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Full text of "Die geologischen grundlagen der abstammungslehre"

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: GUSTAV STEINMAN 2 
DIE GEOLOGI ISCHEN GRUNDLAGEN 


| ABSTAMMUNGSLEHRE | 


Leipzig N BE 
Milben Engelmann 0° 


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381g DIE 
GEOLOGISCHEN GRUNDLAGEN 


DER 


ABSTAMMUNGSLEHRE 


MIT 172 TEXTFIGUREN 


LEIPZIG 
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 
1908 


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Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten. 


HRBMS 


vom 


7 


GIFT 


197975 


DEM ANDENKEN 


LAMARCKS 


„Les races des eorps vivants subsistent 
toutes malgr& leurs variations“ 


Vorwort. 


Diese Schrift ist ein Versuch, den Entwicklungsgang der or- 
ganischen Welt, soweit er historisch belegt ist, mechanisch begreif- 
lich zu machen, und zwar nicht aus dem fertigen Zustande der 
heutigen Schöpfung, sondern aus ihrer Geschichte. Wie nützlich 
und notwendig ein solches Unternehmen ist, brauche ich nicht zu 
begründen; vielleicht wird aber der Leser wissen mögen, wieso ich 
dazu gekommen bin, an eine solch schwierige Aufgabe heranzutreten, 
und warum ich nicht davon abgelassen habe, als sich herausstellte, 
daß die Ergebnisse den heute allgemein gültigen Auffassungen in 
vielen, ja in den meisten Punkten zuwiderlaufen. 

Als Jünger der Naturgeschichte ist mir, wie vielen anderen, die 
Abstammungslehre, wie sie sich in den 60er und “0er Jahren des 
verflossenen Jahrhunderts herausgebildet hatte, als die bedeutsamste 
Errungenschaft der modernen Naturforschung erschienen. Denn 
wen könnte eine Theorie, die den Schlüssel liefert für das Werden 
und Wandeln der belebten Natur im Laufe der Zeit, inniger be- 
rühren, als den Historiker, der sein nächstes Ziel in der Feststellung 
und Verknüpfung der geschichtlichen Tatsachen, sein letztes im Be- 
greifen des Ganges der Geschichte sieht. War die Theorie der Ab- 
stammung richtig, und trafen ihre grundlegenden Erklärungsversuche 
wirklich zu, so mußte jede gut beglaubigte geschichtliche Tatsache, 
wie viel mehr eine Reihe geschichtlich verknüpfter Erscheinungen, 
sich ohne weiteres als ein bedingtes Glied in der Gesamtentwick- 
lung begreifen lassen. Jede Erweiterung des historischen Stoffes 
hätte die Richtigkeit der Lehre von neuem erweisen, ihre Erklä- 
rungen bestätigen und das Gesamtbild harmonisch ergänzen müssen. 
Diese berechtigten Anforderungen hat die Abstammungslehre aber 
gerade nicht erfüllen können. Zwar hat das stetig anwachsende 
fossile Material in vielen Einzelfällen zwingende Belege für die 
Unentbehrlichkeit dieser Lehre gezeitigt, in jeder anderen Beziehung 
aber nur große Enttäuschungen gebracht. Die Zusammenhänge im 
großen sind nicht klarer geworden, der gesamte Entwicklungsgang 


Al Vorwort. 


ist verschleiert geblieben, und alles Bemühen, ihn mit Hilfe der 
Entwicklungslehre aufzuklären, hat die vorhandenen Probleme nur 
verschärft. 

Als es mir vor etwa 20 Jahren klar zum Bewußtsein kam, daß 
die herrschende Abstammungslehre das ungeordnete Mosaik des his- 
torischen Stoffes nicht zu einem einheitlichen Bilde vereinigen könne, 
stand ich vor der Wahl, entweder auf ein Begreifen der Naturge- 
schichte überhaupt zu verzichten oder neue Wege zu suchen, um 
zu diesem Ziele zu gelangen. In dem historischen Stoffe selbst glaubte 
ich den leitenden Faden zu finden. Meine ersten Versuche gingen 
dahin, dem Entwicklungsgange der Mollusken die Gesetzmäßigkeiten 
zu entnehmen, die ihre phylogenetische Entwicklung beherrschen; 
sie führten zwar zu einem befriedigenden Verständnis des Gesamt- 
vorgangs, aber Methode wie Ergebnis standen unverhüllt im 
Gegensatz zu den gebräuchlichen Forschungen und zu den heutigen 
Lehrmeinungen. Kein Wunder, daß dieser Weg von anderen For- 
schern nicht befolgt wurde. Nach dem gleichen Grundsatze dehnte 
ich die Prüfung von den Mollusken auf andere Abteilungen des 
Tierreichs und auf das Pflanzenreich aus, und dabei erhielt ich 
immer wieder ein Ergebnis, das dem historischen Stoff ebenso sehr 
gerecht wurde, wie es den üblichen Auffassungen widersprach. So 
hielt ich es vor 9 Jahren für angezeigt, die Bedeutung meiner ab- 
weichenden Methode und Auffassung für das Verständnis der Ge- 
samtentwicklung der Natur programmatisch zum Ausdruck zu bringen, 
und dabei versuchte ich zu zeigen, auf welchem Wege die Probleme 
der Abstammungslehre beseitigt werden könnten. Der Fehler konnte 
nach meiner Ansicht nur in der Art und Weise liegen, wie wir die 
Natur deuten; denn sie ist immer wahr, immer einfach und auch stets 
klar, wo wir in ihr lesen und aus ihr allein die Gesetze ableiten. 
Nur wo wir rein menschliche Begriffe in sie hineintragen und ihr 
Wirken in Gesetze bannen wollen, die wir auf sie übertragen statt 
sie ihr zu entnehmen, erscheint sie dunkel und unklar. Das ist freilich 
nicht der Grundsatz der heutigen Naturphilosophie, die ohne teleo- 
logische und vitalistische Erklärungen nicht auskommen kann, oder 
die zum Schutze ihres Lieblingskindes, der Selektionstheorie, heute 
noch erklärt: »Naturgesetze werden nicht durch Induktion, sondern 
durch Deduktion gewonnen.« (PLATr.) 

Begreiflicherweise decken sich meine Ergebnisse in den Einzel- 
heiten vielfach mit denen älterer und neuerer Forscher, besonders 
mit solchen, die die Natur wesentlich aus ihrer Geschichte verstehen 
wollen. Wenn ich aber nach Anknüpfungspunkten für gewisse 


Vorwort. VII 


grundlegende Vorstellungen vom gesamten Entwicklungsgange der 
Natur suchte, die ich aus ihrer Geschichte gewonnen hatte, so mußte 
ich in vordarwinsche Zeiten zurückgreifen, ja für manche hoch- 
wichtige Fragen entdeckte ich einen Mitklang nur in den Geistes- 
erzeugnissen des 18. und des Anfanges des 19. Jahrhunderts, besonders 
in den Schriften LamArcks und GOFTHzEs. Mit staunender Bewunde- 
rung fand ich bei ihnen vieles klar und bestimmt ausgesprochen, — 
von der Mit- und Nachwelt unverstanden und vergessen — was ich 
mit Mühe aus der reichen Fülle unseres heutigen Wissens als wich- 
tigstes Ergebnis herausgelesen hatte. So darf man mir wohl eher 
den Reaktionär vorwerfen als den Neuerer, wie es Kritiker tun, für 
die die Wissenschaft nur von heute oder gestern datiert. 

Das Buch ist einerseits kritisch und reißt Bestehendes ein, 
andererseits will es Neues aufbauen. Ich habe mich bemüht, die 
Bausteine hierzu aus dem Pflanzenreiche und aus den verschiedensten 
Teilen des Tierreichs zu entnehmen, um zu zeigen, daß die abweichende 
Auffassung, die ich vertrete, nicht einseitig gewonnen ist und nicht 
nur für eine oder für einige Organismengruppen, sondern für die 
ganze Schöpfung zutrifit. Wer sie für die Pflanzen zugibt, kann sie 
nicht für die Korallen oder Mollusken verwerfen, und wem sie für 
diese zutreffend erscheint, muß sie wohl oder übel auch für die 
Wirbeltiere zugestehen. Nur in dieser umfassenden Allgemeinheit 
kann sie einen Fortschritt bedeuten, nur so gestattet sie, die Ge- 
schichte der belebten Natur als einen gesetzmäßigen- Vorgang zu 
begreifen. 

Jeder Versuch, die Formen der Natur nach neuen Gesichts- 
punkten um- und zusammenzustellen, begegnet : naturgemäß großen 
Schwierigkeiten; vielfach reicht die Literatur dafür nicht aus, da 
gewissen Merkmalen, die für die neu gefundenen Beziehungen von 
Bedeutung werden, oft nicht die gebührende Aufmerksamkeit ge- 
schenkt ist, und diese daher am ÖOriginalmaterial herausgesucht 
werden müssen. Möglichst umfangreiche und gut geordnete Samm- 
lungen und reiche literarische Hilfsmittel sind hierfür erforder- 
lich. Leider ist mir — wie ersprießlich dies auch für meine 
Forschungen gewesen wäre — seit meiner Dozentenzeit nie mehr 
das Glück zuteil geworden, solche Hilfsmittel dauernd benützen zu 
können, und ich habe daher die Lücken nur durch gelegentliche 
Besuche in größeren Sammlungen notdürftig ausfüllen können. Mit 
dieser Unvollkommenheit des Handwerkszeuges möge der Leser die 
unzutreffenden Angaben entschuldigen, die wohl gelegentlich unter- 
gelaufen sind, wie sehr ich auch bemüht war, sie zu vermeiden. Ich 


VIII Vorwort. 


habe daher auch lange gezögert, bis ich mich entschloß, der program- 
matischen Ankündigung eine Ergänzung in meiner »Einführung in die 
Paläontologie« und jetzt diese Schrift folgen zu lassen. Aber wie 
mir die Anklänge an meine Resultate in den Schriften älterer 
Forscher die Überzeugung festigten, daß ich auf dem richtigen Wege 
sei, so hat mich auch ein Ausspruch LAmArcks im Gefühl meiner 
wissenschaftlichen Verantwortlichkeit bestärkt: »Quand on reconnait 
qu’une chose est utile et qu’elle n’a pas d’inconvenient, on doit se 
häter de l’ex&cuter, quoiqu’elle soit contraire A l’usage.« 


Bonn, Ende Februar 1908. 


G. Steinmann. 


Inhaltsverzeichnis. 


- Seite 

Ayaks Binkührung va SR Se a een 1 

IeEhistorischer Überblick. Ss u. 0 ul Dı. ve se 4 

Il) re Probleme smart. u N u NL N een an: 20 
1. Das Aussterben der Arten und das Verschwinden großer Gruppen 

yon“ Nierentundsbllanzen ar um rap ne Den 20 

Vierarmungeder#lierwelt te. 2 2 no 32 

Der Mensch als Vernichter der Tierwelt .. ........ 40 


2. Das unvermittelte Erscheinen der Tier- und Pflanzengruppen. . 47 
3. Das Fehlen von Übergangsgliedern zwischen den größeren Abtei- 


Iunsensdesskier undwktlanzenreichn en. ns a, 50 

4. Die Unverständlichkeit des ganzen Entwicklungsganges ..... 53 
iiselershusworsische:; Stoff... cr cu u ee een 57 
INZennerkiartwebilde.. mn... meh ee Da 66 
V. Die Methoden der phylogenetischen Forschung. ..... 86 
MIzDre Schyzodenten. (LrisoniensundsUnionen) a... 2.0.0.0... 99 
Imrb)iemVzeränderlichkeit 1... Sa Aa Le ek NG 

24 EroplemerderMiergeographie, u. ur. Aue „Diem. 118 

VI. Zur Stammesgeschichte der Tier- und Pflanzenwelt ... 119 
NeD)rerBilanzenweltsim allgemeinen. um... 0... nu 120 

B. Sphragidophylla (Sigillarien und Cacteen)...... 22.2... 130 

C. Zur Stammesgeschichte der Wirbellosen .. ......... 141 

31 1 O1 kann Na a EU N a en 142 
2E3IPONSTENIER ER Eu N a N 143 

3.4 Bharetronens as a a a Salt, 144 
Alichinodermenu a a u a ne Leer 147 

53 brachiopoden, ea Su a m en 159 

6.9 Zweischalert. a na NEE Eh, ED 162 
XaManteltieres ars ne ee een. 174 

SPAmm OnIbenEs N en RE ne een 187 

I Nautiloideenrsv. nal a a 192 
OFArthropodengar N va IR SI En 196 

D. Zur Stammesgeschichte der Wirbeltiere . ... 2.2.22 2.. 203 

Dep ische ne ae a U era lee ee 203 

ZN erbüßlere le N ee 206 

O1, Warınblutersens ap es a ae. NL een u 211 

Am VogelGundn Sauger year ln ee Me 217 

DV OS ER ENRIIN SRH SEEN ES NS Nansien SRRRRURENERE EURER UT CME 221 

GUSaAUSEr ee 3 N ie 231 

a WeräMenschu ins. ee a ns) 265 


Zur Einführung. 


Die Naturbeschreibung ist lange nicht hinreichend, 
von der Mannigfaltigkeit der Abartungen Grund an- 
zugeben. Man muß, so sehr man auch, und das mit 
Recht, der Frechheit der Meinungen Feind ist, eine 
Geschichte der Natur wagen, welche eine abge- 
sonderte Wissenschaft ist, die wohl nach und nach 
von Meinunsen zu Einsichten fortrücken könnte. 


(Kant, von den verschiedenen Rassen 
der Menschen; zur Ankündigung der 
Vorlesungen im Sommerhalbjahr 1775.) 


Mit diesen Worten hat Kant im Jahre 1775 den Weg vor- 
gezeichnet, der allein zum vollen Verständnis der belebten Natur führt: 
die Naturgeschichte. Auf sie stützte sich auch schon LAMmArck, 
als er vor nahezu einem Jahrhundert in seiner Philosophie zoologique 
den Grundstein zur heutigen Abstammungslehre legte. Aber die 
Entwicklungslehre, wie sie vor fast einem halben Jahrhundert durch 
Darwın ihre Wiedergeburt erlebt hat, ist in ihrer modernen Form 
vorwiegend unhistorisch. Sie hat zwar die Forschungsmethoden aller 
Wissenschaften, die sich mit der belebten Welt befassen, unter ihr 
Szepter gezwungen und beherrscht heute das naturwissenschaftliche 
Denken fast vollständig. Selbst die kirchlichen Kreise haben sich 
mit ihr abgefunden und lassen sie auch für den Menschen, wenigstens 
für seine physische Seite, gelten. Und doch wird die Wissenschaft 
des errungenen Erfolges nicht recht froh. Nur einige unverbesser- 
liche und wenig kritisch veranlagte Optimisten verkünden unentwegt, 
wie herrlich weit wir es gebracht haben; sonst herrscht vielfach in 
wissenschaftlichen wie in Laienkreisen das Gefühl der Unsicherheit 
und des Zweifels. Nicht als ob die Richtigkeit des Deszendenz- 
prinzips ernstlich in Frage gestellt würde, vielmehr festigt sich die 
Überzeugung stetig mehr, daß es für das Verständnis der lebenden 
Natur unentbehrlich, ja selbstverständlich ist. Aber so offenkundig 
wie im letzten Jahrzehnt ist es vorher nie hervorgetreten, wie wenig 
allgemein Anerkanntes im dieser Lehre besteht, sobald die nächst- 
liegenden Fragen nach dem Gange der Entwicklung und seinen 
treibenden Ursachen aufgeworfen werden. Einfache und befriedigende 
Antworten kann niemand darauf erteilen. Fragt etwa jemand danach, 
auf welchem Wege denn wohl die normalen, d. h. plazentalen Säuge- 
tiere aus niederen Vierfüßlern hervorgegangen sind, so wird er belehrt, 


Steinmann, Abstammungslehre. 1 


2 Einführung. 


daß die einen Forscher sie über die Beuteltiere von den Reptilien, 
andere sie unmittelbar von gewissen permischen Reptilien ableiten, 
wieder andere ihren Ursprung in die allerältesten Zeiten zurück- 
verlegen und sie aus gänzlich unbekannten Vorfahren hervorgehen 
lassen. Oder möchte jemand wissen, warum die vielen merk- 
würdigen Tier- und Pflanzenformen der Vorzeit nicht mehr leben, 
durch welche Ursachen sie dem Untergange zugeführt worden sind, 
so wird er alles andere denn eine klare und unzweideutige Antwort 
erhalten. Wer wagte es heute, etwas anderes als die persönliche 
Auffassung der einzelnen Forscher wiederzugeben, wenn er über die 
Erblichkeit erworbener Merkmale, über die Bedeutung der natürlichen 
Zuchtwahl und viele andere Einzelheiten der Entwicklungslehre Aus- 
kunft geben soll? Denn was dem einen als der Eckstein der Ab- 
stammungslehre gilt, ist für den andern ein Faktor von ganz unter- 
geordneter Bedeutung, ein dritter hält es gar für die größte Verirrung 
des verflossenen Jahrhunderts. 

Je länger ich über die Ursachen dieses unerfreulichen Zustandes 
nachgedacht habe, um so mehr hat sich in mir die Überzeugung ge- 
festigt, daß noch ein wichtiger Teil der Fundamente fehlt, auf denen 
ein so schwerwiegender Bau wie die Abstammungslehre errichtet 
werden sollte. Das tritt klar hervor, wenn wir den Kern dieser 
Lehre herausschälen. Sie besagt in erster Linie: die lebenden Wesen 
aller Zeiten sind auf natürlichem, d. h. mechanisch verständlichem 
Wege auseinander hervorgegangen. In dieser Form ist sie zunächst 
eine Hypothese von eminent historischem Inhalt. Um sie zum 
Range einer brauchbaren wissenschaftlichen Theorie zu erheben, ist 
nötig, zu erweisen, daß die Organismen veränderlich sind, so daß 
aus bestehenden Formen neue, anders geartete, hervorgehen können, 
und daß solche Umwandlungen auch tatsächlich erfolgt sind. Daß 
Verönderlichkeit eine Eigenschaft ist, die den Organismen überhaupt 
zukommt, wissen wir seit Darwıns grundlesendem Werke über die 
Entstehung der Arten, das richtiger den Titel »die Veränderlichkeit 
der Organismen« hätte führen sollen. Daß im Laufe der Zeit durch 
langsame, schrittweise Umbildung neue Arten und Gattungen tat- 
sächlich entstanden sind, läßt sich zwar historisch nicht streng be- 
weisen, sondern nur bis zu einem gewissen Grade wahrscheinlich 
machen. Doch genügen die wenigen vollständigen Beispiele, die bis 
jetzt hierfür beigebracht worden sind, allein schon, um jede andere 
Deutung des vorliegenden Stoffes als durchaus unwahrscheinlich hin- 
zustellen. Jeder Paläontologe weiß, daß sich derartige Beispiele von 
mehr oder weniger geschlossenen genetischen Reihen leicht vermehren 


Einführung. 3, 


ließen, wenn dies nicht durch rein äußerliche Gründe erschwert wäre, 
wie durch die Zerstreuung des Materials in vielen verschiedenen 
Sammlungen und durch das Fehlen der beträchtlichen Mittel, die 
nötig sind, um die vorhandenen Lücken in kurzer Zeit systematisch 
zu ergänzen. Jeder Zuwachs von neuem fossilem Material trägt 
jedoch dazu bei, die vorhandenen Lücken auszufüllen, und jeder Ver- 
such, mit Hilfe dieses Zuwachses bisher unverbundene Tier- und 
Pflanzenformen zu verknüpfen, führt zu dem gleichen Ergebnis: er 
bestätigt die Theorie der Abstammung überhaupt und zeigt denselben 
Mechanismus auf, nämlich eine schrittweise Umbildung. So wächst 
die Wahrscheinlichkeit der Abstammungslehre von Tag zu Tag, und 
es begreift sich leicht, daß gerade die Paläontologie, sobald sie über 
die einfache Beschreibung der Fossilien hinaus- und irgendwelcher 
Art von Verknüpfungen nachgeht, die Abstammungslehre in keiner 
Weise entbehren kann. Sie ist bis heute die einzig mögliche Form, 
in der die Wandlungen der Schöpfung auch gerade im einzelnen 
begriffen werden können. 

Wird nun auch die Abstammungslehre durch das historische 
Material im allgemeinen gestützt, so sind doch die Methoden, nach 
denen man die Naturformen verknüpft und daraus Erklärungen und 
Vorstellungen allgemeiner Art ableitet, keineswegs auf historischer 
Grundlage gewonnen. Das liegt im Gange der Wissenschaft be- 
gründet. Erst lange nachdem man den größten Teil der heutigen 
Tiere und Pflanzen nach Form, Bau und Tätigkeit kennen gelernt 
hatte, haben wir etwas Genaueres über die Geschichte der Erde und 
ihrer Bewohner erfahren, und auch heute noch liegt für diese 
Forschung ein unabsehbares Feld unbebaut. Dieser mehr zufällige 
Umstand darf uns aber nicht übersehen lassen, daß die Betrachtungs- 
weise der Natur vor allem aus historischen Erfahrungen erwachsen 
sein sollte, da wir sonst Gefahr laufen, sie in schiefer Beleuchtung zu 
sehen. Würde man nicht einer Forschung ihre unzulängliche Methode 
zum Vorwurf machen, die den heutigen Zustand der Kultur aus- 
schließlich oder doch überwiegend aus diesem selbst erklären wollte 
und nicht aus den Erfahrungen, die uns die Geschichte an die Hand 
gibt, gleichgültig ob diese mehr oder weniger vollständig erschlossen 
wäre? Und tragen nicht alle Versuche, etwas historisch Gewordenes 
aus dem fertigen Zustande und nicht aus den fortlaufenden Stadien 
seiner Geschichte zu erklären, von vornherein den Stempel der Halb- 
wahrheit ? 

Es fehlen uns heute noch die Methoden, die aus dem Ent- 
wicklungsgange der Schöpfung selbst abgeleitet sind. Anstatt das 

1* 


4 Historischer Überblick. 


Wenige oder das Viele, was wir darüber wissen, zunächst allein 
sprechen zu lassen, und aus den geschichtlichen Änderungen, die 
wir wirklich verfolgen können, den Gang und Mechanismus der 
Entwicklung abzulesen und hieraus einen gesicherten Standpunkt für 
die Betrachtung der Natur zu gewinnen, sind wir von vornherein 
daran gewöhnt worden, die Schöpfungsgeschichte nur in dem Lichte 
zu sehen, das die fertige Schöpfung ausstrahlte zu einer Zeit, als 
sie noch nicht einmal im Verdachte stand, etwas geschichtlich Ge- 
wordenes zu sein. Kein Wunder, daß die Naturgeschichte nicht in 
den Rahmen passen will, den man für sie zurecht gezimmert hat, 
ohne sie zu kennen oder sie wenigstens überschaut zu haben. Gerade 
das schreiende Mißverhältnis zwischen dem tatsächlichen Entwicklungs- 
gange, wie wir ihn aus den Funden der Vorzeit ablesen, und dem, 
wie ihn die heutige darwinistische Entwicklungslehre fordert, legt 
der Paläontologie die Verpflichtung auf, aus dem gegebenen histo- 
rischen Stoff die Bausteine herauszulesen, die als Grundlage für die 
Abstammungslehre dienen können. Bei einem solchen Versuche, wie 
bei jeder Benutzung des fossilen Materials können wir natürlich die 
Erfahrungen nicht entbehren, die uns Zoologie und Botanik an die 
Hand geben. Wohl aber müssen wir uns von den Auffassungen und 
Deutungen frei halten, die nur aus dem lebenden Material gewonnen 
snd, wenn sie in der Geschichte keinerlei Bestätigung erfahren. 
Gelingt es auf diese Weise, auch nur einen Teil der zahlreichen 
Schwierigkeiten zu beseitigen, die heute einem Verständnis des Ent- 
wicklungsganges entgegen stehen, nur eines der Probleme seiner 
Lösung entgegen zu führen, die sich uns unvermeidlich entgegenstellen, 
sobald wir die Schöpfungen früherer Zeit im Lichte der jetzigen 
Abstammungslehre betrachten, so ist unser Vorgehen auch praktisch 
gerechtfertigt. Welcher Art aber die Schwierigkeiten und Probleme 
sind, und wie es möglich ist, daß sie heute noch so zahlreich und 
so bedrohlich bestehen, werden wir am besten aus einem geschicht- 
lichen Überblick entnehmen können. 


I. Historischer Überblick. 


Wie jeder bedeutsame Fortschritt in den Wissenschaften, so hat 
auch der Darwinismus Nachteile mit sich gebracht, und diese haben 
die fernere Entwicklung der Abstammungslehre auf Jahrzehnte, ja 
auf Generationen hinaus belastet. Diese Schattenseiten der Ent- 
wicklungslehre will ich zunächst herauskehren, wenigstens insoweit 


Historischer Überblick. 5 


sie für unsere Untersuchungen und Betrachtungen von Bedeutung 
werden. 

Wohl der schwerste, wenn auch leicht begreifliche Irrtum in der 
neuen Lehre bestand in der Vorstellung, daß man die Gesetze der 
Umbildung in der organischen Natur in ihren wichtigsten Grundlagen 
feststellen und daß man ihren Entwicklungsgang begreifen könne, 
ohne diesen selbst, wenigstens bis zu einem gewissen Maße historisch 
verfolgt zu haben. Ein solcher schwerwiegender methodischer Fehler 
führte vor allem zur Überschätzung des Darwınschen Erklärungs- 
versuchs, der in Wirklichkeit doch nur auf die künstlichen, wie man 
weiß und wußte in der Natur nicht beständigen Züchtungsprodukte 
des Menschen zutrifft. Seine Gültigkeit ohne weiteres auf die ge- 
wordenen Naturerzeugnisse zu übertragen, ist nicht minder unzu- 
lässig, als einem Schöpfer irgendwelche menschliche Handlungsweisen 
beizulegen. Der unvollkommene Zustand, in dem sich damals die 
historischen Zweige der Naturkunde, Geologie und Paläontologie, 
befanden, gestattete es freilich, gerade die dürftigen Ergebnisse dieser 
Wissenschaften zugunsten einer solchen Übertragung zu verwerten. 
Mußten doch in der Tat wohl die meisten der damals bekannten Ver- 
steinerungen als blind auslaufende Erzeugnisse der Schöpfung er- 
scheinen, da man sie mit den heutigen Gestalten der Pflanzen und 
Tiere überhaupt nicht ohne weiteres in Beziehung bringen konnte. 
Denn wo bleiben in der heutigen Schöpfung die Nachkommen der baum- 
artigen Schachtelhalme, der Bärlappe, der Siegelbäume, wo die Nach- 
kommen der Meer-, Riesen- und Flugsaurier? War nicht allein die 
Tatsache, daß sie geschaffen waren und doch nicht mehr bestehen, 
schon ein hinreichender Beweis dafür, daß eine Auslese nicht nur in 
beschränktem Maße, sondern in gewaltiger Ausdehnung Platz gegriffen 
hatte? Denn daß man das Verschwinden solch umfangreicher und 
anscheinend sehr bestandfähiger Tier- und Pflanzengruppen weder 
durch geologische Vorgänge noch durch das Eingreifen des Menschen 
erklären und verstehen konnte, lag klar zutage. Es mußte also wohl 
der Grund für ihr Verschwinden in ihrer fehlerhaften Organisation 
liegen, und der Natur mußte die gleiche Fähigkeit zukommen, aus- 
zulesen, wie es der Mensch als Züchter tut. So stützte die Unkennt- 
nis von dem Werden der organischen Welt die unberechtigte Über- 
tragung menschlicher Tätigkeit auf die Natur und festigte ein Dogma, 
das jahrzehntelang die Wissenschaft fast ganz und gar beherrscht hat, 
und das noch heute in wissenschaftlichen und Laienkreisen vielfach 
als der Eckstein der Entwicklungslehre gilt — die Wandlungen in 
der belebten Natur vollziehen sich durch Auslese des Zweckmäßigen, 


6 Historischer Überblick. 


und alles, was sich als nicht bestandfähig im Laufe der Zeit erwiesen 
hat, war unzweckmäßig organisiert. 

Damit war denn zugleich der Weg gewiesen, um eine weitere, 
ebenfalls rein menschliche Vorstellung in die Betrachtung der lebenden 
Natur einzuschmuggeln, den Begriff der Nützlichkeit und Zweckmäßig- 
keit. Diese Betrachtungsweise muß aber mit GorTHE als »durchaus 
nicht wissenschaftlich« bezeichnet werden. Die Biologie hat objektiv, 
und zwar durch physiologische Untersuchung, zunächst die Funktion 
der Organe zu erforschen, und wenn sie dazu fortschreitet, die Ent- 
stehung der Organe und ihrer Funktionen zu ermitteln, so darf dies 
immer nur geschehen unter Aufdeckung des historischen Werdegangs 
und der materiellen Ursachen und Reize, die zur Entstehung, Er- 
haltung und Umbildung der Organe und der daran geknüpften Funk- 
tionen geführt haben. Sobald ich aber nach dem Zwecke eines Or- 
gans oder einer Organisation frage und festzustellen versuche, ob sie 
nützlich sind oder nicht, verlasse ich den Boden der Naturwissen- 
schaft und begebe mich in den Bann rein anthropomorphistischer An- 
schauungsweise. Denn ein objektiver Nachweis, daß eine zweckmäßige 
oder nützliche Beziehung wirklich vorliegt, ist schwer zu führen, 
wohl aber ist der wohlfeilen individuellen Deutung jedes beliebigen 
Merkmals Tor und Tür geöffnet. Die Nützlichkeit oder Zweckmäßig- 
keit einer Einrichtung kann ja auch nie die Ursache für ihre Ent- 
stehung sein, außer in menschlichen Dingen. Zwängt man aber die 
weite Wirkungsweise der Natur in den engen Bann rein menschlicher 
Handlungsweise und Vorstellungen hinein, so entfernt man sich von 
dem eigentlichen Ziele der Wissenschaft so weit als nur möglich. Es 
ist daher für die Entwicklungslehre geradezu verhängnisvoll geworden, 
daß sich die teleologische Betrachtungsweise an ihren Aufschwung 
durch Darwın festgeheftet hat, und es ist tief bedauerlich, daß jetzt 
sogar in der Schule die leicht zu beeinflussende Denkweise des Kindes 
mit einer seichten Naturteleologie von vornherein infiziert und dadurch 
die einzig richtige, nämlich die kausale Deutung der Naturvorgänge, 
von ihm fern gehalten wird. Anstatt zu lehren: Die Formen der 
Schöpfung sind Zwangsformen, die so wie sie sind, entstehen mußten 
durch die zwingende Gewalt einfacher materieller Naturvorgänge, 
durch Einwirkung dieser Vorgänge auf den lebendigen Stoff, dessen 
Eigenart wir heute noch nicht verstehen, mit der wir daher als mit 
einem Gregebenen zu rechnen haben, sucht man darzutun und zu be- 
weisen, daß die in den heutigen Naturkörpern bestehenden Einrich- 
tungen zweckmäßig, nützlich und für das Fortbestehen der Art, die 
sie besitzt, notwendig seien. Anstatt ihre Entstehung zu erklären, 


Historischer Überblick. 7 


soweit das beim heutigen Tiefstande unserer biologischen Auffassung 
möglich ist, zeigt man, wie sich die Einrichtungen im Spiegel mensch- 
licher Zweckmäßigkeit und Möglichkeit ausnehmen. Daß schon 
Lamarck die Not (mit diesem Worte ist besser als mit »Bedürf- 
nis« sein »besoin« zu übersetzen) als den treibenden Faktor der 
Entwicklung erkannt hatte, und daß hieraus allein schon der Ent- 
wicklungsvorgang in seinen Hauptzügen klar begreiflich gemacht 
werden kann, scheint fast ganz vergessen worden zu sein. Mit der 
Einführung des Begriffs der natürlichen Auslese, der Vernichtung 
zahlreicher Tier- und Pflanzengruppen im Kampfe ums Dasein und 
der Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit war eine tiefe Kluft in der 
Lebewelt aufgetan. Auf der einen Seite standen die Wesen, die sich 
bis heute erhalten haben durch die Zweckmäßigkeit ihrer Organisation, 
die von der Natur Auserwählten, die Anpassungsfähigen, die Seligen, 
bei denen die Veränderlichkeit sich zu nützlichen und zweckmäßigen 
und damit bestandfähigen Umbildungen ausgelöst hatte. Diese setzen 
die heutige Schöpfung zusammen, und sie besitzen eine geschlossene 
Vorfahrenreihe. Auf der andern Seite stehen die Verworfenen, denen 
es nicht vergönnt war, sich in dem großen Entwicklungsprozesse zu 
bestandfähigen Formen umzugestalten; sie haben wohl eine Zeitlang, 
ja, wie man meinen möchte, oft unverdient lange und ruhmvoll ihren 
Platz in der Natur ‚behauptet, aber ihr Bestand war dennoch nicht 
von Dauer. Oft erreichte sie gerade dann das unvermeidliche Schick- 
sal in der Form der natürlichen Auslese, wenn sie sich am reich- 
lichsten vermehrt und sich am breitesten in der Natur gemacht hatten. 
Wahrlich die Vertreter der christlichen Theologie haben keine Ver- 
anlassung gehabt, diese Auffassung der Natur zu bekämpfen, denn 
was ist sie schließlich anders, als eine Art Gnadenwahl, vom Menschen 
ausgedehnt auf die Gesamtheit der belebten Natur ? 

Diese Trennung gewährte weiter den Vorteil, zu unterscheiden, 
welche Einrichtungen in der Natur zweckmäßig, welche unzweck- 
mäßig waren und sind. So konnten, nach Kowarzwskı, diejenigen 
Paarhufer, deren Mittelfußknochen bei der Reduktion der Zehen un- 
entwegt ihre Stellung an den zugehörigen Fußwurzelknochen bei- 
behalten hatten, nicht auf die Dauer bestehen, sie starben aus. Denn 
eine Einrichtung, die lange Zeit vollauf genügt hatte, war dennoch nicht 
anpassungsfähig (inadaptiv) und plötzlich so unzweckmäßig geworden, 
daß ihre Träger samt und sonders vergehen mußten. Viele Forscher 
sind zwar durch eine instinktive Scheu oder auch durch die zunehmende 
Auffindung noch lebender Tierformen, die man vorher für ausgestorben 
gehalten hatte (wie Salenia, Cystispongia usw.), davon abgehalten 


8 Historischer Überblick. 


worden, jenen Grundsatz folgerichtig auf das Gros der ausgestorbenen 
Tiere anzuwenden. Aber es liegen reichliche Versuche vor, an aus- 
gestorbenen Tiergruppen diejenigen Merkmale ausfindig zu machen, 
die ihren Untergang notwendigerweise haben herbeiführen müssen, 
oder die lebensfähigeren Konkurrenten zu entdecken, die ihnen den 
Garaus gemacht haben. Man ist auf diesem Wege vielfach zu den 


1 
Fig. 1. Eine Ammonitenschale, deren Win- Fig.2. Eine Ammonitenschale, deren Win- 
dungen sich nur berühren, aber nieht seit- dungen sich seitlich umfassen (Hammato- 
lich umfassen (Lytoceras triparlitum aus ceras Sowerbyi aus dem mittleren Dogger). 
dem obern Dogger). A von der Seite, B von vorn. 


A von der Seite, B von vorn. 


Fig.3. Eine Ammonitenschale, deren letzter Fig. 4. Eine Ammonitenschale, deren Um- 
Umgang sich von der Schale abzulösen be- gänge zwarnoch spiral, aber alle voneinander 
ginnt (Scaphites — obere Kreide). gelöst sind ( Crioceras — Untere Kreide). 


abenteuerlichsten Vermutungen und Behauptungen geführt worden, 
man hat sich auch nicht gescheut, sich mit tatsächlichen Erfahrungen 
in offenen Widerspruch zu setzen. Dafür nur ein Beispiel von vielen. 
Bekanntlich verschwinden die Ammoniten für uns mit den jüngsten 
Schichten der Kreideformation, und zwar überall auf der Erde. In- 
wieweit diese Erscheinung tatsächlich ist oder nur scheinbar, soll an 
'einer andern Stelle erörtert werden. Nun beobachtet man bei den 


Historischer Überblick. 9 


Ammoniten, vereinzelt schon in der Trias und im Jura, als häufige 
Erscheinung aber in der ganzen Kreide, eine auffallende Änderung 
ihres Wachstums. Die Windungen der Schale, die bei einem nor- 
malen Ammonitengehäuse einander mindestens berühren (Fig. 1), sich 
aber zumeist wie beim lebenden Nautelus mehr oder weniger weit um- 
fassen (Fig. 2), lösen sich voneinander, und zwar geschieht dies in 
der mannigfaltigsten Weise. Meist beginnt dieser Vorgang am Ende 
der Schale (Fig. 3) und schreitet allmählich nach rückwärts fort 


Fig.5. Eine Ammonitenschale, Fig. 6. Eine ganz gerade ge- Fig.7. Eine Ammoniten- 
deren Windungen sich vonein- streckte Ammonitenschale; schale, deren Windungen 
ander gelöst haben, aber nicht nur der allererste Anfang der wie bei einer Schnecken- 
mehr regelmäßig spiräl gerollt, Schale (hier nicht gezeichnet) schale turmartig aufgerollt 
sondern hakenförmig geknickt ist noch spiral (Baculites — sind (Turrilites — Obere 
sind (Hamites— Untere Kreide). Obere Kreide). Kreide). 


(Fig. 4), bis schließlich ein gebogenes, hakenförmig gekrümmtes 
(Fig. 5) oder stabförmiges Gehäuse (Fig. 6) entsteht, dessen Anfang 
allein noch gerollte und sich berührende Windungen besitzt, bald 
rollt sich die Schale korkzieherartig mit anliegenden (Fig. 7) oder 
mit gelösten Windungen auf, oder sie besteht auch wohl schließlich 
aus wirren, gesetzlosen Verschlingungen. In diesem Aufgeben der 
normalen geschlossenen Spirale glaubte man die Erklärung für das 
Aussterben der Ammoniten gefunden zu haben; sie waren degeneriert, 


10 Historischer Überblick. 


hatten nicht mehr die Kraft besessen, eine normal gebaute Schale 
zu erzeugen und waren deshalb vom Schauplatze abgetreten. Aber 
wie fadenscheinig werden solche Erklärungen, wenn man den Blick 
nicht auf dieser Erscheinung allein haften läßt! Wenn auch sehr 
zahlreiche Ammonitenstämme der Kreide eine solche Veränderung 
erfahren, so bleiben doch bis in die jüngsten Lagen der Kreide eine 
große Zahl von Stämmen bestehen, die keine Spur einer solchen 
Degeneration aufweisen. Nach der heute beliebten engen Fassung 
der Gattungen sind es mindestens 15, und darunter eine ganze Zahl, 
die weder damals noch früher auch nur das geringste Anzeichen zu 
einer irgendwie abnormen Gestaltung der Schale erkennen lassen, wie 


Fig. 


jo} 


nl 


Fig. 8 Sphenodiseus und Fig. 9 Buchiceras, zwei Ammonitengattungen mit vollständig 
normaler und eng eingerollter Schale aus den obersten Kreideschichten (Senon). 


Phylloceras, Pachydiscus, Placenticeras, Buchiceras (Fig. 9), Spheno- 
discus (Fig. 8) u. a. Warum fehlt bei diesen jene Degenerations- 
erscheinung gänzlich, da sie doch unmittelbar vor dem Aussterben 
standen? Bedenklich muß aber die Deutung auch deshalb erscheinen, 
weil die am stärksten degenerierten Formen, wie der stabförmige 
Baculites (Fig. 6), ebenso auch Scaphites (Fig. 3), in den jüngsten 
Kreideschichten zuweilen in ganz ungewöhnlicher Häufigkeit auftreten. 
Gerade das Gegenteil sollte man erwarten. Übrigens stehen ja die 
Ammoniten mit diesem »Degenerationsmerkmale« nicht vereinzelt da. 
Bei Schnecken treffen wir es ebenfalls, am ausgeprägtesten bei den 
beiden Familien der Vermetiden und Caeciden, die in zahlreichen 
Arten in den heutigen Meeren leben, in einzelnen Gattungen bis in 
die mesozoische Zeit, ja bis ins Paläozoikum, zurückreichen. Es ist 
gar nicht einzusehen, warum bei den Ammoniten das ein Zeichen von 
Degeneration sein soll, was bei den Schnecken die Bestandfähigkeit 


Historischer Überblick. Lat 


in keiner Weise schmälert, sich vielmehr im Laufe der Zeit immer 
reichlicher entwickelt hat. Zum mindesten müßte doch erst für die 
Ammoniten der exakte Beweis erbracht sein, daß ihre Lebensverhält- 
nisse von denen der Schnecken so grundsätzlich abgewichen wären. Aber 
gerade im Gegenteil hat man in letzter Zeit wahrscheinlich zu machen 
versucht, daß ihre Lebensweise der der Schnecken weit ähnlicher ge- 
wesen sei, als man früher geglaubt hatte. Auch jede andere Abweichung 
von der normalen Form der Schale ist bei den Ammoniten in diesem 
Sinne gedeutet worden: die Ausschnürungen (Fig. 11) und Knickungen 
(Fig. 10) der Wohnkammer, die wulstartigen Verdickungen (Fig. 11 x) 
und der mehr oder weniger visierartige Verschluß der Mündung 
(Fig. 10). Zu den meisten dieser Merkmale finden sich aber Parallel- 
bildungen bei den Schnecken, und zwar an Gattungen, die sehr weit 


Fig. 10. Eine Ammonitenschale mit ge- Fig. 11. Eine Ammonitenschale mit ausge- 
knickter Wohnkammer und visierartig ge- schnürter letzterWindung und mit wulstartig 
schlossener Mündung (0) (Haploceras). verdicktem Mundsaum (ww) (Sphaeroceras). 


davon entfernt sind, auszusterben, wie Uypraea, Strombus, Voluta, 
Helix usw. Vielmehr handelt es sich hierbei um Bildungen, die im 
höheren Lebensalter des Tieres eintreten, also um senile Erschei- 
nungen des Individuums, keineswegs des Stammes. Anstatt 
einzugestehen, daß wir manches durchaus noch nicht erklären können, 
und daraus zu schließen, daß wir in der Art und Weise, wie wir die 
Natur deuten, vielleicht grundsätzlich irren, wurden vitalistische Be- 
sriffe und Vorgänge in die Natur hineingetragen, eine Degeneration 
der wissenschaftlichen Methode, aber nicht der Natur, denn Entartung 
und Natur sind und bleiben unvereinbare Gegensätze. 

Ebensowenig ist unsere Erkenntnis gefördert worden durch die 
Versuche, das Verschwinden von Tier- und Pflanzengruppen durch 
Unterliegen im Kampfe mit besser ausgerüsteten Nebenbuhlern zu 
erklären. Sie haben nur dazu gedient, die schon hinreichend ver- 
dunkelten Probleme der Entwicklungslehre noch mehr zu verschleiern. 


12 Historischer Überblick. 


Zumeist sind sie auch Monologe geblieben, da die Phantasie über das 
erlaubte Maß angestrengt werden mußte, wenn man sich vorstellen 
sollte, daß die Trilobiten von den neu auftauchenden Kephalopoden 
und Fischen ausgerottet seien, oder daß die Knochenfische den Am- 
moniten, die Haie den Meersauriern den Garaus gemacht hätten. 
Derartige Vorstellungen sind nicht dem beobachteten Wirken der 
Natur entlehnt, sie sind nur aus der Tätigkeit des Kulturmenschen 
hergenommen und auf die viel weniger grausame Natur übertragen 
worden, der der Vorgang der Ausrottung fremd ist. Nachdem die 
rein menschliche Tätigkeit des Ausrottens, ebenso wie die nur am 
Menschen haftende Tätigkeit der Auslese nach unbedeutenden Nütz- 
lichkeitsmerkmalen einmal durch Darwın als natürlich wirkende Fak- 
toren der Entwicklungslehre eingefügt waren, haben sie die wissen- 
schaftliche Forschung dauernd bis heute in verhängnisvoller Weise 
beeinflußt und vielfach von den wichtigsten und nächstliegenden Zielen 
abgelenkt. Es hat auch nichts genützt, daß Darwın später erkannte, 
wie sehr er die Bedeutung der natürlichen Zuchtwahl und anderer 
Faktoren gegenüber dem Lamarckschen Prinzip der direkten Be- 
wirkung überschätzt hatte, die Wissenschaft war über solche Skrupel 
längst hinausgewachsen, und heute steht die Sprache der meisten 
Forscher und Laien noch im eisernen Banne des Nützlichkeits- und 
Ausrottungsbegriffs. Ist man doch vor der Geschmacklosigkeit nicht 
zurückgeschreckt, von einer Auslese unter den Gesteinen zu sprechen, 
wo doch nur von einem Spiel unveränderlicher Affinitäten gesprochen 
werden kann. 

Die Mehrzahl der Naturforscher hat bald nach dem Auftreten 
Darwıss die Richtigkeit und die gewaltige Tragweite des Deszendenz- 
gedankens erkannt, viele, wenn nicht die meisten, haben aber auch 
die Schwierigkeiten unterschätzt, die sich der Lösung der neu auf- 
tauchenden Probleme entgegen stellen. Indem man mit dem Zauber- 
spruche des großen Britten die Frage nach den Ursachen der Um- 
bildung der Tier- und Pflanzenwelt für grundsätzlich gelöst hielt, 
wagte man sofort den Entwicklungsgang der gesamten Schöpfung 
wenigstens in großen Zügen zu entwerfen. Was selbst bis heute auf 
induktivem, im besondern auf historischem Wege nur für einen ver- 
schwindenden Bruchteil der Tiere und Pflanzen mit einiger Sicher- 
heit hat ermittelt werden können, glaubte man im abgekürzten Ver- 
fahren auf der Grundlage des doch immerhin bescheidenen Standes 
der Naturkunde in kürzester Frist vorwiegend deduktiv festlegen 
zu können. Es läßt sich schwer entscheiden, wer mehr Optimismus 
besaß, Darwın, der in einem Satze den treibenden Faktor der Ent- 


Historischer Überblick. 13 


wicklung zu formulieren versuchte, oder HAEcker, der allein aus dem 
gegenwärtigen Stande der Schöpfung heraus ihren gesamten Werde- 
gang, wenn auch nur in allgemeinen Zügen aufzuschließen sich ver- 
maß. Dieses war nur möglich durch Verwertung einiger ganz und 
gar axiomatischer Annahmen, die zunächst erörtert werden müssen. 

Seit Lınn£ war die Wissenschaft damit beschäftigt gewesen — 
und es steckt eine gewaltige Arbeit in dieser unentbehrlichen Leistung— 
alle Tiere und Pflanzen, lebende und fossile, zu katalogisieren und 
in das Schema eines »künstlichen« oder »natürlichen« Systems ein- 
zuordnen. Diese Arbeit war ausgeführt in der Vorstellung, daß all- 
gemein in der Natur festgefügte Einheiten, die Arten, bestünden; 
aber fast ebenso festgewurzelt war die Vorstellung, daß auch die um- 
fassenderen Kategorien, die man unterschied, die Gattungen, die 
Familien, die Ordnungen, usw. fest umgrenzte natürliche Einheiten 
seien, die unvermittelt nebeneinander bestehen. LamaArcr hatte be- 
kanntlich vergeblich versucht, die Idee der Abstammung in die wissen- 
schaftliche Betrachtung und Forschung einzuführen. Als nun mit 
Darwın der Grundsatz der Deszendenz sich Bahn brach, stand ein 
wohlgefügtes und ausgebautes System des Pflanzen- und Tierreichs 
der Forschung zur Verfügung, und es gab zwei Wege, sich dieses 
Hilfsmittels zu bedienen. Entweder sagte man sich, daß das System 
nichts weiter als ein sorgfältig ausgearbeiteter Katalog sei, bei dessen 
Herstellung jeder Gedanke an eine genetische Verknüpfung der ein- 
zelnen darin einverleibten Naturformen ausgeschlossen gewesen war; 
dann konnte er über das genetische Verhältnis der Formen auch 
nichts aussagen, und es wäre erforderlich gewesen, zunächst durch 
sorgfältige und weitausschauende historische Untersuchungen an 
fossilem und lebendem Material festzustellen, in welcher Weise die 
Natur die einzelnen Gestalten auseinander hat hervorgehen lassen. 
Das wäre zweifellos der vorgeschriebene Weg für die Deszendenz- 
forschung gewesen. Oder man nahm kritiklos die systematischen 
Kategorien zugleich für genetische Einheiten, faßte die Arten einer 
Gattung oder die zu einer Familie vereinigten Gattungen usw. als 
näher miteinander verwandt auf, als mit den Arten einer andern 
Gattung oder den Gattungen einer andern Familie usw. 

Unter dieser letzteren Voraussetzung konnte es allerdings nicht 
schwer halten, die Stammesgeschichte, wenigstens in großen Zügen, 
klarzustellen; denn dazu bedurfte es wohl nur einer Nachprüfung des 
‚natürlichen Systems« von dem neu gewonnenen Gesichtspunkte der 
Deszendenz aus und einer Mitverwertung der Ergebnisse, die die ver- 
gleichende Anatomie und die aufblühende Embryologie dazu lieferten. 


14 Historischer Überblick. 


Man entschied sich ohne Besinnen für den letzteren Weg. Daß an 
diesem Vorgehen nur vereinzelt eine schärfere Kritik geübt wurde, 
erklärt sich wohl wesentlich mit durch die Zähigkeit, mit der die 
Vorstellungen von der einmaligen Erschaffung der Art und des Typus, 
wie sie in der biblischen Schöpfung des Menschen und der Errettung 
der Typen aus der Sintflut traditionell gegeben waren, auch in dem 
Geiste der wissenschaftlichen Welt vielfach unbewußt hafteten. So 
wie der Mensch nur einmal entstanden war, und die verschiedenen 
Rassen durch Spaltung aus dem » Urmenschen« hervorgegangen waren, 
so dachte man sich die Affen aus dem »Uraffen«, dem die gemein- 
samen Merkmale aller Affen zukamen, entstanden. Nach Analogie 
dieser Begriffe entstand der »Ursäuger«, das »Urwirbeltier«, usw. 
Didaktisch betrachtet mußten diese Abstraktionen — denn etwas 
anderes waren sie nicht — als ungemein praktisch gelten; ihr Grund- 
fehler war und bleibt, daß sie sich der realen Beobachtung entzogen 
und auch bis heute hartnäckig entzogen haben. Es war damit 
der Grundsatz der Einstämmigkeit (Monophylesie) der systematischen 
Kategorien zum Axiom erhoben, und dieses hat bis heute unser ganzes 
phylogenetisches Denken so gut wie ausschließlich bestimmt, und be- 
herrscht es auch heute noch vollständig. Zur Ehre der Wissenschaft 
muß aber darauf hingewiesen werden, daß der entgegengesetzte Ge- 
danke, der einer polyphyletischen Abstammung, sowohl nach als auch 
schon vor Darwın gelegentlich mit größerer oder geringerer Bestimmt- 
heit geäußert worden ist. So sagte der kenntnisreiche Zoologe SEMPER 
vor etwa 30 Jahren: » Alle wirklich sorgfältigen Untersuchungen der 
Neuzeit machen es wahrscheinlich, daß die polyphyletische Hypothese 
der Wahrheit sehr viel näher kommt, als die ihr entgegenstehende. « 
Und nach GorrtHes Vorstellung entstanden sogar »die Menschen 
durch die Allmacht Gottes überall, wo der Boden es zuließ«, und 
weiterhin bemerkt er gegen den Einwurf des Herrn v. MaArrıvs, daß 
sich diese Meinung nicht mit den Aussagen der heiligen Schrift ver- 
einigen lasse: »Die heilige Schrift redet allerdings nur von einem 
Menschenpaare, das Gott am 6. Tage erschaffen. Allein die be- 
gabten Männer, welche das Wort Gottes aufzeichneten, das uns die 
Bibel überliefert, hatten es zunächst mit ihrem auserwählten Volke 
zu tun, und so wollen wir auch diesem die Ehre seiner Abstammung 
von Adam keineswegs streitig machen. Wir andern aber, sowie auch 
die Neger und Lappländer, und schlanke Menschen, die schöner sind, 
als wir alle, haben gewiß auch andere Urväter,« .... 

Ob die monophyletische oder polyphyletische Auffassung durch 
die Tatsachen am meisten gestützt wird oder ob etwa beide neben- 


Historischer Überblick. 15 


einander berechtigt sind, soll später erörtert werden; hier mögen 
zunächst noch einige Worte über die Eideshelfer der Einstämmigkeits- 
lehre Platz finden. 

Darwıns Erklärungsversuch begünstigte die Vorstellung der ein- 
maligen Entstehung der Tier- und Pflanzentypen insofern, als nach 
ihm neue vorteilhafte Merkmale durch Variation gelegentlich ent- 
standen sein sollten, ohne daß eine bestimmte Ursache dafür nam- 
haft gemacht werden konnte. Wenn also nicht gesetzmäßig sich 
wiederholende Vorgänge ermittelt werden konnten, sondern der Zu- 
fall zur Herausbildung eines neuen Typus geführt hatte, so konnte 
man die Nätur nur beglückwünschen, daß ihr dies jeweils einmal 
wirklich gelungen war. Eine Wiederholung desselben ungewöhnlich 
glücklichen Zufalls wäre ja nur noch unwahrscheinlicher gewesen. 

Eine wirksame Stütze erwuchs der Theorie der Einstämmigkeit 
durch die Fortschritte der embryologischen Forschung. Denn diese 
bestätigte nicht nur die Deszendenz im allgemeinen, indem sie nach- 
wies, daß die höher organisierten Tiere in ihrem ontogenetischen 
Entwicklungsgange die Merkmale tieferstehender Abteilungen wieder- 
holten, sondern sie zeigte auch, wie sehr die frühen Entwicklungs- 
stadien der zu einer systematischen Einheit gehörigen Tiere in 
wesentlichen Merkmalen übereinstimmen. Hieraus ergab sich der 
Schluß: diese Übereinstimmung kann nur das Erbstück von einem 
allen Vertretern gemeinsamen Vorfahren sein. Selbst mit der Ein- 
schränkung der Caenogenese, die dem biogenetischen Grundgesetz 
von vornherein angelest wurde, bedeutete dies Vorgehen ebenfalls 
eine petitio principil. Auch hier hätte die Forschung, wenn sie 
streng methodisch vorgegangen wäre, zunächst an einigen gut be- 
glaubigten Beispielen feststellen müssen, inwieweit wirklich Überein- 
stimmung zwischen dem Gange der phylogenetischen und der ontogene- 
tischen Entwicklung besteht, und ob übereinstimmende Jugendmerk- 
male stets als Erbstücke von einem gemeinsamen Vorfahren gedeutet 
werden dürfen. Denn man wußte ja von vornherein, daß das Leben 
der Larve von anderen Lebensbedingungen beherrscht wird, als das 
des erwachsenen Tieres, und daß diesen abnormen Verhältnissen auch 
abweichende Merkmale der Larve entsprechen müßten. Warum sollte 
also die Übereinstimmung in den Larvenmerkmalen nicht ebenso gut 
ein Ausdruck der übereinstimmenden Lebensbedingungen des Larven- 
stadiums sein? Übrigens hat es ja auch keineswegs an Protesten 
gegen die weitgehende Verwertung der Embryologie für die Er- 
mittelung der Stammesgeschichte gefehlt, und kein geringerer als 
v. Baer hat scharf betont, daß man die verwandtschaftlichen 


6 Historischer Überblick. 


Beziehungen der Tiergruppen zu einander nur nach den Merkmalen 
am erwachsenen Tier beurteilen dürfe. Je mehr tatsächliche Ab- 
stammungslinien die Paläontologie aufdeckt, um so deutlicher zeigt 
sich, wie berechtigt dieser Einspruch v. BaeErs gewesen ist. Denn 
wie wenig sagt uns die Ontogenie des Pferdes über seine phylo- 
genetische Entwicklung aus, die wir doch recht genau kennen, und 
an den Manteltieren glaube ich zeigen zu können, daß wir unsere 
Erwartungen in dieser Richtung auf das geringste Maß herabstimmen 
müssen. 

Auch die vergleichende Anatomie wurde in den Bann der Idee 
von der einstämmigen Ableitung mit einbezogen. Was erst durch 
die Verfolgung historisch gegebener Stammreihen hätte festgestellt 
werden müssen, welche Merkmale als von dem gemeinsamen Vorfahr 
ererbt, also homolog, welche als unabhängig entstanden, also analog, 
zu betrachten seien, das versuchte man sogleich mit Hilfe der an- 
genommenen Phylogenie und auf Grund der embryologischen Ergeb- 
nisse dogmatisch festzulegen. Zwar hat auch in dieser Beziehung 
der Fortschritt der Wissenschaft manche Illusion untergraben, andere 
endgültig beseitigt, und dadurch ist Unsicherheit in die Methoden 
gekommen, aber das Konglomerat unstatthafter Voraussetzungen, in 
das die Vorstellung der Einstämmigkeit eingesenkt wurde, war felsen- 
fest durch den Optimismus verkittet, den der Erfolg der neuen Lehre 
gezeitigt hatte. 

Will man den unleugbaren Fehler der Sturm- und Drangperiode 
in der Entwicklungslehre mit knappen Worten kennzeichnen, so 
kann man sagen: anstatt den weit ausschauenden Weg der historischen 
Forschung zu betreten, der bei einer Theorie von hervorragend histo- 
rischem Inhalt allein eine gesicherte Grundlage schaffen kann, suchte 
man auf bequemen Abkürzungen direkt zum Ziele zu gelangen, ohne 
zu bedenken, daß diese sich vor der steilen Höhe des Problems in 
unwegsame Pfade verlieren mußten. 

Wenn eine Wissenschaft von so beherrschender Stellung wie 
die Abstammungslehre auf Abwege gerät, so beeinflußt sie natur- 
gemäß alle Wissenszweige, mit denen sie organisch verknüpft ist, 
in nachteiliger Weise. So ist es auch der Paläontologie (und in 
gewissem Maße sogar der Geologie) ergangen, die statt eines unab- 
hängigen Fundaments zu einem Vasall der darwinistisch-häckelistischen 
Entwicklungslehre wurde. Bei dem niedrigen Stande, in dem die 
Paläontologie noch in den sechziger Jahren verharrte, wurde sie 
zunächst fast ganz und gar von ihr ins Schlepptau genommen; es 
wurden die Begriffe von der Artbildung und vom Unterliegen im 


Historischer Überblick. 17 


Kampfe ums Dasein, von der phylogenetischen Bedeutung der syste- 
matischen Kategorien, von der Einstämmigkeit der kleineren und 
srößeren Tier- und Pflanzenabteilungen ohne Prüfung in das fossile 
Material hineingetragen. Kein Wunder, daß die Paläontologie diesen 
Vorschriften aus der Studierstube nicht nachkommen konnte, und wo 
sie es versucht hat, Fiasko machte. In keiner gut überlieferten Tier- 
oder Pflanzengruppe hat man eine Urform auffinden können, von der 
die verschiedenen Zweige ausstrahlen; im Gegenteil hat jeder Fort- 
schritt der Paläontologie diese Erwartung immer mehr enttäuscht 
und zugleich den Glauben an die phylogenetische Bedeutung der 
vorhandenen systematischen Kategorien zerstören helfen. Ja was man 
lange unbedenklich für eine fortlaufende Entwicklungsreihe gehalten 
hatte, wie die Nashörner aus den verschiedenen Stufen des Tertiärs, 
löste sich, wie OsBoRrn gezeigt hat, in eine Reihe parallel neben- 
einander herlaufender Entwicklungsreihen auf, die sich in keiner 
Weise aufeinander zurückführen lassen. Immer wieder sprang aus 
den paläontologischen Forschungen nur das eine sichere Ergebnis 
heraus, daß die Abstammungslehre allein imstande ist, das Erscheinen 
der Tiere und Pflanzen im Laufe der Zeit und die Besonderheiten 
ihrer Gestaltung verständlich zu machen; aber eine Bestätigung der 
besonderen Formen der Entwicklungslehre, wie sie durch Darwin, 
HAECKEL, NÄGELI, WEISMANN u. a. nach verschiedener Richtung aus- 
gestaltet waren, konnte sie nicht erbringen. 

Trotz dieser offenkundigen Mißerfolge und trotz der vielver- 
sprechenden Grundlagen, die die Paläontologie überall dort geschaffen 
hatte, wo sie rein induktiv verfahren war, wie bei der Verfolgung 
von enggeschlossenen Formenreihen, setzten sich doch die allgemeinen 
Vorstellungen von der Ausschaltung zahlreicher Organismengruppen 
im Kampfe ums Dasein, von dem genetischen Wert der Systematik 
und der monophyletischen Abstammung auch in dieser Wissenschaft 
fest und verhinderten dadurch die vorurteilsfreie Verwertung des 
gegebenen Tatsachenmaterials.. Selbst die Geologie ist unheilvoll 
dadurch beeinflußt worden. Denn in dem Bestreben, nach geo- 
logischen Ursachen zu suchen für die »kritischen« Perioden in der 
Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt, die sich im Erlöschen großer 
Gruppen und im plötzlichen, explosiven Auftauchen anderer zu er- 
kennen geben, hat man sich nicht gescheut, Eis- oder wenigstens 
Abkühlungsperioden für solche Zeiten anzunehmen und zu behaupten, 
ohne auch nur den geringsten tatsächlichen Anhalt dafür zu besitzen. 
Bis zu diesem Grade von Unselbständigkeit ist die Forschung unter 
dem Alpdruck der heutigen Abstammungslehre herabgesunken! 


Steinmann, Abstammungslehre. 2 


18 Historischer Überblick. 


Was paläontologische und geologische Forschung vereint an festen 
Grundlagen für die Entwicklungslehre im Laufe eines halben Jahr- 
hunderts geschaffen haben, ist von Seiten der Zoologen und Bota- 
niker zumeist nur so weit beachtet worden, als es die Entwicklungs- 
lehre im allgemeinen stützte. Daß die paläontologische Forschung 
den alten systematischen Bau Schritt für Schritt untergrub, daß die 
von ihr nachgewiesenen Formenreihen sich in offenem Widerspruch 
zu der angenommenen allseitigen Variabilität und zu der monophyle- 
tischen Abstammung stellten, ist nur von einzelnen Forschern ver- 
merkt und nur gelegentlich, z. B. von Eimer, gegen die herrschende 
Lehre verwertet worden. Nichts bezeugt besser die Nichtachtung, 
der sich die historische Forschung von seiten der Biologen zu er- 
freuen gehabt hat, als die betrübliche Tatsache, daß der Begriff der 
Mutation, den WAacen im Jahre 1867 für die kleinsten noch wahr- 
nehmbaren Änderungen, gewissermaßen für das Differential der orga- 
nischen Umbildung im Laufe der Zeit, aufgestellt hatte, und der in 
jedem Lehrbuche der Paläontologie erläutert ist, jüngst von einem 
Botaniker für eine wesentlich verschiedene Erscheinung verwendet 
werden konnte! 

Die Paläontologie hat bisher wenig zum Ausbau der Entwick- 
lungslehre beigetragen. Der Grund dafür ist aber keineswegs in der 
Dürftigkeit oder Unbrauchbarkeit des Materials zu suchen, wie man 
gewöhnlich meint, — er liegt in der Methode. Solange man eben 
die Formen der Vorwelt nur im Verzerrungsspiegel der Systematik, 
der Monophylesie und des Darwınschen Prinzips betrachtet und den 
Gesichtspunkt, von dem aus sie gesehen und für die Phylogenie 
verwertet werden müssen, nicht durch Induktion aus dem historischen 
Material selbst zu gewinnen sucht, bleibt jeder Versuch zur Unfrucht- 
barkeit verdammt. Core konnte, trotzdem er die einleuchtenden Ge- 
danken LamaArcks wieder zur Geltung brachte und wie kein zweiter 
über die umfassendsten Kenntnisse von lebenden und fossilen Wirbel- 
tieren verfügte, den Schlüssel des Entwicklungsrätsels nicht finden. 
ZiTTEL, der bei der Ausarbeitung seines großartigen Werkes, das die 
gesamte fossile Tierwelt umfaßt, die paläontologischen Errungen- 
schaften aller seiner Vorgänger und Mitarbeiter in seinem Geiste 
konzentrierte und verarbeitete, wurde immer vorsichtiger und zurück- 
haltender mit phylogenetischen Andeutungen, je weiter er in seinem 
Werke voranschritt. Neumayr versuchte in seinem leider unvollendet 
gebliebenen Werke »Die Stämme des Tierreichs« das fossile Material 
vielfach unter neuen Gesichtspunkten zu erfassen und für die Stammes- 
geschichte nutzbar zu machen, aber auch er fand den leitenden Faden 


Historischer Überblick. 19 


im Chaos der vorweltlichen Schöpfung nicht, wie glücklich er auch 
in der phylogenetischen Deutung einzelner Tiergruppen war. 

Wer sich über diese und andre Versuche, das fossile Material 
für die Entwicklungslehre dienstbar zu machen, einen bequemen 
Überblick verschaffen will, sei auf Drr&rers »Les transformations 
du monde animal« verwiesen. Das Buch enthält eine übersichtliche 
Darstellung des heutigen Standes der Wissenschaft von der Hand 
eines kenntnisreichen und keineswegs unkritischen Paläontologen. 
Es zeigt uns aber auch zugleich ganz deutlich und klar, wie schwer 
es hält, die Gesamtheit der eigentlichen Probleme, die der Geologe 
und Paläontologe in dem heutigen Stande der Abstammungslehre 
finden sollte, als solche zu erkennen und aus der Überfülle von Tat- 
sachen und Erklärungsversuchen herauszuschälen. Wohl alle Geo- 
logen und Paläontologen, soweit sie sich nicht auf die Beschreibung von 
neuem Material beschränken, sondern auch den Fragen von allgemeiner 
Bedeutung ihr Interesse zuwenden, haben die Ungereimtheiten heraus- 
gefühlt, die zwischen dem stummen und doch vielsagenden fossilen 
Material und den unumstößlichen geologischen Erfahrungen auf der 
einen Seite und zwischen den beredten Darlegungen der Entwicklungs- 
lehre von heute, in welcher Gestalt sie auch auftritt, bestehen. Der 
passive Widerstand, dem nicht die Entwicklungslehre als solche, 
sondern ihre darwinistische oder ultradarwinistische Einkleidung bei 
den Paläontologen und Geologen vielfach begegnet, 'ist ein deutlicher 
Hinweis auf das Unzulängliche der Lehre in ihrer heutigen Fassung. 
Denn keine anderen Wissenszweige könnten diese Lehre in zutreffender 
Form wärmer aufnehmen und besser ausnützen, als die, welche die 
Geschichte der Erde und ihrer Bewohner zu erforschen suchen. Aber 
gerade auf dieser Seite zeigt sich die größte Zurückhaltung und er- 
tönen die Warnrufe am lautesten. 

So hat Zırrer im Jahre 1894 nicht ohne eine gewisse Resigna- 
tion festgestellt, daß bei der heutigen Auffassung vom Entwicklungs- 
sange der organischen Welt ungelöste Probleme bestehen bleiben. 
Nach ihm können wir das » Aussterben der Arten«, wie man euphe- 
mistisch das wiederholte Verschwinden großer Bruchteile der Schöpfung 
bezeichnet, nicht immer hinreichend begreifen; ebensowenig lassen sich 
die Übergangsformen zwischen den großen Abteilungen des Tier- und 
Pflanzenreichs, die die Abstammungslehre vorschreibt, auffinden. Ich 
selbst habe im Jahre 1899 diese und andere Probleme der Ent- 
wicklungslehre, deren Lösung ich schon 10 Jahre früher prak- 
tisch versucht hatte, deutlich als das gegebene Angriffsziel der 
Forschung hingestellt und den Weg bezeichnet, der einzuschlagen 

D* 


210) Probleme. 


ist, um zu einer befriedigenden Auffassung zu gelangen. Einzelne 
Fragen sind auch von anderer Seite, besonders von KoKkEn, JÄKEL, 
in Angriff genommen worden. Ich werde nun zunächst diese Probleme 
herausstellen und erörtern, ehe ich versuche, den Weg zu ihrer Lösung 
aufzuzeigen. 


II. Die Probleme. 


In dem Entwicklungsgange der Schöpfung, wie er sich uns heute 
darstellt, sehe ich wenigstens vier große, ungelöste Probleme; das sind: 

1. Das Aussterben der Arten oder richtiger das wieder- 
holte Verschwinden großer Gruppen von Tieren und 
Pflanzen. 

2. Die plötzliche und reiche Entfaltung neuer Gruppen. 

3. Das Fehlen von Übergangsgliedern zwischen den 
großen Abteilungen des Tier- und Pflanzenreichs. 

4. Die Unverständlichkeit des gesamten Entwicklungs- 
ganges. 


1. Das Aussterben der Arten und das Verschwinden großer 
Gruppen von Tieren und Pflanzen. 


Man nimmt es gewöhnlich als feststehend und selbstverständlich 
hin, daß viele Tier- und Pflanzenformen im Laufe der Zeit aus- 
gestorben sind, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Aber wenn wir 
Rechenschaft darüber ablegen sollen, wodurch dies geschehen ist, 
kommen wir immer in einige Verlegenheit. LamAarck kannte nur 
eine Ursache dafür — den Menschen. Auch heute können wir immer 
nur auf das Eingreifen oder die Mitwirkung des Menschen als Ur- 
sache verweisen, wenn wir sicher beglaubigte Beispiele für das voll- 
ständige Verschwinden von Tieren oder Pflanzen namhaft machen 
sollen. Soweit es sich nicht um ein Erlöschen, sondern nur um eine 
mehr oder weniger beträchtliche Einengung der Verbreitungsgebiete 
handelt, die vorübergehend oder dauernd eingetreten ist, lassen sich 
bekanntlich auch andere Faktoren ohne Schwierigkeit ausfindig machen. 
So haben in den zahlreichen Seen und Sümpfen, die zur Quartärzeit 
wiederholt in Mittel- und Nordeuropa bestanden, einige Wasser- und 
Sumpfpflanzen ziemlich häufig gelebt, die heute aus unserm Erdteile 
ganz verschwunden sind. Durch das Austrocknen der Seen und durch 
die wiederholte Eisbedeckung sind nach WEBER z. B. die Nymphaea- 
ceen Brasenia purpurea Mich. und Euryale europaea Web., sowie die 


Probleme. 21 


Oyperacee Dulichium spathaceum Pers. aus Europa ganz verdrängt 
worden; aber sie leben in andern Erdteilen unverändert oder wie 
Euryale durch eine kaum unterschiedene Varietät vertreten fort. Be- 
deuten solche Vorgänge allein nur eine Einschränkung der Wohn- 
gebiete, aber keine Verarmung der Pflanzenwelt an originellen 
Pflanzentypen, so können wir doch begreifen, wie durch wiederholtes 
Einsetzen geologischer oder klimatischer Vorgänge, die eine Tier- 
oder Pflanzenart stets im ungünstigen Sinne betreffen, diese schließ- 
lich ganz eliminiert werden kann, auch ohne irgendwelche Mitwirkung 
des Menschen. Immerhin fehlt es an gut beglaubigten Beispielen 
für einen solchen Vorgang. So sah ich im Herbst 1907 im British 
Museum (Natural History) zu Füßen der Bildsäule Darwıns eine Aus- 
stellung von dem Modell eines Fisches der Ostküste Nordamerikas, 
Lopholatilus chamaeleonticeps, mit der Bemerkung, daß dieser früher 
häufige Fisch im März 1882 fast vollständig verschwunden sei, wahr- 
scheinlich infolge von Zufuhr kalten Wassers. Dies sei einer der 
sehr wenigen Fälle, in denen man eine nahezu vollständige 
Vernichtung einer Art durch natürliche Vorgänge kenne, d. h. ohne 
Dazwischentreten des Menschen als Jäger oder als Träger von Krank- 
heiten. Eine bemerkenswert objektive Feststellung fast 50 Jahre nach 
dem Erscheinen von Darwıns Buch über die Entstehung der Arten! 
Da nun aber doch wahrscheinlich eine große Menge von auffallenden 
Tiergestalten heute und z. T. auch schon seit längerer Zeit nicht 
mehr vorhanden sind, obgleich sie in früheren Erdperioden üppig ent- 
wickelt waren, so haben wir zunächst aus der Erdgeschichte zu er- 
mitteln, ob es Vorgänge gibt, die das Verschwinden von Tieren und 
Pflanzen in größerem Umfange herbeigeführt haben können. 

Die Erdgeschichte lehrt uns einen nie rastenden Wechsel der 
äußeren Lebensbedingungen für Tiere wie für Pflanzen, soweit wir 
diese in die Vorzeit zurückverfolgen können; die Ursache dieses 
Wechsels liegt teils in geologischen, teils in klimatischen Vorgängen. 
Die Bewohner des Meeres werden hierdurch zumeist in andrer Weise 
betroffen als die des Festlandes. Es möge aber gleich betont werden, 
daß alle Veränderungen, die den Bestand der Organismen in erheb- 
lichem Maße beeinflussen, sich langsam, für unsre menschlichen Vor- 
stellungen unendlich langsam vollziehen. Dadurch wird ihre geo- 
logische Gesamtwirkung zwar nicht herabgedrückt, aber ihr ungünstiger 
Einfluß auf den Bestand der lebenden Welt erfährt dadurch doch 
eine beträchtliche Abschwächung. 

Es vollziehen sich vor unsern Augen zuweilen Vorgänge, die zu 
einer plötzlichen Vernichtung zahlreicher Tier- und Pflanzenindivi- 


22 Probleme. 


duen führen. Dahin sind z. B. vulkanische Ausbrüche, ausgedehnte 
Überschwemmungen und ungewöhnlich starke Springfluten zu zählen. 
Wie verderblich sie auch das Leben in dem Bereiche ihrer Tätigkeit 
beeinflussen, ihre Wirkung beschränkt sich doch im allgemeinen auf 
die Vertilgung einer geringern oder größern Zahl von Einzelwesen, 
ohne daß der Bestand der Arten dadurch gefährdet würde. In Aus- 
nahmefällen mag dies wohl eintreten. Wenn eine vulkanische Insel, 
wie Krakatau im Jahre 1883, durch eine Explosion in die Luft ge- 
sprengt und alles Leben auf ihr zerstört wird, so kann dabei na- 
türlich auch gelegentlich eine Tier- oder Pflanzenart, vielleicht auch 
gerade der einzige Vertreter einer besondern Pflanzen- oder Tiergruppe 
zugrunde gehen, nicht nur soweit Bewohner der Insel selbst in Frage 
kommen, sondern unter Umständen auch von Meeresbewohnern, die 
in der Nähe der Insel leben und die dabei mit Asche und Schlacke 
zugedeckt werden. Eine Sturmflut, die alles Lebende von einer 
flachen Koralleninsel im Ozean abkehrt, vermag eine ähnlich ver- 
derbliche Wirkung zu erzielen. Doch ist die Wahrscheinlichkeit ge- 
ring, daß durch solche Vorgänge der Formenschatz der Natur merk- 
lich verringert wird. Denn kleinere Vulkaninseln besitzen gewöhnlich 
fast die gleiche Tier- und Pflanzenwelt wie größere Inseln in ihrer 
Nähe oder wie das benachbarte Festland, und lokale Rassen kommen 
für die Frage nicht in Betracht, die uns hier beschäftigt. Auch die 
Bewohner des Meeres erleiden durch solche Vorgänge keine wesent- 
liche Einbuße, da diese nur selten ein so beschränktes Verbreitungs- 
gebiet besitzen, wie es erforderlich wäre, um den Bestand einer Art 
auf diese Weise wesentlich zu gefährden. Nach ungewöhnlich großen 
Springfluten ist die Küste in der Regel mit großen Mengen von Meeres- 
tieren und -pflanzen bedeckt, die vom Grunde heraufgebracht oder 
aus der hohen See angetrieben sind. Zahlreiche Individuen sind 
jedesmal vernichtet; aber jede Sturmflut wirft immer wieder ungefähr 
die gleichen Formen herauf, es kann der Bestand der Arten hierdurch 
also nur in Ausnahmefällen bedroht sein. »Sintfluten« kommt, wie wir 
wissen, immer nur eine örtliche Bedeutung zu, und auch die weite 
Landstrecken überdeckenden Löß-Sintfluten, die sich am zähesten in 
den Köpfen der Geologen und Laien erhalten haben, verschwinden 
allmählich aus dem Repertoire der Diluvialgeologie. 

So können wir in entsprechender Würdigung aller derartiger 
plötzlicher Vorgänge nach dem heutigen Stande der Wissenschaft 
sagen: weder Tier- noch Pflanzenwelt sind durch sie im 
Laufe der Erdgeschichte jemals merklich beeinträchtigt 
worden; ein vorübergehender Rückgang der Individuenzahl ist ihre 


Probleme. 23 


einzige bedeutsame Wirkung. Ausnahmsweise mögen dadurch auch 
einzelne Arten oder kleine Lebensgemeinschaften von ganz beschränkter 
Verbreitung vernichtet worden sein. — Die geologischen und klima- 
tischen Veränderungen von langsamer Wirkungsweise behandeln wir 
am besten getrennt. Ss 

Die Geologischen Veränderungen kommen wesentlich zustande 
durch die Unbeständigkeit der festen Erdrinde einerseits, der Wasser- 
hülle andrerseits. Beide haben nie gerastet, so lange es organisches 
Leben auf der Erde gibt, denn soweit wir auch die Geschichte 
der Meere und Festländer in die Vorzeit verfolgen, stets finden 
wir sie im beständigen Wandel begriffen. Unausgesetzt, wie die 
Atemzüge eines lebendigen Wesens, sehen wir die Erdrinde sich 
unmerklich langsam heben und senken, doch haftet die Bewegung 
nicht am gleichen Ort, ihr Wechsel gleicht dem unstäten Farben- 
spiele des Ohamäleons; und diese Unbeständigkeit des Bodens spiegelt 
sich in der Verlagerung der Meere wieder. Daneben und unabhängig 
davon wird der Meeresspiegel andauernd aufwärts geschoben durch 
die Auffüllung der Meere mit Sediment, das Flüsse, Wind und Eis 
in sie hineintragen, und das sich als chemisch-organischer Nieder- 
schlag auf dem Boden anhäuft. Soweit uns aber ein Einblick in diese 
Vorgänge in früherer Zeit gestattet ist, sind ihre Wirkungen doch 
einer gewissen Gesetzmäßigkeit nicht ganz bar. Wir sind berechtigt 
anzunehmen, daß das heute sichtbare Massenverhältnis zwischen Fest- 
land und Meer, wonach vom Meere ein erheblich größerer Teil der 
Erdoberfläche eingenommen wird als vom Festlande, auch früher wohl 
jederzeit bestanden hat — was keineswegs Schwankungen von einem 
gewissen Betrage ausschließt. Aus unsern heutigen Erfahrungen 
dürfen wir aber auch schließen, daß ungeachtet der nie rastenden 
Verschiebungen mehrfach große Festlandsmassen ebenso wie gewal- 
tige Meeresbecken längere Zeit hindurch angenähert den gleichen 
Platz und ähnliches Ausmaß behauptet haben. Mit solch relativer 
Beständigkeit paart sich aber offenkundig ein tiefgreifender Wechsel, 
denn unzweifelhafte Tiefseeabsätze durchziehen die hohen Ketten- 
gebirge und Bergländer fast aller Erdteile, breite Meerestiefen gähnen 
heute zwischen den Bruchstücken zertrümmerter Festländer der Vor- 
zeit. Das allen diesen Vorgängen gemeinsame Merkmal liest aber 
in dem langsamen Tempo, mit dem sie sich vollziehen. Als Folge 
der Erdbeben von Alaska hat man in der Yakutatbai hier ein Auf- 
tauchen des Meeresgrundes entlang der Küste, dort ein Versinken von 
Küstenstreifen beobachtet, und aus der fortgesetzten Häufung der- 
artiger Verschiebungen können wir uns die gewaltigen Gesamtbeträge 


94 Probleme. 


erklären, von denen die Erdgeschichte berichtet. Jede einzelne Phase 
dieser Vorgänge erreicht nur einen geringen Betrag, einerlei ob sie 
sich ruckweise oder in gleichmäßig fortlaufenden Niveauverschiebungen 
vollziehen, und darin liegt das Bedeutsame für unsere Betrachtungen. 
Denn wenn auch durch jede Verschiebung der Grenzen zwischen 
festem Land und Meer die Wohngebiete von Tieren und Pflanzen 
und damit häufig auch ihre Lebensbedingungen im Meere und auf 
den Festen ein wenig verschoben, und wenn die Organismen hier- 
durch auch in ihrer Lebenstätigkeit beeinflußt werden, so bedeutet 
das alles doch keine wesentliche Beeinträchtigung ihrer Existenzfähig- 
keit und ihres Gresamtbestandes. Das Höchstmaß dieser Vorgänge, 
wie es bei ungewöhnlich ungünstigen Verhältnissen erreicht werden 
kann, dürfte ungefähr folgendes sein: | 
Wir betrachten zunächst die Wirkungen der Meerestransgressionen, - 
mit andern Worten der Überflutung bestehender Festländer. Wenn 
diese in verhältnismäßig kurzer Zeit große Beträge erreichen, ver- 
schieben sich die Wohngebiete für die Bewohner des Festlandes wie 
für die der Meere. Die Tier- und Pflanzenwelt des Festlandes wird 
dadurch eingeengt. Gruppen, Gattungen, Arten und Standortsvarie- 
täten, die vorher getrennte oder nur wenig übereinandergreifende 
Wohngebiete besaßen, werden auf einen engeren, gemeinsamen Raum 
zusammengedrängt und gemischt. Die so entstandene Fauna und 
Flora stellt im wesentlichen eine Addition der früher vorhandenen 
Formen dar; zugleich ist eine Ursache für neue »Anpassungen« ge- 
geben. Durch ungünstiges Zusammentreffen von Umständen mögen 
auch einzelne Formen ganz eliminiert werden, oder Festlandsbewohner, 
die an den Aufenthalt im Wasser schon gewöhnt waren, mögen sich 
zu Meeresbewohnern umwandeln, wie das bei Säugetieren, z. T. auch 
bei Reptilien jedenfalls wiederholt geschehen ist (Seehunde, Robben, 
Seekühe, Schildkröten). Da aber größere Festländer auch nur im 
Laufe sehr großer Zeiträume zerstückelt und schließlich vom Meere 
überwältigt werden, und da normalerweise die Festlandsstücke sich 
im Laufe der Zeit durch neu entstehende Landverbindungen an andre 
Festländer anschließen oder durch Teile des gehobenen Meeresbodens 
wieder anwachsen, so werden durch die Meerestransgressionen jeweils 
auch nur kleinere Bruchstücke der Lebewelt endgültig ausgeschaltet 
sein. _So läge ein vollständiges Verschwinden der Galapagosinseln 
unter dem Meer wohl nicht außerhalb der Möglichkeit geologischen 
Geschehens; es würde eine ganze Anzahl von Tier- und Pflanzen- 
formen, fast eine ganze Gemeinschaft, ausmerzen. Noch stärker - 
würde der Formenschatz der Natur durch das gänzliche Verschwinden 


Probleme. 25 


von Madagaskar oder Neuseeland beschnitten werden; es mag aber 
mit Recht bezweifelt werden, ob solch große Festlandsstücke ver- 
gehen können, ohne daß zugleich neue Landverbindungen ihren 
Bewohnern die Möglichkeit gewähren, auf ein andres Festland über- 
zusiedeln. Wie bedeutsam oder wie gering wir aber die Folgen solcher 
Transgressionen bewerten, eine wesentliche Tatsache wird dadurch 
nicht geändert: Landpflanzen und -tiere mit ausgedehnten Verbrei- 
tungsgebieten können davon immer nur in unbedeutendem Maße be- 
troffen, ihr Formenschatz kann dadurch wohl beschnitten, niemals 
aber ihr gesamter Bestand bedroht werden. Das wäre wohl nur 
denkbar, wenn ein tückisches Schicksal wiederholt immer gerade die- 
selbe Tier- und Pflanzengemeinschaft in derartiger Weise bedrängt 
hätte, was zu ihrer allmählichen Verminderung und schließlichen 
‚Vernichtung im Laufe sehr langer Zeiträume geführt haben könnte. 
Weder ein plötzliches Erlöschen ausgedehnter Tier- und 
Pflanzengesellschaften auf verschiedenen Festländern, noch 
die Vernichtung einer großen systematischen Gruppe von 
weiter Verbreitung läßt sich auf diese Weise erklären. 
Während Transgressionen für die Bewohner des Festlandes eine 
Einengung ihrer Lebensbezirke, in ungünstigen Fällen auch eine teil- 
weise Vernichtung ihres Bestandes bedeuten, erschließen sie den 
Meeresbewohnern neue Wohngebiete. Dadurch können diese ihre 
bisherigen Verbreitungsgebiete allmählich ausdehnen und werden zu- 
gleich gezwungen, sich an neue Lebensbedingungen zu gewöhnen, die 
von den bisherigen, wenn auch nicht gerade beträchtlich, so doch weit 
genug verschieden sind, um die Veränderlichkeit auszulösen und die 
Rassen- oder Artteilung zu befördern. Denn wenn auch die Tiere, 
die einer Meerestransgression folgen, im Anfang nur solche Wohn- 
plätze aufsuchen, die ihnen eine normale Existenz gewähren, so er- 
möglicht doch das weitgehende Anpassungsvermögen der Organismen 
stets eine gewisse Existenzbreite. Wir dürfen daher erwarten, als 
Folge einer Transgression oft eine Vermehrung der Formen der 
Meerestiere und -pflanzen eintreten zu sehen. Wird durch eine Aus- 
weitung des Meeres eine neue, kürzere Verbindung zwischen zwei vor- 
her getrennten Gebieten hergestellt, so erfolgt naturgemäß eine mehr 
oder weniger vollständige Mischung der vorher getrennten Faunen 
und Floren, wie uns das die Landdurchstiche zwischen Mittelmeer 
und Rotem Meer und zwischen Ostsee und Nordsee in beschränktem 
Maße vor Augen geführt haben. Wenn dagegen eine Transgression 
an der Küste eines Meeres mit vielleicht nur armer Fauna und Flora 
beginnt und schrittweise immer weitere Teile von Festlandsmassen 


96 Probleme. 


überdeckt, ohne dabei mit andern Meeresteilen mit reicher Lebewelt 
in Verbindung zu treten, so kann dieser Vorgang jener vorher viel- 
leicht auf ein kleines Gebiet beschränkten Lebewelt nach und nach 
ein Verbreitungsgebiet von ungeheurer Ausdehnung erschließen. 
Denken wir uns z. B., die Nordsee würde zunächst die niederen Ost- 
seeländer, weiterhin das ganze niedere Gebiet Rußlands bis zum Ural 
und Kaukasus und südlich bis nach Persien und Turanien hinein, 
endlich das ganze westliche und nördliche Sibirien bis zur Behrings- 
straße hin überdecken, und die ausdauerndsten Flachseebewohner der 
Nordsee würden sich über diese Gebiete verbreiten und dabei nur 
untergeordnet von einigen Elementen des nördlichen Eismeeres durch- 
setzt werden, so hätten damit einige Tier- und Pflanzenformen ein 
immenses Verbreitungsgebiet und zugleich eine ausgedehnte Varia- 
tionsmöglichkeit erhalten. Daß sich dann gerade die Bewohner der 
Nordsee zu einer ungewöhnlich reichen Individuenfülle hätten ent- 
wickeln und dabei vielleicht in zahlreiche Rassen und Arten hätten 
spalten können, hat mit der Organisation der betreffenden Tiere und 
Pflanzen an sich so gut wie nichts zu tun, denn wesentlich die 
gleiche »explosive« Entwicklung würden die Bewohner des östlichen 
Mittelmeeres oder die des nordpazifischen Ozeans genommen haben, 
wenn die Transgression von einem dieser beiden Gebiete ausgegangen 
wäre. Der Zufall, oder richtiger gesagt, die historisch gegebene 
Gelegenheit ist als die wesentliche Ursache dafür anzusehen, daß 
gerade dieser bestimmte Teil der Tier- und Pflanzenwelt, vielleicht 
nur vorübergehend, so auffallend prosperiert. Wenn es sich nun 
weiterhin so träfe, daß dieses von der früheren Meeres- und daran 
anschließend von der Biotransgression betroffene Gebiet heute auch 
als Festlandsmasse bestände, so daß wir dort überall die Absätze 
jenes Meeres mit den darin enthaltenen Fossilien verfolgen könnten, 
während die sonstigen Meeresabsätze und -bewohner jener Zeit 
heute unter dem Meere begraben lägen, so würden wir ein ganz 
einseitiges Bild von der damaligen Lebewelt erhalten. Nur ein 
kleines Bruchstück, dieses aber in imponierender Ausgestaltung, 
gäbe uns Kunde von dem damaligen Stande. Die ganze geologische 
Überlieferung setzt sich aber aus solchen und ähnlichen Bruch- 
stücken verschiedener Zeiten zusammen, und wer aus diesen unvoll- 
kommenen Teilbildern sich den ganzen Entwicklungsgang aufbaut, 
schafft sich eine ganz irrige Vorstellung davon. Das geschieht aber 
bewußt oder unbewußt fast in allen Lehrbüchern der Geologie und 
Paläontologie: man nimmt die Zufälligkeiten der Biotransgressionen 
und der durchaus lückenhaften Überlieferung als Ausdruck eines 


Probleme. 2 


— allerdings ganz unverständlich bleibenden — natürlichen Ent- 
wicklungsprozesses der Organismen! 

Die Bewohner der größeren Meeresbecken werden durch solche 
Transgressionen wenig oder gar nicht beeinflußt, soweit sie an ihnen 
nicht direkt teilnehmen. Langsame und geringe Veränderungen der 
Meerestiefe und der Natur des Meeresbodens oder das teilweise 
Zurückweichen des Meeres verschieben wohl hier und dort die 
Wohngebiete, führen zur Entstehung neuer Lokalrassen oder zum 
Verschwinden bestehender. Eine Vernichtung ganzer Lebensgemein- 
schaften oder größerer systematischer Gruppen von erheblicher Ver- 
breitung kann damit nicht verknüpft sein, weil der gesamte Wasser- 
körper doch nur in verschwindendem Maße dadurch beeinflußt wird. 
Nur wenn ausgedehnte Regressionen eintreten, ganze Meeresteile da- 
durch vom Ozean abgeschnitten werden und durch reichlichen Zufluß 
an Süßwasser ausgesüßt werden oder durch unzureichenden versalzen 
oder austrocknen, geraten ihre Bewohner in Gefahr, unterzugehen. 

Denn solche starke Veränderungen des Elements können nur 
wenige Organismen mitmachen, die meisten sterben dabei ab. Der- 
artige Vorgänge sind uns ja auch tatsächlich bekannt. Ich brauche 
nur an die Geschichte des östlichen Mittelmeerbeckens zur jüngeren 
Tertiärzeit zu erinnern. Ein Teil des damaligen Mittelmeeres wird 
abgeschnürt und allmählich brackisch.h Die frühere Meeresfauna 
vermag sich nur zum Teil diesen neuen Verhältnissen anzubequemen, 
fast nur Mollusken und Seesäuger bevölkern das weit ausgedehnte 
sarmatische Binnenmeer von brackischem Oharakter. Da dieses aber 
allmählich nicht nur vollständig süß wird, sondern sich schließlich 
in eine Vielheit von kleinen Landseen auflöst, so verschwindet der 
größte Teil der Fauna vollständig. Hier haben wir also einen Vor- 
gang, der tatsächlich zum endgiltigen Absterben einer ganzen Tier- 
gesellschaft geführt hat, und ähnliche Ereignisse mögen sich im Laufe 
der Zeit mehrfach wiederholt haben. Aber vergessen wir nicht, daß 
derartige Veränderungen stets nur lokaler Natur sind und daher nur 
einen verschwindenden Bruchteil der Meereswelt in Mitleidenschaft 
ziehen können. Einzelne Zweige des großen Baumes, als welchen wir 
uns die Entwicklung gewöhnlich bildlich vorstellen, werden gestutzt, 
die Aste selbst aber nicht entfernt, der Verlust betrifft nur einige 
Äste in geringfügigem Maße. 

Als Folge von Regressionen sind aber noch weitere Änderungen 
der Lebewelt zu verzeichnen. Eine häufige Folge des Zurückweichens 
des Meeres besteht in der allmählichen Aussüßung von Meeresteilen 
(die zwar auch auf anderem Wege denkbar ist). Eine allmähliche 


28 Probleme. 


Verminderung des Salzgehaltes wird von manchen Tieren und Algen 
gut vertragen, und es ist daher leicht begreiflich, daß auf diese Weise 
Meeresbewohner schließlich zu Süßwasserbewohnern werden. Wenn 
dies mit allen Vertretern einer Meeresgattung geschieht, sei es zu 
gleicher Zeit oder in verschiedenen Zeiten, so scheidet sie als Glied 
der Meeresfauna gänzlich aus, und wenn nun der Vorgang selbst 
nicht historisch überliefert ist, so erscheint eine Gattung von Meeres- 
mollusken erloschen, während sie ın Wirklichkeit in einer Süßwasser- 
gattung, und zwar unter Umständen mit allen ihren Arten weiterlebt. 
Ein Beispiel, das diesen Fall gut illustriert, werden wir später bei 
Besprechung der Schizodonten (Trigoniden und Unioniden) kennen 
lernen. 

Meeresregressionen führen naturgemäß allgemein auch zu Re- 
gressionen der Liebewelt des Meeres. Früher ausgedehnte Ver- 
breitungsgebiete werden eingeengt, örtlich 'entstandene Rassen oder 
Abarten gehen dabei verloren und verschiedene, früher getrennte. 
Gemeinschaften werden in einem Wohnbezirke zusammengedrängt. 
Findet eine Tierart nicht ganz die gleichen, aber für sie doch erträg- 
lichen Lebensbedingungen, so schmiegt sie sich diesen an. So kann 
ein Bewohner der Flachsee allmählich zum Tiefseetiere werden oder 
eine leicht bewegliche, schon einigermaßen zum Freischwimmen ver- 
anlagte Form eine vollständig freischwimmende Lebensweise an- 
nehmen — kurz die Möglichkeiten der Veränderung sind mannigfaltig, 
zumeist so selbstverständlich, daß ich nicht länger dabei zu verweilen 
brauche. Nur die Wirkung auf die Landbewohner möge noch an- 
gedeutet werden. 

Was bei Transgressionen für die Meeresbewohner eintritt, näm- 
lich eine Erweiterung der Wohngebiete, gilt bei Regressionen für 
die Bewohner des Festlandes. Neues Land wird für Pflanzen und 
Tiere besiedelungsfähig; von welchen Formen es aber besiedelt wird, 
das hängt auch in diesem Falle weniger von deren Organisation als 
vielmehr davon ab, welche Tiere und Pflanzen sich dort gerade be- 
finden, wo das Festland Zuwachs erhält. Auch hier wird die 
Existenzbreite der Organismen durch die Gelegenheit gefördert; es 
können auf diese Weise Tier- oder Pflanzenarten, die lange Zeiten 
hindurch eine bescheidene Existenz auf engen Räumen geführt haben, 
zu ungemein großer Individuenzahl anwachsen und sich auf dem neu 
besiedelten Gebiete, da es wohl stets neue und auch mannigfaltig 
wechselnde Lebensbedingungen schafft, in neue Formen zerspalten. 
Stellt gar das zuwachsende Land eine Brücke zu einem schon be- 
stehenden Festlande her, wie das am Ende der Pliozänzeit mit dem 


Probleme. 29 


Verbindungsstück zwischen Nord- und Südamerika der Fall war, so 
wird der Existenzbereich der vordringenden Formen noch beträcht- 
lich erweitert. In dem vorliegenden Falle haben sich z. B. die 
Floren und Säugerfaunen des Nordens und Südens gemischt, die 
Pferde, Mastodonten, Paarhufer, Raubtiere usw. des Nordens sind 
bis gegen das Ende des südlichen Festlandes vorgedrungen, während 
sich die Riesenfaultiere und andere bezeichnende Formen des Südens 
bis über Mexiko hinaus in dem Nordkontinent verbreiteten. Das 
Bemerkenswerte an diesem Vorgange besteht in der friedlichen 
Mischung der heterogenen Faunen. Keine Vernichtung im Kampfe 
ums Dasein, wie wir sie nach unsern Büchern erwarten sollten, 
verdirbt die eine oder die andere Fauna, sondern beide leben ge- 
mischt bis heute, und nur die Mehrzahl der großen jagdbaren Ge- 
stalten fällt im Laufe der jüngeren Diluvialzeit dem Menschen zum 
Opfer. Das ist aber keineswegs ein ungewöhnliches Bild, vielmehr 
der Typus für derartige Vorgänge, wie sie sich zur Vorzeit oft 
wiederholt haben. Es hat nur einen Fehler: es widerspricht den 
Forderungen der Darwınschen Lehre in jeder Beziehung. 

Klimawechsel. Die alte, lange und mit Liebe gepflegte Vor- 
stellung, wonach die Erde bis zur Tertiärzeit ein gleichmäßig warmes 
Klima besessen hat, das sich erst im Laufe dieser Periode auf den 
jetzigen Stand abgekühlt hat, ist heute nicht mehr haltbar. Solange 
wir nur eine diluviale Eiszeit kannten und auch diese uns als eine 
einfache Abkühlungsperiode erschien, konnte jene Vorstellung zu 
Recht bestehen. Allein schon mit dem Nachweise mehrfach wieder- 
holter Eiszeiten während der Diluvialperiode mußte sie ins Wanken 
kommen, und die Feststellung einer permischen Eiszeit in niederen 
Breiten zu beiden Seiten des Äquators hat ihr endgiltig die Be- 
rechtigung entzogen. Heute wissen wir aber no6h mehr: schon zur 
paläozoischen Zeit hat es mehrere Eisperioden gegeben, und die 
älteste, die Baıtey Wıruıs kürzlich in China entdeckte, fällt etwa 
an die Grenze von Kambrium und Silur. Bedenken wir nun, daß 
die Spuren früherer Vereisungen leicht vergänglich und daher sicher- 
lich häufig ganz verwischt sind, erinnern wir uns ferner an die tri- 
viale und doch so oft unter der Bewußtseinsschwelle bleibende 
Tatsache, daß fast drei Viertel der Erdoberfläche und damit ein 
gewaltiger Teil solcher Spuren vom Meere bedeckt werden, so sind 
wir berechtigt, den Eintritt von Eisperioden als eine häufig wieder- 
holte, man möchte sagen normale Erscheinungsform der Verände- 
rungen zu betrachten, denen die Erde im Laufe der biohistorischen 
Zeit (d. h. vom Beginn des Kambriums an) ausgesetzt gewesen ist, 


30 Probleme. 


Haben wenige Jahrzehnte im Fortschritt der geologischen Forschung 
genügt, um statt einer Eisperiode deren drei oder vier zu erweisen, 
so lassen zukünftige Erweiterungen unsrer Kenntnisse auch eine 
fernere Vermehrung solcher Abkühlungsperioden erwarten. 

Als’ eine weitere, nicht minder wichtige Tatsache ist zu erwähnen, 
daß die älteren, d. h. die paläozoischen Eisperioden, die wir jetzt 
kennen, nicht die zirkumpolare Ausdehnung besessen haben wie die 
quartäre. So hat die permische Eiszeit nicht nur ein Gebiet niederer 
Breiten überdeckt, sondern ihre Ausgangsregion hat in Südafrika 
auch äquatorwärts gelegen; und auch die Spuren der übrigen palä- 
ozoischen Eisperioden sind zumeist nicht in zirkumpolaren Gebieten, 
sondern in Südafrika, Australien und Ohina aufgefunden worden. 
Wie die mehrfach beobachtete innige Verquickung der glazialen Ge- 
bilde mit Meeresabsätzen beweist, muß auch der Gedanke zurück- 
gewiesen werden, als handle es sich dabei um Spuren lokaler Hoch- 
gebirgsvergletscherungen. Sind es demnach vorwiegend Inlandeismassen 
gewesen, die ähnlich denen der Diluvialzeit wohl nur als zirkumpolare 
(sebilde gedacht werden können, so haben die Pole im Laufe der 
Zeit ihre Lage mehrfach gewechselt. Zu dem gleichen Ergebnisse 
führen die Funde fossiler Pflanzenreste in den arktischen und, wie 
O. NoRDENSKJÖLD ermittelt hat, auch in den antarktischen Regionen. 
Denn wir wissen jetzt, daß dort teils zur paläozoischen, teils zur 
mesozoischen, wie auch zur tertiären Zeit Pflanzen gewachsen sind, 
die unter den heutigen, ja selbst unter günstigeren Verhältnissen in 
der Nähe der Pole nicht wohl gedeihen können. 

Zur Auffindung der Gegenden, die zur Vorzeit unter einem 
tropischen oder subtropischen Klima gestanden haben, können uns 
die Rotsandsteinbildungen aus den verschiedenen Epochen der Erd- 
geschichte helfen. Soweit wir wissen, entstehen eisenoxydreiche und 
daher rot gefärbte Zersetzungsprodukte nicht in gemäßigten und 
kalten Klimaten, vielmehr finden wir den Typus dieser roten Zer- 
setzungsprodukte, den Laterit, heute nur in den Tropen. Denken 
wir uns diesen von Wasser (vielleicht auch mit vom Winde) auf- 
bereitet und zu einem geschichteten Absatze umgearbeitet, so kann 
nicht wohl etwas anderes daraus entstehen, als rotgefärbter Sand- 
stein und Ton. Nun liegen solche Rotsandsteine so ziemlich aus 
allen Zeiten vor, aber nur selten aus verschiedenen Zeiten in der 
gleichen Gegend. Sie scheinen wie die Glazialbildungen im Laufe 
der Zeit über die Erde fortzuwandern und beschränken sich keines- 
wegs auf die Gebiete, die heute unter einem tropischen Klima stehen, 
sondern sie sind zur Devonzeit in den nördlichen Teilen Amerikas 


# 


Probleme. al 


und Europas, zur Triaszeit in etwas südlicher gelegenen Gebieten 
der gleichen Festländer verbreitet gewesen. 

Über die Einzelheiten dieser Verschiebungen der Klimazonen 
im Laufe der Zeit sind wir heute erst mangelhaft unterrichtet, die 
Wege, auf denen Pole und Gleicher über die Erde gewandert sind, 
lassen sich kaum ahnen, und über die möglichen Ursachen der Eis- 
zeiten und Klimawechsel schweigen wir uns zurzeit am besten ganz 
aus, wenn wir auf dem Boden gesicherter Forschung bleiben wollen. 
Die Bedeutung dieser Vorgänge für die Lebewelt wird dadurch aber 
kaum beeinträchtigt. Alles spricht dafür, daß die Klimate ähnlich 
wie die Verteilung der festen und flüssigen Massen auf der Erde 
einem langsamen aber ständigen Wechsel unterworfen gewesen sind, 
und dieser hat wohl unausgesetzt die Existenzbedingungen der Tiere 
und Pflanzen, im Meere aber in ganz anderem Sinne als auf dem 
Festlande, beeinflußt. In welcher Weise das geschehen ist, kann uns 
am besten die jüngste Vergangenheit lehren, da sie die quartäre 
Eiszeit einbegreift. 

Die Wirkungen der diluvialen Eiszeit auf die Verbreitung der 
Tiere und Pflanzen sind so gut bekannt, daß ich nur an einige Tat- 
sachen zu erinnern brauche. Nordische Meereskonchylien wurden 
bis ins Mittelmeer nach Süden gedrängt; sie leben heute wieder an 
den Küsten Grönlands. Arktische oder Hochgebirgspflanzen wurden 
in die Ebene oder in tiefere Teile der Mittelgebirge getrieben, haben 
sich an kühlen und feuchten Orten auch vielfach erhalten, zumeist 
aber die Nähe des Eises wieder aufgesucht. Ähnliche Wanderungen 
unter dem Einflusse des vordringenden oder zurückweichenden Eises 
haben auch die Säugetiere gemacht. In den wärmeren und trocknen 
Zwischeneiszeiten sind dagegen wärmeliebende Pflanzen der heutigen 
Mittelmeer- oder Pontusregion nördlich der Alpen und hoch im Ge- 
birge verbreitet gewesen, Tiere der russischen Steppen sind bis in 
das Herz Mitteleuropas, ja bis zu den Pyrenäen vorgedrungen. Also 
mehrfache Verschiebung der Wohngebiete, zunächst unter Erhaltung 
der Lebensgewohnheiten, im besonderen der klimatischen Abhängig- 
keit der betreffenden Tiere und Pflanzen. Zweifellos haben aber 
auch manche Tiere und Pflanzen unter diesen mehrfach wiederholten 
Klimawechseln ihre Lebensgewohnheiten geändert. Mammut und 
wollhaariges Rhinozeros, also Angehörige wärmeliebender Tiergruppen, 
haben sich an das kalte Klima der nordsibirischen Tundren gewöhnt, 
während die Bergföhre, die noch zur Pliozänzeit mit Buxbaum, 
Gingko u. a. zusammen im Untermaintale lebte, sich fast ganz in die 
Gebirge zurückgezogen hat. Tiefgreifende Spaltungen der pliozänen 


323 Probleme. 


Floren sind zur Diluvialzeit vor sich gegangen, zum großen Teil 
jedenfalls verursacht durch die klimatischen Schwankungen. Was 
zur Pliozänzeit in einer Pflanzengesellschaft geeint im Untermaintale 
gelebt hat, ist, wie KInKELINn gezeigt hat, heute über Europa, Nord- 
amerika und Ostasien verzettelt. Ähnliche Verschiebungen und 
Spaltungen zeigen auch die Landschnecken und Wirbeltiere seit der 
Pliozänzeit. Sie sind die unvermeidliche Folge der wiederholten 
Klimaschwankungen zur Quartärzeit und der Veränderungen zwischen 
Festland und Meer, die sie begleitet haben. — Die Quartärzeit be- 
deutet zugleich eine beträchtliche 

Verarmung der Tierwelt. Ehe wir aber diesen Vorgang näher 
ins Auge fassen und ihn zu erklären versuchen, wollen wir uns einen 
Überblick über ähnliche Erscheinungen in der gesamten Organismen- 
welt verschaffen. Wir betrachten zunächst die Pflanzenwelt. 

Es gehört zu den bemerkenswertesten Erscheinungen im Ent- 
wicklungsgange der Pflanzenwelt, daß die höheren Blütenpflanzen 
— die Angiospermen, im besonderen die Dikotyledonen — von dem 
Zeitpunkte an, wo wir sie zum ersten Male reich entwickelt hervor- 
treten sehen (untere oder mittlere Kreide), bis auf den heutigen Tag 
keinerlei wesentliche Einbuße in ihrem Bestande erlitten 
haben. Während am Ende der Kreidezeit Meerestiere der ver- 
schiedensten Art (Ammoniten, Rudisten, Meersaurier) und mannig- 
fache Landtiere (Dinosaurier, Pterosaurier) vollständig verschwinden, 
andere Gruppen, wie Säuger und Vögel, einen mächtigen und an- 
scheinend unvorbereiteten Aufschwung nehmen, wird die höhere 
Pflanzenwelt von derartig tiefgreifenden Veränderungen durchaus 
nicht betroffen. Können wir doch kaum von irgendeiner Pflanzen- 
familie oder -gattung, die wir aus der Oberkreide kennen, bestimmt 
behaupten, daß sie seither ausgestorben wäre. Wie häufig die Pflanzen- 
welt seit der Kreide auch auf der Erde verschoben worden ist, wie 
oft auch ihre Bestandteile gemischt und entmischt worden sind, das 
Bild ihrer Existenzbreite hat selbst im einzelnen keine wesentliche 
Änderung erfahren. So konnte schon SarorrA vor 35 Jahren darauf 
hinweisen, daß die heute artenreichen Gattungen auch in der Vorzeit 
schon artenreich gewesen sind, und daß anderen ihre heutige Arten- 
armut schon seit langer Zeit angehaftet hat. ZeıLLer hat mit Recht 
betont, daß seit der mittleren Tertiärzeit auch zahlreiche Arten bis 
heute konstant geblieben sind; ihre Zahl ist sogar erheblich, sobald 
man die Art nicht in den allerengsten Rahmen einzwängt, wie das 
neuerdings vielfach geschieht, sondern wenn man darunter bei fossilen 
wie bei lebenden die Gesamtheit wenig abweichender Varietäten 


Probleme. 33 


einbegreift (Großart), die besonders bei den fossilen zunächst mit 
gesonderten Namen belegt worden sind. 

Die Unterschiede zwischen den pliozänen und heutigen Floren, 
soweit Blütenpflanzen überhaupt in Frage kommen, sind kaum 
nennenswert. Ausgestorbene Gattungen finden sich unter den plio- 
zänen überhaupt nicht, und die meisten der mit besonderen Namen 
belegten Arten stehen heute noch lebenden so außerordentlich nahe, 
daß es in die Willkür des einzelnen Forschers gestellt bleibt, ob er von 
verschiedenen Arten oder von Abarten sprechen will. Alles ın allem 
liefert aber die Geschichte der Blütenpflanzen seit dem Beginn der 
Kreidezeit einen vollgültigen Beweis für den hohen Grad von Wider- 
standsfähigkeit, der selbst Landpflanzen von verwickeltem Bau und 
geringer Wanderungsfähiskeit gegenüber den Einflüssen der Klima- 
schwankungen zukommt. Daß sogar die Diluvialzeit mit ihren wieder- 
holten und tiefgreifenden Wechseln an dem vorhandenen Bestande 
nicht hat rütteln, sondern nur die Verbreitungsgebiete vieler Formen 
und die Zusammensetzung der Pflanzengemeinschaften hat ändern 
können, gibt uns zu denken und veranlaßt uns genau festzustellen, 
ob die Tierwelt allgemein oder ob nur gewisse Teile derselben zur 
Quartärzeit verarmt sind. 

Für die Mehrzahl der wirbellosen Tiere liegen die fossilen 
Dokumente weit weniger vollständig vor als für die Blütenpflanzen, 
aber da, wo sie vorhanden sind, wie bei den Mollusken, die wir sowohl 
als Meeres- wie als Süßwasser- und Landbewohner aus diesem jüngsten 
Abschnitte der Erdgeschichte recht vollständig überblicken, reden sie 
eine ganz ähnliche Sprache. Unter den zahlreichen Muscheln und 
Schnecken, die uns aus der jüngeren Pliozänzeit überliefert sind, 
finden sich keine ausgestorbenen Gattungen und nur wenige ver- 
schwundene Arten, wenn wir hier wie bei den Pflanzen den Art- 
begriff nicht in seiner engsten Fassung nehmen. Auf keinen Fall 
dürfen wir von einer irgendwie nennenswerten Verarmung 
der wirbellosen Tierwelt während der Quartärzeit sprechen, 
wenn wir alles uns bekannte Material berücksichtigen. Eine solche 
trifft vielmehr ausschließlich für die Wirbeltiere zu, und auch 
bei ihnen nur für bestimmte Kategorien. Für ein Ärmerwerden der 
niederen Wirbeltiere, im besonderen der Fische, der Amphibien und 
der überwiegenden Mehrzahl der Reptilien während der Quartärzeit 
oder auch während des jüngeren Pliozäns liegen keinerlei Anhalts- 
punkte vor. »Zwischen Pliozän und Jetztzeit gibt es, soweit die 
Fische in Betracht kommen, kaum noch eine nennenswerte Differenz« 
(Zıttet). Unter den pliozänen Amphibien finden sich ebenfalls keine 


Steinmann, Abstammungslehre. 3 


34 Probleme. 


ausgestorbenen Gattungen. Von Reptilien sind nur wenige seit dem 
Pliozän verschwundene Formen bekannt, nämlich zwei sehr große 
Eidechsen, deren Reste im Quartär (oder gar im Postquartär?) 
Australiens gefunden werden, eine Schildkröte von gigantischen 
Dimensionen (Oolossochelys), deren fast 4m lange Panzer im Pliozän 
Südindiens vorkommen und die merkwürdige Gattung Miolania, 
deren riesige Reste in ganz jungen Ablagerungen Australiens liegen. 
Nur diese Riesengestalten haben die Quartärzeit nicht überdauert, 
sonst haben sich auch die Kriechtiere durch diese Zeit so gut wie 
unverändert erhalten. 

Bei den Vögeln macht sich der Einfluß der Quartärzeit schon 
in viel höherem Maße geltend als bei den niederen Wirbeltieren. 
Eine reiche Welt von gewaltig großen und zum Teil fremdartigen 
Liaufvögeln hat bis vor kurzem auf der Erde bestanden, so die Riesen- 
vögel von Madagaskar und die Moas von Neuseeland; alle zusammen 
wohl an die dreißig Arten. Soweit nicht ein historisch nachweis- 
bares Eingreifen des Menschen mitspielt, hat bei den Flugvögeln 
eine derartige Verarmung nicht stattgefunden. Auch hier wieder 
sind es, wie bei den Reptilien, die sehr großen und ans Land ge- 
fesselten Gestalten, deren Verschwinden in quartärer oder allerjüngster 
Zeit offenkundig wird. 

Die Säugetiere zerfallen in zwei große Gruppen nach ihrem 
Verhalten zur Diluvialzeit.e. Die eine umfaßt die Gesamtheit der 
Seesäugetiere, fast alle kleineren Landtiere und einen Bruchteil der 
größeren. Ihr phylogenetischer Bestand erscheint durch die Vor- 
gänge dieser Zeit kaum irgendwie berührt zu werden. Der andern 
Gruppe gehört die Mehrzahl der großen und mittelgroßen Landtiere 
aus den verschiedensten Abteilungen an, ohne daß irgendeine Be- 
ziehung zu ihrer besonderen Organisation ersichtlich wäre. Diese 
verschwinden im Laufe der Diluvialzeit entweder ganz, oder ihre ur- 
sprünglich mehr oder minder weit ausgedehnten Wohnbezirke werden 
eingeengt. Eine Übersicht über die wichtigsten Vertreter dieser 
Gruppe möge zur Erläuterung der eben erwähnten Tatsache dienen, 
daß die Zugehörigkeit zu einer bestimmten systematischen Abteilung 
für ihr Verschwinden nicht maßgebend gewesen ist. 

Marsupialia. In sehr jungen pleistozänen Ablagerungen Australiens 
kommen eine Anzahl sehr großer, ausgestorbener Beuteltiere vor, 
im besonderen der vielleicht fleischfressende Beutellöwe (T’hylacoleo), 
etwa von der Größe des Löwen; Känguruhs verschiedener Art, z. T. 
größer als die jetzt lebenden; die großen pflanzenfressenden Dipro- 
todon und Nototherium, ersterer etwa die Größe eines Nashorns 


Probleme. 35 


erreichend; Verwandte der Wombate bis zur Größe eines Tapirs 
(Phascolonus) ; ein Beutelwolf größer als der lebende und einige andere, 
weniger große Formen. 

Edentata. Die beiden umfangreichen Abteilungen der Gravi- 
graden (Riesenfaultiere) und Glyptodontia (Riesengürteltiere), einst 
die Charaktertiere Südamerikas und zeitweise z. T. bis ins Herz Nord- 
amerikas verbreitet, sind heute vollständig ausgestorben. Dazu ge- 
hören die Megatherien von fast Elephantengröße; die Megalonyx und 
ihre Verwandten, an Größe zwischen einem Wolf und einem Ochsen 
schwankend; die Mylodontiden mit mehreren Gattungen, deren Größe 
zwischen der eines Ochsen und eines Elephanten schwankt; ferner 
die etwa 10 Gattungen umfassenden Glyptodontiden, die an Größe 
kaum unter 1m herabsinken aber bis zu zirka 4 m Länge erreichen; 
auch die heute noch Südamerika bewohnenden Gürteltiere (Dasypoden) 
sind im Quartär durch ungewöhnlich große Gestalten vertreten, wie 
Chlamydotherium von der Größe eines Nashorns, andere wie Tatusia 
und Cheloniscus bis etwa metergroß. 

Rodentia. In Nordamerika sind seit der Diluvialzeit zwei biber- 
artige, aber ganz anders bezahnte Riesennager, Castoroides und 
Amblyrkiza, verschwunden; sie besaßen Bärengröße. Ein echter 
Biber, größer als der heutige (Trogontherium), hat in Europa gelebt, 
ein Wasserschwein (Hydrochoerus giganteus), doppelt so groß als das 
lebende, in Argentinien. Ob der riesigste aller Nager, Megamys, von 
Nashorngröße, erst mit der Diluvialzeit in Südamerika ausgestorben 
ist oder schon früher, erscheint noch ungewiß. 

Huftiere. Weitaus die Mehrzahl der verschwundenen Diluvial- 
tiere gehört dieser Sammelgruppe an. Wir besprechen zunächst 

die südamerikanischen Typen, die von denen der alten 
Welt durchgängig abweichen. Sie stellen bekanntlich eine Huftier- 
welt für sich dar, die eine geschlossene Entwicklung auf einem ab- 
gesonderten Festlande durchgemacht hat, und in der mehrere getrennte 
Gruppen enthalten sind; diese ähneln zwar den Huftieren der nörd- 
lichen Festländer in manchen Beziehungen, z. B. werden die Protero- 
theriden im Laufe der Zeit zu Einhufern wie die Pferde, aber soweit 
man weiß haben sie mit ihnen nichts anderes gemein, als daß sie 
auch huftragende Säuger sind. Fast alle ihre Stämme reichen 
bis an die Quartärzeit heran oder überdauern sie, heute sind sie aber 
alle verschwunden. 

Die pferdeähnlichen Proterotheriden erreichten Reh- bis Hirsch- 
größe; die Macraucheniden mit mehreren Gattungen bewegten sich 
zwischen der Größe eines Hirsches und eines Kamels; die Typo- 

BE 


36 Probleme. 


theriden schwanken in der Größe zwischen einem Hasen und einem 
Schwein; die Toxodontiden glichen ungefähr den Nashörnern. 

Die Huftiere der nördlichen Festländer sind zumeist wohl- 
bekannt. Ich erinnere nur an die gewaltige Größe der verschiedenen 
Elephanten- und Mastodontenarten der Quartärzeit, die über Europa, 
Asien, Afrika, Nord- und z. T. (Mastodon) auch über Südamerika 
verbreitet waren; ferner an die Pferde, die ebenfalls eine ungeheuer 
‘ weite Verbreitung besaßen. Die Nashörner, deren quartäre Arten 
z. T. die heutigen noch an Größe übertrafen. Auch unter den ver- 
schwundenen Schweinen, Nabelschweinen und Nilpferden befanden 
sich größere (z. T. auch kleinere) Arten als die heute lebenden. Einige 
ausgestorbene Arten von Kamelen und Llamas bewegten sich in den 
Größenverhältnissen der heutigen. Von den Hirschen verschiedener 
Größe sind mehrere zur Quartärzeit ausgestorben, darunter auch die 
riesigsten Gestalten, die je gelebt haben. Auch Giraffen wären zu 
erwähnen und vielleicht die fremdartigen Sivatherien, die in Indien 
bis an die untere Grenze der Quartärzeit bestanden haben. Schließlich 
sei noch an die Rinder der Diluvialzeit erinnert, von denen mehrere 
heute ebenfalls nicht mehr leben. 

Raubtiere. Viele größere und einige kleinere Raubtiere der 
Diluvialzeit sind heute verschwunden. Da aber ihr Verschwinden 
zumeist als eine unvermeidliche Folge der Abnahme oder des Ver- 
schwindens ihrer Beutetiere verstanden werden kann, so erscheint 
es unnötig, sie einzeln namhaft zu machen. 

Diese Aufzählung macht keineswegs den Anspruch auf Voll- 
ständigkeit, sie enthält nur die meisten und die markantesten Ge- 
stalten verschwundener Diluvialtiere. Sie ist ferner mit einem Fehler 
behaftet, der erst mit dem weiteren Fortschritt der Forschung wenigstens 
teilweise ausgemerzt werden kann. Wie die neueren Funde aus den 
früher unbekannten Höhlen Kaliforniens zeigen, dürfte die Zahl der 
verschwundenen Diluvialtiere von bedeutender Körpergröße noch er- 
heblicher sein, als sie jetzt erscheint. Zweifellos liegen auch manche 
Festlandsteile der Diluvialzeit, auf denen Reste damaliger Landtiere 
begraben sein können, heute unter dem Meeresspiegel. Es scheint 
darum keineswegs ausgeschlossen, daß von den Tieren, deren Resten 
wir zuletzt in pliozänen (oder miozänen) Ablagerungen begegnen, 
manche noch zur Diluvialzeit (oder auch in der Pliozänzeit) gelebt 
haben. Ungeachtet dieser Unvollkommenbheiten zeigt die obige Statistik 
folgende Ergebnisse von grundlegender Bedeutung auf. 

1. Die ausgestorbenen Tiere sind fast ausnahmslos Landbewohner 
und sie gehören den verschiedenartigsten Abteilungen an. Manche 


Probleme. 37 


systematische Gruppen sind ganz erloschen, wie die südamerikanischen 
Huftiere, die Riesenfaultiere und Riesengürteltiere, von andern Gruppen 
leben den ausgestorbenen ähnliche Vertreter heute noch fort; diese 
sind entweder fast durchgängig von geringerer Körpergröße (Beispiele: 
Beuteltiere, Nager, Gürteltiere), oder sie gleichen den ausgestorbenen 
in dieser Beziehung fast vollständig (Elefanten, Nashörner, Pferde usw.). 

2. Schnellfüßige Herdentiere sind nur spärlich darunter vertreten, 
die einzige derartige Gruppe sind die Pferde. Die Mehrzahl der aus- 
"gestorbenen Formen hat vielmehr eine schwerfällige Art der Fort- 
bewegung besessen oder begreift Tiere von mehr oder weniger iso- 
lierter Lebensweise. 

3. Allgemein sind nur Tiere von einer gewissen (etwa von Wolfs-) 
Größe an aufwärts ausgestorben. Wenn auch kleine Formen nicht 
ganz fehlen, so machen sie doch nur eine verschwindende Minder- 
heit aus. 

Um nun zu ergründen, welche Vorgänge das Verschwinden der 
Diluvialtiere veranlaßt haben, ist es wichtig zu wissen, zu welcher 
Phase der Diluvialzeit sie ausgestorben sind. Von sehr vielen können 
wir das heute nur annähernd genau sagen, von manchen aber wissen 
wir den Zeitpunkt ziemlich bestimmt. Von manchen geht die Über- 
lieferung schon zur Pliozänzeit oder mit dem Beginn der Diluvial- 
zeit verloren; andere verschwinden im Laufe der Quartärzeit und 
zwar vielfach nicht plötzlich, sondern allmählich; wieder andere 
haben alle die Klimaschwankungen überdauert und sind erst im 
Laufe der allerjüngsten Zeit ausgestorben, wo die klimatischen Ver- 
hältnisse von den heutigen kaum irgendwie verschieden waren. Das 
gilt nicht nur vom Mammut und vom wollhaarigen Nashorn, die sich 
im Aufeise Sibiriens finden, sondern vor allem von einem sehr großen 
Teile der südamerikanischen Huftiere, Edentaten usw., von den meisten 
australischen Formen und von mehreren Tieren Nordamerikas. Das 
gleiche Verhalten zeigen die Riesenvögel von Madagaskar und 
Neuseeland; letztere denkt man sich überhaupt wohl nicht an natür- 
lichen Ursachen zugrunde gegangen, sondern von den Eingeborenen 
vernichtet. 

Diese Tatsachen sprechen, wie man zugestehen wird, nicht ge- 
rade dafür, daß die Abkühlung des Klimas, die zu wiederholten 
Malen während der Quartärzeit eingetreten ist, einen so verderblichen 
Einfluß auf die Tierwelt ausgeübt habe. Selbst wenn man diesen 
für emige Bewohner der gemäßigten Zone in Europa und Asien zu- 
geben wollte, weil sich hier die Lebensbedingungen für große Tiere 
am stärksten geändert hätten, so könnte man diese Ursache doch 


38 Probleme. 


unmöglich gelten lassen für die Bewohner der beiden Amerikas, die 
ungehindert durch Gebirgswälle mit der gegen den Äquator zu ge- 
drängten Pflanzenwelt sich stets zusagende Wohnbezirke aufsuchen 
konnten. Auch für Madagaskar und Australien würde dieser Er- 
klärungsversuch wenig zutreffend erscheinen. Von einigen eurasia- 
tischen Tieren, wie Mammut und wollhaariges Nashorn, wissen wir 
aber, daß sie sich im Laufe der Diluvialzeit an das harte Klima und an 
die dürftige Nahrung gewöhnten, die das nördliche Sibirien darbot, 
und daß sie vortrefilich dabei gediehen. Indem man dieser Tatsache 
Rechnung trug, hat man umgekehrt die Ansicht zu äußern gewagt, daß 
diese Tiere ausgestorben seien, weil sie sich an das wieder wärmer 
werdende Klima nicht mehr hätten gewöhnen können. Die Schwäche 
dieser Erklärung liegt auf der Hand. Denn dieselben Tiere haben 
noch in der letzten Interglazialzeit auch unter einem milderen Klima 
sich wohl befunden, und selbst wenn sie dies in der Postglazialzeit 
nicht mehr gekonnt hätten, so hätte ihnen Nordsibirien doch bis 
heute ein hinreichend kühles Klima gewährleistet. 

Erinnern wir uns nun der oben besprochenen Beständigkeit der 
Pflanzenwelt, der niederen Tierwelt und aller kleineren Säuger wäh- 
rend der eiszeitlichen und nacheiszeitlichen Klimawechsel und tragen 
wir der unbezweifelten Anpassungsfähigkeit vieler Diluvialtiere an 
klimatische Verschiedenheiten Rechnung, so werden wir zu dem 
Schlusse gedrängt: die Klimaschwankungen, selbst beträcht- 
liche und wiederholte wie die diluvialen, haben auf den 
(resamtbestand der Tiere und Pflanzen keinen nennens- 
werten Einfluß, und das allgemeine Verschwinden der großen 
Säuger, Vögel und Reptilien in den jüngsten Zeiten der 
Erdgeschichte kann nicht durch Klimaschwankungen ver- 
ursacht sein. Zu demselben Ergebnisse sind vor mir auch andere 
Forscher gekommen; mir scheint es um so sicherer begründet zu 
sein, je mehr wir von den Tieren der Vorzeit erfahren haben und 
je tiefer wir in das Wesen der Klimaschwankungen eingedrungen 
sind. Begreiflicherweise hat man nach anderen Erklärungen ge- 
sucht, besonders auch an die Mitwirkung des Menschen bei diesem 
Vorgange gedacht, ja schon LamArck ist die Ausrottung durch den 
Menschen als der einzig mögliche Faktor dabei erschienen. Bevor 
ich aber prüfe, ob und inwieweit der Mensch herbeigezogen werden 
kann, mögen erst einige Worte über eine andere Art von Erklärungs- 
versuchen Platz finden. 

In der neueren Literatur über den Gang und die treibenden 
Ursachen der phylogenetischen Entwicklung nehmen Erörterungen 


Probleme. 39 


über gewisse Eigenschaften der belebten Natur einen breiten Raum 
ein, die zu einem selbständigen Erlöschen von Tier- und Pflanzen- 
gruppen oder von Gattungen oder von Arten führen sollen. Eine aus 
»natürlichen Ursachen« hervorgehende Abschwächung der Variabilität, 
die Erreichung einer gewaltigen Körpergröße, allzuweit gehende 
Spezialisierung gewisser Organe und ihrer Funktionen oder eine all- 
gemeine natürliche Stammsenilität, bald die eine, bald die andere 
dieser Ursachen, soll das Erlöschen von Tier- und Pflanzenstämmen 
verursacht haben und noch verursachen. Ich würde gern in eine 
Erörterung dieser Eigenschaften der belebten Natur und ihrer Folgen 
für das Erlöschen der Arten und Stämme eintreten, wenn ich mich in 
dieser Materie für kompetent halten könnte. Das ist leider nicht der 
Fall. Mir sind Anzeichen von solchen Eigenschaften weder an heutigen 
Wesen noch an solchen der Vorzeit jemals entgegengetreten. Wohl 
kenne ich ein Schwanken der Veränderlichkeit, ich glaube auch später 
Ursachen für eine Zunahme der Veränderlichkeit und Abschwächen der 
Variabilität in der Geschichte eines Tierstammes aufzeigen zu können, 
aber einen Rückgang der Variabilität aus nicht ersichtlichen »inneren« 
Ursachen, der zum Aussterben hinführte, habe ich nie beobachtet. 
Daß gewaltige Körpergröße das Verschwinden einer Tier- oder 
Pflanzenform herbeigeführt hätte, ist mir in keinem einzigen Falle 
bekannt geworden; im Gegenteil beweist mir die Existenz der Wale, 
Elefanten, Giraffen, Boas, der Lessonien, Eukalypten, Sequoia usw. usw., 
die nicht durch natürliche Vorgänge, höchstens bei einigen durch 
das Eingreifen des Menschen, bedroht erscheint, daß ungewöhn- 
liche Größe kein Hindernis für das Fortbestehen von Tieren und 
Pflanzen, weder auf dem Festlande noch im Meere bildet. Auch gelten 
mir Elefanten, Nilpferde, Strauße, Schlangen, Lungenfische, Einsiedler- 
krebse, Kakteen, Balanophoren usw. für ebensosehr oder ebensowenig 
spezialisierte Wesen, wie irgendwelche ausgestorbenen; aber sie 
prosperieren doch, wo der Mensch sie nicht stört. Und weit davon 
entfernt, in der belebten Natur irgendwo die Anzeichen einer be- 
ginnenden natürlichen Senilität gefunden zu haben, sehe ich, daß 
sich das Leben, in welcher Form und Äußerung es auch bestehen 
möge, immer und überall durchsetzt, unsterblich ist, wo brutale Ge- 
walt es nicht abtötet. Der einzige Trost dafür, daß ich in der 
Natur jene immanenten Schwächen nicht sehen kann, liegt für mich 
darin, daß ich diesen Mangel an Findigkeit mit Forschern von Namen 
und Verdienst teile, LAMARcK, NEUMAYR, WEISMANN u. a. m. Um 
nicht mißverstanden zu werden, will ich aber ausdrücklich betonen, 
daß mir Belege für die von Doro formulierte, aber auch sonst schon 


40 Probleme. 


hervorgehobene Gesetzmäßigkeit, wonach viele reduzierte oder in ge- 
wisser Richtung stark abgeänderte Organe nie mehr auf den früheren 
Zustand zuückgebracht werden können (das Gesetz der »Nicht- 
umkehrbarkeit der Entwicklung«), überall in der Natur vorhanden 
zu sein scheinen; ich verkenne also diese positiven Tatsachen nicht, 
die anderen Forschern genügen, um daraus vitalistische Gesetze ab- 
zuleiten; man braucht diese »Gesetze« aber nur, wenn man sich 
darauf versteift, das Aussterben vom Standpunkte der heutigen, un- 
vollkommenen Entwicklungslehre zu erklären und so lange, als es 
noch nicht gelungen ist, das Erlöschen von Tieren und Pflanzen auf 
andere, nicht vitalistische Weise zu deuten. 


Der Mensch als Vernichter der Tierwelt. 


»Raum für alle hat die Erde, 
Was verfolgst Du meine Herde ?« 


Die einzigen sicher beglaubigten Fälle vom Aussterben von Arten 
sind durch die Mitwirkung des Menschen zustande gekommen. Die 
STELLERScChe Seekuh, die Dronte, der Solitär, der Alk u. a. sind 
nachweislich Beispiele für die Ausrottung von Tierarten durch den 
zivilisierten Menschen, die Moas von Neuseeland aber sind wahrschein- 
lich unter den Händen des unzivilisierten Ureinwohners zugrunde ge- 
gangen. Unter unsern Augen vollzieht sich das Vernichtungswerk 
langsam aber unabwendbar an zahlreichen Tieren, sogar an manchen 
Pflanzen. Seitdem man in den prähistorischen Stationen aus paläo- 
lithischer Zeit die oft nach vielen Tausenden zählenden Reste von 
Jagdtieren des Menschen, Pferd, Renntier usw. kennen gelernt hat, 
zweifelt auch niemand mehr daran, daß der prähistorische Mensch 
auf der Kulturstufe des Jägers das Verschwinden der jagdbaren 
Diluvialtiere wesentlich mit befördert hat; die Meinungen gehen aber 
auseinander darüber, ob der Mensch der Vorzeit allein die Schuld 
an ihrem Verschwinden trägt. NEUMAYR hat in seiner Erdgeschichte 
die bekannten Tatsachen vom Aussterben der Diluvialtiere zusammen- 
gestellt und die Ursachen erörtert, die diesem zugrunde liegen können. 
Er gelangt dabei zu dem Schlusse, daß wir neben klimatischen Ur- 
sachen die Tätigkeit des Menschen zu berücksichtigen hätten, »der 
in jahrtausendelang fortgesetztem Ringen manche dieser Kolosse und 
der furchtbaren Raubtiere ausrottete«. Damit dürfte auch wohl die 
Auffassung der meisten Forscher übereinstimmen, die sich über diesen 
Gegenstand meist nur gelegentlich geäußert haben. Das Verschwinden 
der Diluvialtiere aus Europa glaubte NeumAyR aus der vereinigten 
Wirkung der Klimaschwankungen und der Tätigkeit des urgeschicht- 


Probleme. 41 


lichen Menschen hinreichend erklären zu können; aber für andre Ge- 
biete, im besondern für Südamerika, wo die geographischen Verhält- 
nisse günstiger liegen als in Europa, scheint ihm die Erklärung 
unzureichend. Er meint, wie sollte dies »der außerordentlich dünnen 
und auf niedriger Kulturstufe stehenden Urbevölkerung, z. B. des 
östlichen Südamerika gelungen sein, während es der hochstehenden 
und überaus dichten Bevölkerung Indiens nicht möglich gewesen ist, 
die ihre Felder vernichtenden Elefanten und Nashörner zu vertilgen«. 
Dieses Bedenken genügt ihm dann, um auch an der Berechtigung 
der Erklärung zu zweifeln, die er für die europäischen Verhältnisse 
gefunden zu haben glaubte. Denn er meint — und darin möchte 
ich ihm unbedingt beistimmen — »daß einer allgemein verbrei- 
teten Erscheinung auch eine allgemeine Ursache zugrunde 
liegen müsse«. Da nun NrumaAyr eine solche allgemeine Ursache 
nicht entdecken konnte, so gelangte er resigniert zu dem Ergebnisse, 
»daß uns das Aussterben der großen Diluvialtiere noch immer ein 
Rätsel ist«. Andre hervorragende Paläontologen haben sich in ähn- 
lichem Sinne geäußert; und alle sonst vorgebrachten Versuche, des 
Rätsels Lösung zu finden, scheinen mir mißlungen zu sein, sofern sie 
sich nicht mit der alten Lamarckschen Behauptung decken, daß der 
Mensch die alleinige Ursache dafür sei. 

In der oben wiedergegebenen Argumentation NrumAryrs liegt 
nämlich eine grundsätzliche Verkennung des Verhältnisses, das der 
Mensch auf verschiedenen Kulturstufen zu der Tierwelt einnimmt. 
Ackerbauer und Viehzüchter besitzen an der wilden Tierwelt nur in- 
soweit ein Interesse, als sie ihren Besitz stört, und ihre Tätigkeit be- 
schränkt sich im allgemeinen darauf, die ihnen lästigen Tiere fern- 
zuhalten oder sie gelegentlich zu verfolgen; für ihre Ernährung 
haben die Tiere kaum eine andre Bedeutung, als sie das Wild für unsre 
Küche besitzt. Schon zu einer systematischen Ausrottung der 
lästigen Tiere fehlt ihnen die Zeit und auch die dazu nötige Übung; 
an der zeitraubenden Vernichtung der ihnen nicht direkt schädlichen 
Tiere haben sie keinerlei Interesse. Ganz anders der Mensch auf 
der Kulturstufe des Jägers, wie wir ihn aus der paläolithischen Zeit 
Europas kennen, und wie er auf einer dieser wesentlich ähnlichen 
Kulturstufe im Laufe der Zeit alle Erdteile bevölkert und sie zum 
größten Teile auch durchzogen hat. Nur dort, wo der Mensch durch 
die Ergiebigkeit der Natur von vornherein auf vorwiegend pflanzliche 
Nahrung hingewiesen war, dürfte er das Kulturstadium des Jägers, 
der fast nur vom Ertrage der Jagd lebt, niemals durchgemacht 
haben, also in gewissen Teilen der tropischen oder subtropischen 


42 Probleme. 


Gebiete, soweit diese reich sind an fruchttragenden Pflanzen. Überall 
sonst kann die primitive Kulturstufe nur im Jägerleben bestanden 
haben. 

Nicht allein der Sonntagsjäger, selbst der waidgerechte Jäger, 
der in diesem Sport langjährige Erfahrung besitzt, kann sich nur 
schwer eine richtige Vorstellung davon machen, was die Jagd, zum 
Lebensunterhalt betrieben, für den Jäger wie für das Wild bedeutet. 
Man muß dauernd aus Hunger gejagt und sich vom Ertrage der 
Jagd allen genährt haben, um den unersättlichen Hunger zu wür- 
digen, der mit der ausschließlichen, vorwiegend mageren Fleischkost 
verbunden ist, um die Vernichtung richtig einzuschätzen, die diese 
Art Jagd unter den Tieren anrichtet, und um zu begreifen, wie rasch 
sich Ausdauer und Schlauheit, diese in viel stärkerem Maße als Mut, 
im Jäger entwickeln; sein ganzes Interesse ist bald nur auf den 
einen Gegenstand, das Wild, gerichtet. 

Leicht unterschätzt man die Ergiebigkeit der allereinfachsten 
Jagdmethoden, die wir weniger üben, im besondern des Hetzens und 
Einkreisens unter weitgehender Benutzung des dazu günstigen Terrains, 
wobei es nur der unvollkommensten Waffen, eines Steins oder Stocks, 
und nicht einmal der Mithilfe von Hunden bedarf. Wird eine Herde 
an einem durchschluchteten Berggehänge entlang gehetzt, so fällt 
stets ein gewisser Prozentsatz an jungen, an trächtigen und an ge- 
brechlichen Tieren in den Schluchten nieder, und der Jäger braucht 
sie nur zu erschlagen. Bei der Hetzjagd wird ein Dreieck zwischen 
zwei zusammentretenden Flüssen oder eine Halbinsel stets mit gutem 
Erfolge gewählt und an den Stellen, wo sich nach reichlichem Schnee- 
fall die Steppentiere um ein Gebüsch oder bei eintretenden Über- 
schwemmungen auf Inseln sammeln, findet der Jäger stets leichte 
Beute, auch ohne besondere Waffen zu besitzen. Die mit der Brunst- 
zeit häufig verknüpfte Arglosigkeit des Wildes nützt der Naturjäger 
ebenso aus wie der zivilisierte, und daß die prähistorischen Menschen 
mit Vorliebe die leicht zu erbeutende Brut gejagt haben, bezeugen 
die zahlreichen Skelettreste von jungen Tieren, die sich in manchen 
paläolithischen Stationen befinden. 

Daß der Jäger, wenn ihn keine moralischen Bedenken daran 
hindern, nicht nur soviel tötet, als er zum Lebensunterhalte braucht, 
sondern alles niedermacht, was in seinen Bereich gelangt, ist bekannt. 
Dieser Vernichtungstrieb beherrscht ja auch noch den größten Teil 
der zivilisierten Menschheit. Noch stärker als durch überflüssiges 
Abtöten wird aber die Vernichtung des Wildes durch die nie rastende 
Beunruhigung gefördert, der es von seiten des Naturjägers ausgesetzt 


Probleme. 43 


ist. Eine Schonzeit gibt es da nicht, und wie sehr der Bestand der 
Herde oder der Familie, im besondern die Aufzucht der Nachkommen- 
schaft, dadurch beeinträchtigt werden, braucht nicht erst auseinander- 
gesetzt zu werden. Für manche empfindliche Tiere genügt fortgesetzte 
Unruhe allein schon, um sie nach und nach zu vertreiben oder ihren 
Bestand auf ein geringes zu reduzieren. 

Wenn der Mensch als nomadisierender Jäger in ein wildreiches 
Gebiet eindringt, mag wohl längere Zeit vergehen, bis sich seine 
Tätigkeit an der Verminderung des Wildbestandes bemerklich macht. 
Allein in dem Maße, als sich sein Geschlecht vermehrt und über das 
ganze Gebiet ausbreitet und damit die normale Vermehrungsfähigkeit 
der Jagdtiere leidet, tritt ein Mißverhältnis ein, das sich nach einem 
gewissen Zeitpunkt rapid steigern muß. Denn der Jäger vermehrt sich 
nicht nur weiter, er lernt auch seinen Beruf von Tag zu Tag besser und 
vervollkommnet seine Waffen. Wird schließlich die Jagdbeute spärlich 
und findet er kein ergiebigeres Revier in der Nähe, so wird seine 
Ausdauer und Findigkeit noch gesteigert, und schließlich kommt er 
dahin, auch dem einzelnen Tier systematisch und in seiner Weise 
waidgerecht nachzustellen, dessen letzten Schlupfwinkel zu erspähen 
und es auszurotten. Wer sich eine zutreffende und plastische Vor- 
stellung von dieser Art der Jagd, von der zähen Ausdauer und Ge- 
duld des Wilden machen will, lese die anziehenden Schilderungen, 
die Passarce von der Jagd der Buschmänner in der Kalahari ge- 
liefert hat. Bei großen Laufvögeln vollzieht sich der Vernichtungs- 
vorgang begreiflicherweise noch viel rascher als bei Säugern, weil 
hier durch systematisches Einsammeln der Eier der Niedergang rapid 
beschleunigt wird. 

Die Funde der Grypotherium-Höhle bei Ultima Esperanza haben 
ein helles Streiflicht auf den Menschen als Vernichter der letzten Reste 
einst üppig entwickelter Tierformen geworfen. Hier hat man den 
Patagonier gewissermaßen in flagranti ertappt, wie er den wohl 
letzten Exemplaren der Riesenfaultiere, der Pferde usw., von denen 
die europäische Einwanderung nichts mehr sah, den Garaus machte. 
Das schwerfällige Grypotherium hat er sich als Wintervorrat ein- 
gefangen und es wohl auch gefüttert, zweifellos ohne Züchter zu 
sein, die Pferde und andern Tiere aber wohl nur gejagt. Und das 
alles hat sich kurz vor der Entdeckung Südamerikas, vielleicht sogar 
erst später abgespielt, denn wer die noch mit Fleischfetzen und 
Sehnen behafteten Knochen und die wohl erhaltenen Felle gesehen 
hat, die in den Museen von Argentinien und Chile sowie in Europa 
aufbewahrt werden, kann über das ganz jugendliche Alter dieser 


44 Probleme. 


Reste ebensowenig im Zweifel bleiben, wie derjenige, der die Lage 
der Höhle zu den jüngsten Bildungen der Eiszeit in Südpatagonien 
berücksichtigt. 

Mir ist nach meinen Jagderfahrungen in Patagonien die Bedeu- 
tung des Menschen als Vernichters der Tierwelt nicht mehr zweifel- 
haft gewesen. Wen diese Ausführungen aber nicht überzeugen, möge 
sich für die Beurteilung der Frage an die Statistik halten, die ich 
im vorigen Abschnitt (S. 33 ff.) gegeben habe. Dort wurde festgestellt, 
daß, von einzelnen Ausnahmen vielleicht abgesehen, nur eine ganz 
bestimmte Kategorie von Tieren während der Diluvialzeit ausgestorben 
ist, keine Meerestiere, keine Wirbellosen, keine Fische und von höheren 
Landwirbeltieren fast ausschließlich größere, jagdbare Formen 
oder Raubtiere, die von diesen leben. Diese Tatsachen reden 
eine ganz unzweideutige Sprache, sie schließen jede andre Erklärung aus 
und lassen uns den Menschen in seiner Bedeutung für das vorliegende 
Problem klar begreifen. Wir brauchen weder geologische oder klima- 
tische Vorgänge, noch kausal und damit wissenschaftlich unbegreif- 
liche, vitalistische Kräfte herbeizuziehn, um das Aussterben der Dilu- 
vialtiere zu erklären — der Mensch allein genügt vollkommen. Das 
wiederholte Vorrücken und Abschmelzen des Eises, der mehrfache 
Wechsel der Niederschlagsmengen und Vegetationsformen mögen dabei 
mitgewirkt und den Vernichtungsvorgang beschleunigt haben, etwa 
wie irgendein andres natürliches Hindernis; es ist auch nicht aus- 
geschlossen, daß die eine oder andre Art allein durch solche Vor- 
gänge ausgemerzt worden ist, die allgemeine Ursache aber, die 
der allgemeinen Verarmung der größeren Tiere auf allen 
Festländern zugrunde liegt, ist der Mensch. Ohne sein Ein- 
greifen in den natürlichen Bestand der Tierwelt würde diese heute 
wohl ebenso reich sein, wie zur Miozänzeit. Denn jetzt, wo die 
Existenz des Feuerstein schlagenden Menschen in Europa nicht nur 
für die ältere Pliozänzeit, sondern schon für die Oligozänzeit erwiesen 
sein dürfte, sind wir auch berechtigt, das Verschwinden zahlreicher 
jagdbarer Tiere zur Mio- und Pliozänzeit auf das Konto des Menschen 
zu Setzen. 

Wenn in dem Menschen allein die Ursache für das Aussterben 
der größeren Tiere zur Pliozän- und Diluvialzeit erblickt werden darf, 
erschließen sich unserem Verständnisse auch gewisse andre auffällige 
Erscheinungen. Wir begreifen, daß von den Diluvialtieren viele große 
und jagdbare Formen auch heute noch bestehen, Elefanten, Nas- 
hörner, Tapire, Nilpferd usw., denn diese leben in tropischen, zumeist 
in waldreichen Gebieten, wo echte Jägervölker nicht recht Fuß fassen 


Probleme. 45 


können. Die vorwiegend vom Ackerbau lebenden Bewohner haben 
ja aber, wie wir wissen, keine Veranlassung sie auszurotten. Das 
wird erst unter der Fahne der europäischen Zivilisation gelingen. 
Was aber von solchen Gattungen in den gemäßigten oder kalten 
Klimaten gelebt hat, wo viele Jahrtausende, wenn nicht Hundert- 
tausende von Jahren der vorgeschichtliche Jäger allein herrschte, das 
ist heute verschwunden. Manche Tiere sind durch die Kultur vor 
dem Aussterben bewahrt worden, wie das Pferd in Europa und Asien, 
wieder andre haben sich gehalten, weil sie vorwiegend Waldbewohner 
waren oder doch im Walde Zuflucht gefunden haben, wie viele Hirsche, 
während andre wie der Riesenhirsch nicht bestehen konnten, weil sie 
nicht in den Wald gingen. Die schnellfüßigen Herdentiere dagegen, 
wie Renntier, Antilopen, Gazellen, Guanakos usw. sind der Ver- 
nichtung zumeist entronnen, weil es einer ungleich viel längeren Zeit 
bedarf sie auszurotten, als bei den Tieren, die nicht in so ungeheurer 
Menge auftreten und die nicht dauernd eine große Geschwindigkeit 
entwickeln können. Die Pferde machen davon jedoch eine Ausnahme, 
wenigstens soweit Amerika in Frage kommt; sie sind aber auch sehr 
empfindlich gegen jede Beunruhigung und gedeihen, wie der Dschiggetai 
zeigt, nur dort, wo der Mensch überhaupt nicht hinkommt. 

Aus der Tätigkeit des Menschen allein verstehen wir auch die 
befremdliche Erscheinung des sehr ungleichzeitigen Verschwindens 
der Jagdtiere in verschiedenen Gegenden. Alle bekannten Tatsachen 
sprechen dafür, daß die Menschen in Eurasien viel früher aufgetreten 
sind, als in Amerika und Australien. Ist es nun richtig, daß mit der 
Ausbreitung des Menschen als Jäger sich die Verarmung der Tier- 
welt gesetzmäßig verknüpft, so dürfen wir erwarten, daß die jagdbare 
Tierwelt sich dort viel länger vollständig erhalten hat, wo der Mensch 
zuletzt, als dort wo er früher hingekommen ist. So erklärt sich auf 
einfache Weise das Fortbestehen der großen jagdbaren Tiere in 
Amerika, speziell in Südamerika bis in die postglaziale und historische 
Zeit, und das gleiche dürfte für Australien, Neuseeland, Madagaskar 
zutreffen. Umgekehrt kann man dann auch an der Verarmung der 
jagdbaren Tierwelt den »Siegeszug«e des Menschen als Jäger über 
die Erde verfolgen. 

Die Vernichtung des Lebendigen, soweit es dem Menschen zum 
Unterhalt dient, ist eine seiner bezeichnendsten Eigenschaften. Mag 
es Tier oder Mensch selbst sein, mag es ihm unmittelbar zur Nahrung 
dienen, oder nur zur Bekleidung oder dgl., mag es ihm indirekt durch 
sein Nichtvorhandensein nützen, — das bleibt sich gleich. Er unter- 
scheidet sich dadurch von aller übrigen Kreatur, daß er 


46 Probleme. 


systematisch vernichtet und ausrottet. Diese Fähigkeit ist noch 
an keinem andern lebenden Wesen bestimmt nachgewiesen worden. 
Wenn man dennoch den Tieren allgemein die Fähigkeit zugeschrieben 
hat, andre Wesen gänzlich zu vernichten, so hat man sich teils durch die 
wechselnde Prosperität leiten lassen, der Tiere und Pflanzen infolge 
der Änderung der Lebensbedingungen stets ausgesetzt sind, teils hat 
man die indirekte Mitwirkung des Menschen unberücksichtigt ge- 
lassen, die bei allen sicher beglaubigten Fällen von Ausrottung eines 
Lebewesens durch ein andres mitspielt. Hätte man nicht um jeden 
Preis eine Erklärung für das Verschwinden der zahlreichen Tier- und 
Pflanzengestalten im Laufe der Zeit ausfindig machen wollen, so wäre 
man auch wohl nicht dazu gekommen, einen Vorgang für allgemein 
wirksam und natürlich zu erklären, der sich bei genauerem Zusehen 
als ausschließlich menschlich erweist. Immerhin bleibt es be- 
greiflich, daß man bei durchaus ungenügender Naturerkenntnis einer 
Vorstellung einen maßgebenden Platz im Naturgeschehen angewiesen 
hat, die nur aus einer eminent menschlichen Tätigkeit abstrahiert ist. 


»Er nennt’s Vernunft und braucht's allein, 
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.« 


Wir sind am Ende unserer Betrachtungen über das Aussterben 
der Arten der Tier- und Pflanzengruppen angelangt und fassen die 
Ergebnisse folgendermaßen zusammen. d 

Es gibt nur zwei Vorgänge in der Natur, die den Bestand der 
Lebewelt bis zur Vernichtung beeinflussen, die geologischen und 
klimatischen Veränderungen, die jederzeit wirksam gewesen sind, 
solange das Leben auf der Erde besteht, und die ausrottende 
Tätigkeit des Menschen, die mit seinem Eintritt in die Natur, 
soweit wir heute wissen, mit der mittleren Tertiärzeit anhebt. Jene 
natürlichen Vorgänge dürften jederzeit die Schöpfung in geringfügigem 
Maße und ohne Rücksicht auf die Merkmale, nach denen sich Arten, 
(Gattungen usw. unterscheiden, beschnitten haben. Wir können diese 
Tätigkeit vergleichen mit der Arbeit des Gärtners, der eine üppig 
wachsende Baumgruppe regelmäßig hier und dort stutzt oder aus- 
ästet, ihr natürliches Wachstum aber nicht einengt. Das Eingreifen 
des Menschen beschränkt sich aber auf ein Einengen oder gänzliches 
Vernichten solcher Wesen, die ihm ökonomisch von Bedeutung 
sind, und auf eine ungewollte, unnatürliche Verschiebung der Lebens- 
bedingungen für manche Tiere und Pflanzen, wodurch gelegentlich 
auch wohl einzelne Arten dem Untergange zugeführt werden. Darüber 
hinaus kennen wir keine sicher beglaubigten Vorgänge, die zum voll- 


Probleme. 47 


ständigen Erlöschen von Tier- und Pflanzenformen führen, und darum 
bleibt das wiederholte Ausscheiden ganzer Tier- und 
Pflanzengruppen im Laufe der Erdgeschichte nach wie vor 
als ein ungelöstes Problem bestehen, wenigstens solange, als 
wir den genetischen Zusammenhang der Formen in der Weise suchen, 
wie es die Abstammungslehre von heute allgemein verlangt. Kann 
das Problem überhaupt gelöst werden, so muß dies auf anderen 
Wegen geschehen, als man sie bisher eingeschlagen hat. Denn alle 
Versuche, die man mit Hilfe der heute giltigen Vorstellungen zur 
Lösung des Rätsels gemacht hat, sind nur imstande gewesen, es uns 
noch deutlicher als früher und in seiner vollen Tragweite vor Augen 
zu führen. 


2. Das unvermittelte Erscheinen der Tier- und Pflanzen- 
gruppen. 

Es liegt, wie ich früher ausgeführt habe, in der regelmäßigen 
Wiederkehr der Transgressionen und Regressionen sowie der klima- 
tischen Wechsel begründet, daß die Wohnbezirke der Tiere und 
Pflanzen beständig verschoben und ihre Gemeinschaften häufig ge- 
spalten und von neuem vereinigt worden sind. Wie wertvoll diese 
Vorgänge auch für die Entwicklung der physischen Geschichte des 
Planeten sind, wie sehr sie auch die Feststellung einer gesicherten 
allgemeinen Chronologie erleichtern, so hinderlich erweisen sie sich 
für die Erforschung der Phylogenie. Denn nur selten finden wir ein 
zusammenhängendes Stück Lebensgeschichte eines Tier- oder Pflanzen- 
stammes an der gleichen Stelle oder auch nur in derselben Gegend 
verewigt, immer wieder sind die leitenden Fäden zerrissen; wir müssen 
von einem Kontinent zum andern wandern, wenn wir die einzelnen 
Stücke finden und aus ihnen den Lebensfaden zusammenknüpfen 
wollen. Das Beispiel des Ueratodusstammes, des bekannten Lungen- 
fisches, möge diese Schwierigkeiten verdeutlichen. Die paläozoischen 
Vertreter haben in wahrscheinlich brackischen Meeresteilen Nord- 
amerikas und Nordeuropas gelebt. Zur. Triaszeit finden wir ihre 
Nachkommen in Europa, Indien und Südafrika, zur Jurazeit in Nord- 
europa, Nordamerika und Australien, zur Kreidezeit lag ihr Wohn- 
bezirk in Mittelafrika, zur älteren Tertiärzeit in Patagonien und der 
heutige Vertreter lebt in Flüssen Neuseelands. Aber alle diese Funde 
bezeichnen nur einige wenige Etappen in dem unstäten Lebenslauf 
dieses Stammes; wo er sich in den Zwischenzeiten aufgehalten hat, 
wissen wir noch nicht. Je größer die Zeiträume, die zwischen den 
einzelnen uns bekannten Funden liegen, um so weniger vermittelt 


48 Probleme. 


erscheint uns das Auftreten. So kannte man noch vor kurzem keine 
Reste aus Kreide und Tertiär, und unvermittelt stand früher die 
lebende Art neben den jurassischen. Da aber gerade der Oeratodus- 
stamm im Laufe der Zeit nur ganz geringe Änderungen erfahren hat, 
konnte doch an der phylogenetischen Zusammengehörigkeit der leben- 
den Art mit der mesozoischen kein Zweifel aufkommen. 

Schon Ovvıer erklärte das unvermittelte Erscheinen neuer Tier- 
und Pflanzentypen durch Invasionen aus anderen Gegenden, in denen 
sie vorher gelebt hatten, die uns aber nicht bekannt sind, und später 
hat NeumAyr an besonderen Beispielen diesen Vorgang im einzelnen 
aufgedeckt. Wird auch die Verfolgung des phylogenetischen Zu- 
sammenhanges durch das stets wiederholte Verschwinden und unver- 
mittelte Wiedererscheinen an anderen Stellen der Erdoberfläche recht 
erschwert, so liegt doch keine grundsätzliche Schwierigkeit darin, 
wenn es sich um Stämme handelt, die sich im Laufe langer Zeit 
nur ganz unerheblich geändert haben, wie das für den Üeratodus- 
Stamm zutrifft. Solange wir dagegen nur zwei zeitlich weit ausein- 
ander liegende Glieder einer Stammreihe von rascher Veränderlich- 
keit kennen, z. B. das kleine vierzehige Hyracotherium mit einfachen 
Zähnen aus dem Eocän und das große einzehige Pferd mit ver- 
wickeltem Zahnbau aus dem Quartär, erscheint uns ersteres wohl 
als eine erloschene Form und letzteres als ein ganz unvermittelter 
Eindringling. Es hängt dann wesentlich von der Art der Vorstellung 
ab, die wir über den möglichen Gang der Umbildung gewonnen 
haben, ob wir die zusammengehörigen Fäden richtig verknüpfen oder 
nicht. Wie man sieht, liegt hier eine große Schwierigkeit vor; sie 
kann nur dadurch gehoben werden, daß wir an möglichst zahlreichen 
und recht vollständig überlieferten Stammreihen eine richtige Vor- 
stellung von der Art und Weise der Umbildung in den verschiedenen 
Tier- und Pflanzenstämmen zu gewinnen und durch Analogie die 
Lücken der stark unterbrochenen Stammreihen auszufüllen suchen. 
Jeder andere Weg ist nicht nur unsicher, er leitet uns auch leicht 
auf ganz falsche Fährten. Leider ist diese klare Sachlage bisher 
— sehr zum Nachteil der phylogenetischen Forschung — zumeist 
verkannt worden, und man hat sich der Illusion hingegeben, den 
Gang der Entwicklung deduktiv aus der heutigen Schöpfung ableiten 
zu können. 

Wenn formenreiche Tier- oder Pflanzengruppen in einem be- 
stimmten Meere oder auf einem isolierten Festlande längere Zeit 
abgeschlossen gelebt haben und diese Wohnbezirke heute unter dem 
Meere begraben liegen, so wissen wir von ihnen für den entsprechenden 


Probleme. 49 


Abschnitt ihrer Stammesgeschichte nichts. Sind sie dann später 
durch eine neu eröffnete Meeres- oder Landverbindung auf einen 
Teil der Erdoberfläche gelangt, dessen Fossilinhalt uns bekannt ge- 
worden ist, so scheint uns eine solche Gruppe ganz unvermittelt 
aufzutreten. Ist sie schon von vornherein sehr formenreich und 
variieren ihre Vertreter zugleich in reichem Maße, wie das bei Bio- 
transgressionen mit der Änderung der Lebensbedingungen häufig 
eintritt, so spricht man von einer schwer begreiflichen, »explo- 
siven« Entwicklung der betreffenden Gruppe und glaubt, darin einen 
Vorgang zu sehen, der ähnlich wie das plötzliche Erlöschen einer 
systematischen Gruppe aus den normalen Gesetzen der langsamen, 
schrittweisen Umbildung nicht erklärlich wird und daher ein plötz- 
liches Erwachen oder eine Steigerung der phyletischen »Lebenskraft« 
voraussetzt, mit andern Worten eine besondere, vitalistische Erklä- 
rung erfordert. 

Wäre eine solch explosive Entwicklung, die durch Reichtum 
und Mannigfaltiskeit neuer Merkmale und Formen aus dem Rahmen 
der sonst angenommenen langsamen und schrittweisen Umbildung 
herausfällt, wirklich in einer kleineren oder größeren Stammreihe mit 
Sicherheit festgestellt, so bliebe uns allerdings wohl kaum eine andere 
Erklärung übrig. Das ist aber meines Wissens nicht der Fall. Denn 
nur dann können wir einen solchen Vorgang als erwiesen betrachten, 
wenn auch die Geschichte des Stammes vollständig klarliest, wenn 
im besonderen sein Entwicklungsgang vor der explosiven Entfaltungs- 
periode auch in seinen Einzelheiten aufgedeckt ist. Für die Beispiele, 
die gewöhnlich angeführt werden, Angiospermen, Säugetiere usw., trifft 
das aber nicht zu. Man spricht zwar, wenn von der plötzlichen und 
ungewöhnlich reichen Entfaltung des Stammes der plazentalen Säuger 
die Rede ist, von ihren Vorfahren in der Kreidezeit oder von der 
primitiven Huftiergruppe, aus der sich die verschiedenen Zweige 
der Huftiere entwickelt haben sollen usw., — aber gesehen hat 
noch niemand etwas davon, wir operieren in diesem Falle aus- 
schließlich mit eingebildeten Formen. Wir wissen auch nicht, 
in welche Zeit der Ursprung der Huftier-Stammgruppe fällt, und ob 
sich ihre weitere Entwicklung bis zur Teertiärzeit in den Bahnen einer 
langsamen, schrittweisen Umbildung oder in denen einer ungewöhnlich 
beschleunigten, vielleicht sprungweisen vollzogen hat. Das Problem 
baut sich also, soweit es phylogenetischer Natur ist, nur auf der 
Grundlage unsrer Unkenntnis auf, d. h. es ist überhaupt kein 
Problem, wenn wir es nicht erst zu einem solchen erheben durch 
unbeweisbare Voraussetzungen, im vorliegenden Falle durch die 


Steinmann, Abstammungslehre. 4 


50 Probleme. 


Annahme, daß alle Huftiere auf eine einheitliche Stammgruppe zurück- 
gehen, die die gemeinsamen Merkmale aller Huftiere besessen hat. 
Sobald der Nachweis gelingt, daß diese Stammgruppe schon in sehr 
früher Zeit bestanden hat, so daß diese verschiedenartigen Huf- 
tiergruppen der älteren Tertiärzeit durch schrittweise Divergenz aus 
ihr entstanden sein könnten, oder wenn nur ein Zweifel an dem 
angenommenen einstämmigen Entwicklungsgange überhaupt berechtigt 
erscheint, fällt das Problem dahin. Wir täten daher besser, anstatt 
von einem phylogenetischen Problem zu sprechen und gar vitalisti-. 
sche Erklärungen dafür zu suchen, auf unsre Unwissenheit hinzu- 
weisen und die Relativität des Problems scharf zu betonen. 

Wohl aber darf man in der Frage der Entstehung der plazen- 
talen Säuger von einem geologischen Problem sprechen. Denn 
die Vorfahren der alttertiären Säuger müssen, gleichgültig wie sie 
beschaffen waren und wie sie sich entwickelt haben, als Säuger oder 
als niedrigere Vierfüßler irgendwo gelebt haben, und von diesem 
Festlande oder von diesen Festländern wissen wir so gut wie nichts. 
Es wäre Aufgabe der Geologie, nach der uns bekannten Verbreitung 
der Meere und Festländer zur mesozoischen Zeit diejenigen Stellen 
nachzuweisen, wo derartige Festlandsmassen bestanden haben können, 
auf denen die Reste der Vorläufer der Säuger zu finden wären, wenn 
sie nicht etwa heute vom Meere bedeckt sind. 


3. Das Fehlen von Ubergangsgliedern zwischen den größeren 
Abteilungen des Tier- und Pflanzenreichs. 


Je mehr das paläontologische Material angewachsen ist, umso 
zahlreicher sind die Beispiele für zusammenhängende Abstammungs- 
reihen geworden. Ja, wenn das Material nicht in zahlreichen Samm- 
lungen verzettelt, wenn nicht das neu hinzukommende auch heute 
noch vorwiegend nach geologischen Befunden (statt nach systemati- 
schen Gruppen) beschrieben würde, und wenn die wissenschaftlichen 
Kräfte und materiellen Hilfsmittel für die phylogenetische Erforschung 
des fossilen Materials nicht so unzureichend wären, so könnten wir 
leicht einen weit vollständigeren Überblick über den Entwicklungs- 
gang gewinnen, als wir ihn heute besitzen. Aber selbst bei dem 
heutigen, recht unvollkommenen Stande der phylogenetischen For- 
schung tritt doch ein Problem ganz klar heraus. Es ist das schrei- 
ende Mißverhältnis zwischen der großen Zahl kleiner, mehr 
oder weniger vollständig geschlossener Stammreihen und 
dem vollständigen Fehlen von Übergangsgliedern zwischen 


Probleme, 51 


den größeren Abteilungen, wie Stämmen, Klassen, Ord- 
nungen usw. Es kann sich dabei auch nicht um ein zufällig un- 
günstiges Zusammentreffen von Umständen handeln, denn die gleiche 
Diskrepanz wird im ganzen Tier- und Pflanzenreiche beobachtet. Da- 
für liegen reichlich Zeugnisse vor. Von diesen will ich nur zwei 
aus jüngster Zeit mitteilen, weil sie beide von kenntnisreichen und 
objektiv urteilenden Forschern herrühren, von denen der eine die 
fossile Pflanzenwelt, der andre die fossile Tierwelt, im besonderen 
die Säugetiere, in ausgiebigem Maße beherrscht. 

ZEILLER bespricht am Schlusse seiner «Elements de Pal6obota- 
nique» (1900) das häufige Fehlen von Verbindungsgliedern, das sich 
selbst bei der Verfolgung von Arten bemerkbar macht, und sagt 
dann: «La discontinuite est, on l’a vu, plus accentude encore, lors- 
qu’on s’adresse ä des groupes d’ordre plus eleve: si en effet quelques 
jalons nous mettent sur la trace de relations de parente entre tels 
ou tels de ces groupes ou viennent, en s’intercalant entre eux, di- 
minuer la distance qui les separait et faire presumer leur conver- 
gence vers une origine commune, les termes de transition nous font 
defaut ou les ancetres presumes nous Echappent. ... En tout cas, 
les origines des plus grands groupes demeurent enveloppes de la plus 
profonde obscurite, non seulement en ce qui concerne ceux pour 
lesquels il nous faudrait remonter A une date anterieure A celle des 
plus anciens documents que nous possedions, mais meme en ce qui 
regarde ceux dont il semblait, comme c’est le cas pour les Dicoty- 
ledones, qu'ils fussent apparus assez tard pour nous permettre de 
nous rendre compte par l’observation directe des conditions dans 
lesquelles ils ont pris naissance.» 

Un. Der£rer verdanken wir in seinen jüngst (1907) erschienenen 
«Transformations du Monde animal» einen ausgezeichneten Überblick 
über den heutigen Stand der Abstammungslehre, gemessen an sicher- 
gestellten Ergebnissen der Zoopaläontologie. Dieser Forscher betont 
mit Recht, daß die Paläontologie nur den Vorgang der langsamen, 
stufenweisen Umbildung kennt, der auch bis zur Entstehung neuer 
Gattungen hinleitet, aber bis heute keinen einzigen sicher beglaubigten 
Fall von sprungweiser Entstehung von Gattungen, Familien oder 
höheren Kategorien. Trotzdem seien gewisse Erscheinungen wohl 
danach angetan, eine solche Hypothese zu stützen, und sie würde 
die Herausbildung jener höheren Kategorien erklären können. «Ainsi 
l’evolution des £&tres fossiles presenterait deux mecanismes_ distincts: 
Yun continu, et pour ainsi dire normal, par lequel les rameaux phy- 
letigues une fois formes se developpent lentement et par mutations 

Ar 


59 Probleme. 


graduelles, suivant certaines lois, qui les conduisent fatalement A la 
senilite et & V’extinction; l’autre intermittent, et par lequel des ra- 
meaux nouveaux prennent naissance en divergeant des rameaux plus 
anciens et deja plus ou moins Evolues. ... Mais il faut savoir faire 
l’aveu,. que nous sommes & l’heure actuelle tout A fait impuissants 
& observer et möme ä& expliquer autrement que par de simples vues 
theoriques les divergences fondamentales, qui separent les ordres, 
les classes et les grands embranchements du Regne animal.» 

Diese offenen Geständnisse bekräftigen von neuem das betrü- 
bende Ergebnis, auf das schon früher ZırreL (1894) und ich selbst 
(1899) deutlich hingewiesen haben: Die paläontologische For- 
schung ist nicht imstande, die Übergangsformen zwischen 
den höheren Kategorien aufzuzeigen, wie sie die heutige 
Abstammungslehre fordert; die phyletische Herausbil- 
dung der Familien, Ordnungen, Klassen usw. ist ein Pro- 
blem. Dieses besteht aber noch in einem weit größeren Umfange, 
als man gewöhnlich denkt. Denn es fehlen uns nicht nur die ge- 
forderten Übergänge zwischen den höheren Kategorien, sondern auch 
zwischen den Gattungen und Arten. Es ist bisher ganz vergeblich 
gewesen, die gemeinsame Ausgangsform für die verschiedenen Arten 
vieler Gattungen unter dem fossilen Materiale ausfindig zu machen, 
z. B. für die Gattung Zrkinoceros, wie OsSBORN gezeigt hat, oder für 
eine beliebige Molluskengattung wie Rrhynchonella, Spondylus, Cras- 
satella, Pleurotoma oder Cerithium, ebenso für einzelne Sektionen 
solcher Gattungen. Ja, man kommt bei dem Versuche, die Arten 
einer Tiergattung nach dem fossilen Materiale voneinander abzu- 
leiten, leicht zu dem gleichen Ergebnisse, das ZEILLER für die 
Pflanzen ausspricht: «les especes, comme les genres, se succedent 
par voie de substitution et non par voie de transformation graduelle, 
et il parait &tre de mäme A tous les niveaux.» Das ist also der 
Bankrott der Abstammungslehre! Jedoch mit einer Einschränkung: 
nicht der Abstammungslehre überhaupt, sondern der Abstammungs- 
lehre in derjenigen Ausgestaltung, die man ihr unter fast grundsätz- 
licher Vernachlässigung des historischen Materials gegeben hat. Die 
Art der Übergänge und Umbildungen, die sie voraussetzt und ver- 
langt, kann weder der Tier- noch der Pflanzenpaläontologe finden. 
Also besteht auch dieses Problem nur solange, wie die eine be- 
stimmte Vorstellung, die von der monophyletischen Umbildung der 
organischen Wesen gültig ist. 


Probleme. 53 


4. Die Unverständlichkeit des gesamten Entwicklungs- 
ganges. 
Auf ein letztes Problem möchte ich nur anhangsweise aufmerksam 
- machen, da es weniger naturwissenschaftlicher als vielmehr natur- 
philosophischer Art ist. Da ich aber den hier zu behandelnden Ge- 
dankengang nirgends ausgesprochen gefunden habe, so dürfte es nicht 
unangebracht sein, ihn auseinanderzusetzen. 

Wir pflegen mit Stolz auf die Abstammungslehre zu blicken, weil 
sie uns anscheinend ein Begreifen der gesamten lebenden Natur von 
einem einheitlichen Gesichtspunkte ermöglicht. Das ist nach meiner 
Ansicht eine Illusion, die im Kartenhause der heutigen Entwicklungs: 
lehre nistet, die sich aber sofort verflüchtigt, wenn wir ihre Realität an 
der Geschichte der Natur prüfen. Wir haben jetzt den Gang der 
Erdgeschichte in seinen wesentlichen Zügen aufgedeckt, noch bis hinter 
die Zeit, wo uns die lebende Welt zum ersten Male und hier schon 
in relativ vorgeschrittener Entwicklung entgegentritt. Die früheren 
Vorstellungen von allgemeinen Umwälzungen, die alles Lebende ver- 
nichtet hätten, sind lange geschwunden, immer mehr befestigt sich 
die Ansicht, daß alle Änderungen, die der Planet durchgemacht hat, 
wie bedeutend sie auch in ihren Endergebnissen sein mögen, doch nur 
eine Funktion regelmäßig und einförmig waltender Naturgesetze sind, 
deren Äußerungen wir in kleinsten, stufenweise sich aufbauenden 
Wandlungen wahrnehmen. Dabei bleibt kein Raum für ungewöhn- 
liche Vorgänge, für solche, die sich nur ein- oder zweimal abgespielt 
hätten. 

Stellen wir an eine Theorie der Umbildung der Lebewelt die 
Forderung, daß sie einheitlich, mechanisch begreifbar und natürlich 
sei, so müßte der Werdegang, den sie uns aufzeigt, von der Zeit an, 
wo er für uns historisch beginnt, in großen Zügen betrachtet ein Ab- 
bild des Entwicklungsganges der Erde überhaupt sein, geschlossen 
bis heute fortsetzend. Kein klaffender Riß dürfte durch die einmal 
entstandene Schöpfung gehen, im großen müßte alles gereimt er- 
scheinen, einfache und großzügige Gesetze der Entwicklung müßten 
heute schon durch die Fülle der Einzelerscheinungen hindurch- 
schimmern. — Aber wie verschieden ist davon das Bild, das man uns 
heute zeigt. 

Ungeheuer lange Zeiten hat es erfordert, bis das Leben sich auf 
dem Planeten ausgebreitet und in alle die möglichen Bestandformen 
zerteilt hat. Da, wo wir es zum ersten Male so vollständig über- 
blicken, wie es überhaupt möglich ist, etwa zur Zeit des älteren Silur, 
scheint es noch ganz und gar auf das Meer beschränkt zu sein; es 


54 Probleme. 


gibt, wie es scheint, noch keine luftatmenden Tiere, noch keine Land- 
pflanzen. Allmählich tauchen diese auf, anfangs vereinzelt, später in 
einer größeren Zahl und: Mannigfaltigkeit. Bis gegen den Schluß der 
paläozoischen Zeit haben sich die landbewohnenden Tiere und Pflanzen 
die dauernd feuchten Wohnbezirke der Festländer erobert und 
sich dabei in eine große Mannigfaltigkeit von Formen zerlegt. Was 
noch fast ganz zu besiedeln bleibt, sind die wechselfeuchten Ge- 
biete der Festländer und die Luft. Während der mesozoischen Zeit 
greift auch dieser Vorgang Platz. Nadelhölzer und Sagopalmen, 
schließlich gefolgt von höheren Blütenpflanzen, die durch Insekten 
befruchtet werden, besiedeln jetzt das trockene Land; Insekten und 
Vierfüßler der verschiedensten Art tummeln sich darauf und beginnen 
auch das Luftmeer zu beherrschen. Die höchste Steigerung der immer 
weiter sich ausdehnenden Organismenwelt, wo fast jeder vorhandene 
Platz in der Natur vom Leben erfüllt ist und jede Kreatur in ihrer 
Beschaffenheit mit den besonderen Lebensverhältnissen übereinstimmt, 
erblicken wir in dem Zustande, wie er etwa seit der Tertiärzeit besteht. 

Als Gesamtprozeß betrachtet, erscheint die Entwicklung harmo- 
nisch und bedingt. Jeder einzelne Querschnitt, zumal wenn wir ihn 
ergänzen durch das, was außer dem uns Bekannten bestanden haben 
muß, entspricht einer bestimmten Stufe im natürlichen Wachstum 
der Schöpfung, jeder folgende ist nur ein Stück reifer und mannig- 
faltiger, und es gibt kein Zurückfallen in einen früheren, weniger vor- 
geschrittenen Zustand. Aber wie verhalten sich die Träger dieser 
natürlichen, von Stufe zu Stufe langsam gesteigerten Entwicklung? 
Müßten sie nicht auch ein verkleinertes Abbild dieser einheitlich fort- 
schreitenden und lückenlos sich aufbauenden Fortbildung der Lebewelt 
sein? So wie wir heute unser Wissen deuten, sind sie es nicht. Vielmehr 
zeigt der Werdegang fast jeder einzelnen größeren Organismengruppe 
ein besonderes Rätsel auf, das sich durch die allgemeine Formel der 
natürlichen Entwicklung nicht auflösen läßt. Einzelne Tiergruppen, 
wie Steinkorallen, Muscheln, Schnecken und Insekten entsprechen in 
ihrem fast kontinuierlichen Entwicklungsgange anscheinend der Forde- 
rung nach einem geschlossenen phyletischen Wachstum, wie es der 
gesamte Werdegang der Schöpfung fordert, und was bei ihnen nicht 
ganz damit harmoniert, könnte sich vielleicht noch durch den Fortschritt 
der Erkenntnis damit in Einklang bringen lassen. Aber die Mehrzahl 
der Tier- und Pflanzengruppen bietet ein ganz andres Bild dar. So 
fallen die nächsten Verwandten der Muscheln und Schnecken, die Am- 
moniten, plötzlich ganz aus der Rolle, die ihnen die Natur bis in die 
Kreide scheinbar ebenso angewiesen hatte wie den übrigen Mollusken. 


Probleme. 55 


Vom Silur an haben sie sich wie Muscheln und Schnecken ent- 
sprechend dem allgemeinen Wachstum der Schöpfung ganz allmählich 
immer reicher und mannigfaltiger gestaltet, wie bei diesen äußert sich 
das fortschreitende phyletische Wachstum in Zunahme der Größe und 
Verzierung ihrer Schalen. Aber plötzlich löst sich die ganze ge- 
schichtliche Entwicklung in ein Nichts auf: mit dem Ende der Kreide- 
zeit, nachdem der immer stärker erblühende Stamm den größten Teil 
der erdgeschichtlichen Zeit in Harmonie mit dem Gesamtgange be- 
standen hatte, löscht er aus wie die Kerze im Winde, und in der 
Schöpfung bleibt keine Spur von seinem einstmals machtvollen Wesen 
zurück, das sich durch unermeßlich lange Zeiträume behauptet hat. 
Zeugten nicht die vielen Tausende von Arten und die Millionen und 
aber Millionen von Schalen in den Meeresabsätzen aus allen Phasen 
des Altertums und Mittelalters der Erde von ihrer einstigen Blüte, — 
die heutige Schöpfung könnte uns nichts davon erzählen. Man pflest 
wohl das Erblühen, das Herrschen und den Niedergang der Tier- 
und Pflanzengruppen in Parallele zu stellen mit den ähnlichen Er- 
scheinungen in der Geschichte der Menschheit. Zeigt denn nicht die 
Geschichte der Babylonier, Juden, Ägypter, (sriechen und Römer 
das gleiche Versinken einer hohen Blüte in das Nichts? Nein, denn 
ihr Blut ist geblieben, nur ihre Erscheinungsform hat gewechselt. 
Wollten wir also eine Parallele überhaupt gelten lassen, so müßten 
wir die Ammoniten in der heutigen Schöpfung in einer andern, 
vielleicht bescheideneren Einkleidung suchen. ? 

Eine zweifache Schöpfung des gleichen ökonomischen Typus durch 
morphologisch und physiologisch Ähnliche Tierformen wird bei der 
heutigen Auffassung des Entwicklungsganges mehrfach beobachtet. 
Eine reiche Welt von echten Fischen hat sich zur paläozoischen und 
altmesozoischen Zeit im Meere entwickelt, eine nicht minder reiche 
Reptilwelt auf den Festländern der mesozoischen Zeit. Beide haben 
ihre Stellung im Haushalte der Natur voll ausgefüllt und sich in alle 
möglichen Verschiedenheiten der Existenz eingewöhnt. So gab es 
schon zur Triaszeit fliegende Fische und flatternde Reptilien. Und 
doch sind diese Schöpfungen zum größten Teil vergangen, in manchen 
Teilen vollständig erloschen, in andern spärlich oder auch reichlich 
bis heute erhalten. Eine neue Fischwelt mußte im Laufe der meso- 
zoischen Zeit entstehen, sie trat an Stelle der alten, obwohl sie ihr im 
ganzen glich und vor ihr kaum etwas andres voraus hatte als weniger 
harte Schuppen und härtere Skelettknochen. Fast alle die land-, 
luft- und meerbewohnenden Reptilien wurden abgelöst durch Säuger, 
die den gleichen Platz in der Natur ausfüllten wie jene. Hier darf 


56 Probleme. 


man wohl mit Recht fragen: wenn schon die Schöpfung dieser Tier- 
klassen keine einheitliche gewesen ist, weshalb haben die Formen nur 
einmal und nicht häufiger gewechselt? Und wie verträgt sich die 
doppelte Entstehung des gleichen ökonomischen Typus mit der Vor- 
stellung einer einheitlichen Schöpfung? 

Und schließlich die Pflanzenwelt. Dreimal ist sie entstanden. 
Die erste Schöpfung (zur paläozoischen Zeit) war zwar von über- 
raschender Vielgestaltigkeit und Üppigkeit, fast unser ganzer heutiger 
Verkehr zehrt ja von ihr, aber sie mußte verschwinden bis auf geringe 
Reste. Obwohl ihr die Fähigkeit zur Umbildung in modernem Sinne 
keineswegs abging, indem sie schon vielfach Stammstrukturen und 
Blüten zeitigte, wie sie Nadelhölzer und Sagopalmen noch heute ganz 
ähnlich aufweisen, mußte sie doch durch eine neue ersetzt werden, 
die die Gymnospermie in vorschriftsmäßiger Form besitzt. Aber 
auch diese zweite Flora hat sich bis heute kaum zur Hälfte erhalten, die 
andre Hälfte mußte klanglos vergehen und durch eine dritte Schöpfung, 
durch die der Bedecktsamigen, ersetzt werden. Sollte diese nun wirk- 
lich die letzte sein? Es ist wenigstens kein Grund einzusehen, warum 
gerade diese dritte Schöpfung schon die endgültige sein sollte. 

Niemand wird behaupten wollen, daß diese Erscheinungen die 
Kennzeichen eines einheitlichen Entwicklungsganges erkennen ließen 
und das Begreifen der Naturgeschichte unter einem einheitlichen Ge- 
sichtspunkt gestatteten. Ebensowenig kann man sie als das vorbe- 
dachte Werk eines weisen Schöpfers preisen, der ewige Gesetze in 
die Natur gelegt hätte, nach denen sie sich ausgestalten sollte. Es 
sieht nur aus nach der Tat eines kapriziösen Knaben, der von dem, 
was er mit viel Geduld aufgebaut hat, einiges zweimal, andres einmal 
umwirft und neubaut und den Rest umzuwerfen vergißt. Nur müssen 
wir von dem Urheber dieser Schöpfung unter allen Umständen voraus- 
setzen, daß er mit dem »natürlichen« System der Tiere und Pflanzen, 
wie es in unsern Lehrbüchern steht und wie es in allen Schulen ge- 
lehrt wird, ganz genau vertraut und so imstande gewesen ist, vor 
jedem Neuaufbau einen Teil der Bausteine, bis ins kleinste dem 
System entsprechend, herauszulesen. Also auch bei einer solchen 
Gesamtbetrachtung des Entwicklungsganges bleibt als letzte Erklärung 
nur eine vitalistische Ursache. Als natürlicher Vorgang betrachtet 
erscheint er unergründlich, ja sinnlos. 

Die Erörterung dieser verschiedenen Probleme hat uns in über- 
einstimmender Weise gezeigt, daß sie alle nur unter gewissen Voraus- 
setzungen existieren, denn die Schwierigkeiten, die sich einem klaren 


Historischer Stoff. 57 


Begreifen der Natur entgegenstellen, sind nur vorhanden, wenn man 
diese mit den Augen der heutigen Wissenschaft ansieht, d. h. voraus- 
setzt, daß das bestehende System der Tiere und Pflanzen, 
wenn auch nur in allgemeinen Zügen ein Abbild des phylo- 
senetischen Zusammenhanges vorstellt, daß neue Kate- 
sorienimmer auf dem Wege der Einstämmigkeit entstanden, 
‘und daß die als ausgestorben geltenden Formen auch wirk- 
lich alle erloschen sind, ohne Nachkommen hinterlassen zu 
haben. 

Wenn sich aber für alle diese Probleme die gleiche Bedingtheit 
von bestimmten Voraussetzungen herausstellt, so sind wir gewiß be- 
rechtigt oder vielmehr verpflichtet, zu prüfen, ob denn diese Voraus- 
setzungen einer kritischen Behandlung auch wirklich standhalten. 
Zu diesem Zwecke empfiehlt es sich, das fossile Material nach ver- 
schiedenen Gesichtspunkten zu betrachten und zu ermitteln: 

1. wie es vom geologischen Standpunkte aus für die Phylogenie 

überhaupt verwertet werden sollte, 

2. welche Bedeutung den fast allein erhaltenen Hartgebilden der 

Tiere und Pflanzen für phylogenetische Zwecke zukommt, 

3. inwieweit sich unser System mit sicher ermittelten Abstam- 

mungslinien deckt, 

4. auf welchem Wege neue Kategorien tatsächlich entstanden 

sind, und 

5. inwieweit die heute als erloschen angesprochenen Formen 

der Vorzeit auch wirklich aus der Schöpfung endgiltig aus- 
gemerzt sind. 


Ill. Der historische Stoff. 


Zur Zeit als Darwın seine Entstehung der Arten verfaßte, 
kannte man von fossilen Tieren und Pflanzen recht wenig im Ver- 
gleich zu heute. Begreiflicherweise verwendete daher Darwın die 
unvollständigen Kenntnisse jener Zeit nicht im positiven Sinne zum 
Aufbau des Entwicklungsganges der Schöpfung; ein solcher Versuch, 
wie ihn LamArck schon vereinzelt unternommen hatte, lag ihm gänz- 
lich fern. Wohl aber berief er sich auf die zahlreichen ausgestorbenen 
Tier- und Pflanzenformen, um daran zu zeigen, daß die Natur eine 
viel größere Mannisfaltigkeit von Gestalten hervorgebracht habe, als 
heute vorhanden sind, daß also eine Auslese im Kampf ums Dasein 


58 Historischer Stoff. 


im großen stattgefunden habe. Das ist auch heute noch die all- 
gemein verbreitete Auffassung, wo die Zahl der fossilen Formen 
schon ins Unübersehbare angeschwollen ist. Inwieweit diese Auf- 
fassung berechtigt ist oder nicht, wird an einer andern Stelle er- 
örtert werden. Wenn sich aber heute jemand darüber wundern 
sollte (es geschieht selten genug!), daß man unter den fossilen Ge- 
schöpfen eine so überwiegende Zahl ausgestorbener Arten, Gattungen, ° 
Familien, Ordnungen usw., dagegen so wenig (meist überhaupt nichts) 
von den Übergangs- und Verbindungsformen antrifft, die nach den 
heutigen Vorstellungen vom Gange der stammesgeschichtlichen Ent- 
wicklung zwischen den größeren Tier- und Pflanzenabteilungen doch 
existiert haben müßten, so wird die Unvollständigkeit der palä- 
ontologischen Überlieferung dafür verantwortlich gemacht. 
Diese Phrase ist bequem, denn mit ihr läßt sich leicht jeder Ein- 
wurf abweisen, der etwa von seiten der Paläontologie gegen die 
herrschende Form der Abstammungslehre gemacht wird. Aber in 
streng wissenschaftlichem Sinne wird sie nur selten gebraucht. Denn 
nur wer sich über den Grad der Unvollständigkeit Gewißheit ver- 
schafft hat und wer sich darüber klar ist, inwieweit sie zufällig und 
inwieweit sie naturgemäß bedingt ist, sollte sie als Erklärung für 
das Fehlen der geforderten Bindeglieder der Schöpfung benutzen. 
Das ist aber nur selten der Fall, wie aus der Art der Verwendung 
dieser Begründung meist klar hervorgeht. — Ich versuche hier, die 
Tatsachen aufzudecken, die der Lückenhaftigkeit zugrunde liegen, 
und zunächst die Frage zu beantworten: inwieweit muß die palä- 
ontologische Überlieferung lückenhaft sein und wohl jederzeit lücken- 
haft bleiben ? 

Ich würde nur Altbekanntes wiederholen, wenn ich ausführlich 
darlegen wollte, daß solche Tiere und Pflanzen, die nur aus leicht 
vergänglichen Stoffen bestehen, die auch früher keinerlei leicht er- 
haltungsfähige Skelette oder dgl. besessen haben, nur in Ausnahme- 
fällen fossil in kenntlicher Form erhalten geblieben sein können. 
Doch gibt es hierfür schon bemerkenswerte Ausnahmen, wie die 
Medusen, die als Abdrücke jetzt so ziemlich in allen Formationen, 
und aus manchen, z. B. aus dem Kambrium und aus dem Oberjura, 
in recht ansehnlicher Zahl bekannt geworden sind. Ebenso brauche 
ich nur daran zu erinnern, daß wir von der Tier- und Pflanzenwelt 
vorkambrischer Zeiten so gut wie nichts kennen und auch schwerlich 
jemals viel davon erfahren werden. Ja selbst unsre Kenntnis von 
den kambrischen Organismen muß als sehr lückenhaft im Vergleich 
mit der aller jüngeren Zeiten bezeichnet werden; doch erfahren wir 


Historischer Stoff. 59 


von ihr stetig mehr. Erst mit der Silurzeit gewinnen wir einen an- 
genähert vollständigen Überblick über die Ausdehnung des Or- 
ganismenbestandes, und von dieser Zeit an können wir mit durch- 
schnittlich »normalen« Verhältnissen rechnen. 

Unter »normalen« Verhältnissen verstehe ich das Vorkommen 
von Meeresablagerungen einer Zeit in verschiedener Ausbildungs- 
weise (Facies) auf den heutigen Festländern oder Inseln, wodurch es 
uns ermöglicht wird, den jeweiligen Entwicklungsstand der meisten 
reichhaltigen und gut erhaltungsfähigen Abteilungen von Meerestieren 
zu überblicken. Wollten wir auch noch verlangen, daß außer den 
Meerestieren die Landtiere und -pflanzen der gleichen Zeit in ihren 
wichtigsten Vertretern vorlägen oder doch ohne Schwierigkeit er- 
mittelt werden könnten, so dürfte man nur für wenige Zeiten von 
normalen Verhältnissen sprechen. Denn die Erhaltung der Land- 
bewohner unterliegt viel größeren Zufälligkeiten als die der Meeres- 
bewohner. Nicht nur dürfte früher ebenso wie heute das Meer stets 
den größeren Teil der Erdoberfläche bedeckt haben, sondern alle 
festländischen Gesteinsbildungen sind der Zerstörung viel leichter 
ausgesetzt als die Meeresabsätze, die erst dann der Abtragung an- 
heimfallen können, wenn der frühere Meeresboden zum Festland 
wird. Dieser Unterschied spiegelt sich z. B. deutlich in unsrer 
mangelhaften Kenntnis von gewissen Klassen landbewohnender Or- 
ganismen wider. So sind uns Absätze aus Süsswasserseen und 
-tiüimpeln mit einigermaßen reichhaltigen Resten kleiner Vierfüßler, 
wie Frösche, Salamander, Schlangen usw., nur ganz gelegentlich über- 
kommen; wir finden sie zuerst und gleich sehr reichhaltig im obersten 
Karbon (oder an der Grenze von Perm und Karbon). Dann fehlen sie 
durch die mesozoische Zeit hindurch so gut wie ganz, nur der einzige, 
zufällige Fund eines Frosches aus der Jurazeit in Spanien gibt uns 
Kunde davon, daß eine derartige Tierwelt fortbestand, und dann 
liefern uns erst die tertiären See- und Sumpfabsätze wieder eine Anzahl 
Vertreter dieser Gruppen. Oder nehmen wir die Spinnen. Vereinzelte 
Skorpionfunde aus dem Silur geben uns die erste Kunde von dem 
hohen Alter dieser Klasse. In den Steinkohlenablagerungen ver- 
schiedener Länder sind Spinnen in größerer Anzahl angetroffen, und 
es gibt unter diesen außer Skorpionen schon Vertreter verschiedener 
anderer Ordnungen. Aber für die mesozoische Zeit setzen die Doku- 
mente fast ganz aus, und wären uns nicht zufällig die Bernstein- 
vorkommnisse des Samlandes und einige wenige andre Fundstellen aus 
dem Tertiär erhalten geblieben, so wüßten wir von der jüngeren geo- 
logischen Geschichte der Spinnen außerordentlich wenig. Niemand 


60 Historischer Stoff. 


zweifelt ernstlich daran, daß sowohl die kleinen Amphibien und Rep- 
tilien als auch die Spinnen seit dem Karbon zu allen Zeiten in 
nicht unbeträchtlicher Mannigfaltigskeit existiert haben, aber es ist 
ein Zufall, ob wir uns gerade für diese oder jene Zeit einen Ein- 
blick in den Stand ihrer phylogenetischen Entwicklung verschaffen 
können. 

So lückenhaft ist die Überlieferung der Meeresorganismen nun 
im allgemeinen nicht. Wohl aber bestehen auch für diese reichliche 
kleinere Unterbrechungen der fossilen Urkunden, und für manche 
Abteilungen sind sie zurzeit auch noch sehr erheblich. So kontrastiert 
z. B. die reiche Fülle verschiedener Tiergruppen zur älteren und mitt- 
leren paläozoischen Zeit auffallend mit den ganz spärlichen Funden, 
über die wir von ihnen aus permischen und triadischen Ablagerungen 
verfügen. Während Crinoiden und Steinkorallen der verschiedensten 
Art bis zum Schlusse der Karbonzeit in großer Formenmannig- 
faltigkeit auftreten, kommen sie im Perm und in der Trias im all- 
gemeinen nur spärlich, höchstens gelegentlich etwas reichlicher vor. 
Schwerlich wird jemand das dahin deuten wollen, daß während dieser 
Zeiten fast keine Urinoiden oder Korallengesellschaften bestanden 
hätten, oder daß diese Stämme zeitweilig auf einen verschwindenden 
Bruchteil derjenigen Formenfülle eingeschrumpft wären, die sie zu 
andern Zeiten zeigen. Und doch wird dieser Anschein gerade durch die 
übliche Ausdrucksweise in unsern geologischen und paläontologischen 
Lehrbüchern erweckt, wenn man schreibt, daß diese oder jene Tier- 
gruppe, Familie oder Gattung in einer bestimmten Periode der Erd- 
geschichte besonders reich entwickelt sei, in einer andern ganz zurück- 
trete oder fehle. Fast nie ist dabei ersichtlich, ob die Ursache in 
allgemeinen Entwicklungsvorgängen oder in dem zufälligen Stande 
unsrer Kenntnis erblickt werden muß. Sehr häufig, ja, wie ich später 
zu zeigen gedenke, in fast allen derartigen Fällen, wird der Anschein 
einer Gesetzmäßigkeit nur vorgetäuscht durch zufällige Umstände 
oder durch unsre unvollkommene Auffassung des Entwicklungs- 
vorganges. Es läßt sich auch leicht zeigen, daß dem so sein muß. 

Wie weit wir auch die Bewohner des Meeres oder des Fest- 
landes in die Vorzeit zurückverfolgen, bis in die silurische oder kam- 
brische Zeit zurück, stets schon begegnen wir der Erscheinung einer 
mehr oder weniger beschränkten Verbreitung der Organismen, stets 
schon bestehen für gewisse Tiergruppen umschriebene Verbreitungs- 
gebietee Dafür folgende Tatsachen. Die kambrischen Trilobiten 
Europas und Nordamerikas sind nicht nur voneinander zum großen 
Teil den Gattungen nach verschieden, sondern sie weichen auch in 


Historischer Stoff. 61 


ihrer Gesamtheit von den chinesischen Vertretern ab. Stachelhäuter 
in der primitiven Organisationsstufe der Cystideen kennt man aus 
kambrischen Schichten fast nur aus Böhmen, obgleich Meeresabsätze 
dieser Zeit auf allen Festländern vorkommen usw. Diese von An- 
fang an vorhandene Scheidung nach geographischen Provinzen wird 
freilich leicht durch das geologische Interesse verschleiert, das sich 
an die Fossilien knüpft. Denn zum Beweis für die Gleichaltrigkeit 
der Absätze rückt man solche Arten oder Gattungen in den Vorder- 
grund, die eine Ausnahme von der Regel machen, d. h. eine mög- 
lichst universelle Verbreitung aufweisen. Nichts beleuchtet besser 
das Vorhandensein zoo- und phytogeographischer Provinzen zu allen 
Zeiten, ebenso freilich auch die andauernde Verschiebung der Wohn- 
gebiete, als die Schwierigkeit, der man bei der Verfolgung eines 
Stammes oder einer Stammreihe durch verschieden aufeinanderfol- 
gende Zeiträume begegnet. So finden wir die ältesten Vertreter des 
Rudistenstammes zur Zeit des Untersilurs nur in Nordamerika, die 
nächsten zur Mitteldevonzeit in Europa, aus Karbon und Perm 
kennen wir sie bis jetzt noch nicht; zur Triaszeit lebten sie in den 
Meeren Südasiens und Europas, bis zur jüngeren Jurazeit entziehen 
sie sich unsrer Kenntnis fast ganz, sind dann aber bis zur Zeit 
der jüngeren Kreide vorwiegend in den Meeren Europas verbreitet, 
während sie in andern Gegenden mehr als vorübergehende Eindring- 
linge erscheinen. 

Wir verstehen ferner das sporadische und zumeist unvermittelte 
Erscheinen der meisten Meerestiere der Vorzeit nur, wenn wir gewisse 
triviale Tatsachen berücksichtigen; man sollte sich ihrer jederzeit 
bewußt bleiben, wenn man den Fossilstoff zu irgendwelchen stammes- 
geschichtlichen Schlußfolgerungen verwertet. Da dies häufig nicht 
geschieht, vielmehr zumeist das heute zufällig vorhandene Tatsachen- 
material mehr oder weniger kritiklos zu den. weitgehendsten Folge- 
rungen verwertet wird, ist es notwendig, daran ausdrücklich zu er- 
innern. 

Fast drei Viertel der ganzen Erdoberfläche bedeckt das Meer, 
ein Bruchteil der Festlandsmassen liest unter ewigem Eis begraben. 
Mit unsern gegenwärtigen Hilfsmitteln können wir also höchstens 
den vierten Teil der Erdrinde überhaupt durchforschen. Was sich 
auf den übrigen drei Vierteilen im Laufe der Zeit ereignet hat, läßt 
sich für gewisse geologische Vorgänge wohl vermutungsweise -er- 
mitteln, aber was an organischen Resten unter dem Meere begraben 
liest, können wir nicht wissen. Hieraus folgt nun weiterhin, daß 
wir aus denjenigen Zeiten, zu denen die Begrenzung der Weltmeere 


62 Historischer Stoff. 


mit der heutigen ganz oder ungefähr zusammengefallen ist, über- 
haupt keine oder nur eine ganz dürftige Kunde von dem Stande der 
organischen Entwicklung im Meere erhalten können. Solche Zeiten 
hat es aber wohl gegeben. Im besonderen scheint die große Lücke 
in unsern Kenntnissen, die mit dem Ende der Kreidezeit beginnt 
und ziemlich weit in die Tertiärzeit hineinreicht, eine solche Erklä- 
rung zu erfordern. Eine andre Kluft im historischen Material, die 
früher für uns am Ende der paläozoischen Zeit bestand, ist wenig- 
stens teilweise in den letzten Jahrzehnten ausgefüllt worden. Daß 
ähnliche Lücken in unsern Kenntnissen auch für die Landbewohner 
in Zeiten möglich ist, wo die heutigen Festländer größtenteils oder 
ganz unter dem Meere begraben lagen, versteht sich von selbst. 
Wie schon betont, ist für diese die Wahrscheinlichkeit, erhalten zu 
bleiben aber überhaupt viel geringer als für die Meeresbewohner. 
Diese grundsätzliche Beschränkung unsrer Kenntnisse erweckt 
leicht unrichtige Vorstellungen von dem Entwicklungsgange einer 
Örganismengruppe Wenn wir z. B. im Silur, Devon und Karbon 
die Crinoiden als gestielte, festsitzende Tiere in großer Formenfülle 
finden, dann im Perm und Trias nur einige wenige Vertreter an- 
treffen, im Jura und in der Kreide wieder eine gewisse, nicht 
unbedeutende Zunahme feststellen und schließlich nur wenige ter- 
tiäre Formen registrieren, so könnte diese Statistik vielleicht ein 
annähernd richtiges Bild von dem wirklichen Entwicklungsgange 
bieten, aber wahrscheinlich ist das nicht. Denn setzen wir den 
(keineswegs unmöglichen) Fall, die gestielten Orinoiden hätten bis 
zur Karbonzeit vorwiegend die Gebiete Europas und Nordamerikas 
bewohnt, später habe sich ihr Wohngebiet dauernd in die Region 
des Pazifik verlegt und von dort sei zur Perm-Triaszeit nur ein 
kleiner Bruchteil vorübergehend in das Gebiet der europäischen 
Meere eingedrungen, erst zur Jurazeit wieder ein etwas größerer, 
später wieder ein geringerer, so würde unsre heutige Statistik ein 
ganz verzerrtes Bild liefern. Denn der Formbestand dieser Gruppe 
könnte bis in junge Zeiten hinein sich wesentlich gleichgeblieben 
sein, und wir könnten nicht einmal angenähert den Zeitpunkt be- 
stimmen, zu dem eine erhebliche Verminderung eingetreten wäre. Für 
die Ermittelung des Entwicklungsganges der Crinoiden liegt aber 
noch eine weitere Gefahr in der zufällig spärlichen Überlieferung 
zur Perm- und Triaszeit.e. Denn wir versuchen, uns nach dem je- 
weilig bekannten Fossilstoff eine Vorstellung von dem genetischen 
Zusammenhange der einzelnen Gattungen und Familien zu bilden 
und schieben nun die wenigen Formen der Perm-Triaszeit als Binde- 


- ‚Historischer Stoff. 63 


glieder zwischen die reichhaltigen älteren und jüngeren Formen ein, 
so gut oder auch so schlecht es geht. Nur wenn wir sicher wüßten, 
daß es zur Perm-Triaszeit überhaupt keine andern gestielten Cri- 
noiden gegeben hätte als die jetzt bekannten, wäre dieses Vorgehen 
zu rechtfertigen. Andernfalls könnten doch die Jura-Kreideformen 
auf paläozoische Vorfahren zurückgehen, deren permo-triadische Nach- 
kommen wir noch nicht kennen, und die Nachkommen der bekannten 
Perm-Triasformen aus jüngerer Zeit könnten uns ebenfalls unbekannt 
sein, weil sie jeweils im pazifischen Bereiche gelebt haben. In diesem 
Falle würde unser Versuch, in dem bekannten Material überhaupt 
einen Zusammenhang zu suchen, nicht nur verfehlt sein, sondern - 
unsre Vorstellungen sogar in ganz falsche Bahnen weisen. Denn 
welche Veränderungen in der für die Crinoiden fast geschichtslosen 
Perm-Triaszeit an den gestielten Urinoiden vor sich gegangen sind, 
wissen wir ja nicht, sie können für die Mehrzahl in ganz andern 
Richtungen liegen, als sie uns die wenigen zufälligen Funde andeuten. 

Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse bei dem Versuche, die 
Stammesgeschichte der Austern zu ermitteln. Bekanntlich können 
wir diese Muschelgattung in zahlreichen und mannigfaltigen Ver- 
tretern bis in den Beginn der Jurazeit zurück und zugleich zwei 
größere Stämme getrennt nebeneinander verfolgen. Einerseits die 
dickschaligen echten Austern mit glatter oder nur wenig gewellter 
Schale und andrerseits die Alectryonien mit verhältnismäßig dünner, 
aber scharf gefalteter Schale. Triadische Vorläufer der Austern 
kennt man nur ganz spärlich, sie sind meist klein und gehören zu den 
Alectryonien, und man kann keinesfalls die im älteren Jura massen- 
haft in Europa und Südamerika erscheinenden dickschaligen und 
zum Teil sehr großen Austern (Gryphäen) von ihnen ableiten. Wohl 
aber lassen sich diese auf eine äußerst ähnliche Muschel zurück- 
führen, die als noch nicht festgewachsene Form massenhaft im Perm 
Indiens und Tasmaniens auftritt und auch schon die gesellige Lebens- 
weise der Austern besaß (Hurydesma). Nehmen wir nun an, daß 
ihre Nachkommen, die den Übergang zu den Austern des Jura ver- 
mitteln, zur Triaszeit in den heute vom Indik oder Pazifik bedeckten 
Gegenden gelebt und zu Beginn der Jurazeit als Gryphäen den öst- 
lichen Teil des Pazifik und die europäischen Meere bevölkert haben, 
so erscheint der Entwicklungsgang der Austern vom Perm an nur durch 
dies zufällige Moment unterbrochen; nehmen wir aber die gänzlich 
unvollständige, zufällige, ich möchte sagen blöde Statistik, wie sie 
heute vorliegt, allein als Grundlage für die Stammesgeschichte, so 
müssen wir die beinahe fertigen, dickschaligen und glatten Austern 


64 Historischer Stoft. - 


des Perm (Eurydesma) sich erst in unscheinbare, dünnschalige und 
mit der entgegengesetzten Klappe festgeheftete Spondyliden (Ter- 
quemia, Philippella) oder in die gefalteten Alectryonien und erst 
diese wieder in die jüngeren echten Austern der Jurazeit umwandeln 
lassen. Welcher von den beiden Erklärungen kommt nun der höhere 
Grad von Wahrscheinlichkeit zu? Wer sich der Unvollständigkeit 
der Überlieferung und der gewaltigen Lücken bewußt bleibt, die 
überall zwischen den einzelnen Stufen der Stämme und Stammreihen 
klaffen müssen, wer zugleich die geologischen Erfahrungen über 
Verschiebung der Meere und ihrer Faunen usw., mit andern Worten 
das ganze historische Milieu mit in die Wagschale lest und wer die 
Änderungsfähigkeit der Organismen nur nach dem Maßstabe der 
sicher festgestellten, wenn auch zeitlich begrenzten Umwand- 
lungsvorgänge beurteilt, die immer auf ganz allmähliche und bestimmt 
gerichtete Veränderungen weisen, wird unbedinst die erstere der 
beiden Erklärungen vorziehen. Wer dagegen geneigt ist, die heutige, 
im allgemeinen sinnlose Statistik als maßgebende Grundlage für die 
Phylogenie zu verwerten, ohne dabei die historischen Umstände ent- 
sprechend zu berücksichtigen, wer ferner den Organismen eine ziellose, 
und vielleicht gar sprunghafte und explosive Abänderungsfähigkeit 
zuerkennt (im Widerspruch zu den sicher ermittelten Tatsachen), 
und wer die Beharrlichkeit der systematisch wenig verwerteten habi- 
tuellen Merkmale geringschätzt, wird sich für die zweite Erklärung 
entscheiden. 

Ich habe diese Beispiele hier angeführt, um daran zu zeigen, daß 
der Wert des historischen Materials weniger durch die lückenhafte 
Überlieferung herabgemindert wird, als durch unsere heutige Unfähig- 
keit, es in eindeutigem Sinne zu benützen. Kleinere oder größere 
Lücken bleiben in unseren Entwicklungsreihen fast immer bestehen, 
denn Paradebeispiele wie die Reihen des Planorbis multiformis oder 
der slavonischen Paludinen werden stets zu den Ausnahmen gehören. 
Die Art und Weise, wie wir die augenblicklichen oder 
bleibenden Lücken überbrücken, ist das Wichtigste. Wenn 
wir eine gesicherte Grundlage für die Methode finden könnten, nach 
der die überall zerrissenen Fäden der Stammlinien wieder zu ver- 
knüpfen sind, so wäre ein bedeutsamer Fortschritt gesichert. Unsere 
heutige Methode ist aber, wie oben schon angedeutet wurde, in mehr- 
facher Beziehung unbestimmt und schwankend. 

Erstens herrscht keine Übereinstimmung darüber, ob die Um- 
bildungen der Organismen immer nur in der bis jetzt allein sicher 
festgestellten Weise, ganz allmählich und durch kleinste, sprunglose 


Historischer Stoff. 65 


Änderungen vor sich gegangen sind, oder ob daneben der Natur die 
Fähigkeit innewohnt, in kurzer Zeit von den unmittelbaren Vorfahren 
erheblich abweichende Nachkommen und diese zugleich in ungewöhn- 
licher Mannigfaltiskeit zu erzeugen — ein Vorgang, der von vielen 
für möglich, von manchen wenig kritisch und dafür mehr enthusiastisch 
angelegten Forschern sogar für erwiesen gehalten wird. 

Zweitens besteht zurzeit eine große Willkür in der Verwertung 
der einzelnen Merkmale für phylogenetische Zwecke. Zumeist werden 
solche Merkmale auch für phylogenetisch am bedeutungsvollsten ge- 
halten, die in der Systematik zur Trennung der größeren Kategorien 
Verwendung finden. Aber es herrscht hierin doch ein ständiger 
Wechsel, und vergeblich sucht man nach einer gesicherten Methode. 
Während man z. B. früher die Laufvögel für eine genetisch einheit- 
liche Gruppe neben den Flugvögeln hielt, suchte FÜRBRINGER an der 
Hand eines gewaltigen Tatsachenmaterials darzutun, daß die ver- 
schiedenen Laufvögel von entsprechend verschiedenen Gruppen von 
Flugvögeln abstammen, die Laufvögel also gewissermaßen nur eine 
tlugunfähige Fazies der normalen Vögel seien. Die Flugunfähiskeit 
und die andern damit verknüpften anatomischen Merkmale verloren 
damit ihre hervorragende genetische Bedeutung; es blieben aber die 
Vogelmerkmale überhaupt in ihrer beherrschenden Stellung für die 
Verfolgung der Stammesgeschichte. Daß auch diese in ganz andrer 
Weise bewertet werden können, als es zurzeit üblich ist, werde ich 
später zu zeigen versuchen. Nichts aber kann die Unsicherheit unserer 
Methode beredter bezeugen, als der nie rastende Wechsel der syste- 
matischen und »phylogenetischen« Anordnung. 

Drittens fehlt es zurzeit noch an einer gesicherten geologischen 
und paläontologischen Zusammenfassung, die einen bequemen Über- 
blick über die heute bekannten fossilen Vertreter aller einzelnen 
Formengruppen, über ihre geologische und ihre jeweilige geographische 
Verbreitung und über ihre etwaigen Beziehungen zu den lebenden 
Formen ermöglicht. Wie außerordentlich verdienstvoll und nützlich 
auch ZıtteLs umfassende Darstellung für die Zeit vor 20 Jahren war, 
so unvollständig ist sie bei dem enormen Zuwachs des Materials schon 
heute. Mit der Erweiterung und Vertiefung unserer Kenntnisse be- 
greifen wir auch immer mehr den Nachteil der unnatürlichen Ver- 
allgemeimerung, der mit der Anwendung der herkömmlichen Systematik 
auf das fossile wie auf das lebende Material verknüpft ist, sobald 
wir über das praktische Bedürfnis hinaus zur Aufstellung von phylo- 
genetischen Zusammenhängen schreiten. Ich hoffe überzeugend dar- 
tun zu können, wie wenig wirklich genetischen Wert die Systematik 


Steinmann, Abstammungslehre., 5 


66 Hartgebilde. 


besitzt, und wie sie unzutrefiende Vorstellungen über den Gang der 
Abstammung in uns befestigen hilft. Eine sichere Methode der phylo- 
genetischen Forschung kann aber erst auf dem Boden möglichst zahl- 
reicher historisch genau verfolgter Einzelphylogenien erwachsen. 

Aus diesen Gründen ist es heute wenig angebracht, von der 
Lückenhaftigkeit der paläontologischen Überlieferung und von ihrem 
geringen Werte für die Stammesgeschichte und Entwicklungslehre zu 
sprechen. Denn wir wissen eigentlich gar nicht, wie vollständig oder 
unvollständig dieses Material ist. Es liegt weniger ein Bedürfnis vor, 
dieses Material zu erweitern, wie erwünscht auch jede Vermehrung 
ist, wir müssen vielmehr das Verständnis des fossilen Stoffes vertiefen 
und das Vorhandene mit mehr Kritik und unter stetiger Berück- 
sichtigung der sicher ermittelten Phylogenien und der geologischen 
Wahrscheinlichkeiten in einen Rahmen zu bringen suchen, der mehr 
Aussicht zu einem wirklichen Verstehen der Natur bietet, als der, 
den wir bis jetzt zusammengefügt haben. 


IV. Die Hartgebilde. 


Unsere Kenntnis von dem Gange der Entwicklung im Tierreich 
wie auch im Reiche der Algen beruht fast ausschließlich auf den 
überlieferten Skeletten und Schalen, die aus mineralischen Stoffen 
bestehen, vor allem aus Kalkkarbonat, Kalkphosphat und Kieselerde. 
Diese anorganischen Hartgebilde sind zwar stets Erzeugnisse des 
lebenden Tier- oder Pflanzenkörpers, aber es sind nur Ausscheidungen, 
die vom Augenblick ihrer Entstehung an keinerlei Lebenstätigkeit 
mehr erkennen lassen — es sind tote Gebilde. Da das Plasma 
oder die Organe, die sie erzeugen, bei den verschiedenen Tier- und 
Pflanzengruppen abweichend gebaut sind, ja in den Hartgebilden selbst 
dann noch Unterschiede hervortreten, wenn die Gesamtorganisation 
der Tiere, die sie hervorbringen, keine erkennbaren Abweichungen 
aufweist, so besitzen wir in ihnen ein Mittel, ganz minimale und für 
den Bestand des Tieres vielfach völlig bedeutungslose Änderungen 
wahrzunehmen. Denn die korrespondierenden Wandlungen des Tieres 
dürften oft so geringfügig sein, daß sie nur durch ganz minutiöse Unter- 
suchung der histologischen Beschaffenheit bestimmter Organe, z. B. des 
Mantelrandes bei den beschalten Mollusken, manchmal vielleicht über- 
haupt nicht mit Sicherheit festgestellt werden können. Zur Trennung 
von Arten oder auch nur von Varietäten benutzt man derartig feine 
histologische Abweichungen im Tierkörper im allgemeinen aber nicht, 


Hartgebilde. 67 


und daraus folgt ein nicht unwichtiges Ergebnis. Stellt man sich 
vor, daß eine Muschel- oder Schneckengattung, die durch zahlreiche 
Arten in der Vorzeit vertreten ist, also durch Formen, die wir nur 
nach der Form und Verzierung der Schale voneinander trennen, im 
Laufe der Zeit mit allen ihren Arten schalenlos geworden ist, so 
würden wir jetzt vielleicht nur einige wenige oder gar nur eine einzige Art 
unterscheiden können. Die Vorwelt erschiene uns reicher an Formen 
als die Gegenwart, wäre es aber in Wirklichkeit nicht. Mit andern 
Worten, die Artunterscheidung, wie wir sie ausüben, besitzt bei be- 
schalten und unbeschalten Tieren unter Umständen einen ganz ver- 
schiedenen Wert. Es braucht auch nicht einmal die Schale, auf die 
wir die Artunterschiede gründen, ganz verloren zu gehen, wenn die- 
selbe ungleiche Bewertung eintreten soll. Das Tier braucht sie nur 
zu umwachsen und sie dadurch aus einer äußeren, skulptierten zu 
einer inneren, glatten umzubilden, wie das bei Meeres- und Land- 
schnecken wiederholt eingetreten ist. Damit allein gehen unter Um- 
ständen alle auf der Skulptur beruhenden Unterschiede verloren, und 
aus einer Anzahl wohl unterschiedener Arten wird vielleicht eine 
einzige. 

Es ist aber gewiß unrichtig, die Bedeutung der Skulpturmerk- 
male der Schale, auch wenn ihnen keine Beschaffenheit wichtiger 
Organe im Tierkörper entspricht, zu unterschätzen. Beruhen doch 
gerade mit die besten Beweise für die allmähliche Umbildung der 
Arten an fossilem Material auf den geringfügigen Änderungen der 
Schalenform und -skulptur (Planorbis multiformis, Paludinenreihe). 
Nur durch genaue Verfolgung der Form und Skulptur der Schale 
im Jugendzustande ist JAckson imstande gewesen, die Stammesge- 
schichte der heteromyaren und monomyaren Muscheln aufzuklären, 
und auch ich hoffe später an dem Beispiele der Schizodonten zeigen 
zu können, wie auf diese Weise grundlegende Vorstellungen allgemeiner 
Art über den Gang der Entwicklung gewonnen werden können. Es 
ist deshalb gerade für Forschungen auf entwicklungsgeschichtlichem 
Gebiete keineswegs bedeutungslos, genau die Rolle zu kennen, die die 
Skelett- und Schalenbildungen, anorganische wie organische, im Tier- 
und Pflanzenreiche spielen. Denn jeder Versuch, die Gestalten ver- 
gangener Zeit mit den heutigen in genetischen Zusammenhang zu bringen, 
gründet sich fast ausschließlich auf den Vergleich der Skelettbildungen; 
es ist daher nötig, ihre Beziehungen zur Organisation und Lebens- 
weise ihrer Erzeuger, sowie die Änderungen festzustellen,. die sich 
gesetzmäßig an ihnen im Laufe der Zeit vollziehen. Im nachfolgenden 
will ich versuchen, diese Beziehungen und Vorgänge, soweit sie für 

5* 


68 Hartgebilde. 


die Abstammungslehre von wesentlicher Bedeutung sind, kurz dar- 
zulegen. Dabei werde ich freilich eine Art der Betrachtung, die sich 
heute großer Beliebtheit erfreut, gänzlich vermeiden, da sie für unsere 
Zwecke nicht nur wertlos ist, sondern sogar dazu angetan, die Pro- 
bleme zu verhüllen, die wir zu lösen haben. Ich meine die teleo- 
logische Betrachtungsweise, in welcher Form es auch sei. 

Wenn ich z. B. von einem Muscheltiere oder von einer Schnecke 
sage, die Schale oder das Gehäuse, das sie besitzen, dient ihnen zum 
Schutz, so ist damit wohl eine Behauptung ausgesprochen, die sich in 
beschränktem Maße objektiv feststellen läßt, da in der Tat das Tier 
gegen manche Angriffe geschützt ist, wenn es sich in sein Gehäuse 
zurückzieht, aber keineswegs gegen alle. Denn bekanntlich bohren 
manche Raubschnecken (Natica, Murex usw.) die Muschelschalen an und 
töten so das Tier, und Kraken, Enten, Walrosse usw. leben von ihnen 
trotz ihrer Schale. Der Schluß ist also nur sehr bedingt richtig. Wird 
aber, wie das heute vielfach üblich ist, die Sachlage zu der Behaup- 
tung gesteigert: das Tier besitzt eine Schale, weil diese es schützt, 
so ist mit diesem Raisonnement gar nichts genützt, sondern nur ge- 
schadet. Denn diese Behauptung könnte nur erwiesen werden da- 
durch, daß zunächst die Phylogenese der Schale genau ermittelt und 
gezeist würde, daß nur die Tiere, die eine solche Schale gebildet 
haben, am Leben geblieben seien, was fast nie möglich ist; und selbst 
dann wäre keine mechanisch-wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen, 
da die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit eines Organs doch nie die 
Ursache sein kann für seine Entstehung. Es bleibt bei dieser Art 
der Schlußfolgerung auch die Tatsache ganz unverständlich, warum 
denn in verschiedenen Tierklassen die schützenden Schalen oder die 
stützenden Skelette im Laufe der Zeit ganz zurückgebildet sind, und 
die Tiere in diesem schutz- und stützlosen Zustande doch ebensogut 
bestehen, wie früher. Beruhigen wir uns also bei dieser Nützlichkeits- 
betrachtung, so nehmen wir leicht keinen Anlaß, der wissenschaft- 
lichen, d. h. mechanischen Erforschung des Problems nachzugehen. 
Ich stehe bezüglich der Nützlichkeitsfrage auf einem Standpunkte, 
der heute vielfach für veraltet gehalten wird; es ist die Betrachtungs- 
weise, wie sie GOETHE vor fast einem Jahrhundert (1831) in die an- 
sprechenden Worte kleidete: »Und wie der Mensch nun im all- 
gemeinen denkt, so denkt er auch im besonderen, und er unterläßt 
nicht, seine gewohnte Ansicht aus dem Leben auch in die Wissen- 
schaft zu tragen und auch bei den einzelnen Teilen seines organi- 
schen Wesens nach deren Zweck und Nutzen zu fragen. — Dies 
mag auch eine Weile gehen, und er mag auch in der Wissenschaft 


Hartgebilde. 69 


eine Weile damit durchkommen; allein gar bald wird er auf Er- 
scheinungen stoßen, wo er mit einer so kleinen Ansicht nicht aus- 
reicht, und wo er ohne höheren Halt sich in lauter Widersprüche 
verwickelt. — Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: Der Ochse 
habe Hörner, um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: Warum 
hat das Schaf keine? und wenn es welche hat, warum sind sie ihm 
um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen? — Etwas 
anderes aber ist es, wenn ich sage: Der Ochse wehrt sich mit seinen 
Hörnern, weil er sie hat. — Die Frage nach dem Zwecke, die Frage 
Warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Ewas weiter aber 
kommt man mit der Frage Wie? Denn wenn ich frage: Wie hat 
der Ochse Hörner? so führt mich dies auf die Betrachtung seiner 
Organisation und belehrt mich zugleich, warum der Löwe keine 
Hörner hat und haben kann. — So hat der Mensch in seinem 
Schädel zwei unausgefüllte hohle Stellen. Die Frage Warum? würde 
hier nicht weit reichen, wogegen aber die Frage Wie? mich belehrt, 
daß diese Höhlen Reste des tierischen Schädels sind, die sich bei 
solchen geringeren Organisationen in stärkerem Mabe befinden, und 
die sich beim Menschen trotz seiner Höhe noch nicht ganz verloren 
haben. — Die Nützlichkeitslehrer würden glauben, ihren Gott zu 
verlieren, wenn sie nicht den anbeten sollen, der dem Ochsen Hörner 
gab, damit er sich verteidige. Mir aber möge man erlauben, daß 
ich den verehre, der in dem Reichtum seiner Schöpfung so groß 
war, nach tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worin alle 
übrigen enthalten, und nach tausendfältigen Tieren ein Wesen, das 
sie alle enthält: den Menschen. — Man verehre ferner den, der 
dem Vieh sein Futter gab und dem Menschen Speise und Trank, 
soviel er genießen mag; ich aber bete den an, der eine solche Pro- 
duktionskraft in die Welt gelegt hat, daß, wenn nur der millionteste 
Teil davon ins Leben tritt, die Welt von Geschöpfen wimmelt, so 
‚daß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen. 
Das ist mein Gott!« 


Die Hartgebilde sind Produkte des Stoffwechsels und als solche 
notwendige und gesetzmäßig erzeugte Bestandteile des Tier- 
oder Pflanzenkörpers. Aber sie bestehen aus nicht gebrauchten 
oder aus nicht mehr gebrauchten Stoffen, und zwar dürften all- 
gemein die organischen Skelettgebilde verbrauchte, die mineralischen 
nicht gebrauchte vorstellen. Denn alle die stickstoffhaltigen Sub- 
stanzen, wie Spongin, Konchiolin, Chitin usw., ebenso die Zellulose, 
darf man als nicht resorbierte Zerfallsprodukte des normalen Stoft- 


70 Hartgebilde. 


wechsels betrachten. Von den Kalkschalen und Skeletten der 
Wirbellosen läßt sich zeigen, daß ihr Material zwar unter bestimm- 
ten physiologischen Bedingungen immer ausgeschieden wird, daß 
aber die Menge des ausgeschiedenen Kalksalzes infolge äußerer Um- 
stände innerhalb weiter Grenzen schwanken kann, ohne daß die 
Lebenstätigkeit dadurch Einbuße erleidet. Das möge an einigen 
Beispielen erläutert werden, die zumeist wohl bekannt sind. 
Schalentragende Landschnecken erzeugen auf kalkreichem Boden 
normale, undurchsichtige Gehäuse, auf kalkarmem Boden aber werden 
diese dünn und unter Umständen so durchscheinend, daß ihr Gehalt 
an Kalkkarbonat auf ein Minimum sinkt, während die Konchiolin- 
ausscheidung nicht beeinträchtigt erscheint. Soweit man weiß, wer- 
den sie aber durch den Mangel an Kalk in ihrer Lebenstätigkeit 
nicht behindert. Die zu den marinen Nacktschnecken gehörige 
Polycera ocellata besitzt im erwachsenen Zustande keine Schale, nur 
im Darvenzustande das Rudiment einer solchen. Aber ihre Haut 
ist normalerweise mit kleinen Kalkkörperchen durchsetzt, wie sie bei 
Mollusken, Echinodermen und Üölenteraten häufig als letzte Reste 
einer ursprünglich zusammenhängenden Schale oder eines kom- 
pakten Skeletts aufzutreten pflegen. Wo das Tier in normal ge- 
salzenem Meerwasser lebt, wie an der britischen Küste, werden diese 
Kalkstäbchen stets angetroffen, den Bewohnern der Kieler Bucht 
fehlen sie aber gänzlich und erscheinen erst dort in der Ostsee 
wieder, wo das Nordseewasser durch den Kleinen Belt unmittelbaren 
Zutritt hat. Hydractinia echinata, die bekannte auf Schneckenschalen 
(besonders Buccinum) aufgewachsene Hydrozoe der europäischen 
Meere, scheidet normalerweise kein Kalkskelett ab, sondern nur ein 
Chitinskelett. Aber gar nicht selten beobachtet man Kolonien, die 
in ihrer ganzen Ausdehnung oder nur in einem Teile des Skeletts 
neben dem Chitin auch Kalkkarbonat ausgeschieden haben, und zwar 
in derselben Form, als Ausfüllung der Höhlungen im tieferen Teil 
des Chitingewebes, wie es die jungtertiären Vorläufer dieser Art, 
Hydr. incrustans usw., allgemein, oder doch jedenfalls sehr häufig 
besessen haben. Die kalkigen Nadelsterne in der testa der sozialen 
Ascidier werden zu gewissen Jahreszeiten, so besonders zu Beginn 
der Winterruhe, in größerer Zahl erzeugt, als sonst. — Alle diese und 
zahlreiche ähnliche Erscheinungen sprechen dafür, daß die Bildung 
von Kalkskeletten vielfach nur mit dem Kalkgehalt des Mediums, 
ebenso aber auch häufig mit einer bestimmten, auch periodisch wieder- 
kehrenden Art der Lebenstätigkeit wechselt, ohne daß die Prosperität 
des betreffenden Tieres dadurch beeinflußt würde. Das läßt sich 


Hartgebilde. zAl 


leicht begreifen, wenn wir in solchen Fällen die Ausscheidung der 
skelettbildenden Salze als einen Vorgang auffassen, der neben dem 
eigentlichen Lebensprozesse einherläuft, was ja keineswegs ausschließt, 
daß in anderen Fällen der Stoffwechsel auf den beständigen Durch- 
sang dieser Salze durch den Körper und auf ihre Ausscheidung in 
bestimmten Teilen so vollständig abgestimmt ist, daß das Tier ohne 
hinreichende Zufuhr von Kalksalzen überhaupt nicht leben kann. 
An marinen Schnecken und Muscheltieren, ebenso auch an 
Foraminiferen zeigt sich eine bestimmte Abhängigkeit der Menge ab- 
geschiedener Kalksalze von der Art der Lebensweise, im besonderen 
von der Art und Intensität der Bewegung. Die normalen, d. h. langsam 
kriechenden Formen besitzen Schalen von durchschnittlicher Dicke, 
die kaum beweglichen oder zwischen Korallen und Felsen dauernd 
eingeschlossenen oder die festgewachsenen Formen erzeugen fast 
immer Schalen von ungewöhnlicher Dicke, während die frei schwim- 
menden Formen durchgängig sehr zarte, oft durchscheinende und 
fast kalkfreie Gehäuse hervorbringen. Dieser Zusammenhang zwi- 
schen Lebensweise und Stärke der Schalen tritt in verschiedenen 
Tiergruppen so gesetzmäßig hervor, daß man keinen Anstand nimmt, 
aus der Stärke der Schale auf die Lebensweise zurückzuschließen. 
Es muß daher wohl entweder der Stoffwechsel selbst, soweit die 
Kalkabscheidung von ihm abhängig ist, von dem Grade der Beweg- 
lichkeit des betreffenden Tieres beeinflußt werden, oder aber die 
stärkere Bewegung des Tieres hindert, daß die ganze Menge des 
ausgeschiedenen Kalksalzes zum Aufbau der Schale verwendet wird. 
Es scheint mir bald die eine, bald die andere Ursache vorzuliegen. 
So erklärt sich die außerordentliche Zartheit der Schale bei den meisten 
freischwimmenden Mollusken, im besonderen bei den Heteropoden und 
Pteropoden, wohl nur dadurch, daß die Kalkausscheidung allgemein 
geringer geworden ist im Vergleich zu den normalschaligen Vor- 
fahren, von denen sie, zum großen Teil wenigstens, mit Sicherheit 
abgeleitet werden. Für den zweitgenannten Vorgang besitzen wir 
ausgezeichnete Belege. So verschmelzen bei vielen geologisch jüngeren 
Muscheltieren die Mantellappen um die Ein- und Ausströmungs- 
stellen herum zu geschlossenen Öffnungen (Siphonen), und der 
Mantel wächst dann häufig im zwei mehr oder weniger lange, meist 
kontraktile Röhren aus. Derartige Tiere leben im Sande oder im 
Schlamme vergraben, und nur ihre Siphonen schauen aus dem Boden 
heraus; diese sind stark muskulös und können auf Reize zurück- 
gezogen werden. Es fehlt ihnen aber auch die Kalkhülle, die sonst 
die Oberfläche des Mantels in der Form einer Schale bekleidet. Der 


72 Hartgebilde. 


Grund dafür ist leicht einzusehen. Wohl besitzt die Mantelober- 
fläche der Siphonen die gleiche Fähigkeit, Kalkmasse abzusondern, 
wie der übrige Teil des Mantels, aber an dem häufig bewegten und 
zusammengezogenen Organe können die ausgeschiedenen Teilchen 
sich nicht fest aneinander fügen, sie werden zum Teil abgestoßen, zum 
Teil bleiben sie als kleine, unregelmäßig geformte Plättchen daran 
haften samt einem Teile des Konchiolins, das ebenfalls von der 
Oberfläche der Siphonen abgeschieden wird. Durch mikroskopische 
Untersuchung des abgeschabten Konchiolinbelages der Siphonen kann 
man sich leicht von der Richtigkeit dieser Tatsache überzeugen. 
Einen vollständigen Beweis dafür, daß die Fähigkeit zur Bildung 
einer Kalkschale an den Siphonen nicht fehlt, sondern daß nur die 


A fe 


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UTRPEAFEITHEREN, EZ Wim 
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Fig. 12. Carinaria mediterranea. Mittelmeer. Nach SOULEYET aus GoETTE. Ein Vertreter 

der Heteropoden (Kielfüßer) mit stark reduzierter Schale (s). Diese bedeckt nur noch 

kapuzenartig einen kleinen Eingeweidesack, in dem sich Leber (2), Hoden (t), Niere (n) 

und der hintere Teil des Darms befinden. Der übrige Teil des Körpers ist kontraktil 
und unbeschalt. 


Beweglichkeit des Organs die Entstehung einer festen Schale 
hindert, besitzen wir in denjenigen siphoniaten Muscheln, die sich 
tief in Holz einbohren, und dadurch den Reizen der Außenwelt ent- 
zogen sind (Teredo). Denn bei diesen Bohrmuscheln sondern auch 
die Siphonen eine zusammenhängende Kalkröhre ab, weil bei dieser 
Lebensweise die Unbeweglichkeit oder die geringe Beweglichkeit des 
Organs den Zusammenschluß der ausgeschiedenen Kalkmasse zu einer 
kompakten Schale wieder gestattet. 

Die freischwimmenden Schnecken, wie die Heteropoden, liefern 
weitere, sehr lehrreiche Beispiele dafür, wie die Kalkschale, in der 
ursprünglich das ganze Tier wie bei einer normalen Schnecke Platz 
gefunden hat, dadurch immer mehr reduziert wird, daß früher un- 
bewegliche Teile der Körperoberfläche kontraktil und damit beweg- 
lich werden. So bedeckt bei Carinaria (Fig. 12) die mützenförmige 


Hartegebilde. 73 


Schale (s) vom Tier nur noch den nicht muskulösen Eingeweideknäuel 
(2, & n), während die übrige, sehr ausgedehnte, kontraktile Körper- 
oberfläche keine Schale mehr trägt. Bei anderen, verwandten Formen 
der gleichen Gruppe fehlt die Schale ganz, wie bei Pterotrachea, weil 
hier die ganze Körperoberfläche kontraktil geworden ist. 

Wir ersehen aus diesen Beispielen, denen sich noch manche 
andere, ähnliche beifügen ließen, daß mit zunehmender Beweglichkeit 
der Körperhaut des Tieres die Schalenbildung bis zum vollständigen 
Schwunde zurückgehen kann; und zwar erklärt sich diese Erscheinung 
bei den Heteropoden sehr einfach aus ihrer Lebensweise. Bei diesen 
ursprünglich normal kriechenden Schnecken hat sich der Fuß im 
Laufe der Zeit zu einem Ruderorgan ausgebildet, und die Tiere 
haben eine freischwimmende Lebensweise angenommen. Dadurch sind 
immer weitere Teile der Körperoberfläche beweglich und damit 
schalenlos geworden. Die Schale ist allmählich immer mehr abge- 
stoßen worden, und häufig gibt nur noch die Larve durch den Besitz 
einer Schalendrüse oder eines embryonalen Schalenrudiments sichere 
Kunde von dem ursprünglichen Zustande. 

Eine teilweise Reduktion des Skeletts im Laufe der phylo- 
genetischen Entwicklung kommt bei den Crinoiden in sehr weiter 
Verbreitung vor. Ihre paläozoischen Vertreter sind fast ausnahmslos, 
ihre mesozoischen zum großen Teil mit Hilfe eines Stieles auf der 
Unterlage festgewachsen (Fig. 13), während es unter den tertiären 
und lebenden nur noch wenige gestielte Gattungen gibt; die meisten 
sind frei, und der Körper besitzt ein gerundetes, knopfförmiges Unter- 
ende, wie bei der bekannten Gattung Antedon (Fig. 15) unserer Meere. 
Nur ausnahmsweise läßt sich der Vorgang der Stielverkümmerung an 
dem fossilen Material gut beobachten, so bei Mellerierinus Pratti aus 
dem Jura (Fig. 14). Diese Art gehört einer Gattung an, die im mittleren 
und oberen Jura häufig, aber immer gestielt angetroffen wird. Die 
in Fig. 14 abgebildete Art zeigt aber alle Übergänge vom lang- 
gestielten Stadium (A) bis zum stiellosen (EZ), indem der Stiel (st) 
sich immer mehr verkürzt (DB, ©, D), und schließlich nur sein oberstes 
Glied als sog. Zentrodorsale (Ec) im Kelche übrig bleibt. 

Im vorliegenden Falle läßt sich der Verlust des Stiels leicht 
erklären. Die Gattung Millerierinus lebte im Flachwasser, vielfach 
mit Riffkorallen zusammen; das Tier war also den Gezeitenbewegungen 
ausgesetzt und wurde so jedenfalls vielfach hin und her gebogen, wo- 
durch es leicht mit dem Stiele von der Unterlage abriß und herum- 
trieb. Daß der funktionslos gewordene Stiel schließlich ganz ver- 
kümmerte, versteht sich von selbst. Bemerkenswert bei dem hier 


74 Hartgebilde. 


beobachteten Vorgange ist die Geschwindigkeit, mit der der Stiel 
ganz verloren geht; denn alle von ÜARPENTER beschriebenen (in Fig. 14 
z. T. abgebildeten) Exemplare stammen aus dem gleichen geologischen 
Horizonte. Es existierten also langgestielte und ungestielte Indivi- 
duen ganz oder nahezu gleichzeitig. 

Übrigens hat es den Anschein, als ob der Stiel auch noch auf 
andere Weise hat verkümmern können. Wir kennen nämlich aus dem 


Fig. 13. Ein gestielter Crinoid aus paläozoischer Zeit (Platyerinus — Karbon). (Nach 

WACHSMUTH und SPRINGER.) Fig. 14. Übergangsformen von langgestielten (A) zu un- 

sestielten (E) Formen von Millerierinus Pratti Gray sp. Dogger (Great Oolite), Yorkshire. 

(Nach CARPENTER.) E von unten gesehen. Fig. 15. Ein ungestielter Crinoid (Antedon 

Jutieri) aus dem oberen Jura. (Nach pe Lorıor.) — b Basalstücke, r Radialstücke des 

Kelches; st Stiel; e Zentrodorsale (= Rest des Stiels); %k der aus den Basal- und 1. Radial- 
stücken verschmolzene knopfförmige Kelch. 


Devon eine Gruppe gestielter Crinoiden, die Hapalocriniden (Fig. 16), 
denen gewisse sehr bezeichnende Merkmale zukommen, nämlich ge- 
ringe Körpergröße, sehr zarter Körperbau, einmal gegabelte Arme 
mit zahlreichen dünnen Seitenästen. Mit Recht betrachtet JAEKEL 
eine ungestielte Form aus jüngerer Zeit, Saccocoma (Fig. 17), als 
ihren Nachkommen, da sich bei dieser wesentlich die gleichen Merk- 
male, nur z. T. durch die freischwimmende Lebensweise abgeändert, 
wiederfinden. Da die devonischen Vorläufer auf schlammigem Boden 
und jedenfalls in ruhigem Wasser lebten, ist wohl die zunehmende 
Beweglichkeit der Arme allein schon hinreichend gewesen, das Tier 
aus seiner Unterlage herauszuziehen, es in die freischwimmende 


Hartgebilde. 5 


Lebensweise überzuführen und so den allmählichen Verlust des Stiels 
zu verursachen. In beiden Fällen sind nicht gelegentlich einmal 
einsetzende Vorgänge die Ursache für die Verkümmerung des Stiels ge- 
wesen, sondern Bedingungen, die jederzeit gerade so sich wiederholen 
können, wie sie früher einmal eingetreten sind, und daraus folgt, daß 
der Verlust des Stiels bei den Crinoiden ebenso wie die Verkümmerung 
oder das gänzliche Verschwinden der Schale bei Weichtieren, Stein- 
korallen usw. zu den Änderungen zu rechnen sind, die sich an allen 
oder doch an einer großen Zahl von Vertretern eines Stammes wesent- 
lich gleichartig vollziehen können. Sie können daher auch in keiner 


RE 
o 
o 
a 
° 
-o 
eo 
B 
Q 


b 


Fig. 16. Ein gestielter Crinoid Hapalocrinus elegans, Jaek. — U. Devon (nach JAEKEL). 

Fig. 17, sein mutmaßlicher, ungestielter Nachkomme aus dem Oberen Jura, Saccocoma 

(nach JaekeL). Beide sind klein und zart gebaut, besitzen eine dünne Kelchkapsel, 

einmal gabelig geteilte Arme (as) und zahlreiche, dieht und abwechselnd gestellte Seiten- 

äste (sa). Saccocom« war wahrscheinlich freischwimmend, wofür die flügelartigen Fort- 
sätze (f) an den unteren Teilen der Arme sprechen. 


Weise als bezeichnend für eine bestimmte Stammreihe gelten, sondern 
es sind nur Stufenmerkmale, die ein bestimmtes Stadium in der phylo- 
genetischen Entwicklung eines ganzen Stammes bezeichnen. 

Ein zweiter, auch unter den Mollusken weit verbreiteter Vorgang 
führt ebenfalls zur Verkleinerung und schließlich zum Schwunde der 
ursprünglich vollständigen Schale. Die Schnecken können den vorderen 
muskulösen Teil ihres Körpers aus dem Gehäuse mehr oder weniger 
hervorstrecken. Wenn dies dauernd geschieht, schlägt sich der Mantel 
des Tieres immer mehr um den Rand der Schale herum und auf 
diese zurück. So wird die Schale allmählich vom Mantel oder vom 
Fuße umwachsen, und in dem Maße als dieser Vorgang fortschreitet, 
nimmt der Umfang der Schale gewöhnlich ab, zumeist auch ihre 
Dicke. So kennen wir bei den Meeresschnecken aus der Abteilung 


76 Hartgebilde. 


der Deckkiemer alle nur wünschenswerten Zwischenstufen von einer 
noch vollständigen, kalkigen, vom Mantel nicht dauernd umgebenen 
Schale (Cylichna) über Acera, die ihre Schale mit dem Fuße fast 
ganz umfassen kann, zu der vollständig vom Tiere eingeschlossenen 
Schale des Seehasen (Aplyysia), die fast gar kein Kalkkarbonat mehr 
enthält und fast durchsichtig ist. Bei den Pleurobrancheen endlich 
findet sich entweder nur noch ein Schalenrudiment, oder die Schale 
fehlt ganz, aber im Mantel stecken dann meist zahlreiche kleine 
Kalkkörperchen in der Form von Kugelsternen, als letzte Reste 
einer früher vollständigen Schalenbildung (Fig. 18). Wo eine der- 
artig abgestufte Ausbildung der Schale bei einer Tiergruppe be- 
obachtet wird, könnte man ja auch die umgekehrte Reihenfolge 
für möglich halten und annehmen, dab 
wir hier die allmähliche Herausbildung 
der Schale »zum Schutze des Tieres« be- 
obachten. Im der Tat hat auch BronN 
sich dahin geäußert, daß »bei den Hinter- 
kiemern sich die Spiralschale zum Schutze 
und zur Aufnahme des Tieres immer mehr 
entwickele, indem sie aus einer rudimentären, 
inneren, hornigen eine äußere wird.« Allein 
die tatsächlich rudimentäre Beschaffenheit 
Fig.18. Nadelsterne ausKalk- der Schalen, ihr häufiges Verschwinden ım 
karbonat aus dem Mantel von ostembryonalen Zustande, sowie alle palä- 


Susania testudinaria Cantr., 

einer Schnecke aus der Fa- ontologisch verfolgbaren Veränderungen bei 

milie der Pleurobranchiden 4 5 2 
nme Stall den Schnecken widersprechen einer solchen 

(nach Vaxssıirr). Deutung, die auch heute kaum noch An- 

hänger besitzen dürfte. 

Die beiden geschilderten Arten des Schalenschwundes der 
Schnecken finden ihr Gegenstück nicht allein bei anderen Mollusken, 
wie wir später sehen werden, sondern auch bei den Steinkorallen 
(Madreporaria), die einem ganz anderen Tierstamme angehören. 
Besonders bei den paläozoischen Vertretern trifft man mannigfache 
Beispiele dafür an. Die sozusagen normalen Vertreter dieser Coe- 
lenteratengruppe, die wir vom Silur bis in die Gegenwart in mannig- 
faltigen Formen verfolgen können, sind durch folgendes Merkmal 
ausgezeichnet. Das Tier sitzt in einem zylindrischen oder trichter- 
förmigen Kalkbecher eingesenkt, und von der Innenwand dieser Kalk- 
röhre dringen plattige oder zapfenartige Vorsprünge in entsprechende 
Falten oder lochartige Vertiefungen des Weichkörpers ein, wie das 
die Figuren 19 und 20 veranschaulichen. Das Tier ist also sehr 


Hartgebilde. 77 


vollständig mit dem Kalkskelett verzahnt, und soweit es (mit seinem 
unteren Teile) in einer solchen Kalkröhre steckt, ist seine Körper- 
oberfläche auch zart und nicht kontraktil; es kann nur schwer und 
nicht ohne Beschädigung aus seiner Hülle entfernt werden. Nun 
beobachtet man an manchen paläozoischen Skeletten eine allmähliche 
Veränderung derart, dab die leistenartigen Vorsprünge an der Innen- 


Fig. 19. Schema des Kalkbechers eines 
Steinkorallenskeletts mit Kalkplatten, die 
in entsprechende Falten des Tieres hinein- 
ragen (Septen — a, b, I, II, III) und einer 
zapfenförmigen Erhöhung in der Mitte Fig.20. Tier und Skelett einer Steinkoralle 

(Säulchen — e). im Längsschnitt. Die Kalkplatten (s) und 
der mittlere Zapfen des Skeletts (cd) ragen 
in entsprechende Einfaltungen des Tieres (f) 

hinein. 


Fig. 21. Ansicht des Kelchinnern einer de- Fig. 22. Durchschnitt und Innenansicht des 
vonischen Steinkoralle (Calceola). An Stelle Kelches einer anderen devonischen Stein- 
der sonst weit vorspringenden Kalkplatten koralle (Cystiphyllum). Die Kalkzelle ist 
(Septen) sieht man nur feine Körnerreihen ganz mit Blasengewebe erfüllt, und im In- 
oder niedrige Leisten. nern des Kelches sieht man nur zarte Leisten 

an Stelle der Septen. 


wand der Kalkröhre immer niedriger werden und sich schließlich in 
eine Reihe von Körnern auflösen, oder so niedrige und zarte Kalk- 
streifen bilden, daß das Tier kaum noch irgendwelche bemerkbaren 
Einfaltungen besessen haben kann (Fig. 21, 22). Zugleich wird häufig 
aber auch der Rand des Bechers immer niedriger, so daß das Tier von 
seiner Kalkzelle nicht mehr seitlich eingeschlossen war, sondern es saß 
dessen flach schüsselförmiger oder gar gewölbter Oberfläche nur noch 


73 Hartgebilde. 


ganz locker auf (Fig. 23 und 24). Bei dieser Lage des Tieres zu 
seinem Skelett dürfte ein schwacher seitlicher Anstoß genügt haben, 
es von seiner Unterlage zu trennen, ohne daß es wesentlich dadurch 
beschädigt worden wäre. Das Ende dieses Umbildungsvorganges 
können wir uns nur als eine gänzliche Ablösung des Tieres von 
seiner tellerartigen Skelettunterlage denken. Wird diese abgestoßen, 
so ist das Tier skelettfrei, wobei wir anzunehmen haben, daß nun 
die ganze Körperoberfläche, auch die Unterseite, muskulös und kon- 
traktil geworden ist. | 


Fig. 23. 


Fig. 23. COystiphyllum lamellosum Gf. Mittl. Devon. Eifel. A Skelett von oben, B von 
unten gesehen: C von der Seite mit aufsitzender Basis des Polypen. Fig. 24. Dasselbe. 
A von unten, B von der Seite mit aufsitzender Basis des Polypen. Beide nach Originalen 
der Bonner Sammlung. $ Skelett; P Polyp; s Hauptseptum, s/ Gegenseptum; s/7 Seiten- 
septum; 1,2,3, 4 die aufeinander folgenden Wachstumsstadien des Skeletts. — Diese 
Figuren sollen zeigen, wie der Polyp (P) dem flach schüsselförmigen Skelett nur locker 
aufsitzt, indem die Septen nur ganz niedrige Leisten bilden und keinen tiefen Ein- 
faltungen des Polypen entsprechen, wie solches in Fig. 19 der Fall ist. Der hohe Grad: 
von Beweglichkeit des Tieres spiegelt sich in den andauernden seitlichen Verschiebungen 
des Skeletts (1,2, 3, 4) wieder. 


Einen andern Weg zum Schwunde des Skeletts zeigen uns solche 
Formen, die aus ihrem Skelett heraus und von allen Seiten her 
um dieses herumwachsen. Diesen Vorgang erkennen wir deutlich 
daran, daß die Leisten (Septen) des Kalkskeletts, die ursprünglich 
nur auf der Oberseite vorhanden sind, über den Rand (als Rippen) 
übergreifen und in der Mitte der Unterseite « zusammenstoßen, wie es 
die Figuren 25 und 26 zeigen. Jetzt ist aus dem äußeren Skelett 
ein inneres geworden, und dieses wird im Laufe der weiteren phylo- 
genetischen Fortbildung schließlich ebenso verkümmern wie das Ge- 
häuse bei denjenigen Schnecken, die es umwachsen haben. Es wird 


Hartgebilde. 79 


nur noch ein Skelett aus organischer Substanz übrig bleiben, oder 
das Skelett wird ganz verschwinden. 

Ein dritter Weg, der zum Schwunde des Skeletts führt, ist bei 
den Korallentieren weit verbreitet, bei Mollusken aber selten, wenn 
auch hier besonders bedeutungsvoll. Er besteht darin, daß das Tier 
sein ursprünglich äußeres Skelett (oder seine Schale) durchwächst. 
Viele Steinkorallen besitzen ein durchbrochenes, poröses Skelett, und 
zwar ist diese Erscheinung bei den ältesten Vertretern (der paläo- 
zoischen Zeit) recht selten, sie wird umso häufiger, in je jüngere 


Fig. 26. 


Fig. 25. Dipterophyllum glans White sp. Subkarbon. Burlington, Jowa. A von oben, B von 

der Seite, C von unten. Fig.26. Baryphylium Verneuili E.&H. Devon (?Ob. Silur). Tennes- 

see. A von oben, B von der Seite. — s Hauptseptum; s’ Gegenseptum ; s” Seitensepta; 

u unteres, zugespitztes Ende. Zwei paläozoische Korallenskelette, die vom Tiere ganz 

umwachsen und zu inneren geworden sind. Bei Dipterophyllum sind die Septen nur 

noch als feine Streifen, bei Baryphyllum aber noch als stärkere Leisten erhalten. (Nach 
Römer, Leth. pal.) 


Zeiten hinein wir diese Tierklasse verfolgen; auch tritt sie unab- 
hängig in ganz verschiedenen Gruppen und sowohl bei Einzeltieren 
wie bei Kolonien auf. Das poröse Skelett kommt dadurch zustande, 
daß Teile des Weichkörpers (oder benachbarte Teile einer Kolonie), 
die ursprünglich durch eine Platte aus kompakter Kalkmasse ge- 
trennt waren, durch wenige oder zahlreiche Fortsätze miteinander in 
Verbindung treten, so daß an dieser Verbindungsstelle keine Skelett- 
masse ausgeschieden werden kann. So durchwachsen die Tiere all- 
mählich ihr Skelett immer mehr, und dieses wird dadurch immer 
poröser, leichter und unvollständiger. Ein ausgezeichnetes Beispiel 
für diesen Vorgang besitzen wir in einer Gruppe von Einzelkorallen 
aus der Familie der Eupsammiden, die sich um die Gattung Stephano- 
phyllia gruppieren. Diese seit der Kreide bekannte Gattung besitzt 
gewöhnlich ein halbkugeliges, poröses Skelett, dessen Boden ebenfalls 
von feinen Poren durchsetzt ist. Aber das Skelett bleibt dabei doch 


80 Hartgebilde. 


ziemlich vollständig. Nun hat aber die Challenger-Expedition aus 
großer Tiefe eine Form heraufgebracht, deren Skelett nur noch aus 
einer zarten, ganz durchlöcherten Platte besteht, so daß sich der 
Bearbeiter dieser Tiere mit Recht darüber wunderte, daß das Schlepp- 
netz solch ein zartes Gebilde unzerdrückt heraufgebracht habe. Hier 
sehen wir also das ursprünglich jedenfalls kompakte und normale 
Skelett schon so weit rückgebildet, daß der Weg von hier aus zum 


Fig. 28. 


Fig. 27.  Stephanophyllia 
imperialis Mich. Miozän. 
Siebenbürgen. Skelett von 
oben. Die Septen bilden 
hohe Kämme, die durch 
quere Platten miteinander 
verbunden sind. Die poröse 
Beschaffenheit ist nicht er- 
kennbar. (Aus STEINMANN- 
DoEDERLEIN: El. d. Pal.) 


Fig. 28. Leptopenus diseus Mos. Südl. Indischer Ozean. (Nach Mosere£y, Chall. Rep.) A das 
scheibenförmige Skelett von oben; die Einzelheiten nur in zwei Sektoren ausgeführt. 
B dasselbe von der Seite. C ein Stück stärker vergrößert, von oben. Das Skelett besteht 
aus einer äußerst dünnen, siebartig durchbrochenen Scheibe; die Septen erheben 
sich nur in der Nähe der Säule zu zarten, gezackten Plättchen. Vgl. dazu das viel voll- 
ständigere Skelett von Stephanophyllia (Fig. 27). 

vollständigen Schwunde kürzer erscheint, als der, welcher vom kom- 
pakten Skelett bis zu dieser Gitterscheibe zurückgelegt ist. 

Wenn die Skelette mittelst Durchwachsung rückgebildet werden, 
verschwinden sie aber nicht immer, sondern es bleibt häufig ein Teil 
der Skelettmasse in der Form kleiner Kalknadeln, Nadelsterne, 
Kugeln oder weniger regelmäßiger Gebilde erhalten. Diese liegen 
dann wie bei den Alcyonariern, die ich mit anderen Forschern von 
den Tabulaten ableite, in einer weichen, von Plasmasträngen durch- 
zogenen Bindegewebsmasse eingeschlossen, oder sie stecken, wie bei 
vielen Achsenskeletten der Alcyonarien, in einer hornigen Masse, 
oder sie verschwinden ganz und letztere bleibt allein zurück. Alle 
diese verschiedenen Stadien der Rückbildung sehen wir in der einen 


Hartgebilde. 81 


Ordnung der Alcyonarier vertreten, und wir können an einzelnen 
Stammreihen von sehr bezeichnendem Aufbau diesen Vorgang deut- 
lich verfolgen. So kennen wir aus paläozoischen Ablagerungen in 
reicher Entwicklung eine Gruppe tabulater Korallen, die Syringo- 
poriden. Ihr Skelett besteht aus annähernd parallel wachsenden 
Röhren, die von Zeit zu Zeit durch Querröhren verbunden werden; 
aus diesen sprossen dann meist die neuen Tiere heraus. Bei diesen 
ältesten Vertretern besteht das Skelett aus ganz kompakten Kalk- 
röhren mit runzeliger Oberhaut. Bei der lebenden Orgelkoralle, 
die wesentlich den gleichen Aufbau (gelegentlich auch noch die Reste 
von Septen und Böden wie bei Syringopora) aufweist, ist das Skelett 
zwar kalkig, aber durchaus porös; die Oberhaut fehlt. Bei einer 
anderen lebenden Gattung von ganz ähnlichem Baue aber, die man 
vor einigen Jahren erst entdeckt hat, Hecksonia, enthält das Skelett 
überhaupt keinen Kalk mehr, sondern nur noch Hornmasse. 

Die Rückbildung äußerer mineralischer Skelette im Laufe der 
phylogenetischen Entwicklung beschränkt sich nun keineswegs auf 
die Wirbellosen. Auch bei den Wirbeltieren, und zwar in den beiden 
großen Abteilungen der Fische und Vierfühler, sehen wir diesen 
Vorgang im großen wie im einzelnen sich abspielen. Es ist hin- 
reichend bekannt, daß fast alle älteren Fische (mit Ausschluß der 
Haie und Rochen) bis zur Permzeit fast ausnahmslos eine mehr oder 
weniger vollständige Körperbedeckung aus Knochenschildern (Panzer- 
fische) oder aus harten Knochenschuppen (Ganoiden) besessen haben. 
In je jüngere Zeiten wir sie verfolgen, umso mehr tritt allgemein die 
harte Körperbedeckung zurück, und heute gibt es nur noch wenige 
dieser altertümlichen Typen. Wir mögen uns nun die jüngeren 
Fische im einzelnen von den älteren ableiten, wie wir wollen, die 
Tatsache bleibt immer bestehen, daß die festen Körperbedeckungen 
im Laufe der Zeit allgemein zurückgegangen sind. Die Ursache 
hierfür ist ähnlich wie bei den Schnecken in einer Zunahme der 
Muskulatur und damit der Beweglichkeit zu suchen, und als einen 
bezeichnenden Ausdruck dieser allmählichen Wandlung haben wir 
es zu betrachten, daß in dem Maße, als die Starrheit der Körper- 
bedeckung schwindet, das Innenskelett verknöchert, an das die Mus- 
kulatur sich anheftet. 

Ganz analoge Wandlungen stellen wir auch an den Vierfüßlern 
fest. Auch ihre ältesten Vertreter zeichnen sich gegenüber den 
jüngeren durch das Vorherrschen knöcherner Hautbedeckungen, be- 
sonders auf dem Schädel, vielfach aber auch auf Rücken und Bauch, 
aus. Bei den Reptilien von vorgeschrittener Beweglichkeit, die wir 


Steinmann, Abstammungslehre. 6 


82 Hartgebilde. 


später als Metareptilien eingehend zu besprechen haben, und in 
denen wir die Vorfahren der Vögel und Säuger erblicken, treten 
solche Hautbedeckungen schon stark zurück, während sie in der 
Haut von Säugern bekanntlich nur noch ausnahmsweise, wie bei den 
Gürteltieren, zu finden sind, und bei den Vögeln ganz fehlen. Den- 
jenigen Reptilien aber, die 
als echte Kriechtiere mit 
träger Lebensweise bis heute 
fortbestanden haben, den 
Krokodilen und Schildkrö- 
ten, ist die primitive Körper- 
bedeckung fast allgemein ge- 
blieben. Wo wir aber eine 
Gruppe dieser Kriechtiere 
eine ausgesprochen schwim- 
mende Lebensweise einschla- 
gen sehen, wie bei den ma- 
rinen Thalattosuchia, die sich 


Figg. 29—31. Drei Beispiele von rezenten Kalkalgen mit gegliedertem Thallus. 
Fig. 29. Cymopolia barbata (L.) Harv. — Familie Dasycladaceen. (Nach SoLus-LaugAcH). 
Fig. 30. Halimeda opuntia (L.) Lamx. — Familie Codiaceen. (Nach Gozsen.) Fig. 31. Coral- 
lina rubens L. — Familie Corallinaceen. (Nach THURET.) Aus Engter und PrAntı, Nat. 
Pilanzenfamilien. — Fig. 29 B zeigt, wie an der eingeschnürten Giederungsstelle die 
Kalkmasse (grau) fehlt. 


Hartgebilde. 83 


vom Krokodilstamme abzweigen, geht mit dieser Änderung auch 
rasch die Körperbepanzerung verloren. 

Der Vollständigkeit wegen möge auch noch ein Beispiel aus 
dem Pflanzenreiche beigezogen werden, das uns zeigt, wie auch dort 
mineralische Skelettbildungen im Laufe der Zeit reduziert werden, 
und zwar in diesem Falle offenbar nur infolge einer rein mecha- 
nischen äußeren Einwirkung. Es gibt drei Familien von marinen 
Kalkalgen, die wir ziemlich gut in die Vorzeit zurückverfolgen können, 
die Codiaceen, Dasycladaceen und Corallinaceen. In allen dreien 
kommen heute Gattungen vor, deren Kalkhülle nicht einfach und zu- 
sammenhängend, sondern in zylindrische oder platte Stücke gegliedert 
ist (Fig. 29—31). Das zwischen den einzelnen Kalkgliedern befindliche 
Stück der betreffenden Alge ist biegsam und enthält keinen oder nur sehr 


Figg. 32—34. Drei Beispiele von triadischen Dasyeladaceen mit unverzweigtem und un- 
gesliedertem Thallus. Fig. 32. Physoporella pauciforata Gue. Fig. 33. Diplopora porosa 
Schfh. Fis. 34. Gyroporella vesieulifera Gue. (Aus STEINMANN, Einf. i. d. Paläontologie.) 


wenig Kalk (Fig.29 5), so daß die Pflanze gelenkig ist und im Wasser 
fluten kann. Allen älteren Vertretern der drei Familien fehlt dieses 
Merkmal aber vollständig, die triadischen und jurassischen Vorfahren 
der Dasycladaceen besitzen ungegliederte (Fig. 32, 34), höchstens in 
Ringe zerfallende Kalkröhren (Fig. 33), das Kalkskelett von Doueina, des 
altkretazischen Vorläufers von Halimeda, entbehrt ebenfalls der Arti- 
kulation, und dasselbe gilt für die verzweigten Lithothamnien, wie Zetho- 
thammium amphiroaeformis Rothp. aus der Oberkreide, von der sich die 
lebende Gattung Amphiroa mit gegliedertem Thallus ableitet. In allen 
diesen Fällen liegt der Vorgang, der zur Gliederung und zum Verluste 
der Kalkmasse an den Gliederungsstellen geführt hat, ziemlich klar. 
Je länger der Thallus dieser in der Gezeitenzone wachsenden Algen 
im Laufe der Zeit ausgewachsen ist, umso weniger hat er seine ur- 
sprüngliche Starrheit behalten können. Die Kalkhülle der Zweige 
6* 


84 Hartgebilde. 


ist infolge der immer mehr gesteigerten Inanspruchnahme schließlich 
zerbrochen, dadurch ist der Thallus gelenkig und beweglich geworden, 
und an den Gelenkstellen hat der Kalk sich nicht mehr als zusammen- 
hängende Masse ausscheiden können (Fig. 29). Die Abgliederung, die 
wohl an den äußersten Verzweigungen begonnen hat, ist im Laufe 
der Zeit immer weiter zurückverlest worden und hat sich über die 
ganze Pflanze ausgebreitet und konstitutionell gefestigt. Es dürfte 
kaum ein zweites Beispiel geben, das so klar und einfach den Ein- 
fluß äußerer Faktoren auf die Umgestaltung des Thallus in verschie- 
denen Gruppen aufzeigt, wie dieses. 

Schließlich wäre noch zu untersuchen, ob die Substanz der 
mineralischen Skelettbildungen im Laufe der Zeit einer Änderung 
in dem Sinne fähig ist, daß an Stelle von Kalkkarbonat Kieselsäure 
oder an Stelle von Kalkphosphat Kalkkarbonat treten oder eine 
Änderung in umgekehrtem Sinne erfolgen kann. Wir besitzen darüber 
noch so gut wie gar keine Erfahrungen, obgleich die Frage sehr 
wichtig ist für die phylogenetische Forschung. Ich will hier nur 
einige Tatsachen erwähnen, die kaum anders als im Sinne einer solchen 
Umwandlung gedeutet werden können. 

Es tritt in der Kreideformation eine Foraminiferengattung sehr 
häufig auf (Orbitolina), die ihre kompliziert gebaute Schale aus Sand- 
körnern aufbaut. Diese werden durch ein vom Tiere ausgeschiedenes 
Zement verkittet. In den zuerst gebildeten Teilen der Schale bildet 
Kalkkarbonat das Zement, in den später gebildeten aber nicht mehr; 
hier tritt vielmehr Kieselsäure oder eine andere, jedenfalls in Säuren 
unlösliche Substanz an ihre Stelle. Man kann sich von dieser Tat- 
sache leicht dadurch überzeugen, daß man die Schälchen von Or- 
bitolina in verdünnte Salzsäure lest. Dann wird der Anfangsteil 
der Schale regelmäßig zerstört, der spätere dagegen bleibt intakt 
und zeigt die Struktur der Schale in ausgezeichneter Weise. Hier 
haben wir also den Fall, daß ein Tier in der Jugend Kalkkarbonat, 
später dagegen eine andere Substanz, wahrscheinlich Kieselsäure, 
ausscheidet. Die Möglichkeit eines solchen Wechsels wird aber von 
großer Bedeutung für die Entscheidung der Frage, in welchem gene- 
tischen Verhältnis die Foraminiferen mit agglutinierender und säure- 
fester Schale zu den kalkhaltigen stehen, und ob es erlaubt ist, die 
beiden großen schalenbildenden Abteilungen der Protozoen, die Fora- 
miniferen mit vorwiegend kalkiger und die Radiolarien mit vorwiegend 
kieseliger Schale, miteinander in genetische Beziehung zu setzen. 

Ein zweiter Fall von Veränderung der ausgeschiedenen Schalen- 
substanz scheint bei den Brachiopoden vorzuliegen. Unter ihren 


Hartgebilde. 85 


ältesten Vertretern, besonders aus Kambrium und Untersilur, sind 
Schalen besonders häufig, die nicht aus Kalkkarbonat bestehen, wie 
diejenigen der meisten jüngeren Formen, sondern aus abwechselnden 
Lagen einer hornartisen Substanz (Keratin) und phosphorsaurem 
Kalk (nebst geringen Mengen von Kalkkarbonat).. Da nun manche 
jüngere, rein kalkschalige Vertreter in ihrer Gestalt deutliche Be- 
ziehungen zu ähnlichen älteren, aber hornschaligen erkennen lassen, 
so liegt die Abstammung von solchen hornschaligen durchaus im Bereich 
der Wahrscheinlichkeit. Ein durch physiologische Vorgänge bedingter 
Wechsel der an die Kalkerde gebundenen Säure wird übrigens auch 
durch andere Tatsachen dargetan, z. B. dadurch, daß der Winter- 
deckel der Weinbergschnecke über 5%, die Schale dagegen nicht 
einmal 1% Phosphat enthält. 


Kurz gefaßt lautet das Ergebnis unserer Ausführungen über die 
Bedeutung der Skelettbildungen für die stammesgeschichtliche For- 
schung folgendermaßen: 

Die mineralischen Hartgebilde können sich im Laufe der Zeit 
nach zwei Richtungen ändern. Sie können einerseits durch bestimmte 
Wachstumsvorgänge im Organismus verkümmern, entweder ganz ver- 
schwinden, oder in verschiedenartiger Weise zu Rudimenten ver- 
kleinert werden; andrerseits kann sich auch die chemische Natur 
des ursprünglich mineralischen Hartgebildes ändern. An Stelle früher 
vorhandener mineralischer Hartgebilde bleiben häufig nur noch solche 
aus widerstandsfähiger organischer Substanz übrig. Als Ursache der 
Verkümmerung ursprünglich äußerer Schalen und Skelette haben wir 
bei Tieren die im Laufe der Zeit zunehmende Beweglichkeit oder 
die Verschmelzung vorher getrennter Teile des Tieres oder der In- 
dividuen einer Kolonie erkannt, d. h. Vorgänge, die allgemein in 
der Richtung des phylogenetischen Wachstums liegen. Wir dürfen 
daher annehmen, daß die Schalen- und Skelettbildungen im Laufe 
der Zeit sowohl bei verschiedenen Tierabteilungen überhaupt, als 
auch bei den einzelnen Gattungen, Arten, Rassen und Individuen 
zurückgegangen sind. Der umgekehrte Fall, nämlich eine Neuent- 
stehung von Schalen oder äußeren Skeletten im Laufe der Zeit, 
scheint in keinem Falle, auch nicht bei Wirbeltieren, verbürgt 
zu sein; wohl aber sind die Innenskelette der Wirbeltiere sekundären 
Ursprungs und erst infolge der Fortbildung der Muskulatur ent- 
standen. Eine vorübergehende oder dauernde Vergrößerung oder 
Verfestigung der äußeren Schalen oder der Hautgebilde findet nur 
dann statt, wenn in einer beschalten oder bepanzerten Tiergruppe 


86 Methoden phylogenetischer Forschung. 


die bewegliche Lebensweise mit einer weniger beweglichen oder un- 
beweglichen vertauscht wird, oder wenn einzelne Teile des Tierkörpers 
an Beweglichkeit verlieren. 

Hieraus erwächst der phylogenetischen Forschung folgende Auf- 
gabe: Fossile Tierformen mit vollständigem oder mehr oder weniger 
rudimentärem äußerem Skelett, die in der heutigen Fauna nicht mehr 
vertreten sind, dürfen nicht ohne weiteres als erloschen auf- 
gefaßt werden; es ist vielmehr für jeden einzelnen Fall festzustellen, 
ob sich nicht sonst ähnliche lebende Formen mit verkümmertem oder 
fehlendem Skelett auf sie zurückführen lassen. Ebenso müssen wir 
für alle Vertreter der heutigen Fauna, die ein rudimentäres Skelett 
in irgendwelcher Form besitzen, oder die durch den Besitz von 
Schalendrüsen oder dergleichen sich als Nachkommen beschalter Vor- 
fahren zu erkennen geben, unter den ähnlich organisierten fossilen 
Formen nach Vorfahren mit mehr oder weniger vollständigem Skelett 
suchen, wenn wir den natürlichen Zusammenhang der Tierwelt er- 
mitteln wollen. Es ist ferner im Auge zu behalten, daß Tiere mit 
kieseligem Skelett auf solche mit kalkigem, oder Tiere mit rein kalkigen 
Schalen auf solche mit Horn-Phosphat-Schalen zurückgehen und daß 
die Nachkommen scheinbar ausgestorbener Typen in derart veränderter 
Form heute noch fortleben können. Ehe nicht die heutige und frühere 
Tierwelt nach diesen Grundsätzen systematisch untersucht ist, läßt 
sich auch nicht annäherungsweise angeben, in welchem Umfange die 
Tierwelt erloschen ist. Solche Untersuchungen sind aber bis jetzt 
kaum in Angriff genommen; es steht daher hier der Forschung noch 
ein weites Feld offen. 

Schließlich muß es nicht nur als möglich, sondern im allgemeinen 
sogar für wahrscheinlich erachtet werden, daß rein organische, 
»hornige« Skelette, Hüllen usw. die letzten Reste früherer minera- 
lischer Hartgebilde sind, so bei Hornschwämmen, Alcyonarien, Hydro- 
zoen, Bryozoen, Mollusken, Tunicaten, Insekten, Fischen und Rep- 
tilien, und daß früher vorhandene hornige Skelette und Hüllen im 
Laufe der Zeit zu zarten, fossil nicht erhaltungsfähigen Kutikular- 
bildungen geworden sind. 


V. Die Methoden der phylogenetischen Forschung. 


Nach der heutigen Entwicklungslehre sind selbst die verwickelt- 
sten Organisationen durch allmähliche Umbildung aus dem noch un- 
entwickelten Plasma entstanden. Ein solcher Vorgang läßt sich zwar 
historisch nicht in seinem ganzen Umfange nachweisen, wohl aber 


Methoden phylogenetischer Forschung. 87 


können wir gewisse Teile der Schöpfung in ihren Wandlungen von 
einem ziemlich vorgeschrittenen Stadium an, wie es zur kambrisch- 
silurischen Zeit gegeben ist, bis zu ihrem heutigen Stande mit größeren 
oder kleineren Unterbrechungen verfolgen. Innerhalb dieses historisch 
segebenen Bruchstückes der Entwicklung sehen wir noch beträcht- 
liche Änderungen in den Organisationen vor sich gehen. Die Vierfüßler, 
Reptilien, Vögel und Säuger sind innerhalb dieses biohistorischen Zeit- 
raums aus anders gearteten Vorfahren entstanden, und die höheren 
Blütenpflanzen, Mono- und Dikotyledonen, haben sich aus Formen mit 
einfacher Art der Befruchtung, aus Sporenpflanzen oder aus Gymno- 
spermen, herausgebildet. Die Wandlungen innerhalb der biohistori- 
schen Zeit sind also immer noch sehr erheblich, und alle Merkmale, 
durch die sich die höchst entwickelten der heutigen Tiere und Pflan- 
zen von den ältesten uns überlieferten unterscheiden, müssen sich im 
Laufe dieser Zeit einmal geändert oder ganz neu gebildet haben. 
Wir sind aber wohl berechtigt, noch weiter zu gehen und aus dem 
überlieferten Bruchstücke der Schöpfung einen Rückschluß auf den 
vorhistorischen Umwandlungsvorgang zu machen und zu sagen: alle 
Merkmale der Organismen sind einmal entstanden, mit andern Wor- 
ten, sie sind alle wandelbar. M 

Es wäre nun sehr wichtig, wenn wir bestimmt feststellen könnten, 
welche Merkmale sich leichter und welche sich schwerer verändern, 
welche sich in verschiedenen Stammreihen mehrfach in ähnlicher 
Weise geändert haben und welche nur einmal einem Wechsel unter- 
worfen, dann aber unveränderlich geblieben und so vererbt sind. 
Damit hätten wir ein Hilfsmittel, das uns in dem lückenhaft über- 
lieferten Fossilmaterial leichter die phylogenetischen Zusammenhänge 
zu finden ermöglichte. 

Leider hat die Natur den Stempel der geringeren oder größeren 
Veränderlichkeit von einzelnen Merkmalen den Organismen nicht in 
leicht erkennbarer Form beigefügt, und wir müssen daher ihren Wert 
erst auf umständliche Weise feststellen. Das geschieht auf ver- 
schiedenen Wegen, einmal durch Beobachtung der Veränderlichkeit 
an heutigen Organismen im Naturzustande oder im Zustande der 
Domestikation, durch Verfolgung der Ontogenien oder durch ver- 
gleichend-anatomische Betrachtung, endlich durch unmittelbare Be- 
obachtung der Wandlungen am historisch gegebenen Stoffe selbst. 
Von diesen verschiedenen Wegen führt nur der letztgenannte zu 
einer gut brauchbaren phylogenetischen Methode Denn die Ver- 
änderungen greifen im organischen Reiche allgemein so langsam Platz, 
daß ihre Verfolgung an heutigen Organismen kaum ein wahrnehm- 


88 Methoden phylogenetischer Forschung. 


bares Differential erschließt; und selbst ein solches besitzt zumeist 
noch keinen eindeutigen Charakter. An den Veränderungen, die die 
Organismen durch Domestikation und Kultur erfahren, ersehen wir 
zwar, welcher Veränderungen sie unter abnormen Verhältnissen 
fähig sind, aber wir erfahren dadurch nichts Genaues von den Wand- 
lungen, die unter natürlichen Bedingungen im Laufe der Zeit 
stattgehabt haben. Die ontogenetische Methode leidet an verschie- 
denen Fehlern. Wir können vor allem nicht ohne weiteres fest- 
stellen, welche Merkmale als Folge der abnormen Verhältnisse ent- 
standen sind, unter denen die Larve besteht. Aber selbst, wenn es 
gelänge, die känogenetischen Merkmale scharf abzutrennen von den 
palingenetischen, so bleibt es von den letzteren doch durchaus un- 
entschieden, welche von ihnen im Laufe der phylogenetischen Ent- 
wicklung nur ein einziges Mal und welche wiederholt entstanden 
sind. An dem gleichen Fehler leidet die vergleichend-anatomische 
Methode. Ihre Ergebnisse sind ebenso zweideutig, wie bei der onto- 
genetischen, und vergegenwärtigen wir uns, welche Unsicherheit jeder- 
zeit den Ergebnissen dieser Methoden angehaftet hat, wie heute, noch 
mehr als früher, wo man weniger kritisch verfuhr, der individuellen 
Deutung der weiteste Spielraum geöffnet ist, und wie hartnäckig die 
erwähnten Probleme der Abstammungslehre sich gegen den Fort- 
schritt dieser Forschungen behauptet haben, so kann man ihren Wert 
für die Abstammungslehre nur äußerst gering einschätzen. Die 
sonstige Bedeutung der vergleichend-anatomischen und embryologi- 
schen Forschungen soll dadurch in keiner Weise herabgesetzt werden, 
nur für den besonderen Zweck der Ermittlung der Phylogenie 
haben sie sich als wenig brauchbar erwiesen. So bleibt denn als 
einzig sichere Grundlage die historische Methode übrig, wie enge 
Grenzen dieser auch auf den ersten Blick gezogen zu sein scheinen. 

Die historische Methode zeichnet sich neben andern Vorzügen 
schon dadurch vorteilhaft vor allen andern aus, daß sie eine Unter- 
scheidung der zwei verschiedenen Arten der Abänderung ermöglicht, 
die man mit Recht unterschieden hat, und deren gegenseitiges Ver- 
hältnis noch keineswegs feststeht — der Änderung im Raume 
oder der Variation und der Änderung in der Zeit oder der 
Mutation. Aber auf diese Frage kann ich erst näher eingehen, 
wenn ich Beispiele tatsächlicher Umbildung im Laufe der Zeit vor- 
geführt haben werde. Hier möge vor allem betont werden, was 
kürzlich auch von Drr£rer ausführlich und klar auseinander gesetzt 
worden ist, daß die historische Methode, wenn sie durchaus exakt 
sein soll, nur mit möglichst geschlossenen Formenreihen arbeiten 


Methoden phylogenetischer Forschung. 89 


darf, wie sie beispielsweise von WAAGEN und NEumAyR an den Am- 
monitengattungen Oppelia und Phylloceras verfolgt worden sind. Leider 
befinden wir uns nur selten in der glücklichen Lage, die phylogene- 
tischen Zusammenhänge aus lückenlos aufeinander folgenden Muta- 
tionen abzulesen. Fast stets bleiben kleinere oder größere Lücken 
zwischen zeitlich mehr oder minder weit auseinander liegenden Sta- 
dien der gleichen Stammreihe oder eines Stammes offen, und es 
fragt sich dann, ob wir in diesem Falle auf eine phylogenetische 
Verknüpfung verzichten oder ob und nach welcher Methode wir die 
Lücken ergänzen sollen. 

Es ist demi ständig vorwärts drängenden Menschengeiste eingeboren, 
daß er immer die Lücken auszufüllen versucht, die in den Ergebnisse der 
langsam fortschreitenden, streng induktiven Forschung übrig bleiben. 
Selbst wenn wir so streng induktiv wie möglich verfahren und so- 
genannte »ununterbrochene« Formenreihen verfolgen und aufstellen, 
sind wir genötigt, ganz kleine Unterbrechungen des Zusammenhanges 
zu vernachlässigen und Zwischenglieder zu interpolieren, die wir nicht 
sehen, weil das Material uns nur äußerst selten in idealer Voll- 
ständigkeit zur Verfügung steht. Je unbedeutendere Lücken aber 
bleiben, um so wahrscheinlicher wird das Ergebnis. Es besteht also 
kein grundsätzlicher, sondern nur ein gradueller Unterschied der 
Methode in beiden Fällen, und eine scharfe Grenzlinie läßt sich nicht 
ziehen. In jedem Falle handelt es sich um ein Probieren, die 
Fülle der organischen Gestalten in einen genetisch einfachen und 
leicht verständlichen Zusammenhang zu bringen, und sie restlos in 
Entwicklungslinien einzureihen. Wenn wir uns nur jederzeit des 
Wahrscheinlichkeitsquotienten bewußt bleiben, der jedem einzelnen 
Falle anhaftet, so sind alle phylogenetischen Versuche, die von tat- 
sächlich bekanntem historischen Material ausgehen, und Spekula- 
tionen, die selbst beträchtliche zeitliche und morphologische Lücken 
überbrücken sollen, ein Fortschritt. Nur müssen die so eingeschlagenen 
Wege verlassen und es muß eingestanden werden, daß sie ungangbar 
sind, wenn die neu hinzu kommenden Formen aus den durch Spe- 
kulation überbrückten Zeiten sich nicht in die angenommenen Ent- 
wicklungslinien einfügen lassen, sondern nach andern Richtungen 
hinweisen. 


Das sind die Methoden, deren sich jede geschichtliche Forschung 
bedient, mag sie den historischen Menschen oder die Natur im all- 
gemeinen zum Gegenstand haben. Bei dem Versuche, das Tier- 
und Pflanzenreich nach Maßgabe des historischen Materials phylo- 


90 Methoden phylogenetischer Forschung. 


genetisch zu begreifen, haben mir folgende Richtlinien vorgeschwebt. 
Jeder Umwandlungsvorgang, den wir voraussetzen, wird um so 
wahrscheinlicher, je häufiger er als gesetzmäßiges Ergebnis in der 
Entwicklung überhaupt nachgewiesen ist. Wenn wir z. B. feststellen, 
wie das jüngst geschehen ist, daß sich die ursprünglich kryptogame 
Fortpflanzung in mehreren Pflanzengruppen unabhängig in eine gymno- 
sperme umgewandelt hat, und daß die Bildung von sekundärem Holz 
ebenfalls mehrfach unabhängig bei verschiedenen Pflanzengruppen 
eingetreten ist, denen dies Merkmal ursprünglich fehlte, so dürfen 
wir auch voraussetzen, daß diese Vorgänge nicht nur so oft vor sich 
gegangen sind, wie wir sie heute kennen, sondern noch viel häufiger. 
Können wir also zwei noch unverknüpfte Pflanzenformen aus ver- 
schiedenen Zeiten, die gewisse andre auffallende Merkmale gemein- 
sam besitzen, dadurch in eine allseitig befriedigende Verbindung 
bringen, daß wir jene beiden Umbildungsvorgänge auch in diesem 
Falle als erfolgt voraussetzen, so bewegen wir uns im Rahmen großer 
Wahrscheimlichkeit. Oder wenn wir begründete Ursache haben, an- 
zunehmen, daß die Säugetiere auf zwei verschiedenen Wegen aus 
nicht säugenden Vorfahren entstanden sind, so dürfen wir denselben 
Vorgang auch für viele anderen Fälle als wahrscheinlich ansehen. 
Denn die Natur, ob belebt oder unbelebt, wird nicht von Zufällig- 
keiten, sondern von Gesetzmäßigkeiten beherrscht, und diesen 
nachzugehen, ist unsere Aufgabe. Umgekehrt sollten wir uns hüten, 
mit Vorgängen zu rechnen, die nicht wenigstens einmal als tatsäch- 
lich erfolgt verbürgt sind. Im Entwicklungsgange der Reptilien und 
Säuger sehen wir z. B. von einem gewissen Stadium an bestimmte 
Merkmale sich immer nur in einem Sinne ändern. Der Schädel und 
Unterkiefer werden allgemein kürzer, und damit geht eine Ver- 
minderung der Zähne Hand in Hand. Eine Vermehrung der Zähne 
ist dagegen nie in einer sicher verbürgten Abstammungsreihe beob- 
achtet worden. Ebensowenig können wir bei jüngeren Formen der 
Vierfüßler eine Vermehrung der Zahl der Zehen oder Finger fest- 
stellen, sondern nur eine Verminderung der normalen Zahl von fünf 
auf weniger, bis auf einen. Nur in einem frühen Stadium der 
Stammesgeschichte, wo sich Zähne und Zehen erst aus indifferenten 
Verhältnissen herausgebildet haben, scheinen auch Vorgänge möglich 
gewesen zu sein, die zur Bildung von Zähnen in allen Teilen des 
Maules und zu einer höheren Fingerzahl als fünf geführt haben, 
später nie mehr. Wenn man trotzdem bei der Ableitung einer 
jüngeren Säugergruppe von einer anderen mit derartigen Umbildungs- 
möglichkeiten rechnet, wie bei der Ableitung der Wale von raub- 


Methoden phylogenetischer Forschung. 91 


oder huftierartigen Vorfahren, so sollte man nicht vergessen und auch 
ausdrücklich betonen, daß diese Annahme allen unseren sicheren 
Erfahrungen widerspricht und daher so gut wie keinen An- 
spruch auf Wahrscheinlichkeit hat. 

Jede jüngere Form oder Gruppe, die wir von einer 
älteren ableiten, muß in allen Merkmalen als ihr natür- 
liches Fortbildungsprodukt erscheinen. Von dieser eigentlich 
selbstverständlichen Forderung sieht man häufig ab. Man glaubt, 
es genüge, um einen stammesgeschichtlichen Zusammenhang wahr- 
scheinlich zu machen, wenn ein oder einige Merkmale einer älteren 
Form bei einer jüngeren in wenig veränderter Gestalt wiederkehren, 
und da man zudem im Besitze eines sicheren Unterscheidungsmittels 
zwischen phylogenetisch bedeutsamen (homologen) und wenig wichtigen 
(analogen) Merkmalen zu sein glaubt, so werden die ersteren häufig 
fast allein in Rechnung gezogen, die anderen mehr oder weniger 
vernachlässigt. Dieser nicht selten geübten Methode gegenüber muß 
betont werden, daß die Erfahrung für alle Merkmale nur einen 
allmählichen, schrittweisen Wechsel aufzeigt. Das gilt selbst für 
die Größe der Organismen. Denn wo wir imstande sind, eine 
Größenzunahme zu verfolgen, sehen wir dies stets nur schrittweise 
vor sich gehen. Die großen Proboscidier des jüngeren Tertiärs und 
des Quartärs, Mastodonten und Elefanten, sind nicht im Laufe kurzer 
Zeit aus kleinen und unscheinbaren Vorfahren herausgewachsen, 
sondern ihre Vorläufer im Oligozän (Palaeomastodon) waren schon 
sehr ansehnliche Tiere. Die gleiche Erscheinung beobachten wir an 
den Nashörnern, Raubtieren usw. und an vielen niederen Tiergruppen. 
Hiernach darf mit Recht die Möglichkeit bestritten werden, daß 
sehr große Tiere im Laufe kurzer Zeit aus kleinen entstanden 
sind, wie man dies z. B. für die Wale voraussetzt, wenn man ihre 
schon im Eozän vorhandenen Riesenformen von noch unbekannten, 
kleinen, raubtierartigen Landformen (Oreodonten) ableitet, die in einer 
geologisch wenig früheren Zeitperiode gelebt haben sollen. 

Besonders wertvoll für die Verfolgung des systematischen Zu- 
sammenhangs erscheinen solche Merkmale, die nur bei einer einzigen 
Art oder Gattung innerhalb einer größeren Gruppe vorkommen, wie 
das Auftreten überzähliger Finger bei manchen Ichthyosauriern, das 
nach hinten gerichtete Unterkiefergelenk von Loxolophodon, das sich 
bei keinem andern Huftiere wieder findet, die eigentümlichen, durch 
V-förmige Knickung und durch Knotung ausgezeichneten Rippen 
der Trigoniaschalen, usw. Noch wichtiger ist aber die Kombination 
mehrerer Merkmale, die nicht in Korrelation miteinander stehen, 


9 Methoden phylogenetischer Forschung. 


z. B. die Vereinigung einer bestimmten Körpergröße mit einer be- 
stimmten Schädelform und einer besonderen Art der Bezahnung, 
oder das Zusammentreffen einer besonderen Art der Blattstellung 
mit einer bestimmten Art der Blattform und der Verzweigung usw. 
Denn es müssen sowohl das Auftreten eines aberranten Merkmals 
als auch das Zusammentreffen mehrerer, nicht allgemein verbreiteter 
Merkmale an demselben Tier oder an derselben Pflanze als Erschei- 
nungen angesehen werden, die nur durch außergewöhnliche oder 
selten eintretende Vorgänge bedingt werden, und es ist unwahr- 
scheinlich, daß sich dieselben ungewöhnlichen Vorgänge oder die 
gleiche Konstellation von Vorgängen öfters wiederholen. 

In der Geschichte der Dikotyledonen hat sich besonders deutlich 
gezeigt, wie merkwürdig konstant die Variationsbreite einer Art, 
Gattung oder Familie durch lange Zeiträume bleibt. Wir dürfen 
daher erwarten, in verschiedenen Querschnitten des gleichen Stammes 
auf eine ähnliche Variationsbreite und auf einen ähnlichen Umfang 
an Arten oder Gattungen zu stoßen, wobei natürlich eine allmäh- 
liche Vermehrung oder Verminderung keineswegs ausgeschlossen ist. 

Je tiefer die paläontologische Forschung in die Einzelheiten des 
historischen Entwicklungsganges eingedrungen ist, um so deutlicher 
sind gewisse Gesetzmäßigkeiten in diesem hervorgetreten, die für die 
Weiterarbeit vorbildlich sein sollten, solange nicht Beobachtungen 
hinzukommen, die ihre Brauchbarkeit abschwächen. Einige der 
wichtigsten davon mögen hier hervorgehoben werden. 

Jeder Paläontologe weiß, daß, wo auch immer eine systematische 
Gruppe an der Hand von reicherem Material eine Neubearbeitung 
erfährt, das vorher anscheinend einfache oder wenig gegliederte 
Gebilde in erhöhter systematischer Komplikation erscheint. Was 
vorher wie eine genetisch einheitliche, wenn auch vielleicht recht 
variable Gruppe aussah, stellt sich dann dar als eine künstliche Ver- 
kuppelung wohl geschiedener Einheiten, die genetisch unabhängig 
nebeneinander bestehen und nicht miteinander in Beziehung ge- 
bracht werden können. Und wo sich eine solche Gruppe mehr oder 
weniger vollständig durch einen gewissen Zeitraum hindurch verfolgen 
läßt, erweisen sich ihre einzelnen Bestandteile auch als andauernd 
voneinander gesondert, als parallel nebeneinander herlaufende Formen- 
reihen; nur selten gelinst es, das Zusammenlaufen der Reihen zu 
einem oder einigen wenigen gemeinsamen Ausgangspunkten zu be- 
obachten. Das ist mehrfach durch zahlreiche und meist außer- 
ordentlich gewissenhafte paläontologische Studien erwiesen worden, 
ganz unzweideutig zuerst durch die musterhaften Studien von WAAGEN 


ee 


Methoden phylogenetischer Forschung. 93 


und NeumAyr an Ammoniten, durch Ossorv an den Nashörnern 
usw. usw. Diese grundlegenden Forschungen haben aber in Kreisen 
der Deszendenztheoretiker nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die 
ihnen für die Abstammungslehre zukommt, und leider ist auch die 
Zahl der Paläontologen nicht groß, die auf diesem Wege weiter 
wandeln, was sich nur z. T. durch die Schwierigkeiten erklärt, die 
mit der Beschaffung geeigneten Materials verbunden sind. Und doch 
liegt in dieser Art der Forschung der einzig mögliche Weg, den 
Umbildungsvorgängen auf die Spur zu kommen, wie sie die Natur 


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Fig. 35. Schematische Darstellungen der Stammesgeschichte einer aus 8 Arten bestehenden 
Gattung, A nach der gewöhnlich angenommenen, B nach der vielfach tatsächlich erwiesenen 
Weise. Z, II, III drei aufeinander folgende Zeiträume; a—h die 8 Arten; y eine ältere, 
x eine jüngere Gattung, die aus ihr hervorgegangen ist. Die wagerechten Striche bezeichnen 
das Auftreten der Merkmale, durch die die Gattung x sich von der älteren y unterscheidet. 


verfolgt. Zwischen den erwiesenen Vorgängen und den auf darwi- 
nistischer Grundlage erdachten besteht aber ein einschneidender und 
unüberbrückbarer Gegensatz. 

Am besten verdeutlicht man sich diesen Gegensatz zwischen 
Voraussetzung und Wirklichkeit durch ein Schema, wie es Fig. 35 
darstellt. Darin sind drei aufeinander folgende Zeitabschnitte durch 
1, II, UI, die 8 unterscheidbaren Formen einer Gattung © durch 
a,b, c,d,e, f, 9, " bezeichnet. A stellt die Art des verzweigten 
Zusammenhangs vor, wie sie gewöhnlich gedacht wird, als Ausdruck 
einer Divergenz, die im Laufe kurzer Zeit mehrfach statt hat und 
einen engen genetischen Zusammenhang der Formen begründet. 
B zibt ein Bild des tatsächlichen Befundes, des unverknüpften 


94 Methoden phylogenetischer Forschung. 


Nebeneinanderbestehens von Stammreihen. Diese liefern zwar in 
einem gewissen vorgeschrittenen Stadium (/I7) dasselbe Ergebnis wie 
der Vorgang in A, aber sie stehen untereinander in einem viel 
lockereren Stammesverbande. Ihre Zerspaltung reicht viel weiter 
zurück als bei A, oft in Zeiten, in die wir sie nicht hinein verfolgen 
können. Die gemeinsamen Merkmale (durch wagerechte Strichelung 
angedeutet), nach denen wir die 8 Formen im Zeitraum III zu einer 
Gattung zusammenfügen, werden, wie im Falle A dargestellt, gewöhn- 
lich als früh und einmal entstanden und auf alle die 8 divergierenden 
Formen vererbt gedacht. Die Beobachtung erweist aber sehr häufig 
gerade den entgegengesetzten Vorgang: sie entstehen in allen Formen- 
reihen gesondert, auch durchaus nicht gleichzeitig, sondern bilden sich 
in der einen rascher, in der andern langsamer heraus. Untersuchen wir 
die 8 Stammreihen im Stadium II, so fallen a, ce, d, g vollständig unter 
den Begriff der Gattung x, b und h erscheinen als Übergangsformen 
zwischen einer älteren Gattung y, der die Merkmale von x fehlen, 
und x selbst, während e und f dieser älteren Gattung überhaupt 
angehören. Im Stadium 7 gehören alle Reihen der Gattung y an, 
mit Ausnahme von ce und g, die schon unter x fallen. 

Belege für die Tatsächlichkeit der unter B geschilderten Art der 
Umbildung einer zusammengesetzten Gattung in eine jüngere sind an 
fossilem Materiale mehrfach erbracht worden. Ich brauche nur zu 
erinnern an die sorgfältige Bearbeitung, die WÄHNnER der unterliasi- 
schen Gattung Pszloceras und den daraus hervorgehenden Gattungen 
Arietites und Schlotheimia hat angedeihen lassen. Zu wesentlich den 
gleichen Ergebnissen gelangt man, wenn man versucht, eine formen- 
reiche Gruppe von Muscheln oder Schnecken jüngerer Zeit, wie 
Venus, Crassatella, Pleurotoma, ÜOerithium usw. in die Vorzeit zu 
verfolgen. Bei den Brachiopoden hat jüngst (1907) YAKoVLEwW eine 
ebensolche Art der Verknüpfung von »Gattungen« ermittelt. Er 
sagt darüber: »Les differentes especes de Strophalosia ont engendre 
differentes especes d’Aulosteges comme les divers especes de Produc- 
tus ont donne naissance & divers especes de Strophalosia.« 

Was ich im obigen Schema für das gegenseitige Verhältnis zweier 
zusammengesetzter Gattungen als tatsächlichen Umbildungsvorgang 
hingestellt habe, nämlich die Umwandlung einer Gattung in eine an- 
dre auf zahlreichen, parallel laufenden Linien, gilt aber auch für 
höhere Kategorien, wie die Familien, die mehrere Gattungen um- 
fassen. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür liefern uns die 
Schizodonten unter den Muscheltieren, die in einem besondern Ab- 
schnitt besprochen werden sollen. 


Methoden phylogenetischer Forschung. 95 


Aber selbst umfassende Kategorien, wie man sie als Unterord- 
nungen oder Ordnungen in die Systematik eingeführt hat, sind 
keineswegs phylogenetisch homogene Bildungen, als welche sie viel- 
fach gelten, sondern sie sind durch den Fortschritt der Forschung 
als genetisch vielstämmige Gebilde erkannt worden, und das 
wahre Bild ihrer Stammesentwicklung entspricht der Figur B unseres 
oben gegebenen Schemas, nicht aber der Figur A. Als Beleg möge 
je ein Beispiel aus den Wirbellosen und aus den Wirbeltieren an- 
geführt werden. 

In dem Stamme der Ammonoideen, d. h. der Ammoniten mit Ein- 
schluss ihrer einfacher gebauten Vorfahren aus paläozoischer Zeit, der 
Goniatiten usw., hatte v. BucH ursprünglich drei größere Abteilungen 
unterschieden, die Goniatiten, Ueratiten und Ammoniten. Sie erscheinen 
geologisch im allgemeinen in der obigen Reihenfolge und zeigen eine Ver- 
schiedenheit in bezug auf ein sehr auffälliges Merkmal, die Lobenlinie. 
Diese ist bei den Goniatiten einfach wellenförmig, bei den Ceratiten 
im Grunde gezackt, bei den Ammoniten in ihrem ganzen Verlaufe 


SS2 55, ES @S ss, SSa 


It Be 
55, Vogl 


I Qi we, es: 
a I N Sl sl; ms 


Fig. 36. Die Lobenlinie eines Goniatiten (links), eines Öeratiten (Mitte) und eines 
Ammoniten (rechts). 


mehr oder weniger zerschlitzt (Fig. 36). Diese drei systematischen 
Abteilungen mit ihren verschiedenen Gruppen sind nun aber als ge- 
netisch zusammengesetzte Kategorien erkannt worden, nicht ein - 
mal haben sich aus den Goniatiten die Üeratiten und aus diesen 
Ammoniten abgezweigt, sondern zahlreiche Goniatiten (einschließ- 
lich der Clymenien) sind zu ÜCeratiten und Ammoniten geworden, so 
daß nach heutigen Begriffen diese Namen nur als Entwicklungs- 
stufen des ganzen Stammes gelten, die von einer großen 
Zahl von Formenreihen durchlaufen werden. Da es aber eine 
schwierige Aufgabe ist, die einzelnen genetischen Reihen an dem 
teilweise nur lückenhaft ‚überlieferten Materiale durch diese wech- 
selnden Stadien zu verfolgen, so fasst man immer wieder Bruchstücke 
von mehreren derselben, die auf ungefähr gleicher Entwicklungstufe 
stehen, unter einem Gattungsnamen zusammen und vereinigt meh- 
rere solcher Gattungen von annähernd ähnlicher Entwicklungsstufe 
zu Familien. In dem Maße, als neues Material hinzukommt, und die 
Unterscheidung der Formen schärfer wird, sieht man sich genötigt, 
die zusammengesetzten Gattungen zu zerspalten, mithin immer weitere 


96 Methoden phylogenetischer Forschung. 


systematische Kategorien zu schaffen, die zwar vielfach auch geneti- 
sche sind, deren wahrer Zusammenhang aber zum großen Teile durch 
die Systematik verdunkelt wird. Schon im Devon, wo uns die älte- 
sten Ammoniten als Goniatiten entgegentreten, sind sie in mehrere 
Stämme getrennt, die sich nicht aufeinander oder auf einen Urgo- 
niatiten zurückführen lassen, sondern die schon gesondert aus der 
älteren Unterordnung der Nautiloideen hervorgegangen sein müssen. 
Was also bei den Ammoniten im System als Einheit gegolten hat, 


Ammonoideen. 


Nicht bekannte 
Strecken der 
Stammlinien. 


viInf 


Bekannte Strecken 
der Stammlinien. 


\ 
\ 
L) 
ı 
ı 
ı 
ı 
ı 
\ 
\ 


Gattungen. 


Familien. 


UIOA2T UOQIDMUIDG SPIAL 


Nautiloideen. 


Fig. 37. Dieses Schema soll das Verhältnis der heutigen Systematik der Ammonoideen 

zu ihrer Phylogenie veranschaulichen. Dabei ist vorausgesetzt, daß die Mehrzahl der tria- 

dischen Familien und Gattungen nicht erloschen ist, sondern in jurassischen und kreta- 

zeischen Formen weiterlebt, was an einer andern Stelle näher erörtert werden soll. Der 

Einfachheit wegen sind nur vier Stämme als schon im Devon vorhanden und als aus den 

Nautiloideen selbständig hervorgegangen gezeichnet; ihre Zahl dürfte in Wirklichkeit 
beträchtlich größer sein. 


erweist sich phylogenetisch nicht nur als zusammengesetzt, ‘sondern 
auch als mehrfach entstanden, nicht nur die Gattung oder die Fa- 
milie, sondern auch die ganze Unterordnung. Ich habe dieses Ver- 
hältnis zwischen dem System und der Phylogenie der Ammoniten in 
nebenstehendem Schema darzustellen versucht. Man ersieht daraus, 
daß die Linien der genetischen Einheiten, die Formenreihen, nur z. T. 
mit den systematischen Einheiten, den Gattungen, zusammenfallen, fast 
nie aber mit den Familien, und daß die systematische Unterordnung 
weit davon entfernt ist, etwas genetisch Einheitliches vorzustellen. 


Methoden phylogenetischer Forschung. 97 


In den älteren Tertiärablagerungen werden die Raubtiere durch 
die Creodonten vertreten, die sich von ihnen durch manche primitive 
Merkmale, besonders auch durch gewisse auffällige Beziehungen zu 
Insektenfressern und Raubbeutlern unterscheiden. Man hat sie daher 
früher als eine vollständig ausgestorbene Parallelgruppe zu den 
eigentlichen Raubtieren (Carnassidentata oder Fssipedia) betrachtet, 
und Wortmann hat sogar für eine getrennte Abstammung beider 
Raubtiergruppen aus mesozoischen Beuteltieren plädiert. Andre 
Forscher sahen in ihnen die Stammgruppe der echten Raubtiere, die 
sich von ihnen abgezweigt hätten. Nun stellen sich aber immer 
deutlicher enge genetische Beziehungen zwischen beiden heraus, und 
MATTHEW ist es gelungen, eine Anzahl von Ureodonten in die Stamm- 
reihen der Carnassidentaten einzufügen. Der systematisch und frü- 
her auch phylogenetisch einheitliche Begriff der Creodonta sinkt da- 
durch aber zu einem Stufenbegriff herab, ebenso der der Uarnas- 
sidentaten, und wenn noch reichlicheres Material aus jungeozänen 
und oligozänen Schichten bekannt sein wird, dürfte sich wohl her- 
ausstellen, daß die sämtlichen Raubtierstämme in den Creodonten 
wurzeln und alle früher diese Stufe durchlaufen haben. 

Diesen Beispielen könnte ich noch viele andre aus den Gruppen 
der Coelenteraten, Mollusken usw. zur Seite stellen, aber sie dürften 
genügen, um zu zeigen, in welcher Richtung die Fortschritte der 
Wissenschaft sich bewegt haben. Immer mehr und mehr erweisen 
sich die üblichen systematischen Begriffe als schräge oder 
quere Schnitte im phylogenetischen Stammbaume, nur aus- 
nahmsweise haben sie die Stammlinien der Länge nach getroffen und 
fallen mit ihnen zusammen. Dieses allgemeine Ergebnis der fort- 
schreitenden Wissenschaft betrifft die Kategorien von der Grobart 
an, durch Gattung, Familie bis zur Unterordnung oder Ordnung; 
warum sollte es nicht auch für die umfangreichsten Kategorien, für 
die Klassen und Stämme, gelten? Überall sehen wir die Spaltung 
der Formen viel, viel weiter zurückgehen, als man es gedacht hatte, 
und dabei erweisen sich diejenigen Merkmale, die nach Maßgabe des 
Systems für phylogenetisch wichtig gehalten werden mußten, als 
überall veränderlich und umgekehrt die anscheinend unwichtigen als 
beharrend und phylogenetisch bedeutsam. 

Wenn wir den Entwicklungssang größerer Abteilungen über- 
schauen, tritt noch eine andre Gesetzmäßiskeit hervor, die mir 
sowohl für die Methode weiterer Forschung als auch für die Er- 
klärung der Umwandlungen bedeutungsvoll zu sein scheint. Ver- 
schiedene Stammreihen durchlaufen die einzelnen phyletischen Stufen 


Steinmann, Abstammungslehre. 7 


98 Methoden phylogenetischer Forschung. 


unabhängig voneinander und treten daher zu verschiedenen Zeiten in 
eine nächst höhere Stufe ein. Bei den Ammonoideen z. B. wird von 
manchen Reihen das goniatitische Stadium schon im Karbon ver- 
lassen, von anderen im Perm, aber noch in der Trias gibt es Formen 
mit goniatitischer Lobenlinie. Nun unterscheiden sich die Am- 
moniten von Goniatiten aber auch noch durch andre Merkmale, wie 
durch die Lage der Siphonaldüten, die bei den Goniatiten nach 
rückwärts, bei den Ammoniten nach vorwärts gerichtet sind. Auch 
diese Änderung greift in den verschiedenen Stämmen zu verschiedenen 
Zeiten, vom Karbon bis in die Trias, Platz, aber die beiden Um- 
bildungen decken sich zeitlich nicht m den einzelnen Reihen. Ganz 
ähnlich verhalten sich noch andre Merkmale, wie das Verschwinden 
des Trichterausschnittes oder die Verwandlung der latisellaten Em- 
bryonalblase in eine angustisellate.e. Wenn sich aber auch jedes 
Merkmal unabhängig vom anderen ändert, so muß doch beachtet 
werden, daß die Umbildung aller Merkmale, durch die sich die ältere 
goniatitische Stufe von der jüngeren ammonitischen unterscheidet, in 
einen, wenn auch weiten, so doch geologisch begrenzten 
Zeitraum fällt, so daß es bis zum Karbon nur Goniatiten, 
vom Jura an nur noch Ammoniten (und Üeratiten) gibt. Ebenso 
fällt die Umbildung der Creodonten in die Oarnassidentaten fast all- 
gemein in das Oligozän. Doch gab es zur Eozänzeit schon einige 
Formen mit echtem Raubtierreißzahn, und vereinzelt bestehen noch im 
Miozän Creodonten. Also auch bei den Raubtieren ist der Um- 
bildungsvorgang fast ganz auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt. 

Auch in der Entwicklung des Menschengeschlechts läßt sich 
diese Gesetzmäßigkeit feststellen. Wir glauben jetzt zu wissen, daß 
der Mensch schon gegen Ende der älteren Tertiärzeit, nämlich im 
Oligozän, im Stadium primitiver Steinkultur existierte, und soweit 
wir wissen, hat er sich bis zum Quartär auf keine wesentlich 
höhere Kulturstufe geschwungen. Aber innerhalb der Quartärzeit 
und in der Gegenwart steigen Teile verschiedener Menschenrassen 
unabhängig zu höheren Kulturstufen, im besonderen zur Metall- 
kultur, auf. 

Aus allen diesen Erfahrungen ergeben sich für uns folgende 
Regeln für die Methode der phylogenetischen Forschung. 

Die Systematik gibt im allgemeinen keinen Fingerzeig für den 
Verlauf der Phylogenie; im Gegenteil, ihre Kategorien bedeuten im 
wesentlichen nur phylogenetische Stufen oder Stadien, Querschnitte der 
Entwicklung, aber keine Stammreihen; diese laufen vielmehr vorwiegend 
parallel und nur langsam und spärlich sich zerteilend durch jene 


Schizodonten. 99 


Stadien hindurch. Es liegt auch keine Veranlassung vor, die großen 
Kategorien, wie Ordnungen usw., grundsätzlich davon auszunehmen. 
Wir haben daher auch diejenigen Merkmale, die zur Unter- 
scheidung von Gattungen, Familien usw. verwendet werden, nicht 
als phylogenetisch wichtig und brauchbar anzusehen, sondern die- 
jenigen, nach denen wir die Arten oder Abarten unterscheiden. 

Die höheren Entwicklungsstufen gehen aus den niedrigeren auf 
mehreren Linien hervor, und die Umbildung erfolgt auf den einzelnen 
Linien zu verschiedenen Zeiten, wobei das eine Merkmal sich unab- 
hängig vom andern abwandelt. Dessenungeachtet fallen meist die Um- 
bildungen aller Reihen eines Stammes in bestimmt begrenzte Zeiträume. 

Es ergibt sich hieraus, daß die Umbildung einer Gattung, Fa- 
milie, Unterordnung usw., aus einer anderen sich im Laufe einer kür- 
zeren oder längeren Zeit abspielen kann. Bestehen also neben den 
Formen einer jüngeren Kategorie auch noch solche der älteren, aus 
der sie hervorgegangen sind, so ist es keineswegs ausgeschlossen, daß 
auch noch aus diesen, zunächst zurückgebliebenen, später jüngere ent- 
stehen können. 


VI. Die Schizodonten. 


(Trigonien und Unionen.) 

Um an einem leicht kontrollierbaren und überzeugenden Bei- 
spiel zu zeigen, auf welchen Wegen die Umbildung der Formen 
Platz gegriffen und in welcher Weise sich eine neue Familie aus 
einer älteren tatsächlich herausgebildet hat, wähle ich die von mir 
Schizodonten benannte Gruppe von Muscheltieren. Sie umfaßt 
zwei Familien, eine marine, die Trigoniden, und eine zweite, die 
dem Süßwasser angehört, die Unioniden. Die Trigoniden kennen 
wir als häufige Meeresmuscheln vom Devon (vereinzelt auch schon 
vom Silur) an und können sie durch die ganze Reihe der Formationen 
hindurch bis zur Gegenwart verfolgen. Wenn wir uns nach den 
wenigen Arten der australischen Meere und nach der ungeheuren 
Formenmannigfaltiskeit der fossilen Arten aus Paläozoikum, Trias, 
Jura und Kreide eine Vorstellung von dem Entwicklungsgange dieser 
Familie machen, so kommen wir zu folgendem Ergebnis. Der Tri- 
gonidenstamm hat sich bis gegen Ende der mesozoischen Zeit immer 
reichhaltiger entwickelt, sich in immer zahlreichere Arten gespalten 
und dabei die ihm eigentümlichen Verzierungen der Schale immer 
reicher und mannigfaltiger ausgebildet. Dann ist mit dem Ende der 


mesozoischen Zeit ein sehr starker Rückgang eingetreten, und nur 
IE 


100 Schizodonten. 


eine einzige der zahlreichen Gruppen der Gattung Trigonia hat 
sich durch das Tertiär hindurch bis auf den heutigen Tag in etwas 
abgeänderter Gestalt erhalten. Verfolgen wir zuerst die Geschichte 
dieses konservativen Astes. 

Schon aus der Trias liegen Vertreter einer leicht kenntlichen 
Gruppe von Trigonia, der Gruppe der Costatae, vor. Im Jura 
sind zahlreiche »Arten« vorhanden, die sich freilich meist nur durch 
unbedeutende Merkmale voneinander unterscheiden. Das Bezeich- 
nende liegst in der gedrungenen Gestalt und in folgender Vereinigung 
von Verzierungsmerkmalen (Fig. 38A): Der vordere Teil der Schale 
wird von scharfen, konzentrischen Rippen bedeckt, der hintere Teil, 
zwischen den beiden Kanten k und %’ gelegen, dagegen von radial 
verlaufenden, durch die Zuwachsstreifen mehr oder weniger stark 


Fig. 39. 


Fig. 38. A eine Trigonie aus der Gruppe der Costatae (Jura); B, C ein Vertreter der 
lebenden Trigoniengruppe der Peetinatae (Australien). C ist die vergrößerte Ansicht 
der Wirbelgegend. (Orig. d. Freiburger geol. Samml.) Fig. 39. Eine tertiäre Über- 
gangsform von der Trigoniengruppe der Costatae zu der der Pectinatae (Trig. semiun- 
dulata M.Coy.). Miozän. Australien. (Nach Mac Coy.) Die Radialrippen (r) beginnen 
von hinten auf den Vorderteil der Schale überzugreifen. 
» vorm; hhinten; e Embryonalschale (noch unverziert); fe Feldchen; % Arealkante; 
k' Hinterkante;; mi Mittelkante. 

gekerbten Rippen. Mit diesen Merkmalen setzen die Costaten bis 
in die Kreide fort, sind aber bis jetzt aus dieser Formation nur 
vereinzelt bekannt geworden. 

Die heute in Australien einheimische Trigoniengruppe der Peeti- 
natae scheint auf den ersten Blick wenig Ahnlichkeit mit den meso- 
zoischen Costaten zu besitzen (Fig. 38 B,C). Die Schalen sind viel 
weniger ausgesprochen dreieckig, vielmehr allseitig zugerundet, und 
starke Radialrippen mit queren Knoten bedecken die ganze Schale. 
Untersucht man aber das Jugendstadium der Schale (Fig. C), so tritt 
die Übereinstimmung mit den fossilen Formen sofort in die Fr- 
scheinung. Denn die jugendliche Schale besitzt vorn ausschließlich 
scharfe, konzentrische Rippen und nur hinten radiale, quer geknotete. 


Die Grenze zwischen den beiden verschieden verzierten Teilen wird 


u 


Schizodonten. 101 


ebenso wie bei den Costaten durch eine besonders starke Kante (X) 
markiert. Erst beim späteren Wachstum treten von hinten nach vorn 
fortschreitend auch auf dem vordern Teile radiale Rippen auf, und 
diese verbreiten sich dann bald über die ganze Schale (DB). Wir 
schließen daraus, daß die Pectinaten aus den Costaten hervor- 
gegangen sind dadurch, daß die Radialrippen allmählich auf den 
Vorderteil der Schale übergegriffen haben. Es fehlt aber auch nicht 
an einem historischen Beweise für die Richtigkeit dieser Annahme. 
Denn in den australischen Tertiärablagerungen finden sich fossile 
Trigonien, — die einzigen, die man bisher im Tertiär überhaupt ge- 
troffen hat, — und diese (Fig. 39) stehen in der Tat in der Mitte zwischen 
den beiden Gruppen. Im Jugendzustande ähneln sie den Oostaten 
noch weit mehr als die lebenden Pectinaten, indem die vordere 
Fläche länger frei von Radialrippen (r) bleibt und die Arealkante (k) 
als stärkere Rippe hervortritt. Erst später stellen sich feine Radial- 
rippen auf dem hintern Teil der Vorderfläche ein; sie greifen aber 
noch nicht über das ganze Feld über, wie bei den Pectinaten. Be- 
merkenswerterweise hat es aber nicht nur eine solche Übergangsreihe 
zwischen beiden Gruppen ge- 
geben, wie sie durch Tr. semi- 
undulata (Fig. 39) dargestellt 
wird. Schon ein Vergleich 
der Skulpturen der lebenden 
Tr. pectinata (Fig. 383B) und 
der tertiären Tr. semiundulata 
(Fig. 39) genügt, um zu erken- 
nen, daß letztere, obgleich sie 
eine Mittelform ist, doch nicht 
als Vorfahr von pectinata gelten = 
kann. Zudem kommen in ter- Fig. 40. Trigonia Howitti Me. Coy. Miozän. 
tiären Schichten auch schon ee me: ee cn) 
Pectinaten vor, wie Tr. Ho- 

with (Fig. 40), die ebenfalls auf einem andern Wege als durch 
Tr. semiundulata aus den Costaten entstanden sein muß. Wir 
müssen aus diesen Tatsachen schließen, daß sich der Übergang der 
älteren Gruppe in die jüngere nicht durch Abspaltung einer 
Art, die die neuen Merkmale allein erhält, sondern auf mehreren 
parallel laufenden Linien (ich kenne deren vier), vielleicht 
gar im ganzen Bereiche der vorhandenen Arten oder Varie- 
täten, vollzogen hat. Wir erhalten dann folgendes Bild von dem 
genetischen Zusammenhange der Oostaten und Pectinaten: 


102 Schizodonten. 


1 2 3 4 
Gruppe der Trigoniae pectinatae 


car 2er achE|olc Lebend. 
Gruppe der Trigoniae semiundulatae 
1b |2b |3b |4b Tertiär. 
Gruppe der Trigoniae costatae 
ia 2a Sa da Jura und Kreide. 


Wollten wir also den wirklichen genetischen Zusammenhang in 
der Benennung zum Ausdruck bringen, so dürfen wir nicht, wie es in 
der Systematik üblich ist, alle costaten Formen des Jura und der 
Kreide zu einer Einheit (Gruppe, Untergattung oder Gattung), alle 
semiundulaten des Tertiärs zu einer zweiten und alle pectinaten 
des Tertiärs und der Gegenwart zu einer dritten zusammenfassen, 
sondern wir müßten alle Mutationen a, b, c jeder der vier nach- 
gewiesenen Stammreihen 1, 2, 3, 4 nach den sie unterscheidenden, 
aber wenig hervortretenden Merkmalen der Skulptur, Form, Größe usw. 
zu trennen suchen und la, 1b, lc unter einem, 2a, 2b, 2ce unter 
einem andern Namen vereinigen usw. Diese Stammreihen schneiden 
sich dann mit den Stufen (d. h. systematischen Gruppen), sie laufen 
durch diese hindurch, und die Systematik, weit davon entfernt, uns ein 
Bild der Abstammung zu liefern, verhüllt und fälscht es geradezu, 
denn die systematischen Gruppen sind Entwicklungsstufen, die 
von verschiedenen Reihen in gleichem Sinne der Änderung, aber ver- 
schieden rasch durchlaufen werden. 

Nur dieser kleine Stamm der mesozoischen Trigonien hat sich 
also bis in die Gegenwart erhalten, und zwar nicht auf dem Wege 
der Absonderung einer neuen Entwicklungsrichtung, sondern durch 
gleichsinnig gerichtete Umbildung mehrerer, vielleicht gar 
aller seiner Vertreter. Was ist nun aus der großen Schar.der 
übrigen Trigonien geworden? Sind sie, wie man gewöhnlich meint, 
ausgestorben, oder haben sich von ihnen auch noch Nachkommen 
bis in die Gegenwart erhalten? 

Auf diese Frage hat schon im Jahre 1819 LAamArck in seiner 
«Histoire naturelle des animaux sans vert@bre» eine Antwort zu geben 
versucht. Nachdem er die Trigonien behandelt, beschreibt er eine 
in Brasilien einheimische Flußmuschel unter dem Namen Castalia 
und betont, daß sie den Habitus einer Trigonia besitze, daß ihre 
Schloßzähne genau die Art der Kerbung aufweisen, wie sie den Tri- 
gonien zukommt, daß aber die Stellung und Zahl der Zähne mehr 
derjenigen der Süßwassermuscheln der Najaden (oder Unioniden) 


Schizodonten. 03 


glichen. Sie könne daher keiner von beiden Gattungen zugewiesen 
werden, sondern «elle parait moyenne entre eux, forme une sorte de 
transition de l’un ä l’autre». In der Tat ist die Übereinstimmung nicht 
nur in der Beschaffenheit des Schlosses wie sie Fig. 41 und Fig. 42 
zeigt, sondern auch in der Struktur der Schale und in der Ver- 
teilung der Muskeleindrücke so überraschend groß, unbeschadet der 
ebenfalls augenfälligen Abweichungen, daß man begreift, wie 70 Jahre 
später NEUMAYR zu dem gleichen Ergebnis kommen konnte, ohne von 
Lamarcks Ausführungen etwas zu wissen. Aber zunächst ging man 
auf dem Wege, den Lamarck eingeschlagen hatte, nicht weiter. 
Denn der ausgezeichnete Oonchologe Desmavzs bezeichnete in seinem 


Figg. 41 und 42. Vergleich des Schlosses von Trigonia (Fig. 41) und Castalia (Fig. 42). 
B rechte, C linke Klappe. Die entsprechenden Teile sind mit gleichen Buchstaben be- 
zeichnet. 2 Band; m, m’ vorderer Schließmuskeleindruck ; mf, m’f vorderer Fußmuskel- 
eindruck; mzı, mz’; vorderer Leistenzahn; mza Mittelzahn der linken Klappe, bei 
Castalia zerrissen und in sekundäre Zähnchen (y) aufgelöst; x die mit y korrespondie- 
renden Elemente der rechten Klappe; mz’a hinterer Leistenzahn der rechten, mz3 der 
linken Klappe; n, n’ hinterer Schließmuskeleindruck ; nf, n’f hinterer Fußmuskeleindruck. 
«Traite elementaire de Conchyliologie>, 1850, die LamAarcksche Auf- 
fassung zwar als eine «idee, fort ingenieuse sans doute», wies sie 
aber zurück, weil man zwischen den Tieren von Trigonia und 
Castalia gewisse Unterschiede gefunden hatte. 

Als NEUMAYR von neuem zu beweisen versuchte, daß die Unionen 
auf Trigonia zurückgehen, trug er ver allem der Tatsache Rech- 
nung, daß damals die ältesten Vertreter der Unionen aus dem Jura 
bekannt waren; mithin mußten ihre Vorfahren in altjurassischen oder 
noch älteren Trigonien gesucht werden, wenn diese Süßwasser- 
muscheln nur ein einziges Mal aus marinen Vorfahren entstanden 
waren, wie das damals allgemein angenommen wurde und auch noch 
heute ohne Prüfung als selbstverständlich betrachtet wird. Da ferner 
die ältesten damals bekannten Unionen unverzierte Schalen be- 


sitzen, die jüngeren, namentlich die tertiären und lebenden, vielfach 


104. Schizodonten. 


reiche Verzierungen aufweisen, die zum Teil eine überraschende Ähn- 
lichkeit mit solchen der jüngeren Trigonien besitzen, so sah er 
sich zu der Annahme genötigt, daß sich diese Verzierungen bei den 
Unionen neu gebildet hätten; er erblickte in einer solchen ähn- 
lich gerichteten Variabilität bei beiden Familien nur einen Beweis 
für die natürliche Verwandtschaft. Es war gewissermaßen eine in dem 
ganzen Stamme schlummernde »Tendenz« zur Herausbildung eigen- 
artiger Skulpturen, wie wir sie von anderen Muscheln überhaupt nicht 
kennen, unabhängig sowohl in den marinen Trigonien wie in den 
von ihnen abgezweigsten Unionen zur Entwicklung gelangt. Hier- 
nach hätte man dann allerdings auch erwarten dürfen, daß sich bei 
den Unionen in ähnlicher Weise wie bei ihren marinen Verwandten 
die eigenartigen, zum Teil sehr verwickelten Skulpturen, wie sie nur 
in diesen beiden Familien auftreten, im Laufe der Zeit allmäh- 
lich herausbilden. Diese Voraussetzung erfüllt sich aber nicht. 
Es bedarf nicht einmal eines besonderen Beobachtertalents, um zu 
erkennen, daß die Skulpturen der Unionen überall in Rückbildung 
begriffen sind, bei lebenden wie bei fossilen. 

Neumayrs Ableitung hat daher den Beifall andrer Forscher 
ebensowenig zu erringen vermocht, wie LamArcks erster Versuch 
in dieser Richtung. Zudem fanden andre Forscher in noch älteren 
Schichten als im Jura Übergänge zwischen den Vorfahren der Tri- 
gonien, den noch mit ungekerbten Zähnen versehenen Myo- 
phorien der Trias, und den Unionen der gleichen Zeit, ebenso in 
palaeozoischen Formationen, und da die Vorstellungen aller Forscher 
ganz in dem hypnotischen Banne der Monophylesie der Familien 
und Gattungen standen, so konnte ihrer Ansicht nach nur ein 
Übergang möglich sein. Der schwache Punkt im NeumArrschen 
Versuche liegt aber wie bemerkt in ganz andrer Richtung. Die Ver- 
zierungen der Unionen ähneln den Trigonien-Skulpturen außer- 
ordentlich. Man kann sich aber leicht durch die Betrachtung einer 
Reihe verzierter Unionen davon überzeugen, daß sie bei ihnen nicht 
neu entstanden, sondern vererbt sind. Wie bei allen Süßwasser- 
mollusken gehen auch bei den Unionen die Verzierungen, die sie von 
ihren marinen Vorfahren etwa überkommen haben, mehr oder weniger 
rasch zurück, und daher besitzen sehr viele Arten im Jugendstadium 
noch Skulpturen, verlieren sie aber beim späteren Wachstum. Das zeigen 
z. B. die Figuren 48—52, S. 106—108 ganz deutlich. Ferner ist zu be- 
merken, daß die Skulpturen im Jugendstadium gewöhnlich die größte 
Übereinstimmung mit den ähnlichen Bildungen der Trigonien auf- 
weisen, während sie später mehr oder weniger unregelmäßig werden und 


Schizodonten. 105 


»degenerieren« (Fig. 48). Auf Grund dieser Tatsachen gelang mir 
(1890) ohne Schwierigkeit der Nachweis, daß »sich gewisse Unionen 
nach Gestalt und Verzierung der Schale auf bestimmte Gruppen 
von Trigonien zurückführen lassen«, und danach hatte die » Umwand- 
lung der Trigonien zu Unionen nicht nur einmal, sondern zu wieder- 
holten Malen und bei verschiedenen Gruppen der Trigonien 
Platz gegriffen«. Hiervon wollen wir uns zunächst überzeugen. 


Fig. 43. Fig. 44. 


Fig. 45. Eine Trigonie, deren Rippen in zwei ungleiche Schenkel, einen schwächeren 

vorderen und einen stärkeren hinteren zerfallen sind (Tr. navis. Jura. — Rechte Klappe). 

Fig. 44. Eine Trigonie mit geknoteten, schräg nach vorwärts und abwärts laufenden 

Rippen. Der hintere Ast allein entwickelt (Tr. elavellata. Jura. — Linke Klappe). 
(Aus STEINMANN-DÜDERLEIN: Elem. d. Pal.) 


Fig. 45. 


Fig. 46. 


a 

1 

1 

Fig. 45. Trigonia spinosa Park. Cenoman. England. Linke Klappe. (Nach Lvcrrr.) 

Fig. 46. Unio Kleinii Lea. Rezent. China. Linke Klappe. (Orig. d. Freiburger geol. 
Samml.) a Area; ar Arealrippen; k—k Arealkante. 


Zahlreiche Trigonien des Jura und der Kreide besitzen nur 
in allerfrühester Jugend regelmäßig konzentrische Rippen auf dem 
Vorderteile der Schale, wie die oben behandelte Gruppe der Oosta- 
ten (Fig. 38). Vielmehr erhalten die Rippen sehr bald etwas vor ihrer 
Mitte einen Knick nach unten (Fig. 47) und zerfallen dadurch in einen 
schwächeren, vorderen Ast (r’) und einen stärkeren, hinteren (r), die in 


106 Schizodonten. 


einem Bogen oder unter spitzem Winkel zusammentreffen (Fig. 43, 47). 
Vielfach verschwindet der vordere Ast vollständig (Fig. 44, 45), und 
dann laufen die in Knoten aufgelösten Rippen von der Arealkante (X) 
bogenförmig gegen den Vorder- und Unterrand, wie bei der Gruppe 
der Clavellatae. In der Kreide tritt bei solchen Formen noch 
ein anderes, nicht minder auffälliges Merkmal hinzu. Auch die hin- 
tere Fläche der Schale, die sog. Area (Fig. 45a), erhält schräg von 
der Arealkante (k) nach hinten und abwärts laufende Rippen, so daß 
nun eine ausgesprochen fiedrige Anordnung aller Rippen hervor- 
tritt. Ohne Schwierigkeit finden wir unter den heutigen Unionen 
Formen mit der gleichen sonderbaren Skulptur, wie Unio Kleiniki 
aus China (Fig. 46). Die Skulptur fehlt zwar vorn, wo sie bei den 
Unionen immer zuerst verschwindet, schon ganz und zeigt auch schon 


Fig. 48. 


Fig. 47. Trigonia literata Y.u.B. Ob. Lias. England. Rechte Klappe. (Nach Lycerr.) 
Fig. 45. Hyria rugosissima. Lebend. Brasilien. Rechte Klappe. (Orig. d. Freiburger 
geol. Samml.) @ Area; ar Arealrippen ; k—k Arealkante; mf Mittelfurchen; r absteigender, 
r' aufsteigender Schenkel der Rippen; x unregelmäßige Rippen des Vorderteils der Schale. 


Spuren von »Degeneration«, z. B. Abschwächung der Knoten, stimmt 
sonst aber vollständig mit der von Trigonia spinosa aus der Kreide 
überein. 

Am deutlichsten tritt die V-förmige Knickung der Rippen bei 
einer andren Trigonia-Gruppe hervor, die besonders im Jura ver- 
breitet ist. Fig. 47 zeigt uns einen typischen Vertreter der Gruppe 
der V-costatae. Der von der Arealkante absteigende Rippenast (r) 
ist stark geschwollen, der aufsteigende Vorderast (»’) ist dünner; 
beide treffen unter sehr spitzem Winkel zusammen. Am Vorderrande 
werden die Rippen unregelmäßig (x). Nun vergleiche man damit die 
nebenstehende Figur 48 einer Unione (Hyria) aus Brasilien: dieselben 
Elemente der Skulptur in kaum geänderter Ausführung; insbesondere 
ist das Verhältnis der beiden Rippenäste das gleiche, selbst die Un- 
regelmäßigkeit der Berippung am Vorderrande ist ähnlich. Nur auf 


Schizodonten. 107 


der Area (a) sind einige schräg verlaufende Rippen (ar) hinzugekommen, 
die wie wir wissen bei den Trigonien in jüngerer Zeit viel- 
fach erscheinen. Diese Arealrippen sind auch keineswegs bei allen 
Hyrien vorhanden; sie fehlen z. B. bei H. corrugata (Fig. 49). Diese 
zeigt, wie schon oben bemerkt, deutlich den Rückgang der Skulptur, 
der sich bei den Süßwasserbewohnern im Laufe der Zeit regelmäßig 
einstellt. Zugleich kommt im vorliegenden Falle der Zusammenhang 
der beiden Äste an den späteren, äußeren Rippen zum Verschwin- 
den, so daß diese nun als unverbundene Stücke vor und hinter den 
V-förmig geknickten älteren Rippen (r—r’) fast parallel und 
scheinbar in radialer Richtung über die Schale laufen. Diese 
Änderungen sind aber deshalb wichtig, weil sie uns die eigenartigen 


Fig. 49. 
Fig. 50. 


Fig. 49. Hyria corrugata. Fig. 50. Castalia ambigua. Rezent. Brasilien. Rechte Klappe. 

(Orig. d. Freiburger geol. Samml.) a Area; ar Arealrippe; k—k Arealkante; mf Mittel- 

furchen; r absteigender, r’ aufsteigender Schenkel der Rippen. Diese Figuren zeigen, daß 

die Skulptur von Castalia wie die von Hyria auf die V-förmig gekniekten Rippen der 

Trigonien zurückgeht. In Fig. 50 ist besonders das fiederförmige Abstoßen der Rippen (r) 

von der Arealkante deutlich zu sehen; ebenso wie die Mittelfurche von Castalia derjenigen 
von Hyria entspricht. 


Skulpturen der Castalien (Fig. 50) verstehen lehren, die für La- 
MARCK und Nrumayr den Ausgangspunkt zu ihren phylogenetischen 
Versuchen abgaben. 

Die Skulptur der Castalien ist nämlich insofern eigenartig 
und von der anderer Unionen verschieden, als die Schale von breiten, 
kürzeren oder längeren, anscheinend radial laufenden Rippen bedeckt 
wird, die durch schmale, tiefe Furchen getrennt werden (Fig. 50—52). 
Selbst Conchologen von Ruf, wie Inerıng, haben sich hierdurch 
täuschen lassen und die Rippen als radiale bezeichnet, was sie aber 
nur bei flüchtiger Betrachtung zu sein scheinen. Denn an solchen 
Stücken von Castalia ambigua, wie sie in Fig. 50 dargestellt sind, 
beobachtet man noch deutlich das spitzwinkelige Abstoßen der Rippen 


108 Schizodonten. 


von der Arealkante (%), was mit radialer Berippung unvereinbar ist. 
Ferner erkennt man deutlich das Vorhandensein einer mittleren, un- 
paaren Furche zwischen den Rippen (mf) und die symmetrische 
Anordnung der Rippen zu dieser Mittelfurche. Diese eigen- 
artige Skulptur erklärt sich sehr leicht und einfach durch Vergleich 
mit der noch ausgesprochen V-förmigen von Hyria (Fig. 49). Man 
braucht nur die Rippenäste dieser Form noch etwas stärker nach 
unten divergieren und oben stärker aneinander rücken zu lassen, um 
die Berippung von Uastalia zu erhalten. Durch weitere Reduktion 
der Verzierung kommen dann die Berippungen zustande, wie sie uns 
die Figuren 51 und 52 zeigen. Die Skulptur von Castalts ist also 
nicht radial, sondern durch allmähliche Änderung aus der V-Ver- 
zierung entstanden, wie sie sich zur Jura- und Kreidezeit bei den 


Fig. 52. 


Fig. 51. Castalia ambigua. Fig.5%. Castalia undosa. Rezent. Brasilien. (Orig. d. Freiburger 

geol. Samml.) a Area; ar Arealrippen ; mf Mittelfurche; r absteigender, r’ aufsteigender 

Ast der Rippen. Diese Figuren zeigen im V ergleich mit Fig. 49 u. 50 das Zurücktreten 

der ursprünglichen Trigonien- -Skulptur und den damit verknüpften scheinbar radialen, 
in Wirklichkeit V-förmigen Verlauf der Rippen. 


marinen Vorfahren ausgebildet hat und auf ihre fluviatilen Nach- 
kommen vererbt worden ist. Bei diesen ist sie im Verschwinden 
begriffen, läßt sich aber selbst in dieser verkümmerten Ausbildung 
immer noch als ein Erbstück von den marinen Vorgängern nachweisen 
und nur als solches überhaupt verstehen. Ebenso liegt aber 
das Verhältnis beim Schloß (Fig. 41, 42). Denn erst zur Triaszeit 
erhalten einige Vorläufer der Trigonien gekerbte Zähne, wie sie das 
bezeichnende Merkmal aller Trigonien vom Jura bis zur Gegen- 
wart bilden. Aus der vollständigen Übereinstimmung der einzelnen 
Elemente des Schlosses zwischen Trigonia und Castalia (vgl. 
Fig. 41, 42) muß man mit gleicher Bestimmtheit wie bei den Skulpturen 
auf Vererbung und auf einen unmittelbaren genetischen Zusammen- 


Schizodonten. 109 


hang schließen. Wie sich die Skulpturen beim Übergange zur fluvia- 
tilen Lebensweise allmählich verlieren, so verändert sich auch das 
Schloß, indem sich die Zähne zerteilen, verlängern (Fig. 42), unregel- 
mäßig werden und späterhin mehr oder weniger verschwinden. Allein 
die Veränderung der beiden Merk- 
male, die in extremer Ausbildung 
eine scharfe Grenze zwischen Tri- 
sonien und Unionen abgeben, geht 
keineswegs genau parallel. Denn 
Hyria hat zwar die Skulptur der 
Trigonien mit V-förmigen Rippen 
ziemlich genau bewahrt, aber ihr 
Schloß ist schon in langgestreckte 
Leisten zerrissen (ähnlich Fig. 53), 

an denen kaum noch Spuren von der ni ee a 
Kerbung der Trigoniazähne wahr- Dreieckzahn von Trigonia, dessen beide 
zunehmen sind. Bei Castalia ist um- ge ln: 
gekehrt die Skulptur stark verändert sind verschwunden, (Aus Sremmann- 
(Fig. 50-52), während das Schloß Ban) 

nur geringe Modifikationen aufweist (Fig.42). Man kann deshalb auch 
die lebenden Uastalien nicht von den lebenden Hyrien ableiten, 
sondern wird zu einem gesonderten Ursprung aus verschiedenen Arten 


Fig. 54. Unio (Loxopleurus) belliplicatus Meek. Obere Kreide. (Bear River Laramie.) 
Wyoming. (Nach WnıteE.) Linke Klappe. A von oben, B von der Seite. r absteigender, 
r’ aufsteigender Schenkel der V-förmigen Rippen. Vgl. dazu Fig. 48. 


von Trigonien mit V-förmiger Berippung gedrängt, wofür auch die 
Unterschiede in der Gestalt der Wirbel, in der Beschaffenheit der 
Arealkante usw. sprechen. Unzweifelhaft wird die polyphyletische 


110 Schizodonten. 


Abstammung der Unionen mit V-Skulptur aber durch die Tatsache, 
daß schon zur Zeit der jüngeren Kreide solche Arten Unionen in 
Nordamerika bestanden haben, die aber durch ihre langgestreckte Form 
und durch Drehung der Skulptur eine wohl getrennte Gruppe vor- 
stellen (Fig. 54), für die MEER den besonderen Namen Loxopleurus in 
Vorschlag gebracht hat. Weder Hyria noch Oastalia können als 
Abkömmlinge dieser Kreide-Unionen betrachtet werden. 


Ich fasse zunächst zusammen, was sich aus den obigen Betrach- 
tungen an Schizodonten ergibt: 

Die Umwandlung einer Gruppe (Costatae) in eine andre jüngere 
(Pectinatae) der gleichen Gattung ist nicht durch Auslese und Ab- 
spaltung einer Art, die allein die Merkmale der jüngeren annimmt 
und damit zu ihrem Ausgangspunkte wird, vor sich gegangen, son- 
dern sie ist erfolgt durch Umbildung zahlreicher, vielleicht aller Arten 
in gleichem Sinne. Ebenso entsteht aus einer älteren marinen Gattung 
(Trigonia) eine jüngere (Unio) nicht nur auf einer Linie, sondern 
auf mehreren!). Es werden mehrere Gruppen der marinen Gattung 
zu entsprechenden der fluviatilen. Aber auch innerhalb dieser 
(Gruppen geht die Umbildung zur neuen Gattung offenbar auf ver- 
schiedenen Linien vor sich, und wesentlich in gleichem Sinne; jedoch 
nicht gleichzeitig, sondern auf jeder Linie unabhängig. 

So bestätigt sich vollständig der genetische Zusammenhang zwi- 
schen Trigonien und gewissen Unionen, wie ihn LAmARcK zuerst 
erkannt und NeumAyr ihn wieder ermittelt hatte. Nur gestaltet sich 
der Vorgang anders, als ihn Neumayr vermutete und als er sonst 
allgemein angenommen wird. Die neue Gattung entsteht aus der 
älteren nicht durch Abspaltung, sondern durch gleichsinnige Fort- 
bildung zahlreicher Arten. Es ist nicht ein Vorgang, der sich ge- 
legentlich einmal abspielt, sondern eine Umbildung, die sich 
häufig und immer wesentlich in gleichem Sinne vollzieht, wo- 
bei sich aber die einzelnen Merkmale nicht immer in gleichem Tempo 
abwandeln. Die Umbildung auf verschiedenen Linien läßt sich an 
den Skulpturen (und an anderen Merkmalen, wie Schalenform, Schalen- 


1) Ich bemerke, daß ich hier, um nicht zu ausführlich zu werden, nur zwei 
Trigonien-Gruppen in ihre Unionen-Nachkommenschaft verfolgt habe, daß 
aber dasselbe für mehrere andre Gruppen gerade so leicht möglich ist, z. B. 
bei der Gruppe der Quadratae; ferner ist der Zusammenhang ganz evident, 
der zwischen den ungewöhnlich großen und ganz glatten Trigonien des obersten 
Jura (Portland) Europas, wie 7r. glabra, und zwischen Unio waldensis aus den 
zeitlich darauffolgenden Wealdschichten derselben Region besteht. 


Schizodonten. E11 


dicke, usw.) verfolgen, die zwar auch einem Wechsel unterworfen 
sind, die aber noch lange in ihrer bezeichnenden Ausprägung er- 
halten bleiben und dadurch leitend für die Verfolgung des phylogeneti- 
schen Zusammenhangs werden. 


Wenn nun, wie wir gesehen haben, zahlreiche Unionen aus den 
Trigonien der Jura- und Kreidezeit hervorgegangen sind, wie steht 
es dann mit der Behauptung anderer Forscher, die den gleichen Vor- 
gang schon in früheren Zeiten festgestellt haben wollen? Ich meine, 
sie vertreten ihre Ansicht mit ebensoviel oder ebensowenig Recht, wie 
es NeumaAyr tat. Denn die Tatsachen liegen folgendermaßen: 

Abgesehen von älteren, etwas zweifelhaften Funden kennen wir 
die erste reichhaltige Fauna von Süßwassermuscheln aus der jüngeren 
Steinkohlenzeit, deren Süßwasserbildungen in verschiedenen Gegenden 
reich daran sind. Diese älteren Süßwassermuscheln gehören der 
Hauptsache nach zwei Familien an, denselben, die auch heute unter 
den Süßwassermuscheln eine hervorragende Stelle einnehmen, den 
Familien der Unioniden und Mytiliden. Die als Oarbonicola 
und Anthracomya bekannten Gattungen stellt man zu den Unio- 
niden, und sie sind von den jüngeren Vertretern dieser Familie, im 
besonderen von den beiden heutigen Gattungen Unio (mit Schloß) 
und Anodonta (ohne Schloß), kaum irgendwie unterscheidbar. Ihre 
Schalen zeigen denselben Umriß und Habitus, dieselbe Art der Fuß- 
muskeleindrücke und auch eine Veränderlichkeit der Schloßmerkmale, 
wie sie bei den jüngeren Vertretern ähnlich, aber meist noch aus- 
geprägter vorkommt. Aber es fehlen ihnen zwei Merkmale, die einem 
sroßen Teile der tertiären und heutigen Unionen eigen sind: sie 
besitzen keine Schalenverzierungen und ihre Schloßzähne 
sind nie gekerbt. Und das muß auch so sein, wenn die Auf- 
fassung von der Phylogenie der Unionen zutrifft, die ich soeben 
entwickelt habe. Denn danach muß angenommen werden, dal diese 
älteren Unionen ebenfalls auf marine Vorfahren des Schizodonten- 
stammes zurückgehen, und natürlich auf paläozoische, d. h. alt- 
karbonische oder devonische. Diese sind aber fast ausnahmslos un- 
verziert, und ihre Schloßzähne entbehren durchaus der 
Kerbung, die erst von der Trias an im Schizodontenstamme er- 
scheint. Ebenso verhalten sich die permischen Unionen, die sich 
außerdem noch durch eine ähnlich große Variabilität in der Schloß- 
bildung auszeichnen wie die heutigen und tertiären Vertreter. Auch 
sie werden vom Stamme der Trigonien abgeleitet, und es ist bei 
der weitgehenden Übereinstimmung zwischen beiden auch nicht 


112 Schizodonten. 


ersichtlich, welche anderen Meeresmuscheln mit Recht als ihre Vor- 

fahren angesprochen werden könnten. 

Ferner hat man eine sehr vollständige Übergangsreihe zwischen 
den marinen Myophorien, den Vorläufern der Trigonien, und 
unionenartigen Muscheln, der Gattung Trigonodus zugehörig, in 
den Schichten der alpinen Trias ermittelt, so daß alle Forscher, die 
sich mit diesen Fossilien beschäftigt haben, übereinstimmend zu dem 
Ergebnis gelangen, daß hier die Umbildung unanfechtbar festgestellt 
sei. Auch zu dieser Zeit fehlten den meisten Vertretern des Tri- 
gonidenstammes noch die Verzierungen und die Kerbung der Zähne, 
und darum zeigen auch die aus ihnen entstandenen Unionen nichts 
davon. 

Nach unseren heutigen Erfahrungen stellt sich nun die Geschichte 
des Schizodontenstammes folgendermaßen dar. Zur Devonzeit tritt 
uns dieser Stamm in der Form von Meeresmuscheln des Flachwassers 
schon mit einer nicht unbeträchtlichen Formenfülle entgegen, und 
diese nimmt bis gegen Ende der mesozoischen Zeit immer mehr, aber 
ganz allmählich, zu. Dabei lassen sich schon vom Devon, noch 
besser aber vom Karbon an mehrere getrennte Gruppen neben- 
einander in ungefähr gleichlaufendem Entwicklungsgange verfolgen. 
Die allgemeinen Veränderungen, welche wir an den Meeres- 
bewohnern (Trigoniden) im Laufe der Zeit wahrnehmen, sind 
folgende: 

1. Die Größe der Tiere nimmt ganz allgemein und langsam zu. 

2. Die ursprünglich glatten Schalen erhalten Verzierungen der 
verschiedensten Art, und dieser Vorgang greift in immer mehr 
Formenreihen Platz, so daß unter den Formen des Jura und 
der Kreide nur noch wenige unverzierte zu finden sind. 

3. Das Schloß wird im Laufe der Zeit immer stärker, die 
Klappenbewegung dadurch gesicherter, und eine Querkerbung 
der Schloßzähne stellt sich in der Trias bei einigen, bald aber 
bei allen Formen ein, so daß vom unteren Jura an nur noch 
Vertreter mit Kerbzähnen bekannt sind. 

4. Mit Ende der Kreide sind alle marinen Vertreter (soweit wir 
das heute wissen) verschwunden; nur eine Gruppe setzt, auf 
Australien beschränkt, bis heute fort und lebt dort in etwa 
acht Arten. 

. Zu verschiedenen Zeiten vom Karbon bis ins Tertiär (?) ent- 
stehen aus den Meeresbewohnern Süßwasserformen. Diese 
behalten manche Merkmale ihrer marinen Stammformen voll- 
ständig bei, namentlich 


[ub} | 


Schizodonten. 113 


a) die Perlmutterschicht der Schale, 
b) die Beschaffenheit der Muskulatur (in der nur gewisse 
früher vereinigte Muskelstränge sich trennen). 

Andere Merkmale ändern sich nur allmählich: 

«@) Das Schloß zerreißt mehr oder weniger, und schließlich werden 

die Zähne rudimentär und verschwinden zuweilen ganz. 

8) Die etwa vorhandenen Skulpturen verlieren sich nach und 

nach, werden dabei oft unregelmäßig und intermittierend. 

y) Die Schale wird allmählich dünner. 

Eine dritte Klasse von Merkmalen ändert sich sogleich beim 
Übergange ins Süßwasser. 

A. Der Wirbel dreht sich nach vorn (statt nach hinten). 

B. Die Schale verbreitert sich am Oberrande und rundet sich 

allgemein zu. 

C. Der unelastische Teil des Ligaments dehnt sich auf die 

Region vor dem Wirbel aus. 

D. Die Schale erhält eine grüne Epidermis. 

Innerhalb des Unionenstadiums sehen wir sodann folgende 
Änderungen eintreten. Den marinen Ausgangsformen steht die 
Gattung Unio (nebst den gleichwertigen Gattungen Castalia, Hyria, 
Iridina, Pleiodon usw.) am nächsten; denn die Schale bleibt dick, 
und Schloßzähne und Verzierungen sind in sehr wechselnder Ge- 
staltung vorhanden; sie leben in Flüssen (ausnahmsweise in Seen — 
Tanganjıka). Bei der Gattung Anodonta (und den gleichwertigen 
Gattungen Spatha, Glabaris usw.) verschwinden die Zähne und 
Verzierungen, und die Schale wird dünn; derartige Formen leben in 
Teichen und Seen (ausnahmsweise in Flüssen). Es liegt auf der Hand, 
daß diese Unterschiede auf Rechnung der stärker geänderten Lebens- 
weise bei den Anodonten zu setzen sind. Eine dicke Schale, reiche 
Skulpturen und starke Schloßzähne sind bezeichnende Eigenschaften 
derjenigen Muscheltiere, die in flachem, stark bewegstem Wasser 
leben und daher den marinen Trigoniden in höchstem Maße eigen. 
Mit dem Übergang solcher Tiere in die Flüsse erfahren diese Merk- 
male naturgemäß eine Abschwächung, da die Tiere auf dem Boden 
und im Schlamme der Flüsse einer viel geringeren Bewegung des 
Wassers ausgesetzt sind. Mit dem Übergang zur limnischen Lebens- 
weise verschwinden diese Merkmale aber, soweit es angeht, vollständig, 
weil die Bewegung des Wassers ganz aufhört. Wir können daher 
auch verstehen, daß, wo flußbewohnende Unionen in Teiche oder 
Seen übergingen, gesetzmäßig aus ihnen Anodonten geworden 
sind. Es ist daher für letztere eine oft wiederholte, polyphyletische 


Steinmann, Abstammungslehre. S 


114 Schizodonten. 


Entstehung aus Unionen außerordentlich wahrscheinlich, ebenso wie 
für die Unionen eine solche aus Trigoniden. So sagt auch 
v. IHERING, der zwar die Gattung Unio von einer radial gerippten (!) 
Urform ableitet: »Wenn Anodonta das Endprodukt eines Umwand- 
_ lungsprozesses darstellt, so kann es offenbar mehrmals und von ver- 
schiedenen Seiten her zur Ausbildung dieser Form gekommen sein.« 
Wir sehen ja auch, wie schon zur Karbon- und Permzeit in engem 
Anschluß an die eben entstandenen Unionen (Oarbonicola) 
schloßlose und dünnschalige Teichmuscheln erscheinen, wie Anthra- 
comya und Paläanodonta, während die Anodonten der Tertiär- 
zeit und Gegenwart z. T. offenbar auf die großen und verzierten 
Unionen zurückgehen, da ihre Schalen in frühester Jugend noch 
Spuren von entsprechenden Verzierungen aufweisen und sie sich in 
ihren Verbreitungsgebieten vielfach an ganz ähnliche Unionen aufs 
engste anschließen. 

Ich komme also zu dem Schlusse: die im heutigen System der 
Muscheltiere unterschiedenen Familien der Trigoniden und 
Unioniden, desgleichen dieum Trigonia, Unio und Anodonta 
gruppierten Gattungen besitzen in phylogenetischem Sinne nur 
die Bedeutung von Stufen, nicht von Stammreihen. Die Ge- 
schichte des Schizodontenstammes hat sich daher in ganz anderem 
Sinne abgespielt, als die Systematik sie vorzeichnet. Die schon zur 
Devonzeit vorhandenen Stammreihen haben sich unter Beibehaltung 
der gleichen Lebensweise zum größten Teil aus dem Myophoria- 
stadıum in das Trigoniastadium umgewandelt, aber nur eine kon- 
servative Stammreihe persistiert bis heute. Von den übrigen Stamm- 
reihen ist infolge geologischer Vorgänge, im besonderen durch Aus- 
süßung der von ihnen bewohnten Küstengebiete, die eine früher, die 
andere später zu Flußbewohnern geworden und immer in bestimmten 
Merkmalen verändert worden. Nach diesen unterscheidenden Merk- 
malen trennen wir die Gesamtheit der an verschiedenen Orten und zu 
verschiedenen Zeiten entstandenen Süßwasserformen als eine gesonderte 
Familieder Unionidenab. Wo die Flußbewohner, die als Unio usw. 
bezeichnet werden, zu Teichbewohnern wurden, entstanden wiederum 
neue Merkmale, und nach diesen trennen wir die Gattungen Ano- 
donta usw. ab, deren einzelne Vertreter ebenfalls zu ganz ver- 
schiedenen Zeiten und in ganz verschiedenen Gegenden aus der 
Gattung Unio hervorgegangen sind. 

Um dem Leser den Kern meiner Darlegungen in einem leicht 
übersichtlichen Bilde vor Augen zu führen, habe ich das neben- 
stehende Schema von der Stammesgeschichte der Schizodonten 


> 


11 


Schizodonten. 


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-u9FUOPOZIJIS AOp wneqwwegg 


116 Veränderlichkeit. 


entworfen (Fig. 55). Um es nicht zu verwickelt zu gestalten, sind nur 
einige Stämme und diese nur in spärlicher Verzweigung gezeichnet, das 
Bild gibt deshalb keinen Begriff von dem ungeheuren Formenschatz der 
Meeres- wie der Süßwasserformen. Aber deutlich tritt daran hervor, 
was ich als Durchkreuzung der systematischen und phylo- 
genetischen Kategorien bezeichne. Das Bild bringt ferner eine 
Vorstellung zum Ausdruck, die vielen überraschend erscheinen wird, 
nämlich die geringe Zahl ausgestorbener, oder richtiger gesagt — 
erloschener Stammreihen. Gelten doch die Myophorien und Tri- 
gonien als ausgestorben bis auf die wenigen rezenten Pectinaten. 
Nach den obigen Auseinandersetzungen, die, wie ich meine, über- 
zeugend wirken, ist das ganz und gar unwahrscheinlich. Es läßt sich 
kein plausibler Grund für das Verschwinden einer größeren Zahl 
mariner Schizodonten (Trigoniden) finden, dagegen dürften die 
Süßwasserformen, wie ich früher (S. 27) dargelegt habe, dieser Ge- 
fahr in viel höherem Maße ausgesetzt gewesen sein, da jeder tief- 
greifende Klimawechsel ihre Lebensbedingungen stark ändert und 
das Fortbestehen der Arten von geringer Verbreitung in Frage stellt. 
Es ist auch tatsächlich erwiesen, daß von den tertiären Unionen 
viele erloschen sind. Daher habe ich es fraglich gelassen, ob unter 
den heutigen Unionen noch Nachkommen der paläozoischen exi- 
stieren. Diese könnten höchstens unter den spärlichen Formen zu 
suchen sein, die auch im Jugendstadium keinerlei Verzierung auf- 
weisen, da die paläozoischen ganz glatt sind und die Verzierungen 
der Muscheln im Süßwasser allgemein verschwinden, aber nicht neu 
entstehen. 

An den Entwicklungsgang der Schizodonten knüpfen sich 
mehrere Fragen von allgemeiner Bedeutung. Von diesen will ich 
zwei noch kurz erörtern. 

1. Die Veränderlichkeit. Die meisten Vertreter der Schizo- 
donten zeichnen sich durch einen hohen Grad von Veränderlichkeit 
aus, doch wechselt die Variationsbreite in weiten Grenzen. Bei 
den unverzierten Meeresformen ist sie im allgemeinen geringer als 
bei den verzierten, und das erklärt sich einerseits daraus, daß 
wir an verzierten eben ein oder mehrere Unterscheidungsmerkmale 
mehr wahrnehmen können, als an unverzierten, andrerseits aus dem 
Umstande, daß die Verzierungen im Laufe der Zeit in vielen Reihen 
einem gesetzmäßigen Wechsel unterworfen sind, wie ich es bereits 
(S.105ff) geschildert habe. Die ursprünglich einfachen, konzentrischen 
Rippen erhalten im Laufe der Zeit eine Knickung von der Form 
eines V, und dieser Vorgang wird vielfach zugleich von einer Auf- 


Veränderlichkeit. ar 


lösung der Rippen in Knoten begleitet, jedoch so, daß sich bald das 
eine, bald das andre Merkmal früher oder stärker geltend macht. 
Dadurch ist die Möglichkeit zu zahlreichen Kombinationen gegeben. 
Denn wenn eine Art mit konzentrischen Rippen nach beiden Rich- 
tungen hin abzuändern beginnt, so kann bei einigen Individuen die 
Knickung rascher als bei andern erfolgen, und unabhängig davon 
kann die Auflösung der Rippen in Knoten verschieden schnell bei 
den Angehörigen der beiden Gruppen vor sich gehen. Treten dann 
noch die Variationen in Entfernung und Stärke der Rippen, sowie 
im Umriß der Schale hinzu, so kann ein Uhaos von Formen mit ge- 
bogenen oder geknickten Rippen entstehen. Schließlich gelangen die 
Änderungen, soweit sie durch Biegung und Knotung zum Ausdruck 
gelangen, zu einem gewissen Abschluß, indem 

nur noch der hintere, absteigende Ast der Rippe b 

erhalten bleibt, und die Rippen vollständig ge- 
knotet sind (siehe Fig. 44, 45, S. 105). Sind alle 
Varietäten bis zu diesem vereinfachten Zustande 
(Fig. 565) umgewandelt, so lassen sie sich nur 
sehr schwierig oder gar nicht mehr unterscheiden, 
und es besteht schließlich wieder nur eine, viel- 
leicht etwas variierende Form. Aber die unge- 
wöhnlich große Variabilität ist jetzt geschwunden, 
ohne daß der Stamm etwas andres als eine ge- 
ringe Änderung in ganz bestimmter Richtung er- 
fahren hätte, und ohne daß die Träger jener 
Mutationen (= scheinbaren Variationen) 
erloschen wären. Wollte ich diesen Vorgang, 
der sich an reichhaltigsem Trigonia- Material a 
bestimmt verfolgen läßt, hier belegen, so würde Fig.56. Schema zur Ver- 
ich ungezählte Abbildungen nötig haben, was nicht deWtlichung von unstän- 


digen, epistatischen Mu- 
gut angängig ist. Dennoch wollte ich ihn hier tationen bei Trigonia 
h hab : x spp und Unio. a Stammart; 
etont haben, weil er so verstanden den Begriff , qaurch Verschwinden 
der Veränderlichkeit für fossile und lebende Ir NEN ch 
* N: ; 2 ‚ ionen entstandene Kon- 
Geschöpfe klären hilft. Es ist eine Art un- vergenz-Großart. 
ständiger Variabilität in der Zeit (Fig. 56), 
die so entstandenen Formen sind zwar insgesamt Mutationen, aber sıe 
werden nur verursacht durch verschieden rasches Voranschreiten der. 
einzelnen Individuen einer Formenreihe, die sich nach dem gleichen Zu- 
stande hinbewegen. Man könnte, um Eımers Bezeichnung Epistase 
für das verschieden rasche orthogenetische Voranschreiten zu ver- 


wenden, von epistatischen Mutationen sprechen. Der eben 


118 Probleme der Tiergeographie. 


angedeutete Vorgang kann sich natürlich in demselben Stamme 
auch mehrere Male wiederholen, wenn einige Individuen der Aus- 
gangsart längere Zeit im dem ursprünglichen Zustande verharren 
und erst später den Reizen ausgesetzt werden, die die Biegung oder 
Knotung der Rippen verursachen (Fig. 56). Das Endergebnis braucht 
dann schließlich doch nur eine Art oder ein Komplex äußerst ähn- 
licher Formen (a), eine Großart, zu sein, wie es in nebenstehendem 
Schema (Fig. 56) verdeutlicht ist. 

Als epistatische Mutation sind offenbar auch die zahllosen Ab- 
änderungen bei vielen verzierten Unionen der Vorzeit und Gegen- 
wart aufzufassen. Denn die von ihren marinen Vorfahren über- 
kommenen Merkmale der Verzierung und Schloßbildung werden ja 
durch den Übergang zum Siißwasserleben geändert und verkümmern 
schließlich bei den Anodonten ganz. Auf diesem Wege sind zahl- 
reiche Abstufungen der beiden Merkmale und zugleich verschieden- 
artige Verknüpfungen mit neu hinzutretenden (Umriß der Schale, Areal- 
rippen usw.) möglich. Wenn aber schließlich durch den Übergang 
zum Leben im stehenden Wasser alle oder fast alle Merkmale ver- 
schwinden, die für die Flußbewohner eine weitgehende Trennung in 
Arten gestatteten, so ergibt sich m Anodonta ein Konvergenz- 
typus, in dem zahlreiche und vielleicht sehr verschiedene Unionen, 
auch wohl solche von getrennter Abstammung aus verschiedenen 
Trigonien, enthalten sein können, ohne daß wir imstande sind, sie 
nach Arten oder Abarten zu trennen. So vereinfachen sich die 
Formen der Natur, ohne daß sie dabei tatsächlich verarmt. Aber 
dieser geschichtliche Vorgang läßt sich aus dem vollendeten Zu- 
stande nicht mehr ablesen. 

2. Gewisse Probleme der Tiergeographie werden durch die 
hier dargelegte Art des Entwicklungsganges wesentlich mit beeinflußt. 
Es ist allgemein üblich, morphologisch nahestehende Arten von Süß- 
wasserbewohnern als aus einer Wurzel hervorgegangen zu betrachten und 
dementsprechend die Wanderungen festzulegen, die sie gemacht haben 
müssen, bis sie sich über das jeweilige größere Verbreitungsgebiet aus- 
gedehnt haben. Hiernach konstruiert man den früheren Zusammenhang 
von Festlandsmassen zu verschiedenen Zeiten. So hat NEuUMAYR aus 
der Verwandtschaft der jungtertiären Unionen Europas mit den heute 
in China lebenden auf eine Wanderung quer durch Asien geschlossen. 
v. Inerıng benutzt die Ähnlichkeit zwischen den Unionen Brasiliens 
und Afrikas, um die Ansicht zu vertreten, daß beide Gebiete noch 
zur älteren Tertiärzeit eine gemeinsame Festlandsmasse gebildet hätten. 
AMALITZKY läßt die permischen Unionen auf einem Festlande von 


Stammesgeschichte der Tier- und Pflanzenwelt. 119 


Rußland nach Südafrika wandern, um das gleichzeitige Vorkommen 
außerordentlich ähnlicher Formen in beiden Gebieten zu erklären. 
Nach meiner Auffassung sind solche Schlüsse nicht zulässig. 
Denn wenn eine bestimmte Trigonidengruppe ein weites Ver- 
breitungsgebiet in den Meeren der Vorzeit besaß und an ver- 
schiedenen Orten ins Süßwasser gedrängt wurde, so müssen ganz 
ähnliche, vielleicht gar nicht unterscheidbare Arten von Unionen 
daraus entstanden sein. Diese beweisen dann aber nicht ohne weiteres 
den Zusammenhang der Festländer, auf denen sie vorkommen, sondern 
sie sprechen nur für eine frühe und ausgedehnte Verbreitung ihrer 
marinen Vorfahren. Alle drei angeführten Fälle dürften auf diese 
Weise die einfachste Erklärung finden !). 


VII. Zur Stammesgeschichte der Tier- und Pflanzenwelt. 


Das Beispiel der Entwicklung eines Molluskenstammes, das wir 
kennen gelernt, liefert gewisse Ergebnisse, die zwar mit vielen land- 
läufigen Auffassungen nicht übereinstimmen, aber doch nichts andres 
sind als der Ausdruck für tatsächlich stattgehabte Vorgänge. Mir 
will es wenigstens scheinen, als ob jede andre Deutung des reichen 
Materials von fossilen und lebenden Schizodonten, als die hier ge- 
botene, gekünstelt und unnatürlich sei.. Dabei möchte ich folgende 
Tatsachen als besonders wichtig für unsere Vorstellungen vom wahren 
Entwicklungsgange der lebenden Natur und als geeignete heuristische 
Grundlage für weitere phylogenetische Versuche bezeichnen: 

1. Die Abstammungslinien fallen mit den systematischen 
Grenzen nicht zusammen, sie schneiden sich vielmehr mit 
ihnen. Unsere systematischen Kategorien sind daher im 
allgemeinen nur Entwicklungsstufen, die von mehr oder 
weniger zahlreichen Stammreihen durchlaufen werden. 

2. Die Mehrzahl der für ausgestorben gehaltenen Formen 
ist keineswegs erloschen, sondern gehört als Mutationen 
in die Stammreihen jetzt noch lebender Arten. 

3. Für die Feststellung des phylogenetischen Zusammen- 
hanges leiten uns am besten die untergeordneten Merkmale 
der Skulptur und Form, nicht diejenigen, nach denen wir 
Gattungen und Familien zu unterscheiden pflegen. 

4. Die phylogenetischen Umbildungen (mit Einschluß 
des Aussterbens von Arten) lassen sich zumeist als die 


1) A. SCHMIDT ist, wie ich sehe, ganz kürzlich (1907) für die permischen 
Unionen zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie ich. 


120 Die Pflanzenwelt. 


Folgen nachweisbarer geologischer Vorgänge und klima- 
tischer Änderungen und der dadurch hervorgebrachten 
Änderungen der Lebensweise begreifen. 

Man könnte nun zwar nicht ohne eine gewisse Berechtigung ein- 
werfen, daß das Beispiel der Schizodonten möglicherweise nur einen 
Ausnahmefall bilde, und daß die Stammesentwicklung bei andern und 
vielleicht bei der Mehrzahl der Organismen, wohl auf andre Weise 
vor sich gegangen sei. Demgegenüber darf man sich aber darauf 
berufen, daß die Schizodonten in keiner Weise den Eindruck eines 
Stammes von ungewöhnlicher Entwicklung machen, und daß die nahe 
verwandten Mytilaceen einen ganz ähnlichen Gang ihrer Stammes- 
geschichte aufweisen. Wollen wir uns aber vergewissern, ob jene 
Gesetze allgemein als vorbildlich zu gelten haben, die wir aus 
dem Entwicklungsgange des einen Muschelstammes ablesen, ob sie 
im besonderen nicht allein für den Zusammenhang von Familien, 
sondern auch für die Verknüpfung größerer Kategorien (Ord- 
nungen usw.) verwendbar sind, so brauchen wir nur andre, im be- 
sonderen größere Gruppen, sei es aus dem Pflanzen-, sei es aus dem 
Tierreich, nach diesen Gesetzen zu prüfen. Würden sich dann in 
mehreren anderen Fällen die fast überall unklaren phylogenetischen 
Zusammenhänge klären und sich wenigstens ein Teil der Umbildungen, 
diese aber mehr oder weniger vollständig, auf einfache äußere Be- 
wirkungen zurückführen lassen, so müßte man dem hier vertretenen 
Prinzip der gleichsinnigen Umbildung zum mindesten den Wert 
einer berechtigten Arbeitshypothese zuerkennen. 

Zu diesem Zwecke will ich im nachfolgenden einige Beispiele 
aus dem Pflanzen- und Tierreich beiziehen; ich habe sie aus der 
großen Fülle dazu geeigneter Gruppen nach dem Gesichtspunkte aus- 
gewählt, einerseits an ihnen die Brauchbarkeit und Tatsächlichkeit 
des Prinzips der gleichsinnigen Umbildung zu erproben, andrerseits 
die Tragweite der hier entwickelten Vorstellungen im allgemeinen zu 
beleuchten. Welche Bedeutung ihnen meiner Auffassung nach für 
die Abstammungslehre überhaupt zukommt, wird dann in einem 
Schlußabschnitte erörtert werden. 


A. Die Pflanzenwelt im allgemeinen. 


Unsere Kenntnis vom Entwicklungsgange der Pflanzenwelt gründet 
sich im wesentlichen auf die Reste größerer, holzartiger Pflanzen, 
die seit der Devonzeit in kontinentalen und subkontinentalen Ab- 
lagerungen überliefert sind; von der krautartigen Vegetation früherer 
Zeiten wissen wir dagegen fast nichts. Anfänglich hat man die 


Die Pflanzenwelt. 121 


Abdrücke von Blättern und Zweigen nur nach ihrer habituellen 
Übereinstimmung mit den gleichen Organen der heutigen Pflanzen 
gedeutet, weil weder ihre Fortpflanzungsorgane, noch ihre Stamm- 
strukturen hinreichend bekannt waren, und so kamen Vergleiche und Be- 
nennungen zustande, die manchen heute fast komisch anmuten, so wenn 
SCHLOTHEIM einen Oalamitenzweig aus dem Karbon auf Grund seiner 
habituellen Ähnlichkeit mit einer Casuarina als Casuarinites be- 
zeichnete, während wir heute doch bestimmt zu wissen glauben, dass 
die dikotyledonen Blütenpflanzen, zu denen die Öasuarinen gehören, 
erst mit der Kreide auf dem Planeten überhaupt erschienen sind. 
Trotzdem wird niemand ScHLorHEIm einen scharfen Blick für 
morphologische Ähnlichkeiten bestreiten. Aber bald hat die Wissen- 
schaft die fossilen Pfianzenreste, so gut es ging, nach »wahrhaft 
wissenschaftlichen«e Grundsätzen in das gut ausgebaute natürliche 
System der heutigen Pflanzen eingegliedert und den Calamiten und 
den andern Pflanzenformen der älteren Vorzeit den ihnen darin ge- 
bührenden Platz angewiesen.” Hiernach haben fast alle baumförmigen 
Pflanzen der älteren Zeit als Vertreter der Sporenpflanzen (Ge- 
fäßkryptogamen) zu gelten, die in der heutigen Schöpfung als Farne, 
Schachtelhalme, Bärlappe usw. gegen die dominierenden Typen der 
Blütenpflanzen ganz in den Hintergrund treten. Spricht dieses Er- 
gebnis auch zugunsten einer allgemeinen Entwicklung von Niedrigerem 
zu Höherem, so stempelt es doch zugleich die Pflanzenwelt der älteren 
Zeit zu einem gänzlich mißlungenen Versuche der Natur. Denn be- 
merkenswerter Weise sind nicht nur jene altertümlichen Gruppen 
von Sporenpflanzen (mit Ausnahme der Farne) seit dem Ende der 
paläozoischen Zeit auf ein Minimum reduziert, es sind auch gerade 
ihre vorgeschrittensten Organisationstypen, die baumförmigen 
Gestalten, heute (wiederum mit Ausnahme der Farne) ganz ver- 
schwunden. Mit andern Worten: fast die gesamte baumartige 
Pflanzenwelt der älteren Zeit hat gewechselt, ganz neue Typen sind 
zur mesozoischen Zeit an ihre Stelle getreten, und wenn diese auch 
wohl in jener alten Pflanzenwelt irgendwie wurzeln müssen, so hat 
doch die ganz überwiegende Mehrzahl der alten Formen als er- 
loschen zu gelten. Freilich sind ihnen, wie wir im Laufe der Zeit 
und in den letzten Jahren besonders deutlich erfahren haben, vor 
ihrem Aussterben recht merkwürdige Anwandlungen gekommen. In 
der dumpfen Vorahnung, dass sie ohne Blüten und Samen auf die 
Dauer nicht würden existieren können, haben sich die meisten Gruppen 
redlich bemüht, den Anforderungen für ihr Fortbestehen gerecht zu 
werden, indem sie jede in ihrer Weise dazu übergingen, primitive 


122 Die Pflanzenwelt. 


Blüten und Samen zu entfalten. Auch im Bau ihrer Stengelorgane 
sind sie, wieder jede nach ihrer Weise, vorangeschritten in derselben 
Richtung, die die jüngere, erfolgreichere Pflanzenwelt auszeichnet. 
Vergebliches Bemühen! Den richtigen, vorschriftsmäßigen Weg, 
der zur modernen Organisation führt, haben sie nicht gefunden. 


Dieser unhistorischen Betrachtungsweise — denn sie- will den 
ursprünglichen, unfertigen Zustand aus dem vorgeschrittenen, fertigen 
begreifen, — stelle ich die historische gegenüber. Wir verfolgen die 


paläozoische Pflanzenwelt in ihrem Werdegange und suchen aus 
diesem heraus die jüngere zu verstehen und zu deuten. 

Schon im Devon, wo sich die Landpflanzen zum ersten Male 
zeigen, erblicken wir mehrere Gruppen oder Stämme scharf vonein- 
ander gesondert, und mit dem Karbon hat sich das Bild noch mehr 
vervollständigt. Über den Ursprung der einzelnen Stämme ist nichts 
bekannt, aber wir denken sie uns mit Poronı& aus Algen entstanden 
und führen die Unterschiede gegenüber diesen, im besonderen die 
vorgeschrittene Gliederung und Verstärkung der vegetativen Organe, 
zurück auf den Einfluß des veränderten Mediums, in dem sie 
leben; dieser hat sich bei allen in wesentlich gleichem Sinne 
geltend gemacht, indem er bei den größeren Formen allgemein zur 
Entstehung eines besonderen Gefäßsystems führte. Aber in keiner 
Weise bekunden die verschiedenen Stämme in ihren ältesten und 
bekannten Vertretern eine Neigung, sich einander zu nähern und 
nach der Urform einer sporentragenden Landpflanze zu 
konvergieren. Hiernach ist eine mehrfache selbständige Entstehung 
aus algenartigen Vorfahren wahrscheinlich. Diese älteste Stufe der 
Landpflanzenwelt muß entsprechend der vom Algenstadium über- 
kommenen Gewohnheit feuchtigkeitsliebend gewesen sein. Dafür 
spricht ihr geologisches Vorkommen nicht minder als das Fehlen 
von vegetativen Merkmalen, die auf ausgesprochen trockene Standorte 
hinweisen. Auch die Befruchtung blieb zunächst an das Wasser ge- 
bunden und fand wie bei den heutigen Gefäßkryptogamen außer- 
halb der eigentlichen Pflanze, in einem Prothallium, statt. 

Früher hat man sich das Klima der paläozoischen Zeit als 
gleichmäßig warm und feucht die ganze Erde beherrschend gedacht. 
Davon kann, wie bemerkt (S. 29) heute nicht mehr die Rede sein. 
Es ist daher auch wahrscheinlich, daß die Landpflanzen schon zur 
Devonzeit, durch Verschiebungen und Wechsel des Klimas genötigt, 
vereinzelt begonnen haben, sich an weniger dauerfeuchte Stand- 
orte zu gewöhnen, und das dürfte, wie wenig durchsichtig auch die 
kausale Verknüpfung erscheinen mag, im Zusammenhang mit der 


Die Pflanzenwelt. 123 


Größenzunahme einerseits zur Herausbildung soliderer und ver- 
wickelterer Stammesstrukturen, andrerseits zur allmählichen Än- 
derung des Befruchtungsvorganges geführt haben. Jedenfalls liegen 
folgende Tatsachen heute klar vor uns. 

Innerhalb der verschiedenen Stämme, der Farne (Filicales), 
der Schachtelhalme (Equisetales), der Bärlappe (Lycopodiales) und 
der Cordaiten sind während der paläozoischen Zeit selbständig nicht 
nur vollkommenere Stammstrukturen mit Holzzylinder und Dicken- 
wachstum, sondern auch eine veränderte, nämlich die gymnosperme, 
Art der Fortpflanzung entstanden. So kennen wir aus der jüngeren 
Karbonzeit von allen Gruppen Stämme mit Dickenwachstum und 
auch von allen, mit Ausnahme der Schachtelhalme und Sigillarien, 
samentragende Formen. Bei diesen Änderungen verhalten sich aber 
die einzelnen Gruppen verschieden: die Cordaiten scheinen am Ende der 
Karbonzeit in jeder Hinsicht schon echte Gymnospermen gewesen zu 
sein, für die Bärlappe ist dies, wenigstens von Lepidodendren in 
einem Falle, mit Sicherheit nachgewiesen. Unter den Farnen jener 
Zeit haben aber schon zahlreiche und auch recht heterogene 
Typen Samen getragen, weshalb man sich auch veranlaßt gesehen 
hat, sie zu einer besonderen Gruppe, den Samenfarnen (Pteridospermen), 
zusammenzufassen. Wenn wir, ohne uns von den jetzt herrschenden 
Vorstellungen über Deszendenz dabei beeinflussen zu lassen, diese 
Tatsachen nehmen, wie sie sind, und berücksichtigen, daß keine 
Erscheinung für, alle vielmehr gegen eine Ableitung der ver- 
schiedenen palaeozoischen Gymnospermen von einer Urgymnosperme 
sprechen, so werden wir sagen müssen: es liegen den Änderungen 
in der Stammstruktur und in der Art der Fortpflanzung gesetz- 
mäßig wirkende Ursachen zugrunde, keine Zufälligkeiten; und 
nun begreifen wir sofort, wie die gleichen Änderungen in den ver- 
schiedensten Stämmen wesentlich gleichartig, im einzelnen aber ab- 
weichend und zeitlich nicht zusammenfallend, haben vor sich gehen 
können. Ob die oben angedeutete Erklärung dafür genügen kann 
oder nicht, ändert an diesem Ergebnis nichts. 

Wie ganz anders verhalten sich während desselben Zeitraumes 
die vegetativen Organe, soweit sie nicht unmittelbar durch die Än- 
derung des Milieus oder durch die Größenzunahme mechanisch be- 
einflußt werden! Ein Blatt, ein Zweig, eine Stammoberfläche oder 
ein Wurzelstück wird wohl stets ohne weiteres als einem Farn, einem 
Schachtelhalm, einem Bärlapp oder einem ÜOordaiten zugehörig er- 
kannt, in welcher paläozoischen Formation wir sie auch antreffen 
mögen. Mit anderen Worten, die rein morphologischen Merk- 


124 Die Pflanzenwelt. 


male, wie wir die genannten bezeichnen wollen zum Unterschied von 
den Blüten und Stammstrukturen, erweisen sich als die be- 
harrlichsten; was sich allgemein am meisten und dabei im 
einzelnen am mannigfaltigsten ändert, sind der Aufbau 
der Stengelorgane und die Art der Fortpflanzung. 


Fig. 57. Beblätterter Zweig von Lepidodendron aus dem 
Karbon (links) und einer Konifere-Walchia — aus dem 
Perm (rechts). 


Mit diesen Erfahrungen wenden wir uns jüngeren Zeiten zu. 
Neue Pflanzentypen tauchen am Ende des paläozoischen Zeitalters 
neben den altertümlichen auf, Nadelhölzer und Cycadeen. Für einige, 


Fig. 58. Ein Zapfen von Lepidodendron aus dem Kar- 

bon (links) und von Pinus montana, einer Konifere 

(rechts). Nach (SCHIMPER) STEINMANN und (STRas- 
BURGER) ENGLER-PRANTL. 


wie die Oycadeen, bleibt 
dieV orgeschichtezunächst 
dunkel, wir können sie an 
die älteren Typen nicht 
anknüpfen, wenn sie auch 
habituell den Farnen sehr 
nahe stehen. 

Aber die Nadel- 
hölzer gleichen in ihrem 
Habitus, in der Gesamt- 
heitihrermorphologischen 
Merkmale und alsGymno- 
spermen wie die Lepido- 
dendren diesen außer- 
ordentlich und teilen mit 
ihnen zugleich gewisse, bei 
keinem anderen Pflanzen- 
typus in gleicher Ver- 
einigung wiederkehrende 


Die Pflanzenwelt. 125 


Merkmale, wie Form und Stellung der Blätter (Fig. 57) und Bau des 
Fruchtzaptens (Fig.58); daher haben verschiedene Botaniker einen phylo- 
genetischen Zusammenhang zwischen beiden, wie ich meine mit vollem 
Recht, vertreten. Wenn diese Auffassung aber zu Recht bestehen soll, 
so müssen die verschiedenen Gruppen von Nadelhölzern an ver- 
schiedene Bärlappbäume des Paläozoikums angeknüpft werden. So 
kann man an Lepidodendren selbst wohl Araucaria und Verwandte 
anschließen, denn die jungen Triebe der heutigen Ar. ercelsa tragen 
ihre Herkunft noch deutlich genug zur Schau. Die Abietineen aber 
mit ihren rundlichen, entfernten Blattnarben können wohl nur auf 
Bothrodendron zurückgehen. Der Gingkostamm dagegen läßt sich, 
ohne daß er eine Annäherung an die Bärlappbäume verriete, scharf 
von allen anderen Typen getrennt bis in die paläozoische Zeit zurück- 
verfolgen. Demnach sind die Nadelhölzer, was auch in der immer 
schärferen Zerspaltung durch die Systematiker in berechtigter Weise 
zum Ausdruck gelangt, eine Sammelgruppe von ähnlicher Organi- 
sation ihrer Glieder und gleicher Höhe der Fortpflanzung, aber mit 
getrenntem Ursprung ihrer einzelnen Abteilungen aus einer niedrigeren 
Stufe. Was der Philosoph NirrtzschE von der »Gattung« im all- 
gemeinen sagt, sie »drückt nur die Tatsache aus, daß eine Fülle 
ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten« gilt demnach auch 
für die Familie der Nadelhölzer. 

Während also die eine Abteilung der Bärlappbäume, die Lepi- 
dodendren, wahrscheinlich in den Nadelhölzern späterer Zeiten nur 
wenig verändert und wohl mit dem größten Teile ihrer Stammreihen 
fortlebt, verschwindet die andre Abteilung, die der Sigillarien, für 
uns spurlos. Man fragt mit Recht, worin dies gegensätzliche Ver- 
halten der beiden so nahe verwandten Gruppen begründet sein möge. 
Ich werde im nächsten Abschnitt versuchen, eine Antwort darauf 
zu geben. P 

Die Schachtelhalmbäume (Calamarien) der paläozoischen Zeit 
sind zwar in ihren Stammstrukturen schon weit über das Stadium 
der Gefäßkryptogamen hinausgekommen, aber ihre Art der Fort- 
pflanzung hat sich, soviel wir heute wissen, nur der der Gymnospermen 
sehr angenähert (sie sind heterospor), sie aber nicht oder noch nicht 
erreicht. Denn wenn wir nach den so ungemein beständigen und 
bezeichnenden morphologischen Kennzeichen dieses Stammes (der 
regelmäßigen Knotenbildung des Stammes und der primär quirligen 
Stellung und scheidigen Gestalt der Blattorgane) unter den höheren 
Pflanzen nach etwas durchaus ähnlichem suchen, so werden wir unter 
den Dikotyledonen auf die Üasuarinen, unter den Monokotyledonen 


126 Die Pflanzenwelt. 


auf die Gramineen und unter den Gymnospermen auf die Gneta- 
ceen gewiesen. An einen phylogenetischen Zusammenhang zwischen 
Calamiten und Oasuarinen hat schon HAcEckeu gedacht. Sobald man 
sich aber überhaupt auf Grund der historischen Entwicklung von der 
Vorstellung emanzipiert, daß die Art der Fortpflanzung allein maß- 
gebend für die Verfolgung der phylogenetischen Zusammenhänge sei, 
steht der Verknüpfung mit den Gramineen kein Hindernis mehr ent- 
gegen. Denn darüber kann nach den fossilen Funden wohl kaum 
ein Zweifel bestehen bleiben, daß die Stammesstruktur der Monoko- 
tyledonen etwas Sekundäres ist. Sie erklärt sich meines Erachtens 
ungezwungen durch den nachträglichen Zerfall des Holzzylinders in 
geschlossene Gefäßbündel, die sich im Grundgewebe verteilen. Vor- 
aussetzung dafür ist nur das Vorhandensein eines weiten Mark- 
zylinders, der ja den Oalamiten als den angenommenen Vorfahren 
auch keineswegs abgeht. 

Farne. Durch die neueren Arbeiten besonders englischer und 
französischer Forscher haben wir ganz andere Vorstellungen von der 
Organisation der paläozoischen Farne gewonnen, als wir sie früher 
hatten. Ungeachtet der vollständigen Übereinstimmung in den vege- 
tativen Organen (mit Ausnahme des Baues der Stengelorgane) hat 
sich ein sehr großer Teil der Farne als echte Samenpflanzen ent- 
puppt. Schon im Devon sind manche Farne zu dieser Art der Fort- 
pflanzung übergegangen, und zur Karbonzeit machen die Pteri- 
dospermen offenbar einen ganz erheblichen Teil der Farnflora aus. 
Es wäre aber meiner Ansicht nach unrichtig, wenn man die Pteri- 
dospermen als eine phylogenetisch einheitliche Gruppe von den 
Farnen trennen wollte. Es fehlt vielmehr auch bei ihnen jeder Hin- 
weis darauf, daß die in ihren vegetativen Organen so verschieden- 
artigen Formen auf eine Stammform zurückgingen. Viel natürlicher 
erscheint die Deutung, wonach die Gymnospermie sich innerhalb der 
verschiedenartigen Farngruppen selbständig herausgebildet hat. 
Danach wären die Pteridospermen nur eine Organisationsstufe, 
nicht selbst ein Stamm. In dieser Beleuchtung verstehen wir leicht 
die »explosive« Entfaltung der neuen Befruchtungsart, die große 
Mannigfaltigkeit der Blüten, die schon von Anbeginn hervortritt und 
die wechselnde und von der Art der Blütenbildung unabhängige 
Herausbildung von höheren Stengelstrukturen, wie sie Lyginopteris 
und Heterangium aufweisen. 

Sind nun die Pteridospermen ausgestorben? In mesozoischen 
Zeiten gibt es anscheinend nichts ähnliches mehr. Allein Reste von 
Farnblättern, die sicher keine Sporangien trugen und daher in physio- 


Die Pflanzenwelt. 27 


logischem Sinne nicht eigentliche Farne sind, gibt es die Hülle und 
Fülle. Die Blattformen erscheinen auch vielfach vorgeschritten 
gegenüber den karbonischen, da anastomosierende Nervaturen immer 
häufiger werden, die Mittelrippen sich stärker ausbilden und der Stiel 
sich schärfer vom Blatte absetzt. Diese Änderungen der Blätter be- 
wegen sich also in der Richtung zu den höheren Blütenpflanzen, im be- 
sonderen zu den Dikotyledonen. Denn wenn man sich die Blattorgane 
der Dikotyledonen (mit Ausschluß einiger eigenartiger Familien wie 
Cacteen und Üasuarineen) auf primitivere Stufen zurückgeführt 
denkt, so kommt man naturgemäß zu einem Zustande, wie ihn die 
Blätter der mesozoischen und paläozoischen Farne vorstellen; denken 
wir uns diese in dem Sinne ihrer phylogenetischen Änderung fort- 
gebildet, d. h. die Nervatur durch fortschreitende Gliederung und Ver- 
schmelzung der Äste vervollkommnet, so ergibt sich der Zustand der 
Dikotylenblätter. Wir sehen ferner, wie vom Stamme her beginnend 
in die Blattstiele mancher Samenfarne (Lyginopteris) die kompli- 
zierte, durch Sekundärwachstum bezeichnete Stammstruktur allmäh- 
lich hineinwächst und die konzentrische Farnstruktur auf die äußeren 
Wedelteile zurückdrängt.: Das bedeutet doch, daß der bei den Farnen 
noch als Ganzes abgegliederte Wedel allmählich zum Stengelorgane 
wird, und daß nur noch die Fiederblätter letzter oder vorletzter 
Ordnung als sich abgliedernde Blattorgane bleiben, wie es bei den 
Dikotyledonen zumeist der Fall ist. Welchen ungeheuren Schwierig- 
keiten würde man aber begegnen, wenn man die mannigfaltigen Blatt- 
organe der Dikotyledonen von irgendeiner anderen lebenden oder 
fossilen Gymnospermengruppe ableiten wollte! In den Wedeln der 
Pteridospermen und in den Blättern der mesozoischen Farne mit 
unbekannter Blütenbildung erscheinen dagegen alle die mannigfaltigen 
Gestalten der Blattorgane von Dikotyledonen bereits vorgebildet, die 
wir mit der Kreide als fertige und durchaus nicht nach einem 
gemeinsamen Ausgangspunkte hinweisende Gebilde vorfinden. Es be- 
darf, soweit die vegetativen Organe in Betracht kommen, nur einer 
geringen Umbildung der bei den Pteridospermen entwickelten Formen, 
um zu der Mannigfaltigkeit der Dikotyledonenblätter zu gelangen, 
aber die dazu nötigen Änderungen müßten sich an allen Pterido- 
spermen und an allen mesozoischen Farnen mit un- 
bekannter Blütenbildung vollziehen. 

Es fragt sich nun, lassen sich denn auch die Blütenbildungen 
der Dikotyledonen von denen der Pteridospermen ableiten? Die Be- 
antwortung dieser Frage hängt aufs innigste mit den Vorstellungen 
zusammen, die wir uns von der Entstehung der angiospermen Blüte 


128 Die Pflanzenwelt. 


aus der gymnospermen machen. Bis zum Schlusse der paläozoischen 
Zeit scheint die Blütenbildung in keinem Pflanzenstamme über die 
Gymnospermie hinaus gediehen zu sein, die Entstehung der angio- 
spermen Blüten muß demnach wesentlich in die Zeiträume der Trias 
und des Jura fallen, d.h. in eine Zeit, während welcher die Mehr- 
zahl der baumartigen Gewächse sich in ausgiebigstem Maße an ein 


Fig. 60. Fruchtstand von Ly- 
ginopteris, A entsamt, B ein 
Same mit Fruchtbecher (ec). 
Vgl. Fig.59. (Aus StEin- 
Mann: Einführung usw.) 


Fig. 59. Ein samentragender Farn (Lyginopteris) aus 
dem Karbon. A Habitusbild (oben fertile Wedel, 


B Stammquerschnitt mit Dickenwachstum, Primär- (p) Fig. 61. Männlicher Blüten- 
und Sekundärholz (s). € Blattstielquerschnitt mit stand (A) und Same (B) einer 
Farnstruktur. Blüte und Frucht siehe Fig. 60. (Nach Pteridospermee (Neurop- 

ScoTT aus STEINMANN: Einführung i. d. Pal.) terisheterophylla). (Aus STEIN- 


MANN: Einführung usw.) 


wechselfeuchtes Klima gewöhnt und von allen trockenen Wohn- 
bezirken der Erdoberfläche Besitz ergriffen hat. Den neuen, mit 
dieser Änderung verknüpften Lebensbedingungen, die in wesentlich 
gleichem Sinne auf den größten Teil der Pflanzenwelt einwirkten, 
darf man auch eine allgemein umgestaltende Einwirkung auf die 
Blüten- und Fruchtbildung zuschreiben, wie sie auch die Ursache für 
die Verholzung der Wedelspindel, für die Herausbildung der Blatt- 
stiele und die weit verbreitete Verhärtung der Blätter gewesen ist. 
Bewegte Luft, die in den lockeren Beständen der Gehänge und Hoch- 
flächen leichter Zutritt fand, als im geschlossenen Sumpfwald, und 
lang anhaltender Mangel an Befeuchtung dürften als wichtigste 


129 


Die Pfianzenwelt. 


Faktoren für die Ausgestaltung der windblühenden Angiospermen an- 
gesehen werden. Was die Blüten aber über diesen Zustand hinaus- 
führte, war neben intensiverer Belichtung wohl wesentlich der Ein- 
fHuß der blütenbesuchenden Insekten (und Vögel). Denn es ist gewiß 
kein Zufall, sondern der Ausdruck eines kausalen Zusammenhangs, 
daß blütenbesuchende Insekten im Jura zuerst erscheinen und die 
ersten Angiospermen mit hochentwickelten und differenzierten Blüten 
aus der Kreide vorliegen. Die große Mannigfaltigkeit der dikotylen 
Blütenformen und -stände erscheint aber ebenfalls schon in der Stufe 
der Pteridospermen vorgebildet. 

So verknüpfen sich eine ganze Reihe von Erscheinungen zu einem 
einheitlichen und leicht begreiflichen Gesamtbilde von der Entwicklung 
der Dikotyledonen, wenigstens der Hauptmasse derselben; sie sind 
ein Erzeugnis gleichsinniger Umbildung durch geologische, 
klimatische und biologische Vorgänge, die sich an alle den 
mannigfaltigen Pteridospermen der paläozoischen Zeit in 
ähnlicher Weise geltend gemacht haben. 

Es liegt nicht im Plane dieser Schrift, eine Phylogenie der ge- 
samten Pflanzenwelt zu versuchen. Ich beschränke mich deshalb auf 
den Hinweis, daß die hochwichtigen Fortschritte in der Kenntnis 
der mesozoischen Gymnospermen, im besonderen der Bennettiteen, 
eine ganz analoge Art der Umbildung für die meisten mesozoischen 
Cycadeen zu Palmen gestatten und damit auch die Leere ausgefüllt 
erscheint, die vor dem Auftreten der baumförmisen Monokotyledonen 
bisher geklafft hat. Wie ich mir den Entwicklungsgang der großen 
Gruppen der baumförmigen Pflanzenwelt denke, möge beifolgende 
Tabelle verdeutlichen. Dazu möge ausdrücklich betont werden, dab 


| 
\Spondylo- Ne ran Pterido- Sklero- | Desmo- 
| aphido- |Sphragido- 
phylla Ahylia ohylla phylla phylla phylla 
Dikotyle- | Casuarineen | Cacta- | Dikotyledonen 
donenstufe ceen (exkl. Casuarinen 
| u. Cactaceen) 
Monokotyle- | Gramineen | Palmen | Dracaenen 
donenstufe | Yuccaceen 
? 
Gymnosper- | Coniferen Pterido- Bennettiteen | Cordaiten 
menstufe Lepido- spermen Cycadeen 
| dendren 
Sporen- | Calamiten | Lepido- Sigillarien Filices Cycadeen | Cordaiten 
pflanzenstufe | Equisetum | dendren | ? 
| 


Steinmann, Abstammungslehre. 


130 Sphragidophylla. 


die Zusammenhänge nur dann wirklich begreifbar und die fossilen 
Funde verständlich werden, wenn wir uns überall die älteren Gruppen 
in die jüngeren nicht auf einer Linie, sondern auf zahlreichen, 
um nicht zu sagen allen, erfolgt denken, wie ich das für die Pterido- 
phylla angedeutet habe. Führt dieser Weg aber wirklich zum Ziel, 
dann muß es auch möglich sein, die gesamte Organisation und die 
Art der Entfaltung eines modernen Pflanzenstammes aus der eines 
uns bekannten ursprünglichen ungezwungen abzuleiten, und um dieses 
an einem geeigneten Beispiele zu prüfen, wollen wir jetzt einen der 
Stämme, die Sphragidophylla, etwas eingehender behandeln. 


B. Sphragidophylla. 
(Sigillarien und Cacteen.) 

Unter den zahlreichen, »ausgestorbenen« baumartigen Sporen- 
pflanzen der paläozoischen Zeit stehen die Sigillarien entschieden am 
fremdartigsten da. Während man den Lepidodendren die heutigen 
Bärlappe, den Calamiten die Schachtelhalme als zwerghafte Ver- 
wandte zur Seite stellen kann, die ersteren auch von verschiedenen 
Seiten als Vorfahren der Nadelhölzer oder wenigstens eines Teiles 
derselben (Araucarien) angesprochen werden, gibt es in der heutigen 
Schöpfung weder unter Sporenpflanzen noch unter Gymnospermen 
etwas den Sigillarien Vergleichbares. Denn Isoetes, die PoToxıE 
als »gestauchte Sigillarie« bezeichnet, kann doch schon deshalb 
nicht als Abkömmling von Sigillaria in Frage kommen, weil ja 
sonst der stammbürtige, gestielte, ährenförmige Blütenstand wieder 
hätte verschwinden und in einen ganz primitiven Zustand hätte zu- 
rückfallen müssen. 

Älteren Autoren, wie Corpa und Srkisinger, ist die Ähnlich- 
keit der Sigillarien mit den Cacteen aufgefallen, die in der Tat 
manchmal frappant genug hervortritt. (Vgl. Fig. 66, 67.) Allein solche 
Anschauungen sind »definitiv überwunden« (SorLms). und ich muß 
daher als etwas rückständig gelten, wenn ich darauf zurückkomme 
und zu begründen versuche, daß diese Ähnlichkeit auf Abstammung 
beruht. Entsprechend den obigen Ausführungen stelle ich nicht die 
Art der Fortpflanzung, sondern die Beschaffenheit der vegetativen 
Organe und der Stammstruktur in den Vordergrund. 

Die Sigillarien zeichnen sich vor allem, im besonderen auch 
vor den ähnlichen Lepidodendren, durch zwei Merkmale aus. Ihre 
Stämme sind unverzweigt oder nur selten und spärlich gegabelt, und 
ihre schmalen, grasartigen Blätter fallen sehr rasch ab, so daß Reste 
mit anhaftenden Blättern zu den größten Seltenheiten gehören. Diese 


Sphragidophylla. 131 


Eigentümlichkeiten teilen sie mit den Cacteen!), deren Vertreter sich 
im Vergleich zu den meisten anderen Pflanzen gewöhnlich nur spär- 
lich verzweigen, oft auch ganz einfach bleiben, und deren stets ein- 
fache Blätter bekanntlich fast nie persistieren, selbst wenn sie sich, 
wie bei Opuntia am jungen Sproß 
zu beträchtlicher Länge (Fig. 62) 
entwickeln. Schraubige Stellung der 
Blätter kommt beiden Gruppen zu, 
ebenso deren einfache Form. Ein 
weiteres auffallendes Merkmal der 
Sigillarien, das sie mit den Oac- 
teen teilen, liest in dem Vorhanden- 
sein kissenartiger Erhebungen, auf 
denen sich die Blattorgane ent- 
wickeln; bei manchen Sig. (Rhyti- 
dolepis, Leiodermaria — Fig. 69 
A,F‘) treten sie zwar kaum hervor, 
was aber nur durch weiteres Aus- Fig. 62. Ein junger Opuntia-Sproß mit 
einanderrücken der Blätter bedingt noch anhaftenden Blättern. (Nach Schv- 

3 : MANN aus ENGLER-PRANTL: Nat, Pfl.) 
zu sein scheint. 

Wir haben nun die verschiedenen Arten der Blattverteilung 
näher ins Auge zu fassen, da diese in beiden Gruppen die auf- 
fallendsten Ähnlichkeiten aufweisen. 

Man trennt die Sigillarien in zwei große Abteilungen, die 
Eusigillarien und die Subsigillarien. Die ersteren umfassen 
weitaus die Mehrzahl der Arten, die letzteren bilden nur eine kleine, 
wenig formenreiche Gruppe. Wenn auch die Blattstellung allgemein 
schraubig sein dürfte, so tritt doch bei den Eusigillarien daneben 
die Anordnung in Längsreihen mehr oder minder stark hervor, indem 
die genau unter einander stehenden Blattpolster der übereinander 
folgenden Spiralreihen durch mehr oder weniger tiefe Längsfurchen 
von einander geschieden werden. (Fig. 65 A, D, E.) Je nachdem nun 
diese mehr oder weniger tief, die Blattpolster eng an einander ge- 
rückt und durch deutliche Querfurchen getrennt sind, kann man die 
drei mit verschiedenen Namen belegten Gruppen Rhytidolepis 
(Fig. 634), Tesselata (E) und Favularia (D) unterscheiden. Bei 
letzterer ist die Stellung der Polster in Schrägzeilen am deutlichsten 


1) Ich begreife hier unter Cacteen die Peireskien nicht mit ein; denn es 
scheint mir wenig folgerichtig, diesen abweichenden Typus bei den Cacteen zu 
belassen, da er in Tracht, Beblätterung, Blütenstand, Stammstruktur und andern 
Merkmalen von ihnen erheblich abweicht. 


9* 


132 Sphraeidophylla. 


ausgesprochen, und die Polster springen hier am weitesten hervor. 
Durch den schwach zickzackförmigen Verlauf der Längsfurchen steht 
diese Gruppe den Subsigillarien am nächsten. Bei diesen domi- 
nieren die Schrägzeilen, die Polster sind verquert. Stehen die Polster 
dicht gedrängt (Clathraria — (©), so ähneln sie den Favularien (D); 


Fig. 63. Organisation der Sigillarien. Eusigillaria: A Habitusbild von Rhytidolepis 

mit anhaftenden Blättern (5/) und stammbürtigen Blüten (a); D, E Stammoberflächen von 

Favularia und Tesselata, letztere mit Blütennarben (f). Subsigillaria: C Clathraria; 

B,F Leiodermaria; @ Sporangienähre und Makrosporen; H Holzring im Querschnitt; 

J äußere Rindenschicht von Subsigillaria; X Stammquerschnitt. (Aus STEINMAnN: 
Einf. i. d. Pal.) 


rücken die Blätter weit auseinander, so verschwinden die Polster so 
gut wie ganz und die Blätter stehen nur vereinzelt auf der glatten 
Oberfläche (Leiodermaria 7). 

Es ist nun gewiß eine höchst bemerkenswerte Tatsache, daß 
genau die gleichen Arten der Blattstellung und -verteilung, 
sowie der Polsterbildung bei den Üacteen wiederkehren, 
und zwar keine andere und nur bei diesen. Es entsprechen 
nämlich den Gruppen: Rhytidolepis und Tesselata (einschl. 
Polleriana) die Üereoideen-Echinocacteen-Rhipsalideen mit 
gleichmäßig fortlaufenden oder quer gekerbten Rippen, auf denen 
die Warzen, den Blattpolstern entsprechend, deutlich in Längsreihen 
angeordnet sind (Fig.65,67, 69,71); der Gruppe Favularia (und Olath- 
raria p.p.) die Cereoideen-Mammillarieen mit schraubig gestellten 


Sphragidophylla. 133 


Warzen und zickzackförmig verlaufenden Längsfurchen; der Gruppe 
Eusigillaria (Clathraria und Leiodermaria) die Opuntioideen 
mit eng oder weit gestellten Areolen, aber ohne Längsfurchen (Fig. 64) 
(den Clath. entspricht wohl auch ein Teil der Mammillarieen). 
In der Unterfamilie der ; 
ÖOereoideen trennt man 
wohl die Rhipsalideen 
als gesonderten Tribus ab. 
Es ist aber besonders durch 
GoEBEL hinreichend klar- 


gestellt, daß sie nur durch 
epiphystische Lebensweise 
umgewandelte Cereoideen 


sind; ebenso weiß man, dab 
\ 


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EN 2 
SEO 


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| en ar =) 

N\ - Bye = Menschenhöhe 
Fig.64. Ein Opuntia-Spross (O.leuco- mem 
tricha), zeigt die entfernte Stellung der Fig.65. Cereus sigillarioides Solms. Ostl. Tacna, 
Warzen und das Fehlen von Längs- N. Atacama. Eine Cactee mit Rhytidolepis- 
furchen. (Vgl. Fig.63 F.) (Nach Scav- Tesselata-Skulptur. (Nach einer Photographie 
MANN aus ENGLER-PRANTL: Nat. Pfl.) von Dr. H. Horx.) (Vgl. Fig. 63 A, E.) 


die abgeflachten Stempelgebilde der Opuntien aus zylindrischen 
hervorgegangen sind. 

Vergleicht man nun die Variationsbreite und Artenzahl der drei 
entsprechenden Abteilungen unter den Sig. und Cact., so stellt sich 
wiederum eine auffällige Übereinstimmung heraus. Wie die Rhyti- 
dolepis-Tesselata-Gruppe unter den Sig. weitaus die formen- 
reichste ist und wie namentlich in bezug auf die Zahl der Rippen 
die Entfernung der Blätter usw. große Mannigfaltigkeit herrscht, so 
zeigen auch die Echinocacteen (und Ripsalideen) in ihren zahl- 


134 Sphragidophylla. 


reichen Gattungen und mit ihrer überaus großen Artenzahl weitaus 
den größten Formenreichtum unter den Cact. Beträchtlich geringer 
stellt sich die Variationsbreite unter den Favularien und Subsi- 
sillarien, die im allgemeinen zu den seltenen Vorkommnissen im 
Karbon und Perm gehören; ebenso stehen aber auch die Mammil- 
larieen und Opuntien an Artenreichtum hinter den Echinocacteen 


Fig. 66. Fig. 67. 


Fig. 66. Wechselzonenbildung bei einer 
Sigillaria. (Nach PoronIE.) Unten Rhytido- 
lepis-, oben Tesselata-Skulptur. 

Fig. 67. Wechselzonenbildung bei Cereus 
sigillarioides Solms. (Original.) Unten Tesse- 
lata-, oben Rhytidolepis- Skulptur. (Vgl. 
Fig. 65.) 


(und Rhipsalideen) erheblich zurück. Neben der morphologi- 
schen Übereinstimmung zwischen den drei entsprechenden Grup- 
pen registrieren wir also auch eine solchein der Formenbreite, 
wobei natürlich zu berücksichtigen bleibt, daß die Cact., entsprechend 
ihrem jugendlichen Alter und ihrer auf verschiedenartige Bedingungen 
abgestimmten Lebensweise, einen etwa zehnfach so großen Schatz 
unterscheidbarer Formen (ca. 1000) aufweisen, als die Sig., deren 
»Artenzahl« wohl auf höchstens 100 bemessen werden darf. 


Sphragidophylla. 135 


Eine zwar geringfügige, aber neben der sonstigen Übereinstimmung 
zwischen beiden Pflanzengruppen bemerkenswerte Ähnlichkeit tritt auch 
darin hervor, daß an den Stämmen die Bildung sogenannter W echsel- 
zonen in überraschend ähnlicher Weise hervortritt. Je nachdem die 
Pflanze mehr oder weniger rasch wächst, rücken die Blattnarben 


Fig. 70. In Querreihen angeordnete Blütennarben 
(5) von Sigillaria elegantula Weiss. aus dem Karbon 
von Bochum. (Nach Poroxı&-KoEHneE.) 


Blütennarben (f) von Sigillaria la- 

layana Schpr. Karbon, Vogesen. 

(Nach SCHIMPER aus STEINMANN: 
Einf. i. d. Pal.) 


Fig. 69. In Längsreihen angeord- Fig. 71. Zwei blühende Cereus-Arten aus derGegend 
nete Blüten (bl) von Pilocereus. von Cochabamba. Die Blüten stehen in Querreihen. 
(Nach GoEBEL.) (Nach Photographien von HoEk und STEINMANN.) 


mehr oder weniger weit von einander, so daß an dem gleichen Sproß 
die Skulpturen verschiedener Sigillariengruppen über einander vor- 
kommen (in Fig. 66 unten: Rhytidolepis, oben: Tesselata, in Fig. 67 
umgekehrt). In ausgeprägter Weise habe ich diese Erscheinung an 
einer von mir bei Tacna aufgefundenen neuen Cereus-Art (Fig. 65, 67) 
beobachten können. 


136 Sphragidophylla. 


Die Blüten der Cact. stehen einzeln oder zu mehreren und sind 
stammbürtig. Sie entspringen an den Achseln der Areolen oder 
aus der Spitze der Warzen. Ebenso besaßen die Sig. stamm- 
bürtige Blüten, und ihre Narben sind zwischen oder auf den Reihen 
der Blattnarben sichtbar geblieben (Fig. 68, 70). Sie verteilen sich auf 
dem Stamm in dreierlei verschiedener Weise. Zuweilen stehen sie 
vereinzelt, sehr häufig aber zu Gruppen zusammengedränst, 
und dann sind zwei Fälle gegeben: entweder ordnen sie sich in einer 


Fig. 72. A Sporangienähre von Sigillaria. (Nach GoLDENBERG und ZEILLER.) b unterer 

sporangientragender, b’ oberer steriler Teil des Sporophylis. Bund C erdachte Übergangs- 

formen zwischen der Sigillarien-Ähre (A) und der Cactus-Blüte (Fig. D). st die zum 

Stempel zusammenwachsenden Sporophylle. D Pilocereus. Durchschnitt der Blüte. (Nach 
SCHUMANN aus ENGLER-PRANTL,.) 


oder mehreren dicht gedrängten Längsreihen (Fig. 68f) oder in 
Querreihen (Fig. 70). Alle drei Möglichkeiten kehren bei den 
Cacteen wieder. Bei Mammillarieen und bei vielen Cereus- 
Arten z.B. stehen sie meist einzeln, bei anderen Cereus-Arten 
und bei Opuntia in einer oder mehreren Längsreihen (Fig. 69), bei 
wieder anderen Öereus-Arten aber in wirtelartigen Querreihen 
(Fig. 71). Also auch in diesem Merkmale herrscht Überein- 
stimmung, besonders auch insofern, als andere Möglichkeiten, wie 
zusammengesetzte Blütenstände, niemals vorkommen. 

Über die Beschaffenheit der Blütenstände bei den Sig. sind wir 
zwar nur unvollkommen unterrichtet, aber wir wissen, daß der ähren- 


Sphragidophylla. 137 


förmige Blütensproß unten normal beblättert war und die höheren 
Teile Sporangien tragende Blätter von rhombischem Umriß besaßen, die 
ungefähr senkrecht zur Achse saßen (Fig. 72 A). Wahrscheinlich waren 
die Sig. der jüngeren Karbonzeit z. T. wenigstens heterospor. Ich werde 
nun untersuchen, ob sich die Blüte der Cact. mit der einfachen 
Sporenblüte der Sig. in Beziehung setzen und auf einfache Weise 
davon ableiten läßt. Die Änderungen, die wir dabei voraussetzen 
müssen, bestehen im wesentlichen in einer Verkürzung der ähren- 
förmigen Sig.-Blüte zu der glocken- oder radförmigen der Oact., 
in der Umbildung der Mikrosporangien zu Staubbeuteln, der Makro- 
sporangien zu Samenanlagen. Fig. 724 stellt die Rekonstruktion einer 
Sig.-Blüte dar, von der vorausgesetzt wird, daß sie unten männliche, 
oben weibliche Sporophylle trägt. Wir denken uns nun die Scheitel- 
region eingesenkt, so daß die Samenanlagen in den vertieften Scheitel 
zu liegen kommen, während die Mikrosporophylle die Außenseite be- 
kleiden (Fig. 72 5); weiterhin lassen wir die oberen Mikrosporophylle 
zu langen Perigonblättern, ihre Sporangien zu Staubblättern aus- 
wachsen, ferner die am tiefsten eingesenkten Samenanlagen ihre 
Funktion beibehalten, während die höheren zusammenwachsen und 
so die Decke der Fruchtknotenhöhle bilden (Fig. DB st). Schließlich 
lassen wir diese Decke zum Griffel emporwachsen, und das Perigon 
durch mehr oder weniger vollständiges Verwachsen der Sporophylle 
eine Röhre bilden, auf deren Innenseite die Staubfäden sich zu- 
sammenordnen, während die Außenseite der Perigonröhre alle Über- 
gänge vom einfachen grünen Schuppenblatt zum Blumenblatt auf- 
weist (©). Dabei kommt für unseren Zweck wenig darauf an, ob man 
die Staubfäden als umgewandelte Sporophylle oder, wie ich annehme, 
nur als Stiele der Pollensäcke und die Perigonblätter als die dazu 
gehörigen Sporophylle betrachtet. Das Bedeutsame dieses Versuchs, 
wie unvollkommen er auch sein möge, liegt meines Erachtens darin, 
daß er gestattet, die Beschaffenheit der heutigen Cact.-Blüte aus 
der Sporangienähre der Sig. auf einfachem Wege begreiflich zu 
machen, und zwar auf einem Wege, wie er auch durch die Onto- 
genie der Blüte vorgezeichnet wird. Wir verstehen auf diese Weise 
leicht die große Zahl der Perigonblätter und Staubfäden, den ganz 
allmählichen Übergang von grünen, schuppenartigen Blättern am 
unteren Teil des Perigons zu den weißen, gelben oder roten Blumen- 
blättern, besonders aber die besondere Gestalt der ganzen Blüte und 
der Perigonblätter. Denn die Blüte ist nichts anderes als eine ge- 
stauchte Sig.-Ähre, ein Achsenbecher, mit phanerogamer und angio- 
spermer Fortpflanzung, an der auch die ursprüngliche, einfach lanzett- 


138 Sphragidophylla. 


förmige Gestalt der Blätter und der rhomboidischen Sporophylle der 
Sig. noch recht deutlich gewahrt geblieben ist. Wüßten wir mehr 
von den Blüten der Sig., so würden sich wohl auch noch bestimmtere 
Übereinstimmungen ausfindig machen lassen. Als Einwurf gegen die 
hier versuchte Ableitung könnte man die von Kıpston untersuchte 
Sie.-Ähre anführen, die vielleicht Makrosporangien an der Basis, 
Mikrosporangien an der Spitze trägt, während man das umgekehrte 
Verhältnis voraussetzen sollte. 
Stammstruktur. Es erübrigt noch ein Vergleich der Stamm- 
struktur zwischen Sig. und Cact. Beide weisen die gleichen Verhält- 
nisse in der gröberen Anatomie auf: ein weites Markrohr, einen verhält- 
nismäßig dünnen Holzzylinder und eine mächtige Rinde (Fig.63 X). Das 
Mark einer Opuntia, die ich in Bolivia sammelte, ist zu getrennten 
Diaphragmen zusammengeschrumpft, was Dawson auch von Sig. be- 
schreibt. Der Holzzylinder beider Pflanzengruppen zeigt insofern 
große Ähnlichkeit, als das Primärholz durch sehr breite Markstrahlen 
in einzelne Stränge geteilt wird und das Sekundärholz um dies 
maschige Geflecht einen kompakten Zylinder bildet, der von zahl- 
reichen, aber schmäleren Markstrahlen durchsetzt und in Platten ge- 
teilt wird. Genauere histologische Vergleiche würden voraussichtlich ° 
noch weitere Übereinstimmungen ergeben. Doch scheint mir jetzt 
schon folgende bemerkenswerte Parallele hervorzutreten. Die Rinde 
besitzt in der Gruppe ZLeiodermaria, also bei den Sig., die nach der 
Beschaffenheit der Stammoberfläche den Opuntien unter den Oact. 
entsprechen, eine eigenartige Struktur, die den anderen Sig. ganz zu 
fehlen scheint. Wellig gebogene Sklerenchymplatten legen sich an- 
einander, verschmelzen stellenweise und weichen wieder auseinander 
(SoLms) und bilden so ein bezeichnendes Maschenwerk, das als Dictyo- 
xylonstruktur bekannt ist (Fig. 63.J). Unter den verschiedenen Cac- 
teenstämmen, die ich in Bolivia gesammelt habe, zeigen, soweit ich 
ermitteln konnte, nur diejenigen von Opuntia eine ganz ähnliche 
Ausbildung der Rinde, während diese bei allen anderen COact.- 
gruppen keine Andeutung einer solchen Bildung erkennen läßt. Die 
Bedeutung derartiger Koinzidenzen läßt sich nicht wohl überschätzen. 
Nach diesen offenkundigen und weitgehenden Übereinstimmungen 
zwischen Sig. und Cact., die sich nicht auf ein einziges Organ be- 
schränken, sondern zahlreiche und voneinander gänzlich unabhängige 
Organe betreffen, glaube ich den Entwicklungsgang der Sphragido- 
phylla (Siegelblättrige) folgendermaßen schildern zu dürfen: Zur 
Karbon- und Permzeit, vereinzelt auch noch zur älteren Triaszeit, 
bestanden die Sig. als eine Pflanzengruppe von weltweiter Verbreitung 


Sphrasidophylla. 139 


und großer Häufigkeit, namentlich in Europa und Nordamerika, sie 
fehlten aber auch der Südhalbkugel nicht. Es waren säulenförmige, 
gar nicht oder nur spärlich verzweigte Pflanzen, die auf feuchtem 
Boden wuchsen und vielfach Waldmoore gebildet haben. Die ein- 
fachen, schmal lanzettlichen Blätter waren hinfällig und ebenso die 
Blüten, die sich anscheinend damals auf der Stufe der Heterosporie 
befunden haben. Drei größere, aber wenig scharf geschiedene Gruppen 
mit zahlreichen Arten lassen sich erkennen. Aber diese Gruppen 
leiten sich nicht voneinander ab, wie PoroxıE meint, sondern sie be- 
stehen nebeneinander, aber wechseln und vertauschen mehrfach ihre 
Wohngebiete, wodurch der Anschein einer genetischen Sukzession 
hervorgerufen wird. Jünger als Buntsandstein kennt man keine Reste 
von ihnen. Es hat den Anschein, als ob ihr Verschwinden aus der 
geologischen Überlieferung zurückzuführen ist auf einen Wechsel 
ihrer Lebensweise zu Beginn der mesozoischen Zeit, wo ihre vorher in 
Waldmooren bestehenden Hauptverbreitungsgebiete (Europa, Nord- 
amerika) ein trockenes Klima erhielten, wie es sich in den Rotsand- 
steinabsätzen der Triaszeit widerspiegelt. Sie wurden allmäh- 
lich zu Xerophyten. Damit waren sie für die Erhaltung im 
fossilen Zustande verloren, was ziemlich allgemein für alle Xero- 
phyten zutreffen dürfte. Wahrscheinlich haben sie sich während der 
mesozoischen und tertiären Zeit auf einer Festlandsmasse erhalten, 
die zeitweise Amerika angegliedert war und Teile dieses Erdballs 
mit umfaßte. Sie scheinen aber keine Gelegenheit gehabt zu haben, 
auf andre Erdteile überzugreifen, denn sie sind heute noch eine 
spezifisch amerikanische Pflanzengruppe, und die strichweise Ver- 
breitung der Rhipsalideen im mittleren Afrika erklärt sich zureichend 
aus nachträglicher Überführung durch Vögel von Brasilien aus. 

Sie haben sich im Laufe der Zeit folgendermaßen verändert: 
Die Blätter sind fast allgemein verkümmert, zum Teil sukkulent ge- 
worden (Opuntia), und in ihren Achseln haben sich Stacheln und 
Haare entwickelt. An den Sprossen ist die Sukkulenz allgemein ge- 
worden. Die Verzweigung hat zugenommen, vielfach wohl dadurch, 
daß die einfachen Stämme an der Spitze abbrachen, Seitensprossen 
trieben, und daß allmählich die Verzweigung konstitutionell gefestigt 
wurde. Die Länge, Stärke und Gestalt der Sprossen ist durch 
mannigfach abgeänderte Lebensweise in verschiedener Richtung be- 
einflußt worden. Die hochandinen Formen sind zur Größe einer 
Nuß zusammengeschrumpft, die epiphythischen Rhipsalideen haben 
2. T. peitschenförmige Sprosse erhalten, bei Phyllocacteen und 
Rhipsalideen hat sich die Zahl der Rippen stark vermindert, und 


140 Sphragidophylla. 


diese selbst sind vielfach blattartig geworden, während die Opuntien- 
sprosse meist eine Abflachung erfahren haben, usw. Die Folge da- 
von ist eine beträchtliche Vermehrung des Formenreichtums gewesen, 
die jedenfalls durch wiederholte Verlegungen der Wohngebiete er- 
heblich gefördert wurde. Im Laufe der mesozoischen Zeit ist an 
Stelle der Sporenfortpflanzung die angiosperme getreten. Über die 
einzelnen Stadien dieses Vorganges wissen wir nichts; es darf aber 
die Änderung wohl als eine Folge des Einflusses der klimatischen 
Verhältnisse und der durch Insektenbesuch erfolgten Reize gedeutet 
werden. Neben diesen vielfachen Änderungen sehen wir aber die 
bei den Sig. schon gegebenen Stammesmerkmale, die einfache Form 
und Schraubenstellung der Blätter, die Rippen- und Polsterbildung, 
sowie die Stammstruktur so gut wie unverändert fortbestehen, weil 
die veränderte Lebensweise auf diese keinen erheblichen Einfluß 
auszuüben vermochte. Ja, das Beharrungsvermögen dieser Merkmale 
geht so weit, daß wir ohne Schwierigkeit die drei großen Gruppen 
der Sig. in den entsprechenden Gruppen der Cact. wiedererkennen. 
Wenn hiernach angenommen werden muß, daß so ziemlich die ganze 
Formenbreite der paläozoischen Sig. in den heutigen Cact. fort- 
besteht und sie nur im Laufe der Zeit eine Vermehrung in dem 
einmal gegebenen Rahmen erfahren hat, so müssen auch alle die 
Merkmale, die die Organisationsstufe der Sig. von der der Oact. 
trennen, im besonderen die Art der Fortpflanzung, nicht nur einmal, 
oder einige Male, sondern in alle den zahlreichen Stammreihen 
und bei allen Arten und Rassen im gleichen Sinne gewechselt haben. 

Sind die Cact., wie ich annehme, Nachkommen der Sig., so 
erklären sich auf einfache Weise viele auffallende Merkmale und 
Erscheinungen, die sich an diesen merkwürdigen Stamm knüpfen. 
Manche Erscheinungen sprechen für ein sehr hohes Alter desselben, 
besonders der große Reichtum an Arten und die ausgesprochen 
sukkulente Beschaffenheit aller Vertreter, selbst derjenigen, die heute 
nicht in Trocken- oder Wüstengebieten, sondern in solchen mit reich- 
licheren Niederschlägen oder in feuchten Tieflandsregionen wachsen. 
Denn diese letzteren sind ja zweifellos aus xerophytischen Vorfahren 
hervorgegangen. Man darf aber wohl mit Recht voraussetzen, daß 
lange Zeiträume dazu gehören, um alle die zahlreichen Glieder einer 
Familie zu Xerophyten zu machen und dann noch eine Anzahl, wie 
Rhipsalis, Phyllocactus, Epiphyllum in Epiphyten zu verwandeln und 
entsprechend zu verändern. Für ein hohes Alter, oder, was dasselbe 
sagen will, für eine isolierte Stellung der Cact. sprechen auch eine 
Anzahl eigentümlicher Merkmale, durch die sie sich von anderen 


Wirbellose. 141 


Pflanzen unterscheiden, zumal da viele dieser Merkmale als mehr 
oder weniger primitiv zu gelten haben. Dahin sind vor allem die 
abweichende Beschaffenheit der Blüte und die Stammstruktur, so- 
dann die einfache Gestalt und Stellung der Blätter zu rechnen. 
Will man sich die Cact. von einer indifferenten Ur-Angiosperme 
ableiten, so müßte man eine außerordentlich lange Reihe von 
Zwischengliedern und damit sehr lange Zeiträume für die Um- 
bildung voraussetzen und stößt auf ähnliche Schwierigkeiten, wie 
bei der Ableitung aller oder auch nur der plazentalen Säuger von 
einem Ursäuger oder der der Vögel von einem Urvogel. Zur Zeit 
ist wenigstens kein Dikotyledonen-Rest bekannt, der mit irgend- 
welchem Grunde als Bindeglied zwischen ihnen und den Cact. an- 
gesprochen werden dürfte. 

Wenn man sich daher vor die Alternative gestellt sieht, ent- 
weder die Cact. von unbekannten Gymnospermen oder Angio- 
spermen abzuleiten oder sie auf die Sig. zurückzuführen, so kann 
meines Erachtens die Wahl nicht zweifelhaft sein, denn die erste 
Möglichkeit führt nur zu einer Überlastung unserer Phantasie, die 
zweite gewährt greifbare Beziehungen bis in Einzelheiten, von denen 
ich oben nur einige der augenfälligsten aufzudecken versucht habe. 
Ist aber die Stammesgeschichte der Sphragidophylla so oder 
ähnlich verlaufen, wie ich oben ausgeführt habe, dann ist sie ein- 
fach und leicht begreiflich und bestätigt gewisse Gesetzmäßigkeiten, 
wie sie sich aus der Stammesentwicklung anderer Pflanzen- und 
Tiergruppen ergeben, nämlich das Beharren der einmal entstandenen 
Typen bis auf die Gegenwart unter allmählicher Vermehrung der 
Formenzahl, frühzeitige Zerspaltung in morphologisch nahestehende 
Reihen, deren sämtliche Vertreter, (soweit sie nicht erlöschen) sich 
in wesentlich gleichem Sinne fortbilden und vereint, wenn auch in 
ungleichem Tempo, verschiedene Organisationsstufen durchlaufen. 
Daraus folgt die Bedeutungslosigkeit der Stufenmerkmale für die 
Ermittlung des phylogenetischen Zusammenhangs und zugleich die 
unvermeidliche Schlußfolgerung, daß die phyletische Entwicklung 
nicht durch Auslese und Absonderung, sondern durch dauernd und 
gesetzmäßig wirkende Faktoren der leblosen und belebten Außenwelt 
vor sich gegangen ist. 


C. Zur Stammesgeschichte der Wirbellosen. 


Verschiedene Stämme der Wirbellosen eignen sich in hohem 
Maße als Prüfstein für die Richtigkeit der Methoden, die ich für 
die Ermittlung der phylogenetischen Zusammenhänge gefunden zu 


142 Korallen. 


haben glaube. Manche, wie die Meerschwämme, Steinkorallen, 
Stachelhäuter, Moostierchen, Brachiopoden und sämtliche Mollusken- 
gruppen finden sich vom Silur oder vom Kambrium an in allen For- 
mationen bis zur Gegenwart so reichlich und allgemein in so günstiger 
Erhaltung, daß eine Neugruppierung des bisher beschriebenen Ma- 
terials nach den von mir aufgestellten Gesichtspunkten genügt, um 
einen Entscheid zu treffen. Derartige Versuche dürften aber in den 
meisten Fällen ohne umfangreiche Beschreibungen und ohne viele 
geeignete Abbildungen für den Nichtfachmann kaum verständlich 
sein. Ich beschränke mich daher hier auf einige Stichproben, die 
mir geeignet scheinen, und die immerhin genügen dürften, die Brauch- 
barkeit der neuen Methoden zu erhärten und ihre Vorzüge gegen- 
über den bisherigen Auffassungen darzutun. Übrigens liefern pa- 
läontologische und zoologische Spezialarbeiten aus neuerer Zeit, die 
bei der Fülle und Unübersichtlichkeit der Literatur vielleicht nur 
wenigen bekannt geworden sind, mehr oder minder überzeugende 
Belege für meine Auffassungen. 

Ich erwähne z. B. den von Dovvırız erbrachten Nachweis, daß 
die zur Karbon- und Permzeit so ungemein häufigen großen Fora- 
miniferen der Familie der Fusuliniden keineswegs, wie man bisher 
angenommen hat, als ausgestorben zu gelten haben, sondern daß sie 
sich an die jüngere ganz ähnlich gebaute Familie der Alveoliniden, 
die unvermittelt in der Kreide auftritt, aufs engste anschließen 
und sich von ihnen nur durch wenig abweichende Schalenstruktur 
unterscheiden. 

1. Korallen. Ich verweise ferner auf die wichtigen Untersuchungen 
Dvervens über heutige Steinkorallen und Aktinien, denen ich ein Re- 
sultat entnehme, das für das Verständnis der ausgestorbenen Korallen 
der paläozoischen Zeit von besonderer Bedeutung ist. Dieser Forscher 
fand, daß die heutigen skelettlosen Zoantheen gewisse auffallende 
Merkmale mit den skeletttragenden paläozoischen Rugosen gemein 
haben, wie die Sechszähligkeit der zuerst gebildeten Mesenterien 
(Protosepten), ihre Einfügung in bilateralen Paaren, ihre Trennung 
in nur zwei Zyklen (Exosepten und Endosepten) usw. Aus dieser 
in der Tat frappanten Übereinstimmung zieht er den Schluß, daß 
die ausgestorbenen Rugosen in sehr früher Zeit unter Erwerbung 
eines Skelettes aus den Zoantheen hervorgegangen sind. Niemand 
wird die engen Beziehungen zwischen den beiden Gruppen verkennen, 
denn sie beruhen auf einer breiten positiven Grundlage. Aber die 
ganze Betrachtungsweise DuErRDENs ist unhistorisch: er sucht aus 
dem lebenden Material das fossile zu deuten. Aus der historischen 


Spongien. 143 


Betrachtungsweise ergibt sich gerade das entgegengesetzte Resultat. 
Denn wie ich früher (S. 77ff) gezeigt habe, treten bei verschiedenen 
Abteilungen der paläozoischen Rugosen Erscheinungen auf, die be- 
stimmt auf einen allmählichen Schwund des Skeletts deuten, 
und die sich daher nur in dem Sinne verwerten lassen, daß man die 
skelettlosen Formen aus den skeletttragenden ableitet. Damit ist 
dann aber nicht nur das Verhältnis zwischen beiden Gruppen geo- 
logisch begreifbar geworden, sondern auch ein wichtiger Anhalts- 
punkt für die Beurteilung ähnlicher Vorgänge bei anderen Korallen 
gewonnen. Die meisten lebenden und fossilen Korallen lassen sich 
nämlich jetzt, nachdem man erkannt hat, wie unbrauchbar die bis- 
herigen systematischen Trennungsmerkmale, als Rugosa und Hexa- 
corallia, Aporosa und Perforata, für die Stammesgeschichte sind, 
in eine große Anzahl von Stammreihen auflösen, die schon im Silur 
oder Devon beginnen, und die sich zum größten Teil durch alle 
Zeiten hindurch bis heute unter nur unbedeutenden Änderungen 
verfolgen lassen. Aber neben diesen offenbar persistenten Stämmen 
gibt es andere, deren Überlieferung in einer gewissen Periode ab- 
bricht. Dazu gehören außer den erwähnten Rugosen mit reduzierten 
Septen auch jüngere Formen, wie die Öycloliten, Thamnastraeen 
usw., Gruppen mit stark perforiertem Skelett und ganz seichten oder 
gar konvex gewölbten Zellen, wie sie auch bei denjenigen Rugosen 
vorkommen, aus denen ich die Zoantheen ableite (Fig. 23—26). 
Wenn nun diese jüngeren Steinkorallen, die als solche in der heutigen 
Schöpfung nicht mehr existieren, ebenfalls skelettlos geworden sind, 
wie jene Rugosen, so dürfen wir erwarten, daß diese unter den 
heutigen skelettlosen Actinien fortleben, eine Annahme, die auch 
durch die ähnliche Organisation dieser letzteren gestützt wird. Er- 
kennen wir diese Möglichkeit nach Analogie mit den Rugosen- 
Zoantheen an, und erweist eine genauere Prüfung der Actinien 
auch im einzelnen noch weitere Übereinstimmungen mit den frag- 
lichen »ausgestorbenen« Korallen, so würde der ganze Stamm 
der Steinkorallen eine geschlossene, nirgends durch das 
Aussterben größerer Gruppen geschmälerte phylogene- 
tische Entwicklung aufweisen. 

2. Spongien. Ähnliche Verhältnisse liegen auch für die Spongien 
vor. Hier haben die Arbeiten ScHRAmMmEns über die reichen Funde 
von Kieselschwämmen in der Kreide Norddeutschlands die wichtige 
Tatsache zutage gefördert, daß viele bisher nur lebend gekannte 
Gattungen schon zur Kreidezeit in nur ganz unwesentlich ver- 
schiedenen Arten gelebt haben, so daß der Entwicklungsgang der 


144 Pharetronen. 


Hexactinelliden, Tetractinelliden und Monactinelliden seit 
dem jüngeren Mesozoikum heute viel weniger unterbrochen und viel 
sleichmäßiger erscheint, als ehedem. Dagegen besteht zwischen der 
Schwammfauna der paläozoischen und mesozoischen Zeit auch heute 
noch eine tiefe Kluft. Stammreihen, die aus älteren Zeiten in jüngere 
durchlaufen, gibt es anscheinend kaum. Und doch dürfte das nur so 
scheinen. So gibt es z. B. im Untersilur von Nordamerika und Nord- 
europa Rhizomorinen (Anthaspidella U.u. E., Zittelella U. u. E., Trocho- 
spongia F. Rö.), die sich von der jurassischen Gattung Unemidia- 
strum nach dem Bau ihres Körpers gar nicht, nach dem Skelett nur 
mit Mühe trennen lassen. Die ganz eigenartig gestaltete Gattung Aal- 
lirhoa aus der Kreide existierte schon zur Untersilurzeit in Kanada 
in gleicher Gestalt (Aulacopella winnipigensis Rfj.), und wenn man 
sich die mannigfaltigen Eutaxicladinen des Silurs in den Tetra- 
cladinen der Kreide (wie Siphonia, Jerea) fortleben denkt, braucht 
man nur die Form der Skelettelemente sich wandeln, den Schwamm- 
körper aber unter Fortbestehen des einmal gegebenen Gesamtbaues 
»auswachsen« zu lassen. So dürfte eine Neubearbeitung der fossılen und 
lebenden Kieselschwämme ein ähnliches Ergebnis liefern, wie es bei den 
Steinkorallen schon hervorgetreten ist, — die Fortdauer fast aller 
zur Silurzeit vorhandenen Typen bis zur Gegenwart, dabei 
vielfach eine gleichsinnige Umbildung der Skelettnadeln, die man bis- 
her für die Unterscheidung von »Unterordnungen« in erster Linie 
verwendet hat. Von den fossilen Kalkschwämmen möchte man aller- 
dings meinen, daß sie der Hauptsache nach wirklich erloschen seien. 
Aber auch für diese ist eine andere Auffassung statthaft. 

3. Pharetronen. Die umfangreiche und mannigfaltig gestaltete 
Kalkschwammgruppe der Pharetronen ist aus paläozoischen Schichten 
bisher nur in dürftigen Vertretern ermittelt worden, aber in den 
Faunen der Trias, des Jura und der Kreide nimmt sie einen hervor- 
ragenden Platz ein Um so auffallender ist es, daß sie mit dem 
Ende der Kreide so gut wie ganz vom Schauplatze verschwindet. 
Nur einige wenige, zumeist unscheinbare Formen gleichen in ihrer 
Gestalt und in der Struktur ihres Skeletts so auffallend gewissen 
tertiären und lebenden Kalkschwämmen von isolierter Stellung (Litko- 
nina), daß ein Fortleben der mesozoischen Formen in ihnen wohl 
unbestritten erscheint. Andere, wie die Sphinctoxoa leben vielleicht 
in den Syconen fort. Aber was ist aus dem Gros der Phare- 
tronen geworden? 

Manche normale Kalkschwämme der heutigen Fauna, z. B. die 
Leucones, könnte man wohl von ihnen ableiten, unter der keineswegs 


Pharetronen. 145 


unwahrscheinlichen Annahme, daß sich das feste Skelett der Phare- 
tronen, in dem die Kalknadeln zu Faserzügen vereint sind, gelockert 
hätte, so daß nun die Nadeln vereinzelt in der Sarkode liegen. Aber 
auch bei dieser Art der Ableitung bleibt doch immer noch ein ge- 
waltiger Formenschatz von Pharetronen übrig, die, ohne Nach- 
kommen zu hinterlassen, mit der Kreide verschwunden wären. Denn 
alle die größeren, blatt- und becherförmigen, sowie die kompakten 
Phar.-Skelette (Fig. 73) mit meist verwickeltem Kanalsystem lassen 
sich nicht wohl mit den durchgängig unscheinbaren und einfach ge- 
bauten lebenden Caleispongien vergleichen. Hier liegt vielmehr auch 
wieder einer der zahlreichen Fälle vor, wo eine reich gegliederte 
ÖOrganismengruppe ohne ersichtlichen Grund zu einem bestimmten 
Zeitpunkte verschwindet. 


7 ; NR fe 


Fig. 73. Zwei Pharetronen, eine blattförmige, Elasmostoma (links) aus der Kreide, und 

eine kompakte, Stellispongia (rechts) aus der Trias. Derartige Formen mit verwickeltem 

Kanalsystem und kleinsten, fluidal angeordneten Nadeln (B) gibt es unter den heutigen 

Kalkschwämmen nicht, wohl aber unter den Hornschwämmen. (Aus STEINMANN-DÖDER- 
LEIN: Elem. d. Pal.) 


Und doch dürfte dies nur scheinbar sein. Denn unter den heute 
lebenden Hornschwämmen, die man früher als Keratosa zusammen- 
gefaßt hat, gibt es zahlreiche Formen, die nach ihrer Gestalt und 
nach dem Verlaufe ihres Kanalsystems den fossilen Pharetronen 
vollständig gleichen, ferner andere, wie die Hexaceratiden, die in 
allen Merkmalen, abgesehen vom fehlenden Kieselskelett, den Hexac- 
tinelliden ähneln, und wieder andere, die wie die Auleniden den 
Monactinelliden sehr nahe stehen und nach der Beschaffenheit 
ihrer Nadeln kaum davon getrennt werden können. Hiernach ist 
das Vorgehen v. LENDENFELDS gewiß berechtigt, der aus den Horn- 
schwämmen die Hexaceratiden ausgeschieden und als hornige Gruppe 
zu den Hexactinelliden gestellt hat. Es zeigt sich eben hierbei, daß 
hornige Skelette nur die letzten Residua früher ganz oder vorwiegend 
mineralischer Skelette sind. Halten wir diesen Gesichtspunkt fest, so 
ist nicht einzusehen, warum unter den heutigen Hornschwämmen nicht 
auch Nachkommen der Pharetronen existieren sollten. Es fragt 
sich nur, ob und welche Anhaltspunkte dafür zu finden sind. 


Steinmann, Abstammungslehre. 10 


Pharetronen. 


146 


Daß viele Hornschwämme im Gesamtbau ihres Skeletts, in dem 
Verlauf des Kanalsystems, auch in der Ausbildung der Deckschichten 
ganz auffällige Übereinstimmungen mit Pharetronen erkennen lassen, 
tritt bei einem Vergleiche des Materials sofort hervor. So gleichen 
folgende Pharetronen-Gattungen solchen der Hornschwämme mehr 
oder weniger vollständig: 


Pharetronen: Hornschwämme: 
Elasmostoma, Diplostoma Phyllospongia 
Lymnorea Euspongia ürregularis 
Rhaphidonema, Pharetrospongia  Leiosella compacta 
Peronidella Hippospongia 2. T. 
Elasmocoehia Sigmatella z. T. 
Stellispongia Hippospongia z.T., Euspongia z.T. 


Wir dürfen natürlich nicht erwarten, daß die Pharetronen- 
und Hornschwammeattungen sich in ihrem Umfange voll entsprechen, 
da bei den beiden Gruppen nicht die gleichen Merkmale zur Trennung 
der Gattungen benützt werden. 

Um den Zusammenhang zwischen Pharetronen und Horn- 
schwämmen aber als wahrscheimlich hinstellen zu können, müßte 
doch auch noch eine gewisse 
Übereinstimmung im feineren 
Bau des Skeletts vorhanden 
sein. Das trifft nun tatsäch- 
lich bis zu einem gewissen 
Grade zu. Das bezeichnende 
Merkmal der Pharetronen 
(unter Ausschluß der Litho- 


\ 


nina) liegt in der Anord- 


Fig. 74. Skelettfaser einer Pharetrone (A Elas- 
mostoma stellatum Gf. Cenoman. Essen) und eines 
rezenten Hornschwammes (B Stelospongia pulcher- 
rima Lendf. West-Australien). Diese Bilder zeigen 
die Übereinstimmung in der Größe, Form und flui- 


ihrer Kalknädel- 
chen zu Faserzügen, sowie 
indem ungewöhnlich häufigen 


nung 


dalen Anordnung der kleinen, stabförmigen Skelett- 

nadeln. Fig. A ist ein Schliff, die Nadeln sind daher 

nicht ihrer ganzen Länge nach sichtbar. Auch ist 

ihr Durchmesser durch den Fossilisationsprozeß 

wohl vergrößert. (A nach Dunıkowsky, B nach 
LENDENFELD.) 


Vorkommen sehr kleiner, 
0.01—0.3 mm langer, ein- 
strahliger Nadeln (Fig. 74 A) 
neben Dreistrahlern und 
größeren Einstrahlern. Nun 
zeigt die Struktur der Hornschwammfaser insofern ein abweichendes 
Verhalten, als in den Hauptfasern gewöhnlich Sandkörner in großer 
Zahl in der Form eines zentralen Stranges eingebettet sind. Daneben 
aber kommen ebenfalls sehr kleine Nadeln, zu Faserzügen ange- 
ordnet vor, z. B. bei Stelospongia und Phyllospongia silicata, und diese 


Echinodermen. 147 


liegen in der konzentrisch struierten Faser ganz ähnlich einge- 
bettet (Fig. 74), wie bei den Pharetronen. Da eine derartige 
Anordnung kleinster, einfacher Nädelchen nur bei Pharetronen und 
bei den Hornschwämmen angetroffen wird, so liegt in dieser Über- 
einstimmung ein gewichtiger Hinweis auf die Zusammengehörigkeit 
beider Gruppen. Das einzige durchgreifende Unterscheidungsmerk- 
mal wäre in der chemischen Natur dieser Nädelchen gegeben. Bei 
den Pharetronen werden sie allgemein für kalkig, bei den Horn- 
schwämmen dagegen für kieselig angesprochen. Selbst wenn diese 
Bestimmungen durchaus zutreffend sind, kann ich darin keinen Ein- 
wand gegen die Zusammengehörigkeit der beiden Gruppen erblicken. 
Denn wir besitzen bei anderen niederen Tiergruppen Anhaltspunkte 
dafür, daß kalkige Skelette phylogenetisch in kieselige übergeführt 
werden (vgl. S. 84), und das könnte auch bei den Pharetronen 
eingetreten sein. Dann wären diese aber nicht eine fast ganz er- 
loschene Tiergruppe, wie man bisher gemeint hat, sondern ihr weit- 
aus größter Teil bestände heute noch in der Form von Horn- 
schwämmen, ein kleinerer Teil als Kalkschwämme fort. Es hätte 
sich im Laufe der Zeit nur die Natur der Skelettfaser geändert, wie 
das auch bei anderen Gruppen von Schwämmen eingetreten ist. 
Aber der Gesamtbestand von Formen, wie er zur meso- 
zoischen Zeit entwickelt war, hätte keinerlei wesentliche 
Einbuße erfahren, er wäre eher vielleicht noch ein wenig vermehrt 
worden, denn der Formenreichtum der heutigen Hornschwämme ist 
dem der bisher bekannten Pharetronen mindestens gleich. Wo 
bei den lebenden Hornschwämmen noch die kleinen, köcherförmig 
angeordneten Nadeln vorhanden sind, wie bei Stelospongia 
(Fig. 74 B), hätten wir es dann mit einem epistatischen Merkmale 
zu tun. 

4. Echinodermen. Obgleich sich meinen Erfahrungen nach kein 
zweiter Stamm der wirbellosen Tiere schon heute besser zum Ent- 
werfen eines vielsagenden Bildes seiner Stammesgeschichte eignet, 
und deutlicher das Prinzip der gleichsinnigen Umbildung vor Augen 
führen kann, als die Echinodermen, muß ich doch hier aus prakti- 
schen Gründen auf eine ausführliche Darstellung verzichten und mich 
mit kurzen Andeutungen und einzelnen Beispielen begnügen. Wegen 
weiterer Darlegungen in dieser Richtung kann ich den Leser auf 
den betr. Abschnitt in meiner »Einführung in die Paläontologie« 
verweisen. 

NeumaAyr hat zuerst die mit dem Paläozoikum erscheinenden 
Uystoideen als die Stammgruppe der verschiedenen Klassen der 

10* 


148 Echinodermen. 


Echinodermen bezeichnet; diese Deutung gewinnt aber erst dadurch 
an Wahrscheinlichkeit, daß man sich im Sinne einer gleichgerichteten 
Umbildung die Seelilien, Seeigel, Schlangensterne und Seegurken 
nicht ein einziges Mal, sondern zu oft wiederholten Malen 
und zu verschiedenen Zeiten aus der primitiven, fast noch un- 
gestrahlten Stufe der Oyst. hervorgegangen denkt. Dann erscheint es 
auch selbstverständlich, daß die uns bekannten Cyst. nicht ausge- 
storben, sondern daß aus ihnen ebenfalls noch Vertreter der ver- 
schiedenen Klassen entstanden sind. Das Nebeneinanderbestehen von 
zahlreichen Vertretern einer höher entwickelten Klasse und einzelnen 
zurückgebliebenen der primitiven Klasse, aus denen diese hervor- 
gegangen ist, hat nach dieser Auffassung nichts Befremdliches. 


Fig. 75. Drei phylogenetische Stadien des Crinoiden-Stammes. Eine Cystoidee (Silur) 

ohne deutlich ausgebildeten Stiel und Arme (links), eine ältere Crinoidee (Karbon) mit 

gut ausgebildetem Stiel (st) und mit wohlentwickelten, aber wenig beweglichen Armen (br) 

(Mitte) und eine moderne Crinoidee ohne Stiel und mit stark entwickelten, leicht be- 

weglichen Armen (rechts). Der eigentliche Körper verkleinert sich im Laufe der Zeit immer 

mehr und schrumpft zu einem kleinen Knopf zusammen, während die Arme immer stärker 
und beweglicher werden. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) 


Mit der Stammesgeschichte der Stachelhäuter verknüpft sich ein 
besonderes Interesse. An keinem zweiten Stamm der Wirbellosen 
(mit Ausnahme etwa der Arthropoden) beobachten wir so tiel- 
greifende Umänderungen im Laufe der biohistorischen Zeit, wie an 
diesen. Eine silurische Koralle weicht in ihrer Gesamtorganisation 
von einer aus ihr hervorgegangenen lebenden nur unerheblich ab. 
Die ältesten uns bekannten Bryozoen, Brachiopoden oder Mollusken 
stehen den heute lebenden nicht sehr fern; erfahren auch ihre Or- 
gane im Laufe der Zeit kleinere oder größere Umgestaltungen, so 


Echinodermen. 149 


sind doch die wesentlichen Merkmale schon von vornherein gegeben. 
Nicht so bei den Echinodermen. Einer untersilurischen COystidee 
wie Echinosphaerites (Fig. 75 links) fehlt das hervorstechendste Merk- 
mal eines modernen Stachelhäuters, das den Bau des ganzen Körpers 
beherrschende Ambulakralsystem, noch fast ganz, und der Körper er- 
mangelt daher noch des regelmäßig strahligen Baues, den wir an allen 
jüngeren Vertretern wahrnehmen. Stellen wir drei phylogenetische 
Stadien, eine silurische Öystidee (Hchinosphaervtes, Fig. 75 links), eine 
karbonische, gestielte (Batocrinus Fig. 75 Mitte) und eine jurassisch- 
rezente, ungestielte Orinoidee (Antedon Fig. 75 rechts) neben- 
einander, also drei Typen, die wir auseinander (wenn auch nicht 
gerade aus den vorliegenden Arten) hervorgegangen denken, so ist 
der Unterschied zwischen ihnen sehr erheblich; eine festsitzende 
Blase, ungestrahlt und mit minimalen Anhängen, dann ein lang 
gestielter Körper mit mäßig entwickelten, schwer beweglichen 
Armen und schließlich ein Tier, das fast nur aus leicht beweg- 
lichen Armen besteht, die den Körper als einen kleinen Knopf 
tragen. Gerade die weitgehende Umwandlung, die sich hier im 
Laufe einer verhältnismäßig kurzen Zeit vollzieht, erschwert uns 
das Erkennen der phylogenetischen Zusammenhänge, weil schon eine 
kurze Lücke in der Überlieferung (und wir haben es mit weiten zu 
tun) einen großen und unter Umständen wichtigen Abschnitt der Um- 
bildungen unseren Augen entzieht. Diese Schwierigkeit spiegelt sich 
denn auch in dem heutigen Stande der Systematik und der Phylo- 
genie der Urinoiden wieder. So leben von den 36 Familien, die 
ZiITTEL in der letzten Auflage seiner Grundzüge aufzählt, heute sechs, 
und von diesen kennt man eine nur lebend, drei lassen sich bis zum 
Jura und zwei bis zur Trias zurückverfolgen. Die übrigen 30 sind 
zumeist nur aus einer oder zwei Formationen bekannt, nur neun gehen 
durch mehr als zwei Formationen hindurch, keine durch zwei Erd- 
perioden! Dieses unnatürliche Bild würde sich wesentlich ändern, 
wenn wir die Formeln genau kennten, nach denen sich die Umwand- 
lung der Familien, Gattungen und Arten ineinander vollzogen hat. 
Aber auf dem Wege der üblichen Systematik ist ein rascher Fort- 
schritt unmöglich; indem wir ein oder einige Merkmale herausgreifen 
und hiernach schachteln und fächern, kommen wir nur wenig voran, 
einerlei welche Merkmale wir in den Vordergrund stellen. Ilavr«. pet gilt 
für diese Tiergruppe mehr als für jede andere. Ich will nun nicht 
ausführlich darlegen, nach welchen Grundzügen man verfahren sollte, 
sondern an einigen Beispielen zeigen, wie ich die phylogenetischen 
Zusammenhänge suche. 


150 Echinodermen. 


Eine frühreife Gruppe unter den Crinoiden sind die Flexi- 
bilia (oder Ichthyocrinacea). Obgleich wir sie jünger als Karbon 
nicht kennen, haben sie doch schon die Merkmale gezeitigt, die wir 
sonst nur bei viel jüngeren Örinoiden entwickelt finden, nämlich 
in allen ihren Gliedern bewegliche Arme, die sich daher oben zu- 

Fig. 76. sammenkrüllen können 
(Fig. 76) wie bei dem 
lebenden Antedon (Fig. 
‘5 rechts) und eine 
lederartige, elastische 
Kelchdecke, die höch- 
stens mit kleinen Täfel- 
chen (Fig. 76 f) ge- 
pflastert ist und sich 
hoch zwischen die Arme 
hinaufzieht. Dagegen 
fehlt ein Merkmal, das 
den sonst so ähnlichen 
jüngeren Orinoiden 
zukommt (Fig. 77 p), 


== 
Oo 
Dyp 


F\ 
5 


N der Besitz von feinen 

VS 

DIS - beweglichen Anhängen, 
S DD 5 

| > S R den sog. Fiederchen 


oder pinnulae. Nach- 
kommen der Flexi- 
bilia aus jüngeren 
Zeiten kennt man mit 
Fig. 76. Ein Vertreter der Gruppe Flexibilia impin- Sicherheit nicht. Aber 
nata (Taxocrinus — Unterkarbon). Fig. 77. Ein Ver- unter den jüngeren 
benchte A ineleiche Teilung Aerkrmäske,soyie diegennse Ortmoidengibtiesem 
Höhe der obersten Stielglieder (st) bei beiden. (Nach Stein- Gruppe, die manche 
MANN und DE LORIOL aus STEINMANN-DÖDERLEIN: El.d.P.) Ahhnlichkeitenas ne 
aufweist, die Apiocriniden, vom Jura (Trias) an bekannt (Fig. 77), 
die zwar auf den ersten Blick habituell stark abzuweichen scheinen. 
Aber sie zeigen doch auch gewisse bemerkenswerte Ähnlichkeiten, die 
in gleicher Verknüpfung bei anderen Orinoiden nicht wiederkehren. 
So zeichnen sich die obersten Glieder des Stiels bei beiden durch 
ihre geringe Höhe aus (Fig. 76st, Fig. 77 st). In der Verzweigung 
der Arme ist eine auffallende Ähnlichkeit besonders dadurch gegeben, 
daß ihre Äste sehr ungleich, aber dabei symmetrisch zur Mittelebene 
ausgebildet sind und sich an demselben Arme oft sehr verschieden- 


22) 


STENDAL 


Od 


0} 


Echinodermen. an 


artig teilen (Fig. 7(6—78). Ferner findet sich bei beiden zwischen den 
Armen eine größere Anzahl von kleineren Plättchen eingeschaltet 
(Fig. (6«—78 Bir), und bei beiden ist die Kelchdecke hoch gewölbt, 
elastisch und mit kleinen Plättchen gepflastert. Die Unterschiede 
aber bestehen darin, daß Apwocrinus Fiederchen besitzt (Fig. 77»), 
die den älteren Formen fehlen, und daß seine Kelchkapsel stark 
ausgeweitet und massiv erscheint gegenüber dem viel zarteren Gebilde 
“ bei den meisten Flexibilia, wie Taxoerinus (Fig. 76, 78 A) und Verw. 
Daß die älteren Formen zwischen Stiel und Kelch einen dreizähligen 
Kranz kleiner Tafeln eingeschaltet besitzen (Fig.76.f), an dessen Stelle 
bei den jüngeren eine 
einzige Platte (Fig. cd) 
tritt, ist von unter- 
geordneter Bedeutung. 

Wenn wir nun, wie 


LITT 


Bess 
BER, 


jagr 
su 


das wohl geschieht, von Sehr 

Se 
vornherein annehmen, SE 
daß der Besitz oder > E 
das Fehlen von Fie- a 


. 


derchen ein Merkmal 
ist, das sich im Laufe 
der Stammesgeschichte 
nicht ändert, und da- 
her Angehörige ver- 
schiedener Stämme be- 
stimmt trennt, können 


wir keine Brücke von Fie. 78. Ein Vertreter der Flexibilia (Taxoerinus — 
ae Devon-A) und der Apiocriniden (Apiocrinus — Oberer 

den Flexibilia zu den Jura-B). Beiden gemeinsam ist die verschiedene Ausbildung 
Apiocriniden schla- der Äste des gleichen Arms (rı—r3), dessen beide Äste 
i ungleich lang (1—5[6] und 1—8[9]) sind, und die sich 

gen. Denken wir es ‚uch weiterhin nicht gleichartig verästeln. ir in A liest 
uns aber möglich, daß genau wie ir in Fig. 77, und ir in B wie ir in Fig. 76. 


: E ER (Nach Harz und pe Lor1or.) 
die Fiederchen bei äl- 


teren Formen weichhäutig und daher nicht erhaltungsfähig gewesen, 
später aber durch Einlagerung von Kalk erhaltungsfähig geworden sind, 
so fällt dieser Gegengrund fort. Die massive Entwicklung des Kelches 
und der übrigen Körperteile, die Apioerinus auszeichnet, können wir 
uns aber aus dessen veränderter Lebensweise erklären; denn während 
. die karbonischen Flexibilia zumeist in sandig-tonigen Gesteinen 
gefunden werden, haben ihre angenommenen Nachkommen im Jura auf 
oder in der Nähe von Korallenriffen gelebt, und bei Riffbewohnern 
werden die Skelette bekanntlich immer massiver als bei Formen, die 


152 Echinodermen. 


auf sandig-tonigem Boden vorkommen. Ich nehme daher keinen 
Anstand, Apiocrinus und Verwandte als Nachkommen der Flexi- 
bilia (oder wenigstens einiger derselben) zu deuten und werde hierin 
noch dadurch bestärkt, daß es sogar möglich ist, einzelne Apiocri- 
niden von bestimmten Arten der Flexibilia abzuleiten. Dafür 
folgendes schlagende Beispiel. 

Die auffälligste und extremste Gestalt unter den Apiocriniden 
der Jurazeit ist Guettardierinus (Fig. 79B). Der Kelch ist ungeheuer 
groß und solide, die Radialglieder (”,—r;) und die darüber folgenden 
Armglieder (1, 2, 3) sind mit den sehr zahlreichen, zwischen den Armen 
eingeschalteten Interradialen (ör) seitlich fest verbunden und nehmen 
mit ihnen an der Zusammensetzung des Kelches selbst teil, während 


Fig. 79. A Proguettardierinus (= Taxocrinus) Greeni Mill &G. sp. Unterkarbon. Indiana. 
B Gwuettardierinus dilatatus d’Orb. Oberer Jura. La Rochelle. (Nach MmiwLer und GURLEY 
und nach DE LorıorL.) Die Übereinstimmung zwischen beiden tritt außer in der Gesamtform 
in der Lage der Interradialen (ir) und Interbrachialen (ibr), ferner in der ungleichen Zahl 
(1,2,3 — 1,2) der Distichalglieder desselben Radius hervor. Die in B stark ausgeprägte 
Verbreiterung der oberen Stielglieder erscheint bei A schon vorgebildet. 


sie sonst bei den Flex. und bei den Apiocr. als bewegliche Platten 
zwischen den Armen liegen (vgl. Fig. 78 BD und 76); es sind physio- 
logisch wirkliche Kelch- und keine Armstücke. Wir haben eine 
Vereinigung von abweichenden Merkmalen, die durch keinerlei be- 
kannte Zwischenformen mit den übrigen Apiocr. verknüpft sind. 
Da man aber die Apiocr. wegen vieler anderer übereinstimmender 
Merkmale als eine systematische und damit ‚auch ohne weiteres als 
eine genetische Einheit auffaßt, so rückt Gwett. in die Stellung einer 
extremen Form, die aus den normalen Apiocr. hervorgegangen sein 
müßte. »It is the acme of this line of development« wie Bather sagt. 

Betrachtet man nun aber die Apiocriniden als eine Gruppe, 
die aus den paläozoischen Flexibilia impinnata durch gleichsinnige 
Umbildung der verschiedenen schon zur paläozoischen Zeit vorhandenen 
Stammreihen entstanden sind, so erscheint das abweichende Verhalten 


Echinodermen. 153 


von @uett. sofort leicht verständlich. Es gibt nämlich unter den karbo- 
nischen Flexibilia (Taxocriniden) schon eine Form, die durch die 
gleichen Merkmale von dem Gros der Taxocriniden und Dactylo- 
criniden geschieden ist. Sie gehört wie Guett. zu den allerseltensten 
Erscheinungen. Es ist das Forbesiocrinus Greeni Mill. & Gurl. 
(Fig. 79. A), nur ein einziges Mal in der Literatur erwähnt, wie auch Guwett. 
nur von La Rochelle in einigen Stücken bekannt geworden ist. Wir 
haben bei dieser Form, für die der Name Proguettardicerinus passend 
erscheint, dieselbe Einbeziehung der 2. Radialia 1, 2, 3 (und noch 
höherer Glieder) in den Kelch und die gleiche feste Verbindung mit den 
Interradialen (r). Wie sich Guett. durch ungewöhnlichen Umfang und 
kugelige Form von den sonst ähnlichen Apiocr. unterscheidet, so steht 
auch Proguett. hierdurch abgesondert von allen übrigen Flexibilia 
impinnata. Die Übereinstimmung erstreckt sich aber bis auf ganz 
geringfügige Einzelheiten. So sind bei Proguett. in acht von den zehn 
Armästen die zweiten Radialstücke in der Zahl von drei vorhanden 
(A rechts 1, 2, 3), in einem Arm aber (A links 1, 2) nur in der Zweizahl. 
Ist es nun Zufall, daß Guett. das gleiche Verhalten aufweist? Auch 
hier enthält nämlich der eine Armast (D links) drei zweite Radial- 
stücke (1, 2, 3), von denen das zweite in Ausschaltung begriffen ist, 
der andere Armast (rechts) aber nur deren zwei (1, 2). 

Was an Unterschieden zwischen dem karbonischen Vorläufer 
und dem jurassischen @wett. vorhanden ist, fällt durchaus nur in den 
Rahmen der Umbildungen, die auch alle übrigen Glieder des an- 
genommenen Stammes Taxocriniden-Apiocrinus ergriffen hat, 
nämlich das Verschmelzen der Infrabasalstücke (4:) mit dem ober- 
sten Stielgliede zu einer Zentrodorsalplatte, die Verbreiterung der 
oberen Stielglieder, die Vereinfachung des Kelchbaues durch Ver- 
schmelzung von Plattenstücken, in diesem Falle eine Verminderung 
der Interradialien (vr) und Interbrachialien (dr), sowie der vier zweiten 
Radialstücke zu drei (r}, r3, 73, Ya — Yı, 79, 73), außerdem eine Er- 
weiterung der Kelchhöhlung in seinen tieferen Teilen und im Zu- 
sammenhang damit eine beträchtliche Vergrößerung der Kelchtafeln. 

Dieses Beispiel lehrt uns aufs neue, wie beständig gerade die 
wenig beachteten, weil für leicht variabel gehaltenen Merkmale lange 
Zeiten hindurch bleiben, wie ferner die Variationsbreite eines Stammes 
nicht geändert wird; sie ist in diesem Falle gleich Null. Nach den 
jetzt herrschenden Ansichten müßte man ohne die Kenntnis der 
jurassischen Nachkommenschaft Proguett. als eine dem unmittelbaren 
Untergange geweihte Form ansprechen; sie hat sich aber bis in den 
Jura erhalten, und ob sie nicht als Comatula noch weiter lebt, wird 


154 Echinodermen. 


sich erst sagen lassen, wenn diese Organisationsstufe in ihre einzelnen 
Stammreihen aufgelöst sein wird. 

Rhipidocrinus-Stamm. Ich bespreche hier eine Stammreihe, 
deren bis jetzt bekannte drei Mutationen zeitlich sehr weit auseinander 
liegen (Devon-Oberkreide-Gegenwart), und die in dem heutigen System 
der Crinoiden jeweils in einer anderen Abteilung untergebracht sind; 
dennoch glaube ich zeigen zu können, daß sie durch hinreichend be- 
zeichnende Merkmale zu einer genetischen 
Formenreihe verknüpft sind. 

Rhipidocrinus (Fig. 80), eine gestielte 
Crinoide aus dem Devon gehört zur Abtei- 
lung der Camerata, d.h. zu denjenigen 
altertümlichen Formen, deren Kelch oben 
durch eine starke Decke festgefüster Kalk- 
tafeln abgeschlossen wird (5). Gerade diese 
nur in einer Art bekannte Gattung besitzt eine 
große Zahl eigentümlicher Merkmale, die zu- 
meist bei keinem anderen Öameraten und 
außer bei seinen Nachkommen auch nirgends 
sonstwo in der gleichen Vergesellschaftung 


Fig. 80. Rhipidocrinus. Devon. Eifel. A Kelch, ohne die freien Arme, von der Seite, 

B von oben. (Nach F. Rormer.) Fig. S1. Rhipidoerinus. Kelch mit zwei Armen, zerlegt. 

(Nach SchuLtze.) a After; b Basalkranz; br Arme; c Infrabasalkranz; o Mund; p die 

untersten äußeren Seitenäste der Arme; pı die inneren Seitenäste; pi Fiederchen; n—r3 

Radialstücke; 1, 2 die untersten, polygonalen Platten der Arme; x; interradiale, x9 inter- 
brachiale Hilfsplatten. 


auftreten. Die durch einfache Gabelung gebildeten zehn Arme (Fig. 81Dr) 
bestehen unten aus polygonalen (1, 2), oben aus zahlreichen, breiten, 
niedrigen Gliedern (br); die Arme verzweigen sich nicht, wie das sonst 
gewöhnlich der Fall ist, nur spärlich, sondern jeder Arm ist auf 
beiden Seiten mit zahlreichen, dichtgedrängten Seitenästen 
in fiederiger Anordnung (p, p4) besetzt, und diese erst tragen die 
zarten Fiederchen (pi). Die untersten Seitenäste werden von 
den Kelchtafeln noch mit umschlossen (Fig. SO Bp, 84 p); 


Echinodermen. 155 


ihre proximalen Tafeln sind auffallend groß und wie Kelch- 
platten oder wie untere Armglieder geformt. Der Kelch ist 
weit, korbförmig (Fig. 80 A), seine Decke (Fig. SO B) zeigt die After- 
öffnung (a) etwas außerhalb des Mittelpunktes, und ebenso liegt der 
von der Decke verhüllte Mund (o) außerhalb der Mitte. Zwischen 
je zwei Armen befinden sich im Kelche eine wechselnde Zahl ein- 
geschobener Hilfsplatten (Fig. 80, 81, 84«,), und auch zwischen den 


Fig. 82. Fig. 83. 


Fig. 82. TUintaerinus socialis Grin. Ob. Kreide. 
Kansas. N. Amerika. A Restauriertes Tier. B Kelch 
mit den unteren Teilen der Arme. C Zerlegter 
Kelch. DEin Armstück. (Nach BATHER aus STEIN- 
MAnN: Einführung i. d. Pal.) Fig.83. Uintaerinus. 
Kelch mit sichtbarer Kelchdecke. (Nach SPRINGER.) 
Fig.54. Rhipidoerinus. Zerlegter Kelch (vel. Fig. 82 C). (Nach Schunzze.) — a After; b Basal- 
kranz; br Arme; 1—8 die unteren Armglieder; p Seitenäste; pı die inneren Seitenäste oder 
Fiederchen; px} äußere Fiederchen und interradiale Hilfsplatten; pxa innere Fiederchen und 
interbrachiale Hilfsplatten; r—r3 Radialstücke; x interradiale, x3 interbrachiale Hilfsplatten. 


Sl 


Armgabeln liegen ähnliche, aber weniger zahlreiche Platten (2,). Wir 
kennen nichts ähnliches aus jüngeren Zeiten bis zur Oberkreide, wo 
eine ungestielte Orinoidee von anscheinend ganz isolierter Stellung, 
von ZitteL zu den Flexibilia gestellt, in Nordamerika und in 
Europa erscheint: 

Uintacrinus (Fig. 82). Sein geräumiger, fast kugeliger Kelch 
ist ungestielt (Fig. 82 A, B), was, wie wir wissen, ja bei jüngeren 


156 Echinodermen. 


Vertretern in den verschiedendsten Reihen vorkommt. Außerdem ist 
der unterste Tafelkranz von Rhip. (Fig. 8$1c) im Schwinden begriffen 
oder ganz verschwunden. Sonst ist der Kelch wesentlich gleich ge- 
baut, wie bei Rhip. Zwischen den fünf Radien (n—r,) liegt ein 
Komplex eingeschobener Hilfstafeln (x,), ein ähnlicher in den Arm- 
gabeln (25). Genau wie bei Rhip. (Fig. 815) beginnen neben dem 
zweiten Armglied an den Aubßenseiten der zusammengehörigen Arme 
sroßplattige Seitenäste in dichtgedränster Stellung sich abzuzweigen 
(Fig. 82 B p), während diese auf der Innenseite der zusammen- 
gehörigen Arme erst etwas höher (oberhalb x,) beginnen. Wie bei 
Rhip. besitzen nur die untersten Seitenäste an ihrer Basis größere, 
den Kelchtafeln ähnliche Platten (Fig. 82 DB p), bei den höheren sind 
sie schmäler. Die langen Arme bestehen wie bei hip. aus zahlreichen, 
breiten und niedrigen Tafeln; aber diese sind bei Urnt. beweglich ge- 
worden, nicht mehr starr wie bei der devonischen Form. Ebenso 
haben auch die Armäste bei Uint. eine neue Funktion übernommen, 
denn von den zarten Fiederchen von Rhip. ist hier nichts zu finden, 
dafür sind die Seitenäste beweglich und selbst zu Fiederchen ge- 
worden; auch bestehen sie nur noch aus einer Reihe von Täfelchen, 
nicht aus zwei wie bei Rhxp., eine Veränderung, die sich auch sonst 
vielfach an den Armen der Ürinoiden in gleichem Sinne vollzieht. 
Morphologisch hat sich also nichts Erhebliches geändert, aber ‘die 
Funktion der Fiederchen hat gewechselt. Die durch SPRINGER bekannt 
gewordene Kelchdecke (Fig. 83) ist nicht starr wie bei der älteren 
Form, sondern beweglich, aber zahlreiche kleine Kalkplättchen sind 
als Rest des Plattengewölbes zu betrachten. Weder der Mund (o) 
noch der After (a) liegen genau in der Mitte, aber letzterer erscheint 
der Mitte näher gerückt, so daß die vom Mund ausgehenden 
Ambulakralrinnen (am), die jetzt frei zutage liegen, einen längeren 
Weg zu den hinteren, als zu den vorderen Armen zurückzulegen haben. 

Die Unterschiede zwischen Rhip. und Uent. beruhen somit wesent- 
lich nur auf dem Verluste des Stiels und einer Zunahme der Beweg- 
lichkeit der Arme und der Kelchdecke, d.h. auf Vorgängen, die in 
den Rahmen der bei Crinoiden allgemein herrschenden Umbildung 
fallen. Die morphologischen Einzelheiten im Bau des Kelches und der 
Arme sind dagegen mit überraschender Zähigkeit festgehalten, 
und sie gestatten uns, die beiden unter ihren jeweiligen Zeitgenossen 
ganz isolierten Formen zu einer genetischen Reihe zu verknüpfen, 
trotz des weiten zeitlichen Abstandes, der sie trennt. An eine gene- 
tische Zusammengehörigkeit von Uirt. mit den Rhodocriniden, 
zu denen Rhip. gehört, hatte übrigens schon JÄKEL gedacht. 


Eehinodermen. 157 


Nun hat Springer, der Monograph von Uint., mit bemerkens- 
wertem Scharfsinn auf die Ähnlichkeit dieser Gattung mit einer 
lebenden Antedonide, Actinometra solarıs (Fig. 85, 86), hingewiesen. 
Dies ist einer der größten Vertreter dieses Entwicklungsstadiums der 
Crinoiden und erlaubt schon aus diesem Grunde einen Vergleich 
mit Uint. Trotz der anscheinend gewaltigen Kluft, die Act. von Uent. 
trennt, sind doch ganz ähnliche Übereinstimmungen vorhanden, wie 
sie zwischen Zrhıp. und Uent. bestehen. Wir haben, um einen rich- 
tigen Gesichtspunkt zu finden, nur zu berücksichtigen, daß die Be- 
weglichkeit des Tiers noch weiterhin gesteigert ist. Die Arme, samt 


> 


— SF 5 
Be 
En 


Fig. 85. Actinometra solaris Lk. sp. Lebend, A von unten (nur ein Arm ausgezeichnet). 

B ein grundständiges Fiederchen; s dessen proximale Glieder. ce Zentralplatte; er Cirrhen; 

pı grundständige Fiederchen; rn —r3 Radialstücke; 1—7 die untern Armstücke. (Nach 
CARPENTER.) 


den unteren Seitenästen sind aus dem starren Verbande des Kelches 
gelöst, die Hilfstafeln, die sie bei Urnt. verbanden, sind verschwunden, 
und die untersten Kelchtafeln zu einem Knopf (Fig. 85c) verschmolzen. 
Aber an der Stellung dieses Stückes konnte SPRINGER noch beweisen, 
daß es aus einer Anlage entstanden ist, wie sie Dint. besitzt. Ganz 
ähnlich ist bei beiden Gruppen aber der Bau der Arme und be- 
sonders bemerkenswert die übereinstimmende Form der unteren Seiten- 
äste, richtiger Fiederchen (Fig. 85 3); ihre proximalen Glieder weisen 
nämlich die gleiche, ungewöhnlich plumpe Gestalt (s) auf, wie bei 
Dint., und dieses auffallende Merkmal ist unter allen Antedoniden 
ausschließlich der aus zwei Arten bestehenden Gruppe der et. 
solaris eigen. Ebenso besitzt Act. den exzentrischen Mund (Fig. 86 o), 


158 Echinodermen. 


die offenen, von keinerlei Plättchen bedeckten oder eingefaßten Ambu- 
lakralfurchen (af) und den nahezu zentralen After (a). 

So können wir nach anscheinend unwichtigen Merkmalen, 
die weder bei der Trennnng der größeren Abteilungen, noch bei der der 
Familien Berücksichtigung finden, eine Formenreihe aus den wenigen 
Mutationen zusammensetzen. Wir stellen dabei nur Veränderungen 
fest, wie sie zumeist ähnlich in anderen Crinoidenstämmen auch im 
Laufe der Zeit sich vollzogen haben, und wie sie in der ganzen Ent- 
wicklungsrichtung des Stammes liegen. Auch hier bestätigt sich das 
Gesetz des Beharrens der Variationsbreite, denn die Artenzahl ist 
bei der lebenden Gruppe der Act. solaris fast ebenso gering (2), wie bei 
Dint. (2) oder Rhip. (1 oder 2). 


Fig. 86. Kelchdecke von Actinometra solaris  Fig.87. Siphonoerinus nobilis HIl. Ob. Silur. 

Lk. Lebend. Australien. « After; af Ambu- Wisconsin. Steinkern des Kelches. pb Ba- 

lakralfurchen; br Arme; o Mund; pl Plätt- salia; rn—rz Radialia; ör Interradialia; am 

chen der Kelchdecke. (Nach CARPENTER.) Ambulakren; o Mund; a Afterröhre. 
(Aus Steinumanx: Einf. i. d. Pal.) 


Erkennt man der hier versuchten Ableitung einen gewissen Grad 
von Wahrscheinlichkeit zu (JÄKEL und SPRINGER habe ich als Eides- 
helfer schon erwähnt), so ergibt sich für die heutigen ungestielten 
Crinoiden, die Antedoniden, folgende Auffassung. Sie sind eine 
Sammlung moderner Orinoiden, von denen jede Art in einer ge- 
sonderten paläozoischen Art oder Gattung wurzeln kann. 
Ihr ungeheuerer Artenreichtum (etwa 200 Arten) ist nicht als 
Divergenz aus einer Ur-Antedonide zu erklären, sondern aus 
der gleichsinnigen Umbildung, die zahlreiche gestielte 
Crinoiden älterer Zeit erfahren haben. Wir sind dann auch 
keineswegs zu der Annahme genötigt, daß sich unter den zahlreichen 
fossilen Formen von so verschiedenem Bau und Habitus viele aus- 
gestorbene befänden; sie können alle heute noch fortleben, nur in 
einer modernen Einkleidung. Der polyphyletische Ursprung der 
»Gattunge Actinometra, die durch die exzentrische Lage des 
Mundes ausgezeichnet ist, wird auch durch die Tatsache gestützt, 


Brachiopoden. 159 


daß unter den paläozoischen Orinoiden nicht nur eine, sondern 
mehrere verschiedene Gattungen dieses Merkmal besaßen, wie der 
Fig. 87 abgebildete Siphonocrinus aus dem Silur u. a. m. 

5. Brachiopoden. Aus paläozoischen Ablagerungen bis zum Perm 
hinauf kennen wir eine reich entwickelte Brachiopoden-Familie, die 
Orthiden. Sie gilt als ausgestorben, da wir weder in der Trias, noch 
in jüngeren Formationen ganz gleichen Formen begegnen. Sie teilt 
mit vielen anderen Brachiopoden das Merkmal eines fehlenden Arm- 
gerüstes. Doch verdient bemerkt zu werden, daß ganz kurze Haken, 


Fig. 88, Fig. 90. 


Fig. 88. Orthis (Dalmanella) basalis Dalm. Ob. Silur. England. A gegen die Bauch-, 
B gegen die Rückenklappe, C von der Seite gesehen. (Nach DAvıpsox.) Fig. 89. Megerlea 
truncata L.sp. Rezent. Mittelmeer. A von der Seite, B gegen die Rückenklappe gesehen; 
C Armgerüst. (Nach Davı»son.) s Einbuchtung der Rückenklappe. Fig. 90. Rhynchonellina. 
A—C Rh. Zitteli Bös. Risano, Dalmatien. Von vorn und von der Seite. C Ansicht des 
Schnabels. D Innenansicht der Rückenklappe. E Längsschnitt der Schale. @’ Area; er Crura; 
d Deltidialplatten, k Arealkante; m Medianseptum; mi Muskelleiste der Rücken-, mi’ der 
Bauchklappe; #’ Zahn der Bauchklappe; z9 Zahngrube; zp’ Zahnstütze der Rückenklappe; 
zp Deltidialspalt. (Nach Böse aus STEINMANN, Einf. i. d. Pal.) 
gewissermaßen die ersten Anfänge eines solchen, bei mehreren Arten 
beobachtet sind. Im übrigen zeigt sie eine beträchtliche Variabilität, 
sowohl in ihrer Form als in der Art der Berippung und der Aus- 
gestaltung der Schale. Wir fassen hier eine Sektion der Gattung Orthis 
ins Auge, die den Namen Dalmanella (Fig. 88) erhalten hat. Die in 
Fig. 88 dargestellte Art aus dem Untersilur besitzt mittelstarke 
Rippen, einen langen, geraden Schloßrand und eine sehr deutliche, 
mäßig hohe Area (a’) in der großen Klappe. Die kleine Klappe zeigt 
eine deutliche, wenn auch wenig tiefe Einbiegung in der Mittellinie 
(s. Nun hat man aus den Juraablagerungen des Mittelmeergebietes 
Brachiopoden kennen gelernt, die habituell ausgesprochene Ahnlich- 
keit mit Dalmanella aufweisen — Rhynchonellina — (Fig. 90). Die 


Ubereinstimmung in Form, Verzierung, Bildung der Area und des 


160 Brachiopoden. 


Sinus der kleinen Klappe ist so groß, daß hierin Unterschiede über- 
haupt kaum gefunden werden können. Aber an den Innenrand der 
kleinen Klappe heften sich zwei lange, gebogene Haken an (Der, Ecr), 
während bei Dalmanella nur spurenhafte Ansätze dazu vorhanden sind. 
Der Unterschied ist nur quantitativ, aber er genügt bei der heutigen 
systematischen Methode, um aus den jurassischen Formen nicht etwa 
nur eine neue Untergattung von Orthis zu schaffen, sondern um sie 
unter der Gattungsbezeichnung Rhynchonellina in eine ganz andere 
Familie, die der Rhynchonelliden, zu versetzen. Denn ihre 
Diagnose lautet: zwei einfache, gekrümmte Orura vorhanden. Alle 
anderen Merkmale werden dabei ignoriert. Dalmanella gilt für aus- 
gestorben, Rhynchonellina ebenfalls, da Vertreter der letzteren aus 
nachjurassischen Schichten nicht mehr bekannt geworden sind. 

Im Tertiär und in den heutigen Meeren gibt es aber eine 
Brachiopodengattung, Megerlea (Fig. 89), die weder den Orthiden, 
noch den Rhynchonelliden zugezählt wird, weil ihr Armgerüst 
(Fig. 89C) nicht nur aus einem Hakenpaar (er) besteht, sondern weil 
diese Haken sich nach oben zu einer Schleife aufbiegen (sl) und diese 
sich an die Mittelleiste der kleinen Klappe (ml) festheftet; nach 
diesem Merkmale wird sie zu der Familie der Terebratuliden ge- 
rechnet. Faßt man die Form und Verzierung der Schale, die Ge- 
stalt der Area und des Deltidiums, sowie die mittlere Einsenkung 
der kleineren Klappe ins Auge, so wird man keine 
wesentliche Abweichung, weder von Rhynchonellina 
noch von Dalmanella entdecken können. Nur das 
Schnabelloch der größeren Klappe erscheint stark 
ausgeweitet und erheblich größer als bei den älte- 
ren Gattungen. In der kleineren Klappe ist eine 
Mittelleiste (»2l) vorhanden, die aber weder Rhyn- 
chonellina noch Dalmanella ganz fehlt. Es gibt 
Fie. A. Kraussing Auch noch eine zweite lebende Gattung, die alle 
pisum Lk.sp. Rezent. die gleichen äußerlichen Merkmale aufweist wie 
Cap d.g.H. Erläute- . “ - : E 
rung siehe Fig. 90. diese älteren Formen, aber wieder ein anderes, viel 
BR Er einfacheres Armgerüst besitzt — Kraussina (Fig.91). 

Davioson.) Wir könnten also schwanken, ob wir Megerlea oder 

Kraussina oder beide mit den »ausgestorbenen« 
Gattungen in Verbindung bringen wollen. Vielleicht sind beide Nach- 
kommen von Dalmanella, und es hat sich nur das Gerüst in doppelter 
Richtung verändert. Für Megerlea läßt sich der Zusammenhang aber 
vollständiger nachweisen, weil die Entwicklung des Armgerüstes der 
jurassischen Rhynchonellinen genau eine Mittelstellung zwischen 


Brachiopoden. 161 


dem unentwickelten Zustande der silurischen Dalmanella und der 
tertiär-rezenten Megerlea einnimmt. 

Wenn man hiernach an dem genetischen Zusammenhange der 
erwähnten Formen von Dalmanella— Rhynchonellina— Megerlea nicht 
gut zweifeln kann, so wäre es doch unrichtig, diese Umbildung des 
Armgerüstes und die Erweiterung des Stielloches, durch die sich 
Megerlea von Dalmanella unterscheidet, als einen Vorgang aufzu- 
fassen, der sich nur einmal vollzogen hätte. Schon der Umstand, 
daß die jurassischen Rhynchonellinen eine ähnliche Variations- 
breite aufweisen wie die silurischen Dalmanellen, zeigt, daß das 
Auswachsen der Haken bei mehreren ganz nahe verwandten Formen 
eingetreten ist. Ver- 
gleicht man ferner die 
verschiedenen lebenden 
Arten von Megerlea mit 
den bekannten Arten 
von Dalmanella, so zeigt 
sich auch hier ein be- 
merkenswerter Paral- 
lelismus. So wie Meger- 
lea trumcata sich nach 
ihrer Gestalt, nach der 
Form der Area und 
nach dem Auftreten 


des Sinus in der klei- 


7 Fig. 92. Orthis erispata M.Coy. U.Silur. England. (Nach 
en Klappe am besten Davınosox.) Fig.93. Megerlea incerta Dav. Fernando No- 
mit Dalım. basalıs aus ronha (3700 m). (Nach Davınson.) A gegen die Rücken-, 


- . B gegen die Bauchklappe, € von der Seite gesehen. a’ Area; 
dem Untersilur verglei- d Deltidialplatten; s Einbuchtung der Bauchklappe. 
chen läßt, so kann die 


nur einmal gefundene Megerlea incerta (Fig. 93) am besten mit der- 
jenigen Gruppe von Dalmanella in Parallele gestellt werden, die 
durch längere und niedrigere Area und durch eine flache mittlere 
Einsenkung in der größeren (Bauch-) Klappe ausgezeichnet ist. Man 
vergleiche hierfür Orthis cerispata (Fig. 92) mit Megerlea incerta 
(Fig. 93). 

Das Ergebnis dieser Vergleiche ist also folgendes. Nur wenn 
man den Armen der Brachiopoden im Gegensatz zu allen sonstigen 
Erfahrungen bei Mollusken die Fähigkeit gänzlich abspricht, sich im 
Laufe der Zeit ein wenig zu verändern, im besonderen Kalkgerüste von 
verschiedener Länge, Form und Ausdehnung hervorzubringen, wird man 
die oben geschilderten paläozoischen, mesozoischen und känozoischen 


Steinmann, Abstammungslehre. 11 


162 Ziweischaler. 


Formen nicht als zu einem Stamme gehörig betrachten dürfen. 
Andernfalls kann bei der weitgehenden Übereinstimmung in so zahl- 
reichen und als sehr beständig erfundenen Merkmalen ein berech- 
tigter Zweifel an der Einheitlichkeit des Stammes Dalmanella — 
Rhynchonellina — Megerlea (? Kraussina) nicht wohl aufkommen. 
Wir haben diesen Stamm aus drei verschiedenen Familien zu- 
sammenlesen müssen, haben dabei ein typisches Beispiel für die Inter- 
mittenz der heutigen geologischen Überlieferung, für die geringe Ver- 
änderung eines Stammes im Laufe der Zeit und für die parallel 
laufende Umbildung der in erster Linie in der Systematik verwendeten 
Merkmale kennen gelernt. Zugleich konnten wir eine Fortdauer der 
früher vorhandenen Variationsbreite und auch eine, wie es scheint, 
alle Vertreter betreffende Verringerung der Körpergröße wahrnehmen. 

Ich beschränke mich auf dies einzige Beispiel aus der Klasse 
der Brachiopoden. Es ist typisch und dürfte genügen, zu zeigen, 
daß hier die phylogenetischen Beziehungen ebenso wie in anderen 
Tiergruppen von der heutigen Systematik zerstückelt werden. Wer 
weitere Beispiele haben will, braucht nur zu versuchen, die verschie- 
denen Vertreter der mesozoischen und jüngeren Rhynchonelliden 
und Terebratuliden nach den oben entwickelten Gesichtspunkten 
mit paläozoischen Formen aus den Familien der Spiriferiden, 
Atrypiden, Pentameriden, Strophomeniden usw. zu ver- 
gleichen. Er wird ohne große Mühe zu den überraschendsten Er- 
gebnissen gelangen. Nur muß er dabei im Auge behalten, daß in 
manchen Fällen, wie in dem eben besprochenen, ein mehr oder 
weniger zusammengesetztes Armgerüst aus unscheinbaren Anfängen 
entstanden, in anderen Fällen, z. B. in den Stammreihen, die von 
den spiraltragenden Familien der Spiriferiden und Atrypiden 
zu dem Stadium der Terebratuliden führen, das spirale Arm- 
gerüst in eine Schleife umgewandelt worden ist. 

Über die phylogenetischen Beziehungen der Productiden und 
Coralliopsiden werde ich im Abschnitte Manteltiere zu sprechen 
kommen. 

6. Zweischaler. Abgesehn von der »ausgestorbenen« Gruppe der 
Rudisten, die uns gleich näher beschäftigen soll, zeigen die Zwei- 
schaler wohl den am vollständigsten geschlossenen Entwicklungsgang 
unter allen Wirbellosen. Das hängt mit der Widerstandsfähigkeit 
ihrer Schale und mit ihrer vorherrschenden Lebensweise im Flach- 
wasser zusammen, zwei Umstände, die die Überlieferung wesentlich 
begünstigen. Wir sehen sie schon im Silur mit einer großen Reihe 
getrennter Stämme vertreten und können diese zumeist bis in 


Zweischaler. 163 


die Gegenwart verfolgen. Zwar liefert selbst die verbesserte syste- 
matische Anordnung, wie sie ZiTTEL in seinen Grundzügen (1903) 
angewendet hat, noch lange kein klares Bild von der Beständigkeit 
ihrer phylogenetischen Entwicklung. Denn dort finden wir in der 
Übersichtstabelle über die zeitliche Verbreitung der Zweischaler 
von den 56 unterschiedenen »Familien« nur 6 ununterbrochen vom 
Silur bis in die Jetztzeit durchgezogen, und nur 3 Gattungen Avr- 
cula, Nucula und Arca sollen durch die gesamte Reihe der For- 
mationen hindurch gehen. Prüft man das Material aber nach den 
bei den Schizodonten entwickelten phylogenetischen Gesichtspunkten 
und versucht, die Nachkommen älterer, integripalliater Vertreter in 
Gattungen und Familien jüngerer sinupalliater zu ermitteln, oder be- 
zieht man nach dem Vorgange JAcKsons die monomyaren Familien 
und Gattungen, wie die Pectiniden, auf ältere heteromyare Avi- 
culiden, ebenso die Formen mit innerem Bande auf ähnliche ältere 
mit äußerem Bande, sucht man die Süßwasserformen auf ältere marine 
Gestalten mit sonst ähnlichen Merkmalen zurückzuführen, die fest- 
gewachsenen und die bohrenden auf freilebende usw., so gestaltet 
sich das Bild wesentlich anders und einfacher. Dann läuft die Mehr- 
zahl der zur Silurzeit vorhandenen Zweischalerstämme nicht nur 
ungeschwächt, sondern allmählich vermannigfaltigt bis in die Gegen- 
wart fort. Es gelingt zwar auf diesem Wege heute noch nicht, alle 
Stämme als durchgehend zu erweisen, was bei der immerhin noch 
unvollständigen Kenntnis und Durcharbeitung des Materials nicht 
befremden kann, aber man gewinnt doch den bestimmten Eindruck, 
daß es keinerlei ernstliche Schwierigkeiten bereiten wird, das Gros 
der Stämme und Unterstämme als beständig seit der Silurzeit zu er- 
weisen. Ich habe früher ein Beispiel aus dieser Gruppe angeführt 
(S. 99), das, wie ich glaube, deutlich zeigt, auf welchem Wege dies 
möglich sein wird. Sollte sich dann nach einer entsprechenden Durch- 
arbeitung des fossilen Stoffes eine Anzahl kleiner Formenkreise er- 
geben, die zu verschiedenen Zeiten aus dem reichen Stamme der 
Zwweischaler ausgeschaltet, also wirklich erloschen sind, so könnte das 
nicht weiter Wunder nehmen, da die gelegentliche Ausmerzung kleinerer 
Formenkreise durch geologische Vorgänge durchaus begreiflich er- 
scheint, wie S. 24 auseinander gesetzt worden ist. Die Kontinuität 
des Stammes im großen und ganzen würde dadurch keine Einbuße 
erleiden und seine phylogenetische Entwicklung geschlossen, einheit- 
lich und begreiflich sein. 

Nur eine große Gruppe von Zweischalern fällt aus dem Rahmen 
einer geschlossenen Entwicklung bis zur Gegenwart gänzlich heraus: 

ala 


164 Pachyodonten. 


die Pachyodonten. Sie stehen schon vom Devon, ja wahrschein- 
lich schon vom älteren Silur an selbständig neben den übrigen 
Muscheltieren durch ihre besondere Lebensweise — sie sind von 
früh an Riffbewohner. Andere riffbewohnende Muscheln kennen 
wir aus jüngerer Zeit, wie die heute lebenden Ühamen und Tri- 
dacnen. Sie gehen aber nicht wesentlich hinter die Kreide oder 
das Tertiär zurück, und ihre Vorfahren waren bis dahin normale 
Muscheltiere.. Der Pachyodontenstamm trägst aber schon in 
seinen devonischen Vertretern ausgesprochen die Merkmale kalkriff- 
liebender, d. h. in ihrer Bewegung stark behinderter Tiere, zur Schau, 
wie uns Megalodon cucullatus zeigt: eine dicke Schale mit breiter 
Schloßplatte, auf der sich dicke, wulstige (Fig. 95 x, y, x’, y'), nicht wie 
sonst mehr oder weniger leistenförmige und scharfkantige (Fig. 94) 


Fig. 94. Eine Muschel mit normalen, leistenförmigen Schloßzähnen (hz’, mg’, mz’a, v2’). 
Fig. 95. Megalodon, ein Pachyodont mit wulstigen Zähnen (x, y, ®’, y'). A, B aus dem 
Devon (Schale), C Steinkern aus der Trias. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) 


Zähne erheben. In der Trias (Fig. 95 C) sehen wir die Nachkommen 
auch schon vielfach zu ansehnlichen Gestalten heranwachsen, wie sie 
zur Devonzeit nur selten vorkommen. Mit dem Jura aber beginnt 
eine bemerkenswerte Änderung Platz zu greifen. Waren früher die 
Muscheln vielleicht noch einer geringen Bewegung fähig gewesen, so 
hört diese jetzt ganz auf; das Tier wächst schon früh mit dem 
Wirbel einer Klappe auf dem Untergrunde fest, und die Folge davon 
ist, daß die Schale ungleichklappig wird, wie bei Diceras (Fig. 96), 
einer Gattung, die in den Korallenkalken des oberen Jura in Buropa 
zu den häufigsten Erscheinungen gehört. Die Folgen dieses Fest- 
wachsens äußern sich, ähnlich wie bei der lebenden Gattung Okama, 
für das Tier darin, daß es sich teilweise oder ganz in die festge- 
wachsene und zugleich größere der beiden Klappen einsenkt, und 
diese Änderung steigert sich sehr bald, nämlich bei einigen Ver- 
tretern schon zur Zeit der Unterkreide, so weit, daß das ganze Tier 


Pachyodonten. 165 


seinen Platz in der festgewachsenen, kegelförmigen und spiral ge- 
drehten Unterklappe (Fig. 97 s’) findet, und die kleinere, freie Klappe (s) 
nur wie ein Deckel auf der Unterklappe aufliegt. Bis hierher be- 
greift sich der ganze Vorgang leicht und einfach als eine unmittel- 
bare Folge des Festwachsens des Tieres, und wir treffen daher auch 
bei anderen festgewachsenen Muscheltieren eine ganz ähnliche, wenn 
auch nicht ganz so extreme Verlagerung, so unter den Zweimusklern 
bei Chama und Chamostrea, unter den Einmusklern bei Ostrea (Gry- 
phaea und Exogyra). Mit Beginn der Kreide nimmt der Formen- 
reichtum des Pachyodontenstammes noch zu. Es ist keineswegs 
ausgeschlossen, vielmehr wahrscheinlich, daß es in vorkretazischer 
Zeit mehrere Stammreihen gegeben hat, aus denen sich die Pachyo- 
donten der Kreidezeit herleiten, aber mit Sicherheit kennen wir 


Fig. 9. 


Fig. 96. Ein mit der großen Klappe festgewachsener Pachyodont (Diceras — Jura). 
Fig. 97. Ein festgewachsener Pachyodont (Requienia — Unterkreide). Die rechte 
Klappe ist zu einem kleinen Deckel reduziert, das Tier ganz in die linke eingesenkt. (Aus 
STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) 
bis jetzt nur die eine Linie, die von Megalodon über Diceras führt. 
Schon innerhalb der oberjurassischen Diceraten zeigt sich eine er- 
weiterte Variabilität im Vergleich zu der Formenarmut der älteren 
Vertreter. Ein Teil wächst gesetzmäßig mit der rechten, ein anderer 
Teil mit der linken Klappe fest, bei einigen Formen sind die beiden 
Klappen nur unbedeutend an Größe verschieden, bei anderen werden 
sie ungleich bis zum äußersten. Zunächst noch schwach angedeutet, 
tritt auch radiale Berippung an den bis dahin glatten Schalen auf. 
Dieses Merkmal gehört in die Klasse derjenigen Änderungen, die 
sich bei zahlreichen Stammreihen der Muscheltiere, in der einen 
früher, in der anderen später, einstellen. Sie geht zurück auf eine 
Fältelung des Mantelrandes, die ihrerseits als Folge des zunehmen- 
den Wachstums des Tieres gedeutet werden darf; da die Schale eine 
seitliche Ausdehnung des Mantels nicht zuläßt, so legt sich sein 
Rand in Falten. 


166 Pachyodonten. 


Die Verschiedenheiten im Verhältnis der beiden Klappen zu 
einander fallen unter den Begriff der epistatischen Mutationen, d.h. 
die einen Formen beharren auf dem älteren Zustande (und solche 
epistatische Arten kennen wir noch aus sehr jungen Lagen der 
Kreide wie Apricardia-Turon), die anderen schreiten in der einmal 
eingeschlagenen Veränderungsrichtung rascher voran, wie Reguienia 
(Fig. 97). Die bei festgewachsenen Muscheltieren von Ort zu Ort 
wechselnden Bedingungen lassen ein solches epistatisches Divergieren 
wohl begreiflich erscheinen. 

Von den Tieren, die in den Schalen von Diceras, Requwienia, 
usw. wohnten, können wir mit Sicherheit aussagen, welche Lage sie 
in der Schale besessen haben, und wie ihre Schließmuskeln darin 
befestigt waren. Bei den Formen mit extrem kegelförmiger Schale 


Fis. 99. 


Fig. 98. Ein normales Muscheltier mit seiner linken Klappe, die parallel zur Mittel- 

ebene des Tieres liest. Fig. 99. Rekonstruktion des Hippuritentiers in seiner durch- 

schnitten gedachten Schale. Die Klappen stehen senkrecht zur Mittelebene des Tieres. 

R rechte, L linke Klappe (etwas abgehoben gezeichnet); p Mantel; m vorderer, n hinterer 

Schließmuskel; % Kiemensipho; o Mund; a After; d Darm; kı Kiemensack; k’ Kanäle 
der Deckelklappe. (Aus STEINMann: Einf. i. d. Pal.) 


muß der Mantel des Tieres, der. normalerweise aus zwei gleich- 
großen Lappen besteht, sehr unsymmetrisch geworden sein, ent- 
sprechend dem Mißverhältnis der beiden Klappen. Der eine (bei 
Requwienia linke) Lappen kleidet die kegelförmige Unterschale aus 
und läßt sie an seinem kreisförmigen Rande wachsen, während der 
andere auf eine kleine Scheibe von der Größe der Deckelklappe 
reduziert ist. Das Tier, dessen Mittelebene ursprünglich mit der 
Grenze zwischen beiden Klappen zusammenfiel (Fig. 98), hat jetzt 
eine Drehung derartig erfahren, daß es sich senkrecht zu seiner 
früheren Stellung befindet (Fig. 99). Der Vorderteil des Tieres 
liegt am Boden der kegelförmigen rechten Klappe, während sein 
hinteres Ende nach oben schaut, wo allein an der Grenze der beiden 
Klappen (p) das zur Atmung und Nahrungszufuhr dienende Wasser 
eintreten und das verbrauchte austreten kann. Diese Vertikalstellung 


Rudisten. 167 


des Tieres ist ım allgemeinen derjenigen gleich, die auch die im 
Sande oder Schlamme sich einwühlenden Muscheltiere einnehmen: die 
Fußregion liegt unten, die Kiemen- und Afteröffnung schauen nach “ 
oben. Aber während bei den Sand- und Schlamm-bewohnenden 
Formen das ganze Tier samt der umkleidenden Schale diese senk- 
rechte Stellung einnimmt, ohne daß eine Verschiebung in der gegen- 
seitigen Lage der Organe eintritt, hat bei den extremen Pachyo- 
donten eine Verschiebung in der gegenseitigen Lage einzelner Teile 
des Tieres zueinander und zu seiner Schale Platz gegriffen (Fig. 99). 
Die beiden Klappen sind zwar an Größe verschieden geworden, aber 
der Mechanismus, mit dem sie sich öffnen und schliessen, ist dabei 
zunächst wenigstens der gleiche geblieben, d. h. die beiden Schließ- 
muskeln stehen wie bei jedem Muscheltier (Fig. 98 m, n) senkrecht 
zu den Klappen (Fig. 99 m, n).. Das Band, das die Klappen 
öffnet, und das bei der normalen Muschel einheitlich ist, und in 
der Mittelebene der beiden Klappen liegt, hat sich infolge der 
Drehung der Wirbel gespalten und steht anfangs schräg, schließlich 
senkrecht zu der Trennungsebene der beiden Klappen, in jeder 
Klappe getrennt. Die inneren Organe des Tieres aber haben sich 
innerhalb des Mantels gedreht, sodaß die Region des Fußes nicht 
mehr in der Mittelebene zwischen den beiden Mantellappen (Klap- 
pen), sondern über dem Wirbel der Unterklappe, also am Boden der 
trichterförmigen Schalenhöhlung, liegt (Fig. 990). Kiemen- und Ein- 
geweidesack befinden sich darüber, und die Atem- und Afteröffnung 
stehn schräg nach oben, nahezu senkrecht. Vorn liegt also 
unten, hinten oben. Die Schließmuskeln, die ihre Stellung zur 
Schale bewahrt haben, stehen aber nicht mehr senkrecht zur 
Körpermittelebene, sondern parallel dazu, und ebenso befinden 
sich die beiden Mantelhälften und Klappen jetzt senkrecht zur 
Körperachse des Tieres, die größere, kegelförmige vorn, die kleinere 
hinten, während sie ursprünglich symmetrisch zu beiden Seiten der 
Mittelebene des Tieres gelagert waren. 

Diese Veränderungen lassen sich an der Beschaffenheit des 
Schaleninnern deutlich verfolgen. Bei den meisten Pachyodonten 
der jüngeren Kreide, den sogenannten Rudisten, die die formen- 
reichen Familien der Hippuritiden und Radiolitiden umfassen, 
beobachtet man mehr oder minder deutlich noch eine Änderung, die im 
Laufe der Zeit auch sonst bei zahlreichen anderen Lamellibranchiaten 
eintritt, die eine ähnliche, wenig bewegliche Lebensweise führen, wie die 
Desmodonten, die sich in Sand und Schlamm einwühlen, oder die 
eine bohrende Lebensweise annehmen. Die Ränder der beiden Mantel- 


168° Rudisten. 


lappen wachsen nämlich um die Kiemen- und Afteröffnung herum 
zusammen und zu 2 Röhren, den Siphonen, aus (Fig. 98a,k). Bei Hip- 
purites erkennt man das deutlich an den kammartigen Einfaltungen 
(Pfeilern) der Schale (Fig. 100 A, cp, kp), die sich vor und hinter der 
Stelle der Afteröffnung (cs) bilden. In der Deckelklappe befinden 
sich zwei Einschnitte, die diesen Öffnungen des Tieres entsprechen 
(Fig. 100 B cl, kl). Sie kommen beim Öffnen der Schale neben die Pfeiler 
und gerade über die Siphonen zu liegen (Fig. 100 C), sodaß Wasser 
aus- und einströmen kann, während sie bei geschlossener Schale über 
die beiden Pfeiler zu liegen kommen und durch sie genau abge- 
dichtet werden (Fig. 100 5). Verfolgt man nun die Lage dieser bei- 
den Löcher in der Deckelklappe bei manchen jüngeren Hippuritiden, 


Fie. 100. Hippurites radiosus. Oberkreide. A Unterklappe allein von oben gesehen, B mit 
Oberklappe im geschlossenen, C in geöfinetem Zustande. cl Kloakenloch, kl Kiemenloch 
der Oberklappe; es Lage des Kloakensipho, %s des Kiemensipho; cp Kloakenpfeiler; 
sp Kiemenpfeiler; m, my vorderer, n hinterer Muskeleindruck; sf Schloßfalte (verkümmertes 
Band); w Wirbel; % wahrscheinliche Lage des Kiemensacks, d des Eingeweidesacks. 


so bemerkt man, daß sie nicht mehr nebeneinander in gleicher Ent- 
fernung vom Schalenrande liegen, sondern daß die Kiemenöff- 
nung (kl) sich stets vom Rande etwas weiter entfernt, als die 
Afteröffnung (cl), also höher auf die Deckelklappe gegen 
den Wirbel (W) zu hinaufrückt, als die Afteröffnung. 

Um das eigenartige Bild, das diese Tiere darbieten, nicht zu 
lückenhaft erscheinen zu lassen, will ich noch bemerken, daß die 
Zähne der Deckelklappe zu langen, zapfenartigen Fortsätzen aus- 
wachsen, die in entsprechend geformte Gruben der festgewachsenen 
Klappe eingreifen, daß hierdurch und durch die allmählich fort- 
schreitende Verkümmerung des Ligaments ein Aufklappen der Deckel- 
klappe unmöglich wird. Diese wird vielmehr beim Öffnen der Schale 
nur ganz wenig abgehoben, und dann zur Seite gedreht, sodaß 
die Kiemen- und Afteröffnung unter die entsprechenden Löcher der 
Deckelklappe zu liegen kommen (Fig. 100 C). Wenn aber die beiden 
Klappen nur noch ganz wenig voneinander entfernt werden können, 


Rudisten. 169 


so tritt wohl sicher derselbe Vorgang ein, der bei ähnlich gebauten 
Muscheltieren der Gegenwart, z. B. Chama, tatsächlich vor sich 
gegangen ist, daß nämlich die Ränder der beiden Mantel- 
lappen bis auf die absolut notwendigen Öffnungen mitein- 
ander verwachsen. Bei Chama sind es deren drei, die Kiemen- 
und die Afteröffnung, sowie eine Öffnung für den (rudimentären) Fuß. 
Diese letztere kann aber bei den Rudisten kaum frei geblieben 
sein, da der Fuß infolge des andauernden Nichtgebrauches wohl 
jedenfalls schon frühzeitig verkümmerte und schließlich ganz ver- 
schwand. So dürfen wir unbedenklich annehmen, daß der ursprüng- 
lich zweilappige Mantel schieblich zu einem allseitig geschlos- 
senen Sacke geworden ist, in dem nur noch zwei Öffnungen für 
Eintritt und Austritt des Wassers als Siphonen vorhanden waren. 
Sie lagen am oberen Ende des Sackes, und die Kiemen- 
öffnung stand etwas höher als die Afteröffnung. Hier- 
nach ist das Tier in den Fig. 99 und 101 rekonstruiert. 

Die frei lebenden Vorfahren der Rudisten haben wahrschein- 
lich wie die Mehrzahl der Muscheltiere zwei Paare frei in der Mantel- 
höhlung herabhängender Kiemen besessen. Wir dürfen aber wohl 
annehmen, daß sie nicht immer freigeblieben sind; vielmehr werden 
die inneren Kiemenblätter mit ihren Rändern im Laufe der Zeit zu- 
sammengewachsen sein, da die Unbeweglichkeit des Tieres einen 
solchen Vorgang befördert. Wenn Siphonen vorhanden sind, ist eine 
Verwachsung der Kiemen ja auch die Regel. Sind doch nicht nur 
bei der festgewachsenen Chama, sondern sogar bei der träge kriechen- 
den Teichmuschel (Anodonta) die Kiemen im hinteren Teil des Körpers 
verwachsen, und dieser Vorgang würde hier auch wohl auf den vor- 
deren Teil übergegriffen haben, wenn nicht das Vorhandensein des 
Fußes dies verhinderte. Bei den Rudisten ist aber auch der Fuß 
bald verkümmert, und es spricht daher nichts dagegen, daß die 
Kiemen auch am Vorderende verwuchsen und einen geschlossenen, 
sackartigen Hohlraum bildeten, der mit der Kiemenöffnung oben 
mündete, und der vom peripheren Teile des Mantelraumes rings um- 
geben wurde bis auf den schmalen Streifen, dem entlang die Kiemen 
am Mantel festgewachsen sind. Der After mündete natürlich 
in diesen peripheren Peribranchialraum, dessen Öffnung die 
Kloake ist. Wenn auch die fossilen Schalen keinen direkten Hin- 
weis auf den tatsächlichen Abschluß des Kiemenraums durch Ver- 
wachsung liefern, so sind wir nach Analogie mit den Verwachsungs- 
vorgängen bei lebenden Muscheltieren durchaus berechtigt, ihn an- 
zunehmen; etwas Unwahrscheinliches liegt darin keineswegs. 


170 Rudisten. 


Mit der Einstülpung des Tieres in die kegelförmige Unterklappe 
ist der ganze vordere Teil des Tieres von der Berührung mit der 
Außenwelt abgeschlossen. Damit ist aber auch die Funktion der 
beiden Ganglien überflüssig geworden, die sich am vorderen Ende des 
Tieres befinden, d.h. den Zentral- und Pedalganglien. Denn weder 
der Fuß, noch die als Sinnesorgane dienenden Mundlappen, noch 
die Gehörbläschen werden bei einem derartigen Zustande weiter funk- 
tionieren. Wir dürfen daher annehmen, daß in dem Maße, als dieser 
ungewöhnliche Zustand andauerte, auch die beiden Ganglien 
verkümmerten, so daß nur die dritte Gangliengruppe, das 
Visceralganglion, übrig blieb, da dieses nach wie vor die Kon- 
traktion der Siphonen und Schließmuskeln zu regulieren hatte. 

Vergegenwärtigen wir uns jetzt die Organisation des Ru- 
distentieres, so können wir folgendes darüber aussagen. Der Körper 
ist zylindrisch bis sackförmig, mit der Schale auf der Unterlage fest- 
gewachsen. Am oberen Ende sind zwei Öffnungen (Siphonen) im 
sonst rings geschlossenen Mantelsacke vorhanden, eine etwas 
höher gelegene Einströmungs- oder Brachialöffnung und eine etwas 
tiefer gelegene Ausströmungs- oder Kloakenöffnung. Die Kiemen- 
öffnung führt in einen geschlossenen, wahrscheinlich einfachen 
Kiemensack, an dessen unterem Ende Mund und Eingeweidesack 
liegen. Das Kiemenrohr wird allseitig bis auf ein schmales Längsband, an 
dem der Kiemensack festgeheftet ist, von einem Peribranchialraum 
umgeben, in den einerseits das durch die Kiemen getriebene Wasser 
einfließt, andrerseits die Fäces und die Genitalstoffe entleert werden. 
Dieser Raum mündet mit der Kloakenöffnung nach außen. Die 
Außenwand des Peribranchialraums wird von dem rings geschlossenen 
Mantel gebildet, und dieser ist von der Schale umgeben. Es sind zwei, 
der Körperachse parallel laufende, dem Mantel hart anliegende 
oder in ihn eingeschlossene Muskeln vorhanden, abgesehen von feinen 
Muskelzügen, die wohl in der Umgebung der Siphonen im Mantel 
bestanden haben, wie bei anderen siphoniaten Muscheltieren. Wahr- 
scheinlich war nur noch der eine Visceralganglien-Komplex in 
der Nähe der Siphonen vorhanden, da die beiden Körpermuskeln neben 
den Siphonen endigen und somit von demselben Zentrum aus inner- 
viert werden konnten, wie die Siphonen selbst. Der Eingeweide- 
knäuel besteht wie bei den Muscheltieren aus der kurzen Schlund- 
röhre, dem erweiterten Magen und dem langen, zylindrischen, ge- 
wundenen Darm; ferner aus Herz, Niere und den Geschlechtsorganen. 
Ob die Geschlechter getrennt oder vereint waren, ist unsicher; doch 
möchte man glauben, daß die Tiere, wie die ebenfalls festgewachsene 


Rudisten. ılzal 


Auster, Zwitter waren. Die Lebenstätigkeit kann von der anderer 
Muscheltiere nicht wesentlich verschieden gewesen sein. Durch 
Flimmerorgane wird das Wasser und mit ihm die Nahrung einge- 
sogen; diese wird mit Hilfe von abgesondertem Schleim an der durch 
Verschmelzung der Kiemenränder entstandenen Flimmerrinne dem 
Munde zugeführt, während die Flimmerhaare der Kiemen das Atem- 
wasser durch diese hindurchtreiben. 

Wir haben nun noch einige weitere Besonderheiten der Rudisten 
zu besprechen. Zunächst die Schale. Diese ändert im Laufe der 
phylogenetischen Entwicklung nicht nur ihre Form, sondern auch die 
Struktur unterliegt einer Änderung. Wenig bedeutsam erscheint 
dabei die Tatsache, daß bei den Radiolitiden die Prismen hohl 
werden und damit das Volum der Schale erheblich wächst, denn 


= SEA Hr Fr m 
Tr Fett nn = 
: HH H n 


IE his 


ann E ! 1a | E 
oe nk 


Fig. 101. Schale von Joufia (Familie Radiolitiden) im Querschnitt. Das Tier darin 
rekonstruiert. R rechte, L linke Klappe (etwas abgehoben); m vorderer, n hinterer Schließ- 
muskel; m%k Mantelkragen zwischen den beiden Klappen; mf die davon in die Unterklappe 
ausgehenden Fortsätze; Is Kiemensipho; es Kloakensipho. (Nach SNETHLAGE.) 
etwas ganz ähnliches findet sich auch bei dicken Austernschalen, 
2. B. bei Gryphaea vesiceularis aus der Oberkreide, wieder. Dagegen ist 
ein anderes Merkmal bedeutungsvoller. Derjenige Teil des Mantels, 
der sich zwischen den beiden Klappen als ein breiter, kragenartiger 
Saum befand (Fig. 101 mk), besaß bei den meisten Rudisten starke 
(refäße, wie wir aus den radial verlaufenden, verästelten Eindrücken 
des Schalenrandes bei Heppurvtes (Fig. 100 A) und Verwandten sehen. 
Wie allgemein bei andauernd festsitzenden Muscheltieren, so begann 
auch bei den Rudisten der Mantelrand zu wuchern und Fortsätze 
zu erzeugen. Diese wuchsen aber nicht, wie bei Chama, Spondylus u.a. 
zu Stacheln frei aus, sondern wucherten, da der Mantelkragen dauernd 
zwischen die Klappen eingeklemmt blieb, in die Schale selbst 
hinein. So entstand eine von Mantelfortsätzen und damit auch von 
Gefäßen durchwachsene Schale (Fig. 101), die bei verschiedenen Gat- 
tungen ein sehr verschiedenes Aussehen erhielt, obgleich der Grund- 
plan der gleiche blieb. Bald sind die Mantelfortsätze einfach und 
zylindrisch,h nur ungleich lang, wie bei gewissen Radiolitiden 


172 Rudisten. 


(Fig. 101), von denen man sie erst in den letzten Jahren kennen 
gelernt hat, bald sind sie ungleich durch Verzweigung im Mantel- 
kragen, im Querschnitt oval oder polygonal wie bei den Capri- 
niden, bald wieder in der Schale gegen die Oberfläche zu sich ver- 
ästelnd, wie bei Hippurites (Fig. 99%’, 100B,C). Meist beschränken 
sie sich auf eine Klappe, bei Caprenula durchziehen sie aber beide. 
Allgemein aber fehlen diese Wucherungen den älteren jurassischen 
Vorläufern, häufig erscheinen sie erst in der oberen Kreide und hier 
in fast allen Familien. Diese Erscheinung des Hineinwachsens der 
Mantelfortsätze in die Schale steht in der Molluskenwelt ganz ver- 
einzelt da. Ebenso fremdartig ist ein anderer Vorgang, der zwar 
weniger allgemein auftritt, aber um so häufiger wird, in je jüngere 
Schichten wir die Pachyodonten verfolgen. Wir kennen ihn aus 


Fig.103. Ein koloniebildender Sphaerulites aus der Oberkreide von der Seite und von oben. 
Deckelklappen nicht erhalten. (Nach D’ORBIGNY.) 


den beiden großen Familien der Hippuritiden und Radiolitiden; 
er ergreift in beiden nur einen Teil der Vertreter. Ich habe ihn 
schon vor einigen Jahren registriert, aber niemand hat darauf ge- 
achtet — die Koloniebildung durch Knospung. 

Die jugendlichen Tiere der Rudisten setzen sich schon früh auf 
irgendeinem fremden Gegenstande fest, auf einem Gesteinsfragment, 
oder auf dem Bruchstück einer Schale oder dergl. Zuweilen sieht 
man auch auf einer Rudistenschale junge Tiere der gleichen oder einer 
anderen Art angesiedelt; sie sitzen dann natürlich an einer beliebigen 
Stelle, zumeist am tieferen Teile der Schale und in beliebiger Richtung 
dagegen geneigt. Andrerseits findet man aber sowohl bei manchen 
Arten der Hippuritiden als auch bei Radiolitiden eine geringere 
oder größere Anzahl von Individuen gesetzmäßig aneinander ge- 
wachsen unter schwacher Divergenz ihrer Körperachsen, ähnlich wie 
die Kelche einer Korallenkolonie (Fig. 102). Ihre Oberränder liegen 


Rudisten. 173 


wie dort in einer ebenen oder etwas gekrümmten Fläche, und die 
Länge der einzelnen Individuen zeigt eine gesetzmäßige Abstufung; 
auch gehören alle Individuen einer und derselben Art an. In 
anderen Fällen stehen die Tiere von ungefähr gleicher Länge neben- 
einander (Fig. 105). Wir haben es also mit Kolonien zu tun, die 
durch Knospung aus einem Mutterindividuum hervorgegangen 
sind. Auch diese Änderung der Fortpflanzung bildet sich erst bei 
den jüngsten Vertretern in Oberkreide (Turon und Senon) heraus, und 
zwar wie die Durchwachsung der Schale unabhängig in verschiedenen 
Familien und Gattungen und bei verschiedenen Arten derselben, bei 
größeren und bei kleineren, bei gerippten und bei ungerippten. 
Über die Lebensweise und die geologische Verbreitung der 
Pachyodonten wäre nachfolgendes zu berichten. Die älteren Ver- 
treter kennen wir nur als Riffbewohner. Sie finden sich entweder in 
Korallenkalken oder in kalkigen Sedimenten von riffartigem Charakter, 
deren Entstehung zwar noch strittig ist, wie die der triadischen Riff- 
kalke, die aber jedenfalls als Flachwasserabsätze zu betrachten sind. 
Aber schon in Trias und Lias treten sie vereinzelt in mergeligen 
Gesteinen auf, und in der Kreide trifft man sie teils in koralligenen 
Kalken, teils in mergeligen oder kalkigen Lagen, die in wenig tiefem 
Meer entstanden und oft mit korallenführenden Schichten eng ver- 
knüpft sind, teils aber auch in sandigen oder gar konglomeratischen 
Absätzen. Ausnahmsweise kommen sie auch in Absätzen aus etwas 
tieferen Meeren (Schreibkreide) vor. Vielfach leben sie gesellig, setzen 
oft ganze Gesteinslagen allein zusammen und müssen daher wie ein 
Rasen den Meeresboden bekleidet haben. Sie sind vielfach nur in 
der Jugend festgeheftet gewesen, später scheinen sie oft auf dem 
Boden frei aufgelegen oder teilweise im Schlamme vergraben gewesen 
zu sein. Das gilt besonders für die kleinen, koloniebildenden Formen. 
Die Größe der Schalen wechselt in weiten Grenzen. Neben lang 
röhrenförmigen Schalen von fast 1 m Länge kommen auch gedrungene 
Gestalten von 20—30 cm Querdurchmesser vor. Sie sinken aber auch 
bis zu minimaler Größe von etwa 1 cm herab. Da aber die Schale, 
wie schon bemerkt, sehr voluminös ist, und da das Tier in der Schale 
häufig in die Höhe wächst und den verlassenen Teil der Schale 
durch Scheidewände abkapselt, so gibt die Schale nicht ohne weiteres 
eine richtige Vorstellung von der Größe des Tieres; der von diesem 
eingenommene Schalenraum übersteigt auch ber den größten Arten 
kaum die Größe einer Faust und sinkt bei den kleinsten Arten zur 
Größe einer Bohne oder Erbse herab. Soweit wir die Pachyo- 
donten in ihrer phylogenetischen Entwicklung verfolgen können, 


174 Manteltiere. 


nehmen sie ständig an Formenreichtum zu. In der oberen Kreide 
zählt man gegen 20 verschiedene Gattungen; würde man aber die 
koloniebildenden Formen als getrennte Gattungen behandeln, so wäre 
ihre Zahl noch größer. Sie sind während der Oberkreide in einem 
breiten Gürtel der Nordhalbkugel, der etwa zwischen dem 15° und 60° 
gelegen ist, weit verbreitet, kommen vereinzelt aber auch auf der 
Südhalbkugel vor. Sie erfüllen mancherorts noch die jüngsten Kreide- 
schichten Europas in großen Mengen. Aus tertiären Schichten sind 
mehrmals Rudisten erwähnt worden, ihr Auftreten erscheint aber 
nicht sicher gestellt. Lebende Vertreter kennt man nicht. 

Angesichts des sich stetig in aufsteigender Linie bewegenden 
Entwicklungsganges des Pachyodontenstammes und seiner ungemein 
reichen Entfaltung in der Kreide erscheint es aus geologischen Grün- 
den ganz und gar unbegreiflich, daß alle seine Vertreter mit dem 
Ende der Kreidezeit vollständig aus der Schöpfung verschwanden. 
Nichts deutet auf ihren bevorstehenden Untergang, vielmehr sollte man 
erwarten, daß sie auch fernerhin gleich gut oder gar noch üppiger 
gediehen wären. Kein geologischer oder biologischer Vorgang läßt 
sich ausdenken, der sie vernichtet haben könnte, und da wir zur Er- 
klärung ihres Verschwindens zu keiner Annahme greifen wollen, die 
außerhalb des natürlichen Geschehens liest, so müssen wir die Frage 
aufwerfen: sind sie wirklich ausgestorben, oder leben sie etwa in ab- 
geänderten Formen weiter? Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß 
letzteres zutrifft. 

7. Manteltiere. Bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhun- 
derts hat man allgemein die Manteltiere oder Tunicaten zu den 
Weichtieren gerechnet und zusammen mit Lamellibranchiaten 
und Brachiopoden (oder auch noch mit Bryozoen) in der Abtei- 
lung der kopflosen (Acephala) vereinigt. Das war die Auffassung 
aller hervorragender Zoologen (TroscHEr, Acassız, BRoNN) zur Zeit, 
als Darwıss Entstehung der Arten erschien. Niemals hatte bis 
dahin jemand daran gedacht, die Manteltiere mit den Wirbel- 
tieren in irgendwelche Beziehung zu bringen, oder wenigstens in 
andere, als die Mollusken überhaupt. Die Organisation des fertigen 
Tieres bot ja auch nicht den geringsten Anlaß dazu. 

Erst nachdem der Embryonalentwicklung der Manteltiere eine 
vorher nicht bekannte Bedeutung zugelegt war, insbesondere durch 
die Arbeiten von KowaLewsky, erschienen sie plötzlich in einem 
ganz neuen Lichte, als Verwandte der Wirbeltiere, als Chor- 
daten. Diese Auffassung hat sich im Laufe der Jahre immer mehr 
befestigt, ohne daß aber eine Einigung darüber erzielt worden wäre, 


Manteltiere. 175 


wie dieses Verhältnis im besondern zu denken sei. Zwar erhob ein 
hervorragender Forscher, K. E. v. BAER, noch dicht vor seinem 
Tode (1873), laut Protest gegen die Chordaten-Natur und trat für 
die ältere Auffassung ein. Aber dies blieb in einer Zeit der Über- 
schätzung der Ontogenie ohne Wirkung und muhte es wohl auch 
deshalb bleiben, weil v. Barr seinen Vergleich mit den Muschel- 
tieren nicht einwurfsfrei durchführen konnte. 

Wenn ich jetzt im Anschluß an den besprochenen Entwicklungs- 
gang der Rudisten die Manteltiere mit ihnen vergleiche, so sehe 
ich vorläufig von den ontogene- 
tischen Verhältnissen ganz ab und 
fasse nur die fertigen Tiere ins 
Auge. Von den drei gewöhnlich 
unterschiedenen Abteilungen: A s- 
cidien, Appendicularien und 
Salpen kommen zunächst nur die 
erstgenannten in Frage. 

Die Gesamtorganisation 
der Ascidien weicht von der 
der Rudisten, wie wir sie ge- 
schildert haben, in keinem ein- 
zigen wesentlichen Punkte 
ab. Sie sind meist festgewachsen, 
selten stecken sie frei im Schlamm 
oder bilden schwimmende Kolo- 
nien. Es gibt Einzeltiere und 
Kolonien. Die Größe der Indi- 
viduen schwankt etwa zwischen Fig. 104. Schema der Organisation einer 


; . einfachen Ascidie. (Nach HERDMAn.) 
der einer Faust und eines Steck- Schale und Kiemen z. T. entfernt. ti Testa; 


nadelkopfs. Sie leben meist im dg’ Blutgefäße darin; m Mantel; bg Blut- 
Beeren eremrelt lauchein SEC darin; pb Peribranchialraum ; ks er 
l mensipho; te Tentakel; es Kloakensipho ; 
der Tiefsee. Der sackförmige a After; ov’ Ovarialöffnung; k Kiemenac 
Körper (Fig. 104) besitzt an sei- A Eu ee Bon 
nem oberen Ende zwei Siphonen, 
einen Kiemensipho (ks), und dieser steht bei zylindrischen Formen 
immer etwas höher als der andere, der Kloakensipho (cs). Durch 
ersteren strömt das Wasser in den weiten Kiemensack, passiert die 
gitterförmig durchbrochenen Kiemen (k), die nach Art der Blätterkiemen 
der Muscheltiere gebaut sind, und gelangt so in den Peribranchialraum 
(pb) und durch diesen aus dem Kloakensipho (cs) heraus. Die Nah- 


rung wird, wie bei den Muscheltieren, mit Schleim vermischt dem 


176 Manteltiere. 


Munde (o) zugestrudelt, der sich samt dem Eingeweidesack am 
unteren Körperende befindet, wie bei den Rudisten. Die Organe 
des Eingeweidesackes unterscheiden sich von denen der Muscheltiere 
nur dadurch, daß sie etwas einfacher sind: eine kurze Schlund- 
röhre, ein erweiterter Magen (st) und ein langer, gerundeter Darm 
(d), der in den Peribranchialraum (p5) mündet. Herz (A), zwitterige 
Geschlechtsorgane (ov), Leber — nichts ist vorhanden, das nicht 
auch den Muscheltieren zukäme und bei diesen auch ganz ähnlich 
gelagert und gestaltet wäre. Die Hypobranchialrinne (oder Endo- 
styl, en) aber liegt genau zum Kiemensacke, wie die beiderseitigen 
Kiemenrinnen der Muscheltiere, wenn wir sie durch Verwachsung der 
zwei entsprechenden Kiemenblätter vereinigt denken, wie ich, das 
für die Rudisten als wahrscheinlich ausgeführt habe. Der einzige 
Ganglienkomplex (g) liegt dort, wo sich bei den Muscheltieren das 
Viszeralganglion findet. Es läßt sich also nicht leugnen, daß die 
Lebenstätigkeit einer Ascidie von der eines Muscheltieres überhaupt 
nicht, und die Gesamtorganisation nur insofern abweicht, als sie 
etwas einfacher ist, und daß die vorhandenen Unterschiede 
sich leicht begreifen als Reduktionen, die durch dauerndes 
Festwachsen des Tieres entstanden sind. Die unbedeutenden Lagen- 
veränderungen des Eingeweidesackes erklären sich durch die Drehung, 
die das Tier der Rudisten erfahren hat, die Verwachsung des 
Mantels und der Kiemen aber ungezwungen aus der Lebensweise 
wie bei anderen Muscheltieren. Von den Rudisten konnten wir nun 
aber aufzeigen, wie sie durch langsame, immer in gleichem Sinne 
gesteigerte Veränderung ihrer Lebensweise sich der Ascidien- 
Organisation allmählich angenähert haben (S. 169 ff.), und wie sie am 
Ende der Kreidezeit von diesen kaum wesentlich verschieden gewesen 
sein können, abgesehen von dem Besitz einer Schale. Es hatte sich 
ferner gezeigt, daß die bei höher organisierten Wirbellosen fast 
einzig dastehende Art der ungeschlechtlichen Fortpflanzung (Kno- 
spung) der Ascidien sich in der gleichen Weise schon bei den 
Rudisten ausgebildet hatte. 

Sehr wichtig für die Entscheidung der Frage, ob die Ascidien 
in der Tat von den Rudisten abgeleitet werden können, ist das 
Verhalten der Muskulatur. Bei der Behandlung der Ascidien in 
zoologischen Lehr- und Handbüchern bleibt meist die Tatsache un- 
betont, daß namentlich bei einfachen und durchscheinenden Formen, 
wie Cione intestinalis aus dem Mittelmeere, zwei stärkere Muskel- 
bündel beobachtet werden können, die parallel der Körperachse 
im Mantel verlaufen. Vergleicht man eine Ascidie mit einem 


Manteltiere. BT. 


normalen, zweimuskeligen Muscheltiere, dessen Vorderteil nach unten 
gekehrt ist, so bleibt trotz aller sonstigen Übereinstimmungen in der 
Organisation der Unterschied bestehen, daß beim Muscheltiere die 
Schließmuskeln senkrecht zur Körpermittelebene stehen, 
bei der Ascidie dagegen parallel dazu. Nun hat uns aber der 
phylogenetische Entwicklungsgang der Rudisten gezeigt, daß durch 
die allmähliche Änderung der Lage des Tieres zu den beiden Schalen- 
klappen und Muskeln auch hier das Tier mit seiner Körperachse 
schließlich parallel zu den Schließmuskeln zu liegen kommt, 
wie es bei der Ascidie der Fall ist. Wir haben daher in diesem 
Merkmale einen ausgezeichneten Prüfstein für die Richtigkeit der 
hier versuchten Ableitung. 

Es erübrigt uns noch, den auffälligsten Unterschied zwischen 
Muscheltieren und Ascidien zu besprechen, die Körperhülle. 
Man hat die Ascidien früher mit Recht schalenlose Weichtiere 
genannt, denn trotz aller Ähnlichkeit mit den Muscheltieren geht 
ihnen das nie fehlende Merkmal der Muscheltiere, die zweiklappige 
Kalkschale, ab. Aber die Tunika oder der »Mantel«, der das 
Tier umkleidet, zeigt doch insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit der 
Körperhülle der Muscheltiere, als er aus zwei getrennten Teilen be- 
steht, einer äußeren, nicht muskulösen, der tunica externa, 
und einer inneren, muskulösen, der tunica interna. Die 
erstere (testa) hat man mit der Schale der Mollusken, die innere 
mit dem Mantel verglichen und in Parallele gestellt. Aber abge- 
sehen davon, daß das Material der äußeren Hülle bei beiden Gruppen 
verschieden ist, bei den Muscheltieren eine Kalkschale mit Oon- 
chiolin, bei den Manteltieren eine der Cellulose sehr ähnliche Sub- 
stanz, besitzt auch die testa der Ascidien einen eigentümlichen Bau. 
Sie besteht nicht ausschließlich aus einer toten Absonderung des Tieres, 
sondern ihre homogene Grundmasse, die wir mit ihren Fasergebilden 
und gelegentlichen mineralischen Einlagerungen dem toten Gebilde 
einer Muschelschale wohl vergleichen können, wird von Zellen und 
verzweigten Gefäßen durchsetzt, die von der inneren, dem 
Mantel der Muscheltiere vergleichbaren Lage in sie eindringen. 
Wie harmoniert diese eigenartige Bildung mit der Organisation der 
Muscheltiere? Vom normalen Muscheltier aus läßt sich freilich 
keine Brücke hierzu schlagen, wohl aber von Rudisten aus. Denn 
wir haben ja gesehen, daß sich bei diesen zur Kreidezeit in ver- 
schiedenen Familien unabhängig ein ganz ähnliches Verhalten zwi- 
schen Mantel und Schale anbahnt, indem der gefäßreiche Mantel 
mit einfachen oder verzweigten Fortsätzen in die Schale hineinwächst. 


Steinmann, Abstammungslehre. 12 


178 Manteitiere. 


Um also die eigenartige Organisation der testa der Manteltiere zu 

egreifen, brauchen wir nur anzunehmen, daß der bei den Rudisten 
eingeleitete Vorgang, die Durchwachsung der Schale durch Mantelfort- 
sätze, nach der Kreidezeit noch weiter vorgeschritten ist und schließ- 
lich zum Verluste der Schale geführt hat. Derartige Durch- 
wachsungen oder Umwachsungen der Schalen oder der Skelette 
führen ja, wie ich früher (S. 69 ff) dargelegt habe, auch in anderen 
Tierklassen vielfach zu einer Rückbildung und schließlich zum voll- 
ständigen Schwinden der mineralischen Hartgebilde; es entsteht da- 
bei entweder eine Hülle oder ein Skelett aus rein organischen Aus- 
scheidungsprodukten, wie Chitin, Spongin, Conchiolin, oder dieses ist 
mit den Resten der mineralischen Hülle oder des Skeletts in der 
Form von Nadeln, Kugeln, Plättchen oder unregelmäßig geformten 


Fig. 105. Kalknadeln aus der Testa einer einfachen Ascidie (Cynthia), stark vergrößert. 
Fig. 106. A, C Kalksterne aus der Testa einer zusammengesetzten Ascidie (Leptoclinum). 
B Ein Stück des Mantels (m) und der Testa (t) derselben Gattung. (Nach HERDMAN.) 


Körperchen durchsetzt. Wenn wir uns also die testa der Ascidien 
als ein derartiges Umwandlungsprodukt der Muschelschale denken, 
so bleiben wir ganz im Rahmen unserer sonstigen Erfahrungen über 
die Umbildung der mineralischen Hartgebilde, und nur die Tatsache 
wäre bemerkenswert, daß in diesem Falle eine celluloseartige Sub- 
stanz übriggeblieben wäre, die sonst im Tierreiche nur gelegentlich 
und spärlich auftritt, während sie im Pflanzenreiche bekanntlich all- 
gemein verbreitet ist. Es darf hierbei aber nicht unvermerkt bleiben, 
daß die hornige Epidermis des Mantels von Oynthia microcosmus 
fast ausschließlich aus einer stickstoffhaltigen Substanz, ähnlich dem 
Conchiolin der Mollusken, besteht. Falls noch Reste der ursprüng- 
lichen Schalenmasse in der testa erhalten wären, dürften wir er- 
warten, daß sie in ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften 
mit denjenigen anderer Mollusken übereinstimmten, d. h. daß sie 
aus feinstrahligem Kalkkarbonat beständen und die Form von 


Manteltiere. 179 


Nadeln, Stäbchen oder Kugelsternen u. dgl. besäßen. Auch diese 
Voraussetzung trifft zu. Denn bei den koloniebildenden Synas- 
cidien sind kleinere Kugel- oder sternförmige Kalkkörper (Fig. 106) 
in der testa häufig und oft auch massen- 
haft vorhanden, und von einfachen As- 
cidien kennt man ähnliche, mehr nadel- 
(Fig. 105) oder netzförmige Kalkbildungen 
(Fig. 107), wie sie ähnlich auch bei Brachio- 
poden vorkommen. Die Formähnlichkeit 
mit den Schalenrudimenten bei Mollusken, 
z. B. bei den Pleurobrancheen (vgl. 
Fig. 18, S. 76) unter den Schnecken ist 
zuweilen überraschend groß; auch bestehen 
sie wie dort aus feinstrahligem Kalkkarbo- mie 107% Nerzweiste Kalkeld 
nat mit organischer Grundlage. Wenn mente aus dem Mantel einer ein- 
ö . © fachen Ascidie (Culeolus), stark 
also etwas geeignet ist, die Molluskennatur \ersrößert. (Nach Hurvarax.) 
der Ascidien zu stützen, so ist es diese 
Übereinstimmung, denn derart gebaute und zusammengesetzte Skelett- 
rudimente finden sich außer bei Mollusken nur noch bei niederen 
Wirbellosen, z. B. bei Öoelenteraten, nirgends aber im Bereiche 
der Chordaten oder der gegliederten Wirbellosen. 
Schließlich möge noch eine abweichende Gestalt unter den As- 
eidien kurz besprochen werden, die uns zeigt, wie durch die Ablei- 
tung von den Rudisten sonst schwer begreifliche Eigentümlichkeiten 
leicht verständlich werden. Die Gattung Rhodosoma Ehrb. (— Chevreu- 
lius Lac. Duth. — Fig. 108), eine im Mittelmeere und im Chinesischen 
Meere verbreitete Gattung, weicht bei sonst gleicher Gesamtorganisa- 
tion von allen anderen Ascidien dadurch ab, daß ihre feste, 
nicht kontraktile testa das Tier nicht als einfache, sack- 
förmige Hülle umkleidet, sondern daß sie aus zwei Klappen 
(A) besteht. Die größere (X) ist sackförmig und festgewachsen; mit 
ihr artikuliert eine kleinere, platte Deckelklappe (X’) längs eines ge- 
raden Randes (x). Bei geöffneter Deckelklappe (BD) werden die beiden 
Siphonen (ks, cs) sichtbar. Zwei Schließmuskeln (m, n) dienen zum 
Schließen, während das Öffnen, ähnlich wie bei Muscheln, durch die 
elastische Beschaffenheit der Schale bewirkt wird. Hier hat sich 
offenbar ausnahmsweise eine Einrichtung epistatisch erhalten, die bei 
den älteren Rudisten die Regel war, auch bei den Formen aus der 
jüngeren Kreidezeit noch mehrfach vorkam, während bei der Mehr- 
zahl der jüngeren Rudisten die Deckelklappe nicht mehr aufge- 
klappt werden konnte, sondern nur ein wenig abgehoben und seitlich 
12* 


180 Manteltiere. 


verschoben wurde. Die Zweiklappigkeit, die Art des Schalenschlusses 
und die scharfe Trennung des Mantels von der testa bei Rhodosoma 
mit dem Verhalten einer anderen Tiergruppe als der Muscheltiere 
überhaupt nur vergleichen zu wollen, erscheint mir ganz und 
gar unzulässig, so vollständig ist die Übereinstimmung. Sie erstreckt 
sich sogar auf Einzelheiten, z. B. zerteilt sich bei den Rudisten 
der vordere Schließmuskel in zwei weit voneinander abstehende 


Fig.108. Eine Ascidie mit zweiklappiger Schale — Rhodosoma callense Lac.-Duth. Mittel- 
meer. (Nach LAcAzE-DUTHIER und HELLER.) A Die zweiklappige Schale ohne das Tier, ge- 
öffnet, von der Seite gesehen. B Das Tier in der aufgeklappten Schale, von der Kiemenseite. 
Der Mantel ist aufgeschnitten, so daß der Kiemensack (k) sichtbar wird. C Das Tier ohne 
die Schale von der Intestinalseite. D Die Deckelklappe mit den Muskelansätzen. 
K große festgewachsene, K’ kleine bewegliche Klappe; x Scharnier; %k Kiemensack; 
m, m, vorderer, n hinterer Schließmuskel oder deren Anheftestellen; cs Kloakensipho; 
ks Kiemensipho; d Darm; a After; o Mund; st Magen; ov Eierstock. 


Stränge (vgl. Fig. 100 A m, m,, S. 168). Dasselbe trifft für Rhodosoma 
zu, wie Hrıuer nachgewiesen hat (Fig. 108 D m, m,). Ich komme 
daher zu dem Schlusse: Rhodosoma ist eine epistatische Form, 
»ein lebendes Fossile«. 

Unser Vergleich der Ascidien mit den Rudisten liefert somit 
folgende Ergebnisse. Die gesamte Organisation der Ascidien 
im erwachsenen Zustande, ebenso aber auch gewisse Ein- 
zelheiten, (die man zwar meist als wenig bedeutungsvoll einschätzt), 
lassen sich vollständig begreifen, wenn man sie als schalen- 
lose, oder nur noch mit Schalenrudimenten versehene 
Nachkommen der Rudisten betrachtet, denn die phylo- 
genetische Entwicklung der Rudisten hatte als ein natür- 
liches Ergebnis der andauernden festsitzenden Lebens- 
weise schon am Ende der Kreidezeit eine Organisation 
gezeitigt, in der alle Eigentümlichkeiten der Ascidie mehr 
oder minder ausgesprochen enthalten waren. Denken wir uns 


Manteltiere. 181 


den Entwicklungsgang der Rudisten in der einmal eingeschlagenen 
und schon lange konstitutionell gefestigten Richtung weiter fortge- 
gesetzt, im besonderen die Mantelfortsätze die Schale in immer aus- 
gedehnterem Maße durchdringen, so daß diese schließlich zerfällt und 
an ihrer Stelle eine Zellulosehülle mit Kalkkörperchen tritt, so kann 
das Ergebnis nur ein Tier von der Beschaffenheit einer Ascidie 
sein. Denken wir uns ferner die bei den Rudisten schon mehr- 
fach eingetretene Koloniebildung sich noch auf weitere Formen aus- 
dehnen, den zur Kreidezeit bestehenden Formenreichtum nicht ver- 
mindert, eher noch etwas vergrößert, die Liebensgewohnheiten der 
Rudisten (überwiegend Flachsee-, vereinzelt Tiefseebewohner) bei- 
behalten, so resultieren daraus ebenfalls alle die entsprechenden Ver- 
hältnisse, wie sie den heutigen Ascidien zukommen. Selbst die 
Größenverhältnisse der Tiere bewegen sich ziemlich genau in den- 
selben Grenzen, wie bei den Rudisten. Daß wir über den Um- 
bildungsvorgang von Rudisten zu Ascidien, der im wesentlichen 
in den Beginn der Tertiärzeit gefallen sein muß, nicht genauer unter- 
richtet sind, kann nicht verwundern, auch nicht als begründeter Ein- 
wurf gegen unsere Annahme gelten. Denn wenn die Schalen zer- 
fallen, werden sie höchstens noch bruchstückweise überliefert und 
schwer als solche erkannt, und der Zeitraum, in dem sich die Um- 
wandlung abgespielt hat, war ja, wie schon ausgeführt, für die palä- 
ontologische Überlieferung von Meerestieren wohl der ungünstigste 
im ganzen Laufe der Erdgeschichte seit der Silurzeit. 

Wie hoch sollen wir nun gegenüber diesen mannigfachen und 
zum Teil überraschend engen Beziehungen der Ascidien zu den 
Rudisten die ontogenetischen Erscheinungen bei den Ascidien 
bewerten? Diese haben bekanntlich zu einer ganz abweichenden Auf- 
fassung geführt. Wenn auch heute die verwandtschaftlichen Be- 
ziehungen der Tunicaten zu den Wirbeltieren meist nicht mehr 
so enge gefaßt werden wie früher, und sie vielfach nicht mehr mit 
den Wirbeltieren zu Ühordaten vereinigt, sondern mit anderen 
Tiergruppen zusammen den Würmern angehängt werden, wie es auch 
in der neuesten Auflage von Hrrrwıss Lehrbuch der Zoologie (1907) 
geschieht, so werden doch von den meisten Zoologen gewisse genetische 
Beziehungen zu den Wirbeltieren noch als feststehend anerkannt. 
Zwischen dieser Auffassung und der hier entwickelten besteht aber 
ein unlösbarer Widerspruch. Sind die Ascidien Nachkommen der 
Rudisten, dann kann eine Verwandtschaft mit den Wirbeitieren 
nicht ernstlich in Frage kommen, dann sind die Ähnlichkeiten der 
erwachsenen Ascidie mit dem Wirbeltier nur zufälliger Natur. Die 


182 Manteltiere. 


Lage des »Kiemendarms« und des Herzens ist ja zum mindesten 
ebenso molluskenartig, wie wirbeltierhaft, den Endostyl mit der 
Schilddrüse zu vergleichen, geht aber wohl über das erlaubte Maß 
von Findigkeit hinaus. So sagt auch GorrtTE: »Die Chordatenmerk- 
male sind nur in den Larven sichtbar. «< Die Bedeutung des Larven- 
schwanzes der Ascidien für einen Vergleich mit den Wirbeltieren 
wird nicht gerade erhöht durch die Tatsache, daß dieses Organ, 
ebenso wie die sogenannten Sinnesorgane gar nicht bei allen Ver- 
tretern angelegt werden, z. B. nicht bei Molgula. Hier gleicht vielmehr 
die Larve im wesentlichen dem erwachsenen Tier. Wenn also nur 
die Entwicklung dieser Gattung bekannt wäre, würde kaum jemand 
auf den Gedanken kommen, die Ascidien mit Wirbeltieren zu ver- 
gleichen, wie das auch keinem Forscher in den ersten zwei Dritteln 
des vorigen Jahrhunderts beigefallen ist. Aber über die Deutung 
und Bewertung der geschwänzten Larven der Ascidien und des 
Schwanzabschnitts der Appendicularien gehen auch heute die 
Meinungen der Zoologen recht weit auseinander. So entsprechen 
nach SEELIGER (1900) die »Segmentgrenzen« der die »chorda« be- 
gleitenden Muskelbänder bei App., die erst nach dem Tode durch 
starke Reagentien entstehen, nur den Grenzen der Muskel- 
zellen; eine typisch segmentale Gliederung des Nervensystems ist 
bei den App. nicht vorhanden. Es fehlt ferner allen App. ein der 
Leibeshöhle der Vertebraten vergleichbarer Raum und die Sonderung 
des Darmes in ein inneres und äußeres Blatt. Dieser Gegensatz im 
Verhalten des Coeloms und Mesoderms bei Vertebraten und 
Copelaten scheint mir so bedeutungsvoll zu sein, daß sich da- 
durch der Versuch von vornherein verbietet, die einzelnen Abschnitte 
des Ruderschwanzes der App. mit den Ursegmenten von Amphrioxus 
und der übrigen Wirbeltiere zu homologisieren. Mit LEevkgrE und 
RANKEN vertritt SEELIGER die Ansicht, daß das Verhalten der Mantel- 
tiere auch nicht als eine Rückbildung aus einem höher segmentierten 
Vorfahrenstadium erklärt werden könne, vielmehr ziele die phyloge- 
netische Entwicklung der App. dahin, erst einen Kaudalschwanz 
zu schaffen, der in gleichmäßigen Abständen wohl differenzierte, 
vielzellige Ganglien trägt. >Sind die App. und damit auch die 
Tunicata als ursprünglich ungegliederte, eine enterocoele 
Leibeshöhle entbehrende Formen erwiesen, so können die Beziehungen 
zu den Wirbeltieren keine so innigen sein, als man gewöhnlich an- 
nimmt...... Die letzten gemeinsamen Vorfahren dieser beiden Tier- 
stämme müssen daher noch ungegliedert gewesen sein und eine so 
einfache Organisation besessen haben, daß der Wirbeltiertypus in 


Manteltiere. 183 


ihr höchstens erst angedeutet, keineswegs aber bereits vollkommen 
entwickelt gewesen sein konnte.« Dieses Ergebnis deckt sich fast 
vollständig mit der Vorstellung, zu der uns die Ableitung aus den 
Rudisten führt: Die scheinbaren Ähnlichkeiten der Ascidien 
(und der App.) mit den Wirbeltieren sind erst sekundär ent- 
standen als eine Anpassung an die schwimmende Lebens- 
weise; sobald diese aufhört, verschwinden auch alle Be- 
ziehungen zu den Wirbeltieren. 


Lassen sich nun auch die Ascidien als die umfangreichste Ab- 
teilung der Manteltiere ungezwungen als schalenlose Muscheltiere und 
als Nachkommen der Rudisten deuten und damit unserem Verständ- 
nis erheblich näher rücken, so scheint die gleiche Art der Ableitung 
doch für die Salpen und Appendicularien unmöglich zu sein. 
Sie sind zwar auch »Manteltiere<, aber die Form ihrer Kiemen, die 

Lage und Beschaffenheit der Muskulatur u. a. m. unterscheiden sie so 
grundsätzlich von den Ascidien und Muscheltieren, daß ihr Ursprung 
in einer anderen Tiergruppe gesucht werden muß. Auch gibt es 
in bezug auf diese Merkmale keinen Übergang von ihnen, weder zu 
den Ascidien noch zu irgendwelchen lebenden oder fossilen Muschel- 
tieren. Ihre wichtigsten Merkmale sind nämlich folgende: 

Die Kiemen bilden nie einen Sack, sondern sie bestehen aus zwei 
symmetrischen, bei Dokolum V-förmig nach hinten eingeknickten 
Spaltreihen oder aus einem mittleren Rohre, das aus der Ver- 
wachsung von zwei symmetrisch gelegenen Bändern entstanden ge- 
dacht werden kann. Sie liegen stets diagonal im Körper (Fig. 110 sp). 
Mit Ausnahme der App. befindet sich stets die Einströmungs- oder 
Kiemenöffnung vorn (Fig. 110e), die Kloakenöffnung hinten (Fig.1107), 
was unter den Ascidien nur bei der etwas abweichenden Pyrosoma 
vorkommt. Siphonen wie bei den Asc. gibt es gar nicht, die Kiemen- 
öffnung ist stets weit, oft quer und zweilippig. Es ist nicht ein 
der Körperache parallel laufendes Muskelpaar vorhanden, sondern 
es findet sich, z. B. bei Salpa (Fig. 110), eine größere Anzahl (d—9) 
von Muskelbögen, die den Körper meist als unvollständige 
Reifen umfassen (a, «', d, d', st), und die zum Teil nach bestimmten 
Stellen der Ober- und Unterseite konvergieren (}a, sf{, st). Ferner 
wird der der Zesta entsprechende Teil der Körperhülle nie von ver- 
zweigten Gefäßen durchzogen, sondern ist nur von einzelnen Zellen 
erfüllt. 

Fragen wir nun, welcher Gruppe von Mollusken-artigen Tieren diese 
Merkmale in derselben Kombination, wenn auch in etwas abweichender 


184 Manteltiere. 


Ausbildung zukommen, so können wir nur an Brachiopoden 
(Fig. 109, 111) denken. Denn diese besitzen auch stets ein Paar 
symmetrisch gestellter, bandförmiger Kiemen, die schräg in den 
vorderen Teil der Mantelhöhle hineinragen (Fig. 109sp). Ihre Schale 
besitzt zwei Öffnungen, eine vordere, breite und quere (v), durch die 


Vergleich der Muskulatur von Brachiopoden und Salpen. 


Fig. 109. Fig. 110. 


Fig. 109. Waldheimia fla- 
vescens Val. Lebend. Au- 
stralien. Längsschnitt, pa- 
rallel und etwas vor der 
Mittelebene. (Nach DAavıp- 
SON aus STEINMANN, Ein- 
führungi.d.Pal.) Fig. 110. 
Salpa democratica in seit- 
licher (links) und ventraler 
Ansicht (rechts). (Nach 
Heerwıc.) Fig.111. Wald- 
heimia flavescens. Lebend. 
Beide Klappen von innen, 
um die Stellung der Muskel- 
ansätze zu zeigen. Kleine Klappe links, große Klappe rechts. (Nach Davıson.) 
Bezeichnungen: a, a’ Schließmuskeln; d, d’ Offnungsmuskeln; st, stm Stielmuskeln ; 
sf Schloßfortsatz, an den sich die Offnungsmuskeln anheften; ö Ausströmungsöffnung ; 
v, e Einströmungsöffnung; da Darm; en Endostyl; sp Kieme; o Mund; stl Stielloch. 


das Wasser einströmt, und am hinteren Ende eine zweite zum Durch- 
tritt des Stielmuskels (st). Denken wir uns das Tier frei werden und 
den Stielmuskel verkümmert, so ist am hinteren Ende eine zweite 
Öffnung vorhanden, durch die das Wasser ausströmen kann, eine 
Kloakenöffnung. Zur Bildung von Siphonen kommt es aber bei den 


Manteltiere. 185 


Brach. nicht, die Kiemenöffnung ist vielmehr quer gerichtet, zwei- 
lippig. Denkt man sich die Muskeln der Brach., die den Mantel- 
raum schräg und etwas gekreuzt durchsetzten (Fig. 109 «a, d, st), an die 
Seite gerückt und einige von ihnen sich zerteilen, so gibt es ein System 
von reifenartig den Körper umspannenden Muskeln, das mit 
dem der Salpen die Eigenart teilt, daß die Muskelbänder meist 
stumpf geneigt zur Körperachse verlaufen und die Ansatzstellen teils 
auf der Bauch-, teils auf der Rückenseite nahe aneinander gerückt sind 
(Fig.109-111 }a, sf{, }st). Bekanntlich bilden die Muskeln der Salpen 
auch keineswegs einen vollständigen Gürtel, sondern sie sind in 
der Mittellinie der Bauchfläche unterbrochen, und auf der Rückenseite 
sind die Enden der Muskelfasern zahnartig ineinander geschoben 
(Bronn 1862), was mit einer Ableitung von den Brach.-Muskeln 
ausgezeichnet harmoniert. Die Schale der Brach. endlich wird sehr 
häufig von Fortsätzen des Mantels durchwachsen, aber diese sind mit 
Ausnahme der Craniaden immer einfach, nie verzweigt. Denken 
wir uns also die Brach.-Schale in ähnlicher Weise in eine Öellulose- 
Hülle umgewandelt, wie die der Rudisten, so werden darin keine 
verzweigten Gefäße, sondern nur isolierte Zellgruppen oder 
Zellen vorhanden sein können. 

Ich beschränke mich auf diese Hinweise, die genügen dürften, 
zu zeigen, daß die Salpen zu den Brachiopoden in einem ganz 
ähnlichen Verhältnis stehen, wie die Ascidien zu den Muschel- 
tieren, und daß man mit etwa gleicher Berechtigung in den Salpen 
schalenlose, abgewandelte Brachiopoden erblicken darf, wie 
in den Ascidien schalenlose Muscheltiere. Es fragt sich nur noch, 
ob sich denn unter den Brach. ebenfalls »ausgestorbene« Formen 
finden, die ähnlich den Rudisten den Anfang zu einer derartigen 
Umbildung erkennen lassen. Wie ich bei der Besprechung der 
Brach. schon angedeutet und durch ein Beispiel belegt habe, lassen 
sich die meisten paläozoischen Familien, Gattungen oder gar Arten 
in jüngere und größtenteils auch in lebende Formen weiter verfolgen, 
sobald man nicht in erster Linie die zur systematischen Einteilung ver- 
wertete Beschaffenheit des Armgerüstes als Unterscheidungsmerkmal 
verwendet, sondern die Gesamtheit der übrigen Kennzeichen. Aber 
ausgenommen davon sind einige Familien, die sich von dem Typus 
z. T. auffallend weit entfernen, und für die wir keine Nachkommen 
aus nachpaläozoischer Zeit namhaft machen können. Dahin gehören 
die Productiden, von noch normaler Gestalt, aber schon früh mit 
zahlreichen und langen Mantelfortsätzen versehen, die hohle Stacheln 
auf der Schale erzeugen (Fig. 112). Ferner die sogenannten Coral- 


186 Manteltiere. 


liopsiden, bei denen sich, ähnlich wie bei den Rudisten, das 
Tier in die untere, stark vergrößerte Schale versenkt (Fig. 113 A, D), 
so daß die andere Klappe nur wie ein Deckel darauf ruht (vgl. Scac- 
chinella, Fig. 113 A). Bei Richthofenia (Fig. 113 C, D) wächst die größere 


78 ei 
Fig. 112. Produetus. Unterkarbon. England. A zeist die langen hohlen Stacheln der 
Schale; B die Muskulatur (d, d’, s, s’) und die diagonale, fast quere Lage der Armkiemen 
(sp—sp'); © die spiralen Eindrücke der Armkiemen (sp’) auf der Innenseite der Rücken- 
klappe; D die nierenförmigen Eindrücke (n) und die Höcker (sp), die von den Kiemen 
auf der Innenseite der Bauchklappe erzeugt werden. (Nach DavıpsonX aus STEINMANN- 
DÖDERLEIN: 'Elem. d. Pal.) 
Klappe auch fest, das Tier scheidet Luftkammerräume unter sich ab, 
und die Mantelfortsätze umhüllen die Klappe, die eine blasige Außen- 
schicht enthält, — alles ähnliche Umbildungen, wie wir sie bei den 
Rudisten kennen lernten. 
Die isoliert stehende Gattung 
Oldhamia endlich besitzt eine 
Deckelklappe, die nicht mehr 
eine geschlossene Platte vor- 
stellt, sondern durch tiefe 
Buchten gelappt, also ge- 
wissermaßen schon in der 
Auflösung begriffen ist. Es 


Fig. 113. A Scacchinella variabilis Gemm. Perm. fehlt bei diesen paläozoischen 
Sizilien. B Scacchinella. Etwas schematisierte { . 


Innenansicht der Rückenklappe. (, D Richthofenia Formen, dieich alsVorfahren ° 


Lawrenciana d.K. Perm. Saltrange, Indien. C Wohn- 
raum der Bauchklappe schräg von oben; D Längs- ö 
schnitt der Bauchklappe, || dem Schloßrande. nicht an eigenartigen Merk- 
a Schloßfeld; ps Deltidium:; r Schloßrand; sp Ein- ei hi ] herei 
drücke der Mundarme; m Mittelleiste; m} Mittel- malen, dıe man als VOrberei- 
furehe zwischen den wulstartigen Stützen (w) des tende Stadien für die Salpen- 
Schloßfortsatzes (f); s, sı Ansatzstellen der Schließ- ET: 
muskeln; k Luftkammern; r blasige Außenschicht; O0Tganısatıon deuten kann. 
kı Kanäle. (Nach GEMELLARO, SCHELLWIEN, WAAGEN So reichten bei den Pro- 
aus STEINMANN: Einf. i. d. Pal.) 3 2 : 
ductiden die sonst frei- 
hängenden Armkiemen nicht nur bis zur Deckelklappe, sondern sie 
hinterließen in dieser auch vertiefte Eindrücke (Fig. 112 sp’), besaßen 
also eine diagonale, fast senkrechte Stellung in der Schale 
(BD sp—sp’), was mit Recht als Vorstufe für das Festwachsen ange- 


sehen werden darf. Die Armkiemen von Scacchinella dagegen sind 


der Salpen bezeichne, auch 


u 


Ammoniten. 187 


ungemein schmal und zart (Fig. 113 B sp) und ähneln in dieser 
Beziehung den schmalen Bandkiemen der Salpen. 

So werden wir zu der Auffassung geführt, daß die Tunicaten 
keine einheitliche Klasse vorstellen, sondern eine Vereinigung von 
Muscheltieren und Brachiopoden, die durch ähnliche Lebens- 
weise ähnliche Umbildungen erfahren haben, i. b. schalenlos ge- 
worden sind. Trotz vieler weitgehender Umwandlungen haben sie 
eine Anzahl von Merkmalen, die ihren mehr oder weniger normal 
beschaffenen Vorfahren zukamen, und die z. T. in den heute lebenden 
Muscheltieren und Brachiopoden noch erkennbar sind, bei- 
behalten. Ist diese Auffassung richtig, dann stehen sie aber in 
keinerlei Beziehung zu Wirbeltieren, und das was man als homologe 
Bildungen bei beiden angesehen hat, beschränkt sich auf zufällige und 
bedeutungslose Ähnlichkeiten. Die fossilen Formen, von denen wir 
sie ableiten, sind dann nicht erloschen, sondern die Rudisten und 
die erwähnten Brachiopoden-Gruppen sind im breiten Strome der 
vorhandenen Familien, Gattungen und vielleicht auch Arten in die 
schalenlosen Manteltiere umgewandelt. Dieser ganze Umbildungs- 
vorgang läßt sich wenigstens bei den Rudisten-Ascidien, deren 
Umwandlung wir besser verfolgen können als die der Brachio- 
poden zu den Salpen und Appendiculariern, als eine notwen- 
dige und gesetzmäßige Folge der schon früh eingetretenen, festsitzen- 
den Lebensweise verstehen. Wir brauchen unsere Zuflucht nicht zu 
irgendwelchen unverständlichen Entwicklungstendenzen zu nehmen, 
um diesen Entwicklungsgang zu begreifen; es genügt dazu die dauernde 
Einwirkung einer frühzeitig eingetretenen, festsitzenden Liebensweise, 
die geführt hat zur Verkümmerung der von der Außenwelt abge- 
schlossenen Organe, zur Verwachsung der dauernd aneinander- 
gefügten Organblätter zu Röhren und zur Durchwachsung der Schale 
vom Mantel aus, zum Verluste derselben und zur Umbildung ihrer 
organischen Grundlage in die cellulose-artige Substanz. Mit anderen 
Worten, die Erklärung, wieviel auch an Einzelheiten noch zu 
ermitteln bleibt, liest in der einfachen Ektogenese (im Sinne 
PLaArtgs), spez. in orthogenetischer und homoeogenetischer 
Umbildung. 

8. Ammoniten. In den Erörterungen über Abstammungslehre wird 
diese Molluskengruppe meist mit Vorliebe beigezogen und in ge- 
wisser Beziehung mit Recht. Denn an Ammoniten haben WaAGEn 
und NEumAYr die vollständigsten Beispiele von allmählichen, über 
längere Zeiträume verfolgbaren Umbildungen aufgezeigt, an ihnen 
konnten sie auch nachweisen, daß die »Gattungen« aus mehreren 


188 Ammoniten. 


Formenreihen bestehen, die, zwar morphologisch einander sehr nahe 
stehend, dennoch längere Zeit hindurch ganz getrennt nebeneinander 
fortleben und dabei gleichsinnig gerichtete Änderungen durchmachen. 

Nach heutiger Auffassung gehören die Ammoniten aber auch zu 
den sonderbaren Tiergruppen, die wie die Pachyodonten nach einer 
unendlich langen, in aufsteigender Linie sich bewegenden Entwicklung 
(am Ende der Kreidezeit) plötzlich ganz und gar verschwinden. Für 
viele Forscher, wie Hyatt, i. b. auch für Zittern (1903) gehört das 
plötzliche Erlöschen »zu den auffallendsten und bis jetzt noch un- 
erklärten Erscheinungen in der Entwicklungsgeschichte der orga- 
nischen Schöpfung«, und »es müssen an der Grenze von Kreide und 
Teritär große und durchgreifende Änderungen in den Existenz- 
bedingungen stattgefunden haben, um eine so blühende und hoch- 
organisierte Gruppe von Tieren nicht nur in Europa, sondern auch 
in den übrigen Weltteilen der Vernichtung zuzuführen«. Von anderen, 
wie Aser, wird die wahrscheinlichste Erklärung für ihren Untergang 
in der »Erschöpfung der Gestaltungsfähigkeit des ganzen Stammes« 
gefunden. Nach meiner Auffassung fällt die erstere der beiden Er- 
klärungen durchaus nicht in den Bereich der Möglichkeit, die letztere 
gehört überhaupt nicht zur Klasse wissenschaftlicher Erörterungen. 
Wie steht es nun mit der dritten, die nach unseren Erfahrungen über 
den Verbleib der Trigonien und Pachyodonten als die nächst- 
liegende erscheinen muß, mit dem Fortleben der Ammoniten inner- 
halb der heutigen Molluskenwelt? 

Die Wissenschaft versteht es oft meisterhaft, die fruchtbarsten 
Ideen für viele Jahrzehnte einzusargen, — ich erinnere nur an 
Lamarcr. Dies Los hat auch die Anregung erfahren, die vor über 
40 Jahren von Suzss ausging, als er auf die merkwürdige Ähnlich- 
keit zwischen gewissen Ammonitenschalen und der Schale der leben- 
den Octopoden-Gattung Argonauta und auf die Möglichkeit gene- 
tischer Beziehungen zwischen beiden Abteilungen hinwies. Ich selbst 
habe vor 20 Jahren auf Grund unserer inzwischen erheblich an- 
gewachsenen Kenntnisse den phylogenetischen Zusammenhang ein- 
gehender zu begründen versucht und damals und später folgendes 
betont: 

Die Schale von Argonauta kann nicht als eine Neubildung ge- 
deutet werden, wie es meist geschieht, denn sie besitzt zahlreiche Merk- 
male, wie sie bei anderen Mollusken immer als das Ergeb- 
nis einer langen phylogenetischen Schalenentwicklung be- 
obachtet werden. Alle Skulpturen beginnen bei den Mollusken 
mit einfachen konzentrischen (queren) oder radialen (spiralen) Rippen, 


Ammoniten. 189 


und diese laufen parallel mit oder senkrecht zu der Richtung des 
Schalenzuwachses.. Nur ganz allmählich lösen sich die Rippen in 
Knoten auf (vgl. Trigonia S. 106), nur nach einer vorausgegangenen 
langen phylogenetischen Entwicklung verschiebt sich die konzen- 
trische Berippung gegen die Zuwachsrichtung und richtet sich spitz- 
winkelig zu ihr, wie wir ebenfalls an den Trigonien (S. 105) sehen, 
und wie es das Fehlen solcher verschobener Skulpturen in allen 
älteren Formationen beweist. Das sind aber bekanntlich die bezeich- 
nenden Merkmale aller Argonauta-Schalen (Fig. 114 A, 5). Ebenso 

Er 


K.Sch. 


Pa 
Fig. 114. Argonauta hians Sol. v. Oweni. Lebend. In- Fig. 115. Argonauta hians 
discher Ozean. A Schale von der Seite; B gegen die Sol. Lebend. Indischer Ozean. 
Mündung gesehen. r Rippen; x Zuwachsstreiffung; A junge Schale mit kegel- 
k Außenknoten; rf Außenfurche; tr Trichterausbuchtung. förmigem Schalenanfang (k). 
A zeigt deutlich die Durchkreuzung der Zuwachsstreifung Bvar.gondola Dillw. fSeiten- 
mit den Rippen. fortsätze der Spiralleiste (2). 

C Schalenanfang. n konkave 

Embryonalfläche; 2 Achsen- 

(Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) leiste. 


sind regelmäßig spiral aufgerollte Schalen, wie sie Arg. besitzt 
(Fig. 114, 115), nie Anfangszustände der Schalenbildung, sondern 
kommen immer nur im Laufe einer längeren Entwicklung zustande, 
wie uns die Stammesgeschichte aller Öephalopoden und Gastro- 
poden zeigt. Es läßt sich weiterhin an dem Jugendzustande der 
Schale von Arg. zeigen, daß sie schon in frühester Jugend gebildet 
wird, wo das Hinterende des Tieres noch konkav ist (Fig. 115 Or), 
also noch ehe das Tier seine großen Rückenarme entwickelt hat; erst 
später legen diese auf die vom Mantel abgeschiedene innere Schale 
eine zweite äußere auf. Auch solche Schalenbildungen sind niemals 
primitiv, sondern entstehen nachweislich immer erst nach einer 


190 Ammoniten, 


längeren phylogenetischen Entwicklung, wie bei Gastropoden und 
Belemniten. Endlich muß hier, wie in anderen ähnlichen Fällen, 
die wichtige Tatsache entsprechend gewertet werden, daß die bei 
der lebenden Arg. vorhandene Formenbreite schon bei den 
Ammoniten der Kreide bestanden hat. Denn es läßt sich ohne 
Schwierigkeiten nach den übereinstimmenden Skulpturen jeder der 
drei großen Arg.-Gruppen eine ganz entsprechende Ammoniten- 
Gruppe zur Seite stellen, und daß das nur für die jüngsten 
Ammoniten (aus der Oberkreide) zutrifft, nicht etwa für ältere aus 
Jura oder Trias, dürfte hier wie bei allen solchen »Zufälliekeiten« nur 
durch Vererbung erklärlich sein. Wenn man aber gegen einen phylo- 
genetischen Zusammenhang zwischen Amm. und Arg. geltend macht, 
daß Arg. der Sipho und die Scheidewände der Amm. fehlen, so 
braucht nur daran erinnert zu werden, daß der Sepienschulp, den 
man doch jetzt allgemein von der mit Sipho versehenen Belemniten- 
schale ableitet, ebenfalls keinen Sipho mehr besitzt, und daß fast 
alle zehnarmigen Tintenfische in ihrem Schulp weder Sipho noch 
Scheidewände mehr erkennen lassen, obgleich doch kaum jemand an 
ihrem Ursprung aus Vorläufern mit gekammerter Schale zweifeln kann. 
Ich beschränke mich hier auf diese Hinweise, die den Nicht-Fach- 
mann genügend informieren dürften, und verweise wegen weiterer 
Einzelheiten auf meine »Einführung in die Paläontologie« (1907). 

Die Frage nach dem Verbleib der Ammoniten scheint mir nach 
diesen Tatsachen nur in dem einen Sinne beantwortet werden zu 
können: sie sind wie so viele andere Gruppen von Kopffüßlern, 
Schnecken und Muscheltieren im Laufe der Zeit schalenlos ge- 
worden und leben mit unverminderter Breite der Stamm- 
reihen in den Octopoden fort. Argonauta aber, eine poly- 
phyletisch entstandene Gattung, ist nur ein Nachzügler im 
breiten Strome dieses Umbildungsvorganges. 

Wenn nun auch bei dieser Deutung der Tatsachen der Ent- 
wicklungsgang der Ammoniten, als phylogenetischer Gesamtvor- 
gang betrachtet, geschlossen erscheint und mit dem Werdegange 
anderer Gruppen von Wirbellosen harmonisch zusammenklingt, so 
klafft doch nach heutiger Auffassung in ihm eine weite Lücke. Zahl- 
reiche Stämme von Goniatiten lassen sich in die triadischen 
Ammonitengattungen hinein verfolgen, und wo das noch nicht ge- 
lungen ist, fehlt uns offenbar nur noch das nötige Material. Aber 
zwischen den Ammoniten der Trias und allen jüngeren be- 
steht ein tiefer Schnitt, der den Entwicklungsgang in diesen 
Zeiten schwer verständlich erscheinen läßt. Zur Triaszeit sind so 


Ammoniten. 191 


ziemlich alle möglichen Formen der Amm. (von den ausgerollten ab- 
gesehen) ausgestaltet worden, glattschalige und rauhschalige der ver- 
schiedensten Art, und immer deutlicher stellt sich heraus, daß diese 
mannigfaltigen Gestalten eine sehr weite Verbreitung in den Trias- 
meeren besaßen und ebenso üppig prosperierten, wie zu irgendeiner 
jüngeren Zeit. Dennoch tritt ein merkwürdiger Vorgang ein. Mehr als 
%,, aller Triasammoniten überdauern diese Zeit nicht, nur eine (oder 
zwei) Familien setzen ohne erhebliche Änderungen, nur weiter diver- 
gierend, in den Jura fort; vielmehr entwickelt sich fast die ganze über- 
reiche Ammonitenfauna jüngerer Zeiten aus einer kleinen, indifferenten 
Ausgangsgruppe (Psiloceras). Im Sinne der üblichen Erklärungen 
müssen also an der Grenze von Trias und Jura ganz ungewöhnliche 
Vorgänge eingesetzt haben, die zur Vernichtung des enormen Formen- 
reichtums jener Zeit geführt haben, oder alle die verschwundenen 
Ammonitenstämme müssen schon von Haus aus den Keim des Todes 
in sich getragen haben, was ja angeblich auch die weitverbreiteten 
Ausschnürungen der Wohnkammer usw. (vgl. S. 11) bekräftigen. Wenn 
es nun wirklich wahr wäre, daß man die jüngeren Amm. von der 
Stammgruppe Psiloceras im Lias ableiten könnte, daß die nötigen 
Übergänge tatsächlich vorlägen, so müßte man mit Recht über dieses 
sonderbare Verhalten der Amm. staunen und nach einer Ursache 
forschen. Das trifft aber wiederum nicht zu. Noch niemand 
hat die Übergänge gesehen, die von der angenommenen flach- 
schaligen und weitnabeligen Stammgruppe zu den eng gerollten und 
z. T. aufgeblähten Gattungen wie Liparoceras, Sphaeroceras, Macro- 
cephalites, Hammaitoceras, Oppelia usw., geschweige denn zu den 
Kreideceratiten hinführen. Vielmehr lösen sich die Ammoniten- 
gattungen des Jura und der Kreide größtenteils einander ab, sie er- 
scheinen zumeist unvermittelt, und wenn wir nach einem wirklich 
passenden morphologischen Anschluß suchen, so müssen wir vielfach 
auf die »ausgestorbenen« Gattungen der Trias zurückgreifen, die 
zwar in ihren Lobenlinien und z. T. auch in ihren Skulpturen viel- 
fach noch weniger differenziert sind, aber deshalb um so eher als 
Vorläufer von jüngeren Formen gelten können. Ich würde daher 
gegenüber der heute supponierten Abstammung z. B. folgende Zu- 
sarmmenhänge vorziehen: 

ra: Jura: 
Juvavites (ContinurundInterrupti), Nachkommen: Macrocephalites. 
Jovites, Halorites, % Sphaeroceras. 
Sagenites, n Liparoceras. 
Tropites (Paulotropites), & Poeceilomorphus. 


192 Nautiloideen. 


Trias: Jura: 
Paratropites (Phoebus-Gr.), Nachkommen: Oppelia, Haugiva. 
Eutomoceras, n Harpoceras (elegans 


usw.). 

Ebenso würde ich den Zusammenhang der Jura- und Kreide- 
gattungen vielfach in anderen Richtungen suchen, als es heute ge- 
schieht, was aber im einzelnen hier nicht gut ausgeführt werden kann. 
Aus einer derartigen Anordnung ergiebt sich aber ein Stammbaum, 
der das Abbild einer geschlossenen Entwicklung vorstellt und dabei 
nur wiederholte Einwanderungen von neuen Gruppen zur Jura- und 
Kreidezeit erforderte aus einem uns jetzt unbekannten (wahrschein- 
lich dem pazifischen) Gebiete, aus dem in denselben Zeiten so 
viele Vertreter anderer Tiergruppen, wie Korallen, Stachelhäuter, 
Muscheltiere usw. hervorgekommen sind. Der Stammbaum würde 
das Aussehen besitzen, das ich ihm in Fig. 37, S. 96 gegeben habe, 
und die heute unterschiedenen Familien und Gattungen würden sich 
darin in der angegebenen Verteilung einfügen. Die Stammesentwick- 
lung der Ammoniten würde sich hiernach in keiner Weise von 
dem Verhalten der Muscheltiere und Schnecken unterscheiden, d. h. 
sie würde eine kontinuierliche, Entwicklung zeigen, der weder ein un- 
verständliches Erlöschen größerer Formenkomplexe, noch eine unbe- 
greiflich explosive Entfaltung (wie zu Beginn der Jurazeit) anhaftete. 

9. Nautiloidea. Es gibt eine große Anzahl fossiler Nautiloideen, 
die schon verhältnismäßig früh, zumeist im Paläozoikum, verschwinden. 
Eine geringere Zahl folgt noch im Mesozoikum nach, und zur mitt- 
leren Tertiärzeit verschwindet auch der letzte Sproß der Clydo- 
nautiliden, Aturia, trotzdem er in allen größeren Meeresregionen 
lebte. Was heute von den einst formenreichen beschalten Nauti- 
liden übriggeblieben ist, beschränkt sich auf zwei Stämme. Der 
eine, durch Naxtzilus pompilius repräsentiert, hat sich seit der Trias 
nicht wesentlich geändert; der andere, dessen Vertreter Nautzlus 
umbiltcatus ist, bestand auch schon zur Triaszeit in ähnlichen 
Formen. 

Suchen wir in Anwendung der früher begründeten Methode, 
nach der bei den Gastropoden und Cephalopoden die jüngeren Ver- 
treter eines Stammes vielfach als schalenlose Formen bestehen, 
unter den heutigen schalenlosen Cephalopoden, im besonderen unter 
den Octopoden, nach einer Gruppe, die sich durch besondere Merk- 
male von dem Gros unterscheidet, und zwar durch Merkmale, die 
auf einen geologisch frühen Verlust der Schale hindeuten, so 
kommen nur die Cirroteuthiden in Betracht. Das ist zwar eine 


3 
Y 
4 
1% 


Nautiloideen. 193 


artenreiche Familie, aber die Tiere scheinen allgemein selten zu sein, 
und dies hängt wohl mit ihrer besonderen Lebensweise auf dem Boden 
der Flachsee oder Tiefsee zusammen. Schon hierin ähneln sie dem 
heutigen Nautilus, dessen leere Schalen ja auch nicht selten gefunden 
werden, während das Tier schwer zu erlangen ist. 

Durch eine Reihe konstanter Merkmale unterscheiden sich die 
Cirroteuthiden von allen übrigen Octopoden: 

Sie besitzen ein Paar kleiner Flossen etwa in der Mitte des 
Leibes; diese sind sehr beweglich und heften sich an eine quere, 
spangenartige Flossenstütze aus Knorpel im Inneren des Mantels. 
Sie können nicht nur von oben nach unten (wie bei den Deca- 
poden), sondern auch von vorn nach hinten bewegt werden. Die 
Arme liegen ganz in einer gemeinsamen Schwimmhaut eingebettet 
und sind nicht nur mit Saugnäpfen, sondern außerdem noch mit ab- 
wechselnd zu den Saugnäpfen gestellten Uirren versehen. Es fehlt 
ihnen ferner der Tintenbeutel, der allen übrigen Cephalopoden zu- 
kommt, sowie die radula. Der Trichter bildet eine geschlossene 
Röhre, wie bei allen Cephalopoden, mit Ausnahme von Nautilus, ist 
aber mit dem Mantel verwachsen. Die Körpermuskeln sind im Ver- 
gleich zu allen anderen Uephalopoden schwach entwickelt. Die zwei 
Kiemen sind eigenartig und weichen in ihrem Bau von denen aller 
anderen Üephalopoden ab. Geschlechtsorgane und sekundäre Leibes- 
höhle sind anders gebaut als bei den Octopoden, insbesondere 
fehlen die für die Dibranchiaten so bezeichnenden Spermato- 
phoren. Die Gehirnganglien sind stärker konzentriert als bei Octopus. 

Wie man sieht, liegen recht erhebliche Abweichungen sowohl im 
äußeren Körperbau als auch in der inneren Organisation vor. Wel- 
chen Wert man darauf legen mag, und ob man die Cirroteuthiden 
als Pteroti oder Lioglossi den übrigen Octopoden (als Apteri 
oder Trachyglossi) gegenüberstellt und sie von ihnen gänzlich ab- 
sondert, oder ob man sie nur als gleichwertige Familie mit den 
Octopodiden und Philonexiden betrachtet, macht wenig aus, 
da darüber aus dem lebenden Materiale doch keine Gewißheit zu 
erlangen ist. Für hier ist es von Wichtigkeit zu betonen, daß viele 
und gewichtige Merkmale darauf hindeuten, daß sie einen sehr 
primitiven und sehr früh schalenlos gewordenen Zweig der 
Cephalopoden überhaupt vorstellen. Als primitiv ist die unvoll- 
ständige Sonderung der Arme von der sie verbindenden segelartigen 
Schwimmhaut zu betrachten, ebenso das Fehlen der radula und des 
Tintenbeutels, die doch beide erst im Laufe der phylogenetischen 
Entwicklung entstanden sind. Ferner kann ich das Fehlen der 


Steinmann, Abstammungslehre. 16) 


194 Nautiloideen. 


Spermatophoren-Einrichtung und die starke Konzentration der Kopf- 
ganglien doch auch nur als ein ursprüngliches Merkmal auffassen. 
Jedenfalls haben die Oephalopoden ursprünglich nur zwei Kiemen. 
besessen, und die Verdoppelung, wie sie beim heutigen Nautilus 
vorliegt, stellt nur einen sekundären und wenig bedeutungsvollen Zu- 
stand vor, wie sich aus dem Verhalten der Lamellibranchiaten 
ergibt, bei denen es mehrfach zur Verdoppelung der Kiemen ge- 
kommen ist. Deshalb braucht die Zweikiemigkeit der Cirroteu- 
thiden auch nicht als ein abgeleiteter Zustand aufgefaßt zu werden, 
wenn man an einen Zusammenhang mit Nautiliden denkt. 

Für einen sehr früh erfolgten Schalenverlust bei den Cirro- 
teuthiden spricht der Besitz der sehr vollkommen, viel voll- 
kommener als bei den Decapoden, beweglichen Flossen und die 
kräftige Rückenspange, die ihnen als Ansatz dient, ferner die Ver- 
wachsung des Trichters mit dem Mantel. 

Wenn wir so die Cirroteuthiden als Nachkommen paläo- 
zoischer Nautiliden betrachten, so erklären sich viele Eigentüm- 
lichkeiten in ungezwungener Weise; nur müssen wir dabei immer 
berücksichtigen, daß die Organisation der paläozoischen Nautiliden 
nicht nach dem heutigen Nautilus allein beurteilt werden darf. 
Dieser hat vielmehr durch andauerndes Verbleiben in einer eng 
spiral gerollten Schale eine besondere Richtung eingeschlagen. Arme 
mit Saugnäpfen sind bei ihm nicht zur Ausbildung gelangt. Die 
Kiemen haben sich verdoppelt, der Mantel ist, soweit er den Ein- 
geweidesack umgibt, häutig geblieben, und die Trichterhälften sind 
nicht verwachsen. Denken wir uns einen paläozoischen Nautiliden, 
etwa Gomphoceras, schalenlos werden, dabei aber eine ähnliche 
Lebensweise beibehalten, wie sie die Nautiliden allgemein aus- 
zeichnet, so würden sich bei einer solchen Tierform mit gewissen 
primitiven Merkmalen (wie Fehlen des Tintenbeutels, der radula, 
der Spermatophoren) solche Merkmale verknüpfen, die als Folgen 
freier Beweglichkeit anzusehen sind, nämlich langgestreckte Arme, 
ein muskulöser Mantel, auch als Umhüllung des Eingeweidesackes, 
ein zur Röhre verwachsener Trichter und als Folgen der schon lange 
bestehenden Schalenlosigkeit die vollkommen beweglichen Flossen und 
die Knorpelspange. 

Eine wertvolle Stütze erhält unsere Auffassung durch den Um- 
stand, daß für manche paläozoische Nautiloideen, im besonderen 
Gomphoceras, der Nachweis geliefert werden kann, daß bei ihnen 
mit einem röhrig verwachsenen Trichter eine Differenzierung des 
Kopffußes in wenige Teile (aus dem die Arme hervorgegangen sind), 


Nautiloideen. 195 


v 


verbunden war, also zwei Merkmale, die der heutige Nautilus nicht 
besitzt, wohl aber die Cirroteuthiden. Die visierartig geschlos- 
senen, T-förmig verengten Mündungen von Gomphoceras (Fig. 116) 
zeigen nämlich eine enge, rundliche Öffnung für den Trichter auf 
der Ventralseite, woraus zu schließen ist, daß 
er schon röhrig verwachsen war, ferner eine 
oder wenige paarige Ausbuchtungen an dem 
dorsolateralen Schlitze, die man nur als be- 
ginnende Differenzierungen des Kopffußlappens 
deuten kann. Übrigens haben mit Flossen 
versehene Octopoden, die zu den Cirro- 
teuthiden zu zählen sind, nachweislich zur 
Zeit der Oberkreide auch schon bestanden 
(Calais). 

Es sind zwar nur wenige Anhaltspunkte, 
die sich für einen solchen Zusammenhang an- 
führen lassen, aber sie dürften immerhin ge- 
nügen, um die Behauptung zu stützen: es er- 
scheint keineswegs ausgeschlossen, daß 
fossile Nautiloideen der paläozoischen ee 
Zeit in den heutigen Üirroteuthiden Oben: Wohnkammer von 
fortleben, und da diese eine nicht unerheb- °"°": zeist a 


verengte Mündung, in der 
liche (und vielleicht noch gar nicht vollständig der quere Schlitz einem 
R £ ? i N % Paar Kopfarme, die mitt- 
ermittelte) Mannigfaltigkeit aufweisen, dürfen jere Ausweitung dem 
wir auch annehmen, daß in den Cirroteu- . Munde und die kreis- 
’ : r förmige Rundung dem 
thiden nicht nur eine, sondern mehrere Trichter entspricht. 

: : Unten: Schale von der 
fossile Gattungen vertreten sind, und daß Bavenkettch ze et dene 
die Vorgänge, die zur Umbildung eines schalen- herabreichenden Trichter- 

DE SC . ausschnitt und die Luft- 
tragenden Nautiloiden zu einem schalenlosen an Mal 
Cirroteuthiden geführt haben, sich in ver- 
schiedenen Stammreihen in ganz ähnlicher Weise, wenn auch viel- 
leicht nicht ganz zu gleicher Zeit vollzogen haben, und daß durch 
die gleichsinnig gerichtete Umbildung einander sehr ähnliche Formen 
entstanden sind, die wir deshalb systematisch zu einer Familie oder 


Gruppe vereinigen. 


Wie man sieht, erscheint die Stammesgeschichte der Uephalo- 
poden in ganz verschiedenem Lichte, je nachdem man das fossile 
und lebende Material deutet und mit einander in Verbindung zu 
bringen versucht. Nach der einen, jetzt allgemein gültigen Auf- 
fassung ist ihre Entwicklung nach jeder Richtung hin unerklärlich und 

18% 


196 Arthropoden. 


problematisch, nach der anderen ein Gegenstück zu der der beiden 
anderen großen Molluskengruppen, lückenlos geschlossen und ver- 
ständlich. Hätten wir uns nicht so sehr daran gewöhnt, in der Natur . 
mehr Unbegreifliches, mehr Unnatürliches, als einfach Bedinstes und 
Natürliches zu sehen, so wären uns die Tatsachen auch wohl schon 
früher in einem anderen Lichte erschienen. 

10. Arthropoden. Nach den Erfahrungen, die wir an den ungeglie- 
derten Wirbellosen gemacht haben, darf es als durchaus wahrschein- 
lich gelten, daß die verschiedenen Abteilungen der Gliedertiere eben- 
falls nicht auf einen einheitlichen Ursprung zurückführen. Die 
Frage soll hier nur insoweit erörtert werden, als das historische 
Material direkt dazu auffordert. 

Wohl zu den unerklärlichsten Erscheinungen der Organismen- 
welt gehört die sonderbare Rolle, die die Trilobiten in den ältesten 
Formationen spielen. Im Kambrium, wo die Überlieferung beginnt, 
sind sie überall schon in reichlicher Menge vorhanden und geben 
dadurch dieser ältesten der uns bekannten Faunen das bezeichnende 
(Grepräge. In der darauf folgenden Zeit des älteren Silurs nimmt 
ihr Formenreichtum noch zu, dann aber allmählich ab, bis die letzten 
wenigen Formen mit dem Ende des Paläozoikums verschwinden. 
1903 verzeichnete Zittel 200 Gattungen (von enger Fassung) und 
circa 1700 Arten; ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren aber 
noch vermehrt. Die dominierende Rolle der Tril. gerade in ältester 
Zeit würde verständlich sein, wenn sie zugleich als Stammgruppe 
einer oder mehrerer jüngerer Gliedertierabteilungen von reicher Ent- 
faltung daständen; aber das ist nach heutiger Auffassung nicht der 
Fall. Während alle anderen Örustaceen-Gruppen der ältesten 
Zeiten — das sind zugleich die schon früh und vielfach »ein- 
seitig spezialisierten« — bis heute fortleben, gelten gerade die 
Tril. für ausgestorben, trotz ihrer Mannigfaltigkeit und Häufigkeit. 
Die Natur muß sich in diesem Falle grundsätzlich geirrt haben, denn 
wozu hat sie die Trilobiten sich nicht weiter entwickeln lassen, ob- 
gleich sie so indifferent ausgestaltet, so wenig spezialisiert waren, daß 
sozusagen alles aus ihnen werden konnte ? 

Über ihre Organisation genügen wenige Bemerkungen (Fig. 117, 
118). Auf dem Rücken werden die Tiere von einem kalkreichen Chitin- 
panzer (Fig. 117) bedeckt, dessen meist zahlreiche Segmente stets in 
einen mittleren (axialen) Spindelteil (sp, ax, gl) und die beiden 
Seitenteile (pl, sl) zerfallen. Die Zahl der Segmente ist unbe- 
stimmt und großen Schwankungen unterworfen, aber stets ver- 
schmilzt eine geringe Zahl der vordersten (7 oder 8) zu einem Kopf- 


Arthropoden. 197 


schild (%), eine wechselnde Zahl der hintersten zu einem Schwanz- 
schild (s), während dazwischen die Rumpfsegmente (r) unbe- 
stimmt an Zahl und beweglich bleiben; sie konnten also später zum 
Teil noch mit dem Kopfschilde oder mit dem Schwanzschilde oder 
unter sich verschmelzen. Die Körperanhänge (Fig. 118) sind nur 
von wenigen bekannt; aber was man von ihnen weiß, deutet auf 
einen sehr unentwickelten Zustand. Am Rumpf sind sie alle gleich 


Fig. 117. Homalonotus delphinocephalus Fig. 118. Rekonstruktion der Unterseite 

Green. Ob. Silur. Dudley, England. eines Trilobiten. (Nach BEECHER und JAEKEL.) 

Rückenpanzer von außen. (Nach SALTER.) hy Hypostom; at Antennengeißel; md Mandi- 

kKopfschild ; r Rumpfglieder; sSchwanz- bularexopodit; may 1., mxa 2. Maxillarexopo- 

schild;; sp, ax, gl Spindelteil; pl, sl Seiten- dit; mp Maxillipedenfuß; le Leberschläuche; 

teile; a Augen; n Gesichtsnaht; winnere, ev Exopodit; en Endopodit; bp Bauchhaut; 
w’ äußere Wangen. a After. 


(Aus Steinmannx: Einf. i. d. Pal.) 


(Spaltfüße — en, ex), am Kopfschild mit Außnahme eines Antennen- 
paares (at) ebenfalls wenig differenziert (md, mx, mxz, ımp). Es konnten 
also aus ihnen jede differenzierte Art von Anhängen hervorgehen, 
Schreit- oder Schwimmbeine, Kiemenanhänge, Scherenfüße, Kieferfüße 
usw., natürlich können sie auch verschwinden. Diese primitive Or- 
ganisation läßt aber gerade vermuten, daß sich aus ihnen andere 
Gliedertiere mit modifizierten und differenzierten Anhängen haben 
entwickeln können. 

Wenn wir unter jüngeren Gliedertieren nach solchen Formen 
suchen, werden wir bedenken müssen, daß diese nicht nur unter 


198 Arthropoden. 


ch hen 


Wassertieren, im besonderen unter Krebsen, sondern auch unter 
Landtieren versteckt sein können, und daß der ursprünglich kalkig- 
chitinöse Panzer in den Nachkommen rein chitinös geworden sein 
kann. Wir werden ferner weder auf die Zahl der freien, oder in 


Fig. 120. 
Fig. 119. 


Fig. 119. Homalonotus. A H. bisuleatus Salt. U. Silur. Kopfschild. B H. Johanni 

Salt. Ob. Silur. Schwanzschild. (Nach SaLrer.) Fig. 120. Oyelosphaeroma trilobatum 

Woodw. Ob. Jura (Purbeck). (Nach WoopwArn.) — gl Glabella, e, e' Einbuchtungen 

derselben; w innere Wangen; n Gesichtsnaht; o Öceipitalring. Übrige Bezeichnungen 
wie in Figur 122. 


Fig. 121. Sphaeroma gigas. Rezent. Kerguelen, Fig. 122. Serolis paradoxa Fab. 

Punta Arenas. Magelhanstraße. Ansicht der Rückenseite. (Nach WoopwARD.) — Das 

Kopfschild ist von dem 1., umfassenden Rumpfschilde durch eine Naht (n) getrennt; 

a Augen; a’ 1., a” 2. Fühlerpaar; I—VII Rumpfsegmente; sp Spindel; sl, pl Pleuren 

(Epimeren); 7—3 die ersten 3 (freien) Hinterleibssegmente; s Schwanzschild; f, fi die 
letzten Anhangspaare des Hinterleibes. 1/ı 


Arthropoden. 199 


einem Kopf- oder Kopfbrustschilde verwachsenen Segmente, noch 
auf die Zahl und Ausgestaltung der Anhänge entscheidendes Ge- 
wicht legen dürfen, sofern sie die der Tril. nicht übersteigt; wohl 
aber können wir erwarten, daß die Dreiteilung des Körpers als 
ein allen Tril. zukommendes Merkmal sich in den Nachkommen mehr 
oder weniger deutlich kürzere oder längere Zeit erhalten hat. Geht 
man von diesen Gesichtspunkten aus, so kommen folgende Abtei- 
lungen der Gliedertiere als ihre Nachkommen in Frage: 

1. Die Isopoden (Asseln). Bei ihnen ist die Dreiteilung zu- 
meist heute noch gut ausgesprochen (Fig. 121, 122), sie war es bei 
fossilen vielfach noch deutlicher (Fig. 120). Daneben besteht aber 
zumeist auch noch eine ganz ähnliche Zusammensetzung des Rücken- 
panzers aus Kopfschild, Rumpfschildern und Schwanzschild; die Augen 
sind sitzend wie bei den meisten Tril., die Segmentanhänge wenig 
verändert, nur die hinteren Füße zuweilen zu plattigen Schwimm- 
organen (Fig. 121 f, f') ausgestaltet. 

Manche lebende und fossile lassen noch bezeichnende Merkmale 
bestimmter Tril.-Gattungen erkennen, z. B. 

Oyclosphaeroma aus dem Jura (Fig. 120). Dieser Isopode gleicht 
in seiner breiten Spindel und seinen schmalen Seitenteilen (pl), so- 
wie in der dreieckigen Gestalt seines Schwanzschildes (s) der Tril.- 
Gattung Homalonotus (Fig. 117, 119). Aber auch in Einzelheiten zeigt 
sich eine auffallende Übereinstimmung gerade mit dieser Form. 
So schärft sich bei Hom. (Fig. 119) das Schwanzschild (B) hinten 
‚schon kielförmig (k) zu, bei C'yclosph. hat sich der Mittelkiel über das 
ganze Schwanzschild ausgedehnt (Fig. 120%). Die Glabella von Hom. 
(Fig. 119 gl) besitzt eine vordere (e) und jederseits eine seitliche Ein- 
buchtung (e’‘), was wohl einzig unter allen Trilobiten dasteht. Bei 
Öyel. (Fig. 120) finden wir die gleiche Ausgestaltung, nur ist das 
ganze Kopfschild stark verkürzt, und die einzelnen Teile sind daher 
verbreitert. Stellt man Homal. aus dem Silur, Cyelosph. aus dem 
Jura und das rezente Sphaeroma (Fig. 121) nebeneinander, so ist 
Cyclosph. eine ausgesprochene Übergangsform zwischen dem 
silurischen und dem lebenden Tier. Andere Isopoden, wie 
Serolis (Fig. 122) lassen sich aber nicht mit Homalonotus, sondern 
wegen der kurzen Achse des Schwanzschildes nur mit weit davon ver- 
schiedenen Tril.-Gattungen, am besten mit Lichas oder Bronteus, 
vergleichen, während die Asseln mit gerundetem Schwanzschild an 
die Asaphiden erinnern. Wir sehen also auch bei diesem Versuche 
wieder, daß die verschiedenen Gestalten einer jüngeren Gruppe nicht 
auf eine generalisierte Urform zurückgehen, sondern daß, wenn 


200 Arthropoden. 


die Ableitung aus einer primitiveren Stufe gelingt, dies nur durch 
gleichsinnig gerichtete Umbildung auf mehreren Linien möglich wird. 
Die Isopoden sind übrigens von verschiedenen Forschern, nament- 
lich von WoopwArp, als die den Trilobiten zunächst stehende 
Gruppe unter den heutigen Krustern angesprochen worden. 

2. Die Decapoden teilen mit den Tril. den Besitz eines Rücken- 
panzers, der auch bei den heutigen Vertretern in den Rumpfseg- 
menten noch Andeutung einer Dreigliederung erkennen läßt. Die 


N 


3 


Fig. 123. Loricula pulchella Sow. Turon. England. Schale von der Seite gesehen, 
restauriert. Die Rankenfüße (c’) nach Analogie der lebenden Formen eingezeichnet. 
I, II, III Seitenplatten, ck Carinal-, rk Rostralplatten des Stieles; ce Carina; t Tergum; 
l, 2’ Lateralia; s Scutum. Fig. 124. Balanus concavus Br. Plioeän (Crag). England. 
A Schale von der Seite gesehen. cl Carino-Laterale; r Rostrum. B isoliertes Tergum (t). 
€ isoliertes Seutum (sc). Fig. 125. A Pollicipes mitella L. Ostindien. B Brachylepas 
cretacea. Woodw. Ob. Kreide. England. Restauriert. sc Subcarina; sr Subrostrum; 
ss Stielschuppen, andere Bezeichnungen wie Fig. 123. (Nach WoopwArn.) 


abweichende Stellung ihrer Augen versteht man leicht durch die 
Annahme, daß die äußeren Wangen der Tril., die die Augen tragen 
(Fig. 117 w'), längs der Gesichtsnaht (r) nach unten umgeschlagen 
sind. Wir kennen für die Dec. im Kambrium und Silur keinerlei 
andere Vorfahren, aus denen sie sich ableiten ließen, als die Tril., 
doch könnte ein Bruchteil (z. B. die Garneelen) auch von paläo- 
zoischen, von den Phyllocariden, stammen. 


1 


Arthropoden. . 201 


3. Die Uirripedia sind durch Festwachsen stark modifizierte 
Krebse. Wenn wir uns einen Trilobiten seitlich festgewachsen 
und die Panzersegmente der Quere nach zerfallen denken, so resul- 
tiert daraus ein Panzer, wie ihn die am wenigsten modifizierten Cirr. 
besitzen, die schon im Silur vorkommen, und an die sich die jüngeren 
Lepadiden mit noch vollständig gepanzertem, aber mehr oder weniger 
beweglichem Stiel eng anschließen (Fig. 123). Von diesen führen 
alle wünschenswerten Übergänge zu Formen mit lederartigem Stiel, 
an dem die Kalkplatten nur noch eine biegsame Schuppenbekleidung 
bilden wie bei Pollicipes (Fig. 125 A). Die extremsten Glieder dieser 
gestielten Reihe sind dann Lepas, an dessen Stiel alle Panzerreste ver- 
schwunden sind und die lebende Gattung Anelasma, deren ganze Körper- 
hülle nur noch aus Chitin besteht. So sehen wir hier als Endergebnis, 
der flottierenden Lebensweise den Panzer schließlich ganz verschwinden. 

Woopwarnp hat nun aber an einer bemerkenswerten Form der 
Oberkreide, Brachylepas (Fig. 125.5), gezeigt, wie durch Verkürzung des 
Stieles sich der Übergang zu den ungestielten Operculaten (Ba- 
laniden usw.) (Fig. 124) vollzieht. Man kann an der Richtigkeit der 
von ihm befürworteten Umbildung zur Kreidezeit nicht wohl zweifeln. 
Um so überraschender dürfte es für den Anhänger einer mono- 
phyletischen Abstammungsweise sein, zu erfahren, daß schon zur 
Devonzeit echte Balaniden existiert haben, wie Protobalanus und 
Palaeocreusia. Auch hier wird also der gleiche Typus auf verschie- 
denen Wegen, zur paläozoischen Zeit wohl direkt aus den ange- 
wachsenen Trilobiten, zur Kreidezeit auf dem Umwege über gestielte 
Formen erreicht. 

4. Arachnida. Von den Trilobiten läßt sich auch ein Teil 
der Spinnentiere ableiten. Diese sind in paläozoischen Zeiten 
bekanntlich fast ausschließlich durch zwei Gruppen vertreten, durch 
die Skorpione und durch die abweichende Gruppe der Anthra- 
comarti. Die Skorpione werden ziemlich allgemein, und wohl mit 
Recht, als die nächsten Verwandten und Abkömmlinge der Giganto- 
straken betrachtet. Sie teilen mit ihnen die allgemeine Körper- 
gestalt, die große Zahl der Abdominalglieder, die sich schon bei den 
Gigantostraken andeutungsweise in eine abdominale und in eine 
verschmälerte, in einen Stachel auslaufende postabdominale Gruppe 
zerlegen, wie bei den Skorpionen, den Besitz von Scheren u. a. m. 
Die Anthracomarti dagegen ähneln den echten Spinnen. Ihnen 
fehlen die Scheren, das Postabdomen, der Endstachel; ihr Ab- 
domen ist breit, aber nicht gestielt wie bei den Spinnen, und zeigt 
eine viel deutlichere Gliederung. Als besonders wichtig muß der 


202 Arthropoden. 


Trilobiten-Habitus ihres Hinterleibes bezeichnet werden. Er zeigt 
die Dreigliederung in Spindel und Seitenteile (Pleuren), sowie ge- 
legentlich, wie bei Anthracomartus, deutlich den Rest eines Pyei- 
diums; auch die Körnelung der Panzeroberfläche und die Seiten- 
stacheln des Hinterteiles bei Kreischeria erinnern mehr an Trilobiten, 
als an irgendwelche anderen paläozoischen Gliedertiere. So glaube 
ich läßt sich nach dem bis jetzt bekannten Material eine getrennte 
Abstammung der Spinnentiere, einerseits aus Gigantostraken 
(Skorpione und Skorpionspinnen), andererseits aus Trilobiten 
(Spinnen, Afterspinnen) befürworten, und die große Verschieden- 
heit der Formen in der Übergangsgruppe zwischen Tril. und 
Spinnen, den Anthracomarti, erklärt sich einfach, wenn wir 
hier, .wie auch sonst, eine polyphyletische Umbildung der marinen 
Vorfahren in die luftatmenden Nachkommen voraussetzen. Hierbei 
hätte sich dann wie in anderen Entwicklungsreihen die Umbildung 
zu der modernen Stufe auf einigen Linien früher vollzogen als auf 
anderen, sodah z. B. zur Karbonzeit neben den damals herrschenden 
Übergangsformen der Anthracomarti schon einige Vertreter der 
echten Spinnen als Vortrab existierten; die heutigen Afterspinnen mit 
ihrem nicht abgeschnürten und oft deutlich segmentierten Hinterleibe 
würden dagegen die Rolle der Nachzügler spielen. 

5. Insecta. Der Ursprung der Insekten ist nach HAxDLissch 
ebenfalls in den Trilobiten zu suchen. Dieser Auffassung schließe 
ich mich im wesentlichen an, jedoch mit der Einschränkung, daß 
diese Umbildung nicht nur auf einer, sondern auf verschiedenen 
Linien vor sich gegangen ist. Davon abgesehen, ist es mir aber un- 
wahrscheinlich, daß alle Ins. von Tril. stammen. Es sollte mich 
nicht überraschen, wenn fossile Funde eines Tages erweisen würden, daß 
ein Teil der Insekten auf Myriopoden-artige Vorläufer zurückgeht. 
Doch ist hier nicht der Ort, diesen Gegenstand ausführlich zu behandeln. 

Für die Ableitung der genannten fünf Gruppen aus den Trilo- 
biten sprechen nicht nur morphologische und anatomische Bezieh- 
ungen, sondern ebensosehr die geologischen Tatsachen. Denn 
andere Vorfahren als die Trilobiten lassen sich in den 
ältesten Formationen für sie nicht namhaft machen, und 
ihr geologisches Erscheinen fällt gerade in die Zeiten, wo jene 
abzunehmen beginnen. Sind die Tril. nur eine primitive Orga- 
nisationsstufe, in der jene jüngeren Gruppen wurzeln, und aus 
denen sie sich auf zahlreichen Linien entwickelt haben, so wird das 
sonderbare Verhalten der Tril. durchaus begreiflich, anderenfalls 
bleibt es gänzlich rätselhaft. 


3 
i 
“ 
x 


Fische. 203 


D. Zur Stammesgeschichte der Wirbeltiere, 


1. Fische. Als älteste Wirbeltiere kennen wir die Fische, die 
schon im Untersilur von allen Wirbellosen deutlich getrennt hervor- 
treten. Diese ältesten Fischformen sind schon sehr mannigfaltig und 
fügen sich keineswegs in eine Stammgruppe ein, aus der wir die 
verschiedenen Zweige des Stammes durch Divergenz entsprossen 
denken könnten; vielmehr stehen zahlreiche, ganz verschiedene Typen 
von Anfang an getrennt nebeneinander: Haie, Rochen, UÜhimären, 
Lungenfische, @anoiden und die anscheinend so merkwürdigen 
»Panzerfische«e. Allein nicht nur die großen Gruppen sind schon 
von Anfang an geschieden, auch innerhalb der Gruppen stehen die 
einzelnen Typen zumeist ganz unvermittelt nebeneinander. Verwertet 
man diese Tatsachen ohne Rücksicht auf eine bestimmte Vorstel- 
lung, so wird man eine polyphyletische Entstehung aus einem nie- 
deren Stadium für wahrscheinlich halten. Das Ergebnis deckt sich 
mit demjenigen, das wir auch bei der Betrachtung vieler wirbelloser 
Tiergruppen gewonnen haben. 

Die Panzerfische, eine Sammlung sehr heterogener Formen 
von offenbar primitiver Organisation, zeigen meines Erachtens deutlich 
die Richtung an, aus der die Fische gekommen sind: gegliederte 
und mit einem festen, gegliederten Panzer versehene Vor- 
fahren, ähnlich den Trilobiten. Das ist auch schon mehrfach 
von anderen Forschern betont worden. Es gibt aber außer den 
habituellen Ähnlichkeiten zwischen den fossilen Formen, die man 
wohl mit Unrecht oft gering bewertet, auch anatomische Tatsachen, 
die eine solche Anknüpfung fordern und sich mit keiner anderen 
vereinbaren lassen. So hat z. B. GoopricH gezeigt, daß sich die 
paarigen Flossen der Fische zwar ähnlich den unpaaren entwickeln, 
daß aber zu den unpaaren in jedem Myotom nur ein Muskelbündel, zu 
den paarigen dagegen zwei, ein dorsales und ein ventrales, gehören. 
Daraus geht hervor, daß die unpaaren Flossen anderer Ent- 
stehung sind als die paarigen, und daß letztere ursprünglich 
Doppelanhänge, ähnlich wie die Spaltfüße der Trilobiten und 
anderer Krebstiere, gewesen sein müssen. 

Wenn wir aus einem Trilobiten-ähnlichen Tiere einen Fisch 
hervorgehen lassen, brauchen wir keineswegs mit Dourn uns das 
Tier umgedreht und auf dem Rücken laufend zu denken. Das er- 
scheint nur unumgänglich, wenn wir den Übergangsformen ein ähn- 
lich stark zentralisiertes und mit Querkommissuren versehenes Nerven- 
system zuschreiben, wie es die heutigen Gliedertiere besitzen. Das 


204 Fische. 


hat aber bei jenen Trilobiten-ähnlichen Tieren der kambrischen oder 
vorkambrischen Zeit schwerlich bestanden; vielmehr können die 
Nerven für die Anhänge und für die Kopfregion noch unverbunden 
funktioniert haben; ja sie können in der Leibesregion noch diffus 
verteilt gewesen sein. Bei einem Kruster, dessen Anhänge nahe 
der Mittellinie des Bauches angeheftet sind, muß es zur Bil- 
dung eines Bauchmarks kommen, wenn die Nerven zentralisiert 
werden. Denn der geometrische Ort für die Bewegungsorgane liegt 
in diesem Falle an der Unterseite des Körpers. Bei den Fischen 
inserieren aber die Anhänge an der Seite des Körpers, und ihre 
Fortbewegung läßt sich mit der eines von Rudern bewegten Bootes 
vergleichen, für die der geometrische Ort oben gelegen ist. Mit der 
Verlagerung der Anhänge auf die Seite muß also bei fortschreitender 
Zentralisation der Nerven ein Rückenmark entstehen, das an die 
Nerven der Kopfregion anschließt, und die Leibeshöhle muß sich 
darunter lagern. So können wir die Unterschiede in der gegen- 
seitigen Lage der wesentlichen Organe zwischen einem Kruster und 
einem Fisch aus der veränderten Stellung der sich bewegenden Anhänge 
und ihrer vervollkommneten Tätigkeit begreifen. Durch die Ver- 
einigung einer Anzahl gleichartiger, gespaltener Anhänge zu einem 
einheitlich bewegten Organ entsteht die paarige Flosse; die 
Beschränkung ihrer Zahl auf 4 ist auch mechanisch bedingt. Wenn: 
sich auch zuerst mehr als zwei Paare anlegen, wie bei dem Acantho- 
dinen Olimatius, so wird dies »unzweckmäßige«, weil auf die Dauer 
mechanisch unmögliche Stadium, jedenfalls bald überwunden. Die 
Entstehung von unpaaren Flossen ist dagegen ganz anders zu denken. 
Manche altkambrische Trilobiten, wie Holmia, tragen in der Mittel- 
linie des Rückens an jedem Segment einen Stachel. Aus der Ver- 
einigung solcher unpaarer medianer Gebilde werden die unpaaren 
Flossen entstanden sein. Die häufigen Kopf- und Nackenstacheln 
älterer Fische wären dann den Nackenstacheln der Trilobiten, die 
Hörner des Kopfschildes von Cephalaspis und die Ruderorgane der 
Panzerfische den Hörnern des Kopfschildes der Trilobiten 
gleich zu setzen und aus derartigen Gebilden ihrer Kruster-artigen 
Vorfahren entstanden zu denken. 

Wenn wir uns denken, daß diese fundamentalen, sowie die übrigen 
Umbildungen, die zum Fisch hinüberleiten, nicht nur einmal ent- 
standen sind, sondern wiederholt unabhängig, weil gesetzmäßig 
durch eine andere Art der Fortbewegung bedingt, und wenn wir nach 
Analogie mit ähnlichen Umbildungen bei Wirbellosen, wie bei den 
Ammonoideen, sich jedes Merkmal getrennt von anderen umwandeln 


Fische. 205 


lassen, so verstehen wir, wie bei den meisten Panzerfischen die paarigen 
Flossen noch nicht vorhanden oder die Anhänge, aus denen sie später 
entstanden, wie bei den Trilobiten, wegen ihrer Zartheit wenigstens 
nicht erhaltbar waren, während sie bei den gleichzeitig lebenden Gano- 
iden schon typisch entwickelt bestanden. Wir begreifen, wie gleichzeitig 
nebeneinander die verschiedensten Arten des Hautskeletts vorhanden 
waren, bei den Haien schon fast ganz verkümmert, bei den Ganoiden 
als starres Schuppenkleid, bei den Panzerfischen zum Teil als Platten- 
panzer entwickelt usw. Andere Fischmerkmale waren bei den Panzer- 
fischen noch rückständig, wie die Ausbildung des Unterkiefers, wäh- 
rend sie bei den übrigen schon typisch ausgebildet bestanden. Aber 
wie wir von den Ammoniten, Stachelhäutern u. a. wissen, geht die 
Umbildung der zunächst rückständig gebliebenen Organe in einer 
späteren Zeit doch noch in wesentlich gleicher Weise vor sich, 
und alle Reihen nähern sich schließlich einem einheit- 
lichen Typus. 

Für mich bestehen alle die zahlreichen Fischformen des Devons 
in der heutigen Fauna noch fort. Von einigen, wie den Haien und 
Rochen, den Chimären, Lungenfischen usw. wissen wir es bestimmt. 
Wenn uns die anderen Gruppen zum größten Teil ausgestorben 
scheinen, so liegt das nur an der Art der systematischen Gruppie- 
rung. Die Nachkommen mancher Panzerfische finden wir heute in 
den Panzer-Siluriden und Stören, sowie in den gepanzerten 
Meeresfischen. Denn die Hautbedeckung der Fische ist sicherlich 
denselben gesetzmäßigen Änderungen im Laufe der Zeit unterworfen 
gewesen, wie die äußeren Skelette der Wirbellosen, d. h. sie ist all- 
gemein zurückgegangen durch die gesteigerte Beweglichkeit der Tiere, 
aber nur in Ausnahmefällen starrer geworden als sie es war. Von 
diesem Gesichtspunkte aus betrachtet verschwinden die Probleme, die 
man in der Stammesgeschichte der Fische heute noch findet. SmitH 
Woopwarn hat betont, daß das plötzliche, massenhafte Erscheinen 
der Knochenfische am Ende des Mesozoikums und im Beginne des 
Tertiärs ebenso mysteriös sei, wie das unvermittelte Auftreten der 
zahlreichen Säuger im Eocän. In der Tat lösen sich die beiden 
Abteilungen der Knochenfische und Ganoiden, die das Gros der 
Fische überhaupt umfassen, in ähnlich auffälliger und scheinbar ganz 
unvermittelter Weise ab, wie die Säuger und Reptilien. Die ältere 
Gruppe, die vom Devon bis zur Kreide fast ausschließlich geherrscht 
hatte, macht der jüngeren Platz, ohne daß eine zutreffende Erklä- 
rung dafür ersichtlich wäre; jedenfalls nicht, wenn man sie sich von 
den Ganoiden monophyletisch abgezweigt denkt, wie das zumeist 


206 Vierfüßler. 


geschieht. Doch gelangte schon ZırreL 1885 zu dem Ergebnis: »Eine 
monophyletische Entstehung der Knochenfische erscheint übrigens 
unwahrscheinlich. Warum klammert man sich dennoch an den 
einstämmigen Ursprung, den Tatsachen zum Trotz? Faßt man die 
Ganoiden als ein primitives, die Knochenfische als ein späteres 
Stadium auf, und läßt man alle in älteren Zeiten vorhandenen 
Formengruppen aus dem älteren in das jüngere Stadium sich fortsetzen 
(mit Ausnahme der wenigen lebenden Ganoiden), so vereinfacht sich 
die ganze Stammesgeschichte ungemein. Es erklären sich schwer 
zu deutende Erscheinungen auf einfache Weise, wie die Wiederkehr 
der Knochenstruktur bei vielen jüngeren Fischen, die man jetzt von 
solchen ohne Knochenstruktur ableiten muß. Dieses Merkmal dürfte 
doch wohl auch zu den »irreversiblen« zu rechnen sein. 

2. Vierfüßler. Die Vorgeschichte der Vierfüßler ist für uns zu- 
nächst noch unaufgehellt. Am Ende der paläozoischen Zeit, in den 
Süßwasserablagerungen der Steinkohlen-, besonders aber in der 
Permformation, begegnen wir einer größeren Zahl sehr verschieden- 
artig, aber doch schon typisch ausgebildeter Vierfüßler. Bei aller 
Verschiedenheit in der Ausgestaltung kommen ihnen (ich sehe von 
einigen abweichenden Gestalten zunächst ab) eine Reihe gemeinsamer 
Merkmale zu, die auch Anlaß gegeben haben, sie zu einer Gruppe, 
den Stegocephalen, zu vereinigen. Alle die Merkmale, die wir 
bei ihrer Abtrennung von den übrigen Vierfüßlern in den Vorder- 
grund stellen, verdienen die Bezeichnung primitiv. Es sind solche, 
die wir überhaupt bei niedrig entwickelten Vertretern der Vierfüßler 
erwarten dürfen. Da bei allen Wirbeltieren, insbesondere auch bei 
den Fischen mit ihrem von den. Vierfüßlern gänzlich getrennten Ent- 
wicklungsgange, das Innenskelett sich erst im Laufe der Zeit heraus- 
bildet, und zwar allgemein auf Kosten des Hautskeletts, so kann 
es nicht befremden, daß auch bei den Stegocephalen die Ver- 
knöcherung der Wirbelsäule und der Gliedmaßen, ebenso auch des 
Schädels, noch unvollkommen ist. Wir treffen aber eine bestimmte 
Ausbildung dieses wechselnden Merkmales keineswegs etwa in ge- 
setzmäßiger Verknüpfung mit einer bestimmten Körpergestalt an, 
sondern die gleiche Art der Wirbelverknöcherung, z. B. in der Form 
einer Sanduhr, findet sich bei einem nur wenige Zentimeter großen 
Tiere mit vollständigen Gliedmaßen und vom Habitus einer Eidechse 
vor, wie bei einer schlangenartigen Form von über 1/,m Länge und ohne 
jegliche Gliedmaßen, und in der Gruppe der Schnittwirbler (Temno- 
spondyli) faßt man die verschiedenartigsten Gestalten zusammen, nur 
weil ihre Wirbel noch aus mehreren, unvereinigten Stücken bestehen. 


‚Vierfüßler. 207 


Das zweite ursprüngliche Merkmal, das die Stegocephalen aus- 
zeichnet, ist das Auftreten eines platten, geschlossenen Schädel- 
daches aus größeren Hautknochen, in welchem nur Lücken für die 
Augen und die Nasenlöcher offen bleiben. Dieses Merkmal und den 
Besitz eines Gaumendeckknochens (des Parasphenoids) teilen sie mit 
manchen der altertümlichen Panzerfische, und in wenig abge- 
änderter Form ist es der Mehrzahl der älteren Fische (den Ganoiden) 
überhaupt eigen. 

Man rechnet die Stegocephalen gewöhnlich zu den Amphi- 
bien, weil man bei manchen in der Jugend Kiemen beobachtet hat, 
und weil sie zwei Gelenkköpfe im Gegensatz zu dem einfachen Ge- 
lenkkopfe der Reptilien und Vögel besitzen. Allein man hat jetzt 
doch ziemlich allgemein eingesehen, daß es wenig zweckmäßig ist, 
die Stegocephalen schlechthin den Amphibien unterzuordnen, denn 
sie teilen mit mehreren heutigen Amphibien zwar die beiden letzt- 
erwähnten Merkmale, den Besitz der Kiemen in der Jugend und die 
doppelte Gelenkung des Schädels an der Wirbelsäule, aber beide 
Merkmale lassen sich ebenfalls als primitive Vierfüßler-Merkmale 
überhaupt auffassen und sind keineswegs danach angetan, eine phy- 
letische Einheit zu kennzeichnen. Denn wir müssen annehmen, daß 
alle höheren Vierfüßler einmal das Amphibienstadium im physiologi- 
schen Sinne phyletisch durchlaufen haben. Man hat jetzt aber auch 
erkannt, daß die verschiedenen Arten der -Schädelgelenkung nicht 
als ein absolut unterscheidendes Merkmal der großen Gruppen der 
Vierfüßler verwertet werden dürfen. Denn einige Steg. besitzen 
überhaupt noch keine verknöcherten Gelenkköpfe; der zweiteilige 
Gelenkkopf der Labyrinthodonten u. a. aber wird zum anschei- 
nend einteiligen, richtiger gesagt, dreiteiligen dadurch, daß zwischen 
und unter den beiden schon vorhandenen ein neuer Knochen (das 
basioccipitale) entsteht, sie zusammenschweißt und an der Bildung 
des dreiteiligen teilnimmt. Durch Aufgeben der seitlichen Balan- 
zierung bildet sich dann der einfache Kondylus der Reptilien und 
Vögel heraus, der eine allseitige Bewegung des Kopfes gestattet. 

Im Vergleich zu den formenarmen Amphibien der Gegenwart, 
die sich auf die Gruppen der Frösche, Schwanzlurche und der 
gliedmaßlosen Blindwühler beschränken, zeigen die Steg. eine er- 
staunliche Mannigfaltigkeit der Gestaltung und Größe. Wir finden 
unter ihnen einerseits Formen, wie die Branchiosaurier (Fig. 126), 
die an Größe und Habitus sowie durch mehrere wichtige anatomi- 
sche Merkmale den Fröschen gleichen, und aus denen durch Re- 
duktion des Schwanzes und durch einige andere Änderungen im 


208 Vierfüßler, 


Skelett auch wohl die Anura hervorgegangen sind. Diese stehen 
denn zur Zeit des oberen Jura auch schon ebenso fertig da wie heute. 
In den Microsauriern mit ihrer an Eidechsen und Lurche erinnern- 
den Gestalt (Fig. 127) dürfen wir wohl mit Recht die Vorfahren der 
Schwanzlurche einerseits, der Eidechsen andrerseits suchen, während 
aus den zur Permzeit bereits fußlosen Aistopoden sich die Blind- 
wühler einerseits, der größte Teil der Schlangen andrerseits ableiten 
Fig, 197. lassen. Hiernach würden die 
bis jetzt betrachteten Ver- 
treter der Steg., die sämt- 
lich zu den Hülsenwirblern 
(mit Einschluß der Phyllo- 
spondyli und Lepospondyli) 
gehören, für sich allein schon 
eine Sammelgruppe von 
Formen mit ähnlicher 
Organisationshöhe dar- 
stellen, innerhalb der die 
verschiedenen, jetzt syste- 
matisch weit voneinander 
getrennten Gruppen auch 
schon geschieden gewesen 
wären. Ein Teil derselben 
Fig. 126. Ein Stegocephale vom Frosch- in = un ulaisehe us 
typus. (Branchiosaurus amblystomus Credn. Larve. bensweise und mit dieser 
Heüissenden des Pleucnschen Grundesb-Dresden) den Habitus und auelt: ge- 
sind weggelassen. (Nach CREDNER aus Sreınuann- wisse anatomische Merkmale 
De) EI LAT. En Sir ocohaLC TOM in mehr oder weniger verin- 
Ob. Karbon.) Restauriert. (Nach FRITSCH aus STEIN- derter Form beibehalten, das 

ne sind die heutigen Amphi- 
bien, ein anderer wäre unter Vertauschung der amphibischen Lebens- 
weise mit der reptilischen und unter Annahme gewisser als reptilisch 
betrachteter anatomischer Merkmale (wie Einköpfigkeit des Hinter- 
hauptes, Schwund des Parasphenoids, vollständiger Verknöcherung 
des Skeletts usw.), aber unter Erhaltung zahlreicher habitueller und 
morphologischer Eigenarten in die beiden heutigen Gruppen der 
Eidechsen und Schlangen abgewandelt worden. In der Mehr- 
zahl der lepospondylen Steg. brauchen wir hiernach nicht er- 
loschene Vertreter der Vierfüßler zu erblicken, sondern können 
sie als Vorfahren der heutigen Amphibien und Lepidosaurier be- 
trachten. Bei der Verfolgung der Abstammungslinien, die von den 


> 


Vierfüßler. 209 


Hülsenwirblern zu den heutigen Amphibien und Lepidosauriern führen, 
wäre vor allen Dingen von der Verwertung derjenigen Merkmale 
vollständig abzusehen, die primitive Stegocephalen im allgemeinen 
von den heutigen Amphibien einerseits, von den Lepidosauriern 
andrerseits unterscheiden. Vielmehr müssen uns bei diesem Ver- 
such solche Merkmale leiten, die in der üblichen Systematik in 
zweite oder letzte Linie gestellt werden, wie die Form der Rippen 
und des Kopfes, die Größe und Lage der Augenhöhle, die Zahl der 
Zehen usw. Bei dem Vergleich der geologisch alten und jungen 
Formen ist auch natürlich abzusehen von der jetzt gültigen syste- 
matischen Vereinigung der Formen zu Familien und Gattungen, da 
wir nicht wissen, ob diese in allen Fällen phylogenetisch einheitliche 
Kategorien darstellen und die in ihnen vereinigten Gattungen und 
Arten nicht etwa schon im Steg.-Stadium zum Teil getrennt waren. 


Fig. 128. Ein Cotylosaurier. Pareiosaurus Baini Seel. Perm — Trias. Tambor 

Fontein. S. Afrika. Skelett in 1/9. N Nasen-, A Augenhöhle; e Rippen; se Schulter- 

blatt; h Oberarm; r Radius; u Ulma; I—V 1.—5. Zehe. (Nach SEELEY aus STEINMANN: 
Einf. i. d. Pal.) 


Den zumeist kleinen Vertretern der Hülsenwirbler steht nun 
eine große Zahl mittelgroßer und großer Formen von Steg. gegen- 
über, die als Schnittwirbler (Temnospondyk) und Vollwirbler 
(Stereospondyli) bezeichnet werden. Ihre Zahnsubstanz ist radial oder 
gar labyrinthisch gefaltet, und bei den Labyrinthodontiern stehen 
immer vor den normalen Reihen kleinerer Zähne einzelne große Fang- 
zähne, was ihnen eine gewisse Ähnlichkeit mit den Krokodilen ver- 
leiht. Aber ebenso bemerkenswert ist die grubige Beschaffenheit der 
Schädeloberfläche bei zahlreichen Vertretern sowohl der Schnitt- als 
der Vollwirbler, ebenfalls ein Krokodil-Merkmal. Werden wir somit 
einerseits auf die Krokodile als mögliche Nachkommen gewisser Stego- 
cephalen hingewiesen, so sind andrerseits ganz evidente Beziehungen 


Steinmann, Abstammungslehre. 14 


210 Vierfüßler. 


der temnospondylen Steg. zu den primitiven Landreptilien auf- 
gedeckt worden, die als Cotylosauria zusammengefaßt werden 
Fig. 128); sie treten bereits im Perm auf. Da zwischen beiden Grup- 
pen z. T. eine vollständige Übereinstimmung der Knochen des Schädel- 
daches nachgewiesen ist, da sich bei den Ootylosauriern auch die 
Ohrenschlitze und Schleimkanäle der Schnittwirbler wiedergefunden 
haben, da ferner auch die Zähne vielfach eine radiale Struktur er- 
kennen lassen, der Kehlbrustapparat, der Brust- und Beckengürtel 
weitgehende Übereinstimmungen zeigen, so betrachtet man mit Recht 
die Cotylos. als ein Bindeglied zwischen Steg. und den höheren 
Landreptilien, und zwar unter diesen zu den beiden Gruppen der 
Pelycosaurier und der Anomodontier. Der Übergang von Cotylo- 
sauriern zu den Pelycosauriern wird im besonderen auch dadurch 
vermittelt, daß bei ersteren sich die Bildung eines Schläfenbogens an- 
bahnt, wie er bei den Pelycosauriern typisch zur Ausbildung gelangt. 

Nun ist aber neuerdings von BroıLı, wie mir scheint, mit allem 
Recht darauf hingewiesen worden, daß es auch Reptilien gibt, die 
bisher zwar unter die Anomodontier eingeordnet wurden, die aber 
wie Lysorophus nicht aus den Ootylosauriern hervorgegangen 
sein können, sondern die einen gesonderten Ursprung (wie BkoiLı 
annimmt, direkt aus den Fischen) besitzen müssen. Eine gesonderte 
Abstammung ist aber auch für diejenigen Reptilien anzunehmen, die 
schon gleichzeitig mit den Steg. im Perm erscheinen, aber durch 
den Besitz von zwei Schläfenbögen im Schädel ausgezeichnet 
sind, in dieser Beziehung also gegenüber den Ootylosauriern ein weit 
vorgeschrittenes Stadium der Schädelbedeckung aufzeigen. 

So gelangen wir denn bezüglich der Abstammung der 
Reptilien zu dem Ergebnis, daß diese weit davon entfernt, 
eine stammesgeschichtlich einheitlich entstandene Tier- 
sruppe darzustellen, sich vielmehr auf verschiedenen Wegen 
und zu verschiedenen Zeiten aus dem Amphibien- (Stego- 
cephalen-) Stadium (oder gar auch unmittelbar aus dem Fisch- 
stadium?) herausgebildet haben. Hat sich die Umwandlung aber in 
dieser Weise vollzogen, so kann von einer Stammform, ja selbst 
von einer Stammgruppe der Reptilien keine Rede sein. Schon 
systematische Kategorien wie die Steg. sind ein breiter Strom sehr 
mannigfaltiger Vierfüßler, deren meiste Glieder zu dem reptilischen 
Vierfüßlerstadium hinüberleiten. Nicht auf einer Linie, sondern 
auf zahlreichen parallelen Linien hat sich hier der Wandel 
vollzogen. Dabei bleibt es fraglich, ob überhaupt alle Reptilgruppen 
das Stegocephalenstadium durchlaufen haben, vielmehr könnten 


Warmblüter. Di! 


besonders für manche Meer- und für die Flugsaurier auch anders 
beschaffiene Ahnen in Frage kommen. Über ihre Vorfahren wissen 
wir aber bis jetzt nichts Genaues. 

3. Warmblüter. Nach der Ansicht mancher Forscher, im beson- 
deren Haackzs, dem sich KÜkENTHAL und andere angeschlossen 
haben, können die Säuger, weil warmblütige Tiere, nur zu einer Zeit 
entstanden sein, wo ungewöhnliche Lebensbedingungen diese Eigen- 
schaft notwendig machten. Wenn man dieser Vorstellung huldist, liegt 
es natürlich nahe, den Eintritt einer Kälteperiode dafür beizuziehen. 
Die schon lange bekannte diluviale Eiszeit kann aber hierfür nicht in 
Frage kommen, da die Säuger schon vom Beginn des Tertiär an in 
großer Fülle bestanden haben. Nachdem nun aber im Gegensatz 
zu der früher allgemein verbeiteten Annahme von der ganz exzep- 
tionellen Stellung der Quartärzeit ermittelt. worden war, daß im An- 
schluß an die Steinkohlenperiode auf der Südhalbkugel und in Indien 
eine ausgedehnte Vereisung Platz gegriffen hat, glaubte man den 
Schlüssel zur Lösung des Rätsels in Händen zu haben. Denn gerade 
bis in die Permzeit zurück hat man die frühesten Spuren säuger- 
ähnlicher Tiere zurückverfolgen können; werden doch gewisse Reste 
aus jener Zeit, z. B. Tritylodon aus der Karooformation Südafrikas, 
von manchen Forschern den Säugern, von anderen den Reptilien 
zugewiesen. In der Tat kann man sich kaum ein günstigeres 
Zusammentreffen von Umständen denken, als es hier gegeben ist, 
wenn man überhaupt auf diesem Wege der Lösung des Problems 
nachgeht. 

(Gegen dieses Vorgehen erheben sich aber schwere Bedenken. 
Denn wenn man die Ursache für die Entstehung der Warmblüter 
in einem solchen äußerlichen, gewissermaßen zufälligen Vorgang 
sucht, und nicht in der organischen Gesamtentwicklung selbst, so 
gesteht man damit zu, daß das heutige Bestehen von Warmblütern 
nicht notwendig in der Geschichte der organischen Natur begründet 
liest. Wäre eine Kälteperiode überhaupt nicht oder nicht zur Perm- 
zeit, sondern schon erheblich früher, vielleicht im Kambrium einge- 
treten, als überhaupt noch keine Vierfüßler existierten, die zu 
Vögeln oder Säugern werden konnten, so gäbe es heute überhaupt 
keine dieser beiden warmblütigen Tiergruppen, oder die Reptilien 
(oder Amphibien) hätten bis zur diluvialen Eiszeit warten müssen, 
bevor aus ihnen Warmblüter hätten entstehen können. Es gäbe 
dann heute keine der spezialisierten Vögel- und Säugertypen, sondern 
nur sehr primitive Vertreter beider Klassen, und es gäbe kein Wesen, 
das diese Probleme zu lösen suchte. Wir stoßen hier, wie in so 

14* 


912 Warmblüter. 


vielen Fällen, auf die leidige Zufallsphilosophie, die so viele Forscher 
vollständig befriedigt. Mir hat sie nie genügt, und darum werde 
ich das Problem von einer anderen Seite anzufassen versuchen. Fast 
zum Überfluß will ich aber noch einen Einwand gegen obige Vor- 
stellungsweise erheben. 

In den letzten Jahren haben sich unsere Kenntnisse von dem 
Eintritt der Glazialperioden in der Vorzeit wesentlich erweitert. Wir 
wissen jetzt, daß schon zu Beginn des Kambriums, wahrscheinlich 
auch im Devon, Eiszeiten bestanden haben, und das Dogma von 
einem gleichmäßig warmen Klima bis zur Permzeit ist dadurch in 
seinen Grundlagen erschüttert worden. Wir sind jetzt vielmehr be- 
rechtigt, ich meine sogar verpflichtet, mit Perioden erheblicher Ab- 
kühlung als einem mehrfach wiederholten, und im Laufe der Erd- 
geschichte vielleicht von Zeit zu Zeit gesetzmäßig eingreifenden Vor- 
gange zu rechnen. Wenn wir heute aus dem zwischen Perm und 
Quartär liegenden Zeitraume noch keine weitere Eiszeit kennen, so 
ist das wahrscheinlich nur ein Zufall, der aus der Lückenhaftigkeit 
der geologischen Überlieferung durchaus erklärlich wird. Mit diesem 
Fortschritt in unserer Erkenntnis erscheint das ungefähr zeitliche 
Zusammenfallen der permischen Eiszeit mit den ersten, freilich keines- 
wegs unbestrittenen Resten von Säugern viel weniger geeignet, uns 
der Lösung des Problems näherzuführen als früher. Aber schon 
immer wäre man berechtigt gewesen zu fragen, warum die quartäre 
Eiszeit nicht ebenfalls bei den von früher her auf der Reptil- oder 
Amphibienstufe stehen gebliebenen Tierformen Warmblütigkeit er- 
zeugt habe, wenn wesentlich nur die klimatischen Vorgänge die Ur- 
sache dazu gewesen sein sollen. Denn Landreptilien und Amphibien, 
aus denen warmblütige Tiere hätten hervorgehen können, hat es auch 
zu Beginn der Quartärzeit gegeben, darunter auch primitive Organi- 
sationen wie die Brückenechse (Hatteria). 

Wenn man die Warmblütigkeit der Säuger auf die letzte paläo- 
zoische Kälteperiode zurückführt, müßte folgerichtiger Weise auch 
die Warmblütigkeit der Vögel aus dem gleichen Vorgange erklärbar 
sein und in die gleiche Zeit fallen. Denn schon aus dem oberen 
Jura liegt uns ein echter Vogel in Archaeopteryx vor, von dem wohl 
niemand zweifelt, daß er trotz zahlreicher Reptilienmerkmale warm- 
blütig gewesen ist. Aber er steht ja bekanntlich den Reptilien in 
manchen Merkmalen noch recht nahe, und wenn hier überhaupt eine 
Schätzung des Zeitpunktes erlaubt ist, zu dem sich dieser Vogel von 
den Reptilien abgezweigt hat, so würde man frühestens an das Ende 
der Triaszeit denken müssen. Aus diesen Zeiten kennen wir aber bis 


Warmblüter. 213 


jetzt keine Kälteperiode. Für die Warmblütigkeit der Vögel besteht 
also ein solch anscheinend günstiges Zusammentreffen von Umständen 
nicht, wie für die Säuger. 

Um die Ursache der Warmblütiskeit der Vögel und Säuger zu 
ermitteln, sollte man meines Erachtens zunächst die physiologische 
Grundlage dieser Eigenschaft ins Auge fassen. Eine dauernde Er- 
höhung der Körpertemperatur, unabhängig von der Außenwelt, ist nur 
möglich auf Grund einer gesteigerten Ernährung. Das leuchtet 
nach physiologischen Grundsätzen ohne weiteres ein, wird aber noch 
besonders deutlich bewiesen durch das Verhalten warmblütiger Tiere 
im Winterschlaf. In Mitteleuropa sinkt bei den Fledermäusen be- 
kanntlich die Körpertemperatur mit dem Beginn des Winterschlafes 
auf 20° O., später auf 18°—14° C., ausnahmsweise bis 12° ©., während 
beim Murmeltier Körpertemperaturen bis zu 1.6° ©. hinunter be- 
obachtet werden. Das kann auch in den Fällen, wo nicht genügend 
Reservefettstoffe im Körper aufgespeichert sind und die umgebende 
Luft sich stark abkühlt, gar nicht anders sein. Die Blutwärme steigt 
erst mit Wiedereintritt der Luftwärme und der Ernährung. 

Gehen wir bei unserem Versuche, die Eigenwärme zu erklären, 
von diesen unbestreitbaren Tatsachen aus, so müssen wir weiterhin 
folgern, daß diejenigen Reptilien, aus denen Vögel und Säuger her- 
vorgegangen sind, von den übrigen Kriechtieren vor allem durch 
eine dauernd gesteigerte Nahrungsaufnahme unterschieden 
gewesen sein müssen. Dauernde Steigerung der Nahrungsaufnahme 
setzt aber eine dauernde Steigerung der Lebenstätigkeit 
überhaupt, im besonderen aber der Fortbewegung im Suchen 
nach Nahrung, voraus. Ich glaube auch, daß es umgekehrt erlaubt 
ist zu sagen: bei Tieren mit dauernd gesteigerter Lebens- 
tätigkeit und Nahrungsaufnahme erhöht sich die Körper- 
temperatur und wird unabhängig von dem umgebenden 
Mittel. Mit diesen Vorstellungen, die sich, wie ich meine, auf 
sicherer physiologischer Grundlage aufbauen, wollen wir uns nun 
einen Überblick über den Entwicklungsgang der Reptilien, Vögel 
und Säuger zu verschaffen suchen und prüfen, wie sich das Problem 
von diesem Gesichtspunkt aus darstellt. 

Heute gibt es, abgesehen von der isoliert stehenden Brücken- 
echse, vier Ordnungen von Reptilien: Krokodile und Schild- 
kröten, Eidechsen und Schlangen. Die Geschichte der Kroko- 
dile und Schildkröten ist uns recht vollständig, die der beiden anderen 
Ordnungen nur sehr dürftig überkommen. Das begreift sich leicht, 
da die Krokodile und Schildkröten vorwiegend Wassertiere sind oder 


914 Warmblüter. 


amphibisch leben, ferner zumeist große Tiere mit festen, widerstands- 
fähigen Skeletten, während Eidechsen und Schlangen meist kleiner 
sind, ein leichter zerfallendes Skelett besitzen und wegen der fast 
ausschließlich terrestrischen Lebensweise nur mehr zufällig in Ab- 
sätzen des Süßwassers oder des Meeres eingebettet werden. — Soweit 
wir die Geschichte der Krokodile und Schildkröten auch zurück- 
verfolgen können, bis in die Trias oder bis ins Perm, erhebliche 
Änderungen haben sie weder in ihrem gesamten Baue noch in ihrer 
Lebensweise erfahren. Wenn man nämlich, wie es mir geboten scheint, 
in verschiedenen Stegocephalen wie Archegosaurus, Eryops und 
in den Labyrinthodontiern die Vorfahren der Krokodile erblickt, 
so hätte sich nur die amphibische Lebensweise in die reptilische gewan- 
delt, und zwar unabhängig in verschiedenen Reihen. Denn die beiden 
größten Stämme der Longirostres und Brevirostres, die sich 
vom Jura an getrennt nebeneinander bis zur Gegenwart verfolgen 
lassen, sind schon unter jenen Stegocephalen erkennbar. Ebenso 
lassen die Schildkröten bis in den Jura zurück nur unbedeutende 
Wandlungen erkennen, die zum Teil mit der veränderten Lebens- 
weise zusammenhängen. Erst die noch älteren, triadischen und per- 
mischen Vorläufer, wie Placochely und die Rhynchosauriden 
weichen durch den Besitz von Zähnen, durch weniger feste Aus- 
bildung des Panzers und andere Merkmale von den typischen 
Schildkröten ab. 

Eine ähnliche Persistenz der Typen läßt sich aber auch für die 
Eidechsen und Schlangen behaupten. Beide Ordnungen finden wir 
schon unter den Stegocephalen des Perms vorgebildet, und wenn 
auch ein Teil der Schlangen erst später aus vierfüßigen Echsen 
hervorgegangen sein dürfte, so sind sie doch ebenso wie die drei 
anderen Ordnungen echte »Kriechtiere« geblieben. Das heißt: ihr 
Körper bewegt sich nur auf kurzen Beinen oder ohne solche auf dem 
Boden oder im Wasser, ihre Fortbewegung ist im allgemeinen lang- 
sam, oder doch nur vorübergehend schnell; nie bewegen sie sich 
andauernd rasch. Sie nehmen die Nahrung nie dauernd und 
regelmäßig auf, sondern verharren nach einer Mahlzeit fast immer 
längere Zeit in Ruhe, können auch lange Zeit ohne jegliche Nahrung 
verbringen, weil ihre Lebenstätigkeit stets gering bleibt. Sie suchen 
die Nahrung wohl nur ausnahmsweise, im allgemeinen lassen sie sie 
an sich herankommen. »Entsprechend dem unvollkommenen Blut- 
umlauf führen sie sozusagen nur ein halbes Leben« (Brenum — Börtser). 
Es fehlt bei ihnen somit die notwendige Vorbedingung für eine kon- 
stante Erhöhung der Blutwärme, auf die ich eben hingewiesen habe. 


Warmblüter. 215 


Ganz anders Vögel und Säuger. Von den Tieren mit Winter- 
schlaf abgesehen, die sich hieran wohl erst später gewöhnt haben, 
vergeht ihr Leben in einer fast ununterbrochenen Suche nach Nahrung. 
Ihre ganze Organisation ist daher auf andauernden Stoff- 
wechsel abgestimmt. Das ist aber nur dadurch ermöglicht, daß die 
Art ihrer Fortbewegung auf einer höheren Stufe steht, als bei den 
Reptilien. Vermöge ihrer verlängerten und anders gestalteten Glied- 
maßen sind sie zumeist nicht wie die Kriechtiere an den Boden 
gebannt, sondern über ihn erhoben, wodurch die Suche nach Futter 
erleichtert wird. Aber auch den kurzbeinigen Säugern, die dicht 
über dem Boden laufen oder gar graben, ist doch die Fähigkeit zu 
andauernden Bewegungen eigen, und damit besitzen auch sie die 
Möglichkeit, andauernd und regelmäßig Nahrung aufzunehmen, der 
Nahrung nachzugehen und nicht nur auf sie zu warten wie die Mehr- 
zahl der Kriechtiere. Bei ihnen allen ist also die Vorbedingung für 
Erhöhung der Blutwärme, für Eigenwärme, physiologisch gegeben. 

Neben den vier konservativen Ordnungen der Reptilien, die wir 
wohl mit demselben Recht lebende Fossilien nennen könnten, wie 
etwa Nautilus oder Pentacrinus, sehen wir nun schon am Ende der 
paläozoischen Zeit oder doch mit der Trias eine größere Zahl von 
Vierfüßler-Gruppen erscheinen, die wir zu den Reptilien rechnen auf 
Grund gewisser osteologischer Merkmale, über deren innere Organi- 
sation wir aber zumeist garnicht unterrichtet sind. Ihrer Lebens- 
weise nach zerfallen sie in drei Kategorien: Landsaurier (Thero- 
morpha, Dinosauria) Meersaurier (Ichthyosauria, Plesiosauria, Thal- 
lattosauria) und Luftsaurier (Pterosauria). Alle sind gegenüber den 
echten Kriechtieren durch die vollkommenere Art der Fortbewegung 
ausgezeichnet. Die Landsaurier sind schreitende oder hüpfende, 
die Meersaurier schwimmende und später auch tauchende, die 
Luftsaurier flatternde Tiere. Soweit wir heute schon Wandlungen 
in der Geschichte der einzelnen Stämme verfolgen können, tritt deut- 
lich eine Zunahme in der Beweglichkeit hervor, so bei den Ichthyo- 
sauriern, deren triadische Vertreter noch weniger gut ausgebildete 
Paddeln besaßen als ihre jurassischen Nachkommen, deren Schwanz- 
und Rückenflosse mit der Zeit größer wurde, während die hinteren 
Gliedmaßen an Größe abnahmen. Wenn wir aus dieser Zunahme der 
Beweglichkeit auf eine erhöhte Lebenstätigskeit und eine andauernde 
Nahrungsaufnahme bei ihnen schließen, so bleiben wir ganz und gar 
auf dem Boden gesicherter Erfahrungen. Unmöglich dagegen läßt sich 
etwas Sicheres darüber aussagen, bei welchem Grade von erhöhter 
Lebenstätigkeit etwa die Körpertemperatur unabhängig vom umgebenden 


216 Warmblüter. 


Mittel geworden sein kann. Daß diese Änderung aber im Laufe 
der Zeit überhaupt eingetreten ist, und jedenfalls ganz allmählich, 
darf als höchst wahrscheinlich, weil physiologisch notwendig, an- 
genommen werden. Und wenn dem so ist, haben wir dann das 
Recht, diese Tiere noch als Reptilien zu bezeichnen? Warmblütige 
Reptilien sind nach der heutigen Definition ein Unding! 

Für die Ermittlung der Abstammung der Vögel und Säuger 
von Reptilien sollte nun in erster Linie die unbestreitbare Tatsache 
gewürdigt werden, daß wahrscheinlich alle die sogenannten ausge- 
storbenen Ordnungen der Reptilien, die Schreit- und Hüpfsaurier, 
die Schwimmsaurier und die Flattersaurier infolge ihrer gesteigerten 
Bewegung und Nahrungsaufnahme auch eine erhöhte und eigene 
Körpertemperatur besessen haben, und daß diese Eigenschaft im 
Laufe der mesozoischen Zeit sich immer stärker herausgebildet haben 
muß entsprechend der Zunahme ihrer Bewegungsfähigkeit. Die 
physiologische Abtrennung der Metareptilien, wie man jene »ausge- 
storbenen« Gruppen zusammenfassend bezeichnen kann, von den kalt- 
blütig bleibenden eigentlichen Reptilien hat jedenfalls schon in 
der Trias, zum Teil wohl schon im Perm, begonnen und dürfte sich 
im Laufe der mesozoischen Zeit so weit akzentuiert haben, daß gegen 
Ende dieser Periode die Körperwärme bei weitaus der Mehrzahl 
ihrer Vertreter sich der Körperwärme der Vögel und Säuger an- 
genähert hatte. Für die aus Reptilien entstandenen Vögel des Jura 
und der Kreide, Archaeopteryx, Hesperornis und Ichthyornis dürfen 
wir das sogar mit Sicherheit behaupten. Für die Flugsaurier 
aber hat schon SerLrey Warmblütigkeit angenommen. Diese 
Vermutung, die auch FÜRBRINGErR als nicht unberechtigt anerkennt, 
kann man auch nicht mit dem Hinweis entkräften (Damszs), daß sie 
dann doch auch wohl Federn gehabt haben müßten. Eine feine 
Haarbedeckung, wie die Fledermäuse sie besitzen, würde ein gleich- 
wertiges Korrelat zur Warmblütigkeit darstellen. Denn man darf 
wohl überhaupt den fast allgemein eingetretenen frühen Verlust der 
knöchernen Hautbedeckungen bei den Metareptilien als eine Folge 
der zunehmenden Beweglichkeit der Haut ansprechen und annehmen, 
daß an ihrer Stelle sich Federn oder Haare eingestellt haben. Wie 
die Gürteltiere und das Schuppentier (Manis) zeigen, bestehen 
Haare mit knöchernen Hautpanzern zusammen, und Reste eines 
solchen Panzers besitzt ja unter anderen auch noch Mylodon in seiner 
mit Haaren bedeckten Haut. Daß bei allen Vögeln Federn, bei allen 
Säugern Haare entstanden sind, hängt wohl sicher mit der Verschieden- 
heit ihrer Bewegungsart, Körperhaltung und Ernährung zusammen. 


Vögel und Säuger. 217 


4. Vögel und Säuger. Die meisten Forscher, die sich über die 
Herkunft der Vögel und Säuger geäußert haben, leiten beide Klassen 
von den Reptilien ab. Für die Vögel erscheint diese Ableitung auch 
ohne weiteres plausibel, da ihre Vertreter zur Jura- und Kreidezeit 
noch ganz offenkundig Reptilmerkmale aufweisen. Für die Säuger 
kann ein Schwanken über ihre Herkunft, ob von Reptilien, Amphi- 
bien oder gar noch niedrigeren Typen deshalb vielleicht nicht unbe- 
berechtigt erscheinen, weil uns derartige überleitende Zwischenglieder, 
wenigsten für die plazentalen Säuger aus vortertiärer Zeit, merk- 
würdigerweise noch fast ganz fehlen. Wenn wir aber die Warm- 
blütigkeit als eine der notwendigen Vorbedingungen für das Säuger- 
tum betrachten, die obigen Ausführungen über die Entstehung der 
Warmblütigkeit als berechtigt anerkennen und uns allein auf die tat- 
sächlich vorliegenden Funde stützen, so werden wir als Vorfahren 
der Säuger nur Reptilien in Betracht ziehen dürfen. Den Ursprung 
der Vögel und Säuger werden wir dann eben nur in den Meta- 
reptilien der mesozoischen (oder auch permischen) Zeit suchen können. 

Das gemeinsame physiologische Merkmal der Vögel und Säuger 
ist die Warmblütigkeit, ein trennendes die Art der Fortpflanzung. 
Die Vögel, deren Körpergewicht vor und hinter den Beinen annähernd 
gleichmäßig verteilt liegt, und deren Körperachse allgemein nach hinten 
geneigt ist, haben das Eierlegen des Reptilstadiums beibehalten. Die 
erhöhte Lage der Eierstöcke zu dem After hat das auch ohne weiteres 
gestattet. Bei den Säugern, deren Leib im allgemeinen zwischen 
den vier Beinen aufgehängt ist, und wo dadurch die Fortpflanzungs- 
organe unter die Afteröffnung hinabgesenkt sind, erscheint der freie 
Austritt des Eies erschwert und eine Änderung in der Fortpflanzung 
naturnotwendig bedingt. Die Frucht wird im Mutterleibe weiter 
entwickelt und lebendig geboren. So stellt sich das Lebendig- 
gebären der Säuger als eine notwendige Folge ihres Körperbaues dar, 
ebenso wie das Beibehalten des Eierlegens bei den Vögeln als Aus- 
fluß ihrer von den Säugern verschiedenen Körperhaltung begriffen werden 
kann. Ein meist nicht vollständiges Lebendiggebären kommt zwar ver- 
einzelt auch bei Reptilien vor, z. B. bei Lacerta vivipara und bei ver- 
schiedenen Schlangen. Ich habe keine Angabe über die etwaige Ur- 
sache dieser Anomalie finden können, aber man darf wohl auch hier 
an eine Art Behinderung im freien Ablegen der Eier denken. Eine 
vollkommenere Art des Lebendiggebärens scheint aber bei einigen 
Metareptilien stattgehabt zu haben, wenigstens ist das schon für 
die Ichthyosaurier der Liaszeit festgestellt an englischen wie an 
deutschen Funden. Auf keinen Fall kann aber das Lebendiggebären 


218 Vögel und Säuger. 


einzelner echter Reptilien als ein Einwurf gegen die hier versuchte 
Deutung der Säuger-Fortpflanzung überhaupt verwertet werden. 
Denn bei den Säugern (wohl auch bei den Metareptilien) hat das 
Lebendiggebären Platz gegriffen an Tieren mit eigener Körper- 
wärme, bei den Reptilien an Kaltblütlern. Daher kann es nicht 
wundern, wenn auf ungleicher Grundlage Verschiedenes entstanden 
ist, bei den Reptilien nur unvollkommenes Liebendiggebären, bei den 
Säugern Lebendiggebären und Säugen. Denn letztere Eigenschaft 
können wir uns sehr wohl entstanden denken durch Zusammenwirken 
der beiden gegebenen Voraussetzungen, des Lebendiggebärens und 
der Warmblütigkeit. Im besonderen stellt sich die Herausbildung 
milchabsondernder Drüsen nur als ein besonderer Fall der Schweiß- 
drüsenbildung dar, die am Säugerkörper zusammen mit der Haar- 
bekleidung entstanden sein dürfte. Die Veränderung des Sekrets 
ist dann als Folge des von den Jungen ausgeübten Leckreizes zu 
betrachten. 

Suchen wir nun nach den hier gewonnenen Gesichtspunkten 
unter den Metareptilien der mesozoischen Zeit die möglichen 
Vorfahren der Vögel von den möglichen Ahnen der Säuger 
zu sondern, so werden wir zu folgender Trennung geführt. 

Als mögliche Ahnen der Vögel, Avireptelia, haben wir im all- 
gemeinen diejenigen Formen ins Auge zu fassen, deren Gliedmaßenpaare 
so ungleich gestaltet waren, daß die Fortbewegung nur auf den hin- 
teren, bei älteren Vertretern vielleicht noch mit gelegentlicher Zuhilfe- 
nahme der vorderen, erfolgte. Bei solchen Gestalten blieb die 
Körperachse dauernd in geneigter Lage und ermöglichte die Fortdauer 
der Eierablage. Als weitere Merkmale, die in der Richtung des 
Vogeltypus liegen und vom Säugertypus abführen, wären folgende 
hervorzuheben. Die Verringerung der Zehenzahl auf drei funktion- 
nierende und eine mehr oder weniger beträchtliche Verlängerung der 
Metatarsalien oder gar ihre Verwachsung zu einem Lauf. Denn die 
ältesten tertiären Säuger besitzen fast ausnahmslos 5 Zehen, kein 
einziger aber weist 3 auf, und ebenso fehlen den älteren Säugern 
verlängerte oder gar verwachsene Metatarsalien. Ferner kann eine Be- 
schränkung der Zähne auf den vordersten Teil der Schnauze wohl nur 
für einen Vogelvorfahr in Frage kommen, nicht aber für einen Säuger, 
da den älteren Säugern durchgehends Backenzähne zukommen. Eine 
Postpubis darf auch als vogelähnliches Merkmal in Anspruch ge- 
nommen werden; ebenso das Vorkommen einer Lücke im Unter- 
kiefer. Wo der Kopf schon senkrecht zur Achse des Halses wie bei 
den Vögeln gestellt ist, ist auch ein ausgesprochenes Vogelmerkmal 


- 


Vögel und Säuger. 219 


gegeben. Wenn nun mehrere dieser Merkmale gar vereinigt ange- 
troffen werden, scheint die Entscheidung sicher, und dies trifft für die 
Ornithopoden (Fig. 129) ohne weiteres zu. Bei den Scelidosauriden 
müßte später noch die Stellung des Schädels sich geändert haben. 
Wenn, wie bei den Theropoden, einige wichtige Merkmale, wie 
ausgesprochene Ungleichheit der Gliedmaßen, Verkümmerung der 
Zehenzahl, Durchbruch im Unterkiefer usw., zusammentreffen, eine 


(Oi 


Fig. 129. Ein Avireptil aus der Abteilung der Ornithopoden, Iguanodon Ber- 
nissartensis Boulgr. Unt. Kreide: Wealden. Bernissart, Belgien. A Zahn; B Kopf; 
C Skelett. (Nach DoLLo aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) 


Postpubis aber nicht entwickelt ist, erscheint es keineswegs ausge- 
schlossen, daß Vogelahnen vorliegen, da eine Rückwärtsbiegung der 
nach unten gerichteten Pubis die Verhältnisse des Vogelbeckens 
ebenfalls ergibt. 

Als mögliche Vorläufer von Säugern (Mammoreptilien) 
darf man bezeichnen: erstens die 3 großen Gruppen von Meer- 
sauriern, die Ichthyosauria, Plesiosauria und Thalattosauria, ferner 
die Pterosauria, da für diese Ordnungen eine Umbildung in Vögel 
vollkommen ausgeschlossen, ihre Organisation aber durchgängig nicht 
so vereinseitigt ist, daß eine Fortbildung in ähnlich gestaltete und 
ähnlich lebende Säuger nicht mehr möglich wäre. Von den Land- 
sauriern kämen die Mehrzahl der Sauropoden und die Homoeo- 


220 Vögel und Säuger. 


poden (Ceratopsida Fig. 130) in Frage. Die Sauropoden sind Tiere 
mit annähernd gleichen Gliedmaßenpaaren (bei Camaro-Atlantosaurus 
sind die vorderen sogar länger als die hinteren), und meist nicht 
reduzierter Zehenzahl; ihr Kopf steht in der Halsachse. Wo sich eine 
vollständige Bezahnung mit diesen Merkmalen vereinigt findet, scheinen 
die Beziehungen zu Säugern möglich oder gar wahrscheinlich. Das 
trifft für die Mehrzahl zu. Wo aber, wie bei Diplodocus, die Zähne 
auf den Vorderteil der Kiefer beschränkt sind, möchte man lieber 
an einen primitiven Vogelahnen denken, der den zweibeinigen Gang 


Fig. 130. Ein Mammoreptil aus der Abteilung der Homoeopoden, Triceratops. 
Ob. Kreide: Laramie. Ostl. Felsengebirge. A Restauriertes Skelett. B Schädel von 
oben. C Zahn. D Hautknochen. E Endphalange. (Nach MarsH aus STEINMANN: 
Einf. i. d. Pal.) 

noch nicht erreicht hat. Die Homoeopoden (Fig. 130) besitzen da- 
gegen eine so auffallende habituelle Ähnlichkeit mit Säugern, daß 
selbst die scheinbar entgegenstehenden Merkmale dagegen zurücktreten. 
Die angegebene Dreizehigkeit der hinteren Gliedmaßen ist keineswegs 
verbürgt, und die den Kiefern vorgeschuhten, zahnlosen Knochen 
(rostrale und praedentale) stellen so eigenartige Bildungen dar, 
daß eine posthume Zahnentwicklung an ihnen nicht als ausgeschlossen 
gelten darf. 

Hiernach würden wir die Metareptilien der mesozoischen Zeit 
in folgender Weise trennen können: 


Mögliche Vogelahnen. — Avireptilia. 
Theropoden mit den gut bekannten Gattungen 
Anchisaurus, Allosaurus, Ceratosaurus, Laelaps, Megalosaurus, 
Compsognathus, Hallopus, Coelurus. 
Ornithopoden mit den bekannten Gattungen 
Camptosaurus, Laosaurus, Hypsilophodon, Iguanodon, Trachodon, 
Olaosaurus. 


Vögel. N 


Stegosauriden mit Siegosaurus und Scelidosaurus. Von den 
Sauropoden Diplodocus. 


Mögliche Säugerahnen. — Mammoreptilia. 

Sauropoden mit den Gattungen 

Cetiosaurus, Camerosaurus, Brontosaurus, Morosaurus. 
Homoeopoden mit Triceratops und Verwandten. 
Pterosauria. 
Ichthyosauria. 
Plesiosauria. 
Thalattosauria. 


5. Vögel. Um die Entstehung der Vögel aus den uns bekannten 
Metareptilien zu ermitteln, fassen wir zunächst die Reste fossiler 
Vögel aus mesozoischer Zeit ins Auge und untersuchen, welche Be- 
ziehungen sie untereinander, sowie zu den Reptilien einerseits, zu den 
heutigen Vögeln andrerseits aufweisen. Dabei wird sich dann er- 
geben, ob sie auf einen gemeinsamen Vorfahren der Vögel hinweisen, 
oder ob ihr Ursprung eher in verschiedenen Reptilformen zu suchen 
ist. Drei verhältnismäßig gut bekannte Jura- und Kreidevögel 
kommen hier in Frage. 

1. Archaeopteryx (oberer Jura, Fig.151). Es ist der älteste Vogel, den 
wir kennen. Er ist befiedert, besitzt Tränen- aber keine Schläfengruben, 
vollständig verwachsene Kopfknochen, einen vollständig verschmolzenen 
Lauf und andere Vogelmerkmale mehr. Mit diesen ausgesprochenen 
Vogelmerkmalen paaren sich aber andere, die wir am erwachsenen 
Flugvogel niemals beobachten, die bei heutigen Vögeln nur im embry- 
onalen Zustande auftreten und daher ebenso gut als ausgesprochene 
Reptil-Merkmale zu gelten haben. Das sind im wesentlichen folgende: 
Die lange, eidechsenartige Schwanzwirbelsäule mit lauter freien 
Wirbeln, die unvollkommene Verschmelzung der Handgelenk- und 
Mittelhandknochen und die Bezahnung, die aus 13 kleinen, in Al- 
veolen eingefügten Zähnen in jeder Hälfte des Kiefers besteht. Ge- 
wisse Merkmale fehlen aber auch den heutigen Vögeln gänzlich, so die 
Bauchrippen, und die schlanken Rippen ohne Hakenfortsatz. Legt 
man nun mehr Gewicht darauf, daß viele Kennzeichen der Archaeo- 
pteryc bei Reptilien zu finden sind, aber dem erwachsenen Vogel 
fehlen, so wird man die Verwandtschaft mit den Reptilien mehr in 
den Vordergrund stellen; betont man mehr, daß diese Kennzeichen 
auch beim embryonalen Vogel vorkommen, so wird man diese wich- 
tige Übergangsform den Vögeln zuzählen. In welcher Weise man 
aber auch die Stellung des Urvogels zum Ausdruck bringen mag, an 


222 Vögel. 


der Tatsache ist nicht zu zweifeln, daß er in ausgesprochenem 
Maße eine Mittelstellung zwischen den beiden Entwicklungsstufen 
der Vierfüßler einnimmt und allein schon als Beweis dafür genügt, 
— __ıı daß aus einem Reptil 

\ einmal ein Vogel hervor- 
gegangen ist. 

Weniger leicht las- 
sen sich die Beziehungen 
von Arch. zu einer be- 
stimmten Gruppe von 
Reptilien ermitteln. Aus 
älteren Schichten des 
Jura und aus der Trias 
kennen wir kleinere, 
hochbeinige Reptilien 
von solchem Habitus, 
wie sie Arch. als Vor- 
fahren fordert, so gut 
wie gar nicht, und wir 
müssen schon zum per- 
mischen Proterosau- 
rus von 1,5 m Länge 
oder zu den kleineren 
Stegocephalen mit 
amphibischer Liebens- 
weise aus der Permzeit 
zurückgehen, um nie- 
driger organisierte und 
habituell ähnliche For- 
men in einiger Auswahl 


Ba | zu finden. So bleibt die 
Fig. 131. Archaeopteryc maeruraOwen. Lithographischer 
Plattenkalk. Solnhofen. Restauriert in der Stellung Herkunft von Arch. zu- 
des Berliner Exemplars. e Carpus; el Clavicula; co Cora- nächst unermittelt. 
coid; A Humerus; r Radius; sc Scapula; u Ulna; I, II, ii 
III die 3 Finger der Hand (wahrscheinlich 2. 3. Etwas klarer liegen 


4. Finger). I—IV, 1—4 Zehen. (Nach Dawes aus die Beziehungen zu den 
STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) : % ; 
heutigen Vögeln. Mit 

Recht ist von verschiedenen Seiten betont worden, daß man in 
Arch. nicht den gemeinsamen Vorfahr aller Vögel sehen darf. Da 
ich mir das Ziel, einen Urvogel zu konstruieren, aus guten Gründen 
überhaupt nicht gesteckt habe, so bescheide ich mich mit dem Ver- 
suche, einen kleineren Teil der jüngeren Vögel an Arch. anzuschließen. 


Vögel. 223 


Hierfür könnten allein kleinere Flugvögel in Frage kommen, z. B. 
die Gruppe der Tauben, mit der man Arch. gewöhnlich auch ver- 
gleicht. Welche triftigen Gründe sich dagegen anführen ließen, ver- 
mag ich nicht einzusehen. Denn wir brauchen ja nur die altertüm- 
lichen (Reptil-) Merkmale im Laufe der Zeit verschwinden, die Vogel- 
merkmale aber im allgemeinen konserviert oder noch weiter gebildet 
zu denken, um einen taubenartigen Vogel zu erzielen. Wollen wir 
hiernach die Stellung von Arch. im Reiche der Vierfüßler präzisieren, 
so dürfen wir sagen: es ist eine Mittelform zwischen kleineren, uns 
noch nicht bekannten Reptilien oder richtiger Metareptilien aus 
der älteren mesozoischen Zeit und einem echten Flugvogel vom 
Charakter der Tauben. 

2. Von diesem Urvogel lenkt sich unser Blick unwillkürlich auf 
einen an Größe fast ganz gleichen Vogel aus etwas jüngerer Zeit, 
Ichthyornis, aus der Oberkreide Amerikas (Fig. 132). Auch dieser 
Vogel zeigt noch manche altertüm- 2. 
lichen Merkmale: er teilt mit Arch. 
den Besitz von Zähnen und die bi- 
konkaven Wirbel. In anderer Be- 
ziehung steht er moderner da: die 
Schwanzwirbel sind zum Teil ver- 


wachsen, die Flügel mächtig ausge- 
bildet, und dementsprechend ist ein 
Brustbeinkiel vorhanden, der Arch. 
noch fehlt. Hiernach hinderte uns 
nichts, ihn als einen direkten Nach- 
kommen des Juravogels anzusehen. 
Und doch ist das aus anderen Gründen Fig. 132. Tehihyornis vietor Marsh. 
nicht angängig. Denn wenn auch die Ob. Kreide. Kansas. Skelett. cl Clavi- 
1, 5 i i eula; co Coracoid; er Crista sterni; 
Zähne wie bei Arch.in Alveolen stehen, n Humerus; m 2. u. 3. Metacarpus: 
soistdochihreZahlerheblichgrößer ?Y Pyeostyl; r Radius; sc Scapula; 
£ ni = i-m Lauf; u Ulna; un Processus un- 
als dort. Sie beträgt 21 gegenüber 13. cinatus; 7 4. Metacarpus; II, III 2. 
ae le und 3. Finger. (Nach MarsH aus 
Wir können aber unmöglich annehmen, STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem.d.Pal.) 
daß sich in der Entwicklungsreihe, 
die von den bezahnten Reptilien zu den allgemein unbezahnten Vögeln 
führt, die Zahnzahl vergrößert hätte. Auch ein anderes Merkmal läßt 
sich mit einer unmittelbaren Ableitung von Arch. nicht vereinigen, 
das ist die Trennung, die im Unterkiefer von Ichth. zwischen dem 
Spleniale und Angulare besteht. Denn bei Arch. sind die Knochen 
des Unterkiefers schon vollständig verwachsen, wie bei den Vögeln; 


sie können in einer viel späteren Zeit sich nicht wieder getrennt 


294 Vögel. 


haben. So werden wir zu der Annahme geführt, daß Ichth. einer 
mit Arch. parallellaufenden Übergangsreihe zwischen Meta- 
reptilien und Vögeln angehört und seinen Ursprung aus einer 
ähnlichen Metareptilform wie Arch., aber unabhängig davon, her- 
leitet. Man hat Ichtk. mit den Möven, speziell mit den Sterniden, 
verglichen, worauf auch der gesamte Körperbau deutlich hinweist. 

3. Der dritte gut bekannte Zahnvogel der mesozoischen Zeit ist 
Hesperornis aus der Oberkreide (Fig. 1335). Ein Tier von etwa 1m 
Höhe, habituell nicht den Flug-, sondern den Laufvögeln gleichend 
und doch von allen bekannten Ver- 
tretern der heutigen Laufvögel durch 
langen Kopf und Schnabel, sowie 
durch seinen zarteren Knochenbau, 
im besonderen der Hintergliedmaßen, 
unterschieden. Da aber das Brust- 
bein ungekielt ist und die Flügel- 
knochen so schwach entwickelt sind, 
daß das Tier wohl kaum fliegen 
konnte, so erscheint die Bezeichnung 
»Laufvogel« bis zu einem gewissen 
(srade gerechtfertigt. Da nun nach 
der jetzt ziemlich allgemein ver- 
tretenen Auffassung die einzelnen 
Gruppen der Laufvögel aus einzelnen 
So Gruppen von Flugvögeln hervor- 
Fig. 133. Hessens) BR Marsh. gegangen sein sollen, so erhebt sich 
a kan, Uhr die Frage, ob sich Heyp. nicht: elwa 
merus; i lleum; is Ischium; p Patella; auf Arch. zurückführen oder an den 
nen a gleichaltrigen Ichth. irgendwie an- 
Metatarsus). B cölodonterZahn mitZahn- schließen läßt. Das erscheint aber 


keim. (Nach MArsH aus STEINMANN- 
DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) 


gänzlich unmöglich. Denn nicht nur 
weicht er im Bau des Kopfes von 
beiden sehr erheblich ab, sondern auch die größere Zahl seiner Zähne 
gestattet einen solchen Anschluß ebensowenig, wie ihre Beschaffenheit 
und Stellung. Der Zahnwechsel ist nämlich noch primitiv wie bei 
Reptilien, und die Zähne stehen nicht wie bei jenen beiden Zahn- 
vögeln in Alveolen, sondern in einer gemeinsamen Furche. Das 
letztere ist aber ein Merkmal, das bei keinem fossilen Zahnvogel an- 
getroffen wird, sondern nur bei gewissen Reptilien, wie Ichthyo- 
saurus (und bei einigen Cetaceen). Ferner sind die Knochen des 
Unterkiefers noch wie bei den Reptilien vollständig voneinander 


ee 


Vögel. 225 


geschieden, während sie bei Ichth. fast alle, bei Arch., soweit wir wissen, 
ganz verwachsen waren. 

Will man Hesp. auf eine Reptilgruppe zurückführen, so können 
ernstlich nur die Dinosaurier in Betracht kommen, und unter 
diesen wohl am besten die kleinen Vertreter der Öamptosauriden. 
Eine bestimmte Gattung läßt sich aber zur Zeit nicht namhaft 
machen, da keine die Zahnrinne von Hesp. aufweist. Wir dürfen 
auch nicht vergessen, daß uns kleinere Vertreter der a 
allgemein nur kan bekannt geworden sind. 

Diese Betrachtung der mesozoischen Zahnvögel führt uns zu 
folgendem Ergebnisse. Jeder der drei gut bekannten Typen 
repräsentiert eine gesonderte Stammreihe, von denen jede 
einzelne insofern von den Metareptilien zu den Vögeln 
überleitet, als sie bestimmte Merkmale aufweist, die den heutigen 
Vögeln im erwachsenen Zustande fehlen, die aber den mesozoischen 
Reptilien zukommen. Auch nicht auf eine Stammgruppe mesozoischer 
Reptilien oder Metareptilien weisen die Zahnvögel hin, sondern auf 
mindestens zwei verschiedene, und ebensowenig lassen sich die zwei 
Flugvögel in eine genetische Reihe ordnen, trotzdem sie im Alter 
hinreichend unterschieden sind. In dieser Beziehung muß auch noch 
die Tatsache erwähnt werden, daß fast jeder der minder gut be- 
kannten Vögel aus der Kreidezeit einer bestimmten, gut charakterisier- 
ten Gruppe von Flugvögeln angehört, nämlich Zaornis den Gänsen, 
Palaeotringa den Sumpfvögeln, Telmatornıs den Kranichen und 
Scaniornis vielleicht den Störchen. Wie uns nun eine Betrachtung 
der tertiären und lebenden Vögel zeigen wird, müssen aber zur 
mesozoischen Zeit noch viel mehr durchaus selbständige Vogelstämme 
bestanden haben, die ebenfalls auf ganz verschiedene Ausgangspunkte 
unter den Reptilien hinweisen. 

Zunächst möge eine Gruppe herausgegriffen werden, die eine 
besondere Beachtung unter den Flugvögeln verdient. Die heutigen 
Pinguine hat man mit wesentlich den gleichen Merkmalen bis in 
das Alttertiär zurückverfolgt; sie waren schon damals in Pata- 
sonien, Neuseeland und auf der Antarktis in zahlreichen Arten zu- 
hause. Sie nehmen anerkanntermaßen eine ganz isolierte Stellung 
unter den Vögeln ein. Man hat die ihnen eigentümlichen Merkmale 
als spezialisiert bezeichnet, gewisse sind aber sehr primitiv. Das gilt 
vor allem von der Trennung der Schädelknochen, die sehr lange ge- 
trennt bleiben, einem ausgesprochenen Reptilmerkmale, das selbst 
den mesozoischen Zahnvögeln mit Ausnahme von Hesp. schon fast 
gänzlich abgeht. Das gilt aber im besonderen von der Beschaffen- 


Steinmann, Abstammungslehre. 15 


226 Vögel. 


heit des Laufes, dessen drei Elemente noch nicht vollständig ver- 
schmolzen, sondern noch durch mehr oder weniger weite Lücken 
(Fig. 134!) getrennt sind, ein Verhalten, das wir sonst nirgends unter 
den Vögeln, wohl aber bei Dinosauriern, 
z. B. bei Ceratosaurus aus dem Jura!), in 
minder vollkommener Form bei Ornithomimus 
aus der Oberkreide kennen. Diese Merkmale 
lassen es ganz ausgeschlossen erscheinen, daß 
man die Pinguine von irgendeinem der be- 
Fig. 134. Rechter Lauf kannten mesozoischen Vögel ableitet, denn 


eines fossilen Pingnins & : : B 2 
(Palaeospheniscus)ausdem diese besitzen ja allgemein schon einen echten 


Miozän Patagoniens. Lauf ohne Lücken. 
e Lücke zwischen dem 3. = 
und 4. Metatarsale. (Nach Im Untereozän der Insel Sheppey hat man 


AMEGHINO aus STEIN Reste von Zahnvögeln gefunden, die in die 
MANN: Einf. i. d. Pal.) 

Verwandschaft der Sturmvögel zu gehören 
scheinen. Argillornis besitzt am hinteren Teil der Kiefer Alveolen, 
wird also die Zähne erst kurz vorher verloren haben, bei Odonto- 
pteryx dagegen sind die Kieferränder mit ungleichen, zum Teil sehr 
langen, zahnartigen Zacken besetzt, die nur als Reste der früheren 
Bezahnung gedeutet werden können. Wenn sie das aber sind, so 
müssen im Mesozoikum oder Tertiär auch Zahnvögel von ganz anderem 
Baue, als die bis jetzt bekannten, vorhanden gewesen sein. 

Die heutigen Laufvögel mit Einschluß der erst in jüngster 
Zeit ausgestorbenen Riesenvögel von Neuseeland, Madagaskar usw. 
stehen, wie schon von verschiedenen Seiten hervorgehoben worden 
ist, dem Gros der Flugvögel zumeist recht fremdartig gegenüber. 
Aus den erschöpfenden Darstellungen FÜRBRINGErRs geht deutlich her- 
vor, daß sich zur Not zwar Anknüpfungspunkte bei den Flugvögeln 
finden lassen, die diesen Forscher auch veranlassten, die einzelnen 
Laufvögelgruppen aus verschiedenen Gruppen der Flugvögel entstan- 
den zu denken; andrerseits kann man bei der unverkennbaren Selb- 
ständigkeit der großen Laufvögel und bei dem vollständigen Fehlen 
von vermittelnden Formen zwischen Flug- und Laufvögeln begreifen, 
daß manche Forscher einer unabhängigen Entstehung der Laufvögel 
aus Reptilien, im besonderen aus Dinosauriern, das Wort geredet 
haben, wie WIEDERSHEIM, oder daß sie doch die Trennung der beiden 
großen Vogelstämme in eine weit zurückliegende Periode verschoben 


1) Baur hat vermutet, daß in diesem »Lauf« der Dinosaurier nur eine 
pathologische Erscheinung vorläge. Ich vermag nicht einzusehen, warum das 
der Fall sein soll. Vielleicht, weil sonst die Vogelähnlichkeit dieses Sauriers zu 
groß wäre! 


Vögel. 227 


haben, wie Dames. Nach MArk und SerLey hätten die Laufvögel 
überhaupt nie das Flugvermögen besessen. 

Verzichten wir auf den Versuch, alle Vögel auf einen gemein- 
samen Vorfahren zurückzuführen, und nehmen wir die lebenden und 
fossilen Funde so wie sie sich uns darbieten, ohne Voreingenommen- 
heit, so werden wir sagen können: Nichts hindert, aber vieles spricht 
dafür, daß die Flugunfähigkeit der Laufvögel ein ursprüng- 
liches Merkmal ist. Auch die Flugvögel sind ja ursprünglich nur 
Lauf- oder Klettertiere gewesen und haben die bezeichnenden Merk- 
male der Flugvögel, ein gekieltes Brustbein und eine Flughand erst 
später erworben. Hiernach können wir einen Flugvogel mit gekieltem 
Brustbein wohl von einem Vorfahren mit ungekieltem Brustbein ab- 
leiten, das Umgekehrte müßte aber erst historisch sicher erwiesen 
sein, ehe wir es als möglich oder tatsächlich annehmen. 

Im Lichte dieser Anschauung gewinnt der einzige bis jetzt gut 
bekannte Vogel der Kreidezeit, Hesperornis (Fig. 133), eine ganz 
andere Bedeutung, als man ihm zumeist zuerkennt, und scheidet aus 
der Reihe der unverständlichen Naturerzeugnisse aus. Als »schwim- 
mender Strauß« trägt er zum Verständnis der heutigen Vögel nichts 
bei. Fassen wir ihn aber als einen primitiven Oarinaten auf, 
der einen Brustbeinkiel erst später mit der stärkeren Entwicklung 
der Flügel erhalten hat, — seine Vordergliedmaßen waren ja keines- 
wegs vollständig verkümmert, sondern nur schwach und schlank, — so 
rückt er in die Vorfahrenreihe der Colymbiformes ebenso un- 
gezwungen ein wie die beiden mesozoischen Flugvögel in die Vor- 
fahrenreihe der Columbiformes und Lariden. Denn die Auf- 
fassung der vergleichenden Anatomen und Paläontologen geht ja 
allgemein dahin, daß Hesp. zu der heutigen Familie der Taucher 
die allerengsten Beziehungen aufweist. FÜRBRINGER vereinigt daher 
auch Hesp., die mangelhaft bekannten Enaliornis und die rezenten 
Colymbi-Podicipites zu einem einzigen Kreise und denkt sich 
Hesp. aus diesem durch Verlust der Flugfähigkeit abgezweigt. Wir 
brauchen dies Verhältnis nur umzukehren, und Hesp. als einen 
noch nicht flugfähigen Vorfahr der Colymbi-Podocipites 
anzusprechen, um zu einer vollständig befriedigenden Erklärung des 
fossilen Stoffes zu gelangen. 

‘Wer mit mir die großen, meistenteils ausgestorbenen Laufvögel 
auf Dinosaurier zurückführt, braucht an der meist viel beträchtlicheren 
Größe der Dinosaurier keinen Anstoß zu nehmen. Denn wenn aus 
einem Dinosaurier ein Laufvogel entsteht, fällt ja ein sehr beträcht- 
licher Teil seiner Körperlänge, der Schwanz, so gut wie ganz fort. 

15* 


238 Vögel. 


Dieser beträgt aber gewöhnlich die Hälfte der ganzen Länge, zu- 
weilen noch mehr. Als Vergleich kann uns am besten die Höhe 
des Kreuzes über dem Boden dienen, denn diese bleibt sich gewöhn- 
lich gleich, einerlei, ob der Schwanz verkümmert oder ob das Tier 
eine andere Haltung seines Leibes oder Halses annimmt. Doch 
dürfen. wir von der Kreuzhöhe noch einen erheblichen Betrag ab- 
ziehen. Denn bei den Dinosauriern befand sich der Oberschenkel 
in mehr oder weniger ‚geneigter Stellung, beim Laufvogel steht er 


Fig. 135. Aepyornis Hildebrandti Burckh. Mada- Fig. 136. Aepyornis ingens M. 
gaskar. (Nach ANDREWS.) E.& Gra. Madagaskar. (Nach. 
GRANDIDIER.) 


mehr oder weniger horizontal, und dasselbe gilt für den Fuß. Außer- 
dem haben wir aber bei der Umwandlung eines der großen: Dino- 
saurier in einen Laufvogel noch mit einer allgemeinen: Reduktion 
der Körpergröße zu rechnen. Denn manche der riesigen Dinosaurier 
lebten, wie man aus dem Fehlen von Gelenkflächen an den Enden 
der Gliedmaßenknochen entnimmt, noch im Sumpf, und sie trugen 
ihren. unförmlichen Körper nicht frei. Nur aus dieser Lebensweise 
läßt sich auch die ungeheure Länge der Wirbelsäule und die ge- 
waltige Masse des gesamten Körpers begreifen. Wenn aber Tiere’ 
aus dem Wasser oder aus dem Sumpf aufs trockene Land übergehen, 


Vögel. 229 


nimmt ihre Körpergröße beträchtlich ab, wie ein Vergleich der 
Größe der typischen Insekten und Spinnen mit ihren ältesten Ver- 
tretern aus dem Karbon und mit den Trilobiten und Gigantostraken, 
von denen wir sie ableiten, zeigt. 

Dem Versuche, die einzelnen Laufvögel auf bestimmte Dinosaurier 
zurückzuführen, stehen erhebliche Schwierigkeiten entgegen, da viele 
von den Reptilien-Merkmalen bei den Vögeln ganz verschwunden, 
andere durch gleichsinnige Umbildung in den neuen Zustand ihre 
vorher auffälligen Unterschiede eingebüßt haben. Gesamtgröße, Form 
und Proportionen der einzel- 
nen Skeletteile, Durchbruch 
im Unterkiefer usw. sind 
aber als leitende Merkmale 
übrig geblieben. Diese ge- 
währen immerhin die Möglich- 
keit zur Auffindung phylo- 
genetischer Beziehungen, da 
selbst die einzelnen Arten 
der gleichen V ogel-»Gattung« 
in dieser Hinsicht erkennbare 
Unterschiede aufweisen (wie 
die Arten von Moas und von 
Aepyornis Fig.135,136 zeigen), 
und solche scheinen bei Dino- Fe 137. Ein Avisaurier, Ceratosaurus aus 

dem Jura der Felsengebirge, ausgezeichnet 
sauriern in ähnlicher Weise durch den Knochenkamm auf dem Nasen- 
vorhanden gewesen zu sein. Nrh“ (> einen Purshhruch In Untrbihe 
Doch fehlt mir noch die (fa). (Nach Marsn aus SrEINMANN-DÖDERLEIN.) 
Möglichkeit, bestimmte Ver- 
gleiche zu ziehen. Faßt man aber den stetig wachsenden Formen- 
reichtum der fossilen Avireptilia ins Auge und vergleicht damit 
die Mannigfaltigkeit der davon abzuleitenden Laufvögel, deren aus- 
gerottete Vertreter immer besser bekannt werden, so darf man wohl 
behaupten, daß die Formenbreite bei beiden nicht wesentlich ver- 
schieden ist. 

Etwas weiter kommen wir mit den Merkmalen, die in beiden 
Stufen nur ein einziges Mal ausgeprägt sind. So besitzt ein 
einziger Avisaurier, ÜOeratosaurus nasicornis (Fig. 137) einen schmalen, 
rauhen Knochenkamm auf dem Nasenbeine, und dieser hat eine 
Hornbekleidung getragen; eine einzige Gruppe von Laufvögeln, die 
Helmkasuare, sind durch Besitz ‘eines ganz ähnlichen, auch mit 
Horn bekleideten Kammes ausgezeichnet, der nur etwas weiter zurück 


230 Vögel. 


auf der Stirn sitzt. Damit verbindet sich bei beiden ein Durch- 
bruch im Unterkiefer (U) und eine starke Entwicklung der Präfron- 
talien (fa). Eine andere sehr merkwürdige Übereinstimmung besteht 
zwischen einem Trias-Saurier, den man früher irrigerweise zu den 
Krokodilen gestellt hatte, jetzt aber mit Recht als Dinosaurier 


Fig.138. Schädel von Belodon aus dem Keuper von Stuttgart. A von der Seite, B von oben. 
Etwa 1/jo. A Augenhöhle; D Durchbruch im Unterkiefer; L Tränengrube; N Nasenhöhle; 
S untere Schläfenhöhle; im Zwischenkiefer. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. P.) 


IN N MINI 


50 


| nl! 


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Fig. 199. Phororhacos. Miozän. Patagonien. A Kopf von der Seite; B von oben; 
C Unterkiefer; D Fuß; E Halswirbel. Bezeichnungen siehe Fig. 135. (Nach 
AMEGHINO aus STEINMANN: Einf. i. d. Pal.) 


betrachtet, Belodon (Fig. 138), und der merkwürdigen Gruppe riesen- 
hafter Vögel aus dem Miozän Patagoniens, die als Stereornithes 
(Phororhacos Fig. 139) beschrieben sind. Bei beiden ist der Schädel 
ungewöhnlich groß und ganz eigenartig gestaltet, wie wir es bei 
keinem anderen Saurier oder Vogel auch nur ähnlich wiederfinden. 
Er ist hinten sehr flach, von dreieckigem Umriß und verschmälert 


Säuger. 231 


sich nach vorn zu einer langen, sehr hohen und schmalen, aus dem 
Zwischenkiefer (im) gebildeten Schnauze (oder Schnabel), deren Ober- 
fläche rauh ist und eine Hornbedeckung trug. Die Schnauzenspitze 
ist nach abwärts gebogen, die Nasenlöcher (N) liegen an der Wurzel 
der Schnauze hoch oben, einander stark genähert, etwas dahinter 
und darunter eine große Tränengrube (ZL). Der lange, im Umriß 
dreieckige Unterkiefer enthält einen mächtigen Durchbruch (D). Trotz 
des großen zeitlichen Abstandes zwischen Delodon und Phororhacos 
darf man unbedenklich einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen 
beiden das Wort reden, da eine Vereinigung aller genannten 
Merkmale bei keinem anderen fossilen oder lebenden Vierfüßler 
wiederkehrt. Vielmehr bilden meines Erachtens derartige vollständige 
Parallelen eine wichtige Stütze. für unsere Auffassung, wonach die 
Vögel aus sehr zahlreichen Metareptilien hervorgegangen sind und 
alle Stammreihen durch Änderung ihrer Art der Fortbewegung und 
der Ernährung eine gleichsinnige Umbildung erfahren haben. Haben 
doch die Ahnen der heutigen Laufvögel gewisse eigenartige Gewohn- 
heiten schon im Metareptilstadium besessen. So hat WırLAanp nach- 
gewiesen, daß manche Dinosaurier Nordamerikas in ihrem Magen 
hochgradig polierte Kieselsteine (Gastrolithe) führten wie die heutigen 
Laufvögel, und dab die Tätigkeit ihres Magens daher wohl ganz 
ähnlich wie bei den heutigen Vögeln und verschieden von der der 
Reptilien gewesen sein muß. 

6. Säuger. Bei unseren heutigen Kenntnissen von dem Ent- 
wicklungsgang der Tier- und Pflanzenwelt ist es gewiß eine sehr 
merkwürdige Tatsache, daß wir von der vortertiären Geschichte der 
Säuger so gut wie gar nichts wissen, während uns ihre Reste vom 
älteren Tertiäir an schon in so reichlicher Fülle überliefert sind. 
Immer neue und reichere Funde strömen uns aus den Tertiärschichten 
der verschiedenen Festländer und Inseln zu und helfen das Bild von 
dem Entwicklungsgang der einzelnen Ordnungen immer mehr ver- 
vollständigen. Auch aus mesozoischen Formationen vermehren sich 
ununterbrochen die Reste von Vierfüßlern, sowohl von Land- wie 
von Meeresbewohnern, aber darunter fehlen Reste von Säugern so 
gut wie ganz, es sind immer nur Reptilien, untergeordnet auch Vögel. 
Das wenige, was wir bis heute von mesozoischen Säugern kennen 
gelernt haben, läßt sich nach allgemeiner Auffassung nur mit Beutel- 
tieren, Monotremen, vielleicht auch noch mit Insektivoren in Be- 
ziehung setzen, über die Vorgeschichte der Hauptmasse der plazen- 
talen Säuger sagt es uns nichts. Hiernach begreift man denn auch 
die weitere unerfreuliche Tatsache: jeder Forscher kann sich seine 


232 ‚Säuger. 


besondere Vorstellung über die wichtige Frage des Ursprungs der 
Säuger machen, der eine darf sie sich von den theromorphen Rep- 
tilien des Perm, ein anderer von den mesozoischen Marsupialiern ab- 
leiten, ein dritter läßt den Säugerstamm sich zur Devon- oder Silur- 
zeit, ein vierter schon zur Zeit des Vorkambriums von den übrigen 
Vierfüßlern trennen, usw. Eine solche Verschiedenheit der Meinungen 
ist nur möglich, weil es fast an jeglichem Verbindungsgliede zwischen 
den alttertiären Plazentalen und den niederen Vierfüßlern fehlt, aus 
denen sie entstanden sein müssen. 
Von der Geologie darf man mit Recht eine Antwort auf die 
Frage erwarten, warum dies so ist. Denn man kennt doch z. B. von 
den Vögeln, deren Reste im allgemeinen auch im Tertiär sehr spär- 
lich gesät sind, eine nicht unerhebliche Zahl fossiler Formen aus 
Jura und Kreide, von denen jede einzelne bestimmte Beziehungen 
zur Stammgruppe der Vögel, den Reptilien, aufweist. Man mag diese 
Beziehungen werten wie man will, die fossilen Reste liegen vor. 
Gleichgültig, mit welchen Phantasieprodukten man nun den Abgrund 
füllt, der vor der tertiären Überlieferung der Säuger gähnt, eine 
Anforderung bleibt immer bestehen: es muß ungemein zahlreiche 
mesozoische Säuger gegeben haben, wenn man alle zur 
älteren Tertiärzeit vorhandenen Abteilungen auf eine gemeinsame 
Ausgangsgruppe zurückführt, wie das heute allgemein geschieht. 
Denn gründen wir unsere Vorstellungen von den Umbildungsvorgängen 
der organischen Formen auf diejenigen Entwicklungsreihen unter den 
Vierfüßlern, die uns wirklich einigermaßen gut bekannt sind, wie die 
Pferde, Proboscidier, Raubtiere, oder auf Krokodile, Ichthyosaurier, 
Thalattosaurier usw., nicht aber auf erdachte Reihen mit beschleunigter 
Umprägung zwischen den einzelnen Gliedern, so müssen wir außer- 
ordentlich große Zeiträume und ungezählte Übergangsformen für die 
vortertiären Säuger fordern. Aber selbst wenn wir uns von dem 
hemmenden Boden der Erfahrung und des Wissens tunlichst los- 
lösen und eine Geschwindigkeit der Umwandlung ausdenken, die alle 
Erfahrung erheblich übersteigt, so wird dadurch nur der für die Um- 
bildung nötige Zeitraum etwas verkürzt, die ungeheure Zahl der 
erforderlichen Zwischenglieder aber nicht vermindert. Wir 
brauchen dann die Abtrennung der Säuger von niederen Vierfüßlern nicht 
in paläozoische oder gar vorkambrische Zeit zurückzuverlegen, sondern 
dürfen, wie es meist geschieht, diesen Zeitpunkt in den Beginn des 
Mesozoikums oder vielleicht gar in die Jurazeit verlegen, wo ja auch 
schon Vögel aus den Reptilien entstanden sind. Das dürfte aber 
wohl selbst dem Freunde einer sehr beschleunigten Umwandlung als 


Säuger. 233 


der jüngste zulässige Termin erscheinen, zumal wenn er die wichtige 
Tatsache nicht unberücksichtigt läßt, dab eine große Zahl oder gar 
die meisten der heutigen Säugerordnungen schon im Eozän fast 
gerade so fertig geprägt und scharf voneinander gesondert 
gewesen sind wie heute, namentlich auch solche von ungewöhnlicher 
Größe oder von eigenartiger Fortbewegung und Lebensweise, wie 
Cetaceen, Sirenen, Fledermäuse. 

Die Geologie vermag keine befriedigende Antwort auf die Frage zu 
geben, warum wir bis heute von denzahlreichen geforderten Vorfahren der 
plazentalen Säuger (von den fraglichen Insektivoren abgesehen) aus der 
Kreidezeit nicht einen Knochen, nicht einen Zahn kennen. 
In Ermangelung einer besseren Erklärung hat man auf die Hypo- 
these zurückgegriffen, wonach zur Jura-Kreidezeit ein Festland im 
pazifischen Gebiet bestand, auf dem die Säuger sich bis zum Tertiär 
in weltentrückter Abgeschiedenheit entwickelt haben. Warum es 
nicht wenigstens einigen dieser Tiere schon früher möglich war, den 
höheren Blütenpflanzen zu folgen, die sich etwa um die gleiche Zeit 
auch auf einem pazifischen Festlande entwickelt haben sollen, und 
die sich doch schon zur Kreidezeit über alle Festländer ausgebreitet 
haben, ist unerfindbar, zumal die Pflanzenfresser ihren Nährpflanzen 
doch allgemein zu folgen pflegen. Warum mußten die Säuger sich 
erst in so zahlreiche Ordnungen zerspalten und so spezialisieren, 
ehe sie sich außerhalb jenes Festlandes einen Platz neben den Rep- 
tilien sichern konnten, wozu sie — nach der landläufigen Auffassung 
— Ihre höhere Organisation doch schon lange befähigt haben sollte ? 
Alles Fragen — aber keine befriedigenden Antworten. 

Das Problem verschärft sich noch mehr, wenn wir der Frage 
nach der Abstammung der Seesäuger nähertreten. Schon im mittleren 
Eozän treten uns gewaltige Waltiere entgegen, die nach Art der 
heutigen ausgesprochene Meerestiere waren, und die in bezug auf 
ihre Fortbewegung wohl schon ebenso spezialisiert waren wie die 
heutigen. Man leitet sie von unbekannten Landsäugern vom Typus 
der primitiven Raubtiere (Üreodonten) oder von Uondylarthren, 
den supponierten gemeinsamen Ahnen der Raubtiere und Huftiere, 
ab. Welche Lösung man auch vorziehen mag, jedenfalls wird man 
Wesers Ausspruch zustimmen müssen, wonach zweifellos lange Zeit- 
räume nötig waren, um den Körper eines kleinen Landtieres in den 
eines riesigen Waltieres von rein mariner Lebensweise umzuwandeln. 
Legen wir hierbei gar die Erfahrungen zugrunde, die wir über 
die allmähliche Umbildung von Landtieren zu mehr oder weniger 
vollständig angepaßten Seetieren bei den Meersauriern oder bei den 


234 Säuger. 


Seekühen besitzen, so kann der Zeitraum einer ganzen Formation, 
wie der Kreide, dazu kaum genügt haben. Wollen wir uns also 
nicht allzusehr mit jenen Erfahrungen in Widerspruch setzen, so 
müssen wir fordern, daß zur Kreidezeit schon zahlreiche große 
Meerestiere bestanden haben, die die weite Lücke zwischen den 
angenommenen Landsäugern und den Walen überbrücken. Nun 
kennen wir gerade die Meeresablagerungen der Kreide, im be- 
sonderen der jüngeren Kreide, vollständiger als die irgendeiner 
andern Periode der Erdgeschichte. Wir kennen sie in weitester 
Verbreitung aus Europa und Asien, aus Nord- und Südamerika, 
aus Australien und Neuseeland, besonders auch ringsum von den 
Küsten des Pacific, der so viele Geheimnisse der organischen 
Entwicklung decken soll und gewiß auch verhüllt. Überaus reiche 
Faunen von Meeresbewohnern der verschiedensten Art, besonders 
auch von Wirbeltieren (Fischen und Sauriern), haben sich in den 
Absätzen der jüngeren Kreide gefunden. Warum hat man bisher 
darin keine Spur jener Verbindungsglieder zwischen Landsäugern und 
Walen gefunden, die doch in den Kreidemeeren gelebt haben müssen, 
keinen Knochen, keinen Zahn? Die Erdgeschichte bleibt stumm 
auch auf diese Frage. 

Nun versuchen wir das Problem von einer andern Seite zu 
beleuchten. Schon Lamarck hat betont, daß die Wale mehr 
reptilienartige Merkmale aufweisen als irgendeine andere Säuger- 
abteilung: neuere Forschungen haben ihre Zahl noch vermehrt. 
Neben einigen Merkmalen von geringerem Werte, auf die besonders 
ALBRECHT hingewiesen und deren Bedeutung WEBER zu entkräften 
versucht hat, möge hier nur auf einige der auffälligsten abgehoben 
werden: auf den einfachen Bau und die Überzähligkeit der Zähne, 
auf die gelegentliche Überzähligkeit der Finger und auf die fast 
durchgängige der Fingerglieder. Es fehlt zwar nicht an Versuchen, 
diese Erscheinungen mit der gegenwärtig verbreiteten Auffassung 
von der Abstammung der Wale in Einklang zu bringen, aber diese 
stellen doch starke Anforderungen an unsere Einbildungskraft. Der 
Zerfall eines normalen Säugergebisses in die ungeheure Zahl ein- 
facher, reptilienartiger Zähne eines Delphins ist doch ein Vorgang, 
den wir nur deshalb für möglich halten, weil sonst die ausgedachte 
Ableitung der Waltiere aufgegeben werden muß. Nicht anders liegt 
die Sache bei der Vielgliedrigkeit der Finger. Namentlich seitdem wir 
durch KükeEntHaL bestimmt wissen, daß im embryonalen Zustande nie 
weniger, sondern gleichviel oder gar mehr Fingerglieder auftreten 
als im erwachsenen, erscheint die Ableitung der Waltierhand von 


Säuger. 235 


der normalgliedrigen Säugerhand noch mehr erschwert als früher. 
Nach Lrsoucauzs Meinung hat die Öetaceenhand primitive Merk- 
male bewahrt und kann von der normalen Säugerhand überhaupt 
nicht abgeleitet werden. 

Wenn wir jetzt dazu übergehen, das Problem der Ableitung der 
Waltiere von der paläontologischen Seite zu beleuchten, so will ich 
die wenig vollständigen Funde von alttertiären Waltieren zunächst 
noch nicht erörtern, da wir sie später besser verstehen lernen werden. 
Vielmehr frage ich zunächst: Wenn sich wichtige Bedenken gegen 
die Ableitung der Waltiere von Landsäugetieren ergeben, werden 
wir dann nicht darauf gewiesen, die Frage ernstlich zu prüfen, ob 
nicht die Meeresreptilien der mesozoischen Zeit als ihre Ahnen an- 
gesprochen werden dürfen. Trotzdem die Forschungen der letzten 
Jahre immer deutlicher dargetan haben, daß die Meersaurier mit 
den Waltieren noch viel weitergehende Übereinstimmungen aufweisen, 
als man früher gewußt hat, z. B. bezüglich des Besitzes von Rücken- 
und Schwanzflossen, der Beschaffenheit der Gehörknochen und der 
Lebensweise, ist man einer solchen Untersuchung doch nie ernstlich 
nähergetreten. Diese befremdliche Tatsache läßt sich nur dadurch 
erklären, daß die Abstammungslehre in vieler Beziehung einen aus- 
gesprochen orthodoxen Üharakter angenommen und einen dem- 
entsprechenden Einfluß auch auf die Untersuchungsmethoden der von ihr 
beherrschten Wissenszweige ausgeübt hat. Das Dogma von derein- 
heitlichen Abstammung zum mindesten aller plazentalen Säuger 
hat offenbar jene Möglichkeit ganz ausgeschlossen, dafür aber eine 
üppige Literatur über Konvergenzerscheinungen zwischen Meersauriern 
und Meersäugern gezeitigt, die den Kernpunkt der Frage gar nicht 
berührt. 


Drei größere Gruppen von Meersauriern können wir jetzt 
durch die mesozoische Zeit hindurch mehr oder weniger geschlossen 
und scharf voneinander getrennt verfolgen, die Ichthyosaurier, die 
Plesiosaurier und die Thalattosaurier. Einen Einblick in den Entwicklungs- 
gang der letztgenannten Gruppe haben wir erst durch die jüngsten 
Forschungen Merrıams erhalten, die uns die primitiven Vorläufer 
der lange bekannten Mosasaurier (=Pythonomorphen) auch aus 
der Trias aufgedeckt haben. Alle drei Gruppen sind von vornherein 
durch eine Reihe von anatomischen Merkmalen gut voneinander ge- 
schieden, und diese werden auch während der mesozoischen Zeit 
wesentlich unverändert beibehalten. Im Gegensatz dazu ändern 
sich andere Merkmale im Laufe der Stammesgeschichte bei allen dreien 


236 Säuger. 


wesentlich im gleichen Sinne, und das sind diejenigen, die vor allem 
durch die endgiltig marine Lebensweise beeinflußt werden. Tritt die 
Wandlung eines dieser Merkmale auch bei der einen Gruppe früher, 
bei der andern später ein, oder läßt sie sich bis zum Ende der 
Kreidezeit gar nicht oder nur andeutüngsweise feststellen, so ist 
doch die Richtung dieser Umbildungen bei allen drei Gruppen wesent- 
lich die gleiche. Hierher gehört z. B. die Umwandlung der normalen 
(liedmaßen in Flossen durch Verkürzung der proximalen und der 
Wurzelelemente (nicht aber die Zunahme der Finger- und Zehen- 
glieder), die Herausbildung von Schwanzflossen, das Kleinerwerden 
der hinteren Gliedmaßen usw. Diese Erscheinungen sind gerade in der 
letzten Zeit so reichlich erörtert und mit den ähnlichen Umbildungen 
bei anderen im Wasser lebenden Vierfüßlern verglichen worden, daß 
ich nicht näher darauf einzugehen brauche. Nur folgendes möge 
hervorgehoben werden: an den Meersauriern sehen wir tat- 
sächlich diejenigen Umbildungen langsam entstehen, die 
nach der heutigen Auffassung an den erdachten säuger- 
ähnlichen Vorfahren der Meersäuger in ungewöhnlich 
kurzer Zeit vor sich gegangen sein sollen, und die Um- 
bildungen an Meersauriern führen allgemein zwar nach 
dem Zustande hin, in dem uns die Meersäuger vom Altter- 
tiär an entgegentreten, aber in keiner Richtung über ihn 
hinaus. Die Meersaurier erscheinen hiernach zeitlich und stammes- 
geschichtlich als eine natürlich gegebene Vorstufe für die Meer- 
säuger. 

Wir fassen nun zunächst diejenigen Merkmale ins Auge, die 
mit der besonderen Lebensweise in keiner Beziehung 
stehen, die vielmehr die drei Meersauriergruppen voneinander 
unterscheiden, und betonen dabei die dauernde Vereinigung 
mehrerer solcher Merkmale bei jeder der drei Gruppen. Sie 
sind auf der beigefügten Tabelle (S. 237) übersichtlich aufgeführt, 
werden aber zweckmäßigerweise auch noch im Zusammenhang be- 
sprochen. 

Die Ichthyosaurier (Fig. 140) erreichen nur eine relativ geringe 
Körpergröße, die sich im allgemeinen zwischen 2—5 m bewegt, ver- 
einzelt aber bis etwa 10 m steigt. Sie zeigen sich am frühesten und 
am vollständigsten an den Aufenthalt im Meere angepaßt, was be- 
sonders in der frühen Herausbildung von Schwanz- und Rückenflosse, 
in dem Kleinerwerden der hinteren Gliedmaßen und in der schon 
zur Liaszeit senkrechten Stellung der Nasengänge hervortritt. Am 
Schädel ist bemerkenswert die Kombination: meist langgestreckte 


#2 


SS  Suyezasqn yoeanyos | Sgezıogn yorayos||Sryezaogn yaeys F| Syezaoqn yaers || Srypzasgnyaryse| Sygzrogn yarys | aapatpsaodurg 
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238 Säuger. 


Schnauze mit zahlreichen (bis über 200), im allgemeinen gleichen Zähnen, 
die in einer Furche stehen, ein im Profil gerundetes Hinterhaupt, ein 
zusammengedrückter Unterkiefer mit mehr oder weniger langer Sym- 
physe. Die Rippen sind zweiköpfig. An den Gliedmaßen haben wir 


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Fig. 140. Rekonstruktion von Ichthyosaurus (Lias). (Nach JAEKEL aus STEINMANN: 
Einf. i. d. P.) 


die Kombination: vollständige Mittelhandknochen, starke Überzählig- 
keit der Fingerglieder und gelegentlich überzählige Finger. 
Die Plesiosaurier (Fig. 141) sind durchschnittlich größer (#—15 m). 
Der Kopf ist ausgezeichnet durch die Kombination: im Profil steil 
abgestutztes Hinterhaupt, schräge Nasengänge, geradlinig zusammen- 
gedrückter Unterkiefer mit mehr oder weniger langer Symphyse, nicht 


Fig. 141. Restauration eines Plesiosauriers (Dolichorhynchops — Oberkreide). (Nach 
WILLISTON aus STEINMANN: Einf. i. d. Pal.) 


sehr zahlreiche, meist große und ungleiche, fest eingefügte Zähne. 
Die Rumpfrippen sind einköpfig, aber die Rippen des langen Halses 
häufig zweiköpfig.. Mit einer normalen Fingerzahl kombiniert sich 
starke Überzähligkeit der Fingerglieder und schwach reduzierte Zahl 
der Wurzelknochen. 

Diese beiden Gruppen von Meersauriern stehen in vielen Merk- 
malen einander sehr nahe, im besonderen in der starken Über- 
zähligkeit der Fingerglieder, im Bau des Unterkiefers und in der 
Beschaffenheit der Zähne. Die dritte Gruppe dagegen weicht er- 
heblich von beiden ab. 


Säuger. 239 


Die Thalattosaurier zeigen folgende Vereinigung von Merkmalen: 
Sie erreichen beträchtliche Größe (12 m oder mehr). Ihr Hinterhaupt ist 
im Profil gerundet (Fig. 142), die Nasengänge stehen schräg. Außer 
den wenig zahlreichen Kieferzähnen sind Gaumenzähne (auf Pterygoid 
ptg) vorhanden. Der Unterkiefer ist eigenartig gestaltet, indem bei 


Fig.142. Schädel eines Thalattosauriers (Clidastes — Oberkreide). (Nach Wiruıstox.) 
Oben: von der Seite. Unten: von unten. A Augenhöhle; N Nasenhöhle; x Gelenkung 
im Unterkieferaste; ptg Pterygoid mit Gaumenzähnen. 


den jüngeren Vertretern (Mosasauria) mitten im Kieferaste ein Quer- 
gelenk (Fig. 142 x) auftritt und die beiden Äste nicht durch Symphyse, 
sondern nur durch Band verbunden sind. Durch diese beiden Eigen- 
tümlichkeiten konnte der Unterkiefer so stark ausgeweitet werden, 
daß der Oberkiefer ganz in ihm Platz 


fand und die Zähne wie eine Reuse kr aa 
beim Aufnehmen der Nahrung wirkten. TRITT 
Das massive Quadratbein (g) ist haken- a RSS 
förmig umgebogen und umschließt den 4, SEP ER, 


Gehörgang. Die Gliedmaßen zeigen Fig. 143. Vorderextremität eines 
stark reduzierte Mittelknochen und nur Thalattosauriers aus der Kreide 
j x (Platecarpus). Wenig hyperphalange, 
schwache Hyperphalangie, gespreizte gespreizte Finger, verkümmerte Mit- 
und nie überzählige Finger oder Zehen telhandknochen. (Aus STEINMANN- 
' Döprrueın: Elem. d. Pal.) 
(Fig. 143). 

Untersuchen wir nun die heutigen Wale darauf hin, ob die er- 
wähnten Reptilienmerkmale bei ihnen vorhanden und wie sie bei ihnen 
verteilt sind, so. zeigt sich folgendes überraschende Resultat: Be- 
kanntlich hebt sich die Gruppe der Bartenwale so scharf ge- 


sondert von der Mehrzahl der Wale, den Zahnwalen, ab, daß man 


240 Säuger. 


für sie heute nur noch einen sehr entfernten Zusammenhang mit 
jenen annimmt. Die Zahnwale bilden daneben eine zweite, viel um- 
fangreichere und mehr geschlossene Gruppe. Diese Scheidung ent- 
spricht dem Umfange nach dem weiten Abstande zwischen den wenig 
formenreichen Thalattosauriern einerseits und den zahlreichen 
Formen der Ichthyosaurier und Plesiosaurier andrerseits. Be- 
trachten wir nun zunächst die Bartenwale. 

Wir treffen bei den Mystacocoeti eine wesentlich gleiche Kom- 
bination von Merkmalen an wie bei den Thalattosauriern, und gewisse 
Abweichungen bei den Bartenwalen lassen sich vielfach aus dem 
primitiven Zustande der Thalatt. ungezwungen ableiten. Mit der 


Fig. 144. Schädel eines Thalattosauriers (Clidastes) von der Seite und von oben. 
(Nach Wirrıstox.) 


gewaltigen Größe der Bartenwale kombinieren sich ein gerundetes 
Hinterhaupt und schräge Nasengänge, zwei Merkmale, die be- 
sonders am jungen Walfisch deutlich hervortreten (Fig. 145). Die 
Unterkieferäste sind wie bei diesen Reptilien nur durch Band ver- 
bunden; sie sind zwar nicht mehr in sich gelenkig, aber sie weiten 
sich bogig aus, so daß der Oberkiefer sich zwischen sie hineinsenken 
kann (Fig. 145 B, 146 B). Daß die Vorfahren der Bartenwale Zähne 
besaßen, erscheint ausgemacht. Wie könnten wir uns nun einen ge- 
eigneteren Ausgangspunkt für die Ersetzung der Zähne durch Barten 
und für die Entstehung des damit verbundenen Seihapparates denken, 
als die Thalatt., deren Oberkiefer ebenfalls in den Unterkiefer 
eingesenkt und deren Gaumenzähne zusammen mit den Kieferzähnen 
(Fig. 142) als Reusen wirken konnten? Ganz unabhängig von dieser 
Besonderheit steht die übereinstimmende Form des Quadratbeins 


Säuger. 241 


der Thalatt. und der bulla ossea der Bartenwale, auf die schon 
von anderer Seite hingewiesen worden ist. 


— N 


= .ol 
zZ K 1.00 


“ => N 


Fig. 145. Schädel eines jungen Walfisches (Balaena). 
(Nach CvvIEr.) 


A von der Seite, B von oben. 


Fig. 146. Schädel eines erwachsenen Walfisches 


A von der Seite, B von oben. 
(Nach Cuvier.) 


Steinmann, Abstammungslehre. 


16 


942 Säuger. 


Es muß ferner die Einköpfigkeit aller Rippen bei Thalatt. 
und bei Bartenwalen als eine auffallende Übereinstimmung ver- 
zeichnet werden, da auch dieses Merkmal zu den übrigen in keiner 
Beziehung steht. Schließlich die Gliedmaßen: Die gespreizten, 
schwach hyperphalangen Finger der Thalatt. (Fig. 143) kehren bei 
den Bartenwalen in ähnlicher Ausbildung wieder; im besonderen 
finden wir bei diesen auch im Gegensatz zu den Zahnwalen die 
mehr oder weniger ausgesprochen symmetrische Ausgestaltung 
des Handskeletts der Thalatt. 

Vergleichen wir den Schädel eines Thalatt. (Fig. 144) mit dem- 
jenigen eines ganz jungen Bartenwals (Fig. 145) und diesen mit 
dem erwachsenen (Fig. 146), so tritt sehr deutlich die Mittel- 
stellung des jungen Bartenwals zwischen den beiden Extremen her- 
vor. Die wichtigsten Veränderungen, die vom Saurier zum Wale 
führen, bestehen in einer Verkürzung des eigentlichen Schädels 
und in einer Verlängerung der Schnauze. Die Verkürzung des 
Schädels und die damit im Zusammenhang stehenden Verlagerungen 
der Schädelknochen verstehen wir am besten, wenn wir die Verän- 
derungen des Stirnbeins (f) verfolgen. Schon beim Thal. wölbt sich 
das Vorderstirnbein (fa) vor der Augenhöhle schuppenartig gegen 
das Tränenbein (2) hinab, und denken wir uns den hier beginnen- 
den Vorgang weiter gehen, so gelangen wir zu dem Zustande des 
jungen Bartenwals (Fig. 145), wo das stark verquerte Stirnbein mit 
seinem vorderern (aus dem Vorderstirnbein entstandenen) Fortsatze, 
dem Tränenbein (e), und dieses dem Jochbogen (7) aufliegt und Joch- 
bogen (}) und Augenhöhlen (A) tief nach abwärts gedrückt sind. Das 
Verhalten dieser Teile beim erwachsenen Wale (Fig. 146) erscheint 
dann als eine weitere Steigerung in gleicher Richtung. Die Ver- 
kürzung des Schädels gelangt in der Vorschiebung des Hinterhaupt- 
beins (os) über das Scheitelbein (p) und Stirnbein (f) zum Ausdruck, 
und auch in dieser Beziehung steht der junge Wal zwischen dem 
Thal. und dem erwachsenen. Ferner erscheint der bei den Thal. 
(Fig. 144) nur wenig verlängerte Zwischen- und Oberkiefer (im, mx) 
beim jungen Wal (Fig. 145) ein Stück weit vorgeschuht, aber dies 
Stück ist nur schwach gebogen, während das vorgeschuhte Stück 
des Oberkiefers beim erwachsenen Wal (Fig. 145) beträchtlich länger 
ist. Zugleich ist es stark nach abwärts gekrümmt, weil das Maul 
weiter aufgesperrt wurde, so daß auch die Barten entsprechend aus- 
wachsen konnten. Die ursprüngliche Oberkieferachse (?m-4A) des Thal. 
(Fig. 144), die, wenn das Maul geschlossen, beim Reptil dem Unter- 
kiefer parallel steht, ist beim jungen Wal (Fig. 145) nach voru 


Säuger. 243 


etwas aufgerichtet, beim erwachsenen (Fig. 146) noch viel stärker 
(circa 35°), und deshalb hat das vorgeschuhte Stück nach abwärts 
wachsen müssen, wenn überhaupt ein Zusammenschluß von Ober- 
und Unterkiefer möglich sein sollte. In dieser Aufrichtung der 
ursprünglich geraden Oberkieferachse liegt aber zugleich der Grund 
für die anfangs schräge (Fig. 145 A f), später senkrechte Stellung des 
Stirnbeins (Fig. 146 Af) und für das Tieferrücken der Augenhöhle (4A). 

Auch im Unterkiefer läßt sich die Lage des Quergelenks der 
Thal. (Fig. 144 x) beim jungen (Fig. 145) und beim erwachsenen Wal 
(Fig 146) noch deutlich an der Umbiegung des Astes (x) erkennen; 
ebenso steht der Kronenfortsatz (cor) beim jungen Wal an Aus- 
bildung etwa in der Mitte zwischen dem des Thal. und des er- 
wachsenen Wals, wo er eben noch angedeutet ist. 

Wie man sieht, hält es nicht gerade schwer, die stark ab- 
weichende Gestalt des Schädels eines Bartenwals aus den Verhält- 
nissen zu begreifen, wie sie am Schädel der Thal. bestehen trotz 
der weitgehenden Verschiedenheiten, wie sie bei zeitlich weit von- 
einander entfernten Tieren nur natürlich sind; der ‚Jugendzustand 
des Wals schiebt sich hierbei vermittelnd zwischen die Extreme ein. 
Versucht man aber den Walschädel auf den irgendeines anderen 
Säugers, z. B. eines primitiven Raubtiers (Öreodonten) zurück- 
zuführen, so ergeben sich ungleich viel größere Schwierigkeiten, da 
es an jeglicher Vorstufe für die Eigentümlichkeiten des Wal- 
schädels fehlt. 

Innerhalb der Zahnwale lassen sich die beiden ungleich großen 
Gruppen der Physeteroidea und Delphinoidea trotz weitgehender Über- 
einstimmungen im allgemeinen doch gut voneinander scheiden; habi- 
tuell z. B. nach dem Profil des Hinterhauptes, das im allgemeinen 
bei den ersteren stark erhöht ist und steil abfällt, bei den letzteren 
dagegen niedriger und gerundet ist, ganz ähnlich dem Verhalten der 
Plesiosaurier und Ichthyosaurier. Auch in der Körpergröße 
und in der Art der Bezahnung zeigt sich ein ähnliches Verhalten; 
denn wie die Ples. so sind auch die Physet. im allgemeinen durch 
Ungleichheit der spärlicheren Zähne ausgezeichnet gegenüber den 
Delph., die im allgemeinen eine sehr große Zahl gleicher Zähne 
mit den Ichth. teilen. Sodann hat KürextHaL gezeist, daß bei den 
Phys. in der mehr geraden Flosse die 2. und 3. Finger am längsten 
sind, während bei den Delph. die Flosse stärker gekrümmt ist und 
der 2. Finger an Größe und Phalangenzahl die andern übertrifft. 
Auch das scheint nicht schlecht zu harmonieren mit dem ähnlichen 
Verhalten bei den beiden entsprechenden Reptileruppen. 

16* 


244 Säuger. 


Bei einem Vergleiche der Physeteroidea mit den Plesiosauriern 
ergeben sich gewisse Unterschiede, die scheinbar einer Zurückführung 
dieser Säugergruppe auf die entsprechende Reptilstufe entgegenstehen, 
z. B. die Lage der Nasengänge, die bei den Phys. senkrecht stehn, 
bei den Ples. dagegen schräg. Dieser Unterschied kann jedoch nicht 
weiter auffallen, wenn 
man bedenkt, daß die 
äußeren Nasenlöcher 
bei diesen Wassertieren 
im Laufe der Zeit all- 
gemein nach hinten ge- 
rückt sind; die fossilen 
Funde zeigen denn 
auch, wie wir sehen 
werden, daß zur Eozän- 
zeit bei den’ Ehys: 
(Archaeocoeti) noch 
das altertümlicheMerk- 
mal vorhanden war. 

Eine auffallende 


Übereinstimmung gibt 
Fig. 147. Unterkiefervon Fig. 148. Unterkiefer von Plio- S S 
5 ® ich in der Form und 
Peloneustes(Ob.Jura). Von saurus (Ob. Jura). Von oben. > 2 
oben. (Nach LYDEKKER.) (Nach Owen.) Bezahnung des Unter- 


kiefers zwischen Ples. 
und Phys. kund. Bei 
beiden Gruppen finden 
sich ausnahmslos starke 
Symphysen, kürzere 
oder längere, und ihre 
Ausdehnung schwankt 
innerhalb weiter Gren- 
zen. Bei den Ples. mit 
langer Symphyse fin- 
den sich zahlreiche 
Zähne; diese nehmen 
nach hinten wohl an Größe ab, aber vorn sind sie. ziemlich gleich 
(Fig. 147, 148). Das gleiche trifft für die Phys. mit langer Symphyse 
zu, wie Physeter (Fig. 149). Bei den Ples. mit kurzer Symphyse 
dagegen sind die vordersten Zähne viel größer als die zunächst 
folgenden (Fig. 150, 151), und eine ganz ähnliche Zahnbildung ist 
den Phys. mit kurzer Symphyse eigen, wie Berardius, wo noch zwei 


Fig. 149. Unterkiefer von Physeter (Pottwal). A von 
der Seite, B von oben. (Nach CvvIer.) 


Säuger. 245 


Paare (Fig. 152) übrig geblieben sind. Auch diese Übereinstimmungen 
lassen sich wohl kaum anders als durch Vererbung erklären, zumal 
sie in beiden Gruppen mit anderen, gänzlich davon unabhängigen 
Merkmalen zusammenfallen. Die 

Delphinoidea weisen eine ungleich größere Mannigfaltigskeit der 
Gestaltung auf als”die beiden anderen Gruppen von Waltieren. Schon 
hierin liegt eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den Ichth., 
denn auch diese enthalten sehr verschiedene Gestalten, von kleinen, 


Fig.150. Unterkiefer von Fig.151. Unterkiefer von Fig. 152. Unterkiefer von Be- 
Pliosaurus (Ob. Jura), Plesiosaurus (Lias), von rardius (rezent), von oben. (Nach 
von oben. (Nach Owen.) oben. (Nach LYDEKKER.) DUVvERNoyY.) 


ca. 2m großen Tieren an bis zu den Riesengestalten von mehr als 
10 m Länge. Aber ehe wir festzustellen versuchen, ob und wie weit 
die beiden Gruppen auch im einzelnen übereinstimmen, mögen einige 
Merkmale erwähnt werden, die zumeist ausschließlich bei /chth. und 
Delph., wenn auch nicht allgemein verbreitet, vorkommen. 

Dahin gehört z. B. die-Zahnrinne, in der bei den Ichth. die 
gewöhnlich sehr zahlreichen Zähne eingebettet liegen. Bei manchen 
heutigen Delphinen, wie bei Phocaena communis, stehen sie so 
dicht, daß sie nur durch dünne, leicht zerbrechliche Knochenlamellen 
getrennt werden. Das kommt übrigens auch bei Physeter vor. Aber 
bei mehreren Platanisthden (die die meisten altertümlichen Merkmale 
bewahrt haben) ist auch die Rinne vorhanden, bei Cetorhynchus (Miozän) 
angeblich der ganzen Länge nach mit Zähnen besetzt, bei Agabelus 
Cope (Miozän) ohne Zähne, während bei Eurhinodelphis (Miozän) die 
Zahnreihe nach vorn in eine zahnlose Rinne fortsetzt. 


246 Säuger. 


Die Ichth. sind die einzigen Reptilien mit überzähliger Finger- 
zahl (Fig. 153 AVI). Bekanntlich hat nun KürentuAan nachgewiesen, 
daß beim Embryo von Delphinapterus ein überzähliger sechster Finger 
vorhanden ist (Fig. 153 B VI). Dieser hat dieselbe Lage wie der große 
überzählige sechste (siebente) Finger bei Ichthyosaurus communis. Aber 
damit ist die Übereinstimmung nicht erschöpft. Jeder einzelne 
Knochen der Handwurzel von Delph. läßt sich ohne weiteres 
auf ein entsprechendes Element bei Ichth. zurückführen, und 
die gegenseitige Verschiebung einiger Knochen seit der Jurazeit ist 
nur minimal, wie ein Blick auf die Figur 153 zeigt. Selbst das 


Fig. 153. Vergleich der Handwurzel von Ichthyosaurus communis (A) und von Beluga 
(Delphinapterus) leucas (B). (Nach ZırreL und Kükenruar.) H Humerus; R Radius; 
U Ulna; r Radiale; i Intermedium; « Ulnare; pi Pisiforme; ezz Zentrale; cı—c4 Carpalia; 
mı—m; Metacarpalia; 5,, ,,, 6,, 6,, die ersten zwei Fingerglieder des V. und VI. Fingers. 
— Die Bezeichnungen sind nach KÜkEntHar gewählt, ohne Rücksicht auf die bei Ichth. 
gebräuchlichen. pi von Ichth. ist nach Owen eingezeichnet. 


Pisiforme (px) war bei Ichth. schon an der gleichen Stelle vorhanden, 
wo es beim lebenden Delphin liest. Daß nun diese in der Säugerwelt 
einzig dastehende Hyperdaktylie gerade bei einem Delphin, und 
zwar in der bei /chth. bekannten Form und auch wie bei Ichth. com- 
munis an einer kurzen, breiten Flosse auftritt, ist gewiß eine merk- 
würdige Erscheinung. 

Wenn man aber die Überzähligkeit der Finger bei Delphina- 
pterus für eine Neubildung erklärt, wie das geschehen ist, so müßte 
doch ein bestimmter Grund für eine solche Deutung vorliegen; das 
ist aber meines Wissens nicht der Fall. Im Gegenteil, da nach 
KÜKENTHAL ein gesondertes Band sowohl auf der Innenseite wie 
an der Außenseite an den sechsten Finger geht, kann es sich doch 
wohl nur um eine rudimentäre Bildung handeln. 

Bei einigen Delphiniden, z. B. bei Phocaena und Neomeris, 
sowie bei der nahestehenden jungmiozänen Delphinopsis hat man be- 
kanntlich am Vorderrande der Brustflossen und an der Rückenflosse 
oder auch an den Seitenrändern der Schwanzflosse das Auftreten 
kleiner, bald mehr, bald weniger kalkhaltiger Plättchen oder Tuberkeln 


Säuger. 247 


beobachtet. Man hat daraus sogar den kühnen Schluß gezogen, 
daß die Vorfahren der Wale zur Kreidezeit panzertragende Land- 
säuger gewesen seien! Ist es wieder ein reiner Zufall und nur Kon- 
vergenz, daß ähnliche Gebilde unter den Meeresreptilien bisher nur 
an den paarigen Flossen zweier Arten von Ichthyosaurus nach- 
gewiesen worden sind? 

Ferner finden sich bei manchen Delphiniden, z. B. bei Pho- 
caena communis, auffallend kurze und zahlreiche Wirbelkörper; sie 
gleichen sehr den bekannten Ichth.-Wirbelkörpern von damenbrett- 


Fig. 155. Schädel von Delphinus. (Nach Boas aus WEBER: Säugetiere.) 


artiger Form, während die Wirbelkörper sowohl der Thalatt. und 
Bartenwale, als auch der Ples. und der Physet. nie diese be- 
zeichnende Gestalt aufweisen. 

Rückenflossen kommen Waltieren aus allen drei Gruppen zu; 
aber die stärkste Entwicklung erfahren sie bei manchen Delphi- 
niden von rein mariner Lebensweise, wie beim Schwertwal (Orca). 
Nun wissen wir, daß die Ichth. schon zur Jurazeit zum Teil sehr 
stark ausgebildete Rückenflossen besessen haben, während über das 
Auftreten einer Rückenflosse bei den beiden anderen Reptilgruppen 

ichts bekannt ist. 


248 Säuger. 


Eine Furche an der Außenseite des Unterkiefers ist nur bei 
Delph. beobachtet worden; unter den Meeresreptilien sind bekannt- 
lich nur die Ichth. durch dieses Merkmal ausgezeichnet. 

Wie es möglich ist, bemerkenswerte Ähnlichkeiten in der Schädel- 
bildung zwischen den Bartenwalen und den Thalatt., von denen 
ich sie ableite, aufzudecken, so bestehen auch unverkennbare Be- 
ziehungen zwischen dem Schädel der Ichth. und Delph. (Fig. 154 
u. 155). Bei beiden ist das Hinterhaupt stark gerundet, bei den Delph. 
aber in gesteigertem Maße. Die ausgesprochene Konkavität der Nasen- 
region der Delph. findet sich bei Ichth. schon angedeutet. Die 
Spangenform des Jochbogens (7) von Delph. ist bei Ichth. schon 
ganz ähnlich ausgeprägt. Ein vorstehender Kronenfortsatz (cor) fehlt 
beiden, usw. 

Um nicht einförmig zu werden, will ich diesen ausgiebigen Gegen- 
stand nicht ganz erschöpfen, und zu einer kurzen Besprechung ein- 
zelner Gruppen der Delph. übergehen. 

Ich hebe einige besonders auffällige Typen hervor. Das sind 
einmal die Platanistiden. Sie sind Bewohner des süßen Wassers, 
und wir müßten daher erwarten, daß sie die ursprünglichen Säuger- 
merkmale am vollständigsten beibehalten hätten, wenn die Waltiere 
aus Landsäugern entstanden wären. Nun besitzen aber gerade sie eine 
sehr lange, schmale, zusammengedrückte Schnauze, durchgängig zahl- 
reiche Zähne und eine sehr lange Unterkiefersymphyse; zudem kom- 
men allein bei ihnen unter allen Delph. die schon erwähnten 
Ichth.-Merkmale vor: eine Zahnrinne und die Außenrinne des Unter- 
kiefers. 

Wir finden also gerade das Gegenteil von dem, was wir erwar- 
ten sollten: nicht Merkmale von raubtierartigen Landsäugern haben 
die Süßwasserdelphine im Vergleich zu ihren marinen Verwandten 
bewahrt, sondern lauter solche Merkmale, die die Ichth. und insbe- 
sondere eine kleine Gruppe von ihnen, auszeichnen. Verständlich 
wird dies Verhalten sofort, wenn wir die Platanistiden als Nach- 
kommen der meeresbewohnenden Ichth. auffassen, die ins Süßwasser 
übergegangen sind. Sie rücken dann in dieselbe Kategorie von Süb- 
wasserformen mit primitiven Merkmalen, wie die Panzersiluriden, 
wie Oeratodus, Lepidosteus, Amia usw., die als Süßwasserbewohner eben- 
falls mit altertümlichen Merkmalen behaftet geblieben sind, während 
ihre Verwandten den umbildenden Einflüssen des Meeres ausgesetzt 
und verändert worden sind. Während nun die Platanistiden mit 
ihrer geringen Körpergröße, ihrer langen Schnauze und langen Unter- 
kiefersymphyse und mit den zahlreichen, spitzigen, zum Teil fast nadel- 


Säuger. 249 


förmigen Zähnen sich der Gruppe der kleinen, langschnauzigen Ichth. 
(Iehth. tenuirostris) ungezwungen zur Seite stellen, findet der seit Ober- 
miozän nicht mehr bekannte Hurhrinodelphis mit meterlangem Schädel 
und enorm verlängerter Schnauze sein Gegenstück in der Gruppe 
des 5 m langen Ichth. longirostris, dessen Schnauze ähnlich unpro- 
portioniert ist. 

Das andere Extrem der Delph. sind die Orcidae (Orca, Pseud- 
orca), bekanntlich bis 10 m große Meerestiere, mit kurzer Symphyse 
und nicht sehr zahlreichen, aber sehr starken und entfernt stehenden 
Zähnen. Die gleiche Kombination der Merkmale trifft man bei der 
Gruppe gewaltiger Ichth. wieder, die durch Ichth. ingens Theod. 
u. Verw. bezeichnet wird; nur sind die Zähne hier zahlreicher. 

Diese Beispiele dürften genügend dartun, daß die Kombination 
bestimmter Merkmale sich nicht etwa nur auf die Gruppen der 


Fis. 156. 


Fig. 156. Zähne von Squaladon. Miozän. A von Florenz, B, C von Linz. (Nach Süss.) — 
Fig. 157. Zahn von Scelidosaurus. 2). — Fig. 158. Zähne von verschiedenen Dino- 
sauriern: A Palaeoscineus, B Stegosaurus, C Priconodon. (Nach MArsn.) 


Ichth. und Delph. im allgemeinen, sondern auch auf einzelne 
Abteilungen derselben erstreckt. Sie führen uns zugleich die Tat- 
sache vor Augen, daß Formenfülle und Formenbreite sich bei beiden 
in bemerkenswerter Weise decken. 

Die fossilen Wale, im besonderen die wenigen alttertiären Reste, 
die man bis jetzt kennt, liefern nach der Ansicht mancher Forscher 
eine wichtige Stütze für die Ableitung der Wale von raubtierähnlichen 
Landtieren. Wie stellen sich denn diese wesentlich nur aus Schädeln 
bestehenden Reste zu der Ableitung aus den Meeresreptilien? Für 
die eozänen Archaeocoeti und Protocoeti ist vor allem zu be- 
tonen, daß verschiedene Merkmale, die als solche von Landsäugern 
bezeichnet werden, mindestens mit der gleichen Berechtigung als 
solche von Meersauriern angesehen werden können, wie die voll- 
ständige Bezahnung der Kiefer, die nach vorn gerückte Lage der 


250 Säuger. 


Nasenlöcher und anderes mehr. Ebensowenig darf die Vielwurzelig- 
keit der Zähne als ein ausschließliches Säugermerkmal aufgefaßt 
werden, denn es kommt auch bei Reptilien (Öeratopsiden; Fig. 130 C) 
vor. Manche Merkmale sind aber als reptilartig zu bezeichnen und 
harmonieren schlecht mit einer Ableitung von Öreodonten oder 
ähnlichen primitiven Säugern, so die beträchtliche postorbitale Ver- 
breiterung der Stirn, die den geraden, nicht bogig ausladenden Joch- 
bogen deckt, die Form des Unterkiefers und die flachen, dreieckigen, 
an Vorder- und Hinterrand vielfach gekerbten Zähne (Fig.156, 160 5). 
Bei plazentalen Säugern finden sich derartige Zähne nicht, wohl aber 
ähnlich bei lebenden und fossilen Reptilien, wie Iguana, Iguanodon 
(Fig. 129), Scelidosaurus (Fig. 157), Palaeoscincus, Stegosaurus, Prico- 
nodon (Fig 158 A-C), Trachodon. Dieser ausgesprochenen Ähnlichkeit 
mit Reptilzähnen steht freilich die Angabe 
von FrAaAs gegenüber, daß die Backzähne der 
Protocoeti (Fig. 159) gewisse Anklänge an 
das Gebiß von Oreodonten, im besonderen 
von Sinopa, aufweisen; doch geht diese 
Übereinstimmung nicht sehr weit, da von 
einer Dreispitzigkeit im eigentlichen Sinne des 
Wortes nicht die Rede sein kann. Aber selbst 
wenn man diese Ähnlichkeit hoch einschätzt, 
beweist sie nichts für den Zusammenhang 
nn Me: der Protocoeti mit Oreodonten, nach- 
tam. A 3. Molar von innen. dem LecHe£ jüngst gezeigt hat, daß schon 
Pas: a See innerhalb der Imsektenfresser der drei- 

höckerige Molar sich zweimal selbständig 
herausgebildet hat. Daß die zum Teil gewaltige Größe der Archae- 
ocoeti, die der der großen Ples. und der Pottwale gleichkommt, 
selbst mit einer unheimlich raschen Herausbildung aus fuchsgroßen 
Landtieren einer unmittelbar vorhergehenden Zeitperiode schwer zu 
vereinen ist, wurde schon bemerkt. 

Eine Schwierigkeit für die Anknüpfung der eozänen Zahnwale 
an die Creodonten, die durch Verlängerung der Schnauze und 
Zunahme der Zahnzahl erfolgt sein soll, scheint mir u. a. auch 
darin zu liegen, daß die Kiefer der eozänen Zahnwale offenbar nicht 
in Verlängerung und die Zähne nicht in Vermehrung begriffen sind 
(Fig. 160), vielmehr das Gegenteil; denn es erscheinen bei allen die 
hinteren Backenzähne (2) zusammengedrängt und in Verkümmerung 
begriffen, und in der nach hinten aufsteigenden Zahnreihe des 
Unterkiefers erkennt man ganz deutlich die Folgen der Verkürzung 


Säuger. 251 


der Kiefer. Dies Verhalten wird wohl begreiflich, wenn wir uns 
zum Ausgangsstadium eine noch längere und an Zähnen noch 
reichere Schnauze eines Ples. nehmen, die in Verkürzung begriffen 
ist und deren Zähne verkümmern, nicht aber, wenn wir uns die 
Schnauze eines Üreodonten in Verlängerung und deren Zahnzahl 
in Vermehrung begriffen denken. Ebenso sprechen gegen eine 
engere Zusammengehörigkeit der Protocoeti und Archaeocoeti 
mit den Creodont. wie überhaupt mit anderen plazentalen Säugern 
folgende zwei Umstände: 

Die Choanen liegen auch bei den ältesten Walen schon ganz 
weit zurück, obgleich die äußeren Nasenlöcher noch nicht weit 
nach hinten gerückt sind. Man sollte erwarten, daß sie, wenn sie auch 
nicht mehr so weit nach vorn liegen wie bei den Oreodonten, so doch 
eine vermittelnde Stellung einnähmen. Es fehlen sodann auch schon 


Fig. 160. Zeuglodon cetoides Ow. Eozän. Alabama. A Schädel von oben, Gebiß von der 
Seite. f Stirnbein; mx Maxillare; n Nasenbein; p Parietale; pr Zwischenkiefer ; ö Schneide-, 
c Eck-, m Backzähne. B ein Backzahn. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) 


den ältesten Walen die foramina incisiva vollständig, wie den Meeres- 
reptilien, während sie bei allen anderen plazentalen Säugern vor- 
handen sind. Bei den Pinnipediern fehlen sie gleichfalls nicht, 
wenn auch hier wie bei den Ohiropteren und beim Menschen die 
Gänge von Weichteilen verschlossen sind. 

Besonders wichtig für die Auffassung der eozänen Wale scheint 
mir aber die Tatsache zu sein, daß man sie nach der Bezahnung, 
nach der Form des Schädels, nach dem Vorhandensein einer Unter- 
kiefersymphyse und nach der Lage der Nasengänge ohne weiteres 
in die Abstammungslinie einreihen kann, die ich von den 
Ples. zu den Phys. gezogen habe, ohne daß ich dabei diese Funde 
von zwischenliegendem Alter berücksichtigt hätte. 

Die zweite Gruppe altertümlicher Wale (Eozän bis Miozän) sind 
die Squalodontidae (Fig. 161. Sie sind nach dem gerundeten 
Hinterhaupt, der verlängerten Schnauze, den zahlreichen Zähnen und 
andern Merkmalen mehr, ebenso ausgesprochene Delphinoiden, wie 
die Archaeocoeti Physeteroiden sind; das haben schon LYDEKKER 
und ZırteL ausdrücklich hervorgehoben. Man darf sie daher auch 


252 Säuger. 


nicht als Nachkommen der Archaeocoeti betrachten. Aber sie 
zeigen gleich diesen dreieckige Hinterzähne mit gekerbten Kanten 
(Fig. 161). Daß sich diese Art der Zahnbildung in den beiden ge- 
trennten Reihen der Ichthyosaurier-Delphinoiden (Ichthyotheria) 
und der Plesiosaurier-Physeteroiden (Plesiotheria) unabhängig 
herausgebildet habe, erscheint nicht weiter auffällig, da wir sie auch 
bei Reptilien und Fischen wiederfinden. Warum wird sie aber bei 
den jüngeren, speziell bei den lebenden nicht mehr beobachtet? Da 
die blattförmigen Kerbzähne nur hinten im Kiefer erscheinen, während 
die vorderen Zähne kegelförmig bleiben, so dürften in beiden Grup- 
pen die Nachkommen heute unter zahnlosen oder unter solchen Formen 
zu suchen sein, deren Kiefer nur nach vorn Zähne tragen, wie die 


Fis. 161. Squalodon bariensis Jourdan. Miozän. Schädel. co Hinterhauptsgelenk; f Stirn- 
bein; im Zwischenkiefer; j Jugale; md Unterkiefer; mx Maxillare; os Supraoceipitale; 
t Temporale; ty Tympanicum. (Aus STEINMANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal.) 


Züiphinae, Delphinapterus, Globicephalhıs u. a. Die embryonalen Hinter- 
zähne von Phocaena besitzen übrigens nach KÜrENTHAL ebenfalls 
blattförmige Verbreiterungen mit seitlichen Kerben und ähneln da- 
durch in gewissem Grade den Squalodon-Zähnen. 

Die Funde von fossilen Walen, sowohl die eben besprochenen 
altertümlichen, als die jüngeren, die sich den lebenden Vertretern 
außerordentlich enge anschließen, lassen sich, wie mir scheint, mit 
der hier vertretenen Art ihrer Abstammung weit besser in Einklang 
bringen, als mit der jetzt üblichen. Sie gehen so gut wie restlos 
darin auf, während die andere Auffassung eine Reihe ungewöhn- 
licher, schwer begreiflicher Vorgänge voraussetzt: die plötzliche Heraus- 
bildung vollständig angepaßter Meerriesen aus kleinen Landsäugern, 
Verlängerung der Kiefer und Vermehrung der Zähne, im offenen 
Widerspruch mit sonst beobachteten Vorgängen bei Wassersäugern, 
und so vieles andere. 

Besonders schwer läßt sich mit der jetzt herrschenden Auf- 
fassung die oben ausführlich dargelegte Tatsache vereinigen, daß bei 
den Meersäugern eine große Reihe von Erscheinungen wiederkehrt, 
die bei den älteren Meersauriern auftreten. Soweit es sich dabei um 
Merkmale handelt, die nur ein Ausfluß der gleichen Lebensweise 


Säuger. 253 


beider Organisationsstufen sind, kommen sie für hier nicht in Be- 
tracht. Rätselhaft erscheint nur die Wiederkehr rein morpholo- 
gischer Merkmale, die nicht durch die Lebensweise hervorgerufen 
sein können. Diese kann man nicht als Konvergenzen erklären; wo- 
bei es immerhin als höchst auffällig bezeichnet werden muß, daß die 
Wale, soweit wir über ihre Vorgeschichte unterrichtet sind, etwa mit 
der Höhe von Umbildungen beginnen, auf der die Meersaurier am 
Ende der mesozoischen Zeit angelangt waren. Aber es fehlt uns 
jede Erklärung für die Wiederkehr jener Merkmale, und besonders 
der dauernden Vereinigung verschiedener Merkmale, die 
von der Lebensweise vollständig unabhängig erscheinen. Welch 
merkwürdiger Zufall sollte es gefügt haben, daß bei der Herausbil- 
dung der Landsäuger wieder gerade drei Gruppen entstanden sind, 
von denen die eine, verhältnismäßig kleine (Mystacocoeti), den beiden 
anderen, in mehrfacher Beziehung übereinstimmenden Gruppen 
(Odontocoeti) schärfer abgesondert gegenüber steht als jene unter 
sich? Daß in den beiden Abteilungen der Odontocoeti sich wieder 
gerade die Kombination von Merkmalen wiederholt, die sich zu einer 
weit zurückliegenden Zeit im frühesten Stadium der Reptilwerdung 
bei Ichth. und Ples. eingestellt hatten. Eine wiederholte Ent- 
stehung derselben morphologischen Merkmale auf gleicher Grundlage, 
etwa im Sinne der iterativen Artbildung Koxens, können wir begreifen, 
für eine derartige weitgehende Nachahmung fehlt uns aber jedes 
Verständnis. Sind wir also vor die Entscheidung gestellt, ob wir 
diese Erscheinung auf Vererbung zurückführen sollen, oder ob wir 
irgendeine andere, in jedem Falle unwahrscheinliche Erklärung zu 
Hilfe nehmen, so kann die Wahl nicht zweifelhaft sein. 

Wir haben die Frage nach dem Ursprung der Waltiere von drei 
verschiedenen Standpunkten aus zu prüfen versucht, vom geologi- 
schen, vom vergleichend anatomischen und vom paläontologischen. 
In allen drei Fällen haben wir das gleiche Ergebnis zu 
verzeichnen: das geologische Auftreten, wie die uns bekannten 
Eigentümlichkeiten der lebenden und fossilen Wale lassen sich weit- 
aus besser verstehen, wenn wir sie von den realen Gestalten der 
drei Meersauriergruppen der mesozoischen Zeit herleiten, als wenn 
wir sie auf gänzlich unbekannte und eingebildete Landtiere der 
Kreide oder des ältesten Tertiärs zurückführen. Es braucht nach den 
obigen Ausführungen kaum noch besonders hervorgehoben zu werden, 
daß wir uns die Abstammung auch hier wieder in extrem polyphyle- 
tischer Art und Weise vorstellen, d. h. nicht durch Abzweigung je einer 
Übergangsform von den drei Gruppen der Meersaurier, aus der dann 


254 Säuger. 


durch weit ausholende Veränderlichkeit die Formenfülle jeder einzelnen 
der drei Gruppen von Meersäugern entstanden wäre, vielmehr in der 
Weise, daß aus allen Arten der drei Gruppen von Meeresreptilien an 
Größe, Habitus und anatomischem Bau ganz ähnliche Meersäuger ge- 
worden sind (soweit nicht eben einzelne Arten durch Naturvorgänge 
vernichtet und von der Weiterentwicklung ausgeschaltet worden sind). 
Erschwert auch die Dürftigkeit des fossilen Materials, heute 
schon den Nachweis hierfür im einzelnen zu führen (Anhaltspunkte 
dafür sind schon reichlich vorhanden), so darf doch diese Art des 
Umbildungsvorgangs als die einzig mögliche gelten; denn nur wenn 
wir jede einzelne Walform mit einer an Größe, Habitus usw. ähn- 
lichen älteren, und diese wieder mit einer einzelnen entsprechenden 
Saurierform in Verbindung bringen, lösen sich alle Schwierigkeiten 
leicht und einfach, die die jetzige Auffassung so schwer begreiflich 
machen; lassen doch auch weder die Phys. noch die Delph. ein 
Konvergieren nach einer gemeinsamen Ausgangsform erkennen. 


Meine Auffassung von der Entstehung der Säuger steht also ım 
vollständigsten Gegensatz zu den jetzt üblichen. Nicht durch Ab- 
spalten einer »Urform« sind die Säuger aus den Reptilien hervor- 
gegangen, sondern es sind alle die Reptilgruppen der mesozoischen 
Zeit, soweit sie nicht bis heute auf der Stufe der Reptilien stehen 
geblieben sind, zu Säugern geworden, und dieser Umbildungsvorgang 
hat sich nicht an einzelnen auserlesenen Formen vollzogen, sondern ist 
im breiten Strome der vorhandenen Ordnungen, Familien, Gattungen, 
Arten oder gar Rassen erfolgt. Während man heute allgemein meint, 
daß der Säugertypus, wenigstens der plazentale, nur ein einziges Mal im 
Laufe der Zeit entstanden ist, daß dagegen die Mannigfaltigkeit der 
Formgestaltung sich oft bis in die kleinsten Einzelheiten überein- 
stimmend in aufeinander folgenden Organisationsstufen, wie Reptilien 
und Säuger, wiederholt hat, gilt mir die auf einer niederen Organi- 
sationsstufe einmal entstandene Form als das Beständige und nur in 
geringem Maße, d.h. in der Örganisationsstufe Umbildbare, die Or- 
ganisationsstufe dagegen als das bei allen Formen im Laufe der 
Zeit im gleichen Sinne Veränderliche, wenn gleiche Bedingungen 
andauernd auf sie einwirkten. Hiernach ist die Entstehung einer 
neuen Organisationsstufe auch nicht das mehr oder minder gelegent- 
liche Erzeugnis einer gelegentlich auftretenden Variation und der 
Gunst der zufälligen Umstände, die gerade diese Variation vor dem 
Untergange durch die nie ganz ausschaltbaren geologischen Vorgänge 
geschützt hat. Sie ist vielmehr ein notwendiges, und damit gesetz- 


Säuger. 255 


mäßiges Produkt, der Abschluß einer allmählichen Umbildung 
durch eine bestimmte Lebensweise, einer Umbildung, die alle davon 
ergriffenen Individuen im gleichen Sinne betroffen hat. Zweifellos 
ist die Umbildung der Meersaurier in Meersäuger nicht bei allen 
Vertretern zu gleicher Zeit eingetreten, wohl aber können wir be- 
greifen, daß dieser Vorgang sich wie in anderen Fällen innerhalb 
eines nicht zu eng bemessenen Zeitraums abgespielt hat, da die 
drei Gruppen von Meeresreptilien, soweit wir wissen, während des 
größten Teiles der mesozoischen Zeit wesentlich unter ähnlichen 
Lebensverhältnissen etwa gleich lange bestanden haben. Wie lang 
wir den Zeitraum veranschlagen sollen, der die jüngsten Meeres- 
bildungen der Kreide mit ihren Resten von Meersauriern vom 
mittleren Eozän mit den ältesten Resten von Physeteroiden trennt, 
wissen wir nicht; er kann immerhin viel größer sein als wir gewöhn- 
lich meinen. Aber in diesen Zeitraum hinein fallen dann wenigstens 
innerhalb der einen Gruppe die wichtigsten Umbildungen im Skelett, 
besonders im Kopfskelett, durch die sich Reptilien und Säuger von- 
einander unterscheiden: Ausschaltung des Quadratbeins aus dem 
Kiefergelenk, Verschmelzung der Unterkieferknochen und Verkür- 
zung des Kiefers, Bildung eines doppelten Gelenkkopfes am Hinter- 
haupt usw., während über die Änderung der Fortpflanzung und der 
damit zusammenhängenden Merkmale nichts Genaues bekannt ist. 
Nur von den Ichth. wissen wir bestimmt, daß sie zur Liaszeit schon 
lebendig gebärten. Ein anderes Merkmal der Waltiere, die horizon- 
tale Schwanzflosse, hat sich ebenfalls zur mesozoischen Zeit schon 
vorbereitet, wie wir an der noch senkrechten, aber beim Gebrauche 
wohl schon umgelegten Schwanzflosse und der beginnenden Reduk- 
tion der Wirbelsäule in diesem Organ bei den Ichth. sehen. 
Ausgestorbene Säuger. Wir denken uns alle Metareptilien 
der mesozoischen Zeit — ausgenommen die etwa durch geologische 
Vorgänge ausgeschalteten Stämme — in Vögel und Säugetiere um- 
gestaltet und erhalten damit eine durch keine Unbegreiflichkeiten 
eingeengte Kontinuität der Vierfüßler-Entwicklung. Es ist ferner in 
einem früheren Kapitel aufgeführt worden, daß neben den im allge- 
meinen seltenen, natürlichen Vorgängen, die zum gänzlichen Erlöschen 
eines Stammes führen, nur der Mensch, und dieser nach ökono- 
mischen Gesichtspunkten, den Bestand der Vierfüßlerwelt vermindert 
hat. Danach dürften wir erwarten, daß die phylogenetische Entwicklung 
der Säuger während der Tertiärzeit bis zum Erscheinen des 
Menschen, dessen Tätigkeit wir etwa mit dem Miozän beginnen 
lassen dürfen, keine blind endigende Stammreihen aufweise. 


256 Säuger. 


Dem scheint freilich nicht so zu sein. Man darf zwar annehmen, 
daß es mit dem Fortschritt der Forschung gelingen wird, einen großen 
Teil der jetzt als erloschen geltenden alttertiären Säuger, namentlich 
der kleineren Formen, in die heute noch bestehenden Stammreihen ein- 
zuordnen; denn wir haben uns ja an vielen Beispielen davon überzeugt, 
daß die Art und Weise, wie man die einzelnen Formen auffaßt und 
phylogenetisch verknüpft denkt, wesentlich darüber entscheidet, ob sie 
als erloschene oder nur als abgewandelte Wesen aufzufassen sind. Es 
mag daher angezeigt sein, zum Schlusse unserer Besprechung einige 
besonders markante Säuger der älteren Tertiärzeit, die allgemein als 
erloschen und deren etwaige Nachkommen auch nicht als durch den 
Menschen vernichtet gelten, daraufhin zu prüfen, ob sie sich den 
sewonnenen Vorstellungen einfügen, oder ob sie ihnen widersprechen. 
Ich wähle dazu einige der großen und oft genannten Riesensäuger 
des Alttertiärs beider Amerika, die als besonders merkwürdige 
Naturerzeugnisse gelten. 

1. Pyrotherium-Stamm. Im älteren Tertiär Patagoniens 
hat man Reste eines Tieres von beinahe Elefantengröße gefunden, 
das durch starke Stoßzähne im Unterkiefer und durch sehr einfach 
gebaute Backzähne gekennzeichnet ist (Pyrotherium, Fig. 165). Man 
hat es mit den bekannten Dinotherien des europäischen Pliozäns 
verglichen, die zwar auch Elefantengröße erreichen, ähnliche Back- 
zähne, aber nach abwärts gekrümmte Stoßzähne aufweisen und 
habituell anders gebaut waren. Andererseits bestehen offenkundige 
Ähnlichkeiten zwischen Pyr. und einem erst in allerjüngster Zeit 
ausgestorbenen Riesenbeutler Australiens, Diprotodon (Fig. 162). 
Durch die sehr vollständigen Funde dieses Tieres, die aus jüngster 
Zeit datieren, hat sich nun aber herausgestellt, daß der alttertiäre 
Patagonier und der postquartäre Australier einander außerordentlich 
ähnlich sind, in Körpergröße und Habitus, in Schädelbildung, Be- 
zahnung und auch in der sehr bezeichnenden Fußbildung; denn der- 
artig plattig verbreiterte Fußknochen finden sich sonst nirgends 
wieder. Hiernach kann es kaum noch zweifelhaft sein, daß Dipr. 
der Nachkomme von Pyr. ist, und daß die Verbindungsglieder aus 
mittel- und jungtertiärer Zeit auf dem versunkenen Festlande zu 
suchen sind, das zur Tertiärzeit zwischen dem südlichen Südamerika 
und Australien bestanden hat. Nun gehört Dipr. zu den Riesen- 
tieren, die erst in allerjüngster Zeit verschwunden sind, und die wir 
in die Klasse der vom Menschen ausgerotteten Formen verwiesen 
haben. Trifft das zu, dann ist weder Pyr. noch seine jüngere Nach- 
kommenschaft bis ins Quartär erloschen, sondern nur ausgerottet. 


Säuger. 257 


Wenn uns aber die Funde von Dipr. in Australien zufällig nicht 
bekannt wären, würde man Pyr. zu den (Geschöpfen rechnen, 
die wegen »zu bedeutender Körpergröße« oder wegen » Unfähigkeit 
weiter zu variieren« oder wegen »ungenügender oder zu sehr speziali- 
sierter Organisation«e naturgesetzlich hätten verschwinden müssen. 
Ein warnendes Beispiel, wie vorsichtig wir derartige. Erklärungen 
benützen sollten! 

Amblypoden. Zu den markantesten Gestalten der eozänen 
Säugerwelt gehören die riesenhaften Gestalten der Dinoceraten 
und Coryphodonten, die beide in Nordamerika (letztere auch in 


Fig. 162. Diprotodon australis Owen. Plei- Fig. 163. D Backzahn von Diprotodon. 
stozän. Australien. Schädel. (Aus STEIN- A, B, C Unterkiefer und Zähne von Pyro- 
MANN-DÖDERLEIN: Elem. d. Pal. ) therium. Alttertiär. Patagonien. (Nach 


AMEGHINO aus STEINMANN: Einf.i.d. Pal.) 


Europa) gefunden werden. Man pflegt sie als Amblypoden zu- 
sammenzufassen und nicht allein wegen ihrer Größe, sondern be- 
sonders auch wegen ihres primitiven Fußbaues in die Verwandtschaft 
der Proboscidier zu verweisen; aber direkte genetische Beziehungen 
können zwischen beiden Abteilungen kaum existieren. Denn die 
Ambl. erlöschen vor Schluß der Eozänzeit vollständig, und die 
ältesten Prob., die man vor einigen Jahren aus dem Alttertiär 
Ägyptens kennen gelernt hat, weisen nach einem ganz anderen Ur- 
sprunge hin. Wir wollen nun untersuchen, ob man die Ambl. mit 
Recht als ausgestorben betrachten darf oder nicht. Fünfzehige Land- 
tiere von der Größe der Ambl. gibt es heute außer den Elefanten 
nicht mehr, und auch in nacheozänen Tertiär-Ablagerungen hat man 
derartige Tiere bisher noch nicht entdeckt, — also müssen ihre 
beiden Stämme wohl erloschen sein. 


Steinmann, Abstammungslehre. ar 


958 Säuger. 


2. Öoryphodon-Stamm. Die Coryphodonten kennt man 
in vollständigen Skeletten (Fig. 164). Es sind plumpe und schwer- 
fällige, kurzbeinige, fünfzehige Tiere mit massivem, gestrecktem 
Schädel. Sein Umriß ist auffallend durch die weit ausladenden 
Jochbogen und durch die beträchtliche Einschnürung, die er vor 


Fig. 165. Skelett von Hippopotamus amphibius L. (Nach CvviEr.) 


der verbreiterten Schnauze aufweist (Fig. 166 A, 167 links). Bei 
manchen Schweinen findet sich etwas ähnliches, aber wohl niemals 
so stark ausgeprägt. Außer durch die hauerartigen Eckzähne, wie 
sie Ähnlich auch bei den Schweinen vorkommen, zeichnet sich das 
Gebiß durch die fast horizontale Stellung der Schneidezähne im 
Unterkiefer (Fig. 164) aus. 


Säuger. 259 


Wenn wir nach etwaigen Nachkommen eines fünfzehigen Tieres 
suchen, so können selbstverständlich Arten mit gleicher oder mit 
geringerer Zehenzahl in Frage kommen, da die Fünfzahl der Aus- 
gang für alle anderen bildet. Bei der Durchmusterung der heutigen 
Vierzeher treffen wir sogleich auf eine Gruppe von Säugern, die in 
mehrfacher Beziehung an Coryph. erinnert, das sind die Nilpferde. 
Man reiht sie gewöhnlich an die Schweine an, doch scheiden sie sich 
von ihnen nicht nur habituell und durch ihre beträchtliche Größe, 
sondern auch durch die fast gleiche Entwicklung aller vier 
Zehen, da bei den Schweinen die beiden äußeren Zehen stets 


Fig. 166. Schädel von Coryphodon (A) und Hippopotamus (B) von oben gesehen. 
(Nach Marsn.) 


Fig.167. Schädel von Coryphodon elephantopus (links) und Hippopotamus Sivalensis (rechts) 
von unten. (Nach CorE und FALCONER & ÜAUTLEY.) 


schwächer ausgebildet sind, als die beiden mittleren. Wenn wir den 
Fuß von Coryph. sich reduzieren denken, so wäre das nächste 
Stadium der Verlust des ersten Fingers, und fügen wir dazu die ge- 
ringen Verschiebungen, die die Wurzelknochen infolgedessen erfahren, 
so resultiert daraus unmittelbar der Bau des Hippopotamus- Fußes. 
Nun betrachten wir den Schädel beider Gattungen (Fig. 166, 167). 
Die bezeichnenden Merkmale von Coryph. kehren bei Hipp. zu- 
meist in etwas gesteigerter Ausbildung wieder: die weit ausladenden 
Jochbogen (7), die tiefe Einschnürung hinter der verbreiterten Schnauze. 
Diese ist der Teil, der sich am auffallendsten, aber keineswegs wesent- 
lich verschieden zeigt. Sie ist bei Hipp. nicht gerundet wie bei 
vi 


260 Säuger. 


Coryph., sondern abgestumpft. Eck- und Schneidezähne sind viel 
stärker und dem entsprechend auch die Kieferknochen, in denen sie 
sitzen, massiver und breiter. Die Verbreiterung der Schnauze hat auch 
zur Folge, dal die Reihe der Backzähne nach vorn stärker divergiert 
(Fig. 167 rechts‘, als bei den Coryph. (links). Ein Vergleich der Hirn- 
höhle (Fig. 166) zeigt eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen 
beiden, die gleiche Anlage, nur eine nicht sehr bedeutende Vergrößerung 
der Hirnmasse im Laufe der Zeit. Was wir am Unterkiefer von Coryph. 
als eigenartiges Merkmal feststellten, die fast horizontale Stellung. 
der Schneidezähne, findet sich auch bei Hipp. (Fig. 165.2) wieder; 
nur sind auch hier die Zähne erheblich stärker. Vergleichen wir nun 
die Skelette beider Tiere miteinander (Fig. 164, 165), so fallen uns wohl 
noch einige sonstige Unterschiede bei Hipp. auf, wie der vollständige 
Abschluß der Augenhöhle, die Verflachung des Hinterhauptes, die 
stark verbreiterte und vertiefte Ansatzstelle des Kaumuskels im 
Unterkiefer, ferner unbedeutende Abweichungen in der Form des 
Schulterblattes (sc) und in der Höhe der Dornfortsätze. Aber alle 
diese geringen Veränderungen gehören entweder zu solchen, die sich 
auch bei anderen Säugern im Laufe ihrer Entwicklung während der 
Tertiärzeit einstellen, (Abschluß der Augenhöhle), oder sie erklären 
sich als die unmittelbaren Folgen der besonderen Lebensweise der 
Nilpferde /plumper Bau, Abrundung des Schädels, usw.). Der be- 
kannte Künstler Knıcnr des American Museum in New-York, wo sich 
ein vollständiges Skelett von Coryph. findet, hat eine Rekonstruktion 
des Tieres angefertigt. Wer diese sieht, ohne zu wissen, daß ihr 
ein eozänes Tier als Vorbild gedient hat, würde darin eine neue 
hochbeinige Art von Hipp. vermuten, so sehr gleicht das lebende 
Tier dem »Flußschwein« der Ägypter. 

Es ist nicht ersichtlich, welche Gründe uns hindern sollten, die 
Nilpferde als Nachkommen von Coryph. anzusprechen; denn die 
Veränderungen, die der Stamm hiernach im Laufe der Tertiärzeit 
erfahren hätte, sind viel geringer als die in vielen anderen Stämmen 
während der gleichen Zeit. Zwar fehlen zwischen Eozän und Pliozän 
alle vermittelnden Funde. Aber soweit man geologische Verhältnisse 
zur Beurteilung der Frage heranziehen darf, sprechen sie zugunsten 
unserer Auffassung. Die Nilpferde erscheinen nämlich unvermittelt 
im Pliozän Südindiens. Aus Europa können sie nicht gekommen 
sein, da hier seit dem älteren Eozän jede Spur von ihnen fehlt. In 
Nordamerika verschwinden die Coryph. ebenfalls zur älteren Eozän- 
zeit. Aber wie manche andere Säuger, die im Jungtertiär in Indien 
auftauchen und sich dann im Okzident ausbreiten, offenbar von Nord- 


Säuger. 261 


amerika über eine nordpazifische Landmasse gewandert sind (z. B. 
die Kamele), so dürfte sich auch der Nilpferdstamm in der zwischen 
Alteozän und Pliozän liegenden Zeit auf dem Festlande des Nord- 
pazifik aufgehalten haben und von dort nach Indien gewandert sein. 
Auf diesen Wanderungen scheint der Stamm von seiner ursprünglichen 
Formenbreite nicht wesentlich eingebüßt zu haben. Wenigstens 
schwankt die Größe der heutigen Nilpferde noch etwa in denselben 
Grenzen (bei durchschnittlich etwas bedeutenderer Körpergröße) wie 
bei den Coryph., deren Größe sich zwischen der eines Bären und der 
eines Ochsen bewegt. Nach allem, was wir von anderen Stämmen 
wissen, werden sich die Umbildungen der Coryph. zu Nilpferden 
an allen Vertretern, soweit sie nicht ausgemerzt, vollzogen haben; es 
besitzen ja auch alle Nilpferde wesentlich die gleiche Lebensweise, 
und diese ist als die hauptsächliche Ursache für die gleichsinnige 
Umbildung anzusehen. 

Liegen nun die Beziehungen zwischen Coryph. und Hipp. wirk- 
lich so einfach und klar, wie ich sie hier dargestellt habe, warum, 
so wird man fragen, sind sie dann nicht schon früher erkannt worden ? 
Ich habe sie in der Tat nirgends in der Literatur angedeutet ge- 
funden. Coryph. gilt allgemein als ausgestorben. Über den Ursprung 
der Hipp. weiß man nichts, aber sie werden den Schweinen angereiht; 
und obgleich Zırrer ausdrücklich sagt: »auffallenderweise bewahrt 
das Skelett der Hippopotamiden ein durchaus primitives Gepräge«, 
so ist es doch niemand eingefallen, sie mit den fast identischen 
primitiven Amblypoden auch nur zu vergleichen, 

Dies erklärt sich allein aus der unhistorischen Eigenart der 
üblichen Methoden. Die fünfzehigen Amblyp. werden im System 
mit den anderen fünf-, drei- und einzehigen Huftieren zu den Un- 
paarhufern gestellt, die vierzehigen Hipp. aber zu den Paar- 
hufern. Damit sind sie endgültig auseinander gerissen, und jeder 
Teil ist mit Tieren von ähnlicher Organisationshöhe, aber ganz ver- 
schiedener Abstammung zusammengekuppelt. Diese Trennung nach 
einem hervorstechenden Merkmale ist bequem, aber sie läuft dem 
Grundsatz der Abstammung zuwider. Es erweist sich hier aufs 
deutlichste, wie die Systematik der geborene Feind der Deszendenz ist. 

3. Dinoceraten-Stamm. Die Dinoceraten gehören nach 
allgemeinem Urteil »zu den merkwürdigsten Tieren, die je gelebt 
haben«. »Ein Bild rohester und plumpester Ungelenkheit«. In der 
Tat sucht man unter den Landsäugern nacheozäner Zeiten vergeblich 
nach einem Tier, bei dem sich mit der Größe und Plumpheit, sowie 
mit dem primitiven Bau des fünfzehigen Fußes ein sechsfach gehörnter 


262 Säuger. 


Schädel mit gewaltigem Hauer im Öberkiefer vereinigt (Fig. 168). 
Und doch stehen diese Tiere keineswegs so fremdartig der heutigen 
Schöpfung gegenüber, wie es scheint. Denn wenn wir nach etwaigen 
Verwandten oder Abkömmlingen alttertiärer Säuger suchen, dürfen 
wir unseren Blick nicht auf den Landsäugern allein haften lassen. 
Wir wissen vielmehr, daß aus solchen im Laufe der Tertiärzeit 
mehrfach auch Wassertiere hervorgegangen sind, so aus den Raub- 
tieren die Robben und Seehunde. Aber wie offenkundig auch der 


Fig. 168. Dinoceras (Loxolophodon) ingens Marsh. Eozän von Wyoming. Skelett. (Nach 
MARSH aus STEINMANN-DÖDERLEIN, Elem. d. Pal.) 


Zusammenhang zwischen Landraubtieren und den Seehunden 
erscheint, so stehen doch gewisse Formen der Pinnipedier dem 
Raubtiertypus recht fern, z. B. das Walroß (Trichechus Fig. 169). 
Schon die gewaltige Größe des Tieres, die Form des Schädels, die 
anliegenden Jochbogen, die ungeheuren Hauer und die den Raubtier- 
zähnen ganz unähnlichen, stiftförmigen Backzähne entfernen diese 
(Grattung weit von den übrigen Gestalten, mit denen man sie vereinigt. 
Emanzipiert man sich aber von der Beengung des Systems und sucht 


a ne 2 


Säuger. 263 


unter fossilen Säugern nach ähnlichen Gestalten, so richtet sich der 
Blick unwillkürlich auf jene merkwürdigen ausgestorbenen Amblyp., 
die Dinoceraten. 

Wie uns die Robben im Vergleich mit den Landraubtieren 
zeigen, erzeugt der dauernde Aufenthalt im Wasser bei den Säugern 
gewisse Veränderungen. Der Schädel rundet sich allgemein zu, Vor- 
sprünge und Kämme schleifen sich ab und verschwinden. Die Zehen 
verlängern sich, indem sich die Gliedmaßen zu Schwimmorganen um- 
bilden; aber ihre Zahl wird nicht geringer. Die Zähne erfahren eine 
Vereinfachung. Bringen wir diese Veränderungen beim Forschen nach 
einem verwandten Landsäuger in Anrechnung, so erscheint die Über- 
einstimmung mit den Dinoc. auffallend genug, wie ein Vergleich der 
Skelette beider zeigt (Fig. 168, 169). Die Körpergröße und Pro- 
portionen der einzelnen Skeletteile sind wesentlich gleich, nur er- 
scheinen die Zehen beim Wassertier länger und schmäler, der Schwanz 
ein wenig kürzer. Den Schädel des landbewohnenden Vorfahrs (Fig.171) 
haben wir uns abgerundet und verkürzt zu denken, so daß die zwei Paar 
mächtiger Knochenzapfen auf Oberkiefer und Scheitelbein beim Wasser- 
tier (Fig. 172) nur noch als gerundete Vorsprünge (p’, m’) erkennbar 
sınd; aber sie befinden sich genau an den gleichen Stellen wie dort. 
Auch der Occipitalkamm (oc’) ist noch angedeutet. Die auffallendste 
Veränderung hat die Schnauzenspitze erfahren. Bei Dinoc. springen 
die Nasenbeine über der Nasenöffnung und der Zwischenkiefer unter 
dieser weit vor, so daß die Höhle tunnelartig in die Schnauze ein- 
dringt (Fig. 171). Die Schnauzenspitze erscheint nun bei Trich. zurück- 
gedrängt, verkürzt und abgeplattet, aber die tunnelartige Öffnung 
der Nasenhöhle bleibt gewahrt (Fig. 172). Nicht minder deutlich tritt 
die Übereinstimmung zwischen beiden Tieren bei der Betrachtung des 
Schädels von unten hervor (Fig. 170). Abgesehen von der Verkürzung 
der Schnauze und dem Schwunde der Knochenzapfen und -kämme von 
Dinoc. herrscht fast vollständige Identität der Merkmale. Die Joch- 
bogen (j) liegen dem Schädel hart an — ein wichtiges Unter- 
scheidungsmerkmal gegenüber der ausladenden Form bei allen Raub- 
tieren —, die Stellung der Backzähne ist die gleiche; eine Verlängerung 
des harten Gaumens (pl) ist bei einem Wassertiere selbstverständlich. 
Nicht weniger bemerkenswert ist die Übereinstimmung im Unterkiefer 
(Fig. 171, 172). Dem mächtigen Eckzahn bei Dinoc. entspricht im 
Unterkiefer ein starker Fortsatz (Fig. 171w). Diesen sehen wir bei 
Trich. etwas nach hinten gerückt und abgeschwächt wiederkehren 
(Fig. 172w). Von allen übrigen Huftieren ist Dinoc. durch die tiefe 
Lage und die nach hinten statt nach oben gerichtete Stellung des 


264 Säuger. 


Unterkiefergelenkes (Fig. 171) ausgezeichnet. Dies eigenartige Merkmal 
kommt auch Trich. (Fig. 172co) zu. Findet sich auch gelegentlich 
bei Raubtieren (Smilodon) ein nach hinten gerichteter Gelenkkopf und 
steht dieser bei Beuteltieren und Insektenfressern auch ähnlich tief, 
so findet sich beides vereint und mit den sonstigen Merkmalen ver- 
knüpft unter allen Säugern nur bei den Dinoc. und Trich. 
Der genetischen Verknüpfung der beiden Tiere steht aber schein- 
bar das abweichende Verhalten der Schneidezähne im Oberkiefer 
entgegen. Nach Marsu, dem wir die ausführlichste Darstellung 


Fig. 170. Schädel von Dinoceras (A) und Trichechus (B) von unten. (Nach MarsH 
und CvvIEr.) 


A 


12 


Fig. 171. Dinoceres (Loxolophodon) mirabile Fig. 172. Schädel und Unterkiefer von 
Marsh. Eozän. Wyoming. Schädel. (Nach Trichechus. (Nach WEBER: Säugetiere.) 
MARSH.) 


der Dinoc. verdanken, fehlen nämlich bei diesen Tieren die Schneide- 
zähne im Oberkiefer gänzlich, während sie bei Trich., wenn auch stark 
verkümmert, so doch stets vorhanden sind (Fig. 172:). Die Angaben 
von MarsnH sind zwar in alle Lehrbücher übergegangen, aber dennoch 
unzutreffend. Wie schon Ossorn gelegentlich hervorgehoben hat, 
fehlen die Alveolen für die Schneidezähne im Oberkiefer der Dinoc. 
keineswegs, und ich selbst habe mich an den zahlreichen, wohl er- 
haltenen Schädeln der amerikanischen Sammlungen überzeugt, daß 
sie ausnahmslos erhalten sind, wenn auch die Zähne selbst bei den 


Der Mensch. 265 


alten Tieren wohl regelmäßig ausgefallen waren. So erweist sich 
auch dieser Unterschied als hinfällig, und es scheint mir keinerlei 
Bedenken der Auffassung im Wege zu stehen, wonach das Walroß 
der Nachkomme der Dinoc. ist; die geringfügigen Änderungen 
im Skelettbau sind nur durch den Übergang zur marinen Lebens- 
weise hervorgerufen. 

Die Walrosse sind seit der Miozänzeit in den Meeren der 
Nordhalbkugel verbreitet und haben sich vom Miozän bis heute kaum 
verändert; die Umbildung aus landbewohnenden Vorfahren ist dem- 
nach auf der Nordhalbkugel und wahrscheinlich an den Küsten des 
erwähnten nordpazifischen Festlandes in der Oligozänzeit vor sich 
gegangen. Die geologischen Befunde harmonieren also vollständig 
mit der Ableitung, für die ich hier plädiere. 

Ich beschränke mich auf diese wenigen Beispiele, möchte aber 
hinzufügen, daß mir schon jetzt für manche andern »ausgestorbenen « 
Riesentiere der Tertiärzeit ähnliche Umdeutungen geboten scheinen, 
z. B. für die Titanotherien, die mit dem Oligozän verschwinden 
und deren Nachkommen ich in den großen jungtertiären Nashörnern 
von dolichocephalem Typus (Ceratorhinus, Atelodus, Coelodonta) er- 
blicke. Eine weitere Anwendung der hier entwickelten Methoden auf 
die Säuger überhaupt dürfte noch manche Zusammenhänge aufdecken, 
die man jetzt nicht vermutet, und dürfte die Stammesgeschichte wesent- 
lich klären helfen. 

7. Der Mensch. Fossile Funde von Menschen oder menschen- 
ähnlichen Wesen sind bis jetzt sehr selten und allein nicht geeignet, 
die noch so wenig klare Stammesgeschichte der Menschen im ein- 
zelnen aufzuhellen, geschweige denn aus ihnen Gesetzmäßiskeiten der 
Entwicklung im allgemeinen herauszulesen. Bei dem Interesse, das 
die wenigen Funde in neuer Zeit begreiflicherweise erregen, mag es 
aber gerechtfertigt erscheinen, sie hier an der Hand der Erfahrungen 
zu betrachten, die wir aus der Stammesgeschichte anderer Organis- 
mengruppen gewonnen haben. 

Da muß denn vor allem betont werden: eine einmalige und 
monophyletische Abstammung der Gattung Homo ist durchaus 
unwahrscheinlich trotz der fast allgemeinen Verbreitung, der sich 
diese Auffassung in wissenschaftlichen wie in Laien-Kreisen erfreut. 
Vereinzelt sind seit GoETHE jederzeit Stimmen laut geworden, die den 
entgegengesetzten Standpunkt vertreten, beachtet sind sie kaum. 
Das erscheint selbstverständlich zu einer Zeit, in der man für alle 
Gattungen lebender Wesen einen einstämmigen Ursprung voraus- 
setzt. Warum sollte man dem Menschen da eine Ausnahmestellung 


266 Der Mensch. 


von der Regel zuerkennen, wo noch dazu unser Urteil leicht durch 
Motive nicht wissenschaftlicher Natur zugunsten der einmaligen Ent- 
stehung beeinflußt wird? 

Als Vorstufe der Menschen haben wir uns pithekoide Wesen zu 
denken, die durch Annahme des aufrechten Ganges eine allmähliche 
Umbildung zur Stufe des Menschen erfahren haben. Die Ursachen 
für das Verlassen der ursprünglich vierfüßigen Fortbewegung können 
wir am besten in klimatischen Vorgängen suchen. Denn wenn ein 
Waldgebiet, in dem pithekoide Wesen etwa von der Fortbewegungs- 
art der heutigen Menschenaffen wohnen, durch allmähliche Abnahme 
der Niederschläge sich lichtet, in eine Savannengegend sich umwandelt 
oder gar zum Buschwald wird, so sind die pithekoiden Bewohner 
genötigt, sich diesen geänderten Verhältnissen anzubequemen, und 
wenn sie sich schon, ähnlich wie die heutigen Menschenaffen, gelegent- 
lich aufrecht oder halbaufrecht bewegten, so bedeutet es auch keine 
erhebliche Änderung, nach und nach zum dauernd aufrechten Gange 
überzugehen. Alle weiteren Umbildungen, im besonderen die zu- 
nehmende Entwicklung der Sinne, die Ausgestaltung der Hände zu 
einem vielseitig verwendbaren Organ und die aus diesen beiden Än- 
derungen resultierende Zunahme der geistigen Fähigkeiten und der 
Hirnmasse folgen naturgemäß aus diesem ersten, wichtigsten Schritte 
zur Menschwerdung. 

Denken wir uns nun das Verbreitungsgebiet solcher Pithekoiden 
mit verschiedenen nahestehenden Arten besetzt, die wir systematisch 
vielleicht zu einer »Gattung« vereinigen würden, und sich in diesem 
Gebiet allmählich einen Klimawechsel in angegebenem Sinne vollziehen, 
so würden einige Arten, die etwa nahe bei oder in sehr feuchten 
Flußniederungen leben, sich in diese zurückziehen und dabei ihre 
bisherigen Gewohnheiten beibehalten, andere, die näher der Wald- 
grenze wohnen, würden dagegen zur zweibeinigen Gangart übergehen 
und so allmählich befähigt werden, sich in den neu entstehenden 
und in den schon vorhandenen Savannen- und Buschwaldgebieten aus- 
zubreiten. Die Trennung in epistatische Pithekoiden und progressive 
Urmenschen wäre damit vollzogen. Da aber die Vorgänge, die diese 
Spaltung verursacht haben, keineswegs ungewöhnlich sind, sondern 
sich in der gleichen oder in einer anderen Gegend in späteren Zeiten 
ganz ähnlich wiederholen können, so folgt daraus, daß aus einer 
zusammengesetzten Pithekoiden-Gattung oder auch aus mehreren 
(Grattungen wiederholt unabhängig und zu sehr verschiedenen Zeiten 
Menschenarten entstanden sein können. Daß wir die auf ge- 
trennten Wegen zu Menschen gewordenen Wesen systematisch zu 


Der Mensch. 267 


einer »Gattung« Homo vereinigen, ist nicht weniger merkwürdig, 
als daß wir eine Gattung Unio oder Anodonta unterscheiden. 
Denn die Merkmale, die die Angehörigen der Gattung Mensch bei 
ihrem Übergang zur Menschenstufe aufgeprägt erhalten haben, sind 
ebenso auffällig und drängen die eigentlich phylogenetischen Kenn- 
zeichen ebenso sehr in den Hintergrund, wie die Merkmale der 
Gattung Unio oder Anodonta die Kennzeichen, nach denen wir 
ihre Arten einzeln von ihren marinen Vorfahren oder auseinander 
abgeleitet haben. Bei den Menschen verzeichnen wir diese alt- 
ererbten Kennzeichen (Beschaffenheit der Haut, Haare, Augen usw.) 
als Rassenmerkmale, wissen auch von ihnen, daß sie sich mit 
merkwürdiger Zähigkeit erhalten und vererben. Wir denken sie 
uns gewöhnlich als Variationen innerhalb der Gattung Homo 
entstanden; einen positiven Anhalt haben wir dafür aber nicht. 
Legen wir vielmehr die Erfahrungen aus der Stammesgeschichte an- 
derer Organismengruppen zugrunde, so werden wir die Rassen- 
kennzeichen als die phylogenetisch beharrenden ansprechen 
und annehmen, daß sie schon den verschiedenen Vorfahren auf der 
Pithekoiden-Stufe zukamen. Sind die Menschen auf verschiedenen 
Stammlinien aus Pithekoiden hervorgegangen, so hat sich ihr Skelett 
ebenso viele Male umgebildet, als es Stammlinien gibt, und es müssen 
dann ebenso viele phylogenetisch untereinander nicht 
direkt verknüpfte Zwischenstufen als Pithecanthropus, Homo 
primigenius usw. bestanden haben. Solche Zwischenstufen werden 
in den verschiedenen Stammreihen nur teilweise gleichzeitig neben- 
einander, im allgemeinen aber nacheinander erreicht worden sein, je 
nachdem die Umbildung innerhalb einer Stammreihe früher oder 
später und außerdem langsamer oder schneller erfolgt ist. 

Die eben erörterten Möglichkeiten haben wir uns genau von den 
Umbildungsvorgängen vorzeichnen lassen, wie sie an anderen Orga- 
nismengruppen beobachtet werden; sie sind wohl hypothetisch, aber 
in keiner Weise unnatürlich oder unwahrscheinlich, geschweige denn 
unmöglich. Betrachten wir nun die fossilen Menschenreste im Rahmen 
dieser Möglichkeit, so verlieren sie ganz den befremdlichen Charak- 
ter, der ihnen bei der jetzigen Auffassung anhaftet. Weder Pithec- 
anthropus noch H. primigenius brauchen als erloschene Formen zu 
gelten, von denen heute keine Nachkommen mehr existieren; beide 
wären vielmehr nur als epistatische Formen zu deuten. Denn 
wenn wir nach den nicht wohl anzuzweifelnden Funden Rurorts mit 
Vertretern der Gattung Homo (oder wenigstens mit Feuerstein- 
schlagenden Wesen) schon für die Zeit des Oligozäns zu rechnen 


268 Der Mensch. 


haben, so dürfte es spätestens zu Beginn der Quartärzeit auch schon 
Menschen mit den anatomischen Merkmalen der heutigen gegeben 
haben. Der alt- oder mittelquartäre Pithecanthropus würde diesen 
gegenüber aber die Rolle einer epistatischen Form spielen. Aber mit 
noch größerer Wahrscheinlichkeit dürfen wir voraussetzen, daß zur 
mittleren Diluvialzeit, als in Mitteleuropa sich der H. primigenius 
als Jäger umhertrieb, anatomisch vollwertige Menschen in Asien oder 
Südeuropa gelebt haben, im Vergleich zu denen der Neandertaler 
zurückgeblieben war, weil er einer anderen, später entstandenen, oder 
langsamer umgebildeten Stammreihe angehörte. Der heutige Austra- 
lier ist dann ebenfalls ein Epistat im Vergleich zu allen übrigen 
heutigen Menschenrassen. Wollten wir aber die etwaigen Nach- 
kommen von Pithecanthropus und H. primigenvus feststellen, so müssen 
wir nach Eigentümlichkeiten im Skelettbau suchen, die nicht Stufen- 
merkmale sind, die also mit der allgemeinen Mutation Pithekoiden— 
Menschen nichts zu schaffen, die vielmehr als Kennzeichen einzelner 
Stammreihen (= Rassen) zu gelten haben. Leider erhalten sich die 
Kennzeichen, nach denen wir die heutigen Menschenrassen haupt- 
sächlich unterscheiden, im fossilen Zustande nicht. Ob ihnen auch 
Unterschiede im Skelett entsprechen — abgesehen von den Stufen- 
.merkmalen — wäre wohl erst noch zu ermitteln. Wenn sie vorhan- 
den sind, wäre ein Vergleich mit dem nicht allzu spärlichen Mate- 
rial vom H. primigenius heute vielleicht schon erfolgreich, mit den 
dürftigen Resten von Pithecanthropus vorläufig aber gänzlich aus- 
sichtslos. 

Die Geschichte der Kulturvölker bestätigt die Erfahrungen, die 
wir aus der Betrachtung der Natur gewonnen haben. Die einzelnen 
Kulturvölker entstammen nicht einem » Ur-Kulturvolk«, so wenig wie die 
verschiedenen Sprachen auf eine »Ursprache« zurückgehen, wie ähnlich 
auch verschiedene Kulturen und Sprachen einander werden können, wenn 
sie die gleiche Entwicklungshöhe erreichen. So wie der Umbildung 
von Trigonia zu Unio oder von einem Reptil zum Vogel oder Säuger 
nicht Zufälligkeiten zugrunde liegen, sondern gesetzmäßig 
wirkende Ursachen, die bei historisch gegebener Gelegenheit 
immer die bestimmte, aber auf verschiedener Grundlage stets etwas 
abweichend herausspringende Wirkung auslösen, so sind auch aus 
unterschiedlichen Naturvölkern andersgeartete Kulturvölker, aus ver- 
schiedenen sprachlosen Völkern anderssprechende geworden — auf 
etwas wechselnden Wegen und zu verschiedenen Zeiten. Und wie 
die Umbildung der Pithekoiden in Menschen zwar innerhalb eines 
beträchtlichen, aber doch begrenzten geologischen Zeitraums fällt 


Zusammenfassung. 269 


und heute kein Pithecanthropus mehr besteht, so sind auch heute 
alle Menschen schon sprechend. Epistatische Kulturen dagegen, 
Naturvölker, deren Zahlenabstraktion noch nicht über die erste 
Stufe, die 2 hinausreicht, wohnen heute noch in Brasilien, nicht 
allzu fern von den hohen Masten, die man im Urwalde errichtet, 
um das von greifbarer Materie gelöste Wort über ungangbare Länder 
zu senden. 

In diesem Lichte erscheint die Geschichte der Menschheit dem- 
jenigen, der ihre Entwicklung nach Maßgabe der Gesamtentwicklung 
der belebten Natur beurteilt. Für den Kulturhistoriker beginnt die 
Forschung dort, 'wo die des Naturforschers aufhört. Kann er die 
letzte Phase im Gange der Menschengeschichte, deren Anfänge sich 
seiner Forschung entziehen, unter der gleichen Formel begreifen, die 
wir gefunden haben, so ist die erwünschte Einheitlichkeit der Auf- 
fassung hergestellt. Nun finden wir in dem jüngsten, umfassenden 
Versuche K. Breysıss, der die Geschichte der Menschheit natur- 
gesetzlich zu begreifen bemüht ist, dieselben Grundbegriffe der Ent- 
wicklung, den parallelen Verlauf der Entwicklungsreihen und den 
Begriff der Entwicklungsstufe, die jede einzelne der Reihen gesetz- 
mäßig durchlaufen hat. Er baut sich auf dem Gedanken auf, »daß 
die Entwicklungsbahnen aller Völker und Völkergruppen der Erde in 
gleicher oder wenig abweichender Richtung verlaufen, und dab ein 
sehr großer Teil der Verschiedenheiten, die das Bild der Menschheit 
heut wie zu fast allen Zeiten aufweist, nur durch die Verschiedenheit 
der Entwicklungsgeschwindigkeiten zu erklären ist, mit der die ein- 
zelnen Teile der Menschheit diese ihre Wege zurückgelegt haben«. 


VII. Zusammenfassung. 


Einige Bruchstücke der reichen organischen Schöpfung haben 
wir in ihrem geschichtlichen Ablauf an uns vorüberziehen lassen, und 
bei dieser Betrachtung des historischen Materials sind wir bemüht 
gewesen, alle Begriffe und Auffassungen tunlichst auszuschalten, die 
sich nicht aus der Geschichte der Schöpfung selbst oder aus dem 
Werdegang des Planeten überhaupt ableiten. Stets konnten wir nur 
die jüngeren Phasen von Stammesentwicklungen in die Betrachtung 
einbeziehen und verwerten, da ihre Anfänge, die weit hinter den Be- 
ginn der biohistorischen Zeit zurückreichen, uns unbekannt sind. 
Wie das Baumaterial schon zeitlich beengt ist, so bleibt es auch ın 
diesem geschmälerten Umfange fragmentarisch und seinem Inhalt 


270 Zusammenfassung. 


nach unvollkommen, denn nur ausnahmsweise können wir die Ge- 
stalten früherer Zeiten in ihrer gesamten Organisation wieder er- 
stehen lassen, zumeist müssen wir aus den unvergänglichen Teilen 
das Gesamtbild ergänzen, so gut es geht. Auch legt sich hemmend 
auf den Flügelschlag solcher Forschung die Weite der Schöpfung. 
Denn soll ein derartiger Versuch überhaupt eine Grundlage für den 
Fortschritt der Naturerkenntnis abgeben, so darf er sich nicht auf 
einen kleinen Teil der Schöpfung beschränken, er muß wenigstens 
auf einige und auf verschiedenartige Gebiete der Lebewelt ausgedehnt 
werden. Wer aber wäre heute imstande, mehr als ein kleines Teil- 
gebiet der lebenden oder fossilen Welt so zu beherrschen, daß ihm 
keine wesentliche Tatsache entgeht? Wir wollen uns also nicht dar- 
über täuschen, wie spärlich und lückenhaft der Stoff ist, mit dem 
wir bauen, wie beschränkt die Fähigkeit der Baumeister. Was uns 
allein den Mut verleiht, ja die Pflicht auferlegt, trotz der offen- 
kundigen Unvollkommenheit einen neuen Bau zu wagen, ist die be- 
rechtigte Überzeugung, daß wie in der leblosen Natur, so auch in 
der belebten alle Erscheinungen von einfachen, großen Gesetzen 
geregelt werden, und daß diese mit Hilfe der historischen Methode 
unsrer Erkenntnis zugänglich sind. Die Geschichte unsrer Wissenschaft 
ist ein einziger Beleg dafür. Denn wenn wir im historischen Ent- 
wicklungsgange verschiedener Tier- und Pflanzengruppen immer den 
gleichen Gesetzmäßigkeiten begegnen, wenn uns die so gewonnenen 
Regeln sogar befähigen, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten auch 
dort aufzufinden, wo sie bisher fehlten, so liegt darin ein deutlicher 
Hinweis, daß wir wenigstens ein brauchbares Werkzeug in 
Händen haben, das wir nützen müssen, bis es an dem harten Wider- 
stand der Tatsachen stumpf geworden ist. Wie sieht dies Werkzeug 
im einzelnen aus, und welche Vorteile bietet es gegenüber den bis- 
her gebrauchten? 

Die Ergebnisse der vorausgehenden Untersuchungen sind nega- 
tiver und positiver Art; die ersteren wollen wir voranstellen. Wir 
fanden die allgemein herrschende Voraussetzung nicht bestätigt, 
wonach das jetzige System der Tiere und Pflanzen, wie »natürlich« 
es auch scheinen möge, den phylogenetischen Entwicklungsgang vor- 
zeichnet, und zwar weder im einzelnen, noch viel weniger in den 
Hauptzügen. Es ließ sich ferner wiederholt erweisen oder doch wahr- 
scheinlich machen, daß die Umbildungen im Laufe der Zeit nicht 
durch Abspaltung und Auslese bevorzugter Abänderungen und durch 
Aussterben des zurückgebliebenen Teiles erfolgt sind. Die Vor- 
stellung von dem Erlöschen zahlreicher und umfassender Formen- 


Zusammenfassung. 271 


gruppen, die keine Spur ihres Daseins in der jetzigen Schöpfung 
hinterlassen haben, erwies sich dabei als unnötig und unzutreffend. 
Durch Umdeutung des phylogenetischen Zusammenhanges, wie er 
bisher gedacht war, und unter Verwertung der geologischen Erfah- 
rungen konnten die vitalistischen Vorstellungen vom wiederholten 
Einsetzen einer unerklärlicehen Expansivkraft ebenso beseitigt werden, 
wie die vom unverständlichen Nachlassen der phyletischen Lebens- 
kraft. Schließlich ließ sich auch die Annahme als unberechtigt 
erweisen, daß unter den Resten der Vorzeit die erforderlichen Über- 
gänge zwischen den großen Tier- und Pflanzengruppen fehlen. 

Die Vorzüge der neuen Auffassung liegen aber nicht allein 
in der Verneinung dieser — wie ich meine — unzutreffenden dog- 
matischen Annahmen, sondern in dem positiven Aufbau eines neuen, 
geänderten Schöpfungsbildes. Dieses erscheint gegenüber dem bis- 
herigen ungeheuer vereinfacht. Bedeutet wirklich simplex si- 
gillum veri, so liegt eine Wahrheit in dem Versuch, die zweifach, 
erst von der Natur und dann von der Wissenschaft begrabenen Ge- 
stalten der Vorzeit aus ihren steinernen Hüllen auferstehen zu machen 
und sie als lebendige und unentbehrliche Glieder dem Schöpfungs- 
bild wieder einzufügen. Sie erzählen jetzt nicht mehr von fehlge- 
schlagenen Versuchen, von launischen Einfällen und von schwer ver- 
ständlichen Verirrungen der Natur und von Zufälligkeiten in ihrem 
Geschehen, sondern von durchgängiger Bestandfähigkeit und 
von zähem Beharrungsvermögen des einmal Entstandenen, 
von der Bedingtheit und Gesetzmäßigkeit der Vorgänge auch 
in der belebten Natur. Sie bezeugen, daß nur die brutale 
Gewalt verrichtend in den Bestand des Lebendigen eingreift, möge 
sie von der blindwaltenden Natur oder vom zielbewußten Menschen 
ausgehen. Dieses neue Bild der Schöpfung entschleiert aber auch 
(resetze, die das Werden und Wandeln des Lebens regeln. 

Im einzelnen glaube ich folgende Regeln und Gesetzmäßigkeiten 
aus der Geschichte der Tier- und Pflanzenwelt ablesen zu können: 

Die Umbildungen erfolgen allgemein in unmerklich 
kleinen Schritten, und es gibt keine sprunghaften Neue- 
rungen. Das schließt nicht aus, daß die Grenze zwischen zwei ver- 
schiedenen, auseinander folgenden Zuständen als ein scharfer Schnitt, 
als ein Sprung, erscheint. So wenn eine Koralle, die dem Skelett 
nur noch lose aufsitzt, skelettfrei wird (vgl. S. 76 ff.). Hier ist die 
Vorbedingung für den neuen Zustand langsam vorbereitet durch all- 
mähliche Ausdehnung der Muskulatur auf der Unterseite des Tieres, 
und sobald ein gewisser Grad muskulöser Beschaffenheit erreicht ist, 


272 Zusammenfassung. 


hebt sich das Tier vom Skelett ab. Dieser Vorgang kann in die 
Lebenszeit eines Individuums fallen und erfolgt scheinbar unver- 
mittelt, sprunghaft; doch läßt er sich passend vergleichen mit dem 
Verhalten der eisernen Achse, die ganz allmählich umkristallisiert 
und brüchig wird, bis sie schließlich »plötzlich« bricht. 

Alle Umbildungen im Laufe der Zeit — die Mutationen im 
ursprünglichen und eigentlichen Sinne des Wortes — ergreifen 
stetseine größere Anzahl von Individuen in gleichem Sinne, 
aber die einzelnen verschieden stark, je nachdem diese den bewirken- 
den Einflüssen mehr oder weniger dauernd oder intensiv ausgesetzt 
sind. Nicht nur die Vertreter einer Abart oder Art, sondern mehrere 
Arten oder gar Gattungen und Familien erfahren die gleichen Um- 
bildungen, bewahren dabei aber die Merkmale, die von den Verände- 
rungen nicht berührt werden. Solche gleichsinnige Umbildung 
(Homoeogenese — Eimer, Homoplasie der amerikanischen For- 
scher) ist weder örtlich, noch zeitlich beschränkt; sie kann heute einen 
Teil der Individuen einer Art oder einzelner Arten in Mitleidenschaft 
ziehen, die andern verschonen, morgen oder später wird der epistatische 
Rest ganz oder teilweise auch betroffen, und wenn dieser inzwischen 
gewisse Änderungen in anderm Sinne erfahren hat, so werden diese 
in den neuen Zustand mit übernommen (Schizodonten — 8. 114). Was 
wir Variation, d.h. Abänderung im Raume nennen, beruht zum er- 
heblichen Teile auf epistatischen Mutationen, d.h. darauf, daß sich 
neue Merkmale an den einzelnen Individuen verschieden rasch 
herausbilden oder daß bestehende verschieden schnell verschwinden 
(Schizodonten S. 116). 

Es gibt weitgehende Umbildungen, die fastzuallen Zeiten 
des biohistorischen Zeitraumes eingetreten sind und die 
auch heute noch in ähnlicher Weise fortgehen können, wie die Ver- 
wandlung der meeresbewohnenden Trigoniden in die flußbewohnen- 
den Unionen. In diesen Fällen ändert sich die Konstitution der 
Ausgangsstufe im Laufe langer Zeit so wenig, der Organismus bleibt 
so plastisch und für die betreffende Änderung so empfänglich, daß 
jede historisch gebotene Gelegenheit das wesensgleiche Ergebnis 
zeitigen muß. Daneben erkennen wir andre Umbildungen, die 
an eine bestimmte Organisationsstufe geknüpft sind. So 
kann die Wirbeltierstufe aus der Urkrebs-Stufe nur hervorgehen, so 
lange die Nerven noch mehr oder weniger diffus und noch nicht 
durch Kommissuren zu einem unverschiebbaren System verbunden 
sind (8.203). Wenn eben gewisse Merkmale einmal konstitutionell 
gefestigt sind und damit nach bestimmten Richtungen nicht mehr 


Zusammenfassung. 275 


umgebildet werden können, erlischt die Fähigkeit zum Aufsteigen in 
eine andre Stufe, sofern diese eine Änderung jener Merkmale erfordert. 
Es mag daher mit Recht bezweifelt werden, ob aus den heutigen 
Reptilien durch die Zwischenstufe des Metareptils jemals noch Vögel 
oder Säuger, oder ob aus den heutigen Menschenaffen noch Menschen 
werden können. Doch wollen wir uns hüten, solche Möglichkeiten 
oder selbst Wahrscheinlichkeiten dogmatisch zu versteifen. 

Häufig fallen tiefgreifende Umbildungen einer formen- 
reichen Organismengruppein einen kürzeren oder längeren, 
aber beschränkten Zeitraum (der vielleicht kürzer scheint, als 
er in Wirklichkeit war). Darin drückt sich wohl nur die Tatsache 
aus, daß alle Vertreter der älteren Gruppe durch lange und ständig 
in gleichem Sinne (wenn auch nicht bei allen gleichmäßig) wirkende 
Bedingungen für den neuen Zustand ungefähr gleich aber doch etwas 
verschieden weit vorbereitet waren, so daß sich der Schlußakt wohl über 
einen gewissen Zeitraum ausdehnen konnte, aber doch auch mit einem 
gewissen Zeitpunkte beendigt war. Als Beispiele verweise ich auf 
die Rudisten—Ascidien, de Ammoniten—Octopoden (mit dem 
epistatischen Argonauta-Weibchen) und auf die Ganoiden (und 
Crossopterygier) — Knochenfische (von denen sich einige alter- 
tümliche Formen durch Übergang zum Flußleben der Umbildung 
entzogen haben). 

Das Bleibende im Laufe der Zeit ist der Gesamtkom- 
plex der lange gefestigten und vererbten Merkmale. Sog. 
konservative Typen (oder lebende Fossilien) scheinen vereinzelt die 
ganze biohistorische Zeit hindurch unverändert oder kaum verändert 
bestanden zu haben, wie Lingula, Fhynchonella, manche Radiolarien 
(Sphaeriden) von Silur bis Gegenwart. Wir führen dies Verhalten 
darauf zurück, daß eine irgendwie einschneidende Änderung ihrer 
Lebensbedingungen entweder überhaupt unmöglich war, oder daß, 
wenn sie möglich war, die nötige Gelegenheit dafür gefehlt hat 
(lebende Trigonien). Änderungen erstrecken sich aber nie gleich- 
zeitig auf alle Merkmale, nur auf eines oder auf einige wenige, die 
in Korrelation zu einander stehen. Am wenigsten rasch wird 
Größe und Gesamthabitus eines Wesens geändert; wo 
dies dennoch in kürzerer Zeit geschieht, liegt dem stets eine ein- 
schneidende Änderung der Lebensweise zugrunde. 

So haben die aus den Trilobiten hervorgegangenen Spinnen 
(mit Ausschluß der Skorpione) noch eine Zeitlang die beträchtliche 
Größe, die deutliche Gliederung und die Dreiteilung des Körpers 
ihrer Vorfahren bewahrt (Anthracomarti des Karbons S. 202), aber 


Steinmann, Abstammungslehre. 18 


274 Zusammenfassung. 


in ihrer extremen Ausgestaltung kontrastieren sie scharf mit der 
Ausgangsgruppe. Noch schroffer tritt der Unterschied gegen ihre 
wasserbewohnenden Vorfahren von krusterartigem Habitus bei In- 
sekten mit vollständiger Verwandlung und bei den höheren Wirbel- 
tieren hervor. Wo dagegen die Lebensbedingungen sich gar nicht 
oder nur wenig ändern, bleiben auch Habitus und Gesamtkomplex 
der Merkmale meist wesentlich gleich, wie bei den meisten ungeglie- 
derten Wirbellosen, bei den Fischen, auch bei den »Pelagotherien« 
(Meersaurier — Meersäuger) usw. Doch können auch bei Meeres- 
tieren einzelne Organe, die sich durch langdauernde Funktion oder 
durch eine besondere Abart der Lebensweise entwickeln, den Habitus 
stark verändern, ohne freilich zugleich die Gesamtheit der Organi- 
sation wesentlich zu beeinflussen, wie uns Rudisten—Ascidien, 
Brachiopoden—Salpen, Oystideen—Crinoideen, die Bohr- 
muscheln, Cirripedier usw. zeigen. Hieraus folgt als praktische 
Vorschrift für die Ermittlung der phylogenetischen Zusammenhänge: 

Am Habitus und am Gesamtkomplex der zu einer korre- 
lativen Organisation vereinigten Merkmale lassen sich die 
phylogenetischen Zusammenhänge am besten verfolgen 
und, soweit nicht große Zeiträume zwischen den zu verknüpfenden 
Formen liegen oder eine einschneidende Änderung der Lebensweise 
eingetreten ist, haben sie uns in erster Linie zu leiten. Daneben 
kommen zunächst alle solchen Merkmale in Betracht, die bei Ge- 
schöpfen von ähnlicher Organisation und wesentlich gleicher Lebens- 
weise Jange unverändert nebeneinander bestehen bleiben und 
die Umbildungen in neue Stufen überdauern, wie die abweichenden 
Schnauzenformen der Krokodile, die schon auf der Stegocephalen- 
Stufe getrennt sind, die verschiedenartigen Gestaltungen des Unter- 
kiefers bei den »Pelagotherien«, die aus der Reptilstufe in die 
Säugerstufe übernommen werden. In besonderen Fällen eignen sich ab- 
weichende Bildungen, dienur einem ganz beschränkten Teile einer 
ÖOrganismengruppe zukommen, ausgezeichnet, um die durch unvoll- 
kommene Überlieferung abgerissenen phylogenetischen Fäden zu ver- 
knüpfen, wie die Seitenäste der Arme im Rhipidocrinus-Stamm 
(S. 154 ff.), der hohe, klingenartig zugeschärfte Zwischenkiefer im 
Belodon-Stamm (8.230), die Hyperdactylie bei bestimmten Ichthyo- 
therien (S. 246), die eigenartige Behörnung des dreieckigen Schädels 
im Stamme Zlginia—Meolania oder die tunnelartige Gestaltung der 
Nasenhöhlung und die rückwärtige Stellung des Unterkiefergelenks 
bei Dinoceras—Trichechus (S. 263, 264). Solche Merkmale werden eben 
wie viele andere, der funktionellen Änderung entzogene Organe auch 


Zusammenfassung. 275 


über die Grenzen großer Stufen hinübergerettet. Es steht somit 
die phylogenetische Methode im schroffen Gegensatz zur 
systematischen, die den unbeständigen Stufen-Merkmalen 
die größte Bedeutung zuerkennt. 

Wir sind durch unsre Betrachtungen dazu geführt worden, die 
Änderungsfähigkeit der Organismen in der schon durch WaAczx 
vorgezeichneten Weise in Variation und Mutation zu scheiden 
und haben dabei festgestellt, daß das, was bei unhistorischer Be- 
trachtung als Variation erscheint, im Lichte der Phylogenie oft nichts 
andres ist, als verschiedene epistatische Zustände einer in Mutation 
begriffenen Stammreihe. Solche Variationen fallen also eigentlich 
gar nicht unter diesen Begriff, sie sind, wie wir zu zeigen versuchten 
(S. 116), auch nur transitorischer Natur. Andre gleichzeitig neben- 
einander bestehende Variationen dagegen verdanken ihr Dasein der 
Erweiterung der Existenzmöglichkeiten, wie sie im Gefolge von Bio- 
transgressionen auftreten, mit denen sich ein örtlicher Wechsel der 
Bedingungen und Isolierung der transgredierenden Organismen ver- 
“ knüpft. Bei hinreichender Dauer der verschiedenartigen Einwirkungen 
und unter gleichzeitiger Isolierung entstehen so Lokalrassen, und 
in weiterer Festigung und Ausprägung der so entstandenen Merkmale 
neue Arten, die sich oft genug bald wieder mischen, aber doch im 
langsam fließenden Strome der Mutation gleichsinnig weiter ent- 
wickeln. In solchen Vorgängen scheint mir die Divergenz der Rassen 
und Arten zu wurzeln — ich spreche daher von einer divergenten 
Variabilität. Eine letzte, davon verschiedene Art der Abänderung 
— man kann sie im Gegensatz zur transitorischen und divergenten 
(= bestimmten) Variabilität als inhärente (= unbestimmte) be- 
zeichnen — beruht auf der dauernden Fähigkeit des Organismus, 
jederzeit eine gewisse Formenbreite zu erzeugen, die weder 
zu einer Rassen- oder Artspaltung führt, noch aus dem verschieden 
raschen Fortschreiten mutierender Stammreihen resultiert. Sie führt 
zur Entstehung von Abarten, die meist miteinander durch reichliche 
Übergänge verbunden bleiben, und ihr bezeichnendes Merkmal beruht 
darin, daß sie den Stammlinien dauernd anhaftet, einigen in höherem, 
andern in geringerem Maße, wieder andern ganz fehlt, wie das be- 
sonders für manche Tier- und Pflanzengattungen und -Arten fest- 
gestellt ist, die wir durch längere Zeiträume hindurch verfolgen 
können (Liriodendron, Nautilus, Acer, Terebratula biplicata, Ammo- 
niten). Es scheint zwar, als ob diese Abänderungsfähigkeit durch 
wechselnde äußere Verhältnisse, wie Klima, Nahrung, Boden und 
Umgebung zu verschiedenen Zeiten verschieden stark ausgelöst würde, 

18* 


276 Zusammenfassung. 


und daß sie, wenn sie sich wiederholt reichlicher entfaltet, Erschei- 
nungen hervorruft, wie sie Koken mit der divergenten Variation zu- 
sammen als iterative Artbildung bezeichnet hat; aber ob sie 
unter natürlichen Einflüssen zur Zerspaltung in Arten führen 
kann, wie sie durch Züchtung leicht hervorgerufen werden, scheint 
noch nicht ganz sichergestellt, und den normalen Weg zur Artbildung 
möchte ich darin nicht erblicken. Wir müssen eben das Buch der 
Naturgeschichte noch eifrig durchstudieren, bis wir diese in der Er- 
scheinung ähnlichen, im Wesen aber verschiedenen Arten der Ver- 
änderlichkeit bestimmt voneinander scheiden lernen. 

So können wir auf historischem Wege eine präzisere und wesent- 
lich andre Vorstellung von der Variabilität und von der Divergenz 
der Arten gewinnen, als sie heute besteht. Wer alle Säuger aus 
einem Ursäuger, oder wer auch nur alle Unionen aus einer gemein- 
samen Art entstanden denkt, erkennt den Organismen eine hoch- 
gradige Labilität und eine weitgehende Abänderungsfähigkeit zu, die 
tatsächlich nicht besteht. Nach unsrer Auffassung ist jeder ver- 
wickelte und spezialisierte Organismus nur einmal im Laufe der 
Erdgeschichte entstanden, wenn auch nicht auf einer Linie, sondern 
auf zahlreichen, und die Gestaltungsfähigkeit der Natur er- 
weist sich somit in verhältnismäßig enge Grenzen gebannt. 
Wir vertreten damit eine Orthogenese in höchster Potenz, die 
weit hinausgeht über das, was Eımer und die amerikanischen La- 
marckianer darunter verstanden haben, es ist die Orthogenese 
Lamarcks selbst. Das wichtigste Ergebnis aus dieser Erkenntnis 
ist: Der dauernde Bestand der einmal vorhandenen Natur- 
formen, soweit sie nicht aus inhärenter Abänderungsfähigkeit fließen, 
erscheint durch sich selbst gesichert, und ihre Mutationen, 
selbst die weitgehendsten, die sie auf geraden Bahnen in ganz neue 
Organisationsstufen hineinführen, vollziehen sich unabhängig von 
der Variabilität im gewöhnlichen Sinne des Wortes, d.h. 
von der divergenten und inhärenten Änderungsfähigkeit. Die Stamm- 
linien bleiben bestehen und können dabei mutieren oder nicht, einerlei 
ob sie variieren oder nicht, und nur brutale Gewalt kann sie 
vernichten. Zu diesem Ergebnis bin ich erst gekommen, nachdem 
ich mich durch Verfolgung vieler Phylogenien des Tier- und Pflanzen- 
reiches frei gemacht hatte von den beengenden Fesseln der heutigen, 
wesentlich darwinistischen Anschauungsweise, und nachdem ich aus 
den verschiedenartigsten Stammreihen immer den gleichen Gang ihrer 
Geschichte und dieselben Gesetzmäßigkeiten abgelesen hatte. Und 
doch ist diese Wahrheit so alt, wie die moderne Entwicklungslehre 


Zusammenfassung. 277 


überhaupt. Denn vor hundert Jahren schon schrieb LAmArck in 
lapidarem Stile: 

»Les races des corps vivants subsistent toutes, malgre leurs 

variations.« 

Mit diesen Worten ist der Kern aus dem Gang der Geschichte 
der lebenden Natur herausgeschält und zugleich unbewußt der Gegen- 
satz zur späteren Lehre Darwins scharf zugespitzt zum Ausdruck 
gebracht. »Subsistent toutes« — es gibt kein Erlöschen der 
Stammreihen außer durch Gewalt. »Malgre leurs varia- 
tionse — die Mannigfaltigkeit bedeutet nichts für den 
Bestand der Rassen! Wie konnte jemand, der noch nichts von 
der Fülle wunderbarer Entdeckungen fossiler Tiere und Pflanzen des 
verflossenen Jahrhunderts kannte, der nur einen minimalen Bruchteil 
dessen übersah, was wir heute verzeichnen, zu dieser Erkenntnis 
kommen, die erst auf der breiten Grundlage heutigen Wissens müh- 
sam aufgerichtet werden muß, nachdem sie ein Jahrhundert unbeachtet 
und unverstanden geschlummert hatte? 

Lamarck übersah wie kaum ein andrer Forscher seiner Zeit die 
Gestalten des Tier- und Pflanzenreiches, lebende und fossile, aber 
er befand sich nicht im Banne eines festgefügten Systems der Tiere, 
er schuf vielmehr selbst erst ein solches für die Wirbellosen. Er 
kannte zwar nur einen kleinen Teil der Vorwelt, im besonderen die Con- 
chylien des Tertiärs, aber sein Blick umfaßte ein Stück wirklicher 
Geschichte, und dieses Stück lehrte ihn den Bestand der Rasse. Ihm 
galt der Entwicklungsprozeß der Natur als ein einheitlicher Vorgang, 
und die Gesetze, die ihn beherrschen, waren für ihn ewig und un- 
abänderlich. Was er daher aus dem Bruchstück der Geschichte mit 
Sicherheit abgelesen hatte, wagt er als allgemeines Gesetz zu formu- 
lieren. Es war historischer Blick, historische Methode, die 
es ıhm ermöglichten, seiner Zeit um ein volles Jahrhundert voraus- 
zueilen und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die auch heute nur auf 
historischer Grundlage verstanden werden können. Der gleiche Weg 
hat auch uns wieder zum gleichen Ziel geführt; wir fragen jetzt, was 
ist damit gewonnen ? 

Ein zweifelloser Vorzug unsrer Auffassung liest darin, daß sie 
einen ganzen Komplex von Problemen beseitigt, die immer 
drohender sich geltend gemacht haben, je länger man das fossile 
Material im Lichte der Abstammungslehre betrachtet hat: das » Aus- 
sterben der Arten«, die »explosive Entwicklung oder wiederholte 
Umprägung verschiedener Tier- und Pflanzengruppen«, das » Fehlen 
von Übergangsgliedern zwischen den größeren Gruppen« und die 


278 Zusammenfassung. 


»Unverständlichkeit des gesamten Entwicklungsganges«. Die beiden 
letztgenannten Probleme dürften als die bedrohlichsten gelten. Denn 
wenn die Unauffindbarkeit der theoretisch erforderlichen Übergänge 
zwischen den größeren Gruppen es zweifelhaft erscheinen ließ, ob 
die Abstammungslehre als Arbeitshypothese für das Verständnis der 
Vorwelt brauchbar sei, so stellte die schreiende Dissonanz zwischen 
der Geschichte des Planeten und der seiner Bewohner ihre Berech- 
tigung überhaupt in Frage. 

Dass unsre Auffassung gewisse vitalistische Erklärungen end- 
gültig ausschaltet, ohne die man vielfach die Geschichte der Tier- 
und Pflanzenwelt überhaupt nicht verstehen zu können glaubte, das 
ist für mich ein Anzeichen für eine beginnende Vertiefung unsrer 
Erkenntnis. Denn vitalistische Deutungen, die man nötig hat zur 
Ergänzung der mechanisch-kausalen Erklärungen, bedeuten im Grunde 
doch nichts andres, als daß uns für gewisse Gebiete der Natur- 
forschung noch die Methoden ganz fehlen, mit denen sie in Angriff 
genommen werden müssen, mit anderen Worten, daß wir an die Er- 
klärung von Erscheinungen und an die Lösung von Fragen heran- 
treten, die erst auf einer höheren Stufe der Erkenntnis der Behandlung 
zugänglich werden können. Gewihb aber ist es ein Kennzeichen der 
reiferen und ihrer wahren Aufgaben bewußten Forschung, daß sie 
die Probleme in der Reihenfolge in Angriff nimmt, in der sie über- 
haupt einer Lösung erfolgreich entgegengeführt werden können. Dar- 
aus erklärt sich auch wohl der vielfach instinktive Widerstand älterer 
und neuerer Zeit gegen die speziell darwinistischen Erklärungsver- 
suche, weil diese sich sofort nach der Wiedererweckung der Ab- 
stammungslehre an die verwickeltsten Erscheinungen der Organismen, 
an die »komplizierten und passiven Anpassungen« heranwagten, ehe 
die Reaktionsfähigkeiten der organisierten Materie und ehe die Ge- 
schichte ihrer Träger auch nur in ihren wichtigsten Umrissen fest- 
gestellt waren. Das sind sie ja eigentlich heute noch nicht. 

Erst auf dem Fundament einer gesicherten Erfahrung über den 
Werdegang der organischen Welt können wir hoffen, selbst scheinbar 
einfache und der Lösung zugängliche Spezialprobleme zu fördern, 
wie den oft erörterten Fall der Giraffe. Sind die hohen Beine und 
der lange Hals dieses Tieres durch funktionelle Anpassung allein 
oder durch diese unter Mitwirkung der Auslese, oder durch » Varia- 
tion« und Auslese allein entstanden? so pflegt man zu fragen. Vom 
historischen Standpunkte aus stellen wir die Frage überhaupt nicht so. 
Wir gehen nicht von der gänzlich unbewiesenen Vorstellung aus, daß 
die Giraffe als extreme Ausgestaltung der landbewohnenden Pflanzen- 


Zusammenfassung. 279 


fresser aus kleineren, weniger hochbeinigen und weniger langhalsigen 
Landsäugern allmählich entstanden sei. Vielmehr führen wir nach 
den Gesetzmäßigkeiten, die wir aus zahlreichen, beglaubigten Phylo- 
genien abgelesen haben, die Giraffe unmittelbar auf die Gruppe 
gewaltiger Dinosaurier zurück, die unter den Begriff der Meta- 
reptilien, spez. der Mammoreptilien (S. 219), fallen. Diese Dino- 
saurier waren noch keine echten Landtiere, sie bewohnten Sümpfe 
und Moräste, und die Ausgestaltung ihres Körpers erfolgte unter 
sanz anderen Lebensverhältnissen, als diejenigen, unter denen die 
Giraffe heute lebt. Ihr Aufenthalt in einem Element, das ein fast 
ungehindertes Auswachsen des Körpers gestattete, weil dieser nur 
zum kleinen Teil von den Gliedmaßen getragen zu werden brauchte, er- 
möglichte die Entstehung zahlreicher gigantischer Gestalten mit langen 
Hälsen, langem Schwanz und (absolut) hohen Beinen, und aus diesen 
sind teils Säuger, teils Laufvögel hervorgegangen. Beim Übergang 
aufs feste Land blieben die Körperproportionen (bei allgemeiner 
Herabsetzung der Körpergröße) gewahrt; der lange Schwanz mußte 
bei Säugern wie bei Vögeln als unbrauchbar allmählich schwinden, 
und wo die neue Lebensweise nicht etwa notwendig eine Verkürzung 
des Halses mit sich brachte, wie bei den Elefanten u. a., blieb der 
lange Hals bestehen, bei Vögeln, wie bei Säugern, bei jenen unter 
geringerer, bei diesen unter stärkerer Reduktion der Wirbelzahl. 
Merkmale also, die in einer weit entlegenen Zeit unter ganz ab- 
weichenden Lebensverhältnissen entstanden waren, sind in neue 
Lebensverhältnisse und auf eine andre Organisationsstufe mit über- 
nommen worden, und der Träger dieser Merkmale hat sie auch ın 
der neuen Lebenslage wesentlich so benützt, wie sie die Natur an 
seinen Vorfahren erzeugt hatte, nur wenig abgeändert durch den 
Einfluß der neuen Verhältnisse, in die ihn Naturvorgänge (wahr- 
scheinlich klimatische Wechsel) gedrängt hatten. Ich meine, über 
diese Art der Betrachtung und Ausdrucksweise der Nützlichkeit 
darf die Naturforschung nicht hinausgehen, wenn sie auf dem Boden 
der Wissenschaft bleiben will. Das ist auch die Auffassung vieler 
moderner Forscher, die im Sinne Goethes sagen: »Der Ochse wehrt 
sich mit seinen Hörnern, weil er sie hat.« Im vorliegenden Falle 
ist das Problem auf die Zeit und auf die Verhältnisse zurückge- 
schoben, als jene Merkmale entstanden, und allein aus diesen heraus 
ist es lösbar. 

Der überzählige sechste Finger des heutigen Zahnwals Del- 
phinapterus muß so lange als eine schwer erklärliche Bildung gelten, 
als seine Vorgeschichte in der Phylogenie der Wale nicht aufgeklärt 


280 Zusammenfassung. 


ist. Besitzen Tiere, deren Finger und Gliederzahl offenbar in Re- 
duktion begriffen sind, die Fähigkeit, einen neuen Finger zu erzeugen, 
was keinem andern Wal, überhaupt keinem andern Vierfüßler möglich ° 
gewesen ist, soweit ihre Geschichte in die Vorzeit (Perm) zurück- 
verfolgt werden kann? Die historische Forschung und Betrachtungs- 
weise wird auch dieser Schwierigkeit gerecht. Die Fünfzahl der Finger 
erscheint in der Entwicklung der Vierfüßler überall als das Optimum 
der Reduktion, das bei der ursprünglichen Entstehung des Fußes aus 
der viel größeren Zahl der Anhänge resultiert. Die Zahl ist bei einer 
bestimmten Art der Bewegung allgemein mechanisch bedinst. 
Wenn aber der in Bildung begriffene Fuß nur ganz vorübergehend 
sich aufstützte und dann bald wieder als Flosse benutzt wurde, ehe 
das Optimum erreicht war, so konnten sich überzählige Strahlen er- 
halten. Da sie aber schon damals den übrigen fünf nicht mehr 
funktionell gleichwertig waren, so sind sie von den breitflossigen 
Ichthyosauriern (Hurypterygius JAEKEL) unter allmählicher Re- 
duktion auf den Stummel bei Delphinapterus bis heute vererbt. Auf 
solche Weise ist der Vorgang verständlich, auf jede andre erscheint 
er unbegreiflich. Aber die Erörterung von Möglichkeiten und Wahr- 
scheinlichkeiten, wie der sechste Finger des Wals oder der Hals 
der Giraffe zu erklären seien, auf anderer als auf gesicherter 
historischer Grundlage ist nur dazu angetan, die induktive 
Methode naturwissenschaftlicher Forschung zu kompromittieren. 

Besonders für die Tier- und Pflanzengeographie schafft 
unsre Auffassung erst eine gesicherte Grundlage. Es muß 
fast zwecklos erscheinen, das heutige System der Tiere und Pflanzen 
zum Ausgang für eine Geschichte ihrer Verbreitung zu nehmen, wo 
der phylogenetische Zusammenhang mit ihren Vorfahren so wenig 
feststeht. Ein warnendes Beispiel haben uns die Schizodonten (S. 118) 
geliefert; auf weitere abzuheben, erscheint fast überflüssig. In welcher 
Weise wir aber aus der heutigen und früheren Verbreitung der Tiere 
und Pflanzen den früheren Zusammenhang der Festländer ermitteln, 
hängt in erster Linie von der Art der phylogenetischen Verknüpfung 
der Organismen ab. So ist auch die Lösung hochwichtiger Fragen 
der Erdgeschichte durch unsre Auffassungen von der Stammesge- 
schichte der Organismen bedingt. 

Das letzte Ziel, das sich die historische Naturerforschung stellt, 
ist die Auffindung der Gesetze, nach denen sich die Wand- 
lungen in der Natur vollzogen haben und noch vollziehen. 
Auch hierfür kann die historische Betrachtungsweise eine sichere 
Grundlage schaffen. Indem wir gewisse tiefgreifende Umbildungen 


Zusammenfassung. 281 


im Tier- und Pflanzenreich, wie die Änderung des anatomischen 
Baues, der Fortpflanzungsart und ihrer Organe u. a.m. nicht auf 
gelegentliche und unerklärliche Variation, nicht auf die 
Auslese einzelner Träger dieser Umbildungen, sondern 
auf uns bekannte, normale und allgemein wirksame Vor- 
gänge zurückzuführen versuchen, die sich wiederholt an allen Or- 
gsanismen, die davon betroffen werden konnten, in gleichem Sinne 
äußern mußten, haben wir einen Schritt nach den letzten Zielen 
zu getan. Dieser verspricht schon jetzt nicht wenig; ob er uns weiter 
führen kann, wird die Zukunft lehren. 

Sollte es aber, woran ich nicht zweifle, gelingen, durch Be- 
schreiten der hier vorgezeichneten Wege die Grunderkenntnis La- 
MARCKS von dem ungeschmälerten Fortbestand des Lebendigen durch 
alle Zeiten hindurch tatsächlich für die gesamte Schöpfung zu er- 
weisen, so wäre das Tor entriegelt, durch das nach meiner Auf- 
fassung der einzige Weg zum Verständnis der Schöpfung führt. 
Gibt es keinen Überschuß an Arten, aus denen die Natur hat aus- 
lesen können, so schwindet die einzige wirkliche Grund- 
lage, auf der eine Theorie der natürlichen Auslese fußen 
kann. Mit ihr fällt auch die Vorstellung von der monophyletischen 
Entstehung der systematischen Kategorien, und die »Urformen« zer- 
fließen zu Zeugen einer überwundenen Periode scholastisch gefärbter 
Naturphilosophie. 

Wir nehmen die Grundeigenschaften des belebten Stoffes, deren 
Natur und Eigenart die biologische Forschung aufzuklären hat, als 
gegeben: die Fähigkeit zu wachsen durch Aufnahme von Nahrung 
über den notwendigen Bedarf hinaus, die Fähigkeit zu ändern unter 
dem Einfluß geänderter Reize, zu persistieren bei gleichbleibenden 
Reizen, die Fähigkeit der konstitutionellen Festigung und 
Vererbung neuer Merkmale ber hinreichender Dauer der Reize, 
die sie auslösen. Als bewirkende Reize erkennen wir die Gesamt- 
heit aller geologischen und klimatischen Vorgänge und 
der wechselseitigen Beeinflussungen der Organismen selbst. 

Dann erscheint uns der ganze biohistorische Entwicklungsgang 
nur als eine unmittelbare mechanische Übertragung der Reize, die 
während dieser Zeit in Verbindung mit den historisch gebotenen Ge- 
legenheiten auf die organische Welt eingewirkt haben und die der 
Reihe nach erblich auf sie übertragen sind. Jede einzelne Organi- 
sation berichtet jederzeit über die geschichtlichen Vorgänge, die sich 
auf ihr eingedrückt haben, das Verschwundene, oft genug noch in 
der Ontogenie angedeutet, zeugt vom Zurücktreten der Funktion, 


2382 Zusammenfassung. 


an die es geknüpft war. Der ganze Entwicklungsgang bedeutet nur 
eine Summierung, nur eine erbliche Übertragung aller Reize unter 
dem Gesetz der direkten Bewirkung. 

Tiere und Pflanzen sehen wir bald nach Beginn der paläozoischen 
Zeit allmählich dem ursprünglichen Element entsteigen, zunächst das 
Süßwasser und die dauerfeuchten Gebiete des Festlandes besiedeln, 
später sich auf den wechselfeuchten und trockenen Regionen aus- 
breiten und sich sogar als Epiphyten oder fliegende oder flatternde 
Wesen vom Erdboden loslösen. Was sich bei diesen Änderungen 
der Lebensweise an neuen Reizen geltend macht, prägt sich auf den 
Geschöpfen der gegebenen Organisation entsprechend ab. Die zu 
Beginn der biohistorischen Zeit vorhandenen Organisationen, deren 
Entstehung wir historisch nicht verfolgen können, denken wir uns 
nach Analogie mit den späteren, historisch feststellbaren Umbildungen 
entstanden. 

Die Verdunstung verhärtet das Gewebe des Pflanzenkörpers, 
läßt den Tierleib schrumpfen und konsolidieren; der ursprünglich 
ans Wasser gebundene Fortpflanzungsakt der Pflanzen geht auf den 
feuchten Boden und schließlich auf die Pflanzen in der Luft über; 
die Epimeren des Krebsleibes werden zu Flügeln, die Kiemen der 
Wassertiere zu Tracheen und Lungen. Der Wechsel der Jahres- 
zeiten verursacht Stillstand in der Ernährung und im Wachstum 
bei Tieren und Pflanzen; das führt bei Gliedertieren zur Verwand- 
lung, bei den Pflanzen zum periodischen Blattabfall, zum jährlichen 
Schwunde der oberirdischen Organe und zum kurzfristigen Bestehen 
nicht ausdauernder Gewächse. Die dauernde Trockenheit des Klimas 
erzeugt die Merkmale der Xerophilie, Dornen treten an Stelle der 
Blätter, und die Stengelorgane übernehmen deren Funktion. Die 
Luftbewegung gliedert die Blattorgane, dauernde Belichtung, Trocken- 
heit und Einfluß der Insekten und Vögel erzeugt die mannigfaltige 
Ausgestaltung der Blüten. 

Im Reiche der Vierfüßler bringt der Übertritt auf das Land den 
allmählichen Verlust des Hautskeletts mit sich, denn das Bewegungs- 
vermögen steigert sich, die Tiere erheben sich höher über den Boden, 
und statt zu kriechen, beginnen sie zu laufen und zu hüpfen. Wie 
mit gesteigerter Bewegung die Nahrungsaufnahme wächst, die Blut- 
temperatur steigt, und bei vierbeiniger Fortbewegung Säuger, bei 
zweibeiniger Vögel entstanden zu denken sind, wurde schon ausführ- 
lich geschildert. Flatter- und Flugorgane entstehen, und auch die 
Luft bevölkert sich mit warmblütigen Tieren. Aus Wesen, die sich 
nach keiner Richtung hin besonders spezialisiert haben, aber klettern 


Zusammenfassung. 283 


und gelegentlich aufrecht gehen, entwickeln sich die Menschen, und 
damit tritt ein neuer Faktor in die Natur ein. Jeder Versuch, in 
diesem Umbildungsvorgange eine Grenze zwischen Nochnichtmensch 
und Mensch selbst legen zu wollen, wäre unwissenschaftlich, aber die 
leblose Natur spürte sein Bestehen damals zuerst, als (zur älteren 
Tertiärzeit) der erste Feuerstein zerschlagen wurde, die belebte, als 
(vielleicht zur Pliozänzeit) die erste Jagdtierart vernichtet wurde, der 
bald ungezählte andere nachfolgen sollten. Das bis dahin unbekannte 
Werk der Vernichtung hat nun angefangen, die Natur beginnt zu 
verarmen an originellen Gestalten. 

So erblicken wir in dem Bilde, das uns die Geschichte der Land- 
welt zur biohistorischen Zeit enthüllt, einen einheitlichen großen Vor- 
gang, die Ausbreitung des Lebens über die Erde, gefolgt 
von der gesetzmäßigen Umgestaltung seiner Träger durch die neuen 
Einflüsse und durch den rastlosen Wechsel der Verhältnisse, denen sie 
ausgesetzt sind. Weil einfache, unabänderliche Gesetze die Um- 
bildung verursachen, beschränkt sich diese nicht auf das Einzelwesen 
oder auf eine gelegentliche Wiederholung, sie prägt jedes Wesen, 
das seiner Vorgeschichte nach dazu befähigt ist, zum 
wesensgleichen Typus um, zur Blütenpflanze, zur Spinne, zum 
Kerbtier, zum Vogel, zum Säuger, zum Mensch. 

An den Liebensformen, die im Meere oder im Süßwasser zurück- 
bleiben, vermissen wir die weitgehende und vielseitige Umbildung. 
Sie wachsen sich aus, soweit es das Mittel, in dem sie leben, 
gestattet: das eingezwängte Korallentier löst sich aus seiner steinernen 
Hülle und wird zur Seeanemone, aus der knolligen Korallenkolonie 
der älteren Zeiten entwickelt sich ein reichverzweigter Busch; die 
sackförmige Oystoidee wird zur langgestielten und schließlich frei 
beweglichen Seelilie oder zur wurmartigen Seegurke; die langsam 
kriechenden Muscheltiere bohren sich in Sand und Schlamm, in 
Stein und Holz ein, oder sie wachsen fest, durchdringen ihre starre 
Schale und wandeln sich zu Manteltieren; die Schnecken und Kopf- 
füßler kriechen aus ihrem Gehäuse heraus, stoßen es ab oder um- 
wachsen es, entfalten sich zu geschickten Schwimmern und furcht- 
baren Räubern; aus Gliedertieren aber geht durch Verwachsen der 
Beine zu Flossen der flinke und bewegliche Fisch hervor, im Ver- 
luste seines Hautpanzers und in der Herausbildung seines Knochen- 
skeletts äußert sich die wachsende Kraft seiner Muskeln; er wird 
Beherrscher des Meeres und teilt seine Rolle nur mit den Kriech- 
tieren, die nach kurzem Verweilen auf dem Lande zum Meere 
zurückgekehrt sind. 


284 R* Zusammenfassung. 


In diesem einfacheren und verzögerten Gange organischer Um- 
bildung, wie sie die Wassertiere zeigen, tritt das Gesetzmäßige der 
Vorgänge noch klarer und einfacher zutage, als in der gesteigerten 
Entwicklung auf dem Festlande. Im Wasser bleibt die Organisation 
plastischer als in der Luft, und daher gehen die Umbildungen, soweit 
sie nicht schon ganz vollendet, heute noch fast ebenso fort, wie in 
alter Zeit. Wasser ist schwerer als Luft. 

In dieser Skizze des Entwicklungsganges erscheint der Wandel 
der Schöpfung von einfachen Gesetzen bedingt. Liegen auch erst 
wenige Züge ihrer Bedingtheit ganz klar, so läßt doch der Anfang 
einen baldigen Fortschritt erwarten. Das alte Bild ließ sich nicht 
in den Rahmen der Erdgeschichte einpassen, hier war es zu kurz, 
dort ragte es über; das neue fügt sich harmonisch in ihn ein, und 
wir fangen an zu begreifen, daß der tote Stoff und die lebende Welt 
eine Geschichte haben, daß sie von den gleichen Kräften gestoßen 
wurden bis zum gegenwärtigen Stande. Und wie sich das Antlitz 
des Planeten nur aus seiner Geschichte verstehen läßt, so die heutige 
Schöpfung nur aus ihrem Gange, und wie noch heute die Gebirge 
aus dem Meere wachsen, die Festländer zerbrechen und die Senken 
sich füllen, so werden auch heute noch neue Geschöpfe. Pflanzen und 
Tiere, die den Forscher entzücken, den Systematiker verlegen machen, 
die Characeen, noch Algen aber auf dem Wege zur Archegoniate, 
Peripatus, halb Wurm halb Gliedertier, Amphioxus, nicht Wurm 
nicht Fisch, das Schnabeltier, kein Kriechtier und doch kein 
lebendig gebärender Säuger, — sie alle sind werdende Typen, sie 
zeugen von der Fortdauer des Wandels und von der Herrschaft 
unwandelbarer Gesetze in der belebten Welt. »Die Welt wurde nicht, 
die Welt wird.« 


Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig. 


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