-Astor,
dem amerikanischen Nabob, der in England lebt, gelungen, dort geadelt
zu werden .... Im Jahre 1899 wurde er britischer Staatsbürger und
seither war sein ganzes Sinnen und Trachten auf die Erwerbung des
Adels gerichtet. Er verschenkte Millionen von Dollars an Stiftungen,
die unter dem Protektorat des Königs standen. Aber König Eduard
dachte gar nicht daran, auf die Wünsche des Multimillionärs einzu-
gehen .... In den amerikanischen Blättern liest man jetzt eine aus-
führliche Zusammenstellung der Beträge, die Astor geopfert hat, um
den Adel zu erreichen: 17 Millionen Mark an die Torypartei, 22 Millionen
Mark für die ,Pall Mall Gazette', 10 Millionen Mark .für Krankenhäuser
und Wohltätigkeitseinrichtungen, 4 Millionen Mark für Feste, die er
seinen königlichen Gästen zu Ehren gab, 4 Millionen Mark an ein-
flußreiche Politiker, 6 Millionen Mark zur Linderung der Kriegsnot,
zusammen 63 Millionen Mark ....
>0b man einen Moment Ruh hätt! Können Sie nicht lesen,
daß hier Betteln und Hausieren verboten is?< »Ja, aber einen
schönen Adel hätt ich!« >Kostet?« >150.000.< >Nicht zu machen.
60.000!« »Kost' mich selbst so viel. 90.000!< »Ausgeschlossen,
70.000!« >Bitt Sie, Sie werden sich doch nicht herstellen, ein
Mann wie Sie!« >Also 80.000!« »Gemacht, Herr von Abeles!«
Feudales
... die Vermählung des k. u. k. Kämmerers und Herrenhaus-
mitgliedes Karl Grafen von Abensperg und Traun mit Karoline
Gräfin Nostitz-Rieneck statt. . . . Als Trauzeugen fungierten die
Geheimen Räte Rudolf Graf von Abensperg und Traun und Anton
Graf Ludwigstorff, Feldmarschalleutnant Graf Albert Nostitz und
Geheimer Justizrat Regierungsrat Dr, Adolf Edler v. Bachrach.
Es bleibt alles beim Alten
Den Herren Karl, Emil und Adolf Kohn, Söhnen des ver-
storbenen Herrn N. J. Kohn, Kaufmannes in Prag, Obstgasse 7, wurde
von der Statthalterei die Annahme des Familiennamens »Kienzl« bewilligt.
Der Familie Kienzl, die in Literatw und Musik das deutsch-
österreichische Wesen verkörpert und daher eine natürliche Inklination
zum Namen Kohn hat, wird die Statthalterei wohl auch keine
Schwierigkeiten in den Weg legen.
— 32 —
Haben Sie nicht den jungen Rothschild gesehn?
>Der glückliche Besitzer des Derbysiegers, Baron Alfons Rothschild,
der sich zur Zeit im Felde, und zwar bei der Armee Dankl, befindet,
hat die Nachricht von dem Erfolge seiner Farben sehr rasch erhalten,
denn man konnte ihm dieselbe telephonisch übermitteln.«
>Mit lautem Beifall wurde der Sieger bei der Rückkehr zur
Wage begrüßt, freudestrahlend nahm Baronin Rothschild in Begleitung
Barons Twickel die Glückwünsche entgegen. Baron Alfons Rothschild
selbst war nicht anwesend, er hatte sich zum Kurgebrauch nach dem
Süden begeben.«
Die Zeit wird immer größer. Opfer und Strapazen
genug, sich jetzt zum Kurgebrauch nach dem Süden begeben.
Aber im Feld sein und vom Hinterland zum Telephon gerufen
werden können — das muß das Schwerste sein. Ich habe manchen
werten Freund bei der Armee Dankl, wie oft dachte ich mir,
hier ist ein Telephon, Lokalverbindungen sind ja unmöglich, aber
wie schön wär's, du könntest jetzt — wozu gibt's denn diese ver-
fluchte Technik — schnell erfahren, ob dieser gute Mensch, der
keineswegs zum »Stürmen« geboren war, es heil überstanden hat
und ob er es nicht wenigstens nötig hätte, im Süden, wohin er sich
nun schon einmal begeben hat, zum Kurgebrauch zu bleiben. Sicher
ist, daß er beides zugleich nicht vermöchte, und das Telephon
sagt nicht, wie er sich entschieden hat. Aber dem Derbysieger im
Weltkriegistdie Welt offen wie eh und je, und wenn auch in ihr an
einem Tag mehr Geld verpulvert wird als der Rothschild im Ver-
mögen hat, der Name des Herrn, der der Welt zum erstenmal die
Ehrfurcht vor der Milliarde beigebracht hat, sei gepriesen.
Also doch
Rußland? Nein:
Das Derby.
Sanskrit — Sieger.
Also doch. Schon vor einigen Wochen hub das Geflüster an
und wurde immer lauter: Sanskrit macht das Derby. Warum, wußte
man nicht. Aus jedem Strauß, den der Rothschildsche Hengst bisher mit
33
den anderen Derbykandidaten ausgef ochten hatte, war er geschlagen
zurückgekehrt. Er zog gegen Przemysl den kürzeren und mußte
sich vor Fuvolas beugen .... Man konnte also den Anhängern
Sanskrits nichts Positives entgegenhalten. Schließlich: warum sollte
der Rothschildstall nach so langer Zeit nicht wieder ein Derby gewinnen?
Warum nicht — von mir aus!
Dazu kam der heillose Wirrwarr auf dem Wettmarkt. Die
Favorits wechselten von Tag zu Tag. Zuerst war es um die falschen
Götzen des Vorjahres geschehen. Celsius, Quargel, Bankar öcscse
brachen kläglich zusammen und ihre Namen zerstoben wie Spreu
im Wind.
Was besonders bei Quargel sympathiscli ist.
Dann kam ein längeres Vakuum ohne Favorits, als die Derby-
vorproben dieses Jahres neue Kandidaten in die Höhe brachten :
Przemysl und Fuvolas. Zu ihnen gesellte sich in letzter Minute Parsifal
aus dem Dreherstall ....
Also Parsifal kommt aus dem Dreherstall und Sanskrit
lernt man bei Rothschild. »Glaukopis« sagte einmal einer neben
mir, der zu ihr paßte wie die Faust auf ihr schönes Auge, und
ich verstand erst allmählich, daß man heute auf eine Göttin einen
»Tip« haben kann. Sollte diese Gesellschaft nicht gezwungen
werden können, lieber doch bei Quargel zu bleiben ? Dieser heil-
lose Wirrwarr auf dem Wettmarkt, dieses unsichere Tipen zwischen
Götter, Helden und Napagedl müßte endlich ein Ende haben,
damit nicht Kinder und Kindeskinder die heroische Nebenbedeutung
gewisser Namen vergessen und sich dereinst nur erinnern, daß
Sanskrit das Derby »gemacht« hat. Gewiß steht ein edles Rennpferd
turmhoch über seinem Besitzer; aber der Übermut, zu dem der
Name Rothschild berechtigt, ist bei weitem noch kein Grund,
Sanskrit in die hunderttausend üblen Münder eines Renntags
zu bringen. Weg damit!
Gottes Allmacht und die Realitäten
In einer und derselben Prager Zeitungsnummer erläßt ein
Patriot, Klassiker und Wohltäter der Menschheit die folgende
Kundmachung :
und diese:
34 —
Bestellungen
werden entgegengenommen
auf das
Buchdrama
»Allmacht Oottes«
und von
Sr. Majestät
huldvollst angenommenen
Buchdramas
»Edler Monarch«,
zusammen 5 K, wovon 10 o/o
blinden Soldaten und 8 "/o
Witwen und Waisen über-
tragen werden, vom Verfasser
Carl A If ons Klein,
Besitzer Allerh. belob. Aner-
erkennungen, zw. belob. An-
erk. für Lebensrettungen,
k. u. k. Kriegs- Jub. -Med,
Prag, Tuchmachergasse 14.
Realitäten
Mehrere Millionen
für Finanzierungen,
Darlehen, Transaktionen,
Umwandlungen,
Kauf, Verkauf,
wenn auf solider Basis be-
ruhend, event. Tausch von
Herrschaften, Gütern, Häu-
sern, auch
einzelner schlagbarer
Waldbestände besorgt
Carl Alfons Klein,
altren. konz. Kanzlei, Prag,
Tuchmachergasse 14.
Verbindungen In- u. Aus!.
Die Blinden in Prag, die seinen Tritt kennen, sollen gerührt
gewesen sein, als sie vernahmen, daß für sie Buchdramen ge-
schrieben worden seien, aber die Witwen und Waisen äußerten,
daß sie lieber an den Darlehen die 8°/o verdient hätten. Die
Allmacht Gottes aber staunte, daß der tragische Karneval, der
jetzt auf Erden abgehalten wird, gar für solche Venx'andlungen
Raum habe.
— 35
Ein Bahnbrecher
ist der Setzer, der im Organ der Warenhäuser, fasziniert durch
die Namen, die er am häutigsten setzt, als Premiere
Emilia Galott i.
Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
von Lessner
geboten hat. Und — Erfinderlos I — er hat nichts davon, während
die Administration vielleicht schon einkassieren gegangen ist.
Absicht wars wohl nicht ; aber auf eine gute Idee hat er sie
gebracht und vielleicht fügt es ein Druckfehler, daß nächstens
auch Medea von Gerngroß aufgeführt wird. Dann würde in Berlin
Iphigenie von Gerson folgen, aber in Prag die Jungfrau von Orleans
von Schiller - und hier würde sich zwischen dem Chef des Hauses
und dem Vertreter des Prager Tagblatts der folgende Dialog ent-
spinnen: »Wir haben gebracht, daß die Jungfrau von Orleans von
Schiller is. Sie wern einsehn — < »Was soll ich da einsehn? Ich
seh ein, daß sie von Schiller is. Oder is sie vielleicht von Goethe?«
>Sie is zufällig von Schiller, aber es is ein Druckfehler. Gemeint
sind Siel« »Wenn wir gemeint sind, so is es doch kein Druck-
fehler?« »Wenn es kein Druckfehler is, so müssen Sie mehr zahlen!«
»Moment, wenn es kein Druckfehler is, so sind wir nicht gemeint!«
»Wenn Sie aber ja gemeint sind?« »Wenn wir ja gemeint sind,
so is es ein Druckfehler, und wenn es ein Druckfehler is, brauchen
wir nicht zu zahlen.« »Wer denn muß zahlen, wenn nicht Sie?«
»Wieso ich? Is die Jungfrau von Orleans von mir?« »Von wem
denn? Jeder Mensch in Prag glaubt selbstredend — «. »Die Jungfrau
von Orleans is zufällig eine Firma in Paris, kassieren Sie dort ein.«
»Das sind Witze, Sie wissen selbst, daß jetzt Krieg is.« »Also gut,
ich zahl, aber wie revanchiern Sie sich?« »Ich wer' Ihnen sagen,
nächstens is Emilia Galotti, wir haben gar kein Interesse an Lessner
in Wien, wir wern irrtümlich bringen, sie is von Schiller!*
Ein anregender Mensch
(Eine Anregung für die Maturitätsprüfungen.) Man schreibt uns:
»Die Zeit der Reifeprüfung für unsere Mittelschüler naht heran. Ich
denke heute nach 23 Jahren an das Thema, das uns der .Deutsch-
36 —
Professor' zur Bearbeitung aufgegeben hatte. Dieses Thema lautete:
.Durch Seefahrten und Kriege zur Entwicklung zu reifen, war nun
einmal die Bestimmung des Menschengeschlechtes'. Dieser Satz,
der dem Geschichtswerke Rankes entnommen ist, wie herrlich
ließe er sich heute ausführen! Ich bin überzeugt, daß so mancher
Jüngling, begeistert durch die Heldentaten unserer Armee und unter
dem Eindrucke der moralischen Umwertung aller Werte,
unter dem Eindrucke der realen Wirklichkeit, sich heute den ersehnten
Einser sicherer holen würde, als Anno dazumal im Jahre 1893, als
wir im tiefsten Frieden lebten und von dem , Eisenbad' des Krieges
blutwenig wußten.... Es würde sich empfehlen, das Thema als
Preisaufgabe auszuschreiben, an dem sich nur Absolventen der Mittel-
schulen zu beteiligen hätten. Ich würde mich freuen, wenn Sie die
Güte hätten, meine Anregung in die rechten Bahnen zu lenken. Hoch-
achtungsvoll Dr. Rosenthal. <
Diese Bahnen haben nie Verspätung. Die uns ei^artende
Nachwelt wird über die moralische Umwertung aller Werte
paff sein.
Die Umwertung aller Werte
In einem der hunderttausend Prospekte und Aufrufe für die
Kriegsanleihe, aber nicht in einem der Banken, sondern in dem
vom Präsidium des Witwen- und Waisenfonds unterzeichneten,
waren die Sätze enthalten:
Ist es ein Opfer, die Kriegsanleihe zu zeichnen, oder ist es
vielleicht auch ein gutes Geschäft?
Auch darauf kommt es an. Die Kriegsanleihe ist kein Opfer,
das man dem Staate bringt, sondern die Kriegsanleihe ist ein aus-
gezeichnetes Geschäft. . . .
Es ist also für jedermann das beste Geschäft, soviel an Kriegs-
anleihe zu zeichnen, als man heute erspart hat und sich bis Ende 1917,
d. i. also in den nächsten zwei Jahren zu ersparen hofft.
Niemand soll aus Nachlässigkeit der Feind seines eigenen
Geldes sein, jeder soll tief in die Tasche greifen, weil er damit nicht
nur ein gutes Werk tut, sondern auch tüchtig verdienen, d. h. sein
Einkommen ganz bedeutend steigern kann! . . .
Der Wille zur Macht
»Die Kriegsmillionäre werden von Franz Molnär folgendermaßen
geschildert: ,Ich sah dies neue Budapester Publikum, wie es in
Restaurants Tausendkronennoten zählte, Hundertkronennoten in Päckchen
37 -
reihte. Ich sah, wie Leute zwischen Suppe und Mehlspeise einander
zehn bis fünfzehn Tausendkronennoten übergaben und dann weiter aßen . . .
Andere haben noch schönere Dinge beobachtet. Die alte Logenschließerin
des Nationaltheaters sah, daß während einer Shakespeare-Vorstellung in
einer der teuersten Logen Leute saßen, die Papier auf die Brüstung
breiteten und auf dieses Papier Salamispalten und Gurken legten. Dieser
Anblick erregte Aufsehen im Theater. Eine bejahrte Logendame im
Vordergrund machte dieses neue Publikum, das sich auf die Eßware
stürzen wollte, darauf aufmerksam, daß man den roten Samt der Brüstung
nicht beschmutzen dürfe. Doch das neue Publikum erklärte, es hätte die
Loge bezahlt und könne nunmehr darin tun, was ihm beliebe.'«
Die Loge bezahlt? Die Welt aller Ränge bezahlt! Und
die hiesigen beliebten Feuilletonisten sagen es also auch? >Es sagen 's
aller Orten alle Herzen unter dem himmlischen Tage, jedes in
seiner Sprache; warum nicht ich in der meinen?« Und ich wundere
mich nur, daß es in Budapest Aufsehen erregt, Salamipapier auf
Logenbrüstungen — das ist doch Wurst. Das ist doch ehrlich.
Schlimmer wird das nachfolgende Stadium der Kultur sein, und
auch das hat Budapest schon hinter sich.
Jenseits von Gut und Böse
. . . Der Richter sprach aber die Angeklagten frei, denn er
wisse, daß polnische Juden, denen ihr Vorname nicht gefalle, ihn mit
einem besser klingenden vertauschen, ohne daß sie dabei die Absicht
verfolgen, die Behörde in Irrtum zu führen. Es sei bekannt, daß sich
viele polnische Juden, die sich Moses nennen sollten, als Moriz eintragen.
Da sind sie so noch bescheiden. Jene, denen dann der
Moriz nicht gefällt, nennen sich Maurice. Und wer den Hersch
nicht ehrt, will des Horace wert sein und heißt dann, weil Frankreich
der Feind ist, eines Tages Horaz. Es sollten Höchstnamen eingeführt
werden. Bis zum Moriz gehe ich noch mit, aber dann versagt
das Verständnis.
Menschliches Allzumenschliches
— Prinzessin Gisela von Bayern, hat der Frau Dr. Sophie
Großmann für ein Glückwunschtelegramm zum 60. Geburtstage durch
die Kammervorstehung folgendes Telegramm zugehen lassen: Ihre kaiser-
liche Hoheit Frau Prinzessin Gisela lassen Ihnen für Ihre so warmen
Glückwünsche herzlich danken. Perfall.
38
Die fröhliche Wissenschaft
Bei der Abhaltung der Vorlesungen trat allerdings nur zu oft
das Kuriosum ein, daß ich, wenn ein Satz gerade beendet war, eine
kleinePause eintreten lassen mußte, um den Donner der Geschütze
verhallen zu lassen. Denn die Fenster waren wegen der hohen
Temperatur geöffnet und so setzten die Geschütze die Kommas und
die Schlußpunkte unter alle Sätze.
So erzählt ein Czernowitzer Universitätsprofessor, und den
Geschützen, die genug akademische Würde hatten, ihn ausreden
zu lassen und nicht schon im Satz zu unterbrechen, läßt sich
immerhin nachsagen, daß sie es mit der InterpunMon halten, die
in einer so großen Zeit vielfach als Nebensache behandelt wird.
Aber die Beherztheit eines Czernowitzer Universitätsprofessors,
die auf dem vorgeschobensten Posten deutsch-österreichischer Kultur
keine Grenze kennt, findet noch ihre Steigerung:
Am Tage darauf wurde ich neugierig und ging, selbstver-
ständlich mit einem Passierschein, nach Mahalla.
Nachdem er s ch so vor dem Leser ausgewiesen hat und
keinen Anstand mehr haben kann, entschließt er sich endlich,
auch westwärts abzugehen.
Um 1 Uhr nachts verließ ich meine Wohnung, meinen Koffer
in der Hand; denn ich wollte mich von meinen Schriften und einigen
unentbehrlichen Büchern nicht trennen.
Aber das ist es eben. ,Bei Geschriebenem und Gedrucktem
lassen sich die Geschütze auf Korrekturen nicht mehr ein. Da
streichen sie das Ganze. Darum sollte man, um ihre Tätigkeit
vollends zu rehabilitieren, die Universitätsprofessoren in Sicherheit
bringen und nur die Bedingung stellen, daß sie ihre unent-
behrlichsten Schriften zurücklassen.
Die Geburt der Tragödie
(Der Schützengraben während der Firmwoche.) Für das leicht-
empfängliche Kindergemüt kann wohl kaum etwas Fesseln-
deres gedacht werden, als der Schützengraben mit seiner
Romantik, und so ist es begreiflich, daß wohl jeder Firmpate und
jede Firmpatin in das für ihren Firmling zusammengestellte Unter-
haltungsprogramm einen Besuch des Schützengrabens im Prater
eingesetzt haben. Die naturgetreue Anlage des Schützengrabens
mit seinen Unterständen, die vor ihnen errichteten Drahtverhaue, über
die hinweg man die —
39
— Zeit verhauen möchte! Nichts als dies brauchte von ihr zu bleiben,
um sie den Nachlebenden zum Greuel und Scheuel zu machen.
Ehedem hat der »Göd< dem Firmung eine Uhr und dazu eine
Watschen zum Geschenk gemacht. Jetzt, da die Uhr die große
Zeit anzeigt, täte man besser, die Watschen dem >Göd< zu über-
reichen, der die Absicht hat, das leichtempfängliche Kindergemüt
zum Schützengraben zu führen. Die naturgetreue Anlage des
Schützengrabens und die naturgetreue Anlage des Kindergemüts:
eine Mörderwelt sieht nicht, daß sie dieses in jenem begräbt, und
setzt beides in ihr Unterhaltungsprogramm!
Der Übermensch
Das Bruchstück:
Unter dem Schlagworte »Die Feldgrauen für die Feldgrauen«
veranstalten Offiziere und Mannschaften der hiesigen Ersatzformationen
ein ganz eigenes Theater, wobei sie das von einem Feldgrauen ver-
faßte Stück »Der Hias« zur Aufführung bringen. Im Rahmen einer
dreiaktigen Komödie werden uns einzelne Bilder aus dem Leben vor
Augen geführt, und wir lernen so ziemlich alles kennen, was der Krieg
an Abenteuerlichem, Verwegenem und Überraschendem, nicht
minder aber auch an herzhaft Erfrischendem und Ergreifendem mit
sich bringt. Patrouillengänge, Gefangennahme, Kriegsgericht gegen
»deutsche Barbarei«, französischer Chauvinismus und frohgemutes Lager-
leben wie die Feier des Königsgeburtstages wechseln in bunter Reihe
ab, wobei ganz besonders das kameradschaftliche Zusammenleben der
Offiziere und sonstigen Vorgesetzten mit der Mannschaft und deren
treues Zusammenhalten geschildert wird. Die Anhänglichkeit der Mannschaft
an die Offiziere zeigt sich im schönsten Licht, — und solch ein
Muster echt bayerischer Art ist der Offiziersbursche Hias ....
Es ist Theater und doch keines, vielmehr im höheren Sinne wahr-
haftiges Leben .... das ist nur die Wiedergabe des Erlebten, wenn
auch in anderer Form, das ist aus ihren Empfindungen heraus-
geboren und wohl nur ein Spiegelbild ihres ureigensten Wesens,
wie es sich draußen im Felde gebildet hat .... Dieser Akt ist
vom Publikum beklatscht worden, wie dies noch keine Kunstleistung
erfahren hat .... Und da es also nach dieser Richtung hin kein Theater
im üblichen Sinne sein will, nennt der Theaterzettel keinen einzigen
Namen der Mitwirkenden, ja, nicht einmal der Verfasser des
Stückes tritt aus seiner bes cheidenen Zurückhaltung heraus.
Im dritten Akte sollte auch ein Film vorgeführt werden, aber leider hat
die Polizei ihn wegen Feuersgefahr gestrichen, so daß wir
— 40 —
darum kamen, die Auffahrt der Artillerie, Handgranalenkampf, Hand-
gemenge und Nahkampf zu sehen. Zum Schlüsse endlich ....
so manches kluge, liebe und zuversichtliche Wort .... gesunder,
kräftiger, echt bajuvarischer Humor ....
Das Nachgeholte:
(Faustrecht eines Theaterdichters.) Zurzeit wird im Nürnberger
Stadttheater das feldgraue Spiel: »Der Hias* von H. Gilardone
aufgeführt. Der Verfasser hat sich herausgenommen, unter gröblichsten
Beleidigungen und unter Androhung körperlicher Gewalt,
außerdem mit Unterschiebung materieller Interessen, gegen den Referenten
und den verantwortlichen Redakteur des .Nürnberger Anzeigers' vor-
zugehen. Er verlangte unter diesen Drohungen und Beleidigungen den
Widerruf der Besprechung. Der »Journalisten- und Schriftstellerverein
Nürnberg und Umgebung« hat sich in seiner Sitzung vom 8. Juni 1916
mit der Angelegenheit befaßt und erklärte sich angesichts dieses unerhörten
Verhaltens solidarisch mit seinen beiden angegriffenen Mitgliedern, verurteilt
das Vorgehen des Herrn Gilardone aufs schärfste und billigt den beiden
angegriffenen Mitgliedern den Rechtsschutz des Vereins zu.
Zur Genealogie der Moral
Auf Grund einer vom Wachtmeister Berger erstatteten Anzeige
hatte sich die Schneiderin Karoline M. wegen Übertretung gegen die
öffentliche Sittlichkeit zu verantworten, weil sie am 4. April, auf dem
Heimwege begriffen, gegen Mitternacht in der Mariahilferstraße den
Rock bis zu den Hüften hinauf gehoben haben soll. Die Angeklagte
hatte sich zur kritischen Zeit in Gesellschaft zweier Herren befunden,
während der Anzeiger, der die Arretierung der Angeklagten veranlaßte,
in Begleitung seiner Frau und eines anderen Soldaten war. In der heute
durchgeführten Verhandlung stellte die Angeklagte entschieden in Abrede,
den Rock in einer das Sittlichkeitsgefühl verletzenden Weise gehoben
zu haben. Sie erklärte, daß sie damals den Rock höher gehoben habe
als sonst, nämlich bis zur halben Höhe der Strümpfe, was um so
weniger auffällig war, als sie auch Reformunterkleider trug. Die als
Zeugin vernommene Wachtmeistersgattin Anna Berger gab an, daß die
Angeklagte den Rock bis zur Hüfte gehoben, dabei sich gebückt und
noch gelacht habe. Durch dieses Verhalten sei das Sittlichkeitsgefühl
der hinter ihr gehenden Personen arg verletzt worden, zumal die Ange-
klagte, wie sie sah, keine Unterkleider getragen habe. Gegenüber dieser
Aussage erklärte die Angeklagte, sie habe den Rock nicht allzu hoch
heben können, weil sie damals in zwei Herren eingehängt war. Der
Zeuge Franz Wiedel, der zur kritischen Zeit in Gesellschaft dei Ange-
klagten war, gab an, daß die Angeklagte, als sie vom Trottoir auf die
Straße ging, den Rock so hoch gehoben habe, wie die Damen ihn
41
heben, wenn es regnet. — Richter: Hat es damals geregnet? — Zeuge:
Nein. — Der Zeuge gab schließlich noch an, daß die Angeklagte und
ihre beiden Begleiter zur kritischen Zeit in sehr animierter Stimmung
sich befanden und daß, seiner Ansicht nach, durch das Heben des
Rockes bis zu den Knöcheln das Sittlichkeitsgefühl irgendeiner Person
nicht verletzt werden konnte. Der Richter sprach schließlich die Ange-
klagte frei, da bei den widersprechenden Zeugenaussagen nicht genau
festgestellt werden konnte, wie hoch denn die Angeklagte eigentlich
den Rock gehoben habe. Der Richter ermahnte zum Schlüsse die Ange-
klagte, beim Heben des Rockes vorsichtiger zu sein.
Hoch der Rock, die Waffen nieder!
Die blonde Bestie
(Die Mädchen von S. und die ungalantenBoches.) Aus der
Westfront wird folgende heitere Episode berichtet: Als die deutschen
Eroberer das Dörfchen S. besetzt hatten, veranlaßten sie die Gemeinde-
behörden, »aus Gründen der Ordnung« an der Tür eines jeden Gebäudes
ein Verzeichnis aller dort wohnhaften Personen anzuschlagen. Es ge-
nügte ihnen aber nicht etwa, Name und Beruf zu wissen, nein, sogar
das Alter der einzelnen Personen mußte mit angegeben sein und —
wie peinlich — obendrein vom Dorfschulzen als richtig beglaubigt.
Die wenigen noch im Ort befindlichen Männer besahen die Sache
allerdings mit Gleichmut, und auch die Greisinnen und die ehrwürdigen
Matronen fügten sich. Ja, es gab einen kleinen weiblichen Kreis im
Dorfe, der die Maßnahmen sogar mit Genugtuung begrüßte: die von
18 bis 24! Anders aber die Schönen des »Mittelalters«. Sie fühlten
sich in aller Öffentlichkeit an den Pranger gestellt. Was nützt
jetzt zum Beispiel der kleinen, zierlichen Wäscherin Valentine
Roussi alle Munterkeit und Anmut, wo der vermaledeite Wisch da
draußen zu jeder Stunde auf die Gasse hinausschrie, daß sie »schon«
26 Jahre alt ist? Und welchen Sinn hat es denn noch für die in ihrer
ganzen bäuerlichen Schönheit erblühte Madeleine Thuillard, ihrer
vollen Figur eine schlanke Taille abzutrotzen oder mit Hilfe des
schwarzen Samtbandes ihrem sonnengebräunten Hals einen so »vorteil-
haft« wirkenden Schmuck zu verleihen, wo der in ihrem Hause in
Quartier liegende Kriegsmann lediglich vor die Tür zu gehen braucht,
um sich über Dichtung und Wahrheit bei Madeleine Gewißheit zu
verschaffen? Reicht doch die dreifache Fingerreihe nicht mehr hin, ihre
Lenze aufzuzählen. Kurz und gut, der Zustand war wirklich uner-
träglich. Und eines Abends, als es dunkelte, raffte sich eine resolute
Neunundzwanzigjährige zur Tat auf. Sie nahm ein Messer, schlich vor
42
die Haustür und kratzte mit zitternder Hand und klopfenden Herzens
den vielsagenden Einer der zweistelligen Zahl ihres Alters — die neun —
von dem blütenweißen Amtspapier hinweg. Den Zehner — die
zwei — ließ sie unberührt, denn sie wollte ja durchaus nicht leugnen, daß
es mit ihr so um die 20 herum stand. Und siehe da: das Ver-
fahren machte schnell Schule, so daß heute die Einwohnerverzeichnisse
in bezug auf das Alter der holden Weiblichkeit zwischen 25 und
40 Jahren fast durchwegs nur noch die geheimnisvolle Zehnerziffer
aufweisen. Die deutsche Ortskommandantur hat den gewiß höchst be-
zeichnenden Akt der Selbsthilfe gekränkter französischer Dorf-
schönen offenbar in seiner ganzen Harmlosigkeit erfaßt und läßt den
Missetäterinnen stillschweigend den kleinen Triumph ihrer Eitelkeit.
Nein, die Boches sind nicht ungalant, sondern sie haben
Humor. Die resolute Neunundzwanzigjährige hat ganz recht getan,
sozusagen ein Beispiel gegeben; und der in ihrem Hause liegende
Kriegsmann, dem es um die >erweisliche Wahrheit« zu tun war,
ist um den Erfolg seiner Neugierde betrogen. Hätte sie aber
geahnt, daß diese bei weitem nicht so ordinär sei wie die Scherz-
haftigkeit, über die er erforderlichenfalls auch verfügt, sie hätte es
unterlassen. Denn Unappetitlicheres als dieser Humor preisgebender
Diskretion, als dieses Lachen des sexuellen Verzichts, diese Blamierung
des >Mittelalters« und diese Musterung der »Lenze<, die ihre
Heiterkeit von den , Fliegenden' auf die Flieger vermacht hat,
läßt sich vor dem unsere Lebensart mehr bestaunenden als hassenden
Europa nicht ersinnen. Die Feinde werden endlich lernen,
daß es wirksamer sei, unsere Pikanterien zu berichten, als unsere
Greuel zu erfinden.
Die ewige Wiederkunft
aber könnte von dieser umwertenden Welt, vor der gestorben zu
sein weit größere Ehre ist als für sie gestorben zu sein, höchstens
so erlebt werden:
Im Lustspieltheater wurde dieser Tage die Operette »Mädel,
küsse michl< zum fünfundsiebzigstenmal gegeben .... Die Zugkraft
der Operette >Die Csardasfürstin € im Johann Strauß-Theater erwies sich
auch kürzlich bei ihrer zweihundertfünfundzwanzigsten Wiederholung ....
In der Residenzbühne hat >Der Regimentspapa« die fünfzigste Auf-
führung hinter sich ....
43
Eine leider nur vorübergehende Veranstaltung
. . . wurde in diesen Tagen eine eigenartige Ausstellung eröffnet.
»Das verschwindende Gfietto< nennt sie sich .... Diese Ausstellung bietet
ein ungemein interessantes Bild der Entwicklung des Amsterdamer Juden-
tums. Lange hat der Kampf gedauert, bis der Entschluß, das Judenviertel
niederzulegen, sich durchzusetzen vermochte .... Auch die bis in die
kleinsten Einzelheiten gehende Nachbildung eines typischen Ghettozimmers
mit all den Gegenständen für die rituellen Gebräuche ist von besonderem
Interesse .... Und so sind es hundert Dinge, die das Auge fesseln,
und man kann beim Durchwandern der Ausstellung fast bedauern,
daß es sich hier um eine nur vorübergehende Veranstaltung
handelt.
Was heißt fast? Ganz! Was heißt Amsterdam? Wien!
Was heißt typisches Ghettozimmer? Von Olbrich!
Fleißig nur im Talmud lesen!
Die Polizei hat den aus Satoraljaujhely gebürtigen 24jährigen
Talmudisten Ludwig Pahmer verhaftet, der in letzter Zeit große
Mengen von Lebensmitteln eingekauft, eingelagert und dadurch die
Preise der Lebensmittel künstlich in die Höhe getrieben hatte.
Ist schon alles dagewesen!
Merks Wien
Gegenüber jenem fashionablen (feinen) Hotel (Haus) Bristol
(Vöslau), das den Anforderungen der Zeit entsprechend einen
»Rostraum« (Grillroom) eingeführt hat und wo die Berliner
Armeelieferanten deshalb ein- und ausgehen können, steht eine
Plakatsäule, auf der die folgende Sammlung von Ankündigungen
zu lesen ist:
Zuckerzusatzkarte
Kaffeekarte
Ablieferung von Metallgeräten
Säuglingsfürsorge
Und über all dem:
»Volk in Not«
Der Kleber war ein Zeit- und Raumkünstler.
— 44
Sie exzediert schon
Einen bemerkensweiten Verlauf nahm heute beim
Bezirksgerichte Josefstadt eine Verhandlung, in der die Hilfsarbeiterin
Marie Grill wegen Wachebeleidigung angeklagt war. Als Frau Grill,
deren Mann im Feld steht, am 5. Mai gegen 6 Uhr abends von der
Arbeit heimkehrte, fand sie ihre armselige, aus Kabinett und Küche
bestehende Wohnung ganz ausgeräumt vor. Die geringen Fahrnisse
waren auf einen Handwagen in der Hauseinfahrt aufgeladen. Um den
Wagen standen die drei Kinder der Frau Grill und weinten. Die Haus-
besorgerin im Hause Hernalser Hauptstraße 210 hatte wegen eines
Zinsrückstandes von 11 K die Delogierung der Frau Grill erwirkt
und sie in Abwesenheit der Frau Grill vornehmen lassen. Die Delogierte,
die noch keine Wohnung hatte, machte Miene, sich mit ihrem jüngsten,
schwerkranken Buben auf die Schienen der Elektrischen zu werfen,
wurde jedoch von den Passanten, die sich in großer Zahl angesammelt
hatten, zurückgehalten. . . . wegen Straßen ex zesses für verhaftet erklärte
und sie, begleitet von mehreren hundert Personen, aufs Kommissariat
eskortierte. Während der Eskorte soll Frau Grill dem Wachmanne
zugerufen haben: >Sie sind von der Hausmeisterin gespickt worden.
Sie gehören eigentlich ins Feld, nur sind Sie dazu zu feigl«... ihre drei
Kinder, von denen das jüngste kürzlich an beiden Füßen operiert. . . .
Die Hausbesorgerin, die ihr gehässig sei, und die allein im Hause
das Regiment führe, habe ihr gekündigt und auch die Delogierung
bewirkt. Am 5. Mai sei sie nachmittags auf Arbeit ausgegangen und
als sie am Abend zurückkehrte, habe ihr die Hausbesorgerin schon von
weitem zugerufen: »Na, ich hab' a schöne Überraschung für Sie
vorbereitet!« Sie habe dann zu ihrem Entsetzen ihre armseligen
Sachen in der Hauseinfahrt gesehen. Sie habe sehr geweint, da sie
nicht wußte, wohin sie mit ihren Kindern gehen solle. Auf einen Wink
der Hausbesorgerin sei der Wachmann Bayer herbeigeeilt, habe sie, als sie
weinte, sofort beim Arm gepackt und dabei gerufen: »Oes Reservisten-
weiberl Ich werd' euch schon helfenl«.... Richter: Geben Sie
zu, den Wachmann während der Eskorte mit der in der Anzeige
inkriminierten Äußerung beschimpft zu haben? Angekl.: Wie mich
der Wachmann wie eine Diebin eskortiert hat, so daß ich mich vor den
Leuten geschämt habe, habe ich ihm nur gesagt: >Sie gehören ins Feld,
damit Sie die Sachen auch kennen lernen, wie mein Mann sie kennen gelernt
hat.« . . . Der als Zeuge unter Diensteid vernommene Wachmann Ferdinand
Bayer erklärte, daß die Hausbesorgerin ihm schon vor der Vornahme
der Delogierung sagte, daß Frau Grill, wenn sie nach Hause kommen
wird, sicher exzedieren werde. Gegen 6 Uhr abends habe ihn dann
die Hausbesorgerin mit den Worten gerufen: >Sie ist schon da, sie
exzediert schon.«... arretiert... eskortiert... inkriminierte
Weise . . .
Das Ganze heißt Wien. Es beginnt mit ein paar arm-
seligen »Fall missen«, nimmt dann einen bemerkenswerten Verlauf
— 45
und endet mit Delogierung, Elektrischer, Passanten, Kommissariat,
Regiment, operiert, exzediert, arretiert, eskortiert, inkriminiert. Die
Hausmeisterin bietet a schöne Überraschung. Die Armut, die nur
ein paar Fahrnisse hat, gerät in allerlei Fährnisse, unter Fremd-
wörter, die sie nicht versteht, sieht sich plötzlich vor einem
Richter, den sie mit >Herr kaiserlicher Rat« oder gar »Herr
kaiserlicher Adler< anspricht. Es kommt ins Weltblatt, wo es der
wahre kaiserliche Rat, ein richtiger Adler zum Frühstück liest.
»Fahrnisse hat sie gehabt, nicht der Rede wert.« Sie exzediert
schon? Nein, noch nicht. O oes Reservisten weiber, könnte ich
euch doch helfen!
Jetzt ist Krieg
Das vernichtende, in seiner totsicheren Stupidität fast
wunderbare Argument : daß jetzt Krieg ist — welches die Raubgier
wie die Faulheit bereit halten, um den wegmüden Wanderer, den
ja auf Verlust und Hindernis gefaßten, aber von solcher Vehemenz
überraschten Bürger anzufallen, in den Straßengraben zuwerfen
und nur gegen ein neuerliches Lösegeld am Leben zu lassen — es
wird die letzte Erkenntnis einer Menschheit sein, die, wie immer
er ende, die Beute ihres Krieges bleibt. Plusmachertum und
Schlamperei scheinen seit den Tagen, da der Fortschritt sich in
Bewegung setzte, darauf gewartet zu haben, einmal mit einigem
Anspruch auf Glaubhaftigkeit sagen zu können : jetzt ist Krieg !
Bliebe uns noch so viel Nervenkraft, alle Attentate auf eben diese
im Gedächtnis zu bewahren, wir hinterließen ein Lesestück für die
Enkel, in dem erzählt wird, was sich im Hintergrund der blutigen
Begebenheit täglich abgespielt hat, wenn wir kauften, speisten,
reisten (o Sagenwelt der Paßlabyrinthe und Klauselabenteuer), wenn
wir Briefe schickten und empfangen sollten. Da vernehme ich,
daß der brausende Schmock, der uns eine »Isonzobibel« versprochen
hat, vorläufig so entgegenkommend war, eine philosophische
Rechtfertigung des österreichischen Daseins zu versuchen. Ztmi Glück
gibt es wieder andere Schmöcke, die Rezensionen schreiben und
die Quintessenz eines »psychopolitischen Systems« durch ein
— 46 —
glückliches Zitat vorwegnehmen. Die österreichische Schlamperei
wird also als eine »in Laß und Lust gewordene und eine den
musischen Tugenden entsprechende wahnverwaltende Verwaltung«
definiert. Nie wäre mir eine solche Formulierung geglückt,
wiewohl ich doch immer erkannt habe, daß die ganze Verspätung
unseres Daseins auf den musischen Zeitvertreib der Südwahn- und
Nordwahnverwaltung zurückzuführen sei, zu deren Laß und
Lust wir ja eigens auf die Welt gekommen sind. Daß es
Dichter seien, die unsere Lebensnotwendigkeiten bestellen,
haben wir oft auf dem Südwahnhof erfahren, wenn unsere
Frage nach der Ankunft eines Zuges m.it der Versicherung
beschwichtigt wurde: »So um'ra elfe kummt er gern«; und wie
froh wurde mir ums Herz, als mir neulich auf die Erkundigung, ob
man sich denn auf die einstündige Verspätung, die angeschrieben sei,
verlassen könne, die Auskunft wurde: »Ah wos, wos waß denn i,
die wissen an Dreck, und wann s' wos wissen, wern s' es do net
dem Publikum auf d' Nasn binden!« > Warum denn nicht?«
»Weil s' selber an Dreck wissen!« >So. Aber es ist doch eine ein-
stündige Verspätung angeschrieben.« »Jo, ongschrieben, aber
kummen tut er um zwa Stund später.« »Ist das die Regel?«
»Na, die Regel is grad not, aber dös müßt rein a Ausnahm sein,
daß er net zwa Stunden hot.« »Ja, aber warum wird denn das
nicht angeschrieben?« »Z'weg'n wos? Z'weg'n so an Dreck von
an Personenzug?« »Ja, aber warum wird denn dann die ein-
stündige Verspätung angeschrieben?« »Weil dös eben ka Mensch
not wissen kann, dö draußt melden's not herein und dö herint
sagen nix.« »Halt, ich glaube, jetzt kommt er.« »No alstan,
sehn S', dös is der reine Zufall!« »Ja, aber wie kommt
das, daß er doch kommt?« »Mei Haber Herr, da müssn S' wen
andern fragen, dös san eben die Verspätungen, wir herint
kriegen keine Meldung nicht, jetztn bei dem Verkehr kann
man gar nix sagen, jetzt is Krieg — !« Ähnliche Aufklärungen
würden einen auch bei einer Post- und Telegraphenbeschwerde
schadlos halten. Daß es Dichter sind, weiß man nicht nur
vom Neujahr her, wo sie sich einander so schöne Verse drahten.
Die »Postler«, die schon immer nicht recht wollten, berufen
sich jetzt auf die »Bahner« und beide zusammen auf die
Krieger. Aber wenigstens haben wir kürzlich erfahren, daß es einen
47
Reichsbund deutschler Postler Österreichs gibt, der unter der
Ägide eines Obmanns namens Pogatschnigg (was wie ein ent-
schlossener Pallawatsch klingt) einem Kameraden im >Reich« einen
Drahtgruß entboten hat, weil dieser in seiner Eigenschaft als
Abgeordneter dem Sozialdemokraten Liebknecht das Manuskript aus
der Hand gerissen hatte. Man konnte daraus ersehen, was den öster-
reichischen Postlern Freude macht, Sie sind immer lieber dafür,
daß einem ein Schriftstück weggerissen als daß es einem zugestellt
wird. Was aberdie Meinung deutschvölkischerMänner über Liebknecht
anlangt, so ist es nicht nötig hervorzuheben, daß dieser ein Ehren-
mann ist, was jenen noch kein kriegsgerichtliches Urteil nachgesagt
hat, sondern die Sache liegt vielmehr so, daß man sich über die
Postler nur ärgern muß und daß dem Futtermangel, unter dem
jetzt die Tiere zu leiden haben, durch eine geschickte Verarbeitung
von Deutschnationalen abzuhelfen wäre. Es wäre ja ein Betrug.
Aber wissen wir denn, woraus dänische Konserven gemacht sind,
und von welchem Tiere das »Kriegsfleisch« kommt, das uns jetzt aus
manchem Schaufenster Ersatz verheißt? Wir wissen unter
dem vielen, was wir nicht wissen können, nicht wissen dürfen und
nicht wollen, nur eines: daß jetzt Krieg ist, nämlich jener, den die
Politiker gemacht haben, und daß es human wäre, alle jene, die die
Menschheit zur Schlachtbank geführt haben, zur Schlachtbank zu
führen, damit wenigstens die Tiere sich wieder satt essen können.
Die Beispiellosen
Es wird darauf aufmerksam gemacht, daß es in dieser
großen Zeit nicht genügt, statt eines Fremdwortes eine Phrase
bei der Hand zu haben, sondern daß es auch die richtige sein
muß. Man bedenkt nicht, welches Unheil entstehen kann, wenn
im entscheidenden Moment die Phrasen verwechselt werden. Das
volkstümliche Denken inkliniert — bitte, inkliniert sage ich und
nicht neigt, denn ich halte es für besseres Deutsch — inkliniert sehr
dazu, von zwei Vorstellungen, die ein deutsches Wort immer
eröffnen kann, die nächste zu beziehen. Wenn die Polizei sagt, daß
— 48 —
der fehlende Betrag hundert Kronen »betrugt, so glaubt dasV'olk,
daß hier schon das Delikt bezeichnet ist, und wenn sie einen
»Angestellten« sucht, so sieht es darin schon die Beschuldigung,
daß er etwas angestellt habe. Eine ähnlich faszinierende Wirkung
hat das Wort »Beispiel», das aus der unverständlichen Zusammen-
setzung »beispielgebend«, in der es der Sprecher als Beispiel
empfiehlt, in die geläufigere »beispiellos« zurückversetzt wird, in der
es der besprochenen Handlung gefehlt hat. Selbst der Geist offizi-
eller Verlautbarungen ist von einem Beispiel immer so hingerissen,
daß er es unrichtig anwendet. So wurde zu Beginn einer Zeit, die von
Beispielen wimmelt und in der zum Ersatz für Menschlichkeit und
Lebensmittel nichts anderes täglich gegeben wird als Beispiele und
Scherflein, der Entschluß eines Hofbeamten, wieder aktiver Offizier
zu werden, mit den Worten verkündet, er habe »sich in beispiel-
loser Weise zum Frontdienst gemeldet«. Nun kann der tausendste,
der es tut, noch immer den folgenden ein Beispiel geben, aber
vom hunderttausendsten, der doch noch mehr Vorbilder hat, wird
unfehlbar gesagt werden, er habe beispiellos gehandelt. Es mag dies
mit dem Drang des Österreichers nach Individualität zusammen-
hängen. Er steht dem Leben als Restaurateur in jedem Sinne des
Wortes gegenüber, richtet sein Etablissement immer wieder auf
den Glanz her, und wenn er sagt, es sei das erste Restaurant der
Welt, so hat er insofern recht, als es zwar nicht das beste ist,
aber immer wieder der Versuch, eine Einrichtung, die sich für
die übrige Menschheit von selbst versteht, mit dem größten Anspruch
auf Beachtung, schwitzend und grüßend, in beispielloser Weise zu-
sammenzuflicken. Denn der Hanswurst benimmt sich immer so,
als wäre nicht knapp zuvor ihm von heroischer Seite ein Beispiel
gegeben worden.
Alles was recht is — da gibts nix!
>. . . Man darf wohl feststellen, daß weder bei uns noch
bei unseren Verbündeten ein Verunglimpfen des Gegners zulässig ist
und daß ein solches weder bei unseren Soldaten noch im Hinter-
land Beifall ernten könnte. Dies entspräche eben der ritterlichen
49 —
Denkungsart unserer Soldaten nicht. Pemgegenüber ist in der
Ententepresse von Anfang an die roheste Beschimpfung und Ver-
leumdung des Gegners der Grundton der Tagespresse und der
Kriegsliteratur gewesen . . . .«
Was gibts Neues?
»In Chemnitz ist ein , Haßgesang auf Kitchener' zu dessen Tod
entstanden, der nun öffentlich verbreitet und in öffentlichen Lokalen
gesungen wird.«
Ein Nachruf
Kein General kann gezwungen werden, auf dem Kriegs-
schauplatz zu sterben. Es gibt auch solche, die in der Bognergasse
fallen, wenn unversehens ein Auto kommt, oder von einem
Omnibus bei der Karlskirche verwundet werden oder in der
Avenue de l'Opera oder wer weiß wo. Aber eine Menschlichkeit,
die solche Vorfälle natürlich bedauert und der es nicht in den
Sinn kommt, sie mit dem Maße des kriegerischen Nachruhms zu
messen, der in derselben Zeit zu holen wäre, fühlt sich doch von Zorn
und Ekel gepackt, wenn sie in nächster Nähe die Überschrift liest:
Das Ende Lord Kitcheners.
Der ruhmlose Abschluß einer großen Laufbahn.
Unter den Titeln, mit denen uns dieser wutkranke Börseaner
allabendlich anfällt, wohl einer, der uns mit tiefster Trauer vor
unserer Wehrlosigkeit erfüllt. Gäbe es in Österreich einen Menschen,
der Mut im Sinne einer kulturellen Offensive hat, ein solcher wüßte,
was er zu tun hat, damit nie mehr wieder an einem Tage, an dem
sich alle Weltfeindschaft im Schweigen vor dem Riesenmaß eines
Todes findet, das schmutzigste Maul dieser Zeit und das unver-
antwortlichste, sich solchen Nachgebells erfreche. Wann wird
der Schinder kommen diesem Lande!
50 —
Der ruhmlose Abschluß einer großen Laufbahn
Wien, 21. Juni.
Das holländische Blatt >Vaderland« hatte vor einigen Tagen
die Möglichkeit erwähnt, daß Kitchener in der Seeschlacht vor dem
Skagerrak sein Ende gefunden habe. Einer näheren Prüfung hält diese
Lesart, wie die >Kölnische Zeitung« ausführt, nicht stand. Das
ergibt sich aus folgenden Tatsachen .... Feststeht, daß Kitchener
durch eine deutsche Waffe, mag es nun eine Mine oder ein Torpedo
gewesen sein, seinen Tod fand.
Feststeht und treu.
Der ruhmlosere Abschluß
>. . . . hat durch übereinstimmende Zeugenaussagen der zwölf
überlebenden Matrosen Aufschluß über die letzten Augenblicke des
britischen Generals gegeben .... daß Kitchener das Schiff nicht verließ,
sondern mit ihm unterging .... verlor keinen Augenblick seine bekannte
Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart, vielmehr trug er eine erstaunliche
Ruhe und Gleichgültigkeit zur Schau. Als die Minenexplosion eintrat,
kam Kitchener, der sich gerade in seiner Kabine befand, ruhigen Schrittes
ans Deck, wo er gleichmütig mit zwei Offizieren sprach .... so daß
die Boote und alle, die darin Platz genommen hatten, mit in die Tiefe
herabgezogen wurden. Während das Dutzend Matrosen sich auf etliche
schwimmende Flöße retteten .... stand Kitchener noch immer an Deck
im Gespräch mit seinen Adjutanten. Er und der Kommandant waren
die letzten, welche mit dem > Hampshire« untergingen.«
Oder auf deutsch:
Man fühlt es schmerzlich und betroffen :
Herr Kitchener ist nun zwar ersoffen —
Doch Grey? Da bleibt noch viel zu hoffen.
Das ist im Simplicissimus gestanden, in jenem Simplicissimus,
der seine Vergangenheit an das Vaterland verraten hat;
dessen ruhmloses Ende der traurigste Witz der Zeitgeschichte war
und dessen wir uns unter allem was seit 1914 in deutscher Sprache
erschienen ist, dereinst am meisten zu schämen haben werden.
Kein Zweifel, diesen Bulldogg hätte Schopenhauer an die
Kette gewünscht!
51 -
Sehr richtig!
>. . . Deshalb muß Frankreich als Bittsteller sich nach London
wenden, obgleich das innere Wesen beider Völker die Entwicklung der
Herzlichkeit ausschließt und die Kräfte, die abstoßen, im Kriege trotz
der politischen und militärischen Gemeinschaft noch stärker geworden
sind als im Frieden. Franzosen und Engländer können sich gegenseitig
nicht ausstehen, und dazu kommt das Mißtrauen, das in Paris weite
Schichten erfaßt hat ... .«
Das Leben ohne Phrase
Pbrasenaustausch zwischen Boselli, Asquith und Briand
Lugano, 25. Juni.
Der italienische Ministerpräsident Boselli hat an den Premier-
minister Asquith und an den Ministerpräsidenten Briand Telegramme
gesandt, in denen er ihnen seine Ämtsübernahme anzeigt.
In seinem Telegramm an Premierminister Asquith erklärt Minister-
präsident Boselli ....
Premierminister Asquith erwiderte, indem er ... ,
In seinem Telegramm an Ministerpräsidenten Briand gebraucht
Ministerpräsident Boselli die Phra-e, daß die französische und die
italienische Nation in einem Bündnisse verknüpft seien, das von
gemeinsamen Erinnerungen und Vorsätzen zur Geltendmachung der
nationalen Rechte beseelt sei.
Ministerpräsident Briand erwiderte mit der Versicherung, daß
Bosellis Gefühle in Frankreich ein treues Echo finden und beide Nationen
von einem gemeinsamen Ideal getrieben werden, um einträchtig und
mit gleicher Energie bis zum Endsieg zu kämpfen.
Etwas ganz anderes ist es, wenn sich anderwärts nicht nur
Sprach- und Stammesgemeinschaft, sondern auch die Überein-
stimmung des Kriegszieles und die natürliche Solidarität der
Gefühle in Kundgebungen äußern. Denn bekanntlich sind die
Angehörigen der romanischen Rasse nur durch Mißtrauen anein-
ander gebunden, während sich die Sympathie zwischen einem
Braunschweiger und einem Debrecziner, einem Klagenfurter und
einem Kleinasiaten von selbst versteht.
— 52 —
Austausch von Wahrheiten
Wir haben allerdings triftigen Grund, uns über den Austausch
von Phrasen zwischen den Feinden lustig zu machen, da wir uns
höchstens gegenseitig Komplimente über unsere Aufrichtigkeit
machen könnten:
Im Schlaraffenland
Dieser blitzhaft über
Berlin W. W.
hinleuchtende Gesellschaftsroman spiegelt die Welt der oberen Zehntausend
der Reichshauptstadt in unvergleichlicher Satire wieder. Fäulnis und
Trubel der Metropole, die genußgierige Welt der Geldleute,
Schieber, literarischen Streber und Hochstapler zieht im Zerr-
spiegel schlemmend an uns vorbei: Schlaraffenland, Schlaraffenland
der feinen Leute!
Der Golem
Ist man mit der Lektüre zu Ende, so faßt man sich wohl selbst
an den Kopf und sinnt, ob man nicht auch träume. . . .
Aber nicht, daß man den »Golem«, sondern daß man jenes
über Berlin W. W. gelesen hat. Im Annoncenteil, also wenn sie
dafür Geld kriegt, nimmt sich die österreichische Presse kein
Blatt vor den Mund. Vielleicht zur Revanche, weil neulich im
Textteil des Berliner Tageblatts die Worte zu lesen waren:
Schallende Heiterkeit weckte der Frosch Max Pallenbergs, in Ton
und Maske das Abbild eines echten österreichischen Trottels.
Dieser droht nun scherzhaft mit dem Finger und sagt: >Sie
sind doch bekannt, mein Lieber, als Schieber, als SchieberN
Eine Feststellung
Berlin, 13. Juli.
Die Blätter veröffentlichen einen Bericht aus dem Großen Haupt-
quartier, worin es heißt:
Vom ersten Tage des Krieges haben wir als einzige von allen
kämpfenden Nationen die Heeresberichte unserer sämtlichen Gegner
ohne jede Kürzung veröffentlicht, denn grenzenlos ist unser Vertrauen
in die Standhaftigkeit der Daheimgebliebenen. Aber unsere Feinde
machten sich dieses Vertrauen zunutze. . . .
53 -
> Bundestheater«
. . . das Orchester spielte die Hymnen der verbündeten Mächte
und das Publikum, in dem manche offizielle Persönlichkeit zu sehen
war, hörte die weihevollen und martialischen Tonstücke stehend an
und akklamierte sie lebhaft .... Der angejahrte Ehemann aus der
Provinz macht Einkaufsreisen nach Wien, die immer ein Nachtlokal und
eine schöne Tänzerin zum Ziele haben. Die strenge Gattin kommt der
Sache auf die Spur und deshalb wird die Tänzerin als neu aufgenommene
Verkäuferin ausgegeben, aus welchen Lügenfäden dann im zweiten Akt
die kompliziertesten und amüsantesten Verwicklungen gedreht werden,
worauf im letzten Akt eine ebenso heitere Entwirrung folgt .... Er
hat keine anspruchsvolle Musik geschrieben, sondern eine legere und
liebenswürdige, sie geht weniger ins Gemüt und mehr ins Ohr, besonders
aber in die Beine. Das gilt namentlich von dem sehr »reißerischen« Walzer
»Wir bleiben beim Walzer< und von dem Hauptschlager der
Operette, dem grotesken Terzett »Adeline, wie bist du schön!« .
Außerdem gibt es noch einige hübsche und zierliche Polkamotive,
Walzer und Märsche, lauter angenehme und unaufdringliche Wiener
Melodien, die sich dazu eignen, um bei ihrem Klang an schönen
Sommerabenden im Freien zu nach tm ah len. Manches davon wird
wohl den Ausstellungssommer überleben und noch im nächsten
Herbst und Winter gespielt, gesungen und gepfiffen werden. . . .
Der Blick hat sich verändert
. . . Heute stehen wir zwei Jahre im Weltkrieg und die durch ihn
geschaffene Notwendigkeit, die Frauen zu allen Männerberufen heran-
zuziehen, läßt uns das Lustspiel Strindbergs mit anderen Augen
schauen ....
. . . Heute wird es uns schwer, den Kampf der Geschlechter,
wie ihn Wedekind mit dem ihm eigenen Hang zum Absonderlichen
in dramatischem Freskostil ausmalt, neben der tragischen Wucht des
Weltkrieges als tragisches Wellbild gelten zu lassen ....
So in dem Kulissentratschblatt eines tragischen Leo Stein,
der dem Weltkrieg die Libretti liefert.
Nestroy und die Berliner
»In Berlin spielt man jetzt im Lessing-Theater Nestroys ,Lumpaci-
vagabundus'. Darüber äußert sich der Kritiker der ,Täglichen Rundschau'
folgendermaßen: Es gibt Leute, die Nestroy gern mögen und den
— 54
jLumpacivagabundus' im besonderen. Es gibt auch Leute, die sich über
die faden Spaße der Clowns im Zirkus freuen. Raimund - munkelt
man — hat sich Nestroys wegen ums Leben gebracht. Die Literatur-
geschichte behauptet, er hätte es aus Kummer über HerrnNestroys
Erfolge getan . . . ich würde auch andere Gründe verstehen I Herrschaften
— man stelle sich vor, der Herr Forest und der Herr Adalbert wären
gestern als Schuster Knieriera und Schneider Zwirn nicht so gut auf-
gelegtgewesen, wäre es da nicht einfach zum Davon laufen gewesen?
Und auch noch so lichteten sich die Parkettreihen gestern nach dem
fünften Bild schon bedenklich. Zuweilen, weil ich mich genierte,
nahm ich einen verzweifeltenAnlauf, über das liederliche Kleeblatt doch
auch einmal zu lachen. Aber ich gelangte über eben diesen verzweifelten
Anlauf beim besten Willen nicht hinweg. Lieber genierte ich
mich weiter. Das liegt natürlich an mir. So'n bißchen weanerisch
ist ja sehr nett — ab und zu und ab und an — , aber auf
die Dauer? Ich glaube, da muß man doch schon unterm Stephansturm
groß geworden sein, um an den Späßchen seinen Spaß zu haben. Das
ändert aber alles nichts an der Tatsache, daß das Lessing-Theater das
Fernsein seines Herrn und Gebieters dazu mißbraucht hat,
diesen Nestroy wieder einmal aus wohlverdientem Schlafe zu erwecken,
und mir bleibt übrig, diese Tatsache mit bedauerlichem Achsel-
zucken zu verbuchen. . . .«
Der Herr Nestroy ist ein halbes Jahrhundert vor der Expansion
dieses Oreckgehims dahingegangen und denkt sich jetzt sein Teil. Der
Herr und Gebieter, dessen Fernsein man mißbraucht, um Nestroy
aufzuführen, heißt Barnowsky. Das ist nun einmal so, die Welt
will's nun einmal so und man kann nichts machen. Man kann
höchstens hoffen, daß sie auf kein' Fall mehr lang lang lang steht.
Gemeinsames
, Neues Wiener Journal' :
Der amerikanische Botschafter in Berlin, Exzellenz Gerard war
so freundlich, heute mittag den Vertreter des >Neuen Wiener Journals<
zu empfangen und ihm wieder einige Mitteilungen zu machen
, Vossische Zeitung':
Ich empfing Herrn E. Fr. in Gegenwart einer Dame und
antwortete auf seine Fragen, daß ich ihm nichts weiter sagen
könne, als daß sich das Mitglied der amerikanischen Botschaft Herr Grew,
dessen Abreise nach Amerika gemeldet war, nur in Familienangelegenheiten
in New- York aufhalte. Auf jede weitere Frage des Herrn E. Fr. ver-
weigerte ich die Auskunft. Als Herr E. Fr. nach einiger Zeit
— 55
wiederkam und mir ein Manuskript brachte, in dem meine an-
geblichen Äußerungen wiedergegeben sein sollten, und mich um
Bestätigung dieser Unterredung bat, gab ich Herrn E. Fr. zu verstehen,
daß ich kein Wort von dem gesagt habe, was mir in den
Mund gelegt worden war. In der Erregung über die an mich
gestellte Zumutung, zerriß ich das mir überreichte Manu-
skript in Gegenwart des früheren Botschaftsrates Jackson
der aus seiner zwölfjährigenehemaligen Amtstätigkeit an der amerikanischen
Botschaft in Berlin bekannt ist, in Stücke und warf es in den
Papierkorb. Es kann nach alledem von einer »authentischen Unterredung<
mit mir seitens des Herr E. Fr. nicht im entferntesten die Rede
sein, so daß ich jede Verantwortung für dieses Interview strikt
ablehne. Hätte sich H err Graf Westarp vor seiner Kundgebung
im Reichstag erkundigt, so würde er erfahren haben, daß es sich
um apokryphe Äußerungen handelt. Bei der vornehmen Gesinnung
des Führers der konservativen Partei darf ich annehmen, daß er angesichts
der hier mitgeteilten Tatsachen Gelegenheit ergreifen wird, auf Grund
dieser meiner Erklärung die mir fälschlich in den Mund gelegten Äußer-
ungen zu widerrufen. Ich lese zwar die großen deutschen Blätter in
deutscher Sprache, die ich leidlich gut beherrsche; aber ich kann nicht
alles lesen, was mir zugeschickt wird. Und so ist mir auch die
angebliche Unterredung erst später zu Gesicht gekommen. Hätte ich
ahnen können, daß sie zum Gegenstand einer Erörterung
vor dem Forum des Reichstages erhoben werden würde, so
wäre ich sogleich eingeschritten. Daß die Unterredung nicht zu-
traf, habe ich Ihnen ja vor wenigen Tagen mitgeteilt. Jetzt ist es an der
Zeit, die Wahrheit rückhaltslos zum Ausdruck zu bringen,
denn die Wahrheit kommt niemals zu spät.
Trotzdem hatte noch der Fürst Leopold zur Lippe Appetit:
Seine hochffirstliche Durchlaucht der regierende Fürst Leopold IV.
zur Lippe hatte die besondere Freundlichkeit, jüngst bei einem
Aufenthalt in Berlin, von der Front kommend, dem Korrespondenten
des »Neuen Wiener Journals« in Gegenwart des Chefs seines
Geheimen Zivilkabinets, des Geheimen Kabinetsrates Professors
Dr. V. Eppstein, eine Audienz zu gewähren.
Also vorsichtshalber ein männUcher Zeuge. Aber es dürfte wahr
sein, daß er das gesagt hat:
». . . Wir werden in den ersten Jahren nach dem Kriege keinesfalls
die alten Exportziffern erreichen können, aber wir werden exportieren.
. . . die beiden Kaiserreiche werden im wesentlichen nach den-
selben Grundsätzen regiert und verwaltet. Wir haben auch fast den-
selben Menschentypus, dieselbe hochentwickelte Kultur,
beinahe dasselbe Volks-, JVlittel- und Hochschulsystem und beinahe dieselbe
Rechtsordnung. Der eine Kaiserstaat hat in die Organisation des andern
56
genau hineinsehen können. Und daß man einander so intim kennen
gelernt hat, das verpflichtet. Österreich-Ungarn und Deutschland haben
heute vor einander keine Geheimnisse.
. . . Die ungarischen Schweine und das ungarische Hornvieh werden
uns willkommener sein, als die russischen Schweine und die russischen
Rinder . . . .< Dr. Egon Friedegg.
Ob damit auf den regeren Import von Journalisten, Librettisten,
Verlegern, Theaterdirektoren, die schon vor dem Krieg in Berlin
ihr Glück gemacht haben, angespielt werden sollte, ist mindestens
zweifelhaft. Was die Ähnlichkeit des Hochschulsystems anlangt,
so ist es richtig, daß die reichsdeutschen und die österreichischen
Fakultäten in gleicher Weise bestrebt waren, die Zahl der Ehrendoktoren
zu vermehren. Was die gemeinsame Rechtsordnung betrifft, so läßt
sich nur sagen, daß Menschentypen, die wegen unbefugten Tragens
des Doktortitels in Berlin abgestraft wurden, also Ehrendoktoren
sind, ihn in Wien weiterführen können und daß Interview-
Fälschungen, die von österreichischer Seite in Berlin begangen und
in Wien veröffentlicht werden, straflos bleiben. Sonst aber geht
es der Kultur gut, und wir werden exportieren.
Vom berechtigten Optimismus
>Auf den ersten Blick hat es allerdings den Anschein, als ob
unseren Gegnern schier unermeßliche Hilfsquellen zu Gebote stünden,
allein eine Revision derselben wird uns die Überzeugung verschaffen,
daß dieses vermeintliche Übergewicht absolut nicht in einem derartigen
Maßstabe vorhanden ist, der uns die volle Zuversicht auf den endgültigen
Sieg auch nur trüben könnte. Zunächst gebieten unsere Gegner zwar
über ein ganz kolossales Menschenmaterial, allein ebensowenig wie
sich England wohlweislich hüten würde, selbst wenn es könnte, seine
Hunderte von Millionen Inder zu einem europäischen Kampfe aufzubieten,
ebensowenig wird sich Frankreich hüten, die große Masse seiner
Kongo- und sonstigen Neger, seiner Anamiten, Araber und Mauren usw.
mit Repetiergewehren auszurüsten und militärisch zu schulen . . . .«
Und:
>Stark im Vertrauen, daß der König und die Abgeordneten, die
das Volk vertreten, an den Tag legen, beabsichtigt die griechische
Regierung nicht, dem Drucke des Vierverbandes, dessen Zweck, wie erklärt
wurde, der Eintritt Griechenlands in den Krieg ist, nicht nachzugeben.«
— 57
Und tatsächlich hatte sie inzwischen nachgegeben. Und
ebenso werden sie sich ebensowenig hüten. Das i<ommt davon :
der Österreicher ist ein Idealist, der zum positiven Erfolg auf dem
Wege der doppelten Negation gelangt. Sein Optimismus ist In-
differentismus, und dieser findet je nach dem sonstigen Glaubens-
bekenntnis, seinen Ausdruck entweder in der Maxime: »Gar net
ignorieren!« oder in der Formel »Nicht — Nicht!«
Die Denkgesetze
Überall ist es jetzt die Aufgabe aller, aus der Depression
der andern den eigenen Mut zu schöpfen. Bei uns geht's am
leichtesten. Der Hanswurst unseres Optimismus, der täglich und zumal
abendlich »die Sorge« (der andern) zu messen und namentlich
bei den Franzosen einen >starken Rückschlag auf die Stimmungen«
zu konstatieren oder wenigstens zu erhoffen hat, während wir
natürlich wie der Herrgott in Frankreich leben, gibt ihnen zu
bedenken:
. . . Die Franzosen haben jetzt schwere Sorgen, welche sie un-
mittelbar berühren und die nur wenig durch die russischen Schlacht-
berichte gemildert werden. Auch die erstaunlichen geographischen
Kenntnisse über die Bukowina lenken die Aufmerksamkeit von
Verdun nicht ab. Die Bukowina ist ein Land, das, so oft es unter
russische Botmäßigkeit gekommen ist, immer wieder befreit werden konnte.
Wenn der alte scholastische Spruch richtig ist, daß nach
den Denkgesetzen nichts gewesen ist, was nicht auch wieder sein
kann, so müßten die Franzosen schon daraus schließen, daß es
mit der Bukowina eine eigene Bewandtnis haben dürfte und
daß die Russen gezwungen werden könnten, dorthin zu gehen, woher
sie gekommen sind.
Daß die Denkgesetze nicht auch für Verdun gelten
können, ist nur daraus zu erklären, daß sie auch in Österreich
nur für Czemowitz gelten und sonst infolge des Kriegszustandes
aufgehoben sind. Aber unberufen berufen werden sie bereits. Es
ist wieder wie vor zwei Jahren. »Das Auge bohrt sich< wieder »hinein
in den Qeneralstabsbericht« oder er wird »verschlungen«. Die schöne
Spannungdes daumenhaltenden jüdischen Onkels, der schon zufrieden
ist, wenn der Patient einen Löffel Suppe zu sich genommen hat
(unberufen), kehrt wieder: »Wir möchten nicht vorschnell . . . .«
— 58 —
Die vielen »und«, die in den Zeiten des Stellungskrieges überwunden
waren, brechen wieder hervor; die > Einbildungskraft« beginnt sich
zu regen ; die einfachen Denkgesetze sind schon da. Es ist entsetz-
lich. Wenn die russische Offensive nicht völlig zum Stillstand
gebracht wird, können wir bald wieder > Laienfragen und Laien-
antworten« bekommen.
Metaphysik der Schweißfuße
Aus einem Buch des Herrn Karl Hans Strobl:
. . . Und all das Grün ist mit Mondlicht durchwirkt, weit hinaus
ergossen, bis zu fernen, weißglänzenden Häusern und dunkeln Bergen,
wie Eichendorf fs al lerholdseligstes Sommernachtsgedicht.
Wie ich wieder aus dem dunkeln Saal auf die Terrasse trete,
hat der Fähnrich sein großes Taschenmesser in der Hand, schneidet
ein Stück Geselchtes herunter und sagt so beiläufig und obenhin:
»Mit diesem Messer hab' ich ein paar Russen den Hals
abgeschnitten.«
Auf Schleichpatrouillen, in polnischen Wäldern, in den Karpathen,
wo es gilt, Vorposten des Feindes rasch und ohne Lärm unschädlich
zu machen. Schießen ist unmöglich und Gefangennehmen ein selbst-
mörderisches Getümmel. Anschleichen, Aufspringen, bei der
Kehle nehmen, basta! Oder im Nahkampf, wenn die letzte
Revolverpatrone verschossen ist . . .
Huldschiner zündet eine neue Zigarre an. — — Ob er
sich die Goldene im Russischen Krieg erworben habe?
Nein, die habe er jetzt bekommen, im Kampf gegen die Katzei-
macher. Jetzt hilft ihm nichts mehr, und er muß erzählen. Es sei
weiter nichts Besonderes gewesen, er habe sich halt einmal durch die
italienischen Linien geschlichen und Kundschaft mitgebracht, wo sie
ihre Reserven sammelten, da hätte dann die Artillerie fein gemütlich
hinschießen und die ganze Gesellschaft zersprengen können. . . .
Ich will ja dem Herrn Karl Hans Strobl und ähnlichen
gambrinusartig aussehenden Herren der Literatur nicht persönlich
nahetreten, 's sind wackere Bursche, wenn sie auch all jenes nur
beschreiben und loben und, weil sie dieses treffen, nicht selbst
mitmachen müssen, ich gönne jeglicher Seel' die bequemste
Art, durch diesen Krieg zu ihrem Frieden zu kommen, nicht will ich
tadeln, warum jener Schwächliche, jener Gütige, jener Geistige dort
hinab mußte und dieser Mastbürger hier, dessen treudeutsch
Auge allein die Wacht am Rhein zu garantieren scheint, allheil
bleibt, indem er sich zusammentut mit Juden im Pressquartier,
— 59
alle geduckt, doch in Sicherheit vor dem Gewitter, und indem er
für »Ullstein« — schon der Name ist das Weltübei — Kriegs-
bücher leisten kann; nicht will ich anklagen, daß es vor dem Tod
noch Unterschiede gab, Kontraste und daß alles, was der füg-
samen Welt im Namen des Unrechts geschah, noch entstellt war
durch Ungerechtigkeit. Aber: wenn man mich als Sachverstän-
digen vor dem jüngsten Gericht zuziehen wollte, und ich hörte
dort den Ankläger sagen: Hatte einer wirklich einen Herzfehler,
der ihn davon befreit hat, einem andern das Bajonett ins gesunde Herz
zu stoßen, und holte ers schriftlich nach, indem er sagte, das gefalle
ihm SO; tat er so, so wollen wir solchem Herzen einen langen Ruhstand
in der Hölle gönnen — da würde ich einwerfen : Nein, glaubet mir, alles
dies, all diese viehische Selbstverständlichkeit des Hantierens mit
fremdem Blut, dieses losgelassene Glück der Unmenschlichkeit, dieses
Messerwetzen im Wort »Katzeimacher«, diese bunte Verbindung
von Eichendorff, Geselchtem und Gurgelschnitt — all dies kam
von den Schweißfüßen! Nicht daß ich sie dem Verewigten
selbst imputierte, das wäre eine Rohheit, als amputierte ich
sie ihm gar, dem Nichtgedienten, und keineswegs nachweisbar: wohl
aber der ewigen Seele, die hier vor uns steht! Diese Seele hat
Schweißfüße, sie war ihr Lebtag stolz auf sie, insgeheim aber
laborierte sie daran gewissermaßen und rächte sich an jeglichem Ding,
das keine hatte. Es ist eine Art Redlichkeit, die sich zurückgesetzt
fühlt: die meisten Dichter und Denker schreiben mit Schweiß-
füßen und die Welt will das nicht anerkennen. . . Und würde auf
die Frage des Vorsitzenden, ob ich denn glaube, daß Schweiß-
füße eine metaphysische Eigenschaft seien, erwidern: Na, und ob!
Hauptsächlich! Davon eben ist alles gekommen. Es ist geradezu
eine Weltanschauung, nämlich die unter allen Umständen ideale.
Es bildet sich heraus, wenn etwas immer feststeht und treu, immer
auf demselben idealen Knotenpunkt des Gemüts und des Verkehres.
Dann wollte es sich Luft machen, Bewegung, Expansion, aber
das half ihm nicht und verdroß nur die Umgebung. So ist alles
gekommen. Ich bin nicht für die Hölle, weil sich dort kultivierte
Sünder beschweren könnten, sondern für einen Abort der Hölle,
wo die Autoren und Leser der Ullstein- und Staackmann-Büchereien
mehr unter sich sind und wo der Ganghofer die Honneurs
macht. Hinunter!
60
Liebesgabe
Der bekannte Schriftsteller Hauptmann Franz Xaver Kappus
hat 90 Exemplare seines Buches »Hai Welche Lust . . .< der Aktion
> Bücher ins Feld< kostenlos zur Verfügung gestellt.
Ha, welche Lust!
Ein starker Esser und ein schwacher Esser
Ich esse zu viel.
Von Ludwig Hirschfeld.
Man läßt mich bis zur Besinnungslosigkeit Eier essen,
man gibt mir Speisekartan zur Lektüre, reichhaltig wie eine moderne
Orchesterpartitur, man lädt mich an fleischlosen Tagen ein und serviert
mir Filet ... da kann man nichts tun. Das heißt, man könnte schon
etwas tun. Man müßte es mir eben erschweren, mich verhindern, es
mir unmöglich machen, so gedankenlos üppig zu leben, müßte mich
zur Einfachheit und Mäßigkeit zwingen . Ich habe meine Schuldig-
keit getan und die maßgebenden Behörden und Instanzen auf mein
üppiges Treiben aufmerksam gemacht. Es ist höchste Zeit, daß endlich
gegen mich energisch eingeschritten wird.
Der Schalk hat ganz recht. Es wäre herzlos, selbst angesichts
der sich vorschiebenden Individualitäten die Frage nach der Wehr-
fähigkeit zu erörtern. Was aber unbedingt zu erörtern ist und von
den maßgebenden Behörden abzustellen wäre, ist der erbitternde
Kontrast, daß man an einem Tag, an dem solch gesundes Nichts
sich scherzhaft anklagen darf, den Feldpostbrief eines edlen
Freundes erhält, der, einen Monat nach einem Sturmangriff, die
Worte spricht:
Ich bin am Leben und unverwundet, aber die Strapazen und
Entbehrungen der letzten Wochen haben mich so erschöpft — auch
bin ich bedeckt mit Schorf und schwärendem Ausschlag — , daß ich
Ihnen vorderhand nichts weiter sagen kann als Dank, innigsten Dank für
Ihre mir so teuren Grüße ! — — Ich bin zu müde, um — —
Nein, er sage nichts weiter. Wir wissen alles.
— 61
Diplomaten
Oraf Szögyeny am Tage des Kriegs-
ausbruches.
Von Franz Freiherrn v. Haymerle.
K. u. k. Botschaftsrat.
— 19. Juni
An die
Löbliche Redaktion der »Neuen Freien Presse«
Wien.
(Das sind acht Zeilen, weil zum Glück der Ausbruch auf
den Krieg folgt und die Löbliche mit großem L geschrieben
wird, während es sonst nur sechs gewesen wären. Da er also anhub,
dürfte wohl die Fortsetzung so sein, daß die Welt aufhorchen
wird. Halten wir den Atem an, mag uns dies umso schwerer
fallen, als die folgenden Gedanken auch jeder für sich einen eigenen
Absatz haben, bezähmen wir die kunstvoll gesteigerte Neugierde —
der Lohn, der uns winkt, wird so sein, daß der Österreicher sagt:
>Es ist dafür gestanden«, während der Deutsche das nicht versteht
und nach einigem Nachdenken sagt: >Ach so, Sie meinen wohl, es
hat sich gelohnt? Na hören Sie mal, das meine ich nun ganz und
gar nicht!« Der arme Graf Szögyeny dürfte oft sein Kreuz (Schwierig-
keit) gehabt haben, zwischen solchen Sprachbesonderheiten den
Dolmetsch zu machen. Und was hatte der Freiherr v. Haymerle
dabei zu tun?)
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nachstehende Zeilen
in Ihr geschätztes Blatt aufnehmen wollten.
Ich hatte die Ehre, seit Ende Januar 1914 als k. u. k. Bot-
schaftsrat in Berlin unter dem Befehle Sr. Exzellenz des Grafen
Szögyeny-Marich zu stehen.
Näheres über die Zeit kurz vor Ausbruch des Weltkrieges
zu sagen, liegt nicht in meiner Absicht, noch bin ich dazu
berechtigt; ich möchte nur eine für den großen Staatsmann
charakteristische und zugleich ehrende Episode erwähnen.
Es war am Abend der Kriegserklärung zwischen Serbien
und der k. u. k. Monarchie.
Ich war, mit der Bitte um eine Unterschrift, noch um
Vj9 Uhr abends zu Sr. Exzellenz aus der Kanzlei hinunter-
gekommen.
Der Botschafter war eben im Begriff, aus dem Eßzimmer
in sein Schreibzimmer zurückzukehren.
— 62 —
(Ein Shakespearescher König wäre hier ungeduldig geworden
und hätte etwa gesagt:
Bursche, mach's kurz. Armserge Botschaft bringt,
Wer mit geschäft'ger Miene also anhebt.
Solch Augendrehn und Lippenmurmeln kenn' ich,
Und wind'ge Worte schlag ich in den Wind.
Bist du ein Botschaftsrat, so rat' ich dir,
Halt kurz die Botschaft; bringst du gute Zeitung,
So ist die Zeitung schlecht, der du sie bringst.
Und nur mein Ohr geschaffen, sie zu hören.
Wer viel zu sagen hat, sagt nicht so viel;
Zum Ernst der Tat paßt nicht der Rede Spiel.
Was also geschah, als der Botschafter, eben im Begriffe, aus
dem Eßzimmer in sein Schreibzimmer zurückzukehren, noch um
V29 Uhr abends, also statt ins Schlafzimmer zu gehen, den Botschafts-
rat empfing?)
Als er mich sah, frug er mich, seiner Gewohnheit
gemäß, auch dann immer zuerst seine Besucher oder
Beamten zu fragen, ob etwas Neues los sei, selbst dann,
wenn er selbst Wichtiges mitteilen wollte: »Was gibt's
Neues?« Auf meine Antwort, mir sei nichts Wichtiges
bekannt, sah mich der alte Herr mit einem ganz eigentümlichen,
halb stolzen, halb wehmütigen Blicke an und sagte, mir
tief ergriffen die Hand reichend: »Soeben haben wir Serbien
den Krieg erklärt.«
(Der Botschaftsrat, V29 Uhr abends, wußte das noch nicht.
Dagegen das Volk: es wußte es.)
Buchstäblich in dem gleichen Augenblicke ertönte
bere its in der Moltkestraße (die zwischen demBotschaftspalais
und dem preußischen Kriegsministerium hindurchführt),
ein donnerndes vielfaches Hoch und gleich darauf wurde unsere
geliebte Volkshymne von Hunderten von Menschen aller Stände —
Offiziere, Herren im Zylinder, Damen in Abendtoilette,
Frauen aus dem Volke, Arbeiter, Soldaten und Kinder — ange-
stimmt, und alles rief wie aus einem Munde nach dem Botschafter.
>Ans Fenster«, »ans Fenster«, »er soll sich zeigen«, »wir
wollen ihn sehen!«
(Ans Fenster? Es ist halt ein Kreuz. Alstern ans Fenster,
wozu hätten denn die Herrschaften sonst Abendtoilette gemacht?
Aber wie war nur diese Überraschung zu erklären?)
— 63 —
Es fühlte eben bereits damals mit dem der großen
Menge eigenen Spürsinn das deutsche Volk, wie innig —
(Sympathie geht eben schneller als Diplomatie.)
Se. Exzellenz war so tief ergriffen, daß ich nur mit
Mühe ihn dazu bewegen konnte, ans Fenster seines
Schreibzimmers zu treten.
Graf Szög>eny war so erschüttert, daß er der begeisterten
Menge nur mit der Hand seinen Dank zuwinken konnte. Doch
Tränen rannen ihm über die Wangen. Und ich schäme
mich nicht, einzugestehen, daß auch mir, der im Hinter-
grund stehend diesen erhebenden Moment miterleben durfte,
die schweren Tränen kamen.
Für den Botschafter war es aber wohl der größte
und schönste Moment seines schicksalsschweren Lebens, als
der bedeutende Staatsmann kurz vor dem Scheiden aus
seinem seit zweiundzwanzig Jahren innegehabten Amte noch
erleben konnte, welche für unser geliebtes Vaterland unschätz-
baren Früchte ....
Hoch achtungsvollst
Freiherr v. Haymerle,
k. u. k. Botschaftsrat, zurzeit im Felde.
Mit solchen unschätzbaren Lesefrüchten, die die Welt der
Erwachsenen und Verantwortlichen im Lichte der Fibel zeigen,
vertreiben wir uns die große Zeit. Sie haben geweint; es wird
wieder in der Fibel stehn, damit man den Enkeln nichts mehr
zu erzählen brauche. Alle drei haben geweint, denn der
Botschafter war erschüttert, wie er fühlte, daß er selbst, nämlich
der bedeutende Staatsmann erschüttert war: das sind zwei,
und der Botschaftsrat, der dabei stand : macht drei. In der Aus-
einandersetzung zwischen dem Betmann Hohlweg und Sir
Goschen soll nur einer geweint haben, denn jeder der beiden
behauptet, daß der andere geweint habe. Immerhin ist festgestellt:
daß aus einem großen Moment eine große Zeit entstanden ist. Und
daß Ende Juli 1914 zwischen den Diplomaten mehr Tränen als
Noten ausgetauscht worden sind. Später wurden dann in Europa
die Noten ganz eingestellt und nur noch den Tränen freier Lauf ge-
lassen. Wenn Europa sie getrocknet haben wird und wieder mit
klaren Augen in die Welt sieht, wird es vielleicht verhindern, daß
es künftig einen so traurigen Beruf wie die Diplomatie noch geben
könne und gar einen so trostlosen wie die Journalistik, und vor
64
allem, daß durch die Verknüpfung von Botschaft und Zeitung so
viel Gelegenheit in die Welt komme, Tränen und allerlei sonst zu ver-
gießen. Ein Shakespearescher König hätte, nachdem der Botschafts-
rat endlich geendet, etwa die Worte gesprochen:
O Haymerle, zu viel der Tränen flössen,
Seitdem geschehen, was dir Tränen schuf.
Und eh du es berichtet. Spar die Tränen,
Daß künftig sie der Menschheit nicht mehr fließen.
Du Bote blutig tränenvoller Tat,
Ich dank' dir nicht! Zieh wieder ab ins Feld,
Bring bessre Botschaft; bring auch bessre Zeitung!
Du Haymerle des Unheils, mach dich fort.
Ermüde jiicht das Ohr mit dem Bericht
Der Jovis Donner macht zum Schwatz des Pöbels.
Was malst du Pinsel uns den grauen Himmel
Zum Sonnentag, das Elend zur Idylle?
Harmloser Bote du des Schaudervollen,
Zu lang' hat Trauer unter uns geweilt:
Du bannst sie nimmermehr durch Langeweile!
Und merk, vielfältig greuliches Erlebnis
Wird durch die Einfalt kindischer Erzählung
Nicht ausgetilgt. Wer hat dich hergesandt
Zum Spott auf uns und dieses heil'ge Land?
Unhaymerle, ich geb' dir diesen Rat:
Die Rede spare, spare auch die Tat.
Hättst noch nach neun du nichts von ihr erfahren,
so käme all dies Unglück nicht zu Jahren.
O war', was nachher, heute noch zuvor!
Botschaft und Zeitung lähmten Aug und Ohr.
Nimm meinen Zorn, es sei dir nicht verhehlt:
Man liest, hört, glaubt euch, weil der Glaube fehlt!
65
Notizen
Die Konfiskation im letzten Heft war nur deshalb auf-
fallend, weil sie nicht das Geringste mit sonstigen Maßnahmen
dieser Art zu schaffen hatte und ein Werk der Sprache durch ein
mindestens ebenso wirksames Werk des Schweigens ersetzte.
Sie zeigte auf den ersten Blick ihren Sinn: nicht den Inhalt eines
Gesagten zu verwerfen, sondern den Inhalt eines Geschehenen,
und dieses so sehr ungeschehen zu wünschen, daß sie, weil das
nicht mehr möglich ist, wenigstens jenes ungesagt, ja unzitiert
macht. Ginge es mir um die unmittelbare Wirkung der
Worte: die Austilgung der Fakten — keinen größeren Erfolg
wüßte ich mir als das Verbot, jetzt das auszusprechen, was aus
der konservativsten, die Würde eben jener Macht bejahenden
Ansicht gesprochen war, die ein Wort noch verhindern kann,
wenn eine Tat schon geschehen ist. Ich könnte Genugtuung
darüber empfinden, daß wenigstens eine der uns quälenden
Erinnerungen gelöscht sein soll. Die nachträgliche Unterlassung
spricht eine so eindringliche Sprache, daß beinahe die Hoffnung
erlaubt ist, Dinge, die nicht geschehen sein sollten, würden auch
künftig nicht mehr geschehen, jede leere Seite bedeute eine
Hemmung im Tun, nicht erst im Sagen, und Scham sei nur ein
roter Umschlag für das Weiß der Unschuld. Daß dies der Sinn
der Konfiskation war, wird vollends der Augenschein lehren, wenn der
Tag kommt, der dem konfiszierten Wort wieder ans Licht hilft.
Denn ich strebe keineswegs danach, in die Zeit zu wirken, und
bin mit dem Erfolg, daß eine Tat für ungeschehen erklärt sei,
bei weitem nicht zufrieden. Mein Stoff ist nicht die Wirklichkeit,
sondern die Möglichkeit, und ihre Gestaltung läßt sich ans der
Sprache nicht mehr zurückziehen. Der Macht, die eine ihr nicht
genehme Kritik oder Meldung entfernt, bin ich nicht abhold und
ich räume ihr eine sittliche Stufe über der Presse ein. Die Maß-
regeln, die von jener auf diese zielen und leider nicht ganz und
gar treffen, berühren mein Wort nicht. Daß sie dieses in
bestimmtem Fall für den Ausdruck einer ihr nahen Sachlichkeit
hält, der Wunsch, daß Schweigen ein konfisziertes Faktum begleite,
ist ein Erfolg, mit dem ich nicht auskomme. Man wird schon sehen,
daß Taten vergessen werden können, wie es sich gebührt, aber
von Worten noch Kinder und Kindeskinder erzählen werden.
66 —
In Nr. 426 — 430 (in der natürlich nur die leeren Seiten 1 — 7,
aber nicht die freien Seitenenden auf Seite 65 und 87 eine Konfiskation
bedeutet haben) ist auf S. 15, 2. Zeile links (im Hannele-Zitat) statt
>Saume«: Saum; S. 28, 9. Zeile von unten statt >erlärte«: erklärte;
S, 30, 9. Zeile statt des Strichpunkts ein Beistrich; S. 33,
5. Zeile, statt »Sylvester und« : Sylvester, und; S. 44, 6. Zeile von
unten statt »Berfiner«: Berliner; S. 50, 13. Zeile statt »Aufschwung«:
Aufstieg; S. 61, H.Zeile von unten statt »mir«: mit; S, 63. 4. Zeile
von unten statt »Sie«: sie; S. 75, 3. Zeile statt >das«: daß; S. 76,
16. Zeile statt >Kiegsgeschichte« : Kriegsgeschichte zu lesen.
In Nr. 418 — 422 werde nachträglich korrigiert: S. 10, 6. Zeile,
statt »Vorfall«: Verfall; ebenda, letzte Zeile, statt »weil Antinikotin
gesiegt hat — und über dieser Farbenhölle« : weil Antinikotin gesiegt
hat, während die Entente-Leute verbluten, weil sie nicht beimjacobi
kaufen — und über dieser Farbenhölle.
Bibliographisches. ,Vilag' (Budapest, 25. Juni): eine Nach-
dichtung »Öreg tanäromhoz (Henricus Stephanus Sedlmayer) von
Kosztolänyi Dezsö. — »Gott, Mensch und Menschheit«, Aphorismen
von Alois Essigmann, Axel Juncker Verlag Berlin 1916 (25. Band der
Orplidbücher), S. 16 und 26.
* . *
Vorlesung im Kleinen Konzerthaussaal, 17. Juni: I. Er war ein
Mann, nehmt alles nur in allem / Aphorismen (»Nachts«) / Verdammt
noch mal und zugenäht / Aphorismen (»Nachts«) / Das Lysoform-
Gesicht / Ich glaube . . . (»Nachts«) / Ein Geduldspiel für Groß und
Klein / Ein 2 1/2 jähriges Kind zeichnet Kriegsanleihe / Das war eine
köstliche Zeit / Der Lenz ist gekommen / Neues vom alten Korngold /
Ein sonderbares Imperfektum (März 1914)/Der Atem der Weltgeschichte /
Strindberg und Koofmich / Wien-Berlin (Vorbemerkung) /Der Traum ein
Wiener Leben / Monolog des Nörglers. II. Sommerzeit / Fleisch
und Blut / Blutunterlaufungen / Gedichte: Grabschrift; Aus jungen
Tagen; Vor einem Springbrunnen; Abschied und Wiederkehr; Fahrt ins
Fextal; Die Krankenschwestern; Sonnenthal; An einen alten Lehrer /
Die Schuldigkeit. III. Die Fundverheimlichung / Der ster-
bende Mensch.
Ein Teil des Ertrages wurde Vereinen für Kinderschutz und für
Tierschutz zugewendet.
*
Vorbemerkung zu »Der Traum ein Wiener Leben«:
Niemand, der mich und meine Antithese Wien-Berlin zu lesen
wußte, wird auch nur einen Augenblick im Zweifel darüber gewesen
sein, wie ich zwischen dem Heiligenkreuzerhof und der Friedrich-
straße als Kulturzielen mich entscheide und daß ich diese nur vorzog,
weil sie mir alle Mittel bot, schneller und leichter zu jenem zu gelangen.
Alle Klage galt nur der Qual einer minderwertigen Individualität, die
67 —
den Zugang sperrte; alles Lob nur der entseelten Dutzendware von
Menschheit, die die Straße glatt hielt, damit man zu sich gelangen
könne. Eben diese Wertung und keine andere entspricht dem Gefühls-
zustand, der der Satire »Der Traum ein Wiener Leben« zugrundeliegt.
Sie ist in dem folgenden Aphorismus zusammengefaßt (folgte: »Es ist in
alten Mären . . .« aus >Nachts«).
« *
*
Ein Brief, der zeigt, wie der »einfache Mann an der Front«,
den das begeisterte Hinterland beständig im Maule führt, über
eben dieses denkt:
(»Stuttgart, 10. Juli, militärischerseits unter Kriegsrecht geöffnet,
geprüft und freigegeben.«)
Im Schützengraben, 8—7 — 16.
an der Westfront
Sehr geehrter Herr Kraus!
Durch Zufall gelangte ich in den Besitz Ihrer satyrischen
Monatsschrift ,Die Fackel' und bereitete es mir und noch manch
anderen unter uns eine ganz besondere Freude zu sehen, wie sich
darin mancher unserer innersten Gedanken. gedruckt findet und daß
wenigstens einer den Mut hat, sie an die Öffentlichkeit zu bringen.
Wenn man, wie wir seit IV2 Jahren im Schützengraben
liegt und dann in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern Berichte,
Seelenschilderungen, Haßgesänge und dergleichen liest, da ist es
nur schade, daß sich sein geistiger Urheber nicht gerade bei uns
befindet, er könnte manches an seinen geistreichen Gedanken kästen
bekommen, daß ihm die Lust, unser Leben zu schildern bald vergehen
würde. Es ist ja fast unglaublich, was da alles beschrieben wird von
Leuten, die die Verhältnisse, die sie schildern, meist nur vorüber-
gehend gesehen, vielleicht aber auch nur »gehört« haben, ohne
von dem Seelenleben auch nur eine Ahnung zu haben. Und
wie dann sogenannte »Feldpostbriefe« veröffentlicht werden, die
voll von glühender Begeisterung, Haß und Mordlust sind, jetzt
noch nach 2 Jahren Krieg, und schlimmer steht es wenn solche
Gefühle vollends in Reime gebracht werden. Es wird ja bei uns
in vorderer Linie auch gedichtet, und oft sogar wenn es nicht
einmal besonders luhig ist oder war, aber da kommen andere
Stimmungsbilder zu Stande. . . .
Wir haben den Schützengrabenkrieg fast von Anfang an
mitgemacht und gefäh; liehe und ungefährliche Stellungen in Ent-
fernungen von 70—600 m vom Feind innegehabt; Stellungen in
denen man keine Sekunde vor irgend einem verderbenbringenden
Explosivkörper sicher war; aber gehässige Stimmungen gegen unsere
gegenüber liegenden Kameraden (in unserem Falle die Franzosen,
z. Zt. Truppen, die von Verdun kommen) existieren nicht. Es gibt
natürlich immer vereinzelte Temperamente, die hitziger sind und für
— 68 -
alles gleich Vergeltung wollen ; dazu hätten sie dann schließlich immer
noch ein gewisses Recht, aber gewiß nicht solche, die dies nichts angeht
und die von zu Hause schimpfen, womöglich nur weil ihnen eine Be-
quemlichkeit von früher abgeht. Es ist gerade genug, wenn es
Tote, Verstümmelte und Verwundete im Falle des »Muß« und der
bitteren Notwendigkeit gibt und ist es schade für jeden, ob
Freund oder Feind, der sein Leben lassen muß, denn zum Ver-
gnügen ist gewiß keiner im Krieg. . . .
Ihnen zu schreiben, war mir ein Bedürfnis und danke ich
Ihnen im Namen vieler, daß Sie so offen gegen diese Schäden in
der Presse auftreten, da wir seither nicht geglaubt haben, daß
dies überhaupt möglich sei.
Mit Gruß und Handschlag
Ein Feldgrauer.
P. S. In unserer Kompagnie sind alle Jahresklassen von
23—40 vertreten.
(Durch Urlauber befördert.)
Solche Kontraste gibt's nur an der Front
Nachdruck verboten.
Bei der Isonzoarmee.
Von Alice Schale k.
(Vom Kriegspressequartier genehmigt.)
Trommelteuer auf dem Monte San Michele.
Nach langem Bitten bekomme ich die
Erlaubnis mitzugehen. Natürlich auf eigene Gefahr und
Verantwortung . . Ich fühle, wie die Freiwilligkeit die Last erschwert.
Daß ich nicht mitgehen muß, verursacht den Innern Hader . .
Zur angegebenen Stunde, um 5 Uhr nachmittags, melde ich
mich beim General als abmarschbereit.. Ich
aber bitte darum, mit einem Herrn gehen zu dürfen,
der ohnedies heute in Stellung muß. Durch mich soll
keiner gefährdet werden, von dem es der Dienst
nicht verlangt . . Ein blutjunger Leutnant, der über die
sich eröffnende Abwechslung seelen vergn üg t
ist, biegt mit mir am Fuße des Berges ab, den wir umgehen,
um ihn dann von der Flanke anzufassen Vorher
bekomme ich den Befehl, punkt 9 Uhr wieder an der Ausgangs-
stelle zu sein . . Tiu, tiu, tiuuu — geht es uns von der
Seite an . . Und plaudernd bummelten wir durch
69
die Mondnacht wiederum heim .. Beim Artillerie-
beobachter der Podgora bin ich gesessen, atemlos
harrend, was sich in seinem Abschnitte begeben würde , .
Eine Bejahung der Instinkte, eine Betonung der
Persönlichkeit hat Platz gegriffen, wie sie nie
vordem hätte gezeigt werden dürfen . . Oberhalb
der Parkmauer des Schlosses bin ich neulich beschossen worden . .
Nur die Unsern halten es aus . . Wir stehen da, ohne
Regung. Mag derFeind uns sehen!.. Kein Wort haben wir
noch gesprochen. Jetzt sehe ich ihn an. Dünn ist er und
blaß. Nicht viel über Zwanzig . . Etwas Sonderbares geht
in mir vor. Ich seheden Leutnant an; Volksschullehrer
ist er in einem ungarischen Dorf . . Und wie ein blendendes Licht
steigt in mir eine Erkenntnis auf .. Während des
Trommelfeuers auf dem San Michele erleuchtet
ein neues Verstehen jede Windung meines
Gehirns . . Der Leutnant ahnt nicht, wie seine Haltung auf
jneineErkenntnis wirkt.. Er sieht mich an und lächelt.
Er fühlt, daß ich mit ihm denke, unsere Nerven
schwingen während des Trommelfeuers im Takt
. . Es klingt wie eine Solonummer im Orchester . . Tk, tk, tk —
geht es los . . Der erste Ton ists des Morgens, wenn ich um
halb vier aufstehe, um in die Stellung zu gehen..
Tiu, tiu, tiu — tk, tk, tk — kings ! . . Aber auch nicht der
Gedanke daran, daß man ungehorsam sein, den Befehl miß-
achten könnte, kommt einem von uns beiden in den Sinn. D i e
ungeheure Triebkraft eines Befehls verspüre
ich jetzt am eigenen Leib.. Der Leutnant bleibt
stehen . . Eine Nachtigall lockt und die Akazien duften betäubend . .
jetzt freilich kommt es von der anderen Seite; nicht mehr so
peitschend und eilig, sondern langsam brüllend, fast hohn-
voll singend. Der Leutnant zerrt mich an die Wand.
Wu — wu — wu — — .. Ein Blindgänger war's . . Kein
Gedanke daran, stehen zu bleiben oder Deckung zu suchen.
Befehl: Um neun Uhr stellig zu sein. Zum
erstenmal kann ich ganz mit der Mannschaft
fühlen. Was für eine Erleichterung ist ein Befehl!..
Wunderbar leicht kommt man durchs Feuer,
wenn der Befehl es heischt.. Wohl jenem
Volk, das im Befehl leben dürfte . . vertrauend, gläubig, daß
der Befehl auch der richtige sei, von den Besten der Besten
ersonnen ; so wie es hier der vorwärtsdrängende und jeden Rückfall
abschneidende, das Eigentum schützende Befehl vom
Isonzo ist. Verwundete holen uns ein . . Einer ist taubstumm
geworden. Er winkt und deutet, was ihm geschah . . Die Autos warten
und bald sind wir im Quartier. DerTisch ist gedeckt und in dampfenden
Schüsseln wird das Mahl aufgetragen. In jedem Auge stehi
— 70
noch der Abglanz des Erlebnisses. Alles schweigt. Aber
wir essen ganz tüchtig und schlafen prächtig
und nächsten Mittag spielt die Militärmusik
bei der Offiziersmesse auf. Wir haben ja den benötigten
Graben. Im Freien wird gespeist, die Spargel schmecken
gar köstlich und süße Walzermelodien wetteifern mit dem
Kuckuck und mit dem Specht .. In Rom erfährtSalandra
wohl nichts, als daß er heute einen Graben verlor.
Die Honveds auf dem Monte San Michele.
Wenn man des Morgens um""vier zur F r o n t hinaus
fährt, muß man unterwegs jedesmal ein wenig halten, um
die Verwundetenzüge vorbeizulassen . . Die Leichtverletzten nehmen
noch Haltung an und salutieren, andere heben matt den Blick
und versuchen, mit der Hand nach der Mütze zu fahren, viele
aber liegen unbeweglich, haben den Mantel übers Gesicht gezogen
und sehen und hören nichts . . Das Gefecht ist zu
Ende. Wir können also gehen....
|Nach San Martino del Carso.
Den Monte San Michele lasse ich heute
rechts liegen.. Auf den frontseitigen Mauern stehen mit Erde
gefüllte Papierkörbe zum Schutz gegen die Gewehrkugeln . .
Heute führtmich mein WegzurNachbardivision,
zu den ungarischen Truppen des Heeres .. Leichengeruch
weht über die Straße weg.. Kein Korso einer Großstadt
ist so menschenbelebt wie diese granatenbestrichene Straße . .
Hier liegen seit acht bis zehn Monaten zwischen den Stellungen ganz
mumifizierte, durchlöcherte Leichen. . Die Gräben sind
eng, fast nur mannsbreit und die Leute schlafen langausgestreckt auf
ihrem Grunde. Man steigt über sie weg, aber sie wachen
nicht auf . . Sechs Einschläge zählen wir und eine rasche
Aufnahme gelingt . . Ich darf durch einen
Panzerschild hinausschauen und den Trichter
bestaunen.. Ich stehe inmitten der Arbeiterabteilung, die
eben dabei ist, die Zertrümmerungen unseres Grabens auszubessern.
Ihr Kitt hinterläßt lehmartige Flecke auf meiner Jacke, denn um
den Trichter zu sehen, muß ich mich dicht an die frisch-
gestrichene Mauer schmiegen. Das amüsiert sie und sie
lachen . . und freiwillig schildern sie tausendundeine Einzelheit
dieser Nacht. . Ein Mann legt sich eben eine Schnurrbartbinde
an.. Beim Bataillonskommandanten bekomme
ich ein Glas Eierschnaps. Das tut wohl. Die Nerven
vibrieren doch von dem ewigen Krachen ringsum.
»Decken Sie frisches Zeitungspapier auf«, ruft
der gastfreie Offizier .. Sechs Schüsse — sechs Voll-
treffer . . Und während ich Platte auf Platte mit Bildern
für die Zukunft fülle, eilt die Mannschaft von allen Ecken
— 71 —
herbei. Sie möchten mit auf das Bild. Beim Brigadier
wartet ein Frühstücl< auf uns; dankbar nehme
ich 's an.. Weil mich Cadorna heute wiederum
verschonte, weil die Granate wiederum gerade
um ein Viertelstiindchen zu spät kam, gibts eine
Flasche echten Champagners und als besonderen
Lohn eine Dose wirklichen Kaviars. Knusprige
Kipfel und bunte Blumen, Radieschen und ein Damastgedeck —
solche Kontraste gibt's nur an der Front....
Wien, 13. Juli.
... An solchen Ausartungen der weiblichen Natur können
wir nicht schweigend vorübergehen, weil sie manches erklären, was
zu den Erlebnissen dieses Krieges gehört, und weil uns in solcher
Denkweise und in solchen Handlungen etwas Fremdartiges ent-
gegentritt, zu dessen Verständnis die bisherigen Erfahrungen wenig
zu sagen haben .... diese abstoßende Unweiblichkeit, diese auf
der Gasse zur Schau getragene Gemütlosigkeit sind Merkmale
ernster Verwilderung.
. . . Eine Frau, die den Beruf, zu dem sie geschaffen ist,
nicht erfüllt, muß durch Anlage und Erziehung gütig sein, damit
sich nicht Besonderheiten herausbilden, die aus den Störungen im
körperlichen Gleichgewichte entstehen mögen Wie das immer
zu sein pflegt, daß die Frau, wenn sie aus der Eigenart des
Geschlechtes heraustritt, ihre Zartheit abstreift und sich zum
Mannweib verunstaltet, zu einer seltsamen Grausamkeit neigt, hat
sich diese Erfahrung auch in England wiederholt. . . .
(Ach so!)
Da werden Weiber zu Hyänen. Die Spinster . . darf
nicht mit ihrer festländischen Schwester verglichen werden.
Diese ist gewöhnlich ein liebes, gutmütiges und bescheidenes
Wesen .... Die Spinster in England . . will durch Erfolg und
Macht im öffentlichen Leben entschädigt sein.
... Sie kann die Kriegsleidenschaften schüren und
auch fanatische Frauen mit sich fortreißen, da sie den Schmerz
einer Mutter nicht spürt. Wenn es nur wirklich Leidenschaft
und Fanatismus wäre. Es kann auch sein, daß die Suffragetten
sich in ein nüchternes Geschäft mit der Kriegspartei eingelassen
haben .... und vielleicht wurden sie gemietet, um die erlöschende
Glut wieder anzufachen. . . . Dem Himmel sei Dank, daß eine
österreichische Frau . . im Kriege dort ihren Platz gewählt
hat, wo Kranke zu pflegen. Müde zu erfrischen und Bedrückte zu
trösten sind ....
— 12 —
Von einem Mann namens Ernst Posse
Der Sinn der waffenbrüderlichen Vereinigung wäre unvoll-
I<ommen, wenn nicht zur Hebung des Fremdenverkehrs und zum
Austausch der Professoren auch ein Wechselga^spiel von Redakteuren
käme, etwa so, daß der Chef des .Fremdenblatts' seinen infor-
mierten Mist in der .Kölnischen Zeitung' ablagert und der Chef
der,KöInischen'dafürseinen Kohl im, Fremdenblatt' pflanzt. Pfingsten,
ein Fest, das, wie Weihnachten und Ostern ihre Heiligkeit, längst
seine Lieblichkeit unter Zeitungspapier begraben hat, war die
Gelegenheit:
»Zum ersten Male nimmt der hervorragende erste Schriftleiter
der .Kölnischen Zeitung', jenes ausgezeichneten Blattes von wohl-
verdientem Weltruf, das in mehr als hundertjähriger ununterbrochener
Überlieferung uneigennützig im Dienste großer und gerechter
Sachen steht, im Weltkriege das Wort in der österreichischen
Presse: wir sind ihm dafür zu besonderem Danke verpflichtet. <
Ähnlich dürfte sich an dem gleichen Tage Köln über VC'ien
geäußert haben. Der geistige Vertreter jener Stadt, die, wie man
gleich sehen wird, ihren Geruch in der Welt mit weit mehr Recht
dem Kölnischen Wasser als der Kölnischen Zeitung anvertraut, heißt
Ernst Posse, ist aber nur in seinem Zunamen ernst zu nehmen. Da
das Fremdenblatt dem Aufsatz die Bemerkung nachschickt, daß
Nachdruck mit Quellenangabe erlaubt und erwünscht sei, so will ich's
unternehmen. Man wird nicht nur daraus ersehen, was von einem
Geisteszustand zu erhoffen ist, dessen maßgebendster publizistischer
Vertreter mit Recht den Namen Posse führt, sondern auch erfahren,
wie der Vorwurf, daß ich die Presse überschätze, an dem eigenen
Machtwahn dieser Standesgenossenschaft zu Schanden wird.
Unter dem Titel »Wie gründen wir Mitteleuropa?« zeigt ein
Schwätzer den einzig richtigen Weg, der zu solcher Gründung
führen kann: mit der Phrase dort zu beginnen, wo man mit ihr
geendet hat; denn neues Leben blüht aus den Ruinen. Wäre die
Sorte Menschheit, die es probieren will, weil ihr dieser Wechsel vom
Hörensagen bekannt ist, nicht völlig ausgehöhlt und auch nur
eines Gedankens noch fähig, sie würde ihre Wortführer mit nassen
Fetzen aus den Redaktionen des Weltbrands jagen. Der geistige
Austausch der Herren Szeps und Posse hat aber seine Vorgeschichte:
73 —
Wir im Reiche werden uns erinnern, daß Minnesangs
Frühling an der Donau blühte, daß Walther von., der Vogelweide,
der Preiser deutscher Art und deutscher Sitte, in Österreich singen
und sagen lernte, daß unser nationales Lied von der Nibelungen
Not und Tod zuerst am Wiener Hofe vorgelesen wurde; und in
den verbündeten Ländern wird man jetzt noch tiefer empfinden
als vordem, daß die Dichter und Denker der Wirkungszeit des
großen Friedrich, mag ihre Wiege im geschmeidigen Süden, in
Franken, in Schwaben oder im spröderen preußischen Norden
gestanden sein, in ihrer Muttersprache auch für sie dichteten und
dachten, daß ihre Werke deutsches Gemeingut sind.
Das gemeinste deutsche Gut dürfte die Anwendung dieses
Wortes sein. Die Dichter und Denker im Reich, die Singer und
Sager in Österreich — unter denen aber die Singer in der
Majorität sind — : diese alte Wechselbeziehung in Ehren. In
Wahrheit wird kein Mensch im >Reiche« sich je an einen andern
geistigen Zusammenhang mit Österreich erinnern, als daß die
Reinhardt und S. Fischer aus Budapest in Berlin reüssiert haben.
Aber die Theaterdirektoren müssen sich aufs Kino verlegen und
die Tage der Verleger sind gezählt. Dafür bricht die Zeit der
Minnesänger wieder an. Hört, hört:
Uns Journalisten wird in einer Zeit, wo Bücher
kaum noch gelesen werden, eine ähnliche Aufgabe zu-
fallen wie die, welche unsere Vorläufer in den Jahrhunderten vor
Erfindung der Druckkunst, als Bücher noch nicht gelesen wurden,
zu erfüllen hatten, indem sie, fahrende Sänger und Vaganten,
von Hof zu Hof zogen, um ihren Zeitgenossen in einer ihrem
Verständnis und ihrem Geschmack angemessenen Form die
Zeitung zu künden. Allen denen unter uns aber, die gedanken-
los in den Tag hineinlebten, und den nicht minder Zahl-
reichen, die sich gegen den Einfluß der Presse weg-
werfend spreizten und sperrten, hat der Krieg offen-
bart, welche Macht der moderne Zeitungsschreiber in
der Hand hält. Man denke sich, wenn man kann, die
Zeitung weg in diesem internationalen Aufruhr der
Gemüter; wäre ohne sie der Krieg überhaupt möglich
geworden, möglich in seinen Entstehungsursachen,
möglich auch in seiner Durchführung? Ich will hier nicht
untersuchen, ob der Offenbarer Krieg, der den Menschen und den
Dingen bis auf den Grund ihres Wesens schaut, an der Presse
mehr Schatten- als Lichtseiten erkannt hat. Jedenfalls wird
für die Beurteilung der Zeitung die Beleuchtung, in
die der Krieg sie gerückt* hat, auf lange hinaus maß-
gebend sein.
— 74
Ach, daß wir's hoffen könnten ! Und daß wir's endlich
gehört haben! Endlich auch das schwarz auf weiß haben! Ohne
die Presse wäre der Krieg überhaupt nicht möglich gewesen!
In seinen Entstehungsursachen nicht und nicht in seiner Durch-
führung! Der Wiener Rädelsführer des Weltverbrechens hat
einmal geschrieben:
»Vor einigen Tagen war in den englischen Blättern, die seit
Jahren die Holzstöße zum Weltbrande herbeigeschleppt haben,
zu lesen . . . .<
Wenn so etwas der englischen Presse nachgesagt wird,
dachte ich, dann wird der Presse als solcher ja die Fähigkeit dazu
nachgerühmt. Dieser indirekte Beweis für mein Recht, die Presse
zu überschätzen, wird nun durch das direkte Geständnis über-
trumpft. Und allerorten beginnt jetzt die Presse, sich des Einflusses
rühmend, den sie der feindlichen Presse zum Vorwurf macht, sich
stolz der Urheberschaft am Weltkrieg anzuklagen. Tua culpa,
tua culpa, mea maxima culpa. Das Kinderspiel der Erwachsenen
>Wer hat angefangen?« wird auch in den Lagern der inter-
nationalen Journalistik und hier mit dem berufsgenossenschaftlichen
Stolz, der die fremde Schuld zum eigenen Ruhm macht, erörtert.
Der Journalismus ist die einzige Internationale, die durchgehalten
hat, denn Journalisten kämpfen ja nicht gegeneinander, sondern
gegen die Völker der anderen. Einig bleiben sie in dem allge-
meinen Siegerbewußtsein, daß es doch schön sei, in einer Welt
zu leben, die man vermöge jener unumgänglichen Verbindung
von Abhub und Druckerschwärze und jener unwiderstehlichen
Wirkung von Druckerschwärze auf Geistesschwäche zerstören kann.
Da und dort beeilen sie sich nun, ihre Opfer durch den Vorschlag von
Reformen zu entschädigen, empfehlen internationale Überwachungs-
bureaux, Journalistenakademien und natürlich den Austausch von
Berufsgenossen, und einer versteigt sich sogar zu der Meinung, daß »die
Hauptsache doch immer das Verantwortungsgefühl« sei. Wie sich
jene aber eine Heilung des Weltkrebses durch kosmetische Scherze
vorstellen, wie sich dieser das Fortbestehen einer Presse bei Züchtung
einer Eigenschaft denkt, die den Lebensnerv der Presse zerstört, beides
ist gleich rätselhaft. Journalistenakademien — das bedeutet die
Qraduierung der Schande; es ist das Projekt des Größenwahns, der
mit einer Gewerbeschule des Verbrechens nicht mehr auskäme.
75
Austausch von Journalisten - das wäre der Entschluß, im eigenen
Staat das falsche Geld des andern anzuerkennen. Internationale
Überwachungsbureaux: die Überwacher der Presse hätten genug
zu tun, sie auf Reklamenotizen für ihre Tätigkeit zu durchsuchen.
Was soll aber vollends die Einführung eines V'erantwortungsgefühls,
da doch die Presse als ganze eben den mechanischen Ersatz eines
solchen bedeutet? Schon meldet sich ein Gegner derartiger Reformen,
der offen erklärt, daß es nicht angehen würde, beim Verantwortungs-
gefühl stehen zu bleiben, >ohne dessen Grenzen nach oben und
unten zu untersuchen«. Das Verantwortungsgefühl muß seine Grenzen
haben. »Die IVlitschuld der Presse am Kriege ist nicht zu be-
streiten—aber kann man ihn aus dieser Tatsache allein erklären?«
Was der Presse — natürlich nur der feindlichen — an Verant-
wortungsgefühl gefehlt habe, habe ganz Europa gefehlt. Immerhin
wird die Wirkung der Druckerschwärze, deren Verschleißer sich
meinen Angriffen durch den Hinweis auf ihre Vergänglichkeit zu
entziehen pflegten, jetzt unter die Kriegsursachen eingereiht, dem
Feinde zur Schmach, dem Berufe zum Stolz. Beides aber, die
Abwälzung der Schuld und die Reklamierung der Macht, ist wieder
ein Teil von jener Kraft, die noch mehr Verderben durch die Phrase
des Guten als durch den Effekt des Bösen hervorgebracht hat.
Weil aber Geberdenspäher und Geschichtenträger, die es schwarz
auf weiß bringen, des Übels mehr auf dieser Welt getan haben,
als Blausäure und Bomben in Fliegers Hand nicht konnten, so
gibt es gegen die Presse keine andere Reform als die Abschaffung.
Dieser Erkenntnis war ich der Rufer in der Wüste: jetzt, in einer
Wüste gewordenen Welt ruft sie allenthalben das Echo. > Hätte man« —
so bricht eine deutsche Frau jetzt aus - »nur zehntausend hetzerische
Zeitungsschreiber aus allen Ländern zusammengetrieben . , . hätte
man sie nur rechtzeitig zusammengetrieben, die heute weiterkläffen
von allen Ufern des Roten Meeres, das gespeist wird von dem
Blute Millionen Unschuldiger ... ja, hätte man zehntausend
hetzerische Journalisten aus allen Ländern zusammengetrieben und
gehenkt, o wie viel wertvolle, hoffnungsvolle Menschen wären in
all diesen Ländern heute am Leben! Statt dessen seid ihr es, die
ihr noch lebt, die ihr einer bösen Schwäre gleich Europa von
einem Ende zum andern überzieht, ihr, die Hetzer, die Mit-
schuldigen an diesem Kriege, deren Knochen wie die der Schacher
— 76 —
hätten zerbrochen werden sollen, bevor wir zuließen, was jetzt
geschieht!« Und ein biederes Provinzblatt, das zugibt, die Presse
habe sich >in ihrer überwältigenden Weltmacht noch nie so gezeigt
wie in diesem Kriege« und es sei >sicher, daß die Freunde des
Friedens mit einem schlauen und heimtückischen Feind zu tun
haben, der mit Holzpapier und Druckerschwärze arbeitet«, bedauert
doch, daß es »nicht an Leuten fehlt, wie z. B. die erwähnte Für-
sprecherin einer radikalen Maßregel, die aus Ärger, daß sich das
gedruckte Wort oft stärker erweist als unumstößliche Tatsachen,
das Kind mit dem Bade ausschütten«. Der Schwachsinn ent-
schuldigt die Presse mit ihrem Verbrechen und hält es nicht für
richtig, das Kind mit eben jenem Blutbad, das es angerichtet hat,
auszuschütten. Aber die Harmlosigkeit, die Anklage und Verteidi-
gung in einem besorgt, schreibt mit derselben roten Tinte wie
der Mord. Und die Hetzarbeit der Weltpresse hat nicht ärgeren
Schaden gestiftet als die allgemeine Möglichkeit, durch eine Suggestion
des Tonfalls verschwommener Meinung geistige Werte zu ersetzen.
Durch falsche Tatsachen die Völker zu verhetzen, würde nicht
gelingen, wenn es nicht schon längst gelungen wäre, durch falschen
Geist das Volk zu verderben. Was noch knapp vor einem Krieg geschieht,
lyenn die Menschheit einmal für ihn reif geworden ist, wäre das
Geringste, und die schlimmsten Greuel sind durch Jahrzehnte wahr
gewesen, ehe andere erlogen wurden. Das Resultat des leiblichen
Mords gibt freilich den Weg an, wie dem Übel künftig zu steuern
wäre. Es empfiehlt die einfache Schätzung: was vernünftiger ist,
hunderttausend intellektuell mittelwüchsige, ethisch wertlose Indivi-
duen in soziale Berufe zu zwingen, auf die Gefahr hin, daß die Neu-
gierde der Massen und die Eitelkeit der Führenden um die Nähr-
väter gebracht würden, oder zehn Millionen Menschen zu opfern.
Deren Erhaltung ist, wie sich gezeigt hat, ohne die Beseitigung der
Presse nicht möglich. Wird die Menschheit eine andere Entschuldigung
als die des Irrsinns haben, wenn sie in einem lichten Augenblick
gewahr wird, daß sie die Fülle ihrer Besten geopfert hat, und schlimmer :
daß ihr die Gruppe ihrer Schlechtesten, die es bewirkt hat, übrig blieb?
Daß diese überleben, weil sie an einem Krieg nicht teilnehmen
mußten, den sie gemacht und dem sie den Frieden ferngehalten
haben? Schreibt sich die Wehrfähigkeit aller noch immer nicht
von der Schreibfähigkeit der vielen her? Hat es die Welt
— 77
noch immer nicht schwarz auf rot, und ist ihr, was es an Papier
auf Erden gibt, noch immer nicht das Leichentuch für Menschheit
und Wälder? Was hülfe der Frieden den Nationen, wenn seine
erste Bedingung nicht der Krieg aller gegen die Presse wäre?
Die Verpflichtung, jenen, die uns künftig noch »die Zeitang
künden« wollen, sie rechtzeitig zu kündigen? Mehr Beweis,
um ihnen den Prozeß zu machen, braucht man nicht als
ihr freches Geständnis, »der Krieg habe offenbart, welche Macht
der moderne Zeitungsschreiber in seiner Hand hält«, als die
hämische Aufforderung, »sich, wenn man kann, die Zeitung
in diesem internationalen Aufruhr der Gemüter wegzudenken«,
als die Frage des Siegers über allen Staaten, »ob der Krieg ohne
sie überhaupt möglich gewesen wäre«. Ich hab's ja immer mit
Ernst behauptet. Aber daß es jetzt auch der Posse zugibt, ist
erschütternd. Ernst Possart — das war ehedem die Bezeichnung
für den durchschnittlichen deutschen Tragödienspieler. Der Welt-
krieg wird einst Ernst Posse geheißen haben! Man denke sich,
wenn man kann, die Zeitung weg aus dem Weltkrieg. Nein, ich
kann es nicht! Ich konnte es nicht, ehe er ausbrach! Ultra Posse
nemo tenetur. Aber wenn die Beleuchtung, in die der Krieg die
Presse dank dem Krieg und der Fackel gerückt hat, noch durch
etliche Laternenpfähle ergänzt werden könnte, so würde die
Bevölkerung aller ehedem befreundeten und verfeindeten Staaten
einen internationalen Austausch von Chefredakteuren als einen
Glanzpunkt des Friedensfestes ansehen. Die Form dazu würde sich,
wenn sie ohnedies wieder als fahrende Sänger von Hof zu Hof
ziehen, um die Zeitung zu künden, leicht finden lassen, man
würde sie, da infolge der rapiden Hebung des Fremdenverkehrs
kein Obdach für sie vorhanden wäre, einladen, unter freiem
Himmel zu übernachten, und eine Menschheit, deren Machthaber
es versäumt hatten, Zeitungsartikel niedriger zu hängen, wäre
es zufrieden, dafür die Verfasser höher hängen zu sehen.
78 -
Glossen
Eine Bombe
»Bekanntlich war gleich zu Beginn des Krieges, am 2. August 1914,
die (seitdem oft wiederholte und meist geglaubte) Nachricht in die
deutschen Zeitungen übergegangen, daß ,auf der Strecke Nürnberg —
Kissingen sowie auf der Strecke Nürnberg — Ansbach Flieger
gesehen wurden, die Bomben auf die Bahnstrecke warfen'.
Diese Nachricht ist neuerdings von J. Schwalbe, dem Herausgeber der
.Deutschen medizinischen Wochenschrift', in einem Artikel am 16. März
1916 in der Form wiederholt worden: .Nachdem noch vor der Kriegs-
erklärung ein französischer Flieger auf Nürnberg Bomben abgeworfen
hatte In der Nummer vom 18. Mai 1916 sieht sich jetzt Schwalbe
genötigt, zu berichtigen, daß es sich bei jener Nachricht nicht um
Nürnberg, sondern um die obenerwähnten Bahnstrecken
gehandelt, daß aber auch diese Nachricht unzutreffend
gewesen. Er schreibt: »Aus einem weiteren Schriftwechsel von Geheimrat
Riedel und dem Magistrat von Nürnberg hat sich ergeben, daß diese
Behauptung, die bisher niemals berichtigt, vielmehr
allgemein bei uns als ein Beweis für den Bruch
des Völkerrechts angenommen worden ist, tatsäch-
lich nicht zutrifft. Der Nürnberger Magistrat schreibt nämlich am
3. April d. J. : ,Dem stellvertretenden Generalkommando des III. bayrischen
Armeekorps hier ist nichts davon bekannt, daß auf die Bahnstrecke
Nürnberg— Kissingen und Nürnberg — Ansbach vor und nach Kriegs-
ausbruch je Bomben von feindlichen Fliegern geworfen worden sind.
Alle diese Behauptungen und Zeitungsnachrichten
haben sich als falsch herausgestellt.'«
Diese Bombe traf eines der stärksten Fundamente des
Hasses und der Begeisterung. Und die Wahrheit unterscheidet sich
von anderen schweren Gegenständen, die aus dem blauen Himmel ge-
worfen werden, dadurch, daß sie nicht daneben haut, daß das
Wurfziel immer getroffen wird und daß statt eines Bahnhofs kein
Tiepolo zu Schaden kommt. Die interessante Frage, wer angefangen
hat, ist damit zur guten Hälfte abgetan. Wenn noch die andere
Halbscheit des Seelenaufschwungs durch tatsächliche Berichtigungen
ramponiert wird, mag sich die Welt die Augen reiben und
sagen: Ja, woran soll man denn noch glauben, wenn man nicht
mehr an die Berechtigung des Weltkriegs glauben kann? Und
darum Räuber und — Wächter!
79
Bei den Kismet-Knöppen
Die .Süddeutschen Monatshefte', die aber auch Deutschtum
genug für die anderen deutschen Himmelsrichtungen haben, werden
nicht müde, in Ausgaben, die den feindlichen Kulturen ge-
widmet sind, die Überlegenheit der deutschen zu beweisen. Ali
das aber ist Selbstbetrug und Vertreib der großen Zeit neben dem
wert- und gewichtvollen Inhalt eines einzigen Aufsatzes, der im
Balkan-Heft (September 1915) erschienen ist und der alle Ein-
wände, die die Welt gegen die allerchristlichste Innerei von
Europa vorbringen könnte, weit in den Schatten stellt. Diesem
Aufsatz einer wohlberatenen und wohlgeratenen deutschen Frau,
> Türkische Sitten« von Else Marquardsen, geb. von Kamphö vener,
seien hier einige Stellen entnommen, damit jene Welt, die uns
nur von der »Russenfährte« und deren blutigen Freuden kennt,
auch das Gegenstück unserer kulturellen Ambition erfahre, vor
allem aber auch, daß es einen halbverschollenen deutschen Typus
gibt, der Mut zum Schamgefühl vor Gott und der bewohnten
Erde hat. Für diesen einen Beitrag sei den , Süddeutschen Monats-
heften' ihre sonstige Existenz im Kriege vergeben.
... Ich habe vom Anfang der achtziger Jahre bis zum Sturze
des Sultan Abdul Hamid mein Leben in der türkischen Hauptstadt ver-
bracht. Bei Besuchen in der Heimat waren die stereotypen Fragen, die
an einen gerichtet werden, stets ungefähr folgende:
Waren Sie schon einmal in einem Harem?
Wieviel Frauen hat der Sultan?
Können Sie auch türkisch?
Hatte man auf diese Fragen, mit im Laufe der Jahre ebenfalls
stereotyp gewordenen Antworten erwidert, so war die Neugier befriedigt.
Ja, mehr als das; das wohh'ge Gruseln, das Männlein wie Weiblein
beschlich beim Aussprechen des Wortes »Harem«, erweckte im Frager
die Vorstellung, er habe sich ganz unerhört weit vorgewagt auf
schlüpfriger Bahn.
Keiner, der nicht selbst unter den Osmanen gelebt hat, kann
sich vorstellen, wie unbeschreiblich untergeordnet diese Art der Be-
wertung dortiger Lebensverhältnisse demjenigen erscheint, der eben den
Orient kennt. Dieses gewisse Spielen mit einem pikanten Begriff, von
dem man eigentlich nichts zu wissen vorgeben sollte, wirkt, wenn
man dagegen im Geiste die Anschauung des Orientalen hält,
abstoßend.
. . . Wie ich schon vorhin andeutete, bleibt für den Osmanen
die Mutter immer die höchste Instanz, und auch der ältere Mann in
hoher Stellung bringt ihr die hingehendste Ehrerbietung dar. Ich habe
80 —
öfters beobachten können, wie der Sultan Abdul Hamid seiner Mutter
gegenüber sich verhielt; dieser Herrscher, der im Schatten seiner
absoluten Macht wie unter einem Fluche lebte, wurde vor seiner
Mutter ein bescheidener Knabe, der ehrerbietig der höchsten Autorität
lauscht. Wie die Mutter ist, spielt hiebei Iceine Rolle. Es wird einer
Idee gehuldigt, nicht einem Menschen.
. . . All diese Vorgänge, ebenso wie Heiraten der Töchter, bevor-
stehende Geburten und ähnliches, werden in größter Natürlichkeit und
Öffentlichkeit von allen Verwandten, männlichen wie weiblichen, gemein-
sam besprochen. Es gibt da kein Vertuschen und Verheimlichen, eine
fast nüchterne Selbstverständlichkeit umgibt alle natürlichen Vorkomm-
nisse, die von vorneherein jedes lüsterne Tasten der Gedanken aus-
schließt. Gerade das, was man hier mit dem Begriff >Harem« ver-
knüpft, jenes Schwüle und verderblich Berauschende, gerade das fehlt.
Faul und bequem geht es dort wohl zu, aber gesund, harmlos kindlich
und geradezu verblüffend ehrlich I Und es entwickelt sich beim Manne
aus dieser Atmosphäre einfacher Natürlichkeit dem Natürlichen
gegenüber heraus eine Achtung vor der Frau, die in ihrer Art sehr
merkwürdig ist.
Es ist eine Art Achtung, wie sie etwa ein Vater haben mag vor
der Unberührtheit seiner Tochter, zärtlich und ein wenig mitleidig, sie
ihrer Reinheit halber eifersüchtig bewachend. Er mag sie als geistig
nicht auf seiner Höhe stehend betrachten, sie hat im Rate des Lebens
keine gewichtige Stimme, und doch steht sie ihm hoch, um ihrer kind-
lichen Reinheit willen.
. . . Wenn auch viel zu sagen ist gegen das Frauen- und Familien-
leben des Osmanen vom fortschrittlichen Standpunkte aus, wenn auch die
Frauenbewegung sttts die armen Opfer »dort hinten weit in der Türkei«
mit ihrem besonderen Mitleid bedachte: dieses ist sicher, aus der reinen
und seelisch gesunden Abgeschlossenheit dieses Lebens heraus ist —
im Durchschnitt — für das heranwachsende Geschlecht mehr Segen
erwachsen, als bei den Kindern von Frauen der Fall sein
mag, die geistig strebend in der Öffentlichkeit stehen.
. . . Aus der dämmerigen Haremsluft, aus der verträumten Harems-
stille heraus erwachsen jene still zurückhaltenden Männer, die keinen Blick zu
einer Frau heben, auf daß sie nicht einen Mangel an Ehrerbietung
darin sähe. Jene Männer, die gleich ritterlich, gleich unpersönlich,
gleich vornehm sind, ob sie nun an den Stufen des Thrones aufwachsen oder
in der armen Holzhütte Stambuls. — — —
... In all den langen Jahren, da ich mit Mohammedanern nahe
und vertraut zusammenkam, habe ich nie einen Fall von Intoleranz
erlebt. Ich habe stets gefunden, daß die Intoleranten und
oft verletzend Mißachtenden die Christen waren. Der
Mohammedaner bemitleidet den Christen viel zu sehr, um
eifernd gegen ihn vorzugehen, und daß er das tut, ist des
Christen eigene Schuld. Wo immer sich Konflikte ergeben haben,
bei denen nur entfernt ein Glaubensmotiv angenommen werden konnte.
81
der Christ hat es hervorgezerrt. Immer findet es der Christ bei
Differenzen nötig, zu argumentieren oder zu beschimpfen; der Moham-
medaner antwortet ruhig, nachdem er ihn still angehört hat, hie und
da sich vor seiner Erregung etwas zurücicbeugend : »Was willst du,
ich greife deinen Glauben nicht an, rühre du nicht an meinen; ein
Jeder glaube, was ihm recht dünkt.« Er wird stets nur ähnliches erwidern
und kann er sich gar nicht mehr helfen, sich still entfernen,
neidlos dem andern den Schauplatz überlassend.
Oftmals trat ich auf Wanderungen durch Stambul in diese oder
jene Moschee ein, ihre wundervolle, weltabgeschiedene Stille genießend,
dem Spiel des Sonnenlichtes folgend, wie es sich unter der Kuppel sammelt.
Und leider oft ist es mir begegnet, Touristen beobachten zu
können, die zur Besichtigung eintraten. Mir sind besonders zwei
junge Herren in Erinnerung geblieben, Landsleute und den besten
Kreisen angehörig, deren Verhalten als typisch anzusehen
ist. Ich hörte jenseits des Moscheevorhanges schon ihre
Stimmen, laut und lachend, wie sie sich anfangs weigerten,
die großen Strohschlappen anzuziehen, ohne die man nicht
eintreten kann. — Der Osmane trägt immer feste Lederüberschuhe
über weichen, fast sohlenlosen Stiefeln ; diese Überschuhe läßt er draußen,
bevor er einen Raum im Inneren eines Hauses betritt. Der Arbeiter zieht
seine groben Schuhe aus und tritt in Strümpfen ein; dieser Gewohnheit
ist auch die gute Konservierung alter orientalischer Teppiche zu ver-
danken. — Also die beiden jungen Herren traten sehr laut in die
stille Moschee ein; neben ihnen, mit gesenktem Kopf, die Hände
in seinen weiten Ärmeln versteckt, lautlos gleitend, der führende Laien-
priester, der Imam. Sie fanden alles »gottvoll«, »famose Chose«,
^verdrehter Kram«, und sie behielten ihre Hüte auf dem
Kopf; die Hände hatten sie in die Taschen gesteckt und
führten eine Art Schi itlerparlie auf ihren Strohschlappen
auf, die sie natürlich beständig verloren. Es waren gewiß im
Grunde harmlose Jungen s, überströmend von Vergnügen am
Leben; aber sie fühlten sich dem allen weit überlegen, irgend
etwas Achtungswertes bedeutete ihnen der »verdrehte Kram« in keiner
Weise, sie hätten sich bei der Besichtigung eines Hottentotten-Kraals
genau so benommen.
Der Imam versuchte einige Male, sie auf ihre Kopfbedeckungen
aufmerksam zu machen; sie verstanden wohl nicht, was der >ulkige
Kunde« ihnen pantomimisch klarmachen wollte. Schließlich glitt er
leise zu mir heran und bat: >Sage ihnen, sie seien im Hause des
Gebets.« Ich tat nach seinem Wunsch und es entwickelte sich ungefähr
folgender Dialog: »Der Imam bittet mich, Ihnen zu sagen, Sie seien
im Hause des Gebets, wollen Sie darum nicht Ihre Hüte abnehmen?«
»Aber gewiß doch, wen n's ihm Spaß machtl« — Lachen. —
»Ich würde Ihnen raten, etwas leiser zu sein; in einer Kirche
würden Sie doch auch nicht so laut lachen?«
- 82 —
>Ja, aber was hat denn dieses hier mit einer Kirche
zu tun?«
>Es ist eben auch ein Gotteshaus.«
»Ach wo, diese verrückte Bude hier!«
»So verletzen Sie wenigstens nicht die Gefühle derjenigen, denen
es ihr Heiligstes ist.«
>Ach, den Kismet-Knöppen ist ja doch alles wurscht;
na schön, Morgenl«
Sie meinten es nicht böse, doch gedankenlose Nichtachtung
ist fast noch verletzender, wenn sie uns Heiligem gilt, als bewußt böse
Absicht, welche etwas des Angriffs Wertes anerkennt. Der Imam sagte
mir, als ich beim Hinausgehen ihn wieder traf: »Gräme dich nicht um jener
Kinder Torheit; so sicher, wie Gott über sie lächelt, lasse es auch
uns tun.« Dieses Mannes Art ist keine Ausnahme; so denken fast alle,
so gütig und groß.
Aber daß die Christeh ihnen Anlaß geben, so sprechen
zu müssen, das ist der Jammer; daß wir ihnen leid tun, weil
wir so gar nicht das sind, was einer wird, »der im Schatten des
Höchsten wandelt«.
Wieviel lassen wir hier an uns vorübergehen I
Sie verstehen unsren Glauben nicht; gewiß. Aber statt, daß das
Nichtverstehen Schärfe und eifernde Feindlichkeit weckt, Bekehrungswut
und Mißachtung, zeitigt es ein großes Mitleid für die Armen, die nicht
»im Schatten des Höchsten wandeln«. Und jedes Mitleid enthält immer
einige Verachtung. Zwar eine Verachtung, die nicht alles einbegreift; —
denkt doch noch heute der Osmane wie das arabische Sprichwort:
»Gott gab dem Europäer die Wissenschaft, dem Orientalen
die Majestät.« Diese Majestät ist aber nicht nur Äußerliches — sie
ruht festgefügt im philosophischen Empfinden eines naiv und tief
religiösen Fühlens.
Es ist ja bekannt, wie die türkischen Soldaten am
Heiligen Grabe zu Jerusalem die sich in ihrem Eifer prügeln-
den Christen trennen müssen, um Blutvergießen zu verhüten.
Das sind natürlich nur traurige Auswüchse. Aber wie seltsam mutet es an,
wenn in den Straßen Konstantinopels dietürkischenSoIdatenSpalier
bilden bei christlichen Prozessionen, Sie ziehen auf, halten
die Menge zurück und stehen da unbeweglichen Gesichtes, während die
lange Reihe der Heiligenbilder und singenden Menschen vorbeizieht. Nie
ein Scherzwort, nie ein Lächeln; keine noch so nebensächliche
Bemerkung untereinander, auf daß es nicht den Anschein habe, sie
sprächen über die Glaubenszeichen, die vorbeigetragen
werden »und das Herz jener, denen sie heilig sind, könne sich verbittern
von einem Gedanken der Verachtung ihres Heiligen«. Was ich hier anführe,
sind keine geschriebenen Regeln, keine Verordnungen; es sind hier
und dort gehörte Worte des einfachen Mannes, die sein Denken wider-
spiegeln. Wenn es auch nicht hierher gehört, möchte ich nur ganz kurz
die wunderschöne, bei Beerdigungen herrschende Sitte streifen. Der
83 —
Sarg wird von vier Freunden des Verstorbenen aus seinem Hause ge-
tragen; wer immer von unbekannten, zufällig vorübergehenden Männern
den Zug trifft, gibt seine Schulter her, eine kurze Strecke den Sarg zu
tragen : »denn eines jeden Last ist Kummer und Tod
des Bruders.«
Nun dürften sich ja Szenen in Moscheen, wie die von der
vortrefflichen Frau beschriebene, häufig genug ereignen. Nun
dürfte das Wort »Kismet-Knöppc« ja öfter fallen. Die Wege
der Politik sind unerforschlich; auf denen Gottes werden wir
nach und nach lernen, in den Strohschlappen gesittet aufzutreten.
Ich hatte, ehe ich jenes las, einmal geschrieben, daß es Gegenden
gebe, in denen »gottvoll« der Superlativ von »komisch« ist. Den
Emissären jener Gegenden ist es vorbehalten geblieben, ein Gottes-
haus gottvoll zu finden! »Es waren gewiß im Grunde harmlose
Jungens«, »den besten Kreisen angehörig«, sie »meinten es nicht
böse«. Das ist es eben. Sie führten nichts Arges im Schilde,
höchstens den Export, und wie man sich im Kaufhaus zu benehmen
habe, das verstanden sie längst aus dem ff, und kein Prokurist
mußte sie auf das Unziemliche ihres Auftretens aufmerksam
machen. Da nahmen sie alles ernst. Und als der Osten ins
Kaufhaus des Westens aufgenommen war, und die alten Bekenner
sich mit den neuen Gebräuchen noch nicht auskannten und sich
das Hemd nicht schon beim Eintritt ausziehen lassen wollten, da
sprach einer, den Finger auf dem Mund: »Sage ihnen, sie seien
im Hause des Kommerzes.«
Eine angenehme Menage
Der deutsche Mann
(Aus der Ostdeutschen Rundschau)
Hier ist es gut sein; Speise und Trank reichlich vorhanden. Vom
feisten Schwein ein artig Lendenstücklein, mit zartgebräunten Erd-
äpfeln — in wirklicher und wahrhaftiger Butter duftig gebraten — kleine
zierliche Gurken, wie sie Znaims Wonnegefilden nicht hold-
seliger entsprießen, dazu ein dunkler Gerstensaft aus
Kulmbachs bajuwarisch en Gauen, ein herzhaft Brot, aus
Roggen schmackh aft geknetet und gebacken, eine Schüssel mit Dunst-
obst, ein leckerer Salat — und alle diese Herrlichkeiten kosten, Wodan
ist mein Schwurzeuge, zwei Mark und zwanzig Reichspfennige !
— 84 —
. . . stolze Vindobona am alten Nibelungenstrome,
vieles ist herrlich und wonnesam unvergleichlich an dir, aber
ein solches Lendenstück vom knusprigen Schwein mit so schmack-
hafter Zutat .... ist bei dir in allen 21 Bezirken nicht zu finden. . . .
Als ich in Tetschen der hochnotpeinlichen Leibesuntersuchung
— bis auf die Haut — nach genauester Prüfung meines Passes glücklich
entronnen war — ich tadele diese Ordnung nicht, ich segne sie viel-
mehr — kletterte ich mit lebhaftem Reisefieber in mein sächsisches
Abteil und sauste, ratterte und knatterte gen Elbflorenz .... auf
allen Haltestellen bis Leipzig Himmel und Soldaten. . . .
. . . Das möge Wodan in Ewigkeit verhüten! . . . der
herrliche Angriff auf die Welschen, der diese Abruzzenschufte aus
Tirols ewigen Bergen hoffentlich für immerdar hinausbefördert,
findet begeisterte Lobpreiser. Zuversichtlich erwartet man, daß auch
der moskowitische Bär, mit blutenden Pranken weidwund
heimschleicht.,.. Teut.
Die deutsche Frau
(Aus den Leipziger Neuesten Nachrichten)
Strickend haben wir das alte Jahr beendet, und strickend fangen
wir das neue wieder an. Nie sind unsere Gedanken mehr bei denen
draußen im Felde als jetzt, wo Schnee mit Reg^n und Glatteis abwechselt
und wo wir uns fragen, was für unsere tapferen Krieger das
Härteste ist: die rote Sonnenkugel, die an einem kalten Himmel
hängt, oder das Wasser, das unaufhörlich und trübselig in die Schützen-
gräben rinnt. Aber bei uns Frauen mischt sich nun einmal
das Lächeln gern unter die Tränen, und selbst im Schmerz
zeigen wir noch das Bedürfnis, hübsch zu sein. Schmückte sich nicht
auch Kleopatra zum Sterben?
Wenn die Welt wieder offen steht und so ein Paar wieder
hinausdarf, sollte da nicht ein Haß entstehen, gegen den der bis-
herige ein Kinderspiel war? Das knusperige Schwein und die
Kleopatra: zum erstenmal wieder ausgelassen — Wodan sei mein
Schwurzeuge und möge es verhüten, aber gut kann das
nicht enden. Es wird vorsichtig sein, noch lange nach
Friedensschluß mit den Grenzübertrittsbewilligungen hauszuhalten.
Haus zuhalten!
Der Enkel wird segnen
Jeden Augenblick meldet sich jetzt irgend ein Trottel, der
ehedem höchstens Telephonbeschwcrden hatte oder als Nichtraucher
unsterblich werden wollte, später etwa zu den Problemen >Der
Wehrmann und die Fliege« oder --Der Mistbauer in Eisen« Stellung
85
nahm oder gar zu so etwas eine »Anregung« gab, und gibt der
Neuen Freien Presse, diesem durchhaltenden Klosett aller Dummheit,
Schmierigkeit, Zudringlichkeit, Betulichkeit und heroischen Feigheit,
ein »prophetisches Gedicht« ein. Darunter ist ein solches zu ver-
stehen, das ein Dichter, der natürlich auch keiner war, vor vierzig
Jahren über den Weltkrieg und Deutschlands Sieg verfaßt haben soll.
Ist ihm natürlich nicht im Dichtertraum eingefallen; denn das Wesen
des prophetischen Gedichtes ist es, daß sich hinterdrein heraus-
stellt: es war eine Fälschung und irgendein zeitgenössischer
Wicht hatte sich etwa das Pseudonym Hamerling beigebogen. Jetzt
hat jene oft nur aus reiner Stupidität allen Schlechtigkeiten dienst-
bare Zeitung wieder eine aus Fälschland stammende Dichtung
veröffentlicht, in der dem Schweizer Dichter Leuthold im Jahre 1871
die prophetische Strophe geglückt sein soll:
Meine Mahnung wird erst der Enkel segnen,
Wenn er unverdrossen die Waffen wahrte
Menschenalter hin, bis es ihm obliegt,
Im Weltkrieg zu siegen.
Die vorhergehende geistig nicht gerade bedeutende Mahnung
an das damals eben gegründete Etablissement wäre auch besser
nicht von Leuthold gewesen. (Wenn man von der unfreiwillig
guten Stelle absieht: »Nicht des Geistes, sondern des Sch\/ertes
Schärfe gab dir alles, wiedererstandenes Deutschland«.) Aber mit
der prophetischen Strophe steht das Zeug in einer Literaturgeschichte
jenes bedenklichen Biese, der, wie kürzlich hier beklagt ward, für
den Schulgebrauch allerlei blutigen Schund ediert hat. Eine Schweizer
Zeitung sagt dazu :
Eine halbe Seite ist Leutholds Ode »Das Eisen« eingeräumt, in
der bekanntlich der Schweizer Dichter den deutschen Sieg im Weltkrieg
prophezeit haben soll. »Meine Mahnung wird erst der Enkel segnen,
wenn er unverdrossen die Waffen wahrte Menschenalter hin, bis es ihm
obliegt, im Weltkrieg zu siegen.« Ist es wirklich nicht möglich, davon Notiz
zu neh men, daß in dieser Strophe kein Wort von Leuthold stammt,
sondern daß sie eine freche Fälschung eines emeritierten
Hauptmanns mit einigen literarischen Neigungen ist; ferner,
daß sie nicht von 1871, sondern etwa von 1909 datiert, also aus einer Zeit,
als es keiner übernatürlichen Gaben mehr bedurfte, um den Weltkrieg zu
ahnen und sich darauf in sapphischem Metrum seinen Vers zu machen?
Um die geräuschlose Erledigung der Sache in meiner kritischen Leuthold-
Ausgabe hat sich Biese nicht gekümmert, wie denn authentische Texte
offenbar für ihn von untergeordneter Bedeutung sind; hingegen war die
Aufklärung ja auch an leichter zugänglichen Stellen zu lesen. Ich habe
es natürlich damals abgelehnt, den Betrug als »für die deutschen Methoden
charakteristisch« bezeichnen und verwerten zu lassen; aber wenn diese
Prophetenphilologie nun bereits auf die Literarhistorie Einfluß gewinnt,
ist doch endlich scharfer Protest am Platze.«
Und die , Arbeiter-Zeitung' fügt hinzu:
. . . Diesem scharfen Protest möchten wir uns für unseren Teil
anschließen; derlei Schwindeleien bringen ja den bisherigen guten
Ruf deutscher Literaturforschung in ernste Gefahr.
Hier setzt mein schärferer Protest ein. Den bisherigen
guten Ruf deutscher Literaturforschung, da mag lieb Vaterland
ruhig sein, kann nichts mehr in Gefahr bringen. Sie war
schon lange vor dem Weltkrieg, und eh dieser Traum von einer
Walhalla für Fertigware über uns hereinbrach, das schlimmste
Handwerk akademischer Plünderer und graduierter Schänder der
Wahrheit. In zahllosen Semestern habe ich es bewiesen. O mein
prophetisches Gemüt! Meine Mahnung wird erst der Enkel segnen.
Wozu man sich bekennt
»Ein Streit um den Eisernen Hindenburg in Berlin ist ausge-
brochen. Bisher galt als sein Schöpfer der Maler Georg Marschall.
Im Verfolg einer Polemik hat aber jetzt der Bildhauer Schimmel-
pfennig in Berlin eine Erklärung veröffentlicht, in der es u. a. heißt:
. . . Das Hilfsmodell zum Eisernen Hindenburg in Berlin in einzehntel
Naturgröße ist ausschließlich von mir mit ganz geringer untergeord-
neter Hilfeleistung des Malers Georg Marschall modelliert worden. Die
Ausführung des Originals lag ausschließlich in meinen Händen,
der Kopf ist ausschließlich mein persönliches Werk.... Ich
würde schon längst mit allen Mitteln eine Klarheit der Autorschaft
herbeigeführt haben, wenn es sich um ein Kunstwerk handelte, auf
welches ich stolz sein könnte. Zu einem solchen Kunst-
werk konnte ich es aber n i c h t m e h r gestalten, da die Auftrag-
geber auf der Fertigstellung in der bestimmten
kurzen Frist um jeden Preis bestanden.«
Wenn man ihm nur ein wenig Zeit gelassen hätte, wäre
ein Kunstwerk draus geworden. Da er sich trotzdem dazu bekennt
und es vor aller Welt auf sich nimmt, besteht kein Grund, es ihm
nicht zuzutrauen. So daß in den Kreisen der Benageier jetzt
Klarheit herrschen wird: den Marschall hat der Schimmelpfennig
geschaffen, der Marschall hat nur ein Scherflein beigetragen.
87 —
Nicht doch:
». . . Nachdem der Bildhauer Schimmelpfennig die Urheberschaft
für sich beansprucht hat, antwortet jetzt geharnischt der Maler
Georg Marschall: . . . Der ganze Plan, die Idee und vor allen Dingen
der Entwurf für den Eisernen Hindenburg von Berlin stammen
lediglich von mir.... Die Ausführung des Modells lag lediglich
in meinen Händen und unter meiner alleinigen Leitung
ist auch dann der Eiserne Hindenburg ausgeführt und aufgestellt worden.
Somit bin ich wohl zweifellos der Urheber und Schöpfer des
Eisernen Hindenburg.«
Da die Dinge so stehn und nach reiflicher Überlegung, bin
ich jetzt auch der Ansicht, daß dem Marschall das Verdienst
gebührt. Oder sollte sich Deutschland wieder einmal freuen
dürfen, daß es zwei solche Kerle hat?
Marke: »über alles«
Neu! D. R. G. M. No. 636407. Neu!
Würfelt den ersehnten »Frieden« mit dem neuen
hochinteressanten
Kriegs-Spiel-Kreisel
Dieses neue Spiel darf in keiner deutschen
Familie fehlen und gewährt in jeder Familie,
jeder Gesellschaft, bei jeder Gelegenheit eine
Spannende Unterhaltung für jung und alt!
Spielregel:
Zunächst wird von jedem Teilnehmer ein Einsatz in die
Kasse gemacht. Sodann wird der Kreisel von jedem Teil-
nehmer der Reihe nach mit den Fingern in kreisende
Bewegung versetzt. Die Buchstaben und Zahlen haben
nachstehende Bedeutung:
Rußland: (R- g- 0) gewinnt >Nichts«.
England: (E. v. Vi) verliert den ganzen Einsatz.
Frankreich: (F. v. 1/2) verliert den halben Einsatz
des einzelnen Spielers.
(T. g. V3) gewinnt ein Drittel v. d. Kassa.
(O.g. V2) gewinnt die Hafte v. d. Kassa.
(D. g. a) gewinnt die ganze Kasse.
Türkei :
Österreich :
Deutschland :
(über alles)
Hochinteressant!
Spannend!
Allerlei Patrioten
»Der Landrat in Insterburg hat folgende Bekanntmachung ver-
öffentlichen müssen: Wiederholt ist es auch jetzt wiederum vorgekommen,
daß kreiseingesessene Besitzer, die um Zuweisung von Arbeitskräften gebeten
hatten, deutsche Soldaten zurückgeschickt haben, weil sie
lieber russische Gefangene haben möchten. Ich bringe zur all-
gemeinen Kenntnis, daß Kreiseingesessene, die die Hilfe deutscher
Soldaten ausschlagen, auf die Zuweisung von Gefangenen auch nicht
zu rechnen haben.«
Die Veröffentlichung war ungeschickt. Sie klingt fast wie:
>Wer den Heller nicht ehrt — «
Wissenschaft ist Macht
Im deutschen Reichstag wurde gesagt :
Mit der Schutzhaft wird eine wahre Willkür- und Schreckens-
herrschaft getrieben. Das Belagerungszustandsgesetz gibt kein Recht zur
Verhängung der Schutzhaft. Wohl sind die Garantien der persönlichen
Freiheit aufgehoben, aber es ist keine Rede davon, daß Hunderte und
Tausende ohne Grund eingesperrt werden dürfen .... Auch die Militär-
behörden sollten wissen, daß man auf Bajonetten nicht sitzen kann ....
Heute sitzen auf schuftige Denunziationen Menschen grundlos in Schutz-
haft, obwohl sie freigesprochen sind oder der Staatsanwalt die Anklage-
erhebung gegen sie abgelehnt hat. Ihre Angehörigen, denen man die
Ehre geraubt hat, erhalten keine Unterstützung, zum moralischen und gesell-
schaftlichen Ruin, zu Sorge und Kummer wird Hunger und Elend über
sie verhängt. In Berlin sitzt seit sieben Monaten ein Ungar in Schutz-
haft. Er hatte zivilrechtliche Differenzen mit Leuten in Frankfurt, die
ihm mit ihren einflußreichen Verbindungen drohten und ihn schließlich,
als er sich nicht fügte, beim Reichsanwalt wegen Spionage denunzierten.
Dieser lehnte eine Verfolgung sogar ohne Vernehmung ab. Der Mann
sitzt seit sieben Monatenl (Stürmische Hört! HörtI links.) . . .
Gegen den österreichischen Staatsangehörigen Sand hat man
die unsinnige Beschuldigung erhoben, er wolle in Zinntuben Salvarsan
nach Rumänien ausführen. Deswegen wurde der Mann in Haft genommen.
Er durfte keine geschäftlichen Angelegenheiten ordnen und in keiner
Weise mit seinen Familienangehörigen zusammenkommen. Die Frau
des Mannes vergiftete sich schließlich aus Verzweiflung
wenige Tage vor Weihnachten. Sand wurde aber auch dann noch
nicht zu ihr gelassen und durfte sie erst sechsunddreißig Stunden nach
ihrem Tode sehen. (Laute HörtI Hört! und Entrüstungsrufe bei den
Sozialdemokraten.) Er selbst hatte durch diese Schicksalsschläge an seiner
Gesundheit gelitten und war durch ein ärztliches Attest für haftunfähig
erklärt worden. Trotzdem wurde noch ein anderes Attest von einem
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Medizinalrat eingeholt und der erklärte Sand für haftfähig. So wurde
der schwerkranke Mann noch drei Monate in Haft gehalten. Endlich
wurde er nach vielen Schwierigkeiten entlassen, aber zugleich aus-
gewiesen. (Rufe: Deutsches Recht! bei der Sozialdemokratischen Arbeits-
gemeinschaft.) Nach der Haftentlassung wurde er sofort über die Grenze
geschoben, ohne daß man ihm Zeit gelassen hätte, seine Geschäfte zu
ordnen oder mit seinen Familienangehörigen zu sprechen. (Pfuirufe.)
Sieben Monate seines Lebens hat man dem Manne so geraubt, sein
Familienglück und seine Existenz vernichtet. Wer wagt es, eine
solche Barbarei hier rechtfertigen zu wollen!
Dafür sollen die Militärbefehlshaber nur dem Kaiser verantwortlich
sein? Begreift man nicht, welche Konsequenzen eine solche Theorie
heraufbeschwört? Gerade die Vertreter der Monarchie sollten dieser
gefährlichen Theorie ein Ende machen, die tausendfältiges Blut auf das
Haupt des Kaisers lädt und ihn zum Blitzableiter für die Sünden der
anderen macht. (Lebhafte Zustimmung bei der Sozialdemokratischen
Arbeitsgemeinschaft.)
Nichts da! Macht ist nur sich selbst verantwortlich. Aber
Wissenschaft, die doch auch Macht ist und sich der Verantwortung
zu Gunsten der Macht begibt und die Menschlichkeit an den Meist-
bietenden verkauft? Her mit dem Medizinalrat! Her mit den ärztlichen
Kollegen, die einen Berliner Universitätsprofessor, der militärischen
Spitalsdienst machte, wegen irgendwelcher Äußerungen denunziert
haben! Machthaber können irren. Gebildete irren nie. Gebildete
sind, wenn sie einmal Schurken sind, Doktoren der Schurkerei.
Fortschritte der Wissenschaft
(Gehirnchirurgie.) .... Anfangs des Jahres 1915 hat Doktor
Gu^pin einem Soldaten in zwei Operationen einen sehr großen Teil
der Hirnmasse weggenommen .... Der Verwundete hat sich nach
seiner Genesung das Kriegskreuz und die Militärmedaille auf dem
Schlachtfelde verdient. . . .
Ein deutsches Ärgernis und seine Definition
»Der Historiker und Professor an der Universität München
Dr. Erich Marcks beleuchtet in den .Münchener Neuesten Nachrichten'....
die durch Försters Aufsatz in der , Friedenswarte' entstandene Streit-
frage ....
— 90
Die Fakullät, aus deren Mitte dieses Ärgernis geltommen
war, hat, sobald sie von ihm erfahren und die Gelegenheit einer
Prüfung des beschlagnahmten Aufsatzes erhalten hatte, ihre Mißbilligung
der Kritik, die Förster geübt hatte, ausgesprochen, nach Tendenz, Stunde,
Ort und Tonart, und zwar einstimmig über alle Verschiedenheiten von
Meinung, Bekenntnis und Partei hinweg. Sie hat zu jener Entgleisung
eines hemmungslosen Idealismus, die einem ihrer Mit-
glieder zugestoßen war, zu der Beunruhigung, die daraus gefolgt
war, nicht schweigen können und wollen. . . .«
Von Schmieristen
»(Stilgebauer), der schlechte Roman Schreiber, hat, wie
die , Gazette de Hollande' in einem langen Artikel über den , be-
rühmten deutschen Dichter' mitteilt, einen neuen Roman fabriziert,
der der Verherrlichung Belgiens dient. Erst vor kurzem hatte dem
gleichen Schriftsteller ein Aufsatz von ähnlicher Tendenz in einem
Amsterdamer Blatt kräftiges Lob der englischen und französischen
Presse eingetragen. Nachdem der , Schmierist' mit seinem ,Götz
Kraft' in Deutschland genug Geld gemacht hat, sucht er nun
auch nach ,Ruhm'.«
Daß der Stilgebauer schon ein Schmierist war, bevor er
Belgien verherrlicht hat, war etlichen Kennern bekannt. Die
deutsche Presse, die ihn zu jenem »berühmten deutschen Dichter«
gemacht hat, den sie jetzt ironisch anzweifelt, die ihn den Ruhm
finden ließ, den er jetzt erst suchen muß, und die ihn genau so
viel Geld verdienen ließ, als sie ihm jetzt mißgönnt, findet erst
dann, daß einer ein schlechter Romanschreiber sei, vceim er für
das jahrelange Lob, daß er ein guter Romanschreiber sei, sich
undankbar zeigt. Die französische Presse sagt der Wahrheit
gemäß, daß der Stilgebauer ein berühmter deutscher Dichter sei.
Daß er ein guter deutscher Dichter sei, sagt sie nicht; aber man
müßte ihr's nicht übelnehmen, wenn sie — auf dem Niveau, auf
dem alle Preßgesinnung lebt — im Krieg aus einem Lob der
Tendenz ein Werturteil machte. Daß ein Tadel der Tendenz das
einmal gefällte Werturteil aufhebe, ist die Einsicht des deutschen
Journalismus. Wäre die Zeit so groß, daß man auch mehr Zeit
hätte, ihr ihre Winzigkeit in jedem Belang zu beweisen, so würde
es mir unfehlbar gelingen, die heutige Meinung eben jenes
Schmierblattes, daß der Stilgebauer ein Schmierist sei, mit seiner
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vorigen Meinung, daß er ein Qenie sei, zu konfrontieren, und die
Welt würde erkennen, um wie viel unverdächtiger es sei, Belgien
zu verherrlichen, als sich von Deutschland verherrlichen zu lassen.
Wie die Franzosen vor Neid zersprangen
Die Leipziger Operette in Lille. Aus Nordfrankreich schreibt
uns unser O. Seh. -Mitarbeiter: Man darf dem Deutschen Theater in Lillenach-
rühmen, daß PS versteht, seinem feldgrauen Publikum aus dem theatralischen
Heimatreich Fülle und Abwechslung zu spenden. Nach der hehren
Kunst der »Meistersinger« durch die Stuttgarter Hofoper hielt jetzt die
leichter beschwingte Muse des Leipziger Städtischen Operettentheaters
ihren fröhlichen Einzug. Sie brachte einen seltenen Gast mit: Der
Meister des Dreivierteltaktes und der jungen Wiener
Operette kam selbst, um über seine weiche zärtliche Musik den
Stab zu schwingen. Die feldgrauen Musiker begrüßten ihn mit
Rosen und Tusch, das vollbesetzte Haus mit Beifall. Unter seiner
Hand bekam das Orchester Farbe und wurde rhythmisch lebendig. Auf
der Bühne entfalteten die Leipziger Spiellaune und Temperament. I m
Walzertakt schwuren der Graf von Luxemburg (Walter Grave)
und Angele Didier (Meta Bamberger) vom Stadttheater in Chemnitz
sich Liebe und Treue bis in die Ewigkeit... Die Musik gab
dem Hause eine leichte Sektstimmung, der zuliebe man die
Sünden dieser parfümierten Operettenkunst, d'er von
unserem Kriegsdasein abgrundtief geschiedenen, wohl ver-
gessen konnte. Daß ihr ein patriotischer Prolog in Gestalt
eines von Lehar dem Deutschen Kaiser gewidmeten, von
Walter Grave mit Orchester und Chor gesungenen Trutzliedes vor-
angeschickt wurde, trug weniger dazu bei. Um so viel schöner,
weil echter, war ein neu komponiertes Ballettzwischenspiel, das im
zweiten Akt für Ohr und Auge eine Freude war. — — Nach einigen Auf-
führungen des Grafen von Luxemburg kommt auch noch Leo Fall mit
dem »Lieben Augustin« zu Worte. Ein reiches Stück Arbeit
ist damit beendet. Wie viel harmlos genießende Freude empfingen an
dieser Stätte unsere Kämpfer. Mit aufrichtigem Neid sah die
französische Bevölkerung auf diesen Vorposten deutscher
Kunst — ihr blieben die Tore zu all diesen Genüssen ver-
sperrt. Jetzt endlich sehen sie ihren sehnsüchtigen Wunsch
erfüllt, die Kommandantur Lille wird, soweit Platz vorhanden, auch
den Lillern Zutritt gewähren. Sie weiß, auch mit unserer Kunst ist
ein gutes Teil unserer siegenden Kraft begründet.
Wiewohl diese unsere Kunst von unserem Kriegsdasein
abgrundtief geschieden ist. Aber ein echter deutscher Mann, der
keinen Champagner leiden mag, hat eben Sekt so gern, daß er
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ihm zuliebe sogar Parfüm verzeiht. Die Bevöllcerung von Lille aber,
die natürlich wieder nur auf Parfüm fliegt, stand mit aufrichtigem
Neid vor dem Vorposten deutscher Kunst, die Tore zu all diesen
Genüssen blieben ihr versperrt, bis endlich die Kommandantur
Lille (der deutsche Romandichter Paul Oskar Höcker) es nicht mehr
übers Herz bringen konnte, ihr Lehar vorzuenthalten. Da erkannten sie,
daß wir keine Barbaren seien, und schworen Liebe und Treue
bis in die Ewigkeit. Worauf die Dame aus Chemnitz, nachdem
der Kollege mit einem Trutzlied nicht durchgedrungen war, den
Haßgesang auf Kitchener immer feste druffgeben konnte.
Lehar spricht
Der einzige Künstler, dessen Befreiung von der allgemeinen
Wehrpflicht >auf Kriegsdauer« sich von selbst versteht, hat an der
Westfront den > Grafen von Luxemburg« dirigiert und erzählt nun:
. . . Auf der Fahrt durch Lüttich und Loewen wurden mir
natürlich die schweren Kämpfe in Erinnerung gebracht, welche die
Deutschen nach Ausbruch des Krieges auf belgischem Boden zu bestehen
hatten. An der französischen Grenze mußten sämtliche Zivilpersonen den
Zug verlassen, ich setzte die Fahrt mit einem eigens für mich ausge-
stellten Reiseschein der Kommandantur Lille in Begleitung des Ober-
regisseurs des Leipziger Stadttheaters Herrn Josef Groß, eines gebürtigen
Wieners, fort. Meine Ankunft in Lille erfolgte am 12. d.; auf der Fahrt
dorthin, konnte ich überall die Spuren des heftigen Wider-
standes sehen, der bei den Kämpfen seitens der Franzosen seinerzeit
geleistet worden ist . . . Ich stieg im Hotel Royal ab, wo mir sofort
nach meiner Ankunft eine Brotmarke und eine Fleischmarke
für 60 Gramm per Tag überreicht wurde, und ging dann in das
Stadtlheater, das vollständig frei steht und gänzlich unversehrt
geblieben ist. . . . ich fand das Dirigentenpult bekränzt vor. Alles
spielte mit größter Begeisterung vor dem übervollen Hause, da — bei
einer Pianostelle — hört man plötzlich das Knattern eines Maschinen-
gewehres, ein Zeichen, daß ein feindlicher Flieger über der Stadt kreist...
Die Vorstellung aber geht weiter, als ob nichts geschehen wäre. Nach
Schluß der Aufführung, die von den Feldgrauen mit großem Beifall auf-
genommen wurde, erfuhren wir, daß ein englischer Flieger in der
Zwischenzeit abgeschossen worden war. . . Nachts beginnt dann
regelmäßig das Donnern der Geschütze, es dauert oft ein bis zwei
Stunden, dazwischen das eintönige Knattern der Maschinengewehre. Am
Horizont sieht man da oft rötlich aufleuchtende Blitze, dann wieder
Leuchtkugeln, die geworfen werden, um das Gelände zu erhellen.
93 —
Nein, damit der Feind den Lehar besser sehen kann.
Das Knattern des Maschinengewehres ist nach der Auffassung
eines feldgrauen Dichters »Sphärenmusik«. Seitdem es eine Piano-
stelle bei Lehar begleitet, weiß man erst, wie recht jener hat.
Von dieser kleinen Störung abgesehen freut er sich aber, wie
korrekt alles zugeht:
In der Stadt herrscht, wie ich mich überzeugen konnte,
strenge Ordnung und Ruhe. Viele französische Familien sind seiner-
zeit geflohen und haben ihr Hab und Gut in der Stadt zurück-
gelassen. Sie ahnen gar nicht, daß in den Palais, die den Offizieren
gegenwärtig zum Aufenthalt zugewiesen wurden, alles am alten
Fleck steht, ebenso wie sie es verlassen haben, und daß sie
ihre Behausungen seinerzeit wiederfinden sollen mit
all den wertvollen Nippes, Bildern, Silber und Kleinodien, die sie
dort zurückließen. Ich hatte Gelegenheit, ein Palais zu besichtigen,
in dem sich Silberzeug im Werte von über 100.000 Francs
auf das sorgfältigste verwahrt befand. Da konnte ich eben meine
Betrachtungen über die »deutschen Barbaren« anstellen I
Also mitgenommen haben sie nichts. Aber Musik von
Lehar haben sie gebracht!
Der Musikmarkt
Musik-, Gesang-, Theater-
und Variet€-Kräfte
Theaterengagement be-
sorgt ....
Kinopianist, Allein-
spieler mit großem Re-
pertoire ....
Suche Bratschisten und
nur perfekten Klavierspieler
für Kammermusik ....
Einpauker für das recht s-
und staatswissenschaftliche
Doktorat gesucht. Anbote mit
Angabe von Ansprüchen und
Nachfragen unter »Möglichst
rasch 45131« an die Exped.
— 94 —
Die Not schafft seltsame Bettgenossen
Heinrich Rienößl. >Wien im Kriege.« Novellen und Skizzen.
Hans Hübner-Verlag, Hannover.
Friedrich Hölderlin. »Hyperion« oder > Der Eremit in Griechen-
land«. Verlag Gustav Kiepenheuer, Weimar, 1916.
Ein interessanter Mensch
Aussichtsloser Versuch,
ein weibliches Wesen zu
finden, das seelisch-geistigen
Adel u. körperl. Schönheit
vereint, schlank und groß
ist und meine schrift-
stell. Fähigkeiten nach
Rückkehr zu intensi-
verem Schaffen anregen
könnte; bis dahin Korre-
spondenz. Das hier nötige
Selbstlob und Fehlerbekennt-
nis: mit körperl, und
geistigen Vorzügen aus-
gestattet, Charakter,
witzig, vielseitig gebildet,
Idealist, Realist und
Romantiker zugleich,
Ästhet, Don Juan-Qui-
chotte, faustisch suchend
u. selten befriedigt, daher
dieser Versuch, der sonst
Armutszeugnis wäre. Strengste
Verschwiegenheit zugesichert
u. erwartet. Unter > Ferne
Prinzessin 9905« a. d. Ank.-
Bur. d. Bl. Antw. braucht
zka. 10 Tage.
Der dürfte im Kriegspressequartier sein.
Die Wahrheit ist immer in der Mitte
.... gestern einen glänzenden Erfolg errungen. . . .
So etwas steht jetzt öfter in Referaten, die irgendein zur
Disposition gestellter Theaterreporter über kriegerische Leistungen
veröffentlicht. Während aber die Theaterreferate nur mit den Anfangs-
95
buchstaben unterzeichnet waren, tragen die Kriegsrezensionen den
ausgeschriebenen Zunamen, der zumeist ein nom de guerre ist
und furchtbar dezidiert klingt, so als ob der Herr, der ehedem
über eine Premiere ein ziemlich unsicheres Urteil hatte, die volle
Verantwortung für einen Sturmangriff übernehmen wollte. Solche
kurze und bündige, von einem frischen Offensivgeist durchwehte
Erklärungen bieten manchmal gar einen gleichzeitigen Ausblick
auf zwei Kriegsschauplätze, die von einander fast so weit entfernt
sind, wie der Kritiker von beiden. Etwa so:
. . . Am Südteil der Strypa-Front und in der Bukowina waren
keine besonderen Ereignisse und die Lage ist dort eine unveränderte.
An der Südwestfront griffen die Italiener wieder bei Selz an und
wurden auch wieder geworfen. Im Marmolata-Gebiet zwischen Etsch
und Brenta wurden kleinere italienische Vorstöße abgewehrt.
Geyer.
In Friedenszeiten wäre die Gleichzeitigkeit der Bericht-
erstattung über eine Volkstheater- und eine Carltheaterpremiere
trotz der lokalen Möglichkeit, sich mittelst Autos von dem
Fortschreiten beider Aktionen zu überzeugen, kaum statthaft ge-
wesen. Im Kriege, wo bekanntlich Blut fließt, wenn glänzende
Erfolge erzielt werden, aber der Referent nicht bis zur Garderobe
vordringt, ist solcher Einsatz des Namens, solch ehrenwörtliche
Garantie für das Erlebnis zweier Fronten tagtäglicher Usus.
Die objektive Abschätzung zwischen Strypa und Brenta wird, da
der Referent doch unmöglich, um nicht in den Verdacht der
Befangenheit zu kommen, einer der beiden Fronten den Vorzug
geben kann, nur dadurch gewährleistet, daß die Wahrheit eben
immer in der Mitte ist, nämlich, der sie zu vertreten hat, in Wien.
Spät kommt ihr, doch ihr kommt
dürfte der Poldi, der österreichische Generalkonsul in Warschau,
falls er wieder dort ist, zum Hugo sagen, und der Bahr, der schon
am 16. August 1Q14 ausgerufen hat: >Nun müßt ihr aber doch
bald in Warschau sein!« freut sich, daß er das doch noch erleben
kann. Auch ich habe die Möglichkeit nicht völlig in Abrede gestellt:
96 —
. . . wenn ihm nicht etwa nach der Einnahme dieser Festung
Gelegenheit geboten war, mit Liebesgabenpaketen oder in sonst einer
honorigen Mission des Kriegsfürsorgeamtes dortselbst zu erscheinen.
Ob die Mission eine honorige ist, mag dahingestellt bleiben.
Aber es läßt sich nun nicht mehr leugnen, daß der Leutnant
Hof mannsthal in Warschau eingerückt ist. Die , Deutsche Warschauer-
Zeitung' — so etwas gibts schon — berichtet am 5. Juli 1916, also
fast zwei Jahre nach dem Ausbruch Bahr'scher Ungeduld:
Hugo V. Hofmannsthal,
der bekannte, feinsinnige Wiener Poet, weilt gerade jetzt hier in
Warschau. Ursprünglich schien es, als würde er, der im Jahre 1874
in Wien geboren wurde,
früher in Warschau einrücken? Nein:
sich zu einem ganz verträumten Lyriker entwickeln, der sich und andere
nur in lyrischen Klängen ergötzte; als wäre ihm, dem Versonnenen,
die Kunst dramatischen Gestaltens versagt. Dann aber fand er auch
dazu die Kraft. Von seinen Dramen, die über die meisten großen öster-
reichischen und deutschen Bühnen gingen, seien genannt: >Die Hochzeit
der Sobeide«, >Der Abenteurer und die Sängerin«, >Elektra«, »Das
gerettete Venedig«, >Oedipus und die Sphinx«, »Jedermann« und >Der
Rosenkavalier«.
Diese Werke sind reich an lyrischem Reiz und voll fremdartiger,
großartiger Sprachschönheit. Hof mann sthals Wesen am verwandtesten
ist unter den Modernen wohl Stefan George.
Hugo v. Hofmannsthal wird, wie wir hören, ain 7. Juli hier in
Warschau einen öffentlichen Vortrag halten über »Österreich im
Spiegel seiner Dichtung«.
Näheres darüber wird noch bekanntgegeben werden.
Kein Zweifel. Und Österreich verhänge den Spiegel. Aber der
Poldi wird eine Freud' haben und wenn er schon nicht Baudelaire
deklamiert, während draußen die Reklametrommeln schlagen, so
wird er doch Schiller zitieren. Er hat gewartet:
Aus Warschau wird berichtet: . . . Neben dem General-
gouverneur Exzellenz v. Beseler war auch der Delegierte des
k. u. k. Ministeriums des Äußern Baron Andrian anwesend.
Hofmannsthal sagte unter anderm: Betrachten wir die neuere öster-
reichische Dichtung als ein Ganzes, so wird das gleiche Bild
entgegentreten, das von den militärischen Leistungen
der durch historisclies Schicksal zu einer Einheit verknüpften öster-
reichischen Länder gegeben wird. In der Tat wie im Kunstwerk
wird menschliches, volkliches Dasein zu Geist. Sie beide, die Tat wie
das Kunstwerk, reden allein reine Wahrheit. . . .
Die aber eigentlich in der Mitte ist, im Kriegsfürsorgeamt.
— 97 —
Monumentum aere perennius
Unsere Generale und Flaggenoffiziere im Weltkrieg
Herausgegeben zu Gunsten des k. k. österr. Militär -Witwen- und
Waisenfonds von Geh. Rat General der Infanterie Franz Freiherr
von Schönaich, Kriegsminister a. D.
Unter Leitung des Geh. Rates General der Infanterie Emil von Woinovich,
Direktor des k. u. k. Kriegsarchivs und des Generalmajor Max Ritter
von Hoen, Kommandant des Kriegspressequartiers
Redigiert von Oberstleutnant Alois Veltze, Abteilungsvorstand
im k. u. k. Kriegsarchiv. Künstlerische Leitung: Eugen Willoner
Leiter der graphischen Abteilung: Julius Klinger
Wien I, Stock im Eisen Nr. 3 Fernspecher 1488 Postsparkassenkonlo 150313
Wien, 23. Mai 1916
Euer Hochwohlgeboren I
Wir beehren uns im Nachstehenden einen Prospekt des im
Verlage des k. k. Militär -Witwen- und Waisenfonds erscheinenden
Prachtwerkes
Monumentum aere perennius
zu überreichen und bitten, ihm Ihre geneigte Aufmerksamkeit zu
schenken. Wir erwähnen gleich, daß unsere neueste Publikation
nicht die Bestimmung hat, die zahlreichen dem Kriege und der
Kriegsliteratur gewidmeten Werke zu vermehren. Unser Prachtwerk
muß vielmehr schon vermöge seiner äußeren Aufmachung auf
Popularität im üblichen Sinne des Wortes verzichten und
wendet sich nur an die ersten Kreise der Gesellschaft, die in
ihren Salons dieses bleibende Denkmal an die große Zeit auf-
richten und damit die hehrste Aufgabe unserer Kriegsfürsorge, die
Witwen- und Waisenfürsorge, unterstützen werden.
Das Werk verspricht sowohl dem Laien wie auch dem Sammler
und Bibliophilen eine reiche Fülle künstlerischer Genüsse. Zwei hervor-
ragende Künstler haben ihr ganzes Können in seinen Dienst gestellt
und ein Literat vom Range des Direktors des k. u. k. Kriegs-Archivs hat
die redaktionelle Leitung übernommen.
Das vornehmste Agitationsmittel für den Absatz des Werkes
muß jedoch sein, daß sein Erträgnis für die Witwen und Waisen unserer
gefallenen Helden bestimmt ist und darum die Förderung aller guten
Patrioten verdient.
Wir laden im Hinblick auf diese berücksichtigungswerten Um-
stände Euer Hochwohlgeboren zur Subskription ein und zeichnen
mit dem Ausdrucke
ergebener Hochachtung
Monumentum aere perennius
für die Vertriebsabteilung
— 98 —
Iliade
V/ien, 21. April.
Echtes Soldatenblut pulst in den Adern dieses Feldherrn, der ....
Durch die ganze Monarchie kreuz und quer war Puhallos Vater mit
dem Säbel in der Faust ....
Das kann schon sein, aber es sollte doch nicht an einem
und demselben Tage gleichlautend in allen Zeitungen stehen.
Es mag schwer sein, wie ein Maßgebender jüngst beklagt hat, heute
einen Homer zu finden ; aber es sollte noch schwerer sein, ein
Korrespondenzbureau zu finden.
Heldentod und Kondolenz
Der frühere Regimentskommandant Oberst .... hat einen schweren
Verlust erlitten. Sein Sohn . . Leutnant .... Als er an der Spitze seines
Deutschmeisterzuges stürmend in die feindliche Stellung drang, streckte
ihn ein Kopfschuß nieder .... aus der Wiener-Neustädter Militär-
Akademie als Jahrgangserster ausgemustert .... von glühender Liebe
für seinen Soldatenberuf erfüllt und berechtigte seine Vorgesetzten und
seine Eltern, deren einziges Kind er war, zu den schönsten
Hoffnungen. Dem schwergeprüften Vater .... wenden sich die
allgemeinen Sympathien der Wiener Gesellschaft zu.
Mit Recht. Was aber des Rechts entbehrt, ist die — im
Millionensterben an jeden einzelnen Fall geknüpfte — Auffassung,
als ob der Heldentod nicht ^twa die Glorie, nicht einmal das
Risiko des Berufs, sondern ein fataler Zwischenfall wäre,
der eine zu den schönsten Hoffnungen berechtigende Laufbahn
abbricht, noch dazu, wenn diese die militärische ist. Zu welchen
schöneren Hoffnungen könnte ein Jüngling, der nicht nur deshalb
dem Ruf des Vaterlands folgt, weil er muß, sondern weil er will,
seine Vorgesetzten und seinen Vater, der ein Vorgesetzter ist,
berechtigen als zu der Erwartung, er werde auch den größten und
letzten Beweis dafür, daß er für das Vaterland gelebt hat, nicht
schuldig bleiben? Oder nicht? Oder ist die Zeit noch sonderbarer
als groß? Ein Höherer als dieser Vater hat, als ihm desgleichen
geschah, den Heldentod einen > grausamen Schicksalsschlag«
genannt. Als aber ein eingerückter deutscher Kaufmann starb,
sagten die Hinterbliebenen, »die Nom« habe ihm »die Wege verlegt«.
— 99 ~-
Die Kondolenlen der Zeit tun gut, sich an die heroische Phrase zu
halten; wenn sie die bürgerliche nehmen, kommen sie am Ende in
Gefahr, die Wahrheit zu sagen und vielleicht gar zu fühlen.
Gebet nach der Schlacht
>. . . Das sind Erscheinungen siedender Hitze, der in der Natur
wie in der Politik jähe Rückschläge zu folgen pflegen. London und
Paris dürften heute recht verdrossen sein. Konsols sind auf dem
T i e f s t a n d e.«
Die neue Benedikt'sche Formel
Am Morgen:
Was kannst du? Diese Frage, die im einfachsten Leben die
Voraussetzung des Erfolges ist, wird im Kriege zum Schicksal.
Am Abend:
In der Politik wie in allen menschlichen Dingen, in denen ein
Erfolg durchzusetzen ist, muß die Frage aufgeworfen werden:
Was kannst du?
Dieses Tat-twam-asi des Börsenmanns dürfte für die nächste
Zeit die Formel bleiben. Angewendet, wenn die Reden der Entente-
Politiker, in der politischen Sprache auch »Schmonzes«, mit den
militärischen Tatsachen, in der strategischen Sprache auch »Tachles«
genannt, keineswegs übereinzustimmen scheinen. Was kannst du?
Es ist eine sogenannte »Laienfrage«. Die Laienanlwort: Kusch!
wird hiemit im Vollmachtsnamen Europas erteilt.
Zum Sprechen ähnlich
Die Zensur und die >Neue Freie Presse«:.
Wien, 3. Juli.
Das Sonntagblatt der »Neuen Freien Presse« ist verstümmelt in
die Hände der Leser gekommen .... das Zusammenfassen politischer
Wirkungen der Kriegsereignisse, das Sprechen zum Publikum an Tagen,
an denen es eine Stimme hören will, die es aufrichtet und in
der es sich selbst erkennt, müssen frei sein ....
Wir glauben, einiges dazu beigetragen zu haben, wenn im
Volke in der bangen Zeit des zweijährigen Krieges die Zuversicht be-
festigt und der Kleinmut verscheucht wurde. Bei den Eingriffen
100
in den lebendigen Organismus einer Zeitung, die i m Kriege auch mit
wirtschaftlichen Sorgen belastet ist, soll die Preßpolitik
Das muß ein feines Publikum sein, welches sich nicht nur
sagen läßt, daß es diese Stimme hören will und von ihr aufge-
richtet wird, sondern daß es sich in ihr selbst erkennt! Es fühlt
sich nicht getroffen, sich getroffen zu sehen. Es fühlt sich ge-
schmeichelt. Es sieht so aus, wie jener redt!
* *
*
Der Spiegel für die Schönheit der Seele
An unsere Leser t
Die »Neue Freie Presse« hat bisher an Beiträgen zur Milderung
der Kriegsnot zehn Millionen ausgewiesen.
Das Leben österreichischer Publizisten ist auch im Frieden mühe-
voll, aber der Krieg hat die Arbeit, die Sorge und die Gefahren
noch vervielfältigt. Die Stöße, die von dem Wechsel der Ereignisse aus-
gehen, treffen das Herz, das um den Verlauf des Tages bangt, die
kleinsten Schwingungen mit seinem Schlage begleitet und Erregungen,
wie noch keine Zeit sie hervorgerufen hat, widerstehen muß.
Die Beschwerlichkeiten, die in solchen Krisen auf einem Berufe
lasten, dessen Gebieterin die Stunde ist, und vieles, das besonders
nahegeht, alles schrumpft zur Nichtigkeit zusammen, verglichen mit
der Erhabenheit einer Welt im schmerzhaften Werden, mit dem weiten
Meere von Leiden, aber auch mit der Größe, zu der unsere
heutige Gesellschaft, zu der sich alle Schichten erheben,
zu der einfachen Hingabe, mit der die Heimsuchungen des Krieges
getragen werden.
. . . wie auf den Schlachtfeldern und im Hinterlande nie geahnte
Größenverhältnisse sich zeigten .... ist auch das Mitleid gewachsen,
hat sich die Erlcenntnis vertieft, daß die Nächstenliebe nur eine
Erhöhung und Verfeinerung der Selbstliebe ist ... .
Die machtvolle Welle des Mitleids, welche die Monarchie durch-
stürmt, hat zehn Millionen Kronen in die >Neue Freie
Presse« gebracht, eine Summe, nie vorher an einer einzelnen
Sammelstelle erreicht, aus großen und aus vielen kleinen Spenden
aus den Widmungen aller Klassen zusammengesetzt, oft mit Worten
eingesendet, die das Merkmal der Ergriffenheit über
persönliche Erlebnisse hatten.
. . . Krone auf Krone haben wir in jedem Ausweise gezählt und
immer daran gedacht, daß der bescheidenste Betrag die Macht, gütig zu
sein, vermehrt, in matten Augen die Hoffnung aufschimmern läßt, die
Schönheit der Seele widerspiegelt ....
Diese zehn Millionen haben die Leser der >Neuen Freien
Presse« uns anvertraut und in den Ausweisen gesehen, daß
sie gewissenhaft verwaltet worden sind ....
— 101
Als Erlös eines von Frau Charlotte Preis, derzeit Parksanatorium
Hütteldorf-Hacking versteigerten Salzstangerls 300 K.
Parksanatorium Hütteldorf-Hacking als Versteigerungserlös eines
von dem Kurgast M. Halphen gewonnenen und von demselben mit
einem persönlichen Einsatz von 300 K zu weiterer Versteigerung
angebotenen Salzstangerls 500 K. . . .
Musikgesellschaft Pistollackel als Belohnung für ein unterbliebenes
Duett 1604 Kronen ....
Otto Ni. aus Leilmeritz und Robert Bi. aus Theresienstadt
gratulieren Rusi Ni. in Wien zum freudigen Famlienereignis : »Gut is'
gangen, nix is g'scheh'n!« 2.07 Kronen
Und alles gewissenhaft abgeführt.
Parasiten des Weltuntergangs
Administration des
«Neuen Wiener Journals"
Telephon 16940.
Wien, I., im Juli 1916.
Euer Hochwohlgeboren I
Anläßlich der Eröffnung der Kriegsausstellung konnten
wir konstatieren, daß der Pavillon »Gewerbeförderung des Landes
Niederösterreich« sehr hübsche und gelungene Erzeugnisse zur
Schaustellung beinhaltet.
Dies veranlaßt uns, Sie darauf aufmerksam zu machen,
daß es sehr vorteilhaft wäre, wenn das große Publikum die von
Ihnen ausgestellten Gegenstände in der Kriegsausstellung gelegentlich
besichtigen würde. Dies zu veranlassen ist nur dann gut möglich,
wenn wir im Einvernehmen mit den übrigen Ausstellern, soweit diese
im Katalog der »Gewerbeförderung« aufgezählt erscheinen, einen
Artikel in unserem >Neuen Wiener Journal« publizieren.
Sollte dieser Artikel an einem Wochentag erscheinen, so berechnen
wir für die Zeile 7 Kronen, an Sonntagen 8 Kronen.
Wir beabsichtigen, diese Publikation ehebaldigst zu bringen, und
ersuchen um gefällige Mitteilung, in welchem Umfang Sie sich auf
Grund der vorgenannten Preise an diesem Artikel zu be-
teiligen wünschen.
Wir übermitteln Ihnen in der Anlage Retourcouvert und gewärtigen
ehebaldigst Ihre zustimmende Erledigung. Inzwischen zeichnen wir
Hochachtungsvoll
Administration des
„Neuen Wiener Journals".
Ist alles verboten und nur das erlaubt?
102
's ist etwas faul im Staate Dänemark
Eine in ihrer Art einzig da-
stehende Freilichtaufführung des
> Hamlet« inHelsingör bildete dieser
Tage den Abschluß der künst-
lerischen Veranstaltungen in Däne-
mark zur Feier des Shakespeare-
Jubiläums. Schon- vor Monaten
wurde von dem dänischen Schrift-
stellerklub der Plan gefaßt, das
Hamlet-Drama an jener Stelle zur
Darstellung zu bringen, auf die
Shakespeare selbst den Schau-
platz der Handlung verlegte ....
Ein Überbleibsel alter Zeit in-
mitten neuer Anlagen, bildet der
massive Bau einen merkwürdigen
Gegensatz .... zu dem an-
grenzenden, im Frühjahr und
Sommer von Badegästen be-
völkerten Park des berühmten
Kurhotels »Marienlyst«, wo dem
Besucher neben einer Hamlet-
Statue auch das angebliche Grab
des unglücklichen Königssohnes
gezeigt wird .... Die 3000
Zuhörer folgten mit außerordent-
lichem Interesse der Aufführung,
und die Stimmung des nächt-
lichen Renaissanceschlosses, das
Darsteller und Publikum als
grandiose Dekoration sozusagen
in einem märchenhaften Rahmen
erscheinen ließ, steigerte sich
von Szene zu Szene. Dem
Stücke selbst ging ein von
Helge Rode, dem Bruder des
dänischen Ministers des Innern,
verfaßter Prolog voraus, in dem
die Stunde geschildert wurde,
in der Shakespeare anläßlich
eines Besuches von Helsingör
den Plan zur Niederschrift seines
berühmten Werkes faßte. Dann
hielt Georg Brandes einen Vor-
trag zu Ehren des Dichters ....
... Es ist ja auch ganz natür-
lich, daß sich in Kopenhagen jetzt
die Jobber niedergelassen haben,
denn Kopenhagen ist Jetzt eine
abenteuerliche Stadt geworden, von
wo aus die Drähte der europäischen
Spionagezentralen ausgehen ....
Es ist ja ganz natürlich, daß hier auch
die »Gulaschbarone« ihr Hauptquar-
tier aufgeschlagen haben .... Die
winkenden schwindelnden Gewinne
sind es, die diesen Typ prägen ....
Aber es gibt noch andere, weniger
korrekte Herren, die es außerordent-
lich gut verstehen, die Gesetze zu um-
gehen, die Behörden zu narren und
Vermögen zu verdienen, indem sie
Waren, deren Export verboten ist,
aus dem Lande schmuggeln. Manch-
mal wird einer dieser modernen
Schmuggler festgenommen und dann
gibt es einen Skandal für die Sen-
sationspresse .... Denn in Lizenzen
wird in Malmö tüchtig gehandelt.
Ob nun dieses Papier wirklich vor-
handen oder ob von dem Vor-
handensein desselben nur per Tele-
phon oder Telegraph Mitteilung
gemacht wird, jedenfalls ist es der
Ausgangspunkt der ungeheuerlich-
sten Spekulationen an Malmös
Börse .... Alle verfolgen nur das
eine Ziel, mit dem Goldstrome dem
Reichtum entgegenzuschwimmen....
In Kramers Hotel geht alles nicht
so offen her .... Hier werden die
wirklich großen Geschäfte abge-
schlossen; man empfindet dies
mehr, als man es wirklich sieht ....
Die Hauptsache bleibt natürlich
auch hier der Gewinn; man steckt
ihn ein, und später fragt kein Mensch
mehr, wie man ihn erworben hat.
Derneue Adel mit dem Gulaschbaron
im Schilde hat auch seinen Stolz ....
103 —
Aus der Welt des Kino
»Zu den zahlreichen färstlichen Gönnern, die sich das Kino
während der verhältnismäßig kurzen Zeit seines Bestandes gewonnen
hat, gehört ganz besonders der deutsche Kaiser. Er entzieht sich einer
Kinoaufnahme nicht im geringsten, ja, wenn man die Films, die ihn
zeigen, genauer betrachtet, merlct man unschwer seine Bereitwilligkeit,
sich in die Anforderungen der kinematographischen Aufnahme zu fügen.
Daß Kaiser Wilhelm der meistverfilmte Herrscher der Erde ist, das
haben bekanntlich seinerzeit anläßlich des 25jährigen Regierungs-
jubiläums die illustrierten Blätter hervorgehoben. Wir erinnern uns an ein
Bild in einer reichsdeutschen Zeitschrift, das den Kaiser beim Empfang
eines originellen Geschenkes darstellt: einige Kilometer Film, auf dem
er selbst zu sehen ist, werden ihm überreicht. Der deutsche Kaiser
wird aber nicht nur sehr oft auf den Film gebracht, er hat in Friedens-
zeiten auch sein eigenes Kino. Im Theatersaal des Neuen Palais fanden
nämlich in den letzten Jahren des öfteren Kinovorstellungen statt.
Übrigens ist es für das Kino charakteristisch, daß es außer
Kaiser Wilhelm noch viele andere gekrönte Häupter zu seinen Freunden
zählt. Vielleicht hängt das außer mit dem natürlichen Bedürfnis, sich
der Nachwelt in vollem Leben zu überliefern, noch damit zusammen,
daß das Kino einem klugen Herrscher Gelegenheit bietet, durch die
Sympathie, die er dem Kino entgegenbringt, Industrie und Handel
zu fördern, c
Die gut abgeschnittene Sprache
Oberleutnant Immelmann,der ruhmreiche Fliegeroffizier, dessenTod
allgemein bedauert wird, sandte dieser Tage dem Berliner Schrift-
stellet iVlackowsky, derein Buch über die deutschen Flieger vorbereitet,
auf dessen Ersuchen einen Brief mit biographischen Daten, den die
>B. Z. am JVlittag« veröffentlicht: Der letzte Teil dieser im Telegramm-
stil abgefaßten Selbstbiographie Immelmanns lautet folgender-
maßen: Tätigkeit vor dem Kriege: Schon in der Jugend starkes
Interesse für Maschinen. Erste Absicht: Maschinenbauer werden.
Im Kadettenkorps sehr guter Mechaniker gewesen, Sprachen weniger
gut abgeschnitten. Dienst bei Eisenbahnregiment wenig befriedigend,
deshalb alten Plan aufgenommen, Maschinenbau studiert .... Bei
Kriegsausbruch in Eisenbahnregiment eingezogen. Unkriegerische
Bautätigkeit unbefriedigend .... Am 1. August mein erster
Kriegsflug auf Fokker-Eindecker; gleich einen abgeschossen....
am 11. Oktober zum erstenmal im Heeresbericht mit vier abge-
— 104
schossenen Gegnern genannt .... bis Anfang Juni fünfzehn
Engländer abgeschossen, von denen vierzehn auf eigenem Gebiete
liegen; eine Anzahl, auf die ich allein zurückblicken kann.
Tod ist immer traurig, ob nun den trifft, der getroffen
wird, oder den, der trifft. Aber Lebenslauf sollte nicht immer
dazu dienen, auf dem Laufenden zu erhalten. Immermann, der
auch ein guter Deutscher war, hätte sich nicht so lapidar aus-
gedrückt. Schopenhauer hätte an den gut abgeschossenen feindlichen
Menschen und an der gut abgeschnittenen deutschen Sprache kaum
seine Freude gehabt. Der »dieser Tage« telegraphisch abgesandte, wohl
aus dem Jenseits runtergeworfene Lebenslauf dürfte einem nach-
lebenden Berliner Schriftsteller, der immerhin tief unter einem
Flieger lebt, Pinke Pinke bringen.
Eingedeutschtes
(Leutnant — Leitmann.) Wir finden in deutschen Blättern: Es
war mir eine große Freude, Ihre Mitteilung von der hübschen Ein-
deutschung des schauerlichen >Trottoirs« in »Trottweg« zu
lesen, zumal ich dadurch an eine ähnliche Wortbildung erinnert werde,
die mein Sohn, der jetzt als Reserveleutnant im Felde steht, verbrochen
hat, als ich mich mit ihm mal über Heeressachen unterhielt. Mit dem
Worte Leutnant konnte er gar nicht fertig werden und machte
daraus >Leitmann«. Das gefiel mir so, daß ich wiederholt an-
regte, die Verdeutschung aufzugreifen und an Stelle des damals noch
üblichen > Lieutenant« anzuwenden. Leider fand ich keine Gegen-
liebe. Aber vielleicht könnten Sie durch den großen Einfluß Ihres
Blattes, zumal in der heutigen Zeit, besser darauf hinwirken, daß
dieser nach meiner Ansicht ganz vortreffliche Ausdruck mal zur
allgemeinen Einführung in Erwägung gezogen wird. Zum »Hauptmannc
würde »Leitmann« auch dem Wortsinn nach ganz gut passen und
ebenso wohl der militärischen Stellung entsprechen. Fleischhauer,
Ober leitmann d. L. a. D.
Das Trottoir, das gemeinhin nur dann schauerlich ist, wenn
die Passanten, die dortselbst trotten, zumal in der heutigen Zeit,
in Trottel übersetzt werden müssen, wäre also bereits mit Erfolg
»eingedeutscht«. Eindeutschen — das ist die Tätigkeit jener in der
Außenwelt unbeliebten Leute, die nach erfolgter Ablehnung den
heroischen Entschluß gefaßt haben, »sich auf sich selbst zu besinnen«,
wie man jetzt sagt, sich also gewissermaßen freiwillig in ein inneres
— 105 —
Konzentrationslager zu verfügen und von einer Walhalla mit
Exportabteilung zu träumen. Da es kaum gelingen dürfte,
sämtliche fremden Kulturen einzudeutschen, so ist es nicht unklug, sich
wenigstens rechtzeitig an ein paar Fremdwörtern zu vergreifen, sie
als Geiseln zurückzubehalten und sich an ihnen für die eigene
Unbeliebtheit zu rächen. Eindeutschen — ist es eine Tortur?
Eine Strafe ist es. Eine »Heimsuchung« ist es sicher. »Eingedeutscht
sollst du werden!« Ist es eine Zubereitung? »Wir haben heute zu
Mittag Eingedeutschtes gehabt.« Eindeutschen — das ist fast eine so
vorsichtige Tätigkeit, wie bei Zeiten, zumal in der heutigen Zeit,
Dunstobst einlegen. Tatsächlich werden auch mit Vorliebe
schon alle Speisen eingedeutscht, die dann weit schmack-
hafter sein sollen und, soweit erhältlich, eben darum mehr
kosten. Nun wäre zwar manch einem ein Rumpsteak, das zu
haben ist, lieber als ein blutiges Zwischenlendenstück, das, zumal
in der heutigen Zeit, nicht zu haben ist; aber die beruhigende
Gewißheit, daß man es unter allen Umständen eindeutschen kann,
ist auch etwas wert. Ich für meinen Geschmack würde eine ein-
gedeutschte Speise wohl nicht mit der Feuerzange anrühren und
wählte den Hungertod, ehe ich davon äße. Würde ich nur krank, so
würde ich an deutschem Wesen sicher nicht genesen. Aber ich würde
auch nie behaupten, daß ich mal durch ein abgekürztes Mal satt
geworden wäre, und dann behaglich auf dem Trottweg herumspaziert
wäre, so bis zum nächsten Fleischhauer, um auch dort nichts zu
kriegen, höchstens zu erfahren, daß er derzeit seinen Beruf wo
anders ausübe, nämlich im Feld, nämlich als Oberleitmann.
Sein Sohn hat das Geschäft auch nicht übernehmen können; er
hätte es als Reservelcutnant können, hat aber als Vorrats-
leitmann einrücken müssen. Nein, da ist nichts zu holen.
Nein, so lebe ich nicht. So einer bin ich nicht. Ich weiß, daß die
Zeit ernst ist, die heutige. Voll Taten, aber auch voll Gedanken. Voll
Aufregungen, aber auch voll Anregungen. Und wenn sie sich nur den
Respekt vor dem Leitmann, der ihr doch wahrlich in Fleisch und
Blut übergegangen ist, erhält, so kann ihr am Ende nichts mehr
fehlen als ein paar Fremdwörter, zu deren Beseitigung sie das
heroischeste Opfer auf sich genommen hat, nämlich das des
Intellekts.
106 —
Ein Scharmör
>. . . Süsser (der Verfasser des Werkes .Deutscher, sprich deutscht';
regt dann an, die Fremdwörter in der Schreibweise zu verdeutschen, so
zwar, daß man ,Soße', ,Palä', ,Budoar' usw. schriebe. . . .<
Du Süßer!
Pfleget die deutsche Sprache
Der Unterrichtsminister hat an die Landesschulräte nachfolgenden
Erlaß gerichtet: Während d^s gegenwärtigen Krieges hat die
Pflege der deutschen Sprache in überaus erfreulicher
Weise an Kraft und Umfang zugenommen ....
. So?
Den Schulen jeder Art erwächst daher die Aufgabe, in der
Bekämpfung dieser Unsitte
nämlich des Gebrauches der Fremdwörter
nicht zu erlahmen, vielmehr den Reichtum der deutschen Sprache mehr
und mehr den Schülern zu eigen zu machen und durch eine nach
der Altersstufe fortschreitende Pflege der Form von Rede und Schrift
das Sprachgefühl so zu stärken und eine solche Herrschaft
über das Wort zu erringen, daß ....
Aber die haben sie doch eh!
Es darf aber anderseits in dem Bestreben .... nicht über ein
verständiges Maß .... Die richiige Pflege der deutschen Sprache
erheischt es, bei der Bildung und Anwendung neuer Ersatzwörter mit
Vorsicht und nicht ohne sprachkundige Beratung vorzugehen
Diese Warnungstafel sollte, wie jene in den »Abteilen«, in
allen Sprachen gehalten sein, wobei »dangereux« auf deutsch natürlich
»verboten« hieße. Aber der Unterrichtsminister wird mir vielleicht
nicht abstreiten, daß ich sprachkundig bin, und dennoch versichere
ich ihm, daß ich jeden, der mich auf der Bahn um Rat fragen
wollte, ob er ruhigen Gewissens statt Coupe Abteil sagen dürfe,
im Namen der .deutschen Sprache auffordern würde, sich zum
Fenster hinauszubeugen. Der Unterrichtsminister verlangt viel. Er
wünscht sowohl die Vermeidung entbehrlicher Fremdwörter wie
die Anwendung solcher, >für die noch kein vollgiltiges Ersatzwort
107 —
eingebürgert ist.« Aber wie soll sich denn ein solches einbürgern,
wenn der Bürger es nicht ausprobieren darf?
Bei der Auswahl des Lesestoffes für die Sctiuljugend jedes Alters
werden neben den Meisterwerken der deutschen Literatur jene Bücher
den Vorzug verdienen, die der sprachlichen Richtigkeit des Gedanken-
ausdrucks volle Sorgfalt widmen und, frei von entbehrlichen Fremdwörtern
wie von gekünstelter Schreibweise, auch durch sprachliche Ausdrucks-
form belehren.
Mit einem Wort, Ganghofer. Ich komme, wiewohl hin
und wieder mit mir schon Versuche angestellt wurden, keineswegs
in Betracht, da ich ja der sonderbaren Meinung anhänge,
daß ein Aufsatz von mir, der aus lauter Fremdwörtern bestände,
besseres Deutsch sei als einer von Bartsch, der aus lauter deutschen
Wörtern zusammengesetzt ist. Der Unterrichtsminister spricht die
bestimmte Erwartung aus, daß außer dem »achtsamen Lesen
solcher Bücher<
ebenso das Hören der in gutem Deutsch gehaltenen Rede, also vor
allem das Beispiel des Lehrers, dem das richtige Sprechen nicht
bloß Pflicht beim Unterricht, sondern steter Brauch sein soll
bei der heranwachsenden Jugend das Sprachgefühl verfeinern
werde. Nämlich sie daran gewöhnen werde, überflüssige Fremd-
wörter zu vermeiden. Aber auch schon während des gegenwärtigen
Kriegs hat ja die Pflege der deutschen Sprache in überaus erfreu-
licher Weise an Kraft und Umfang zugenommen, indem man statt
Roastbeef blutiges Rindslcndendoppelzwischenstück mit Barbaren-
tunke zu sagen hat. Und dies alles, die Auffassung vom »Sprach-
gefühl« als einer Scheu vor Fremdwörtern, die Aufforderung, »die
Herrschaft über das Wort zu erringen«, und dergleichen mehr
spielt sich vor meinen Augen, im achtzehnten Jahr der Fackel
ab, für deren Stellung zum Phraseninhalt dieser achtzehn Jahre
dem Unterrichtsminister ein gewisses Verständnis nachgerühmt
wurde. Nun hantiert er zwischen Begriffen wie »Sprachschatz« und
»Sprachgebrauch«, glaubt, weil Andacht auch vor dem täglichen
Brot sich schickt, daß Bäcker und Esser an dem Geheimnis teil-
haben, aus dem das Korn entsteht, und hatte, weil deutschvolk-
licher Irrsinn die Sprache für politischen Besitz hält und weil öster-
reichischer Ehrgeiz vermeint, die Schule sei dazu da, die deutsche
Sprache wie den Fremdenverkehr zu pflegen und beides tunlichst
ohne Fremdwörter — und hatte, weil wir gar keine andern Sorgen
— 108 —
haben und darum täglich Vereinsbeschlüsse über die Schöpfung
fassen müssen, nicht so viel Sprachgefühl, mir diesen Erlaß
zu erlassen.
Blätter und Folgen
Die nächste Folge der »Tiroler Soldatenzeitung« bringt über
die Einnahme des Panzerwerkes Casa Ratti ....
Was ist denn das: die >Folge« einer Zeitung? Ich hasse
Fremdwörter. Die Folge einer Zeitung muß etwas Übles sein.
Vielleicht ist eine Nummer gemeint? Es ist ja doch von einem
Zeitungsblatt die Rede, oder nicht?
Die Einnahme von Caisa Ratti wird daher stets eines der
schönsten Blätter im Ruhmeskranze ....
Jetzt kenne ich mich nicht mehr aus. Ist die Einnahme von
Casa Ratti oder die nächste Folge der »Tiroler Soldatenzeitung«,
die sie beschreibt, eines der schönsten Blätter?
Die in einzelnen Blättern gebrachte Nachricht, daß an dieser
Unternehmung Jäger beteiligt gewesen wären ....
Blätter? Die vom Ruhmeskranz oder die Folgen? Ja, das sind
die Folgen, wenn eine Sprache sich auf den Kampf mit Fremd-
wörtern einläßt und dem Ruhmeskranz, den sie erwirbt, nur die
ihr angestammten Phrasen erhalten will. Aber ich lasse meinen
Patriotismus (Vaterlandsliebe) von keinem Idioten (Trottel) anzweifeln,
wenn ich zum Beispiel den Schwur ablege, daß ich ein Rovereto, das
zu Österreich gehört, einem Rovreit, das die Italiener haben, immer
vorziehen und keinen Schritt über die Schwelle von Lafraun setzen
werde, bis es, so oder so, wieder Lavarone heißt. Und das weiß man
Gottseidank, daß ich für die Verbrennung sämtlicher Blätter bin, weil
jede ihrer Nummern außer solchem elenden Hanswurstspiel, mit
dem wir dumm gemacht werden sollen, noch andere, weit entsetz-
lichere Folgen auf dem Gewissen hat!
Gerüchte
Die englische Offensive — im Sumpfe stecken geblieben?
Berlin, 1. Juli. Das > Berliner Tageblatt« meldet aus Amsterdam:
Nach privaten Berichten Londoner Zeitungen aus dem Hauptquartier
109
wird offen eingeräumt, daß die mit vieltägigem furchtbaren Trommel-
feuer vorbereitete englische Generalaktion im Sumpfe stecken
blieb und nirgends über die ersten Teilangriffe hinausgekommen ist.
»Haben Sie schon gehört, die Engländer sind im Sumpf
stecken geblieben.« »Also wie damals die Russen!« Die Phrase ist
gerüchtbildend. Wo ist denn in dortiger Gegend ein Sumpf? Der
Titel selbst fragt wie im Zweifel (der fragende Bote ist neuestens
eine der lästigsten Erscheinungen): >Die englische Offensive —
im Sumpfe stecken get)lieben?« Da heißt es von der russischen
Offensive mit viel mehr Recht: »daß die Ereignisse noch im Fluß
sind.« Denn dort ist einer.
Eine Schreckensnachricht
Dezimierung der russischen Studentenschaft
Stockholm, 21. Juli. (Tel. der .Wiener Allg. Ztg.') Infolge der
Einberufung der russischen Studenten in die Armee ist die Moskauer
Universität, wie die neue jnskriptionsperiode ergibt, fast ausgestorben. ...
Schon infolge der Einberufung!
Es zieht!
[Die Kunst in der Kriegsausstellung.] ...um die
Palme ringen . . . . Die imposanten Winterlandschaften
stellen gewissermaßen die kriegerischen Ereignisse in den
Schatten .... Schattenstein .... fesselt der Blick .... Mehrere
Landschafter der Wiener Künstlervereinigungen haben gewissermaßen
durch den Krieg an Tiefe und geistiger Auffassung
gewonnen . . . . Das Ölgemälde »Operation einer Schußwunde«
.... im Vordergrunde unsere braven Soldaten .... in dieser
flüchtigen Übersicht .... ein Ruhmestitel unserer Kriegsmaler ....
Aufmachung.... kennzeichnen den ehrlich-künstlerischen Zug,
der durch alle Säle geht.
Zumachen !
110
Die Lebensmittelfälscher
(Echte Butter als Margarine verkauft.) Aus Brixen wird
uns berichtet: Eine Bäuerin bei Brixen hatte sich zwei Kübel Margarine
erworben, diese Kübel dann mit echter Butter gefüllt und die echte
Butter als Margarine weiterverkauft. Der Grund hiefür ist darin zu finden,
daß in Brixen das Kilogramm Margarine sechs Kronen und das Kilogramm
Butter vier Kronen kostet. Der Käufer dieser »Margarine« war mit dem
Kauf durchaus nicht unzufrieden, sondern gab vielmehr seiner Freude
darüber Ausdruck, daß sich die gekaufte > Margarine« als echte Butter
entpuppte. So kam die Geschichte auch den Margarinefabrikanten zu
Ohren, und diese zeigten die Bäuerin wegen »Lebensmittel Verfälschung«
an. Das Bezirksgericht Brixen sprach wohl nach Einvernehmung der
Zeugen die Bäuerin von dem Delikt der Lebensmittelverfälschung frei,
doch die höhere Instanz, das Kreisgericht von Bozen, verurteilte diese
wegen Lebensmittelverfälschung zu 24 Stunden Arrest.
Der Fall hat mit Naturnotwendigkeit eintreten müssen. Nur
daß man ihn statt nach Bozen in eine nördlichere Gegend ver-
setzt hätte, von der es bekannt ist, daß sie in besseren Zeiten nur
echte Margarine bevorzugt hat, die aber gewiß jetzt auch mit ge-
wöhnlicher Butter vorlieb nehmen würde. Als dort irgendwo einmal
der Girardi gastierte, wurde er ja auch mit dem Hinweis darauf, daß
er den Josephi kopiere, abgelehnt. Was aber dort nationale Eigenart
war, ist jetzt der Zug der Zeit, die überall den Schwindlern, die
das Echte für ein Surrogat ausgeben möchten, scharf auf die
Finger sieht. Weils an den Surrogaten zu fehlen beginnt, kann
darum doch kein Mensch gezwungen werden, Naturprodukte zu
verzehren, das fehlte noch! Die Bäuerin war freilich nicht wegen
Verfälschung, sondern wegen Betrugs zu verurteilen. Sie hat sich
den Umstand, daß in Brixen für .Margarine sechs und für Butter
vier Kronen gezahlt werden, zunutze gemacht. Weil aber die
Margarinefabrikanten der Ansicht sind, daß schon die Kuh Lebens-
mittelfälschung treibe, so konnte sich das Kreisgericht in Bozen
nicht anders helfen. Ich würde glauben, ich sei wegen Betrugs
zu verurteilen, wenn ich dem Publikum verschiedener deutscher
und ungarischer Städte statt der dort erscheinenden >Fackel« die
meine anhängen wollte. Nur wenn auch in Brixen eine erschiene,
könnte deren Herausgeber mich mit Erfolg wegen Plagiats belangen.
— 111
Philosophie des Mangels
Ein ungarischer Journalist behauptet, der Präsident des
deutschen Kriegsernährungsamtes habe zu ihm gesagt:
Die Verteilung der Lebensmittel war bisher keine ideale. .. .
Gegen den Fleischmangel kann man leider gegenwärtig nichts tun,
da die zur Verfügung stehende Menge gering ist ... . Von einem
drohenden Fleischmangel ist keine Rede. Der Verbrauch an
Kartoffeln ist jetzt größer, weil wir an den anderen Lebensmitteln keinen
Oberfluß haben.
Solche Verwirrung entsteht, wenn die Arbeit von guten
Reden begleitet wird. Wenn von einem drohenden Fleischmangel
keine Rede ist, so hätte der Präsident des deutschen Kriegs-
ernährungsamtes sie auch nicht halten sollen. Denn er wollte doch
wohl nicht sagen, daß von einem drohenden Fieischmangel
deshalb keine Rede sei, weil er selbst einen schon bestehenden zuge-
geben hat, gegen den man nichts tun könne, >da die zur Verfügung
stehende Menge gering ist« oder, um eine andere Definition des
Mangels zu geben, da wir > keinen Überfluß haben«. Auch könnte
selbst eine Weltanschauung, die die Lebensmittel ideologisch verklärt,
von deren Verteilung unmöglich sagen, sie sei keine ideale
gewesen, wenn sie nicht einmal eine reale war. Es ist ja schwer,
an jedem Symptom die Wurzel des Übels aufzuzeigen. Aber wenn
die Führenden plötzlich einsehen wollten, daß sie durch den
Umgang mit den Schreibenden das Kraut niciit fett machen, traun,
es würde von selbst wieder feit!
Diebstahl, nicht Fundverheimlichung
Wien, 8. Juni. (Kriegsgefangene auf der Flucht.) Vor dem Heeres-
divisionsgericht unter dem Vorsitze des Obersten Vogel und unter
Lehung des Oberleutnantauditors Dr. Zenta hatte sich heute der russische
Kriegsgefangene Andrej Semonowitsch Nikolajew wegen eines eigen-
artigen Diebstahls zu verantworten. Nach Inhalt der vom Oberleutnant-
auditor Dr. Robert Kramer vertretenen Anklage halte der Beschuldigte
am Ostermontag gemeinsam mit einem anderen Kriegsgefangenen den
ihm zugewiesenen Arbeitsort in Leoben eigenmächtig verlassen, war
dann in einem Walde herumgeirrt. ... Im Walde begegnete den beiden
112 —
eine Ziege. Die Kriegsgefangenen erschlugen das Tier mit einem
Steine, zogen die Haut ab, und nährten sich mehrere Tage von
dem Fleisch der Ziege In der Anklageschrift wurde die Ziege mit
Rücksicht auf die gegenwärtigen Preis Verhältnisse mit 80 K
bewertet, weshalb gegen Nikolajew die Anklage wegen Verbrechens des
Diebstahls mit einer Schadenssumme von über 50 K, ferner wegen
eigenmächtigen Verlassens des Dienstortes erhoben wurde. In der heute
durchgeführten Verhandlung erklärte der Angeklagte. . . . daß er die Ziege
erschlagen und einen Teil des Fleisches gegessen habe, weil der Mundvorrat
zur Neige ging und weil er glaubte, daß es eine wilde Ziege sei. . . .
Der Verteidiger stellte an den Sachverständigen die Frage, wie
viel in normalen Zeiten eine Ziege wert gewesen sei, worauf der Sach-
verständige erwiderte, daß vor dem Kriege eine Ziege kaum ein Viertel
dessen gekostet habe, was sie heute kostet. Der Militäranwalt beantragte
die Verurteilung des Angeklagten wegen Verbrechens des Gesellschafts-
diebstahls unter Annahme eines Schadens von über 50 K und betonte,
daß der Angeklagte auch eine herrenlose Ziege, die dem Eigentümer
des betreffenden Grundstückes zufalle, sich anzueignen nicht berechtigt
war. Der Verteidiger trat für den Freispruch des Angeklagten ein, da
dieser die Ziege offenbar unter dem Zwange des Hungers
erschlagen und gegessen habe, und die Vermutung dafür spreche, daß
die Ziege herrenloses Gut war.
Das Kriegsgericht verurteilte den Beschuldigten im vollen Um-
fange der Anklage zu vier Monaten schweren Kerkers, verschärft
durch einen Fasttag und einmal hartes Lager in je 14 Tagen, sowie
durch Einzelhaft in der Dauer von zwei Wochen während des ersten
und letzten Monats der Strafe. . . .
Ja, eine Ziege ist eben kein Hund, ein Nahrungsmittel
kein Fund, Hunger kein Grund und ein Russe kein Tramway-
kondukteur!
Nunc est bibendum
Der Zugsführer Franz Türke erstattete bei der Polizei die
Anzeige, daß ihm am28. Februar derKaufmann Anton Rziha in einem
Gasthause in der Pöchlarnstraße durch den Wurf eines Halbliterglases
Verletzungen an der rechten Hand sowie eine Blutbeule am
linken Auge beigebracht habe. Gestern war Rziha beim Bezirks-
gericht Leopoldstadt wegen leichter Körperverletzung angeklagt. Er
erzählte: Der Asphaltunternehmer Franz Kietzander und noch einige
meiner Freunde haben mich im Spaß auf eine Bank nieder-
gedrückt, so daß ich mich nicht habe wehren können. Dabei
haben sie mich mit Wein begossen. Als ich mich endlich habe
113
loswinden können, habe ich in einem plötzlichen Wutanfall ein Bier-
kfügel gegen die Wand geschleudert. Es hat leider den mir
völlig unbekannten Zugsführer getroffen. — Bezirksrichter Dr. Wüstinger:
Ich muß nur staunen, daß Leute, die nicht mehr so jung sind, in so
ernster Zeit zu solchen Ulken aufgelegt sind. — Angekl.: Wir waren
damals so übermütig vor lauter Freude über die siegreichen
Fortschritte vor Verdun, daß wir den Sieg zu feiern
beschlossen. Erst waren wir ja auch ganz ernst und hielten unter uns
so manchen feierlichen Trinkspruch, wie das aber beim Weintrinken
schon ist, als wir zuviel hatten, war es mit dem Ernst zu Ende. —
Richter: Unterlassen Sie künftig solche Siegesfeiern, denn wenn Sie
jedesmal, wo wir doch jetzt Tag für Tag so herrliche Siege
erringen, solche Feiern abhalten, wird es ihrem Patriotismus keine
Ehre machen. Das soll das Ende einer Siegesfeier sein, daß ein Soldat,
der harmlos im Gasthause seine Erholung sucht, mit einem Bierkrügel
verletzt wirdi — Der Richter verurteilte den Angeklagten bloß zu zehn
Kronen Geldstrafe.
Ein Soldat wird verwundet, weil das Hinterland einen Sieges-
rausch hat. Besoffenheit ist ein Milderungsgrund für Gewalt-
tätigkeit, Patriotismus ist ein Milderungsgrund für Besoffenheit.
Aber ich als Richter hätte keinen Milderungsgrund für Patriotismus
gefunden und das Hinterland zur Front verurteilt.
Papiermange] in Österreich
(Papiermangel, Fahrscheine und Papierservietten.) Eine Dame
schreibt uns: >Die vielen lausend Fahrscheine, die täglich beim
Aussteigen aus der Elektrischen weggeworfen werden, könnten, gesammelt,
dem Papi er mangel tüchtig aufhelfen. Es müßten entsprechende
Sammelkörbe bei jeder Haltestelle aufgestellt oder an den Wagen
angebracht werden, und auch die Fahrgäste der Stellwagen könnten
ihre Fahrscheine beisteuern. Die wenigen vorhandenen Abfallbehälter
genfigen nicht, und vor allem müßten auffällige Ankündigungen
entsprechenden Inhalts in den Wagen und bei den Haltestellen ange-
bracht werden. Ebenso würde das Sammeln der jetzt üblichen Papier-
servietten in Konditoreien, Kaffeehäusern, Gasthäusern und Bahn-
restaurationen ansehnliche Mengen Papier ergeben.«
— 114 —
Einen Fahrschein beisteuern — das wäre ein so kleines
Scherflein, daß es wirklich dem Mangel aufhelfen könnte. Aber
helfen wir einer Fülle ab! Sammeln wir Zeitungspapier! Und
schon, ehe es bedruckt wird! Da wären wir fein heraus. Aber
wozu braucht man denn eigentlich Papier? Für die Banknoten?
Für die Millionen Aufrufe zur Kriegsanleihe, die die Banken an einem
Tag durch keuchende Briefträgerinnen in die Häuser schicken und die,
wie die Millionen Aufrufe zur Wohltätigkeit, von keinem Menschen
gelesen, in die eigens aufgestellten Papierkörbe wandern? Wenn
dieses ungeheure Material — die Prospekte der Urania und der
Drogisten gar nicht gerechnet — wenigstens nach erfolgter Ver-
geudung von Menschenkräften wieder der Papierfabrikation zuge-
führt würde, so wäre das Ergebnis wohl auch ein größeres als das aus
den Fahrscheinen. Was diese anlangt, so könnte man sie freilich
wieder in Papier verwandeln, um die Ankündigungen herstellen
zu können, durch die auf die Fahrscheinsammlung hingewiesen
wird. Wie aber kriegt man bei den notigen Zeiten die nötigen
Sammelkörbe? Könnte man sie aus Papierservietten herstellen, so
gings ja zur Not. Wären aber Papierkörbe aus Papier, so hätte
man bald keins mehr zum Hineinwerfen. Es ist halt schwer. Die
deutsche Chemie hat noch kein Verfahren gefunden — sie arbeitet wohl
daran — , aus Schmutz Seife zu machen. Aber das Ganze ist ein
geistiges Problem : man wird sich endlich entscheiden müssen, was
man eigentlich verwerten und was man erzielen will. Jetzt und
überhaupt im Leben. Da man am dringendsten Zeitungen braucht,
so entschließe man sich, jeder andern Form von Papier zu entsagen.
Papierservietten sind ein Luxus in einer Zeit, in der man von
der Hand in den Mund lebt, demnach sich so auch abwischen kann.
Fahrscheine auf der Elektrischen sind selbst in besseren Zeiten ein
Unfug, der nur den Größenwahn der Kondukteure fördert. Sinn-
voll sind höchstens Eisenbahnbillets; und wenn die nicht mehr
gedruckt werden könnten — eins, hoffe ich, wird immer noch zu
haben sein!
115 —
Vor dem Höllentor
[Eröffnung des Gesellscfiaflsheimes der Österreichischen politischen
Gesellschaft] .... Hofrat Dr. Friedrich Freiherr v. Wieser eine längere
Rede .... Er sagte unter anderm: ». . . Der Krieg hat uns den Glauben
an uns wiedergebracht, und dieser Glaube wird uns bleiben ....
Phalanx .... Österreich den Österreichern! >. . . und im Innern sollen
nur die zum Woite kommen dürfen, die sich zum Staate bekennen.
Wer nicht durch Liebe und Ehrfurcht zu ihm hingezogen ist,
der soll durch die Furcht niedergehalten werden, in die ihn
die Macht des öffentlichen Gewissens bannt . . . .« ... Landesberger ....
Bezirksrat Stiglitz .... kaiserlicher Rat Berl .... Kommerzialrat
Koffmahn .... Neurath .... Herzfelder ....
Der Freisinn sagte es, der Zensorfeind. Aber ich bin fest
entschlossen, nach Beendigung dieses Krieges Deutsch als Umgangs-
sprache zu verlernen und mich vor den Beherrschern der deutschen
Sprache in diese selbst zurückzuziehen, um, alle Vorstellungen
aufgebend, sie zu bewahren und das Gebiet zu räumen, welches
ich behalte. In gebrochenem Deutsch wird sich meine Konversation
bewegen, und zu dem Worte, das sich in ihrem Munde wohl
fühlt, will ich nicht kommen und lasse es nicht zu mir kommen,
so daß keiner von jenen mehr verstehen wird, wie ichs meine, selbst
wenn ich nicht schreibe, nur spreche. Phalanx, werde ich sagen,
nix deuts, ich nicht lieben Stiglitz, ich nicht Ehrfurcht Landesberger,
ich fürchten Neurath, ja ich fürchten, dieser Glaube uns bleiben —
ich niedergehalten — Preise hoch — ich fürchten, böse Zeit kommen —
große böse Zeit — ich fortfahren zu Nigger — dort nicht sehn
kaiserlicher Rat, nicht sehn Berl, Herzfelder, nicht sehn Bezirksrat,
Kommerzialrat, Kaufmann, Koffmahn, Koofmich — nicht mich
koofen — ich nicht mehr bemerken Anwesende — nicht mehr
hören — nicht mehr sprechen — ich fürchten — fürchten — fürchten —
— 116
Die Laufkatze
Ein Lieblingsgedanke des Erfinders des Gruben-
hundes ist endlich realisiert worden : der Neuen Freien
Presse auch eine Laufkatze anzuhängen. Die »Katzen -
Steuer«, zu der eine Persönlichkeit die Anregung
gegeben hatte, war die gefundene Gelegenheit:
(Die Katzensteuer.) Zu der in unserem Blatte von Herrn
Viktor Lustig gegebenen Anregung der > Katzensteuer« schreibt
man uns: »Es wäre noch hinzuzufügen, daß sich die Katzenplage
in den äußeren Bezirken besonders fühlbar macht. Es müßte ihr
auch vom humanitären Standpunkt gesteuert werden, weil speziell
in Döbling jetzt viele Ruhebedürftige sich befinden. In der
Nähe meiner Wohnung befindet sich der geräumige Hof einer
Fabrik, wo Tag und Nacht eine große Anzahl Laufkatzen mit
ihren Jungen einen unerträglichen Lärm verursachen, ohne daß,
trotz lebhaften Protestes der Anrainer, diesem Übelstande bisher
gesteuert werden konnte. Behördliche Intervention wäre dringend
geboten und sie wird nach Publikation in Ihrem hochgeschätzten
Blatte auch gewiß erfolgen. Dr. Gabriel Bardach.«
Vor allem: der »Zivilingenieur Berdach«, seit
Friedenszeiten unvergessen, legt Wert auf die Fest-
stellung, daß er mit dem oben Genannten nicht identisch,
nur gesinnungsverwandt ist. Er freut sich aber, daß in
einer Epoche, in der so viele Anregungen gegeben
werden, sein Beispiel fortwirkt. Und mit ihm erfreut,
daß alles noch beim Alten sei, las ich, fern von Wien,
die zustimmende Betrachtung, welche die Arbeiter-
Zeitung dem Vorfall gewidmet hat:
•Die Schwester des Grubenhundes: die Laufkatze.
Der bellende Grubenhund, mit dem die ,Neue Freie Presse'
seinerzeit so viel Aufsehen und (unbeabsichtigte) Heiterkeit erregte,
hat ein Schwesterchen bekommen: die Laufkatze. Die ,Neue Freie
Presse' hat kürzlich eine »Anregung« veröffentlicht, daß eine
Katzensteuer eingeführt werden solle, also kann wie der Erfinder
dieser Idee jeder mit vollem Namen in das Blatt kommen, der zu
dieser Anregung eine Zuschrift an die Redaktion schickt. Das ist
eine alte Einführung bei der ,N. Fr. Pr.', die in der »Gesellschaft«
so beliebt macht. Von dieser Sitte läßt sie nicht, obwonl ihr dabei
schon so mancherlei Blamage unterlaufen ist. Auch diesmal hat
— 117
cken, in der diese Anregung
t« begrüßt wird, weil sich
'ürftige befinden«. (Natürlich:
^r noblen Bezirken braucht
der abgedruckten Zuschrift
'.an also besteuern soll;
Strana 6 ^^> ^^^ Laufkatzen keine
* J in Fabriken aufhalten.
7 "■* ZTZIZi '■ ~ ^„j «liehen Katzen, sondern
PftI NEVOLNOSTl 3« P"f°.^"^Jnde), bewegliche Wagen,
Frantiäka Josefa pfijemnö uömku^^^ ^.^ LeitToUen für die
prostfedek, ktery i v mal^m mnozstv^^^^.^^^ ^^^^^^ ^^^^^^^
znaönö obtiäe. Lekarsky vrele doporu.^^^ Aufsitzer leicht er-
> Gesellschaft« abdruckte.
1 Republikänsky autoklub v Kl»en, wenn es sich zur
ücasti nekolika ±up pofädä hroma.as ein Einsender schicW,
na Chodsko a Sumavu o velikonoen eine Laufkatze eine Geld-
dne 12. a 13. dubna t. r. 2ädäme oder eine blinde Kuh ist.
värniky naseho dorostu, nasi Don , . . n • ^
publikänske organisace, aby uv6d-in mocnie, oau jeuer
eienstvo a toto se v poctu hromaore — eine Kränkung
nilo a pozdravilo nasi novou or&A^inkler, deSSen Adels-
jest Republikänsky autoklub. 8^^^^^^^^^^^ ^j^g Qj-^^^j^.
12. dubna 0 10. hod. dop. na kl • , ■ , .n •
m63ti. kam rovnfeÄ pfijede hvte.) SlCtlCr eS ISt Oaß im
cyklistickä Republikänsköho dorchte JÜdlSChe Name in
naSi iupy pizenske. an das hochgeschätzte
^.c... u.X.^^«te»^. f^*f*^P*^'|?^^f die Behörden Wunder
gewirkt hat, so Yieß sicü* 'äoch dem Kommentar der
Arbeiter-Zeitung die erfreuliche Vermutung abgewinnen,
daß sich die Nachricht wie eine Laufkatze ver-
breitet habe, und diese Annahme wurde zur Gewiß-
heit, als mir am nächsten Tage die erdbebenartige
Detonation eines Zornes zu Gehör kam, der die Heiter-
keit steigerte, durch die er entfesselt war. Über dieses
Nachspiel hat die Arbeiter-Zeitung ein Protokoll auf-
genommen, das den unter dem Titel »Bübereien im
Kriege« erschienenen Ausbruch enthält und das hier
mit den Zwischenbemerkungen der ,Arbeiter-Zeitung',
aber mit den mir passenden Unterstreichungen wieder-
gegeben wird:
— 118 —
*Die Laufkatze und der übergeschnappte Heraus-
geber. Die Laufkatze mit ihren Jungen, die die Döblinger Ruhe-
bedürftigen stört, hat in der Redaktion der ,N, Fr, Pr.' ein gar
schreckliches Uniieil angerichtet: Der Herr Herausgeber ist ob des
letzten Reinfalls nämlich komplett meschugge geworden. Die
fröhliche Heiterkeit, die sein neuester Aufsitzer in Wien ver-
breitet hat, veranlaßt ihn zu einem furchtbaren Zornesausbruch.
Da man sieht, wie er vor Wut zerspringt, wird man nur immer
fröhlicher; also müssen das die Leser wörtlich lesen:
Millionen unserer Mitbürger sind an der Front und
Millionen im Hinterland sorgen mit ihnen und fühlen die Schwere
einer, die Völker von Europa bedrückenden Krise. In einer solchen
Zeit, die namentlich der Presse die härtesten Pflichten
auferlegt und den Dienst für das Publikum und die Erhaltung
der Angehörigen des Blattes so schwierig macht (man
achte auf Benedikts Zartsinh! Red. d. Arb.-Ztg.) haben die
Bübereien in der Publizistik nicht aufgehört und werden von
Leuten unterstützt, die durch Teilnahme oder Ermunterung
beweisen (da meint er uns! Red.), daß sie gar keinen Zusammen-
hang mit den Stimmungen des Volkes haben und daß ihnen
jeder Ernst feh lt. Welche Freude, wenn es gelingt, einen durch
Nachtarbeit im Kriege abgehetzten Redakteur (Abend-
blatt! Red.) durch einen Brief mit Fälschung einer im Wohnungs-
verzeichnis befindlichen Angabe von Namen und Wohnung zu
täuschen (Aber Dr. Gabriel Bardach steht im Wohnungsverzeichnis
nicht! Red.) und ihn, dessen Gedanken und Empfindungen
vom Kriege in Anspruch genommen sind, zu einem Über-
sehen zu bringen. Wie gefährlich solche Versuche der Irre-
führung gerade im Kriege, da es so schwer ist, zwischen
Gerücht und Wahrheit zu unterscheiden, werden können,
wie infam dieses verbrecherischeTreiben ist, darüber werden
die Staatsbehörden sich zweifellos eine Ansicht bilden
und die entsprechenden Folgen ziehen müssen.
In dem Falle, von dem wir heute sprechen, sind allerdings
die Betrüger um den Erfolg des Betruges gekommen.
Wir haben eine Notiz veröffentlicht, worin die Besteuerung der
Katzen beantragt wurde. Wir erhielten eine zweite Zuschrift, in
der von Laufkatzen gesprochen worden ist. Da es uns bekannt
war, daß darunter auch eine technische Einrichtung zu verstehen
ist, so haben wir im Wörterbuch der deutschen Sprache
von Dr. Daniel Sanders nachgesehen, ob diese Bezeichnung
auch in dem Sinne von läufig angewendet werden könne. Daniel
Sanders sagt darüber: >Läufig, von manchen Tieren, zum
Beispiel von Katzen, laufig.« Da in dem Wörterbuch von
Sanders auf diesen Sprachgebrauch ausdrücklich hin-
gewiesen wird, ist die Büberei im Kriege ohne weiteren
— 119 —
Schaden verprasselt. Aber welche Niedrigkeit gehört zu dem
Versuch, an solchen bewegten Tagen einen mit Arbeit und
Mühe überlasteten Redakteur in einen Irrtum bringen zu wollen.
Wir können mit voller Wahrheit und mit der ernstesten
Gewissenhaftigkeit gegen das Publikum versichern, daß der
Redakteur unseres Blattes, den diese Buben antasten wollten, an
Charakter, Wissen und Sorgfalt der Arbeit den Müßig-
gängern, die diese Gemeinheiten aushecken, weit über-
legen ist, und daß jene, die in einer so schweren Krise die
Fratzerei solcher Fälschungen begehen wollten, von jedem
Publizisten, der auf seinen Stand hält und Standesgefühl hat, aus
tiefstem Herzen verachtet werden. Die Buben sind nicht wert,
daß wir sie mit dem Fuße wegstoßen, aber wir glauben,
daß wir einen Vorfall, der in keinem anderen Lande der
Welt in so bösen Tagen auch nur denkbar wäre, ohne
Rücksicht darauf, daß die Einsender sich lächerlich gemacht
haben, öffentlich besprechen müssen, weil in Kriegszeiten, in
denen das Publikum zuweilen von starken Er-
schütterungen bewegt ist, solche Infamien ernste,
weite Kreise berührende Nachteile haben könnten.
An dieser monumentalen Frechheit wird jeder Spott zu
Schanden; es ist ja so, als ob sich der Herr Herausgeber selbst
parodieren wollte. Aber die Schamlosigkeit, den »durch Nachtarbeit
gehetzten Redakteur« vorzuschieben, kann dem Schwindler nicht
nachgesehen werden. Daß man einen Redakteur hineinfallen lassen
kann, wäre nichts Besonderes; ihm eine Falle zu legen wäre kein
Verdienst. Aber es sind nicht die Redakteure, die da aufsitzen, es
ist das System Benedikt, das bloßgestellt wird. Das System
nämlich, jeder Zuschrift von jedem Bardach unweigerlich Aufnahme
zu gewähren; der »Bardach« ist es, dem die »gütige Veröffent-
lichung« sicher ist. Der Ulk dieser Zuschriften ist nur ein Hilfs-
mittel, um dem Publikum dieses System klarzumachen: daß sogar
aufgelegter Unsinn durch die Flagge > Bardach« gedeckt wird.
Die Redakteure der ,N. Fr. Pr.' — die es doch nicht verschuldet
haben, daß ein Mensch wie Moriz Benedikt in ihrem Namen
reden darf; sie werden das Los bitter genug tragen — die würden
die »Zuschriften« wohl gern in den Papierkorb werfen, wenn eben
der Herr Herausgeber, diese Verkörperung der Beziehungen zu
den »Bardachs« aller Grade, ihnen die sorgfältigste Pflege des
Mischpochismus nicht zur unwiderruflichen Pflicht gemacht hätte.
Und daß sich jemand die Mühe genommen hat, den Nachweis zu
führen, daß an dem schmierigen Wesen der ,N. Fr. Pr.' auch der
Krieg nichts geändert hat, ist ihm nur zu danken, obwohl der
Beweis überflüssig war: hat doch das Schandblatt den ganzen
Krieg überhaupt nur als Reklame für sich benützt. Nicht die
intellektuelle Unzulänglichkeit der ,N. Fr. Pr.', ihre moralische
— 120
Minderwertigkeit wird durch die lustigen > Zuschriften« aufgedeckt,
und die Leute lachen nicht darüber, daß man dort einen Aufsitzer
von einer ernsten Sache nicht zu unterscheiden weiß, sondern
freuen sich, daß die schäbige Eitelkeit des Herrn Herausgebers in
die klug gelegte Falle geraten ist. Das freut alle, die die ,N. Fr. Pr.'
verachten, und verachtet wird sie von jedem, der sie nur einmal
in der Hand gehabt hat. Die Tage der Grubenhunde sind die
erquicklichsten im Leben der Abonnenten der ,N. Fr. Pr.'.
Das ist nichts. Das sind, um in der Tonart dieser
gräßlichsten Stimme, die je das Ohr der Welt gepeinigt
hat, zu sprechen, »Sticheleien«. Das tut nicht weh.
Man muß diesen Schreihals würgen, bis ihm die Lust
vergeht, sich den Freipaß für seine Unsauberkeiten
durch Berufung auf die Millionen unserer Mitbürger,
die an der Front sind, zu verschaffen. Man muß diesem
rabiaten Wucherer, der, anstatt Jehovah auf den Knien
zu danken, daß sein Geschäft unter den Augen von
Steueradministration, Landesgericht und Kriegsgewalt
florieren kann, die Staatsbehörden gegen kulturelle
Bestrebungen aufzurufen wagt, so auf das Maul
schlagen, daß die »Sorge«, die er seit zwei Jahren
täglich am Poincare »nagen« sieht, ihn wie ein
Schüttelfrost befällt. Er meint, weil sich nach acht-
zehnjährigem Schweigen und dem riskantesten In sich-
Geschäft der Wut, das die Finanzgeschichte kennt,
eben »die Stiche in der Leber melden«, die er dem
Großfürsten Nikolajewitsch zugeschrieben hat, er meint,
wiewohl ich doch die Laufkatze nicht erfunden, höchstens
angeregt habe — er meint mich und spricht von
Buben. Ich sage Benedikt und meine ihn! Man muß
diesen Banditen, dessen Gewalttätigkeit gegen die
letzten Überreste eines öffentlichen Schamgefühls von
der Unterworfenheit hochgestellter Preßknechte erhitzt
wird, derart überschreien, daß er die Glorie, die ihm
zum Alibi seines Handels gut genug scheint, er-
schreckt aus der Pranke fallen läßt und nie wieder
auf die Idee verfällt, die große Zeit, an der seine
Opfer leiden, als seine eigene Schonzeit aufzufassen
— 121 —
und sich aus dem . blutigen Strafgericht der Welt eine
Amnestie herauszufetzen. Man muß, wenn ein
solches Individuum, dessen Raubgier die journalistische
Schande noch um eine persönliche Note bereichert und
das in die Pest der Zeit noch seinen Atem zu senden wagt,
wenn es endlich einmal mit seiner gekränkten Ehre aus dem
Käfig auf die Straße läuft, die Gelegenheit benützen und
ihm so scharf in die Pupille sehen, daß ihm die Stimme
für ein paar Leitartikel, der Gusto auf ein paar Börsen-
manöver zwischen Morgen- und Abendblatt vergeht
und daß es »im Gemäuer« seines Ansehens vernehmlicher
»zu rieseln beginnt« als in dem der Entente, so ver-
nehmlich, daß etlichen Botschaftern, Feldzeugmeistern
und Fürsten doch einmal bange wird, auf die Mitarbeit
an solchem Handwerk stolz zu sein. Man muß den ver-
derblichsten Betrüger der mitteleuropäischen Dummheit,
der sich sein patriotisches Opfer bestätigen läßt, wenn
er ein paar Spalten seines Bordells einmal gratis zur Ver-
fügung gestellt hat, und der ins Herrenhaus gelangen
möchte, weil er bis heute straflos an der Leichtgläubigkeit
Millionen verdient hat, man muß ihn fragen, ob er
ernstlich glaubt, daß es »in einer solchen Zeit« nicht
dringlicher als in irgendeiner früheren Zeit geboten
ist, sein Handwerk, das den Offenbarungsglauben für
Unwissen und Unmoral anspricht, zu entlarven, eben
jenes Handwerk zu stigmatisieren, das den äußersten
Kontrast zum Schein der Zeit bedeutet und sie selbst
auf das blutigste stigmatisiert hat. Man muß ihn fragen,
ob er unter der Erhaltung der Angehörigen »des Blattes«
(hundert Hiebe für den Größenwahn dieser schlichten
Bezeichnung, die die Welt als Zubehör des Blattes
auffaßt !), ob er unter der Erhaltung dieser »Angehörigen«,
die er für die Angehörigen der Frontkämpfer hält,
ob er darunter etwas anderes versteht als die einer irre-
geführten Autorität erpreßte Möglichkeit, seine Plauderer,
Laufburschen und Laufkatzenfänger für unentbehr-
lich zu erklären. Ob er — von der schon lustigen
— 122
Blödheit abgesehen, die jeden um 11 Uhr vormittag
(nach der Sommerzeit!) blamierten Schmock zum ge-
plagten »Nachtredakteur« stempelt — ob er denn toll
geworden sei, daß er von einem »durch Nachtarbeit
im Kriege abgehetzten Redakteur« zu sprechen wagt,
als wäre so einer direikt aus dem Trommelfeuer ge-
kommen, um die Anregungen zum »Mistbauer und
die Fliege« zu bewältigen und nun die Rubrik »Katzen-
steuer« zu redigieren. Man muß ihn fragen, ob er
durch die Lektüre seiner Leitartikel so um alles Maß
gebracht sei, daß er wirklich glaube, es könne einen
Menschen in Zentraleuropa geben, der sich die Kriegs-
sorsre in der Figur eines Lokalredakteurs der Neuen
Freien Presse verkörpert denkt, und ob er endlich gesonnen
sei, wenigstens diese fortwährende Verwechslung seines
Geschreis mit dem Weltgetöse einzustellen, die uns
noch weit lästiger auf die Ohren fällt als Krieg und Kriegs-
geschrei. Ob er glaubt, daß die Gedanken und Empfin-
dungen seiner Kommis, die »dem Blatt« zu erhalten ihm
Sorge macht, mehr vom Krieg, der ihnen — siehe
Sanders — »stagelgrün aufliegt«, in Anspruch genommen
sind als von der beständigen Furcht vor einer Stimme, die
aus Schmalz in »Gegralz« übergehend, auf Sammtpfoten
heranschleicht, um plötzlich in ein Berserkergebrüll zu
entarten, und die unerträglicher ist als selbst der Lärm
von tausend Laufkatzen mit ihren Jungen speziell in
Döbling. Man muß ihn fragen, was er eigentlich unter
»Fälschung« verstehe: die schlichte Erfindung eines
echten, in jeder Lebenslage glaubhaften jüdischen
Namens, auf den — schon aus Pietät für den ähn-
lichen Berdach in der Glockengasse — die Neue
Freie Presse unfehlbar anbeißt, oder die dummfreche
Behauptung, es sei die »Fälschung einer im Wohnungs-
verzeichnis befindlichen Angabe von Namen und
Wohnung« begangen worden, wenn dort eine solche
sich tatsächlich nicht befindet. Ob er glaubt, daß die
Enthüllung, die Neue Freie Presse habe einem Bardach
— 123 —
zuliebe eine Laufkatze Junge werfen lassen, »im Kriege«
gefährlicher als im Frieden sei und ungünstig auf die
russische Offensive wirken könnte. Ob er, weil es nun
einmal so schwer ist, im Kriege zwischen Gerücht und
Wahrheit zu unterscheiden, glaubt, daß das Gerücht,
eine Laufkatze habe in die Neue Freie Presse
Junge geworfen, schädlicher sei und geeigneter, dem
Völkerhaß Nahrung zu geben, als die seinerzeit gern
gedruckte und heute noch nicht widerrufene Wahrheit,
die Franzosen hätten Bomben auf Nürnberg geworfen.
Ob die Verwendung von Laufkatzen im Kriege
von der Haager Konvention verpönt sei, während
der Gebrauch von Grubenhunden im Frieden unan-
gefochten geblieben ist und bis heute schweigend hin-
genommen wurde. Ob dem gewissenhaften Redakteur
damals »bekannt war«, daß ein Grubenhund »auch
eine technische Einrichtung« bedeuten könne, und
ob er damals im Sanders nachgeschlagen und fest-
gestellt habe, daß diese Bezeichnung auch im Sinne
von »in der Grube lebend« angewendet werden kann.
Was den Erfolg des heutigen »Betruges« anlangt, der
ja hinlänglich mißraten scheint, so wäre die Unschuld,
deren Irreführung versucht wurde, auf die Frage fest-
zunageln, warum sie, um der gefährlichen Neben-
bedeutung willen, die ihr bekannt war, die Laufkatze,
die in der Redaktion eingelaufen war, nicht vorsichts-
halber doch lieber verscheucht, sondern um eines
Bardach willen, dessen Bedeutung ihr einwand-
frei schien und der an ein hochgeschätztes Blatt
appellierte, welchem die Behörden gegen Laufkatzen
so schnell parieren werden wie gegen deren Erfinder,
sich so viel Kopfzerbrechen gemacht und so viel von
der großen Zeit verloren hat. Insbesondere müßte
gefragt werden, ob die Angabe, es sei »bekannt«
gewesen und trotzdem sei aus Gewissenhaftigkeit
noch im Sanders nachgesehen worden, ohne eine
Spur von Schamröte aufrecht gehalten wird und ob nicht.
124
wenn es dabei bleibt, die Lüge die Blamage
vervollständigt, weil ja außer dem »Übersehen«
auch noch zum Überfluß Nachsehen mitgewirkt
hätte. Ob der Aufsitzer, dessen Absicht die denkbar
einfachste war, nicht erst durch die Aufklärung
zu vollem Effekt gelangt, so als wollte der Irregeführte
dem Verführer zeigen, daß es noch viel komischer sei, als
er selbst geglaubt hat. Ob die Vermutung, eine Lauf-
katze könne vielleicht »auch« eine läufige Katze sein,
nicht eher durch die Verbindung mit den Jungen, die
schon einen unerträglichen Lärm verursachen, ehe sie
geboren sind, berichtigt, als durch die Auskunft des
Sanders bestätigt wird. Und ob die Vermutung, daß eine
Laufkatze >auch in dem Sinne von läufig angewendet
werden kann«, wirklich durch die Auskunft des Sanders
bestätigt wird: »Läufig, von manchen Tieren, zum
Beispiel von Katzen, laufig.« Ob nicht vielmehr eine
solche Vermutung erst durch die nicht erteilbare Auskunft
bestätigt würde: »Läufig, von manchen Tieren, zum
Beispiel von Katzen, daher auch Laufkatzen genannt«
oder: »Laufkatze a) technische Einrichtung b) läufige
Katze«. Ob nicht der Schluß: »da in dem Wörterbuch
von Sanders auf diesen Sprachgebrauch ausdrücklich
hingewiesen wird« die allerfrechste Fälschung und
Blödmacherei des Lesers bedeutet, da im Sanders aller-
dings auf »diesen« Sprachgebrauch hingewiesen wird,
»dieser« Sprachgebrauch aber nichts für jenen Sprach-
gebrauch beweist, der unter einer Laufkatze eine
läufige Katze verstehen ließe; da niemand bezweifelt
hat, daß es »läufige Katzen« im Sprachgebrauch
gibt, diese Gewißheit vielmehr erst die Irreführung
wirksam macht; und da der »Sprachgebrauch« einer
Laufkatze im Sinne von läufiger Katze weder im
Sanders noch sonst im Leben vorkommt. Es ist doch
der stärkste Beweis für die Möglichkeit, dem Leser
mehr als dem Redakteur zuzumuten, wenn man ihm
den Gedankengang serviert: da im Sanders ein
— 125 —
anderer Sprachgebrauch ausdrücklich bestätigt wird,
so erkannten wir, daß der Sprachgebrauch bestätigt ist.
»Idiot« kann allerdings sowohl Dummkopf als auch Privat-
mann bedeuten. Wenn nun aber ein solcher behauptet,
er habe sich beruhigt so nennen lassen können, weil
er im Fremdwörterbuch bestätigt gefunden habe, daß
»Idealist« von manchen Menschen, zum Beispiel von
Börseanern, angewendet wird, so bedeutet Idiot auch
Schwindler. Bis zu welchem Grade er das ist, wäre
erst durch die Frage festzustellen, ob er wirklich
im Sanders, in dem er natürlich nicht vor dem
Erscheinen der Laufkatze, sondern erst nach entstandenem
Schaden das Nachsehen hatte — ob er dort wirklich
die Erklärung gefunden hat : »Läufig, von manchen
Tieren, zum Beispiel von Katzen, laufig.« Es mag ja
sein, daß der Sanders — die Wissenschaft kommt der
Presse gern entgegen — schnell eine Auflage ver-
anstaltet hat, in der eine Deutung von »läufig« steht,
die durch die Zitierung des Beispiels der Katze und
durch die aparte, höchstens im Wiener Dialekt mög-
liche Form »laufig« dem Wortbild der »Laufkatze«
nahekommt, ohne diese selbst anzuführen. Ich weiß
es nicht und ich will nicht in Abrede stellen, daß der
Schwindler eine solche neuere, verstärkte Auflage des
Sanders — der ihm ja stark aufliegt — besitzt, die
es ihm durch die Darbietung einer »laufigen Katze«
ermöglicht, dem Leser einzureden, es sei dort »aus-
drücklich« eine Laufkatze offeriert. In meiner Auflage
des Sanders, die es mit Recht verschmäht, irgendwelche
Tiergattung als Beispiel anzuführen, um nicht den
läufigen Katzen vor den läufigen Hunden den Vorzug
zu geben, und der es auch nicht einfällt, durch die
Anführung des seltenen »laufig« dem »Lauf-« näher-
zukommen, ist die Sache so dargestellt: »Läufig, -isch,
a. : V, manchen Tieren (u. verächtl. v. Menschen) :
v. d. Brunst ergriffen (s. laufen 2).« Wie dem
immer aber sein mag, so neu kann gar keine
126
Auflage des Sanders sein, daß man aus ihr heraus-
lesen könnte, eine Laufkatze sei eine laufige Katze,
und so alt ist keine, daß sie nicht diese Version als einen
Druckfehler, nämlich als lausig erkennen ließe. Aber
der von keiner Scham mehr gebändigte Schwindler,
der seine Leser mit demselben Tonfall der Plausi-
bilität hineinlegt, mit dem man ihn selbst
bezwungen hat, wäre nun noch zu fragen, ob nicht die
Beteuerung, dem beruhigenden Aufschluß des Sanders
sei es zu verdanken, daß »die Büberei im Kriege
ohne weiteren Schaden verprasselt^ sei, ob solche Rede
nicht vielmehr der Kausalnexus eines Paranoikers im fort-
geschrittenen Stadium ist oder, wie eben dieser einmal
von Sir Grey gesagt hat, Europa der Spielball eines
»Wirren«. Ob die Anklage, die Irreführung sei »an
solchen bewegten Tagen« an einem Redakteur began-
gen worden, der an solchen bewegten Tagen mit der
Einrichtung der Lustig- und Bardachbriefe über die
Katzenplage betraut war, und die Befriedigung, daß
zum Glück kein weiterer Schaden im Krieg gestiftet
worden sei, weil im Sanders das Wort »läufig« vorkommt —
ob solches Auf und Ab nicht eben das klinische Bild
ergibt, das man in bewegten Zeiten schon oft an
aufgeregten Leuten, speziell in Döbling, beobachtet
hat, an solchen, die schon vor der Irreführung sich an
deren Ziel befunden haben. Ob der Kranke aber
nicht doch einen hellen Moment hat, wo er er-
kennt, daß die Versicherung, sein Dienstbote für Lokales
sei irgendeinem »Müßiggänger«, nicht etwa nur den
Anregern kulturell höchst wertvoller Versuche, »an
Charakter, Wissen und Sorgfalt der Arbeit überlegen«,
keineswegs ernsteste Gewissenhaftigkeit, sondern blanke
Vermessenheit war. Ob er dann noch die Entschuldi-
gung der schweren Krise Europas für die Unfälle einer
Redaktion geltend machen könnte, die niemand in
ihrem Recht auf Unwissenheit antasten wird, aber jeder in
ihrem frechen Anspruch auf Allwissenheit zu erschüttern
127
die Pflicht hat. Denn es braucht nicht zum hundert-
sten Mal gesagt zu werden, daß kein Mensch außer
einem Alleswisser wissen muß, was eine Laufkatze ist,
und daß es ein höchst verdienstvolles »Vollbringen«
im Kriege ist, zu dem wir »unsern Gruß entbieten«, einem
Land- und Seeräuber, der Kitcheners Tod ein ruhmloses
Ende nennt, aber jedem Bardach zu einem ruhmvollen
Leben verhilft und um solches Respekts willen den
Schiffbruch seiner Wissenschaft erleben muß. Anstand
und Bescheidenheit zu lehren. Daß es nicht gelingt,
hängt mit der UnvoUkommenheit aller technischen
Einrichtungen zusammen. Denn immernoch wird es einem
Schwindler leichter glücken, der Dummheit seiner
Leser Entrüstung über einen Satiriker, als dem
Satiriker, ihr Mißtrauen gegen einen Schwindler bei-
zubringen. Dieser fängt sie mit dem Krieg, redet ihr
ein, eine Laufkatze verbreite sich wie ein Gerücht,
und hat die Stirn, wie einst, da ein Pfuscher durch die
leere Erfindung einer an sich möglichen Explosion ihm
leichtes Spiel ließ, in dem Geschrei über »vert)recherische
Irreführung der Neuen Freien Presse« den Grubenhund
und Berdachs Erdbebenbeobachtungen als »falsche
Nachrichten« zu verschütten, ohne doch mit einem
Sterbenswörtchen auf solchen Ursprung alles Wehs
hinzudeuten, geschweige denn auf den Lebensschmerz,
der sich ihm in meinem ganzen Dasein verkörpert. Könnte
daraus ein Leitartikel werden, so würde der sagen:
»man kann sich vorstellen«, wie dieses Kapital an
Rachsucht brach liegen muß und wie es wurmen mag,
daß die einzige Waffe des Totschweigens den Feind
nicht zu leben gehindert hat, und wie man, wenn
man sich nicht durch gelegenthche allgemeine Aus-
brüche Luft machte, in Gefahr käme, sich selbst zu
Tod zu schweigen. Ich lehne es durchaus nicht ab,
dem schwer Ringenden im tragischen Konflikt zwischen
seinem Gelübde und seiner Galle zu helfen und mich
zwar nicht getroffen, aber gemeint zu fühlen, wenn er
— 128
irgendein Schimpfwort ausgestoßen hat. Nie vermöchte
seine Rede mich so sehr anzugreifen, wie ihn sein
Schweigen, und er weiß, daß sein noch so lautes
Gebärdenspiel mich nie abhalten wird, zu ihm zu
sprechen, und daß ich, wenn ich einmal Lust verspüre,
etliche »Laienfragen« an ihn zu stellen, dies ohne
Rücksicht darauf tun werde, ob er die bezüglichen
Laienantworten erteilt. Er weiß, daß ich ihn bekämpfe,
weil ich ihn für die Pest halte, nicht weil er mich
gekränkt hat. Er weiß, daß er mich nie gekränkt hat,
daß ich als Knabe die Chance, meine Seele anstecken
zu lassen, zurückgewiesen habe, und daß alle anders-
gerichtete Version Verleumdung ist, bezogen aus dem
jüdischen Sagenkreis, in dem ein Angriff nur als
Revanche für einen entzogenen Vorteil gedacht werden
kann. Er weiß, daß die aus den tiefsten Quellen der
Kommerzseele geschöpfte Frage : »Was haben Sie gegen
den Benedikt?« von keiner Aufklärung beruhigt werden
kann. Er weiß um eine Selbstlosigkeit, die ihn und
alle verachtet, die um seine Gunst Meinung und Ehre
verkaufen. Er weiß, daß ich der ganzen judenchristlichen
Welt dieses Hinterlandes, die auf das Wort eines
besessenen Börseaners lauscht, dem Kitcheners Ende
nicht ruhmvoll genug ist, reinsten Herzens Kitcheners
Latrinen wünsche. Vergißt er's und übernimmt er sich,
so werde er mit aller erdenklichen Entschiedenheit
befragt, ob er nicht dennoch sich so viel Besinnung
bewahrt habe, daß er zugeben muß, die Zurück-
weisung des Kultuigestanks beweise immerhin
einen bessern Zusammenhang mit den »Stimmungen«
als sein Betrieb, und daß es weit ehrenvoller sei, vom
Fuße des Herrn Benedikt weggestoßen zu werden
als die Hand des Herrn Benedikt drücken zu dürfen.
Und ob er — hier aber fasse man ihn fest ins Auge;
hier stelle man ein an allen Fronten verachtetes Indi-
viduum, dessen eigene Front den furchtbaren Sieger-
glanz des Ritualräubers trägt; hier trete man dicht an
129
das numidische Ponem eines Jugurtha, der seinen
Fuß auf den Nacken Roms und aller Christenerde
setzt; hier frage man: ob er mit voller Wahrheit
und mit der ernstesten Gewissenhaftigkeit versichern
kann, daß es frivoler sei, in Kriegszeiten, in denen
das Publikum und die Börse zuweilen von starken
Erschütterungen bewegt sind, dem schädlichsten Para-
siten solcher Bewegtheit einen Possen zu spielen, als
in solchen Zeiten, also gelegentlich einer Schlacht bei
Lemberg durch vierzehn Tage das Jubiläum »des
Blattes« zu feiern und im Moratorium von den Banken
Gelder für hundert Annoncenseiten zu erpressen.
Ob ein Mensch, der das Eisen, unter dem die
Millionen sterben, von dem Anteil an den Millionen jener
kennt, die vom Eisen leben, ob ein Redakteur, der unter
dem eisernen Diktat eines Vertreters des Eisenkartells
eine Berichtigung gratis schreiben muß, anstatt durch
den Angriff eineErhöhung des Pauschales erzielt zu haben,
ob ein Zoolog, der sich unter allen Arten von Katzen nur
mit den Geldkatzen auskennt, die ihm freilich auch Junge
abwerfen, ob ein Philosoph, der das Leben eines Mönches
führt, weil er in der Welt Bankdirektoren treffen
könnte, die einzigen Wesen im Staat, die sein An-
sehen tarifmäßig berechnen können — ob so einer, wenn
er uns schon mit seinen Meinungen und Leiden-
schaften und Einbildungen und Stimmungen und mit
den Einzelheiten und mit den Details das Ohr betäuben
darf, nicht wenigstens doch das Recht verwirkt hat, sich
mit seiner Ehre laut zu machen. Ob es selbst dem
Hirnverbrannten erlaubt ist, darauf zu rechnen, daß die
Behörden gegen die Plage der Laufkatzen so schnell
intervenieren werden wie gegen die Katzenplage:
Notiz in der Freien Presse genügt, arretiere
sofort. Ob sich der »lächerlich gemacht« hat, der, in
guter Erfassung meines seit anno Erdbeben propa-
gierten kultursatirischen Ernstes, vom Grubenhund,
von dessen verheimlichtem Biß die Tollwut stammt.
- 130 —
glücklich fortgeschritten ist und heute den Mut hat,
eine Laufkatze eine Laufkatze zu nennen — und nicht
vielmehr jener, der lächerlich wurde, weil es gelang, und
wäre er trotzdem ernst zu nehmen, durch die ver-
zweifelte Abwehr, bei der der Größenwahn die Dumm-
heit um Hilfe anbrüllt. Denn den Aufsitzer könnte er
schweigend überleben; die Beschwerde wegen Miß-
brauchs der redaktionellen Nervenzerrüttung im Kriege
könnte er vor Trotteln mit einigem Anspruch auf Be-
dauern vorbringen — aber so dumm sollte kein Leser in
den Zentralstaaten sein, daß er die Verteidigung
einer Wachsamkeit, die um den einen Sinn der
Laufkatze gewußt haben will und den andern erfüllt
gefunden hat, der also nicht das geringste passiert
ist und die sich trotzdem so rabiat gebärdet, hingehen
lassen könnte. Einem Schläfer Maikäfer ins Bett
praktizieren, ist keine Kulturtat: sie wird es erst, wenn
dort sonst nur Wanzen sind, die jener für Edelsteine
ausgibt; und wenn er gar nachträglich behauptet, er habe
nicht geschlafen und die Maikäfer seien auch Edel-
steine, aber insofern sie Maikäfer seien, liege eine
Büberei vor, so ist das Experiment bis zu einem Grade
geglückt, daß man annehmen müßte, die Nachbar-
schaft werde mit dieser vielfachen Unsauberkeit in
Bett und Gehirn endlich einmal aufräumen. Die ein-
zige Hemmung für solche Gründlichkeit ist das Mitleid,
und diese hält auch das Verhör durch die Frage auf,
die man sich selbst zu stellen hätte: ob es nicht wirklich
frivol ist, einem Zeitungsmenschen, dessen Midasgabe,
alles was er berührt in Humor zu verwandeln, das Tages-
gespräch bildet, noch durch gelegentliche Mitarbeit
aufhelfen zu wollen; dem Leitartikler, dessen tägliche
Sorge die Sorge Poincares ist, dessen »Einbildungs-
kraft« das letzte Lachen einer verblutenden Welt sichert,
der die Nase der Kleopatra gemessen hat, von Puschkins
Geliebter über das Bankhaus Eskeles zum Leutnant
Mlaker stürmt, »die Milliarde« umarmt, der Armee
— 131 —
seinen Gruß entbietet und, bald Springinsgeld, bald
Patriot, zugleich Märchenerzähler und Bilanzknecht, die
Leserschaft durch täglich neue Kapriolen entzückt. Ob es
nicht an sich schon lächerlich ist, dem Vortänzer des
tragischen Karnevals, wenn der in seinem Maskenzug
nichts führte als die Schalek, auch noch eine Lauf-
katze anzuhängen! Diese Erwägung aber, die wieder
vor einem, der nachweislich diesseits der Schwelle des
Tollhauses sein Gewerbe treibt und sich andauernd
des Zuspruchs der höchsten Kundschaft erfreut, über-
triebene Rücksicht wäre, weicht der Erbitterung über
eine Frechheit, die nicht nur Haltet den Dieb ! ruft,
sondern das Verdienst, dem Staatsfeind auf die Finger
zu sehen, als Kriegsverrat ausgeben möchte. Aug in
Aug, die Hand am Schreihals, werde der Heuchler,
der den Versuch, Verwirrung in einer Diebshöhle an-
zustiften, für ein verbrecherisches Treiben hält und
dessen Unzurechnungsfähigkeit keinen Milderungsgrund,
nur die tägliche phantastische Abwechslung dieses
blutmaschinellen Einerleis bedeutet, verhört bis zur
letzten, unerbittlichen Frage: ob er denn glaubt, daß
nicht eben der Krieg der geeignete Zeitpunkt sei, den
Burgfrieden der Hyänen zu stören. Aber ich weiß,
eher wird eine solche zum Samariter werden und
eher wird eine Laufkatze Junge kriegen, bevor
jener mir darauf Antwort gibt!
— 132
Granaten gegen Sterne
Traum und Verzicht des Fortschritts
(Der Weg zu d en S t er nen.j Ein Flieger, der in
der Sekunde etwa 28 Meter zurücklegt, würde nach fünfmonatiger
ununterbrochener Fahrt den Mond erreichen, währender
5800 Jahre unterwegs sein müßte, um zum Abendstern zu
gelangen. Wollte er dagegen der Sonne einen Besuch abstatten,
so brauchte er nicht weniger als 17.000 Jahre zu dieser Reise, die
ein Lichtstrahl bei einer Geschwindigkeit von 300.000 Metern pro
Sekunde in knapp 8V2 Minuten bewältigen könnte. Der gleiche
Lichtstrahl, der in I74 Sekunden den Mond und in etwas über
4 Stunden den Neptun, den der Erde fernsten Planeten, erreichen
würde, müßte doch 10.000 Jahre das unermeßliche Weltall durch-
eilen, um zu den äußersten Sternen derMiichstraße zu
gelangen, die von einer von der Erde abgefeuerten
Granate erst nach Verlauf von 3bis 4 Milliarden
Jahren getroffen würden. 5 Jahre brauchte sie allein
bis zur Sonne, dagegen nur 41/2 Tage bis zum Mond,
der unser nächster Nachbar im Weltraum ist. In die Tat lassen
sich derartige Berechnungen freilich nicht umsetzen, denn dazu
reicht unsere schwache Kraft nicht aus, aber sie
geben uns immerhin ein anschauliches Bild von der ungeheuren
Ausdehnung des unsere winzige Erde umschließenden Universums.
Und von der ungeheueren Ausdehnung unserer
das Universum umschHeßenden Bestialität!
r gesamten Auflage dieses Heftes ist ein Prospekt des
erlags der Schriften von Karl Kraus, Leipzig« beigelegt
iALT der vorigen fünffachen Nummer 426—430, 15. Juni 1916:
s übervolle Haus jubelte den Helden begeistert zu, die stramm
utierend dankten / Das Gegenstück / Glossen / Der tragische
rneval / Notizen / Der Krie? im Schulbuch / Glossen /
Kleiner Konzertltflusson
Uli. Lothringerstraße 20)
MONTAG, 18. SEPTEMBER 191
PRÄZISE HALB 8 UHR
VORLESUNG
KARL KRAU!
KARTEN XU K 10.—, 8.—, 6-—, 4.—, 2-—, 1.— an d(
Konzerthauskassa, III. Lothringerstraße 20, bei
Kehlendorffer, I. Krugerstraße 3 und in der
Buchhandlung Friedlaender, Kirntnerstraße 44
NR, 437—442 NOVEMBER 1916 XVin. JAH]
DIE FACKEL
HERAUSGEBER
KARL KRAUS
INHALT:
Tagebuch / Zum ewigen Gedächtnis / Glossen / Epigram
aufs Hochgebirge / Made in Germany / Der soziale Standpun
vor Tieren / Glossen / Memoiren / Notizen / Sendung
Landschaft / Glossen / Auf der Suche nach dem Menschen i
Heros / Klärungen / Das Unterbewußtsein im Kriege / Glossen
Gebet während der Schlacht
NACHDRUCK VERBOTEN
Preis dieses Heiles:
1 Krone SO Heller == 1 Mark 50 PS.
VERLAG DER SCHRIFTEN VON KARL KRAU
(KURT WOLFF)
WORTE IN VERSEf
In 3. Auflage:
Die Chinesische Mauei
Essays
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und durch den Verh
Leipzig, Kreuzstraße 3 b
erscheint in zwangloser Folge.
Das Abonnement erstreckt sich nicht auf einen Zeitraum, sondern auf ei
bestimmte Anzahl von Nummern.
Für Österreich-Ungarn: FürdasDeutsche Reich: Weltpostverein:
18 Nummern K 4.50 18 Nummern Mk. 4.— 18 Nummern K 6.—
36 „ „ 9.- 36 „ „ 8.- 36 „ „ 12.-
INHALT der vorigen sechsfachen Nummer 431—436, 2. August 191
Feiertage / Hunde, Menschen, Journalisten / Glossen / Diplomaten
Notizen / Solche Kontraste gibt's nur an der Front / Von eine
Mann namens Ernst Posse / Glossen / Die Laufkatze / Granat(
gegen Sterne
Mit einer Illustration :
DIE FACKEL
Nr. 437-442 31. OKTOBER 1916 XVIII. JAHR
Tagebuch
2 —
Zum ewigen Gedächtnis
Eingänge: II. Taborstraße 8. — II. Praterstraße 13.
Heute Eröffnung! Vorstellungen um e und SUhr abends. ÜBUte ErÖffflUng !
DiP" Erstaufführung von ~va
:B o s d a m » t i rriL o f f
Von Alfred Deutsch-German.
Der König Zar Ferdinand von Bulgarien
Bogdan Herr Georg Reimers (Burgtheater)
Anja Frau Lotte Medelsky (Burglheater)
Max Falk Herr Eugen Frank (Burgtheater)
Die Fee der Treue . Frau Marietta Piccaver
Giovanni Herr Lackner (Volkstheater)
Anna Fräulein Kutschera (Burgtheater)
usw. usw. usw.
Ort der Handlung: Im Vorspiel Bulgarien, im 1. Akt
Amerika, im 2. Akt auf dem Ozean, im 3. und 4. Akt auf
dem Schlachtfelde Bulgariens und am Königshof zu Sofia.
Der billigste Platz ist 6 Meter von der Bildfläche entfernt. Preise von 60 Hellet an.
Glossen
Stimmen der Presse
»[Eine Ovation für Zar Ferdinand der Bulgaren] .... Unter
den Gästen sah man den bulgarischen Gesandten Dr. Toscheff,
den Legationsrat Dr. Georgieff, den Militärkommandanten von Wien
Baron Kirchbach, FML. v. Löbl, v. Bellmond, Vizeadmiral Baron
.Jedina, Hofschauspieler Georg Reimers, Gemeinderat Dr. v. Dorn,
Altgraf Salm und viele andere. Als die Szene den König
Ferdinand im Gespräch mit Georg Reimers zeigte,
brach das Publikum in minutenlangen Beifall aus,
und verlangte die bulgarische Hymne zu hören,
die es stehend anhörte. Die Ovationen wiederholten sich
immer, wenn König Ferdinand in die Handlung ein-
griff, ebenso bei der letzten Szene, da König Ferdinand
Reimers (Stimoff) mit der Tapferkeitsmedaille
bedenkt. — Der Filmaufführung ging ein Prolog voraus, den Frau
Sektionschef v. Jarzebecka sprach. . . .«
». . . mit dem sagenhaften Namen, der dem Film zum Titel dient,
verbindet sich das für die Geschichte der Kinematographie epochale
Ereignis, daß ein regierender Monarch in dieser
seiner Eigenschaft auch eine Rolle eines Films
übernahm.,.. Es war eine ganz besondere Weihe, die festzu-
halten sein mag für alle Zukunft des Kinotheaters, und es war,
als ob die erlesene Gesellschaft, die sich zum Filmspiel vereinigt
hatte, auch ihr Spiegelbild fand in dem zu lautlos gespanntem Schauen
vereinigten Publikum.«
». . . Man erinnert sich, daß Zar Ferdinand von Bulgarien,
dessen Gemahlin und Töchter sich willig in den Dienst
der guten Sache stellten, und so erscheinen denn der
Herrscher und seine Familienmitglieder als
Mitwirkende, bewegen sich in diesen für
sie gewiß etwas außergewöhnlichen Situationen
mit einer Sicherheit und Natürlichkeit, um die
sie mancher zünftige Schauspieler beneiden
dürfte.... Reimers in der Titelrolle von wuchtiger Eindringli«h-
keit und ausgeprägter Eigenart. Ganz ausgezeichnet dünkt uns der
Dorftrottel Herrn Götz', für den wir bei dieser Gelegenheit über-
haupt eine Lanze brechen möchten. . . . Zusammenfassend :
Der Film , Bogdan Stimoff wird sich behaupten. Verdientermaßen!
Seinen Wert kann auch der strengste Kritiker nicht leugnen. (Elite-
Kino, Opern-Kino, Imperial-Kino, Central-Kino.)«
Ein Abbild modernen Lebens
(►S ch u h p a 1 a s t Pinkus«) Ein Film deutscher Provenienz,
'1er zu dem Besten gehört, was die Lustspiel-Kinematographie der letzten
Zeit hervorgebrachl hat. Klein Moritz- Geschichten in größerem
Format, die im Milieu des Schuhwarenhauses spielen. Prächtige
Szenen aus dem deutschen Warenhausleben als Hintergrund
für das Treiben eines kecken Lehrlings. Pinkus jun. wird wegen seiner
Streiche aus der Schule gewiesen, und nun tritt er seine Wanderung
durch eine ganze Reihe Schuhwarenhäuser an. Mutterwitz und keckes
Auftreten verschaffen ihm überall Zutritt, er arbeitet sich hinauf, er-
schmeichelt sich Kredit und macht sich selbständig. —
Einblick in die Entwicklung des deutschen Geschäfts-
lebens, grandiose Reklame - 1 d e e n, die im Film entwickelt
werden, eine großartige Aufmachung des Warenhaus-
betriebes, die Vorführung von Schuhmannequins usw. geben, ganz
losgelöst von dem schlagenden Humor, dem Film den Wert eines
Abbildes modernen Lebens. Regie und Inszenierung
glänzend.
Bogdan Stimoff
Unter persönlicher Mit-
wirkung des Königs
Ferdinand
von Bulgarien
Die Planke
Feierlicher
Gottesdienst
Erstklassige Kantoren
U r s c h u 1 a
geh her, genier dich
nicht I
Unter dem Heiligenschein
»Amtlich wird aus Budapest depeschiert : ,In den Räumen des Landes-
verbandes der ungarischen Texlilindustriellen wurde heute die konstituierende
Generalversammlung der Baumwollzentrale der Länder
der heiligen ungarischen Krone, Aktiengesellschaft,
abgehalten. . . .' «
Ist es nicht, als ob mir bewiesen werden sollte, daß für
Bäiim\x'olle zu sterben doch schön ist?
Das Schwert der Professoren
Der Rektor der Berliner Universität v. Wilamowitz-Möllendorf
und die Professoren Otto v. Gierke, Wilhelm Kahl, Eduard Meyer,
Dietrich Schäfer, Reinhold Seeberg und Adolf Wagner, veröffentlichen
einen Aufruf zum Durchhalten, in dem es heißt:
Deutschland darf sein Schwert nicht in die
Scheide stecken, ohne einen Frieden gesichert zu haben, den
auch die Feinde zu halten gezwungen sind. Der ist aber nicht zu
5 -
erlangen, ohne Mehrung unserer Maclitausdelinung,
des Bereiches, in dem unser Wille über Krieg und Frieden entscheidet.
Unsere Gegner sind noch nicht bereit, uns diesen Frieden zuzugestehen,
so wollen wir denn durchhalten und unerschütterlich durchhalten, und
siegen, weil — wollen wir uns nicht selber aufgeben — wir gar nicht
anders können.
Offenbar ist es den Herren, die bereits alle in Betracht
kommenden Persönlichkeiten zu Ehrendoktoren gemacht haben,
darum zu tun, nunmehr zu Ehrenfeldherrn ernannt zu werden.
Das in Gedanken stehen gebliebene Schwert soll fortan die Devise
des zerstreuten deutschen Professors sein. Die Fliegenden Blätter,
die seit siebzig Jahren, in Krieg und Frieden, ob's was zu essen
oder durchzuhalten gibt, außer dem Regenschirm die Wurst und
das Maßkrügel als Symbol des deutschen Humors kultiviert haben,
werden in jenem einen Punkte nun doch eine Auffrischung
erleben müssen.
/ —
Ein deutsches Kriegsgedicht
»[RumänenHed.] Im Jag' dichtet .Gottlieb« folgendes
Runiäiienlied :
In den klainsten Winkelescu
Fiel ein Russen-Trinkgeldescu,
Fraidig ibten wir Verratul —
Politescu schnappen Drahtul.
Alle Velker staunerul,
San me große Gaunerul.
Ungarn, Siebenbürginescu
Mechten wir erwürginescu.
GebrüUescu voll Triumphul
Mitten im Korruptul-Sumpful
In der Hauptstadt Bukurescht,
Wo sich kainer Fiße wäscht.
Leider kriegen wir die Paitsche
Vun Bulgaren und vun Daitsche;
Zogen flink-flink in Dobrudschul,
Feste Tutrakan ist futschul!
Aigentlich sind wir, waiß Gottul,
Dann heraingefallne Trottul,
Haite noch auf stolzem Roßcu,
Murgens eins auf dem Poposcu !«
Hinter dem Pseudonym verbirgt sich mit Recht Herr Alfred Kerr.
In seiner Prosa zu sprechen : Solche Dinge werden einmal . . .
in Deutschland möglich gewesen sein, ecco. Interessant ist bei
all dem, daß das Vorleben eines Feindes sich von seiner
schwärzesten Seite, also von den ungewaschenen Füßen, in dem
Moment zeigt, in dem dessen Entscheidung, aus der Neutralität
herauszutreten, zu unseren Ungunsten fällt. Aber der Übelstand, daß in
der Hauptstadt Bukurescht kainer sich die Fiße wäscht — ' r,/
X. ■•: l-x, — , muß doch jahrzehntelang bekannt gewesen sein,
und entweder darf auf die Bundesgenossenschaft eines solchen
Volkes nicht der geringste Wert gelegt oder es muß auch in
diesem Fall offen herausgesagt werden. Die Unterlassung des
Füßewaschens vollzieht sich ja nicht so überraschend wie
eine Kriegserklärung, sondern ist ein Zusland, zu dessen Beobachtung
die Diplomaten jahrzehntelang Gelegenheit hatten. Aber die
deutsche Literatur, die persönlich mit der Sitte längst vertraut ist,
holt die unwiderbringlichsten Versäumnisse nach und riskiert
ihrerseits nur den Verdacht ungewaschener Versfüße.
- 6
Morituri te salutantl
(Der Krieg und die Dichter.) Aus Berlin wird tele-
graphiert : Zum Abschluß des zweiten Kriegsjahres
hat die ,B.Z.' an eine Reihe von Dichtern die Frage gerichtet, was
aus der Fülle des gewaltigen Geschehens und Erlebens in diesen
zwei Jahren den stärksten Eindruckaufsiegemach t
habe. Hermann Sudermann schreibt: »Wenn auch die
seelischen Erlebnisse innerhalb dieser zwei Jahre neue
Bahnen schufen, auf jeden von uns gewirkt haben, so wird es
nur wenigen beschieden sein, einen Eindruck aus der Summe des
Ganzen so herauszunehmen, daß er imstande wäre, ihr künftiges
Gewicht von diesem Kriege für die Lebensdauer
zu bestimmen. Aber wir sind noch weit vom Schluß
entfernt, darum wollen wir in Geduld dem großen Tag entgegen-
harren, der Deutschland endgültig von seinen Feinden befreit.
Es ist ja gewiß wichtig, was da der Herr Sudermann, den
ich immer für einen der geistigsten Menschen Deutschlands ge-
halten habe, sagt. Nur ist nicht ganz klar, wessen »künftiges
Gewicht von diesem Kriege für die Lebensdauer bestimm.t« werden
soll, und er hat darum ganz recht, wenn er sagt, daß das so
schwer ist. Ob er meint, daß es ein Krieg für die Lebensdauer
ist — nicht nur jener, die an ihm teilnehmen — , ob er nur ein
künftiges Gewicht vom Kriege bestimmen will und was das
heißen soll, ist kaum zu erschließen. Sicher ist, daß weder der
Verfasser von >Sodoms Ende« noch der von »Morituri«
genug Gewicht hat, um sich im Kriege laut zu machen. Und
keiner von jenen, die so weit vom Schuß sind wie die andern
vom Schluß. Es bringt uns alle nicht weiter von jenem und nicht
näher zu diesem, und es ist völlig überflüssig, zu vernehmen,
was auf solche Leute im Krieg den stärksten Eindruck gemacht hat.
Nichts kann aus diesem »Geschehen« einen stärkeren Eindruck
auf sie gemacht haben als das »Erleben«, daß ihre Tantiemen
in Gefahr kommen könnten, und die angenehme Überraschung,
daß es doch nicht der Fall war. Sie mögen in Geduld dem großen
Tag entgegenharren, der Deutschland endgültig von seinen Feinden
befreit. Wir wollen in Ungeduld dem weit größeren Tag entgegen-
harren, der es endgültig von Leuten befreit, die das Maul der
Gegenwart Dichter zu nennen wagt und die, anstatt >zum Abschluß
des zweiten Kriegsjahres« nicht mehr bemerkt zu werden, wenn
sie schon leiblich fortexistieren — befragt werden, wie es ihnen
gefallen hat.
Die Welt des Rekords
[Der Rekord der Kriegstrauer.] Uns'er Amsterdamer
Korrespondent schreibt uns: Die lange Dauer des Weltkrieges hat be-
kanntlich in allen kriegführenden Ländern einzelne Familien durch zahl-
reiche Todesfälle ihrer Mitglieder auf den Schlachtfeldern besonders
hart getroffen, und der Fall, daß greise Eltern drei oder selbst vier
ihrer Söhne verloren haben, bildet leider keine Seltenheit mehr. Aber
den Rekord in dieser traurigen Sache dürfte wohl die englische
Familie Loring erreicht haben. Mr. Loring, der in Bedford wohnt,
empfing nämlich dieser Tage vom Londoner Kriegsamt die Meldung,
daß seine beiden im Felde stehenden Söhne, Charles und Robert, beide
Leutnants, in den jüngsten Sommeschlachten gefallen sind. Der älteste
seiner Söhne, Hauptmann Edward Loring, wurde am 11. September 1916
schwer verwundet und mußte sich im Militärspital der Abnahme beider
Gliedmaßen unterziehen. Überdies hat Mr. Loring seine drei Brüder verloren,
nämlich den Obersten William Loring, den Major Louis und den Haupt-
mann John Loring, somit sechs Mitglieder seiner Familie.
Ja, die Welt des Rekords, die eben die Welt der Quantität
ist, bliebe unvollständig, wenn solcher Rekord nicht erreicht würde.
Nebeneinander
Der Papstzu den Kindern
bei der Kommunion:
»Ihr, die ihr heute Zuschauer
der düstersten Tragödie seid, die
jemals menschlicher Haß und
menschliche Leidenschaft entfacht
haben, ihr müßt wissen, daß heute
die schrecklichste Lästerung gegen
Gott geschieht, die jemals von der
sündigen Menschheit begangen
worden ist. Wir, der Vater aller
Gläubigen, leiden, ermahnen und
bitten seit zwei Jahren. Unsere
Ermahnungen, die Waffen nieder-
zulegen und den Streit auf dem
Wege der Vernunft und Gerechtig-
keit zu schlichten, sind erfolglos
geblieben. Deshalb wollen wir
Gott durch das allmächtige Mittel
eurer Unschuld um Hilfe bitten €
Aus dem Feldpostbrief
eines Standschützen:
»Wir halten jetzt einen Angriff
abzuwehren gehabt, aber ohne
Verluste. Vom Feinde konnten wir
nur einen toten Italiener herauf-
schaffen, denn sie hatten alle Ver-
wundeten und Toten mitgenommen,
Der eine Tote stammte aus Turin.
Dieser Angriff war interessant.
Am Abend hatten vier von uns,
unter ihnen auch ich, gebeichtet,
am Morgen war Messe und
Kommunion. Doch mitten
in der Messe auf einmal:
, Alarm!' und in einer Se-
kunde stehtHochwflrden
Herr Sora, der Feldkaplan,
allein am Altar. Draußen aber
geht die H e t z e los. Die Kugeln
sangen in allen Tonarten und da-
zwischen krachten unsere Hand-
granaten und auf einmal ist
der Platz geräumt ; dann gehen
wir wieder zur Kommunion.
Ja, ja, es ist halt Krieg....«
— 10
Bestimmung der Verantwortlichkeiten
Ein Leser, der einer Predigt des Pfarrers von Altaussee
beigewohnt hat, berichtet :
Nachdem er — im Angesichte des Altares — von Feinden und
Siegen gesprochen und zu diesen Begriffen jenen der christlichen Demut
geflochten hatte, durch welche allein der Sieg über die Feinde — nicht
errungen werden könne, sondern errungen werden wird, gipfelten
seine Ausführungen in dem folgenden, wortgetreu wiedergegebenen
Satze: »Wer hat zu rechter Zeit Regen und Sonnenschein über unsere
Felder gesandt ? Gott. Wer hat unseren Feldherrn ihre
Pläne eingegeben? Gott.t
Ist es ein Vorwurf gegen Gott?
Die vier Ströme
In einem Aufruf zur Wohltätigkeit wird jetzt entdeckt, daß
unsern Herzen »nur noch die Ahnung des anonymen Blutgeschehens
dämmert«. Aber das war schon in meiner Rede von »dieser
großen Zeit< gesagt. Von drei Flußbetten wird gesprochen: das
des Blutes und das der Tränen seien bis zum Rand gefüllt, »der
Strom des Goldes aber schleicht der Versumpfung entgegen«.
Nein, er ist so voll wie die beiden andern. Aber solange der
vierte Strom, der der Tinte, nicht ausgetrocknet ist, von dem durch
ein unterirdisches Wunder der Natur der des Blutes sich füllt,
und von diesem der der Tränen, aber auch der des Goldes: so-
lange dies nicht geschieht — sind wir alle arme Menschen.
Ein Herzenseinbrecher
Zwölf Millionen.
Nur mit leiser Befangenheit sprechen wir
heute von uns selbst.... Der tückischeste Feind, di e
Hyäne des Schlachtfeldes, hat sich aufunsgestürzt,
und der Plan dieser politischen Mordbrenner will bewirken, daß wir,
das Deutsche Reich und Bulgarien ausgeblutet und verstümmelt a ni
Boden liegen, und jede Erneuerungsfähigkeit und
politische Zeugungskraft verlieren. Trotz dieses
11
natürlichen Gefühls müssen wir unseren Lesern das Ergebnis
einer werktätigen Arbeit mitteilen .... Ein kleines Zeichen fQr
das was Österreich vermag und wieviel Mark und Kern
sich hinter den Äußerlichkeiten verbirgt und wieviel
Gutes in seinem Innern schlummert, sind auch die zwölf Millionen
unserer Sammlungen. Jeder, der erfährt, daß in den engeren Grenzen,
die einer Wohltätigkeit gezogen sind, die kein Lock-
mittel der Eitelkeit zur Verfügung hat, etwa 170.000
Männer und Frauen Beträge spendeten . . wird die innerste Not-
wendigkeit empfinden, daß solche Höchstleistungen ihren Dank und ihre
Würdigung erhalten.
Ohne Überhebung, aber auch ohne falsche Be-
scheidenheit dürfen wir behaupten, durch diese Summe ist vieles
geschehen, um die Schmerzen einer mehr als zweijährigen Kriegszeit
erträglicher zu machen. Aus eigener Erfahrung vermögen wir
festzustellen, mit welcher Sorgfalt und mit welcher ernsten Bedachtsam-
keit die Beträge verwendet werden .... Nichts Ergreifenderes kann es
geben, als dem Entwicklungsgang dieser scheinbar für jedes Glück Ver-
lorenen nachzuspüren ; wie sich die Talente gleichsam unter der
Versteinerung des Unglückes regen . . Gliedmaßen werden zusammen-
gefügt .... Wir wissen es: nur die Sache hat sie zu dieser
Anspannung getrieben, aber dennoch glauben wir etwas Persön-
liches herauszufühlen, ein Band, das sich zwischen ihnen und
einem Blatte knüpft, das keinen höheren Ehrgeiz
kennt, als in dieser Kriegszeit mitzuwirken, daß die Leiden gemildert,
die Tränen getrocknet und die Zerstörungen wenigstens teilweise wieder
gut gemacht werden .... noch ist der Siegfried nicht
gefunden, der die Lohe dieses Weltbrandes durchschreitet und vor
dessen Gewalt die Flammen erlöschen und die Braut erwacht ....
Der Siegfried ist gefunden, er heißt Löwy und hat kürzlich
im Hauptquartier geweilt.
Der unvorsichtige Händedruck
Es mag ja dahingestellt bleiben, ob der Staat nicht vor-
ziehen sollte, daß ihm die Hand verdorre, ehe sie aus der
schmutzigsten Hand des Landes jenes Scherflein zur Linderung der
Kriegsnot in Empfang nähme, das zwar groß genug ist, um
Reklame, aber bei weitem zu klein, um Hilfe zu bringen, und
dessen Darbietung zumeist die stammelnde Selbstanzeige eines
Kriegsgewinnes ist, der sich zu allen Lebensvorteilen auch noch
von blinden und verkrüppelten Soldaten ein gutes Gewissen er-
kaufen möchte. Worüber aber kein Zweifel bestehen kann, das ist
die Überflüssigkeit jener Danksagungen, zu denen sich die Staats-
— 12
rcpräsentanten einem Zeitungsmann gegenüber bemüßigt fühlen,
dessen prononcierte Eigenart, über alle Verächtlichkeit des Berufs
hinaus, doch jedem einzelnen von ihnen längst ein tiefgefütlter
Greuel ist. Wenn sie aber wirklich selbst bis zur Absendung ihres
Schreibens noch im Zweifel über die Qualität des Empfängers
wären, so müßte der Anblick ihres Gedruckten und des beigege-
benen Kommentars, das Schauspiel der Explosion eines sonst nur
von geschätzter Seite bedienten, aber diesmal von einer hohen
Seite angesprochenen Geldberserkers ihnen für alle Zukunft einen
solchen Schrecken einflößen, daß sie geloben, sich ihn künftig
drei Spalten vom Leib zu halten. Man weiß, daß dieses Temperament
die Gewohnheit hat, alles nicht dreimal, sondern neunmal zu
sagen, aber so klar macht er es einem nie, wie wenn er ein Dank-
schreiben bekommen hat. Dann lautet der Inhalt seiner Botschaft: Wir
haben ein Dankschreiben bekommen, das heißt, wir haben ein
Dankschreiben bekommen, er hat nämlich gesagt, er dankt
uns, das heißt, er dankt uns, man sieht deutlich, daß es ein
Dankschreiben ist, das Dankschreiben sieht nämlich so aus, und
es ist ein Dankschreiben, das er uns geschickt hat und das wir
bekommen haben und in Ehren halten, und wir danken ihm dafür,
daß er uns gedankt hat. Und ganz übersichtlich werden das Er-
eignis und sein Kommentar nebeneinandergestellt:
Bitte links: Bitte rechts:
». . . In diesen schweren Tagen ...Er bemerkt in seinem Te-
ist es ein Trost und ein sicheres i legramm, es ist in diesen schwe-
Pfand für unsere gemeinsame j ren Tagen ein Trost und ein sicheres
Zukunft, daß die beiden Staaten : Pfand für unsere gemeinsame Zu-
der Monarchie nicht nur durch histo- i kunft, daß die beiden Staaten der
rische und staatsrechtliche Bande ! Monarchienichtnurdurchhistorische
miteinander verknüpft sind, sondern i und staatsrechtliche Bande miteinan-
auch in den Stunden der i der verknüpft sind, sondern in den
Erprobung fest zueinander halten Stunden der Erprobung fest zuein-
und sich heute seelisch näher ander halten und sich heute seelisch
stehen denn je. . . .« j näher stehen denn je. . . .
Dieses nachgejüdelte Zitieren in scheinbar indirekter Rede,
dieses: »Er bemerkt, es ist«, dieser Beistrich gehört jetzt zu den
aufregendsten Dingen, die einem das Durchhalten schwer machen.
Der ungarische Ministerpräsident — über Geruchsempfindungen
läßt sich nicht streiten — spricht rühmend von dem >warmen
13
Hauch, der in dieser Aktion der , Neuen Tteieii Preise' von Österreich
zu uns herüberweht«. Der berufene Vertreter Österreichs antwortet
(ich zitiere wie er), jedes Wort macht den Eindruck, als würde
sich eine Hand entgegenstrecken .... Jawohl, aber leider anders.
Denn auch vom Verkehr zwischen ungarischen Staatsmännern und
österreichischen Publizisten gilt das Wort Nestroy's — Achtung auf
den Beistrich! — , es is so edel, wenn man seine Hand einem
Menschen in die Hand legt, dem man s' von rechtswegen in 's
G'sicht legen sollt.
Der Dank
des Herausgebers für den Dank des Ministerpräsidenten hat
nun diesen so ergriffen, daß er sich entschlossen hat, ihm dafür
zu danken. Er spürt wieder Wärme. Nämlich den »warmen Wider-
hall«, den seine Dankworte gefunden haben und um den er sich
mit der »ganzen Wärme seiner Seele« verdient machen will. Alles
müsse aus dem Wege geräumt werden, was »Reibungen erzeugt«
(wiewohl diese doch wieder Wärme erzeugen), und nennt sich und
den Chefredakteur > Kampfgenossen für dieselbe edle Sache«. Der
Chefredakteur kann nicht umhin für den Dank für den Dank für
den Dank zu danken. Denn er spürt jetzt die von der Gestalt des
ungarischen Ministerpräsidenten »ausstrahlende Kraft*. Er bedauert
bei dieser Gelegenheit, daß der ungarische Ministerpräsident
»die persönlichen Beziehungen zu den Führern der österreichischen
Politik und Gesellschaft» bisher so wenig gepflegt hat, daß er
also noch keinen Besuch in der Redaktion gemacht hat: »wir
sehen ihn nur durch die Stadt eilen, wenn der amtliche Verkehr
ihn zu kurzem Aufenthalt zwingt.« Nun aber zeigt er sich von
der menschlichen Seite. Und so, daß man einfach überrascht ist:
>Aus der Marmorbrust strömt ein warmer Quell heraus«. Ein Bild,
das in pikantem Gegensatz zu dem vom Großfürsten Nikolajewitsch
gezeichneten steht, vor dessen Gestalt bekanntlich der Wunsch,
daß ihm die Gall' herausgehen möge, des Gedankens Vater
gewesen ist. »Wir lesen nicht ohne Bewegung die Worte:
(Seien Sie versichert, daß ich. . . . mit der ganzen Wärme meiner
14
Seele ..,.'« Der Graf Tisza hat sich jetzt sehr genützt.
»Er weicht der Wirklichkeit nicht aus, und das gefällt uns.«
Nein, er weicht dem Chefredakteur nicht aus, und das gefällt
diesem. Darum verspricht er, immer Kampfgenosse des Grafen Tisza zu
bleiben, nämlich im Trommelfeuer der Einbildungskraft. »Berufen,
österreichische Interessen zu vertreten«, unberufen, wisse er, daß
auch dort drüben »eine Heimat wenigstens im Rahmen der Pragma-
tischen Sanktion sei«. Was heißt Pragmatische Sanktion? Im
Rahmen des Geburtszeugnisses dürfte es auch gehn. Aber er dankt.
Wenn der Graf Tisza noch einen Funken von Wärme in sich hat,
wird er nicht umhin können, zu danken.
Die Sorge beginnt wieder
Typus für die Predigt am Morgen und für das Gebet am
Abend. Am Morgen spricht er zum Volk, am Abend redt er mehr
zu sich. Am Morgen beklagt er die Verderbtheit, am Abend findet
er Anzeichen für Stimmungen für einen Rückschlag. Am Morgen
schreit er, wie schlecht sie sind; am Abend murmelt er, daß ihnen
auch schon mies ist. Am Morgen kann man sich vorstellen und
die Einbildungskraft schwelgt und die Leidenschaften sind auf-
gewiegelt; am Abend wird Kassa gemacht. Am Morgen:
Viele Menschen hatten sich am Tage der Kriegserklärung vor dem
königlichen Palais in der Calea Victoriei versammelt .... In der Calea
Victoriei, in der Siegesstraße von Bukarest, war das Leben nachdem Sonntag,
an dem die Kriegserklärung in Wien überreicht worden ist, noch üppiger als
gewöhnlich. Glanzvolle Equipagen fuhren über die Boulevards, unge-
zügelter Luxus, sorgloser Übermut, freches Siegesgefühl waren die
Merkmale der Stimmung in der Hauptstadt eines Landes, das einen
Kampf auf Tod und Leben unternommen hatte. Geputzte Frauen
saßen an den Tischen in den hellerleuchtetenSälen
der Hotels, die Kleider, die Schminke, der Parfüm, lauter schlechte
Nachahmungen von Paris.
Plötzlich schlägt das Grollen des Kanonendonners ans Ohr.
Der Wein fließt in Strömen, das Gelage wird zur
Orgie, und in den wilden Taumel bricht die Nachricht hinein, daß
der Brückenkopf bei Tutrakan gefallen ist, einundzwanzigtausend Soldaten
gefangen, weit mehr erschlagen und verwundet worden sind und daß
viele Leichen Inder Donau schwimmen.... Die
bemaltenWeiber inBukarest erbleichen, die Sciireiliälse
werden still, und Schrecken breitet sich aus über die
Stadt. Die Bahnhöfe werden gestürmt, viele wandern zu Fuß
in der Richtung gegen die Berge.... und so endet der
erste Abschnitt eines Krieges, für dessen Ausgelassenheit
in den Beweggründen und in den Formen jedes Maß
fehlt ....Wenn eine Schraube auf die Offensive gestellt
ist und zur Defensive umgedreht werden soll, kann sie leicht
brechen. Die moralischen Voraussetzungen eines Kampfes
für Eroberungen sind ganz verschieden von den
Stimmungen, die ein Volk bei der Verteidigung
braucht. Schon dieser Umsturz muß Verwirrung in Rumänien hervor-
rufen und kann nicht ohne Rückschlag auf die bereits
verstümmelte, auf leichte Siege hoffende Armee sein.
Der Rückschlag ist also schon da, Erlebnisse strahlen aus,
Kränze werden für Briand geflochten, aber das ist ein Tineff,
man wird schon sehn im Abendblatt, wo die Eindrücke kommen
mit den Einzelheiten und die Sorge da ist.
. . . Ein Beispiel für solchen Zynismus gegen das eigene Volk
wäre nur in einem politischen Pittaval, wo die berühmtesten Fälle von
Landesverrat aufgezählt werden, zu finden ....
Also das hat die Welt nicht gesehn.
Die Entente hat schon seit vielen Wochen nichts anderes durch-
gesetzt als ein Zerstören von Menschenleben und ein gegenseitiges
Zerfleischen.
Seit vielen Wochen? Seit mehr als zwei Jahren vergeht kein
Abendblatt, wo das nicht unter dem Titel »Die Wahrheit auf den
Schlachtfeldern von Frankreich« oder »Eindrücke in den Ländern
der Entente« zu lesen ist. Der Rückschlag ist besonders empfindlich,
wenn der Feind zugleich ein Verräter ist. Aber der »Treubrüchige
am Po* ist nur ein Katzeimacher im Vergleich zu dem Tiger,
der an der Donau Verrat geübt hat. Selbst der Großfürst
Nikolajewitsch hat nichts zu lachen gehabt, als ihm von einem
der kühnsten Internisten vorgehalten wurde: »Da kommen die
Stiche in der Leber und es melden sich die Erscheinungen einer
verderbten Galle< oder so ähnlich. Nun heißt es:
Die Zweifel verstummten und ein Gefühl gänzlicher Sicherheit
verbreitete sich. Da kommen die Nachrichten über
Tutrakan und Silistria. Die Überraschung ist außerordentlich, d i e
Sorge beginfit wieder, die Stimmung ist noch nicht ver-
flogen, aber nicht melir so einheitlich ....
- 16
Man kann auf die Entwicklung der Meldungen über die
Stimmungen bis zur Verzweiflung herauf gespannt sein, und man
wird schon rechtzeitig die Eindrücke von den Einzelheiten über die
Details erfahren. Die Welt ist müde. Im Abendblatt mauschelt er so
für sich hin, um nichts zu suchen, er legt noch Wert auf das Wort
»wichtig«, das Wörtchen »auch«, das bei den Feinden fast eine so große
Rolle spielt wie bei uns »das Wörtchen ,noch'«, taucht auf,
und nachdem er versichert hat, daß sie alle schon hin sind,
meint er, daß sie auch schon genug haben werden . . . Wir nicht.
Und das Ohr dieser Zeit und dieser Qegend erträgt es seit mehr
als zwei Jahren !
Der Ausbruch des Mont Pel6
Der Lorbeerkranz von Plewna ist zeipflückt worden. Von
der Fahne der rumänischen Armee . . ist er heruntergerissen
worden .... mit Hinzurechnung der Toten und Verwundeten ein wesent-
licher Prozentsatz des ganzen rumänischen Heeres .... die Kriegs-
erklärung der verrotteten Gesellschaft von Bukarest, des Gemenges von
Parfüm und Schmutz, von Boulevardfirnis und Bojarenroheit wurde von
der Entente als Beweis ausgeschrien ....
. . . Das ist Verderbtheit.... Die Waffentat der Bulgaren
bei Turtukai hat auch deshalb ein so starkes Aufsehen gemacht,
weil sie mit solcher Frische aus dem Handgelenk
gekommen ist.... Bratianu ..wird jetzt böse Nächte
haben .... In den Straßen von Bukarest .. werden jetzt
manche herumgehen mit dem Zweifel im Herzen.... ein
Bacchanal von Üppigkeit und Lust .... Jetzt kommt die schrille,
blutige Nachricht. Einundzwanzigtausend Gefangene, vielleicht nicht
viel weniger Tote und Verwundete .... die Reizung., war so stark,
daß der bulgarische Sieg bei Turtukai ein Bedürfnis be-
friedigte . . . . die Neutralen .. werden nachdenklich.
...Wir können uns die Wirkung auf das rumänische Volk . .
vorstellen. ...die Sorge.. .. Zweifel in den Herzen ....Da
bricht der Schrecken im Heere an der südlichen Donau aus und
pflanzt sich weiter an das Nordufer und immer weiter bis nach
Bukarest, das aus der tollen Jagd nach Vergnügen plötzlich herausgerissen
wird ....Jetzt hören sie bereits den Kanonendonner von
Tutrakan und Silistria in den Straßen von Bukarest....
Mancher, der am lautesten . . mag heute schon .... Er vernin.mt den
Kanonendonner und weiß, wie viele von den Toten, Ver-
wundeten und Gefangenen auf die Lastenseite zu
verrechnen sind . . . .
— 17
. . . Heute werden sie in London erfahren .... Auf dem Ballon
werden sie es vernehmen .... die Nachricht wird sich über die Erde
verbreiten . . und vielleicht . . und vielleicht . . und . . und . . und ....
Warum dann also?
». . . Ähnliche Beweggründe mögen es gewesen sein, die
unsere vorgeschobenen Truppenabteilungen in rückwärts angelegte
und planmäßig zugewiesene Stellungen dirigiert haben, aber erst
nachdem die feindlichen Truppen überrall mit blutigen Köpfen heim-
geschickt wurden.«
Heimg'funden
Zu den schönsten Unternehmungen gehört die Heimkehr
eines Gesandten. Man würde glauben, daß sich die des Grafen
Czernin möglichst geräuschlos hätte vollziehen müssen, um doch
einigermaßen ein Gegengewicht für die Bewegtheit herzustellen,
mit der sich der Ortswechsel der armen siebenbürgischen Bevöl-
kerung vollzogen hat. Nicht doch:
Die schlanke sehnige, fast jugendlich aussehende Gestalt des
Gesandten war sofort von Herren und Damen umringt, die ihm ihr
Willkommen boten. Neben dem Grafen wurde seine junge Tochter,
die in ihrer blühenden mädchenhaften Schönheit ganz den Typus der
österreichischen Aristokratie verkörpert, herzlich begrüßt.
Also die Weltgeschichte ist wieder ein ,Salonblatt', das
aber nicht vollständig wäre, wenn nicht noch ein Familienporträt
hinzukäme. Unter den Anwesenden
fiel der junge Sohn des Grafen Czernin auf, ein Einjährig-Freiwilliger
bei den Dragonern, der, wenn die Dinge sich nicht so
entwickelt hätten, sehr bald ins Feld gegangen wäre, ohne
vorher den Vater noch zu sehen.
Man sieht, daß die Diplomatie auch Erfolge erzielen
kann und daß es mancherlei Entschädigung gibt. Natürlich
schwirrt eine Frage von allen Lippen : »Nun, wie war es?«
Anstatt aber die kurze Antwort zu geben: Euer Gnaden wissen
eh, mir wem kan Richter brauchen, lassen sich Diplomaten noch
am Ziel ihrer Tätigkeit mit Journalisten in Gespräche ein, und da
alles von der anständigen Behandlung in Rnßland entzückt ist,
18
führt »einer der Herren, ein Diplomat«, indem er »lächelnd eine launige
Bemerkung machte«, diesen Umstand auf die Kriegsmüdigkeit der
Russen zurück. Ob er nicht vielleicht vorher aus der Unhöflichkeit
der Rumänen auf deren Kriegsbereitschaft hätte schließen können,
das verschweigt er diplomatisch. Feststeht, daß Graf Czernin
von seinem Sohne begrüßt wurde, der jetzt als Einjährig-
Freiwilliger dient. Das ist so ausgemacht, daß man sich durch die
Wiederholung des Umstandes nicht irremachen lassen soll.
Ferner waren zum Empfang Funktionäre erschienen, unter denen
der Leutnant Pick vom Bahnhofskommando auffiel, aber Spielvogel
und Zawadil vermißt werden. Großes Interesse erweckten Auto-
mobiltaxameter, die vor dem Bahnhof standen, eine Erscheinung,
deren. Realität wiederholt bekräftigt wird. Da solches sonst
nur in London vorkommt, so ist der Verdacht gegeben, daß sie bei
uns »mit dem Krieg tändeln«. Der Graf Czernin beginnt sich zu
äußern. Er kann aber keine Äußerungen abgeben, da er sich
vorerst im Ministerium des Äußern äußern muß. Der Legations-
sekretär meint, es habe alles geklappt, später hätten sich allerdings
»einige Schwierigkeiten« ergeben, und zwar wegen der Schlafwagen,
die der Feind nicht zur Verfügung gestellt hatte, während für die
Abreise der Grenzbewohner bequeme Viehwagen für je sechzig
Personen zur Stelle waren. Der Konsul sagt, in Rumänien sei
es fahrplanmäßig gegangen. Nun ist man aber zuhause, der
üesandtschaftszug hat Verspätung, und was alle Ankömmlinge
anzuheimeln scheint, ist der Umstand, daß sogar die Meinungen
auseinandergehen, ob um eine Stunde oder um mehrere, was
aber offenbar auf die Winterzeit zurückzuführen sein dürfte.
Die aus Sibirien in die Presse flüchten
Die von mir erörterte Schande, daß Individuen, denen die
Flucht aus der Kriegsgefangenschaft imd somit die schwerste Ge-
fährdinig ihrerzurückgebliebenen Kameraden geglückt ist, sich, anstatt
zu kuschen, dessen in der Presse und in öffentlichen Vorträgen noch
rühmen.
— 19
uns die Schmach der großen Zeit, der aus dem Konkubinat
von Krieg und Presse entsprossenen, diesen Alpdruck aus
Roda Roda und Schaiek Schalek einigermaßen erleichtern könnte.
Umso schwerer hoffentlich die Schandpresse, die sich der
Mitteilsamkeit des wortbrüchigen Verräters seiner Mitgefangenen
und seiner Helfer bedient. Genauso, wie esnicht genügt, annoncierende
Kettenhändler zu bestrafen, sondern wie man an die einmal gefaßte
Kette auch den jeweils vom Schandgeld lebenden Benedikt zu legen
hätte. Jeder Verbrecher von heute ist nur ein Mitschuldiger, oft nur
das Opfer eines in sich verbrecherischen Berufes, der alle Zweige
umfaßt. Dennoch mag sich die Gewissenslast eines Menschen nicht
leicht durch das weitere Leben tragen lassen, der die Nachricht
empfängt, daß für seine elende Wiener Reklame die verlassenen
Kameraden hungern und jene, die ihm dazu verholten haben,
sterben müssen. Wahrlich, über allen Zwang des Krieges hinaus ist
diese Menschheit abscheulich !
— 20 —
Ist das ein Ungeziefer!
[Die Entlassung des Abgeordneten Grafen Michael Karolyi aus
der französischen Gefangenschaft.] Aus Budapest wird uns berichtet :
In einer der letzten Sitzungen des Abgeordnetenhauses hat, wie seiner-
zeit berichtet, der Abgeordnete Andreas Rath auf den Vorwurf des
Abgeordneten Ludwig v. Szilagyi, daß er als Oberleutnant nicht an
der siebenbürgischen Front stehe, erlclärt, er sei nur gegen sein schrift-
liches Ehrenwort aus der französischen Gefangenschaft entlassen worden.
Nun berichtet das »8-Uhr-Abendblatt«, daß auch den Abgeordneten
Grafen Michael Karolyi und Stephan Zlinsky ein solcher Revers vorge-
legt worden sei, daß diese aber ihre Unterschrift verweigerten. Graf
Karolyi wurde aann ohne weitere Bedingungen entlassen. Im Laufe der
vielfachen Aktionen, die im Interesse der Frei-
lassung der Internierten in Frankreich eingeleitet
wurden, nahm man auch die Vermittlung des früheren Mitgliedes
der ungarischen Oper, Parvis, eines persönlichen Bekannten des Präsi-
denten Poincare und seiner Gemahlin, in Anspruch. Parvis begab sich
nach Paris und wurde von Poincare empfangen. Als ihn der Diener
anmeldete, hörte Parvis durch die offene Tür, wie Poincare die Weisung
gab, ihm das >Karolyi-Dossier« zu bringen. Kaum hatte Parvis seine
Bitte vorgetragen, als Poincare auch schon im gereizten Tone erklärte:
»Ich bedauere, daß Sie sich vergeblich nach Paris bemüht haben.
Ich kann für einen Ungarn nichts tun. Ich habe Karolyi loyal
freigelassen und jetzt lesen Sie einmal den folgen-
den Artikel in der .Neuen Freien Presse'.« Dann
drückte er P a r v i s e i n e N u m m e r der .Neuen Freien
Presse' in d i e H a n d, in der ein Interview mit Karolyi mit dem
Rotstift angestrichen war. Poincare bemerkte dazu: >Er soll seine
Befreiung einer Unregelmäßigkeit verdankt haben. Das ist nicht wahr.
In Frankreich gibt es keine Unregelmäßigkeiten. Seine Befreiung erfolgte
in normalen, loyalen Formen.« Später begab sich Parvis noch einmal
nach Paris, wurde aber von Poincare nicht mehr empfangen.
Und der Herausgeber dieses ehrlosesten Blattes der Welt
ist so stolz darauf, daß der Poincare es in der Hand gehabt hat,
daß ihn weder der Nachweis seiner Unsauberkeit noch auch das
Los der internierten Landsleute, die sich beim interviewenden Heirn
Nordau bedanken mögen, auch nur im geringsten alteriert. Der
Sänger ist stolz auf den Empfang und der Herausgeber auf den
Hinauswurf. Was dazwischen liegt, ist egal.
21
Bojaren, Maharadschas und Blumenteufel
Die Bojaren aus der Walachei, die nach den Belgiern, Japanern,
Portugiesen und dem ganzen Troß der schwarzen und gelben Hilfsvölker
zum Schutze des stolzen Albions angerufen worden sind, haben ver-
sagt. Die Engländer sind ganz unbedenklich in der Wahl ihrer Mittel,
sie verschmähen auch die niedrigste Unterstützung nicht und auch
nicht die Ausbeutung der kleinsten Kräfte.
Wenn die Unterstützung so niedrig und die Kräfte so klein
sind, so war ja auf die Entscheidung der »Bojaren« kein so großer
Wert zu legen. Von der kulturellen Überlegenheit der Neger über
die Leopoldstädter muß man gar nicht sprechen. Die Japaner haben
immerhin auch bewiesen, daß sie es mit den Kagranern noch auf-
nehmen können. Die Portugiesen kenne ich nicht. Was die Belgier
betrifft, so möchte ich Gift drauf nehmen, daß sie mit den
schwarz-gelben Hilfsvölkern, die in Ischl hausen, noch konkurrieren
können. Aber die Bojaren aus der Walachei, die endlich ange-
. rufen worden sind, die schließen schon etymologisch jedes Merkmal
der Niedrigkeit aus, denn sie bedeuten : »(von boljär, vornehmer Herr,
von bölii, groß, erhaben) adelige Gutsbesitzer, Freiherrn«. Die
paar Bojaren, die in der rumänischen Armee den Engländern zur Seite
stehen, sind freilich eine mäßige Unterstützung. Da dürften
schon mehrindischeGroßkönigemittun,wenn man sich nämlich an die
Meldung erinnert, daß an der englischen Front >Scharen von
Maharadschas« aufgetreten sind, deren malerisches Aussehen allge-
mein auffiel. Das war freilich noch in «der Zeit, als den Feinden
jede mögliche Überraschung zuzutrauen war, vor allem
den Russen, denen die Neue Freie Presse das Ärgste nachzusagen
wußte, zum Beispiel, daß »die charakteristischen Verwundungen
unserer Soldaten an den Außenflächen der Hände und Füße«
(oder so ähnlich) den Beweis lieferten, daß »die Russen den Flanken-
angriff lieben«, gegen welches »tückische Vorgehen« aber recht-
zeitig Vorkehrungen getroffen seien . . . Was wird dereinst, wenn von
der Zeitung auf die Zeit geschlossen werden wird, als das hervor-
stechendere Merkmal ihrer Größe die Augen der Welt blenden:
die bewußte Technik der täglichen Dummacherei und die Absicht,
den Verstand in die Fibelregion zu strecken, in der man tagtäglich
mit Begriffen wie »feldgrau«, »brav«, »Schulter an Schulter«,
»durchhalten«, mit der Unterscheidyng zwischen Bhnnenteufelii,
— 22 —
roten Teufeln und andern, zum Beispiel armen Teufeln sein Aus-
kommen finden mußte und auf die Intelligenzkarte die dürftigste
Ration bekam? Oder der ungewollte Kretinismus,» mit dem der
weltbeherrschende Mauschel dank den ihm zugeflogenen strategischen,
ethnologischen und geographischen Ausdrücken der von Autorität und
Nervosität niedergeprackten Besinnung zu imponieren gewußt hat!
Fata morgana
[Eine Druckerei in der Wüste.] Aus einem Briefe
an den ,Tanin' geht hervor, daß in der Sinaiwüste eine Druckerei,
die »Tschölmat - haasy» (Wüstendruckerei) errichtet worden ist, die
einen Militärkalender erscheinen ließ.
Aus der Welt der Prothesen
[Die Bitte eines Ästhetikers.] Ein Leser schreibt
uns: Bekanntlich besitzt Wien an der Albrechtsrampe einen herr-
lichen Brunnen, die Donau und deren bedeutendste Nebenflüsse
darstellend. Bedauerlicherweise ist seit einiger Zeit an einer der größeren
Figuren (am Inn) der rechte Arm gebrochen und es fehlen die Hand
und der Unterarm bis zum Ellbogen. Jeder Vorübergehende wird es
mit warmem Dank begrüßen, wenn der Schaden alsbald ausgebessert
und der Unterarm und die fehlende Hand wieder hergestellt werden
würden.
Und so ein Vandale wird noch Ästhetiker genannt. Anstatt
froh zu sein, daß die bekannte Gelegenheit für die vor dem
Jockeiklub wartenden Fiakerkutscher, zu erfahren, wie die Drau
und die Sau aussehen, endlich ein wenig reduziert wird, beklagt
sich der Mensch noch. Aber angesichts der Tatsache, daß an den
Ufern der Nebenflüsse des Inn der Verlust von Armen und Händen
jetzt so häufig vorkommt, dürfte uns die persönliche Invalidität
des Inn kalt lassen. Es könnte nämlich auch sein, daß ^•- '^
-■■■■'■ . .'.'• ■• ■ ■ ■' • A>.\ -•■• V »^.vc':'^ At'..,- .
23
Epigramm aufs Hochgebirge
Text einer Ansichtskarte:
>Wenn diese Berge dem
größten Dichter neue Kräfte
geben könnten — wie viel
schöner wären siel«
Es ist der schönsten Berge Eigenschaft:
sie geben nicht dem Geist, sie nehmen Kraft.
Der Bürger fühlt sich im Gebirg erhoben ;
talwärts ist meine Phantasie zerstoben.
Am Alpenglühn entflammen keine Lichter.
Vor höherm Berg gibts nur geringern Dichter.
Die Luft der Alpe schafft des Alpdrucks Qual.
Um hoch zu steigen, bleibe ich im Tal.
Den Höhenrausch trink' ich nicht von den Höh'n.
Um Sturm zu haben, brauch' ich nicht den Föhn.
Zu andrer Freiheit bin ich aufgerafft;
die hier bringt meine Sinne in Verhaft.
Den Gletschern dank' ich keine Geistesfrische ;
mir liegt nicht allzusehr das Malerische.
Oft wirkt Natur der Leere nur das Kleid.
Mich lockte nie die Sehenswürdigkeit.
Wo so viel fertige Schönheit gegenwärtig,
ist keine Dichtung, nur der Dichter fertig.
Und keine Lyrik, Epos oder Drama
schenkt sich dem sogenannten Panorama.
Umsonst ist's, daß ich auf den Genius warte.
Natur ist häufig eine Ansichtskarte.
Der schönste Schnee wird schließlich docii zum Schlamm.
Es ist die Landschaft für ein Epigramm!
24 —
Made in Gertnany
Fünftausend Dokumente, deren jedes für sich der Nachwelt
die Schande zum Bewußtsein brächte, von dieser Welt zu stammen,
h'egen noch in meinem Schrank. Aber den Vorrang, ihr den Tort
anzutun, hat jeder neue Tag, und unter allen Nachrichten sind
die neuesten am besten und unter den neuesten Nachrichten
wieder die Leipziger Neuesten Nachrichten. Die zentrale Eigenart
des Denkens, vor der das Staunen der europäischen Umgebung
sicherlich größer ist als das Hassen, findet wohl nirgendwo einen
planeren Ausdruck. Ein Leser, dessen Ehrgeiz, mich an die Quelle
zu führen, keine Rücksicht auf meine Pflicht nimmt, dem Jahr-
hundert zwar »den Abdruckseiner Gestalt zu zeigen*, jedoch nur
>die abgekürzte Chronik des Zeitalters zu sein«, bringt mich
mit etlichen Ausschnitten in Versuchung. Aber nirgend kommt die
Gemütsart, die die rechte Hand nicht wissen läßt, daß die linke
Bomben wirft, sondern es niederschreiben läßt, daß es der Feind
tut, nirgend kommt sie so schön zur Geltung.
Daß die Vorführung einer Schlacht im Film zum täglichen
Brot der deutschen Kinobesitzer gehört, weiß man. Da nun die
technische Kanaille in London, wenngleich sicherlich mit größerem
Können, dasselbe tut und Aufnahmen von der Offensive
an der Somme vorgeführt hat, heißt es in Leipzig:
. . . Die gefilmte Schlacht, die gefilmte Majestät des Sterbens und
des Todes. Daß die Engländer eine unwissende und ungebildete Gesell-
schaft sind, wissen wir ja, der vorliegende Fall zeigt aber auch, bis zu
welcher Gefühlsroheit Neid und Lüge führen.
So heißt es in Leipzig. Da der Neid aber ein hervorragendes
Motiv für das Kinorepertoire ist, meldet sich die , Kölnische Zeitung'
(Ausgabe für das Feld), die auch zu bescheiden ist, von den deutschen
Schlachtfilms außerhalb der Annoncenrubrik etwas zu wissen, und
regt an, die Roheit und Unbildung der Engländer sogleich in
Deutschland einzuführen :
. . . Wäre es nicht erwünscht, daß man auch dem Deutschen hinter
der Front solche lebenswahren Bilder der jüngsten Ereignisse vorführte?
An Gelegenheiten, die geeignete Bilder zur Aufnahme bieten, dürfte
kein Mangel sein. Die Taten unserer Soldaten, im Bilde vorgeführt,
gäben wahrhaftig Stoff genug für mehr als einen Film, und das Volk,
das am Bilde manchmal mehr hängt, als am Worte, würde solchen
Vorführungen ein gewaltiges Interesse entgegenbringen, auch wenn wir
25
auf die Ausschmückungen im Interesse nationaler Selbstverhimmlung,
die Engländer und Franzosen nötig haben, verzichten.
Versteht sich. Machen wir. Zwar ist es längst gemacht, aber
das vergessen wir, um den Feinden, die es auch machen, teils
Gefühlsroheit vorwerfen, teils beweisen zu können, daß wir's noch
besser machen werden. Nur daß ein deutscher Ulan, der mir den
Ausschnitt von der Front schickt, dazu schreibt, »jetzt habe das
Sterben des armen Schützengnabensoldaten wirklich einen Zweck:
es dürfe mit allem Dreck von Reinhardt um den Beifall des
deutschen Kinopöbels konkurrieren«. Leipzig aber, das die Erbärm-
lichkeit, um die Köln die Engländer beneidet, auf den Neid der
Engländer zurückführt, veröffentlicht eine Kritik des durch das
Oenie und die Persönlichkeit seines Autors berühmt gewordenen
»Hias«:
(Berliner Theater. »Der Hias<.) Unter dem Krachen aller
Feuerwaffen und mit Sturmgeschrei ging gestern abend
>Der Hias<, ein feldgraues Spiel in drei Akten, über die Bretter des
Berliner Theaters. Der Zettel verschwieg den Namen des Verfassers;
aber ein Feldgrauer soll das Stück geschrieben haben, und Feldgraue
(Offiziere und Mannschaften Berliner und bay-
rischer Ersatz-Truppenteile, unter denen gewiß einige von
schauspielerischer Herkunft waren, führten es auf. Für die Frauen-
rollen stellten sich Frauen der Aristokratie zur
Verfügung. Das Stück, nicht besser als die meisten seiner Art, gab
Gelegenheit, Lagerleben und blutige Kämpfe mit erstaunens-
wertem Naturalismus vorzuführen. Die echten
Soldaten auf der Bühne spielten, als ob sie an
der Front wären. Dort, wo die kriegerischen Vorgänge der tech-
nischen Mittel der Bühne spotteten, sprang der Film ein und
der Apparat rollte (im letzten Akte) eine Reihe von geschickt in
die Szene des Stückes eingelegten Schlacht bildern ab.
Erhöht wurde der Eindruck durch den Lärm der
Maschinengewehre und Handgranaten und durch das
Ächzen und Stöhnen der Gefallenen.
Freilich bemerkt Leipzig, um nicht ganz in den Verdacht
zu kommen, daß es ein klein London sei, dazu:
Die mörderische Abspiegelung ging auf die Nerven, ohne daß
sie durch die Kunst geadelt zur Höhe der zeit-
geschichtlichen Ereignisse emporgetragen worden
wäre. Von einem dichterischen Atem ist in dem Stück kein
Hauch zu verspüren.
Ein Unrecht am »Hias<. Wenngleich nicht gerade durch die
Kunst, sondern nur durch die Mitwirkung der deutschen Aristokratinnen
26 —
geadelt, ist er doch zur Höhe der zeitgeschichtlichen Ereignisse
emporgetragen. Die echten Soldaten auf der Bühne spielten, als
ob sie an der Front wären, und für zwei Mark fünfzig kann man das
Ächzen und Stöhnen der Gefallenen hören, was viel lohnender ist
als die gefilmte Majestät des Sterbens in London, die doch stumm
bleibt. Den Neid, der die Engländer darob befallen müßte, könnte
man ihnen schon jetzt vorhalten. Aber ein Beispiel für deren Ver-
logenheit wird gleich angeführt:
Eine englische Denkmünze auf die See-
schlacht im Skagerrak. Nachdem die Engländer ihre schwere
Niederlage vom Skagerrak auf dem Papier allmählich in einen Sieg um-
gemodelt haben, setzen sie diesem Lügenverfahren da-
durch die Krone auf, daß sie eine Denkmünze auf die Seeschlacht
prägen, womit sie sie offenbar in eine Reihe mit anderen Seeschlachten
stellen wollen, die seit dem Vorbilde der Königin Elisabeth, die auf den Unter-
gang der Armada im Jahre 1588 eine berühmte Münze prägen ließ,
durch Denkmünzen als Siege verherrlicht worden sind . . . Rund herum
läuft die Inschrift : »Der ruhmreichen Erinnerung derer,
die an jenem Tage fielen.« ImVergleichmit neueren
deutschen Denkmünzen kann diese englische als
gedankenarm und u n k ü n s 1 1 e r i s c h bezeichnet
werden. Der Text, der nichts von Sieg enthält, ist
für englische Verhältnisse ziemlich bescheiden. . . . Die
Denkmünzen sollen käuflich sein — die goldene zu 230 Mk.,
und der Gesamtertrag soll den Hinterbliebenen
der gefallenen Seeleute zukommen. — So ver-
abscheu u n g s w ü r d i g diese e n g 1 i s ch e V e r 1 o g e n h e it
auch ist, kann man es nicht in Abrede stellen, daß sie System
hat und sicher auch Erfolg haben wird, denn es unterliegt keinem
Zweifel, daß auch auf diesen englischen Schwindel wieder
eine ganze Menge neutraler Untertanen hereinfallen wird.
Man muß die gedankenreichen und künstlerischen deutschen
Denkmünzen keineswegs zum Vergleich heranziehen, um sich von der
Bescheidenheit und Käuflichkeit, kurz von der verabscheiiungs-
würdigen Verlogenheit dieser englischen Denkmünze, deren Text
nichts von Sieg enthält und deren Gesamtertrag den Hinterbliebenen
der gefallenen Seeleute zukommt, eine Vorstellung machen zu können.
Sie gilt der Erinnerung derer,» die an jenem Tage gefallen sind,
ihr Ertrag der Unterstützung derer, die sie zurückgelassen haben :
man mache sich von diesem englischen Schwindel^ der wie gesagt
nichts von Sieg enthält, also als völlig gedankenarm und unkünst-
lerisch bezeichnet werden kann, ein Bild. Wovon man sich hingegen
27
kein Bild machen l<ann, ist die Geistesverfassung, die hier
vor den blutigsten Kontrasten ihrer dummacherischen Übung
nicht satt wird und aus dem Abhub der Phrase noch ein
Surrogat der Gesinnung herzustellen vermag, von dem sie mit
verzücktem Augenaufschlag weiterlebt. Da wird links »von unsrem
römischen Mitarbeiter« über den > Kampf gegen den deutschen
Geist in Italien< berichtet:
Die verzweifelten Versuche der italienischen Über-
patrioten, den Kampf gegen Deutschland auch auf den deutschen
Geist und auf die deutsche Wissenschaft auszu-
dehnen, erleben immer wieder neue Niederlagen, die dann
ihrerseits 2u den erheiterndsten Klagen in der italienischen
l'atriotenpresse führen. So finden wir in dem römischen ,Giornale
d'Italla' vom 8. September, das den höchsten Deutschenhaß mit der
größten eigenen Ignoranz verbindet, eine herzbewegende Klage über
zwei Veröffentlichungen der allerletzten Zeit in Italien ....
Aber eine Veröffentlichung gleich rechts in den , Leipziger
Neuesten Nachrichten' würde den italienischen Überpatrioten eine
kleine Genugtuung verschaffen und ihren verzweifelten Versuchen, den
Kampf gegen Deutschland auch auf den deutschen Geist und die
deutsche Wissenschaft auszudehnen, zum Durchbruch verhelfen:
Die Lauterberger Weltanschauungswoche.
Für die vom 2. bis 7 . Oktober in Bad Lauterberg im Harz i ni
städtischen Kurhause in Aussicht genommene
»Weltanschauungswoche« haben Geheimrat Natorp-Marburg,
Professor Leser-Erlangen und Professor Hunzinger-Hamburg je 6 s t ü n-
dige Vorlesungen über: »Die hauptsächlichsten Weltanschauungstypeii
der führenden Kulturvölker und der Kulturberuf unseres Volkes«, > Fichte
und wir« und »Die Wellanschauung unserer Klassiker« zugesagt.
Außerdem wird Dr, Ferdinand Avenarius-Dresden einen
Einzelvortrag halten. Für die Nachmittage sind gemeinsame
Wanderungen, für die Abende gesellige Zusammen-
künfte vorgesehen. Der Preis der Teilnehmerkarte ist auf 10 Mark
festgesetzt worden. Die Vorlesungen beginnen um 8 Ulir
vormittags und dauern bis 11 Uhr.
Da das nur um drei Stunden zu viel wäre, so dürfte jeder
der drei Gelehrten zwei Vormittage innehaben, wobei aber
Avenarius-Dresden in die gemeinsamen Wanderungen oder
geselligen Zusammenkünfte eingeschoben werden müßte. Das
Arrangement ist schwierig. Aber die Natur einer im städtischen
Kurhause in Aussicht genommenen Weltanschauungswoche bringt
das mit sich. Warum veranstaltet man sie nicht bei Wertheim?
— 28 —
Was es alles gibt und was für bunte Dinge auf diesem kärgsten
Stück Erde wachsen! Alles was sie dort nicht haben, bekommen
sie geliefert. Und so auch 'ne Weltanschauung. Da es jetzt dank
solchen Möglichkeiten, also dank einer Weitanschauung, die deren
Herstellung als Fertigware nebst Aufmachung garantiert, unmöglich
geworden ist, sich die Welt anzuschauen, so möchte ich gern die
Lauterberger Weltanschauungswoche mitmachen. Die Welt schaut
Lauterberg an, Lauterberg die Welt, und beide verstehen einander
doch nicht. Aber ein Hauptspaß muß es sein, und Filmaufnahmen
sollten von dem belehrenden Teil sowohl wie insbesondere von den
geselligen Zusammenkünften in der Welt verbreitet werden. Man müßte
den Avenarius sprechen sehen und eindrucksvoller als die gefilmte
Majestät des Sterbens wäre einmal die gefilmte Humilität des Lebens.
Was es aber mit der deutschen Weltanschauung, soweit sie sich ohne
Grenzübertrittsbewilligung entfalten kann, für eine Bewandtnis hat,
und wie das deutsche Wort dem deutschen Volk sogar den Film
ersetzt, bewies der folgende Bericht, den Leipzig von Köln
bezogen hat:
Kaiser Wilhelm als Feldarbeiter. Aus Oberschlesien
geht der ,Köln. Vlksztg.' die folgende hübsche Schilderung eines Vor-
ganges zu, der sich dort vor einiger Zeit abspielte :
Bekanntlich reiste der Kaiser an die Ostfront. Seine schlesischen
Truppen erfreute Seine Majestät durch persönliche Anerkennung und
durch seinen Dank für ihre Tapferkeit. Des freute sich ganz Schlesien.
Aber ganz Schlesien freute sich noch über etwas anderes.
Was rennt das Volk, was läuft die Schar hinaus auf die
abgemähten Felder? Den Kaiser zu sehen. Nachmittags zwischen 5 und
7 Uhr ist es. Munteres Volk birgt die kostbaren Ährengarben
auf bereitstehende Wagen. Plötzlich ruhen alle Hände, Stille tritt ein,
alle Mützen fliegen vom Kopfe, Staunen ergreift alle: Der Kaiser
kommt ! Er ist schon da, zieht den Rock aus und — in Hemds-
ärmeln beginnt des Deutschen Reiches Oberhaupt mit Hand anzu-
legen an die Feldarbeit. Auf dem mit goldenen Getreide-
garben besäten durchfurchten Boden unseres
1 i e b e n V a t e r 1 a n d e s e r h e i t e r t d a s d u r c h dieSorgen
der Kriegs]' ahre tief durchfurchtete Antlitz
Seiner Majestät munteres Lächeln. Er hilft selbst, mit
höchsteigener Person, den »von oben« gespendeten Segen für sein
Volk einzuheimsen. Wie der Herr, so der Knecht. Dem
Kaiser tun es seine Begleiter, hohe Herren und Offiziere, nach.
»Siehst du da nicht auch unsern Reichskanzler bei
der Feldarbeit?» — »Wahrhaftig, er ist's.«
29
Von der Stirne heiß, rinnen muß der Schweiß
hei solcher Arbeit. Überrascht schaut das zuschauende
Voll«, wie Seine Majestät den von der Stirne perlenden Schweiß
mit dem Hemdärmel ein übers andre Mal abwischt; denn
in brennender Sonnenhitze mit der Garbengabel Wagen voUzuladen, wenn
auch mit aufgestreiften Hemdärmeln, macht schwitzen — und Durst. Und
so haben wir wieder das schöne Bild: Seine Majestät sitzt
mitten in seinem ihm treu ergebenen oberschlesischen Volk, auf
das er sich verlassen kann, sitzt auf einem Feldrain und
trinkt aus einem gewöhnlichen Krug frisches Wasser.
Herablassend winkt er den Kindern und spricht wie ein Vater
traulich zu ihnen. Sie sollen versuchen, über die Stoppeln zu
laufen. Sie tun es. Herzlich lacht Seine Majestät über der Kinder
Vergnügen und schenkt ihnen etwas als Lohn für ihre Mühe und
die Freude, die sie ihm bereitet haben.
Ist da nicht alles, was es gibt, wie im Qesamtkunstwerk
vereinigt? Der Kaiser sitzt mitten in seinem Volk, auf das er sich
verlassen kann, auf einem Feldrain, was rennt das Volk, das
Oberhaupt streift die Hemdärmel auf, von der Stirne heiß, der
Segen kommt in einem doppelten Sinne von oben, wie der Knecht
so der Herr, wie der Herr so der Knecht, nämlich unser Reichs-
kanzler, siehst du da nicht, wahrhaftig er ist's, die Welt ist verkehrt,
die Genitive sind vorangestellt, es ist der Kinder Vergnügen, des
Reiches Oberhaupt legt Hand an, und so haben wir wieder das
schöne Bild — aber selbst Ganghofer hätte den Text nicht zustande-
gebracht: >Auf dem mit goldenen Getreidegarben besäten
durchfurchten Boden unseres lieben Vaterlandes erheitert das
durch die Sorgen der Kriegsjahre tief durchfurch tete Antlitz
Seiner Majestät munteres Lächeln«. Man beachte die unwillkürliche
Steigerung von »durchfurcht« und den Vorgang, wie auf dem
Boden, der mit Garben besät ist, munteres Lächeln das Antlitz
erheitert. Nie ist ein deutscherer Satz geglückt. Wie ein durch
alle Gefahren heimgeführtes Unterseehandelsboot mutet er an. Ein
Londoner Film muß vor Neid zerspringen. Eine Lauterberger
Weltanschauungswoche kann etwas zulernen.
— 30 —
Der soziale Standpunkt vor Tieren
Die sozialdemokratische Presse findet ihr tragisches Durch-
kommen zwischen jener größeren Organisation, die das Menschen-
tum tief unterhalb allen freiheitlichen Bestandes, also aller
politischen Daseinsberechtigung verschüttet hat, und jenem allein
bewahrten Rest von Menschlichkeit, der sie auf die Pflicht der
Zeugenschaft nicht verzichten lassen will. Diesem Widerspruch, zu
bestehen, wo sie nicht mehr bestehen kann, wird sie durch ein
Nebeneinander von Strategie und Dokumentensammlung gerecht,
so daß vorn entweder die Zufriedenheit der Kölnischen Zeitung
oder gar, wenn's die Leistungen eines Unterseebotes gilt, die
Einbildungskraft der Neuen Freien Presse erreicht wird, und gleich
daneben Tatsachen hinausgestellt werden, deren himmelschreiender
Inhalt von jener Sphäre bezogen ist, deren Ereignisse eben noch
aus einer denkbar unrevolutionären, sachlich beruhigten oder
weltzufriedenen Gemütslage gewürdigt wurden. Ob nicht ein
besserer Ausgleich zwischen dem Zustand der Welt und dem
durch ihn erledigten Standpunkt der Entschluß gewesen wäre,
sich auf eine Sammlung von Tatsachen zu beschränken und auf
jede Meinung zu verzichten, die vorweg im Verdacht ist, eine
erlaubte Meinung, eine mit dem größten Exzeß der Gesellschafts-
ordnung zufriedene zu sein, bleibe unerörtert. Jedenfalls ist die
gewissenhafte Aufreihung jener Fakten, die der Menschheit den
Krieg als ein abschreckendes Beispiel vorführen sollen, der einzige Fall
von publizistischer Sauberkeit, den die schmutzigste Epoche auf-
zuweisen hat, anerkannt auch von deren einsichtigeren Akteuren
als ein Beweis, daß die weltflüchtige Menschenwürde sich immer-
hin in zwei bis drei Wiener Zeitungsspalten niederlassen darf;
als eine Ausnahme von jener furchtbaren Regel, nach der diese
schwerverwundete Menschheit sich noch eine Blutvergiftung durch
Druckerschwärze zuziehen mußte. Und auch diesem Unglück
sucht die heilsame Arbeit der sozialdemokratischen Chronik
nach Kräften entgegenzuwirken, aus der ehrlichen Erkenntnis, daß
die bürgerliche Journalistik die niedrigste Gattung unter jenen
Lebewesen vorstellt, die der Krieg übriggelassen hat. Umso
betrüblicher erscheint die daneben beobachtete Neigung, den
eigentlichen Tieren gegenüber auf einem vorrevolutionären Stand-
31
punkt zu beharren, ihnen nicht nur die von Schopenhauer zu-
erkannten Rechte, sondern sogar das Erbarmen zu versagen, das
der Gerechte aufzubringen hat — ja geradezu dort, wo der
Sammler von Menschengreueln auf werktätige Sympathie für Tiere
stößt, solche Regungen als Kontraste zum Welttreiben höhnisch
abzutun. Er hat nicht genug ironische Punkte und
Gedankenstriche, einen englischen Aufruf »zu Gunsten . . . unserer
stummen Freunde«, nämlich der Pferde, zu verspotten, der ihm
umso lächerlicher erscheint, als der Schutz auf die Pferde aller
kriegführenden Länder ausgedehnt werden soll. Aber ganz ab-
gesehen davon, daß dieser internationale Standpunkt eine Kostbarkeit
in einer Zeit ist, in der von den drei großen Internationalen nur
die journalistische sich ausleben konnte, und daß solcher Gedanke
sittlich hoch über der Kriegslyrik eines Richard Dehmel steht, der den
deutschen Pferden eine besondere Offensivkraft zugetraut hat — ist es
ein Denkfehler, hier bitter zu werden und einen frivolen Gegensatz zu
den in den Krieg oder in die Munitionsfabrik gestellten Menschen
zn behaupten. Der Unterschied ist ein ganz anderer, nämlich der,
daß die Menschen, so unschuldig jeder einzelne von ihnen an
seinem Schicksal sein mag, alle zusammen es verschuldet haben,
indem sie den Willen hatten, die Maschine zu erfinden, die ihnen
den Willen nahm, während doch den Pferden an einer technischen Ent-
wicklung, die ihre Sklaverei verschärft hat, keinerlei Anteil nachzu-
weisen wäre. Den Pferden ist nicht der Hunger versagt, wohl aber
eine Organisation, durch die sie es ihren Vorgesetzten wenigstens
kundmachen könnten, daß auch sie im Krieg mehr hungern als im
Frieden. So ganz verschlossen sollte sich das Sozialgewissen nicht
vor dem Umstand zeigen, daß in dieser Welt, die sich zu helfen
weiß, ein Surrogat für Futter auch mehr Peitschenhiebe sein können.
Man muß schon die Scheuklappen des Pferdes haben, um nicht
täglich auf der Wiener Straße zu sehen, wie sich die Bestialität
am Tier für die schlechten Zeiten schadlos hält. Es ist ferner auch
vollkommen blicklos, sich über eine deutsche Gräfin, die ihrem
magenkranken Hund Suppe gegeben hat und wegen Verfütterung
von Brotgetreide gerichtlich verurteilt wurde, über die Krankheit
des Hundes also und über dessen Pflege in Sperrdruck lustig
zu machen. Wenn wir uns selbst die Verfütterung von Getreide
lür einen bestimmten Hund als eine Grausamkeit gegen einen
— 32 —
unbestimmten Menschen konsequent zu Ende denken könnten, so
müssten wir uns doch wieder fragen, ob nicht die Gesamtheit
der unschuldigen Menschen, die durch solches Verhalten zu
Schaden kommt, mehr Schuld hat an der Misere als die
Gesamtheit der unschuldigen Tiere. Zwischen dem mir bekannten
Menschen und dem mir bekannten Hund kann ich, wenn's sein
muß, entscheiden, welches von beiden Individuen mir »näher steht«
— zwischen den beiden Gattungen bleibt mir im Anblick des
Benehmens der einen gar nicht die Wahl. Und wie erst, wenn
ich zwischen dem mir befreundeten Hund und der menschlichen
Gesamtheit zu wählen habe? Dies eine Tier, nicht jener Mensch,
dem ich die Nahrung verkürze, steht vor meinen Augen, leidet,
und ich mache gar kein Hehl aus dem Zynismus, mit dem ich, jeder
sozialpolitischen Phantasie ermangelnd, das Bequemere tue und meine
Nächstenliebe dem bedürftigen Nächsten zuwende. Eine weit bessere
Phantasie belehrt uns, daß die Menschlichkeit, die dem kranken Hund
hilft— und wäre es nur der eigene Hund — , mehr einer Menschheit
hilft als alle Organisation der Nächstenliebe, die doch zu schwach
war, jene des Nächstenhasses zu verhindern. SyJ^y^^^ 4^
/, . ■' I- .,," r und die deutsche Aristo-
kfatiit, von der die Qerichtssaalrubrik erzählt, hebt sich recht vor-
teilhaft von jenen Standesgenossinnen ab, die in der Theaterrubrik
erwähnt werden, weil sie an einer Vorstellung des >Hias« mit-
gewirkt haben. Wenn die deutsche Gräfin, die in der Zeit der
Not ihre Hunde nährt, verhöhnt wird, so müßte die deutsche
Artistin, die sich in der Zeit der Not von ihren Hunden nährt,
Anerkennung finden. Solche Konsequenz würde aber allzu grau-
sam dem Bestreben der Arbeiter-Zeitung, Spuren von Menschen-
würde im Schutt der großen Zeit zu entdecken und zu er-
halten, widersprechen. Wenn ich Notizen sehe, die den Titel
führen >Pferde und Menschen« oder »Die magenleidenden Hunde
der Gräfin«, so fände ich es schön, wenn darin beklagt würde, daß
die Pferde jetzt durch die Menschen ins Unglück gekommen sind
und daß magenleidende Hunde jetzt nichts zu essen haben. Denn
durch die Hilfe, die sie den Tieren entzieht, wird sich die Mensch-
heit nicht auf ihre Beine helfen und nicht von ihren Prothesen.
33
Glossen
Jaur^s erbarmt sich Großmanns
.... Da ging ein junger Kerl an uns vorbei, der trug ein
Ferkel. Es schrie jämmerlich, denn er hielt es an den Ohren. Ich,
Städter, drehte mich nur nervös nach dem Gequietsch um, Jaurös aber
ging auf den jungen Menschen zu und sagte ihm sachlich-ruhig: >Lieber
Freund, Sie haben noch nicht viele Schweine getragen? Man muß sie
da anfassen.« Er zeigte ihm sofort den richtigen Griff und das erlöste
Schwein hörte auf zu schreien.
.... Nachmittags fuhren wir in einem Wagen hinaus in die
Berge, Jauris, ich und ein Dritter. Von den Cevennen her wehte frische
Bergluft. Der Meister saß neben mir im Überzieher, m i t
aufgestelltem Kragen und zusammengepreßten
Lippen. Nach seiner langen Rede konnte er sich leicht verkühlen
und heiser werden und das durfte er jetzt auf keinen Fall. Es wurde
abendlich kühl. Ich hatte keinen Mantel mitgenommen. Da nahm er
die Decken und stopfte die stillschweigend
um mich, dann wieder stellte er mir den Kragen des
Anzuges auf, dann legte er seinen Arm hinter mich
und um mich, weil das wärmte. Das war nicht Liebenswürdigkeit,
geschweige denn Politik, sondern einfach nur das Bedürfnis, gut zu
sein. Ich kam mir wohlig geborgen vor, wie ein Sohn, der im
Arm des Vaters dahinfährt.
Das ist ja der Erlkönig!
Er sorgte für mich aus derselben natürlichen
Güte, die er für das schreiende Schwein übrig
hatte.... Stephan Großmann.
Da sieht man, der gütige Jaures hatte mehr übrig für die
Schweine, als Herr Qroßmann für die Hunde.
Der durchhaltende Ton
Es gibt in unserer Presse, besonders in jener, die wir alle
lieben, einen intelligenten Lebensmittelhumor, der noch in den Zeiten
geringer Zufuhr als Abführmittel wirkt und vor dem es der Sau
grausen würde, wenn eine da wäre. Ich kann die Schilderung vom
ersten Brotkartentag in Wien, die in jene Zeit fiel, in der mich
die- fortwirkende Schande noch stumm machte, vorläufig nicht
finden, aber ich verspreche, daß man es einmal nicht für möglich
halten wird. Welchen Tonfall ich meine und welcher nun schon
seit zwei Jahren durchhält, weiß man sofort, wenn ich die Be-
zeichnung »kulinarische Strategen« zitiere. Man würde sich gern
— 34
übergeben, wenn man etwas zum essen hätte; die harte Zeit
schützt den Schmock vor solcher Demonstration. Es ist derselbe,
der etwa im Frieden den Engländer »bädeckerbewaffnet« genannt
hätte. Mit einem Wort, es sind Dinge, die man in ihrer Unver-
änderlichkeit zu den Härten des veränderten Lebens auch noch
hinnehmen muß. Jede neue Verschärfung der Speisevorschriften,
die der Tag bringt, mobilisiert diese Tonart, hinter der ich eine
Individualität vermute, die manchmal den Mut hat, unter der
Spitzmarke >St— g« hervorzutreten. Wie doch ein einziger Mensch
eine Bevölkerung martern kann! Jetzt, da die eiserne Zeit auf uns
lastet und im Umkreis ' ein Deka Butter zum
Problem geworden ist, jetzt, da der Verkauf von Brot in
Gasthäusern verboten ist, zählt er alle Einschränkungen auf, die
den > Junggesellen«, der immer schon eine Zielscheibe des Humors
war, bisher betroffen haben. Nein, nicht betroffen, sondern »sehr
empfindlich in seinem Dasein am ,Tischlein deck dich' gestört«
haben. Früher »konnte der Hagestolz noch immer seinen Obers-
kaffee« und alles mögliche bekommen, aber jetzt? Nun, ein Trost
ist, daß es 1916 trotz Krieg und Einheiratsannoncen noch Hage-
stolze gibt. Mit einigem guten Willen wird der Hagestolz natürlich
durchhalten, das heißt, die Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen,
was wahrhaftig nicht viel verlangt ist, weil es jetzt sowieso das
einzige und letzte ist, was er in Kauf nehmen kann. Ist man
aber einmal bei dieser Erkenntnis angelangt, so ist man auf alles
gefaßt und empfänglichen Sinnes lauscht man den Äußerungen des
Besitzers des Cafe de l'Europe Herrn Ludwig Riedl.
Eine Lügennachricht
Verbot des Brotverkaufes in den Gasthäusern in Wien und ganz
Niederösterreich.
Was aber nicht ausschließt, daß, nicht etwa ein paar Wochen
vorher, sondern dicht unter der Meldung, als charakteristisch für die
Lügen der Entente-Presse bemerkt sein könnte, daß man dort be-
hauptet, bei uns sei der Brotverkauf in den Gasthäusern ver-
boten worden.
— 35
Ein Ammenmärchen
[Die Lflgenmeldungen in Amerika über die wirtschaftlichen Ver-
hä'tnJsse von Wien.] Eine Dame schreibt uns: Die Amme meines
jüngeren Kindes hat nach beendetem Dienstein meinem Hause in Wien
ihr Glück in der neuen Welt gesucht. Die Unterstützungen, die ihr seit
dem Verlassen meines Hauses von mir und meinen Angehörigen zuteil
geworden sind, hat sie nun in wahrhaft rührender Weise dadurch
quittiert, daß sie mir in einem vor wenigen Tagen aus Chicago ein-
gelaufenen Briefe zwei Dollar zukommen ließ, > damit ich mir was kaufen
könne«. Sie schrieb, sie habe in den amerikanischen Zeitungen gelesen,
daß wir großen Hunger leiden!
-.i:.k -..ji*'5 ^j^Sifi^ ^Ju "va- .<K/vv>f cüw'-s. iu
Ein Zwischenspiel
Die Neue Freie Presse meldet am 14. Oktober 1916:
[Brotverteilung im B u r g t h e a t e r.] Als dieser Tage
im Burglheater »Götz von Berlichingen« aufgeführt wurde, kam es zu
einem merkwürdigen kleinen Zwischenspiel. Im
dritten Akt — die Burg Götzens ist von den Kaiserlichen belagert —
erscheint die Frau Götz von Berlichingens auf der Szene mit einem
enormen Brotlaib am Arm, von dem sie bedächtig für ihre
Familie und den Troß Schnitte auf Schnitte herunterzuschneiden beginnt.
In diesem Moment bemächtigte sich des dichtgefüllten Hauses eine
eigenartige Aufregung. Ein Raunen und Wispern
ging durch das Publikum, und die Störung, die dadurch entstand, teilte
sich den Schauspielern mit, von denen einzelne ihr Lachen nicht ver-
bergen konnten, so daß durch einige Augenblicke das Spiel stockte.
Schließlich trat die notwendige Ruhe wieder ein und das Drama
konnte ungestört seinen Fortgang nehmen.
Es ist ja schon egal, ob solche merkwürdige kleine
Zwischenspiele und deren Publikation zur Lügenbildung in der
Entente - Presse beitragen. Wichtiger ist die Perspektive in
den Wandel der künstlerischen Zeiten. Die Kunst mag immer
nach Brot gegangen sein; nur dürfte der Unterschied zwischen
guten und schlechten Burgtheaterzeiten sich etwa so formulieren
lassen, daß zwar heute wie ehedem Massenanstellungen vor einer
Qötz-Aufführung stattfinden, aber ehedem wegen der Wolter, der
Hohenfels, wegen Baumeister, Hartmann und Robert, und heute, weil
die Frau Götz Brot verteilt, wobei die Zuschauer aber doch nur
zuschauen dürfen. In der Epoche der echten Ausstattungswunder
— 36
gehört ein enormer Brotlaib, von dem Herr Reimers als Göt^
keineswegs abzuleni<en vermag, sicherlich zu jenen Versa tzstückai,
denen das Publikum minutenlang applaudiert. Stundenlang stehen
jetzt die Leute vor dem Burgtheater. Nach der Vorstellung, daein
empfängliches Publikum ehedem den Darsteller des Franz Noor
geprügelt hat, warten viele auf die Darstellerin der Frau Götz
und suchen sie durch Artigkeiten für sich zu gewinnen. Genau
wie sie es mit den Kommis im Konsumverein machen, die ja auch
Blumen bekommen. Die Direktion weiß jetzt, daß sie nur Stücke,
in denen gegessen wird, aufführen darf. Da hängt dacn an der
Kassa wie vor dem Bäckerladen die Tafel »Ausverkauft«.
Man sucht jetzt im alten Repertoire nach einem Stück, in dem
Fleisch vorkommt, und will auf diese Art die Saison retten.
In einer sonst trostlosen »Lear«-Aufführung — bekanntlich hat
Wien im Drang der Zeit noch die Geistesgegenwart, dem öden
Wüllner nachzulaufen — wird von einer findigen Regie der Satz
des Narren: »Gib mir ein Ei, Gevatter!« durch Darbietung eines
Eies illustriert, was auch lebhafte Bewegung hervorruft. Ob eine
Butterkarte zum Bezug von Butter berechtigt, ist fraglich; als
Burgtheaterbillet sollte sie anerkannt werden. Rauchen war im
Theater schon immer verboten: wie müßte heute eine Zigarre
auf der Bühne zündend wirken ! Was immer sich dort
begeben mag — es wird ein Raunen und Wispern durch das
Publikum gehen. Aber schließlich ist es ja doch nur ein Theater,
und das Drama nimmt ungestört seinen Fortgang.
Na alstern!
»Eine angenehme Überraschung ist den Rauchern österreichischer
Virginierzigarren dadurch zuteil worden, daß der Hauptverlag der öster-
reichischen Tabakregie den Verkaufspreis für Virginier, der vor kurzem
.... hinaufgesetzt wurde erniedrigt hat. Diese Ermäßigung
ist auf die Bestimmung der Reichspreisstelle zurückzuführen, daß
Tabak und Zigarren zu Gegenständen des täglichen Bedarfes gehören
und daß nur ein ziffernmäßiger und nicht ein perzentualer Friedensnutzen
genommen werden darf.«
>Na alstern! Man kriegt Zigarren und sogar billiger !<
»Aber das wird doch aus München gemeldet! Hier kriegt man
sie um keinen Preis!« »Um keinen Preis? Wenn S' die Fahrt hin
37
und zurück zahlen?« »Jetzt kriegt man aber so schwer eine
ürenzübertrittsbewilligung !« »Wieso? Sic brauchen nur einen
triftigen Grund, Sagen S', daß Sie rauchen wollen.« >Wenn ich
in Deutschland rauchen will, so ist das doch kein Grund, um
mich hineinzulassen?« »Wann S' aber in Österreich rauchen
wollen! 's kost' nur den Zoll. Da müssen S' freilich Gold haben.«
>Das wäre das geringste. Aber in Deutschland ist jetzt Ausfuhr-
verbot für Zigarren.« »Das is fatal. Wissen S' was, da stecken S'
Ihna eine Virginier in Deutschland an und blasen S' den Rauch in
Österreich aus.« »Das würde ihnen aber in die Nase steigen.
Es ist jetzt ein Staat für Nichtraucher. Seitdem so viel Feuer
gegeben wird, darf man nicht mehr rauchen.« »Ja, jetzt is — «
> Krieg!« »Na alstern!«
Eine jetzt erst recht unverständliche Wiener Redensart
»Harn S' scho g'hört? Im Gasthaus kriegt ma kein Brot
mehr! Wo kriegt man denn nacher ein Brot?« »Wo man ein
Brot kriegt? No, beim Backen!« »Ja, beim Backen!«
Entrevue (Zusammenkunft)
Eine Anregung
[Keine Beglückwünschungen anläßlich von Auszeichnungen.]
Von geschätzter Seite werden wir um Veröffentlichung nachstehender
Zuschrift ersucht: Anläßlich der Auszeichnungen, deren Verleihung
jetzt amtlich mitgeteilt wird, erscheint es wünschenswert, darauf
aufmerksam zu machen, daß mit Rücksicht auf die durch den Krieg
bewirkte besondere Inanspruchnahme aller Arbeitskräfte von der
sonst üblichen Beglückwünschung der Ausgezeichneten abzusehen wäre
— 38 -
W«nn noch in weiterer Verfolgung des praktischen
Gedankens von den Auszeichnungen selbst, von den Zuschriften,
von den geschätzten Seiten und von allem andern abgesehen wird,
auf das wir trotz dem Millionensterben hinsehen müssen, so
hätten ja die Arbeitskräfte gute Zeiten. Aber der Anreger wird,
wenn ihm die Einstellung der Gratulationen geglückt ist, kaum
darauf verzichten wollen, daß sie ihm zukommen. Was in der
Zeit der großen Offensiven von selbst und ohne Zureden aufzuhören
hätte, ist die Vordringlichkeit. Aber darauf ist, solange ihr der
Nährboden der Druckerschwärze bleibt, solange also von der
Presse nicht abgesehen wird, keineswegs zu hoffen. Die Arbeits-
kräfte, die an diesem Grundübel wirken, der Munitionserzeugung
zuzuführen, wenn man ihnen schon das Opfer nicht zumuten darf,
zu ihr in eine passive Verbindung zu treten, wäre ein wahrer
Segen. Denn man würde plötzlich erkennen, daß, wenn die
Angestellten der Presse Munition erzeugen helfen, diese sich
plötzlich vermindert, weil das Schreiben sie vermehren geholfen
hat, weil eben die Erfindung des Schießpulvers in progressivem
Verhältnis zu den Erfindungen der Buchdruckerkunst steht.
* *
*
Aus der Epoche der Anregungen
[Die Anregung einer Wienerin.] Wir erhallen folgende
Zuschrift : Geehrte Redaktion ! DerAnregung einer Wienerin
in Ihrem Morgenblatte vom 2. d. zur Selbstbeschränkung im Haushalte
stimme ich mit vollem Herzen bei.
Vermutlich auch mit vollem Magen.
Der Vorschlag, durch Freigabe der weiblichen Bediensteten in
Haushaltungen Kämpfer für das Heer zu bekommen und
überdies noch Mittel für patriotische Spenden zu gewinnen, wird —
wie ich hoffe — Nachahmung finden.
Gutes Beispiel heißt jenes, womit man vorangeht.
Auch werden wohl alle Frauen und Mädchen die in Kriegszeiten
innegehabten Stellen um so lieber den heimkehrenden
Helden wieder überlassen, als sie ihnen für die
Beschützung des Vaterlandes und des heimischen Herdes
zu größtem Dank verpflichtet sind.
Wacker.
Sie finden den schönsten Lohn in dem erhebenden Gefühl, im
Hinterlande auch ihr Teil am errungenen Erfolge beigetragen zu haben.
Zuerst müssen natürlich jene berücksichtigt werden,
— 39 —
die für das Vaterland Gesundheit und Leben einsetzten, und
erst, wenn diese nicht ausreichen, ist auf jene weiblichen
Kräfte zu greifen, die durch den Verlust ihrer Ernährer am
tiefsten geschädigt wurden.
Out ist, wenig Seife brauchen.
Besser noch ist, gar nicht rauchen;
Aber weite Kleider tragen.
Öfter gar mit vielen Kragen,
Hohe Lederschuh' am Bein,
Das muß wahrlich auch nicht seini
Statt darauf das Geld zu wenden,
Soll dem Vaterland man's spenden.
Ein Wiener.
Das meiste, was jetzt erscheint, ist ein Vordruck aus der
Fackel, den ich leider nicht verhindern kann.
Meine Anregung
Ein Wahrwort
Gern erinnere ich mich jetzt öfter des Ausspruchs, den
gleich bei Eröffnung der großen Zeit, damals als sich noch die
Menschheit damisch darauf freute, sterben zu müssen, aber nicht
ahnte, daß sie auch kein Rindfleisch bekommen werde, ein welt-
kluger und wegen seines gutmütigen Dialekts beliebter Chef-
redakteur getan hat, als es seinen Plauderer mächtig trieb, den
Kriegspfad zu betreten, freiwillig, ehe noch ein eigenes Pressequartier
vorhanden war. Er wollte solchen »ausgefallenen Ideen< nicht
leicht nachgeben, weil er mit Recht fand, daß es daheim wärmer
sei, willigte nur ungern in die Anschaffung eines »Schlafsackes«,
der schon während des Balkankriegs viel ventiliert worden war und
dessen definitive Bereitschaft für Österreich damals den Ernstfall
bedeutet hätte. Später aber, als es wirklich ernst wurde, wußte man
in journalistischen und andern beteiligten Kreisen noch nicht, was
der Krieg sei, wiewohl die Versicherung »c'est la guerre^ die Devise
— 40 —
des Tages war, und der Plauderer, einer, der seinen Humor am edelen
Weidwerk, dem sogenannten Gejaide, gestählt hatte, machte Miene,
alle Entbehrungen für das Blatt stracks auf sich zu nehmen. Der Chef-
redakteur schüttelte baß den Kopf und meinte im übrigen, es werde
schon nicht so arg sein. Als ihm endlich der Liebling versicherte,
daß ihm die Ernährungsfrage in Feindesland schier ernstliche Sorgen
mache, meinte der gutmütige Brotgeber, der zwar von internationalen
Pressekongressen das gediegenste Essen gewohnt war, aber doch
wußte, daß man unter Umständen auch Opfer bringen muß, den
Kopf heftig schüttelnd: »Ach was, nehmen Sie sich einen Sack
Kartoffeln mit, frische Butter bekommt man überall!« Wenn ich
dieses Worts gedenke, verspüre ich die Lust, Kriegsberichterstatter
zu werden. Hei !
Einer der Ärgsten
Der Herr Emil Ludwig, eine Geißel des Balkans, schreibt:
Lautlos floß der alte Kahn, auch hier ein Einbaum, über die
See-Ecke, um uns die letzte Stunde im Sattel zu ersparen.
Armer Kahn, beneidenswertes Pferd! Von den >letzten
Österreichern und Deutschen« in Monastir meint er:
... sie lebten zitte rnder oder in dunklerer Todesstimmung
als selbst die letzten in Saloniki; denn dort gab ihnen der Gedanke
und der Anblick ihrer Konsulate und ihrer Fahnen . .
einen moralischen Rückhalt.
Dieser Ludwig, fürchte ich, wird uns das Durchhalten
zur Pein machen.
Der Allerärgste
- 41 —
42
Geza Herczeg.
Es versteht sich von selbst, daß der ungarische Schriftsteller
Franz Herczeg weder identisch noch verwandt ist.
Er garantiert
. . . Die Russen pausieren in den letzten Tagen. Südöstlich Brzezany
liaben iiinen unsere Truppen gestern neuerlich ein Grabenstück weg-
genommen. Sonst herrscht an der russischen Front Ruhe. Geyer.
Beginnende Einsicht in Rußland
Militärfreie Redakteure. Der Zar hat durch einen
Erlaß bestimmt, daß die Mitglieder der Zeitungsredaktionen vom Militär-
dienste befreit sein sollen, denn ihre Tätigkeit sei für die Organisierung
des ganzen Landes zur kräftigen Fortführung des Krieges von großer
nationaler Bedeutung.
Die Rückständigkeit der russischen Kultur zeigt sich in der
Notwendigkeit, solche Dinge erst durch einen Erlaß zu regeln.
Bei uns wird diese Truppe längst als Aufklärer im Hinterland
verwendet.
Man muß sich rein für England schämen
In London werden Menschenjagden veranstaltet. Soldaten mit
aufgepflanzten Bajonetten empfangen die harmlosen Reisenden in den
Bahnhofshallen, und wer das Aussehen eines Militärdienstpflichtigen hat,
wird verhaftet, in einen abgesondertenRaum geführt und
muß beweisen, daß er kein Betrüger ist und sich nicht seinem Dienste
in der Armee entzogen hat. Bei den öffentlichen Unterhaltungen, bei den
großen Fußballspielen und in den Theatern, überall finden diese schauer-
lichen Szenen statt, die jedem Engländer, der 'noch eine Spur
von dem alten Sinne für persönliche Freiheit besitzt, die Schamröte ins
Gesicht treiben müssen.
-- 43
Kurz, während sein Land früher ein gemütlicher Grill-room
war, sieht er es jetzt in einen Rost-Raum verwandelt. Da mag er
wohl sinnend der alten Zeit gedenken und neidig wie er ist zu uns her-
überschauen und ausrufen: »Goddam, Vater Radetzky schau oba, dieses
Österreich hat es gut, es ist der letzte Hort der europäischen Freiheit
sozusagen, long, longago, daß dort eine Patrouille einen angeredet
hat, und geschieht es alle heiligen Zeiten einmal, so fragen s' einen
höflich : Pardon, will der Herr vielleicht unter die Soldaten,
so muß er haben ein Gewehr, worauf der Österreicher erwidert:
Bedaure, kann nicht mehr dienen. Ja fürwahr, das ist ein freies
Volk! Dienen oder nicht dienen, das ist dort die Frage, dient er,
is gut, dient er nicht, auch gut. Dort ham s' dafür auch lauter Frei-
willige, während wir — durch die Bank — zuerst Söldner waren, und
jetztn san ma die reinen Sklaven - Yorick nebbich !< Wenn aber dann
der alte Engländer merken wird, daß er bei uns auf gar keine
Gegenliebe stößt, indem Old England nunmehr schlankweg
>Horditz« heißt und daß es da gar keine Rücksicht gibt, während
das Cafe Westminster al» Cafe Westmünster noch durchrutscht,
dann, ja dann mag er endlich erkennen: That is the truc beginning
of our end! =,= *
Die Lage in Frankreich
« «
So leben wir alle Tage
* *
Auch so leben wir alle Tag«
44
In einem und demselben schlechten Atem
wird um 6 Uhr Abend (Sommerzeit schon 5) das Folgende gesagt:
»Mangel an Humanität und Ritterlichkeit lassen wir uns von
unseren Gegnern nicht vorwerfen . . . .«
»Er ist für sein Land zu Lebzeiten nicht billig ge-
wesen . ... Er war gewohnt, ein anständiges Salair zu beziehen ....
Und nun, da K. o f K. nicht mehr unter den Lebenden,
sondern auf dem Grund des Meeres weilt, ist er seiner
Nation noch immer der teure Mann, der er ihr stets gewesen.
Da K. o f K. nämlich noch immer nicht aufgefunden ist und da man
es — keineswegs aus Pietät — zu wünschen scheint, daß
dies doch, und zwar möglichst bald geschehe, so haben die englischen
Behörden die ausgesetzte Belohnung auf Auffindung seiner sterblichen
Reste ansehnlich erhöht. Die Summe beträgt heute schon 280.000 Mark,
Auch in Entente-Kreisen nimmt dies Wunder und man fragt sich nach
der Ursache dieser Maßnahme. Italienische Blätter mutmaßen, daß dies
aus dem Grunde geschehe, weil Kitchener wahrscheinlich wichtige
Dokumente bei sich hatte, von denen man nicht gern möchte, daß sie
in die Hände der Deutschen fielen. Und so etwas lassen die
Gentlemen sich eben 28 0.0 00 Mark kosten . . .«
Womit freilich sogar ein lebendiger Wiener Sauschmock stark
überzahlt wäre.
Im Dschungel
Der »Schriftsteller Kipling«, jetzt auch »Herr Rudyard Kipling«
genannt, ist an die italienische Front abgegangen, worüber einem,
dem es just nicht passierte, das Herz wie folgt entzweibricht:
Der Schriftsteller, der in seinen Dschungelbüchern die zarteste
und originellste Psychologie zu treiben wußte, dessen poetische Liebe
die Tiere des Waldes mit seltener Anmut umfaßte, hat keinen Moment
gezögert, jeden Deutschen für eine Bestie zu erklären, die erschlagen
werden müsse, solle der Welt der Frieden wiedergegeben werden. Hier
stimmt etwas nicht.
Natürlich nicht. Aber welche Gefahr hat die Anwesenheit
des Herrn Kipling, der sich noch dazu vom Conan Doyle vertreten
läßt, an der Front? Jener, in einem Organ des Auswärtigen
Amtes, gibt Aufschluß:
Er wird zwischen Deutschen, Österreichern oder Ungarn derzeit
wohl keinen großen Unterschied machen, und man darf ,
darauf gefaßt sein, daß sich die Zahl der »österreichischen Greuel«
in den nächsten Tagen in den Londoner Blättern sehr vermehren wird.
Ja, soll denn zwischen Deutschen, Österreichern und Ungarn
ein Unterschied gemacht werden?
— 45 —
Die kalte Schulter
Einem reichsdeutschen Fachorgan entnimmt die , Arbeiter-
Zeitung' die folgende Erzählung:
Ein deutscher Zeitungsverlag hatte auf der Kriegsausstellung
in Wien die von ihm herausgegebenen, für das Ausland bestimmten
Aufklärungsschriften zur Schau gebracht. Im Zusammenhang hiemit er-
hielt er folgendes Schreiben:
,Die Zeit' Wien, 14. Juli 1916.
Wiener Tageszeitung.
Herausgeber :
Professor Dr. J. Singer,
Dr. Heinrich Kanner.
Euer Wohlgeboren!
Wir beabsichtigen demnächst, in die Gruppe 22 der Kriegsaus-
stellung jemanden zu entsenden, um die daselbst zur Schau
gestellte Kriegsliteratur in Augenschein zu nehmen.
Über den Rundgang durch die oben erwähnte Gruppe, in
welcher Sie ebenfalls als Aussteller figurieren, wollen wir sodann in
einer eigenen Abhandlung in unserem Blatte referieren. Zu diesem
Zwecke würden wir ersuchen, uns gefälligst bekanntzugeben, ob Sie sich
mit Ihrem Ausstellungsobjekt an dieser Berichterstattung,
welche zugleich nicht nur Information für das Publikum, sondern
gleichzeit ig eine wertvolle geschäftliche Propaganda für Ihr Unter-
nehmen darstellen würde, zu beteiligen wünschen. In diesem
Falle bitten wir, uns gefälligst mit wenigen Schlagwörtern jene Daten
bekanntzugeben, auf deren Betonung Sie besonderen Wert legen, um
auch diese, insofern sie für den Rahmen unseres Referats
geeignet erscheinen, in die Berichterstattung mitaufzunehmen.
Der Kostenpunkt dieser Propaganda würde sich für die Druck-
zeile auf vier Mark stellen und bitten wir Sie, uns dann gefälligst
bekanntzugeben, auf welchen Umfang Sie ungefähr reflektieren
werden.
Hochachtungsvoll
Direktion der Wiener Tageszeitung
,Die Zeit'
Der Verlag antwortete, daß er für das An-
erbieten kein Verständnis habe, da es in reichs-
deutschen Zeitungen nicht üblich sei, redaktionelle
Artikel bezahlen zu lassen. In ganz ähnlicher Weise ist
das .Neue Wiener Journal' vorgegangen, nur fordert diese
Zeltung für die Zeile des Reklameartikels sieben Kronen, in Sonntags-
' nummern acht Kronen.
Ein derartiges Gebaren ist so verwerflich,
daß wir kein Wort darüber zu verlieren brauchen. . . ,
— 4G —
Daß von der Größe der Zeit auch die nach ihr benannte
Zeitung profitieren will, ist begreiflich. Aber einer der beiden
Herausgeber dieses als Schmutzkonkurrenz der Korruption gegrün-
deten Blattes ist ein Wiener Universitätsprofessor, Da er, sobald
er etwas in Augenschein nimmt, zugleich vier Mark pro Zeile
nimmt, so fragt es sich, ob die Fakultät, der er angehört,
vielleicht auf dem sittlichen Niveau der Concordia angelangt ist. Wenn
solche Dinge, anstatt in der Kriegsausstellung, hinter ihr Platz
haben, so dürfte die Ernennung von Feldherrn zu Doktoren
honoraris causa nicht mehr lange auf sich warten lassen. Wirklich und
wahrhaftig, ein Professor figuriert in der Firma, die diese Offerte
gemacht hat. Ich würde glauben, daß die Ehre einer Bevölkerung,
die solches hinnimmt, nachdem sie von bundesgenossen-
schaftlicher Seite darauf aufmerksam gemacht wurde, keine Druck-
zeile der ,Zeit' wert ist! * «
*
Gegen Säumige
[Zeitungslesen im Kriege eine Pflicht] Aus Brunn wird uns
berichtet: Der Brünner Stadtrat wendet sich mit einer Kundmachung,
in der erneut auf die Wichtigkeit hingewiesen wird, die der gewissen-
haften Lektüre der Zeitung zukommt, an die Bevölkerung. In der Kund-
machung heißt es: »Die Verlautbarung durch Zeitungen ist gegenwärtig
das empfehlenswerteste Mittel der öffentlichen Kundmachung. Leider aber
wird auch den amtlichen Veröffentlichungen in der Presse viel zu wenig
Wert beigemessen. Trotzdem die Herausgeber der Tagesblätter ohne
Unterschied der Partei und Nation den Behörden gegenüber das größte
Entgegenkommen an den Tag legen und deren Verlautbarungen bereit-
willigst auch wiederholt in ihr Blatt aufnehmen, wird doch keine Wirkung
erzielt. Diese Teilnahmslosigkeit der Bevölkerung zwingt die Behörden
zu schärferen Maßnahmen. Es wird in Hinkunft gegen Säumige
mit der vollsten Strenge des Gesetzes vorgegangen werden und, da der
gute Wille nicht auf andere Weise zu erzielen ist, wird das abschreckende
Beispiel wirken müssen. Die landläufige Entschuldigung:
>W i r lesen keine Zeitungen« — wird nicht mehr als
solche angenommen werden. Jedermann ist eben heute verpflichtet,
die öffentlichen Verordnungen der Behörden in der Presse zu lesen,
und den so kundgemachten Verordnungen zu entsprechen.« Diese
Kundmachung des Brünner Stadtrates dürfte eine Folge der
Mißachtung sein, mit der die amtliche Aufforderung zur
Anmeldung der diesjährigen Ernteerträge beantwortet wurde.
Nein, sie ist nur eine Folge der Hochachtung. Qegen rück-
ständige Abonnenten wird vorgegangen. Wer nicht abonnieren will,
muß fühlen.
— 47 —
Was es alles gibt
Das Wolff-Bürrro, dessen Zeitgenosse zu sein micii vor dem
Einschlafen hinwirft und vor dem Aufstehen lähmt, versendet auch
Theaterkritiken, freilich nur wenn es sich um Bombenerfolge
handelt. So sonderbar die Möglichkeit ist, daß sich unter solchen
Schreibfäusten Goethes »Egmont« befinde, versendet das Wolff-
Bürrro eine Kritik der Aufführung am Berliner Hoftheater,
eine halbamtliche Darstellung, die — anno 1916! — etwas
von > pietätvoller Treue gegen Geist und Wort des Dichters*
enthält, offenbar aber nur, weil der Egmont-Korrespondent der
Meinung war, daß ein älteres Werk Qanghofers gespielt wurde.
Die ,Vossische Zeitung' nun, auch ein Unternehmen, dem man sein
Alter gar nicht ansehen würde, hat zu fragen gewagt, ob sie sich
einer Störung des Burgfriedens aussetze, wenn sie sich diesmal
nicht in voller Übereinstimmung mit dem Wolff-Bürrro befinde.
Die Antwort ist noch unbekannt, man kann sich aber darauf
verlassen, daß die Angriffe der feindlichen Kritik" inzwischen
mühelos abgewiesen wurden.
* *
«
Der Unerschöpfliche
Das Massenprinzip des modernen Krieges, das auch im
modernen Hinterland zur Geltung kommt, wird durch die Häufig-
keit und Unerschöpflichkeit des Hugo Heller anschaulich gemacht.
Kürzlich hat in sämtlichen Rubriken unseres Lieblingsblattes, dessen
Setzern vor ihrer Unentbehrlichkeit bange werden mag, ein so sinn-
loser Verbrauch, eine solghe Vergeudung von Hugo Heller geherrscht,
daß der erschöpfte einfache Mann, der die Theaterrubrik zu be-
dienen hatte, es war ihm eben schon alles egal, schließlich auch
noch zu einem Gottfried Heller-Abend eingeladen hat. So kann's
nicht lange mehr weiter gehen. Einmal muß doch der letzte Heller
ausgegeben sein! , •
»
Shaw ist sechzig, Trebitsch gratuliert
Heute bist du also sechzig Jahre alt geworden, Bernard Shaw ;
und mir ist leider Jeder trauliche Weg versperrt, dies dir gegenüber
anzumerken, ich muß es vor aller Welt tun oder sein lassen.
Das sind die Nachteile der Kriegführung. Aber warum im
Zweifclsfalle es nicht sein lassen?
48 —
Am 1 . August 1914, als das gigantische Unheil schon im Zuge war,
im Zuge aus Ostende nach der Heimat
erhielt ich das letzte große Freundschaftszeichen aus Fremdland:
deine Büste von Meister Rodin, die du mir mit gütigen Worten gestiftet
hast. Nun stehe ich vor diesem ewigen Werk und blicke in deine Züge:
Ja, so siehst du aus und so bist du. . . . Versteher, aber auch zugleich
Verkenner des Wunderreiches Deutschland, das deine geistige Heimat
ist und bleibt, du Fortinbras aus Dublin, protestierender
Protestant. Du bist kühn für uns eingetreten, da du uns
kanntest, und du hast mit dem belauernden, weithinklingenden Worte
allzuschnell auch gegen uns gesprochen .... Du gabst uns dein Werk
und das geben wir nicht mehr heraus. Es hat uns
reicher gemacht. Du bist ein Freund. Ich grüße dich und deine Jugend,
und hoffe dich wiederzusehen ; denn schon dämmert im
Osten der Tag.
Wer sagt das? Mit der Dämmerung haperts. Aber das
Qeburtstagsversprechen, das Werk des Herrn Shaw nicht mehr
herauszugeben, könnte gehalten werden.
Etsch I
[Papiermangel in Frankreich.] Aus Amsterdam wird gemel-
det : Nach einem hiesigen Blatte melden die , Times' aus Paris :
Die französischen Blätter beschlossen, Papier zu sparen. Sie werden
an zwei Tagen der Woche nur mit zwei Seiten Text erscheinen, an den
übrigen Tagen wie gewöhnlich.
Der Fall
Wien, 23. September. (Unfall eines Passanten.) Die Hausbesor-
gerin Anna Pauer war beim Bezirksgericht Josefstadt angeklagt, am 13.
Februar d. J. trotz herrschenden Glatteises vor dem Hause Operngasse 2
das Pflaster nicht bestreut zu haben, so daß der Kommerzialrat Eugen Marx
stürzte und sich eine schwere Verletzung zuzog. Herr Marx war gegen
Mittag von Hütteldorf in die Stadt gekommen. Er hatte eben die Straßen-
bahn verlassen und wollte durch die Operngasse in die Singerstraße
gehen. Beim Hause Operngasse 2 rutschte er infolge des Glatteises aus
und zog sich —
Nur eine vielleicht unbescheidene Frage, die aber von der
Sorge diktiert ist, daß bei dem herrschenden Mangel an Papier
und mit Rücksicht auf die durch den Krieg bewirkte besondere
Inanspruchnahme aller Arbeitskräfte wie auch wegen der vielfachen
Ablenkung des Interesses auf jene, die seit dem 1. August 1914
49 —
nicht mehr Gelegenheit haben, vor dem Hause Operngasse 2 zu
fallen, tunlichst das Wissenswerteste in knappster Form mitgeteilt
werden möge — nur die vielleicht unbescheidene Frage: Ist zur
Beurteilung des Falles, nämlich sowohl des Falles des Kommerzial-
rates Eugen Marx vor dem Hause Operngasse 2, also des Unfalles
wie des juristischen Falles, nämlich, ob die Hausbesorgerin Anna
Pauer fahrlässig gehandelt hat, das Moment relevant oder gar
unentbehrlich, daß der Kommerzialrat Eugen Marx, ehe er vor
dem Hause Operngasse 2 zu Falle kam, gegen Mittag von
Hütteldorf, just von Hütteldorf in die Stadt gekommen war,
eben die Straßenbahn verlassen hatte und durch die Opern-
gasse in die Singerstraße, gerade in die Singerstraße gehen
wollte? Sollte es nicht der Fall sein, nämlich der Fall, daß
es zur Beurteilung des Falles und des Unfalles relevant oder gar
unentbehrlich ist, so würde ich mir mit Rücksicht darauf,
daß jetzt Krieg ist, j^ ^«\«i^k««U« :4jtji. ^v«- ^-^ -
Anregung erlauben, daß das uns allen teure Pflaster von Wien, schon
um der Einheitlichkeit willen, in künstliches Glatteis verwandelt werde,
damit jene, deren Beruf es ist, die Gehirne mit interessanten Tat-
sachen zu füttern, und jene, die das gern haben, wenn schon
nichts anderes vom Krieg, wenigstens die Leidensgeschichte des
Kommerzialrats Eugen. Marx mit allen Details erleben, ohne
daß es aber, wegen Verhinderung der Berichterstatter in die
Zeitung kommt — o meine Bürger, welch ein Fall war' das, da
fielet ihr und ich, wir alle fielen und über uns frohlockte blut'ge
Tücke !
Et hoc meminisse juvabit
— Der General-Gendarmerieinspektor G. d. I. Tisljar v. Lentulis
besuchte Sonntag mit Frau und Tochter das Atelier des Malers
Tom V. Dreger.
50 —
Ein Gewinn
Der steirische Dichter Ottokar Kernstock wird mit Ende dieses
Monats nach Wien übersiedeln.
Ein Verlust
[Ein Autographenalbum,] das Widmungen, Kompositionen und
poetische Beiträge zahlreicher Mitglieder des Wiener Männergesang-
vereines enthält, ist im Monat Juli dieses Jahres einem unrichtigen
Boten übergeben worden und seither unauffindbar ....
Ein Symptom der Entspannung
[Kunstwanderungen.] Dr. Ludwig W. Abels wird in diesem Winter
nach zweijähriger Pause wieder seine Vorträge und Kunstwanderungen
aufnehmen.
Ein Plan
[Das belgische Problem.] Donnerstag den 28. d. will Professor
Dr. Friedrich Hirth in einem Vortrage, der in der > Urania« stattfindet,
zeigen, daß die bisherige Stellung und Gestaltung Belgiens den Frieden
Europas immer aufs schärfste bedrohte und hier seit Jahrhunderten der
Keim für blutige Verwicklungen gelegt war und nur die dauernde Be-
freiung Belgiens von französischer und englischer Abhängigkeit, in der
dieser Pufferstaat immer stand, Europa den längst ersehnten Frieden
bringen könne.
Der Ausweg
Berlin, 14. September. (,Voss. Ztg.') Die Offiziere des vierten
griechischen Korps, das sich — wie berichtet — unter deutschen
Schutz begeben hat, werden von ihren Familien begleitet werden. Die
Offiziere wollen dadurch verhüten, daß ihre Frauen und Kinder, dank
der Entente, verhungern.
* »
*
Krieg ist Krieg
Baron Burian sagte ferner: .... Rumänien hätte gern die Zeit
abgewartet, wo unsere Feinde uns ganz niederbrachen,
um sich dann ohne Gefahr auf die Beute zu stürzen.
Ein Transitivum, das wohl durch die Translation aus dem
Transleithanischen entstanden ist. Ach, die Sprache ist immer die
Beute, auf die sich der Feind ohne Gefahr stürzt.
51
Nur keine Fremdwörter!
. . . Trotzdem hat der hohe bulgarische Offizier seine
Tätigkeit in der Alctivität beim Eintritt Bulgariens in den
Weltkrieg sofort aufgenommen.
Ich bitte pardon um Verzeihung: seine Tätigkeit in der
Tätiglceit !
Derzeit
Budapest, 7. August.
Emmerich Ivanka, gegen den gegenwärtig in Preßburg ein Militär-
lieferungsprozeß im Zuge ist, hat den Entschluß gefaßt, auf sein Ab-
geordnetenmandat zu verzichten. Ivanka ist derzeit mit der Abfassung
seines Resignationsschreibens beschäftigt.
Hoffentlich war es fertig, ehe die Depesche eingetroffen ist.
Von Ihnen, von mir, bisher und bishin
»Geehrte Redaktion!
Die von Ihnen für die von mir geleitete Zen-
tralstelle der Fürsorge für K r i e g s f 1 ü c h t 1 i n g e
eingeleitete Sammlung hat gestern ein Ergebnis von mehr
als einer halben Million Kronen ausgewiesen.
Ich benütze diesen Anlaß, um Ihnen für die den von
mir geleiteten Flüchtlingsfürsorge-Institutionen
in entgegenkommenderweise geleistete wertvolle
journalistische Unterstützung den herzlichsten und auf-
richtigsten Dank zu sagen.
An meinen Dank knüpfe ich gleichzeitig die ergebene Bitte,
mir diese Unterstützung auch weiterhin gütigst angedeihen zu
lassen. — -
— — daher der angenehmen Hoffnung h i n, daß die große
Öffentlichkeit wie bisher auch weiterhin in ihrer während dieses
Krieges so oft bewährten — — mit Ihrer gütigen Mithilfe der Zentral-
stelle die Möglichkeit gewähren wird, den bisher geübten Brauch
fortsetzen zu können. ■ — — *
Das unterschreibt ein Gemeinderat, heißt Doktor gar und
wundert sich dann noch, daß es Flüchth'nge gibt.
— 52 —
Ein Reiseabenteuer
Ich hatte, weit weg von dieser Region, im Ausland, einen
Monat an nichts derlei gedacht. Da fällt mir irgendwo auf einem
Bahnhof ein Morgenblatt — o Heimat! — in die Hand un8 mein
Blick auf die Stelle:
Wie alljährlich, so auch heuer — — Oberrabbiner Schnur hielt
eine — —
Man kann sich vorstellen — nein, ich verrate nichts über
meine Aufregung. Im Leitartikel stand, man kann sich vorstellen.
In jenem Morgenblatt, immer, wie alltäglich so auch heute.
Also kann man sich vorstellen.
Thau aus Stanislau, derzeit Vöslau
[>Der Weltkrieg in der Prophetie Daniels.«] Der
Kaufmann Paisach Thau aus Stanislau, derzeit Vöslau-Gainfarn,
hat eine Abhandlung »Der Weltkrieg in der Prophetie Daniels« an die
Kabinettskanzlei des Kaisers und an den Chef des Generalstabs, General-
obersten Freiherrn von Conrad, eingesendet und von beiden Stellen
Dankschreiben erhalten. Der E*r lös des dritten Teiles der
Abhandlung ist dem k. u. k. Oesterreichischen Militär-Witwen- und
Waisenfonds gewidmet.
Also bitte, das ist der einzige Thau, dem die Deutschen
das h gelassen haben! • •
Eine neue Erleichterung
[Teilung der Zweikronennoten.] Der drückende Mangel
an Kleingeld, der eine Folge des Krieges ist, hat das Publikum zur Selbsthilfe
veranlaßt. Im Verkehre werden vielfach die Zweikronennoten in mehrere
Teile zerschnitten und mit diesen Noten kleine Zahlungen geleistet. Das
hatte bisher eine Entwertung zur Folge, weil die Oesterreichisch-ungarische
Bank — — Durch eine kürzlich erflossene Verfügung werden aber
sämtliche Hauptanstalten und Filialen der Oesterreichisch-ungarischen
Bank angewiesen — —
Speisevorschriften werden erlassen, aus Gram zerreißen
sie ihre Zweikronennoten, wenn sie jetzt noch Asche auf ihr
Haupt streuen und die Österreichisch-ungarische Bank diese an
Zahlungsstatt nimmt, so wird der Rachegott im Leitartikel, der
täglich über die Plagen und die Heimsuchungen und die Stim-
mungen der Feinde Buch führt, sagen, daß es gut sei, und wird
jenen zum Munde sprechen, die da gern im Schweiße ihres An-
gesichts ihr Brot essen möchten, wenn sie sicher wären, daß sie es
auch kriegen, von Butter gar nicht zu reden und auf Fleisch ver-
zichtet man sowieso.
53 —
Wie Tier und Pflanze durchhalten
[Die Wirkung der Gasangriffe auf Tiere.] In
der Jagdzeitung ,Wild und Hund' macht Leutnant Toews Mitteilung von
einer Beobachtung, wie giftige Gase auf Kleinwild wirken. Bäume und
Sträucher litten stark unter den Phosphor- und Chlordämpfen, die vom
Feinde mehrere Stunden lang zu unseren Schützengräben herübergeschickt
wurden und wie ein dichter Nebelschleier sich auf das Land legten.
Die Blätter vertrockneten und die Blumen ver-
dorrten. Dagegen waren die Tiere widerstandsfähiger,
ihnen schadet das Gas anscheinend gar nicht. Die in unmittelbarer Nähe
der vordersten Gräben vorhandenen zahlreichen Feldhühnervölker zeigten
nach dem Abziehen der Dämpfe keinerlei Veränderung in ihrem Verhalten,
weder die Alten noch die Jungen, die unsere Feldgrauen
im Geiste schon lieblich in der Pfanne schmurgeln sehen.
Auch die Hasen und Kaninchen hatten siegreich demAngriff
getrotzt, so daß auch von ihnen manches Exemplar
in das Einerlei der Küche unserer Soldaten eine willkommene Abwechs-
lung bringen wird. Ebenso trugen die Hunde keinen Schaden davon.
Der in Mannheim soll sogar, als man ihm die Sache aus-
einandersetzte, gesagt haben: »Buckelsteigen!« Er sagt es, sooft
sich ihm ein Universitätsprofessor nähert, um ihn zu prüfen.
Er wird es, solange diese Sachlage andauert, immer sagen. Die
Erde ist jetzt eine große Hundsgrotte, in der das bei Neapel
verbotene Experiment wiederholt wird. Ja, es ist ein chlorreicher
Krieg! Was durchgehalten hat, dient dem Durchhalten. Die
Blumen sind vertrocknet. Doch die Blätter — nein, die ver-
dorren nicht !
Gott, Deine Wunder sind groß!
[Moderne Geschwindigkeit.] Das neueste technische
Kunststück ist, Fichtenbäume innerhalb 12 Stunden in Papier zu ver-
wandeln. Des Morgens um '/2 6 Uhr wurden zwei grünende Fichten ge-
fällt. Die Stämme wurden sofort in der Fabrik entrindet, zerkleinert und
gleich darauf gedämpft. Nachmittags ward dann das braune gedämpfte
Holz zu Holzstoff geschlissen, die nassen Bogen wurden mit Dampf
getrocknet, und geglättet; schon um 3 Uhr war ein Teil des Papieres
fertiggestellt und um 5 Uhr konnte es unter die Presse des Buchdruckers
gebracht werden. Die Fichten, die noch vor kurzem sich am Abhänge
des romantischen Fhöhatales im Morgenwinde wiegten, waren am Abend
schon — Zeitungsblälter!
Auf diesem Gedankenstrich will ich balancieren und vor
dem Ziel schwindelnd — kopfüber in die Unendlichkeit !
— 54
Memoiren
Bang war das Herz. Mit ahnendem üemüthe
sah ich ins Land, als mir der Frühling blühte.
Vor jedem Schritte stand als Schicksalswende,
ob morgen in der Schule ich bestände.
Soweit die Rätsel von zehn Jahren reichen,
ward alles da von allem mir zum Zeichen.
Als sie zum erstenmal die Liebe nannten,
löst' ich die Gleichung mit der Unbekannten.
Erfüllt von Lust war's, auf die Lust zu warten.
Durch alle Gitter sah ich in den Garten.
Von allen Seiten sah ich in die Stunde:
um ein Geheimnis ging ihr Gang die Runde.
Nachts sitzt ein Ding, das fiebrig mich befühlt,
auf meiner Brust, die sich ins Chaos wühlt.
Was ist es nur, das so mit Zentnerlast
mir alle Sinne gleich zusammenfaßt,
daß ein Geräusch mir ein Gesicht erschließt,
Geschmack und Tastsinn mir zusammenfließt?
Das war die Botschaft aus dem neuen Land;
der Teufel war vom Leben vorgesandt.
Will heute ich, daß ich ein Kind noch sei,
schnell, eh' ich einschlaf', ruf ich ihn herbei.
Doch aller Ängste heiliges Wunder du —
ich schloß die Hölle mir von innen zu.
Ich schmeckte aller Zweifel Süßigkeit,
ich schuf die Hemmung, wenn das Ziel noch weit.
Daß ich zu ihm mein Leblang nicht gelange,
lud zum Verweilen eine Kletterstange.
— 55 —
Schon vor dem Kuß der Seligkeit entbunden,
hab' nie zur l^ahlen Endlichkeit gefunden.
Zu eurem Schein, der nur was ist begreift,
ist nie mein Glück der Scheinbarkeit gereift.
Ihr habt nur, was ihr habt, kurz ist die Weile,
dieweil ich mir die Ewigkeit verteile.
Ihr zehrt von des Geschlechtes Proviant.
Verflucht zum Mannsein» seid ihr gleich entmannt.
Verwesung weist mir eures Samens Spur,
verbraucht im Kreuzzug gegen die Natur.
Entweibtes, das im Schlaf ich schauen mußt',
ein Zug von Leichen folgte eurer Lust.
Jetzt tönt die Glocke zu dem Hochgericht,
jetzt blitzt ein Blitz aus tragischem Gesicht.
Im Wolterton unendlich ruft von hinnen
die Klage Shakespearischer Königinnen.
Nicht länger zögernd, Zeuge muß ich sein!
Laßt mich durch dieses Tor zum Richter ein,
daß ich für Gottes Absicht mich verbürge
und endlich doch einmal den Teufel würge!
Viel totes Leben drängt sich an der Pforte,
hier wimmern Weiber und hier weinen Worte.
Wer wehrt mir? Weh, wer stellt mir Hindernisse,
Natur zu heilen von dem blutigen Risse?
Da hat es mich und sitzt mir auf der Brust!
Und macht der armen Kindheit mich bewußt,
im Lohn der Last und in dem Leid der Lust.
— 56 —
Notizen
Das zweite Goethe-Zitat über Hunde (Nr. 431—436, S. 12)
ist zu streichen. Goethe erscheint, wiewohl er im ersten das Tier
über den Menschen erhebt und auch im richtig gestellten zweiten
den Menschen nicht über das Tier erhebt, keineswegs als Hunde-
freund, Eine hämische Zuschrift klärt mich darüber auf:
Goethe bei Kraus: Goethe allein:
> Wundern kann es mich nicht, | »Wundern kann es mich nicht,
daß Manche die Hunde so i daß Menschen die Hunde so
lieben.« lieben,
denn ein erbärmlicher
Zitiert i. d. Fackel Nr. 431— 436, Schuft ist ja der Mensch
pag. 12. I wie der Hund.«
Es hat sozusagen mit Verlaub den Anschein, als ob die zweite
Zeile des Distichons nicht ganz unwesentlich und selbst das gebrachte
Fragment ungenau zitiert wäre. Hm? Ein »Pedant«.
Der »Pedant« ist keiner und hat recht. Unrecht nur mit dem
angedeuteten Vorwurf, daß die fragmentarische und im Wortlaut
falsche Zitierung Absicht sei. Die wäre zu dumm. Der Verdacht
würde auch Schopenhauer treffen, mich trifft nur der Vorwurf einer bei
der Übernahme der Schopenhauer-Fülle verzeihlichen Nachlässigkeit.
Es hat damit die folgende Bewandtnis. Das Goethe-Zitat war nicht
aus Goethe — das wäre freilich eine hirnverbrannte Fälschung — ,
sondern aus Schopenhauer entnommen. Im Namen- und Sach-
register, das dem IV. Nachlaßband (Neue Paralipomena) der
Reklam'schen Ausgabe beigeschlossen ist, findet sich auch ein Hinweis
auf die Seite 474, die schon zum bibliographischen Anhang gehört.
Dort heißt es gelegentlich der Berichtigung eines Druckfehlers:
Zu dieser Stelle hat Schopenhauer an den Rand
geschrieben:
Wundern kann es mich nicht, daß Manche die Hunde so lieben.
Goethe.
Genau so steht es dort, nicht mehr als dieses Bruchstück,
und mit der Version »Manche«. Schopenhauer mußte, da es ihm
— 57 —
nur ein Erinnerungsbehelf war, nicht ausführh'cher sein. Ich aber
konnte glauben, daß es ein abgeschlossenes Goethe-Zitat sei. Die
Lektüre des § 594, auf den sich die bibliographische Notiz
bezieht, hätte mich darauf aufmerksam machen können, daß
Jener Text nicht den Sinn abschließen soll. Denn es heißt
dort: ». . . als ob die Menschen ihre Freundschaft nach dem Wert
und Verdienst verschenkten! als ob sie nicht viehnehr ganz und
gar, wie die Hunde wären, die den lieben, der sie streichelt oder
gar ihnen Brocken gibt, und weiter sich um nichts bekümmern!«
Diese Meinung, die den Menschen mit dem Hund vergleicht, um
ihn herabzusetzen, steht recht im Gegensatz zu allem, was Schopen-
hauer sonst über Hunde geschrieben hat, wie die Fülle der Zitate
im letzten Heft klar genug beweist. Somit könnte auch Goethe
über Hunde anders gedacht haben als in jenem vervollständigten
Zitat, und gewiß ist ihm durch die Imputierung eines hunde-
freundlichen Standpunkts kein sittliches Unrecht geschehen. Schopen-
hauers wörtlich übernommene Randbemerkung beweist, daß keine
Absicht dabei im Spiel war. Mit seinem gleich darnach zitierten
Epigramm :
Wundern darf es mich nicht, daß Manche die Hunde verleumden,
Denn es beschämet zu oft leider den Menschen der Hund
wollte Schopenhauer nicht Goethes Ansicht fortsetzen, sondern
gegen sie auf das allerschärf ste und persönlichste polemisieren.
Ich hatte den Titel »Antistrophe zum 73sten Venetianischen
Epigramm« (Parerga II.) nicht genügend beachtet und mich
deshalb auch nicht veranlaßt gesehen, das 73 ste Venetianische
Epigramm im Original zu lesen. In der Cotta'schen Ausgabe von
1840 erscheint es als das 74 ste und lautet:
Wundern kann es mich nicht, daß Menschen die Hunde so lieben ;
Denn ein erbärmlicher Schuft ist, wie der Mensch, so der Hund.
(Somit gäbe es über dem »Pedanten« noch eine Instanz.) Es
ist nun ganz klar, daß Schopenhauers Wort nicht, wie es bei bloßer
Übernahme der Randbemerkung den Eindruck machen mußte,
die Fortsetzung eines Goethe'schen Motivs ist, sondern ein vehe-
menter Einspruch — umso auffallender, daß Schopenhauer die
ihm doch geläufige Goethe'sche Meinung eben damals wieder zur
Bekräftigung der eigenen, menschen- und hundefeindlichen, sick
notiert hat. Dort also, wo Schopenhauer ein herbes Wort
58 —
über Hunde hinschreibt, läßt er durch unvollständiges Zitieren
Goethe als Hundefreund erscheinen. Damit treten weder er noch
ich, der den Text einfach wiederholt hat, Goethe zu nahe, viel weniger
nahe als sonst Schopenhauer, der Goethe geradezu als einen von jenen
»manchen« Hundeverleumdern anspricht, die sich vom Hunde be-
schämen lassen müssen. Diese Meinung soll nicht übernommen, aber
jedenfalls muß darauf verzichtet werden, Goethe als Zeugen für die
Hunde anzurufen. (Womit er natürlich noch bei weitem kein Zeuge
für Herrn Großmann geworden ist, dem ja die zweite Zeile des
Goethe'schen Epigramms auch nicht passen dürfte.j Daß sich zu
diesem Amt, vor Gottes Thron das Tier ins Recht zu setzen, sonst
noch jeder außerordentliche Mensch tauglich und willig gezeigt
hat, wird kein Pedant in Abrede stellen, der vielleicht der Meinung
ist, nun sei Schopenhauers Hundeliebe (die nur einmal dem
Menschenhaß weichen muß) durch ein Goethe-Wort erledigt,
während in Wahrheit Goethes Hundehaß durch ein Schopenhauer-
Wort getroffen ist. Da seine Zeugenschaft entfällt, -ist für Ersatz
zu sorgen. Und ein guter ist bereit. Von seinen Hunden,
Sultan und dessen Vorgänger Tyras, erzählt Bismarck (nach Hans
Blum):
»Wenn ich verreiste, so suchte er mich überall mit großer
Traurigkeit. Endlich ergriff er dann zu seinem Tröste .meine weiße
Militärmütze und meine hirschledernen Handschuhe, trug diese in den
Zähnen in mein Arbeitszimmer und blieb dort, mit der Nase an meinen
Sachen, liegen, bis ich wiederkam. — Auch der alte Tyras war sehr
intelligent und treu. Wenn ich nach dem Reichstag ging, so nahm ich
den Weg durch den Garten hinter dem Reichskanzlerpalais, öffnete hier
die Pforte nach der Königgrätzer-Straße, drehte mich gegen Tyras um,
der mich bis dahin vergnügt begleitet hatte, und sagte bloß:
Reichstag! Sofort ließ der Hund Kopf und Schwanz
hängen und zog niedergeschlagen von dannen.
Einst hatte ich meinen Stock, den ich auf die Straße nicht mitnehmen
konnte, da ich in Uniform ging, an die Innenmauer des Gartens
gestellt, ehe ich durch die Pforte schritt. Nach vier Stunden kam ich
aus dem Reichstag zurück. Tyras begrüßte mich nicht beim Eintritt ins
Haus, wie sonst stets, und ich fragte daher den Schutzmann, wo der
Hund sei. Der steht seit vier Stunden hinten an der Gartenmauer und
läßt niemand zu Euer Durchlaucht Stock, erwiderte der Mann. Ein
andermal ging ich in Varzin in Begleitung von Tyras spazieren und sah
auf einer Karre eine Fuhre Holz liegen, die ich für gestohlen hielt,
weil sie aus grünem Holze gehauen war. Ich gebot dem Hund, bei
der Karre zu bleiben, und entfernte mich, um jemand zu holen, der
59 —
die Sache aufklären könne. Als ich zurück sah, gewahrte ich aber, daß
Tyras mir leise und geduckt nachschlich. Ich kehrte zurück und legte
meinen Handschuh auf die Karre. Da blieb Tyras dort stehen wie ange-
wurzelt.« — Über das Ende des tüchtigen Tieres erzählte dann der
Fürst: »Tyras ist an Altersschwäche eingegangen. Einen Tag vor
seinem Tode war er schon so steif, daß ich ihn wie einen Hammel
von oben (dem ersten Stock in Varzin) in mein Arbeitszimmer
tragen lassen mußte. Dann, als ich nach Hause kam, wedelte er noch.
Das nächste Mal, an seinem Todestage, konnte er auch nicht mehr
wedeln und gab nur durch seinen Ausdruck zu verstehen, daß er mich
erkannt habe. Während ich dann am Tische schrieb, sah ich ihn
plötzlich in mein Schlafzimmer sich schilpen und gleich darauf sagte
mir der Diener, der ins Schlafzimmer getreten war: Der Tyras liegt
tot ausgestreckt im Schlafzimmer.«
Aus der Fülle der Gesichte und Gerüchte, die noch immer
den Postweg nicht scheuen, um zu mir zu gelangen, und gegen
die nur mehr die Hoffnung des verteuerten Portos bleibt — ein
Angebot:
Verzeihen Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, an Sie mit einem
Ersuchen heranzutreten. Ich biete mich mit diesem Schreiben als
Literaturkritiker für Ihre geschätzte Zeitschrift an
und bin sehr gerne bereit, jede Gattung (Lyrik, Epik, Drama-
tik) streng künstlerisch-ästhetisch zu vertreten. Als akademisch
Gebildeter bin ich speziell auf dem Gebiet der
modernen Literatur besonders vertraut. Ich habe
bereits mehrere eigene Gedichte veröffentlicht, ferner Buchbesprechungen
im >Merker<, bin in Verbindung mit Ernst Lissauer
und gegenwärtig — in Sachen meines Dramas —
mit dem Kritiker des > Literarischen Echos« Hans Franck.
Sollten Sie auf meinen Vorschlag eingehen, würde es mich
ungemein freuen und ehren. Ich stehe jederzeit zu Ihrer Verfügung und
bin hochachtungsvoll Ihr ergebener
Ich schwanke noch. Daß er als akademisch Gebildeter
speziell auf dem Gebiet der modernen Literatur besonders ver-
traut ist, hat viel für sich. Er scheint sich auszukennen. Er scheint
vor allem ein gründlicher Kenner der Fackel selbst zu sein. Er
hat für den »Merker« geschrieben, das ist gut. Daß er in
Verbindung mit Lissauer ist, ist ein Vorzug, so etwas suche
ich schon lange. Auch hat er sich in Sachen Seines Dramas bereits
mit Franck verständigt, vom Literarischen Echo. Das kann
60
mir auch nützen. Die Sache hat viel für sich. Ich will es über-
schlafen. Er soll sich beim Portier die Antwort holen, ob er auf-
genommen ist.
Vorlesung im Kleinen Konzerthaussaal, 18. September:
I. Grenzen der Menschheit / Die Welt als Vorstellung / Händler
und Helden / Jetzt ist Krieg / Sie exzediert schon / Zur Darnachachtung /
Alles was recht is — da gibts nixl / Was gibts Neues? / Ein Nach-
ruf / Der ruhmlosere Abschluß / Wie die Franzosen vor Neid zersprangen /
Metaphysik der Schweißfüße / -Drückeberger in Frankreich« usw. / Die
europäische Melange / Fleisch und Blut / Von einem Mann
namens Ernst Posse / Lichnowsky und Barnowsky /
Diplomaten. II. Gruß an Hofmannsthal / Eingedeutschtes / Papier-
mangel in Österreich / Beim Anblick einer Schwangeren / Dialog
der Geschlechter / Vor dem Höllentor. III. Blutunterlaufungen /
Die F u n d V e r h e i m 1 i ch u n g / Gebet an die Sonne
von Gibeon.
Ein Teil des Ertrages wurde Vereinen für Kinderschutz und für
Tierschutz zugewendet.
Vor Beginn dieser Vorlesung soll im Vestibüle eine Schrift
»Karl Kraus« verkauft worden sein. Der Vorleser, der davon erst
am andern Tag erfahren -hat, also verhindert war, auf der Stelle
ein Kolportageverbot zu erlassen und für dessen Durchführung
durch Saalbedienstete zu sorgen, fürchtet nicht, daß die Käufer
der Schrift ihn der Mitwissenschaft und Begünstigung des Unter-
nehmens für fähig halten könnten. Immerhin muß er, der nie
geduldet hätte, daß sein eigener Verleger solch gute Gelegen-
heit, seine eigenen Bücher an den Mann zu bringen, benütze,
seine Ahnungslosigkeit ausdrücklich feststellen und die Versicherung
abgeben, daß eine Wiederholung der Begebenheit ausgeschlossen
ist. Der Unternehmer selbst wird nicht behaupten, daß eben das,
was auf meinem Rücken geschehen sollte, nicht aiKh hinter meinem
Rücken geschah. Aber die Feststellung ist eine tatsächliche Berichti-
gung des kommenden Gerüchtes, ich hätte einmal vor einer Vor
lesung eine Lobschrift über mich verkaufen lassen, ist also zum Schutz
gegen jene Talente geboten, die sich erfahrungsgemäß immer dann,
wenn sie keine Gegenliebe finden, mit der Legende rächen. Noch in der
Schweiz trat sie mir heuer entgegen und behauptete, ich hätte mir
61
einst in Berlin »ein eigenes Bureau zur Rel<lame für mich gehalten«,
und ich mußte auch tatsächlich zugeben, daß ich seinerzeit den
Fortbestand eines Berliner Bureaus mit großen Opfern ermöglicht
hatte und unter der ausdrücklichen Bedingung, daß die dort heraus-
gegebene Zeitschrift meinen Namen nicht nenne, ja selbst die
Zitierung der Fackel im Zeitschrifteneinlauf oder in einer Annonce
unterlasse. Ich konnte also das Semper aliquid haeret wieder
einmal nicht abstreiten. Der neue Verlag meiner Schriften hat die
kontraktliche Verpflichtung übernommen, sich jedes Rezensions-
exemplars zu enthalten, womit aber nicht völlig auch die Möglichkeit
beseitigt ist, daß einer, dem es verweigert wurde, einmal erzähle
oder drucke, ich hätte es ihm aufdrängen wollen, und das eigene
Bureau in Leipzig sei zur Reklame für mich errichtet. In der
Metropole des literarhysterischen Betriebs hatte ehedem einer,
natürlich ein unglücklich Verliebter, mit der Enthüllung Sensation
gemacht, ich sei einmal im Literaturcafe »schmunzelnd dagesessen«
und hätte beobachtet, wie der Ansichtskartenautomat gegen Einwurf
einer Münze mein Porträt herausgab oder dergleichen. Der Fall
wurde von einem Fachmann untersucht und es stellte sich heraus,
daß ich, der tatsächlich ein paar Mal studienhalber in jene Hölle
geraten war, vermutlich einmal schmunzelnd dasaß, aber nicht in
Hinblick auf den Automaten, der entweder nicht vorhanden war
oder von dessen Existenz ich nichts wußte, sondern vom heitern
Staunen über die Fülle der Gesichte und über das Pathos des
Drecks, zu dem man mit der Untergrundbahn gelangen konnte.
Seit jenem Ereignis, das umso mehr Staub aufgewirbelt hat, je
klarer sich herausstellte, daß ich daran unbeteiligt war, habe ich
jeden einzelnen der tausend Verehrerbriefe, die aus der Gegend
der strammen Neurasthenie kamen, um meiner bekannten Eitelkeit
zu schmeicheln, unbeantwortet gelassen und keiner der tausend
Zeitschriften, die dort aus der Verbindung von Expressionisten
und Koofmichs entstehen, das erbetene Tauschexemplar
bewilligt. Man schützt sich, so gut man kann. Wenn aber zehn
Minuten vor Beginn einer Vorlesung, zu der ich nicht durch
das Vestibüle gelange, eine enthusiastische Broschüre über mich
verkauft wird, weil die Gelegenheit günstig ist und der Holunder-
strauch ihn mir verbirgt, kann ich nur die Wiederholung solcher
Teiltaten verhindern. Die Diener, die bloß auf die Hintanhaltung
62
von Eeextraausgabeeen dressiert sind und vielleicht aus dem Titel
auf Erlaubnis oder gar Wunsch des Veranstalters geschlossen
haben — worauf das Unternehmen wohl auch gegründet war — ,
sind angewiesen, solche Zugabe zum Programm künftig zu
vereiteln.
*
Nachschrift: Die Untersuchung des Falles hat, wie gerne
festgestellt wird, ergeben, daß der Verkäufer keineswegs auf die
Unwissenheit der Dienerschaft spekuliert hat. Er hat sich vielmehr
offen und ehrlich auf meinen Auftrag berufen.
Bibliographisches. , Der Abend' (Wien, 25. Sept.)
>Karl Kraus. Ein Eindruck.« — .Arbeiter-Zeitung' (Wien, 26. Sept.)
»Vorlesung Karl Kraus.«
Das Gedicht »Sendung« (S. 72) ist das letzte aus dem Buche
>Worte in Versen«.
Vorlesung im Kleinen .Konzerthaussaal, 3. Oktober: >D i e
lustigen Weiber von Windsor«. Arrangement, Musik und
Programmtext wie am 24. Mai. — Der gesamte Ertrag ist der k. k.
n.-ö. Statthalterei zur Fürsorge für erblindete Soldaten überwiesen worden.
Vorlesung im Kleinen Konzerthaussaal, 18. Oktober:
I. Worte Luthers / Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem /
Der Krieg / Das Drama nimmt ungestört seinen Fortgang / Na alstern! /
Trophäen / Teil sagt / Gruß an Bahr und Hofmannsthal/
Diplomaten. II. Man muß sich rein für England schämen / Die
europäische Melange / Auch so leben wir alle Tage / Zur Darnach-
achtung / Ein sonderbares Imperfektum / Weitere Folgerungen / Die
Schalek und der einfache Mann / Das ist mein Wien, die Stadt der Lieder /
Die Laufkatze. III. Worte in Versen: Elegie au.' den Tod
eines Lautes; Die Grüngekleideten; Vor einem Springbrunnen; Aus
jungen Tagen; Fahrt ins Fextal; An einen alten Lehrer; Memoiren;
Gebet während der Schlacht.
63
Ein Teil des Ertrages wurde Vereinen für Kinderschutz und
Tierschutz zugewendet.
Die Verschiebung vom 14. auf den 18. Oktober war
erfolgt, um den ungestörten Verlauf des an jenem Tage in
j demselben Hause angesetzten Vortrags der Kriegsberichterstatterin
zu sichern.
In Nr. 431-436, S. 47, 20. Zeile werde anstatt »nicht wollen«:
nicht wissen wollen, S. 87, 4. Zeile von unten anstatt »Häftec : Hälfte,
S. 132, 9. Zeile anstatt »Metern« Kilometern gelesen.
(»Betmann Hohlweg« auf S. 63, 11. Zeile von unten, ist kein
Druckfehler.)
Daß eine Seite der Fackel ihre Perspektive bewahrt, wenn
sie ihrer stofflichen Voraussetzung und persönlichen Beziehung
verlustig geht, wird zwar noch lange kein Stoff- und Namens-
leser verstehen, aber es bestätigt sich an der in Nr. 431—436 ent-
haltenen Glosse >Was in der Kriegsausstellung fehlt<. Man muß
andere Namen einsetzen, damit sie wahr sei. Die Namen, die
bis jetzt dort stehen, sind falsch, und jenseits der Berechtigung,
auch das zu gestalten, was nur möglich, also mehr als wirklich
ist, muß die Tatsache festgestellt werden, daß der Kriegs-
krüppel des Gerichtssaalberichtes, den der Richter freigesprochen
hat, nachträglich »polizeilich als Schwindler entlarvt« worden
ist. Gericht und Polizei müssen es sich demnach auch unter-
einander ausmachen, wie die ursprüngliche, für den Anzeiger
so ungünstige Auffassung entstehen und verbreitet werden konnte.
Sie beruhte auf der Stelle des Gerichtssaalberichtes: »Am 10. Juni d. J.
kam der Kriegskrüppel in einer Korporalsbluse zu dem ihm von
früher her bekannten Chemiker Seligmann .... und bat ihn mit
Hinweis auf sein großes Elend um irgend eine Arbeit. Seligmann
hatte bereits früher einmal gegen Friedberg eine Anzeige wegen
unbefugten Tragens der Uniform erstattet und er ließ jetzt den
Kriegskrüppel durch einen Wachmann verhaften.« Die danach mögliche
64
Frage, warum der Kriegskrüppel den Anzeiger nicht verhaften lasse,
findet durch die nachträglichen Feststellungen, die den gericht-
lichen Freispruch, die Tendenz des Berichts wie die verbreitete
Auffassung des Falles berichtigen, eine wesentlich andere Antwort.
Es ist aber auch nicht einmal wahr, daß er den angeblichen
Kriegskrüppel, dem ein Richter nicht weniger Vertrauen geschenkt
hat als der Zeitungsleser, wegen des Tragens der Uniform ange-
zeigt hatte, und wahr ist nur, daß er ihm von früher als Schwindler
bekannt war. Dem Anzeiger, der auch kein Armeelieferant ist,
also nicht jenen Kreisen angehört, denen eine größere Strenge
gegen Kriegskrüppel zuzutrauen ist, würde auch jetzt kein sub-
jektives Unrecht geschehen sein, wenn er den nun der Polizei
erschlossenen Tatbestand damals nicht gekannt hätte, wofür ja
der Verlauf der Gerichtsverhandlung hinlänglich zu sprechen schien.
Aber er hat es nur unterlassen oder versäumt, seine Kenntnis mit
berechtigtem Nachdruck an Ort und Stelle durchzusetzen, und es
steht außer allem Zweifel, daß ihn der Vorwurf der Grausamkeit
nicht treffen kann. Der gegebene Fall bleibt auf das Übel einer
Judikatur oder einer Berichterstattung beschränkt, die solchen
Vorwurf ermöglicht hat. Daß die nie verlegene Realität, die meine
Betrachtung so sehr nährt, daß sie fast wieder von ihr lebt, auch noch
falsche Anlässe liefert, ist zu viel; nachdem dieser eine richtiggestellt
ist, bleibt zu sagen: Wenn eine Tatsache, und noch dazu eine von
einem Gerichtsurteil bestätigte, unwahr ist, so ist das Zitat nicht
dafür verantwortlich. Wäre aber nicht allein der Prozeß lücken-
haft gewesen, sondern der Bericht erfunden, so bliebe doch nur
die Berichtigung des Falles zu besorgen, nicht seiner Möglichkeit
Man kann das Grauen der europäischen Welt auch an den Anlässen
darstellen, die falsch waren. Immer ist es da, auch wenn ein
Polizeibericht einen Gerichtssaalbericht Lügen straft, und die
einmal gesetzte Perspektive, von den Namen, die ihr die Unordnung
eingesetzt hat, befreit, wartet auf die rechten.
Der Verlag der Fackel kann die Vermittlung von wohltätigen
Spenden nicht übernehmen. 21 Kronen, die mit unbestimmter
65
Weisung, aber unter einer nach dem Humor der ,Musitete'
zuständigen Chiffre aus dem Feld eingelangt sind, und 100 Kronen,
die mit der Bemerkung: »Zu wohltätigem Zweck« von einem
freundlichen Leser aus Szepsi in Ungarn, dessen Name unleserlich ist,
gesandt wurden, sind der Statthalterei zur Fürsorge für erblindete
Soldaten überwiesen worden. Wer einen ähnlichen Wunsch wie jene
beiden Spender hat und nicht dieanrüchige Vermittlung benützen will,
durch die seit zwei Jahren täglich Gold für Reklame, also Papier
für Papier gegeben wird, soll mit dem Zweck auch das Ziel seiner
Wohltätigkeit zu finden wissen. Die Leser, die nach so vielen
Jahren endlich davon überzeugt wurden, daß die Fackel keine
>Redaktion< hat, mögen auch zur Kenntnis nehmen, daß ihre
Administration über keinen Apparat verfügt, der die Verwaltung von
Spenden ermöglichen würde, und daß sie unter keinen Umständen
in das Ressort einer Publizistik eingreifen kann, die, ohne selbst
einen Heller zu opfern, fremde Rachmones als Schmuck trägt und
das Schertlein zum Zins macht, den das Elend der Eitelkeit bezahlt.
(Ein Leser, der etwa beim Wort >Rachmones« stutzt und
nicht weiß, was soll es bedeuten, möge Heine lesen, aber nicht
das Buch der Lieder, sondern den Briefwechsel mit Rothschild.)
Gewiß, die Anzeiger der Wohltat sind nur die Hehler
des Wuchers, und eine Charitas, die sich in solchen
Häusern prostituiert, macht aus der Not ein Laster. Würde
aber selbst von den Annonceuren und den Annoncierten der
Nächstenliebe ein gutes Beispiel gegeben, so böte die
Fackel, die die Kriegsschäden doch in wenig positiver
Art betrachtet, dem Publikum eine recht unzulängliche
Gelegenheit, seine werktätigen Absichten durchzuführen.
Welchen Sinn es vollends haben soll, eine Guttat mit schmutzigem
Text zu begleiten, wie dies von jener Feldpostchiffre geübt wurde,
ist unerfindlich. Bei dieser Gelegenheit seien sämtliche Kriegs-
fürsorgeämter ersucht, die Fackel von ihrer Adreßliste zu streichen
und sich das jetzt rare Papier wenigstens in diesem einen aussichts-
losen Fall zu ersparen. Sie mögen sich darauf verlassen, daß
die Verlockung, gemeinsam mit der Menschenbrut, die in der
großen Zeit sich die Ehre vom Mund abspart, an irgend einem
Monumentum aere perennius mitzuarbeiten, ein Herz, das nur
sich selbst nachgibt, versteinern wird. Insbesondere sei der Prokurist,
66
der eine »Organisation für Liebesgaben< ins Leben gerufen hat,
und der behauptet, ich hätte ihm »bisher« meine Unterstützung
zugewendet, darauf aufmerksam gemacht, daß ich es erst dann
tun werde, wenn er sich mit der Ablehnung des Ordens, den er
bekommen wird, vor mir ausweisen kann. Mit den Wohltätern
habe ich so wenig zu schaffen wie mit den Blutvergießern.
Man soll das Wirrsal nicht vermehren und aus dem Strick,
an dem man Journalisten und Armeelieferanten nicht auf-
gehängt hat, keinen gordischen Knoten machen. Ist es geschehen,
so durchhaue man ihn. Staaten, die den Mut haben, einen Krieg
zu führen, müßten auch die Courage haben, jenen, die am
Zustand verdienen, den Gewinst wieder abzunehmen und es
nicht dabei bewenden zu lassen, daß ein Scherflein davon in die
Zeitung kommt. Als Entschädigung könnte man dem Gesindel
zusichern, daß die Schande nicht in die Zeitung kommt.
Der »Verlag Englands , Kultur', Wien, III/2., Kolonitzgasse 9«,
schreibt mir:
Hochlöbliche Schriftleitung!
Mit Diesem bitte ich Sie höflich, anliegende Besprechung
schon aus patriotischen Rücksichten recht bald im
redaktionellen Teile Ihres werten Blattes bringen zu wollen. Dieselbe
wird zweifello.s in Ihrem Leserkreise außerordentlich interessieren.
Leider ist es uns heute noch nicht möglich, Ihnen das Rezensions-
exemplar zu überreichen, da die Druckerei infolge Einrückens von
Personal aufgehalten wurde. Sowie wir die ersten Exemplare erhalten,
senden wir Ihnen eines sofort zu. Wenn wir Sie trotzdem bitten, die
Besprechung in kurzem zu bringen, liegt dies an der Dringlichkeit
die Sache in die Öffentlichkeit zu bringen.
Wir werden wahrscheinlich nicht ermangeln, Ihnen
auf erbetenes Offert ein Inserat zukommen zu lassen, was von
Ihrem Preise abhängt.
Im Voraus verbindlichsten Dankl
Mit k o 1 1 e g i a 1 1 e m Gruß !
Verlag Englands »Kultur«
Dieser Zuschrift liegt ein »Waschzettel H.« bei. »Wasch-
zettel I.«, den die .Arbeiter-Zeitung' erhalten hat, ist interessanter
und lautet:
67
In dem uns im Bürstenabzug vorliegenden,
in kürzester Zeit erscheinenden Buche: Englands »Kultur« in »barbari-
scher« Beleuchtung (Verlag Englands >Kultur<, französisch: Les Scandales
de Londres 1885) ist uns und unseren lieben Lesern eine große Freude
widerfahren. Daß das Buch allen willkommen sein wird, dessen sind
wir sicher. Gilt es doch, in vornehmer Form dem ursächlichen
Friedensbrecher Europas eins am Zeuge zu flicken und daß
der Herausgeber des Buches die Streitaxt aus feindlichem Boden
grub, indem er einfach ein Stück Kulturgeschichte aus der ,Pall
Mal! Gazette' in London aus dem Jahre 1885 abdruckt, ist ebenso
charakteristisch als das Vorwort zur französischen Ausgabe aus
derselben Zeit von E, Dentu und ist in jetziger Zeit ein Kernschuß
erster Güte. Das Buch wird in der ganzen wahren Kultur-
welt das ungeheuerste Interesse erwecken.
Der Hinweis auf die patriotischen Rücksichten hat im
Original Sperrdruck. Wiewohl »ich« zwar ein Verlag ist, aber ich
keine Schriftleitung bin, muß ich mir doch einen »kollegiallen«
Gruß gefallen lassen. Die Anführungszeichen in der Firma
bedeuten Ironie und sollen zur Verhütung des Verdachts dienen,
als ob jemand in der Kolonitzgasse ernsthaft von einer Kultur
Englands reden könnte. Mir ist es nun nicht bekannt, ob es
in England Leute gibt, die jetzt ein so schäbiges Geschäft machen
und abschließen wollen. Es ist mir auch nicht bekannt, ob es in
^jigland Leute gibt, die so schlecht englisch schreiben können, wie
deren Feinde deutsch, und ob es möglich wäre, daß dort einer
Deutschland eins am Zeug flicken will, indem er mit einer Streit-
axt einen Kernschuß abgibt und diesen noch als Inserat aufgibt.
Daß Druckereien infolge Einrückens von Personal aufgehalten
werden, finde gerade ich beklagenswert, für meine eigene Arbeit
und sonst im weiten Umkreis des in Österreich Gedruckten
hauptsächlich wegen der Einrückung und nicht wegen des Auf-
enthalts. Aber schließlich bedarf es nicht erst eines Buches,
um die kulturelle Überlegenheit des Verlags Englands »Kultur«
über England zu beweisen, sondern es genügt der Versuch,
Patriotismus und die Hoffnung auf ein Inserat Schulter an Schulter
zu der Förderung eines Geschäfts aufzustacheln. Der Inhaber will
also mit dem Abdruck von Enthüllungen aus der ,Pall Mall
Gazette' von 1885 so viel Geld verdienen, daß er auch den
Wiener Blättern etwas zukommen lassen kann. Was mich betrifft,
an den er sich unvorsichtigerweise auch gewandt hat, so verlange ich,
kollegiall wie ich bin, für ein ganzseitiges Inserat: die Einstellung
68 —
des Verlages Englands »Kultur« nebst der Verfütterung aller jener,
die am Völkerhaß noch jetzt verdienen wollen, zwecks Ausspeisung
hungernder Hyänen, die auf den Schlachtfeldern das Nach-
sehen hatten.
Die Verleger werden ersucht, die völlig aussichtslose
Zusendung von Rezensionsexemplaren an die Fackel endlich zu
unterlassen und sich durch die Papiernot bestimmt zu fühlen,
wenn schon nicht die ganze Auflage, so doch wenigstens dieses
eine Exemplar ungedruckt zu lassen.
,Die Neue Hochschule', Freistudentische Halbmonatschrift
(I., Nr. 10, Königsberg i. Pr.) bringt die folgende freundliche
Enthüllung:
Eine Zeitschrift edelster Art ist die von Karl Kraus in Wien
herausgegebene .Fackel', deren Studium nicht dringend genug angeraten
werden kann. Nirgends in Deutschland wird mit solchem Ernst,
solchem Geist, solcher Eindringlichkeit, solcher Wucht gegen die
Niedrigkeit der Presse und der öffentlichen Meinung, gegen die
Merkantilisierung und Journalisierung des Lebens gekämpft wie hier.
Es ist kein gutes Zeichen, daß die, Fackel' in der deutschen
Studentenschaft sehr wenig bekannt ist.
Von allen diesen Behauptungen kann ich, auf die Gefahr
hin, daß es das stärkste Selbstlob sei, die eine getrost bestätigen,
nämlich daß die Fackel in der deutschen Studentenschaft
sehr wenig bekannt ist. Aber eben dieser Umstand dürfte mit
der Merkantilisierung und Journalisierung des Lebens wesentlich
zusammenhängen. (Mein Setzer wollte gar eine Merkantilisierung
und Generalisierung des Lebens daraus machen.) Und wenn jetzt
noch ein Teil der deutschen Studentenschaft der geplanten
Hochschule für Journalistik zuströmen wird, wirds mit dem Ruf der
Fackel in Deutschland, sagen wir, alle Sein. Wozu über solche Tat-
sachen Klage führen ? Klagen wir über die Ursachen ! Wäre es möglich,
daß die Fackel, die doch in deutscher Sprache geschrieben ist, in
— 69 —
Deutschland bekannt ist, so wäre ja kein Weltkrieg möglich. Nicht daß
tue Fackel ihn verhindert hätte. Aber die geistige Beschaffenheit
der deutschen Menschen, von der ja im Wesentlichen die Entscheidung
abhängt, ob das Leben in den Dienst des Kaufmanns und somit
auch in den Dienst der den kaufmännischen Interessen dienst-
baren Schutzmittel gestellt (also merkantilisiert und generalisiert)
werden soll, wäre eine andere. Keine der neuzeitlichen Tatsachen
habe ich durch meine geistigen Lebtage besser verstanden, als daß
die Fackel in Deutschland, also vor allem in der deutschen
Studentenschaft, sehr wenig bekannt ist. Wäre sie es, so wäre sie nicht.
In der .Neuen Züricher Zeitung' — in einer jener Ausgaben,
die nicht zu uns kommen — war im vergangenen Sommer ein
Zitat aus einem kürzlich entdeckten >Büchlein von Goethe«
zu lesen, das im Todesjahr, 1832, »von Mehreren, die in seiner
Nähe lebten, zum bessern Verständnis seines Lebens und Wirkens<
in Penig (Sachsen) herausgegeben wurde. Die Verfasser, die,
unter Zusammensetzung von fünf Buchstaben mit dem spanischen
Wort »AMIGO« unterzeichnen, im Herder- und Klopstock-Kreise
vermutet werden und deren Geistigkeit jede Verbindung mit den
»Goethe - Feinden (Kotzebue, Pustkuchen, Menzel, Börne und
Saphir)« undenkbar erscheinen läßt, sollen manches zumal nach
heutiger Auffassung Abträgliche über Goethes Persönlichkeit aus-
zusagen wissen, bis heute Unbekanntes, aber auch die literar-
historisch feststehende These: »Er hat — soweit es das Vaterland
betraf — für unser Volk kein Herz gehabt!« Worin natürlich nicht
Goethe, sondern das Vaterland problematisch wird, und wozu zu
sagen wäre, daß vor den heutigen Wortführern des Vaterlandes
Goethes anationales Denken getrost als antinationales verteidigt
werden soll. Das mit dem Mangel an patriotischem Herzen,
wie mit dem Mangel an Herz überhaupt verhält sich nämlich so:
man könnte mit solchen Maßstäben Goethe zur Not richten, wenn
man mit ihnen zu ihm hinaufkäme. Die »Fehler Goethes« können
mit freiem deutschen Auge nur deshalb bemerkt werden, weil sie
so weit, so hoch über der Ebene liegen, auf der sich die Betrachtung
70
vollzieht. Ich weiß nicht, wie nahe die jetzt entdeckte Schrift, die
ja etliche Verfasser hat, dieses Niveau streift. Sie muß aber manches
enthalten, das hoch genug im Geiste ist, um sich von der land-
läufigen Literaturgeschichte zu entfernen und Goethe anschauen
zu dürfen. So enthält sie eine Schilderung, deren Lebendigkeit für
ihre Wahrheit spricht und welche als Kunstwerk einer Beschreibung,
die alle Impressionismen heutiger Literaturpässe beschämt,
zumal aber als das zwingend echteste Porträt Goethes, als mächtige
und absichtliche Korrektur der gemalten, aufbewahrt werden muß.
Durch alle Zeit hindurch : durch eine Zeit, die sich nur dafür
interessiert, wie ihre Handelsunterseebootkapitäne ausgeschaut
haben, — hindurch!
Seine Gestalt.
Ich stand in frischer Jugend, er in hohem Greisenalter, als
ich zum erstenmal zu ihm kam. Und schon als er eintrat, fing
seine Herrschaft an, obgleich er noch in der Türe weilte, und
ich eben meine tiefe Verbeugung dem Minister endigte; denn er,
auf dem schon die Last reicher, gewichtiger Jahre lag, hatte eine
weit geradere Haltung als ich, dem die kräftigste Jugend voll Lust
und Nahrung und Genuß noch die eigenen Jünglingsjahre als feste
Stütze gab. Er stand wirklich wie ein geborner König da, und
man sah, daß seine Locken die Wolken streiften, mit denen Sturm
und Regen, Blitz und Donner über unseren Häuptern vorüberziehen.
Ich habe nicht Poesie genug in meinem Vermögen, diesen Urtypus
einer Greisennatur zu beschreiben, aber ich will's versuchen, so
gut ich 's kann.
Das Göttliche, das die Natur ihm mitgegeben auf der
Wanderung durch die Erde, zeigte sich am deutlichsten in den
oberen Teilen seines Körpers wie seines Gesichtes. Eine hohe
Jupiterstirn, gewölbt wie die Wölbung des Himmels, unter dem die
Erde ruht; die Brauen kühn gezogen; die Nase gebogen und doch
edel; der Mund etwas gekniffen: teils vom Alter, teils vom Ver-
schweigen, das er sehr liebte; denn er tat oft und gern geheimnis-
voll mit dem Gewöhnlichsten geradezu denen, die ihm am nächsten
standen. Um' den Mund hatten sich die Furchen des Egoismus in
vielfachen krausen Linien gesammelt, und es lag wohl manches
Große, aber wenig Edles darin. Sein Auge zu malen und zu deuten,
ist fast unmöglich; es rollte weder in schönem Wahnsinn (in a fine
frenzy), wie Shakespeare sagt, und wie es auf Stielers Bilde erscheint,
noch war es träumerisch und matt wie in Vogels Zeichnung; es
hatte keinen breiten und keinen scharfen Blick, und doch einen
ganz eigentümlichen, ich möchte ihn gewölbt nennen. Ich habe
es oftmals angeschaut dieses Auge, in den verschiedensten Momenten,
— 71 —
und fand es immer sich gleicii und doch immer neu. Die Augäpfel
lagen erhaben auf ihrem weißen Felde, als wären sie nicht mit dem
Auge entstanden, sondern ihm später eingedrückt; sie bewegten
sich langsam, aber was sie faßten, faßten sie fest und hielten es
sicher, bis ans Ende. Sie waren wirklich die Repräsentanten der
Sicherheit seines geistigen Blicks. Seine Brust zeigte sich breit,
sein übriger Körper im vollsten Ebenmaß, sein Fuß klein. Jede
Bewegung war schön, und vom Mittelpunkte nach außen, selten
eingekehrt, nie eckig. Er sprach langsam, mit vollem Ton, und
selbst im Eifer des Zorns in Ruhe; nur wenn er im Gehen mit
sich selbst redete, was er oft tat, stieß er die Worte schneller heraus,
doch immer rund und deutlich; er verschwieg zuweilen den Schluß
des Gedankens, aber er verschluckte ihn nie; dagegen mußten zu-
zeiten einfache Laute die Stelle der Wörter vertreten.
So ist er mir oft erschienen, und mein Blut kreiste jedesmal
ängstlich schnell durch meine Adern und drängte zum Herzen,
wenn ich vor ihm stand; das machte aber eben nur das Göttliche
in seinem Wesen, denn gerade in persönlicher Zusammenkunft zeigte
er des Irdischen gar viel und spielte gern Verstecken mit denen,
die ihn umgaben, oder fand Gefallen am weniger als Gewöhnlichen,
weil er sich ausruhend damit beschäftigte.
Er trug gewöhnlich einen langen blauen oder braunen Über-
rock, im Sommer einen weißen oder gelben Schlafrock von Nanking,
zu dem sein Garten hinter dem Hause mit den vielen reichblühenden
Rosenbüschen ihm gar wohl stand. Sein weißes Halstuch lose um den
Nacken geschlagen, ohne Schleife oder Knoten, deckte, von einer
einfachen goldnen Nadel gehalten, mit den übereinander liegenden
Zipfeln den Oberteil der Brust. Der Rock war ziemlich hoch hinauf
zugeknöpft. Sein Galaanzug war ganz schwarz, Frack und lange
Beinkleider; auf der Brust ein einziger Stern; sein Haar obwohl
grau, doch dunkel und kräftig, ward dann gewöhnlich durch Kunst
gelockt, doch rief die Natur auch ohne Zwang diese Locken hervor.
Anderen Schmuck als jenen Stern habe ich nie an ihm bemerkt.
Eine wahrhaft antike Ruhe herrschte in seiner ganzen
Erscheinung vor; ich sah einmal den modern-eiteln August Wilhelm
v. S. (Schlegel) ihm gegenüber; es war als ob — verzeih' das un-
edle Bild, aber es ist deutlich und trifft — es war als ob ein
gelecktes Bologneserhündchen um eine edle Dogge herumspränge
und kläffte. Um beide schlang sich damals ein Kranz von Blumen
und schwarzen Krähen, und jener Abend mit seinen Kontrasten
wird vielleicht noch manchem erinnerlich sein.
72
Sendung
Der tote Bruder schickt mich in dein Leben
und läßt dir sagen: Nie verläßt er
die Freundin, ihm verloren nur als Schwester.
Etwas von ihm blieb hier, sich zu verweben
mit einem Teil von dir; sich so zu binden,
daß du ihn sollst im Diesseits wiederfinden.
Beklagst Verlust du, ist Gewinn daneben.
So still er ist, gestillt ist auch sein Sehnen;
nur der Erfüllung fließen deine Thränen.
Zu klarer Aussicht sollst den Blick du heben!
Ganz nah dort, Freundin, auf dem lichten Hügel
spielt er und in dem Erdenspiegel,
den uns des Lebens Schatten noch umgeben,
beschaut er gern sein unverblichnes Bild,
und staunt, daß er es sei: so mild
vor der Vollkommenheit, sie anzustreben
so feurig; und das ganze Herz bereit,
zu Gott zu fliehen aus der engen Zeit,
der Staub und Blut an Kerkerfenstern kleben.
Er will nicht, daß du weinst. Es sprach der Tote:
»Geh du zu ihr, sei Ich ihr, sei mein Bote !
Tod heißt nur: zwischen ihren Sternen schweben.«
73
Landschaft
(Thierfehd am Tödi, 1916)
Thierfehd ist hier: das sagt dem Menschsein ab,
daß er es werde —
wie an der Wand empor zum Himmel reicht
die Erde.
Was hinter uns, war schwer. Hier ist es leicht.
Die Welt verläuft in einem grünen Grab.
Ein Stern riß mich aus jenes Daseins Nacht
in neue Tage.
Fern webt von blutiger Erinnerung
die Sage.
Der weltbefreite Geist ist wieder jung,
nichts über uns vermag die Menschenmacht.
Du Tal des Tödi bist vom Tod der Traum.
Hier ist das Ende.
Die Berge stehen vor der Ewigkeit
wie Wände.
Das Leben löst sich von dem Fluch der Zeit
und hat nur Raum, nur diesen letzten Raum.
— 74 —
Glossen
Kernstock der Jugend!
so heischt die , Reichspost' und schon ist es ja erfüllt. Denn :
Eine Kunde voll freudvoller, bedeutsamer Wichtigkeit: Ottokar
Kernstock ist als Dozent in die Lehrerakademie des Wiener Pädagogiums
berufen worden, wo er über Poetik, Rhetorik und Stilistik lesen wird.
Heute noch die Bedeutung Kernstocks als Dichter erörtern zu wollen,
hieße Eulen nach Athen —
Nicht doch, gebt uns Eulen und sehet ab von der
Verzehrungssteuer! Dichter haben wir genug im Krieg. Aber
Eulen — not immer nur nach Athen, wo ohnedies die Entente
aufpaßt. Wir aber müssen uns mit dem Kernstock durchfretten.
Er kommt also von der Festenburg, wo er oft > schwärmerischen
Jünglingen und Mädchen eine Erinnerung ins Stammbuch« ge-
schrieben hat. Aber was denn nur für eine? Jahr um Jahr flogen von
dort »seine Lieder ins Land, Lieder von kraftvoller, dabei doch
sinniger und oft unbeschreiblich zarter Eigenart, Lieder — < Ja
welche denn nur? Nun wird er in mündlichem Vortrag der Jugend
>die Schönheiten der Dichtkunst erschließen«. Ja aber, welche denn
nur? Und sie alle werden »entflammt an seiner Flamme, das
Empfangene dereinst als Lehrer tausendfältig weitergeben und in
die Herzen einer neuen Jugend wird versenkt werden, was dieser
eine Mann auf seiner waldumrauschten, einsamen Burg in jahr-
zehntelanger Arbeit ergründete«. Ja aber was denn nur? Ein
Mann, »der mit feuriger, begnadeter Zunge alle lebendigen
Schönheiten der Gotteswelt zu preisen versteht«. No ja aber
welche denn nur?
Gebet vor der Hunnenschlacht.
Bedrängt und hart geängstigt ist
Dein Volk von fremden Horden,
Durch Übermut und Hinterlist,
Mit Sengen und mit Morden.
Wir schrei'n zu dir aus tiefster Not
Der deutsche Name ist zum Spott
Der schnöden Heiden worden.
O Herr, der uns am Kreuz erlöst,
Erlös' uns von der Hunnenpest !
Kyrie eleison I
75 —
Gerecht, Herr, ist dein Strafgericht !
Die Schuld ist unser Eigen.
Uns schlug der Feind ins Angesicht —
Wir litten es mit Schweigen.
Wir hatten nicht des Windleins acht,
Und als der Sturmwind dran erwacht,
Ließ mancher Mann sich beugen.
O Herr, der uns am Kreuz erlöst,
Erlös' uns von der Hunnenpest !
Kyrie eleison!
Wir flohn den frischen Kampf ; uns war
Ejn iauler Frieden werter.
Wir boten Gold und Geiseln dar —
Der Drang ward immer härter . . .
etc.
Es kann somit »nicht ausbleiben, daß Kernstock, geadelt
durch seinen Priesterberui, auch als Mensch die allertiefste und
nachhaltigste Wirkung auf seine jungen Zuhörer ausüben wird«.
Wie denn auch anders ?
Mit uns sind die himmlischen Scharen all,
Sankt Michel ist unser Feldmarschall.
Ja, immerhin, »einen Augenblick lang wird ja der Pfarrherr
von der Festenburg gezögert haben, seine verträumte, stille
Poetenklause im steirischen Wald mit dem Lärm der Großstadt
/u vertauschen. Einen Augenblick lang nur — < :
Da winkte Gott — der Rächer kam.
Das Racheschwert zu zücken
Und, was dem Schwert entrann, im Schlamm
Der Sümpfe zu ersticken.
Etsch. »Dann wird wohl die Erkenntnis in ihm gesiegt haben,
welch hoher Beruf sich ihm hier erschließt, welch neue Möglichkeiten
ethischer, künstlerischer, kulturfördernder Be-
tätigung sich ihm hier bieten. Und die Stimme dieser Erkennt-
nis wird bald die Oberhand gewonnen haben über das verlockende
Rauschen der Tannenforste um die Festenburg — «, denn:
St. e irische Holzer, holzt mir gut
Mit B ü c h s e n k o 1 b e n die SerbenbrutI
Steirische Jäger, trefft mir glatt
Den russischen Zottelbären aufs Blattl
Steirische Winzer preßt mir fein
Aus We 1 s c h 1 a n d f r ü c h t c h e n blutroten WeinI
So schön hat das die Reichspost g'schrieben übern Kemstock,
ak, des niüssn S' lesen !
76
Meine Zusage
Ich habe diese Aufforderung erhalten :
Wien, den 15. September 1916.
Euer Hochwohlgeboren I
Der Vorstand des k. k. österr. Militär- Witwen- und Waisenfo.ides
gedenkt einen Kalender größeren Stiles, der sowohl ein Nach-
schlagewerk für alle Bedürfnisse des täglichen Lebens, als auch ein
Sammelwerk literarischen Inhalts sein soll, noch im Laufe dieses Jahres
herauszugeben. Dieser Almanach des k. k. österr. Militär-
Witwen- und Waisenfondes, wenn man ihn so
nennen darf, soll dann jedes Jahr erscheinen und dem der Unter-
stützung so sehr bedürftigen k. k. österr. Militär- Witwen- und V/aisenfonde
eine Quelle ständiger Einnahmen sein.
Für den literarischen Teil des Kalenders bitten wir
nun Euer Hochwohlgeboren recht herzlich um freundliche Mitarbeit.
Es würde uns eine ganz besondere Ehre sein, Euer Hochwohl-
geboren mit einem Beitrag vertreten zu sehen und wären für gütige
Überlassung einer literarischen Arbeit, welcher Art
immer, sehr zu Dank verpflichtet.
Sollten Sie die große Liebenswürdigkeit haben, uns durch einen
Beitrag zu erfreuen, so möchten wir um recht baldige
Einsendung des Manuskriptes bitten, da die Zeit zur
Drucklegung sehr drängt.
Bei Übersendung eines allfälligen Manuskriptes aus Ihrer geschätzten
Feder bitten wir freundlichst anzugeben, welches Honorar wir für
dasselbe überweisen dürfen.
Genehmigen Sie die Versicherung ausgezeichneter Hochschätzung,
mit welcher zeichnet
Für den Vorstand des
k. k. österr. Militär-Witwen- und Waisenfondes
unleserlich unleserlich
Vice-Präsident. Vorstandsmitglied.
P. S. Alle Zuschriften und Sendungen in dieser Angelegenheit wollen
Sie gütigst an die Zentralkanzlei des k. k. österr. Militär-Witwen- und
W^aisenfondes, zuhanden unseres Vorstandsmitgliedes, Hauptmann
Paul Siebertz, WLn III. Auenbruggergasse 2 der mit der Redaktion des
Kalenders betraut ist, adressieren.
11
Ausdrücklich betone ich,
daß ich sowohl für das Manuskript wie für einen Nachdruck auf
jedes Honorar verzichte, dieses vielmehr eben dem Zweck überlasse,
dem das Werk zugedacht ist, und daß ich sogar so weit gehe,
meine sämtlichen Kollegen, die mit Beiträgen vertreten sein
werden und dafür Honorare genommen haben, abgesehen davon,
daß sie schlechte SchriftsteHer sind, für unanständige Menschen
zu halten, weil sie, anstatt die Literatur zu verkürzen»» und einen
wohltätigen Fonds zu vermehren, es umgekehrt gemacht haben.
Ein Fachmann
Direktor v. Gwinner über den Krieg.
Berlin, 16. August.
Der »Lokalanzeiger« gibt einen in einer Feldzeitung im Westen
veröifentlichten Brief des Direktors der Deutschen Bank, Artur von
Gwinner, an seinen Neffen wieder, der sich mit der Frage der Kriegs-
anleihe befaßt ....
Er rät, »den Krieg bis zu einem siegreichen Ende fortzu-
setzen«. Dieser Goldonkel scheint ein Kriegsgwinner zu sein.
Wahrung berechtigter Interessen
»Leutnant Wilhelm Frankl, der in Anerkennung seiner hervor-
ragenden Leistungen als Fliegeroffizier nach seiner Beteiligung an den
erfolgreichen Luftkämpfen südlich von Bapaume am 9. August vom
Kaiser Wilhelm mit dem Orden Pour le m^rite ausgezeichnet wurde, ist,
wie bereits gemeldet wurde, ein Hamburger und steht im 22. Lebensjahre
Sein Bruder ist der Chef des an der Ecke der
KärntnerstraBe und der Schwangasse befindli-
chen Geschäftshauses, der mit persischen und
— 78 —
antiken Teppichen Handel treibt. Auch Hermann Frankl
war zu Beginn des Krieges eingerückt, wurde aber dann aus dem
Kriegsdienste entlassen. Er und seine Umgebung verfolgen
mit begreiflichem Interesse die Tätigkeit des
jüngeren Bruders als Flieger.«
Er stellt sich vor auf der ersten Seite die Zarin
Wien, 19. August.
Alix von Hessen ist der Mädchenname der Kaiserin Maria
Feodorowna ....noch in der Baumschule des Lebens
und bereits in der Rinde gekerbt.... Sie ist Kaiserin
Maria Feodorowna und darf sich nicht einmal gestehen, daß sie
beim Abschied geschluchzt hat.... Was ist aus Alix,
die auch nicht beten darf, wie die verstorbene Mutter sie es gelehrt
hatte, geworden, nachdem sie von der Politik hinausgestoßen
wurde in die düstere Verlassenheit an der Seite eines Zaren-
thrones . . . . Der Anlaß zu dieser Frage ist die eigen-
tümliche Meldung, daß die Kaiserin bis in die vordersten
Linien der russischen Front, wo die deutschen Stellungen bereits in
Sicht waren, gegangen sei. Vielleicht sind auch jüngere und ältere
Männer aus Hessen in den Schützengräben gewesen, die Maria Feodo-
rowna bei dem Besuche auf dem Schlachtfelde gesehen hat; vielleicht
hat ein Zufall es gefügt, daß es Freunde aus der Jugendzeit
waren, Söhne oderGatten ihrerGespielinnen, Nach-
barskinder und jedenfalls Landsleute und Deutsche. Alix stand
am Rande des russischen Drahtverhaues und
schaute hinüber nach Wiesen und Feldern, die nur
wenige Meter von ihr entfernt gewesen sind und von wo ein
Windstoß manchen Laut zu ihr hinübertragen konnte, der ihr
trotz aller Wandlungen vertraut bleiben mußte ....
Alix lebt noch in der Kaiserin Maria Feodorowna .... Sie
ist nicht in die vordersten Linien gekommen, um den Russen zu
beweisen .... Sie wollte nicht zeigen, daß sie ausgelöscht habe, was
an Liebe dereinst dem deutschen Volke gehörte, und daß sie
voll Haß wie eine Russin h i n ü b e r b 1 i c k e auf den
Feind. Sie hat sich nicht von ihrer Vergangenheit schroff abheben
wollen und sich vor der Nachwelt mit solchem
Trotze, der jeder Menschenwürde gespottet hätte, bloßgestellt.
Sie ist eine unglückliche, gebrochene Frau . . beständig von einem
Kummer gequält, der sich in ihren Kopf hineinbohrt und nicht
losläßt, bis die Nerven erliegen. Sie hat um die Gesundheit ihres
Sohnes gezittert und mit gerungenen Händen zum Himmel
aufgeschrien .... Den Namen konnten die Russen ihr
ausziehen, als wäre er nur ein Kleid. Ein Gebetbuch . .
79
onnten sie ihr aufzwingen, aber das deutsche Gemüt war nicht aus
[ir herauszureißen .... Eine Spur von Alix muß
och vorhanden sein,...
...und schaute hinüber zu den Deutschen, wo
u c h kostbares Blut fließt, und dachte vielleicht an ihre
iroßmutter . . . . Den natürlichen Wunsch einer Frau, der
(chrecklichen Metzelei, der Kümmernis und der Not ein Ende zu
lachen, traut sich der Mund nicht auszusprechen, weil die Kaiserin
ilaria Feodorowna der Alix nicht zu viel nachgeben
I a r f. Sie schaute hinüber, und auf ihren verschlossenen Lippen
:nochle das Wort vom Frieden schweben ....
. . .Vielleicht haben sie den Ausschnitt eines Salonkrieges
;ür sie hergerichtet .... Das langsame Abklingen der Krise . .
nag in Petersburg nach dem Aufschäumen des Erfolges noch
licht erkannt werden .... Der Zaf hört auf sie, und Alix,
lie weggetauft wurde, ist ihm mehr als Maria Feodorowna.
Und in der Stadt, die es liest, bricht nicht eine Panik der
Heiterkeit aus.
[Er stellt sich vor auf der zweiten Seite die Frau König
Wien, 19. August.
Der Kapitän der > Deutschland« steht am Sehrohr .... Wie
Gladiatoren möchten sie ihn durch Netze umstricken, wie einem nicht
zu bändigenden Pferde möchten sie ihm die Schlinge überwerfen, das
eiserne Lasso der Torpedoboote, um ihn zu verderben ....
. . . Aber als der Krieg sie vor die harte Frage stellt,
wählt sie nicht ihn, nicht das Vaterland, das sie durch ihn erhalten
hat, sondern sie kehrt in ihr England zurück, vielleicht aus
innerer Kühle, die volles Hingeben verhindert,
vielleicht in der Hoffnung, ihr Gatte werde in der
Menge verschwinden .... So dämmert sie durch die Monate, durch
die Jahre des Krieges hin, immer in der Hoffnung, es wird sich
doch ein Ausgleich ergeben zwischen ihrem englischen Ge-
fühl und der Gemeinschaft mit dem Gatten ....
Da eines Tages . . liest sie ... . Die erste Regung war Stolz.
Ihr Paul war doch ein anderer als die anderen ..Der ließ sich
nicht rammen und nicht erdrosseln. Der kannte sein Geschäft,
der hatte auch den Ernst und den Willen dazu ....
. . .Fort mit dem freundlichen Bild. England muß siegen und jeder,
der es beleidigt, ist geächtet, sei es ihr Gatte oder ihr Kind, und
müßte sie sich auch selbst mit ihrem ganzen Dasein opfern und zu
Grunde gehen. Sie weinte.
Dann aber kamen Stunden der Einkehr. Sie, die bisher
in der steten Arbeit der Tage nur wenig die Ereignisse und ihre
80
Einzelheiten verfolgt hatte, vertiefte sich in die
Zeitungen.... Und da löste sich leise etwas in
ihrem Innern . .
. . . und sie blieb doch Angehörige ihres Vaterlandts,
patriotisch bis in die Fingerspitzen, Engländerin,
Mutter englischer Kinder I
Englischer Kinder? Eben jetzt flogdieTür auf
Und ein Dreizehnjähriger stürmte mit glühenden Wangen vom Spielplatz
herein, packte die Mutter förmlich gewaltsam an, umarmte sie und
schrie : Ist das wahr von Papa? Und als sie es bejahte, küßte
sie das Kind noch heftiger und stieß hervor: Ich bin stolz
auf ihn. Sie wollte ihm leise verstandesmäßig widersprechen, aber sie
vermochte es nicht; sie neigte ihr Haupt und sah in die Augen
des Jungen, sah tief hinein und glaubte auf ihrem Grunde ein neues Bild
aufschimmern zu sehen, das Bild eines reineren gegenseitigen Verstehens,
einer stärkeren Anpassungsfähigkeit, einer besseren Zukunft.
Vielleicht hat sie es so empfunden, die Gattin des Kapitäns
der »Deutschland<. Vielleicht wird aus ihrem Erleben die Erkenntnis
sich verstärken, daß es auch im Völkerdasein nichts ganz Gradliniges
gibt, daß überall dieKreuzungsflächensichschneiden....
Dann wird sie sich vielleicht in einer stillen Stunde an ihn
schmiegen und ihn leise fragen: Wie war das bei der
Rückfahrt? Ich habe solche Angst gehabt .... Und er wird in
Erinnerung an so viel Arbeit und so viel Leiden die Augen
schließen und sie küssen.
Ward je in solcher Laun' ein Weib gefreit? Sie also wird
ihn interviewen und er wird sie dafür küssen. Und der Mann, der
unberufen eine Einbildungskraft hat, wird sich vorstellen - er
wird sich vorstellen, damit kein Unberufener zuschaut.
* «
*
Ein Korybant
»Deutschland«, sei gegrüßt!
Von Generaldirektor W. Kestranek.
Die »Deutschland« ist zurückgekehrt! Welch tiefe Bewegung löste
diese Freudenbotschaft aus. Ergriffenheit, die nicht mit
der Zunge sprechen kann, sondern sich nur in
tränenfeuchten Augen spiegelt, fesselt uns zuerst in ihren
Bann; dann löst er sich plötzlich in den widerhallenden Jubelruf: Die
»Deutschland« ist zurückgekehrt! — Staunen, Bewunderung, Dankbarkeit,
Erhebung, Siegesgefühl — alle diese hervorstürzenden Empfindungen
wühlen unsere bebende Seele mächtig auf. Es straffen sich die
Muskeln, es ballen sich die Fäuste und unseren Körper
durchströmt erhöhtes Kraftbewußtsein, wie nach einem großen Sieg ....
Prager Eisen muß glänzend stehn.
11 —
Das Monument
. . , Hier oben steht Kapitän König, blond und wettergebräunt,
in nasses, ölgetränktes Lederzeug gehüllt, Jacke, Hose, Gamaschen und
Stulphandschuhe. Er ist ein Mann, der zähe und mutig, mit klarem Kopf
und scharfem Auge tausend Gefahren und Mühen überwunden hat und
sich ihrer Spuren nicht schämt. Er ist auch nicht feierlich
und großartig, sondern einfach, vergnügt und glücklich. Er schwingt
ununterbrochen die Mütze, wenn ihm zugejubelt wird. Er nimmt sein
Sprachrohr und schreit uns ein dreifaches Hurra
auf die neutrale, verbündete und deutsche Presse zu.
Sogar interviewen kann man den Kapitän,
wenn auch nur in der lakonischesten Form, ein amerikanischer Kollege
zeigt uns das Kunststück.
>Hallo, Captain König I« brüllt er aus Leibeskräften,
>wie gefällt Ihnen Baltimore?*
»Ausgezeichnet!« schreit König durch das Sprachrohr
zurück. >Es war sehr schön da....<
Einzelheiten
...Man fragte weiter, ob der freundliche Empfang in Baltimore nicht
etwa nur der Ausfluß des amerikanischen Vergnü-
gens an der Sportleistung gewesen sei.
> Keineswegs«, erwiderte der Kapitän, »es war ein wirklich
herzliches Entgegenkommen.«
Dutzende Postkarten und Speisekarten der Festtafel wurden ihm
zur Unterschrift dargereicht. >Oho! Ohol« rief er, »das ist bei-
nahe so wie in Amerika.«
Jemand warf dazwischen: »Sie müßten sich eine
Sekretärin anschaffen.«
Lächelnd antwortete er: »Ein Sekretär wäre mir lieber. Mit
einer Sekretärin weiß man nie, wie man dran ist.«
»Aber gut sehen Sie aus, Kapitän«, sagte ein
anderer. Und König darauf: »Das ist die Sonne von Baltimore.«
Details
Ein Gespräch mit Kapitän König.
Mitteilungen über die Fahrt der »Deutschland«^.
In einer Unterredung mit unserem Spezialberich t
e r s t a 1 1 e r.
Bremen, 25. August.
Ihr Spezialberichterstatter hatte eine Unterredung mit
Kapitän König.
82
Kapitän König erschien mit Präsidenten Lohtnann zu einem
Frühstück und empfing dort eine Anzahl Journalisten.
Kapitän König äußerte sich folgendermaßen :
»...Unsere Fahrt verlief sehr gut. Über die
Fahrt selbst kann ich kein Wort mehr sagen.«
Schnell gealtert
25. August, Abendblatt, 3. Spalte unten, vorletzte Zeile:
Kapitän König hat seine erste Fahrt mit dem Handelsuntersee-
boot »Deutschland< nicht als Jüngling gemacht. Er steht heute im Alter
von 50 Jahren, hat aber nach dem Urteil jener, die ihn kennen,
nicht das Aussehen eines älteren Mannes.
26. August, Abendblatt, 3. Spalte unten, vorletzte Zeile:
Man würde diesen 49jährigen Seefahrer, der jedoch viel älter
aussieht, am ersten für einen niederdeutschen Ackerbauer halten, der
von Jugend an hinter dem Pfluge zu gehen gewohnt ist, namentlich
wenn er die Züge zum Lächeln verzieht.
Nicht Beethoven, sondern Lohmann
»Beim Rathause zu Bremen steht, mit dem Schwerte in der
Hand . . der Roland, der Schützer der Freiheit der Gemarkung
.... und frei wie er ist der Geist geblieben, der im wildesten
Schlachtenlärm sich zu Schöpfungen des Genies erhebt ....«:
Gemeint ist das Handelsunterseeboot, wiewohl dieses doch
in Konstruktion und Bestimmung einigermaßen mit dem wilden
Schlachtenlärm zu tun hat.
Schlfisse auf Bewunderung
Der Eindruck der Fahrt der »Deutschland«.
Nach der nämlichen Quelle hat während des ganzen Krieges auf
die Briten kein Ereignis solchen Eindruck gemacht, wie die
Amerikafahrt des Handelsunterseebootes »Deutschland«. Als die Zeppelin«
über London erschienen und Bomben warfen, war zwar die Em-
pörung allgemein. Aber allen Zorn durchklang hinwieder n a r
die Bewunderung der für jede sportliche wagemutige Leistung
so empfänglichen Engländer. Ihr Verhalten der Reise des Untersee-
schiffes gegenüber, das diesmal kein Wort der Bewunderung
und Anerkennung aufkommen ließ, beweist am besten den
— 83
ungeheuren Eindruck und die Überraschung, die jenseits des
Kanals gerade diese Fahrt hervorgerufen hat.
Das ist ein praktischer Maßstab. Sind sie empört, so ist e&
klar, daß sie voll Bewunderung sind. Um so klarer ist das, wenn
sie nicht empört sind, aber auch kein Wort der Bewunderung
verlauten lassen. Denn dann sind sie eben so voll von Bewunderung,
daß es ihnen die Rede verschlagen hat.
Die Ehrenbilanz
>. . . Dieser einfache und schlichte Mann, der die »Deutschland«
heimzuführen gewußt hat, ist ein deutscher Meister, und a n d a s
Volksfest auf der Festwiese in den >M e i s t e r-
singernt mahnt der Empfang, den ihm heute seine dank-
baren Mitbürger bereitet haben. >Ehret eure deutschen
Meister, dann bannt ihr gute Geister I« Im Zeichen
dieses Dichterwortes standen die Empfangsfeierlichkeiten, die
dem Kapitän König und der Mannschaft der »Deutschland« im Hafen
von Bremen zuteil wurden.
...Eine Ehrenbilanz dessen, was dank der zähen Opfer-
willigkeit und dem unentwegten Pflichtbewußtsein des Kapitäns König,
und der Seinen geleistet worden ist, hat Herr Lohmann gezogen . . . .«
>Paul König, der Kapitän des Unterseefrachtschiffes > Deutschland«
hat eine Schilderung seiner ersten Reise nach Amerika geschrieben,,
dieselbe erscheint in den nächsten Tagen im Verlag Ullstein & Co.«
Die Bilanz
Ferner hatte Ihr Berichterstatter Gelegenheit, mit einem der
Direktoren der Deutschen Ozeanreederei zu sprechen, und richtete einige
Fragen an ihn. Das Gespräch verlief wie folgt:
Frage: >Ist die »Deutschland« schon ausgeladen?«
Antwort: »Die »Deutschland« ist noch nicht ausgeladen und ihre
Ladung wird genau so behandelt werden, wie die jedes Handelsschiffes.«
Frage: »Sind die Annahmen zutreffend, daß die
Deutsche Ozeanreederei durch die Fahrt der > Deutschland« einen
Gewinn von mehreren Millionen hat?«
Antwort: »Diese Frage ist so einfach nicht zu beantworten. Das
ist ein Geschäftsgeheimnis der Deutschen Ozeanreederei.
Aber so viel kann ich Ihnen sagen, daß wir mit dem:
Ergebnisse der Fahrt zufrieden sind I«
Frage: »Erhalten Kapitän und Mannschaft der »Deutschland« eine
besondere Belohnung?«
Antwort: »Von einer außergewöhnlich hohen Belohnung kana
84
■nicht gesprochen werden. Kapitän und Mannschaft der »Deutschland<
erhalten aber natürlich außer ihren Bezügen noch eine besondere Be-
lohnung von uns.€
Der Erfolg der Wikingerfahrt
. . . Die Pressevertreter vereinigten sich zu einem Mahle in dem
herrlichen Patriziersaale des Alt-Bremer Hauses.
Was sich tat
.... hatte die seltene Gelegenheit .... als gestern in dem all-
gemeinen Gedränge möglich war .... Seine kräftigen, eher derben
Züge verraten die ländliche Abstammung, aber der kluge Ausdruck des
wettergebräunten rasierten Gesichtes zeigt einen Mann, der gewohnt
ist, sich in allen möglichen gefahrvollen Situationen
zurechtzufinden.
Denn:
Mildtätige Hände entzogen ihn der Bedrängnis, so daß er
endlich ein Plätzchen zum Niedersetzen fand, wobei er alsbald seiner
Nachbarin, dem einzigen anwesenden Pressevertreter
weiblichen Geschlechtes, das für einen Journalisten wenig
tröstliche Wort zuflüsterte: »Ich darf ja über meine Reise gar nichts
^agen.<
(In diesem Moment unterbricht mich die Schalek und er-
sucht mich festzustellen, daß sie nicht identisch ist. Sie hätte nicht
mitgegessen, sagt sie, wenn sie nicht mitgefahren wäre ; und sie
wäre mitgefahren, denn mit Gefahren, sagt sie, läßt sie sich immer
ein, und ausruhn tut sie nur auf Lorbeeren.)
Natürlich wurde jetzt eine Rede auf den Mann der
T a t gehalten, welcher Pläne und Ideen glanzvoll verwirklicht habe.
Kapitän König nahm die Ansprache entgegen, verbeugte sich,
stieß mit an und meinte hierauf zu seinen engeren Tischgenossen : >Ich
bin kein Mann des Wortes, sondern nur Kapitän.«
Inzwischen war die Zeit vorgerückt, und die Herren von
der Ozeanreederei mahnten zum Aufbruch .. . .
Es ist eben ein Unterschied zwischen den Männern der Tat
und den Herren von der Reederei. Aber die Menge, he, was tat
sie? Sie harrte. Aber was noch?
.... draußen stand harrend die Menge und rief > Hurra!«, als
<er davonfuhr.
— 85
Aus dem Sprachschatz des deutschen Bürgertums
»Deutsches Bürgertum ist es, Millionen aufzuwenden,,
wenn es das Höchste gilt, trotz der Unsicherheit des Erfolges.
Deutsches Bürgertum ist es auch, sich nicht entmutigen zu
lassen, auf immer neue Auskunftsmittel zu sinnen und — wir
haben keinen deutschen Ausdruck dafür — zu
riskieren. Was heißt riskieren? Handeln auf eigene
Verantwortung . . . .<
Mann und Frau
»Nein, meine Liebe,«
sagte der Kapitän König zu seiner Frau, die eine Engländerin ist^
»in diesen schweren Zeiten muß ein jeder treu zu seinem Vaterlande
stehen, du zu dem deinigen, ich zu dem meinigen, wir würden
keiner von beiden einen Schuß Pulver wert sein, wenn wir
nicht so handelten.«
Wie dem deutschen Kapitän das rechte Wort zur rechten
Zeit einfiel! Wie doch die Phrase scheinbar von der Sache be-
zogen ist und dennoch lügt ! Wir würden einen Schuß Pulver
wert sein, wenn wir nicht so handelten. Wir sind aber auch
einen Schuß Pulver wert, indem wir so handeln. Wir sind in
jedem Falle einen Schuß Pulver wert. Ob diese Menschheit noch
eine Zeit erleben mag, in der ein Gespräch zwischen Mann und
Frau keine so unerbittliche Alternative bedeutet?
Seid ihr alle auch gesund?
Jawoll, jawoll, jawoll !
Möchte meinen Bruder, Israelit, Heirat oder Einheirat
gerne glücklich an hübschem, t wünscht tüchtiger, mosaischer,
bescheidenem Fräulein verheiratet
sehen. Derselbe ist Prokurist und i jedoch vollkommen freidenkender
Ingenieur eines größeren Industrie- protokollierter Großkaufmann, 30
Unternehmens in Landeshauptstadt , . ,. , j
^,-, ,„. -i»- t ■ ; Jahre alt, kerngesund, ver-
Nähe Wiens, militarfrei, ' * '
zirka 160 Zentimeter hoch, j mögend, militärfrei . . .
35 Jahre, gesund — — — Konfession Nebensache — — —
Ein 30 jähriger Israelit, 8000
Kronen Einkommen, enthoben,
wünscht zu heiraten — — — —
86
Die neue Welt
Aus »Hygienischen Betrachtungen« eines Regimenfsarztes
und Dozenten in den , Feldärztlichen Blättern', die vom Preß-
bureau des Kriegsministeriums an die Tagespresse weitergegeben
werden :
. . . Der Wert dieser Aktion lag nicht allein in der Entlausung
.... Das regelmäßige Bad, oft gewürzt durch Kinovor-
stellungen . . hatte einen hohen seelischen Einfluß auf die Mann-
schaften, hob ihre Leistungsfähigkeit und Dienstfreude. Ein wichtiger
Schritt nach vorwärts zur Erhaltung des Mannes.
Einzig und allein die Geschlechtskrankheiten sind es, die uns
Sorge machen .... Bedenken wir, daß sich während dieses Feldzuges
wohl schon eine namhafte Anzahl von Soldaten infiziert haben, daß die
Geschlechtskrankheiten unter der Zivilbevölkerung des Kriegsgebietes
und namentlich auch des Hinterlandes in unheimlicher Weise verbreitet
sind, bedenken wir, daß die Volkszahl ohnehin unmittelbar durch den
Krieg einen Verlust von vielen im kräftigsten Mannesalter stehen-
den Soldaten eingebüßt hat — —
Alles nur zu wahr, sogar, daß der Krieg den Verlust von
vielen im kräftigsten Mannesalter stehenden Soldaten mit sich
bringt, nur daß leider dieser Verlust noch immer nicht eingebüßt
wurde. Und nun werden die Mittel zur Bekämpfung und Ver-
hütung der Geschlechtskrankheiten angeführt, mit denen fertig
zu werden eher einem Zauberlehrling hätte gelingen können,
wenn er sich die Abwesenheit des Meisters zunutze gemacht hätte
um einen Weltbrand loszulassen. Er hat aber lieber mit dem
Wasser gespielt, weil er eben doch mehr Phantasie gehabt hat
als die ganze Diplomatie der Welt. Um nun wenigstens wie der
andere Diplomat in der Fabel die Quelle bei Donau-Eschingen'^mit
dem Finger zuzuhalten, versucht die offizielle Welt allerlei Mittel
gegen die Syphilis und sie gerät dabei endlich so weit, die
Staatsgrundgesetze der Sittlichkeit aufzuheben und einen Aus-
nahmszustand der Schamfreiheit anzuerkennen. Not lehrt lieben.
Wie aber drückt sich das in der Sprache der ofiiziellen Welt aus?
Wie sagt es der Regimentsarzt?
Wirhaben Bordelle mit einwandfreiem Material
unter strengster militärischer Kontrolle etabliert
— 87
und verteilen soweit es nur geht, unentgeltlich Prophylaktika an
Offiziere und Mannschaften.
Welch ein Umschwung welcher Welt! Nein, diese Freiheit
meine ich nicht!
Einen bemerkenswerten Verlauf nahm
Hätte sich ein Siriusbewohner das vorstellen können, daß
zwischen den irdischen Schlachtbänken mit einer täglichen
Lieferung von Zehntausenden noch drei Spalten für den Ehebruchs-
prozeß des 73jährigen kaiserlichen Rates Anton H. übrig bleiben
würden? Für die Erörterung, ob M. M., wie der 73jährige
Angeklagte behauptet, nur »Mrs. Mary« bedeute oder wie der Richter
argwöhnt, »Meine Mutz«? Ob er sie in das nahe Hotel nur geführt
habe, >damit sie sich dort auf das Bett legen und ausruhen könne«,
oder zu demselben Zwecke? Ob der Richter recht hat mit der
Mahnung, daß es viel näherliegend gewesen wäre, ein Auto oder
einen Wagen zu nehmen und die Frau in ihre Wohnung zu
führen, oder der 73jährige Angeklagte mit der Versicherung, daß
es in der gegenwärtigen Zeit vergeblich gewesen wäre, ein Auto
oder einen Wagen zu finden — eine Frage, die der Siriusbewohner
zu Gunsten des Angeklagten entscheidet, da er sich oft über das
Geschrei einer ganzen Stadt nach dem einen vorüberfahrenden
»Auto!«, auf das sämtliche Arme und Schirme weisen, beklagt hat
und da es ihm auch bekannt ist, daß der Chauffeur des zweiten,
stehenden Autos wie einer, der seine Pflicht hienieden bereits
erfüllt hat, den Verzicht stöhnt: »Hob ka Luuft!«, während sie in
London bekanntlich durch andauernden Automobilverkehr beweisen,
daß sie mit dem Krieg tändeln. Zum Herzen gehend in dieser
schweren Zeit ist die Erinnerung des Richters, daß er, der
73jährige Angeklagte, bei seinem Bildungsgrade und seiner sozialen
Stellung, also als kaiserlicher Rat, hätte wissen müssen, daß man
eine Frau, die zwar leidend, aber anständig ist, nicht in ein Hotel
führe, weil dies entweder ihren Ruf »auf das höchste gefährden«
oder die Gefühle des Gatten »auf das höchste verletzen« müsse.
(Goldene Worte. Immer ist die Welt von neuem erschaffen, ehe sie
88 —
vors Bezirksgericht kommt, und siehe, es ist das erste Gspusi, das
sich bis dato ereignet hat, nicht nur im Weltkrieg, sondern seit
Erschaffung der Welt, und darum mit frischem, unverbrauchtem Pathos
anzugehen.) Warum er, um Gotteswillen, es ist einfach unfaßbar, nicht
wenigstens nachher dem Gatten das Ganze erzählt habe, da hätte
er ihm doch sagen können; »So, da hast du deine Frau, bedanke
dich bei mir!« Auf weiteres Befragen gibt der 73jährige Angeklagte an,
daß seine eigene Frau 63 Jahre alt ist. Er selbst ist 73 Jahre alt.
Die angeklagte Frau behauptet natürlich, daß nichts Unrechtes
vorgefallen sei, das kennt man. Sie wird scharf ins Verhör
genommen, sie ist auf dem Sprung, einen Lebenswandel geführt
zu haben. Sie weist es von sich. Ihr Vater war an dem Tag todkrank,
er wurde operiert, da werde sie doch nicht. Der Richter fragt sie,
ob sie sich nicht bewußt gewesen sei, daß eine anständige Frau »mit
einem andern Mann«, nämlich einem andern als dem Gatten, nicht
in ein solches Quartier gehen darf. Und dann das mit
dem Brief, wo Mutz oder gar Mutzi steht. Und noch ein
dunkler Punkt. Auf dem Weg ins Hotel, das haben zwei Privat-
detektivs erhoben, im Westbahnpark, soll er sie geküßt haben.
Das ist nicht wahr. Der Angeklagte ist 73 Jahre alt, schwerhörig,
er hat sich herabbeugen müssen, was in der Dunkelheit von den
Detektivs als Kuß gedeutet worden sei. Nun kommt der spannende
Moment. Es wird sich zeigen. > Der Richter läßt die beiden Angeklagten
sich nebeneinander stellen und konstatiert, daß der viel größere Mann
sich zu der Frau herabbeugen muß, wenn er mit ihr spricht.« Während
nun der Privatdetektiv Max Neumann entschieden erklärt, daß sich
die beiden geküßt haben, läßt Wenzel Dimek die Möglichkeit
offen, daß er sich wegen der Dunkelheit getäuscht habe. Die Ver-
teidigung macht geltend, daß der Touristenanzug des 73jährigen
Angeklagten — mit Rucksack — dagegen spreche, daß er auf ein
galantes Abenteuer ausging. Und schon gar nicht sei es der Frau
zUSUrftuten.weil sie ihrerseits wieder vom Krankenbett des Vaters kam.
Das macht auf den Bezirksrichter Mihatsch Eindruck und er nimmt
nicht Ehebruch, wohl aber Verletzung der ehelichen Treue an,
was fünfzig Kronen kostet. Die Begründung ist interessant. Der
Richter hob hervor, und man kann sich denken, daß er selbst
von der Bewegung, die im Auditorium entstand, fortgerissen
ward, »er halte es für unmöglich, daß eine Frau einen solchen
89
Grad von Herzlosigkeit und Gefühlsroheit haben sollte, daß sie
vom sterbenden Vater weg in die Arme des Geliebten eilen sollte,
einem zärtlichen Abenteuer entgegen. Dies erscheine dem Richter
horrend, unmenschlich und unglaublich. Den Kuß hält der Richter
gleichfalls für nicht erwiesen, da bei dem horrenden Straßenlärm,
der gerade an der Westbahn herrscht, es glaublich sei, daß der
Angeklagte, selbst wenn er nicht schwerhörig wäre, sich zu der
Frau herabbeugen mußte, um sich mit ihr zu verständigen.« Da-
gegen das Hotel und Mutz, das seien Dinge, die einer anständigen
Frau unwürdig sind. Mihatsch neigt also bezüglich des Kusses der
Auffassung Dimeks zu. Treffend ist die Bemerkung, daß die Mög-
lichkeit, eine Frau könnte vom sterbenden Vater weg in die Arme
des Geliebten eilen, ebenso horrend ist wie der Straßenlärm bei
der Westbahn. Beide Übel werden sich aber auch, solang' die Welt
steht, nicht aus derselben schaffen lassen. Freilich könnte man von
einem Bezirksrichter verlangen, daß er zwar pferdepeitschende
Fuhrknechte fleißiger abstrafe, aber sich nicht als Vorsitzender
des Weltgerichts gebärde, daß er, solange diese Welt sich mit
Trommelfeuer, Bomben und giftigen Gasen die Zeit vertreibt,
sich bei moralischen Wertungen einige Bedenkfrist offen lasse
und unter den unmenschlichen Dingen, die ihm heutzutag bekannt
werden, sich nicht allzu lange und gewichtig bei Privatangelegen-
heiten aufhalte, die immer menschlicher sind als alles was von
Staatswegen geschieht. Unsittlicher als die Begebenheit, über die
im Chaos öffentlich rechtzusprechen kein Kriegsparagraph bisher
verboten hat, ist das Interesse, das dadurch genährt wird, und
der Heißhunger, mit dem sich eine von Not und Tod unberührte
Gesellschaft auf die »Ehebruchsklage gegen einen 73jährigen Mann«
wirft, ist unter allen Scheußlichkeiten einer Zeit, die die Stirn in
Eisen hat, sich die große zu nennen, das Scheußlichste. Wenn
ich vorn in drei Zeilen sehe, daß vor unseren Stellungen ein Wall
von Leichen aufgetürmt ist, und hinten in drei Spalten dieses Hoch-
gericht über Mutz und ihren Alten, so bin ich auch ein Richter
und weiß, daß nicht die Dinge, sondern die Kontraste mir horrend,
unmenschlich und unglaublich erscheinen.
90 —
Von der Behelligung der Öffentlichkeit
Hat der Gerichtssaalreporter dem öffentlichen Interesse durch
drei lange Spalten Rechnung getragen, so kommt der alte Sach-
verständige für Liebeshändel, der beliebte Faun Wittmann, ein
73 jähriger Zeuge, ein rechtes Sonntagskind, an dessen Wiege, es
war natürlich auch an einem Sonntag, sich die Charitinnen und die
sympathischen Masseusen ein Rendezvous gegeben haben, und
spendet noch acht Feuilletonspalten. Dieser muntere Seifensieder,
der, nicht ahnend die Gefahren, welche die Heimkehr des Reservisten
über Familie, Nation und Menschheit heraufbeschwört, scherzhaft
die an und für sich ekelhafte Fortpflanzungspolitik befürwortet
hat, ergänzt die Leistung des Reporters, um sich unter dem Vorwand
der Mißbilligung einer Ehebruchsjudikatur über den Fall noch
breiter ausschmusen zu können, natürlich nicht ohne Seitensprünge
in jenes ihm geläufige Memoirengebiet, wo der Graf de Stainville
seine Gattin einsperrt und der Herr de Gramont der seinen
Schranken auferlegt, weil ja die hausmeisterische Dürftigkeit unseres
Lasters die Zutat aus jenen Zeiten, in denen es noch einen »Alkoven«
gab, gern hat. Das Übel, das der Gerichtsfall entschleiert
hat, war, wie auch unser alter Vokativus erkennt, nicht die Ge-
schlechtssünde, sondern deren Kriminalität und viel mehr noch
als diese deren Publizität. Er hat also, wofern er nicht selbst zu
ihr beiträgt, ganz recht. Wenn Vorfälle, die sich in einem Hotel-
zimmer abgespielt haben, bloß noch ein Gerichtszimmer passieren
müßten, so würden wir's ja, so trostlos der Eingriff in die Mensch-
lichkeit ist, hinnehmen. Der Abscheu setzt erst bei den offenen Türen
des Gerichtszimmers ein und bei der Arbeit, die man die
Aasgeier des Interessanten verrichten sieht und die schon im
tiefsten Frieden ein Verdruß war. Was soll man aber dazu sagen,
daß in demselben Blatte, das den Fall ausgewalkt hat und das wie
kein anderes solche pikante Abstecher aus dem weltpolitischen
Qemauschel liebt, nachträglich die Sätze erscheinen können:
.... Doch seither ist die Welt größer, Wien eine Zweimillionenstadt
geworden .... Um die tausende Möglichkeiten ehelicher Treuverletzung,
um jeden kleinen Riß und Biß hat sich das Gesetz wirklich nicht zu
kümmern. Alle diese ekelhaften Familienskandälchen
schon von der Schwelle des Gerichtes abzuweisen,
sollten Mittel und Wege gefunden werden. Sie gehören höchstens in
einen Scheidungsprozeß, der hinter verschlossenen Türen
geführt wird. Was erwarten denn eigentlich die eifersüchtigen Männer
oder Frauen, wenn sie die Öffentlichkeit mit ihrem
häuslichen Jammer behelligen? Ihr Glück ist dahin, die
l^iebe verflogen, und nur einen Wunsch haben sie noch, den, sich zu
rächen. Ist aber die Staatsgewalt dazu da, dem einzelnen bei Befriedigung
seines Rachedurstes Handlangerdienste zu leisten?
Nein, aber die Presse ist dazu da. Sie kann, wenn sie eine
nir nicht gerade verschlossen findet, nicht draußen bleiben. Sie
muß hinein. Kein Mensch außer den Beteiligten und ein paar
(jerichtssaalschmarotzern würde etwas von den Dingen, die
die Zeitung so ekelhaft findet, erfahren. Darum müssen sie in die
Zeitung kommen, damit die größere Welt, die Zweimillionenstadt
auch etwas davon hat. Und nachdem es geschehen ist, müssen sich die
Beteiligten, die ihr Ehebruch schließlich immer noch mehr angeht als
Herrn Wittmann, von der Zeitung nachsagen lassen, daß s i e die
Öffentlichkeit mit ihrem häuslichen Jammer behelligen. Und es
geschieht ihnen schließlich recht, wenn sie auf diesen Vorwurf
nicht die Antwort finden, daß sie den Reporter, der ins Qerichts-
zimmer gekommen ist, und den Feuilletonisten, der ihnen daraus
einen Vorwurf macht, mit einem und demselben nassen Fetzen
traktieren.
Es gibt noch Richter in Ungarn
Heirat!
Bin 50 Jahre alt, kalh., S e n a t s-
präsident eines Ober-
gerichtes, mit 15.000 K
jährl. Gehalt, habe Aussicht, in
Kürze in die Rangsklasse mit
24.000 K jährl. Gehalt vorzu-
rücken, bin vollk. gesund und
rüstig, hoffähig. Meiner Gattin
werde ich der liebevollste und
zärtlichste Genosse u. Lebens-
gefährte sein, wie es eben
unter Gebildeten ent-
spricht. Näheres unentgelt-
lich bei Franz Davidovics,
Budapest, Visegradi-utca 23.
92
Einen feschen Ministerialsekretär hat er auch
Ministerlalsekretär
in Wien, 40 Jahre, kath., ledig,
Einkommen 10.000 Kronen,
Vermögen 60.000Kronen, von
sehr vorteilhaftem, feschen
Äußeren, wünscht geb. Dame
mit mäßigem Vermögen zu
heiraten. Näheres diskret bei
Franz Davidovics, Budapest,
Visegradi-utca 23.
* *
Phryne und Müller
(Die Arlistin im Eva-Kostüm.) Die Artistin Hilda St
erschien im Vormonate in einem Kaffeehause in der Alleegasse auf der
Wieden, angetan nur mit einem Regenmantel. Da ihre Kleidung bei
den anderen Gästen natürlich Anstoß erregte, wurde die St. zur
Polizei gebracht und dort fand man in der Tasche des Regenmantels
ein von einem Herrn unterschriebenes Rosabriefchen, auf welchem die
Worte zu lesen waren: »Liebe Hilda! Komme heute in derselben
Toilette in das Kaffeehaus, in welcher Du neulich bei mir gewesen
bist.< — Zur gestrigen Verhandlung vor dem Bezirksgericht Margareten
war die Artistia nicht erschienen. Da sich ihre persönliche Einvernahme
als dringend notwendig erwies, beschloß der Richter die Vertagung
und ordnete für den Fall, als Hilda St. auch zur nächsten Verhandlung
nicht kommen sollt«, deren Vorführung an.
Die Vorladung dürfte kaum die Bitte enthalten haben, in
derselben Toilette bei Gericht zu erscheinen, in welcher sie
neulich im Kaffeehaus erschienen ist. Denn die Zeiten, wo Phrynen
auf Bezirksrichter Eindruck gemacht haben, sind vorbei. Was hin-
reichend aus der Tatsache hervorgeht, daß der Freispruch, den der
Richter in der Schlußverhandlung gefällt hat und gegen den weit
weniger einzuwenden ist als gegen die Publizierung des Ereignisses,
Entrüstung hervorgerufen hat, und eine, die sich sonderbarerweise
in Zuschriften an mich Luft macht. Ein deutscher Mann, der tat-
sächlich »Friedrich Müller« heißt und mir versichert, daß meine letzte
Vorlesung »alle Veranstaltungen in unserem lieben Nürnberg weit
übertraf« — was ich nicht erwartet hätte — , meint, daß das
Empfinden jedes sittlich denkenden Menschen auf das tiefste ver-
letzt sei.
Ich hoffe zuversichtlich, daß es der Meisterschaft Ihrer Kritik
gelingen wird, einen Richter des uns verbündeten Staates
93 —
in Hinkunit davon abzuliallen, gegen solch schamloses Treiben in dieser
ernsten Zelt mit einem Freispruche vorzugehen. In der Hoffnung, die
Angelegenheit vor das richtige Forum hiemit gebracht zu haben, zeichne
icii Euer Hochwohlgeb. ganz ergebener ....
Es scheint eine Verletzung der Nibelungentreue ultra dimidium
vorzuliegen. Der Bürger des uns verbündeten Staates hat sich in
dem Forum, vor dem er sie belangt, nicht getäuscht. Wenn das
Schreiben selbst fingiert wäre, so gäbe es doch das Bild jener vor-
handenen Gesinnung, die mich als Richter dauernd davon abhält,
gegen die ernste Zeit mit einem Freispruch vorzugehen.
* «
Pranger und Presse in Preußen
In Berliner Blättern heißt es:
An den Pranger. Der Amtsvorsteher von Berlin-Britz gibt
öffentlich bekannt, daß wegen würdelosen Verhaltens gegenüber
russischen Gefangenen die Ehefrau Bertha Panzer geb. Reinhardt
zu Britz, Bürgerstraße 32 wohnhaft, auf Anordnung des Oberkommandos
in den Marken ernstlich verwarnt worden ist.
Was die Behörde bewilligt
(Ein bedenklicher Kaffeehausbesuch.) Die Private Rosa K
ein 20jähriges hübsches Mädchen, wurde vor einiger Zeit, als sie gegen
Mitternacht das Cafe Ankerhof am Hohen Markt verließ, von einem
Polizeiagenten verhaftet und dem Bezirksgericht Josefstadt unter dem
Verdachte, ohne behördliche Bewilligung dem
liederlichen Lebenswandel sich ergeben zu haben,
eingeliefert. . . .
Es ist eine alte Geschichte, aber so schön stoßen auf
dem Felde von Sittlichkeit und Krimina' ität die Begriffe selten
zusammen, wie hier, wo die behördliche Bewilligung zur Lieder-
lichkeit vermißt wird. Die Behörde bewilligt, liederlich zu sein,
aber sie bewilligt nicht, liederlich zu sein, ohne daß sie es bewilligt.
* «
Das entschleierte Bild der Sais
Dem Paul Lindau, einem alten Schwerenöter von Beruf, ist
es geglückt, den Schleier der Sais zu lüften.
» — — und kaum hatte ich den Schleier der Sais ein wenig
gelüftet — — <
Der alte Mann, der in Berlin eine ähnliche delikate Tätigkeit
ausübt wie der Kollege Wittmann in Wien und Schulter an
94
Schulter mit diesem in angenehmen Erinnerungen schwelgt, muß
eine rechte Freude dabei gehabt haben. Zwischen dem verschleier-
ten Bild zu Sais, der Hetäre Lais und dem Schleier der Maja
hatte sich ihm, >der schon manchen Grad mit schnellem Geist
durcheilt hatte«, eine erotische Verbindung eingestellt, der er restlos
verfallen war, so daß er nicht nur seine Gesittung, sondern auch
seine Bildung dabei verleugnen mußte. »Besinnungslos und bleich,
so fanden ihn am andern Tag die Priester am Fußgestell der
Isis«, was sag' ich, der Sais, der Mais, nein der Laja, ausgestreckt.
Zu seiner Entschuldigung könnte er höchstens sagen, daß er der
Versuchung der Neuen Freien Presse, in deren Hause ihm das
passiert ist, erlegen war, wo es bunt zugeht und kurz zuvor eine
Laufkatze Junge gekriegt hatte.
Die Schalek und der einfache Mann
Zwischen der Schalek, die an der Tiroler Front empfind-
liche Rückschläge erlitten hat und nachdem es ihr gelungen war
in einen Teil unserer Schützengräben einzudringen, gleich darauf
wieder hinausgeworfen wurde, ja einmal auch knapp vor unseren
Artilleriestellungen einen strategischen Rückzug antreten mußte,
zwischen der Schalek und einem dort beschäftigten Kanonier halte sich
ein Dialog entsponnen. Sie wollte hinausgehen, dort wo der ein-
fache Mann ist, der namenlos ist, und fragte den Kanonier, dessen
Aufgabe es ist, am Mörser den (im Hinterland jetzt raren) Spagat an-
zuziehen, was für Empfindungen er dabei habe. Der einfache Mann an
der Front verstand nicht. Da wollte die Schalek wissen, was für Er-
kenntnisse er habe. Auch dies verstand der einfache Mann nicht,
der nur so viel verstand, daß eine Frau die Frage an ihn richtete,
wiewohl er nicht verstand, wie das möglich sei. Er sah die Schalek
an und schwieg betroffen. Da sagte die Schalek: »Ich meine, was
Sie sich dabei denken, wenn Sie den Mörser abfeuern, Sie müssen
sich doch etwas dabei denken, also was denken Sie sich dabei?«
Da verstand der einfache Mann, der namenlos ist, und sagte die Worte:
>Gar nix!« Da wandte sich die Schalek enttäuscht, und ging
weiter die Front ab. Der einfache Mann aber wurde strafweise
nicht genannt.
Das ist mein Wien, die Stadt der Lieder
Das Witzblatt, dessen fachlicher Humor die so zeitgemäße
Verbindung von Dreck und Feuer ist, bringt von einem seiner
Handwerker eine Karikatur der Königin von Rumänien und von
einem seiner Mundwerker den Text dazu:
»Ich lasse mich grundsätzlich mit Lilien photographieren. Die
geben einen prachtvollen Kontrast zu meinem politischen und
sexualen Leben.«
Keine Hundspeitsche würde sich auf solches Niveau herab-
lassen wollen. Das muß auch der einfachste Mann an der Front
zugeben, dem bis dahin die Unterscheidung von Humor und
Niedrigkeit noch nicht in allen Fällen geglückt wäre. Denn die
(jemeinheit besteht nicht in ihr selbst, sondern in der Bereitschaft,
sie auszusprechen, wenn es infolge einer politischen Wendung
erlaubt ist und die Neutralität eines Staates die Beschmutzung seiner
Königin nicht mehr verbietet.
Daß sie die wehrlosen Orts-
genossen dieser Schande gewesen sind! Diese ehrvergessene Stadt,
die die Auswucherung ihres heiligen Schubert durch Operetten-
konsortien zuläßt und unterstützt und schon darum allein Pest
und Bomben verdient hat; die einem leichenphotographierenden
Weib in den Konzertsaal nachläuft und es zwar schicklich findet,
(laß die »alleinstehende Frau« an die Isonzofront, aber unschicklich,
daß sie ins Kaffeehaus geht; die ihre Zahlkellner, ihre wahrsten
Kulturrepräsentanten beauftragt, in der Epoche der Truppentranspoi te
den Mangel an »Herrenbegleitung« zu beanstanden - dieses Wien
ist offenbar von einem Dämon dazu verdammt worden, nicht
unterzugehen, sondern im Gegenteil täglich sich selbst zu ertragen,
sich hören zu müssen, sich sehen zu müssen, und die bitterste aller
Schickungen durchzuhalten - sein eigenes Dasein !
9G
Auf der Suche nach dem Menschen im Heros
Der Auswurf der gewiß nicht planetreinen europäischen
Bevölkerung, also die Presse, ist, abgesehen von der kleinen
Meinungsverschiedenheit, die zum Völkerblutbad geführt hat,
völlig einig in dem Verlangen nach mehr Preßfreiheit, die
bekanntlich eine der kostbarsten Errungenschaften der Menschheit
bedeutet und von dem Oute der menschlichen Freiheit als solcher
nicht zu trennen ist. Wiewohl nun das Recht, Mensch zu
sein, nicht das geringste mit der Meinungsfreiheit, wie sie die
Wegelagerer des Fortschritts propagieren, zu schaffen
hat und man sich die vollkommenste Verfügung über die Lebensgüter
recht wohl ohne eine tägliche Presse vorstellen könnte, wird dem Volk
der unauflösliche Zusammenhang alles dessen, was der Mensch vom
Leben zu fordern ein Recht hat, mit einer unzensurierten
Journalistik so tief eingeleitartikelt, daß man sich wirklich eher
Malkontente in einer presselosen Zeit als in einer brotlosen vor-
stellen könnte. Mehr denn je wagt es diese Profession von
Tagdieben, die ihren Beruf verfehlt haben, geistige Freiheit in
Verbindung mit dem Amt zu bringen, die Menschenwürde
täglich ungestraft zur Kanaille zu machen. Daß eine Staats-
anwaltschaft Nachrichten verbietet oder Kom-
mentare, derenLektüre vielleicht keinenSchaden
am Staatsinteressebewirken würde, deren Unter-
drückung aber dort keinen edleren Teil verletzen
kann, wird nur so laut beklagt, um dieLeserschaft
vergessen zu machen, daß eine Kulturanwalt-
schaft fehlt, die alles das zu verbieten hätte, was
jene noch erlaubt. Die sittliche Verfassung, in der diese
Gemeinschaft Anklagen gegen die Zensur erhebt, wird kaum besser
als durch die Schrankenlosigkeit der Befugnisse illustriert werden
können, die sie sich tagtäglich gegen die Überreste unserer Scham
97
und unserer Vernunft herausnimmt. Auf einer einzigen Seite drängen
sich täglich hundert Beispiele, die solches Übermaß an Freiheit be-
weisen wollen. Aber keines hat in den letzten, ach so reichen Kriegs-
wochen so gellend nach Beachtung gerufen wie der Entschluß des
Herrn Arpäd Pasztor, Sonderberichterstatter des »Az Est« —
totenübel wird einem schon vor der Fülle der Abenteuer, die
solche Namens-, Berufs- und Firmenverbindung enthält — , also der
Entschluß dieses Mutigen, »Casement in Berlin« für das , Berliner
Tageblatt' auszuforschen, Nachdruck verboten. Er macht sich auf
den Weg, den Lebensspuren des Mannes nachzugehen, der den
Märtyrertod gestorben ist, um den Würmern die Gelegenheit zugeben.
In Berlin verweilend fiel mir ein : Wäre es nicht zweckmäßig, fern
von der Politik einen Mann zu suchen, der ihm nahestand, oder die
Erinnerung, die von ihm zurückblieb, oder vielleicht die
Hotels aufzusuchen, wo er lebte, die Frau, für die er
vielleicht Neigung hatte, und dies alles noch heute?
Ich möchte die noch vibrierenden Minuten erfassen,
denn morgen, in ein paar Jahren, flieht schon die Zeit
wie hundert Jahre vorüber, und in dem Heros
sieht man nicht mehr den Menschen . , . Und gerade
der Mensch ist doch das ewige Problem..,.
Bei der Wahl, einen Mann, eine Erinnerung oder ein Hotel
zu suchen, entscheidet er sich für dieses, und der Hotelportier des
eigenen Hotels hilft schon, das ewige Problem zu lösen.
Der, Hotelportier denkt nach auf meine Frage,
ob er wüßte, wo Casement gewohnt hat ?
Der Hotelportier weiß es nicht, aber es wird festgestellt,
daß Casement in der Bar des Hotel Bristol verkehrt hat. Die
Kellner werden interviewt.
Anton Schramm und Willy Rhön kannten ihn. Ich gebe weiter,
was diese mir erzählten.
Dann gehts ans Forschen.
>Trank er gern?« »Nein. Er trank nicht viel. Am liebsten
Martini-Cocktail. <
Das ewige Problem ist aber damit beiweitem nicht erschöpft.
Die Frage der Fragen bleibt noch offen:
»Sah man ihn in Damengesellschaft?«
98
Niemals. Schwere Enttäuschung bemächtigt sich Arpäds.
Er wendet sich verdrossen der Politik zu und interviewt Herrn
V. Puttkamer, dem er den Ausspruch entreißt:
>. . . . Einen Casement hängt man nicht .... Einen Casement,
wie irgendeinen Dieb oder Mörder? Das ist eine richtiggehende
englische Niedertracht.«
Herr v. Puttkamer verwendet absichtlich den Vergleich mit
Dieben und Mördern, weil man einen Journalisten noch nicht
gehängt hat. Die Menschheit fühlt sich unter der Presse
zu wohl, um ihre Tyrannen an den Galgen zu wünschen.
Sie erträgt es gern, daß nach dem Tod eines Märtyrers der
Reporter in die Hotels läuft und fragt, ob er Damenbesuche
empfangen hat.
Hospiz" am Brandenburger Tor. Hier wohnte er zuerst in Berlin.
>Christliches Hotel ersten Ranges« nennt es sich, und möglich, daß
Casements Wahl darum auf dieses Hospiz fiel.
So wird der Portier ins Gebet genommen.
>...Was für Menschen kamen her zu ihm?«
»Amerikaner, und ein-, zweimal ein Hindu . . .«
»Damenniemals?«
>Nie . . .<
Die drei Punkte sollen die Sprachlosigkeit des Fragers aus-
drücken. Im Hotel Fürstenhof aber ist noch weniger herauszu-
kriegen. Zum Glück wird in einem andern Hotel ein Amerikaner
aufgetrieben, der etwas zu wissen scheint.
>War er aufgeregt, als er sich von Ihnen verabschiedete . . .
Weinte er vielleicht?«
»Ja. Aber lassen wir das, wir stehen ja den Ereignissen
so nahe, und diese sind ja so private Angelegen-
heiten...«
»Bittel ... Werden Sie es nicht aber einmal
beschreiben?«
Arpäd ist auch taktvoll, wenn einer grob wird oder es speziell
verlangt; aber es wäre ihm sehr unangenehm, wenn dieser selbst
schreiben wollte, was er nicht sagen will. Er wickelt sich los von
dem unwirtlichen Amerikaner. Es gibt noch Informations-
möglichkeiten 1
99
Frida Scholtz, Stubenmädchen im »Hotel
Saxonia«. — Casement wohnte im Zimmer 416, und Frida
Scholtz hat aucli sein Zimmer aufgeräumt.
»Erinnern Sie sich noch an ihn? Was für ein Mensch
war er?«
Das liebe deutsche Mädchen lächelt :
»Ja, der Herr war ein icomischer Mensch . . . Nicht so wie die
übrigen Gäste, man Itann ihn nicht so rasch vergessen.«
»Um wie viel Uhr stand er auf?«
»Jeden Morgen um 9 Uhr. Dann mußte man ihm den Tee
herein tragen. Er zog sich an, ging ins Lesezimmer oder etwas
spazieren, während dieser Zeit mußte sein Zimmer
in Ordnung gebracht werden.«
Nun ist der Moment gekommen, wo Arpäd die vibrierenden
Minuten erfassen kann. Man sieht bereits in dem Heros den Menschen,
wie er >jeden Früh, wenn er aufkommt und aufsteht, seinen Tee
trinkt«, den man ihm hereintragen muß, und später verlangt er,
daß sein Zimmer in Ordnung gebracht wird. Aber das ewig«
Problem ist noch nicht ganz gelöst. Frida Scholtz gibt sich
alle Mühe.
». .. nie wurde er vertraulich, immer ver-
schlossen.«
Jetzt ist Arpäd am Ziel.
>Damen haben ihn nicht aufgesucht?«
»Nein. Nie ... Nur Frau B. vom Zimmer 40 5.
Sie schickte Herrn Casement oft Blumen, nach dem Mittagbrot
kamen Casement und seine Freunde bei ihr zusammen, plauderten.«
>Moment!« denkt Arpäd, das wollen wir doch ein wenig
untersuchen.
»Wie alt war die Dame?«
Ȇber vierzig ... Nein, nein, mein Herr, das war
keine Liebe... Nur eine große Freundschaft. Bewunderung . . .
Wir wüßten es ja . . .<
Frida hat Arpäds Gedanken, die sich in drei Punkten in
einem Punkt zusammenfassen lassen, erraten. Er beeilt sich, noch
ein paar Daten über Frau B. zu erraffen, und kommt dann wieder
auf das Problem zurück.
»War Herr Casement zerstreut '•'<
100
Sie verneint es. Er hat sogar nicht vergessen, ihr vor ckr
Abreise ein Trinkgeld zu geben. Sie weiß darüber eine inter-
essante Mitteilung zu machen.
».Hier, Fräulein', sagte er, als er ging, und
gab mir 2 Marie 50 Pfennig als Trinltgeld.«
Nun wäre ja alles so ziemlich festgestellt. Bleibt nur
noch eins.
Der Hotelportier Planner erzählt von der Abreise.
Dies und das.
Das ist alles, was ich in Berlin über Casement erfuhr. In der
weiten, geschichtlichen Perspektive habe ich die kleinen,
menschlichen Züge zu schildern versucht. Wie sein Wagen
vom Hotel Saxonia durch die Budapester Straße fuhr . . .
Die früher auch anders geheißen haben dürfte.
Das Übrige, was geschah, ist ja schon ein düsterer Shakespeare-
scher Akt.
Bis dahin ist es von Arpäd Päsztor, Sonderberichterstatter
des »Az Est«, austauschweise dem Berliner Tageblatt zugeteilt, und
so ehrt man in den Zentralstaaten die Märtyrer des perfiden Albion,
indem man herauszukriegen sucht, ob sie Damenbesuche empfangen
haben. Ein Akkord in Moll klingt nach:
Beim Morgengrauen am Karfreitag. In den hügeligen
irischen Häfen...
Im Morgenblatt des 20. August. Im Berliner Tageblatt . . .
Und wenn man nach dieser Stimmungspause bedenkt, daß da
einer für seine Überzeugung gehängt wurde und so etwas, mit
solcher Moralität und Manier, überlebt, Einfluß hat, von
Ministern und Generalen so leicht Auskunft bekommt wie von
Hotelportiers und Stubenmädchen, uns belehrt, ergötzt, durchs
Leben und in den Tod führt — so ist es wahrlich höchste Zeit;
mehr Preßfreiheit zu verlangen!
101
Klärungen
An der iieudeutschen Verbindung von Modisch ulprofessur
und Unterseeboot sind die (Süddeutschen Monatshefte' hervorragend
tätig und ihr Herausgeber, der Herr Professor Cossniann, benützt
seine freie Zeit zur Abfassung von Protokollen mit anders ge-
sinnten Kollegen. Sie bilden den Inhalt eines Briefwechsels zwischen
dem Reichskanzler und dem Großadmiral, welchen Herr Cossmann
zum Schutze eben jener > persönlichen Ehre« veröffentlicht, die sowohl
durch das Protokoll wie durch die Publikation in Mitleidenschaft
gezogen wird. Die ziemlich düstere Angelegenheit, die durch keinen
Heiligenschein zu erhellen ist und doch den Typus des Nationalliberal-
professoralradikalen deutlich hervortreten läßt, wird noch durch die
Anwandlungen einer kulturellen Reue, zu denen sich die (Süd-
deutschen Monatshefte' zuweilen hinreißen lassen, ein wenig ver-
wirrt. Daß diese Zeitschrift seit Kriegsausbruch nichts ist
als eine Monatsausgabe des groben Unfugs, der sich an Zerrbildern
von sämtlichen außergermanischen Kulturen berauscht, und daß
sie es für die > Neuorientierung« des deutschen Lebens in der Regel
mit jenen hält, die von »Kismet-Knöppen« sprechen, wenn sie
sich statt in einem Warenhaus ausnahmsweise in einer Moschee
befinden, ist hier gelegentlich einer wohltuenden Ausnahme be-
sprochen worden. Die Unterseeprofessoren haben aber doch auch
einen gewissen Ehrgeiz, vor der Kulturkritik bestehen zu können,
und daraus mag sich die folgende Zuschrift der , Süddeutschen
Monatshefte' erklären lassen:
Verehrter Herr Kraus!
Aus Ihrer Bemerkung auf Seite 79 der neuen Fackel hatte
ich den Eindruck, daß Sie einen Beitiag unserer Kriegshefte über-
sehen haben, nämlich die stenographischen Aufzeichnungen aus
dem Münchner Schlachthaus im Aprilheft 1916; ich schicke Ihnen
daher gleichzeitig dieses Heft.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Cossmann
München, 11. August 1916.
Meine Verpflichtung, einen Beitrag der , Süddeutschen Monats-
hefte' nicht zu übersehen, schien mir nicht einleuchtend. Immerhin
war mir so viel klar, daß Herr Cossmann, dem ich nachrühmte,
daß er einmal einen Beitrag gebracht habe, der >Mut zum Schani-
102
gefühl vor Gott und der bewohnten Erde« hat, dessen Inhalt
»wert- und gewichtvoll«, sei und für den ich den , Süddeutschen
Monatsheften' »ihre sonstige Existenz im Kriege vergeben wolle«,
bei seinem Ehrgeiz gepackt war. Er legt — so viel entnahm ich
aus seinem Schreiben, ehe ich das eingesandte Heft noch angesehen
hatte — einigen Wert auf die Feststellung, daß er noch ein zweites-
mal einen anständigen Beitrag gebracht habe. Ein nicht so deutsch
gesinnter Mann würde vielleicht, wenn er sich mit dem Tadler
überhaupt in eine Diskussion einläßt, sein ganzes übriges Inventar
verteidigt und geantwortet haben: Oho, alle meine Kriegshefte
enthalten nur anständige Beiträge! Herr Cossmann aber fühlt ent-
weder, daß ich recht habe, oder er legt Wert darauf, von einem
anerkannt zu werden, der sein Wesentliches verwirft. Er gibt seine
Richtung preis, um das Lob seiner Fehltritte zu ernten. Der
Artikel, den er meiner Beachtung empfiehlt, hätte keineswegs diesen
Erfolg; er ist Material, aus dessen Drucklegung kaum mehr als die
Tendenz ersichtlich ist, Roheiten, die im Münchner Schlachthaus
geschehen, zu mißbilligen. Wiesolchesden,SüddeutschenMonatsheften'
Verzeihung für ihre Tendenz erwirken sollte, die Welt in ein
Münchner Schlachthaus zu verwandeln, ist unerfindlich. Das Vorzeigen
dieser Leistung kann den günstigen Eindruck, den die Kontrastierung
deutscher und türkischer Sitten erweckt hat, nur abschwächen, und
der Herausgeber der (Süddeutschen Monatshefte' sollte nicht so
freigebig in der Darbietung von Gegenbeweisen gegen sich selbst
sein. Nicht der Artikel, den er so brav war aufzunehmen, höchstens
die Bravheit, ihn vorzuzeigen, könnte ihm bei mir nützen.
Dagegen bin ich gern bereit, ihm beizustehen und aus
dem September-Heft der , Süddeutschen Monatshefte' eine höchst
anständige, gegen die , Süddeutschen Monatshefte' geradezu aggressive
Notiz, auf die er mich bisher nicht aufmerksam gemacht hat, zu
zitieren;
Wir möchten jedem Deutschen die Gabe wünschen, daß er
seine Zeitungen einmal eine halbe Stunde lang mit den Augen
eines Ausländers lesen könnte. Er würde erröten, wie jämmerlich
und albern die moralischen Klage- und Anklagefluten aussehen,
die sich alltäglich über die Schurkerei und die Treulosigkeit unserer
einst verbündeten Feinde und ihrer Staatsmänner ergießen. Wir
wollen uns einmal ganz ruhig die Frage vorlegen, welcher Staats-
mann seinen Zweck besser erfüllt: ein sogenannter schuftiger, der
103
die Ziele erreicht, die er für seinen Staat erstrebt, oder ein so-
genannter ehrlicher, der sich und seinen Staat jedesmal daneben setzt.
Die oberste Pflicht jedes Staates, er sei groß oder klein, ist
die Selbsterhaltung: das ist bei jedem Bündnisvertrag stillschweigend
miteinverstanden, und hierin hat alle Treue im bürgerlichen Sinne
ihre Grenze. Die Aufgabe der Staatsmänner ist es, die eigenen
Bündnisse so zu wählen und zu erhalten, daß sie sich im Qebrauchs-
fall wirklich mit dem Vorteil aller Beteiligten decken und daß die
Beteiligten hievon auch immer überzeugt bleiben. Wer sich aber
seiner selbst nicht sicher zeigt, der beleidigt lediglich die anderen,
wenn er von ihnen erwartet, daß sie so töricht sind, auf seine
Karte zu setzen. Da bleibt dann nur mehr übrig, daß die Waffen
noch einmal alle Rechnungen von Grund aus überprüfen. Und
dabei kommt gottlob oft wieder etwas ganz anderes heraus, als
die listigsten Rechenkünstler sich ausgetüftelt haben.
Wenngleich hierin wohl ein Unterseeboot verborgen
ist und ein realpolitischer Vorbehalt für jenes professorale
Expansionsbedürfnis steckt, das keine Grenzen kennt und anerkennt,
so muß doch die Ablehnung des idiotischen Treubruch-Motivs
und die Abweichung von der Melodie der ,Süddeutschen
Monatshefte' anerkannt werden.
Solcher Vorurteilslosigkeit sollte aber noch eine andere
Aufklärung gelingen. Noch ein zweites Motiv aus der Ideologie
des politischen Gemütslebens, also einer nicht durch den
Krieg und nicht durch ihr eigenes Dasein alterierten Sittlichkeit,
also der Dummheit, belebt andauernd die polemische Debatte
jener, die dem Blutbad einen heilsamen Zusatz von Tinte ver-
gönnen: die Aushungerung. In Kürze gesagt: hier klagt die
Dummheit die einzige Raison an, die in diesem Chaos von Gefühls-
verrottung bisher merkbar wurde. Raison im Umkreis der Hand-
lungen, die das sichtbate Leben bestimmen, kann nie anderes
bedeuten als die Übereinstimmung von Mittel und Zweck.
Zweck des kriegführenden Menschenturas ist essen, mehr essen,
handeln, mehr handeln, um mehr zu essen, um mehr zu
handeln. Der Kriegszweck ist, was der Lebenszweck ist:
das Lebensmittel. Was sollte das Kriegsmittel sein? Ist
es sittlicher, für das Lebensmittel zu sterben als dafür
zu hungern ? Die Parteien sind geschieden nach der größeren
Begehrlichkeit und dem größeren Widerstreben, ihr nachzu-
geben. Hier könnte der »Neid< einen Rest von Menschenwürde
104
decken. So oder so, und wenn der Zweck auch hier nichts
anderes wäre als mehr essen und mehr handeln, so entscheidet doch
nur die Macht auf dem Lebensmittelmarkt. Nun gibt es zweierlei
Mittel, sich hierselbst zur Geltung zu bringen: die Hacke oder
den Hunger. Organischer ist dieser, von der Materie des Streits
bezogen, die im wahren Sinne des Wortes Materie ist. Aushungern
war ein Kriegsmittel in Religionskriegen und selbst da sittlich, weil
der Zweck das Mittel, mit dem er sich nicht deckte, doch geheiligt hat,
weil der Kampf um eine Idee ging, in deren Idee es ist, über den
Körper zu siegen. Um die Kirche zu schützen, war der Hunger
ein probateres Mittel, als es die Hacke ist, um die Küche
zu schützen. Wie könnte ein Zweifel bestehen, daß der
Esser, der die Küche absperrt, geistiger handelt als der, der
Blausäure und Flammenwerfer zu Hilfe ruft? Es kann der
Moment eintreten, wo er gegen solche Mittel, die einer anwendet,
um in die Küche zu gelangen, sie selbst anwenden muß. Wenn
sie mit den Küchenmörsern beide aufeinander losgehen, scheidet die
Frage nach Mittel und Zweck aus der Debatte. Solange es aber
genügt, den Schlüssel umzudrehen, versündigt nicht der, der's tut,
sich an der dürftigen Idee des Kampfes, sondern der andere, der
in Ritterrüstung und mit Theodor Körner'schem Augenaufschlag eine
höhere Idee vorgibt und die Welt vergessen machen möchte, daß
nicht die ewige Seligkeit erhungert werden soll, sondern das Essen, und
daß er nicht am Leibe gestraft wird für den Geist, sondern für den
Leib. Auch er versucht es, dem andern die Küche zu sperren,
verleugnet aber diese moralische Handlung, um sie dem andern
vorzuwerfen. Denn Moral ist ihm immer das, wogegen der andere
verstößt, wenn er's selber tut. Darum liegt ihm die blutige
Vergeltung, die allen Widerspruch ausgleicht. Er vermißt diese
Methode, wenn dort, wo einzig der Proviant den Erfolg und der
Mangel den Mißerfolg bedeutet, seine Ideologie ihm die Genug-
tuung bietet, er sei »nicht durch Gewalt, sondern durch Hunger«
unterlegen. Er wird immer dort ein Turnier aufführen, wo eigentlich
ein Vergleich der Hauptbücher den Streit beenden oder überflüssig
machen könnte. Er nur schiebt die Ideale vor, um irdische Dinge zu
erreichen, und verficht Vorwand und Zweck mit dem Blut, das
weder demZweck angemessen ist noch dem Vorwand. Die Reduzierung
des Vorwands auf den Zweck nun besorgt das Mittel, das diesem
105
angemessen ist. Die Aushungerung ist hier nicht bloß ein Kriegs-
mittel wie ein anderes, sondern eine Bereinigung der Sachlage und
eine Aufklärung der Lebensdinge gegen eine Moral, die nicht
Aug um Auge, sondern die Faust aufs Auge haben möchte. Der
Buchhalter als solcher, der gegen den gepanzerten Buchhalter
mit der seiner Sphäre erreichbaren Macht aufkommen will, solange
es geht, handelt nicht unnatürlich, da er dort handelt, wo eine
unselige Verirrung des Menschengeistes das Schießen zugelassen hat.
Es ist eine völlig völkerrechtsverdrehte Ansicht, grausam wie nur
eine Grausamkeit, die von populären Gefühlen bedient wird:
Flammenwerfer gegen »Kombattanten« bei der Austragung von
Exportangelegenheiten für sittlicher zu halten als Einfuhrsperre
gegen »Nichtkombattanten«, die in der Epoche der allgemeinen
Wehrpflicht von jenen kaum durch das Alter, vorläufig
noch durch das Geschlecht unterscheidbar sind. Als ob die
Kombattanten nicht ebenso unschuldig oder schuldig wären
wie die Nichtkombattanten, nicht ebenso wehrhaft oder wehrlos
gegen den trostlosen Hunger wie jene gegen die trostlose Maschine ;
als ob das allgemeine Grauen, das in der Einstellung des
demokratischen Prinzips unter den Machtbegriff beschlossen ist,
Abstufungen zuließe. Die Mobilisierung der Moral in einem
Krieg, dessen Möglichkeit die Moral negiert, ist das Kriterium
eines Geisteszustandes, der die Welt durch sein heilloses Talent
die neuen Ideale mit den alten Emblemen zu garnieren,
vor den Kopf gestoßen hat, ihr nun noch diesen zerschlagen
möchte, und der es ja möglich gemacht hat, daß sich jetzt
jeder Warenknecht nicht nur Gott und die Kunst, sondern
auch die Glorie auf sein Schild schmiert. Wie die Entrüstung
über Treubruch in einem Lebensgebief, dessen Wesen nicht die
Treue, sondern der Export ist, so ist die Sentimentalität der
A4agenfrage ein Symptom jener furchtbaren Gefühlsverschlingung,
die die heutige Situation besser erklärt als jeder politische
und strategische Aufschluß. Wenn die , Süddeutschen Monatshefte',
die bei einwandfreier nationaler Gesinnung den Ethikern der
Presse den Treubruch ausgeredet haben, sie nun noch über die
Aushungerung beruhigen wollten, würtlen sie sich dauernd mein
Wohlgefallen erwerben.
%^f^f
— 106 —
Das Unterbewußtsein im Kriege
Ein Politiker hat an den Verlag der Fackel die
folgende Aufforderung gerichtet:
Die neuere Psychologie hat, soweit mein Wissen
davon reicht, bisher bloß die Erscheinung des »Ver-
sprechens« beobachtet. Der vorliegende Fall von Ver-
schreiben — freilich eines langjährigen Redners,
der sich auch im Schreiben reden hört, und lebhafter,
v/eil ihm das Parlament verschlossen ist — , ergibt
ein umso berückenderes Beispiel von Einmischung
des Unterbewußtseins, als der Schreiber nicht einmal
durch die optische Kontrolle des (hier in verkleinertem
Format wiedergegebenen) Bekenntnisses irre zu machen
war. Seine Fortsetzung würde der Fall in den Seelen
jener Leser finden, deren Blick so wenig stolpern wird
wie seine Feder. Ich schätze dieses Autogramm, das
ein Datum mit so furchtbarer Sicherheit verfehlt hat
und dessen Verfasser selbst in keine schuldvolle
Beziehung zu der Welt des Kriegsgewinnes, aber mehr:
in die der Zeugenschaft und Kennerschaft gebracht
werden soll, als eines der stärksten Dokumente zur
Natur dieses Krieges.
— 107
Glossen
Trophäen
Kriegslieferant
wünscht bis zirka 2,000.0 00 Kioneii
für alte Kunstgegenstände bar
anzulegen und kauft vorwiegend: 1. alte
Gemälde (holländ , französ., englische und
Alt-Wiener Schule); 2. Miniaturen 16. bis
19. Jahrh., Aquarelle und Pastelle; 3. alte
Kupfer- und Farbenstiche; 4. Autographen,
alte Stamm- und Wappenbücher, Zeichnungen ;
5. altes Porzellan, Bronzen, Antiquitäten,
Kunstmöbel, Gobelins, Dosen, etc. Nur
echte Stücke erwünscht. Offerte (auch
a. d. Provinz) erbeten und sofortige Erle-
digung. Anträge unter »Kunstsammlung
Nr. 914« an die Expedition dieses Blattes.
Ist es da nicht immer noch tröstlicher, daß Kimstschätze
durch Fliegerbomben zugrundegehen? Die Bombe will ein Arsenal
treffen und weiß nicht, daß sie einen Tiepolo erreichen wird. Der
Kriegslieferant bedient das Arsenal und weiß, daß er dafür den
Tiepolo kriegt. Wenn man der aufgeschwungenen Menschheit am
1. August 1914 diese Annonce im Licht eines Riesenscheinwerfers
als die Erfüllung ihres Glaubens hätte vorführen können! Ich sah sie
im Traum.
Seelenwanderung
F.inige Zeit, nachdem sich dies begeben hatte, war, wieder
im .Fremdenblatt', dem Organ des auswärtigen Amtes, zu lesen :
Groß!ndustr?eller
wünsciit bis zirka 2,000.000 Kronen für alte Kunstgegenstände — even-
tuell ganze Sammlung — bar anzulegen und kauft vorwiegend - —
Da war offenbar dem Borstenviehlieferanten bedeutet worden,
daß er, wenn er schon einen Tiepolo brauche, doch nicht so
offen die Provenienz der Summe bekennen solle. So wird eine
ehrliche Neigung im Keim erstickt. Als ob zu einem Groß-
industriellen ein Tiepolo besser paßte! In Karlsbad, »bei Pupp«
- eine Bezeichnung, in der eine ganze Gründerepoche
108
frühstückt — sollen in diesem schönen Sommer die Armee-
lieferanten die Tausendkronennoten in der Luft geschwenkt haben,
wenn sie die Kellner herbeiwinkcn wollten, während gutturale
Laute hörbar wurden, die wie die Anklage klangen: >Die Daitschen
kommen sich herundessensichAierspaismitsechsAiern!< ... Für diese
Welt stirbt die Welt. Aber da das Benehmen etwas auffallend ist, wurde
den Armeelieferanten offenbar kundgetan, daß sie sich wenigstens beim
Ankauf alter Gemälde und Gobelins verstellen mögen. In öffent-
lichen Lokalen mögen sie mit den Händen, zuhause mit den
Füßen essen, aber im , Fremdenblatt' sollen sie sich moderieren.
Zeichen und Wunder
Es war die Zeit der großen Weltwende und der Götze
Ben Tieber, der einzige, dem Macht gegeben war über den
Moloch, gebot über Leben und Tod. Da trat einer vor ihn
hin, der war gn Sänger des Krieges, und sprach: Rette
mich. Du allein entscheidest, ob ich leben werde oder sterben
oder dem Aussatz verfallen und schwärenden Wunden. Ben Tieber
aber sprach: Bleibe bei mir und du sollst es gut haben. Und machte ihn
zum Dramaturgen für >Urschula!« Und er mußte nicht mehr und
blieb, und sang über den Krieg. Dann ging wieder einer umher,
der sagte, er wolle. Denn es sei katholisch, zu leiden, wenn die
andern leiden, und mochten sie auch sagen: Siehe, auch dieser
muß, wiewohl er betagt ist und schreiben kann, so sagte er, er müsse,
weil der Spiritus über ihn gekommen sei, der ihm gesagt habe:
Gehe hin, wo die andern sind. Da kam einer, der mächtig war,
aber nicht mächtig wie Ben Tieber, aber auch mächtig. Der war
Herr über dem ganzen Spiritus im Lande und sagte zu jenem : Siehe,
du machst dir Gedanken, aber mein Wort ist wie die Tat. Und
machte ihn in derselben Stunde zu seinem Sekretär und enthob
ihn zu sich empor und hatte Freude an Bildern und dieser riet ihm zu
kaufen. Viele gingen umher und sagten, sie seien unentbehrlich
wie jene, aber man glaubte ihnen nicht und hielt sie für falsche
Propheten. Siehe, sprachen sie, sind wir nicht wie der dort, wir
aber müssen und er darf? Sie aber wollten daheim bleiben, denn ihr
Herz war verzagt. Andere blieben daheim und waren verkleidet als
Kriegsknechte. Überall hatten sie schon ihr Gold und ihr Geschmeide
109
zusammengetragen und ihr kupfernes Gerät und ihr Gerät aus
Messing. Sie wollten dafür Brot haben, aber man gab ihnen Eisen
und es war eine schwere Zeit. Da gingen sie hin und zerrissen
ihre Papiere und machten aus zwei Kronen zwei, aber es half
ihnen nicht. Es waren aber Sänger und Spielleute, die sangen zum
Herzen des Volks und in sein Ohr und erheiterten jene, die
darbten, denn ihnen ward die Gabe gegeben, einen Reim zu
finden von Souper auf Separee oder gar auf Tetate. Des ver-
wunderte sich das Volk, sie aßen nicht und freuten sich der Ver-
heißung, und gaben Zins den Spielleuten und diese wurden
begütert, obschon sie früher nichts gehabt hatten und nicht gehabt
hatten Brot auf Hosen. Jetzt aber gewannen sie Schätze und das
Volk schmeichelte ihnen, wie sie geschmeichelt hatten dem Volk
und fand Gefallen an den Spielleuten und ließ sie gewähren
\iele hundertmal. Dieses begab sich, da viele durch das Schwert
umkamen und viele sagten, daß jetzt Krieg sei, denn der Herr stritt für
Israel wider seine Feinde und Neider. Am Morgen aber und am Abend
hörten sie, wie einer ein großes Geschrei erhob und haderte mit den
Feinden Israels und riet dem Volk, die Speisegesetze zu halten um
Golteswillen. Das Volk aber geriet in Zorn und wollte ihn steinigen,
aber tat es doch nicht, sondern hörte zu, wie er redete. Da
geschah es, daß ein Zeichen am Himmel war, und sie erkannten,
daß einer unter ihnen war, der das Wort des Herrn hatte. Der
trat vor die Mächtigen und riet ihnen, wie sie das Volk leiten
sollten, daß es nicht murre, denn es war ein Murren unter
dem Volk. Und er sprach zu ihnen und riet ihnen, daß sie das
Volk beschwichtigten, damit nicht Erhebungen im Volke wären.
Da sprachen die Mächtigen, daß sie die Erhebungen
pflegen wollten. Er aber sagte, daß eben dieses abzuwenden sei, denn
der Herr habe ihm anvertraut, daß sie es nicht mehr tun sollten
und nicht mehr Erhebungen pflegen sollten, wie sie gewohnt
waren bis auf diesen Tag. Und er sprach, der Herr habe ihm
auferlegt, es ihnen zu sagen, und daß es eine Eingebung sei,
der es nicht geziemt zu widerstehen, den Amtleuten nicht und
nicht den Landpflegern. Da traten sie zusammen und sprachen
zu ihm: Mochen S' eine Eingabe!
10
Auf Fürbitte des heiligen Josef
Die , Reichspost' hat das Verdienst, mich auf die Offerten
jener, die unter Berufung auf ihre Militärfreiheit einheiraten
möchten, aufmerksam gemacht zu haben. Worauf sie mich jedoch
nicht aufmerksam gemacht hat, was ich vielmehr andernorts
gefunden habe, ist ein Dokument, welches deutlich beweist, daß
die Militärfreiheit vielfach nicht nur als Empfehlung zur Gründung
eines ehelichen Hausstandes gewertet wird, was schließlich —
wiewohl dieser Hausstand einer der ärgsten Übelstände ist
— manches für sich hat, sondern daß die Ehrlichkeit der Auf-
fassung in diesen Dingen auch zum Glaubensbekenntnis jener
Kreise gehört, die keine vollkommenen Freidenker sind. Aus dem
tragischen Konflikt, in dem sich die klerikale Presse zwischen
einem Patriotismus befindet, der mit dem ehrwürdigen Kernstock
die Feinde dreschen möchte und »aus Welschlandfrächtchen blut-
roten Wein zu pressen < empfiehlt, und der päpstlichen Meinung,
nach der der Krieg eine > ehrlose Menschenschlächterei« ist, hilft
ihr vielleicht das Beispiel einer Offenherzigkeit, die das Dreschen
gewiß gern hat, aber nicht selbst dabei sein möchte:
In der Wiener Monatsschrift >Der Sendbote des heiligen Josef«
lesen wir auf Seite 27 des ersten Heftes von 1916 unter ». . . Der
Fürbitte des heiligen Josef und dem Gebet der Vereinsmitglieder werden
folgende Anliegen empfohlen«, unter anderem: um Befreiung
vom Militär, baldige Heimkehr und Befreiung vom
Militär u. s. w.« Und auf Seite 28: >Öffentlicher Dank
dem heiligen Josef für schnelle a u f f a 1 1 e n d e H il f e
in Militärangelegenheiten« und weiter auf Seite 70: »Ich
und meine beiden Töchter hielten eine Novene, und was niemand
geglaubt hätte, geschah: mein Vertrauen wurde belohnt, und
mein Sohn ging frei.«
Was vielleicht doch jenem Klerikalismus, der in einer miß-
verstehenden Fortsetzung des alten > Weihwedel und Säbel «-Motivs
der Verbindung von Weihrauch und giftigen Gasen das Wort
spricht, zu denken geben und die , Reichspost' bestimmen wird,
von der Benagelung eines »Kernstock in Eisen« abzustehen. Wozu
Schlachtgebete, wenn der heilige Josef es einem richten kann?
— 111 —
Warum nicht, recht hat er
Hohe Protektion
gesucht. Unter »Entspre-
chendes Honorar 14667t
an das Ankündigungs-Bureau
dieses Blattes. 14667
Der Lärm
». . . Geht dann aber erst die richtige Höllenmusik los, mit dem
Sausen und Pfeifen, Krachen und Platzen der Geschosse, hebt das
Wimmern und Schreien der Verwundeten an, und ist die Luft verpestet
von dem Rauch der Explosivstoffe und den erstickenden, tränenreizenden
Gasen, so stehen die unglücklichen Verteidiger, ganz verwirrt und schreck-
gelähmt . unter dem Bann der qualvollen Todesangst, die dem
Weltuntergang voraufgehen soll. Mit wachsendem Entsetzen sehen sie,
wie die Risse im Unterstand immer größer und größer werden ....
Gelingt es dem Feind, dank den Staub- und Rauchwolken und dem
entsetzlichen Getöse, das sein Herannahen verbirgt, unvermutet in den
Graben der ersten Linie zu kommen, so gibt es für dessen Insassen
nur iJbergabe oder erbarmungsloses Niedergemetzeltwerden. Jeder Wider-
stand der Verteidiger wird durch Handgranaten erstickt. Aber sie denken
ja gar nicht an Widerstand, denn in ihnen lebt nur ein einziger Gedanke
und ein einziger Instinkt: nur ein Ende, nur ein Ende dieses schrecklichen
Höllenfeuers, lieber sterben, als das noch länger ertragen ! Darum spricht
auch aus den Gesichtern der Toten so oft ein unendliches Glück, das
weder Worte noch der Pinsel schildern können. Man sieht es diesen
Gesichtern der Erlösten an, daß sie noch Zeit hatten, den Tod zu segnen,
der zu ihnen als Befreier kam, daß sie mit dem letzten Rest ihres
Bewußtseins noch die Vorstellung hatten, daß für sie nun die Rulie
käme, eine Ruhe ohne Trommelfeuer, ohne Granaten und Schrapnells.«
Die Stille
— In aller Stille feierte vor einigen Tagen der Herausgeber der
, Illustrierten Kurorte-Zeitung', Herr Eduard O ratsch, in Kloster-
neuburg seinen 50. Geburtstag.
Pst, lärmt nicht so. Er hat sich Kundgebungen verbeten.
Er ist ausgewichen. Er ist schon fünfzig. Andere, erst fünfzig, mögen
im Lärm der Schlacht ihren Lebensabend begehen. Er will Ruh haben.
— 112 —
In Klosterneuburg. In einem Qarterl. Nichts dringt hin. Er hats
hinter sich. Er hat gewirkt. Geschaffen. Die .Illustrierte Kurorte-
Zeitung'. Dort sind Bilder. Von Toten, die erlöst sind, glücklich.
Stört sie nicht. Stört ihn nicht. Lärmt nicht. Er hält sich die
Ohren jru. Wie ihr ihn bedrängt. O ratscht nicht, jubelt nicht,
gebt keine Salven nicht. Euch haben sie nicht gelebt, die Großen.
Laßt den Dank jenen, die nach euch sind. Wollet ihr dennoch? Wie
sie herbeidrängen. Er kann ihnen nicht entrinnen. Sie erreichen
ihn. Er liest es. Es dringt in seine Stille. Er wollte nicht. Sie haben
es sich nicht nehmen lassen. Sie feiern ihn. Sie sagen, was er ihnen
bedeute. Er, müde abwinkend: Zu spät — !
Selbstverständlichkeiten
». . . Honvedminister Baron Hazai erklärt, er sei nicht geneigt,
dem Wunsche des Abgeordnelen zu entsprechen, weil dies entschieden
gesetzwidrig wäre. . . . Ebenso wie der Landsturm auf Befehl
Sr. Majestät aufgerufen werde, könne er auch nur auf Befehl
Sr. Majestät aufgelöst werden. Es sei selbstverständlich, daß dies
inmitten des Krieges nicht geschehen könne, und untere Sol-
daten würden inmitten des Krieges auch nicht
heimziehen,. ..<
Zur besseren Übersicht
Mitteilungen und Ausweise.
Aufzeichnungen in Anerkennunj; vorzüglicher ülenstleUtunsr vor dem
Feinde. — Zulassung Invalider Unteroffiziere zur Probepraxis. — Für-
sorge für Kriegerwitwen. — Versicherung Kriegsgefangener, Internierter
und Evakuierter. — Bleischrot für Jagdzwecke.
Wir veröffentlichen auf Seite 16 des vorliegenden Blattes nach-
stehende Mitteilungen und Ausweise :
>Auszeichnungen in Anerkennung vorzüg-
licher Dienstleistung vor dem Feinde«, >Zulassung
invalider Unteroffiziere zur Probepraxisc, >Für-
sorge f ü r K r i eg e r w i t w e n«, >Versicherung Kriegs-
gefangener, Internierter und Evakuierter< und
»B leise h rot für Jagdzwecke«.
Zumal beim Bleischrot kann es nicht schaden, die jagd-
zwecke deutlich zu machen.
— 113 —
Ein aufgeweckter Kopf
Gestern M i 1 1 w o ch, den 9. August, wurden folgende Mit-
teilungen verlautbart: »Die heftigen Kämpfe im Räume von Görz
dauern fort. Gestern nachmittag erreichten einzelne feindliche
Abteilungen die Stadt. Am Monte San IWichele und bei San Martino
wiesen unsere Truppen wiederholte Angriffe unter schwersten Verlusten
der Italiener ab.«
Fortdauer der Schlacht.
Aus diesem kurzen Rückblicke ist zu erkennen, daß die
italienische Angriffsschlacht, die am vorigen Donnerstag begonnen hat,
vorgestern Dienstag, bis zum Dienstag nachmittag reichen die
Meldungen, noch fortgedauert hat.
Eine unterrichtete Seite
Die Bedeutung des Kanzlerbesuches.
Mitteilungen von unterrichteter Seite.
Wien, 10. August.
Der deutsche Reichskanzler Herr v. Beth mann- Hollweg trifft
morgen zu einem mehrtägigen Aufenthalt in Wien ein ... .
Es ist naheliegend und selbstverständlich,
daß diese Besuche politischen Charakter haben. Sie gelten der Be-
sprechung der durch den Krieg aufgeworfenen
Fragen und man kann annehmen, daß auch der diesmalige
Besuch, auf dem Herr v. Bethmann-Hollweg wieder von Herrn v. Jagow
begleitet ist, der Erörterung aller schwebenden Fragen
gewidmet sein wird.
Daß mit dem Reichskanzler auch der Staatssekretär des Aus-
wärtigen Amtes nach Wien kommt, drückt den zu erwartenden Bespre-
chungen auch diesmal einen wichtigen Charakter auf.
Weitere Folgerungen
Die politischen Besprechungen in Wien.
Konferenzen zwischen den deutschen und den österreichisch-
ungarischen Staatsmännern.
Wien, 12. August.
Aus der amtlichen Mitteilung über die Zwecke der Reise des
Herrn v. Bethmann Hollweg und des Staatssekretärs v. Jagow nach Wien
war zu entnehmen, daß es sich darum handelt,
einen persönlichen Meinungsaustausch mit dem Minister des Äußern
Baron Burian über verschiedene aktuelle Fragen zu pflegen.
Aktuelle Fragen sind naturgemäß wichtige Fragen,
— 114 —
wie schon ausder Tatsache zu schließen ist, daS die
im Kriege noch mehr als sonst mit Arbeit überlasteten Staatsmänner
ihre Konferenzen mehrere Tage fortsetzen. Daraus kann jedoch
die weitere Folgerung gezogen werden, daß die letzten
Vorfälle auf dem Kriegsschauplatz an Stellen, wo das Urteil sich auf
die volle Kenntnis der Verhältnisse stützen kann, keinen Einfluß
auf die Absicht hatten, die großen Fragen, die, wie
es sich von selbst versteht, die höchste politische
Bedeutung haben müssen, jetzt einer Aussprache
zu unterziehen und darüber zu gemeinsamen Auffassungen und
Beschlüssen zu kommen. Diese eingehenden politischen Konferenzen in
Wien zwischen den österreichisch-ungarischen und deutschen Staatsmännern
sind ein auch dem großen Publikum erkennbares
Zeichen, daß die leitenden. Kreise in Wien und Berlin an der
bisherigen Meinung über die Entwicklung der Verhältnisse
festhalten und ihr Urteil nicht geändert haben. Die
mehrtägigen Konferenzen über Fragen, die als aktuelle
bezeichnet worden sind, woraus hervorgeht, daß
sie mit dem Kriege zusammenhängen, zeigen auch die
Wertung dieser Ereignisse bei den für die Leitung der
Politik maßgebenden Persönlichkeiten der Monarchie und des Deutschen
Reiches.
Und setzt nicht vielleicht eine Generaloffensive in Form
einer Watschen ein?
Neuerungen
»Wir stehen vor Fogaras!«
Das Ausrufungszeichen im deutschen Bericht
Wien, 5. Oktober.
Eine kleine Tatsache hat vielfach den Gegenstand der Aufmerk-
samkeit gebildet. Zum erstenmal wird im deutschen Bericht eine Meldung
durch ein Ausrufungszeichen in ihrer Wirkung gesteigert. Bei der Spar-
samkeit und Sachlichkeit, mit welcher die verbündeten Heeresleitungen sich
über die Kriegslage äußern, ist diese zum erstenmal angewendete Kenn-
zeichnung eines wichtigen Ereignisses im Publikum stark bemerkt worden.
Wir stehen vor Fogaras! Das Ausrufungszeichen im deutschen Bericht
ist sicherlich nicht ohne Absicht erfolgt.
Und der gleichzeitige österreichische hat zum erstenmal die
Wendung:
Das Ergebnis des von der Entente mit gewohnter Aufmachung
verkündeten Vorstoßes der Rumänen — —
— 115 —
Zur Aufklärung
Wien, 27. Juli 1916
Die allgemeine Aufmerksamkeit wendet sich den Kämpfen im
Osten zu, wo seit dem Beginne der russischen Offensive in den
ersten Tagen des Monats Juni in Schlachten und Gefechten um Leben
und Sieg gerungen wird. Der Krieg wird zwischen den
beiden großen Staatengruppen, zwischen der En-
tente und der Vereinigung der Mittelmächte ge-
führt
Definitionen
Stanislau ist so recht ein Rufzeichen, das den Übermut des
Generals Brussilow dämpfen und ihn erinnern muß, wie vergänglich an
dieser Stelle russische Eroberungen gewesen sind.
Wie sich die Regierung gegenüber diesem Drucke verhalten werde,
dürfte übrigens, wenn auch nicht am 14. August, aber vielleicht an
einem Tage mit einem anderen Datum bekannt werden.
Die österreichischen Städte haben ja noch zu wenig Beziehung
untereinander: was verbindet den Czernowitzer mit dem Marburger, was
den Brünner mit dem Rovigneser? Der Krieg mußte sie zusammenführen.
Die Linien oder die Flächen sind in der Wirklichkeit vom Körper
nicht zu trennen, und dennoch arbeitet das Denkvermögen mit ihnen
und baut Sätze auf mit unbedingter Wahrheit, obgleich die Breite und
Tiefe vernachlässigt werden. Die Schlachten an der Somme sind eine
der schlimmsten Enttäuschungen.
Als die Kriegserklärung in Bukarest beschlossen worden ist,
haben sich die Führer der Entente benommen, als hätten sie Dämpfe
von indischem Hanf eingeatmet.
Die Diplomaten der Entente sind wie die Söhne des Noah, welche
die Blöße ihres trunkenen Vaters zugedeckt haben.
Die Hagia Sophia ist die Fata Morgana für die russische Ver-
größerungspolitik. Das Versprechen der Beihilfe zur Verwirklichung
dieses Spiegelbildes ist der Nasenring, an dem die englische Politik den
russischen Bären führte und noch führt.
Görz ist ein Hautritz.
Brody ist ein Schmerz.
Teil sagt
England ist nicht bedroht, keine Hand streckt sich nach seinem
Besitze aus, und nie ist von Deutschland gefordert worden, was dem
britischen Reiche gehört. England ist Angreifer und nicht Verteidiger.
Teil sagt, jeder geht an sein Geschäft und meines
ist der Mord.
116
Dieses höchst israelitische Komma, das eine indirekte Rede
als direkte einleitet ist hier geradezu der Ausgangspunkt zu einer
Katastrophe. Man muß sich das von einer schmalzigen Zunge nur
so hingewälzt vorstellen. Meines ist der Mord, das heißt, nicht meines,
sondern seines, das heißt nicht seines, sondern Teils, das heißt nicht
Teils, sondern Englands. Aber was heißt Englands? England ist An-
greifer und nicht Verteidiger. Teil sagt, er ist Verteidiger und nicht
Angreifer. Denn er sagt doch, die armen Kindlein, die unschuldigen,
das treue Weib muß ich vor deiner Wut beschützen, Landvogt. Wenn
England Teil war', war' Deutschland Geßler, während wir doch
bisher gelernt haben, England ist Geßler und Deutschland ist Teil.
England sagt, es will jeden, der an sein Geschäft geht, morden.
Also ist England nicht Teil. Teil sagt, ich lebte still und harmlos,
du hast aus meinem Frieden mich herausgeschreckt. Also ist
England nicht Teil, sondern konträr Geßler. Teil sagt, in pures
Drachengift hast du die Milch der frommen Denkart mir
verwandelt. Das ist Verderbtheit. Also ist nicht England Teil,
sondern konträr Deutschland. Teil sagt, entrann' er jetzo kraft-
los meinen Händen, ich habe keinen zweiten zu versenden.
Also könnte zwar wegen Munitionsmangel in England
England Teil sein, aber das weitere stimmt wieder nicht, wo er
sagt, an euch nur denkt er, liebe Kinder, euch zu verteid'gen,
eure holde Unschuld zu schützen vor der Rache des Tyrannen,
will er zum Morde jetzt den Bogen spannen. Und außerdem sagt
Teil, gilt es das Herz des Todfeinds, der mich will verderben, und
was die Vorbereitung betrifft, sagt er, mein ganzes Leben lang
hab' ich den Bogen gehandhabt, mich geübt nach Schützenregel,
während England doch erst den Militarismus nachholen muß und
sich darum mit Schmach bedeckt vor Europa. Wie stehts aber mit
dem Geschäft? Teil sagt, hier geht der sorgenvolle Kaufmann,
der düstre Räuber und der heitre Spielmann, womit er vielleicht
auf die Armeelieferanten und auf Edmund Eysler anspielen will,
denn jede Straße führt ans End' der Welt, also nach dem Orient
und sie alle ziehen ihres Weges fort an ihr Geschäft und meines
ist der Mord. Teil sagt mit Bedauern, jeder geht an sein Geschäft,
nur ausgerechnet er nicht, Teil mordet keinen, der an sein
Geschäft geht, sondern den Geßler, der jeden, der an sein
Geschäft geht, mordet. Also ist England nicht Teil, denn
117
England mordet jeden, der an sein Geschäft geht, sondern
Geßler. Wenn also Teil sagt, so meint er anders, und in Wirk-
lichkeit stellt sich die Situation so dar, Deutschland ist der sorgen-
volle Kaufmann, der, man kann sich vorstellen, ruhig an sein
Geschäft geht, und England ist Geßler, während die Rolle des
Wilhelm Teil teilweise unbesetzt bleiben muß, da doch England
mordet und nicht Deutschland und Deutschland gegen die Tyrannei
aufsteht, aber nicht England. Englands Geschäft ist nicht
der Mord, sondern der Mord ist sein Geschäft. Deutschland
sagt, es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es
dem bösen Nachbar nicht gefällt. Englarid macht seine Rechnung,
und Teil sagt, mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt.
England ist nicht bedroht. Teil sagt, noch lebt ein Gott,
zu strafen und zu rächen. Hier fällt uns das Wörtchen »noch«
auf und das Auge bohrt sich hinein in den Teil-Monolog
und jetzt werden sie zu hören bekommen und der Schrecken
breitet sich aus und Attinghausen hat gesagt, seid einig.
Woraus auch für den Laien klar hervorgeht, welche Verwirrung
entsteht, wenn Tel! sagt und Benedikt schreibt, und wie
wenig man auf die Telisage geben kann, die höchstens
wert ist, unter dem Titel verlautbart zu werden: Voraus-
sichtliches Kommen Geßlers durch die hohle Gasse und unbe-
stätigte Gerüchte über den bevorstehenden Heldentod Geßlers
durch Teil bei Küßnacht und Hineinwerfen in den Vierwald-
stättersee, und mit dem Untertitel: In den heutigen Schweizer
Blättern.
Das Volk will Steuern zahlen
»... Wie nüchtern man auch die Stimmung der Bevölkerung gegen-
über den Maßnahmen zur Erschließung neuer Einnahmsquellen des
Staates beurteilen mag, eine gewisse Steuerfreudigkeit
ist doch unverkennbar. Beinahe Größe liegt ja in der R e-
signation, mit welcher die Bevölkerung die neuen, nicht unerheb-
lichen Lasten der Steuerreform auf sich nimmt. . . .«
». . . Alle die angeführten Momente sieht die Bevölkerung auch ein,
das beweist die interessante Erscheinung, daß immer
mehr Stimmen in der Bevölkerung laut wurden,
die neue Steuern forderten. So paradox das auch klingen
mag, es wird volll<ommen verständlich, wenn wir daran
— lli
denken, was eingangs von der durch den Krieg herbeigeführten Wandlung
in dem Verhältnisse zwischen Staat und Bürger gesagt wurde. Der
einzelne steht dem Staate nicht mehr kühl gegen-
über, er zahlt seine Steuer nicht, weil hinter dem Staate d i e
Zwangsgewalt steht, sondern er zahlt, weil er weiß, daß der
Staat sein Geld zum Leben braucht, und weil er will, daß der Staat
lebe . . . .«
Sehr interessant wäre, ohne jede Zwangsgewalt, nur durch ein-
fache Vorladung festzustellen, wie der einzelne, der die volkswirtschaft-
liche Rubrik redigiert und das Ganze herausgibt, in diesem Punkt zum
Staat steht. Ob die Börsengewinne, Bestechungssummen und alles sonst
unter der Hand Empfangene in dem fatierten Einkommen aus einem
Journalunternehmen inbegriffen sind oder ob jenes nur den aus
dem Abonnement und den Annoncengeldern stammenden Gewinn
darstellt. Gewiß aber bedarf es nicht einmal der Nachfrage,
da in dem beängstigenden Gedränge, das seit Kriegsausbruch vor
der Steueradministration herrscht, die mit Angeboten förmlich
belästigt wird — das Publikum stellt sich an — , ein Zeitungseigen-
tümer doch nicht ausbleiben kann, der Einfluß genug hat, um
seinen sofortigen Empfang durchzusetzen und sein Bekenntnis selbst
vor einem Beamten, der sich etwa die Ohren zuhalten wollte,
anzubringen.
Goldene Worte für Eisen
Der Bürgermeister:
... Ich habe schon darauf hingewiesen, welch unsinnige
Gerüchte geglaubt und verbreitet werden. Es ist Ihre Pflicht, solchen
Gerüchten immer auf das entschiedenste entgegenzutreten. Wir müssen
die Bevölkerung beruhigen, nicht daß durch solche unsinnige Gerüchte,
wie, es wird ein brotloser Tag eingeführt, die Bäcker dürfen nur mehr
an zwei Tagen backen, die Bevölkerung in eine Panik l'.inein^ehetzt
wird. Also ruhig Blut bewahren, und vor allem —
Blut bewahren !
Für Gasthäuser
»Die Triester Statthalterei erließ eine Vorschrift, wonach der Siadt-
magistrat in jedem Gasthause in Triest die Anbringung des Kaiserbildes
anzuordnen habe. Auch sei jedem Gasthause die Anschaffung einer
schwarz-gelben Fahne und deren Bereithaltung für kaiserliche und
patriotische Feste anzubefehlen.«
— llif
Für Kirchen
>Die .Preußische Kirchenzeitung' schreibt: In einer Berliner Kirche
soll am 1 . August ein Gottesdienst mit folgender Ordnung stattgefunden
haben: 1. Gemeinde: Wir treten zum Beten vor Gott dem Gerechten
u. s. w. 2. Geistlicher: Eingangsgebet. Schriftverlesung: 2. Kön. 23, 1
bis 3. 3. Gemeinde: Ein Lied von E. M. Arndt und Eine
feste Burg. 4. Geistlicher: Verlesung der Botschaft des
Kaisers an das deutsche Volk. Predigt über Sam. 7, 12.
5. Gemeinde: Vaterunser. 6. Gemeinde: Die Wacht am
Rhein. 7. Zum Schluß: Ein dreimalig gewaltig durch
die ehrwürdigen Räume des Gotteshauses brau-
sendes Hoch auf den Kaiser.... <
Walhalla mit Exportabteilung
. . . Aus den begeisterten jungen Soldaten, die singend aus-
zogen, sind Männer von grimmigem Ernst geworden; zu den strengen
großen Linien der ausdrucksvollen Köpfe, die eines Hodlers Kunst reizen
müßten, paßt das einfache graue Kriegsgewand viel schöner als das
frühere bunte Waffenkleid. Zu dem Bilde des deutschen Kämpfers im
Weltkrieg gehört auch der neue Stahlhelm, dem man jetzt auch in den
Straßen der Reichshauptstadt nicht selten begegnet .... es ist, als hätte
man einen Reisigen aus der Zeit der Frundsberge vor sich ....
Ich glaube nicht, daß die Ziele dieses Krieges solchen
Eingriff in den Schatz farbiger Vorstellungen und in die Erlebnis-
sphäre des Malers Hodler oder auch nur in das Kostümatelier
des Malers Hollitzer rechtfertigen, der ja als Landsknecht in
Kabaretts und Preßquartieren seinen Mann gestellt hat. Wohl
aber glaube ich, daß die Wesensart, die sich an den Realien in
solcher Verpackung berauschen kann, eine der Grundursachen
dieses Krieges ist. Frundsberg, so nannte sich tatsächlich der
Autor des Artikels »Auf der Russenfährte«. Ich würde manche
unter jenen, die das Auge des Schilderers bestochen haben, unschwer
als Weinreisige erkennen.
* *
Walhalla
»Aus den Nachrichten der Sektion des Deutschen und Öster-
reichischen Alpenvereines (September): Unser Mitglied Oberleutnant ....
ist vor kurzem auf dem südwestlichen Kriegsschauplatz, beim Erklettern
einer Felswand im feindlichen Feuer von zwei Kugeln getroffen, gefallen.
Ihn, den alle lieb hatten, die ihn kannten, weil er licht und freundlich
war wie B a 1 d u r, liederfroh wie B r a g i und stark wie A s a t o r,
120 —
trug die wieder zur Walküre erwachte S a 1 i g e von der Keller-
wand quer vor sicii im Sattel vor Walhalls goldenes Tor.
Weit sprang das auf; denn gern öffnet es sich dem, der an blutender
Wunde für Volk und Freiheit starb. Heil ... I<
Ein Ausschnitt vorn und hinten
Vor n :
Eine ganz außergewöhnliche und
bisher noch niemals dagewesene
Operation ist dieser Tage im Mili-
tärspital zu Bordeaux an einem
französischen Kriegsverwundeten
vorgenommen und glücklich aus-
geführt worden. Der ärztlichen
Kunst ist es nämlich gelungen,
einem Soldaten durch eine schwere
Verwundung verloren gegangene
wichtige Teile des Gesichtes durch
künstliche Apparate vollkommen zu
ersetzen. Es handelt sich um einen
Kriegsverwundeten, einen sehr
kräftigen, jungen Mann, dem die
ganze rechte Gesichtshälfte unter-
halb des Auges durch Granatsplitter
fast völlig weggerissen wurde.
Teile der Nase, Wange und Ohr
vollständig, ebenso große Teile des
Oberkiefers, der ganze rechte Unter-
kiefer und die gesamte Bezah-
nung der rechten Mundhälfte. Der
Mann schien verloren, als der Chef-
chirurg des Spitales, Dr. Crile, ein
Mittel fand, dem Unglücklichen das
Leben zu retten. Zum Wiederersatz
aller verlorenen Knochen überpflanz-
te der Chirurgzunächst zu einem ganz
geringen Teile Knochen von dem Pa-
tienten selber; der Hauptteil jedoch,
so fast der ganze Unterkiefer und
das ganze Gebiß wurden aus einem
kunstvollen Aluminiumgerippe auf-
gebaut, das natürlich stark genug sein
muß, um bei dem gewaltigen Kau-
drucke nicht die Form zu verlieren. ,
Ja, das Gesicht dieser Welt
Hinten:
Der von Malcolm Poß gezeich-
nete Bericht sagt, daß die eng-
lischen Batterien bei dem letzten
großen Bombardement, das den
eigentlichen Stürmen vorausging,
mindestens zwölf Millionen Gra-
naten gegen die deutschen Linien
geworfen haben. Der englische
Feuerorkan habe alle Vorstellungen
überstiegen, die man sich von
einem Bombardement nur immer
machen konnte. Die deutschen
Soldaten seien in einer wahren
Hölle gewesen und man könne sich
kaum vorstellen, daß Lebewesen
eine solche Beschießung über-
stehen können, ohne irrsinnig zu
werden. Nur Schutt und Asche
bleibt dort zurück, wohin dieser
Sturm von Stahl und Feuer ge-
schlagen. Als die Sturmtruppen
in den Regionen, über die dieser
Granatenhagel stundenlang er-
barmungslos niedergeprasselt war,
noch Lebewesen fanden, die sich
verteidigten, faßte sie Respekt
und Erstaunen über diesen
Gegner. Die Zähigkeit der
deutschen Verteidigung sei eine
derartige, daß sie durch jene
Mittel, mit denen man bisher
Kriege zu führen gedachte,
nicht gebrochen werden könne.
Dieser außerordentliche Widerstand
erfordert auch außerordentliche
Mittel. Die Engländer seien auf
dem Wege, sie zu finden.
wird eine Prothese sein!
121 —
Was lese ich da,
»der tapfere General, dessen Truppen überall da ein-
gesetzt wurden, wo der Kampf am heißesten tobte....«?
Der Arme, was muß der gelitten haben !
Mit der Uhr in der Hand
Berlin, 22. September. Das Wölfische Bureau meldet: Eines
unserer Unterseeboote hat am 17. September im Mittelmeer einen voll-
besetzten feindlichen Truppentransportdampfer versenkt. Das Schiff sank
innerhalb 43 Sekunden.
Dies ist das Aug in Aug der Technik mit dem Tod.
Krieger, Freunde blutiger Entscheidung, Anhänger des Wunsches,
daß der Tapferkeit Anteil gebühre an der Macht, müßten auf-
stehen und sagen, diese Möglichkeit liege ihnen fern, es sei nicht
das Richtige, es sei selbst dem Schlachtengott, der aus der
Maschine kommt, kein Opfer, nur der Maschine. Wohl, hier ist die
Entwicklung in der Sackgasse. Wenn der Menschengeist so weit
kam, Mörser zu bauen, um vor ihrer Wirkung wieder unter die
Erde zu kriechen, wenn er Riesen konstruiert hat, um mit
der Uhr in der Hand zuzuschauen, wie die der Zwerg überwältigt —
dann zeigt die Uhr dreizehn und es ist Zeit, zur Ruhe zu gehen.
Überschlafen wir's. Sonst sitzt uns eines Tages ein kriegs-
untauglicher Ingenieur am Bureautisch und gibt zur Verbesserung
des Agios oder wie der unselige Vorteil sonst heißt, durch einen
Druck auf den Taster zu verstehen, daß jetzt eine Festung in die
Luft fliegen wird. Ihr geht an dieser Möglichkeit zugrunde und
umsomehr, wenn der Apparat vom Zinsfuß bedient wird, und ganz
und gar, wenn ihr die unselige Verbindung noch mit dem alten
Ideal verbindet und das Ding Glorie nennt !
— 122 —
Der Krieg
soll immerhin, wenigstens, also wenn er schon sonst nichts für sich
hat, ein Aderlaß an der Menschheit sein. Wobei aber die
Gesundheitspolitiker außer acht lassen, daß das übrigbleibende
Blut nicht eben jenes ist, aus dem sie sich fortpflanzen könnte,
so daß wieder die Fortpflanzungspolitiker eingreifen und für eine
praktische Ausnützung der Urlaube agitieren müssen. Sympathisch
mag ja diese Menschheit nicht sein; daß sie tüchtig ist bis zum
letzten Atemzug, muß ihr der Neid der Marsbewohner lassen.
Nur, daß noch keiner auf die Idee gekommen ist, zur Herbei-
führung des Aderlasses statt der Soldaten die Armeelieferanten,
die doch in sämtlichen Staaten auch ein starkes Kontingent stellen,
zu opfern. Oder, wenn zur Ausfindigmachung dieser Sorte es doch
wieder eines Kriegsausbruchs bedürfte, jene Berufe, die den Kri^
vorbereiten helfen und die um den Vorrang streiten, ob Bismarcks
Wort von der Feder, die die Leistung des Schwerts verderbe,
sich auf sie oder auf sie beziehe: Journalisten und Diplomaten.
Und vor allem jene, die im Frieden wie im Krieg in Lokalen
sitzen und plötzlich ausrufen : >Ich geh mit!«, worauf der andere
opferbereit entgegnet: »Von mir aus!« und sich ein mir völlig
unverständlicher Dialog entwickelt wie: »Ich hab einen Treff!«
»Mit absolut!« »Ich hab Sie sanft hineingelassen !«, bis endlich
einer »Ich hab e Wonnock!«c ruft. Das gäbe einen ganz aus-
giebigen Aderlaß, ohne daß andere, die im Frieden vielleicht eine
nützliche oder auch nur geistige Tätigkeit ausgeübt haben, 2500
Meter hoch unter Zeltblättem, an einem schmalen Felsband eng
aneinander gekeilt, längs schwindelnden Abgrunds angeklammert
an ein Drahtseil, stehend, hängend, dem feindlichen Trommelfeuer
ausgesetzt sein müßten. Die Staaten sollten sich im künftigen
Frieden verpflichten, Hinterländer zu bleiben und den notwendigen
Aderlaß in eigener Regie zu besorgen.
— 123 —
Theater, Kunst und Literatur
>Der Kommandant des Kriegspressequartiers Generalmajor
Ritter v. H o e n wird bei dem Vortrag der Kriegsberichterstatterin
Alice Schalek >Drei Monate an der Insonzofront< am 14. d.
im mittleren Konzerthaussaale einige einleitende Worte sprechen.
Zu diesem Vortrag sind nur noch wenige Karten in Gutmanns
Hof musikalienhandlung erhältlich. «
>. . . Nicht aus Neugierde, so bemerkte Fräulein Schalek,
sei ihre Reise an die Front erfolgt sie wollte dem Krieg in das
Angesicht schauen «
>. . . und als Fräulein Schalek ihren Vortrag beendet hatte,
da meinte so mancher Zuhörer, er habe hier einen unserer Helden
selbst von den harten Kämpfen gegen die Italiener erzählen hören.«
124
Lyrik
Beim Eierdetailverschleiß ist gleichfalls außer
den Preisen die Provenienz anzuschreiben sowie ob die Eier
geleuchtet sind oder nicht.
Die Krankenpflegerin.
Tiefen Atem holt der Bleiche
Schwebend in Deliriums Reiche,
Leise flüstern seine Lippen :
»Laß von deinem Mund mich nippen I«
Lieb! Ade, Lieb! Ade.
Zwölfe schlägt es - Mitternachtsstunde,
Noch ein Säftchen ihm zum Munde
Führt der Pfleg'rin Hand so weiß.
Trocknet seine Stirn vom Schweiß.
Bleicher Krieger streckt die Glieder,
Aus dem schlaffen Munde wieder
Tönt es diesmal laut und klar:
Ich geh' von hinnen, es ist wahr.
Lieb — Ade, Lieb — Ade.
Bleiche Lippen, habt gesprochen.
Müdes Auge, bist gebrochen!
Und der Pflegerin Hand, so weiß.
Trocknet deine Stirn vom Schweiß.
Robert Schletter.
Lokalbericht.
[Kriegsausstellung Wien 1916.] Kommen-
den Samstag findet im Bundestheater das zweite populäre
Larven und Lemuren
(Leichenbegängnis.) — — Riedl — — Er war ein Bruder des
Besitzers des — — Unter den zahlreichen Trauergästen waren außer
der Familie: FML. Kontz, Ministerialrat Zborzil, die Obersten Padewit
und Weichberger, Platzkommandant Oberstleutnant Fechner, Hauptmann
a. D. Schriftsteller Lenhard, viele Offiziere, ferner eine Halbkompagnie
des Marine- und Militärkriegervereines >Tegetthoff« unter dem Kommando
des Oberstleutnants Glaser — — Kaffeesiedergenossenschaft — —
Stellvertreter mit den Bezirksräten und viele andere —
125
Aber das war doch schon. Das hats doch immer gegeben.
Der Kondukt ging immer und geht weiter, was auch geschehe.
Nie löst sich diese Reihe.
Es sind die um Riedl. Nichts von außen bewegt
die Leichenstarre der Gemütlichkeit. Dieses Wien hat Erfüllungen,
an denen, und war' auch ein Jahrzehnt des Weltuntergangs da-
zwischen, kein Zweifel rüttelt. Die alte Garde lebt, aber auch die
junge ist da, es behielt sie nicht. Geh außer Landes und
nimm dir vor, übers Jahr auf den Tag um halb eins auf dem
linken Trottoir der Kärntnerstraße diese rüstige Kompagnie dem
Zivilstande Angehöriger zu finden. Die Zeit ging hin mit ihren
Stürmen. Lebfroh, todfroh, von der Sonne beschienen, stehen sie
da. Verkleidete, mit kurzem Rockerl und Monokerl treten lachend
hinzu. Scherzworte schwirren. Rings hat sich manches doch ver-
ändert, mehr Krücken kommen vorbei, wo jene stehn, kaum ist
Platz zum Vorbeihumpeln. Die Stadt war sich immer unent-
behrlich, aber nun erst scheint sie zu wissen, wie recht sie hatte,
's wird schöne Maderln geben und wir wem immer leben. Und
indem ich sie ganz nahe betrachte, ob nicht doch eine Falte auf
die geschichtliche Umwälzung weist, entdecke ich, daß sie alle
längst gestorben sind und nur aus Prestigerücksichten mittags aus-
gestellt werden. Lebten sie, sie hätten im großen Durcheinander
doch wenigstens eine Stunde wahrhaft erlebt, nämlich die, welche
zwischen Sommerzeit und Winterzeit ist.
Ein Genuß! - Ein Genußl — Ein Genuß!
>(D er Schützengraben imPrater) ist jetzt in diesen
heißen Sommertagen ein idyllischer Aufenthaltsort; wenn man all
das Interessante, das im Schützengraben zu sehen ist, genossen hat,
kann man sich unter den mächtigen alten Eichen, bei trefflicher Militär-
muaik, in den Restaurants und Cafes köstlich erholen . . . .«
126
Grenzen der Menschheit
». . . Die Ereignisse von gestern haben dem Gegner zwischen
Maurepas und der Somme unsere vorderen Gräben gegeben, oder besser,
ein Chaos von Sand und Stein und Erde, wie es die Millionen von
Granaten in den jüngsten Tagen geschaffen hatten. . . . Die Muni.ion
war in einer noch nie dagewesenen Menge aufgestapeli. Der Feind hatte
zu einem artilleristischen Hauptschlag gerüstet. Das Feuer hielt schon
seit Tagen in dem starken Takt an, den ihm der moderne Krieg gegeben
hat. Ich sah in der jüngsten Zeit die unzähligen Einschläge der feind-
lichen Granaten, die erst die Einleitung zu dem Trommelfeuer neuesten
Stils bildeten. Es tobte die ganze Sommefront entlang, aber es war
immer noch der Beginn, der schwächere Anfang zu dem tollsten
Geschützfeuer, das die Welt j^ erlebte . . . .«
>. . . Seit Wochen schon bildete es in Wiener Theaterkreisen
eine Sensation, daß Mizzi Zwerenz und Fritz Werner sich als neue Stätte
für ihr künstlerisches Wirken das Apollotheater erkoren hatten. . . .
Das Entree der Zwerenz: »Ich sing den ganzen Tage, dann das Duett
mit Werner: »Urschula geh' her, genier' dich nicht<, schlugen im
Vorspiel kräftig ein. Der >Millionenmarsch« ist der richtige Reißer und
scheint berufen, der Nachfolger des »F 1 i e g e r marsches« zu werden.
Einschmeichelnd und süß ist das Duett Werner-Zwerenz : »Beim Tanzen,
da kommen die Leut' zusamm'<. Ein richtiger Schlager ist dann
wieder das Duett Zwerenz- Werner im Schlußbilde: »Junges Weib und
junger Wein.« . . . Die Walzertraumzeiten des siegreichen Niki und
der herzigen Franzi sind wieder erstanden. Werner sang und tanzte in
übermütiger Laune, die Mitspieler und das Publikum mitreißend. . . .
Zweifellos ist Direktor Ben Tieber für lange lange Zeit aller
Spielplansorgen enthoben, zweifellos hat auch der an Operettenerfolgen
reiche Wiener Musikverleger Herzmansky einen neuen Voll-
treffer zu verzeichnen.«
> . . . Die russischen Stutmkolonnen mußten durch das Feuer
der eigenen Geschütze und Minenwerfer aus den Gräben herausgetrieben
werden, da sie angesichts des mit den Leichen lausender Kameraden
bedeckten Vorfeldes dem Angriffsbefehl nicht Folge leisten wollten. Als
sie dann zwischen beiden Fronten von dem mörderischen Schnellfeuer
der Unseren überschüttet wurden und wieder ins Wanken kamen, legten
russische Batterien und Maschinengewehre erneut Sperrfeuer hinter sie,
um ihnen dadurch jede Hoffnung auf Umkehr zu nehmen Daraufhin
stürzten die Russen sich zwar mit dem Mut der Verzweiflung in unsere
Hinderniszone, wurden aber von unseren Schrapnells, Maschinengewehren,
Granatwerfern und Handgranaten vollends abgetan. Die Zahl der gestern
hier Gefallenen wird auf abermals mindestens fünftausend geschätzt, so
daß der Gegner allein in diesem zehn Kilometer langen Frontabschnitt
binnen drei Tagen über zehntausend Mann an Toten verloren hat....«
127 —
Gebet während der Schlacht
128
Nie wird bis auf den Grund meiner Erscheinung
der l<;ühnste Rotstift eines Zensors dringen.
Verzichtend auf die Freiheit einer Meinung,
will ich die Dinge nur zur Sprache bringen.
Mittlerer Konzertiimissod
(III. Lothringerstraße 20)
FREITAG, 17. NOVEMBER 191(
- 7 UHR ^^^^
VORLESUNG
KARL KRAUS
AUS EIGENEN SCHRIFTEN
KARTEN zu K 10-—, 8.—, 6-—, 5.—, 4.—, 3.—, 2-—, 1 .
an der Konzerthaygkassa, III. Lothringerstr. 20,
bei Kehlendorfer, I. Krugerstrafie 3 und tn €^qt
Buclihandlung Richard Länyi, Kärntnerstrsße 4^
Ein TeiB des Ertrages wird wohiiätEgen Zwecicen gewidm«
Kleiner Konzerttiaassam, Hontas. 4.Dezeinl)i
Vorlesung Karl Kray
NESTROY: Die beiden Nachtwandler oc
Das Notwendige und das übe
flüssige
RAIMUND s Der Alpenkönig und der Mensch®
ffeind (Aus dem I. Aufzug)
Das HObeliied (niavier: Egon Korns
KARL KRAUS: Worte in Versen
Der volle Ertrag wird wohltätigen Zw^äcken gewidm
NR. 443/444 MITTE NOVEMBER 1916 XVIIL JAHl
DIE FACKEL
HERAUSGEBER
KARL KRAUS
♦ INHALT:
Mythologie / Zuflucht / Abenteuer der Arbeit / »Alle Vögel sin
schon da« / An den Schnittlauch / Grabschrift für ein Hündchen
Inschriften / Zitate aus Schiller, Goethe, Jean Paul / Inschriften
Elysisches / Bekenntnis / Der Irrgarten / Der Ratgeber / Der Reim
Vor dem Einschlafen / Gebet.
NACHDRUCK VERBOTEN
Preis dieses Heftes:
60 Heller = 50 Pfennig
■\7^trT3T An. rvTtr TTA/^t^rrt* ivj-TT^xT
{LAG DER SCHRIFTEN VON KARL KRAUS
(KÜRT WOLFF)
^ORTE IN VERSEN
In 3. Auflage:
ie Chinesische Mauer
Essays
Im Druckt
Nachts, Aphorismen
itergang der Welt durch schwarze Magie
Essays ^
beziehen durch alle Buchhandlungen und durch den Verlag
Leipzig, Kreuzstraße 3 b
erscheint In zwangloser Folge.
Abonnement erstreckt sich nicht auf einen Zeitraum, sondern auf eine
bestimmte Anzahl von Nummern.
ir Österreich-Ungarn: FürdasDeutsche Reich : Weltpostverein:
t Nummern K 4.50 18 Nummern Mk. 4.- 18 Nummern K 6.-
I „ „ 9.- 36 „ „ 8.- 36 „ „ 12.-
1 ALT der vorigen sechsfachen Nummer 437—442, 3 1 . Oktober 1916:
rebuch / Zum ewigen Gedächtnis / Glossen / Epigramm
5 Hochgebirge / Made in Germany / Der soziale Standpunkt
Tieren / Glossen / Memoiren / Notizen / Sendung /
idschaft / Glossen / Auf der Suche nach dem Menschen im
T T -J.-_l
DIE FACKEL
Nr. 443—444 16. NOVEMBER 1916 XVIII. JAHR
Mythologie
Was? Es kann sprechen? Dieser Schlauch hier ist
ein Mensch?
Und dieser Bauch hier, jener Blasebalg ist einer?
Und hier der Leguan, der Hamster dort sinds auch?
Der links am Fenster, einem Schlafsack gleich,
der rechts, einer Matratze gleich, auch der?
Dort öffnet sich ein Maul wie ein Lavoir,
Hier naht ein Walroß und bestellt die Zeitung,
und dieses, meint man, habe Blut wie wir?
Selbst dieser, der so aufgeregt sehderanda
sich herkommt, als ob er, noch ganz in Schaum,
persönlich jener Kreuzigung beigewohnt
und nun erzählen wollte, wie's gewesen,
und wer dabei gewesen unter andern,
und was er angehabt, den sie nun los sind?
Hier röchelt etwas und es ruft : Ich nehm !
Was ist das? Wär's ein Tier, so hätt's Fasson.
Es ist eins und doch keines, doch kein Mensch.
Was ? Es kann sprechen ? Atmen kann es auch ?
— 2
Dies ward geboren? Mitgeborne sinds?
Ein Weib trug Schmerzen, viele freuten sich,
als es zur Welt kam? Heute offeriert es
freihändig, hat per Zufall tausend Kilo
von dem und jenem, und noch vier Waggons
von Prima-Seife und ein Aquarell.
Und vieles gibt es, während dies da ist.
Und Amethyste gibts und in den Pampas
schaukelt — oh sieh — ein blauer Schmetterling.
Da reißt sich einer los und brüllt: Auf Ihnen
hat man gewartet, Kleinigkeit, wer sind Sie?
Und Zähne hat das Ding, dem Eber gleich,
die hacken sich ins Fleisch und mahlen alles
mit wilder Wut zu hunderten Prozenten.
Der Apparat dort kommt nicht leicht zu sich.
Doch tippt man an, so sagt er: Ausgerechnet!
Hat das auch Milz und Nieren so wie wir?
Es kam wie wir aus dem Geheimnisse
und wird wie wir in das Geheimnis eingehn?
Ist dieses nicht ein größeres Geheimnis?
Die Luft ist voll von Ziffern und Miasmen.
Ich sitze da und bin narkotisiert,
ich fühle, diese sind nicht, doch wie lange
wohl dieser Übergang noch dauern mag.
Und ob er glaube, frag ich meinen Nachbarn,
daß es noch Hoffnung gibt oder schon jetzt
dem Bottich dort, der eben ein Getränk
einschlürft, Verständnis zuzutrauen sei
für mein Problem, nämlich ob hier ein Beistrich
statt eines Strichpunkts wohl am Platze wäre
und wie das Wort »chiastische Umarmung«
in Sinn und Form und Klang erfüllt erscheint,
und ob nicht, wenn ich ihm die Stelle zeige,
dies auch vielleicht die Zauberformel war'
und ob das Chaos war', wenn ich ihn weckte.
Mein Nachbar schweigt erschrocken und er blickt
starr wie ich selbst auf diesen Kreis von Formen,
die durch den rätselhaften Ratschluß Eines
doch sprechen und sich leicht verständigen können,
nur nicht mit uns. Da wird es lebhafter,
weil sie, im Vielerlei des Gelderwerbes
ein Ideales fest im Aug behaltend,
auf Pferde setzen und von Pferden wissen,
daß sie geschaffen sind, um zu gewinnen
für sie, da umgekehrt ja doch die Pferde
auf sie zu setzen nicht imstande sind.
So sitzen wir im Schlaf und hören zu.
Da würgt mich etwas und es ist ein Wort,
und jenes Maul, auf das wir beide starren,
hat jetzt ein wunderbares Wort gesagt,
obschon gesagt im Dialekt der Hölle:
Glaukopis! — und was er verdienen wird.
Zuflucht
Hab' ich dein Ohr nur, find' ich schon mein Wort:
wie sollte mir's dann an Gedanken fehlen?
Von zwei einander zugewandten Seelen
ist meine flüchtig, deine ist der Hort.
Ich komme aus dem Leben, jenem Ort,
wo sie mit Leidenschaft das Leben quälen
und sich die Menschen zu der Menschheit zählen,
und technisch meistern sie den Tag zum Tort.
So zwischen Schmach und Schönheit eingesetzt,
rückwärts die Welt und vorwärts einen Garten
ersehend, bleibt die Seele unverletzt.
Fern zeigt das Leben seine blutigen Scharten,
an mir hat es sich selber wundgehetzt.
Öffne dein Ohr, um meines Worts zu warten!
Abenteuer der Arbeit
Was leicht mir in den Schoß fiel,
wie schwer muß ich's erwerben,
bang vor des Worts Verderben.
O daß mir dieses Los fiel !
Zuerst war's in der Hand mir,
dann wollt' es sich entfernen,
da mußt' ich suchen lernen ;
es schwindelt der Verstand mir.
Das Wort hier ist ein Zunder
für das an jener Stelle.
Gleich brennt die ganze Hölle.
Das Wort ist mir ein Wunder.
Wie öffnet es die Lider,
die sonst geschlossen waren.
Hier gibt es nur Gefahren.
Ich kenn' das Wort nicht wieder.
Tausch' ich es, wird's mich täuschen.
Wie es sich an mich klettet,
seitdem ich es gerettet
aus vielfachen Geräuschen.
Das was mir einfiel, hat mich,
der ich's nie haben werde,
ich steh' auf schwanker Erde
und setze selber matt mich.
Ich wähl' im Zweifelsfalle
von zweien Wegen beide.
Ich röste mich am Leide,
bin in der Teufelsfalle.
Ein unerschrockner Tadler
will ich mir nichts erlauben,
als aus dem reinsten Glauben
zu spielen Kopf und Adler.
Und wenn der Kopf aufs Wort kam,
der Adler fällt getroffen —
so blieb der Zweifel offen,
ich weiß nicht, wie ich fortkam.
Wer mit dem Geist verwandt ist,
in Bildern und in Schemen
die Welt beim Wort zu nehmen —
beim Himmel kein Pedant ist !
In sprachzerfallnen Zeiten
im sichern Satzbau v/ohnen :
dies letzte Glück bestreiten
noch Interpunktionen.
Wie sie zu rasch sich rühren,
wie sie ins Wort mir zanken —
ein Strich durch den Gedanken
wird mich ins Chaos führen ;
obgleich ein Strichpunkt riefe ,
dem Komma nicht zu trauen :
ein Doppelpunkt läßt schauen
in eines Abgrunds Tiefe !
Dort droht ein Ausrufzeichen
wie von dem jüngsten Tage.
Und vor ihm kniet die Frage:
Läßt es sich nicht erweichen ?
— 7 —
Wie ich es nimmer wage,
und wie icli's immer wende,
ein Werk ist nie zu Ende —
am Ausgang steht die Frage.
Und eh' mein Herz verzage,
den Ausgang zu erreichen,
setz' heimlich ich ein Zeichen —
dem Zeichen folgt die Frage.
Es zündet immer weiter
der Blitz, der mich zerrissen.
Mein eignes besseres Wissen
will Antwort vom Begleiter.
Mit angstverbrannter Miene
stock' ich vor jeder Wendung,
entreiß' mich der Vollendung
durch eine Druckmaschine.
Wie schön ist es gewesen,
am Wege waren Wonnen.
Was heimlich süß begonnen,
nun werden 's Leute lesen.
O Glück im Wortverstecke
des unerlösten Denkens,
Versagens und sich Schenkens —
was bog dort um die Ecke?
Noch nicht erseh'n, ersehn' ich's.
Vorweltlich Anverwandtes,
eh' ich's gesetzt hab', stand es,
und nun mir selbst entlehn' ich's.
Entzückung fand der Gaffer
am tausendmal Geschauten.
Aus tagverlornen Lauten
erlöst er die Metapher.
8 —
Im Hin- und Wiederfluten
der holden Sprachfiguren
folgt er verbotnen Spuren
posthumer Liebesgluten.
In Hasses Welterbarmung
verschränkt sich Geist und Sache
zu weltverhurter Sprache
chiastischer Umarmung.
Wer sprechen kann, der lache
und spreche von den Dingen.
Mir wird es nie gelingen,
sie bringen mich zur Sprache,
Das Wort trieb mit den Winden
und spielt mit Wahngestalten.
Im Wortspiel sind enthalten
Gedanken, die mich finden.
Wenn ich so weiter fortspiel',
vor solchem kühnen Zaudern
wird es die Nachwelt schaudern.
Denn alles war im Wortspiel.
Dem ewigen Erneuern,
zum Urbild zu gelangen,
entrinn' ich nur, gefangen
in neuen Abenteuern.
Durch jedes Tonfalls Fessel
gehemmt aus freien Stücken,
erlebt sich das Entrücken
auf einem Schreibtischsessel.
Was leicht mir in den Schoß fiel,
wie schwer muß ich's erwerben,
bang vor des Worts Verderben.
O daß mir dieses Los fiel !
— 9
Alle Vögel sind schon da<
Das Zimmer schweigt und vor dem Fenster
brütet der Sonntag seinen Plan,
führt auf dies stumme Ab und An,
die Pantomime der Gespenster.
Und rechts und links in meinem Zimmer
hängt was gewesen an der Wand,
ein toter Freund reicht seine Hand
und was gewesen ist, bleibt immer.
Es schweigt mich an wie eine Sage,
ein jedes Ding von seinem Ort.
Die heimgegangne Göttin dort
ruft des Geschlechtes heilige Klage.
Wie laut wird alles, was da schweigt.
Nun bin ich schon im frühsten Alter.
Da wird die Stille rings zum Psalter,
zu dem des Nachbars Junge geigt.
Des ersten Frühlings Glückerleben
wird wieder mir so greifbar nah.
Ach, »alle Vögel sind schon da«!
Ich seh' sie durch das Zimmer schweben.
— lU
An den Schnittlauch
O gutes Grün, wie sprichst du mich zärtlich an,
Wie heilig schweigst du von dem Geheimnisse.
Du letzter Schmuck der armen Mutter,
Die ihren Schoß mit der Söhne Blut färbt.
Daß du zugleich bist und daß mit dir zugleich
Der Wille lebt, an dem eine Menschheit stirbt —
Ach, irdisch Unmaß! und dir wird nicht
Fahler die Farbe, du grüne Hoffnung.
O letztes Leben und wie das Leben auch
Verkannt, du Anbot wahrster Bescheidenheit,
Du selbstgenügsam stille Pflanze,
Die nur wie Schnittlauch schmeckt und duftet.
Nach etwas suchend, welches kein andres ist.
Im Kreis des Lebens, das im Ersatz sich lebt,
Bloß deine gute Gabe sah ich.
Chemischem Zauber unerreichbar.
Daß gleichwohl, grüne Freundschaft, du eßbar seist,
Wenn auf dem Teller treu du dich hingestreut —
Es rührt noch von dem alten Hunger.
Stets hat der Mensch von der Seele gegessen.
11
Grabschrift für ein Hündchen
(Woodie, gestorben 22. Mai 1913.)
Ein kleiner Hund mit langem Haar, den ich persönlich
kannte,
er lachte, wenn man zu ihm sprach, er weinte, weil er
stumm war,
sein Blick war Dank der Kreatur, für sich und für
die andern.
Da kam ein Wagen ohne Pferd und tötete das
Hündchen.
Wer hatte es so eilig, ach, wer hatte es so
eilig.
Wie wenig Raum hat der Passant für sich gebraucht
im Leben.
Wie eine Schlange konnte er, wenn du ihm pfiffst,
erscheinen.
Wer füllt die schmale Stelle aus? Unwürdige sind
am Leben,
sie brauchen mehr und dennoch bleibt der Würdige
unersetzlich.
Und auch sein Beispiel bessert nicht, sein Opfer nicht
die andern,
die immer allzu übrig sind. Der dort ging seines
Weges
und starb daran. Die kleine Frau, sie sah sich um und
rief ihn,
sie rief und rief und sah ihn nicht, da lag er in der
Sonne.
So wenig Stelle nahm er ein. Und so viel Stille bleibet,
wo Leben keine Worte hat.
12 -
Inschriften
Der Besiegte
Streit' ich vergebens gegen allen Schmutz der Gosse,
entschädigt mich die Ohnmacht vor dem Licht.
Das Leben, meistens greller als die Glosse,
ist manchmal schöner doch als ein Gedicht.
Der Unähnliche
Wenn ich mich so in eurem Spiegel sehe,
so seh' ich ein: ich habe oft geirrt.
Doch wäre ich's darum noch immer.
Ein andres ist es, was mein Bild verwirrt,
und die Entstellung ist weit schlimmer.
Daß ich es nur gestehe:
Der Spiegel hat sich oft in mir geirrt.
— 13
Zitate
Schiller:
(»Über naive und senlimentalische Dichtung«)
Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die
Bewahrer der Natur. Wo sie dieses nicht ganz mehr sein
können, und schon in sich selbst den zerstörenden Einfluß will-
kürlicher und künstlicher Formen erfahren . . ., da werden sie als die
Zeugen und als die Rächer der Natur auftreten.
Satirisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der
Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale (in
der Wirkung auf das Gemüt kommt Beides auf Eins hinaus) zu
seinem Gegenstände macht. Qies kann er aber sowohl ernsthaft und mit
Affekt als scherzhaft und mit Heiterkeit ausführen, je nachdem er
entweder im Gebiete des Willens oder im Gebiete des Verstandes
verweilt. Jenes geschieht durch die strafende oder pathetische,
dieses durch die scherzhafte Satire.
•
Die pathetische Satire muß jederzeit aus einem Gemüte
fließen, welches von dem Ideale lebhaft durchdrungen ist. Nur ein
herrschender Trieb nach Übereinstimmung kann und darf jenes
tiefe Gefühl moralischer Widersprüche und jenen glühenden
Unwillen gegen moralisciie Verkehrtheit erzeugen, welcher in
einem Juvenal, Swift, Rousseau, Haller und andern zur Begeisterung
wird. Die nämlichen Dichter würden und müßten mit demselben
Glück auch in den rührenden und zärtlichen Gattungen gedichtet
haben, wenn nicht zufällige Ursachen ihrem Gemüt frühe diese
bestimmte Richtung gegeben hätten; auch haben sie es zum Teil
wirklich getan. Alle die hier Genannten lebten entweder in einem
ausgearteten Zeitalter und hatten eine schauderhafte Erfahrung
moralischer Verderbnis vor Augen, oder eigene Schicksale hatten
Bitterkeit in ihre Seele gestreut.
So lange Lukian bloß die Ungereimtheit züchtigt,
bleibt er Spötter, und ergötzt uns mit seinem fröhlichen Humor;
aber es wird ein ganz anderer Mann aus ihm in vielen Stellen .....
wo seine Satire auch die moralische Verderbnis trifft .... Bei
solchen und ähnlichen Anlässen muß sich der hohe Ernst des
Gefühls offenbaren, der allem Spiele, wenn es poetisch sein soll,
zum Grunde liegen muß.
»
.... die N a t u r w i d r i g k e i t unserer Verhältnisse, Zustände
und Sitten treibt uns an, dem erwachenden Triebe nach Wahrheit
und Simplizität, der, wie die moralische Anlage, aus welcher er fließt,
— 14
unbestechlich und unaustilgbar in allen menschlichen Herzen liegt,
in der physischen Welt eine Befriedigung zu verschaffen, die in der
moralischen nicht zu hoffen ist. Deswegen ist das Gefühl, womit
wir an der Natur hangen, dem Gefühle so nahe verwandt, womit
wir das entflohene Alter der Kindheit und der kindlichen Unschuld
beklagen. Unsere Kindheit ist die einzige unverstümmelte Natur,
die wir in der kultivierten Menschheit noch antreffen; daher es kein
Wunder ist, wenn uns jede Fußstapfe der Natur außer uns auf
unsere Kindheit zurückführt.
Goethe:
(Sprüche, in Prosa)
Die größte Achtung, die ein, Autor für sein Publikum
haben kann, ist, daß er niemals bringt was man erwartet,
sondern was er selbst, auf der jedesmaligen Stufe eigner und
fremder Bildung für recht und nützlich hält.
•
Es ist nicht immer nötig, daß das Wahre.sich verkörpere;
schon genug wenn es geistig umher schwebt und Übereinstimmung
bewirkt; wenn es wie Glockenton ernst-freundlich durch die
Lüfte wogt.
*
Tief und ernstlich denkende Menschen haben gegen das
Publikum einen bösen Stand.
Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden
läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den
vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer
aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu
bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten!
Ein guter Kopf könnte wohl noch eins und das andere interkalieren.
Dadurch wird alks was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vor-
hat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder
leiden als zum Zeitvertreib der übrigen, und so springt's von
Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und
zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.
Die Lust der Deutschen am Unsichern in den Künsten
kommt aus der Pfuscherei her: denn wer pfuscht, darf das Rechte
nicht gelten lassen, sonst wäre er gar nichts.
— 15 —
Der Deutsche hat Freiheit der Gesinnung und daher merkt
er nicht, wenn es ihm an Geschmacks- und Geistes-Freiheit fehlt.
Alle Gegner einer geistreichen Sache schlagen nur in die
Kohlen, diese springen umher und zünden da, wo sie sonst nicht
gewirkt hätten.
*
Man sagt: eitles Eigenlob stinket; das mag sein: was aber
fremder und ungerechter Tadel für einen Geruch habe, dafür hat
das Publikum keine Nase.
Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens, deswegen
schadet's dem Dichter nicht abergläubisch zu sein.
Aufrichtig zu sein kann ich versprechen; unparteiisch zu
sein aber nicht.
Wir alle sind so borniert, daß wir immer glauben Recht
zu haben; und so läßt sich ein außerordentlicher Geist denken,
der nicht allein irrt, sondern sogar Lust am Irrtum hat.
Der Appell an die Nachwelt entspringt aus dem reinen
lebendigen Gefühl, daß es ein Unvergängliches gebe, und, wenn
auch nicht gleich anerkannt, doch zuletzt aus der Minorität sich
der Majorität werde zu erfreuen haben.
Wenn ich von liberalen Ideen reden höre, so verwundere
ich mich immer, wie die Menschen sich gern mit leeren Wort-
schällen hinhalten; eine Idee darf nicht liberal sein. Kräftig sei
sie, tüchtig, in sich selbst abgeschlossen, damit sie den göttlichen
Auftrag, produktiv zu sein, erfülle; noch weniger darf der Begriff
liberal sein, denn der hat einen ganz andern Auftrag.
Wo man die Liberalität aber suchen muß, das ist in den
Gesinnungen und diese sind das lebendige Gemüt.
Gesinnungen aber sind selten liberal, weil die Gesinnung
unmittelbar aus der Person, ihren nächsten Beziehungen und
Bedürfnissen hervorgeht.
Weiter schreiben wir nicht; an diesen Maßstab halte man,
was man tagtäglich hört.
— 16
Der Irrtum wiederholt sich immerfort in der Tat, deswegen
muß man das Wahre unermüdlich in Worten wiederholen.
Wie in Rom außer den Römern noch ein Volk von
Statuen war, so ist außer dieser realen Welt noch eine Welt des
Wahns, viel mächtiger beinahe, in der die Meisten leben.
Unser ganzes Kunststück besteht darin, daß wir unsere
Existenz aufgeben um zu existieren.
Alles was wir treiben und- tun ist ein Abmüden; wohl dem
der nicht müde wird.
Es ist nun schon bald zwanzig Jahre, daß die Deutschen
sämtlich transszendieren. Wenn sie es einmal gewahr werden,
müssen sie sich wunderlich vorkommen.
Zu allen Zeiten sind es nur die Individuen, welche für die
Wissenschaft gewirkt, nicht das Zeitalter. Das Zeitalter war's, das
den Sokrates durch Gift hinrichtete; das Zeitalter, das Hussen
verbrannte; die Zeitalter sind sich immer gleich geblieben.
Eigentlich lernen wir nur aus den Büchern, die wir nicht
beurteilen können. Der Autor eines Buchs, das wir beurteilen
köimten, müßte von uns lernen.
Kein Wunder, daß wir uns alle mehr oder weniger im
Mittelmäßigen gefallen, weil es uns in Ruhe läßt; es gibt dts
behagliche Gefühl als wenn man mit seinesgleichen umginge.
Niemand ist lästiger als ein täppischer Mensch vom Zivil-
stande. Von ihm könnte man die Feinheit fordern, da er sich mit
nichts Rohem zu beschäftigen hat.
Selbst im Augenblick des höchsten Glücks und der höchsten
Not bedürfen wir des Künstlers.
— 17
Das Schwierige leiclit behandelt zu sclien, gibt uns das
Anschauen des Unmöglichen.
Alles ist gleich, alles ungleich, alles nützlich und schädlich,
sprechend und siumni, vernünftig und unvernünftig. Und was
man von einzelnen Dingen bekennt, widerspricht sich öfters.
So wie der Weihrauch das Leben einer Kohle erfrischet,
so erfrischet das Gebet die Hoffnungen des Herzens.
Der Deutsche läuft keine größere Gefahr, als sich mit und
an seinen Nachbarn zu steigern; es ist vielleicht kein^ Nation
geeigneter sich aus sich selbst zu entwickele, deswegen es ihr zum
größten Vorteil gereichte, daß die Außeriwelt von ihr so spät Notiz
nahm.
Daß Friedrich der Große aber gar nichts von ihnen wissen
wollte, das verdroß die Deutschen doch, und sie taten das Möglichste,
als Etwas vor ihm zu erscheinen.
Wenn man, einige Monate die Zeitungen nicht gelesen hat,
und man liest sie alsdann zusammen, so zeigt sich erst, wie viel
Zeit man mit diesen Papieren verdirbt. . , .
Was ist das für eine Zeit, wo man die Begrabenen beneiden muß !
Was man mündlich ausspricht, muß der Gegenwart, dem
Augenblick gewidmet sein; was manschreibt, widme man der Ferne,
der Folge.
*
Wer einem Autor Dunkelheit vorwerfen will, sollte erst sein
eigenes Innere beschauen, ob es denn da auch recht hell ist. In
der Dämmerung wird eine sehr deutliche Schrift unlesbar.
Die höheren Forderungen sind an sich schon schätzbarer
auch unerfüllt, als niedrige ganz erfüllte.
Alles wahre Apergu kommt aus einer Folge und bringt Folge.
Es ist ein Mittelglied einer großen produktiv aufsteigenden Kette.
Vis superba formae. Ein schönes Wort von Johannes
Sekundus.
Das Absurde mit Geschmack dargestellt, erregt Widerwillen
tmd Bewunderung.
Der lebendig begabte Geist, sich in praktischer Absicht ans
Allernächste haltend, ist das Vorzüglichste auf Erden.
•
Die originalsten Autoren der neuesten Zeit sind es nicht
deswegen, weil sie etwas Neues hervorbringen, sondern allein, weil
sie fähig sind, dergleichen Dinge zu sagen, als wenn sie vorher
niemals wären gesagt gewesen.
Säen ist nicht so beschwerlich als ernten.
Ein jeder, weil er spricht, glaubt auch
über die Sprache sprechen zu können.
(zu Eckermann)
». . . Die Franzosen haben bisher immer den Ruhm gehabt,
die geistreichste Nation zu sein, und sie verdienen es zu bleiben «
»Der Dichter wird als Mensch und Bürger sein Vaterland
lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte und seines
poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne, das an keine
besondere Provinz, und an kein besonderes Land gebunden ist,
und das er ergreift und bildet, wo er es findet. Er ist darin dem
Adler gleich, der mit freiem Blick über Ländern schwebt, und dem
es gleichviel ist, ob der Hase, auf den er herabschießt, in Preußen
oder in Sachsen läuft.
>Und was heißt denn: sein Vaterland lieben, und was heißt
denn: patriotisch wirken? Wenn ein Dichter lebenslänglich bemüht
war, schändliche Vorurteile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu
beseitigen, den Geist seines Volks aufzuklären, dessen Geschmack
zu reinigen, und dessen Gcsinnungs- und Denkweise zu veredeln:
was soll er denn da Besseres tun? und wie soll er denn da patrio-
tischer wirken? An einen Dichter so ungehörige und undankbare
Anforderungen zu machen, wäre ebenso als wenn man von einem
Regimentschef verlangen wollte: er müsse, um ein rechter Patriot
zu sein, sich in politische Neuerungen verflechten und datüber
seinen nächsten Beruf vernachlässigen. 1)35 Vaterland einesRegiments-
chefs aber ist sein Regiment ....
»Sie wissen, ich kümmere mich im ganzen wenig um das,
was über mich geschrieben wird, aber es kommt mir doch zu Ohren,
und ich weiß recht gut, daß, so sauer ich es mir auch mein Lebe-
lang habe werden lassen, all mein Wirken in den Augen gewisser
Leute für nichts geachtet wird, eben weil ich verschmäht habe,
mich in politische Parteiungen zu mengen. ...»
»Denken Sie sich aber diesen selben Beranger, anstatt in
Paris geboren und in dieser Weltstadt herangekommen, als den
Sohn eines armen Schneiders zu Jena oder Weimar, und lassen Sie
ihn seine Laufbahn an gedachten kleinen Orten gleich kümmerlich
fortsetzen, und fragen Sie sich, welche Früchte dieser selbe Baum,
in einem solchen Boden und in einer solchen Atmosphäre aufge-
wachsen, wohl würde getragen haben.
»Also, mein Guter, ich wiederhole: es kommt darauf an,
daß in einer Nation viel Geist und tüchtige Bildung in Kurs sei,
wenn ein Talent sich schnell und freudig entwickeln soll. . . .
»Nehmen Sie Burns. Wodurch ist er groß, als daß die alten
Lieder seiner Vorfahren im Munde des Volks lebten, daß sie ihm
sozusagen bei der Wiege gesungen wurden, daß er als Knabe unter
ihnen heranwuchs und die hohe Vortrefflichkeit dieser Muster sich
ihm so einlebte, daß er darin eine lebendige Basis hatte, worauf
er weiter schreiten konnte. Und ferner, wodurch ist er groß, als
daß seine eigenen Lieder in seinem Volke sogleich empfängliche
Ohren fanden, daß sie ihm alsobald im Felde von Schnittern und
Binderinnen entgegenklangen, und er in der Schenke von
heitern Gesellen damit begrüßt wurde. Da konnte es freilich etwas
werden !
»Wie ärmlich sieht es dagegen bei uns Deutschen aus! Was
lebte denn in meiner Jugend von unsern nicht weniger be-
deutenden alten Liedern im eigentlichen Volke? Herder und seine
Nachfolger mußten erst anfangen sie zu sammeln und der Ver-
gessenheit zu entreißen; dann hatte man sie doch meistens gedruckt
in Bibliotheken. Und später, was haben nicht Bürger und Voß
für Lieder gedichtet! Wer wollte sagen, daß sie geringer und
weniger volkstümlich wären als die des vortrefflichen Burns! Allein
20
was ist davon lebendig geworden, so daß es uns aus dem Volke wieder
entgegenklänge? Sic sind geschrieben und gedruckt worden und stehen
in Bihliotlieken, ganz gemäß dem allgemeinen Lose deutscher Dichter.
Von meinen eigenen Liedern was lebt denn? Es wird wohl eins
und das andere einmal von einem hübschen Mädchen am Klaviere
gesungen, allein im eigentlichen Volke ist alles stille. Mit welchen
Empfindungen muß ich der Zeit gedenken, wo italienische Fischer
mir Stellen des »Tasso< sangen!
»Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem
Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert; allein es können noch ein paar
Jahrhunderte hingehen, ehe bei unsern Landsleuten so viel Geist
und höhere Kultur eindringe und allgemein werde, daß sie gleich
den Griechen der Schönheit huldigen, daß sie sich für ein hübsches
Lied begeistern, und daß man von ihnen wird sagen können, es
sei lange her, daß sie Barbaren gewesen.«
»Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen — das wäre
meine Art gewesen ! Aus dem Biwak heraus, wo man nachts die
Pferde der feindlichen Vorposten wiehern hört: da hätte ich es
mir gefallen lassen. Aber das war nicht mein Leben und nicht
meine Sache, sondern die von Theodor Körner. Ihn kleiden seine
Kriegslieder ganz vollkommen. Bei mir aber, der ich keine krie-
gerische Natur bin und keinen kriegerischen Sinn habe, würden
Kriegslieder eine Maske gewesen sein, die mir sehr schlecht zu
Gesicht gestanden hätte.
»Ich habe in meiner Poesie nie affektiert. Was ich nicht
lebte und was mir nicht auf die Nägel brannte und zu schaffen
machte, habe ich auch nicht gedichtet und ausgesprochen. Liebes-
gedichte habe ich nur gemacht wenn ich liebte. Wie hätte ich nun
Lieder des Hasses schreiben können ohne Haß! Und, unter uns,
ich haßte die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott dankte, als wir
sie los waren. Wie hätte auch ich, dem nur Kultur und Barbarei
Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu
den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen
Teil meiner eigenen Bildung verdankte!
> Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »ist es mit dem Nationalhaß
ein eigenes Ding. Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie
ihn immer am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine
Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über
den Nationen steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines
Nachbarvolkes empfindet als wäre es dem eigenen begegnet. Diese
Kulturstufe war meiner Natur gemäß, und ich hatte mich darin
lange befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte.«
. m
— 21 —
Jean Paul:
(Levana oder Erzieh-Lehre)
Sie sagen, dünkt mich, in einem Ihrer Briefe, die Sättigung
der Fürsten am Lobe und Wettstreite untergeordneter Menschen
werde leicht zur kriegerischen Sehnsucht nach einem Wettkampfe
mit Fürsten, Feinden und vor Europa. Recht wahr! mit dem Qähn-
fieber, woran im siebenten Jahrhundert so viele in Italien starben,
steckt die böse Hofluft leicht an; durch Schießpulver will man die
Luft wieder erfrischen.
. . . Werden Sie gleich mir eine Friedenspredigt vor dem
Kriege an den Fürsten, der eben den Brandbrief zum Kriegsfeuer
hinwerfen will, etwa so halten? »Bedenk' es, ein Schritt über dein
Qrenzwappen verwandelt zwei Reiche, hinter dir verzerrt sich
deines - vor dir- das fremde. - Ein Erdbeben wohnt und arbeitet
dann unter beiden fort - alle alte Rechtsgebäude, alle Richter-
stühle stürzen, Höhen und Tiefen werden ineinander verkehrt.
— Ein Jüngster Tag voll auferstehender Sünder und voll fallender
Sterne, ein Weltgericht des Teufels, wo die Leiber die Geister richten,
die Faustkraft das Herz. Bedenk' es, Fürst! Jeder Soldat wird in
diesem Reich der Gesetzlosigkeit dein gekrönter Bruder auf fremdem
iioden mit Richtschwert, aberohne Wage, und gebeut unumschränkter
als du; jeder feindliche Packknecht ist dein Fürst und Richter, mit
Kette und Beil für dich in der Hand! — Nur die Willkür der
Faust und des Zufalls sitzt auf dem Doppelthrone des Gewissens
und Lichts. - Zwei Völker sind halb in Sklavenhändler, halb in
Sklaven verkehrt, unordentlich durcheinander gemischt. Für höhere
Wesen ist das Menschenreich ein gesetz- und gewissenloses taub-
blindes Tier- und Maschinenreich geworden, das raubt, frißt,
schlägt, blutet und stirbt. — Immerhin sei du gerecht, du lassest
doch durch die erste Manifestzeile wie durch ein Erdbeben die
gefesselte Ungerechtigkeit aus ihren Kerkern los! Auch ist ja die
Willkür so hergebracht groß, daß dir kleinere Mißhandlungen gar
nicht, und große nur durch ihre Wiederholung vor die Ohren
kommen. Denn die Erlaubnis, zugleich zu töten und zu beerben, schließt
jede kleinere in sich. Sogar der waffenlose Bürger tönt in die Miß-
und Schreitöne ein; vertauschend alle Lebenspläne gegen Minuten-
genuß und ungesetzliche Freiheit, und von den befreundeten
Kriegern als ein halber, von den anfeindenden als ein ganzer
Feind behandelt und aufgereizt. Dies bedenke, Fürst, bevor du in
die Heuschreckenwolke des Kriegs alles dein Licht verhüllst, und
in dein bisher so treu verwaltetes Land alle Krieger eines fremden
zu Obrigkeiten und Henkern einsetzest, oder deine Krieger ebenso
ins frem(le!< —
Wenigstens ließe sich noch manches tun. Man löse doch
in der Geschichte und Zeitung die so kurz und leicht
22 —
hinschwindenden Laute: >Schlachtfeld, Belagerungsnot, hundert Wagen
Verwundete« . . einmal recht in ihre entsetzlichen Bestandteile auf,
in die Schmerzen, die ein Wagen trägt und tiefer reißet, in einen
Jammertag eines Verschmachtenden. Nicht nur die Geschichte, in
welcher ganze Zeiten und Länder verbluten, sogar die gemeine
Zeitung und Sprechart, und die wissenschaftliche Ansicht der Kriegs-
und der Wundarziieianleitungen verwandeln Wunden in Worte,
das ungeheure All-Weh in einen Buchstaben. Daher denselben
Minister, welcher die Regentabelle des kriegerischen Blut- und
Aschenregens ruhig liniiert, und heiter zweien Ländern ein Blut-
bad verordnet, eine Bühnenwunde und -Träne erschfittert, bloß
weil die Dichtkunst das Wort wieder rückwärts in die lebendige
Gegenwart verwandelt. Auch könnte man einen Prinzen von
bedenklichen Anlagen mit demselben Warnvorteil auf ein blutiges
Schlachtfeld führen, als Kinder von ganz andern in ein verwesen-
des Krankenhaus; aber mög' es stets der Menschheit an solchen
Schul- und Heilanstalten fehlen ! —
Eigentlich sollte nur das Volk — dies könnte man wenigstens
einem Erbprinzen erziehend sagen — über den Krieg mit einem
andern, d. h. über die Rückkehr in den ersten Naturzustand,
besonders da nur dessen harte Früchte, nicht dessen süße auf
dasselbe fallen, abzustimmen haben, ob es sich als Totenopfer
dem Gewitter und Sturm des Krieges weihe oder nicht.
. . . Denn auf der Erde ist ein feiges Volk noch seltener, als
ein Kühner Mann ; welche Völker der alten und neuen Zeit waren
nicht tapfer? Jetzo z. B, fast ganz Europa, die Russen, Dänen,
Schweden, Österreicher, Sachsen, Engländer, Hessen, Franzosen,
Bayern und Preußen — Je tiefer Roms freier Geist einsank, desto
wilder und kräftiger hob sich der tapfere empor; Catilina, Cäsar,
August hatten siegende Knechte. Die häufige Bewaffnung der alten
Sklaven (wie in der neuern die der Bettler) beweiset gegen
den Wert der gemeinen Faust und Wundeiitapferkeit. Der Athener
Iphikrates sagte: raub- und lustgierige Soldaten sind die besten;
und der General Fischer setzte dazu: Landstreicher. — Kann ein
Fürst in die Nachwelt mit nichts als mit den schönen Tigerflecken
der Eroberer strahlen wollen, womit ihn die Timurs, Attilas, Dessa-
lines und andre Geißeln Gottes oder Knuten des Teufels überbieten?
Wie kalt geht man in der Geschichte über die unzähligen Schlacht-
felder, welche die Erde mit Todesbeeten umziehen? Und mit welchen
Flüchen eilt man vor der Krone vorüber, welche die sogenannte
Ajüstagen oder Blechaufsätze nur auf dem fortspritzenden Wasser-
strahl der Fontänen, ebenso nur auf emporspringenden Blutströmen
in der Höhe sich erhalten! Wo aber einige Helden davon ein ewiger
Nachschimmer überschwebet, wie Marathons Ebene, Termopyläs
Tiefe: da kämpften und opferten andre Geister; — himmlische Er-
scheinungen, der Freiheitsmut, und welcher einzelne in der Geschichte
groß dasteht, und ihre Räume erfüllt, der tut es nicht auf einer
23 -
Pyramide von Totenköpfen aus Schlachten, sondern eine große
Seele schwebet, wie die Gestalt einer überirdischen Welt, verklärt
in der Nacht, und berührt Sterne und Erde.
Denn es gibt eine höhere Tapferkeit, welche einmal, obwohl
nicht lange, Sparta, Athen und Rom besaßen, die Tapferkeit des
Friedens und der Freiheit, der Mut zu Hause. Wenn manches
andre Volk, im Vaterland ein feigduldender Knecht, außer demselben
ein kühnfassender Held, dem Falken gleicht (nur weniger durch Schlaf-
losigkeit wie er, als durch Einschläfern zahm geworden), welcher
vom Falkenmeister so lange verkappt auf der Faust getragen wird,
bis er als augenblicklicher Freier des Aethers in alte Wildheit los-
gelassen, kühn und klug einen neuen Vogel überwältigt und mit
ihm auf die Sklavenerde niederstürzt: so führt das recht- und frei-
mutige Volk zu Hause seinen Freiheitskrieg, folglich den längsten
und kühnsten, gegen jede Hand, die den Flug und Blick einschränkt;
der einzige Krieg, der keinen Waffenstillstand haben soll. Ebenso
tapfer im höhern Sinne kann der einzelne Fürst sein. Das Ideal in
der Kunst, Größe in Ruhe darzustellen, sei das Ideal auf dem
Throne. Das Kriegsfeuer zu besprechen, ist eines Fürsten würdiger,
sowie schwerer, als es anzuzünden. Ist aber diese Tapferkeit des
Friedens vorhanden — womit man allein sich vor der Geschichte
noch auszeichnen kann — so ist die zweite des Kriegs, sobald er
nötig ist, die leichtere, und jede Wunde ein Glück und ein Spiel.
Daher sind die Großen der alten Geschichte mehr durch Charakter
als Taten, mehr durch Friedens- als Kriegszüge bezeichnet. . . .
Von dieser Geschichtseite und Öffnung müßte, dünkt mich,
ein junger Fürst in die Zukunft schauen, die er bauen und füllen
hilft; auf diese Weise müßte er der schönern Tapferkeit die
niedere unterordnen.
24
Inschriften
Wiener Mahlzeit
Die Nahrungsfrage abzuwickeln,
findet der Dialekt Verwendung.
Er hat es schwer mit den Artikeln
und leugnet doch der Speisen Endung.
Ach Gott, es fehlt uns an der Fetten,
wir müssen fleischlos uns bequemen.
Wenn wir nur einen Butter hätten,
wir würden auch die Schinke nehmen.
Gespräche
Die beiden ließen sich durch mein Gespräch nicht stören.
Sie horchte auf, wenn er dazwischen sprach.
Es war so wichtig ihr, mir zuzuhören,
daß sie mich, sagt sie, unterbrach.
Selbstlose Gesellschaft
Mit jenen schlimmen Schwindlern Vorsicht übe,
die sich in deine Sachen mischen.
Sie machen dir das Wasser trübe,
ohne darin zu fischen.
Sie mengen sich in deine Interessen
zu einem ganz selbstlosen Zwecke.
Sie möchten nicht von deinem Tische essen,
nur: daß es dir nicht schmecke.
'l^
Gerüchte
Der Mann war das leibhaftige Gerücht.
Lief er auf leisen Sohlen durch den Saal,
so war es ein Skandal,
und man erfuhr die Quelle nicht.
Wie gleich und gleich sich gleich verflicht,
die Gattin, die er nahm, sah aus wie Fama.
Das gab ein Ehedrama,
das Kind war ein Gerücht.
Und eh die Ehe, die nicht ehern, bricht,
gesellt sich einer zu dem Pärchen,
erzählte ihr ein Märchen.
Was war die Folge? Ein Gerücht.
Den Neubildnern
Wer seinen Durst am Sprachquell stillet,
dem winken ungeahnte Wonnen.
Wem sich das alte Wort erfüllet,
der hat es wahrlich neu begonnen.
Es schwelgen mißgeborne Knaben
in adjektivischen Gefilden.
Sie müssen eine Krankheit haben :
der Krebs nur neigt zu Neugebildcn.
26 —
Elysisches
Melancholie an Kurt Wolff
Dort in Prag, wo neukatholsche Cliristcn
heimisch sind, teils aber Pantheisten,
hingeschwellt am Tag,
dort ertönt manch morgendlicher Triller
aus der Jugendbrust des andern Schiller;
ausgerechnet das geschieht in Prag.
Aus dem Orkus in das Grenzenlose
wird gewendet eine alte Hose,
was Ergetzung schafft.
Der dort schaukelt auf der Morgenröte,
der hier hat den Ton des alten Goethe;
denn Gewure heißt auf deutsch die Kraft.
Aber besser noch sind zwo Gewuren,
denn das zeucht dann hin wie Dioskuren,
was nur mich nicht freut,
unterscheid' ich unbeirrter Mahner
junge Prager, alte Weimaraner;
doch Talent hat schließlich jeder heut.
Wer im Himmel oder unberufen
gar an des Olympus heiligen Stufen
wie das Kind im Haus,
morgen hat er wieder andre Sorgen,
etwa zwischen Hölty und Laforgen
kennt er sich mit jeder Note aus.
Wer entzückt im Flügelkleide wandelt
oder andrer Art mit Büchern handelt,
Gott gefallen mag.
Die hier gehn nur — merkt auf das Exempv
nebst der Kirche in den Sonnentempel
und erscheinen auch im »Jüngsten Tag«.
z/
Reingebadet in entlieh'nen Lenzen,
läßt der Seele Überschwang nicht Grenzen
fremdem Element.
Heute ist sie ä la Rimbaud tropisch,
morgen schlicht kopiert sie schon den Kopisch,
hat ein ausgesprochenes Formtalent.
Solchem Wesenswandel wehrt kein Veto,
hin zu Goethen geht es auS dem Ghetto
in der Zeilen Lauf,
aus dem Orkus in das Cafe Arco,
dorten. Freunde, liegt der Nachruhm, stark o
liegt er dort am jüngsten Tage auf.
Wer in altem oder Neugetöne,
jedenfalls in ausgeborgter Schöne
sich dahin ergeußt,
pochend mit der Jugend Nervenmarke
letzt sich noch mit seinem letzten Quarke
an der Quelle, die da für ihn fleußt.
Denn vom schönen Einfluß der Kamönen
können sie sich nun mal nicht entwöhnen,
und kein Hindernis
ist es für der Phantasei Erfindung
und die literarische Verbindung.
Diesen Faden keine Parze riß!
Und geklagt sei es dem ewigen Gotte,
daß der Literaten heutige Rotte
ihr Elysium
findet, denn wer nur am Worte reibt sich,
wird gedruckt bei Drugulin in Leipzich.
Edler Jüngling Wolff, ich klage drum.
28 -
Bekenntnis
Ich bin nur einer von den Epigonen,
die in dem alten Haus der Sprache wohnen.
Doch hab' ich drin mein eigenes Erleben,
ich breche aus und ich zerstöre Theben.
Komm' ich auch nach den alten Meistern, später,
so räch' ich blutig das Geschick der Väter.
Von Rache Sprech' ich, will die Sprache rächen
an allen jenen, die die Sprache sprechen.
Bin Epigone, Ahnenwerthes Ahner,
Ihr aber seid die kundigen Thebaner!
- 29
Der Irrgarten
Die Sprache ist, dies glaubt mir auf mein Wort,
ein Zwist, bei dem ein Wort das andre gibt.
Es leben Lust und Zweifel immerfort
im Zwiespalt und es neckt sich, was sich liebt.
Was treibt es nur? Geburt zugleich und Mord?
Ich steh' dabei und habe nichts verübt.
Wie kam ich an den zauberischen Ort?
Die Welt ist durch das Sieb des Worts gesiebt.
— 30
Der Ratgeber
Was immer sich in meinen Traum gedrängt,
iiat stets mit meinem Tage sicli vermengt.
Doch nimmt der Traum das Leben leicht in Schutz.
An seinem Dunkel klärt sich aller Schmutz.
Wie sich im Wechsel da die Dinge drehn,
wird Schönes häßlich, Häßliches wird schön.
Schon manche Freundschaft plötzlich mir entschwand,
weil ich durch einen Traum den Freund erkannt.
Schon manche Feindschaft habe ich versäumt,
weil mir einmal vom Feinde hat geträumt.
Der Todfeind, den ich auf der Straße traf,
das war der Freund von meinem letzten Schlaf,
Der freundlich meinem Tage sich genaht,
an meiner Nacht übt heimlich er Verrat.
Tagsüber wüßt' ich nicht, wie mir geschah,
wenn ich den andern andern Augs besah.
Es narrt mich etwas, doch ich weiß nicht was,
da ich des Winks der letzten Nacht vergaß.
Zur nächsten erst hängt wieder an dem Flaum
des Bettes der am Tag vergessne Traum,
31
Der Reim
Der Reim ist nur der Spraclie Gunst,
niciit nebenher noch eine Kunst.
Geboren wird er, wo sein Platz,
aus einem Satz mit einem Satz.
Er ist kein eigenwillig Ding,
das in der Form spazieren ging.
Er ist ein Inhalt, ist kein Kleid,
das heute eng und morgen weit.
Er ist nicht Ornament der Leere,
des toten Wortes letzte Ehre.
Nicht Würze ist er, sondern Nahrung, .
er ist nicht Reiz, er ist die Paarung,
Er ist das Ufer, wo sie landen,
sind zwei Gedanken einverstanden.
Er ist so seicht und ist so tief
wie jede Sehnsucht, die "ihn rief.
Er ist so einfach oder schal
wie der Empfindung Material.
Er ist so neu und ist so alt
wie des Gedichtes Vollgestalt.
Orphischen Liedes Reim, ich wette,
er steht auch in der Operette.
Wenn Worte ihren Wert behalten,
kann nie ein alter Reim veralten.
Fühlt sich am Vers ein Puls, ein Herz,
so fühlt es auch den Reim auf Schmerz.
Aus ailgemeinrer Sachlichkeit
glückt neu der Reim von Leid auf Zeit.
32
Weist mich das Wort in weitere Fernen -
o staunend Wiedersehn mit Sternen!
Der erdensichern Schmach Verbreitung
bedingt dafür die Tageszeitung
und leicht trifft einem irdnen Tropf
der Reim den Nagel auf den Kopf.
Dem Wortbekenner ist das Wort
ein Wunder und ein Gnadenort.
Der Reim, oft nur der Verse Leim,
ist der Gedanken Honigseim.
Hier bietet die Natur den Schatz,
dort Technik süßeren Ersatz.
Ein Wort, das nie am Ursprung lügt,
zugleich auch den Geschmack betrügt.
Dort ist's ein eingemischter Klang,
hier eingeboren in den Drang.
Sei es der Unbedeutung Schall:
ein Schöpfer ruft es aus dem All.
Dort deckt der Reim die innre Lücke
und dient als eine Versfußkrücke.
Hier nimmt er teil am ganzen Muß,
die Fessel eines Genius,
Gebundnes tiefer noch zu binden.
Was sich nicht suchen läßt, nur finden,
was in des Wortglücks Augenblick,
nicht aus Geschick, nur durch Geschick
da ist und was von selbst gelingt,
aus Mutterschaft der Sprache springt:
das ist der Reim. Nicht, was euch singt!
66
Vor dem Einschlafen
Wovor ist mir denn bang?
Was soll mir denn geschehen?
Ich werde Neues sehen.
Und bis dahin ist's lang.
Was das nur heute ist.
Es kommt doch immer näher.
Entging' ich doch dem Späher!
Täuscht' ich ihn nur mit List!
Oh das verlorne Glück!
O stände doch die Stunde!
O ging' es in der Runde
zum Anfang doch zurück!
Nehmt alle Uhren fort !
Die Zeit klopft mir im Herzen.
Wie flackern schon die Kerzen.
Wie dunkel wird der Ort.
O gäb's doch Aufenthalt!
Geheimnis, brich dein Siegel.
Zerbrecht mir dort den Spiegel!
Ich trotze der Gewalt!
Schlaf, rett' mich vor dem Tod.
Laß mich vom Leben borgen.
Bring wieder mir den Morgen.
Beende diese Not.
34 —
Hier neigt sich mir ein Bild,
und durch ein weises Walten
verwandeln sich Gestalten,
es fließt um mich so mild.
Dies alles war einmal.
Jetzt wird die Last mir linder.
Wir waren einmal Kinder.
Ich sinke in mein Tal. .
Schon weicht mir das Gesicht.
Es kommen die Gesichter.
Verlösch' ich noch die Lichter,
so wird es wieder licht.
Nun fühle ich schon Mut.
Es schwindet das Bewußtsein.
Ah, es wird eine Lust sein.
Nun wird mir wieder gut.
öt) —
Gebet
Du großer Gott, laß mich nicht Zeuge sein!
Hilf mir hinab ins Unbewußte.
Daß ich nicht sehen muß, wie sie mit Wein
zur Not ersetzen ihre Blutverluste.
Du großer Gott, vertreib mir diese Zeit!
Hilf mir zurück in meine Kindheit.
Der Weg zum Ende ist ja doch so weit,
und wie die Sieger schlage mich mit Blindheit.
Du großer Gott, so mach den Mund mir stumm!
Nicht sprechen will ich ihre Sprache.
Erst machen sie sich tot und dann noch dumm,
es lügt ihr Haß, nimmt an der Wahrheit Rache.
Du großer Gott, der den Gedanken gab,
ihr Wort hat ihm den Rest gegeben.
Ihr Wort ist allem Werte nur ein Grab,
selbst Tat und Tod kam durch das Wort ums Leben.
Du großer Gott, verschließ dem Graus mein Ohr,
die Weltmusik ist ungeheuer!
Dem armen Teufel in der Hölle fror,
er fühlt sich wohl in diesem Trommelfeuer.
Du großer Gott, der die Erfinder schuf
und Odem haucht' in ihre Nasen,
schufst du die Kreatur zu dem Beruf,
daß sie dir dankt mit ihren giftigen Gasen?
Du großer Gott, warum beriefst du mich
in diese gottverlassene Qualzeit?
Strafst du mit Hunger, straflos setzte sich
der Wucher zu der fetten Totenmahlzeit.
36
Du großer Gott, warum in dieser Frist,
wozu ward ich im blutigen Hause,
wo jeder, der noch nicht getötet ist,
sich fröhlich setzt zu seinem Leichenschmause?
Du großer Gott, dies Land ist ein Plakat,
auf dem sie ihre Feste malen
mit Blut. Ihr Lied übt an dem Leid Verrat,
der Mord muß ftir die Hetz' die Zeche zahlen.
Du großer Gott, hast du denn aus Gemüt
Vampyre dieser Welt erschaffen?
Befrei mich aus der Zeit, aus dem Geblüt,
unseligem Volk von Henkern und Schlaraffen!
Du großer Gott, erobere mir ein Land,
wo Menschen nicht am Gelde sterben,
und wo im ewig irdischen Bestand
sie lachend nicht die reiche Schande erben!
Du großer Gott, kennst du die Mittel nicht,
die diese Automaten trennten,
wenn sie sich trotz dem letzten Kriegsgericht
bedrohen mit Granaten und Prozenten?
Du großer Gott, raff mich aus dem Gewühl l
Führ mich durch diese blutigen Räume !
Verwandle mir die Nacht zu dem Gefühl,
<1aß ich von deinem jüngsten Tage träume.
Mmnm KARL KRAUS
REITAG, 17. NOVEMBER, 7 UHR
Mittlerer Konzerthaussaal
AUS EIGENEN SCHRIFTEN
I Teil des Ertrages wird wohltätigen Zwecicen gewidmet.
lONTACl, 4. DEZEMBER, 7 UHR
Kleiner Konzerthaussaal
ilNESISCKE KRIEGSLYRIK
ESTROY: Die beiden Nachtwandler oder
Das Notwendige und das Über-
flüssige
UMUNDs Der Alpenkönig und der Menschen-
feind (Aus dem I. Aufzug)
Das Hobellied (KlavIer: Egon Kornaufh)
LRL KRAUS: Worte in Versen
r volle Ertrag wird wohltätigen Zwecken gewidmet.
REITAG, 15. DEZEMBER, 7 UHR
Mittlerer Konzerthaussaal
AUS EIGENEN SCHRIFTEN
Teil de. Ertrages wird wohltätigen Zwecken gewldnet.
nbestimmt) Dienstag, 19. Dezember, 7 Uhr
Kleiner Konzerthaussaal
hakespeares „Maß für Maß"
00
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