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Full text of "Die Fortschritte der Kriegsheilkunde : besonders im Gebiete der Infectionskrankheiten : Rede, gehalten zur Feier des Stiftungstages de militär-ärztlichen Bildungs-Ansalten am 2. August 1874"

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Die 


Fortschritte  der  Kriegsheilkunde, 


besonders 


im  Gebiete  der  Infectionskrankheiten. 


R  e  d  e, 

gehalten 

zur  Feier  des  Stiftungstages  der  militär-ärztlichen 
Bildungs- Anstalten  am  2.  August  1874 


Rudolf  Virchow. 


Berlin,  1874. 

Verlag  von  August  Hirschwald. 

Unter  den  Linden  68. 


Jahrestage,  wie  der  heutige,  wo  eine  grosse  Anstalt  des 
Staates  das  Gedächtniss  ihrer  Stiftung  begeht,  gelten  nicht 
bloss  der  Erinnerung.  Wenn  das  prüfende  Auge  auch  eines 
strengen  Richters  mit  Freude,  ja  mit  Dankbarkeit  den  lan- 
gen Zeitraum  von  fast  acht  Decennien  durchmustert  hat,  wäh- 
rend dessen  diese  Anstalt  dem  Heere  in  immer  vollkomm- 
nerer  Weise  ein  für  dasselbe  unentbehrliches  Personal  zu- 
führte, so  wird  es  sich  doch  auch  vor  der  weiteren  Unter- 
suchung nicht  verschliessen  dürfen,  ob  die  Ausbildung,  welche 
die  Anstalt  ihren  Zöglingen  gewährt,  eine  solche  Breite  und 
Sicherheit  sowohl  in  wissenschaftlicher,  als  in  praktischer 
Beziehung  erreicht,  dass  das  Heer  darauf  zählen  darf,  in 
allen  Wechselfällen  des  Krieges  und  des  Friedens  zuver- 
lässige Helfer  und  Berather  in  dieser  Jugend  erwarten  zu 
dürfen.  Nicht  ohne  tieferen  Sinn  wurde  der  Anstalt  bei 
ihrer  Gründung  der  Name  der  Pepiniere  beigelegt.  Sie 
sollte  eine  Pflanzschule  sein,  in  welcher  die  Zöglinge  zu 
etwas  Höherem,  als  zur  bloss  praktischen  Routine,  erzogen 
würden.  Sie  sollte  die  damals  tief  erniedrigte  Chirurgie 
durch'  ihre  Vereinigung  mit  der  Gesammtheit  der  medicini- 
schen  Disciplinen  erheben;  sie  sollte  dem  Heere  nicht  bloss 
Feldscherer,  sondern  Aerzte  liefern,   welche   schon  in  ihrer 

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Vorbildung  die  Elemente  wahrer  Humanität  in  sich  aufge 
nommen  hätten  und  welche  in  ihrer  technischen  Entwicke- 
lung  zu  der  Fähigkeit  gelangt  seien,  nicht  nur  die  über- 
lieferten Lehren  treulich  auszuführen,  sondern  auch  an  dem 
fortschreitenden  Gange  der  Wissenschaft  mit  Verständniss 
und  Bewusstsein  Theil  zu  nehmen. 

Es  war  dies  eine  grosse  Aufgabe.  Sie  ist  gelöst  worden. 
Aber  indem  sie  für  die  Anstalt  gelöst  wurde,  ward  zugleich 
ein  anderes,  \'iel  allgemeineres  Ziel  erreicht.  Jene  aus  dem 
Mittelalter  überkommene  Scheidung  in  Wundärzte  und  Aerzte, 
welche  in  einem  gewissen  Sinne  in  England  noch  heute  er- 
halten ist,  wurde  allmählich  überhaupt  beseitigt,  und  die 
Einheit  der  gesammten  Medicin,  diese  Signatur  der  neueren 
Zeit,  ist  nicht  ohne  den  bestimmenden  Einfluss  der  preussi- 
schen  militärärztlichen  Einrichtungen  gewonnen  worden. 

Die  moderne  Medicin  —  und  auch  das  ist  gewiss  ein 
bemerkenswerther  Umstand  —  ist  kaum  so  alt,  als  diese 
Anstalt.  Die  grossen  Autoritäten  des  vorigen  Jahrhunderts 
sind  heut  zu  Tage  fast  vergessen.  Friedr.  Hoffmann  und 
Ernst  Stahl,  van  Swieten,  Sauvages  und  Cullen  — 
sie  erregen  nur  noch  das  Interesse  des  Historikers.  Unter 
der  mächtigen  Erregung  der  französischen  Revolution,  nach- 
dem schon  für  die  übrigen  Naturwissenschaften,  besonders 
für  die  Chemie  ganz  neue  Grundlagen  der  allgemeinen  An- 
schauung gewonnen  worden  waren,  begannen  auch  die  Vor- 
arbeiten für  den  JSTeubau  der  Medicin.  Gerade  in  diese 
Epoche  fällt  die  Gründung  der  Pepiniere.  Sie  war  wie  eine 
Vorahnung  der  kommenden  Zeit.  Seitdem  ist  eine  medici- 
nische  Schule  nach  der  anderen  aufgestanden,  eine  jede  mit 
vollkommneren  Methoden  und  mit  besseren  Hülf smitteln ;  von 
Decennium  zu  Decennium  ist  die  Summe  des  Wissens,  die 
Zahl  der  Möglichkeiten  für  das  Können  grösser  geworden.  An 
die  Stelle  philosophischer  Spekulation  ist  ein  wohlgeordnetes 
empirisches  Wissen  getreten:   die  Diagnose  hat  die  Sicher- 


heit  der  pathologisch-anatomisclien  Grundlagen,  die  Prognose 
die  Zuverlässigkeit  der  Statistik  gewonnen,  und  in  der  Be- 
handlung sowohl  der  chirurgischen,  als  der  inneren  Schäden 
werden  die  dogmatischen,  meist  auf  willkürlichen  Voraus- 
setzungen begründeten  und  generali  sirenden  Indikationen  mehr 
und  mehr  durch  erfahrungsmässige,  zum  grossen  Theil  localisi- 
rende  Heilanzeigen  ersetzt.  Nirgends  ist  der  Gegensatz  von 
Sonst  und  Jetzt  schroffer,  als  gerade  in  der  Therapie.  Während 
die  chirurgische  Behandlung  immer  mehr  in  die  Tiefe  dringt 
und  das  Gebiet,  welches  bis  dahin  der  sogenannten  inneren 
Medicin  vorbehalten  war,  auf  eine  noch  vor  Kurzem  unglaub- 
lich erscheinende  Weise  schmälert,  während  die  einzelnen 
Operationen  an  Kühnheit  und  Umfang  weit  über  das  früher 
erlaubte  Maass  hinausgehen,  so  hat  gerade  in  der  äusseren 
Chirurgie,  welche  den  verletzten  Soldaten  hauptsächlich  an- 
geht, eine  so  conservirende  Richtung  Platz  gegriffen,  dass 
es  als  ein  alleräusserstes  Mittel  angesehen  wird,  einen  Theil 
des  Körpers  gänzlich,  zu  entfernen.  Und  so  auch  in  der  inneren 
Medicin.  Noch  zur  Zeit  der  Befreiungskriege  galt  der  Ader- 
lass  als  ein  nicht  nur  zulässiges,  sondern  sogar  nützliches  und 
daher  vielfach  anzuwendendes  Heilmittel  im  Typhus,  Gegen- 
wärtig hält  man  es  für  ein  Verbrechen,  überhaupt  Blut  zu 
vergiessen,  w^o  es  sich  irgend  vermeiden  lässt:  nicht  nur  der 
Typhus,  sondern  auch  die  Lungenentzündung  wird  ohne  Ader- 
lass  geheilt.  Ja,  man  beschäftigt  sich  ernstlich  damit,  selbst 
die  grossen  Operationen,  welche  im  engeren  Sinne  „blutige" 
genannt  werden,  in  unblutige  zu  verwandeln. 

Derselben  conservirenden ,  aber  keineswegs  conserva- 
tiven  Richtung  ist  es  zu  danken,  wenn  sich  die  Aufmerk- 
samkeit der  Geister  mehr  und  mehr  einer  früher  fast  ganz 
vernachlässigten  Seite  der  Behandlung,  der  präventiven  oder 
prophylaktischen  zuw^endet.  Es  ist  dieselbe,  welche  in 
grossem  Styl  als  öffentliche  Gesundheitspflege  auftritt.  Hier 
begegnet  sich  der  Arzt  mit  dem  Verwaltungsbeamten,  ja  er 


theilt  gewisse  Aufgaben  mit  dem  militärischen  Führer  selbst. 
Die  Sorge  für  reine  Luft  und  reines  Trinkwasser,  für  ge- 
sunde Nahrung  und  gesunde  Aufenthaltsplätze  liegt  nicht 
bloss  der  Medicinalverwaltung  ob.  In  vielen  Stücken  ist 
die  Einwirkung  der  Militär-Intendantur  eine  noch  viel  mehr 
entscheidende,  und  selbst  der  Truppencommandeur,  welcher 
weiss,  dass  es  „vermeidliche"  Krankheiten  giebt,  die  ein  Heer 
decimiren  können,  wenn  sie  sich  einmal  festsetzen,  wird 
vielfach  in  Krieg  und  Frieden  zu  erwägen  haben,  ob  seine 
Befehle  mit  den  Regeln  der  Gesundheitspflege  im  Einklang 
stehen  oder  nicht. 

So  grosse  Veränderungen  —  und  es  Hesse  sich  noch 
manches  andere  Beispiel  aufführen  —  sind  wesentlich  her- 
beigeführt durch  die  Fortschritte  der  Wissenschaft.  Man 
könnte  freilich  auch  sagen,  es  sei  die  bittere  Noth  gewesen, 
diese  herbste  aller  Lehrmeisterinneu,  welche  durch  die 
schwersten  Heimsuchungen  die  Augen  der  Menschen  geöffnet 
habe,  auf  dass  sie  sehen  mussten,  was  sie  eigentlich 
nicht  sehen  wollten.  Ja,  gewiss,  es  ist  entsetzlich,  welche 
Schule  der  Leiden  die  Armeen  haben  durchmachen  müssen, 
ehe  die  Wahrheit  allgemein  anerkannt  wurde!  Noch  im 
Krym-Kriege  verlor  die  französische  Armee  1  Mann  auf  3 
des  Gesammtbestandes ,  und  man  rechnet,  dass  von  den 
95,Gi5  Mann,  welche  ihr  Leben  einbüssten,  nur  10,240  vor 
dem  Feinde  fielen.  Ungefähr  eben  so  viele  Verwundete  star- 
ben in  den  Hospitälern.  Der  Rest,  mehr  als  75,000  Mann, 
fiel  Seuchen  zum  Opfer.  Im  amerikanischen  Secessionskriege 
rechnet  man  97,000  Todesfälle  auf  die  Schlachten  und  1 84,000 
auf  die  Seuchen  und  Krankheiten.  Welches  Unmaass  von 
Leid  und  Schmerz,  welches  Meer  von  Blut  und  Thränen 
liegt  in  diesen  Zahlen  verschlossen!  Aber  auch  welche  Fülle 
von  fehlerhaften  Maassregeln,  von  Vorurtheilen  und  Miss- 
verständnissen! Es  ist  nicht  nöthig,  hier  die  lange  Liste 
dieser  Fehler  und  Sünden  aufzumachen;   sie  ist  glücklicher- 


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weise  bekannt  genug  geworden,  um  Andern  als  Schreckbild 
zu  dienen. 

Aber  das  muss  hier  gesagt  werden,  dass  es  nicht  die 
Noth  allein  war,  welche  das  Uebel  aufdeckte  und  die  Hülfe 
brachte.  Dass  die  Franzosen  in  der  Krym  wenig  oder 
nichts  gelernt  haben  und  die  Nordamerikaner  in  ihrem  Bür- 
gerkriege so  viel,  dass  von  da  an  eine  neue  Aera  der  Mi- 
litärmedicin  beginnt,  das  liegt  nicht  in  der  Grösse  der  Noth, 
welche  die  Amerikaner  zu  erleiden  hatten,  denn  diese  war 
nicht  beträchtlicher,  als  sie  die  Franzosen  in  der  Krym 
erfuhren.  Es  war  vielmehr  der  kritische,  acht  wissen- 
schaftliche Geist,  der  offene  Sinn,  der  gesunde  und  prak- 
tische Verstand,  der  in  America  nach  und  nach  alle  Kreise 
der  Armee- Verwaltung  durchdrang  und  der  unter  der  wun- 
dervollen Beihülfe  eines  ganzen  Volkes  das  Höchste  erreichte, 
was  bis  dahin  jemals  in  einem  grossen  Kriege  an  humaner 
Leistung  erzielt  worden  war.  Wer  die  umfangreichen  Publi- 
kationen des  amerikanischen  Militär-Medicinalstabs  zur  Hand 
nimmt  und  durchsieht,  der  wird  immer  wieder  von  Neuem 
in  Erstaunen  gesetzt  werden  durch  den  Reichthum  der  Er- 
fahrungen, welche  darin  niedergelegt  sind.  Die  äusserste  Ge- 
nauigkeit im  Detail,  eine  bis  ins  Kleinste  sorgsame  Sta- 
tistik, eine  alle  Seiten  der  medicinischen  Erfahrung  umfas- 
sende, gelehrte  Darstellung  sind  hier  vereinigt,  um  der 
Nach-  und  Mitwelt  das  um  so  theureu  Preis  erkaufte  Wis- 
sen möglichst  vollständig  zu  erhalten  und  zu  überliefern. 

Die  deutschen  Heere  hatten  in  dem  letzten  französi- 
schen Kriege  auf  ein  Total  von  913,967  Mann  einen  Ge- 
sammtabgang von  44,890  Mann.  Davon  sind  vor  dem  Feinde 
gefallen  17,572,  später  an  ihren  Wunden  erlegen  10,710, 
Krankheiten  und  Seuchen  zum  Opfer  gefallen  12,253,  — 
gewiss  ein  sehr  günstiges  Verhältniss.  Aber  wir  hatten  die 
Erfahrungen  zweier  kurz  vorhergegangener  Kriege  für  uns, 
welche  wissenschaftlich  und  administrativ  wohl  erörtert  und 


benutzt  waren;  wir  besassen  die  unschätzbaren  Erfahrungen 
der  Amerikaner,    und  endlich  —  wir  hatten  die  deutsche     ' 
Wissenschaft. 

Freilich  die  deutsche  Wissenschaft  hatte  in  50  Jahren 
des  Friedens,  dessen  letzte  Jahre  durch  einige  kleinere  Feld- 
züge und  mehrere  Mobilmachungen  nur  vorübergehend  unter- 
brochen waren,   den  Zusammenhang  mit  den  Aufgaben  des 
Krieges  fast  ganz  verloren.     Selbst  die  Chirurgie,   die  doch 
ihrer  Natur  nach  zu  allen  Zeiten  einen  grossen  Theil  ihrer 
Beschäftigungen  den  Verletzungen  zuzuwenden  hat,   war  so 
sehr  in    die  Hände   der  eigentlichen  Fachmänner  zurückge- 
gangen, dass,  als  der  Ruf  zu  den  Waffen  erscholl,  es  nöthig 
erschien,    überall    auch  die  Lehrer  des  Faches  als    aktive 
Elemente  der  Militärchirurgie  heranzuziehen.     Noch  schHm- 
raer  sah  es  auf  dem  Felde   der  inneren  Medicin   aus.     Der 
Skorbut  war  so  vollständig   aus  den  Krankenhäusern  ver- 
schwunden, dass  man  sich  daran  gewöhnt  hatte,  ihn  zu  den 
ausgestorbenen  Krankheiten  zu  zählen,   und  erst  der  Krieg 
in  der  Krym  und  der  Ostsee   musste  den  Nachweis  Hefern, 
dass  gleiche  Ursachen  immer  noch  gleiche  Wirkungen  her- 
vorbringen.    Der  ansteckende  Kriegstyphus,    der  von   dem 
Feldzuge    von    1812    her   noch  in    schlimmster  Ej-innerung 
war,   damals  das  russische  Fieber  genannt,   war  auf  dem 
Continent  so  selten  geworden,   dass  man  ihn  allmähch  mit 
dem   Abdominaltyphus    verwechselte;    erst    die   Hungerpest 
in  Oberschlesien   1848   machte  ihn   wieder  zu   einem  wirk- 
lichen Gegenstande  ärztlicher  Forschung  in  Deutschland. 

Nur  in  einem  Punkte  war  die  Aufmerksamkeit  immer 
wach  erhalten  worden,  in  demjenigen,  welcher  in  fast  gleicher 
Weise  alle  Zweige  der  Medicin  berührt.  Das  waren  die 
eigentlichen  Hospital-  oder  Nosokomialkrankheiten.  Die 
bösartigen  Wundfieber  der  Chirurgen,  die  Eiterfieber  der 
Mediciner,  die  Puerperalfieber  der  Gynäkologen,  —  sie  führ- 
ten sämmtlich  auf  dasselbe   dunkle   Gebiet,    auf   dem    die 


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Wissenschaft  und  die  Praxis  gleich  machtlos  einer  ebenso 
dunklen,  als  übermächtigen  Gewalt  gegenüber  standen.  Die- 
selbe Krankheit,  welche  die  Verwundeten  des  Krieges  in 
den  Lazaretten  dahinraffte,  wüthete  in  bald  grösseren,  bald 
geringeren  Epidemien  Jahr  aus,  Jahr  ein  in  den  stehenden 
Kranken-  und  Gebärhäusern.  Nur  die  Vorstellungen  über 
ihr  Wesen  und  demgemäss  auch  der  Name,  welchen  man 
ihr  beilegte,  wechselten.  Zur  Zeit  der  Befreiungskriege 
hatte  man  sie  noch  den  adynamischen  Fiebern  zugerechnet. 
Als  aber  durch  Broussais  und  Schönlein  die  Lehre  von 
den  essentiellen  Fiebern  zu  Grabe  getragen  wurde,  als  die 
pathologisch-anatomische  Forschung  auch  dieses  Gebiet  zu 
erobern  begann,  da  entstand  der  Name  der  Phlebitis,  weil 
man  in  den  Venen  den  eigentlichen  Sitz  und  Ausgangspunkt 
des  Uebels  zu  erkennen  glaubte.  Selbst  als  der  zweideutige 
Name  der  Pyämie  ^hinzugefügt  wurde,  blieb  doch  die  Vor- 
stellung von  der  ursprünglichen  Venenaffection  so  sehr  die 
bestimmende,  dass  der  grosse  französische  Forscher  Cru- 
veilhier  den  Ausspruch  that:  la  phlebite  domine  toute  la 
Pathologie. 

Es  war  um  diese  Zeit,  als  ich  selbst  durch  den  damali- 
gen Leiter  dieser  Anstalt,  den  jetzigen  hochverdienten  Chef  des 
deutschen  Militär-Medicinalwesens,  berufen  ward,  die  wissen- 
schaftlichen Untersuchungen  an  der  hiesigen  Charite  zu 
übernehmen,  und  ich  darf  wohl  am  heutigen  Tage  daran 
erinnern,  dass  es  mir  gestattet  war,  als  am  2.  August  1845 
diese  Anstalt  die  Feier  ihres  ersten  halben  Säculums  beging, 
in  einer  Festrede  die  erste  Mittheilung  meiner  Untersuchun- 
gen über  Phlebitis  und  Pyämie  von  dieser  Stelle  aus  vor- 
zutragen^). Schon  damals  konnte  ich  den  Nachweis  führen, 
dass  weder  der  Name  der  Phlebitis,  noch  der  Name  der  Pyämie 
passend  sei,  dass  es  sich  vielmehr  einerseits  um  Gerinnungen 
des  Blutes  in  den  Gefässen  und  deren  weitere  Geschichte,  ande- 
rerseits um  eine  Infection  des  Blutes  durch  unreine,  zuweilen 


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faulige  Stoffe  handle,  was  ich  später  als  Thrombose  und  Embo- 
lia, Ichorrhämie  und  Sephthämie  bezeichnete.  Aber  ich  ver- 
mochte nicht  genau  zu  sagen,  welche  Schädlichkeit  es  sei, 
welche  diese  Ichorrhämie  und  Sephthämie  hervorbringe. 

Daran  schloss  sich  alsbald  eine  andere  Erörterung. 
Eine  grosse  Keihe  der  schlimmsten  Erkrankungsformen,  wie 
das  Puerperalfieber,  die  Ruhr,  selbst  der  Hospitalbrand,  bil- 
den an  den  befallenen  Stellen  Pseudomembranen,  von 
welchen  die  weitere  Zerstörung  der  Gewebe  ausgeht. 
Rokitansky  hatte  die  Mehrzahl  von  ihnen  als  croupöse 
bezeichnet.  Eine  feinere  mikroskopische  Untersuchung  lehrte 
jedoch  einen  durchgreifenden  Unterschied.  Während  die 
Croupmembran  sich  als  eine  Ausscheidung  von  Faserstoff 
zu  erkennen  giebt,  welche  als  eine  abstreifbare  Haut  neben 
der  erkrankten  Oberfläche  liegt,  diese  selbst  aber  unversehrt 
lässt,  zeigt  sich  in  jener  anderen  Reihe  von  Fällen  eine  aus 
feinsten  Körnern  bestehende  Einlagerung  in  das  Gewebe 
selbst,  welche  nicht  ohne  Substanzverlust  trennbar  ist. 
Unter  ihrer  Ausbreitung  stirbt  das  Gewebe  ab,  und  wenn 
es  sich  als  „Haut"  löst,  so  hinterlässt  es  ein  Geschwür, 
welches  durch  immer  neue  Einlagerung  sich  nur  zu  leicht 
in  die  Tiefe  ausbrütet.  Ich  nannte  diese  ganze  Gruppe  von 
Erkrankungen  mit  einem  zuerst  von  Bretonneau  für  eine 
einzige  Localität  gewählten  Ausdrucke  diphtheritische^). 

Die  grosse  Cholera-Epidemie  von  1848  gab  sehr  bald 
Gelegenheit,  diese  selbige  Diphtherie  im  Darm,  in  der 
Gallenblase,  der  Scheide  und  an  anderen  Schleimhäuten  nach- 
zuweisen''). Ich  fand  sie  bei  Pocken  und  Scharlach,  ja  bei 
den  mannichfaltigsteu  infectiösen  Prozessen;  ihr  Zusammen- 
hang mit  den  bösartigen  Rosen,  den  tiefgreifenden  brandig- 
phlegmonösen  Erkrankungen,  mit  schlimmen  Formen  innerer 
Entzündungen  trat  zu  Tage*),  und  so  kam  ich  endlich  auf 
einem  zweiten  Wege   zu  einer  Form   der  Infection,    welche 


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noch  viel  mehr,  als  die  nach  Thrombose,  einen  ichorösen 
oder  fauligen  Charakter  hatte. 

Schon  die  Alten  dachten  bei  solchen  Zuständen  an  eine 
Verunreinigung  der  Säfte.  Sie  nannten  die  verunreinigende 
Substanz  Miasma  (von  /iuaivw^  inficio).  Ich  habe  deshalb 
die  ganze  Klasse  Infectionskrankheiten  genannt.  Andere 
haben  eine  andere,  gleichfalls  antike  Vorstellung  vorgezogen, 
nehmlich  die  Vergleichung  mit  der  Gährung,  fermentatio, 
i^xj/iLwo-iQ^  hergenommen  von  der  Säuerung  und  Gährung  des 
Brodes.  Sie  gebrauchen  den  Namen  der  zymotischen  Krank- 
heiten. Eine  gewisse  Zahl  von  diesen  Krankheiten  ist  zu- 
gleich contagiös:  sie  pflanzen  sich  von  Mensch  zu  Mensch 
fort,  gleich  einem  Brande,  der  von  Haus  zu  Haus  weiter- 
greift, durch  „Ansteckung". 

Was  ist  nun  aber  dieses  Miasma  oder  gar  dieses  Con- 
tagium?  Seit  Jahrhunderten  erhebt  sich  immer  von  Neuem 
die  Vermuthung,  dass  es  ein  selbständiges  Wesen  mit 
eigenem  Leben  und  eigener  Fortpflanzungsfähigkeit  sei.  Die 
Lehre  von  dem  Contagium  vivum  s.  animatum,  so  oft  schon 
zurückgeworfen,  taucht  mit  immer  verstärkter  Gewalt  wie- 
der auf,  so  oft  die  naturwissenschaftliche  Forschung  auf  dem 
Gebiete  der  Pathologie  sich  neu  belebt.  Freilich  hat  die 
Neigung  der  Menschen  zu  vorzeitiger  Verallgemeinerung 
einer  in  beschränkterer  Weise  gültigen  Erfahrung  sie  auch 
hier  nur  zu  oft  irre  geführt.  Die  Entdeckung  der  Krätz- 
milbe, der  Nachweis  von  der  parasitären  Natur  der  Krank- 
heit der  Seidenraupen  haben  noch  in  unserem  Jahrhundert' 
gezeigt,  wie  leicht. der  Sinn  auch  sonst  ruhiger  Beobachter 
bethört  wird  und  wie  schnell  sie  geneigt  sind,  der  neuen 
Erfahrung  eine  zur  Zeit  unberechtigte  Breite  der  Geltung 
zuzugestehen.  Aber  am  Ende,  wer  will  sie  tadeln,  wenn 
ihre  Vorahnung  sich  doch  bestätigt? 

Eine  solche  erste  und  grösste  Bestätigung  hat  die  Ge- 
schichte   des  Milzbrandes  geliefert,    einer  ursprünglich   bei 


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pflanzenfressenden  Säugethieren  auftretenden,  meist  epizooti- 
schen  Krankheit,  welche  sich  sehr  leicht  auch  dem  Men- 
schen mittheilt.  Die  jüngste  Seuche  unter  dem  Damwilde 
im  Grunewald  hat  uns  Allen  diese  Gefahr  ganz  nahe  vor 
Augen  gerückt.  Im  Jahre  1855  veröffentlichte  Peilender 
die  ersten  Mittheilungen  über  das  Vorkommen  mikrosko- 
pischer Stäbchen  im  Blute  milzbrandkranken  Rindviehes; 
Brauell  und  Davaine  erweiterten  sehr  bald  die  Kenntniss 
dieser  Gebilde,  und  niemand  zweifelt  jetzt  mehr,  dass  es 
sich  hier  um  kleinste  Pflanzenformen  von  dem  Geschlechte 
Bacterium  handelt.  Sie  finden  sich  im  Blute,  in  der  Milz, 
in  der  gelben  Sülze  und  den  Carbunkeln  der  äusseren  Theile. 
Ihre  Uebertragung  auf  dem  Wege  der  Impfung  heisst  so 
viel  als  Uebertragung  der  Krankheit.  Das  Milzbrand-Miasma, 
das  Milzbrand- Contagium,  so  schliesst  man,  ist  also  das 
Bacterium,  eine  niederste  Pflanze  von  unermesslicher  Ver- 
mehrungsfähigkeit. 

Eine  nicht  minder  überraschende  Beobachtung  wurde 
erst  im  vorigen  Jahre  bei  einer  epidemischen  Krankheit 
des  Menschen,  dem  sogenannten  Rückfallsfieber  (Febris  re- 
currens) von  meinem  leider  so  früh  seinem  wissenschaft- 
lichen Eifer  erlegenen  Assistenten,  dem  Dr.  Obermeier 
gemacht.  Bei  dieser  merkwürdigen  Krankheit,  dem  gewöhn- 
lichen Vorläufer  und  Begleiter  des  ansteckenden  Typhus,  ge- 
lang es  ihm,  während  der  Anfälle  ein  kleinstes,  höchst  be- 
wegliches, in  schnellster  Vibration  schwingendes  Pflänzchen, 
Spirochaete,  im  Blute  aufzufinden,  das  mit  dem  Anfalle  wie- 
der verschwindet. 

Sowohl  der  Milzbrand,  als  das  Rückfallsfieber  haben  das 
Ausgezeichnete,  dass  die  Pflänzchen  im  Blute  selbst  vor- 
kommen und  dass  ihre  eigenthümliche  Gestalt,  ihre  relative 
Grösse  die  Erkenntniss  sehr  erleichtern.  Das  Mikroskop 
zeigt  uns  aber  in  zahlreichen  anderen  Infectionskrankheiten, 
um  nicht  zu  sagen,   in  allen,   mit  mehr  oder  weniger  Con- 


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stanz  ungleich  kleinere  und  ungleich  weniger  bestimmt  cha- 
rakterisirte  Gebilde  von  bald  rundlicher,  bald  länglicher  Ge- 
stalt, einzeln,  aufgereiht  und  in  grossen  Gruppen,  theils  in 
Absonderungsflüssigkeiten,  theils  im  Gewebe  des  Körpers 
selbst,  bald  beweglich,  bald  ruhend.  Vor  einem  Decennium 
pflegte  man  sie  dem  damals  für  thierisch  angesehenen  Ge- 
schlechte Vibrio  anzuschliessen;  seit  dem  Auftreten  Hallier's 
ist  der  Name  Micrococcus  und  die  Meinung  von  ihrer  pflanz- 
lichen Natur  gangbar  geworden,  bis  Ferdinand  Cohn  sie 
unter  der  Bezeichnung  der  Kugelbakterien  den  Stäbchen- 
bakterien an  die  Seite  gestellt  hat.  Viele  von  ihnen,  auch 
wohl  Punktbakterien  genannt,  sind  von  so  winziger  Grösse, 
dass  sie  auch  bei  den  stärksten  Vergrösserungen  an  der 
Grenze  der  Sichtbarkeit  sich  befinden. 

Noch  ist  es  nicht  gelungen,  für  diese  allerkleinsten 
Gebilde  bestimmte  Merkmale  aufzufinden,  durch  welche  es 
unter  allen  Umständen  möglich  wäre,  dieselben  als  leben- 
dige Elemente,  als  feinste  Organismen  zu  erkennen.  Ihre 
Unterscheidung  von  blossen  Körnchen,  kleinsten  Partikelchen 
unbelebter  organischer  Substanz  ist  daher  vielfach  unmöglich, 
und  der  gute  Glaube  sowohl  des  Beobachters,  als  des  Nach- 
beters ergänzt  das,  was  an  thatsächlichen  Beweisen  fehlt. 
Mancher  Tag  wird  wahrscheinlich  noch  dahingehen,  bevor 
eine  wahrhaft  wissenschaftliche  Ueberzeugung  für  alle  Fälle 
festgestellt  und  eine  allgemeine  Einigung  über  die  Grenzen  des 
mikroparasitären  Gebietes  gewonnen  sein  wird.  Aber  auch 
jetzt  schon,  wenn  man  die  zweifelhaften  Fälle  ausscheidet, 
bleibt  eine  grosse  Zahl  der  wichtigsten  Thatsachen  bestehen, 
und  gerade  die  Militärmedicin  sollte  an  ihrer  Verwerthung 
in  hohem  Maasse  betheiligt  sein. 

Vornehmlich  sind  hier  zu  nennen  die  diphtherischen 
Prozesse  und  im  Anschlüsse  an  sie  die  rosenartigen,  na- 
mentlich das  Erysipelas  malignum.  Jene  körnige  Einlage- 
rung in  die   diphtherisch  ergriffenen  Gewebe,   von   der  ich 


_-     14     — 

früher  sprach,  hat  sich  mehr  und  mehr  als  eine  parasitäre 
enthüllt.  Was  wir  ehedem  als  blosse  organische  Körnchen, 
als  ein  einfaches  Infiltrat  oder  Exsudat  ansahen,  das  erweist 
sich  als  eine  dichte  Anhäufung  von  Mikrorganismen ,  mag 
man  sie  nun  Vibrionen,  Mikrokocken  oder  Kugelbakterien 
nennen.  Sie  dringen  in  die  Gewebe  und  zwar  in  die  Zel- 
len selbst  ein  und  ertödten  sie.  Schon  vor  zwanzig  Jahren 
sprach  der  berühmte  italienische  Anatom  Pacini  von  den 
Milliarden  von  Vibrionen,  welche  den  Darm  der  Cholera- 
kranken erfüllen  und  von  welchen  er  annahm,  dass  sie  die 
Darmzotten  abweideten.  Keber  hat  sie  in  der  Pocken- 
lymphe aufgefunden.  Basch,  der  Leibarzt  des  unglück- 
lichen Kaisers  Maximilian,  erkannte  sie  im  Darm  mexikani- 
kanischer  Kuhrkranker.  Jedes  Jahr  hat  neue  Beispiele  ge- 
bracht, und  wir  können  nunmehr  wohl  sagen,  dass  in  den 
Infectionszuständen  des  Menschen  und  der  Thiere  ein  ganz 
neues,  ungeheures  Gebiet  selbständigen  Lebens  erschlos- 
sen ist. 

Es  ist  dieses  Gebiet  eine  Provinz  der  medicinischen 
Botanik.  Denn  es  ist  im  Grossen  und  Ganzen  richtig 
dass  diese  inficirenden  Organismen  den  niedersten  Pflanzen- 
formen näher  stehen,  als  irgend  einer  Thierform,  mögen  sie 
auch  selbständige  Bewegungserscheinungen  wahrnehmen  las- 
sen. Wir  sind  längst  über  die  Zeit  hinaus,  wo  selbständige 
Bewegung  als  ein  bezeichnendes  Merkmal  der  thierischen 
Natur  angesehen  und  wo  alle  kleinsten  Wesen  mit  solcher 
Bewegung  Infusorien  genannt  wurden.  Selbständige  Bewe- 
gung ist  noch  lange  nicht  willkürliche  Bewegung  und  nur 
diese  ist  ein  untrügliches  Kennzeichen  des  Thieres.  Der 
Versuch  Häckel's,  zwischen  Thieren  und  Pflanzen  ein  be- 
sonderes Zwischenreich,  das  der  Protisten,  aufzurichten, 
mag  für  andere  Wesen  seine  Berechtigung  haben;  die  Pa- 
rasiten, welche  uns  beschäftigen,  stehen  den  Schimmelformen, 
welche  in  die  Klasse  der  Pilze  gehören,   am  nächsten,  und 


-     15    — 

manche  der  am  meisten  charaeteristischen  Arten  zeigen  sclion 
in  ihrer  äuseren  Erscheinung  ähnliche  Eigenschaften  und 
Anordnung,  wie  sie  vom  Schimmel  bekannt  sind. 

Ich  erwähne  in  dieser  Beziehung  die  farbigen  Schim- 
melformen, von  denen  einzelne  so  auffällige  Zeichen  her- 
vorbringen, dass  sie  in  früherer  Zeit  als  wirkliche  Wunder 
betrachtet  wurden.  Von  dem  Blutschimmel,  der  auf  Brod 
und  anderen  stärkemehlhaltigen  Stoffen  in  Form  von  Tropfen 
und  Flecken,  nicht  selten  ganz  plötzlicli  und  massenhaft, 
wächst,  hat  schon  Ehrenberg  gezeigt,  dass  er  dem  alten 
Mirakel  von  „dem  Erscheinen  des  Blutes  auf  Hostien"  zu 
Grunde  liegt.  Die  von  diesem  Altmeister  der  Mikroskopie 
aufgestellte  Gattung  Monas  prodigiosa  gehört  demselben  Ge- 
biete der  Kugelbakterien  an,  welches  uns  beschäftigt.  Es 
ist  ein  kleinstes  und  einfachstes  Pflänzchen,  das  sich  mit 
unglaublicher  Schnelligkeit  vermehrt  und  dabei  einen  eigen- 
thümlichen  vegetabilischen  Farbstoff  absondert,  der  freilich 
dem  Blutfarbstoffe  äusserlich  sehr  ähnlich  ist,  sich  jedoch 
in  "Wirklichkeit  vollkommen  von  demselben  unterscheidet. 
Andere,  unter  pathologischen  Verhältnissen  am  menschlichen 
Körper  vorkommende  Schimmel,  namentlich  solche,  die  an 
eiternden  Wunden  sich  entwickeln,  erzeugen  einen  blauen, 
andere  einen  schwärzlichen,  andere  wieder  einen  orange- 
farbenen Farbstoff.  Für  Jemand,  der  die  verschieden  ge- 
färbten Pilze  an  den  Blättern  und  Stämmen  der  Bäume, 
Sträucher  und  anderer  Gewächse  zu  betrachten  gewohnt  ist 
eine  keineswegs  auffallende  Thatsache. 

Leider  ist  jedoch  diese  Provinz  der  Botanik  noch  wenig 
angebaut.  Die  ungemeine  Kleinheit  der  Gegenstände ,  die 
Schwierigkeit  ihrer  Isolirung  von  einander,  die  überaus  häu- 
fige Vermischung  mehrerer  oder  gar  vieler  Arten  an  der- 
selben Steile  hindern  ein  zuverlässiges  Studium  in  ganz  un- 
gewöhnlicher Weise.  Die  mit  peinlichster  Sorgfalt  ange- 
stellten  „Keinculturen",    unternommen  in  der  Absicht,    die 


—     16     — 

gesammte  Geschichte  des  einzelnen  Pilzchens  von  dem  er- 
sten Keim  bis  zu  seiner  vollständigen  Entwickelung  und 
Fruchtbildung  zu  verfolgen,  scheitern  immer  und  immer  wie- 
der an  dem  Auftreten  neuer  Pilzarten,  deren  Keime  man  vor- 
her nicht  wahrgenommen  hatte,  in  den  Culturbeeten.  Ja,  der 
Gedanke,  dass  aus  der  organischen  Substanz,  in  welcher 
die  Cultur  vorgenommen  wird,  durch  einen  Akt  der  Schöpfung 
oder,  wie  man  es  etwas  illoyal  genannt  hat,  durch  Gene- 
ratio aequivoca  die  neuen  Keime  erst  gebildet  werden,  findet 
immer  wieder  neue  Anhänger.  In  der  That  hat  der  specu- 
lativ  so  berechtigte  Gedanke  einer  Epigenesis  oder,  wie  man 
neuerlichst  sich  ausgedrückt  hat,  einer  Abiogenesis  nirgends 
so  viel  Wahrscheinlichkeit  für  sich,  als  gerade  gegenüber 
diesen,  zum  Theil  kaum  sichtbaren  Wesen. 

Die  nüchterne  Erfahrung,  gestützt  auf  das  Experiment, 
weist  alle  diese  Hoffnungen  zurück.  Jeder  Versuch  der  Epi- 
genesisten  wird  durch  einen  noch  besseren  Versuch  der  Pan- 
spermatiker  widerlegt.  Die  aprioristische  Möglichkeit,  so 
viel  sich  philosophisch  für  sie  sagen  lässt,  findet  keine  em- 
pirische Begründung.  Auch  der  kleinste  Organismus  ent- 
steht im  Wege  regelmässiger  Erbfolge  von  einem  früheren, 
und  wenn  dieser  Organismus  im  Sinne  des  Pathologen  ein 
Miasma  oder  ein  Contagium  ist,  so  folgt  daraus,  dass  kein 
solches  Miasma  oder  Contagium  de  novo  entsteht.  Irgendwo 
in  der  Welt  muss  es  schon  gegeben  sein,  und  wenn  wir  es 
hier  auffinden  und  vernichten  könnten,  so  raüsste  auch  die 
davon  abhängige  Krankheit  zu  Ende  gehen. 

Sonderbarerweise  zeigt  die  Geschichte  der  Epidemien 
ein  Verhalten,  welches  scheinbar  dieser  Auffassung  gerade 
entgegengesetzt  ist.  Kein  Theil  der  Geschichte  ist  mehr 
geeignet,  dies  darzulegen,  als  die  Kriegsgeschichte.  Nur  zu 
oft  sind  es  Feldzüge,  Belagerungen,  Truppenanhäufungen 
der  verschiedensten  Art  gewesen,  welche  die  Heerde  grosser 
und  zuweilen  unerhörter  Epidemien  schufen.    Von  der  Bela- 


—     17     - 

gerung  Troja's  und  den  Perserkriegen,  von  den  Feldzügen 
Alexander's  und  MarcAurel's  bis  zu  den  Belagerungen 
von  Sewastopol,  Gaeta  und  Metz,  bis  zu  den  nordamerika- 
nischen und  böhmischen  Feldzügen,  —  wie  viele  Mal  sind 
schwere  Seuchen  unter  den  Kriegern  ausgebrochen  und  durch 
die  fortziehenden  Schaaren,  durch  Kranke  und  Nachzügler 
weit  und  breit  unter  die  übrigen  Leute  verschleppt  worden ! 

Wenn  man  sich  die  Infectionskrankheiten ,  unter  denen 
die  Heere  zu  leiden  haben,  genauer  ansieht,  so  lassen  sie 
sich  ganz  natürlich  in  zwei  grosse  Gruppen  eintheilen,  wel- 
che ich  als  die  der  einheimischen  und  die  der  exotischen 
bezeichnen  möchte.  In  die  letztere  Reihe  gehören  die  Pest, 
die  Blattern  und  die  Cholera.  Nichts  berechtigt  zu  der  An- 
nahme, dass  eine  dieser  Krankheiten  jemals  auf  europäischem 
Boden,  entstanden  sei.  Man  kann  über  die  Zeit  ihres  ersten 
Einbrechens  in  Europa  streiten  und  die  eine  oder  andere 
dunkle  Stelle  eines  alten  Schriftstellers  auf  sie  beziehen. 
Aber  man  darf  sich  nicht  im  Fanatismus  der  historischen 
Forschung  verlocken  lassen,  zu  glauben,  es  habe  zu  allen 
Zeiten  Epidemien  dieser  Art  gegeben.  Die  erste  Invasion 
der  orientalischen  oder  sagen  wir  lieber,  der  ägyptischen 
Pest  in  Europa  fällt  in  das  Jahr  543;  wahrscheinlich  bald 
nachher  erscheinen  die  Blattern,  deren  erstes  Auftreten  in 
Arabien  etwa  um  die  Mitte  des  6.  Jahrhunderts  gesetzt  wird; 
die  erste  europäische  Cholera -Epidemie  trat  erst  im  Jahre 
1830  auf,  nachdem  sie  schon  seit  1817  von  ihrer  indischen 
Heimath  aus  ihren  Verwüstungszug  begonnen  hatte.  Alle 
diese  Krankheiten  sind  ansteckend,  wenngleich  in  sehr  ver- 
schiedener Weise  ansteckend.  Es  wird  ein  Streit  um  des  Kaisers 
Bart,  wenn  man,  wie  früher  bei  der  Pest,  so  jetzt  bei  der 
Cholera,  die  Unterschiede  ihrer  Contagiosität  von  anderen, 
uns  geläufigen  contagiösen  Krankheiten  so  sehr  betont,  dass 
darüber  die  Contagiosität  selbst  in  Frage  gestellt  wird.  Mag 
zwischen  dem  ersten  erkrankten  Individuum  und  dem  zweiten 

2 


—     18    — 

ein  gewisses  Zwischenglied  liegen,  das  kann  man  nicht 
hinwegdisputiren ,  dass  der  Krankheitskeim  von  dem  ersten 
Individuum  ausgeht  und  zu  dem  zweiten  gelangt. 

Die  Pest  ist  gegenwärtig  nahezu  eine  Krankheit  der 
Vergangenheit.  Wenngleich  noch  in  den  letzten  Tagen  die 
Nachricht  von  neuen  Eruptionen  dieser  Seuche  am  Euphrat 
und  an  der  Libyschen  Küste  die  Gemüther  beunruhigt  hat, 
den  Trost  besitzen  wir,  zu  wissen,  dass  mit  der  Einführung 
geordneter  socialer  Zustände  in  ihrem  alten  Heimathlande 
Aegypten  die  gefahrdrohenden  Epidemien  aufgehört  haben. 
Dagegen  die  Gefahren  der  Cholera  hat  erst  der  böhmische  Feld- . 
zug  von  1866,  die  Gefahren  der  Blattern  der  französische 
von  1870  und  1871  dargelegt,  im  ersteren  Falle  für  die 
Armee  selbst,  im  letzteren  für  die  Kriegsgefangenen  und  die 
sesshafte  Bevölkerung. 

Die  andere  Gruppe  ist  die  der  einheimischen  Infections- 
krankheiten.  Ich  will  die  Frage  ununtersucht  lassen,  ob  der 
ansteckende  Typhus,  das  sogenannte  Fleckfieber  oder  der 
eigentliche  Kriegstyphus,  mit  seinem  Genossen,  dem  Rück- 
fallsfieber in  diese  Kategorie  gehört,  worüber  sich  bis  zu 
einem  gewissen  Maasse  wohl  eine  abweichende  Meinung  ver- 
theidigen  lässt.  Nach  den  amtlichen  Tabellen  sind  es  haupt- 
sächlich drei  Krankheiten,  welche  hier  in  Betracht  kommen: 
die  Diphtherie,  der  Abdominaltyphus  und  die  Ruhr.  Im 
Jahre  1868  zählte  die  Armee  im  Frieden  2358  Erkran- 
kungsfälle an  Diphtherie,  3006  an  Abdominaltyphus  (abge- 
sehen von  4850  Fällen  an  gastrischem  Fieber),  327  an  Ruhr. 
Im  Jahre  1869  werden  1769  Fälle  von  Diphtherie,  2234  von 
Abdominaltyphus  (ungerechnet  2260  von  gastrischem  Fieber) 
und  65  von  Ruhr  aufgeführt..  Von  erheblicher  Bedeutungist  da- 
her eigentlich  nur  der  Abdominaltyphus ,  zumal  wegen  seiner 
grossen  Einwirkung  auf  die  Sterblichkeit.  Denn  die  Armee 
verlor  1868  daran  529,  1869  338  Mann;  die  Krankheit  er- 
reichte also  eine  Sterblichkeit  von  17,5  und  15,1  pCt.    Ja, 


—     19     — 

im  ersten  Armeeeorps  .  betrug  sie  im  Jahre  1868  sogar 
20  pCt. 

Im  Kriege  gestalten  sich  die  Verhältnisse  natürlich 
anders.  So  ergiebt  die  Statistik  des  letzten  französischen 
Krieges,  dass  von  den  12,253  an  Krankheiten  Gestorbenen 
mehr  als  die  Hälfte  dem  Typhus  erlegen  ist,  nehmlich  6965; 
an  der  Ruhr  starben  2000  Mann,  etwa  ein  Sechstel.  Alle 
anderen  tödtlichen  Krankheiten  umfassen  also  nur  ein  Drittel 
des  Gesammtverlustes.  Rechnen  wir  dazu  von  den  in  Folge 
ihrer  Wunden  verstorbenen  10,710  Mann  den  grösseren 
Theil,  insofern  wohl  angenommen  werden  darf,  dass  die 
Mehrzahl  derselben  an  bösartigen  Wundkrankheiten  zu  Grunde 
gegangen  ist,  so  erhalten  wir  eine  Summe  von  nahezu 
20,000  Mann,  welche  der  einen  oder  der  anderen  Art  der 
Infection  erlegen  sind. 

Es  verlohnt  sich  also  recht  sehr  der  Mühe  zu  unter- 
suchen, wodurch  denn  eigentlich  diese  Infection  hervorge- 
bracht wird. 

Nun  sind  sowohl  die  Pocken  und  die  Cholera,  als  auch 
der  Typhus  und  die  Ruhr,  die  Diphtheritis  und  die  Wund- 
krankheiten verdächtig,  durch  jene  feinsten  Pflanzenformen, 
die  vorher  den  Gegenstand  meiner  Besprechung  bildeten,  er- 
zeugt zu  werden.  Es  finden  sich  bei  ihnen  allen  kleine 
Bakterien  und  Mikrokocken  in  grosser  Zahl,  und  zwar  bei 
den  meisten  jener  Krankheiten  im  Ernährungskanal,  nament- 
lich bei  Cholera,  Typhus  und  Ruhr  im  Darm,  bei  der  Diph- 
theritis im  Rachen.  Die  Ruhr  darf  als  ein  im  Wesentlichen  ört- 
licher Erkrankungsprocess  der  Darmschleimhaut  betrachtet 
werden;  bei  der  Cholera  treten  schon  die  Allgemeinerscheinun- 
gen stärker  in  den  Vordergrund ;  bei  dem  Typhus  ist  dies  im 
höchsten  Grade  der  Fall.  Sind  nun  in  der  That  die  Mikrorga- 
nismen  der  eigentliche  Grund  oder,  wie  man  wohl  etwas 
eilig  sich  ausdrückt,  das  Wesen  dieser  Krankheiten? 

Ein  erstes  erhebliches  Bedenken  gegen  diese  Auffassung 

2* 


—     20     — 

bilden  die  vorliommenden  Mikrorganismen  selbst.  Es  ist 
bisher  nicht  gelungen,  so  durchgreifende  Unterschiede  zwi- 
schen den  Parasiten  der  Cholera  und  denen  der  Ruhr,  zwi- 
scben  den  Bakteridien  der  Blattern  und  denen  der  Diphtheritis 
zu  finden,  dass  man  bei  jeder  dieser  Krankheiten  besondere 
Pflänzchen  nach  bestimmten  Merkmalen  zu  erkennen  und 
im  technischen  Sinne  zu  diagnosticiren  vermöchte.  Die- 
selben Formen  von  Mikrokocken  und  Bakterien,  welche 
der  Cholerastuhl  zeigt,  habe  ich  in  Darmausleerun- 
gen von  Kranken  mit  Fleckfieber,  ja  bei  einfacher  chro- 
nischer Diarrhoe  in  cholerafreier  Zeit  gesehen'^).  Noch 
vielmehr  war  ich  überrascht  durch  ein  anderes  Vor- 
kommen derselben.  Es  ist  ein  schwieriges  Problem,  in 
Cholerazeiten  eine  Arsenikvergiftung  zu  diagnosticiren,  weil 
die  Symptome  in  beiden  Fällen  sehr  ähnlich  sein  können. 
Die  Seuche  verhüllt  gleichsam  das  Verbrechen.  Ich  hoffte, 
einen  Unterschied  in  den  Darmausleerungen  entdecken  zu 
können.  Aber  zu  meinem  grössten  Erstaunen  fand  ich^) 
auch  im  Darm  von  Arsenikleichen  dieselben  Mikrorganis- 
men, welche  die  Cholera  charakterisiren  sollen.  Ebensowenig 
giebt  es  meines  Wissens  bis  jetzt  eine  Möglichkeit,  durch 
die  besonderen  Eigenschaften  der  vorkommenden  Kugelbak- 
terien eine  variolöse  Rachendiphtherie  von  einer  einfachen 
oder  von  einer  scarlatinösen  zu  unterscheiden. 

Gerade  die  diphtherischen  Localprocesse  bilden  aber  ein 
sehr  auifälliges  Verbindungsglied  zwischen  den  verschiedenen 
Infectionskrankheiten.  So  habe  ich  schon  in  der  grossen 
Pockenepidemie  von  ]  858  nachgewiesen,  dass  die  sogenannte 
Delle  der  Pockenpusteln  dadurch  bedingt  wird,  dass  an 
dieser  Stelle  eine  diphtherische  Infiltration  der  Haut  statt- 
findet; ähnliche  Zustände  bilden  sich  in  der  Schleimhaut 
der  Luftwege  und  der  Speiseröhre  der  Pockenkranken''). 
So  finden  wir  selbst  bei  Abdominaltyphus  gelegentlich  nicht 
bloss  Darmdiphtherie,  sondern  auch  diphtherische  Zustände 
der  Harnwege    und  der  Nieren.     Im  Puerperalfieber  haben 


„     21     — 

zuweilen  selbst  die  Bauchfell-  und  Brustfellentzündung, 
welche  sich  im  Laufe  desselben  entwickeln,  einen  diphtheri- 
schen Charakter. 

Könnte  es  nicht  sein,  dass  die  Diphtherie  in  allen  diesen 
Fällen  nur  eine  Complication  darstellt?  So  fassten  wir  Alle 
in  früherer  Zeit  das  Verhältniss  auf.  Die  Diphtherie  er- 
schien uns  als  der  höchste  Grad  einer  örtlichen  Entzündung 
von  bösartigem  Charakter,  bedingt  durch  die  Heftigkeit  des  ört- 
lichen Vorganges,  auch  wohl  durch  eine  schlechte  Beschaifenheit 
des  betroffenen  Gewebes  oder  Individuums.  Schon  die  älteren 
Schriftsteller  hatten  alle  diese  Formen  unter  dem  Namen 
der  brandigen  Entzündungen  zusammengefasst.  Seitdem  sich 
nun  gezeigt  hat,  dass  die  diphtherische  TnOltration  eine  para- 
sitäre ist,  ändert  sich  freilich  die  theoretische  Vorstellung 
von  dem  Wesen  des  Localprocesses,  obwohl  nicht  die  Vor- 
stellung von  seiner  Wirkung,  die  stets  als  eine  ertödtende 
und  insofern  brandige  (nekrotisirende,  gangränescirende)  wird 
anerkannt  werden  müssen.  Wäre  es  aber  trotzdem  nicht 
möglich,  dass  auch  diese  parasitäre  Affektion  nur  eine  Com- 
plication ist?  Wir  kennen  ähnliche  Verhältnisse  vom  Soor, 
einer  durch  einen  wohlausgebildeten  Fadenpilz,  das  Oidium 
albicans,  hervorgebrachten  Erkrankung  der  Mund-,  Rachen- 
und  Speiseröhrenschleimhaut.  Während  sie  bei  kleinen  Kin- 
dern unter  dem  Namen  der  Schwämmchen  oder  Aphthen 
als  ein  für  sich  bestehendes  und  selbständiges  Leiden  be- 
kannt ist,  findet  sie  sich  als  häufige  Complication  bei 
Schwindsüchtigen  und,  was  ganz  besonders  wichtig  ist,  bei 
Typhösen.  In  ähnlicher  Weise  Hesse  sich  recht  wohl  die 
Diphtherie  als  ein  besonderer  Zufall  betrachten,  der  die 
Summe  der  schon  vorhandenen  Störungen  in  den  Infections- 
krankheiten  noch  vermehrt.  Ja,  es  erscheint  eine  solche 
Auffassung  sogar  berechtigt,  wenn  man  erwägt,  dass  nicht 
jeder  Fall  von  Cholera,  Typhus  oder  Ruhr  wirkliche  Dipht- 
herie zeigt. 


—     22     "~ 

Zu  einer  ähnlichen  Schlussfolgerung  kann  man  noch 
auf  einem  anderen  Wege  gelangen.  Auch  die  faulige  Zer- 
setzung ausserhalb  des  Körpers  ist,  wie  die  Gährung,  von 
der  Entwickelung  kleiner  Pflänzchen  begleitet.  Daher  for- 
mulirte  schon  E.  Mitscherlich  zu  einer  Zeit,  da  man  nur 
die  Gährungspilze  als  Pflanzen,  dagegen  die  Vibrionen,  Mo- 
naden und  Bakterien  als  Thiere  ansah,  den  Unterschied  beider 
Zersetzungsprocesse  dahin,  dass  die  Gährung  durch  Pilze, 
die  Fäulniss  durch  Infusorien  bedingt  sei.  Wäre  es  nun 
nicht  zulässig,  anzunehmen,  wie  es  die  älteren  Aerzte  in 
der  Annahme  eines  Status  putridus  und  .einer  Febris  pu- 
trida,  des  so  sehr  gefürchteten  Faulfiebers,  thaten,  dass  alle 
diese  Infectionskrankheiten  ein  gleichartiges  fauliges  Element 
enthielten?  und  dass  sie  sowohl  in  den  Absonderungen,  als 
in  den  Geweben  des  Körpers  eine  gewisse  chemische  Con- 
stitution hervorbrächten,  welche  der  Zersetzung,  dem  Zerfall 
günstig  ist  und  die  schnelle  Vermehrung  der  in  diese  Theile 
gelangenden  Fäulnissorganismen  nach  sich  zieht? 

Unter  den  Absonderungen  giebt  es  keine,  welche  so 
sehr  eine  zur  Fäulniss  prädisponirte  Constitution  besitzt, 
als  der  Harn.  Ausserhalb  des  Körpers  genügt  irgend 
eine  Beimischung  fauliger  Substanz  zum  Harn,  um  ihn 
schnell  zu  alkalischem  Zerfall  zu  bringen ;  mit  grösster 
Schnelligkeit  tritt  alsdann  in  ihm  eine  unermessliche 
Menge  pflanzlicher  Organismen  der  kleinsten  Art  auf. 
Aber  auch  innerhalb  des  Körpers  geschieht  das  selbe. 
Diese,  wie  man  wohl  sagt,  alkalische  oder  Harnstoff- 
gährung  ist  eine  der  gewöhnlichsten  Complicationen  der 
Blasenleiden,  sowohl  beim  Manne,  als  bei  der  Frau,  und 
jedesmal  zeigt  sich  unter  solchen  Verhältnissen  eine  Neigung 
zur  Diphtheritis  der  Blase  selbst,  ja  sogar  der  Nieren. 
Nichts  ist  häufiger  und  zugleich  lästiger,  als  die  Diphtheri- 
tis der  Scheide  bei  solchen  Frauen,  welche  an  Blasenscheiden- 
fisteln  leiden. 


-     23    — 

Nächst  dem  Harn  sind  die  Abgänge  des  Darmes  zn 
nennen.  Ausserhalb  und  innerhalb  des  Körpers  „tendiren" 
die  Fäcalstoife  zur  fauligen  Zersetzung  und  zur  Massenpro- 
duction  von  Fäulnissorganismen.  Kein  Theil  des  Körpers 
aber  ist  so  sehr  zu  diphtherischen  Erkrankungen  prädispo- 
nirt,  als  derjenige  Abschnitt  des  Darms,  welcher  die  be- 
reits in  den  fäculenten  Zustand  übergegangenen,  zum  Aus- 
wurf bestimmten  Stoffe  enthält,  nehmlich  der  Dickdarm. 
Hier  ist  der  eigentliche  Sitz  der  ßuhr,  hier  finden  sich  vor- 
zugsweise die  diphtherischen  Zustände  der  Cholera,  hier 
zeigt  sich  nicht  selten  die  Diphtherie  der  Wöchnerinnen  und 
der  sogenannten  Pyämischen.  Aber  hier  ist  auch  zugleich 
der  Prädilectionssitz ,  der  Locus  minoris  resistentiae  für  die 
Diphtheritis  der  Schwindsüchtigen  und,  was  gewiss  sehr  be- 
zeichnend ist,  für  die  der  ürämiker.  Alle  diese  Formen  aber 
sehen  sich  anatomisch  so  ähnlich,  dass  sie  vielfach  unter 
dem  gemeinsamen  Namen  der  dysenterischen  Processe  oder 
kurzweg  der  Ruhr  zusammengefasst  werden,  —  ein  Ver- 
fahren, dem  ich  mich  immer  widersetzt  habe,  weil  der  Be- 
griff der  Ruhr  ein  klinischer  oder  ein  ätiologischer,  aber  nicht 
ein  anatomischer  ist,  und  weil  die  wahre  Ruhr  ausser  der 
diphtherischen  Form,  die  ich  selbst  zuerst  als  solche  nach- 
gewiesen habe,  noch  in  einer  davon  verschiedenen  katarrha- 
lisch-folliculären  Form  auftritt. 

Um  so  mehr  habe  ich  aber  immer  darauf  bestanden, 
dass  man  auch  für  die  wahre  Ruhr  anerkenne,  von  wie 
grosser  Bedeutung  für  ihre  Entwickelung  und  örtliche  Aus- 
bildung die  Zurückhaltung  und  Zersetzung  der  Fäcalstoffe 
sei  ^).  Es  würde  zu  weit  führen,  wenn  ich  alle  Einzelheiten 
in  dem  anatomischen  Verlaufe  des  Processes  hier  darstellen 
wollte;  es  mag  genügeUj  hervorzuheben,  dass  in  dieser  Er- 
kenntniss  zugleich  die  theoretische  Erklärung  für  jenes  ur- 
alte, empirische  und  auf  den  ersten  Blick  so  widerspruchs- 
volle Heilverfahren  bei  der  Ruhr,  Abführmittel  zu  reichen, 


-     24     - 

gegeben  ist.  Das  aber  muss  ich  noch  erwähnen,  dass  bei 
krankhaften  Verengerungen  des  Dickdarms,  gleichviel  wel- 
cher Art  sie  sind,  über  der  verengten  Stelle,  wo  eine  oft 
sehr  lange  andauernde  Anstauung  der  Fäcalstoife  erfolgt, 
sehr  leicht  eine  diphtherische  Erkrankung  eintritt,  welche 
an  Heftigkeit  des  örtlichen  Verlaufes  nur  von  der  puerpe- 
ralen erreicht  wird,  indem  Totalnekrosen  der  Darmwand  mit 
vollständiger  Durchlöcherung  derselben  entstehen.  Was  kann 
hier  anders  für  ein  Entstehungsgrund  angerufen  werden,  als 
die  faulige  Zersetzung  der  stagnirenden  Fäcalstofife? 

Eine  solche  Reihe  von  Betrachtungen  führt  scheinbar 
folgerichtig  zu  der  Vorstellung  von  der  einheitlichen  Natur 
aller  derjenigen  Prozesse,  welche  in  der  Diphtherie  ihren 
anatomischen  oder  örtlichen  Ausdruck  finden.  Man  sollte 
meinen,  es  erübrige  dann  nur  noch,  auch  die  einheitliche 
Natur  der  Fäulnissorganismen  darzuthun.  Dies  hat  kürzlich 
in  einer  für  den  heutigen  Gang  der  wissenschaftlichen  Un- 
tersuchung in  der  Chirurgie  höchst  bezeichnenden  botanischen 
Arbeit  Billroth  versucht,  indem  er  sämmtliche  unter  dem 
Namen  von  Vibrionen,  Monaden,  Mikrokocken,  Bakterien 
u.  s.  f.  aufgeführten  Erscheinungsformen  von  einer  einzigen 
Mutterpflanze,  die  er  Coccobacteria  septica  nennt,  ableitet. 
Da  diese  Pflanze  sich  überall  in  der  Natur  vorfindet,  da  sie 
im  menschlichen  Körper  selbst,  namentlich  im  Darm,  auch 
bei  Gesunden  fast  immer  vorhanden  ist,  so  bedarf  es  gar 
nicht  erst  einer  Zuführung  derselben,  einer  Ansteckung  und 
üebertragung :  sie  ist  schon  da  und  es  ist  nur  nöthig,  dass 
günstige  Bedingungen  für  ihre  Fortpflanzung  und  weitere 
Ausbildung  eintreten. 

Ohne  mir  in  diesem  Augenblicke  ein  Urtheil  über  die 
Richtigkeit  der  botanischen  Abschnitte  dieser  bedeutungs^ 
vollen  Arbeit  anmaassen  zu  wollen,  muss  ich  doch  sagen, 
dass  sie  mit  meinem  eigenen  Gedankengange  nur  zum  Theil 
zusammentrifft.     Ich  halte  es    allerdings  für   richtig,    dass 


—     25    — 

die  gewöhnlichen  Fäulnis sorganismen  ausreichen,  um  einen 
grossen  Theil  der  localen  und  einen  gewissen  Theil  der  all- 
gemeinen Infectionskrankheiten  zu  erklären.  Es  ist  dies 
das  schon  immer  von  uns  zugestandene  Gebiet  der  putriden 
Infection,  deren  höchste  Entwickelung  die  Sephthämie  ist. 
Mit  dieser  Gruppe  tritt  mindestens  ein  grosser  Theil  der 
diphtherischen  Prozesse,  deren  Verwandtschaft  mit  den  fau- 
ligen wir  längst  ausgesprochen  haben,  in  eine  allerdings 
nähere  Verbindung,  als  bisher  gewöhnlich  angenommen 
wurde,  ja  wahrscheinlich  in  eine  viel  nähere,  als  selbst 
Billroth  zuzugestehen  bis  jetzt  geneigt  ist. 

Für  die  Kriegsheilkunde  kommen  hier  vorzugsweise  in 
Betracht  die  Wundfieber,  die  Ruhr  und  der  Abdominaltyphus, 
vielleicht  auch  die  ßachendiphtherie,  also  die  früher  als  ein- 
heimisch bezeichneten  Infectionskrankheiten.  Ihr  Auftreten 
knüpft  sich  ganz  besonders  an  gewisse  Oertlichkeiten ,  und 
sie  gewinnen  daher  leicht  einen  wahrhaft  endemischen  Cha- 
rakter. Seit  lange  haben  gewisse  Länder  und  Landestheile, 
sowie  gewisse  Festungen  in  der  Kriegsgeschichte  einen  beson- 
ders schlimmen  Euf.  Wenn  die  deutschen  Könige  auf  ihren 
Römerzügen  die  Alpen  passirt  hatten  und  mit  ihren  Heeren 
in  die  lombardische  Ebene  hinabstiegen,  so  stiessen  sie  neben 
dem  offenen  Feinde  fast  jedesmal  auf  einen  geheimen,  aber 
um  so  mehr  tückischen  Feind,  auf  irgend  ein  „Fieber". 
Mehr  als  ein  deutsches  Heer  ist  diesem  geheimen  Feinde 
erlegen,  nachdem  es  den  offenen  Feind  siegreich  niederge- 
worfen hatte.  Vor  keiner  Feste  aber  haben  die  deutschen 
Armeen  schlimmere  Erfahrungen  gemacht,  als  vor  Metz. 
1552  und  1870  sind  die  Grenzmarken  für  eine  lange  Local- 
geschichte  von  Krieg,  Hunger  und  Pestilenz^).  Noch  im 
letzten  Kriege  verlor  unser  Heer  vor  Metz  allein  durch 
Typhus  und  Ruhr  2 1 57  Mann,  und  wer  zählt  die  Fälle,  wo 
die  Gesundheit  der  festesten  Männer  durch  die  dort  erlittene 
Erkrankung   für    das    ganze  Leben    gebrochen    worden  ist! 


-     26     — 

Erst  nach  Jahren  werden  die  Listen  der  milden  Stiftungen 
darüber  genügende  Ausweise  geben  können.  Nirgends  aber 
ist  der  Zusammenhang  der  genannten  beiden  Krankheiten  für 
die  Militärmedicin  in  so  schlimmen  Zahlen  hervorgetreten, 
als  in  dem  nordamerikanischen  Secessionskriege.  Schon  im 
ersten  Jahre  desselben  stieg  die  Zahl  der  Erkrankungen  an 
Abdominaltyphus  auf  21,977  und  die  der  Todesfälle  auf 
5608,  im  zweiten  betrugen  die  Erkrankungen  31,874  und 
die  Todesfälle  10,467.  In  der  gleichen  Zeit  ergriff  die  Ruhr 
34,848  Mann,  von  denen  474  starben. 

Bei  allen  solchen  Erlebnissen  richtet  sich  der  Blick  zu- 
erst auf  den  Boden  selbst  als  auf  die  Quelle  des  Miasma. 
Der  Gedanke,  dass  aus  dem  Boden  ein  giftiger  Stoff,  eine 
Malaria  sich  erhebe,  welche  die  Menschen  krank  macht  und 
tödtet,  liegt  so  nahe,  dass  er  sich  mit  ebenso  grosser  Be- 
ständigkeit immer  wieder  äussert,  wie  in  der  Geschichte 
der  eingeschleppten  Epidemien  der  Gedanke  der  Brunnenver- 
giftung. Unzweifelhaft  liegt  dem  einen,  wie  dem  anderen 
eine  richtiges  instinktives  Gefühl  zu  Grunde.  Aber  erst  die 
neueste  Forschung  hat  gelehrt,  dass  es  sich  bei  diesen 
Seuchen  am  wenigsten  um  ein  Gift  handelt,  welches  ein  für 
allemal  im  Boden  haftet,  oder  welches  fremde  Bosheit  in 
die  Brunnen  einbringt;  es  sind  vielmehr  die  Menschen  selbst, 
welche  den  Boden  und  von  da  aus  die  Brunnen  und  die  Luft 
vorübergehend  verunreinigen  durch  ihre  Auswurfsstoffe,  na- 
mentlich durch  Harn  und  Roth.  Noch  sind  nicht  alle  Sta- 
dien dieser  Verunreinigung,  dieser  künstlichen  Infection  von 
Boden,  Wasser  und  Luft  so  genau  festgestellt,  dass  wir 
alle  Einzelheiten  derselben  besprechen  könnten,  aber  die 
Hauptfrage  ist  erledigt  und  ,die  wachsende  Erkenntniss  von 
den  grossen  Aufgaben  der  öffentlichen  Gesundheitspflege  tritt 
in  dem  immer  regeren  Bestreben  der  Gemeinden  um  Reini- 
gung der  Städte,  in  dem  heftigen  Streit  um  Kanalisation 
und  Abfuhr  deutlich  genug  zu  Tage. 


—     27     — 

Im  Kriege,  wie  im  Frieden  ersehen  wir  aber  zugleich, 
dass  derartige  Verunreinigungen  gewöhnlich  nicht  allgemeine 
Eigenschaften  des  ganzen  Bodens  oder  alles  Wassers  sind; 
mag  der  Wind  das  Miasma  uns  anwehen,  es  ist  doch  nicht 
in  der  ganzen  Luft  enthalten.  Vielmehr  giebt  es  auf  jedem 
infecten  Terrain  noch  wieder  gewisse  Einzeiheerde.  Am 
häufigsten  sind  dies  die  menschlichen  Wohnplätze.  Das 
Gebundensein  der  bösartigen  Wund-  und  Wochenbettfieber 
an  die  Krankenhäuser  und  Lazarette  hat  zuerst  die  Auf- 
merksamkeit auf  das  Wohnungs-  und  Hausmiasma  gelenkt. 
Man  hat  sich  dann  bei  weiterer  Aufmerksamkeit  überzeugt, 
dass  manches  Gift  in  den  eng  umschlossenen  Grenzen  des 
Gebäudes  oder  des  Hofes  aus  selbstgeschafFenen  ünreinig- 
keiten  entsteht,  welche  der  Mensch  zu  träge  ist  rechtzeitig 
zu  entfernen.  Die  eigene  Nachlässigkeit  und  Unwissenheit 
sollte  man  daher  anschuldigen,  statt  in  fremder  Schuld  den 
Grund  des  Uebels  zu  suchen. 

Darf  man  nun  annehmen,  dass  das  Wohnungs-Miasma, 
das  "Hospital-Miasma,  das  Lager-Miasma  ein  identisches  ist? 
dass  dasselbe  Miasma  je  nach  Umständen  Abdominaltyphus 
und  Ruhr,  Diphtherie  und  Rosen,  Hospitalbrand  und  Sephth- 
ämie  hervorbringt?  dass  es  von  den  gewöhnlichen  Fäulniss- 
organismen herstammt  und  in  einer  bestimmten  Pilz-  oder 
Algenart  seinen  Ausdruck  findet?  Zu  der  Bejahung  solcher 
Fragen  würde  mit  Folgerichtigkeit  die  Annahme  Billroth's 
von  dem  Zusammenhange  aller  der  erwähnten  parasitären 
Pflanzen  als  blosser  Vegetationsformen  der  Coccobacteria  sep- 
tica  führen,  sobald  man  überhaupt  den  parasitären  Pflanzen 
pathogenetische  Eigenschaften  beilegt.  Aber  ich  möchte  hin- 
zusetzen: Mit  fast  gleichem  Rechte  könnte  man  dann  auch 
noch  die  Cholera  anschliessen.  Schon  in  meinen  Vorträgen 
vom  Jahre  1848  habe  ich  gezeigt,  dass  die  Reihe  von  Sym- 
ptomen und  von  anatomischen  Veränderungen,  welche  man 
bei  Thieren   durch    künstliche  Injection   faulender  Flüssig- 


—     28     — 

keiten  in  das  Blut  hervorbringen  kann,  im  höchsten  Maasse 
derjenigen  gleicht,  welche  beim  Menschen  durch  das  Cholera- 
gift erzeugt  wird;  ich  schloss  damals  aus  dieser  Uebereinstim- 
mung,  dass  das  Choleragift  den  Fäulnisskörpern  nahe  verwandt 
sein  müsse.  Dazu  kommt,  dass  die  diphtherischen  Vorgänge 
bei  der  Cholera  von  denen  bei  den  einheimischen  Infections- 
krankheiten  nicht  zu  unterscheiden  sind  und  dass  die  so- 
genannten Cholerapilze  einheimischen  Diarrhoepilzen  zum 
Verwechseln  gleichen. 

Es  scheint  mir  unzweifelhaft,  dass  gegenüber  diesen 
Erfahrungen  nur  zweierlei  Erklärungen  möglich  sind.  Ent- 
weder sind  die  Mikrorganismen  aller  der  genannten  Infections- 
krankheiten  identisch,  und  dann  wird  man,  wie  es  auch  bei 
Billroth  geschieht,  auf  besondere  giftige  Substanzen  hin- 
gewiesen, welche  noch  neben  den  Pilzen  oder  Algen  vor- 
handen sein  und  unabhängig  von  ihnen  entstehen  müssen. 
Oder  die  Mikrorganismen  sind  trotz  ihrer  anscheinenden  üeber- 
einstimmung  verschieden  und  bilden  die  Träger  und  Erreger 
der  gefährlichsten  Vorgänge  im  Körper,  sie  sind  die  eigent- 
lichen Krankheitsursachen.  Ein  Drittes  scheint  mir  nicht 
möglich.  Nur  lässt  die  oben  erwähnte  zweite  Hypothese 
noch  wieder  eine  doppelte  Anwendung  zu. 

Die  Rolle,  welche  den  Mikrorganismen  in  der  Krankheit 
zugeschrieben  wird,  kann  nehmlich  verschieden  gedeutet 
werden.  Es  ist  denkbar,  dass  diese  Wesen  direct  durch 
ihre  Thätigkeit  die  lebenden  Theile  des  Körpers  angreifen 
und  zerstören,  aber  auch,  dass  sie  einen  schädlichen  Stoff, 
ein  Gift  hervorbringen,  welches  das  Leben  bedroht.  In  der 
ersteren  Weise  dachte  sich  Pacini  die  Thätigkeit  der  Vi- 
brionen in  der  Cholera.  Aehnlich  lassen  manche  der  Neueren, 
wie  Hüter  und  Klebs  bei  den  Wundfiebern,  die  Monaden  oder 
Mikrospuren  von  der  Oberfläche  her  in  den  Leib  des  Menschen 
eindringen ,  in  die  farblosen  Blutkörperchen  oder  das  Blut 
selbst  gelangen   und    durch    dieselben  zu  den  inneren   Or- 


—     29     — 

ganen  getragen  werden,  um  dort  ihre  zerstörende  Thätig- 
keit  auszuüben.  Nach  der  zweiten  Erklärungsart  ist  der 
parasitäre  Körper  nicht  im  mechanischen  Sinne  gefährlich,  son- 
dern er  ist  Gifterzeuger.  Dabei  kann  man  wiederum  zweierlei 
mögliche  Fälle  unterscheiden,  je  nachdem  der  Parasit  das 
Gift  in  sich  erzeugt  und  selbst  giftig  wird,  oder  dasselbe 
absondert,  also  selbst  unschädlich  bleibt.  Anders  ausge- 
drückt, würde  dies  heissen:  Entweder  giebt  es  auch  unter 
den  mikroskopischen  Pilzen  giftige  Arten,  wie  sie  unter  den 
grossen  Pilzen  seit  langer  Zeit  bekannt  sind,  oder  die  Fäul- 
nissorganismen  verhalten  sich  zu  d^n  faulenden  Stoffen  und 
dem  fauligen  Gift,  wie  die  Gährungspilze  zu  den  gährenden 
und  den  gegohrenen  Steifen,  sie  sind  Fermente. 

Man  muss  sich  die  grosse  Verschiedenheit  dieser  an 
sich  möglichen  Erklärungsweisen  klar  machen,  um  die  Ge- 
fahr einer  einseitigen  Deutung  zu  verstehen.  Keine  dieser 
Erklärungsweisen  oder  Hypothesen  ist  eine  bloss  erdachte; 
für  jede  derselben  bietet  die  Erfahrung  bestimmte  Anhalts- 
punkte. Die  Pilzkrankheiten  der  äusseren  Haut,  wie  der  Grind 
(Favus),  und  die  der  oberflächlichen  Kanäle,  wie  der  Soor 
und  die  Schimmelkrankheiten  des  Gehörganges,  sind  ganz 
örtlicher  Natur;  es  ist  weder  etwas  Giftiges,  noch  etwas 
Fermentatives  dabei.  Vielmehr  wirken  die  Pilze  örtlich  rei- 
zend und  zerstörend,  indem  sie  das  menschliche  Gewebe, 
durchwachsen  und  zerfressen,  wie  der  zerstörende  „Schwamm" 
das  Holz.  In  ähnlicher  Weise  könnte  man  sich  auch  die 
Wirkung  der  Pilze  innerlich  denken  und  ein  Versuch  Grohe's 
ist  sehr  geeignet,  eine  solche  Möglichkeit  auch  für  innere 
Vorgänge  als  wirklich  zulässig  erscheinen  zu  lassen.  Er 
brachte  nehmlich  einen  bekannten  grossstengeligen  Schimmel- 
pilz, den  Aspergillus  in  das  Innere  lebender  Thiere  und  sah 
darnach  in  kurzer  Zeit  in  den  verschiedensten  Organen  Heerde 
entstehen,  welche  gänzlich  aus  Aspergillusfäden  bestanden. 
Diese  Fäden  durchsetzten  das  Gewebe,    drangen    zwischen 


—     30     — 

den  Elementen  fort  und  zerstörten  sie  endlich.  Ganz  ähn- 
lich denkt  sich  Klebs  die  Wirkung  des  von  ihm  mit  dem 
Namen  des  Microsporon  septicum  bezeichneten  Parasiten, 
den  er  als  specifische  Ursache  der  bösartigen  Wundfieber  in 
den  Lazaretten  des  letzten  Krieges  nachgewiesen  zu  haben 
glaubt.  Selbst  der  Milzbrand  ist  in  der  letzten  Zeit  ge- 
wöhnlich in  dieser  Weise  erklärt  worden.  Indem  das  Bacte- 
rium  anthracis  in  das  Blut  eindringe  und  sich  darin  so  ver- 
mehre, dass  nach  einer  Berechnung  in  jedem  Tropfen  8  bis 
10  Millionen  davon  vorkommen,  so  bemächtige  es  sich  ver- 
möge seiner  grossen  chemischen  Affinität  des  gesammten  zu- 
strömenden Sauerstoffes;  die  Blutkörperchen  könnten  nicht 
mehr  athmen  und  das  Thier  ersticke.  An  sich  eine  ganz 
plausible  Erklärung!  Darnach  würden  die  Blutkörperchen 
gleichsam  belagert  von  den  Bakterien,  welche  ihnen  jede 
Zufuhr  von  aussen  abschnitten.  Allein  die  Erfahrung  lehrt, 
dass  das  Milzbrandblut  oft  sehr  arm  an  Bakterien  ist.  Noch 
in  der  letzten  Epizootie  unter  den  Damhirschen  des  Grune- 
waldes habe  ich  mit  der  gelben  Lymphe,  welche  die  Lymph- 
drüsen des  Halses  bei  einem  gefallenen  Thiere  umgab  und 
welche  höchst  winzige  und  äusserst  spärliche  Mikrorga- 
nismen  enthielt,  Kaninchen  geimpft;  der  Tod  erfolgte  vor 
dem  Ablaufe  von  24  Stunden  auf  die  Einbringung  mini- 
maler Mengen  der  Lymphe,  und  das  Blut  des  gestorbenen 
Thieres  zeigte  fast  gar  keine  Beimischung  von  Parasiten. 
Die  mechanische  Hypothese  ist  daher  für  diesen  Fall 
gänzlich  unzulässig.  Wenn  trotzdem  die  Einbringung  eines 
einzigen,  aus  der  Drosselader  jenes  gefallenen  Kaninchens 
entnommenen  Blutstropfens  in  die  Rückenwunde  eines  an- 
dern Kaninchens  genügte,  um  dasselbe  gleichfalls  noch  vor 
dem  Ablaufe  des  Impftages  zu  tödten,  und  wenn  auch 
hier  die  Menge  der  im  Blut  vorgefundenen  Bakteridien  eine 
sehr  geringe  war,  so  bleibt  meiner  Meinung  nach  für  diese 
FUUe  nur  die  Annahme  eines  chemischen  Giftes  übrig. 


—     31     — 

Ich  leugne  also  die  Zulässigkeit  der  mechanischen  Hy- 
pothese an  sich  gar  nicht;  im  Gegentheil,  ich  halte  sie  für 
zulässig  und  correct  für  gewisse  Fälle.  Aber  ich  halte  sie 
nicht  für  richtig  für  die  grossen  Infectionskrankheiten ,  am 
wenigsten  für  die  epidemischen.  Vielmehr  scheint  mir  die 
Annahme,  welche  ich  in  meinem  Vortrage  vom  2.  August 
1845  machte,  dass  es  sich  hier  um  eine  Reihe  von  chemi- 
schen Veränderungen  handelt,  eine  Annahme,  welche  in  der 
Aufstellung  der  Ichorrhämie  und  Sephthämie  ihren  Ausdruck 
gefunden  hat,  für  diese  grossen  Krankheitsformen  immer 
noch  die  allein  zulässige.  Dass  es  giftige  Mikrorganismen 
giebt,  welche,  wie  der  Fliegenschwamm,  wenn  sie  genossen 
werden,  schädlich  wirken,  will  ich  nicht  bestreiten;  bestimmte 
Thatsächen  für  diese  Annahme  scheinen  mir  jedoch  bisher 
nicht  in  genügender  Zahl  vorzuliegen.  Es  bleibt  daher  nur 
die  fermentative  oder  zymotische  Theorie  übrig.  Danach 
würde  der  Mikrorganismus  durch  seine  Vegetation  aus 
Stoffen,  welche  er  der  Nachbarschaft  entzieht  und  welche 
er  bei  dem  Aufbau  seines  Leibes  und  bei  seiner  Vermehrung 
verwendet,  neue  Stoffe  erzeugen,  wobei  als  Abfall  und  Aus- 
wurfsstoff ein  Körper  von  bestimmten  schädlichen  Eigen- 
schaften entsteht.  So  erzeugt  der  Pilz  des  Mutterkorns 
das  sogenannte  Ergotin,  eine  höchst  wirksame  giftige  Sub- 
stanz; so  der  Gährungspilz  den  Alkohol,  dessen  schädliche 
Wirkungen  hinreichend  bekannt  sind. 

Diese  abgesonderten  Gifte  sind  begreiflicherweise 
auch  trennbar  von  den  Mikrorganismen,  welche  sie  er- 
zeugt haben;  ihre  Wirksamkeit  ist  nicht  gebunden  an  die 
Anwesenheit  der  Pilze,  gerade  so  wenig  wie  die  Pilze  selbst 
giftiger  Natur  sind.  Hefe,  welche  ganz  aus  Gährungspilzen 
besteht,  hat  man  gelegentlich  Kranken  in  so  grossen  Mengen 
gegeben,  wie  Salat  von  Gesunden  genossen  wird,  und  doch 
zeigte  sich  kein  bedenkliches  Symptom.  Es  ist  daher  sehr 
wohl  denkbar,   dass  an  einer  Impfstelle  oder  an  der  Stelle 


—     32     - 

einer  Verletzung  im  menschlichen  Körper  sich  ein  Pilzheerd 
bildet,  der  in  grosser  Menge  Gift  absondert,  welches  nicht 
bloss  die  Nachbargewebe  tödtet,  sondern  auch  in  Blut  und 
Lymphe  übergeht  und  das  Leben  des  Individuums  gefährdet, 
ohne  dass  die  Pilze  selbst  in  das  Blut  gelangen  und  ohne 
dass  die  etwa  in  dasselbe  gelangten  jedesmal  eine  pathoge- 
netische Bedeutung  haben.  Nachdem  es  Panum  gelungen 
ist,  aus  faulenden  Flüssigkeiten  ein  neugebildetes  Gift  wirk- 
lich zu  .isoliren,  so  kann  es  nicht  mehr  zweifelhaft  sein,  dass 
die  faulige  Infection,  die  Sephthämie  nicht  auf  die  mecha- 
nischen Störungen  durch  Mikrorganismen  bezogen  wer- 
den darf. 

Daraus  folgt  jedoch  keineswegs,  dass  auch  die  Erzeu- 
gung des  Fäulnissgiftes  ohne  die  Anwesenheit  der  Fäulniss- 
organismen möglich  sei,  oder  dass  wir  von  den  Mikrorga- 
nismen ganz  absehen  dürften.  Im  Gegentheil,  je  genauer  wir 
untersuchen,  um  so  mehr  stellt  sich  heraus,  dass  es  gerade 
diese  Organismen  sind,  welche  die  Schädlichkeit  erzeugen. 
Freilich  darf  man  diese  Erfahrung  nicht  ins  üngemessene 
ausdehnen,  und,  wie  es  schon  hie  und  da  geschieht,  jede 
Fermentwirkung  auf  Pilze  beziehen.  Jede  organische  Zelle 
hat  die  Fähigkeit,  für  ihre  eigene  Entwickelung  und  Thätig- 
keit  gewisse  Stoffe  aus  der  Nachbarschaft  anzuziehen,  in 
sich  aufzunehmen  und  zu  verarbeiten,  während  sie  andere, 
verbrauchte  und  häufig  recht  schädliche  Stoffe  aus  sich  aus- 
scheidet. Bei  sehr  reichlicher  Zellenbildung  erreicht  auch 
die  Grösse  dieser  Umsetzungen  ein  hohes  Maass,  und  es 
liegt  gar  kein  Bedürfniss  vor,  für  die  Entstehung  der  Ab- 
fallsstoffe noch  wieder  auf  die  Hülfe  von  Pilzen  zurückzu- 
gehen. Selbst  da,  wo  wirkliche  Fermentkörper  erzeugt  wer- 
den, finden  wir  vielfach  nur  gewöhnliche  Zellen  an  der  Arbeit. 
Das  lehrt  namentlich  die  Geschichte  der  Verdauungsstoffe.  Das 
Pepsin,  wie  die  so  wirksamen  Fermente  des  Mund-  und  des 
Bauchspeichels  sind  Zellerzeugnisse,  an  deren  Bildung  kein 


—     33     — 

Pilz  betheiligt  ist.  Wer  dies  bezweifelt,  der  könnte  ebenso  gut 
auf  den  Gedanken  kommen,  die  wirksamen  Tlieile  des  Samens 
seien  nicht  die  Samenfäden,  sondern  besondere  Pilze.  So 
wird  auch  die  Pathologie  neben  den  Pilzen  noch  immer  die 
Wirksamkeit  der  gewöhnlichen  Zellen  und  der  durch  sie  her- 
vorgebrachten, häufig  inficirenden  Stoffe  als  pathogenetisches 
Moment  festhalten  müssen.  Dies  gilt  nicht  nur  für  entzünd- 
liche Prozesse,  welche  verdiente  Pathologen  der  neuesten 
Zeit,  wie  Burdon  Sander  so  n,  gleichfalls  der  Pilzdoctrin 
in  weitestem  Umfange  zugänglich  machen  wollen,  sondern 
selbst  für  die  Syphilis,  bei  der  trotz  der  zahlreichsten  Ver- 
suche und  trotz  einer  in  der  besonderen  Stärke  ihrer  Con- 
tagiosität  begründeten  Wahrscheinlichkeit  bis  jetzt  ein  mikro- 
parasitäres Element  nicht  hat  ermittelt  werden  können. 

Allein  solche  Reservation  ist  nicht  zulässig  bei  den  fau- 
ligen Vorgängen.  Die  Mikrorganismen  sind  hier  überall 
mit  Leichtigkeit  nachzuweisen  und  ihr  Einfluss  auf  den 
Gang  der  Zersetzung  ist  bequem  zu  beobachten.  Die  Schwie- 
rigkeit eines  Verständnisses  der  pathologischen  Bedeutung 
dieser  Vorgänge  würde  nur  dann  unüberwindMch  erscheinen, 
wenn  in  der  That  eine  einzige  Pflanze  die  mannichf altigen 
Formen  der  Fäulnissorganismen  erzeugte.  Allein  es  bleibt, 
wie  mir  scheint,  auch  gegenüber  dem  scheinbar  sichersten 
Ergebniss  der  morphologischen  Untersuchung,  der  praktische 
Versuch  immer  noch  in  Bezug  auf  die  physiologische  oder 
pathologische  Wirkung  entscheidend.  Bringen  dieselben  Form- 
elemente ganz  verschiedene  Wirkungen  hervor,  so  müssen  sie 
innerlich  verschieden  sein.  Können  wir  diese  innere  Verschie- 
denheit an  so  feinen  Körpern,  wie  die  Vibrionen  und  Bakterien 
es  sind,  nicht  direct  sehen,  so  werden  wir  uns  daran  erinnern 
müssen,  dass  an  den  Bildungszellen  des  Ei's  und  zahlreicher 
pathologischer  Gewächse,  trotzdem  dass  sie  neben  Vibrionen  als 
förmliche  Riesen  erseheinen,  auch  nicht  im  Voraus  gesehen 
werden  kann,  was  aus  ihnen  werden  wird.    Ja,  die  Eier  selbst 

3 


—     34     — 

sind  vielfach  einander  so  ähnlich,  dass  die  Verschiedenheit  der 
Thiere,  welche  aus  ihnen  hervorgehen  werden,  auch  nicht  im 
Entferntesten  geahnt  werden  kann.  Ergiebt  sich  daher  durch 
eine  Impfung  oder  durch  den  pathologischen  Zufall,  dass 
durch  Bakterien,  welche  denen  gewöhnlicher  faulender  Infu- 
sionen vollständig  gleichen,  Milzbrand  entsteht,  während  die 
Bakterien  der  gewöhnlichen  Infusionen  ihn  nicht  erzeugen, 
so  werden  wir  immer  schliessen  müssen,  dass  die  Bakterien 
des  Milzbrandes  von  den  Bakterien  der  Infusion  mindestens 
so  verschieden  sein  müssen,  wie  Schierling  von  Petersilie. 

Die  Wissenschaft  bedarf  aber,  um  sichere  Resultate  zu 
gewinnen,  einer  gewissen  Mannichfaltigkeit  der  üntersuchungs- 
methoden.  Nur  bei  vollständiger  Concordanz  der  verschie- 
denen, für  einen  gegebenen  Fall  anwendbaren  Methoden  kann 
die  Untersuchung  als  abgeschlossen  gelten.  Ist  dies  nicht 
der  Fall,  so  wird  diejenige  Methode  für  das  vorläufige  Ur- 
theil  den  Vorzug  verdienen,  bei  welcher  wir  die  wirksam- 
sten Hülfsmittel  in  Anwendung  bringen  können."  Verfahren 
wir  nach  diesen  Grundsätzen  bei  der  .  Beurtheilung  der  In- 
fectionskrankheiten ,  so  wird  nicht  der  morphologische  Weg 
als  der  vorzüglichere  erscheinen,  denn  die  Anwendung  des 
Mikroskops  findet  verhältnissmässig  bald  ihre  Grenze  in  der 
Unmöglichkeit  einer  weiteren  optischen  Auflösung  der  mecha- 
nischen Anordnungsverhältnisse  der  Substanz.  üeber  die 
Infection  entscheidet  •  allein  das  Experiment.  Dem  haben 
wir  uns  unterzuordnen.  Ueberdies  ist  der  Widerspruch 
zwischen  der  morphologischen  und  der  physiologischen  Unter- 
suchungsweise, welcher  übrig  bleibt,  möglicherweise  ein  nur 
scheinbarer,  denn  wenn  die  eine  Methode  wegen  erkannter 
Insufficienz  der  Hülfsmittel  überhaupt  ein  vollkommenes  Re- 
sultat nicht  liefern  kann,  so  darf  man  ihr  für  diesen  Fall 
auch  nicht  einen  so  grossen  Werth  beilegen,  um  immer  neue 
Bedenken  aus  einer  nachgewiesenen  Unvollkommenheit  her- 
zuleiten. 


—     35     - 

Allein  der  Mensch  gesteht  nicht  gern  ein,  dass  seine 
Erkenntnissmittel  beschränkt  sind.  Resignation  ist  eine 
schwere  Tugend.  Und  doch  muss  sie  geübt  werden  und  vor 
allen  Dingen  in  der  Wissenschaft.  Es  mag  paradox  er- 
scheinen, von  jemand  Entsagung  zu  fordern,  der  die  volle 
Wahrheit  sucht.  Aber  die  Paradoxie  liegt  nur  in  der  Ein- 
seitigkeit des  Weges,  den  er  verfolgt.  Viele  Wege  führen 
nach  Rom,  aber  nicht  alle.  Und  so  darf  ich,  der  ich  im 
Beginne  meiner  wissenschaftlichen  Laufbahn  die  damals  über- 
aus harte  Forderung  an  die  wissenschaftliche  Medicin  ge- 
stellt habe,  die  Anschauung  von  den  pathologischen  Vor- 
gängen auf  die  mikroskopische  Betrachtung  zu  gründen  und 
diesen  Vorgängen  mindestens  um  300mal  näher  zu  treten, 
jetzt,  wo  man  ihnen  schon  um  900  und  um  1200mal  näher 
getreten  ist,  wohl  darauf  aufmerksam  machen,  dass  die 
Morphologie  nur  die  eine  Seite  der  Biologie  darstellt  und 
dass  jenseits  des  Kreises  der  Morphologie  ein  grosses  Ge- 
biet mechanischer  und  chemischer  Vorgänge  liegt,  dessen 
Erforschung  andere  Hülfsmittel  erfordert,  als  der  Morpholog 
sie  zu  bieten  vermag. 

Sei  es  auch  hier  gesagt,  dass  die  morphologischen  Dis- 
ciplinen  nicht  die  letzten  Aufschlüsse  über  das  Wesen  der 
Dinge  geben  und  geben  können.  Wie  der  Grund  aller 
menschlichen  Anschauung,  selbst  die  Gestaltung  der  religiö- 
sen Vorstellungen,  abhängig  ist  von  den  herrschenden  Be- 
griffen über  die  Einrichtung  der  Substanz  selbst  und  die  be- 
stimmenden Kräfte  in  derselben,  so  ist  auch  der  letzte  Grund 
alles  pathologischen  Wissens  in  der  Physik  und  Chemie  zu 
suchen.  Das  sind  die  grundlegenden  Wissenschaften,  und 
ihre  Einführung  in  den  täglichen  Gebrauch  der  Aerzte  war 
der  grösste  und  sicherste  Fortschritt,  den  die  Medicin  je  ge- 
macht hat.  Darin  liegt  die  Erklärung  für  die  Thatsache, 
dass  in  der  immerhin  kurzen  Zeit  des  Bestehens  dieser  An- 
stalt eine   grössere  Veränderung  in  der   medicinischen   An- 


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schaiuings-  nnd  Handlungsweise  eingetreten  ist,   als  in  den 
2000  Jahren  von  Hippocrates  bis  auf  Harvey. 

Möge  die  erleuchtete  Verwaltung,  welche  diese  Anstalt 
so  segensreich  entwickelt  hat,  niemals  übersehen,  dass  nur 
bei  freiester  Darbietung  aller  Hülfsmittel  des  Studiums  die 
Entwickelung  des  einzelnen  Studirenden  so  weit  gefördert 
werden  kann,  dass  er  im  Laufe  der  wenigen  Studienjahre 
die  unermesslichen  Schätze  der  wissenschaftlichen  Erfahrung 
wenigstens  in  ihren  Hauptzügen  kennen  zu  lernen  vermag, 
dass  aber  eine  sichere  Kenntniss  wenigstens  der  Hauptsachen 
allein  den  Arzt  vor  dem  traurigen  Loose  sichert,  nach  we- 
nigen Jahren  der  Praxis  von  dem  Verständniss  der  fort- 
schreitenden Wissenschaft  abgeschnitten  und  der  Möglichkeit 
der  Selbsthülfe  beraubt  zu  sein.  Wenigstens  einmal  in  sei- 
nem Leben  muss  jeder  wissenschaftliche  Mann  sich  in  voller 
Kenntniss  des  gegenwärtigen  Zustandes  seines  Faches  und 
der  grundlegenden  Wissenschaften  befunden  haben.  Sonst 
ist  er  veraltet,  nachdem  er  kaum  angefangen  hat,  selbstän- 
dig zu  arbeiten.  Möge  gerade  unsere  Militärverwaltung, 
welche  jede  wissenschaftliche  Leistung  auf  ihrem  Gebiete  so 
umsichtig  für  die  Zwecke  des  Staates  zu  nutzen  strebt,  sich 
stets  der  Erfahrung  bewusst  bleiben,  dass  die  Medicin  als 
eine  angewandte  Naturwissenschaft  nur  auf  dem  breiten 
Grunde  der  gesammten  Naturwissenschaften  gedeiht,  dass 
sie  aber  auf  diesem  Grunde  auch  die  reichsten  Früchte  bringt. 
Dann  werden  wir  hoffen  dürfen,  dass,  gleichwie  die  deutsche 
Medicin  überhaupt  die  Führung  hat  übernehmen  können,  auch 
die  deutsche  Militärmedicin,  welche  schon  jetzt  einen  so 
hohen  Rang  einnimmt,  geistig  fortarbeiten  werde  zum  Heile 
der  Armee  und  zum  Ruhme  des  Vaterlandes. 


Anmerkungen. 


1)  Gesammelte  Abhandhmgen  ziir  wissenschaftlichen  Medicin.    Frankf. 
1856.  S.  478. 

2)  Archiv  für  path.  Anat.,  Phys.  u.  Min.  Medicin.  1847.  Bd.  I.  S.  253. 
Handb.  der  spec.  Pathologie  u.  Therapie.    Erlangen,  1856.  Bd.  I.  S.  292. 

3)  Medicinische  Reform.  1848.  S.  64,  89. 

4)  Gesammelte  Abhandl.  S.  70 1  ff. 

5)  Mein  Archiv.  1869.  Bd.  45.  S.  280- 

6)  Mein  Archiv.    1869.   Bd.  47.    S.   524.     Vgl.  0.  E.  E.  Hofmann. 
Ebendaselbst.  1870.  Bd.  50.  S.  455. 

7)  Deutsche  Klinik.   1858.  S.  306. 

8)  Mein  Archiv.  1853.  Bd.  4.  S.  348.  1871.  Bd.  52    S.  19. 

9)  Mein  Archiv.  1870.  Bd.  51.  S.  128.  187).  Bd.  52.  S.  31. 


Gedruckt  bei  Julius  Sittenfeld  in  Berlin. 


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