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2332
Freiheit der Wissensctaift
riioaeriieii iiLaai.
Rede
Rudolf Virchow,
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Zv.-eite Au.flage.
F \Q> 5-2.5
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Die
Freiheit der Wissenschaft
im
modernen Staat.
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Die
Freiheit der Wissenschaft
im
modernen Staat.
Rede
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gehalten in der dritten allgemeinen Sitzung der fünfzigsten
Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
zu München am 22. September 1877
von
/ Rudolf Virchow.
Z>A/^eite Auflage.
BERLIN, 1877.
Verlag von Wiegandt, Hempel & Parey
{Paul Parey).
Vs
''-^/r
/
/\ls mir der ehrenvolle Auftrag unseres geschäftsleitenden Aus-
schusses zu Theil wurde, von dieser Stelle aus zu der Versammlung
zu sprechen, da habe ich rnir die Frage vorgelegt, ob ich nicht,
dem von mir angeregten und neulich erst von Herrn Klebs in Er-
innerung gebrachten Gesichtspunkte entsprechend, Ihnen ein beson-
deres Gebiet der neuesten Entwicklung unserer Wissenschaft vor-
führen sollte. Ich habe mich jedoch dafür entschieden, diesmal mehr
einem allgemeinen Bedürfnisse Ausdruck zu geben, hauptsächlich
desshalb, weil, wie mir scheint, der Zeitpunkt gekommen ist, wo eine
gewisse Auseinandersetzung zwischen der Wissenschaft, wie wir sie
vertreten und treiben , und dem allgemeinen Leben stattfinden muss,
und weil in der Geschichte gerade unserer, der continentalen Völker
Europas, der Augenblick immer näher heranrückt, wo die geistigen
Geschicke der Völker vielleicht für lange Zeit in den höchsten Ent-
scheidungen bestimmt werden dürften.
Es ist nicht zum ersten Male, meine Herren, dass ich bei
Gelegenheit einer Naturforscherversammlung warnend auf gleichsam
dramatische Ereignisse, welche sich in unserem Nachbarlande voll-
ziehen, hinweisen kann. Zu wiederholten Malen habe ich gerade in
der Zeit, wo eine Naturforscherversammlung tagte, auf kurz vorher-
gegangene Ereignisse jenseits des Rheins hinweisen können, welche,
soweit sie scheinbar von unserer Aufgabe abliegen, doch schliesslich
immer dasselbe streitige Gebiet betreffen, dasjenige, auf dem es sich
darum handelt, festzustellen, was die moderne Wissenschaft im
modernen Staate gelten soll. Seien wir offen — wir können es hier
vielleicht in doppeltem Maasse, — es ist die Frage des Ultramonta-
nismus und der Orthodoxie, welche uns immerfort bewegt. Ich kann
wohl sagen, mit wahrem Bangen sehe ich den Ereignissen entgegen,
welche sich im Laufe der nächsten Jahre bei unserem Nachbarvolke
— 6 —
vollziehen werden. Wir hier können in diesem Augenblicke mit
einem gewissen Stolze um uns blicken und mit einer gewissen Ruhe
dem Gange der Dinge zusehen. Heute aber, wo wir beschäftigt sind, die
fünfzigste Wiederkehr dieser Versammlung zu feiern, ist es gewiss
am Platze, daran zu erinnern, welche grosse Veränderung in Deutsch-
land, speciell in München sich vollzogen hat seit den Tagen, als
Oken zum ersten Male deutsche Naturforscher und Aerzte ver-
sammelte.
Ich will mich nur ganz kurz auf zwei Thatsachen beziehen, be-
kannt genug, indess auch wichtig genug, um von Neuem in Erinnerung
gebracht zu werden: die eine Thatsache, dass, als im Jahre 1822 die
wenigen Männer, welche die erste deutsche Naturforscherversammlung
zusammensetzten, in Leipzig tagten, e^ noch so gefährlich erschien,
eine derartige Versammlung abzuhalten, dass sie thatsächlich im
Dunkel des Geheimnisses stattfand. Konnten doch die Namen der-
jenigen Mitglieder, welche aus Oesterreich beigetreten waren, erst
39 Jahre später, im Jahre 1861, publicirt werden. Die zweite That-
sache, die uns bei der Erinnerung an Oken unmittelbar berührt, ist
die, dass auch er, dieser geschätzte, dieser gefeierte Lehrer, diese
Zierde der Hochschule München im Exil sterben musste, in dem-
selben schweizerischen Canton, in dem Ulrich von Hütten sein
viel geplagtes und viel durchkämpftes Leben beschloss. Meine Herren,
das bittere Exil, welches Oken's letzte Jahre bedrückte, welches ihn
fern von denjenigen Stätten, an denen er die besten Kräfte seines
Lebens geopfert hatte, hinsiechen Hess, dieses Exil wird die Signatur
der Zeit bleiben, welche wir überwunden haben. Und so lange es
eine deutsche Naturforscherversammlung giebt, so lange sollen wir
uns dankbar erinnern, dass dieser Mann bis zu seinem Tode alle
Zeichen des Märtyrers an sich getragen hat, so lange sollen wir auf
ihn weisen als auf einen jener Blutzeugen, welche die Freiheit der
Wissenschaft für uns erkämpft haben.
Jetzt, meine Herren, ist es leicht, im deutschen Lande von Frei-
heit der Wissenschaft zu reden; jetzt sind wir auch hier, wo man
noch vor wenigen Decennien die Besorgniss hegte, dass vielleicht ein
neuer Umschwung der Dinge plötzlich das äusserste Gegenstück zu
Tage fördern würde, sicher und können in aller Ruhe die höchsten
und schwierigsten Probleme des Lebens und des Jenseits discutiren.
Gewiss liefern die Erörterungen, welche in den allgemeinen Sitzungen,
in der ersten und zweiten, stattgefunden haben, hinreichende Proben
^ 7 -
davon, dass München jetzt ein Ort ist, welcher es vertragen kann,
die Vertreter der Wissenschaft in vollständigster Freiheit zu hören.
Ich war nicht in der Lage, alle diese Reden zu hören, aber ich habe
seitdem sowohl die Rede des Herrn Haeckel, als die des Herrn
Naegeli gelesen, und ich muss sagen, wir können nicht mehr ver-
langen, als dass in dieser Freiheit discutirt werden darf.
Handelte es sich nur darutn, uns dieses Besitzes zu erfreuen, so
würde ich hier nicht das Wort über einen solchen Gegenstand ge-
nommen haben. Aber, meine Herren, wir befinden uns an einem
Punkte, wo es sich darum handelt, zu untersuchen, ob wir hoffen
dürfen, diesen factischen Besitz, in dem wir uns befinden, für die
Dauer zu sichern. Die Thatsache, dass wir heute in der Lage sind,
so zu discutiren, ist für Jemand, der eine so lange Erfahrung im
öffentlichen Leben hinter sich hat, wie ich, keine genügende Bürg-
schaft dafür, dass es immer so bleiben werde. Darum denke ich, dass
wir uns nicht blos anzustrengen haben, auf dass wir für den Augen-
blick die Theilnahme Aller fesseln, sondern ich meine, wir haben uns
auch zu fragen, was wir zu thun haben, um diesen Zustand zu erhalten.
Meine Herren, ich will Ihnen gleich sagen, was ich Ihnen als das
Hauptresultat meiner Betrachtungen vorführen, was ich hier besonders
beweisen möchte. Ich möchte nehmlich darthun, dass wir für uns jetzt
nicht mehr zu fordern haben, sondern dass wir vielmehr an dem Punkte
.,- angekommen sind, wo wir uns die besondere Aufgabe stellen müssen,
durch unsere Mässigung, durch einen gewissen Verzicht
auf Liebhabereien und persönliche Meinungen es möglich
zu machen, dass die günstige Stimmung der Nation, die wir besitzen,
nicht umschlage!
Ich bin der Meinung, wir sind in der That in Gefahr, durch zu
weite Benutzung der Freiheit, welche uns die jetzigen Zustände dar-
bieten, die Zukunft zu gefährden, und ich möchte warnen, dass man
nicht in der Willkür beliebiger persönlicher Speculation fortfahren
möge, welche sich jetzt auf vielen Gebieten der Naturwissenschaft
breit macht. Die Auseinandersetzungen, welche Ihnen meine Vor-
gänger gegeben haben, namentHch diejenigen des Herrn Naegeli,
werden für /i.liG, die sie nachlesen, in Bezug auf den Gang der
naturwissenschaftlichen Erkenntniss, in Bezug auf die Grenzen der-,
selben eine Reihe der wichtigsten Gesichtspunkte ergeben, welche zu
wiederholen nicht meine Aufgabe sein kann. Ich habe aber auch
ihnen gegenüber zu betonen, und ich möchte dafür ein paar practische
— 8 —
Beispiele aus der Erfahrung der Naturwissenschaften beibringen, wie
gross der Unterschied ist desjenigen, was wir als wirkliche Wissen-
schaft im strengsten Sinne des Wortes ausgeben und für welches
allein wir meiner Meinung nach die Gesammtheit aller der Freiheiten
fordern können, welche als Freiheit der Wissenschaft oder, sagen wir
vielleicht noch etwas schärfer, als Freiheit der wissenschaft-
lichen Lehre bezeichnet werden kann, im Gegensatze zu dem-
jenigen grösseren Gebiete, welches mehr der speculativen Expansion
angehört, welches die Probleme stellt, die Aufgaben findet, auf
welche die neue Forschung sich richten soll, welches vorahnend eine
Reihe von Lehrsätzen formulirt, die erst zu beweisen sind und deren
Thatsächlichkeit erst gefunden werden soll, die jedoch inzwischen zur
Ausfüllung gewisser Lücken des Wissens mit einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit vorgetragen werden können. Wir dürfen nicht ver-
gessen, dass es eine Grenze zwischen dem speculativen Gebiete der
Naturwissenschaft und dem thatsächlich errungenen und vollkommen
festgestellten Gebiete giebt. Von uns verlangt man, dass diese Grenze
mit immer grösserer Schärfe nicht blos gelegentlich einmal bezeichnet,
sondern überhaupt soweit fixirt werde, dass sich jeder Einzeihe immer
mehr bewusst werde, wo die Grenze liegt, und wieweit von ihm ge-
fordert werden könne j dass er zugestehe, das Gelehrte sei Wahrheit.
Das, meine Herren, ist die Aufgabe, an der wir in uns zu arbeiten
haben.
Die practischen Fragen, welche sich daran knüpfen, sind sehr
naheliegend. Es ist selbstverständlich, dass wir für das, was wir
als gesicherte, wissenschaftliche Wahrheit betrachten, auch die
vollkommene Aufnahme in den Wissensschatz der Nation ver-
langen müssen. Das muss die Nation in sich aufnehmen,
das muss sie verzehren und verdauen, daran muss sie nachher weiter
arbeiten. Gerade darin liegt ja die doppelte Förderung, welche die
Naturwissenschaft der Nation bietet. Auf der einen Seite der mate-
rielle Fortschritt, dieser ungeheure Fortschritt, welchen die Neuzeit
aufweist. Alles, was die Dampfmaschine, die Telegraphie, die Photo-
graphie u. s. w. gebracht haben, die chemischen Entdeckungen, die
Farbentechnik u. s. w., alles dieses basirt wesentlich darauf, dass wir
Männer der Wissenschaft die Lehrsätze vollkommen fertig machen
und wenn sie ganz fertig und sicher sind, so dass wir ganz bestimmt
wissen, dies ist naturwissenschaftliche Wahrheit, sie der Gesammtheit
übergeben; dann können auch Andere damit arbeiten und neue Dinge
— 9 - '
schaffen, von denen vorher Niemand eine Ahnung hatte, die sich
Niemand träumen liess, die ganz neu in die Welt treten und die den
Zustand der Gesellschaft und der Staaten umwandeln. Das ist die
materielle Bedeutung unserer Leistungen. Ebenso ist es andererseits
mit der geistigen Bedeutung derselben. Wenn ich der Nation eine
bestimmte wissenschaftliche Wahrheit überliefere, die sicher beglau-
bigt ist, an der nicht der geringste Zweifel bleiben kann, wenn ich
verlange, dass Jedermann sich von der Richtigkeit dieser Wahrheit
überzeuge, dass er sie in sich aufnehme, dass sie Bestandtheil seines
Denkens werde, so setze ich als selbstverständlich voraus, dass damit
seine Anschauung von den Dingen überhaupt mitbestimmt werden
muss. Jede wesentliche Neuigkeit dieser Art muss auf die ganze
Vorstellungsweise des Menschen, auf die Methode des Denkens
einen Einfluss ausüben.
Wenn wir z. B., um einen naheliegenden Fall zu nehmen, die
Fortschritte betrachten, welche die letzten Jahre in Bezug auf die
Kenntniss des menschlichen Auges gebracht haben, von den ersten
Tagen an, wo man die einzelnen Bestandtheile des Auges genauer
anatomisch auseinanderlegte, dann diese einzelnen anatomisch ge-
trennten Theile wieder einer mikroskopischen Untersuchung unterzog
und ihre verschiedene Einrichtung nachwies, bis zu der Zeit, wo
wir allmählich die vitalen Eigenschaften, die physiologischen
Functionen dieser verschiedenen Theife kennen gelernt haben, bis
man endlich in der Entdeckung des Sehpurpurs und der photogra-
phischen Eigenschaften desselben einen Fortschritt gemacht hat, von
dem man noch vor einem Jahre kaum eine Ahnung hatte: da liegt
es auf der Hand, dass mit jedem Fortschritte der Art ein gewisser
Theil der Optik, zunächst der Lehre vom Sehen bestimmt und ge-
ändert wird. Wir erfahren damit ganz bestimmt, wie im Innern des
menschlichen Körpers selbst die Einwirkung des Lichtes stattfindet
und wie ein mehr peripherisches Organ des menschlichen Körpers,
nicht etwa das Gehirn, sondern das Auge es ist, welches diese Ein-
wirkung erfährt. Wir erfahren damit, dass dieses Photographiren
nicht etwa eine geistige Operation ist, sondern ein chemischer Vor-
gang, der sich unter Zuhülfenahme gewisser Lebens Vorgänge voll-
zieht, und dass wir in Wirklichkeit nicht die äusseren Dinge sehen,
sondern die. Bilder unseres Auges. Wir sind somit in der Lage, ein
neues Moment der Analyse für das Verständniss unserer Beziehungen
zu der Aussenwelt zu gewinnen und den rein geistigen Antheil des
^ ~ 10 -
Sehens von dem rein körperlichen Antheil schärfer auseinander zu
legen. Damit wird ein gewisser Theil der Optik und zugleich der
Psychologie ganz neu gebildet. Die Chemie tritt mit heran an die
Untersuchung von Fragen, mit denen sie sich bisher gar nicht be-
schäftigt hatte, namentlich an die hochwichtigen Fragen: was ist Seh-
purpur? was ist das für eine Substanz? wie wird sie gebildet, wie
vernichtet, wie wieder hergestellt? Die Lösung dieser Fragen wird
nicht verfehlen, ein neues Gebiet der Forschung zu erschliessen;
hoffentlich machen wir bald auch auf dem Gebiete der technischen
Photographie neue Fortschritte, indem wir bunte Photogramme her-
stellen lernen. So bildet sich ein Gemisch von Fortschritten, die halb
auf geistigem, halb auf körperlichem Gebiete liegen. Und daher, sage
ich, muss mit jedem wahren Fortschritte des Wissens von der Natur
nothwendiger Weise, wie in den äusseren Verhältnissen der Menschen,
so auch in den inneren eine Reihe von Veränderungen sich voll-
ziehen, und Niemand kann sich dem entziehen, das neue Wissen in
sich arbeiten zu lassen. Jedes neue Stück von wirklichem Wissen
arbeitet in dem Menschen fort, es erzeugt neue Vorstellungen, neue
Gedankenreihen, und Niemand kann umhin, schliesslich selbst die
höchsten Probleme des Geistes mit den natürlichen Vorgängen in
eine gewisse Beziehung zu setzen.
Aber wir haben noch eine andere, ungleich näher liegende Seite
der practischen Betrachtung. " Ueberall im ganzen deutschen Vater-
lande beschäftigt man sich damit, das Unterrichtswesen neu zu ge-
stalten, zu erweitern, zu entwickeln, die bestimmten Formen dafür
zu finden. Preussens Unterrichtsgesetz steht auf der Schwelle der
kommenden Ereignisse. In allen deutschen Staaten baut man grössere
Schulhäuser, schafft man neue Lehranstalten, erweitert man die
Universitäten, richtet man höhere und Mittelschulen ein. Es fragt
sich endlich, was soll der Hauptinhalt dessen sein, was gelehrt
wird? wohin soll die Schule führen? nach welchen Richtungen soll
sie arbeiten? Wenn die Naturwissenschaft verlangt, wenn wir alle
seit Jahren dahin gedrängt haben, dass wir Einfiuss gewinnen auf
die Schule, wenn wir fordern, dass die Naturkenntniss in höherem
Maasse in die gewöhnliche I^ehre aufgenommen werde, dass schon
frühzeitig den jugendlichen Geistern dieses fruchtbare Material ge-
boten werde als Grundlage einer neuen Anschauung, dann werden
wir uns auch sagen müssen, es ist in der That höchste Zeit, dass
wir uns selbst verständigen über das, was wir verlangen können und
— 11 —
verlangen wollen. Wenn Herr Haeckel sagt, es sei eine Frage der
Pädagogen, ob man jetzt schon die Descendenztheorie dem Unterricht
zu Grunde legen und die Plastidul-Seele als Grundlage aller Vor-
stellungen über geistiges Wesen annehmen, ob man die Phylogenie
des Menschen bis in die niedersten Klassen des organischen Reiches,
ja darüber hinaus bis zur Urzeugung verfolgen soll, so ist das meiner
Meinung nach eine Verschiebung der Aufgaben. Wenn die De-
scendenzlehre so sicher ist, wie Herr Haeckel annimmt, dann müssen
wir verlangen, dann ist es eine nothwendige Forderung, dass sie auch in
die Schule muss. Wie wäre das denkbar, dass eine Lehre von
solcher Wichtigkeit, die so vollkommen revolutionirend eingreift in
jedes Bewusstsein, die unmittelbar eine Art von neuer Religion schafft,
nicht ganz in den Schulplan eingefügt würde ! Wie wäre es möglich,
eine solche — Enthüllung, kann ich ja sagen, in der Schule gewisser-
maassen todt zu schweigen, oder die Ueberlieferung der grössten
und wichtigsten Fortschritte, die unsere Anschauungen im ganzen
Jahrhundert gemacht haben, in das Ermessen des Pädagogen zu
stellen! Ja, meine Herren, das wäre in der That eine Resignation
der schwersten Art, und in Wirklichkeit würde sie auch gar nicht
geübt werden. Jeder Schulmeister, der diese Lehre in sich aufnähme,
würde sie, auch unwillkürlich, lehren. Wie sollte er das anders
machen! Er müsste sich gänzlich verstellen, er müsste sich auf die
allerkünstlichste Weise zeitweise seines eigenen Wissens berauben,
um nicht zu verrathen, dass er die Descendenztheorie kennt und fest-
hält, und dass er genau weiss, wie der Mensch entstanden ist und
von wannen er kommt. Wenn er auch nicht weiss, wohin er geht,
so würde er doch wenigstens glauben genau zu wissen, wie sich im
Laufe von Aeonen die fortschreitende Reihe gestaltet hat. Ich sage
also, wenn wir die Aufnahme der Descendenzlehre in den Schulplan
wirklich nicht verlangten, so würde sie sich von selbst vollziehen.
Wir dürfen doch nicht vergessen, meine Herren, dass das, was wir
hier vielleicht noch mit einer gewissen schüchternen Zurückhaltung
aussprechen, von denen da draussen mit einer tausendfach gesteiger-
ten Zuversicht weiter getragen wird. Ich habe z. B. einmal den Satz
aufgestellt — im Gegensatz zu der damals herrschenden Lehre von
der Entwicklung des organischen Lebens aus unorganischer Masse —
dass jede Zelle von einer Zelle herstamme, allerdings zunächst mit
besonderer Rücksicht auf die Pathologie und vorzugsweise für den
Menschen. Ich bemerke nebenbei, dass ich in beiden Beziehungen
— 12 —
auch noch heutigen Tages diesen Satz für vollkommen richtig halte.
Allein als ich diesen Satz ausgesprochen und den Ursprung der Zelle
aus der Zelle formulirt hatte, haben die anderen nicht gefehlt, welche die-
sen Satz nicht blos im Organischen über die Grenzen dessen, wofür ich ihn
aufgestellt hatte, hinaus ausgedehnt, sondern welche ihn über die Grenzen
des organischen Lebens hinaus als allgemeingültig hingestellt haben.
Ich habe die wundervollsten Zusendungen aus Amerika und Europa
bekommen, in welchen die ganze Astronomie und Geologie auf
Zellenlehre basirt war, weil man es für unmöglich hielt, dass etwas,
was für das Leben der organischen Natur auf dieser Efde entscheidend
sei, nicht auch auf die Gestirne angewendet werden sollte, die doch
auch runde Körper seien, welche sich geballt haben und Zellen dar-
stellen, die in dem grossen Himmelsraume umherfahren und dort
eine ähnliche Rolle spielen, wie die Zellen in unserem Leibe.
Ich kann nicht sagen, dass das etwa lauter ausgemachte Narren
und Thoren gewesen wären, die das gemacht haben; ich habe aus
einzelnen ihrer Auseinandersetzungen vielmehr die Vorstellung ge-
wonnen, dass mancher an sich gebildete Mann, der viel studirt hatte
und sich endlich an die Probleme der Astronomie machte, nicht be-
greifen konnte, dass die Zweckmässigkeit der Himmelserscheinungen
in anderer Weise begründet sein sollte, wie die Zweckmässigkeit der
menschlichen Organisation, so dass er, um eine einheitliche Anschauung
zu gewinnen, zuletzt dahin kam, anzunehmen, der Himmel müsste auch
ein Organismus, ja die ganze Welt müsste ein zweckmässig gestalteter
Organismus sein, und darin könnte kein anderes Princip als das Zellen-
princip gelten. Ich führe das nur an, um zu zeigen, wie sich nach
Aussen hin die Dinge machen, wie sich die „Theorie" vergrössert,
wie unsere Sätze in einer für uns selbst erschreckenden Gestalt zu
uns zurückkehren. Nun stellen sie sich einmal vor, wie sich die Des-
cendenztheorie heute schon im Kopfe eines Socialisten darstellt!
Ja, meine Herren, das mag Manchem lächerlich erscheinen, aber
es ist sehr ernst, und ich will hoffen, dass die Descendenztheorie für
uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien
wirklich im Nachbarlande angerichtet haben. Immerhin hat auch diese
Theorie, wenn sie consequent durchgeführt wird, eine ungemein be-
denkliche Seite, und dass der Socialismus mit ihr Fühlung gewonnen
hat, wird Ihnen hoffentlich nicht entgangen sein. Wir müssen uns das
ganz klar machen.
Nichts destoweniger, die Sache möchte so gefährlich sein, wie sie
— 13 —
wollte, die Bundesgenossen möchten so schlimm sein, wie sie wollten,
sage ich doch: in dem Augenblicke, wo wir die Ueberzeugung ge-
wönnen, die Descendenztheorie sei eine vollständig stabilirte Lehre,
welche so sicher ist, dass wir sie beschwören, dass wir sagen können,
so ist es, — da würden wir kein Bedenken tragen dürfen, sie ins Leben
einzuführen, sie nicht blos jedem Gebildeten zu überliefern, sondern
sie jedem Kinde mitzugeben, sie zur Grundlage unserer ganzen Vor-
stellung von der Welt, der Gesellschaft und dem Staate zu machen
und daraufhin den Unterricht zu gründen.
Das halte ich für eine Nothwendigkeit.
Ich scheue dabei auch gar nicht vor dem Vorwurfe zurück, der
zu meinem Erstaunen, während ich in Russland abwesend war, in
meinem preussischen Vaterlande grossen Rumor gemacht hat, vor dem
Vorwurfe des Halbwissens. Merkwürdigerweise hat eine unserer
sogenannten liberalen Zeitungen die Frage aufgeworfen, ob nicht der
grosse Schaden dieser Zeit und der Socialismus insbesondere auf der
Ausbreitung des Halbwissens beruhe. In dieser Beziehung möchte ich
doch auch hier, in Mitte der Naturforscherversammlung , constatiren,
dass alles menschliche Wissen Stückwerk ist. Wir Alle, die wir uns
Naturforscher nennen, besitzen nur Stücke von der Naturwissenschaft;
keiner von uns kann hierhertreten und mit gleicher Berechtigung jede
Disciplin vertreten und an einer Discussion in jeder Disciplin theil-
nehmen. Im Gegentheile, wir schätzen die einzelnen Gelehrten ge-
rade deshalb so sehr, weil sie in einer gewissen einseitigen Richtung
sich entwickelt haben. Auf anderen Gebieten befinden wir uns Alle
im Halbwissen. Könnten wir nur dahinkommen, dieses Halbwissen
mehr zu verbreiten, könnten wir es zu Stande bringen, dass wir
wenigstens die Mehrzahl aller Gebildeten soweit förderten, dass sie die
Hauptrichtungen, welche die einzelnen Disciplinen der Naturwissen-
schaften verfolgen, soweit übersehen, um ohne zu grosse Schwierig-
keiten der Entwicklung derselben folgen zu können, und dass sie,
auch wenn sie sich nicht in jedem Augenblick der Totalität aller
Einzelbeweise klar wären, doch von dem Gesammtgange der Wissen-
schaft durchdrungen würden. Viel weiter kommen wir ja auch nicht.
Ich habe z. B. in meinem Leben mich redlich bemüht, chemische
Kenntnisse zu erwerben; ich habe selbst chemisch gearbeitet, allein
ich fühle mich ganz ausser Stand, mich ohne Weiteres etwa in ein
chemisches Conventikel zu setzen und moderne Chemie in allen Rich-
tungen zu discutiren. Nichtsdestoweniger bin ich befähigt, mich in
— 14 —
einiger Zeit soweit in das Verständniss zu bringen, dass mir keine
chemische Neuerung als ein unfassbares Ding entgegentritt. Aber
dieses Verständniss muss ich mir immerhin erst neu erwerben, ich habe
es nicht schon ; wenn ich es gebrauchen will, muss ich es erst wieder
erwerben. Das, was mich ziert, ist eben die Kenntniss meiner
Unwissenheit. Das ist das Wichtigste, dass ich genau weiss, was
ich von Chemie nicht verstehe. Wüsste ich das nicht, dann würde
ich allerdings immer hin- und herschaukeln. Da ich aber, wie ich mir
einbilde, ziemlich genau weiss, was ich nicht weiss, so sage ich mir
jedesmal, wenn ich genöthigt bin, in ein für mich noch verschlossenes
Gebiet eih^Jtreten: „jetzt musst du wieder anfangen zu lernen, jetzt
musst du neu studiren, jetzt musst du es machen, wie Jemand, der
in die Wissenschaft eintritt". Der grosse Irrthum, der sich eben auch
bei vielen Gebildeten fortsetzt, beruht darin, dass man sich nicht ver-
gegenwärtigt, wie bei der immensen Grösse der Naturwissenschaften
und bei der unerschöpflichen Fülle des Einzelmaterials es für keinen
Lebenden möglich ist, die Gesammtheit aller dieser Einzelnheiten zu
beherrschen. Dass man soweit kommt, in den Grundlagen der
Naturwissenschaften klar zu sein, und die Lücken, die man selbst be-
sitzt, genau kennen zu lernen, damit man jedesmal, wo man auf eine
solche Lücke stösst, sich sagt, jetzt gehst du in ein dir unbekanntes
Gebiet hinein, — das ist das, was wir erreichen müssen. Wenn sich
Jedermann darüber hinreichend klar würde, so würde Mancher an
seine Brust klopfen und bekennen, dass es eine bedenkliche Sache
ist, ganz allgemeine Folgerungen zu ziehen in Bezug auf die Ge-
schichte aller Dinge, während man selbst nicht einmal ganz Herr über
das Material ist, aus welchem heraus man diese Schlüsse ziehen will.
Es ist leicht gesagt: „eine Zelle besteht aus kleinen Theilchen,
und diese nennen wir Plastidule ; Plastidule aber bestehen aus Kohlen-
stoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff und sind mit einer be-
sonderen Seele ausgestattet; diese Seele ist das Product oder die
Summe der Kräfte, welche die chemichen Atome besitzen." Das ist
ja möglich, ich kann es nicht genau beurtheilen. Es ist das eine von
den für mich noch unnahbaren Stellen; ich fühle mich da, wie ein
Schiffer, der auf eine Untiefe geräth, deren Ausdehnung er nicht über-
sehen kann. Aber ich muss doch sagen, ehe man mir nicht die
Eigenschaften von Kohlen-, Wasser-, Sauer-, und Stickstoff so defi-
niren kann, dass ich begreife, wie aus ihrer Summirung eine Seele
wird, eher kann ich nicht zugestehen, dass wir etwa berechtigt wären,
— 15 —
die Plastidul-Seele in den Unterricht einzuführen, oder überhaupt von
jedem Gebildeten zu verlangen, dass er sie so sehr als wissenschaft-
liche Wahrheit anerkenne, um damit logisch zu operiren und darauf-
hin seine Weltanschauung zu begründen. Das können wir wirklich
nicht verlangen. Im Gegentheil, ich meine, bevor wir solche Thesen
als den Ausdruck der Wissenschaft bezeichnen, bevor wir sagen, das
ist moderne Wissenschaft, müssten wir erst eine ganze Reihe von
langwierigen Untersuchungen durchführen. Wir müssen daher den
Schullehrern sagen, lehrt das nicht. Das, meine Herren, ist
die Resignation, welche meiner Meinung nach auch diejenigen üben
müssten, welche an sich eine solche Lösung für das wal«.scheinliche
Ende der wissenschaftlichen Untersuchung halten. Darüber können
wir doch keinen Augenblick streiten, dass wenn diese Seelenlehre
wirklich richtig wäre, sie erst durch eine lange Reihe wissenschaft-
licher Forschungen sicher gestellt werden könnte.
Es giebt eine Reihe von Erlebnissen in den Naturwissenschaften,
an denen wir zeigen können, wie lange gewisse Probleme schweben,
ehe es möglich wird, ihre wirkliche Lösung zu finden. Wenn diese
Lösung endlich gefunden wird, in einem Sinne, der vielleicht sclion
Jahrhunderte vorher vorgeahnt war, so folgt daraus nicht, dass während
dieser, blos der Ahnung oder der Speculation angehörigen Zeiten das
Problem als eine wissenschaftliche Thatsache hätte gelehrt werden
/ dürfen.
Herr Klebs hat neulich das Contagium animatum besprochen,
d. h. die Vorstellung, dass die Ansteckung bei Krankheiten sich durch
lebendige Wesen vollziehe und dass diese Wesen die Krankheits-
ursachen seien. Die Lehre vom Contagium animatum verliert sich in
das Dunkel des Mittelalters. Wir haben diesen Namen von unseren
Vorvätern überkommen, er tritt schon scharf hervor im i6. Jahr-
hundert. Wir besitzen aus jener Zeit einzelne Werke, welche das
Contagium animatum als einen wissenschaftlichen Lehrsatz aufstellen,
mit derselben Zuversicht, mit derselben Art der Begründung, wie die
Plastidul-Seele gegenwärtig aufgestellt wird. Nichtsdestoweniger hat
man lange Zeit hindurch die lebendigen Krankheitsursachen nicht
auffinden können. Das i6. Jahrhundert hat sie nicht gefunden, das
17. nicht , das 18. nicht. Im 19. Jahrhundert hat man angefangen,
Stück für Stück Contagia animata wirklich zu finden. Die Zoologie,
wie die Botanik haben ihre Beiträge dazu geliefert; wir haben Thiere
und Pflanzen kennen gelernt, welche Contagien darstellen und es hat
— 16 —
sich ein gewisser Thcil der Contagienlehre in Zoologie und Botanik
aufgelöst, ganz im Sinne der Theorien des i6. Jahrhunderts. Allein
Sie werden schon aus dem Vortrage des Herrn Klebs ersehen
haben, dass man noch lange nicht am Ende der Beweisführung ist
Wenn man auch noch so sehr disponirt ist, die Allgemeingültigkeit
der alten Lehre zuzugestehen, nachdem nun eine Reihe von neuen
lebenden Contagien hinzugekommen ist, nachdem wir den Milzbrand,
die Diphtherie als Krankheiten erkannt haben, die durch besondere
Organismen bedingt sind, so darf man doch noch nicht sagen, es
müssen nun alle contagiösen oder gar alle infectiösen Krankheiten
durch lebendige Ursachen bedingt sein. Nachdem sich gezeigt hat,
dass eine Lehre, welche schon im 1 6. Jahrhundert aufgestellt wurde, und
welche seitdem hartnäckig in den Vorstellungen der Menschen immer
wieder aufgetaucht ist, endlich seit dem zweiten Decennium dieses
Jahrhunderts nach und nach immer mehr positive Beweise für ihre
Richtigkeit erhalten hat, so könnte man wohl meinen, es sei eine
Pflicht, sich im Sinne der inductiven Erweiterung unseres Wissens
vorzustellen, alle Contagien und Miasmen seien belebt. Ja, meine
Herren, ich will zugestehen, dass diese Auffassung eine sehr grosse
Wahrscheinlichkeit für sich hat. Selbst diejenigen Forscher, welche
nicht soweit gegangen sind, die Contagien und Miasmen in der
bezeichneten Zwischenzeit für wirklich belebte Wesen zu halten, haben
doch immer gesagt, sie stehen den belebten "Wesen sehr nahe, sie^».
haben Eigenschaften an sich, welche wir sonst nur bei belebten
Wesen sehen, sie pflanzen sich fort, sie vermehren sich, sie regeneriren
sich unter besonderen Umständen; sie erscheinen wie wirkliche
organische Körper. Allein trotzdem haben sie mit Recht ge-
wartet, bis der Nachweis der inficirenden Organismen geliefert war.
Und so gebietet die Vorsicht auch jetzt noch Zurückhaltung.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Geschichte unserer Wissen-
schaften eine grosse Menge von Thatsachen darbietet, welche uns
lehren, dsss sehr verwandte Erscheinungen auf sehr verschiedene
Weise sich vollziehen können. Als die Gährung auf besondere Pilze
zurückgeführt war, als man erfuhr, dass die Fermentation an die Ent-
wicklung gewisser Pilze geknüpft sei, da lag es in der That sehr
nahe, sich vorzustellen, dass nach Art der Fennentation alle jene ihr
verwandten Processe sich vollzögen, für die man den Namen der
„katalytischen" aufgestellt hat, und die sich so vielfach im mensch-
lichen und thierischen Körper, wie in den Pfläjizen vorfinden. Es
— 17 —
hat in der That an Gelehrten nicht gefehlt, welche sich vorgestellt
haben, dass die Verdauung, welche ja einer der Vorgänge ist, die
eine grosse Aehnlichkeit mit den fermentativen Processen haben,
dadurch entstehe, dass in dem Magen — speciell beim Rindvieh ist
die Frage practisch discutirt worden, — gewisse Pilze, welche vielfach
vorkommen j in ähnlicher Weise die Verdauung vermittelten, wie die
Gährungspilze die Gährung vermitteln. Wir wissen jetzt, dass die
Verdauungssäfte absolut nichts zu thun haben mit Pilzen. So sehr
sie katalytische Eigenschaften besitzen, so sicher sind wir doch, dass
ihre wirksamen Stoffe chemische Körper sind, die wir extrahiren, die
wir von den. übrigen Stoffen isoliren und isolirt ohne irgend eine
Beimischung lebender Gebilde wirken lassen können. Wenn der
menschliche Speichel befähigt ist, in der kürzesten Zeitfrist Stärke
und Gummi in Zucker umzuwandeln, und wenn jedesmal, wenn wir
Brod essen, in unserem Munde diese Neu-Erzeugung „süssen" Brpdes
sich vollzieht, so ist daran kein Pilz betheiligt, kein Gährungs-
organismus, sondern es sind chemische Substanzen, welche in ganz
ähnlicher Weise, wie das im Innern eines Pilzes geschieht, die Umr
Setzung der Stoffe zu Stande bringen. Wir sehen also, dass zwei
Processe, die sich sehr nahe stehen, der eine im Innern eines
Gährungspilzes , der andere im menschlichen Verdauungstracte auf
verschiedene Weise erregt werden; der gldche Vorgang ist das eine
/^Mal geknüpft an einen bestimmten pflanzliche^,. Organismus, ^das
andere Mal wird er ohne einen solchen, einfach durch freie Flüssig-
keit vollzogen.
Ich würde es für ein grosses Unglück halten, wenn man nicht in
• gleicher Weise, wie es hier geschehen ist, fortfahren wollte, in jedem
einzelnen Falle zu ermitteln, ob die Voraussetzung, die man hat,
die Vorstellung, die man sich gebildet hat und die höchst wahr-
scheinlich sein mag, auch wirklich wahr, ob sie that sächlich
berechtigt ist. Ich will in dieser Beziehung daran erinnern, dass wir
auch unter den infectiösen Krankheiten Fälle haben, bei denen ganz
unzweifelhaft ein gleicher Gegensatz vorliegt. Mein Freund Klebs
wird mir wohl verzeihen müssen, wenn ich auch noch jetzt, trotz der
neuen Fortschritte, welche die Lehre von den inficirenden Pilzen
gemacht hat, immer noch in der Reserve beharre, dass ich immer
nur denjenigen Pilz zugestehe, der wirklich nachgewiesen ist, und
dass ich alle anderen Pilze so lange leugne, bis sie mir nicht factisch
entgegen getreten sind. Es giebt unter den Infectionskrankheiten eine
2
^ 18 ^
gewisse Gruppe, die durch organische Gifte entstehenden, — ich will
nur eine daraus hervorheben, die meiner Meinung nach sehr lehrreich
ist, die Vergiftung durch Schlangenbiss, eine sehr berühmte und höchst
merkwürdige Form. Wenn diese Art von Vergiftung verglichen wird
mit denjenigen Arten von Vergiftung, die wir gewöhnlich Infections-
krankheiten nennen (Infection heisst nicht viel anderes als Vergiftung),
so muss man zugestehen, dass die grössten Analogien in dem Ver-
laufe in beiden Fällen vorhanden sinti. Nichts würde in Bezug auf
den Verlauf der Annahme entgegenstehen, dass die Summe vor Vor-
gängen, welche sich nach einem Schlangenbisse im menschlichen
Körper vollziehen, zu Stande komme, indem Pilze in den Körper
eindrängen und in verschiedenen Organen Veränderungen hervor-
riefen. In der That kennen wir gewisse Processe, z. B. septische,
bei denen sich ganz ähnliche Erscheinungen zeigen, und es ist nicht
zu verkennen, dass gewisse Formen von Schlangenbissvergiftung und
gewisse Formen von septischer Infection sich so ähnlich sehen, wie
ein Ei dem anderen. Und doch haben wir nicht den mindesten
Grund, beim Schlangenbiss den Import von Pilzen zu vermuthen,
während wir umgekehrt bei septischen Processen diesen Import
anerkennen.
Die Geschichte unserer Naturwissenschaft hat zahlreiche Beispiele
welche uns immer mehr dahinbringen sollten, dass wir die Gültigkeit
unserer Lehrsätze auf die allerstrikteste Weise auf dasjenige Gebiet
begrenzen, auf dem wir sie wirklich darthun können, und dass wir
nicht auf dem Wege der Induction soweit gehen, Lehrsätze, welche
nur für einen oder einige Fälle bewiesen sind, ohne Weiteres ins
Ungemessene auszudehnen. Nirgends ist die Nothwendigkeit einer
solchen Beschränkung mehr zu Tage getreten, als gerade auf dem
Gebiete der Entwickelungsgeschichte. Die Frage von der ersten Ent-
stehung organischer Wesen, diese Frage, welche auch dem fortge-
schrittenen Darwinismus zu Grunde liegt, ist eine uralte. Wer zuerst
die einzelnen Lösungen dafür zu finden versucht hat, das weiss man
gar nicht. Wenn wir aber die alte populäre Lehre uns vergegen-
wärtigen, wonach alle möglichen lebenden Wesen, Thiere und Pflanzen,
aus je einem Erdenklosse hervorgehen können, — einem Klösschen
unter Umständen, — so sollten wir uns zugleich erinnern, dass die
berühmte Lehre von der Generatio aequivoca, der Epigenesis, damit
eng zusammenhängt, und dass sie in Aller Vorstellung seit Jahrtau-
senden ist. Nun ist mit dem Darwinismus die Lehre von der Ur-
— 19 -
Zeugung wieder aufgenommen worden, und ich kann nicht leugnen,
es hat etwas sehr Verführerisches, diesen Abschluss der Descendenz-
theorie zu machen, und, nachdem man die ganze Reihe der Lebens-
formen von den niedrigsten Protisten bis zu dem höchsten mensch-
lichen Organismus aufgestellt hat, diese lange Reihe auch noch an-
zuknüpfen an die unorganische Welt. Es entspricht das jener Rich-
tung zur Generalisation, welche so sehr menschlich ist, dass sie zu
allen Zeiten bis in die graueste Vorzeit hin in den Speculationen
der Völker ihren Platz gefunden hat. Wir haben unweigerlich das
Bedürfniss, die organische Welt nicht herauszulösen aus dem Ganzen,
als etwas von dem Ganzen sich Trennendes, sondern vielmehr ihren
Zusammenhang mit dem Ganzen zu sichern. In diesem Sinne hat
es etwas Beruhigendes, wenn man sagen kann, die Atomengruppe
Kohlenstoff und Compagnie — das ist vielFeicht zu kurz gesagt, aber
doch correct, insofern Kohlenstoff das Wesentliche sein soll — also
diese Genossenschaft, Kohlenstoff und Cie., habe sich zu einer ge-
wissen Zeit von dem gewöhnlichen Kohlenstoff abgelöst und unter
besonderen Umständen das erste Plastidul gegründet, und sie
gründe nun auch gegenwärtig weiter. Dem gegenüber muss aber
betont werden, dass alle wirkliche wissenschaftliche Kenntniss
über die Lebensvorgänge den umgekehrten Weg gegangen ist.
Wir datiren den Anfang unserer wirklichen Kenntnisse von der
Entwicklung der höheren Ofganismen von jenem Tage, wo
Harvey den berühmten Satz aussprach: omne vivum ex ovo, jedes
lebende Wesen stammt aus einem Ei. Dieser Satz ist, wie
wir jetzt wissen, in seiner Allgemeinheit unrichtig. Wir können
ihn heutzutage als einen vollberechtigten nicht mehr anerkennen;
wir wissen im Gegentheil, dass eine ganze Menge von Zeugungen
und Fortpflanzungen ohne Ei existirt. Von Harvey bis auf unseren
berühmten Freund von Siebold, der der Parthenogenesis zu ihrer
vollen Anerkennung verholfen hat, liegt eine ganze Reihe von immer
weiteren Beschränkungen vor, welche darthun, dass der Satz: omne
vivum ex ovo in seiner Allgemeinheit unrichtig war. Nichtsdesto-
weniger würde es die höchste Undankbarkeit sein, wenn wir nicht
anerkennen wollten, dass in dem Gegensatze, in den Harvey zu der
alten Generatio aequivoca trat, der grösste Fortschritt begründet ge-
wesen ist, den die Wissenschaft auf diesem Gebiete gemacht hat.
Man hat nachher eine grosse Reihe von neuen Formen kennen gelernt,
in denen sich die Fortpflanzung der verschiedenen Arten lebendiger We-
2*
- 2Ö -
sen vollzieht, in denen neue Individuen entstehen, — die directe Thei-
lung, die Knospenbildung, den Generationswechsel. Alle diese Erfah-
rungen einschliesslich der Parthenogenesis sind Errungenschaften,
welche uns dahin gebracht haben, jedes einheitliche Schema für die
Erzeugung organischer Individuen aufzugeben. An die Stelle des
einheitlichen Satzes ist eine Mehrheit von Erfahrungssätzen getreten;
wir haben jetzt gar keinen einheitlichen Satz mehr, durch welchen
wir Jemanden ein für allemal klar machen könnten, wie ein neues
thierisches Wesen beginnt.
Auch die Generatio aequivoca, die so oft bekämpft und so oft
widerlegt ist, tritt nichtsdestoweniger immer wieder uns gegen-
über. Freilich kennt man keine einzige positive Thatsache,
welche darthäte, dass je eine Generatio aequivoca stattgefunden hat,
dass je eine Urzeugung in der Weise geschehen ist, dass unorganische
Massen, also etwa die Gesellschaft Kohlenstoff und Cie., jemals frei-
willig sich zu organischen Massen entwickelt hätten. Nichtsdesto-
weniger gestehe ich zu, dass, wenn man sich eine Vorstellung
machen will, wie das erste organische Wesen von selbst hätte ent-
stehen können, nichts weiter übrigbleibt, als auf Urzeugung zurück-
zugehen. Das ist klar! wenn ich eine Schöpfungstheorie nicht an-
nehmen will, wenn ich nicht glauben will, dass es einen besonderen
Schöpfer gegeben hat, der den Erdenkloss genommen und ihm den
lebendigen Odem eingeblassen hat, wenn ich mir einen Vers machen ^
will auf meine Weise, so muss ich ihn machen im Sinne der Gene-
ratio aequivoca. Tertium non datur. Da bleibt nichts anderes übrig,
wenn man einmal sagt: „ich nehme die Schöpfung nicht an, aber ich
will eine Erklärung haben." Ist das die erste These, dann muss man
zur zweiten These schreiten und sagen: ergo nehme ich die Generatio
aequivoca an. Aber einen thatsächlichen Beweis dafür besitzOTt wir
nicht. Kein Mensch hat je eine Generatio aequivoca sich wirklich
vollziehen sehen, und jeder, der behauptet hat, dass er sie gesehen
hat, ist widerlegt worden von den Naturforschern, nicht etwa von
den Theologen.
Meine Herren, ich führe das an, um unsere Unparteilichkeit im
rechten Lichte erscheinen zu lassen, was doch zuweilen recht Noth
thut. Wir haben immer die Waffen in uns und bei uns, um zu
kämpfen gegen das, was unberechtigt ist.
Ich sage also, die theoretische Berechtigung einer solclien Formel
muss ich anerkennen. Wer eine Formel haben will, wer sagt.
— 21 —
ich brauche absolut eine Formel, ich muss mit mir ins Reine kommen,
ich will eine zusammenhängende Weltanschauung haben, der muss
entweder eine Generatio aequivoca oder die Schöpfung annehmen;
daneben giebt es nichts weiteres mehr. Wenn wir uns offen aus-
sprechen, so kann man ja zugestehen, die Naturforscher könnten eine
kleine Sympathie für die Generatio aequivoca haben. Wenn sie zu
beweisen wäre, so wäre es sehr schön.
Aber wir müssen anerkennen, dass sie noch nicht bewiesen ist.
Beweise fehlen noch. Wenn jedoch irgend ein Beweis gelingen sollte,
so würden wir uns fügen. Aber auch dann würde erst festzustellen
sein, in welcher Ausdehnung die Generatio aequivoca zulässig ist.
Wir würden in ruhiger Weise zu untersuchen fortfahren müssen, denn
Niemand wird auf den Gedanken kommen, dass die Urzeugung etwa
für die Gesammtheit aller organischen Wesen Geltung hat. Mög-
licher Weise träfe sie nur für eine einzelne Reihe von Wesen zu. Ich
meine aber, wir haben Zeit, auf den Beweis zu warten. Wer sich
erinnert, in wie bedauerlicher Weise gerade in der neuesten Zeit alle
Versuche, für die Generatio aequivoca in den niedrigsten Formen
des Uebergangs von der unorganischen zur organischen Welt eine
bestimmte Unterlage zu finden, gescheitert sind, dem sollte es dop-
pelt bedenklich erscheinen, zu fordern, dass diese so übel beleu-
mundete Lehre etwa als Grundlage aller menschlichen Vorstellungen
über das Leben genommen werde. Ich darf ja voraussetzen^ dass die
Geschichte vom Bathybius ziemlich allen Gebildeten bekannt ge-
worden ist. Mit dem Bathybius ist wieder einmal die Hoffnung in die
Tiefe versunken, dass die Generatio aequivoca sich nachweisen lasse.
Daher, meine ich, müssen wir in Bezug auf diesen ersten Punkt,
auf den Punkt von dem Zusammenhange des Organischen und des
Anorganischen, einfach bekennen, dass wir in der That nichts darüber
wissen. Wir dürfen unsere Vermuthung nicht als eine Zuversicht,
unser Problem nicht als einen Lehrsatz darstellen; das ist nicht zu-
lässig. Wie es im Gange der Evolutionstheorien viel sicherer, viel
fruchtbarer, viel mehr dem Fortschritte der beglaubigten Naturwissen-
schaft entsprechend gewesen ist, dass man Stück für Stück die ur-
sprüngliche einheitliche Doctrin zerlegt hat, so werden wir uns auch
daran machen müssen, in der alten bekannten analysirenden Weise
zunächst die organischen und die unorganischen Dinge auseinander zu
. halten und sie nicht vorzeitig zusammen zu werfen.
Nichts, meine Herren, ist in den Naturwissenschaften gefährlicher
— 22 —
gewesen, nichts hat ihre eigenen Fortschritte und ihre Stellung in der
Meinung der Völker mehr geschädigt, als die vorzeitige Synthese,
Indem ich dies hier betone, möchte ich darauf hinweisen, wie gerade
unser Vater Oken geschädigt worden ist in der Meinung nicht blos
seiner Zeitgenossen, sondern auch der nachfolgenden Generation,
weil er zu denen gehörte, die der Synthese in viel breiterer Weise
Zugang zu ihren Vorstellungen gestatteten, als eine strengere Methode
zugelassen haben würde. Meine Herren, lassen wir uns das Beispiel der
Naturphilosophen nicht verloren gehen; vergessen wir nicht, dass jedes-
mal, wenn sich vor den Augen Vieler das vollzieht, dass eine
Doctrin, welche sich als eine sichere, begründete, zuverlässige, als
eine auf Allgemeingültigkeit Anspruch machende dargestellt hat, sich
in ihren Grundzügen als eine fehlerhafte erweist, oder in wesent-
lichen, grossen Richtungen als eine willkürliche und despotische er-
funden wird, eine Menge von Menschen den Glauben an die Wissen-
schaft verliert. Da beginnen dann die Vorwürfe: ihr seid ja selbst
nicht sicher; eure Lehre, die heute Wahrheit heisst, ist morgen Lüge;
wie könnt ihr verlangen, dass eure Lehre Gegenstand des Unter-
richts und des allgemeinen Bewusstseins werde? Aus solchen Er-
fahrungen entnehme ich eben die Warnung, dass, wenn wir fortfahren
wollen, auf die Aufmerksamkeit Aller Anspruch zu machen, wir der
Versuchung Widerstand leisten müssen, unsere Vermuthungen, unsere
blos theoretischen und speculativen Gebäude so in den Vordergrund
zu schieben, dass wir von da aus die ganze übrige Weltanschauung
construiren wollen.
Wenn es richtig ist, was ich vorhin gesagt habe, dass das Halb-
wissen gewissermassen die Eigenschaft aller Naturforscher ist, dass
in vielen, ja vielleicht in den meisten der Nebenzweige ihrer eigenen
Wissenschaft auch die Naturforscher Halbwisser seien, wenn ich
dann gesagt habe, der wahre Naturforscher sei dadurch ausgezeichnet,
dass er sich über die Grenze seines Wissens und seines Nichtwissens
vollkommen klar sei, so sehen Sie wohl, meine Herren, werden wir
auch dem übrigen Publicum gegenüber unsere Ansprüche darauf be-
schränken müssen, zu verlangen, dass das, was jeder einzelne Forscher
in seiner Richtung, in seiner Disciplin als die zuverlässige und Allen
gemeinsame Wahrheit bezeichnen kann, in die allgemeine Lehre auf-
genommen werde.
Wir haben in dieser Umgrenzung unseres Wissens uns vor allen
Dingen zu erinnern, dass das, was man gewöhnlich die Naturwissen-
/->>
— 23 —
Schäften nennt, wie alles übrige Wissen auf der Welt, aus drei ganz
verschiedenen Stücken sich zusammensetzt. Gewöhnlich unterscheidet
man blos das objective und das subjective Wissen, indess wir
haben noch ein gewisses Mittelstück, nehmhch das des Glaubens,
der ja auch in der Wissenschaft existirt, nur dass er hier auf andere
Dinge angewendet wird, als der religiöse Glaube. Es ist meiner
Meinung nach etwas unglücklich, dass der Ausdruck Glaube so sehr
von der Kirche in Anspruch genommen worden ist, dass man ihn
kaum noch in nichtkirchlichen Dingen anwenden kann, ohne miss-
verstanden zu werden. Es giebt in der That auch in der Wissen-
schaft ein gewisses Gebiet des Glaubens, auf dem der Einzelne nicht
mehr die Beweise von der Wahrheit des Ueberlieferten aufnimmt,
sondern sich eben im Wege der blossen Tradition unterrichtet: das-
selbe, was wir in der Kirche haben. Umgekehrt möchte ich gleich
bemerken, — und meiner Auffassung ist auch von der Kirche nicht
widersprochen — , es ist nicht der Glaube allein, der in der Kirche,
gelehrt wird, sondern auch kirchliche Lehren haben ihre objective
und ihre subjective Seite. Keine Kirche kann sich dem entziehen,
in den drei bezeichneten Richtungen sich zu entwickeln: in dem
mittleren, allerdings sehr breiten Glaubenswege, neben dem auf der
einen Seite ein gewisses Quantum objectiver historischer Wahrheit
und auf der anderen Seite eine wechselnde Reihe subjectiver und
oft sehr phantastischer Vorstellungen liegt. Darin sind sich die
kirchlichen und wissenschaftlichen Lehren gleich. Das liegt darin,
dass der menschliche Geist eben ein einfacher ist und dass er die
Methode, die er auf einem Gebiete verfolgt, schliesslich auch auf die
übrigen überträgt. Man muss sich aber jeder Zeit darüber klar wer-
den, wie weit auf den einzelnen Gebieten jede der bezeichneten
Richtungen geht. So z. B. im kirchlichen Gebiete — es ist auf
diesem leichter darzustellen — haben wir das eigentliche Dogma,
den sogenannten positiven Glauben; darüber brauche ich nicht zu
sprechen. Jede Kirche hat aber auch ihre besondere historische
Seite. Sie sagt: das ist geschehen, das ist vorgekommen, das hat
sich ereignet. Diese historische Wahrheit wird nicht blos einfach
überliefert, sondern sie tritt in dem Kleide einer objectiven Wahrheit
mit bestimmten Beweisen auf. Das gilt für die christliche Religion
gerade so wie für die türkische, für die jüdische so gut wie für die
buddhistische. Daneben treffen wir auf der anderen Seite gewisser-
massen den linken Flügel, wo der Subjectivismus spielt; da träumt
— 24 -
der Einzelne, da kommen die Visionen, die Hallucinationen der In-
dividuen. Die eine Religion fördert dieselben durch besondere Arz-
neistofFe, die andere durch Fasten u. s. w. So entwickeln sich sub-
jective, individuelle Strömungen, die gelegentlich neben dem bis
dahin bestehenden kirchlichen Gebiete als ganz selbständige Erschei-
nungen auftreten, gelegentlich auch als häretisch abgestossen werden,
aber oft genug in den grossen Strom des anerkannten Kirchenr
Wesens einlenken. Alles dieses haben wir in den Naturwissenschaften
auch. Wir haben auch da den Strom des Dogmas, wir h^ben auch
da den Strom der objectiven und den der subjectiven Lehren. In
Folge dessen ist unsere Aufgabe eine zusammengesetzte. Wir be-
mühen uns zunächst immer, den dogmatischen Strom zu verkleinern.
Die Hauptaufgabe, welche die Wissenschaft seit Jahrhunderten ver-
folgt hat, ist die gewesen, die rechte, die conservative Seite immer
mehr zu stärken. Diese Seite, welche die sicheren Thatsachen
in sich aufnimmt mit dem vollen Bewusstsein der Beweise,
diese Seite, welche den Versuch als das höchste Beweis-
mittel festhält, diese Seite, welche im Besitze der eigentlicnen
wissenschaftlichen Schatzkammer ist, ist immer breiter und grösser
geworden, und zwar vorzugsweise auf Kosten des dogmatischen
Stromes. In der That, wenn wir nur die Fülle der Naturwissen-
schaften, die seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in Blüthe ge-
kommen sind, betrachten, so hat eine unglaubliche Revolution statt-
f
gefunden.
In keiner Wissenschaft ist das so sichtbar wie in der Medicin,
weil sie die einzige Wissenschaft ist, die in continuirlicher Weise
eine Geschichte von nahezu 3000 Jahren hat. Wir sind gewisser-
massen die Patriarchen der Wissenschaft, insofern, als wir am läng-
sten eben den dogmatischen Strom gehabt haben. Dieser war so
stark, dass in dem früheren Mittelalter sogar die katholische Kirche
ihn in ihr Bett mit aufnahm und dass der Heide Galen wie ein
Kirchenvater in der Vorstellung der Menschen erschien, ja, wenn wir
die früh mittelalterlichen Gedichte lesen, in der That oft genau in
der Stellung eines Kirchenvaters sich darstellt. Das medicinische
Dogma ist fortgegangen bis zur Zeit der Reformation. Gleichzeitig
mit Luther sind Vesal und Paracelsus gekommen und haben
die ersten grossen Reductionsversuche gemacht. Sie haben Pfähle
geschlagen in den dogmatischen Strom, haben ihn abgedämmt und
ihm nur ein kleines Fahrwasser gelassen. Vom 16. Jahrhundert an
— 25 —
ist er in jedem Jahrhundert immer enger und enger geworden, so
dass schliesslich nur noch ein ganz kleines Fahrwasser für die The-
rapeuten übrig geblieben ist. •
So geht die Herrlichkeit der Welt dahin.
Vor 30 Jahren noch sprach man von der hippokratischen Methode
als von etwas so Erhabenem und Bedeutungsvollem, dass gar nichts
HeiHgeres gedacht werden konnte. Heutzutage muss man sagen, dass
diese Methode beinahe bis auf ihre Wurzel vernichtet ist. Es gehört
wenigstens, ein starkes Stück von Ausschmückung dazu, um zu sagen,
dass ein heutiger Kliniker es noch macht, wie Hippokrates. Ja,
wenn man die Medicin von heute mit der Medicin von 1800 ver-
gleicht, — zufälligerweise bildet das Jahr 1800 einen ganz grossen
Wendepunkt für die Medicin, — so findet man, dass sich unsere
Wissenschaft im Laufe der letzten 70 Jahre gänzlich umgestaltet hat.
Damals bildete sich, unmittelbar unter dem Eindruck der französi-
schen Revolution, die grosse Pariser Schule, und man muss es dem
Genie unserer Nachbarn nachrühmen, dass sie im Stande gewesen
sind, auf einen Schlag die Grundlagen eines ganz neuen Wissens zu
finden. Wenn wir jetzt auch die Medicin in der grösseren Breite
des objectiven Wissens sich fortentwickeln sehen, so wollen wir nie-
mals vergessen, dass die Franzosen die Bahnbrecher gewesen sind,
wie es im Mittelalter die Deutschen waren.
An unserem eigenen Beispiele wollte ich Ihnen kurz zeigen, wie
sich die Methoden und der Wissensschatz umgestalten. Ich bin
überzeugt, dass in der Medicin am Schlüsse dieses Jahrhunderts schon
nur mehr eine Thonröhrenleitung übrig geblieben sein wird, durch
welche die letzten schwachen Wasser des dogmatischen Stromes sich
fortbewegen können, — eine Art von Drainage. Im Uebrigen wird
wahrscheinlich der objective Strom den dogmatischen ganz und gar
aufgenommen haben.
Vielleicht bleibt noch der subjective daneben bestehen. Vielleicht
träumt auch dann noch mancher Einzelne seine schönen Träume
aus. Das Gebiet der objectiven Thatsachen in der Medicin, ein so
grosses es auch geworden ist, hat doch noch so viele Nebengebiete
übrig gelassen, dass für Jemanden, der speculiren will, eine Fülle
von Gelegenheiten täglich sich darbietet Diese Fülle wird auch
redlich benutzt. Eine Menge von Büchern würden ungeschrieben
bleiben, wenn nur objective Dinge mitgetheilt werden sollten. Aber
das subjetive Bedürfniss ist noch so gross, dass ich glaube behaupten
— 26 —
zu können, von unserer heutigen medicinischen Literatur könnte
immer noch die Hälfte ausbleiben, ohne dass für die objective Seite
dadurch ein Nachtheil entstünde.
Wenn wir nun lehren, dann, meine ich, dürfen wir diese sub-
jective Seite nicht als einen wesentlichen Gegenstand der Doctrin
betrachten. Ich gehöre jetzt so ziemlich zu den ältesten Professoren
der Medicin, ich lehre nun mehr als 30 Jahre meine Wissenschaft
und ich darf sagen, ich habe in diesen 30 Jahren ehrlich an mir ge-
arbeitet, um immer mehr von dem subjectiven Wesen abzuthun und
mich immer mehr in das objective Fahrwasser zu bringen. Nichts
desto weniger bekenne ich offen, dass es mir nicht möglich ist, mich
ganz zu entsubjectiviren. Mit jedem Jahre sehe ich immer wieder
von Neuem, dass ich selbst an solchen Stellen, wo ich geglaubt
hatte, schon ganz objectiv zu sein, immer noch ein grosses Stück
subjectiver Vorstellungen bewahrt habe. Ich gehe nun nicht so weit,
die unmenschliche Forderung zu stellen, dass Jemand überhaupt ohne
irgend eine subjective Ader sich äussern solle, aber ich sage, wir
müssen ims die Aufgabe stellen, in erster Linie das eigentlich that-
sächliche Wissen zu überliefern, und wir müssen den Lernenden
jedesmal sagen, wenn wir weiter gehen: »dieses ist aber nicht be-
wiesen, sondern das ist meine Meinung, meine Vorstellung, meine
Theorie, meine Speculation«.
Das können wir aber nur bei schon Entwickelten, bei schon
Gebildeten. Wir können nicht dieselbe Methode in die Volksschule
übertragen, wir können nicht jedem Bauernjungen sagen: »das ist
thatsächlich, das weiss man und das vermuthet man nur«. Im Gegen-
theil, das, was man weiss, und das, was man nur vermuthet, mengt
sich in der Regel so sehr in ein einziges Gebilde zusammen, dass
das, was man vermuthet, als die Hauptsache, und das, was man
weiss, als die Nebensache erscheint. Um so mehr haben wir, die
wir die Wissenschaft tragen, wir, die wir in der Wissenschaft leben,
die Aufgabe, dass wir uns enthalten, in die Köpfe der Menschen,
und ich will es hier besonders betonen, in die Köpfe der Schullehrer
dasjenige hineinzutragen, was wir bloss vermuthen. Freilich, wir
können nicht die Thatsachen ganz bloss als Rohmaterial übergeben,
das geht nicht. Sie müssen in eine gewisse Ordnung gebracht werden.
Aber wir dürfen diese Ordnung nicht ausdehnen über das unerläss-
lich Nothwendige hinaus.
Das ist ein Vorwurf, den ich z. B. auch Herrn Naegeli mache.
— 27 —
Herr Naegeli hat gewiss in der gemessensten Weise, und — Sie
werden es sehen, wenn Sie seinen Vortrag lesen, — in durchaus
philosophischer Weise die schwierigen Fragen erörtert, die er sich
zum Gegenstande seines Vortrages gewählt hatte. Nichts desto-
weniger hat er einen Schritt gethan, den ich für ungemein gefährlich
halte. Er hat nämlich in einer anderen Richtung dasselbe gethan,
was die Generatio aequivoca leistet. Er verlangt, dass das geistige
Gebiet nicht blos von den Thieren auf die Pflanzen ausgedehnt
werde, sondern dass wir schliesslich sogar aus der organischen in
die unorganische Welt herübergehen mit unseren Vorstellungen über
die Natur der geistigen Vorgänge. Diese Methode des Denkens, die
durch grosse Philosophen repräsentirt wird, ist an sich natürlich.
Wenn Jemand durchaus das geistige Geschehen in Zusammenhang
mit den Vorgängen der übrigen Welt bringen will, so kommt er
nothwendig dahin, dass er zuerst die psychischen Erscheinungen, wie
sie sich bei dem Menschen und den höchst organisirten WirbeU
thieren finden, auf die niederen und immer niedrigeren Thiere über-
trägt; sodann bekommt auch die Pflanze ihre Seele; weiterhin
empfindet und denkt die Zelle, und endlich finden sich die Ueber-
gänge bis zu den chemischen Atomen, die einander hassen oder
lieben, die sich suchen oder auseinanderfliehen. Das ist Alles sehr
schön und vortrefflich und mag schliesslich auch wahr sein. Es
kann sein. Aber haben wir denn wirklich das Bedürfniss, liegt
irgend ein positives, wissenschaftliches Bedürfniss vor, das Gebiet
der geistigen Vorgänge über den Kreis derjenigen Körper hinaus
auszudehnen, in und an denen wir sie sich wirklich darstellen sehen?
Ich habe nichts dagegen, dass Kohlenstoffatome auch Geist haben,
oder dass sie Geist in der Verbindung mit der Plastidul-Genossen-
schaft bekommen, allein ich weiss nicht, an was ich das er-
kennen soll. Es ist ein blosses Spiel mit Worten. Wenn ich An-
ziehung und Abstossung für geistige Erscheinungen, für psychische
Phaenomene erkläre, dann werfe ich einfach die Psyche zum Fenster
hinaus, dann hört die Psyche auf, Psyche zu sein. Man mag zuletzt
die Vorgänge des menschlichen Geistes chemisch erklären, aber zu-
nächst haben wir doch nicht die Aufgabe, meine ich, diese Gebiete
durcheinander zu bringen. Wir haben vielmehr die Aufgabe, sie
stricte da festzuhalten, wo wir sie eben erkennen. Und wie ich
immer Werth darauf gelegt habe, dass man nicht in erster Linie die
Uebergänge des Unorganischen in's Organische aufsuche, sondern
— 28 —
zuerst den Gegensatz des Unorganischen und Organischen fixire
und in diesem Gegensatze seine Studien mache, so behaupte ich
auch, dass es einzig förderlich ist, und ich habe die festeste Ueber-
zeugung, dass wir gar nicht weiterkommen, wenn wir nicht das Ge-
biet der geistigen Vorgänge fixiren da, wo uns wirklich geistige Er-
scheinungen entgegentreten, und dass wir nicht geistige Erscheinungen
vermuthen, wo sie vielleicht vorhanden sein können, wo wir
aber gar keine sichtbaren, hörbaren, fühlbaren, überhaupt erkenn-
baren Erscheinungen wahrnehmen, die als geistige bezeichnet werden
könnten. Für uns ist zweifellos die ganze Summe psychischer Er-
scheinungen an bestimmte Thiere, nicht an die Gesammtheit aller
organischen Wesen, ja nicht einmal an alle Thiere überhaupt ge-
knüpft, das behaupte ich ohne Anstand. Wir haben keinen Grund,
jetzt schon davon zu sprechen, dass die niedrigsten Thiere psychische
Eigenschaften besässen; wir finden dieselben nur bei den höheren
und ganz sicher nur bei den höchsten.
Nun will ich ja gerne zugestehen, dass man gewisse Gradationen,
gewisse allmähliche Uebergänge, gewisse Punkte finden kann, wo
man von geistigen Vorgängen auf Vorgänge blos physischer oder
physikalischer Natur kommt. Ich spreche durchaus nicht etwa den
Satz aus, dass es niemals möglich sein werde, die psychischen Vor-
gänge mit physischen in einen unmittelbaren Zusammenhang zu
bringen. Nur sage ich, wir haben gegenwärtig keine Berechtigung,
diesen möglichen Zusammenhang als einen wissenschaftlichen
Lehrsatz aufzustellen, und ich muss entschieden Einspruch da-
gegen thun, dass man in dieser Weise eine vorzeitige Erweiterung
unserer Doctrinen sucht, und dass man das, was schon so oft als
ein vergebliches Problem sich erwiesen hat, immer wieder von Neuem
in den Vordergrund der Darstellung bringt. Wir müssen strenge
unterscheiden zwischen dem, was wir lehren wollen, und dem, wo-
nach wir forschen wollen. Das, wonach wir forschen, das sind
Probleme. Wir brauchen dieselben nicht für uns zu behalten; wir
können sie aller Welt mittheilen und sagen, das Problem ist da,
dem streben wir nach, wie Columbus, welcher, als er auszog, um
Indien zu entdecken, daraus kein absolutes Geheimniss machte,
welcher aber schliesslich nicht Indien, sondern Amerika fand. So
ergeht es auch uns nicht selten. Wir ziehen aus, um bestimmte
Probleme, die wir als sicher voraussetzen^ zu beweisen, und am
Ende finden wir etwas ganz Anderes, worauf wir nicht gefasst waren.
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Die Forschung nach solchen Problemen, an denen sich die ganze
Nation interessiren mag, darf Keinem verschränkt sein. Das ist die
Freiheit der Forschung. Aber das Problem soll nicht ohne
Weiteres Gegenstand der Lehre sein. Wenn wir lehren, so müssen
wir uns an jene kleineren und doch schon so grossen Gebiete halten,
die wir wirklich beherrschen.
Meine Herren 1 Mit einer solchen Resignation, die wir uns selbst
auferlegen, die wir gegenüber der übrigen Welt üben, bin ich über-
zeugt, werden wir allein im Stande sein, den Kampf gegen unsere
Widersacher zu führen und siegreich zu führen. Jeder Versuch, unsere
Probleme zu Lehrsätzen umzubilden, unsere Vermuthungen als die
Grundlagen des Unterrichtes einzuführen, der Versuch insbesondere,
die Kirche einfach zu depossediren und ihr Dogma ohne Weiteres
durch eine Descendenzreligion zu ersetzen, ja, meine Herren, dieser
Versuch muss scheitern und er wird in seinem Scheitern zugleich die
höchsten Gefahren für die Stellung der Wissenschaft überhaupt mit
sich bringen.
Darum, meine Herren, massigen wir uns, üben wir die Resig-
nation, dass wir auch die theuersten Probleme, die wir aufstellen,
doch immer nur als Probleme geben, dass wir es hundert und
hundertmal sagen: haltet das nicht für feststehende Wahrheit, seid
darauf vorbereitet, dass es vielleicht anders werde; nur für den
Augenblick haben wir die Meinung, es könnte so sein.
Ich will zur Erläuterung noch ein Beispiel hinzufügen. Es wird
im Augenblicke wenige Naturforscher geben, die nicht der Meinung
sind, dass der Mensch mit dem übrigen Thierreiche im Zusammen-
hange steht, und dass, wenn auch nicht mit dem Affen, so doch
vielleicht an anderer Stelle, wie auch Herr Vogt jetzt annimmt, ein
Zusammenhang möglicher Weise sich finden lassen werde.
Ich erkenne offen an, es ist das ein Desiderat der Wissenschaft.
Ich bin ganz vorbereitet darauf, und ich würde mich keinen Augen-
blick weder wundern noch entsetzen, wenn der Nachweis geliefert
würde, dass der Mensch Vorfahren unter anderen Wirbelthieren hat.
Sie wissen, ich treibe gerade Anthropologie gegenwärtig mit Vorliebe,
aber ich muss doch erklären: jeder positive Fortschritt, den wir in
dem Gebiete der prähistorischen Anthropologie gemacht haben, hat
uns eigentlich von dem Nachweise dieses Zusammenhanges mehr
entfernt. Die Anthropologie studirt in diesem Augenblicke die Frage
des fossilen Menschen. Von dem Menschen der gegenwärtigen
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„Schöpfungsperiode" sind wir in die quaternäre Zeit gekommen, in jene
Zeit, für die noch Cuvier mit der grössten Bestimmtheit behauptete,
dass der Mensch damals überhaupt noch nicht existirt habe. Heut-
zutage ist der quaternäre Mensch eine allgemein acceptirte Thatsache.
Der quaternäre Mensch ist nicht mehr ein Problem, sondern ein
wirklicher Lehrsatz. Der tertiäre Mensch dagegen ist ein Problem,
freilich ein Problem, welches schon in materieller Discussion ist. Es
giebt schon Objecte, an denen man darüber streitet, ob sie als Be-
weise für die Existenz des Menschen in der Tertiärzeit zuzulassen
seien. Wir machen nicht mehr blos Speculationen darüber, sondern
wir disputiren an bestimmten Dingen, ob sie als Zeugen der Thätigi
keit des Menschen in der Tertiärzeit anerkannt werden können. Je
nachdem man diese objectiven materiellen Beweisstücke für aus-
reichend hält oder nicht, beantwortet man die aufgeworfene Frage
verschieden. Selbst entschieden kirchliche Männer, wie Abbe!
-Bourgeois, sind überzeugt, dass der Mensch die Tertiärzeit erlebt
hat; der tertiäre Mensch ist für sie schon ein wirklicher Lehrsatz.
Für uns etwas mehr kritische Naturen ist der tertiäre Mensch blos
i^och Problem, aber wir müssen es anerkennen, ein discussionsfähiges
Problem. Bleiben wir daher vorläufig bei dem quaternären Menschen
stehen, den wir wirklich finden. Wenn wir diesen quaternären, fossilen
Menschen, der doch unseren Urahnen in der Descendenz- oder
eigentlich in der Ascendenzreihe näher stehen müsste, studiren, so
finden wir immer wieder einen Menschen, wie wir es auch sind.
Noch vor zehn Jahren, wenn man etwa einen Schädel im Torfe
fand oder in Pfahlbauten oder in alten Höhlen, glaubte man,
wunderbare Merkmale eines wilden, noch ganz unentwickelten
Zustandes an ihm zu sehen. Man witterte eben Affenluft.
Allein das hat sich allmählich immer mehr verloren. Die alten
Troglodyten, Pfahlbauern und Torfleute erweisen sich als eine ganz
respectable Gesellschaft. Sie haben Köpfe von solcher Grösse, dass
wohl mancher Lebende sich glückhch preisen würde, einen ähnlichen
zu besitzen. Unsere französischen Nachbarn haben freilich davor
gewarnt, dass man ja nicht aus diesen grossen Köpfen zu viel
schliessen möchte; es könnte ja sein, dass in denselben nicht bloss
Nervensubstanz gewesen sei, sondern dass die alten Gehirne mehr
Zwischengewebe gehabt hätten, als jetzt gebräuchlich ist, und dass
ihre Nervensubstanz trotz der Grösse des Gehirns auf einem niederen
Standpunkt der Entwicklung geblieben sei. Indess ist das nur eine
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freundschaftliche Unterhaltung, die einigermassen zur Stütze schwacher
Gemüther geführt wird. Im Ganzen müssen wir wirklich anerkennen,
es fehlt jeder fossile Typus einer niederen menschlichen Entwicke-
lung. Ja, wenn wir die Summe der bis jetzt bekannten fossilen
Menschen zusammennehmen und sie parallel stellen dem, was die Jetzt-
zeit darbietet, so können wir entschieden behaupten, dass unter den
lebenden Menschen eine viel grössere Zahl relativ niedrigstehender
Individuen vorhanden ist, als unter den bis jetzt bekannten fossilen. Ob
gerade die höchsten Genies der Quaternärzeit das Glück gehabt haben,
uns erhalten zu werden, das wage ich nicht zu vermuthen. Gewöhnlich
schliesst man aus der Beschaffenheit eines einzelnen fossilen Objects auf
die Mehrzahl der anderen, nicht gefundenen. Ich will das jedoch nicht
thun. Ich will nicht behaupten, dass die ganze Rasse so gut war, wie die
paar Schädel, die übrig geblieben sind. Aber ich muss sagen: irgend
ein fossiler Affenschädel oder Affen menschen schädel, der wirklich einem
menschlichen Besitzer angehört haben könnte, ist noch nie gefunden
worden. Jeder Zuwachs, welchen wir in dem materiellen Bestände
der zu discutirenden Objecte gewonnen haben, hat uns von dem ge-
stellten Probleme weiter entfernt. Nun kann man sich allerdings der
Betrachtung nicht entziehen, es sei vielleicht eine ganz besondere
Stelle auf der Erde, wo die tertiären . Menschen gelebt haben. Das
wäre ebenso gut möglich, wie man in den letzten Jahren in Nordamerika
jene merkwürdige Entdeckung gemacht hat, dass die fossilen Vor-
fahren unserer Pferde in Gegenden vorkommen, wo das Pferd seit
langer Zeit ganz und gar verschwunden ist. Als Amerika entdeckt
wurde, war es überhaupt pferdelos; an der Stelle, wo die Vorfahren
unserer Pferde gelebt haben, war kein lebendes Pferd mehr vor-
handen. So kann es auch sein, dass der tertiäre Mensch in Grön-
land oder Lemurien existirt hat und noch irgendwo aus der Tiefe
wieder zu Tage gebracht wird. Allein thatsächlich , positiv müssen
wir anerkennen, dass noch immer eine scharfe Grenzlinie zwischen
dem Menschen und dem Affen besteht. Wir können nicht lehren,
wir können es nicht als eine Errungenschaft der Wissen-
schaft bezeichnen, dass der Mensch vom Affen oder von
irgend einem anderen Thiere abstamme. Wir können das
nur als ein Problem bezeichnen, es mag noch so wahrscheinlich er-
scheinen und noch so nahe liegen.
Durch die Erfahrungen der Vergangenheit sollten wir hinreichend
gewarnt sein, dass wir nicht unnöthiger Weise zu einer Zeit, wo wir
1
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nicht berechtigt sind, Schlüsse zu ziehen , uns die Verpflichtung auf-
erlegen oder der Versuchung erliegen, dies doch zu thun. Sehen Sie,
meine Herren, darin liegt die Schwierigkeit für jeden Naturforscher,
der in die Aussenwelt hineinspricht. Wer fiir die Oeflfentlichkeit spricht
oder schreibt, der, meine ich, müsste sich gerade jetzt doppelt prüfen,
wie viel von dem, was er weiss und sagt, objectiv wahr ist. Er müsste
sich möglichst bemühen, alle nur inductiven Erweiterungen, die er
macht, alle weitergehenden Schlüsse nach Gesetzen der Analogie, sie
mögen noch so naheliegend erscheinen, mit kleinen Lettern unter dem
Texte drucken zu lassen, und in den Text eben nur das zu setzen,
was wirklich objective Wahrheit ist. Dann, meine Herren, könnten
wir wohl dahin kommen, dass wir einen immer grösseren Kreis von
Anhängern gewinnen, dass wir eine immer grössere Zahl von Mit-
arbeitern bekommen, dass das gebildete Publikum in der fruchtbaren
Weise, wie das auf vielen Gebieten schon geschehen ist, sich auch
ferner betheiligt. Anders, meine Herren, fürchte ich, dass wir unsere
Macht überschätzen. Allerdings, der alte Baco hat mit Recht ge-
sagt: scientia est potentia. Wissen ist Macht, Aber er hat auch das
Wissen definirt, und das Wissen, das er meinte, war nicht das specu-
lative Wissen, nicht das Wissen der Probleme, sondern das war das
objective, das thatsächliche Wissen. Meine Herren! Ich meine, wir
würden unsere Macht missbrauchen, wir würden unsere Macht ge-
fährden, wenn wir uns im Lehren nicht auf dieses vollkommen be
rechtigte, vojlkommen sichere, unangreifbare Gebiet zurückziehen.
Von diesem Gebiete aus mögen wir als Forscher unsere Vorstösse in der
Richtung der Probleme machen, und ich bin sicher, jeder Versuch
dieser Art wird dann die nöthige Sicherheit und Unterstützung finden.
Herlin, Druck von W. Hiixenstein.
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