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Full text of "Die geschichte der neueren philosophie in ihrem zusammenhange mit der allgemeinen kultur und den besonderen wissenschaften"

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DIE  GESCHICHTE 


DER 


NEUEREN  PHILOSOPHIE 

IN  IHREM  ZUSAMMENHANGE  MIT 

DER  ALLGEMEINEN  KULTUR  UND  DEN  BESONDEREN 

WISSENSCHAFTEN 

DARGESTELLT  VON 

WILHELM  WINDELBAND 

PROFESSOR  IN  HEIDELBERG 


ERSTER  BAND 

VON  DER  RENAISSANCE  BIS  KANT 

FÜNFTE,  DURCHGESEHENE  AUFLAGE 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  BREITKOPF  &  HÄRTEL 

1911 


MAY   2  7  1942 

Copyright  1911  by  Breitkopf  &  Härtel,  Leipzig- 
Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Übersetzung,  vorbehalten. 


APR  1 1  1974' 


Ans  dem  Vorwort  zur  ersten  Auflage. 


Wer  den  zahlreichen  Bearbeitungen  der  Geschichte  der  neueren 
Philosophie,  die  unsere  Literatur  schon  aufzuweisen  hat, 
eine  neue  hinzuzufügen  wagt,  muß  über  Veranlassung  und  Zweck 
derselben  Kechenschaft  geben. 

Hervorgegangen  ist  dies  Buch  aus  Studien  über  die  Methode 
der  Philosophie,  welche  mich  neben  der  Untersuchung  des  histo- 
rischen Ursprungs  der  methodischen  Richtungen  auf  die  Frage 
führten,  wieviel  von  ihren  Ansichten  die  großen  Systeme  den  von 
ihnen  aufgestellten  Methoden  und  wieviel  sie  anderseits  den  Be- 
wegungen der  allgemeinen  Kultur  und  den  Errungenschaften  der 
übrigen  Wissenschaften  verdankten.  Mit  seltenen  Ausnahmen 
stellte  sich  dabei  der  schöpferische  Wert  der  philosophischen  Me- 
thoden als  sehr  gering  heraus. 

Das  bei  diesen  Analysen  gewonnene  Material  hätte  sich  zu- 
nächst für  eine  Keine  von  Abhandlungen  oder  für  eine  Geschichte 
der  Methoden  geeignet.  Wenn  ich  nach  manchem  Schwanken  es 
vorgezogen  habe,  ihm  diese  Form  zu  geben,  so  leitete  mich  dabei 
eine  andere  Erwägung.  Zur  ersten  historischen  Einführung  be- 
dürfen wir  einer  Bearbeitung,  welche  bei  nicht  zu  großer  Aus- 
dehnung die  reifen  Resultate  der  Forschung  in  einer  Form  darstellte, 
die  dem  Bedürfnis  eines  wissenschaftlich  denkenden,  aber  der 
Philosophie  bisher  ferner  stehenden  Lesers  entgegenkäme.  Es 
ist  keine  populäre  Darstellung,  was  ich  dabei  im  Auge  habe :  popu- 
larisieren läßt  sich  die  Philosophie  überhaupt  nicht,  nicht  einmal  in 
sog.  »allgemeinen  Resultaten«;  sie  setzt  überall  den  ganzen  Ernst 
wissenschaftlicher  Vertiefung  voraus :  aber  diesem  wissenschaftlichen 
Sinn,  gleichviel  in  welchem  Gebiete  er  sich  zunächst  entwickelt  hat, 
muß  sie  nahe  gebracht  werden  können. 


IY  Vorwort. 

Gleichwohl  würde  ich  mich  zu  dieser  Bearbeitung  nicht  ent- 
schlossen haben,  wenn  ich  nicht  gemeint  hätte,  in  jenen  Studien 
über  die  Methode  auf  eine  Anzahl  von  Gesichtspunkten  gekommen 
zu  sein,  welche  bisher  in  dieser  Weise  noch  nicht  hervorgehoben 
wurden.  Eine  neue  Darstellung  dieses  so  lebhaft  durchforschten 
Gegenstandes  kann  ja  nur  an  sehr  wenigen  und  dann  meist  neben- 
sächlichen Stellen  daran  denken,  einen  neuen  Beitrag  zur  Auf- 
hellung des  Tatbestandes  der  Lehren  zu  geben,  welche  die  Philo- 
sophen vorgetragen  haben ;  sie  findet  sich  vielmehr  in  der  schwierigen 
Lage,  den  früheren  Bearbeitungen  und  namentlich  Kuno  Fischer 
gegenüber  von  vornherein  zu  wissen,  daß  die  beste  Reproduktion 
schon  vorhanden  ist,  und  daß  sie,  wenn  sie  nicht  kopieren  will, 
dahinter  zurückbleiben  muß.  Was  man  neu  zu  bringen  hoffen 
darf,  besteht  wesentlich  in  der  Auffassung  des  ganzen  Entwicklungs- 
ganges, in  der  zusammenfassenden  Gruppierung  und  in  der  kritischen 
Beleuchtung  der  Systeme.  So  habe  ich  denn  —  unter  Verzicht 
auf  manches  Verlockende  —  hier  nur  die  Aufgabe  verfolgt,  den 
allgemeinen  Zug  der  modernen  Gedankenmassen  zu  schildern,  wie 
sie,  teils  in  den  besonderen  Wissenschaften,  teils  in  anderen  Kultur- 
sphären entsprungen,  in  den  Systemen  der  Philosophie  ihre  metho- 
dische Verarbeitung  suchen,  und  in  diesem  Zusammenhange  die 
Stellung  und  den  Wert  der  einzelnen  Lehren  zu  charakterisieren. 
Philosophische  Systeme  wachsen  nicht  mit  logischer,  sondern  mit 
psychologischer  Notwendigkeit:  aber  sie  erheben  den  Anspruch 
auf  logische  Geltung.  Sie  wollen  daher  zugleich  pragmatisch  und 
kritisch,  zugleich  kausal  und  teleologisch  betrachtet  sein;  zu  be- 
greifen und  zu  erklären  sind  sie  nur  aus  den  Ideenassoziationen, 
welche  in  diesem  Falle  nicht  nur  individuellen,  sondern  weltgeschicht- 
lichen Charakters  sind;  und  sie  sind  zu  beurteilen  nur  nach  dem 
Maße,  in  welchem  diese  Assoziationen  sich  den  logischen  Gesetzen 
zu  fügen  vermocht  haben. 

In  bezug  auf  die  Darstellung  erlaube  ich  mir  nur  noch  eine 
Bemerkung.  Die  Absicht  dieser  Veröffentlichung  verbot  es,  »die 
Nähte  der  Arbeit,  sehen  zu  lassen«;  und  so  glaubte  ich  meine  Auf- 
fassung vom  Ursprung  und  Werte  der  Systeme  der  neueren  Philo- 
sophie im  ungestörten  Flusse  und  soviel  wie  möglich  ohne  Berufung 
und  Polemik,  ohne  positive  und  negative  Verweisungen  entwickeln 
zu  dürfen:   den  besten  Lohn  dieser  Arbeit  würde  ich  eben  darin 


Vorwort.  V 

sehen,  wenn  sie  in  vielen  der  Leser  den  Wunsch  erweckte,  sich  für 
das  Studium  der  größeren  Werke  die  Zeit  zu  nehmen.  Denn  eine 
wahrhaft  philosophische  Bildung  ist  zuletzt  immer  nur  durch  die 
volle  und  bis  ins  einzelnste  dringende  Vertiefung  in  die  großen 
Systeme  zu  gewinnen. 

Freiburg  i.  B.,  August  1878. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage« 


Schwieriger  als  ich  anfangs  gedacht,  ist  mir  die  Aufgabe  ge- 
worden, ein  Werk,  das  vor  zwanzig  Jahren  das  Licht  der  Welt  er- 
blickte, von  neuem  zu  veröffentlichen  und  ihm  den  Abschluß  zu 
geben,  den  es  damals  nicht  fand.  Ein  solches  Buch  hat  inzwischen 
eine  Art  von  selbständiger  Existenz  gewonnen:  es  steht  vor  dem 
Autor,  wie  ein  erwachsenes  Kind  vor  dem  Vater.  Es  hat  sich  seine 
eigene  Stellung  erworben,  es  ist  gelesen,  benutzt,  nachgebildet 
worden:  es  hat  seine  Individualität,  an  der  sich  nicht  mehr  rütteln 
läßt.  Deshalb  stand  ich,  als  die  neue  Auflage  notwendig  wurde, 
vor  der  Wahl,  das  Buch  entweder  ganz  neu  zu  schreiben  oder  ihm 
seine  Eigenart  ganz  zu  lassen,  so  fremd  sie  mir  in  manchem  Betracht 
selbst  geworden  sein  mochte.  Wenn  ich  mich  für  das  letztere  ent- 
schied, so  geschah  es,  weil  ich  inzwischen  denselben  Stoff  in  all- 
gemeinerem Zusammenhange,  nach  gänzlich  verschiedener  Methode 
und  deshalb  auch   in  völlig  veränderter  Anordnung  noch  einmal 

behandelt  habe. 

« 

Zu  dem  Festhalten  an  dem  Charakter  des  Buches  fand  ich  mich 
aber  deshalb  berechtigt,  weil  ich  noch  heute  glaube,  daß  er  für 
den  Zweck,  den  ich  mir  damals  setzte  und  im  Vorwort  aussprach, 
in  der  Tat  der  geeignete  war  und  in  dieser  Hinsicht  auch  durch 
die  inzwischen  erschienenen  Darstellungen  nicht  überholt  worden 
ist.  Ein  Gegenstand,  der  so  verschieden  interessierten  und  vor- 
gebildeten Lesern  entgegengebracht  werden  soll,  wie  die  Geschichte 
der  neueren  Philosophie,  bedarf  ebenso  verschiedener  Behand- 
lungen: und  ich  wende  mich  heute  wieder  an  dasselbe  Publikum 
wie  ehemals.  6 

,w5 


VI  Vorwort, 

Sachlich  ist  deshalb  die  Gesamtauffassung  und  die  Gliederung 
des  Stoffes  in  dieser  neuen  Auflage  wesentlich  dieselbe  geblieben 
wie  zuvor,  und  auch  die  Wiedergabe  der  philosophischen  Systeme 
und  ihrer  geschichtlichen  Zusammenhänge  hat  sich  in  der  Haupt- 
sache nicht  geändert.  Desto  mehr  bin  ich  bemüht  gewesen,  im 
einzelnen  überall  Lücken  auszufüllen,  Irrtümer  zu  berichtigen, 
Unbestimmtes  zu  verdeutlichen  und  dabei  stets  die  Ergebnisse  der 
neueren  Forschung,  soweit  sie  für  meine  Aufgabe  in  Betracht  kamen, 
zu  berücksichtigen.  Von  den  Besprechungen,  die  das  Werk  ge- 
funden hat,  war  weitaus  die  lehrreichste  und  förderlichste  die  von 
Chr.  Sigwart  in  den  Göttinger  Gelehrten  Anzeigen  (1882).  Aber 
auch  andere  Winke  der  Kritik  wird  man  befolgt  finden.  Die  wich- 
tigsten Änderungen  der  neuen  Auflage  betreffen  die  eigene  Be- 
handlung Galileis  (§  14)  und  die  Darstellung  von  Bacon,  Hobbes, 
den  englischen  Moralisten,  Hume,  im  zweiten  Bande  von  Schleier- 
macher, Schopenhauer  und  Herbart. 

Die  dafür  erforderlichen  Zusätze  und  Umgestaltungen  habe  ich 
im  Stil,  soweit  ich  vermochte,  der  früheren  Darstellung  anzupassen 
gesucht.  Diese  ist  selbstverständlich  überall  sorgfältig  durch- 
gesehen und  gefeilt  worden.  Im  allgemeinen  habe  ich  ihr  jedoch 
den  Charakter  einer  etwas  breiten  Unbefangenheit  gelassen,  mit 
dem  sie  dereinst  sich  entfaltet  hatte,  und  nur  die  allzu  jugend- 
lichen Auswüchse  daran  beschnitten.  Mit  Dank  sei  erwähnt,  daß 
eine  ausführliche  Eezension,  die  das  Werk  seinerzeit  in  einer  unserer 
Zeitschriften  fand,  mich  auf  bald  ein  Dutzend  sprachlicher  Ent- 
gleisungen aufmerksam  gemacht  hat,  die  mir  in  den  beiden  ver- 
hältnismäßig rasch  diktierten  Bänden  untergelaufen  waren. 

So  mögen  denn  die  beiden  Bände  wieder  in  die  Welt  gehen  — 
als  Vorläufer  des  dritten,  der  die  Philosophie  unseres  Jahrhunderts 
behandeln  und  in  seinen  drei  Teilen,  wie  ich  hoffe,  nun  sehr  bald 
erscheinen  soll. 

Straßburg,  im  März  1899. 


Vorwort.  VII 


Vorwort  zur  dritten  Auflage. 


Es  war  eine  freudige  Überraschung  für  mich,  daß  dieses  Werk, 
welches  zwei  Jahrzehnte  gebraucht  hatte,  um  von  der  ersten  zur 
zweiten  Auflage  zu  gelangen,  jetzt  bereits  nach  drei  Jahren  zur 
dritten  vorbereitet  werden  sollte :  ich  sehe  darin  ein  günstiges  Zeichen 
der  Zeit.  Meine  historische  Auffassung  und  kritische  Behandlung 
des  Gegenstandes,  insbesondere  mein  Bekenntnis  zu  den  großen 
Systemen  der  deutschen  Philosophie  waren  vor  einem  Vierteljahr- 
hundert im  Gegensatz  zu  den  herrschenden  Strömungen:  daß  sich 
darin  ein  bedeutsamer  Wandel  vollzogen  hat,  daß  die  Anerkennung 
des  Rechts  des  Idealismus  gegenüber  den  positivistischen  und 
materialistischen  Neigungen  des  XIX.  Jahrhunderts  mit  dessen 
Ende  wieder  zum  Durchbruch  gelangt  ist,  kann  ich  auch  an  dem 
Erfolge  dieses  Buches  mit  Freude  konstatieren. 

Das  Erfordernis  der  neuen  Auflage  kam  mir  so  über  den  Hals, 
ehe  ich  bei  meiner  starken  literarischen  und  sonstigen  Inanspruch- 
nahme Zeit  gefunden  hatte,  das  Manuskript  des  dritten  Bandes 
fertigzustellen.  Es  erscheinen  daher  zunächst  wieder  nur  die  beiden 
älteren  Bände  —  mit  der  Absicht,  daß  ihnen  der  abschließende  so- 
bald als  möglich,  vielleicht  heftweise,  folgen  soll. 

Bei  der  Kürze  der  Zwischenzeit  sind  die  Veränderungen,  welche 
die  neue  Auflage  der  zweiten  gegenüber  aufweist,  gering.  Nur  an 
einigen  Punkten,  insbesondere  bei  Lambert,  machten  neuere  For- 
schungen eine  wesentliche  Änderung  des  Textes  erforderlich:  im 
übrigen  habe  ich  die  Darstellung  einer  sorgfältigen  Durchsicht  in 
demselben  Sinne  wie  bei  der  zweiten  Auflage  unterzogen. 

Heidelberg,  im  August  1903. 


VIII 


Vorwort. 


Vorwort  zur  fünften  Auflage. 


Wie  für  die  vierte,  so  sind  auch  für  diese  fünfte  Auflage  die 
beiden  ersten  Bände  dieses  Werks  einer  sorgfältigen  Durchsicht 
in  sachlicher  und  stilistischer  Beziehung  unterworfen  worden:  ich 
kann  sie  der  Öffentlichkeit  mit  der  bestimmten  Aussicht  übergeben, 
daß  ihnen  der  dritte,  im  Material  und  in  der  Anordnung  bereits 
völlig  abgeschlossene  Band  in  kürzester  Zeit  nachfolgen  wird. 

Heidelberg,  im  September  1911. 

Wilhelm  Windellband. 


EINLEITUNG. 


Wenn  die  politische  Geschichte  schon  Mühe  hat,  in  dem  Abflüsse 
der  Begebenheiten  Grenzsteine  zu  setzen,  nach  denen  sie  die 
einzelnen  Zeiträume  voneinander  scheidet,  so  gilt  das  noch  weit 
mehr  von  der  Geschichte  der  geistigen  Entwicklung.  Denn  diese 
verläuft  selbst  zu  solchen  Zeiten,  wo  sie  sich  in  einer  Art  von  Ka- 
tastrophe entladet,  doch  immer  sehr  viel  allmählicher.  Das  Neue, 
welches  vielleicht  plötzlich  an  die  Oberfläche  tritt,  hat  im  Verbor- 
genen vorher  schon  lange  gewühlt;  es  ist  durch  die  Geschichte 
von  langer  Hand  vorbereitet,  und  dem  schärfer  blickenden  Auge 
zeigt  es  sich  schon  früher  als  wirkende  Macht.  Anderseits  sind 
die  Kräfte  und  die  Schöpfungen  des  geistigen  Lebens  dauernder  und 
gewissermaßen  zäher,  als  die  äußeren  Institutionen  des  Menschen- 
tums; weit  länger  als  gestürzte  Reiche  leben  die  gestürzten  Ideen 
im  Andenken  fort,  und  niemals  gelingt  es  hier,  jene  rapiden  und 
radikalen  Umwälzungen  hervorzurufen,  wie  sie  in  der  politischen 
Geschichte  nicht  selten  sind.  So  verbietet  die  Allmählichkeit  des 
Überganges,  das  leise  Heraufdämmern  des  Neuen  und  das  lang 
hinsterbende  Ausklingen  des  Alten,  fast  überall,  die  Epochen  der 
Kulturgeschichte  scharf  mit  Jahreszahlen  zu  benennen. 

Wenn  irgendwo,  so  ist  dies  dort  der  Fall,  wo  wir  das  Mittel, 
alter  und  die  neuere  Zeit  gegeneinander  abzugrenzen  versuchen- 
Je  vielseitiger,  je  verwickelter  und  je  durchgreifender  zugleich  die 
Umwandlung  war,  welche  das  geistige  Leben  Europas  um  diese 
Zeit  auf  allen  Gebieten  seiner  Kulturtätigkeit  erfuhr,  um  so  we- 
niger ist  es  möglich,  den  Zeitpunkt  genau  zu  fixieren,  mit  dem 
man  die  alte  Zeit  beschließen  und  die  neue  beginnen  möchte.  In 
diesem  Falle  sind  es  nicht  etwa  Jahre  oder  Jahrzehnte,  sondern 
Jahrhunderte,  welche  wir  als  die  Übergangszeit  zu  bezeichnen 
haben,  —  Jahrhunderte  deshalb  voll  gärender  Widersprüche,  Jahr- 
hunderte von  gewaltigem  Kräfteringen,  in  denen  aus  einer  chaoti- 
schen Auflösung  sich  neue  Gestalten  allmählich  zu  fester  Lebendig- 

Windelband,  Gegch.  d.  n.  Philoe.  I.  1 


2  Übergang  vom  Mittelalter  zur  Neuzeit. 

keit  heranbildeten.  Wir  nennen  diese  Zeit  des  Überganges  die 
Eenaissance  —  ein  Name,  der,  anfänglich  mit  Beziehung  auf  die 
Neubildung  der  klassischen  Studien  gebildet,  den  tieferen  und 
wertvolleren  Sinn  hat,  daß  er  eine  Zeit  totaler  Wiedergeburt  des 
europäischen  Lebens  bezeichnet.  In  die  Glut  der  leidenschaftlichen 
Bewegung  dieser  Zeiten  schmolzen  die  Ergebnisse  aller  bisherigen 
Kultur,  die  Gedanken  des  antiken  und  des  christlichen  Zeitalters 
ein,  und  aus  der  Lohe  stieg,  ein  Phönix  in  frischer  Verjüngung, 
der  moderne  Kulturmensch  empor. 

Wie  immer,  so  treten  die  bestimmenden  Mächte  der  geistigen 
Entwicklung  zu  Ideen  und  Systemen  verdichtet  in  der  Philosophie 
dieser  Zeit  hervor.  Auch  sie  zeigt  dieselbe  Leidenschaftlichkeit, 
dieselbe  gärende  Jugendlichkeit;  auch  in  ihr  wogen  lange  Altes 
und  Neues  bald  in  heftigem  Kampfe,  bald  in  wunderlich  friedlicher 
Mischung  durcheinander,  und  auch  in  ihr  ist  deshalb  eine  den  kon- 
tinuierlichen Ablauf  durchschneidende  Grenzbestimmung  zwischen 
dem  Mittelalter  und  der  Neuzeit  nicht  in  eindeutiger  und  unbe- 
anstandbarer  Weise  möglich.  Dia  Vergleichung  verschiedener  Dar- 
stellungen der  Geschichte  der  Philosophie  liefert  dafür  den  besten 
Beweis,  indem  sie  zeigt,  wie  der  eine  hier,  der  andere  dort  den 
Einschnitt  macht,  oder  wie  etwa  derselbe  Mann,  der  dem  einen 
noch  als  völlig  mittelalterlich  in  seinem  Denken  gilt,  für  den  an- 
deren als  Typus  der  neuen  Zeit  zu  erscheinen  vermag.  Denn  auch 
in  den  Individuen  selbstverständlich  drängt  und  mischt  sich  das 
Alte  und  das  Neue,  und  gerade  in  der  Eenaissance  treffen  wir  am 
häufigsten  jene  tief  widerspruchsvollen  Naturen,  die  von  diesem 
ihrem  innern  Widerspruche  selbst  nichts  wissen  oder  wissen  wollen. 
Während  die  alten  Formen  zerfallen  und  die  neuen  noch  nicht 
fertig  sind,  begegnet  uns  eine  zahllose  Menge  phantastischer  Bil- 
dungen, mit  deren  leidenschaftlicher  Erkenntnissehnsucht  weder  die 
formale  Durchbildung  des  Denkens,  noch  der  Besitz  gesicherter 
Kenntnisse  Schritt  zu  halten  vermögen,  —  eine  bunte  Gedanken- 
fülle, eine  vielfarbige  Maskerade,  auf  der  alte  und  neue  Zeit  in 
stetem  Wechsel  miteinander  Versteckens  spielen.*) 


*)  So  spielte  sich,  während  längst  die  neuen  Geistesmächte  zur  Herrschaft 
gekommen  waren,  im  XVI.  und  XVII.  Jahrhundert  auf  der  iberischen  Halb- 
insel (besonders  an  der  Jesuiten-Universität  Cpimbra)  eine  neue  Scholastik  ab; 
als  ihr  Hauptvertreter  gilt  mit  Recht  Franz  S  u  arez. 11548 — 1617).     Aber 


Auflösung  der  Scholastik.  3 

Will  man  zum  Eingange  in  die  neuere  Philosophie  ein  Bild 
dieser  Übergangszeit  gewinnen,  so  müssen  aus  dem  schillernden 
Gewebe  jener  Zeit  die  einzelnen  Fäden  herausgelöst  werden,  und 
dabei  darf  neben  dem  Aufkeimen  der  neuen  Mächte  das  allmähliche 
Welken  der  alten  nicht  übersehen  werden.  Denn  nichts  Großes  in 
der  Geschichte  verfällt  nur  dem  brutalen  Geschicke,  von  anderem 
verdrängt  und  zerstört  zu  werden;  sondern  der  wahre  Grund  des 
Unterganges  liegt  immer  in  der  eigenen  inneren  Zerbröckelung. 
Wenn  daher  die  Philosophie  der  Renaissance  ihrem  positiven  Inhalte 
nach  durch  die  humanistische,  die  religiöse,  die  politisch-soziale  und 
die  naturwissenschaftliche  Bewegung  bestimmt  ist,  so  war  die  nega- 
tive Bedingung  für  die  Kraftentwicklung  aller  dieser  Mächte  doch 
der  Niedergang  und  die  von  Innen  sich  vollziehende  Zerstörung  der 
mittelalterlichen  Schulwissenschaft,  der  Scholastik.  Mit  ihr  muß 
deshalb  die  Darstellung  beginnen. 

§  1.    Die  innere  Auflösung  der  Scholastik. 

Die  positiven  Richtungen,  aus  deren  Wachstum  und  Erstarkung 
das  moderne  Denken  sich  erzeugt  hat,  sind  so  mannigfaltig,  gehen 
so  weit  auseinander  und  haben  zum  Teil  so  wenig  miteinander  zu 
tun,  daß  ihnen  zunächst;  nichts  weiter  gemeinsam  zu  sein  scheint, 
als  der  lebhafte  Gegensatz,  in  welchem  sie  sich  alle  zur  Scholastik 
befinden.  So  verschieden  sie  sich  das  Ziel  ihres  Denkens  bestimmen, 
darin  sind  sie  alle  einig,  die  Tendenz  der  Scholastik  sei  es  nur  ab- 
zulehnen, sei  es  mehr  oder  minder  energisch  zu  bekämpfen. 

Diese  Tendenz  der  Scholastik  nun  war  auf  nichts  anderes  hinaus- 
gelaufen, als  auf  eine  philosophische  Lehre,  worin  das  System 
der  kirchlichen  Dogmen  seine  Rechtfertigung  vor  der  Vernunft 
finden  sollte.  Der  prinzipielle  Gesichtspunkt  der  gesamten  Schola- 
stik und  der  Mittelpunkt  aller  ihrer  Bestrebungen  und  Kämpfe 
ist  die  Identität  von  Philosophie  und  Kirchenlehre,  das  volle  und 
restlose  Aufgehen  beider  ineinander.  Aber  wie  jedes  Ding  das, 
was  es  in  Wahrheit  ist  und  sein  soll,  nur  in  dem  Momente  seiner 


so  fein  und  scharf,  so  durchsichtig  und  wirksam  dessen  Darstellungen  waren,  — 
sie  beschränkten  sich  doch  ebenso  wie  die  zahlreichen  geringeren  literarischen 
Erscheinungen  derselben  Richtung  auf  eine  Erneuerung  des  Thomismus, 
deren  weitere  Ausführung  in  einer  Geschichte  des  modernen  Denkens  nicht 
erforderlich  ist. 

1* 


4  Nominalismus. 

Jugendblüte  entfaltet,  so  hatte  auch  die  Scholastik  diese  ihre  Ab- 
sicht nur  auf  dem  Höhepunkte  ihrer  Entwicklung  im  XIII.  Jahr- 
hundert zu  verwirklichen  vermocht:  allein  selbst  hier,  in  der  Lehre 
des  Thomas  von  Aquino  zeigte  sich  eine  immerhin  bedeut- 
same Differenz,  indem  die  höchsten  Mysterien  des  Glaubens  der  Philo- 
sophie nicht  zugänglich  erschienen,  und  in  der  Folge  vergrößerte 
sich  diese  Differenz  immer  mehr,  so  daß,  während  bis  dahin  philo- 
sophisches und  theologisches  Denken  aufeinander  zustreben,  sie 
von  diesem  Punkte  ihrer  möglichst  vollen  Durchdringung  an  wieder 
zu  divergieren  beginnen.  Der  Versuch,  die  Lehre  der  Kirche  auf 
philosophischem  Wege  zu  begründen,  zeigte  sehr  bald  seine  gefähr- 
liche Konsequenz  darin,  daß  das  philosophische  Denken,  je  mehr 
es  erstarkte,  um  so  selbständiger  und  selbstbewußter  wurde  und 
um  so  kühner  sich  den  Dogmen  kritisch  gegenüberstellte. 

So  brach  in  die  Scholastik  selbst  ein  Element  ein,  welches  die 
Philosophie  von  der  Theologie  zu  trennen  und  damit  das  Wesen 
jener  traditionellen  Wissenschaft  von  innen  heraus  zu  sprengen  an- 
fangs noch  unbewußt,  später  mit  immer  kräftigerem  Bewußtsein 
bestrebt  war.  Dicht  schon  neben  dem  Thomismus  entspringt  der 
kritische  Versuch  von  Duns  Scotus,  bei  aller  Rechtgläubigkeit 
dem  Wissen  sein  eignes  Gebiet  und  sein  eignes  Kecht  zu  wahren, 
und  dies  ist  vor  allem  auch  die  Bedeutung  des  Nominalismus, 
welcher  im  Laufe  des  XIV.  Jahrhunderts  in  immer  größeren  und 
mächtigeren  Kreisen  sich  entfaltete.  Indem  dieser  sich  von  der  meta- 
physischen Geltung  der  allgemeinen  Begriffe  abwandte  und  den 
sensualistischen  Theorien  über  den  Ursprung  der  menschlichen  Er- 
kenntnis zukehrte,  mußte  ihm  notwendig  Glauben  und  Wissen, 
Theologie  und  Philosophie  auseinandertreten.  Hatten  an  der  philo- 
sophischen Hierarchie  der  Begriffe  wesentlich  die  Dominikaner 
gearbeitet,  so  war  es  auf  der  anderen  Seite  der  Franziskanerorden, 
in  welchem  diese  skeptischen  und  auflösenden  Lehren  Platz  griffen; 
ihm  gehörte  der  schärfste  Selbstdenker  des  Mittelalters  Duns 
Scotus,  ihm  das  Haupt  des  Nominalismus  William  Occam  an; 
aus  ihm  war  schon  früher  auch  der  Mann  hervorgegangen,  der  zuerst 
im  Mittelalter  mit  einer  empirischen  Naturerkenntnis  Ernst  zu 
machen  versuchte,  Koger  Bacon. 

Wenn  man  sich  durch  diese  Einwirkung  des  Nominalismus  mit 
der  Zeit  daran  gewöhnte,  die  Philosophie  als  etwas  der  Kirchen- 


Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit,  5 

lehre  gegenüber  Selbständiges  anzusehen,  so  führte  das  Bewußtsein 
von  der  möglichen  Differenz  zwischen  beiden  in  der  Übergangszeit 
zu  einer  schärferen  Ausbildung  der  schon  früher  im  Mittelalter  auf- 
getauchten, verfänglichen  Lehre  von  der  »zweifachen  Wahr- 
heit«, zu  dem  Satze,  es  könne  etwas  in  der  Philosophie  wahr  sein, 
was  es  in  der  Theologie  nicht  wäre,  und  umgekehrt.  Es  ist  eine 
verständnislose  Auffassung,  wenn  man  hier  und  da  gemeint  hat, 
diese  Lehre  habe  den  Denkern  jener  Zeit  nur  gedient,  um  unter 
dem  Scheine  der  Rechtgläubigkeit  ungehindert  ihre  abweichen- 
den Meinungen  aussprechen  zu  können.  Hin  und  wieder  mag  das 
der  Fall  gewesen  sein;  im  allgemeinen  aber  war  es  den  Männern 
mit  dieser  doppelten  Wahrheit  voller  Ernst.  Diese  Lehre  war  eben 
nichts  anderes  als  der  naive  Ausdruck  des  innern  Zwiespaltes,  in 
welchem  sie  sich  wirklich  befanden.  Kritisch  entwickelten  Zeiten 
mag  es  schwer  werden,  sich  in  diesen  Zustand  innern  Widerspruchs 
und  in  das  offene  Bekenntnis  eines  solchen  hineinzudenken:  allein 
Erscheinungen  viel  späterer  Zeit,  wie  vor  allem  diejenigen  von 
Pierre  Bayle  und  den  frommen  Materialisten  Englands  oder  in 
schwachem  Nachklange  dasjenige,  was  man  in  der  Mitte  des  XIX. 
Jahrhunderts  bei  Gelegenheit  des  deutschen  Materialismusstreites 
als  »doppelte  Buchführung«  (unpassend erweise)  bezeichnete,  lassen 
die  psychologische  Möglichkeit  einer  solchen  inneren  Entzweiung 
zumal  in  einer  schwankenden  Übergangszeit  durchaus  nicht  zweifel- 
haft erscheinen,  und  weit  entfernt,  ein  Deckmantel  der  Heuchelei 
zu  sein,  war  die  Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit  vielmehr  der 
wahrhaftige  Ausdruck  des  Denkzustandes,  aus  welchem  sie  entstand. 
In  eigentümlicher  Weise  findet  sich  nun  in  diesen  Prozeß  der 
Ablösung  der  Philosophie  von  der  Theologie  der  Name  und  die 
Lehre  des  Aristoteles  verflochten.  Die  Scholastik  hatte  auf  ihrem 
Höhepunkte  geglaubt  und  behauptet,  mit  seiner  Lehre  identisch  zu 
sein.  Aristoteles  galt  ihr  als  der  Philosoph  -acct  l£,oyr\v>  und  sie 
sprach  es  geradezu  aus,  daß  er  in  weltlichen  Dingen  ebensoviel 
zu  gelten  habe,  wie  die  Kirche  in  geistlichen.  Freilich  war  diese 
Überzeugung  von  ihrer  Übereinstimmung  mit  dem  Aristotelismus 
bei  der  Scholastik  in  vielen  Beziehungen  eine  eigenartige  Täuschung. 
Als  im  XIII.  Jahrhundert  durch  Vermittlung  von  Arabern  und 
Juden  die  Schriften  des  Aristoteles,  aber  mit  ihnen  zugleich  auch 
die  auf  neuplatonische  Ursprünge  zurückgehenden  Kommentare  dieser 


6  Opposition  gegen  Aristoteles. 

Vermittler   im   Abendlande    bekannt   und    begierig   aufgenommen 
wurden,   da  hatte  es  die  Kirche  vortefflich  verstanden,  ihren  an- 
fänglichen Widerspruch    Schritt  für  Schritt  aufzugeben,  und  die 
Bettelorden  hatten  die  Aufgabe  durchgeführt,  die  neue  Lehre  so 
umzubilden,  daß  sie  sich  als  philosophische  Begründung  des  dogma- 
tischen Systems  darstellte.    Aber  das  so  mit  glänzendem  Scharfsinn 
und  großer  Kombinationsgabe  gewonnene  Ergebnis  war  weit  ent- 
fernt, mit  der  wahren  Lehre  des  Aristoteles  sich  zu  decken.    Nur  in 
der  Aufnahme  des  logischen  Schematismus  ordnete  sich  die  Schola- 
stik dem  »Philosophus  «  unbedingt  unter;  schon  seine  Erkenntnislehre 
aber  vermengte  sie  mit  neuplatonischen  Elementen,  welche  sie  nicht 
nur  der  jüdisch-arabischen,  sondern  auch  der  eigenen  Tradition,  der 
patristischen  Literatur  und  besonders  der  weithin  wirkenden  Lehre 
des  Augustinus  verdankte.    Was  dagegen  die  inhaltliche  Erkenntnis 
betrifft,  so  folgte  sie  freilich  in  ihrem  Wissen  von  der  Natur  dem 
Aristoteles  schon  deshalb,  weil  sie  dafür  kaum  eine  andere  Quelle, 
am  wenigsten  diejenige  eigner  Forschung  besaß:  aber  in  der  ge- 
samten  Auffassung   des   Weltalls   bediente    sie   sich   zwar   durch- 
gängig der  aristotelischen  Kategorien,  allein  gerade  in  den  wesent- 
lichsten Punkten,  wie  z.  B.  in  der  Frage  nach  der  Weltschöpfung, 
sah   sie    sich   genötigt,   von   Aristoteles   abzuweichen.   Dazu   kam 
die  Abhängigkeit,  in  welche  der  abendländische  Aristo telismus  von 
der  neuplatonischen  Auffassung  durch  die  arabische  Überlieferung 
geriet,   in  der  er  die  Lehre  des  Philosophen  übernahm.     So  war 
es  zu  erklären,  daß  während  der  letzten  Zeit  des  Mittelalters  die 
Geister  sich  der  Scholastik  gerade  in  dem  Maße  entfremdeten,  in 
welchem  sie  den  originalen  Aristoteles  kennen  und  verstehen  lernten. 
Schon  vom  Nominalismus  gilt  es  in  gewissem  Sinne,  daß  er  auf 
einer  Betonung  der  empiristischen  Elemente  in  dem  nun  erst  ganz 
bekannt  gewordenen  Organon  beruhte;  schon  er  bildete  eine  Re- 
aktion des  wirklichen  Aristotelismus  gegen  die  platonisierende  Ten- 
denz der  ursprünglichen  Scholastik. 

Gleichwohl  galt  nun  einmal  Aristoteles  als  der  mit  der  Kirchen- 
lehre einstimmige  Philosoph,  und  so  kam  es,  daß  die  beginnende 
Opposition  der  Wissenschaft  gegen  die  kirchliche  Bevormundung 
sich  am  liebsten  indirekt  als  eine  Abschüttelung  der  Autorität  des 
Aristoteles  aussprach.  Während  man  gerade  mit  seinen  Waffen 
arbeitete,  kämpfte  man   gegen  seinen  Namen.     Freiheit  von  der 


Drang  nach  geistiger  Freiheit.  7 

aristotelischen  Philosophie,  —  das  war  ein  Losungswort,  unter  wel- 
chem sich  Neuerer  der  mannigfachsten  Richtungen  zusammenfanden : 
aber  der  innerlichste  Trieb,  der  in  dieser  Form  sich  äußerte,  war 
derjenige  der  Befreiung  der  Wissenschaft  von  der  Herrschaft  der 
Kirche. 

Es  ist  nicht  dieses  Ortes,  die  Gründe  zu  untersuchen,  aus  denen 
dieser  Trieb  selbst  hervorgegangen  war.  Sie  lagen  in  der  allgemeine- 
ren Kulturbewegung,  und  die  Wissenschaft  erfuhr  schließlich  nichts 
anderes,  als  alle  übrigen  Gebiete  des  Lebens.  Unverkennbar  weisen 
alle  diese  Bestrebungen  der  Befreiung  auf  den  Einfluß  der  Kreuz- 
züge zurück.  Die  Bekanntschaft  mit  einer  gewaltigen  fremdartigen 
Kultur  hat  zweifellos  den  Blick  des  christlichen  Europa  zuerst 
über  sich  selbst  hinaus  erweitert.  Man  suchte  das  Grab  des  Heilands 
und  fand  dasjenige  der  unbefangenen  Beschränkung,  in  welcher 
man  seit  Jahrhunderten  gelebt  hatte.  Neue  geistige  Bedürfnisse, 
freie  Regungen  des  inneren  Lebens  brachte  man  aus  dem  Orient 
zurück,  und  nachdem  die  farbige  Seifenblase  geplatzt  war,  auf  der 
sich  in  buntem  Widerspiel  zwei  große  Kulturwelten  gespiegelt 
hatten,  blieb  in  der  einen  von  ihnen  eine  mächtige  Gestaltungs- 
kraft und  ein  tiefer  Gestaltungsdrang  zurück.  Während  der  Orient 
nach  dieser  Berührung  kraftlos  dahinsiechte,  schien  es  als  habe 
das  christliche  Europa  alle  seine  Kultursäfte  in  sich  gesogen,  und 
beginne  nun  mit  ihrer  gärenden,  leidenschaftlichen  Verarbeitung. 

In  diesem  Prozesse  erstarken   dann   überall   die   individuellen 
Eigentümlichkeiten;  aus  dem  Rahmen  des  von  der  Herrschaft  der 
allgemeinen  Bewußtseins  wesentlich  bestimmten  Mittelalters  trete^U 
scharf  geschliffen  die  einzelnen  Persönlichkeiten  hervor.    Gewaltigen 


ox 


aber  noch  zeigt  diese  Bewegung  sich  in  der  Entwicklung  der  Völker- 
individualitäten.  Die  vier  großen  Kulturnationen,  die  Italiener,  die 
Deutschen,  die  Engländer  und  die  Franzosen,  beginnen  mehr  und 
mehr  selbständig  zu  werden  und  gegeneinander  sich  abzugrenzen. 
Der  Gedanke  der  Nationalität  arbeitet  sich  aus  mancherlei  Um- 
hüllungen heraus,  überall  ist  ein  Wachsen  des  nationalen  Bewußt- 
seins und  eine  Ausprägung  der  nationalen  Eigentümlichkeiten  der 
hervorstechende  Zug  der  politischen  und  der  geistigen  Geschichte: 
und  so  blüht  über  Europa  der  Völkerfrühling  der  Renaissance  auf, 
der  in  der  Erinnerung  der  Menschheit  stets  einen  der  glänzendsten 
Punkte  bilden  wird.  , 


8  Renaissance  in  Italien. 


§  2.  Die  Kultur  der  Renaissance. 

Das  Mutterland  jener  großen  Bewegungen,  aus  denen  das  moderne 
Bewußtsein  hervorgegangen  ist,  war  Italien,  derselbe  Boden,  der 
die  großartige  Zusammenfassung  der  antiken  und  die  mächtige 
Entwicklung  der  christlichen  Kultur  getragen  hatte  und  nun  dazu 
berufen  war,  in  der  Vereinigung  beider  die  Keime  des  modernen 
Kulturlebens  zu  entwickeln.  Was  es  neben  seiner  unmittelbaren 
Beziehung  zu  den  großen  Mächten  der  früheren  Zeiten  für  diesen 
Beruf  hauptsächlich  befähigte,  war  der  günstige  Gang,  den  seine 
eigene  Geschichte  in  dem  Ausgange  des  Mittelalters  nahm.  Die 
Dezentralisation,  welche  die  Vorbedingung  der  freien  Entwicklung 
ist,  hatte  gerade  in  Italien  am  meisten  Wurzel  geschlagen.  Die 
Selbständigkeit  der  einzelnen  Städte  war  die  natürliche  Veranlassung 
für  jene  scharfe  Ausprägung  der  lokalen  Eigentümlichkeiten,  wo- 
von den  großen  Städten  Italiens  bis  auf  den  heutigen  Tag  ein  Rest 
geblieben  ist.  Venedig,  Mailand,  Genua,  Bologna,  Florenz,  Rom, 
Neapel  —  welch  eine  reiche  Mannigfaltigkeit  charakteristischer, 
scharf  und  sicher  gegeneinander  abgegrenzter  Besonderheiten  von 
Stadt  und  Volk !  Daß  auf  verhältnismäßig  so  engem  geographischen 
Raum  alle  diese  Stämme  und  Städte  ihr  besonderes  Wesen  so  leb- 
haft zur  Ausbildung  bringen  und  die  feinsten  Nuancen  ihrer  inneren 
Anlage  mit  so  glücklicher  Klarheit  ausleben  konnten,  war  eben 
nur  möglich  durch  ihre  politische  Selbständigkeit  und  durch  die 
Lebhaftigkeit,  mit  der  sie  diese  in  einem  leidenschaftlichen  Kampfe 
ums  Dasein  zu  schützen  genötigt  waren.  Und  was  hier  von  den 
Städten,  das  gilt  innerhalb  der  Städte  wieder  von  den  Individuen. 
Die  Heftigkeit  der  Parteikämpfe,  die  republikanische  Nötigung 
daran  teilzunehmen,  die  Bedeutung,  welche  im  steten  Wechsel 
der  Geschicke  einer  kräftigen  Persönlichkeit  von  selbst  zufiel  — 
das  alles  war  eine  Schule  des  Charakters,  aus  der  selbständige  und 
ihrer  Selbständigkeit  sich  bewußte  Individuen  hervorgehen  mußten. 
Und  so  zeigt  denn  das  Italien  der  Renaissance  ein  üppiges  Wuchern 
des  Individualismus,  es  ist  »die  Geburtsstätte  des  modernen 
Individuums«,  welches  in  der  Ausbildung  seiner  Anlagen  seine 
Pflicht  und  in  der  scharfen  Entwicklung  seiner  Kräfte  sein  Recht 
sieht. 


Verhältnis  zur  Antike.  9 

Diese  hohe  Entwicklung  des  Individuums  ist  damals/  wie  der- 
einst in  Griechenland,  die  Grundlage  der  geistigen  Freiheit  ge- 
worden. Seines  Wertes  und  seines  Rechtes  sich  bewußt,  zur  Bildung 
eigenen  Urteils  zunächst  durch  die  Politik  erzogen,  begann  das 
Individuum  auch  von  sich  aus  zu  denken  und  in  sich  selber  den 
Maßstab  zu  suchen  für  die  Erkenntnis  und  die  Beurteilung  der 
Dinge.  Freilich  überschritt  auch  dieser  Individualismus  bald  die 
Grenzen  seiner  Berechtigung.  Ergriffen  von  dem  Taumel  fessel- 
loser Selbstentscheidimg,  setzte  das  Individuum  an  die  Stelle  der 
Freiheit  die  Willkür,  und  seine  strotzende  Kraftfülle  entlud  sich 
als  eine  zerstörende  Macht.  Selten  zeigt  die  Geschichte  eine  solche 
Fülle  großer  Naturen  wie  hier:  aber  etwas  Ungebändigtes  und 
Dämonenartiges  schlummert  in  ihnen  allen,  und  in  ungezügelter 
Urkraft  stehen  unter  ihnen  jene  Titanen  des  Verbrechens  auf,  vor 
denen  die  Geschichte  ihr  Haupt  verhüllt. 

Über  diesem  wilden  und  ungestümen  Treiben  aber  waltete  Maß 
und  Richtung  gebend  der  Genius  der  Antike,  der  hier  wieder 
seine  unerschöpfliche  Lebenskraft  betätigte.  Unter  der  ernsten 
Zucht  seiner  Gedanken  und  dem  milden  Zauber  seiner  Schönheit 
wurden  aus  den  Titanen  die  Genien,  die  dem  Zeitalter  die  Wege 
vorschrieben.  Aus  der  Verbindung  ihrer  schöpferischen  Eigen- 
kraft mit  der  nun  erst  voll  erfaßten  und  ganz  begriffenen  Tradition 
erwuchs  das  Neue,  das  weder  aus  dem  Einen  allein  noch  aus  dem 
Anderen  allein  begriffen  werden  kann. 

Aber  es  bedurfte  wahrlich  nicht  der  Eroberung  Konstantinopels 
durch  die  Türken  und  der  damit  im  Zusammenhange  stehenden 
Flucht  griechischer  Gelehrten  nach  Italien:  das  ist  weder  Beginn 
noch  gar  Ursache  jener  erneuten  Beschäftigung  mit  dem  klassischen 
Altertum  gewesen,  worin  zudem  nur  das  erste,  äußere  Moment 
im  Wesen  der  Renaissance  zu  sehen  ist.  Schon  weit  vorher  be- 
gegnen wir  auch  in  der  Literatur,  wie  in  den  leisen  Regungen  der 
Kunst  einer  Annäherung  an  das  Altertum,  welche  aus  kongenialer 
Auffassung  und  aus  innerstem  Bedürfnisse  hervorging.  Vor  allem 
die  großen  Dichter,  Dante,  Petrarca,  Boccaccio,  sind  ganz  selb- 
ständige Ausgangspunkte  der  neuitalienischen  Klassizität.  Und 
zwar  war  es  in  der  Tat  wesentlich  das  ästhetische  Bedürfnis,  auf  dem 
diese  Beschäftigung  mit  dem  Altertume  beruhte.  Durch  die  ganze 
Geschichte  ist  es  zu  verfolgen,  wie  immer  die  Zeiten  starken  und 


10  Weltliche  Kultur. 

kräftigen  Individualismus  auch  diejenigen  des  Kunstbedürfnisses 
gewesen  sind,  und  derselbe  geheimnisvolle  Zug,  welcher  die  Re- 
naissance  dem  Altertume  zuführte,  trieb  auch  Jahrhunderte  später 
einen  Winckelmann  und  einen  Goethe  nach  Italien. 

So  erwuchsen  in  dem  modernen  Individuum  mit  seiner  Frei- 
heit und  Selbständigkeit  neue  Bedürfnisse  und  neue  Bestrebungen, 
und  es  sah  eine  ganz  andere  Welt  vor  sich  aufgetan,  —  eine  Welt 
eigenster,  individuellster  Lebendigkeit  der  Gefühle,  aus  der  die 
Poesie  der  Subjektivität,  die  Lyrik,  hervorging,  eine  Welt  der 
Wirklichkeit,  in  der  es  mit  mächtiger  Gestaltungskraft  sich  geltend 
zu  machen  suchte,  eine  Welt  der  Schönheit,  in  der  ihm  das  Uni- 
versum voll  verklärter  Gestalten  engegentrat,  eine  Welt  endlich 
der  Wahrheit,  die  es  selbst  zu  erforschen  und  zu  durchdringen 
unternehmen  konnte.  Aus  der  Wiedergeburt  des  Individuums  und 
des  politisch-sozialen  Lebens  ergab  sich  die  künstlerische  und  die 
wissenschaftliche  Renaissance.  Auf  diese  Weise  erstarkte  neben 
der  geistlichen  Kultur,  die  das  Mittelalter  beherrscht  hatte,  eine 
tief  davon  geschiedene  weltliche  Kultur.  Man  fand  die  Liebe 
zum  wirklichen  Leben  wieder;  mitten  in  freiester  Kraftentfaltung 
fühlte  man  die  Schönheit  des  Daseins  und  den  inneren  Wert  der 
irdischen  Wirklichkeit.  Man  studierte  die  Natur,  man  fing  wieder 
an,  die  geschichtliche  Entwicklung  als  etwas  des  Interesse  Wür- 
diges zu  begreifen.  Diese  weltliche  Kultur  prägte  sich  in  ihrem 
Gegensatze  zur  geistlichen  in  höchst  bemerkenswerter  Weise  durch 
den  gesteigerten  Wert  aus,  welchen  man  auf  die  nationalen  Spra- 
chen legte.  Während  das  Mittelalter  sich  überall  gleichmäßig  dem 
nivellierenden  Zwange  des  Lateinischen  unterworfen  hatte,  be- 
durfte die  Kultur  der  Renaissance  zum  Ausdruck  ihrer  individuellen 
Entwicklungen  der  lebendigen  Sprachen,  und  in  der  Folgezeit  ist 
es  höchst  bemerkenswert,  wie  auch  die  Wissenschaft,  je  radikaler 
und  moderner  ihre  Tendenzen  werden,  um  so  mehr  sich  der  na- 
tionalen Sprachen  zu  bedienen  anfängt. 

Die  auf  diese  Weise  gewonnene  und  immer  mehr  in  sich  selbst 
sich  kräftigende  Bildung  wurde  durch  die  glückliche  Erfindung  der 
Buchdruckerkunst  in  ihrer  Ausbreitung  und  in  der  Allseitigkeit  ihrer 
Bestrebungen  unterstützt;  zu  gleicher  Zeit  aber  wurde  auf  diese 
Weise  eine  große  Veränderung  in  dem  sozialen  Zustande  der  Mensch- 
heit herbeigeführt.     Wenn  das  Mittelalter  die  scharfe  Gliederung 


Humanismus.  1 1 

seiner  Standesunterschiede  wesentlich  nach  politischen  und  prakti- 
schen Gesichtspunkten  vollzogen  hatte,  so  gehört  es  zu  den  charak- 
teristischen Eigentümlichkeiten  der  Renaissance,  gegen  solche 
Unterschiede  mehr  und  mehr  deich gültig  zu  werden  und  sie  zu 
verwischen,  dafür  aber  an  ihre  Stelle  den  einen  großen  Gegensatz 
der  Bildung  und  der  Unbildung  zu  setzen,  welcher,  von  Italien 
ausgehend,  dem  sozialen  Zustande  Europas  eine  neue  Form  geben 
sollte  und  in  wachsender  Zuspitzung  zu  jenen  schweren  Problemen 
führte,  mit  denen  die  heutige  Gesellschaft  ringt. 

Der  Gegensatz  der  weltlichen  und  der  geistlichen  Kultur  nimmt 
nun  innerhalb  der  Geschichte  der  Renaissance  die  mannigfachsten 
Formen  an.  Die  interessanteste  ist  zweifellos  diejenige,  in  der 
beide  sich  gewissermaßen  zu  durchdringen  suchen,  ohne  doch 
gänzlich  ineinander  aufgehen  zu  können.  Jene  geistvollen  Päpste, 
deren  Hof  der  Sammelplatz  der  neuen  Kunst  und  der  neuen  Wis- 
senschaft war  und  an  deren  christlicher  Rechtgläubigkeit  sich 
zweifeln  ließ,  jene  Madonnenmaler,  die  im  innersten  Herzen  von 
echt  antiker  Schönheitsreligion  erfüllt  waren,  jene  gewaltigen  Ka- 
thedralen des  Christentums,  die  sich  in  den  Formen  griechischer 
und  römischer  Architektur  aufbauten  —  sind  es  nicht  alles  Er- 
scheinungen, in  denen  die  Lehre  von  der  »zweifachen  Wahrheit« 
wie  verkörpert  und  lebendig  vor  uns  zu  stehen  scheint? 

Das  Wesentlichste  aber  an  jenem  neu  erwachten  Interesse 
für  das  klassische  Altertum  war  eine  immense  Erweiterung  des 
historischen  Horizonts.  Unter  dem  Einflüsse  der  eigenen,  über- 
lebendigen Geschichte  begann  man  wieder  die  rechte  Wertschätzung 
für  die  historischen  Erscheinungen  zu  gewinnen.  Es  ist  nicht 
zufällig,  daß  die  Stadt,  welche  unter  allen  italienischen  die  wechsel- 
vollste Geschichte  erlebte,  Florenz,  auch  die  Wiege  der  modernen 
Geschichtschreibung  ist.  Hatte  das  Mittelalter  in  den  großen  Ge- 
stalten der  vorchristlichen  Zeit  nur  glänzende  Laster  gesehen,  so 
ergriff  man  jetzt  mit  Begeisterung  die  gewaltigen  Charaktere  des 
griechischen  und  des  römischen  Lebens,  mit  denen  man  sich  inner- 
lichst verwandt  fühlte;  man  sah,  daß  hinter  dem  Berge  auch  noch 
Leute  wohnen,  und  der  historische  Begriff  der  Menschheit  dämmerte 
wieder  herauf.  Das  ist  der  tiefere  Sinn,  in  welchem  man  diese 
Studien  des  klassischen  Altertums  die  humanistischen  ge- 
nannt hat. 


12  Erneuerung  der  alten  Philosophie. 

In  diesem  Geiste  wurden  während  der  Renaissance  auch  die 
alten  Philosophen  neu  belebt,  aber  nicht  etwa  nur  künstlich  galva- 
nisiert, sondern  begeistert  in  Fleisch  und  Blut  aufgenommen.  Man 
schöpfte  aus  den  Quellen,  um  sich  daran  zu  erquicken,  um  einen 
neuen  Lebenssaft  daraus  zu  trinken.  So  wiederholt  sich,  was  ein 
sorgsamer  Forscher  von  der  Philosophie  des  Mittelalters  gesagt 
hat,  daß  sie  nämlich  wesentlich  von  der  sukzessiven  Zufuhr  des 
antiken  Stoffes  gelebt  habe,  nun  schließlich  auch  bei  ihrem  Tode: 
sie  wird  gänzlich  verdrängt  durch  das  volle  Studium  der  Originale 
des  griechischen  Denkens. 

§  3.    Die  Erneuerung  der  antiken  Philosophie. 

Wenn  man  seit  etwa  der  Mitte  des  XV.  Jahrhunderts  sich 
zuerst  in^  Italien  und  dann  auch  in  dem  übrigen  Europa  mit  den 
verschiedenen  Richtungen  der  griechischen  und  der  hellenistischen 
Philosophie  kommentierend,  übersetzend  und  nachbildend  zu  be- 
schäftigen anfing,  so  war  es  unter  den  gegebenen  Verhältnissen 
selbstverständlich,  daß  jede  dieser  Richtungen  zugleich  recht- 
gläubig und  von  der  Kirche  anerkannt  zu  sein  glaubte  oder  wünschte 
oder  wenigstens  vorgab,  und  wenn  diese  erneuten  Schulen  der 
Philosophie  miteinander  in  nicht  geringere  Streitigkeiten  gerieten 
als  ihre  antiken  Urbilder,  so  pflegten  sie  sich  jetzt  am  liebsten  mit 
einer  Waffe  zu  bekämpfen,  welche  die  alte  Welt  nicht  gekannt 
hatte,  mit  dem  Vorwurfe  des  Ketzertums.  Wo  endlich  diese  Lehren 
der  antiken  Philosophie  in  gar  zu  offenem  Widerspruche  mit  der 
christlichen  Weltanschauung  standen,  da  hatte  man  es  bequem, 
mit  der  Berufung  auf  die  Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit  sich 
durch  unbedingte  Anerkennung  der  kirchlichen  Autorität  im  eigenen 
Gewissen  und  vor  den  realen  Mächten  zu  salvieren  und  die  Lehre 
der  antiken  Philosophen  zunächst  nur  historisch  zu  reproduzieren. 
Wie  ein  berühmter  platonisierender  Theologe  der  Zeit  sein  Werk 
mit  den  Worten  schloß,  »er  wünsche  hier,  wie  allerwärts,  nur  soviel 
Zustimmung  zu  seinen  Untersuchungen  zu  finden,  als  es  von  der 
Kirche  gebilligt  werde«,  so  sehen  wir  überall  die  Gedanken  der 
antiken  Philosophie  mit  wunderlichen  Verschlingungen  in  die  noch 
unerschüttert  gläubigen  Herzen  eindringen.  Was  die  Kirche  selbst 
anlangt,  so  verhielt  sie  sich  je  nach  der  Parteistellung  ihrer  Häupter 


Platonische  Akademie  in  Florenz.  13 

abwechselnd  beistimmend  und  verurteilend  den  verschiedenen  Eich- 
tungen dieser  Erneuerung  gegenüber.  Eine  Zeitlang,  besonders 
solange  die  Macht  der  Mediceer  in  Rom  herrschte,  stellte  sie  sich 
auf  die  Seite  des  Piatonismus  und  verwarf  die  aristotelisierende 
Richtung,  zu  der  sie  doch  schließlich  zurückgekehrt  ist.  Vor  allem 
aber  sprach  sie  auf  dem  fünften  Laterankonzil  1512  ihr  Interdikt 
gegen  die  Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit  aus,  hinter  der  sich 
damals  allerdings  schon  die  bewußte  Ungläubigkeit  der  Averroisten 
und  teilweise  auch  der  Alexandristen  versteckte. 

Der  erste  Erfolg  dieser  humanistischen  Studien  war  eine  Hebung 
des  Ansehens  der  platonischen  Philosophie.  Man  kann  durch 
die  Geschichte  des  christlichen  Denkens  hindurch  einen  interessan- 
ten Kampf  des  Piatonismus  und  des  Aristotelismus  verfolgen,  in 
welchem  sie  abwechselnd  einander  die  Herrschaft  über  die  philo- 
sophische Gestaltung  der  Glaubenslehren  streitig  machen.  In  der 
patristischen  Zeit  unbeschränkt  herrschend,  wird  Piaton  schon  bei 
Augustinus  vielfach  im  neuplatonischen  Sinne  aufgefaßt  und  gilt 
im  früheren  Mittelalter,  das  wesentlich  seinen  Timaeus  kannte, 
als  ein  Naturforscher,  dessen  Lehre  mit  der  religiösen  Weltan- 
schauung übereinstimmte.  Aristoteles,  zuerst  nur  als  Dialektiker 
bekannt  und  als  haeretisch  beargwöhnt,  verdrängt  seit  dem  drei- 
zehnten Jahrhundert  das  Ansehen  des  Piatonismus  wie  des  Augusti- 
nismus: die  letzteren  wiederum  werden  von  den  oppositionellen 
Richtungen  der  späteren  Scholastik  bevorzugt,  und  schließlich 
bestand  gegenüber  den  Neuerungen,  welche  der  Piatonismus  der 
Renaissance  zu  bringen  suchte,  die  kirchliche  Restauration  des 
XVI.  Jahrhunderts  theoretisch  in  der  Rückkehr  zu  Aristoteles  oder 
zu  demjenigen  wenigstens,  was  man  für  ihn  hielt.  Jener  Ruf  nach 
Befreiung  aber  von  der  aristotelischen  Scholastik  trat  in  der  Renais- 
sance mit  ursprünglichem  Enthusiasmus  unter  der  Form  einer  be- 
geisterten Verehrung  Piatons  auf.  Die  Begründung  der  platonischen 
Akademie  zu  Florenz,  welche  sich  in  der  Mitte  des  XV.  Jahrhunderts 
unter  dem  Schutze  der  Mediceer  vollzog,  gab  diesen  platonischen 
Studien  einen  äußerst  förderlichen  Mittelpunkt.  Sie  geschah  unter 
Anregung  eines  Mannes,  der  bei  Gelegenheit  des  von  dem  grie- 
chischen Kaisertum  ausgegangenen  Versuchs,  eine  Union  der  beiden 
christlichen  Kirchen  herbeizuführen,  nach  Italien  übergesiedelt  war, 
des  Georgios  Gemistos  Plethon  (1370 — 1452);  er  wirkte  nicht 


1 4  Neuplatonismus. 

nur  durch  seine  Vorträge,  sondern  auch  durch  Übersetzungen  und 
kritisch-polemische  Kommentare  zu  den  aristotelischen  Schriften. 
Sein  Hauptwerk  über  den  Unterschied  der  platonischen  und  der 
aristotelischen  Philosophie  enthält  eine  lebhafte  Bekämpfung  der 
aristotelischen  Theologie,  Psychologie  und  Ethik.  Diese  seine 
Tätigkeit  trug  ihm  außer  der  Verdammung  seiner  Schriften  durch 
den  Patriarchen  von  Konstantinopel,  Gennadius,  zahlreiche  Ent- 
gegnungen ein,  unter  denen  die  bedeutendste  die  von  einem  in 
Venedig  und  Rom  lehrenden  Aristoteliker  Namens  Georg  von 
Trapezunt  (1396 — 1486)  verfaßte  »Comparatio  Piatonis  et  Ari- 
stotelis «  war.  Diesem  wurde  von  Seiten  der  Florentiner  Akademie 
durch  den  ihr  angehörigen  Kardinal  Bessarion  (1395 — 1472)  in  der 
Schrift:  »Adversus  calumniatorem  Piatonis«  (Rom  1469)  geant- 
wortet. Während  aber  bei  Plethon  die  Polemik  gegen  Aristoteles 
mit  jugendlicher  Keckheit  aufgetreten  war,  finden  wir  hier  schon 
eine  viel  gereiftere,  von  edler  Mäßigung  durchdrungene  Auffassung, 
welche,  im  wesentlichen  sich  zu  Piaton  bekennend,  doch  auch  dem 
Aristoteles  eine  ehrende  Anerkennung  nicht  versagt.  Inzwischen 
nahmen  die  Studien  auf  der  Akadieme  zu  Florenz  einen  immer 
lebendigeren  Fortgang;  neben  der  Tätigkeit  des  Übersetzens  und 
Kommentierens  wurden  Vorlesungen  organisiert,  an  denen  Bessarion 
selbst  beteiligt  war,  und  in  systematischer  Weise  Schüler  gezogen. 
So  herangebildet  und  selbst  zum  vortragenden  Lehrer  erkoren, 
vertrat  hauptsächlich  Marsilius  Ficinus  (1433 — 1499)  in  der 
zweiten  Hälfte  des  XV.  Jahrhunderts  die  florentinische  Akademie. 
An  ihm  sieht  man,  wie  die  Wogen  jener  anfänglich  so  hoch  gehenden 
Polemik  geebbt  waren;  aus  der  teilweisen  Anerkennung  des  Ari- 
stoteles, die  schon  Bessarion  vertrat,  scheint  mit  der  Zeit  in  der 
florentinischen  Akademie  die  Ansicht  zur  Herrschaft  gelangt  zu 
sein,  daß  die  beiden  großen  Philosophen  des  Altertums  im  wesent- 
lichen miteinander  übereinstimmten.  Das  war  auch  die  Auffassung 
des  Neuplatonismus  gewesen,  der  in  der  byzantinischen  Tra- 
dition maßgebend  war:  und  auf  diese  gingen  ja  schließlich  die  An- 
regungen auch  des  italienischen  Piatonismus  zurück.  In  Wahr- 
heit ist  daher  der  Piatonismus  der  Renaissance  wesentlich  neu- 
platonisch gefärbt  gewesen  und  geblieben.  So  übersetzte  denn 
Ficinus  nicht  nur  den  Piaton,  sondern  auch  die  Schriften  mehrerer 
Neuplatoniker,  namentlich  des  Plotin,  und  diese  Übersetzungen 


Aristoteliker.  15 

verdienen  nicht  nur  wegen  ihrer  sprachlichen  Eleganz,  sondern 
zum  Teil  auch  wegen  der  eindringlichen  Feinheit  ihrer  Auffassung 
noch  heute  beachtet  zu  werden.  Die  plotinische  Weltanschauung 
aber  mit  ihrer  glänzenden  Hervorhebung  der  metaphysischen  Be- 
deutung des  Schönen  lag  auch  von  dieser  Seite  her  dem  ästhetischen 
Geiste  der  Renaissance  nahe,  und  dazu  kam,  daß  die  mystische 
Richtung  des  Neuplatonismus  den  religiösen  Bedürfnissen  der  Zeit 
ebenso  willkommen  war,  wie  anderseits  die  magische  Naturauf- 
fassung Plotins  dem  noch  ungeklärten  Streben  nach  neuer  und 
umfassender  Erkenntnis  der  Natur  entgegenkam.  So  verbanden 
sich  mehrfache  Motive,  um  dem,  zumal  durch  den  großen  Namen 
Piatons  gedeckten  Neuplatonismus  eine  hervorragende  Stelle  in  der 
wissenschaftlichen  Bewegung  der  Renaissance  zu  geben.  Ficinus 
selbst  zog  alle  diese  Fäden  mit  wirkungsvollem  Geschick  in  seiner 
»Theologia  Platonica«  zusammen,  und  diese  Verbindung  der  Ge- 
danken wurde  um  so  einflußreicher,  als  er  auch  durch  eine  überaus 
rege  Tätigkeit  und  durch  eine  in  staunenswerter  Ausdehnung  be- 
triebene Korrespondenz  namentlich  nach  Deutschland  hin  für  die 
Ausbreitung  seiner  Lehren  und  Tendenzen  wirkte. 

Gleichzeitig  und  nicht  ohne  bewußten  Gegensatz  zu  diesen 
platonisierenden  Bestrebungen  regte  sich  ein  mächtiges  und  dabei 
doch  innerlich  vielgespaltenes  Leben  imAristotelismus.  In  den 
Vordergrund  treten  hier  zunächst  diejenigen  Männer,  welche  auf 
philologischem  Wege  den  reinen  und  originalen  Aristoteles  aus  den 
scholastischen  Schlingpflanzen  herauszuschälen  suchten,  mit  denen 
ihn  teils  das  arabische,  teils  das  christliche  Mittelalter  umwunden 
hatte.  Es  waren  das  meist  Humanisten,  die  auch  an  der  barbari- 
schen Schulsprache  der  Scholastik  Anstoß  nahmen  und  neben  einer 
historisch  reinen  Auffassung  zugleich  den  ästhetischen  Gesichtspunkt 
geschmackvoller  Wiedergabe  im  Auge  hielten.  An  ihrer  Spitze  steht 
in  Italien  Theodorus  Gaza,  ein  Gegner  Plethons  und  persönlicher 
Freund  Bessarions,  der,  nachdem  er  im  Jahre  1430  aus  seiner 
Heimat  Thessalonike  nach  Italien  übergesiedelt  war,  durch  seine 
Übersetzungen  der  naturwissenschaftlichen  Werke  von  Aristoteles 
und  Theophrast  eine  große  Menge  von  Gleichstrebenden  und  Schülern 
um  sich  versammelte;  in  Deutschland  sein  großer  Schüler  Ru- 
dolph Agricola  (1442 — 1485),  dessen  Schrift:  »De  dialectica  in- 
ventione«  in  der  Feinheit  ciceronianischer  Sprache  die  Gedanken 


16  Averroisten  und  Alexandristen. 

des  Aristoteles  zu  reproduzieren  suchte;  in  Frankreich  endlich 
Jacques  Lefevre  (Jacobus  Faber  Stapulensis  aus  Etaples  in  der 
Picardie  1455 — 1537),  der  große  Humanist  der  Pariser  Universität, 
welcher  von  einer  Keine  aristotelischer  Schriften  elegant  lateinische 
Paraphrasen  gab. 

Diese  Betonung  der  philologisch  gereinigten  Auffassung  der 
Originalwerke  des  Aristoteles  richtete  sich  gleichmäßig  gegen  die 
beiden  Schulen,  in  denen  man  den  Aristoteles  durch  die  Brille  seiner 
Kommentatoren  ansah,  und  welche  wieder  untereinander  sich  heftig 
befehdeten:  es  waren  die  beiden  Schulen  der  Alexandristen  und 
der  Averroisten,  die  eine  abhängig  von  den  spätgriechischen 
Kommentatoren,  unter  denen  Alexander  von  Aphrodisias  die 
entscheidende  Stelle  einnimmt,  die  andere  von  dem  geistvollen, 
durch  neuplatonische  Einflüsse  stark  mitbestimmten  Philosophen 
Averroes,  dem  bedeutendsten  Denker  des  arabischen  Mittelalters. 
Die  erstere  kehrte  den  deistischen  Charakter  der  aristotelischen 
Metaphysik  besonders  hervor  und  suchte  zugleich  in  dem  Verhält- 
nis der  Gottheit  zu  den  Dingen  den  Grundgedanken  der  natura- 
listischen Erklärung  zur  Geltung  zu  bringen;  die  andere,  dem  neu- 
platonischen Mystizismus  sehr  viel  näher  stehend,  gab  der  aristo- 
telischen Philosophie  eine  pantheistische  Auslegung,  und  zwar  in 
der  Richtung,  daß  die  ewige  All-Einheit  der  Dinge  in  der  ihre  Formen 
aus  sich  selbst  heraus  entwickelnden  Materie  bestehe,  und  daß  als 
die  höchste  Lebensform  die  ewige  und  unpersönliche  Weltvernunft 
zu  denken  sei.  Besonders  lebhaft  aber  entbrannte  der  Streit  zwischen 
beiden  Schulen  an  der  Frage  nach  der  Unsterblichkeit  der  Seele. 
Schon  innerhalb  der  Scholastik  war  durch  Duns  Scotus  der  Streit 
angeregt  worden,  ob  die  Unsterblichkeit  ein  philosophisch  beweis- 
bares Lehrstück  oder  nur  ein  Glaubenssatz  sei,  und  die  Verhand- 
lungen, die  darüber  zwischen  Thomisten  und  Scotisten  geführt 
worden  waren,  setzten  sich  nun,  durch  die  Lehre  von  der  zwei- 
fachen Wahrheit  gedeckt,  in  modifizierter  Form  zwischen  jenen 
beiden  Schulen  des  Aristotelismus  fort.  Darin  freilich  waren 
beide  einig,  die  individuelle  Unsterblichkeit,  wie  sie  ein  Dogma  der 
Kirche  ist,  vom  philosophischen  Standpunkte  aus  zu  leugnen ;  aber 
der  Averroismus  hielt  dabei  an  dem  Gedanken  fest,  daß  der  ver- 
nünftige Teil  der  individuellen  Seele,  insofern  er  beim  Tode  in 
die  allgemeine  Weltvernunft  zurückfließe,  als  unsterblich  angesehen 


»■vV-t  -'■ 


Pomponatius.  17 

werden  müsse,  während  die  Alexandristen,  ihren  naturalistischen 
Grundsätzen  getreu,  die  Sterblichkeit  auch  dieses  Teiles  der  Seele 
verfochten. 

Der  Hauptsitz  dieser  Streitigkeiten  war  Padua,  dessen  Universi- 
tät schon  seit  dem  XIV.  Jahrhundert  als  Sitz  des  Averroismus  galt. 
Seine  hauptsächlichsten  Vertreter  waren:  Nicoletto  Vernias,  der 
in  den  Jahren  1471 — 1499  in  Padua  lehrte,  und  nach  ihm  Ale- 
xander Achillinus,  welcher  1512  als  Lehrer  der  Philosophie  in 
Bologna  starb  und  die  averroistische  Lehre  von  der  Einheit  der 
unsterblichen  Allgemeinvernunft  des  Menschengeschlechtes  so  scharf 
gegen  die  Kirchenlehre  zuspitzte,  daß  hauptsächlich  um  seinetwillen 
zu  dieser  Zeit  der  Averroismus  als  heterodox  galt.  Gemildert  wurde 
diese  Richtung  durch  einen  Schüler  des  Vernias,  Augustinus 
Niphus  (1473 — 1546,  Lehrer  der  Philosophie  in  Pisa,  Bologna, 
Rom,  Salerno  und  Padua).  Er  gab  die  Schriften  des  Averroes  mit 
Erläuterungen  heraus,  in  denen  er  dessen  Lehre  nicht  unbedingt 
und  ausnahmslos  beistimmte,  und  er  wußte  auf  diese  Weise  ein  so 
rechtgläubiges  Ansehen  zu  gewinnen,  daß  Leo  X.  ihn  mit  einer 
Widerlegung  des  sogleich  zu  erwähnenden  Pomponatius  betraute. 
Von  sonstigen  Kommentatoren  dieser  Richtung  würden  etwa  noch 
Zimara  (f  1532)  und  sein  Schüler  Francesco  Piccolomini 
(f  1604)  wegen  der  Wirksamkeit,  die  sie  in  Neapel  hatten,  zu  er- 
wähnen sein. 

Allein  mitten  in  Padua  selbst  erstanden  dem  Averroismus 
zahlreiche  Gegner  und  sogar  der  bedeutendste  von  allen.  Jene 
rein  philologische  Richtung,  welche  die  Scholastiker  arabischen  und 
christlichen  Ursprungs  gleichmäßig  verwarf,  fand  auch  hier  ihre 
Vertreter.  Angeregt  durch  den  geschmackvollen  Venezianer  Er- 
molao  Barbaro  (1454 — 1493),  predigte  dort  Leonicus  Tho- 
maeus  (1456 — 1533)  seit  dem  Beginne  des  XVI.  Jahrhunderts  die 
Rückkehr  zum  reinen  Aristotelismus.  Weit  eindrucksvoller  aber 
war  das  Auftreten  und  die  Lehrtätigkeit  des  Hauptes  der  Alexan- 
dristen Pietro  Pomponazzi  (Petrus  Pomponatius),  des  weitaus 
bedeutendsten  unter  den  gesamten  Aristotelikern  der  Renaissance. 
1462  geboren,  war  er  seit  1495  Professor  in  Padua,  später  in  Ferrara 
und  Bologna  und  starb  1524.  Seine  Abhandlung  über  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele,  welche  die  erwähnte  Gegenschrift  des  Niphus 
hervorrief  und  gegen  diesen,  wie  gegen  andere  Angreifer  von  ihm 

Windelband  ,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  2 


18  Aristoteliker. 

in  weiteren  Streitschriften  verteidigt,  in  einer  Schrift  ȟber  die 
Ernährung«  mit  fast  unverhohlen  materialistischen  Konsequenzen 
fortgeführt  wurde,  und  sein  Hauptwerk  über  »Schicksal,  Freiheit 
und  Vorsehung«  entwickeln  die  radikalste  Form,  welche  der  Ari- 
stotelismus  anzunehmen  imstande  war,  betonen  deshalb  mit  be- 
sonderer Vorliebe  die  Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit  (ohne 
freilich  dadurch  der  kirchlichen  Verdammung  vorbeugen  zu  können) 
und  nähern  sich  in  ihrer  ganzen  Auffassung  am  meisten  dem  Natura- 
lismus, welchen  die  aristotelische  Philosophie  schon  wenige  Gene- 
rationen nach  ihrer  Entstehung  in  der  peripatetischen  Schule  selbst 
durch  Straton  gefunden  hatte.  Bemerkenswert  ist  dabei,  wie  dieser 
Naturalismus  sich  den  Zauberkünsten  der  gleichzeitigen  Magie 
gegenüber  so  ganz  anders  verhält,  als  der  dem  Phantastischen 
weniger  abholde  Neupia tonismus :  in  einer  nachgelassenen  Schrift 
über  die  Ursachen  wunderbarer  Naturerscheinungen  suchte  Pom- 
ponazzi,  wo  es  mit  der  natürlichen  Erklärung  nicht  gehen  wollte, 
die  allegorische  Deutung  anzuwenden.  Durch  eine  Reihe  be- 
deutender Schüler  wurde  nun  diese  Lehre  bald  zu  einer  ausgedehn- 
ten Macht:  der  berühmte  Philologe  Julius  Caesar  Scaliger 
(1484 — 1558)  huldigte  dem  Alexandrismus  und  verteidigte  ihn  gegen 
Cardanus.  Doch  machten  sich  bald  auch  innerhalb  dieser  Schule 
Gegensätze  geltend,  und  es  bahnte  sich  auch  wohl  gelegentlich  eine 
Art  von  Verschmelzung  zwischen  averroistischen  und  alexandristi- 
schen  Theorien  an.  So  vertrat  in  dem  Streite  zwischen  Simon 
Porta  (f  1555)  und  Gasparo  Contarini  (1483 — 1542)  der  letztere 
schon  den  Standpunkt  einer  gewissen  Versöhnung  beider  Rich- 
tungen, und  diese  griff  in  der  Folge  namentlich  in  der  Weise  um 
sich,  daß  man  sich  in  den  psychologischen  Fragen  an  die  natura- 
listische Auffassung  der  Alexandristen  hielt,  auf  metaphysischem 
aber  und  naturphilosophischem  Gebiete  mehr  dem  pantheistischen 
Zuge  des  Averroismus  folgte  —  eine  Zusammenstellung,  durch  die 
man  schließlich  im  ganzen  nur  um  so  unkirchlicher  dachte.  In 
diesem  vermittelnden  Sinne  wirkten  in  Padua  selbst  Jacopo 
Zabarella  (1532 — 1589)  und  sein  Nachfolger  Cesare  Cremo- 
nini,  der  »letzte  Aristoteliker  Italiens«  (1552 — 1631);  und  ähnlich 
war  der  Standpunkt  von  Andreas  Caesalpinus  (1519 — 1603, 
Leibarzt  Clemens'  VIII.),  dessen  Reise  nach  Deutschland  viel  zur 
Verbreitung  eines  unscholastischen  Aristotelismus  beitrug.    Er  war 


Rhetorische  Logik.  v  19 

aber  zugleich  mit  großem  Erfolge  als  Naturforscher  auf  dem  Ge- 
biete der  Tier-  und  Pflanzenphysiologie  tätig  und  weist  damit  auf 
die  Bestrebungen  hin,  welche  die  positive  Ergänzung  des  Kampfes 
gegen  die  Scholastik  bilden  sollten. 

So  vielfach  schon  in  sich  selbst  gespalten,  erfuhr  der  Aristo- 
telismus  den  heftigsten  Angriff  nicht  sowohl  von  einer  der  andern 
positiven  Richtungen  der  antiken  Philosophie,  als  vielmehr  von 
einer  Art  von  unmittelbarem  Interesse  an  der  Fruchtbarmachung 
der  wissenschaftlichen  Arbeit,  und  dieses  nahm  in  Verbindung  mit 
dem  Humanismus  eine  eigentümliche  und  teilweise  wunderliche 
Form  an.  Die  Scholastik  hatte  sich  z.  T.  für  den  Mangel  eigner 
Forschung  in  einer  spitzfindigen  Ausbildung  des  logischen  Formalis- 
mus entschädigt,  und  sie  war  schließlich  dem  Wahne  verfallen, 
es  könne  sich  durch  eine  Art  mechanischer  Kombination  von  logi- 
schen Operationen  immer  neue  und  neue  Erkenntnis  erzeugen  lassen. 
Gegen  diese  eingeschrumpfte,  verknöcherte  und  pedantische  Logik, 
welche  man  natürlich  wieder  mit  derjenigen  des  Aristoteles  ver- 
wechselte oder  wenigstens  mit  dem  Namen  des  Stagiriten  bezeich- 
nete, empörte  sich  das  gesunde  Gefühl  der  Renaissance,  und  in 
dem  Bestreben  nach  einer  »natürlichen  Logik«  ließ  es  sich  zu  einem 
Mißgriffe  verleiten,  der  ihm  durch  die  humanistischen  Studien  nahe- 
gelegt war.  Je  barbarischer  die  Wortbildungen  und  die  Satzformen 
erschienen,  in  denen  sich  die  scholastischen  Deduktionen  auszu- 
drücken pflegten,  um  so  sympathischer  wurde  der  ästhetische  Sinn 
des  Humanismus  von  der  vollendeten  Darstellung  ergriffen,  die 
den  klassischen  Schriften  auch  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie 
eigen  ist.  In  diesem  Zusammenhange  wurde  nun  namentlich 
Cicero  für  die  philosophische  Bewegung  der  Zeit  von  Bedeutung, 
und  wenn  man  mit  richtigem  Takte  herausfand,  daß  der  Schwer- 
punkt seiner  sprachlichen  Form  in  ihrem  rhetorischen  Charakter 
liegt,  so  trat  nun  eine  Tendenz  hervor,  die  Philosophie  gewisser- 
maßen rhetorisch  zu  machen  und  vor  allein  die  Logik  durch  die 
Rhetorik  zu  reformieren.  Diese  Absicht  sprach  schon  Lauren - 
tius  Valla  (1415 — 1465)  in  seiner  Schrift  »De  dialectica  contra 
Aristoteleos «  aus,  indem  er  die  logischen  Gesetze  aus  der  redne- 
rischen Beweiskunst  Ciceros  und  Quinctilians  abzuleiten  unternahm 
und  die  Dialektik  lediglich  als  eine  Hilfswissenschaft  für  die  Rhe- 
torik behandelte.     Zu  einer  geradezu  erbitterten  Bekämpfung  des 

2* 


20  Raraismus. 

Aristoteles  aber  führte  diese  Tendenz  bei  Pierre  de  la  Ramee 
(Petrus  Raums  1517 — 1572),   der  eine  Menge  von  Anfeindungen 
erfuhr,  auf  einer  Reise  nach  Deutschland,  Italien  und  der  Schweiz 
aber  doch  die  große  Wirkung,  welche  er  ausgeübt  hatte,  konsta- 
tieren konnte  und  schließlich  seinen   Übertritt  zum  Calvinismus 
und  die  persönlichen  Feindschaften,  die  ihm  seine  Bedeutung  zu- 
gezogen hatte,  durch  seine  Ermordung  in  der  Bartholomäusnacht 
büßen  mußte.    Das  Bedürfnis  nach  einer  neuen  Form  der  Wissen- 
schaft, nach  einer  fruchtbareren  Methode  des  Denkens  spricht  sich 
in  den  Schriften  dieses  Mannes  mit  außerordentlicher  Heftigkeit 
aus;  allein  die  Unfähigkeit,  etwas  wirklich  Neues  und  Inhaltvolles 
zu  geben,  erzeugt  nur  ein  unreifes  Herumtappen  und  führt  schließ- 
lich auf  den  gänzlich  verfehlten  Versuch,  durch  die  äußerlichste 
Formalität  den  Schäden  abzuhelfen.    Eine  »natürliche  Logik«  des 
gesunden    Menschenverstandes    soll    durch    dialektische    Schulung 
jedermann  befähigen,  sachgemäß  über  alles  reden  zu  können.    Wenn 
nun  auch  nicht  geleugnet  werden  kann,  daß  diese  Richtung  in  ihrer 
polemischen  Tendenz  völlig  berechtigt  war  und  daß  sie  zur  Ein- 
führung einer  geschmackvolleren  Art  philosophischer  Darstellung- 
wesentlich  beigetragen  hat,  so  ist  anderseits  nicht  zu  verkennen, 
daß  sie  in  ihrem  Erkenntnisinhalt  auf  eine  Erneuerung  des  Un- 
bedeutendsten und  Gedankenlosesten  hinauslief,  was  die  alte  Philo- 
sophie gesehen  hatte,  jenes  Eklektizismus  nämlich,  dessen  Haupt- 
vertreter ja  eben  der  philosophisch  so  wenig  selbständige  Cicero 
gewesen  war.     Dennoch  brachte  das  allgemeine  Bedürfnis,  dem 
diese  rhetorisierende  Richtung  einen  leidenschaftlichen  Ausdruck 
gab,  ihr  nicht  unbeträchtlich  viele  Anhänger,  und  der  Ramismus 
spielte  in  der  Bewegung  der  Zeit  eine  verhältnismäßig  wichtige 
Rolle:  er  war  gewissermaßen  der  Sammelplatz  der  Unzufriedenheit 
mit  dem  Bestehenden,  und  die  Farblosigkeit  seines  Inhaltes  ließ  ihn 
zahlreiche  Kombinationen  mit  den  revolutionären  Denkkräften  ein- 
gehen.   Namentlich  nistete  er  sich  trotz  aller  Verfolgungen  auf  den 
protestantischen   Universitäten   Deutschlands   ein,   fand   hier   vor 
allem  in  Johannes  Sturm  in  Straßburg  (1507 — 1589)  einen  eifrigen 
und  glücklichen  Vertreter  und  durch  Goclenius  in  Marburg  (gest. 
1628)  eine  Art  von  Versöhnung  mit  der  gewöhnlichen  aristotelischen 
Schullogik. 

Auch  die  übrigen  Systeme  der  antiken  Philosophie  gingen  bei 


Stoizismus  und  Atomismus.  21 

der  wachsenden  Ausbreitung  der  humanistischen  Studien  nicht  leer 
aus.  Der  Stoizismus  fand  in  Joest  Lips  (Justus  Lipsius)  (1547 
bis  1606)  und  später  in  Caspar  Schoppe  (Scioppius)  seine  Er- 
neuerer, schon  vorher  jedoch  unabhängig  von  systematischer  Form 
und  mehr  als  freie  Popularphilosophie  vermöge  der  humanistischen 
Aufnahme  der  römischen  Schriftsteller  eine  weite,  einflußreiche  Ver- 
breitung, mit  der  diese  Lehre  für  viele  Gebiete  des  Kulturlebens 
der  Renaissance  eine  neue  Fruchtbarkeit  entfaltet  hat.  Seine 
Haupt  Wirkung  lag  auf  ethischem  und  politischem  Gebiete :  in  meta- 
physischer Hinsicht  wurde  er  vom  Neuplatonismus,  in  welchem  er 
ja  selbst  nur  eins  der  Momente  bildete,  auf  naturphilosophischem 
Felde  dagegen  von  der  Erneuerung  der  atomistischen  Doktr.'nen 
überholt.  Diese  ging  zwar  zum  Teil  bei  Männern  wie  Sennert 
und  Magnenus  ausdrücklich  auf  Demokrit  zurück,  in  der  Haupt- 
sache aber  folgte  sie  der  humanistischen  Wiederbelebung  des  Epi- 
kureismus.  Freilich  war  dieser  niemals  völlig  vergessen  worden. 
In  der  poetischen  Darstellung  des  Lucrez  und  in  der  Reproduktion 
der  Schriften  Ciceros  war  er  bekannt  geblieben,  so  bekannt,  daß 
er  als  Typus  unchristlicher  Weltanschauung  galt  und  daß  der  Name 
eines  Epikureers  die  gangbare  Bezeichnung  für  heidnische  Un- 
gläubigkeit  wurde.  So  war  es  namentlich  die  Bedeutung  der  prak- 
tischen Konsequenz  einer  sinnlichen  Genußsucht,  welche  man  mit 
dem  Namen  verband,  und  welche  ihm  bekanntlich  noch  jetzt  in 
der  gewöhnlichen  Ausdrucksweise  aufgeprägt  geblieben  ist.  Die 
Scheidung  dieser  Elemente  vollzog  sich  bei  den  großen  Begründern 
der  modernen  Naturwissenschaft,  einem  Bacon  und  Galilei,  die 
unbeirrt  durch  jene  Vermischung  den  theoretischen  Wert  der  Atom- 
lehre  erkannten  und  für  die  Forschung  dienstbar  machten.  Für 
die   allgemeine   Literatur    ist    dies    später    durch    den    Franzosen 

!  Pierre  Gassend  (Petrus  Gassendi,  1592 — 1655)  zur  Erkenntnis 
gebracht  worden.  Sein  Verdienst  ist  es,  den  theoretischen  Inhalt 
der  epikureischen  Lehre  unbefangen  betont,  den  Charakter  Epikurs 

i  von  den  Entstellungen  der  Tradition  gereinigt  und  der  Welt  be- 
wiesen zu  haben,  daß  der  theoretische  Materialismus  neben  mora- 
lischer Reinheit  sehr  gut  bestehen  kann.  Bei  ihm  selbst  freilich 
begegnet  uns  wiederum  eine  Art  von  zweifacher  Wahrheit.    Selbst 

I  Priester,  bekundet  er  überall  eine  eifrig  kirchliche  Gesinnung  und 
stützt  diese   wohl   gelegentlich    durch   eine  dem   Sensualismus  so 


22  Skeptiker:    Montaigne. 

nahe  liegende  Art  von  Skeptizismus  oder  Positivismus  hinsichtlich 
der  Metaphysik:  aber  das  hemmt  ihn  nicht,  auf  dem  Gebiete  der 
Naturphilosophie  unbefangen  und  rückhaltslos  den  Hypothesen  der 
alten  und  neuen  Naturforschung  nachzugehen.  Wenn  er  dabei  die 
Atomtheorie  von  Demokrit  und  Epikur  in  das  Gedächtnis  der 
Forschung  zurückrief,  so  konnte  der  Gegensatz  gegen  die  aristo  teli- 
sierende  Scholastik  nicht  gut  schärfer  und  radikaler  sein,  als  er  in 
dieser  Gestalt  auftrat.  Je  mehr  die  gesamte  moderne  Naturwissen- 
schaft mit  der  Atomtheorie  verwachsen  ist,  um  so  größer  erscheint 
die  Bedeutung  der  Schriften  Gassendis,  welche  auch  dem  weiteren 
Publikum  die  Scheu  vor  der  naturwissenschaftlichen  Theorie  zu 
benehmen  geeignet  waren,  die  von  selbständigeren  Geistern  in- 
zwischen ihre  fruchtbare  Verwendung  gefunden  hatte.  Aber  diese 
Größe  ist  nur  eine  solche  der  historischen  Wirkung :  Gassendi  selbst 
ist  nur  ihr  verhältnismäßig  unbedeutendes  Gefäß;  es  mangelt  ihm 
die  philosophische  Originalität,  seine  Bedeutung  liegt  nur  in  dem, 
was  er  richtig  aufgefaßt  und  glücklich  dargestellt  hatte. 

Neben  allen  diesen  positiven  Kichtungen  der  antiken  Philosophie 
schlummerte  schließlich  auch  die  negative  nicht,  die  skeptische. 
In  ihrem  Wesen  freilich  lag  es,  daß  sie  nicht  als  ein  System  geschlos- 
sener Lehren  auftreten  konnte,  sondern  vielmehr  nur  als  eine 
Denkart,  und  ihre  Bedeutung  lag  hauptsächlich  darin,  daß  das 
Denken  anfing,  eine  selbständige  Kritik  zu  üben,  seine  eigene 
Berechtigung  zu  untersuchen  und  den  Schlummer  des  Autoritäts- 
glaubens mehr  und  mehr  zu  lösen.  Als  der  geistreichste  und  wirk- 
samste Vertreter  dieses  Skeptizismus  tritt  uns  Michel  de  Mon- 
taigne (1533 — 1592)  entgegen,  dessen  Essais  (zuerst  Bordeaux  1580 
erschienen)  auf  der  einen  Seite  der  vollendete  Ausdruck  einer,  wenn 
nicht  schon  herrschenden,  so  doch  bereits  weit  verbreiteten  Stim- 
mung, auf  der  anderen  Seite  die  kräftigste  Veranlassung  für  die 
Begründung,  Förderung  und  Ausdehnung  eben  dieser  Stimmung 
waren.  Eine  reiche  Erfahrung  des  Menschenlebens,  eine  feine  Ein- 
sicht in  die  Belativität  aller  menschlichen  Meinungen,  Einrichtungen 
und  Bestrebungen,  elegante  und  treffende,  dabei  zu  gleicher  Zeit  tief 
gehende  Schilderung  der  Menschen,  der  Stände  und  ihrer  Verhält- 
nisse, verbunden  mit  einem  liebenswürdigen,  anziehenden  Stile,  — 
das  macht  das  Wesen  dieses  weltmännischen  Skeptizismus  aus,  der, 
von  einem  so  überlegenen  Geiste  wie  Montaigne  in  bestechendster 


Skeptiker.  23 

Form  vorgetragen,  sich  schnell  in  der  französischen  Gesellschaft  ein- 
bürgerte und  mit  seinem  sprühenden  Esprit,  mit  seinem  graziösen 
Gedankenspiel  ihre  Atomsphäre  während  der  gesamten  neueren  Zeit 
geworden  und  geblieben  ist.  Es  gelang  dies  um  so  leichter  und  be- 
quemer, als  diese  skeptische  Gesinnung  sich  auch  mit  dem  Glauben 
recht  gut  abfinden  konnte.  Die  Verknüpfung  lag  hier  so  nahe  und 
war  so  gewissermaßen  von  selbst  gegeben,  daß  sie  bald  nach  Mon- 
taigne in  scharfer  Form  von  seinem  Freunde  Pierre  Charron 
(1541 — 1603)  ausgesprochen  wurde.  In  dessen  Werke:  De  la 
sagesse  (1601)  treten  die  in  Montaignes  Essais  zerstreuten  skeptischen 
Gedanken  in  geschlossener  Phalanx  und  in  einer  Systematisierung 
auf,  zu  der  das  Altertum  die  wesentliche  Grundlage  gegeben  hatte, 
und  wenn  im  Gegensatze  dazu  die  Selbsterkenntnis  als  der  Grund 
alles  sicheren  Wissens  bezeichnet  wird,  so  geschieht  das  einerseits 
nur,  um  dieser  Selbsterkenntnis  die  Form  des  religiösen  Glaubens 
unterzuschieben  und  zu  zeigen,  daß  der  Bankerott  der  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis  den  Wissenstrieb  des  Menschen  in  die 
Arme  des  Glaubens  führen  müsse;  anderseits  vertauscht  Charron 
überhaupt  den  theoretischen  Begriff  der  Erkenntnis  mit  dem 
praktischen  Ideal  der  Lebensweisheit  und  des  frommen  Wandels. 
Noch  schärfer  tritt  die  skeptische  Richtung  bei  Franc ois 
Sanchez  (1562 — 1634)  hervor,  dessen  bemerkenswerte  Schrift: 
»Tractatus  de  multum  nobili  et  prima  universali  scientia  quod 
nihil  scitur«  (1581)  sich  auf  den  interessanten  Grundgedanken 
stützt,  man  könne  nur  dasjenige  wissen,  was  man  selbst  ge- 
macht hat.  Die  wissenschaftliche  Verwertung  dieses  Gedankens 
war  einer  späteren  und  sehr  viel  entwickelteren  Zeit  und  einem 
viel  größeren  Manne,  keinem  geringeren  nämlich  als  Kant  vor- 
behalten: Sanchez  schloß  daraus  im  Geiste  seiner  Zeit  lediglich, 
daß  wie  die  Schöpfertätigkeit  so  auch  das  wahre  Wissen  nur  bei 
Gott  gesucht  werden  dürfte:  aber  er  machte  bei  aller  Verzweiflung 
an  der  bisherigen  Erkenntnis  doch  Andeutungen  darüber,  daß  es 
bessere  Wege  der  Wissenschaft  geben  könnte,  und  er  wies  damit 
aus  der  Wüste  der  begrifflichen  Streitigkeiten  auf  das  fruchtbare 
Feld  der  Erfahrung. 

So  reich  und  mannigfaltig  entwickelten  sich  die  humanistischen 
Studien  auch  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie,  und  in  so  farbiger 
Vielgestaltigkeit   lebte   das   antike   Denken    in    den   Geistern   der 


V\ 


24  Durst  nach  neuem  Wissen. 

Renaissance  wieder  auf.  Allein  schließlich  war  es  doch  alles  immer 
wieder  nur  das  Alte,  war  ein  Verlebtes  und  Verarbeitetes,  und  so 
begeistert  es  die  neue  Zeit  in  sich  aufnahm,  ihrem  innersten  Drange 
konnte  es  nicht  genugtun.  Man  wollte  etwas  wirklich  Neues.  Die 
Renaissance  ist  ihrem  innersten  Wesen  nach  keineswegs  bloß  die 
Erneuerung  des  klassischen  Altertums:  sie  ist  eine  Wiedergeburt 
des  menschlichen  Geistes,  ein  wahrhaft  neues  Leben.  Diese  Zeit 
war  hungrig  nach  neuem  Wissen.  Sie  rief  nach  Brot,  und  man 
gab  ihr  einen  Stein,  wenn  man  ihr  nur  das  alte,  neugeformte  Wissen 
bieten  wollte.  Überall  war  eine  Ermüdung  an  den  alten  Formen 
und  Gedanken,  ein  schöpferischer  Zug  nach  universeller  Betätigung, 
der  anfangs  noch  gegenstandslos  sich  in  phantastischer  Willkür 
erging  und  doch  bald  seinen  rechten  Zug  zu  finden  bestimmt  war. 
Deshalb  ist  die  Erneuerung  der  Systeme  des  antiken  Denkens  nur 
die  erste  und  vorläufige  Form,  in  welcher  sich  die  Sehnsucht  der 
Zeit  nach  frischem  Wissen  einen  Ausweg  bahnte,  ehe  man  den 
wahrhaft  neuen  Inhalt  gefunden  hatte.  Für  diese  Unbefriedigtheit 
an  dem  toten  Wissen,  für  dieses  leidenschaftliche  Fliehen  aus  dem 
Bücherstaube  heraus  kann  keine  kulturgeschichtliche  Darstellung 
und  keine  philosophische  Analyse  einen  schlagenderen  und  groß- 
artigeren Ausdruck  finden,  als  ihn  Goethe  in  dem  ersten  Faust- 
Monolog  gegeben  hat,  wie  denn  auch  anderseits  die  positiven  Geistes- 
kräfte der  Zeit  in  demselben  Werke  eine  überaus  glückliche  Dar- 
stellung gefunden  haben. 

Zwei  Wege  waren  es,  die  der  Instinkt  dieses  Suchens  einschlug: 
einer  nach  innen,  welcher  in  die  heiligste  Tiefe  des  menschlichen 
Gemütes  führte,  einer  nach  außen,  welcher  sich  in  die  beiden  Reiche 
der  historischen  und  der  natürlichen  Wirklichkeit  verzweigte. 
Es  wurde  eine  neue  Erkenntnis  gesucht  im  Innersten  der  mensch- 
lichen Seele,  eine  Erkenntnis  des  Höchsten  und  Wertvollsten,  und 
dieser  Drang  entfaltete  sich  in  der  religiösen  Reformation.  Es 
galt  eine  neue  Erkenntnis  der  gesellschaftlichen  Verhältnisse,  und 
so  erwuchs  eine  neue  Rechts-  und  Staatsphilosophie.  Es  arbeitete 
sich  endlich  aus  zahllosen  Verirrungen  eine  reine  Erkenntnis  der 
Natur  hervor. 

Das  sind  die  drei  positiven  Faktoren.  Gemeinsam  ist  ihnen 
das  Abwerfen  des  scholastischen  Formelkrames,  die  Bekämpfung 
der  toten  Gelehrsamkeit  und  das  Ringen  nach  einer  von  Grund 


Reformation  und  Renaissance.  25 

aus  neuen  Erkenntnis.  Der  Geist  der  Renaissance  sucht  das  wahre 
Leben  hier  in  sich,  hier  außer  sich  in  der  Gestaltung  des  modernen 
Staatslebens  und  in  den  ewigen  Kräften  der  Natur. 


§  4.  Die  religiöse  Reformation. 

Was  man  als  religiöse  Reformation  oder  als  Reformation  schlecht- 
hin zu  bezeichnen  pflegt,  ist  eine  Teilerscheinung  der  allgemeinen 
Renaissance,  welche  darin  zwar  einen  wichtigen  Raum  einnimmt, 
aber  durchaus  nicht,  wie  es  wohl  hin  und  wieder  dargestellt  worden 
ist,  ihr  wichtigstes  und  treibendes  Motiv  bildet.  Sie  hat  diesen  An- 
schein nur  dadurch  gewonnen,  daß  die  allen  Bewegungen  des  neuen 
Denkens  gemeinsame  Auflehnung  gegen  die  Kirche  in  ihr  am  ein- 
fachsten und  klarsten  sich  aussprechen  mußte. 

Auf  den  ersten  Blick  und  bei  oberflächlicher  Betrachtung, 
welche  freilich  oft  die  letzte  geblieben  ist,  zeigt  die  Reformation 
eine  gewisse  Analogie  zu  dem  eben  betrachteten  Wiederaufleben 
der  antiken  Wissenschaft.  Die  Rückkehr  zu  den  Originalen  scheint 
beiden  gemeinsam  zu  sein,  hier  zu  den  Originalen  der  alten  Denker, 
dort  zu  denjenigen  der  ursprünglichen  Offenbarung  und  des  ur- 
christlichen Lebens.  In  beiden  Fällen  will  man  diese  Originale  von 
den  Zutaten  befreien,  durch  welche  sie  in  der  mittelalterlichen 
Entwicklung  entstellt  worden  sind,  hier  von  der  arabischen  und 
christlichen  Scholastik,  dort  von  der  kirchlichen  Tradition.  Stimmt 
diese  Parallele  so  weit  in  den  Äußerlichkeiten,  so  führt  sie  vermutlich 
auch  noch  weiter.  Sowenig  wie  die  Erneuerung  der  antiken  Philo- 
sophie den  innern  Trieb  der  modernen  Wissenschaft  ausdrückt  und 
befriedigt,  ebensowenig  ist  das  innerste  Wesen  der  religiösen  Refor- 
mation durch  die  philologische  und  dogmatische  Rückkehr  zu 
den  Quellen  des  christlichen  Glaubens  erschöpft.  Diese  war  viel- 
mehr wiederum  nur  eine  unter  den  geschichtlichen  Formen,  in 
denen  sich  ein  tieferer  Trieb  betätigte. 

Wie  man  auch  über  die  religiösen  Gegensätze  jener  Zeit  denken 
möge,  so  viel  steht  fest,  und  die  katholische  Kirche  hat  es  durch 
das,  was  man  die  Gegenreformation  des  XVI.  Jahrhunderts  nennt, 
selbst  bestätigt,  daß  die  kirchliche  Entwicklung  des  Mittelalters 
zu  einer  immer  größeren  Veräußerlichung  des  religiösen  Lebens 
und  der  Formen  des  Kultus  geführt  hatte:  und  im  Gegensatze  dazu 


26  Individuelle  Religiosität. 

war  seit  der  Zeit  der  Kreuzzüge  ein  Gefühl  der  Unbefriedigung 
und  eine  unbestimmte  Sehnsucht  überall  und  besonders  in  den 
tieferen  religionsbedürftigen  Schichten  der  Gesellschaft  entsprungen. 
Sah  man  die  Kirche  nach  mancherlei  Richtungen  hin  äußerlich 
beschäftigt,  fühlte  man,  wie  sie  den  Schwerpunkt  ihrer  Wirksam- 
keit in  politische  Bestrebungen  und  in  die  Beherrschung  der  euro- 
päischen Machtverhältnisse  legte,  so  suchte  man  nach  unmittel- 
barer religiöser  Erleuchtung,  so  kam  man  mehr  und  mehr  auf  den 
Gedanken,  ob  nicht  das  Individuum  in  sich  selbst  den  Trost  und 
die  Seligkeit  der  Religion  finden  könne,  und  der  Wunsch  nach 
reiner,  unvermittelter,  selbständiger  Religiosität  brach  sich  kräftiger 
Bahn.  Genährt  wurde  dieser  Wunsch  durch  die  ununterbrochene 
Tradition  der  mystischen  Lehren,  die  aus  dem  Neuplatonismus 
früh  auch  in  das  Christentum  eingedrungen  und  neben  der  Schola- 
stik als  eine  bald  verdeckte,  bald  offener  hervortretende  Unter- 
strömung stetig  hergelaufen  waren.  Anfangs  leise,  scheu  und  schüch- 
tern den  Bestand  der  kirchlichen  Macht  unterwühlend,  trat  dieses 
Bestreben  immer  energischer  auch  nach  außen  hervor.  Es  nahm 
dabei  sehr  verschiedene,  zum  Teil  sehr  wunderliche  und  mit  dem 
kirchlichen  Leben  selbst  mehr  oder  minder  zusammenhängende 
Formen  an.  Es  zeigte  sich  nicht  nur  in  jenen  Sekten,  die,  von 
der  Kirche  verdammt  und  bis  zur  Vernichtung  bekämpft,  im  XIV. 
und  XV.  Jahrhundert  immer  häufiger  auftauchten;  es  zeigte  sich 
auch  in  so  extravaganten  Formen,  wie  etwa  in  den  Flagellanten- 
zügen, zeigte  sich  in  den  reformatorischen  Forderungen,  die  inner- 
halb der  hierarchischen  Mächte  selbst  geltend  gemacht  wurden. 
Überall  aber  beruhte  dieses  Bestreben,  ob  es  sich  kühn  oder  schüch- 
tern, einfach  oder  phantastisch  darstellte,  auf  diesem  innern  Wühlen 
des  religiösen  Bedürfnisses.  Man  wollte  zurückgehen  auf  die  un- 
mittelbare persönliche  Erregung,  und  es  war  die  gläubige  Bewegung 
des  innersten  Gemütes,  in  der  man  das  Heil  suchte. 

In  keinem  Lande  aber  nahm  diese  Bewegung  größere  Dimen- 
sionen an,  und  in  keinem  fand  sie  den  innigeren  Ausdruck  ihrer 
tiefen  Religiosität,  als  in  Deutschland,  und  lange  ehe  sie  in  den 
politischen  Kämpfen  der  Reformation  ihre  äußerliche  Macht  entlud, 
hatte  sie  im  stillen  die  Herzen  ergriffen.  Die  Gedanken  der  neuen 
Erkenntnis,  welche  man  auf  diesem  Wege  suchte,  sind  niedergelegt 
in  der  deutschen  Mystik.     Sie  ist  die  Mutter  der  Reformation, 


Die  deutsche  Mystik.  27 

sie  hat  die  Gedanken  entwickelt,  aus  denen  diese  ihre  Kräfte  sog, 
und  sie  hat  als  ein  inneres  geistiges  Leben  die  Zeit  überdauert, 
in  der  die  Reformation,  zu  einer  politischen  Einrichtung  geworden, 
den  Geist,  der  in  ihr  lebte,  mehr  und  mehr  erstickte.  Die  Ge- 
danken der  deutschen  Mystiker  sind  das  eine  jener  positiven  Ele- 
mente, aus  denen  dem  modernen  Denken  seine  Richtung  gegeben 
wurde;  sie  bilden  eine  Reihe  von  Grundzügen,  welche  als  lebens- 
kräftige Motive  die  spätere  Entwicklung  durchziehen,  und  sie  be- 
dürfen deshalb,  obwohl  ihr  Ursprung  historisch  dicht  neben  den 
Größen  der  mittelalterlichen  Wissenschaft  liegt,  an  dieser  Stelle 
einer  Besprechung:  denn  sie  eigentlich  enthalten  den  geistigen  Kern 
der  religiösen  Renaissance. 


§  5.  Die  deutsche  Mystik. 

Mit  ihrer  ganzen  Kraft  und  Innigkeit  treten  diese  Grundge- 
danken der  deutschen  Mystik  bei  ihrem  ersten  großen  Lehrer  her- 
vor, bei  Meister  Eckhart.  Bald  nach  1250  geboren,  früh  zum 
Dominikanerorden  übergetreten,  und  durch  die  Lehren  Alberts 
von  Bollstedt  ebenso  wie  durch  ihre  Ausführung  von  Thomas 
von  Aquino  beeinflußt,  hatte  er  nicht  ohne  Mitwirkung  seiner  Verbin- 
dung mit  den  »Brüdern  des  freien  Geistes«  seine  eigenen  Ansichten 
so  scharf  herausgebildet,  daß  ihn  selbst  die  hohen  Ämter,  die  er 
innerhalb  seines  Ordens  bekleidete,  nicht  vor  einem  zwei  Jahre 
vor  seinem  Tode  zu  Cöln  1327  abgehaltenen  Glaubensgerichte 
schützten.  Was  wir  aus  seinen  Aufsätzen  und  Predigten  von  dieser 
seiner  eigentümlichen  Gedankenwelt  erfahren,  mag  teilweise  auf 
neuplatonische  und  frühscholastische  Einwirkungen,  namentlich  auf 
die  Lehren  von  Scotus  Eriusrena  zurückweisen  und  in  seiner 
Darstellung  vielfach  von  der  gleichzeitigen  Scholastik  seines  Ordens 
abhängig  sein,  —  der  eigentliche  Grundzug  dieses  Mystizismus  ist 
trotzdem  derjenige  der  vollen  Selbständigkeit,  und  er  wurzelt  in 
der  Tiefe  des  deutschen  religionsbedürftigen  Gemütes.  Ist  es  doch 
seine  vornehmste  Absicht,  das  Seelenheil  des  christlichen  Volkes 
zu  fördern,  und  mit  Rücksicht  darauf  will  er  nicht  Diener  der 
Kirche,  sondern  allein  der  christlichen  Wahrheit  sein.  Diese  aber 
ist  nicht  in  den  Dogmen  der  Wissenschaft  zu  finden,  welche  im 
besten   Falle   ein  äußerlicher   und   svmbolischer  Ausdruck   davon 


28  Meister  Eckhart. 

sein  können :  sie  beruht  nur  auf  dem  Grunde  des  gläubigen  Gemütes, 

das  in  sich  selbst  die  tiefste  und  die  einzig  wahre  Gotteserkenntnis 

besitzt..    So  tritt  schon  hierin  die  überkirchliche,  aus  der  Kirche 

herausdrängende  Tendenz  der  Mystik  hervor,  und  sie  wendet  sich 

namentlich  gegen  die  scholastische  Fixierung  der  Glaubenstatsachen. 

Hinweg,  ruft  sie,  mit  dem  Formelkram  der  Gelehrsamkeit!  nicht 

um  das  Wissen  handelt  es  sich,  sondern  um  das  Glauben,  und  die 

reine  Wahrheit  ist  nur  in  deinem  Innern:  — 

Er  quiekung  hast  du  nicht  gewonnen, 
Wenn  sie  dir  nicht  aus  eigner  Seele  quillt. 

Du  kannst  nur  erkennen,  was  du  bist.  Wesen  und  Erkenntnis 
sind  eins;  das  Erkennen  ist  die  höchste  Tätigkeit,  ist  der  tiefste 
Lebensgrund  aller  Wirklichkeit,  es  ist  die  Wesenseinheit  des  Er- 
kennenden mit  dem  Erkannten.  Darum  kannst  du  Gott  nur  er- 
kennen, wenn  du  Gott  bist,  wenn  er  in  dir  lebt:  die  Erkenntnis 
Gottes  ist  die  Wesenseinheit  der  Seele  mit  Gott,  sie  bildet  deshalb 
den  innern  Kern  der  Seele  selbst,  sie  ist  »das  Fundament  alles 
Wesens,  der  Grund  der  Liebe,  die  Bestimmung  des  Willens«.  So 
erscheint  der  Mensch  in  seiner  Identität  mit  der  Gottheit  als  das 
Erkenntnisprinzip  des  Mystizismus.  Der  Mensch  als  Mikrotheos 
ist  die  Enthüllung  aller  Eätsel.  Die  Seele  ist  so  weit  Gott,  als  sie 
ihn  erkennt  —  sie  erkennt  ihn  so  weit,  als  sie  Gott  ist.  Aber  dies 
Erkennen,  worin  somit  das  metaphysische  WTesen  der  Seele  be- 
steht, kann  nicht  das  verstandesmäßige  Denken,  nicht  das  Wissen 
der  Gelehrten,  sondern  nur  Glauben,  nur  ein  »unaussprechliches 
Anschauen«  sein:  es  ist  das  Schauen  Gottes  in  uns,  er  schaut  in 
uns  sich  selbst  an.  Dieser  idealistische  Pantheismus,  der  die  äußere 
Welt  in  die  innere  und  die  innere  Welt  in  eine  selige  Gottesan- 
schauung auflöst,  ist  der  Grundcharakter  der  deutschen  Mystik. 
Den  Gegenstand  dieser  Kontemplation  nennt  Meister  Eckhart  im 
Unterschiede  von  dem  offenbaren  persönlichen  Gott  »die  Gottheit«, 
das  Wesen  aller  Dinge,  die  geistige  Ursubstanz,  unveränderlich, 
ewig,  prädikatlos  —  das  Nichts.  Aber  in  der  Gottheit,  lehrt  er, 
ist  eine  Scheidung  des  Wesens  von  der  Natur,  jener  Ursubstanz 
von  den  einzelnen  Bestimmtheiten,  in  denen  sie  sich  lebendig  ge- 
staltet. An  deren  Spitze  stehen  die  drei  Personen  der  Gottheit: 
die  innerste  schöpferische  Vernunft,  der  Vater,  welcher  in  ewiger 
Selbstanschauung,  im  Sohne,  sich  offenbart,  so  daß  diese  Selbst- 


Meister  Eckhart.  29 

anschauung  in  der  verbindenden  Liebe,  dem  Geiste,  ewig  zum  Vater 
zurückkehrt.  Das  sind  nicht  drei  getrennte  Wesen,  sondern  nur 
die  drei  Momente  eines  ewigen  und  ewig  in  sich  selbst  zurück- 
laufenden Prozesses  der  Selbstoffenbarung  und  Selbsterkenntnis  der 
Gottheit :  die  Kirchenlehre  von  der  Trinität  ist  nur  eine  symbolische 
Darstellung  dieser  mystischen  Wahrheit.  Aber  zugleich  verwandelt 
sich  die  Gottheit  ewig  in  die  einzelnen  Dinge,  nicht  durch  eine 
Schöpfung,  welche  als  ein  zeitlicher  Akt  die  Welt  in  einem  Augen- 
blicke entstehen  ließe,  sondern  vielmehr  in  einer  ewigen  Gestaltung 
ihres  eigenen  Wesens.  Alle  Dinge  sind  in  Gott  als  Ideen,  unräum- 
lich, unzeitlich,  sie  haben  keine  selbständige  und  ursprüngliche 
Realität.  Ohne  diese  ewige  Verwandlung  in  die  Kreaturen  wäre 
Gott  nicht,  was  er  ist :  die  Welt  ist  Gott,  Gott  ist  die  Welt.  Aber 
auch  die  Kreaturen  sind  nichts  als  Gott.  Wenn  sie  mehr  sein 
wollen,  wenn  sie  »hie«  und  »nu«  sein  wollen,  so  ist  das  ihr  Abfall 
vom  Wesen  aller  Dinge,  ihr  Sündenfall.  Der  uralte  Gedanke  orien- 
talischer Spekulation,  daß  Individualität  Sünde  sei,  tritt,  durch 
zahllose  feine  historische  Verzweigungen  fortgepflanzt,  hier  von 
neuem  hervor.  Dieser  Sündenfall  ist  auf  dem  Boden  dieser  pan- 
theistischen  Metaphysik  unmöglich  und  unbegreiflich;  aber  er  wird 
als  Tatsache  angenommen  aus  der  Überzeugung  des  religiösen,  er- 
lösungsbedürftigen Gemütes.  Das  Erlösungsbedürfnis  kann  deshalb 
auch  nur  befriedigt  werden,  wenn  die  Kreaturen  wieder  aufhören, 
sie  selbst  zu  sein,  und  damit  in  die  Gottheit  zurückkehren.  So 
ergibt  sich  der  ethisch-religiöse  Grundgedanke  einer  vollen  Aufgabe 
der  Persönlichkeit  und  einer  Kontemplation,  wie  sie  den  Heiligen 
am  Ganges  und  den  Mystagogen  des  Neuplatonismus  vorschwebt. 
Vernichte  deine  Individualität  —  »dein  Wesen  stampfe  nieder«  — , 
das  ist  die  Predigt  des  Mystizismus.  Die  Individualität  ist  Sünde, 
die  Heiligkeit  ist  Gott.  Wer  in  sich  beharrt,  kann  Gott  nicht  er- 
kennen ;  denn  Gott  erkennt  nur  er  selbst ;  du  mußt  ihn  in  dir  wirken 
lassen,  mußt  alles  eigene  Wissen,  Können  und  Wollen  von  dir 
werfen  und  reine  Empfänglichkeit  werden,  damit  Gott  seinen  Sohn 
in  dich  hineingebären  kann;  das  ist  das  Geheimnis  der  Maria.  An- 
schauung deshalb  ist  die  höchste,  die  einzige  Tugend.  Denn  die 
wahre  Tugend  und  Heiligkeit  ist  zwecklos,  sie  bedarf  nichts  außer 
ihr  selbst:  Gott  begehrt  nichts,  und  auch  der  Gerechte  kann  nichts 
begehren  als  Gott;  er  darf  deshalb  nicht  um  äußere  Güter,  nicht  um 


1 

1 


30  Mystischer  Idealismus. 

Kraft  zum  Handeln,  sondern  nur  »um  Gott«  beten;  aber  dieses 
Gebet,  diese  weihevolle  Betrachtung,  trägt  auch  seine  Erfüllung 
in  sich,  es  ist  die  wahre  Erkenntnis  und  das  höchste  Ziel  des 
Lebens.  Alle  äußeren  Werke  sind  nichts:  es  gibt  nur  ein  wahres 
»Werk«,  das  innere  Werk,  die  Hingabe  des  Selbst  an  die  Gottheit. 

So  schroff,  so  rücksichtslos,  so  unvermittelt  mit  dem  realen 
Leben  treten  hier  in  jugendlicher  Überkraft  eine  Anzahl  von  Grund- 
gedanken der  späteren  deutschen  Reformation  auf,  die  Verachtung 
des  theologischen  Wissens,  die  unmittelbare  Beziehung  des  gläubigen 
Gemütes  auf  die  Gottheit  und  die  »Rechtfertigung  durch  den 
Glauben  allein«.  Ein  merkwürdiger  innerer  Widerspruch  lebt  in 
diesem  Gedankensysteme:  sein  innerster  Trieb  ist  das  Bedürfnis 
individueller  und  selbständiger  Glaubensbetätigung,  und  der  prak- 
tische Kern  seiner  Lehre  verlangt  die  Vernichtung  des  persön- 
lichen Wesens,  Wissens  und  Wollens.  Entsprungen  aus  dem  In- 
dividualismus, richtet  die  Mystik  ihre  Predigt  gegen  ihren  eigenen 
Ursprung.  Allein  auch  Meister  Eckhart  selbst  mochte  empfinden, 
daß  sich  mit  diesem  Prinzip  der  reinen  Innerlichkeit  wohl  religiös 
fühlen  und  anschauen,  aber  nicht  sittlich  und  religiös  handeln 
ließ.  Er  lehrte  deshalb,  diese  wahrhaft  und  tiefst  religiösen 
Prozesse  gingen  nur  im  innersten  Kern,  im  Wesen  der  Seele 
vonstatten;  alle  andern  Tätigkeiten  und  Kräfte  dagegen  hätten  : 
ihren  Sitz  und  ihre  Bestimmung  in  den  äußeren  Organen,  mit 
denen  die  Seele  in  der  physischen  Welt  handeln  soll,  und  die  einzige 
Aufgabe  sei  deshalb,  daß  dies  religiöse  Wesen  der  Seele  durch  die 
äußeren  Handlungen  hindurchleuchte  als  der  »Funke«  der  gött- 
lichen Wirksamkeit.  Immerhin  bleiben  ihm  also  diese  Handlungen 
nur  ein  äußerliches  Symbol  der  Gesinnung:  und  gerade  wie  er  auf 
theoretischem  Gebiete  die  Kirchendogmen  für  eine  sinnliche  Dar- 
stellung der  religiösen  Wahrheit  hielt,  so  galt  ihm  eben  überhaupt 
alles  Räumliche,  Zeitliche  und  Individuelle  als  das  Symbol  des 
geistigen,  ewigen  und  göttlichen  Wesens. 

Dieses  Zurückgehen  aus  dem  Äußerlichen  in  das  Innerliche 
bildet  den  allgemeinen  Charakter  der  mystischen  Bewegung:  es 
ist  mit  allen  seinen  Extravaganzen  in  dem  Pendelschlage  der  mensch- 
lichen Geschichte  der  notwendige  Gegensatz  zu  der  Veräußerlichung 
des  mittelalterlichen  Kirchenlebens.  Ebendeshalb  fanden  diese 
Gedanken,  denen  Eckhart  vielleicht  mehr  eine  geistvolle  Zusammen- 


Mystische  Bewegung.  31 

fassung  als  den  ersten  Ursprung  gegeben  hat,  überall  Anklang :  seine 
Tat  war  es,  daß  er  den  Inhalt  der  Geheimlehren  in  das  Volksbewußt- 
sein brachte,  und  daß  er  mit  hoher  Sprachkraft  für  die  tiefen  Ge- 
danken glücklich  die  deutschen  Ausdrücke  schuf,  mit  denen  er 
vielfach  zum  Vater  der  philosophischen  Terminologie  unserer 
Literatur  geworden  ist.  In  dieser  volkstümlichen  Form  verbreitete 
sich  die  Mystik  in  Deutschland,  in  der  Schweiz,  in  den  Niederlanden. 
Es  war  eine  Bewegung,  welche,  wie  alle  großen  Vorgänge  der  reli- 
giösen Geschichte,  namentlich  in  den  unteren  Schichten  des  Volkes 
Platz  griff  und  sich  mit  dem  Ausdruck  des  sozialen  Unbehagens 
auf  das  innigste  verknüpfte.  Jener  Ekel  an  der  Verdorbenheit  der 
sozialen  Zustände,  welcher  stets  einen  der  wichtigsten  Hebel  des 
religiösen  Bedürfnisses  ausgemacht  hat,  sprach  sich  in  seiner  mysti- 
schen Tendenz  am  stärksten  in  der  1352  wahrscheinlich  von  Rull- 
mann  Meerswein  verfaßten  Ermahnungsschrift  »von  den  9  Felsen« 
(den  9  Stufen  der  Heiligkeit)  aus.  In  der  poetischen  Literatur 
unserer  Nation  hat  diese  Bewegung  ebenfalls  ihr  Denkmal  ge- 
funden. Der  Minnesänger  der  Gottesliebe,  der  Dominikaner 
Heinrich  Suso  (genannt  Amandus,  1300 — 1365)  verkündete  als 
Wanderprediger  in  gebundener  und  ungebundener  Rede  die  Weis- 
heit des  Meister  Eckhart  und  schuf  für  die  mystische  Hingabe  an 
die  Gottheit  einen  schönen  und  warmen  poetischen  Ausdruck.  Der 
volkstümliche  Charakter,  welcher  der  Mystik  gerade  im  Gegensatz 
gegen  die  vornehme  Gelehrsamkeit  der  Scholastik  beiwohnte, 
brachte  es  mit  sich,  daß  ihre  Wirksamkeit  hauptsächlich  in  der 
deutschen  Predigt  beruhte,  und  aus  diesen  Kreisen  gingen 
deshalb  die  ersten  Männer  hervor,  die  als  eindringliche  Prediger 
des  deutschen  Wortes  dem  Gedächnisse  unseres  Volkes  erhalten  ge- 
blieben sind  und  in  der  Ausbreitung  dieser  Gedanken  den  mäch- 
tigsten Einfluß  ausgeübt  haben,  unter  ihnen  der  bedeutendste,  ein 
Schüler  noch  des  Meister  Eckhart  selbst,  Johann  Tauler  (1290 
bis  1361)  in  Straßburg.  Er  verfolgte  anfangs  jene  rein  kontem- 
plative Mystik  des  Meisters,  aber  seit  seinem  Verkehr  mit  dem 
Bunde  der  Gottesfreunde  und  vielleicht  auch  mit  den  niederländi- 
schen Mystikern,  nahm  er  mehr  die  Richtung  der  praktischen 
Mystik  und  predigte  mit  ihr,  daß  es  sich  im  wahren  Christentum 
nur  um  die  Nachfolge  des  armen  und  demütigen  Lebens  Christi 
handle.    Er  bezeichnete  damit  eine  Wendung,  welche  sich  mit  der 


32  Praktische  Mystik. 

Zeit  in  der  gesamten  deutschen  Mystik  vollzog.     Jenes   theore-  Pl- 
üsche Interesse,  aus  dem  sie  hervorgegangen  war,  ging  mehr  und  p 
mehr  verloren;  man  kümmerte  sich  weniger  um  die  Gedanken  des 
Meister  Eckhart  wie  sie  noch  in  der  von  Luther  bekanntlich  sehr  i 
hoch  geschätzten  und  1516  zuerst  herausgegebenen   »deutschen 
Theologie«  in  oft  wörtlicher  Übereinstimmung  mit  den  Schriften  nel 
des  Meisters  niedergelegt  sind;  je  mehr  die  Mystik  eine  Volksbe- 
wegung wurde,  um  so  mehr  trat  die  Lehre  hinter  das  Leben  zurück, 
und  die  Mystik  wurde  praktisch. 

Am  meisten  kam  diese  Strömung  in  den  Niederlanden  zur 
Geltung.  Hier  kreuzte  sich  der  theologische  Einfluß  der  deutschen 
Mystiker  mit  den  praktisch-sittlichen  Prinzipien  der  französischen, 
der  sog.  Victoriner,  und  unter  dieser  gemeinsamen  Einwirkung 
wurde  Johannes  Rysbroek  (1293 — 1381)  der  Vater  der  prak- 
tischen Mystik.  Hatte  Meister  Eckhart  die  Seligkeit  als  die  Ein- 
heit der  Seele  mit  Gott  geschildert  und  gepriesen,  so  suchte  Rys- 
broek den  Weg,  auf  dem  sie  zu  erreichen  sei,  und  er  fand  ihn  darin, 
daß  der  Mensch  sich  selber  stirbt,  daß  er  theoretisch  sein  Wissen 
aufgibt  und  im  Glauben  die  Offenbarung  sucht,  vor  allem  aber, 
daß  er  praktisch  sein  Wollen  und  Begehren  fahren  läßt  und  gelassen 
und  demütig  das  Kreuz  trägt.  In  stiller  Hingabe  und  in  religiös- 
sittlicher Arbeit  winkt  die  Erlösung  von  den  Leiden  der  Welt.  So 
wurde  das  Christentum  unter  den  Händen  der  Mystiker  wieder, 
was  es  ursprünglich  gewesen  war,  eine  Religion  der  Erlösung  für  die 
Armen  und  für  die  Sündigen.  Im  Anschlüsse  an  Rysbroek  trat 
dann  namentlich  der  Übersetzer  seiner  brabantisch  abgefaßten 
Schriften  GeertdeGroot  (Gerhardus  Magnus  1340 — 1384)  hervor, 
welcher  anfangs  Lehrer  der  Philosophie  in  Cöln  gewesen,  später 
aber  durch  Rysbroek  für  die  mystische  Sache  gewonnen  worden 
war  und  in  Deventer  die  »Bruderschaft  zum  gemeinsamen 
Leben«  stiftete,  die  sehr  bald  unter  verschiedenen  anderen  Namen 
(Kollatienbrüder,  Fraterherren  usw.)  sich  weit  ausdehnte,  zahl- 
reiche Häuser  besaß  und  im  unmittelbaren  Verkehre  mit  dem 
Volke  die  praktische  Mystik  namentlich  auch  durch  die  Stiftung 
von  Armenschulen  in  segensreichster  Wirksamkeit  förderte.  In 
dem  ältesten  dieser  Bruderhäuser  selbst,  zu  Deventer,  wTar  der 
Mann  aufgewachsen,  der  durch  sein  Buch  »De  imitatione  Christi« 
(1494)  einen  ungewöhnlich  weiten  Einfluß  auf  die  religiöse  Über- 


Reformation  und  Philosophie.  33 

zeugung  gewonnen  hat,  Thomas  a  Kempis  (aus  Kempten  bei 
Cöln  1380—1471). 

So  griff  die  Mystik  mit  ihrem  reformatorischen  Bedürfnisse, 
mit  ihrem  Suchen  nach  einer  reinen  Gläubigkeit  und  mit  ihrer 
Verachtung  des  kirchlichen  Wissens  und  kirchlichen  Treibens,  immer 
mehr  im  Volke  um  sich  und  erzeugte  jene  religiöse  Gärung,  aus  der 
schließlich  die  Reformation  hervorgehen  sollte.  Es  ist  bekannt, 
wie  durch  den  persönlichen  Einfluß  von  Staupitz  auch  Luther 
mit  seinem  ganzen  genialen  Wesen  und  seiner  leidenschaftlichen 
Feuerkraft  von  dieser  Bewegung  ergriffen  wurde.  Er  war  es,  der, 
durch  die  Verhältnisse  immer  weiter  gedrängt,  diesem  mystischen 
Volksbewußtsein  einen  der  Kirche  gegenüber  revolutionären  Aus- 
druck gab.  Aber  nur  dadurch,  daß  dieses  Volksbewußtsein  schon 
lange  vorher  eine  Macht  gewesen  war,  konnte  der  »Mönchsstreit« 
zwischen  ihm  und  Tetzel  zu  einem  historischen  Ereignis  und  zur 
Veranlassung  einer  großartigen  Massenbewegung  werden.  Er  fand 
das  Wort  für  ein  lange  im  Volke  lebendiges  Bedürfnis.  So  ist  die 
deutsche  Reformation  eine  Tochter  der  Mystik;  diese  hatte  den 
Boden  der  Kirche  unterwühlt,  diese  hatte  die  Gedanken  in  der 
Stille  geschürt,  welche  nun  in  jener  als  mächtige  Flamme  empor- 
schlugen. 

Nur  bis  hierher  ist  dieser  Prozeß  in  der  Einleitung  zu  verfolgen. 
Wie  sich  unter  dem  Einflüsse  der  Reformation  selbst  die  Entwick- 
lung der  Philosophie  in  Deutschland  gestaltete,  gehört  bereits  in 
die  eigentliche  Darstellung  der  Geschichte  der  neueren  Philosophie. 
iHier  handelt  es  sich  nur  darum,  die  Auffassung  richtig  zu  stellen, 
aus  der,  sei  es  mit  welcher  Tendenz  immer,  behauptet  worden  ist, 
die  neuere  Philosophie,  das  moderne  Denken  sei  ein  Erzeugnis  des 
Protestantismus.     Wenn  man  z.  B.  sagt,  Männer  wie  Bruno  und 
I  Descartes,  obwohl  der  katholischen  Kirche  angehörig,  seien  im  Grund 
genommen  doch  von  protestantischem  Geiste  beseelt  gewesen,  so 
:  ist  dieser  Ausdruck  zum  mindesten  schief.    Nicht  der  Protestantis- 
i  mus  ist  die  Ursache  der  Denkfreiheit,  sondern  die  Denkfreiheit  ist 
die  Ursache  des  Protestantismus.  Er  ist  nur  eine  der  Folgen,  welche 
sich  aus  der  allgemeinen   Selbstbefreiung  des  modernen  Kultur- 
geistes ergeben  haben,  und  es  ist  unrichtig,  die  ganze  Bewegung  der 
Renaissance  auf  einen  Teil  ihrer  Folgen  als  Ursache  beziehen  oder 
:  nur  auch  danach  benennen  zu  wollen.    Aber  das  ist  freilich  auf  der 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  3 


34  Nationale  Staaten. 

anderen  Seite  auch  nicht  zu  übersehen,  daß  diesen  genetischen 
Beziehungen  entsprechend  die  freie  Entwicklung  der  modernen 
Philosophie  bei  dem  Protestantismus  auf  sehr  viel  geringere  Hem- 
mung gestoßen  ist,  als  bei  dem  römischen  Katholizismus. 

§  6.  Die  neue  Rechtsphilosophie. 

Der  Protestantismus  war  somit  nur  eine  Form  jenes  Freiheits 
dranges,  welcher  die  gesamte  Renaissance  beseelte.  Allüberall  zeigt 
sie  denselben  Trieb,  die  alten  abgelebten  Formen  abzustreifen  und 
frische,  kräftige  und  natürliche  Individualitäten  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Frische  hervortreten  zu  lassen.  Nicht  zum  mindesten  gilt 
dies  auch  von  den  politischen  Individualitäten,  den  Völkern  und 
Staaten.  Daß  auch  hier  dieser  Trieb  sich  wesentlich  gegen  die 
Kirche  richtete,  hatte  seinen  natürlichen  Grund  darin,  daß  diese 
selbst  eine  politische  Macht  war  und  noch  mehr  es  sein  wollte,  daß 
sie  vor  allem  diejenige  politische  Macht  war,  welche  für  sich  die 
Erbschaft  des  römischen  Weltreiches  in  Anspruch  nahm  und  den 
übrigen  politischen  Gewalten  gegenüber  als  höchste  Herrscher- 
instanz auftrat.  Sie  war  deshalb  die  große  Macht,  gegen  die  alle 
neuen  Elemente  sich  frei  ringen  mußten.  Für  sie  waren  die  feudalen 
Institutionen  des  mittelalterlichen  Staatslebens  der  mächtige  Hebel 
ihrer  politischen  Wirksamkeit,  und  sie  war  deshalb  auch  die  natür- 
liche Feindin  der  Nationalstaaten,  deren  Bildung  im  Zusammen- 
hange mit  der  Entwicklung  des  Individualismus  seit  dem  Beginne 
der  neueren  Zeit  angebahnt  wurde.  Die  Völker,  ihrer  Eigentüm- 
lichkeit und  ihrer  selbständigen  Kraft  bewußt  geworden,  beginnen 
daran  zu  arbeiten,  daß  ihre  Nationalität  auch  eine  politische  Be- 
deutung gewinne.  Theoretisch  drückt  sich  diese  Bewegung  in  dem 
Emporblühen  einer  neuen  Rechtsphilosophie  aus,  die  dem  Staate 
sein  eigenes  Recht  vindizieren  und  den  wissenschaftlichen  Zu- 
sammenhang der  Rechtsinstitutionen  aus  anderen  Quellen  ableiten 
will  als  aus  den  Machtsprüchen  der  Hierarchie. 

Die  erste  und  kühnste  Tat  ging  auch  hier  von  Italien  aus.  War 
man  doch  hier  den  politischen  Wirkungen  der  Kirche  am  unmittel- 
barsten nahe,  und  war  doch  anderseits  Italien  gerade  das  Land, 
in  welchem  das  Selbstbewußtsein  der  einzelnen  und  zugleich  doch 
der  Drang  nationalen  Zusammenschlusses  am  frühesten  und  kräftig- 


h 


Macchiavelli.  35 

sten  sich  entwickelte;  und  in  Italien  wieder  war  es  die  politisch  . 
reifste,  bewegteste  Stadt,  Florenz,  in  der  Nicolo  Macchiavelli 
(1469 — 1527)  den  staatsrechtlichen  Kampf  gegen  die  Kirche  focht. 
Seine  große  Bedeutung  ist  die,  daß  er  der  erste  prinzipielle  Vertreter 
einer  Idee  ist,  welche  man  füglich  als  den  Zentralgedanken  und  den 
Angelpunkt  der  modernen  Geschichte  ansehen  kann,  der  Idee  des 
Nationalstaates.  Sein  Ideal  ist  die  politische  Größe  und  als  ihre 
Grundlage  die  nationale  Einheit  Italiens.  Er  ist  sich  der  Unfrucht- 
barkeit und  Schädlichkeit  der  Eifersüchteleien  und  der  leidenschaft- 
lichen Kämpfe  zwischen  den  einzelnen  Städten  vollkommen  bewußt, 
und  er  sieht  ein,  daß  es  im  Grunde  genommen  nur  eine  Macht  ist, 
welche  diese  innere  Zerfleischung  für  sich  benutzt,  um  entscheidend 
darüber  zu  thronen,  daß  das  »Divide  et  impera«  das  Geheimnis  der 
Politik  des  römischen  Stuhles  ist. 

Das  größte  Hemmnis  für  die  Entwicklung  seines  Vaterlandes 
sieht  dieser  klar  und  tief  blickende  Geist  in  der  weltlichen  Herr- 
schaft des  Papsttums,  und  er  richtet  seine  leidenschaftliche  Polemik 
vor  allem  gegen  den  politischen  Charakter  des  römischen  Pontif  ikates. 
Aber  von  diesem  unmittelbar  gegebenen  Gegensatze  aus  erhebt  er 
sich  zu  allgemeineren  Betrachtungen,  worin  er  die  Klarheit  histori- 
scher und  theoretischer  Einsichten  gewinnt.  Das  ganze  System 
der  politischen  Ordnung  des  Mittelalters  beruht  auf  der  Unter- 
ordnung des  Staates  unter  die  Kirche ;  das  ist  der  Punkt,  an  welchem 
die  neue  Zeit  einzusetzen  hat,  dies  Verhältnis  muß  aufgehoben 
weiden,  wenn  der  Staat  wieder  werden  soll,  was  er  zu  werden  be- 
stimmt ist,  und  was  er  im  Altertume  war.  Auch  vor  Macchiavellis 
Augen  schwebt  das  antike  Leben  als  ein  Ideal;  aber  wenn  er  aus 
ihm  die  Bewunderung  für  den  Stolz  der  republikanischen  Tugend 
einsaugt,  so  faßt  er  doch  daneben  viel  schärfer  den  Gedanken  des 
nationalen  Staates  ins  Auge.  Der  Staat  ist  sich  selbst  genug,  wenn 
er  in  einer  Nation  wurzelt  —  das  ist  der  Grundgedanke  Macchia- 
vellis. Und  wie  mit  dem  Staate,  so  ist  es  mit  dem  Staatsrecht: 
auch  dies  soll  von  der  Herrschaft  der  Kirche  befreit  werden;  die 
rechtlichen  Verhältnisse  dürfen  nicht  mehr  als  ein  Ausfluß  dogma- 
tischer Prinzipien  angesehen,  das  Recht  des  Staates  nicht  mehr 
aus  kirchlichen  Bestimmungen  abgeleitet,  sondern  sie  müssen  viel- 
mehr aus  dem  Wesen  des  Staates  selber  begründet  werden.  Macchia- 
velli hat  diese  Aufgabe  gestellt,  aber  er  hat  sie  nicht  gelöst;  seine 

3* 


36  Thomas  Morus. 

Gedanken  lagen  teils  in  seiner  meisterhaften  Geschichte  von  Florenz, 
»Istorie  Fiorentine«  (Florenz  1538),  teils  in  seinen  »Discorsi«  über 
den  Livius  zerstreut,  und  er  ist  viel  zu  sehr  von  der  Tendenz  der 
unmittelbaren  politischen  Wirksamkeit  erfüllt,  um  die  theoretische 
Aufgabe  systematisch  in  die  Hand  zu  nehmen.  Mit  der  ganzen  Glut 
politischer  Leidenschaft  vertritt  er  den  Gedanken  des  italienischen 
Nationalstaates  bis  zur  äußersten  Konsequenz.  Zu  dessen  Her- 
stellung ist  ihm  kein  Mittel  zu  schlecht.  Aus  diesem  Gesichts- 
punkte muß  man  die  Kunstlehre  der  Eroberung  und  der  Beherr- 
schung begreifen,  welche  er  in  seinem  »Principe«  gegeben  hat: 
für  diesen  Zweck  ist  es,  daß  der  fanatische  Eepublikaner  ein  System 
des  schroffsten  Absolutismus  entwirft.  Es  zeugt  nur  von  der 
Feinheit  des  politischen  Verständnisses  bei  Macchiavelli,  daß  er 
die  Herbeiführung  der  nationalen  Einheit  nicht  von  den  republi- 
kanischen Institutionen  erwartete,  für  die  er  sonst  so  warm  be- 
geistert war,  sondern  nur  von  der  eisernen  Gewalt  eines  absoluten 
Herrschers.  So  löst  sich  der  scheinbare  Widerspruch  in  den  Schriften 
des  Mannes,  vor  allem  zwischen  den  »Discorsi «  und  dem  »Principe  «. 
Dies  historische  Verhältnis  übersah  Friedrich  der  Große,  als  er  aus 
dem  sittlichen  Geiste  des  XVIII.  Jahrhunderts  heraus  dem  abso- 
lutistischen Gedanken  sein  großes  Ideal  des  erstefn  Staatsdieners  ent- 
gegenhielt; und  es  ist  merkwürdig  genug,  wie  durch  diese  Wendung 
der  Name  eines  glühenden  Republikaners  in  der  modernen  Litera- 
tur zum  Typus  rücksichtsloser  Willkürherrschaft  geworden  ist. 

Trat  die  Ablösung  des  Rechts  von  der  Kirchenlehre  bei 
Macchiavelli  nur  als  die  Konsequenz  einer  praktisch-politischen 
Aufgabe  hervor,  so  erscheint  sie  fast  um  die  gleiche  Zeit  auch  schon 
im  Zusammenhange  mit  anderen  Motiven,  einem  sozialen  und 
einem  spezifisch  religiösen  selbst.  Beides  vereinigt  findet  sich 
zuerst  bei  dem  Engländer  Thomas  J^orus  (1480 — 1535),  dessen 
Schrift:  »De  optimo  rei  publicae  statu  deque  nova  insula  Utopia« 
(London  1516)  als  das  oft  nachgeahmte  Vorbild  der  späteren  sog. 
Staatsromane  einen  denkwürdigen  Nachklang  des  platonischen 
Idealstaates  bildet  und  damit  den  Zusammenhang  der  Geistes- 
bewegung der  Renaissance  mit  der  antiken  Literatur  wieder  von 
einer  anderen  Seite  erkennen  läßt.  Seine  ergreifende  Schilderung 
des  Elends  und  des  Verbrechens  führt  ihn  auf  die  Meinung,  daß 
deren  letzter  Grund  in  der  Ungleichheit  des  Besitzes  und  der  Bil- 


Toleranzbewegung.  37 

düng  zu  suchen  sei,  und  so  entwirft  er  mit  Verwendung  platonischer 
Gedanken,  die  freilich  an  sich  eine  andere  Absicht  verfolgten,  sein 
Ideal  des  vernünftigen  Staates,  dessen  Institutionen  auf  der  Gleich- 
heit der  sehr  mäßig  bemessenen  Arbeit  und  ihres  Ertrages  für  alle 
Bürger  beruhen.  Dieser  soziale  Staat  baut  sich  auf  rein  irdischen 
Interessen  und  Überlegungen  auf,  er  ist  von  keiner  kirchlichen  Gewalt 
abhängig  und  duldet  keinen  Eingriff  einer  solchen.  Er  überläßt 
jedem  Bürger  die  Freiheit  seiner  religiösen  Überzeugung  und  führt 
nur  einen  ganz  allgemein  gehaltenen  Kultus  des  höchsten  Wesens, 
etwa  im  Sinne  des  späteren  englischen  Deismus,  ein.  Vor  allem 
aber  verlangt  Thomas  Monis  die  religiöse  und  konfessionelle  In- 
differenz des  Staates:  er  soll  die  rechtliche  Stellung  seiner  Bürger 
von  ihrer  religiösen  Meinung  völlig  unabhängig  halten.  So  ist  dies 
Buch  zum  Führer  der  Toleranzbewegung  geworden.  Je  mehr 
nun  später  in  dem  Kampfe  der  Konfessionen  die  verderbliche 
Wirkung  einer  religiösen  Parteinahme  seitens  der  Staatsgewalt  zu- 
tage trat,  um  so  entschiedener  und  zugleich  mit  um  so  besserer 
Berücksichtigung  der  realen  Verhältnisse  entfaltet  sich  die  Toleranz- 
bewegung in  der  Eechtsphilosophie. 

Für  Frankreich  fanden  diese  Ideen  ihren  Mittelpunkt  in  Jean 
Bodin  (1530 — 1597).  Seine  »Six  libres  de  la  republique«  (Paris  1575) 
lehnen  ebenso  energisch  die  kirchlich-dogmatische  Begründung  der 
Rechtslehre  ab.  Wie  er  in  seinen  interessanten  Dialogen  »Hepta- 
plomeres«  die  Vertreter  der  verschiedensten  positiven  Religionen 
schließlich  sich  über  eine  gemeinsame  Gottesverehrung  einigen  läßt, 
so  plädiert  er  auch  in  seiner  Staatslehre  für  die  Gleichstellung  aller 
Konfessionen,  für  die  religiöse  Indifferenz  der  politischen  Kräfte, 
mit  anderen  Worten,  für  den  konfessionslosen  Charakter  des  Staates. 
Aber  er  sucht  zu  gleicher  Zeit  nach  den  Mitteln  zu  einer  neuen  und 
positiven  Begründung  der  Rechtslehre;  von  Utopien  will  er  nichts 
wissen,  er  weist  darauf  hin,  wie  es  eine  Hauptaufgabe  sei,  mit  allen 
Mitteln  der  empirischen  Kenntnis  und  der  philosophischen  Betrach- 
tung zu  festen  und  sicheren  Begriffsbestimmungen  zunächst  über 
die  Grundverhältnisse  des  Rechtslebens  zu  gelangen.  Was  ihn 
dabei  auszeichnet,  ist  der  Sinn  für  den  historischen  Ursprung  des 
Rechts,  eine  Frucht,  welche  der  neu  erwachte  Sinn  für  die  Ge- 
schichte und  das  frische  Aufsprossen  der  Geschichtschreibung  ab- 
warf.   Bodinus  selbst  beschäftigte  sich  vielfach  nicht  nur  mit  histo- 


33  Hugo  Grotius. 


Tischen  Studien,  sondern  auch  mit  deren  wissenschaftlicher  Grund- 
legung, er  schrieb  eine  »Methodus  ad  facilem  historiarum  cogni- 
tionem«  (Paris  1566),  und  gab  so  wenigstens  die  Kichtung  an,  die 
[Rechtswissenschaft  auf  Geschichts-  und  Völkerkunde  syste- 
matisch zu  gründen. 

Wie  sehr  die  Zeit,  nachdem  man  einmal  die  Ablehnung  einer 
theologischen  Rechtslehre  angenommen  hatte,  nach  neuen  Grund- 
lagen für  die  Jurisprudenz  suchte,  geht  daraus  hervor,  wie  der 
Versuch  gemacht  wurde,  die  neue  Naturwissenschaft  für  diesen 
Zweck  auszunutzen.  Das  tat  Albericus  Gentilis  (1551 — 1611), 
ein  geborener  Italiener,  der  als  Professor  in  Oxford  starb,  ein  leb- 
hafter Verfechter  der  Toleranz  und  ein  geistvoller  Bearbeiter  des 
Kriegsrechts.  Er  will  aber  das  Recht  nicht  auf  die  wandelbaren 
Erzeugnisse  der  Geschichte,  sondern  auf  die  Natur  und  ihre  ewig 
sich  gleichbleibenden  Gesetze,  vor  allem  auf  die  menschliche  Natur 
und  ihre  gesetzmäßigen  Tätigkeitsformen  gründen.  Das  gelingt 
ihm  freilich  nur  äußerst  unvollkommen  und  durch  wunderliche 
Analogien,  die  einer  späteren  Zeit  lächerlich  erscheinen;  aber  man 
darf  darüber  nicht  vergessen,  wie  wertvoll  es  war,  daß  hier  wieder 
die  Anerkennung  einer  unveränderlichen,  im  Wesen  der  Dinge  selbst 
begründeten  Geltung  des  Rechts  unabhängig  von  religiösen  Vor- 
aussetzungen angebahnt  wurde. 

Den  besten  Beweis  dafür  liefert  der  große  Rechtslehrer,  in 
welchem  alle  diese  Gedanken  sich  durchdrangen  und  zu  gleicher 
Zeit  in  ihrem  Werte  sich  gegeneinander  abgrenzten,  und  welcher 
Gentilis  als  seinen  Vorgänger  nicht  nur  in  einigen  Speziallehren, 
wie  z.  B.  derjenigen  des  freien  Verkehrs  zur  See,  sondern  auch  in 
der  Stellung  des  rechtsphilosophischen  Problems  überhaupt  an- 
erkannte. Hugo  de  Groot  (Hugo  Grotius  1583 — 1645),  ein  Mann, 
der  nicht  nur  Theoretiker  und  deshalb  zum  Doktrinarismus  geneigt 
war,  wie  die  soeben  besprochenen,  sondern  die  Schärfe  seines  poli- 
tischen Blickes  teils  durch  die  Verwaltung  hoher  Ämter  in  seinem 
niederländischen  Vaterlande,  teils  in  der  Stellung  eines  schwedischen 
Gesandten  in  Paris  praktisch  betätigte.  Sein  großes  Werk:  »De 
iure  belli  et  pacis«  (1625)  gab  zuerst  eine  reinliche  Abgrenzung  der 
rechts  wissenschaftlichen  Fragen  und  Aufgaben.  Er  machte,  wieder 
den  Begriffsbestimmungen  der  großen  römischen  Rechtslehrer  und 
namentlich  denjenigen  der  stoischen  Philosophie  folgend,  den  Unter- 


Naturrecht.  39 

schied  zwischen  dem  sogenannten  positiven  Rechte,  dem  ius  civile, 
welches,   auf  geschichtlichen   Satzungen   beruhend   und  aus   poli- 
tischen Bewegungen  hervorgegangen,  historisch  festgestellt  und  be- 
griffen sein  will,  und  dem  ius  naturale,  welches,  im  Wesen  der 
menschlichen  Natur  begründet,  Gegenstand  einer  philosophischen 
Entwicklung  sein  muß.     Er  stellte  sich   so  gewissermaßen   über 
Bodinus  und  Gentilis,   jenem  das  historische,  diesem  das  natür- 
liche Recht  zuweisend,  und  indem  er  den  Namen  des  Naturrechts 
mit  demjenigen  der  philosophischen  Rechtswissenschaft  identifizierte, 
gab  er  zugleich  die  Richtung  an,  in  der  diese  Rechtsphilosophie  sich 
jahrhundertelang  bewegen  sollte,  die  Richtung,  vermöge  deren  man 
den  Ursprung  des  Rechts  in  dem  natürlichen  Wesen  der  menschlichen 
Gesellschaft  suchte.    Das  Recht,  das  philosophisch  begriffen  werden 
kann,  beruht  also  in  der  menschlichen  Natur,  es  ist  überall  gleich, 
wie  diese  selbst,  es  ist  für  jeden  dasselbe,  und  es  kann  durch  die 
Schwankungen  des  historischen  Lebens  zwar  unterdrückt,  aber  nicht 
aufgehoben  werden.    Es  ist  unveränderlich,  es  kann  selbst  von  Gott 
nicht  geändert  werden,  und  es  würde,  auch  wenn  es  keinen  Gott 
gäbe,  seine  Geltung  haben,  sofern  es  in  diesem  Falle  Menschen  gäbe. 
Derjenige  Punkt  nun  im  menschlichen  Wesen,  aus  dem  das  Recht 
sich  entwickelt,  ist  für  Grotius,  wie  es  im  Mittelalter  auch  durch  die 
maßgebende  Lehre  des  Thomas  von  Aquino  behandelt  worden  war, 
das  Geselligkeitsbedürfnis,  das  einen  integrierenden  Bestandteil  der 
menschlichen  Natur  ausmacht,  und  aus  diesem  Bedürfnisse  leitet 
er  jene  Theorie  des  Staatsvertrages  her,  welche  als  Erneuerung  der 
epikureischen  Theorie  von  den  oppositionellen  Parteien  des  XIV. 
Jahrhunderts  vorgetragen  worden  war  und  nun,  nachdem  Grotius 
sich  dazu  bekannt  hatte,  jahrhundertelang  die  wichtigste  Rolle  in 
der  Rechtsphilosophie  spielen  sollte.     Sie  beruht  bei  ihm  in  der 
Annahme,  daß  zum  natürlichen  Rechte  alles  gehört,  was  zum  Be- 
stehen der  geselligen  Gemeinschaft  der  Menschen  eine  unumgäng- 
liche Bedingung  ist,  und  daß  der  Staat  aus  einer  freien  Vereinigung 
seiner  Bürger  hervorgegangen  ist,  welche  zum  Schutze  der  geselligen 
Gemeinschaft  und  zur  Wahrung  der  Interessen  jedes  einzelnen  sich 
über  die  Ordnung  geeinigt  haben,    worin  ihr  gemeinsames  Leben 
geregelt  werden  soll.    So  aufgefaßt,  gilt  der  Staat  als  ein  Erzeugnis 
der  vernünftigen  Überlegung  und  Selbstbeherrschung  des  Menschen 
und  die  philosophische  Rechtswissenschaft,  das  Naturrecht,  nicht 


40  Grotius. 

als  eine  empirische  Kenntnis,  sondern  als  eine  Doktrin  der  reinen 
Vernunft.  Im  einzelnen  ist  es  interessant,  wie  Grotius,  vielleicht 
nicht  ohne  Mitwirkung  der  trüben  Erfahrungen,  die  er  in  den  General- 
staaten gemacht  hatte,  ausführt,  daß  die  Bürger  gut  tun,  die  Obrig- 
keit, der  sie  in  dem  Staatsvertrage  die  Ausführung  seiner  Bestim- 
mungen anvertrauen,  mit  möglichst  großer  Machtvollkommenheit 
auszustatten.  Von  der  Straf gewalt  jedoch,  welche  sie  auszuüben 
hat,  verlangt  er,  daß  sie  nicht  im  Geiste  der  Vergeltung,  sondern  in 
dem  praktischen  Sinne  der  Präventivmaßregel,  der  Abschreckung 
und  der  Besserung  vollzogen  werde.  Ähnlich  endlich  wie  aus  den 
Individuen  der  Staat,  so  entsteht  nach  der  Auffassung  von  Grotius 
durch  einen  Vertrag  der  Staaten  die  Völkergemeinschaft,  und  auf 
diesem  Gebiete  machte  er,  besonders  in  seinen  Untersuchungen  über 
die  Berechtigung  und  die  Kechtsfolgen  der  Kriege,  zum  ersten  Male 
den  Versuch  einer  wissenschaftlichen  Begründung  des  Yölkerrechts. 
So  baut  sich  unter  den  Händen  dieses  einflußreichen  Mannes 
aus  dem  Geselligkeitsbedürfnisse  des  natürlichen  Menschen  in  voll- 
kommener Selbständigkeit  das  System  der  politischen  Rechtsord- 
nung auf,  und  um  diesen  Grundstock,  den  die  Natur  in  unveränder- 
licher Gesetzmäßigkeit  feststellt,  bewegen  sich  die  Bestimmungen 
des  geschichtlichen  Rechts  mit  stetiger  Anlehnung.  Diesem  ganzen 
Gebäude  aber  des  »ius  humanuni«,  des  von  der  Natur  und  der  Ge- 
schichte gemeinsam  erzeugten  Menschenrechts,  stellt  Hugo  Grotius 
das  »ius  divinum«  gegenüber,  das  seinen  Ursprung  unmittelbar 
im  göttlichen  Willen  hat  und  auf  Grund  der  Offenbarung  von 
der  Kirche  festzustellen  ist.  Beide  jedoch  haben  nichts  miteinander 
gemein,  und  es  ist  unrichtig,  von  dem  Gesichtspunkte  des  einen 
die  Entwicklung  des  anderen  beeinflussen  zu  wollen.  Hier  haben 
wir  in  der  Rechtsphilosophie  die ,  zweifache  Wahrheit.  Bei  allem 
Rationalismus,  mit  dem  er  das  Naturrecht  begründete,  war  Grotius, 
wie  aus  anderen  seiner  Schriften  hervorgeht,  ein  frommer  und 
offenbarungsgläubiger  Mann;  aber  er  hielt  beide  Gebiete  streng 
auseinander,  und  er  litt  nicht,  daß  kirchliche  Fragen  in  den  Zu- 
sammenhang der  staatsrechtlichen  Untersuchungen  eingriffen.  Sein 
Naturrecht  ist  religiös  ebenso  indifferent,  wie  die  Lehren  von  Bodin 
und  von  Gentilis;  wie  diese  predigt  er  die  vollkommenste  Toleranz 
und  verlangt  die  Konfessionslosigkeit  des  Staates.  Aber  gegen  den 
Versuch    einer    theologischen    Begründung    der    Rechtsphilosophie 


Naturwissenschaft.  41 

kämpft  er  nicht  mehr  mit  der  Leidenschaftlichkeit,  wie  es  ein 
Macchiavelli  getan  hatte  und  hatte  tun  müssen.  Er  lehnt  sie  ruhig 
und  einfach  ab.  Es  war  eben  die  Heftigkeit  dieses  Kampfes  in  den 
freien  Zuständen  der  Niederlande,  aus  denen  seine  Bildung  hervor- 
ging, nicht  mehr  nötig.  Die  Befreiung,  nach  welcher  Macchiavelli 
in  ungestümer  Kraftfülle  rang,  ist  hier  vollbracht;  die  Jurisprudenz 
hat  aufgehört  eine  famula  ecclesiae  zu  sein;  sie  geht  ihren  eigenen 
Weg,  den  Weg  der  menschlichen  Vernunft,  und  sucht  ihre  Heimat, 
unbekümmert  um  kirchliche  Satzungen  und  konfessionelle  Streitig- 
keiten, in  der  Natur  des  Menschen  und  der  Gesellschaft. 

Dieses  Zurückgehen  auf  die  Natur  im  Gegensatz  zu  dem  historisch 
Gewordenen  ist  überaus  charakteristisch.  Es  ist  gewissermaßen 
das  Stichwort  aller  Eeformationen  und  Revolutionen.  Jedesmal, 
wenn  historische  Formen  sich  abgelebt  haben,  wenn  aus  Recht 
Unrecht,  aus  Wohltat  Plage,  aus  Bändern  Bande  und  Ketten  ge- 
worden sind,  so  scheint  es,  als  ob  der  menschliche  Geist  in  die  ewig 
gleiche  Natur  zurücktauche,  um  den  Staub  der  Jahrhunderte  von 
sich  abzubaden  —  als  ob  der  Antaeus  sich  frische  Kräfte  suche 
am  ewig  heimatlichen  Boden  —  und  »der  alte  Urständ  der  Natur 
kehrt  wieder«.  Dies  ist  vor  allem  auch  der  Grundzug  der  Renais- 
sance, und  der  Gedanke,  das  »Naturrecht«  abzuleiten  aus  der 
menschlichen  Natur  und  ihren  gesetzlichen  Wirkungen,  ist  wiederum 
nur  ein  Glied  in  dem  großen  Bestreben  der  Zeit,  die  Erkenntnis 
nicht  mehr  aus  dem  Staube  der  geschichtlich  aufgespeicherten 
Formeln  zu  holen,  sondern  sie  unmittelbar  dem  Wesen  der  Dinge 
selbst,  der  Natur  abzulauschen;  es  ist  eine  Wirkung  jenes  Gefühls: 

»Statt  der  lebendigen  Natur, 
Da  Gott  den  Menschen  schuf  hinein, 
Umgibt  in  Rauch  und  Moder  nur 
Dich  Tiergeripp  und  Totenbein!« 


§  7.    Die  Anfänge  der  Naturwissenschaft. 

Die  Natur  ist  die  geheime,  verbotene  und  desto  leidenschaft- 
lichere Liebe  der  Renaissance.  Ihre  Kunst  wie  ihre  Wissenschaft 
ist  Rückkehr  zur  Natur.  Die  Vertiefung  in  das  klassische  Altertum 
ist  nur  der  Weg,  den  zu  diesem  Ziele  ein  glücklicher  Instinkt  ein- 
schlägt: Kunst  und  Wissenschaft  lassen  das  Mittel  fallen,  wenn 


42  Theosophie. 

sie  den  Zweck  erreicht  haben,  und  wie  schon  Lionardo  die  Beob- 
achtung der  Natur  selbst  im  Gegensatze  zur  Nachahmung  der  Antike 
als  die  beste  Schule  der  Kunst  bezeichnete,  wie  die  Schöpfungen 
Michelangelos  als  selbständige  Kunst  neben  die  Antike  treten,  so 
stellt  sich  auch,  geweckt  durch  die  humanistischen  Studien  und 
später  ihnen  entfremdet,  die  moderne  Naturwissenschaft  selbständig 
neben  die  Lehre  des  Aristoteles.  Gewiß  gingen  von  der  Erneuerung 
der  klassischen  Studien  befruchtende  Wirkungen  auch  für  die 
Naturerkenntnis  aus;  wie  der  ganze  wirklichkeitsfrohe  Sinn  der 
Griechen,  so  war  ja  auch  ihre  Wissenschaft  mit  offenem  Auge  der 
Natur  zugewendet  gewesen:  aber  für  die  Sympathie,  welche  gerade 
dieser  ihrer  Richtung  die  Renaissance  entgegenbrachte,  lagen  doch 
noch  tiefere  Gründe  vor.  Dem  Mittelalter  und  seiner  scholastischen 
Wissenschaft  war  die  Natur  ein  verschlossenes  Buch,  das  die  Kirche 
mit  ihren  Siegeln  belegt  hatte.  Die  Natur  war  das  Unheilige,  das 
Böse :  sie  wurde  gehaßt,  bekämpft,  verachtet,  unterdrückt,  verflucht 
—  nur  nicht  gekannt,  nicht  erforscht,  nicht  gewußt.  Und  im  natür- 
lichen Rückschlage  bemächtigte  sich  des  freiwerdenden  und  seiner 
Eigenkraft  bewußten  Geistes  eine  Sehnsucht  nach  der  Natur,  nach 
einer  natürlichen  Gestaltung  des  Lebens,  nach  einer  Beherrschung 
und  Erkenntnis  der  Naturkräfte. 

Aber  die  Natur  war  ein  Geheimnis.  Sie  schien  daher  zunächst 
auch  nur  einem  geheimnisvollen,  wunderbaren  Wissen  sich  offen- 
baren zu  wollen.  Man  fühlte,  daß  mit  dem  scholastischen  Be- 
griffe der  Wissenschaft,  mit  ihren  Determinationen  und  Demon- 
strationen die  lebendige  Natur  nicht  einzufangen  war,  und  ehe  man 
deshalb  eine  neue  Methode  hatte,  glaubte  man  der  Natur  durch 
eine  eigentümliche  Offenbarung,  durch  eine  mystische  Geheim- 
lehre beizukommen.  Auf  diese  Weise  nahm  das  Bestreben  nach 
der  Naturerkenntnis  zunächst  eine  phantastische  Wendung. 

Es  kam  noch  ein  anderes  hinzu.  Alle  gewaltige  Sehnsucht  des 
Menschen  pflegt  religiöse  Formen  anzunehmen,  zu  religiösen  Ge- 
fühlen sich  zu  verdichten,  und  je  unbefriedigter  man  den  absterben- 
den Formen  des  Kirchenlebens  gegenüberstand,  um  so  ungezügelter 
warf  sich  nun  diese  religiöse  Sehnsucht  in  die  Naturbetrachtung. 
So  ist  die  moderne  Naturwissenschaft  aus  theosophischen  Speku- 
lationen hervorgegangen;  ihre  erste  Stufe  war  diejenige  des  theo- 
sophischen Naturalismus. 


Neuplatonische  Geheimlehren.  43 

Es  ist  klar  und  eine  natürliche  Folge  dieser  Vors tellungs Ver- 
knüpfungen, daß  die  Weltanschauung,  zu  der  man  sich  in  diesem 
Zusammenhange  bekannte,  einen  mehr  oder  minder  pantheistischen 
Charakter  an  sich  trug.  Die  Natur  als  die  Offenbarung  der  Gott- 
heit anzusehen,  in  ihr  selbst  das  Wogen  und  Wallen  der  göttlichen 
Urkraft  zu  erkennen,  das  war  der  Grundzug  aller  dieser  Spekula- 
tionen, so  wunderlich  sie  sich  sonst  in  die  einzelnen  Vorstellungen 
hinein  auszweigen  mochten.  Wir  sehen  in  diesem  theosophischen 
Naturalismus,  der  in  Italien  seinen  Ursprung  hatte,  das  Gegenstück 
zur  deutschen  Mystik.  Die  Gottesoffenbarung,  welche  diese  von 
innen,  aus  der  Tiefe  des  gläubigen  Gemütes  schöpfte,  suchte  der 
Naturalismus  in  den  Tiefen  des  Naturgeheimnisses;  und  neben  den 
idealistischen  Pantheismus  der  Mystiker  tritt  hier  ein  natura- 
listischer Pantheismus,  welcher  die  Gottheit  nur  unter  dem 
Gesichtspunkte  der  schöpferischen  Naturkraft  zu  betrachten  ge- 
neigt ist. 

Er  lehnte  sich  natürlich  auch  an  ältere  Eichtungen  an  und  keimte 
so  aus  den  humanistischen  Studien  unmerklich  mit  hervor.  Haupt- 
sächlich boten  sich  ihm  in  dieser  Beziehung  der  Neuplatonismus 
und  die  von  diesem  abhängigen  ketzerischen  Spekulationen  und 
Geheimlehren  des  Mittelalters  dar,  unter  jenen  besonders  der  Aver- 
roismus, unter  diesen  die  Kabbala.  Schon  in  Ficinus  hatten  die 
neuplatonisierenden  Tendenzen  sich  auch  mit  mystischen  Neigungen 
verbunden,  und  so  bildete  sich  um  diesen  Kern  ein  immer  mehr 
anwachsendes  Gemenge  phantastischer  Naturphilosophie;  besonders 
tritt  dies  hervor  bei  Johannes  Pico  von  Mirandola  und  Con- 
cor dia  (1463 — 1494).  Er  suchte  alle  die  verschiedenen  Kichtungen 
zu  einer  Gesamtlehre  zu  verschmelzen,  in  der  alle  Eätsel  gelöst 
werden  sollten,  und  lud.  um  diese  zu  befestigen,  auf  seine  Kosten 
alle  europäischen  Gelehrten  zu  einer  Massendisputation,  einer  Art 
von  wissenschaftlichem  ökumenischen  Konzil  in  Eom  ein,  wofür 
er  900  Thesen  aufgestellt  hatte,  schließlich  aber  die  Erlaubnis  des 
Papstes  nicht  erhielt.  Seine  Ansichten  haben  einen  großen  Einfluß 
auf  den  schweizerischen  Eeformator  Zwingli  gehabt.  Sein  Neffe, 
Johann  Franz  Pico  von  Mirandola  (f  1533),  und  der  Venezianer 
Franciscus  Georgius  Zorzi  (1460 — 1540)  wandelten  dieselben 
Bahnen.  Bedeutender  noch  war  in  dieser  Eichtung  der  Einfluß 
des  berühmten  deutschen  Humanisten  Johann  Eeuchlin  (1455 


44  Zahlenspekulation  und  Empirismus. 

bis  1522),  der,  von  Ficinus  und  dem  älteren  Pico  angeregt,  zum 
eifrigen  Vertreter  dieses  kabbalistischen  Neuplatonismus  in  Deutsch- 
land wurde.  Es  ist  bekannt,  daß  er  für  die  christliche  Welt  das 
wissenschaftliche  Studium  der  hebräischen  Literatur  begründete 
und  ihre  Denkmäler  vor  dem  Fanatismus  der  Kölner  Dominikaner 
rettete,  —  nicht  minder  bekannt,  wie  er  in  seinem  furchtlosen 
Kampfe  gegen  diese  Dunkelmänner  von  dem  Heißsporn  des  Humanis- 
mus, von  Ulrich  von  Hütten  (1488 — 1523),  mit  Ernst  und  Scherz 
unterstützt  wurde.  Bei  seinen  naturphilosophischen  Bestrebungen 
aber  erscheint  als  das  wichtigste  Moment  die  Aufnahme  der  pytha- 
goreischen Zahlensymbolik.  Auch  dieser  Anschluß  an  die 
alte  Überlieferung  war  bestimmt,  der  Wissenschaft  die  Bahn  zu 
neuen  Erfolgen  zu  öffnen.  Mit  dunkler  Ahnung  hatten  Pythagoreer, 
Neupythagoreer  und  Neuplatoniker  eine  mathematische  Ordnung 
aller  Dinge  durch  deren  symbolische  Beziehung  auf  das  Zahlen- 
system darzustellen  versucht:  jetzt  wurde  dieser  Gedanke  von  dem 
naturalistischen  Pantheismus  ergriffen,  um  die  Vorstellung  von  der 
Offenbarung  des  göttlichen  Geistes  in  der  harmonischen  Ordnung 
des  Weltalls  zu  veranschaulichen.  Dies  ist  die  erste,  noch  ganz  in 
Phantastik  gehüllte  Form  der  mathematischen  Natur theorie 
gewesen. 

Neben  diesen  phantastischen  Formen  des  neuerwachten  In- 
teresses für  die  Naturerkenntnis  wuchs  jedoch  allmählich  noch 
ein  anderer  wertvoller  Keim  der  modernen  Wissenschaft  heran. 
Mit  Anlehnung  an  den  Vorgang  der  arabischen  Ärzte  und  Natur- 
forscher zieht  sich  durch  die  letzten  Zeiten  der  Scholastik  der  schüch- 
terne Versuch  einer  empirischen  Naturerkenntnis  hindurch. 
Männer  wie  Roger  Bacon,  der  im  XIII.,  wie  Nicolaus  de  Autricuria, 
der  im  XIV.  Jahrhundert  diese  Richtung  durch  Verfolgung  und 
Widerruf  büßen  mußte,  konnten  mit  ihren  Versuchen  einer  voraus- 
setzungslosen Naturerforschung  nur  noch  wenig  Anklang  finden. 
Aber  schon  das  XV.  Jahrhundert  zeigt  sich  ähnlichen  Anregungen 
günstiger  und  gestattet  ihnen  größere  Freiheit.  Wie  schon  er- 
wähnt, liegt  es  im  Zuge  des  Nominalismus,  die  empiristischen  Ele- 
mente der  aristotelischen  Erkenntnistheorie  hervorzukehren,  und 
im  XVI.  Jahrhundert  zeigt  diese  weitverbreitete  Schule  in  Marius 
Nizolius  (1498 — 1576)  einen  sehr  energischen  Anhänger  der 
empiristischen  Methode.    Zu  gleicher  Zeit  wies  ein  spanischer  Anti- 


Ausbildung  der  Mathematik.  45 

Scholastiker,  Ludovico  Vives  (1494 — 1540),  der  wie  Nizolius  sich 
der  rhetorisierenden  Eichtung  von  Laurentius  Valla  anschloß,  im 
Gegensatz  zum  »Aristotelismus «  auf  die  erfahrungsmäßige  Unter- 
suchung der  Natur  als  die  eigentliche  und  einzig  wertvolle  Basis 
alles  Wissens  hin,  und  er  selbst  wendete  diese  Methode  in  vielfach 
sehr  glücklicher  und  erfolgreicher  Weise  auf  dem  psychologischen 
Gebiete  an.  So  strömen  von  allen  Seiten  die  Bäche  zusammen, 
aus  denen  sich  die  stolze  Flut  der  modernen  Naturwisenschaft 
sammeln  sollte.  Man  gewöhnte  sich  daran,  die  Natur  mit  unbe- 
fangenem Auge  zu  beobachten,  und  machte  die  ersten  Anstalten,  an 
sie  jene  wohlüberlegten  Fragen  zu  richten,  die  man  Experimente 
nennt.  Überall  beginnt  man  beobachtend  und  experimentierend 
an  die  Natur  heranzutreten  und  so  wieder  mit  ihr  vertrauter  zu 
werden.  Wie  die  Kunst,  so  fängt  auch  die  Wissenschaft  an,  die 
Natur  zu  lieben  und  mit  Begeisterung  zu  umfassen.  Mannigfach 
waren  dabei  die  Verzweigungen,  welche  sich  in  dieser  Hinsicht 
zwischen  Kunst  und  Naturwissenschaft  einflochten.  Fühlte  die 
Kunst  wieder  ein  Recht,  die  volle  Schönheit  der  menschlichen  Ge- 
stalt zu  genießen  und  darzustellen,  so  kam  ihr  die  Anatomie  ent- 
gegen, welche  die  mittelalterliche  Scheu  vor  dem  Leichnam  überwand 
und  in  ruhiger  Forschung  den  menschlichen  Leib  zu  verstehen  be- 
gann. Bildete  sich  die  Malerei  zu  immer  vollendeterer  Darstellung 
der  Wirklichkeit,  die  Architektur  zur  Beherrschung  gewaltiger 
Steinmassen  aus,  so  wurden  ihnen  Optik  und  Mechanik  notwendige 
Hilfswissenschaften.  Es  ist  überaus  bezeichnend,  daß  eine  der 
gewaltigsten  Größen  der  italienischen  Kunst,  Lionardo  da  Vinci, 
zugleich  einer  der  ersten  und  bedeutendsten  Begründer  der  ratio- 
nellen Naturwissenschaft,  speziell  der  Mechanik  und  der  Optik  ist. 
Von  größter  Bedeutung  ist  dabei,  wie  gerade  die  Forschungen 
Lionardos  beweisen,  daß  man  sich  der  mathematischen  Grund- 
lagen der  Naturforschung  deutlich  und  rein  verstandesgemäß 
bewußt  zu  werden  beginnt.  Das  ist  der  Boden,  in  welchem  die 
Überlegenheit  der  modernen  Naturforschung  der  antiken  gegenüber 
wurzelt.  Mit  dem  Beginn  der  neueren  Zeit  fängt  auch  jene  glänzende 
Reihe  mathematischer  Forschungen  an,  ohne  welche  die  Riesen- 
schritte der  Naturerkenntnis  unmöglich  gewesen  wären:  den 
gesteigerten  und  veränderten  Bedürfnissen  paßte  sich  die  Mathematik 
durch  eine  große  Anzahl  neuer  methodischer  Vervollkommnungen 


46  Nicolaus  Cusanus. 

an,  durch  die  Einführung  und  Ausbildung  der  Buchstabenrechnung, 
der  Rechnungszeichen,  der  Logarithmen,  der  Reihentheorie,  weiter- 
hin der  auf  dem  Koordinatensystem  sich  aufbauenden  analytischen 
Geometrie,  schließlich  der  Infinitesimal-  und  der  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung. Unter  den  Begründern  der  neueren  Mathematik  be- 
gegnen wir  oft  genug  denselben  Namen,  die  auch  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  eine  bedeutende  Rolle  spielen.  Dieses  Einströmen 
der  mathematischen  und  der  naturwissenschaftlichen  Probleme  und 
Entdeckungen  ist  ein  charakteristischer  Zug  in  der  Entwicklung  der 
neueren  Philosophie.  Ja  man  darf  sagen,  es  ist  derjenige,  welcher 
ihr  das  wesentliche  Gepräge  aufdrückt. 

In  der  Übergangszeit  selbst  sehen  wir  nun  alle  diese  neuen 
Bestrebungen  sich  in  der  mannigfachsten  Weise  unter  die  alten 
Denkformen  mischen  und  aus  ihnen  sich  herausarbeiten.  Mehr 
oder  minder  bewußt  werden  Kompromisse  gesucht  und  gefunden, 
die  oft  einen  tief  widerspruchsvollen  Eindruck  machen.  Als  der 
typische  Vertreter  dieser  Kompromisse  muß  schon  einer  der  ersten 
und  bedeutendsten  gelten:  Nicolaus  Cusanus.  In  ihm  liegen 
alle  diese  Momente  noch  keimartig  friedlich  beieinander.  Geboren 
1401  zu  Cues  an  der  Mosel,  anfangs  in  Deventer,  später  in  Padua 
gebildet,  als  Kardinal  und  Bischof  von  Brixen  1464  gestorben, 
zeigt  er  eine  eigentümliche  und  originelle  Mischung  aller  Zeitströ- 
mungen. Die  ganze  Gedankenwelt  der  Scholastik  und  der  Mystik, 
die  Anfänge  naturwissenschaftlicher  und  mathematischer  Erkennt- 
nis kreuzen  sich  in  einem  feinen,  vielseitigen  Kopfe,  und  alle  diese 
Elemente  verschmelzen  miteinander  in  dem  Eklektizismus  eines 
hohen  Kirchenfürsten.  Auf  diese  Weise  ist  er  ein  Janushaupt, 
das  ebenso  in  die  Vergangenheit  wie  in  die  Zukunft  blickt,  und  in 
welchem  begreiflicherweise  die  einen  den  letzten  Scholastiker,  die 
anderen  den  Begründer  der  neueren  Philosophie  gesehen  haben  — 
beides  mit  gleichem  Rechte  und  mit  gleichem  Unrechte.  Er  ist 
vielmehr  der  charakteristische  Philosoph  der  Frührenaissance  und 
der  echte  Typus  des  Übergangszeitalters  vom  mittelalterlichen  zum 
modernen  Denken.  Auf  der  einen  Seite  erscheint  er  in  der  Tat 
noch  als  ein  durchaus  mittelalterlicher  Scholastiker.  Er  nimmt  die 
neueren  Richtungen  nur  insoweit  auf,  als  sie  in  das  kirchliche 
System  hineinpassen,  dessen  Dogmen  ihm  als  unerschütterlich  fest 
und  durch  philosophische  Konstruktion  beweisbar  gelten.     Er  ist 


Erkenntnislehre.  47 

davon  sogar  in  einer  Ausdehnung  überzeugt,  welche  an  die  kühn- 
sten Ansprüche  der  Scholastik  heranreicht  und  weit  über  den 
Thomismus  hinausgeht:  er  will  nach  Art  der  orthodoxen  Mystiker 
auch  die  letzten  Mysterien,  wie  z.  B.  das  der  Dreieinigkeit,  spekulativ 
entwickeln.  Aber  während  er  Scholastiker  sein  will,  kann  er  es 
nicht  bleiben,  weil  die  Elemente  des  neuen  Zeitgeistes  bereits  allzu 
mächtig  in  ihm  geworden  sind.  So  steht  er  denn  schon  innerhalb 
der  Scholastik  auf  Seite  der  auflösenden  Partei,  er  vertritt  die 
sensualistische  und  empiristische  Tendenz  des  Nominalismus,  freilich 
nicht  ohne  auch  der  entgegengesetzten  Auffassung  einige  psycho- 
logische und  erkenntnistheoretische  Konzessionen  zu  machen.  Neben 
der  sinnlichen  Erfahrung  nimmt  er  mit  Anlehnung  an  die  platoni- 
sierenden  Eealisten  des  Mittelalters  eine  Selbsttätigkeit  des  unter- 
scheidenden Verstandes  an,  durch  welche  erst  die  von  der  Wahr- 
nehmung gegebenen  Materialien  zu  wirklichen  Erkenntnissen  ver- 
arbeitet werden.  Zugleich  aber  ist  er  auch  den  skeptischen  und 
mystischen  Einflüssen  der  Zeit  durchaus  zugänglich;  denn  selbst 
jene  Vereinigung  von  sensus  und  ratio  erscheint  ihm  für  die  höchste 
und  wertvollste  Erkenntnis,  für  diejenige  der  Gottheit,  unzuläng- 
lich. Alles  Wissen,  das  Erfahrung  und  Verstand  geben  können, 
bleibt  doch  schließlich  auf  die  Welt  beschränkt,  und  daraus  folgt, 
daß  das  religiöse  Bedürfnis  darüber  hinaus  eine  höhere  Erkenntnis- 
tätigkeit erfordert.  Diese  entwirft  Nicolaus  durch  eine  geistvolle 
und  höchst  charakteristische  Lehre,  in  der  seine  Gedanken  aus  den 
Schranken  des  Nominalismus  hervorzubrechen  und  mit  den  besten 
Trieben  der  mystischen  Bewegung  Fühlung  zu  gewinnen  suchen. 
Die  Erfahrung  der  Sinne  gibt  nur  einzelne  Dinge,  und  gerade  die 
dem  Verstände  wesentliche  Grundtätigkeit  der  Unterscheidung 
läuft  schließlich  überall  darauf  hinaus,  den  Gegensatz  dieser  einzelnen 
Dinge  scharf  und  klar  begrifflich  zu  fixieren.  Allein  dabei  kann 
das  Bedürfnis  des  menschlichen  Erkennens  nicht  stehen  bleiben; 
was  im  Endlichen  als  Einzelbestimmbares  und  Unterscheidbares  für 
die  Verstandsansicht  auseinander  tritt,  das  fällt,  wie  sich  schon  an 
mathematischen  Verhältnissen  zeigen  läßt,  im  Unendlichen  zu- 
sammen; und  ebenso  verlöschen  sich  alle  Gegensätze  der  endlichen 
Dinge  in  der  unendlichen  All-Einheit  der  Welt;  diese  also  ist  wesent- 
lich die  Aufhebung  jener  Gegensätze,  ihr  innerstes  Wesen  ist  die 
coincidentia  oppositorum;  sie  zu  begreifen  geht  über  die  Kraft 


48  Individualismus  und  Universalismus. 

der  sinnlichen  Wahrnehmung  und  des  verstandesmäßigen  Denkens, 
sie  ist  nur  zu  erfassen  durch  eine  unmittelbare  geistige  Anschauung, 
durch  jene  höhere  Erkenntnistätigkeit,  die  nicht  gelernt  und  gelehrt 
werden  kann,  sondern  das  innerste  Geheimnis  der  schauenden 
Seele  ausmacht,  eine  visio  sine  comprehensione,  eine  comprehensio 
incomprehensibilis,  eine  über  alles  gelehrte  Wissen  sich  fromm  und 
selig  erhebende  Versenkung  in  die  geheimnisvolle  Tiefe  des  göttlichen 
Urwesens.  Dieses  mystische  Anschauen  nennt  der  Cusaner  (wie  im 
Titel  seines  Hauptwerkes)  die  Docta  ignorantia:  wie  in  der  »nega-  j 
tiven  Theologie«  der  Vorzeit,  bei  Dionysius  Areopagita,  bei  Scotus  : 
Eriugena  und  allen  ihren  Nachfolgern,  so  gilt  auch  hier  als  Objekt 
dieser  allem  Wissen  und  Denken  überhobenen  höchsten  Erkenntnis 
der  Deus  implicitus,  während  sich  die  gewöhnliche  Wissenschaft 
mit  dem  Deus  explicitus,  d.  h.  mit  der  Welt  beschäftigt.  Aber  im 
Grunde  genommen  sind  doch  beide  wieder  dasselbe;  die  Welt  ist 
eben  nur  die  vollkommene  Offenbarung  und  Auseinanderlegung 
jenes  unendlichen  Lebensgehaltes,  den  die  geheime  Tiefe  des  Gott- 
wesens in  sich  trägt.  Die  Welt  ist  in  endlicher  Form  dasselbe, 
was  Gott  in  unendlicher:  darum  enthält  sie  selbst  eine  in  Raum 
und  Zeit  unbegrenzte,  endlose  Fülle  des  Endlichen;  darum  ist  auch 
sie  die  Einheit  aller  Gegensätze,  ein  vollkommener  Bau,  ein  Kos- 
mos, in  dessen  harmonischer  Ordnung  jedes  Ding  durch  die  Ge- 
meinschaft mit  allen  anderen  besteht  und  so  in  seiner  Weise  das 
Universum  spiegelt,  ein  Kosmos,  in  dessen  lebendigem  Zusammen- 
hange jedes  Glied  die  sittliche  und  religiöse  Aufgabe  hat,  diese  Ge- 
meinschaft des  beseelten,  organischen  Ganzen  durch  die  Betätigung 
seiner  Liebe  zu  fördern. 

Zwei  philosophische  Interessen  sind  es,  welche  sich  in  dieser 
Lehre  von  der  coincidentia  oppositorum  begegnen:  der  Indivi- 
dualismus auf  der  einen  Seite,  der,  durch  die  Nominalisten  vor- 
bereitet, hier  schon  zu  atomistischen  Folgerungen  führt,  wie  sie, 
von  der  naturwissenschaftlichen  Theorie  unterstützt,  später,  in  der 
Aufklärungsphilosophie,  auch  die  Lebensansicht  bestimmt  haben, 
—  der  Universalismus  auf  der  anderen  Seite,  welcher,  gleich- 
falls von  der  Naturwissenschaft  gesucht,  philosophisch  seine  ab- 
schließende Entwicklung  in  Spinoza  gefunden  hat.  Diese  beiden 
Tendenzen  bilden  selbst  einen  Gegensatz,  welcher  bei  Nikolaus  nicht 
versöhnt,  sondern  sozusagen  in  embyronaler  Ungeschiedenheit  ver- 


Cardanus.  49 

wischt  ist;  ihre  Versöhnung  war  erst  einem  Geiste  von  der  um- 
fassenden Genialität  eines  Leibniz  beschieden. 

Neben  diesen  Spekulationen  nun  aber  war  Nikolaus  von  Cues 
auf  das  eifrigste  mit  mathematischen,  naturwissenschaftlichen  und 
astronomischen  Studien  beschäftigt.  Erstere  brachte  schon  er  mit 
der  pythagoreischen  Zahlensymbolik  in  Verbindung,  letztere  da- 
gegen betrieb  er  mit  großer  Nüchternheit  und  durchdringendem 
Scharfsinn.  Seine  Schrift:  »De  reparatione  calendarii«  schlug  eine 
der  späteren  gregorianischen  durchaus  analoge  Form  der  Verbesse- 
rung des  Kalenders  vor,  wonach  die  durch  das  Schaltjahr  hervor- 
gerufene Differenz  des  bürgerlichen  und  des  astronomischen  Jahres 
durch  ein  Edikt  aufgehoben  und  dann  immer  das  304.  Jahr  nicht 
als  Schaltjahr  gerechnet  werden  sollte.  In  derselben  Schrift  findet 
sich  auch  eine  andeutende  Hypothese  über  die  Kugelgestalt  und 
die  Achsendrehung  der  Erde,  aber  nicht  so  bestimmt  und  vor  allem 
nicht  so  auf  Tatsachen  gegründet,  daß  man  ihn  als  den  Begründer 
dieser  Lehre  ansehen  dürfte.  Darin  zeigt  sich  nur,  wie  der  koperni- 
kanische  Gedanke  während  dieses  Zeitalters  sozusagen  in  der  Luft 
lag,  und  wie  die  astronomische  Theorie  mit  dem  Beginne  der  Neu- 
zeit da  wieder  anzuknüpfen  suchte,  wo  die  griechische  Wissenschaft 
auf  ihrer  Höhe  stehen  geblieben  war.  Interessant  ist  es,  zu  be- 
merken, wie  die  gefährliche  Macht  dieses  Gedankens  sich  bereits 
bei  dem  Cusaner  bewährte.  Denn  er  folgerte  daraus  mit  weit- 
schauendem Verständnis  die  räumliche  und  zeitliche  Unbegrenzt- 
heit  der  Welt.  So  rüttelten  schon  die  Ahnungen  eines  neuen  Wissens 
an  dem  Gebäude  der  Kirchenlehre,  während  der  Kardinal  sich  noch 
ganz  behaglich  darin  aufzuhalten  meinte. 

Seine  Lehren  fanden  einen  begeisterten  und  sie  weithin  ver- 
breitenden Anhänger  in  dem  französischen  Humanisten  Charles 
Bouille  (Bovillus  1476 — 1555),  einem  Schüler  des  obenerwähnten 
Lefevre,  und  einen  wunderlichen  Verarbeiter  in  einer  der  origi- 
nellsten Persönlichkeiten  jener  Zeit,  Hieronymus  Cardanus,  der, 
1501  zu  Mailand  geboren,  nach  einem  abenteuerlichen  Wanderleben 
auf  italienischen  Akademien  1576  zu  Kom  starb.  Dieser  Sonder- 
ling ist  wiederum  ein  ausgeprägter  Typus  für  das  geistige  Leben 
jener  Zeit,  eine  merkwürdige  Mischung  von  großem  Scharfsinn  und 
kindisch  phantastischem  Aberglauben.  Zugleich  tritt  bei  ihm  am 
ausgesprochensten  ein  höchst  charakteristisches  Verhältnis  der  nun 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  4 


50  Gesetzmäßigkeit  aller  Dinge. 

schon  vollkommen  selbständig  gewordenen  Wissenschaft  zur  Re- 
ligion hervor.     Nicht  nur  dem  kirchlichen  Kultus,  sondern  dem 
religiösen  Leben  überhaupt  innerlich  entfremdet,  salviert  er  sich 
gegen  die  Kirchenlehre  durch  die  vollkommene  Anerkennung  ihrer 
Unantastbarkeit.    Nur  für  sich  selbst  und  für  die  Männer  der  Wissen- 
schaft, denen  die  Wahrheit  über  alles  gehen  müsse,  will  er  volle 
Freiheit  gewahrt  wissen.    Was  seine  theoretische  Lehre  anbetrifft, 
so  hängt  sie  ebenfalls  in  den  Angeln  pythagoreischer  Zahlensym- 
bolik,  indem  er  den  gesamten  Naturzusammenhang  auf  mathe- 
matische Verhältnisse  zurückzuführen  sucht.    Doch  zeigt  sich  auch 
hier,  wie  anregend  und  fördernd  die  Zahlensymbolik  der  Pytha- 
goreer  in  der  Renaissance  auf  die  Entwicklung  der  neueren  Mathe- 
matik gewirkt  hat;  denn  Cardanus  hat  sich  auch  mit  glücklichem 
Scharfsinn  ernsten  mathematischen  Untersuchungen  unterzogen  und 
darin  durch  die  Aufstellung  der  nach  ihm  benannten  Formel  zur 
Auflösung  von  Gleichungen  dritten  Grades  als  Meister  erwiesen. 
In  seiner  Naturphilosophie  ist  am  charakteristischsten  die  durch- 
geführte Absicht,  alle  Verhältnisse  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
Naturmechanismus  zu  begreifen  und  durch  natürliche  Kausalität  zu 
erklären.    Die  Darstellung  davon  bewegt  sich  freilich  zum  größten 
Teile  in  den  aristotelischen  Formeln  von  Aktivität  und  Passivität; 
aber  bedeutsam  ist  die  Konsequenz,  mit  der  er  dieses  Prinzip  an- 
zuwenden sucht.    Er  will  alles  auf  letzte  natürliche  Gründe  zurück- 
führen, und  da  er  von  der  Realität  der  Geistererscheinungen  über- 
zeugt ist,  so  müht  er  sich  um  die  Erkenntnis  der  Naturgesetze, 
denen  sie  unterworfen  sein  sollen.    Vor  allem  aber  sind  es  die  astro- 
logischen Beziehungen,  worin  er  den  organischen  Zusammenhang 
des  Weltalls  und  die  allgemeine  Gesetzmäßigkeit  aller  Erscheinungen 
erblickt;  macht  er  doch  den  Versuch,   durch  horoskopische  Be- 
rechnungen die  Notwendigkeit  von  Christi  Geburt,  Leben,  Taten 
und  Leiden  astrologisch  darzutun  und  auf  diese  Weise  aus  dem 
Determinismus  des  natürlichen  Geschehens  zu  begreifen.    Es  zeigt 
sich  darin,  was  man  oft  in  Übergangszeiten  findet,  wie  ein  großes, 
richtiges  Prinzip  sich  mit  den  beschränkten  Vorurteilen  einer  un- 
reifen Zeit  zu  phantastischen  Gebilden  verbindet:  man  hat  den 
allgemeinen  Begriff  oder  wenigstens  eine  dunkle  Ahnung  des  kau- 
salen Zusammenhanges  der  Natur;  aber  es  fehlen  noch  die  Kennt- 
nisse und  die  Methoden,  um  ihn  richtig  anzuwenden,  und  so  ver- 


Magie.  51 

fällt  man  in  die  größten  Willkürlichkeiten  und  Absurditäten.  Sehr 
verdienstlich  ist  es  dagegen  auf  der  andern  Seite,  wenigstens  im 
Prinzip,  wie  Cardanus  diesen  Begriff  auf  ethische  Verhältnisse  zu 
beziehen  sucht.  Er  verlangt,  daß  man  sie  aus  der  Natur  des  Menschen 
studiere,  anstatt  willkürlich  dieser  Natur  von  irgendwelchen  Satzun- 
gen her  Regeln  vorzuschreiben,  und  er  betrachtet  von  demselben 
Gesichtspunkte  aus  auch  die  großen  Verhältnisse  der  Politik.  Er 
verdammt  die  utopischen  Entwürfe  des  besten  Staates  als  halt- 
und  grundlose  Ideale,  und  er  empfiehlt  statt  dessen  der  Rechts- 
wissenschaft das  historische  Studium  der  Notwendigkeit,  womit  sich 
die  Staatsformen  aus  den  Eigentümlichkeiten  der  Völker  und  ihrer 
Geschichte  entwickelt  haben;  er  führt  diesen  Gedanken  nicht  ohne 
Scharfsinn  an  dem  Beispiele  der  Verfassungen  von  Rom  und  Venedig 
durch  und  gefällt  sich  darin,  den  medizinischen  Unterschied  gesunder 
und  kranker  Zustände  auf  die  Wechselfälle  der  Staatsgeschichte 
anzuwenden. 

Solche  zum  Teil  recht  unreife,  zum  Teil  aber  schon  tief  bedeut- 
same und  zukunftreiche  Regungen  des  Naturstudiums  verbanden 
sich  schließlich  mit  einem  anderen  Interesse.  Dem  Mittelalter  hatte 
die  Natur  als  ein  Unheimliches,  Unfaßbares,  Dämonisches  gegen- 
über gestanden.  Je  weniger  man  sie  kannte  und  verstand,  um  so 
ratloser  fühlte  man  sich  ihr  gegenüber.  Und  doch  ahnte  man  die 
Fähigkeit  des  Menschengeistes,  sie  zu  durchdringen,  sich  mit  ihr 
zu  verbinden  und  ihre  dämonischen  Mächte  zu  lenken.  Aber  diese 
Fähigkeit  galt  selbst  als  etwas  Unheimliches  und  Übernatürliches, 
als  etwas  Dämonisches  und  Teuflisches.  Jetzt,  wo  ein  sehnsüchtiger 
Drang  den  Menschen  zur  Natur  zurückführte  und  ihn  ihr  ver- 
trauter gegenüberstellte,  empfand  man  das  Bedürfnis,  in  ihre 
rätselhafte  Wirksamkeit  einzudringen,  ihr  die  Geheimnisse  abzu- 
lauschen und  sie  dadurch  zu  beherrschen.  In  dem  astrologischen 
Aberglauben  meinte  man  einem  dieser  Geheimnisse,  dem  allge- 
meinen gesetzlichen  Zusammenhange  der  Natur,  auf  die  Spur  ge- 
kommen und  dadurch  zu  einer  Vorhersagung  zukünftiger  Wir- 
kungen befähigt  zu  sein:  ganz  ähnlich  bahnte  sich  nun  das  Streben 
nach  einer  Beherrschung  der  Naturkräfte  neue  phantastische  Wege 
in  der  Magie.  Man  sehnte  sich  aus  den  engen  Verhältnissen  des 
Menschenlebens  heraus  in  eine  große  Wirksamkeit,  die  gebundene 
Kraft  brach  hervor,  und  man  wollte  handeln  mitten  in  den  großen 

4* 


52  Alchymie  und  Medizin. 

Gewalten  des  Weltlebens.  Durch  Mitwirkung  der  Geister,  die  man 
durch,  den  Willen  und  durch  Zauberformeln  zu  zwingen  meinte, 
sollten  die  Elemente  sich  den  Befehlen  des  Menschen  fügen.  »Drum 
hab'  ich  mich  der  Magie  ergeben«  —  das  ist  auch  ein  Schlagwort 
der  Renaissance.  Die  Phantasie  versenkt  sich  in  die  wogende 
Sphärenharmonie  des  Makrokosmos,  sie  schwelgt  in  dem  Genüsse 
jenes  Schauspiels  — 

»Wie  alles  sich  zum  Ganzen  webt, 

Eins  in  dem  andern  wirkt  und  lebt, 

Wie  Himmelskräfte  auf-  und  niedersteigen 

Und  sich  die  goldnen  Eimer  reichen, 

Mit  segenduftenden  Schwingen 

Vom  Himmel  durch  die  Erde  dringen, 

Harmonisch  all  das  All  durchklingen.« 

und  die  titanische  Kraft  fühlt  mit  dem  Erdgeiste 

»Mut,  sich  in  die  Welt  zu  wagen, 
Der  Erde  Weh,  der  Erde  Glück  zu  tragen.« 

und  mitzuschaffen  »am  sausenden  Webstuhl  der  Zeit«.  Das  ist 
der  faustische  Drang  nach  Naturerkenntnis,  Naturgenuß  und  Natur- 
beherrschung. 

Solcher  Magie  strebten  die  Gedanken  von  Reuchlin,  Pico  und 
Cardanus  zu;  einen  besonders  lebhaften  Ausdruck  fanden  sie,  wie 
in  dem  abenteuerlichen  Leben,  so  auch  in  den  Werken  von  Agrippa 
von  Nettesheim  (1487 — 1535),  welcher  in  seinen  Schriften  »De 
incertitudine  et  vanitate  scientiarum«  (Coeln  1527)  und  »De  occulta 
philosophia  (ibid.  1533)  alles  menschliche  Wissen  für  nichtig  er- 
klärte, um  sich  der  Magie  in  die  Arme  zu  werfen.  In  einem  wild 
bewegten  Leben  von  buntestem  Wechsel  wußte  er  doch  eine  staunens- 
werte Gelehrsamkeit  zu  erwerben,  die  aber  schließlich  in  die  Ver- 
zweiflung an  dem  natürlichen  Wissen  und  Können  des  Menschen 
auslief. 

Da  aber  doch  am  Ende  trotz  aller  Geisterbeschwörungen  im 
Großen  nichts  zu  machen  war,  so  warf  die  Magie  sich  auf  das  Kleine. 
Sie  suchte  den  »Stein  der  Weisen«,  sie  wurde  zur  Kunst  des  Gold- 
machens  und  begann  als  Alchymie  die  ersten  Versuche  für  die 
heutige  Chemie  zu  liefern.  Besonders  wichtig  wurde  dieses  ganze 
.Treiben  natürlich  für  die  Ärzte.    Für  sie  war  es  ja  recht  eigentlich 


Paracelsus.  53 

die  Aufgabe,  die  Natur  zu  beherrschen,  ihr  durch  künstliche  Mittel 
die  Wege  vorzuschreiben,  und  die  Behandlung  der  Medizin  schien 
deshalb  unmittelbar  in  das  Gebiet  der  Astrologie,  Magie  und  Alchymie 
zu  fallen.  Auch  Cardanus  war  Arzt  und  bezog  seine  geheimnisvolle 
Wissenschaft  mit  Vorliebe  auf  diesen  praktischen  Beruf,  und  ein 
vollständig  durchgeführter  Versuch,  die  Medizin  durch  die  Magie 
zu  reformieren,  tritt  uns  in  dem  abenteuerlichen  Gedanken  wüste  ^ 
des  Theophrastus  Bombastus  Paracelsus  entgegen,  der,  1493, 
zu  Einsiedeln  in  der  Schweiz  geboren,  ein  unstetes  und  abenteuern- 
des Leben  führte,  gelegentlich  den  ersten  Lehrstuhl  der  »Chymie« 
in  Basel  bestieg  und  1541  zu  Salzburg  starb.  Von  seinen  unzähligen 
kleinen  Aufsätzen,  Programmen,  Anzeigen  und  Broschüren  ist  viel 
verloren  gegangen;  aber  das  Erhaltene  genügt,  um  einen  Einblick 
in  diese  wunderliche  Gedankenwelt  zu  gewinnen.  Bei  ihm  spricht 
sich  zunächst  ganz  scharf  die  Ablösung  der  Philosophie  von  der 
Theologie  und  die  Gleichsetzung  der  ersteren  mit  der  Naturwissen- 
schaft aus.  Er  lehrt  nach  der  schon  im  Mittelalter  üblich  gewordenen 
Formel  eine  doppelte  Offenbarung  Gottes  in  Christo  und  der  Natur 
und  stützt  darauf  die  Unterscheidung  der  beiden  Wissenschaften 
Theologie  und  Philosophie.  Deshalb  ist  ihm  die  Philosophie  nichts 
weiter  als  Naturerkenntnis ;  sie  ist  nur  erkannte,  »unsichtige  «  Natur, 
die  Natur  ist  sichtbare  Philosophie.  Aber  diese  Naturerkenntnis 
bildet  ihm  nun  eine  phantastische  Metaphysik,  eine  geheimnis- 
volle Ahnung  des  Zusammenhanges  aller  Dinge.  Das  All-Leben 
ist  ein  magisches  Walten  der  göttlichen  Kräfte,  in  welches  man 
nicht  durch  totes  Bücherwissen,  sondern  nur  durch  unmittelbares 
Mitleben,  Mitfühlen  und  Mithandeln  eindringt.  Denn  im  Mittel- 
punkte dieses  All-Lebens  steht  der  Mensch,  er  ist  der  Mikrokosmos, 
er  ist  das  ganz,  wovon  um  ihn  herum  nur  Bruchstücke  sind,  und 
eben  deshalb  vermag  er  die  Dinge  zu  erkennen  und  durch  die  Er- 
kenntnis zu  beherrschen.  Durch  das  ganze  Weltall  geht  eine  all- 
gemeine Kraft,  welche  Vulcanus  genannt  wird,  die  göttliche  Welt- 
seele; aber  in  jedem  Einzelwesen  tritt  zu  der  allgemeinen  noch  die 
individuelle  Kraft  hinzu,  der  »Archeus«  jeden  Dinges,  der  dessen 
Lebensgeist  bildet.  Es  ist  eine  Verknüpfung  von  Universalismus  und 
Individualismus,  welche  ganz  deutlich  auf  Nikolaus  von  Cues  und 
schließlich  auf  den  Neupia tonismus  zurückweist;  und  auf  Grund 
dieser  Lehre  bevölkerte  Paracelsus  die  ganze  Welt  mit  solchen  Kraft- 


54  Anhänger  des  Paracelsus. 

und  Lebensgeistern.  Alles  wurde  ihm  lebendig,  und  überall  führten 
Dämonen  ihre  magische  Herrschaft.  Wo  man  nun  in  diesen  Lauf 
der  Dinge  eingreifen  will,  da  gilt  es,  diesen  Archeus  des  einzelnen 
Dinges  zu  erkennen  und  zu  fassen :  er  muß  ungehemmt  wirken,  damit 
das  Ding  gesund  sei.  Krankheit  ist  die  Unterwerfung  des  Archeus 
durch  einen  fremden  Geist;  darum  soll  man  nicht  durch  Gegen- 
sätze, sondern  vielmehr  durch  Kräftigung  des  innersten  Wesens 
heilen:  jedem  Gliede  kann  nur  durch  die  Substanz  geholfen  werden, 
aus  der  es  selbst  besteht.  Das  ist  eine  phantastische  Vorahnung 
der  Hompaöothie.  Darum  besteht  nach  Paracelsus  das  Wissen 
des  Arztes  in  der  Kenntnis  der  guten  und  der  bösen  Geister  und 
seine  Praxis  in  der  Förderung  der  einen  und  der  Bekämpfung  der 
anderen.  Die  Mittel  dazu  suchte  er  in  der  alchymistischen  Be- 
reitung von  Quintessenzen.  Tinkturen,  Arkanen  und  wurde  so  der 
Vater  einer  unendlichen  Quacksalberei  und  eines  gefährlichen  Char- 
latanismus«  Da  aber  schließlich  doch  überall  dieselbe  Weltkraft 
waltet,  so  muß  es  auch  ein  Mittel  zu  ihrer  Förderung  und  damit 
eine  Panazee  geben,  welche  alle  Krankheiten  heilt:  das  ist  der 
Stein,  den  die  Weisen  suchen,  aber  leider  bisher  nicht  gefunden 
haben.  Doch  darf  man  nicht  übersehen,  daß  Paracelsus  bei  all 
seiner  Phantasterei  gerade  in  dieser  Richtung  systematisch,  soweit 
es  unter  den  damaligen  Verhältnissen  möglich  war,  sich  mit  chemi- 
schen Experimenten  beschäftigte.  Immerhin  machten  seine  Ge- 
danken sowie  sein  mystagogisch.es  Auftreten  viel  Aufsehen  und 
fanden  namentlich  in  Deutschland  viel  Anklang.  Es  bildete  sich 
ohne  festen  Zusammenhang  eine  große  Schule  paracelsischer  Ärzte, 
und  auch  das  Ausland  bemächtigte  sich  dieser  neuen  Lehre,  die 
namentlich  in  den  Niederlanden  große  Verbreitung  fand.  Hier  trat 
das  paracelsische  System  in  etwas  geklärterer,  nüchterner  Form 
bei  Johann  Baptista  van  Helmont  (1577 — 1644)  auf,  um  dann 
freilich  wieder  bei  dessen  Sohne  Franciscus  Mercurius  van 
Helmont  (1618 — 1699),  der  auch  viel  in  England  und  Deutschland 
reiste,  in  die  alten  Phantastereien  völlig  zurückzufallen.  In  die 
englische  Aristokratie  wurde  diese  neue  Medizin  und  vor  allem  die 
damit  zusammenhängenden  alchymistischen  Neigungen  durch  Ro- 
bert Fludd  (1574—1637)  eingeführt. 

So  wuchsen  aller  Enden  aus  den  unklaren  und  phantastischen 
Bestrebungen  der  Naturphilosophie,  der  Magie  und  der  Alchymie 


Geographische  Entdeckungen,  55 

die  Anfänge  experimenteller  Forschung  hervor,  und  schon  bereitete 
sich  die  mächtig  aufstrebende  Mathematik  dazu  vor,  die  theoretische 
Grundlage  der  neuen  Wissenschaft  zu  werden.  Was  jedoch  die 
Augen  des  Zeitalters  am  meisten  auf  die  Naturerkenntnis  lenkte, 
das  waren  diejenigen  Tatsachen,  durch  welche  gleichzeitig  der 
menschliche  Geist  ohne  magische  Kräfte  Riesenfortschritte  machte 
in  der  wirklichen  Beherrschung  der  Natur:  die  Entdeckungen  und 
Erfindungen.  In  dem  Bilde  der  Umgestaltung  des  menschlichen 
Kulturlebens,  welche  sich  in  der  Renaissance  vollzog,  und  der  Grund- 
lagen, die  damit  für  die  neuere  Philosophie  gewonnen  wurden, 
fehlte  einer  der  wichtigsten  Punkte,  wenn  man  die  Entdeckungen 
und  Erfindungen  dieser  Zeit  vergessen  wollte. 


§  8.  Das  Zeitalter  der  Entdeckungen  und  Erfindungen. 

Eine  Reihe  von  günstigen  Zufällen  und  von  glücklichen  Er- 
folgen kühner,  genialer  Gedanken,  die  sich  in  merkwürdiger  Kon- 
zentration um  die  Wende  des  XV.  und  XVI.  Jahrhunderts  zu- 
sammendrängen, hat  im  Laufe  eines  Jahrhunderts  das  Weltbild 
des  Erdbewohners  in  einer  so  großartigen  Weise  umgestaltet,  daß 
man  sagen  darf,  es  sei  niemals  in  so  kurzer  Zeit  ein  so  rapider  Fort- 
schritt in  der  Entwicklung  der  menschlichen  Weltvorstelluns;  ein- 
getreten,  und  es  ist  mit  vollem  Rechte  darauf  aufmerksam  gemacht 
worden,  daß  gerade  die  durch  die  Entdeckungen  herbeigeführte 
Erweiterung  des  geographischen  und  kosmographischen 
Gesichtskreises  fast  noch  wirkungsvoller  gewesen  ist,  als  die 
Eröffnung  des  historischen  Horizontes  durch  die  humanistischen 
Studien.  Denn  die  ganze  Stellung  des  Menschen  im  Universum 
mußte  auf  Grund  dieser  Tatsachen  in  völlig  neuem  Lichte  erscheinen. 
Das  ist  eine  Veränderung,  so  tief  gehend  wie  keine  andere  in  der 
gesamten  Kulturgeschichte.  Sie  bildet  den  entscheidendsten  Be- 
standteil unter  den  Elementen  des  modernen  Denkens:  aber  die 
Tragweite  dieser  Umwälzung  ist  so  gewaltig  und  folgenschwer,  daß 
sie  noch  heute  nicht  als  vollendet  angesehen  werden  kann. 

Seitdem  in  der  Zeit  der  Kreuzzüge  die  bis  dahin  sehr  beschränk- 
ten Vorstellungen  des  Abendlandes  von  der  räumlichen  Gestalt 
und  Gliederung  der  Erde  eine  wesentliche  Erweiterung  und  Verände- 
rung gefunden  hatten,  vollzog  sich  der  Prozeß  der  geographischen 


56  Columbus. 

Entdeckungen  verhältnismäßig  schnell.  Die  Reiseberichte  Marco 
Polos  aus  Indien  und  China  machten  die  Auffindung  des  Seeweges 
nach  Indien  zu  dem  Strebeziel  der  südeuropäischen  Seefahrer. 
Vasco  de  Gama  fand  ihn  durch  die  Umsegelung  Afrikas:  bedeuten- 
der war  es  für  die  gesamte  Kultur,  daß  Columbus  ihn  suchte 
durch  den  westlichen  Ozean.  Denn  als  die  anfängliche  Täuschung, 
der  von  ihm  entdeckte  Kontinent  sei  Indien,  fortfiel,  —  als  Baiboa 
die  Landenge  von  Darien  überschritt  und  Maghellan  die  Spitze 
Südamerikas  umschiffte,  da  öffnete  sich  mit  dem  Blick  auf  den 
Stillen  Ozean  die  Riesenarbeit  der  Zukunft.  Der  europäische 
Kulturmensch  beginnt  auf  dem  ganzen  Planeten  heimisch 
zu  werden.  Von  nun  an  läßt  er  nicht  ab,  diesen  seinen  heimat- 
lichen Boden  zu  durchforschen,  ihm  die  Früchte  aller  seiner  Zonen 
zu  entlocken  und  ihn  sich  in  seinem  ganzen  Umfange  dienstbar  zu 
machen.  Diese  Vertrautheit  mit  seinem  Planeten  ist  die  wert- 
vollste Frucht,  welche  der  Mensch  den  geographischen  Entdeckungen 
der  Renaissance  verdankt. 

Entscheidend  war  in  dieser  Bewegung  die  Tat  des  Columbus: 
aber  wie  sie  in  seinem  Geiste  aus  der  Hypothese  von  der  Kugel- 
gestalt der  Erde  entsprang,  so  war  sie  auch  deren  glänzende  Be- 
stätigung. Diese  Gewißheit  jedoch  von  der  Kugelgestalt  der 
Erde  und  die  daran  sich  von  selbst  schließende  Hypothese  einer 
Achsendrehung  barg  in  sich  noch  viel  wertvollere  Keime.  Hatte 
man  sich  erst  einmal  in  diese  Vorstellung  eingelebt,  so  war  nur 
noch  ein  Schritt  nötig,  freilich  der  Schritt  eines  Genies,  um  daraus 
den  Wechsel  der  astronomischen  Erscheinungen  zu  erklären.  Diesen 
großen  Schritt,  den  wichtigsten  in  der  gesamten  Welt  Vorstellung 
des  Menschen,  tat  Kopernikus.  Die  ungeheure  Bedeutung  seines 
Werkes  »über  die  Bahnen  der  Himmelskörper«  beschränkt  sich 
nicht  auf  den  Wert  einer  aus  perspektivischen  Motiven  erwachsenen 
astronomischen  Theorie,  durch  welche  das  ptolemäische  System 
über  den  Haufen  geworfen  und  an  seine  Stelle  die  Auffassung  der 
kosmischen  Verhältnisse  gesetzt  wurde,  die  nunmehr  der  gesamten 
naturwissenschaftlichen  Weltanschauung  zugrunde  liegt:  die  höhere 
und  weitere  Bedeutung  dieser  neuen  Erkenntnis  liegt  darin,  daß 
durch  sie  sich  der  geistige  Blick  des  Menschen  aus  der  Beschränkung 
des  irdischen  Daseins  in  die  Unendlichkeit  des  Weltalls  erhob.  Die 
Vertauschung  des  geozentrischen  mit  dem  heliozentri- 


Kopemikus.  57 

sehen  Standpunkte  wies  dem  Menschen  selbst  eine  ganz  andere 
Rolle  in  dem  Zusammenhange  der  Dinge  an,  als  er  bisher  sie  sich 
eingebildet  hatte.    So  schwer  es  ihm  werden  mochte,  er  mußte  sich 
des  Gedankens  entwöhnen,  als  ob  sein  heimatlicher  Boden  es  sei, 
um  den  das  ganze  Universum  sich  drehe,  mußte  sich  der  schönen 
Yorstellung  entschlagen,  als  ob  die  Ereignisse,  die  auf  diesem  Boden 
sich  vollziehen,  Weltgeschicke  seien.    Das  Weltstäubchen  mit  seinen 
Rissen  und  Höhen  und  den  darauf  wimmelnden  Organismen  —  wie 
konnte  es  noch  meinen,  der  Mittelpunkt  des  unendlichen  Weltalls 
zu  sein?     Die  Auffassung  des  Universums  mußte  sich,  sobald  sie 
aufgehört  hatte,  in  physischer  Richtung  geozentrisch  zu  sein,  auch 
geistig  zu  einer  Höhe  erheben,  auf  der  die  Weltentwicklung  nicht 
mehr  nach  dem  beschränkten  Gesichtspunkte  des  Menschentums, 
seiner  Bedürfnisse,  Wünsche  und  Hoffnungen  betrachtet  wird.    Darin 
liegt  die  Größe  und  die  befreiende  Gewalt  der  kopernikanischen 
Tat;  dies  ist  das  Geheimnis,  weshalb  niemals  eine  wissenschaftliche 
Einsicht  einen  so  großartigen  und  so  weittragenden  Einfluß  auf 
die  kulturgeschichtliche  Entwicklung  gehabt  hat,  wie  diese.     Und 
wie  allen  großen  Geschicken,  so  wohnte  auch  dieser  Tat  neben  der 
Demütigung,  mit  der  sie  den  Menschen  niederwarf,  eine  erhebende 
Kraft  bei.    Denn  diese  Erkenntnis  war  ein  Triumph  der  kritischen 
Vernunft  über  die  Roheit  der  sinnlichen  Auffassung.     Im  Wider- 
spruche mit  dem  niemals  zu  ändernden  Sinnesscheine  wurde  so  in 
dem  menschlichen  Geiste  eine  Vorstellung  befestigt,  die  heute  jedem 
Kinde  geläufig  ist.     So  steht  das  Werk  des  Kopernikus  als  ein 
leuchtendes  Vorbild  an  der  Schwelle  einer  neuen  Zeit,  und  wenn 
sich  in  der  Folge  das  vernünftige  Denken  des  Menschen  auf  seinen 
tiefsten  Eigenwert  zu  besinnen  suchte,  so  wußte  es  nichts  Besseres, 
als  an  diesem  Beispiele  sich  seine  Kraft  und  sein  Recht  zu  holen. 
Aber  gerade  die  von  Kopernikus  widerlegte  sinnliche  Auffassung 
der  kosmischen  Verhältnisse  war  mit  der  Kirchenlehre  eng  ver- 
knüpft; deren  Metaphysik  beruhte  wesentlich  auf  dem  geozentri- 
schen und  damit  auch  dem  anthropozentrischen  Gesichtspunkte, 
und  mit  Ängstlichkeit  hütete  sie  das  Dogma  von  der  Endlichkeit 
der  Welt.     Es  bedurfte  deshalb  kaum  des  Nachweises,  den  das 
großartigste  System  der  italienischen  Naturphilosophie,  dasjenige 
von  Giordano  Bruno,  führte,  des  Nachweises  nämlich,  daß  die  An- 
nahme der  räumlichen  und  zeitlichen  Unendlichkeit  der  Welt  die 


58  Erfindungen. 

notwendige  Konsequenz  der  kopernikanischen  Lehre  sei :  schon  vor- 
her ahnte  die  Kirche  diesen  innersten  Widerspruch  gegen  ihr  ge- 
samtes System;  alle  Konfessionen  beeilten  sich,  das  Werk  zu  ver- 
dammen, und  selbst  der  milde  Melanchthon  trug  kein  Bedenken, 
die  Riesentat  seines  großen  Landsmannes  als  staatsgefährlich  zu 
denunzieren.  Aber  es  half  nichts;  es  half  auch  nichts,  daß  Tycho 
de  Brahe  einen  feinsinnigen  Kompromiß  zwischen  der  alten  und 
der  neuen  Lehre  zu  schaffen  suchte  —  die  Wahrheit  siegte,  und  eine 
Fülle  geistiger  Schöpfungen  wuchs  aus  ihr  hervor. 

Der  Großartigkeit  der  Entdeckungen  wird  die  Wage  gehalten 
von  der  Mächtigkeit  der  Erfindungen  jener  Zeit.  Nur  vorüber- 
gehend mag  an  die  Umgestaltung  erinnert  werden,  welche  die  Er- 
findung des  Schießpulvers  —  vermutlich  ein  zufälliges  Ergebnis 
alchymistischer  Versuche  —  in  den  politischen  Aktionen,  in  der 
Art  der  Kriegführung,  in  der  Konstitution  der  Heere  und  in  den 
sozialen  Beziehungen  der  letzteren  herbeiführte  —  eine  Umgestal- 
tung, welche  freilich  nicht  nach  allen  Seiten  hin  so  günstig,  wie  sie 
tief  einschneidend  war.  Es  mag  auch  nicht  vergessen  werden,  wie 
die  unglaublich  schnelle  Besitznahme  der  neu  entdeckten  Länder 
allein  auf  der  Überlegenheit  der  Bewaffnung  der  Europäer  beruhte: 
ohne  das  Feuerrohr  würden  Cortez  und  Pizarro  die  Länder  der 
amerikanischen  Kultur  nicht  so  schnell  für  die  Kenntnis  und  die 
Habgier  der  Weißen  eröffnet  haben.  /Es  ward  schon  erwähnt,  in 
wie  großem  Maßstabe  die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  die 
Ausbreitung  und  das  gewaltig  schnelle  Wachstum  der  wissenschaft- 
lichen Bildung  begünstigte.  Im  Vollgenusse  des  neuen  Besitzes 
entwickelten  die  Gelehrten  jener  Zeit  einen  bewunderungswürdig 
umfassenden  und  lebhaften  Verkehr,  durch  den  die  Gedanken  frucht- 
bringend und  einander  befruchtend  hin  und  her  flogen.  /Jene  großen 
Entdeckungen  der  Seefahrt  wären  unmöglich  gewesen  ohne  die 
Erfindung  des  Kompasses,  der  einem  Columbus  auf  der  kühnen 
Fahrt  nach  Westen  den  Weg  zeigte ;  und  endlich  die  entscheidenden 
Entdeckungen  der  Astronomie  verdankten  ihre  zweifellose  Begrün- 
dung lediglich  jenen  genauen  Beobachtungen,  welche  die  Erfindung 
des  Teleskops  möglich  machte.  So  innig  ist  das  Entdecken  mit 
dem  Erfinden  verflochten. 

Das  waren  die  Waffen,  vor  denen  die  alte  Wissenschaft  zitterte. 
Wie  charakteristisch  ist  jene  Anekdote,  daß  Cremonini,  als  Galilei 


Kant  und  seine  historische  Stellung.  59 

He  Trabanten  des  Jupiter  entdeckt  hatte,  fortan  durch  kein  Tele- 
;kop  mehr  sehen  zu  wollen  erklärte,  weil  das  den  Aristoteles  wider- 
ege !  In  diesen  Mitteln  der  Forschung  besaß  die  neue  Wissenschaft 
lie  unerschöpflichen  Quellen,  aus  denen  sie  ihre  selbständige  Kraft 
schöpfen  konnte.  Mit  ihnen  gelang  es  ihr,  das  Joch  jeglicher  Autori- 
ät  abzuwerfen  und  aus  den  Händen  der  von  ihr  befragten  Natur 
las  Göttergeschenk  zu  erhalten,  nach  dem  die  ganze  Renaissance 
rieh  sehnte  und  rang  —  die  Freiheit  des  Geistes. 

§  9.  Die  Gliederung  der  neueren  Philosophie. 

Aus  diesen  mannigfachen  Bestrebungen  der  philologischen  und 
historischen,  der  religiösen,  der  politischen  und  der  naturwissen- 
schaftlichen Bewegung  der  Renaissance  erwuchs  in  allmählichem 
Aufstreben  durch  die  Jahrhunderte  hindurch  das  moderne  Denken. 
Alle  die  Fäden,  deren  leisen  Ursprung  diese  Einleitung  zu  skizzieren 
suchte,  liefen  zunächst  in  mannigfaltigen  Verschlingungen  fort, 
bis  sie  in  dem  größten  der  neueren  Philosophen,  in  Kant,  ihre 
entscheidende  Zusammenfassung  fanden.  Sein  Name  teilt  daher 
von  selbst  die  Geschichte  der  neueren  Philosophie  in  zwei  Abschnitte, 
von  denen  der  eine  vor  ihm  endet,  der  andere  nach  ihm  beginnt. 
Und  die  Gedankenwelt  dieses  Mannes  selbst  enthält  alle  Grund- 
gedanken der  neueren  Zeit  in  so  scharfer  Konzentration,  und  ist 
zugleich  für  das  gegenwärtige  Denken  von  immer  noch  so  maß- 
gebender Bedeutung,  daß  es  geboten  erscheint,  die  Geschichte  seines 
Geistes  und  den  Zusammenhang  seines  Systems  mit  ungleich  breiterer 
Ausführlichkeit  zu  behandeln,  als  diejenigen  der  anderen  Denker, 
welche  teils  auf  ihn  vorbereiten,  teils  aus  ihm  hervorgehen.  Es 
wird  daher  die  folgende  Darstellung  in  drei  Teile  zerfallen,  von 
denen  sich  der  erste  mit  der  vor  kantischen,  der  zweite  mit  der 
kantischen,  der  dritte  mit  der  nachkantischen  Philosophie 
zu  beschäftigen  hat. 

Was  zunächst  den  ersten  dieser  Teile,  die  Geschichte  der  vor- 
kantischen  Philosophie,  anbetrifft,  so  treten  in  den  Gang  dieser 
Entwicklung  sukzessive  die  verschiedenen  Nationen  je  nach  ihren 
allgemeineren  Kultur  Verhältnissen  mit  besonderen  Richtungen  und 
Bestrebungen  ein,  —  zwar  nicht  durchaus  unabhängig  vonein- 
ander und  deshalb  nicht  mit  absoluter  Strenge  zu  scheiden,  aber 
doch   derartig,  daß  die  Eigentümlichkeiten  der  einzelnen  Völker 


60  Einteilung  des  ersten  Bandes. 

scharf  genug  zutage  kommen,  um  als  ein  sicherer  Faden  bei  der 
Betrachtung  und  Darstellung  dieser  Entwicklung  gelten  zu  dürfen. 
Zuerst  sind  es  die  Italiener,  welche  mit  ihrer  Naturphilosophie 
das  Interesse  auf  sich  ziehen;  dann  in  einer  Art  von  Gegensatz 
dazu  die  Deutschen,  bei  denen  das  religiöse  Moment  für  die  Ge- 
staltung des  Philosophierens  von  entscheidender  Bedeutung  bleibt. 
Ganz  anders  treten  wiederum  die  Engländer  mit  scharfsinniger 
Verfolgung  der  empiristischen  Methoden  des  Naturerkennens  hervor, 
und  im  Gegensatz  dazu  vollzieht  sich  in  Frankreich  eine  Be- 
gründung der  rationalistischen  Philosophie  und  in  den  Nieder- 
landen deren  Weiterentwicklung.  Diese  Bewegungen  laufen  durch- 
schnittlich bis  gegen  das  Ende  des  XVII.  Jahrhunderts,  und  als 
ihre  gemeinsame  Frucht  ist  es  anzusehen,  daß  das  XVIII.  Jahr- 
hundert sich  den  stolzen  Namen  des  Zeitalters  der  Aufklärung 
geben  durfte.  Von  dieser  Aufklärung  des  XVIII.  Jahrhunderts  ist 
Italien  infolge  des  allgemeinen  Zustandes,  den  dort  die  Gegen- 
reformation erzeugt  hatte,  wenigstens  in  bezug  auf  originelle  Lei- 
stungen so  gut  wie  völlig  ausgeschlossen.  Die  Führung  dagegen 
in  der  Philosophie  der  Aufklärung  lag  bei  den  Engländern,  von 
denen  sie  den  Franzosen  übermittelt  wurde,  während  Deutschland 
erst  etwas  später  dazu  berufen  war,  die  Gedanken  der  beiden  großen 
Kulturnationen  des  Westens  in  sich  aufzunehmen  und  mit  selb- 
ständiger Kraft  zu  verarbeiten. 

Auf  Grund  dieser  vorläufigen  Übersicht  gliedert  sich  die  Ge- 
schichte der  vorkantischen  Philosophie  in  folgende  sieben  Abschnitte ; 
I.  Die  italienische  Naturphilosophie. 

II.  Die  deutsche  Philosophie  im  Reformationszeitalter. 

III.  Der  englische  Empirismus. 

IV.  Der  Rationalismus  in  Frankreich  und  den  Niederlanden. 
V.  Die  englische  Aufklärung. 

VI.  Die  französische  Aufklärung. 
VII.  Die  deutsche  Aufklärung. 


L  Teil. 
Die  vorkantische  Philosophie. 


I.  Kapitel. 
Die  italienische  Naturphilosophie. 

Es  ist  eine  bemerkenswerte  Tatsache,  daß  zwar  für  alle  Rich- 
tungen des  neueren  Denkens  mächtige  und  zum  weit  größeren  Teile 
sogar  die  ersten  Anfänge  in  Italien  zu  suchen  sind,  daß  aber  der 
vollen  und  geschlossenen  Entwicklung  der  modernen  Philosophie 
dieser  Boden  sich  wenig  günstig  erwiesen  hat.  In  den  humanisti- 
schen Studien  ist  Italien  zweifellos  vorangegangen;  auf  dem  reli- 
giösen Gebiete  zeigte  es  während  der  gesamten  Renaissance  ein 
gewaltiges  Drängen  und  Treiben,  und  an  persönlicher  Größe  konnte 
es  ein  Mann  wie  Savonarola  wohl  mit  allen  späteren  Reformatoren 
des  Nordens  aufnehmen;  auch  in  der  Rechtsphilosophie  hat  Italien 
durch  Macchiavelli  gewissermaßen  den  Vortritt,  und  an  der  prin- 
zipiellen Begründung  der  modernen  Naturforschung  hat  es  durch 
Galilei  den  hervorragendsten,  ja  den  entscheidenden  Anteil:  und 
trotz  alledem  ist  die  Ausbeute  an  originellen  philosophischen  Prin- 
zipien und  vor  allem  an  geschlossenen  Systemen  einer  wesentlich 
neuen  Philosophie  in  Italien  außerordentlich  gering. 

Die  Gründe  dieser  eigentümlichen  Erscheinung  liegen  zum  großen 
Teile  darin,  daß  der  italienische  Geist  der  Renaissance  zu  stark 
von  den  politischen,  sozialen,  technischen  und  künstlerischen  Auf- 
gaben in  Anspruch  genommen  war,  um  zu  jener  ruhigen  Selbst- 
besinnung, worin  schließlich  doch  alle  Philosophie  wurzelt,  dauernd 
zu  gelangen.  Es  kommt  hinzu,  daß  das  südliche  Temperament 
der  Italiener,  der  sinnlichen  Wirklichkeit  geöffnet  und  gerade  in 
jener  Zeit  durch  die  Lebhaftigkeit  der  ästhetischen  Entwicklung 


62  Telesius. 

besonders  zugewendet,  für  die  Grübelwelt  der  Philosophie  verhältnis- 
mäßig weniger  angelegt  ist,  als  die  nordischen  Völker,  und  daß 
die  Lebhaftigkeit  der  Phantasie,  sonst  einer  der  größten  Vor- 
züge ihres  Nationalcharakters,  für  die  Forderungen  einer  strengen 
Begriffswissenschaft  eher  ein  Hemmnis  bilden  mußte. 

Hieraus  erklärt  sich  der  eigentümliche  Typus,  den  die  meisten 
Systeme  der  italienischen  Philosophie  an  sich  tragen.  Sie  entspringen 
aus  dem  lebhaften  Bedürfnis  nach  einer  neuen  Erkenntnis  des  Uni- 
versums, und  wie  die  Kunst  der  Italiener  eine  geniale  Reproduktion 
der  Natur  darstellt,  so  stürzt  sich  ihr  metaphysischer  Trieb 
in  das  geheimnisvolle  Walten  des  Universums.  Nicht  zufrieden 
mit  den  freilich  noch  geringen  Erfolgen  einer  nüchtern  empirischen 
Kenntnis,  baut  man  auf  so  schwachen  Grundlagen  Systeme  des 
Weltalls  auf,  deren  Grundriß  die  Phantasie  gezeichnet  hat.  In 
dieser  Hinsicht  tragen  die  Systeme  der  italienischen  Naturphilo- 
sophie einen  ganz  ähnlichen  Charakter,  wie  diejenigen  der  älteren 
Philosophen  Griechenlands.  Von  geringen,  einseitig  entwickelten 
Kenntnissen  aus  entwerfen  sie  großartige  und  phantasievolle  Welt- 
bilder. 

Unabhängig  aber  von  diesen  Begriffsdichtungen,  durch  mächtige 
Anregungen  auch  aus  dem  Norden  gefördert,  entwickelte  sich  die 
exakte  Natu rforschung:  sie  fand  in  Galilei  den  philosophischen 
Vertreter,  der  ihre  Methode  mit  genialer  Sicherheit  festlegte  und 
die  Grundlinien  für  den  späteren  Ausbau  der  naturwissenschaft- 
lichen Weltanschauung  zog.  Seine  Lehre  ist  der  wichtigste  Beitrag 
Italiens  zur  Entwicklung  der  europäischen  Wissenschaft. 


§  10.   Bernardino  Telesio. 

Die  Neigung  zum  Phantastischen  tritt  selbst  bei  einem  Manne 
hervor,  der  für  den  systematischen  Betrieb  der  rein  empirischen 
Naturforschung  außerordentlich  fruchtbare  Anregungen  gegeben  hat : 
Bernardinus  Telesius.  Er  war  im  Jahre  1508  zu  Cosenza  geboren 
und  erhielt  seine  gelehrte  Bildung  wesentlich  in  Padua.  Ein  längerer 
Aufenthalt  in  Rom,  der  ihm  die  Bekanntschaft  einer  großen  Anzahl 
von  berühmten  Gelehrten  der  Zeit  verschaffte,  machte  ihn  zum 
ausgesprochenen  Gegner  der  aristotelisierenden  Scholastik,  und  in 
der  richtigen  Erkenntnis,  daß  es  sich  um  eine  unbefangene,  er- 


Sensualismus.  63 

fahrungsmäßige  Betrachtung  der  Natur  handle,  wenn  man  dem 
neuen  Denken  positiven  Inhalt  zuführen  wollte,  stiftete  er  die 
cosentinische  Gesellschaft  der  Naturforschung,  welche, 
später  nach  Neapel  übergesiedelt,  auch  nach  seinem  1588  zu  Cosenza 
erfolgten  Tode  eine  umfassende  Regsamkeit  betätigte.  Sein  Haupt- 
werk: »De  natura  rerum  juxta  propria  principia«  (1565 — 1586) 
entwickelt  in  einer  Polemik  gegen  Aristoteles,  die  in  der  Forderung 
gipfelt,  man  müsse  dessen  Lehren  von  den  Akademien  verdrängen, 
die  erkenntnistheoretischen  Grundlagen  einer  selbständigen,  allen 
Autoritätsglaubens  baren  Naturerkenntnis.  Die  Methode  dafür  be- 
steht aber  nach  Telesius  lediglich  in  der  sinnlichen  Erfahrung.  Die 
Lehre  von  dem  reinen  Verstände  als  einer  Denkkraft,  die  nur  aus 
sich  selbst  die  Erkenntnis  der  Welt  schöpfe,  gilt  ihm  als  eine  große 
Torheit:  er  sucht  nachzuweisen,  daß  die  durch  Schlüsse  gewonne- 
nen Gedanken  im  besten  Falle  Vermutungen  der  Wahrheit  sind 
und  nur  dann  in  voller  Gewißheit  gelten  dürfen,  wenn  sie  einmal 
durch  die  Erfahrung  verifiziert  worden  sind.  Er  schließt  an  diese 
Betrachtung  eine  Reihe  von  psychologischen  Untersuchungen, 
namentlich  auch  über  den  Gegensatz  mathematischer  und  physika- 
lischer Erkenntnis,  und  läßt  dabei  deutlich  erkennen,  daß  dieser 
einseitige  Sensualismus  sich  der  Wichtigkeit  mathematischer 
Grundlegung  noch  nicht  bewußt  geworden  ist. 

Um  so  eigentümlicher  nun  erscheint  es,  wenn  ein  Denker  von 
solchen  Prinzipien,  der  noch  dazu  erklärt,  er  wolle  nicht,  wie  leider 
die  meisten  Philosophen,  eine  selbstersonnene  Welt  entwerfen, 
sondern  die  Gottheit  durch  die  sorgfältige  Erforschung  der  von  ihr 
geschaffenen  Wirklichkeit  ehren,  seinem  Zeitalter  schließlich  doch 
eine  Metaphysik  bescherte,  worin  eine  allgemeine  Konstruk- 
tion der  Natur  durch  wenige,  an  bestimmte  Gesetze  gebundene 
Kräfte  geliefert  werden  soll. 

Die  Grundgedanken  dieser  Naturauffassung  zeigen  eine  inter- 
essante Ähnlichkeit  mit  altionischen  Spekulationen  und  der  hypo- 
thetischen Physik  der  Eleaten.  Es  ist  eine  Art  von  meteorologischer 
Theorie  der  Natur,  die  uns  hier  entgegentritt,  und  die  nach  dem 
Tode  des  Mannes  unter  dem  Titel:  »Varii  de  rebus  naturalibus 
libelli«  (1590)  herausgegebenen  Spezialforschungen  zeigen  eine  ge- 
wisse Vorliebe  gerade  für  die  meteorologischen  Probleme.  Die  Haupt- 
rolle in  seiner  Weltanschauung  spielt  der  Gegensatz  des  Trockenen 


64  Telesius. 

und  des  Feuchten.     Zugrunde  liegt  hier  auch  der  Gegensatz  voi 
Himmel  und  Erde.    Der  Mittelpunkt  des  Himmels,  die  Sonne,  gil 
als  Sitz  der  äußersten  Wärme  und  Trockenheit,  der  Mittelpunk 
der  Erde  als  die  Konzentration  der  Feuchtigkeit  und  der  Kälte 
überzeugt  von  der  Bewegung  des  Erdmittelpunktes  um  die  Sonne 
lehrt  Telesio  nun,  daß  in  der  zwischen  beiden  liegenden  Welt  eii 
stetiger  Kampf  des  feucht-kalten  und  des  trocken-warmen  Prinzip 
stattfinde,  wobei  zwar  das  eine  über  das  andere  abwechselnd  über- 
wiege, niemals  aber  eines  davon  gänzlich  vernichtet  werden  könne 
Aus  diesem  stetigen  Kampfe  gehen  in  der  an  sich  eigenschaftsloseii 
Materie  die  einzelnen  Dinge  hervor,  deren  Qualitäten  also  wesent- 
lich durch  das  Überwiegen  des  einen  oder  des  anderen  Elementes 
bestimmt  und  unterschieden  sind.    So  gelten  die  Aggregatzustände 
als  die  eigentlichen  Grundbestimmungen  der  Dinge.     Charakteri- 
stisch ist  ferner  die  materialistische  Wendung,  welche  diese  Lehre 
mit  einer  gewissen  Anlehnung  an  die  Stoiker  nimmt.    Die  Seele  gilt 
dem  Telesius  als  die  feinste  und  beweglichste  Materie,  aber  die 
Fähigkeit  des  Empfindens  will  er  nicht  auf  sie  beschränken,  sondern 
vielmehr  der  gesamten  Materie  zusprechen.     Er  betrachtet  sie  als 
den  Vorgang,  wodurch  in  dem  ewigen  Streite  die  beiden  Prinzipien 
sich  gegenseitig  bemerklich  machen,  und  diese  Hypothese  des  all- 
gemeinen Wahrnehmungsvermögens  ist  natürlich  der  sensualisti- 
schen  Erkenntnistheorie  außerordentlich  willkommen.     Zu  dieser 
materialistischen  Erklärung  der  psychischen  Vorgänge  wird  dann 
von  Telesius,  wie  auch  von  Cardanus,  ganz  äußerlich  die  Lehre 
von  einer  aus  Gott  stammenden,  unsterblichen  Seele  hinzugefügt 
einer  forma  superaddita,  deren  Annahme  lediglich  Glaubenssache 
und  ohne  jeden  Zusammenhang  mit  der  Wissenschaft  sei :  die  letztere 
habe  überhaupt  die  Welt  als  ein  vollkommen  Selbständiges  und  in 
sich  Begründetes  zu  betrachten.     Wenn  der  Glaube  davon  über- 
zeugt sei,  daß  Gott  die  Welt  geschaffen  habe,  so  sei  für  die  wissen- 
schaftliche Erkenntnis  nur  diese  Welt,  wie  sie  nun  einmal  nach 
ihrer  Erschaffung  da  ist,  der  einzige  Gegenstand  der  Betrachtung, 
und  die  Bewegung  der  Himmelskörper  z.  B.  müsse  als  ein  natür- 
licher Vorgang,  nicht  als  ein  Ausfluß  des  göttlichen  Willens  an- 
gesehen werden. 

Es  ist  aber  anderseits  auch  klar,  wie  lose  der  Zusammenhang 
zwischen  der  empirischen  Naturforschung  und  dieser  Naturphilo- 


Patritius.  65 

... 

3t sophie  ist,  und  im  Fortgange  der  Entwicklung  scheiden  sich  die 
beiden  Elemente  immer  mehr.  Auf  der  einen  Seite  vertiefte  sich 
die  empirische  Forschung  durch  die  Aufnahme  des  mathematischen 
Moments  zu  einer  wirklich  erklärenden  Theorie:  auf  der  andern 
Seite  wurde  das  Spiel  der  naturphilosophischen  Phantasie  immer 
freier  und  kühner.  Am  klarsten  tritt  dies  bei  dem  folgenden  Denker 
zutage. 

§  11.  Francesco  Patrizzi. 

Er  war  zu  Clissa  in  Dalmatien  1529  geboren,  erhielt  nach  aben- 
teuerlichem Leben  eine  Professur  der  platonischen  Philosophie  zu 
Ferrara  und  starb  zu  Rom  1597.  Auch  in  ihm  finden  wir  einen 
heftigen  Gegner  des  Aristoteles,  welchem  er  in  seinen  »Discussiones 
peripateticae «  nachzuweisen  suchte,  daß  er  alles  Gute  dem  Plato 
entlehnt  habe,  und  daß  alles,  was  er  selbst  hinzugefügt,  schlecht  sei. 
Der  ausführliche  Titel  seines  Hauptwerkes  (Ferrara  1591)  gibt  von 
der  phantastischen  Verschmelzung,  die  seine  Lehre  enthält,  einen 
charakteristischen  Vorbegriff:  »Nova  de  universis  philosophia,  in 
qua  Aristotelis  methodo  non  per  motum  sed  per  lucem  et  lumina 
ad  primam  causam  ascenditur,  deinde  propria  Patritii  methodo  tota 
in  contemplationem  venit  divinitas,  postremo  methodo  Platonica 
rerum  universitas  a  conditore  deo  deducitur. «  Der  Grundgedanke, 
den  er  in  diesem  Buche  durchführt,  ist  derjenige  des  belebten 
Universums,  des  von  einem  göttlichen  Lebenshauche  durchwehten 
Alls,  ein  Gedanke,  der  auf  den  Flügeln  der  Phantasie  alles  zu  durch- 
dringen und  vor  dem  geistigen  Auge  lebendig  zu  machen  sucht. 
Platonische,  neuplatonische  und  stoische  Ideen  von  der  Weltseele 
kreuzen  sich  in  einem  unklaren  Gemische,  und  es  ist  begreiflich,  wie 
sich  in  solche  Vors tellungs weit  auch  mystische  Regungen  einfügen. 
Die  Erkenntnis  gilt  als  ein  Zurückgehen  dessen,  was  hervorgegangen 
ist,  zu  dem,  woher  es  ausgegangen  ist,  und  sie  erscheint  deshalb, 
wie  bei  den  Neuplatonikern,  als  eine  Art  von  unbeweisbarer  Er- 
leuchtung. 

In  dieser  Erleuchtung  schildert  der  erste  Teil  des  Werkes,  Pan- 
augia  oder  Omnilucentia  genannt,  das  Universum  als  den  Ab- 
glanz des  ewigen,  göttlichen  Urlich ts,  das  den  ganzen  unendlichen 
Weltraum,  das  Empyreum,  erfüllt.  In  diesem  aber  bildet  den  Mittel- 
punkt die  sinnliche  Welt,  und  um  sie  herum  wohnen  die  höheren 

Wiudelband,  Gesch.  d.  n.  Philo3.  I.  5 


66  Patritius. 

Geister.    Der  zweite  Teil,  die  Panarchia,  soll  zeigen,  wie  alle  diese 
einzelnen  Geister  und  Dinge  aus  dem  all-einen  Urquell  hervorge- 
gangen sind.    Diese  Darlegung  nimmt  ihren  Ausgang  von  der  Frage, 
ob  das  Prinzip  des  Universums  als  Einheit  oder  Vielheit  zu  denken 
sei,  und  löst  sie  dahin,  daß  nur  die  harmonische  Verknüpfung  der 
Vielheit  in  der  Einheit  allen  Anforderungen  gerecht  werden  könne. 
Deshalb  müsse  die  Gottheit  als  das  Eine  begriffen  werden,  welches 
die  Vielheit  in  sich  schließt,  als  Unomnia.    Von  hier  aus  entwickelt 
sich    dann    ein    Emanationssystem,    in    welchem    pythagoreische, 
neuplatonische  und  christliche  Gedanken  verschmolzen  sind.     Das 
triadische  System  des  Neuplatonismus  wird  zunächst  zu  einer  sym- 
bolischen Ausdeutung  der  Dreieinigkeit  benutzt  und  daran  eine  de- 
kadische Gliederung  der  übrigen  Weltkräfte  geschlossen,  worin  die 
einzelnen  Dinge  mit  absteigender  Vollkommenheit  aus  dem  Urquell 
hervorgehen.    Während  aber  so  dieser  zweite  Teil  im  wesentlichen 
eine  unklare  Reproduktion  des  neuplatonischen  Emanationssystems 
aufweist,  bringt  der  dritte,  die  Panpsychia,  einen  bemerkens- 
werten Gegensatz  dazu.    Den  Neuplatonikern  hatte  das  letzte  Er- 
zeugnis dieser  Emanation,  die  materielle  Natur,  wenigstens  in  ge- 
wissem Sinne  als  ein  Unvernünftiges  und  Böses  gegolten:  wir  er- 
kennen in  Patritius  den  Sohn  der  naturfrohen  Renaissance,  wenn 
er  durchzuführen  sucht,  daß  auch  die  materielle  Natur  der  volle 
und  lebendige  Ausdruck  der  göttlichen  Vernunft  sei.     Er  betont 
dabei  den  Grundgedanken  der  plotinischen  Ästhetik,  das  Durch- 
leuchten der  seienden  Idee  durch  das  Nichtseiende.     Wenn  die 
Gottheit  der  einzige  Urquell  aller  Dinge  ist,  so  kann  es  zwar  eine 
Abstufung  in  dem  Grade  der  Vollkommenheit  geben,  aber  es  müssen 
die  Dinge  bis  in  ihre  letzten  Auszweigungen  hinein  von  der  gött- 
lichen Vernunft  getragen,  beseelt  und  beherrscht  sein.     Hier  zeigt 
der  Universalismus,  dessen  phantasievoller  Vertreter  Patrizzi  ist, 
die  Notwendigkeit  seiner  optimistischen  Konsequenz.     In  diesem 
pantheistischen  Sinne  kann  die  Gottheit  nur  als  Weltseele  betrachtet 
werden,  als  der  innerste  Lebenskern  aller  Dinge,  und  so  erscheint 
in  dieser  Betrachtung  das  Weltall  als  ein  Stufenreichrgöttlicher 
Manifestationen.     Wie   die   Seele   des   einzelnen   Organismus   den 
Körper  bewegt  und  belebt,  so  ist  auch  der  Zusammenhang  der 
großen  und  der  kleinen  Bewegungen  des  Weltalls/ so  ist  die  Tat- 
sache, daß  überhaupt  etwas  geschieht,  nur  durch  eine  allgemeine 


Pantheismus.  67 

Seele  des  Weltorganismus  erklärbar,  und  wie  die  Seele  des  ein- 
zelnen Menschen  jedes  Glied  seines  Körpers  durchdringt,  so  kann 
es  in  dem  Kosmos  nichts  geben,  was  nicht  von  dem  göttlichen 
Lebenshauche  beseelt  wäre.  Überzeugt  wie  Telesius  von  der  all- 
gemeinen Beseeltheit  auch  der  sogenannten  toten  Materie,  sucht 
Patritius  diese  Lehre  hauptsächlich  durch  eine  Bekämpfung  der 
mittelalterlichen  Auffassung  der  Tiere  und  durch  Aufzeigung  von 
deren  psychischen  Tätigkeiten  zu  erhärten.  Der  letzte  Teil  endlich 
seines  Werkes,  die  Pancosmia,  will  nun  auf  rein  naturphilosophi- 
schem Wege  den  großen  Zusammenhang  des  Weltlebens  darstellen 
und  bewegt  sich  hauptsächlich  in  astronomischen  und  meteoro- 
logischen Theorien.  Es  ist  nur  eine  Folgerung  aus  der  Unendlichkeit 
der  göttlichen  Kraft,  wenn  das  Universum  selbst  für  unendlich  an- 
gesehen wird;  aber  den  Beweis  dafür  findet  Patritius  hauptsächlich 
darin,  daß  mit  der  Ausdehnung  der  Forschung  immer  mehr  Sterne 
in  diesem  unendlichen  Räume  aufgefunden  worden  sind,  so  daß 
die  Anzahl  von  1022,  welche  die  mittelalterlichen  Astronomen  fixiert 
hatten,  längst  überschritten  ist.  Er  beruft  sich  dabei  direkt  auf 
Amerigo  Vespucci,  der  auf  der  südlichen  Hemisphäre  ganz  neue 
Sterne  gesehen  habe.  In  seinen  astronomischen  Betrachtungen  ist 
eine  ganz  merkwürdige  Mischung  von  Anerkennung  der  neuen  Ent- 
deckungen, von  phantastischen  Hypothesen  und  von  ahnungs- 
vollen, unklar  vorausschauenden  Ideen.  Man  soll  sich  endlich  los- 
machen von  der  Vorstellung,  als  seien  die  Sterne  fest  an  einem 
beweglichen  Gewölbe  angeheftet :  sie  bewegen  sich  vielmehr  frei,  wie 
die  Vögel  in  der  Luft.  Jeder  von  ihnen  stützt  sich  auf  seinen  eigenen 
Mittelpunkt  und  ballt  sich  um  sich  selbst,  weil  alle  seine  Teile  zu 
demselben  Mittelpunkte  hinstreben  —  eine  Art  von  unreifer  Ahnung 
der  Gravitation.  Im  besonderen  gilt  das,  wie  Patritius  ausführt, 
von  der  Erde  und  dem  Monde.  Er  nimmt  im  wesentlichen  die 
kopernikanische  Lehre  an;  die  Erde  stehe  nicht  im  Mittelpunkte 
des  Universums,  sondern  drehe  sich  um  die  Sonne,  wie  um  die  Erde 
der  Mond:  aber  er  sucht  dies  einfache  System  des  deutschen  Astro- 
nomen durch  unklare  Hypothesen,  wie  er  meint,  noch  verständ- 
licher zu  machen. 

Die  eingehendere  Betrachtung  dieses  Systems  verlohnte  sich  nur, 
um  ein  typisches  Bild  zu  geben  von  der  phantastischen  Verworren- 
heit, mit  der  sich  die  alten  und  die  neuen  Gedanken  in  den  Köpfen 

6* 


/ 


(38  Bruno. 

der  italienischen  Naturphilosophen  kreuzten:  vor  allem  aber,  um 
zu  zeigen,  wie  schon  in  geringeren  Geistern  das  kopernikanische 
System  als  die  wissenschaftliche  Erfüllung  der  Sehnsucht  nach  einer 
Einsicht  in  den  Zusammenhang  des  unendlichen  Weltalls  erscheinen 
mußte.  Der  Pulsschlag  des  göttlichen  Lebens  trat  dem  Zeitalter 
wie  verkörpert  entgegen,  als  ihm  mit  einem  Schlage  in  genialer 
Einfachheit  das  Gewebe  der  Bewegungen  der  Weltkörper  entwirrt 
wurde.  Das  großartigste  Denkmal  aber  der  gewaltigen  Tat  des 
Kopernikus  ist  zugleich  das  bedeutendste  System  der  italienischen 
Naturphilosophie,  in  welchem  alle  diese  Fäden  zu  organischer  Ein- 
heit zusammenliefen:  dasjenige  von  Giordano  Bruno. 

§  12.  Giordano  Bruno. 

Das  Leben  dieses  Mannes  ist  ein  Spiegelbild  jener  gärenden 
Unruhe  und  jenes  unbefriedigten  Suchens,  woraus  die  neuen  Ge- 
danken hervorkeimten,  und  es  erscheint  in  seiner  phantastischen 
Sprunghaft] gkeit  ebenso  wie  in  seinem  tragischen  Ende  als  ein  voll- 
kommener Ausdruck  für  das  innere  und  das  äußere  Geschick  der 
italienischen  Philosophie. 

Er  stammte  aus  dem  Städtchen  Nola  in  Campanien  und  war 
daselbst  1548  geboren.  Sehr  jung  in  den  Dominikanerorden  ge- 
treten, machte  er  so  wunderbar  schnelle  Fortschritte,  daß  er  sehr 
bald  das  enge  Kleid  der  Ordensanschauungen  auswuchs.  Die  Be- 
schäftigung mit  den  Werken  des  Nikolaus  von  Cues  scheint  ihn 
zuerst  über  die  thomistische  Scholastik  hinausgeführt  zu  haben, 
über  die  er  nachher  in  seinen  Werken  die  Schale  des  Spotts  und 
des  Zorns  reichlich  ausgoß.  Im  Gegensatze  dazu  bemächtigten 
sich  seines  Geistes  die  naturphilosophischen  Bestrebungen  der  Zeit 
und  namentlich,  wie  es  scheint,  die  Gedanken  des  Telesius.  Durch 
ihn  vermutlich  wurde  er  zuerst  mit  dem  kopernikanischen  Systeme 
bekannt,  welches  die  Grundlage  seiner  eigenen  Weltanschauung 
werden  sollte.  Das  Mißtrauen,  das  seine  vielseitige  wissenschaft- 
liche Beschäftigung  bei  den  Oberen  seines  Ordens  erregte  und  sich 
schon  in  zweimaliger  Untersuchung  betätigt  hatte,  zwang  ihn 
schließlich  im  Jahre  1576  zur  Flucht  zunächst  nach  Rom,  und  als 
ihm  dort  eine  neue  Untersuchung  drohte,  weiter.  Mit  dem  Ordens- 
kleide aber  zog  er  zugleich  auch  das  Gewand  der  kirchlichen  Lehre 
vollständig  aus.    Er  trat  von  nun  ab  dem  Christentum  nicht  nur 


Leben.  69 

innerlich  entfremdet,  sondern  als  ein  leidenschaftlicher  Gegner  in 
Schrift  und  Wort  gegenüber.    Aus  der  Kirche  herausgedrängt,  wurde 
er  ein  Wanderprediger  gegen  ihr  gesamtes  System.     Hieraus  er- 
klärt sich  zunächst  das  unstete  Leben,  das  er  führte  und  zu  führen 
genötigt  war.    Überall,  bei  beiden  Konfessionen,  stieß  er  auf  Wider- 
spruch und  Verfolgung,  und  da  er  mit  jugendlicher  Keckheit  die 
letztere  eher  provozierte  als  vermied,  so  mußte  er  oft  heimlich  den 
Ort  seiner  Wirksamkeit  verlassen.    Es  kam  hinzu,  daß  der  Wechsel 
seines  Aufenthaltes  häufig  durch  das  Suchen  nach  einem  Verleger 
bedingt  war,  welcher  die  Gefahr  der  Herausgabe  seiner  von  vorn- 
herein der  Verdammung  sicheren  Werke  auf  sich  nähme.    So  sehen 
wir  ihn  nach  Wanderungen  durch  Oberitalien  kurze  Zeit  in  Genf,  in 
Lyon  und  Toulouse  weilen,  um  dann  eine  anfangs  sehr  erfolgreiche 
Wirksamkeit  an  der  Pariser  Universität  zu  beginnen,  an  der  seine 
Ernennung  zum  Professor  nur  an  seiner  Weigerung,  die  Messe  zu 
besuchen,  scheiterte.    Er  setzte  den  Wanderstab  weiter  nach  Eng- 
land und  lebte,  nachdem  man  in  Oxford  seine  Vorträge  über  die 
Unsterblichkeit  der  Seele  und  über  das  kopernikanische  System  ver- 
boten hatte,  eine  Zeitlang  unter  dem  Schutze  vornehmer  Gönner 
in  London,  wo  er  sich  der  Herausgabe  seiner  tiefsten  philosophischen 
Schriften  und  seiner  radikalsten,  italienisch  geschriebenen  Werke 
gegen  das  Christentum  widmete.    Aber  auch  von  dort  trieb  es  ihn 
wieder  fort:  nach  einem  kurzen  zweiten  Aufenthalte  in  Paris  ver- 
suchte er  sich  an  der  Universität  zu  Marburg  zu  habilitieren.    Aber 
hier  sowenig  wie  gleich  darauf  in  Wittenberg  fand  er  eine  dauernde 
Stätte,  und  man  kann  sich  des  Eindrucks  nicht  erwehren,  daß  an 
diesem  ewigen  Wandern  ebenso  wie  die  äußeren  Verhältnisse  auch 
eine  gewisse  Unstetigkeit   seines  inneren  Wesens  die  Schuld  ge- 
tragen hat.    Nach  einem  kurzen  Aufenthalte  in  Prag,  der  wiederum 
wesentlich  buchhändlerischen  Zwecken  gewidmet  gewesen  zu  sein 
scheint,  siedelte  er  an  die  Universität  Helmstädt  über  und  ver- 
tauschte auch  diesen  Wohnort  nach  geringer  Zeit  mit  Frankfurt  a.  M., 
um  dort  abermals  eine  Reihe  von  Werken  drucken  zu  lassen.    Zu 
weiterer  Flucht  genötigt,  lebte  er  vorübergehend  in  Zürich,  und 
von  hier  aus  folgte  er  schließlich  dem  Lockrufe,  durch  den  sein 
Geschick  sich  erfüllen  sollte.    Ein  italienischer  Edelmann,  der  von 
ihm  in  die  magischen  Künste  eingeweiht  zu  werden  hoffte,  rief  ihn 
zu  sich  nach  Padua  und  Venedig.    Daß  Bruno  hierauf  einging  und 


70  Bruno. 

sich  auf  diese  Weise  den  Gefahren  der  Inquisition  selbst  aussetzte, 
mag  wie  ein  Kätsel  erscheinen.  Allein  begreiflich  wäre  es  immerhin, 
wenn  ein  Mann  nach  so  ruhelosem  Leben  und  mit  dem  Gefühle, 
seine  hochfliegenden  Hoffnungen  und  Pläne  überall  gescheitert 
gefunden  zu  haben,  nun  die  Sehnsucht  empfunden  hätte,  in  der 
Heimat  um  jeden  Preis  die  Ruhe  zu  finden,  die  er  in  der  weiten 
Welt  vergebens  gesucht  hatte.  Was  er  wirklich  fand,  war  die  Not 
des  Kerkers  und  die  Ruhe  des  Todes.  Auf  die  Anzeige  seines  Gast- 
freundes wurde  er  von  der  Inquisition  verhaftet  und  nach  langem 
Harren  nach  Rom  ausgeliefert,  und  als  die  jahrelangen  Versuche, 
ihn  zum  Widerruf  zu  bewegen,  erfolglos  geblieben  waren,  wurde 
das  Todesurteil  über  ihn  gesprochen,  dessen  Verkündigung  er  mit 
dem  stolzen  Worte  an  seinen  Richter  erwiderte:  »Ihr  sprecht  das 
Urteil  mit  größerer  Angst,  als  ich  es  empfange.«  Am  17.  Februar 
1600  wurde  er  in  Rom  verbrannt  —  ein  Märtyrer  der  modernen 
Wissenschaft  —  gerade  2000  Jahre,  nachdem  Sokrates  den  Schier- 
lingbecher getrunken  hatte. 

Sonst  freilich  war  in  seinem  Wesen  nicht  gar  viel  Sokratisches 
zu  finden.  Er  war  eine  feurige  Natur,  von  südlicher  Leidenschaft- 
lichkeit und  unabgeklärter  Schwärmerei,  von  tief  poetischer  Emp- 
findung und  von  rücksichtslosem  Wahrheitssinn;  dabei  aber  ohne 
die  Fähigkeit,  den  eigenen  Geist  zu  zügeln  und  seiner  wilden  Be- 
wegung das  rechte  Maß  zu  geben.  Giordano  Bruno  ist  der  Phaeton 
der  modernen  Philosophie,  der  die  Zügel  der  Sonnenrosse  den  alten 
Göttern  aus  den  Händen  reißt  und  mit  ihnen  durch  den  Himmel 
stürmt,  um  in  den  Abgrund  zu  stürzen.  Die  Tragik  seines  äußeren 
Lebens  ist  nur  das  Spiegelbild  seines  inneren  Geschickes,  in  welchem 
die  Phantasie  mit  dem  Denken  durchgeht  und  es  aus  den  Bahnen 
ruhiger  Forschung  herausreißt. 

Gegenüber  diesen  phantastischen  und  poetischen  Strebungen 
seines  Denkens  machen  die  zahlreichen  methodologischen  Schriften 
Brunos  einen  nicht  wenig  befremdenden  Eindruck.  Sie  stehen, 
namentlich  in  der  ersten  Zeit,  mit  seinem  eigenen  Gedankensystem 
in  so  gut  wie  gar  keiner  Verbindung  und  mühen  sich  rastlos  um 
die  Durchführung  eines  barocken  Einfalls,  der  in  der  Scholastik 
aufgetaucht  war.  Man  darf  geradezu  einen  Ausdruck  des  Bewußt- 
seins von  ihrer  eigenen  Sterilität  darin  sehen,  wie  die  Scholastik 
schließlich  dem  Projekte  nachging,  eine  Art  von  Maschine  zur  Er- 


Kopernikanismus.  71 

zeugung  von  Gedanken  zu  erfinden.  Raymund  us  Lullus  hatte 
in  seiner  »Ars  magna«  ein  solches  System  von  Kreisen  zusammen- 
gestellt, auf  denen  eine  Anzahl  von  Grundbegriffen  verzeichnet 
waren,  und  durch  deren  Drehung  diese  verschiedenen  Grundbegriffe 
systematisch  miteinander  zusammengebracht  werden  sollten,  um 
vermöge  dieser  Kombinationen  immer  neue  Begriffe  zu  erzeugen. 
Es  spricht  wenig  für  die  logische  und  erkenntnistheoretische  Ein- 
sicht Brunos,  daß  ihm  die  Verbesserung  dieser  traurigen  Denk- 
maschine zeitlebens  so  viel  Kopfzerbrechens  machte,  und  daß  er 
ihr  eine  große  Anzahl  von  mehr  oder  minder  ausführlichen  Werken 
widmete.  Selbst  der  brauchbare  Kern  dieser  Versuche,  das  Streben 
nach  der  Feststellung  einfacher  und  elementarer  Erkenntnisbegriffe, 
kommt  bei  Bruno  kaum  zum  Vorschein.  Es  gewinnt  vielmehr 
beinahe  den  Anschein,  als  habe  er  den  Mangel  wissenschaftlicher 
Methodik  in  seinem  eigenen  Systeme  gefühlt  und  deshalb  in  diesen 
Arbeiten  eine  Art  von  Ergänzung  gesucht.  Anderseits  mochten 
ihm,  namentlich  später,  diese  sämtlich  lateinisch  geschriebenen  Werke 
dazu  dienen,  um  fort  und  fort  seine  Angehörigkeit  zur  gelehrten 
Zunft  zu  betätigen  und  zu  beweisen,  daß  er  gegen  die  phantastische 
Spekulation  seiner  neuen  Lehre  ein  Gegengewicht  höchst  pedan- 
tischer Wissenschaftlichkeit  besäße.  Wie  dem  auch  sei,  dies  frucht- 
lose Herumtappen  nach  einer  Methode  steht  mit  denjenigen  Ge- 
danken, auf  welchen  seine  Bedeutung  beruht,  in  keinem  Zusammen- 
hange. 

Diese  haben  vielmehr  ihre  Wurzel  in  der  kopernikanischen 
Lehre,  als  deren  begeisterter  Verkünder  Bruno  durch  Europa 
reiste,  und  sie  beweisen,  wie  sich  aus  der  neuen  astronomischen 
Theorie  notwendig  die  metaphysische  Konsequenz  der  Unend- 
lichkeit des  Weltalls  und  damit  eine  allgemeine  Erhebung  über  jede 
geistige  Beschränkung  ergab.  »Offenbar  töricht  ist  es  doch«,  sagt 
Bruno,  »wie  der  gemeine  Pöbel  zu  meinen,  es  gäbe  keine  anderen 
Geschöpfe,  keinen  anderen  Sinn  und  keinen  anderen  Verstand  als 
allein  die  uns  bekannten.«  »Glauben,  daß  nicht  mehr  Planeten 
seien,  als  wir  bisher  kennen,  dürfte  nicht  viel  vernünftiger  sein,  als 
wenn  jemand  meinte,  es  flögen  nicht  mehr  Vögel  durch  die  Luft, 
als  er  eben  aus  seinem  kleinen  Fenster  heraussehend  hat  vorüber- 
fliegen sehen. «  So  erhebt  ihn  die  neue  Lehre  über  die  Beschränkt- 
heit der  Religionen  und  der  Konfessionen;  vor  seinem  Auge  steht 


72  Bruno. 

Pythagoras  neben  dem  Propheten  von  Nazareth,  und  ebenso  wie 
er  nicht  in  die  Messe  geht,  verspottet  er  die  Kechtfertigung  durch 
den  Glauben.  Er  tadelt  an  dem  sonst  verehrten  Cusaner,  sein 
Priesterkleid  habe  ihn  beengt.  Die  Philosophie  soll  sich  mit  theo- 
logischen Fräsen  nichts  zu  schaffen  machen:  das  höchste  Wesen 
ist  nicht  zu  erkennen;  es  gehört  dazu,  wie  Bruno  manchmal  im 
Sinne  der  mystischen  Theologie,  manchmal  aber  auch  nicht  ohne 
Ironie  sagt,  ein  übernatürliches^Xicht.  Die  Aufgabe  der  Philosophie 
ist,  die  Natur  zu  erkennen  und  die  Einheit  ihres  unendlichen  All- 
Lebens  zu  begreifen,  Gott  zu  suchen  nicht  außer,  sondern  innerhalb 
der  Welt  und  der  unendlichen  Keine  der  Dinge;  und  dies  allein 
macht  den  Unterschied  zwischen  dem  gläubigen  Theologen  und 
dem  forschenden  Weltweisen.  So  gründet  sich  die  Proklamation  der 
wissenschaftlichen  Freiheit  bei  Bruno  von  vornherein  auf  einen 
Pantheismus,  der  sich  mit  vollem  Bewußtsein  der  christlichen  Welt- 
anschauung entgegenstellt. 

Für  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  selbst  gibt  nun  das  koper- 
nikanische  System  zwar  keine  Methode,  aber  doch  einen  überaus 
wichtigen  erkenntnistheoretischen  Gesichtspunkt,  durch  den  sich 
Bruno  sehr  weit^Von  dem  einseitigen  Sensualismus  des  Telesius 
entfernt  und  über  ihn  erhebt.  Die  Theorie  des  deutschen  Astro- 
nomen widerstreitet  dem  Sinnenschein;  sie  beruht  zwar  auf  Sinnes- 
wahrnehmungen, aber  sie  erwächst  daraus  nur  durch  eine  Ver- 
standeskritik, in  der  die  Täuschung  durchschaut  wird.  Hieraus 
ergibt  sich  für  Bruno  die  Unzulänglichkeit  der  bloßen  Wahr- 
nehmung. Der  erste  Einwurf,  den  er  sich  in  seiner  Schrift:  »Dell* 
infinito  universo  e  dei  mondi«  (1584)  gegen  die  Lehre  von  der  Un- 
endlichkeit der  Welt  machen  läßt,  ist  derjenige  des  Widerspruchs 
der  Sinne.  Und  freilich  gibt  es  für  diese  Unendlichkeit  keinen 
Sinnenbeweis;  aber  die  Sinne  können  auch  nur  in  endlichen  Dingen 
Beweiskraft  beanspruchen,  und  auch  da  nur,  insofern  sie  mit  dem 
Verstände  übereinstimmen.  Das  Unendliche  selbst  ist  kein 
Gegenstand  der  Sinne,  es  ist  seinem  Wesen  nach  unermeßlich,  un- 
vergleichlich und  unerkennbar;  denn  alle  unsere  Verstandeserkennt- 
nis begreift  nur  Ähnlichkeiten  und  Verhältnisse  der  endlichen  Dinge, 
die  wir  durch  die  Sinne  wahrgenommen  haben.  Die  Erkenntnis 
des  Unendlichen  ist  deshalb  nur  unvollkommen  möglich,  und  gerade 
wie  die  einzelnen  Dinge  selbst  nur  ein  Schatten  des  wahren  Wesens 


Das  Unendliche.  73 

sind,  so  ist  auch  unsere  an  die  Sinne  gebundene  Erkenntnis  nur 
ein  Spiegel,  in  welchem  die  Wahrheit  geahnt  wird,  aber  nicht  selbst 
enthalten  ist. 

Diese  Betrachtungen  erinnern  an  die  skeptisch-mystischen  Wen- 
dungen bei  Nikolaus  Cusanus,  aber  sie  halten  Bruno  nicht  ab,  durch 
die  begrifflichen  Untersuchungen,  soweit  es  für  den  Menschen 
möglich  ist,  über  die  Sinnestäuschung  hinaus  zu  streben,  und  er 
liefert  zunächst  eine  scharfe  Kritik  der  mit  der  Autorität  des  Aristo- 
teles sich  deckenden  Vorstellung  von  der  Endlichkeit  der  Welt. 
Was  ist,  fragt  er,  die  Leere  jenseits  des  die  Welt  begrenzenden 
Äthers?  Immer  und  immer,  wo  ihr  auch  die  Grenze  setzt,  muß 
dahinter  noch  wieder  der  Kaum  sein.  Der  leere  Raum  in  seiner 
unendlichen  Ausdehnung  ist  der  Ausfluß  der  unendlichen  Weltkraft ; 
die  nimmer  müßige,  unendliche  Tätigkeit  Gottes  kann  sich  nur  in 
einer  Welt  gestalten,  die  räumlich  und  zeitlich  unendlich  ist.  Auf 
Grund  dieses  Gedankens  benutzt  Bruno  die  kopernikanische  Lehre 
zur  Ausführung  eines  Weltbildes,  das  demjenigen  der  heutigen  Na- 
turwissenschaft in  seinen  Grundzügen  sehr  nahe  kommt.  Das  Uni- 
versum besteht  danach  aus  dem  unendlichen  Räume,  dem  Leeren, 
worin  etwas  sein  kann,  und  der  unendlichen  Anzahl  von  Welten, 
die  sich  darin  bewegen.  Im  einzelnen  knüpft  Bruno  dabei  an  die 
demokritisch-epikureische  Tradition  an:  aber  diese  Anlehnung  be- 
trifft mehr  die  Pluralität  der  Welten,  als  die  Auffassung  ihrer  Be- 
wegung. Denn  während  der  Atomismus  dafür  nur  das  Prinzip  der 
mechanischen  Notwendigkeit  kannte,  ist  für  Bruno  alles  Geschehen 
Leben  und  Zwecktätigkeit,  und  während  für  die  Atomisten  der 
leere  Raum  nur  der  indifferente  Schauplatz  für  das  Treffen  der 
Atome  war,  ist  bei  Bruno  nach  neuplatonischem  Vorbild  der  unend- 
liche Raum  die  Wirkungsstätte,  in  welcher  sich  die  unendliche 
Weltkraft  ihrem  Wesen  nach  entfalten  muß.  Diese  Bestimmungen 
hängen  aber  auch  mit  den  Umwälzungen  zusammen,  die  der  Be- 
griff der  Unendlichkeit  durch  den  Neupia tonismus  erfahren  hatte: 
in  ihm  war  der  ursprünglichen  griechischen  Auffassung  gegenüber 
gelehrt,  daß  die  absolute  Wirklichkeit,  die  Gottheit,  ihrem  Wesen 
nach  als  unendlich  gedacht  werden  müsse.  Deshalb  stimmte  es 
mit  diesem  Gedanken  völlig  überein,  wenn  nun  auch  das  koperni- 
kanische System  dazu  zwang,  das  Weltall  und  den  Raum  als  unend- 
lich zu  denken. 


74  Bruno. 

Daher  hat  Bruno  Wert  darauf  gelegt,  diesen  Gedanken  be- 
sonders eingehend  auszuführen.  Das  Universum  selbst  ist  unbe- 
weglich, es  kann  seinen  Ort  nicht  ändern,  weil  außer  ihm  kein 
Ort  ist,  aber  es  bewegt  sich  in  sich  selber,  und  alle  Bewegung  ist 
deshalb  nur  relativ,  es  ist  die  innere  Verschiebung  der  Teile  dieses 
Weltalls.  Auch  von  einem  Mittelpunkte  des  Universums  kann 
seinem  Begriffe  nach  nicht  gesprochen  werden;  aber  es  kann,  was 
auf  dasselbe  hinausläuft,  jeder  Punkt  für  den  Mittelpunkt  angesehen 
werden,  und  wir  beweisen  das  praktisch,  indem  wir  es  mit  der 
Erde  so  machen.  So  bestehen  nun  in  diesem  unendlichen  Weltall 
unzählige  endliche  Welten,  die  alle  in  ihren  Grundzügen  gleich 
gebildet  sind.  »Jeder  Stern  bewegt  durch  sein  eigenes  Leben  sich 
frei  um  seinen  eigenen  Mittelpunkt  und  um  seine  Sonne. «  Als  den 
Grund  dieser  Bewegung  ahnt  Bruno  die  Anziehung  des  Verwandten. 
Die  Weltkörper  »halten  sich  gegenseitig  durch  diese  ihre  Zugkraft«, 
sie  bilden  alle  ein  System  des  gegenseitigen  Stutzens  und  Tragens, 
worin  jedes  Glied  für  den  Zusammenhang  der  übrigen  notwendig 
ist.  Wenn  ein  Stern,  wie  etwa  die  Kometen,  an  einen  Punkt  ge- 
langt, wo  er  gleichweit  von  zwei  verschiedenen  Welten  entfernt  ist, 
so  muß  er  stille  stehen;  aber  die  geringste  Veränderung  in  diesem 
Entfernungsverhältnis  läßt  ihn  sogleich  dem  näheren  zufliegen. 
Wenn  diese  Gedanken  jetzt  unvollkommen  oder  trivial  erscheinen, 
so  darf  man  nicht  vergessen,  daß  sie  damals  eine  Tat  und  eine 
beispiellos  kühne  Folgerung  waren,  und  daß  sie  alles  umstürzten,  was 
man  über  die  kosmischen  Verhältnisse  im  Mittelalter  geglaubt  hatte. 

Noch  in  einer  zweiten,  ebenso  wichtigen  Hinsicht  wendet  sich 
Bruno  mit  Hilfe  der  kopernikanischen  Lehre  gegen  die  herrschende 
Weltvorstellung.  Diese  hatte  den  uralten  Gegensatz  von  Himmel 
und  Erde  in  dem  Sinne  aufrecht  erhalten,  wie  er  in  der  griechi- 
schen Wissenschaft  durch  die  Astronomie  der  Pythagoreer  befestigt 
und  von  Aristoteles  anerkannt  worden  war,  in  dem  Sinne  nämlich, 
daß  der  Sternenhimmel  das  Reich  der  Vollkommenheit,  die  »Welt 
unter  dem  Monde«  dagegen  das  der  Un Vollkommenheit  sein  sollte: 
diese  sollte  aus  den  »vier  Elementen«,  jener  aus  dem  »Äther«  be- 
stehen. Eine  solche  Wert-  und  Stoffverschiedenheit  zwischen  Him- 
mel und  Erde  ist  im  kopernikanischen  System  nicht  möglich:  dies 
setzt  die  Gleichartigkeit  des  Universums  in  allen  seinen 
Teilen  voraus,  und  so  lehrte  denn  auch  Bruno,  daß  die  eine  gött- 


Wesensgleichheit  des  ganzen  Alls.  75 

liehe  Weltkraft  überall  ihr  gleiches  vollkommenes  Leben  entfalte. 
Wenn  daher  durch  Kopernikus  und  Bruno  die  Erde  aus  dem  Welt- 
mittelpunkt entrückt  und  zu  einem  Stäubchen  im  unendlichen  All 
herabgesetzt  wurde,  so  gab  ihr  anderseits  dieselbe  Lehre  das  gleiche 
Wesen  und  den  gleichen  Wert  wie  allen  übrigen  Himmelskörpern. 

Bruno  bleibt  jedoch  nicht  dabei  stehen,  diese  große  kosmo- 
logische  Anschauung  aus  dem  kopernikanischen  System  zu  ent- 
wickeln, sondern  sucht  ihr  eine  metaphysische  Grundlage  zu  geben, 
und  das  Problem,  auf  dessen  Lösung  es  dabei  hinausläuft,  ist  genau 
dasjenige,  welches  wir  bei  Nikolaus  von  Cues  als  den  Gegensatz 
von  Individualismus  und  Universalismus  kennen  gelernt  haben;  es 
ist  in  zunächst  naturphilosophischer  Formulierung  die  Frage,  wie 
die  Selbständigkeit  der  endlichen  Welten  mit  der  Einheit  des  un- 
endlichen Weltlebens  vereinbar  ist.  Auch  bei  Bruno  freilich  kann 
man  gewiß  nicht  einmal  annähernd  von  einer  Lösung  dieses  Pro- 
blems sprechen;  auch  bei  ihm  liegen,  wenngleich  schon  etwas  ent- 
wickelter, beide  Anschauungen  noch  im  gemeinsamen  Keime  friedlich 
nebeneinander.  Aber  diese  Möglichkeit  der  Vereinigung  erscheint 
bei  Bruno  immer  unter  einem  bestimmten  Gesichtspunkte,  vermöge 
dessen  er  in  hervorragender  Weise  als  der  Philosoph  der  italienischen 
Renaissance  erscheint:  es  ist  der  Gesichtspunkt  der  künstleri- 
schen Harmonie,  der  zum  Teil  in  bewußter  und  ausgesprochener 
Analogie  das  Weltbild  in  seinem  Kopfe  bestimmt. 

Von  den  scholastischen  Begriffen  benutzt  Bruno  wie  der  Cusaner 
zunächst  diejenigen  der  essen tia  und  existentia,  des  Wesens  und  der 
Erscheinung,  um  das  Verhältnis  der  all-einen  Gottnatur  zu  den 
einzelnen  Dingen  begreiflich  zu  machen.  Der  Substanz,  dem  inneren 
Wesen  nach  ist  ihm  in  der  Tat  alles  dasselbe:  die  eine  unendliche 
Gottheit.  Keines  der  einzelnen  Dinge  ist  selbständig,  jedes  ist  nur, 
insofern  es  eine  Erscheinung  der  ewigen  und  unendlichen  Gottes- 
kraft ist.  Aber  diese  eine  Substanz  ist  für  Bruno  nicht  ein  starres, 
Bewegung  und  Vielheit  ausschließendes  Sein,  sondern  vielmehr 
eine  ewige,  schöpferische  Tätigkeit,  es  ist  die  wirkende  Naturkraft, 
die  Ursache  aller  Dinge.  Über  das  Wesen  dieser  einen  Substanz 
gibt  Bruno  in  seinen  »Dialoghi  della  causa  prineipio  ed  uno«  eine 
geistvolle  Untersuchung,  die  mit  dem  Gegensatze  der  causae  effi- 
cientes  und  der  causae  finales  beginnt.  Bei  den  einzelnen  Dingen 
nämlich,   führt   er  aus,   und  ihren  Verhältnissen  zueinander  mag 


76  Bruno. 

dieser  Gegensatz  berechtigt  sein,  da  soll  man  zwischen  der  Ursache 
eines  Dinges  und  dem  Zwecke,  den  es  zu  erfüllen  hat,  wohl  unter- 
scheiden: ganz  anders  in  dem  Verhältnisse  der  Natur  zu  ihren 
einzelnen  Erzeugnissen.  Die  Gottheit  ist  die  wirkende  Ursache, 
die  natura  naturans  aller  Dinge;  sie  verhält  sich  zu  den  einzelnen 
Dingen,  wie  die  Denkkraft  zu  den  einzelnen  Begriffen,  aber  ihr 
Denken  ist  zugleich  ein  Schaffen  aller  Wirklichkeit.  Auf  der  anderen 
Seite  aber  ist  der  Zweck  dieser  Schöpfertätigkeit  kein  anderer  als 
die  Vollkommenheit  des  Universums  selbst,  als  die  Realisierung  der 
ganzen  Unendlichkeit  von  Formen  und  Gestalten,  deren  Möglich- 
keit in  dem  göttlichen  Wesen  enthalten  ist.  Deshalb  ist  die  gött- 
liche Substanz  Weltursache  und  Weltzweck  zugleich,  sie  ist  der 
schöpferische  Geist,  dessen  Gedanken  Natur  und  Wirklichkeit  sind. 
Bilden  und  Schaffen  kann  eben  nur  der  Geist,  er  wirkt  in  den  Dingen 
wie  ein  innewohnender  Künstler  als  Idee  und  schaffende  Kraft 
zugleich.  Die  ganze  Natur  atmet  dieses  göttliche  Leben,  diese  inner- 
liche Beseelung,  und  vor  allem  an  den  Organismen  sucht  Bruno  es 
darzutun,  wie  die  wirkende  Ursache  und  der  Zweck  allüberall  das- 
selbe und  damit  das  eigentliche  substantielle  Wesen  ist.  Die  Materie 
ist  nur  die  unendliche  Möglichkeit,  die  ewige  Bildsamkeit,  aus 
welcher  heraus  die  Gottheit  wie  der  Künstler  die  Gestalten  formt. 
Wandelbar  ist  deshalb  nicht  das  innere  Wesen  der  Natur,  sondern 
nur  ihre  äußerliche  Wirklichkeit:  wie  der  Künstler  sich  gleich 
bleibt,  wenn  er  auch  noch  so  viele  Gestalten  schafft,  so  die  Gott- 
heit in  der  unendlichen  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  —  nur  mit  dem 
Unterschiede,  daß  dem  menschlichen  Künstler  die  zu  gestaltende 
Materie  als  ein  Fremdes  und  Äußerliches  gegeben  ist,  dem  er  doch 
immer  nur  einzelne  Schöpfungen  mühsam  abringen  kann,  während 
die  Materie  des  Weltorganismus  nichts  anderes  ist,  als  die  unend- 
liche Möglichkeit  von  Schöpfergedanken,  die  in  der  göttlichen  Kraft 
aufsteigen  und,  sobald  sie  es  tun,  auch  Wirklichkeit  sind.  Schranken- 
los mit  steter  Tätigkeit  lebt  so  die  Natur  ihr  Wesen  in  ewiger  Selbst- 
gebärung  aus:  »darum  ist  das  Universum,  die  unerzeugte  Natur, 
alles,  was  sie  sein  kann,  in  der  Tat  und  auf  einmal:  aber  in  ihren 
Entwicklungen  von  Moment  zu  Moment,  in  ihren  besonderen  Tätig- 
keiten und  Teilen,  Beschaffenheiten  und  einzelnen  Wesen,  überhaupt 
in  ihrer  Äußerlichkeit  ist  sie  nur  noch  ein  Schatten  von  dem  Bilde 
des  ersten  Prinzips.« 


Gott  und  Welt.  77 

In  der  unendlichen  Substanz  geht  so  alle  Besonderheit  unter: 
weil  sie  alles  ist,  kann  sie  nichts  im  besonderen  sein.  Darum  ist 
sie  für  uns,  deren  Begriffe  an  einzelnen  Dingen  emporwachsen, 
unerfaßbar  und  unaussagbar.  Während  aber  das  Ganze  seiner 
Essenz  nach  unverändert  bleibt,  bildet  das  Leben  der  Einzeldinge 
eine  rastlose  Veränderung:  so  ist  die  Natur  immer  werdend  und 
dabei  immer  doch  schon  fertig  und  vollendet;  das  Universum  ist 
in  jedem  Augenblicke  vollkommen,  es  kann  nie  etwas  anderes  sein 
als  die  schrankenlose  Betätigung  der  göttlichen  Urkraft.  Die  ein- 
zelnen Dinge  dagegen  sind  dem  Prozesse  des  Keimens,  Wachsens 
und  Welkens  unterworfen.  Sie  beginnen  in  unvollkommener  Ge- 
stalt, sie  entwickeln  sich  zu  vollkommener  Entfaltung  ihres  inneren 
Wesens,  und  sie  sterben  wieder  dahin  zu  neuer  Unvollkommenheit, 
um  anderen  Dingen  als  Keim  neuen  Lebens  zu  dienen.  In  dieser 
ewig  gleichen  Vollkommenheit  des  Ganzen  sucht  Bruno  den  Trost 
über  die  Unvollkommenheit  des  einzelnen;  auch  seine  eigenen 
geknickten  Hoffnungen,  sein  Elend  und  sein  Tod  gelten  ihm  nichts 
vor  dieser  seligen  Versenkung  in  die  unendliche  Schönheit  des  Uni- 
versums. Je  mehr  der  Mensch  sich  in  die  Anschauung  des  Ganzen 
erhebt,  um  so  mehr  verschwindet  ihm  der  Schmerz  über  die  Leiden 
und  Übel  der  Welt.  Es  gibt  in  Wahrheit  keinen  Tod,  das  Weltall 
ist  nur  Leben,  das  Substantielle  kann  niemals  vernichtet  werden, 
und  es  ändern  sich  nur  die  Gestalten  seiner  äußeren  Erscheinung. 
Dieser  Optimismus  als  die  notwendige  Konsequenz  des  Uni- 
versalismus ist  von  Bruno  in  begeisterter  Weise  ausgesprochen 
worden.  Aus  der  Beschränkung  des  irdischen  Lebens  schwingt  er 
sich  empor,  um  in  weihevoller  Betrachtung  das  Weltall  zu  genießen. 
Das  ist  die  Liebe,  die  den  WTeisen  erfüllt,  das  ist  die  Leidenschaft, 
der  Bruno  in  seinem  Buche :  »Degli  eroici  f urori «  auch  einen  poetisch 
schönen  Ausdruck  gegeben  hat.  In  dieser  höchsten  Liebe  des 
Nolaners  begegnet  uns,  von  moderner  Phantasie  erfüllt,  der  plato- 
nische Eros  wieder,  die  sehnende,  ringende  Erhebung  der  Seele  zur 
Gottheit,  zur  unendlichen  Natur. 

In  diesem  ewigen,  rastlos  in  sich  geschlossenen  Leben  des  Uni- 
versums kann  es  deshalb  keinen  äußeren  Zwang,  keine  mecha- 
nische Nötigung  geben;  alle  Bewegung  stammt  ja  aus  der  innersten 
Natur  der  Dinge,  und  sie  ist  somit  zugleich  höchste  Notwendigkeit 
und  vollkommenste  Freiheit.     In  der  universellen  Lebenseinheit 


78  Bruno. 

lösen  die  Gegensätze  der  einzelnen  Dinge  sich  auf,  wie  sie  einander 
bedingen  zu  schöpferischer  Tätigkeit.  Auf  diese  Weise  entwickelt 
Giordano  Bruno  von  tieferem  Gesichtspunkte  seines  Pantheismus 
aus  nun  die  Lehre  von  der  coincidentia  oppositorum,  in  der  ihm 
Nikolaus  von  Cues  vorgearbeitet  hatte.  Wichtiger  als  die  Auf- 
stellung einer  Tabelle  der  Gegensätze  ist  die  Analogie,  durch  die 
Bruno  diesen  Gedanken  zu  erläutern  sucht.  Alle  künstlerische 
Tätigkeit,  sagt  er,  zeigt  eine  Harmonie  der  Gegensätze;  Farben, 
Linien  und  Töne  werden  von  der  Kunst  gerade  vermittels  ihres 
Gegensatzes  zu  harmonischer  Einheit  verknüpft:  und  so  ist  auch 
das  Leben  des  Weltalls  ein  künstlerisches,  organisches.  Die  göttliche 
Urkraft  in  der  Fülle  ihrer  Mannigfaltigkeit  entzweit  sich  in  den 
Widerspruch,  um  ihn  zu  schöner  Einheit  zu  versöhnen.  Das  sind 
heraklitische  Gedanken,  die  unter  dem  künstlerischen  Gesichts- 
punkte die  Weltauffassung  der  stoischen  Physik  erneuern.  Das 
Weltall  ist  ein  unendlicher  Prozeß,  in  welchem  die  Gegensätze  zu- 
einander zurückkehren;  daher,  sagt  Bruno  wie  die  Philosophen  des 
Altertums,  ist  die  natürlichste  und  vollkommenste  Bewegungsform 
die  Kreislinie,  in  der  ja  auch  die  Weltkörper  einer  um  den  anderen 
laufen,  und  die  Kugelgestalt  die  Grundbildungsform  der  endlichen 
Welten. 

Wenn  so  in  dem  Systeme  Brunos  der  Universalismus  zu  über- 
wiegen scheint,  so  sind  doch  auch  die  Keime  der  entgegengesetzten 
Kichtung  bei  ihm  schon  sehr  kräftig  entwickelt,  und  wenn  man 
die  Reihenfolge  seiner  Schriften  betrachtet,  so  scheint  es,  als  ob 
sie  im  Laufe  seines  Lebens  immer  mehr  bestimmende  Kraft  ge- 
wonnen hätten.  Es  ist  namentlich  ein  Gegensatz,  in  dessen  Be- 
trachtung die  individualistische  Tendenz  hauptsächlich  seiner  spä- 
teren Schriften  lebhaft  hervortritt,  derjenige  des  Größten  und  des 
Kleinsten,  —  ein  Gegensatz,  an  den  schon  Nikolaus  von  Cues  in 
ähnlichem  Sinne  die  letzten  Probleme  seiner  Metaphysik  geknüpft 
hatte.  Da  die  Gottheit  alle  Gegensätze  umspannt,  so  ist  sie  auch 
zugleich  das  Größte  und  das  Kleinste.  In  dem  ersteren  Sinne  ist 
sie  das  Universum  selbst,  als  die  räumliche  und  zeitliche  Unendlich- 
keit alles  Lebens,  in  dem  letzteren  Sinne  ist  sie  der  individuell  be- 
stimmte Lebenskeim  jedes  endlichen  Dinges:  denn  ohne  individuelle 
Bestimmtheit  ist  kein  Leben  zu  denken.  Der  Begriff  des  Kleinsten 
entwickelt  sich  nun  für  Bruno  in  drei  Formen.    Es  gibt  ein  mathe- 


Monadenlehre.  79 

matisches  Minimum,  das  ist  der  Punkt ;  er  ist  das  Prinzip  der  Linie, 
ihr  Anfang  und  ihr  Ziel.  Es  gibt  ein  physikaliscjies  Minimum, 
das  ist  das  Atom,  das  Prinzip  des  Körpers;  denn  er  besteht  aus 
Atomen,  und  in  Atome  löst  er  wieder  sich  auf.  Es  gibt  ein  meta- 
physisches Minimum,  das  ist  die  Monade,  das  individuelle  Wesen; 
denn  aus  individuellen  Wesen  besteht  das  Universum,  und  seine 
ganze  Tätigkeit  ist  darin  beschlossen,  Individuen  entstehen  und 
vergehen  zu  lassen.  Aber  dies  Individuum  kann  schließlich  doch 
nie  etwas  anderes  sein,  als  die  unendliche  Weltkraft  selbst.  Es 
kann  auch  nicht  ein  selbständiger  Teil  davon  sein;  denn  die  ewige 
Urkraft  ist  nicht  spaltbar  und  veränderlich,  sie  ist  überall  ganz 
und  überall  die  gleiche.  Die  Monade  ist  deshalb  die  Gottheit  selbst, 
nur  in  jeder  Monade  in  besonderer  Gestaltungs-  und  Erscheinungs- 
form. Wie  im  Organismus  die  organische  Kraft,  wie  im  Kunst- 
werke der  schöpferische  Gedanke  überall  ganz  und  vollständig  zu- 
gegen ist  und  dabei  doch  überall  eigentümlich  sich  darstellt,  so  ist 
die  allgegenwärtige  Gotteskraft  an  jeder  Stelle  des  Universums  neu 
und  von  allen  anderen  verschieden,  sie  ist  unerschöpflich  genug, 
um  sich  niemals  wiederholen  zu  müssen. 

Und  das  ist  nun  also  der  tiefste  Gegensatz,  welchen  das  Uni- 
versum in  sich  trägt:  jede  seiner  Monaden  ist  ein  Spiegel  der  Welt, 
sie  ist  zugleich  das  Ganze  und  dabei  ein  von  allen  anderem  unter- 
schiedenes Ding;  es  ist  überall  dieselbe  Weltkraft  und  doch  jedes- 
mal in  einer  anderen  Gestalt.  Diese  nicht  eigentlich  begrifflich 
durchdachte,  sondern  nur  mit  kühner  und  großartiger  Phantasie 
ausgemalte  Versöhnung  des  universalistischen  und  des  individualisti- 
schen Gedankens  hat  Bruno  an  die  Grundlage  seines  Systems,  an 
die  kopernikanische  Lehre  anzuknüpfen  gewußt.  Die  Weltkörper 
selbst  zeigen  in  ihrer  Doppelbewegung  die  Vereinigung  der  univer- 
salen und  der  inviduellen  Tendenz.  Indem  sie  sich  um  ihre  Zentral- 
körper bewegen,  zeigen  sie  ihr  Leben  durch  das  Ganze  bedingt 
und  im  Ganzen  beschlossen;  indem  sie  sich  um  ihre  eigene  Achse 
drehen,  erweisen  sie  sich  als  selbstkräftige  Erscheinungen  der  gött- 
lichen Substanz,  als  Monaden.  Das  Ganze  ist  nur,  indem  es  im 
Einzelnen  lebendig  wird :  das  Einzelne  ist  nur,  indem  es  die  Kraft 
des  Ganzen  in  sich  trägt.   »Omnia  ubique.« 

Es  ist  keine  Arbeit  des  strengen  begrifflichen  Denkens,  welche 
uns  in  diesem  System  entgegentritt,  aber  es  ist  eine  denkwürdige 


80  Campanella. 

Schöpfung  metaphysischer  Phantasie,  die  mit  künstlerischem  Sinn 
das  neue  Gebäude  der  astronomischen  Forschung  ausbaut  und 
der  Entwicklung  des  modernen  Denkens  ahnungsvoll  vorgreift. 
Vieles,  vielleicht  das  meiste  in  den  Schriften  Brunos  wird  den 
jetzigen  Leser  bald  durch  pedantische  Ausführlichkeit,  bald  durch 
geschmacklose  Leidenschaftlichkeit,  bald  durch  phantastische  Will- 
kürlichkeit und  Kegellosigkeit,  bald  endlich  durch  kindische  Un- 
wissenschaftlichkeit verletzen:  im  ganzen  betrachtet,  wie  der  Geist 
seines  Systems  es  verlangt,  bleibt  die  Reinheit  seiner  Absicht  und  die 
Großartigkeit  seiner  Kombinationsgabe  eines  jener  Denkmale  des 
menschlichen  Geistes,  welche  durch  die  Jahrhunderte  strahlen  mit 
belebender  und  befruchtender  Kraft. 

Die  Geschichte  zeigt  sehr  bald  nach  Bruno  eine  Art  Kopie  von 
ihm,  die  sich  aber  zu  dem  Originale  höchstens  verhält  wie  ein 
schlechter  Gipsabguß  zur  Marmorstatue.  Es  ist  Lucilio  Vanini, 
der,  1585  zu  Neapel  geboren,  nach  einem  gleich  ruhelosen  Leben, 
das  er  in  Deutschland,  den  Niederlanden,  der  Schweiz,  England, 
Italien  und  Frankreich  geführt  hatte,  im  Jahre  1619  zu  Toulouse 
verbrannt  wurde.  Seine  Schrift:  »De  admirandis  naturae  reginae 
deaeque  mortalium  arcanis«  ist  in  jeder  Beziehung  nur  ein  ver- 
flachter Abklatsch  der  von  Bruno  so  plastisch  ausgeführten  Ge- 
danken, und  seine  mit  widerwärtiger  Polemik  gegen  das  Christen- 
tum durchflochtene  Darstellung  des  Naturmechanismus  würde 
vermutlich  längst  der  Vergessenheit  anheimgefallen  sein,  wenn 
ihm  nicht  sein  Märtyrertum  eine  Stelle  in  der  Geschichte  der 
Denker  verschafft  hätte. 

§  13.  Tommaso  Campanella. 

Neben  Bruno  erscheint  eine  zweite,  auch  von  düsterem  Geschick 
umhüllte  Gestalt:  sein  Ordensbruder  Campanella.  In  den  gleichen 
gärenden  Gedanken  aufgewachsen,  durch  ihren  Widerspruch  zer- 
rissen und  aus  dem  Geleise  ruhiger  Entwicklung  herausgetrieben, 
ist  auch  er  unstet  durch  die  Welt  geirrt  und  hat  die  Verfolgung 
der  kirchlichen  Macht  in  schwerem  Leid  erfahren;  nur  am  Schluß 
war  es  ihm  beschieden,  in  der  Fremde  den  Hafen  der  Ruhe  zu 
finden. 

Thomas  Campanella,  1568  zu  Stilo  in  Calabrien  geboren,  war 
wie  Bruno  frühzeitig  Dominikaner  geworden  und  zu  seiner  Aus- 


Leben.  81 

bildung  auf  die  cosentinische  Akademie  geschickt  worden,  wo  die 
Traditionen  des  Telesius  das  Ansehen  des  Aristoteles  untergruben. 
Seine  glänzenden  Erfolge  in  gelehrten  Disputationen  zogen  ihm  eine 
Anklage  wegen  Zauberei  zu,  »weil  er  die  Theologie  kenne,  ohne 
sie  studiert  haben  zu  können«,  und  so  zur  Flucht  gezwungen,  be- 
gab er  sich  nach  Kom,  von  dort  nach  Florenz  und  später  nach 
Padua,  bis  er  1599  unter  dem  Vorwande  politischen  Verdachtes 
aufgegriffen  und  nach  mehrmaliger  Folterung  zu  lebenslänglicher 
Gefangenschaft  verurteilt  wurde.  ( Im  Gefängnisse  milde  behandelt, 
dichtete  er  Kanzonen  und  Sonette,  welche  von  einem  Freunde  unter 
dem  Titel :  »Scelta  d'alcune  poesie  f  ilosof  iche  di  Septimontano  Squilla  « 
herausgegeben  wurden.  Einiges  davon  hat  Herder  übersetzt.  Nach 
langen  Jahren  wurde  Campanella  1626  vom  Papst  Urban  VIII.  frei- 
gelassen: aber  schon  bald  darauf  mußte  er  wiederum,  von  Seiten 
der  Spanier  verdächtigt,  unter  dem  Schutze  der  französischen  Ge- 
sandtschaft nach  Marseille  entfliehen.  Hier  trat  er  in  Verkehr 
mit  Gassendi  und  wurde  von  ihm  dem  Hofe  und  der  gelehrten 
Gesellschaft  in  Paris  zugeführt.  Mit  Unterstützung  Eichelieus 
begann  er  eine  Gesamtausgabe  seiner  Werke  zu  veranstalten;  an 
ihrer  Vollendung  hinderte  ihn  der  Tod,  der  ihn  1639  in  Paris  er- 
eilte. Seine  Persönlichkeit  ist  eine  der  seltsamsten  Mischungen 
einander  widerstreitender  Eigenschaften:  hoher  Flug  des  Denkens 
und  beschränkter  Aberglaube,  kühne  Einbildungskraft  und  trockene 
Pedanterie,  leidenschaftliches  Tatbedürfnis  und  kühle  Reflexion, 
phantastische  Neuerungssucht  und  unselbständiges  Haften  am  Alten 
—  das  alles  liegt  in  ihm  dicht  nebeneinander.  Dabei  ist  er  ein 
weiter  Geist,  der  die  Probleme  der  Gesellschaft  ebenso  umspannt 
wie  die  der  Natur  und  nach  manchen  Richtungen  in  vordeutender 
Weise  neue  Bahnen  eröffnet  hat.  Wie  in  Bruno  die  Lehren  von 
Spinoza  und  Leibniz,  so  dämmern,  wenn  auch  noch  mit  sehr  un- 
bestimmten Formen,  in  Campanella  diejenigen  von  Descartes  und 
teilweise  von  Kant  herauf,  und  wenn  er  auf  dem  naturphilosophischen 
Gebiete  keinen  wesentlichen  Fortschritt  mehr  bezeichnet,  so  ver- 
dienen anderseits  seine  erkenntnistheoretischen  und  ethisch-poli- 
tischen Ansichten  volle  Beachtung. 

Die  Aufgabe  der  Philosophie  entwickelt  auch  Campanella  aus  der 
Lehre,  daß  Gott  sich  doppelt  offenbart  habe,  in  ewiger  und  in  ein- 
maliger Weise;  jenes  in  dem  codex  vivus  der  Natur,  dieses  in  dem 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  6 


82  Campanella. 

codex  scriptus  der  heiligen  Bücher;  die  Philosophie  hat  es  nur  mit 
einer  Interpretation  des  codex  vivus  zu  tun,  sie  ist  eine  Kunde 
von  dem  Wahrnehmbaren,  und  in  diesem  Sinne  bezeichnet  er  sie 
als  Mikrologie.     Bemerkenswert  ist  dabei  die  sorgfältige  Teilung, 
welche  Campanella  in  die  Behandlung  der  philosophischen  Pro- 
bleme einzuführen  sucht.    Während  die  übrigen  Naturphilosophen 
meist  in  rhapsodischer  Weise  die  Gedanken  durcheinanderwarfen, 
oder  höchstens  sich  an  die  antike  Einteilung  in  Logik,  Physik  und 
Ethik  anschlössen,  begegnet  uns  bei  Campanella  zum  ersten  Male 
der  Versuch  einer  systematischen  Neuordnung  der  Philosophie,  wie 
es  nachher  von  Zeit  zu  Zeit  ein  Lieblingsgegenstand  der  philo- 
sophischen Überlegungen  geworden  ist.     Bei  Campanella  werden 
in  höchst  bezeichnender  Weise  Logik  und  Mathematik  als  vor- 
bereitende Hilfswissenschaften  herausgehoben  und  der  eigentlichen 
Philosophie  vorangeschickt,  die  dann  in  drei  Teilen  Metaphysik, 
Physik  und  Ethik  behandeln  soll.    Die  Erkenntnistheorie  geht  von 
einer  Widerlegung  des  Skeptizismus  aus,  welche  freilich  nicht  so 
vollständig  ist,  daß  die  Gedanken  Pyrrhos,  auf  die  sie  hauptsächlich 
zurückgreift,  gänzlich  von  der  Hand  gewiesen  würden.    Campanella 
erkennt  vielmehr  an,  daß  der  Mensch  nur  einen  kleinen  Teil  der  Dinge 
zu  begreifen  imstande  ist,  und  daß  auch  von  diesem  kleinen  Teile 
nicht  das  eigentliche  Wesen,  sondern  nur  die  Art,  wie  er  uns  affi- 
ziert,  uns  zum  Bewußtsein  kommen  kann.     Das  waren  nomina- 
listische  Lehren,  die  auch  der  Cusaner  sich  mit  der  Bezeichnung 
der   »Konjekturen«  zu  eigen  gemacht  hatte.     Allein  das  genügt 
für  den  von  Campanella  bestimmten  Begriff  der  Philosophie.     Als 
die  Kunde  von  dem  Wahrnehmbaren  ist  sie  ja  von  selbst  auf  den 
Kreis  unserer  Erfahrung  beschränkt,  mag  dieser  noch  so  eng  oder 
noch  so  weit  sein;  und  daß  wir  nicht  die  Substanz  der  Dinge,  son- 
dern nur  ihre  Art,  uns  zu  affizieren,  erkennen  können,  findet  Cam- 
panella sehr  natürlich,  da  ihm  dieses  aus  dem  Wesen  des  Empfindens 
unmittelbar  zu    folgen  scheint  und  das  Empfinden  ihm  als  der 
hauptsächlichste  Teil  aller  Erkenntnis  gilt.      »Sentire  est  scire «, 
mit  diesem  Schlagwort  nimmt   er  den  Sensualismus  der  telesia- 
nischen  Schule  auf;  die  Erkenntnis  ist  durchgängig  eine  Sache  des 
Empfindungsvermögens.    Sinn    und   Empfindung   ist    der   Anfang 
alles  Wissens.     So  konsequent  hält  er  an  dieser  sensualistischen 
Theorie  fest,  daß  er  die  Erinnerung  nur  für  die  Wahrnehmung 


Sensualismus.  83 

eines  erneuerten  Affiziertwerdens  und  die  Schlußfolgerung  nur  als 
die  »Empfindung  von  etwas  in  etwas  anderem«  definiert,  und  daß 
er  alle  wissenschaftliche  Arbeit  nur  für  die  Kombination  von  Wahr- 
nehmungen erklärt.  Was  einer  nicht  selbst  sehen,  fühlen  und  hören 
kann,  das  muß  er  der  Mitteilung  anderer  Menschen  glauben,  d.  h., 
wie  Campanella  sich  ausdrückt,  »durch  fremde  Sinne  empfinden«, 
und  wo  die  Wahrnehmungen  einander  widersprechen,  da  übt 
eben  eine  oder  mehrere  die  Kritik  über  die  anderen  aus.  Im  Gegen- 
satze zu  Bruno,  der  mit  Hinblick  auf  die  Untersuchungen  von 
Kopernikus  eine  Kritik  der  Wahrnehmungen  durch  Begriffe  ver- 
langt hatte,  behauptet  Campanella,  es  seien  zu  dieser  Kritik  die 
Wahrnehmungen  sich  selbst  genug  und  ursprüngliche  Begriffe  nicht 
nötig.  Die  von  selbst  einleuchtende  Verfehltheit  dieser  Behauptung 
wird  gemildert,  sobald  man  bedenkt,  daß  auch  die  Verstandesopera- 
tionen, die  man  sonst  als  Begriffe,  Urteile  und  Schlüsse  bezeichnet, 
von  Campanella  ausdrücklich  für  Arten  der  Empfindung  erklärt 
worden  sind,  und  er  macht  ganz  besonders  darauf  aufmerksam, 
daß  diese  verwickelten  Formen  der  Empfindung  überall  zwischen 
die  einfachen  gemischt  sind,  daß  also  die  Tätigkeit  des  Empfindens 
sich  stets  mit  denjenigen  verbunden  zeigt,  die  man  sonst  Denken 
nennt. 

Noch  ein  anderes  kommt  hinzu,  um  diesem  Sensualismus  ein 
Gepräge  zu  geben,  wodurch  er  fast  wie  eine  Vorschöpfung  der 
idealistischen  Systeme  scheint.  Untersucht  man  nämlich  das 
Wesen  der  Empfindung  näher,  so  enthält  sie,  wie  Campanella  aus- 
führt, ein  aktives  und  ein  passives  Element.  Bloßes  Affiziert- 
werden  ist  noch  keine  Empfindung;  dazu  wird  es  erst,  wenn  man 
merkt  und  wahrnimmt,  daß  und  wie  man  affiziert  worden  ist. 
Empfindung  also  ist  Wahrnehmung  eines  Zustandes,  in  welchen 
das  empfindende  Wesen  selbst  durch  Affektion  von  anderen  Dingen 
versetzt  worden  ist.  Dieser  Fundamentalsatz  der  modernen  Er- 
kenntnistheorie ist  schon  mit  ziemlicher  Klarheit  bei  Campanella 
entwickelt:  er  benutzt  ihn  zunächst,  um  zu  zeigen,  daß,  wenn 
alle  Erkenntnis  Empfindung  ist,  wir  von  jener  gar  nicht  verlangen 
können,  daß  sie  das  Wesen  der  Dinge  selbst  erfasse,  sondern  uns 
damit  begnügen  müssen,  wenn  sie  nur  die  Art,  wie  die  Dinge  uns 
affizieren,  enthält.  Diese  Meinungen  von  Campanella,  so  un- 
geschickt  sie   sich   noch   ausdrücken,   enthalten   doch   einen   Zug, 

6* 


84  Campanella. 

welcher  in  der  Geschichte  der  neueren  Philosophie  häufig  wieder- 
kehrt, die  bemerkenswerte  Tatsache  nämlich,  daß  gerade  der  Sen- 
sualismus, wo  man  ihn  recht  konsequent  durchzuführen  sucht,  in 
Idealismus  und  Phänomenalismus  umzuschlagen  geneigt  ist. 

Im  Grunde  genommen  also  ist  alle  Erfahrung  nur  diejenige 
unserer  eigenen  Zustände,  und  von  dieser  geht  denn  auch  Campa- 
nella aus,  um  (was  freilich  mit  seiner  Erkenntnistheorie  nicht  ganz 
übereinstimmt)  eine  philosophische  Welterkenntnis  daraus  abzu- 
leiten. Es  sind  z.  T.  augustinische  Gedankenreihen  und  Vorstellungs- 
weisen, die  er  dabei  benutzt.  Der  Mensch  dient  ihm  als  Erkenntnis- 
grund für  das  gesamte  Weltall,  ist  ihm  der  »parvus  mundus  «,  Mikro- 
kosmos, und  er  begründet  diesen  Gedanken  durch  die  Forderung 
der  All-Einheit  alles  Seienden.  Wenn  die  Substanz  in  allen  Dingen 
dieselbe  ist,  so  braucht  der  Mensch  nur  sein  eigenes  Wesen  zu 
durchschauen,  um  das  Welträtsel  zu  lösen:  dieses  metaphysische 
Grundprinzip,  das  in  den  Philosophien  der  späteren  Jahrhunderte 
mit  stolzen  begrifflichen  Verzierungen  und  Verbrämungen  er- 
schienen ist,  wird  von  Campanella  sehr  einfach  dahin  ausgesprochen, 
daß,  was  wir  in  uns  finden,  die  allgemeinsten  Prinzipien,  oder  wie 
er  sich  ausdrückt,  Proprinzipien  der  Dinge  sind.  Diese  unsere  Er- 
fahrung von  uns  selbst  zeigt  uns  nun  vier  Grundgewißheiten:  1)  daß 
wir  sind  —  2)  daß  wir  können,  wissen  und  wollen  —  3)  daß  wir 
dabei  durch  äußere  Einflüsse  eingeschränkt  sind  —  4)  daß  wir 
noch  anderes  als  das  Gegenwärtige  können,  wissen  und  wollen.  Von 
diesen  Grunderfahrungen  ist  die  wichtigste  zunächst  die  zweite. 
Sie  zeigt,  daß  Macht,  Wissen  und  Wille  die  ursprünglichen  Eigen- 
schaften, wie  Campanella  sie  nennt,  die  Primalitäten  alles  Seins 
bilden.  Sie  müssen  an  der  Gottheit  in  höchster  Vollkommenheit 
und  in  vollendeter  Vereinigung  vorhanden  sein.  Seine  höchste  Güte 
wollte,  seine  höchste  Weisheit  ordnete,  seine  höchste  Macht  voll- 
brachte die  Welt;  aber  er  selbst  ist  deshalb  unaussprechlich,  uner- 
kennbar und  kein  Gegenstand  der  Philosophie.  Für  deren  einzige 
Aufgabe,  die  Welt  zu  erkennen,  muß  man  zunächst  im  Auge  be- 
halten, daß  diese  von  dem  höchsten  Sein,  von  der  Gottheit,  aus 
dem  Nichts  hervorgerufen  worden  ist,  und  daß  sie  deshalb  überall 
eine  Mischung  von  Sein  und  Nichtsein  darstellt.  Darin  gerade 
besteht  die  Endlichkeit  und  die  Zufälligkeit  der  Dinge,  daß  sie 
neben  dem  Sein  auch  das  Nichtsein  in  sich  tragen.     Auch  dieses 


Metaphysik  und  Physik.  85 

Nichtsein  besitzt  gleichfalls  jene  drei  Primalitäten,  welche  das 
Wesen  des  Seins  umfaßt.  Es  trägt  in  sich  die  Ohnmacht,  das  Nicht- 
wissen und  den  bösen  AVillen.  Diese  Dualität  wird  dann  bei  Cam- 
panella ganz  ähnlich  wie  bei  Telesius  auf  den  naturphilosophischen 
Gegensatz  von  Licht  und  Finsternis  im  Sinne  der  eleatischen  Physik 
gedeutet:  die  Weltgestaltimg  dagegen  entwirft  er  unter  dem  neu- 
platonischen Gesichtspunkte  der  Emanation,  vermöge  deren  in  fünf 
Stufen  von  der  Gottheit  aus  sich  Weltsysteme  entwickeln,  die  immer 
weniger  Macht,  Wissen  und  Güte  und  immer  mehr  Ohnmacht, 
Nichtwissen  und  Bosheit  enthalten:  zuerst  der  mundus  archetypus, 
die  urbildliche  Wrelt  in  der  göttlichen  Weisheit;  sodann  der  mundus 
metaphysicus,  die  Geisterwelt,  welche  Campanella  in  der  Art,  wie 
es  seit  Dionysius  Areopagita  auch  in  der  scholastischen  Lehre  üblich 
gewesen  war,  als  eine  Hierarchie  von  Engelordnungen  darstellt; 
weiterhin  der  mundus  mathematicus,  der  absolute  unendliche  Baum 
mit  seinen  gesetzmäßigen  Bestimmungen;  ferner  der  mundus  tem- 
poralis  et  corporalis,  die  in  diesem  Eaume  befindliche  unendliche 
Anzahl  von  Sonnensystemen  (eine  Vorstellung,  die  sich  ziemlich 
genau  an  Brunos  Lehren  anschließt);  und  endlich  als  die  letzte 
Stufenbildung,  die  Welt,  die  wir  erfahren,  der  mundus  situalis. 
Offenbar  liegt  in  dieser  neuplatonisierenden  Emanationslehre  wieder 
ein  Rückschritt  gegen  die  Gedanken  Brunos,  der  den  göttlichen 
Lebensodem  unabgeschwächt  bis  in  den  entferntesten  Winkel  des 
Universums  trug.  Gleich  neuplatonisch  ist  endlich  auch  Cam- 
panellas Auffassung  des  Erkenntnisprozesses,  in  welchem  sich  der 
Mensch  durch  vier  korrespondierende  Stufen  aus  der  Niedrigkeit 
seines  mundus  situalis  zur  Gottheit  zurück  erheben  soll.  Durch  die 
Sinnestätigkeit  gewinnt  er  die  Erkenntnis  der  materiellen  Welt, 
durch  die  Einbildung  erhebt  er  sich  darüber  zur  Anschauung  der 
mathematischen  Welt ;  seine  Gedanken  und  Begriffe  tragen  ihn  empor 
in  die  metaphysische  Welt  der  Geister,  und  die  Philosophie  lehrt  ihn 
die  urbildliche  Welt  in  Gott  verstehen,  um  ihn  dann  für  den  letzten 
Schritt  der  vollkommenen  Vereinigung  mit  Gott  dem  religiösen 
Glauben  zu  übergeben. 

Die  Behandlung  der  physikalischen  Fragen  läuft  im  wesentlichen 
darauf  hinaus,  von  der  verschiedenstufigen  Mischung  der  beiden 
Prinzipien,  des  Warm-Trocknen  und  des  Kalt-Feuchten,  die  quali- 
tativen Unterschiede  der  Dinge  abzuleiten.    Campanella  liebt  es,  die 


86  Campanella. 

Übergänge  zwischen  polaren  Gegensätzen  aus  deren  Mischung  zu 
erklären,  und  verfährt  z.  B.  nach  diesem  Gedanken  in  einer  Ent- 
wicklung der  Farben  aus  Schwarz  und  Weiß,  womit  er  wiederum 
manchen  späteren  Theorien  vorgegriffen  hat.  In  astronomischer 
Beziehung  bekundet  er  seinen  Wunsch,  zwischen  der  neuen  Wissen- 
schaft und  der  Kirchenlehre  einen  Kompromiß  zu  finden,  durch  die 
Annahme  des  Systems  von  Tycho  de  Brahe,  und  während  er  also 
die  Erde  feststehen  und  die  Sonne  mit  den  sie  umkreisenden  Pla- 
neten sich  um  die  Erde  bewegen  läßt,  schreibt  er  der  Sonne  neben 
ihrer  Bewegung  von  Ost  nach  West  auch  eine  solche  von  Nord 
nach  Süd  und  umgekehrt  zu,  um  ihre  wechselnde  Stellung  innerhalb 
der  Wendekreise  daraus  zu  erklären.  Daneben  glaubt  er  an  eine 
allmähliche  Annäherung  der  Sonne  an  die  Erde,  wodurch  schließlich 
der  Weltbrand  herbeigeführt  werde,  das  jüngste  Gericht,  bei  welchem 
alles  in  alles  verwandelt  und  die  Natur  in  die  Gottheit  zurück- 
genommen werden  soll.  Diese  allgemeine  Verwandelbarkeit  aller 
Dinge  ist  nur  der  letzte  Ausfluß  ihrer  Wesensgleichheit  und  der 
Lebenseinheit,  die  sie  jetzt  schon  zeigen  und  die  ihren  Grund  nur 
in  der  allgemeinen  Weltseele  haben  kann.  Auch  Campanella  ver- 
folgt den  Gedanken  der  Beseeltheit  aller  Dinge  durch  die  gesamte 
Natur.  Pflanzen  und  Steine  gelten  ihm  nicht  minder  beseelt  als 
die  Tiere,  und  gar  die  großen  Weltkörper  betrachtet  er  als  hohe 
Dämonen.  Dabei  aber  sucht  er  nach  neuplatonischem  Muster  in 
der  alles  durchdringenden,  den  Zusammenhang  des  Universums 
vermittelnden  Weltseele  den  Sitz  der  Instinkte,  Ahnungen,  Träume 
und  Wahrsagungen,  für  welche  er  in  der  menschlichen  Seele  ein 
eigenes  Organ,  eine  Art  von  mystischem  Sensorium  annimmt. 
Überhaupt  war  Campanella  von  einer  auch  für  jene  Zeit  hervor- 
ragenden Abergläubigkeit,  und  sein  Hauptwerk:  »De  sensu  rerum 
et  magia«  (1620)  bildet  in  dieser  Hinsicht  ein  höchst  interessantes 
Denkmal  der  Zeit.  Aus  der  Weltseele  fließt  nach  ihm  auch  die 
Kraft  der  Magie,  und  eine  ausgeführte  Untersuchung  belehrt  uns, 
daß  es  eine  göttliche,  eine  natürliche  und  eine  teuflische  Magie 
gibt,  drei  Arten,  die  dem  äußeren  Anscheine  nach  oft  sehr  ähnlich, 
in  ihrem  inneren  Wesen  weit  voneinander  verschieden  seien. 

In  dem  Verhältnis  der  Weltseele  zur  Einzelkraft  und  zum  Indi- 
viduum nimmt  Campanella  ganz  dieselbe  Doppelbeziehung  an, 
wie  Bruno  die  Doppelbewegung,  wodurch  jedes  Ding  einerseits  sich 


Sonnenstaat.  87 

selbst,  anderseits  dem  Ganzen  zustrebt.  Er  macht  davon  auch 
physikalische  Anwendungen  und  sucht  durch  die  Hypothese  eines 
Unterschiedes  zwischen  absoluter  und  relativer  Schwere  daraus  die 
galileischen  Entdeckungen  der  Gesetze  des  freien  Falles  zu  begreifen, 
wie  er  überhaupt  für  den  gleich  ihm  verfolgten  großen  Forscher 
auch  hinsichtlich  der  Zustimmung  zur  kopernikanischen  Lehre 
literarisch  eintrat.  Bedeutender  jedoch  ist  die  Verwendung  dieser 
Lehre  von  der  Doppelbewegung  in  seiner  Ethik.  Auch  im  mora- 
lischen Sinne  nämlich  hat  das  Individuum  eine  Eigenbewegung, 
mit  der  es  sich  um  seine  Achse  dreht,  den  Egoismus  der  Selbst- 
erhaltung, auf  der  anderen  Seite  aber  eine  zentripetale  Bewegung, 
das  Bedürfnis  der  Geselligkeit  und  der  Einordnung  in  einen  gesetz- 
mäßigen Zusammenhang:  diesen  letzteren  Zug  bezeichnete  Cam- 
panella als  die  Religion,  die  er  deshalb  in  gewissem  Sinne  allen 
Wesen  zuschrieb. 

Wenn  dies  mehr  dialektische  Formeln  sind,  so  ist  dagegen  von 
hervorragendem  sachlichen  Interesse  Campanellas  Staats-  und  Er- 
ziehungslehre, wie  er  sie  in  seiner  Utopie  »Civitas  solis«  (als  An- 
hang zur  Philosophia  realis  epilogistica  zuerst  Frankfurt  1623  ge- 
druckt) niedergelegt  hat.  Auch  hier,  wie  bei  Morus,  das  Bild  einer 
Gesellschaftsordnung,  die  stark  auf  irdische  Lebenszwecke  gerichtet 
ist  —  auch  hier  die  Anlehnung  an  das  antike  Vorbild,  aber  weit 
mehr  an  Piatons  »Gesetze«,  als  an  seine  Republik  — ,  auch  hier  die 
soziale  Omnipotenz  des  Staates,  auch  hier  die  Aufhebung  der 
Familie  und  des  Privateigentums.  Der  »Sonnenstaat«  ist  eine 
sozialistische  Organisation,  welche  auch  das  Privatleben  bis  in  die 
letzten  Einzelheiten  der  Arbeit  und  des  Genusses  regelt.  An  seiner 
Spitze  stehen  die  Priester  der  Wissenschaft,  deren  Hierarchie  nach 
den  Begriffen  von  Campanellas  Metaphysik  gegliedert  ist.  Aber 
der  Zweck  dieses  Staates  ist  das  irdische  Wohlbehagen  und  die 
weltliche  Bildung  aller  seiner  Bürger.  In  ersterer  Hinsicht  sollen 
die  Mittel  der  neuen  Naturwissenschaft  mit  ihren  Entdeckungen  und 
Erfindungen,  nicht  minder  aber  auch  alle  Künste  der  Astrologie 
und  Magie  ausgenutzt  werden,  um  jedermann  durch  einen  vier- 
stündigen Normalarbeitstag  ein  menschenwürdiges  Dasein  zu  be- 
reiten. Die  vom  Staat  zu  leitende  Erziehung  aber  soll  zu  diesem 
Behuf e  nicht  humanistischen,  sondern  realistischen  Charakters  sein ; 
eine  groteske  Form   des  Anschauungsunterrichts  wild  entworfen, 


88  Galilei. 

durch  den  die  Menschen  von  Jugend  auf  mit  den  Sachen  vertraut 
gemacht  werden  sollen. 

In  eigentümlichem  Gegensatze  zu  solchen  kühnen  Neuerungen 
stehen  Campanellas  politische  Auslassungen  in  seiner  »Monarchia 
Hispanica«.  Auch  der  einzelne  Staat  hat  seine  Selbständigkeit  in 
seiner  Selbsterhaltung  gegen  andere  und  in  der  Freiheit  seiner 
inneren  Gesetzgebung:  aber  das  ganze  System  der  Staaten  kann 
nur  bestehen,  wenn  sie  alle  zusammen  eine  gemeinschaftliche  Be- 
ziehung auf  einen  Mittelpunkt  haben  und  einem  gemeinsamen  Ge- 
setze sich  alle  gleichmäßig  unterordnen.  Von  diesem  Standpunkte 
aus  vertritt  Campanella  in  einer  heftigen  Polemik  gegen  Macchia- 
velli  die  Ansprüche  der  päpstlichen  Universalmonarchie  und  die 
Forderung  einer  Unterordnung  des  Staates  unter  die  Kirche,  einer 
Abhängigkeit  der  Staatsgesetze  von  kirchlichen  Dogmen.  Er  steht 
in  der  praktischen  Politik  auf  derselben  Linie  wie  die  gleichzeitigen 
jesuitischen  Rechtsphilosophen  Maria  na  und  Bellarmin,  welche 
die  zweischneidige  Gefährlichkeit  der  Theorie  des  Staatsvertrages 
aufdeckten,  indem  sie  zeigten,  daß  er  seinem  Begriffe  nach  als  auf- 
hebbar und  zurücknehmbar  angesehen  werden  müsse.  Campanella 
aber  tritt  unter  diesem  religiös-politischen  Gesichtspunkte  für  die 
spanische  Weltherrschaft  ein:  ihr  sollen  die  Schätze  der  Kolonien 
zufallen,  damit  sie  die  Ketzer  besiegen  kann.  Was  diese  Theorie 
bedeutet,  versteht  man,  wenn  man  bedenkt,  daß  sie  in  den  ersten 
Jahren  des  dreißigjährigen  Krieges  verkündet  wird,  und  man  fragt: 
warum  mußte  dieser  Mann  auf  Verlangen  der  Spanier  von  der  In- 
quisition gefoltert  werden?  Oder  sollte  er  damit  wirklich  nur  die 
Renommisterei  gebüßt  haben,  mit  der  er  wie  gar  manche  seiner  Zeit- 
genossen seine  Philosophie  als  die  gewaltige  Umwälzung  alles 
Wissens  und  Lebens,  als  die  » Instaura tio  magna«  verkündete? 

§  14.  Galileo  Galilei. 

Trotz  aller  geistigen  Energie,  die  den  phantasievollen  Entwürfen 
der  Naturphilosophie  bei  Männern  wie  Bruno  und  Campanella 
innewohnt,  sind  sie  doch  nicht  imstande  gewesen,  dauernde  Lei- 
stungen von  wissenschaftlicher  Sicherheit  hervorzubringen :  dies  war 
erst  der  sehr  viel  nüchterneren  Forschung  beschieden,  welche  den 
Sinn  für  die  Erfahrung,  den  Telesius  gepredigt  hatte,  nicht  durch 
begriffliche  Dichtungen  und  glückliche  Einfälle,  sondern  durch  die 


Leben.  89 

mathematische  Theorie  ergänzte.  In  mancherlei  Formen  und 
Versuchen  hatte  sich  nach  dieser  Richtung  die  methodische  Be- 
gründung der  modernen  Naturwissenschaft  vorbereitet,  ehe 
sie  ihre  klare  und  bewußte  Gestaltung  in  dem  großen  Forscher  fand, 
der  unter  den  Geistern  der  italienischen  Renaissance  der  wissen- 
schaftlich bedeutendste  ist:  Galilei.  Mit  der  allgemeinen  philo- 
sophischen Bewegung  der  Zeit  hängt  dieser  Vorgang  nur  an  einem 
Punkte  direkt  zusammen :  auch  die  Überzeugung  von  der  Erforder- 
lichkeit der  Mathematik  für  die  naturwissenschaftliche  Theorie 
wurzelt  zuletzt  in  der  humanistischen  Tradition,  in  der  auf  vielen 
Wegen  lebendig  gebliebenen  Zahlensymbolik  der  Pytha- 
goreer.  Sie  daraus  mit  vollem  Bewußtsein  herausgelöst  und  mit 
begrifflicher  Klarheit  zur  Methode  der  Naturforschung  umgebildet 
zu  haben,  ist  die  unsterbliche  Tat  Galileis.  Er  ist  nicht  der  Schöpfer 
eines  philosophischen  Systems  im  eigentlichen  Sinne  des  Worts: 
aber  er  hat  die  Aufgabe  seiner  besonderen  Wissenschaft  und  die 
nötigen  Mittel  zu  ihrer  Lösung  mit  so  deutlichem  philosophischen 
Verständnis  erkannt  und  formuliert,  daß  er  dadurch  zum  Vater  nicht 
nur  der  Naturforschung,  sondern  auch  der  naturwissenschaftlichen 
Weltanschauung  geworden  ist  und  in  dieser  Weise  auch  die  Ent- 
wicklung der  modernen  Philosophie  auf  das  kräftigste  beeinflußt  hat. 

Galileo  Galilei  war  im  Jahr  1564  zu  Pisa  als  der  Sohn  eines 

* 
Florentiner  Musikers  von  guter  Familie  geboren.     Seine  Studien  in^ 

Pisa  und  Florenz  gingen  von  der  Medizin,  der  sie  anfänglich  ge- 
golten hatten,  bald  zur  Philosophie  und  Mathematik  über:  als  Pro- 
fessor der  letzteren  wirkte  er  seit  1589  in  Pisa,  seit  1592  in  Padua 
und  von  1610  an  wiederum  in  Pisa.  In  das  erste  Jahrzehnt  des 
17.  Jahrhunderts  fallen  die  großen  Erfolge  seiner  Forschung,  die 
Entdeckung  der  Fallgesetze  und  die  Verbesserung  des  Fernrohrs, 
die  Begründung  der  modernen  Mechanik  und  Astrophysik.  Mit 
dem  Teleskop  gelang  ihm  zum  Staunen  der  Zeitgenossen  die  Auf- 
lösung der  Milchstraße  und  der  Plejaden,  die  Erkenntnis  der  Un- 
ebenheit der  Mondoberfläche,  die  Auffindung  der  Jupitertrabanten 
und  des  Saturnringes,  die  Bestimmung  der  Sonnenflecken.  In  den 
»Briefen«  über  die  letzteren  (1617)  äußerte  er  sich  zuerst  über 
die  »Hypothese«  des  Kopernikus  in  einer  Weise,  welche  als  Zu- 
stimmung aufgefaßt  werden  konnte  und  ihm  sogleich  heftige  An- 
griffe mit   dem  Vorwurf  der  Häresie  zuzog:   bald   begab  er  sich 


90  Galilei. 

freiwillig  nach  Rom,  wo  es  ihm  gelang,  die  Bedenken  der  kirchlichen 
Behörde  zu  beschwichtigen.  Als  er  j  edoch  in  seinem  methodologischen 
Hauptwerke  »II  saggiatore«  (1623)  gegen  einen  jesuitischen  Schrift- 
steller namens  Grassi  sich  hatte  wenden  müssen,  begannen  die  An- 
griffe gegen  ihn  mit  erneuter  Leidenschaftlichkeit:  und  als  er  1632 
seinen  Dialog  über  die  beiden  Weltsysteme  (das  ptolemäische  und 
das  kopernikanische)  veröffentlichte,  da  schützte  die  formelle  Un- 
entschiedenheit,  die  das  Werk  den  beiden  Ansichten  gegenüber 
wahrte,  ihren  Verfasser  nicht  davor,  als  Vertreter  des  Koperni- 
kanismus  behandelt  zu  werden.  Jetzt  wurde  ihm  wirklich  der 
Prozeß  gemacht;  nach  Eom  zitiert,  schwor  er,  um  den  letzten 
Roheiten  der  Inquisition  zu  entgehen,  seinen  »Irrtum«  ab,  und  nach 
kurzer  Haft  erhielt  er  die  Erlaubnis,  sich  auf  seine  Villa  in  Arcetri 
zurückzuziehen.  Hier  hat  er  bis  zu  seinem  Tode  (1642)  ein  stilles 
Gelehrtendasein  geführt,  dessen  wertvollster  Ertrag  die  »Dialoge 
über  die  neuen  Wissenschaften«  waren. 

Auch  Galilei  betrachtet  die  Philosophie  als  eine  rein  weltliche 
Wissenschaft,  deren  Aufgabe  die  Naturerkenntnis  sei,  und  er  wahrt 
das  Recht  der  freien  Forschung  gegen  die  Ansprüche  der  Ortho- 
doxie. In  seinem  höchst  interessanten  Briefe  an  die  Großherzogin- 
Mutter  Christine  von  Lothringen  (1615)  führt  er  aus,  Gott  habe 
dem  Menschen,  um  die  Natur  zu  verstehen,  Sinn  und  Verstand 
gegeben:  zu  lehren,  was  damit  erkannt  werde,  könne  nicht  deshalb 
verboten  sein,  weil  es  einer  in  der  Bibel  vorkommenden  Auffassung 
widerspreche.  Denn  Gott  habe  seine  Offenbarung  zu  alter  Zeit 
dem  Volke  in  einer  für  dessen  Fassungskraft  angemessenen  Weise 
gegeben,  und  diese  Offenbarung  zwecke  nicht  auf  theoretisches 
Wissen,  sondern  auf  Glauben  und  frommes  Handeln  ab.  Die  Wissen- 
schaft dagegen  hat  es  mit  der  Offenbarung  Gottes  zu  tun,  welche 
in  dem  Buche  der  Natur  vorliegt.  Dies  Buch  aber,  sagt  Galilei, 
ist  in  mathematischen  Zeichen  geschrieben,  und  darum  gilt  es,  diese 
zu  verstehen. 

Die  mathematische  Ordnung  des  Weltalls,  welche  die 
Pythagoreer  geahnt  haben,  ist  also  das  Ziel  der  Naturerkenntnis 
für  GalileL  Aber  nicht  durch  symbolische  Deutungen,  durch  will- 
kürliche Kombinationen  und  mystische  Gedankenspiele  ist  dies 
Ziel  zu  erreichen,  sondern  nur  durch  die  Erfahrung.  In  dieser 
Hinsicht  ist  auch  Galilei  ein  Schüler  des  Telesius:  allein,  wenn 


/***  "^Kepler  und  GalißT  *t  ~*  91 

dieser  und  seine  sonstigen  Anhänger  von  der  Sinneswahrnehmung 
ils  der  einzigen  Grundlage  alles  Wissens  doch  immer  wieder  zu  be- 
grifflichen Konstruktionen  und  Spekulationen  fortgeschritten  waren, 
so  erklärte  Galilei,  daß  es  die  Aufgabe  sei,  durch  die  Wahrnehmung 
selbst  die  mathematische  Ordnung  aller  Dinge  zu  erkennen.  So 
durchdringen  sich  in  ihm  die  beiden  methodologischen  Momente  der 
modernen  Naturforschung:  ihre  Aufgabe  ist  nur  die  Einsicht  in  die 
mathematische  Gesetzmäßigkeit  der  Natur,  und  diese  Aufgabe  ist 
nur  durch  die  Erfahrung  zu  lösen. 

In  dieser  Hinsicht  hat  Galilei  einen  von  ihm  selbst  mit  der  größ- 
ten Hochachtung  anerkannten  Vorgänger  in  Johannes  Kepler, 
dem  großen  Forscher,  der  in  Deutschland,  ebenso  vereinsamt  wie 
Kopernikus,  einem  mit  Not  und  Elend  kämpfenden  Leben  (1571  bis 
1630)  tief  bedeutsame  astronomische  Einsichten  abgerungen  hat.  Die 
begeisterte  Grundüberzeugung  von  der  Schönheit  und  Harmonie  des 
Weltalls,  wie  er  sie  in  seiner  »Harmonice  mundi«  (1619)  aussprach, 
führte  diesen  Mann  zu  dem  Versuche,  jene  pythagoreische  Welt- 
ansicht durch  die  Erfahrung  zu  bestätigen,  und  durch  die  müh- 
samste Induktion  mit  Hilfe  mathematischer  Kechnungen  gelangte 
er  in  seinen  Untersuchungen  über  die  Bewegungen  des  Mars  (1604) 
zur  Feststellung  der  Gesetze,  die  noch  heute  seinen  Namen  tragen. 
Schon  er  war  sich  der  Prinzipien,  die  zu  solchem  Erfolge  führten, 
klar  bewußt:  alle  naturwissenschaftliche  Erkenntnis  ist  auf  zahlen- 
mäßig bestimmbare  Größen  und  deren  mathematische  Funktionen 
gerichtet,  aber  die  so  zu  gewinnenden  Einsichten  beziehen  sich 
wesentlich  auf  die  Gesetze  der  Bewegung. 

Diese  Gedanken  sind  von  Galilei  aufgenommen,  vertieft  und 
verallgemeinert  worden.  Er  hat  die  aristotelische  Naturphilosophie, 
gegen  deren  autoritative  Geltung  auch  er  den  lebhaftesten  Kampf 
führte,  durch  die  Mathematik  besiegt  und  damit  der  demokritischen 
Weltvorstellung,  die  ohne  die  Hilfe  der  Mathematik  sich  gegen  die 
Entelechienlehre  nicht  hatte  behaupten  können,  wieder  die  Bahn 
freigemacht,  auf  welcher  die  theoretische  Naturwissenschaft  ihren 
rapiden  Siegeszug  beginnen  konnte. 

Die  empirische  Grundlage  der  Naturforschung  kann  nach  Galilei 
nicht  in  der  gemeinen  Wahrnehmung  gesucht  werden,  weil  diese 
keine  Handhabe  für  mathematische  Behandlung  darbietet:  eine 
solche  ist   erst  möglich,  wenn  die  Wahrnehmung  meßbare  und 


92  Demokritismus. 

deshalb  zahlenmäßig  vergleichbare  Ergebnisse  liefert.  In  dieser 
Hinsicht  muß  die  Beobachtung  sich  der  Hilfe  des  Experiments 
bedienen,  dessen  wesentliche  Leistung  es  ist,  aus  der  Masse  des  der 
Wahrnehmung  Dargebotenen  die  einfachen  Bestandteile  herauszu- 
lösen und  sie  durch  das  Maß  als  Zahlengrößen  zu  bestimmen.  Dieser 
Teil  der  Forschung  wird  als  die  resolutive  Methode  bezeichnet. 
Wenn  durch  sie  die  einfachen  Bestandteile  der  körperlichen  Wirk- 
lichkeit erkannt  sind,  so  wird  die  mathematische  Rechnung  ver- 
suchsweise in  der  kompositiven  Methode  zu  den  Verknüpfungen 
dieser  Elemente  übergehen,  um  festzustellen,  ob  das  Experiment 
das  Ergebnis  der  Rechnung  bestätigt.  So  wird  durch  die  mathe- 
matische Gesetzmäßigkeit,  die  dem  menschlichen  Geiste  vor  aller 
Erfahrung  innewohnt  (Galilei  faßt  dies  Verhältnis  ganz  im  Sinne 
der  platonischen  Lehre  von  der  Erinnerung  auf),  der  Sinnenschein 
korrigiert  und  der  wahre  Inhalt  der  Körperwelt  erkannt. 

Die  Funktionen  meßbarer  Größen  sind  der  einzige  Gegenstand 
der  so  von  Galilei  methodisch  begründeten  Naturforschung;  eben- 
deshalb gelten  sie  für  die  davon  abhängige  Weltansicht  auch  als 
das  einzig  wahrhaft  Wirkliche  in  der  Körperwelt.  Die  Naturwissen- 
schaft fragt  nicht  mehr  nach  den  »verborgenen  Kräften«,  sie  be- 
stimmt nur  die  Quantitätsverhältnisse:  ebendeshalb  aber  denkt  sie 
auch  das  eigentlich  Wirkliche  nur  in  quantitativen  Verhältnissen. 
So  kehrt  Galilei  zu  der  demo kritischen  Weltansicht  zurück:  das 
Wirkliche  in  der  Körperwelt  sind  die  Atome  und  ihre  Bewegungen 
im  unendlichen  Räume;  sie  bilden  die  konstanten,  meßbaren  Ele- 
mente, welche  die  wahren  Faktoren  des  Universums  sind.  /Damit 
erneuert  sich  die  in  der  griechsichen  Philosophie  durch  Protagoras 
eingeführte  Lehre  von  der  Subjektivität  der  Sinnesqualitäten. 
Was  die  einzelnen  Sinne  als  Eigenschaften  der  Dinge  erscheinen 
lassen,  sind  nur  Zustände  des  wahrnehmenden  Bewußtseins :  realiter 
liegen  ihnen  nur  quantitativ  abgestufte  Bestimmungen  der  Größe 
und  der  Bewegung  zugrunde. 

Die  atomistische  Theorie  jedoch  erscheint  bei  Galilei  nur  als  der 
hypothetische  Hintergrund  seiner  Untersuchungen:  das  nächste 
und  eigentliche  Objekt  seiner  Forschung  bilden  die  Maßbestim- 
mungen  der  Bewegung.  Die  Qualifikation  des  körperlichen 
Universums  bezieht  sich  bei  dieser  ihrer  Erneuerung  weniger  auf  das 
Sein  als  auf  das  Geschehen.     Die  mathematischen  Funktionen,  in 


Prinzipien  der  Mechanik.  93 

denen  die  Ordnung  und  Gesetzmäßigkeit  der  Welt  erkannt  werden 
soll,  sind  wesentlich  die  Verhältnisse  der  Bewegungen  zueinander. 

Damit  war  der  Weg  zu  einer  exakten  und  fruchtbaren  For- 
mulierung des  Begriffs  der  Kausalität  gebahnt.  Die  Bewegung 
wurde  nicht  mehr  als  eine  zeitliche  Reihenfolge  von  Zuständen, 
sondern  selbst  als  ein  Zustand  des  Körpers  begriffen,  dessen  Ver- 
änderung eine  Ursache  voraussetzt  und  eine  solche  nur  an  einer 
anderen  Bewegung  haben  kann.  Die  Kausalität  ist  also  für  die 
naturwissenschaftliche  Betrachtung  ein  mathematisches  Ver- 
hältnis von  Bewegung en,  und  für  deren  Feststellung  gilt  als 
oberste  Voraussetzung  die  der  Unveränderlichkeit  und  Gleichheit 
der  Bewegungsgröße.  In  diesen  Zusammenhängen  entwarf  Galilei 
die  Grundbegriffe  der  Mechanik :  das  Trägheitsgesetz,  das  Parallelo- 
gramm  der  Kräfte,  das  Prinzip  der  virtuellen  Geschwindigkeiten, 
das  der  unendlich  kleinen  Antriebe  usf. 

Im  Prinzip  war  damit  die  Mechanik  als  mathematische  Theorie 
begründet  und  zugleich  das  Programm  für  die  Entwicklung  der 
modernen  Naturforschung  gegeben.  Alle -ihre  einzelnen  Disziplinen 
müssen  seit  Galilei  darauf  gerichtet  sein,  soweit  als  es  ihre  Gegen- 
stände gestatten,  nach  Analogie  der  Mechanik  eine  mathematische 
Form  dieser  Theorie  zu  finden.  Wie  Galilei  selbst  schon  deutlich 
erkannte  und  aussprach,  war  es  zunächst  die  Astrophysik,  in 
der  das  mechanische  Prinzip  zu  erfolgreicher  Geltung  kommen 
konnte.  Damit  aber  wurde  es  maßgebend  für  die  Gesamtauffassung 
des  Weltalls,  und  in  dieser  Vermittlung  ist  die  grundsätzlich  auf 
die  physikalische  Forschung  beschränkte  Lehre  Galileis  zu  einem 
der  wichtigsten  Momente  in  der  Entwicklung  der  modernen  Welt- 
anschauung  geworden. 


Mit  diesen  Lehren  ist  der  Anteil,  den  die  Italiener  an  der  Be- 
gründung der  neueren  Philosophie  hatten,  im  wesentlichen  er- 
schöpft. Die  trostlosen  Zustände,  welche  das  XVI.  und  XVII.  Jahr- 
hundert über  Italien  herbeiführten,  konnten  für  die  Entwicklung 
der  Philosophie  keinen  fruchtbaren  Boden  gewähren.  Wohl  gehen 
in  der  Stille  die  beobachtenden  und  experimentellen  Forschungen 
ihren  ruhigen  Gang,  und  glänzende  Namen  genug  hat  Italien  auf 
diesen  Gebieten  aufzuweisen:  die  Philosophie  aber  schweigt.  Die 
Flügel    der    Phantasie,    auf    denen    sie    sich    in    den    unendlichen 


94  Reformation  in  Deutschland. 

Weltraum  geschwungen  hatte,  bewährten  sich  wie  diejenigen  des 
Icarus,  und  ihr  Wachs  war  schnell  geschmolzen.  Nicht  den  phanta- 
stischen Himmelsstürmern,  sondern  der  ernsten  Selbstbesinnung  des 
Nordens  war  es  bestimmt,  die  Wurzeln  des  neuen  Denkens  in 
sicherem  Boden  zu  bergen  und  sie  langsam  zur  Frucht  heranreifen 
zu  lassen.  Was  Italien  anbetrifft,  so  tritt  es  mit  dem  Beginn  des 
XVII.  Jahrhunderts,  von  der  Gegenreformation  bedrückt,  von 
stetigen  Kämpfen  zerrissen,  ein  Spielball  innerer  Eifersucht  und 
äußerer  Intrige,  aus  der  Geschichte  der  Philosophie  heraus  und 
hat  —  von  der  gänzlich  vereinsamten  Erscheinung  Vicos  ab- 
gesehen —  erst  im  neunzehnten  Jahrhundert  begonnen,  mit 
frischer  Arbeit  seinen  Platz  darin  wieder  einzunehmen. 


II.  Kapitel. 

Die  deutsche  Philosophie  im  Reform  ationszeitalter. 

Die  Deutschen  teilen  in  dieser  Anfangszeit  des  modernen  Denkens 
mit  den  Italienern  die  Lebhaftigkeit  des  metaphysischen  Be- 
dürfnisses. Sie  suchen  wie  jene  nach  einer  neuen  und  leben- 
digen Erkenntnis  des  Weltalls.  Von  dem  Inhalte  selbst  in  ihrem 
Gefühle  ergriffen  und  begeistert,  überlassen  sich  beide  den  unge- 
klärten Trieben  jugendlicher  Übereilung  und  geraten  statt  in  ernste 
Forschung  in  mystische  Spekulationen. 

Allein  trotz  dieser  Gemeinsamkeit  besteht  ein  großer  Unter- 
schied zwischen  den  Richtungen,  welche  die  Philosophie  in  beiden 
Ländern  nahm.  Für  die  italienische  Renaissance  ist  die  Kunst  das 
entscheidende  und  zentrale  Moment,  für  die  deutsche  die  Religion, 
und  in  ganz  ähnlicher  Weise  unterscheiden  sich  die  Systeme  der 
Philosophie,  mit  denen  in  beiden  Ländern  die  neue  Zeit  beginnt. 
Wie  die  Kunst  der  italienischen  Renaissance  in  der  Rückkehr  zur 
ungeschminkten  Natur  ihr  Wesen  hat,  so  ist  auch  die  italienische 
Philosophie  fast  ausschließlich  Naturphilosophie;  jedenfalls  ist  der 
naturphilosophische  Gesichtspunkt  der  wichtigste  in  allen  ihren  Be- 
strebungen: und  die  Art,  wie  sie  nun  die  Natur  philosophisch  be- 
greift —  das  tritt  am  klarsten  durch  Bruno  hervor  — ,  ist  die  Analogie 
des  künstlerischen  Organismus.  Sie  faßt  am  liebsten  die  Gottheit 
als  die  Seele  auf,  welche,  wie  der  Geist  des  Künstlers  sein  Werk, 


Glaube  und  Wissenschaft.  95 

;o  das  Universum  durchdringe  und  durchlebe.  Hingerissen  in  einen 
Taumel  des  Entzückens  über  die  Schönheit  des  Weltalls,  dichtete 
Bruno  aus  dem  Rhythmus  der  Sonnensysteme  die  Hymnen  einer 
)antheistischen  Gottrunkenheit. /Ganz  anders  die  Deutschen.  Ihr 
netaphysisches  Bedürfnis  ist  nicht  sowohl  mit  der  künstlerischen 
Phantasie,  als  vielmehr  mit  dem  Gewissen  verwachsen.  Für 
?ie  sind  es  die  Probleme  des  sittlichen  und  religiösen  Lebens,  mit 
denen  sie  in  rastlosem  Grübeln  ringen,  und  wenn  der  italienischen 
Naturphilosophie  die  AVeit  in  dem  verklärten  Lichte  der  Schönheit 
erglänzte,  so  malte  der  deutschen  Religionsphilosophie  ihr  Er- 
iösungsbedürfnis  die  Wirklichkeit  in  grauen  und  düsteren  Farben. 

§  15.  Die  Reformation  und  die  Philosophie. 

Schon  in  der  Übergangszeit  war  die  Opposition  gegen  die  Schola- 
stik, soweit  sie  in  Deutschland  originell  auftrat,  wesentlich  durch 
das  religiöse  Bedürfnis  erweckt  und  bestimmt  gewesen,  und  in  der 
Mystik  hatte  sich  diese  religiöse  Grundrichtung  der  deutschen 
Renaissance  am  lebendigsten  ausgesprochen.  In  ihrer  praktischen 
Wendung  aber  hatte  die  Mystik  das  theoretische  Interesse  mehr 
und  mehr  abgelehnt  und  die  unmittelbare  Betätigung  des  religiösen 
und  des  sittlichen  Lebens  zu  ihrer  Hauptaufgabe  gemacht.  Auch 
hierin  war  die  deutsche  Reformation  ursprünglich  durchaus  die 
Tochter  der  Mystik,  und  namentlich  in  Luthers  anfänglichem  Auf- 
treten finden  wir  einen  zum  Teil  leidenschaftlichen  Gegensatz  gegen 
alle  wissenschaftliche  Gestaltung  und  philosophische  Begründung 
des  religiösen  Lebens.  Gerade  die  Innerlichkeit  des  Glaubens 
machte  ihn  im  Beginn  zu  einem  Feinde  des  Wissens,  und  als  nun  die 
mystische  Gläubigkeit  aus  der  Stille  des  Klosters  wie  ein  alles  er- 
greifender Sturm  in  das  öffentliche  Leben  trat,  da  schien  sie  zuerst 
auch  die  ganze  wissenschaftliche  Tradition  der  Scholastik  fort- 
schwemmen zu  wollen.  Die  Reformation  tat,  was  das  erste  Christen- 
tum getan  hatte:  sie  lehnte  die  Beziehungen  zur  menschlichen 
Wissenschaft  ab  und  wollte  nur  die  einfache  Religion  des  frommen 
Glaubens  an  die  Offenbarung  sein.  Je  entschiedener  Luther  selbst 
diesen  Glauben  vertrat,  um  so  heftiger  kehrte  er  sich  gegen  alle 
Versuche,  seinen  Inhalt  als  einen  Gegenstand  philosophischer  Wissen- 
schaft zu  betrachten,  und  es  ist  bekannt,  wie  er  »die  Bestie  Ver- 
nunft unter  die  Bank«  wies. 


96  Kirchliche  Organisation. 

Allein  es  zeigte  sich  bald,  daß  diese  Bestie  ein  unentbehrliches 
Haustier  sei,  zwar  nicht  für  die  Keligion,  aber  doch  für  die  Bildung 
einer  neuen  Kirche.  Es  wiederholte  sich  dabei  ein  Vorgang 
theoretischer  Verweltlichung,  wie  ihn  auch  die  Entwicklung  des 
Christentums  in  den  ersten  Jahrhunderten  zeigt.  Allen  religiösen 
Bewegungen,  welche  in  einem  wissenschaftlich  durchsetzten  Kultur- 
zustande entspringen  und  die  Tendenz  der  Ausdehnung  und  der 
kirchlichen  Organisation  gewinnen,  macht  sich  eine  philosophische 
Darstellung  und  Begründung  ihrer  Lehren  notwendig,  deren  die 
autochthon  mit  den  Völkern  selbst  aufgewachsenen  Keligionen  nicht 
I  in  derselben  Weise  bedurft  haben.  Wo  eine  religiöse  Meinung  sich  in 
einer  Gesellschaft  entwickeln  will,  deren  Glieder  auf  einer  gewissen 
Höhe  der  wissenschaftlichen  Bildung  stehen,  da  muß  sie,  um  nicht 
nur  die  Herzen,  sondern  auch  die  Köpfe  zu  erobern,  sich  allmählich 
auch  eine  eigene  Philosophie  schaffen.  Deshalb  konnte  die  deutsche 
Keformation  an  ihrer  anfänglichen  Ablehnung  der  Wissenschaft 
ebensowenig  festhaften  wie  das  Urchristentum,  und  ihre  Wendung 
zur  Philosophie  beginnt  von  dem  Punkte  an,  wo  die  innere  Trieb- 
kraft und  die  kirchenfeindliche  Tendenz  der  Mystik  durch  das 
Bedürfnis  nach  einer  neuen  konfessionellen  Organisation 
gehemmt  wurde. 

Es  ist  nicht  dieses  Ortes,  genauer  auf  die  Gründe  einzugehen, 
durch  welche  die  mystische  Bewegung  zur  Organisation  einer  neuen 
Kirche  getrieben  wurde.  Sie  lagen  teilweise  in  dem  natürlichen 
Vorgange,  daß  alles  religiöse  Leben  mit  Notwendigkeit  auch  seine 
feste  Ausgestaltung  im  äußeren  Leben  sucht,  teilweise  auch  in 
dem  Bündnis  mit  den  politischen  Mächten,  in  welchem  die  Refor- 
mation eine  wesentliche  Kraft  für  ihre  realen  Erfolge  gefunden 
hatte.  Und  so  wurzelte  das  Bestreben  nach  einer  wissenschaft- 
lichen Fixierung  des  neuen  Lehrbegriffes  hauptsächlich  in  dem 
Bedürfnisse  nach  einem  protestantischen  Staatskirchentum. 

Die  Ausführung  dieses  Bestrebens  aber  konnte  sich  nicht  anders 
vollziehen,  als  indem  man  sich  an  dem  großen  Beispiele  eben  der 
Kirche,  die  man  bekämpfte,  wieder  emporrankte.  So  kam  es  zu- 
nächst, daß  die  Tendenz  der  Reformation,  mit  der  kirchlichen 
Tradition  zu  brechen,  in  der  Mitte  gehemmt  wurde.  Statt  zum 
Urchristentum  zurückzukehren,  begnügte  man  sich  mit  der  An- 
nahme des  Christentums  vom  Konzil  zu  Nicaea.     Man  übernahm 


Bedürfnis  nach  Philosophie.  97 

nicht  nur  das  auf  diesem  aufgestellte  Glaubensbekenntnis,  sondern 
man  erklärte  auch  den  um  dieselbe  Zeit  abgeschlossenen  Kanon  des 
Neuen  Testaments  für  die  unantastbare  Grundlage  der  neuen  Kon- 
fession. Wenn  man  sich  so  eine  historische  Grenze  setzte,  über  die 
hinaus  die  Kritik  der  Tradition  nicht  geübt  werden  sollte,  so  ist 
für  dieses  Vorgehen  der  Reformatoren  kein  logischer  Grund,  son- 
dern nur  die  psychologische  Veranlassung  zu  entdecken,  daß  man 
eben  für  die  Begründung  einer  konfessionellen  Organisation  einen 
sicheren  geschichtlichen  Boden  haben  mußte.  Denn  es  ist  eine 
alte  Weisheit,  daß  alle  Religionen  sich  auf  Geschichte  gründen, 
und  daß  aus  bloßer  Philosophie  noch  niemals  eine  hervorgegangen 
ist.  Auf  diesem  neu  abgesteckten  historischen  Boden  der  Heiligen 
Schrift  bestand  bekanntlich  Luther  den  schweizerischen  Reforma- 
toren gegenüber  mit  äußerster  Hartnäckigkeit,  und  er  klammerte 
sich  daran  im  Laufe  der  Zeit  um  so  fester,  je  mehr  sich  in  den  Er- 
scheinungen der  Bilderstürmer,  der  Wiedertäufer  und  anderer  »Sek- 
tierer und  Schwarmgeister«,  besonders  aber  in  den  Bauernkriegen 
die  ganze  revolutionäre  Gewalt  der  Gedanken  entfaltete,  die  er 
durch  sein  Wort  entfesselt  hatte. 

Aber  die  katholische  Kirche  hatte  außer  ihrer  Tradition  auch 
eine  Philosophie,  worin  die  Kirchenlehre  zu  einem  Systeme  wissen- 
schaftlich entwickelter  Gedanken  verarbeitet  war,  und  im  Kampfe 
mit  ihr,  vor  allem  in  den  Disputationen,  mußte  sich  mehr  und  mehr 
das  Bedürfnis  geltend  machen,  ihr  von  protestantischer  Seite  eine 
andere  entgegenzustellen.  So  sahen  denn  Luther  und  vor  allem 
der  umsichtigere  Melanchthon  sehr  bald  ein,  daß  es  ohne  Philo- 
sophie nicht  angehen  würde,  und  daß  man  die  Kirche  ohne  eine 
neue  Wissenschaft  nicht  von  Grund  aus  werde  reformieren  können. 
Doch  müsse  eben,  so  verlangte  namentlich  Luther,  diese  Philo- 
sophie auch  wirklich  neu  sein,  der  scholastische  Aristotelismus  sei 
eine  »gottlose  Wehr  der  Papisten«,  und  der  reine  Aristotelismus, 
wie  ihn  die  Philologen  brächten,  sei  das  pure  naturalistische  Heiden- 
tum: mit  beiden  könne  man  nichts  anfangen.  Aber  woher  sollte 
denn  nun  schließlich  diese  neue  Lehre  kommen?  Luther  war  bei 
aller  Genialität  kein  wissenschaftlicher,  Melanchthon  bei  aller  Ge- 
lehrsamkeit kein  philosophischer  Kopf.  Unter  den  übrigen  Gelehrten, 
die  sich  der  neuen  Richtung  angeschlossen,  war  zwar  viel  humani- 
stische Gelehrsamkeit  und  viel  echte  Gläubigkeit,  aber  leider  keine 

Wiihlelband,  Gesch.  d.  n.  Phi los.  I.  7 


—     ■■' 


98  Aristotelismus. 

philosophische  Originalität  zu  finden.  Wer  kann  sagen,  wie  sich 
die  religiöse  Organisation  Deutschlands  gestaltet  hätte,  wenn  ihm 
damals  das  Schicksal  ein  philosophisches  Genie  wirklich  beschert 
hätte  ?  Aber  das  einzige,  das  aus  diesem  Boden  erwuchs,  Jakob 
Böhme,  kam  viel  zu  spät  und  wurde  erst  geboren,  als  die  neue 
Kirche  sich  schon  lange  anders  hatte  behelfen  müssen. 

Denn  die  Zeit  drängte,  und  man  mußte  sich,  da  man  selbst 
nichts  schaffen  konnte,  wiederum  unter  den  alten  Systemen  um- 
sehen. Und  so  war  es  denn  noch  einmal  der  alte  Aristoteles,  in 
dessen  systematische  Begriffsformen  der  Geist  der  neuen  Glaubens- 
lehre hineingegossen  wurde.  Bald  schrieb  Melanchthon:  »Carere 
monumentis  Aristotelis  non  possumus«,  und  so  sehr  sich  Luther 
dagegen  sträubte,  so  mußte  doch  schließlich  auch  er  anerkennen, 
daß  man  eine  bessere  Wahl  nicht  treffen  könne.  Damit  war  das 
Schicksal  der  Philosophie  des  deutschen  Protestantismus  besiegelt, 
und  Melanchthon  begann  die  aristotelischen  Lehren  teils  in  ihrer 
philologisch  gereinigten  Gestalt,  teils  auch  in  den  formalen  Wen- 
dungen ihrer  mittelalterlichen  Verwertung  für  die  Systematisierung 
der  protestantischen  Glaubenslehre  umzuarbeiten.  Zum  letzten 
Male  machte  in  durchgreifender  und  umfassender  Weise  der  alte 
griechische  Denker  die  Gewalt  seines  Geistes  geltend,  und  in  den 
großen  Formen  seiner  wissenschaftlichen  Architektonik  wurde  noch 
einmal  das  Gebäude  einer  Kirchenlehre  aufgeführt. 

§  16.  Die  protestantische  Schulphilosophie  und  ihre  Gegner. 

In  der  Ausführung  dieses  Planes  hat  bekanntlich  überall  Me- 
lanchthon die  Grundlinien  gezogen,  innerhalb  deren  die  Lehre 
der  neuen  Konfession  ausgebaut  worden  ist.  Er  war  ein  ruhiger 
und  umsichtiger  Forscher,  gänzlich  erfüllt  von  reiner  Hingabe  an 
den  neuen  Glauben  und  von  strenger  Gewissenhaftigkeit  in  der 
Ausbildung  der  einzelnen  Lehren.  Seine  außerordentliche  Lehr- 
gabe, verbunden  mit  der  dialektischen  und  rhetorischen  Fertigkeit, 
die  er  seinen  humanistischen  Studien  verdankte,  betätigte  sich  in 
der  Bearbeitung  aller  Teile  der  Philosophie,  die  er  sukzessive  unter- 
nahm, seitdem  er  nach  manchem  Schwanken  sich  für  die  Ausbildung 
der  aristotelischen  Lehre  entschieden  hatte.  Freilich  ist  es  keine 
großartige  Gestaltungskraft,  die  uns  in  seinen  Werken  entgegen- 


Melanchthon.  99 

tritt,  und  es  ist  nirgends  der  Seherblick  eines  wahren  Philosophen, 
mit  dem  er  die  Dinge  anschaut.  Aber  es  ist  dafür  eine  Art  von 
reinlicher  Anordnung  und  von  feinsinniger  Verteilung  in  seinen 
Bearbeitungen,  welche,  wie  sie  zum  Teil  hauptsächlich  aus  didak- 
tischem Interesse  hervorgegangen  sind,  so  auch  meist  einen  sehr 
glücklichen  pädagogischen  Blick  zeigen.  Die  begrifflichen  Formen 
sind  dabei  durchweg  peripatetisch ;  sachlich  dagegen  zeigt  sich  viel- 
fach der  Einfluß  des  humanistischen  Eklektizismus,  der  gern  aus 
Autoritäten  wie  Cicero  und  Galen  schöpft. 

Seine  wissenschaftlichen  Erkenntnisprinzipien  sind  teils  die 
apriorischen  Grundsätze  der  Vernunft,  teils  die  Tatsachen  allge- 
meiner Erfahrung.  Allein  die  Grundsätze  und  die  Erfahrung  ge- 
nügen zur  rechten  Erkenntnis  doch  nicht,  sie  müssen  vielmehr 
ergänzt  und  teilweise  auch  berichtigt  werden  durch  die  Offenbarung 
der  Heiligen  Schrift.  Überall,  wo  diese  mit  der  aristotelischen  Philo- 
sophie oder  mit  anderen  selbständigen  Forschungen  der  Wissen- 
schaft im  Widerspruche  steht,  müssen  natürlich  die  letzteren  als 
unberechtigt  zurücktreten.  In  der  Lehre  von  der  Ewigkeit  der 
Welt,  von  den  Eigenschaften  Gottes  und  der  Vorsehung  darf  man 
auf  Aristoteles  nicht  hören,  die  Überzeugung  von  der  unsterblichen 
Seele  des  Menschen  kommt  nicht  aus  natürlichen  Gründen,  sondern 
nur  aus  der  Offenbarung,  und  gegen  die  Lehre  des  Kopernikus 
wird  die  Autorität  der  Psalmen  in  das  Feld  geführt.  Der  Ausgangs- 
punkt dieser  ganzen  Philosophie  ist  die  Entwicklung  der  Lehre  von 
der  Gottheit;  an  sie  schließt  sich  einerseits  die  Kosmologie  als  die 
Darstellung  der  von  Gott  geschaffenen  Welt,  wobei  Melanchthon 
auch  dem  astrologischen  Aberglauben  der  Zeit  unter  dem  Begriffe 
des  physischen  Schicksals  Rechnung  trägt,  anderseits  die  Ethik, 
deren  Grundsätze,  vor  aller  Erfahrung  zu  zweifellosem  Rechte  be- 
stehend, noch  größere  Würde  als  diejenigen  der  theoretischen 
Philosophie  an  sich  tragen,  weil  sie  als  die  Gebote  Gottes  der  un- 
mittelbarste Ausdruck  seines  heiligen  Willens  sind.  Überhaupt  legt 
Melanchthon,  ganz  wie  es  in  der  Richtung  seiner  Konfession  liegt, 
besonders  großes  Gewicht  auf  die  moralischen  Argumente,  und  auch 
seine  Beweise  für  das  Dasein  Gottes  sind  zum  größten  Teile  dem 
Gewissen  entnommen. 

Die  genauere  Ausführung  dieser  Lehre  gehört  weniger  in  die 
Geschichte  der  Philosophie,   als  in  diejenige  der  Theologie.     Nur 

7* 


]00  Protestantische  Rechtsphilosophie. 

diese  prinzipiellen  Gesichtspunkte  mußten  kurz  hervorgehoben 
werden,  um  den  Geist  zu  bezeichnen,  in  welchem  dieser  protestan- 
tische Ar  istotelismus  seine  Aufgabe  zu  lösen  suchte.  Er  bürgerte 
sich  natürlich  sehr  schnell  auf  allen  protestantischen  Universitäten 
Deutschlands  ein,  und  er  trocknete,  da  es  ihm  an  wirklich  neuen 
Gesichtspunkten  fehlen  mußte,  schnell  genug  zu  einer  zweiten 
Auflage  der  Scholastik  zusammen,  die,  nicht  minder  einseitig  und 
vor  allem  nicht  minder  unduldsam  gegen  gegnerische  Ansichten  und 
freiere  Richtungen  als  ihr  mittelalterliches  Original,  sich  auf  den 
deutschen  protestantischen  Kathedern  des  XVI.  und  XVII.  Jahr- 
hunderts einnistete,  bis  endlich  vom  Auslande  her  ein  frischerer 
Wind  herüberwehte. 

Von  einzelnen  Auszweigungen  dieses  neuen  Peripatetizismus 
dürfte  nur  noch  die  rechtsphilosophische  eine  kurze  Erwäh- 
nung verdienen,  weil  in  ihr  hauptsächlich  die  durch  die  kirchen- 
politischen Probleme  der  Zeit  nahegelegte  Frage  nach  dem  Verhält- 
nis von  Staat  und  Kirche  verhandelt  wurde.  Es  verstand  sich 
von  selbst,  daß  die  protestantischen  Theorien  dem  Staate  eine 
größere  Unabhängigkeit  zusprachen,  als  es  die  jesuitischen  Rechts- 
philosophen taten.  So  hatte  schon  Melanchthon  in  seiner  Ethik 
den  Staat  als  eine  selbständige  göttliche  Ordnung  aus  den  Prin- 
zipien der  Offenbarung  abzuleiten  gesucht,  und  hierin  stimmte  ihm 
namentlich  Oldendorp  (Iuris  naturalis  gentium  et  civilis  isagoge, 
Cöln  1539)  bei.  Später  trat  hauptsächlich  das  Bestreben  hervor, 
auf  dem  rechtsphilosophischen  Gebiete  die  Identität  von  Offenbarung 
und  Vernunft  durch  den  Nachweis  zu  erhärten,  daß  das  Natur- 
recht nichts  anderes  sei,  als  das  von  Gott  gewollte  und  mit  der 
Schöpfung  des  Menschen  von  ihm  eingesetzte  Recht,  wozu  die  be- 
grifflichen Grundlagen  bereits  im  Thomismus  vorlagen.  Dies  führ- 
ten in  wissenschaftlich  exakterer  Form  der  Däne  Nicolaus  Hem- 
ming  (De  lege  naturae  apodictica  methodus  1562),  und  später 
Benedikt  Winkler  (Principiorum  iuris  libri  quinque,  Leipzig 
1615)  aus.  Ein  besonders  wichtiger  Punkt  in  diesen  Kontroversen 
war  die  Frage  nach  dem  Träger  der  Souveränität:  auch  sie  wurde 
nach  dem  kirchenpolitischen  Interesse  entschieden,  wenn  ein  Ver- 
treter der  sog.  monarchomachischen  Theorien  wie  Johannes 
Althus  in  seinen  Politica  (Groningen  1610)  ausführte,  daß  der 
Herrschaftsvertrag,  durch  den  das^^oJl^^eiiffirTH^ü-rüngliche  Sou- 


Taurellus.  101 

veränität  an  den  Monarchen  abgetreten  habe,  rechtlich  hinfällig 
werde,  sobald  der  Monarch  gegen  die  Überzeugung  und  das  wahre 
Heil  des  Volkes  zu  regieren  versucht. 

Doch  zeigen  auch  die  Kornpromißversuche,  in  denen  sich  die 
neue  Konfession  der  Theorie  des  Staatsrechts  zu  bemächtigen  suchte, 
philosophisch  betrachtet,  geringe  Originalität.  Es  ist  ihnen  allen 
eine  gewisse  Halbheit  aufgedrückt,  die  zwischen  den  Freiheits- 
regungen der  neuen  Wissenschaft  und  der  Anerkennung  eines 
historisch  gegebenen  Systems  hin  und  her  schwankt  oder  mit  einer 
äußerlichen  Versöhnung  dieser  Gegensätze  sich  zufrieden  gibt.  Und 
es  konnte  die  Folge  nicht  ausbleiben,  daß  diese  Zwitterbildungen 
gleich  lebhaft  von  der  Energie  der  alten  Kirche  und  von  der  Kon- 
sequenz der  neuen  Wissenschaft  bekämpft  wurden.  Zu  diesen 
Gegnern  gesellten  sich  aber  noch  besonders  diejenigen  Männer, 
welche  die  Gedankenwelt,  aus  der  die  Reformation  hervorgegangen 
war,  in  rücksichtsloser  Konsequenz  weiter  verfolgten  und  durch 
diese  radikalere  Tendenz  sich  aus  den  engen  Schranken,  die  sich 
auch  die  neue  Konfession  setzte,  schnell  genug  herausgedrängt  sahen. 
Es  kam  hinzu,  daß  die  Streitigkeiten,  welche  nicht  nur  zwischen 
der  alten  Kirche  und  den  neuen  Bestrebungen,  sondern  auch  inner- 
halb der  letzteren  selbst  mit  steigender  Lebhaftigkeit  geführt 
wurden  und  die  Zeit  mit  einem  unerquicklichen  Getöse  erfüllten, 
bei  verständigen  und  weitersehenden  Männern  gerade  jenen  über- 
konfessionellen oder  auch  außerkonfessionellen  Gesichtspunkt  ver- 
lockend erscheinen  lassen  mußten,  der  in  dem  Wesen  der  Mystik 
von  vornherein  angelegt  gewesen  war. 

Zu  solchen  Männern,  obwohl  der  eigentlichen  Mystik  fernstehend, 
gehörte  Nicolaus  Taurellus,  der,  wenn  er  das  geleistet  hätte, J&*vuJLl 
was  er  wollte,  in  der  Tat  mit  Recht  der  erste  deutsche  Philosoph 
genannt  werden  dürfte.  Denn  er  suchte  nichts  Geringeres,  als  ein 
philosophisches  System,  das  mit  dem  innersten  Wesen  des  Christen- 
tums vollkommen  übereinstimmen  und  doch  seiner  wissenschaft- 
lichen Begründung  nach  lediglich  auf  Sätzen  der  menschlichen  Ver- 
nunft beruhen  sollte. 

Er  war  1547  zu  Mömpelgard  geboren,  studierte  in  Tübingen 
anfangs  Theologie  und  später  Medizin,  erhielt  eine  Professur  in 
Basel  und  starb  schließlich  als  Professor  der  Medizin  und  Philo- 
sophie zu  Altdorf  im  Jahre  1606.     In  seinem  ganzen  Wesen  wie 


102  Taurellus. 

in  seinen  Schriften  (besonders  >>  Philosophiae  triumphus«,  1573)  tritt 
das  Bedürfnis  nach  ursprünglicher  Philosophie,  nach  einer  wissen- 
schaftlichen Tätigkeit,  die  unter  dem  Drucke  keiner  Autorität 
seufze,  sondern  frei  dem  inneren  Triebe  des  Gedankens  folge,  deut- 
lich hervor,  und  insofern  kann  er  als  Vertreter  der  besseren  Kräfte, 
welche  im  Protestantismus  mächtig  waren,  angesehen  werden. 
Selbstverständlich  aber  bäumte  sich  jenes  Freiheitsbedürfnis  am 
leidenschaftlichsten  gegen  Aristoteles  auf,  der  zur  Zeit  des  Taurellus 
schon  als  der  Vater  zweier  dogmatischer  Systeme  dastand,  und 
auf  dessen  Autorität  sich  die  Orthodoxen  beider  Konfessionen 
stützten.  Hieraus  begreift  sich  die  bis  zur  Geschmacklosigkeit 
heftige  Polemik,  womit  er  nicht  ohne  Benutzung  des  Ramismus 
den  Aristoteliker  Caesalpinus,  der  auf  einer  Reise  in  Deutschland 
manchen  Einfluß  gewonnen  hatte,  in  einer  Reihe  von  Schriften 
(darunter  eine  unter  dem  Titel:  Alpes  caesae  1597)  befehdete. 

Doch  die  Scholastik  erster  und  zweiter  Auflage  zu  bekämpfen, 
scheint  leichter  gewesen  zu  sein,  als  etwas  wahrhaft  Neues  zu  schaffen. 
Vielleicht  war  der  überkonfessionelle  Standpunkt,  den  Taurellus 
mit  seinem  Glauben  einnahm,  zu  unklar  und  unbestimmt,  als  daß 
er  die  Formen  eines  durchgeführten  philosophischen  Systems  hätte 
annehmen  können.  An  gutem  Willen  wenigstens  dazu  fehlte  es 
ihm  nicht.  Die  Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit  ist  ihm  ein 
Dorn  im  Auge;  er  begreift  nicht,  wie  es  möglich  sei,  christlich  zu 
glauben  und  dabei  heidnisch  zu  denken.  Daß  es  überhaupt  einen 
Widerspruch  und  auch  nur  einen  Unterschied  zwischen  der  natür- 
lichen Erkenntnis  und  der  Offenbarung  gibt,  erscheint  ihm  schon 
als  ein  trauriger  und  unrichtiger  Zustand,  der  erst  durch  den  Sünden- 
fall habe  herbeigeführt  werden  können.  Um  so  törichter  und 
verwerflicher  sei  es,  diesen  sündigen  Zustand  anzuerkennen  und  gar 
noch  befestigen  zu  wollen.  Er  müsse  vielmehr  überwunden,  und 
es  müsse  ein  System  gefunden  werden,  worin  zwischen  theologischer 
und  philosophischer  Wahrheit  kein  Unterschied  mehr  sei. 

Den  Inhalt  dieses  Systems  sucht  Taurellus,  zum  großen  Teil 
mit  Anlehnung  an  die  Lehre  des  Augustinus,  in  den  allgemeinsten 
Grundlagen  des  Christentums,  wie  sie  allen  Konfessionen  gemein- 
sam sind.  Jeder  Schritt  darüber  hinaus  erscheint  ihm  ungerecht- 
fertigt, und  er  will  weder  Lutheraner  noch  Calvinist  noch  Katholik 
sein.     Er  sucht  auch   schließlich   das  religiöse  Heil  nicht  in  der 


Socinianer  und  Mystiker.  103 

Anerkennung  bestimmter  einzelner  Dogmen.  Auf  das  Wissen  kommt 
es  viel  weniger  an  als  auf  das  Wollen,  und  dieselbe  Freiheit,  welche 
einst  das  Elend  der  Sündigkeit  herbeigeführt  hat,  soll  nun  von 
einem  jeden  benutzt  werden,  um  durch  innere  Wiedergeburt  die 
Erlösung  zu  ergreifen  und  in  einem  reinen  Leben  die  Seligkeit  zu 
erringen.  Hieraus  geht  hervor,  daß  Taurellus,  wenn  er  auch  über 
den  Konfessionen  steht  oder  stehen  will,  doch  den  kräftigen  Ein- 
fluß der  reformatorischen  Lehren  nicht  verleugnet,  noch  mehr  aber, 
daß  er  ihrem  Ursprung,  den  mystischen  Theorien,  sowenig  er  gerade 
mit  ihnen  zu  tun  haben  will,  doch  innerlich  sehr  nahe  steht. 

Eine  in  gewisser  Hinsicht  verwandte,  in  anderer  dagegen  ganz 
entgegengesetzte  Erscheinung  bietet  der  Socinianismus  dar,  ein 
rationalistischer  Versuch  überkonfessioneller  Christenlehre,  wel- 
cher von  Laelius  Socinus  (1525 — 1562)  und  seinem  Neffen  Faustus 
Socinus  (1539 — 1604)  gemacht  wurde.  Beide  waren  zwar  geborene 
Italiener,  gehörten  aber  ihrer  Bildung  nach  der  deutschen  Geistes- 
bewegung, ihrer  Wirksamkeit  nach  hauptsächlich  den  nordöstlichen 
Gegenden  an.  Ihre  Lehre,  die  später  in  den  konfessionellen  Streitig- 
keiten nicht  ohne  Bedeutung  gewesen  ist,  wollte  in  der  Offenbarung 
nur  dasjenige  anerkennen,  was  für  die  menschliche  Vernunft  be- 
greiflich ist,  schloß  daher  aus  ihr  alle  metaphysischen  Mysterien, 
alle  theoretischen  Elemente  supranaturalistischen  Charakters  aus 
und  wollte  demgemäß  die  Religion  auf  die  Gesetzlichkeit  be- 
schränken. Gott  hat  dem  Menschen  erst  in  Moses,  dann  in  Jesus 
sein  Gesetz  offenbart,  an  dessen  Befolgung  er  die  Gewähr  der  ewigen 
Seligkeit  geknüpft  hat:  des  Menschen  Religion  ist  nichts  anderes 
als  die  gläubige  und  vertrauensvolle  Unterordnung  unter  dieses 
Gesetz. 

§  17.  Die  Mystiker. 

Im  allgemeinen  wurden  auf  den  Universitäten  die  freieren  Re- 
gungen sehr  bald  durch  die  herrschenden  Lehrmeinungen  unter- 
drückt und  gehemmt.  Desto  ungehinderter  aber  lief  im  Volke  die 
mystische  Bewegung  selber  fort  und  nahm  nun  auch  gegen  die  neue 
Kirche  eine  so  feindliche  Haltung  an,  daß  sie  sich  stetiger  Ver- 
folgung aussetzte.  Die  Reformation,  zur  Kirche  geworden,  kehrte 
die  gewonnene  Macht  gegen  ihren  eigenen  Ursprung  und  bekämpfte 
fast  fanatisch   gerade   diejenigen  Cedanken,   aus  denen  sie  selbst 


104  Schwenckfeld. 

entsprungen  war  und  welche  sie  nur  nicht  zu  voller  Konsequenz 
hatte  entwickeln  wollen  oder  können. 

Es  ist  oft  darauf  hingewiesen,  daß  die  Lehren,  um  deren  willen 
Andreas  Oslander  von  der  lutherischen  Orthodoxie  ausgestoßen 
und  verdammt  wurde,  dem  ursprünglichen  und  innerlichen  Glauben 
Luthers  selbst  verwandter  waren,  als  das  Dogmensystem  der  Luthe- 
raner. Wenn  jener  verketzerte  Mystiker  in  seinem  »Bekenntnis 
von  dem  einigen  Herrn  Jesus  Christus  und  Rechtfertigung  des  Glau- 
bens «  behauptete,  die  einzige  Gerechtigkeit  des  Menschen  sei  der  ihm 
innewohnende  Gottmensch,  so  beruhte  dies  auf  dem  mystischen 
Hintergrund  der  Lehre  von  der  Wesenseinheit  der  einzelnen  Menschen 
mit  dem  Idealmenschen,  der  Luther  selbst  anfangs  sehr  nahe  ge- 
standen hatte. 

Am  charakteristischsten  aber  kommt  diese  eigentümliche  Ver- 
schiebung der  Gedanken,  vermöge  deren  der  Kirchenleiter  Luther 
den  Reformator  Luther  verleugnete  und  verdammte,  in  seinem  Ver- 
hältnisse zu  Kaspar  Schwenckfeld  zutage,  welchen  er  mit  der 
ganzen  Leidenschaftlichkeit  seines  Wesens  von  sich  stieß.  Dieser 
Mann,  1490  zu  Ossig  in  Schlesien  geboren,  war  einer  der  frühesten 
und  anfänglich  begeistertsten  Anhänger  von  Luther.  Aber  nachdem 
er  im  Jahre.  1527  einen  Sendbrief  über  das  Abendmahl  erlassen 
hatte,  worin  er  seine  Stellung  zwischen  Katholiken,  Lutheranern, 
Beformierten  und  Anabaptisten,  also  vollkommen  selbständig  und 
außerkonfessionell  zu  nehmen  suchte,  wurde  er  aus  dem  Lande 
gejagt  und  mußte,  um  schlimmeren  Verfolgungen  zu  entgehen,  in 
der  Verborgenheit  ein  unstetes  Leben  führen,  das  er  1561  ver- 
mutlich zu  Ulm  endete.  Seine  Lehre  steht  schon  mitten  in  der 
Entwicklungslinie  der  eigentlichen  Mystik,  und  sein  Kampf  gegen 
das  in  sich  selbst  verknöchernde  Luthertum  entwickelte  sich  an 
der  Lehre,  welche  damals  schon  die  brennende  Frage  in  den  kon- 
fessionellen Streitigkeiten  zu  werden  begann,  an  derjenigen  vom 
Abendmahle.  Seiner  Ansicht  nach  ist  es  nur  der  verklärte  Leib 
Christi,  nicht  der  fleischliche,  auf  dessen  Genuß  das  eigentliche 
Sakrament  beruht.  Die  lutherische  Auffassung  nennt  er  eine  Ver- 
äußerlichung,  die  nicht  viel  mehr  wert  sei  als  die  katholische,  wäh- 
rend er  anderseits  meint,  daß  in  der  allzu  rationalistischen  und  nur 
symbolischen  Auslegung  der  Reformierten  die  wahrhaft  religiöse 
Bedeutuno;  der  Handlung  sich  verflüchtige.    Von  dieser  besonderen 


Kirche  und  Mystik.  105 

Lehre  aber  entwickelt  sich  von  selbst  ein  allgemeinerer  Angriff  gegen 
das  Luthertum.  Das  hartnäckige  Festhalten  am  Buchstaben  der 
Schrift  ist  für  Schwenckfeld  das  Widerwärtige  in  dem  Treiben  der 
Lutheraner.  Er  sieht  darin  ein  äußerliches  Tun,  durch  welches 
die  wahre  innerliche  Offenbarung,  die  Gott  in  dem  gläubigen  Ge- 
müte  jedes  einzelnen  vollziehe,  nur  erstickt  werden  könne.  Voll- 
kommen erfüllt  von  dem  Gedanken  des, allgemeinen  Priestertums, 
den  ja  auch  die  Reformation  nicht  gänzlich  ablehnte,  kämpft  er 
gegen  die  Monopolisierung  der  Mitteilung  des  Gottesworts,  welche  die 
Pastoren  der  neuen  Kirche  für  sich  in  Anspruch  genommen  haben 
und  wodurch,  wie  er  meint,  der  Ruhm  des  Herrn  nur  beeinträchtigt 
werden  könne.  Schließlich  gipfelt  diese  ganze  Polemik  darin,  daß 
an  die  Stelle  der  äußeren  Kirche  der  mystische  Begriff  der  inneren 
treten  und  die  gesamte  äußerlich  fixierte  Gestalt  des  religiösen 
Lebens  aufgehoben  werden  soll. 

Schwenckfeld  ist  der  lebendige  Beweis  dafür,  daß  an  dem 
Punkte,  wo  der  Protestantismus  konfessionell  und  kirchlich  wird,  die 
Mystik  von  ihm  und  er  von  der  Mystik  sich  trennt.  Der  Idealismus 
und  die  absolute  Verinnerlichung,  welche  das  Wesen  dieser  Mystik 
von  Anfang  an  ausmachte,  stand  in  einem  ursprünglichen  und,  wie 
der  Erfolg  gezeigt  hat,  unversöhnlichen  Widerspruche  mit  der  realen 
Organisation ;  und  der  Gedanke  rein  innerlicher  Gläubigkeit  und  un- 
mittelbarer Hingabe  des  Individuums  an  die  Gottheit  vertrug  sich 
nicht  mit  der  Gründung  einer  Kirche,  die  ihrem  Begriffe  nach  eine 
bestimmte  Formulierung  ihres  Glaubensbekenntnisses  und  eine 
äußere  Festsetzung  ihres  Kultus  verlangen  und  durchführen  mußte. 
Es  lag  in  der  Natur  der  Sache,  daß  dieser  Gegensatz  zwischen  der 
mütterlichen  Mystik  und  der  protestantischen  Kirche  sich  immer 
energischer  ausprägte.  Diese  Kirche  auf  der  einen  Seite  sah  sich 
genötigt,  manche  Auswüchse  jugendlicher  Unreife  abzustreifen  und 
in  der  Nachahmung  eines  mehr  als  ein  Jahrtausend  alten  Vorbildes 
fester  und  enger  sich  in  sich  selbst  zu  schließen:  die  Mystik  auf 
der  anderen  Seite,  aus  dem  konfessionellen  Verbände  einmal  heraus- 
gedrängt, entwickelte,  in  der  Stille  und  in  der  Tiefe  des  Volkes 
weiterwühlend,  die  in  ihr  angelegten  Gedankenkeime  bis  zur  radikal- 
sten Konsequenz.  Und  dies  wenigstens  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß 
die  Originalität  des  philosophischen  Denkens  in  diesem  Gegensatze 
auf  der  Seite  der  Mystiker  war,  und  daß  die  Deutschen  somit  alles, 


1 06  Franck. 

was  sie  von  neuen  Ideen  in  den  gärenden  Anfangszustand  der 
modernen  Wissenschaft  hineingeworfen  haben,  der  Mystik  ver- 
dankten. 

So  kam  es,  daß  der  Fortschritt  der  mystischen  Bewegung  je 
länger  desto  weiter  vom  kirchlichen  Protestantismus  abführte,  und 
schon  der  nächste  in  dieser  Keine,  Sebastian  Franck,  kam  zu 
so  radikalen  Folgerungen,  daß  sogar  Schwenckfeld  von  ihm  sich 
lossagte.  1500  zu  Nürnberg  geboren,  durch  einen  vorübergehenden 
Verkehr  mit  Schwenckfeld  angeregt,  beschäftigte  er  sich  viel  mit 
den  älteren  deutschen  Mystikern,  namentlich  mit  Tauler  und  der 
deutschen  Theologie.  Geistliche  Einflüsse  vertrieben  ihn  aus  Nürn- 
berg und  machten  ebenso  seine  Versuche,  sich  in  Straßburg,  in 
Ulm,  in  Eßlingen  niederzulassen,  auf  die  Dauer  unmöglich,  und  so 
ist  er,  kümmerlich  umherirrend,  1545  in  Basel  gestorben.  Es  ist 
vielleicht  nicht  ohne  den  Einfluß  dieser  seiner  persönlichen  Er- 
fahrungen, daß  die  Mystik  in  dieser  Form  ein  sehr  pessimistisches 
Gewand  trägt  und  sich  in  einem  pathetischen  Widerspruche  gegen 
die  Welt  bewegt,  die  überall  das  der  Wahrheit  und  der  Heiligkeit 
Entgegengesetzte  zu  dem  ihrigen  mache.  Das  einzige  jedoch,  was 
ihn  an  dieser  Welt  trotzdem  sehr  interessiert  zu  haben  scheint,  ist 
der  geschichtliche  Ablauf  ihrer  Begebenheiten;  er  nimmt  in  der 
Entwicklung  der  deutschen  Geschichtschreibung  eine  außerordent- 
lich bedeutende  Stelle  ein,  und  seine  Geschichtsbibel,  seine  teutsche 
Chronik,  sein  Weltbuch  sind  würdige  und  merkwürdige  Denkmäler 
der  ersten  Anfänge  historischer  Forschung.  Es  ist  das  um  so  eigen- 
tümlicher, als  seine  mystische  Lehre  sich  gerade  überall  gegen  die 
geschichtliche  Auffassung  der  Heilstatsachen  wendet.  Es  scheint, 
als  habe  er  das  historische  Geschehen  für  das  Wesen  dieser  ver- 
kehrten Welt  angesehen  und  deshalb  das  religiöse  Heil  von  der 
geschichtlichen  Auffassung  um  so  mehr  befreien  wollen.  Die  früheren 
mystischen  Lehren  legten  ihm  ja  schon  die  Gedanken  von  einer 
Ewigkeit  der  Schöpfung,  von  einem  ewigen  Vorhandensein  aller 
Dinge  in  Gott  nahe,  und  so  sagt  er  denn,  der  Mangel  aller  kon- 
fessionellen Auffassungen  bestehe  darin,  daß  sie  die  Berichte  der 
Offenbarung  für  einmalige  historische  Fakta  hielten.  Der  wahre 
Glaube  betrachte  die  Historie  nur  als  ein  Mittel  der  sinnlichen  Be- 
kanntmachung, als  eine  »Figur«,  in  der  die  Wahrheit  nur  gespiegelt 
werde.     Die  Kirche  spricht  von  einem  Akte  der  Weltschöpfun^ : 


Mystik  und  Toleranz.  107 

in  Wahrheit  ist  die  Welt  ewig  wie  Gott,  denn  Gott  ist  nichts  ohne 
die  Welt.  Die  Kirche  spricht  von  einem  Sündenfall  Adams:  aber 
das  ist  nicht  eine  historische  Tatsache,  sondern  in  Wahrheit  nur 
eine  Symbolisierung  des  ewigen  Sündenfalles  aller  Menschen.  Und 
wie  die  Geschichte  Adams,  so  ist  auch  diejenige  von  Christus  eine 
ewige  Geschichte  des  ganzen  Menschengeschlechts.  In  jedem  Men- 
schen ist  Mensch  und  Gegenmensch,  guter  und  böser  Engel,  Christus 
und  Adam  lebendig.  Darum  ist  auch  die  Erlösung  nicht  als  eine 
einzelne  historische  Tat  aufzufassen,  sondern  vielmehr  als  ein  ewiges 
Geschehen  in  der  inneren  Selbsterlösung  aller  Menschen  und  in  der 
ewigen  Gnadenwirkung  der  Gottheit.  Darum  darf  auch  die  Offen- 
barung nicht  als  zu  einer  bestimmten  Zeit  geschehen  gelten,  sondern 
auch  sie  ist  ein  ewiger  Vorgang,  der  in  jedem  gläubigen  Gemüt e 
neu  und  ganz  vonstatten  geht:  die  historische  Erscheinung  des 
Propheten  von  Nazareth  hat  nichts  Neues  offenbaren,  sondern  nur 
klarer  aussprechen  können,  was  die  Menschheit  von  Ewigkeit  zu 
Ewigkeit  in  ihrem  gotterfüllten  Glauben  besitzt.  Aus  diesem  Grunde 
betrachtet  Franck  die  Schrift  nur  als  einen  Schatten  und  ein 
Bild  des  Geistes,  der  in  dem  wahren  Christen  lebendig  sein  soll. 
Er  polemisiert  gegen  nichts  mehr,  als  gegen  den  historischen  Glauben 
an  eine  Anzahl  von  Büchern,  von  denen  wir  nicht  wissen,  wer  sie 
geschrieben  hat  —  diesen  historischen  Glauben,  mit  dem  alle  Kon- 
fessionen und  alle  Sekten  ihre  Einseitigkeiten  beschönigen  und  ihre 
Ungerechtigkeiten  begründen.  Der  Gedanke  der  praktischen  Mystik 
bricht  auch  in  ihm  hervor,  wenn  er  erklärt:  es  sei  ein  Wahn,  das 
Heil  in  dem  Glauben  an  bestimmte  Lehrsätze  zu  suchen.  Nicht 
Denken  und  Wissen,  sondern  Wollen  ist  der  tiefste  Charakter  des 
Menschen,  und  wer  voll  reiner  Liebe  die  Einheit  mit  Gott  in  sich 
trägt  und  sie  durch  seinen  Wandel  betätigt,  der  ist  heilig  und  ein 
Christ,  auch  wenn  er  den  Namen  Gottes  niemals  vernommen  haben 
sollte. 

So  kommt  in  einem  wunderbaren  Zusammentreffen  das  tief 
religiöse  Bedürfnis  der  deutschen  Mystik  zu  demselben  Kesultate, 
wie  der  religiöse  Indifferentismus  der  rechtsphilosophischen  Unter- 
suchungen: zu  der  Lehre  von  der  bürgerlichen  Gleichgültigkeit  der 
religiösen  Meinungen  und  der  konfessionellen  Parteistellung.  Der 
moderne  Gedanke  der  Toleranz  ist  aus  diesen  beiden  so  weit  von- 
einander verschiedenen  Wurzeln  hervorgegangen:  aus  der  kühlen 


108  Valentin  Weigel. 


Ablehnung  der  streitigen  Religionsfragen,  über  denen  der  moderne 
Staat  seine  weltliche  Souveränität  und  die  Wissenschaft  ihr  eigenes 
Urteil  geltend  machte,  und  aus  der  glühenden  tiefinnerlichen  Reli- 
giosität, der  keine  konfessionelle  Formulierung  genugtun  konnte. 
Hieraus  ist  es  klar,  daß  diese  gleiche  Forderung  der  Toleranz  nicht 
überall  den  gleichen  Wert  besitzt:  ihr  Ursprung  —  das  tritt  am 
klarsten  im  XVIII.  Jahrhundert  hervor  —  umspannt  den  ganzen 
Raum  zwischen  äußerster  Frivolität  und  reinster  Frömmigkeit. 

§  18.  Valentin  Weigel. 

Die  Entwicklung  der  Mystik  hatte  bei  Schwenckfeld  und  Franck 
schon  nahe  genug  an  eine  Grenze  gestreift,  über  welche  sie  nicht 
hätte  hinausgehen  können,  ohne  in  gänzlich  vage  und  inhaltslose 
Allgemeinheiten  zu  verdampfen,  und  selbst  ihre  polemische  Haltung 
gegen  die  verschiedenen  Konfessionen  würde  schließlich  nicht  kräftig 
genug  gewesen  sein,  um  sie  als  selbständige  Richtung  aufrecht  zu 
erhalten.  Zudem  waren  die  mystischen  Gedanken  bis  zu  diesem 
Punkte  viel  zu  einseitig  mit  der  Frage  nach  dem  Vorgange  des 
wahrhaft  religiösen  Glaubens  und  Lebens  beschäftigt,  als  daß  sie 
aus  sich  selbst  allein  zu  einer  umfassenden  philosophischen  Lehre 
hätten  gelangen  können. 

Wenn  deshalb  die  Geschichte  der  deutschen  Mystik  mit  einem 
großartigen  Systeme  wie  demjenigen  von  Jakob  Böhme  abgeschlossen 
hat,  so  ist  es  nur  dadurch  erreicht  worden,  daß  sie  noch  andere 
Gedankenkeime  in  sich  aufgenommen  hat,  und  zwar  speziell  solche, 
welche  als  Ergänzung  ihrer  eigenen,  einseitig  innerlichen  Tendenz 
dienen  konnten.  Solche  Elemente  würde  vielleicht  die  gelehrte 
Bildung  in  der  gleichzeitigen  Erneuerung  der  Systeme  des  griechischen 
Denkens  gesucht  und  gefunden  haben.  Aber  die  Mystik  war  keine 
Gelehrtenphilosophie;  es  war  eine  Bewegung,  die  auch  nach  der 
Reformation  im  Volke  fortrollte,  wo  sie  begonnen  hatte.  So  kam 
es,  daß  die  Einwirkung,  vermöge  deren  die  deutsche  Mystik  schließ- 
lich ihre  bedeutendste  Schöpfung  hervorgebracht  hat,  von  den 
naturphilosophischen  Phantastereien  eines  Paracelsus  aus- 
ging, welche  durch  die  zahlreichen  Flugschriften  des  Mannes  selbst 
und  durch  die  marktschreierischen  Reden  der  Quacksalber,  die 
sich  seine  Schüler  nannten,  weithin  verbreitet  worden  waren.    Beide 


Mystik  und  Naturphilosophie.  109 

Gredankenmassen,  von  ruhiger  wissenschaftlicher  Forschung  gleich 
►veit  entfernt,  aber  gerade  deshalb  in  manchen  Punkten  von  vorn- 
lerein  verwandt,  ergriffen  sich  nun,  und  die  Mystik  begann  ihre 
Yugen  nach  außen  aufzuschlagen,  um  die  Naturerkenntnis  in  den 
Nahmen  ihrer  Glaubenslehre  einzufügen.  Sie  verdankte  diesem  neuen 
Slement  eine  Veranschaulichung  und  realistische  Kräftigung  ihrer 
[deen,  durch  welche  sie  eben  zu  dem  Entwürfe  eines  umfassenden 
Systems  befähigt  wurde. 

Die  beiden  Elemente,  das  religionsphilosophische  der  älteren 
Mystik  und  das  naturphilosophische  des  Paracelsus,  einander  ge- 
lauert und  den  ersten  Versuch  zu  ihrer  gegenseitigen  Durchdringung 
»emacht  zu  haben,  ist  das  Verdienst  von  Valentin  Weigel.  Er  ^  *s**f 
var  1553  zu  Hayna  (Großenhain)  geboren,  machte  seine  Studien 
;u  Leipzig  und  Wittenberg  und  war  dann  bis  zu  seinem  frühen 
Tode  (1588)  Pfarrer  in  Zschopau.  Klug  genug,  seine  Lehre  geheim- 
zuhalten, erkaufte  er  sich  durch  die  Unterschrift  unter  die  Kon- 
:ordienformel  das  Recht  zu  un verfolgter  und  ungestörter  Wirksam- 
keit in  seiner  Gemeinde:  seine  ketzerischen  Lehren  ließ  er  nur  im 
landschriftlichen  Entwurf  bei  seinen  Freunden  und  auf  deren 
drängen  auch  in  weiteren  Kreisen,  aber  stets  geheim  umgehen,  und 
o  kam  es,  daß,  als  man  nach  seinem  Tode  an  ihre  Veröffentlichung 
lurch  den  Druck  ging,  ihm  mancherlei  untergeschoben  wurde,  was 
gleichfalls  von  mystischen  Erbauungsschriften  beim  Volke  in  der 
Stille  von  Hand  zu  Hand  ging.  Was  davon  als  echt  angesehen 
verden  darf,  zeigt  eine  häufige  Berufung  auf  Tauler,  die  deutsche 
Theologie,  Thomas  a  Kempis,  Osiander  und  Schwenckfeld  und  eine 
:harakteristische  Vorliebe  für  die  ersten  Schriften  Luthers,  gepaart 
nit  einer  nicht  minder  bedeutsamen  Abneigung  gegen  Melanchthon, 
n  welchem  Weigel  den  gelehrten  Verderber  der  Mystik  wittert. 
3abei  ist  es  merkwürdig,  wie  er  den  sehr  lebhaften  Einfluß,  den 
t  ganz  offenbar  von  Sebjastian  Franck  erfahren  hat,  konsequent 
verschweigt.  Vielleicht  galt  dieser  doch  mit  seinen  extremen  An- 
ichten  bereits  für  so  unchristlich,  daß  man  selbst  in  diesen  Kreisen 
ich  ungern  auf  ihn  berief. 

Es  sind  hauptsächlich  zwei  Punkte,  auf  denen  sich  die  Mystik 
ind  die  Naturphilosophie  begegnen.  Beide  sind  ihrem  Zwecke 
lach  theosophisch,  die  religionsphilosophische  Richtung  selbst- 
verständlich, die  naturphilosophische  vermöge  ihrer  ausgesprochenen 


HO  Valentin  Weigel. 

Absicht,  die  Natur  als  die  ewige  Offenbarung  Gottes  zu  betrachten. 
Beide  aber  (und  dieser  Gesichtspunkt  ist  noch  viel  wichtiger)  haben 
im  Grunde  genommen  das  gleiche  Erkenntnisprinzip,  indem  sie 
vom  Menschen  als  Mikrokosmos  ausgehen.  Valentin  Weigel 
findet  hierfür  den  genialen  Ausdruck,  daß  man  nur  dasjenige  wissen 
und  verstehen  kann,  was  man  in  sich  trägt.  Sehen  und  erkennen, 
sagt  er,  ist  keine  bloße  Wirkung  des  »Gegenwurfs«,  des  Objektes, 
sondern  es  kommt  vielmehr  von  innen,  aus  dem  Auge,  in  welchem 
es  durch  die  Welt  nur  angeregt  und  »erweckt«  worden  ist.  In  sich 
selbst  trägt  der  Mensch  die  gesamte  Welt,  und  versteht  er  sich, 
so  hat  er  auch  das  All  begriffen.  Dieser  subjektive  Idealismus, 
an  dieser  Stelle  der  Entwicklung  noch  in  der  Form  kühner  Behaup- 
tungen und  phantastischer  Spekulationen  auftretend,  mit  allerlei 
historisch  umgestalteten  und  fast  unkenntlich  gemachten  Bruch- 
stücken der  neuplatonischen  Überlieferung  versetzt,  bildet  doch 
einen  Grundzug  der  gesamten  deutschen  Philosophie:  er  liegt  der 
Monadologie  zugrunde,  mit  der  Leibniz  das  XVIII.  Jahrhundert 
beherrschte:  er  ist  der  tiefste  Inhalt  der  Erkenntnistheorie,  durch 
welche  Kant  der  bestimmende  Philosoph  des  XIX.  Jahrhunderts 
wurde.  Bei  Valentin  Weigel  tritt  er  noch  ganz  in  der  naiven  Form 
auf,  die  einerseits  auf  die  Mystiker,  anderseits  auf  Paracelsus  zurück- 
weist :  der  Mensch  erkennt  Gott,  insofern  er  Gott  ist,  er  erkennt  die 
Welt,  insofern  er  die  Welt  ist.  In  drei  Stufen  sucht  Weigel  diesen 
Gedanken  durchzuführen.  Der  Mensch  erkennt  die  irdische  Welt, 
weil  sein  Leib,  aus  der  Quintessenz  aller  sichtbaren  Substanzen 
bereitet,  ihm  die  Möglichkeit  gibt,  das  Verwandte  überall  wieder- 
zuerkennen, und  weil  die  Wahrnehmung  im  Bunde  mit  der  Ima- 
gination die  ganze  materielle  Welt  in  sich  aufzunehmen  vermag ; 
—  er  erkennt  die  Welt  der  Geister  und  der  Engel,  weil  sein  eigener 
Geist  siderischen  Ursprunges  und  ein  Engel  ist,  der  aus  den  Gestirnen 
seine  Wissenschaft  zieht,  vermöge  deren,  er  den  astrologischen  Zu- 
sammenhang der  Tatsachen  begreifen  und  einen  magischen  Einfluß 
darauf  ausüben  kann;  —  er  erkennt  endlich  die  göttliche  Welt, 
weil  seine  unsterbliche  Seele,  das  spiraculum  vitae,  selbst  göttlichen 
Wesens  ist  und  im  Sakramente  göttliche  Nahrung  erhält.  So  sind 
Naturerfahrung,  Wissenschaft  und  Gotteserkenntnis  im  Grunde 
genommen  nur  Selbsterkenntnis.  Der  wahre  Theologe  forscht  in 
sich,  dem  Bildnisse,  nach  dem,  dessen  Bildnis  er  ist. 


Jakob  Böhme.  Hl 

An  diese  allgemeine  Voraussetzung  schließt  sich  dann  bei  Weigel 
eine  speziell  religionsphilosophische  Lehre,  in  der  er  wesentlich  der 
Schüler  Francks  ist.  Gott  als  das  Eine  wohnt  nur  in  ihm  selbst, 
der  Mensch  aber  als  Kreatur  wohnt  zugleich  in  Gott  und  sich  selber. 
In  ihm  ist  deshalb  von  vornherein  eine  Zweiheit  von  Gutem  und 
Bösem  angelegt,  er  trägt  in  sich  seinen  Christus  und  seinen  Adam. 
Daher  ist  der  Christus  in  jedem  Menschen  sein  Sichselbstabsterben, 
das  Aufhören  seines  Eigenwillens,  der  Tod  des  Individuums.  Diese 
Gedanken,  schon  bei  Meister  Eckhart  hervortretend,  ziehen  sich 
eben  durch  die  gesamte  Mystik  hin,  und  sie  nehmen  bei  Weigel 
andeutungsweise  die  Form  an,  in  welcher  sie  schließlich  bei  Jakob 
Böhme  auf  den  Versuch  führen,  die  Notwendigkeit  der  Sünde  aus 
der  Kreatürlichkeit,  aus  der  Endlichkeit  der  Individuen  abzuleiten. 
Wir  würden  darin  den  evangelischen  Pfarrer  Valentin  Weigel  als 
einen  echten  Mystiker  erkennen,  auch  wenn  er  nicht  schon  durch 
seine  stetige  Polemik  gegen  die  »Buchstabier«  sich  als  einen  solchen 
erwiese.  Gegen  diese  Fanatiker  aller  Konfessionen  wendet  er  das 
Schriftwort:  an  ihren  Früchten  sollt  ihr  sie  erkennen.  Auf  ihrem 
Buchstaben  bestehend  und  um  dieses  Buchstabens  willen  hassen 
sie  einander,  verdammen  einander,  führen  Kriege  und  verbrennen 
die  Frommen,  welche  das  Unglück  haben,  in  diesem  Buchstaben 
nicht  ihr  Heil  finden  zu  können. 

§  19.  Jakob  Böhme. 

Die  Verknüpfung  religionsphilosophischer  und  naturphilosophi- 
scher Spekulation  ist  bei  Weigel  verhältnismäßig  immer  noch  lose; 
sie  vollzieht  sich  zwar  an  dem  Kardinalpunkte  der  menschlichen 
Selbsterkenntnis,  aber  sie  läßt  doch  nachher  Naturerkenntnis  und 
Gotteserkenntnis  noch  mehr  oder  minder  getrennt  erscheinen.  Seine 
Lehre  kann  deshalb  nur  als  die  Vorbereitung  für  das  System  Jakob 
Böhmes  gelten,  in  welchem  sich  beide  Elemente  auf  großartige 
Weise  durchdringen  und  restlos  ineinander  aufgehen.  Die  Stellung 
dieses  Systems  ist  innerhalb  der  deutschen  Philosophie  dieser  Zeit 
eine  ähnliche,  wie  diejenige  Giordano  Brunos  in  der  italienischen 
Naturphilosophie.  In  beiden  laufen  die  mannigfachen  Fäden  der 
vorhergehenden  Entwicklung  zusammen.  Beide  sind  deshalb  ab- 
schließende Systeme  von  bedeutenden  Umrissen  und  von  charakte- 
ristischer Ausprägung  der  Geistesrichtungen,  aus  denen  sie  erwachsen 


112  Böhme. 

sind.  Die  Gemeinsamkeit  der  Zeitbestrebungen  läßt  mannigfache 
Berührungspunkte  zwischen  beiden  Systemen  hervortreten;  aber 
ebenso  stark  sind  auch  zwischen  ihnen  die  Gegensätze  entwickelt, 
worin  die  Verschiedenheit  des  nationalen  Hintergrundes,  von  dem 
sie  sich  abheben,  klar  und  deutlich  sich  spiegelt.  Es  ist  deshalb 
nicht  zufällig,  daß  die  deutsche  Philosophie  zu  einer  Zeit,  wo  sie 
das  Fazit  aus  der  gesamten  Entwicklung  des  modernen  Denkens 
zu  ziehen  berufen  war,  diese  beiden  Systeme,  in  denen  gleichzeitig 
das  italienische  und  das  deutsche  Denken  den  Abschluß  gefunden 
hatte,  aus  der  Vergessenheit  wieder  heraufzog,  und  daß  es  derselbe 
Mann  war,  Schelling,  welcher  die  Lehren  beider  lang  und  oft  ver- 
kannter Philosophen  wieder  zu  Ehren  zu  bringen  unternahm. 

Jakob  Böhme  war,  ein  echter  Sohn  des  Volkes,  1575  zu  Alt- 
seidenberg bei  Görlitz  geboren:  für  das  Schuhmachergewerbe  be- 
stimmt, lernte  er  auf  seiner  ausgedehnten  Wanderschaft  zahlreiche 
konfessionelle  Streitschriften,  dann  aber  vor  allem  die  fliegenden 
Blätter  des  Paracelsus  und  die  mystischen  Schriften  von  Schwenck- 
feld  und  Weigel  kennen.  Es  ist  für  den  Charakter  der  mystischen 
Bewegung  bezeichnend  genug,  daß  wandernde  Handwerksburschen 
durch  den  Austausch  von  Schriften  und  Gedanken  in  den  Herbergen 
zu  ihren  hauptsächlichsten  Trägern  gehörten.  Nach  seiner  Rück- 
kehr wurde  Böhme  1599  Meister  seines  Handwerks  und  bald  ein 
glücklicher  Familienvater,  der  bescheiden  in  günstigen  Verhältnissen 
seinem  Berufe  oblag.  Aber  in  ihm  trieb  und  drängte  es  und  ließ 
ihm  nicht  eher  Ruhe,  bis  er  im  Jahre  1610  die  auf  der  Wander- 
schaft aufgesogenen  und  in  der  Werkstatt  weiter  gepflegten  Ge- 
danken in  seiner  Schrift  »Aurora  oder  die  Morgenröthe  im  Aufgang, 
d.  i.  die  Wurzel  oder  Mutter  der  Philosophie,  Astrologie  und  Theo- 
logie aus  rechtem  Grunde,  oder  Beschreibung  der  Natur«  nieder- 
geschrieben und  veröffentlicht  hatte.  Das  Buch  machte  großes 
Aufsehen;  paracelsische  Ärzte  und  sonstige  Magier  und  Mystiker 
kamen,  den  Mann  zu  sehen,  der  es  geschrieben,  und  die  Geistlichkeit 
der  Stadt  wußte  es  durchzusetzen,  daß  der  philosophische  Schuster 
in  die  Hände  des  Bürgermeisters  das  Versprechen  niederlegte,  nichts 
weiter  zu  schreiben.  Aber  es  ging  nicht;  der  Geist  war  zu  mächtig 
in  ihm,  literarische  Angriffe  kamen  hinzu,  und  seit  dem  Jahre  1619 
begann  er  von  neuem,  in  Gelegenheitsschriften  und  offenen  Send- 
schreiben seiner  Lehre  immer  neue  und  neue  Formen  zu  geben. 


Autodidaktentum.  113 

Und  nachdem  die  Unbequemlichkeiten,  welche  ihm  geistlicher  Ein- 
fluß infolgedessen  bereitet  hatte,  durch  das  vernünftige  Einschreiten 
der  Dresdner  Behörden  fortgeräumt  worden  waren,  fuhr  er,  ohne 
seine  praktische  Tätigkeit  zu  vernachlässigen,  mit  diesen  litera- 
rischen Arbeiten  bis  an  sein  Ende  im  Jahre  1624  fort.  Von  diesen 
späteren  Schriften  sind  namentlich  diejenige  »Von  den  drei  Prinzipien 
des  göttlichen  Lebens«  (1619),  ferner  die  »Vierzig  Fragen  von  der 
Seele  oder  Psychologia  vera«  (1620),  das  »Mysterium  magnum  oder 
Erklärung  über  das  erste  Buch  Moses«  (1623)  hervorzuheben. 

Stärker  noch  als  bei  irgend  einem  anderen  ist  bei  Jakob  Böhme 
der  Gegensatz  gegen  die  Gelehrsamkeit.  Der  zünftigen 
Wissenschaft  bezeigt  er  teils  grimmigen  Haß,  teils  halb  mitleidige 
Verachtung.  Die  wahre  Offenbarung,  meint  er,  hat  sich  niemals 
auf  das  Hohe  und  die  Kunst  dieser  Welt,  am  wenigsten  auf  das 
»hohe  und  tiefe  Studium«  niedergelassen,  sondern  immer  nur  auf 
die  niedere  heilige  Einfalt.  Die  Patriarchen,  Jesus,  die  Apostel, 
das  waren  die  Gefäße  der  Offenbarung,  nicht  die  gelehrten  Pfaffen, 
und  dem  armen  verachteten  Mönch  Luther  war  es  gegeben,  die 
Gewalt  der  Gelehrten  zu  brechen.  Aber  leider  auch  seine  Nach- 
folger sind  wieder  solche  gelehrten  Pfaffen  geworden,  und  die  Zeit 
ist  damit  reif  für  eine  neue  Offenbarung:  die  Morgenröte  ist  da. 
Es  steckt  eine  Art  von  Prophetenbewußtsein  in  dem  Görlitzer 
Schuster,  welches  ihn  bei  aller  persönlichen  Bescheidenheit  von  der 
Heiligkeit  seiner  Aufgabe  und  der  Kraft  seiner  mystischen  Offen- 
barung tief  durchdrungen  erscheinen  läßt.  Nicht  aus  Büchern  wie 
die  Gelehrten  muß  man  seine  Weisheit  schöpfen,  sondern  aus  un- 
mittelbarem Ergreifen  der  höchsten  Wahrheit.  »Ich  will  nach 
Geist  und  Sinn  schreiben,  nicht  nach  dem  Anschauen«,  sagt  er  im 
Anfang  seines  Hauptwerkes  und  bezeichnet  damit  selbst  am  besten 
den  Charakter  innerlicher  Phantastik,  der  seinem  System  auf- 
gedrückt ist.  Vor  allem  aber  zeigt  sich  der  heftige  Gegensatz  gegen 
das  gelehrte  Bücherwissen  in  Böhmes  starker  Betonung  des  Wertes 
der  deutschen  Sprache.  Die  Sprache  überhaupt  als  das  Er- 
zeugnis des  denkenden  Menschengeistes  gilt  ihm  als  eine  Neu- 
schöpfung der  ganzen  Welt.  Denn  das  Denken  des  Menschen  ent- 
hält in  sich  die  Quintessenz  der  Dinge.  Versteht  man  darum  die 
Sprache  vollständig,  so  muß  man  damit  auch  eine  große  Welt- 
kenntnis gewonnen  haben;  und  zunächst  kann  man  das  selbst- 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  8 


114  Böhme. 

verständlich  am  besten  bei  der  Sprache,  in  der  man  aufgewachsen 
ist.     »Darum  verstehe  nur  deine  Muttersprache  recht;  du  hast  so 
tiefen  Grund  darin,  als  in  der  hebräischen  oder  lateinischen,  ob 
sich  gleich  die  Gelehrten  darin  erheben,  wie  eine  stolze  Braut  — 
es  kümmert  nichts,  ihre  Kunst  ist  jetzt  auf  der  Bodenneige. «   Eigen- 
tümlich nun  ist  die  Art  und  Weise,  in  der  er  selbst  diese  seine  deutsche 
Sprache  behandelt.    In  reicher  Fülle  strömt  die  Rede  meist  dahin, 
aber  fast  ist  die  Sprache  noch  zu  ungelenk,  um  dem  philosophischen 
Gedanken  einen  vollen  und  klaren  Ausdruck  zu  geben,  und  seiten- 
lang manchmal  ist  die  ganze  Auseinandersetzung  nur  ein  Ringen 
mit  der  Sprache,  um  ihr  das  rechte  Wort  und  die  rechte  Fügung 
abzuzwingen.    Und  es  gibt  in  der  Tat  eine  Reihe  von  Ausdrücken, 
wie'lchheit,  Selbheit,  Deinheit  usw.,  die  er  dem  Genius  der  Sprache 
glücklich  entlockt  und  für  die  Philosophie  erobert  hat.    Anderseits 
zeigt    er   bis    zu    lächerlichstem  Unverständnis  eine  Gewohnheit, 
die   bekanntlich   allem   dilettantischen   Philosophieren   gemeinsam 
ist,  diejenige  nämlich  des  Etymologisierens.    Und  diese  Sucht,  die 
eigenen  Gedanken  in  dem  Ursprung  der  Wörter  wieder  zu  erkennen, 
nimmt  nun  natürlich  überaus  komische  Formen  an,  wo  jemand 
ohne  die  von  Böhme  so  tief  verachtete  Gelehrsamkeit  sich  die 
Silben  nach  »Geist  und  Sinn«  deutet.     Deutsche  und  lateinische 
Wörter  (letztere  sind  die  alchymistischen  Termini  aus  den  para- 
celsischen  Schriften)    zerlegt   er   beliebig   nach   seiner   Willkür   in 
Silben,  um  dann  diese  gleich  willkürlich  zu  deuten  und  aus  ihrer 
Zusammenstellung   den  Sinn   des  Ganzen   herauszuklauben   z.   B. 
Teu-fel,  Mer-cu-ri-us  usw.     Eine  gleiche  Vereinigung  von  ernstem 
Ringen  und  willkürlichem  Hinwerfen  zeigt  auch  der  Satzbau  dieses 
philo sophus   teutonicus;    er  müht  sich  unsäglich,    die  mystischen 
Gedanken  zum  klaren  Ausdruck  zu  bringen,  und  manchmal  ge- 
lingt es  ihm  mit  geradezu  genialer  Sicherheit.    Aber  das  überkommt 
ihn  dann  wie  eine  Art  von  innerer  Erleuchtung.    Am  allerwenigsten 
darf  man  logische  Gliederung  und  wissenschaftliche  Beweisführung 
in  seinen  Schriften  erwarten;   sondern  bald  wie  in  weihevollem 
Selbstgespräch,  bald  wie  in  beredter  Predigt,  sprudelt^er  Behaup- 
tungen hervor,  die  sich  gegenseitig  drängen  und  auch  wohl  gelegent- 
lich einmal  einander  verdrängen.     Nimmt  man  noch  eine  Reihe 
von  Geschmacklosigkeiten  hinzu,  denen  der  deutsche  Stil  sehr  bald 
nach  Luthers  reformatorischer   Tat   der  Bibelübersetzung   wieder 


Religiöse  Grundbegriffe.  115 

verfallen  war,  so  kann  man  nicht  eben  behaupten,  daß  das  Studium 
der  Werke  Jakob  Böhmes  dem  modernen  Menschen  ein  großer 
Genuß  sei.  Es  ist,  wie  wenn  man  im  salzigen  und  trüb  bewegten 
Wasser  nach  köstlichen  Perlen  zu  fischen  habe.  Man  findet  sie,  aber 
man  muß  sie  unter  gar  viel  Befremdlichem  und  Unbehaglichem 
heraussuchen. 

Nicht  viel  anders  möchte  sich  der  moderne  Geist  auch  zu  dem 
Inhalte  der  Böhmeschen  Lehre  stellen.  Bei  der  Verschmelzung 
religionsphilosophischer  und  naturphilosophischer  Spekulationen 
kommt,  wie  sich  leicht  denken  läßt,  die  wirkliche  Naturerkenntnis 
sehr  zu  kurz.  Lehnt  doch  Böhme  die  Erfahrung  und  Anschauung 
ausdrücklich  ab,  und  was  er  von  der  Natur  wirklich  weiß,  be- 
schränkt sich  auf  die  wenigen  Kenntnisse,  die  er  alchymistischen 
und  paracelsischen  Schriften  verdanken  konnte.  Um  so  größer  ist 
natürlich  der  Spielraum  seiner  Phantasie:  das  Charakteristische 
aber  in  dieser  mystischen  Konstruktion  ist  die  Durchsetzung  der 
Naturanschauung  durch  religionsphilosophische  Gedanken.  Der 
Geist  Böhmes  durchdringt  die  gesamte  Natur  mit  den  Kategorien 
der  religiösen  Betrachtung.  Nicht  nur  das  ganze  Geschick,  sondern 
auch  das  innere  Wesen  der  Natur  sucht  er  aus  den  Gegensätzen 
des  Guten  und  des  Bösen  abzuleiten,  und  der  ganze  Prozeß  des 
Naturgeschehens  ist  für  ihn  gleichbedeutend  mit  demjenigen  des 
Sündenfalles  und  der  Erlösung.  Die  Innerlichkeit  des  religiösen 
Lebens  mit  seinen  Gegensätzen,  Anhaltspunkten,  Strebungen  und 
Zielen  bildet  ihm,  wie  dereinst  den  Gnostikern,  den  tiefsten  Kern 
auch  der  Natur,  und  so  verwandeln  sich  unter  seinen  Händen  die 
naturphilosophischen  Kategorien  in  psychologische  und 
religiöse  Begriffe.  Gerade  hierin  zeigt  die  deutsche  Mystik  auf 
ihrem  Höhepunkt  sich  als  das  wahre  Gegenstück  zu  der  italieni- 
schen Naturphilosophie.  Dort  ergriff  man  in  voller  Begeisterung 
die  äußere  Natur  und  stellte,  soweit  es  angehen  wollte,  auch  das 
innere  Leben  unter  die  Gesichtspunkte  der  Naturerkenntnis:  hier 
glaubte  man  aus  der  Offenbarung  des  gläubigen  Gemütes  heraus 
auch  die  äußere  Welt  begreifen  zu  können.  Ein  Bruno  stürzt  sich 
in  die  Geheimnisse  der  wirkenden  Natur  —  ein  Böhme  wühlt  in  den 
Mysterien  des  inneren  Lebens.  Das  ist  der  ganze  Unterschied 
zwischen  Italien  und  Deutschland.  Dort  sucht  man  Gott  in  der 
Natur,  hier  in  der  Seele.    Und  den  ursprünglichen  Inhalt,  welchen 

8* 


1 1 6  Böhme. 

das  neue  Denken  begehrt,  glaubt  man  dort  aus  der  Unendlichkeit 
des  Universums,  hier  aus  den  Offenbarungen  des  gläubigen  Herzens 
schöpfen  zu  können. 

Mit  dieser  Eigentümlichkeit  hängt  es  zusammen,  daß  es  in  dem 
Grübeln  Böhmes  ein  Zentralproblem  gibt,  das  alle  seine  Ge- 
danken beherrscht  und  gestaltet.  Es  ist  dasselbe,  welches  wir 
schon  vielfach  als  einen  Gegenstand  des  Nachdenkens  bei  den 
Mystikern  haben  auftreten  sehen,  das  Grübelproblem  der  christlichen 
Welt,  dasjenige  der  Sünde.  Der  pantheistische  Grundzug,  der 
die  ganze  Entwicklung  der  Mystik  bestimmt,  ließ  dies  Problem  in 
besonderer  Schärfe  hervortreten.  Wenn  Gott  als  das  Wesen  und 
der  metaphysische  Grund  aller  Dinge  und  alles  Geschehens  betrachtet 
wurde,  so  erschien  er  auch  als  der  Urgrund  des  Bösen,  und  doch 
sträubte  sich  das  religiöse  Gemüt  dagegen,  ihn  die  moralische  Ver- 
antwortung dafür  tragen  zu  lassen.  Das  ist  der  Schwerpunkt  für 
das  ganze  Gedankensystem  Böhmes.  Es  handelt  sich  darum, 
Gott  als  den  metaphysischen  Grund  der  Sünde  zu  erkennen,  ohne 
seiner  Heiligkeit  Abbruch  zu  tun.  Böhme  hat  das  Problem  so 
wenig  gelöst  wie  irgendein  anderer;  aber  er  hat  in  rastloser  Arbeit 
darum  gerungen,  und  er  hat  mit  bewunderungswürdigem  Tiefsinn 
den  Punkt  aufgezeigt,  von  dem  aus  allein  die  Lösung  möglich  er- 
scheinen konnte.  Er  hat  den  Versuch  gemacht,  den  Gegensatz 
von  gut  und  böse  als  einen  ursprünglichen  und  ewigen  in  die  Gott- 
heit selbst  zu  verlegen.  Auch  dafür  waren  Andeutungen  von 
Meister  Eckhart  gegeben.  Allein  die  Ausführung  bei  Böhme  ist 
vermöge  seiner  voluntaristischen  Grundauffassung  so  originell,  daß 
er  als   der   selbständige  Vertreter   dieses    Gedankens  gelten    darf. 

Es  ist  in  diesem  Versuche  Böhmes  unverkennbar  eine  gewisse 
Ähnlichkeit  mit  der  Lehre  von  der  coincidentia  oppositorum, 
welche  auch  in  der  Naturphilosophie  und  speziell  bei  Bruno  eine 
so  hervorragende  Rolle  spielt.  Aber  der  Grundgegensatz,  dessen 
Vereinigung  hier  die  Gottheit  in  sich  tragen  soll,  ist  der  moralisch- 
religiöse des  Guten  und  des  Bösen.  Er  geht,  wie  Böhme  aus- 
führt, durch  die  ganze  Welt:  »es  ist  nichts  in  der  Natur,  so  nicht 
Gutes  und  Böses  inne  ist.«  Als  liebstes  Beispiel  wendet  Böhme 
für  diese  Lehre  das  Feuer  an,  dessen  guter  und  freundlicher  An- 
blick mit  seiner  grimmigen,  verderblichen  Hitze  so  wenig  überein- 
stimme, und  welches  auf  der  einen  Seite  das  Element  des  Lebens, 


Theogonie.  117 

auf  der  andern  dasjenige  der  Zerstörung  sei.  Wenn  nun  so  alle 
Dinge  diesen  Gegensatz  der  Urqualitäten  gut  und  böse  in  sich 
tragen,  so  muß  derselbe  Gegensatz  auch  schon  in  der  Gottheit  ent- 
halten sein,  die  ja  das  innerste  Wesen  aller  Dinge  bildet  und  der 
Lebenssaft  in  dem  ganzen  Baume  des  Universums  ist.  Wie  aber 
kommt,  muß  sich  Böhme  fragen,  der  eine,  unendliche  Gott  dazu, 
so  in  sich  selbst  gespalten,  so  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  zu 
sein?  Die  Antwort  darauf  enthält  das  Geheimnis  der  Lehre  Jakob 
Böhmes:  nur  durch  den  Gegensatz  ist  Offenbaruno;  möglich,  und 
die  Gottheit  muß  in  sich  selbst  gegensätzlich  sein,  wenn  sie  sich 
selbst  offenbar  werden  will.  Auch  hier  ist  es  der  Vorgang  des 
Feuers  und  des  Lichtes,  an  welchem  sich  die  Phantasie  Böhmes 
emporrankt.  Will  er  doch  selbst  die  plötzliche  Erleuchtung,  durch 
die  ihm  alles  klar  wurde,  dem  Anblick  eines  vom  Sonnenstrahle 
getroffenen  Zinngefäßes  verdanken.  Wo  nur  Licht  wäre  oder  nur 
Finsternis,  da  wäre  weder  Licht  noch  Finsternis:  nur  aneinander 
können  die  Gegensätze  offenbar  werden.  Deshalb  muß  auch  in 
Gott  ein  ursprünglicher  Gegensatz  angenommen  werden.  Seine 
Liebe  könnte  nicht  offenbar  werden,  wenn  sie  sich  nicht  an  seinem 
Zorn  offenbarte,  und  sein  ewiges  Licht  würde  nicht  offenbar  sein, 
wenn  nicht  in  ihm  selbst  Finsternis  gegeben  wäre. 

Den  Ausgangspunkt  von  Böhmes  Theogonie  und  Kosmogonie 
bildet  deshalb  die  Betrachtung  der  unoffenbaren  Gottheit.  Sie  ist 
die  ewige  Ruhe,  der  Ungrund,  das  ewig  Eine,  nicht  Licht  noch 
Finsternis,  ohne  Qualität,  kein  Wesen,  keine  Person,  alles  und 
nichts.  Es  ist  der^gegenstandslose  Wille,  der  nichts  weiter  hat  als 
die  Sucht  zu  tun  und  zu  begehren,  und  der,  weil  er  das  Absolute  ist, 
mit  ewiger  Freiheit  wandellos  in  sich  beruht.  Aber  dieser  Ungrund, 
der  nichts  außer  sich  hat,  schaut  deshalb  in  sich;  er  macht  sich 
selbst  zu  einem  Spiegel  und  teilt  sich  damit  in  die  schauende  Welt- 
kraft und  in  den  angeschauten  Weltinhalt.  So  wird  der  unfaßbare 
Urwille  sich  selbst  offenbar,  und  diese  Tätigkeit  seiner  Selbstoffen- 
barung ist  der  ewige  Geist,  mit  welchem  die  Gottheit  sich  selbst 
schafft  und  die  Welt  gestaltet.  Diese  Geburt  Gottes  ist  kein  ein- 
maliges geschichtliches  Faktum,  sondern  eine  ewige  Geburt:  Böhme 
macht  den  ganz  klaren  Unterschied,  daß  diese  Bestimmungen  des 
göttlichen  Wesens  nur  in  der  Reflexion  voneinander  trennbar,  im 
Sein   dagegen   vollkommen  miteinander  identisch   sind.     Und   so 


118  Böhme. 

wird  denn  auch  dieser  offenbarte  Gott  in  Wahrheit  erst  durch  den 
Gegensatz  zu  jenem  unoffenbaren  Ungrunde  oder,  wie  Böhme  es 
auch  nennt,  zu  der  Natur  in  Gott  offenbar,  und  in  dieser  Offen- 
bartheit  erst  bildet  er  die  göttliche  Dreieinigkeit :  der  Vater  als  der 
offenbare  Wille  oder  der  Saft  der  Welt,  der  Sohn  als  die  ideale 
Kraft  und  der  Geist  als  die  in  der  Kraft  sich  offenbarende  Tätigkeit, 
die  »quellende  Kraft«.  Nun  entzündet  sich  in  dem  Vater  die  Liebe 
zum  Sohne,  »die  Lust  an  der  Weisheit«,  und  in  dieser  göttlichen 
Ideenwelt  spielt  die  quellende  Kraft  des  Geistes,  sie  ist  die  »Wohne 
Gottes«,  die  ewige  Jungfrau,  die  allein  aus  sich  selbst  die  Welt 
erzeugt. 

Nachdem  so  die  »Anderheit«  oder  »Schiedlichkeit «  in  dem  un- 
endlichen Wesen  Gottes  gewonnen  ist,  entwickelt  Böhme  die  Lehre 
von  der  Weltschöpfung  aus  dem  Gegensatze  der  offenbaren  drei- 
einigen Gottheit  zu  der  Natur  in  Gott,  dem  centrum  naturae,  oder 
der  matrix.  Und  er  sucht  durch  alle  Dinge  hindurch  diese  Drei- 
einigkeit von  Saft,  Kraft  und  quellender  Kraft  zu  verfolgen,  eine 
Dreieinigkeit,  die  etwa  dem  philosophischen  Verhältnis  von  Sub- 
stanz, Eigenschaft  und  Tätigkeit  entsprechen  dürfte. 

Die  erste  Offenbarung  der  göttlichen  Kräfte  in  der  Natur  bringt 
das  Reich  der  Engel  hervor,  welches  sich,  je  nach  dem  Überwiegen 
der  entsprechenden  Personen  der  Dreieinigkeit,  in  drei  Reiche  teilt : 
das  göttliche  Wesen,  in  erhabener  Ruhe  dargestellt,  erscheint  im 
Reiche  des  Michael  — ,  die  göttliche  Kraft  strahlend  voll  leuchtender 
Schönheit  in  Lucifer  — ,  die  göttliche  Tätigkeit  als  rastlose  Welt- 
schöpfung in  Uriel.  Ihnen  gegenüber  aber  enthält  die  vollendete 
Person,  Christus,  die  Vereinigung  aller  Engelkräfte  zu  höchster 
Vollkommenheit;  während  die  Engel  nur  göttliche  Krafterscheinun- 
gen sind,  ist  er  eine  volle  Person,  der  Sohn  von  Ewigkeit  her  ge- 
boren und  das    Herz  des  Vaters. 

Die  zweite  Stufe  der  Weltschöpfung  entsteht  durch  das  Aus- 
einandertreten der  Urqualitäten  in  der  Gottheit,  und  hier  ent- 
wickelt sich  die  reale  Welt  in  sieben  »Gestalten«  aus  der  Gottheit 
heraus,  —  ein  Versuch  naturphilosophischer  Gliederung  und  syste- 
matischer Verteilung  der  Naturkräfte.  Die  erste  »Qual«  ist  das 
Zusammenziehende,  das  Harte  und  Herbe,  die  Kraft,  durch  welche 
die  Dinge  koagulieren,  das  Prinzip  der  Vielheit  und  Materialität, 
das  »Halten«;  die  zweite  das  Trennende,  Verflüchtigende,  das  Süße, 


Kosmogonie.  119 

das  Prinzip  der  Ausdehnung,  das  »Fliehen«.  In  wunderlicher 
Jugendlichkeit  tritt  hier  der  Gegensatz  von  Kontraktion  und  Re- 
pulsion als  die  Materie  konstruierender  Grundkräfte  auf,  naiv  genug 
verschmolzen  mit  Geschmackskategorien,  die  wohl  auf  alchy- 
mistische  Theorien  zurückweisen.  Als  die  dritte  Gestalt  erscheint 
die  eigentliche  Stofflichkeit,  die  »bittere  Qual«  oder  »Angstqual«, 
die  wahre  Materialität.  Diese  drei  ersten  Gestalten  bezeichnet 
Böhme,  Paracelsus  folgend,  als  Sal,  Mercurius  und  Sulphur.  Aus 
ihnen  allen,  aus  ihrer  innigen  Vereinigung  bricht  als  vierte  Gestalt  *~> 
das  Feuer  hervor,  daraus  als  fünfte  das  wohltätig  schöne  Licht, 
das  »Liebe-Licht-Feuer«,  das  Freudenreich  des  Lichtes,  die  »Region 
der  heiligen  Liebe«.  Die  sechste  Gestalt  ist  der  Klang,  Schall  und 
Ton,  das  Reich  der  Mitteilung,  die  gegenseitige  »Verständnis  und 
Erkenntnis«.  Alle  sechs  endlich  vereinigen  sich  zu  der  siebenten 
Gestalt,  der  idealen  Leiblichkeit,  in  der  die  Natur  ihre  vollkommene 
Offenbarung  gefunden  hat,  und  damit  schließt  der  Prozeß  der 
Schöpfung  sich  in  sich  selber  ab.  Durch  diese  sieben  Gestalten 
hindurch  verfolgt  Böhme  in  mehrfacher  Gliederung  jene  Dreieinig- 
keit: in  den  ersten  drei  Gestalten  teilt  er  das  Herbe  dem  Vater, 
das  Süße  dem  Sohne,  das  Bittere  dem  Geiste  zu;  unter  den  letzten 
drei  Gestalten  das  Liebe-Licht  dem  Vater,  die  Mitteilung  dem 
Sohne,  die  volle  Naturoffenbarung  dem  Geiste.  Die  drei  ersten 
bilden  das  Reich  des  Michael,  dem  Vater  entsprechend,  die  vierte 
das  Feuer,  das  Reich  des  Lucifer,  dem  Sohne  entsprechend,  die 
drei  letzten  zusammen  das  Reich  des  Uriel,  dem  Geiste  entsprechend. 
Das  sind  die  Grundzüge  der  theogonischen  und  kosmogonischen 
Dichtung  von  Jakob  Böhme.  Denn  alle  diese  Vorgänge,  die  so- 
weit geschildert  worden  sind,  betrachtet  er  nicht  als  einmalige  Tat- 
sachen, sondern  als  ewiges  Geschehen.  Das  Vorher  und  Nach- 
her zwischen  ihnen  ist  nur  im  metaphysischen  Sinn  zu  verstehen, 
niemals  im  zeitlichen,  und  die  Unterschiede  im  Wesen  der  Gottheit, 
welche  er  aufstellt,  sind  nicht  als  getrennte  Kräfte,  sondern  nur  als 
die  Ausbreitung  ihrer  inneren  Eigentümlichkeiten  vor  der  philo- 
sophischen Betrachtung  anzusehen.  Aber  wenn  diese  Phantasien 
gewissermaßen  den  idyllischen  Teil  seines  Weltgedichtes  bilden, 
so  beginnt  dies  episch  zu  werden  von  dem  Punkte  an,  wo  es  sich 
um  die  Genesis  der  wirklichen  Welt  handelt.  Diese  wirkliche 
Welt  ist  zeitlich,  sie  muß  somit,  wie  Böhme  meint,  auch  einen 


120  Böhme. 

zeitlichen  Anfang  haben,  und  ihr  Bestehen  ist  deshalb  nur  durch 
eine  zeitliche  Tatsache,  durch  ein  einmaliges  Faktum  zu  begreifen, 
welches,  ohne  durch  die  notwendige  und  ewige  Offenbarungstätig- 
keit der  Gottheit  bedingt  zu  sein,  plötzlich  eingetreten  ist  und  einen 
Eiß  in  den  großen  und  schönen  Zusammenhang  der  Dinge  gemacht 
hat.  Im  Grunde  genommen  liegt  in  dieser  Gedankenwendung  ein 
Verzicht  Böhmes  auf  die  vollkommene  Lösung  seines  Problems. 
Nur  die  Möglichkeit  des  Bösen  ist  von  ihm  aus  der  Selbstentzweiung 
der  Gottheit  und  aus  der  Lehre  von  der  gegenseitigen  Offenbarung 
der  Gegensätze  entwickelt  worden.  Die  TatsächlicEkeit  des  Bösen 
kann  er  eben  nur  als  eine  Tatsache  feststellen  und  sie  aus  einer 
»Freiheit«  der  Engel  ableiten,  für  die  eigentlich  in  den  metaphysi- 
schen Voraussetzungen  kein  Raum  ist.  Aber  gerade  in  diesen 
Beziehungen  kommt,  freilich  ohne  alle  begriffliche  Formulierung, 
der  metaphysische  Tiefsinn  des  Görlitzer  Schusters  glänzend  zu- 
tage :  er  legt  den  Finger  darauf,  daß  es  im  Bestände  der  Erfahrungs- 
welt zuletzt  etwas  rein  Tatsächliches  gibt,  das  aus  dem  allgemeinen 
und  ewigen  Wesen  der  Dinge  nicht  abgeleitet  werden  kann,  und 
daß  dies  die  Irrationalität  und  die  Normwidrigkeit  in  allem  Wirk- 
lichen ausmacht. 

Diese  Tatsache,  durch  die  der  Riß  in  dem  Universum  herbei- 
geführt sein  soll,  und  die  in  Wahrheit  einen  Riß  in  dem  Systeme 
Jakob  Böhmes  bildet,  ist  der  Sündenfall  Lucifers.  Ohne  ihn 
müßte  die  wirkliche  Welt  mit  der  siebenten  Schöpfungsgestalt,  der 
idealen  Leiblichkeit,  zusammenfallen;  so  aber  hat  sein  Fall  den- 
jenigen der  Engel  und  ferner  denjenigen  der  vier  ersten  Schöpfungs- 
gestalten nach  sich  gezogen.  Lucifer,  der  schönste  der  Engel,  ver- 
gaffte sich  in  das  Centrum  naturae,  die  matrix  rerum,  und  hoffte 
in  der  Verbindung  mit  ihr  selbst  Weltschöpfer  zu  werden.  Da- 
durch trat  er  aus  der  göttlichen  Liebe  heraus  in  den  göttlichen  Zorn. 
Denn  in  der  unoffenbaren  Gottheit  lagen  Liebe  und  Zorn  noch  un- 
geschieden beieinander.  Erst  in  dem  Augenblicke,  wo  der  freie 
Wille  des  Engels  den  göttlichen  Zorn  erregte,  wurde  dieser  offenbar, 
aber  mit  ihm  auch  die  Liebe.  Und  sie  entfaltete  sich  darin,  daß 
Gott  dem  Reiche  des  Zorns,  das  der  Sündenfall  des  Engels  geschaffen 
hatte,  ein  Reich  der  Liebe  gegenüberstellte.  Wenn  Lucifer  aus  den 
vier  ersten  Gestalten  das  Reich  des  Zorn-Feuers,  die  Hölle,  schuf, 
so  bildete  Gott  aus  den  drei  letzten  Gestalten  das  Reich  des  Lichts 


Natur  und  Mensch.  121 

und  der  Liebe,  an  dessen  Spitze  er  den  eigenen  Sohn  als  die  vollendete 
Vereinigung  aller  göttlichen  Kräfte  stellte.  So  steht  das  Liebe  - 
Feuer  dem  Zorn -Feuer  gegenüber.  Allein  wenn  damit  der  ur- 
sprüngliche Zusammenhang  zwischen  den  sieben  Gestalten  der 
göttlichen  Schöpfertätigkeit  gestört  war,  so  mußten  doch  anderseits 
diese  Gestalten,  da  sie  einmal  der  Ausfluß  der  schöpferischen 
Gottestätigkeit  sind,  sich  in  einer  anderen,  wenn  auch  schlech- 
teren Weise  verbinden,  und  so  entstand  als  ein  Mittleres  zwischen 
Hölle  und  Himmelreich  die  materielle  Welt,  das  Keich  der  irdischen 
Wirklichkeit,  worin  wir  leben.  Erst  an  diesem  Punkte,  sagt  Jakob 
Böhme,  beginnt  die  Erzählung  des  ersten  Buchs  Moses.  Sie  ist 
keine  vollständige  Lehre  von  der  Weltschöpfung,  sondern  berichtet 
nur  den  Ursprung  der  materiellen  Welt;  sie  setzt,  wie  sie  selbst 
zugibt,  die  Schöpfung  des  himmlischen  Keiches  und  den  Beginn 
des  Höllenreichs  von  Lucifer  voraus,  und  das  mysterium  magnum 
der  Böhmeschen  Philosophie  will  deshalb  nur  sozusagen  die  Vor- 
geschichte des  ersten  Buches  Moses  enthüllen.  Von  hier  geht  dann 
Böhmes  Metaphysik  in  Naturphilosophie  über.  Er  schildert  die 
Bildimg  der  materiellen  Welt  durch  eine  Verquickung  der  mosaischen 
Legende  mit  paracelsischen  Terminis.  Wie  zu  vermuten,  entsprechen 
die  sieben  Schöpfungstage  den  sieben  Gestalten  der  metaphysischen 
Urwelt,  die  sich  in  der  materiellen  Welt  freilich  nur  in  verkümmerter 
Gestalt  wiederfinden.  Es  kommt  der  paracelsische  Gedanke  hinzu, 
daß  alle  diese  sieben  großen  Weltkräfte  in  jedem  Dinge  der  sinnlichen 
Welt  vorhanden  sein  sollen.  Jeder  Stein,  jedes  Gewächs  und  jedes 
Tier  trägt  alle  sieben  Qualitäten  in  sich,  aber  jedes  hat  ein  ihm  eigen- 
tümliches und  es  zum  Individuum  machendes  Bindemittel,  einen 
»Primus«,  wie  Böhme  es  nennt,  offenbar  dem  »Archeus«  bei  Para- 
celsus  entsprechend.  Er  verfolgt  diesen  Gedanken  bis  in  das  Ein- 
zelnste. So  gilt  ihm  das  Sonnensystem  für  eine  Wiederholung  der 
sieben  Qualitäten.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  er  vollständig  das 
kopernikanische  System  annimmt;  die  Sonne  als  dem  Feuer  ent- 
sprechend steht  in  der  Mitte,  und  die  sechs  Planeten,  zu  denen 
auch  die  Erde  gehört,  jeder  hauptsächlich  eine  der  sechs  anderen 
Gestalten  vertretend,  bewegen  sich  um  sie.  Vor  allem  aber  ist  der 
Mensch  als  die  letzte  und  höchste  Schöpfungsgestalt  wiederum  eine 
Vereinigung  aller  der  um  ihn  herum  zerstreuten  Kräfte.  Schon  in 
den  Teilen  seines  Leibes,  Rumpf,  Beinen,  Händen,  Herz,  Blut,  Sinnen 


122  Böhme. 

und  Kopf,  macht  Böhme  den  Versuch,  die  sieben  Urqualitäten  und 
anderseits  die  sieben  Sphären  des  allgemeinen  Naturgeschehens 
wiederzufinden.  Vor  allem  aber  in  seinen  psychischen  Tätigkeiten 
trägt  der  Mensch  die  Beziehungen  zur  gesamten  Welt,  nicht  nur 
zu  dem  materiellen  Dasein,  in  welchem  er  zunächst  wandelt,  in  sich. 
Selbst  die  Dreieinigkeit  ist  in  ihm  wiederzufinden:  die  wesentliche 
Substanz  seiner  ganzen  Seele  ist  ein  Abbild  der  göttlichen  Welt- 
substanz des  Vaters,  die  Liebe  als  die  innerste  Kraft  seines  die  Welt 
umspannenden  Gemütes  ist  ein  Bild  der  göttlichen  Kraft,  die  im 
Sohne  vereinigt  ist,  und  der  verständige  Geist,  durch  welchen  das 
Wesen  und  die  Liebe  eins  werden  in  vernünftiger  Tätigkeit,  vertritt 
in  ihm  die  quellende  Kraft  der  Gottheit,  den  heiligen  Geist. 

In  bezug  auf  die  Erkenntnis  sucht  Böhme  auszuführen,  wie  die 
sinnliche  Wahrnehmung  den  Menschen  in  der  materiellen  Welt 
heimisch  mache,  der  Geist  ihn  die  Engelwelt  erkennen  lasse,  und 
die  Seele  endlich  sich  zur  Gottheit  aufschwinge.  So  ist  der  Mensch 
mit  allen  Dingen  gleich  und  kann  darum  sie  alle  erkennen.  Als 
das  Ebenbild  der  Gottheit  braucht  er  nur  sich  zu  betrachten,  um 
zu  wissen,  was  Gott  und  die  Welt  ist.  Aber  dazu  gehört  freilich 
eine  Erhebung  der  Seele,  an  welche  die  gewöhnliche  Erkenntnis- 
tätigkeit nicht  heranreicht ;  dazu  gehört,  daß  man  den  Blick  schließe 
vor  der  verwirrenden  Flucht  der  Sinnesempfindung  und  den  trüge- 
rischen Schlüssen  des  Verstandes.  Konsequenter  als  irgend  ein 
Mystiker  lehnt  Böhme  alle  rationelle  Erkenntnis  ab  und  stützt  sich 
allein  auf  die  innerliche  Erleuchtung.  »Dein  eigen  Hören, 
Wollen  und  Sehen  verhindert  dich,  daß  du  Gott  nicht  siehst  noch 
hörest. «  »Du  mußt  dich  in  das  schwingen,  da  keine  Kreatur  ist. « 
»So  du  die  Welt  verlassest,  kommst  du  in  das,  daraus  die  Welt 
gemacht  ist. «  So  scheut  Böhme  nicht  vor  dem  Paradoxon  zurück, 
sich  der  Welt  zu  verschließen,  um  sie  zu  erkennen. 

Die  gleiche  Weltflucht  aber  ist  auch  die  ethische  Konsequenz 
seiner  Lehre.  Es  ist  außerordentlich  bezeichnend,  daß  dieser 
idealistische  Pantheismus  der  Deutschen  von  vornherein  ebenso 
pessi  mistisch  ist,  wie  der  naturalistische  Pantheismus  der  Italiener 
zum  Optimismus  führte.  Bei  diesem  war  es  die  Bewunderung  der 
Natur  und  die  künstlerische  Auffassung  ihrer  zweckmäßigen  Organi- 
sation, worin  die  Disharmonien  der  einzelnen  Tatsachen  verklangen. 
Bei  den  Deutschen  war  der  Pantheismus  von  vornherein  sittlicher 


Ethik.  123 

und  religiöser  Natur.  Alle  Religion  ist  aber  pessimistisch,  ihr  tief-  \ 
ster  Grund  ist  Erlösungsbedürfnis,  und  sie  setzt  deshalb  cfie  Tor- 
stellung von  der  Verkehrtheit  des  Zustandes  voraus,  aus  dem  die 
Erlösung  ersehnt  wird.  So  war  es  der  Gedanke  des  moralischen 
Übels,  der  Sünde,  um  welchen  sich  das  Grübeln  der  religionsbe- 
dürftigen Deutschen  bewegte,  und  daß  sie  vollen  Ernst  mit  diesem 
Problem  gemacht  haben,  darin  lag  die  Energie  ihrer  religiösen  Be- 
wegung. Es  darf  nie  vergessen  werden,  daß  es  der  Ablaßstreit 
war,  aus  welchem  sich  die  deutsche  Reformation  entwickelte:  denn 
er  deckte  unmittelbar  den  Punkt  auf,  der  dem  religionsbedürftigsten 
der  Völker  am  meisten  am  Herzen  lag.  Es  wurde  schon  bemerkt, 
wie  dieser  Punkt  auch  der  Ausgangspunkt  für  das  gesamte  Denken 
Böhmes  war.  Dieser  allein  konnte  deshalb  für  ihn  auch  der  ethische 
Gesichtspunkt  werden.  Er  ist  tief  überzeugt  von  der  Verderbtheit 
und  Verkehrtheit  der  irdischen  Welt,  sie  ist  eine  Verzerrung  der 
idealen  Leiblichkeit,  und  all  ihr  inneres  unruhiges  Drängen  und 
Treiben  hat  nur  den  Grund,  daß  sie  daran  arbeitet,  jene  göttliche 
Natur  aus  sich  her  vorzutreiben,  ohne  es  zu  können.  Wenn  deshalb 
diese  Welt  verkehrt  ist,  so  kann  die  Tugend  nur  in  dem  vollen 
Gegensatze  zu  ihr  bestehen.  »Wandle  der  Welt  in  allen  Dingen 
zuwider,  so  kommst  du  den  nächsten  Weg  zur  Tugend.«  Wie 
Lucifers  Sündenfall  darin  bestand,  daß  er  die  ewige  Natur  in  Gott 
begehrte,  so  ist  der  neue  Sündenfall  eines  jeden  sein  »Vergafftsein« 
in  die  irdische  Welt.  »0  Mensch«,  ruft  Böhme  aus,  »warum  will 
dir  die  Welt  zu  eng  werden?  Du  willst  sie  allein  haben,  und  hättest 
du  sie,  so  hättest  du  noch  nicht  Raum. «  Darum  muß  der  Selbst- 
wille sterben,  der  Mensch  muß  die  Welt  und  vor  allem  sein  eigenes 
Ich  vergessen,  »die  Tugend  findet  nichts  und  alles«,  und  »wo  der 
Mensch  nicht  wohnt,  da  wohnt  in  ihm  die  Tugend«:  »das  ist  die 
zu  Grund  gelassene  Seele,  da  die  Seele  ihres  eigenen  Lebens  er- 
stirbt.« Der  Mensch  soll  sich  selbst  hassen  und  sich  ganz  Gott 
ergeben,  er  soll  gern  und  willig  das  Kreuz  tragen;  denn  diese  Ent- 
sagung ist  schwer,  aber  »wenn  die  Liebe  nicht  im  Leid  stände,  so 
hätte  sie  nichts,  das  sie  lieben  könnte«.  Das  schwerste  Kreuz  und 
das  zuletzt  zu  lernende  Leid  ist  die  Verachtung  der  Welt,  der  Gipfel 
der  Selbstauf  gebung.  »Es  ist  gar  schwer,  von  aller  Welt  verachtet 
zu  sein:  aber  was  dich  jetzt  dünket  schwer  zu  sein,  das  wirst  du 
nachher  am  meisten  lieben.« 


124  Böhme. 

In  dieser  Weise,  meint  Böhme,  trägt  der  Mensch  in  sich  auch 
jene  Dreiheit  von  Himmelreich,  Erden  weit  und  Hölle:  die  Erden- 
welt, insofern  sein  Leib  und  sein  Geist  von  Wünschen  der  Selbst- 
sucht erfüllt  ist  —  die  Hölle,  insofern  seine  Seele  mit  Begier  diese 
Wünsche  ergreift  —  das  Himmelreich,  insofern  die  Seele  sich  selber 
stirbt  und  die  Gnade  des  Himmels  ergreift.  Damit  verkündet  er 
schließlich  eine  rein  ideale  Auffassung  von  Himmel  und  Hölle  und 
lehrt,  daß  »ein  jedes  Leben  sein  Urteil  in  sich  selber  Ursache  und 
erwecke«.  »Die  Seele  bedarf  keines  Auf-  oder  Herabfahrens«, 
Himmel  und  Hölle  sind  überall  gegenwärtig:  im  Guten  wohnt  der 
Himmel,  die  Hölle  im  Bösen. 

Dennoch,  so  sündig  und  schlimm  die  irdische  Welt  ist,  will 
Böhme  die  Hoffnung  auf  ihre  einstige  Besserung  nicht  aufgeben. 
Er  meint,  daß  durch  die  Offenbarung,  die  stetig  in  reinen  Seelen 
lebendig  ist,  und  durch  das  immer  kräftigere  Streben  der  Guten 
schließlich  das  Ende  dieser  verkehrten  Welt  herbeigeführt  werden 
wird.  Aber  nur  das  »materialische  Wesen  der  Dinge«  wird  auf- 
hören, als  die  vier  Elemente,  Sonne,  Mond  und  Sterne;  »alsdann 
wird  die  innerliche  Welt  ganz  sichtbar  werden.«  Das  ist  die  Ver- 
klärung der  Natur,  welche  die  Schrift  verheißt.  An  die  Stelle  der 
materiellen  Welt  wird  die  metaphysische  Welt  der  idealen  Leib- 
lichkeit treten,  und  es  wird  nur  noch  zwei  Welten  geben,  den  Himmel 
und  die  Hölle :  denn  der  Gegensatz,  den  Lucifers  Fall  offenbart  hat. 
kann  niemals  wieder  verschwinden.  Das  Reich  des  Zornes  ist  so 
ewig  wie  das  Reich  der  Liebe.  Denn  »das  Licht  wird  ewig  in  die 
Finsternis  scheinen,  und  die  Finsternis  kann  es  nicht  ergreifen«. 
Die  Bösen  sind  von  der  Verklärung  der  Natur  ausgeschlossen  für 
immer:  »der  Mensch,  der  im  Zorne  steht,  empfindet  die  Liebe  als 
Pein  —  das  ist  seine  Hölle«. 

So  erhebt  die  Lehre  Jakob  Böhmes,  ihrem  inneren  Charakter 
getreu,  zum  Schlüsse  auch  ihre  naturphilosophischen  Kategorien 
wieder  in  rein  innerliche  Bestimmungen;  und  sein  Ausblick  auf 
das  Weltende  verliert  sich  in  die  unendliche  Perspektive  desselben 
religiösen  Gegensatzes,  von  dem  seine  Gedanken  ausgingen.  Es  ist 
ein  System,  das  von  Anfang  bis  zu  Ende  von  religiösem  Geiste 
getragen  ist,  und  das  in  der  irdischen  Welt  nur  eine  vorübergehende 
und  verzerrende  Spiegelung  einer  geistigen  Welt  erblickt,  die  von 
dem  Gegensatze  der  göttlichen  Liebe  und  des  göttlichen  Zornes 


Böhmes  Anhänger.  125 

beherrscht  ist.  Alle  Phantasien  metaphysischer  und  naturphilo- 
sophischer Konstruktion  münden  in  dies  gemeinsame  Bette,  und  so 
trübe  die  Flut  ist,  welche  es  erfüllt,  so  gering  der  Gehalt  an  realer 
Bildung  ist,  den  diese  enthält,  bewunderungswürdig  ist  das  ge- 
waltige Wogen  und  Drängen  dieser  Flut  und  der  mächtige  Zug, 
womit  sie  dem  Ozean  der  Gotteserkenntnis  zuströmt. 


Böhmes  Lehre  ist  das  letzte  Erzeugnis  der  deutschen  Mystik, 
es  ist  zu  gleicher  Zeit  das  letzte  Denkmal  selbständigen  Philoso- 
phierens, welches  Deutschland  in  dieser  Periode  hervorgebracht 
hat.  Auf  den  Universitäten  herrschte  teils  katholische,  teils  pro- 
testantische Scholastik;  nur  hin  und  wieder  machte  sich,  haupt- 
sächlich in  Anlehnung  an  den  Ramismus,  eine  schüchterne  Oppo- 
sition geltend,  um  bald  wieder  unterdrückt  zu  werden.  Auch  im 
Volke  begann  die  mystische  Bewegung  auszuzittern.  Zwar  wurde 
gerade  die  Lehre  Böhmes  sektenhaft,  hauptsächlich  durch  einen 
gewissen  Gichtel  verbreitet  und  fand  sogar  in  den  Niederlanden 
und  besonders  in  England  manchen  Anklang,  wie  die  Schriften  von 
John  Pordage  (1625—1698)  und  Thomas  Bromley  (f  1691)  be- 
weisen. Aber  von  einer  weiteren  Ausbildung  dieser  Gedanken  war 
keine  Rede.  In  Deutschland  vor  allem  selbst  wurde  bald  alles 
von  dem  Elende  des  großen  Krieges  verschlungen,  der  schon  in 
den  letzten  Lebensjahren  des  Görlitzer  Schusters  zu  wüten  begonnen 
hatte,  und  in  dessen  schweren  Leiden  die  deutsche  Nation  an  ihrem 
religiösen  Interesse  beinahe  verblutet  wäre.  Es  ist  bekannt,  wie 
die  wilden  und  wüsten  Kämpfe  dieser  dreißig  Jahre  nicht  nur  den 
Boden  Deutschlands  zerstampften  und  den  Reichtum  seines  Han- 
dels vernichteten,  sondern  auch  wie  eine  trübe  Sintflut  seine  Kultur 
in  Kunst  und  Wissenschaft  fortschwemmten.  Unter  diesem  all- 
gemeinen Geschicke  litt  auch  die  Philosophie,  und  als  in  der  zweiten 
Hälfte  des  XVII.  Jahrhunderts  Deutschland  wieder  aufzuatmen 
und  wie  in  neuer  Kindheit  sein  Kulturleben  von  vorn  zu  gestalten 
begann,  da  mußte  auch  seine  Philosophie  ihre  Nahrung  aus  den 
Gedanken  saugen,  die  inzwischen  von  den  glücklicheren  Kultur- 
nationen des  Westens  bereitet  worden  waren. 


126  Empirismus  in  England. 

III.  Kapitel. 

Der  englische  Empirismus. 

Man  betritt  den  Boden  der  eigentlich  wissenschaftlichen 
Entwicklung  der  neueren  Philosophie  erst,  wenn  man  die 
systematischen  Neubegründungen  berührt,  die  sich  in  England  und 
Frankreich  vollzogen.  In  dem  Denken  der  Italiener  und  der  Deut- 
schen überwiegt  gleichmäßig  der  metaphysische  Trieb,  dort  von 
künstlerischer,  hier  von  religiöser  Phantasie  unterstützt.  Der 
Widerspruch  gegen  die  Scholastik  läuft  in  beiden  Fällen  darauf 
hinaus,  einen  neuen  Inhalt  des  Denkens  zu  schaffen,  und  in  dem 
leidenschaftlichen  Suchen  nach  ursprünglichem  Wissensgehalte  wird 
es  meist  versäumt,  den  Geist  in  die  rechte  Schule  zu  tun;  unge- 
stüm greift  man  von  den  geringsten  Erfahrungen  aus  nach  dem 
Höchsten  und  Letzten  der  philosophischen  Erkenntnis  und  schafft 
Dichtungen  von  zum  Teil  großartiger  Schönheit,  aber  wissenschaft- 
licher Unhaltbarkeit. 

Nur  in  Galilei  begegnete  uns  der  gereifte  wissenschaftliche  Geist, 
der  sich  aus  den  Phantasien  der  humanistischen  Tradition  zu  der 
Methode  der  modernen  Naturforschung  durchgerungen  hatte.  Ihm 
verwandt  sind  die  Anfänge  der  neueren  Philosophie  in  England 
und  Frankreich:  sie  sind  schon  im  Beginn  nüchterner  und  klarer 
als  in  Italien  und  Deutschland.  Sie  stehen  weniger  unter  dem 
unmittelbaren  Eindrucke  des  neuen  Stoffes  der  Erkenntnis,  aber 
sie  haben  statt  dessen  mehr  Sinn  für  die  sorgfältige  Absteckung 
und  Bahnung  des  Weges,  auf  dem  man  zu  fest  begründeten  Er- 
gebnissen der  neuen  Wissenschaft  zu  gelangen  hofft.  Während 
daher  die  italienische  Naturphilosophie  und  die  deutsche  Theosophie 
der  Scholastik  einen  neuen  Inhalt  entgegenstellten,  vollzog  sich  in 
Frankreich  und  England  der  Bruch  mit  der  Scholastik  mehr  in 
der  Weise,  daß  man  die  Form  des  alten  Denkens  bekämpfte  und 
mit  aller  Kraft  nach  einer  neuen  Methode  der  Erkenntnis  suchte. 

§  20.  Der  erkenntnistheoretische  Charakter  der  neueren 

Philosophie. 

Gerade  ihr  von  Haus  aus  oppositioneller  Charakter  drückte 
der  neueren  Philosophie,  sofern  sie  eben  nicht  mehr  bloß  Behaup- 
tung gegen  Behauptung   stellen,    sondern   mit   wissenschaftlichen 


Methodologie  und  Erkenntnistheorie.  127 

Beweisen  vorgehen  wollte,  ein  methodologisches,  zunächst  die  Er- 
kenntnistätigkeit selbst  untersuchendes  Wesen  auf.  Man  liest  viel- 
fach, erst  durch  Kant  sei  die  Philosophie  auf  den  erkenntnistheo- 
retischen Standpunkt  erhoben  worden.  Das  kann  nur  insofern 
gelten,  als  Kant  für  diese  erkenntnistheoretische  Tendenz  die  ent- 
scheidende Form  und  Grundlage  gefunden  hat.  Aber  man  braucht 
nicht  zu  fürchten,  daß  man  der  Größe  Kants  Eintrag  tue,  wenn 
man  darüber  nicht  übersieht,  daß  diese  Tendenz  in  den  wissen- 
schaftlichen Richtungen  der  neueren  Philosophie  von  Anfang  her 
angelegt  war.  Man  sollte  nicht  vergessen,  daß_Bacon  und  Des- 
cartes,  im  übrigen  so  weit  geschieden,  wie  zwei  Philosophen  es 
nur  zu  sein  vermögen,  darin  einig  sind,  daß  man  der  Unfrucht- 
barkeit der  Scholastik  durch  eine  neue  Methode  des  Denkens  auf- 
helfen müsse,  und  daß  ihre  ganzen  metaphysischen  Systeme  in 
den  Angeln  der  von  ihnen  gesuchten  Methoden  hangen:  man  darf 
auch  nicht  übersehen,  wie  schon  bei  Locke  die  Forderung,  vor 
der  sachlichen  Untersuchung  zunächst  einmal  Grenzen  und  Trag- 
weite der  menschlichen  Erkenntnisfähigkeit  festzustellen,  klar  und 
präzis  zum  Ausdruck  kommt. 

Dieser  erkenntnistheoretische  Grundcharakter  der 
neueren  Philosophie  steht  im  genauesten  Zusammenhange  mit 
ihrem  Kampfe  gegen  die  scholastischen  Formen  des  Denkens,  und 
da  diese  nur  eine  pedantische  Ausführung  der  aristotelischen  Theorie 
des  Syllogismus  enthielten,  so  glauben  sich  gerade  diese  wissen- 
schaftlichen Neubegründungen  der  Philosophie  im  schroffsten  Gegen- 
satze zu  Aristoteles  zu  befinden.  Überall  tönt  aus  ihnen  bis  zum 
Überdruß  der  Nachweis  entgegen,  daß  man  durch  logische  Schlüsse 
in  den  bekannten  drei  oder  vier  Figuren  niemals  etwas  Neues  er- 
kennen, sondern  immer  nur  wieder  das  längst  Gewußte  in  neue 
sprachliche  Ausdücke  bringen,  oder  aber  die  Voraussetzungen,  die 
man  stillschweigend  gemacht,  klar  herausstellen  und  somit  scheinbar 
beweisen  könne.  Darin  bestehe  der  trügerische,  vor  allem  aber  der 
gänzlich  unfruchtbare  Charakter  der  scholastischen  Wissenschaft, 
welche  durch  Jahrhunderte  hindurch  sich  stets  in  denselben  Ge- 
danken bewegt  und  keine  neuen  Erkenntnisse  gewonnen  habe. 
In  dieser  Form  sei  die  Wissenschaft  verurteilt,  immer  nur  den 
alten  Stoff  wiederzukäuen,  und  der  Hunger  nach  neuem  Wissen 
bleibe  ungestillt. 


128  Geschichte  und  Naturwissenschaft. 

In  dem  Suchen  nach  neuen  Methoden  zeigt  sich  nun  eine  be- 
merkenswerte Abhängigkeit  der  Philosophie  von  den  Spezi  al- 
wissenschaften,  die  vor  ihr  und  unabhängig  von  ihr  sich  eigene 
Wege  gebahnt  hatten,  und  im  besondern  ist  es  die  Naturfor- 
schung, deren  Erkenntnisformen  für  die  Aufstellung  der  philo- 
sophischen Methodologie  von  entscheidendem  Einflüsse  gewesen 
sind.  Keine  unter  den  vielen  Bestrebungen  der  Renaissance  trug 
so  den  Charakter  der  Ursprünglichkeit,  keine  versprach  so  sehr, 
einen  wirklich  neuen  Inhalt  zu  geben,  keine  endlich  begann  so 
glänzende  Erfolge  aufzuweisen  wie  die  Naturwissenschaft.  Wenn 
die  Kenaissance  des  XIV.  und  XV.  Jahrhunderts  wesentlich  histo- 
rischen Charakters  war  und  in  den  humanistischen  Studien  ihren 
wertvollsten  wissenschaftlichen  Reiz  hatte,  so  blühte  seit  dem 
XVI.  Jahrhundert  immer  kräftiger  die  Naturforschung  empor  und 
nahm  allmählich  das  Interesse  des  philosophischen  Denkens  derart 
für  sich  in  Anspruch,  daß  dem  Sinn  der  späteren  Zeit  sogar  der 
historische  Gesichtspunkt  überhaupt  abhanden  kam  und  das 
XVIII.  Jahrhundert  mit  seiner  naturwissenschaftlichen  Aufklärung 
eine  einseitige  Verständnislosigkeit  für  das  Wesen  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  bekundete.  Die  beiden  großen  Reiche  der 
Wirklichkeit,  die  Geschichte  und  die  Natur,  haben  so  nach- 
einander und  in  einer  Art  von  feindlichem  Gegensatze  den  Erkennt- 
nistrieb des  modernen  Geistes  beherrscht,  und  erst  die  Wissenschaft 
des  XIX.  Jahrhunderts  ist  sich  der  hohen  Aufgabe  bewußt  ge- 
worden, beide  miteinander  auszugleichen. 

In  den  erkenntnistheoretischen  Neubegründungen  der  modernen 
Philosophie  tritt  der  Sinn  für  die  Auffassung  des  historischen  Lebens 
vollkommen  zurück.  Sie  richten  sich  ausschließlich  auf  eine  freie, 
voraussetzungslose  und  aus  dem  Ganzen  schöpfende  Naturerkenntnis. 
Das  Ideal  dieses  Bestrebens  ist  kein  anderes,  als  die  wahre  Methode 
der  Naturwissenschaft  festzustellen.  Und  darin  eben  zeigen  sie  ihre 
Abhängigkeit  von  der  Naturforschung  selbst.  Denn  diese  war 
vorhanden  und  arbeitete  in  neuen  Methoden,  ehe  die  Philosophie 
sie  festgestellt  hatte.  Dem  philosophischen  Denken  blieb  nur  übrig, 
diese  Methode  zu  ergreifen,  sie  durch  Abstraktion  zu  verallgemeinern 
und  auf  diese  Weise  das,  was  im  einzelnen  geübt  wurde,  zu  prinzi- 
piellen Gesichtspunkten  abzuklären.  Das  hatte  in  seiner  Weise 
und  in  der  für  die  Entwicklung  der  Mechanik  maßgebenden  Form 


-  -<- 


Methode  der  Naturforschung.  129 

Galilei  getan:  aus  dieser  gemeinsamen  Aufgabe  begreift  sich  auch 
am  einfachsten  und  durchsichtigsten  der  große  Gegensatz  zwischen 
den  beiden  Begründern  der  modernen  philosophischen  Wissenschaft : 
Bacon  und  Descartes. 

Denn  die  Methode  der  neuen  Naturforschung  hat  zwei 
wesentliche  und  wohl  voneinander  zu  scheidende  Bestandteile, 
beide  dem  modernen  Denken  eigentümlich  und  den  früheren  Zeit- 
altern durchaus  fremd.  In  der  griechischen  Naturlehre  war  im 
ganzen  der  metaphysische  Trieb  des  zusammenfassenden  Erklärens 
viel  zu  sehr  überwiegend  gewesen,  als  daß  man  zu  einem  metho- 
dischen Forschen,  zu  voraussetzungsloser  Aufsuchung  und  Fest- 
stellung von  Tatsachen  hätte  gelangen  können,  und  von  demjenigen 
aus,  was  die  Erfahrung  unwillkürlich  mit  sich  brachte,  hatte  man 
lediglich  durch  logische  Schlüsse  die  allgemeinsten  Prinzipien  der 
Natur  abzuleiten  gesucht.  Die  neuere  Naturwissenschaft  setzt  an 
die  Stelle  gelegentlicher  Erfahrung  die  systematische  Beob- 
achtung und  im  geeigneten  Falle  das  Experiment,  und  an  die 
Stelle  syllogistischer  Verallgemeinerungen  die  mathematische 
Begründung.  So  setzt  sich  ihre  Methode  aus  dem  induktiven 
Elemente  der  experimentellen  Untersuchung  und  dem  deduktiven 
Elemente  mathematischer  Berechnung  zusammen.  Die  volle  Ver- 
schmelzung beider  vollzog  sich  in  den  Größen  der  neueren  Natur- 
wissenschaft, in  einem  Galilei  und  Newton.  Und  was  so  die  Natur- 
wissenschaft auf  ihrem  Gebiete  leistete,  das  suchte  die  neuere 
Philosophie  für  die  allgemeine  Erkenntnis  und  die  höchsten  metho- 
dologischen Prinzipien  zu  begreifen.  Dieser  Verschmelzung  prinzipiell 
nachzukommen,  ist  der  ideale  Gedanke,  um  welchen  sich  alle  großen 
Systeme  der  neueren  Philosophie  bewegen,  ohne  ihn  bisher  völlig 
erreicht  zu  haben. 

In  den  beiden  Anfängen  der  wissenschaftlichen  Philosophie  der 
Neuzeit  treten  nun  diese  beiden  Elemente  vollkommen  gesondert 
und  sogar  in  schroffem  Gegensatze  gegeneinander  auf.  Auf  der 
einen  Seite  wird  die  wahre  Erkenntnis  nur  in  der  Beobachtung  und 
dem  Experiment  mit  einseitiger  Ablehnung  aller  deduktiven  Ele- 
mente, auf  der  andern  Seite  wesentlich  in  einer  der  Mathematik  nach- 
gebildeten Deduktion  gesucht.  So  bedeuten  Bacon  und  Descartes 
die  äußersten  Gegensätze,  von  denen  aus  die  beiden  großen  Linien 
der  neueren  Philosophie  aufeinander  konvergieren.    Die  mathema- 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  9 


130  Bacon. 

tische  Deduktion  lag  offenbar  dem  glänzenden  Scharfsinn  am 
nächsten,  den  die  Franzosen  von  jeher  auf  diesem  Gebiete  entwickelt 
haben.  Der  Empirismus  dagegen  war  dem  praktischen  Sinne  der 
Engländer  sympathisch,  der  sich  schon  früher  in  ähnlicher  Weise  be- 
tätigt hatte.  England  ist  während  der  gesamten  Geschichte  der 
abendländischen  Philosophie  der  fruchtbare  Boden  der  empiri- 
stischen Richtungen  gewesen,  in  denen  der  Zusammenhang  der 
Philosophie  mit  den  Erfahrungswissenschaften  gesucht  und  festge- 
halten wurde.  Für  die  eigentliche  Spekulation  weniger  angelegt, 
haben  die  Engländer  stets  die  Philosophie  auf  den  Boden  der  empi- 
rischen Wirklichkeit  zu  stellen  gesucht,  und  was  sie  dadurch  an 
Großartigkeit  und  Tiefsinn  der  Leistungen  eingebüßt  haben,  wurde 
durch  den  Wert  sorgfältiger  und  nüchterner  Untersuchungen  er- 
setzt. Aus  England  waren  in  der  Früh-Renaissance  die  nomina- 
listischen  Theorien  ausgegangen,  welche  zugunsten  der  empirischen 
Forschung  die  Verbindung  von  Philosophie  und  Theologie  zer- 
setzten; aus  England  stammte  noch  früher  der  Mönch,  der  das 
reale  Wissen  des  XIII.  Jahrhunderts  zu  bereichern  verstanden  hatte, 
Roger  Bacon.  Es  war  sein  Namensvetter,  der  im  Zeitalter  der 
Elisabeth  dazu  berufen  war,  die  Erfahrung  als  die  Grundlage  der 
Philosophie  zu  proklamieren. 


§  21.  Francis  Bacon. 

Keines  unter  den  europäischen  Kulturvölkern  hat  den  Gedanken 
nationaler  Selbstbestimmung,  keines  das  Prinzip  individueller  Selbst- 
herrlichkeit so  energisch  durchgeführt  und  so  klar  in  seiner  Ge- 
schichte und  in  seinen  Institutionen  ausgeprägt  wie  die  Engländer; 
und  auf  keinem  Staate  kann  in  der  Epoche  der  Renaissance  der 
Blick  der  Geschichte  mit  größerer  Befriedigung  ruhen,  als  auf  dem 
Zustande  Englands  in  dem  Zeitalter  der  Elisabeth.  Nach 
langem  Kampfe  zu  innerer  Ruhe  und  Festigkeit  gelangt,  entwickelt 
die  Nation  plötzlich  eine  staunenswerte  Kraft  der  politischen  Macht- 
entfaltung und  eine  nicht  minder  bewunderungswürdige  Energie 
des  geistigen  Lebens.  An  demselben  Hofe,  vor  dem  Englands  größter 
Dichter  seine  weltumfassenden  Schauspiele  aufführte,  stieg  von 
Stufe  zu  Stufe  der  geniale  Staatsmann  empor,  welcher  die  eng- 
lische Philosophie  begründet  hat. 


Leben  und  Charakter.  131 

Francis  Bacon,  im  Jahre  1561  geboren,  empfing  seine  gelehrte 
Bildung  in  Cambridge  und  seine  staatsmännische  Ausbildung  wäh- 
rend eines  zweijährigen  Aufenthaltes  am  französischen  Hofe.  Der 
Tod  seines  Vaters,  welcher,  obwohl  er  Großsiegelbewahrer  von  Eng- 
land gewesen  war,  die  Söhne  in  schwierigen  und  geringen  Vermögens- 
verhältnissen hinterließ,  führte  ihn  nach  der  Heimat  zurück,  wo  er 
dann  die  praktische  Juristenlaufbahn  einschlug.  Die  Langsamkeit  des 
Aufrückens  in  dieser  Karriere,  in  der  ihn  auch  sein  Onkel,  Lord  Bur- 
leigh,  nicht  unterstützte,  bewog  ihn  dazu,  seine  rednerische  Begabung 
zu  einer  parlamentarischen  Tätigkeit  zu  verwenden,  und  er  nahm 
vom  Jahre  1584  an  im  Unterhause  zuerst  auf  der  Seite  der  Opposition, 
dann  aber  mehr  auf  derjenigen  der  Königin  eine  bedeutende  Stel- 
lung ein.  Die  Wendung  in  seiner  politischen  Haltung  zeigte  sich 
namentlich  bei  dem  Prozeß  von  Essex,  der  früher  sein  Freund, 
Wohltäter  und  Protektor  gewesen  war  und  dem  er  sich  von  dem 
Augenblicke  an  entfremdete,  wo  jener  in  Opposition  zur  Königin 
geriet ;  gegen  ihn  trat  Bacon  sogar  schließlich  in  dem  Prozeß  so  scharf 
auf,  daß  seine  »geschickte  Feder«  von  der  Königin  zu  der  öffent- 
lichen Denkschrift,  in  der  sie  sich  darüber  rechtfertigte,  in  An- 
spruch genommen  wurde.  Hatte  Bacon  schon  hier  durch  die  Intri- 
gen hindurch  sich  immer  mehr  in  die  Höhe  zu  schieben  gewußt, 
so  verstand  er  es  noch  besser,  bei  der  Günstlingswirtschaft,  die 
mit  der  Thronbesteigung  Jakobs  I.  begann,  sich  in  der  Neigung  des 
Königs  festzusetzen,  und  vom  Glücke  begünstigt,  erstieg  er  schnell 
die  Staffel  der  Ehren  und  der  Ämter;  er  wurde  1617  Großsiegel- 
bewahrer, im  folgenden  Jahre  Großkanzler  und  Baron  von  Verulam, 
1621  Viscount  von  St.  Albans.  Aber  der  Höhe  folgte  der  schreck- 
liche Sturz.  Ein  politischer  Tendenzprozeß,  den  teils  die  Gegen- 
partei, teils  eine  Reihe  persönlicher  Feinde  zustande  zu  bringen 
wußten,  erwies,  daß  sich  Lord  Bacon  der  allgemeinen  Sitte  der  Be- 
stechung schuldig  gemacht  hatte.  Es  ist  nicht  unmöglich,  daiTer 
sich  der  über  ihn  verhängten  Untersuchung  und  Bestrafung  wider- 
spruchslos unterwarf,  damit  die  Anschuldigungen  und  Enthüllungen 
sich  nicht  gegen  eine  noch  höhere  Stelle  richteten.  Dafür  spricht 
der  Umstand,  daß  der  König  seine  Bestrafung  sofort  niederschlug 
und  ihn  wenige  Jahre  darauf  an  den  Hof  und  in  das  Oberhaus 
zurückberief.  Diesmal  widerstand  Bacon  der  Verlockung  des  äußeren 
Glanzes;   er  hatte  in  der  Verbannung  auf   seinem  Landgute  die 


1 32  Bacon. 

wissenschaftliche  Muße  gefunden,  die  das  bewegte  öffentliche  Leben 
ihm  stets  versagt  hatte,  und  benutzte  sie  zu  emsiger  Ausführung 
seiner  philosophischen  Ideen  und  naturwissenschaftlichen  Experi- 
mente, bis  er  mitten  darin  1626  vom  Tode  ereilt  wurde. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  auf  dem  äußerlich  so  glänzenden 
Leben  dieses  Philosophen  die  dunklen  Flecke  schwerer  moralischer 
Gebrechen  haften.  Ein  maßloser  Ehrgeiz  verwickelte  ihn  in  das 
Intrigenspiel  des  Hoflebens,  eine  große  Verschwendungssucht  ließ 
ihn  die  Mittel  zu  einem  luxuriösen  Leben  auf  nicht  immer  recht- 
lichem Wege  zusammenraffen,  und  der  grenzenlose  Egoismus  seines 
Emporstrebens  benahm  ihm  den  Edelsinn  der  Freundschaft  und  der 
Dankbarkeit.  Es  ist  deshalb  nicht  recht,  wie  es  enthusiastische 
Verehrung  versucht  hat,  diese  Schwächen  zu  vertuschen :  aber  eben- 
sowenig recht,  wenn  man  ihn  moralisch  so  tief  in  den  Schmutz 
herabzuziehen  versucht  hat,  daß  seine  wissenschaftliche  Größe  da- 
neben vollkommen  unbegreiflich  erscheinen  müßte.  Es  gibt  viel- 
mehr einen  Gesichtspunkt  —  und  Kuno  Fischer  hat  ihn  mit  glück- 
lichem Griffe  und  glänzender  Durchführung  erfaßt  — ,  von  welchem 
aus  Bacons  Charakter  und  seine  Lehre  unter  demselben  Lichte  er- 
scheinen und  ihre  innere  Zusammengehörigkeit  klar  in  die  Augen 
springt. 

Bacon  steht  in  einer  Zeit  mächtiger  Kulturbewegung,  und  seine 
staatsmännische  Tätigkeit  gibt  ihm  einen  hohen  und  umfassenden 
Ausblick  darauf.  Allüberall  auf  dem  politischen,  wie  auf  dem  reli- 
giösen und  geistigen  Gebiete  ringen  neue  Kräfte  gegen  die  Herrschaft 
der  alten,  und  überall  sind  es  die  Mittel  der  gesteigerten  Intelligenz, 
mit  denen  sie  ihren  Kampf  führen.  England,  durch  die  Regierung 
der  Elisabeth  zur  protestantischen  und  germanischen  Vormacht  ge- 
worden, bildet  im  XVI.  und  XVII.  Jahrhundert  den  hauptsächlichsten 
Spielplatz  dieser  Kämpfe  und  setzt  die  in  Italien  schon  auszitternde 
Bewegung  der  modernen  Kultur  am  lebhaftesten  fort.  In  dieses 
Spiel  der  Kräfte  durch  seine  Erziehung  mitten  hineingestellt,  in 
die  Kämpfe  der  politischen  Intrigen  mittellos  hineingeworfen,  ganz 
auf  sich  selbst  gestellt  und  dabei  von  brennendem  Ehrgeiz  erfüllt, 
durchschaut  Bacon  den  eigentlichen  Charakter  dieses  Kampfes 
mit  genialem  Scharfsinn  und  gibt  ihm  in  seinem  Leben  und  in 
seinem  Denken  den  vollkommensten  Ausdruck.  Er  begreift,  daß 
die  entscheidende  Kraft  in  diesem  Zustande  die  Intelligenz  und  das 


Wissen  ist  Macht.  133 

Wissen  ist.  Er  weiß,  daß,  wenn  er  irgend  etwas  erreichen  soll, 
er  es  nur  der  höheren  Geisteskraft  verdanken  kann,  die  er  sich 
erwirbt.  Und  so  ist  es  zugleich  der  Ausdruck  seiner  persönlichen 
Lebensmaxime,  wenn  er  an  die  Spitze  seiner  Lehre  das  stolze  Wort 
stellt:  »Wissen  ist  Macht!«  Die  Präponderanz  der  geistigen 
»Bildung«  in  der  modernen  Kultur,  welche  schon  den  Charakter 
der  italienischen  Kenaissance  ausmacht,  findet  hier  ihren  prinzipiellen 
Ausdruck,  und  daß  die  Grundlage  aller  modernen  Macht  die  In- 
telligenz ist,  kann  nicht  schärfer  und  glücklicher  dargelegt  werden, 
als  es  Bacon  praktisch  und  theoretisch  getan  hat. 

Das  ist  der  Springpunkt,  von  dem  man  seine  Lehre  und  sein 
Leben  gleichmäßig  betrachten  muß,  um  beide  weder  zu  unter- 
schätzen noch  zu  überschätzen;  dies  ist  die  Stelle,  an  der  sich  sein 
persönliches  Strebertum  mit  seinem  wissenschaftlichen  Genie  ver- 
band. Und  wenn  er  im  realen  Leben  dies  Prinzip  mit  rücksichts- 
loser Einseitigkeit  und  unter  gefährlicher  Mißachtung  moralischer 
Gesetze  verfolgte,  so  ist  es  ihm  auf  dem  Gebiete  der  Wissenschaft, 
wo  ihn  keine  persönlichen  Interessen  verleiten  konnten,  gelungen,  den 
Grundgedanken  zu  einem  weithin  wirksamen  System  auszubauen. 

Zuerst  ergibt  sich  daraus,  daß  für  Bacon  das  Wissen  niemals 
Selbstzweck  ist.  Von  jener  reinen  und  begeisterten  Hingabe  an 
die  höchste  Wahrheit,  wie  sie  einen  Bruno  und  einen  Böhme  er- 
füllte, ist  bei  ihm  keine  Rede.  Er  weiß  nichts  von  der  weihevollen 
Versenkung  in  die  Geheimnisse  der  Natur  oder  der  Seele.  Das 
Wissen  ist  ihm  nur  das  kräftigste  und  sicherste  Mittel  zur  Er- 
oberung der  Macht.  Soviel  einer  weiß,  soviel  kann  er.  Denn 
man  kann  die  Dinge  nur  beherrschen,  wenn  man  sie  versteht. 
Gewiß  mochte  Bacon  dies  Prinzip  gelernt  haben  (wie  es  ihm  Hegel 
vorgeworfen  hat)  an  den  Menschen,  die  er  gründlich  kannte  und 
eben  dadurch  benutzte  und  beherrschte :  aber  die  Bedeutung  seiner 
Philosophie  besteht  gerade  darin,  daß  er  alle  Erkenntnis  unter  diesen 
Gesichtspunkt  zu  bringen  gewußt  hat.  Hieraus  ergeben  sich  eine 
Reihe  von  Gegensätzen  und  Verwandtschaften  der  Baconschen  Philo- 
sophie. Der  große  Denker  des  Altertums,  den  die  neue  Zeit  be- 
kämpfte, Aristoteles,  hatte  das  höchste  Ideal  des  Menschen  in  der 
bloßen  Betrachtung,  in  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  des  gött- 
lichen Wesens  gesucht;  ebenso  hatte  das  »beschauliche  Mönchtum« 
der  christlichen  Zeit  diese  Betrachtung  um  ihrer  selbst  willen  als 


134  Bacon. 

das  Höchste  geschätzt.  Daraus  schon  begreift  sich  der  Gegensatz, 
in  welchem  sich  Bacon  zu  Aristoteles  und  allen  von  ihm  abhängigen 
Philosophien  befindet,  daraus  auch  die  Abneigung,  die  er  gegen  alle 
mystischen  S}^steme  fühlte,  weil  deren  Motive  ja  noch  in  gesteigerter 
Weise  auf  Kontemplation  hinausliefen.  Der  Fehler  der  bisherigen 
Wissenschaft,  sagt  er,  liegt  in  ihrer  Unfruchtbarkeit;  sie  verstand 
nichts  vom  Leben,  da  sie  in  der  Zelle  des  Mönchs  betrieben  wurde, 
in  der  es  natürlich  nur  auf  fromme  Beschaulichkeit  ankommen  kann. 
Bisher  war  die  Wissenschaft  wie  in  ein  Kloster  gesperrt  und  un- 
fruchtbar »wie  die  gottgeweihten  Nonnen«.  In  gleicher  Weise 
kämpfte  er  gegen  die  Bücher-  und  Stubengelehrsamkeit,  welche  sich 
nur  mit  Worten  herumschlägt,  welche  in  Wahrheit  nichts  weiß 
und  um  so  gefährlicher  ist,  als  sie  alles  zu  wissen  glaubt  oder  vor- 
gibt. Mitten  ins  Leben  hinein  muß  die  Wissenschaft  treten,  ihre 
Aufgabe  ist  die  mächtige  Wirksamkeit,  und  der  Philosoph  muß 
deshalb  selbst  mitten  im  Leben  und  womöglich  auf  der  Höhe  stehen. 
Von  den  Geistern,  die  Goethes  Faust  beschwört,  ist  es  der  Erd- 
geist, welchem  Bacon  sich  bedingungslos  ergeben  hat.  Wer  er- 
kennt nicht  in  diesem  Grundgedanken  der  Baconschen  Philosophie 
den  praktischen  Geist  der  Engländer  wieder,  die  von  allen  Völkern 
zuerst  und  am  besten  die  Entdeckungen  der  Wissenschaft  für  das 
Leben  auszunutzen  verstanden  haben  und  verstehen,  und  denen 
anderseits  durch  diese  Richtung  jener  Schwung  der  Begeisterung 
für  das  Wissen  um  seiner  selbst  willen  eher  verschlossen  ist,  während 
diese  Neigung  wieder  bei  anderen  Völkern  bis  zur  Einseitigkeit  aus- 
gebildet erscheint.  So  ist  es  denn  auch  hieraus  zu  begreifen,  daß  die 
deutsche  Philosophie,  die  mit  aller  Energie  an  dem  Selbstzweck  des 
Wissens  festhielt,  Bacon  um  dieses  seines  Utilismus  willen  vielfach 
unterschätzt  hat. 

Allein  man  darf  durchaus  nicht  glauben,  daß  dieses  Hangen  an 
der  Nützlichkeit  bei  Bacon  von  kleinlicher  Natur  sei.  So  kurz- 
sichtig war  er  nicht,  um  unmittelbar  von  jeder  einzelnen  Erkennt- 
nis der  Wissenschaft  praktischen  Nutzen  zu  verlangen  und  nur  das- 
jenige anzuerkennen,  was  sogleich  sich  irgendwie  verwenden  läßt. 
Solcher  Kleinkrämerei  darf  man  einen  Mann  nicht  bezichtigen, 
welcher  der  modernen  Wissenschaft  nach  vielen  Richtungen  hin  die 
Wege  gewiesen  hat.  Es  ist  nur  das  Ganze  des  Wissens  und  die  letzte 
Aufgabe  aller  Forschung,  was  Bacon  unter  diesen  praktischen  Ge- 


Beherrschung  der  Natur.  135 

sichtspunkt  gestellt  hat,  und  er  faßt  vielmehr  den  Nutzen  der  Wissen- 
schaft unter  einem  durchaus  großartigen  Gesichtspunkt  auf:  unter 
demjenigen  der  Kultur.  Nicht  dem  Menschen  gegen  den  Menschen 
will  seine  Philosophie  das  Wissen  als  Macht  in  die  Hand  geben, 
sondern  vielmehr  dem  Menschengeschlechte  für  den  großen  Zweck 
der  Unterwerfung  und  Beherrschung  der  Natur :  das  Ziel  der  Wissen- 
schaft, der  Sinn  ihrer  Erneuerung  ist  das  regnum  hominis.  Mit 
diesem  Gedanken  trifft  er  mehr  als  vielleicht  irgendein  anderer  un- 
mittelbar in  das  Herz  seines  Zeitalters.  Der  Gedanke  der  Beherr- 
schung der  Natur  geht  als  eine  gewaltige  Sehnsucht  durch  die 
gesamte  Renaissance  und  zeigt  sich  mit  jugendlicher  Unklarheit  und 
phantastischer  Torheit  in  den  Bestrebungen  der  Magie.  Aber  was 
diese  durch  geheimnisvolle  und  dämonische  Mächte  zu  erreichen 
trachtete,  das  will  Bacon  auf  dem  nüchternen  Wege  der  Natur- 
erkenntnis leisten.  Der  Natur  gegenüber  zeigt  es  sich  am  stärksten, 
daß  Wissen  Macht  ist ;  ihren  gewaltigen  Kräften  kann  der  Mensch  nur 
mit  einer  einzigen  Macht  begegnen:  mit  seinem  Wissen.  Die  Natur 
zu  beherrschen  ist  nur  möglich  durch  Gehorsam;  wir  können  sie 
zu  einem  Erfolge  nur  dadurch  zwingen,  daß  wir  die  Bedingungen 
dafür  herstellen,  und  wir  vermögen  dies  nur  in  dem  einen  Falle, 
wenn  wir  die  Bedingungen  des  Eintritts  der  Erscheinungen  und 
die  Gesetze  der  Wirksamkeit  der  Natur  kennen.  Wenn  deshalb 
der  Mensch  dazu  berufen  ist,  die  Natur  zu  beherrschen,  so  kann 
er  das  nur  durch  seine  Wissenschaft.  Das  ist  das  Geheimnis  der 
Baconschen  Philosophie.  Sie  enthält  die  Abklärung  der  Gedanken, 
welche  sich  noch  mit  gärender  Nebelhaftigkeit  in  der  Magie  einen 
Ausweg  gebahnt  hatten.  Im  Geiste  der  Kultur  die  Natur  zu  er- 
forschen, um  sie  dem  Nutzen  der  gesamten  Menschheit  zu  unter- 
werfen —  das  ist  das  Prinzip  Bacons.  Er  stellt  das  Wissen  in  den 
Dienst  der  Kultur,  und  die  Männer  der  modernen  Naturforschung, 
die  mit  Entdeckungen  und  Erfindungen  den  Zustand  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  umzugestalten  und  zu  veredeln  bestrebt  sind, 
hätten  am  wenigsten  Veranlassung  gehabt,  den  Mann  herabzusetzen, 
welcher  Jahrhunderte  zuvor  ihre  Aufgabe  auf  den  glänzendsten  Aus- 
druck gebracht  hat. 

Allein  es  ist  nicht  nur  diese  allgemeine  Beziehung  der  Wissen- 
schaft auf  den  Zweck  der  Naturbeherrschung,  wodurch  Bacon  sich 
als  den  Philosophen  der  praktischen  Kulturaufgabe  der  modernen 


136  Bacon. 

Wissenschaft  erweist:  sondern  er  zeigt  sich  als  der  Sohn  des  Zeit- 
alters der  Entdeckungen  und  Erfindungen  gerade  durch  die  ge- 
nauere Präzisierung  jenes  Gedankens.  Die  ganze  Unruhe  der 
Renaissance,  ihr  aufgeregtes  Drängen  nach  vollkommener  Um- 
gestaltung aller  menschlichen  Verhältnisse,  die  ungezügelten  Hoff- 
nungen auf  große  unerwartete  Umwälzungen  kommen  bei  Bacon 
in  seiner  geistreich  rhetorischen,  oft  auch  großsprecherischen  und 
übertreibenden,  immer  anregenden  und  bilderreichen  Darstellung 
zum  deutlichsten  Ausdruck:  aber  er  versucht  doch  wenigstens,  den 
phantastischen  Strom  in  ruhigere  und  wissenschaftliche  Bahnen  zu 
leiten.  Was  man  von  einer  Beherrschung  der  Natur  bisher  wirk- 
lich erreicht  hat,  verdankt  man  nicht  den  Albernheiten  der  Magie, 
sondern  den  Erfindungen,  und  Bacon  wird  nicht  müde,  immer 
wieder  darauf  hinzuweisen,  wie  die  Erfindung  des  Pulvers,  des 
Kompasses,  der  Buchdruckerkunst  den  Zustand  der  Gesellschaft  um- 
zugestalten begonnen  habe.  Aber  alle  solche  Erfindungen  sind 
bisher  mehr  oder  minder  zufällig,  ohne  Plan  und  Zusammenhang- 
gemacht  worden:  was  uns  fehlt,  sagt  Bacon,  ist  eine  Methode 
der  Erfindung,  ein  wissenschaftlich  sichergestelltes  Verfahren,  um 
der  Natur  gegenüber  die  Beherrschungsfähigkeit  des  Menschen 
immer  mehr  zu  steigern.  In  einer  unvollendeten  Utopie  »Nova 
Atlantis«  stellte  Bacon  die  Pläne,  die  er  in  dieser  Hinsicht  für  die 
Zukunft  hegte,  als  erfüllt  dar.  In  glücklicher  Verborgenheit  richtet 
ein  kluges  Inselvölkchen  das  ganze  menschliche  Leben  mit  dem 
behaglichsten  Komfort  ein.  Mit  Benutzung  aller  nur  irgend  sonst  in 
der  Welt  vorgehenden  Entdeckungen  und  Erfindungen  wird  in  dem 
»Hause  Salomonis«  ein  systematisches  Erfinden  betrieben.  Dampf- 
maschine und  Luftballon,  Mikrophon  und  Telephon  fehlen  auf  diesem 
Programm  ebensowenig  wie  das  Perpetuum  mobile.  Alle  Natur- 
beobachtung soll  dazu  verwendet  werden,  das  Menschenleben  zu 
verschönern,  zu  verfeinern,  zu  verlängern. 

So  konzentrierte  sich  das  gesamte  Bestreben  der  Baconschen 
Philosophie  in  der  Richtung  auf  eine  ars  inveniendi.  Eigenartig 
wirkt  es,  daß  Bacon  damit  einen  Ausdruck  braucht,  mit  welchem  die 
letzten  Zeiten  der  Scholastik  die  ganze  Dürre  und  Kraftlosigkeit 
ihres  Wesens  sich  selber  eingestanden  hatten.  Die  Versuche,  eine 
mechanische  Vorrichtung  zur  Erfindung  neuer  Gedanken  aufzu- 
stellen, denen  Bruno  sein  gelehrtes  Interesse  zuwandte,  waren  auch 


Empirismus.  137 

als  ars  inveniendi  bezeichnet  worden,  und  nur  das  war  der  Unter- 
schied, daß  jene  Männer  es  für  nötig  hielten,  Gedanken  zu  erfinden, 
Bacon  aber  aus  der  schöpferischen  Fülle  des  methodischen  Ge- 
dankens heraus  Instrumente  zu  erfinden  hoffte,  um  die  Natur  zu 
beherrschen. 

Aus  diesen  Grundlinien  erklärt  sich  der  gesamte  Charakter  der 
Baconschen  Philosophie.  Zwar  jene  Hauptaufgabe  einer  Erfindungs- 
kunst  hat  Bacon  nicht  erfüllt,  sowenig  wie  sie  überhaupt  jemals 
würde  erfüllt  werden  können.  Das  Erfinden  ist  eben  eine  Sache  des 
Genies  und  des  Glücks,  es  kann  nicht  gelernt  noch  gelehrt  werden, 
und  daß  Bacon  selbst  kein  Erfinder  war,  geht  am  meisten  daraus 
hervor,  daß  er  eine  Theorie  der  Erfindung  für  möglich  hielt.  Die 
Bedeutung  seiner  Philosophie  liegt  vielmehr  in  seiner  Bearbeitung 
desjenigen  Teils,  welchen  er  der  Erfindungskunst  gegenüber  als  die 
unumgängliche  Vorbereitung  bezeichnete,  der  interpretatio  naturae. 
Denn,  wie  überhaupt  die  Natur  nur  durch  unsere  Wissenschaft  von 
ihr  zu  beherrschen  ist,  so  beruht  auch  alles  Erfinden  in  letzter  In- 
stanz auf  dem  Wissen  von  den  Gesetzen,  nach  denen  die  Natur  ver- 
fährt. Daher  beschränkt  sich  die  wirkliche  Leistung  der  Baconschen 
Philosophie  auf  den  Entwurf  einer  neuen  Methode  der  Natur - 
erkenntnis,  und  hierin  tritt  Bacon  der  Absicht  und  dem  Prinzip 
nach  so  radikal,  so  vollkommen  neu  und  selbständig  der  alten 
Wissenschaft  gegenüber,  daß  man  sagen  muß,  es  sei  der  Bruch  mit 
der  Scholastik,  mit  dem  überall  das  moderne  Denken  beginnt,  an 
keinem  Punkte  so  vollkommen  und  so  tiefgreifend  vollzogen  worden, 
wie  in  seiner  Philosophie.  Gewiß  ist  es  ein  einseitiger  Empirismus, 
den  er  vertritt,  aber  er  hat  das  weittragende  Verdienst,  ihm  eine 
prinzipielle  Zusammenfassung  und  eine  systematische  Form  gegeben 
zu  haben.  Das  einzige  Mittel  zu  fruchtbarer  Erfindung  ist  die 
Erfahrung.  Wie  der  Mensch  die  Natur  nur  beherrschen  kann 
durch  Gehorsam,  so  kann  er  sie  erst  recht  auch  erkennen  nur  durch 
denselben  Gehorsam,  indem  er  alle  Voraussetzungen  und  Speku- 
lationen von  sich  wirft  und  lediglich  ihren  eigenen  Aussagen  folgt. 
Aber  diese  zur  wahren  Naturerkenntnis  unbedingt  notwendige  Er- 
fahrung ist  nicht  das  zufällige  und  gelegentliche  Bemerken  des 
einzelnen,  sondern  vielmehr  eine  methodisch  angestellte  Unter- 
suchung: in  dieser  Einsicht  besteht  bei  allen  Mängeln  und  Un- 
vollkommenheiten  die  Größe  von  Bacons  wissenschaftlicher  Tat. 


138  Bacon. 

Das  ganze  Werk  der  Erneuerung  der  Wissenschaft,  das  er  sich 
vorgesetzt  hat,  bezeichnet  Bacon  als  die  Instauratio  magna,  und  sie 
zerfällt  wesentlich  in  drei  Teile:  zuerst  eine  Übersicht  aller  Wissen- 
schaften zur  Feststellung  der  speziellen  Aufgabe  der  Philosophie, 
darauf  die  Entwicklung  der  neuen  Methode  der  Naturerkenntnis 
und  endlich  ihre  Ausführung  in  der  Einzelforschung. 

Die  erste  dieser  drei  Aufgaben  hatte  er  schon  früh  in  seinen 
»Two  books  of  proficience  and  advancement  of  learning  divin  and 
human«  ins  Auge  gefaßt  und  gab  die  darauf  bezüglichen  Betrach- 
tungen nach  mannigfacher  Umarbeitung  1623  unter  dem  Titel:  »De 
dignitate  et  augmentis  scientiarum  «  neu  heraus.  Er  entwickelt  darin 
eine  systematische  Übersicht  der  menschlichen  Wissen- 
schaften, eine  Beschreibung  des  wissenschaftlichen  Gesichts- 
kreises oder,  wie  er  es  nennt,  einen  globus  intellectualis.  Nach 
den  drei  Grundvermögen  der  menschlichen  Seele,  dem  Gedächtnis, 
der  Einbildungskraft  und  dem  Verstände,  gibt  er  die  Grundeinteilung 
der  »Wissenschaften « in  »Geschichtskunde «  (historia  =  Erfahrungs- 
kenntnisse überhaupt),  Poesie  und  Philosophie,  welche  letztere  da- 
bei die  Wissenschaft  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  bedeutet. 
Für  diese  gibt  man  insgemein  drei  Objekte  an:  Gott,  den  Menschen 
und  die  Natur.  Bacon  schließt  jedoch  die  Erkenntnis  der  Gottheit 
und  des  unsterblichen  Teils  der  Menschenseele,  des  spiraculum,  in 
einer  weiterhin  zu  besprechenden  Weise  von  der  im  eigentlichen 
Sinne  wissenschaftlichen  Forschung  aus.  Die  überlieferte  Be- 
stimmung der  drei  Objekte  der  Philosophie  nimmt  er  nur  auf,  um  sie 
zu  kritisieren,  wie  er  überhaupt  jene  ganze  Einteilung  der  Wissen- 
schaften nur  als  den  historisch  gegebenen  Ausgangspunkt  seiner 
eigenen  Lehre  behandelt.  So  bleibt  für  die  philosophische  Er- 
kenntnis nur  die  Natur  und  der  Mensch,  insofern  er  ein  Glied  des 
natürlichen  Zusammenhanges  ist,  übrig.  Hierin  besteht  der  Gegen- 
satz, in  welchem  sich  Bacon  zu  der  sonstigen  Naturphilosophie 
seiner  Zeit  befindet.  Der  theosophische  Charakter,  den  sie  meistens 
trug,  ist  hier  vollständig  abgestreift,  und  die  Philosophie  wird 
lediglich  als  die  Methodologie  der  Naturwissenschaft  betrachtet.  Der 
eigentlichen  Naturerkenntnis  pflegt  man  eine  ontologische  Grund- 
wissenschaft von  den  höchsten  Begriffen  unter  dem  Namen  der 
philosophia  prima  oder  scientia  universalis  voranzuschicken.  Wenn 
auch  Bacon  davon  nicht  allzuviel  hält,  so  gilt  sie  ihm  immer  noch 


Globus  intellectnalis.  139 

höher  als  die  Mathematik,  von  der  er  sehr  wenig  verstanden  haben 
muß,  und  gegen  deren  Bedeutung  er  sich  merkwürdig  verblendet 
zeigt.  Was  dann  die  Naturphilosophie  selbst  anbetrifft,  so  ist  sie 
Metaphysik,  insofern  sie  sich  mit  der  teleologischen,  Physik  da- 
gegen, insofern  sie  sich  mit  der  kausalen  Betrachtung  der  Natur 
beschäftigt:  in  der  Mitte  zwischen  beiden  steht,  in  gewissem  Sinne 
zu  beiden  gehörig,  die  Untersuchung  der  »Formen«,  welche  das 
bleibende,  gesetzmäßig  wirkende  Wesen  aller  Dinge  ausmachen, 
und  auf  deren  Erkenntnis  die  neue  Methode  hauptsächlich  abzielt. 
Aus  dieser  Zusammenstellung  geht  am  besten  hervor,  daß  Bacon 
in  diesem  Werke  nur  eine  kritische  Übersicht  über  den  Zustand 
der  Wissenschaften,  nicht  aber  einen  Kanon  der  Einteilung  beab- 
sichtigte. Wenn  man  bedenkt,  wie  er  über  die  teleologische  Natur- 
betrachtung selbst  dachte,  was  weiterhin  hervortreten  wird,  und 
wie  er  ihre  Anwendung  aus  dem  Reiche  der  exakten  Wissenschaft 
verbannte,  so  wird  man  unmöglich  annehmen  können,  daß  er 
ernstlich  Metaphysik  und  Physik  als  zwei  gleichberechtigte  Wissen- 
schaften nebeneinander  habe  bestehen  lassen  wollen.  Berechtigt 
ist  nach  seiner  eigenen  Lehre  die  Metaphysik  nur,  sofern  sie  sich 
als  Lehre  von  den.  Formen  mit  den  höchsten  Ergebnissen  der  Physik 
deckt:  so  weit  aber  als  die  Metaphysik  es  mit  den, Endursachen  der 
Dinge  zu  tun  hat,  ist  sie  im  Geiste  Bacons  nichts  weiter  als  über- 
flüssige Spekulation.  Die  einzige  Wissenschaft,  die  vor  seinem 
Auge  bestehen  bleibt,  ist  eben  diese  Physik  und  die  Anthropologie 
als  derjenige  Teil  davon,  welcher  sich  mit  den  gesetzmäßigen  Be- 
wegungen des  menschlichen  Seelenlebens  beschäftigt  und  dadurch 
auf  der  einen  Seite  in  Logik,  auf  der  anderen  in  Ethik  übergeht. 
Die  neue  Methode  dieser  Naturerkenntnis  behandelt  das  »No- 
vum  organon«,  eine  1620  erschienene  gründliche  Umarbeitung  der 
acht  Jahre  vorher  gedruckten  »Cogitata  et  visa«.  Wie  der  Titel 
dieses  Werkes  zeigt,  will  Bacon  der  alten  aristotelischen  Methodologie 
eine  neue  entgegenstellen,  eine  neue,  deren  Aufgabe  lediglich  die 
Begründung  der  richtigen  Naturerkenntnis  sei.  Zu  diesem  Zwecke 
muß  erst  die  falsche  Naturbetrachtung  fortgeräumt  werden.  Denn 
der  Mensch,  zumal  in  seiner  historischen  Bildung,  gewinnt  diese 
richtige  Naturerkenntnis  nicht  von  selbst,  sondern  muß  erst 
mühsam  dazu  erzogen  werden.  Die  neue  Wissenschaft  soll  zwar 
von   der   Erfahrung   ausgehen,    aber    durchaus    nicht   von   jenen 


1 40  Bacon. 

unkritischen  Vorstellungen,  mit  denen  der  gewöhnliche  Mensch  die 
Welt  auffaßt.  Es  ist  nicht  zum  wenigsten  die  Größe  Bacons,  daß  er 
die  unbefangene  Meinung,  als  sei  die  Natur  wirklich  so,  wie  sie  sich 
in  der  Erfahrung  jedes  beliebigen  Menschen  spiegelt,  von  Grund 
aus  zu  zerstören  unternahm,  und  daß  er  sich  mit  aller  Klarheit 
der  Verderbnis  bewußt  war,  welche  menschliche  Gewohnheiten  und 
menschliche  Vorurteile  in  die  Wahrheit  unserer  Weltauffassung 
hineinbringen.  Seine  Methodologie  beginnt  deshalb  mit  einer  »pars 
destruens«,  einem  kritischen  Teile,  der  sich  in  stolze  Analogie  zu 
der  aristotelischen  Lehre  von  den  Trugschlüssen  setzt.  Wie  diese 
die  Irrungen  der  Schlußtätigkeit,  so  will  Bacon  die  Fehler  der 
Wahrnehmungstätigkeit  aufdecken  und  dasjenige,  was  reine  und 
wirkliche  Erfahrung  ist,  von  den  Zutaten  sondern,  die  der  Mensch 
aus  seinem  Denken  hinzugefügt  hat.  Diese  im  eminenten  Sinne 
erkenntnistheoretische  Aufgabe  verfolgt  Bacon  in  seiner  berühm- 
ten Lehre  von  den  Idolen.  Er  teilt  diese  Trugbilder,  die  wir  in 
die  Wahrnehmung  hineinweben,  in  vier  Arten  ein:  die  ersten,  die 

(j)  idola  specu£  sind  diejenigen,  welche  in  der  Sinnesart  und  der  zu- 
fälligen Lage  jedes  einzelnen  begründet  sind;  von  ihnen  kann  man 
sich  verhältnismäßig  leicht  losmachen,  und  wenn  sie  auch  ihrer 
Natur  nach  unaufzählbar  sind,  so  führen  sie  doch  eben  deshalb 
geringere  Gefahr  mit  sich,  weil  die  Vergleichung  der  Erfahrungen 
mehrerer  Individuen  sie  leicht  eliminiert.  Schwieriger  steht  es 
-  schon  mit  den  idola  theatri,  die  auf  dem  Autoritätsglauben  beruhen 
und  den  Irrtum  bedeutender  Männer  der  Vorzeit  stets  zu  ver- 
vielfältigen drohen.  Hier  kämpft  Bacon  mit  rücksichtsloser  Energie 
gegen  allen  Autoritätsglauben  und  in  bezug  auf  die  Philosophie 
namentlich  gegen  die  sklavische  Abhängigkeit,  die  man  dem  Namen 
des  Aristoteles  bezeuge.  Er  empfiehlt  als  das  Mittel  gegen  diesen 
Autoritätsglauben  die  stetige  Gewöhnung  an  die  Autopsie  und  sagt, 
daß  die  höchste  Gewißheit  immer  nur  demjenigen  zukomme,  was 
wir  selbst  erfahren  haben.     Verwandt  mit  den  zweiten  sind  die 

(3ldritten  Trugbilder,  die  idola  fori,  welche  wir  im  gemeinsamen  Ver- 
kehr wesentlich  aus  der  Sprache  übernehmen.  Die  Anschauungen 
früherer  Zeitalter  prägen  sich  uns,  in  der  Sprache  niedergelegt  und 
befestigt,  als  allgemeine  Vorurteile  ein,  von  denen  man  sich  schwer 
zu  befreien  vermag,  um  so  schwerer,  als  die  Wissenschaft  leider 
gewöhnt  gewesen  ist,  in  Begriffen  zu  arbeiten  und  auf  diese  Weise 


Idolenlehre.  J  41 

sich  von  den  Meinungen  früherer  Zeiten  immer  mehr  abhängig  zu 
machen.  An  dieser  Stelle  ist  es,  wo  sich  in  Bacon  der  ganze  Haß 
gegen  die  Wortweisheit  und  die  volle  Sehnsucht  nach  einem  Erfah- 
rungswisseD  der  wirklichen  Welt  mit  leidenschaftlicher  Heftigkeit 
ausspricht.  Zuletzt  aber  erscheinen  alle  diese  drei  Arten  der  Idole 
verhältnismäßig  leichtwiegend  gegenüber  der  Gewalt,  welche  die 
vierten,  die  idola  tribus,  die  im  Wesen  der  menschlichen  Gattung  **) 
selbst  begründeten,  ausüben.  Wenn  der  menschliche  Geist  ein 
Spiegel  der  Dinge  sein  soll,  so  muß  er  zunächst  von  allen  Flecken, 
mit  denen  die  individuelle  Neigung,  der  blinde  Glaube  und  die  Ge- 
wöhnung ihn  getrübt  haben,  sorgfältig  gereinigt  werden:  allein 
dann  immer  noch  hat  er  eine  falsch  spiegelnde  Wölbung,  und  diese 
glatt  zu  schleifen  ist  die  schwerste  aller  Aufgaben.  Mit  dieser  Be- 
trachtung steht  Bacon  in  der  Tat  vor  der  höchsten  Aufgabe  der 
kritischen  Philosophie;  aber  er  gibt  ihrer  Lösung  eine  sehr  ein- 
seitige Wendung,  und  statt  jene,. Wölbung  des  menschlichen  Denk- 
spiegels in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  zu  untersuchen,  weist  er  nur 
auf  den  Punkt  hin,  der  freilich  die  größte  Krümmung  zeigt,  die 
teleologische  Betrachtung  der  Dinge.  Sie  gilt  ihm  als  ein  \ 
Ausfluß  des  menschlichen  Wesens,   aber  zugleich  als  der  größte  X 

und  folgenschwerste  Irrtum,  den  man  in  der  Auffassung  der  Wirk- 
lichkeit je  gemacht  hat  und  zu  machen  imstande  ist.  Der  wahr« 
Zusammenhang  der  Dinge  ist  derjenige  der  mechanischen  Kausalität. 
Die  Natur  tut  nichts  um  eines,  Zweckes  willen,  sondern  alles  nach 
ewigen  und  unveränderlichen  Gesetzen.  Und  so  muß  aus  der 
Naturerkenntnis  die  Teleologie  a  limine  zurückgewiesen  werden. 

So  verlangt  Bacon  die  Vermeidung  aller  der  Gefahren,  denen 
die  Wahrnehmungstätigkeit  des  Menschen  ausgesetzt  ist,  und  dringt 
auf  die  Herstellung  einer  reinen  und  unverfälschten  Erfahrung. 
Als  das  hauptsächlichste  Mittel  dazu  aber  bezeichnet  er  das  Experi  - 
ment.  Alle  übrigen  Erfahrungen  sind  mehr  oder  minder  zufällig, 
der  Gegenstand  und  die  Ausdehnung  der  Beobachtung  hängen 
von  dem  wechselnden  Laufe  der  Dinge  mindestens  ebenso  wie  von 
der  Absicht  des  Beobachters  ab.  Nur  beim  Experiment  hat  es 
dieser  in  der  Hand,  das  was  er  kennen  lernen  will,  rein  darzustellen, 
und  indem  er  die  Bedingungen  herbeiführt,  die  Natur  zu  bestimmten 
Wirkungen  zu  zwingen.  Das  Experiment  ist  schon  ein  Stück 
jener  Macht,  welche  der  Mensch  durch  sein  Wissen  über  die  Natur 


^ 


\ 


1 42  Bacon. 

ausübt.  Nur  mit  einem  gewissen  Grade  von  bereits  erworbener 
Kenntnis  lassen  sich  fruchtbare  Experimente  anstellen.  Sind  sie 
aber  richtig  angelegt,  so  muß  die  Natur  auf  die  Fragen,  aus  denen 
sie  hervorgingen,  unbedingt  antworten  und  die  Geheimnisse  ent- 
hüllen, welche  sie  sonst  verschweigt.  Nur  das  Experiment  ist 
sicher,  reine  Erfahrung  zu  liefern,  und  die  Naturwissenschaft  wird 
keinen  Schritt  weiter  tun,  wenn  sie  sich  nicht  dieses  wertvollsten 
aller  Mittel  systematisch  bedient.  Keiner  unter  den  Begründern  der 
modernen  Philosophie  hat  den  Wert  des  Experiments  so  lebhaft  her- 
vorgehoben wie  Bacon.  Er  ist  gewiß  nicht  der  erste,  der  sich  der 
Bedeutung  dieses  methodischen  Mittels  bewußt  wurde,  und  er  bleibt 
in  dem  wissenschaftlichen  Verständnis  seines  Wesens  entschieden 
hinter  Galilei  zurück:  aber  er  hat  die  methodische  Wichtigkeit  des 
Experiments  so  sicher  und  so  glücklich  ausgesprochen  und  darin 
so  sehr  die  Grundlage  aller  Wissenschaft  gesucht,  daß  man  bei 
seiner  Auffassung  um  so  mehr  den  Mangel  des  Verständnisses  für 
die  mathematisch-theoretische  Verwendung  experimenteller  Messun- 
gen bedauern  muß.  Die  prinzipielle  und  methodologische  Bedeu- 
tung aber  dieser  Lehre  wird  dadurch  nicht  verringert,  daß  Bacons 
eigene  Versuche  unter  der  Mangelhaftigkeit  der  Kenntnisse  und  der 
Instrumente  jener  Zeit  fühlbar  genug  gelitten  haben.  Was  er  im 
einzelnen  erforscht  hat,  und  was  in  der  nach  seinem  Tode  heraus- 
gegebenen »Sylva  sylvarum  sive  historia  naturalis  «  niedergelegt  ist, 
mag  für  die  moderne  Forschung  verhältnismäßig  wertlos  sein:  die 
Naturwissenschaft  wird  es  nicht  vergessen  dürfen,  daß  die  eine  ihrer 
wesentlichen  Stützen  von  Bacon  mit  starker  Hand  und  klarem  Ver- 
ständnis festgestellt  worden  ist. 

Allein  die  methodologische  Bedeutung  Bacons  ist  damit  nicht 
erschöpft,  und  man  kann  seine  Größe  vielleicht  kaum  mehr  be- 
greifen, als  wenn  man  den  Abstand  mißt,  der  in  dieser  Hinsicht 
zwischen  ihm  und  Telesius  liegt.  Auch  dieser  hatte  Beobachtung 
und  Experiment  für  die  einzigen  und  unentbehrlichen  Grundlagen 
der  Naturwissenschaft  erklärt,  allein  von  da  aus  war  er  sogleich 
in  der  Weise  der  griechischen  Denker  zu  allgemeinen  Spekulationen 
übergegangen.  Es  ist  Bacons  Verdienst,  diese  Art  der  naturphilo- 
sophischen Konstruktion  wenigstens  prinzipiell  abgelehnt  und  an 
ihrer  Stelle  eine  Methode  gesucht  zu  haben,  nach  welcher  man  von 
den  durch  das  Experiment  festgestellten  Tatsachen  zu  allgemeinen 


Induktive  Methode.  143 

Sätzen  mit  wissenschaftlicher  Sicherheit  fortschreiten  kann.  So  war 
er  wiederum  der  erste,  der  die  große  Aufgabe  der  modernen  Logik, 
eine  Theorie  der  induktiven  Methode  zu  entwickeln,  zur  klaren 
Fassimg  und  zum  Teil  zur  Lösung  brachte.  In  dieser  Beziehung 
steht  Bacon  geradezu  an  der  Spitze  der  modernen  Logik.  Die  antike 
Logik,  die  großartige  Schöpfung  der  Aristoteles,  war  im  wesent- 
lichen aus  dem  Bedürfnis  einer  Sicherstellung  der  Formen  des  Be- 
weisens  hervorgegangen,  welche  man  nicht  nur  in  den  Streitigkeiten 
der  Philosophen,  sondern  auch  in  der  Dialektik  des  öffentlichen 
Lebens  nötig  hatte.  Sie  war  eine  Kunst  des  Beweisens  und  Wider- 
legens,  und  das  Mittelalter  hatte  ihr  völlig  den  Charakter  einer 
Disputierkunst  aufgedrückt.  Darin  zeigt  sich  der  schöpferische 
Geist  Bacons^  daß  er  diese  Einseitigkeit  durchschaute  und  eine  y 
Methode  der  Forschung  und  Untersuchung  verlangte.  Auf  dem 
naturwissenschaftlichen  Gebiete  konnte  dies  selbstverständlich  nur 
die  Methode  der  Induktion  sein.  Es  ist  richtig,  daß  Bacon 
diese  Aufgabe  nicht  gelöst  hat.  Aber  es  ist  ebenso  richtig,  daß  sie 
noch  heute  nicht  völlig  gelöst  ist.  Mit  so  vollendeter  Sicherheit  die 
jetzige  Naturforschung  sich  ihrer  bedient,  hat  sie  doch  noch  niemals 
eine  prinzipielle  Feststellung  von  der  zweifellosen  Durchsichtigkeit 
und  Anerkanntheit  gefunden,  welche  die  Grundzüge  der  deduktiven 
Logik  seit  Aristoteles  genießen.  Nach  dieser  Richtung  hat  die 
Philosophie  noch  immer  an  der  Aufgabe  zu  arbeiten,  die  ihr  Bacon 
gestellt  hat. 

Sehr  merkwürdig  ist  es  nun,  in  wie  geringem  Maße  Bacon  bei 
dem  logischen  Entwürfe  der  induktiven  Methode  sich  von  dem  be- 
grifflichen Apparate  hat  freimachen  können,  der,  von  Aristoteles 
stammend,  im  Mittelalter  seine  Fortentwicklung  gefunden  hatte.  Im 
besonderen  ist  es  der  sog.  Formalismus,  (eine  hauptsächlich  von 
Duns  Scotus  und  dessen  Anhängern  vertretene  logisch-metaphysische 
Theorie,y  woran  Bacon  seine  Darstellung  anknüpfte.  Die  Ursachen 
der  Erscheinungen,  welche  durch  die  induktive  Methode  gesucht 
werden  sollen,  bestehen  in  den  »Formen«  oder  »Naturen«,  d.  h. 
den  allgemeinen,  einfachen  Bestimmtheiten,  die  in  jedem  Wahr- 
nehmungsgebilde als  »platonische  Ideen«  enthalten  sind.  Um  diese 
induktiv  zu  finden,  muß  sich  die  Naturforschung  der  Hilfsmittel  der 
Enumeration  und  der  Exklusion  bedienen.  Man  stellt  alle 
Fälle,  deren  man  aus  der  Erfahrung  habhaft  werden  kann,  in  der 


144  Bacon. 

Weise  zusammen,  daß  erstens  alle  diejenigen  gesammelt  werden, 
worin  die  zu  erklärende  Erscheinung  vorkommt  (tabula  praesentiae), 
zweitens  diejenigen,  worin  sie  fehlt  (tabula  absentiae):  wenn  sich 
dann  etwas  findet,  was  immer  mit  der  Erscheinung  vorkommt  und 
immer  mit  ihr  fehlt,  so  fragt  es  sich  drittens,  ob  dieses  auch  in 
der  verschiedenen  Intensität  seines  Vorkommens  mit  derjenigen  der 
behandelten  Erscheinung  übereinstimmt  (tabula  graduum).  Zeigt 
sich  dies,  so  hat  man  die  »Form«  der  Erscheinungen  gefunden. 
Die  »Natur«  oder  »Form«  der  Wärme  ist  also  das,  was  immer  ist, 
wo  Warme  ist  —  was  immer  fehlt,  wo  Wärme  fehlt  —  was  stärker 
ist,  wo  mehr  Wärme,  schwächer,  wo  weniger  Wärme  ist.  Auf 
diesem  Wege  will  Bacon  gefunden  haben,  daß  die  Natur  der  »Wärme  << 
eine  durch  Hemmung  auf  die  kleinsten  Teile  der  Körper  verteilte 
Bewegung  sei.  So  sind  es  verwickelte  demonstrative  und  zum 
Teil  deduktive  Prozesse,  durch  welche  die  Induktion  zustande 
kommen  soll. 

Wertvoller  als  diese  scholastischen  Formulierungen  sind  die 
allgemeinen  Vorschriften,  mit  denen  Bacon  die  neue  Methode  ein- 
führt. Wenn  sie  von  einzelnen  Tatsachen  zu  Lehrsätzen  aufsteigen 
soll,  so  ist  das  erste,  daß  sie  sich  vor  jener  vorschnellen  Verall- 
gemeinerung hüte,  die,  in  dem  psychologischen  Mechanismus  der 
menschlichen  Seele  begründet,  die  Veranlassung  zahlloser  Irrtümer 
bildet.  Es  ist,  als  wende  sich  Bacon  gegen  die  phantastischen  Aus- 
wüchse der  gleichzeitigen  Naturphilosophie,  wenn  er  sagt,  es  sollten 
dem  nach  Allgemeinheit  strebenden  Geiste  des  Menschen  nicht 
Flügel  angesetzt,  sondern  Blei  angehängt  werden.  Es  sei  falsch, 
von  einzelnen  Tatsachen  gleich  zu  letzten  und  allgemeinsten  Ur- 
teilen zu  schreiten;  man  müsse  vielmehr  ganz  langsam  verall- 
gemeinern, erst  zu  Lehrsätzen  geringeren  Umfanges  und  von  ihnen 
allmählich  zu  höheren,  bis  zuletzt  zu  den  höchsten  Theoremen  auf- 
steigen. Auch  gewisse  Eigentümlichkeiten  der  induktiven  Methode 
finden  bei  ihm  bereits  eine  scharfsinnige  Darstellung.  Des  hervor- 
ragenden Erkenntniswertes  der  negativen  Instanzen,  der  schwierigen 
Stellung  der  prärogativen  Instanzen  ist  er  sich  völlig  bewußt,  und 
wenn  er  die  außerordentliche  Fruchtbarkeit  des  Analogieschlusses 
betont,  so  verhehlt  er  sich  nicht,  daß  dieser  zwar  ein  vortreffliches 
Mittel  des  Findens  ist,  eine  strikte  Beweiskraft  dagegen  für  sich 
allein  nicht  besitzt. 


Induktive  Methode.  145 

Niemand  wird  verkennen,  daß  der  große  Mangel  der  Bacon- 
schen  Lehre  in  der  merkwürdigen  Kurzsichtigkeit  besteht,  wo- 
mit er  sich  der  Anerkennung  der  mathematischen  Grundlagen  der 
Naturforschung  verschloß.  Es  wird  auch  gern  zugegeben  werden, 
daß  die  moderne  Naturwissenschaft  sich  im  Besitze  ganz  anderer 
und  viel  feiner  entwickelter  Methoden  befindet,  als  sie  Bacon  auch 
nur  geahnt  hat.  Allein  es  kann  nur  von  einer  Unter  Schätzung 
der  historischen  Verhältnisse  zeugen,  wenn  in  neuerer  Zeit  be- 
hauptet worden  ist,  daß  der  englische  Kanzler  auch  auf  dem  Gebiete 
der  Wissenschaft  es  nicht  über  Trivialitäten  und  Torheiten  hinaus- 
gebracht habe.  Man  hat  von  Voltaire  gesagt,  es  sei  das  sicherste 
Zeichen  seiner  enormen  Größe,  daß  seine  Gedanken  uns  heutzu- 
tage trivial  erscheinen.  Ähnliches  gilt  von  der  Baconschen  Methode. 
Es  nimmt  uns  nicht  wunder,  daß  dem  Manne  der  heutigen  Natur- 
wissenschaft die  Vorschriften  Bacons  trivial  und  wie  Kinderschuhe 
vorkommen,  die  er  längst  ausgetreten  hat.  Aber  wunder  muß  es 
uns  nehmen,  wie  man  übersehen  kann,  daß  diese  Trivialitäten  da- 
mals eine  schwere  Errungenschaft  und  eine  große  methodologische 
Tat  waren.  Auch  hier  wiederholt  sich  eben,  daß  der  Mensch  für 
gewöhnlich  nichts  weniger  zu  schätzen  weiß,  als  die  Güter,  in  deren 
Besitz  er  von  Jugend  an  spielend  hineingewachsen  ist.  Es  ist  ein 
Vorrecht  des  Genies,  von  solchen,  welche  die  Geschichte  nicht  ver- 
stehen, für  unbedeutend  gehalten  zu  werden. 

Es  ist  klar,  daß,  wenn  Bacon  bei  dem  damaligen  Stande  der 
Kenntnisse  sich  streng  in  den  Grenzen  dieser  von  ihm  aufgestellten 
Methode  gehalten  hätte,  er  zu  einer  umfassenden  Ansicht  des  Uni- 
versums, zu  einer  gesamten  Erklärung  der  Natur  in  keiner  Weise 
hätte  vordringen  können.  Und  wenn  auch  der  Schwerpunkt  seines 
wissenschaftlichen  Interesses  auf  der  methodologischen  Grundlegung 
ruht,  so  kann  er  sich  doch  anderseits  auch  des  metaphysischen 
Triebes  nicht  so  weit  erwehren,  daß  er  nicht  Versuche  machen 
sollte,  aus  der  Methode  gewissermaßen  frei  herauszugehen  und  all- 
gemeinere Ausblicke,  wenn  auch  nur  hypothetischen  Wertes,  zu 
gewinnen.  Dabei  ist  es  hauptsächlich  der  Analogieschluß,  durch 
den  sein  Genie  mit  glücklichem  Blicke  aus  seiner  Methode  hervor- 
bricht, um  eine  umfassendere  Gesamtbetrachtung  anzubahnen.  So 
huldigte  er  entschieden  der  Atomtheorie,  die  er  als  einer  der  ersten 
in  ihrer  Bedeutung  für  die  erklärende  Naturwissenschaft  vollständig 

Vt'indelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.   I.  10 


]  46  Bacon. 

durchschaut  hat.  Dem  allgemeinen  Zuge  der  Zeit  folgend,  legte 
er  diesen  Atomen  auch  die  Fähigkeit  der  Perzeption  bei,  die  sich 
in  ihrer  gegenseitigen  Anziehung  und  Abstoßung  bekunde,  und 
glaubte  so  aus  rein  natürlichen  Ursachen  lediglich  durch  die  Pro- 
zesse der  Bewegung  und  der  Empfindung  der  Atome  alle  Vorgänge 
des  physischen  und  des  psychischen  Lebens  erklären  zu  können. 
Damit  war  eine  Aufgabe  gestellt,  an  deren  Durchführung  Jahr- 
hunderte arbeiten  sollten,  und  welche  sich  auf  beiden  Gebieten 
namentlich  die  englische  Philosophie  stets  gegenwärtig  erhalten 
hat.  Insbesondere  suchte  Bacon  der  Anthropologie  von  seinem 
Standpunkte  aus  die  Wege  vorzuschreiben:  nur  die  auf  Tatsachen 
gegründete  Kausalerklärung  soll  die  Methode  auch  für  Psycho- 
logie, Ethik  und  Staatslehre  ausmachen,  und  die  Wissenschaft  vom 
menschlichen  Leibe  und  seinen  Tätigkeiten  und  Zuständen  soll 
ebenfalls,  mit  Ausschluß  der  Teleologie,  eine  rein  mechanistische 
Theorie  werden.  Selbst  für  medizinische  Lehren,  für  Pathologie  und 
Hygiene,  hat  Bacon  in  diesem  Sinne  weitausschauende  Probleme 
angedeutet,  wie  sie  erst  in  der  Wissenschaft  unserer  Zeit  maßgebend 
geworden  sind. 

Es  ist  weiterhin  klar,  daß  dieser  vollkommene  Naturalismus 
jede  Möglichkeit  einer  theosophisehen  oder  theologischen  Wendung 
ausschloß.  Bacon  leugnete,  wie  schon  oben  erwähnt,  daß  die 
Gottheit  und  die  unsterbliche  Seele  des  Menschen,  die  beiden  haupt- 
sächlichsten Objekte  der  religiösen  Lehren,  jemals  einer  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis  unterzogen  werden  könnten.  Er  zerschneidet 
das  Tafeltuch  zwischen  Philosophie  und  Theologie.  Die  natürliche 
Theologie,  eine  Vernunftwissenschaft  von  der  Gottheit  und  ihrem 
Verhältnis  zur  Seele,  hält  er  für  eine  Zwitterbildung  und  meint, 
daß  sie  nur  zu  einer  falschen  und  getrübten  Vorstellung  von  Gott 
führen  könne.  Zwar  gibt  er  zu,  daß  die  Natur  den  Eindruck  mache, 
als  ob  in  ihr  zwecktätige  Kräfte  walten,  die  auf  einen  göttlichen 
Schöpfer  zurückgeführt  werden  müssen,  und  in  seiner  rhetorischen 
Weise  sagt  er  wohl,  daß  nur,  kurzes  Schlürfen  am  Trank  der  Wissen- 
schaft von  Gott  abführe,  tiefere  Züge  aber  zu  ihm  hinführen :  allein 
für  erkennbar  gilt  ihm  die  Gottheit  nie  durch  die  Vernunft,  sondern 
nur  durch  den  Glauben.  Man  muß,  um  dieses  Wissen  zu  gewinnen, 
aus  dem  Boote  der  Wissenschaft  in  das  Schiff  der  Kirche  steigen. 
In  der  Wissenschaft  glaubt  man  den  Dingen  und  der  Vernunft,  in 


Anthropologie  und  Theologie.  147 

der  Religion  der  persönlichen  Offenbarung  Gottes,  und  dieser 
Glaube  ist  deshalb,  wie  Bacon  ausführt,  um  so  verdienstvoller,  je 
mehr  er  den  Dingen  und  der  Vernunft  widerspricht:  »Quanto 
mysterium  aliquod  divinum  fuerit  magis  absonum  et  incredibile, 
tanto  plus  in  credendo  exhibetur  honoris  deo  et  fit  victoria  fidei 
nobilior.«  So  wiederholt  sich  in  merkwürdiger  Weise  bei  diesem 
Antischolastiker  und  Antitheosophen  das  Wort  des  alten  Kirchen- 
vaters: »Credo  quia  absurdum.«  Beide  verlangen  eine  radikale 
Trennung  von  Glauben  und  Wissen,  von  Theologie  und  Philosophie. 
Freilich  in  sehr  verschiedener  Absicht.  Tertullian  will  die  Religion 
sicherstellen  gegen  die  Angriffe  der  antiken  Wissenschaft,  Bacon 
will  umgekehrt  die  Wissenschaft  völlig  selbständig  machen  und  sie 
schützen  gegen  die  Übergriffe  der  positiven  Religion.  Auch  er 
steht  voran  unter  den  Pionieren  der  Toleranz.  Er  verficht  auf  das 
lebhafteste  die  Oberherrlichkeit  des  Staates  über  die  Kirche  und 
seine  Selbständigkeit  den  Konfessionen  gegenüber. 

Man  darf  sich  nicht  wundern,  daß  dieser  Standpunkt  Bacons 
den  verschiedensten  Beurteilungen  unterlegen  ist.  Die  einen  haben 
ihn  zu  den  Frommen  gerechnet,  die  anderen  zu  den  vollkommen 
Ungläubigen,  und  schließlich  hat  er  sich  den  Vorwurf  der  Heuchelei 
gefallen  lassen  müssen.  Es  wird  schwer  zu  entscheiden  sein,  ob 
etwa  und  welche  Reste  des  kirchlichen  Glaubens  in  Bacon  persön- 
lich neben  seiner  wissenschaftlichen  Überzeugung  fest  genug  be- 
stehen geblieben  waren,  um  seine  Äußerungen  über  diese  Fragen 
weder  heuchlerisch  noch  ironisch,  sondern  als  den  wahrhaftigen 
Ausdruck  seiner  Meinung  erscheinen  zu  lassen.  Aber  die  Ent- 
scheidung dieser  Streitfragen  ist  schließlich  weniger  wichtig  als  die 
bedeutsame  Tatsache,  daß  die  philosophische  Auffassung  bei  Bacon 
in  religiöser  Beziehung  vollkommen  indifferent  geworden  ist,  und 
daß  von  der  naturwissenschaftlichen  Philosophie,  die  er  program- 
matisch verkündete,  alle  Wege  verschlossen  sind,  die  zu  einer 
religiösen  Erkenntnis  führen  könnten.  Für  diejenige  Philosophie, 
welche  von  Bacon  abhängig  war,  konnten  die  religiösen  Probleme 
höchstens  als  ein  Beiwerk  erscheinen,  das  man  aus  persönlichem 
Bedürfnis  einer  Wissenschaft  hinzufügte,  die  selbst  vollkommen 
davon  geschieden  war.  Der  rein  wissenschaftliche  Charakter,  den 
die  methodologischen  Bestrebungen  der  Philosophie  zu  geben  suchten, 
führte  eine  Entfremdung  gegen  das  religiöse  Leben  herbei,  die  nur 

10* 


148  Hobbes. 

ein  äußerliches  Nebeneinanderbestehen  beider  Mächte  gestatten  zu 
wollen  schien.  Erst  das  Zeitalter  der  Aufklärung  brachte  durch  eine 
neue  Gedankenverschiebung  diese  Probleme  in  eine  andere  Stellung 
zueinander. 

§  22.  Thomas  Hobbes. 

Die  Baconsche  Methode  des  Naturerkennens  ist  nicht  die  voll- 
kommene Methode  der  neueren  Naturwissenschaft:  dazu  fehlt  ihr 
vor  allem  das  mathematische  Element.  Aber  die  eine  Seite  dieser 
Methode,  diejenige  der  systematischen  Beobachtung  und  des  Expe- 
riments, hat  Bacon  in  ihrem  Werte  deutlich  erkannt.  Nach  dieser 
Seite  hin  lag  denn  auch  selbstverständlich  die  Einwirkung,  welche 
er  unmittelbar  auf  die  Gestaltung  des  wissenschaftlichen  Lebens 
ausübte.  Hatte  er  gleich  Schüler  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes 
nicht  gezogen,  so  fielen  doch  die  Anregungen  seiner  Schriften  und 
seines  persönlichen  Verkehrs  vielfach  auf  fruchtbaren  Boden,  und 
die  experimentelle  Forschung  gewann  auch  in  England  immer 
größere  Ausdehnung.  Zu  ihrem  Mittelpunkte  gestaltete  sich  später 
die  im  Jahre  1645  unter  Wilkins  zu  Oxford  gegründete,  darauf  in 
London  fortgesetzte  und  1660  durch  das  königliche  Privilegium 
geschützte  Gesellschaft  der  Wissenschaften. 

Freilich  war  das  XVII.  Jahrhundert  in  seinem  weiteren  Ver- 
laufe den  wissenschaftlichen  Bestrebungen  in  England  weniger 
günstig.  Es  ist  das  Jahrhundert  der  Revolutionen,  dasjenige,  in 
welchem  England  aus  langer  und  stürmischer  Gärung  sich  schließ- 
lich zu  ruhiger  Ausgestaltung  seiner  politischen  Macht  abklärte 
und  sich  zu  dem  ersten  modernen  Staate  entwickelte.  Es  ist  gewiß, 
daß  in  der  englischen  Revolution  alle  großen  Gedanken,  die  man 
gewöhnt  ist  mit  dem  Namen  der  französischen  zu  verknüpfen, 
bereits  ein  Jahrhundert  früher  und  mit  der  ganzen  Markigkeit  ur- 
sprünglicher Jugend  auftreten.  Aber  sie  erstehen  und  erstarken  im 
Kampfe,  in  unmittelbarer  praktischer  Betätigung  an  bestimmten 
Aufgaben  und  Interessen  des  öffentlichen  Lebens,  nicht  aus  gelehrter 
Überlegung,  sondern  aus  dem  inneren  Bedürfnis  des  Volksgeistes 
und  nicht  zum  geringsten  Teil  aus  den  religiösen  Motiven.  Die 
Wissenschaft  ist  keineswegs  eine  Ursache  oder  ein  Herd  dieser 
Ideen;  sie  kann  vielmehr  nur  nachkommen,  aus  der  großen  Wirk- 
lichkeit sie  aufnehmend  und  systematisch  gestaltend.     Aber  auch 


Leben.  149 

dies  wird  ihr  während  der  Kämpfe  selbst  nur  im  beschränkten 
Maße  zuteil.  In  dem  rastlosen  Streite  der  politischen  und  religiösen 
Mächte,  wo  jeder  Augenblick  neue  Verschiebungen  bringt  und  den 
Bestand  der  Verhältnisse  in  Frage  zu  stellen  scheint,  bleibt  nur 
wenig  Raum  für  die  stille  Arbeit  der  Wissenschaft.  Der  große 
Aufschwung  des  englischen  Denkens,  welcher  die  Ideen  des  Auf- 
klärungszeitalters aus  der  Erfahrung  der  englischen  Revolutionen 
herauszog  und  zu  Vorbildern  für  die  gesamte  europäische  Literatur 
gestaltete,  datiert  erst  von  dem  Ende  der  Revolutionen  und  der 
Begründung  der  oranischen  Dynastie.  Bis  dahin  sehen  wir  zwar 
auch  in  England  selbst  die  Naturforschung  hin  und  wieder  bei  be- 
oünstioter  Muße  zu  bedeutenden  Resultaten  führen,  unter  denen 
in  erster  Linie  Harveys  Entdeckung  des  Blutumlaufs  und  die  großen 
chemischen  Leistungen  von  Robert  Boyle  zu  erwähnen  sind.  Allein 
als  ob  man  gefühlt  hätte,  daß  der  schwankende  Zustand  dieses 
Lebens  nicht  der  Boden  dafür  sei,  wenden  sich  Englands  wissenschaft- 
liche Geister  während  dieser  Zeit  gern  nach  Frankreich,  wo  bei  ge- 
sicherteren Zuständen  und  unter  dem  Glänze  einer  alle  übrigen  euro- 
päischen Mächte  überstrahlenden  und  blendenden  Regierung  auch 
die  Wissenschaften  eine  mächtige  Entwicklung  fanden.  Während 
des  XVII.  Jahrhunderts  pflegten  die  Engländer,  die  sich  wesent- 
lich dem  wissenschaftlichen  Leben  ergaben,  ihre  Bildung  sich  in 
Paris  zu  holen  und  im  Verkehr  mit  den  dortigen  Gelehrten,  unter 
denen  ein  überaus  reiches  Leben  herrschte,  ihre  eigenen  Gedanken 
auszubilden.  Der  strenge  Geist  der  Mathematik  und  mit  ihr  im 
Bunde  die  Philosophie  Des  carte  s'  begann  hier  das  Denken  zu 
schulen  und  für  große  Erfolge  glücklich  vorzubilden.  Von  hier 
aus  konnte  am  besten  die  Einseitigkeit  des  Baconschen  Empirismus 
überwunden  und  die  Naturwissenschaft  in  die  Bahnen  geführt 
werden,  auf  welchen  sie  dann  wiederum  ein  Engländer,  Newton, 
zur  Höhe  ihres  Ruhmes  und  ihrer  Erfolge  zu  führen  berufen  war. 
Der  erste  und  bedeutendste  Vertreter  für  dieses  Einströmen  der 
französischen  Gedanken  in  die  englische  Wissenschaft  ist  Thomas 
Hobbes. 

Er  war  der  Sohn  eines  Landgeistlichen  und  im  Jahre  1588  zu 
Malmesbury  geboren.  Nachdem  er  in  Oxford  seine  Bildung  ge- 
nossen hatte,  machte  er  als  Erzieher  Reisen  in  Frankreich  und 
Italien,    wo    er    überall  mit   den  Vertretern  der  neuen  Ideen  in 


150  Hobbes. 

persönlichen  Verkehr  trat.  Nach  seiner  Rückkehr  wurde  er  mit  Lord 
Bacon  bekannt  und  lebte  sich,  wie  man  erzählt,  indem  er  ihn  bei 
der  Übersetzung  seiner  Werke  in  das  Lateinische  unterstützte, 
ganz  in  dessen  Gedanken  ein.  Erst  ein  erneuter  Aufenthalt  in 
Paris  ließ  ihm  den  Wert  der  Mathematik  zu  klarem  Bewußtsein 
kommen,  und  sein  lebhafter  Umgang  mit  Gassendi  wurde  für  seine 
naturwissenschaftliche  Anschauung  entscheidend.  Auch  mit  Mer- 
senne,  dem  vertrauten  Freunde  Descartes',  aber  vermutlich  nicht 
mit  diesem  selbst,  trat  er  in  persönliche  Berührung,  und  es  ist  schwer 
zu  entscheiden,  wieviel  von  diesen  Gedanken,  selbst  wenn  er  sie 
früher  als  Descartes  niederschrieb,  damals  schon  in  dem  Freundes- 
kreise des  letzteren  besprochen  wurden.  Von  dieser  Zeit  an  hat 
Hobbes  bis  zu  seinem  im  Jahre  1679  erfolgten  Tode  abwechselnd 
in  England  und  in  Paris  gelebt.  Aus  der  Heimat  trieben  ihn  immer 
wieder  die  Unruhen  der  Revolution  und  der  Umsturz  der  Verhält- 
nisse, denen  seine  Überzeugung  galt,  zu  den  Kreisen  des  wissen- 
schaftlichen Lebens  zurück,  das  ihm  die  fremde  Hauptstadt 
gewährte.  Und  hier  bildeten  sich  unter  dem  Einflüsse  der  Er- 
fahrungen, die  er  an  dem  öffentlichen  Leben  Englands  gemacht 
hatte,  seine  Gedanken  namentlich  nach  einer  Richtung  hin  aus,  in 
welcher  er  die  von  Bacon  nur  als  Aufgaben  hingeworfenen  An- 
deutungen auszuführen  unternahm.  Der  Blick  der  Baconschen 
Philosophie  war  wesentlich  auf  die  äußere  Natur  gerichtet;  aber 
sie  hatte  doch  schon  die  Aufgabe  gestellt,  auch  das  sittliche  und 
politische  Leben  des  Menschen  unter  dem  Gesichtspunkte  der  natür- 
lichen Kausalität  zu  betrachten  und  den  großen  Zusammenhang 
der  menschlichen  Gesellschaft  aus  den  gesetzlichen  Wirkungen  des 
natürlichen  Mechanismus  zu  begreifen. 

Auch  bei  Hobbes  zeigt  sich  der  von  Bacon  begründete  Naturalis- 
mus in  einer  einseitigen  Ausschließung  aller  religiösen  Fragen  von 
der  philosophischen  Untersuchung.  Von  den  Dogmen  der  Religion 
sagt  er,  man  müsse  sie  zum  Heile  seiner  Seele  ebenso  einnehmen, 
wie  die  Pillen  der  Ärzte  zum  Heile  seines  Leibes,  ganz  und  un- 
zer kaut.  Der  wissenschaftlichen  Zerlegung  ist  nur  die  Erfahrungs- 
erkenntnis zugänglich,  welche  wir  von  der  Natur  haben.  Auch  in 
bezug  auf  den  Zweck  dieser  Erkenntnis  ist  Hobbes  ganz  der  Schüler 
Bacons:  es  ist  ihm  der  praktische  Kulturzweck,  die  Wirkungen  der 
Natur  durch  ihre  Erkenntnis  zu  beherrschen.     Daraus  aber  ent- 


Sensualismus.  151 

wickelt  er  eine  Doppelaufgabe  der  Wissenschaft.  Die  Wirkungen 
der  Natur  kann  man  nur  dann  beherrschen,  wenn  man  aus  den 
bekannten  Ursachen  vorwärts  zu  schließen  vermag  auf  die  Wir- 
kungen, die  unfehlbar  daraus  hervorgehen  werden;  und  dies  ist  nur 
dadurch  möglich,  daß  man  vorher  mit  sorgfältiger  Überlegung  von 
den  Wirkungen,  die  uns  in  der  Erfahrung  entgegentreten,  zurück- 
geschlossen hat  auf  die  Ursachen,  aus  denen  sie  hervorgegangen 
sind.  Alle  Naturbeherrschung  und  Naturerkenntnis  gründet  sich 
somit  auf  die  Einsicht  in  den  kausalen  Zusammenhang  der  Be- 
wegungen der  Körper,  und  dieser  allein  ist  der  Gegenstand  der 
Philosophie  von  Hobbes. 

Die  erkenntnistheoretischen  Untersuchungen  über  die  Möglich- 
keit eines  solchen  Wissens  lassen  nun  Hobbes  zunächst  als  einen 
Vertreter  des  extremen  Nominalismus  und  Sensualismus  er- 
scheinen. Die  allgemeinen  Begriffe  haben  für  ihn  in  keiner  Weise 
die  Bedeutung  realer  Wahrheiten,  sie  sind  nur  Vermittlungen  und 
subjektive  Übergänge  zwischen  den  einzelnen  Erfahrungen,  in  denen 
das  wahre  Wissen  besteht.  Allein  auch  bei  Hobbes  zeigt  sich  die 
früher  schon  erwähnte  Notwendigkeit,  womit  der  Sensualismus 
bei  genauer  erkenntnistheoretischer  Durchführung  in  phänomena- 
listische  Konsequenzen  umschlägt.  Die  Lehre,  daß  alles  Wissen 
von  der  Einwirkung  der  Dinge  auf  unsere  Sinnesorgane  ausgeht, 
erhält  ihre  philosophische  Tragweite  erst  durch  die  daran  sich 
schließende  Überlegung,  daß  diese  Einwirkung  der  Dinge  auf  uns 
etwas  ganz  anderes  ist,  als  die  Dinge  selbst,  daß  wir  keineswegs 
ein  Recht  haben,  sie  als  ein  Abbild  der  Dinge  zu  bezeichnen.  Unsere 
Empfindungen  sind  ein  subjektiver  Vorgang,  durch  äußere  Bewe- 
gungen veranlaßt,  die  wir  damit  gar  nicht  zu  vergleichen  imstande 
sind.  Diese  Lehre  von  der  Subjektivität  der  Sinnesqualitäten  teilt 
Hobbes  mit  den  gesamten  Anfängen  der  naturwissenschaftlich- 
philosophischen  Bewegung  der  Neuzeit.  Wie  Campanella  und 
Galilei,  so  vertreten  sie  auch  Gassendi  und  Descartes,  und  Hobbes, 
der  mit  ihren  Lehren,  zum  Teil  durch  persönliche  Berührung  in  den 
Pariser  Gelehrtenkreisen,  auf  das  genaueste  vertraut  war,  überzeugte 
sich  ebenfalls  früh  davon,  daß  die  naturwissenschaftliche  Erkennt- 
nis die  Reduktion  aller  qualitativen  auf  quantitative  Verhältnisse  zu 
ihrer  Richtschnur  nehmen  müsse.  Von  hier  aus  verstand  er  dann 
auch  den  methodischen  Wert  der  mathematischen  Theorie  und  die 


152  Hobbes. 

neue  Auffassung  der  Kausalität,  wonach  die  Wissenschaft  nur  die 
Aufgabe  hat,  die  Bewegungen  festzustellen,  welche  Ursachen  anderer 
Bewegungen  sind. 

Weiterhin  ist  bei  Hobbes  auch  für  die  Erkenntnislehre  seine 
scharfe  Ausbildung  der  sensualistischen  Psychologie  maß- 
gebend geworden.  Daß  alle  übrigen  geistigen  Vorgänge  lediglich 
Umbildungen  der  Empfindungen  seien,  hat  er  systematisch  und  viel 
schärfer  als  Campanella  durchzuführen  gesucht.  Das  Gedächtnis 
mit  seinem  gesamten  Erfahrungsinhalte  gilt  ihm  nur  als  eine  Wahr- 
nehmung des  Beharrens  der  ursprünglichen  sinnlichen  Wahrnehmun- 
gen, und  zu  den  weiteren  geistigen  Operationen,  meint  er,  wird  der 
Mensch  nur  durch  die  glückliche  Tatsache  befähigt,  daß  er  für  die 
Erinnerung  an  Wahrgenommenes  sprachliche  Zeichen  einerseits  zur 
gegenseitigen  Mitteilung,  anderseits  zur  Kombination  untereinander 
erfunden  hat.  Da  nun  bei  dieser  Erinnerung  einzelne  Spuren  des 
Individuellen  vergessen  werden,  so  erhalten  diese  Wortzeichen  die 
Fähigkeit,  auch  in  anderen  und  von  den  ersten  verschiedenen  Wahr- 
nehmungen wiedererkannt  zu  werden,  und  damit  die  allgemeine 
Bedeutung,  welche  ihnen  im  wissenschaftlichen  Gebrauche  zu- 
kommt. Das  wissenschaftliche  Denken  besteht  deshalb  lediglich 
in  gewissen  Operationen,  die  man  mit  diesen  Wortzeichen  vornimmt. 
Es  ist  ein  Verbinden  und  Trennen,  eine  Art  Addition  und  Sub- 
traktion dieser  Zeichen,  und  der  wirkliche  Vorgang  dieses  Denkens 
ist  deshalb  im  wesentlichen  derselbe,  wie  derjenige  des  Eechnens. 
Hieraus  ergibt  sich  dann  bei  Hobbes  auch  der  Begriff  der  Wahrheit 
für  alle  demonstrativen  Wissenschaften.  Auf  eine  Übereinstim- 
mung des  Denkens  mit  den  Dingen  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  des 
Wortes  muß  verzichtet  werden;  es  kann  sich  nur  darum  handeln, 
daß  das  Denken  wie  das  Bechnen  richtig  ausgeführt  werde,  seine 
eigenen  Gesetze  erfülle  und  jeden  Widerspruch  vermeide.  Wahrheit 
ist  widerspruchsloses  Denken.  Nur  in  der  Übereinstimmung  unserer 
Vorstellungen  untereinander,  nicht  in  ihrer  Übereinstimmung  mit 
den  Dingen  kann  das  Ziel  des  Denkens  und  der  Wissenschaft  ge- 
sucht werden.  Es  ist  genau  wie  beim  Kechnen.  Zahlen  sind  auch 
gegebene  Größen,  die  an  sich  keine  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  ent- 
halten; ihre  Verbindungen  können  wahr  und  falsch  sein,  je  nach- 
dem sie  Widersprüche  enthalten  oder  nicht.  Diese  Auffassung  von 
Hobbes  ist  eine  konsequente  Erneuerung  der  erkenntnistheoretischen 


Materialismus.  153 

Lehren,  die  der  Nominalismus  des  XIV.  Jahrhunderts  in  Verbindung 
mit  der  sog.  terministischen  Logik  aufgestellt  hatte.  Namentlich 
der  Engländer  William  Occam  hatte  diese^Theorie  der  Zeichen  ver- 
treten :  sie  gehörte  zu  den  wirksamsten  Überlieferungen  der  späteren 
Scholastik,  und  wie  Hobbes,  so  hat  später  auch  Locke  in  der  Sprach- 
philosophie und  in  der  Logik  diesen  Standpunkt  der  »Semeiotik« 
eingenommen. 

Unter  den  Grundbegriffen  unserer  Weltauffassung,  die  von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  in  der  »philosophia  prima«  von  Hobbes  be- 
sprochen werden,  fällt  das  Hauptgewicht  auf  diejenigen  von  Raum 
und  Zeit.  Dabei  wird  gezeigt,  daß  die  Wahrnehmungen  einzelner 
räumlicher  und  zeitlicher  Größen  nur  als  Erinnerungsbilder  den 
Anlaß  dazu  geben,  die  Vorstellungen  des  einen,  allgemeinen  Raumes 
und  der  einen,  allgemeinen  Zeit  zu  konstruieren  und  daraus  die 
mathematischen  Gesetze  zu  entwickeln.  Eben  darin  erweist  sich, 
daß  die  mathematische  Theorie  ein  selbständiges  Moment  der 
Naturforschung  neben  der  Erfahrung  bildet.  Weil  wir  den  Raum 
imd  die  Zeit,  weit  über  die  Data  der  Sinne  hinaus,  konstruieren, 
vermögen  wir  von  der  Erfahrung  zu  allgemeinen  theoretischen  Ein- 
sichten fortzuschreiten.  Hierin  liegt  die  Ergänzung,  welche  Hobbes 
von  Galilei  und  Descartes  aus  an  die  Methode  Bacons  heranbringt. 
Auf  der  andern  Seite  aber  folgt  daraus,  daß  die  Wissenschaft  es 
nicht  mit  irgendwelchen  geheimnisvollen  Kräften,  sondern  nur  mit 
dem  zu  tun  hat,  was  im  Räume  ist  und  sich  bewegt,  d.  h.  mit  den 
Körpern.  Nichts  anderes  kann  sie  als  wirklich  betrachten;  der  . 
Raum  ist  für  uns  das  »phantasma  rei  existentis«,  wie  die  Zeit  das 
»phantasma  motus«.  Die  Wissenschaft  kennt  nur  körperliche 
Substanzen.  In  dieser  Hinsicht  kann  man  die  Lehre  von  Hobbes  als 
Materialismus  bezeichnen.  Es  ist  ein  rein  theoretischer  Materia- 
lismus wie  dereinst  bei  Demokrit:  und  wenn  die  für  die  Entwick- 
lung des  modernen  Denkens  so  bedeutsame  Erneuerung  dieser  Lehre 
bei  Hobbes  in  der  wissenschaftlich  klarsten  und  schärfsten  Form 
auftritt,  so  läßt  sie  dabei  zugleich  auch  am  deutlichsten  —  ungleich 
deutlicher  als  z.  B.  bei  Gassendi  —  erkennen,  wie  das  lang  ver- 
gessene und  verdrängte  System  des  großen  Abderiten  seine  neu 
gewonnene  Lebenskraft  dem  Umstände  verdankte,  daß  es  allein  dazu 
geeignet  schien,  mit  der  mathematischen  Theorie  in  Zusammen- 
hang zu  treten. 


»~\  y> 


154  Hobbes. 

Philosophie  ist  Kör  per  lehre:  das  ist  der  schärfste  Ausdruck 
der  von  Hobbes  vertretenen  Überzeugung,  und  von  ihr  aus  gliedert 
sich  auch  sein  System;  denn  die  Körper  sind  teils  natürliche,  teils 
künstliche.  Mit  den  ersteren  hat  es  die  Naturphilosophie  oder  die 
Physik  zu  tun;  unter  den  letzteren  nimmt  das  bei  weitem  größte 
Interesse  der  vollkommenste  der  künstlichen  Körper,  der  Staat,  ein : 
und  zwischen  Naturphilosophie  und  Staatsphilosophie  bildet  das 
natürliche  Zwischenglied  die  Lehre  vom  Menschen,  welcher  der 
vollkommenste  Körper  der  Natur  und  das  Element  des  Staats- 
körpers ist.  So  teilt  sich  die  Philosophie  von  Hobbes  in  drei  Teile : 
Physik,  Anthropologie  und  Staatslehre.  Seine  Werke  erschienen  in 
der  Mitte  des  XVII.  Jahrhunderts  in  rascher  Folge  hintereinander. 
Zuerst  die  »Elementa  philosophiae  de  cive«  (Paris  1642  und  in  er- 
weiterter Gestalt  Amsterdam  1647),  darauf  1650  die  beiden  oben- 
erwähnten frühesten  Schriften,  im  folgenden  Jahre  sein  berühmtes 
Hauptwerk :  »Leviathan  or  the  matter  form  and  authority  of  govern- 
ment «.  Endlich  faßte  er  seine  Lehre  systematisch  in  den  »Elementa 
philosophiae«  zusammen,  deren  erster  Teil  »De  corpore«  1655,  deren 
zweiter  »De  nomine«  1658  herauskam. 

Auf  dem  Gebiete  der  Physik  erkennt  Hobbes  im  Zusammen- 
hange seiner  allgemeinen  methodologischen  Überzeugungen  mit 
voller  Deutlichkeit,  daß  zur  Grundlage  der  neueren  Naturwissen- 
schaft jene  Mechanik  werden  wird,  welche  nichts  anderes  ist,  als 
eine  Anwendung  der  Mathematik  auf  den  Begriff  des  Körpers. 
In  der  Auffassung  der  Materie  lehrt  er,  wie  Descartes,  die  Korpus- 
kulartheorie:  die  Körperwelt  besteht  aus  einfachen  Bestandteilen 
von  bestimmter  Gestalt  und  Größe ;  im  physischen  Zusammenhange 
nicht  mehr  teilbar,  bilden  sie  miteinander  die  Komplexe  der  wahr- 
nehmbaren Körper,  und  alle  Veränderungen,  die  an  diesen  statt- 
finden, sind  aus  der  Mechanik  jener  Korpuskeln  zu  erklären.  Wenn 
deshalb  nach  Feststellung  der  Tatsachen  zunächst  die  analytische 
Methode  eintreten  muß,  um  die  komplizierten  Gebilde  unserer  Er- 
fahrung in  ihre  Elemente  aufzulösen,  so  bedarf  es  zur  vollkomme- 
nen Sicherheit  einer  synthetischen  Methode,  die  von  der  Annahme 
der  Elemente  aus  durch  mathematische  Berechnung  zu  Resultaten 
führt,  die  vom  Experimente  sich  bestätigen  lassen.  So  nimmt 
Hobbes  auch  die  methodischen  Prinzipien  auf,  welche  Galilei  in  der 
Gegenüberstellung  von  resolutiver  und  kompositiver  Methode  ent- 


Anthropologie.  155 

wickelt  hatte,  und  wir  finden  ihn  bereits  auch  als  selbständigen  For- 
scher mitten  in  dem  großen  Zuge  der  neueren  Naturwissenschaft, 
ihre  Prinzipien  klar  durchschauend  und  von  der  Gewißheit  ihrer 
Ergebnisse  fest  überzeugt.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  ein  Mann 
von  diesen  Ansichten  bedingungslos  die  kopernikanische  Lehre 
annahm,  daß  er  sich  den  großen  Entdeckungen  von  Kepler  und 
Galilei  anschloß  und  so  mit  an  dem  Triumphwagen  der  Mechanik 
zog,  den  bald  nach  ihm  Newton  besteigen  sollte. 

Das  Prinzip  der  mechanischen  Kausalität  wird  aber  von  Hobbes 
bereits  auch  auf  die  Auffassung  des  Menschen  übertragen.  Zunächst 
gilt  dies  in  physiologischer  Hinsicht.  Gegen  die  teleologische  Auf- 
fassung und  gegen  die  Annahme  besonderer,,  Lebenskräfte  durch 
Bacon  von  vornherein  eingenommen,  sucht  er  wenigstens  prinzipiell 
den  Gedanken  zu  vertreten,  daß  auch  die  Tätigkeiten  des  Orga- 
nismus nur  eine,  wenn  auch  überaus  feine  und  dunkle  Komplikation 
von  mechanischen  Bewegungen  der  Korpuskeln  seien,  und  Harveys 
bedeutende  Entdeckung  über  den  Mechanismus  des  Blutumlaufs 
gilt  ihm  mit  Kecht  als  eine  großartige  Bestätigung  dieser  seiner  An- 
nahme. Der  konsequente  Materialismus  von  Hobbes  dehnt  dies 
Prinzip  natürlich  von  dem  physischen  sogleich  auch  auf  den  psychi- 
schen Organismus  aus,  und  seine  Lehre  ist  der  Ursprung  jener  ma- 
terialistischen und  mechanistischen  Psychologie,  welche 
im  XVIII.  Jahrhundert  von  den  Engländern  mit  besonderer  Energie 
ausgebidet  worden  ist.  Überzeugt,  daß  auch  die  geistigen  Tätig- 
keiten nur  in  feinen  Körperbewegungen  bestehen,  stellt  er  der 
Psychologie  die  Aufgabe,  die  Gesetze  zu  erforschen,  nach  denen 
die  Veränderungen  des  psychischen  Lebens  sich  vollziehen.  Zwei 
Systeme  sind  es,  in  welche  sich  ihm  das  ganze  Forschungsgebiet  der 
Psychologie  einteilt:  das  theoretische  System,  das,  von  der 
Empfindung  anhebend,  in  der  Aktivität  des  rechnenden  Denkens 
seine  Vollendung  findet,  und  das  praktische  System,  welches,  auf 
den  Zuständen  des  Begehrens  und  Fliehens  beruhend,  die  ganze 
Welt  unserer  Willensbetätigung  umfaßt  und  überall  unter  der 
Herrschaft  der  Vorstellungen  steht.  Es  ist  dabei  bezeichnend  für  die 
gesamte  psychologische  Auffassung  im  XVII.  und  XVIII.  Jahr- 
hundert, daß  schon  bei  Hobbes  das  theoretische  Leben  als  das 
aktivere  und  deshalb  relativ  freie,  das  praktische  dagegen  als  das 
passivere  und  durchgängig  von  dem  ersteren  abhängige  aufgefaßt 


156  Hobbes. 

wird.  In  dem  Überwiegen  des  Denkens  über  den  Willen 
besteht  einer  der  Grnndzüge  dieses  Zeitalters,  und  in  allen  seinen 
großen  Philosophien  —  bei  Hobbes,  Descartes,  Spinoza,  Locke, 
Hume,  Leibniz  —  tritt  dieser  Grundzug  als  psychologische  Theorie 
hervor.  Die  notwendige  Konsequenz  davon  ist  in  bezug  auf  die 
Auffassung  der  Willenstätigkeit  die  deterministische  Neigung, 
welche  gleichfalls  durch  beide  Jahrhunderte  hindurchgeht.  Auch 
für  sie  darf  schon  Hobbes  als  typischer  Vertreter  gelten.  Ihm  sind 
die  Willensentscheidungen  des  Menschen  nicht  ein  selbständiges 
Handeln,  sondern  ein  passives  Bewegtwerden,  und  seine  Schrift 
über:  »Freiheit,  Notwendigkeit  und  Zufall«  (London  1656)  geht  auf 
eine  prinzipielle  Leugnung  der  Willensfreiheit  im  gewöhnlichen  Sinne 
des  Wortes  hinaus. 

Als  das  einfache  Element  des  Willenslebens,  woraus  durch 
Umbildung  und  Besonderung  alle  affektiven  Prozesse  der  Seele 
begreiflich  gemacht  werden  sollen,  betrachtet  Hobbes  den  Selbst- 
erhaltungstrieb. Alle  einzelnen,  auf  die  verschiedenen  Gegen- 
stände gerichteten  Arten  des  Willens  sind  nur  die  durch  die 
Vorstellung  dieser  Gegenstände  bestimmten  und  spezifizierten 
Äußerungen  des  Selbsterhaltungstriebes.  Der  Mensch  will,  wie  jedes 
andere  Wesen,  im  Grunde  nie  etwas  anderes  als  die  Erhaltung  und 
Förderung  seiner  eigenen  Existenz :  alles,  was  er  sonst  im  einzelnen 
will,  ist  nur  Mittel,  mehr  oder  minder  verfeinertes  oder  vermitteltes 
Mittel  zu  diesem  einzigen  an  sich  wertvollen  Zweck.  Daher  sind 
nach  Hobbes  auch  die  sog.  moralischen,  die  altruistischen,  d.  h. 
auf  das  Wohl  der  Nebenmenschen  gerichteten  Neigungen  nicht 
ursprünglich,  sondern  nur  durch  Einsicht  und  Gewöhnung  hervor- 
gerufene Außerungs weisen  des  Egoismus.  In  der  Mechanik  der 
Begehrungen,,  welche  Hobbes  als  die  wissenschaftliche  Theorie  der 
Moral  vorträgt,  ist  der  Selbsterhaltungstrieb  die  einzige  Grundkraft. 
Danach  gibt  es  vom  Standpunkt  des  Individuums  aus  keine  Wert- 
unterschiede zwischen  den  einzelnen  Begehrungen:  alle  sind  gleich- 
mäßig naturnotwendige  Beta tigungs weisen  des  Egoismus.  Nur  in 
der  Gesellschaft  wird  nach  dem  Gesamtinteresse  Gutes'  und' Böses 
voneinander  in  dem  Sinne  unterschieden,  daß  die  der  Gesellschaft 
nützliche  Form  des  Egoismus  gut,  die  schädliche  böse'genannt  wird. 

Die  Gegner  haben  diese  ethische  Mechanik  des  Selbsterhaltungs- 
triebes als    »selfish   System«  bezeichnet   und  bekämpft.     Hobbes 


Staatsielire.  157 

glaubt  daraus  auch  das  gesamte  gesellige  und  geschichtliche  Leben 
des  Menschen  demonstrieren  zu  können.  Im  Naturzustande 
waltet  der  egoistische  Grundtrieb  der  Selbsterhaltung  rücksichtslos 
und  allbeherrschend.  Von  ihm  beseelt,  muß  jeder  Mensch  alle 
übrigen,  welche  neben  ihm  auf  dem  spärlichen  Felde,  das  die  Natur 
bietet,  existieren  wollen,  als  seine  natürlichen  Feinde  ansehen  und 
bekämpfen.  Für  diese  Auffassung  des  natürlichen  Zustandes  hat 
Hobbes  das  Schlagwort,  mit  dem  er  in  neuerer  Zeit  auch  von  Eng- 
land aus  bezeichnet  worden  ist,  dasjenige  des  Kampfes  ums  Dasein^ 
nicht  gefunden:  er  nennt  ihn  das^bellum  omnium  contra  omnes.' 
Aber  seine  Lehre  darf  als  der  erste  und  schärfste  Ausdruck  einer 
Betrachtungsweise  angesehen  werden,  die  in  sichtbarer  Abhängig- 
keit von  ihm  die  englischen  Nationalökonomen  auf  den  Zustand 
der  Gesellschaft  angewendet,  und  welche  zuletzt  die  englischen 
Naturforscher  auf  die  Erklärung  des  gesamten  organischen  Lebens 
ausgedehnt  haben. 

Aus  diesem  Naturzustande  des  Kampfes  aller  gegen  alle  gibt 
es  nur  eine  Rettung  —  durch  den  JStaat.  Auch  dieser  ist  für 
Hobbes  ein  atomistischer  Mechanismus;  seine  Elemente  sind  die 
Menschen,  von  denen  jeder  das  Recht  seiner  Selbstsucht  geltend 
zu  machen  sucht,  und  der  Staat  selbst  ist  nur  das  System,  in  wel- 
chem die  Mächte  des  menschlichen  Egoismus  sich  gegenseitig  stützen 
und  tragen  und,  um  alle  nebeneinander  bestehen  zu  können,  auch 
sich  einander  hemmen.  Von  ihm  muß  es,  da  er  ein  künstlicher 
Körper  und,  wie  Hobbes  meint,  ein  Produkt  der  freien  Überlegung 
des  Menschen  ist,  eine  vollkommen  demonstrierende  Wissenschaft 
nach  synthetischer  Methode  geben.  Das  Motiv  zur  Überwindung 
des  natürlichen  Kriegszustandes  ist  das  Friedensbedürfnis  und  die 
Furcht:  hieraus  erwächst  der ^esellschaf tsvertrag,  durch  den  die 
vernünftige  Lebensgemeinschaft  der  Individuen  erst  begründet  sein 
soll.  Für  die  Ordnung  des  sozialen  Lebens  kommt  dann  der  Herr- 
schafts- oder  Subjektions  vertrag'  hinzu,  auf  dem  der  Staat  beruht. 
Um  des  gesellschaftlichen  Friedens  willen,  in  der  Furcht  vor  der 
Gefährdung  ihres  Lebens  und  Eigentums  haben  die  Individuen 
alle  ihre  Macht  und  damit  ihr  Recht  auf  den  Staat  übertragen:  er 
ist  der  alles  verschlingende  "Le via tham  Darum  meint  nun  Hobbes, 
daß  der  Staat  diesen  seinen  Zweck  am  besten  durch  die  Konzen- 
tration aller  Macht  und  alles  Rechtes  in  einer  einzigen  Persönlichkeit 


158  Hobbcs. 

zu  erfüllen  imstande  sei,  und  seine  Staatstheorie  ist  eine  schroffe 
Durchbildung  des  ab  so  1  utistischenPrinzips,  eine  philosophische 
Kechtfertigung  jenes  »l'Etat  c'est  moi«,  welches  bald  darauf  der  Ab- 
solutismus in  der  Selbstverblendung  glänzender  Erfolge  aussprechen 
konnte.  Man  kann  sich  des  Eindrucks  nicht  erwehren,  daß  diese 
Wendung  der  Staatslehre  von  Hobbes  wesentlich  durch  die  Er- 
fahrungen bedingt  war,  welche  die  politischen  Schicksale  seines 
Vaterlandes  ihm  aufzwangen.  Mochte  er  doch  in  der  Anarchie 
der  Revolution  eine  Rückkehr  zu  dem  Naturzustande  des  ^bellum 
omnium  contra  omnes> erblicken  und  um  so  mehr  die  Staatsordnung 
mit  dem  absoluten  Herrschertum  verwechseln,  gegen  das  jene 
sich  kehrte.  Aber  diese  seine  Verteidigung  des  Königtums  geht 
nur  von  dem  Gesichtspunkte  aus,  daß  es  die  beste  Form  des  Herr- 
schaf tsver  träges  sei.  Auch  Hugo  Grotius  hatte  ja  schon,  gleichfalls 
nicht  ohne  Hinblick  auf  die  Gefahren  republikanischer  Zustände, 
die  Ausstattung  der  Obrigkeit  mit  möglichst  großer  Gewalt  verlangt, 
und  ähnlich  ist  für  Hobbes  das  absolute  Königtum  die  richtigste 
Lösung  des  sozialen  Problems.  Gegen  jede  andere  Begründung  der 
königlichen  Macht  tritt  er  jedoch  um  so  schärfer  auf,  und  nament- 
lich das  »Königtum  von  Gottes  Gnaden«,  wie  es  später  von  Filmer 
verteidigt  wurde,  ist  ihm  ein  Dorn  im  Auge.  Der  Staats  vertrag 
ist  eine  rein  menschliche  Erfindung  und  von  religiösen  Vorstellungen, 
wie  Hobbes  meint,  so  vollkommen  unabhängig,  daß  man  nichts 
Törichteres  tun  kann,  als  die  Staatsgewalt  auf  einen  Akt  der  gött- 
lichen Gnade  gründen.  Auf  diese  Weise  trat  Hobbes  anderseits 
dem  hierarchisch  gefärbten  Königtum  so  heftig  entgegen,  daß 
Cromwell  ihm  sogar  einmal  das  Staatssekretariat  der  Republik 
anbot.  Doch  würde  er  bei  seiner  konsequenten  Bekämpfung  der 
Demokratie  in  dieser  Stelle  eine  eigentümliche  Rolle  haben  spielen 
müssen. 

Überhaupt  nimmt  Hobbes  zwischen  oder,  wenn  man  will,  über 
den  Parteien  seiner  Zeit  eine  eigentümliche  Stellung  ein.  Die 
beiden  großen  Gegensätze,  der  JRoyalismus  und  der  puritanische 
Republikanismus,  hatten  eine  je  nach  den  Umständen  mehr  oder 
minder  stark  hervortretende  religiöse  Färbung.  Die  Theorien,  mit 
denen  man  sich  gegenseitig  bekämpfte,  suchten  die  Staatsverfassung 
durch  bestimmte  religiöse  Vorstellungen  zu  begründen.  Dies  war  der 
Punkt,   den  Hobbes  in  beiden  gleichmäßig  bekämpfte,  dies  der 


StaatelrircheDtum.  159 

Grund,  weshalb  er  das  Königtum  von  Gottes  Gnaden  ebenso  an- 
griff, wie  die  Cromwellschc  Republik.  Und  im  Gegensatze  zu 
dieser  Verquickung  politischer  Interessen  mit  religiösen  Parteiungen 
wurde  Hobbes  durch  seine  naturalistische  Theorie,  die  im  Staate 
nur  die  große  Maschinerie  des  menschlichen  Egoismus  sah,  zu  einer 
Art  von  Fanatismus  des  Staatsgedankens  getrieben:  der^Leviathan^ 
verschlang  in  seiner  Auffassung  nicht  nur  alle  Rechte  des  Indivi- 
duums, sondern  auch  alle  übrigen  Interessen  der  Kultur.  Hobbes  ist 
der  rücksichtslose  Vertreter  der  staatlichen  Omnipotenz,  und 
es  zeigt  sich  dies  am  klarsten  in  seinen  kirchenpolitischen  An- 
sichten. Es  gibt  für  ihn  nur  eine  einzige  Grenze  der  Unterordnung 
des  Individuums  unter  den  Staatswillen:  das  ist  die  Selbsttötung. 
Denn  da  der  Staat  der  Vertragstheorie  zufolge  nur  das  freigewählte 
Mittel  für  die  Selbsterhaltung  seiner  Bürger  ist,  so  wäre  es  ein 
Widerspruch,  wenn  er  sie  zu  direkter  Selbst  Vernichtung  zu  zwingen 
berechtigt  sein  dürfte.  Es  ist  charakteristisch  für  Hobbes,  daß 
er  diesen  Gedanken  auf  die  moralische  Selbsttötung,  auf  die  Ver- 
nichtung der  persönlichen  Überzeugung  nicht  ausdehnt;  er  be- 
trachtet vielmehr  gerade  die  Privatmeinungen  als  die  schlimmsten 
Feinde  des  Staates  und  behauptet,  daß  sie  unbedingt  unterworfen 
werden  müssen.  Zu  diesen <Privatmeinungen>  rechnet  er  in  erster 
Linie  die  Religion.  Jede  innerliche  Wertschätzung  des  religiösen 
Lebens  hat  in  der  Theorie  von  Hobbes  aufgehört,  er  betrachtet  die 
Religion  nur  in  der  vom  Staate  festgestellten  Form  der  Kirche  als 
zu  Recht  bestehend.  Durch  die  Sanktion  des  Staates  wird  der  Aber- 
glaube —  gleichgültig  welchen  Inhaltes  —  zur  Religion,  und  der 
Wille  der  staatlichen  Macht  ist  somit  die  einzige  Quelle  religiöser 
Überzeugung  für  den  guten  Bürger.  Ist  der  Souverän  Christ,  so 
wird  dadurch  eo  ipso  der  Staat  christlich,  und  das  Christentum  ist 
darin  die  einzig  anzuerkennende  Religion.  Man  sieht,  Hobbes  steht 
der  Toleranz  sehr  fern,  und  seine  Lehre  ist  ein  überaus  interessanter 
Beleg  dafür,  wie  gerade  der  absolute  Indifferentismus,  weit 
entfernt  eine  notwendige  Quelle  der  Toleranz  zu  sein,  zu  vollkommen 
despotischen  Konsequenzen  führen  kann.  Doch  müssen  wir  auch 
diese  Lehre  aus  ihrer  Zeit  begreifen ;  sie  ist  im  Grunde  genommen  nur 
ein  Kontrast  zu  jenen  anarchischen  Wirkungen,  welche  der  religiöse 
Fanatismus,  besonders  der  Puritaner,  in  der  englischen  Revolution 
entfaltete,  und  Hobbes  sah  nicht  ohne  Berechtigung  in  dem  Starr- 


l 


160  Hobbes. 

sinn  religiöser  Überzeugungen  eine  die  Ordnung  des  Staates  be- 
drohende Macht;  seine  Auffassung  ist  auf  der  anderen  Seite  nur  ein 
Keflex  des  in  den  politisch-religiösen  Kämpfen  jener  Zeit  zur  Ge- 
wohnheit gewordenen  Vorganges,  den  man  in  die  Worte:  »cuius 
regio,  illius  religio  «  zusammengefaßt  und  der  im  westfälischen  Frieden 
eine  Art  von  völkerrechtlicher  Sanktion  erhalten  hatte.  Das  Prinzip 
des  Staatskirchentums,  das  die  gesamte  Entwicklung  der  re- 
formatorischen Kämpfe  beherrschte,  hat  bei  Hobbes  seine  scharfe 
Präzisierung  gefunden.  Er  verlangt  bis  zu  äußerster  Intoleranz,  daß 
der  Staat  den  Gehorsam  für  die  von  ihm  angenommene  Religion 
in  ganzer  Ausdehnung  erzwinge ;  aber  er  stellt  dafür  die  Bedingung, 
daß  diese  Religion  vollständig  von  dem  Willen  der  Staatsgewalt 
abhängig  sei.  Sie  muß  wissen,  welche  Art  des  Glaubens  für  die 
Aufrechterhaltung  der  gesetzlichen  Ordnung  bei  ihren  Untertanen 
die  heilsamste  ist.  Am  verderblichsten  ist  es,  wenn  kirchliche 
Kräfte  unabhängig  vom  Staat  neben  und  in  ihm  weltliche  Macht 
ausüben  wollen;  dann  ist  die  Kirche  revolutionär  und  muß  als 
solche  bis  zur  Vernichtung  bekämpft  werden. 


Das  System  von  Hobbes  zeigt  in  seinem  metaphysischen  und 
seinem  staatsphilosophischen  Teile  die  gleiche  Einseitigkeit  eines 
bis  zu  den  äußersten  Grenzen  rücksichtslos  vorgehenden  Naturalis- 
mus, und  es  war  selbstverständlich,  daß  es  aus  diesem  Grunde 
von  den  verschiedensten  Seiten  her  lebhaft  bekämpft  wurde  — 
lebhafter  als  das  Baconsche,  das  zwar  vermöge  seiner  erkenntnis- 
theoretischen Grundlage  den  wahren  Ursprung  dieser  Richtung  in 
sich  trug,  das  jedoch  seine  Gedanken  nicht  so  scharf  geschliffen 
und  so  energisch  zugespitzt  hatte,  wie  es  bei  Hobbes  geschah.  Daß 
alle  Anhänger  der  alten  Lehren  und  alle  Vertreter  der  offiziellen 
Philosophie  sich  gegen  Hobbes  erklärten,  braucht  kaum  erwähnt  zu 
werden:  unter  den  übrigen  Gegnern  ist  besonders  bemerkenswert 
die  große  Anzahl  von  platonisierenden  Denkern,  welche  Eng- 
land im  XVII.  Jahrhundert  hervorbrachte.  Sie  entstammen  der 
Mehrzahl  nach  der  Hochschule  von  Cambridge,  an  der  die  huma- 
nistischen Traditionen  der  italienischen  Renaissance  mit  Liebe  ge- 
pflegt wurden.  Doch  fehlt  es  ihnen  wesentlich  an  Originalität,  und 
die  Waffen,  mit  denen  sie  den  Naturalismus  bekämpfen,  sind  aus  den 


Cambridger  Schule.  161 

Küstkammern  der  stoischen  oder  neuplatonischen  Naturphilosophie 
und  der  phantastischen  Bestrebungen  der  italienischen  und  der 
deutschen  Renaissance  entlehnt.  Der  hauptsächlichste  Angriffs- 
punkt ist  dabei  die  ausschließliche  Geltung  der  mechanischen  Kausa- 
lität, welche  Bacon  und  Hobbes  für  die  neue  Naturwissenschaft 
und  namentlich  auch  für  die  Untersuchung  der  philosophischen, 
ethischen  und  sozialen  Probleme  in  Anspruch  genommen  hatten. 
Ihr  gegenüber  wird  mit  allen  Mitteln  die  Geltung  der  Finalität 
verteidigt,  und  wenn  man  besonders  die  Lehre  von  Hobbes  als 
materialistischen  Atheismus  bekämpft,  so  stellt  man  ihr  den  teleo- 
logischen Beweis  für  das  Dasein  Gottes  entgegen.  In  dieser  Weise 
vereinigte  Ralph  Cudworth  (1617 — 1688),  der  bedeutendste  Ver- 
treter der  Cambridger  Schule,  in  seinem  True  intellectual  System  of 
the  universe  (London  1678)  neuplatonische  Gedanken  mit  dem 
Systeme  von  Paracelsus;  in  gleicher  Weise  polemisierte  Samuel 
Parker  (Bischof  von  Oxford,  f  1688)  nicht  nur  gegen  Hobbes, 
sondern  auch  gegen  Descartes  durch  Berufung  teils  auf  die  Lehren 
des  Glaubens,  teils  auf  die  Zweckmäßigkeit  des  Universums,  und 
seine  Schrift:  »Tentamina  physicotheologica  de  deo«  (London  1669) 
wendet  zum  erstenmal  in  der  Literatur  den  später  geläufig  ge- 
wordenen Ausdruck  »Physicotheologie«  für  die  auf  die  Gottes- 
erkenntnis hinzielende  teleologische  Naturbetrachtung  an.  Ähn- 
liche Gedanken  vermischten  sich  bei  Henry  Mpre  (1614 — 1687), 
der  sich  hauptsächlich  an  Ficinus  anschloß  und  eine  interessante 
Korrespondenz  mit  Descartes  führte,  auch  mit  kabbalistischen 
Spekulationen,  und  in  gleicher  Richtung  lehrten  Theophilus  und 
sein  Sohn  Thomas  jGale.  Daß  endlich  auch  die  Mystik  Jakob 
Böhmes  in  England  um  diese  Zeit  ihre  Anhänger  fand,  wurde  schon 
früher  erwähnt.  Weitere  und  energischere  Gegner  aber  fand  die 
Lehi3  von  Hobbes  namentlich  von  der  moralischen  und  religiösen 
Seite  in  denjenigen  Männern,  durch  deren  Lehren  sich  schon  um 
diese  Zeit  die  Überzeugungen  des  englischen  Aufklärungszeitalters 
vorbereiteten.  Für  den  großen  Gang  der  englischen  Philosophie 
wurde  bald  nach  Hobbes  das  halb  gegensätzliche,  halb  aufnehmende 
Verhältnis  zu  der  inzwischen  in  Frankreich  und  den  Niederlanden 
vollzogenen  Ausbildung  des  Rationalismus  so  entscheidend,  daß  sie 
ohne  die  Kenntnis  davon  nicht  zu  verstehen  ist. 


Windelband,   Gesch.  d.  n.  Pliilos.   I.  11 


162  Rationalismus  in  Frankreich. 

IV.  Kapitel. 
Der  Rationalismus  in  Frankreich  und  den  Niederlanden. 

Dem  von  Bacon  begründeten  Empirismus  steht  in  der  wissen- 
schaftlichen Entwicklung  der  modernen  Philosophie  der  Kationalis- 
mus gegenüber,  dessen  Vater  Descartes  ist.     Beide  bilden  den 
großen  Gegensatz,  innerhalb  dessen  sich  die  philosophischen  Kämpfe 
des  XVIII.   Jahrhunderts    abspielten,   bis  Kant  die  daraus  ent- 
sprungenen Probleme  unter  das  Licht  eines  neuen  Prinzips  stellte. 
Beide  legen  den  Schwerpunkt  ihrer  Forschungen  auf  die  Entwicklung 
einer  neuen  Methode  des  Denkens:  aber  die  Ausgangspunkte  und 
infolgedessen  die  Richtungen  dieser  beiden  neuen  Methoden  sind 
diametral   einander   entgegengesetzt.     Bacon  wollte  die  moderne 
Wissenschaft  auf  die  ursprüngliche  Wahrheit  gründen,  welche  in 
den  einzelnen  Erfahrungen  des  Menschen  enthalten  ist;  er  lehrte 
das  Denken  von  seiner  Peripherie  aus  zu  beginnen.     Descartes, 
auf  den  einheitlichen  Charakter  aller  Wissenschaft  reflektierend,  wies 
darauf  hin,  daß  der  Ausgangspunkt  des  Denkens  in  seinem  Zen- 
trum liegen  müsse,  und  er  fand  dieses  Zentrum  in  dem  Selbst- 
bewußtsein  der  Vernunft.     Diese  Verschiedenheit  des  Ausgangs- 
punktes bedingt  eine  gleiche  Verschiedenheit  des  Fortganges.    Die 
Baconsche  Methode  ging  im  Prinzip  von  der  Peripherie  in  das 
Zentrum,  sie  stieg  von  den  zerstreuten  einzelnen  Tatsachen  der  Er- 
fahrung zu  allgemeineren  Sätzen  auf,  um  sich  mit  langsamer  An- 
näherung zu  einer  universalen  Erkenntnis  zu  erheben.     Descartes, 
im  selbstbewußten  Mittelpunkt  des  Denkens  Fuß  fassend,  suchte 
von  da  aus  die  Erkenntnis  mit  systematischer  Allseitigkeit  auf  den 
gesamten  Kreis  des  Universums  ausstrahlen  zu  lassen  und  wollte 
nichts  als  Wissen  anerkennen,  was  nicht  seine  Herkunft  aus  jenem 
Mittelpunkte  aufweisen  könne.    So  steht  der  induktiven  die  deduk- 
tive, der  empiristischen  die  rationalistische  Methode  gegenüber. 

Die  besondere  Gestalt  aber,  welche  diese  deduktive  Philosophie 
annahm,  ist  teils  durch  den  auch  ihr  eigenen  Gegensatz  gegen  die 
Scholastik,  teils  durch  das  besondere  Genie  ihres  Urhebers  bedingt. 
Auch  die  Scholastik  hatte  eine  deduktive  Methode  besessen,  und 
wenn  man  nur  an  den  Gegensatz  des  Induktiven  und  des  Deduk- 
tiven sich  halten  und  diesen  für  den  wichtigsten  erklären  wollte, 
so  müßte  man  eingestehen,  daß  der  Bruch  mit  der  mittelalterlichen 


Deduktive  Methode.  163 

Philosophie  bei  Bacon  gründlicher  ist  als  bei  Descartes.  Der  erstere 
hat  in  der  Tat  gar  nichts  mit  der  Scholastik  gemein,  der  letztere 
teilt  mit  ihr  die  Forderung  einer  von  der  Erfahrung  unabhängigen 
Vernunfterkenntnis.  Aber  auf  der  anderen  Seite  teilt  Descartes 
mit  Bacon,  wie  mit  allen  Richtungen  des  modernen  Denkens,  die 
Überzeugung  von  der  Unfruchtbarkeit  der  scholastischen  Methode 
des  Syllogismus,  und  er  bekämpft  sie  bis  zu  fast  wörtlicher  Über- 
einstimmung mit  dem  englischen  Denker. 

Aus  diesen  Gegensätzen  und  Übereinstimmungen  ergibt  sich  die 
Aufgabe,  durch  deren  Lösung  Descartes  der  Begründer  der  rationa- 
listischen Philosophie  wurde.  Die  Philosophie  ist  bei  ihm  keine 
Erfahrungswissenschaft,  wie  sie  bei  Bacon  erscheint,  sondern  eine 
Vernunftwissenschaft.  Ihre  Methode  muß  deduktiv  sein.  Aber  die 
deduktive  Methode  des  scholastischen  Syllogismus  darf  es  auch 
nicht  sein.  Es  handelt  sich  also  um  die  Begründung  einer  neuen 
Methode  der  philosophischen  Deduktion,  die  nicht  syllo- 
gistischer  Natur  ist,  und  diese  Aufgabe  löst  Descartes  im  Hinblick 
auf  eine  Wissenschaft,  in  der  er  selbst  Meister  war,  und  welche 
von  der  Unzulänglichkeit  der  Empirie  und  der  Unfruchtbarkeit  des 
Syllogismus  gleich  weit  entfernt  ist  —  die  Mathematik.  Die  Ge- 
burtsstätte der  Baconschen  Philosophie  ist  das  Laboratorium  des 
physikalischen  Experiments,  die  rationalistische  Philosophie  ent- 
springt in  dem  Kopfe  eines  einsam  grübelnden  Mathematikers. 

§  23.   Frankreich  nach  der  Reformation. 

Doch  sind  es  nicht  nur  persönliche  Neigung  und  persönliche  Er- 
fahrung, welche  Descartes  dazu  geführt  haben,  in  der  Mathematik 
das  Heil  der  Philosophie  zu  suchen,  sondern  es  spricht  sich  darin 
das  gesamte  Geschick  der  französischen  Wissenschaft  im  Beginne 
der  neueren  Zeit  aus. 

Die  Wirkungen  der  reformatorischen  Bewegung  waren  in  Frank- 
reich zwar  nicht  minder  unruhevoll,  aber  doch  ganz  andersartig 
gewesen  als  in  Deutschland.  Die  Reformation  hatte  hier  nicht 
eine  solche  staatliche  Zerstückelung  wie  in  dem  seiner  Auflösung 
entgegengehenden  deutschen  Reiche,  sondern  umgekehrt  eine  scharfe 
Konzentration  der  königlichen  Macht  vorgefunden.  Frankreich  war 
schon  damals  das  Reich  des  Absolutismus,  und  die  neue  Lehre 
wurde  hier  nicht  sowohl  in  den  eifersüchtigen  Streit  kleiner  Souveräne, 

11* 


164  Augustinismus. 

als  vielmehr  in  die  Kabalen  eines  aufgeregten  Hoflebens  hinein- 
gezogen. Sie  wurde  zu  einem  Mittel,  welches  die  verschiedenen 
Hofparteien  in  den  wechselnden  politischen  Konstellationen  gegen- 
einander ausspielten,  und  das  man  wieder  fallen  ließ,  wenn  es  darin 
seinen  Zweck  erfüllt  hatte.  So  ist  es  gekommen,  daß  der  Prote- 
stantismus sich  schließlich  in  Frankreich  nicht  die  politische  Macht 
erwerben  konnte,  die  er  in  Deutschland  errang. 

Gleichwohl  hatte  er  sich  der  religionsbedürftigen  Schichten  des 
Volkes  auch  hier  verhältnismäßig  schnell  bemächtigt,  und  schon 
die  deutsche  und  die  schweizerische  Reformation  hatten  in  Frankreich 
lebhafte  Nachwirkungen  hervorgerufen.  Zu  voller,  nachhaltiger 
Kraft  aber  gelangte  die  neue  Lehre  hier  erst  durch  Calvin.  Es 
kann  kein  Zweifel  darüber  obwalten,  daß  dieser  unter  den  Re- 
formatoren der  wissenschaftlich  und  namentlich  philosophisch  be- 
deutendste war,  derjenige,  welcher  in  der  Begründung  und  Darstellung 
der  neuen  Lehre  am  meisten  Folgerichtigkeit  und  durchdringende 
Energie  bezeigte,  und  daß  er  nach  dieser  Richtung  hin  Luther  und 
Melanchthon  ebenso  weit  überragte  wie  Zwingli.  Es  ist  nicht  un- 
wichtig, darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  seine  gesamte  Auf- 
fassung des  Christentums  und  speziell  der  großen  Fragen  der  Willens- 
freiheit, der  Sünde,  der  Erlösung  und  der  Gnade  von  keiner  Lehre 
so  sehr  beeinflußt  ist,  wie  von  derjenigen  des  Augustin.  Es  ist 
überhaupt  von  hohem  geschichtlichen  Interesse,  zu  verfolgen,  wel- 
chen weitgehenden  Einfluß  dieser  größte  der  Kirchenväter  während 
des  XVI.  und  bis  in  das  XVII.  Jahrhundert  hinein  auf  die  fran- 
zösischen Denker  ausgeübt  hat.  Er  war  damals  unter  den  französi- 
schen Philosophen  ein  bevorzugter  Gegenstand  des  Studiums.  Die 
(früher  erwähnten)  orthodoxen  Skeptiker  reproduzieren  die  An- 
griffe auf  die  Vernunfterkenntnis  wesentlich  in  einer  an  Augustin 
erinnernden  Weise  und  mit  einer  aus  seinen  Schriften  (wie  allerdings 
auch  aus  der  lateinischen  Popularphilosophie,  speziell  aus  Cicero) 
entnommenen  Hinneigung  zu  der  mittleren  Akademie ;  der  Calvinis- 
mus ist  in  seiner  Ethik  und  Dogmatik  eine  konsequente  Durch- 
führung augustinischer  Prinzipien;  selbst  die  Lehre  Descartes'  vom 
Selbstbewußtsein  als  dem  einzigen  Grunde  aller  sicheren  Erkenntnis 
und  besonders  seine  Verschmelzung  des  Selbstbewußtseins  mit  dem 
Gottesbewußtsein  kann  man  der  Hauptsache  nach  in  dem  System 
Augustins  wiederfinden;  ferner  ist  es  bekannt,  wie  einerseits  die 


Politische  Verhältnisse.  165 

Kongregation  des  Oratoriums,  anderseits  die  Jansenisten  von  Port- 
Royal  sich  die  Wiederherstellung  der  Lehre  Augustins  zur  Aufgabe 
machten;  und  in  Malebranche  endlich,  welcher  den  Schlußpunkt 
der  Entwicklung  des  französischen  Cartesianismus  bildet,  wurde  der 
Gedanke  Descartes'  wieder  ganz  auf  die  augustinische  Formel  zurück- 
geführt. Bei  Calvin  trat  zu  dem  Augustinismus  noch  jener  persön- 
liche Zug  rigoristischer  Strenge  und  fanatischer  Askese  hinzu,  der 
später  in  den  englischen  Puritanern  seine  größte  historische  Ent- 
faltung finden  sollte:  er  ist  deshalb  zugleich  die  ernsteste  und 
düsterste  Gestalt  unter  den  Reformatoren,  und  zu  diesen  tragischen 
Elementen  gesellt  sich  noch  der  Eindruck  der  Verfolgungen,  die  er 
und  seine  Lehre  in  seinem  Vaterlande  erlitten,  und  der  geringen 
Ausdehnung  des  äußeren  Erfolges,  den  die  Reformation  in  Frank- 
reich errungen  hat,  während  die  große  weltgeschichtliche  Wirkung 
des  Calvinismus  erst  nach  dem  Tode  des  großen  Organisators  in  der 
anglo-amerikanischen  Welt  sich  abgespielt  hat. 

Gleich  gering  ist  aus  verwandten  Gründen  der  Einfluß,  den  die 
Reformation  auf  die  Entwicklung  der  französischen  Wissenschaft 
hatte.  Schon  lange  vorher  war,  wie  das  politische,  so  auch  das 
geistige  Leben  Frankreichs  am  königlichen  Hofe  konzentriert  worden 
und  hatte  sich  daran  gewöhnt,  von  der  Stimmung  dieser  Kreise 
sich  die  Richtung  geben  zu  lassen.  Die  französische  Dichtung 
liefert  auch  in  ihrer  Entwicklung  durch  das  XVII.  Jahrhundert  hin- 
durch den  besten  Beweis  dafür.  Und  in  diesen  Kreisen  trat  das 
religiöse  Interesse  ganz  entschieden  zurück.  Hier  war  man  teils 
von  jenem  weltmännischen  Skeptizismus  erfüllt,  welchem  Montaigne 
den  glücklichen  Ausdruck  gegeben  hat,  teils  jenem  diplomatischen 
Indifferentismus  zugeneigt,  der  die  religiösen  Parteiungen  nur  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  politischen  Interessen  betrachtete,  und  der 
in  Heinrich  IV.  seinen  klassischen  Typus  gefunden  hat.  Hier  war 
man  deshalb  freilich  auch  aller  scholastischen  Subtilitäten  herzlich 
überdrüssig,  und  hier  hatte  man  an  dem  rhetorischen  Feuerwerk 
der  Schriften  und  der  Vorträge  von  Petrus  Ramus  ein  entschiedenes 
Wohlgefallen  gefunden.  Man  darf  wohl  sagen,  daß  in  dem  Glänze 
dieses  Hoflebens  der  wissenschaftliche  Ernst  geschwunden  war,  und 
die  mühselige  Arbeit  der  naturwissenschaftlichen  Forschung  hat 
deshalb  auch  in  Frankreich  um  diese  Zeit  noch  keinen  großen  Ver- 
treter gefunden. 


Ißß  Descartes. 

Dagegen  war  es  ein  anderes  Gebiet,  auf  welchem  der  wissen- 
schaftliche Geist  der  Franzosen  seinen  vollen  Ernst  entfalten  sollte. 
Die  Wortgefechte  der  scholastischen  Philosophie  hatten  auch  hier 
eine  Art  von  Überdruß  erzeugt,  der  sich  in  einem  flachen  Skep- 
tizismus und  in  einer  Gleichgültigkeit  gegen  dialektische  Unter- 
suchungen Luft  machte.  Zu  rein  empirischer  Forschung  fehlte 
teils  die  Geduld,  teils  die  Aussicht  auf  unmittelbare  Befriedigung 
des  Ehrgeizes,  teils  endlich  auch  das  feste  Vertrauen  in  die  Gewiß- 
heit der  sinnlichen  Wahrnehmung,  welches  durch  die  skeptischen 
Theorien  zersetzt  worden  war.  So  schien  als  ein  Gebiet  zweifel- 
loser Gewißheit  nur  die  Mathematik  übrig  zu  bleiben.  Hier  hatte 
man  es  weder  mit  der  Unsicherheit  von  Beobachtungen,  noch  mit 
der  Willkürlichkeit  hypothetischer  Spekulationen  zu  tun,  und  hier 
konnten  vor  allem  die  Franzosen  ihren  glänzenden  Scharfsinn  und 
die  durchsichtige  Klarheit  des  Denkens  und  Darstellens  beweisen,  die 
eine  der  besten  Gaben  ihres  nationalen  Genius  ist.  So  wurde  denn 
mit  dem  XVI.  und  XVII.  Jahrhundert  die  Mathematik  der  Boden, 
auf  welchem  sie  ihre  größten  wissenschaftlichen  Erfolge  errangen. 

Das  sind  die  beiden  Elemente,  welche  die  Voraussetzungen  der 
rationalistischen  Philosophie  in  Frankreich  bildeten:  die  skeptische 
Atmosphäre  auf  der  einen  Seite,  in  der  sich  das  geistige  Leben 
der  höheren  Gesellschaft  bewegte,  und  das  fruchtbare  Feld  mathe- 
matischer Untersuchungen  auf  der  andern  Seite,  das  von  den 
ernsteren  Geistern  bebaut  wurde.  Auf  diesem  Boden  und  in  dieser 
Atmosphäre  wuchs  die  Lehre  Descartes'  empor,  des  bedeutendsten 
Philosophen,  dessen  sich  Frankreich  zu  rühmen  hat. 


§  24.   Rene  Descartes. 

Das  Leben  Descartes'  bildet  einen  gewissen  Gegensatz  zu  dem- 
jenigen von  Lord  Bacon.  Für  die  vornehme  Welt  geboren,  meidet 
er  um  der  wissenschaftlichen  Muße  willen  den  Glanz  des  großen 
Lebens,  den  jener  begierig  und  zum  Schaden  seines  Charakters 
suchte.  Von  dem  Ehrgeiz,  der  in  dem  englischen  Kanzler  brannte, 
findet  sich  in  ihm  keine  Spur,  und  die  Scheu  vor  der  Öffentlichkeit 
steigert  sich  bei  ihm  zu  furchtsamer  Schwäche.  Wenn  Bacon  in 
kluger  Berechnung  einen  vornehmen  Kompromiß  mit  den  Mächten 
der  kirchlichen  Lehre  schloß,  so  genügte  für  Descartes  die  Furcht  vor 


Persönlichkeit.  167 

Streitigkeiten  oder  gar  Verfolgungen  oder  auch  nur  vor  unbequemen 
Störungen  seiner  Muße,  um  ihn  ketzerische  Ansichten,  wie  seine 
Beistimmung  zu  den  Lehren  Galileis  oder  seine  Stellung  zu  dem 
kopernikanischen  Systeme  leicht  unterdrücken  zu  lassen.  Und  doch 
zeigt  sich  trotz  des  Gegensatzes  manche  Ähnlichkeit  zwischen  beiden 
Männern.  Beiden  fehlt  die  jugendliche  Begeisterung,  mit  der  in 
Italien  und  Deutschland  stürmende  Geister,  was  sie  für  wahr  er- 
kannt hatten,  unter  Leid  und  Verfolgung  laut  in  die  Welt  hinaus- 
predigten. Beide  geben  ihren  Lehren  das  vorsichtige  Gewand  be- 
rechnender Klugheit  und  hüllen  sich,  der  eine  in  den  Mantel  der 
Frömmigkeit,  der  andere  in  denjenigen  des  religiösen  Indifferentis- 
mus. Aber  die  Art  freilich  ihrer  Vorsichtigkeit  ist  bei  beiden  gar 
weit  voneinander  verschieden.  Dem  einen  ist  das  Wissen  die  Stufe 
zur  Macht,  die  er  auf  der  Höhe  des  Lebens  ausüben  will,  und  des- 
halb in  der  verallgemeinernden  Lehre  nur  ein  Mittel  für  die  Kultur- 
arbeit der  Menschheit.  Dem  andern  ist  dasselbe  Wissen  die  Ent- 
faltung eines  rein  persönlichen  Erkenntnistriebes,  dem  das  Leben 
nur  da  ist  zur  Befriedigung  seiner  individuellen  Sehnsucht  nach 
Wahrheit,  und  deshalb  in  verallgemeinernder  Auffassung  eine  selb- 
ständige, ja  die  höchste  Aufgabe  des  sittlichen  Menschen.  Der 
wissenschaftliche  Trieb,  der  ein  wesentlicher  Zug  in  dem  Charakter 
des  modernen  Individuums  ist,  tritt  bei  Descartes  als  eine  domi- 
nierende Leidenschaft  auf,  der  alle  übrigen  Bestrebungen  des  Men- 
schenherzens sich  unterordnen  müssen.  Sein  ganzes  Leben  ist  von 
dem  Wunsche  nach  wissenschaftlicher  Muße  geleitet  und  danach 
eingerichtet.  Ohne  Spur  von  reformatorischen  Neigungen  lebt 
er  nur  der  Selbstbelehrung,  und  selbst  seine  Schriften  werden  nicht 
zur  Verbreitung  seiner  Ansichten,  sondern  nur  in  dem  Gedanken 
veröffentlicht,  daß  die  Bewegung,  welche  sie  unter  den  Gelehrten 
hervorrufen  werden,  dem  Verfasser  selbst  zu  seiner  weiteren  Aus- 
bildung nützlich  und  nötig  sei.  Es  ist  der  Egoismus  der  Wissenschaft, 
der  die  Welt  meidet,  weil  sie  von  ihrem  Treiben  nur  gestört  zu 
werden  fürchtet.  Bacon  wollte  die  neue  Philosophie  mitten  in  die 
Bewegung  des  Lebens  hineinstellen,  Descartes  flüchtete  sie  mit 
ängstlicher  Scheu  in  die  gedankenvolle  Einsamkeit.  Und  so  blickt 
denn  auch  die  Lehre  Bacons  allüberall  mit  offnem  Auge  in  die 
äußere  Wirklichkeit,  die  cartesianische  Philosophie  mit  ge- 
schlossenem Auge  in  die  innere  Tiefe  des  Selbstbewußtseins.     Es 


168  Descartes. 

wiederholt  sich  im  Leben  und  in  der  Lehre  dieser  methodologischen 
Philosophen  der  Gegensatz,  den  die  metaphysischen  Bestrebungen 
der  Italiener  auf  der  einen,  der  Deutschen  auf  der  andern  Seite 
zeigten. 

Rene  Descartes,  Seigneur  du  Perron  (latinisiert  Cartesius), 
war  als  der  Sohn  eines  vornehmen  Geschlechts  der  Touraine  1596 
geboren.  Seine  schwächliche  Natur  und  die  dadurch  nötig  ge- 
wordene Schonung  hemmten  anfangs  seine  geistige  Entwicklung, 
bis  sie  in  der  1604  von  Heinrich  IV.  gegründeten  Jesuitenschule 
La  Fleche  in  glücklichster  Weise  gefördert  wurde.  Er  machte  mit 
wachsender  Fassungsgabe  den  Kursus  in  den  alten  Sprachen,  der 
Logik,  der  Moral,  der  Physik  und  der  Metaphysik  durch.  Am 
meisten  aber  fesselte  seinen  Geist  schon  hier  die  Mathematik,  und 
er  schied  von  der  Schule,  ein  längst  gereifter  Schüler,  mit  dem 
klaren  Bewußtsein  von  der  Nichtigkeit  aller  bisherigen  Wissen- 
schaften und  mit  der  Einsicht,  daß  die  Mathematik  die  einzig  zu- 
verlässige Erkenntnis  biete.  Von  der  Familie  für  die  militärische 
Laufbahn  bestimmt,  brachte  er  einige  Zeit  in  Rennes  und  dann  in 
Paris  mit  ritterlichen  Übungen  und  geselligen  Anknüpfungen  zu; 
aber  die  wissenschaftlichen  und  namentlich  mathematischen  An- 
regungen, die  er  in  der  Hauptstadt  erfuhr,  veranlaßten  ihn  schon 
damals,  sich  mehr  als  zwei  Jahre  lang  nach  dem  Faubourg  St.  Ger- 
main zurückzuziehen,  wo  er  in  absoluter  Einsamkeit  sich  mit  den 
mathematischen  Problemen  der  Musik  beschäftigte.  Gegen  seinen 
Willen  in  die  Öffentlichkeit  zurückgezogen,  trat  er  1617  als  Frei- 
williger in  die  Dienste  von  Moritz  von  Nassau,  dem  Statthalter 
der  Niederlande,  in  denen  er  jedoch  nur  die  Muße  eines  zweijährigen 
Waffenstillstandes  zu  Breda  mit  dem  Umgange  des  Mathematikers 
Isaak  Bekmann  und  mit  der  Niederschrift  seiner  Abhandlung  über 
die  Musik  zubrachte.  Im  Jahre  1619  ging  er  nach  Deutschland  und 
trat  in  bayrische  Dienste;  diese  brachten  ihm  zunächst  einen  mili- 
tärisch untätigen,  für  die  Entwicklung  seiner  Gedanken  desto 
förderlicheren  Winteraufenthalt  zu  Neuburg  in  der  Pfalz,  wurden 
dann  durch  einen  Besuch  bei  der  französischen  Gesandtschaft  in 
Ulm  und  Wien  unterbrochen  und  führten  ihn  erst  zur  Schlacht  bei 
Prag  nach  Böhmen.  Im  folgenden  Jahre  vertauschte  er  den  bay- 
rischen mit  dem  kaiserlichen  Dienst  und  machte  in  diesem  unter 
Boucquoi  den  ungarischenFeldzug  gegen  Bethlen  Gabor  mit.     In- 


Leben  und  Schriften.  169 

zwischen  war  die  Sehnsucht  nach  wissenschaftlicher  Muße  und  nach 
Lösung  der  ihn  bewegenden  Probleme  so  mächtig  geworden,  daß 
er  der  großen  Welt  für  immer  zu  entsagen  beschloß  und  eine  Wall- 
fahrt zur  Madonna  von  S.  Loretto  gelobte,  wenn  es  ihm  gelänge, 
aus  seinen  Zweifeln  sich  zur  Gewißheit  emporzuringen.  Zur  Rück- 
kehr in  seine  Heimat  schien  der  Zeitpunkt  teils  wegen  der  dort 
herrschenden  Pest,  teils  wegen  der  Hugenottenkriege  ungünstig,  und 
er  nahm  daher  einen  langen  Umweg  durch  Norddeutschland  und  die 
Niederlande.  Nachdem  er  dann  etwa  ein  Jahr  teils  in  Paris,  teils 
auf  dem  Lande  zugebracht,  unternahm  er  in  den  Jahren  1623 — 25 
die  gelobte  Reise  nach  Italien  und  kehrte  dann  in  seine  Einsamkeit 
nach  St.  Germain  zurück,  wo  er  mit  wenigen  Freunden  die  gereiften 
Gedanken  seiner  Philosophie  besprach.  Noch  einmal  ließ  er  sich 
in  die  Öffentlichkeit  herausreißen,  indem  er  1628  der  Belagerung 
von  La  Rochelle  im  Stabe  des  Königs  beiwohnte.  Dann  aber  zog 
er  sich  definitiv  nach  Holland  zurück,  um  nach  Abbruch  aller  Be- 
ziehungen ganz  der  Vollendung  seiner  wissenschaftlichen  Arbeiten 
zu  leben.  Nur  sein  vertrauter  Jugendfreund  Mersenne  durfte  mit 
ihm  in  Korrespondenz  bleiben.  Er  hat,  um  jede  Störung  dieser 
Einsamkeit  zu  vermeiden,  während  der  zwanzig  Jahre,  die  er  in 
Holland  zubrachte,  vierundzwanzigmal  seinen  Aufenthalt  gewechselt 
und  an  dreizehn  verschiedenen  Orten  gelebt,  zuletzt  und  am  läng- 
sten in  der  Abtei  Egmond.  Unterbrochen  wurde  dieses  wissenschaft- 
liche Eremitentum  nur  durch  eine  Reise  nach  England,  eine  nach 
Dänemark  und  drei  Besuche  in  der  Heimat,  von  Zeit  zu  Zeit  auch 
durch  einen  Besuch  an  dem  Hofe  im  Haag,  wo  er  mit  der  ehemaligen 
Königin  von  Böhmen  und  deren  Tochter  Elisabeth  von  der  Pfalz 
viel  verkehrte.  Mit  letzterer  führte  er  auch  von  Leyden  aus  einen 
eifrigen  Briefwechsel,  und  für  sie  schrieb  er  die  nach  seinem  Tode 
veröffentlichte  Schrift:  »Les  passions  de  Farne«.  Im  allgemeinen 
war  sein  Aufenthalt  in  Holland  bei  dem  lebhaften  Interesse,  das 
man  dort  den  mathematischen  und  physikalischen  Studien 
widmete,  namentlich  der  Ausbildung  seiner  Naturphilosophie  günstig, 
und  er  legte  diese  in  einer  Schrift  nieder,  deren  Veröffentlichung- 
unter  dem  Titel:  »Le  monde«  schon  vorbereitet,  infolge  der  Nach- 
richt von  Galileis  Prozeß  und  Widerruf  zurückgezogen  und  erst 
nach  dem  Tode  des  Verfassers  ausgeführt  wurde.  In  seiner  Ab- 
sicht, aus  den  gleichen  Gründen  überhaupt  nichts  drucken  zu  lassen, 


170  Descartes. 

wurde  Descartes  schließlich  durch  das  steigende  Bedürfnis  nach 
einem  lebendigen  Zusammenhange  mit  der  übrigen  Gelehrtenwelt 
irre  gemacht,  und  schon  das  Jahr  1637  sah  die  Veröffentlichung 
seiner  »Essais  philosophiques  «,  welche  neben  geometrischen  und 
physikalischen  Abhandlungen  hauptsächlich  den  »Discours  de  la 
methode«  enthielten.  Seine  philosophische  Lehre  tritt,  sachlich 
und  methodisch  gereift,  erst  in  den  1641  veröffentlichten  »Medita- 
tiones  de  prima  philosophia  «  auf,  einem  Selbstgespräch  von  drama- 
tischer Spannung,  in  welchem  der  Philosoph  mit  allen  Mächten  des 
Zweifels  um  den  Sieg  der  Selbstbesinnung  ringt.  Er  hatte  diesen 
Monolog  schon  handschriftlich  durch  Mersenne  einer  Anzahl  von 
Gelehrten  mitteilen  lassen  und  ließ  die  Einwürfe,  welche  diese  auf 
seinen  Wunsch  gemacht  hatten,  mit  seinen  Entgegnungen  zu- 
gleich drucken.  Endlich  erschienen  1643  die  »Principia  philo- 
sophiae«,  der  Prinzessin  Elisabeth  gewidmet,  als  der  Versuch  einer 
systematischen  Gesamtdarstellung  seiner  Lehre.  Von  weiteren  Ver- 
öffentlichungen mögen  ihn  hauptsächlich  die  Verhältnisse  abge- 
schreckt haben,  die  ihm  überhaupt  die  letzten  Jahre  seines  Auf- 
enthaltes in  Holland  verbitterten.  Es  hatte  nicht  ausbleiben  können, 
daß  seine  Lehre  teils  durch  persönliche  Bekanntschaften,  teils  durch 
die  Mitteilungen  seiner  Freunde,  teils  endlich  durch  seine  ersten 
Schriften  Verbreitung  und  Anerkennung  fand,  und  an  den  hollän- 
dischen Universitäten  begann  schon  mit  dem  Anfang  der  40  er  Jahre 
sich  eine  cartesianische  Schule  zu  bilden,  die  sehr  bald  in  wider- 
wärtige Streitereien  durch  die  orthodoxen  Parteien  hineingezogen 
wurde.  Gegenseitige  Beschimpfungen,  Verleumdungen  und  Ver- 
ketzerungen, gerichtliche  Klagen,  akademische  Verdikte,  das  alles 
gab  einen  unbehaglichen  Zustand,  welcher  der  zarten  und  scheuen 
Natur  des  Philosophen  auf  das  äußerste  zuwider  war.  Und  hierin 
lag  wohl  schließlich  eine  der  Veranlassungen,  infolge  deren  er  nach 
langem  Zögern  einer  oft  und  in  liebenswürdigster  Form  wieder- 
holten Einladung  der  jungen  Königin  Christine  von  Schweden,  der 
Tochter  Gustav  Adolfs,  an  ihren  Hof  im  Herbst  1649  Folge  leistete. 
Die  Königin  selbst  wünschte  die  Korrespondenz,  welche  sie  schon 
vorher  mit  ihm  geführt,  in  einen  mündlichen  Unterricht  seiner 
Philosophie  zu  verwandeln,  und  sie  dachte  unter  seiner  Mitwirkung 
eine  Akademie  der  Wissenschaften  zu  gründen.  Allein  kaum  hatte 
Descartes  sich  in  diese  neue  Tätigkeit  hineingelebt,  als  er  der  un- 


Bedeutung  der  Mathematik.  171 

gewohnten  Rauheit  des  Klimas  schon  am  1.  Februar  1650  erlag,  die 
Abweichung  von  seinem  Lebensprinzip  der  wissenschaftlichen  Ein- 
samkeit mit  dem  Tode  büßend. 

Descartes'  »Discours  de  la  methode«  beginnt  in  der  klaren  und 
schönen  Darstellung,  welche  ihn  auszeichnet  und  unter  die  größten 
prosaischen  Schriftsteller  Frankreichs  stellt,  mit  einer  Art  von  Abriß 
seiner  wissenschaftlichen  Lebensgeschichte.  Er  schildert  (in  merk- 
würdiger Ähnlichkeit  mit  den  Selbstbekenntnissen  des  Skeptikers 
Sanchez),  wie  er  die  Schule  mit  der  Überzeugung  von  der  inneren 
Haltlosigkeit  aller  der  Wissenschaften  verließ,  die  er  darin  gelernt; 
wie  er  darauf  beschloß,  eine  Zeitlang  in  dem  großen  Buche  des 
Lebens  zu  studieren,  und  wie  es  schließlich  erst  die  Einkehr  bei 
sich  selbst  war,  der  er  die  Begründung  eines  sicheren  Wissens  ver- 
dankte. Denn  alles,  was  er  in  der  Wissenschaft  seiner  Zeit  von 
Meinungen  über  Gott,  Natur  und  Menschenseele  vorfand,  erschien 
ihm  als  ein  unklares  Gemenge  von  Vorurteilen  und  unbeweisbaren 
Behauptungen,  und  nur  ein  einziger  Wissenszweig,  die  Mathematik, 
als  ein  völlig  gewisser  und  zweifelloser  Besitz.  Sie  wurde  deshalb 
für  ihn  der  Maßstab  der  wissenschaftlichen  Wertschätzung,  das 
Ideal  der  Wissenschaftlichkeit  überhaupt,  und  er  meinte,  daß  die 
anderen  Disziplinen  nur  so  weit  auf  den  Charakter  der  Wissen- 
schaftlichkeit Anspruch  machen  dürften,  als  ihre  Lehren  zu  dem 
Grade  von  Evidenz  gebracht  werden  könnten,  wie  ihn  alle  Lehr- 
sätzeder  Mathematik  besitzen.  Mit  dieser  Aufstellung  der  Mathe- 
matik als  einer  Richtschnur  alles  wissenschaftlichen  und  insbesondere 
des  philosophischen  Denkens  gab  Descartes  der  modernen  Philo- 
sophie eine  Richtung,  welche  sie  bis  zu  Kant  und  bis  über  diesen 
hinaus  beherrscht  hat.  Es  ist  keine  unter  den  besonderen  Wissen- 
schaften, welche  auf  den  Entwicklungsgang  der  modernen  Erkennt- 
nistheorie einen  so  fundamentalen  und  prinzipiellen  Einfluß  aus- 
geübt hätte,  wie  die  Mathematik.  Durch  das  gesamte  XVII.  und 
XVIII.  Jahrhundert  hindurch  wird  sie  gewissermaßen  als  der  feste 
Stamm  betrachtet,  an  dem  alle  übrigen  Wissensarten  sich  empor- 
ranken. So  mächtig  sonst  der  Kampf  der  Gedankenströmungen 
in  diesen  beiden  Jahrhunderten  hin  und  her  wogt,  die  Anerkennung 
der  absoluten  Gewißheit  der  Mathematik  ist  der  unentwegte  Fels, 
woran  sie  alle  branden  und  zum  Teil  scheitern.  In  diesem  Sinne 
darf  man  sagen,  daß  der  Einfluß  Descartes'  der  mächtigste  und 


172  Descartes. 

nachhaltigste  von  allen  gewesen  ist.  Denn  es  gilt  dies  nicht  nur 
für  das  rationalistische,  sondern  auch  für  das  empiristische  Lager 
der  vorkantischen  Philosophie.  In  jenem  liegt  es  zweifellos  auf  der 
Hand  und  vor  aller  Augen:  die  Entwicklung  der  geometrischen 
Methode  durch  Spinoza  und  die  mathematischen  Grundlagen  der 
Leibnizschen  wie  der  Wolffschen  Lehre  tragen  unverkennbar  den 
Stempel  des  cartesianischen  Geistes.  Aber  vielleicht  war  es  schon 
die  Einwirkung  von  Descartes  selbst,  jedenfalls  diejenige  der  franzö- 
sischen Mathematiker  überhaupt,  welche  Hobbes  bestimmte,  die 
Einseitigkeiten  des  Baconismus  zu  überwinden;  und  je  mehr  die 
spätere  Entwicklung  des  Empirismus  in  England  und  Frankreich 
an  den  so  vereinbarten  Prinzipien  festhielt,  um  so  mehr  blieb  sie 
unter  dem  Zauberbann  der  Mathematik;  ja  noch  das  abschließende 
Denken  von  David  Hume  zieht  seine  skeptischen  Konsequenzen 
aus  der  Auffassung  der  Mathematik  als  des  sonst  unerreichten 
Ideales  der  Wissenschaftlichkeit.  In  Kant  endlich  hat  sich  die 
kritische  Methode  mit  einer  so  zähen  Energie  an  dem  Probleme 
der  mathematischen  Erkenntnis  emporgearbeitet,  daß  seine  Ent- 
wicklungsgeschichte auch  nach  dieser  Hinsicht  der  typische  Aus- 
druck für  die  gesamte  Bewegung  des  modernen  Denkens  geworden  ist. 

Dieser  befruchtende  Einfluß  der  Mathematik  zeigt  sich  bei 
Descartes  wesentlich  in  zwei  Gesichtspunkten,  von  denen  aus  er 
die  Eeformation  der  Philosophie  nach  der  Analogie  der  mathe- 
matischen Methode  zu  vollziehen  unternimmt. 

Zuerst  ist  es  die  Zerstreutheit  und  Zusammenhanglosigkeit  des 
bisherigen  Wissens,  woran  Descartes  Anstoß  nimmt.  Die  Schola- 
stik nicht  nur,  sondern  auch  die  humanistischen  Studien  und  die 
experimentellen  Untersuchungen  bauen  sich  wesentlich  als  eine 
gelehrte  Viel  wisserei  auf;  sie  besitzen  eine  Masse  von  einzelnen 
Kenntnissen,  die  sie  aus  der  Übung,  aus  historischer  Überlieferung, 
aus  einzelner  Erfahrung  und  Beobachtung  geschöpft  haben:  was 
ihnen  fehlt,  ist  die  Einheit  dieses  Wissens.  Und  doch  würde  erst 
mit  dieser  Einheit  der  ganze  Wust  dieser  Kenntnisse  zu  wissen- 
schaftlicher Gewißheit  werden  können.  Der  Wert  unseres  Wissens, 
das  was  die  Wissenschaft  von  dem  gemeinen  Lernen  und  Können 
unterscheidet,  beruht  lediglich  in  seinem  systematischen  Zusammen- 
hange. Dieser  ist  nur  dadurch  möglich,  daß  alles  Wissen  aus  einem 
einzigen  Punkte  höchster  und  absoluter  Gewißheit  abgeleitet  wird: 


Universal-Mathematik.  173 

diese  Aufgabe  der  Philosophie  hat  Descartes  in  seinen  posthumen 
»Regles  pour  la  direction  de  l'esprit«  so  formuliert,  wie  er  sie  sachlich 
schon  in  den  Meditationen  zu  lösen  versucht  hatte.  Es  kann  nur 
ein  Prinzip  geben,  worin  alles  Wissen  wurzelt.  Darin  besteht  der 
große  Vorzug  der  Mathematik,  daß  sie  von  einem  Punkte  aus  mit 
systematischer  Erkenntnis  das  ganze  Reich  ihres  Wissens  ausmißt, 
daß,  wer  die  ersten  Sätze  der  euklidischen  Geometrie  begriffen  und 
zugegeben  hat,  mit  ihnen  auch  das  ganze  System  anerkennen  muß. 
Da  ist  kein  gelegentliches  Aufgreifen,  kein  Hin-  und  Herfahren  in 
der  Aufsuchung  irgendwelcher  Wahrheiten;  sondern  jeder  Satz  hat 
seine  bestimmte  Stelle,  auf  der  er  sich  aus  den  vorhergehenden  ergibt 
und  von  der  aus  er  die  folgenden  zu  begründen  hilft.  Dieses  Prinzip 
hat  man  bisher  nur  auf  die  Größenlehre  angewendet :  in  seiner  Aus- 
dehnung auf  das  gesamte  menschliche  Wissen  soll  das  Heil  der 
Philosophie  bestehen,  das  Descartes  verkündet.  Die  Philosophie 
soll  eine  Universalmathematik  werden,  ein  einheitliches 
System,  worin  alle  Lehren  von  dem  einen  Mittelpunkte  aus  ihre 
Begründung  und  ihre  Gewißheit  empfangen.  Kaum  schärfer  ist 
jemals  die  universalistische  Tendenz  des  philosophischen  Denkens 
ausgesprochen  worden.  Sie  versteigt  sich  bei  Descartes  zu  der 
Forderimg  einer  Universalwissenschaft:  er  will  nach  mathema- 
tischer Analogie  keine  andere  Wahrheit  für  völlig  sicher  anerkannt 
wissen,  als  diejenige,  welche  von  dem  einzigen  Prinzip  sich  mit 
Notwendigkeit  ableiten  läßt.  Insofern  verfährt  auch  die  cartesia- 
nische  Philosophie  durchaus  radikal.  Sie  will  mit  allem  bisherigen 
Wissen  tabula  rasa  machen,  ein  einziges  Prinzip  aller  Gewißheit 
aufstellen  und  von  diesem  aus  ein  völlig  neues  System  der  ge- 
samten Wissenschaft  konstruieren.  Sie  prägt  den  Gedanken  der 
wissenschaftlichen  Systematik  mit  einer  Einseitigkeit  aus,  als  wäre 
es  möglich,  das  Denken  ab  ovo  zu  beginnen  und  es  mit  innerer 
Notwendigkeit  von  einem  ersten  Prinzip  her  auszubauen.  Gelänge 
es  in  dieser  Weise,  alles  Wissen  auf  die  Höhe  des  philosophischen 
Zusammenhanges  und  der  mathematischen  Evidenz  zu  erheben, 
so  würden  alle  besonderen  Wissenschaften  zu  Gliedern  eines  Ge- 
samtorganismus werden,  damit  aber  auch  ihre  Selbständigkeit  ver- 
lieren. Descartes  selbst  ist  praktisch,  zumal  als  Physiker,  bis  zu 
dieser  extremen  Konsequenz  nicht  fortgeschritten:  aber  die  un- 
günstigere Folge  war  die,  daß  die  Philosophie  bei  seinen  rationa- 


]  74  Descartes. 

listischen  Nachfolgern  die  richtige  Schätzung  für  den  selbständigen 
Wert  der  einzelnen  Wissenschaften  aus  den  Aussen  verlor  und  mit 
dem  Begriffe  der  Wissenschaftlichkeit,  den  sie  nach  mathematischer 
Analogie  nur  als  die  Ableitung  von  dem  absolut  gewissen  Zentral- 
punkte auffaßte,  sich  eine  imperatorische  und  universalistische  Stel- 
lung anmaßte,  welche  die  Spezialwissenschaften  in  eine  natürliche 
Opposition  gegen  sie  hineintrieb.  Der  Gedanke,  daß  nur  die  Philo- 
sophie die  wahre  Wissenschaft  sei,  ergab  sich  aus  diesen  Prinzipien 
ebenso  notwendig,  wie  er  als  eine  Überhebung  von  Seiten  der  übrigen 
Wissenschaften  bekämpft  werden  mußte. 

Bei  Descartes  sind  diese  Gedanken  wesentlich  methodologisch  ge- 
meint. Die  mathematische  Deduktion  erschien  danach  auch  als  die 
allgemeine  Methode  alles  wissenschaftlichen  Denkens  überhaupt,  und 
es  ergab  sich,  sozusagen,  ein  Pantheismus  der  Methode.  Auch 
das  ist  eine  Tendenz,  welche  der  rationalistischen  Philosophie  von 
Descartes  her  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  aufgeprägt  geblieben  ist. 
In^  dem  Wahne,  eine  Universalmethode  alles  Erkennens  auf- 
finden zu  können,  hat  die  moderne  Philosophie  zu  ihrem  Schaden 
eine  Fülle  von  Scharfsinn  verschwendet,  und  erst  das  völlige  Schei- 
tern des  großartigsten  dieser  Versuche,  den  Hegel  machte,  hat  die 
Klarheit  über  ihre  Unmöglichkeit  herbeigeführt. 

Weiterhin  ist  es  nun  diese  allgemeine  Methode  selbst,  deren 
Grundzüge  Descartes  aus  seiner  Wertschätzung  des  mathematischen 
Verfahrens  entnimmt.  Der  Fortschritt,  welchen  das  Denken  von 
dem  Anfangspunkte  aller  Gewißheit  zu  den  einzelnen  Erkenntnissen 
nehmen  soll,  ist  natürlich  nur  durch  eine  deduktive  Methode  mög- 
lich. Allein  diese  kann  niemals  diejenige  des  Syllogismus  sein; 
denn  der  Syllogismus  ist  wohl  eine  Darstellungsweise,  aber  keine 
Erkenntnisweise;  er  ist  ein  Prinzip  des  Beweisens  und  Überredens, 
aber  kein  solches  des  Erforschens  und  Erfindens.  Er  kann  be- 
weisen, was  man  entdeckt  hat,  aber  er  kann  nicht  selbst  entdecken. 
Zwar  scheint  es,  als  ob  sich  die  euklidische  Geometrie  nur  der 
logischen  Folgerungen  bediente,  und  sie  tut  es  auch  in  der  Tat 
insofern,  als  sie  ein  beweisendes  System  ist;  aber  der  Fortschritt 
von  einem  ihrer  Lehrsätze  zum  anderen  ist  niemals  eine  bloß  logische 
Konsequenz,  er  besteht  vielmehr  in  der  sukzessiven  Kombination 
von  ursprünglichen  Anschauungen,  und  der  Syllogismus  hat  nur 
die  Bedeutung,  den  aus  diesen  neuen  Anschauungen  entspringenden 


Synthetische  Methode.  175 

Wahrheiten  die  Beweise  durch  die  früher  gefundenen  zu  geben. 
Die  wahrhaft  erzeugende  Methode  der  Mathematik  ist  somit  die- 
jenige der  Synthesis ;  die  Entdeckung  neuer  Wahrheiten  ist  nur 
auf  dem  Wege  der  schöpferischen  Kombination  möglich.  Diese 
synthetische  Methode  soll  nun  von  den  räumlichen  und  den 
Zahlengrößen  auf  die  Begriffe  übertragen  werden.  Die  cartesia- 
nische  Philosophie  will  auch  eine  ars  inveniendi  sein;  sie  glaubt  in 
der  synthetischen  Methode  der  Mathematik  das  Prinzip  gefunden 
zu  haben,  nach  welchem  von  dem  Punkte  höchster  Gewißheit  aus 
der  gesamte  Zusammenhang  des  menschlichen  Wissens  erzeugt 
weiden  kann. 

Zunächst  also  handelt  es  sich  um  die  Auffindung  dieses  einen 
Punktes,  welcher  mit  der  ihm  innewohnenden  ursprünglichen  Ge- 
wißheit das  ganze  übrige  System  tragen  und  stützen  soll.  Und 
auch  hierfür  folgt  Descartes  einer  mathematischen  Analogie.  Daß 
dieser  Punkt  höchster  Gewißheit  nicht  deduziert  und  demonstriert 
werden  kann,  ist  selbstverständlich.  Da  von  ihm  aus  alles  andere 
deduziert  werden  soll,  so  kann  er  seine  Gewißheit  nicht  von  irgend- 
welchen anderen  Sätzen  oder  Begriffen  empfangen,  sondern  muß 
sie  vielmehr  unmittelbar  in  sich  selbst  haben.  So  wird  Descartes 
auf  einen  Gegensatz  aufmerksam,  der  die  ganze  neuere  Erkenntnis- 
theorie beherrscht,  denjenigen  nämlich  der  unmittelbaren  und 
der  mittelbaren  Gewißheit.  Als  mittelbar  gewiß  muß  jede  Lehre 
alle  diejenigen  Folgerungen  ansehen,  welche  von  gegebenen  Aus- 
gangspunkten aus  durch  logisch  richtige  Operationen  hergeleitet 
sind;  ein  Streit  kann,  seitdem  die  Grundzüge  dieses  logischen  Pro- 
zesses feststehen,  nur  über  diejenigen  Punkte  herrschen,  welche 
nicht  durch  Folgerungen,  sondern  eben  durch  ihre  unmittelbare 
Evidenz  bewiesen  werden,  und  man  könnte  recht  gut  die  Systeme 
der  neueren  Philosophie  nach  dem  Gesichtspunkte  klassifizieren,  was 
sie  für  unmittelbare  Gewißheit  erklären.  Der  Baconsche  Empirismus 
gesteht  die  unmittelbare  Gewißheit  der  richtig  angestellten  Wahr- 
nehmung zu:  Descartes  will  diese  unmittelbare  Gewißheit  nur  für 
den  einzigen  Grundsatz  in  Anspruch  nehmen,  von  dem  alle  andere 
Erkenntnis  ihre  abgeleitete  Gewißheit  empfangen  soll.  Diese 
Wahrheit  selbst,  das  Prinzip  alles  Beweises,  ist  somit  nicht  zu 
beweisen,  sie  ist  nur  in  ihrer  unmittelbaren  Evidenz  aufzuzeigen, 
sie  muß  eine  Anschauung,  ein  einfacher  und  ursprünglicher  Akt 


176  Descartes. 

der  erkennenden  Seele  sein,  und  der  Ausgangspunkt  jener  ganzen 
synthetischen  Methode,  die  Descartes  sucht,  muß  deshalb  eine 
intuitive  Erkenntnis  sein:  gerade  so  geht  die  Geometrie  von  der 
Anschauung  des  Kaumes  und  von  den  unbeweisbaren  Axiomen  aus, 
welche  mit  und  in  dieser  Anschauung  gegeben  sind. 

Aber  wenn  dieser  archimedische  Punkt,  den  Descartes  sucht, 
um  das  System  der  Wissenschaften  aus  seinen  Angeln  zu  heben, 
nicht  bewiesen  werden  kann,  so  darf  man  auch  in  keiner  Weise 
meinen,  daß  er  durch  eine  plötzliche  Eingebung  etwa  vor  dem  Blicke 
irgend  eines  Denkers  aufleuchten  könnte.  Von  dieser  mystischen 
Unbeweisbarkeit  und  Unaussagbarkeit  ist  Descartes  weit  entfernt. 
Vielmehr  muß  jener  Punkt  seiner  Ansicht  nach  mit  ganz  klarer  und 
nüchterner  Forschung  gesucht  werden,  und  es  muß  durch  dieses 
Suchen  klar  werden,  daß  und  weshalb  er  der  einzige  ist,  der  in 
unserer  ganzen  Vors tellungs weit  als  derjenige  der  absoluten  Festig- 
keit übrig  bleibt.  Die  höchste  Gewißheit  darf  am  allerwenigsten 
willkürlich  erfaßt  und  kühn  behauptet  werden.  Ihre  Auffindung 
muß  die  Sache  eines  methodischen  Suchens  sein.  Und  auch  hier 
gibt  die  Mathematik  einen  Fingerzeig:  sie  hat  zur  Lösung  der  Auf- 
gaben eine  analytische  Methode,  —  und  unter  den  Begründern  und 
Bearbeitern  gerade  dieser  Methode  nimmt  Descartes  selbst  fast 
den  allerersten  Rang  ein.  Die  analytische  Geometrie  zeigt,  wie 
man  den  Springpunkt  einer  Problemlösung  systematisch  findet. 
Wenn  die  synthetische  Geometrie  deduktiv  verfährt,  so  geht  die 
analytische  den  induktiven  Weg.  Sie  betrachtet  besondere  Fälle, 
vielleicht  hervorragende  Eigentümlichkeiten,  sie  bedient  sich  ana- 
logischer Versuche,  und  vor  allem,  sie  sucht  zunächst  eine  Über- 
sicht über  alle  möglichen  Fälle  des  zu  behandelnden  Problems  zu 
gewinnen.  So  orientiert  sie  sich  durch  Induktion  und  Enumeration 
über  ihre  Aufgabe  und  arbeitet  zuerst  daran,  die  fraglichen  Punkte 
aufzuklären.  In  gleicher  Weise  hat  auch  die  Philosophie  zu  ver- 
fahren. Sie  muß,  um  sich  jenem  festen  Punkte  in  unserem  Denken 
zu  nähern,  systematisch  das  ganze  Reich  unserer  Vorstellungen 
analysieren,  von  den  dunkleren  zu  den  klareren  fortschreiten  und 
so  schließlich  alles  forträumen,  bis  unverkennbar  und  unleugbar 
die  Evidenz  des  ^einzig  gewissen  Gedankens  hervorspringt. 

Auf  diese  Weise  verlangt  Descartes,  daß  der  Anwendung  der 
synthetischen  Methode  eine  solche  der  analytischen  vorangeht, 


Synthesis  und  Analysis.  177 

damit  durch  die  letztere  der  Punkt  aufgefunden  werden  kann,  von 
dem  die  Synthesis  ausgehen  soll.  »Um  die  Wahrheit  methodisch 
zu  finden,  muß  man  die  verwickelten  und  dunklen  Sätze  stufen- 
weise auf  einfachere  zurückführen  und  dann  von  der  Anschauung 
dieser  letzteren  ausgehen,  um  ebenso  stufenweise  zu  der  Erkenntnis 
der  anderen  zu  gelangen.«  Bei  vollkommene j  Durchführung  wird 
also  in  diesem  System  alles  zweimal  vorkommen,  einmal  bei  der 
Aufsuchung  als  ein  Glied  unserer  ganzen  mehr  oder  minder  un- 
gewissen Vorstellungswelt,  und  das  andere  Mal  beim  Beweisen  als 
ein  Satz,  der  nun  von  jenem  Punkte  der  höchsten  Gewißheit  ab- 
geleitet und  damit  zur  Gewißheit  gebracht  worden  ist.  Descartes 
lehnt  also  auch  für  die  philosophische  Erkenntnis  die  Induktion 
nicht  vollkommen  ab,  allein  er  betrachtet  sie  nur  als  eine  Vor- 
bereitung für  die  eigentlich  beweisende  Wissenschaft,  als  deren 
Methode  ihm  nur  die  deduktive  Synthesis  gilt.  Infolgedessen  setzt 
sich  die  cartesianische  Methode  der  Philosophie  aus  zwei  Bestand- 
teilen zusammen,  die  miteinander  in  einer  Art  von  umgekehrter 
Korrespondenz  stehen.  Diese  Philosophie  nimmt  zuerst  einen  ana- 
lytischen Gang,  um  ihr  sachliches  Prinzip  methodisch  zu  finden,  und 
dann  von  diesem  aus  einen  synthetischen  Gang,  um  daraus  ihr  System 
methodisch  zu  erzeugen.  Sie  bildet  eine  Parabel,  deren  aufsteigen- 
der Ast  die  induktive  Untersuchung,  deren  absteigender  Ast  die 
deduktive  Entwicklung  ist.  Und  in  dem  Kulminationspunkte  dieser 
Parabel  steht  der  Gedanke,  welcher  einzig  unter  allen  mit  intuitiver 
Gewißheit  sich  geltend  machen  soll. 

Die  analytische  Betrachtung  der  Vorstellungen,  die  von  der 
großen  Masse  der  Menschen  und  von  der  bisherigen  Wissenschaft 
für  gewiß  ausgegeben  werden,  zeigt  nun  zunächst,  wie  unsicher 
und  schwankend  es  mit  dem  ganzen  Inhalte  unseres  Denkens  be- 
stellt  ist.  Wir  selbst  erleben  in  mancherlei  Richtungen  den  Wechsel, 
mit  dem  neue  Vorstellungen  die  alten  verdrängen,  um  selbst  bald 
wieder  als  irrig  erkannt  zu  werden.  Eine  natürliche  Leichtgläubig- 
keit, die  wir  mit  auf  die  Welt  bringen,  erfüllt  unsere  kindliche 
Phantasie  mit  einer  Menge  von  Bildern  und  von  Meinungen,  die  vor 
der  Erfahrung  schon  unserer  Knaben  jähre  nicht  standzuhalten 
vermögen.  In  dem  Augenblicke,  wo  wir  aufhören  an  Märchen  zu 
glauben,  wird  der  erste  Grund  des  Zweifels  in  uns  gelegt.  Aber 
auch  jene  Erfahrungen,  welche  die  Sinne  uns  zuführen,  sind  schwan- 

Windelband,   Gesch.  d.  n.  PhiloS.  I.  12 


178  Descartes. 

kend  und  unsicher.  Oft  erkennen  wir  sie  direkt  hinterher  als  Täu- 
schungen, und  was  sollen  wir  dazu  sagen,  daß  dasselbe  Ding, 
welches  sich  jetzt  hart  anfühlt,  nach  einer  Viertelstunde,  wenn  wir 
es  dem  Feuer  genähert,  sich  als  eine  Flüssigkeit  darstellt?  Welcher 
dieser  Wahrnehmungen  sollen  wir  glauben,  daß  sie  uns  die  wahre 
Natur  jenes  Dinges  zu  erkennen  gegeben  habe?  Und  schließlich, 
wer  steht  uns  dafür,  daß  nicht  alle  unsere  Sinneswahrnehmungen 
zu  der  Klasse  der  Halluzinationen  gehören,  die  wir  von  Zeit  zu 
Zeit  als  solche  durchschauen,  —  wer  dafür,  daß  sie  nicht  alle  einen 
Traum  bilden?  Auch  im  Traume  glauben  wir  ja,  die  Dinge  zu 
sehen,  zu  hören  und  zu  fühlen,  so  gewiß  und  zweifellos  wie  im 
Wachen;  und  erst,  wenn  wir  aufgewacht  sind,  merken  wir,  daß 
wir  getäuscht  worden  sind.  Woher  die  Gewißheit,  daß  nicht  auch 
das,  was  wir  jetzt  Wachen  nennen,  nur  ein  Traum  sei,  aus  dem 
wir  einst  staunend  erwachen  und  die  Täuschungen  erkennen  werden, 
die  er  uns  vorspiegelt?  Nur  das  Erwachen  ist  ein  Kriterium  für 
das  Träumen:  wie  nun,  wenn  wir,  ohne  es  zu  wissen,  durch  unser 
ganzes  Leben  hindurch  träumten?  Aber  der  Traum  vermag  nur 
die  Elemente  neu  zu  verknüpfen,  die  beim  Wachen  in  die  Seele 
aufgenommen  worden  sind.  Zugegeben,  daß  alle  Verbindungen, 
in  welchen  wir  die  Dinge  wahrzunehmen  glauben,  vielleicht  nur 
geträumt  sind,  so  würden  doch  die  Elemente,  die  wir  dabei  ver- 
knüpfen, als  richtig  gelten  müssen,  um  so  mehr,  als  wir  überzeugt 
sind,  daß  sie  durch  göttliche  Veranstaltung  uns  gegeben  wurden. 
Allein  wäre  es  denn  so  ganz  unmöglich,  daß  der  allmächtige  Geist, 
de  ssen  Absichten  wir  nicht  kennen  und  dessen  Batschläge  wir  nicht 
erforschen,  es  für  gut  befunden  hätte,  uns  zu  täuschen?  Oder 
wie  gar,  wenn  es  ein  Dämon  wäre,  der  sein  Gefallen  daran  fände, 
uns  mit  der  ganzen  Einrichtung  unseres  Intellekts  notwendig  in 
Irrtum  zu  verstricken?  Wenn  es  ihm  gefiel,  lauter  falsche  Vor- 
stellungen in  uns  zu  erwecken,  so  waren  wir  machtlos,  sie  zurück- 
zuweisen, und  noch  machtloser,  sie  mit  richtigen  zu  vergleichen 
und  ihre  Falschheit  zu  durchschauen.  So  gibt  uns  nichts  Gewißheit, 
daß  nicht  das  ganze  System  unseres  Denkens  ein  von  Grund  aus 
irriges  und  törichtes  Gewebe  sei,  und  wir  haben  allen  Grund,  an 
allem,  was  wir  bisher  gedacht  haben,  zu  zweifeln.  De  omnibus 
dubitandum  —  das  ist  das  Fazit,  zu  welchem  Descartes  in  der 
Prüfung  der  menschlichen  Vorstellungswelt  gelangt.    Der  grund- 


Grundsätzlicher  Zweifel.  179 

sätzliche  Zweifel  ist  der  Ausgangspunkt  seiner  Lehre;  sie  atmet 
jene  Atmosphäre  des  Skeptizismus,  welche  die  französischen  Geister 
seiner  Zeit  erfüllte,  und  sie  macht  diesen  Skeptizismus  so  methodisch 
und  so  durchgreifend,  wie  kaum  einer  unter  den  Skeptikern  selbst. 
Aber  der  Zweifel  hat  bei  Descartes  eine  ganz  andere  Stellung,  als 
bei  seinen  Zeitgenossen.  Er  ist  ihm  weder  ein  Mittel,  um  das  ge- 
ängstigte Gemüt  in  die  Arme  des  Autoritätsglaubens  zu  treiben, 
noch  eine  achselzuckende  Gleichgültigkeit  gegen  die  wechselnden 
Meinungen  der  Menschen,  sondern  er  wurzelt  bei  ihm  in  dem  vollen 
und  rückhaltlosen  Wahrheitsbedürfnis  eines  tiefen  Geistes,  und 
das  prinzipielle  Mißtrauen,  das  er  allen  ungeprüften  Meinungen 
entgegen  trägt,  wendet  er  vor  allem  gegen  sich  selbst.  Da  sein 
ganzes  Leben  eine  Selbstbelehrung  ist,  so  meidet  er  nichts  so  sorg- 
fältig, wie  jede  Art  der  Selbsttäuschung.  Aller  Streit  und  alles 
Schwanken  der  menschlichen  Ansichten  beruht  darauf,  daß  die 
meisten  zu  voreilig  und  ohne  genauere  Prüfung  an  den  Vorstellungen 
festhalten,  über  deren  Ursprung  sie  sich  ebensowenig  klar  sind, 
wie  über  ihre  Berechtigung.  Die  Einsicht  in  diese  Selbsttäuschungen 
ist  die  erste  Stufe  der  Selbstbelehrung.  Es  wiederholt  sich  in 
Descartes  das  sokratische:  »Ich  weiß,  daß  ich  nicht  weiß«.  Es 
geht  in  beiden  Fällen  aus  dem  Gewirre  der  widersprechenden  Mei- 
nungen, aus  der  Auffassung  von  der  Relativität  aller  menschlichen 
iVnsichten  hervor,  aber  es  ist  in  beiden  Fällen  auch  nur  der  Anfang 
und  nicht  das  Ende  der  Weisheit. 

Denn  auch  der  cartesianische  "Zweifel  ist  keine  "Verzweiflung. 
Es  ist  vielmehr  der  Ausgangspunkt  der  Gewißheit:  gerade  da- 
durch, daß  wir  an  allem  Inhalte  unseres  Denkens  zweifeln,  haben 
wir  einen  sicheren  Punkt  gewonnen.  Dieser  Zweifel  selbst  ist  eine 
Tatsache,  an  der  ich  nicht  zweifeln  kann,  und  diese  sagt  mir  un- 
widerleglich und  unumstößlich,  daß v  ich  mit  dieser  Denktätigkeit 
des  Zweifeins v wirklich  bin.  rjUm  zu  zweifeln,  muß  ich  existieren, 
und  zwar,  als  ein  bewußtes  Wesen  existieren.  Täuscht  mich  jemand, 
so  gehören  dazu  zwei:  der  Täuschende  und  ich  selbst,  der  ich  ge- 
täuscht werde,  und  zwar  gehöre  ich  dazu  als  ein  Wesen,  welches 
Vorstellungen,  wenn  auch  in  diesem  Falle  falsche,  haben  kann. 
Und  so  gibt  mir  der  Zweifel  selbst  die  unumstößliche  Gewißheit, 
daß  ich  als  ein  bewußtes  Wesen  existiere.  Wenn  wir  aus  unserer 
Vorstellungswelt  alles,  woran  wir  zweifeln  können,  entfernen,  so 

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1 80  Descartes. 

bleibt  nach  dessen  Abzug  doch  die  Tatsache  übrig,  daß  wir  vorstellende 
Wesen' sind.  Die  einzige  Gewißheit  somit,  auf  welche  die  Analyse 
unserer  Vorstellungen  führt,  ist  das  Selbstbewußtsein  des  denken- 
den Wesens,  welches  durch  den  Akt  des  Denkens,  der  den  Zweifel 
ausführt,  seiner  eigenen  Existenz  sich  unmittelbar  gewiß  ist.  Unter 
allen  Handlungen,  die  wir  ausführen,  besitzt  nur  die  eine  Hand- 
lung des  Vorstellens  die  volle  Selbstgewißheit  und  die  zweifellose 
Gewißheit  unserer  Existenz.  Daß  ich  spazieren  gehe,  kann  ich 
träumen.  Daß  ich  Vorstellungen  habe,  bleibt  eine  Wahrheit,  auch 
wenn  ich  nur  träumen  sollte,  gewisse  Vorstellungen  zu  haben :  denn 
Träumen  ist  selbst  eine  Art  des  Vorstellens.  Aus  allen  äußeren  Hand- 
lungen kann  ich  meine  Existenz  nur  dadurch  erschließen,  daß  ich 
mir  ihrer  bewußt  bin;  aus  dem  Denken  brauche  ich  meine  Existenz 
nicht  erst  zu  erschließen,  weil  sie  in  dem  Selbstbewußtsein  mit 
unmittelbarer  Gewißheit  enthalten  ist.  Darum  ist  der  Ausdruck 
des  cartesianischen  Prinzips  in  der  landläufigen  Form  des  »Cogito, 
ergo  sum«  weniger  glücklich  als  die  bloße  Zusammenstellung: 
»cogito,  sum«,  oder  »sum  cogitans«.  Denn  es  handelt  sich  wicht  um 
einen^Schluß  aus  einer  Tätigkeit  auf  ihr  Subjekt,  sondern  vielmehr 
um  jene  unmittelbare  und  unbedingte  Selbstgewißheit,  die  nur  dem 
Bewußtsein  innewohnt. 

Dies  ist  nun  der  große  Gegensatz,  worin  die  cartesianische 
Philosophie  zu  der  Baconschen  steht.  Für  die  letztere  ergibt  sich 
aus  der  Wahrnehmung  bei  vorsichtiger  Kritik  der  unmittelbar  ge- 
wisse Inhalt  des  Denkens,  für  die  erstere  dagegen  ist  aller  Denk- 
inhalt ungewiß  und  ein  Gegenstand  möglicher  Täuschung,  nur  das 
Denken  selbst  ist  die  einzig  gewisse  Tatsache.  Das  Selbstbewußt- 
sein ist  der  »ruhende  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht«.  Aus  dem 
Skeptizismus  rettet  sich  Descartes  auf  den  reinen  Kationalis mus: 
eine  zweifellose  Erkenntnis  wurzelt  ihm  nur  in  der  selbstbewußten 
Besinnung  des  Denkens.  Der  erste  und  alles  übrige  Wissen  be- 
dingende Punkt  für  die  erkennende  Vernunft  ist  sie  selbst.  Statt  der 
unendlichen  Mannigfaltigkeit  des  äußeren  Daseins,  von  welcher  die 
empiristische  Philosophie  ihren  Weg  beginnt,  ergreift  Descartes  die 
innerste  Tiefe  der  Erkenntnis  selbst,  und  seine  Lehre  bildet  in  dieser 
Hinsicht  die  Abklärung  aller  der  phantastischen  Versuche,  welche 
den  Menschen  als  Mikrokosmos  zum  Ausgangspunkte  der  Erkennt- 
nistheorie nehmen  wollten. 


Selbstbewußtsein.  181 

Nur^der  erkennende  Mensch  ist  der  Inhalt  der  Selbsterkenntnis, 
von  der  aus  Descartes  die  ganze  Philosophie  zu  gestalten  unter- 
nimmt. Daraus  ergeben  sich  sogleich  eine  Reihe  von  Einseitig- 
keiten, welche  die  durch  Descartes  bedingte  Richtung  des  Rationalis- 


mus charakterisieren:  zunächst  in  gewissem  Sinne  die  in  philo- 
sophischem Betracht  geringe  Schätzung  der  Erfahrungserkenntnis, 
welche  die  notwendige  Kehrseite  dieser  abstrakten  Selbstbesinnung 
der  Vernunft  bildete ;  sodann  der  vorwiegend  theoretische  Charakter  -L 
aller  davon  abhängigen  Untersuchungen  und  die  Tendenz,  auch  die 
Probleme  des  praktischen  Lebens  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
theoretischen  Vernunft  zu  begreifen;  endlich  besonders  in  psycho- 
logischer Hinsicht  die  Neigung,  das  Vorstellungsleben  für  die  einzige 
Grundfunktion  und  jedenfalls  für  die  bestimmende  Kraft  des  ge- 
samten seelischen  Organismus  zu  halten.  Der  Versuch,  die  ganze 
Welt  zu  rationalisieren,  trat  zunächst  als  lediglich  wissen- 
schaftliches System  in  der  Weise  auf,  daß  die  Vernunft  aus 
ihrer  Selbsterkenntnis  die  Einsicht  in  den  Zusammenhang  des  ver- 
nünftigen Universums  gewinnen  müsse,  und  sie  wurde  später  zu 
einer  praktischen  Überzeugung,  wonach  diese  vernünftige 
Einsicht  als  Maßstab  der  Kritik  für  alles  Bestehende  gelten  sollte, 
um,  wenn  dieses  Bestehende  für  unvernünftig  befunden  wurde,  es 
umzustoßen  und  an  seine  Stelle  aus  schöpferischer  Vernunft  heraus 
ein  neues  zu  setzen.  Mit  dieser  letzteren  Wendung  hat  der  Rationalis- 
mus das  Jahrhundert  der  Aufklärung  beherrscht  und  es  zu  dem- 
jenigen der  Revolution  gemacht.  Alle  die  Theorien,  mit  denen  es 
den  Zustand  der  menschlichen  Gesellschaft  umstürzen  zu  dürfen 
und  umgestalten  zu  können  meinte,  wurzelten  schließen  in  dieser 
Überzeugung,  daß  der  vernünftige  Menschengeist  sich  nur  auf  sich 
selbst  zu  besinnen  brauche,  um  das  Wahre  zu  finden,  um  das  Richtige 
zu  schaffen.  So  wurde  das  cartesianische  Selbstbewußtsein  zu  einer 
revolutionären  Macht,  indem  es  den  Menschen  lehrte,  die  Normen 
des  Denkens  und  des  Tuns  lediglich  aus  der  vernünftigen  Selbst- 
besinnung zu  schöpfen. 

Die  nächste  Folge  für  die  Lehre  von  Descartes  selbst  war  das 
erkenntnistheoretische  Prinzip,  daß  alles,  was  auf  den  Wert  der 
wissenschaftlichen  Wahrheit  Anspruch  macht,  sich  vor  dem  Denken 
mit  derselben ;/Klarheit  und  peutlichkeit  müsse  ausweisen 
können,   wie  das   Selbstbewußtsein.     Die  Unsicherheit,   die  allen 


182  Descartes. 

übrigen  Vorstellungen  beiwohnt,  beruht  zuletzt  immer  in  einem 
Reste  von  Unklarheit  und  Undeutlichkeit,  den  sie  an  sich  tragen, 
und  als  gesicherte  Wahrheit  darf  deshalb  nur  dasjenige  in  unseren 
Vorstellungen  gelten,  was  sich  ebenso  klar  und  deutlich  vor  dem 
Denken  auflöst,  wie  nach  der  Ansicht  Descartes'  unser  Selbst- 
bewußtsein. Als  ob  es  eindeutig  und  selbstverständlich  wäre,  was 
nun  eigentlich  dieses  unser,  seiner  Existenz  selbstgewisse,  Selbst- 
bewußtsein inhaltlich  ist!  Es  ist  merkwürdig,  daß  dieser  große 
Philosoph  niemals  die  Decke  von  den  Abgründen  der  Täuschung- 
gezogen  zu  haben  scheint,  welche  in  dem,  was  wir  unsere  Vor- 
stellung „von  uns  selbst  nennen,  enthalten  sind:  er  geht  vielmehr 
immer  von  der  Annahme  aus,  als  könne  es  gar  nichts  Einfacheres 
j  und  Durchsichtigeres  geben  als  diese  komplizierteste  und  verdich- 
tetste  unserer  Vorstellungen,  und  er  will  von  diesem  dunklen 
Hintergrunde  unseres  Seelenlebens  das  Licht  auf  alles  Wissen  fallen 
lassen. 

Es  fragt  sich  deshalb  für  ihn  zunächst,  ob  wir  die  Existenz 
irgend  eines jmderen  Wesens  mit  der  gleichen  Klarheit  und  Deutlich- 
keit erkennen  wie  unsere  eigene.  Was  wir  außer  uns  als  existierend 
anzunehmen  gewöhnt  sind,  teilen  wir  ein  in  Gott,  die  Engel,  die 
übrigen  Menschen,  die  Tiere  und  die  Körper.  Hier  meint  nun 
Descartes,  daß,  wenn  wir  neben  dem  Selbstbewußtsein  die  Vor- 
stellungen von^  Gott'  und  den  Körpern  haben,  wir  die  übrigen 
selbst  zu  bilden  imstande  sind,  und  es  fragt  sich  daher,  inwie- 
weit diese  beiden  als  gewiß  anzusehen  sind.  Da  alle  Erkenntnis 
der  Körper  durch  sinnliche  Erfahrung  vermittelt,  diese  aber  als 
etwas  durchaus  Unsicheres  bereits  dargetan  ist,  so  bleibt  nur  die 
Idee  vo^ Gott*  als  diejenige  übrig,  von  welcher  ein  Fortschritt  in 
der  Erkenntnis  zu  erwarten  steht.  Es  leuchtet  danach  ein,  daß 
der  berühmte  Beweis  für  das  Dasein  Gottes,  welchen  Descartes 
an  dieser  Stelle  gibt,  nicht  aus  einem  theologischen,  geschweige 
denn  aus  einem  persönlich  religiösen,  sondern  lediglich  aus  er- 
kenntnistheoretischem Interesse  entworfen  worden  ist:  Descartes 
würde  den  Begriff  der  Materie  ebenso  behandelt  haben,  wie  den- 
jenigen der  Gottheit,  wenn  er  ihm  hier  dieselben  Dienste  geleistet 
hätte  wie  dieser. 

Eben  deshalb  entwirft  Descartes  an  dieser  Stelle  seiner  Er- 
kenntnislehre (in  der  dritten  Meditation)  einen  neuen  und  eigen- 


Dasein  Gottes.  183 

artigen  Beweis  für  das  Dasein  Gottes.  In  dem  systematischen 
Gange  seiner  Betrachtungen  erscheint  die  Gottesidee  nur  auf  der 
anthropologischen  Grundlage,  und  es  ist  nicht  die  Idee  Gottes  als 
solche  an  und  für  sich,  sondern  die  Idee  Gottes^in  uns,  worauf 
sich  das  ganze  weitere  System  aufbaut.  Denn  in  uns  finden  wir 
mit  nicht  minder  großer  Klarheit  und  Deutlichkeit  wie  die  Vor- 
stellung von  uns  selbst  diejenige  der  Gottheit  als  eines  allerrealsten 
und  vollkommensten  Wesens.7  Wir  halten  uns  selbst  für  unvoll- 
kommen, und  wir  können  dies  nur,  indem  wir  uns  an  der  Idee 
des  vollkommenen  Wesens  messen.  Wir  haben  also  diese  Idee,  aber 
wir  können  sie  selbst  nicht  hervorgebracht  haben,  denn  es  ist  die 
Idee  von  einem  uns  an  Realität  unendlich  überragenden  Wesen. 
Daß  wir  sie  besitzen,  ist  somit  nur  zu  erklären,  wenn  sie  von  diesem 
allerrealsten  Wesen  in  uns  erzeugt  worden  ist.  »Daraus,  daß  ich 
existiere,  und  daß  ich  die  Idee  eines^ vollkommensten  Wesens'  habe, 
folgt  ganz  einleuchtend,  daß  uott  existiert. «  Das  ist  die  eigentüm- 
liche Verwebung  des  ontologischen  und  des  anthropologischen  Ele- 
mentes in  dem  cartesianischen  Gottesbeweise:  es  ist  im  Grunde  ge- 
nommen nur  der  tief  christliche,  von  Augustin  begrifflich  geprägte 
Gedanke,  daß  unser  Selbstbewußtsein,  indem  es  uns  unsere  eigene 
Unvollkommenheit  zeigt,  mit  dem  Gottesbewußtsein  auf  das  innigste 
verwachsen  ist ;  aber  diese  Idee  tritt  hier  ohne  das  Pathos  des  Sünden- 
gefühls und  ohne  die  religiöse  Wendung  des  Erlösungsbedürfnisses 
in  lediglich  erkenntnistheoretischer  Form  und  dabei  in  einer  Dar- 
stellung auf,  die  mit  einer  Menge  von  scholastischen  Ausdrücken, 
Begriffen  und  Voraussetzungen  namentlich  in  betreff  des  Kausal- 
verhältnisses durchsetzt  ist.  Hier  wie  in  Bacons  Induktionstheorie 
zeigt  die  neuere  Philosophie  noch  sehr  deutlich  erkennbar  die  Eier- 
schalen der  mittelalterlichen  Tradition. 

Bei  Descartes  ist  nun  die  weitere  Verwendung,  ja  eigentlich  die 
erkenntnistheoretische  Bedeutung  des  Gottesbegriffs  wesentlich  die, 
daß,  nachdem  die  Erkenntnis  der  Gottheit  als  des  allervollkommen- 
sten  Wesens  durch  das  Selbstbewußtsein  gesichert  erscheint,  der 
früher  hypothetisch  aufgestellte  Gedanke,  es  möchte  uns  ein  über- 
mächtiger Dämon  durch  die  Erkenntnis  des  »natürlichen  Lichtes« 
und  namentlich  mit  der  Vorstellung  von  der  Realität  der  Körper 
täuschen,  nunmehr  als  absurd  abgewiesen  wird.  Das  »lumen 
naturale  « ist  die  von  Gott,  der  nicht  täuschen  kann,  uns  eingepflanzte, 


134  Descartes. 

der  Wahrheit  gewisse  und  teilhaftige  Erkenntnisweise.  Aus  ihm 
entwickeln  sich  nunmehr  als  vollkommen  gewiß  und  zweifellos  die 
logischen,  die  mathematischen,  die  ontologischen  Wahrheiten,  ja 
darunter  jetzt  auch  (in  der  fünften  Meditation)  der  altscholastische 
ontologische  Beweis  des  Daseins  Gottes  aus  dem  Begriffe  des  aller- 
realsten  und  vollkommensten  Wesens  (quo  maius  concipi  non  potest). 
Allein  die  Tragweite  des  »lumen  naturale«  ist  für  Descartes  noch 
viel  größer.  Er  hält  daran  fest,  daß  zwar  nicht  unmittelbar,  aber 
doch  wenigstens  indirekt  von  Gott  durch  den  von  ihm  eingesetzten 
Naturlauf  alle  unsere  Vorstellungen  in  uns  erzeugt  werden,  und  er 
verfolgt  diesen  Gedanken  in  einer  Ausdehnung,  welche  nun  um- 
gekehrt die  Existenz  des  menschlichen  Irrtums  zu  einem  schwierigen 
Probleme  für  ihn  macht.  Wenn  Gott  nicht  täuschen  kann  und  die 
letzte  Ursache  aller  Vorstellungen  ist,  so  müßten  sie  doch  alle  richtig 
sein,  und  der  Irrtum  wäre  unmöglich.  So  steigt  vor  Descartes, 
sozusagen,  das  Problem  der  erkenntnistheoretischen  Sünde  auf,  und 
er  löst  es  wie  das  gesamte  christliche  Denken  durch  die  Annahme 
der  Willensfreiheit.  Die  Vorstellung  selbst,  welche  ich  empfange, 
ohne  sie  erzeugt  zu  haben,  enthält  niemals  einen  Irrtum,  sie  wird 
erst  dazu,  wenn  mein  Urteil  hinzutritt,  welches  diese  Vorstellung 
für  ein  Abbild  der  Dinge  hält,  und  dieses  Urteil  ist  ein  Akt  des  Willens, 
eine  Bejahung  oder  Verneinung.  Wenn  nun  unvollständige  Vor- 
stellungen in  mir  hervorgerufen  sind,  und  ich  doch  mit  ihnen  gern 
urteilen  möchte,  weil  der  Wille  weiter  reicht  als  der  Verstand,  so 
entspringt  ein  falsches  Urteil,  an  welchem  jene  Vorstellungen  nicht 
schuld  sind,  sondern  nur  mein  Wille.  Aller  Irrtum  —  das  ist  die 
große  Bedeutung  dieser  tiefen  Einsicht  von  Descartes  —  ist  Selbst- 
täuschung. Weder  Gott  noch  irgend  ein  Mensch  oder  irgend  ein 
Ding  vermag  uns  zu  täuschen;  die  Vorstellungen,  die  ohne  unser 
Zutun  in  uns  entstehen,  sind  weder  wahr  noch  falsch:  sie  werden 
wahr  und  falsch  erst,  indem  wir  das  Urteil  fällen,  daß  ihrem  In- 
halte Existenz  zukomme.  Im  Zustande  der  Halluzination  oder 
des  Traumes  ist  es  eine  zweifellose  Gewißheit,  daß  ich  die  betreffende 
Empfindung  habe:  die  Täuschung  beginnt  erst  damit,  daß  ich 
urteile,  ihr  Inhalt  sei  wirklich.  Dieses  Urteils,  meint  Descartes, 
ähnlich  wie  im  Altertum  die  Skeptiker  und  die  Stoiker,  kann  der 
freie  Wille  sich  enthalten,  und  deshalb  ist  er  allein  an  dem  falschen 
Urteile  schuld.    Er  darf  deshalb,  will  er  nicht  der  Selbsttäuschung 


Rationalismus.  185 

verfallen,  erst_dann  urteilen,  wenn  er  die  Kriterien  der  Wahrheit, 
die,,  Klarheit  und  Deutlichkeit  in  den  Vorstellungen,  erreicht  hat. 
Von  besonderer  Wichtigkeit  wird  diese  Lehre  nun  dadurch, 
daß  Descartes  den  Gegensatz  von  ^Klarheit  und  Unklarheft,  Deut- 
lichkeit und  Undeutlichkeit  mit  demjenigen  von  rationaler  Be- 
trachtung und  sinnlicher  Erfahrung  identifiziert.  Diese 
Gleichsetzung,  die  ihrem  geschichtlichen  Ursprünge  nach  auf 
Duns  Scotus  zurückweist  und  bei  Descartes  auch  mehr  vorausgesetzt 
und  behauptet,  als  einer  Prüfung  und  einem  Beweise  unterzogen 
wurde,  ist  für  die  gesamte  rationalistische  Erkenntnistheorie  so  lange 
entscheidend  gewesen,  bis  Kant  sich  und  die  Philosophie  von  ihr  be- 
freite. Bei  Descartes  begegnet  uns  überall  die  Annahme,  daß  die 
Denktätigkeit  des  Verstandes,  solange  sie  rein  in  sich  selbst  bleibt, 
eo  ipso  nur  klare  und  deutliche  Vorstellungen  entwickle,  daß  da- 
gegen die  sinnliche  Wahrnehmung  als  solche  nur  eine  unklare  und 
undeutliche,  eine  getrübte  Erkenntnis  zu  bieten  vermöge.  Es  hing 
das  auch  mit  einem  Vorurteile  zusammen,  das  man  über  die  mathe- 
matische Erkenntnisweise  bis  zu  Kant  hin  hegte.  Man  übersah 
vollständig  —  und  auch  darin  stimmten  die  Empiristen  merk- 
würdigerweise durchaus  mit  den  Rationalisten  überein  —  die  an- 
schauliche Grundlage  alles  mathematischen  Erkenntnisfortschrittes 
und  glaubte  in  dem  System  der  Geometrie  ein  Werk  des  reinen 
Verstandes  bewundern  zu  können.  Indem  daher  Descartes  die  Ge- 
samtwissenschaft als  eine  Universalmathematik  zu  entwickeln  hoffte, 
glaubte  er  auch  diese  nur  durch  die  Operationen  des  reinen  Denkens 
erzeugen  zu  können  und  stellt  als  den  leitenden  Grundsatz  den- 
jenigen auf,  daß  von  unserer  Vorstellung  der  Welt  nur  so  viel  gewiß 
und  richtig  ist,  als  wir  mit  dem  bloßen  Denken  klar  und  deutlich 
zu  erkennen  vermögen.  Jenes  innere  Bedürfnis  schattenloser  Klar- 
heit, das  für  ihn  selbst  der  persönliche  Antrieb  zum  Nachdenken 
war,  gestaltete  sich  unter  seinen  Händen  zu  einem  methodologischen 
Prinzip,  welches  mehr  als  ein  Jahrhundert  beherrschen  sollte,  und 
zu  der  Überzeugung,  daß  die  Vernunft  alle  .Klarheit  und 
Deutlichkeit  nur  sich  selbst  verdanken  könne.  Von  diesem 
Gesichtspunkt  aus  betrachtet  ist  die  cartesianische  Philosophie  der 
Akt  der  Mündigkei Verklärung  des  modernen  Denkens.  Sie  hat 
die  Freiheit  und  die  Selbstherrlichkeit  der  Vernunft  für  die 
Grundlage  aller  Wissenschaft  erklärt,  und  wenn  sie  aus  diesem  Prinzip 


186  Descartes. 

eine  Keine  einseitiger  und  verfehlter  Folgerungen  gezogen  hat,  so 
bleibt  ihr  doch  das  hohe  Verdienst,  die  innerste  Triebkraft  des 
modernen  Denkens  mit  vollendeter  Klarheit  und  Nüchternheit  pro- 
klamiert zu  haben. 

Dieser  Rationalismus  hat  nun  bei  Descartes  und  noch  mehr 
bei  seinen  Schülern  einen  für  die  weitere  Entwicklung  sehr  ein- 
flußreichen Ausdruck  gefunden.    Da  nämlich  aller  Denkinhalt,  den 

der  menschliche  Geist  während  seines  Lebens  aufnimmt  (ideae  ad- 

..... 
venticiae),  in  den  sinnlichen  Vorstellungen  besteht,  diese  aber  als 

unklar  und  undeutlich  gelten,  so  mußten  anderseits  die.  klaren  und 
deutlichen  Ideen  einen  ursprünglichen  Besitz  der  Seele,  einen  ihr 
von  Anfang  an  mitgegebenen  Schatz  bilden.  Diese  Folgerung  war 
nicht  notwendig  mit  der  Annahme  verbunden,  daß  die  Seele  sich 
dieses  ihres  Inhaltes  von  jeher  bewußt  sein  müsse:  aber  sie  konnte 
so  aufgefaßt  werden  und  ist  so  aufgefaßt  worden.  Jedenfalls  ergab 
sich  daraus  für  den  Cartesianismus  der  Satz,  daß  alles  wahre  philo- 
sophische Wissen  in  eingeborenen  Ideen  (ideae  innataejübesteht, 
und  dieser  Satz  sollte  in  der  Folgezeit  zum  Stichwort  des  Ra- 
tionalismus werden. 

Gegenüber  diesen  methodologischen  Errungenschaften  tritt  der 
Wert  der  Weltanschauung,  welche  Descartes  auf  dieser  Grundage 
mit  den  Kenntnissen  seiner  Zeit  entwickelte,  verhältnismäßig  mehr 
zurück.  Gleichwohl  sind  ihre  Grundzüge  für  die  Problemstellung 
der  folgenden  Systeme  so  wichtig  geworden,  daß  sie  nicht  über- 
gangen werden  dürfen.  Es  gilt  das  namentlich  von  seiner  Lehre 
von  den  Substanzen.  Er  hat  den  Begriff  dev  Substanz* in  eigen- 
tümlicher Weise  nach  mehreren  Richtungen  hin  derartig  ausgeprägt, 
daß  er  dem  späteren  Denken  mannigfache  Ansatzpunkte  gab.  Denn 
dieser  Begriff  findet  in  der  cartesianischen  Philosophie  eine  ver- 
schiedene Fassung,  je  nachdem  er  auf  Gott  oder  auf  die  endlichen 
Dinge  angewendet  wird.  W^enn  Descartes  es  für  das  Wesen  der 
Substanz  erklärt,  in  ihrer  Existenz ,  unabhängig  von  anderen  Sub- 

//  ff  <~J  <z> 

stanzen  zu  sein,  so  gilt  dies  im  vollen  Sinne  des  Wortes  natürlich 
nur  von  der  unendlichen  Substanz,  der  Gottheit;  von  den 
endlichen  Substanzen  dagegen  nur  in  dem  Sinne,  daß  sie  ein- 
ander für  ihre  Existenz  nicht  bedürfen.  Dies  ist  der  Punkt,  von 
welchem  aus  man  am  klarsten  die  Lehren  von  Spinoza  und  Leibniz 
übersieht.     Sobald  mit  dem  cartesianischen  Substanzbeeriff  voller 


Substanzenlehre.  187 

Ernst  gemacht  wurde,  so  mußten  entweder  die  endlichen  Sub- 
stanzen, wenn  man  an  ihrer  Abhängigkeit  von  der  unendlichen 
festhielt,  den  Charakter  der  Substantialität  verlieren,  oder  ander- 
seits, wenn  man  diesen  nicht  fallen  lassen  wollte,  die  volle  Selbständig- 
keit erhalten.  Bei  Descartes  dagegen  ist  diese  Zweideutigkeit  in  der 
Anwendung  des  Substanzbegriffes  nicht  vermieden,  sondern  vielmehr 
mit  vollem  Bewußtsein  festgehalten,  und  seine  Lehre  ist  dadurch 
ein  bezeichnender  Ausdruck  jener  Ungewißheit,  worin  sich  das 
abendländische  Denken  der  Frage  nach  der  ^Selbständigkeit  der 
endlichen  Wesen  gegenüber  stets  bewegt  hat.  Die  unendliche  Sub- 
stanz wird  bei  ihm  nicht  nur  als  die  schöpferische  Ursache  der  end- 
lichen, sondern  auch  die  letzteren  in  der  Weise  übergreifend  ge- 
dacht, daß  sie  auch  im  Geschehen  das  Bindeglied  zwischen  ihnen 
bildet.  Wie  der  Gottesbegriff  schon  die  erkenntnistheoretische  Kolle 
spielt,  dem  Geiste  die  Gewißheit  seiner  Erkenntnis  durch  das 
»natürliche  Licht«  zu  gewährleisten,  so  teilt  ihm  Descartes  auch 
die  metaphysische  Bedeutung  zu,  jenen  Zusammenhang  der  geistigen 
und  der^  körperlichen  Welt  zu  vermitteln,  welcher,  obwohl  eine 
offenkundige  Tatsache,  aus  dem  Wesen  dieser  Substanzen  selbst 
nicht  begreiflich  erscheint. 

Denn  in  bezug  auf  die  beiden  Arten  der  endlichen  Substanzen, 
die  Geister  und  die  Körper,  hält  er  an  der  vollen  Ausschließlichkeit 
des  Seins  fest,  und  in  dieser  Hinsicht  übernahm  durch  Descartes 
die  moderne  Philosophie  von  der  mittelalterlichen  die  ganze  Schroff- 
heit der  Entgegensetzung  von  psvchischem  und  physischem  Leben, 
welche  jene,  namentlich  in  den  Lehren  der  französischen  Mystiker, 
der  Victoriner,  ausgebildet  hatte.  Die  Einsicht  in  den  prinzipiellen 
Unterschied  dieser  beiden  großen  Teile  unseres  Erfahrungsinhaltes, 
durch  die  Entwicklung  der  platonischen  Philosophie  zuerst  ge- 
wonnen, hatte  im  Fortgange  des  europäischen  Denkens  sich  immer 
mehr  vertieft  und  war  durch  die  Komplikation  mit  religiösen  Auf- 
fassungen so  weit  befestigt  worden,  daß  die  Kluft,  welche  man 
zwischen  der  Welt  des  Geistes  und  derjenigen  der  Materie  an- 
nahm, sich  immer  mehr  erweiterte,  und  daß  für  die  gesamte  meta- 
physische Auffassung  die  Natur  immer  mehr  entgeistigt  und  die 
geistige  Welt  von  der  Materie  immer  unabhängiger  gemacht  wurde : 
und  auf  diese  Weise  kräftigte  sich  von  allen  Seiten  her  jener  Dualis- 
mus, der  Natur  und  Geist  völlig  auseinanderzureißen  strebte.     In 


138  Descartes. 

den  Bewegungen  des  modernen  Denkens  trat  vielfach  ein  bewußter 
Gegensatz  gegen  diesen  Dualismus  hervor,  und  sowohl  die  italienische 
Naturphilosophie  als  auch  die  Theosophie  der  deutschen  Mystik 
drängten  auf  seine  Überwindung  mit  der  Energie  hin,  die  sich  erst 
später  in  den  großen  Systemen  der  deutschen  Philosophie  entfalten 
sollte.  Es  ist  eine  entschiedene  Abhängigkeit  Descartes'  von  der 
mittelalterlichen  Philosophie,  daß  er  diesen  Dualismus  wie  einen 
selbstverständlichen  behandelte  und  ihm  sogar  ein  so  schroffes  Ge- 
präge gab,  wie  es  vor  ihm  noch  kaum  dagewesen  war.  Er  wollte 
die  beiden  Welten  der  geistigen  und  der  körperlichen  Substanzen 
als  etwas  vollkommen  Geschiedenes  behandeln  und  tat  alles,  was 
diese  Ansicht  unterstützen  konnte,  bis  er  auf  einen  Punkt  stieß,  wo 
es  selbst  ihm  nicht  mehr  möglich  erschien. 

Was  auf  der  einen  Seite  die  Kör  per  weit  anbetrifft,  so  wendet 
Descartes  auf  sie  sein  erkenntnistheoretisches  Grundprinzip  zuerst 
in  der  Weise  an,  daß  ihm  in  unserer  Vorstellung  von  ihr  nur  so 
viel  als  wahr  gilt,  als  wir^klar  und  deutlich  durch  das  Denken  zu 
erfassen  vermögen.  Das  wahre  Attribut  der  körperlichen  Substanzen 
ist  nur  dasjenige,  welches  das  klare  und  deutliche  Denken  erkennen 
kann.  Die  Beschaffenheiten  der  Körper,  die  uns  die  Empfindung 
und  die  darauf  gegründete  Einbildung  lehrt,  können  ihnen  nicht 
in  Wahrheit  zukommen;  denn  alle  Empfindung  ist  nach  cartesia- 
nischer  Lehre  nur  eine*  unklare  und  undeutliche"  Vorstellung,  eine 
Wirkung  auf  uns,  eine  Art,  wie  die  Körper  uns  erscheinen,  und  es 
ist  der  ursprünglichste,  wenn  auch  der  verbreit etste  aller  Irrtümer, 
diese  Erscheinungsart  für  ihr  Wesen  zu  ha^en.  Das  wahre  Attribut 
des  Körpers  kann  deshalb  nur  dasjenige  sein,  welches  nach  Abzug 
der  sinnlichen  Qualitäten  vor  dem  Urteile  des  Verstandes  bestehen 
bleibt,  und  das  ist  seine  räumliche  Ausdehnung.  Die  sinnliche 
Wahrnehmungs Vorstellung  (imaginatio)  zeigt  uns  die  Dinge  quali- 
tativ bestimmt:  das  Denken  (intellectio)  hat  die  Aufgabe,  die  quanti- 
tativen Verhältnisse  festzustellen,  welche  das  reale  Wesen  jener 
Erscheinungen  ausmachen.  So  bestimmt  Descartes  die  Aufgabe  der 
Physik  (in  der  sechsten  Meditation)  ganz  wie  Galilei  als  Keduktion  der 
qualitativen  auf  quantitative  Bestimmungen :  und  die  methodischen 
Vorschriften,  die~ef~  fürTIe  Lösung  dieser  Aufgabe  als  Physiker 
gibt,  stimmen,  wie  schon  im  Discours  de  la  methode,  in  sehr  merk- 
würdiger Weise  mit  denen  der  Baconschen  »Induktion«   überein. 


Naturphilosophie.  189 

Sachlich  aber  nimmt  danach  die  cartesianische  Naturphilosophie 
noch  eine  speziell  mathematische  Wendung:  die  Körper  sind  für 
sie  Raumgrößen,  ihr  physikalisches  Wesen  ist  identisch  mit  einem 
geometrischen  Gebilde,  und  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sucht 
Descartes  alle  Eigenschaften  der  Körper  und  alle  Gesetze  des  natür- 
lichen Geschehens  zu  begreifen.  Da  ihm  die  Körperwelt  mit  dem 
Räume  identisch  ist,  so  betrachtet  er  sie  als  ein  unendliches  Kon- 
tinuum  und  polemisiert  gegen  die  Annahme  der  Endlichkeit  der 
Welt.  Die  Materie  denkt  er  sich  nach  jener  Korpuskulartheorie, 
die  sich  aus  einer  eigenartigen  Umbildung  der  in  der  humanistischen 
Tradition  erneuerten  Atomlehre  Demokrits  ergeben  hatte :  die  letz- 
ten Bestandteile  sind  kleine,  realiter  nicht  mehr  teilbare,  nach  Gestalt 
und  Größe  verschiedene  Körperstücke.  Aus  ihnen  setzen  sich  die 
empirisch  wahrnehmbaren  Körper  zusammen;  aber  da  es  keinen 
leeren  Raum  gibt,  so  ist  alles  physikalische  Geschehen  für  Descartes 
nur  eine  Verschiebung  der  Lage  der  Korpuskeln  im  Verhältnis  zu- 
einander. Die  Körper  erscheinen  ihm  nur  als  wechselnde  Teile 
und  Gestaltungen  des  unendlichen  Raumes,  und  was  man  sonst 
Bewegung^nennt,  ist  für  ihn  nur  eine  örtliche  Veränderung  in  dieser 
Teilung  des  kontinuierlichen  Raumes.  Es  ist  klar,  daß  diesen 
Raumgrößen  keine  selbständige  Bewegungskraft  innewohnen  kann, 
daß  somit  nach  dieser  Lehre  alle  Kraft,  welche  sie  zu  entwickeln 
scheinen,  nur  als  geborgt  gelten  darf,  und  der  ganze  Naturprozeß 
erscheint  deshalb  für  Descartes  nur  als  eine  Übertragung  der  gött- 
lichen Kraft  von  Raumteil  auf  Raumteil.  Aus  der  Unveränderlich- 
keit  Gottes  leitet  er  das  Gesetz  der  Trägheit  in  der  Weise  ab,  daß 
er  zeigt,  wie  die  Summe  dieser  Bewegung  immer  dieselbe  bleiben 
müsse,  weil  ja  in  der  Körperwelt  selbst  weder  neue  Bewegung- 
en tstehen,  noch  die  vorhandene  vernichtet  werden  könne.  Alles 
Geschehen  in  der  Natur  besteht  deshalb  in  der  Übertragung  dieser 
göttlichen  Bewegung  von  einem  Teile  auf  den  andern.  Das  mecha- 
nische Prinzip  des  Stoßes  mit  seiner  Gleichheit  von  Wirkung  und 
Gegenwirkung  muß  alle  Erscheinungen  erkären.  So  gelangt  Descartes 
in  ganz  anderem  Zusammenhange  als  Bacon  zu  derselben  Aus- 
schließung aller  teleologischen  Erklärung,  wie  dieser:  bei 
dem  französischen  Philosophen  wurzelt  sie  in  einer  bewußten  und 
gewollten  Abhängigkeit  von  der  Mechanik,  und  es  ist  nicht  zum 
wenigsten  sein  Einfluß  gewesen,  der  diese  Wissenschaft  mit  dem 


190  Descartes. 

ganzen  Glänze  der  Erfolge,  welche  sie  im  XVII.  und  XVIII.  Jahr- 
hundert aufzuweisen  hatte,  zu  der  tonangebenden  Naturwissenschaft 
gemacht  hat.  Schon  Descartes  selbst  machte  den  Versuch,  die 
astronomischen  Verhältnisse  auf  dem  rein  mechanischen  Wege  zu 
erklären,  und  da  sein  Prinzip,  wonach  alle  Bewegung  nur  als  über- 
tragen aufgefaßt  und  die  Kealität  des  leeren  Raumes  ausgeschlossen 
werden  sollte,  eine  Wirkung  in  die  Ferne  undenkbar  erscheinen  ließ, 
so  versuchte  er,  den  gegenwärtigen  Bestand  des  Planetensystems, 
in  dessen  Auffassung  er  sich  ganz  an  Kopernikus  anschloß,  durch 
eine  Wirbelbewegung  des  Äthers  begreiflich  zu  machen.  Besonders 
bemerkenswert  aber  ist  seine  Anwendung  dieses  mechanischen 
Prinzips  auf  die  Physiologie.  Auch  die  scheinbar  zweckmäßigen 
Bewegungen  der  Organismen  betrachtet  er  unter  dem  Gesichtspunkte 
der  mechanischen  Kausalität;  und  die  Tiere  gelten  ihm  nur  als 
überaus  feine  Maschinen.  Als  die  Triebkraft  des  tierischen  Mechanis- 
mus bezeichnet  er  —  in  Abhängigkeit  von  der  Harveyschen  Ent- 
deckung —  das  Blut  und  die  darin  (nach  der  alten  peripatetisch- 
stoischen  Lehre)  sich  entwickelnden,  jedoch  im  rein  materiellen 
Sinne  gemeinten  »Lebensgeister«.  Er  begreift  dabei  vollkommen 
den  Doppelprozeß,  worin  die  von  der  Außenwelt  auf  den  Organis- 
mus ausgeübten  Reize  sich  auf  dessen  inneren  Leitungsbahnen  bis 
zu  zentralen  Punkten  fortpflanzen,  um  sich  von  dort  aus  auf  anderen 
Bahnen  in  den  Bewegungen  der  äußeren  Organe  zu  entladen,  und 
er  glaubt  als  das  allgemeine  Zentrum  dieser  zentripetalen  und  zentri- 
fugalen Bewegungen  einen  Teil  des  Gehirnes  erkannt  zu  haben, 
welchen  die  Anatomie  als  Zirbeldrüse  (conarium)  bezeichnet.  Wert- 
voller als  diese  durchaus  willkürliche  Annahme  ist  das  Gewicht, 
das  er  für  ihre  Bestätigung  und  für  die  Ausführung  der  dahin  ein- 
schlagenden Untersuchungen  auf  diejenigen  Experimente  legte,  die 
man  schon  damals  in  den  holländischen  Ärzteschulen  über  Reflex- 
bewegungen veranstaltete. 

Diejenige  Stellung,  welche  in  der  cartesianischen  Naturphilo- 
sophie der  Ausdehnung  als  dem  Attribut  der  körperlichen  Sub- 
stanzen zukommt,  nimmt  in  seiner  Geisteslehre  das  Bewußtsein 
oder  das  Denke n  (cogitatio)  als  das  Attribut  der  Geister  ein:  sie 
sind  res  cogitantes.  Doch  versteht  er  anderseits  unter  »Cogi- 
tatio« die  Gesamtheit  der  ^seelischen  Tätigkeit  in  der  Weise,  wie 
wir  es  jetzt  etwa  mit  dem  Worte  »Bewußtsein«  bezeichnen  würden. 


Psychologie.  191 

Gleichwohl  kommt  auch  darin  bei  Descartes  das  Übergewicht  des 
Theoretischen  zum  Ausdruck.  Wie  der  Körper  nie  ohne  Ausdehnung, 
so  ist  nach  seiner  Lehre  die  Seele  nie  ohne  »Denken«.  Aber  die 
Vorstellung  bildet  ihm  deshalb  auch  die  eigentliche  Substanz  alles 
geistigen  Seins,  von  der  alle  übrigen  psychischen  Tätigkeiten  nur 
Modifikationen  sind.  Gefühl  und  Wille  erscheinen  bei  Descartes 
im  Grunde  genommen  nur  als  Vorstellungsverhältnisse,  und  die 
Lehre  von  der  Willensfreiheit,  mit  der  er  auch  das  Problem  des 
Irrtums  löste,  gestaltet  sich  gerade  dadurch  zu  einer  schlimmen 
Inkonsequenz.  Denn  in  seiner  psychologischen  Theorie  sucht  er 
nach  scholastischem  Muster  auszuführen,  daß  der  Wille  durch- 
gängig von  def  Vorstellung  abhängig  sei.  Die  Bejahung  des  Willens 
ist  ihm  identisch  mit  einer^Erkenntnis  von  dem  Werte  des  Ge- 
.wollten :  etwas  für  gut  erkennen,  ist  so  viel  wie  es  begehren,  etwas 
für  schlecht  erkennen,  so  viel  wie  es  verabscheuen.  Hierin  zeigt 
sich  die  ganze  Einsißlaigkeit,  zu  welcher  Descartes  durch  das  erkennt- 
nistheoretische Prinzip  des<  Selbstbewußtseins'  sich  verleiten  ließ, 
indem  er  sich  nicht  von  dem  Gedanken  losmachen  konnte,  dieses 
bringe  dem  Geiste  seine  eigene  Existenz  wesentlich  in  der  Form  des 
Vorstellens  zur  Gewißheit.  Die  Konsequenz  davon  war  die,  daß 
auch  seine  ethische  Überzeugung,  auf  deren  Ausführung  er  freilich 
bei  der  rein  theoretischen  Neigung  seines  Denkens  weniger  Gewicht 
legte,  den  Stempel  dieser  Einseitigkeit  an  sich  trug.  Der  sittliche 
Unterschied  von  »gut«  und  »böse«  war  für  ihn  nur  aus  demjenigen 
von  »wahr«  und  »falsch«  abzuleiten.  Ist  der  Wille  nur  eine  Modi- 
fikation des  Vorstellens,  so  hängt  sein  Wert  auch  lediglich  von  dem- 
jenigen der  Vorstellung  ab,  die  ihn  leitet,  und  der  letztere  kann  nur 
der  erkenntnistheoretische  des  Richtigen  oder  des  Unrichtigen  sein. 
Eine  Handlung  wird f. gut  sein,  wenn  der  ihr  zugrunde  liegende  j 
Gedanke  eine_adäquate  Erkenntnis  war,  sie  ist  böse,  wenn  er  eine 
unrichtige  Erkenntnis  enthielt.  Da  nun  nach  der  cartesianischen 
Lehre  lediglich  das  Denken  des  Verstandes  als  wahre  Erkenntnis, 
die  sinnvollen  I^pfind^mgen  dagegen  als,  inadäquate,  dunkle  und 
verworrene  Vorstellungen  galten,  so  führte  dies  zu  der  echt 
rationalistischen  Folgerung,  daß  nur  diejenigen  Handlungen  als, gut 
angesehen  werden  dürfen,  welche  aus  klarer  und  deutlicher  Erkennt- 
nis der  Vernunft  hervorgegangen  sind.  Dieselbe  Vernunft,  welche 
der  Angelpunkt  seiner  theoretischen  Philosophie  war,  wurde  auch 


192  Descartes. 

das  Prinzip  seiner  Moral,  und  der  Charakter  abstrakter  Ver- 
nünftigkeit, der  sein  persönliches  Wesen  ausmachte,  beherrscht 
somit  seine  gesamte  Philosophie.  In  diesem  Geiste  hat  Descartes 
der  gesamten  Aufklärung  die  Wege  gewiesen.  Wie  das  XVIII. 
Jahrhundert  mit  allen  seinen  psychologischen  Theorien  das  Denken 
für  die  bestimmende  Grundmacht  des  psychischen  Lebens  erklärte, 
so  huldigte  es  in  allen  sittlichen  Fragen  der  Überzeugung,  daß  die 
Betätigung  der  auf  sich  selbst  besonnenen  Vernunft  die  höchste 
Aufgabe  des  Menschen  bilden  und  die  entscheidende  Macht  in  der 
Gestaltung  des  gesellschaftlichen  Lebens  werden  müsse. 

In  dieser  Weise  sucht  Descartes  die  körperliche  und  die  geistige 
Welt  jede  für  sich  und  jede  aus  ihrer  Grundeigenschaft  zu  begreifen, 
und  er  hält  daran  fest,  beide  soweit  als  möglich  voneinander  zu 
trennen,  den  Vorgang  de~  Bewegungen  in  jeder  von  ihnen  so  auf- 
zufassen, als  ob  die  andere  nicht  da  wäre.  Es  geschieht  zu  diesem 
Zwecke,  wenn  er  die  Prozesse  der  sinnlichen  Empfindung,  die 
Vorgänge  des  Gedächtnisses  und  die  sinnlichen  Triebe  als  rein 
körperliche  Bewegungen  auffaßt;  er  gewinnt  freilich  dadurch 
die  Möglichkeit,  das  Vorhandensein  dieser  Tätigkeiten  in  den  Tieren, 
die  er  ja  lediglich  für  materielle  Maschinen  erklärt  hatte,  als  voll- 
kommen mit  seiner  Theorie  übereinstimmend  anerkennen  zu  können, 
und  das  Wesen  der  geistigen  Substanz  bleibt  für  ihn  dadurch  um 
so  mehr  auf  das  rein  vernünftige  Denken  beschränkt.  Allein  trotz- 
dem bleibt  nun  eine  Tatsache  übrig,  welche  für  seine  Lehre  zu 
einem  schwerwiegenden  Problem  wird  und  ihn  nötigt,  die  Strenge 
seines  Dualismus  wenigstens  an  diesem  Punkte  aufzugeben.  Diese 
Tatsache  besteht  in  den  Affekten  und  Leidenschaften,  in 
denen  zweifellos  auch  die  »denkende  Substanz«  tätig  ist  und  welche 
doch  aus  der^Klarheit  und  Deutlichkeit  des  vernünftigen  Denkens 
so  wenig  erklärbar  erscheinen,  daß  sie  vielmehr  das  direkte  Gegenteil 
davon  ausmachen.  Und  an  diesem  Probleme  der  A  *f ekte  und  Leiden- 
schaften nimmt  die  cartesianische  Philosophie  ein  um  so  größeres 
Interesse,  als  sie  gerade  die  wesentlichste,  ja  im  Grunde  genommen 
die  einzige  Hemmung*  für  jene  Klarheit  und  Deutlichkeit  des  Denkens 
bilden,  welche  ihr  Ideal  ausmacht.  Aus  der  Natur  der  denkenden 
Substanz  ist  die  Trübung,  welche  diese  Zustände  in  die  Vor- 
stellungswelt bringen,  nicht  zu  erklären,  ebensowenig  aber  aus  einer 
göttlichen  Einwirkung,  da  man  unmöglich  annehmen  kann,  daß 


Lehre  von  den  Passionen.  193 

diese  Zustände  der  Unvollkommenheit  und  der  Sünde  von  Gott  in 
uns  hervorgerufen  worden  sind.  So  bleibt  für  Descartes  nichts 
übrig,  als  darin  eine  Tatsache  zu  konstatieren,  die  zwar  durch 
anthropologische  Erfahrung  festgestellt,  aber  aus  dem  ganzen  System 
nicht  begründet  werden  kann  —  die  Tatsache  nämlich,  daß  die 
Affekte  und  Leidenschaften  aus  einer  Einwirkung  des  Körpers  auf 
die  Seele  hervorgehen.  Indem  Descartes  sich  diesen  Vorgang  zu 
veranschaulichen  sucht,  gelangt  er  zu  der  Annahme,  daß  die  bewußte 
Substanz  der  menschlichen  Seele  ihren  räumlichen  Sitz  in  jener 
Zirbeldrüse  habe,  die  er  als  den  Zentralpunkt  des  physiologischen 
Organismus  und  als  die  Stelle  bezeichnet  hatte,  wo  die  zentripetalen 
Vorgänge  sich  in  zentrifugale  umsetzen.  Hier,  glaubt  er,  bliebe 
der  Tumult  der  im  Blute  erregten  Lebensgeister  nicht  ohne  Einfluß 
auf  die  Seele,  imd  diese  Einflüsse  übten  auf  sie  jene  störenden  und 
trübenden  Wirkungen  aus,  die  wir  in  den  Affekten  und  Leiden- 
schaften konstatieren  können.  War  erst  einmal  so  der  Ursprung 
gewisser  Affektzustände  gewonnen,  so  meinte  Descartes  aus  ihnen 
durch  die  Vermittlung  der  Vorstellungsbewegungen  die  ganze 
Mannigfaltigkeit  dieser  Zustände  als  eine  natürliche  und  notwendige 
Entwicklung  begreifen  zu  können.  Er  setzte  deshalb  voraus,  daß 
diese  Störung  in  der  geistigen  Substanz  den  Affekt  der  Verwun- 
derung und  die  Begierde  errege,  —  daß  die  letztere  die  »Leiden- 
schaften« entweder  des  Hasses  oder  der  Liebe  erzeuge,  und  daß 
Befriedigung  und  Nichtbefriedigung  dieser  Triebe  wiederum  die 
Affekte  der  Lust  und  der  Unlust,  d.  h.  der  Freude  und  der  Trauer 
herbeiführe.  So  stellte  er  von  diesen  sechs  Grundformen  aus  eine 
Naturgeschichte  der  Affekte  und  der  Leidenschaften  auf, 
welche  einerseits  nicht  ohne  Vorbilder  in  der  alten  Philosophie, 
namentlich  der  Stoa  war,  anderseits  aber  für  mannigfache  spätere 
Versuche  zum  Vorbilde  gedient  hat.  Er  gab  endlich  dieser  Lehre 
eine  ethische  Wendung,  indem  er  darauf  hinwies,  wie  diese  Ab- 
hängigkeit des  Geistes  von  den  aus  der  körperlichen  Einwirkung 
kommenden  Affekten  und  Leidenschaften  eine  Unfreiheit  des  Geistes 
bedeute,  aus  der  er  sich  emporringen  müsse.  Das  ganze  moralische 
Leben  besteht  daher  nach  ihm  in  einem  Kampfe  der  vernünftigen 
Seele  mit  jenen  störenden  Lebensgeistern  des  physischen  Organis- 
mus, und  das  Ideal  des  sittlichen  Lebens  liegt  darin,  daß  der  Geist 
durch  die  Überwindung  der  Leidenschaften  sich  zu  voller  Klarheit 

Winde  Iband,  UcBch.ri.n.  Philos.   I.  13 


194  Cartesianer. 

und  Deutlichkeit  emporarbeitet.  Das  Mittel  dazu  ist  natürlich 
wiederum  kein  anderes,  als  die  Selbstbesinnung  der  Vernunft.  Die 
Selbsterkenntnis  ist  der  einzige  Weg  zu  der  sittlichen  Freiheit  des 
Geistes.  Das  »cogito,  sum«  ist  das  Alpha  und  Omega  der  carte- 
sianischen  Philosophie. 

Allein  die  zur  Erklärung  der  Tatsache  der  Leidenschaften  an- 
genommene Einwirkung  des  Körpers  auf  den  Geist  blieb  doch 
innerhalb  dieser  Lehre  selbst  nur  wieder  eine  unbegreifliche  Tat- 
sache und  widersprach  der  Grundannahme,  wonach  die  volle  Aus- 
schließlichkeit der  ausgedehnten  und  der  bewußten  Substanzen 
zunächst  ihrer  Existenz,  aber  weiterhin  doch  auch  ihrer  Funktion 
nach  behauptet  werden  sollte.  Dies  war  in  der  cartesianischen 
Weltanschauung  die  Achillesferse,  dies  deshalb  auch  der  Punkt, 
an  welchem  die  unmittelbaren  Nachfolger  die  Weiterentwicklung 
ihrer  Gedanken  ansetzten. 


§  25.   Die  Cartesianer  und  die  Occasionalisten. 

Sowenig  Descartes  selbst  dafür  tat,  so  sehr  er  sogar  sich  von 
öffentlicher  Wirksamkeit  zurückzuziehen  suchte,  so  konnte  es  doch 
nicht  ausbleiben,  daß  eine  so  originelle  und  in  ihren  Grundzügen 
so  neue  Lehre  wie  die  seinige,  nachdem  sie  einmal  bekannt  ge- 
worden war,  eine  mächtige  Wirkung  ausübte,  und  die  philosophische 
Bewegung  in  Frankreich  und  den  Niederlanden  wurde  deshalb 
in  der  zweiten  Hälfte  des  XVII.  Jahrhunderts  wesentlich  durch 
Descartes  bestimmt.  Seine  Philosophie  erregte  das  größte  Auf- 
sehen und  wurde  bald  sowohl  in  ihrer  prinzipiellen  Grundlage,  als 
auch  in  ihren  einzelnen  Theorien  der  Gegenstand  lebhaftester  Ver- 
handlungen innerhalb  der  gelehrten  Welt.  Das  Geschick,  welches 
sie  dabei  erlitt,  wurde  zum  großen  Teil  dadurch  mitbestimmt, 
daß  sie  in  die  konfessionellen  und  dogmatischen  Streitigkeiten  der 
Zeit  hineingezogen  wurde.  Dabei  war  der  Gesichtspunkt  der  freien 
Vernunftforschung,  welchen  sie  aufgestellt  hatte,  den  Orthodoxen 
aller  Konfessionen  gleich  unliebsam,  und  so  vorsichtig  sich  Descartes 
den  Satzungen  seiner  Kirche  gegenüber  verhalten  hatte,  so  fand 
seine  Lehre  doch  bei  deren  offiziellen  Vertretern  ebensoviel  Wider- 
spruch, wie  bei  dem  kirchlichen  Systeme  der  Protestanten,  die 
ihn  zuerst  anfeindeten.     Der  Bewegung,  welche  seine  Philosophie 


Jansenismus.  ]  95 

auf  den  niederländischen  Universitäten  hervorrief,  und  welche  durch 
die  gehässige  Form,  die  sie  zwischen  seinen  Anhängern  und  den 
Reformierten  annahm,  ihm  den  Auf  enthalt  in  Holland  unbehaglich 
machte,  ist  schon  früher  gedacht  worden.  In  Frankreich  gestaltete 
sich  das  Geschick  seiner  Philosophie  derartig,  daß  sie  hauptsächlich 
von  den  Jansenisten  angenommen  und  schon  aus  diesem  Grunde 
von  den  Jesuiten  bekämpft  wurde.  Man  kann  nicht  sagen,  daß  in 
diesem  Streite  wesentlich  neue  Gedanken  vorgebracht  wurden;  aber 
den  Jansenisten  gebührt  dabei  das  Verdienst,  mehr  und  mehr  an 
einer  systematischen  Gestaltung  der  von  Descartes  aufgestellten 
erkenntnistheoretischen  Prinzipien  gearbeitet  zu  haben;  und  die  /^w^ 
aus  ihrer  Schule  von  Port  Royal  hervorgegangene,  hauptsächlich  v  >? 
von  Arnauld  und  Nicole  redigierte  Logik  (L'art  de  penser  1662) 
darf  als  der  vollkommenste  Ausdruck  der  durch  das  cartesianische 
System  bestimmten  Methodologie  angesehen  werden. 

Andere  Cartesianer,  welche  den  konfessionellen  Fragen  verhält- 
nismäßig gleichgültiger  gegenüberstanden,  wurden  sehr  bald  darauf 
aufmerksam,  daß  die  Substanzenlehre  Descartes',  besonders  was 
den  Einfluß  des  Leibes  auf  die  Seele  betraf,  einer  genaueren  und 
widerspruchsloseren  Durchführung  bedürfe,  und  sie  neigten  im  Laufe 
der  Zeit  immer  mehr  dem  Bestreben  zu,  die  gegenseitige  Ausschließ- 
lichkeit der  ausgedehnten  und  der  bewußten  Substanzen  von  der 
Existenz  auch  auf  die  Funktion  zu  übertragen  und  jede  Möglichkeit 
eines  Einflusses  der  einen  auf  die  anderen  zu  leugnen.  So  suchte 
Clauberg  (Corporis  et  animae  in  homine  conjunctio)  namentlich 
in  bezug  auf  das  Verhältnis  der  Sinneswahrnehmung  zur  Nerven- 
erregung  darzutun,  daß  ein  natürlicher  Zusammenhang  zwischen 
dem  leiblichen  und  dem  seelischen  Leben  des  Menschen  nicht 
existieren,  und  daß  dessen  faktisches  Bestehen  nur  als  ein  »wunder- 
bares« geglaubt  werden  könne,  und  in  gleichem  Sinne  schrieben 
Louis  de  la  Forge  (Traite  de  l'esprit  de  l'homme,  Paris  1666)  und 
Corde moy  (Le  discernement  du  corps  et  de  l'äme,  Paris  1668): 
der  letztere  betonte  hauptsächlich  das  Verhältnis  des  Willens  zu 
den  ausführenden  Leibesbewegungen.  Später  hat  aus  diesen  Be- 
trachtungen Balthasar  Becker  (Beto verde  weereld,  1690)  die 
echt  rationalistische  Folgerung  gezogen,  daß,  wenn  ein  Einfluß 
der  Geister  auf  die  Körperwelt  nicht  stattfinden  könne,  alle  Be- 
richte von  Geistererscheinungen  Halluzinationen  und  der  Gedanke 

13* 


196  Geulincx. 

der  Magie  als  einer  durch  Geister  vermittelten  materiellen  Wirk- 
samkeit eine  Absurdität  sei. 

Wenn  so  schon  die  cartesianische  Schule  hinsichtlich  jenes  von 
den  Prinzipien  ihres  Meisters  aus  unlösbare  Problem  des  Zusammen- 
hanges von  Leib  und  Seele  konsequenter  zu  sein  sich  bemühte,  so 
gilt  dies  erst  recht  von  einer  Schule  niederländischer  Denker,  die 
von  diesem  Gesichtspunkte  aus  die  Lehre  Descartes'  in  wesentlichen 
'  ,.  Punkten  umgestaltete.  Ihr  Haupt  Vertreter  ist  Arnold  Geulincx 
(1625 — 1669),  der,  zu  Antwerpen  geboren,  nach  einer  sorgenvollen 
und  bedrängten  Wirksamkeit  an  den  Universitäten  Loewen  und 
Leyden,  in  letzterer  Stadt  starb.  Seine  Schriften,  unter  denen  die 
Logik  (1662),  die  Ethik  (1665  und  mit  Anmerkungen  1675)  und  die 
posthume  Metaphysik  (1695)  und  Physik  (1698)  die  hervorragend- 
sten sind,  suchen  das  cartesianische  Prinzip  der  vernünftigen  Selbst- 
besinnung nach  allen  Seiten  hin  noch  energischer  durchzuführen. 
Aus  der  geistigen  Substanz  selbst  kann  nur  so  viel  hervorgehen,  als 
sie  mit  klarem  und  deutlichem  Bewußtsein  in  ^ich  erzeugt.  Sie  ist 
deshalb  der  selbsttätige  Grund  nur  für  diejenigen  Funktionen,  bei 
denen  sie  sich  der  Erzeugung  vollkommen  bewußt  ist.  Wenn  also 
andere  Tätigkeiten  in  ihr  vorgehen,  die  sie  nur  in  sich  bemerkt, 
ohne  ihren  Ursprung  unmittelbar  zu  kennen,  so  müssen  diese  nicht 
von  ihr  selbst,  sondern  von  einer  anderen  Substanz  in  ihr  hervor- 
gebracht sein.  Da  aber  der^nfluxus  physicus/'  die  Einwirkung  des 
Körpers  auf  die  Seele,  wie  Geulincx  mit  den  späteren  Cartesianern 
annimmt,  der  Substantialität  der  Seele  widerspricht,  so  können 
jene  Funktionen,  bei  denen  die  Seele  sich  ihres  Ursprungs  nicht 
bewußt  ist,  nur  durch  die  Gottheit  darin  hervorgebracht  worden 
sein.  Dabei  ist  es  nun  ein  Zeugnis  von  der  Selbständigkeit,  mit  der 
Geulincx  die  cartesianischen  Gedanken  verarbeitete,  daß  er  der 
Unentschiedenheit,  die  in  dem  Systeme  Descartes'  hinsichtlich  der 
Stellung  der  sinnlichen  Empfindungen  des  Menschen  herrscht,  ein 
Ende  machte.  In  der  Erkenntnistheorie  hatte  dieser  nicht  umhin 
gekonnt  die  Sinnesempfindungen  wenigstens  als  unklare  Elemente 
der  Vorstellungstätigkeit  anzuerkennen,  in  der  Metaphysik  hatte 
er  sie  aus  oben  besprochenen  Gründen  für  lediglich  materielle  Vor- 
gänge erklärt.  Geulincx  tritt  entschieden  dafür  ein,  daß  sie  Äuße- 
rungen der  geistigen  Substanz  seien,  aber  freilich  solche,  welche 
ohne  Bewußtsein  ihrer  Herkunft  in  uns  entstehen,  bei  denen  wir 


Occasionalismus.  197 

uns  leidend  verhalten,  und  die  deshalb  nur  durch  einen  fremden 
Willen  in  uns  erzeugt  sein  können.  Da  aber  dieser  Wille  der  gött- 
liche ist,  und  da  zu  den  Vollkommenheiten  Gottes  auch  seine 
Wahrhaftigkeit  gehört,  so  müssen  wir  annehmen,  daß  er  diese  Vor- 
stellungen in  uns  nur  erzeugt,  weil  sie  wahr  sind,  d.  h.  weil  ihr 
Inhalt  gleichzeitig  in  der  Körperwelt  wirklich  ist.  Allerdings  galt 
dies  nur  für  einen  Teil  der  Inhalte  der  sinnlichen  Wahrnehmung, 
nämlich  für  ihre  quantitativ  bestimmbaren  Momente,  die  als  Gegen- 
stände  mathematischen  Denkens  klar  und  deutlich  werden  können, 
während  die  Sinnesqualitäten  als  unklar  und  verworren  diesen 
Anspruch  auf  Wahrheit  nicht  haben.  In  dieser  Weise  bilden  die 
Vorgänge  in  der  Körperwelt  nicht  die  unmittelbare  Ursache  unserer 
Vorstellungen,  sondern  vielmehr  nur  die  Veranlassung,  auf  Grund 
deren  sie  von  Gott  in  uns  hervorgerufen  werden.  Bei  Gelegenheit 
einer  Tatsache  in  der  Körperwelt  erzeugt  Gott  in  den  Geistern  die 
entsprechenden  Vorstellungen.  In  diesem  Sinne  betrachtet  Geulincx 
die  materiellen  Vorgänge  nicht  als  die  wirkenden  Ursachen  (causae 
efficientes),  sondern  als  die  Veranlassungen  oder  Gelegenheits- 
ursachen (causae  occasionales)  der  Sinnesempfindungen,  und  um- 
gekehrt setzt  er  dasselbe  Verhältnis  zwischen  den  Willensentschlüssen 
der  Seele  und  den  ihnen  entsprechenden  Bewegungen  des  Leibes 
an.  Sowenig,  wie  der  Leib  der  Seele,  kann  die  Seele  den  Leib  direkt 
beeinflussen,  und  die  Begierden  sind  auch  hier  nur  die  Veranlas- 
sungen, auf_Grund  deren  Gott  die  Körperwelt  in  Bewegung  setzt. 
Deshalb  ist  dieses  System  als  Occasionalismus  und  sind  seine 
Anhänger  als  Occasionalisten  bezeichnet  worden.  Es  behauptet,  daß 
die  materielle  und  die  immaterielle  Welt  ohne  jeden  natürlichen  Ein- 
fluß fortwährend  nebeneinander  bestehen  und  in  dem  Flusse  ihrer 
Bewegungen  unabhängig  voneinander  ablaufen,  und  daß  der  schein- 
bare Zusammenhang,  der  zwischen  ihnen  besteht,  durch  die  stetige 
Einwirkung  der  Gottheit  vermittelt  wird.  Der  Occasionalismus 
treibt  die  Auseinanderreißuna;  der  materiellen  und  der  geistigen 
Welt  auf  die  Spitze,  aber  er  sieht  sich,  um  dies  zu  erreichen,  ge- 
nötigt, beiden  die  substantielle  Selbständigkeit  durchgehends  abzu- 
sprechen und  diese  lediglich  der  Gottheit  zuzuerteilen ;  er  ist  gewisser- 
maßen die  letzte  Etappe,  auf  welche  sich  das  menschliche  Denken 
.  gedrängt  sah,  wenn  es  an  der  Theorie  von  der  absoluten  Geschieden- 
heit des  materiellen  und  des  immateriellen  Daseins  festhalten  wollte. 


198  Geulincx. 

Die  stetige  Vermittlung  Gottes  zwischen  geistiger  und  körper- 
licher Welt  scheint  nun  anfangs  auch  von  Geulincx  wie  von  anderen 
Occasionalisten  als  eine  Reihe  einzelner  Akte  aufgefaßt  worden  zu 
sein,  wonach  jedesmal  bei  Eintritt  eines  Vorganges  in  der  einen 
Welt  von  Gott  der  entsprechende  Vorgang  in  der  andern  Welt  her- 
vorgerufen werden  sollte.  Diese  Vorstellung,  welche  das  Wunder  in 
Permanenz  erklärte,  stieß  aber  auf  gewichtige  Bedenken,  insbesondere 
auf  das  theologische,  daß  auf  diese  Weise  Gott  für  die  Ausführung 
sündiger  Absichten  verantwortlich  erscheinen  mußte.  Daher  hat 
Geulincx  in  seiner  reiferen  Entwicklung  der  occasionalistischen  Lehre 
die  Form  gegeben,  daß  eine  dauernde  Welt  Ordnung  angenommen 
wurde,  wodurch  Gott  ein  für  allemal  bestimmt  habe,  daß  mit  den- 
Vorgängen  in  der  einen  Welt  die  entsprechenden  Vorgänge  in  der 
andern  Welt  verbunden  sein  sollen.  Geulincx  veranschaulichte 
dies  durch  Ausführung  eines  in  der  gleichzeitigen  Literatur  häufiger 
auftretenden  Gleichnisses:  der  gleichmäßige  Gang  zweier  Uhren 
braucht  nicht  durch  eine  direkte  Abhängigkeit  der  einen  von  der 
andern,  sondern  kann  auch  dadurch  erkärt  werden,  daß  beide  mit 
vollkommener  Kunst  gleich  eingerichtet  und  von  Anfang  an  gleich 
gestellt  sind. 

Zugleich  aber  erweiterte  sich  dadurch  bei  Geulincx  die  ursprüng- 
lich nur  anthropologisch  motivierte  Lehre  des  Occasionalismus  zu 
einer  allgemeinen  metaphysischen  Kausalitätstheorie.  Schien 
es  zuerst  nur  besondere  Schwierigkeit  zu  machen,  daß  eine  körper- 
liche Substanz  auf  eine  so  heterogene  wie  die  Seele  (und  umgekehrt) 
einen  Einfluß  ausüben  sollte,  so  zeigte  genaueres  Nachdenken,  daß 
schon  die  Wirkung  eines  Körpers  auf  einen  andern  Körper,  daß 
überhaupt  die  Wirkung  einer  endlichen  Substanz  auf  die  andere 
unbegreiflich  ist.  Die  Kausalbeziehung  ist  logisch  nicht  einzusehen : 
es  liegt  nicht  im  Begriff  des  einen  Dinges,  Ursache  für  die  Zustands- 
veränderungen  des  andern  zu  sein.  Darum  dürfen  überhaupt  die 
Zustände  der  endlichen  Wesen  im  Verhältnis  zueinander  nur  als 
Veranlassungen"  und  Gelegenheiten  betrachtet  werden.  Nicht  die 
endlichen  Dinge  wirken  aufeinander;  eine  solche  Einwirkung  des 
einen  auf  das  andere  ist  unmöglich.  Deshalb  spricht  Geulincx  auch 
den  Körpern  jede  eigene  Aktivität  ab.  Der  einzig  Wirkende  ist 
Gott.  Durch  diese  Lehre  war  nun  aber  den  endlichen  Dingen,  den 
Seelen  wie  den  Körpern,  ein  wesentliches  Merkmal  ihrer  substan- 


Metaphysik  und  Ethik.  199 

tiellen  Selbständigkeit,  die  Fälligkeit  zu  wirken,  entzogen:  als 
wirkende  Substanz  blieb  nur  die  unendliche  übrig,  Gott.    Die  Letzten 

Konsequenzen  aus  diesem  in  der  occasionalistischen  Bewegung 
unausweichlichen  Schlußgedanken  haben,  je  in  ihrer  Weise,  Spinoza 
und  Malebranche  gezogen. 

Diese  metaphysische  Basis  trägt  nun  bei  Geulincx  eine  ethische 
Lehre,  welche  an  die  mystischen  Gedanken  erinnert,  und  es  ist 
auch  die  Annahme  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  in  den  Nieder- 
landen stets  aufrecht  erhaltene  Tradition  der  Mystik  bei  der  Aus- 
bildung dieser  seiner  Lehre  mitgewirkt  hat.  Jedenfalls  konnte  jene 
Tendenz  der  reinen  Innerlichkeit  kaum  einen  günstigeren  meta- 
physischen Boden  finden,  als  das  System  des  Occasionalismus, 
nach  welchem  die  Seele  von  jedem  reellen  Zusammenhang  mit  dem 
Leibe  ausgeschlossen  und  lediglich  mit  der  allumfassenden  Gottheit 
in  Beziehung  gesetzt  wurde.  Es  erscheint  wie  eine  ganz  einfache 
Folgerung,  wenn  Geulincx  den  ethischen  Grundsatz  aufstellt,  daß 
die  Seele  in  der  körperlichen  Welt,  in  der  sie  gar  nichts  zu  schaffen 
hat,  auch  nichts  begehren  soll :  »ubi  nil  vales,  ibi  nil  velis  «.  Danach 
bleibt  als  die  einzige  Tugend  die  Beschränkung  der  Vernunft  auf 
sich  selbst  übrig,  die  Selbsterkenntnis  und  die  Demut;  das  mora- 
lische Leben  soll  sich  von  jeder  äußeren  Geschäftigkeit  auf  die  rein 
innerliche  Betätigung  der  Vernunft  zurückziehen  und  hier  in  jener 
Selbsterkenntnis,  die  zugleich  Gotteserkenntnis  ist,  den  Frieden 
der  Seele  und  das  höchste  Gut  suchen  und  finden.  Alles,  was 
Descartes  von  der  Überwindung  der  Leidenschaften  durch  das 
Denken  gelehrt  hatte,  fand  hier  eine  begeisterte  Aufnahme.  Frei- 
lich mochte  es  metaphysisch  nicht  ganz  begreiflich  sein,  wie  in  die 
rein  auf  sich  selbst  gestellte  Seele  die  sinnliche  Begierde  einzu- 
brechen vermag.  Immerhin  suchte  Geulincx  seiner  Lehre  diese 
sittliche  Konsequenz  zu  geben  und  mit  dem  cartesianischen  System 
eine  Sittenlehre  zu  verknüpfen,  deren  Ideal  eine  Art  Flucht  aus  der 
Welt  und  eine  Versenkung  in  die  reine  Betrachtung  bildete,  wie 
sie  in  den  Charakterzügen  und  in  der  Lebensgestaltung  von  Des- 
cartes selbst  hervorgetreten  waren. 

So  merkwürdig  es  auf  den  ersten  Blick  erscheint,  jenes  System 
des  strengen  Rationalismus,  das  Produkt  eines  nüchternen,  vor  allem 
nach  durchsichtiger  Klarheit  ringenden  Denkers,  bot  eine  Reihe 
von  bedeutsamen  Punkten  dar,  an  die  sich  mystische  Neigungen 


200  Mystik  und  Rationalismus. 

und  tief  sittliche  Gefühlsregungen  anzuschließen  vermochten.  Das 
Ideal  der  Selbsterkenntnis  hatte  schon  bei  Descartes  nicht  nur 
erkenntnistheoretische  Bedeutung,  sondern  zugleich  den  sittlichen 
Wert  eines  persönlichen  Lebensprinzips;  und  wenn  die  innige  Ver- 
schmelzung, in  welche  Descartes  diese  Selbsterkenntnis  mit  der 
Gotteserkenntnis  gebracht  hatte,  in  seinem  System  eine  lediglich 
theoretische  Operation  bildete,  so  konnte  es  nicht  ausbleiben,  daß 
sie  gerade  von  dem  religiösen  Bedürfnis  begierig  ergriffen  und  als 
die  rationelle  Lösung  jener  Sehnsucht  erfaßt  wurde,  mit  der  die 
Mystiker  schon  immer  danach  rangen,  aus  der  Selbsterkenntnis  des 
gläubigen  Gemüts  das  Geheimnis  der  Gottesanschauung  zu  schöpfen. 
So  nahe  vermögen  sich  Richtungen  des  menschlichen  Denkens  zu 
treten,  von  denen  man  ihrer  ganzen  Grundlage  und  ihrem  innersten 
Wesen  nach  vermuten  sollte,  daß  sie  sich  auf  ewig  fliehen  müßten. 
Eine  solche  Berührung  des  Rationalismus  und  des  Mystizismus  zeigt 
die  Ethik  des  Occasionalismus.  Aber  weit  eindrucksvoller  und 
weit  wunderbarer  ist  es,  daß  diese  beiden  Systeme,  der  cartesianische 
Rationalismus  und  die  gottbegeisterte  Mystik,  schon  kurz  vorher 
unabhängig  von  der  Ausgestaltung  der  occasionalistischen  Ideen 
ihre  vollendete  Durchdringung  gefunden  hatten.  Diese  merk- 
würdige und  in  der  Geschichte  einzig  dastehende  Verschmelzung 
ist  der  Spinozisnms.  Und  jener  eigentümliche  Duft,  der  über  diesem 
unvergleichlichsten  aller  Denksysteme  liegt,  besteht  zum  größten 
Teile  in  dieser  wunderbaren  Vereinigung  so  völlig  heterogener 
Elemente. 

§  26.    Baruch  Spinoza. 

Es  war  nicht  zufällig,  daß  Descartes  gerade  die  Niederlande 
für  die  Stätte  seiner  wissenschaftlichen  Muße  erkoren  hatte.  Denn 
hier  konnte  er  jeden  Augenblick  aus  seiner  Einsamkeit  in  eine 
reiche  Bewegung  des  geistigen  Lebens  heraustreten.  Dies  kleine 
Land,  im  Vollgenusse  einer  eben  gewonnenen  politischen  Freiheit, 
war  in  einem  mächtigen  Aufstreben  begriffen  und  ein  fruchtbarer 
Sammelplatz  auch  der  geistigen  Bewegungen  der  Zeit.  Die  Kunst 
fand  hier  eine  neue,  eigenartige  Blüte;  die  humanistischen  Studien 
und  die  neuen  Bestrebungen  der  Mathematik  und  der  Naturwissen- 
schaft standen  auf  gleicher  Höhe,  und  die  Abwerfung  der  geistigen 
Fesseln,  welche  mit  derjenigen  des  politischen  und  religiösen  Joches 


Jüdische  Wissenschaft.  201 

verknüpft  gewesen  war,  gab  der  Entwicklung  der  neuen  Gedanken 
eine  gewisse  Freiheit  des  Spielraums.  So  wurde  Holland  um  diese 
Zeit  zum  Teil  wirklich  eine  Freistatt  des  wissenschaftlichen  Denkens 
und  kam,  wie  es  zu  gehen  pflegt,  noch  mehr  in  den  Ruf,  eine  solche 
zu  sein.  Zwar  blieb  auch  hier  die  verderbliche  Wirkuno;  des  Ortho- 
doxismus,  den  die  neue  Konfession  geschaffen  hatte,  nicht  aus, 
und  der  Cartesianismus  selbst  gehörte  zu  den  ersten  Richtungen, 
die  darunter  leiden  sollten.  Allein  immerhin  war  doch  ein  Zug 
nach  geistiger  Freiheit  selbst  auf  den  Universitäten  der  Nieder- 
lande lebendig.  Die  Bewegung  des  Jansenismus,  die  innerhalb 
der  katholischen  Kirche  den  Jesuitismus  am  erfolgreichsten  be- 
kämpfte, hatte  von  den  niederländischen  Universitäten  ihren  Aus- 
gang genommen.  Auch  der  lebhafte  Anklang,  den  die  cartesianische 
Philosophie  gerade  in  den  Niederlanden  fand,  darf  zuletzt  als  ein 
Zeichen  dieser  freien  Bewegung  aufgefaßt  werden,  und  vor  allem 
erfreuten  sich  hier  auch  die  Naturwissenschaften  einer  stetigen 
Förderung. 

Unter  denjenigen  Kräften  aber,  welche  unter  dem  Schutze  der 
niederländischen  Freiheit  eine  günstige  Entwicklung  fanden,  nahm 
einen  nicht  geringen  Platz  die  jüdische  Wissenschaft  ein.  Aus 
Spanien  vertrieben,  hatten  viele  Juden  in  den  Niederlanden  eine 
Zuflucht  gefunden,  und  mit  der  Begründung  der  sogenannten  portu- 
giesischen Judengemeinde  in  Amsterdam  war  auch  die  philologische, 
philosophische  und  theologische  Bildung,  welche  sie  mitbrachten, 
zu  einer  Art  von  Blüte  emporgewachsen.  Mit  reichster  Entfaltung 
gediehen  in  der  Rabbinenschule  zu  Amsterdam  die  wissenschaft- 
lichen Studien,  und  es  war  nur  eine  notwendige  Folge  davon,  daß 
sie  aus  dem  engen  Kreise  der  religiösen  Orthodoxie  ihres  Volkes 
zu  der  vollen  Freiheit  moderner  Wissenschaft  herausdrängten  und 
Konflikte,  wie  den  denkwürdigen  des  Uriel  Acosta,  erzeugten.  Die 
nahe  Berührung  mit  den  Ergebnissen  der  neuen  Wissenschaft  zer- 
sprengte dabei  die  streng  geschlossene  Gestalt,  welche  das  jüdische 
Denken  durch  das  Mittelalter  hindurch  bewahrt  hatte,  und  führte 
innerhalb  der  Gemeinde  zu  Kämpfen,  die  in  ihrer  Art,  ihren  Mitteln 
und  ihrem  Ausgange  denjenigen  der  christlichen  Kirchen  sehr  ähn- 
lich waren:  zugleich  aber  wurden  dadurch  eine  Anzahl  von  Ge- 
danken, an  denen  die  jüdische  Wissenschaft  während  der  Verfolgung 
von  fast  zwei  Jahrtausenden  mit  der  diesem  Volke  eigentümlichen 


202  Spinoza. 

Zähigkeit  festgehalten  hatte,  in  den  großen  Strom  der  modernen 
Geistesbewegung  eingeführt.  Aus  dieser  Gemeinde  der  portu- 
giesischen Juden  in  Amsterdam  stammte  der  Mann,  in  dessen  ge- 
waltiger Gedankenarbeit  sich  diese  Vorgänge  vollzogen,  und  der 
durch  eine  Verbindung  des  Cartesianismus  mit  den  Elementen 
seiner  Jugendbildung  die  rationalistische  Philosophie  auf  ihren  höch- 
sten Gipfel  zu  führen  und  ihr  typischer  Kepräsentant  zu  werden 
)Cc  berufen  war. 

Baruch  Spinoza  war,  der  Sohn  einfacher  Handelsleute,  ,1.632  zu 
Amsterdam  geboren  und  empfing  seine  Bildung  auf  der  Rabbinen- 
schule  unter  der  Leitung  des  berühmten  Talmudisten  Morteira.  Der 
gewöhnliche  Gang  dieser  gelehrten  Erziehung,  welche  das  Studium 
der  hl.  Bücher,  des  Talmud,  der  Kommentatoren  und  der  jüdischen 
Scholastiker  umfaßte,  gab  ihm  ebensowenig  Befriedigung,  wie  sie 
Descartes  auf  der  Jesuitenschule  zu  La  Fleche  gefunden  hatte. 
Der  reine  Trieb  einer  vollkommenen  Gotteserkenntnis,  der  ihn  im 
Innersten  erfüllte  und  den  Kernpunkt  seines  geistigen  Wesens 
bildete,  ließ  ihn  bald  nach  anderer  Befriedigung  suchen.  Und  es 
lag  wohl  nahe,  daß  er  sich  zuerst  an  die  mystische  Geheimlehre  des 
jüdischen  Mittelalters,  die  Kabbala,  wendete.  Doch  fand  er  auch 
hier  keine  Ruhe,  und  so  zog  es  ihn  unwiderstehlich  zu  den  Größen 
des  modernen  Denkens  und  zu  den  Errungenschaften  der  neuen 
Wissenschaft  hin.  Eine  reiche  Sprachkenntnis  unterstützte  dies 
Bestreben,  und  er  vervollkommnete  sie  durch  einen  Unterricht  im 
Lateinischen,  den  er  bei  einem  Arzte  namens  Franz  van  den  Ende 
nahm.  Dieser  Mann,  der  später,  als  Freigeist  aus  Holland  ver- 
trieben, in  Frankreich  ein  elendes  Ende  fand,  hat  das  Verdienst, 
den  jungen  Spinoza  wohl  zuerst  auf  die  Bedeutung  der  naturwissen- 
schaftlichen Errungenschaften  der  Zeit  hingewiesen  zu  haben.  Viel- 
leicht war  es  auch  durch  ihn,  daß  der  geistreiche  Jude  in  die  Kreise 
der  Christen  hineingezogen  wurde,  welche  der  wissenschaftlichen 
Zeitbewegung  mit  Interesse  folgten.  Wenigstens  datiert  schon  aus 
dieser  Zeit  die  Bekanntschaft  Spinozas  mit  dem  Arzte  Ludwig 
Meyer,  einem  begeisterten  Cartesianer,  und  mit  Oldenburg,  der 
später  von  London  aus,  wo  er  niederländischer  Gesandter  war, 
einen  regen  Briefwechsel  mit  dem  Philosophen  führte.  Es  ist 
zweifellos,  daß  Spinoza  sich  schon  sehr  früh  mit  den  Werken  Gior- 
dano  Brunos  beschäftigte,  daß  in  den  Kreisen  dieses  seines  weiteren 


Leben  und  Charakter.  203 

Verkehrs  die  Schriften  Bacons,  Descartes'  und  Hobbes'  gelesen 
und  eifrig  besprochen  wurden;  und  wenn  wir  auch  nicht  mehr 
mit  genauen  chronologischen  Daten  die  Zeitpunkte  anzugeben  ver- 
mögen, an  denen  die  einzelnen  dieser  Lehren  in  den  ungewöhnlich 
schnellen  Entwicklungsgang  Spinozas  eingriffen,  so  verstehen  wir 
doch,  wie  er,  so  genährt,  das  enge  Kleid  des  nationalen  Glaubens 
bald  auswuehs  und  der  Synagoge  mehr  und  mehr  entfremdet  wurde. 
Das  Mißtrauen,  welches  die  Lehrer  in  den  selbständig  werdenden 
Schüler  zu  setzen  begannen,  scheint  durch  die  neidische  Mißgunst 
gewisser  Altersgenossen  gesteigert  worden  zu  sein.  Und  so  ballten 
sich  allmählich  die  Wolken  des  Gewitters  zusammen,  das  seinem 
Leben  die  tragische  Wendung  geben  sollte.  Man  nahm  sein  Fern- 
bleiben von  der  Synagoge  zum  Anlaß,  ihn  auf  seine  Ansichten 
aushorchen  zu  lassen,  man  veranstaltete  eine  Art  von  Glaubens- 
gericht, man  bot  ihm,  um  das  Aufsehen  zu  vermeiden,  das  der  Ab- 
fall eines  so  bedeutenden  und  geachteten  Jünglings  erregen  mußte, 
ein  Jahrgehalt  für  das  Versprechen  des  Stillschweigens  und  die 
äußerliche  Unterwerfung,  ■ —  und  als  alles  nichts  fruchtete,  schritt 
man  zu  dem  letzten  Mittel,  der  großen  Exkommunikation.  Das 
war  der  Wendepunkt  in  Spinozas  Leben.  Von  seinem  Volke  ver- 
stoßen und  ohne  das  Bedürfnis,  irgend  einer  der  menschlichen  Ge- 
meinschaften beizutreten,  lebte  er  von  nun  ab  in  absoluter  Einsam- 
keit; ohne  Heimat  wanderte  er  in  der  Verborgenheit  von  einem 
Orte  zum  andern,  um  schließlich  im  Haag  in  der  Stille  ein  fried- 
liches Leben  der  wissenschaftlichen  Arbeit  zu  führen,  —  eine  Ein- 
samkeit, derjenigen  des  Descartes  ähnlich  und  doch  wieder  so 
ganz  unähnlich.  Die  volle  Unabhängigkeit,  deren  er  für  dieses 
Leben  bedurfte,  und  die  er  in  jeder  Weise  auch  gegen  mancherlei 
Anerbietungen  seiner  Bekannten  aufrecht  erhielt,  erreichte  er  durch 
eine  bis  auf  das  äußerste  gesteigerte  Bedürfnislosigkeit,  und  das 
wenige,  was  er  zu  seinem  Unterhalte  brauchte,  erwarb  er  durch 
das  Schleifen  optischer  Gläser,  welche  ihrer  Vorzüglichkeit  halber 
weit  und  breit  gesucht  waren.  Niemals  vielleicht  ist  die  Welt- 
abgekehrtheit  einfacher  und  aufrichtiger  gewesen  als  bei  ihm.  Es 
war  nicht  das  geringste  Gefühl  von  Haß  oder  Verbitterung,  mit 
dem  er  des  Menschenlebens  gedachte,  welches  ihn  ausgestoßen  hatte. 
Es  erfüllte  ihn  die  heitere  Ruhe  des  geistigen  Schaffens  und  der 
willenlosen  Weltbetrachtung;  ein  Friede  waltet  über  seinem  Dasein, 


204  Spinoza. 

wie  die  reinliche  Poesie  niederländischen  Stillebens.  Lauterste 
Uneigennützigkeit  und  wohlwollende  Herablassung  zeigt  er  den 
Menschen  gegenüber,  mit  denen  ihn  sein  einsames  Leben  zusammen- 
führt. Eine  stille  Resignation  weht  durch  sein  Leben,  aber  nicht 
als  ein  mühsam  unterdrückter  Schmerz,  sondern  als  eine  ernste, 
klare  Erkenntnis.  Aus  dieser  Zurückgezogenheit  ließ  er  sich  auch 
nicht  durch  die  Versuchung  reißen,  die  in  Gestalt  eines  Rufes  auf 
ein  Katheder  der  Universität  Heidelberg  an  ihn  herantrat.  Zwar 
wurde  ihm  von  dem  freisinnigen  Kurfürsten  Karl  Ludwig  von  der 
Pfalz  —  dem  Bruder  jener  Prinzessin  Elisabeth,  mit  der  Descartes 
korrepondiert  hatte  —  das  Versprechen  vollkommener  Lehrfreiheit 
gegeben:  aber  er  wußte  recht  gut,  daß  dieses  seiner  Lehre  gegen- 
über durch  die  jahrhundertelange  Gewöhnung  der  europäischen 
Völker  sehr  bald  in  enge  Grenzen  gezogen  werden  würde;  und  da 
er  sowenig  wie  Descartes  das  reformatorische  Bedürfnis  nach  öffent- 
licher Wirksamkeit  fühlte,  so  war  es  gewiß  eine  Tat  der  Weisheit, 
daß  er  die  Ruhe  seiner  Gedankeneinsamkeit  vorzog.  Hatte  er  es 
doch  nur  allzubald  erfahren,  wie  unsicher  und  schwankend  auch 
die  Versprechungen  derer,  die  sich  seine  Freunde  nannten,  im 
rechten  Momente  sich  erwiesen.  Jener  kleine  Kreis  von  Männern,  in 
welchem  Spinoza  während  der  letzten  Zeit  seines  Amsterdamer 
Aufenthaltes  verkehrt  hatte,  war  mit  dem  Einsiedler  in  brieflicher 
und  gelegentlich  auch  persönlicher  Verbindung  geblieben.  Ihm 
hatte  Spinoza  seine  Schriften  teils  im  Entwürfe,  teils  in  abgeschlos- 
sener Form  mitgeteilt,  und  sie  drängten  ihn,  seine  Lehre,  welche  sie 
in  den  Briefen  mit  Stolz  und  Bewunderung  »unsere  Philosophie« 
nannten,  der  Menschheit  bekannt  zu  geben.  Spinoza  begann  mit 
der  Veröffentlichung  einer  Darstellung  der  cartesianischen  Philo- 
sophie, eines  Diktats,  das  er  dem  unentgeltlich  an  einen  jungen 
Mann  erteilten  Unterricht  in  dieser  Philosophie  zugrunde  gelegt 
hatte.  Er  wies  aber  eigens  darauf  hin,  daß  nur  die  mathematische 
Formulierung  sein  Eigentum  daran  sei,  und  daß  er  in  wichtigen 
metaphysischen  und  psychologischen  Punkten  von  dem  großen 
französischen  Meister  des  Gedankens  abweiche.  Erst  das  wieder- 
holte Drängen  dieser  Männer,  vor  allem  Oldenburgs,  der  ihn  immer 
wieder  aufforderte,  »nostri  temporis  homunciones«  zu  verachten, 
machte  ihn  dem  schriftstellerischen  Auftreten  geneigter,  und  sieben 
Jahre  später  bewogen  ihn  besondere  Anlässe  kirchenpolitischer  Art, 


Leben  und  Schriften.  205 

^eine  theologisch-politische  Abhandlung  drucken  zu  lassen.  Sie 
erschien  ohne  den  Namen  des  Verfassers  mit  einer  Pseudonymen 
Druck-  und  Verlagsangabe  (Tractatus  theologieo-politicus,  Ham- 
burg bei  H.  Künrath  1670).  Um  so  schmerzlicher  mußte  es  für 
Spinoza  sein,  daß  in  das  wütende  Geheul,  das  die  natürlichen  Feinde 
seiner  Denkart  über  dieses  Buch  erhoben,  sich  auch  Stimmen  des 
Schwankens,  der  Mahnung  zur  Vorsicht  und  der  Ängstlichkeit  von 
seiten  eben  der  vermeintlichen  Freunde  mischten,  die  ihn  zur  Ver- 
öffentlichung bestimmt  hatten.  Selbst  Oldenburg  erschrak  vor  der 
radikalen  Rücksichtslosigkeit,  womit  der  Philosoph  in  diesem  Buche 
verfahren  sei,  und  so  mußte  sich  Spinoza  überzeugen,  daß  auch  in 
dem  gebildeten  Europa  seiner  Zeit  kein  freier  Baum  für  die  Ver- 
kündigung seiner  Lehre  existierte.  Trotzdem  scheint  er  eine  Weile 
den  Gedanken  einer  Veröffentlichung  seiner  Ethik  ins  Auge  gefaßt  zu 
haben.  Aber  schon  während  der  Vorbereitungen  dazu  setzten  sich 
auf  das  bloße  Gerücht  hin,  es  werde  ein  neues  Buch  von  ihm  erscheinen, 
nicht  nur  die  jüdischen  Babbinen  und  die  christlichen  Geistlichen 
beider  Konfessionen,  sondern  auch  die  Cartesianer  der  holländischen 
Universitäten  in  Bewegung,  um  von  den  Behörden  die  Unterdrückung 
dieses  noch  ungedruckten  Buches  zu  erreichen.  Unter  diesen  Um- 
ständen mußte  es  Spinoza  geratener  erscheinen,  die  Wirksamkeit 
seiner  Werke  bis  auf  die  Zeit  nach  seinem  Tode  zu  verschieben. 
Er  sollte  nicht  lange  darauf  warten.  Mit  stetig  zunehmender  Ge- 
walt zehrte  die  Schwindsucht  an  seinem  Leben,  und  schon  zwei 
Jahre  nach  dem  mißglückten  Versuche,  sein  großes  Werk  der  Welt 
anzubieten,  machte  am  21.  Februar  1677  ein  sanfter  und  ruhiger 
Tod  diesem  innerlich  so  tief  bewegten  Leben  ein  Ende. 

Der  Fanatismus,  welcher  den  Lebenden  verfolgt  hatte,  ließ  auch 
den  Toten  nicht  ruhen  und  häufte  auf  seinen  Namen  eine  Fülle  von 
Schmähungen  und  Verleumdungen.  Er  wurde  zu  einem  Schreck- 
bilde umgewandelt,  an  dem  man  die  niedrigen  Folgen  ungläubigen 
Denkens  demonstrieren  zu  können  meinte,  und  nicht  ohne  Erfolg 
wurde  seine  Lehre  dem  Abscheu  des  Zeitalters  und  damit  der  Ver- 
gessenheit übergeben.  Erst  nach  einem  Jahrhundert  sollte  sein 
Geist  aus  diesem  Grabe  der  Verachtung  auferstehen,  und  es  waren 
die  großen  Männer  der  deutschen  Dichtung  und  Philosophie,  an 
ihrer  Spitze  Lessing  und  auf  ihrer  Höhe  Goethe,  Fichte,  Schelling 
und  Schleiermacher,  welche  den  Spinozismus  neu  entdeckten.     So 


206  Spinoza. 

ist  allmählich  aus  den  Umhüllungen  einer  von  Vorurteilen  be- 
schränkten Darstellung  die  Gestalt  des  Mannes  und  seiner  Lehre 
herausgeschält  worden,  und  zahllose  Geister  haben  sich  mit  be- 
wundernder Hingabe  in  die  Werke  vertieft,  welche  er  einer  ver- 
ständnislosen Menge  hinterlassen  hatte.  Durch  seine  Freunde 
besorgt,  erschien  unter  dem  Titel:  »B.  D.  S.  Opera  posthuma, 
Amsterd.  1677«  ein  dem  Umfange  nach  geringer  Band,  der  sein 
Hauptwerk,  die  Ethik,  die  beiden  unvollendeten  Abhandlungen  über 
die  Staatslehre  und  über  die  richtige  Ausbildung  des  Denkens,  ein 
Kompendium  der  hebräischen  Grammatik  und  endlich  eine  Auswahl 
aus  seinem  Briefwechsel  enthielt,  der  für  manche  besondere  Punkte 
seiner  Lehre  von  großer  Wichtigkeit  ist. 

Über  den  Ursprung  der  eigenartigen  Lehre  Spinozas  sind 
von  den  Bearbeitern  der  Geschichte  der  Philosophie  mannigfache 
und  sehr  verschiedene  Ansichten  geäußert  worden.  Von  vornherein 
war  diese  Frage  durch  die  Hegeische  Geschichtskonstruktion,  die 
sich  nicht  immer  genau  an  die  chronologische  Keihenfolge  hielt, 
zum  mindesten  schief  beantwortet  worden.  Die  Beziehungen  des 
Spinozismus  zur  cartesianischen  Philosophie  sind  so  offenkundig 
und  schon  biographisch  so  selbstverständlich,  daß  der  Versuch,  den 
Spinozismus  direkt  und  lediglich  aus  der  Lehre  Descartes'  herzu- 
leiten, auf  der  Hand  lag.  Der  weitere  Umstand  aber,  daß,  wenn 
man  die  Substanzenlehre  Descartes'  und  Spinozas  mit  derjenigen 
des  Occasionalismus  und  von  Malebranche  vergleicht,  die  letzteren 
offenbar  sachlich  Zwischenstufen  zwischen  beiden  darstellen,  konnte 
nur  zu  leicht  zu  der  Vorstellung  verführen,  als  ob  sie  auch  in  der 
Genesis  der  spinozistischen  Lehre  die  Zwischenglieder  gebildet  hätten. 
Für  die  Einsicht  in  den  pragmatischen  Zusammenhang  der  Ideen 
ist  es  daher  richtig,  den  Fortgang  der  Lehre  von  Descartes  zu  den 
Occasionalisten,  von  da  zu  Malebranche  und  endlich  zu  Spinoza  als 
eine  notwendige  Entwicklung  darzustellen:  allein  man  darf  dabei 
nicht  übersehen,  daß  die  ersten  Schriften  von  Geulincx  aus  den 
Jahren  1662  und  1665  stammen,  daß  gar  Malebranche,  nachdem  er 
erst  1664  mit  der  Lehre  Descartes'  bekannt  geworden  war,  sein  erstes 
Werk  1675  veröffentlichte,  während  Spinozas  Ethik  bruchstück- 
weise bereits  1661  und  im  Zusammenhange  1663  von  seinen  Freunden 
gelesen  wurde.  Davon  also,  daß  die  Lehre  Spinozas  von  den  Theorien 
der   Occasionalisten   oder   gar   des   Malebranche   beeinflußt   wäre, 


Ursprung  der  Lehre.  207 

kann  keine  Rede  sein.  Und  selbst  jene  Schriften  der  Cartesianer, 
in  denen  das  Problem  der  Wechselwirkung  der  Substanzen  schärfer 
präzisiert  wurde,  erschienen  zu  einer  Zeit,  wo  Spinoza  bereits  mit 
seinen  Gedanken  abgeschlossen  hatte. 

Ist  so  die  Unabhängigkeit  Spinozas  den  verschiedenen  Ver- 
tretern des  Cartesianismus  gegenüber  gewahrt,  so  wird  die  Frage 
um  so  dringender,  ob  sich  sein  System  direkt  und  allein  aus  den 
Lehren  Descartes'  entwickelt  hat.  Eine  Reihe  von  metaphysischen 
Anschauungen  Spinozas  machte  diese  Annahme  verhältnismäßig 
unwahrscheinlich,  und  wenn  man  nach  anderen  Quellen  seines 
Denkens  forschte,  so  lag  es  gewiß  nahe,  sie  in  seiner  jüdischen 
Bildung  zu  suchen.  In  diesem  an  sich  berechtigten  Bestreben 
ist  man  dann  aber  wiederum  viel  zu  weit  gegangen,  wenn  man  die 
Grundzüge  seiner  Philosophie  vermöge  gewisser  Ähnlichkeiten 
auf  die  Lehren  jüdischer  Denker  zurückführen  zu  können  meinte. 
Der  pantheistische  Charakter  seiner  Weltanschauung  in  Verbin- 
dung mit  der  Polemik,  die  er  gegen  die  Rabbinen  führt,  machte 
auf  die  mystische  und  ketzerische  Geheimlehre  des  jüdischen  Mittel- 
alters aufmerksam,  und  der  Versuch,  den  Spinozismus  aus  der 
Kabbala  abzuleiten,  ist  denn  auch  in  allem  Ernst  gemacht  worden. 
Doch  ist  es  leicht,  sich  von  der  Irrtümlichkeit  dieser  Ansicht  zu 
überzeugen.  Daß  Spinoza  Pantheist  ist,  macht  ihn  noch  nicht  zum 
Kabbalisten.  „Pantheismus  ist  eine  so  vage  und  so  vieldeutig  ge- 
brauchte und  mißbrauchte  Bezeichnung,  daß  sie  erst  durch  ein 
wesentliches  Merkmal  die  Befähigung  zur  Charakterisierung  eines 
philosophischen  Systems  gewinnt.  Nun  ist  die  Kabbala  schon  ver- 
möge ihrer  Abhängigkeit  vom  Neuplatonismus  ein  emanatistischer 
Pantheismus,  und  gerade  das  ist  die  Lehre  Spinozas  nicht.  Dies 
Verhältnis  ist  entscheidender,  als  die  wegwerfende  Art,  in  der  sich 
Spinoza  gelegentlich  über  die  Kabbala  geäußert  hat.  Denn  in 
bezug  auf  den  Ursprung  ihrer  Lehren  finden  wir  die  Philosophen 
häufig  genug  in  einer  psychologisch  eben  nicht  schwer  zu  erklären- 
den Selbsttäuschung,  und  alle  die  Leidenschaftlichkeit,  mit  der 
sich  Spinoza  in  begreiflicher  Erregtheit  gegen  jeden  Zusammen- 
hang mit  den  ersten  Feinden  seiner  Ruhe  wehrt,  wird  uns  auf  der 
andern  Seite  nicht  abhalten  dürfen,  die  Macht  des  Einflusses 
zu  würdigen,  welche  seine  gelehrte  Jugendbildung  auf  ihn  aus- 
geübt hat. 


208  Spinoza. 

Hier  sind  es  nun  namentlich  die  großen  Scholastiker  des 
jüdischen  Mittelalters,  mit  denen  man  ihn  in  Verbindung  ge- 
bracht hat.  In  der  Tat  zeigen  gewisse  Lehren  Spinozas  eine  unver- 
kennbare Ähnlichkeit  mit  denjenigen  der  großen  jüdischen  Theo- 
logen, vor  allem  des  Maimonides,  Gersonides  und  Chasdai  Creskas. 
Zweifellos  ist  der  Nachweis  gelungen,  daß  ein  großer  Teil  derjenigen 
Gedanken,  welche  sich  in  bezug  auf  die  Kritik  der  biblischen  Offen- 
barung im  theologisch -politischen  Traktat  vorfinden,  wenn 
nicht  diesen  mittelalterlichen  Gelehrten  entlehnt,  so  doch  von 
ihnen  angeregt  ist.  Der  Hinweis  auf  die  moralische  Seite  der  reli- 
giösen Dogmen  ist  gewiß  von  Spinoza  nicht  erfunden  worden,  und 
die  allegorische  Deutung,  mit  der  er  die  Offenbarung  auffaßt,  findet 
gerade  bei  diesen  Meistern  des  jüdischen  Gedankens  gelegentlich 
selbst  bis  ins  einzelne  hinein  ihre  Vorbilder.  Dennoch  bleibt  es  un- 
bestritten, daß  die  gewaltigen  Grundgedanken  auch  dieses  Buches 
aus  Spinozas  eigenstem  Geiste  geflossen  sind.  Die  völlige  Trennung 
der  Religion  von  der  Wissenschaft,  die  er  predigt,  brauchte  Spinoza 
in  dieser  Form  aus  der  hebräischen  Literatur  nicht  zu  lernen;  dies 
war  eine  Tendenz,  die  dem  Geiste  seiner  eigenen  Zeit  entsprang 
und  in  der  er  sich  ganz  zu  ihrem  Sohne  bekannte.  Auch  er  gehört 
unter  die  Vorfechter  der  Toleranz;  und  wenn  man  vermutet  hat, 
daß  eine  Anzahl  von  Grundgedanken  des  theologisch-politischen 
Traktats  aus  dem  Proteste  hervorgewachsen  sind,  welchen  der 
jugendliche  Spinoza  gegen  den  Bannfluch  niedergeschrieben  hatte, 
so  ist  daran  vor  allem  dies  richtig,  daß  seine  persönlichen  Erfahrun- 
gen ihm  diese  Richtung  gewissermaßen  aufnötigten.  Dazu  kam, 
wie  die  neueste  Forschung  erwiesen  hat,  die  kirchenpolitische  Lage 
in  Holland,  wo  die  Partei  der  Regenten,  der  Spinoza  durch  persön- 
liche Beziehungen  zu  Jan  de  Witt  nahestand,  den  kirchlichen  Libe- 
ralismus gegen  die  mit  den  Oraniern  sympathisierenden  kalvi- 
nistischen  Predikanten  ausspielte:  das  Buch  des  Philosophen  scheint 
sich  —  gewollt  oder  ungewollt  —  der  publizistischen  Vertretung  der 
Politik  Jan  de  Witts  einzufügen.  Doch  begnügt  sich  eben  Spinoza 
nicht  mit  einer  deklamatorischen  Vertretung  des  Toleranzgedankens, 
wie  wir  sie  bei  manchen  seiner  Zeitgenossen  finden,  sondern  er  gründet 
ihn  auf  eine  strenge  und  nüchterne  Untersuchung ;  er  führt  vor  allem 
aus,  daß  der  wesentliche  Gesichtspunkt,  von  dem  man  die  religiösen 
Urkunden  —  es  sei  welcher  Kirche  und  Konfession  auch  immer  — 


Theologisch -politischer  Traktat.  209 

zu  betrachten  und  zu  erklären  habe,  lediglich  der  historische  sei. 
Aus  dem  Geiste  der  Zeit  und  der  Persönlichkeit  der  Verfasser  seien 
cliese  Schriften  nach  philologischer  und  historischer  Methode  zu 
studieren,  wie  alle  anderen.  Wende  man  diesen  Gesichtspunkt  an, 
so  sei  es  von  vornherein  klar,  wie  verfehlt  der  Versuch  ist,  in  diesen 
Büchern  irgend  eine  Offenbarung  theoretischer  Wahrheiten  und 
damit  eine  Richtschnur  der  Wissenschaft  zu  sehen.  Der  Zweck 
dieser  Bücher  sei  niemals  ein  anderer  gewesen,  als  derjenige  der 
religiösen  Erbauung  und  der  moralischen  Besserung,  und  dies  dürfte 
deshalb  auch  der  einzige  Zweck  sein,  für  welchen  man  die  aus  diesen 
historischen  Urkunden  entnommenen  Lehrsätze  auszubeuten  habe. 
Der  gewohnte  Übergriff  aller  Kirchen,  diese  Sätze  für  theoretische 
Wahrheiten  auszugeben,  sei  ein  Unrecht  an  der  wissenschaftlichen 
Forschung,  der  allein  die  Feststellung  der  theoretischen  Wahrheit 
zukomme,  die  aber  diese  Aufgabe  nur  unter  der  Bedingung  voll- 
kommener Voraussetzunsslosiffkeit  und  Ungebundenheit  zu  lösen 
vermöge.  Der  Gesichtspunkt,  unter  welchem  Spinoza  für  die  Tole- 
ranz eintritt,  ist  viel  weniger  die  freie  Religionsübung  des  Indivi- 
duums —  diese  beschränkt  er  vielmehr  nicht  ohne  Abhängigkeit 
von  Hobbes  zugunsten  der  staatlichen  Ordnung  — ,  als  vielmehr  die 
Emanzipation  der  Wissenschaft.  Und  er  hat  mit  genialem  Scharf- 
sinn das  Geheimnis  dieser  Emanzipation  aufgedeckt,  wenn  er  in 
der  historischen  Kritik  der  biblischen  Schriften  ihre  wahre  wissen- 
schaftliche Behandlung  suchte.  Er  ist  der  erste  große  Vertreter 
dieser  historischenBibelkritik;aber  man  darf  ihn  ihren  Schöpfer 
deshalb  nicht  nennen,  weil  es  nur  zum  Teil  die  direkten  Einflüsse 
seines  Geistes  waren,  auf  Grund  deren  diese  Richtung  im  XVIII. 
Jahrhundert  emporkeimte  und  im  XIX.  zur  Blüte  gelangte.  Diese 
historische  Auffassung  der  religiösen  Urkunden  ist  bei  Spinoza  um 
so  bemerkenswerter,  je  mehr  sie  dem  unhistorischen  Charakter 
seines  eigenen  Denkens  und  der  ganzen  Zeitrichtung  widerspricht. 
Eben  jener  theologisch-politische  Traktat  aber,  in  welchem  diese 
Gedanken  entwickelt  sind,  beweist,  wie  frei  und  selbständig  der 
jugendliche  Denker  die  Elemente  seiner  nationalen  Bildung  ver- 
arbeitete, und  läßt  uns  einen  klaren  Einblick  dahinein  gewinnen, 
daß  zwar  jene  Einflüsse  seiner  ersten  gelehrten  Bildung  in  ihm  fort- 
wirkten, daß  sie  aber  keineswegs  das  bestimmende  Element  in  seinen 
besten  und  höchsten  Prinzipien  ausmachten.    Vollends  die  Grund- 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  14 


210  Spinoza. 

gedanken  seines  eigenen  philosophischen  Systems  stehen  aller  Meta- 
physik der  jüdischen  Scholastiker  so  fremd  gegenüber,  daß  hier  an 
eine  Abhängigkeit  durchaus  nicht  zu  denken  ist.  Wenn  man  endlich 
darauf  hingewiesen  hat,  daß  der  Gedanke  dei>Liebe  zur  Gottheit 
einer  der  Tragpfeiler  des  Spinozismus  und  zugleich  ein  in  der 
jüdischen  Philosophie  des  Mittelalters  überall  wiederkehrender  Ge- 
danke ist,  so  wurde  darauf  sehr  richtig  erwidert,  daß  er  in  dieser 
Allgemeinheit  die  Grundlage  aller  monotheistischen  Religionen 
bildet,  und  daß  man  die  jüdische  Scholastik  nicht  zu  kennen 
brauchte,  um  ihn  zu  erfassen. 

Wenn  somit  keines  der  unmittelbar  naheliegenden  Elemente 
den  Spinozismus  völlig  zu  erklären  vermag,  so  erwuchs  der  Lösung 
dieser  Aufgabe  eine  neue  Hoffnung,  als  man  bald  nach  der  Mitte 
des  XIX.  Jahrhunderts  mit  einer  Schrift  Spinozas  bekannt  wurde, 
welche  alle  Merkmale  eines  Jugendwerkes  an  sich  trägt,   und  in 
deren   eingestreuten   dialogischen  Teilen   man    sogar   Bruchstücke 
einer  der  Zusammenstellung  des  Ganzen  noch  um  einige  Zeit  vorher- 
gegangenen Arbeit  unschwer  erkennen  konnte.    Dieser  sog.  kurze 
Traktat  (Tractatus  de  deo  et  nomine  eiusque  felicitate)  ließ  auf 
den  ersten  Blick  die  Meinung  entstehen,  als  ob  das  Sternbild,  in 
welchem  die  aufgehende  Sonne  des  spinozistischen  Geistes  stand, 
dasjenige  Giordano  Brunos  gewesen  sei.     Die  Namen  der  dia- 
logisierenden  Personen,   die  Anwendung  gewisser  philosophischer 
Termini  und  der  Zusammenhang  der  Gedanken  schien  es  wahrschein- 
lich zu  machen,  daß  von  den  Begründern  des  modernen  Denkens 
zuerst  der  italienische  Naturphilosoph  in  Spinozas  Gedanken  ge- 
wirkt habe.    Allein  auch  damit  wird  das  eigentümlichste  Wesen  der 
spinozistischen  Lehre  noch  nicht  erklärt.    Denn  wenn  auch  zu  dem 
allgemeinen  Zuge  des  Pantheismus  beider  Lehren  die  naturalistische 
Tendenz  und  der  Gegensatz  gegen  jede  pessimistische  Emanations- 
theorie als  gemeinsame  Merkmale  hinzutreten,  so  bleibt  doch  der 
überaus  bedeutsame  Gegensatz  zwischen  beiden  bestehen,  daß  die 
\  all-eine  Gottheit  für  Bruno  die  lebendige,  wirkende  Naturkraft,  für 
I  Spinoza  nur  die  unendliche  Substanz  der  endlichen  Modi  ist,  und 
daß  infolgedessen  der  eine  die  teleologische  Natuxbetrachtung  ebenso 
energisch  ablehnt  wie  sie  der  andere  anwendet.     So  bildet  auch 
diese  Lehre  nur  höchstens  eines  der  Elemente,  welche  sich  in  dem 
Entwicklungsgange  Spinozas  derartig  gedrängt  haben,  daß  wir  es 


Philosophische  Entwicklung.  211 

nicht  wagen  dürfen,  zu  behaupten,  daß  er  zu  irgend  einer  Zeit  der 
Schüler  einer  einzelnen  darunter  gewesen  sei.  Dasselbe  gilt  von 
der  Einwirkung,  die  er  terminologisch  und  sachlich  von  der  späteren 
Scholastik  des  Abendlandes  erfahren  hat.  Alle  diese  zahlreichen 
Systeme  bildeten  in  ihm  gewiß  eine  gärende  Masse,  in  der  anfangs 
bald  das  eine,  bald  das  andere  Element  überwogen  haben  mag, 
und  die  schließlich  zu  dem  klaren  Gebilde  seiner  Ethik  zusammen- 
kristallisieren sollte.  Um  aber  diesen  Abschluß  seiner  so  vielseitigen 
Bildung  zu  begreifen,  bedürfen  wir  der  Einsicht  in  den  eigentüm- 
lichen Vorgang,  vermöge  dessen  zwei  jener  Elemente  sich  zuerst 
ergriffen  und  durchdrangen  und  dadurch  die  Kräfte  der  Anziehung 
und  Abstoßung  zwischen  den  übrigen  derartig  auslösten,  daß  sie 
sich  in  durchsichtiger  Keinheit  um  den  gefundenen  Mittelpunkt 
anlagerten. 

Diesen  Vorgang  hat  uns  Spinoza  in  dem  unvollendeten  Ent- 
wurf seiner  Abhandlung  über  die  Ausbildung  des  Verstandes  ge- 
schildert; sie  zeigt  uns,  weshalb  er  aus  innerstem  Bedürfnis  einen 
Grundgedanken  der  cartesianischen  Philosophie  ergreifen  und  ihn 
zu  einem  System  ausbilden  mußte;  sie  zeigt  uns  zugleich,  wie  in 
der  Philosophie  dieses  Mannes  nicht  nur  sein  Geist,  sondern  auch 
sein  Charakter  und  seine  fühlende  Seele  gelebt  hat.  Weit  ent- 
fernt von  jenem  kühl  theoretischen  Interesse  an  der  Wahrheit, 
welches  sich  in  den  Meditationen  Descartes'  ausspricht,  enthüllt 
uns  dies  Selbstbekenntnis  seines  großen  Schülers  den  religiösen 
und  sittlichen  Hintergrund,  auf  dem  sein  wissenschaftliches  Streben 
beruhte.  Was  er  mit  dem  philosophischen  Denken  verfolgt,  ist 
nicht  wie  bei  Descartes  das  Ringen  einer  über  alle  ihre  Vorstellungen 
zweifelhaft  gewordenen  Seele,  sondern  die  Befriedigung  eines  Triebes 
reinster  und  sehnsüchtigster  Frömmigkeit.  Darin  ist  das  Denken 
Spinozas  viel  weniger  voraussetzungslos,  als  dasjenige  von  Des- 
cartes; dem  letzteren  handelte  es  sich  nur  darum,  überhaupt  einen 
Punkt  der  Gewißheit  zu  finden,  und  man  sieht  nicht,  daß  dieser  für 
ihn  von  vornherein  noch  irgend  einen  anderen  Wert  gehabt  hätte, 
da  jeder  andere  Vorstellungsinhalt,  wenn  er  nur  der  Anforderung, 
über  alle  Zweifel  erhaben  zu  sein,  genügt  hätte,  in  seinem  System 
die  Rolle  gespielt  haben  würde,  die  nun  das  Selbstbewußtsein  ein- 
nimmt. Bei  Spinoza  dagegen  hat  das  Denken  von  Anfang  an  ein 
in  gläubiger  Überzeugung  unerschütterlich  feststehendes  Ziel;  das 

14* 


212  Spinoza. 

ist  die  erkenntnisvolle  Liebe  zur  Gottheit.  Von  dieser  Liebe 
war  Spinoza  durchdrungen,  ehe  er  sein  System  fand;  sie  war  es 
vielmehr,  welche  ihm  die  Pflicht  einer  vollkommenen  Gotteser- 
kenntnis auferlegte  und  ihn  dazu  trieb,  sich  über  ihren  Grund  und 
ihren  Inhalt  klar  zu  werden.  Auf  diese  Gottesliebe  weist  die  Be- 
trachtung der  erwähnten  Abhandlung  als  auf  das  höchste  und  wert- 
vollste Ziel  des  Menschenlebens  hin,  und  in  denselben  Begriff  mündet 
am  Schlüsse  der  Ethik  der  Strom  seiner  Gedanken. 

Diese  Gottesliebe  aber  erscheint  bei  Spinoza  von  vornherein 
mit  einer  Grundvorstellung  verknüpft,  die  ihn  den  mystischen 
Richtungen  überaus  nahe  stellt.  Es  ist  schwer  zu  sagen,  in  welcher 
Weise  die  letzteren  auf  ihn  Einfluß  gewonnen  haben.  Die  Mög- 
lichkeit dazu  war  ja  in  der  Gedankenbewegung  der  Renaissance 
in  der  mannigfachsten  Weise  geboten;  und  wieviel  Spinoza  davon 
gekannt  hat,  wissen  wir  nicht.  Die  Anregungen  der  praktischen 
Mystik  waren  von  Deventer  aus  niemals  völlig  verklungen.  Die 
großen  Bewegungen  der  deutschen  Mystik  nach  der  Reformation 
hatten  ihre  Wellen  auch  immer  nach  Holland  geworfen,  und  wie 
der  mystische  Gedanke  des  Neuplatonismus,  derjenige  eines  Auf- 
gehens der  begeisterten  Seele  in  die  unendliche  Gottheit,  sich  durch 
alle  möglichen  Denkrichtungen  jener  Zeit  verzweigte,  ist  schon 
mehrfach  erwähnt  worden.  Auch  in  den  Gedanken  Brunos  spielte 
er  eine  bedeutende  Rolle,  und  hier  namentlich  hatte  er  jene  pan- 
theistische  Ausprägung  gefunden,  zu  der  er  von  Haus  aus  und  in 
allen  Formen  hinneigte,  und  von  der  wir  Spinoza  durch  alle  uns  vor- 
liegenden Wandlungen  seines  Denkens  hindurch  ergriffen  finden. 

Wenn  man  den  Quellen  dieses  mystischen  Pantheismus  nach- 
geht, so  stößt  man  schließlich  auf  eine  der  schönsten  und  groß- 
artigsten Lehren  der  platonischen  Philosophie.  Alle  jene  Vor- 
stellungen von  einer  Erhebung  der  Seele  zu  Gott,  mögen  sie  diese 
als  ekstatische  Erregtheit  oder  als  kontemplative  Seligkeit  sich 
denken,  weisen  zurück  auf  Piatons  Lehre  vom  Eros.  Aber  schon 
in  dieser  war  es  ausgesprochen,  daß  die  Seele  sich  in  die  Gottheit 
nur  deshalb  erheben  kann,  weil  sie  selbst  am  göttlichen  Wesen  teil 
hat,  und  für  dieses  Teilhaben  galt  eben  gerade  die  Liebe  selbst, 
die  Sehnsucht  nach  der  Erkenntnis,  als  Beweis.  Der  Trieb  nach 
Gotteserkenntnis  —  das  ist  seit  Piaton  der  Grundgedanke  aller 
philosophischen  Mystik  —  ist  selbst  eine  Betätigung  des  göttlichen 


Pantheismus.  213 

Wesens  innerhalb  unseres  unvollkommenen  und  endlichen  Zustandes. 
Indem  man  so  den  religiösen  Trieb  selbst  als  eine  Wirkung  der  Gott- 
heit im  Menschen  aufzufassen  sich  gewöhnte,  vollzog  sich  ganz  von 
selbst  die  Ausgestaltung  eines  zunächst  psychischen  Pantheismus, 
und  für  diesen  hatte  gerade  die  deutsche  Mystik  den  vollkommensten 
Ausdruck  gefunden.  Die  Beziehung  des  Endlichen  auf  das  Un- 
endliche, dieser  eigentliche  Inhalt  des  religiösen  Gefühls,  erschien 
eben  nur  dadurch  begreiflich,  daß  das  Unendliche  in  allem  Endlichen 
selbst  als  das  innerste  Wesen  gegenwärtig  sei.  Je  mehr  sich  dann 
der  Blick  der  Wissenschaft  auf  die  äußere  Welt  richtete,  um  so 
mehr  dehnte  sich  die  pantheistische  Auffassung  auch  über  die  Natur- 
betrachtung aus.  Auch  hier  war  es  der  Lebenszusammenhang  der 
einzelnen  Dinge,  welcher  den  Gedanken  der  Alleinheit  notwendig 
hervorrief.  So  kam  es,  daß  der  Grundzug  des  modernen  Denkens 
von  vornherein  pantheistisch  war.  Der  Pantheismus  war  die 
philosophische  Atmosphäre  des  XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts;  er 
war  auch  die  Lebensluft,  welche  Spinoza  von  allen  Seiten  her  ein- 
atmen mußte,  nachdem  er  die  Freiheit  der  wissenschaftlichen  Selbst- 
bildung  errungen  hatte.  Und  von  diesem  Gedanken  der  Welteinheit 
war  Spinoza  auf  das  tiefste  durchdrungen.  Die  unendliche  Gottheit 
war  seine  einzige  Liebe  und  die  Begeisterung  für  ihre  Erkenntnis 
seine  einzige  Leidenschaft.  Wenn  es  je  einen  Menschen  gegeben 
hat,  der  die  Triebe  des  natürlichen  Lebens  vollkommen  in  sich 
absterben  und  darin  nur  Kaum  ließ  für  eine  weihevolle  Hingabe 
an  die  unendliche  Gottheit,  so  war  es  Spinoza.  Jene  Schrift  über 
die  Ausbildung  des  Denkens,  welche  die  tiefsten  Triebfedern  seiner 
Lehre  bloßlegt,  steigt  von  den  einzelnen  Gütern,  denen  die  Men- 
schen nachzujagen  pflegen,  durch  den  Nachweis  ihrer  Nichtigkeit 
dazu  empor,  die  Liebe  zur  Gottheit  nicht  nur  als  das  höchste,  sondern 
als  das  einzige  wahre  Gut  zu  ergreifen.  Aber  diese  Liebe  ist  für 
Spinoza  nicht  eine  ekstatische  Entzündung  des  Gefühls,  sondern 
so  warm  er  sie  in  sich  trägt,  so  sehr  sie  sein  ganzes  inneres  Leben 
erfüllt,  so  klar  ist  er  sich  darüber,  daß  dieser  religiöse  Trieb  nur 
befriedigt  werden  kann  in  einer  richtigen  Erkenntnis.  Seine  Gottes- 
liebe  ist  im  Innersten  kontemplativ,  und  sie  läßt  ihn  alle  Güter  des 
Lebens  fortwerfen  für  dasjenige  der  Erkenntnis.  Es  ist  ein  eigen- 
tümlicher Gegensatz  zwischen  dem  theologisch-politischen  Traktat 
und  dieser  Abhandlung  über  die  Ausbildung  des  Denkens.     Dort 


214  Spinoza. 

wird  alles  angestrengt,  um  Keligion  und  Wissenschaft  so  weit  wie 
möglich  auseinanderzustellen  und  jede  Beziehung  zwischen  ihnen 
abzubrechen.  Hier  lautet  das  Selbstbekenntnis  des  Denkers,  daß 
seine  Wissenschaft  Religion  sei.  Jene  kritische  Scheidung  richtet 
sich  gegen  die  äußere  positive  Gestalt  des  religiösen  Lebens  in  der 
Kirche,  nur  gegen  diese  soll  die  Wissenschaft  geschützt  werden; 
diese  Begründung  seiner  eigenen  Lehre  zeigt,  daß  der  letzte  Grund 
des  philosophischen  Denkens  im  religiösen  Bedürfnis  liegt.  Es  gibt 
wenige  Systeme  in  der  Geschichte  der  Philosophie,  die  so  durch 
und  durch  von  religiösem  Geiste  getragen  wären,  wie  dasjenige 
Spinozas.  Aber  freilich  ist  das  nicht  der  Geist  irgendwelcher  Kirche 
oder  Konfession,  sondern  eben  jener  überkonfessionelle  Trieb,  der 
die  Mystik  in  allen  ihren  Ausgestaltungen  charakterisiert. 

Die  ganze  Aufgabe  der  spinozistischen  Philosophie  ist  somit 
in  dem  Begriffe  der  Gotteserkenntnis  zusammengefaßt,  und  schon 
darin  liegt  die  pantheistische  Voraussetzung,  daß  die  wahre  Er- 
kenntnis der  Gottheit  auch  diejenige  aller  Dinge  in  sich  fasse. 
Die  einzelnen  Dinge  liegen  in  Gott  beschlossen  nach  einer  ewigen 
Ordnung.  Wenn  es  deshalb  von  Go^t  eine  wahre,  ihn  völlig  ab- 
bildende Idee  geben  soll,  so  muß  diese  in  derselben  Weise,  wie 
Gott  selbst  die  Dinge  in  sich  umfaßt,  auch  die  Ideen  aller  Dinge 
in  sich  enthalten,  und  wenn  die  wirklichen  Dinge  aus  dem  unend- 
lichen Wesen  der  Gottheit  hervorquellen,  so  muß  ihre  Erkenntnis 
in  derselben  Ordnung  aus  der  Idee  der  Gottheit  hervorgehen.  Mit 
diesen  Gedanken  bringt  Spinoza  den  Pantheismus  auf  seine  schärfste 
Formulierung.  Seine  pantheistische  Sehnsucht  nach  Gotteserkennt- 
nis verlangt  eine  Form  des  Denkens,  nach  welcher  sich  aus  der 
Gottesidee  allein  alle  anderen  Erkenntnisse  entwickeln  sollen,  wie  in 
der  Wirklichkeit  alle  Dinge  aus  der  Gottheit  hervorgehen.  Das  ist 
zu  gleicher  Zeit  der  vollendete  Ausdruck  der  deduktiven  Philosophie. 
Das  Bestreben,  von  einem  all-enthaltenden  Grundgedanken  aus  nur 
durch  begriffliche  Operationen  alles  übrige  Wissen  zu  erzeugen,  hat 
keiner  so  unumwunden  ausgesprochen,  keiner  so  genial  durch- 
geführt, wie  Spinoza.  So  verlangte  sein  mystischer  Erkenntnistrieb 
eine  Form  des  Denkens,  die  von  der  Idee  der  Gottheit  aus  die  ganze 
Philosophie  gestalten  sollte,  und  das  Problem  des  Pantheismus  ver- 
dichtete sich  für  Spinoza  zu  der  Frage,  welches  diese  Operation  des 
Denkens  sei.    Hier  nun  war  es,  wo  er  den  Gedanken  Descartes', 


Geometrische  Methode.  215 

die  Philosophie  durch  die  Mathematik  zu  reformieren,  in  einer  durch- 
aus großartigen  und  originellen  Weise  aufnahm.  Die  mathe- 
matische Synthesis  Descartes'  hatte  aus  erkenntnistheoretischen 
Gründen  dieselbe  Deduktion  von  einem  Grundgedanken  aus  ge- 
lehrt, welche  Spinoza  aus  religiösen  und  metaphysischen  Gründen 
suchte.  Es  ist  klar,  daß,  wenn  er  die  Gedanken  Descartes'  über- 
nahm, er  sich  des  ganzen  analytischen  Teiles  dieser  Philosophie 
entschlagen  konnte.  Denn  für  ihn  war  die  Idee  der  Gottheit  der 
absolut  feste  Pimkt,  den  er  nicht  erst  zu  suchen  brauchte,  sondern 
in  tiefster  Überzeugung  von  vornherein  besaß.  Hieraus  begreift 
es  sich,  daß  seine  Ethik  ohne  jede  Vorbereitung  mit  dem  Begriffe 
der < göttlichen  Substanz"*  beginnt  und  daran  die  Konstruktion  des 
ganzen  Systems  anschließt. 

So  war  es  in  der  Tat  die  metaphysische  Voraussetzung  des 
Pantheismus,  auf  Grund  deren  Spinoza  die  geometrische  Methode 
zur  Lösung  seines  Problems  ergriff.  Umgekehrt  aber  war  es  dann 
wieder  diese  geometrische  Methode  selbst,  welche  die  Lösung 
seines  Problems  und  den  eigentümlichen  Charakter  seines  Pan- 
theismus bestimmte.  Durch  die  Anwendung  dieser  Methode  kam 
er  dazu,  das  Verhältnis  der  Gottheit  zu  den  einzelnen  Dingen  nach 
einer  mathematischen  Analogie  zu  denken,  und  wenn  sich  jede 
pantheistische  Weltanschauung  vollständig  erst  durch  das  Verhältnis 
charakterisiert,  das  sie  zwischen  der  all-einen  Gottheit  und  den 
einzelnen  Dingen  annimmt,  so  ist  Spinozismus  nichts  anderes  als 
mathematischer  Pantheismus,  und  er  bestimmt  sich  noch 
genauer  dadurch,  daß  die  Analogie,  welche  Spinoza  zur  Erklärung 
jenes  Verhältnisses  wählte,  die  geometrische  war.  In  dieser  Hin- 
sicht bietet  sich  für  den  Zusammenhang  seiner  Gedanken  eine 
außerordentlich  bedeutsame  und  lehrreiche  Parallele  in  der  antiken 
Philosophie  dar.  Hier  hatte  das  Problem,  wie  die  von  den  Eleaten 
behauptete  All-Einheit  des  Seins  mit  den  Tatsache  i  des  Geschehens 
und  der  Vielheit  der  Finzeldinge  vereir  bar  sei,  neben  mannigfachen 
anderen  Vermittlungsversuchen  auch  derjenigen  der  Pythagoreer 
hervorgerufen,  welche  die  Verwandlung  de:  göttV'chen  Einheit  in 
die  Vielheit  der  Dinge  nach  dem  arithmetischen  Schema  der  Ver- 
wandlung der  Eins  in  die  Zahlenreihe  sic^  vorstellen  zu  können 
glaubten.  Diesen  Gedanken  hat  später  in  der  letzten  Phase  seiner 
Entwicklung  Piaton  aufgegriffen,  und  so  dunkel  unsere  Nachrichten 


216  Spinoza. 

über  den  eigentlichen  Inhalt  dieser  »ungeschriebenen  Lehre«  sind, 
so  läßt  sich  doch  so  viel  vermuten,  daß  er,  um  das  Verhältnis  der 
Idee  des  Guten  oder  der  Gottheit  zu  den  übrigen  Ideen  und  zu  der 
Entstehung  der  realen  Welt  begreiflich  zu  machen,  jenes  arithme- 
tische Schema  der  Pythagoreer  annahm.  Damals  erwies  sich  der 
Einfluß,  welchen  die  Mathematik  auf  die  Entwicklung  metaphysi- 
scher Ansichten  ausübte,  dem  ganzen  Charakter  der  antiken  Mathe- 
matik gemäß,  als  ein  arithmetischer.  Wenn  jetzt  Spinoza  zur 
Lösung  desselben  Problems  sich  an  die  moderne  Mathematik  wendete, 
so  fand  er  hier  vermöge  der  Beziehung,  welche  sie  zur  Naturwissen- 
schaft suchte,  ein  vorwiegend  geometrisches  Interesse  vor  und 
geriet  auf  diese  Weise  in  den  Versuch  einer  geometrischen  Lösung 
der  Grundfrage  des  Pantheismus. 

Es  wurde  schon  früher  hervorgehoben,  daß  die  Mathematik  in 
den  ersten  Jahrhunderten  des  modernen  Denkens  durch  die  Ab- 
hängigkeit von  der  euklidischen  Methode  in  die  Stellung  einer 
synthetisch-demonstrativen  Wissenschaft  ohne  prinzipielle  Berück- 
sichtigung ihrer  anschaulichen  Elemente  gerückt,  und  daß  sie  in- 
folgedessen als  das  Ideal  rationaler  Beweisführung  betrachtet  wurde. 
Auf  diese  Weise  entstand  bei  Spinoza  der  Gedanke,  auch  dem 
System  der  Philosophie  schon  äußerlich  die  Form  der  euklidischen 
Geometrie  zu  geben.  Descartes  hatte  mit  seiner  tiefen  Einsicht 
in  das  erfindende  Wesen  der  Synthesis  diese  Darstellungsform  für 
eine  äußerliche  Nebensache  gehalten  und  ihre  Anwendung  nur  ge- 
legentlich probiert:  Spinoza  dagegen  tat  dies  versuchsweise  schon 
mit  dem  gesamten  System  der  cartesianischen  Philosophie  und 
preßte  in  der  Ethik  seine  eigene  Lehre  in  die  schwerfällige  Form 
dieser  Darstellung.  Darin  besteht  der  befremdende  Hauch,  der  aus 
seinem  Hauptwerke  dem  Leser  entgegenweht.  Er  wirkt  um  so 
eigentümlicher,  in  je  grellerem  Gegensatze  er  zu  der  mystischen 
Sehnsucht  steht,  welche  die  psychologische  Triebfeder  von  Spinozas 
Denken  bildet.  Die  tiefe  Bewegung  eines  gotterfüllten  Gemütes 
spricht  sich  in  der  trockensten  Form  aus,  und  die  zarte  Beligiosität 
erscheint  im  starrenden  Panzer  festgeketteter  Schlußreihen.  Die 
Ethik  ist  auch  nach  dieser  Seite  hin  der  vollkommene  Ausdruck 
von  Spinozas  Denken.  Sie  zeigt  auch  hierin  jene  einzige  Ver- 
bindung von  tief  gefühltem  Mystizismus  und  klar  gedachtem 
Rationalismus. 


Metaphysische  Bedeutung  der  Methode.  217 

Das  Eigentümliche  dieser  Weltauffassung  besteht  also  darin,  daß 
sie  ihre  Wurzeln  in  einer  Methode  hat.  Meist  ist  in  der  Philosophie 
die  Erkenntnistheorie  und  die  Methodologie  von  einer  vorher  be- 
stehenden Weltanschauung  abhängig.  Die  Weltanschauungen 
wachsen  aus  mannigfachen  inhaltlichen  Interessen  der  Geister  her- 
vor, und  erst  wenn  sie  fertig  sind,  suchen  sie  die  Methode  ihrer  Be- 
gründung. Spinoza  ist  einer  der  wenigen,  deren  bedeutendste  Ge- 
danken auch  ihrem  Inhalte  nach  aus  der  Methode  stammen.  Er 
war  Pantheist,  als  er  diese  Methode  ergriff,  und  er  ergriff  sie,  weil 
er  Pantheist  war :  aber  der  Pantheismus  ist  ein  Problem,  und  dieses 
Problem  löste  Spinoza,  indem  er  die  geometrische  Methode  in 
eine  Weltanschauung  umsetzte.  Dies  Verhältnis  wird  da- 
durch nicht  aufgehoben,  daß  eine  Anzahl  einzelner  Lehren  sich  bei 
Spinoza  schon  vor  seiner  Aufnahme  der  geometrischen  Methode 
finden:  nur  darum  handelt  es  sich,  daß  die  eigenartige  Gesamtfär- 
bung seiner  Metaphysik  nur  aus  dieser  Methode  zu  verstehen  ist. 

Hieraus  erklärt  sich  zunächst  die  Ausgestaltung  des  Begriffs, 
von  dem  Spinoza  die  synthetische  Demonstration  begann,  desjenigen 
der  Gottheit.  Die^GottheitT  verhält  sich  in  seiner  Lehre  zu  der 
"^Wel^als  dem  Inbegriff  der  besonderen  Dinge  nicht  anders,  als  in 
der  Geometrie  der'Raum  zu  den  besonderen  Figuren,  ihren  Verhält- 
nissen und  Gesetzen.  Wie  deshalb  der  Geometer  von  der  An- 
schauung des  Raumes  ausgeht  und  aus  ihr  alle  seine  Erkenntnisse 
ableitet,  so  beginnt  Spinoza  mit  der  Anschauung  der  Gottheit.  Die 
Intuition,  welche  ihr  Objekt  unmittelbar  ergreift,  ist  ihm  die  höchste, 
der  Gottbetrachtung  allein  angemessene  Erkenntnisart.  Auch  in 
der  Parabel  der  cartesianischen  Lehre  war  der  Kulminationspunkt 
ein  Gegenstand  intuitiver  Erkenntnis  gewesen;  aber  dort  war  es 
das  Selbstbewußtsein  des  denkenden  Geistes,  welches  auf  diese 
Weise  den  ursprünglichen  Punkt  aller  Gewißheit  bilden  sollte.  Und 
doch  zeigte  schon  Descartes  die  Neigung,  das  Gottesbewußtsein  als 
etwas  in  jenes  Selbstbewußtsein  unmittelbar  Eingeschmolzenes  zu 
betrachten.  Bei  Spinoza  fällt  vermöge  seines  ganzen  Entwicklungs- 
ganges diese  Vorbereitung  durch  das '"Selbstbewußtsein  fort,  und 
ihm  gilt,  wie  der  gesamten  Mystik,  die  Gottesanschauung  als  der 
allein  unmittelbar  gewisse  Inhalt  des  Denkens.  In  erkenntnis- 
theoretischer  Hinsicht  tritt  deshalb  der  Spinozismus  in  ent- 
schiedenen Gegensatz  zum  Sensualismus:  die  sinnliche  Erfahrung 


218  Spinoza. 

bezeichnet  er  als  die  niedrigste  und  unzulänglichste  Stufe  der  Er- 
kenntnis. Er  nähert  sich  dem  Rationalismus,  wenn  er  die  denkende 
Auffassung  des  Zusammenhanges  der  Dinge  (ratio)  für  die  zweite 
und  höhere  Stufe  des  Wissens  erklärt.  Aber  das  mystische  Element 
in  seinem  Denken  verlangt  noch  eine  Erhebung  über  diesen  carte- 
sianischen  Rationalismus  und  benutzt  dazu  eben  jene  intellektuelle 
Anschauung  der  Gottheit,  welche  vollkommen  selbständig  ohne 
Beziehung  zu  den  beiden  niederen  Stufen  den  wertvollsten  Inhalt 
des  Denkens  gewähren  soll.  Diese  Lehre  von  den  drei  Stufen  der 
Erkenntnis,  sensus  ratio  intmtus,  geht  als  mittelalterliches  Erb- 
stück durch  alle  mystisch  gefärbten  Anschauungen  der  neueren 
Philosophie  hindurch  und  hat  bei  Spinoza  ihre  spezifisch  wissen- 
schaftliche Ausbildung  gefunden. 

Auch  die  Auffassung  vom  Wesen  der  Gottheit  bei  Spinoza  macht 
man  sich  am  besten  durch  die  Analogie  des  Raumes  deutlich.  Wie 
alle  geometrischen  Formen  durch  den  einen  Raum  bedingt  und  nur 
in  ihm  möglich  sind,  so  erscheinen  bei  Spinoza  alle  einzelnen  Dinge 
nur  als  Gestalten  in  der  einen  göttlichen  Substanz.  Sie  ist  das  einzige 
Wesen  und  trägt  in  sich  die  Möglichkeit  aller  Existenzen,  und  wie 
räumliche  Formen  und  Gesetze  nichts  sind  ohne  den  Raum,  der 
sie  trägt,  so  die  Dinge  nichts  ohne  die  Gottheit,  in  der  sie  sind  und 
durch  die  sie  begriffen  werden.  Deshalb  macht  Spinoza  der  Un- 
gewißheit und  Zweideutigkeit,  womit  Descartes  den  Begriff  der 
Substanz  angewendet  hatte,  und  jener  zweifelhaften  Unterscheidung 
der  unendlichen  von  den  endlichen  Substanzen  damit  ein  Ende, 
daß  er  die  Substantialität  der  einzelnen  Dinge  vollständig  aufgibt 
und  in  dem  religiösen  Geiste  seines  Volkes  keine  Substanzen  neben 
der  Gottheit  anerkennt.  Seine  Substajiz_  ist  de7:  metaphysische 
Raum  für  die  Dinge.  Gerade  wie  beim  geometrischen  Räume  die 
Einheit  identisch  ist  mit  seiner  Einzigkeit,  so  schließt  auch  hier 
die  Substantialität  Gottes  diejenigen  aller  anderen  Dinge  aus.  Allein 
ebenso  wie  anderseits  der  Raum  nur  eine  formale,  qualitativ  inhalt- 
lose Vorstellung  ist,  so  bleibt  auch  für  diesen  Begriff  der  spino- 
zistischen  Gottheit  keine  innere  Bestimmung  übrig;  weilsie  alles 
ist  —  so  hatten  auch  die  Mystiker  gelehrt  — ,  ist  sie  nichts.  Wie 
der  geometrische  Raum,  für  sich  allein  betrachtet,  der  leere,  so 
ist  die  spinozistische  Gottsubstanz  die  absolute  Leere.  Sie  ist  in- 
haltlos,  qualitätlos,  —  das  metaphysische  Nichts.     Wie  im  geo- 


Die  Attribute  Gottes.  219 

metrischen  Räume  nach  Abzug  seines  sinnlichen  Inhalts  nur  die 
leeren  Formen  übrig  bleiben,  so  bleibt  in  der  spinozistischen  Sub- 
stanz nach  der  Entfernung  aller  einzelnen  Bestimmungen  nur  die 
logische  Kategorie  der  Substantialität  übrig.  Spinozas  Gotteslehre 
ist  die  Hypostasierung  einer  Denkform,  und  dadurch  erhält  das 
ganze  System  etwas  Schattenhaftes  und  Blutloses;  denn  sowenig 
als  der  Raum  die  materielle  Wirklichkeit,  sowenig  ist  diese  inhalt- 
lose Substanz  das  metaphysische  Wesen. 

Um  so  schwerer  wird  deshalb  für  Spinoza  das  Problem,  aus 
dieser  inhaltlosen  Gottheit  die  Fülle  der  Qualitäten  und  der  ein- 
zelnen Dinge  »nach  mathematischer  Folge«  abzuleiten.  Als  das 
Zwischenglied  dient  ihm  dazu  seine  eigentümliche  und  äußerst  ver- 
wickelte  Attributenlehre.  Auch  sie  begreift  sich  am  leichtesten, 
wenn  man  sich  einer  geometrischen  Analogie  erinnert.  Die  Attribute 
der  spinozistischen  Gottheit  verhalten  sich  zur  Substanz,  wie  die 
Dimensionen  des  Raumes  zu  diesem  selbst.  Man  darf  sie  nicht 
als  Eigenschaften  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  auffassen,  sie 
sind  vielmehr  nur  die  Richtungen,  in  denen  sich  das  Wesen  der 
Substanz  entwickelt;  aber  sie  sollen  mit  diesem  Wesen  selbst  ge- 
geben, ja  vielmehr  der  eigentliche  Inhalt  dieses  Wesens  sein.  Mannig- 
fach hat  man  sich  dieses  schwierige  Verhältnis  klarzulegen  gesucht. 
Man  wählte  die  einfachste  Erklärung,  wenn  man  die  Attribute 
als  die  verschiedenen  Tätigkeitssphären  der  Substanz  auffaßte :  aber 
es  schien  dann  wieder  unbegreiflich,  wie  die  einheitliche  Substanz 
zu  diesen  verschiedenen  Formen  ihrer  Kraftäußerung  kommen  sollte. 
Man  betrachtete  den  Spinozismus  durch  die  Brille  der  kritischen 
Erkenntnistheorie,  wenn  man  meinte,  die  verschiedenen  Attribute 
seien  nur  die  verschiedenen  Vorstellungsweisen,  welche  sich  der 
erkennende  Geist  von  der  Gottheit  zu  machen  genötigt  sehe:  aber 
man  vergaß,  daß  man  dabei  teils  das  Attribut  des  Denkens  schon 
voraussetzte,  teils  dem  endlichen  Geiste  eine  Selbständigkeit  der 
Gottheit  gegenüber  zutraute,  wie  er  sie  in  der  Lehre  Spinozas  nicht 
haben  kann.  Man  versuchte  endlich,  die  Attribute  als  selbständige 
Substanzen  aufzufassen,  deren  Aggregat  nur  die  unendliche  Sub- 
stanz bilden  solle:  aber  man  stürzte  damit  den  pantheistischen 
Grundcharakter  des  gesamten  Spinozismus  um.  Dagegen  erklärt 
sich  Spinozas  ganze  Attributenlehre,  sobald  man  jene  geometrische 
Analogie  festhält.     Die  ^Gottheit  Spinozas  ist  der  metaphysische 


220  Spinoza. 

Raum  von  unendlich  vielen  Dimensionen,  sie  »besteht«  aus  diesen 
Attributen  ebenso  wie  der  geometrische  Raum  aus  seinen  drei 
Dimensionen,  beide  aber  nicht  etwa  so,  daß  die  Dimensionen  etwas 
Selbständiges  wären  und  das  Ganze  sich  aus  ihnen  erst  zusammen- 
setzte, auch  nicht  so,  daß  sie  gesonderte  Kraftäußerungen  des 
Ganzen  vorstellten,  endlich  auch  nicht  so,  daß  sie  nur  die  verschie- 
denen Seiten  einer  von  außen  herantretenden  Betrachtung  bildeten, 
sondern  vielmehr  so,  daß  die  Anschauung  des  Ganzen  in  diesen 
verschiedenen  Dimensionen  ihr  wahres  Wesen  erschöpft,  und  daß 
das  Wesen  nicht  ohne  die  Attribute,  die  Attribute  nicht  ohne  das 
Wesen  sein  und  erkannt  werden  können. 

Allein  die  Annahme  der  unendlichen  Anzahl  der  Attribute  ist 
nur  eine  Forderung,  welche  die  ursprüngliche  pantheistische  An- 
schauung an  den  Begriff  der  Gottsubstanz  stellt.  Die  menschliche 
Anschauung  ist  unfähig,  diese  Forderung  vollständig  zu  erfüllen, 
und  sie  muß  sich  daher  auf  die  Betrachtung  derjenigen  Attribute 
beschränken,  die  der  menschlichen  Natur  zugänglich  sind.  Dies 
aber  sind  nur  die  beiden  Attribute  des  Denkens  und  der  Ausdehnung. 
An  dieser  Stelle  ist  schon  einerseits  der  Verzicht  auf  eine  völlie; 

■ im    i   mm    i  O 

adäquate  Gotteserkenntnis,  anderseits  der  erste  Riß  in  der  deduk- 
tiven Methode  der  spinozistischen  Philosophie;  denn  daß  es  gerade 
diese  beiden  Attribute  sind,  welche  der  Mensch  erkennen  kann, 
läßt  sich  aus  dem  Begriffe  der  Substanz  nicht  ableiten,  sondern 
nur  durch  eine  unvermerkte  Aufnahme  der  Erfahrung  in  den  Prozeß 
der  Synthesis  behaupten;  und  in  der  Art  dieser  Aufnahme  ist  nun 
Spinoza  zweifellos  zunächst  von  der  cartesianischen  Philosophie, 
weiterhin  aber  von  jener  allgemeinen  Auffassung  abhängig,  vermöge 
deren  man  die  geistige  und  die  sinnliche  Welt  als  zwei  getrennte 
Sphären  der  metaphysischen  Wirklichkeit  zu  betrachten  sich  ge- 
wöhnt hatte.  Auch  ihm  gilt  dieser  Gegensatz  als  ein  durchaus 
prinzipieller,  so  daß  es  keine  unmittelbare  Verknüpfung  und  vor 
allem  keinen  kausalen  Zusammenhang  zwischen  beiden  Reichen 
der  Erfahrung  gibt;  alles,  was  in  der  geistigen  Welt  geschieht,  ist 
nur  durch  diese  bedingt  und  durch  diese  begreiflich,  und  das  gleiche 
gilt  innerhalb  der  Bewegungen  der  räumlichen  Welt.  Allein  Spinoza 
kann  jede  dieser  Sphären  nicht  wie  Descartes  als  Systeme  von  end- 
lichen Substanzen^  sondern  muß  sie  nur  als  die  allgemeinen  Dimen- 
sionen^ hier  der  Ausgedehntheit  oder  Körperlichkeit,  dort  der  Geistig- 


Das  zeitlose  Folgen.  221 

keit  oder  des  Bewußtseins,  betrachten.  Denken  und  Ausdehnung 
sind  deshalb  die  beiden  für  den  Menschen  erkennbaren  Attribute 
der  Gottheit,  und  was  wir  einzelne  Geister  und  einzelne  Körper 
nennen,  sind  nur  Erscheinungen  in  diesen  allgemeinen  Sphären  der 
göttlichen  Substanz.  In  dieser  Lehre  darf  man  das  letzte  und 
extremste  Resultat  des  mittelalterlichen  »Realismus«  sehen,  dessen 
sachliche  Gewalt  sich  danach  bei  Spinoza  geltend  machte,  obwohl 
dieser  sonst  hinsichtlich  der  einzelnen  Gattungsbegriffe  der  empi- 
rischen Weltvorstellung  entschieden  nominalistisch  dachte.  Aber 
in  den  Attributen  der  ^Ausdehnung""'  und  des  "Denkens  ist  die 
Hypostasierung  der  Allgemeinbegriffe  so  weit  getrieben,  daß  alle 
einzelnen  Dinge  ihre  metaphysische  Realität  verloren  haben  und  die 
letztere  nur  noch  für  die  beiden  allgemeinsten  Merkmale  übrig  ge- 
blieben ist,  welche  die  Abstraktion  aus  den  Tatsachen  der  Erfah- 
rung herauszulösen  imstande  ist,  die  Merkmale  der  Körperlichkeit 
und  des  Bewußtseins.  Auch  diese  logischen  Verhältnisse  haben  in 
der  Anknüpfung  an  die  scholastische  Philosophie  und  ihre  Termi- 
nologie eine  wichtige  Rolle  in  der  Ausbildung  der  Lehre  Spinozas 
gespielt. 

Die  Attributenlehre  hat  somit  im  Spinozismus  nur  den  Sinn, 
die  einzelnen  Dinge  in  vollkommen  getrennte  Sphären  anzuordnen, 
die  in  der  unendlichen  Gottheit  unabhängig  nebeneinander  be- 
stehen sollen,  und  sie  gibt  noch  keinerlei  Handhabe  für  die  Lösung 
des  Problems  der  Individuation.  Wie  innerhalb  jedes  dieser 
Attribute  die  einzelnen  Dinge  entstehen,  wie  sich  in  jeder  dieser 
Sphären  der  Prozeß  des  Geschehens  abspielt,  das  bleibt  nach  wie 
vor  dieselbe  Frage.  Gewiß  ist  von  vornherein,  daß  für  Spinoza 
die  einzelnen  Dinge,  welche  er  die  Modi  der  göttlichen  Substanz 
nennt,  nicht  als  seiend  in  dem  Sinne  der  metaphysischen  Realität, 
sondern  nur  als  existierend  im  Sinne  von  besonderen  Erscheinungen 
gelten  können.  Sie  müssen  betrachtet  werden  als  etwas  aus  dem 
Wesen  der  Gottheit  Hervorgehendes,  und  wenn  sie  der  wissen- 
schaftlichen Erkennbarkeit  fähig  sein  sollen,  als  etwas  mit  Not- 
wendigkeit daraus  Hervorgehendes.  Aber  auch  die  Notwendigkeit 
ist  für  Spinoza  nur  eine  mathematische,  und  das  Verhältnis  der 
Modi  zur  Substanz  bezeichnet  er  deshalb  als  dasjenige  der  mathe- 
matischen Folge.  Dies  ist  der  Punkt,  wo  in  seinem  System 
die  Umsetzung  der  geometrsichen  Methode  in  die  metaphysische 


222  Spinoza! 

Weltauffassung  am  klarsten  hervortritt.  Wie  aus  dem  Wesen  des 
Kaumes  alle  geometrischen  Formen  und  Verhältnisse,  so  folgt  aus 
dem  Wesen  Gottes  die  gesamte  Welt  der  Dinge  und  ihrer  Gesetze. 
Allein  die  mathematische  Folge  ist  kein  zeitliches  Geschehen, 
sondern  vielmehr  nur  eine  ewige  Bedingtheit,  kein  einmaliges  Er- 
zeugtwerden, sondern  ein  zeitlos  bestehendes  Verhältnis  der  Ab- 
hängigkeit. Aus  diesem  Grunde  sieht  sich  Spinoza  genötigt,  die  Be- 
trachtung des  Geschehens  unter  dem  Gesichtspunkte  der  zeitlichen 
Auffassung  für  eine^,  inadäquate  und  dunkle  Erkenntnis  zu  erklären 
und  zu  verlangen,  daß  die  Philosophie  die  Dinge  nur  als  eine  »ewige 
Folge«  aus  dem  Wesen  Gottes  begreife,  daß  sie  ein  Denken  sei  »sub 
cjuadam  specie  aeterni«,  d.  h.  gewissermaßen  unter  dem  Gesichts 
/  punkte  des  Ewigen.  Auch  hier  springt  unwillkürlich  der  Vergleich 
/  mit  den  Systemen  der  Mystik  entgegen,  die  namentlich  den  Inhalt 
der  religiösen  Offenbarung  nicht  als  historische  Tatsachen,  sondern 
als  ewige  Vorgänge  betrachtet  hatten.  Der  Fortschritt  Spinozas 
besteht  nur  darin,  daß  er  diese  Anschauungsweise  auch  auf  alles 
Geschehen  überhaupt  überträgt.  Aber  wenn  schon  mit  dem  zeitlichen 
Charakter  das  Geschehen  sein  eigenstes  Wesen  verliert,  so  hebt  die 
geometrische  Analogie  bei  Spinoza  ebenso  auch  alle  Wirksamkeit 
und  alle  Kraftbetätigung  innerhalb  des  Geschehens  auf.  Denn  der 
Raum  ist  nicht  die  wirkende  Ursache  des  Dreiecks  oder  der  Gleich- 
heit der  drei  Dreiecks winkel  mit  zwei  Rechten,  und  wenn  jeder 
Modus  aus  dem  Wesen  der  Substanz  in  derselben  Weise  folgen  soll, 
wie  die  Sätze  der  Geometrie  aus  dem  Wesen  des  Raumes,  so  ist  die 
spinozistische  Substanz  nicht  die  reale,  wirkende  Ursache  der  Dinge. 
Zwar  bezeichnet  Spinoza  die  Gottheit  am  liebsten  auch  als  Natur 
(deus  sive  natura),  und  zwar  im  Unterschiede  von  dem  Systeme  der  i 
Einzeldinge,  das  er  "natura  naturata  nennt,  als  natura  naturalis*, 
und  man  muß  dieses  Wort  entschieden  durch  »wirkende  Natur« 
übersetzen.  Allein  was  Spinoza  das  Wirken  der  Gottheit  nennt, 
ist  eben  nicht  mehr  jene  lebendige  Kraftbetätigung,  die  etwa  Bruno 
darunter  verstanden  hatte,  sondern  vielmehr  das  mathematische 
Verhältnis  des  Grundes  zur  Folge*).    Aus  dem  Gedanken  des  Her- 


*)  Am  klarsten  leuchtet  dies  vielleicht  ein,  wenn  man  sich  an  die  von 
Schopenhauer  (über  die  vierfache  Wurzel  des  Satzes  vom  zureichenden 
Grunde,  6.  Kap.)  unter  dem  Namen  des  »Satzes  vom  Grunde  des  Seins«  ein- 
geführte mathematische  Bedeutung  des  Prinzips  der  Dependenz  erinnert,  von 


Die  Modi.  223 

Vorbringens  ist  bei  Spinoza  das  lebendige  Wesen  der  Kausalität 
herausgefallen,  und  wie  seine  Substanz  nur  noch  die  logische  Kate- 
gorie der  Substantialität,  so  bedeutet  sein  »Folgen  «  nur  das  logische 
Verhältnis  der  Dependenz.  Diese  Welt  ist  tot,  es  geschieht  in  ihr 
nichts  wahrhaft,  sondern  es  gibt  in  ihr  nur  ein  ewig  bestimmtes  Ver- 
hältnis von  Abhängigkeiten.  Diese  Welt  ist  nicht  erfüllt  von  einer 
lebendig  wirkenden  Naturkraft,  sondern  sie  ist  nur  noch  der  leere 
Raum,  in  welchem  sich  —  man  weiß  nicht  wie  —  Linien,  Flächen 


und  Körper  konstruieren  und  wieder  verwischen.  Auch  hier  die- 
selbe Öde,  dieselbe  Starrheit  und  Leblosigkeit,  wie  in  dem  Wesen 
der  Substanz;  denn  aus  dem  Nichts  kann  auch  nur  Nichts  folgen. 
Die  eigentliche  Aufgabe  Spinozas  wäre  es  nun,  für  jedes  ein- 
zelne Ding  zu  zeigen,  in  welcher  Weise  es  sich  mit  Notwendigkeit 
aus  dem  allgemeinen  Wesen  der  Gottheit  ergibt.  Allein  auch  das 
ist  unmöglich.  Denn  die  besondere  Richtung,  welche  das  »Folgen« 
von  dem  Wesen  der  Gottheit  aus  auf  einen  bestimmten  einzelnen 
Modus  nimmt,  ist  wiederum  nicht  zu  deduzieren,  sondern  nur  empi- 
risch aufzufassen.  Aus  dem  bloßen  Gedanken  des  leeren  Raumes 
wäre  niemals  eine  Geometrie  geworden,  wenn  man  nicht  aus  sinn- 
licher Erfahrung  einzelne  Raumformen  gekannt  hätte,  und  aus 
dem  bloßen  Gedanken  der  Substanz  wäre  niemals  der  Spinozismus 
geworden,  wenn  der  Philosoph  nicht  aus  der  Erfahrung  die  Kennt- 
nis der  einzelnen  Dinge  gehabt  hätte,  welche  ihre  Erklärung  aus 
dem  göttlichen  Wesen  verlangen.  Hier  bricht  zum  zweiten  Male, 
und  in  noch  viel  größerer  Ausdehnung,  die  Erfahrung  in  den  Prozeß 
der  Deduktion  ein.  Zugleich  aber  ergibt  sich  daraus  noch  ein 
anderes:  Spinoza  postuliert  zwar  fortwährend,  daß  die  Gesamtheit 
der  Dinge  die  notwendige  Folge  aus  dem  Wesen  der  Gottheit  sei, 
aber  er  vermag  ihr  Hervorgehen  in  der  Gestalt,  wie  sie  erfahrungs- 
gemäß bestehen,  aus  dem  Wesen  der  all-einen  Gottheit  ebensowenig 
wirklich  abzuleiten,  wie  es  irgend  eine  andere  deduktive  Philosophie 


der  Schopenhauer  nachweist,  daß  sie  weder  den  Sinn  des  Realgrundes,  noch 
bloß  denjenigen  des  Erkenntnisgrundes  hat.  Spinoza  kennt  vermöge  des 
mathematischen  Grundcharakters  seines  Denkens  in  der  Tat  nur  diese  Bedeu- 
tung der  Dependenz.  Für  ihn  ist  deshalb  »verursacht  sein  «  und  »begründet 
sein«  auch  nur  so  viel  wie  das  mathematische  Folgen,  und  dadurch  verliert 
das  kausale  Verhältnis  für  ihn  die  Bedeutung  der  realen  Verursachung.  Der 
Begriff  der  'Kraft'  existiert  für  Spinoza  nicht. 


224  Spinoza. 

oder  irgend  eine  andere  pantheistische  Weltanschauung  vermocht 
hat.  Es  ist  eine  unvergeßliche  Lehre,  die  aus  der  eleatischen  Philo- 
sophie hervorleuchtet,  daß  aus  dem  Einen  das  Viele  niemals  be- 
griffen werden  kann.  Schon  Nicolaus  Cusanus  hatte  eingesehen, 
daß  die  endlose  Reihe  des  Endlichen,  in  der  sich  das  Unendliche  als 
Welt  darstellt,  nur  als  Ganzes  von  dem  Unendlichen  abhängt,  daß 
aber  kein  einzelner  Modus  darin  dem  Unendlichen  näher  steht  als 
der  andere :  darin  liegt  der  Hauptgegensatz  des  modernen  Pantheis- 
mus gegen  das  Emanationssystem  der  Neupia  toniker. 

Bei  Spinoza  kommt  dies  darin  zum  Ausdruck,  daß  er  von  den 
endlichen  Modi,  den  einzelnen  Dingen  und  Zuständen,  noch  die 
»unendlichen  Modi«  unterschied.  Er  verstand  darunter  die 
unendlichen  Zusammenhänge,  in  denen  sich  die  endlichen  Modi 
als  Gesamterscheinung  der  göttlichen  Substanz  darstellen:  es  sind 
im  Attribut  der  Ausdehnung  der  Raum  und  die  Materie,  im  Attribut 
des  Denkens  der  »intellectus  infinitus«  und  endlich  das  Universum 
selbst  als  die  einheitliche  Totalität  der  Natura  naturata.y  Aber  wenn 
wir  in  diesen  »unendlichen  Modi«  die  Zwischenglieder  zu  sehen 
haben,  vermöge  deren  die  Attribute  mit  ihrer  »unendlichen  Kausa- 
lität« in  die  Reihenfolgen  der  Modi  übergehen  sollen,  so  bleibt  es 
auch  damit  einerseits  bei  der  kraft-  und  zeitlosen  Bestimmung  der 
mathematischen  »Folge«  und  anderseits  bei  jener  Inkommensura- 
bilität  zwischen  dem  Unendlichen  und  dem  Endlichen. 

Innerhalb  der  endlichen  Modi  aber  muß  auch  der  Spinozismus 
sich  begnügen,  das  Prinzip  der  notwendigen  »Folge«  auf  das  Ver- 
hältnis der  einzelnen  Dinge  untereinander  anzuwenden,  und  nach 
dieser  Seite  hin  hat  er  es  mit  einer  Konsequenz  durchgeführt,  welche 
in  der  Geschichte  des  menschlichen  Denkens  einzig  dasteht,  und 
welche  vor  keinen  der  gewöhnlichen  Meinung  der  Menschen  zu- 
widerlaufenden Folgerungen  zurückschreckt.  Ausnahmslos  will  seine 
Philosophie  jedes  einzelne  Ding  als  die  notwendige  Folge  aus  anderen 
einzelnen  Dingen,  jeden  Vorgang  als  die  notwendige  Folge  anderer 
Vorgänge  darstellen;  und  da  es  für  diese  Erklärung  eine  unmittel- 
bare Anknüpfung  an  das  Wesen  der  Gottheit  nicht' gibt,  so  gelten 
die  einzelnen  Dinge  als  ein  unendlicher  Zusammenhang  von  not- 
wendigen Erscheinungen  ohne  Anfang  und  ohne  Ende.  Die  Zeit- 
folge, die  wir  zwischen  ihnen  annehmen,  ist  nur  ein  sinnlich  getrübtes 
Bild  der  Abhängigkeit,  welche  zwischen  ihnen  besteht.    In  diesem 


Determinismus.  225 

ununterbrochenen  Zusammenhange  des  Geschehens  kann  es  deshalb 
keinen  Zufall  geben.  Ursachlos  entstanden  zu  sein,  widerspricht  dem 
Begriffe  des  Modus,  und  die  Zufälligkeit  ist  deshalb  nur  ein  »Asyl 
unserer  Unwissenheit «  über  die  wahre  Abhängigkeit,  worin  sich  die 
Dinge  voneinander  befinden.  Aber  wenn  Spinoza  in  der  Erklärung 
der  einzelnen  Dinge  immer  davon  spricht,  daß  jedes  darunter  nur 
aus  seinen  Ursachen  zu  begreifen  sei,  so  verbirgt  sich  hinter  dem 
unbestimmten  Ausdruck  »causa«  doch  immer  der  Gedanke  der 
mathematischen  Folge.  Ja,  seine  ganze  Auffassung  der  Abhängig- 
keit, in  der  die  einzelnen  Dinge  zueinander  stehen  sollen,  zeigt  einen 
stark  geometrischen  Beigeschmack  durch  die  Zweideutigkeit  des 
Wortes  »determinatio «.  Wie  nämlich  die  geometrische  Figur  das, 
was  sie  ist,  den  begrenzenden  Linien  verdankt,  welche  sie  von  dem 
übrigen  Baume  und  von  anderen  Figuren  trennen,  so  bedeutet  für 
Spinoza  die  gegenseitige  Bedingtheit  der  Dinge  wesentlich  das  Ver- 
hältnis, wonach  jedes  einzelne  Ding  seine  Eigentümlichkeit  durch 
den  Ausschluß  der  anderen  Dinge  erhalten  soll.  Der  berühmte 
Satz:  »omnis  determinatio  negatio«  will  nichts  anderes  sagen,  als 
daß  jede  Bestimmung,  die  ein  Ding  durch  ein  anderes  erfährt,  wesent- 
lich darin  besteht,  daß  die  Eigentümlichkeiten  des  bestimmenden 
Dinges  von  dem  Wesen  des  bestimmten  ausgeschlossen  werden. 
Daraus  ergab  sich  für  Spinoza  die  echt  scholastische  Folgerung, 
daß  der  Mangel  bestimmter  Eigenschaften  für  die  reale  Bestimmung 
der  einzelnen  Dinge  gehalten  wurde,  und  daß  damit  die  Negation, 
ein  bloß  psychischer  Vorgang,  zu  einer  metaphysischen  Realität 
umgedeutet  wurde. 

Innerhalb  eines  jeden  Attributes  soll  diesem  Prinzip  gemäß  das 
System  der  ihm  angehörenden  Modi  nach  dem  Schema  der  not- 
wendigen Folge  angeordnet  werden,  so  daß  jedes  dieser  Attribute 
mit  dem  ganzen  Zusammenhange  seiner  einzelnen  Erscheinungen 
lediglich  in  sich  selbst  geschlossen  bleibt.  Kein  Modus  der  Aus- 
dehnung kann  von  einem  solchen  des  Denkens  abhängig  sein,  und 
umgekehrt.  Je  schärfer  Spinoza  dies  Prinzip  durchführte,  um  so 
klarer  trat  auch  bei  ihm  das  Problem  des  scheinbaren  Zusammen- 
hanges hervor,  der  in  den  Beziehungen  von  Leib  und  Seele  zwischen 
beiden  Attributen  vorhanden  ist.  Es  wiederholte  sich  genau  jene 
Schwierigkeit,  mit  der  Descartes  gekämpft  hatte,  und  welche  der 
Entwicklung  des  Occasionalismus  zugrunde  lag.     Für  Spinoza  war 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  15 


226  Spinoza. 

es  verhältnismäßig  leicht,  sie  zu  überwinden.    Alle  Attribute  waren 
seiner  Lehre  nach  in  der  einen  göttlichen  Substanz  vereinigt,  und 
in  jedem  der  Attribute  war  das  System  der  Modi  die  notwendige 
Folge  aus  dem  Wesen  der  Gottheit.    Da  nun  dies  Wesen  der  Gott- 
heit in  allen  dasselbe  ist,  so  müssen  die  Systeme  der  Modi  in  allen 
Attributen  vollkommen   miteinander    parallel    laufen,    das    heißt, 
jedem  Modus  in  einem  Attribut  muß  ein  Modus  in  jedem  anderen 
Attribut    entsprechen.      Mit    demselben    Abhängigkeitsverhältnis, 
wonach  in  dem  einen  Attribut  der  eine  Modus  dem  anderen  folgt, 
muß  diese  Folge  zwischen  den  entsprechenden  Modi  aller  übrigen 
Attribute  stattfinden.     Für  das  Verhältnis  der  dem  Menschen  be- 
kannten Attribute  der  Gottheit,  der  Ausdehnung  und  des  Denkens, 
ergab  sich  daraus  als  einfache  Konsequenz  jener  berühmte  Satz; 
Ordo  rerum  idem  est  atque  ordo  idearum*).    Damit  hatte  Spinoza 
auf  einen  Schlag  die  gesamte  Konsequenz  des  Occasionalismus 
vorweggenommen.     Der  scheinbare  Einfluß,  den  das  Bewußtsein 
auf  das  materielle  Geschehen  und  umgekehrt  dieses  auf  jenes  aus- 
übt, war  dadurch  erklärt,  daß  beide  in  ihrer  notwendigen  Folge 
einander  jeden  Augenblick  entsprechen.  Auf  Grund  dieses  Parallelis- 
jnus  mußte  nun  Spinoza  behaupten,  daß  jedes  Element  der  körper- 
lichen Welt  zugleich  eine  entsprechende  Vertretung  in  einem  Modus 
der  geistigen  Welt  finde.    Er  hätte,  wenn  er  zu  diesen  Folgerungen 
Veranlassung  gehabt  hätte,  unbedingt  zu  der  Annahme  einer  un- 
endlichen Fülle  von  unbewußten  Vorstellungen  schreiten  müssen 
und  hätte  zu  der  Lehre  gedrängt  werden  können,  mit  der  ihm  die 
moderne   Naturphilosophie  nachgegangen  ist,   daß  nämlich   auch 
den  einfachsten  Vorgängen  der  mechanischen  Bewegung  irgend- 
welche, wenn  auch  noch  so  elementare  Prozesse  des  psychischen 


*)  Spinoza  hat  leider  diesen  Satz  zweideutig  gemacht,  indem  er  ihm  zu- 
gleich eine  erkenntnistheoretische  Bedeutung  beilegte;  in  diesem  letzteren  Sinne 
sollte  er  bedeuten,  daß  in  dem  Systeme  der  richtigen  Philosophie  sich  die 
Erkenntnisse  in  derselben  Ordnung  aus  dem  Grundbegriffe  der  Gottsubstanz 
entwickeln  müßten,  wie  die  einzelnen  Dinge,  und  zwar  die  Modi  sowohl  der 
Ausdehnung  als  auch  des  Bewußtseins,  in  der  Wirklichkeit  aus  dem  Wesen  der 
Gottheit.  In  jenem  metaphysischen  Sinne  dagegen  behauptete  der  Satz,  daß 
allen  Vorstellungen,  den  richtigen  so  gut  wie  den  falschen,  körperliche  Vor- 
gänge entsprechen  müssen,  wie  umgekehrt  auch  allen  körperlichen  Vorgängen 
Vorstellungen  ohne  Rücksicht  auf  ihren  Erkenntniswert.  Beide  Bedeutungen 
jenes  Satzes  sind  wohl  voneinander  zu  scheiden. 


Parallelismus  der  Attribute.  227 

Daseins  entsprechen.  Er  hat  diesen  vollen  Parallelismus  beider 
Welten,  wonach  sich  die  in  der  göttlichen  Substanz  gegebene  Ver- 
einigung der  beiden  Attribute,  Denken  und  Ausdehnung,  bis  in  die 
Zersplitterung  der  kleinsten  Teile  des  Weltlebens  wiederholen  müßte, 
nicht  ausdrücklich  durchgeführt,  sondern  sich  mit  der  anthropologi- 
schen Wendung  der  Sache  begnügt.  Danach  bezeichnet  er  die  mensch- 
liche Seele  als  die  Idee  des  menschlichen  Körpers  und  zieht  daraus 
die  Folgerung,  daß  die  Vollkommenheit  der  ersteren  derjenigen  des 
letzteren  entsprechen  müsse,  daß  überhaupt  die  ganze  Bewegung 
des  psychischen  Lebens  genau  der  Doppelgänger  des  physischen 
sei.  Der  Einfachheit  oder  Zusammengesetztheit,  der  Stärke  oder 
Schwäche,  der  Gesundheit  oder  Krankheit  des  physischen  Organis- 
mus entsprechen  die  gleichen  Eigenschaften  des  psychischen.  Es 
ist  klar,  wie  leicht  diese  Lehre  in  den  Verdacht  des  Materialismus 
kommen  konnte;  während  sie  in  Wahrheit  das  physische  so  gut 
wie  das  geistige  Leben  des  Menschen  für  gleich  notwendige  ewige 
Folgen  aus  dem  Wesen  Gottes  erklärte  und  beide  nur  von  diesem 
abhängig  machte,  konnte  der  Parallelismus,  den  sie  zwischen  ihnen 
ansetzte,  leicht  dahin  gedeutet  werden,  als  mache  sie  die  Vorgänge 
des  seelischen  Lebens  von  dem  Mechanismus  des  körperlichen  ab- 
hängig und  setze  sie  zu  dessen  Begleiterscheinungen  herab  J 

Indessen  bot  dieser  Parallelismus  der  Attribute  doch  in 
psychologischer  Beziehung  eine  Reihe  von  Schwierigkeiten  dar,  deren 
sich  Spinoza  mehr  und  mehr  bewußt  geworden  zu  sein  scheint. 
Wenn  die  Seele  als  die  Idee  des  menschlichen  Körpers  bezeichnet 
wurde,  so  war  es  schwer,  wenn  nicht  unmöglich,  für  die  Vorstellung 
von  dieser  Seele,  für  die  »Idee  der  Idee  des  menschlichen  Körpers« 
den  Modus  aufzufinden,  welcher  ihr  in  dem  Attribute  der  Aus- 
dehnung entsprechen  müßte.  Das  Selbstbewußtsein  wurde  von 
diesem  Gesichtspunkte  aus  zu  einem  schwierigen  Problem.  Das- 
selbe aber  galt  von  allen  Tatsachen  der  inneren  Erfahrung.  Es 
war  leicht,  wenigstens  im  allgemeinen,  sich  vorzustellen,  daß  jedem 
der  einfachen  psychischen  Vorgänge,  wie  der  Empfindung,  dem 
sinnlichen  Gefühle,  dem  Triebe,  bestimmte  Zustände  des  Körpers 
entsprechen;  aber  unser  Wissen  von  diesen  unseren  psychischen 
Zuständen,  d.  h.  unsere  inneren  Erfahrungen,  sind  doch  auch  Modi 
des  Bewußtseins,  und  zwar  von  ihrem  Inhalte  unterschiedene  Modi; 
für  sie  aber  schien  man  doch  niemals  andere  körperliche  Zustände. 

15* 


228  Spinoza. 

auffinden  zu  können,  als  eben  dieselben,  welche  auch  den  ursprüng- 
lichen Empfindungen,  Gefühlen  und  Trieben  entsprechen  sollten. 
Hier  schien  also  der  Parallelismus  der  Attribute  in  Frage  gestellt. 
Es  ist  aus  dem  Briefwechsel  Spinozas  wahrscheinlich  gemacht  worden, 
daß  er  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  einer  interessanten  Lö- 
sung dieses  Problems  auf  der  Spur  war,  die  er  nicht  vollständig 
ausgeführt,  sondern  nur  angedeutet  hat.  Er  scheint  dabei  ein  der- 
artiges Verhältnis  der  Attribute  ins  Auge  gefaßt  zu  haben,  daß  sie 
sich  in  eine  .Reihe  anordnen  sollten,  innerhalb  deren  jedesmal  die 
Modi  des  vorhergehenden  Attributs  in  den  Modi  des  folgenden  den 
Vor  Stellungsinhalt  bildeten.  Als  Grundlage  bliebe  dann  freilich  das 
Attribut  der  Ausdehnung  bestehen;  in  dem  zweiten  Attribut,  dem- 
jenigen des  einfachen  Bewußtseins,  erschienen  alle  körperlichen  Zu- 
stände vorgestellt :  diese  Vorstellungen  aber,  die  einfachen  Modi  des 
Bewußtseins,  würden  dann  den  Gegenstand  eines  Bewußtseins  höherer 
Ordnung  bilden,  welches  das  dritte  Attribut  ausmachte,  und  welches 
wir  etwa  als  das  Attribut  des  Selbstbewußtseins  oder  der  Selbst- 
erfahrung bezeichnen  dürften.  Die  unendliche  Anzahl  der  Attribute 
gab  dieser  Auffassung  die  Perspektive  einer  unendlichen  Möglich- 
keit von  Potenzierungen  dieses  Vorganges,  und  die  Ausführung 
dieses  Gedankens  würde  Spinoza  zu  einem  System  geführt  haben, 
welches  auf  dem  Grunde  der  körperlichen  Welt  eine  Stufenreihe  von 
Welten  immer  höherer  Geistigkeit  aufgebaut  hätte,  so  daß  dem 
Menschen  nur  die  Teilnahme  an  den  drei  untersten  Attributen,  Aus- 
dehnung, '  Bewußtsein  und  Selbstbewußtsein,  zugefallen  wäre.  In 
dieser  Wandlung  der  Gedanken  Spinozas  liegt  der  Beweis,  wie  seine 
Lehre  durch  das  cartesianische  Problem  des  Selbstbewußtseins  über 
sich  selbst  hinausgetrieben  wurde. 

Auch  in  dieser  Form  der  spinozistischen  Lehre  hätte  jedoch  die 
strikte  Konsequenz  aufrecht  erhalten  werden  müssen,  mit  der  er 
innerhalb  jedes  einzelnen  Attributs  den  Ablauf  des  Geschehens  als 
eine  lediglich  kausale  Kette  zu  begreifen  suchte.  Auf  dem  Gebiete 
des  Attributs  der  Ausdehnung  führte  dies  natürlich  zu  einer  rein 
mechanischen  Naturphilosophie,  worin  Spinoza  die  Anti- 
teleologie  Descartes'  womöglich  noch  zu  überbieten  suchte.  Er  zeigt 
sich  dabei  mit  den  großen  naturwissenschaftlichen  Entdeckungen 
der  Zeit  durchaus  vertraut  und  wendet  in  diesem  Geiste  seine  Auf- 
merksamkeit hauptsächlich  den  optischen  Problemen  zu.    Vor  allem 


Determinismus.  229 

aber  betont  er  mit  Bacon  und  Descartes  den  prinzipiellen  Ausschluß 
der  teleologischen  Betrachtungsweise  von  der  wissenschaftlichen 
Naturerkenntnis.  Er  eifert  geradezu  gegen  den  Begriff  derZweck- 
mäßigkeitf,  insofern  dadurch  das  Entstehen  oder  die  Eigenart  irgend- 
welcher Dinge  oder  die  Form  irgendwelcher  Bewegungen  erklärt 
werden  soll.  Der  Zweck  ist  auf  alle  Fälle  ein  Modus  des  Denkens, 
und  die  teleologische  Naturbetrachtung  sucht  daher  gewisse  Modi 
der  Ausdehnung  in  Abhängigkeit  von  den  Erscheinungen  des  anderen 
Attributs  zu  setzen:  das  aber  ist  für  die  spinozistische  Auffassung 
selbstverständlich  ein  schwerer  Irrtum.  Nur  die  mathematische  Not- 
wendigkeit kausaler  Verhältnisse  beherrscht  deshalb  den  Gang  des 
Geschehens  in  der  Natur,  und  aus  diesem  Grunde  muß  Spinoza  ebenso 
wie  den^Zufalfund  die~Zweckmäßigkei tT auch  den  Begriff  deS"  Wunders 
ablehnen,  da  dieser  gleichfalls  die  Vorstellung  eines  Eingriffs  der 
göttlichen  Zweckt ätigke:t  in  den  Mechanismus  der  Natur  involviert. 
Eigentümlicher  noch  und  jedenfalls  origineller  ist  die  Durch- 
führung des  Prinzips  der  mechanischen  Kausalität,  welche  Spinoza 
auf  dem  psychischen  Gebiete  versuchte.  Auch  hier  vermochte 
er  nur  die  strikte  Notwendigkeit  zu  behaupten,  womit  die  Funk- 
tionen des  seelischen  Lebens  <sich  aus  einander  ergeben,  und  die 
zunächst  in  die  Augen  springende  Folge  davon  war  die  radikale 
Leugnung  der  Willensfreiheit,  welche  niemals  so  schroff  und  so 
rücksichtslos  ausgesprochen  ist,  wie  von  Spinoza.  Es  ist  in  seinem 
Systeme  lediglich  die  Anwendung  seines  Grundaxioms,  wenn  er 
lehrt,  daß  auch  im  seelischen  Leben  kein  einziger  Vorgang,  keine 
Vorstellungstätigkeit  und  keine  Willensentscheidung  sich  vollziehen 
kann,  die  nicht  durch  die  vorhergehenden  Funktionen  notwendig 
gerade  so  bestimmt  wäre,  wie  sie  wirklich  ausfällt.  Er  zieht  gegen 
die  Einbildung  der  Menschen,  wonach  sie  sich  für  frei  halten  und 
im  einzelnen  Falle  meinen,  sie  hätten  sich  auch  anders  entscheiden 
können,  als  sie  es  wirklich  getan  haben,  mit  allen  Waffen  des  Spottes 
und  des  Ernstes  zu  Felde,  und  zerstört  mit  siegreichem  Scharfsinn 
jenes  Wahngebilde  der  Willensfreiheit,  das  man  als*Ursachlosigkeifc> 
aus  mißverstandenen  Gründen  der  Verantwortlichkeit  aufgestellt 
hatte.  Es  wird  ihm  dieser  Nachweis  um  so  leichter,  als  er,  wie  die 
gesamten  Denker  des  XVII.  und  XVIII.  Jahrhunderts,  von  der 
psychologischen  Ansicht  ausgeht,  daß  der  Wille  nur  eine  Funk- 
tion der  Vorstellungstätigkeit  sei.     Auch  bei  Descartes  leuchtet 

'"    2     /- 


230  Spinoza. 

diese  Grund  Vorstellung  hervor,  aber  er  wußte  von  ihr  an  wichtigen 
Punkten,  z.  B.  bei  der  Erklärung  des  Irrtums,  derartig  abzuweichen, 
daß  er  wenigstens  einen  Rest  von  jener  alten  Vorstellung  der  ursach- 
losen Willensfreiheit  des  »Auchanderskönnens «  rettete.  Spinoza, 
wie  überall,  so  auch  hier  durchaus  konsequent,  behauptete  die 
durchgängige  Abhängigkeit  des  Willens  von  der  Vorstellung  und 
suchte  deshalb  den  ganzen  Mechanismus  der  Triebe  auf  denjenigen  der 
Vorstellungen  zurückzuführen.  Diese  allgemeine  Tendenz  war  in 
der  von  Cartesius  begründeten  Ansicht,  daß  das  Denken  die  Grund- 
tätigkeit der  menschlichen  Seele  sei,  als  eine  bestimmende  Maxime 
für  das  gesamte  Aufklärungszeitalter  angelegt  und  hatte  schon  bei 
dem  Meister  ihre  Früchte  getragen.  Bei  dem  großen  Schüler  ver- 
einigte sie  sich  mit  dessen  konsequenter  Richtung  auf  die  mathe- 
matische Kausalität  und  machte  ihn  auf  diese  Weise  zu  dem 
Typus  der  deterministischen  Weltanschauung.  Die  not- 
wendige Folge  davon  war  Spinozas  Betrachtung  des  menschlichen 
Lebens  lediglich  unter  dem  Gesichtspunkte  der  mechanischen 
Kausalität,  und  er  führte  diese  zum  Schrecken  des  Zeitalters  gleich- 
mäßig auf  den  Gebieten  der  Ethik  und  der  Politik  aus.  Seine  all- 
gemeine Verwerfung  des  teleologischen  Gesichtspunktes  ließ  ihn  für 
beide  das  Prinzip  der  idealen  Begründung  und  die  Aufstellung  ab- 
strakter Normen  ablehnen.  Auf  dem  einen  Gebiete  kehrte  er  sich 
gegen  die  moralisierende  Tendenz  der  Behandlung  der  Ethik,  auf 
dem  anderen  Gebiete  gegen  die  Aufstellung  von  Utopien  einer  idealen 
Gesellschaftsform.  In  beiden  Beziehungen  glaubte  er  den  Stand- 
punkt der  Wissenschaft  zu  wahren,  wenn  er  behauptete,  es  handle 
sich  nicht  um  die  Beurteilung,  sondern  um  die  Erkenntnis  und  das 
Begreifen  der  Wirklichkeit.  Seine  Lehre  will  die  Vorgänge  des 
individuellen  und  des  politischen  Lebens  mit  kalter  Zurückhaltung 
jedes  persönlichen  Urteils  behandeln,  »als  ob  man  es  mit  Linien, 
Flächen  und  Körpern  zu  tun  hätte  «.  Sie  will  nur  die  mathematische 
Notwendigkeit  nachweisen,  durch  welche  sich  aus  den  einfachen 
Elementen  die  komplizierten  Gebilde  des  Seelenlebens  und  der  poli- 
tischen Gestaltung  aufbauen;  sie  will  die  Vorgänge  der  sittlichen 
und  der  gesellschaftlichen  Welt  »weder  verabscheuen,  noch  be- 
lachen, sondern  begreifen «. 

In  der  Ausführung  (lieser  Mechanik  des  sittlichen  und  des 
politischen  Lebens  ist  Spinoza  von  den  beiden  großen  Vor- 


Affektenlehre.  231 

gängern  abhängig,  deren  Lehren  kurz  vor  ihm  die  gleiche  Richtung 
genommen  hatten:  von  Descartes  und  Hobbes.  Die  Einwirkung 
des  ersteren  liegt  auf  dem  Gebiete  der  ethischen  Psychologie,  die 
des  letzteren  mehr  auf  demjenigen  der  Politik.  Auch  Descartes 
hatte  den  Versuch  gemacht,  von  wenigen  Grundformen  aus  das 
System  der  Affekte  und  Leidenschaften  zu  konstruieren. 
Spinoza  ergriff  diesen  Gedanken  und  führte  ihn  mit  einer  Konse- 
quenz durch,  die  von  jeher  als  sein  Meisterstück  bewundert  worden 
ist.  Er  ging  vor  allem  darauf  aus,  eine  einheitliche  Grundlage  des 
gesamten  Trieblebens  zu  schaffen,  und  fand  sie  (auch  nicht  ohne 
Einwirkung  der  moralphilosophischen  Andeutungen  von  Hobbes) 
im  Selbsterhaltungstrieb.  Die  Erhaltung  und  Förderung 
des  eigenen  Daseins  ist  ihm  die  alles  beherrschende  Triebfeder  des 
physischen  und  des  psychischen  Organismus.  Der  bewußte  Egois- 
mus dieser  Selbsterhaltung  ist  nur  der  Modus  des  Denkens,  welcher 
dem  physiologischen  Lebenstriebe  entspricht;  von  ihm  aus  wird 
daher  alles,  was  das  eigene  Dasein  des  einzelnen  Wesens  stört  oder 
befördert,  entweder  geflohen  oder  erstrebt,  und  danach  für  böse 
oder  für  gut  beurteilt.  Auch  Spinoza  bekämpft,  wie  Hobbes,  den 
Gedanken  deffan  sich  Guten"  oder  %n  sich  Bösen?  Wir  verabscheuen, 
sagt  er,  nicht  die  Dinge,  weil  sie  böse  sind,  sondern  weil  wir  sie 
verabscheuen,  nennen  wir  sie  böse.  Wir  begehren  nicht  die  Dinge,  weil 
sie  gut  sind,  sondern  weil  wir  sie  begehren,  nennen  wir  sie  gut/ Böse 
und^gut*  sind  relative  Bestimmungen,  welche  sich  auf  Grund  des 
Selbsterhaltungstriebes  als  Verneinung  des  Hemmenden  und  als 
Bejahung  des  Fördernden  entwickeln.  Der  Affekt,  mit  dem  wir  das 
Fördernde  begrüßen,  ist  die  Freude  (Lust),  derjenigen,  mit  dem  wir 
das  Störende  empfinden,  die  Trauer  (Unlust).  Beiden  zugrunde 
liegt  die  Begierde  überhaupt  als  das  Streben  nach  Selbsterhaltung 
und  Selbstvervollkommnung.  Von  dieser  ersten  Einteilung  aus 
entwickelt  sodann  Spinoza  das  ganze  System  der  menschlichen 
Affekte  und  Leidenschaften  in  derselben  Weise  wie  Descartes  durch 
Synthesis  der  verschiedenen  Vorstellungen  von  den  Gegenständen 
und  Ursachen  der  Begierden  und  der  Affekte.  Er  scheut  sich  dabei 
nicht,  den  Ursprung  der  menschlichen  Gefühle  und  Leidenschaften 
in  seiner  ganzen  Nacktheit  bloßzulegen,  und  reißt  mit  großartiger 
Rücksichtslosigkeit  die  Maske  von  den  Beschönigungen,  hinter  denen 
die  Sophistik  des  menschlichen  Herzens  die  Gewalt  der  elementaren 


232  Spinoza. 

Triebe  zu  verstecken  pflegt.  Seine  Darstellung  ist  mit  ihrer  naiven 
Kühnheit  klassisch  in  Kücksicht  auf  die  Entwicklung  des  Charakters 
von  jedem  einzelnen  der  dabei  behandelten  Seelenzustände ;  als 
Ganzes  leidet  sie  an  dem  Mangel,  welcher  dem  unvollkommenen 
Zustande  der  damaligen  Psychologie  zur  Last  fällt,  daß  sie  die  psy- 
chologische Grundverschiedenheit  von  Affekten  und  Leidenschaften 
nicht  berücksichtigt  und  deshalb  gelegentlich  auch  heterogene  Vor- 
gänge unmittelbar  nebeneinanderstellt.  Auf  der  anderen  Seite 
gehört  es  zu  ihren  größten  Vorzügen,  daß  sie  den  Zusammenhang 
zwischen  diesen  »perturbationes  animi<<  und  den  leiblichen  Vor- 
gängen auf  das  engste  aufrecht  zu  erhalten  sucht.  Vermöge  des 
Parallelismus  der  Attribute  muß  jede  Begierde  einem  bestimmten 
Zustande  der  körperlichen  Bewegung,  jeder  freudige  Affekt  einer 
Vervollkommnung,  jeder  traurige  Affekt  einer  Verminderung  oder 
Störung  des  physischen  Organismus  entsprechen.  Zwar  ist  Spinoza 
selbstverständlich  nicht  imstande,  durch  physiologische  Erkennt- 
nisse dieses  Prinzip  für  die  einzelnen  Vorgänge  durchzuführen: 
allein  die  bloße  Forderung  und  die  prinzipielle  Ansicht  war  ein  über- 
aus bedeutender  Forschritt  und  eine  der  zukünftigen  Forschung  vor- 
greifende Hypothese. 

Wenn  diese  naturalistische  Auffassung  des  Seelenlebens  der 
herrschenden  Meinung  als  eine  Untergrabung  der  heiligsten  Über- 
zeugungen erschien,  so  galt  dasselbe  von  der  Unbeirrtheit,  mit 
der  Spinoza  in  seinem  politischen  Traktat  das  gleiche  Prinzip  auf 
die  Erkenntnis  des  Staatslebens  anwendete.  Wie  er  die  sittlichen 
Grundbegriffe  von  gut  und  böse  rein  psychologisch  als  die  Bezeich- 
nungen desjenigen,  was  der  Mensch  erstrebt  oder  flieht,  abgeleitet 
hatte,  so  gibt  er  auch  hier  dem  Grundbegriffe  des  Hechts  eine  rein 
naturalistische  Wendung,  wenn  er  es  mit  der  Macht  identifiziert 
und  den  Grundsatz  aufstellt,  daß  jeder  gerade  so  viel  Recht  habe 
als  er  Macht  hat,  und  daß  die  jRechtssphäre*  eines  jeden  nichts 
anderes  sei  als  der  Umkreis  der  Betät:gung  seines  Selbsterhaltungs- 
triebes. Das  natürliche  Recht  ist  also  für  Spinoza  die  volle  Ent-~ 
faltung  des  Egoismus,  und  damit  geht  er  auch  über  Hobbes  hinaus, 
der  diese  Entfaltung  des  Egoismus  doch  nur  für  einen  dem  Rechts- 
zustande vorhergehenden  Zustand  erklärt  hat.  Die  Konsequenzen 
aber  sind  bei  beiden  Denkern  prinzipiell  dieselben,  und  auch  Spi- 
noza   entwirft    die  Mechanik   des   Staatslebens    auf    Grund   jenes 


Staatslehre.  233 

Kampfes  aller  gegen  alle,  zu  welchem  die  bloße  Entfaltung  des  in- 
dividuellen Egoismus  fuhren  muß.  Er  deduziert,  daß  der  Selbst- 
erhaltungstrieb in  erster  Linie  das  Streben  nach  der  Sicherung  der 
persönlichen  Existenz  und  ihrer  Macht-  bzw.  Rechtssphäre  mit  sich 
bringe,  und  daß  die  Einsicht  in  die  mit  dem  Kampf  aller  gegen  alle 
notwendig  verbundene  Unsicherheit  des  Lebens  und  des  Besitzes  den 
Staats  vertrag  herbeiführe,  vermöge  dessen  durch  den  gemein- 
samen Willen  der  Menschen  Anordnungen  zur  Sicherung  und  Be- 
förderung des  Wohls  jedes  einzelnen  mit  bindender  Gesetzeskraft 
geschaffen  werden.  Auch  für  Spinoza  wie  für  Hobbes  ist  deshalb 
der  Staat  nur  eine  große,  von  den  Menschen  zum  Zwecke  der 
Beförderung  ihres  Wohles  gebaute  Maschine,  und  der  Wert  der 
einzelnen  Staatsformen  ist  lediglich  davon  abhängig,  inwieweit  sie 
diesen  ihren  Zweck  zu  erfüllen  imstande  sind.  Aus  diesem  Grunde 
nun  bekämpft  Spinoza  die  absolutistische  Staatsform,  die  Hobbes 
verteidigt  hatte.  Er  sagt  mit  Recht,  daß  diese  dem  Begriffe  des 
Staates  überhaupt  nicht  entspreche.  Hobbes  hatte  sie  damit 
begründet,  daß  alle  einzelnen  ihr  Recht  auf  den  Monarchen  über- 
tragen; dadurch  aber  wird,  wie  Spinoza  ausführt,  das  Recht,  d.  h. 
die  Macht  der  Individuen  aufgehoben  und  der  Zweck  der  staatlichen 
Vereinigung  nicht  nur  verfehlt,  sondern  sogar  direkt  umgestoßen. 
Der  Absolutismus  ist  keine  Staatsform,  sondern  nur  eine  Art  des 
Kampfes  aller  gegen  alle,  und  zwar  diejenige,  worin  einer  alle 
übrigen  besiegt  hat.  Die  Mechanik  des  Staates  hat  vielmehr  die 
Aufgabe,  die  Macht-  und  Rechtssphäre  der  einzelnen  in  eine  solche 
Beziehung  zueinander  zu  setzen,  daß  sie  sich  gegenseitig  nicht  mehr 
stören,  und  von  dieser  Aufgabe  meint  Spinoza,  daß  sie  am  besten 
durch  eine  republikanische  Staatsverfassung  gelöst  werde. 
Wie  bei  Hobbes,  so  ist  es  auch  bei  Spinoza  unverkennbar,  wie  er 
zu  diesen  besonderen  Konsequenzen  durch  politische  Erfahrungen 
getrieben  wurde.  Er  hatte  mit  vielen  anderen  es  erfahren,  daß 
das  republikanische  Holland  eine  verhältnismäßig  günstige  Ruhe 
und  Sicherheit  des  individuellen  Lebens  gewähre.  Aber  er  hatte 
auch  die  Gefahren  des  republikanischen  Lebens  mit  den  Händen  zu 
greifen  Gelegenheit,  er  erlebte  es  noch,  wie  der  Pöbel  im  Haag  die 
Brüder  de  Witt  in  seinem  Fanatismus  zerriß,  und  solche  ochlo- 
kratischen  Auswüchse  mögen  ihn  dazu  bestimmt  haben,  daß  er 
zur  Empfehlung   einer  aristokratischen   Staatsverfassung   hin- 


234  Spinoza. 

neigte.  Doch  hing  es  anderseits  wieder  mit  den  ethischen  Be- 
stimmungen seiner  Lehre  zusammen,  daß  er  diese  Aristokratie 
nicht  als  diejenige  des  Blutes,  sondern  als  diejenige  der  Bildung,  der 
vernünftigen  Einsicht  und  der  politischen  Erfahrung  gestaltet  zu  sehen 
wünschte.  Dabei  ist  es  unverkennbar,  daß  die  Darlegungen  des 
»politischen  Traktats«  über  die  Einrichtungen  einer  monarchischen 
und  einer  aristokratischen  Verfassung  von  einem  klugen  Verständnis 
für  die  politischen  Probleme  getragen  sind,  die  durch  die  eigentümlich 
verwickelte  Lage  der  Niederlande  während  der  letzten  Lebensjahre 
des  Philosophen  gegeben  waren. 

Auf  den  ersten  Blick  erscheint  es  fast  unmöglich,  daß  sich  auf 
den  Grundlagen  der  spinozistischen  Weltanschauung  überhaupt  eine 
Ethik  sollte  entwickeln  können.  Wenn  der  Unterschied  des' Guten 
und  des  Bösen  nur  darin  gesucht  wird,  was  der  Mensch  tatsächlich 
begehrt  oder  verabscheut,  so  scheint  es  unmöglich,  ein  Kriterium 
festzustellen,  wonach  allgemeingültig  entschieden  werden  sollte,  was 
begehrenswert  und  was  verabscheuenswert  ist.  Auf  dem  breiten 
Boden  der  psychologischen  Notwendigkeit  erwachsen  alle  Vorgänge 
der  Willensentscheidung  mit  gleichem  Hechte,  und  es  scheint  nicht 
abzusehen,  wie  man  dazu  kommen  soll,  die  einen  zu  billigen  und 
die  anderen  zu  mißbilligen.  Und  dennoch  ist  es  Spinoza  gelungen, 
aus  seinen  Prinzipien  heraus  eine  Grundlage  der  Ethik  zu  finden; 
ja  sein  ganzes  Denken  treibt  so  sehr  auf  dieses  Prinzip  zu,  daß  ihm 
diese  letzte  Folgerung  seiner  Philosophie  als  die  wertvollste  erschie- 
nen ist  und  seinem  Hauptwerke  den  Namen  gegeben  hat.  Es  ist 
eine  höchst  eigentümliche  Verknüpfung  der  Gedanken,  durch  welche 
Spinoza  den  Begriff  der  Tugend  zu  formen  vermocht  hat.  Sie 
knüpft  zunächst  in  echt  naturalistischer  Weise  an  den  antiken  Wort- 
gebrauch an,  wonach  »virtus«  vor  seinem  ethischen  Sinne  nur  erst 
die  Tüchtigkeit  bedeutet,  und  sie  bringt  diesen  Begriff  in  Ver- 
bindung mit  dem  Selbsterhaltungstriebe.  Das  Streben  nach  der 
eigenen  Vervollkommnung,  d.  h.  nach  der  Vergrößerung  der  indi- 
viduellen Macht,  ist  der  eigentliche  Inhalt  des  Selbsterhaltungs- 
triebes, und  die  Tüchtigkeit  ist  nichts  weiter,  als  die  Erfüllung  dieses 
Bestrebens.  Deshalb  sagt  Spinoza,  daß  die  Tugend  (im  Sinne  der 
Tüchtigkeit)  identisch  ist  mit  der  Macht.  Auch  das  "Sittengesetz 
kann  vom  Menschen  nichts  Naturwidriges  verlangen,  es  ist  viel- 
mehr identisch  mit  dem1  Naturgesetz. '  Sein  einziges  Gebot  ist  genau 


Tugendlehre.  235 

dasselbe,  was  der  natürliche  Trieb  der  Selbsterhaltung  verlangt: 
»vergrößere  deine  Macht«;  und  der  sittliche  Begriff  der  Tugend  ist 
nur  derjenige  des  Strebens  nach  der  vollen  Kraftenfaltung  der 
menschlichen  Natur.  In  diesem  Sinne  sucht  die  spinozistische  Ethik 
—  unabhängig  von  allen  religiösen  Voraussetzungen  —  das  sittliche 
Leben  auf  den  Boden  der  natürlichen  Wirklichkeit  zu  pflanzen 
und  als  dessen  notwendiges  Produkt  darzustellen.  Allein,  um  von 
diesem  Prinzip  aus  zu  einer  Entwicklung  der  sittlichen  Gesetze  zu 
gelangen,  bedarf  Spinoza  noch  einer  anderen  Vermittlung,  und  es 
ist  überaus  merkwürdig,  in  wie  einfacher  und  genialer  Weise  er  zu 
diesem  Zwecke  baconische  und  cartesianische  Gedanken  mitein- 
ander verknüpft.  Nach  dem  Parallelismus  der  Attribute  kann 
offenbar  die  Vollkommenheit,  d.  h.  die  Tugend  der  Seele,  nur  ver- 
bunden sein  mit  der  Vollkommenheit,  d.  h.  mit  der  Tüchtigkeit 
des  Körpers.  Der  tüchtigste  Körper  ist  der  kräftigste,  derjenige, 
welcher  die  größte  Macht  hat;  die  vollkommenste  Seele  ist  diejenige, 
in  welcher  das  Attribut  des  Denkens  am  kräftigsten  entwickelt  ist, 
diejenige,  welche  die  richtigsten,  d.  h.  dioklarsten  und  deutlichsten 
Vorstellungen  besitzt.  Die  Tugend  besteht  daher  für  Spinoza  in 
dem  cartesianischen  Ideal  der --klaren  und  deutlichen  Vernunft- 
erkenntnis7; aber  der  Parallelismus  der  Attribute  bringt  es  mit  sich, 
daß  diese  wissende  Tugend  zu  gleicher  Zeit  die  größte  körperliche 
Macht  involviert,  und  so  schlingt  sich  das  baconische  Prinzip  »Wissen 
ist  Macht«  mit  dem  cartesianischen  Begriffe  des  richtigen  Denkens  zu 
dem  spinozistischen  Tugendbegriffe  zusammen.  Der  tugendhafte 
Mensch  ist  der  wissende  und  eben  dadurch  zugleich  der  mächtige ;  es  ist 
derjenige,  in  welchem  ein  und  derselbe  Modus  individueller  Existenz 
in  beiden  Attributen  eine  gleich  hohe  Vollkommenheit  besitzt.  Man 
darf  sich  nicht  an  dem  scheinbaren  Widerspruche  stoßen,  worin 
diese  Lehre  mit  der  einfach  zu  konstatierenden  Tatsache  steht, 
daß  die  Entwicklung  der  Seelenkraft  mit  derjenigen  der  Körper- 
kraft im  gewöhnlichen  Sinne  nicht  überall  gleichen  Schritt  hält: 
man  muß  vielmehr  bedenken,  daß  Spinoza  unter  der  Kraftsphäre 
eines  Körpers  den  gesamten  Umkreis  der  Wirkungen  versteht,  die 
er  durch  irgendwelche  Vermittlungen  auszuüben  imstande  ist,  und 
in  diesem  Sinne  müssen  auch  alle  realen  Wirkungen,  welche  im 
Geiste  der  baconischen  Philosophie  aus  dem  Wissen  hervorgehen 
können,  in  das  Gebiet  der  Macht  gerechnet  werden,  die  der  spino- 


236  Spinoza. 

zistischen  Tugend  zukommen  soll.  Es  ist  ein  Tugendbegriff,  der  in 
merkwürdigster  Weise  auf  der  einen  Seite  einen  rein  theoretischen 
Inhalt  hat,  auf  der  andern  Seite  aber  einen  eminent  praktischen  Sinn 
der  realen  Tätigkeit  einschließt  —  von  allen  Tugendbegriffen,  die  in 
der  Geschichte  des  menschlichen  Denkens  aufgestellt  worden  sind, 
vielleicht  der  verschränkteste  und  dabei  originellste  — ,  um  so 
interessanter,  je  mehr  man  bedenkt,  daß  der  Urheber  dieses  Be- 
griffs zwar  jene  theoretische  Tugend  des  klaren  Denkens  im  vollendet- 
sten Maße  besaß,  in  Rücksicht  der  Wirksamkeit  dagegen  auf  dem 
Gebiete  der  äußeren  Welt  sich  —  physisch  angesehen  —  eines 
gleichen  Vorzuges  nicht  rühmen  durfte. 

Auf  dieser  Grundlage  aufgebaut,  tragen  nun  die  ethischen  Lehren 
Spinozas  ganz  den  Charakter,  zu  welchem  schon  die  cartesianische 
Philosophie  notwendig  hinneigte.  Bei  beiden  tritt  die  Tugend 
wesentlich  in  der  Form  des'klaren  und  vernünftigen  Denkens  auf, 
wie  denn  auch  in  dem  Leben  beider  Männer  die  rückhaltlose  Hin- 
gabe an  die  reine  Vernunfterkenntnis  als  der  Grundzug  ihres  Charak- 
ters und  ihres  Lebensschicksals  hervortritt.  Spinoza  bringt,  einer 
Andeutung  Descartes'  folgend,  diese  ethische  Lehre,  wie  schon  die 
Entwicklung  seines  Tugendbegriffes,  mit  dem  aristotelisch-schola- 
stischen Gegensatze  der  Aktivität  und  der  Passivität  in  glückliche 
Verbindung.  Ein  Körper  ist  um  so  vollkommener  und  mächtiger, 
je  mehr  er  handelt  und  je  weniger  er  von  anderen  leidet:  auch  die 
menschliche  Seele  ist  um  so  vollkommener  und  tugendhafter,  je 
mehr  sie  sich  tätig  und  je  weniger  sie  sich  leidend  verhält.  Nun 
sind  die  Affekte  und  die  Leidenschaften,  deren  System  Spinoza 
entworfen  hat,  für  die  Seele  die  unklaren  und  verworrenen  Zu- 
stände des  Leidens;  sie  sind  zugleich  die  Vorstellungen  derjenigen 
Zustände,  in  welchen  sich  auch  der  Körper  leidend  verhält,  indem 
er  unter  dem  Einfluß  äußerer  Mächte  steht.  Jene  Affekte  und 
Leidenschaften  sind  deshalb  in  allen  Formen  Zustände  der  Un- 
vollkommenheit,  der  Schwäche,  der  Untugend.  Ihnen  gegenüber 
muß  das  klare  und  deutliche  Denken  als  der  Zustand  der  reinen 
Tätigkeit  der  Seele  aufgefaßt  werden,  worin  diese  sich  selbst  be- 
stimmt und  keinen  fremden  Einflüssen  unterliegt.  Diesem  Zustande 
der  theoretischen  Aktivität  entsprechen  deshalb  auch  die  mit  der 
reinen  Erkenntnis  verbundenen  »aktiven  Affekte«,  und  diese 
sind  der  Natur  der  Sache  nach  ausnahmslos  Zustände  der  Freude, 


Freiheit.  237 

der  Seligkeit.  Denn  sie  sind  die  höchsten  Formen  der  Selbsterhaltung 
und  Selbstvervollkommnung.  Hier  kommt  wieder  das  cartesianische 
Ideal  des  reinen  Rationalismus,  d.  h.  des  lediglich  durch  sich 
selbst  bestimmten  Denkens  in  seinem  ethischen  Sinne  zur  Geltung. 

Dieser  Gegensatz  des  Aktiven  und  des  Passiven  identifiziert 
sich  bei  Spinoza  mit  demjenigen  der  Unabhängigkeit  und  der 
Abhängigkeit,  oder  demjenigen  der  Freiheit  und  der  Knecht- 
schaft. Der  sittliche  Begriff  der  Freiheit  steht  in  keinem  Wider- 
spruche mit  demjenigen  der  kausalen  Notwendigkeit.  Er  ist  viel- 
mehr dessen  höchste  Vollendung.  "Freiheit  ist  der  Zustand,  in 
welchem  der  endliche  Modus  bei  seinen  Tätigkeiten  lediglich  durch 
den  Inhalt  seiner  eigenen  Bestimmungen  bedingt  ist,  Unfreiheit" 
derjenige,  in  welchem  dieser  Modus  von  den  Wirkungen  anderer 
endlicher  Wesen  abhängig  ist.  Freiheit  ist  also  nichts  anderes  als 
Selbstbestimmung.  ^FreFist  derjenige  Körper,  dessen  Bewegung 
durch  keinen  anderen  Körper  bestimmt  ist,^  frei 'diejenige  Seele, 
deren  Entschließungen  lediglich  von  ihrem  vernünftigen  Denken 
abhängen.  Hieraus  folgt,  daß  der  Mensch  im  Zustande  des  Affekts 
und  der  Leidenschaft  ^unfrei,  im  Zustande  der  vernünftigen  Er- 
kenntnis dagegen  frei  ist.  Tugend  ist  Macht,  und  Tugend  ist  Frei- 
heit; aber  diese  Tugend  ist  keine  andere  als  die  wahre  Erkenntnis. 
Die  sittliche  Aufgabe  kann  somit  nur  in  der  Überwindung  der  Leiden- 
schaften durch  das  Denken  bestehen.  Eine  Leidenschaft  kann  man 
nur  überwinden,  indem  man  sie  begreift.  Alles  sittliche  Leben  ist 
der  Kampf  der  Vernunft  gegen  die  Leidenschaft  und  sein  Ziel  die 
Erhebung  des  Menschen  aus  der  Unfreiheit  in  die  Freiheit. 

Mit  diesen  Gedanken  nun  ringt  sich  Spinoza  aus  den  starren 
Formen  seines  Rationalismus  wieder  in  das  ursprüngliche  Element 
des  Mystizismus  empor,  aus  dem  seine  Philosophie  geboren  wurde. 
Denn  was  ist  im  letzten  Grunde  diese  Erkenntnis,  in  der  die  Tugend, 
die  Macht  und  die  Freiheit  des  Menschen  bestehen  soll?  Es  ist 
die  Anschauung  Gottes  und  die  Einsicht  in  die  Notwendigkeit,  mit 
der  aus  einem  Wesen  alle  Dinge  ewig  folgen.  Die  Erkenntnis 
Gottes  ist  der  Gipfel  des  Wissens  und  damit  auch  der  Gipfel  der 
Tugend.  Wenn  aber  die  Tugend  den  Menschen  von  der  Knecht- 
schaft befreit,  in  der  er  sich  unter  der  Herrschaft  seiner  Affekte 
und  Leidenschaften  befindet,  so  ist  diese  Tugend  der  Gotteserkennt- 
nis die  erlösende  Macht,  welche  den  Menschen  aus  den  Übeln 


238  Spinoza. 

und  Gebrechen  der  endlichen  Welt  zur  Teilnahme  an  der  ewigen 
Vollkommenheit  der  unendlichen  Gottheit  emporhebt.  Mit  diesen 
Gedanken  klingt  die  große  Symphonie  von  Spinozas  Lehren  in  ihren 
religiösen  Grundton  aus.  Denn  alle  Eeligion  wurzelt  im  Erlösungs- 
bedürfnis  und  sucht  die  Befreiung  von  den  Übeln  der  Welt. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  vollzieht  Spinoza  die  letzte 
Synthese  seines  Denkens.  Die  vollkommene  Gotteserkenntnis  hat 
ihre  erlösende  Macht  darin,  daß  sie  den  Menschen  von  allen  Affekten 
und  Leidenschaften  befreit,  mit  denen  sonst  sein  Wille  sich  den 
endlichen  Dingen  zuwendet,  und  wo  diese  Tugend  vollkommen 
eingetreten  ist,  da  gibt  es  für  den  Menschen  nur  noch  einen  einzigen 
möglichen  Gegenstand  des  Willens:  es  ist  der  Gegenstand  dieser 
Erkenntnis  selbst,  die  Gottheit.  Wo  Gott  das  gesamte  Denken 
erfüllt,  da  erfüllt  auch  er  allein  den  Willen.  Wer  die  Gottheit  voll- 
kommen erkennt,  der  begehrt  auch  nichts  anderes  als  sie.  Die 
Erkenntnis  Gottes  ist  identisch  mit  der  Liebe  zu  Gott.  Wer  da 
weiß,  daß  es  nur  die  eine  Substanz  gibt,  und  daß  alles  andere  nur 
ihre  vergänglichen  Erscheinungen  sind,  der  begehrt  diese  flüch- 
tigen Güter  nicht  mehr,  sondern  umfängt  mit  seiner  geistigen  Liebe 
nur  noch  die  Gottheit.  Diese  Begierde  aber  ist  ihrer  ewigen  Er- 
füllung sicher.  Alle  anderen  Güter  schwinden  dahin,  alle  anderen 
Begierden,  selber  vorübergehend,  verfehlen  entweder  ihr  Ziel  oder 
führen  zu  vorübergehender  Lust:  die  Liebe  zur  Gottheit  und  die 
Seligkeit  dieser  Liebe  sind  ewig  wie  ihr  Gegenstand.  Die  Gottes- 
liefee,  welche  mit  der  Gotteserkenntnis  sich  deckt,  ist  das  höchste 
Gut.  Wenn  endlich  Spinoza  für  diese  geistige  Liebe  zur  Gottheit 
einen  abschließenden  Ausdruck  sucht,  so  bedarf  es  nur  noch  der 
Überlegung,  daß  jene  Menschenseele,  die  sich  in  der  Erkenntnis  zu 
der  Seligkeit  der  Gottesliebe  emporschwingt,  ja  selbst  nichts  anderes 
ist,pals  ein  Modus  in  dem  unendlichen  Wesen  der  Gottheit,  und  daß 
sie  kein  anderes  Wesen  und  keine  andere  Kraft  in  sich  trägt  und  ent- 
wickeln kann,  als  diejenigen  der  Gottheit  selbst.  Die  Liebe,  womit 
der  Mensch  die  Gottheit  umfängt,  ist  schließlich  nur  eine  Liebe 
Gottes  zu  sich  selbst:  »amor  intellectualis,  quo  deus  se  ipsum 
amat «.  Die  Gottsubstanz  ist  alles  in  allem :  auch  unsere  erkenntnis- 
volle Liebe  zu  ihr  ist  nur  eine  ewige  Bewegung,  mit  der  sie  aus 
den  endlichen  Gestaltungen  ihres  Wesens  zu  sich  selbst  zurückkehrt. 

Auf  diese  Weise  endet  das  System  Spinozas  in  denselben  Ge- 


Mystizismus  und  Rationalismus.  239 

danken,  welcher  die  innerste  Triebfeder  seines  gesamten  Denkens 
und  Lebens  bildet,  in  den  mystischen  Gedanken  der  Gottesliebe. 
Der  ganze  Apparat  der  geometrischen  Methode  und  der  schwer- 
fällige Schritt  der  rationalistischen  Deduktion  ist  ihm  nur  ein  Mittel 
gewesen,  um  jene  religiöse  Sehnsucht  nach  vollkommener  Gottes- 
erkenntnis zu  stillen.  Darin  besteht  das  Einzige  seines  Systems, 
daß  es  den  Kationalismus  in  den  Dienst  des  Mystizismus  nimmt, 
und  daß  es  den  weihevollen  Trieb  des  religiösen  Gefühls  durch  die 
strengste  Klarheit  und  Deutlichkeit  des  Denkens  zu  befriedigen  sucht. 
Spinozas  Vertrautheit  mit  der  cartesianischen  Methode  bewahrte 
ihn  vor  der  Verschwommenheit,  worin  sonst  der  mystische  Gedanke 
seine  Offenbarungen  hervorzustoßen  pflegt,  und  seine  tiefe  Keligiosität 
schützte  ihn  davor,  sich  mit  der  abstrakten  Leere  der  naturali- 
stischen Verständigkeit  zu  begnügen.  In  diesem  Doppelbestreben 
steht  er  ebenso  weit  über  der  Unklarheit  der  gewöhnlichen  Mystik, 
wie  über  der  Verständnislosigkeit,  womit  der  spätere  Kationalismus 
die  höchsten  Probleme  des  Denkens  ihres  inneren  Wertes  beraubte. 
Aber  auf  der  anderen  Seite  berühren  sich  in  der  Lehre  Spinozas 
diese  beiden  schroffen  Gegensätze  des  Mystizismus  und  des  Ka- 
tionalismus nur,  um  sich  desto  schärfer  abzustoßen.  Der  Versuch 
ihrer  Durchdringung  ist  mißlungen.  Der  Inhalt,  den  die  mathe- 
matische Methode  des  Kationalismus  der  mystischen  Idee  der  Gott- 
heit zu  geben  vermochte,  war  das  absolute  Nichts.  Dem  religiösen 
Denken  Spinozas  ist  die  Gottheit  alles:  in  seiner  Metaphysik  ist  sie 
nur  eine  leere  Begriffsform.  Alle  seine  Keligiosität  konnte  keine 
Philosophie  schaffen,  die  den  vollen  Inhalt  dieses  religiösen  Gefühls 
wiederzugeben  vermochte  hätte. 

Immer  wird  das  System  Spinozas  unter  den  Versuchen  des 
menschlichen  Denkens,  sich  seines  wertvollen  Inhalts  in  der  ge- 
schlossenen Form  der  Wissenschaft  bewußt  zu  werden,  eine  hervor- 
ragende Stelle  einnehmen.  Sein  System  ist  vielleicht  die  imposanteste 
Begriffsdichtung,  welche  je  in  eines  Menschen  Hirn  entsprang;  die 
strikte  Folgerichtigkeit  seines  Denkens  und  die  lautere  Keinheit 
seiner  Überzeugung  sichern  ihm  die  Bewunderung  der  Nachwelt: 
aber  immer  wird  auch  der  unlösbare  Widerspruch  zwischen  der 
Glut  seiner  Gottesliebe  und  der  schneidenden  Kälte  seiner  Welt- 
betrachtung die  Kühe  beeinträchtigen,  mit  der  man  den  gewaltigen 
I  Zusammenhang  seiner  Gedanken  genießen  möchte. 


240  Malebranche. 

§  27.   Nicole  Mal  eb  ran  che. 

So  befremdend  Spinozas  Verknüpfung  des  Rationalismus  mit 
dem  Mystizismus  bei  den  prinzipiellen  Gegensätzen,  die  sonst 
zwischen  ihnen  bestehen,  und  so  unvergleichbar  deshalb  diese  ihre 
Verschmelzung  erscheint,  so  bietet  doch  die  Entwicklung  der  car- 
tesianischen  Lehre  auch  in  Frankreich  eine,  wenn  auch  in  geringe- 
rem Maßstabe  ausgeführte,  doch  in  den  Grundzügen  ähnliche  Er- 
scheinung dar.  Hier  war  es  die  Verbindung,  in  welche  der  Car- 
tesianismus  vermöge  gewisser  innerer  Verwandtschaften  mit  der 
Lehre  des  Kirchenvaters  Augustin  trat,  wodurch  dieser  eigentüm- 
liche Vorgang  bedingt  wurde.  Er  spielte  sich  innerhalb  eines  geist- 
lichen Ordens  ab,  der  mit  der  Geschichte  des  Cartesianismus  in  der 
engsten  Verbindung  stand.  Die  Kongregation  der  Väter  des 
Oratoriums  Jesu  war  vom  Kardinal  Berulle  begründet  worden, 
einem  Freunde  Descartes',  dessen  dringende  Bitten  den  letzteren 
mit  zur  Niederschrift  und  Veröffentlichung  seiner  Werke  veran- 
laßt hatten,  und  der  das  Studium  der  cartesianischen  Philosophie 
in  dem  Oratorium  einbürgerte.  Es  war  ein  Orden  ohne  hierarchische 
Beschränkung,  eine  freie  Vereinigung  von  Männern,  welche  sich 
aus  der  Welt  zurückzogen,  um  in  wissenschaftlicher  Weise  an  der 
Ausbildung  der  Kirchenlehre  zu  arbeiten,  ein  Orden,  in  welchem 
deshalb  die  Jesuiten  ein  geheimes,  der  Reformation  zuneigendes 
Ketzertum  witterten  und  bekämpften.  In  der  Tat  kehrten  die  For- 
schungen dieser  Männer  mit  einer  der  Reformation  nicht  ganz  un- 
ähnlichen Tendenz  von  der  aristotelisierenden  Scholastik  zu  der 
platonisierenden  Patristik  zurück.  Einer  von  ihnen,  G.  Gibieuf, 
hatte  schon  früh  in  seiner  Schrift  De  libertate  dei  et  creaturae 
(1630)  für  die  Freiheitslehre  eine  Ergänzung  der  thomistischen 
Doktrin  durch  scotistische  und  augustinische  Argumente  versucht. 
Im  ganzen  verehrten  die  Oratprianer  in  Augustin  den  größten  aller 
Kirchenlehrer,  während  die  Jesuiten  sich  mehr  an  Thomas  von 
xlquino  hielten.  Auch  jene  verfolgten  eine  gewisse  Richtung  der 
Verinnerlichung  des  religiösen  Bewußtseins  und  gerieten  dadurch 
bald  in  Konflikte  mit  den  kirchlichen  Mächten.  Auf  diesem  Boden 
begegneten  sich  nun  die  cartesianische  Philosophie  und  der  Augusti- 
nismus, und  in  der  ausgesprochenen  Absicht,  durch  die  Verbindung 
beider  die  Kirchenlehre  mit  der  modernen  Wissenschaft  und  der 


Augustinisrmis.  241 

weltlichen  Bildung  zu  versöhnen,  schrieb  Andre  Martin  die  »Philo- 
sophia  christiana«,  die  unter  dem  Pseudonym  Ambrosius  Victor 
1671  erschien.  Das  Bindeglied  zwischen  beiden  Lehren  war  wesent- 
lich die  Gotteslehre  und  die  enge  Beziehung,  worin  für  beide  große 
Denker  das  Gottesbewußtsein  mit  dem  Selbstbewußtsein  des  Men- 
schen gestanden  hatte.  Es  war  der  Gedanke,  daß  die  Selbsterkennt- 
nis des  Menschen  in  seiner  Gotteserkenntnis  beruhe,  daß  in  unser 
Selbstbewußtsein  unabtrennbar  die  Erkenntnis  der  Gottheit  ein- 
geschmolzen sei,  und  daß  diese  Verbindung  den  sicheren  Ausgangs- 
punkt für  alles  menschliche  Wissen  bilden  müsse.  Dieser  Gedanke 
stand  aber,  wenn  man  ihm  statt  der  rein  erkenntnistheoretischen 
Wendung,  die  er  bei  Descartes  genommen  hatte,  im  Sinne  Augustins 
eine  mehr  religiöse  Färbung  gab,  dem  Prinzip  der  Mystik  sehr  nahe, 
wonach  alles  Wissen  im  Gewissen  wurzeln  und  alle  menschliche  Er- 
kenntnis aus  der  begeisterten  Gottesanschauung  fließen  sollte;  und 
so  entwickelte  sich  schließlich  aus  dieser  Verknüpfung  eine  Lehre, 
welche  die  Gedanken  Descartes'  zu  einem  Mystizismus  verarbeitete, 
der  freilich  von  dem  spinozistischen  Pantheismus  weit  entfernt  war 
und  vielmehr  auf  den  augustinischen  Theismus  hinauslief. 

Der  Begründer  dieser  Lehre  ist  Nicole  Malebranche.  1638  /L'~l\ 
zu  Paris  geboren,  war  dieser  Mann  durch  die  Zartheit  und  Kränk-  ,  y.  , 
lichkeit  seines  Körpers  von  Jugend  an  auf  ein  stilles,  zurückgezogenes, 
der  Kontemplation  und  der  Wissenschaft  gewidmetes  Leben  hin- 
gewiesen, und  so  trat  er  schon  in  seinem  dreiundzwanzigsten  Jahre 
in  das  Oratorium  ein.  Lange  Zeit  mit  anderen  Studien  beschäftigt, 
wurde  er  erst  1664  zufällig  auf  die  cartesianische  Lehre  aufmerksam, 
ergriff  sie  aber  dann  mit  einem  solchen  Eifer,  daß  er  des  Systems 
bald  Herr  wurde  und  daran  die  Fortbildung  vollzog,  die  seinen 
Namen  berühmt  machen  sollte.  Im  Jahre  1675  ließ  er  sein  viel- 
bewundertes Hauptwerk  »De  la  recherche  de  la  verite«  drucken, 
dreizehn  Jahre  darauf  eine  kompendiöse  Zusammenfassung  seiner 
Lehre  in  den  »Entretiens  sur  la  metaphysique  et  sur  la  religion«. 
Von  den  übrigen  Schriften,  durch  die  er  teilweise  in  mehr  populärer 
Form  hauptsächlich  den  Gedanken  von  der  Einheit  der  cartesia- 
nischen  resp.  seiner  Philosophie  und  der  christlichen  resp.  augusti- 
nischen Lehre  darzustellen  und  zu  begründen  suchte,  ist  namentlich 
der  »Traite  de  la  nature  et  de  la  grace«  (Amsterdam  1680)  wegen 
des  Anlasses  hervorzuheben,  den  derselbe  zu  einem  lange  und  heftig 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  16 


242  Malebranche. 

geführten  Streite  mit  Arnauld  gab.  Die  Cartesianer  von  Port  Royal, 
als  deren  Hauptvertreter  dieser  früher  erwähnt  worden  ist,  konnten 
bei  ihrer  rein  rationalistischen  Auffassung  der  cartesianischen  Lehre, 
welche  offenbar  auch  dem  Geiste  des  Meisters  am  nächsten  stand, 
sich  mit  den  mystischen  Ideen  von  Malebranche  nicht  befreunden. 
Dieser  Streit,  dessen  Dokumente  Malebranche  seinerseits  als  Samm- 
lung aller  seiner  Entgegnungen  an  Arnauld  (4  Bde.  Paris  1709) 
drucken  ließ,  ist  eigentlich  das  einzige  äußere  Erlebnis  in  der  wissen- 
schaftlichen Zurückgezogenheit  des  Philosophen,  der  durch  eine 
glückliche  Strenge  und  Mäßigkeit  seiner  Lebensweise  ein  hohes 
Alter  erreichte  und  erst  1715  bald  nach  einer  Unterredung  mit 
dem  englischen  Philosophen  Berkeley  gestorben  ist,  —  wie  man  er- 
zählt, an  den  Folgen  der  Aufregung,  in  die  ihn  der  Kontakt  mit 
diesem  in  vieler  Hinsicht  verwandten,  in  anderer  Beziehung  aber 
wieder  diametral  entgegengesetzten  Denker  versetzte. 

Die  Lehre  von  Malebranche  hat  sich  aus  dem  Cartesianismus 
zweifellos  in  der  Richtung  des  Occasionalismus  entwickelt  und  ist 
sowohl  metaphysisch,  als  auch  erkenntnistheoretisch  durch  die 
Stellung  der  Probleme  bedingt,  die  von  den  Occasionalisten  her- 
vorgehoben wurden.  Je  wichtiger  der  Substanzbegriff  in  der  car- 
tesianischen Philosophie  war,  um  so  mehr  gab  die  Unentschieden- 
heit,  mit  der  ihn  Descartes  selbst  behandelt  hatte,  die  Veranlas- 
sung zur  Fortbildung  seines  Systems.  Wie  für  die  Occasionalisten 
und  für  Spinoza,  so  gilt  dies  auch  für  Malebranche;  der  letztere 
geht  in  einer  oft  fast  wörtlichen  "Übereinstimmung  mit  Geulincx 
von  der  occasionalistischen  Ansicht  aus,  daß  von  einem  Einfluß  der 
geistigen  und  der  körperlichen  Substanzen  auf  einander  überhaupt 
nicht  die  Rede  sein  könne,  daß  vielmehr  der  scheinbare  Zusammen- 
hang der  geistigen  und  der  körperlichen  Welt  eine  stetige  Ver- 
mittlung durch  die  göttliche  Tätigkeit  voraussetze.  Aber  Male- 
branche  zieht  daraus  sogleich  die  klare  und  ausdrückliche  Folge- 
rung, daß  diese  Ansicht  jede  Selbständigkeit  in  der  Bewegung  der 
körperlichen  sowohl  wie  der  geistigen  Welt  aufhebt,  daß  danach 
die  endlichen  Substanzen  aufhören  tätig  zu  sein,  und  die  göttliche 
Substanz  als  der  alleinige  Grund  aller  Tätigkeit  übrig  bleibt.  Er 
kommt  zu  demselben  Resultat  auf  Grund  der  cartesianischen  Physik 
und  der  Erwägungen  über  die  Kausalität,  wie  sie  daran  auch  schon 
Geulincx  geknüpft  hatte.    Nach  diesen  ist  ein  Körper  niemals  mit 


Alleinge  Kausalität  Gottes.  243 

selbständiger  Bewegungskraft  ausgestattet,  er  ist  niemals  im  eigent- 
lichen Sinne  das  Bewegende,  sondern  immer  nur  das  Bewegte. 
Was  in  der  Welt  der  Ausdehnung  wahrhaft  wirkt,  ist  nur  die  gött- 
liche Kraft,  welche,  in  konstanter  Größe  der  Materie  mitgeteilt,  auf 
ihre  einzelnen  Teile  nur  fortwährend  verschieden  übertragen  wird. 
Die  Kraft,  die  ein  einzelner  Körper  auszuüben  scheint,  gehört  ihm 
in  Wahrheit  nicht  selbst,  sondern  ist  nur  ein  geborgter  Teil  der  all- 
gemeinen göttlichen  Kraft.  Die  Körper  wirken  also  nicht  nur  nicht 
auf  die  Geister,  sondern  nicht,  einmal  auf  einander.  Sie  sind  nur 
Objekte  und  niemals  Ursachen  der  Bewegung.  Ursache  sein  heißt 
erzeugen  und  schaffen;  wer  die  einzelnen  Dinge  für  wirkende  Ur- 
sachen hält,  denkt  heidnisch,  und  das  ist  der  Grundfehler  der  ge- 
samten antiken  Philosophie.  Gott  als  der  alleinige  Schöpfer  ist 
auch  der  einzig  Wirkende.  Die  Dinge  sind  seine  Wirkungen  und 
selbst  wirkungslos.  Das  Geschehen  in  der  Welt  ist  nicht  eine  Folge 
des  natürlichen  Wesens  der  Dinge,  sondern  vielmehr  der  Ausdruck 
der  unendlichen  und  ewigen  Tätigkeit  Gottes.  Damit  ist  auch  für 
Malebranche  aus  dem  Begriffe  dei*  Substanz",  insofern  er  auf  die 
endlichen  Dinge  angewendet  werden  soll,  das  Merkmal  der  Kau- 
salität ausdrücklich  fortgefallen;  sie  sind  nur  noch  Existenzen,  aber 
keine  selbständigen  Ausgangspunkte  der  Bewegung  mehr.  .Die 
Parallele  mit  dem  Spinozismus,  der  ja  ebenfalls  die  gesamte  Sub- 
stantialität  der  Dinge  aufgab,  liegt  auf  der  Hand;  bei  Spinoza  ist 
nur  auch  in  der  Terminologie  die  größere  Konsequenz,  indem  er 
eben  die  Gottheit  für  die  einzige  Substanz  erklärte.  < 

Die  Ansicht,  daß  Gott  der  in  dem  gesamten  Weltlauf  allein 
Handelnde  sei,  wird  so  von  Malebranche  auf  dem  occasionalistischen 
Wege  aus  der  Lehre  Descartes'  abgeleitet:  im  Kesultat  stimmt  sie 
vollständig  mit  der  religiösen  Auffassung  Augustins  überein.  Aber 
sie  wird  notwendig  in  dieselben  unlösbaren  Schwierigkeiten  ver- 
wickelt, denen  bereits  Augustin  unrettbar  anheimgefallen  war. 
Auch  Malebranche  nämlich  vermag  diese  Theorie  nur  in  bezug  auf 
den  gegenseitigen  Einfluß  der  körperlichen  und  der  geistigen  Welt 
und  anderseits  auf  den  immanenten  Vorgang  des  materiellen  Ge- 
schehens durchzuführen:  sie  scheitert  an  dem  wichtigsten  Punkte, 
nämlich  in  Beziehung  auf  den  Prozeß  des  seelischen  Lebens.  Denn 
die  notwendige  Folge  dieser  Ansicht  wäre  die,  daß,  wie  in  der  Körper- 
welt, so  auch  in  der  geistigen  Welt  die  einzelnen  Substanzen,  d.  h. 

IG* 


244  Malebranche. 

hier  die  menschlichen  Seelen,  keine  Selbsttätigkeit  besitzen,  sondern 
daß  alles  Geschehen  auch  auf  diesem  Gebiete  unmittelbar  von  dei 
einzig  wirkenden  Kraft,  d.  h.  von  der  Gottheit  ausgeht.  Will  mar 
aber  dies  durchführen,  so  ist  es  auch  Gott,  welche^  irrt' und  welchei 
sündigt.  Handeln  in  Wahrheit  nicht  wir  selbst,  sondern  nur  in 
uns  und  durch  uns  die  Gottheit,  so  sind  es  auch  nicht  wir,  welche 
für  Irrtum  und  Sünde  verantwortlich  gemacht  werden  können. 
So  springt,  genau  wie  in  der  Prädestinationslehre  von  Augustin. 
auch  bei  Malebranche  das  Problem  des  Irrtums  und  der  Sünde 
hervor.  Er  entzieht  sich  demselben  ebensowenig  wie  sein  großes 
Vorbild;  er  gibt  zu,  daß  die  Tatsachen  des  Irrtums  und  dei 
Sünde  nicht  fortzuleugnen  sind,  und  daß  auf  der  anderen  Seite  die 
Gottheit  für  sie  nicht  verantwortlich  gemacht  werden  darf.  Ei 
nimmt  demnach  an,  daß  diese  Tatsachen  in  einer  Freiheit  und  selb- 
ständigen Wirksamkeit  der  menschlichen  Seele  begründet  sind.  Er 
sucht  das  Problem  zu  vereinfachen,  indem  er  nicht  nur  theologisch, 
sondern  auch  philosophisch  im  Sinne  der  cartesianischen  Erkennt- 
nistheorie den  Irrtum  als  eine  Art  oder  als  eme  Folge  der  Sünde 
betrachtet  wissen  will.  Er  beutet  den  Gedanken  Descartes'  aus, 
daß  das  falsche  Urteil  auf  einem  Übergreifen  des  Willens  beruhe,  der 
auch  da  urteilen  wolle,  wo  er  es  nicht  vermöge.  Er  führt  weiterhin 
aus,  wie  der  Mensch  durch  den  Sündenfall  unter  die  Herrschaft  der 
Sinnlichkeit  und  damit  (nach  cartesianischem  Prinzip)  dei**  Unklar- 
heit und  Verworrenheit  der  Vorstellungen'  geraten  sei.  Aber  die 
Ableitung  der  Sünde  und  auch  des  Irrtums  aus  der  Freiheit  des 
menschlichen  Willens  ist  nur  eine  Wortlösung  des  Problems.  Denn 
diese  Freiheit  und  Selbständigkeit  der  endlichen  Substanz  ist  eben 
in  einem  Systeme,  welches  wie  diejenigen  von  Augustin  und  von 
Malebranche  die  Gottheit  als  die  einzige  Ursache  aller  Tätigkeit  be- 
zeichnet hat,  absolut  unbegreiflich,  und  so  muß  sich  denn  auch 
Malebranche  diesem  Problem  gegenüber  schließlich  mit  dem  be- 
kannten Ausspruche  begnügen,  daß  die  Freiheit  ein  Mysterium  sei. 
Zu  einer  stärkeren  Hervorhebung  der  alles  bedingenden  Stellung 
des  Gottesbegriffs  sah  sich  aber  Malebranche  auch  noch  auf  einem 
erkenntnistheoretischen  Wege  gedrängt.  Nimmt  man  aus  den  end- 
lichen Substanzen  die  Selbsttätigkeit  ihres  Wirkens  heraus,  so 
bleibt  (wie  bei  Spinoza  die  absolute  Geschiedenheit  der  beiden  Attri- 
bute  des  Denkens  und  der  Ausdehnung)  nur  die  völlige  Ausschließ- 


Idealismus.  245 

lichkeit  zwischen  der  Körperwelt  und  der  geistigen  Welt  übrig. 
Macht  man  aber  damit  völlig  Ernst  und  führt  man  das  Prinzip 
durch,  daß  jede  dieser  Welten  nur  durch  sich  selbst  erkannt  werden 
kann,  so  erscheint  es  zunächst  unfaßlich,  wie  in  den  Geist  über- 
haupt die  Vorstellung  oder  gar  die  richtige  Erkenntnis  der  Körper 
hineinkommen  kann.     Daraus  folgt,  daß  auch  die  Erkenntnis  des 
Menschen  weder  sein  eigenes  Werk  noch  eine  unmittelbare  Wirkung 
ler  Körper  auf  ihn  sei,  sondern  vielmehr  nur  durch  göttliche  Er- 
euchtung  hervorgerufen  sein  könne.    Wenn  wir  Vorstellungen  teils 
/on  Körpern,  teils  von  anderen  Geistern  haben,  so  sind  die  letzteren 
mr  auf  dem  Wege  der  Analogie  aus  unserer  Erfahrung  von  unserem 
eigenen  und  von  fremden  Körpern  entstanden.     Die  Vorstellungen 
ler  Körper  aber  verdanken  wir  nur  der  göttlichen  Eingebung.    Als 
lrsprüngliche  Elemente  unseres  Wissens  bleiben  uns  deshalb  nur 
las  Bewußtsein  von  der  Gottheit  und  dasjenige  von  uns  selbst 
ibrig.     Beide   aber  glaubt   Malebranche   mit   einem   Schlage   zu 
gewinnen,  indem  er  den  cartesianischen  Gedanken  mit  dem  augusti- 
lischen  durchdringt.    Die  Vorstellung  von  Gott  als  dem  allerrealsten 
Vesen  ist  ihm  die* klarste  und  deutlichste Wlei  Vorstellungen;  mit 
hr  erst  wird  uns  auch  das  wahre  Selbstbewußtsein  gegeben,  denn 
insere  gewöhnliche  Selbsterfahrung,  das  sentiment  interieur,  zeigt 
ich  an  die  bestimmten  Modifikationen  unseres   Wesens,   an  die 
inzelnen  Tätigkeiten  von  Vorstellungen  und  Willensentschlüssen 
ebunden.     Malebranche  macht  darauf  aufmerksam,  daß  das,  was 
"artesius  das  Selbstbewußtsein  genannt  hat,   die  Selbstgewißheit 
ies  denkenden  Wesens,  von  der  gewöhnlichen  inneren  Erfahrung 
/ohl  zu  unterscheiden  sei,  und  er  glaubt,  daß  jene  volle  Selbst- 
ewißheit  nur  daraus  erwachse,  daß  wir  uns  als  eines  Teils  des 
öttlichen  Wesens  bewußt  sind,  daß  wir  in  derselben  ursprünglichen 
ntuition  die  Erkenntnis  der  Gottheit  und  unserer  eigenen  Existenz 
ugleich  umfassen.     Bei  Descartes  war  zwar  das  Selbstbewußtsein 
unächst  als  rein  auf  sich  selbst  begründet  und  als  der  Ausgangs- 
unkt  aller  weiteren  Deduktion  erschienen;  allein  diese  ganze  De- 
uktion  hatte  ihren  Durchgang  durch  das  Gottesbewußtsein  ge- 
ommen,   welches  auch  bei  ihm  schon  als  unmittelbar  mit  dem 
elbstbewußtsein  verschmolzen  gedacht  wurde.     Ein  System  der 
eueren  deutschen  Philosophie,  dasjenige  von  Krause,  welches  die 
'arabel    der    cartesianischen    Methode    in   ihrem    Gegensatze   des 


246  Malebranche. 

analytischen  und  des  synthetischen  Ganges  nachahmte,  hat  deshalb 
an  den  Kulminationspunkt  dieser  Parabel  den  Gottesbegriff  gesetzt. 
Bei  Malebranche,  kann  man  sagen,  kulminiert  die  Parabel  in  jener 
mystischen  Identität  des  Gottesbewußtseins  und  des  Selbstbewußt- 
seins, vermöge  deren  wir  uns  selbst  nur  in  der  Gottesanschauung 
sollen  erkennen  können.  Aus  allen  diesen  Überlegungen  aber  er- 
gibt sich,  daß  wir  die  Körper,  die  übrigen  Geister  und  schließlich 
auch  uns  selbst  nur  in  der  Gottheit  und  durch  die  Gottheit  zu  er- 
kennen vermögen.    Das  ist  der  Sinn  von  Malebranches  Ausspruch: 


wir  müssen  alle  Dinge  in  Gott  schauen. 

Daraus  jedoch  folgt  nun  unmittelbar  die  metaphysische  Kon- 
sequenz, daß  alle  Dinge  auch  nur  in  Gott  sind.  Denn  zunächst 
wiederholt  sich  —  und  auch  darin  zeigt  Malebranche  die  große 
Energie  seines  Nachdenkens  —  dieselbe  Schwierigkeit,  welche  die 
Möglichkeit  der  Vorstellung  von  Körpern  in  dem  endlichen  Geiste 
verursachte,  auch  bei  Gott.  Offenbar  kann  die  Gottheit  dem  end- 
lichen Geiste  die  Vorstellungen  von  den  Körpern  nur  deshalb  mit- 
teilen, weil  sie  selbst  diese  hat.  Aber  Gott  ist  ein  Geist,  und  er 
kann  somit  diese  Vorstellungen  nicht  erst  von  den  Körpern  emp- 
fangen, sondern  nur  aus  sich  selbst  erzeugt  haben.  Aus  diesem 
Grunde  schreitet  Malebranche  zu  der  Annahme  einer  idealen 
Körperwelt  in  Gott,  die  das  Urbild  der  wirklichen  Körperwelt 
ausmacht,  und  nach  welcher  die  wirklichen  Körper  erst  von  der 
Gottheit  geschaffen  sind.  Dies  ist  das  platonische  oder  vielmehr 
neuplatonische  Element  in  der  Philosophie  von  Malebranche,  welches 
er  offenbar  gleichfalls  durch  die  Vermittlung  des  Augustinismus 
aufgenommen  hat.  Was  wir  in  Wahrheit  erkennen,  sind  somit 
nicht  eigentlich  und  unmittelbar  die  Körper  selbst,  sondern  viel- 
mehr ihre  Ideen  im  göttlichen  Geiste,  und  diese  Erkenntnis  stimmt 
nur  deshalb  auch  mit  den  wirklichen  Körpern  überein,  weil  Gott  in 
seiner  Allmacht  diese  ideale  Körperwelt  in  eine  wirkliche  um- 
geschaffen hat.  Die  Gedanken  des  schöpferischen  Gottes  sind 
Wirklichkeit:  indem  wir  sie  erkennen,  erkennen  wir  auch  die  wirk- 
liche Welt.  Dieses  Urbild  der  wirklichen  Körperwelt  betrachtet 
nun  Malebranche  ganz  nach  der  Analogie  der  cartesianischen  Natur- 
philosophie. Die  »idee  primordiale«  ist  diejenige  der  »intelligiblen 
Ausdehnung«,  und  in  ihr  entwickeln  sich  als  ihre  Modifikationen 
diejenigen  der  einzelnen  Körper.    Diejw^lid^riKörper  verhalten 


Ethik.  247 

sich  zu  der  wirklichen  Ausdehnung  wie  ihre  Ideen  zu  der  intelli- 
giblen  Ausdehnung,  d.  h.  als  Modifikationen.  Sie  nehmen  in  be- 
sonderer Weise  teil  an  dem  allgemeinen  Wesen  dieser  Ausdehnung. 
Diese  Lehre  zeigt  dieselbe  Grundlage  wie  die  spinozistische ;  es 
ist  der  von  Piaton  abhängige  Realismus  des  Mittelalters, 
welcher  das  Allgemeine  für  die  metaphysische  Grundlage  des  Be- 
sonderen hält  und  dem  letzteren  nur  den  Wert  einer  vorüber- 
gehenden Erscheinung  in  dem  allein  wahrhaft  bestehenden  All- 
gemeinen zuerkennt.  Die  einzelnen  wirklichen  Körper  sind  danach 
für  Malebranche  nur  die  Abbilder  jener  ursprünglichen  Modifika- 
tionen in  der'intelligiblen  Ausdehnung^  die  ein  Attribut  Gottes 
ausmacht.  Und  ein  ähnliches  gilt  natürlich  auch  von  den  einzelnen 
Geistern;  wie  die  Körper  zu  der  göttlichen  Idee  der  intelligiblen 
Ausdehnuno-  so  verhalten  sich  die  Seelen  zu  der  Gottheit,  insofern 
sie  ein  geistiges  Wesen  ist.  Wie  der  Raum  der  Ort  der  Körper,  so 
ist  der  göttliche  Geist  der  »Ort  der  Geister«;  sie  sind  nichts  anderes 
als  die  besonderen  Modifikationen  der  göttlichen  Geistigkeit. 

Somit  sind  denn  auch  in  diesem  System  alle  einzelnen  Sub- 
stanzen, die  Geister  so  gut  wie  die  Körper,  nur  unvollkommene 
>>  Partizipationen «,  an  dem  einen  unendlichen,  vollkommenen  Gottes- 

■  wesen,   dem  einen,   reinen,   absoluten   »Sein«  überhaupt.     Hieran 
knüpft  Malebra  liehe  in  tiefsinniger  Einfachheit  den  Grundgedanken 

■  seiner  Ethik.  Wenn  alle  Dinge  nur  Modifikationen  Gottes  sind,  so 
i  ist  auch  alles  mögliche  Streben,  es  habe  einen  Gegenstand  welchen 
;  es  wolle,  im  letzten  Grunde  immer  nur  ein  Streben  zu  Gott,  eine 

wenn  auch  noch  so  untergeordnete  Stufe  der  Gottesliebe.     Aber 
;  geradeso  wie  die  einzelnen  Gegenstände  nur  unvollkommene  Partizi- 
pationen an  dem  Wesen  Gottes  sind,  so  sind  auch  die  einzelnen 
;  Begierden   entsprechend   unvollkommene    Partizipationen   an   der 
;  Gottesliebe.    Sie  sind  falsch,  verwerflich  und  unheilbringend,  wenn 
über  den  einzelnen  Gegenstand  das  Ganze  vergessen  wird,  von  dem 
er  nur  eine  Modifikation  bildet.    Die  vollkommene  Begierde  dagegen 
i  ist  diejenige  nach  dem  vollkommenen  Gegenstande,  nach  der  Gott- 
!  heit,  die  ganze  und  ungeteilte,  die  Welt  hinter  sich  vergessende 
I  Liebe  zu  Gott.     Aber  diese  vollkommenste  Begierde  ist  niemals 
durch   das   verworrene   und   unruhige   Treiben   des   gewöhnlichen 
i  Lebens  zu  stillen,  ihr  Gegenstand  ist  der  Geist  der  Geister,  und 
ihre  Erfüllung  ist  seine  Erkenntnis. 


248  Malebranche. 

Die  Verwandtschaft  dieser  abschließenden  Gedanken  von  Male- 
branche mit  denjenigen  Spinozas  ist  so  augenfällig,  daß  man  un- 
willkürlich an  eine  Abhängigkeit  zu  denken  geneigt  ist;  und  frei- 
lich ist  es  nicht  zu  verkennen,  daß  die  systematische  Darstellung, 
die  Malebranche  seinen  Lehren  nach  seiner  Bekanntschaft  mit  dem 
Spinozismus  gegeben  hat,  gerade  diesen  Teil  davon  schärfer  und 
präziser  zum  Ausdruck  bringt,  als  das  Hauptwerk.  Allein  schon 
dieses,  welches  zwei  Jahre  vor  dem  Druck  der  Ethik  Spinozas  er- 
schien, enthält  auch  diese  Gedanken  mit  so  erschöpfender  Klarheit, 
daß  man  Malebranche  den  Ruhm  der  originellen  Erfassung  voll- 
ständig lassen  muß.  Er  und  Spinoza  sind  selbständig  und  völlig 
unabhängig  voneinander  auf  eine  in  dieser  Hinsicht  ganz  ähnliche 
Verbindung  des  Cartesianismus  mit  mystischen  Ideen  gekommen. 
Um  so  charakteristischer  aber  ist  es,  daß  Malebranche  den  Spino- 
zismus nicht  sympathisch,  sondern  vielmehr  mit  leidenschaftlicher 
Polemik  begrüßte  und  so  lebhaft  wie  nur  irgendeiner  in  das  Ge- 
schrei fanatischer  Verabscheuung  einstimmte,  das  sich  gegen  den 
>> Atheismus«  des  großen  Juden  erhob.  An  diesem  Punkte  war 
selbst  bei  dem  friedfertigen  Pater  des  Oratoriums  das  religiöse  Vor- 
urteil stärker  als  die  Klarheit  des  rationalistischen  Denkens,  und 
das  religiöse  Gefühl  der  Abneigung  überwog  den  mächtigen  Zug 
des  metaphysischen  Denkens,  der  beide  miteinander  verband. 
Spinoza  hatte  der  Substanzenlehre  die  rationalistische  Form  des 
reinen  Pantheismus  gegeben;  Malebranche,  in  den  Anschauungen 
der  Kirche  und  in  den  Lehren  Augustins  aufgewachsen,  hielt  an 
dem  Gedanken  der  göttlichen  Persönlichkeit  mit  unerschütterlichem 
Glauben  fest.  Dies  war  der  tiefste  Differenzpunkt;  von  ihm  aus 
gesehen,  erscheint  die  Lehre  Spinozas  metaphysisch  konsequenter, 
aber  diejenige  von  Malebranche  bewegt  sich  dafür  bis  zum  Schluß 
in  einer  vollkommenen  Befriedigung  des  religiösen  Triebes,  die  dem 
Spinozismus  versagt  war.  Wenn  bei  beiden  sich  Mystizismus  und 
Rationalismus,  Beligiosität  und  Philosophie  in  verwandter  Weise 
kreuzen,  so  überwiegt  in  der  Gesamtgestaltung  der  Lehre  bei  dem 
einen  das  rationalistische,  bei  dem  andern  das  mystische  Element. 
Spinoza  wollte  Mystiker  sein  und  blieb  Rationalist,  Malebranche 
wollte  Rationalist  sein  und  blieb  Mystiker. 

Mit  Malebranche  schließt  die  direkte  Entwicklung  des  von  Des- 
cartes  gegründeten  Rationalismus  nicht  nur  in  Frankreich,  sondern 


Englische  Aufklärung.  249 

überhaupt  ab.  Die  weiteren  Aufzweigungen,  die  das  rationali- 
stische Prinzip  erfuhr,  waren  mehr  und  mehr  durch  die  Einwirkung 
der  empirischen  Richtung,  vor  allem  aber  durch  die  besonderen 
Interessen  bedingt,  welche  die  gesamte  Philosophie  des  Aufklärungs- 
zeitalters in  Anspruch  nahmen.  Was  im  besonderen  die  Lehren 
von  Malebranche  anbetrifft,  so  führte  die  Bewegung  des  franzö- 
sischen Denkens  weit  von  ihm  ab.  Das  XVIII.  Jahrhundert  hatte 
für  ihn  kein  Verständis;  man  bewunderte  seinen  Stil,  und  über 
seine  idealistischen  »Träumereien«  zuckte  man  die  Achseln. 
Wenn  überhaupt,  so  haben  seine  Lehren  nur  in  der  Stille  und  mehr 
im  Auslande  als  in  ihrer  Heimat  weiter  gewirkt.  In  Italien  be- 
kannte sich  Michelangelo  Fardella  in  seiner  Logik  (Venedig 
1696)  zu  einer  der  Ansicht  Malebranches  sehr  nahestehenden  Auf- 
fassung von  dem  Verhältnis  der  menschlichen  Erkenntnis  zur  Körper- 
welt, und  in  England  kreuzten  sich  die  Einflüsse  seines  Systems 
mit  denjenigen  von  Berkeley,  der  mit  dem  französischen  Denker 
freilich  nur  die  eine  Ansicht  teilte,  daß  der  Zusammenhang  der 
Körperwelt  keinen  anderen  Ursprung  habe,  als  die  von  Gott  gewollte 
Ordnuno  ihrer  Ideen. 


V.  Kapitel. 

Die  englische  Aufklärung. 

Aus  der  großen  Mannigfaltigkeit  von  geistigen  Bewegungen, 
die  seit  der  Renaissance  auf  dem  weiten  Gebiete  der  europäischen 
Kultur  stattgefunden  hatten,  war  durch  die  wechselnden  Kämpfe 
des  XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts  allmählich  eine  Art  von  Nieder- 
schlag gebildet  worden,  welcher  wie  ein  gemeinsames  Besitztum 
der  geistigen  Bildung  überall  gleichmäßig  zugrunde  lag.  Die  anfangs 
phantastischen,  ihres  Ziels  nur  noch  unbewußten  Bestrebungen  des 
modernen  Denkens  hatten  ihre  Abklärung  gefunden,  und  gewisse 
Überzeugungen,  vor  allem  bestimmte  Richtungen  des  Denkens, 
waren  als  das  Residuum  jener  flutenden  Bewegung  zurückgeblieben. 
An  der  Spitze  dieser  Überzeugungen  stand  jenes  Selbstbewußt- 
sein der  menschlichen  Vernunft,  das  eine  anfangs  mehr  nega- 
tive und  polemische,  später  immer  mehr  positive  und  in  sich  ruhende 
Selbstgewißheit    gewonnen  hatte.     Zum   Bewußtsein  der  eigenen 


250  Aufklärung. 

Mündigkeit  erwacht,  verlangte  das  moderne  Denken  nach  allen 
Seiten  hin  sich  selbst  die  Gesetze  zu  geben,  in  vernünftiger  Über- 
legung die  Prinzipien  des  Tuns  und  Lassens  zu  finden  und  über  sich 
selbst  keinen  anderen  Richter  anzuerkennen.  Dies  ist  die  Grand- 
überzeugung jenes  ewig  denkwürdigen  Zeitalters,  welches  seinem 
eigenen  Sinne  gemäß  in  der  Kulturgeschichte  das  der  Aufklärung 
genannt  wird,  und  welches  chronologisch  am  einfachsten  als  das 
Jahrhundert  zwischen  der  englischen  und  der  französischen  Revolu- 
tion (1688 — 1789)  bestimmt  wird.  Zwar  bezeichnet  man  schlechthin 
mit  einem  gewissen  Rechte  das  XVIII.  Jahrhundert  als  das  der 
Aufklärung;  doch  darf  man  einerseits  nicht  vergessen,  daß  die 
leitenden  Geister  dieser  Periode,  ein  Locke  und  Leibniz,  schon  gegen 
Ende  des  XVII.  Jahrhunderts  wirkten,  und  anderseits  nicht  über- 
sehen, daß  schon  mit  dem  letzten  Jahrzehnt  des  XVIII.  Jahrhunderts 
jene  Bewegungen  entsprangen,  die  auf  dem  politischen  wie  auf  dem 
geistigen  Gebiete  den  Kampf  mit  der  Aufklärung  aufzunehmen  be- 
rufen waren. 

Es  kann  nicht  die  Aufgabe  dieser  Darstellung  sein,  die  ganze 
Großartigkeit  der  geistigen  Umwälzungen,  welche  dies  unvergleich- 
liche Jahrhundert  erlebte,  auch  nur  in  ihren  allgemeinsten  Umrissen 
zu  zeichnen:  vielleicht  wird  dazu  die  Zeit  überhaupt  erst  reif,  wenn 
der  Kampf  noch  einmal  ausgefochten  sein  wird.  An  dieser  Stelle 
kann  es  sich  nur  darum  handeln,  die  Stellung  zu  beleuchten,  die  in 
dem  Zusammenhange  dieser  Bewegungen  die  Philosophie  ein- 
nahm. Und  diese  Stellung  ist  nun  allerdings  eine  so  hervorragende 
und  entscheidende,  daß  für  die  kulturhistorische  Behandlung  kaum 
irgend  einer  Zeit  die  Philosophie  in  dem  Maße  in  Betracht  kommt 
wie  für  dieses  Jahrhundert,  das  sich  selbst  das  philosophische  nannte. 
Wenn  alle  Bestrebungen  jenes  Zeitalters  sich  in  dem  Begriffe  der 
Kultur  und  Aufklärung  konzentrierten,  so  war  es  eben  die  Philo- 
sophie, von  der  man  allerorten  die  Lösung  dieser  Aufgaben  er- 
wartete, —  die  Philosophie,  in  der  die  selbstherrlich  gewordene  Ver- 
nunft ihre  Triumphe  feierte  und  ihre  Pläne  für  die  Umgestaltung  der 
Wirklichkeit  entwarf.  Kein  Zeitalter  der  menschlichen  Geschichte 
hat  der  Philosophie  größere  Hochachtung  bezeigt,  in  keinem  haben 
sich  mehr  die  großen  Mächte  des  gesellschaftlichen  Lebens  vor 
ihrem  Namen  gebeugt,  und  die  platonische  Forderung,  daß  ent- 
weder die  Philosophen  herrschen  oder  die  Herrscher  philosophieren 


Das  philosophische  Jahrhundert.  251 

sollten,  ist  niemals  so  weit  erfüllt  worden,  wie  in  jenem  Jahrhundert, 
wo  nicht  nur  an  allen  Höfen  die  philosophischen  Fragen  den  Gegen- 
stand der  Salongespräche  bildeten,  sondern  wo  auch  ein  wahrer 
Philosoph  auf  dem  Throne  eines  mächtig  emporstrebenden  König- 
reiches saß.  Wenn  irgendwie,  so  zeigt  sich  dies  Übergewicht  der 
Philosophie  im  Aufklärungszeitalter  durch  den  Charakter  seiner 
allgemeinen  Literatur.  Auch  die  Dichtung  dieser  Zeit  ist  von 
philosophischen  Elementen  so  stark  durchsetzt,  daß  die  Literatur- 
geschichte dieser  Periode  stets  die  äußerste  Schwierigkeit  gehabt 
hat,  sich  gegen  die  Geschichte  der  Philosophie  abzugrenzen,  und  daß 
eine  umgekehrte  Verlockung  in  dieser  Darstellung  möglichst  zu  ver- 
meiden sein  wird.  Es  wird  hier  vielmehr  nur  darauf  ankommen,  zu 
zeigen,  wie  jenes  Jahrhundert  nur  die  reifen  Früchte  von  den  Bäumen 
schüttelte,  die  in  dem  Völkerfrühling  der  Eenaissance  geblüht  und 
dann  eine  gedeihliche  Entwicklung  gefunden  hatten;  es  wird  die 
Aufgabe  sein,  zu  entwickeln,  wie  die  Gedanken,  welche  das  Jahr- 
hundert der  Aufklärung  bewegt  haben,  in  notwendiger  Fortbildung 
aus  jenen  Kämpfen  hervorgegangen  sind,  in  denen  der  moderne 
Geist  während  des  XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts  um  seine  äußere 
und  innere  Freiheit  rang.  Wenn  er  im  XVIII.  Jahrhundert  diese 
Freiheit  besaß,  wenn  er  sie  als  ein  stolzes  Besitztum  fühlte  und 
sogar  bald  mit  einer  Art  von  pharisäischem  Hochmut  darauf  pochte, 
so  ist  es  die  Aufgabe  der  Geschichte,  die  Wege  zu  zeigen,  auf  denen 
er  dies  Ziel  teils  durch  die  ernste  Arbeit  seiner  eigenen  Absicht,  teils 
aber  auch  durch  wunderbar  glückliche  Fügungen  der  Umstände 
erreicht  hatte. 

Es  ist  oben  schon  einmal  darauf  hingewiesen,  daß  namentlich 
an  der  philosophischen  Bewegung  dieser  Auf  klär  ungszeit  die  ver- 
schiedenen Nationen  keinen  gleichmäßigen  und  gleichzeitigen 
Anteil  «enommen  haben.  Die  Italiener,  unter  dem  vollen  Drucke 
der  katholischen  Gegenreformation  und  bei  einer  traurigen  Zer- 
stückelung ihrer  politischen  Machtverhältnisse,  traten  aus  der 
Bewegung  des  modernen  Geistes,  in  der  sie  die  Führer  gewesen 
waren,  schon  mit  dem  XVII.  Jahrhundert  zurück  und  beschränkten 
sich  auf  eine  in  der  Stille  fortgehende  Aufnahme  dessen,  was  die 
übrigen  Nationen  errangen.  Unter  diesen  waren  anfangs  die 
Deutschen  durch  ganz  ähnliche  Verhältnisse  zurückgehalten;  das 
Elend  des  großen  Religionskrieges  und  die  drückende  Kleinstaaterei 


252  Gang  der  Aufklärung. 

brachten  in  Verbindung  mit  der  orthodoxen  Erstarrung  der  refor- 
rnatorischen  Bewegung  einen  ähnlichen  Stillstand  der  Kultur  zu- 
stande, und  erst  nicht  viel  vor  der  Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts 
brach  sich  der  Geist  der  Aufklärung  in  Deutschland  Bahnen,  auf 
denen  er  später  zu  dem  Glänze  seiner  höchsten  Entwicklung  empor- 
steigen sollte.  Auch  war  es  nur  zum  geringen  Teil  die  eigene 
nationale  Kraft,  mit  der  damals  die  Deutschen  in  die  Aufklärungs- 
bewegung eintraten;  sie  übernahmen  vielmehr  die  Aufklärung 
zuerst  wie  eine  importierte  Ware,  welche  sie  wie  andere  Sitten  und 
Moden  aus  Frankreich  bezogen.  Aber  auch  die  französische 
Gestalt  der  Aufklärung  ist,  wenn  schon  die  prononcierteste7~so 
doch  nicht  die  originale  und  ursprüngliche;  sondern  der  Boden, 
auf  dem  die  modernen  Gedanken  zuerst  die  Zusammenfassungen 
und  Formulierungen  gefunden  haben,  vermöge  deren  sie  sich  zu 
einem  Systeme  von  Überzeugungen  der  Aufklärung  zusammen- 
schließen konnten  —  dieser  Boden  ist  England.  Die  englische 
Nation,  zuerst  unter  allen  europäischen  zu  einer  gesetzlich  be- 
festigten Freiheit  und  zu  gesunder  staatlicher  und  sozialer  Ordnung 
gelangt,  hat  auch  alle  die  großen  Gedanken,  welche  das  XVIII.  Jahr- 
hundert erzeugt  und  ausgeführt  hat,  zuerst  zu  philosophischer 
Klarheit  gebracht.  Wie  die  englische  Revolution  ein  Jahrhundert 
vor  der  französischen  die  besten  Ideen,  die  in  dieser  ihre  siegreiche 
Gewalt  entfalteten,  in  einer  Art  von  ursprünglicher  Einfachheit 
hervorgetrieben  hat,  so  ist  auch  die  englische  Aufklärung  das  Urbild 
der  französischen.  Durch  die  allgemeinen  politischen  Verhältnisse 
des  XVIII.  Jahrhunderts  ist  es  gekommen,  daß  auf  dem  ganzen 
Kontinent  alle  diejenigen  Prinzipien  und  Ideen,  welche  teils  durch 
die  Herrschaft  der  französischen  Sitten  und  die  Ausbreitung  der 
französischen  Sprache,  teils  durch  die  große  Flut  der  französischen 
Revolution  und  der  ihr  folgenden  Kriege  sich  den  übrigen  Nationen 
mitgeteilt  haben,  zum  Teil  noch  heute  unter  französischem  Namen 
umgehen,  während  sie  in  Wahrheit  englischen  Ursprungs  sind.  Jede 
Geschichte  des  Zeitalters  der  Aufklärung  hat  deshalb  in  England 
ihren  Anfang  zu  nehmen  und  mit  jener  Zeit  zu  beginnen,  wo  die 
englische  Nation,  nach  langen  inneren  und  äußeren  Kämpfen  zur 
Freiheit  und  Selbständigkeit  gelangt,  ihre  gewaltige  Arbeit  der 
geistigen  so  gut  wie  der  materiellen  Kultur  begann. 


Locke.  253 

§  28.    John  Locke. 

Derjenige  Denker,  in  welchem  die  Ideen  des  Aufklärungszeit- 
alters  nach  allen  Richtungen  hin  zum  ersten  Male  eine  klare  und 
durchsichtige  Zusammenfassung  fanden,  und  an  den  sich  deshalb, 
wenn  auch  manchmal  mit  polemischer  Tendenz,  die  gesamte  fol- 
gende Entwicklung  angeschlossen  hat  —  in  diesem  Sinne  der  be-y^ 
herrschende  Geist  der  gesamten  Aufklärung  —  ist  John  Locke.     ,SM 


Er  war  1632  als  Sohn  eines  Rechtsgelehrten  zu  Wrington  bei  Bristol 
geboren.  Seine  Jugend  fiel  in  die  bewegten  Zeiten  der  puritanischen'"// 
Revolution,  sein  Vater  war  während  der  Cromwellschen  Herr- 
schaft Hauptmann  in  der  Parlamentsarmee  und  kehrte  erst  nach 
der  Restauration  der  Stuarts  in  die  juristische  Laufbahn  zurück. 
Er  selbst  gehörte  seit  1651  als  Student  dem  Christchurch-College  zu 
Oxford  an  und  entwickelte  hier  bald  bei  einer  entschiedenen  Ab- 
neigung gegen  den  noch  immer  wesentlich  scholastischen  Lehr- 
vortrag eine  energische  Vorliebe  für  naturwissenschaftliche  und 
medizinische  Studien,  in  der  ihn  die  Beschäftigung  mit  den  Werken 
von  Bacon  und  Descartes  noch  weiterhin  bestärkte.  Nachdem  er 
ein  Jahr  lang  als  Legationssekretär  am  brandenburgischen  Hofe 
zu  Berlin  gelebt  hatte,  gab  er  sich,  in  die  Heimat  zurückgekehrt, 
wesentlich  ärztlichen  Studien  hin,  und  diese  vermittelten  auch 
seine  Bekanntschaft  mit  dem  Lord  Shaftesbury,  welche  für  sein 
ganzes  ferneres  Leben  entscheidend  werden  sollte.  Als  Arzt,  Freund 
und  Ratgeber,  später  nach  einer  kurzen  Reise  durch  Frankreich 
und  Italien  auch  als  Erzieher  in  dessen  Hause,  knüpfte  er  sein 
Geschick  vollständig  an  die  politische  Laufbahn  dieses,  wenn  auch 
nicht  in  jeder  Beziehung  unangreifbaren,  so  doch  immerhin  be- 
deutenden und  interessanten  Staatsmannes.  Die  Erhebung  seines 
Gönners  zum  Großkanzler  verschaffte  auch  Locke  im  Jahre  1672 
sein  erstes  Staatsamt,  das  er  im  folgenden  Jahre  mit  dem  Sturze 
seines  Freundes  wieder  verlor.  Er  brachte  dann,  zum  Teil  auch 
seiner  Gesundheit  halber,  mehrere  Jahre  abwechselnd  in  Paris  und 
Südfrankreich,  namentlich  in  Montpellier  zu  und  kehrte  erst  1679 
in  die  Heimat  zurück,  um,  als  Shaftesbury  von  neuem  Conseils- 
präsident  geworden  war,  sein  Amt  wieder  zu  übernehmen.  Aber 
auch  in  den  zweiten  Sturz  seines  Freundes  sah  er  sich  derartig 
verwickelt,  daß  er  mit  ihm  nach  Holland  unter  den  Schutz  Wilhelms 


254  Locke. 

von  Oranien  flüchtete  und  auch  nach  dem  Tode  Shaftesburys 
dort  verblieb.  Er  war  sogar  genötigt,  um  der  von  der  englischen 
Regierung  verlangten  Auslieferung  zu  entgehen,  seinen  Aufenthalts- 
ort in  Holland  mehrfach  zu  verändern.  Doch  gab  ihm  dieses  Exil 
die  wissenschaftliche  Muße  zur  Vollendung  seines  bereits  im  Jahre 
1670  entworfenen  Hauptwerkes,  von  welchem  er  1688  in  Leclercs 
Universalbibliothek  einen  durch  diesen  ins  Französische  über- 
setzten Auszug  erscheinen  ließ.  Erst  der  Sturz  Jakobs  II.,  des 
letzten  Stuarts,  und  die  Thronbesteigung  Wilhelms  von  Oranien 
führten  den  Philosophen  nach  England  zurück,  wo  er  nun  eine 
bedeutende  politische  Rolle  zu  spielen  begann.  Wie  schon  früher 
von  Holland  aus,  so  trat  er  jetzt  mit  einer  glänzenden  publizisti- 
schen Tätigkeit  für  den  Liberalismus  und  im  besonderen  für  die 
konstitutionelle  Regierungsform  ein,  und  seine  Amtsstellung  im 
Ministerium  des  Handels  und  der  Kolonien  veranlaßte  ihn,  auch 
an  den  finanzpolitischen  Streitigkeiten  sich  durch  drei  Broschüren 
über  das  Münzwesen  zu  beteiligen.  Zugleich  ließ  er  bereits  1690 
sein  Hauptwerk  unter  dem  Titel:  »An  essay  concerning  human 
understanding «  erscheinen  und  diesem  einige  Jahre  später  seine 
pädagogischen  Skizzen  (»Some  thoughts  concerning  education«, 
1693)  und  die  religionsphilosophische  Untersuchung:  »The  rea- 
sonableness  of  christianity «  (1695)  folgen.  Die  letzten  Lebensjahre 
brachte  er  in  ländlicher  Muße  bei  einer  befreundeten,  dem  Cam- 
bridger Philosophen  Cudworth  verwandten  Familie  zu.  Als  er  im 
Jahre  1704  starb,  war  trotz  der  verhältnismäßig  geringen  Aus- 
dehnung seiner  Werke  die  öffentliche  Meinung  in  den  gebildeten 
Kreisen  Englands  bereits  vollständig  dahin  entschieden,  daß  man 
in  ihm  einen  führenden  Geist  und  den  Verkünder  der  großen  Ideen 
verehrte,  zu  denen  sich  die  Wissenschaft  immer  entschiedener 
zu  bekennen  anfing.  Er  verdankte  diesen  Erfolg  nicht  nur  dem 
geschickten  Griffe,  daß  er  vom  philosophischen  Gesichtspunkte  aus 
die  Rechtfertigung  der  neuen  Ära  übernommen  hatte,  welche  die 
glückliche  Beendigung  der  Revolutionskämpfe  über  England  herbei- 
geführt hatte,  sondern  vor  allem  auch  der  ruhigen  Klarheit  und  der 
analytischen  Sicherheit,  womit  es  ihm  gelungen  war,  die  großen 
Probleme  des  philosophischen  Denkens  auf  verhältnismäßig  ein- 
fache und  durchsichtige  Formeln  zu  bringen.  Seine  Schriften  haben 
ihren  breiten  Erfolg  dem  Umstände  zu  verdanken,   daß  sie  bei 


Empirismus.  255 

großer  Klarheit  und  ruhiger  Sachlichkeit  der  Darstellung  an  die 
Fassungsgabe  des  Lesers  keine  zu  hohen  Anforderungen  stellen: 
sie  vermeiden  glücklich  die  Tiefen  der  letzten  und  schwierigsten 
Probleme  und  führen  doch  mit  verständiger  Umsicht  in  die 
wichtigsten,  dem  allgemeinen  Bewußtsein  wertvollsten  Fragen  ge- 
schickt ein. 

Man  hat  sich  mit  der  gewöhnlichen  Schema  tischen  Darstellungs- 
weise daran  gewöhnt,  von  Locke  zu  sagen,  er  habe  den  Baconschen 
Empirismus  zum  Sensualismus  umgebildet.  Und  doch  zeigen  gerade 
diese  beiden  Männer,  wie  wenig  solche  Schlag-  und  Stichworte  die 
wahre  Bedeutung  von  wirklichen  Größen  zu  erschöpfen  vermögen. 
Der  Baconsche  Empirismus  charakterisierte  sich  erst  dadurch,  daß 
man  begriff,  was  Bacon  mit  der  Erfahrung  wollte,  wie  er  sie  an- 
zustellen und  wie  er  sie  zu  verwenden  dachte;  sein  System  zeigte 
sich  dabei  als  der  prinzipielle  Ausdruck  der  entdeckenden  und  er- 
findenden Naturforschung.  Lockes  »Sensualismus«  dagegen  charak- 
terisiert sich  erst  durch  die  Verwendung,  die  seine  Erkenntnis- 
theorie von  der  sinnlichen  Erfahrung  machen  will.  Ja,  wenn  man 
unter  Sensualismus  ohne  künstliche  Verdrehung  ganz  einfach 
die  Lehre  versteht,  welche  der  Sinneswahrnehmung  als  solcher 
unmittelbar  Wahrheit  zuschreibt,  so  hat  es  selten  einen  stärkeren 
und  glücklicheren  Gegner  dieses  Sensualismus  gegeben,  als  Locke, 
und  wenn  man  Sensualismus  die  Lehre  nennt,  daß  alles  mensch- 
liche Wissen  aus  der  Sinneswahrnehmung  entstamme,  so  trifft  diese 
Bezeichnung  am  wenigsten  für  einen  Denker  zu,  der  die  innere 
Erfahrung  ebenbürtig  neben  die  äußere  stellte.  Aus  diesem  Grunde 
sollte  man  lieber  Locke  einen  Empiristen  im  größten  Stile  und 
in  der  besten  Bedeutung  des  Wortes  nennen.  Weit  wichtiger  als 
die  Feststellung  dieser  streitigen  terminologischen  Etikettierung  ist 
die  Einsicht  in  den  Grundgedanken,  welcher  den  Philosophen  in 
dem  Entwürfe  seiner  Lehre*  leitete.  Er  selbst  erzählt  in  der  Vor- 
rede zu  seinem  Hauptwerke,  wie  die  Fruchtlosigkeit  metaphysischer 
Disputationen,  denen  er  beigewohnt,  ihn  auf  den  Gedanken  ge- 
bracht habe,  zuerst  einmal  vor  allen  Behauptungen  und  allen 
Streitigkeiten  zu  untersuchen,  wie  weit  überhaupt  die  Erkenntnis- 
fähigkeit des  Menschen, reiche,  ob  ihr  nicht  vielleicht  unübersteig- 
liche  Grenzen  gesetzt  seien,  und  welche  man  etwa  dafür  ansehen 
dürfe.     In  dieser  Fragestellung  beruht  die  historische  Bedeutung 


256  Locke. 

Lockes.  Nicht  als  ob  diese  Frage  von  ihm  zuerst  aufgeworfen 
worden  wäre.  Skeptiker  und  Mystiker  haben  sich  von  jeher  viel- 
fach damit  beschäftigt.  Aber  sie  haben  es  doch  im  Grunde  ge- 
nommen immer  mehr  gelegentlich  getan:  zur  Grundfrage  der  Philo- 
sophie ist  sie  erst  durch  Locke  gemacht  worden,  und  darin  liegt 
der  Schwerpunkt  seiner  Wirksamkeit.  Er  hat  durch  sein  Haupt- 
werk und  durch  den  Einfluß,  den  es  ausübte,  der  modernen  Philo- 
sophie völlig  den  erkenntnistheoretischen  Charakter  aufgeprägt,  der 
von  Anfang  an  in  ihr  angelegt  war.  Es  wurde  früher  gezeigt,  wie 
der  Gegensatz  gegen  die  alte  Wissenschaft,  mit  dem  überall  das 
moderne  Denken  anhob,  die  Frage  nach  der  Methode  der  richtigen 
Erkenntnis  in  den  Vordergrund  seiner  Interessen  rückte.  Und  die 
beiden  großen  Systeme,  die  an  der  Spitze  der  wissenschaftlichen 
Philosophie  der  Neuzeit  stehen,  diejenigen  von  Bacon  und  Descartes, 
tragen  diesen  methodologischen  Charakter  offen  an  der  Stirn.  Aber 
Methodologie  ist  noch  nicht  Erkenntnistheorie.  Bacon  und  Des- 
cartes setzen  die  Möglichkeit  einer  allumfassenden  Erkenntnis  mit 
unerschütterlichem  Vertrauen  voraus  und  fragen  nur  nach  dem 
Wege,  der  zu  diesem  ersehnten  Ziele  führt.  Die  erkenntnistheore- 
tische Philosophie  Lockes  geht  aus  dem  zweifelnden  Gedanken 
hervor,  ob  nicht  das  Ziel  für  den  Menschen  seinem  Wesen  nach  von 
vornherein  unerreichbar  sei.  In  der  Formulierung  dieses  Problems 
ist  Locke  vorangegangen:  darin  ist  er  sicher  der  Vorläufer  Kants, 
und  dessen  Locke  freilich  weit  überragende  Größe  besteht  nur  in 
seiner  neuen  Methode  der  Lösung  des  erkenntnistheoretischen  Pro- 
blems. 

Aber  auch  die  Methode,  welche  Locke  zur  Lösung  dieses  Pro- 
blems selbst  einschlug,  hat  ihre  historische  Bedeutsamkeit  darin, 
daß  sie  auf  das  philosophische  Denken  des  ganzen  XVIII.  Jahr- 
hunderts einen  bestimmenden  Einfluß  ausgeübt  hat.  Dies  Prinzip 
seiner  Untersuchungen  läßt  sich  dahin  aussprechen,  daß  er  die 
Frage  nach  der  Möglichkeit  und  der  Tragweite  der  menschlichen 
Erkenntnis  nur  durch  die  Einsicht  in  den  Ursprung  unserer 
Vorstellungen  lösen  zu  können  meint.  Er  geht  von  der  Ansicht 
aus,  daß  mit  der  Herkunft  der  Vorstellungen  auch  ihr  Erkenntnis-  j 
wert  klar  werden  müsse,  und  indem  diese  seine  Ansicht  von  dem 
Zeitalter  geteilt  wurde,  begann  mit  seinem  Werke  eine  Reihe  von 
tiefsehenden  und  fruchtbaren  Untersuchungen  über  die  Entwick- 


lövuviiuvu      la^v*     XiWViXi/N/wxwi      uii.viüuvau^;,« 


Erkenntnistheorie.  257 

lungsgeschichte  des  menschlichen  Denkens.  Die  Methode  der  Er- 
kenntnistheorie war  bei  Locke  psychologisch  und  im  engeren 
Sinne  psychogenetisch,  und  daher  datiert  von  ihm  aus  die  Be- 
vorzugung, welche  die  Philosophie  der  gesamten  Aufklärung  psy- 
chologischen Fragen  zuwendete.  Das  ganze  Denken  des  XVIII. 
Jahrhunderts  war  von  psychologischen  Interessen  bewegt,  und  das 
hatte  seinen  wissenschaftlichen  Grund  darin,  daß  man  die  Erkennt- 
niskraft der  Gedanken  aus  ihrem  psychologischen  Ursprünge  be- 
urteilen zu  können  glaubte. 

Wenn  so  die  Genesis  der  Vorstellungen  von  Locke  zum  Haupt- 
problem der  Philosophie  gemacht  wurde,  so  gab  er  auch  schon 
für  dessen  Lösung  die  entscheidende  Grundrichtung  an.  Es  gibt  einen 
Hauptunterschied  in  unseren  Vorstellungen,   denjenigen  derlei  n- 
fachen  und  der  zusammengesetzten,  —  und  es  handelt  sich 
deshalb  für  Locke  zunächst  darum,  welche  von  beiden  die  ursprüng- 
lichen sind.    Wir  vermögen  im  entwickelten  Bewußtsein  willkürlich 
sowohl  den  analytischen  Prozeß  der  Auflösung  eines  zusammen- 
gesetzten Begriffs  in  seine  Elemente,  als  auch  den  synthetischen 
'der  Bildung  eines  solchen  aus  den  Elementen  zu  vollziehen,  und 
damit  ist  nicht  von  vornherein  entschieden,  welcher  dieser  beiden 
Prozesse  in  der  unwillkürlichen  Entwicklung  unseres  Denkens  der 
ursprünglichere  war.  Das  gleiche  gilt  mit  Rücksicht  auf  den  Unter- 
schied der  Einzelvorstellungen  und  der  allgemeinen  Sätze,  unter 
die  jene  subsumiert  werden,  und  da  in  allgemeinen  Sätzen  schließ- 
lich alle  wissenschaftlichen  Erkenntnisse  bestehen,   so  ist  es  die 
Frage,  ob  diese  aus  den  einzelnen  Vorstellungen  gewonnen  sind  oder 
vielmehr   schon    ursprünglich    und    vor   ihnen    vorhanden    waren. 
Locke  entscheidet  sich  nach  jeder  Hinsicht  für  die  Entstehung  des 
Zusammengesetzten  aus  dem  Einfachen,  des  Allgemeinen  aus  dem 
Einzelnen.     Er  ist  dadurch  auf  der  einen  Seite  der  Urheber  der- 
jenigen psychologischen  Richtung  geworden,  welche  bisher  von  allen 
im  meisten  zu  fruchtbaren  Untersuchungen  geführt  und  wissen- 
schaftlich wertvolle  Resultate  geliefert  hat.     Er  gehört    zu   den 
Begründern  derjenigen  Psychologie,  welche  das  Seelenleben  als  eine 
gesetzmäßige  Bewegung  einfacher  Elemente  auffaßt,  und  welche 
I  tuch  nach  ihm  in  England  ihre  wesentlichste  Förderung  gefunden 
lat.    Auf  der  anderen  Seite  ist  Locke  auf  diese  Weise  der  konse- 
[uen teste  Vertreter  der  empiristischen  Erkenntnistheorie  geworden. 


258  Locke. 

Er  entwickelt  diese  zunächst  polemisch.  Wer  die  allgemeinen 
Sätze  für  ursprüngliche  Vorstellungsgebilde  hält,  der  muß,  da  das 
Allgemeine  niemals  erfahren  werden  kann,  sie  für  unmittelbare 
Besitztümer  der  Seele  oder  für  eingeboren*)  halten.  In  der  Tat 
fand  Locke  diese  Ansicht  vor;  Descartes  und  noch  ausgesprochener 
seine  Schüler,  besonders  aber  die  Cambridger  Schule,  hatten  sie 
vertreten:  sie  hatten  unter  dem  Einflüsse  stoischer  Lehren  sowohl 
von  eingeborenen  Begriffen,  wie  denjenigen  der  Gottheit  oder  der 
Pflicht  oder  des  Rechtes,  als  auch  von  eingeborenen  Sätzen,  wie 
demjenigen  der  Kausalität  oder  dem  Gebote  der  Nächstenliebe  ge- 
sprochen. Gegen  diese  Lehren  richtet  Locke  den  berühmten  An- 
griff des  ersten  Buches  von  seinem  Essay.  Er  beginnt  damit  einen 
Streit,  der  sich  durch  das  ganze  XVIII.  Jahrhundert  hindurchge- 
zogen hat.  Der  ursprünglich  methodologische  Gegensatz  des  Em- 
pirismus und  des  Rationalismus  war  damit  auf  psychologischen 
Boden  verpflanzt,  und  die  »eingeborenen  Ideen«**)  waren  seit 
Locke  das  meistbesprochene  philosophische  Thema  in  den  Büchern 
so  gut  wie  in  den  Salons  der  Aufklärung.  Es  blieb  auch  trotz  aller 
Anwendung  von  Scharfsinn  und  Witz  der  Gegensatz  der  Meinungen 
und  damit  überhaupt  der  des  Rationalismus  und  des  Empirismus 
in  derselben  Schroffheit,  mit  der  er  sich  schon  bei  Locke  zeigte,  bis 
zu  Kant  hin  bestehen.  Denn  das  geniale  Werk,  worin  Leibniz  die 
Überwindung  dieses  Gegensatzes  angebahnt  hatte,  war  durch  ein 
eigentümliches  Geschick  bis  zum  Jahre  1765  der  Welt  verborgen. 

Der  Angriff  Lockes  gegen  die  Theorie  der  ^eingeborenen  Ideen 
richtet  sich  nun  im  wesentlichen  gegen  ihre  schwächste  Seite,  gegen 
die  allgemeine  Anerkennung  dieser  Ideen,  welche  bei  der  Wesens- 
gleichheit der  menschlichen  Seelen  erwartet  werden  müßte  und  von 
der  gegnerischen  Seite  deshalb  auch  behauptet  worden  war.  Locke 
widerspricht  dieser  Behauptung  durch  Benutzung  psychologischer 


*)  Es  wäre  richtiger  gewesen,  wie  Eucken  (Geschichte  und  Kritik  der 
Grundbegriffe  der  Gegenwart,  S.  73)  bemerkt  hat,  wenn  man  den  lateinischen 
Ausdruck  ^innatae«  statt,  wie  es  üblich  ist,  durch  »angeboren«  besser  durch 
»eingeboren«  übersetzt  hätte. 

**)  Der  Sprachgebrauch  der  gesamten  neueren  Philosophie  hat  bis  zum 
Ende  des  XVIII.  Jahrhunderts  sowohl  im  Lateinischen,  als  auch  in  den  Na-   « 
tionalsprachen  dem  Worte  »Idee«  (idea,  idee)  die  allgemeinere  Bedeutung  der 
Vorstellung  überhaupt  untergeschoben:  erst  seit  Kant  ist  es  wieder  in  einen 
dem  platonischen  mehr  oder  minder  nahestehenden  Sinn  eingesetzt  worden. 


Bestreitung  der  eingeborenen  Ideen.  259 

und  ethnographischer  Tatsachen.  Die  logischen  Sätze  der  Identität 
und  des  Widerspruchs  und  der  metaphysische  Grundsatz  der  Kausa- 
lität sind  nicht  nur  Kindern  und  Idioten,  sondern  auch  allen  un- 
entwickelten Völkern  unbekannt.  Man  darf  sich  auch  nicht  der 
Einrede  bedienen,  alle  diese  Menschen  wendeten  jene  Ideen  faktisch 
an,  ohne  etwas  davon  zu  wissen.  Das  setzt,  wie  Locke  meint,  un- 
bewußte Vorstellungstätigkeit  voraus,  und  deren  Tatsächlichkeit 
glaubt  Locke  gerade  nach  cartesianischem  Prinzip,  da  die  Seele  ein 
bewußt  denkendes  Wesen  sei,  leugnen  zu  müssen.  ( Hiermit  hängt 
es  zusammen,  daß  in  späterer  Zeit  die  Frage  nach  aer  Möglichkeit 
einer,  unbewußten  Denktätigkeit  zu  einem  vielbesprochenen  Streit- 
punkte zwischen  den  beiden  großen  Heerlagern  der  neueren  Philo- 
sophie wurde,  und  daß  diese  Möglichkeit  von  den  Rationalisten 
ebenso  heftig  behauptet,  wie  von  den  Empiristen  geleugnet  wurde.) 
Auch  eine  andere  Einrede  will  Lecke  nicht  zulassen,  diejenige 
nämlich,  daß  man  als  eingeboren  alle  diejenigen  Sätze  anzuerkennen 
habe,  welche,  sobald  sie  jemand  mitgeteilt  worden  sind,  sofortige 
Anerkennung  finden :  diese  Geltung  wohne  auch  jeder  Wahrnehmung, 
jeder  Rechnung  und  jeder  richtigen  Schlußfolgerung  bei.  Nicht 
minder  als  von  den  theoretischen  Grundsätzen  gilt  es  von  den 
praktischen,  daß  sie  durchaus  nicht  ein  überall  gleiches  Besitztum 
der  menschlichen  Seele  bilden.  Die  Kenntnis  der  wilden  Völker 
hat  gelehrt,  was  man  auch  schon  an  den  geschichtlichen  und  zivili- 
sierten hätte  wahrnehmen  können,  daß  ihre  moralischen  Maximen 
sehr  weit  auseinandergehen,  und  daß  von  einer  gleichmäßig  ange- 
borenen Moralität  des  Menschengeschlechts  keine  Rede  ist.  Was 
endlich  den  höchsten  aller  Begriffe,  denjenigen  der  Gottheit  anlangt, 
so  findet  Locke  den  bisher  stets  behaupteten  »consensus  gentium« 
durch  die  Bekanntschaft  mit  solchen  Völkern  umgestoßen,  denen 
jeder  Begriff  einer  Gottheit  fehlt,  sodaß  an  die  Verschiedenheit 
der  Vorstellung,  die  sich  die  übrigen  Völker  von  der  Gottheit  machen, 
gar  nicht  appelliert  zu  werden  brauche.  Und  so  bleibt  denn  schließ- 
lich nichts  übrig,  was  der  menschlichen  Seele  allgemein  eingeboren 
wäre ;  man  muß  vielmehr  im  Gegenteil  annehmen,  daß  sie  ursprüng- 
lich wie  ein  unbeschriebenes  Blatt  Papier  ist,  eine  tabula  rasa, 
worauf  erst  die  Erfahrung  durch  die  einzelnen  Wahrnehmungen 
ihre  Zeichen  schreibt.  In  absoluter  Armut  kommt  die  Seele  zur 
Welt,  wie  der  Körper  in  völliger  Nacktheit,  und  alles,  was  sie  später 

17* 


260  Locke. 

besitzt,   verdankt  sie  der  sinnlichen  Erfahrung:   »Nihil  est  in  in- 
tellectu,  quod  non  fuerit  in  sensu.« 

Doch  bedarf  es  zur  Begründung  dieses  letzteren,  vielfach  schon 
in  der  Scholastik  üblichen  Satzes  noch  einer  weiteren  Analyse,  und 
es  bedarf  deren  um  so  mehr,  als  sich  nur  dadurch  das  sensualistische 
Vorurteil,  das  über  Lockes  Lehre  verbreitet  ist,  gründlich  berichtigen 
läßt.  Von  vornherein  nämlich  ist  Locke  sehr  weit  davon  entfernt, 
den  Ursprung  des  Inhaltes,  den  die  anfänglich  leere  Seele  aus  der 
Erfahrung  schöpfen  soll,  lediglich  in  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
zu  suchen.  Er  statuiert  vielmehr  zwei  Arten  der  Erfahrung,  die 
Sensation  und  die  Eef lexion,  welche  mit  demjenigen  zusammen- 
fallen, was  man  in  neuerer  Zeit  (mit  auch  schon  bei  Locke  vor- 
kommendem Ausdruck)  als  äußeren  und  inneren  Sinn  zu  be- 
zeichnen gewöhnt  ist.  Er  unterscheidet  beide  in  der  Weise,  daß 
der  äußere  uns  die  Einwirkungen  der  Außenwelt,  der  innere  dagegen 
unsere  eigenen  Tätigkeiten  und  Zustände  zum  Bewußtsein  bringen 
soll,  und  er  hält  beide  voneinander  getrennt  durch  den  ursprünglich 
und  durchgehends  verschiedenen  Charakter  ihres  Inhaltes.  Der 
Gegensatz  der  physischen  und  der  psychischen  Welt,  den  das  mittel- 
alterliche Denken  nur  zu  vertiefen  und  zu  verschärfen  vermocht 
hatte,  spiegelt  sich  mannigfaltig  genug  in  den  Anfängen  des  neueren 
Denkens.  Er  tritt  bei  Descartes  als  jener  schroffe  Gegensatz  bewuß- 
ter und  ausgedehnter  Substanzen  auf,  den  auch  der  Spinozismus 
in  seiner  Attributenlehre  nur  zu  verhüllen  und  nicht  zu  überwinden 
vermochte.  Er  nimmt  bei  Locke  die  psychologische  und  erkenntnis- 
theoretische Form  an,  die  er  seitdem  behalten  hat,  diejenige  näm- 
lich einer  ursprünglichen  und  nicht  weiter  ableitbaren  Verschieden- 
heit in  dem  Inhalte  der  menschlichen  Erfahrung.  Diese  Ansicht  läßt 
die  Frage  nach  dem  metaphysischen  Verhältnis  des  physischen 
und  des  psychischen  Daseins  prinzipiell  offen  und  behauptet  nur, 
daß  der  unmittelbare  Eindruck  unserer  eigenen  Erfahrungen  uns 
zwinge,  zwei  gesonderte  Sphären  davon  anzunehmen,  die  mit- 
einander in  keiner  Weise  vergleichlich  erscheinen.  Es  gehört  zu 
den  größten  Erfolgen  Lockes,  dem  großen  metaphysischen  Probleme 
von  Natur  und  Geist  diese  bescheidenere,  aber  dafür  auch  einer 
wirklich  wissenschaftlichen  Untersuchung  zugänglichere  Formu- 
lierung gegeben  zu  haben:  und  es  war  damit  die  andere  wichtige 
Folge  verknüpft,  daß  nach  dieser  Unterscheidung  die  Psychologie 


Sensation  und  Reflexion.  261 

aufhören  konnte,  eine  metaphysische  Spekulation  zu  sein,  ohne 
darum  sogleich  in  materialistische  Voraussetzungen  zu  verfallen. 
Die  neuere  empirische  Psychologie  ist  lediglich  auf  dem 
historischen  Boden  dieser  Lockeschen  Unterscheidung  erwachsen. 
Wenn  sie  sich  später  die  Erfahrungs-  oder  die  Naturwissenschaft 
des  inneren  Sinnes  genannt  hat,  so  besaß  sie  ihre  Selbständig- 
keit den  übrigen  Naturwissenschaften  gegenüber  nur  dadurch, 
daß  sie  in  dem,  was  LockevReflexion  genannt  hatte,  eine  unmittel- 
bare Erfahrung  des  Menschen  von  seinen  eigenen  psychischen 
Tätigkeiten  gefunden  zu  haben  behauptete. 

Wenn  Locke  so  die  beiden  Arten  der  Erfahrung  prinzipiell  ein- 
ander selbständig  gegenüberzustellen  suchte,  so  hielt  er  doch  ihre 
tatsächliche  Entwicklung  nicht  für  gleich  ursprünglich.  Zwar  be- 
darf es  der  besonderen  Kraft  der  Reflexion,  um  uns  unsere  eigenen 
psychischen  Funktionen  erfahren  zu  lassen;  allein  ehe  die  Reflexion 
in  Tätigkeit  treten  kann,  müssen  eben  schon  andere  psychische 
Akte  vollzogen  sein,  und  diese  können  somit  nur  in  äußeren  Wahr- 
nehmungen bestehen.  Die  innerliche  Selbsterfahrung  der  Seele 
ist  nur  dadurch  möglich,  daß  diese  Seele  von  außen  her  zu  einer 
Reihe  von  Funktionen  angeregt  worden  ist,  die  dann  eben  den 
ersten  Inhalt  ihres  Wissens  von  sich  selber  bilden.  Dies  ist  der 
Punkt,  um  dessentwillen  man  ein  gewisses  Recht  gehabt  hat,  Locke 
als  Sensualisten  zu  bezeichnen.  Es  beschränkt  sich  lediglich  auf 
die  Lehre,  daß  der  erste  Anstoß  auch  zu  den  Tätigkeiten  der  inneren 
Erfahrung  und  deren  ursprünglicher  Inhalt  nur  durch  die  Funk- 
tionen der  äußeren  Erfahrung  gegeben  wird.  Freilich  boten  sich 
der  Ausführung  dieses  Gedanken  im  einzelnen  so  mannigfache 
Schwierigkeiten  dar,  daß  gerade  dieser  Teil  der  Lockeschen  Lehre 
zahlreichen  Angriffen  und  Modifikationen  ausgesetzt  gewesen  ist. 
Bei  den  sinnlichen  Gefühlen,  bei  den  Verhältnisvorstellungen  und 
bei  vielen  anderen  psychischen  Gebilden  mußte  es  gleich  schwer 
erscheinen,  sie  auf  Seite  der  inneren  wie  auf  der  der  äußeren  Er- 
fahrung unterzubringen;  aber  der  ganze  Grundgedanke  war  so 
gesund  und  zugleich  so  vollkommen  innerhalb  der  kritischen 
Schranken  gehalten,  daß  er  durchaus  sich  zum  Träger  einer  exakten 
Wissenschaft  befähigt  erwies.  Er  präjudizierte  keiner  metaphy- 
sischen Hypothese,  er  gab  der  Tatsache  der  Heterogeneität  von 
psychischer  und  physischer  Erfahrung  vollkommene  Anerkennung 


und  hielt  dabei  doch  den  entwicklungsgeschicntlicnen  Grundsatz 
aufrecht,  daß  der  erste  Anstoß  zu  allen  Seelentätigkeiten  aus  den 
Funktionen  der  Sensibilität  stammt.  Mit  diesen  Prinzipien  ist 
Locke  in  der  Tat  der  Vater  der  modernen  Psychologie  geworden. 
Die  nächsten  Wirkungen  seiner  Lehre  lagen  jedoch  wie  die 
Folgerungen,  die  er  selbst  zog,  auf  erkenntnistheoretischem  Gebiete. 
Hier  mußte  zuvörderst  die  allgemeine  Frage  nach  dem  Erkenntnis- 
werte der  Vorstellungen  gesondert  für  die  einfachen  Wahrnehmungen 
und  für  die  zusammengesetzten  Vorstellungen  beantwortet  werden, 
die  sich  aus  den  ersteren  in  der  Seele  bilden.  In  bezug  auf  die 
sinnlichen  Wahrnehmungen  folgte  Locke  durchaus  der  carte- 
sianischen  Lehre  und  gab  ihr  eine  so  präzise  und  so  glückliche  Form, 
daß  sie  in  dieser  ihre  große  historische  Wirksamkeit  ausgeübt  hat. 
Wenn  es  auch  wahr  sein  mag,  führt  er  aus,  daß  die  sinnlichen  Bilder 
von  äußeren  Gegenständen  herrühren,  so  haben  wir  doch  gar  kein 
Recht  anzunehmen,  daß  sie  jenen  unbedingt  ähnlich  sein  müssen. 
Wenn  man  mit  einer  Feder  ein  Wort  auf  ein  Blatt  Papier  schreibt, 
so  sind  diese  Schriftzüge  zwar  eine  Wirkung  des  Wortes  oder  des 
Gedankens,  der  in  diesem  Worte  sich  ausdrückt,  aber  sie  haben  mit 
dieser  ihrer  Ursache  auch  nicht  die  entfernteste  Ähnlichkeit,  ver- 
möge deren  sie  als  ihr  Abbild  angesehen  werden  dürften.  Ebenso- 
wenig aber  haben  wir  ein  Recht,  unsere  Sinnesempfindungen  für 
Abbilder  der  Dinge  zu  halten.  Sie  sind  zunächst  nur  Wirkungen, 
welche  diese  Dinge  auf  uns  ausüben,  und  eine  jede  Eigenschaft,  die 
wir  einem  sinnlichen  Dinge  zuschreiben,  ist,  recht  gesprochen,  nur 
die  Fähigkeit  des  Dinges,  eine  bestimmte  Wirkung  in  uns,  d.  h. 
eine  bestimmte  Vorstellung  in  unserem  Verstände  hervorzurufen. 
An  sich  also  liegt  in  keiner  Sinnesempfindung  die  Gewähr  ihrer 
Realität ;  gleichwohl  meint  Locke,  daß  innerhalb  der  Wahrnehmungs- 
inhalte sich  ein  Unterschied  feststellen  lasse  zwischen  solchen  Emp- 
findungen, die  Abbilder  der  Wirklichkeit  sind,  und  solchen,  bei 
denen  das  nicht  der  Fall  ist,  und  er  unterscheidet  beide  mit  dem 
Namen  der  primären  und  der  sekundären  Qualitäten.  Pri- 
märe Qualitäten  wären  danach  solche,  mit  deren  Aufhebung  die 
Dinge  selbst  aufgehoben  würden,  sekundäre  solche,  welche  ihnen  nur 
gelegentlich  und  in  bestimmten  Beziehungen  zukommen.  Diese 
Fassung  gab  Locke  dem  Grundgedanken  von  der  Subjektivität  der 
Sinneswahrnehmungen,  den  wir  bei  Campanella,  Galilei,  Descartes 


Primäre  und  sekundäre  Qualitäten.  263 

und  Hobbes  gefunden  haben.  Locke  schließt  sich  dabei  wesentlich 
an  Descartes  und  dessen  Prinzip  an,  wonach  zum  realen  Wesen  der 
Körper  nur  dasjenige  gerechnet  werden  sollte,  was  wir  klar  und 
deutlich  zu  denken  vermögen.  Auch  die  Konsequenz  ist  bei  Locke 
genau  dieselbe  wie  bei  Descartes:  die  primären  Qualitäten,  die 
wirklichen  Eigenschaften  der  Körper  sind  auch  hier  nur  die  mathe- 
matischen, die  räumlich-zeitlichen  Bestimmungen  der  Größe,  Gestalt, 
Zahl,  Laue  und  Bewegung;  für  die  sekundären  Qualitäten  dagegen 
erklärt  Locke  die  Einwirkungen  der  Körper  auf  unsere  sinnliche  Auf- 
fassung, die  sogenannten  sinnlichen  Qualitäten  von  Farbe,  Ton, 
Geruch,  Geschmack,  Temperatur  usw.f  Ein  Unterschied  ist  nur  der, 
daß  die  Undurchdringlichkeit  (solidity),  die  bei  Descartes  zu  den 
sekundären  Qualitäten  des  Tastsinnes  zählte,  von  Locke  zu  den 
primären  gerechnet  wurde:  was  damit  zusammenhing,  daß  Locke 
nicht  geneigt  war,  die  cartesianische  Lehre  von  der  Identität  des 
physikalischen  und  des  mathematischen  Körpers  mitzumachen. 
Der  wirkliche  Körper  ist  nicht  bloß  ein  Stück  Raum ;  deshalb  gehört 
die  Kaumbehauptung,  die  Undurchdringlichkeit  zu  seinen  realen, 
konstitutiven  Eigenschaften./  Daß  man  dagegen  in  den  sinnlichen 
Qualitäten  nur  eine  menschliche  Vorstellungsart,  nicht  ein  Ab- 
bild der  wirklichen  Körperwelt  zu  sehen  habe,  wurde,  nachdem 
Galilei,  Descartes,  Hobbes  und  Locke  mit  gleicher  Energie  dafür 
eingetreten  waren,  zu  einer  so  allgemein  angenommenen  und  für 
so  selbstverständlich  gehaltenen  Überzeugung  der  gesamten  Auf- 
klärungsphilosophie, daß  z.  B.  Kant  in  seinen  erkenntnistheoretischen 
Untersuchungen  gar  nicht  mehr  eigens  auf  diese  Frage  einging, 
sondern  die  Lehre  von  den  sekundären  Qualitäten  nur  einmal  ge- 
legentlich streifte  und  sie  im  übrigen  stillschweigend  als  die  Grund- 
lage seiner  eigenen  Lehren  voraussetzte.  In  der  Tat  hat  mit  diesen 
Überlegungen  die  Philosophie  um  weit  mehr  als  ein  Jahrhundert 
der  Einsicht  vorgegriffen,  welche  die  Physiologie  später  unter  dem 
Namen  de^  spezifischen  Energie  der  Sinnesorgane^empirisch  bestätigt 
und  in  mannigfachen  Nuancen  der  erklärenden  Theorie  durchge- 
führt hat. 

Auf  der  anderen  Seite  handelt  es  sich  um  die  Frage,  inwie- 
weit die  Verarbeitung  der  Sinneswahrnehmungen  in  der 
menschlichen  Seele  auf  den  Wert  einer  realen  Erkenntnis  Anspruch 
hat.      Unsere    Vorstellungen    werden    in    erster    Linie    durch    das 


264  Locke. 

Gedächtnis  aufbewahrt,  in  zweiter  Linie  gehen  sie  miteinander  eine 
Reihe  von  Assoziationsprozessen  der  Vergleichung  und  Unterschei- 
dung, Verbindung  und  Trennung  ein,  die  wir  auch  beim  Tiere  wieder- 
finden, in  dritter  Linie  aber  werden  durch  das  abstrahierende  Denken 
daraus  Begriffe  gebildet,  welche  dem  Menschen  eigentümlich  sind  und 
in  der  Sprache  sich  niedergelegt  finden.    In  den  einfachen  Perzep- 
tionen  liegt,  auch  wenn  sie  keine  Abbilder  der  Dinge  sind,  doch  immer 
eine  gewisse  Notwendigkeitsbeziehung  auf  die  reale  Welt  vor,  deren 
Wirkungen  auf  uns  sie  enthalten:  die  Erinnerungen,  Assoziationen 
und  Abstraktionen  dagegen  sind  zunächst  rein  innere   Prozesse, 
die  sich  nach  den  psychischen  Gesetzen  in  uns  vollziehen,  sodaß 
gar  nicht  abzusehen  ist,  wie  den  Resultaten,  die  sich  dabei  ergeben, 
den  Verbindungen  und  Trennungen  der  Vorstellungsinhalte/  ein 
Erkenntniswert  zukommen  soll.    Hier  steht  Locke  unmittelbar  vor 
dem  Grundproblem  aller  Erkenntnistheorie,    der  Frage    nämlich, 
wie   der    subjektive   Vorgang    des   Denkens   objektive   Bedeutung 
haben  kann,  oder  wie  es  zu  begreifen  ist,  daß  die  in  uns  stattfinden- 
den Vorgänge  Abbilder  der   außer   uns   stattfindenden   bedeuten 
sollen.     Wenn  er  in  bezug  auf  dieses  Grundproblem  ein  Verdienst 
hat,  so  besteht  es  freilich  mehr  darin,  daß  er  es  klar  und  deutlich 
herausgestellt,  als  daß  er  zu  seiner  Lösung  etwas  Abschließendes 
beigebracht  hätte.     Er  bleibt  vielmehr  im  allgemeinen  bei  den 
Voraussetzungen   des    der   englischen    Philosophie   eigentümlichen 
Nominalismus  stehen,  um  daraus  die  für  seine  Fragen  erforder- 
lichen Konsequenzen  zu  ziehen.  Die  Vorstellungsverbindungen  gelten 
ihm  deshalb  als  lediglich  subjektive  Prozesse,  die  nur  innerhalb 
des  denkenden  Wesens  eine  gewisse  psychologische  Notwendigkeit 
an  sich  tragen.     Wenn  man  die  ganze  Masse  der  auf  diese  Weise 
erzeugten  Vorstellungskomplexe  übersieht,  so  zeigen  sie  uns  das 
Bild  einer  Welt  von  Dingen,  die  zueinander  in  bestimmten  Ver- 
hältnissen stehen;   unsere  zusammengesetzten  Vorstellungsinhalte 
sind  teils  Substanzen,  teils  deren  Modi  und  Verhältnisse  zueinander. 
Die  letzteren  haben  jedoch  immer  nur  Sinn  durch  ihre  Beziehung 
auf  die  Substanzen,  und  deshalb  konzentriert  sich  die  Lockesche 
Untersuchung  auf  diesen  Begriff,  dessen  metaphysische  Wichtigkeit 
durch  den  Cartesianismus  so  lebhaft  hervorgetreten  war.    Er  kommt 
dabei  zu  dem  überaus  folgenreichen  Resultate,  daß  die  Substanz 
nur   der  unbekannte  Träger  einer  Reihe  von  Eigenschaften  und 


Begriff  der  Substanz.  265 

Tätigkeiten  ist.  Wir  können  erschließen  und  mit  Gewißheit  fest- 
stellen, daß  irgend  ein  solcher  Träger  im  einzelnen  Falle  vorhanden 
ist;  aber  was  die  Substanz  eigentlich  selbst  ist,  was  nach  Abzug 
aller  der  auf  Beziehungen  begründeten  Eigenschaften,  die  wir  ihr 
beilegen,  als  ihr  selbständiges  Wesen  übrig  bleibt,  das  entzieht  sich 
für  immer  unserer  Erkenntnis.  Diese  Untersuchung  Lockes  steht 
freilich  mit  seiner  Lehre  von  den  primären  Qualitäten  der  Körper- 
welt in  einem  fast  handgreiflichen  Widerspruche,  den  man  jedoch 
in  der  unmittelbar  folgenden  Entwicklung  kaum  bemerkt  hat,  und 
dessen  Überwindung  erst  der  Konsequenz  des  Kantschen  Denkens 
geglückt  ist.  Für  Locke,  wie  für  seine  Nachfolger,  erschien  es 
wichtiger,  das  in  gewissem  Sinne  skeptische  Kesultat  dieser  Unter- 
suchungen auf  die  durch  Hobbes  gestellte  und  später  immer  brennen- 
der werdende  Frage  des  Materialismus  anzuwenden.  Das  wissen- 
schaftlich schon  so  schwierige  und  durch  religiöse  Bedenken  noch 
viel  verwickelter  gemachte  Problem  der^  Seelensubstanz  ließ  sich 
auf  diese  Weise  zwar  nicht  lösen,  aber  dafür  desto  bequemer  um- 
gehen. Denn  wenn  wir  von  dem  Wesen  der  Substanzen  überhaupt 
nichts  wissen,  so  liegt  freilich  kein  Grund  vor,  das  Dasein  geistiger 
Substanzen  in  Zweifel  zu  ziehen;  ebensowenig  aber  ist  dann  auf 
der  anderen  Seite  die  Möglichkeit  einer"  Substanz  zu  bestreiten, 
welche  die  Eigenschaften  des  Denkens  zugleich  mit  denjenigen 
der  Körperlichkeit  besitzt. 

Was  ferner  die  Modi  und  die  Verhältnisse  der  Substanzen  an- 
betrifft, so  ist  deren  Inhalt  freilich  teilweise  durch  Wahrnehmungen 
oder  durch  Kombinationen  von  Wahrnehmungen  gegeben,  aber 
durch  keine  Überlegung  kann  uns  die  absolute  Gewißheit  werden, 
daß  diese  Verhältnisse,  die  unser  vergleichendes  Denken  zwischen 
seinen  einzelnen  Inhaltsbestimmungen  setzt,  reale  Beziehungen  der 
Substanzen  wären.  Es  gibt  keinen  Beweis,  wodurch  die  freilich 
unwahrscheinliche  Möglichkeit  ausgeschlossen  würde,  daß  die  wirk- 
lichen Substanzen  entweder  in  gar  keinen  oder  in  ganz  anderen 
Verhältnissen  zueinander  ständen,  als  wir  sie  zu  denken  genötigt 
sind.  Es  gehört  zu  den  fundamentalen  Einsichten  der  Lockeschen 
Philosophie,  die  unwiderlegliche  Vorstellung  angebahnt  zu  haben, 
daß  wir  vermöge  der  psychologischen  Gesetzmäßigkeit  •  die  Welt 
so,  wie  wir  es  tun,  vorstellen  müßten,  auch  wenn  sie  eine  ganz 
andersartige  wäre,  und  daß  daher  unser  Denken  auch  in  seinen 


.  'S 


P4   *    ' 


266  Loc^e. 


der  Wirklichkeit  besitzt.  .  Locke  selbst  entwickelt  diese  Lehre,  wie 
schon  Hobbes,  nicht  ohne  Abhängigkeit  von  den  Formen  des  mittel- 
alterlichen Nominalismus  und  Terminismus ;  er  kommt  namentlich 
immer  wieder  darauf  zurück,  daß  diese  Verhältnisbegriffe  abstrakte 
Vorstellungen  sind,  die  ohne  einen  ihnen  unmittelbar  entsprechen- 
den Gegenstand  durch  Erinnerung,  Verschmelzung  und  Abstraktion 
mit  Hilfe  eines  Wortzeichens  gebildet  werden,  und  es  erscheint 
ihm  dies  so  wichtig,  daß  er  ein  eigenes  Buch  seiner  Untersuchungen 
einer  Betrachtung  der  menschlichen  Sprache  widmet,  welche  als 
einer  der  ersten  Anläufe  der  Sprachphilosophie  angesehen  werden 
muß  und,  als  solcher  betrachtet,  eine  Anzahl  fruchtbarer  Gedanken 
enthält.  Er  weist  namentlich  darauf  hin,  wie  in  der  Sprache  eben 
dieses  ihres  Wesens  halber  neben  dem  Ursprung  der  Begriffe  und 
Urteile  überhaupt  auch  derjenige  des  Irrtums  liegt,  und  glaubt,  der 
letztere  wurzle  hauptsächlich  und  in  den  meisten  Fällen  darin,  daß 
bei  demselben  Laut-  oder  Schriftzeichen  die  verschiedenen  Menschen 
Verschiedenes  denken  und  dabei  doch  dasselbe  zu  denken  wähnen, 
sodaß  in  ihre  Mitteilungen  sich  unwillkürlich  eine  »quaternio  ter- 
minorum«  einschleicht.  Er  bezeichnet  es  deshalb  als  eine  Haupt- 
aufgabe der  philosophischen  Sprachwissenschaft,  das  logische  Ele- 
ment der  Sprache  von  dem  psychologischen  und  historischen  auf 
das  sorgfältigste  zu  trennen  und  zu  allererst  den  Inhalt  eines  jeden 
Begriffes  genau  von  den  Nebengedanken  zu  befreien,  die  durch 
allgemeine  oder  persönliche  Gewöhnung  sich  daran  geheftet  haben. 
Er  weist  damit  einerseits  auf  Bacons  Lehre  von  den  »idöla  fori  et 
theatri«  zurück  und  deutet  anderseits  vorwärts  auf  alle  die  Be- 
strebungen, mit  denen  man  sich  teilweise  schon  bei  seinen  Lebzeiten 
um  den  Entwurf  einer  philosophischen  Sprache  mühte. 

Hiernach  nun  glaubt  Locke  die  Materialien  für  die  Beantwortung 
der  erkenn tnis theoretischen  Grundfrage  vollständig  vor  sich  zu 
haben,  und  er  zieht  das  Fazit  seiner  Kechnung  im  vierten  Buche 
des  Werkes.  Von  einer  Erkenntnis^ in  dem  landläufigen  Sinne  einer 
Übereinstimmung  von  Vorstellungen  mit  ihren  Gegenständen  kann 
selbstverständlich  nur  noch  in  äußerst  engen  Grenzen  die  Rede 
sein,  in  der  Beschränkung  nämlich  auf  die  Wahrnehmungen  des 
inneren  Sinnes.  Die  einfachen  Vorstellungen,  in  denen  wir  unsere 
eigenen  seelischen  Zustände  erfahren,  und  welche  gar  keinen  an- 


Immanente  Wahrheit  der  Erkenntnis.  267 


deren  Inhalt  als  diese  Zustände  selbst  haben,  geben  uns,  wie  Locke 
nicht  anzweifeln  zu  dürfen  meint,  ein  richtiges  Abbild  der  wirk- 
lich in  uns  vorgehenden  Zustände.  Man  kann  diese  Lehre  Lockes 
eine  empiristische  und  verallgemeinernde  Wendung  der  cartesiani- 
schen  Theorie  des  Selbstbewußtseins  nennen.  Freilich  ist  die  Auf- 
fassung des  englischen  Philosophen  nicht  von  jener  abstrakten  Sicher- 
heit, welche  die  cartesianischen  Gedanken  trägt,  aber  sie  über- 
windet dafür  auch  die  Einseitigkeit,  womit  der  Rationalismus  nur 
dem  ^Denken*  die  Selbstgewißheit  zugeschrieben  hatte,  und  setzt 
an  die  Stelle  der  formalen  Beziehung  des  Bewußtseins  auf  sich 
selbst  die  ganze  Fülle  des  lebendigen  Inhalts  der  einzelnen  Seele. 
Aber  auch  nur  diese  unsere  Selbsterfahrungen  gelten  bei  Locke 
als  Abbilder  der  Wirklichkeit;  die  Wahrnehmungen  der  äußeren 
Sinne  dagegen  haben  auf  diesen  Wert  keinen  Anspruch,  die  sinn- 
lichen Qualitäten  sind  nur  subjektive  Zustände  der  erfahrenden 
Seelen,  die  räumlich-zeitlichen  Verhältnisse  aber  sind  zwar  primäre 
Qualitäten,  deren  Realität  jedoch,  wie  Locke  hier  sagt,  niemals 
mit  vollkommener  Sicherheit  festgestellt  werden  kann.  Selbst 
die  Existenz  einer  Körperwelt  überhaupt  ist  durch  keinen  absolut 
unbestreitbaren  Beweis  zu  erhärten.  Es  läßt  sich  nur  dartun, 
daß  sie  gegenüber  dem  absoluten  Skeptizismus,  der  die  ganze  Welt 
in  einen  Traum  auflösen  will,  das  Wahrscheinlichere  sei.  Immer-, 
hin  ist  es  aber  um  unsere  Erkenntnis  dieser  Welt  recht  schwach 
bestellt  —  im  einzelnen,  weil  keine  Wahrnehmung  ein  Abbild  der 
Wirklichkeit  ist,  im  ganzen,  weil  alle  Zusammenhänge,  in  denen 
wir  die  Dinge  vorstellen,  von  lins  in  sie  hineingedacht  sind:  braucht 
doch  Locke  geradezu  den  Begriff  »Welt«  selbst  als  schlagenden 
Beweis  dafür,  wie  Heterogenes  und  Unvereinbares  der  Mensch  ver- 
möge seiner  Sprache  in  einer  Vorstellung  zusammenzufassen  im- 
stande sei. 

Wenn  man  daher  unter  Metaphysik  eine  wissenschaftliche  Welt- 
erkenntnis, ein  ^Wissen  von  den  Substanzen  und  den  Gesetzen  ihres 
Zusammenhanges  versteht,  so  erkärt  die  Lockesche  Philosophie:  es 
gibt  keine  Metaphysik.  Wenn  man  unter  Erkenntnis  eine  den 
wirklichen  Gegenstand  abbildende  Vorstellung  meint,  so  sagt  Locke 
(hierin  mit  Descartes  einig) :  es  gibt  eine  Erkenntnis  von  uns  selbst ; 
aber  er  fügt  hinzu:  und  keine  Erkenntnis  von  den  Dingen.  Der 
transzendente  Wahrheitsbegriff,  d.  h.  derjenige  des  gewöhnlichen 


268  Locke. 

Bewußtseins,  welcher  eine  Vergleichung  der  Vorstellungen  mit 
Dingen  voraussetzt,  ist  damit  abgelehnt,  und  an  seine  Stelle  tritt 
bei  Locke  vorbildlich  für  alle  fernere  Erkenntnistheorie  der  im- 
manente  Wahrheitsbegriff ,  der  sich  in  der  ganzen  Entwick- 
lung des  Nominalismus  vorbereitete  und  bei  Hobbes  schon  völlig 
ausgesprochen  war  —  daß  nämlich  die  Wahrheit  für  den  Menschen 
bestehe  in  der  Übereinstimmung  der  Vorstellungen  nicht 
mit  Dingen,  sondern  untereinander.  ^Wahrheit"  ist  nichts 
anderes  als'  richtige  Vorstellungs Verbindung;  sie  kommt  in  diesem 
Sinne  keiner  einzelnen  und  einfachen  Vorstellung  zu,  sondern  sie 
beginnt  erst  da,  wo  der  Mensch  den  Inhalt  der  primitiven  Vorstel- 
lungen nach  gewissen  Gesetzen  ordnet  und  miteinander  in  Ver- 
bindung setzt.  Solcher  Verhältnisse  der  Vorstellungen,  deren  formale 
Erkenntnis  möglich  sei,  unterscheidet  Locke  in  einer  sehr  wenig 
logischen  Koordination  vier:  erstens  die  Identität  und  Verschieden- 
heit, zweitens  die  modalen  und  kausalen  Beziehungen,  drittens  die 
Koexistenz  und  viertens  die  Nötigung  zur  Annahme  der  Wirklich- 
keit. Er  unterscheidet  dann  wieder  in  der  Erkenntnis  dieser  Grund- 
verhältnisse den  intuitiven  und  den  demonstrativen  Vorgang,  je 
nachdem  die  Einsicht  darin  unmittelbar  aus  der  Zusammenstellung 
beider  Vorstellungen  oder  mittelbar  durch  die  Operationen  des 
logischen  Denkens  gewonnen  wird.  Er  führt  ferner  aus,  daß  all- 
eemeine Sätze  niemals  aus  Intuition,  sondern  nur  aus  Demonstration 
hervorgehen.  Aber  er  ist  sich  infolge  des  cartesianischen  Einflusses 
auch  darüber  klar,  daß  der  logische  Vorgang,  durch  den  solche 
allgemeinen  Gesetze  gewonnen  werden,  nicht  der  induktive  ist, 
welcher  seinem  Wesen  nach  unvollständig  bleibt;  er  kehrt  gegen 
Bacon  die  volle  Forderung  zweifelloser  mathematischer  Demonstra- 
tion. Daneben  stellt  er  bemerkenswerte  Betrachtungen  über  den 
Wert  dieser  allgemeinen  Sätze  an,  den  man  weder  überschätzen 
noch  unterschätzen  dürfe.  Er  macht  den  Cartesianern  gegenüber 
sehr  richtig  darauf  aufmerksam,  daß  für  das  Interesse  der  besonderen 
Wissenschaften  die  Erkenntnis  einzelner  Tatsachen  von  nicht  ge- 
ringerer Wichtigkeit  ist  als  die  Einsicht  allgemeiner  Gesetze,  wie  er 
anderseits  gegenüber  der  bloßen  Empirie  das  wissenschaftliche  Ideal 
zusammenhängender  Auffassung  aufrecht  erhält.  Er  unterscheidet 
endlich  bei  den  allgemeinen  Sätzen  solche,  die  durch  bloße  Analysis 
der  Begriffe  entstehen  und  deshalb  nichts  Neues  lehren,  von  solchen, 


Religionsphilosophie.  269 

die  eine  wirkliche  Erweiterung  des  Wissens  bedeuten  —  eine  Unter- 
suchung, welche  der  Kantschen  Unterscheidung  analytischer  und 
synthetischer  Urteile  vorgreift.  Im  allgemeinen  lassen  diese  metho- 
dologischen Betrachtungen  das  verständige  Streben  durchblicken, 
den  auf  die  Erfassung  des  Tatsächlichen  gerichteten  Geist  der 
Baconschen  Philosophie  mit  der  Strenge  des  cartesianischen  Denkens 
zu  versöhnen.  Und  nach  dieser  Richtung  bewegt  sich  die  Lockesche 
Lehre  auf  dem  Wege,  den  schon  Hobbes  vorgezeichnet  und  in 
mancher  Hinsicht  mit  viel  größerer  Exaktheit  betreten  hatte.  Der 
Schwerpunkt  seiner  Philosophie  aber  bleibt  jene  erkenntnistheore- 
tische Untersuchung,  welche  das  menschliche  Wissen  auf  die  Er- 
fahrung des  äußeren  und  des  inneren  Sinnes  beschränkt,  und  alle 
Wahrheit,  die  für  den  Menschen  erreichbar  sei,  als  die  logische 
Einsicht  in  die  Verhältnisse  der  Vorstellungen  untereinander  an- 
sieht. So  ist  die  Lockesche  Philosophie  die  spezifisch  moderne  Form 
der  terministisch-nominalistischen  Erkenntnislehre  und  damit  der 
einfachste  und  durchsichtigste  Typus  des  Empirismus:  in  eben 
dieser  fast  kindlichen  Einfachheit  hat  auch  der  Zauber  bestanden, 
den  sie  auf  das  Zeitalter  der  Aufklärung  ausgeübt  hat. 

Den  gleichen  Charakter  einer  verständigen  Anpassung  an  die 
wirklichen  Verhältnisse  zeigen  die  Gedanken  Lockes  auch  auf  den 
übrigen  Gebieten.  Interessant  ist  in  dieser  Hinsicht  hauptsächlich  die 
vermittelnde  Stellung,  die  er  in  theoretischer  wie  in  historischer 
Beziehung  den  religiösen  Angelegenheiten  gegenüber  einnimmt.  Er 
vertritt  weder  die  kühle  Ablehnung  Bacons  noch  die  staatliche 
Omnipotenz,  welche  Hobbes  verlangt  hatte.  Es  kam  auch  die 
Gunst  der  öffentlichen  Verhältnisse  hinzu,  in  denen  die  religiösen 
Leidenschaften  sich  allmählich  mehr  beruhigt  hatten  und  der 
Radikalismus  nach  keiner  Seite  hin  mehr  die  politische  Logik  des 
Tages  bildete.  Locke  ist  deshalb  unter  den  Philosophen  jener  Zeit 
gewissermaßen  der  Vermittlungstheologe,  der  den  Glauben 
an  die  Offenbarung  aufrecht  erhält  und  ihn  mit  der  Vernunft  in 
Einklang  zu  bringen  sucht.  Er  meint  in  dem  Sinne,  wie  es  schon 
Thomas  von  Aquino  formuliert  hatte,  daß  auch  die  göttliche  Offen- 
barung in  der  Religion  nur  solche  Gesetze  verkündet  habe  und  habe 
verkünden  können,  welche  mit  der  dem  Menschen  doch  auch  von 
Gott  gegebenen  Vernunft  in  Übereinstimmung  sind,  und  er  glaubt 
anderseits    die   Notwendigkeit   einer   Offenbarung    in    der    Weise 


270  Locke. 

begreifen  zu  sollen,  daß  durch  sie  solche  Erkenntnisse  mitgeteilt 
worden  seien,  welche,  wenn  sie  auch  mit  der  Vernunft  überein- 
stimmen, doch  von  der  auf  die  sinnliche  Erfahrung  beschränkten 
Vernunft  des  Menschen  nicht  hätten  gefunden  werden  können.  Locke 
gibt  deshalb  die  Existenz  einer  natürlichen  Theologie,  einer  durch 
bloße  Vernunft  zu  findenden  Gotteslehre  vollkommen  zu;  allein  er 
behauptet,  daß  in  der  positiven  Keligion  daneben  noch  ein  anderes, 
damit  vollkommen  übereinstimmendes,  aber  nur  durch  Offenbarung 
zu  findendes  Element  enthalten  sei :  er  bahnt  auf  diesem  Wege  eine 
Versöhnung  zwischen  der  Vernunfterkenntnis  und  dem  religiösen 
Dogma  an,  welche  in  der  Weiterentwicklung  des  englischen  Deismus 
begierig  ergriffen  wurde,  bis  sie  wieder  zu  einer  leidenschaftlichen 
Entzweiung  führte.     Was  die  einzelnen  Konfessionen  anbetrifft, 
so  stellt  sich  Locke  ihnen  unparteiisch  gegenüber,  und  zwar  vertritt 
er  im  Grunde  genommen  dabei  nur  den  praktischen  und  politischen 
Standpunkt,  wie  das  unter  ihren  Zeitverhältnissen  und  von  ihren 
Prämissen  aus  auch  Bacon  und  Hobbes  getan  hatten.     Er  betont 
mit  dem  großen  Zuge  der  damaligen  Denker  die  Forderung  der 
Konfessionslosigkeit  des  Staates,  und  seine  teilweise  noch 
von  den  Niederlanden  aus  gegen  die  Kegierung  des  letzten  Stuart 
gerichteten  »Briefe  über  die  Toleranz «  treten  in  lebhaftester  Weise 
für  die  Gewissensfreiheit  ein,  indem  sie  dartun,  daß  der  Staat,  dem 
nur  für  das  weltliche  Wohl  des  Bürgers  die  Sorge  zukommt,  durch  eine 
religiöse  Parteinahme,  welcher  Art  sie  auch  sei,  seine  Wirksamkeit  nur 
schädigen  kann.  Auf  der  anderen  Seite  wird  er  nicht  müde,  den  Macht- 
habern  einzuschärfen,  wie  die  wahre  Religion  keines  Zwanges  und 
keiner  staatlichen  und  polizeilichen  Unterstützung  bedürfe.  Er  stellt 
vielmehr  für  sie  den  Gesichtspunkt  der  freien  Assoziation  auf  und 
hat  dafür  eine  praktische  Verwirklichung  gesucht,  als  er  im  Jahre 
1669  mit  dem  Entwürfe  einer  Verfassung  für  die  von  Karl  II.  an  acht 
englische  Lords  überlassene  nordamerikanische  Provinz  Carolina  be- 
traut wurde;  er  nahm  darin  die  Bestimmung  auf,  daß  die  Religion 
und  ihr  Kultus  nicht  Sache  des  Staates,  sondern  nur  der  Gemeinde 
sein  solle.  Und  es  scheint  beinahe,  als  habe  er  vorahnend  das  nord- 
amerikanische Prinzip  der   »freien  Kirche  im  freien  Staate« 
damit  ausgesprochen.     Er  wollte  diese  Freiheit  allen  Konfessionen 
und  Sekten  zugestehen,  mit  Ausnahme  derjenigen,  deren  Prinzipien 
einen  gültigen  Eid  entweder  unmöglich  machen  oder  in  Frage  stellen. 


Ethik  und  Pädagogik.  271 

Im  ganzen  ist  es  doch  nur  gelegentlich,  daß  Locke  diese  reli- 
gionsphilosophischen und  kirchenpolitischen  Gedanken  entwickelt; 
der  Schwerpunkt  seines  wissenschaftlichen  Interesses  bleibt  bei 
den  erkenntnistheoretischen  Fragen.  Und  so  sind  auch  seine  Ge- 
danken über  ethische  Verhältnisse  nur  sporadisch  und  in  keiner 
irgendwie  systematischen  Weise  zutage  getreten.  Er  huldigte  darin 
im  allgemeinen  dem  Grundgedanken,  daß  die  menschliche  Glück- 
seligkeit der  letzte  und  höchste  Gesichtspunkt  auch  der  Ethik 
sei,  und  gab  der  praktischen  Philosophie  in  Analogie  zu  seinen 
theoretischen  Untersuchungen  den  historisch  sehr  wirksam  gewor- 
denen, von  ihm  selbst  aber  weiter  nicht  durchgeführten  Wink,  daß 
sie  zunächst  den  Einblick  in  den  psychologischen  Mechanismus  des 
Trieb-  und  Willenslebens  ihren  moralisierenden  Betrachtungen 
zugrunde  zu  legen  habe.  Diese  Analyse  nun  zeigt,  daß  alle  Sittlich- 
keit in  der  Befolgung  eines  Gebotes  besteht:  sie  ist  deshalb  nur 
möglich  und  begreiflich,  wenn  dem  natürlichen  Triebsystem  ein 
gebietender  Wille  gegenübersteht,  dem  sich  das  Individuum  unter- 
wirft. Alle  Moral  wurzelt  in  der  Autorität.  Dreifach  tritt  sie  im 
Menschenleben  auf:  als  offenbarter  Wille  Gottes,  als  Gesetz  des 
Staates,  als  Norm  der  Sitte  und  der  öffentlichen  Meinung.  Doch 
hat  Locke  auch  diese  Gedanken  nur  gelegentlich  geäußert  und  sie 
nicht  im  wissenschaftlichen  Zusammenhang  ausgeführt. 

Ahnliches  gilt  von  seinen  pädagogischen  Gedanken.  Auch  sie 
bilden  kein  System ;  aber  sie  sind  mehr  als  ein  solches,  sie  sind  eine 
befruchtende  Macht  in  der  Entwicklung  des  europäischen  Erziehungs- 
wesens geworden.  Eine  große  Fülle  von  lose  hingeworfenen  Ge- 
danken, enthalten  sie  die  Grundzüge  der  pädagogischen  Richtung, 
welche  in  Deutschland,  weil  sie  hier  wesentlich  durch  die  Schriften 
Rousseaus  bekannt  wurden,  unter  dessen  Namen  geläufig  sind. 
Der  Gedanke  einer  freien  Entwicklung  des  natürlichen  In- 
dividuums bildet  ihre  Grundlage,  und  alle  jene  Forderungen  der 
Ausbildung  der  Selbsttätigkeit,  des  spielenden  Lernens,  der  freien 
Leibesübung,  der  anschaulichen  Form  des  theoretischen  Unterrichts, 
der  Berücksichtigung  der  individuellen  Eigentümlichkeiten,  der  Ent- 
wicklung des  eigenen,  selbständigen  Charakters,  alle  jene  Forde- 
rungen, welche  die  vorschreitende  Pädagogik  des  XVIII.  Jahr- 
hunderts mit  Begeisterung  ergriff  und  teilweise  mit  wunderlichen 
Auswüchsen    durchzuführen    suchte,    sind    in    Lockes     kernigen 


272  Locke. 

»Gedanken  über  Erziehung«  zusammengedrängt.  Sie  erscheinen  hier 
sogar  auf  einer  viel  edleren  und  großartigeren  Grundlage,  als  bei 
Kousseau;  denn  sie  beruhen  alle  auf  dem  sittlichen  Gedanken  der 
Familie.  Dabei  läßt  sich  anderseits  nicht  verkennen,  daß  die  An- 
lehnung an  die  spezifischen  Verhältnisse  des  englischen  Familien- 
lebens und  der  englischen  Sitten,  wie  manche  Vorzüge,  so  auch  eine 
Anzahl  von  Nachteilen  und  Einseitigkeiten  mit  sich  geführt  hat, 
die  später  von  Rousseau  abgestreift  worden  sind. 

Ein  ähnliches  Geschick,  wie  die  Lockesche  Pädagogik,  hat  in 
literarischer  Beziehung  seine  Staatstheorie  erfahren.  Auch  auf 
diesem  Gebiete  pflegt  in  Frankreich  und  in  Deutschland  Montes- 
quieu wenn  nicht  als  Begründer,  so  doch  als  der  Typus  und  der 
vollendetste  Vertreter  des  konstitutionellen  Staatsrechts 
angesehen  zu  werden,  während  doch  in  Wahrheit  alles  Wesentliche 
und  Bedeutende  in  seiner  Theorie  nur  eine  glückliche  Reproduktion 
der  Lehren  bildet,  mit  denen  Locke  in  seinen  »zwei  Abhandlungen 
über  die  Regierung «  das  von  Wilhelm  von  Oranien  inaugurierte  poli- 
tische System  zu  begründen  und  gegen  die  Angriffe  des  Absolutis- 
mus wie  des  Republikanismus  zu  verteidigen  unternahm.  In  der 
Tat  gebührt  der  Nation  und  der  Zeit,  welche  die  erste  konstitutionelle 
Monarchie  geschaffen  hat,  auch  der  Ruhm,  ihre  Theorie  gefunden 
zu  haben.  Gegen  Filmer  und  Hobbes,  die  Vertreter  teils  des  hier- 
archischen, teils  des  rein  politischen  Absolutismus,  war  schon  Alger - 
nonSidneyin  seinen  »Discourses concerning  government«  siegreich 
vorgegangen,  und  Locke  vervollständigte  nun  diese  Gedanken  unter 
dem  Eindrucke  der  wirklichen  Form,  welche  das  System  inzwischen 
gefunden  hatte.  Er  begriff  den  Charakter  des  modernen  Staates 
zunächst  aus  der  völligen  Trennung  der  politischen  und  der  kirch- 
lichen Macht,  in  deren  Verquickung  das  Wesen  des  Mittelalters  be- 
standen habe.  Aber  wenn  er  demgegenüber  den  Staat  ganz  im  Sinne 
von  Hobbes  auf  einen  Vertrag  gründete,  durch  den  alle  Bürger  ihr 
Recht  zu  dessen  besserem  Schutze  der  Staatsgewalt  übertragen 
hätten,  so  deduzierte  er  gegen  Hobbes,  daß  diese  Macht  nicht  in 
die  Willkür  eines  einzelnen,  sondern  nur  in  den  Willen  der  Ma- 
jorität gelegt  werden  dürfe.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  ent- 
warf er  die  Grundzüge  der  Repräsentativ-Verfassung,  indem 
er  für  die  legislative  Gewalt  die  Vertretung  der  Staatsbürger,  ihrer 
Stände,  ihrer  Interessen,  ihrer  historischen  Rechte  in  den  gesetz- 


Englische  Moralphilosophie.  273 

gebenden  Körpern  verlangte.  Weiterhin  war  es  die  Schule  der 
Erfahrungen,  welche  die  englische  Nation  in  ihren  Revolutionen  ge- 
macht hatte,  auf  Grund  deren  dieser  Konstitutionalismus,  in  der 
Theorie  wie  in  der  Praxis,  die  Trennung  der  ausführenden  von  der 
gesetzgebenden  Gewalt  verlangte  und  die  erstere  sowohl  in  ihrer 
Richtung  nach  innen  (als  exekutive  Gewalt  im  engeren  Sinne),  als 
in  ihrer  Beziehung  auf  die  übrigen  Staaten  (nach  Lockes  Ausdruck 
als  föderative  Gewalt)  gemeinsam  in  die  Hände  der  erblichen  Mo- 
narchie legte.  Die  Versöhnung  des  revolutionären  Freiheitsdranges 
mit  der  Notwendigkeit  der  historischen  Entwicklung  hatte  damit 
auch  ihren  theoretischen  Ausdruck  gefunden.  Aber  diese  Erfahrung, 
welche  die  englische  Revolution  gemacht  hatte,  wurde  in  der  Ent- 
wicklung des  Aufklärungszeitalters  um  so  mehr  vergessen,  je  mehr 
man  die  Fühlung  mit  dem  historischen  Bewußtsein  verlor,  und  es 
war  dem  Kontinente  vorbehalten,  in  den  Stürmen  der  französischen 
Revolution  diese  Erfahrung  mit  umfassenderer  und  schwererer  Macht 
noch  einmal  zu  machen. 

So  steht  Locke  auf  allen  Gebieten  mitten  in  den  geistigen  Be- 
wegungen seiner  Zeit  und  an  der  Spitze  der  Gedankenbestrebungen, 
welche  das  Jahrhundert  nach  ihm  erfüllten.  In  der  nüchternen 
und  verständigen  Ruhe  seiner  Überlegung,  in  der  beschränkenden 
Klarheit  seiner  Betrachtungen  ist  er  ein  Vorbild  des  gesamten 
Aufklärungszeitalters  geworden,  und  seine  Lehren  bilden  für  die 
große  Ideensymphonie  dieses  Zeitalters  gewissermaßen  das  Prä- 
ludium, worin  alle  Strömungen,  alle  einzelnen  Bewegungsformen 
bald  stärker,  bald  leiser  angeschlagen  werden.  Speziell  für  die 
englische  Aufklärung  ist  Locke  der  bestimmende  Geist,  an  dessen 
Gedanken  alle  Richtungen  bald  ergänzend  und  weiterführend,  bald 
verändernd  und  bekämpfend  sich  anlehnen.  Die  Fäden  der  geistigen 
Bewegung,  die  in  seinem  Denken  zusammengefaßt  waren,  laufen 
teilweise  gesondert  von  ihm  aus,  um  nur  noch  einmal  in  David 
Hume  zu  einer  großen  Gestalt  sich  zusammenzuschürzen,  und  es 
wird  daher  zunächst  die  Aufgabe  sein,  den  Verlauf  dieser  einzelnen 
Fäden  zu  verfolgen. 

§  29.    Die  Moralphilosophie. 

Es  empfiehlt  sich  dabei,  von  derjenigen  Richtung  auszugehen, 
die  bei  Locke  verhältnismäßig  am  wenigsten  zu  Worte  gekommen 
war,    der    Moralphilosophie,    welche    auch    unabhängig    von    den 

Windelband,  Gesch.  d.  u.  Philos.  I.  18 


274  Moralisten. 

theologischen  Überlegungen,  mit  denen  sie  vielfach  verknüpft  war, 
einen  Gegenstand  lebhafter  Diskussionen  bildete.  Auf  diesem  Gebiete 
waren  namentlich  die  Lehren  von  Hobbes  fruchtbar,  freilich  zu- 
nächst in  der  Erzeugung  mannigfachen  Widerspruchs.  Sein  Versuch, 
die  Moralphilosophie  von  allen  Formeln  der  religiösen  Begründung 
unabhängig  zu  machen,  war  im  Grunde  genommen  eine  Parallel- 
erscheinung zu  dem  verwandten  Bestreben  der  Rechtsphilosophen 
gewesen  und  fand  daher  gerade  von  dieser  Seite  seine  prinzipielle 
Anerkennung.  Neben  dem  System  des  Naturrechts  begrüßte 
man  dasjenige  einer  natürlichen  Moral  durchaus  sympathisch. 
Allein  mit  der  Ausführung,  die  Hobbes  diesem  Gedanken  gegeben 
hatte,  war  man  nicht  einverstanden.  Der  Gedanke,  daß  man  auch  in 
den  edelsten  Formen  des  moralischen  Lebens  schließlich  immer  nur 
gewisse  Endprodukte  des  an  sich  vollkommen  und  durchgehends 
selbstsüchtigen  Mechanismus  der  individuellen  Triebe  sehen  sollte,^ 
verletzte  und  erschreckte  die  Meinung  der  Zeitgenossen,  die  aus 
dem  gleichen  Grunde  auch  das  Gebäude  der  Staatslehre  von  Hobbes 
verwarfen.  Auch  in  dieser  Hinsicht  hatte  er  ja  versucht,  die  Staats- 
ordnung als  ein  Produkt  der  Selbstsucht  zu  begreifen,  welche  sich 
aus  den  Gefahren  des  allgemeinen  Kriegszustandes  durch  abwägende 
Übereinkunft  zu  retten  gesacht  habe.  Dieser  Meinung  gegenüber 
hielt  man  an  den  Lehren  des  Hugo  Grotius  fest,  der  im  Anschluß  an 
scholastische  Lehren  für  das  staatliche  Leben  ein  eigenes,  Ursprung 
liches  Organ  in  der  Natur  des  Menschen  unter  dem  Namen  des  Ge  - 
selligkeitsbedürfnisses  angenommen  hatte.  Und  in  ganz  ver- 
wandter Weise  glaubte  man  nun  auch  auf  dem  allgemeineren  Gebiete 
der  Moralphilosophie  verfahren  zu  sollen.  Man  blieb  dabei,  daß 
das  moralische  Leben  aus  der  Natur  des  Menschen  begriffen  werden 
müsse;  aber  indem  man  sich  scheute,  es  aus  den  egoistischen  Trieb- 
federn abzuleiten,  schritt  man  zu  der  Annahme  einer  ursprüng- 
lichen moralischen  Anlage  im  Menschen,  die  vollkommen- 
selbständig sich  zu  der  egoistischen  Seite  der  menschlichen  Natur 
von  vornherein  in  einem  gewissen  Gegensatz  und  Streite  befinde. 
Es  ist  klar,  wie  damit  das  Problem  der  Moralphilosophie  auf  das 
Gebiet  psychologischer  Untersuchungen  oder  Hypothesen  hinüber- 
gespielt wurde.  Denn  es  handelte  sich  von  diesem  Gesichtspunkte 
aus  im  wesentlichen  nur  um  die  Auffindung  und  Feststellung  eines 
solchen  moralischen  Organs  im  Wesen  des  Menschen,   und  in  der 


Cumberland  und  Shaftesbury.  275 

immer  schärferen  Ausprägung  dieser  Begriffsbestimmung  hat  schließ- 
lich auch  die  ganze  Entwicklung  der  englischen  Moralphilosophie 
bestanden.  Sie  knüpfte  damit  an  die  stoisch-ciceronianische  Lehre 
von  den  »eingeborenen  Ideen«  an,  die  von  den  Cambridger  Neu- 
platonikern  Hobbes  gegenüber  gerade  nach  der  praktischen  Seite 
vertreten  wurde  und  die  Ursprünglichkeit  sittlicher  Prinzipien  als 
lex  naturae  im  consensus  gentium  behauptete. 

Den  ersten  Versuch  dazu  machte  sehr  bald  nach  Hobbes  Cum-/»  /  , 
berland  (1632 — 1719)  in  seiner  »De  legibus  naturae  disquisitio  / 
philosophica «  (Londoi  1671).  Er  nannte  diese  selbständige  Grund- 
lage der  Moralität  die  wohlwollenden  (wie  man  jetzt  sagt, 
altruistischen)  Neigungen  und  betrachtete  sie  als  das  ursprüng- 
lich in  der  Menschennatur  angelegte  Gegengewicht  gegen  die  selbst- 
süchtigen Neigungen:  aus  diesem  Gegensatze  suchte  er  dann  durch 
psychologische  Gesetzmäßigkeit,  wie  es  Bacon  verlangt  hatte,  und 
nach  dem  Mechanismus  der  Motivation,  wie  ihn  Hobbes  durch- 
führte, den  ganzen  Zusammenhang  des  moralischen  Lebens  als  einen 
Kampf  der  beiden  Triebmassen  gegeneinander  zu  begreifen.  Er  fügte 
dem  überdies  den  Veisuch  hinzu,  als  eine  der  Entwicklungsformen 
dieser  altruistischen  Neigungen  auch  die  Begründung  des  Staats- 
lebens in  einer  Weise  darzustellen,  welche  der  Zurückführung  auf 
das  Geselligkeitsbedürfnis  im  Sinne  von  Hugo  Grotius  durchaus 
entsprach  und  dabei  machte  sich  gewissermaßen  die  später  so 
wichtig  gewordene  und  so  weit  ausgedehnte  Tendenz  geltend,  die 
philosophische  Kechtslehre  den  allgemeinen  Gesichtspunkten  der 
Moralphilosophie  unterzuordnen. 

Der  bedeutendste  aber  und  einflußreichste  unter  den  englischen 
Moralphilosophen  ist  der  Enkel  des  Locke  befreundeten  Staatsmannes, 
welcher  selbst  noch  den  Umgang  des  Philosophen  genossen  batte,j$, 
Anthony  Ashley  Cooper  Graf  von  ShajtesburjrJ1671— 1713). 
Bei  ihm  sprach  sich  zunächst  der  allgemeine  Grundgedanke  einer  /(? 
vollkommenen  Selbständigkeit  der  Moralphilosophie  mit  einer 
Schärfe  aus,  welche  nach  beiden  Seiten  hin  zu  gleich  heftiger  Polemik 
führte.  Der  Versuch  von  Hobbes,  die  Moralphilosophie  im  mate- 
rialistischen Sinne  auf  physikalische  oder  physiologische  Grundlagen 
zu  stellen,  erscheint  ihm  nicht  minder  verfehlt,  als  die  theologischen 
Bestrebungen,  sie  aus  religiöser  Offenbarung  abzuleiten.  In  beiden 
Fällen  wird  durch  die  Ableitung  selbst  den  moralischen  Ideen  ihr 

18* 


276  Shaftesbury, 

eigenster  Wert  geraubt.  Wenn  sie  im  religiösen  Sinne  als  Ausflüsse 
des  göttlichen  Willens  betrachtet  und  mit  Verheißungen  der  Be- 
lohnung und  Drohungen  der  Strafe  verquickt  werden,  so  geht  ihre 
Würde  ebenso  verloren,  wie  wenn  man  sie  als  mechanische  Natur- 
produkte auffaßt.  Das"  Gute,  die  Tugend  und  das  Recht  gelten 
vielmehr  als  ein  vollkommen  in  sich  selbst  Gegründetes,  als  das.  an 
sich  Vollkommene  und  unbedingt  Wertvolle,  welches  deshalb  nur 
erfaßt  und  ergriffen  und  nicht  von  anderswoher  deduziert  werden 
kann.  Shaftesbury  hat  damit  für  die  Moralphilosophie  ein  Ideal 
aufgestellt,  dem  sie  lange  und  am  energischsten  bei  Kant  nach- 
gegangen ist;  aber  er  selbst  war  weit  davon  entfernt,  diese  Aufgabe 
zu  lösen,  und  so  kam  es,  daß  er  nicht  ohne  Berechtigung  später  von 
Kant  unter  die  typischen  Vertreter  einer  heteronomischen  Moral 
gerechnet  werden  konnte.  Was  ihm  im  Wege  stand,  war  auf  der 
einen  Seite  der  psychologische  Grundzug  des  Denkens,  worin  er 
sich  mit  seinem  ganzen  Zeitalter  bewegte,  auf  der  andern  Seite  eine 
Reihe  von  persönlichen  Neigungen,  deren  Zusammen  Wirkung  seiner 
Moral  einen  ausgesprochen  eudä monistischen  Charakter  auf- 
prägte. Es  war  eine  eingehende  und  kongeniale  Beschäftigung  mit 
dem  Leben  des  klassischen  Altertums,  der  er  den  ästhetischen 
Sinn  verdankte,  womit  er  in  die  Entwicklung  der  moralphilosophi- 
schen Untersuchungen  eingegriffen  hat.  Schon  der  unbedingte  Wert, 
den  er  den  moralischen  Ideen  zuschreibt,  hat  einen  entschieden 
ästhetischen  Beigeschmack.  Als  an  sich  gut  und  wertvoll  kann, 
wie  er  meint,  nur  dasjenige  gelten,  was  zugleich  Ursache  und  Gegen- 
stand der  höchsten  vernünftigen  Lust  ist,  und  in  echt  hellenischem 
Geiste  betrachtet  er  deshalb  den  Zustand  der  Tugend  und  des  Rechts 
als  denjenigen  der  höchsten  Glückseligkeit.  Er  führt  in  die  moderne 
Moralphilosophie  den  Grundgedanken  der  antiken  Ethik  ein,  das 
sokratische  Problem  der  Identität  von  Tugend  und  Glückseligkeit, 
aber  damit  auch  den  ganzen  Schwärm  von  kasuistischen  Schwierig- 
keiten und  Zweideutigkeiten  und  die  ganze  Sophistik  des  mensch- 
lichen Herzens,  welche  dieser  Gedanke  schon  bei  den  Alten  in 
seinem  Gefolge  gehabt  hatte.  Denn  die  Lehre,  daß  nur  die  Tugend 
die  wahre  Glückseligkeit  sei,  hat  sich  noch  immer  unter  den  Händen 
der  Menschen  in  die  andere  verwandelt,  daß  die  Tugend  das  Be- 
streben nach  der  Glückseligkeit  sei,  und  niemand  kann  der  un- 
vermeidlichen Wirkung  Einhalt  tun,  daß,  sobald  man  einmal  weiß, 


Tugend  und  Glückseligkeit.  277 

daß  die  Tugend  glücklich  macht,  man  sie  um  dieses  Glückes  willen, 
das  sie  mit  sich  führt,  zu  lieben  und  zu  erstreben  anfängt.  So 
hat  sich  denn  auch  die  Shaftesburysche  Lehre,  zumal  bei  seinen 
Nachfolgern,  zu  einem  vollkommenen  Eudämonismus  und  zu  der 
Glückseligkeitslehre  ausgebildet,  welche  der  gesamten  Moralphiloso- 
phie der  Aufklärung  gemeinsam  war,  und  der  erst  Kant  entgegen- 
zutreten versucht  hat.  Doch  erscheint  dieser  Eudämonismus  bei 
Shaftesbury  noch  keineswegs  mit  jener  prosaischen  Nüchternheit, 
die  ihn  später  kennzeichnete,  sondern  vielmehr  mit  einer  Art  von 
poetischem  Duft.  Wenn  die  Tugend  der  Gegenstand  eines  höchsten 
Wohlgefallens  ist,  so  muß  sie  etwas  an  sich  tragen,  was  den  Grund 
dieses  Wohlgefallens  enthält,  und  dadurch  tritt  sie  für  die  Be- 
trachtung Shaftesburys  in  die  nächste  Verwandtschaft  mit  dem 
Schönen.  Alles  Wohlgefallen  ist  im  Grunde  genommen  ein  Aus- 
fluß des  ästhetischen  Verhaltens;  alles,  was  uns  wohlgefällt,  muß 
in  irgend  einer  Weise  den  Charakter  des  Schönen  an  sich  tragen. 
Dieser  Zusammenhang  der  moralischen  mit  der  ästhetischen 
Beurteilung,  den  bei  einer  viel  höheren  und  feineren  Ausbildung 
der  Begriffe  erst  die  Herbartsche  Philosophie  zur  vollen  Klarheit 
gebracht  hat,  ist  von  Shaftesbury  mit  einer  Art  genialer  Intuition 
ergriffen  worden.  Er  selbst  beschäftigte  sich  in  eingehendster  Weise 
mit  der  schönen  Literatur  und  den  bildenden  Künsten  theoretisch 
und  kritisch,  und  es  verknüpften  sich  ihm  so  die  verschiedenen 
Interessen  seines  reichen  und  lebendigen  Geistes  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte der  griechischen  Kalokagathie.  Die  Einheit  des  Schönen 
und  des  Guten  ist  für  ihn  der  höchste  und  letzte  Gedanke.  Sein 
Eudämonismus  ist  ein  ästhetischer,  und  es  reproduziert  sich  darin 
die  ganze  Poesie  hellenischer  Lebensweisheit.  Darin  lag  der  Reiz, 
den  seine  Schriften  auf  die  Geister  des  XVIII.  Jahrhunderts  und 
besonders  auf  die  Dichter  Deutschlands  ausgeübt  haben.  Ihm 
tauchte  sich  die  Welt  in  den  Glanz  der  Schönheit,  und  auch  die 
Tugend  war  ihm  zuletzt  nur  die  Erfassung  des  über  das  Universum 
ausgegossenen  Geistes  des  Schönen.  Diese  Wirkung  seiner  Ge- 
danken wurde  durch  seine  Darstellung  unterstützt.  Schon  seine 
Jugendschrift  »Enquiry  concerning  virtue  and  merit«  und  alle  weite- 
ren Bestandteile  der  zuerst  1711  gedruckten  Sammlung  »Charac- 
teristics  of  men,  manners,  opinions,  times«  zeigen  einen  Glanz  der 
Diktion  und  eine  witzige  Anmut  der  Sprache,  womit  der  Geschmack 


278  Shaftesbury. 

in  die  Wissenschaft  einzudringen  und  eine  Fühlung  zwischen  der 
Gelehrsamkeit  und  der  schönen  Literatur  herbeizuführen  begann. 
So  ist  es  denn  schließlich  auch  ein  ästhetischer  Gedanke,  von 
dem  aus  Shaftesbury  das  Wesen  der  Tugend  zu  bestimmen  unter- 
nimmt: alles  Schöne  beruht  auf  Harmonie,  und  deshalb  muß  auch 
die  Tugend  irgendwie  den  Charakter  der  Harmonie  an  sich  tragen. 
Harmonie  aber  ist  überall  eine  Verknüpfung  des  Verschiedenen, 
eine  Versöhnung  der  Gegensätze.  Die  Tugend  kann  deshalb  nur 
in  einer  Aussöhnung  dei jenigen  Gegensätze  gesucht  werden,  welche 
in  dem  natürlichen  Wesen  des  irenschlichen  Willenslebens  angelegt 
sind.  Das  ist  der  Punkt,  wo  Shaftesbury  die  Moraltheorien  seiner 
Vorgänger  zu  vereinigen,  den  Streit  zwischen  ihnen  auszugleichen 
und  sich  über  sie  zu  erheben  meint.  Die  Lehren  des  Materialismus 
haben  im  Menschen  nur  den  Egoismus  anerkannt  und  die  Tugend 
für  eine  Art  von  raffinierter  ode:  wenigstens  künstlich  umgebildeter 
Äußerung  dieses  Grund triebes  gehalten.  Die  Theorien  des  Gesellig- 
keiäsbedürfnisses  und  der  wohlwollenden  Neigungen  haben  neben 
dem  Egoismus  die  Ursprünglichkeit  einer  moralischen  Anlage  des 
Menschen  anerkannt ;  aber  sie  haben  gelehrt,  daß  die  Tugend  in  der 
Unterdrückung  der  egoistischen  und  in  der  Alleinherrschaft  der  wohl- 
wollenden Motive  beruhe:  in  der  einen  Lehre  kommen  die  wohl- 
wollenden, in  der  anderen  die  egoistischen  Neigungen  zu  kurz.  Und 
doch  sind  beide  von  der  Natur  selbst  ?n  uns  gepflanzt  und  haben 
darum  das  gleiche  Eecht,  von  uns  aufrecht  erhalten  zu  werden.  Die 
eine  Theorie  fühlt  zu  einer  laxen  und  leichtsinnigen,  die  andere  zu 
einer  asketischen  und  trüben  Moral.  Die  wahre  Tugend  kann  nur  in 
der  Versöhnung  beider  Gegensätze  bestehen,  sie  ist  der  Zustand  einer 
Harmonie  zwischen  den  selbstsüchtigen  und  den  geselli- 
gen Neigungen.  Sie  unterdrückt  weder  das  Eecht  der  indivi- 
duellen Triebe  zugunsten  der  allgemeinen  Glückseligkeit,  noch 
setzt  s'e  das  Interesse  des  ganzen  GescHechts  den  Leidenschaften 
des  einzelnen  gegenüber  zurück.  Sie  ist  deshalb  nur  möglich  in  dem 
vollkommen  entwickelten  Individuum,  welches  in  der  harmonischen 
EntfaLung  aller  seiner  Kräfte  und  Neigungen  sich  als  ein  lebendiges 
Glied  des  Universums  fühlt.  Ihre  innerste  Wurzel  ist  weder  die 
kühle  Überlegung  einer  selbstsüchtigen  Klugheit,  noch  die  skla- 
vische Unterwerfung  einer  sich  selbst  vergessenden  Demut,  sondern 
vielmehr  jener  Schwung  der  Seele,  vermöge  dessen  sie  sich  mit  der 


Tugend  als  Harmonie.  279 

Vollentwicklung  ihres  eigenen  Wesens  in  den  schönen  Organismus 
der  Welt  einfügt.  Diese  Grundlage  aller  Tugend  nannte  Shaftes- 
bury Enthusiasmus,  die  männliche  Begeisterung,  die  in  stolzem 
Selbstbewußtsein  das  innerste  Wesen  des  Menschen  auslebt.  Das 
Ideal  dieser  Ethik  ist  die  Ausbildung  des  Individuums,  und  damit 
hat  Shaftesbury  das  sittliche  Geheimnis  des  Zeitalters  der  Auf- 
klärung enthüllt.  Der  Begriff  der  ^Bildung]  den  die  moderne 
Kultur  hervortrieb,  nimmt  hier  schon  eine  ganz  bestimmte  Gestalt 
an.  Es  ist  diejenige  der  vollkommenen  Entfaltung  einer  bedeutenden 
Persönlichkeit:'  Dieses  sittlichen  Rechtes  ihrer  eigenartigen  Natur 
sind  sich  alle  großen  Männer  des  XVIII.  Jahrhunderts  bewußt  ge- 
wesen, und  sie  haben  eben  darin  die  Feinfühligkeit  für  die  Auffassung 
fremder  Individualitäten  gewonnen,  die  ihnen  allen  in  großartig- 
stem Maße  eigen  gewesen  ist.  Und  auch  darin  ist  Shaftesbury  ein 
Vorbild  der  folgenden  Zeit,  daß  er  diese  Bildung  des  Individuums 
unter  dem  ästhetischen  Gesichtspunkte  begreift.  Das  sittliche  Leben 
in  der  harmonischen  Ausbildung  aller  individuellen  Kräfte  ist  ihm 
eine  Axt  von  Kunstwerk,  und  die  Tugend  wird  dadurch  zu  einer 
genialen  Virtuosität  in  der  Behandlung  des  eigenen  Lebens.  In 
diesem  Keime  lag  die  sittliche  Größe  des  XVIII.  Jahrhunderts  neben 
seiner  Schwäche  und  seinen  Gefahren.  Denn  die  Verknüpfung  des 
ästhetischen  mit  dem  moralischen  Gesichtspunkt  konnte  leicht 
dazu  führen,  den  letzteren  dem  ersteren  unterzuordnen,  und  sie 
zeigte  später  die  wachsende  Neigung,  die  Moral  des  gewöhnlichen 
Lebens  dem  genialen  Drange  ästhetischer  Interessen  zu  opfern. 
Gleichwohl  bleibt  diese  Verschmelzung  des  sittlichen  und  des 
künstlerischen  Lebens  einer  der  bedeutsamsten  Züge  in  dem  Cha- 
rakter der  Aufklärung,  und  sie  spiegelt  sich  vor  allem  auch  in  dem 
ästhetischenOptimismus,  welcher  die  Weltanschauungen  dieses 
Zeitalters  zum  größeren  Teile  durchdringt.  Die  Vorstellung  von 
einer  harmonischen  Lebendigkeit  des  Weltalls,  die  alle  Mängel  und 
Widersprüche,  alle  Schäden  und  Gebrechen  der  einzelnen  Dinge  in 
den  großen  Ozean  allgemeiner  Vollkommenheit  untextaucht  und  in 
den  Dishaxmonien  nux  die  unumgängliche  Bedingung  dex  Hax-7 
monien  sieht,  ist  einex  dex  bessexen  Lieblinirsoedanken  dex  Auf- 
klärung,  und  wenn  dieser  in  der  Theodicee  von  Leibniz  seine 
tiefste  metaphysische  Ausführung  fand,  so  zeigt  er  seinen  Ursprung 
aus   der    ästhetischen  Auffassung  nirgends   deutlicher,   als  in  der 


280  Hutcheson. 

begeisterten  und  schönen  Darstellung,  die  ihm  Shaftesbury  gegeben 
hat:  auch  in  dieser  Hinsicht  hat  er  auf  die  deutschen  Dichter,  be- 
sonders der  Sturm-  und  Drangperiode,  einen  sehr  bedeutenden 
Einfluß  ausgeübt,  der  sich  am  klarsten  bei  Herder  und  in  Schillers 
Philosophie  des  Julius  zu  erkennen  gibt.  Diese  Ansicht  erscheint 
schon  bei  Shaftesbury  in  Verbindung  mit  religiösen  Überzeugungen, 
welche  mit  denen  des  englischen  Deismus  überhaupt  sich  decken 
und  deshalb  an  späterer  Stelle  uns  dem  Namen  des  großen  Moralisten 
noch  einmal  werden  begegnen  lassen. 

Der  prinzipielle  Standpunkt  von  Shaftesburys  Moral  lief  somit 
darauf  hinaus,  die  moralische  Beurteilung  mit  der  ästhetischen  in 
Parallele  zu  setzen,  und  es  lag  deshalb  nahe,  wie  man  von  einem 
künstlerischen  Geschmacke  als  einer  besonderen  Seelenkraft  sprach, 
so  auch  zu  der  Annahme  von  einer  Art  von  moralischem  Ge- 
schmack, einem  ursprünglichen  Beurteihmgs vermögen  für  das 
Gute  fortzuschreiten.  Je  mehr  man  das  tat,  je  stärker  man  die 
Existenz  einer  moralischen  Anlage  des  Menschen  betonte,  um  so 
weiter  entfernte  man  sich  offenbar  von  den  Prinzipien  der  Locke- 
schen Psychologie,  in  denen  die  Eingeborenheit  der  praktischen 
Prinzipien  ebenso  energisch  abgelehnt  worden  war,  wie  diejenige 
von  theoretischen  Gesetzen  und  Begriffen.  Am  stärksten  trat  dies 
bei  dem  Irländer  Francis  Hutcheson  (1694 — 1747)  hervor.  Schon 
der  Titel  seines  ersten  Werkes  »Inquiry  into  the  original  of  our  ideas 
of  beauty  and  virtue«  (London  1720)  zeigt  die  gemeinsame  Be- 
handlung der  moralischen  und  der  ästhetischen  Fragen,  und  in 
seinen  späteren  Schriften,  vor  allem  in  dem  posthumen  System 
der  Moralphilosophie,  tritt  die  Lehre  von  der  Ursprünglichkeit 
des  »moralischen  Sinnes«  in  Parallele  zu  dem  Schönheitssinne 
mit  voller  Klarheit  und  Entschiedenheit  auf.  Er  will  die  moral- 
philosophischen Untersuchungen  auf  die  Betrachtung  der  Tatsache 
gründen,  daß  wir  bei  der  Prüfung  der  Motive  unserer  Handlungen 
den  prinzipiellen  und  nicht  weiter  ableitbaren  Unterschied  der 
selbstsüchtigen  und  der  wohlwollenden,  der  egoistischen  und  der 
altruistischen  Neigungen  vorfinden,  und  daß  wir  nur  den  letzteren 
und  den  aus  ihnen  hervorgegangenen  Handlungen  unsern  mora- 
lischen Beifall  geben.  Diese  Billigung  kann,  wie  er  meint,  nur 
aus  einem  ursprünglichen  Beurteilungsvermögen  hervorgehen,  das 
somit  für  einen  wesentlichen  Bestandteil  der  menschlichen  Natur 


Butler.  281 

anzusehen  sei.  Von  hier  aus  war,  wie  sich  zeigen  wird,  nur  noch 
ein  sehr  kleiner  Schritt  zu  der  Opposition,  welche  die  schottischen 
Philosophen  der  Lockeschen  Lehre  machten.  Diese  ästhetisierende 
Richtung  zog  ihre  besondere  Stärke  aus  dem  nahen  Verhältnis, 
worin  sie  selbstverständlich  zu  der  gleichzeitigen  schönen  Literatur 
stand,  und  gerade  in  dieser  herrschte  —  man  denke  nur  an  Männer 
wie  Richardson,  Fielding,  Hogarth,  Goldsmith  — ■  die  moralisierende 
Tendenz  in  solchem  Maße,  daß  sie  die  psychologischen  Analysen 
des  ethischen  Lebens,  die  sie  bei  den  Philosophen  fand,  freudig  sich 
aneignete  und  weiterspann. 

Von  der  ethischen  Fundamentaltatsache  aus,  die  in  der  Be- 
urteilung von  Handlungen  und  Gesinnungen  nach  den  Prädikaten 
gut  und  böse  gegeben  ist,  verzweigen  sich  nun  die  Untersuchungen 
der  englischen  Moralisten  nach  verschiedenen  Richtungen.  Wenn 
als  Gegenstand  der  sittlichen  Billigung  zunächst  die  altruistischen 
Gesinnungen  und  Handlungen  betrachtet  wurden,  so  fragte  es  sich, 
wie  der  Mensch  mit  seinem  natürlichen  Egoismus  dazu  komme,  das 
Wohl  des  Nächsten  zum  Inhalte  seines  Wollens  zu  machen.  Der 
Optimismus  Shaftesburys  und  der  ästhetische  Sinn  Hutchesons  über- 
hoben sich  dieser  Frage  durch  die  Annahme  einer  psychologischen 
Ursprünglichkeit  des  Altruismus.  Weiter  schon  ging  ein  Anhänger 
Shaftesburys,  der  Bischof  Jos.  Butler  (1692—1752),  der  in  seinen 
»Sermons  upon  human  nature«  (1726)  die  moralischen  Gefühle  als 
Affekte  der  Reflexion  betrachten  lehrte  und  die  Motive  für 
die  Befolgung  des  Sittengesetzes,  das  ihm  als  göttliches  Gebot  galt, 
zum  Teil  in  den  Rückwirkungen  unserer  Voraussicht  der  Beurtei- 
lungen fand,  die  unser  Wollen  und  Tun  bei  Gott  und  Menschen 
finden  werden. 

Viel  radikaler  hatte  schon  das  von  Hobbes  begründete  »sel- 
fish  System«  die  vermittelnden  Vorgänge  zu  analysieren  gesucht, 
durch  welche  das  moralische  Handeln  als  ein  zweckmäßiges  Mittel 
zur  Verwirklichung  des  Egoismus  selbst  nachgewiesen  werden  sollte : 
hier  glaubte  man  die  Annahme  moralischer  Gesinnungen  und  An- 
lagen im  Menschen  überhaupt  entbehren  zu  können.  Der  empi- 
rische Zusammenhang  des  gesellschaftlichen  Lebens  schien  zu  ge- 
nügen, um  den  scheinbaren  Widerspruch  zwischen  dem  Egois- 
mus und  dem  altruistischen  Handeln  zu  erklären.  Das  ergab 
eine  bequeme  Moral.     Je  mehr  es   gerade  die  höheren  Stände  der 


282  Paley,  Utilismus. 

Gesellschaft  waren,  in  denen  diese  Betrachtungen  mit  Vorliebe  ge- 
lesen und  besprochen  wurden,  um  so  mehr  kam  die  Neigung  auf, 
den  Lebensgenuß,  dessen  man  sich  hier  erfreute,  und  die  bald  naive, 
bald  raffinierte  Ausnutzung  der  Verhältnisse,  die  hier  Sitte  war, 
unter  der  Form  eines  philosophischen  Systems  zu  rechtfertigen, 
ihm  aber  dabei  eine  geistreich  Spieler» de  Darstellung  zu  geben  und 
sich  über  die  Schwächen  dieses  großen  Lebens  mit  mehr  oder  weniger 
Frivolität  hinwegzuscherzen.  Die  berühmten  Briefe  von  Chester- 
field  (1694 — 1773)  an  seinen  natürlichen  Sohn,  die  uns  das  ganze 
Bild  der  damaligen  Gesellschaft  entrollen,  sind  ein  lebendiges  Zeug- 
nis dafür,  welches  jedoch  in  der  Literaturgeschichte  und  in  der 
Sittengeschichte  einen  bedeutenderen  Platz  in  Anspruch  zu  nehmen 
hat,  als  in  dem  Zusammenhange  dieser  Darstellung. 

Die  Annahme  aber,  daß  der  Mensch  von  Natur  durchweg 
egoistisch  angelegt  sei,  konnte  auch  in  der  entgegengesetzten  Kich- 
tung  verfolgt  werden,  indem  das  Bewußtsein  des  Sittengesetzes 
auf  Autorität  begründet  und  seine  Befolgung  durch  die  an  die 
Autorität  sich  knüpfenden  Motive  erklärt  wurde.  Diese  an  Locke 
sich  lehnende  Auffassung  wurde  viel  gröber  als  von  Butler  später 
von  William  Paley  (1743 — 1805)  in  seinen  »Principles  of  moral 
and  political  philosophy«  (1785)  vertreten.  Daß  der  Mensch  gegen 
seinen  natürlichen  Egoismus  handelt,  ist  nur  durch  die  Unter- 
werfung unter  einen  allmächtigen  Willen  zu  begreifen,  von  dem 
er  Strafe  zu  fürchten  und  Belohnung  zu  hoffen  hat.  So  beruht 
für  Paley  das  Sittengesetz  auf  dem  geoffenbarten  Willen  Gottes 
und  seine  Befolgung  auf  dem  durch  Furcht  und  Hoffnung  begründe- 
ten Gehorsam  des  Menschen. 

Den  Inhalt  des  Sittengesetzes  bildet  aber  auch  hier  nur  das 
Wohl  des  Nebenmenschen.  Darin  kommt  der  extreme  Ortho- 
doxismus mit  den  psychologischen  Theorien  seiner  deistischen  und 
ebenso  auch  seiner  sensualis  tischen  Gegner  über  ein.  Es  geht  durch 
die  moralistische  Literatur  dieser  Zeit  in  England  ein  breiter  Strom 
psychologischer  Gemeinschaft,  und  dieser  besteht  in  einer  Grund- 
annahme, die  später  als  Utilismus  oder  Utilitarismus  be- 
zeichnet worden  ist.  Das  menschliche  Wollen,  so  meinte  man, 
kann  nur  Wohl  und  Wehe,  Lust  und  Unlust  zu  seinem  Gegenstande 
haben,  indem  es  die  eine  begehrt  und  die  andere  verabscheut:  alles 
übrige  wird  nur  indirekt  um  der  Lust  oder  der  Unlust  willen  geliebt 


Clarke.  283 

oder  gehaßt.  Daraus  schien  sich  zu  ergeben,  daß  Wert  und  Miß- 
weit  der  menschlichen  Handlungen  nur  danach  bemessen  werden 
könne,  in  welchem  Maße  sie  Lust  oder  Unlust  herbeizuführen  ge- 
eignet sind.  D?e  Assoziationspsychologen,  von  denen  später 
zu  handeln  sein  wird,  führten  diese  ihren  Prinzipien  durchaus  ent- 
sprechende Theorie  besonders  aus,  und  sie  glaubten  damit  sogar 
ein  objektives  Kriterium  der  Moral  gefunden  zu  haben.  In 
diesem  Sinne  einigte  man  sich  auf  die  später  üblich  gewordene 
Formel:  »Das  größte  Wohl  der  größten  Anzahl«. 

Diesem  Utilismus  gegenüber  fehlte  es  nicht  an  entgegenstehen- 
den Theorien,  die  ein  objektives  Prinzip  der  Moral  auf  metaphysi- 
schem Wege  zu  finden  hofften.  Die  Neuplatoniker  von  Cambridge, 
die  in  psychologischer  Hinsicht  die  moralischen  Ideen  als  »ein- 
geboren« betrachteten,  sahen  die  Norm  der  Sittlichkeit  in  dem 
vernünftigen,  von  Gott  gegebenen  Wesen  des  Menschen  und  seiner 
mmer  höheren  Vervollkommnung.  Interessanter  noch  erscheinen 
liejenigen  Versuche,  welche  nicht  ohne  Abhängigkeit  von  der  car- 
;esianischen  Philosophie  die  Gesetze  des  moralischen  Lebens  auf 
•ein  theoretische  Prinzipien  zurückzuführen  geneigt  sind.  Auf 
lieser  Seite  steht  in  erster  Linie  Samuel  Clarke  (1675—1729),  der,  LLp^^ 
an  Schüler  Lockes  und  Newtons,  der  cartesianischen  Philosophie  aus 
:eilweise  religiösen  Gründen  so  weit  huldigte,  daß  er  die  Lehre  von 
ler  menschlichen  Willensfreiheit  in  seiner  ausführlichen  Korre- 
spondenz mit  Leibniz  gegen  den  Determinismus  des  letzteren  ver- 
eidigte und  sie  mit  ausdrücklicher  Bekämpfung  Lockes  auf  den 
Begriff  der^ geistigen  Substanz  und  der  zu  dieser  gehörenden  Fähig- 
keit selbständiger  und  ursprünglicher  Handlungen  stützte.  In  der 
Vloralphilosophie  ist  er  dadurch  wichtig,  daß  er,  indem  er  ein  ob- 
jektives Prinzip  der  Moral  suchte,  ihre  Gesetze  als  die  Vor- 
schriften auffaßte,  welche  der  menschlichen  Willkür  durch  die 
natürliche  Beschaffenheit  der  Dinge  auferlegt  werden.  Es  hängt 
von  unserer  Willkür  ab,  ob  wir  ein  Dreieck  zeichnen  wollen;  sofern 
wir  aber  ein  richtiges  Dreieck  zeichnen  wollen,  müssen  wir  es  so 
einrichten,  daß  die  Winkel  zusammen  weder  mehr  noch  weniger  als 
jwei  Rechte  betragen.  Auch  die  Eingriffe  unserer  Tätigkeit  in  den 
Zusammenhang  der  Dinge  hängen  in  ähnlicher  Weise  von  unserer 
vVillkür  ab.  Aber  diese  Handlungen  sind  sogleich  fasch,  und  zwar 
lach  Clarkes  Meinung  auch  in  moralischem  Sinne  falsch,  wenn  wir 


284  Wollaston. 

sie  nicht  nach  der  natürlichen  und  selbst  für  die  Gottheit  unab 
änderlichen  Beschaffenheit  der  Dinge  eingerichtet  haben.  Wa; 
Clarke  vorschwebt,  ist  der  immerhin  bedeutsame  Gedanke,  daß  de] 
menschlichen  Willkür  die  großen  Gesetze  der  Wirklichkeit  als  eint 
moralisch  bindende  Macht  gegenüberstehen,  —  ein  Moralprinzij; 
freilich  auf  der  anderen  Seite,  weit  entfernt  von  jenem  Idealismus, 
mit  dem  andere  Systeme  die  Umgestaltung  der  Eealität  für  die 
eigentliche  Aufgabe  des  sittlichen  Lebens  erklärt  haben,  —  eine 
Moral  der  Praxis,  die  sich  ihre  Gesetze  von  der  bestehenden  Welt 
diktieren  läßt.  Das  philosophische  Element  darin  ist  das  Streben 
nach  einer  objektiven,  in  der  Natur  der  Dinge  selbst  liegenden  Be- 
gründung der  Moral,  und  diesem  gab  gleichzeitig  und  vielleicht  nicht 
ohne  Abhängigkeit  von  Clarke  eine  logische  Wendung  William 
Wollaston  (1659—1724).  Er  faßte  die  Sache  von  dem  Gesichts- 
punkte, daß  jede  moralische  Handlung  einen  theoretischen  Satz 
und  damit  ein  Urteil  über  die  Beschaffenheit  des  behandelten  Dinges, 
bzw.  der  vorliegenden  Verhältnisse  involviere.  Er  machte  freilich 
daneben  darauf  aufmerksam,  daß  man  von  diesem  Urteil  nicht  nur 
die  Handlung,  sondern  auch  die  Willensentscheidung  wohl  zu  unter- 
scheiden habe,  wie  man  auch  bei  Clarke  einer  sorgsamen  Unter- 
suchung über  den  Unterschied  des  Willens  vom  bejahenden  Urteile 
begegnet,  —  ein  Problem,  das  die  cartesianischen  Untersuchungen 
über  den  Irrtum  nahegelegt  hatten.  Wenn  nun  auch  Wollaston 
die  Handlung  von  dem  Urteile  verschieden  dachte,  so  meinte  er 
doch,  daß  eben  der  Wert  der  Handlung  mit  dem  Werte  dieses 
Urteils  stehe  und  falle,  und  fand  infolgedessen  das  moralische 
Kriterium  darin,  daß  dieses  Urteil  entweder  wahr  oder  falsch  sei. 
Für  ihn  ist  deshalb  die  moralische  Handlung  diejenige,  bei  der  jenes 
darin  enthaltene  Urteil  den  Gegenstand  oder  das  Verhältnis,  worauf 
sich  die  Handlung  bezieht,  richtig  und  erschöpfend  erkannt  hat. 
Es  ist  klar,  daß  diese  logische  Richtigkeit,  im  Grunde  genommen, 
eben  nur  dasselbe  bedeutet,  was  Clarke  handgreiflicher  als  Sacli- 
g_e_mäßheit  bezeichnet  hatte.  Wenn  dann  Wollaston  schließlich 
noch  den  Nachweis  hinzufügt,  daß  die  Handlungen,  die  sich  in  dieser 
Weise  eines  logisch  richtigen  Inhaltes  erfreuen,  notwendig  auch  zur 
Glückseligkeit  führen,  so  kann  er  diesen  Weg  zu  dem  Shaftesbury- 
schen  Eudämonismus  nur  dadurch  finden,  daß  er  seiner  logischen 
Richtigkeit  die  Clarkesche  Sachgemäßheit  unterschiebt  und  aus- 


Mandeville.  285 

Lührt,  wie  diejenige  Behandlung  der  Verhältnisse,  welche  sich  auf 
ieren  richtige  Erkenntnis  stützt,  von  selbst  eine  für  den  Handeln- 
len  ersprießliche  Gestaltung  herbeiführt. 

So  kommt  auch  hier  schließlich  ein  utilißtisches  Grundmotiv 
.md  jener  Eudämonismus  zutage,  den  Shaftesbury  im  Anschluß 
in  die  Antike  vorbildlich  verkündet  hatte.  Er  hatte  für  das  Auf- 
klarungszeitalter  um  so  mehr  axioma tische  Geltung,  als  er  auch 
las  adäquate  Prinzip  für  die  Wertbeurteilung  der  öffentlichen  Ein- 
richtungen zu  bilden  schien.  Als  ein  negativer  Beweis  dafür  kann 
lie  so  verschieden  beurteilte  und  so  oft  geschmähte  Bienenfabel  \ 
/on  Mandeville  (1670 — 1733)  angesehen  werden.  Ihr  Verfasser, 
)bwohl  ein  in  Holland  geborener  Franzose,  gehört  doch  seiner 
ganzen  Bildung  nach  der  Moralphilosophie  und  dem  Deismus  der 
Engländer  an.  So  schwer  es  ist,  die  eigenste  persönliche  Meinung 
les  Mannes  aus  seiner  geistvollen  »Fable  of  the  bees  or  private 
/ices  made  public  benefits«  (zuerst  London  1714)  mit  voller  Sicher- 
lei t  herauszulesen,  so  stark  ist  das  Licht,  welches  von  ihr  auf  die 
Meinungen  jener  Zeit  zurückfällt,  und  so  charakteristisch  ist  die 
Stellung,  die  ihr  in  den  moralischen  Lehren  des  Aufklärungszeit- 
dters  zukommt.  Diese  Fabel  stellt  den  Zustand  der  menschlichen 
Gesellschaft  mit  allen  ihren  moralischen  Schwächen  und  Gebrechen 
'mter  dem  Bilde  eines  Bienenstockes  dar,  und  sie  fügt  die  Fiktion 
linzu,  Zeus  habe  plötzlich,  den  Bienen  nachgebend,  alle  Bienen 
;ut,  tugendhaft  und  ehrlich  gemacht  —  und  siehe  da!  die  ganze 
Maschinerie  des  gesellschaftlichen  Lebens  und  des  staatlichen  Zu- 
ammenhanges  stand  still.  Niemand  stahl  und  betrog  mehr;  jeder 
bezahlte  seine  Schulden,  der  Eichter  und  die  Polizei  waren  zur 
Jntätigkeit  verdammt;  alle  Konkurrenz  in  den  Gewerben,  aller 
Vettstreit  des  Ehrgeizes  war  aufgehoben,  und  die  Gesellschaft  fand 
ich  zu  traurigster  Lethargie  verdammt.  Hier  wurde  den  Moralisten 
gewissermaßen  der  Revers  der  Medaille  gezeigt;  es  sollte  ihnen 
dar  werden,  daß  die  menschliche  Kultur  nur  in  Verbindung  mit 
len  moralischen  Schwächen  denkbar,  daß  ein  Staat  von  nur  tugend- 
laften  Menschen  unmöglich  sei,  und  das  einzige,  was  die  Bienen- 
abel predigte,  war  dieses:  wollt  ihr  die  Kultur,  so  bekreuzt  euch 
icht  vor  dem  Egoismus,  ohne  den  sie  nicht  möglich  ist.  Man 
:ann  annehmen,  daß  Mandeville  damit  lediglich  eine  Tatsache 
ussprechen  wollte,  und   es   ist  nicht  unbedingt  nötig,   in   dieser 


286  Mandeville. 

Darstellung  des  genauen  Zusammenhanges  zwischen  der  Kultur  unc 
den  moralischen  Schäden,  welche  sie  mit  sich  führt,  eine  Apologie  de& 
Lasters  oder  eine  Empfehlung  der  Immoralität  zu  sehen.  Ebensc 
falsch  aber  ist  es  auf  der  anderen  Seite,  die  Bienenfabel  unter  den 
Rousseauschen  Gesichtspunkt  zu  stellen  und  zu  meinen,  Mande- 
ville habe  zeigen  wollen,  daß  die  Kultur  um  ihrer  notwendiger 
Immoralität  willen  verwerflich  sei.  Denn  nichts  liegt  Mandeville 
ferner,  als  von  einer  ursprünglichen  Güte  der  menschlichen  Natur, 
etwa  wie  Rousseau,  zu  träumen.  Der  Staat  von  ehrlichen  Leuten 
gilt  ihm  deshalb  für  unmöglich,  weil  er  unna türlich  ist,  und  dei 
natürliche  Mensch  ist  ihm  nicht  der  tugendhafte,  sondern  der 
selbstsüchtige  und  von  persönlichen  Begierden  und  Leidenschaften 
erfüllte.  D^e  große  Bedeutung  seiner  Fabel  liegt  vielmehr,  wenn 
auch  vielleicht  von  ihm  ungewollt,  nach  einer  ganz  anderen  Richtung. 
Er  zeigt,  wie  die  Kultur,  auf  welche  das  Glückseligkeitsbestreben 
des  Menschen  hinausläuft,  in  einem  inneren  Widerspruche  mit  der 
Moralität  steht;  er  weist  nach,  daß  wir  durch  die  Tugend  joicht 
glücklich  werden,  und  daß  die  Triebkraft  in  der  großen  Maschinerie 
des  gesellschaftlichen  Lebens  nicht  die  Tugend,  sondern  der  Egoismus 
ist.  Seine  Fabel  ist  —  gewollt  oder  nicht  gewollt  —  eine  glänzende 
Widerlegung  des  Eudämonismus.  Sie  läßt  durchblicken,  daß  der 
Mensch  den  Zustand  einer  glücklichen  Kultur  und  einer  Befriedi 
gung  seiner  natürlichen  Bedürfnisse  nicht  der  Tugend,  sondern  de: 
Selbstsucht  verdankt;  sie  läßt  ahnen,  was  später  Kant  so  fein  unc 
so  tiefsinnig  gezeigt  hat,  daß  die  Natur,  wenn  sie  den  Menschen  zur 
Glückseligkeit  hätte  schaffen  wollen,  kein  ungeeigneteres  Mittel 
hätte  finden  können,  als  indem  sie  ihm  neben  den  selbstsüchtigen 
Neigungen  den  moralischen  Trieb  einpflanzte;  sie  deutet  darauf 
hin,  daß  unter  die  Mittel  zur  Herbeiführung  der  menschlichen  Glück- 
seligkeit die  Moral  nicht  gehört.  Mandeville  sagt  selbst,  wenn  auch 
vielleicht  persönlich  nicht  ohne  ironischen  Anflug,  die  Tugend  sei 
gar  nicht  dazu  da,  uns  glücklich  zu  machen,  die  christliche  Moral 
lehre  ja  überall,  daß  wir  unser  Fleisch  zu  kreuzigen  hätten,  und  so 
wenig  auch  er  selbst  sich  im  kantischen  Geiste  zu  der  Forderung  hat 
erheben  können,  die  Tugend  zu  üben  gerade  trotz  der  Hemmnisse, 
welche  sie  den  menschlichen  Glückseligkeitsbestrebungen  bereitet, 
so  ist  doch  seine  historische  Kulturbedeutung  die,  daß  er  diese  Anti- 
nomie zwischen  der  Moralität  und   der   psychologisch-natürlichen 


Deismus.  287 

Selbstsucht  aufgedeckt  und  damit  jenen  Eudämonismus  ad  absurdum 
geführt  hat,  der  entweder  seicht  genug  war,  an  eine  unausbleib- 
lich beglückende  Kraft  des  tugendhaften  Handelns  zu  glauben,  oder 
raffiniert  genug,  um  in  der  Tugend  nur  das  sicherste  oder  anständigste 
Mittel  zur  Befriedigung  der  natürlichen  Begierden  zu  ergreifen. 
Die  Bienenfabel  ist  ein  außerordentlich  bedeutsames  Moment  in 
der  kulturphilosophischen  Dialektik  des  Aufklärungszeitalters,  das 
im  allgemeinen  die  moralischen  und  gesellschaftlichen  Zustände 
in  dem  Maße  der  von  ihnen  herbeigeführten  Glückseligkeit  zu 
messen  geneigt  war.  Je  mehr  später  namentlich  in  Frankreich  das 
Elend  der  öffentlichen  Zustände  das  Nachdenken  der  wohlwollen- 
;len  Denker  in  Anspruch  nahm,  um  so  energischer  tauchte  das 
[deal  eines  moralischen  und  politischen  Zustandes  auf,  der  zur  all- 
gemeinen Glückseligkeit  führe.  Die  französische  Eevolution  ruhte 
iuf  diesem  Ideal,  und  Rousseau  ist  sein  Prophet.  Mandevilles  Be- 
leutung  besteht  darin,  daß  er  dies  Ideal  als  eine  Illusion  zu  zer- 
stören suchte;  aber  sein  Mangel  liegt  eben  darin,  daß  er  sich  zu 
dner  von  dem  Glückseligkeitsstreben  unabhängigen  Moral  nicht 
;u  erheben  vermochte. 

§  30.    Der  Deismus. 

Mannigfache  Zusammenhänge  persönlicher  und  gedanklicher  Art 
rerbinden  die  Entwicklung  der  englischen  Moralphilosophie   mit 
l  er  jenigen  der  Religionsphilosophie,  worin  das  Aufklärungszeitalter 
o  sehr  seine  Hauptgedanken  vereinigt  zu  haben  glaubte,  daß  es 
ien  Namen  des  Freidenkertums  speziell  für  diese  Richtung  in  An- 
bruch nahm.    Und  in  der  Tat  kam  der  Charakter  jener  Zeit,  mit  allen 
hren  Vorzügen  so  gut  wie  ihren  Schwächen,  in  dieser  Richtung  zum 
ollendetsten  Ausdruck,  und  auch  in  ihr  haben  die  Engländer  das 
Verdienst  nicht  nur  der  ersten  und  originalen,  sondern  auch  der 
infachsi:en  und  wirkungsvollsten  Leistungen.    Die  geistige  Revolu- 
ion  Englands  war,  wie  seine  politische:  gewaltig,  großartig,  taten- 
nd  gedankenvoll,  aber  weder  so  blendend  noch  so  verzehrend,  weder 
o  zündend  noch  so  zerstörend  wie  die  französische.    Diese  geistige 
Revolution    aber,     dem    Gedanken    der    Freiheit    ebenso    nach- 
ehend  wie  die  politische,  mußte  den  Begriff  der  individuellen  Frei- 
eit  und  das  Bestreben  einer  natürlichen  Begründung  der  Wissen- 
shaft vor  allem  auch  auf  dem  religiösen  Gebiete  entwickeln,  und 


i 


288  Deismus. 

wenn  das  intellektuelle  Leben  Europas  seit  der  Renaissance  aus 
den  konfessionellen  Formen  und  Formeln  immer  mehr  heraus- 
gewachsen war,  wenn  das  Denken  von  allen  Seiten  her  auf  einen 
überkonfessionellen  Standpunkt  hindrängte,  so  glaubte  sich  der 
englische  Deismus  dazu  berufen,  das  religiöse  Leben  von  der 
Enge  konfessioneller  Dogmen  in  der  Tat  zu  befreien  und  den  posi- 
tiven Religionen  eine  natürliche,  d.  h.  eine  philosophische  Religion 
gegenüberzustellen.  Wie  die  Rechtsphilosophie  an  die  Stelle  der 
theologischen  Ableitung  das <  Naturrecht,  wie  die  Moralphilosophie 
an  die  Stelle  der  göttlichen  Gebote  die  "moralische  Anlage  der  mensch- 
lichen Natur  setzte,  so  entwarf  der  Deismus  der  kirchlichen  Dog- 
ma tik  gegenüber  diex Naturreligion.  Die  Identifizierung  des,,  Natür- 
lichen und  des  .Vernünftigen/  welche  durch  die  ganze  Aufklärung 
hindurchgeht,  trat  in  diesem  Falle  nicht  nur  in  der  schärfsten  Form, 
sondern  bereits  von  Anfang  an  mit  jener  polemischen  Tendenz  gegen 
die  historisch  gewordenen  Formen  auf,  die  das  XVIII.  Jahrhundert 
immer  schroffer  ausgebildet  hat.  Ja  man  kann  sagen,  daß  durch 
den  Deismus  die  Unterscheidung  des  Natürlichen  und  des  Histo- 
rischen, vermöge  deren  das  letztere  als  ein  Verkünsteltes  und  Ver- 
dorbenes erschien,  und  welche  bald  mit  der  Unterscheidung  des 
Vernünftigen  und  des  Unvernünftigen  für  gleichbedeutend  erklärt 
wurde,  dem  Denken  der  Aufklärung  geläufig  gemacht  worden  ist. 
Es  ist  klar,  daß  diese  Religionsphilosophie  mit  ihrer  Annahme 
einer  aus  dem  Wesen  der  menschlichen  Natur  überall  gleichmäßig 
sich  ergebenden  Religiosität  sich  zu  der  Lockeschen  Psychologie  von 
Anfang  an  in  einem  verwandten  Gegensatz  befand,  wie  ihn  di( 
Moralphilosophie  zum  Teil  ausprägte.  Wollte  sie  zeigen,  daß  das 
religiöse  Leben  in  den  allgemeinsten  Grundzügen,  die  sie  in  ihrem 
Begriffe  der  Naturreligion  zusammenfaßte,  ein  überall  sich  gleich- 
bleibender, integrierender  Bestandteil  der  menschlichen  Natur  sei, 
so  war  sie  zu  der  Annahme  eines  religiösen  Sinnes  ebenso  ge- 
nötigt wie  die  Moral philosophie  zu  derjenigen  eines  moralischen 
Sinnes.  Beides  aber  stand  in  gleichem  Widerspruch  mit  der  Lehn 
von  Locke,  wonach  die  Seele  als  eine  »tabula  rasa  «  aufgefaßt  werden 
sollte,  auf  die  erst  die  Erfahrung  ihre  Züge  schriebe.  Die  Religions- 
philosophie war  von  der  entgegengesetzten  Strömung  von  vorn- 
herein getragen,  und  ihr  Prinzip  war  schon  weit  vor  l^ocke  durch 
den  Vater  des  Deismus,  Herbert  von  Cherbury  (1581 — 1648), 


Herbert.  289 

ausgesprochen  worden.    Ihm  war  die  Seele  durchaus  keine  »tabula 
rasa«,  sondern  vielmehr  ein  verschlossenes  Buch,  von  dem  er  lehrte, 
daß  es  sich  auf  die  Veranlassungen  der  Natur  öffne  und  seine  inneren 
Schätze  zeige.    Sie  trägt  seiner  Ansicht  nach  eine  Anzahl  allgemeiner, 
bei  allen  Menschen  gleicher  und  deshalb  auch  allgemein  anzuer- 
kennender Wahrheiten  in  sich;  sie  besitzt  darum  auch  einen  natür- 
lichen Instinkt  in  Rücksicht  der  religiösen  Probleme,  und  aus  diesem 
entwickelt   sich   eine   Reihe   eingeborener   Erkenntnisse   über   das 
Wesen  der  Gottheit,  welche  den  Inhalt  der  Vernunftreligion  oder 
der  natürlichen  Religion  bilden.     Auf  diesem  Standpunkte  er- 
scheint Herbert  im  Gegensatze  zu  Hobbes ;  dieser  war  zwar   der 
Annahme  allgemein  verbreiteter  religiöser  Vorstellungen  nicht  ab- 
geneigt, wollte  sie  aber  am  liebsten  als  Aberglaube  bezeichnet  und 
ihre  Erhebung  zum  Werte  der  Religion  erst  von  der  staatlichen 
Sanktionierung  abhängig  wissen;  umgekehrt  glaubte  Herbert  den 
wahrhaft  religiösen  Geist  nur  in  den  einfachen  und  natürlichen 
'  Wahrheiten  suchen  zu  sollen  und  betrachtete  alle  in  der  Geschichte 
aufgetretenen  Zusätze  eher  als  Verirrungen  und  Verfälschungen. 
t  Auf  der  anderen  Seite  war  es  diese  Lehre  Herberts  von  einer  einge- 
borenen religiösen  Erkenntnis,  gegen  welche  Locke  seine  schneidige 
■  Polemik  ebenso  energisch  wie  gegen  die  theoretischen  Ideen  des 
Neupia tonismus  und  des  Cartesianismus  richtete.    Daß  endlich  diese 
Erhebung  über  alle  kirchlichen  und  konfessionellen  Einzeldogmen 
•bei  den  Orthodoxen  aller  Richtungen  auf  den  lebhaftesten  Wider- 
spruch stieß,  ist  selbstverständlich,  und  es  widerfuhr  Herbert  bald 
'die  Ehre,  von  dem  Kieler  Kanzler  K orthold  neben  Hobbes  und 
•Spinoza  als  einer  der  »drei  großen  Betrüger«  angeklagt  zu  werden. 
■Ehe  er  selbst  noch  eigentlich  polemisch  vorgegangen  war,  ahnte 
man  die  kritische  Tendenz,  welche  die  Vernunftreligion  den  positiven 
Dogmen  gegenüber  einnehmen  mußte. 

So  sehr  Locke  den  Standpunkt  des  religiösen  Instinkts  bekämpft 
'hatte,  sowenig  erschien  doch  in  der  Folge  seine  Lehre  damit  un- 
aussöhnlich.  |  Konnte  man  doch  auch  bei  ihm  eine  Art  von  Ver- 
nunftreligion nachweisen.  Freilich  hatte  er  das  Christentum  damit 
identifiziert,  indem  er  nachzuweisen  suchte,  daß  dessen  Lehren 
der  Vernunft  nicht  widersprächen.  Für  den  größeren  Teil  der 
Glaubenslehren  hatte  er  allerdings  angenommen,  daß  sie  trotz  ihrer 
Vernünftigkeit  von  der  Vernunft  allein  ohne  Hilfe  der  Offenbarung 

Windelband,   Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  19 


290  Toland. 

nicht  gefunden  werden  könnten;  aber  bei  einigen  wenigstens,  vor 
allem  bei  dem  Glauben  an  die  Existenz  der  Gottheit,  hatte  auch 
er  die  volle  Kationalisierung  vollzogen,  indem  er  sie  aus  bloßer 
Vernunft,  die  Existenz  Gottes  z.  B.  auf  dem  Wege  des  kosmologischen 
Beweises,  darstellbar  und  begründbar  erklärte.  Hierin  überwog 
bei  Locke  das  rationalistische,  dem  Cartesianismus  verwandte 
Moment.  Indem  nun  die  Religionsphilosophie  die  psychologische 
Streitfrage,  wie  sie  zwischen  Herbert  und  Locke  schwebte,  fallen 
ließ,  zog  sie  sich  mehr  und  mehr  darauf  zurück,  die  Ableitbarkei 
der  religiösen  Grundwahrheiten  aus  der  bloßen  Vernunft  zu  be- 
haupten, infolgedessen  aber  auch  das  religiöse  Leben  auf  diese  rein 
vernunftgemäßen  Grundwahrheiten  zu  beschränken.  Eine  Vor- 
bereitung zu  dieser  Ansicht  war  schon  während  der  kirchenpolitischen 
Streitigkeiten  des  englischen  Revolutionszeitalters  durch  die  Rich- 
tung der  Latitudinarier  gegeben,  die  alle  zwischen  den  ver- 
schiedenen Konfessionen  und  Sekten  des  Christentums  schweben- 
den Streitfragen  für  unwesentlich  erklärten  und  sich  mit  ihrer 
Überzeugung  auf  die  mit  unzweifelhafter  Klarheit  in  der  hl.  Schrift 
niedergelegten  »Grundwahrheiten«  zurückziehen  wollten. 

Eine  ähnliche  Stellung  über  den  Religionen  überhaupt  nimmt 
nun  die  Philosophie  bei  John  Toland  (1670—1722)  ein.  Er  ist  in 
gewissem  Sinne  der  charakteristischste  Vertreter  der  aufklärerischen 
'  li-  Religionsphilosophie  und  hat  eine  Reihe  ihrer  Grundprinzipien  auf 
den  typischen  Ausdruck  gebracht.  Zunächst  betont  er  mit  voller 
Schärfe  den  Grundsatz  des  »Freidenker  tu  ms«  und  bespricht 
in  eindringlicher  Weise  das  Recht  der  Denkfreiheit.  Diese  Freiheit 
ist  ihm  zunächst  die  individuelle,  sie  besteht  in  der  Abwerfung  der 
Autorität  und  in  der  Ausbildung  des  selbständigen  Urteils  für  die 
denkende  Vernunft.  So  hoch  er  die  großen  Geister  aller  Zeiten 
schätzt,  so  sehr  er  namentlich  den  Philosophen  in  dem  phantastischen 
Kultus  seiner  Freidenkergemeinde,  den  er  im  »Pantheistikon «  (1710 
mit  dem  Druckorte  Kosmopolis)  entwarf,  eine  analoge  Stellung  wie 
den  Heiligen  und  den  Kirchenvätern  des  Christentums  zuwies,  so 
wenig  erkannte  er  doch  irgend  einem  dieser  Geister  eine  absolut 
bindende  Kraft  zu,  sondern  hielt  das  Recht  der  Prüfung  für  die 
Vernunft  unter  allen  Umständen  aufrecht.  Es  war  nur  eine  Konse- 
quenz dieser  Gedanken,  wenn  Toland,  wie  die  späteren  Deisten, 
zum  eifrigen  Vertreter  der  Toleranz  wurde.     Mit  der  Forderung 


Esoterisches  Freidenkertum.  291 

der  Denkfreiheit  nahm  er  dem  Staate  das  Hecht,  sich  um  die  Mei- 
nungen seiner  Bürger  zu  kümmern  und  gar  deren  Ansichten  zu 
bestrafen,  und  es  war  wesentlich  dieser  religionspolitische  Gesichts- 
punkt, von  dem  aus  das  gesamte  Aufklärungszeitalter  zu  einer 
Auffassung  vom  Wesen  des  Staates  gelangte,  welche  dessen  Tätig- 
keit nur  auf  den  äußerlichen  Zusammenhang  der  Gesellschaft  be- 
schränkte und  ihm  nicht  die  Gesinnungen,  sondern  nur  die  Hand- 
lungen des  Menschen  und  auch  von  diesen  nur  solche,  die  zweifellos 
in  die  Sphäre  von  Kechtsverhältnissen  fallen,  unterworfen  wissen 
wollte.  Schon  Toland  predigte  deshalb  die  Toleranz  in  einer  Aus- 
dehnung, vermöge  deren  sie  auch  den  von  Locke  preisgegebenen 
Atheisten  noch  zugute  kommen  sollte. 

Allein  die  Forderung  der  Denkfreiheit  tritt  bei  Toland  in  einer 
anderen,  ganz  außerordentlich  charakteristischen  Beschränkung  auf, 
einer  Beschränkung,  die  von  einer  tiefen  und  überaus  weittragenden 
Kulturbedeutung  ist.  Kaum  einer  der  englischen  Deisten  hat 
sich  die  Gefahren  verborgen,  die  mit  der  Ausbreitung  des  Frei- 
denkertums  über  die  große  Masse  und  namentlich  in  die  untersten 
Schichten  des  Volkes  verknüpft  sind;  keiner  von  ihnen  hat  ver- 
gessen, daß  die  positiven  Religionen  zu  allen  Zeiten  eines  der  kräf- 
tigsten Bindemittel  in  dem  Gefüge  der  gesellschaftlichen  Ordnung 

<  gewesen  sind,  und  daß  mit  ihrer  Aufhebung  dieses  Gefüge  unmittel- 
bar zusammenzustürzen  droht.  Der  englische  Deismus  hat  an  dem 
theoretischen  Werte  der  positiven  Dogmen  die  schonungsloseste 
kritik  geübt,  aber  er  hat  mit  dem  eigentümlichen  Instinkte  dieser 
Nation  ihre  praktische  Bedeutung  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung 
begriffen,  und  wenn  er  dadurch  wissenschaftlich  in  eine  rettungs- 
lose Halbheit  und  Unentschiedenheit  gedrängt  worden  ist,  so  hat 
er  sich  doch  niemals  zu  einem  revolutionären  Agitationsmittel 
verwenden  lassen,  wie  es  den  gleichen  Gedanken  in  Frankreich  wi- 

1  derfahren  ist.  Die  englischen  Denker  machten  mit  ihrer  Tole- 
ranzbewegung vor  einer  gesellschaftlichen  Schranke  Halt,  und  sie 
verlangten  das  Recht  der  Denkfreiheit  nur  für  den  engeren  Kreis 
derjenigen,  welche  durch  ihre  soziale  Stellung  vor  allen  staatsge- 
fährlichen Folgerungen  bewahrt  und  durch  ihre  wissenschaftliche 
Bildung  zu  einer  maßvollen  und  unbedenklichen  Ausübung  ihrer 
Überzeugungen  befähigt  erschienen.  In  diesem  Zusammenhange 
gewann  jener  mächtige  Klassenunterschied  zwischen  Gebildeten 

19* 


292  Toland. 

und  Ungebildeten,  worauf  die  geistige  Bewegung  der  Renaissance 
hingedrängt  hatte,  eine  religiöse  Bedeutung.  Die  große  Masse  der 
Ungebildeten  wurde  von  den  englischen  Freidenkern,  insbesondere 
auch  von  Shaftesbury,  der  Herrschaft  der  positiven  Religionen 
anheimgegeben,  und  die  letzteren  fanden  auf  diese  Weise  eine  ihnen 
wenig  schmeichelhafte  Anerkennung  als  polizeiliche  Mächte.  Für 
die  Gebildeten  dagegen  verlangte  der  Deismus  das  schrankenlose 
Recht  der  Denkfreiheit,  ihnen  sollten  die  Fesseln  der  konfessionellen 
Dogmen  abgenommen  und  die  volle  Durchführung  der  vernünftigen 
Kulturreligion  gestattet  sein  .  In  diesem  Sinne  machte  Toland  den 
Unterschied  einer  esoterischen  und  einer  esoterischen 
Lehre,  einer  Vernunftreligion  für  den  Gebildeten  und  einer  posi- 
tiven  Religion  für  die  große  Masse.  Hierin  lag  das  Geschick  dieser 
Lehre  von  vornherein  besiegelt;  eine  religiöse  Lehre,  die  sich  aus- 
drücklich nur  auf  wenige  Bevorrechtete  beschränkt,  unterbindet  sich 
selbst  die  Lebensadern,  und  die  Geschichte  hat  gezeigt,  daß  diese 

Salonrelinion 'des  XVIII.   Jahrhunderts  nur  ein  künstliches  und 
ff  ö 

schließlich  lebensunfähiges  Gebilde  war.  Diese  Naturreligion,  der 
nach  einem  schlagenden  Bonmot  von  Shaftesbury  alle  weisen 
Männer  angehören  und  von  der  diese  weisen  Männer  niemals  etwas 
verraten,  war  ein  Zwitterding,  in  welchem  die  großen  Gegensätze 
der  Zeit  zwar  ausgesprochen,  aber  keineswegs  überwunden  waren. 
Dennoch  würde  man  irren,  wenn  man  diesen  verfehlten  Versuch 
einer  Trennung  des  religiösen  Lebens  zwischen  den  Gebildeten  und 
den  Ungebildeten  lediglich  etwa  den  persönlichen  Neigungen  der 
englischen  Deisten  oder  den  Verhältnissen  der  englischen  Gesell- 
schaft, aus  der  sie  stammten,  zur  Last  legen  wollte.  Diese  Exklu- 
sivität ist  vielmehr  eine  allgemeine  Eigentümlichkeit  des  gesamten 
aufklärerischen  Denkens,  und  sie  zeigt  sich  selbst  in  Frankreich, 
wo  diese  Schranken  noch  am  meisten  durchbrochen  wurden.  Das 
Jahrhundert  der  Aufklärung  übernahm  von  der  Renaissance  den 
sozialen  Gegensatz  der  Bildung  und  der  Unbildung,  und  die  gesamte 
geistige  Bewegung  des  XVIII.  Jahrhunderts  hat  sich  im  wesent- 
lichen in  den  höheren  Gesellschaftskreisen  abgespielt.  Von  den 
bedeutsamen  Fragen,  welche  dies  Jahrhundert  bewegten,  war  die 
große  Masse  mehr  oder  minder  ausgeschlossen,  und  erst  die  fran- 
zösische Revolution  hat  mit  ihren  Konsequenzen  einen  sozialen  Zu- 
stand geschaffen,  worin  eine  gleiche  Exklusivität  des  geistigen 


Pantheismus.  293 

Lebens  nicht  mehr  möglich  erscheint.  Die  kulturgeschichtliche 
Betrachtung  wird  in  dieser  eigentümlichen  Abgeschiedenheit  des 
Bodens,  auf  dem  sich  die  Ideen  des  XVIII.  Jahrhunderts  entwickel- 
ten, die  Wurzeln  ihrer  Kraft  ebensogut  erblicken  wie  diejenigen  ihrer 
Schwäche.  Sie  wird  nicht  das  Zugeständnis  verweigern  können, 
daß  die  Entwicklung  der  großen  und  scharfgeschnittenen  Indivi- 
dualitäten und  die  Ausbildung  der  ästhetischen  Zartheit  in  den 
Beziehungen  des  geistigen  Lebens  nur  in  der  Geschlossenheit  dieser 
engen  Kreise  möglich  war,  —  und  sie  wird  anderseits  niemals  ver- 
kennen dürfen,  daß  aus  eben  dieser  Abgeschlossenheit  sich  eine  ge- 
fährliche Verständnislosigkeit  für  die  schwersten  Probleme  der 
menschlichen  Gesellschaft  entwickeln  konnte.  Es  war  eine  natür- 
liche Folge,  daß  gerade  über  diese  engen  Kreise  das  erste  soziale 
Wetter,  die  französische  Kevolution,  hereinbrach;  denn  in  eben 
dieser  Exklusivität  bestand  der  innere  Widerspruch  des  Auf  klärungs- 
zeitalters.  Die  Lehren  der  Aufklärung  selbst,  die  trotz  alier  Ab- 
sperrung leise  und  allmählich  den  ganzen  Körper  der  Gesellschaft 
durchsickerten,  erzogen  jene  sozialen  Naturmächte,  deren  Sturm 
sich  gegen  nichts  anderes  richtete  als  gegen  die  gebildete  Gesell- 
schaft selbst.  Und  unter  diesen  Widersprüchen  war  einer  der  ge- 
fährlichsten eben  der  religiöse,  in  den  sich  der  Deismus  verwickelte; 
denn  vor  der  Macht  der  Aufklärung  mußte  jene  künstliche  Scheide- 
wand der  esoterischen  und  der  exoterischen  Lehre  in  Staub  zeif allen, 
und  je  mehr  sich  diese  Gesellschaft  den  religiösen  Bedürfnissen  der 
Masse  entfremdet  hat,  um  so  ratloser  steht  sie  einmal  ihren  elemen- 
taren Wirkungen  gegenüber. 

Eine  dritte  charakteristische  Eigentümlichkeit  der  Tolandschen 
Lehren  ist  die  Verschmelzung,  worin  sich  bei  ihm  der  Deismus 
mit  den  naturwissenschaftlichen  Richtungen  der  Zeit  befindet ;  doch 
ist  es  hier  noch  weniger  die  exakte  Naturforschung,  als  vielmehr 
die  theosophische  und  mystische  Naturauffassung,  zu  welcher  der 
Deismus  eine  freundliche  Stellung  einnimmt,  und  damit  hängt  es 
zusammen,  daß  der  letztere  auf  dieser  Stufe  seiner  Entwicklung 
noch  viel  eher  einem  verschwommenen  Pantheismus  zuneigt, 
als  der  ausgesprochenen  Xehre  von  der  göttlichen  Persönlichkeit, 
die  er  später  hervorkehrte,  und  welche  der  ganzen  Richtung 
schließlich  auch  den  Namen  gegeben  hat.  Der  eigentümliche 
Kultus,    den    Tolands    Pantheistikon    darstellen    soll,    zeigt   eine 


294  Toland. 

Art  phantasievoller  Naturreligion  in  dem  Sinne,  daß  das  religiöse 
Gemüt  sich  in  den  weihevollen  Zusammenhang  des  Universums 
versenkt  und  sein  ganzes  Heil  von  der  Hingabe  an  die  unendliche 
Naturkraft  erhofft.  Als  die  Priesterin  dieser  Religion  wird  die 
Wissenschaft  gefeiert,  die  nur  aus  der  menschlichen  Vernunft  und 
aus  den  Offenbarungen  der  Natur  selbst  ihre  Erkenntnisse  schöpft. 
Aber  diese  Wissenschaft  scheint  Toland  mehr  in  der  Art  der  italie- 
nischen Naturphilosophie,  als  in  derjenigen  der  exakten  Forschung 
aufgefaßt  zu  haben,  und  seine  an  die  Königin  Sophie  Charlotte  von 
Preußen  gerichteten  Briefe  (»Letters  to  Serena«,  1704)  preisen  die 
Zweckmäßigkeit,  Schönheit  und  Harmonie  des  Universums,  dessen 
Begriff  für  den  Verfasser  mit  demjenigen  der  Gottheit  zusammen- 
fällt. Wenn  man  anderwärts  bei  ihm  liest,  daß  der  Materie  selbst 
die  seelische  Lebenskraft  und  die  zweckmäßige  Gestaltungskraft 
innewohne,  so  erscheint  das  Ganze  in  derselben  Weise  wie  die  Lehre 
der  italienischen  Naturphilosophen  als  eine  bewußte  Erneuerung 
des  altionischen  Hylozoismus,  welche  den  Namen  des  Pantheis- 
mus, der  vielleicht  durch  den  Titel  der  Tolandschen  Schrift  geläufig 
geworden  ist,  in  voller  Ausdehnung,  aber  auch  in  seiner  ganzen  Un- 
bestimmtheit verdient. 

Auch  bei  Toland  zeigt  sich  nun  die  kritische  Tendenz,  welche 
die  natürliche  Religion  den  positiven  Dogmen  gegenüber  einnahm. 
Toland  knüpft  dabei  fein  genug  an  Lockes  Ausführungen  über  die 
Vernunftgemäßheit  des  Christentums  an,  um  ihnen  unmerklich  eine 
kritische  Zuspitzung  zu  geben.  Wenn  Locke  gelehrt  hatte,  daß  die 
Offenbarung  zwar  auf  einem  anderen  Wege  als  die  Vernunft,  aber 
doch  schließlich  immer  nur  Vernunftgemäßes  bringen  könne,  so 
folgerte  Toland  daraus,  daß  die  rechte  Offenbarung  immer  nur 
diejenige  sein  könne,  die  Vernünftiges  enthalte,  und  daß  eine  Offen- 
barung, bei  der  das  nicht  der  Fall  sei,  unmöglich  als  göttlich  ange- 
sehen werden  dürfe.  Damit  war  die  Vernunft  in  das  Recht  einer 
Beurteilung  der  Offenbarung  eingesetzt  und  der  letzte  Grund  des 
Glaubens  aus  der  Offenbarung  selbst  in  die  Vernunft  verlegt  worden. 
Toland  selbst  hatte  in  seiner  anonymen  Schrift:  »Christianity  not 
mysteripus«  (London  1696)  daran  festhalten  wollen,  daß  trotz 
dieser  Forträumung  des  Offenbarungsgeheimnisses  die  wesentlichen 
Grundlagen  des  Christentums  vor  der  Vernunft  bestehen  bleiben. 
Allein  andere  zogen  schon  um  diese  Zeit  die  Konsequenzen  gegen 


Vernunftreligion.  295 

das  Christentum  offener  und  rücksichtsloser.  Zu  diesen  gehörte 
in  erster  Linie  Shaf  tesbury,  dessen  Bedeutung  auf  diesem  Ge- 
biete der  historischen  Wirkung  nach  nicht  geringer  ist,  als  auf  dem- 
jenigen der  Moralphilosophie.  Die  geistvolle  Schärfe  und  der  an- 
schauliche Witz,  mit  dem  seine  Essays  die  religiösen  Urkunden  vom 
Standpunkte  der  Vernunftreligion  beurteilen,  hat  auf  die  spätere 
Entwicklung  der  deutschen  Bibelkritik,  wie  es  sich  namentlich 
an  Lessing  und  Reimarus  verfolgen  läßt,  einen  viel  anregenderen 
Einfluß  ausgeübt,  als  der  strenge  Ernst,  mit  dem  Spinoza  die 
wissenschaftlichen  Grundlagen  für  diese  Kritik  in  seinem  theo- 
logisch-politischen Traktate  festgestellt  hatte. 

In  dieser  Richtung  lag  denn  auch  die  Weiterentwicklung,  welche 
die  englische  Religionsphilosophie  zunächst  fand.     Sie  gestaltete 
sich  zu  einer  immer  energischeren  und  radikaleren  Kritik  der 
positiven  Religionen  und  im  besonderen  natürlich  des  Christen- 
tums.   Nachdem  Toland  das  Christentum  der  Mysterien  der  Offen- 
barung entkleidet  haben  wollte,  begann  man  namentlich  sich  mit 
jenem  scheinbar  historischen  Beweise  zu  beschäftigen,  der  aus  der 
Erfüllung  der  Weissagungen  des  alten  Testaments  durch   die 
Tatsachen  des  neuen  von  der  Theologie  entwickelt  zu  werden  pflegt. 
Hier  hat  Whiston,  um  im  Interesse  der  unbedingten  Anerkennung 
des  neuen  Testaments  die  Widersprüche  und  Unerfülltheiten  fortzu- 
räumen, eine  jüdische  Fälschung  des  alten  Testaments  angenommen. 
Diese  Meinung  suchte  Anthony  Collins  (1676 — 1727)  zu  wider- 
legen, indem  er  zeigte,  daß  jenen  Weissagungen  überhaupt  nur  ein 
allegorischer  Charakter  zugesprochen  werden  könne,  sah  sich  jedoch 
eben  dadurch  genötigt,  die  Beweiskraft  dieses  Arguments  erheblich 
herabzusetzen.    Später  versuchte  Thomas  Woolston  (1659 — 1729) 
sich  zwischen  jene  beiden  Männer  zu  stellen,  von  welchen  er  dem 
einen   zu   großes   Hangen  am  Buchstaben,   dem  andern   zu   will- 
kürliche   Zweifelsucht    vorwarf.     Er    glaubte    den    allegorischen 
Weissagungsbeweis  aufrecht  erhalten  zu  können  und  wendete  nun 
seinerseits  die  ganze  Schärfe  seiner  Kritik  gegen  den  Wunder- 
be weis,   indem   er   ausführte,    daß    die   Wundererzählungen   des 
neuen  Testaments  weder  den  göttlichen  Ursprung  dieser  Bücher 
noch  die  göttliche  Natur  des  Heilands  zu  erhärten  vermöchten. 

So  waren  unter  den  Händen  dieser  Männer,  die  sich  selbst  als 
Freidenker  bezeichneten  (Collins :  Discours  of  free-thinkink,  London 


296  Tindal. 

1713),  Schritt  für  Schritt  die  historischen  Beweise,  mit  denen  man 
das  Christentum  zu  begründen  pflegte,  der  Offenbarungs-,  Weis- 
sagungs-  und  Wunderbeweis,  einer  nach  dem  anderen  abgeblättert, 
und  mit  ihnen  alle  diejenigen  Elemente  der  christlichen  Lehre,  die 
damit  im  Zusammenhange  stehen.  Was  übrig  blieb,  war  das  rein 
moralische  Christentum,  die  Lehre  von  der  Gottheit  und 
der  Unsterblichkeit  der  Menschenseele,  welche  durch  reinen 
Lebenswandel  die  Schlacken  ihres  irdischen  Lebens  abzustreifen 
berufen  sei,  d.  h.  ein  Christentum,  das  mit  der  Vernunftreligion,  wie 
Herbert  und  Shaftesbury  sie  gedacht  hatten,  sich  vollkommen  zu 
identifizieren  vermochte.  Auf  diesem  Entwicklungsstadium  nahm 
die  englische  Religionsphilosophie  vollständig  die  nüchterne  und 
moralisierende  Form  des  Deismus  an,  in  der  sie  die  Aufklärung 
auch  in  Frankreich  und  Deutschland  beherrscht  hat,  eine  Form 
des  religiösen  Bewußtseins,  worin  der  eigentliche  Duft  und  Zauber 
der  Religiosität  sich  vollkommen  verflüchtigt  hatte,  und  in  der  es 
im  Grunde  genommen  nur  als  ein  Vehikel  der  moralischen  Aus- 
bildung betrachtet  und  benutzt  werden  sollte.  Es  ist  das  jener 
sterile  Rationalismus,  der  in  seiner  prosaischen  Vernunft- 
gemäßheit sich  gegen  den  innersten  Kern  des  religiösen  Lebens  ver- 
L  schloß,  und  der  mit  seiner  abstrakten  Kritik  eine  öde  Verständnis- 
losigkeit  für  die  tiefsten  Regungen  und  die  glühendsten  Bedürfnisse 
der  See^le  verband.  Diese  Gestalt  der  englischen  Religionsphilo- 
sophie ist  am  klarsten  und  schärfsten  durch  Matthews  Tindal 
(1656 — 1733)  vertreten.  Seine  Schrift:  »Christianity  as  old  as  the 
creation«  (1730)  beruht  auf  dem  Grundgedanken,  daß  alle  positiven 
Religionen  nur  Entstellungen  der  ursprünglichen  und  allen  Men- 
schen gemeinsamen  ^Naturreligiorf  seien,  Entstellungen,  die  zum 
Teil  durch  historische  Tatsachen,  zum  großen  Teil  aber  auch  durch 
priesterliche  Erfindung  herbeigeführt  worden  seien.  Diesen  letzteren 
Gedanken  hat  später  die  Aufklärungsphilosophie  bis  zum  Über- 
drusse  ausgetreten  und  bis  zur  Lächerlichkeit  gesteigert.  Unfähig, 
den  völkerpsychologischen  Ursprung  religiöser  Vorstellungen  und 
seine  Naturnotwendigkeit  zu  begreifen  oder  auch  nur  zu  ahnen,  war 
sie  überall  mit  der  seichten  Erklärung  bei  der  Hand,  was  mit  ihrer 
Naturreligion  nicht  übereinstimmen  wollte,  für  eine  auf  den  Betrug 
der  Masse  angelegte  Erfindung  der  Priester  zu  halten,  und  nichts 
charakterisiert  vielleicht  besser  ihre  Unfähigkeit,  die  großen  Probleme 


Freidenkertum.  297 

zu  lösen,  mit  denen  sie  sich  beschäftigte.  Das  Christentum  be- 
trachtete Tindal  als  eine  Wiederherstellung  der  Naturreligion,  als 
eine  Reaktion  gegen  die  Verzerrungen,  welche  sie  in  den  früheren 
positiven  Religionen  erfahren  habe.  Freilich  sei  diese  Wiederher- 
stellung nicht  völlig  geglückt,  und  es  seien  in  der  christlichen  Lehre 
eine  Anzahl  jener  fälschlichen  Zutaten  stehen  geblieben,  deren  Fort- 
schaffung nunmehr  die  Aufgabe  des  Freidenkertums  bilde.  Der 
Rest,  der  so  herausgeschält  werden  soll,  ist  eine  mit  den  Begriffen 
der  Gottheit  und  der  Unsterblichkeit  verbrämte  Moralphilosophie, 
deren  Gedankengehalt  mit  der  Shaftesburyschen  Glückseligkeits- 
lehre übereinstimmt.  In  dem  Begriffe  der,  allgütigen  Gottheit  liege 
es,  daß  sie  die  Menschen  zur  Glückseligkeit  geschaffen  habe,  und  das 
Streben  nach  einer  möglichst  großen  Beglückung  des  gesamten 
Menschengeschlechts  erscheint  danach  nur  als  die  Ausführung  des 
göttlichen  Weltplans. 

Auf  diese  Weise  waren  die  englische  Moralphilosophie  und  die 
englische  Religionsphilosophie  in  ein  gemeinsames  Fahrwasser  ge- 
raten. Der  Inhalt  der  Naturreligion,  welche  die  letztere  verkündete 
und  mit  dem  wahren  Christentum  für  identisch  hielt,  war  kein 
anderer  als  die  Lehre  der  ersteren,  und  die  weitere  Entwicklung 
des  englischen  Deismus  in  Männern  wie  Chubb  und  Morgan  hat 
diese  Verschmelzung  der  beiden  Richtungen  ohne  neue  Gesichts- 
punkte aufrecht  erhalten  und  im  einzelnen  ausgeführt.  Je  mehr 
nun  aber  dieser  Deismus  literarische  Vertreter  fand,  und  in  je  wei- 
tere Kreise  der  Gesellschaft  seine  Ansichten  eindrangen,  um  so 
mehr  mußte  man  selbst  schon  in  England  auf  die  gefährlichen 
Wirkungen,  die  solche  Verbreitung  mit  sich  führen  konnte,  auf- 
merksam werden.  Und  wenn  das  Freidenkertum  sich  anfangs  den 
Raum  für  seine  eigene  Entwicklung  im  Gegensatze  gegen  die  kirch- 
lichen Mächte  hatte  erkämpfen  müssen,  so  wurden  mit  der  Zeit 
in  ihm  selbst  die  Stimmen  derer  bemerklich,  welche  einer  unbe- 
schränkten Geltung  der  Denkfreiheit  entgegentraten:  aus  den  Vor- 
kämpfern der  Toleranz  wurden  gelegentlich  wieder  solche  der  In- 
toleranz. Die  esoterische  Meinung  entfernte  sich  immer  mehr  von 
der  positiven  Religion,  ja  sie  begann  teilweise  unter  der  Rück- 
wirkung der  französischen  Literatur  jenen  weltmännischen  Skepti- 
zismus anzunehmen,  der  dieser  eigen  war.  In  der  exoterischen  Lehre 
dagegen  bequemte  man  sich  wieder  mehr  und  mehr  zu  der  rein 


298  Bolingbroke. 

politischen  oder  polizeilichen  Auffassung  der  Religion,  wie  sie  Hobbes 
ausgesprochen  hatte.  Gerade  in  den  höchsten  Kreisen  der  eng- 
lischen Gesellschaft  kam  dieser  innerlich  widerspruchsvollste  Zu- 
stand zur  Geltung,  und  ein  Mann  von  der  umfassenden  Bildung 
Bolingbrokes  (1698 — 1751)  gab  ihm  einen  unverhohlenen  und  bis 
an  die  Grenze  äußerster  Frivolität  streifenden  Ausdruck.  Dieser 
Mann  stand  mit  feinsinniger  Beurteilungsfähigkeit  mitten  in  dem 
geistigen  Leben  der  Zeit;  er  kam  einem  wesentlichen  Bedürfnis 
entgegen,  wenn  er  in  seinen  Briefen  über  Geschichtschreibung  den 
bis  dahin  so  gut  wie  völlig  unbekannten  Wert  einer  für  die  gebildete 
Welt  mit  literarischem  Geschick  abgefaßten  Darstellung  der  Ge- 
schichte im  Gegensatz  zu  den  trockenen  Chroniken  betonte.  Aber  von 
einer  historischen  Auffassung  des  religiösen  Lebens  war  auch  er  weit 
entfernt.  In  ihm  tritt  vielmehr  jener  tiefste  soziale  Widerspruch  des 
Zeitalters  in  der  Form  bewußter  Heuchelei  hervor.  Es  ist  das 
religionsphilosophische  Gegenstück  zu  jener  Rücksichtslosigkeit,  wo- 
mit auf  moralphilosophischem  Gebiete  Chesterfield  das  Geheimnis 
des  gesellschaftlichen  Egoismus  aufgedeckt  hatte.  Bei  ihm  kehrt 
sich  der  esoterische  Deismus  gegen  den  exoterischen  und  die  welt- 
männische Skepsis  gegen  die  überzeugungsvolle  Aufrichtigkeit. 
Selbst  so  kritisch  und  so  wenig  bibelgläubig  wie  nur  irgendeiner 
der  Deisten,  erklärt  er  die  gesamte  Literatur,  welche  diese  Ge- 
danken verbreitet,  für  revolutionär  und  für  eine  »Pest  der  Gesell- 
schaft « ;  er  verschweigt  nicht  die  Meinung,  daß  die  Denkfreiheit  nur 
ein  Recht  der  regierenden  Klasse  sei;  er  wendet  den  ganzen  Egois- 
mus gesellschaftlicher  Exklusivität  gegen  die  idealistische  Populari- 
sierung freiheitlicher  Gedanken.  In  den  Salons,  meint  er,  dürfe 
man  über  die  Beschränktheit  und  Ungereimtheit  der  Vorstellungen 
der  positiven  Religion  lächeln,  und  er  selbst  hält  nicht  mit  dem 
frivolsten  Spotte  zurück :  in  dem  öffentlichen  Leben  ist  die  Religion 
eine  unentbehrliche  Macht,  an  der  man  nicht  rütteln  darf,  wenn 
nicht  die  Grundlage  des  Staates,  der  Gehorsam  der  Massen,  in  die 
Brüche  gehen  soll.  Es  ist  leicht,  die  Kurzsichtigkeit  dieser  Argu- 
mentation zu  durchschauen,  leichter,  ihre  Frivolität  zu  brand- 
marken: aber  im  Grunde  genommen  war  Bolingbroke  doch  nur 
kühn  genug,  ein  Geheimnis  auszusprechen,  das  der  höheren  Gesell- 
schaft seiner  Zeit  eigen  war  und  dessen  Existenz  nicht  auf  diese 
Zeit  allein  beschränkt  ist. 


Naturphilosophie.  .  299 

§  31.    Die  mechanische  Naturphilosophie. 

Je  mehr  der  Deismus  die  spezifisch  religiösen  Elemente  aus 
dem  System  seiner  Überzeugung  herauslöste,  um  so  weniger  ver- 
mochte ihm  die  magere  Moral  der  Glückseligkeitslehre  auf  die 
Dauer  einen  positiven  Inhalt  zu  verleihen,  und  so  mußte  er  sich 
namentlich  nach  einer  theoretischen  Ausfüllung  der  Lücken  um- 
sehen, welche  durch  die  negative  Kritik  der  positiven  Dogmen  ent- 
standen waren.  Schon  bei  Toland  zeigte  es  sich,  daß  die  Natur - 
erkenntnisan  diese  Stelle  zu  treten  geeignet  war;  aber  sie  erschien 
dort  noch  in  jener  phantastischen  und  panth eistischen  Form,  worin 
sie  einer  großen  Anzahl  von  Denkern  bereits  während  der  Renais- 
sance den  Inhalt  des  religiösen  Bewußtseins  gegeben  hatte.  Diese 
Form  konnte  vor  dem  gereiften  Bewußtsein  der  modernen  Wissen- 
schaft nicht  bestehen  bleiben,  und  die  exakte  Naturforschung  war 
während  des  XVII.  Jahrhunderts  bereits  so  glänzend  gefördert 
worden  und  in  den  Besitz  so  sicherer  Errungenschaften  gelangt, 
daß  sie  mit  ihren  gereinigten  Auffassungen  an  die  Stelle  jener  un- 
klaren Naturphilosophie  sich  in  den  Inhalt  auch  der  deistischen 
Lehren  hineindrängen  mußte. 

Gleichwohl  war  dieser  Vorgang  verhältnismäßig  schwierig,  und 
es  standen  ihm  der  Natur  der  Dinge  gemäß  eine  Reihe  von  so  be- 
deutenden Schwierigkeiten  entgegen,  daß  es  nur  der  Einfluß  großer 
Persönlichkeiten  war,  unter  dem  sich  diese  Verbindung  vollziehen 
konnte.  Anfänglich  nämlich  mußten  in  der  Tat  die  Anschauungen 
dieser  neuen  Naturwissenschaft  jeder  religiösen  Betrachtungsweise 
gleich  fremd  erscheinen,  und  es  trat  deshalb  auch  zunächst  eine 
entschiedene  Abstoßung  zwischen  beiden  ein.  Der  Punkt,  wo  sich 
beide  feindlich  begegneten,  war  die  brennende  Frage  der  Teleo- 
logie.  Alle  religiösen  Überzeugungen  waren  in  der  Ansicht  einig, 
daß  das  Universum  einer, zweckmäßig  schöpfenden  und  erhaltenden 
Gotteskraft  seinen  Ursprung  und  seinen  Bestand  verdanke,  und 
selbst  der  Pantheismus,  wie  ihn  auch  Toland  aufgenommen  hatte, 
hielt,  sei  es  in  dem  Gedanken  einer  Weltseele,  sei  es  mit  größerer 
oder  geringerer  Anlehnung  an  die  platonische  oder  neuplatonische 
Ideenlehre,  sei  es  in  irgend  einer  anderen  Gestalt,  an  der  teleolo- 
gischen Naturbetrachtung  fest.     Die   moderne   Naturwissenschaft 


dagegen   verdankt  ihre   Selbständigkeit  und    die   Exaktheit  ihrer 


300  Mechanische  Theorie. 

Untersuchungen,  die  Richtigkeit  ihrer  Hypothesen  und  die  Brauch- 
barkeit ihrer  Methoden  am  allermeisten  der  Abwerfung  des  teleo- 
logischen Vorurteils  und  der  Beschränkung  auf  eine  rein  kausale 
Betrachtung  des  natürlichen  Geschehens.  Die  beiden  großen  Me- 
thoden der  Naturerkenntnis,  welche  die  Philosophie  entworfen  hatte, 
sonst  einander  diametral  entgegengesetzt,  waren  auf  diesem  Punkte 
einig.  Bacon  hatte  die  teleologische  Betrachtung  als  das  gefähr- 
lichste aller  Idole,  Descartes  dieselbe  als  das  größte  Hemmnis  der 
Naturforschung  bezeichnet,  und  der  schon  während  der  Renaissance 
hin  und  wieder  laut  gewordene  Ruf:  »vere  scire  est  per  causas  scire« 
galt  ihnen  beiden  als  die  wichtigste  Richtschnur  der  Naturforschung. 
Was  so  methodisch  ausgesprochen  war,  wurde  von  den  Natur- 
forschern praktisch  überall  angewendet;  mehr  und  mehr  gewöhnte 
man  sich  daran,  die  Natur  nur  als  einen  selbständigen  Zusammen- 
hang von  Bewegungen  zu  betrachten,  worin  jedes  Geschehen  eine 
notwendige  Folge  aus  seinen  Ursachen  und  selbst  der  Ausgangs- 
punkt gesetzlich  folgender  und  unvermeidlicher  Wirkungen  sei. 
Jeder  Versuch,  einen  teleologischen  Eingriff  in  diesen  gesetzmäßigen 
Zusammenhang  der  Naturerscheinungen  zu  statuieren,  schien  dieses 
Axiom,  worauf  alle  moderne  Naturforschung  beruht,  umzustoßen 
und  alle  Forschung  illusorisch  zu  machen.  Während  so  die  Natur- 
forscher die  Erklärung  aus  einer,  zweckmäßigen  Wirksamkeit  der 
Gottheit  als  einen  Eingriff  in  ihre  Rechte  zurückwiesen,  sah  die 
religiöse  Auffassung  in  dieser  Verselbständigung  der  Natur  und 
dieser  Ablehnung  eines  unmittelbaren  Waltens  der  Gottheit  in  dem 
Ablaufe  des  Geschehens  den  Umsturz  ihrer  tiefsten  und  heiligsten 
Überzeugung;  und  hieraus  erklärt  es  sich,  daß  durch  das  gesamte 
Zeitalter  der  Aufklärung  hindurch  keine  Frage  lebhafter  diskutiert 
wurde,  keine  mehr  die  Leidenschaften  erhitzte,  keine  endlich  eine 
größere  Fülle  von  Hypothesen  zu  ihrer  Lösung  hervorgerufen  hat, 
als  diejenige,  wie  mit  den  kausalen  Prinzipien  der  Natur- 
wissenschaft die  Annahme  einer,  zweckmäßigen  Welt- 
leitung zu  vereinigen  sei.  Damit  war  zunächst  ein  sehr  be- 
deutender Schritt  getan ;  der  Gegensatz  der  wissenschaftlichen  Denk-  ( 
freiheit  und  der  religiösen  Überlieferung  war  aus  den  allgemeinen 
Deklamationen  auf  eine  reale  Untersuchung  konzentriert,  worin  ein 
objektiver  Kampf  mit  tatsächlichen  Überlegungen  und  philosophi- 
schen Beweisen  geführt  werden  konnte. 


Teleologisches  Problem.  301 

'  Auch  diese  Grundfrage  aber  hat  in  dem  Verlaufe  des  XVII. 
und  XVIII.  Jahrhunderts  eine  interessante  Entwicklung  gefunden, 
vermöge  deren  sie  sich  immer  mehr  spezialisierte.  Anfangs  konnte 
man  noch  zweifelhaft  darüber  sein  und  waren  die  Ansichten  der 
Männer  der  Wissenschaft  in  der  Tat  noch  geteilt  darüber,  ob  man 
den  .ganzen  Verlauf  des  kosmischen  Geschehens  lediglich  auf  den 
gesetzmäßigen  Zusammenhang  von  Ursache  und  Wirkung  oder 
wenigstens  z.  T.  auch  auf  zwecktätige  und  deshalb  in  letzter  In- 
stanz immer  intelligente  Kräfte  zurückzuführen  habe.  Bald  aber  — 
und  schon  mit  dem  Beginn  des  XVIII.  Jahrhunderts  war  diese  Ent- 
scheidung eingetreten  —  hatte  sich  die  wissenschaftliche  Erkennt- 
ms  von  dem  ausnahmslos  kausalen  Zusammenhange  des  Geschehens 
in  der  unorganischen  Welt  so  vollkommen  befestigt,  daß  sich  das 
Problem  während  des  XVIII.  Jahrhunderts  immer  mehr  auf  die 
Frage  nach  der  Erklärung  der  organischen  Natur  zusammenzog. 
Die  lebhaftesten  Streitigkeiten  aes  XVIII.  Jahrhunderts  beziehen 
sich  auf  dies  Problem.  In  den  Organismen  erschien  der  Charakter 
der  Zweckmäßigkeit  so  augenfällig,  daß  an  seiner  teleologischen 
^Erklärung  uti  so  energischer  festgehalten  wurde,  als  die  Vertreter 
der  mechanischen  Auffassung  das  allgemeine  Axiom  auf  diesem  Ge- 
biete  noch  verhältnismäßig  am  wenigsten  durch  Tatsachen  zu  be- 
stätigen imstande  waren.  Beide  Parteien  jedoch  waren  von  der 
■Gültigkeit  des  Axioms  für  die  unorganische  Natur  gleichmäßig 
überzeugt,  und  die  Streitfrage  der  XVltl.  Jahrhunderts  war  eben 
nur  die,  ob  das  für  die  unorganische  Natur  gültige  Prinzip 
&uch  für  die  Erklärung  der  organischen  ausreiche. 

Den  Sieg  des  Prinzips  der  mechanischen  Kausalität  in 
der  Wissenschaft  von  der  unorganischen  Natur  verdankte  das 
XVIII.  Jahrhundert  den  großen  Entdeckungen  einer  Spezial Wissen- 
schaft, von  der  man  deshalb  auch  den  Namen  für  diese  Art  der 
Naturbetrachtung  entnommen  hat  —  der  Mechanik.  Sie  ist  durch 
die  Errungenschaften  der  XVII.  Jahrhunderts  zur  Grundlage  der 
gesamten  theoretischen  Naturwissenschaft  geworden,  und  in  ihr 
vor  allem  tritt  der  sie  auszeichnende  mathematische  Charakter 
klar  und  zweifellos  hervor.  Es  ist  bekannt,  wie  die  Entwicklung  der 
mechanischen  und  diejenige  der  mathematischen  Probleme  sich 
gegenseitig  forderten  und  förderten,  und  wie  aus  eben  diesem  Zu- 
sammenhange sich  eine  Reihe  der  glänzendsten  Entdeckungen  ergab. 


302  B°yle- 

Die  Forscher  aller  Nationen  wirkten  in  dieser  Arbeit  zusammen, 
und  der  große  Triumphzug  der  modernen  Mechanik  ist  ja  am  besten 
durch  die  vier  Namen :  Kepler,  Galilei,  Descartes,  Newton  bezeichnet. 
Die  Versöhnung  nun  dieser  mechanischen  Naturbetrachtung  mit 
dem  religiösen  Bewußtsein  gelang  zuerst  den  englischen  Denkern, 
und  sie  vollzog  sich  bei  ihnen  schließlich  durch  eine  eigentümliche 
Gedankenverbindung,  die  bei  niemand  so  klar  und  sicher  aufgetreten 
ist  wie  bei  Newton.  Doch  neigten  die  englischen  Denker  schon  vor 
ihm  wenigstens  zu  einer  allgemeinen  Zusammenfassung  der  natur- 
wissenschaftlichen und  der  religiösen  Ideen  hin.  Einen  charakteri- 
stischen Ausdruck  dafür  bilden  die  Lehren  von  Robert  Boy le  (1626 
bis  1691),  der,  einer  der  Begründer  der  neueren  Chemie,  in  seinen 
wertvollen  Versuchen  über  verschiedene  Arten  des  Oxydations- 
prozesses, sowie  namentlich  über  die  chemische  Zusammensetzung 
der  atmosphärischen  Luft  die  strengste  Nüchternheit  und  Klarheit 
experimenteller  Forschung  entwickelte.  In  seiner  allgemeineren 
Naturtheorie  schloß  er  sich  der  ato mistischen  Hypothese  bedingungs- 
los an  und  erklärte  die  mechanische  Auffassung  aller  Tatsachen  der 
unorganischen  Natur  für  die  einzige  Aufgabe  der  Wissenschaft. 
Daneben  jedoch  beschäftigte  er  sich,  durch  grüblerische  Gemüts- 
anlage und  fromme  Erziehung  beeinflußt,  in  umfassendster  Weise 
mit  den  religiösen  Problemen,  und  vielleicht  in  dem  Bewußtsein 
einer  sein  ganzes  Innere  aufregenden,  ungelösten  Differenz  zwischen 
diesen  beiden  Richtungen  seines  Denkens  wünschte  er  seine  Tätig- 
keit darauf  zu  konzentrieren,  daß  der  Widerspruch  zwischen  dem 
Wissen  und  dem  Glauben  ausgesöhnt  werde.  Voller  Abscheu  vor 
den  atheistischen  Konsequenzen  des  Materialismus  und  dabei  voller 
Bewunderung  für  die  wissenschaftliche  Folgerichtigkeit  der  Mechanik, 
stiftete  er  ein  Institut,  in  welchem  durch  öffentliche  Vorträge  diese 
Forschungen  erweitert  und  verbreitet,  jene  Konesquenzen  als  un- 
richtig und  übereilt  dargetan  und  dem  Zeitalter  bewiesen  werden 
sollte,  daß  die  neue  Wissenschaft  mit  dem  wertvollsten  Inhalte  des 
Glaubens  nicht  im  Widerspruche,  sondern  vielmehr  im  notwendigen 
Zusammenhange  stünde.  An  diesem  Institut  hielt  hauptsächlich 
der  oben  bereits  unter  den  Moralphilosophen  berührte  Prediger 
Samuel  Clarke  die  religionsphilosophischen  Vorträge,  welche  später 
unter  dem  Titel:  »A  discours  concerning  the  being  and  attributs 
of  God«  (1705  London)  gedruckt  worden  sind.    Ihren  Inhalt  bildet 


Newton.  303 

eine  Naturreligion,  deren  Ideen  wesentlich  den  Lehren  Newtons  ent- 
nommen waren. 

Dieser  schöpferische  Geist  war  es  in  der  Tat,  dem  die  Lösung 
des  Problems  einer  Vereinigung  des  Deismus  mit  der  exakten  Natur- 
wissenschaft in  einer  Weise  gelang,  mit  welcher  sich  das  Aufklärungs- 
zeitalter für  den  Zusammenhang  dieser  Ideen  lange  Zeit  beruhigte.,  V7 
Isaac  Newton  (1642 — 1727)  ist  nicht  nur  der  große  Naturforscher, 
dessen  Namen  mit  dem  Ideale  exakter  Wissenschaftlichkeit  auf 
das  engste  verschmolzen  erscheint,  sondern  zugleich  eines  der 
wichtigsten  Mittelglieder  in  dem  so  viel  verketteten  Denken  der 
Aufklärung;  und  er  wurde  auf  seine  Auffassung  jenes  Problems 
eben  dadurch  geführt,  daß  er  das  Prinzip  der  mechanischen  Kau- 
salität in  ganzer  Ausdehnung  anwandte  und  damit  zu  einem  prin- 
zipiellen Abschluß  der  Methode  der  modernen  Naturwissen- 
schaft fort  schritt.  Seine  »Mathematischen  Prinzipien  der  Natur- 
i  philosophie  « (zuerst  London  1687),  vielleicht  in  einzelnen  Wendungen 
■vervollkommnunosfähio-  sind  doch  im  ganzen  ein  dauerndes  und 
für  alle  Zeiten  feststehendes  Fundament  der  Naturwissenschaft 
i geworden.  Sie  zeigen  mit  derjenigen  Vollständigkeit,  die  für  eine 
•spezielle  Wissenschaft  möglich  war,  die  innige  und  restlose  Durch- 
dringung der  beiden  großen  Strömungen  in  der  methodologischen 
Begründung  der  modernen  Wissenschaft.  In  exakt  formulierter 
Weise  sprechen  sie  aus,  was  Hobbes  gesucht,  was  Locke  in  den 
•allgemeinsten  Zügen  bestimmt  hatte,  daß  nämlich  der  letzte  Punkt 
der  menschlichen  Gewißheit  derjenige  ist,  wo  die  Erfahrung  mit 
der  Deduktion  übereinstimmt.  Die  Beschränkung  auf  das  einzelne 
Gebiet  gestattet  diese  triumphierende  Sicherheit;  auf  dem  Gebiete 
der  Mechanik  kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  diese  De- 
duktion die  mathematische  Berechnung  sein  muß,  und  der  Gang 
der  letzteren  ist  so  felsenfest,  daß  dagegen  die  cartesianische  Syn- 
thesis  von  Begriffen  wie  ein  schwankes  Spiel  der  Phantasie  erscheint. 
Ein  solches  Spiel  der  Phantasie  zeigt  sich,  wie  Newton  meint,  vor 
allem  in  der  Bildung  falscher  Hypothesen.  Newton  wirft  es  dem 
Cartesianismus  vor,  daß  er  die  analytische  Methode  nur  als  eine 
untergeordnete  Vorbereitung  behandle  und  über  sie  mit  gering- 
schätzender Hast  sogleich  zu  dem  ersehnten  Ausgangspunkte  der 
Synthesis  hindränge.  Er  ist  der  Überzeugung,  daß  für  jedes  einzelne 
Problem  die  vollständige  Orientierung  auf  dem  Wege  der  Induktion 


304  Newton. 

den  wesentlichen  Teil  der  Aufgabe  ausmache,  und  daß  sich  aus  ihr 
allein  die  richtige  Erklärung  der  Tatsachen  von  selbst  ergebe. 
f  Die  rechte  Analysis  führt  von  den  Wirkungen  zu  den  Ursachen, 
vom  Zusammengesetzten  auf  das  Einfache,  von  den  Erscheinungen 
auf  die  Gesetze.  Erst  wenn  man  so  aus  der  Erfahrung  selbst  die 
Elemente  gefunden  hat,  aus  denen  ihre  Tatsachen  hervorgegangen 
sind,  empfiehlt  es  sich,  umgekehrt  in  der  synthetischen  Methode 
die  Kechenprobe  zu  machen,  indem  man  durch  Herstellung  jener 
Elemente  im  Experimente  die  Erfahrung  selbst  herbeizuführen 
trachtet,  und  sobald  dann  das  Resultat  mit  der  im  voraus  ange- 
stellten Berechnung  übereinstimmt,  so  ist  die  naturwissenschaft- 
liche Gewißheit  gewonnen.  Wenn  damit  der  methodologische  Ge- 
danke Galileis  auf  seinen  schärfsten  und  brauchbarsten  Ausdruck 
gebracht,  der  prinzipielle  Grund  für  die  moderne  Naturwissenschaft 
seiest  war,  so  ist  es  der  Mühe  wert,  daran  zu  erinnern,  daß  Newton 
gleich  stark  durch  den  Baconschen  Empirismus,  wie  durch  den 
Mathematizismus  Descartes'  angeregt  und  beeinflußt  war,  daß  er 
mit  einem  Bestreben,  das  wir  schon  bei  Hobbes  und  bei  Locke 
lebendig  finden,  die  Einseitigkeiten  beider  gegeneinander  auszu- 
gleichen und  dadurch  zu  überwinden  suchte.  Während  den  Philo- 
sophen in  Rücksicht  der  allgemeinen  erkenntnistheoretischen  Be- 
trachtungen dieses  Bestreben  nur  unvollkommen  gelang  (und  bis 
heute  überhaupt  gelungen  ist),  so  lag  für  Newton  in  der  Beschränkung 
auf  ein  der  mathematischen  Deduktion  so  offenbar  zugängliches 
Gebiet  das  Geheimnis  seines  gewaltigen  Erfolges. 

Von  allen  einzelnen  Fächern  der  Naturforschung  war  nun  selbst- 
verständlich die  Mechanik  dasjenige,  innerhalb  dessen  sich  die 
von  Newton  gestellte  Aufgabe  vollständig  und  zweifellos  lösen  ließ, 
und  nicht  zum  wenigsten  durch  ihn  wurde  sie  die  beherrschende, 
den  übrigen  Ziel  und  Richtung  gebende  Naturwissenschaft.  In  ihr 
gelang  es  am  ersten,  die  »qualitates  occultae«  der  Scholastik  zu 
entfernen  und  aus  dem,  wie  man  meinte,  sonnenklaren  Verhältnis 
von  Stoß  und  Gegenstoß  alle  Bewegungen  zu  erklären.  In  der 
Gravitation  hatte  man  ein  allgemeinstes  Prinzip  für  die  Erklärung 
aller  Bewegungen  innerhalb  unseres  Sonnensystems  erhalten.  Wenn 
die  gleiche  Kraft  und  das  gleiche  Gesetz  den  Fall  des  Apfels  und 
den  Lauf  der  Planeten  um  die  Sonne  regieren,  so  ist  damit  der  Ein- 
blick in  den  großen  kausalen  Zusammenhang  der  Natur  gewonnen. 


Mechanik.  305 

In  der  Zurückführung  auf  diese  Grundkraft  wird  deshalb  die  Er- 
klärung aller  Erscheinungen  zu  suchen  sein.    Vor  der  Naturforschung 
erhebt  sich  das  theoretische  Ideal  einer  allgemeinen  Weltkraft,  die 
in  tausendfachen  Gestaltungen  überall  dieselbe  bleibt  und  dem- 
selben  Gesetze  gehorcht.     Alle  Analysis  der  Erscheinungen  wird 
immer  nur  die  Aufgabe  haben,  den  kausalen  Mechanismus  bloß- 
zulegen, durch  den  sie  entstanden  sind,  und  die  elementaren  Vorgänge 
aufzuzeigen,   aus  denen  sie  sich  zusammengesetzt  haben.     Folgt 
man  diesem  Prinzipe,  so  bedarf  man  der  ganzen  bunten  Fülle  von 
Hypothesen  nicht,  mit  denen,  wie  Newton  meint,  nächst  der  Scho- 
lastik  am   meisten   die   Cartesianer   die   Naturforschung   verwirrt 
haben.    Das  Verdienst  dieser  Untersuchungen  Newtons  besteht  in 
Wahrheit  nicht  in  der  absoluten  Aufhebung  der  Hypothese,  sondern 
vielmehr  in  der  großen  Tendenz  ihrer  Vereinfachung.     Sein  be- 
rühmtes Wort :  »hypotheses  non  f ingo  «  ist  dahin  zu  verstehen,  daß 
er  dem  Mißbrauche  ein  Ende  machen  will,  womit  man  jede  Erschei- 
nung oder  auch  jede  kleine  Gattung  von  Erscheinungen  durch  eine 
eigene,  mehr  oder  minder  willkürliche  und  komplizierte  Annahme 
sich  begreiflich  zu  machen  suchte.    An  ihre  Stelle  setzt  er  vielmehr 
eine  einzige  große  Hypothese,  diejenige  der  Gravitation,  um  aus  ihr 
den  ganzen   Ablauf   des   kosmischen   und   des   terrestrischen   Ge- 
schehens mit  einem  Schlage  und  nach  einem  Gesetze  zu  erklären. 
Mit   dieser   Hypothese   nun   gewann   jene   Selbständigkeit   des 
kausalen  Zusammenhanges  der  Natur,  welche  das  allgemeine  Axiom 
ler  modernen  Naturwissenschaft  bildet,  eine  reale  Gestalt.     Die 
Welt  der  Gravitation  lebt  in  sich.     Als  die  notwendigen  Folgen 
hrer  gesetzlichen  Konstitution  ergeben  sich  alle  Bewegungen,  die 
n  ihr  stattfinden,  alle  Erscheinungen  ihrer  einzelnen  Gestaltung: 
l  lur  der  Anfang  der  Bewegung,  den  die  Materie  nicht  aus  sich  selbst 
irzeugen  kann,  muß  auf  einen  Anstoß  von  Seiten  des  Schöpfers 
zurückgeführt  werden;   von  da  an  aber  bestimmen  lediglich  die 
nechanischen  Gesetze  den  gesamten  Verlauf  der  Bewegungen.  Diese 
zu  begreifen,  sagt  Newton,  ist  die  Sache  der  Physik,  und  es  ist  im 
leiste  der  Lockeschen  Erkenntnistheorie,  wenn  er  der  Physik  ein- 
Iringlich  die  Mahnung  entgegenhält,  sich  vor  der  Metaphysik  zu 
tüten,  die  mit  ihren  willkürlichen  Hypothesen  die  Erkenntnis  der 
3inge  eher  zu  hindern  als  zu  befördern  imstande  gewesen  sei.    Damit 
rollzieht  sich  auch  im  prinzipiellen  Ausdruck  eine  in  der  Geschichte 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phi los.   I.  20 


306  Newton. 

der  Wissenschaften  überaus  bemerkenswerte  Tatsache:    die  Ab- 
lösung der  Naturforschung  von  der  allgemeinen  Philo- 
sophie.    Ursprünglich   hatte   die  ganze   menschliche   Erkenntnis 
nur  die  Gestalt  einer  einzigen  Gesamtwissenschaft  gehabt,  welche 
sich  bei  den  Griechen  den  Namen  der  Philosophie  gab.     Erst  all- 
mählich griff  der  Prozeß  der  Differenzierung  Platz,  wodurch  sich 
mit  Anpassung  an  die  besonderen  Aufgaben  besondere  Organe  in 
der  Gestalt  von  einzelnen  Wissenschaften  herausbildeten,  die  der 
Natur  der  Sache  gemäß,  indem  sie  mit  dem  Wachsen  ihres  Um- 
fanges  die  Lebensarbeit  eines  einzelnen  Mannes  in  Anspruch  zu 
nehmen  in  den  Stand  gesetzt  wurden,  sich  auf  eigene  Füße  zu 
stellen   strebten,   ihre   volle   Selbständigkeit   aber   erst   durch   die 
praktische  Betätigung  einer  eigenen  Methode  erlangten  und  durch 
deren  prinzipielle  Feststellung  proklamierten.     Schon  von  Anfang 
an  war  die  Mathematik  ein  selbständiger  Wissenszweig  neben  den 
übrigen  »Philosophien«  gewesen;  die  Medizin  wahrte  als  »Kunst« 
ihre  Eigenart  lange  Zeit  erfolgreich,  und  die  historischen  Unter- 
suchungen und  Darstellungen  hatten  früh  sich  unabhängig  von  der 
Philosophie  auszubilden  gelernt.    Das  spätere  Römer  tum  gab  der 
Jurisprudenz  die  Gestalt  einer  eigenen,  systematisch  in  sich  selbst 
ruhenden  Wissenschaft,  und  die  christliche  Zeit  trieb  eine  dogmatische 
Theologie  lediglich  auf  Grund  der  religiösen  Urkunden  hervor.    Die 
Naturforschung  dagegen  war  trotz  der  sorgfältigen  Gliederung  ihrer 
Disziplinen,  die  bereits  das  aristotelische  System  angebahnt  hatte, 
gerade  vermöge  der  methodologischen  Prinzipien,  die  Aristoteles 
selbst  vertrat  und  welche  zwei  Jahrtausende  lang  die  herrschenden 
sein  sollten,  in  dem  Mutterschoße  der  Philosophie  geblieben.    Erst 
die  Renaissancezeit  brachte  für  sie  die  Kämpfe  um  ihre  Selbständig- 
keit mit  sich.     In  dem  Herumsuchen  nach   einer  selbständigen 
Methode  der  Naturforschung  griff  man  zunächst  nach  dem  bloßen 
Sensualismus  und  Empirismus;  aber  die  Einsicht  in  deren  Un- 
zulänglichkeit trieb  die  neue  Forschung  in  die  Arme  der  Mathematik, 
und  erst  als  diese  beiden  Elemente  sich  gegenseitig  ergriffen  und 
durchdrangen,  war  das  Ziel  der  Selbständigkeit  erreicht.    Mit  den 
Prinzipien  der  Newtonschen  Forschung  ist  die   moderne  Natur- 
wissenschaft ein  eigener  und  selbständiger  Organismus  geworden, 
der,  von  dem  Geiste  der  Mechanik  erfüllt,  sein  eigenes  Leben  un- 
abhängig von  der  Philosophie  zu  führen  imstande  ist.    Hierin  liegt 


Physik  und  Metaphysik.  307 

die  auf  der  Ausführung  und  Verdeutlichung  der  galileischen  Prin- 
zipien beruhende  historische  Bedeutung  Newtons.  Er  hat  durch 
die  methodische  Zusammenfassung  der  Induktion  und  der  mathe- 
matischen Deduktion  das  Fazit  aus  der  naturwissenschaftlichen  Be- 
wegung des  XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts  gezogen  und  damit  das 
Fundament  für  alle  weitere  Naturforschung  gelegt. 

Aber  gerade  deshalb  stand  vor  seinem  Geiste,  dem  die  religiöse 
Grübelwelt  persönlich  sehr  nahe  lag,  am  klarsten  auch  das  Problem 
der  teleologischen  Naturauffassung.  Daß  er  sie  imeinzeh^en  und  als 
Erklärung  der  besonderen  Vorgänge  in  der  Natur  mit  Bacon  und 
Descartes  zurückweisen  mußte,  verstand  sich  für  den  Vollender  der 
Mechanik  und  den  Schöpfer  der  Astrophysik  von  selbst.  Allein  das 
schloß  eine  andere  Auffassung  des  Qanzen  nicht  aus,  und  Newton 
benutzte  nun  umgekehrt  gerade  den  Mechanismus  des  natürlichen 
Geschehens,  um  aus  ihm  den  Vernunftbeweis  für  die  Grundwahr- 
heiten der  Religion  zu  ziehen.  Charakteristisch  ist  dabei,  wie  dieser 
Beweis  stets  (z.  B.  auch  schon  von  Boyle)  in  der  Form  eines  Ver- 
gleichs der  Natur  mit  den  von  Menschen  konstruierten  Maschinen 
angelegt  wurde.  Auch  diese  beweisen  ja  durch  den  relativ  voll- 
kommenen Verlauf  der  in  ihnen  und  von  ihnen  ausgelösten  Be- 
wegungen und  durch  die^Zweckmäßigkeit  der  auf  rein  mechanischem 
Wege  hervorgebrachten  Wirkungen  ihren  Ursprung  aus  der  mensch- 
lichen Intelligenz.  Wenn  sich  in  analoger  Weise  zeigen  läßt,  daß  alle 
Vorgänge  in  der  Natur  nur  die  gesetzmäßigen  Auslösungen  mecha- 
nischer Kräfte  sind,  und  wenn  man  daneben  bedenkt,  wie  voll- 
kommen und  zweckmäßig,  wie  gut  und  schön,  wie  weise  und.  groß- 
artig die  Wirkungen  dieser  größten  aller  Maschinen  sind,  so  muß  es 
wie  Wahnsinn  erscheinen,  wenn  jemand  den  Ursprung  dieser  Welt 
aus  einer  höchsten  Intelligenz  verkennen  oder  ableugnen  wollte.  So 
ergibt  die  mechanische  Auffassung  der  Natur  in  Verbindung  mit 
der  Bewunderung  für  die  Zweckmäßigkeit  ihrer  Leistungen  einen 
neuen  und  eigenartigen  Beweis  für  das  Dasein  Gottes,  welcher  nach 
einem  schon  von  Samuel  Parker  angewendeten  und  um  das  Jahr 
1700  immer  häufiger  auftretenden  xAusdrucke  der  physiko-theo- 
logische  genannt  wird  (vgl.  z.  B.  Derham,  Physico-theologia, 
London  1713).  Es  schien  dem  Zeitalter  in  diesem  Beweis  eine 
würdigere  Betrachtung  der  Gottheit  zu  liegen,  als  in  der  gewöhn- 
lichen und  von  der   positiven   Religion  anerkannten  Auffassung,. 

20* 


308  Newton. 

vermöge  deren  die  zweckmäßigen  Wirkungen  des  Naturgeschehens  in 
jedem  einzelnen  Falle  auf  eine  unmittelbare  Einwirkung  der  gött- 
lichen Intelligenz  zurückgeführt  werden  sollten.  Darin  kommt,  wie 
in  der  ganzen  Anlage  dieses  Beweises,  die  Vorliebe  des  Zeitalters 
für  mechanische  Untersuchungen  und  Erfindungen  und  besonders 
auch  das  jugendliche  Interesse  an  den  aus  der  Überlegung  des 
Menschen  konstruierten  Maschinen  klar  und  deutlich  zutage.  Eine 
Maschine  ist  offenbar  um  so  unvollkommener,  je  häufiger  sie  der 
Eingriffe  des  Menschen  bedarf,  —  um  so  vollkommener,  je  sicherer 
sie,  einmal  in  Bewegung,  lediglich  durch  die  ihr  innewohnende 
mechanische  Triebkraft  die  zweckmäßigen  Wirkungen  erzeugt,  um 
derentwillen  sie  gebaut  wurde.  Nach  dieser  Analogie  glaubte  das 
Aufklärungszeitalter  das  Verhältnis  der  Gottheit  zur  Natur  sich 
vorstellen  zu  sollen.  Ist  die  Welt  eine  große  Maschine  aus  der  Hand 
des  höchsten  Ingenieurs,  so  hätte  dieser  seine  Aufgabe  offenbar  sehr 
schlecht  gelöst,  wenn  er  ihrem  Gange  fortwährend  durch  neue  Ein- 
griffe nachhelfen  müßte,  damit  sie  seine  Zwecke  erfüllte,  und  so  muß 
man  annehmen,  daß  die  unendliche  Weisheit  Gottes  diese  große  Welt- 
maschine von  Anfang  an  so  geschaffen  und  so  in  Bewegung  gesetzt 
hat,  daß  er,  ihrer  zweckmäßigen  Tätigkeit  vollkommen  sicher,  sie 
nun  vollständig  sich  selbst  überlassen  kann. 

Jener  physiko-theologische  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  war 
bei  Newton  selbst,  wie  es  scheint  und  wie  seine  Grübeleien  über 
die  Apokalypse  beweisen,  mit  einer  entschieden  positiven  Gläubig- 
keit verbunden,  die  selbst  vor  der  Annahme  des  Wunders  nicht 
zurückschreckte.  Aber  es  leuchtet  von  selbst  ein,  daß  diese  per- 
sönliche Verknüpfung  weder  logisch  noch  psychologisch  notwendig 
war,  und  daß  jene  Betrachtungsweise  gerade  den  D eisten  sym- 
pathisch sein  mußte,  welche  die  Grundwahrheiten  der  Natur- 
religion auf  Vernunftbeweise  zu  stützen  suchten.  Indem  diese  den 
physiko-theologischen  Beweis  übernahmen,  gewannen  sie  einerseits 
die  gesuchte  Fühlung  mit  der  triumphierenden  Wissenschaft  der 
Zeit,  der  Naturforschung  und  speziell  der  Mechanik,  anderseits 
aber  auch  eine  Anlehnung  wenigstens  an  eine  Art  des  religiösen 
Gefühls,  an  das  erhebende  Gefühl  nämlich  der  Bewunderung  vor 
den  Werken  der  göttlichen  Kraft.  Man  brauchte  sich  in  den 
Kreisen  des  Deismus  nicht  auf  die  kahlen  ontologischen  und  kos- 
mologischen  Demonstrationen  zu  beschränken,  daß  ein  allerrealstes 


Physikotheologie.  309 


r/ 


Wesen  notwendig  gedacht  werden  müsse,  oder  daß  die  Zufällig- 
keit und  Un Vollkommenheit  der  einzelnen  Dinge  ein,  notwendiges 
und  vollkommenes  Wesen,  daß  der  kausale  Abfluß  des  Geschehens 
eine,  erste  Ursache  voraussetze:  die  Deisten  konnten  nun  predigen, 
sie  konnten  die  Gemüter  ergreifen  durch  den  Nachweis  der  Schön- 
heit, der  Güte  und  Zweckmäßigkeit  des  Universums  und  sie  von 
dieser  Betrachtung  emporführen  zur  Verehrung  der*  unendlichen 
Güte,  Weisheit  und  Allmacht,  die  dies  Universum  geschaffen  habe. 
So  wurde  die  Vernunftreligion  eine  Gefühlsreligion,  sie 
tränkte  sich  mit  der  Bewunderung  des  Weltalls,  und  darin  lag 
das  Geheimnis,  weshalb  sie  trotz  ihrer  ursprünglichen  inneren  Kahl- 
heit, trotz  ihrer  abstrakten  Trockenheit  auch  die  Herzen  des 
XVIII.  Jahrhunderts  ergriff.  Erst  mit  dieser  Gedankenverbindung 
ist  das  Bild  des  Deismus  im  Aufklärungszeitalter  vollständig.  Nach 
keiner  Seite  hin  wurde  er  so  lebhaft  ausgebildet  wie  nach  dieser, 
und  namentlich  die  Deutschen  haben  später  durch  den  Nach- 
weis der,  Vollkommenheit  der  mechanischen  Schöpfungen  der  Natur 
die  Bewunderung  der  Gottheit  so  sehr  zu  begründen  gesucht,  daß 
die  Kleinlichkeit,  mit  der  sie  dabei  vorgingen,  den  Humor  der 
Kritik  gereizt  hat.  Aber  selbst  noch  Kant  erklärte,  während  er 
die  theoretische  Kraft  aller  Beweise  für  das  Dasein  Gottes  zunichte 
machte,  den  physiko-theologischen  für  den  menschlich  wirksamsten 
und  für  denjenigen,  welcher  das  »Gemüt«  mit  unwiderstehlicher 
Gewalt  ergreife.  Und  in  der  Tat  waren  gerade  in  diesem  Beweise 
alle  Lieblingsgedanken  des  Aufklärungszeitalters  in  glücklichster 
Weise  verknüpft.  Er  schien  die  strengsten  Anforderungen  der 
Wissenschaft  zur  kausalen  Betrachtung  der  Natur  mit  dem  Be- 
dürfnis des  religiösen  Gefühls  unter  einem  höheren  Gesichtspunkte 
zu  versöhnen.  Er  enthielt  eine  rein  philosophische  Auffassung 
der  Gotteslehre  und  wollte  diese  gerade  auf  die  Naturbetrachtung 
stützen,  in  welcher  das  Zeitalter  die  wesentliche  Aufgabe  seiner 
Wissenschaft  suchte.  Vernunfterkenntnis  und  Naturforschung  ver- 
einigten sich  auf  diesem  Punkte  zu  einer  religiösen  Wahrheit,  und 
deshalb  sah  man  darin  den  Kernpunkt  der  Vernunftreligion.  Diese 
Auffassung  eignete  sich  vor  allen  andern,  um  an  die  Stelle  der 
historischen  Offenbarung  die  natürliche  zu  setzen  und  so  die  Kon- 
fessionen durch  eine  Überzeugung  der  wissenschaftlichen  Vernunft 
zu  verdrängen. 


310  Assoziationspsychologen, 

Die  allgemeine  Anerkennung  aber,  welche  diese  Gedanken 
fanden,  hatte  noch  eine  andere  Voraussetzung,  in  der  das  gesamte 
Aufklärungszeitalter  lebte,  und  welche  sich  von  diesem  Zusammen- 
hange aus  am  einfachsten  übersehen  läßt :  das  war  die  Überzeugung 
von  der  Vollkommenheit  der  Natur  und  von  der,,  Zweckmäßigkeit 
ihrer  einzelnen  Gebilde.  Es  war  wirklich  die  Eeligion  des  Zeit- 
alters der  Aufklärung,  an  die'  Unfehlbarkeit  der  Natur  zu  glauben 
und  von  der- vollendeten  Güte'*  ihrer  Schöpfungen  von  vornherein 
durchdrungen  zu  sein.  Alles,  was  aus  der  Hand  der  Natur  hervor- 
geht, galt  dieser  Zeit  als  vollkommen  und  zweckmäßig,  und  früh 
gewöhnte  sie  sieb  daran,  in  dem  Natürlichen  das  Ideal  des  Ver- 
nünftigen zu  erblicken.  Der  Naturalismus  dieser  Zeit  war 
identisch  mit  ihrem  Rationalismus,  und  eben  diese  Identität 
sprach  sich  in  dem  Optimismus  aus,  womit  sie  das  Universum 
als  die  Manifestation  der  göttlichen  Vernunft  betrachtete  und  ihre 
Züge  in  jedem  kleinsten  Gebilde  des  Weltalls  wiederzuerkennen 
bestrebt  war.  Das  war  das  gemeinsame  Bett,  worin  die  natur- 
trunkene Gottesbegeisterung  der  Renaissance  und  der  methodische 
Ernst  der  abgeklärten  Naturforschung  sich  vereinigten,  um  in 
dem  Drange  wissenschaftlichen  Denkens  dem  Ideale  einer  freien 
Religiosität  zuzuströmen.  Bruno  hatte  gesagt:  die  Welt  in  ihrer 
harmonischen  Schönheit  und  in  dem  Einklänge  ihrer  Gegensätze 
ist  ein  Kunstwerk  Gottes.  Auf  das  Jahrhundert  der  Kunst  folgte 
dasjenige  der  Technik,  und  Newton  sprach:  die  Welt  in  der  vollen- 
deten Zweckmäßigkeit  ihrer  Gebilde  ist  eine  vollkommene  Maschine 
aus  der  Hand  des  göttlichen  Meisters.  An  die  Stelle  des  ästhetischen 
ist  der  technische  Optimismus  getreten:  aber  jene  Poesie  und  diese 
Prosa  ruhen  auf  dem  gleichen  Grunde  einer  Überzeugung  von  der 
Vollkommenheit  der  Natur. 

§  32.    Die  Assoziationspsychologie. 

So  hatte  der  Fortgang  der  Naturforschung  dazu  geführt,  daß 
die  ausnahmslose  Geltung  des  Prinzips  der  mechanischen  Kausa- 
lität für  alle  Erscheinungen  der  äußeren  Natur  teils  zu  einem  Axiom 
der  Naturforschung,  teils  zu  einem  Gegenstande  freireligiöser 
Überzeugung  wurde.  Allein  eben  diese  allgemeine  Anerkennung 
warf  sehr  bald  ihre  Wellen  auch  auf  das  Gebiet  der  psychischen 
Erscheinungen.     Hier  konnte  man  sich  in  dieser  Beziehung  am 


Peter  Brown.  311 

... 

besten  an  das  baconische  Programm  und  an  die  prinzipiellen  Auf- 
fassungen von  Hobbes  anschließen.  Bei  diesem  waren  Erkenntnis- 
theorie und  Ethik  gleichmäßig  von  der  psychologischen  Voraus- 
setzung beherrscht,  daß  sich  aus  den  einfachen  Elementen  des 
Bewußtseins,  der  Empfindung  und  dem  Selbsterhaltungstriebe,  nach 
bestimmten  Gesetzen  alle  diejenigen  Verbindungen  erzeugen,  welche 
den  Inhalt  des  Seelenlebens  ausmachen:  und  je  mehr  man  sich 
diesen  Gedanken  klar  machte,  um  so  weniger  konnte  man  sich  der 
Folgerung  entziehen,  die  schon  Bacon  vorahnend  und  andeutend 
ausgesprochen  hatte,  daß  eine  wissenschaftliche  Psychologie  nichts 
anderes  sein  dürfte,  als  eine  Mechanik  der  Vorstellungen  und 
der  Triebe.  Die  Parallele  zu  der  äußeren  Naturwissenschaft  er- 
schien so  schlagend,  so  einfach  und  selbstverständlich  und  so  ver- 
lockend, daß  die  Psychologie  als  die  »Naturwissenschaft  des  inneren 
Sinnes«  sich  auf  diesem  Grunde  aufzubauen  begann. 

Auf  dem  theoretischen  Gebiete  machte  Peter  Brown  (als 
Bischof  von  Cork  1735  gestorben)  den  Anfang.  Sein  Werk:  »The 
procedure  extent  and  limits  of  human  understanding «  (London 
1729)  lehnt  sich  an  die  Lockesche  Erkenntnistheorie  mit  einer  ent- 
schieden sensualistischen  Wendung,  indem  es,  wie  später  Condillac 
in  Frankreich,  namentlich  den  Gedanken  ausführt,  daß  alle  und 
selbst  die  abstraktesten  Erzeugnisse  des  menschlichen  Denkens  nur 
die  durch  psychische  Gesetzmäßigkeit  herbeigeführten  Umbildungen 
der  ursprünglichen  Sinnesempfindungen  seien.  Lockes  Untersuchung 
•  war  dabei  wesentlich  auf  den  Inhalt  der  Vorstellungen  und  auf 
.  den  Nachweis  gerichtet  gewesen,  daß  dieser  ausnahmslos  aus  den 
ursprünglichen  Daten  der  Sensation  oder  der  Beflexion  stamme. 
Über  den  Prozeß  der  Verknüpfung  dieser  Elemente  jedoch  hatte 
Locke  sich  nur  unbestimmt  und  schwankend  geäußert:  bald  schien 
es  bei  ihm,  als  sollten  diese  Elemente  von  selbst,  also  rein  mechanisch, 
im  Bewußtsein  zu  den  komplizierteren  Gebilden  zusammentreten,  — 
bald  anderseits  als  bedürfe  es  dazu  der  ^Kräfte  und'  Vermögen 
(faculties)  der  Seele,  und  als  müsse  diesen  eine  eigene  psychische 
Realität  neben  jenen  Elementen  zugeschrieben  werden.  So  hat 
sich  später  die  mechanistische  Auffassung  der  Assoziationspsycho- 
logen ebenso  auf  Locke  berufen  können  wie  ihre  Gegner.  Peter 
Brown  neigte  schon  stark  zu  der  ersteren  und  zog  daraus  im  wesent- 
lichen die  empiristischen  Konsequenzen,  indem  er  nur  mit  größerer 


• 


312  Hartley. 

Einseitigkeit  die  Beschränkung  des  menschlichen  Wissens  auf  die 
sinnliche  Erfahrung  und  die  darin  möglichen  Vorstellungskombi- 
nationen betonte.  Von  moralphilosophischer  Seite  scheint  zuerst 
ein  Geistlicher  namens  Gay  den  Gedanken  des  Triebmechanismus 
mit  vollkommener  Klarheit  ausgesprochen  zu  haben.  Er  suchte 
in. einer  Abhandlung  über  das  Grundprinzip  der  Tugend  den  Begriff 
der  letzteren  dadurch  zu  erfassen,  daß  er  von  der  allgemeinen 
Annahme  aus,  es  seien  alle  Seelenvorgänge  auf  die  gesetzmäßige 
Kombination  gewisser  einfacher  Bewegungen  zurückzuführen,  die- 
jenige Form  der  Verknüpfung  suchte,  welche  wir  mit  dem  Namen 
der  Tugend  bezeichnen.  Die  präzise  Art  und  Weise,  worin  er 
diese  prinzipielle  Grundlage  seiner  im  übrigen  nicht  allzu  bedeuten- 
den Ausführungen  dargelegt  hatte,  wurde  namentlich  durch  die  An- 
regung bedeutend,  welche  sie  auf  David  Hartley  (1704 — 1757) 
nach  dessen  eigenem  Eingeständnis  ausgeübt  hat.  Durch  ihn 
namentlich  wurde  der  schon  von  Locke  angewandte  Name  »Asso- 
ziation« für  alle  diejenigen  Vorgänge,  durch  welche  aus  den 
Elementen  neue  Gebilde  des  psychischen  Lebens  entstehen,  ge- 
läufig, und  er  ist  durch  die  umfassende  Ausdehnung,  worin  er  das 
Prinzip  des  psychischen  Mechanismus  durchzuführen  suchte,  der 
Vater  der  englischen  Assoziationspsychologie  geworden.  Er 
hat  ihr  aber  zu  gleicher  Zeit  ihr  charakteristisches  Gepräge  durch 
die  enge  Verbindung  aufgedrückt,  die  er  zwischen  den  psychologischen 
und  den  physiologischen  Vorgängen  annahm.  Zwar  war  er 
weit  davon  entfernt,  beide  miteinander  zu  identifizieren;  er  hielt 
vielmehr  an  der  durchgängigen  Verschiedenheit  der  leiblichen  und 
der  seelischen  Phänomene  so  energisch  fest,  daß  er  dem  Materialismus 
gegenüber  immer  wieder  betonte,  es  könne  weder  aus  Bewegungen 
Empfindung  noch  aus  Empfindung  Bewegung  erklärt  und  ab- 
geleitet werden.  Die  Analyse  seelischer  Vorgänge  führe  immer 
auf  seelische  und  niemals  auf  leibliche  Elemente.  Allein  Hartley 
ließ  diese  Unterscheidung  nur  für  die  Erscheinungen,  die  Eigen- 
schaften und  Tätigkeiten  gelten;  hinsichtlich  der  Substanzen 
dagegen  bediente  er  sich  der  Lockeschen  Ausflucht,  daß  sie  über- 
haupt unbekannt  seien,  und  daß  deshalb  die  Frage,  ob  das 
räumlich  ausgedehnte  Wesen  zugleich  zu  denken  imstande  sei, 
weder  bejaht  noch  verneint  werden  könne.  Daran  jedoch  glaubte 
er  unbedingt  festhalten  zu  sollen,  daß,  wie  auch  das  substantielle 


Seele  und  Leib.  313 

Verhältnis  sein  möchte,  zwischen  den  Erscheinungen  beider 
Sphären  ein  stetiger  und  unzerreißbarer  Zusammen- 
hang existiere.  Es  ist  sicher  nicht  ohne  den  Einfluß  der  im 
Occasionalismus  und  Spinozismus  entwickelten  Probleme  und  Be- 
griffe gewesen,  daß  sich  Hartley  diesen  stetigen  Zusammenhang 
als  einen  vollkommenen  Parallelismus  der  seelischen  und  der 
leiblichen  Tätigkeit  vorstellte.  Er  meinte,  daß  jedem  psychischen 
Vorgange  eine  bestimmte  leibliche  Bewegung  entspreche,  und  suchte 
die  letztere  nach  dem  damaligen  Zustande  der  Physiologie  in  den 
Vibrationen  der  Gehirn-  und  der  Nervensubstanz.  Einfachen 
Schwingungen  sollten  auch  einfache  psychische  Prozesse  ent- 
sprechen, zusammengesetzten  zusammengesetzte,  und  wenn  somit 
in  den  Assoziationen  regelmäßig  mehrere  psychische  Elemente  zu 
einer  Einheit  verknüpft  sind,  so  muß  dieser  Theorie  zufolge  der 
psychischen  auch  eine  nervöse  Synthesis,  eine  einheitliche  Ver- 
knüpfung von  Gehirnschwingungen  entsprechen.  Diese  Lehre  suchte 
Hartley  schon  in  der  Schrift:  »De  sensüs,  motus  et  idearum  gene- 
ratione«  (London  1746)  durch  eine  Reihe  weiterer,  mehr  oder 
minder  glücklicher  Hypothesen  über  Sinneswahrnehmung,  Ge- 
dächtnis, Abstraktion  usw.  zu  begründen :  sein  berühmter  gewordenes 
Werk:  »Observations  on  man,  his  frame,  his  duty  and  his  expec- 
tations«  (London  1749)  drang  in  die  Schwierigkeiten  der  Sache  und 
namentlich  in  die  gefährlichen  Konsequenzen  der  Theorie  noch 
tiefer  und  grübelnder  ein.  Die  Hauptschwierigkeit  nämlich  dabei 
war  eine  ganz  ähnliche,  wie  diejenige,  vermöge  deren  auch  der 
Spinozismus  in  den  Ruf  des  Materialismus  hatte  kommen  können. 
Die  psychischen  Assoziationen  sollen  nach  dieser  Lehre  genau 
parallel  den  Gehirnfunktionen  verlaufen;  die  letzteren  aber,  als 
offenbar  rein  materielle  Vorgänge,  sind  lediglich  durch  mechanische 
Kausalität,  d.  h.  teils  durch  die  peripherischen  Reizungen,  teils 
durch  deren  gesetzmäßige  Auslösung  und  Übertragung  in  den 
zentralen  Apparaten  bedingt.  Danach  gewinnt  es  den  Anschein,  als 
müßten  die  seelischen  Vomänoe  ausnahmslos  von  dem  Mechanismus 
der  materiellen  abhängig  sein.  So  sehr  sich  also  Hartley  gegen  eine 
Identifikation  beider  Sphären  im  Sinne  des  Materialismus  ge- 
wehrt hatte,  sowenig  vermochte  er  doch  die  Konsequenz  abzulehnen, 
daß  seine  Theorie  den  Verlauf  des  seelischen  Lebens  in  einer 
Ausdehnung,  welche  der   Lehre  des   Materialismus  im   sachlichen 


314  Priestley. 

Ergebnis  so  gut  wie  gleichkam,  von  der  Gehirntätigkeit  abhängig 
machte  und  damit  jede  Selbständigkeit  der  psychischen  Aktion 
aufhob.  Die  mechanische  Notwendigkeit  der  Gehirnfunktionen 
involviert  auch  eine  gleiche  Notwendigkeit  der  Vorstellungsassozia- 
tionen, und  diese  Folgerung,  der  sich  der  wissenschaftliche  Geist 
Hartleys  nicht  zu  entziehen  vermochte,  brachte  in  sein  tief  religiöses 
Gemüt  eine  Fülle  von  Zweifeln,  namentlich  in  bezug  auf  die  mensch- 
liche Willensfreiheit,  aus  denen  er  sich  vergebens  emporzuringen 
gesucht  hat.  Diese  Schwierigkeiten  häuften  sich  um  so  mehr, 
als  er  das  Prinzip  des  Assoziationsmechanismus  gerade  auch  auf 
dem  Gebiete  der  Gefühle,  Leidenschaften  und  Willensentschlüsse 
durchführte.  Er  ging  dabei  von  der  analogen  Voraussetzung  aus, 
daß,  wie  die  abstraktesten  Vorstellungen,  so  auch  die  verfeinertsten 
Triebe  und  Gefühle  allmählich  entstandene  Produkte  des  seelischen 
Mechanismus  aus  den  einfachen  Grundzuständen  seien.  Der  Ver- 
such, den  er  zur  Lösung  dieser  Aufgabe  in  seinen  »Observations « 
machte,  nimmt  einen  höchst  bedeutenden  Platz  in  der  Entwicklung 
der  englischen  Moralphilosophie  ein:  aber  er  selbst  vermochte  den 
Determinismus  dieser  Untersuchungen  mit  seinen  religiösen  Vor- 
stellungen von  der  Verantwortlichkeit  nicht  in  rechten  Einklang 
zu  bringen  und  fürchtete,  in  die  verrufenen  Irrlehren  des  Materialis- 
mus hineingeraten  zu  sein.  Es  war  eben  nicht  zu  leugnen:  dieser 
erste  Versuch  der  Assoziationspsychologie,  die  Gesetzmäßigkeit  des 
psychischen  Lebens  auf  physiologischen  Grundlagen  aufzubauen, 
streifte  so  hart  an  den  Materialismus,  daß  er  ihm  zum  Verwechseln 
ähnlich  sah,  und  es  war  im  Grunde  genommen  nur  die  persönliche 
Religiosität  Hartleys,  welche  einer  vollkommen  materialistischen 
Wendung  dieser  seiner  Lehre  von  den  Vibrationen  entgegenstand. 
Noch  schroffer  und  unvermittelter  ist  das  Nebeneinanderbestehen 
der  religiösen  Überzeugungen  und  der  materialistischen  Neigungen 

^yder  Assoziationspsycholoede  bei  Joseph  Priestley  (1733  bis 
1804),  dem  berühmten  Erforscher  des  ^Sauerstoff s,  der  neben  seiner 

7  y  naturwissenschaftlichen  Größe  auch  eine  bemerkenswerte  philo- 
sophische Bedeutung  besitzt  und  über  die  brennenden  Streitfragen 
der  Zeit  eine  Anzahl  außerordentlich  lebhafter  und  geistvoller 
Schriften  hinterlassen  hat.  Schon  in  seiner  ersten  Schrift  kritisierte 
er  die  Werke  der  schottischen  Philosophen  zugunsten  der  Lehre 
David  Humes,  der  ja  den  Grundgedanken  der  Assoziationspsychologie 


Materialismus.  315 

angenommen  hatte.  Sein  folgendes  Buch:  »Hartley's  theory  of 
human  mind  on  the  principles  of  the  association  of  ideas«  (London 
1775)  trat  direkt  für  Hartley  ein  imd  wurde  zwei  Jahre  später  durch 
eine  Schrift:  »Disquisitions  relating  to  matter  and  spirit«  ergänzt, 
die  unter  anderem  auch  durch  eine  geschichtliche  Darstellung 
der  bisherigen  Seelenlehre  die  Unzulänglichkeit  der  metaphysischen 
Theorien  darstellen  wollte.  Noch  in  demselben  Jahre  1777  reizte 
ihn  der  Angriff,  den  Richard  Price,  ein  neuplatonisierender 
Spiritualist,  in  seinen  »Lettres  on  materialism  <<  gegen  den  gesamten 
Empirismus  und  Sensualismus  gerichtet  hatte,  zu  einer  schneidigen 
Antwort  in  der  Schrift:  »The  doctrine  of  philosophical  necessity«, 
der  im  folgenden  Jahre  die:  »Free  discussions  of  the  doctrines  of 
materialism«  folgten.  Später  hat  er  noch  eine  Anzahl  religions- 
philosophischer Werke  drucken  lassen,  in  denen  er  sich  als  ein 
unerschrockener  Verteidiger  des  Rationalismus,  als  Vertreter  der 
Toleranz  und  als  ein  begeisterter  Anhänger  des  Deismus  zeigt. 
Dabei  ist  es  ihm  mit  seinem  Glauben  völlig  Ernst;  er  will  etwa  in 
dem  Geiste  Tindals  das  Christentum  von  allen  abergläubischen  Ent- 
stellungen reinigen,  damit  es  seine  volle  Kraft  über  die  Gemüter 
bewähren  könne.  Er  greift  deshalb  mit  aller  Energie  den  franzö- 
sischen Materialismus  an,  der  um  diese  Zeit  bereits  in  dem  »Systeme 
de  la  nature«  unverhohlen  seine  atheistischen  Konsequenzen  ge- 
zogen hatte,  und  er  stellt  sich  bedingungslos  auf  den  Standpunkt, 
daß  die  Welt  durch  den  vollendeten  Mechanismus  ihrer  Bewegungen 
sich  als  das  Werk  einer  höchsten  Intelligenz  ausweise.  Allein  alle 
diese  Überzeugungen  hindern  Priestley  nicht,  die  Hartleysche 
Lehre  bis  zu  rückhaltslos  materialistischen  Folgerungen  durch- 
zuführen. Hartley  hatte  in  bezug  auf  die  Willenslehre  sich  mit 
sichtlichem  Widerwillen  und  mit  schweren  Bedenken  im  Verfolg 
seiner  Theorie  zu  einer  deterministischen  Auffassung  bequemt. 
Priestley  erkannte  von  vornherein  den  Determinismus  in  voller  Aus- 
dehnung an;  er  sah  mit  dem  ganzen  Zeitalter  in  den  Willensent- 
schlüssen lediglich  die  Wirkung  von  Vorstellungsassoziationen,  und 
er  zögerte  nicht  zuzugeben,  daß  von  diesem  Standpunkt  aus  die 
Handlungen  des  Menschen  ebenso  wie  die  ihnen  zugrunde  liegen- 
den Vorstellungsassoziationen  sich  in  bedingungsloser  Abhängigkeit 
lediglich  von  den  Gehirnschwingungen  befinden.  War  das  einmal 
zugestanden,  so  konnte  es  keine  Schwierigkeit  mehr  machen,  auch 


316  Priestley. 

den  letzten  Schritt  zu  tun.  Die  Annahme  einer  prinzipiellen  Ver- 
schiedenheit des  physischen  und  des  psychischen  Lebens  mußte 
wertlos  erscheinen,  sobald  man  so  weit  gegangen  war,  den  gesamten 
Verlauf  des  letzteren  lediglich  von  demjenigen  des  ersteren  ab- 
hängig zu  machen.  So  gab  denn  Priestley  jene  von  Hartley  noch 
entschieden  festgehaltene  Annahme  preis  und  bekannte  sich  voll- 
ständig zu  der  Lehre  von  der  Materialität  der  seelischen  Vorgänge. 
An  die  Stelle  der  Eeflexion,  wie  sie  Locke  zur  Grundlage  der  Psycho- 
logie gemacht  hatte,  an  die  Stelle  der  Analyse  der  psychischen 
Tatsachen,  welche  die  schottische  Schule  verlangte,  will  er  eine 
Physik  des  Nervensystems  setzen  und  geht  bereits  vollständig  bis 
zu  dem  Extrem,  die  Psychologie  für  einen  Teil  der  Physiologie  zu 
erklären.  Denselben  Materialismus,  den  er  auf  metaphy- 
sischem und  religionsphilosophischem  Gebiete  mit  aller  Lebhaftig- 
keit bekämpfte,  erkannte  er  auf  dem  psychologischen  Gebiete  in 
einer  Ausdehnung  an,  die  prinzipiell  kaum  mehr  überboten  werden 
konnte.  Priestley  zeigt  damit  in  einer  selten  schroffen  und  naiven 
Gestalt  einen  inneren  Widerspruch,  der  bei  den  großen  Natur- 
forschern des  XVIII.  und  XIX.  Jahrhunderts,  besonders  in  England 
sich  oft  wiederholt  hat.  Zwei  große  Gedankenmassen,  auf  der  einen 
Seite  diejenige  der  religiösen  Erziehung  und  des  metaphysischen  Be- 
dürfnisses, auf  der  andern  Seite  das  wissenschaftliche  System  der 
mechanischen  Kausalität  liegen  in  diesen  Männern,  wie  es  scheint, 
gänzlich  gesondert  nebeneinander,  ohne  jede  innere  Verbindung,  und 
dabei  doch  jede  von  so  starker  subjektiver  Gewißheit  getragen,  daß, 
weil  sie  einander  nicht  zu  verdrängen  imstande  sind,  der  innere 
Widerspruch,  worin  sie  stehen,  vollständig  erdrückt  wird.  Diese 
innere  Geteiltheit  herrschte  anfangs  in  Hinsicht  der  Frage  nach 
der  teleologischen  Betrachtung  der  gesamten  Natur,  und  nachdem 
hier  das  versöhnende  Wort  gefunden  war,  spitzte  sie  sich  zu  der 
psychologischen  Frage  teils  nach  der  Willensfreiheit,  teils  nach  der 
Abhängigkeit  der  Seelentätigkeiten  von  den  mechanischen  Funk- 
tionen des  physischen  Organismus  zu :  in  dieser  Hinsicht  ist  Priestley 
mit  seiner  merkwürdigen  Vereinigung  von  Deismus  und  Ma- 
terialismus eine  überaus  charakteristische  Erscheinung  der  wider- 
spruchsvollen Unklarheit,  die  erst  Kant  aufzuhellen  berufen  war. 
Wie  leicht  zu  erklären,  konnte  der  Fortgang  der  Assoziations- 
psychologie nur  dazu  führen,  daß  ihre  materialistische  Seite  noch 


Darwin.  317 

energischer  betont  wurde.  Sobald  sie  die  Fühlung  mit  dem  Deismus, 
die  Priestley  aufrecht  erhalten  hatte,  verlor,  blieb  ihr  nur  der  bare 
Materialismus  übrig.  Aber  gerade  deshalb  mußte  sie  zu  einer  ge- 
wissen Unfruchtbarkeit  verurteilt  bleiben  und  sich  genötigt  sehen, 
die  Lücken  ihres  Wissens  durch  mehr  oder  minder  willkürliche 
Hypothesen  auszufüllen.  Am  besten  tritt  dies  bei  Erasmus 
Darwin  (1731—1802)  zutage,  der  für  Hartleys  »Vibrationen  des 
Gehirns«  den  Ausdruck  »Bewegungen  des  Sensoriums«  ein- 
führte und  die  Materialität  der  Seele  in  einer  an  die  phantastischen 
Hypothesen  der  ältesten  griechischen  Denker  erinnernden  Weise 
daraus  zu  beweisen  suchte,  daß  Seele  und  Leib  nur  infolge  der 
Gemeinsamkeit  gewisser  Eigenschaften  miteinander  in  Verbindung 
stehen  könnten,  und  daß  deshalb  die  Fähigkeit  der  Seele  zu  sehen, 
zu  hören,  zu  riechen  usw.,  umgekehrt  auch  ihre  Sichtbarkeit,  Hör- 
barkeit, Riechbarkeit  usw.,  kurz  ihre  volle  Materialität  voraussetzte. 
Darwin  schreckte  sogar  in  diesem  Zusammenhange  nicht  vor  der 
wunderlichen  Annahme  zurück,  die  Seele  müsse  ein  Wesen  sein, 
welches  je  nach  Belieben  gelegentlich  alle  Eigenschaften,  Tätig- 
keiten und  Zustände  des  Körpers  anzunehmen  imstande  sei. 

So  ungeheuerlich  und  geradezu  komisch  solche  Auswüchse  der 
Assoziationspsychologie,  zumal  im  Lichte  der  modernen  Physiologie 
erscheinen,  so  darf  doch  die  große  historische  Bedeutung  nicht 
verkannt  werden,  welche  diese  Richtung  gehabt  hat.  Sie  machte 
mit  rein  wissenschaftlichem  Ernste  auf  die  Zusammenhänge  auf- 
merksam, die  zwischen  dem  psychischen  und  dem  physischen 
Organismus  bestehen,  und  welche  lange  Zeit  hindurch  vergessen, 
verkannt  oder  absichtlich  geleugnet  worden  waren.  Sie  gewöhnte  die 
Wissenschaft  wieder  daran,  in  dem  physischen  Leben  eine  Grund- 
lage des  psychischen  zu  sehen;  sie  schüttete  freilich  das  Kind  mit 
lern  Bade  aus,  wenn  sie  alsbald  diese  Grundlage  für  die  einzige 
hielt,  oder  wenn  sie  gar  voreilig  genug  war,  diese  Grundlage  mit 
dem  psychischen  Leben  selbst  zu  verwechseln.  Aber  Einseitigkeit 
ist  der  Mangel  aller  historischen  Anfänge,  und  der  Wert  der  Asso- 
ziationspsychologie des  XVIII.  Jahrhunderts  wird  dadurch,  daß  sie 
iiesen  Mangel  teilte,  vielleicht  geschmälert,  aber  nicht  aufgehoben. 
Es  bleibt  ihr  das  große  Verdienst,  die  ph}7siologische  Grund - 
lage,  deren  die  Psychologie  nicht  entbehren  kann,  wieder  auf- 
gedeckt und  damit  der  Aufnahme  dieses  wichtigen  Teiles  in  das 


318  Berkeley. 

psychologische  System  der  Zukunft  vorgearbeitet  zu  haben.  Gerade 
in  der  englischen  Literatur,  die  einen  so  ausgeprägt  psychologistischen 
Charakter  besitzt,  mußte  diese  Sichtung  für  das  Verständnis  des 
Seelenlebens  besonders  bedeutsam  werden. 


§  33.    Der  Spiritualismus  Berkeleys. 

Man  kann  die  Breite  der  Anregungen,  welche  von  der  Lehre 
Lockes  ausgingen,  und  die  Fülle  der  Keime,  die  in  seinen  Über- 
legungen enthalten,  aber  nicht  zur  Klarheit  gelangt  waren,  kaum 
besser  übersehen,  als  wenn  man  bedenkt,  daß  neben  den  Lehren 
der  Assoziationspsychologie,  die  so  dicht  an  den  Materialismus 
streiften  und  nur  durch  persönliche  Überzeugungen  oder  durch  er- 
kenntnistheoretische Vorsicht  von  einem  unmittelbaren  Aufgehen 
darin  zurückgehalten  wurden,  auf  demselben  Boden  die  vollkommen 
entgegengesetzte  Weltanschauung,  diejenige  des  Spiritualismus,  er- 
wuchs, und  daß  es  dieselbe  Neigung  zu  einer  sensualistischen  Färbung 
der  Lockeschen  Lehre  war,  worin  beide  gediehen. 

Der  Vertreter  dieses  Spiritualismus,  gleich  bewundernswert  als 
Mensch  wie  als  Philosoph,  war  George  Berkeley.  Ein  Irländer 
von  Geburt,  hatte  er  seine  Bildung  in  Dublin  und  später  in  London 
erhalten,  brachte  dann  mehrere  Jahre  mit  Keisen  in  Italien  und 
Frankreich  zu  und  lernte  bei  dieser  Gelegenheit  1715  auch  Male- 
branche persönlich  kennen.  Nach  einem  mehrjährigen  Aufenthalt 
in  London  ging  er  1728  als  Leiter  eines  missionären  Unternehmens 
nach  Amerika,  sah  sich  jedoch  bald  von  den  versprochenen  Unter- 
stützungen verlassen  und  zur  Rückkehr  in  die  Heimat  genötigt,  in 
der  er  dann  als  Bischof  von  Cloyne  abwechselnd  in  London  und  in 
seiner  Diözese  verweilte,  bis  er,  68  Jahre  alt,  1753  starb. 

Die  ethischen  und  die  religionsphilosophischen  Doktrinen,  so 
wertvoll  sie  in  ihrem  Zusammenhang  auf  der  einen  Seite  mit 
den  allgemeinen  empiristischen  Grundlagen  der  englischen  Philo- 
sophie, auf  der  andern  Seite  mit  dem  gesamten  Kulturzustande  des 
XVIII.  Jahrhunderts  erscheinen,  bilden  doch  ebenso  wie  die  Anfänge 
der  Assoziationspsychologie  schließlich  nur  gewisse  Nebentriebe, 
die  von  dem  Hauptstamme  der  philosophischen  Entwicklung  sich 
abzweigen.  Von  ihnen  kehrt  man  mitten  in  den  großen  Zug  des 
zentralen  Wachstums  der  philosophischen  Ideen  zurück,  wenn  man 


Sensation  und  Reflexion.  319 

die  Lehre  Berkeleys  betrachtet.  In  der  umfassenden  Allseitigkeit 
seiner  Gesichtspunkte,  in  der  eindringenden  Schärfe  seiner  philo- 
sophischen Originalität  ist  er  nach  Locke  wieder  der  erste  Träger  der 
Gesamtentwicklung,  und  er  verdankt  diese  Bedeutung  lediglich  dem 
Umstände,  daß  er  das  erkenntnistheoretische  Problem  der  Locke- 
schen Philosophie  wieder  aufnahm  und  in  einer  neuen  und  schöpfe- 
rischen Weise  behandelte. 

Diese  Weiterentwicklung  knüpft  sich  zunächst  an  den  Gegensatz, 
den  Locke  zwischen  den  beiden  Sphären  der  menschlichen  Er- 
fahrung, dem  äußeren  und  dem  inneren  Sinn,  zwar  prinzipiell 
statuiert,  aber  nicht  vollständig  durchgeführt  hatte.  Es  waren  viel- 
mehr eine  Reihe  von  Punkten,  an  denen  diese  Unterscheidung  sich 
durchaus  nicht  mit  Sicherheit  anwenden  ließ,  und  eine  Anzahl  von 
Zwischengliedern,  welche  man  mit  gleicher  Berechtigung  sowohl 
der^  Sensation  als  auch  der  ^Reflexion  zuschreiben  zu  können  und 
zu  müssen  schien.  Die  sinnlichen  Empfindungen  konnte  man  doch 
von  dem  äußeren  Sinne  nicht  gut  ausschließen:  sofern  sie  aber 
sekundäre  Qualitäten,  d.  h.  lediglich  Empfindungszustände  des  Sub- 
jekts enthalten,  bilden  sie  eine  Art  von  Selbsterfahrung  und  gehören 
als  solche  der  Reflexion  an.  Das  gleiche  gilt  fast  noch  augen- 
scheinlicher von  den  sinnlichen  Gefühlen,  die  vermöge  ihrer 
organischen  Vermittlung  unbedingt  dem  äußeren,  vermöge  ihres 
Inhalts  als  Zustände  des  Subjekts  nicht  minder  unbedingt  dem 
inneren  Sinne  angehören.  Besonders  aber  legte  Lockes  Ausführung, 
wonach  die  Anregung  zu  allen  Tätigkeiten  der  Reflexion  aus  den 
ursprünglichen  Funktionen  der  Sensation  stammen  sollte,  den  Ge- 
danken nahe,  daß  diese  beiden  Arten  der  Erfahrung  doch  schließlich 
nicht  prinzipiell,  sondern  nur  graduell  voneinander  verschieden 
seien,  und  daß  es  eine  aufsteigende  Linie  kontinuierlichen  Zusammen- 
hanges zwischen  den  niedrigsten  Formen  der  Sensation  und  den 
höchsten  und  feinsten  Gebilden  der  Reflexion  geben  müsse.  Wenn 
man  mit  dem  von  Locke  angeregten  Prinzip,  daß  die  Tatsachen  des 
inneren  Sinnes  ursprünglich  immer  nur  Verarbeitungen  derjenigen 
:les  äußeren  Sinnes  seien,  vollkommen  Ernst  machte,  so  hob  man 
üe  qualitative  Differenz  zwischen  jenen  beiden  Arten  der  Erfahrung 
wieder  auf:  wenn  die  eine  sich  in  die  andere  verwandeln  kann,  so 
können  sie  nur  verschiedene  Formen  einer  und  derselben  Grund- 
tätigkeit sein.    Dies  war  nun  in  der  Tat  die  Richtung,  in  welcher 


320  Berkeley. 

sich  infolge  jener  bei  Locke  mehr  verdeckten  als  klar  hervorge- 
hobenen Schwierigkeiten  seine  Lehre  weiter  entwickelte.  Es  lag 
in  dem  ganzen  Zuge  der  Zeit,  daß  man  die  Zusammenhänge  zwischen 
der  physischen  und  der  psychischen  Erfahrung  mehr  betonte  und 
stärker  ins  Auge  faßte,  als  den  Gegensatz  zwischen  beiden.  In 
metaphysischer  Hinsicht  hatte  das  die  Lehre  Descartes'  erfahren: 
aus  seiner  scharfen  Sonderung  der  ausgedehnten  und  der  bewußten 
Substanzen  hatten  sich  die  Probleme  des  Occasionalismus  und  des 
Spinozismus  und  die  Lieblingsfrage  nach  dem  Zusammenhange  von 
Leib  und  Seele  ergeben.  In  erkenntnistheoretischer  Hinsicht  erlitt 
der  Lockesche  Empirismus  ein  ähnliches  Geschick,  indem  das 
Problem  der  Beziehung  zwischen  innerer  und  äußerer  Erfahrung, 
deren  scharfe  Sonderung  er  gewünscht  hatte,  an  die  Spitze  der 
Untersuchung  trat.  Indem  aber  dabei  die  Andeutung  des  Zusammen- 
hanges, die  er  selbst  gegeben  hatte,  lebhafter  und  klarer  entwickelt 
wurde,  erfuhr  seine  Lehre  eine  Umbildung  zum  entschie 
densten  Sensualismus.  Je  mehr  man  die  Schranken  zwischen 
Sensation  und  Reflexion  niederriß  und  die  leisen  Übergänge 
zwischen  beiden  erforschte,  um  so  mehr  erschien  die  Sinnes- 
empfindung als  die  einzige  Grundlage  des  gesamten  Vorstellungs- 
lebens. 

Wenn  man  nun  auf  diese  Weise  die  Tätigkeiten  der  Sensation 
und  der  Reflexion  in  eine  zusammenhängende  Linie  anzuordnen 
suchte  und  sie  damit  alle  für  die  verschiedenen  Umformungen 
einer  und  derselben  Grundtätigkeit  erklärte,  so  war  es  im  Grunde 
genommen  zunächst  gleichgültig,  nach  welchem  der  beiden  End- 
punkte man  diese  Grundtätigkeit  zu  bezeichnen  für  gut  fand.  Ob 
man  nun  die  Tätigkeiten  der  Reflexion  als  Umformungen  und  Höher- 
bildungen der  Sensationen  bezeichnete,  oder  ob  man  die  Sensationen 
niedrigste  Formen  der  Reflexion  nannte  —  in  beiden  Fällen  hatte 
man  jene  prinzipielle  Unterscheidung  wieder  umgestürzt.  Allein 
so  irrelevant  diese  Verschiedenheit  der  Bezeichnung  an  sich  er- 
scheinen mochte,  für  die  erkenntnistheoretischen  und  metaphysischen 
Folgerungen  war  es  durchaus  nicht  gleichgültig,  von  welcher  Seite 
man  die  Sache  auffaßte.  Auf  der  einen  Seite  geriet  man  zu  dem 
reinen  Sensualismus  des  äußeren  Sinnes,  dem  auch  die 
Abstraktionen  nur  als  Spuren  von  sinnlichen  Wahrnehmungen 
gelten,  und  der  aus  der  Sinnlichkeit  der  psychischen  Grundlagen 


NominaHfimus.  321 

auch  auf  die  (Sinnlichkeit  des  vorstellenden  Wesens  zu  schließen 
geneigt  sein  mußte.  Auf  der  andern  Seite  ergab  sich  ein  Sensualis- 
mus des  inneren  Sinnes,  der,  von  dem  Gedanken  ausgehend, 
daß  auch  die  Sinnesempfindungen  nur  die  untersten  Stufen  der 
Selbst  Wahrnehmung  sind,  die  materielle  Welt  in  Vorstellungen  der 
Geister  aufzulösen  bereit  war.  So  schieden  sich  die  Wege  sehr  früh. 
Der  Sensualismus  des  äußeren  Sinnes  neigte  dem  Materialismus 
zu,  den  er  vorfand;  derjenige  des  inneren  Sinnes  erzeugte  den 
Spiritualismus.  Jene  Entwicklung  geschah  in  England  durch  die 
Assoziationspsychologie  und  in  Frankreich  durch  Condillac;  diese 
vollzog  sich  durch  Berkeley. 

Es  ist  nun  überaus  merkwürdig,  wie  sich  Berkeley  zu  dieser  Art 
der  Umbildung   der  Lockeschen  Lehre  durch  die  Konsequenzen 
desselben  Nominalismus  gedrängt  sah,  welcher  wie  der  Grund- 
ton durch   die  gesamte  Entwicklung  der  englischen   Philosophie 
hindurchgeht.    Diese  Denkrichtung,  die  einen  Bacon,  einen  Hobbes 
und  Locke  bestimmt  hatte,  übte  hier  noch  eine,  und  zwar  die  aller- 
mächtigste  Wirkung  auf  das  englische  Denken  aus  und  gipfelte 
•in  einem  extremen  Resultate.     Locke  nämlich  hatte  noch  an  der 
Existenz  abstrakter  Allgemein  Vorstellungen  im  Geiste  des  Menschen 
festgehalten,   wenn  er  auch  in  echt  nominalistischer  Weise  ihre 
objektive  Realität  leugnete.     Berkeley  schritt  zu   der   kühneren 
Auffassung,   welche  das   Vorhandensein   abstrakter   Allgemeinvor- 
stellungen nicht  einmal   im  Geiste  des  Menschen  zugeben  wollte, 
und  darin  besteht  seine  Originalität  und  der  eigentliche  Grundzug 
seiner  Lehre.     Es  war  vom  psychologischen  Standpunkt  aus  ein 
überaus  tiefer  Blick  in  das  Wesen  der  menschlichen  Vorstellungswelt, 
wenn  Berkeley  den  Nachweis  zu  führen  suchte,  daß  es  in  Wirklich- 
keit abstrakte  Begriffe  gar  nicht  gibt,  sondern,  daß  wir  uns  nur  ein- 
bilden, solche  zu  haben,  daß  die  abstrakten  Begriffe  vielmehr  nur 
Aufgaben  und  Ideale  sind,  zu  denen  wir  mit  niemals  vollständiger 
Annäherung   hinstreben.     Man   mag   über   die   Richtigkeit   dieser 
Lehre  denken,  wie  man  will,  —  sie  hätte  jedenfalls  in  der  Psycho- 
ogie  und  besonders  auch  in  der  Logik  mehr  Beachtung  verdient, 
ils  sie  gefunden  hat;  denn  sie  traf  auf  jeden  Fall  das  tatsächliche 
Verhältnis,  wie  es  zum  mindesten  in  einer  großen  Anzahl  von  Fällen 
vorhanden  ist.    Berkeley  sucht  sie  durch  den  Nachweis  zu  begründen, 
laß,  wo  wir  eine  abstrakte  Vorstellung  zu  haben  glauben,  uns  in 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  21 


322  Berkeley. 


. 


der  Tat^QC^^desiTial  vermöge  der  sinnlichen  Phantasie  ein  be 
stimmtes,  einzelnes  Exemplar  vorschwebt.  Wenn  man  voin^IJafflff 
im  allgemeinen  spricTit,  "So"  ojenK't  jeder^doch  heimlich,  wenn  auch 
noch  so  leise  und  dunkel,  dabei  einen  einzelnen,  sinnlich  bestimmten 
Baum.  Wenn  man  vom^Dreieck Spricht,  so  entwirft  jeder  sich  das 
Bild  eines  bestimmten  einzelnen  Dreiecks,  und  diese  Vorstellung 
ist,  wie  Berkeley  meint,  nur  insofern  allgemein,  als  sich  aus  ihr 
einige  Erkenntnisse  ableiten  lassen,  welche  für  alle  Dreiecke  gültig 
sind.  Freilich  versäumt  es  dabei  Berkeley,  sich  klar  zu  machen,  wo- 
her denn  nun  diese  allgemeinere  Gültigkeit  stamme,  und  wodurch 
man  ihrer  versichert  sei:  er  glaubt  daran  festhalten  zu  können, 
daß  diese  Vorstellung  in  Wahrheit  nicht  abstrakt,  sondern  nur 
repräsentativ  sei.  Allgemeine  Vorstellungen  also,  wie  sie  durch 
die  Wörter  der  menschlichen  Sprache  ausgedrückt  werden,  sind 
in  Wahrheit  nicht  von  den  sinnlichen  Elementen  befreite  Ab- 
straktionen, sondern  vielmehr  auch  nur  sinnliche  Einzel  Vorstellungen, 
aber  solche,  welche  vermöge  irgendwelcher  Eigentümlichkeiten  — 
und  diese  eben  vermag  die  Berkeleysche  Theorie  nicht  anzugeben  — 
eine  Reihe  von  anderen  Einzelvorstellungen  zu  repräsentieren 
imstande  sind.  Es  gibt  also  nicht  nur  keine  allgemeinen  Dinge, 
sondern  nicht  einmal  allgemeine  Vorstellungen.  Diese  sind,  wie 
Berkeley  ausführt,  nur  eine  unheilvolle  Fiktion  der  Schule,  und  in 
Wahrheit  existieren  nur  sinnliche  Einzelvorstellungen.  Das  ist  die 
höchste  Stufe,  welche  der  Nominalismus  je  erreicht  hat  und  über- 
haupt zu  erreichen  imstande  ist ;  es  ist  nicht  mehr  der  metaphysische 
oder  erkenntnistheoretische,  sondern  der  psychologische  Nomi- 
nalismus. In  dieser  Beziehung  steht  Berkeleys  Lehre  diametral 
dem  Spinozismus  gegenüber :  wie  dieser  in  metaphysischer  Hinsicht 
der  äußerste  Ausläufer  des  mittelalterlichen  Realismus,  so  ist 
Berkeleys  Psychologie  des  Abstrakten  das  letzte  Wort  des  Nomi 
nalismus. 

Die  nächste  Folgerung,  welche  Berkeley  daraus  zieht,  ist  die 
daß  jene  allgemeinen  und  abstrakten  Attribute,  mit  denen  bei  Locke 
so  gut  wie  bei  Descartes  die  Dinge  selbst  hatten  ausgestattet 
werden  sollen,  zurückgewiesen  werden.  Es  gibt  keine  abstrakte 
Ausdehnung,  d.  h.  keinen  Raum,  es  gibt  keine  allgemeinen  Eigen 
Schäften  der  Größe,  der  Gestalt,  der  Lage  usw.,  es  gibt  vor  allem 
nicht  jenes  allgemeine   Ding,  das  kein  Mensch  gesehen  und  da 


Sensualismus  323 

man  nur  aus  abstrakten  Eigenschaften  zusammengedichtet  hat, 
jenes  Ding,  welches  die  Philosophen  die  Materie  nennen.  Alle 
materiellen  Eigenschaften  der  Dinge  sind  nur  Beziehungen,  die 
wir  zu  den  ursprünglichen  Eigenschaften,  denjenigen,  welche  Locke 
die  sekundären  Qualitäten  genannt  hat,  hinzudenken.  An  dieser 
Stelle  benutzt  Berkeley  für  sein  Hauptwerk  »A  treatise  concerning 
the  principles  of  human  knowledge«  (London  1710)  die  eingehen- 
den Untersuchungen  über  den  Vorgang  des  Sehens,  die  er  schon 
vorher  eigens  veröffentlicht  hatte  (»Essay  towards  a  new  theory 
of  yision«,  London  1709).  Man  darf  in  diesen  Untersuchungen 
eine  bedeutende  Leistung  der  physiologischen  Optik  erblicken: 
sie  zielen  auf  nichts  Geringeres  hin,  als  auf  eine  Analyse  der  Seh- 
tätigkeit, vermöge  deren  die  reinen  Bestandteile  der  unmittelbaren 
Empfindung  von  den  Formungen  und  Verarbeitungen  gesondert 
werden  sollen,  mit  denen  sie  in  dem  Resultate  der  vollendeten 
Wahrnehmung  bereits  untrennbar  verquickt  erscheinen.  So  un- 
vollkommen diese  Aufgabe  bei  Berkeley  wegen  des  geringen  Materials 
von  Tatsachen,  das  ihm  vorlag,  gelöst  ist,  so  bewunderungswürdig 

■  erscheint  anderseits  der  Scharfsinn,  mit  welchem  er  bereits  damals 
die  Mitwirkungen  nachwies,  vermöge  deren  die  erinnerten  Vor- 
stellungen in  einem  unmerklich  schnellen  Prozeß  den  reinen  Tat- 
bestand der  neuen  Wahrnehmungen  alterieren.  Er  machte  auch 
schon  darauf  aufmerksam,  daß~Größe  und  "Entfernung  eines  Gegen- 
standes nicht  sowohl  unmittelbar  empfunden,  als  vielmehr  unter 
Mitwirkung  früherer  Erfahrungen  gedacht  werden  —  wenn  er  auch 
dieser  Einsicht  natürlich  noch  nicht  die  präzise  Formulierung  ge- 
geben hat,  die  sie  erst  in  späterer  Zeit  finden  sollte.  Was  er  aber 
daraus  in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht  schließt,  ist  die  wichtige 
Lehre,  daß  den  wirklichen  Inhalt  der  Empfindung  nur  die  sekundären 
Qualitäten  bilden.     Dinge  in  bestimmter"  Größe",  'Entfernung"  und 

^Gestalt  empfinden  wir  nicht,  sondern  setzen  wir  vielmehr  vermöge 
des  Denkens  aus  den  sinnlichen  Qualitäten  zusammen.  Was  man 
gewöhnlich  Dingesnennt,  sind  nur  Vorstellungskomplexe.  Wenn 
aber,  wie  Locke  nachgewiesen  hat,  jene  sinnlichen  Qualitäten  nichts 
sind  als  unsere  Empfindungszustände,  so  sind  auch  jene<DingeT 
deren  Existenz  wir  anzunehmen  gewöhnt  sind,  nichts  weiter  als 

1  komplizierte  Vorstellungszustände.  Wollte  man  annehmen,  daß  diese 
Dinge  noch  etwas  von  den  Vorstellungszuständen  verschiedenes  seien, 

21* 


324  Berkeley. 

so  käme  man  in  die  größten  Absurditäten.  Wenn  man  von  einer 
Kirsche  alle  ihre  sekundären  Qualitäten,  d.  h.  die  Eindrücke,  welche 
sie  auf  die  einzelnen  Sinne,  auf  das  Gesicht,  auf  die  tastende  Hand, 
auf  den  Geschmack  macht,  nacheinander  abzieht,  —  was  bleibt 
übrig?  Berkeley  antwortet:  nichts.  Lockes  Antwort  war  unent- 
schieden gewesen:  in  der  einen  Kichtung  die,  es  bliebe  eine  be- 
stimmte räumlich  ausgedehnte  Größe,  in  der  andern  Richtung  die, 
es  bliebe  als  Träger  dieser  Eigenschaften  eine  unbekannte,  Substanz 
übrig.  Beides  muß  Berkeley  in  der  Konsequenz  seines  nomina- 
listischen  Sensualismus  verwerfen.  Die  räumlichen  Eigenschaften 
gelten  ihm  als  Abstraktionen,  die  man  in  Wahrheit  nicht  für  sich 
allein,  nicht  ohne  die  sinnlichen  Qualitäten  denken  kann;  eine  un- 
bekannte, Substanz  aber  gilt  ihm  selbstverständlich  als  ein  voll- 
kommen undenkbares  Unding.  Daraus  ergibt  sich,  daß,  was  wir 
Dinge  und  ihre  Eigenschaften  nennen,  nur  Komplexe  von  Per- 
zeptionen  sind.  Was  wir  in  der  Außenwelt  a^  seiend  betrachten, 
ist  in  Wahrheit  immer  nur  ein  Konglomerat  von  unseren  Vor- 
stellungszuständen.  „  Sein  ist  nichts  anderes  als  Empf unden werden : 
»esse  =  percipi«. 

In  dieser  extremen  Durchführung  des  Sensualismus  glaubt 
Berkeley  die  Meinung  des  gesunden  Menschenverstandes  den  Spitz- 
findigkeiten der  Philosophen  gegenüber  wieder  zu  Ehren  zu  bringen. 
Er  macht  —  man  könnte  es  fast  eine  witzige  Wendung  nennen  — ■ 
darauf  aufmerksam,  der  natürliche  Instinkt  zwinge  ja  den  Menschen, 
den  Inhalt  seiner  Wahrnehmung  eben  als  seiend  zu  betrachten,  für 
ihn  sei  in  der  Tat  Wahrgenommenwerden  gleichbedeutend  mit 
Existieren.  Was  wir  sehen  und  fühlen,  betrachten  wir  als  seiend. 
Erst  die  Philosophen  hätten  einen  Unterschied  zwischen  den  Wahr- 
nehmungen und  den  ihnen  entsprechenden  Gegenständen  erdacht 
und  wären  auf  diese  Weise  zu  der  Irrlehre  gekommen,  die  Existenz 
der  Dinge  sei  noch  etwas  anderes  als  ihr  Wahrgenommen  werden. 
An  dieser  Bemerkung  ist  das  richtig,  daß  das  unbefangene  Bewußt- 
sein in  der  Tat  jeden  Wahrnehmungsinhalt  zugleich  als,  existierend 
betrachtet,  offenbar  unrichtig  dagegen  der  weitere  Zusatz,  daß  die 
Unterscheidung  der  Existenz  und  des  Wahrgenommenwerdens  erst 
eine  Erfindung  der  Wissenschaft  sei.  Diese  Unterscheidung  ist 
vielmehr  eine  derjenigen  Annahmen,  welche  durch  die  pragmatischen 
Notwendigkeiten  des  Denkens,  wie  sie  gerade  in  den  ältesten  Ver- 


Idealismus  und  Spiritualismus.  325 

Buchen  der  griechischen  Metaphysik  deutlich  zutage  treten,  unaus- 
tilgbar in  der  menschlichen  Vorstellungsweise  angelegt  sind:  es 
ist  gerade  die  Tat  Berkeleys,  aufgezeigt  zu  haben,  daß  diese  An- 
nahme nicht  unangreifbar  und  jedenfalls  ein  Gegenstand  der  er- 
kenntnistheoretischen Prüfung  ist.  Aber  das  Resultat  dieser  seiner 
Prüfung,  daß  die^Existenz'mit  dem  Wahrgenommenwerden?  identisch 
und  nichts  davon  verschiedenes  sei,  ist  eben  deshalb  dem  unbe- 
fangenen Bewußtsein  auf  das  äußerste  paradox;  denn  diesem  ist 
nichts  geläufiger  und  erscheint  nichts  selbstverständlicher,  als  die 
Annahme  einer  von  der  Vorstellungstätigkeit  unabhängigen  Welt 
von  Dingen. 

In  dem  Sprachgebrauche  seiner  Zeit  drückte  Berkeley  das  Er- 
gebnis dieser  Untersuchungen  dahin  aus,  daß  alle  sogenannten  Dinge 
und  ihre  Eigenschaften  nichts  weiter  sind,  als  Ideen,  d.  h.  Vor- 
stellungen, und  infolgedessen  wurde  seine  Lehre  als,  Idealismus' 
bezeichnet.  Diese  Terminologie  ist  nur  richtig,  solange  man  an 
dem  damaligen  degradierenden  Sprachgebrauche  des  Wortes  Idee 
festhält.  Innerhalb  der  deutschen  Philosophie  hat  jedoch  das  Wort 
Idee  und  damit  auch  der  Terminus  Idealismus  eine  wesentlich 
andere  Bedeutung  erhalten,  und  aus  diesem  Grunde  empfiehlt  es  sich, 
zur  Vermeiduno-  von  Mißverständnissen  diese  Bezeichnuno:  für  die 
Lehre  Berkeleys  aufzugeben  und  dies  System  vielmehr,  wenn  es 
überhaupt  metaphysisch  rubriziert  werden  soll,  nach  der  Ansicht 
zu  benennen,  die  Berkeley  unmittelbar  aus  diesen  erkenntnis- 
theoretischen Prämissen  folgerte. 

Wenn  es  nämlich  keine  Substanzen  außerhalb  der  Perzeption 
im  Sinne  einer  Welt  von  körperlichen  Dingen  geben  kann,  so  setzt 
doch,  wie  Berkeley  meint,  diese  Tätigkeit  der  Perzeption  auf  alle 
Fälle  ein  perzipierendes  Wesen  voraus,  in  welchem  allein  sie  statt- 
finden kann.  Sind  die  Dinge  Ideen,  so  muß  es  doch  immerhin 
Wesen  geben,  welche  Ideen  haben.  Ein  Wesen  aber,  das  Ideen 
hat,  ist  ein^Geist,  und  die  Auflösung  der  Körper  in  Vorstellungen 
zieht  deshalb  bei  Berkeley  unmittelbar  die  Konsequenz  nach  sich, 
daß  es  keine  anderen  als  vorstellende,  »cogitative  «  Substanzen  geben 
kann.  Die  Weltanschauung  Berkeleys  ist  danach  sehr  einfach;  es 
gibt  in  ihr  nichts  als  Geister  und  deren  Ideen,  und  damit  charakte- 
nsiert  sich  diese  Lehre  ganz  naiv  als  der  schroffste  Spiritualis- 
mus, der  jemals  aufgestellt  worden  ist.     Darum  steht  Berkeley  im 


326  Berkeley. 

lebhaftesten  Gegensatze  zu  den  materialistischen  Neigungen,  die 
sich  in  der  englischen  wie  in  der  französischen  Philosophie  auf  dem 
gemeinsamen  Boden  des  Lockeschen  Empirismus  zu  entwickeln 
drohten.  Bedeutsam  ist  zugleich,  daß  bei  Berkeley  das  Wesen  des 
»Geistes«,  des  endlichen  ebenso  wie  des  unendlichen,  mindestens 
ebenso  in  der  freien  Ursprünglichkeit  des  Willens  wie  in  der  Vor- 
stellungstätigkeit gesucht  wird. 

Aber  dieser  Spiritualismus  will  nun  weit  davon  entfernt  sein,  die 
Körperwelt  damit,  daß  er  ihre  unmittelbare  Substantialität  leugnet, 
für  Trug  und  Schein  zu  erklären.  Auf  den  ersten  Blick  zwar  gewinnt 
es  den  Anschein,  als  müsse  sich  diese  Folgerung  ergeben.  Wenn  die 
/,  Sonne  nichts  ist  als  ein  konstanter  Komplex  von  Vorstellungen 
eines  gewissen  Glanzes,  einer  gewissen  Wärme,  einer  gewissen 
Größe  usw.,  so  scheint  es  zunächst,  als  müsse,  da  die  Gleichung 
»esse  =  percipi«  sich  umkehren  läßt,  mit  ihrem  Vorgestelltwerden 
auch  ihre  Existenz  verschwinden.  Danach  existierten  alle  Körper 
nur  insofern  und  so  lange,  als  sie  wahrgenommen  würden,  und 
ein  Körper,  den  niemand  mehr  vorstellte,  dürfte  auch  nicht  mehr 
als  existierend  gelten.  Auf  der  andern  Seite  schiene  die  bloße 
Vorstellungstätigkeit  irgend  eines  beliebigen  Geistes  zu  genügen, 
um  jedem  Inhalte,  den  er  zufällig  dächte,  den  Wert  der  Existenz 
zu  erteilen.  Ein,  geträumter  Tisch  wäre  danach  gerade  ebenso 
wirklich  wie  derjenige,  den  man  sonst  für  wirklich  zu  halten  pflegt, 
und  zwischen  wahren  und  falschen  Vorstellungen  schiene  der  Unter- 
schied eben  dadurch  aufgehoben,  daß  eine  Vergleichung  der  Vor- 
stellung mit  einem  Gegenstande  in  diesem  Systeme  nicht  möglich 
ist.  Aus  diesem  Grunde  bedarf  Berkeley  eines  anderen  Kriteriums 
der  Objektivität,  und  dieses  kann  für  den  Spiritualismus  kein  anderes 
sein,  als  dasjenige  eines  allbeherrschenden  Geistes:  seine  Ideen 
müssen  an  die  Stelle  der  realen  Welt  treten,  in  deren  Übereinstimmung 
mit  den  Vorstellungen  man  sonst  die  Wahrheit  der  letzteren  zu 
suchen  pflegt.  Dieser  Geist  ist  natürlich  die  Gottheit.  Die  Wirk- 
lichkeit, welche  dem  Inhalte  der  Ideen,  abgesehen  von  der  Vorstel- 
lungstätigkeit der  endlichen  Geister,  zukommt,  besteht  darin,  daß 
err,  von  der  Gottheit  vorgestellt  wird.  Wahre  Vorstellungen  sind 
\  diejenigen,  welche  mit  den  Vorstellungen  der  Gottheit  überein- 
\  stimmen,  Irrtümer  und  Halluzinationen  solche,  die  nur  in  einzelnen 
Geistern  stattfinden.    Diese  müssen  daher  einen  gewissen  Spielraum 


Naturordnung  in  Gott.  327 

der  Freiheit  haben,  innerhalb  dessen  sie  imstande  sind,  die  von 
der  Gottheit  gegebenen  Elemente  in  andre  Verbindungen  zu  bringen, 
als  dies  in  der  Gottheit  geschieht.  Hierin  steht  Berkeley  vollständig 
auf  dem  Boden  der  Assoziationspsychologie.  Die  ursprünglichen 
Elemente  der  Vorstellungstätigkeit  gelten  ihm  als  unzweifelhaft 
richtig,  und  in  dieser  Hinsicht  glaubt  er  von  seinem  Standpunkt 
aus  den  Akt  der  einfachen  Perzeption  als  denjenigen  der  Mitteilung 
elementarer  Vorstellungen  von  der  Gottheit  an  die  endlichen  Geister 
auffassen  zu  sollen,  von  denen  auch  er  überzeugt  ist,  daß  sie  einen 
neuen  Inhalt  zu  produzieren  nicht  imstande  sind.  Daß  aller  Irrtum 
und  alle  Täuschung  nur  in  einer  unrichtigen  Kombination  der 
einfachen  Elemente  bestehen,  war  seit  Hobbes  und  Locke  die 
gemeinsame  Meinung  der  gesamten  englischen  Philosophie.  Die 
wahre  Idee  bleibt  also  wirklich,  auch  wenn  der  einzelne  Geist  sie 
nicht  mehr  vorstellt,  zunächst  in  anderen  Geistern  und  in  letzter 
Instanz  lediglich  in  der  Gottheit;  sie  ist  diejenige,  welche  von  Gott 
den  endlichen  Geistern  zur  Perzeption  gegeben  wird.  Die  falsche 
Idee  ist  in  allen  Fällen  nur  eine  willkürliche,  in  einem  oder  mehreren 
endlichen  Geistern  vollzogene  Verknüpfung  der  ursprünglichen 
Perzeptionen. 

Von  hier  aus  entscheidet  Berkeley  auch  die  Frage  nach  dem 
Wesen  der  Natur  und  nach  ihrer  Erkenntnis.  Wenn  die  Körper 
nur  Ideenkomplexe  sind,  so  ist  die  nächste  Folge,  daß  sie  unter- 
einander in  keinem  Kausalverhältnis  stehen  können,  sondern  daß 
jeder  von  ihnen  mit  allen  Veränderungen,  die  er  im  Laufe  der  Zeit 
erleidet,  seinen  Ursprung  nur  in  der  göttlichen  Vorstellungstätigkeit 
haben  kann.  Es  gibt  deshalb  nach  Berkeley  nichts  Falscheres 
als  die  mechanische  Naturerklärung,  welche  die  Bewegungen  der 
Körper  aus  denjenigen  anderer  Körper  zu  erklären  unternimmt. 
Die  Kausalität  der  Dinge  ist  nur  Schein;  in  Wahrheit  ist  der  Ab- 
lauf der  körperlichen  Bewegungen  nur  die  Keihenfolge  der  Vor- 
stellungen, welche  die  Gottheit  in  sich  erzeugt  und  den  einzelnen 
Geistern  als  Perzeptionen  mitteilt.  Die  Aufgabe  der  Naturerkenntnis 
ist  daher  nur  die  Reproduktion  dieser  Reihenfolge,  und  was  der 
Mensch  von  Naturgesetzen  zu  erkennen  glaubt,  ist  lediglich  die 
Einsicht  in  die  konstante  Ordnung,  nach  welcher  die  Gottheit  diese 
ihre  Vorstellungen  zu  produzieren  pflegt.  Ein,  Naturgesetz  ist  nur 
eine  von  Gott  hervorgerufene  Ordnung  der  Vorstellungen. 


328  Berkeley. 

Da  aber  die  Gottheit  vermöge  ihrer  Allmacht  und  Freiheit  über 
den  Gang,  den  sie  diesen  ihren  Vorstellungen  geben  will,  voll- 
kommen Herr  ist,  so  befindet  sie  sich  natürlich  auch  in  der  Lage, 
wo  es  einmal  zweckmäßig  erscheint,  von  jener  gewohnten  Ordnung 
der  Vorstellungen  abzuweichen  und  das,  was  wir  ein  Naturgesetz 
nennen,  zu  durchbrechen.  Auf  diese  Weise  hat  in  dieser  Welt- 
auffassung das  Wunder  einen  selbstverständlichen  Platz.  Ebenso 
natürlich  ist  es  aber  auch,  daß  es  von  diesem  Gesichtspunkte  aus 
statt  der  mechanischen  nur  eine  teleologische  Naturbetrach- 
tung gibt,  welche  den  Menschen  darauf  hinweist,  in  der  gewöhn- 
lichen wie  in  der  ungewöhnlichen  Reihenfolge  der  von  Gott  gegebenen 
Vorstellungen  die  von  diesem  dabei  verfolgten  Absichten  auf- 
zusuchen und  zu  bewundern.  In  diesem  Sinne  steht  Berkeley  voll- 
kommen auf  dem  Boden  der  Physikotheologie ;  aber  indem  er  die 
mechanische  Grundlage,  welche  sie  bei  den  Deisten  besaß,  seinerseits 
ablehnt,  vermag  er  mit  seinem  philosophischen  System  ohne 
Schwierigkeit  den  orthodoxen  Standpunkt  der  Hochkirche  zu  ver- 
einigen, deren  Bischof  er  war.  Bei  keinem  Denker  jener  Zeit  er- 
scheint die  oft  gesuchte  Übereinstimmung  zwischen  der  Philosophie 
und  dem  Christentum  natürlicher,  ungezwungener  und  vollständiger 
als  bei  ihm. 

Das  Verhältnis  Berkeleys  zu  der  Lehre  Lockes  und  zu  der 
beinahe  entgegengesetzten  Konsequenz,  die  gleichzeitig  aus  der 
letzteren  von  der  Assoziationspsychologie  gezogen  wurde,  ist  überaus 
interessant  und  findet  eine  bedeutsame  Parallele  in  der  Entwick- 
lungsgeschichte des  Rationalismus.  Wie  Descartes  zwischen  denken- 
den und  ausgedehnten  Substanzen,  so  hatte  Locke  zwischen  innerer 
und  äußerer  Erfahrung  unterschieden,  und  dasselbe  Geschick, 
welches  jener  auf  metaphysischem  Gebiete  erfuhr,  vollzog  sich  an 
diesem  auf  erkenntnistheoretischem.  Die  Einsicht,  daß,  wenn  der 
Unterschied  prinzipiell  durchgeführt  werden  sollte,  der  scheinbare 
Zusammenhang  durch  einen  absoluten  Parallelismus  der  geistigen 
und  der  körperlichen  Welt  erklärt  werden  müsse,  führte  dort  teils 
zum  Occasionalismus,  teils  zu  der  spinozistischen  Attributenlehre, 
führte  hier  zu  Hartleys  Assoziationspsychologie.  In  beiden  Fällen 
aber  war  eine  Wendung  möglich,  durch  welche  die  körperliche  Welt 
vollkommen  in  die  geistige  aufgelöst  wurde.  Der  Rationalismus 
nahm  diese  Wendung  in  Malebranche,  der  Empirismus  in  Berkeley. 


Collier.  329 

So  kam  es,  daß  die  Lehren  dieser  beiden  Männer,  auf  gänzlich  ver- 
schiedenem Boden  erwachsen  und  in  vielen  Beziehungen  himmel- 
weit voneinander  verschieden,  sich  doch  in  Rücksicht  ihrer  Auf- 
fassung der  körperlichen  Welt  zum  Verwechseln  ähnlich  sahen. 
Der  konsequenteste  der  Nominalisten,  der  zugleich  den  Sensualismus 
in  seine  letzten  Ergebnisse  verfolgte,  und  der  extremste  der  Rea- 
listen, der  zugleich  durch  und  durch  von  der  Überzeugung  des 
Rationalismus  erfüllt  war,  vereinigten  sich  in  der  Lehre,  daß  die 
körperliche  Welt  für  unsere  Erkenntnis  keine  andere  Realität  als 
die  des  Vorgestelltwerdens  besitze.  Und  wenn  in  dem  Systeme 
von  Malebranche  der  Körperwelt  noch  ein  Rest  von  Wirklichkeit 
gegenüber  ihrem  Vorgestelltwerden  im  göttlichen  Geiste  übrig  ge- 
blieben war,  so  bedurfte  es  nur  eines  Schrittes,  um  seine  Lehre 
vollständig  mit  der  Berkelevs  zu  identifizieren. 

Dieser  Schritt  geschah  merkwürdigerweise  auch  in  England. 
Die  Werke  von  Malebranche  waren  sehr  früh  von  Levassor  ins 
Englische  übersetzt  worden,  und  seine  Gedanken  hatten  in  John 
Norris  einen  energischen  und  gewandten  Vertreter  gefunden.^ 
Durch  dessen  Schriften  war  Arthur  Collier  (1680—1732)  an-^7 
geregt  worden,  welcher  in  seiner  Schrift :  »Clavis  universalis  or  a  new 
inquiry  after  truth  being  a  demonstration  of  the  non-existence  or 
impossibility  of  an  external  world«  (London  1713)  behauptete,  schon 
zehn  Jahre  vorher  auf  Grund  der  Ideen  von  Malebranche  zu  einer 
der  Berkeleyschen  durchaus  konformen  Weltanschauung  gekommen 
zu  sein.  Er  stellte  in  der  Tat  die  Ableitung  seiner  Lehre  aus  Male- 
branches  System  in  einer  ebenso  einfachen,  wie  schlagenden  Weise 
dar.  Bei  Malebranche  war  das  erkenntnistheoretisch  entscheidende 
Moment  dasjenige  gewesen,  daß  vermöge  der  absoluten  Ausschließ- 
lichkeit körperlicher  und  geistlicher  Substanzen  der  endliche  Geist 
seine  richtigen  Vorstellungen  von  der  Körperwelt  nur  der  Existenz 
einer  idealen  Körperwelt  in  Gott  verdanken  könne.  Die  Körperwelt 
hatte  so  in  diesem  Systeme  gewissermaßen  ihre  Verdoppelung  ge- 
funden. Einmal  existierte  sie  urbildlich  als  die  Welt  der  intelligiblen 
Ausdehnung  im  Geiste  Gottes,  und  ein  anderes  Mal  nachbildlicli 
als  die  Welt  der  wirklichen  Körper  in  einer  von  Gott  geschaffenen 
Realität.  Wozu,  fragt  Collier,  diese  Verdoppelung?  Die  Vor- 
stellungen des  endlichen  Geistes  von  der  Körperwelt  bleiben  geradeso 
notwendig  und  geradeso  richtig,  wenn  ihnen  nichts  weiter  entspricht, 


330  Hume. 

als  jene  urbildliche  Körper  weit  im  Geiste  Gottes.  Die  Annahme, 
daß  Gott  nach  diesem  Urbilde  noch  eine  nunmehr  für  sich  bestehende 
Körperwelt  geschaffen  habe,  ist  unnötig;  denn  sie  erklärt  nicht 
mehr,  als  die  entgegengesetzte  Annahme,  daß  es  bei  jener  urbild- 
lichen Welt  in  Gott  sein  Bewenden  habe:  und  sie  ist  falsch  und 
widersinnig,  weil  die  Körper,  wenn  sie  von  Gott  in  metaphysischer 
Realität  geschaffen  worden  wären,  eine  sein  unendliches  Wesen 
beschränkende  Selbständigkeit  gewonnen  hätten.  ^Wirklichseiii" 
kann  eben  nichts  anderes  heißen,  als^on  Gott  vorgestellt  werden^ 
und  von  einer  Außenwelt  darf  man  deshalb  nur  in  dem  akkom- 
modativen  Sinne  sprechen,  daß  sie  für  den  einzelnen  endlichen 
Geist  außerhalb  ist,  insofern  dieser  nicht  an  dem  ganzen  Wesen 
des  göttlichen  Geistes  und  deshalb  nicht  an  allen  Vorstellungen 
desselben  partizipiert.  Daneben  sucht  Collier  die  Unmöglichkeit 
einer  selbständigen  Existenz  der  Körper  auch  durch  den  Nachweis 
darzutun,  daß  zwischen  Perzeptionen  und  anderen  Ideen  nur  ein 
gradueller  Unterschied  obwalte,  und  daß  deshalb  alle  unsere  Vor- 
stellungen von'Dingen  nur  die  Komplexe  unserer  eigenen  inneren 
Zustände  seien.  In  dieser  Beziehung  bewegt  er  sich  vollständig 
in  dem  Gedankengange  von  Berkeley,  und  so  stellt  sich  seine  Lehre 
in  der  Gestalt,  wie  sie  in  seinem  Werke  niedergelegt  ist,  jedenfalls 
als  eine  Verschmelzung  der  Gedanken  der  beiden  Männer  dar,  die 
merkwürdig  genug  von  so  verschiedenen  Ausgangspunkten  her  zu 
demselben  Resultate  gekommen  waren. 

§  34.    David  Hume. 

Für  das  Verständnis  der  Fortentwicklung  ist  es  namentlich 
wichtig,  das  skeptische  Element  zu  beachten,  das  in  dieser  Lehre 
lag  und  sich  von  ihr  aus  besonders  gegen  die  moderne  Naturforschung 
kehren  mußte.  Malebranche  und  Berkeley  hatten  sich  mit  gleicher 
Intensität  von  ihrem  spiritualistischen  Gesichtspunkte  aus  gegen 
die  mechanische  Naturerklärung  gewendet,  in  der  gerade  die  neue 
Wissenschaft  ihre  Triumphe  feierte.  Beide  hatten  es  für  unchristlich 
erklärt,  den  Dingen  selbst  Kausalität  zuzuschreiben  und  von  der 
Wirkung  eines  Körpers  auf  den  andern  zu  sprechen.  Beide  griffen 
gleichmäßig  das  große  Prinzip  der  Kausalität  an,  auf  welchem 
die  gesamten  Forschungen  der  Mechanik  und  der  mehr  und  mehr 
von  ihr  abhängig  werdenden  übrigen  Naturwissenschaften  beruhten. 


Glanvil.  331 

Gibt  es  —  und  genau  so  hatten  Malebranche  und  Berkeley  gelehrt  — 
keinen  reellen  Kausalzusammenhang  der  Dinge,  so  ist  auch  alle 
Erkenntnis,  welche  die  Wissenschaft  von  ihrem  Zusammenhang 
erlangt  zu  haben  glaubt,  illusorisch.  Diese  Folgerung  war  um  so 
wichtiger,  je  mehr  die  neue  Naturforschung  schon  bei  den  Italienern, 
mit  vollkommener  Klarheit  aber  bei  Bacon  und  Descartes,  ihren 
Schwerpunkt  in  die  Erforschung  der  Kausalverhältnisse  und  ihrer 
gesetzmäßigen  Formen  gelegt  hatte,  und  je  mehr  durch  die 
Assoziationspsychologie  dieses  Axiom  auch  auf  dem  Gebiete  des 
psychischen  Lebens  Platz  gegriffen  hatte. 

Doch  waren  es  nicht  erst  diese  Vermittlungen,  durch  welche 
die  Kausalität  zu  einem  viel  umfreiten  Probleme  der  modernen  Er- 
kenntnistheorie gemacht  wurde.  Der  Umstand,  daß  die  Erkenntnis 
ursächlicher  Zusammenhänge  von  der  modernen  Wissenschaft  für 
ihre  Hauptaufgabe  erklärt  wurde,  hatte  schon  früh  genügt,  um  die 
Angriffe  desjenigen  Skeptizismus,  der  sich  in  den  Dienst  der  Ortho- 
doxie stellte,  auf  diesen  Punkt  zu  richten.  So  hatte  bereits  Hobbes 
einen  skeptischen  Gegner  in  Joseph  Glanvil  (1636 — 1680)  ge- 
funden. Auf  diesen  sind  zwar,  wie  einige  seiner  Schriften  beweisen, 
die  Gedanken  Bacons  über  den  Fortschritt  der  Wissenschaften 
zugunsten  der  allgemeinen  Kulturzwecke  nicht  ohne  Eindruck  ge- 
blieben ;  aber  im  Grunde  genommen  macht  er  doch  mit  dem  Empiris- 
mus nur  so  weit  gemeinschaftliche  Sache,  als  es  sich  um  die  Be- 
kämpfung der  rationalen  Philosophie  handelt,  für  deren  Typus  auch 
er  noch  den  Aristotelismus  hält.  Um  aber  dabei  die  Unzulänglich- 
keit aller  rationalen  Philosophie  darzutun,  nimmt  Glanvil  sie  ge- 
wissermaßen beim  Wort,  indem  er  sich  darauf  beruft,  daß  sie  ja 
•  überall  die  Erkenntnis  kausaler  Verhältnisse  zu  ihrer  Aufgabe  erkläre. 
Sie  will  alles  begreifen,  und  etwas  begreifen  soll  heißen,  es  aus  seinen 
Ursachen  ableiten.  Allein  das  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung 
ist  niemals  aus  der  Anschauung  zu  gewinnen;  es  kann  nicht  ge- 
sehen noch  gefühlt,  noch  irgendwie  sinnlich  wahrgenommen,  sondern 
immer  nur  auf  dem  Wege  des  Denkens  erschlossen  werden.  Diese 
Schlüsse  aber  haben  zu  ihrem  Grunde  nichts  anderes,  als  die  Be- 
obachtung des  stetigen  Aufeinanderfolgens  der  beiden  Ereignisse, 
von  denen  wir  das  eine  für  die  Ursache  des  andern  halten.  Daß 
diese  stetige  Folge  eine  notwendige  sei,  daß  dasjenige,  was  unserer 
Beobachtung  nach  immer  auf  ein  anderes  folgt,  darum  auch  die 


i 


332  Hume. 

Wirkung  dieses  anderen  sei,  diese  Umdeutung  des  post  hoc  in  ein 
propter  hoc  kann  niemals  durch  logische  Schlüsse  erwiesen  werden. 
Man  sieht,  die  Skepsis  Glanvils  bewegt  sich  bereits  völlig  in  der 
Tiefe  des  Kausalitätsproblems  und  berührt  namentlich  auch 
alle  diejenigen  Momente  darin,  welche  in  bezug  auf  die  logische 
Unbegreiflichkeit  des  Verhältnisses  von  Ursache  und  Wirkung  durch 
die  Occasionalisten  aufgedeckt  wurden.  So  kommen  hier  ebenfalls 
alle  die  Schwierigkeiten  zutage,  die  seitdem  der  Behandlung  dieses 
Problems  eigen  geblieben  sind.  Die  Einsicht,  daß  der  Begriff  des 
kausalen  Verhältnisses  nicht  aus  dem  Inhalte  der  Wahrnehmung 
stammt,  sondern  vom  Denken  hinzugefügt  wird,  und  die  Frage 
nach  der  Beziehung  der  kausalen  Notwendigkeit  zu  der  Stetigkeit 
der  zeitlichen  Sukzession  sind  seitdem  nicht  wieder  aus  dem  Gesichts- 
kreise der  Erkenntnistheorie  entschwunden:  die  große  Bedeutung 
freilich,  welche  sie  gewonnen  haben,  verdanken  sie  nicht  sowohl 
diesen  gleichsam  präludierenden  Andeutungen  Glanvils,  als  vielmehr 
der  tiefsinnigen  Energie,  mit  der  sie  betont  und  in  den  Mittelpunkt 
der  philosophischen  Bewegung  gerückt  wurden  durch  den  größten 
Geist  der  englischen  Philosophie,  durch  David  Hume. 

Wie  Locke  der  beginnende  und  beherrschende,  so  ist  Hume 
der  abschließende  Geist  der  englischen  Aufklärung.  Wie  bei  Locke 
alle  die  Ideengänge,  welche  sie  später  entwickelte,  gewissermaßen 
nur  vorbedeutend  angeschlagen  wurden,  so  klangen  sie  in  Humes 
System  zu  einem  gewaltigen  Akkorde  vereinigt  aus.  Er  ist  der 
letzte  große  Träger  der  Entwicklung,  welche  der  von  Bacon  an- 
gelegte Empirismus  in  England  gefunden  hat,  und  seine  Lehre 
das  letzte  große  Wort,  das  dieser  Empirismus  in  dem  Kampfe  der 
modernen  Erkenntnistheorie  gesprochen  hat;  er  ist  zweifellos  der 
klarste  und  rücksichtsloseste,  dabei  aber  der  umfassendste  und 
philosophisch  durchgebildetste  Denker,  den  die  englische  Nation 
hervorgebracht  hat. 

Sein  Leben  ist  verhältnismäßig  ruhig  und  einfach  verlaufen. 
1711  zu  Edinburgh  als  der  Sohn  eines  schottischen  Landedelmannes 
geboren,  bezog  er  1728  die  dortige  Universität,  um  sich  den  Studien 
der  klassischen  Literatur  und  der  Philosophie  zu  widmen.  Doch 
veranlaßte  ihn,  seines  schwächlichen  Körpers  und  auch  der  ge- 
ringen Vermögensumstände  halber,  seine  Familie,  die  kaufmännische 
Laufbahn  zu  ergreifen.     Dieser  wurde  er  aber  nach  einem  kurzen 


Leben.  333 

Aufenthalt  in  Bristol  schnell  überdrüssig,  und  so  ging  er  1734, 
um  unabhängig  seiner  wissenschaftlichen  Ausbildung  zu  leben, 
nach  Frankreich,  wo  er  beinahe  vier  Jahre  an  mehreren  Orten  ver- 
weilte. Als  er  von  dort  in  die  Heimat  zurückkehrte,  brachte  er 
das  Manuskript  seines  genialen  »Treatise  upon  human  nature«  (in 
drei  Bänden  London  1738 — 1740  gedruckt)  mit:  dies  Werk  machte 
aber  bei  seinen  Landsleuten  vollständig;  Fiasko  und  schadete  ihm 
zunächst  insofern,  als  er  dadurch  heterodoxer  Ansichten  verdächtig 
wurde  und  eine  Professur  an  der  Edinburgh  er  Universität,  um  die 
er  sich  bewarb,  infolgedessen  nicht  erhielt.  Erst  seine  »Essays 
moral,  political  and  literarv«  (Edinburgh  1742)  begründeten  ver- 
möge ihres  feinen  und  geistvollen  Stils  seinen  literarischen  Ruhm. 
Gleichwohl  sah  er  sich  zur  Annahme  einer  Privatstellung  genötigt, 
'in  der  er  eine  mehrjährige  Reise  nach  Holland,  Deutschland,  Frank- 
reich, Norditalien  und  Österreich  machte.  Auf  dieser  Reise  arbeitete 
er  sein  erstes  Werk  um  und  ließ  es  unter  dem  Titel  :»Enquiry 
concerning  the  human  understanding «  als  zweiten  Band  seiner 
Essays  1748  erscheinen.  Nach  seiner  Rückkehr  erhielt  er  1752 
die  bescheidene  Stellung  eines  Bibliothekars  der  Juristenfakultät 
zu  Edinburgh,  und  das  wertvolle  Material,  das  er  darin  zu  ver- 
walten hatte,  veranlaßte  ihn  zu  historischen  Forschungen.  Es 
ist  merkwürdig  und  zugleich  bezeichnend  für  den  politischen  Geist 
:der  englischen  Nation,  daß  zwei  ihrer  größten  Philosophen  zu- 
gleich zu  ihren  bedeutenden  Historikern  gehören.  Wenn  jedoch 
Bacon  mit  seiner  Geschichte  Heinrichs  VII.  nur  einen  Teil  der  ihm 
vorschwebenden  Aufgabe  löste,  so  ist  Humes  in  verschiedenen  Ab- 
schnitten erschienene  und  dann  unter  dem  Titel:  »History  of  Eng- 
land from  the  invasion  of  Julius  Caesar  to  the  revolution  of  1688« 
(sechs  Bände  1763)  vereinigte  Darstellung  durch  die  Großartigkeit 
:1er  Auffassung  und  die  Anmut  der  Darstellung  zu  einem  klassischen 
Werke  nicht  nur  der  englischen,  sondern  der  historischen  Literatur 
überhaupt  geworden.  Daneben  fand  Hume  Zeit,  seinen  philoso- 
phischen Arbeiten  ferner  obzuliegen  und  neben  der  Fortsetzung 
der  politischen  und  philosophischen  Essays  auch  noch  sein  tief- 
sinniges Buch:  »The  natural  history  of  religion«  (London  1755) 
zu  schreiben.  Endlich  sollte  ihm,  während  seine  Landsleute  in  der 
großen  Masse  vermöge  ihrer  kirchlichen  Neigungen  sich  noch  immer 
wenigstens  zurückhaltend  gegen  ihn  verhielten,  im  Auslande  die 


334  Hume. 

Genugtuung  einer  glänzenden  Anerkennung  zuteil  werden.  Als 
er  im  Jahre  1763  in  der  Begleitung  des  Grafen  von  Hertford  als 
Gesandtschaftssekretär  nach  Paris  kam,  wurde  er  in  den  philo- 
sophischen Kreisen  der  dortigen  Gelehrten  und  der  großen  Welt 
mit  einem  Enthusiasmus  aufgenommen  und  mit  einer  Begeisterung 
gefeiert,  welche  ihm  zeigen  mußten,  daß  die  Lehren  des  englischen 
Empirismus  auf  diesem  Boden  noch  viel  stärkere  Wurzeln  ge- 
schlagen hatten,  als  in  ihrer  Heimat.  Vielleicht  trugen  diese 
Triumphe  auch  dazu  bei,  sein  Ansehen  bei  seinen  Landsleuten  zu 
erhöhen;  wenigstens  wurde  er  bald  nach  seiner  Bückkehr  1767 
zum  Unterstaatssekretär  im  Ministerium  der  auswärtigen  Ange- 
legenheiten ernannt,  legte  jedoch  dieses  Amt  schon  nach  zwei 
Jahren  nieder  und  starb  nach  einer  behaglichen  Muße  zu  Edinburgh 
am  25.  August  1776. 

Humes  Lehre  zeigt  die  größte  spekulative  Vertiefung,  deren 
der  englische  Empirismus  fähig  war;  aber  sie  erweist  sich  eben 
darin  und  besonders  in  ihren  entscheidenden  erkenntnistheoretischen 
Kriterien  von  den  Einflüssen  des  mathematischen  Rationalismus 
abhängig,  der  von  Hobbes  an  mit  immer  größerer  Intensität  in 
die  Entwicklung  der  Baconschen  Ideen  eingeströmt  war.  Zu- 
nächst freilich  scheint  Humes  Untersuchung  wesentlich  in  der 
Richtung  des  von  Berkeley  auf  die  letzte  Höhe  geführten  Sensualis- 
mus und  Nominalismus  zu  liegen.  Hume  erklärt  die  Entdeckung 
Berkeleys  von  der  Unmöglichkeit  abstrakter  Begriffe  für  eine  der 
größten  wissenschaftlichen  Taten,  die  je  geschehen  seien.  Auch 
er  meint,  daß  die  Lockesche  Unterscheidung  von  Sensation  und 
Reflexion  nicht  in  dem  Sinne  zu  verstehen  sei,  als  ob  beide  gleich 
ursprüngliche  und  voneinander  vollkommen  geschiedene  Gebiete  der 
Erfahrung  seien.  Er  sucht  vielmehr  jener  Lockeschen  Unter- 
scheidung diejenige  der  ursprünglichen  und  der  abgeleiteten 
Vorstellungen  unterzuschieben  und  bezeichnet  diese  Gegen- 
sätze mit  den  Ausdrücken  impressions  und  ideas.  Er  rechnet 
dabei  zu  den^  Impressionen'  alle  einfachen  und  originalen  Vor- 
stellungszustände  und  will  unter  den  Ideen  nur  die  auf  Grund  der 
Impressionen  eintretenden  abgeschwächten  Abbilder  davon  ver- 
stehen. Daraus  ergibt  sich  die  fundamentale  Folgerung,  daß,  wenn 
die  Ideen  nur  Kopien  von  Impressionen  sind,  wir  keine<Idee>haben 
können,  die  nicht  in  irgend  einer  Impression  ihr  ursprüngliches 


Impressionen  und  Ideen.  335 

Vorbild  besäße.  Allein  hierbei  wird  sogleich  eine  Korrektur  not- 
wendig. Wäre  in  unserem  Bewußtsein  jede  Idee  unmittelbar  und 
notwendig  in  allen  Fällen  nur  auf  diejenige  Impression  bezogen, 
deren  Kopie  sie  in  Wahrheit  ist,  so  bestände  zwischen  dem  Urbilde 
und  der,  wenn  auch  noch  so  abgeblaßten  Kopie  doch  noch  immer 
so  viel  Übereinstimmung,  daß  alle  Vorstellungen  auf  Wahrheit 
Anspruch  hätten  und  der  Irrtum  unmöglich  wäre.  So  entspringt 
vor  David  Hume,  ebenso  wie  vor  Descartes  und  Spinoza,  das  Problem 
der  Möglichkeit  des  Irrtums,  und  es  ist  für  ihn  nicht  minder  wichtig, 
als  für  jene  beiden;  denn  niemand  hat  so  viele  Irrtümer  abzuweisen 
und  zu  widerlegen,  niemand  aber  deshalb  auch  so  sehr  die  Verpflich- 
tung, ihre  Möglichkeit  durch  die  Aufdeckung  ihres  Ursprungs  be- 
greiflich zu  machen,  wie  Hume. 

Er  hat  diese  Aufgabe  in  einer  überaus  tiefsinnigen  Weise  zu 
lösen  gesucht,  und  zwar  dadurch,  daß  er  sich  in  der  allgemeinen 
Entwicklung  der  Genesis  des  Irrtums  nach  der  Analogie  derjenigen 
Irrtümer  richtete,  welche  im  Gedächtnis  auftreten.  Die  Verwand- 
■■  hing  der  Impressionen  in  Ideen  geschieht  ja  in  erster  Linie  durch 
das  Gedächtnis,  dessen  Tätigkeit  keine  andere  ist,  als  den  Inhalt 
der  ursprünglichen  Vorstellungen  zu  reproduzieren,  wobei  natür- 
licherweise jene  Abschwächung  der  sinnlichen  Intensität  und  der 
ursprünglichen  Frische  eintritt,  worin  Hume  das  die  Ideen  von 
ihren  Originalen  unterscheidende  Merkmal  sieht.  Eine /  falsche 
Erinnerung  nun  nennen  wir  diejenige,  in  der  irgend  eine  Idee  mit 
einer  Impression  in  Beziehung  gesetzt  wird,  von  der  sie  in  Wahr- 
heit nicht  das  Abbild  ist,  oder  in  der  umgekehrt  irgend  eine  Im- 
pression auf  eine  Idee  bezogen  wird,  deren  wahres  Urbild  eine  andere 
Impression  war.  Aller  Irrtum  also  besteht  darin,  daß  entweder  den 
Impressionen  fremde  Ideen  oder  den  Ideen  fremde  Impressionen 
untergeschoben  werden,  und  die  Aufgabe  Humes  wird  deshalb 
überall  die  sein,  bei  den  irrtümlichen  Vorstellungen,  die  er  be- 
zweifelt, die  Impressionen  nachzuweisen,  von  denen  sie  in  Wahr- 
heit die  Kopien  sind. 

Diese  Vertauschung  aber,  vermöge  deren  im  Irrtum  Impres- 
sionen und  Ideen,  die  eigentlich  nichts  miteinander  zu  tun  haben, 
aufeinander  bezogen  werden,  ist  nicht  mehr  die  Sache  des  Gedächt- 
nisses, sondern  vielmehr  die  der  Phantasie,  die  zwar  auch  nur  wie 
die  Erinnerung  mit  der  Keproduktion  gegebener  Elemente  arbeiten 


336  Hume. 

kann,  aber  eine  Verschiebung  der  zusammengehörigen  Elemente 
herbeizuführen  imstande  ist.  Doch  würde  man  Hume  sehr  falsch 
verstehen,  wenn  man  meinte,  er  habe  unter  dieser  Einbildungs- 
kraft eine  willkürliche,  etwa  auf,  irgend  einer  ursachlosen  Freiheit 
beruhende  Kombination  der  Impressionselemente  verstanden,  viel- 
mehr glaubt  er,  daß  diese  Tätigkeit  der  Phantasie,  wie  überhaupt 
diejenige  der  Keproduktion,  unter  ganz  bestimmten  Gesetzen  stehe, 
und  erklärt  es  für  die  erste  Aufgabe  der  Erkenntnistheorie,  den 
Mechanismus  dieses  Vorganges  aufzudecken.  Er  schließt  sich  damit 
vollständig  der  Tendenz  der  Assoziationspsychologie  an,  und 
seine  Untersuchungen  haben  die  wesentlichste  Förderung  in  deren 
Entwicklung  gebildet. 

Er  glaubt  nämlich  vier  Grundgesetze  entdeckt  zu  haben,  auf 
die  sich  alle  Assoziations Vorgänge  zurückführen  lassen,  diejenigen 
der  Ähnlichkeit,  des  Kontrastes,  der  räumlichen  und  zeitlichen 
Berührung  oder  »Kontinuität«  und  des  kausalen  Zusammenhanges. 
D.  h.  der  Weg,  welchen  von  einer  gegebenen  Vorstellung  aus  das 
Gedächtnis  oder  die  Phantasie  nehmen,  ist  entweder  auf  inhaltlich 
verwandte  oder  auf  entgegenstehende  Vorstellungen  gerichtet,  oder 
er  ist  durch  diejenigen  Elemente  bedingt,  welche  mit  der  ersten 
Vorstellung  in  demselben  räumlichen  oder  zeitlichen  Zusammen- 
hange erfahren  worden  sind,  oder  endlich  er  führt  vorwärts  oder 
rückwärts  zu  den  Wirkungen  oder  zu  den  Ursachen,  auf  die  wir 
jenen  ersten  Inhalt  zu  beziehen  gewohnt  sind.  Die  Aufstellung 
dieser  Assoziationsgesetze,  die  zum  Teil  schon  in  der  antiken 
Philosophie  beobachtet  worden  waren,  ist  für  den  Fortgang  der 
empirischen  Psychologie  von  großer  Bedeutung  gewesen.  Man  hat 
sie  in  der  Folge  teils  zu  vermehren,  teils  zu  vereinfachen  gesucht, 
immer  aber  diese  erste  systematische  Aufstellung  im  Auge  behalten, 
und  man  wird  kaum  fehl  gehen,  wenn  man  sagt,  daß  dies  in  gewissem 
Sinne  noch  heute  der  Fall  ist.  Für  die  Humesche  Erkenntnistheorie 
ist  diese  Aufstellung  vor  allem  deshalb  wertvoll,  weil  sich  danach 
deren  weitere  Fragestellung  gliedert.  Zunächst  aber  wird  von  vorn- 
herein zu  erwarten  sein,  daß,  wie  bei  Locke  und  Berkeley,  von  einer 
Wahrheit/  die  in  der  ^Übereinstimmung  des  Vorstellungsinhaltes 
mit  einer  außerhalb  der  Vorstellung  befindlichen  Welt  von  Dingen7 
bestünde,  auch  bei  Hume  nicht  die  Rede  sein  kann.  Selbst  die  gesamte 
Existenz  einer  Körperwelt  ist  auch  nach  ihm  nur  als  höchst  wahr- 


Assoziationsgesetze.  337 

scheinlich  anzunehmen;  die  Phantasie  kann  daran  glauben,  aber 
die  Vernunft  kann  sie  niemals  demonstrieren.  Der  einzige  Weg  eines 
Beweises  wäre  derjenige  vermittels  der  Kausalität,  und  dieser  ist, 
wie  sich  weiterhin  bei  Hume  zeigt,  unsicher  und  zweifelhaft.  <Exi- 
stierer?  soll  nach  Hume  so  gut  wie  nach  Berkeley  für  den  Menschen 
nur  so  viel  bedeuten  wie"  Wahrgenommen  werdend  Die  Existenz 
ist  kein  begriffliches  Merkmal,  das  sich  jemals  erweisen  ließe,  sondern 
vielmehr  eine  mit  dem  Wahrnehmungsakte  und  nur  mit  diesem 
gegebene  Überzeugung  (belief).  Die  ^Wahrheit  kann  deshalb  nur 
darin  bestehen,  daß  die  Perzeptionen  richtig  aufeinander  bezogen 
werden,  und  da  diese  Beziehung  sich  bedingungslos  nach  den  Asso- 
ziationsgesetzen vollzieht,  so  kann  nur  untersucht  werden,  welchen 
Grad  von  Richtigkeit  die  einzelnen  Formen  der  Assoziation  herbei- 
zuführen imstande  sind. 

Was  nun  dabei  zunächst  die  beiden  ersten  Assoziationsgesetze, 
diejenigen  der  Ähnlichkeit  und  des  Kontrastes,  anbelangt,  so 
meint  Hume  hierin  auf  keine  Schwierigkeiten  zu  stoßen.    Er  glaubt 
annehmen  zu  dürfen,  daß  die  Einsicht  in  die  Ähnlichkeit  oder  in 
die  Verschiedenheit  des  Vorstellungsinhaltes  und  in  den  Grad  dieser 
Ähnlichkeit    oder   Verschiedenheit   unmittelbar    mit    dem   bloßen 
gemeinschaftlichen  Auftreten  zweier  Vorstellungen  innerhalb  des- 
selben Bewußtseins  gegeben  sei.    Er  nimmt  nach  dem  Prinzip  der 
mechanischen  Psychologie  an,  daß  diese  Einsicht  keine  weitere  Kraft 
und  keinen  weiteren  Vorgang  als  eben  das  gemeinsame  tatsächliche 
Vorhandensein  der  zu  vergleichenden  Vorstellungen  voraussetzt.   Er 
ist,   wie  viele  englische   Psychologen,   von  der  Richtigkeit  dieses 
Prinzips  so  vollkommen  durchdrungen,  daß  er  die  vor  ihm  von 
Leibniz  und  nach  ihm  von  Kant  aufgeworfene  Frage,  ob  der  Akt 
der  Beziehung  noch  ein  drittes  Element  neben  den  beiden  aufein- 
ander zu  beziehenden  Vorstellungen  verlange,  ebensowenig  wie  seine 
Vorgänger  berührt.    Er  glaubt  dann  dartun  zu  können,  daß  nach 
diesem  Prinzip  zwei  Vorstellungen  gerade  so  ähnlich  oder  gerade 
so  verschieden  sind,  wie  sie  in  dem  gemeinschaftlichen  Bewußtsein 
für  ähnlich  gehalten  oder  unterschieden  werden,  und  dieses  Prinzip 
st  in  dieser  Beschränkung  vollkommen  richtig.     Er  folgert  daraus, 
laß  alle  Urteile,   welche   diese   Beziehungen  der  Verwandtschaft 
md  der  Verschiedenheit  zwischen  den  Vorstellungsinhalten  zum 
gegenstände  haben,  richtig  und  gewiß  sind.    Die  in  ihnen  behauptete 

I       Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  22 


338  Hume. 

Beziehung  ist  mit  ihren  Gegenständen  selbst,  ihr  Prädikat  mit  ihren 
Subjekten  entweder  schon  unmittelbar  gegeben,  oder  kann  mittel- 
bar durch  einen  Schluß  vermöge  eines  Mittelbegriffes  aus  ihnen  ge- 
funden werden.  Was  das  Denken  hierbei  vollzieht,  ist  lediglich  eine 
Analysis  seines  eigenen  Inhaltes,  alle  diese  Urteile  sind  nach  der 
seit  Kant  üblich  gewordenen  Terminologie  analj/ibisc^^  und  die 
analytischen  Urteile  sind  von  zweifelloser  Gewißheit. 

Daraus  ergibt  sich  zunächst,  daß  die  Erkenntnisse,  die  der 
Mensch  von  der  Ähnlichkeit  oder  Verschiedenheit  seiner  eigenen 
Vorstellungen  besitzt,  nicht  angezweifelt  werden  können.  Jedoch 
damit  allein  kann  man  noch  keine  Wissenschaft  begründen.  Alle 
realen  Wissenschaften  wollen  eine  Erkenntnis  der  außerhalb  der 
Vorstellung  bestehenden  Welt  auf  demonstrativem  Wege  gewinnen, 
und  dazu  genügt  die  immanente  Vergleichung  unserer  Vorstellungen 
nicht.  Nur  eine  einzige  Wissenschaft  ist  auf  diesem  Wege  der 
Analysis  und  der  Demonstration  möglich.  Es  wurde  schon  erwähnt, 
daß  nach  Humes  Meinung  die  Erkenntnis  der  Ähnlichkeit  und  Ver- 
schiedenheit unserer  Vorstellungen  sich  auch  auf  ihren  Grad  er- 
streckt. Dies  aber  geschieht  in  doppelter  Beziehung:  erstens  ver- 
mögen wir  die  Gradverschiedenheit  der  Qualität  in  dem  Inhalte 
unserer  Wahrnehmungen,  also  z.  B.  defr  Stärke  des  Lichtes  und 
des  Tones  oder  der  Heftigkeit  der  Freude  und  des  Schmerzes,  zweitens 
aber  die  Maßverschiedenheit  der  Quantität,  d.  h.  der  räumlichen 
Größe  oder  der  Anzahl  unserer  Wahrnehmungsinhalte  unmittelbar 
aus  dem  Wahrnehmungsakte  selbst  zu  erkennen  oder  mittelbar 
durch  den  Verstand  daraus  zu  finden.  Beides  aber  ergibt  die  Ein- 
sicht in  die  mathematischen  Verhältnisse  unserer  Vorstellungen. 
Die  mathematische  Erkenntnis  setzt  nichts  als  die  Erfahrung  der 
Grad-  und  Quantitätsverhältnisse  unserer  Vorstellungen  und  die 
aus  ihnen  durch  logische  Operationen  abzuleitenden  Beziehungen 
voraus.  Die  Mathematik  ist  deshalb  die  einzige  rein  analytische 
und  rein  demonstrative  Wissenschaft,  und  sie  besitzt,  die  einzige  von 
allen,  eben  deshalb  zweifellose  Gewißheit  und  Richtigkeit.  Hume 
steht  in  der  Auffassung  der  Mathematik  ganz  unter  dem  allgemeinen 
Vorurteile  der  vorkantischen  Philosophie:  auch  er  hält  sie  mit  Ver- 
nachlässigung ihres  anschaulichen  Elementes  für  eine  in  rein  logischer 
Weise  operierende  Verstandes  Wissenschaft.  Vermöge  dieses  Vor- 
urteils wurde  die  Mathematik  das  wissenschaftliche  Ideal  der  ge- 


Mathematische  Erkenntnis.  339 

samten  neueren  Philosophie:  vermöge  desselben  machte  Descartes 
die  geometrische  Methode  zur  Richtschnur  aller  Vernunfterkenntnis 
und  vor  allem  auch  der  Philosophie;  vermöge  desselben  sah  Hume 
in  der  Mathematik  die  einzig  zu  Recht  bestehende  und  vor  den 
Ansprüchen  der  Erkenntnistheorie  standhaltende  Wissenschaft.    Er 
konnte  es  um  so  mehr,  als  er  sich  auch  in  Hinsicht  des  Raumes  und 
der  Zeit  den  Konsequenzen  des  Berkeleyschen  Nominalismus  an- 
schloß.   Der  allgemeine  Raum  und  die  allgemeine, Zeit  galten  auch 
ihm  nicht  für  etwas  an  sich  Existierendes,  ja  nicht  einmal  für  etwas 
wahrhaft  Vorstellbares;  jde  sind  nur  die  Idee  von  der  Impression 
unserer  Unfähigkeit,  den  Vorstellungen  räumlicher  und  zeitlicher 
Kontinuität  jemals  ein  Ende  zu  setzen.  Es  gibt  deshalb  nach  Humes 
Lehre  weder  leeren  Raum  noch  leere  Zeit,  sondern  nur  einzelne 
Räume  und  einzelne  Zeiten,  und  jedef  Raum  ist  nur  eine  Ordnung 
sichtbarer  und  fühlbarer  Punkte,  jede^Zer?  nur  eine  Reihenfolge 
zusammenhängender  Bewußtseinszustände.   Je  mehr  in  dieser  Weise 
Hume  auf  die  objektive  Gültigkeit  des  Raumes  und  der  Zeit  ver- 
zichtet, um  so  mehr  vermag  er  die  Ansicht  von  der  subjektiven 
Richtigkeit  der  mathematischen  Erkenntnisse  aufrecht  zu  erhalten; 
denn  um  so  weniger  bedarf  er  für  die  letzteren  des  gewöhnlichen 
Kriteriums  der  Wahrheit,  wonach  ihre  Übereinstimmung  mit  einer 
von  der  Vorstellung  unabhängigen  Wirklichkeit  erforderlich  wäre. 
Analytische  Erkenntnisse  betreffen  nicht  den  Zusammenhang  unserer 
Vorstellungen  mit  einer  äußeren  Wirklichkeit,   sondern  nur  ihre 
inneren  Beziehungen.  ^RaunTunctZeit  sind  bei  Hume  nur  Beziehun- 
gen unserer  Vorstellungen,  und  darum  eben  kann  es  von  ihnen  eine 
analytische  und  demonstrative  Wissenschaft  wie  die  Mathematik 
geben. 

Wenn  so  Humes  Anerkennung  der  Mathematik  auf  der  Be- 
schränkung beruht,  daß  ihr  Erkenntniswert  sich  nur  innerhalb  der 
Vorstellungswelt  bewegt  und  diese  nicht  überschreitet,  so  leitet  ihn 
dasselbe  Prinzip  in  der  Bestimmung  einer  überaus  wichtigen  Grenze, 
die  er  für  die  analytische  Erkenntnis  der  Ähnlichkeit  der  Vorstellun- 
gen festzusetzen  sucht.  Die  vollkommenste  Ähnlichkeit  zweier 
Vorstellungen  ist  offenbar  da  vorhanden,  wo  ihr  Inhalt  sich  voll- 
ständig deckt,  und  der  Einsicht  in  diese  ihre  Gleichheit  steht  nach 
den  Humeschen  Prinzipien  nichts  im  Wege.  Allein  die  menschliche 
Vorstellungstätigkeit    pflegt    sich    mit    der    Konstatierung    dieser 

22* 


340  Hume. 

vollkommenen  Ähnlichkeit  nicht  zu  begnügen;  sie  pflegt  vielmehr 
da,  wo  sie  mitten  in  dem  Wechsel  verschiedenen  Vorstellungsinhaltes 
andauernd  die  gleichen  Bestimmungen  wahrgenommen  hat,  diese 
konstante  Gleichheit  in  eine  metaphysische  Identität  umzudeuten 
und  diesen  dem  Wechsel  gegenüber  sich  gleichbleibenden  Inhalt 
als  eine<Substanz>  aufzufassen,  zu  der  sich  das  Wechselnde  als  Modi, 
Zustände  und  Tätigkeiten  verhalte.  So  gestaltet  sich  in  diesem 
Zusammenhange  Humes  Untersuchung  des  Begriffes  der  Identität 
zu  einer  scharfsinnigen  und  genialen  Kritik  des  Substanzbe- 
griffes, dessen  Bedeutung  für  die  Entwicklung  der  rationalisti- 
schen Philosophie  schon  mehrfach  hervorgehoben  worden  ist.  Es 
ist  von  vornherhein  klar,  daß  Hume  die  metaphysische  Geltung 
dieses  Begriffes  als  eine  Überschreitung  der  Grenzen  der  analytischen 
Erkenntnis  nur  zurückweisen  konnte;  denn  die  Substantialität  ist 
in  dem  Inhalte  der  Wahrnehmung  weder  unmittelbar  noch  mittel- 
bar gegeben.  Alle  Impressionen  zeigen  uns  nur  Eigenschaften, 
Zustände  und  Tätigkeiten,  und  zieht  man  diese  ab,  so  bleibt,  wie 
schon  Berkeley  gelehrt  hatte,  nichts  übrig.  Es  gibt  unter  allen 
Eindrücken  keinen,  welcher  die  Substantialität  in  sich  enthielte; 
sondern  diese  wird  immer  zu  einem  konstanten  Eigenschaftskom- 
plexe hinzugedacht.  Aber  hier  muß  sich  Hume  fragen,  wie  wir  denn 
hiernach  überhaupt  zu  der  Vorstellung  von^ Substanzen  und  zu  der 
Idee  der  Substantialität  gelangen.  Seine  Theorie,  daß  jede  Idee  die 
Kopie  einer  Impression  sei,  legt  ihm  die  Verpflichtung  auf,  die 
Impression  aufzuweisen,  von  der  die  Idee  derlSubstanzin  Wahrheit 
die  Kopie  ist,  und  dieser  Aufgabe  hat  er  sich  mit  großem  Scharf- 
sinn entledigt.  Offenbar  kann  es  keine  der  unmittelbaren  Inhalts- 
bestimmungen der  einzelnen  Wahrnehmung  sein,  welche  das  Urbild 
der  Idee  der  Substanz  bildet;  aber  indem  die  Vorstellungstätigkeit 
mehrmals  dieselbe  Kombination  von  Wahrnehmungen  zu  vollziehen 
hat,  entsteht  in  der  Phantasie  die  Impression  einer  konstanten 
Gleichmäßigkeit  ihres  eigenen  Tuns,  und  diese  Impression  ist  das 
eigentliche  Urbild  für  die  Idee  der  Substanz.  Hume  bedient  sich 
des  herakli tischen  Beispiels  vom  Fluß,  um  zu  zeigen,  wie  die  Sprache 
und  die  gewöhnliche  Anschauung  der  Menschen  selbst  da  von  einer 
Substanz  sprechen,  wo  genauere  Überlegung  sogleich  davon  über- 
zeugt, daß  man  es  mit  einer  metaphysischen  Identität  nicht  zu  tun 
haben  kann.  Das,  was  den  Fluß  wirklich  bildet,  das  in  ihm  strömende 


Kritik  des  Substanzbegriffes.  341 

Wasser,  ist  in  jedem  Augenblicke  etwas  anderes,  als  im  vorher- 
gehenden: aber  die  gleichförmige  Nötigung  zur  Wahrnehmung  des- 
selben sinnlichen  Bildes  mit  stets  gleichen  Formen  und  Farben 
genügt,  um  nicht  nur  den  sprachlichen  Ausdruck  des  Substanti- 
vums,  sondern  auch  die  Vorstellung  eines  mit  sich  selbst  identischen 
Dinges  hervorzurufen.  Die  Impression,  welche  der  Idee  einer  ^Sub- 
stanz zugrunde  liegt,  ist  diejenige  einer  konstanten  Vorstel- 
lungsverknüpfung. Nun  bezieht  aber  das  menschliche  Denken 
seine  Ideen  von  Substanzen  nicht  auf  diese  konstanten  Vorstellungs- 
verknüpfungen, sondern  vielmehr  auf  eine  metaphysische  Identität 
der  verknüpften  Vorstellungsinhalte.  Sie  schiebt  ihren  Impressionen 
eine  Idee  unter,  welche  die  Kopie  einer  anderen  Impression  ist,  und 
dadurch  wird  diese  Idee  eine  falsche.  In  Wahrheit  dürfen  wir  nur 
sagen,  daß  wir  eine  Anzahl  konstant  gleicher  Vorstellungsver- 
bindungen in  uns  vorfinden;  die  Annahme  aber,  daß  diesen  eine 
mit  sich  selbst  identische  Substanz  entspricht,  ist  ungerechtfertigt. 
Vom  Standpunkte  der  Assoziationspsychologie,  welche  die  Ver- 
knüpfungen der  Vorstellungen  lediglich  für  mechanische  Wirkungen 
ihrer  Elemente  hält  und  von  einer  die  letzteren  nach  eigenen  Ge- 
setzen verarbeitenden  Funktion  nichts  wissen  will,  ist  dies  in  der 
Tat  das  letzte  und  das  konsequenteste  Wort  über  das  Problem 
der  Substantialität,  und  es  läßt  sich  die  Entwicklung,  welche  dieses 
von  Descartes  und  Locke  bis  zu  Hume  gefunden  hat,  von  hier  aus 
am  klarsten  übersehen.  Descartes  behauptete  eine  metaphysische 
Erkennbarkeit  der  unendlichen  Substanz  und  der  endlichen,  der 
Körper  und  der  Geister :  Locke  hielt  an  der  Realität  der  Substanzen 
fest  und  erklärte  sie  für  unerkennbar,  womit  er  die  Metaphysik  im 
gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  aufhob.  Berkeley  verfolgte  diesen 
Gedanken  einseitig  nach  der  Seite  der  sinnlichen  Erfahrung  und 
löste  dadurch  die  materiellen  Substanzen  in  Vorstellungskomplexe 
auf,  während  er  doch  an  der  gewohnten  Vorstellungsweise  so  weit 
festhielt,  daß  er  für  die  Vorstellungen  selbst  das  Substrat  der  geistigen 
Substanzen  voraussetzen  zu  müssen  glaubte  und  dadurch  zum 
Spiritualisten  wurde.  Hume  war  radikal  genug,  dieselbe  Konsequenz 
auch  gegen  die  geistigen  Substanzen  zu  kehren  und  auf  Grund  seiner 
Untersuchungen  den  Substanzbegriff  für  eine  zwar  psychologisch 
notwendige,  aber  erkenntnistheoretisch  nicht  zu  rechtfertigende 
Illusion   zu   erklären.      Er   erhob   sich   damit   gleichweit   über   den 


342  Hume. 

Spiritualismus  wie  über  den  Materialismus,  den  Locke  durch  seine 
Lehre  von  der  Unerkennbarkeit  der  Substanzen  mehr  zu  umgehen, 
als  zu  überwinden  gewußt  hatte.  Denn  Hume  wendete  in  seinem 
ersten  und  bedeutendsten  Werke,  dem  Treatise,  diese  Kritik  des 
Substanzbegriffes  wesentlich  dazu  an,  um  darzutun,  daß  auch  die 
Vorstellung  von  einer  geistigen  Substanz  und  im  besonderen  von 
einer  metaphysischen  Identität  der  menschlichen  Persönlichkeit 
unbeweisbar,  und  daß  das  Ich'  nur  eine  Kollektividee  der  nach  den 
Assoziationsgesetzen  konstant  angeordneten  Vorstellungsreihen  sei. 
Zwar  ließ  er  diesen  Gedankengang,  dem  er  vielleicht  nicht  mit  Un- 
recht den  negativen  Erfolg  des  Treatise  bei  seinen  Landsleuten 
zuschrieb,  bei  der  Umarbeitung  im  Enquiry  fort;  allein  er  hat  sein 
Ergebnis  niemals  zurückgenommen,  und  es  darf  als  ein  wesentlicher 
Bestandteil  seiner  Philosophie  angesehen  werden:  das  Ich  ist  nur 
ein  Bündel  von  Vorstellungen. 

Das  dritte  der  Assoziationsgesetze  verknüpft  die  Vorstellungen 
nach  Maßgabe  ihrer  gegenseitigen  räumlichen  und  zeitlichen 
Berührung,  mag  das  letztere  Verhältnis  Gleichzeitigkeit  oder 
Sukzession  sein.  Der  Erkenntnis  dieser  Beziehungen  stehen  nun 
ebensowenig  Schwierigkeiten  entgegen,  wie  der  Einsicht  in  die 
Verwandtschafts-  und  Verschiedenheitsgrade  des  Vorstellungs- 
inhaltes. Denn  da  Raum  und  Zeit  nach  Humes  Lehre  die  Ordnungs- 
verhältnisse sind,  nach  denen  sich  die  Vorstellungen  in  uns  aneinander 
reihen,  so  ist  nicht  abzusehen,  wie  wir  darin  einer  Täuschung  an- 
heimfallen sollten.  Wenn  wir  feststellen,  daß  zwei  Vorstellungen  in 
uns  aufeinander  gefolgt  sind,  so  ist  das  eben  die  Reihenfolge,  in  der 
sie  sich  angeordnet  haben;  wenn  wir  zwei  Körper  nebeneinander 
wahrnehmen,  so  ist  das  wirklich  die  Ordnung,  in  welche  sich  eben 
unsere  Vorstellungsinhalte  gefügt  haben.  Auch  hiervon  also  gibt 
es  eine  Erkenntnis,  und  zwar  eine  völlig  richtige  und  adäquate 
Erkenntnis,  aber  freilich  in  diesem  Falle  kein  demonstratives  Wissen, 
vermöge  dessen  wir  die  Notwendigkeit  gerade  dieser  bestimmten 
und  keiner  anderen  Beziehungen  nachzuweisen  vermöchten,  sondern 
nur  eine  völlig  sichere  und  genaue  Konstatierung  der  Tatsachen, 
daß  gewisse  Wahrnehmungsinhalte  sich  in  bestimmten  räumlichen 
Gliederungen  dargeboten  haben,  und  daß  gewisse  Vorstellungen 
gleichzeitig  oder  unmittelbar  hintereinander  oder  durch  einen  ge- 
wissen Zwischenraum  getrennt  in  uns  eingetreten  sind.    Wir  haben 


Kausalitätslehre.  343 

es  also  hier  mit  der  Konstatierung  von  Tatsachen  zu  tun, 
und  solange  sich  das  Denken  einfach  darauf  beschränkt,  kann  es 
nicht  fehl  gehen.  Hierin  zeigt  sich  nun  anderseits  Hume  als  ent- 
schiedenster Empirist;  er  erkennt  eine  vollkommen  selbständige 
und  in  sich  durchaus  wahre  Region  des  menschlichen  Wissens  in 
dieser  Feststellung  von  Tatsachen  an  und  sucht  auf  diese  Weise 
die  rein  empirische  Forschung  gegen  die  Mißachtung,  welche  sie 
von  rationalistischer  Seite  erfuhr,  auch  seinerseits  sicherzu- 
stellen. 

Aber  er  zieht  die  Grenzen  dieser  tatsächlichen  Erkenntnis  über- 
aus eng,  und  er  schließt  von  ihr  alle  diejenigen  Deutungen  aus, 
welche  der  Mensch  gewöhnlich  in  den  reinen  Tatbestand  der  Er- 
fahrung unwillkürlich  und  unmerklich  hineinzulegen  pflegt.  Jedes 
Hinausgehen  über  die  reine  Tatsächlichkeit  besteht  aber  darin,  daß 
man  jenen  Zusammenhang,  welchen  man  erfahren  hat,  als  einen 
*  notwendigen*  aufzufassen  geneigt  ist.  Wo  wir  Körper  im  Räume 
beieinander  wahrnehmen,  suchen  wir  dieses  Verhältnis  als  ein  not- 
wendiges zu  begreifen;  wo  wir  zwei  Vorgänge  aufeinander  folgen 
sehen,  gelüstet  es  uns  stets,  den  einen  als  die  Ursache  des  andern 
zu  betrachten.  Alle  diese  über  die  reine  Erfahrung  hinausgehenden 
Deutungen  wurzeln  in  dem  vierten  Assoziationsgesetze,  demjenigen 
der  Kausalität.  Humes  Untersuchung  über  dies  Grundproblem 
der  modernen  Wissenschaft  ist  von  allen  seinen  Lehren  am  berühmte- 
sten geworden,  einerseits  weil  sie  auch  den  empirischen  Wissen- 
schaften den  Boden  unter  den  Füßen  fortziehen  zu  wollen  drohte 
und  deshalb  überall  großes  Aufsehen  erregte,  anderseits  weil  Kant 
ihr  einen  besonderen  Wert  beilegte  und  sie  sogar  als  die  Anregung 
zu  seiner  eigenen  Philosophie  bezeichnete.  Diese  Untersuchung  ist 
jedoch  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  ein  Seitenstück  zu  der- 
jenigen über  die  Substantialität,  welcher  sie  vollständig  parallel  läuft, 
und  die  letztere  ist  nur  deshalb  nicht  ebenso  berühmt  geworden, 
weil  sie  in  dem  überall  gelesenen  Enquiry  fortgelassen  worden  war 
und  sich  nur  in  dem  verschmähten  und  vergessenen  Treatise  fand: 
daher  sie  denn  auch  z.  B.  Kant  fremd  geblieben  war.  Der  Parallelis- 
mus beider  Argumentationen  ist  überaus  einfach  und  deutlich.  So- 
wenig wie  es  in  der  äußeren  Wahrnehmung  eine  Impression  gibt,  deren 
Kopie  die  Idee  einer  Substanz  wäre,  sowenig  läßt  sich  darin  auch 
eine  Impression  aufweisen,  welche  das  Urbild  der  Idee  eines  kausalen 


9 


344  Hume. 

Verhältnisses  wäre.  Wenn  man  den  Vorgang  a  für  die  Ursache  des 
Vorganges  b  hält,  so  ist  das 'ursächliche  Verhältnis  weder  in  der 
Wahrnehmung  a,  noch  in  der  Wahrnehmung  b  enthalten;  ebenso- 
wenig aber  in  dem  tatsächlichen  Verhältnis  beider,  welches  für  die 
intuitive  Erkenntnis  immer  nur  räumlichen  oder  zeitlichen  Charak- 
ters sein  kann.  Das  Wirken  kann  man  sowenig  sehen  und  fühlen, 
wie  das  Sein.  Die  Kausalität  wird  wie  die  Substanz  niemals  wahr- 
genommen, sondern  nur  gedacht.  Aber  sie  kann  auch  nicht  er- 
schlossen und  deshalb  auch  nicht  erwiesen  werden ;  denn  erschließen 
und  erweisen  kann  man  nur,  was  in  dem  Inhalte  der  Vorstellungen 
schon  vorher  enthalten  war.  Das  Verhältnis  von  Ursache  und 
Wirkung  steckt  weder  in  der  Vorstellung  der  einzelnen  Ursache, 
noch  in  der  der  einzelnen  Wirkung  als  ein  analytisch  daraus  zu  ge- 
winnender Bestandteil.  Somit  ist  die  Kausalität  weder  intuitiv  noch 
demonstrativ,  d.  h.  also  gar  nicht  erkennbar.  Um  so  mehr  aber  ent- 
steht hier,  wie  bei  der  Substantialität,  die  Frage,  wie  wir  überhaupt 
dazu  kommen,  sie  vorzustellen  und  zu  meinen,  daß  wir  sie  erkennen; 
und  auch  die  Antwort  lautet  jener  ersten  wegen  der  Substantialität 
durchaus  parallel.  Wenn  wir  mehrmals  denselben  Vorgang  b  auf  den- 
selben Vorgang  a  haben  folgen  sehen,  so  entsteht  in  uns  ein  Gefühl 
von  der  Gewohnheit  dieses  wiederum  sich  gleichbleibenden  Tuns 
unserer  Phantasie,  und  die  Idee  dieser  Impression  ist  diejenige 
des  kausalen  Verhältnisses,  welche  wir  nur  wiederum  in  der  Meinung, 
eine  metaphysische  Notwendigkeit  begriffen  zu  haben,  dem  Ver- 
hältnis jener  wahrgenommenen  Gegenstände  unterschieben:  wir  be- 
trachten das  subjektive  Verhältnis  der  Vorstellungen,  von  denen 
eine  die  andere  im  Bewußtsein  nach  sich  zieht,  als  ein  objektives 
Verhältnis  der  Vorstellungsinhalte  zueinander.  Hierin  benutzt 
Hume  ganz  die  Untersuchungen  Glanvils.  Die  Gewohnheit  des 
j)ostJioc  ist  das  Original  für  die  Idee  des  propter  hoc.  Aber  dieses 
propter  hoc  und  damit  der  ganze  notwendige  Zusammenhang  der 
Erscheinungen  ist  niemals  zu  beweisen,  sondern  nur  zu  glauben. 
In  der  Anwendung  dieser  letzteren  Lehre  auf  den  ganzen  Um- 
fang der  empirischen  Wissenschaften  liegt  das  eigentlich  skeptische 
Element  der  Humeschen  Lehre.  Denn  alle  diese  Wissenschaften 
wollen,  sofern  sie  nicht  bloß  eine  Tatsachensammlung,  sondern 
eine  Theorie  enthalten,  die  Einsicht  in  denSiotwendigen  Zusammen- 
hang gewinnen,  der  zwischen  den  durch  Wahrnehmung  zu  gewinnen- 


Empiristischer  Skeptizismus.  345 

den  Tatsachen  besteht.  Diese  Einsicht  aber  erklärt  Hume  für  eine 
Sache  nicht  der  wissenschaftlichen  Beweisführung,  sondern  des  ge- 
wohnheitsmäßigen Glaubens.  Er  nimmt  damit  im  Grunde 
genommen  nur  den  Empirismus  beim  Worte;  er  verbietet,  daß 
aus  der  Wahrnehmung  mehr  gemacht  werde,  als  wirklich  in  ihr 
liegt;  und  mit  der  rücksichtslosen  Konsequenz,  in  der  seine  Größe 
besteht,  führt  er  den  Baconschen  Gedanken  ad  absurdum,  daß  aus 
der  bloßen  Beobachtung  der  Tatsachen  mit  formal  logischen  Operatio- 
nen eine  Wissenschaft  von  dem  notwendigen  Zusammenhange  dieser 
Tatsachen  gewonnen  werden  könne.  Er  deckt  damit  die  geheimen 
Voraussetzungen  auf,  mit  denen  das  menschliche  Denken  den  reinen 
Inhalt  seiner  Wahrnehmungen  überall  durchsetzt,  um  sie  zu  einer 
Erkenntnis  der  Notwendigkeit  umzuformen.  Sein  Skeptizismus 
ist  die  unmittelbare  Konsequenzdes  Empirismus:  es  gibt 
für  den  Menschen  zwar  Erfahrung,  aber  keine  Erfahrungs- 
wissenschaft. Hume  selbst  besaß  in  seinen  empiristischen  Vor- 
aussetzungen nicht  die  Mittel,  um  die  hierin  liegenden  Probleme 
endgültig  lösen  zu  können;  aber  gerade  seine  Verweifung  der  An- 
sprüche, welche  die  empirischen  Wissenschaften  auf  die  Erkenntnis 
der  Notwendigkeit  in  dem  Zusammenhange  der  Erscheinungen 
machen,  bereitete  die  Problemstellung  vo" ,  durch  die  Kant  alle  diese 
Fragen  unter  ein  neues  Licht  zu  stellen  vermochte. 

Das  Gesamtresultat  der  Humescben  Erkenntnistheorie  ist  also 
dies :  es  gibt  ein  empirisches  Wissen  von  der  Verwandtschaft  und  Ver- 
schiedenheit, sowie  von  den  räumlichen  und  zeitlichen  Verhältnissen 
unseres  Wahrnehmungsinhalts,  denn  es  ist  unmittelbar  und  intuitiv 
in  den  Wahrnehmungen  selbst  gegeben;  aber  es  gibt  nur  eine 
demonstrative  Wissenschaft,  die  daraus  logisch  zu  entwickeln  ist, 
die  Mathematik,  die  sich  mit  der  immanenten  Gesetzmäßigkeit 
der  räumlichen  und  zeitlichen  Anordnung  unserer  Verstellungen 
logisch  zu  beschäftigen  hat.  Alle  übrigen  Wissenschaften  über- 
schreiten die  Grenze  der  Bewekfähigkeit,  wenn  sie  die  von  ihnen 
beobachteten  Verhältnisse  der  Tatsachen  als  real  und  notwendig  be- 
greifen und  damit  eine  Theorie  davon  aufstellen  wollen.  Für  eine 
Metaphysik  endlich,  die  das  Wesen  einer  unabhängig  von  den  Vor- 
stellungen bestehenden  WTelt  vonv  Substanzen  und  deren  notwendige 
Beziehungen  erkennen  will,  ist  selbstverständlich  in  dieser  Lehre  gar 
kein  Raum.   So  endet  der  Empirismus,  in  dem  er  sich  selbst  negiert, 


346  Hume. 

und  er  negiert  sich  auf  Grund  eines  rationalistischen  Prinzips.  Will 
sich  der  Empirismus  überall  mit  der  bloßen  Feststellung  von  Tat- 
sachen begnügen,  so  erkennt  auch  Hume  bedingungslos  dieses 
Recht  an.  Er  verweigert  ihm  nur  den  Übergang  aus  der  Tatsäch- 
lichkeit in  die  Notwendigkeit,  aus  der  Wahrnehmung  in  die  Theorie. 
Daß  er  der  Mathematik  diesen  Übergang  gestattet,  beruht  auf  der 
Meinung,  daß  diese  ihre  Erkenntnisse  lediglich  der  Logik  verdanke. 
Aber  wenn  man  so  auch  bei  Hume  die  Mathematik  als  das  Ideal 
der  demonstrativen  Wissenschaft  auftreten  sieht,  und  wenn  man 
verfolgt,  wie  er  sich  den  übrigen  Wissenschaften  gegenüber  nur 
deshalb  skeptisch  verhält,  weil  sie  das  gleiche  nicht  leisten  können, 
so  springt  es  klar  in  die  Augen,  daß  diese  abschließende  Selbstauf- 
lösung des  Empirismus  sich  direkt  unter  dem  Einflüsse  des  carte- 
sianischen  Rationalismus  vollzogen  hat.  Die  beiden  großen  Rich- 
tungen der  vorkantischen  Philosophie  haben  drei  überaus  merk- 
würdige Synthesen  gefunden:  Humes  Lehre  ist  diejenige,  in  der  sie 
sich  beide  paralysieren;  Leibniz'  diejenige,  in  der  sie  sich  beide 
zu  versöhnen  suchen;  und  aus  der  gegenseitigen  Durchdringung 
beider  entsprang  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft. 

Die  Zeitgenossen  haben  Hume  schlechtweg  als  Skeptiker  bezeich- 
net, und  die  Geschichte  der  Philosophie  hat  diese  Bezeichnung 
meist  adoptiert.  Auch  hier  bewährt  sich  die  Unangemessenheit  so 
allgemeiner  Rubrizierungen  für  das  originelle  System  eines  großen 
Geistes.  Jene  Bezeichnung  entstand  zunächst  dadurch,  daß  Hume 
die  Möglichkeit  einer  Metaphysik  leugnete  und  infolgedessen  sogar 
die  Erkennbarkeit  der  Lieblingsgegenstände  der  Aufklärungsphilo- 
sophie, der  Gottheit,  der  Willensfreiheit  und  der  Unsterblichkeil, 
bestritt.  In  diesem  Sinne  ist  er  in  der  Tat  Skeptiker;  er  ist  es  nicht 
für  die  Mathematik,  rücksichts  deren  er  vollständig  auf  dem  Stand- 
punkte des  Rationalismus  steht;  er  ist  es  ebensowenig  hinsichtlich 
der  Wahrnehmungserkenntnis,  welche  er  sogar  für  so  richtig  und 
zweifellos  hält,  daß  man  ihn  einen  Sensualisten  nennen  dürfte:  er 
ist  es  nur  wieder  für  die  empirischen  Wissenschaften,  insofern 
diese  über  die  Feststellung  der  Tatsachen  hinaus  eine  kausal  er- 
klärende Theorie  beweisen  zu  können  meinen.  Deshalb  bezeichnet 
man  seine  Lehre  am  besten  als  empiristischen  Skeptizismus. 
In  der  Ausdrucksweise  des  XIX.  Jahrhunderts  pflegt  hauptsäch- 
lich nach  dem  Vorgange  Auguste  Comtes,  die  Art  der  Wissenschaft- 


Positivismus.  347 

liehen  Tätigkeit,  welche  sich  mit  der  Feststellung  von  Tatsachen 
und  deren  stetiger  Zeitfolge  bescheiden  zu  können  glaubt  und  auf 
erklärende  Theorien  Verzicht  leisten  will,  meist  als"- positiv  oder 
positivistisch  bezeichnet  zu  werden.  In  diesem  Sinne  ist  Hume  der 
wahre  und  der  einzige  Vater  des  Positivismus. 

Denn  auch  die  Skepsis,  welche  er  den  empirischen  Wissenschaften 
entgegenhält,  ist  nicht  so  total  abweisend,  daß  sie  deren  Arbeit 
für  völlig  nutzlos  erklärte.  Freilich  hält  Hume  daran  fest,  daß 
alle.kausalen  Verhältnisse  niemals  strikte  bewiesen  werden  können; 
aber  sie  dürfen  geglaubt  werden,  und  wir  bedürfen  dieses  Glaubens 
behufs  der  praktischen  Sicherheit,  mit  der  wir  bei  bestimmten 
Vorgängen,  die  wir  entweder  erleben  oder  selbst  herbeiführen  kön- 
nen, bestimmte  andere  Vorgänge,  die  dann  als  deren"' Wirkungen 
bezeichnet  werden,  erwarten  müssen.  Je  öfter  eine  solche  Sukzes- 
sion eingetreten  ist,  um  so  wahrscheinlicher  wird  ihre  Wiederholung ; 
und  wenn  sich  die  empirischen  Wissenschaften  damit  bescheiden, 
diese  Wahrscheinlichkeit  festzustellen  und  womöglich  ihren  Grad 
mathematisch  zu  bestimmen,  so  können  sie  den  unbeweisbaren  Be- 
griff der  Kausalität  entbehren  und  doch  ihre  Aufgabe,  die  relative 
•Stetigkeit  der  Sukzession  bestimmter  Vorgänge  zu  konstatieren  und 
in  praktischer  Hinsicht  die  Erwartung  auf  das  Wahrscheinliche  zu 
richten,  durchaus  erfüllen.  Was  wTir  ein^ Naturgesetz  nennen,  hat 
seine  völlige  Berechtigung,  wenn  es  nichts  weiter  sein  soll,  als  ein 
Gattungsbegriff  beobachteter  Tatsachen  oder  Tatsachen  Verhältnisse, 
'deren  Wiederholung  höchst  wahrscheinlich  ist;  es  überschreitet  die 
•Grenzen  der  menschlichen  Erkenntnisfähigkeit,  sobald  wir  darin 
:eine  real  bindende  Macht  zu  erkennen  glauben.  In  diesem  Zusam- 
menhange gestaltet  sich  die  Humesche  Lehre  zu  einem  empiri- 
s tischen  Probabilismus,  und  er  benutzt  dafür  die  Ausbildung, 
die  inzwischen  die  Mathematiker  der  Wahrscheinlichkeitstheorie 
gegeben  hatten.  Nur  hinsichtlich  der  Metaphysik  und  aller  auf  die 
Erkenntnis  des  Übersinnlichen  gerichteten  Bestrebungen  bleibt  er 
unerbittlich  und  endet  mit  dem  Rufe:  »Ins  Feuer  mit  allein,  was 
•nicht  entweder  mathematische  Untersuchungen  oder  Beobachtungen 
über  Tatsachen  und  über  die  Wirklichkeit  enthält!« 

Nicht  minder  auflösend  verhält  sich  Humes  Lehre  der  reli- 
gionsphilosophischen Bewegung  gegenüber,  und  auch  hierin 
zerstört  er  jene  Vertrauensseligkeit,  mit  welcher  die  Philosophie 


348  Hume. 

der  Aufklärung  die  »Vernunftwahrheiten«  apodiktisch  durch  reines 
Denken  beweisen  zu  können  meinte.  Mitten  aus  der  Bildung  dieser 
Zeit  hervorgewachsen,  erhebt  sich  Hume  durch  vollendete  Hand- 
habung ihrer  Methoden  und  durch  energische  Ausbildung  ihrer 
Prinzipien  weit  über  sie,  und,  ein  Riese  des  Gedankens,  zerschlägt 
er  jene  Lieblingsgebilde,  mit  denen  der  Deismus  vornehm  tat.  Wenn 
seit  Locke  die  englische  Religionsphilosophie  zuerst  in  der  Form 
eines  Kompromisses  und  später  in  derjenigen  einer  beinahe  voll- 
ständigen Versöhnung  die  Vernunfterkenntnis  mit  den  Lehren  der 
Religion  zu  vereinigen  geglaubt  hatte,  so  sucht  Hume  auf  Grund 
seiner  Prinzipien  zu  zeigen,  daß  diese  Hoffnung  von  vornherein 
illusorisch  ist.  Wenn  es  keine  Metaphysik  gibt,  wenn  nicht  einmal 
die  Einsicht  in  den  notwendigen  Zusammenhang  der  erfahrenen  Tat- 
sachen beweisbar,  geschweige  denn  ein  Hinausschreiten  der  Wissen- 
schaft über  die  Grenzen  dieser  Erfahrung  gestattet  ist,  so  kann  e3 
natürlich  auch  keine  wissenschaftliche  Erkenntnis  der  Gottheit  oder 
ihres  Verhältnisses  zur  erfahrungsmäßigen  Welt  geben.  Alle  Be- 
weise für  das  Dasein  Gottes  suchen  entweder  die  Notwendigkeit 
seiner  substantiellen  Existenz  darzutun,  oder  sie  erschließen  das 
Dasein  Gottes  als  einer  Ursache,  sei  es  für  die  endlichen  Dinge 
überhaupt,  sei  es  für  deren  zweckmäßige  Gestaltung.  Sie  operieren 
also  mit  jenen  beiden  Grundbegriffen  der  Substantialität  und  der 
Kausalität,  deren  Unbeweisbarkeit  Hume  dargetan  zu  haben  glaubt. 
Der  kausale  Schluß,  d.  h.  der  sogenannte  kosmologische  Beweis, 
dessen  sich  z.  B.  auch  Locke  bedient  hatte,  und  der  in  der  Physiko- 
theologie  des  Deismus  doch  schließlich  auch  die  Hauptrolle  spielte, 
erscheint  Hume  in  diesem  Falle  um  so  weniger  ausreichend,  als  er 
von  endlichen  Dingen  auf  eine  unendliche  Ursache  schließen  und 
auf  diese  Weise  inkommensurable  Begriffe  in  eine  syllogistische 
Beziehung  bringen  will.  Was  aber  die  Tätigkeit  anbetrifft,  mit  der 
die  Gottheit  in  den  Gang  der  Dinge  eingreifen  soll,  so  ist  diese  als 
ein  kausales  Verhältnis  auch  wiederum  nicht  beweisbar,  sondern 
kann  nur  geglaubt  werden.  Dabei  macht  Hume  den  Versuch,  die 
Glaubwürdigkeit  der  Wunder  nach  den  Prinzipien  der  Wahrschein- 
lichkeitslehre zu  prüfen,  und  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  diese 
ihre  Glaubwürdigkeit  lange  nicht  ausreiche,  um  darauf  ein  System 
und  eine  wissenschaftliche  Erkenntnis  zu  gründen,  welche  auch  nur 
den  Wert  der  übrigen  empirischen  Wissenschaften  hätte.    So  ergibt 


Religionsphilosophie.  349 

sich  für  Hume,  daß  das,  was  man  religiöse  Wahrheit  nennt,  niemals 
gewußt,  sondern  immer  nur  geglaubt  werden  kann.  Jene  Überein- 
stimmung, welche  die  Freidenker  zwischen  Religion  und  Vernunft, 
zwischen  Glauben  und  Wissen  herbeizuführen  gesucht  hatten,  hebt 
Hume  wieder  auf  und  erklärt,  daß  aus  wissenschaftlicher  Erkenntnis 
niemals  eine  Religion  hervorgegangen  sei  und  hervorgehen  könne. 
Jene  künstliche  Religion,  welche  der  rationalistische  Deismus  unter 
dem  Namen  der  Naturreligion  zu  erzeugen  gesucht  hatte,  wird  von 
Hume  für  eine  Unmöglichkeit  erklärt.  Religion  ist  deshalb  niemals 
als  Wissen  möglich.  Damit  erneuert  er  den  Standpunkt  Bacons, 
der  auch  die  Brücke  zwischen  Religion  und  Wissenschaft  abzu- 
brechen gewünscht  hatte,  und  so  läuft  die  Linie  der  religionsphilo- 
sophischen  Entwicklung  der  Engländer,  nachdem  sie  die  Sphäre  des 
Freidenkertums  durchmessen  hat,  in  ihren  Anfangspunkt  zurück. 
Mit  Hume  löst  sich  die  versöhnungsvolle  Verbindung  von  Wissen 
und  Glauben,  in  der  das  Freidenkertum  geschwelgt  und  mit  der  es 
das  Aufklärungszeitalter  beherrscht  hatte,  wieder  auf. 

Wie  aber  Hume  die  Unmöglichkeit  der  naturwissenschaftlichen 
Theorie  praktisch  durch  das  Vertrauen  auf  die  Erfahrung  wieder 
»ausgeglichen  hatte,  so  gibt  er  auch  in  bezug  auf  die  Religion 
zu,  daß  im  ganzen  —  trotz  der  theoretisch  nicht  abzuweisen- 
den Einwürfe  und  Bedenken  —  das  Weltall  auf  den  verständigen 
Menschen  den  Eindruck  mache,  als  ob  in  ihm  eine  einheitliche 
Intelligenz  walte,  deren  Realität  deshalb  zu  glauben  praktisch  er- 
laubt sei. 

Wenn  so  die  posthumen  »Dialoge  über  die  natürliche  Religion« 
■ein  vielseitiges  Abwägen  ohne  bestimmtes  und  eindeutiges  Ergebnis 
darbieten,  so  hatte  Hume  in  der  »Natürlichen  Geschichte  der  Reli- 
gion« einen  anderen  Gedanken  verfolgt.  Seine  Leistung  darin  ist 
die  Einführung  einer  Betrachtungsweise  der  positiven  Religionen, 
welche  er  zwar  noch  unvollkommen  durchgeführt,  aber  doch  mit 
prinzipieller  Klarheit  erfaßt  hat,  und  von  der  die  Aufklärung  in 
dem  stolzen  Bewußtsein  ihrer  Superiorität  keine  Ahnung  hatte. 
Auch  dieser  Gesichtspunkt  ist  in  den  Prinzipien  der  gesamten  Hume- 
schen Lehre  begründet.  Wenn  die  Religion  keine  Erkenntnis  sein 
kann,  so  ist  doch  die  Tatsache  nicht  zu  leugnen,  daß  sie  eine  solche 
sein  will  und  zu  sein  glaubt.  Wie  deshalb  die  Humesche  Erkennt- 
nistheorie  überall,   wo   sie   Irrtümer  oder  falsche  Ansprüche  des 


350  Hume. 

Denkens  aufdeckte,  deren  Entstehung  zu  begreifen  suchte,  so  will 
nun  auch  seine  Religionsphilosophie  die  Entstehung  des  Glaubens 
erklären.     Diese  Erklärung  aber  kann  wiederum  nur  vom  Stand- 
punkte der  Assoziationspsychologie  in  der  Aufdeckung  der  psychi- 
schen Vorgänge  bestehen,  aus  denen,  wie  dort  die  erkenntnistheo- 
retischen Illusionen,  so  hier  der  religiöse  Glaube  entspringt.    Dadurch 
wird  die  Religionsphilosophie  zu  einer  Psychologie  der  Reli- 
gion, und  das  Bestreben  Humes  geht  dahin,  aufzuzeigen,  daß  alle 
Religionen  ein  notwendiges  Produkt  des  psychischen  Mechanismus 
gewesen  sind.    Damit  erhebt  er  sich  weit  über  die  pedantische  Ein- 
seitigkeit und  Verständnislosigkeit,  mit  der  sonst  die  Denker  der 
Aufklärung  die  Abweichungen  der  positiven  Religionen  von  der  in 
ihrer  Lehre  als  normal  aufgestellten  Vernunft-  oder  Naturreligion 
sich  nur  aus  willkürlicher  und  betrügerischer  Priestererfindung  er- 
klären zu  sollen  meinten.    Er  stellt  ihr  den  Gesichtspunkt  entgegen, 
daß  eine  Religion  sich  niemals  machen  läßt,  sondern  immer  nur 
wird,  und  daß  ihre  Wurzeln  in  der  notwendigen  Entwicklung  des 
menschlichen  Geistes  liegen.    In  dieser  Lehre  kommt  bei  Hume  der 
große  Historiker  zutage :  denn  der  psychologische  Gesichtspunkt  ist 
in  der  Erklärung  der  Religion  identisch  mit  dem  historischen. 
Wenn  die  Religion  ein  notwendiges  Produkt  des  menschlichen  Geistes 
ist,  so  sind  die  einzelnen  Religionen  in  ihrer  Verschiedenheit  und 
in  ihrem  Wechsel  die  notwendigen  Produkte  der  Entwicklungs- 
geschichte des  menschlichen  Geistes.     Gerade  darin  besteht 
die  Bedeutung  Humes  für  die  Geschichte  der  Religionsphilosophie, 
daß  er  jener  abstrakten  Kritik  des  Freidenkertums  gegenüber  den 
psychologisch-historischen   Gesichtspunkt   für   die    Erklärung   und 
Betrachtung  der  positiven  Religionen  zur  Geltung  gebracht  hat. 

Freilich  ist  die  Ausführung  dieses  Gedankens  bei  Hume  nur 
noch  unvollkommen,  und  man  kann  auch  nicht  sagen,  daß  er  sich 
von  dem  Standpunkte  der  Naturreligion  gänzlich  frei  gemacht  hätte. 
Denn  er  sucht  zu  zeigen,  wie  die  Geschichte  der  religiösen  Vor- 
stellungen wesentlich  darauf  hinauslaufe,  von  dem  ursprünglichen 
Polytheismus  durch  fortschreitende  Verschmelzung  der  Götter- 
gestalten auf  jenen  Monotheismus  hinzuführen,  den  er  selbst  für 
die  plausible  Ansicht  des  gebildeten  Menschen  hielt.  Im  besonderen 
führte  er  aus,  daß  das  religiöse  Gefühl,  welches  die  Deisten  seit 
Herbert  vorausgesetzt  hatten,  kein  ursprüngliches,  sondern  vielmehr 


Religionsphilosophie.  351 

ein  aus  den  Elementen  des  menschlichen  Triebmechanismus  abzu- 
leitendes sei;  aber  er  versperrte  sich  eine  genügende  Lösung  seiner 
Aufgabe  vor  allem  dadurch,  daß  er  einseitig  die  praktischen  und 
sittlichen  Triebfedern  für  die  Erklärung  des  religiösen  Gefühls  zu- 
grunde legte  und  deshalb  die  theoretischen  Bedürfnisse,  die  sich 
im  religiösen  Leben  zu  befriedigen  suchen,  mehr  vernachlässigte. 
Das  ist  ein  begreiflicher  Kückschlag  gegen  das  Freidenkertum, 
welches  anfänglich  in  der  Religion  nur  das  hatte  gelten  lassen 
wollen,  was  einer  vernünftigen  Erkenntnis  fähig  ist,  und  der  gleiche 
Rückschlag  begegnet  uns  bei  Voltaire,  Lessing  und  Kant,  so  daß 
danach  in  der  Religionsphilosophie  jenes  moralische  Element  das 
herrschende  und  einzig  bestimmende  wurde,  welches  schließlich  auch 
die  englischen  Deisten,  um  einen  Inhalt  für  die  natürliche  Religion 
übrig  zu  behalten,  als  das  maßgebende  betrachtet  hatten.  Die 
Folge  davon  war,  daß  man  von  diesem  Standpunkt  aus  den  Wert 
der  Religionen  lediglich  nach  der  Förderung  zu  schätzen  sich  ge- 
wöhnte, welche  sie  dem  moralischen  Leben  zu  gewähren  geeignet 
sind,  und  das  ist  denn  auch  die  Kritik,  der  Hume,  hierin  Bayle 
folgend,  rücksichtslos  die  positiven  Religionen  unterwarf.  Bei  dieser 
Kritik  kommen  nun  die  monotheistischen  Religionen  schlechter 
fort,  als  die  polytheistischen,  indem  Hume  nachzuweisen  sucht, 
daß  die  ersteren  ihrem  Wesen  nach  viel  unduldsamer  als  die  letzteren 
|  sind.  Wenn  dann  schließlich  Hume  sich  ziemlich  deutlich  dahin 
ausspricht,  daß  die  religiösen  Triebfedern  für  das  Leben  des. wirk- 
lich sittlichen  Menschen  entbehrlich  seien,  so  zeigt  sich  darin  der 
völlige  Indifferentismus,  der  in  bezug  auf  die  Religion  seine  persön- 
liche Überzeugung  war.  Er  sieht  auf  alle  positiven  Religionen 
etwa  im  Geiste  von  Hobbes  herab;  aber  er  behandelt  seine  ganze 
Stellung  zu  diesen  Fragen  vollständig  in  dem  aristokratischen 
Sinne,  den  Bolingbroke  so  frivol  ausgesprochen  hatte.  »Es  heißt, « 
schrieb  Hume  einmal,  »dem  Aberglauben  der  Menge  zuviel  Respekt 
•  erweisen,  wenn  man  sich  ihm  gegenüber  mit  Offenheit  quält.  Macht 
man  es  zu  einem  Ehrenpunkte,  Kindern  und  Narren  die  Wahrheit 
zu  sagen?«  Deshalb  wurde  er  in  seinem  antireligiösen  Denken, 
das  er  anfangs  ziemlich  unverhohlen  gezeigt  hatte,  mit  der  Zeit 
zwar  nicht  anderen  Sinnes,  aber  vorsichtiger  und  zurückhalten- 
der. Nachdem  er  sich  gerade  aus  diesem  Grunde  mehrfach  zurück- 
gesetzt gefunden  und  die  kühle  Aufnahme  seiner  Schriften  damit  in 


352  Hume. 

Zusammenhang  gebracht  hatte,  paßte  er,  da  er  keine  Lust  zum 
Märtyrertum  fühlte,  seine  Ausdrucksweise  den  Wünschen  des  eng- 
lischen Publikums  an  und  änderte  z.  B.  in  der  zweiten  Ausgabe 
seiner  Geschichte  Großbritanniens  den  Ausdruck  »superstition «, 
den  er  früher  stets  wie  Hobbes  angewendet  hatte,  durchgehends 
in  »religion«. 

Der  psychologische  Grundcharakter,  der  Humes  Lehre  eigen 
ist,  zeigt  sich  auch  in  der  eigenartigen  und  feinsinnigen  Gestalt, 
welche  dieser  allseitige  Denker  der  Moralphilosophie  gegeben 
hat.  Auch  auf  diesem  Gebiete  meint  er,  daß  es  sich  nicht  um  die 
abstrakte  Aufstellung  von  Gesetzen  und  um  das  Pathos  des  Morali- 
sierens  handle,  sondern  vielmehr  um  die  Einsicht  in  den  psycho- 
logischen Zusammenhang  des  menschlichen  Willenslebens.  Alle 
Moralphilosophie  beruht  auf  einer  gründlichen  Untersuchung  der 
Affekte,  Leidenschaften  und  Willensentscheidungen.  Diese  bilden 
das  andere  Gebiet,  welches  die  menschliche  Erfahrung  neben  den 
Impressionen  und  Ideen  zwar  in  steter  Verbundenheit  damit,  aber 
doch  in  einer  deutlich  erkennbaren  Verschiedenheit  davon  aufweist. 
Auch  hierin  aber  muß  auf  die  einfachen  Elemente  zurückgegangen 
und  aus  ihnen  das  Zusammengesetzte  abgeleitet  werden.  Damit 
betritt  Hume  unter  den  Prinzipien  der  Assoziationspsychologie  den 
Boden,  welchen  Bacon  und  Hobbes,  Descartes  und  Spinoza  be- 
arbeitet haben,  und  auch  er  will  eine  Naturgeschichte  der  Affekte 
und  der  Leidenschaften  geben.  Als  deren  Grundelemente  betrachtet 
er  die  Gefühle  der  Lust  und  der  Unlust  und  entwickelt  daraus  mit 
teilweise  außerordentlich  feiner  Beobachtungsgabe  die  ganze  Keine 
der  Affekte  und  der  Leidenschaften.  Er  benutzt  dabei,  wie  die 
großen  Rationalisten,  neben  der  Synthese  der  Gefühle  und  der  Be- 
gierden auch  die  Mitwirkung  der  Vorstellungsreihen  und  zeigt,  wie 
lebhaft  die  Phantasie  an  der  Entstehung  der  Gemütsbewegungen 
beteiligt  ist.  Auch  in  dem  Gesamtresultate  dieser  Untersuchung 
begegnet  sich  Hume  vollständig  mit  der  Konsequenz  des  spino- 
zistischen  Denkens.  Je  mehr  in  einer  solchen  Naturgeschichte 
der  Gemütsbewegungen  die  psychologische  Notwendigkeit  er- 
kannt wird,  mit  der  sie  entstehen,  desto  mehr  verschwindet  der 
Gedanke  einer  ursachlosen  Willensfreiheit,  und  merkwürdig  genug, 
vertritt  der  Mann,  der  die  Erkenntnis  kausaler  Verhältnisse  für  ein 
überall  mißliches  und  höchstens  wahrscheinliches  Ding  erklärte,  in 


Ethik.  353 

der  Psychologie  des  Willens  den  Determinismus  durch  eine  Reihe 
glänzender  Untersuchungen. 

Dennoch  ist  diese  Art  des  Determinismus  vollständig  von  der- 
jenigen verschieden,  welche  sonst  dem  Aufklärungszeitalter  geläufig 
war,  und  auch  darin  zeigt  sich,  wie  an  allen  anderen  Punkten,  daß 
Hume  aus  den  Vorurteilen  seiner  Zeit  in  großartiger  Originalität 
herauswuchs.  Der  sonstige  Determinismus  der  vor  kantischen  Philo- 
sophie bestand,  wie  mehrfach  erwähnt,  bei  Empiristen  so  gut  wie 
bei  Rationalisten  in  der  Meinung,  daß  die  Willensentscheidung 
überall  durch  Vorstellungen  bedingt  sei.  Hume  setzte  diesem  Vor- 
urteil eine  scharfsinnige  Untersuchung  entgegen,  worin  er  nachwies, 
daß  die  Vorstellung  allein  niemals  über  den  Willen  Kraft  habe, 
und  daß  sie  zum  Motiv  erst  durch  ein  begleitendes  Gefühl  der 
Billigung  oder  Nichtbindung  werde.  Wenn  bloß  die  Vorstellungen- 
entschieden,  so  brauchte  man  nur  zu  überlegen  oder  einem  anderen 
nur  Vorstellungen  zu  erwecken,  um  einer  bestimmten  Willens- 
fentscheidung  sicher  zu  sein.  Die  Erfahrung  lehrt  das  Gegenteil; 
jene  Wirkung  bleibt  aus,  wenn  das  Gefühl  der  Billigung  fehlt  oder 
durch  ein  stärkeres  Gefühl  verdrängt  wird. 

Damit  widerlegt  Hume  die  Theorien  von  Clarke  und  Wollaston, 
welche  den  Wert  der  moralischen  Handlungen  durch  ihre  theo- 
retische Richtigkeit  hatten  bestimmt  wissen  wollen,  und  zeigt,  daß 
die  Moralphilosophie  nur  von  der  Tatsache  des  moralischen  Ge- 
fühls ausgehen  könne,  auf  dessen  Bedeutung  namentlich  Hutcheson 
hingewiesen  hatte.  Aber  er  will  nicht  wie  dieser  das  moralische 
Gefühl  für  ein  besonderes,  ursprünglich  in  sich  bestimmtes  Ver- 
mögen halten,  sondern  vielmehr  auch  hier  die  Prinzipien  der  Asso- 
dationspsychologie  anwenden  und  nur  dasjenige  Verhalten  aus- 
findig machen,  welches  überall  gleichmäßig  bei  verschiedenen 
?inzelnen  Veranlassungen  das  Wesen  der  sittlichen  Gefühle  und 
Beurteilungen  ausmacht. 

In  der  Entwicklung  der  moralischen  Begriffe  auf  dieser  Grund- 
age  teilt  nun  Hume  die  Tugenden  in  natürliche  oder  individuelle 
ind  in  soziale  ein.  In  dem  Begriffe  der  natürlichen  Tugend  schließt 
■r  sich  zunächst  dem  antiken  und  dem  spinozistischen  Begriffe  an, 
■vonach  als  Tugend  (virtus,  virtue)  alle  diejenigen  Eigenschaften 
les  Individuums  bezeichnet  werden,  welche  diesem  selbst  förderlich 
ind,  wie  etwa :  Klugheit,  Fleiß,  Geistesstärke,  Vorsicht  usw.    Diese 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.   I.  23 


354  Hume. 

gewinnen  jedoch  sogleich  eine  sittliche  Bedeutung  dadurch,  daß 
wir  sie  keineswegs  nur  an  uns  selbst,  sondern  auch  an  anderen 
Menschen  billigen  und  uns  ihrer  dabei  sogar  dann  freuen,  wenn 
sie  uns  selber  in  keiner  Weise  zuoute  kommen  oder  aav  hinder- 
lieh  entgegenstehen.  Das  Gefühl  der  Zustimmung,  das  uns  etwa 
bei  einer  moralischen  Erzählung  ergreift,  für  deren  Inhalt  die  Phan- 
tasie auch  keine  Spur  von  Beziehung  auf  unsere  persönlichen  In- 
teressen zu  entdecken  vermag,  und  gar  die  vom  Standpunkte  des 
bloßen  Egoismus  völlig  paradoxe  Erscheinung,  daß  wir  solche 
Eigenschaften  auch  an  unseren  Feinden  bewundern,  die  uns  gerade 
damit  schaden,  alle  diese  Erfahrungen  beweisen,  daß  unsere  Tätig- 
keiten der  Billigung  und  der  Mißbilligung  noch  andere  Wurzeln 
als  diejenige  der  Selbstsucht  haben,  und  daß  der  Versuch,  den 
Egoismus  zum  Prinzip  der  Moral  zu  machen,  an  den  Tatsachen 
scheitert.  Stellt  man  vielmehr  die  von  Bacon  geforderte  Induktion 
auf  dem  Gebiete  der  moralischen  Erscheinungen  an,  so  stößt  man 
auf  die  Grundtatsache  der  Sympathie,  welche  den  Menschen 
zwingt,  nicht  nur  dasjenige,  was  sein  eigenes  Wohl  fördert,  sondern 
auch  dasjenige,  was  fremdes  Wohl  herbeizuführen  geeignet  erscheint, 
zu  billigen  und  das  Entgegengesetzte  zu  mißbilligen.  Gewiß  ist 
diese  Tatsache  unmittelbar  in  der  Natur  des  Menschen  angelegt, 
aber  wie  der  nominalistische  Denker  dartut,  nicht  als  ein  abstraktes 
Prinzip  der  Mitfreude  oder  des  Mitleids  oder  als  ein  besonderer 
Instinkt,  sondern  vielmehr  in  jedem  einzelnen  Falle  als  eine  Art 
von  naturnotwendigem  Hinüberzittern  der  psychischen  Bewegung 
aus  dem  einen  in  den  andern  Organismus.  Die  Sympathie,  welche 
Hume  an  die  Stelle  von  Cumberlands  Wohlwollen  setzt,  ist  nur 
der  gemeinsame  Name  für  die  verschiedenen  Formen  dieser  Mit- 
bewegung, vermöge  deren  die  Billigung  sich  auf  alles  erstreckt, 
was  überhaupt  das  Wohl  irgend  eines  Wesens  zu  befördern  im- 
stande ist.  Wenn  es  dabei  eine  Mitwirkung  der  Vernunft  gibt,  so 
besteht  sie  nur  darin,  daß  die  vernünftige  Überlegung  uns  lehrt,  was 
in  jedem  einzelnen  Falle  das  Förderliche  oder  das  Hemmende  sein 
wird :  die  Billigung  aber  und  die  Mißbilligung,  welche  das  eine  und 
das  andere  erfährt,  ist  aus  dieser  Überlegung  allein  nicht  zu  erklären, 
sondern  hat  ihren  Grund  lediglich  in  jenen  sympathischen  Gefühlen. 
Die  ursprünglichste  moralische  Tätigkeit  ist  somit  nach  Hume 
diese  Beurteilung  der  Eigenschaften  anderer  Menschen  vom  Stand- 


Ethik.  355 

punkte  der  Sympathie,  und  erst  daraus  ergibt  sich  rückwärts  auch 
eine  Beurteilung  unserer  eigenen  Tätigkeiten  und  Gesinnungen, 
die  denselben  Gesichtspunkt  des  fremden  Wohles  zu  ihrer  Richt- 
schnur nimmt.  Wenn  wir  unter  unseren  eigenen  Handlungen  die- 
jenigen zu  mißbilligen  anfangen,  welche  fremdes  Wohl  zu  hemmen 
oder  zu  stören  geeignet  sind,  so  geschieht  das  nur,  weil  wir  durch 
die  sympathischen  Gefühle  gelernt  haben,  das  fremde  Wohl  als 
einen  Gegenstand  zu  billigender  Bestrebungen  anzusehen.  Das  Ge- 
wissen  also,  das  uns  über  den  moralischen  Wert  unserer  eigenen 
Tätigkeiten  belehrt,  ist  nichts  ursprünglich  im  Individuum  Ge- 
gebenes, sondern  vielmehr  ein  Produkt  der  in  dem  geselligen  Zu- 
sammensein entspringenden  sympathischen  Gefühle.  Damit  ist  der 
Standpunkt  der  moralischen  Beurteilung  aus  dem  Individuum  in 
die  Gesellschaft,  aus  dem  Gewissen  in  die  gegenseitige  Beobachtung 
und  Beurteilung  verlegt;  aber  die  Gesellschaft  erscheint  dabei  nicht 
als  äußere  Macht  und  Autorität,  wie  bei  Hobbes  und  Locke,  sondern 
als  ein  gemeinsames  inneres,  seelisches  Leben.  Hierin  besteht  das 
Eigentümliche  der  Humeschen  Ethik,  deren  Untersuchungen  sich 
somit  auf  die  Betrachtung  der  geselligen  Tugenden  zusammen- 
drängen. Als  den  Grundbegriff  bezeichnete  Hume  hier  die  Gerechtig- 
keit, die  er  dahin  bestimmt,  daß  für  gerecht  auf  dem  Standpunkte 
der  Gesellschaft  alle  diejenigen  Handlungen  und  Gesinnungen  an- 
gesehen werden,  welche  das  Wohl  des  Ganzen  befördern:  nur  in 
dieser  Beziehung  und  Beschränkung  kann  Hume  sich  die  Prinzipien 
des  englischen  Utilismus  zu  eigen  machen.  Nicht  auf  dem  indivi- 
dualistischen Wege  der  Umsetzung  egoistischer  Gefühle  in  ver- 
standesmäßig erkannte  Mittel  erklärt  er  den  Zusammenhang  des 
Altruismus  mit  dem  Eigenwillen  des  auf  sich  gestellten  Menschen, 
sondern  aus  dem  Gesamtleben  der  Gesellschaft,  als  deren  Glied 
das  Individuum  von  vornherein  nur  existiert. 

Auch  hierbei  gilt  nun  dasselbe  Prinzip,  daß  zwar  allein  die  Ver- 
,nunft  uns  belehren  kann,  welche  Handlungen  und  Gesinnungen 
der  Gesellschaft  nützlich  sind,  daß  aber  unsere  Billigung  und  die 
eigene  Ausführung  dieses  Nützlichen,  selbst  wo  es  unserer  Selbst- 
liebe indifferent  oder  entgegen  ist,  sich  lediglich  aus  den  sympa- 
thischen Gefühlen  begreift,  in  denen  wir  das  Wohl  der  Gesellschaft 
zu  einem  Gegenstande  unserer  Wünsche  machen.  Was  jedoch 
nützlich  ist,  hängt  jedesmal  von  den  besonderen  Bedingungen  des 

23* 


356  Adam  Smith. 

geselligen  Zusammenlebens  ab.  Deshalb  gibt  es  nach  Humes  Mei- 
nung auch  kein  abstraktes  und  allgemeingültiges "  Gerechtigkeits- 
gefühl, deshalb  auch  kein  abstraktes  und  in  allen  Fällen  a  priori 
gültiges  Recht.  Aus  diesem  Grunde  wendet  sich  Hume  ggggn  die 
Vertragstheorie,  die  aus  allgemeinen  Überlegungen  heraus  ein  all- 
gemeines Natur-  oder  Vernunftrecht  konstruieren  zu  können  und 
den  Staat  aus  einem  solchen  willkürlichen  Vertrage  erklären  zu 
sollen  meinte.  Die  Gesellschaft  ist  früher  als  der  Staat.  In  ihren 
besonderen  Verhältnissen  erwachsen  mit  ihren  Bedürfnissen  die 
einzelnen  Bestimmungen  ihres  Gerechtigkeitsgefühls,  und  daraus 
entsteht  im  notwendigen  Verlaufe  der  gesellschaftlichen  Gewohnheit 
die  besondere  Form,  welche  sie  sich  jedesmal  im  Staate  gibt.  Auch 
hierin  steht  Hume  riesengroß  über  dem  Zeitalter  der  Revolution. 
Von  jenem  Wahn,  daß  man  aus  abstrakten  Überlegungen  und 
durch  einen  willkürlichen  Vertrag  einen  Staat  machen  könne,  ist 
der  große  Historiker  weit  entfernt.  Wie  er  dem  Deismus  gegen- 
über begriff,  daß  man  Religionen  nicht  macht,  sondern  daß  sie  mit 
Notwendigkeit  aus  dem  menschlichen  Geiste  entstehen,  so  weiß  er, 
daß  die  Staaten  in  der  Geschichte  wurzeln  und  daß  das  Recht  aus 
der  Gesellschaft  emporwächst. 

Wenn  somit  Hume  den  Schwerpunkt  der  Ethik  und  der  Politik 
gleichmäßig  in  den  Begriff  der  Gesellschaft  verlegte,  so  ging  er  in 
dieser  Beziehung  Hand  in  Hand  mit  einem  intimen  Freunde.  Adam 
Smith  (1733 — 1790)  hat  das  Prinzip  der  Sympathie  und  der  ge- 
sellschaftlichen Moral  im  XVIII.  Jahrhundert  am  vollkommensten 
zum  Ausdruck  gebracht.  Wir  wissen  angesichts  des  freundschaft- 
lichen Verkehrs  beider  Männer  nicht,  wieviel  von  den  ihnen  ge- 
meinschaftlichen Anschauungen  auf  den  einen  oder  den  andern 
zurückzuführen  ist.  Wir  können  nur  feststellen,  daß  in  Smiths 
umfassender  »Theorie  der  moralischen  Gefühle«  (London  1759)  der 
Humesche  Grundgedanke  mit  systematischer  Allseitigkeit  und  teil- 
weise mit  feiner  Berichtigung  durchgeführt  worden  ist.  Vor  allem 
wird  dabei  mit  Ausbildung  der  Butlerschen  Theorie  der  reflexiven 
Affekte  der  Ursprung  des  moralischen  Urteils  wesentlich  auf  die 
Billigung  oder  Mißbilligung,  womit  der  Mensch  vermöge  der  Sym- 
pathie die  Tätigkeiten  des  Nebenmenschen  beurteilt,  und  das  Ge- 
rechtigkeitsgefühl auf  einen  Grundtrieb  der  gesellschaftlichen  Aus- 
gleichung zurückgeführt.    Dieser  Begriff  der  gesellschaftlichen  Aus- 


Die  Schotten.  357 

gleichung  spielt  aber  auch  die  Hauptrolle  in  dem  berühmten  Werke 
»Über  das  Wesen  und  die  Ursachen  des  Nationalreichtums«  (1766), 
durch  welches  Srnith  die  Nationalökonomie  zu  einer  selbständigen 
Wissenschaft  machte.  Zwar  scheint  es,  als  ob  das  eine  dieser  Werke 
den  Menschen  nur  von  dem  Hobbes  entlehnten  Standpunkte  des 
Selbsterhaltungstriebes  und  das  Leben  der  Gesellschaft  nur  als  das 
bellum  omnium  contra  omnes  betrachte,  das  andere  dagegen  in 
der  Sympathie  eine  beinahe  entgegengesetzte  Grundauffassung  ver- 
rate: allein  wenn  die  Moralphilosophie  bei  Smith  die  innerliche 
Ausgleichung  der  egoistischen  Triebe  durch  das  Gefühl  der  Sym- 
pathie zum  Gegenstände  hat,  so  entwickelt  das  nationalökonomische 
Werk  die  äußerliche  und  naturnotwendige  Ausgleichung,  weiche 
der  Mechanismus  des  Lebens  zwischen  ihnen  vollzieht,  und  trotz 
der  scheinbaren  Differenz  ist  der  gemeinschaftliche  Grundgedanke 
beider  Schriften  der,  daß  die  natürliche  Sozialität  die  Wurzel  wie 
der  Zivilisation,  so  auch  der  Moral  ist.  Die  Theorien  von  Hume  und 
Smith  bezeichnen  in  der  Geschichte  der  menschlichen  Gesellschaft 
denjenigen  Moment,  wo  sie  zur  vollen  und  klaren  Erkenntnis  ihres 
Kulturwertes  gelangt.  Sie  lehren  das  gesellschaftliche  Leben  als 
einen  großen  Mechanismus  begreifen,  aber  sie  zeigen,  daß  eben 
dieser  Mechanismus  zu  seinen  notwendigen  und  in  seinem  Wesen 
angelegten  Ergebnissen  die  äußere  und  die  innerliche  Kultur,  die 
Zivilisation  und  die  Sittlichkeit  hat. 

§  35.    Die  schottische  Philosophie. 

Den  meisten  Widerspruch  fand  die  Lehre  David  Humes  gerade 
bei  seinen  Landsleuten,  die  während  der  zweiten  Hälfte  des 
XVIII.  Jahrhunderts  mit  großer  Lebhaftigkeit  in  die  philosophische 
Bewegung  eintraten.  Doch  entspricht  dieser  Lebhaftigkeit,  der 
Anzahl  der  Vertreter  und  dem  Umfange  der  Schriften,  welche  diese 
schottische  Schule  aufzuweisen  hat,  durchaus  nicht  eine  ähnliche 
Originalität  oder  Tiefe  ihres  Denkens.  Sie  haben  sich  vielmehr 
wesentlich  darauf  beschränkt,  den  in  der  Moralphilosophie  durch 
Shaftesbury  angebahnten  und  von  Hutcheson  in  prinzipieller  Klar- 
heit ausgesprochenen  Standpunkt  eines^irsprünglichen  Beurteilungs- 
vermögens für  das  Rechte>auf  andere  Gebiete  auszudehnen  und  in 
einer  breiten  Anlage  der  empirischen  Psychologie  durchzuführen. 
Sie  beweisen  ihre  Abkunft  von  der  englischen  Philosophie  durch 


/# 


358  Home,  Gerard. 

den  psychologischen  Charakter,  den  sie  allen  philosophischen 
Untersuchungen  aufprägen;  aber  sie  treten  aus  dem  Hauptzuge 
jener  Entwicklung  mit  der  Annahme  heraus,  daß  die  menschliche 
Seele  von  vornherein  eine  Fülle  ursprünglicher  Erkenntnisse  in  sich 
besitze,  die  es  nur  herauszustellen  gelte. 

Die  Vermittlung  für  die  allgemeinere  Anwendung  dieses  Prinzips 
lag  in  der  ästhetischen  Analogie,  welche  Shaftesbury  und  Hutcheson 
für  die  moralische  Beurteilung  in  Anspruch  genommen  hatten.  So 
waren  es  zunächst  eine  Reihe  von  Ästhetikern,  welche  der  An- 
nahme ursprünglicher  Beurteilungs vermögen  der  menschlichen  Seele 
zunächst  für  das  Gute  oder  Schlechte  und  das  Schöne  oder  Häßliche 
allgemeinere  Anerkennung  verschafften.  Unter  ihnen  ist  haupt- 
sächlich IJenry  Home  (Lord  Kaimes)  zu  nennen,  dessen  Schriften 
(besonders  Elements  of  criticism,  1762)  eine  entschiedene  Abhängig- 
keit von  Shaftesbury  verraten,  und  der  sich  der  deistischen  Moral- 
und  Religionsphilosophie  mit  anmutiger  Darstellung  anschloß.  Er 
hat  manche  feinsinnige  Bemerkungen  zur  Analyse  der  ästhetischen 
Gefühle  und  auch  zur  Lehre  von  der  Verschiedenheit  der  einzelnen 
Kunstgattungen  beigebracht.  Wie  seine  Ausführungen  sich  wesent- 
lich aus  den  Bedürfnissen  literarischer  und  künstlerischer  Kritik 
entwickelten,  so  gilt  das  gleiche  auch  von  den  weit  über  die  Grenzen 
Englands  hinaus  viel  gelesenen  Untersuchungen  von  Alexander 
Gerard  (On  genius,  1776),  der  das  Vermögen  der  ästhetischen 
Produktion  psychologisch  zu  bestimmen  suchte  und  dabei  im  Sinne 
der  literarischen  Zeitströmung  hauptsächlich  auf  die  Ursprünglich- 
keit des  Genies  aufmerksam  machte.  Nicht  minder  wirkungsvoll 
endlich  war  auf  diesem  Gebiete  Edmund  Burke  (1729 — 1797), 
der,  ehe  er  zu  seiner  ausgebreiteten  staatsmännischen  und  publi- 
zistischen Tätigkeit  überging,  in  seinem:  »Philosophical  enquiry 
into  the  origin  of  our  ideas  of  the  sublime  and  the  beautif ul «  (London 
1756)  eine  grundlegende  Untersuchung  zur  Psychologie  des  ästhe- 
tischen Lebens  entwarf.  Er  wendete  dabei  in  ausgedehntem  Maße 
die  Prinzipien  der  Assoziationspsychologie  an  und  suchte  die  ele- 
mentaren Gefühle  auf,  die  sich  in  verfeinerter  und  umgebildeter 
Form  als  die  ästhetischen  Zustände  darstellen.  Indem  er  dabei 
von  dem  so  vielfach  erörterten  Gegensatze  der  altruistischen  und 
der  egoistischen  Triebe  ausging,  gelangte  er  zu  dem  für  die  Folgezeit 
äußerst  wichtigen  und  einflußreichen  Ergebnis,  daß  er  neben  dem 


Burke.  359 


Schönen  das  Erhabene  als  eine  eigene,  zweite  Art  des  ästhetischen 
Verhaltens  erkannte:  er  dachte  die  Auffassung  des  Schönen  durch 
die  Gattungsgefühle,  durch  Liebe  und  Wohlwollen,  die  des  Erhabenen 
durch  die  individuellen  Gefühle  von  Furcht  und  Schrecken  bestimmt : 
dabei  aber  fand  er  den  Unterschied  zwischen  den  ästhetischen 
Zuständen  und  diesen  ihren  elementaren  Grundgefühlen  darin,  daß 
im  Anschauen  des  Schönen  und  Erhabenen  nicht  das  unmittel- 
bare persönliche  Erlebnis,  sondern  nur  die  Vorstellung  seiner 
Möglichkeit  die  Gefühle  auslöst.  Die  Wut  des  stürmenden  Meeres 
in  eigener  Gefahr  zu  erleben,  ist  schrecklich,  —  sie  anzuschauen 
ist  erhaben.  Das  ist  ein  Element  der  ästhetischen  Lehre,  das  auch 
in  Kant  fortgewirkt  hat. 

Im  allgemeinen  jedoch  rückten  die  ästhetisch- moralischen  Unter- 
suchungen der  Engländer  gerade  deshalb  nicht  vorwärts,  weil  sie 
sich  mit  der  Annahme  der  Geschmacks  als  eines  ursprünglichen, 
nicht  weiter  abzuleitenden  Beurteilungsvermögens  begnügten.  Hatte 
man  nun  so  einen  ästhetischen,  einen  moralischen,  einen  religiösen 
»Sinn«  in  der  menschlichen  Seele  statuiert,  so  lag  es  nahe,  dasselbe 
Prinzip  auch  auf  das  erkenntnistheoretische  Gebiet  auszudehnen. 
Denn  die  Prädikate  »wahr «  und  »falsch  «  enthalten  in  der  Tat  Akte 
der  Billigung  und  Mißbilligung,  ebenso  wie  diejenigen  von  »gut« 
und  »schlecht«  oder  »schön«  und  »häßlich«,  und  setzen  deshalb, 
so  wie  die  letzteren,  ein  Beurteilungsprinzip  voraus.  Hat  man 
dies  auf  dem  einen  Gebiet  in  einem  ursprünglichen  und  nicht  weiter 
ableitbaren  Geschmacke  gesucht,  so  muß  es  schließlich  auch  auf 
dem  andern  geschehen.  Und  aus  einer  solchen  Übertragung  ent- 
sprang die  schottische  Philosophie  oder  die  sogenannte  Common- 
sense  -  Lehre. 

Ihr  Hauptvertreter  ist  Thomas  Reid.  Er  wurde1  1710  zu 
Strachan  geboren  und  genoß  semeBndungm  Aberdeen.  Seit  1752 
war  er  an  dieser,  von  1764 — 1780  an  der  Glasgower  Universität  als 
Professor  tätig  und  starb  in  der  Zurückgezogenheit  1796.  Seine 
Lehre  ist  im  wesentlichen  in  dem  »Inquiry  into  the  human  mind 
on  the  principles  of  common-sense «  (Edinburgh  1764)  niedergelegt 
und  in  seinen  späteren  »Essays«  nur  mit  größerer  Ausführlichkeit 
entwickelt.  Sie  geht  von  einer  durchgängigen  Bekämpfung  des 
großen  Ganges  aus,  welchen  die  englische  Philosophie  von  Locke 
zu  Berkeley  und  Hume  genommen  hatte.     Sie  erkennt  an,  daß  die 


360  Reid. 

letzteren  Männer  vollkommen  richtige  Konsequenzen  aus  den 
Prämissen  Lockes  gezogen  haben.  Aber  sowohl  die  Leugnung  der 
materiellen  Welt,  zu  welcher  der  eine,  als  auch  die  Bestreitung  der 
Erkenntnis  von  Substantialität  und  Kausalität,  wozu  der  andere 
gekommen  sei,  erscheinen  Reid  so  absurd,  daß  er  dadurch  jene 
Prämissen  für  vollständig  widerlegt  und  diese  idealistischen  und 
skeptischen  Folgerungen  für  einen  apagogischen  Beweis  gegen  die 
Richtigkeit  der  Lockeschen  Voraussetzungen  hält.  Die  letzteren 
aber  konzentrieren  sich  in  der  Annahme,  daß  die  Seele  eine  tabula 
rasa  sei,  auf  die  erst  die  Erfahrung  ihre  Züge  schreibe,  und  welche 
von  vornherein  keinen  selbständigen  Besitz  habe.  Am  meisten 
bekämpft  daher  Reid  und  nach  ihm  die  ganze  Schule  die  Methode 
der  Assoziationspsychologie,  die,  auf  jener  Voraussetzung  beruhend, 
den  Mechanismus  klar  machen  will,  wodurch  aus  den  einfachen 
Elementen  die  komplizierten  Gebilde  unserer  inneren  Erfahrung 
entstehen.  In  der  Tat  liegt  hier  eine  Prinzipienfrage  ersten  Ranges 
vor,  und  Reid  berührte  den  Kern  der  Sache,  wenn  er  darauf  auf- 
merksam machte,  daß  jene  Grundvoraussetzung  der  Assoziations- 
psychologie erst  noch  einer  Prüfung  bedürfe.  Das  freilich  sei  nicht 
zu  leugnen,  daß  wir  in  unseren  Urteilen  Vorstellungsverknüpfungen 
mannigfachen  Inhaltes  vorfinden  und  diese  in  ihre  Bestandteile  zu 
zerlegen  vermögen;  aber  damit  sei  noch  nicht  erwiesen,  daß  die 
einfachen  Elemente,  auf  welche  man  bei  der  Analyse  stößt,  auch  die 
ursprünglichen  seien,  aus  denen  sich  die  komplizierten  erst  zusammen- 
gesetzt haben.  Diese  Annahme  habe  die  Assoziationspsychologie 
gemacht,  ohne  ihre  Allgemeingültigkeit  zu  erweisen.  Gewiß  lasse 
sich  feststellen,  daß  in  manchen  Fällen  die  komplizierteren  Vor- 
stellungen und  namentlich  die  besonderen  Urteile  z.B.  der  Erfahrung 
aus  den  einfachen  Bestandteilen,  in  die  man  sie  zerlegen  kann, 
auch  wirklich  hervorgegangen  sind.  Aber  damit  sei  noch  nicht 
erwiesen,  daß  das  immer  so  der  Fall  sei :  es  bleibe  vielmehr  denkbar, 
daß  es  andere  Urteile  gebe,  die  mit  der  ganzen  Mannigfaltigkeit 
ihres  Inhaltes  ursprünglich  in  uns  entstehen  und  deren  künstliche 
Zerlegung  deshalb  keine  Erkenntnis  ihrer  Genesis  zu  sein  bean- 
spruchen darf.  Dies  ist  der  einzig  originelle  Grundgedanke,  auf 
dem  Reid  seine  Lehre  aufgebaut  hat.  Wenn  es  danach  denkbar  er- 
scheint, daß  in  der  Seele  ursprüngliche  Urteile  vorhanden  sind,  so 
glaubt  Reid  in  der  Tatsache  des  moralischen  Gefühls,  die  er  durch 


Common-sense.  361 

Hutcheson  für  festgestellt  erachtet,  und  des  ästhetischen  Geschmacks, 
dem  man  allgemein  denselben  Wert  zuschreibt,  den  Beweis  für  die 
Realität  solcher  ursprünglichen  Urteile  gefunden  zu  haben.  Ist 
aber  so  Lockes  Voraussetzung  von  der  tabula  rasa  gefallen,  so  liegt 
auch  kein  Grund  vor,  sie  für  die  Erklärung  und  Beurteilung  des 
Erkenntnisprozesses  aufrecht  zu  erhalten.  Wie  man  vielmehr  ohne 
die  Annahme  eines  ursprünglichen  Beurteilungsvermögens  nicht  zur 
sicheren  Begründung  der  Moral  kommt,  so  wird  man  auch  nach 
Reids  Meinung  keine  sichere  Erkenntnistheorie  finden,  wenn  man 
nicht  die  ursprünglichen  Urteile  aufsucht,  nach  denen  wir  Wahres 
und  Falsches  in  derselben  Weise,  wie  auf  dem  anderen  Gebiete 
Gutes  und  Böses  voneinander  unterscheiden. 

Es  handelt  sich  deshalb  für  Reid  nur  um  die  Aufsuchung  und 
Feststellung  dieser  ursprünglichen  Urteile,  und  diese  kann  nicht 
anders  erfolgen,  als  durch  die  innere  Erfahrung;  denn  sie  bilden 
die  Grundtatsachen  des  Bewußtseins  und  damit  den  Inhalt  des 
»gesunden  Menschenverstandes«  —  des  »Common-sense«.  Mit 
diesem  Ausdrucke  bezeichnet  Reid  selbst  die  Grenze  seiner  philo- 
sophischen Untersuchung:  er  begnügt  sich  damit,  die  Voraus- 
setzungen festzustellen,  welche  der  Mensch,  und  zwar  der  Durch- 
schnittsmensch, vermöge  der  natürlichen  Einrichtung  seiner  Vor- 
stellungstätigkeit —  stamme  diese  nun,  woher  man  wolle  —  über  den 
Zusammenhang  der  Dinge  macht  und  aller  seiner  Erkenntnistätigkeit 
zugrunde  legt.  Es  fällt  Reid  nicht  ein,  sich  diesen  gegenüber  kritisch 
zu  verhalten  und  etwa  zu  fragen,  ob  diese  Urteile  nicht  ebenso 
viele  Vorurteile  sind;  sondern  er  betrachtet  sie  als  Instinkte  des 
Denkens,  an  deren  Richtigkeit  man  ohne  weitere  Prüfung  einfach 
glauben  müsse,  wenn  man  überhaupt  irgendwie  mit  der  Tätigkeit 
les  Erkennens  sich  abgeben  wolle.  Es  ist  klar,  daß  es  von  diesem 
Standpunkt  aus  ebenso  leicht  wie  kurzsichtig  war,  die  tiefsinnigen 
Untersuchungen  eines  Berkeley  und  eines  Hume  mit  einem  Schlage 
über  den  Haufen  zu  werfen.  Gehört  es  doch  in  erster  Linie  zu  den 
[nstinkten''  dieses  t  gesunden  Menschenverstandes',  an  die  Existenz 
iiner  materiellen  Welt,  sowie  daran,  daß  ihre  Substanzen  sich  in 
causalen  Bezieh ungen  zueinander  befinden,  zu  glauben:  was  soll 
la  noch  der  ganze  Aufwand  von  Untersuchungen  über  die  Möglich- 
keit und  Nützlichkeit  einer  solchen  Erkenntnis?  Wie  es  ursprüng- 
iche  Grundsätze  des  Handelns  gibt,  so  auch  ursprüngliche  Gesetze 


362  Reid. 

des  Denkens,  und  diese  sind  in  ihrer  ursprünglichen  Gewißheit 
unanfechtbar :  was  ihnen  widerspricht,  ist  falsch  und  absurd,  so 
geistreich  es  vorgetragen  sein  mag.  Wenn  dies  das  Ende  des  eng- 
lischen Empirismus  bedeutet,  so  heißt  es,  daß  er  seine  eigenen  Unter- 
suchungen für  unnötig  erklärt,  weil  der  gesunde  Menschenverstand, 
dies  bequeme  Ruhekissen  der  Forschung,  schon  vorher  sich  im  Be- 
sitze aller  Wahrheit  befindet.  Die  Probleme  werden  hier  nicht  gelöst, 
sondern  einfach  beiseite  geschoben,  und  das  gewaltige  Ringen  Humes 
erscheint  als  eine  Kaprice.  Es  zeugt  von  einer  entschiedenen  Er- 
schlaffung des  philosophischen  Denkens,  daß  diese  Ansicht  ein 
halbes  Jahrhundert  in  der  Nation,  aus  der  Hume  hervorgegangen 
war,  eine  fast  unumschränkte  Herrschaft  ausüben  konnte. 

Doch  wäre  es  ungerecht,  die  Förderungen  zu  vergessen,  welche 
die  Wissenschaft  trotzdem  der  schottischen  Schule  zu  verdanken 
hat.  Auch  in  ihr  herrschte  schließlich  der  Geist  Bacons  und  Lockes, 
so  sehr  sie  sich  namentlich  gegen  den  letzteren  sträubte.  Denn 
die  Art  und  Weise,  wie  Reid  zu  der  Erkenntnis  jener  ursprünglichen 
Urteile  zu  gelangen  hoffte,  war  wesentlich  durch  das  Prinzip  des 
Empirismus  bedingt.  Die  ursprünglichen  Tatsachen  des  Bewußt- 
seins können  nur  aus  der  Erfahrung  gewonnen  werden.  Deshalb 
erklärt  Reid  die  Selbstbeobachtung  für  die  Methode  der  Philosophie 
und  sucht  damit  die  letztere  gänzlich  auf  den  Standpunkt  der 
empirischen  Psychologie  zurückzuführen.  Aber  weit  davon  ent- 
fernt, im  Sinne  der  Assoziationspsychologie  die  physiologischen  Ver- 
mittlungen des  seelischen  Lebens  aufzusuchen,  will  er  vielmehr  die 
Psychologie  zu  einer  selbständigen  Wissenschaft  erheben,  indem  er 
sie  lediglich  auf  innere  Erfahrung  und  Beobachtung  gründet.  Hier 
gewinnt  Lockes  Begriff  der  Reflexion  eine  methodische  Bedeutung. 
Reid  ist  sich  vollkommen  bewußt,  daß  seine  Untersuchungen  ein 
Gegenstück  zur  Naturwissenschaft  bilden  sollen,  und  daß  sie  sich, 
ebenso  wie  die  Naturwissenschaft  auf  sinnliche  Wahrnehmung  und 
Beobachtung,  so  ihrerseits  auf  innere  Wahrnehmung  und  Beob- 
achtung stützen  sollen.  Er  wendet  daher  lediglich  die  Methode  dei 
Induktion  an  und  sucht  aus  einer  umfassenden  und  sorgfältigen 
Beobachtung  der  seelischen  Tatsachen  durch  Aufzählung,  Zer- 
gliederung und  Verallgemeinerung  zu  jenen  ursprünglichen  Urteilen 
aufzusteigen,  welche  den  Besitzstand  des  gesunden  Menschen- 
verstandes bilden.    Er  und  seine  Schule  haben  auf  diese  Weise  für 


Psychologie.  363 

die  Förderung  der  empirischen  Psychologie,  ganz  wie  es  Bacon 
verlangt  hatte,  zahlreiche  und  wertvolle  Beiträge  geliefert.  Auch  das 
ist  hervorzuheben,  daß  er  von  vornherein  davon  Abstand  nahm, 
zu  einem  zentralen  Satze  zu  gelangen,  der  etwa  den  ganzen  Inhalt 
dieses  »Common-sense «  unter  sich  enthalten  könnte,  sondern  sich 
vielmehr  in  echt  empiristischer  Weise  damit  begnügte,  die  Tatsachen 
festzustellen,  die  er  für  nicht  weiter  ableitbar  hielt,  wie  er  denn  z.  B. 
zwölf  Grundsätze  aufstellte,  welche  die  Richtschnur  der  Erkenntnis- 
tätigkeit  enthalten  sollten.  Freilich  blieb  er  damit  weit  hinter  einer 
wirklich  systematischen  Auffassung  zurück;  freilich  vermochten 
weder  er  noch  seine  Schule  den  Mangel  einer  physiologischen  Grund- 
lage für  die  Psychologie  auch  nur  im  entferntesten  zu  ersetzen: 
aber  ihre  Bestrebungen  bildeten  auf  der  anderen  Seite  ein  wert- 
volles Gegengewicht  gegen  die  Versuche  der  französischen  Psycho- 
logen, die  Wissenschaft  des  Seelenlebens  lediglich  zu  einem  Zweige 
der  äußsren  Naturwissenschaft  zu  machen  und  sie  gänzlich  in 
die  Xervenphysiologie  aufzulösen,  und  sie  haben  in  ihren  ein- 
gehenden Analysen  wichtige  Vorarbeiten  für  die  Psychologie  der 
Zukunft  geschaffen. 

Von  den  weiteren  Vertretern  dieser  Richtung  ist  hier  wenig  zu 
bemerken.  Sie  war  überhaupt  nicht  auf  die  Entwicklung  bedeuten- 
der Prinzipien  angelegt,  sondern  mehr  auf  eine  behagliche  Ausbrei- 
tung in  die  Mannigfaltigkeit  der  psychischen  Tatsachen.  Es  ist 
daher  eingetroffen,  was  schon  Priestley  in  seiner  ersten  Schrift, 
mit  der  er  zwischen  den  Schotten  und  Hume  zugunsten  des  letzteren 
Stellung  nahm,  weissagte,  daß  nämlich  diese  Schule  es  zu  keinen 
bedeutenden  Leistungen  bringen  werde,  und  daß  die  Berufung  auf 
den  gesunden  Menschenverstand  einer  kritiklosen  Gewohnheit  in 
die  Hände  arbeite.  Ohne  die  Aussagen  des  gemeinen  Denkens  zu 
prüfen,  nahm  man  sie  als  unmittelbare  Wahrheit  und  schob  damit 
gerade  die  schwierigsten  Probleme  ungelöst  zurück,  indem  man  das, 
was  sich  nicht  weiter  erklären  ließ,  für  eine  Tatsache  des  gesunden 
Menschenverstandes  ansah.  Anderseits  aber  vervollständigte  man 
die  Untersuchungen  Reids,  dessen  prinzipieller  Standpunkt  nicht 
überschritten  wurde,  durch  umfangreiche,  zum  Teil  geschmackvolle 
Ausführungen  und  durch  feinsinnige  allgemeine  Beobachtungen. 
Nach  der  moralphilosophischen  Seite  suchte  in  dieser  Weise  Adam 


364  Schottische  Schule. 

Ferguson  (1724 — 1816)  das  Gesetz  der  aufsteigenden  geistigen 
Vervollkommnung  des  Menschen  als  das  Prinzip  des  sittlichen  Lebens 
aufzuweisen.  In  der  Ästhetik  arbeitete  James  Beattie  (1735 
bis  1803)  an  einer  systematischen  Ausbildung  des  Prinzips  des  ge- 
sunden Menschenverstandes  für  die  Theorie  der  Kunst.  In  er- 
kenntnistheoretischer und  religionsphilosophischer  Hinsicht  suchte 
James  Oswald  (gest.  1793)  den  Meister  womöglich  durch  die  Be- 
schränkung auf  die  Trivialität  des  gewöhnlichen  Denkens  noch  zu 
überbieten,  und  in  allseitiger  Zusammenfassung  dieser  Bestrebungen 
ist  Dugald  Stewart  (1753 — 1828)  als  der  akademische  Träger 
dieser  Schulmeinung  zu  betrachten,  für  die  er  eine  kritischere  und 
systematischere  Gestalt  zu  finden  suchte.  Durch  ihn  und  seine 
zahlreichen  Schüler  haben  sich  dann  diese  Gedanken  in  die  ersten 
Jahrzehnte  des  XIX.  Jahrhunderts  hinein  verbreitet. 


Mit  den  Lehren  der  schottischen  Schule  verläuft  die  Bewegung 
der  englischen  Philosophie.  Die  Rückkehr  zum  gesunden  Menschen- 
verstände enthielt  die  Aufgebung  ihrer  spekulativen  Energie  und 
war  der  Ausdruck  ihrer  erkenntnistheoretischen  Erschöpfung.  Die 
Gedanken  Bacons  und  Lockes  hatten  in  ihr  eine  allseitige  Aus- 
bildung gefunden,  und  nachdem  sie  in  Hume  sich  zu  ihrer  größten 
Leistung  zusammengefaßt  hatte,  war  ihre  Mission  erfüllt.  Die  zahl- 
reichen Gedankenkeime  aber,  welche  sie  erzeugt,  hatten  inzwischen 
schon  einen  fruchtbaren  Boden  ihrer  weiteren  Entwicklung  gefunden 
in  Frankreich  und  in  Deutschland. 


VI.  Kapitel. 

Die  französische  Aufklärung. 

Die  Geschichte  des  französischen  Denkens  im  Zeitalter  der  Auf- 
klärung zeigt  ein  Bild  von  reichster  Mannigfaltigkeit  und  einer  so 
lebendigen  Entwicklung,  daß  sie  sich  schließlich  in  der  Mitte  des 
XVIII.  Jahrhunderts  gewissermaßen  Schlag  auf  Schlag  drängt.  Es 
ist  in  ihr  ein  stetiger  und  in  der  einmal  begonnenen  Richtung  not- 
wendiger Fortschritt  klar  zu  erkennen,  und  indem  dieser  beinahe 


Französische  Aufklärung.  365 

von  Jahr  zu  Jahr  und  von  Werk  zu  Werk  immer  energischer  vor- 
dringt, führt  er  schließlich  zu  einem  Ergebnis,  das  sich  der  Welt- 
anschauung des  Mittelalters  als  ein  geschlossenes  System  mit  nicht 
minder  einseitigem  Dogmatismus  entgegenstellt.  Wenn  deshalb 
in  Frankreich  die  extremsten  und  radikalsten  Konsequenzen 
der  neueren  Philosophie  gezogen  worden  sind,  so  bilden  sie  auf 
diesem  Boden  doch  durchaus  nicht  allein  gelehrte  Folgerungen  aus 
den  abstrakten  Systemen ;  sondern  der  Radikalismus,  der  sich  darin 
aussprach,  war  in  gewissem  Sinne  nur  der  Reflex  der  politischen 
und  der  sozialen  Verhältnisse.  Die  französische  Philosophie 
und  ihre  Aufklärung  enthielt  ein  wesentliches  Moment,  das  der  eng- 
lischen nicht  zu  ihrem  Schaden  fehlte:  sie  war  agitatorisch,  sie 
wurde  stets  in  die  lebendigste  Beziehung  mit  den  Problemen  des 
öffentlichen  Lebens  gebracht,  und  je  schärfer  sich  mit  der  Zeit  die 
Gegensätze  des  letzteren  zuspitzten,  um  so  radikaler  wurden  auch 
die  Theorien,  mit  denen  die  Wissenschaft  darin  einzugreifen  suchte, 
bis  schließlich  unmittelbar  vor  dem  wirklichen  Ausbruch  des  Völ- 
kersturmes die  Philosophie  nach  allen  Seiten  hin  das  gefährliche 
Wort  aussprach,  welches  ihn  weissagte.  In  der  französischen  Revo- 
lution konzentrieren  sich  die  negativen  Elemente,  die  bereits  dem 
Ringen  der  Renaissance  zugrunde  lagen.  Die  neue  politische  und 
soziale  Ordnung,  welche  sie  anstrebte,  war  mit  vollem  Bewußtsein 
der  äußerste  Gegensatz  gegen  den  von  der  Kirche  beherrschten 
Zustand  der  mittelalterlichen  Gesellschaft,  und  auch  die  französische 
Aufklärungsphilosophie  entwickelte  sich  wesentlich  in  der  polemi- 
schen Tendenz  gegen  diejenige  Weltanschauung,  welche  sie  in  der 
Kirchenlehre  niedergelegt  fand.  Deshalb  ist  der  Grundcharakter 
der  französischen  Aufklärungsphilosophie  nicht  wie  derjenige  der 
englischen  die  ruhige  wissenschaftliche  Forschung,  sondern  vielmehr 
der  mehr  oder  minder  leidenschaftliche  Kampf.  Ihre  Energie  ist 
diejenige  der  Verneinung.  Während  sie  mit  rastloser  Agitation  in 
allen  Schichten  der  Gesellschaft  die  bisherigen  Vorstellungen  zu 
untergraben  suchte,  ist  sie  selbst  mit  all  ihrer  viel  verschlungenen 
Durcharbeitung  des  neuen  Wissensstoffes  nicht  zu  einem  großen 
und  originellen  Systeme  der  Philosophie  gelangt.  Und  jenes  ab- 
schließende System  des  äußersten  Materialismus,  das  sie  in  dieser 
Hinsicht  allein  noch  zu  bieten  wußte,  war  nur  eine  trockene  Re- 
produktion langbestehender  Gedanken. 


366  Französische  Aufklärung. 

Auf  diese  Weise  wurzelt  die  französische  Aufklärung  noch  viel 
tiefer  in  dem  historischen  Leben  der  Nation,  als  es  bei  den  Eng- 
ländern der  Fall  war.  Zwar  spielt,  dem  allgemeinen  Charakter  der 
Zeit  gemäß,  auch  deren  philosophische  Abklärung  sich  in  den 
aristokratischen  Zirkeln,  in  den  Pariser  Salons  ab.  Aber  ihre  Denker 
fassen  mit  wenigen  Ausnahmen  die  wissenschaftliche  Erkenntnis 
nicht  als  ein  exklusives  Vorrecht  auf;  sondern  mit  jenem  demo- 
kratischen Bewußtsein,  das  die  absolute  Monarchie  erzogen 
hatte  und  das  tief  in  das  Wesen  des  französischen  Volkes  eingedrun- 
gen ist,  predigten  sie  ihre  Gedanken  dem  Volke  und  warfen  diese 
als  zündende  Ideen  mitten  in  die  Bewegung  hinein,  welche  bereits 
den  Boden  der  Gesellschaft  zu  unterwühlen  begonnen  hatte.  Oft 
ohne  selbst  die  Tragweite  ihres  Wortes  zu  ahnen  oder  zu  bedenken, 
hielten  sie  es  in  allen  Fällen  für  die  erste  Pflicht  der  Wissenschaft, 
rückhaltlos  mit  ihren  Kesultaten  und  ihren  Urteilen  vor  die  Öffent- 
lichkeit zu  treten  und  an  der  Förderung  des  allgemeinen  Wohles 
mitzuarbeiten.  Diese  französischen  Denker  haben  damit  zuerst  die 
Aufgabe  der  Wissenschaft,  das  Volk  aufzuklären,  ergriffen,  ausge- 
sprochen und  an  ihrem  Teile  zu  lösen  gesucht.  In  diesem  Sinne 
sind  sie  die  wahren  Typen  des  Aufklärungszeitalters.  Auch  die 
wohlwollendsten  und  rücksichtslosesten  unter  den  englischen  Den- 
kern standen  unter  den  eigentümlichen  sozialen  Verhältnissen  ihrer 
Nation  in  dem  Grade,  daß  sie  dieser  Tendenz,  wo  sie  ihr  nicht  un- 
mittelbar entgegentraten,  doch  gewiß  nicht  absichtlich  in  die  Hände 
arbeiteten.  Es  gibt  in  dieser  Hinsicht  kaum  einen  charakteristi- 
scheren Gegensatz,  als  er  in  der  Tatsache  ausgesprochen  liegt,  daß 
Voltaire  die  Gedanken,  welche  Bolingbroke  als  ein  Geheimnis  der 
höheren  Klassen  sorgfältig  innerhalb  ihrer  Kreise  beschränkt  wissen 
wollte,  ausdrücklich  zu  popularisieren  unternahm. 

Eine  vollkommene  Geschichte  dieser  Bewegung  ist  noch  nicht 
geschrieben,  und  es  ist  überaus  schwer,  auch  nur  im  entferntesten 
eine  Darstellung  von  dem  reichen  Leben  dieser  Zeit  zu  geben.  Die 
Schwierigkeit  liegt  vor  allem  darin,  daß  die  eigentlichen  Träger 
dieser  Entwicklung  nicht  die  einzelnen  Persönlichkeiten  sind,  son- 
dern daß  sie  sich  in  der  Gesamtheit  vollzog.  Es  ist  eine  Geschichte 
mehr  der  allgemeinen  Gedanken  und  der  Bücher,  in  denen  sie  sich 
aussprechen,  als  der  Menschen,  welche  sie  schaffen.  Mehr  als  sonst 
tritt  in  dem  allgemeinen  Zuge  dieser  Entwicklung  die  Eigentümlich- 


Pariser  Gesellschaft.  367 

keit  der  Persönlichkeiten,  so  sehr  sie  an  sich  vorhanden  ist,  zurück. 
Sobald  man  es  versucht,  ein  einzelnes  dieser  Bilder  zu  zeichnen, 
sprengt  es  seinen  Rahmen  und  leitet  in  die  übrigen  hinüber;  denn 
im  Grunde  genommen  machte  jeder  dieser  Männer  die  Entwicklung 
des  Ganzen  auf  seine  eigene  Weise  in  sich  selber  durch.  Das  geistige 
Leben,  das  sie  führten,  war  ein  gemeinsames.  In  Paris  vereinigt 
und  in  stetigem  geselligen  Kontakte,  bildeten  sie  eigentlich  nur  ein 
einziges  philosophierendes  Individuum.  Die  neuen  Ge- 
danken oder  auch  nur  Gedankenkeime,  bei  dem  einen  erwachsen, 
schlugen  sogleich  in  den  übrigen  Wurzel  und  traten  dann  gleichzeitig 
oder  unmittelbar  hintereinander,  wenn  auch  in  verschiedener  Aus- 
gestaltung und  mit  verschiedener  Anwendung,  in  den  Werken  der 
einzelnen  hervor.  So  ist  es  häufig  schwierig  und  manchmal  sogar 
durchaus  unmöglich,  den  besonderen  Urheber  einzelner  Gedanken 
oder  Gedankenwendungen  genau  zu  bezeichnen.  Eine  eingehende 
Darstellung  würde  dem  eigentümlichen  Wesen  dieser  Periode  nur 
in  der  Weise  gerecht  werden  können,  daß  sie  dieselbe  wie  die  Ge- 
schichte der  geistigen  Entwicklung  eines  einzigen  Individuums, 
die  sich  bekämpfenden  Gegensätze  als  die  darin  ringenden  Ge- 
dankenmassen und  die  einzelnen  Werke  ohne  einseitige  Beziehung 
auf  ihre  Verfasser  als  die  Phasen  der  Entwicklung  dieses  einen  Indi- 
viduums behandelte. 

Wenn  es  trotzdem  möglich  erscheint,  die  Übersicht  über  diese 
Zeit  nach  üblicher  Weise  im  Anschluß  an  die  Darstellung  ihrer 
einzelnen  Denker  zu  geben,  so  beruht  dies  darauf,  daß  in  jener 
allgemeinen  Bewegung  sich  eine  Anzahl  von  Elementen  mischt, 
die  man  wenigstens  annähernd  zu  isolieren  imstande  ist,  so  daß 
die  einzelnen  Männer,  je  nachdem,  sei  es  in  ihrer  Bildung,  sei  es 
in  ihrer  Wirksamkeit,  das  eine  oder  das  andere  dieser  Elemente 
überwiegt,  nach  ihrer  größeren  oder  geringeren  Verwandtschaft  sich 
anordnen  lassen.  Es  wird  sich  also  im  folgenden  darum  handeln, 
jeden  der  einzelnen  Fäden,  aus  denen  sich  das  bunte  Gewebe  zusam- 
mensetzt, gesondert  zu  verfolgen  und  dabei  an  den  geeigneten  Stellen 
die  Punkte  aufzuweisen,  wo  sie  sich  untereinander  verschlingen. 

Diese  Elemente  sind  nun  freilich  sehr  mannigfacher  Natur.  In 
der  französischen  Gesellschaft  selbst  herrschte  zunächst  jene  skep- 
tische Grundstimmung,  die,  von  Montaigne  begonnen,  sich  der  all- 
gemeinen geistigen  Atmosphäre  mitgeteilt  hatte.    Wie  dem  Ortho- 


368  Französche  Aufklärung. 

doxismus,  so  war  sie  auf  der  anderen  Seite  auch  dem  Mystizismus 
günstig,  der  im  Anfang  hie  und  da  seine  Stimme  erhob,  aber  bald 
vor  den  lauteren  Theorien  verstummte.    Daneben  stand  der  wissen- 
schaftliche Geist  der  Franzosen  unter  dem  Zauber  der  Mathematik. 
In  ihr  lag  die  siegreiche  Kraft,  die  der  Cartesianismus  mehr  und 
mehr  ausübte;  sie  war  auch,  wie  man  sehr  richtig  gesagt  hat,  das 
Zeichen,  unter  welchem  in  Frankreich  Newtons  mechanische  Na- 
turphilosophie siegte.    Neben  diesen  autochthonen  Einflüssen  aber 
übten  diejenigen  der  gesamten   englischen   Philosophie  eine   von 
Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt  steigende  Wirkung  aus.     Seit  dem  Tode 
Ludwigs  XIV.  begann,  teilweise  infolge  der  Verschiebung  der  poli- 
tischen Verhältnisse,  ein  intensiver  Geistesverkehr  zwischen  Frank- 
reich und  England.    Die  Franzosen  vergaßen  die  Einseitigkeit,  wo- 
mit sie  sich  in  dem  Kausche  politischer  Größe  und  in  dem  Glänze 
ihrer  schönen  Literatur  während  der  Zeiten  des  großen  Königs  gegen 
das  Ausland  abgeschlossen  hatten,  und  während  ein  Jahrhundert 
vorher  Männer  wie  Bacon  und  Hobbes  ihre  Studien  in  Paris  voll- 
endet hatten,  fingen  nun  die  Franzosen  an,  in  London  zu  lernen. 
Man  darf  sagen,  daß  einzig  schon  der  Aufenthalt  Voltaires  in  Eng- 
land unermeßliche  Folgen  für  das  geistige  Leben  der  Franzosen 
gehabt  hat.    So  strömten  die  Ideen  der  Engländer  nach  Frankreich 
hinüber,  vor  allem  die  Lehre  Lockes,  der  Deismus,  die  Moralphilo- 
sophie,   die    Assoziationspsychologie,    die    Gedanken    Humes    und 
schließlich  sogar  die  Lehre  der  Schotten.    Aber  sie  alle  fanden  in 
Frankreich  eine  eigentümliche  Gestaltung.    Die  Franzosen  verhielten 
sich  in  dieser  Bewegung  nicht  nur  lernend,  sondern  sie  faßten  das 
Aufgenommene  sogleich  in  einer  bestimmten  Richtung  auf.     Bei 
der  großen  Mehrzahl  der  Engländer  war  neben  aller  Energie  des 
wissenschaftlichen  Denkens  ein  tief  religiöses  Bedürfnis  herrschend 
geblieben,  welches  direkt  oder  indirekt,  bewußt  oder  unbewußt  auf 
die  Gestalt  der  philosophischen  Lehren  zurückwirkte  und  ihnen, 
wie  dies  z.  B.  Hartley  und  Priestley  zeigen,  die  extremsten  Spitzen 
abbrach.    In  Frankreich  war  dies  Interesse  lange  nicht  in  gleichem 
Grade  vorhanden,  und  so  kam  es,  daß  hier  alle  Lehren,  zumal  unter 
dem  Einflüsse  der  sozialen  und  politischen  Tendenzen,  einen  radi- 
kaleren Charakter  annahmen.    Nimmt  man  dazu  die  durchsichtige 
Klarheit  des  französischen  Geistes,  die  in  dem  Stile  der  französischen 
Sprache  liegende  Nötigung  zu  scharfer  und  lebendiger  Formulierung 


Mystiker.  369 

der  Ansichten  und  die  Vorliebe  für  einen  frappierenden  und  anti- 
thetischen Ausdruck,  so  begreift  es  sich,  weshalb  die  in  der  engli- 
schen Philosophie  angelegten  Gedanken  in  der  französischen  Lite- 
ratur so  viel  kühner,  schroffer  und  gewaltsamer  hervorgetreten  sind, 
als  in  ihren  Originalen. 

§  36.    Der  Mystizismus. 

In  der  Ablösung  der  einzelnen  Fäden  dieser  Bewegung  scheint 
es  geraten,  mit  demjenigen  zu  beginnen,  welcher  die  geringste  Be- 
deutung darin  besitzt,  dem  schließlichen  Resultate  am  fernsten 
liegt  und,  nur  anfänglich  angesponnen,  sich  früh  verläuft.  Das 
sind  die  mystischen  Theorien,  welche,  auf  religiösem  Interesse  be- 
ruhend, aus  der  Unbefriedigung  erwuchsen,  die  man  von  diesem 
aus  der  Entwicklung  des  Cartesianismus  gegenüber  empfand.  Die 
größere  Mehrzahl  der  Cartesianer,  von  der  mathematischen  Seite 
her  für  diese  Philosophie  gewonnen,  verfolgte  den  Cartesianismus 
am  liebsten  in  die  Konsequenzen  seiner  mechanischen  Naturphilo- 
sophie. Es  war  gewissermaßen  als  eine  Reaktion  gegen  diese  Rich- 
tung zu  betrachten,  daß  Malebranche  aus  dem  Cartesianismus  selbst 
mit  Hilfe  des  Augustinismus  sich  auf  den  mystischen  Standpunkt 
zu  retten  suchte.  Aber  schon  vor  ihm  hatte  ein  großer  Mathematiker 
sich  durch  die  Intensität  seines  religiösen  Gefühls  aus  den  mathe- 
matischen  und  naturphilosophischen  Untersuchungen,  die  er  mit 
seltener  Kraft  beherrschte,  herausgedrängt  gesehen. 

Blaise  ^Pascaj^  1623  geboren  und  schon  von  seinem  zwölften 
Jahre  an  in  vollkommen  selbständiger  Weise  mit  mathematischen 
Studien  beschäftigt,  fühlte  sich  doch  von  seinen  großen  wissenschaft- 
lichen Entdeckungen  und  von  dem  Ruhme,  den  ihm  seine  »Lettres 
provinciales  «  über  den  Kreis  der  cartesianischen  Schule  hinaus  ver- 
schafft hatten,  so  wenig  befriedigt,  daß  er  mit  bewunderungswürdi- 
gem Eifer  von  seinem  20.  Lebensjahre  an  ein  asketisches  und  kontem- 
platives Leben  führte,  aus  welchem  ihn  ein  früher  Tod  1662  abrief. 
Seinen  philosophischen  Ruhm  haben  die  »Pensees  sur  la  religion« 
begründet,  die,  von  ihm  während  seines  Lebens  mehrfach  umge- 
arbeitet und  niemals  systematisch  vollendet,  erst  aus  seinen  Papieren 
1669  herausgegeben  wurden.  Sie  bilden  das  Denkmal,  zwar  nicht 
einer  philosophischen  Größe,  aber  einer  Reinheit  des  Herzens  und 
einer  Tiefe  der  Überzeugung,  wie  sie  nur  selten  in  der  Geschichte 

Windelband,  Ciesch.  d.  n.  Philos.  I.  24 


370  Pascal. 

aufgetreten  sind.  Aus  der  Einsamkeit  seiner  religiösen  Betrach- 
tungen schaut  Pascal  ruhigen  Blickes  ebenso  auf  die  bewegte  Men- 
schenwelt, aus  der  er  geschieden,  wie  auf  die  wissenschaftliche  Arbeit, 
von  der  er  sich  losgerissen,  zurück.  Wohl  erkennt  er  an,  daß  in 
beiden  ein  Schatz  von  Weisheit  enthalten  sei;  aber  für  das  Höchste, 
das  er  sucht,  genügen  sie  nicht.  Im  praktischen  Leben  gilt  es  einen 
»esprit  de  f messe«,  eine  intuitive  Klarheit  und  eine  Sicherheit  des 
geistigen  Blickes,  welche  die  Verhältnisse  der  Dinge  zu  durchdringen 
und  sich  zwischen  ihnen  zurechtzufinden  weiß.  In  der  Wissenschaft 
arbeitet  die  Vernunft  methodisch  an  der  zweifellosen  Klarlegung 
dieser  Verhältnisse,  sie  sucht  zu  beweisen,  was  jener  esprit  de  fi- 
nesse  gewissermaßen  ahnungsvoll  ergriffen  hat,  und  methodisch 
erforschen  und  beweisen  —  hier  kommt  der  Schüler  Descartes' 
zutage  —  kann  sie  nur,  wenn  sie  überall  so  verfährt  wie  die  Mathe- 
matik. Der  wissenschaftliche  Geist  ist  der  mathematische.  Aber 
diese  beiden  Erkenntnisarten,  so  berechtigt  sie  in  Rücksicht  auf 
ihren  besonderen  Zweck  sind,  reichen  doch  nicht  aus,  die  Bedürf- 
nisse des  Herzens  zu  befriedigen.  Denn  das  Herz  will  mehr  als 
das,  was  es  unmittelbar  in  der  Wirklichkeit  auffinden  kann,  und 
mehr  als  das,  was  sich  mathematisch  beweisen  läßt.  Es  will  die 
Erlösung  von  seiner  eigenen  Sündhaftigkeit  und  die  Seligkeit  des 
Ausruhens  in  einem  unbewegten  Mittelpunkte.  Dieses  Bedürfnis 
zu  befriedigen,  meint  Pascal,  hat  das  Herz  seine  eigene  Erkenntnis, 
an  welche  die  Vernunft  nicht  heranreicht.  Es  ist  eine  Überhebung 
der  Wissenschaft,  wenn  sie  ihren  Weg  für  den  einzigen,  es  ist  schon 
eine  Überhebung,  wenn  sie  ihn  für  den  wertvollsten  hält,  der  zur 
Erkenntnis  führt.  Das  Beste,  was  der  Mensch  erkennen  kann, 
ist  die  Gottheit  und  die  Gnade,  mit  der  sie  den  Menschen  erlöst, 
und  diese  Erkenntnis  gewährt  nicht  die  Vernunft,  sondern  nur  das 
reine  und  demütige  Herz.  Der  Mystizismus,  den  Pascal  vertritt, 
ist  durchaus  originell;  es  ist  nicht  derjenige  einer  intellektuellen 
Gottesanschauung,  sondern  er  legt  den  Schwerpunkt  seines  inneren 
Lebens  lediglich  in  das  religiöse  Gefühl.  Vielleicht  niemand 
hat  so  unverhüllt,  wie  Pascal,  das  Geheimnis  der  religiösen  Stim- 
mung ausgesprochen,  wenn  er  für  den  Inhalt  des  Gefühls  die  höchste 
erkenntnistheoretische  Bedeutung  in  Anspruch  nimmt.  In  jener 
scharfen  antithetischen  Weise,  die  dem  Stile  seiner  Nation  entspricht, 
drückte  er  das  so  aus :  »Le  coeur  a  ses  raisons,  que  la  raison  ne  con- 


Religiöses  Gefühl.  371 

nait  pas«  —  ein  Satz,  der  in  seiner  Paradoxie  selbst  seine  eigene 
Widerlegung  enthält.  Aber  das  Gefühl  ist  bei  Pascal  von  einer 
unendlichen  Tiefe  und  von  einer  heiligen  Lauterkeit:  die  Gottes- 
erkenntnis des  Herzens,  die  er  predigt,  ist  eine  Religion  der  Liebe, 
welche  ihre  Erkenntnis  niemals  durch  den  Schrecken  oder  die 
äußere  Gewalt  verbreiten  will,  sondern  nur  zu  Herzen  geht,  weil 
sie  von  Herzen  kommt.  Und  so  steht  Pascal,  einer  der  echtesten 
Christen,  die  je  gelebt  haben,  mit  seiner  nie  übertroff enen  Gläubig- 
keit mitten  unter  den  Vorfechtern  der  Toleranz.  Das  religiöse  Leben 
besteht  auch  diesem  Mystiker  niemals  in  äußerlichem  Tun  oder  in 
dogmatischem  Fürwahrhalten,  aber  es  besteht  ihm  auch  nicht  allein 
in  der  Seligkeit  der  Kontemplation  der  Gottheit.  Wohl  ist  es  ihm 
das  Ideal,  daß  der  Mensch  einmal  nichts  anderes  sein  soll,  als  ein 
gottrunkener  Gedanke,  und  diese  Bestimmung  zeigt  sich  auch 
darin,  daß  alle  Macht  des  Menschen  in  der  Wirklichkeit  nur  auf 
seinen  Gedanken  beruht.  Aber  der  Mensch,  wie  er  jetzt  ist,  kann 
nicht  reiner  Gedanke  sein,  er  lebt  in  natürlicher  Vermittlung,  und 
er  bedarf  in  dieser  der  Leidenschaft.  Zwei  Grundformen  dieser 
Leidenschaft  gibt  es:  die  eine  ist  der  Ehrgeiz,  der  den  Menschen 
in  die  Welt  der  Geschäfte  oder  in  die  Arbeit  der  Wissenschaft  treibt, 
Macht  und  Ruhm  zu  gewinnen,  die  andere  die  Liebe,  welche  die 
Selbstsucht  in  ihm  erstickt  und  sich  in  der  Gottesliebe  vollendet. 
Es  ist  eine  ganze  Geschichte,  die  Geschichte  eines  mit  sich  selbst 
ringenden  Herzens,  die  sich  in  diesen  Lehren  Pascals  ausspricht. 
Und  darin  liegt  auch  der  wesentliche  Reiz  seines  Werkes ;  es  ergreift 
nicht  als  Philosophie,  sondern  als  Selbstbekenntnis,  und  sein  Ein- 
druck ist  nicht  der  einer  großen  Gedankenarbeit,  sondern  der  einer 
großen  Persönlichkeit,  —  einer  Persönlichkeit,  deren  Bild  um  so 
wirksamer  ist,  je  fremdartiger  sie  sich  von  dem  Hintergrunde  ihrer 
Zeit  abhebt. 

Pascals  Mystizismus  hatte  sich,  seiner  weichen,  liebevollen 
Natur  gemäß,  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  gegenüber  mit 
einer  Art  von  schonender  Anerkennung  verhalten.  Viel  schroffer 
und  rücksichtsloser  verfuhr  in  dieser  Hinsicht  Pierre  Poiret 
(1646 — 1719).  Bei  ihm  sind  direkte  Einflüsse  nicht  nur  von  Tauler 
und  von  Thomas  a  Kempis,  sondern  auch  von  Jacob  Böhme  zu 
konstatieren:  seine  »Censura  philosophiae  teutonicae«  ist  in  seinem 
Briefwechsel  mit  dem  englischen  Religionsphilosophen  Henry  More 

24* 


372  Poiret. 

(vgl.  §  22)  bei  des  letzteren  Werken  gedruckt.    Da  aus  seinen  Schrif- 
ten hervorgeht,  daß  er  ursprünglich  Cartesianer  war,  so  ist  zu  ver- 
muten, daß  er  durch  jene  Einflüsse  bekehrt  und  zum  Gegner  der 
rationalen  Philosophie  gemacht  worden  ist.    Dabei  wirkte  zugleich 
der  Eindruck  des  Spinozismus  mit,  welchen  er  für  die  letzte  Konse- 
quenz des  Kationalismus  hielt.    Es  ist  merkwürdig  genug,  daß  auch 
die  Mystiker  das  verwandte  Element  in  Spinoza  nicht  herausfühlten, 
sondern  in  seiner  Lehre  den  baren  Atheismus  sahen,  den  sie  dann, 
wie  es  Poiret  tat,  mit  gleicher  Leidenschaft  wie  der  Orthodoxismus 
bekämpften.     Diese   Meinung   mag    Poiret   veranlaßt   haben,    die 
rationale  Erkenntnis  überhaupt  für  notwendig  irreligiös  zu  halten, 
und  er  verwendete  in  geistreicher  Weise  einige  cartesianische  Ge- 
danken, um  den  Beweis  für  diese  Ansichten  in  seiner  bedeutendsten 
Schrift:  »De  eruditione  tripliei:  solida,  superficiaria  et  falsa«  (Am- 
sterdam 1692)  zu  führen.    Er  geht  dabei  von  dem  cartesianischen 
Unterschiede  des  aktiven  und  des  passiven  Verstandes  aus,  indem 
er  das  von  Descartes  festgesetzte  Wertverhältnis  umkehrt.     Der 
aktive  Verstand,  dessen  höchste  Leistung  die  Mathematik  ist,  kann 
nur  die  leeren  Formen,  den  Schatten  der  Wirklichkeit,  den  Leichnam 
der  Natur,  nicht  ihr  inneres,  zweckvolles  Wesen  begreifen.    Wenn 
die  Vernunft  selbständig  und  nur  aktiv  verfahren  will,  ohne  sich 
den  wahren  Inhalt  geben  zu  lassen,  so  ist  sie  zu  trostloser  Öde  ver- 
urteilt.   Die  wahre  Erkenntnis  —  das  ist  ein  echt  mystischer  Ge- 
danke —  ist  Empfänglichkeit  und  daher  nur  durch  den  passiven 
Verstand  zu  gewinnen.     Dieser  passive  Verstand  aber  empfängt 
seine  Erkenntnisse  teils  durch  die  sinnliche  Erfahrung,  teils  durch 
die  offenbarende  Einwirkung  Gottes.    Hier  macht  in  höchst  charak- 
teristischer Weise  der  Mystizismus  mit  dem  Sensualismus  ge- 
meinschaftliche Sache  gegen  den  Rationalismus.    Um  nur  nicht  die 
Selbständigkeit  der  menschlichen  Vernunft  anerkennen  zu  müssen, 
sucht  Poiret  in  seiner  Polemik  gegen  Descartes  darzutun,  daß  die 
auf  Sinneserfahrung  gegründete  Erkenntnis  der  Körper  reeller  und 
gewisser  sei,  als  alle  Vernunfterkenntnis.     Es  verdient  bemerkt  zu 
werden,  daß  in  einer  ganz  ähnlichen  Weise  die  Jesuiten  den  Car- 
tesianismus  auf  sensualistischer  Grundlage  bekämpft  hatten.    Doch 
wendet  Poiret  diese  Anerkennung  der  sinnlichen  Erfahrung  nicht 
weiter  an,  sondern  zieht  die  Folgerungen  dieser  Auseinandersetzung 
nur  für  die  Erkenntnis  der  religiösen  Wahrheiten.    Gewiß  ist  darin, 


Skeptiker.  373 

führt  er  aus,  nur  die  Erkenntnis  des  gläubigen  Gemütes.  Wenn 
die  Vernunft  hinzutreten  will,  so  kann  sie  entweder  nur  dasselbe 
sagen,  und  dann  ist  sie  überflüssig,  oder  etwas  anderes,  und  dann 
ist  sie  falsch.  Von  diesem  Gesichtspunkte  hat  Poiret  dann  auch 
Lockes  Versuch,  die  Vernunftgemäßheit  des  Christentums  zu  er- 
weisen, in  einer  eigenen  Schrift  bekämpft;  und  aus  demselben  Ge- 
sichtspunkte ist  mit  noch  innigerem  Anschluß  an  Jacob  Böhme 
später  St.  Martin  als  der  temperamentvolle  Gegner  der  gesamten 
Verstandesaufklärung  aufgetreten. 

Poirets  Bestreitung  des  Rationalismus  zeigt  noch  mehr  als  die 
Grenzen,  welche  Pascal  der  mathematischen  Erkenntnis  ziehen 
wollte,  die  notwendige  Verknüpfung,  in  welche  der  Mystizismus  mit 
skeptischen  Theorien  treten  mußte,  um  seinem  Prinzip  des 
Glaubens  Bahn  zu  brechen.  Es  ist  jedoch  klar,  daß  dieselben  Ge- 
dankengänge, welche  auf  diese  Weise  der  außerkonfessionellen  oder 
überkonfessionellen  Mystik  dienten,  auch  für  die  Orthodoxie  sich 
in  derselben  Weise  verwenden  ließen.  Und  in  dieser  Richtung  be- 
wegte sich  auch  in  der  Tat  die  größere  Mehrzahl  der  französischen 
Skeptiker. 

§  37.    Der  Skeptizismus. 

Schon  die  ersten  Nachfolger  Montaignes,  Charron  und  Sanchez 
(vgl.  §  3),  hatten  den  von  jenem  erneuerten  skeptischen  Elementen 
der  alten  Philosophie  eine  orthodoxe  Wendung  zu  geben  versucht, 
und  diese  Auffassung  fand  auch  noch  gegen  Ende  des  XVII.  Jahr- 
hunderts mannigfache  Vertreter.  Francois  de  la  Mothe  le 
Vayer  (1586 — 1672)  ließ  sich  durch  historische  und  ethnographi- 
sche Studien  von  der  Relativität  und  Waridelbarkeit  der  mensch- 
lichen Meinungen  so  tief  überzeugen,  daß  er  die  Geltung  aller  Ver- 
nunftprinzipien für  die  Religion  leugnete  und  ein  über  die  Vernunft 
erhabenes,  nur  durch  Gnade  mitteilbares  Prinzip  des  Glaubens  an 
deren  Stelle  zu  setzen  suchte.  Von  seinen  Schülern  wirkten  Sa- 
muel Sorbiere  durch  eine  Übersetzung  der  »Hypotheses  Pyrrlio- 
neae«  des  Sextus  Empiricus  und  Simon  Foucher  durch  eine 
»Geschichte  der  platonischen  Akademie«,  sowie  durch  eine  Kritik 
der  Malebrancheschen  Lehre  für  die  Ausbreitung  skeptischer  Ge- 
danken. Zu  gleicher  Zeit  benutzte  Bossuet.  der  berühmte  Redner  //Jt 
der  gallikanischen  Kirche,  den  Skeptizismus  als  ein  Propagations- 


374  Huet. 

und  Agitationsmittel  gegen  die  Protestanten,  denen  er  den  Versuch, 
den  Glauben  mit  der  Vernunfterkenntnis  zu  identifizieren,  als  einen 
absurden  und  von  vornherein  verfehlten  vorwarf.  Die  umfassendste 
Vertretung  aber  fanden  diese  Gedanken  durch  den  Bischof  von 
Avranches,  Pierre  Daniel  Huet  (1630 — 1721),  dessen  interessante 
Autobiographie  über  die  Gegensätze  der  religiösen  und  der  wissen- 
schaftlichen Bewegung  in  Frankreich  wichtige  Aufschlüsse  enthält. 
Auch  er  war  anfangs  Cartesianer  gewesen  und  legte  seine  Lehre, 
als  er  diesem  Svsteme  durch  die  Bekanntschaft  mit  Sextus  Em- 
piricus  entfremdet  war,  in  einer  »Censura  philosophiae  Cartesianae« 
(Paris  1689)  und  in  dem  nach  seinem  Tode  gedruckten  »Traite  de 
la  faiblesse  de  l'esprit  humain«  (Amsterdam  1728)  nieder.  Diese 
Darstellung  gestaltete  sich  jedoch  zu  einer  umfassenden  und  de- 
struktiven Kritik  der  gesamten  gleichzeitigen  Philosophie,  die  be- 
sonders eindrucksvoll  deshalb  war,  weil  der  als  Polyhistor  berühmte 
Bischof  eine  reiche  Fülle  mannigfachsten  Wissens  in  ihre  Entwick- 
lung hineinzuarbeiten  wußte.  Diese  Kritik  zeigt  wiederum  eine 
interessante  Kombination  der  verschiedensten  Denkrichtungen. 
Ähnlich  wie  Poiret  will  Huet  lieber  sensualistisch  als  rationalistisch 
sein.  Wenn  man  irgend  einem  Teile  der  menschlichen  Erkenntnis 
trauen  darf,  so  ist  es  die  sinnliche  Wahrnehmung,  in  der  der  Mensch 
sich  des  Übermutes  der  eigenen  Denkwillkür  entschlägt  und  auf- 
nimmt, was  die  Welt  ihm  gibt.  Huet  verfolgt  diese  sensualistischen 
Prinzipien  so  weit,  daß  er  —  vielleicht  schon  nicht  ohne  Abhängig- 
keit von  den  aus  England  herüber  verlautenden  Gedanken  —  alle 
menschliche  Erkenntnis  aus  der  Tätigkeit  der  Sinne  ableitet  und 
die  Abhängigkeit  des  Denkens  von  den  Funktionen  des  Gehirns 
in  einem  Grade  gelten  läßt,  der  bei  einem  weniger  gläubigen  Ge- 
müte  unbedingt  zum  Materialismus  geführt  hätte.  So  jedoch  gibt 
Huet  diesen  Untersuchungen  eine  ganz  andere  Tendenz.  Er  er- 
kennt mit  entschiedener  Abneigung  gegen  den  Rationalismus  an, 
daß  der  von  Gassendi  erneuerte  Materialismus  Demokrits  und 
Epikurs  die  folgerichtige  Konsequenz  des  lediglich  auf  sinnliche 
Erfahrung  zu  stützenden  menschlichen  Denkens  sei.  Der  Ratio- 
nalismus sei  eine  völlig  wertlose  Träumerei;  das  verhältnismäßig 
Beste,  was  der  natürliche  Mensch  in  seinen  Vorstellungen  habe, 
seien  seine  sinnlichen  Wahrnehmungen;  deren  Konsequenz  aber 
führe  notwendig  zu  den  unsittlichen  und  irreligiösen  Theorien  des 


Bayle.  375 

Materialismus  und  Atheismus.  Es  ist  in  verhältnismäßig  origineller 
Form  der  jesuitische  Skeptizismus,  zu  dem  sich  Huet  bekennt, 
indem  er  der  selbständigen  Erkenntnis  des  Menschen  einen  mög- 
lichst niedrigen  Ursprung  und  Wert  zu  geben  sucht,  um  sie  dann 
desto  sicherer  vor  der  Offenbarungserkenntnis  und  dem  dogmatischen 
Systeme  zurücktreten  zu  lassen.  Er  greift  zu  diesem  Zwecke  zu 
allen  ihm  von  der  Philosophie  der  Zeit  dargebotenen  Mitteln  und 
reproduziert  alle  Formen  des  Angriffs  auf  die  Erkenntniskraft  des 
Syllogismus  in  der  Meinung,  dadurch  den  Kationalismus  überhaupt 
zu  widerlegen,  und  er  schreckt  vor  der  Konsequenz  nicht  zurück, 
zu  erklären,  daß  die  höchsten  Axiome,  welche  die  Vernunft  als 
Kriterien  bei  der  Beurteilung  des  Wahren  und  des  Falschen  ver- 
wendet, ihre  Gültigkeit  nicht  der  Vernunft  selbst,  sondern  vielmehr 
dem  Willen  der  Gottheit  verdanken,  welche  sie  daher  jeden  Augen- 
blick umzustoßen  imstande  und  berechtigt  sei. 

So  führte  die  Kirche  sehr  stolz  und  sicher  das  Schwert  des  Skep- 
tizismus.   Aber  wenn  irgend  eine,  so  ist  diese  Waffe  zweischneidig, 
und  wie  sehr  sie  es  ist,  sollte  gerade  die  französische  Orthodoxie 
durch  den  charaktervollsten  und  tiefsten  der  Skeptiker  erfahren,     ._ 
durch  Pierre  Bayle.  "  >*$- 

Sein  Leben  zeigt  innerlich  wie  äußerlich  ein  ruheloses  Hin-  und  , 


Hergeworfenwerden  zwischen  den  großen  Gegensätzen  der  Zeit, 
und  je  weniger  diese  Gegensätze  in  ihm  eine  Versöhnung  gefunden 
haben,  um  so  mehr  ist  er  mit  seiner  edlen  und  unerschrockenen 
Offenherzigkeit  ein  charakteristischer  Ausdruck  des  geistigen  Lebens 
seiner  Tage  gewesen.  Er  war  1647  zu  Carlat  als  Sohn  eines  refor- 
mierten Predigers  geboren.  Von  tief  innerlicher  Gläubigkeit  erfüllt, 
mit  einer  seltenen  Vielseitigkeit  das  reale  Wissen  seiner  Zeit  um- 
spannend und  mit  scharfsinniger  Empfänglichkeit  in  die  philoso- 
phischen Theorien  eingelebt,  durchschaute  er  bald  das  Trügerische 
an  der  Hoffnung,  die  Lehren  der  positiven  Religion  mit  der  mensch- 
lichen Vernunfterkenntnis  zur  Deckung  zu  bringen,  dieser  Hoff- 
nung, welche  in  keiner  der  christlichen  Konfessionen  so  lebendig 
war  wie  in  der  unter  dem  Einflüsse  Calvins  stehenden  reformierten ; 
und  diese  Zweifel  führten  sein  ^laubensbedürftmes  Gemüt  in  den 
Schoß  der  römischen  Kirche.  Allein  hier  war  es  nun  wieder  um- 
gekehrt das  zu  große  Opfer  der  selbstdenkenden  Vernunft,  welches 
ihn  bald  zurückschreckte  und  schon  in  seinem  23.  Jahre  wiederum 


7 

/je. 


376  Bayle. 

zu  seiner  ursprünglichen  Konfession  zurückführte.  Infolge  dieses 
Abfalles  sah  er  sich  genötigt,  seine  Heimat  zu  verlassen  und  nach 
Genf  zu  flüchten,  und  er  fand  erst  eine  äußere  Kühe,  als  er  in  Sedan 
und  später  in  Rotterdam  Professor  geworden  war.  An  letzterem 
Orte  starb  er  1706.  Seine  wissenschaftliche  Tätigkeit  ist  in  einer 
Ausdehnung  einflußreich  gewesen,  wie  sich  einer  ähnlichen  nach  ihm 
nur  einerseits  Voltaire  und  anderseits  die  Enzyklopädisten  haben 
rühmen  können.  Bayle  ist  der  Pionier  der  Aufklärung.  Er  hat 
zuerst  und  in  systematischer  Weise  daran  gearbeitet,  das  allgemeine 
Denken  der  Gesellschaft  mit  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  zu 
tränken  und  die  Resultate  der  Philosophie  für  die  Überzeugung  der 
gesamten  gebildeten  Welt  flüssig  zu  machen.  Er  suchte  nicht  nur 
in  den  von  ihm  begründeten  »Nouvelles  de  la  republique  des  lettres  « 
die  Arbeit  der  verschiedenen  Gelehrten  in  gegenseitiger  Ergänzung 
zu  konzentrieren,  sondern  er  machte  in  seinem  »Dictionnaire  histo- 
rique  et  critique«  (zuerst  1695  und  1697  in  zwei  Bänden  erschienen) 
den  ersten  Versuch,  dem  gebildeten  Publikum  in  einer  zugleich 
präzisen  und  geschmackvollen  Form  den  gesamten  Stoff  der  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis  vorzuführen.  Mit  einer  Vielseitigkeit  des 
Wissens,  die  kaum  von  Leibniz  übertroffen  worden  ist,  arbeitete 
dieser  Mann  allein  an  einer  Aufgabe,  der  sich  nach  ihm  nur  Vereini- 
gungen von  Gelehrten  unterzogen  haben.  Sein  Dictionnaire  fand 
eine  rapide  Verbreitung.  Es  wurde  nicht  nur  in  Frankreich,  sondern 
in  der  ganzen  Welt  der  europäischen  Bildung  auf  das  eifrigste  gelesen 
und  gestaltete  sich  damit  zum  ersten  großen  Träger  der  wissenschaft- 
lichen Aufklärung.  Seine  Wirkung  war  jedoch  in  ihren  Resultaten 
auf  das  entschiedenste  durch  den  Geist  seines  Urhebers  mitbedingt; 
ja  die  Ausbreitung  wissenschaftlicher  Kenntnisse,  die  es  mit  sich 
brachte,  trat  fast  zurück  hinter  der  Förderung  des  skeptischen 
Geistes,  der  darin  wehte,  und  hinter  der  Befestigung  des  moralischen 
Standpunktes,  welchen  es  atmete. 

Die  negative  Bedeutung  Bayles  liegt  wesentlich  darin,  daß  er 
den  Widerspruch  zwischen  Vernunfterkenntnis  und  Offenbarung  auf 
die  schärfste  Spitze  brachte,  in  der  schroffsten  Weise  formulierte  und 
ihre  völlige  Unvereinbarkeit  nachzuweisen  bestrebt  war.  In  ent- 
schiedener Abhängigkeit  von  Bacon,  aber  mit  prinzipieller  Zu- 
spitzung der  von  diesem  sehr  viel  vorsichtiger  ausgesprochenen 
Gedanken  suchte  er  darzutun,  daß  die  Dogmen  der  positiven  Reli- 


Diotionnaire.  377 


gion  den  einfachsten  und  einleuchtendsten  Grundsätzen  der  natür- 
lichen Vernunft  widersprechen,  und  daß  deshalb  von  einer A  Ver- 
nunft religion,  d.  h.  einer  durch  die  Vernunft  zu  gewinnenden  oder 
auch  nur  mit  der  Vernunft  zu  vereinbarenden  Glaubenslehre  nun  und 
nimmermehr  die  Rede  sein  könne.  Mit  durchdringendem  Scharfsinn 
zergliedert  er  die  theologischen  Grundbegriff e  und  zerstört  jede  Hoff- 
nung, sie  der  vernünftigen  Erkenntnis  zugänglich  zu  machen.  Darauf 
beruhte  die  mächtige  und  erschütternde  Wirkung,  die  seine  Schriften 
auf  seine  Zeit  und  auf  deren  bedeutendste  Männer,  wie  z.  B.  auf 
Leibniz  ausübten.  Wenn  Locke  in  der  schon  dem  Mittelalter  ge- 
läufigen Weise  den  Schwerpunkt  seiner  religionsphilosophischen  Be- 
trachtung auf  den  Begriff  der  Über  vernünftig  keit  der  Dogmen 
gelegt  hatte,  wonach  diese  für  die  menschliche  Vernunft  nicht  auf- 
findbar, wohl  aber  begreifbar  sein  sollten,  so  richtete  Bayle  seine 
ganzen  Untersuchungen  darauf,  zu  zeigen,  daß  sie  wider  ver- 
nünftig sind.  So  radikal,  wie  nur  jemals,  sprach  er  es  aus,  daß 
zwischen  Glaube  und  Vernunft  kein  anderes  Verhältnis  existiere  als 
dasjenige  des  Widerspruchs.  Schon  seine  »Pensees  diverses  sur  la 
comete  de  1680«  suchten  zu  zeigen,  daß  die  Lehren  von  der  Schöpfung 
der  Welt  durch  einen  gütigen  Gott  und  von  der  Vorsehung  mit  den 
zahllosen  physischen  und  moralischen  Übeln  der  Welt,  die  Lehre 
von  der  Erbsünde  mit  dem  Bewußtsein  der  Verantwortlichkeit  usw. 
in  einem  niemals  zu  versöhnenden  Widerspruche  stehen.  Aber 
Bayle  ist  weit  entfernt,  um  dieser  Widervernünftigkeit  willen  an  der 
Wahrheit  der  religiösen  Lehren  zu  zweifeln.  In  einem  viel  ehrliche- 
ren und  tieferen  Sinne,  als  Bacon,  wiederholt  er  das  tertullianische 
»credo,  quia  absurdum«.  Er  verneint,  daß  die  menschliche  Ver- 
nunft in  den  höchsten  und  wertvollsten  Dingen  irgend  eine  positive 
und  adäquate  Erkenntnis  gewinnen  könne.  Sein  ungewöhnlich 
umfassendes  Wissen  erlaubte  ihm,  alle  Theorien  einer  umsichtigen 
historischen  Kritik  zu  unterwerfen  und  die  verschiedenen  Ansichten 
durcheinander  zu  paralysieren.  Er  zweifelte  mit  Descartes  an  der 
Richtigkeit  der  sinnlichen  Erfahrung  und  an  der  Realität  der  Kör- 
perwelt, er  zweifelte  gegen  Descartes  an  der  Gewißheit  des  Selbst- 
bewußtseins, er  erlaubte  sich  sogar  —  zu  seiner  Zeit  die  größte 
Kühnheit  —  an  der  Unumstößlichkeit  der  mathematischen  Axiome 
zu  zweifeln  und  zu  meinen,  daß  diese  vielleicht  nur  aus  einer  Er- 
fahrung abstrahiert  seien,  welche,  so  konstant  sie  bisher  gewesen 


378  Bayle. 

sei,  doch  keine  absolute  Gewähr  biete,  in  alle  Zukunft  nicht  wieder 
umgeworfen  werden  zu  können.  So  suchte  er  zu  zeigen,  daß  der 
menschlichen  Erkenntnis  nirgends  eine  zweifellose  Gewißheit  inne- 
wohne. Die  menschliche  Vernunft  sei  darin  stark,  Irrtümer  zu 
entdecken,  aber  zu  schwach,  um  ohne  fremde  Unterstützung  selbst 
die  Wahrheit  zu  finden  —  ein  Apercu,  von  dem  man  sehr  richtig 
gesagt  hat,  daß  Bayle  es  von  der  Natur  seines  eigenen  Geistes  ab- 
strahiert hatte.  Aber  in  dieser  Unfähigkeit  der  Vernunft,  zu  ab- 
schließender Erkenntnis  zu  gelangen,  sieht  Bayle  im  Geiste  des  alten 
Kirchenvaters  eine  überaus  weise  Einrichtung.  Denn  nur  durch 
sie  wird  der  Glaube  zum  Verdienst.  Das  Vernünftige  zu  glauben, 
sagt  er,  ist  so  selbstverständlich,  daß  es  niemandem  als  Verdienst 
angerechnet  werden  kann :  erst  der  Glaube  an  das  Widervernünftige 
zeigt  jene  Selbstüberwindung,  welche  den  Wert  der  Eeligiosität 
ausmacht. 

Das  ist  der  höchste  Gipfel,  den  die  »Lehre  von  der  zweifachen 
Wahrheit«  erreicht  hat.  Bayle  gibt  nicht  nur  zu,  daß  die  religiöse 
Wahrheit  vor  dem  Standpunkte  der  Vernunft  falsch  sein  könne, 
sondern  er  verlangt,  daß  sie  es  sein  müsse,  wenn  der  Glaube  ein 
Verdienst  sein  solle.  In  ihm  stehen  sich  Wissen  und  Glauben  so 
schroff  gegenüber,  daß  sie  nicht  mehr,  wie  es  in  dem  religiös  in- 
differenten Geiste  Descartes'  der  Fall  gewesen  war,  ohne  Beziehung 
zueinander  sind,  sondern  vielmehr  einander  ausdrücklich  und  im 
ganzen  Umfange  widersprechen.  Der  Baylesche  Skeptizismus 
machte  in  seiner  absoluten  Ehrlichkeit  den  Tatbestand  klar,  daß 
die  Philosophie  mit  der  Keligion  zerfallen  war,  und  statt  des  Ver- 
suches einer  scheinbaren  Versöhnung  hielt  er  es  vielmehr  für  seine 
Aufgabe,  diese  Tatsache,  die  er  in  den  Geistern  seiner  Zeit  vorfand, 
mit  aller  Aufrichtigkeit  auszusprechen.  Daraus  ist  zu  gleicher 
Zeit  die  Stellung  klar,  die  Bayle  in  der  Entwicklung  dieser  Frage 
historisch  einnahm.  Nachdem  er  die  Wider  vernünftigkeit  der 
Dogmen  erwiesen  zu  haben  glaubte,  war  nur  noch  ein  Schritt  nötig, 
damit  diejenigen,  welche  diesen  seinen  Beweis  annahmen,  das  dog- 
matische System  um  seiner  Wider  vernünftigkeit  willen  verwarfen. 
Es  gehörte  dazu  nur,  daß  sie,  sei  es  im  Geiste  des  Kationalismus, 
sei  es  in  demjenigen  des  Empirismus,  unter  Verwerfung  des  Skep- 
tizismus von  der  Erkenntniskraft  der  menschlichen  Vernunft  über- 
zeugt waren.     Diesen  Schritt  taten  die  Enzyklopädisten  und  mit 


Zweifache  Wahrheit.  379 

ihnen  die  gesamte  französische  Aufklärung.  Bayle  selbst  tat  ihn 
nicht,  und  was  ihn  davor  bewahrte,  war  eben  sein  Skeptizismus: 
er  blieb  gläubig,  weil  er  ein  Skeptiker  war. 

Um  so  schärfer  aber  tritt  der  innere  Gegensatz  seines  Denkens 
hervor.  Mit  einschneidendem  Scharfsinn  zersetzt  er  vom  Stand- 
punkte der  menschlichen  Vernunft  alle  die  Lehren  des  Glaubens, 
von  deren  Richtigkeit  er  überzeugt  bleibt,  und  es  ist  daraus  be- 
greiflich, wie  man  hat  meinen  können,  es  sei  diese  von  ihm  stets 
betonte  Gläubigkeit  nur  der  Deckmantel  seiner  Ungläubigkeit  ge- 
wesen. In  Wahrheit  ist  das  nicht  der  Fall,  man  müßte  denn  an- 
nehmen, daß  er  der  vollendetste  Heuchler  war,  der  je  existiert 
hat.  Man  hat  darauf  hingewiesen,  daß  der  Text  in  den  Artikeln 
seines  Dictionnaires  häufig  vom  Standpunkte  des  Glaubens  aus  ge- 
schrieben ist,  während  die  Noten  mit  breiter  Ausführlichkeit  sich 
in  der  Entwicklung  der  vernünftigen  Einwürfe  dagegen  ergehen. 
Auch  dieser  Gegensatz  ist  in  der  Tat  vorhanden;  allein  er  ist,  wie 
zuerst  Feuerbach  gezeigt  hat,  der  vollkommene  Ausdruck  eben 
des  Widerspruchs,  in  welchem  Bayle  mit  sich  selber  rang.  Er  war 
im  Innersten  gläubig  und  dabei  doch  von  der  Philosophie  seiner 
Zeit  so  tief  ergriffen,  daß  er  den  Widerspruch,  worin  sie  mit  dem 
Dogma  stand,  klar  durchschaute:  und  er  war  zu  ehrlich,  um  diesen 
Widerspruch  zu  verschweigen  oder  zu  verhüllen.  Er  selbst  hatte 
jenes  Verdienst  des  widervernünftigen  Glaubens,  und  wie  schon 
die  ersten  Lehrer  der  zweifachen  Wahrheit,  sprach  er  in  diesem 
Widerspruche  das  Geheimnis  seines  inneren  Zustandes  aus.  Daß  er 
dies  Verdienst  des  widervernünftigen  Glaubens  seiner  Zeit  nicht 
mitzuteilen  vermochte,  lag  nicht  an  ihm.  In  der  Tat  freilich  wirkte 
aus  seinen  Schriften  auf  die  Masse  der  Gebildeten  Frankreichs  und 
Europas  nicht  der  Glaube,  von  dem  er  überzeugt  war,  sondern  viel- 
mehr die  zersetzende  Kritik,  welche  er  an  dessen  Inhalt  in  Rücksicht 
auf  sein  Verhältnis  zur  vernünftigen  Erkenntnis  übte :  denn  diese  Masse 
der  Gebildeten  stand  nicht  mehr  auf  dem  Standpunkte  des  Glaubens, 
sondern,  wie  sie  meinte,  auf  demjenigen  der  Vernunft,  und  sie  sog 
deshalb  aus  den  glänzenden  Blüten  von  Bayles  Darstellung  nur 
den  Saft  des  Unglaubens.  So  konnte  seine  persönliche  Frömmigkeit 
den  großen  Skeptiker  nicht  davor  schützen,  daß  die  Wirkung 
seiner  Lehren  nur  die  negative  war,  und  daß  seine  Schriften  unter  den- 
jenigen, welche  die  Gläubigkeit  untergruben,  in  erster  Linie  standen. 


380  BayIe- 

Aber  neben  dieser  negativen  Wirksamkeit  gab  es  eine  positive 
Erkenntnis  von  großer  Bedeutung,  die  Bayle  erfaßte,  in  zahllosen 
Wendungen  ausarbeitete  und  durch  seine  Werke  als  fruchtbare 
Keime  in  das  Zeitalter  der  Aufklärung  streute.  Je  leichter  bei 
ihm  die  Schale  der  theoretischen  Vernunft  stieg,  um  so  tiefer  und 
inhaltschwerer  senkte  sich  diejenige  der  praktischen  Vernunft, 
und  dadurch  kam  eine  höchst  eigentümliche  Gedankenverbindung 
zustande.  Die  religiösen  Dogmen,  lehrte  er,  sind  widervernünftig, 
aber  das  moralische  Handeln  ist  rein  vernünftig.  Aus  diesen  beiden 
Sätzen  erwuchs  der  dritte,  daß  die  Moralität  von  religiösen  Über- 
zeugungen durchaus  unabhängig  sei.  Der  Mann,  der  in  dem  Ge- 
wirre theoretischer  Zweifel  zweimal  die  Konfession  gewechselt 
hatte,  war  sich  bewußt,  daß  er  moralisch  dabei  derselbe  geblieben 
war,  und  diese  Selbsterfahrung  machte  ihn  zu  dem  wirkungsvollsten 
Vorkämpfer  der  Toleranz.  Er  suchte  zu  zeigen,  daß  die  morali- 
schen Gebote  ihre  Würde  nur  in  sich  selbst  und  in  ihrer  Abstam- 
mung aus  der  menschlichen  Vernunft  haben,  daß  ihre  Beziehung 
auf  eine  göttliche  Gesetzgebung  ihren  moralischen  Wert  nicht  ver- 
größern, sondern  nur  durch  die  Einmischung  von  Wünschen,  Hoff- 
nungen und  Befürchtungen  beeinträchtigen  könne.  Er  wies  mit 
historisch  offenem  Sinne  bei  jeder  Gelegenheit  darauf  hin,  wie 
herrliche  sittliche  Erscheinungen  das  Heidentum  aufzuweisen  und 
zu  welchen  Greueltaten  auf  der  anderen  Seite  der  christliche  Fana- 
tismus Veranlassung  geboten  habe;  und  dem  Einwurfe,  daß  man 
I  für  diese  unsittlichen  Auswüchse  die  Eeligion  nicht  verantwortlich 
\  machen  dürfe,  begegnet  er  mit  dem  schlagenden  Worte,  daß,  wenn 
das  sittlich  Schlechte  nicht  ihre  Frucht  sei,  man  sie  auch  nicht 
|  für  den  Ursprung  des  sittlich  Guten  halten  dürfe.  Die  religiöse 
Meinung  sei  an  sich  moralisch  indifferent;  ob  sie  zu  Gutem  oder 
zu  Bösem  führe,  hänge  von  der  moralischen  Kichtung  ab,  mit  der 
sie  sich  in  den  Individuen  verbinde,  und  welche  durchaus  selb- 
ständig in  sich  bestehe.  Bayle  will  daher  die  Religion  ebenso  weit 
von  der  Moralität  wie  von  der  Wissenschaft  getrennt  wissen.  Der 
große  Einfluß,  den  diese  seine  Lehre  ausgeübt  hat,  bestand  darin, 
daß  sie  die  Unabhängigkeit  des  moralischen  Wertes  des  Menschen 
von  der  positiven  Religion,  der  er  angehört,  zu  einer  Überzeugung 
der  weitesten  Kreise  machte.  Wenn  dann  der  Deismus  und  die 
Religionsphilosophie   in   Voltaire,    Hume,    Lessing   und   Kant   die 


Praktische  Vernunft.  381 

Moralität  zum  wesentlichen  Inhalte  der  Vernunftreligion  zu  machen 
suchten,  so  war  das  nicht  mehr  im  Geiste  Bayles,  welcher  die  Exi- 
stenz einer  Vernunftreligion  überhaupt  leugnete.  Aber  er  hatte 
diese  Möglichkeit  eben  dadurch  vorbereitet,  daß  er  die  Welt  daran 
gewöhnt  hatte,  den  moralischen  Wert  eines  Menschen  als  etwas 
von  seiner  positiven  Religion  Unabhängiges  zu  betrachten.  Mit 
der  moralischen  ging  notwendig  die  bürgerliche  Wertschätzung  Hand 
in  Hand,  und  Bayle  wurde  nicht  müde,  in  den  verschiedensten 
Richtungen  darzutun,  wie  falsch  es  sei,  jemanden  um  irgend  einer 
religiösen  Ansicht  willen  bürgerlich  zu  verketzern  und  öffentlich 
zu  proskribieren.  Mit  einer  Lebhaftigkeit,  die  nur  aus  den  Zuständen 
seiner  Zeit  und  Frankreichs  im  besonderen  begreiflich  ist,  plädiert 
er  für  die  bürgerliche  Gleichstellung  aller  Konfessionen  und  tritt 
in  der  Verteidigung  der  Toleranz  so  radikal  auf,  daß  er,  der  Mei- 
nung selbst  wohlwollender  Männer  entgegen,  die  Duldung  auch 
den  Atheisten  zugute  kommen  lassen  will.  Er  kleidet  das  in  die 
berühmt  gewordene  und  später  vielfach  diskutierte  Beweisführung, 
daß  ein  Staat  von  Atheisten  sehr  gut  denkbar  sei.  Bayle  dachte 
zu  edel  und  persönlich  zu  hoch  von  der  Religion,  um  sie  etwa  im 
Sinne  von  Hobbes  oder  des  esoterischen  Deismus  der  englischen 
Moralisten  zu  einem  Polizeimittel  in  der  Hand  der  Machthaber 
herabzuwürdigen,  und  da  er  überzeugt  war,  daß  ebenso  das  mo- 
':  ralische  Wesen  wie  der  egoistische  Triebmechanismus  des  Menschen 
I  von  dem  besonderen  Inhalte  seiner  religiösen  Meinung  unberührt 
bleibe,  so  glaubte  er  das  staatliche  Leben  in  derselben  Weise  wie 
j  das  wissenschaftliche  und  das  moralische  von  dem  religiösen  trennen 
zu  können  und  zu  sollen.  Ja  er  betont  viel  eher  sogar  die  negative 
Kehrseite.  Statt  einer  fördernden,  fürchtet  er  vielmehr  eine  hem- 
mende Einwirkung  der  Religiosität  auf  das  Staatsleben;  er  macht 
darauf  aufmerksam,  daß  das  nur  auf  den  Himmel  gerichtete  Streben 
den  Christen  viel  eher  zu  einem  schlechten  und  indifferenten,  als 
zu  einem  guten  und  begeisterten  Staatsbürger  mache.  Allein  er 
schwächt  diese  Bemerkung  durch  den  vernichtenden  Zusatz  ab, 
daß  darin  keine  Gefahr  läge:  denn  wirklich  für  den  Himmel  und 
in  reiner  Religiosität  habe  wohl  fast  noch  nie  einer  gelebt,  und  die 
Natur  sorge  jedenfalls  dafür,  daß  die  große  Masse  es  niemals  tue. 


382  Di©  Naturphilosophie. 

§  38.    Die  mechanische  Naturphilosophie. 

Wenn  dem  Mystizismus  in  der  Entwicklung  des  französischen 
Denkens  der  Aufklärung  überhaupt  nur  eine  geringe  und  schnell 
verklingende  Bedeutung  zukommt,  so  war  der  Skeptizismus  zwar 
ungleich  verbreiteter  und  wirkungsvoller,  aber  in  letzter  Instanz 
doch  nur  ein  negatives  Element,  dessen  Wirkung  im  wesentlichen 
darin  bestand,  für  die  positiven  Einflüsse  der  englischen  Philosophie 
Raum  zu  schaffen.  Denn  obwohl  die  Vertreter  des  Skeptizismus 
and  unter  ihnen  selbst  Bayle  die  skeptischen  Gedankengänge  we- 
sentlich zur  Bestreitung  jeglicher  Vernunfterkenntnis  der  religiösen 
Wahrheit  angewendet  hatten,  so  wurde  es  doch  in  Frankreich 
immer  mehr  Sitte,  durch  eine  Verbindung  dieses  Skeptizismus  mit 
dem  Cartesianismus  die  Vernunfterkenntnis  für  das  Entscheidende 
zu  halten  und  den  Skeptikern  nur  so  weit  zu  folgen,  als  sie  lehrten, 
daß  mit  dieser  Vernunfterkenntnis  das  Dogma  der  positiven  Re- 
ligion unvereinbar  sei.  So  wirkte  der  Skeptizismus  negativ  und  zer- 
störend nur  in  bezug  auf  den  Glauben,  und  gerade  in  Frankreich 
hatte  es  seinen  Ursprung,  daß  man  einen  Skeptiker  während  des 
ganzen  Aufklärungszeitalters  hauptsächlich  denjenigen  nannte,  der 
/  an  der  Vernünftigkeit  der  kirchlichen  Dogmen  zweifelte. 

Auf  diese  Weise  hatte  der  Skeptizismus  trotz  aller  orthodoxen 
Neigungen  seiner  Vertreter  in  Frankreich  schließlich  nur  daran  ge- 
arbeitet, die  freie  Entwicklung  der  selbständigen  Elemente  der 
modernen  Wissenschaft  zu  befördern.  Unter  diesen  aber  stand  in 
erster  Linie  jene  mechanische  Naturphilosophie,  die  von  Galilei, 
Hobbes  und  Descartes  prinzipiell  begründet  und  inzwischen  "zur 
herrschenden  Auffassung  in  allen  eigentlich  wissenschaftlichen  Krei- 
sen geworden  war.  Gerade  in  der  durch  den  Skeptizismus  errunge- 
nen Freiheit  des  Denkens  gewann  dies  Prinzip  schnell  eine  über- 
raschende Tragweite.  Descartes  hatte  in  seiner  vorsichtigen  Weise, 
um  alle  Konflikte  mit  den  kirchlichen  Mächten  zu  meiden,  sich  nie- 
mals offen  zu  den  großen  Entdeckungen  der  neueren  Naturwissen- 
schaft bekannt.  Aber  je  mehr  es  auf  der  Hand  lag,  daß  seine  ganze 
Lehre  von  demselben  Geiste  getränkt  war  und  notwendig  auf  die- 
selben Resultate  hindrängte,  um  so  kühner  wurden  allmählich  mit 
der  allgemeineren  Rücksichtslosigkeit  des  Denkens  auch  seine  An- 
hänger.    Als  der  offene  Durchbruch  dieser  Konsequenz  müssen 


Fontenelle.  383 

Fontenelles  (1657 — 1757)  »Entretiens  sur  la  pluralite  des  mondes«  , 
(Paris  1686)  angesehen  werden,  die  sich  vollständig  auf  den  durch 
Kopernikus  und  Galilei  gewonnenen  Standpunkt  der  Mechanik  und 
der  Astrophysik  stellen.  Schon  sein  Werk  ist  der  Beweis  davon, 
mit  welcher  Vorliebe  man  sich  um  jene  Zeit  namentlich  mit  astro- 
nomischen und  astrophysischen  Problemen  beschäftigte.  In  dieser 
Hinsicht  versuchte  Fontenelle  die  von  der  exakten  Forschung  ge- 
fundenen Tatsachen  und  speziell  die  Keplerschen  Gesetze  mit  der 
Wirbeltheorie  des  Descartes  in  erklärende  Verbindung  zu  bringen. 
Schon  seine  Darstellung  aber  zeigte  in  ihrer  eleganten  Popularität 
die  Richtung,  welche  die  gesamte  französische  Aufklärung  nahm: 
sein  Buch  lag  in  kurzer  Zeit  auf  den  Tischen  aller  Salons  und  machte 
den  Gedanken  des  allgemeinen  Naturmechanismus  und  der  mathe- 
matischen Gesetzmäßigkeit  in  allen  Köpfen  des  gebildeten  Frank- 
reich heimisch.  Von  nun  an  wurde  es  der  Ehrgeiz  der  französischen 
Mathematiker,  die  allgemeine  Meinung  mit  ihren  Theorien  zu  be- 
herrschen. Man  war  darüber  einig,  daß  man  nur  mit  der  Mathe- 
matik der  Natur  zu  Leibe  gehen  könne,  und  die  große  Entwicklung, 
welche  die  französische  Mathematik  von  einem  Pascal  und  Fermat 
bis  zu  einem  Lagrange  und  Laplace  gefunden  hat,  stand  wesentlich 
unter  den  Bedürfnissen  der  Naturerkenntnis.  Anderseits  aber 
hielten  es  gerade  diese  Mathematiker  für  ihre  Aufgabe,  über  die  so 
gewonnenen  Fortschritte  der  Naturerkenntnis  in  allgemein  ver- 
ständlicher Weise  ein  Publikum  zu  unterrichten,  das  diesen  Fragen 
das  lebhafteste  Interesse  entgegentrug. 

Je  weiter  aber  diese  Entwicklung  ging,  um  so  entscheidender 
wurde  selbstverständlich  von  dem  Augenblick  an,  wo  er  bekannt 
geworden  war,  der  Einfluß  Newtons.    Der  mathematisch  klare  Geist 
der  Franzosen  mußte  bald  einsehen,  daß  dessen   »Prinzipien«  die 
Höhe  dieser  Geistesrichtung  bedeuteten.    Und  so  verdrängte  während 
der  ersten  Hälfte  des  XVIII.  Jahrhunderts  in   immer  stärkerem 
Maße  die  Newtonsche  Naturphilosophie  diejenige  Descartes'.     Auf 
dem  spezifisch  wissenschaftlichen  Gebiete  geschah  das  wesentlich  h 
durch  Maupertuis  (1698—1759),  der,  seitdem  er  in  Berlin  lebte" 
und  dort  Präsident  der  Akademie  geworden  war,  in  mannigfache  ',: 
Streitigkeiten  mit  den  dortigen  Anhängern  von  Wolff  geriet.    Gegen 
diese  verteidigte  er  namentlich  den  Gesichtspunkt  der  mechanischen 
Erklärung  der  einzelnen  Naturerscheinungen,  und  es  wurde  ihm 


384  Maupertuis. 

verhältnismäßig  leicht,  mit  den  Waffen  Newtons  das  beschränkte 
Nützlichkeitssystem  zu  bekämpfen,  das  damals  in  der  Naturauf- 
fassung der  deutschen  Philosophen  landläufig  war.  Auf  der  anderen 
Seite  aber  ging  er  durchaus  auf  Newtons  teleologische  Grundan- 
schauung ein,  den  gesamten  Mechanismus  der  Natur  mit  seinen 
zweckmäßigen  Konsequenzen  aus  einer  göttlichen  Zwecktätigkeit 
abzuleiten.  Allein  auch  darin  war  er  weit  von  jener  Felsenfestigkeit 
der  persönlichen  Überzeugung  entfernt,  mit  der  Newton  diese  Ver- 
bindung gesucht  hatte.  Er  betrachtete  vielmehr  die  Frage  nach 
der  Zweckmäßigkeit  der  Natur  vorwiegend  unter  einem  skeptischen 
Gesichtspunkte.  Die  Naturforschung,  meinte  er,  habe  sich  auf  die 
Erkenntnis  der  nächsten  Ursachen  der  einzelnen  Phänomene  zu 
beschränken  und  diese  möglichst  auf  die  mathematische  Formel 
zu  bringen.  Zur  Erkenntnis  der  ersten  Ursache  und  des  Zusammen- 
hanges, womit  aus  ihr  alle  übrigen  folgen,  vermöge  der  Mensch  doch 
nicht  zu  gelangen.  »Point  de  Systeme  «  ist  sein  Lieblingsausspruch, 
und  er  meint  damit  ganz  die  Bescheidung  des  skeptischen  Empiris- 
mus, der,  an  einer  abschließenden  Erkenntnis  des  Universums  ver- 
zweifelnd, sich  mit  einer  Einsicht  in  die  mathematische  Notwendig- 
keit der  faktischen  Verhältnisse  begnügen  will. 

Zu  einem  Gemeingut  der  französischen  Bildung  aber  war  die 
Newtonsche  Naturphilosophie  schon  vor  ihm  durch  Voltaire  ge- 
worden. Dessen  Übersetzungen  und  Bearbeitungen  der  Newton- 
schen  Lehre  gewannen  mit  einem  Schlage  die  ganze  gebildete  Welt 
Frankreichs  für  diese  Lehre,  verdrängten  die  Schriften  Fontenelles 
aus  dem  Gedächtnis  der  Zeit  und  wurden  eines  der  allerstärksten 
Mittel  für  die  Untergrabung  des  orthodoxen  Glaubens.  Bereits 
seine  »Lettres  sur  les  Anglais«  (Paris  1734)  hatten  auf  die  Be- 
deutung der  englischen  Wissenschaft,  von  der  er  sich  bei  persön- 
lichem Aufenthalt  in  London  überzeugt  hatte,  sehr  energisch  auf- 
merksam gemacht.  Einige  Jahre  darauf  schrieb  er  die  »Elements 
de  la  philosophie  de  Newton«,  welche  jedoch,  durch  die  von  den 
Cartesianern  beherrschte  Zensur  lange  zurückgehalten,  erst  1741  er- , 
schienen,  so  daß  die  etwas  milder  gefaßte  »Metaphysique  de  Newton« 
bereits  ein  Jahr  früher  gedruckt  wurde.  Allein  bei  Voltaire  verband 
sich  die  mechanische  Naturauffassung  Newtons  nicht  nur  mit  dessen 
allgemeiner  teleologischer  Anlehnung  an  religiöse  Überzeugungen, 
sondern  vielmehr  mit  dem  ganzen  kritischen  Gedankenkreis  des 


Voltaire.  385 

englischen  Deismus.  Er  ist  das  wichtigste  Mittelglied  in  der  so 
überaus  fruchtbaren  Verschmelzung  der  englischen  mit  den  fran- 
zösischen Ideen,  und  seine  gesamte  Weltanschauung,  welche  viel- 
leicht mehr  als  die  irgend  eines  anderen  Menschen  in  die  allgemeine 
Bildung  durchgesickert  ist,  entlehnte  ihre  Grundzüge  allen  Größen 
der  englischen  Philosophie,  die  bis  dahin  deren  Gang  bestimmt 
hatten.  Es  konzentrierten  sich  alle  diese  Einflüsse  bei  Voltaire 
vermöge  der  umfassenden  Rezeptivität  seines  Geistes  und  der 
glänzenden  Gestaltungskraft  seines  Stiles  zu  einer  Vereinigung, 
welche  mit  Recht  als  der  Typus  der  gesamten  Aufklärung  gilt. 
Der  innerste  Kern  davon  besteht  darin,  daß  Voltaire  es  verstand, 
Newtons  mechanische  Naturphilosophie,  Lockes  erkenntnistheo- 
retischen Empirismus  und  Shaftesburys  Moralphilosophie  unter 
dem  Gesichtspunkt  eines  Deismus  zu  vereinigen,  welcher  mit  der 
Tendenz  der  Volksaufklärung  eine  propagatorische  Wirkung  ohne- 
gleichen ausübte. 

§  39.    Voltaires  Philosophie  der  deistischen  Aufklärung. 

Freilich  war  Voltaire  durchaus  nicht  der  erste,  welcher  sich 
in  Frankreich  offen  zum  Deismus  bekannte.  Der  Gedanke  der  Ver- 
nunftreligion  war  schon  vorher  mehrfach  hervorgetreten;  doch 
lagen  auch  hier  Einflüsse  der  Lockeschen  Lehre  zugrunde.  Na- 
mentlich Jean  Leclerc,  der  einflußreiche  Herausgeber  mehrerer 
wissenschaftlicher  Zeitschriften  um  die  Wende  des  XVII.  und  XVIII. 
Jahrhunderts,  war  durch  den  persönlichen  Verkehr  mit  Locke  für 
den  Gedanken  der  Vernunftreligion  gewonnen  und  trat  dafür  leb- 
haft ein.  Doch  geschah  dies  den  positiven  Religionen  gegenüber 
schon  in  einer  kritischen  Weise,  die  Locke  ferner  gelegen  hatte, 
und  in  der  Leclerc  vielleicht  unter  dem  Einfluß  von  Bayle  ge- 
standen hat.  Jedenfalls  begann  mit  ihm  für  Frankreich  dieselbe 
Wendung,  welche  die  englischen  Deisten  ihrerseits  der  Lockeschen 
Religionsphilosophie  gaben.  Vollendet  aber  und  besiegelt  wurde 
diese  Wendung  durch  Voltaire,  der  nun  freilich  schon  aus  den 
fertigen  und  reich  strömenden  Quellen  des  englischen  Deismus 
schöpfen  konnte. 

Francois  Marie  Arouet  le  Jeune,  1694  geboren,  war  einer 
der  Schüler  der  französischen  Jesuiten,  welche  den  Lehrern  nachher 
am  unbequemsten  werden  sollten.     In  allen  Künsten  und  Wissen- 

Windelband,  Ge3ch.  d.  n.  Philos.  I.  25 


386  Voltaire. 

Schäften  unterrichtet,  mit  einer  unglaublichen  Aneignungsfähigkeit 
ausgestattet,  stand  er  schon  in  früher  Jugend  auf  der  Höhe  der 
Bildung  seiner  Zeit.  Der  spielende  Reichtum  seiner  dichterischen 
Phantasie  und  die  anmutige,  sonnenklare  Eleganz  seines  Stiles,  die 
ihn  zu  einem  der  ersten,  wenn  nicht  zu  dem  ersten  Schriftsteller 
Frankreichs  machten,  kamen  auch  seiner  wissenschaftlichen  Wirk- 
samkeit zugute.  Er  ist  nie  ein  großer  Forscher  noch  ein  tiefsinniger 
Grübler  gewesen,  aber  er  wußte  mit  seltener  Feinfühligkeit  das- 
jenige, was  dem  geistigen  Zuge  der  Zeit  entgegenkam,  herauszu- 
finden und  ihm  die  Form  zu  geben,  in  der  es  die  Gemüter  packte 
und  beherrschte.  Der  große  Eindruck  aber,  der  auch  seine 
philosophischen  Schriften,  und  diese  beinahe  am  meisten,  auf  das 
Zeitalter  machten,  beruhte  fast  noch  mehr  auf  der  Wärme  des  sitt- 
lichen Gefühls,  das  sie  durchwehte.  Freilich  war  Voltaire  weit  davon 
entfernt,  in  diesem  Gefühl  eine  feste  und  unerschütterliche  Über- 
zeugung zu  besitzen,  die  ihn  sicher  durch  die  Wechselfälle  des  Lebens 
■  geführt  hätte.  Es  ist  unverkennbar  und  ihm  oft  genug  vorgeworfen, 
I  wie  sein  maßloser  Ehrgeiz,  seine  bis  ans  Komische  grenzende  Eitel- 
keit, seine  Neigung  zur  Intrigue  und  zuletzt  selbst  eine  wunderliche 
Habgier  ihn  zu  Handlungen  führten,  die  des  Philosophen  wenig 
würdig  waren.  Aber  das  gibt  noch  kein  Recht,  ihn  einen  Schau- 
spieler zu  nennen,  der  mit  jenen  Gefühlen  nur  gespielt  und  die  Mache 
ihrer  rhetorischen  Verwendung  meisterlich  verstanden  habe.  Wir 
haben  vielmehr  aus  zahlreichen  Tatsachen  seines  Lebens  alle  Ver- 
anlassung, an  die  volle  Wahrheit  seiner  Begeisterung  für  das  Recht 
und  die  Sittlichkeit  zu  glauben.  Aber  er  war  moralisch  wie  geistig 
eine  weiche  Natur,  und  wenn  ihn  das  geistig  groß  gemacht  hat, 
so  hat  es  seinem  Charakter  geschadet.  Er  war  nicht  dazu  angetan, 
still  und  unentwegt  durch  das  Leben  zu  gehen,  sondern  stürzte  wie 
ein  Falter  dem  Glänze  des  äußeren  Lebens  zu,  ohne  ihn  ertragen 
zu'  können.  Schon  im  Anfange  verdarb  er  sich  eine  glänzende 
Stellung  in  der  Pariser  Gesellschaft  durch  Unvorsichtigkeiten  und 
Rücksichtslosigkeiten.  Aber  diese  Konflikte  wurden  für  ihn  wertvoll 
und  fruchtbar  dadurch,  daß  sie  ihn  nötigten,  ihnen  in  den  Jahren 
1726 — -29  nach  London  auszuweichen,  wo  er  sich,  ernster  und  tiefer 
geworden,  mit  den  Gedanken  der  englischen  Wissenschaft  tränkte. 
Nach  seiner  Rückkehr  begann  er,  von  den  Idealen  der  Aufklärimg 
begeistert,    jenen   unerschrockenen   Kampf     gegen   die   Vorurteile, 


Leben  und  Charakter.  387 

gegen  die  Mißstände  des  politischen  und  des  kirchlichen  Lebens, 
gegen  die  Unbildung  und  Gedankenlosigkeit  der  Menschen,  welcher 
sein  Leben  ausgefüllt  hat.     Er  hat  diesen  Kampf  nicht  immer  mit 
den  zartesten  Waffen  geführt,  er  hat  in  der  Not  des  Streites  zu  den 
Mitteln  des  Hohnes  und  der  Satire,  die  ihm  so  wunderbar  zu  Gebote 
standen,   so  reichlich  gegriffen,   daß  gegen  ihn  der  Vorwurf  der 
Frivolität  üblich  geworden  ist.    Aber  frivol  ist  nichts,  als  der  Nihilis- 
mus, der  alles  begeifert;  Voltaire  jedoch  handelte  und  schrieb  aus 
einem  Glauben  an  das, Recht,  der  Vernunft,  der  sein  innerstes  Wesen 
ausmachtet   Er  sah  in  der  blinden  Hingabe  an  die  bestehenden 
Autoritäten  nicht  nur  eine  Dummheit,  sondern  auch  etwas  dem 
Wohle  der  Menschheit  wie  des  einzelnen  Schädliches,  und  in  dem 
redlichen  Streben,  dieses  Wohl  seinerseits  zu  befördern,  war  sein 
ganzes  Leben  ein  ununterbrochener  Kampf  gegen  das  Unrecht  der 
Autorität,  ein  Kampf,  der  um  die  großen  Güter  der  Duldung  und 
der  Geistesfreiheit  von  ihm  mit  überlegener  und  siegreicher  Kraft 
geführt  wurde,  —  so  siegreich,  daß  seine  Gedanken  in  die  allge- 
meine Bildung  als  ein  für  das  spätere  Bewußtsein  selbstverständ- 
licher Besitz  eingedrungen  sind.    Aber  natürlich  trugen  ihm  diese 
Lehren  zahlreiche  Verfolgungen  ein,  und  mit  Schmerz  empfand  er, 
daß  er  am  französischen  Hofe  unmöglich  war.     Bekanntlich  war 
es  zuerst  seine  gelehrte  Freundin,  die  Marquise  du  Chätelet,  die 
ihm  auf  ihrem  Landgute  Cirey  in  der  Champagne  eine  Zuflucht 
anbot,   und   später   sein   geistvoller   Schüler,   der    Philosoph     von 
Sanssouci,   der  ihn  zur  Zierde  seines  Hofes   machte.     Aber  hier 
traten  nur  zu  bald  die  Schattenseiten  seines  Charakters  hervor,  die 
ihn  mit  dem  König  entzweiten  und  das  Verhältnis  auflösten.    Von 
1755  an  hat  er  dann,  im  wesentlichen  nur  mit  seinen  Werken  be- 
schäftigt, auf  seinem  Landsitze  Ferney  bei  Genf  gelebt;  von  hier 
aus  war  es,  wo  er  in  einigen  eklatanten  Fällen  als  eine  europäische 
Autorität  gegen  offene  Verletzungen  des  Rechts  und  der  Gewissens- 
freiheit mit  einer  Energie  eintrat,  die  seinen  Namen,  wenn  es  mög- 
lich war,  noch  gefeierter  machte  als  zuvor.     Was  ihm  fehlte,  war 
nur  die  äußerliche  Anerkennung,  und  in  dem  Streben  nach  ihr  ist 
sein  Leben  zu  Ende  gegangen.     Als  er  es  wagen  konnte,  den  er- 
sehnten Boden  von  Paris  wieder  zu  betreten,  begab  er  sich  dorthin, 
wo  schon  die  revolutionäre  Frucht  seiner  Ideen  gezeitigt  war.    Mit 
einem   ungeheuren   Enthusiasmus   aufgenommen,    erlag   der   Greis 

25* 


388  Voltaire. 

den  Aufregungen  dieser  Reise  und  starb,  unter  den  Lorbeerkränzen 
fast  erstickt,  am  30.  Mai  1778. 

Unter  den  Einflüssen,  die  in  Voltaires  philosophischer  Schrift- 
stellertätigkeit zunächst  nach  der  negativen  Seite  hin  hervortreten, 
steht  derjenige  des  englischen  Deismus  in  seinem  »Examen  im- 
portant  de  Mylord  Bolingbroke«  (Paris  1736)  obenan.  Er  entnimmt 
ihm  die  einschneidende  Kritik  der  positiven  Religionsbegriffe  und, 
von  ihrer  Unvernünftigkeit  und  Schädlichkeit  überzeugt,  begnügt 
er  sich  nicht  damit,  sie  wie  der  Weltmann,  dem  er  jene  Schrift 
unterschob,  mit  vornehmem  Achselzucken  zu  belächeln  und  für  die 
blöde  Masse  des  Volkes  gerade  gut  genug  zu  finden,  sondern  er 
übernimmt  ausdrücklich  die  Mission,  diese  zersetzende  Kritik  der 
Dogmen  zu  popularisieren.  Der  Widerspruch,  den  Bayles  mit 
sich  selbst  ringender  Geist  zwischen  Vernunft  und  Offenbarung 
statuiert  hatte,  war  Voltaire  bei  seinem  unerschütterlichen  Glauben 
an  das  Recht  der  Vernunft  gerade  bequem,  um  die  ätzende  Lauge 
der  Kritik  schonungslos  über  den  Autoritätsglauben  auszugießen. 
In  dieser  Hinsicht  steht  er  auf  den  Schultern  des  Skeptikers.  Aber 
wenn  dieser  in  sich  selbst  widerspruchsvoll  gewesen  war,  so  glaubte 
Voltaire  viel  zu  fest  an  die  Kraft  des  eigenen  Denkens,  um  nicht 
mit  sich  einig  zu  sein.  Wenn  man  von  ihm  gesagt  hat,  er  habe  nichts 
geleugnet,  aber  alles  untergraben,  so  gilt  das  letztere  nur  von  dem 
dogmatischen  Apparate  der  Kirchenlehre.  Er  führte  den  Kampf 
nicht  aus  der  Freude  am  Streit  und  aus  der  Sucht  zur  Zerstörung, 
sondern  von  einer  gegenteiligen  Überzeugung  aus  und  in  der  Hoff- 
nung, diese  zum  Siege  zu  führen.  Der  Deismus  war  ihm  wirklich 
Religion,  und  wir  haben  keinen  Grund,  an  der  Wahrhaftigkeit 
seiner  Überzeugung,  die  er  sein  Leben  lang  gegen  die  extremen 
Richtungen  beider  Seiten  und  mit  gleicher  Energie  gegen  den 
Atheismus  wie  gegen  den  Orthodoxismus  verteidigt  hat,  Zweifel 
zu  erheben. 

Die  positiven  Lehren,  in  denen  Voltaires  Bedeutung  für  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  liegt,  sind  in  erster  Linie  durch  Locke 
bedingt.  Er  hat  dessen  Lehre  auf  den  Boden  Frankreichs  ver- 
pflanzt, und  wenn  sie  später  auf  diesem  Boden  neben  Voltaire 
eigenartigere  Früchte  getragen  hat,  so  stammte  doch  eben  von  ihm 
der  Hinweis  auf  diese  gemeinsame  Grundlage.  Aber  selbst  jene 
späteren  Konsequenzen  des  Lockeschen  Empirismus  finden  sich 


Hylozoismus.  389 

bei  ihm  schon  angedeutet;  er  betont  noch  energischer  als  das  Ori- 
ginal, daß  der  Inhalt  aller  Vorstellungen,  auch  derjenige  der  Reflexion, 
lediglich  aus  der  Tätigkeit  der  äußeren  Sinne  stamme,  und  nähert 
sich  dadurch  der  sensualistischen  Umbildung,  welche  die 
Lockesche  Theorie  in  England  durch  die  Assoziationspsychologie, 
in  Frankreich  durch  Condillac  fand.  Mit  solchen  erkenntnis- 
theoretischen Neigungen  gehen  entsprechend  metaphysische  Hand 
in  Hand.  Wenn  Locke  den  Materialismus  durch  die  Lehre  von 
der  Unerkennbarkeit  der  Substanzen  umgangen  hatte,  so  nahm 
Voltaire  die  danach  immerhin  stehen  gebliebene  Möglichkeit  schärfer 
aufs  Korn.  Daß  die  Substanz,  welche  ausgedehnt  ist,  auch  die- 
selbe ist,  welche  denkt,  erscheint  ihm  nicht  nur  nicht  ausgeschlossen, 
sondern  sogar  wahrscheinlich.  Neben  dem  cartesianischen  Satze 
»ich  denke«  sei  derjenige  »ich  bin  Körper«  mit  mindestens  gleicher 
Selbstgewißheit  in  dem  nämlichen  Bewußtsein  enthalten,  und  so 
sei  es  im  Grunde  genommen  überflüssig,  für  diese  beiden  verschie- 
denen Attribute,  die  unser  Bewußtsein  in  sich  finde,  verschiedene 
Substanzen  anzunehmen.  So  gut  wie  in  demselben  Bewußtsein, 
müßten  sie  auch  in  demselben  realen  Wesen  vereinbar  sein.  Von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  bekämpft  Voltaire  namentlich  die  An- 
nahme einer  substantiellen  Selbständigkeit  der  Seele,  welche  diese 
mit  ihrem  Leibe  nur  als  zufällig  verbunden  und  als  unabhängig 
davon  betrachtet.  Diese  Annahme  sei  eine  Abstraktion,  welche 
die  verschiedenen  Glieder  aus  dem  Zusammenhange  der  Wirklichkeit 
herausreiße,  um  ihnen  willkürlich  eine  gesonderte  Existenz  zuzu- 
schreiben. Aber  Voltaire  ist  weit  entfernt,  damit  in  den  eigentlichen 
Materialismus  zu  verfallen;  er  denkt  zu  klar,  um  zu  übersehen, 
daß  die  Anerkennung  der  Abhängigkeit  der  seelischen  Funktionen 
von  den  körperlichen  noch  keine  Gleichsetzung  und  Verwechslung 
beider  notwendig  macht.  Er  dringt  darauf,  daß  man  zugebe, 
die  Seelentätigkeiten  seien  durchaus  von  dem  physiologischen 
Organismus  abhängig;  aber  er  verlangt  nicht  minder,  daß  man  sie 
trotz  dieser  Abhängigkeit  für  etwas  davon  wesentlich  Verschiedenes 
halte.  Aus  diesem  Grunde  kam  er  zu  der  Lehre,  daß  Materialität 
und  Intellektualität  die  beiden  Ureioenschaften  alles  Bestehenden 
bilden,  —  eine  Lehre,  die  später  von  Kobinet  in  umfassendster 
Weise  durchgeführt  wurde.  Es  ist  die  hylozois  tische  Grund - 
ansieht,  welche  mit  der  Substanz  der  Materie  unmittelbar  das 


390  Voltaire. 

Prinzip  des  Lebens  und  der  Seelentätigkeit  gegeben  erachtet,  ohne 
es  darum  gleich  für  eine  Art  der  körperlichen  Bewegung  zu  erklären. 
Aus  demselben  Grunde  aber  kehrte  sich  Voltaire  mit  lebhaftester 
Polemik  gegen  den  Materialismus,  der  diese  Verwechslung  beging. 
Er  war  der  scharfe  Gegner  von  Lamettrie  und  schließlich  auch  des 
»Systeme  de  la  nature«,  mit  dem  er  seine  eigene  Ansicht  nicht  auf 
gleiche  Linie  gestellt  wissen  wollte. 

Seine  Bekämpfung  des  Materialismus  richtet  sich  hauptsächlich 
gegen  dessen  atheistische  Konsequenzen.  So  sehr  er  die  positiven 
Dogmen  angreift,  so  sehr  ist  er  anderseits  von  der  Notwendigkeit 
der  Vernunftreligion  überzeugt.  Schon  theoretisch  betrachtet 
er  die  Vorstellung  von  der  Gottheit  als  den  notwendigen  Abschluß 
der  Weltanschauung.  Er  hält  im  Anschluß  an  Locke  den  kosmo- 
logischen  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  aufrecht,  führt  aber  mit 
jener  Vorliebe,  welche  das  Aufklärungszeitalter  mehrfach  zeigt, 
besonders  den  physiko- theologischen  aus.  Doch  hat  er  darin  eine 
bemerkenswerte  Wandlung  seiner  Überzeugungen  durchgemacht. 
Anfangs  war  er  durchaus  optimistisch  gesinnt  und  führte  in  Newton- 
scher Weise  den  Beweis,  daß  der  vollendete  Mechanismus  dieser 
durch  und  durch  zweckmäßigen  Welt  einen  intelligenten  Urheber 
voraussetzte.  Später  jedoch  regte  sich  ihm  gegen  diese v  Zweck- 
mäßigkeit der  Welt  der  Zweifel  so  stark,  daß  er  auf  die  pessimistische 
Seite  übertrat  und  bekanntlich  in  seinem  »Candide  «  die  optimistische 
Lehre  von  der  »besten  der  möglichen  Welten  «,  die  Leibniz  aufgestellt 
hatte,  mit  allen  Waffen  der  Ironie  geißelte.  Man  hat  darauf  auf- 
merksam gemacht,  daß  diese  Wendung  hauptsächlich  durch  das 
Erdbeben  von  Lissabon  1755  herbeigeführt  worden  sei.  Möglich, 
daß  diese  Katastrophe,  die  bekanntlich  ganz  Europa  auf  das  äußerste 
erschütterte,  auch  Voltaire,  wie  andere  bedeutende  Männer  zu 
erneuter  Betrachtung  dieser  Fragen  veranlaßte:  aber  die  Gründe 
für  die  Antwort,  die  er  jetzt  darauf  gab,  lagen  offenbar  tiefer;  sie 
beruhten  auf  den  trüben  Erfahrungen  seines  eigenen  Lebens  und 
in  der  Reife  des  Alters,  dem  die  rosenfarbene  Stimmung  der  Jugend 
abhanden  gekommen  war.  Dennoch  bekämpfte  Voltaire  auch  in 
dieser  Hinsicht  mehr  die  kleinliche  Nützlichkeitstheorie,  zu  welcher 
die  teleologische  Auffassung  namentlich  bei  den  deutschen  Schülern 
von  Leibniz  ausgeartet  war.  Im  ganzen  hielt  er  an  dem  Gedanken 
einer  geläuterten  Teleologie  fest,  und  in  dem  lebendigen  Organismus 


Skeptische  Wandlungen.  391 

des  Universums  hat  er  nie  etwas  anderes  gesehen,  als  das  vollkom- 
mene Kunstwerk  der  Gottheit. 

Der  deistische  Gottesbegriff  hat  aber  für  ihn  noch  die  weit  höhere 
Bedeutung,  daß  er  den  Mittelpunkt  und  den  einzig  sicheren  Stütz- 
punkt für  das  moralische  Leben  bildet.  Der  Wert  der  religiösen 
Überzeugung  besteht  für  Voltaire  hauptsächlich  darin,  daß  sie  den 
moralischen  Zusammenhang  des  Menschenlebens  trägt. 
Es  wirkt  darin  bei  Voltaire  zum  Teil  der  Gedanke  von  Hobbes, 
nur  mit  dem  Unterschiede,  daß  er  persönlich  der  religiösen  Über- 
zeugung ungleich  näher  steht,  als  dieser.  Aber  auch  bei  Hobbes 
könnte  jener  berühmte  Ausspruch  von  Voltaire  stehen:  »Si  dieu 
n'existait  pas,  il  f  audrait  l'inventer  «,  wenn  auch  nicht  der  Voltairesche 
Zusatz  »niais  toute  la  nature  nous  crie,  qu'il  existe. «  Es  ist  wesent- 
lich im  Geiste  von  Hobbes  gedacht,  wenn  Voltaire  ausführt,  ohne 
den  Glauben  an  Gott  und  Unsterblichkeit  würde  die  menschliche 
Gesellschaft  bald  aus  den  Fugen  gehen.  Bayle,  sagt  er,  würde  seinen 
atheistischen  Bauern,  aus  denen  er  einen  Staat  zu  bilden  sich  ver- 
pflichtet hat,  bald  genug  Gott  und  Unsterblichkeit  predigen  lassen 
müssen.  In  bezug  auf  die  Unsterblichkeit  ist  bei  Voltaire  ein 
ähnliches  Schwanken,  wie  bei  der  Vorsehungslehre  zu  konstatieren. 
Anfangs  auch  theoretisch  vollkommen  von  ihr  überzeugt,  fängt  er 
in  dem  Maße  an,  daran  zweifelhaft  zu  werden,  als  er  die  Abhängig- 
keit der  Seelentätigkeiten  von  den  physiologischen  Funktionen  auf 
Grund  der  englischen  Einflüsse  in  den  Vordergrund  stellt.  Aber 
während  er  sich  dieser  theoretischen  Zweifel  nicht  entschlagen  kann, 
hält  er  um  so  mehr  an  dem  moralischen  Glauben  fest.  Das  Streben 
nach  der  moralischen  Vervollkommnung  scheint  ihm  sinnlos,  wenn 
ihm  nicht  die  Hoffnung  auf  Erfüllung  jenseits  des  Erdenlebens  zu 
Hilfe  kommt.  Die  Unsterblichkeit  zu  leugnen  ist,  als  ob  man 
jemand,  der  mit  den  Wellen  des  Ozeans  ringt,  zurufen  wollte:  es 
gibt  kein  Festland.  So  zersetzen  sich  in  der  Entwicklung  Voltaires 
allmählich  die  theoretischen  Grundlagen  seiner  Weltanschauung; 
immer  mächtiger  greifen  die  skeptischen  Konsequenzen  des  Sensua- 
lismus und  des  Materialismus  darin  ein :  aber  nur  um  so  energischer 
hält  er  an  der  moralischen  Grundlage  der  deistischen  Überzeugung- 
fest.  Immer  stärker  tritt  bei  ihm  eine  Vorstellungsweise  hervor,  die, 
der  von  Bayle  verwandt,  als  eine  Vorstufe  der  kantischen  Lehre  ange- 
sehen werden  darf.    Wenn  wir  mit  unseren  Gedanken  keine  Gewiß- 


392  Voltaire. 

heit  über  die  Rätsel  finden  können,  die  uns  umgeben,  so  ist  die 
einzige  Befriedigung  die,  daß  wir  in  der  sittlichen  Arbeit  unsere 
Schuldigkeit  tun  und  darin  unser  Glück  suchen.  Und  so  enden  die 
Spekulationen  des  »Candide«  über  die  beste  der  Welten  mit  dem 
Kate:  »laßt  uns  unser  Glück  besorgen,  in  den  Garten  gehen  und 
arbeiten«. 

Während  also  Voltaire  in  sich  den  Wechsel  und  die  Unbefrie- 
digung  der  Erkenntnistätigkeit  erlebte,  glaubte  er  das  moralische 
Bewußtsein  als  ein  unerschütterliches  Gut  in  der  menschlichen 
Seele  annehmen  zu  dürfen.  Deshalb  bekannte  er  sich  in  der  Moral- 
philosophie nicht  zu  Locke,  sondern  zu  Bayle  und  Shaftesbury. 
Die  moralischen  Ideen,  meint  er,  sind  ursprünglich  und  notwendig 
in  der  menschlichen  Natur  angelegt;  sie  sind  nicht  Produkte  der 
Entwicklung,  nicht  konventionell,  sondern  allgemein  und  unver- 
änderlich und  deshalb  von  absoluter  Sicherheit.  Der  Mensch, 
sagt  er,  bringt  die  Überzeugung  von  Recht  und  Unrecht  ebenso- 
gut mit  auf  die  Welt  wie  seine  Beine,  wenn  er  auch  ihre  Anwendung 
nicht  minder  als  das  Gehen  lernen  muß.  In  Rücksicht  auf  die 
Theorie  der  Willensentscheidung  hat  er  seine  Ansicht  in  ähnlicher 
Weise  wie  auf  den  übrigen  Gebieten  geändert.  Anfangs  war  er 
durchaus  Inde terminist.  Später  war  es  namentlich  der  Einfluß 
Lamettries,  der  ihn  zum  Deterministen  machte  und  ihm  die  aus- 
nahmslose Abhängigkeit  des  Willens  von  den  Motiven  als  die  einzig 
wissenschaftliche  Auffassung  erscheinen  ließ.  Er  lobte  in  dieser 
Hinsicht  besonders  die  Konsequenz  von  Leibniz,  der  auch  die  Be- 
trachtung des  göttlichen  Willens  unter  diesen  Gesichtspunkt  gestellt 
habe.  Es  sei  eine  Absurdität,  unter  Freiheit  die  Fähigkeit  zu  ver- 
stehen, daß  man  wollen  könne,  was  man  will:  sie  bestehe  nur  darin, 
tun  zu  können,  was  man  will,  und  ihr  Gegensatz  sei  nicht  die  kausale 
Notwendigkeit,  sondern  die  Gezwungenheit. 

Das  Wesentliche  bleibt,  daß  Voltaire  die  eingeborenen  Ideen 
von  Recht  und  Gerechtigkeit  für  den  innersten  Charakter  der  mensch- 
lichen Gattung  erklärte  und  rastlos  an  ihrer  Realisierung  im  öffent- 
lichen Leben  arbeitete:  auf  kirchlichem,  politischem  und  sozialem 
Gebiete  trat  er,  wo  es  nötig  schien,  mit  schonungsloser  Schärfe 
für  die  Menschenwürde  und  die  Gerechtigkeit  ein.  In  England 
hatte  er  die  Gleichheit  vor  dem  Gesetz  als  die  Grundlage  des  staat- 
lichen Lebens  kennen  gelernt,  und  dieser  Zustand  wurde  durch  ihn 


Der  Naturalismus.  393 

zu  dein  Ideal  für  die  Umbildung  der  französischen  Zustände  ge- 
macht. Er  erhob  mit  lauter  und  eindringlicher  Stimme  den  Ge- 
danken des  "Menschenrechtes  und  zeigte,  daß  er  allen  Sphären  des 
Lebens  und  allen  Schichten  des  Volkes  zugute  kommen  müsse. 
Es  ist  keins  der  geringsten  unter  seinen  Verdiensten,  daß  er  in  die 
Geschichtschreibung,  wie  es  teilweise  schon  Bolingbroke  verlangt 
hatte,  die  Berücksichtigung  der  Sitten  und  Gebräuche,  der  Bildung 
und  des  geistigen  Zustandes,  kurz,  der  allgemeinen  Kultur  der 
Nationen  eingeführt  und  ihr  die  Aufgabe  gestellt  hat,  die  in  die 
Augen  springenden  Taten  und  Begebenheiten  in  ihrer  Beziehung 
auf  den  Hintergrund  des  Volkslebens  zu  schildern.  Aber  es  zeigt 
sich  bei  ihm  auch  darin  nur  der  Reflex  seiner  politischen  Über- 
zeugung, welche  das  Volk  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  für  den 
Träger  des  Staatslebens  erklärt.  Damit  hing  es  zusammen,  daß  er 
im  Geiste  der  englischen  Verfassung  an  Stelle  der  persönlichen 
Willkür,  wie  sie  damals  in  Frankreich  auf  das  schlimmste  herrschte, 
und  wie  er  selbst  sie  erfahren  hatte,  die  Herrschaft  des  Gesetzes  für 
das  praktische  Ideal  des  Staatslebens  erklärte.  Auch  hier  war 
die"  Freiheit  in  der  Form  des  Gehorsams  gegen  das  Gesetz  der  immer 
wiederholte  Gedanke,  den  er  der  Verworrenheit  und  Verdorbenheit 
des  öffentlichen  Lebens  entgegenhielt.  Wenn  Voltaire  diesen 
Gedanken,  mit  dem  er  der  Revolution  vorarbeitet,  in  England 
eingesogen  hatte,  so  zeigt  sich  darin  am  klarsten,  daß,  während  die 
negativen  Bedingungen  der  französischen  Revolution  in  den  boden- 
los verrotteten  Zuständen  dieses  Landes  lagen,  die  Wurzel  ihrer 
positiven  Ideen  in  dem  englischen  Vorbilde  zu  suchen  ist. 

§  40.    Der  Naturalismus. 

In  der  persönlichen  Weltanschauung  Voltaires  findet  sich  die 
deistische  Aufklärung  mit  der  mechanischen  Betrachtungsweise  ver- 
knüpft. Die  Vereinbarkeit  beider  Elemente,  durch  Locke  ange- 
bahnt, galt  seit  Boyle  und  Newton  für  festgestellt,  und  Voltaire 
gebührt  nur  das  Verdienst,  sie  durch  seine  Werke  zur  Überzeugung 
des  Zeitalters  gemacht  und  so  in  weiteren  Kreisen  wenigstens  für 
einige  Zeit  die  Versöhnung  des  wissenschaftlichen  Denkens  mit 
dem  deistischen  Reste  des  religiösen  Lebens  zur  Anerkennung 
gebracht  zu  haben.  Aber  diese  beiden  vereinbaren  Elemente  sind 
nicht  notwendig  zusammengehörig,  sie  geraten  sogar  in  der  teleo- 


394  Buffon. 

logischen  Frage  gar  leicht  miteinander  in  Konflikt.  Die  Geschichte 
des  französischen  Denkens  zeigt  deshalb  noch  mehr  als  diejenige 
des  englischen  ihre  Trennbarkeit.  Wenn  die  skeptische  Kritik 
auch  die  deistischen  Begriffe  zersetzt,  und  wenn  den  letzteren  der 
moralische  Kückhalt,  den  sie  bei  Voltaire  in  diesem  Falle  gefunden 
hatten,  entzogen  wird,  so  bleibt  als  der  Inhalt  des  wissenschaft- 
lichen Denkens  nur  der  Naturmechanismus  übrig.  Diese  Trennung 
liegt  um  so  näher,  je  selbständiger  in  der  mechanischen  Natur- 
philosophie selbst  bei  Newton  und  bei  Voltaire  die  Natur  erschien. 
Die  Welt  der  Gravitation  lebt  in  sich.  Einmal  vorhanden,  erzeugt 
sie  alle  ihre  Gestalten  mit  der  ihr  selbst  innewohnenden  Notwendig- 
keit. Wenn  man  daher  die  Vorfrage  nach  dem  Ursprünge  dieser 
Natur  selbst  und  ihrer  mechanischen  Gesetzmäßigkeit  aus  irgend- 
welchen Gründen  niederschlägt  und  sie  lediglich  als  gegeben  be- 
trachtet, so  beginnt  das  wissenschaftliche  Denken  gegen  den  Deismus 
indifferent  zu  werden,  es  erkennt  nur  noch  die  Natur  in  ihrer 
gesetzmäßigen  Wirksamkeit  an  und  muß  bei  jener  Antwort  von 
Laplace  enden,  welcher  sagte,  er  habe  der  Hypothese  der  Gottheit 
nicht  bedurft.  Die  nächste  Etappe  auf  diesem  Wege  ist  deshalb 
ein  Standpunkt,  welcher  die  Frage  nach  der  Gottheit  mit  gleich- 
gültiger Skepsis  behandelt  und  nur  die  Natur  als  das  Objekt  der 
wissenschaftlichen  Forschung  ansieht.  Er  ist  kein  ausdrücklicher 
Materialismus,  aber  er  treibt  notwendig  auf  diesen  zu.  Er  be- 
zeichnet sich  am  besten  als  Naturalismus. 

Seine  Vertreter  sind  selbstverständlich  hauptsächlich  unter  den 
Naturforschern  zu  suchen.  In  erster  Linie  ist  hier  Buffon  (1708 
bis  1788)  zu  nennen.  Seine  »Histoire  naturelle  generale  et  parti- 
culiere«  (Paris  seit  1749)  spricht  zwar  offiziell  und  vorsichtiger- 
weise von  der  Gottheit,  aber  etwa  in  dem  Sinne  Spinozas,  dessen 
»deus  sive  natura«  er  durchaus  unterschreiben  könnte.  Aber  für 
ihn  ist  die  Natur  nicht  eine  leere  Substanz,  sondern  eine  tätige 
Kraft,  welche  die  ganze  Fülle  der  einzelnen  Erscheinungen  aus  sich 
erzeugt.  Den  Schwerpunkt  der  Betrachtung  verlegt  Buffon  deshalb 
notwendig  in  die  organische  Welt.  Sobald  die  Natur  selbständig 
gemacht  ist,  so  verwandelt  sich  die  kunstvolle  Maschine,  von  der 
Newton  und  Voltaire  gesprochen  hatten,  in  einen  lebendigen  Orga- 
nismus. Buffon  bekennt  sich  zwar  zu  der  cartesianischen  Forderung, 
daß  das  Zusammenspiel  der  physiologischen  Funktionen  namentlich 


Lamarck.  395 

bei  den  Tieren  lediglich  auf  dem  Wege  mechanischer  Notwendigkeit 
zustande  komme  und  zu  begreifen  sei;  aber  er  will  nicht,  daß  man 
die  physischen  Organismen,  wie  es  Descartes  getan  hatte,  für  tote 
Maschinen  halte,  welche,  wie  alle  Körper,  ihre  Kraft  erst  borgen 
müssen,  sondern  er  betrachtet  den  Organismus  als  eine  selbständige 
Gestaltungskraft,  als  eine  Maschine,  die  mit  höchster  Vollendung 
sich  selbst  baue  und  wieder  zerstöre.  Er  stützt  diese  Theorie  durch 
die  Hypothese , der  organischen  Moleküle,  durch  welche  er  in 
einer  noch  unklaren  Weise  der  modernen  Zellentheorie  Vorgriff. 
Der  Gedanke,  daß  durch  das  gesamte  Universum  solche  organische 
Teilchen  verstreut  seien,  aus  deren  Wirksamkeit  die  in  der  Erfahrung 
auftretenden  Organismen  hervorgehen,  tritt  kurz  vor  der  Mitte  des 
XVIII.  Jahrhunderts  mehrfach  hervor:  vielleicht  stammt  er  von 
Lamettrie;  aber  auch  Diderot  und  Maupertuis  haben  ihn  früh 
geäußert.  Jedenfalls  hat  Buffon  das  Verdienst,  das  flüchtig  Hin- 
geworfene prinzipiell  durchgebildet  und  darauf  ein  System  ge- 
gründet zu  haben,  das  einen  mächtigen  Eindruck  hervorrief.  Wenn 
diese  Hypothese  richtig  war,  wenn  die  Eigentümlichkeiten  des 
organischen  Lebens  sich  aus  den  besonderen  Eigenschaften  und 
Tätigkeitsformen  gewisser  Moleküle  auf  dem  mechanischen  Wege 
erklären  ließen,  so  schien  auf  der  einen  Seite  die  verwickelte  Streit- 
frage der  Teleologie  auf  die  einfachste  Weise  gelöst  und  dabei  die 
Einheit  des  gesamten  Naturprozesses  gewahrt;  man  hatte  den 
Gegensatz  des  mechanischen  Geschehens  und  des  organischen  Lebens 
überwunden,  indem  man  ihn  in  die  Natur  der  Moleküle  zurück- 
schob. Auf  der  andern  Seite  aber  war  erst  dadurch  die  Natur  voll- 
kommen selbständig  geworden.  Die  r  zweckmäßigen  Wirkungen, 
welche  sie  in  den  Organismen  hervorbringt,  brauchten  nicht  mehr 
auf  einen  Maschinisten  zurückgeführt  zu  werden,  die  Maschine 
selbst  war  eine  lebendige,  und  schon  Buffon  ahnte  die  Aufgabe, 
daß  man  die  Einheit  aller  Organismen  auf  dieses  Prinzip  werde 
zurückführen  können.  Die  ganze  Fülle  der  organischen  Gestalten 
erschien  ja  schon  hier  als  eine  Reihenfolge  von  Produkten,  die  aus 
der  prinzipiell  einheitlichen  Tätigkeit  der  organischen  Moleküle 
infolge  der  Verschiedenheit  der  mechanischen  Umstände"  hervor- 
gegangen seien.  Diese  Theorie  Buffons  war  es,  auf  Grund  deren  „ 
später  Lamarck  (Philosophie  zoologique  1809)  die  ersten  VersuchfcO^yi,^ 
für  den  empirischen  Nachweis  der  Umänderung  dei  Arten  durch 


396  Robinet. 

mechanische  Einflüsse  machte  und  damit  nicht  nur  die  erste,  sondern 
auch  eine  der  dauernd  wertvollen  Formen  der  Deszendenztheorie 
aufstellte.  Zunächst  wurde  dieser  organische  Naturalismus  Buffons 
in  Frankreich  zu  einem  Lieblingsthema  des  philosophischen  Ge- 
sprächs ;  die  Naturgeschichte  wurde  ebenso  eifrig  gelesen  wie  Voltaires 
Elemente  der  Naturphilosophie  und  verdrängte  den  Deismus  der 
letzteren.  Ein  allgemeiner  Naturkultus,  in  mehr  oder  minder  un- 
klarem Pantheismus  sich  aussprechend,  bemächtigte  sich  der  Geister. 
Man  begeisterte  sich  für  den  großen  Lebenszusammenhang  der  Natur, 
der,  in  sich  selbst  begründet,  das  ganze  Reich  des  Organischen 
umspanne. 

Von  solchen  Anschauungen  aus  konnte  die  Weiterentwicklung 
zwei  Wege  einschlagen.  Der  Gegensatz  des  Organischen  und  des 
Unorganischen  war  noch  nicht  vollständig  überwunden,  sondern  in 
der  verschiedenen  Konstitution  der  Moleküle,  die  für  ursprünglich 
angesehen  wurde,  stehen  geblieben.  Aber  der  pantheistische  Ge- 
danke der  Natureinheit  mußte  auch  darüber  hinausstreben.  Er 
konnte  sich  nicht  damit  begnügen,  den  Mechanismus  für  die  all- 
gemein gleiche  Form  des  Geschehens  anzusehen,  sondern  mußte 
auch  eine  Gleichartigkeit  der  Substanz  verlangen.  Je  nachdem  er 
die  letztere  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Unorganischen  oder  des 
Organischen  ansah,  nahm  er  sehr  verschiedene  Gestalten  an.  In 
dem  einen  Falle  setzte  er  schließlich  nur  die  Atome  voraus  und  er- 
klärte Buffons  organische  Moleküle  für  mechanisch  zustande  ge- 
kommene Komplexe  von  Atomen;  dann  war  der  Mechanismus  voll- 
ständig und  ganz  konsequent,  aber  dann  war  er  auch  gleichbedeutend 
mit  Materialismus.  In  dem  andern  Falle  erklärte  man  das  organische 
Leben  für  das  geheime  Wesen  auch  der  unorganischen  Natur,  und 
in  diesem  Falle  gelangte  man  zu  einem  universalen  Vitalismus, 
Den  ersten  Weg  ging,  vom  Glänze  der  Mechanik  gelockt,  der  größte 
Teil  der  französischen  Denker,  auf  dem  zweiten  begegnen  wir  nur 
einem  bedeutenden  Manne:  Jean  Battiste  Robinet  (1735 
bis  1820). 

Seine  Werke,  unter  denen  die  Schrift:  »De  la  nature«  (Amster- 
dam 1761)  und  die  »Considerations  philosophiques  de  la  gradation 
naturelle  des  formes  d'etre«  (Amsterdam  1767)  die  wichtigsten  sind, 
fallen  mehr  als  ein  Jahrzehnt  nach  dem  Erscheinen  aller  derjenigen 
Bücher,  in  denen  der  Materialismus  zuerst  sein  Haupt  erhob,  und 


Allbeseeltheit.  397 

wenn  sie  eine  gewisse  Reaktion  dagegen  enthalten,  so  verdankt 
Robinet  dies  in  erster  Linie  den  Einflüssen,  die  seine  Ansichten 
von  den  Gedankengängen  der  großen  Rationalisten,  Spinoza  und 
Leibniz,  erfahren  hatten.  Er  ist  fast  der  einzige  unter  den  franzö- 
sischen Denkern,  auf  den  namentlich  die  Lehren  des  letzteren  einen 
positiven  Eindruck  gemacht  haben,  und  gerade  das  Prinzip  des 
Vitalismus  war  ja  das  Prinzip  der  Leibnizschen  Philosophie  (vgl. 
unten  §  48).  Darin  jedoch  unterscheidet  sich  Robinet  sehr  stark 
von  Leibniz,  daß  er  dessen  deistische  Ansichten  in  keiner  Weise  teilt. 
Wenn  es  eine  höchste  Ursache  gibt,  sagt  er,  so  ist  sie  unerkennbar. 
Aber  es  ist  auch  nicht  nötig,  sie  anzunehmen ;  denn  das  Universum, 
mit  dessen  Betrachtung  wir  uns  allein  beschäftigen  können,  zeigt 
überall  eine  immanente  Lebendigkeit  und  eine  großartige  Selb- 
ständigkeit der  Kraftwirkung.  Robinets  System  ist  ein  monado- 
logischer  und  hylozoistischer  Pantheismus,  und  seine  Lehre  gründet 
sich  hauptsächlich  darauf  und  hat  ihre  Bedeutung  wesentlich  darin, 
daß  Robinet  die  Hypothese  der  Empfindungsfähigkeit  der 
kleinsten  Stoffteile  durchführte,  welche  bei  den  Denkern  jener 
Zeit  in  der  mannigfachsten  Weise  variiert  erscheint.  Zwei  Ge- 
dankenreihen wurden  dabei  besonders  wichtig.  Erstens  war  es  die 
spinozistische  Attributenlehre,  die  ihm  dabei  vorschwebte.  Dem 
naturalistischen  Forscher  zersplitterte  sich  gleichsam  die  eine 
Substanz  des  großen  Metaphysikers  in  die  unendliche  Masse  der 
Teilchen,  von  denen  dann  jedes  die  beiden  Attribute  der  Substanz, 
Ausdehnung  und  Bewußtsein,  Materialität  und  Intellektualität, 
in  sich  vereinigen  sollte.  Zweitens  aber  führte  ihn  auf  diese  Hypo- 
these die  Leibnizsche  Monadenlehre,  die  an  die  Stelle  der  körper- 
lichen Atome  vorstellende  Kräfte  gesetzt  hatte.  Diese  ursprüng- 
liche Verbundenheit  von  Raumbehauptung  und  Empfindung  in 
jedem  kleinsten  Stoff teilchen  galt  Robinet  als  eine  Urtatsache, 
ebenso  unbegreiflich  wie  die  erste  Ursache  der  Welt  selbst.  Seine 
ganze  Lehre  läuft  darauf  hinaus,  zu  zeigen,  daß  das  Universum 
mit  seinem  unendlichen  Leben  gegeben  sei,  und  daß  man  nicht 
fragen  könne,  woher  es  komme,  und  warum  es  gerade  so  lebendig 
sei,  wie  es  ist. 

Auf  diese  Weise  erweitert  Robinet  die  Buffonsche  Theorie  der 
organischen  Moleküle  zu  der  Annahme  einer  allgemeinen  Beseeltheit 
der  gesamten  Materie.    Er  betrachtet  deshalb  das  ürganiscl 


398  Robinet. 

sowohl  als  ein  Produkt  des  unorganischen  Mechanismus,  sondern 
vielmehr  als  den  natürlichen  und  ursprünglichen  Zustand  der  Materie. 
Im  Verfolg  dieser  Gedanken  erklärt  er  nicht  nur  die  Pflanzen, 
sondern  auch  die  Mineralien  für  beseelt  und  glaubt  auch  in  den 
Weltkörpern  organisierte,  empfindungs-  und  gedankenfähige  Wesen 
sehen  zu  dürfen.  Weiterhin  aber  stützt  sich  auf  diese  Annahme 
seine  Theorie  der  allgemeinen  Entwicklung.  Von  dem  scheinbar 
leblosesten  Gestein  bis  zum  Menschen  herauf  haben  wir  nur  eine 
zusammenhängende  Entwicklungsreihe  von  organischen  Wesen  und 
ein  Stufenreich  des  organischen  Lebens,  dessen  Glieder  selber  durch 
immer  höhere  Organisation  der  primitiven  Moleküle  entstanden 
sind.  So  ist  also  auch  der  Mensch  ein  zugleich  physischer  und 
psychischer  Organismus.  Diese  beiden  verschiedenen  Seiten  seines 
Seins  und  seiner  Tätigkeit  können  bei  ihm  sowenig  wie  irgendwo 
anders  auf  verschiedene  Substanzen  verteilt  werden.  Die  Unter- 
scheidung von  Seele  und  Leib  ist  eine  Täuschung.  Wie  jedes  kleinste 
Stoff teilchen  zugleich  Empfindungen  besitzt,  so  ist  im  Menschen 
dieselbe  unbekannte  Grundkraft,  welche  sein  körperliches  Leben 
gestaltet,  auch  die  Ursache  seiner  geistigen  Tätigkeiten.  Hier 
erinnert  Robinet  an  Voltaire  und  noch  mehr  an  Locke.  Das  Wesen 
der  gemeinsamen  Kraft  gilt  als  unbekannt,  und  nur  ihre  Erschei- 
nungen treten  teils  als  physische,  teils  als  psychische  Eigenschaften 
und  Tätigkeiten  in  unsere  Erfahrung.  Von  hier  aus  macht  Robinet 
eine  eigentümliche  und  interessante  Anwendung  des  Prinzips  der 
Erhaltung  der  Kraft.  Da,  wie  er  annimmt,  die  Grundkraft  jedes 
Organismus  sich  stets  gleichbleibt,  so  muß  auch  die  Summe  der 
von  ihr  ausgehenden  Wirkungen  immer  dieselbe  bleiben.  Wenn 
somit  eine  Kraftäußerung  im  physischen  Organismus  verschwindet, 
so  muß  eine  entsprechende  im  psychischen  auftreten,  und  um- 
gekehrt. Die  wertvollste  Anwendung,  die  von  diesem  Gedanken 
zu  machen  wäre,  deutet  Robinet  nur  an;  es  ist  diejenige,  welche 
noch  heute  ein  bisher  nicht  zu  lösendes  Problem  der  physiologischen 
Psychologie  bildet,  ob  nämlich  in  dieser  Weise  die  Umsetzung  der 
Reize  in  Empfindungen  und  der  Willensentschlüsse  in  Bewegungen 
sich  dem  großen  Axiom  der  Naturwissenschaft  von  der  Erhaltung 
der  Energie  unterordnen  läßt,  wonach  freilich  dessen  bisher  rein 
physikalische  Geltung  zugunsten  einer  metaphysischen  abgeändert 
werden  müßte.     Die  Richtung,  in  der  Robinet  seine  Hypothese 


Entwicklungssystem.  399 

verfolgt,  ist  vielmehr  darauf  angelegt,  die  Entwicklungsreihe  der 
Organismen  aus  diesem  Prinzip  zu  konstruieren.  Danach  werden 
sich  diese  wesentlich  dadurch  voneinander  unterscheiden,  daß  die 
Kraftwirkung  der  einen  mehr  auf  dem  physischen,  diejenige  der 
andern  mehr  auf  dem  psychischen  Gebiete  liegt.  Die  niedrigsten 
Organismen  zeigen  nur  ein  Minimum  von  dumpfem  psychischen 
Dasein  und  betätigen  ihr  Leben  fast  nur  durch  physische  Wirkungen ; 
die  höchsten,  vor  allen  natürlich  der  Mensch,  benutzen  dagegen 
die  physischen  Funktionen  nur  als  Grundlagen,  um  sie  in  psychische 
umzusetzen.  Die  Ähnlichkeit  dieser  Entwicklungsreihe  mit  der 
von  Leibniz  aufgestellten  Stufenfolge  der  Monaden  ist  evident. 
Für  den  menschlichen  Organismus  nimmt  somit  Robinet  an,  daß 
seine  wesentliche  Aufgabe  darin  bestehe,  physische  Tätigkeiten 
in  psychische  zu  verwandeln.  Damit  aber  betritt  er  den  Stand- 
punkt des  Sensualismus,  auf  dem  auch  er  die  abstrakten  Vorstellungen 
für  Umbildungen  der  Sinnesempfindungen  erklärt.  Durch  ein  ge- 
wisses Spiel  mit  dem  Worte  »Sinn«  fügt  er  sodann  den  gewöhnlichen 
fünf  Sinnen  des  Menschen  noch  einen  sechsten  bei,  den  moralischen 
Sinn,  wie  ihn  Shaftesbury  aufgestellt  hatte,  und  so  schmilzt  er  die 
psychologischen  Theorien  der  englischen  Moralphilosophie  in  sein 
System  der  anthropologischen  Entwicklung  ein. 

Den  höchsten  und  phantasievollsten  Schwung  aber  nimmt  das 
Denken  von  Robinet,  indem  er  das  Gesetz  der  Erhaltung  der  orga- 
nischen Kraft  auf  das  Universum  anwendet.  Man  muß  dabei  die 
Inkonsequenz  in  den  Kauf  nehmen,  daß  die  Kraft  des  einzelnen 
Organismus,  welche  oben  als  annähernd  konstant  gelten  sollte,  hier 
als  vermehrbar  und  verminderbar  gilt.  Die  Erhaltung  der  Kraft  ist 
danach  bei  den  einzelnen  Organismen  nur  relativ ;  zur  vollen  Geltung 
kommt  sie  erst  in  dem  ganzen  Organismus  der  Natur,  dessen  zu- 
sammenhängende Glieder  die  einzelnen  sind.  Geht  deshalb  in  einem 
Teile  Kraft  verloren,  so  muß  sie  anderswo  als  Vermehrung  auf- 
treten und  umgekehrt.  Da  nun  Vermehrung  der  Kraft  Lust  und 
Verminderung  derselben  Unlust  ist,  so  wird  im  ganzen  Weltall 
jeden  Augenblick  der  Zuschuß  von  Lust  durch  einen  entsprechenden 
Zuschuß  von  Unlust  aufgehoben,  und  beide,  Lust  und  Unlust, 
bleiben  sich  stets  gleich.  Der  Schmerz  des  einen  ist  die  Freude 
des  andern  und  umgekehrt.  Das  nennt  Robinet  eine  harmonische 
Auslösung  der  Naturtätigkeiten,  die  den  Schmerz  und  die  Trübsal 


400  Der  Materialismus. 

versöhne.  Diese  Welt  ist  die  beste;  denn  hätte  sie  mehr  Glück,  so 
hätte  sie  auch  mehr  Schmerz,  und  hätte  sie  weniger  Schmerz,  so 
hätte  sie  auch  weniger  Glück  —  eine  Argumentation,  die  freilich 
für  jeden  beliebigen  Grad  von  Glück  und  Schmerz  gilt.  Auch  hier 
ist  ohne  weitere  Ausführung  klar,  wie  stark  diese  Wendung  nach  der 
Theodicee  von  Leibniz  schmeckt. 

§  41.    Der  Materialismus. 

Robinet  bildet  mit  seinem  lebhaften  und  phantasievollen  Denken 
den  Höhepunkt  des  pantheistischen  Naturalismus,  und  es  ist  nicht 
unwahrscheinlich,  daß  in  dieser  Hinsicht  die  frühesten  Werke  von 
Diderot,  die  einen  ähnlichen  Aufschwung  nahmen,  auf  ihn  einge- 
wirkt haben.  Daß  diese  Denkart  sich  auf  die  Dauer  nicht  in  Frank- 
reich halten  konnte,  sondern  vielmehr  von  der  oben  angedeuteten 
materialistischen  Wendung  verdrängt  wurde,  lag  darin,  daß  der 
Materialismus  schon  vorher  in  ursprünglicherer  Weise  sich  im 
Denken  der  Franzosen  festgesetzt  hatte.  Er  war  zuerst  durch 
Gassendis  Erneuerung  des  demokritischen  und  epikureischen  Ato- 
mismus eingeführt  worden,  und  wenn  bei  der  allgemeinen  Be- 
schäftigung mit  der  englischen  Philosophie,  die  nun  in  Frankreich 
Sitte  wurde,  die  scharfe  Ausbildung,  die  der  Materialismus  bei  Hobbes 
gefunden  hatte,  einen  mächtigen  Eindruck  hervorrief,  so  durfte 
man  darin  gewissermaßen  ein  Zurückströmen  des  Gassendischen 
Einflusses  sehen,  insofern  als  auch  Hobbes  in  gewissem  Sinne 
darunter  gestanden  hatte.  Allein  dieser  Einfluß  hatte  inzwischen 
eben  durch  Hobbes  den  skeptisch  gefärbten  Orthodoxismus  ab- 
gestreift, womit  Gassendi  die  atomistische  Theorie  naiv  genug  zu 
verbinden  gewußt  hatte,  und  trat  nun  unverhüllt  als  reiner  Materia- 
lismus um  so  mehr  hervor,  als  er  an  der  mechanischen  Natur- 
philosophie eine  Stütze  fand.  Außerdem  aber  erwuchs  ihm  eine 
wesentliche  Förderung  und  gewann  er  seine  eindrucksvollste  Ge- 
staltung erst  durch  die  anthropologische  Begründung,  die  man  ihm 
in  Frankreich,  ähnlich  wie  es  die  englischen  Assoziationspsychologen 
taten,  aber  zunächst  durchaus  selbständig  und  unabhängig  von  ihnen 
gab.  Die  Vereinigung  aller  dieser  Elemente  findet  sich  zum  ersten 
Male  bei  Julien  Offrai  deJLajmettrie. 

Er  war  1709  zu  St.  Malo  geboren  und  nach  einer  umfassenden 
Schulbildung  zuerst  zum  eifrigen  Jansenisten  geworden,  vertauschte 


Lamettrie.  401 

jedoch  später  das  theologische  mit  dem  medizinischen  Studium  und 
betrieb  das  letztere  seit  1733  in  Leyden  unter  Boerhaeve.  Dieser 
bedeutende  Mann  hatte  damals  eine  große  Schule  der  ärztlichen 
Wissenschaft  um  sich  versammelt ;  er  selbst,  durchaus  philosophisch 
gebildet  und  namentlich  mit  den  Problemen  der  cartesianischen 
Schule  wohl  bekannt,  war  seiner  allgemeinen  Ansicht  nach  Spinozist, 
und  durch  ihn  übte  der  in  philosophischen  Kreisen  totgeschwiegene 
Spinozismus  eine  außerordentlich  wertvolle  Wirkung  auf  die  em- 
pirischen Wissenschaften  aus.  Überzeugt,  daß  die  materiellen  und 
die  seelischen  Tätigkeiten  nicht  verschiedenartigen  Substanzen  zu- 
geschrieben werden  dürften,  sondern  vielmehr  als  parallele  Phäno- 
mene derselben  Grundkraft  aufzufassen  seien,  hielt  er  es  für  die 
Aufgabe  der  Physiologie,  diesen  Parallelismus  aufzuzeigen,  und  gab, 
dem  Wesen  dieser  Wissenschaft  zufolge,  diesen  Untersuchungen  die 
Wendung  festzustellen,  wie  sich  mit  der  Abänderung  des  physischen 
auch  das  psychische  Leben  ändert.  Er  hat  dadurch  für  die  Medizin 
äußerst  segensreich  gewirkt,  in  Lamettrie  aber  jene  anthropo- 
logische Eichtung  angelegt,  welche  dieser  später  zur  Begründung 
des  Materialismus  verwendete.  Nach  Beendigung  seiner  Studien 
wurde  Lamettrie  zunächst  in  Paris  Militärarzt  und  nahm  in  dieser 
Funktion  auch  an  einem  Feldzuge  nach  Deutschland  teil.  Allein 
bald  machte  er  sich  diese  Position  unmöglich.  In  dem  Bewußtsein, 
als  Schüler  Boerhaeves  auf  der  Höhe  der  wissenschaftlichen  Medizin 
seiner  Zeit  zu  stehen,  schrieb  er  mit  dem  boshaften  Stil,  der  ihm 
eigen  war,  eine  Anzahl  übermütiger  Pamphlete  gegen  die  rohen 
Empiriker  und  Scharlatane,  die  sich  als  Ärzte  in  der  Pariser  Ge- 
sellschaft breit  machten.  Seine  erste  philosophische  Schrift  »Histoire 
naturelle  de  Päme«  (La  Haye  1745)  führte  zu  Zwistigkeiten  mit 
dem  Regimentsprediger,  und  nach  allen  diesen  Verfeindungen  mußte 
er,  als  der  Tod  ihm  seinen  Gönner  raubte,  zunächst  nach  Leyden 
flüchten,  sah  sich  aber  nach  kurzer  Zeit,  als  er  neben  weiteren 
Satiren  gegen  die  Pariser  Ärzte  auch  noch  sein  materialistisches 
Hauptwerk:  »L'homme  machine «  (Leyden  1748)  veröffentlicht 
hatte,  auch  aus  Holland  vertrieben  und  wurde  nun  von  Friedrich 
dem  Großen  an  dessen  Hof  gezogen,  wo  er  bis  zu  seinem  Tode  im 
Jahre  1751  ein  Asyl  genoß. 

Albert    Lange    hat    ihn    mit    Recht    den    Prügeljungen     des 
französischen    Materialismus    genannt.      Lamettrie    hat    es    selbst 

Windelband,  (jesch.  d.  n.  Philos.  I.  26 


402  Lamettrie. 

verschuldet;  er  zog  aus  seiner  Theorie  auf  moralischem  Gebiete  so 
rücksichtslose  und  so  absichtlich  freche  Konsequenzen,  daß  sich 
vor  ihm  selbst  diejenigen  bekreuzten,  welche  seine  Theorie  offen 
unterschrieben  und  jene  Konsequenzen  im  stillen  billigten  und  aus- 
übten. In  Wahrheit  ist  er  für  das  XVIII.  Jahrhundert  der  Urheber 
des  Materialismus,  dessen  Werke  die  Nachfolger  geplündert  haben, 
ohne  den  Verrufenen  zu  nennen,  und  zu  dessen  Gedanken  sie  nur 
noch  weniges  hinzufügen  konnten.  Wenn  er  sich  selbst  einmal 
einen  Pyrrhonianer  nannte,  so  ist  das  nur  dahin  zu  verstehen,  daß 
er  alle  Glaubenslehren  in  Bausch  und  Bogen  verwarf.  Im  übrigen 
war  er  von  der  Fähigkeit  der  menschlichen  Vernunft,  die  Welt 
zu  erkennen,  vollständig  durchdrungen.  Er  nannte  Montaigne  den 
ersten  Franzosen,  der  zu  denken  gewagt  habe,  indem  er  der  Autorität 
gegenüber  sich  auf  das  eigene  Urteil  verließ.  Seine  eigene  Lehre 
wurzelt  zunächst  in  der  mechanischen  Naturphilosophie  Descartes'. 
Er  sagt,  wenn  man  diese  rücksichtslos  zu  Ende  denke,  alle  Teleologie 
wirklich  ausschließe  und  alle  Bewegungen  nur  auf  Stoß  und  Gegen- 
stoß zurückführe,  so  bleibe  eben  nichts  übrig,  als  die  Materie  und 
ihre  Bewegung.  Die  »mechanici«  müssen  notwendig  »materialistici « 
werden.  Er  nennt  sich  boshaft  genug  einen  Cartesianer  und  be- 
hauptet (nicht  ohne  eine  gewisse  Berechtigung),  er  sei  ein  Schüler, 
der  die  Gedanken  auszusprechen  wage,  welche  der  Meister  aus 
Furcht  vor  den  Pfaffen  verschwiegen  habe.  Er  rühmt  es,  daß 
Descartes  die  Tiere  für  Automaten  erklärt  habe;  allein  die  Gründe, 
die  dafür  sprechen,  gelten  ebensogut  beim  Menschen,  und  es  sei 
kein  Grund,  diese  Konsequenz  zu  verhüllen.  Lamettrie  sucht 
deshalb  vor  allem  nachzuweisen,  daß  zwischen  Mensch  und  Tier 
kein  qualitativer,  sondern  nur  ein  quantitativer  und  gradueller 
Unterschied  ist,  und  lenkt  damit  den  Materialismus  aus  dem  natur- 
philosophischen Fahrwasser  in  dasjenige  der  physiologischen 
Psychologie.  Er  selbst  behauptet,  durch  die  Beobachtung  der 
Fieberwallunoen  seines  Gehirns  zuerst  auf  den  Gedanken  dieser 

o 

Abhängigkeit  der  Seele  vom  physischen  Organismus  gekommen 
zu  sein,  und  knüpft  daran  die  Forderung,  daß  man  die  bisher  un- 
bekannte und  für  sich  allein  unerkennbare,  Seele  aus  dem  Körper 
zu  studieren  anfangen  sollte.  Alles,  was  in  der  Seele  sich  findet, 
ist  irgendwie  durch  den  Körper  hindurchgegangen.  ',  Man  mache 
einmal  —  damit  warf  Lamettrie  unter  Bezugnahme  auf  den  Kirchen- 


Materialismus.  403 

lehrer  Arnobius  einen  später  vielfach  variierten  Gedanken  hin  — 
das  Experiment:  man  lasse  einen  Menschen  von  frühester  Jugend 
an  in  voller  Einsamkeit  ohne  jede  Gedankenmitteilung  von  anderen 
aufwachsen,  und  man  sehe  zu,  was  in  ihm  von  Vorstellungen  zu 
finden  sein  wird.  Es  wird  alles  noch  seinen  Ursprung  aus  den 
Sinnen  erkennen  lassen.  Folgt  man  aber  dieser  sinnlichen  Erkenntnis 
und  entschlägt  man  sich  aller  künstlichen  Abstraktionen,  so  zeigen 
die  Sinne  uns  niemals  jene  tote  oder  formlose  Materie,  von  der  die 
Naturphilosophen  gesprochen  haben,  sondern  wir  kennen  die 
Materie  nicht  anders  als  in  Bewegung  und  in  bestimmten  Formen. 
Was  berechtigt  uns,  die  Abstraktion,  die  wir  selbst  vollziehen  können, 
in  die  Welt  hineinzudeuten?  Wir  haben  keinen  Grund,  noch  etwas 
anderes  zu  erdichten,  woher  die  Bewegung  und  die  Form  stamme ; 
die  Materie  trägt  vielmehr  das  Prinzip  der  Lebendigkeit  und  ihrer 
Bewegung  in  sich  selbst.  Sie  tut  es  nicht  nur  in  den  großen  Organis- 
men, sondern  schon  in  deren  einzelnen  Teilen.  In  dieser  Hinsicht 
hat  Lamettrie  wertvolle  Untersuchungen  und  Experimente  an- 
gestellt und  veranlaßt.  Er  verfolgte  mit  Vorliebe  die  Selb- 
ständigkeit des  Lebens,  die  den  einzelnen  Organen  nach  ihrer  Ab- 
lösung vom  Ganzen  oder  aber  dem  Ganzen  nach  Fortnahme  wesent- 
licher Teile  übrig  bleibt,  die  Bewegungen  enthaupteter  Tiere  usw., 
und  benutzte  auch  diese  Gelegenheit  durchaus  korrekt,  um  den 
mechanischen  Charakter  auch  des  organischen  Lebens  darzulegen. 
Alles  in  allem  kommt  er  darauf  hinaus,  daß  dasjenige,  was  empfindet, 
denkt  und  will,  nichts  anderes  sein  kann,  als  die  materiellen  Stoff  - 
teilchen.  Er  führt  diesen  Beweis  in  der  Naturgeschichte  der  Seele 
mit  fein  andeutender  Verhüllung  durch  die  Schulbegriffe  von 
Substanz,  Akzidenz  usw.  »L'homme  machine«  dagegen  spricht 
ihn  in  populärer  Darstellung  ganz  offen  und  rückhaltlos  aus.  Der 
Geist  ist  also  nichts  anderes  als  eine  gewisse  Funktion,  welche  der 
Körper  so  wie  die  übrigen  ausübt.  Das  Organ  dafür  ist  das  Gehirn, 
mit  dessen  Bewegungen  sich  Lamettrie  relativ  vertraut  erweist.  Die 
hohe  Entwicklung,  welche  das  menschliche  Denken  den  Tieren 
gegenüber  zeigt,  führt  er  bereits  auf  die  feinere  Anlage  der  Gehirn- 
windungen des  Menschen,  auf  die  damit  gegebene  ausgedehntere 
Erinnerungsfähigkeit  und  die  dadurch  möglich  gewordene,  mit 
Hilfe  der  Gewöhnung  immer  weiter  bildende  Erziehung  zurück. 
Wenn  man  es  nur  recht  verstünde,  meint  Lamettrie,  so  müßten 

26* 


404  Lamettrie. 

sich  auch  die  niederen  Organismen  heranbilden  lassen,  und  er  ver- 
folgte in  dieser  Hinsicht  den  Gedanken,  den  Affen  zum  Sprechen  zu 
erziehen,  was  nun  freilich  die  ganze  Kurzsichtigkeit  der  damaligen 
Auffassung  charakterisiert. 

Die  Grundzüge  des  Materialismus  sind  damit  festgestellt,  und 
Lamettrie  findet  eine  Freude  daran,  ihre  negativen  Folgerungen  so 
schroff  wie  möglich  auszusprechen.  Ist  der  Geist  nichts  als  ein 
Gehirnsekret,  so  geht  er  auch  mit  dem  Gehirn  zugrunde,  und  die 
Unsterblichkeit  ist  eine  Absurdität.  Und  wo  hat  das  Universum 
ein  Gehirn,  welches  den  göttlichen  Geist  erzeugte?  Ein  solcher 
ist  absolut  unvorstellbar,  und  der  Atheismus  erscheint  als  der 
Zwillingsbruder  des  Materialismus.  Zwar  stellt  Lamettrie  gelegent- 
lich die  ^Existenz  Gottes'  als  eine  wissenschaftlich  unentscheidbare 
Frage  hin,  allein  er  läßt  klar  durchblicken,  daß  alles  gegen  die 
positive  und  alles  für  die  negative  Antwort  spreche.  In  theoretischer 
Hinsicht  ist  die  Hypothese  der  Gottheit  unnötig,  wenn  die  Materie 
die  eigen  tliche^Substanz  und  das  Prinzip  ihrer  eigenen  Bewegung 
ist,  und  man  kann  von  ihr  höchstens  einen  Gebrauch  machen, 
welcher  der  Methode  der  mechanischen  Naturbetrachtung  hindernd 
oder  störend  im  Wege  steht.  Am  meisten  aber  nimmt  der  Atheismus 
Lamettries  seine  polemische  Tendenz  nach  der  moralischen  Sichtung. 
Er  erneuert  in  dieser  Hinsicht  die  epikureische  Lehre  und  betont  an 
ihr  gerade  diejenigen  Seiten,  welche  Gassendi  mehr  hatte  zurück- 
treten lassen.  Der  Gottesbegriff  sei  für  das  Wohl  der  Menschheit 
auf  das  äußerste  gefährlich:  aus  dem  religiösen  Fanatismus  seien 
mehr  Störungen  des  Einzelglücks,  der  staatlichen  Ruhe  und  des 
Völkerfriedens  hervorgegangen,  als  aus  allen  menschlichen  Lastern 
zusammengenommen,  und  die  Welt  werde  nicht  glücklich  werden, 
ehe  sie  Bayles  Staat  von  Atheisten  realisiert  habe. 

Noch  radikaler  wurde  Lamettrie  in  Rücksicht  sittlicher  Fragen, 
und  seine  Schriften  enthalten  auch  hier  die  Quintessenz  von  allem, 
was  der  spätere  französische  Materialismus  breitgetreten  hat.  Man 
stellt  das  gewöhnlich  so  dar,  als  habe  Lamettrie  unmittelbar  aus 
der  materialistischen  Leugnung  der  Unsterblichkeit  die  billige  Folge- 
rung gezogen:  genieße  so  lange  du  kannst  —  nachher  ist's  aus: 
»la  farce  est  jouee«.  Gewiß  findet  sich  bei  ihm  auch  diese  Wen- 
dung; wenn  man  aber  infolgedessen  meint,  das  sei  eine  notwendige 
Konsequenz  des  Materialismus,  so  muß  dieser  als  eine  rein  theo- 


Hedonismus.  405 

retische  und  metaphysische  Hypothese  gegen  solche  Ungerechtigkeit 
in  Schutz  genommen  werden.  Von  Demokrit  an  haben  zahlreiche 
Denker  in  der  Geschichte  bewiesen,  daß  der  Materialismus  auch 
mit  der  edelsten  und  reinsten  Gesinnung  Hand  in  Hand  gehen  kann. 
Daß  er  es  bei  Lamettrie  nicht  tat,  lag  teils  an  dessen  Persönlichkeit, 
teils  an  der  Verknüpfung  des  Materialismus  mit  dem  Eudämonis- 
mus.  Denn  erst  durch  diese  wird  der  Materialismus  moralisch 
destruktiv.  Erst  wenn  alles  ethische  Leben  auf  das  Prinzip  des 
Glückseligkeitstriebes  gegründet  wird,  erklärt  der  Materialismus :  die 
Glückseligkeit  besteht  in  der  ^sinnlichen  Lust.  Genau  so  verfährt 
Lamettrie  und  zeigt  damit  nur  die  materialistischen  Konsequenzen 
des  Eudämonismus,  der  die  gesamte  Ethik  des  XVIII.  Jahrhunderts 
beherrschte.  Von  der  Annahme  aus,  daß  der  Zweck  des  Menschen- 
lebens in  nichts  anderem  als  in  der  Glückseligkeit  zu  finden  sei, 
sucht  er  zu  beweisen,  daß,  da  wir  sinnliche  Wesen  sind,  auch  der 
Sinn  engenuß  das  höchste  Ziel  des  Handelns  bilden  müsse.  An  die 
Stelle  eines  absoluten  tritt  damit  ein  relatives  Prinzip  der  Moral, 
indem  für  jeden  das  gut  sein  soll,  was  ihm  die  meiste  Lust  gibt. 
Von  diesem  Standpunkt  aus  entwickelt  er  sodann  eine  aristippische 
Lusttheorie,  die  sich,  völlig  wie  die  antike,  um  die  Vorzüge  körper- 
licher und  geistiger  Lüste  dreht  und  sich  für  die  ersteren  entscheidet. 
Wenn  er  z.  B.  gelegentlich  der  Freude  an  der  wissenschaftlichen 
Arbeit  mit  einer  Art  von  Begeisterung  gedenkt,  so  fragt  er  auf  der 
anderen  Seite,  ob  nicht  die  ganze  Gelehrsamkeit  vielleicht  schließ- 
lich nur  als  eine  Depravation  der  natürlichen  Anlage  des  Menschen 
anzusehen  sei  —  dieselbe  Frage,  welche  später  Rousseau,  freilich  in 
ganz  anderem  Sinne,  bedingungslos  bejahte.  Jedenfalls,  meinte 
Lamettrie,  gründe  sich  das  Glück  des  Menschen  nicht  auf  seine 
geistige  Bildung,  sondern  auf  seine  körperliche  Genußfähig- 
keit. Das  geistige  Leben  hat  für  den  Genuß  nur  den  Wert,  die 
sinnliche  Lust  zu  zügeln  und  zu  ordnen,  den  Unterschied  grober  und 
feiner,  kurzer  und  dauernder  Lust  einzusehen  und  richtig  zu  ver- 
werten. Besonders  aber  verfolgt  Lamettrie  den  epikureischen  Ge- 
danken, der  Wert  der  Bildung  bestehe  in  der  Untergrabung  der 
Vorurteile,  die  das  Glück  hemmen  und  stören,  und  diese  Vorurteile 
sind  auch  für  ihn  wesentlich  die  religiösen.  Namentlich  rechnet  er 
dazu  die  Gewissensbisse,  welche  er  auf  das  lebhafteste  verwirft. 
Die  Reue  habe  nur  auf  einen  vergangenen  Zustand    Bezug,    sie 


406  Lamettrie. 

beeinflusse  die  Zukunft  nicht,  and  ihre  einzige  Wirkung  sei  eine 
selbstquälerische  Verderbung  und  Vergiftung  der  gegenwärtigen 
Lust.  Diese  Behauptungen  sind  gewiß  selbst  auf  dem  Standpunkte 
Lamettries  unglaublich  oberflächlich  und  kurzsichtig:  aber  es  ist 
anderseits  lächerlich,  wenn  man  gemeint  hat,  er  habe  diese  Theorie 
nur  ersonnen,  sein  eigenes  Gewissen  zu  betäuben  und  sein  Lust- 
leben zu  beschönigen.  Freilich  war  er  kein  Asket,  aber  wir  wissen 
auch  durchaus  nichts  von  ihm,  was  ihn  sittlich  tiefer  stellte,  als 
durchschnittlich  die  ganze  Gesellschaft,  aus  der  er  hervorging, 
und  als  die  große  Masse  der  Menschen  zu  allen  Zeiten  war.  Mit 
Recht  ist  sogar  hervorgehoben  worden,  daß  das  Widerwärtige  in 
dem  rücksichtslosen  Zynismus,  mit  dem  er  namentlich  das  Ge- 
schlechtliche behandelt,  gerade  in  der  Gemachtheit  und  Affektiert- 
heit besteht.  Während  Gassendi  aus  der  epikureischen  Ethik  nur 
die  edleren  Seiten  entnahm,  bleibt  Lamettrie  ganz  absichtlich  bei 
den  niedrigeren  stehen,  und  auch  diese  Absicht  ist  durchsichtig 
genug.  Mit  einem  fast  bornierten  Haß  gegen  das  Christentum 
hebt  er  gerade  diejenigen  Seiten  hervor,  welche  diesem  am  ärger- 
lichsten sind.  Der  mönchischen  Enthaltsamkeit  gegenüber  predigt 
er  den  vollen  Sinnengenuß,  und  das  Problem,  womit  sich  das  christ- 
liche Gemüt  und  das  christliche  Denken  wie  mit  keinem  anderen 
beschäftigt  hat,  das  Bewußtsein  der  Sünde,  die  Reue,  erklärt  er 
für  eine  nutz-  und  grundlose  Selbstquälerei.  Diese  Spitze  seiner 
Expektorationen  erklärt  sie,  ohne  sie  zu  entschuldigen.  Lamettrie 
gehört  zu  jenen  blinden  Parteigängern,  ja  er  figuriert  mit  in  erster 
Linie  darunter,  welche  in  der  berechtigten  Auflehnung  gegen  die 
kirchliche  Bevormundung  wahllos  zu  den  schärfsten  Waffen  griffen : 
es  ist  charakteristisch  genug  für  diese  ganze  Richtung,  daß  er 
lieber  liederlich,  als  fromm  erscheinen  wollte.  Um  endlich  aus 
den  individuellen  Tugenden  der  Genußfähigkeit  die  sozialen  ab- 
zuleiten, begnügte  er  sich  mit  einer  oberflächlichen  Benutzung  des 
englischen  Prinzips  der  ^wohlwollenden  Neigungen.  Was  man  im 
sozialen  Sinnes  gut  nenne,  sei  das  Übergewicht  der  Rücksicht  auf 
das  allgemeine  über  diejenige  auf  das  private  Wohlsein.  Die  psycho- 
logische Möglichkeit  dieses  Übergewichts  in  dem  nach  der  eigenen 
Lust  strebenden  Menschen  sucht  er  auf  eine  höchst  interessante 
Weise  zu  begründen:  er  führt  in  die  Moralphilosophie  ein  spezifisch 
französisches  Element  ein,  das  Ehrgefühl,  welches,  an  sich  nur 


Der   Sensualismus.  407 

eine  verfeinerte  Form  des  Egoismus,  seinen  moralischen  Wert 
eben  dadurch  erhalte,  daß  es  sich  nur  in  einem  Streben  für  das 
allgemeine  Wohl  realisieren  kann.  Daneben  hat  Lamettrie  den 
Blick  der  Zeit  in  höchst  bemerkenswerter  Weise  auf  gewisse  Miß- 
stände der  Gesellschaft  geleitet  und  namentlich  außerordentlich 
glücklich  gegen  die  Barbarei  der  Strafen  von  seinem  Standpunkt 
aus  polemisiert,  indem  er  sie  als  nutzlose  und  deshalb  ungerecht- 
fertigte Vermehr  uns;  der  menschlichen  Unlust  bezeichnete.  So  sehr 
er  damit  der  unvernünftigen  Praxis  seiner  Zeit  gegenüber  im  Rechte 
war,  so  gefährlich  wurde  es  auf  der  anderen  Seite,  daß  er  auch 
hierin  kein  Maß  zu  halten  vermochte.  Er  behandelte  diese  Frage 
gewissermaßen  in  Parallele  zu  derjenigen  der  Reue.  Die  Bestrafung 
des  Verbrechers  ist  ja  eine  Art  von  Reueakt  der  Gesellschaft,  und 
auch  hierin  führt  ihn  eine  ähnliche  Kurzsichtigkeit  zu  dem  Extreme 
gänzlicher  Verwerfung.  Er  benutzt  den  an  sich  wertvollen  Ge- 
danken der  Verwandtschaft  von  Verbrechen  und  Wahnsinn,  um 
der  Gesellschaft  das  Recht  zur  Strafe  im  Prinzip  abzustreiten. 
Überall  tritt  uns  bei  ihm  ein  forcierter  Radikalismus  ent- 
gegen, eine  unreife  Freude  an  der  Paradoxie,  und  dadurch  verdiente 
er  das  Geschick  der  maßlosen  Verketzerung,  das  sein  Andenken 
überall  erfahren  hat. 

§  42.    Der  Sensualismus. 

Die  Begründung  des  Materialismus  geschieht  bei  Lamettrie 
zweifellos  durch  eine  Anlehnung  an  die  sensualistische  Erkenntnis- 
theorie, und  in  der  Tat  ist  der  Sensualismus  die  einzige  Er- 
kenntnistheorie, die  der  Materialismus  gebrauchen  kann.  Aber 
wenn  man  gewöhnlich  meint,  in  der  historischen  Entwicklung  sei 
der  Materialismus  die  notwendige  Konsequenz  des  Sensualismus, 
so  ist  das  ein  Irrtum.  Weltanschauungen  wachsen  überhaupt  in 
den  seltensten  Fällen  aus  Methoden  hervor;  sie  ziehen  vielmehr 
diese  nach  sich,  wenn  sie  selbst  aus  irgendwelchen  sachlichen  Über- 
legungen oder  Interessen  entstanden  sind.  So  hat  im  Altertum 
der  naive  Materialismus  der  frühesten  kosmologischen  Metaphysik 
trotz  rationalistischer  Postulate  eine  durchweg  sensualistische 
Psychologie  erzeugt.  Für  die  verwandten  Verhältnisse  in  Frankreich 
ist  es  ein  entschiedenes  Verdienst  Albert  Langes,  der  Hegeischen 
Konstruktion   gegenüber,    wonach   der    Sensualismus,    von   Locke 


408  Condillac. 

aus  durch  Condillac  nach  Frankreich  verpflanzt,  hier  den  Mate- 
rialismus  erzeugt  haben  sollte,  an  der  Hand  der  Tatsachen  nach- 
gewiesen  zu  haben,  daß  Lamettries  Materialismus  nach  dieser  Seite 
hin  durchaus  unabhängig  entstanden  ist,  daß  vielmehr  der  franzö- 
sische Materialismus  den  Sensualismus  erst  ergriffen  und  zu  seiner 
systematischen  Ausbildung  benutzt  hat.  Aber  er  brauchte  ihn  in 
diesem  Falle  nicht  erst  zu  erzeugen,  sondern  fand  ihn  vor.  Der 
Sensualismus  entwickelte  sich  aus  der  Lockeschen  Lehre  mit  einer 
Notwendigkeit,  die  am  klarsten  bei  Berkeley  hervortrat.  Aber 
anderseits  beweist  gerade  dieser  Schöpfer  des  Spiritualismus  deut- 
lich, wie  wenig  der  Materialismus  die  notwendige  Konsequenz  des 
Sensualismus  ist.  Das  gleiche  bewies  Voltaire,  der  trotz  aller 
Neigung  zu  einer  sensualistischen  Auffassung  der  Lockeschen  Lehre 
sich  dem  Materialismus  stets  gegenüberstellte,  und  das  gleiche 
lehrt  in  gewissem  Sinne  auch  der  bedeutendste  unter  den  franzö- 
sischen    Sensualisten,    Etienne    Bonnot    de    Condillac    (1715 

i    mi  in  iiiw  l  nun»  w  lA 

bis  1780). 

Dieser  war  anfangs,  wie  Voltaire,  lediglich  ein  Verbreiter  der 
Lockeschen  Ansichten.  Sein  »Essai  sur  l'origine  de  la  connais- 
sance  humaine«  (Amsterdam  1746)  brachte  den  Lockeschen  Empi- 
rismus in  systematischer  Durchführung  zur  Kenntnis  seiner  Lands- 
leute, und  der  drei  Jahre  darauf  erschienene  »Traite  des  systemes« 
verteidigte  ihn  gegen  Malebranche,  Spinoza  und  Leibniz.  Erst 
durch  den  »Traite  des  sensations  «  (London  1754)  begründete  Condil- 
lac im  Unterschiede  von  Locke  seinen  eigenen,  überaus  einflußreich 
gewordenen  Standpunkt.  Hatte  er  früher  Sensation  und  Keflexion 
als  die  beiden  gleich  ursprünglichen  Quellen  der  Erfahrung  ange- 
sehen, so  tat  er  nun  denselben  Schritt  wie  Berkeley,  daß  er  beide 
in  einer  Linie  als  nur  graduell  verschieden  behandelte,  und  im  Gegen- 
satz zu  Berkeley  gab  er  dieser  Ansicht  die  Fassung,  daß  die  innere 
Wahrnehmung  nur  eine  umgeformte  Art  der  äußeren  sei.  Des- 
halb ging  er  darauf  aus,  alle  Tatsachen  des  Denkens  bis  zum  Selbst- 
bewußtsein und  alle  Tatsachen  des  Gefühls-  und  Trieblebens  bis  zum 
bewußten  Willen  durch  das  Prinzip  der  Umformung  aus  der  sinn- 
lichen Empfindung  genetisch  abzuleiten  und  zu  zeigen,  daß  alle 
geistigen  Vorgänge  nur  modifizierte  Empfindungen  seien.  Dabei 
ist  er  sich  des  Gegensatzes  gegen  Berkeley  ebenso  bewußt,  wie 
der  Verwandtschaft  mit  ihm.    Er  erklärte,  dessen  Lehre  sei  Wahn- 


Positivismus.  409 

sinn;  aber  von  allen  Systemen  sei  keines  so  schwer  zu  widerlegen, 
wie  dieses.  In  der  besonderen  Begründung  geht  er  auf  den  Ge- 
danken Lamettries  ein,  das  menschliche  Seelenleben  als  eine  graduelle 
Steigerung  des  tierischen  zu  betrachten  und  den  Unterschied  beider 
nur  aus  dem  Umfange  der  Empfindungen  abzuleiten,  die  zur  geistigen 
Umformung  gelangen.  Er  machte  dabei,  einem  Winke  Lamettries 
folgend,  die  berühmte  Fiktion  einer  Bildsäule,  der  man  sukzessive 
die  Empfindlichkeit  der  einzelnen  Organe,  der  Nase,  des  Ohres, 
des  Gesichts,  der  Haut,  mitteile,  um  zu  zeigen,  in  welchem  Um- 
fange diese  sukzessive  Zufuhr  der  Empfindungen  die  Gestalt  des 
geistigen  Lebens  verändern  würde.  Da  in  der  Empfindung  jedes- 
mal eine  doppelte  Beziehung  gegeben  ist,  einerseits  ein  Vorstellen, 
anderseits  ein  Gefühl  und  das  daraus  erwachsende  Verlangen,  so 
sollen  sich  nach  Condillac  aus  den  Empfindungen  zwei  Reihen 
seelischer  Zustände  entwickeln:  auf  der  theoretischen  Linie  durch 
allmähliche  Umbildung  Aufmerksamkeit,  Erinnerung,  Unterschei- 
dung, Vergleichung,  Schlußtätigkeit,  Einbildung,  Verwunderung, 
Abstraktion  und  zuletzt  Erkenntnis  allgemeiner  Wahrheiten,  — 
auf  der  praktischen  Linie  Begierde,  Liebe,  Haß,  Hoffnung,  Furcht 
und  zuletzt  der  moralische  Wille.  Das  ist  genau  die  Richtung  der 
Assoziationspsychologie  und  genau  derselbe  Versuch,  die  Um- 
bildungen, welche  der  Empfindungsinhalt  erfährt,  als  bloße  Pro- 
dukte des  verschiedenen  Empfindungsinhaltes  selbst  aufzufassen 
oder  aus  dem  Inhalt  auch  die  Form  zu  erklären,  die  nach  rationa- 
listischem Prinzip  aus  dem  Wesen  des  Geistes  stammt.  Die  Ein- 
seitigkeit des  Empirismus  bestand  darin,  die  Form  für  ein  Produkt 
des  Inhaltes  zu  halten,  diejenige  des  Rationalismus  darin,  den 
Inhalt  aus  der  Form  ableiten  zu  wollen;  die  Überwindung  beider 
durch  Kant  führte  deshalb  zunächst  notwendig  auf  den  Dualismus 
von  Form  und  Inhalt.  Nebenbei  wird  in  dieser  Untersuchung 
von  Condillac  mit  entschiedener  Anlehnung  an  Locke  ein  Haupt- 
gewicht auf  die  Mitwirkung  der  Sprache  gelegt,  welche,  ursprüng- 
lich nur  der  natürliche  Ausdruck  der  Empfindung,  vermöge  der 
lautlichen  Assoziation  die  Tätigkeiten  der  Reproduktion  und  der 
Abstraktion  ermöglicht  und  erleichtert. 

Später  ist  Condillac  in  immer  einseitigerer  Verfolgung  der 
nominalistischen  Theorien  und  namentlich  der  Humeschen  Lehren 
zu  den  letzten  Konsequenzen  des  Terminismus  und  Positivismus 


410  Condillac. 

fortgeschritten.  Er  bildete  die  Lockesche  Sprachphilosophie  zu  einer 
allgemeinen  »Theorie  der  Zeichen«  aus.  Nach  dem  Prinzip  der 
»Semeiotik«  sind  die  Empfindungen  des  Menschen  nur  Zeichen 
für  Dinge  und  nicht  deren  Abbilder,  und  besteht  das  Denken  nur 
in  der  korrekten,  widerspruchslosen  Verbindung  solcher  Zeichen. 
Die  übliche  und  vornehmste  Art  dieser  Zeichen  bietet  die  Laut- 
sprache dar;  aber  neben  ihr  gibt  es  zu  gleichem  Zwecke  auch  die 
Gebärdensprache,  die  Ziffern,  die  Buchstaben  und  die  Infinitesimal- 
rechnung. Jede  solche  »Sprache  «  hat  die  Aufgabe,  die  Erscheinungen 
zu  zerlegen  und  ihre  Elemente,  die  Ideen,  zu  neuen  Bildungen  zu- 
sammenzufügen. Doch  ist  diese  spätere  Lehre  Condillacs,  an- 
gedeutet in  seiner  Logik  (1780),  erst  in  der  posthumen  Schrift  »Langue 
des  calculs«  ausgeführt  worden:  ihr  Erscheinen  im  Jahre  1798  ist 
für  die  Philosophie  der  französischen  Eevolution  positiv  und  negativ 
bestimmend  geworden. 

Wie  wenig  aber  dieser  Sensualismus  und  Positivismus  an  sich 
materialistisch  ist  oder  sein  will,  beweist  die  Condillacsche  Er- 
kenntnistheorie. Er  macht  durchaus  nicht  den  falschen  Schluß, 
daß,  weil  wir  nur  aus  den  Sinnen  Erkenntnis  haben,  auch  die  wirk- 
lichen Dinge  sinnlich  seien.  Zwar  meint  er,  daß  von  allen  Sinnen 
der  Tastsinn  uns  die  Wirklichkeit  am  ersten  und  besten  erkennen 
läßt;  aber  auch  dies  ist  nur  im  Lockeschen  Geiste  gedacht.  Die 
Ideen  gelten  ihm  für  Einwirkungen  der  Dinge  auf  uns,  die  sinn- 
lichen Qualitäten  nur  als  subjektive  oder  sekundäre  Eigenschaften. 
Lediglich  die  räumlichen  und  zeitlichen  Bestimmungen  sollen  den 
Dingen  selbst  zukommen,  und  der  Vorzug  des  Tastsinns  besteht 
nach  ihm  wesentlich  darin,  daß  er  uns  am  reinsten  die  räumliche 
Wirklichkeit  und  Konfiguration  eines  Dinges  zur  Empfindung 
bringt.  Von  den  wahren  inneren  Eigenschaften  der  Dinge  da- 
gegen meint  er,  daß  sie  uns,  seit  dem  Sündenfalle  unerkennbar 
geworden  seien.  Der  Schluß  auf  die  Materialität  der  Seele  ist  in 
seinem  Sinne  nicht  nur  unerlaubt,  sondern  geradezu  falsch.  Zwar 
besteht  das^Ich  seinem  Inhalte  nach  nur  aus  der  Gesamtheit  der 
Sensationen,  wie  er  sehr  sorgfältig  darzutun  sucht;  aber  die^Einheifr 
des  zusammenfassenden  Bewußtseins  setzt  einc  einfaches'  Substrat 
voraus,  in  welchem  alle  jene  Umformungen  vonstatten  gehen. 
Da  nun  alles  Materielle  ins  Unendliche  teilbar  sei,  so  könne  das 
Denkende  keine  Materie  sein.     Ebensowenig  negativ  verhält  sich 


Bonnet.  41 1 

dieser  Sensualismus  in  theologischer  und  moralischer  Beziehung. 
Zwar  leugnet  er  Locke  gegenüber  die  Möglichkeit  einer  Natur- 
religion und  namentlich,  daß  sich  auf  sensualistischen  Grundlagen 
ein  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  finden  lasse;  aber  demgegenüber 
behauptet  er  die  Möglichkeit  einer  auf  sinnlichem  Wege  statt- 
findenden Offenbarung  und  des  darauf  gebauten  Glaubens.  So- 
wenig er  endlich  daran  zweifelt,  daß  Lust  und  Unlust  die  Trieb- 
federn aller  menschlichen  Handlungen  bilden,  so  ist  er  doch  ander- 
seits überzeugt,  daß  die  moralischen  Gesetze  eine  davon  unabhängige 
Geltung  haben.  Er  ist  nicht  Eudämonist  und  darum  auch  kein 
Vertreter  des  praktischen  Materialismus. 

Noch  weniger  zeigen  sich  solche  materialistische  Neigungen  bei 
Charles  Bonnet  (1720 — 1793),  einem  französischen  Schweizer, 
dessen  »Essai  de  psychologie«  (London  1755),  »Essai  analytique 
sur  les  facultes  de  1'äme«  (Genf  1759)  ebenso  wie  seine  »Con- 
templation  de  la  nature«  namentlich  in  Deutschland  von  Einfluß 
wurden.  Auf  Grund  einer  der  Condillacschen  ganz  ähnlichen 
Fiktion  der  sukzessiven  Empfindungszufuhr  weist  er  nach,  daß  alle 
psychischen  Bewegungen  des  Menschen  nur  aus  der  Sinnesempfin- 
dung  stammen.  In  eingehendster  Weise  betrachtet  er  die  Ab- 
hängigkeit der  Vorstellungen  von  den  Bewegungen  des  Gehirns 
und  behauptet,  man  müsse,  da  wir  von  dem  eigentlichen  Wesen 
der  Seele  nichts  wissen,  sich  auf  die  Untersuchung  der  physiologischen 
Bedingungen  ihrer  Tätigkeit  beschränken.  So  arbeitet  er  daran, 
für  die  einzelnen  Stufen  der  Geistestätigkeit  eine  aufsteigende 
Keine  von,,  Gehirnzuständen  aufzufinden,  und  macht  namentlich 
die  Hypothese,  daß  das  Gedächtnis  und  überhaupt  alles  Beharren 
der  Vorstellungen  auf  einer  gewissen  Einübung  des  Gehirns  und 
seiner  Gewöhnung  an  bestimmte  Bewegungsformen  beruhe.  Für  die 
Begriffsbildung  wird  es  schon  schwieriger,  den  physiologischen  Zu- 
stand auch  nur  hypothetisch  näher  zu  bestimmen:  doch  benutzt 
Bonnet  dazu  feinsinnig  in  einer  gleichfalls  an  Condillac  erinnernden 
Weise  die  Mitwirkung  der  sprachlichen  Vorgänge  und  zeigt  dann 
wie  sich  aus  diesen  konstanten  Begriffen  die  vernünftige  Persön- 
lichkeit bilde./  Ähnlich  verfährt  er  auf  dem  praktischen  Gebiete. 
Als  das  Grundbestreben  bezeichnet  er  hier  die  Selbstliebe  und  ent- 
wickelt daraus  mit  prinzipieller  Durchführung  des  Determinismus 
in  letzter  Instanz  auch  das  sittliche  Leben. 


412  Bonnet. 

Trotz  dieser  weitgehenden  Konzessionen  an  die  physiologische 
Psychologie  unterscheidet  sich  der  Sensualismus  Bonnets  von  dem- 
jenigen Condillacs  durch  die  Betonung  der  selbständigen  Funktion, 
die  hier  den  »Vermögen«  (Facultes)  der  Seele  zugeschrieben  wird. 
Die  Umbildung,  welche  die  Data  der  Sinnesempfindung  in  den 
höheren  Seelentätigkeiten  durch  Verknüpfung,  Trennung  und  Neu- 
verbindung erfahren,  werden  von  Bonnet  nicht  bloß  als  assoziations- 
mechanische Produkte  jener  Elemente,  sondern  als  Leistungen 
der  ^Kräfte  der  Seele  betrachtet.  Ist  diese  selbst  ihrem  substan- 
tiellen Wesen  nach  unbekannt,  so  geben  sich  doch  ihre  Kräfte  in 
eben  diesen  Tätigkeiten  zu  erkennen.  Das  Seelenleben  ist  kein 
passives  Geschehen,  sondern  eine  Tätigkeit  der  Kräfte.  Wenn 
bei  Locke  die  Stellung  und  Bedeutung  derv  Seelenvermögen  in  un- 
bestimmter Unklarheit  geblieben  war,  so  hat  Bonnet  ihre  Kealität 
und  Aktivität  ebenso  bestimmt  behauptet,  wie  Condillac  sie  bei- 
seite schob  und  in  seiner  Assoziationspsychologie  entbehren  zu 
können  glaubte. 

Eben  deshalb  aber  erblickt  nun  Bonnet  noch  viel  sicherer  und 
ausdrücklicher  als  Condillac  in  der  Einheitlichkeit  des  Be- 
wußtseins die  entscheidende  Instanz  gegen  den  Materialismus. 
Sie  hindere  absolut  daran,  die  seelischen  Vorgänge  mit  den  physio- 
logischen zu  verwechseln,  die  ihre  Bedingungen  sind;  man  müsse 
beide  Prinzipien,  Seele  und  Leib,  für  gleich  ursprünglich  halten 
und  zwischen  beiden  nur  das  Verhältnis  annehmen,  daß  sie  an- 
einander gebunden  sind  und  ihre  Tätigkeiten  sich  gegenseitig  an- 
regen. Sie  verhalten  sich  zueinander  nicht  als  »causae  ef f icientes «, 
sondern  als  »causae  occasionales « ;  der  sinnliche  Eindruck  ist  nur 
der  Heiz  für  die  auffassende  Seele  und  der  Willensentschluß  nur 
die  Veranlassung  für  die  Auslösung  der  körperlichen  Bewegung. 
So  verknüpft  sich  der  Occasionalismus  ein  Jahrhundert  nach  seiner 
rationalistischen  Entstehung  mit  dem  Sensualismus.  Zur  Durch- 
führung dieser  Ansicht  bedient  sich  Bonnet  der  Buffonschen  Theorie 
von  den  organischen  Molekülen  und  verbindet  damit  ähnlich  wie 
Eobinet  die  Annahme,  daß  in  ihnen  das  materielle  und  das  im- 
materielle Prinzip  gleichmäßig  angelegt  seien  und  einander  zur 
Tätigkeit  anregen.  Auch  der  Mensch  ist  danach  solch  ein  ge- 
mischtes Wesen,  und  so  unkörperlich  seine  Seele  an  sich  sein  mag, 
so  ist  sie  doch  stets  an  einen  Körper  gebunden,  ohne  dessen  Ver- 


Aktivität  der  Seele.  413 

mittlung  sie  nicht  in  Tätigkeit  treten  könnte.  Diese  Ansicht  be- 
kommt  nun  eine  eigentümliche  Konsequenz  in  der  Unsterblichkeits- 
lehre, von  der  Bonnet  bei  seinem  allgemeinen  Festhalten  am 
Orthodoxismus  um  so  mehr  überzeugt  ist,  als  er  für  den  Eudä- 
monismus  seiner  Moral  nur  in  der  jenseitigen  Belohnung  den  Abschluß 
des  Systems  finden  kann.  Die  Seele  bedarf  aber  nicht  nur  über- 
haupt eines  Körpers,  sondern,  da  ihre  Tätigkeiten  von  ihm  ab- 
hängig sind,  so  bleibt  sie  nur  so  lange  dieselbe,  als  sie  auch  den- 
selben Leib  hat.  Aus  diesem  Grunde  behauptet  Bonnet  die  völlige 
leibliche  Auferstehung  des  Menschen.  Da  jedoch  auch  im  Momente 
des  Überganges  die  Seele  nicht  leiblos  sein  kann,  so  glaubt  er  alles 
durch  die  Annahme  zu  erklären,  daß  sie  von  vornherein  und  un- 
abtrennbar mit  einer  Art  von  ätherischem  Leibe  verknüpft  sei, 
der  sich  den  irdischen  Leib  gestalte  und  nach  dessen  Verfall  aus 
den  materiellen  Stoffen  einen  gleichen  wiederbaue.  Diese  Theorie, 
in  den  »Palingenesies  philosophiques «  (Genf  1769)  niedergelegt, 
imponierte  namentlich  Lavater,  weil  sie  die  Abhängigkeit  des 
materiellen  Leibes  von  einem  dem  Charakter  des  Menschen  noch 
näher  stehenden  Prinzip  behauptete  und  dadurch  sich  seinen 
physiognomischen  Theorien  einfügte.  Er  übersetzte  sie  deshalb 
mit  enthusiastischer  Empfehlung. 

Den  Franzosen  selbst  lagen  solche  Phantasien  ferner.  Bei 
ihnen  gewann  der  Sensualismus  immer  mehr  die  materialistische 
Färbung.  Er  selbst  konnte  prinzipiell  nicht  gut  weitergeführt 
werden,  ehe  nicht  die  Physiologie,  von  deren  Erkenntnisstand 
er  abhängt,  entschiedene  Fortschritte  gemacht  hatte.  Dies  geschah 
jedoch  erst  später.  Es  gehörten  die  großen  Fortschritte  der  Chemie 
dazu,  um  der  Ansicht  Bahn  zu  brechen,  daß  man  die  Tätigkeiten 
des^Gehirns  nicht  als  mechanische  Bewegungen,  sondern  als  ehemische 
Vorgänge  aufzufassen  habe.  Die  neue  Gestalt  aber,  welche  der 
Sensualismus  dadurch  in  der  Lehre  von  Cabanis  erhielt,  steht 
bereits  an  der  Schwelle  des  XIX.  Jahrhunderts.  Die  von  Condillac 
und  Bonnet  vertretene  Phase  des  Sensualismus  genügte  jedoch  den 
erkenntnistheoretischen  Ansprüchen  der  französischen  Aufklärung 
um  so  vollständiger,  als  sie  sich  mit  der  naturphilosophischen 
Grundlage  vollkommen  im  Einklänge  befand.  Der  Sensualismus 
wurde,  vielleicht  gerade  weil  er  sich  so  bequem  mit  dem  Skep- 
tizismus hinsichtlich  der  religiösen  Überzeugung  verknüpfen  ließ, 


/ 


414  Moral-  und  Sozialphilosophie. 

von  Anfang  bis  zu  Ende  die  beherrschende  Theorie  bei  den  Franzosen 
des  XVIII.  Jahrhunderts.  Dies  tritt  unter  anderem  auch  in  ihrer 
Kunsttheorie  hervor.  In  dieser  hatte  schon  Dubos  (1670 — 1742) 
in  seinen  »Reflexions  critiques  sur  la  poesie,  la  peinture  et  la  musique  « 
(Paris  1729)  durch  die  Annahme  eines  sechsten,  des  ästhetischen 
Sinnes  der  Auffassung  vom  Wesen  der  Kunst  eine  ähnliche  Grund- 
lage wie  später  die  Schotten  gegeben.  Noch  mehr  aber  trat  diese 
Tendenz  hervor,  als  Batteux  (1713 — 1780)  in  seinem  einflußreichen 
Hauptwerke  »Les  beaux  arts  reduits  ä  un  meme  principe«  (Paris 
1746)  die  "Nachahmung ?  der  schönen  Natur  als  das  Wesen  aller 
Kunst  bezeichnete.  Von  ihm  an  hat  der  Empirismus  in  der  Ästhetik 
der  Franzosen  die  bestimmende  Rolle  gespielt  und  damit  auch 
die  deutsche  Literatur  beherrscht,  bis  in  dieser  durch  die  gemein- 
same Entwicklung  von  Dichtung  und  Philosophie  die  idealistische 
Auffassung  zum  Durchbruch  gelangte. 

§  43.    Die  Moral-  Rechts-,  und  Gesellschaftsphilosophie. 

Auch  die  Moralphilosophie  der  Franzosen  stand  unter  dem 
Einfluß  jener  skeptischen  Grundstimmung,  mit  der  Montaigne  sie 
gelehrt  hatte,  mehr  die  Schwächen  als  die  Vorzüge  der  Menschen 
zu  betrachten  und  sich  bewußt  zu  werden,  daß  der  natürliche 
Charakter  des  Menschen  die  Selbstsucht  ist.  Zahlreiche  Schrift- 
steller verfolgten  diesen  Gedanken  namentlich  in  der  Richtung,  zu 
zeigen,  daß  auch  der  Kulturzustand  nur  eine  Verfeinerung  dieses 
ursprünglichen  Egoismus  mit  sich  bringe.  Als  ein  Ausdruck  dieser 
dem  Leben  der  Gesellschaft  durchaus  entsprechenden  Meinung 
müssen  einerseits  schon  Larochefoucaulds  »Reflexions  ou  sen- 
tences  et  maximes  morales«  (Paris  1665),  anderseits  La  Bruyeres 
»Caracteres  ou  les  mceurs  de  ce  siecle«  (Paris  1687)  angesehen  wer- 
den. Mit  dieser  Auffassung  kreuzten  sich  nun  diejenigen  Einflüsse 
der  englischen  Moralphilosophie,  welche  darauf  hinzielten,  die  mora- 
lischen Eigenschaften  des  Menschen  aus  seiner  selbstsüchtigen  Natur- 
anlage abzuleiten.  Außerdem  aber  verknüpften  sich  damit  die  sen- 
sualistischen  Theorien,  um  dieser  Anschauung  eine  theoretische 
Grundlage  zu  geben.  Als  der  Typus  dieser  Vereinigung  und  der 
schärfste  Ausdruck  dieser  auf  den  Egoismus  zu  gründenden  Moral 
gelten  mit  Recht  die  Schriften  von  Claude  Adrien  Helyetius 


-  V 


Helvetius.  415 

(1715 — 1771),  von  denen  schon  die  erste  und  berühmteste  »De 
l'esprit«  (Paris  1758)  die  wesentlichen  Gedanken  enthält.  Er  be- 
nutzt hauptsächlich  Locke,  Mandeville  und  teilweise  auch  in  bezug 
auf  den  Sensualismus  Voltaire,  zeigt  aber  zugleich  auch  bereits  Ein 
flüsse  von  Hume.  Er  spricht  wie  dieser  davon,  daß  der  geistige 
Inhalt  des  Menschen  nur  aus  den  Impressionen  und  den  Ideen, 
welche  die  Kopien  davon  sind,  bestehe,  und  daß  deshalb  die  innere 
Gestalt  des  Menschen  ursprünglich  nur  durch  die  zufälligen  Ein- 
drücke, die  er  von  außen  empfängt,  bedingt  ist.  Auf  diesem  Natur- 
zustände kennt  der  Mensch  nur  den  Egoismus,  und  was  seinen  Willen 
ausfüllt,  ist  allein  das  Streben  nach  möglichst  großer  und  häufiger 
sinnlicher  Lust.  Dieses  bildet  deshalb  die  Grundlage  alles  prakti- 
schen Lebens;  selbst  in  der  Betätigung  der  geistigen  Kräfte  erweist 
es  sich  als  entscheidend.  Der  Mensch  denkt  ursprünglich  entweder 
nur,  wo  es  sich  um  unmittelbar  praktische  Zwecke  handelt,  oder 
um  sich  die  Langeweile  zu  vertreiben,  also  immer  aus  Selbstsucht 
und  zur  Befriedigung  seiner  Bedürfnisse.  Wenn  das  aber  ein  Natur- 
gebot ist,  so,  sagt  Helvetius  mit  echtem  Naturalismus,  ist  es  auch 
absolut  zu  achten.  Die  Sittlichkeit  kann  nichts  anderes  verlangen 
als  die  Natur,  und  der  Egoismus  ist  die  Norm  alles  Handelns.  Von 
einer*  Tugend  kann  deshalb  auf  dem  Standpunkte  des  Individuums 
gar  nicht  die  Rede  sein.  Sie  ist  nur  eine  Bezeichnung  für  gewisse, 
an  sich  gleichfalls  egoistische  Handlungsweisen,  die  innerhalb  des 
menschlichen  Zusammenseins  hervortreten.  Die  Gesellschaft  nennt 
diejenigen  Handlungen  tugendhaft,  welche  für  die  Gesamtheit  nutz- 
bringend sind.  Diese  Tugend  kann  deshalb,  wie  Helvetius  mit 
merkwürdiger  Kurzsichtigkeit  ausführt,  niemals  in  einem  Wider- 
streite mit  dem  Egoismus  stehen.  Denn  die  Glückseligkeit  der 
Gesamtheit  ist  nur  die  Summe  der  Glückseligkeit  der  einzelnen. 
^Tugend  ist  also  eine  besondere  Art  des  Egoismus,  und  zwar  die- 
j  enige,  welche  mit  dem  Wohle  des  einzelnen  auch  das  der  Allgemein- 
heit fördert  oder  wenigstens  nicht  hemmt.  An  dieser  Art  des  Egois- 
mus hat  freilich  der  einzelne  kein  Interesse,  desto  größeres  aber 
die  Gesellschaft,  und  ihr  erwächst  daraus  die  Aufgabe,  ihn  heran- 
zubilden. Das  Mittel  dazu  ist  die  Erziehung;  sie  ist  dazu  da, 
den  Egoismus  des  Individuums  zum  Wohle  des  Ganzen  zu  korrigie- 
ren, aber  sie  kann  dazu  natürlich  nur  wieder  die  selbstsüchtigen 
Interessen  benutzen,  indem  sie  diejenigen  befördert,  welche  nach 


416  Staatsphilosophie. 

dieser  Richtung  hin  ausschlagen.  Unter  sie  rechnet  Helvetius, 
wie  Lamettrie,  in  erster  Linie  das  Ehrgefühl,  auf  dessen  Ausbildung 
er  daher  das  größte  Gewicht  legt.  Er  bezeichnete  damit  denjenigen 
Trieb,  welcher  in  dem  öffentlichen  Leben  der  Franzosen  in  der  Tat 
die  bedeutendste  Rolle  spielte,  und  welchen  mit  feinsinniger  Be- 
obachtung schon  Montesquieu  als  die  Tugend  der  Monarchien  cha- 
rakterisiert hatte. 

So  lief  auch  diese  extrem  egoistische  Moralphilosophie  auf  das 
große  Problem  hinaus,  dessen  Umrisse  Mandeville  mit  kecker  Hand 
gezeichnet  hatte,  und  welches  mit  so  realer  Macht  die  französische 
Gesellschaft  bewegte:  wie  mit  dem  Wohle  des  einzelnen  dasjenige 
der  Gesellschaft  verbunden  oder  vereinbar  sei,  und  welche  Rolle 
dabei  die  Moralität  spiele.  Der  Zustand  des  öffentlichen  Lebens 
drängte  diese  Frage  dem  Beobachter  überall  auf.  Nach  dem  Tode 
Ludwigs  XIV.  trat  die  Unhaltbarkeit  des  politischen  und  des  sozialen 
Zustandes,  die  durch  den  Glanz  seiner  Regierung  verdeckt  worden 
war,  immer  deutlicher  hervor,  und  die  ungeheure  Kluft  zwischen 
dem  Genußleben  der  regierenden  Klassen  und  dem  rechtlosen  Elende 
der  regierten  klaffte  immer  düsterer  auf.  Es  war  natürlich,  daß 
man  die  Ursachen  dieser  Verworrenheit  zunächst  in  den  politischen 
Einrichtungen  suchte.  Die  Staatsverfassung  fing  an,  das  Pro- 
blem der  Gesellschaft  zu  werden,  und  in  Paris  bildeten  sich  die  Klubs, 
in  denen  man  die  politischen  Fragen  von  allgemeineren  Gesichts- 
punkten aus  zu  diskutieren  begann.  Das  Gefühl,  daß  die  bestehen- 
den Verhältnisse  einer  Abänderung  bedürften,  wurde  immer  allge- 
meiner, intensiver  und  kühner.  Schon  fing  es  an,  auch  am  Hofe 
seine  Stimme  zu  erheben.  Bereits  Fenelon  hatte  als  Erzieher  der 
Enkel  Ludwigs  XIV.  mit  der  Wahrheit  nicht  zurückgehalten  und 
infolgedessen  sich  selbst  wie  seinen  »Telemaque«  vom  Hofe  ver- 
bannt und  unterdrückt  gesehen.  Jetzt  nahm  sich  auch  der  gefeierte 
Massillon  in  seinen  Predigten  vor  dem  jungen  Könige  der  Unter- 
drückten an,  und  zahlreiche  andere  stimmten  ihm,  die  einen  leiser, 
die  andern  lauter,  bei.  Eine  bestimmte  Richtung  und  einen  posi- 
tiven Wert  erhielten  aber  diese  humanen  Tendenzen  erst  dadurch, 
daß  man  ein  Ideal  der  politischen  Gestaltung  fand,  an  welchem 
man  das  eigene  Elend  messen  konnte,  und  dessen  Einführung  im 
eigenen  Lande  man  zu  seiner  Aufgabe  machte.  Dies  Ideal  war 
England  und  die  repräsentative  Verfassung,  die  das  Er- 


Montesquieu.  417 

gebnis  seiner  Revolution  gewesen  war.  In  dieser  Richtung  wirkte 
Voltaire  durch  seine  »Lettres  sur  les  Anglais  «  und  durch  sein  niemals 
aufgegebenes  Bestreben,  für  die  Herrschaft  des  Gesetzes  und  die 
darin  allein  begründete  Freiheit  einzutreten.  Nicht  minder  wir- 
kungsvoll aber  war  es,  daß  den  Franzosen  dieser  Geist  der  englischen 
Gesetzgebung  durch  Montesquieu  in  systematischer  Gestalt  ent- 
gegentrat, y?* 

Charles  de  Secondat  Baron  de  la  Brede  et  de  Montes- 
quieu (1689 — 1755)  hatte  schon  durch  seine  »Lettres  persanes« 
ftaris  1721)  eine  gewaltige  Aufregung  hervorgerufen  und  dann  in 
den  »Considerations  sur  la  cause  de  la  grandeur  des  Romains  et  de 
leur  decadence«  (Paris  1734)  seine  Landsleute  an  eine  Betrachtung 
der  Geschichte  unter  großen  politischen  Gesichtspunkten  gewöhnt, 
von  denen  der  vornehmste  die  rücksichtslose  Betonung  von  Recht 
und  Gesetz  war.  Aber  erst  sein  Hauptwerk  »De  l'esprit  des  lois« 
(Genf  1748)  gab  die  abgerundete  Theorie  des  Ideals  der  politischen 
Freiheit,  das  er  wie  Voltaire  dem  Vorgange  der  englischen  Theorie 
und  der  englischen  Praxis  entnahm.  Den  Geist  der  Gesetze  sucht 
er  in  ihrer  Zusammengehörigkeit  mit  den  natürlichen  und  den  histo- 
rischen Bedingungen  der  Völker.  Daher  ist  er  ein  Gegner  aller  ab- 
strakten und  doktrinären  Schematisierungen,  und  er  sucht  in  das 
Naturrecht,  dessen  philosophische  Tendenz  sich  allzu  weit  von  der 
Wirklichkeit  entfernt  zu  haben  schien,  wieder  jenes  historische  Ele- 
ment einzuführen,  das  vor  ihm  Bodin  vertreten  hatte.  Der  nivel- 
lierenden Tendenz  gegenüber,  welche  in  dem  Ideal  des  ein  für  allemal 
besten  Staates  lag,  betonte  er  die  Notwendigkeit  einer  nationalen 
Staatenbildung,  die  sich  an  die  historischen  Bedingungen  anzu- 
schließen habe.  Deshalb  sah  er  den  Ursprung  des  Rechtes  nicht, 
wie  Hobbes  oder  Spinoza,  in  einem  willkürlichen  oder  bewußten 
Akte  des  Staatsvertrages,  sondern  suchte  vielmehr  darzutun,  daß 
das  Recht  in  dem  natürlichen  Wesen  des  Menschen  begründet  sei 
und  nach  der  verschiedenen  Gestaltung  der  menschlichen  Bedürf- 
nisse sich  notwendig  zu  ändern  habe.  Als  die  systematische  Grund- 
lage der  gesamten  Jurisprudenz  behandelt  er  die  genaue  Sonderung 
der  drei  Grundformen:  des  Zivilrechts,  des  Staatsrechts  und  des 
Völkerrechts.  Seine  eigenen  Untersuchungen  beziehen  sich  wesent- 
lich auf  das  Staatsrecht.  Er  nahm  vier  Hauptformen  der  Ver- 
fassung an:   Demokratie,    Aristokratie,   Monarchie   und  Despotie, 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phil.   I.  27 


418  Montesquieu. 

und  zeigte,  wie  der  Mechanismus  des  politischen  Lebens  in  jeder 
von  ihnen  verschiedene  psychische  Zustände  als  treibende  Elemente 
voraussetzt.  Die  Demokratie  kann  nicht  ohne  die  Bürgertugend 
bestehen,  mit  der  jeder  sein  Wohl  demjenigen  des  Ganzen  hintan- 
setzt. Der  Bestand  der  Aristokratie  setzt  eine  weise  Mäßigung  der 
regierenden  Klassen  voraus.  Die  Monarchie  muß  in  den  Unter- 
tanen das  Gefühl  für  die  Ehre  entwickeln,  mit  der  sie  den  tätigen 
Staatsdiener  für  den  Mangel  an  ursprünglicher  Rechtsausübung 
entschädigt.  Für  die  Despotie  endlich  gibt  es  keine  andere  Grund- 
lage, als  die  Furcht  und  den  Schrecken.  Weiterhin  zeigt  sich  an 
der  Hand  der  Geschichte,  daß,  während  große  Reiche  notwendig 
die  Tendenz  zur  despotischen  Gestaltung  haben,  kleine  Staaten  sich 
eine  republikanische  Verfassung  zu  geben  geneigt  sind,  in  der  je 
nach  den  sozialen  Verhältnissen  das  demokratische  oder  das  aristo- 
kratische Element  vorherrscht.  Nur  die  Staaten  mittlerer  Größe 
sind  dauernd  für  monarchische  Zustände  geeignet,  in  denen  nach 
der  Meinung  Montesquieus  die  Extreme  der  Republik  und  der 
Despotie  gleichmäßig  vermieden  werden.  In  der  Schilderung  dieser 
Monarchie  tritt  jedoch  bei  ihm  die  historische  und  psychologische 
Betrachtung  fast  hinter  einer  apriorischen  Konstruktion  zurück, 
und  er  zeichnet  mit  einer  hohen  und  lauteren  Begeisterung  für  die 
auf  der  Herrschaft  der  Gesetze  beruhende  Freiheit  die  Grundlinien 
der  englischen  Verfassung.  Die  Versöhnung  der  Gegensätze,  die  er 
in  dieser  findet,  beruht  namentlich  auf  der  Trennung  der  drei 
Staatsgewalten.  Die  gesetzgebende  Gewalt,  im  Parlamente 
repräsentiert,  enthält  im  Unterhause  das  demokratische,  im  Ober- 
n  \  hause  das  aristokratische  Element.  Die  exekutive  Gewalt,  vermöge 
deren  die  Regierung  die  innere  Verwaltung  und  die  äußere  Ver- 
tretung des  Staates  in  der  Hand  hat,  ist  die  Rechtsform  für  die 
Macht  des  Monarchen.  Aber  unabhängig  von  beiden  —  das  ist  die 
lebhafteste  Forderung  Montesquieus  und  zugleich  diejenige,  welche 
ihn  den  französischen  Zuständen  gegenüber  zunächst  am  populärsten 
machte  —  soll  der  Stand  sein,  der  darüber  zu  wachen  hat,  daß  die 
Gesetze,  in  deren  unbedingter  Herrschaft  das  einzige  Heil  des  Staats- 
lebens liegt,  treu  und  streng  erfüllt  werden,  der  Richterstand. 

Das  waren  mit  wenigen  Veränderungen  die  Grundzüge  der 
englischen  Repräsentativverfassung,  welche  die  dortige  Revolution 
erzeugt   hatte,    und    der   konstitutionellen    Monarchie,    deren 


Konstitutionalismus.  41 9 

Theoretiker  Locke  gewesen  war.  Montesquieu  hatte  wenig  Eigenes 
hinzugefügt;  aber  die  von  aufrichtiger  Begeisterung  getragene  Dar- 
stellung dieses  Ideals  wirkte  auf  dem  dunklen  Hintergrunde  der 
französischen  Zustände  wie  ein  blendendes  Licht.  Sie  erschreckte 
die  einen,  und  sie  enthusiasmierte  die  andern.  Sie  gab  dem  un- 
klaren Gefühle  des  politischen  Elends  das  klare  Bewußtsein  einer 
bestimmten  Aufgabe  und  eines  zu  erreichenden  Ziels.  Sie  trug  am 
meisten  dazu  bei,  in  den  französischen  Geistern  das  Streben  nach 
einer  Umgestaltung  der  öffentlichen  Verhältnisse  zu  nähren:  denn 
sie  zeichnete  eine  bestimmte  Bahn  vor.  Freilich  erfuhr  auch  Mon- 
tesquieu das  Geschick,  welches  tief  im  Wesen  dieser  ganzen  Be- 
wegung begründet  war,  daß  er  radikaler  wirkte,  als  er  gewollt  hatte. 
Umsonst  hatte  er  auf  die  historischen  Bedingungen  hingewiesen, 
ohne  die  kein  dauerndes  Staatsleben  besteht,  umsonst  gezeigt,  daß 
sich  eine  lebensfähige  Verfassung  nicht  lediglich  aus  abstrakten 
Theorien  bauen  läßt.  Diese  Stimme  der  historischen  Betrachtung 
verhallte,  und  wie  er  selbst  schließlich  doch  auch  ein  Ideal  der 
Staatsverfassung  gezeichnet  hatte,  so  wirkte  aus  seinen  Schriften 
nur  dieses  Bestreben,  die  politische  Freiheit  unter  allen  Bedingungen 
zu  realisieren.  Wenn  er  gezeigt  hatte,  daß  es  ein  Recht  gibt,  das 
der  Staatenbildung  vorangeht  und  in  ihr  nur  nach  den  besonderen 
Bedürfnissen  modifiziert  wird,  so  lag  gerade  darin  die  Möglichkeit 
der  revolutionären  Wendung,  daß  man  auf  Grund  dieses  ursprüng- 
lichen Rechtes  den  bestehenden  Staat  verdammte  und  einen  neuen 
an  seine  Stelle  setzte. 

Gleichwohl  würde  die  französische  Revolution  nicht  mit  so 
elementarer  Gewalt  aufgetreten  sein,  wie  es  wirklich  geschah,  wenn 
ihr  nur  politische  Interessen  zugrunde  gelegen  hätten,  und  wenn 
nicht  in  ihrem  Hintergrunde  die  soziale  Bewegung  gestanden 
hätte.  Das  Elend  der  niederen  Schichten  der  Bevölkerung  war 
ihre  mächtigste  Triebfeder,  welche  sich  nur  in  dem  Rufe  nach 
politischen  Rechten  zuerst  Luft  machte.  Diese  Frage  war  die 
brennendste,  und  mit  ihr  beschäftigten  sich  in  Frankreich  Tausende 
von  Geistern.  Die  Vorschläge  zu  ihrer  Lösung  und  zur  Herbei- 
führung eines  anderen  Zustandes  der  Gesellschaft  wuchsen  wie  Pilze 
aus  dem  Boden.  Hier  galt  es,  praktisch  jenes  moralphilosophische 
Problem  zu  bearbeiten,  wie  das  Wohl  des  einzelnen  mit  dem  Wohle 
der  Gesellschaft  vereinbar  sei.      Es  ist  bekannt,  wie  aus   diesen 

27* 


420  Enzyklopädisten. 

Bestrebungen  die  Anfänge  der  Nationalökonomie  erwuchsen,  wie  die 
Physiokraten,  an  ihrer  Spitze  Quesnay,  dessen  epochemachen- 
der »Tableau  economique«  1758  erschien,  und  Turg.pt  in  wohl- 
wollender Meinung  die  Beförderung  der  natürlichen  Produktions- 
kraft des  Landes  und  der  damit  verknüpften  Industrie  befürworteten, 
bis  ihre  einseitige  und  unhaltbare  Theorie  durch  Adam  Smith  ge- 
stürzt wurde.  /Aber  je  schamloser  von  den  sensualistischen  Prinzipien 
aus  die  Moral  der  Selbstsucht,  welche  diejenige  der  öffentlichen 
Zustände  war,  verkündet  wurde,  um  so  mehr  traten  auch  die  Ge- 
danken der  Männer  hervor,  die,  indem  sie  das  Übel  an  der  Wurzel 
zu  packen  meinten,  vor  den  extremsten  Folgerungen  nicht  zurück- 
scheuten. Wenn  sie  die  Ausrottung  der  Selbstsucht  in  lauterster 
Absicht  als  die  erste  moralische  und  politische  Pflicht  ansahen,  so 
glaubten  sie  in  dem  Privatbesitz,  in  dem  »desir  d'avoir  pour  soi«, 
den  Grund  des  gesamten  gesellschaftlichen  Unglücks  zu  erblicken, 
und  mit  rücksichtsloser  Konsequenz  lehrten  sie,  daß  seine  Abschaf- 
fung die  kranke  Gesellschaft  heilen  würde.  So  entwickelten  sich, 
getragen  von  dem  sozialen  Gegensatze  der  rechtlosen  Armut  und 
der  Willkürherrschaft  des  Reichtums,  schon  damals  die  kommu- 
nistischen Theorien.  Morelly.  dessen  1755  geschriebener  »Code 
de  la  nature«  fälschlich  unter  Di  der  ots  Werken  steht,  ging  voran, 
und  Mably  folgte  ihm  in  der  Schrift  »De  la  legislation  ou  principes 
des  lois«  (Paris  1776)  nach.  So  drängte  auch  die  Theorie  auf  den 
Ausbruch  der  wühlenden  Kräfte  hin,  die  unter  dem  hohlen  Boden 
der  Gesellschaft  ihr  Spiel  trieben. 

§  44.    Die  Enzyklopädisten. 

Wenn  sich  alle  die  bisher  betrachteten  Elemente  der  franzö- 
sischen Aufklärungsphilosophie  mannigfach  ineinander  verzweigten 
und  auf  diese  Weise  eine  buntschillernde  Fülle  von  Gedanken  er- 
zeugten, wenn  jedes  davon  auf  seinem  Gebiete  seine  notwendige 
Wirkung  auf  die  Geister  ausübte,  so  haben  sie  ihre  zündende  Macht 
doch  erst  durch  die  Vereinigung  erhalten,  welche  sie  in  der  Enzy- 
klopädie fanden.  Diese  schöpfte  von  all  den  gärenden  Gedanken- 
massen gewissermaßen  den  Schaum,  aber  ihre  Leiter  hatten  es 
vorzüglich  verstanden,  darin  die  ganze  agitatorische  Kraft  der 
Ideen  zu  konzentrieren.     Im  Jahre  1751  erschien  der  erste  Band 


D'Alembert.  421 

unter  dem  Titel :  »Encyclopedie  ou  dictionnaire  raisonne  des  sciences, 
des  arts  et  des  metiers«,  und  bis  1772  folgten  ihm  27  andere  Bände, 
außerdem  5  Supplementbände  (Amsterdam  1776  und  1777)  und 
zwei  Bände  »Tables  analytiques«  (Paris  1780).  Es  war  das  Real- 
lexikon des  Zeitalters  der  Aufklärung.  Seine  Wirkung  war  eine 
unermeßliche.  Es  verbreitete  die  realen  Erkenntnisse  der  neueren 
Wissenschaft  durch  alle  europäischen  Kulturvölker,  es  vermittelte 
die  Anschauungen  der  verschiedenen  Schichten  der  Gesellschaft, 
indem  es  die  einen  mit  den  Ideen  und  Erkenntnissen  der  andern 
bekannt  machte,  und  legte  so  den  Grund  zu  einer  allgemeinen  sach- 
lichen Bildung.  Es  beruhte,  seinem  philosophischen  Standpunkte 
nach,  auf  den  Prinzipien  des  Empirismus  und  der  sensualistischen 
Umbildung,  welche  dieser  in  Frankreich  erfahren  hatte.  Es  neigte 
seinen  metaphysischen  Ansichten  nach,  wenn  auch  mit  großer  Vor- 
sicht des  Ausdrucks,  anfangs  dem  skeptischen,  später  dem  mate- 
rialistischen Denken  zu,  und  seine  kolossale  Ausbreitung  untergrub 
in  der  wirksamsten  Weise  die  kirchlichen  Lehren.  Verständiges, 
durchsichtiges  und  aufklärendes  Räsonnement  war  der  Charakter 
seiner  metaphysischen  Betrachtungsweise,  Zersetzung  des  Glaubens 
sein  vorsichtig  und  verhüllt  verfolgter,  aber  desto  sicherer  erreichter 
Zweck.     Es  leugnete  kein  Dogma,  aber  es  bezweifelte  alle. 

Eine  große  Anzahl  von  Männern  hatte  sich  zu  diesem  gemein- 
samen Zwecke  vereinigt.  Wir  finden  darunter  Größen  ersten  Ranges 
neben  Männern,  die  nur  an  dieser  Stelle  zu  nennen  sind.  Da  sind 
Artikel  von  Voltaire,  der  eine  Zeitlang  an  dem  Werke  mitarbeitete, 
bis  er  den  Plan  seines  eigenen  »Dictionnaire  philosophique «  gefaßt 
hatte,  und  von  Rousseau ,  der  sich  jedoch  seit  1757  zurückzog 
und  als  offener  Gegner  auftrat.  Daneben  erscheinen  Grimm, 
Holbach,  Turgot,  Jaucourt,  Daubenton,  Marmontel, 
Duclos  und  andere.  Allein  das  Beste  davon  war  die  Mitarbeiter- 
schaft der  Herausgeber:  d'Alcmbert,  der  sich  jedoch,  als  das  Unter- 
nehmen wachsendes  Ärgernis  erregte,  auch  bereits  1757  zurückzog, 
and  Diderot,  der  seitdem  die  Enzyklopädie  allein  redigierte. 

Jean  d'Alembert  (1717 — 1783)  ist,  abgesehen  von  seinen 
großen  Leistungen  auf  mathematischem  Gebiete,  für  die  Philosophie 
vor  allem  wichtig  durch  den  »Discours  preliminaire «,  worin  er  den 
allgemeinen  Standpunkt  der  Enzyklopädie  festlegte.  Er  entwirft 
darin  den  »globus  intellectualis «  mit  vollkommenem  Anschluß  an 


422  Diderot. 

die  Baconsche  Einteilung  und  Methodik.  Es  ist  das  eine  höchst 
interessante  und  bedeutsame  Nachwirkung  Bacons;  es  ist  zugleich 
einer  der  schlagendsten  Beweise  für  die  durchgängige  Abhängigkeit 
des  französischen  Denkens  von  dem  englischen;  es  charakterisiert 
die  Hauptrichtung  dieser  Zusammenfassung  der  französischen  Auf- 
klärung als  empiristisch.  Aber  d'Alembert  vollzieht  zugleich  die 
Schwenkung  zu  Locke,  indem  er  den  Standpunkt  der  Enzyklopädie 
auf  die  Erfahrungserkenntnis  zu  beschränken  sucht.  In  allen  Fragen, 
die  über  die  Erfahrung  hinausgehen,  will  er  sich  und  das  Werk 
—  und  zwar  nicht  nur  aus  den  naheliegenden  taktischen  Gründen, 
sondern  wie  aus  seinen  »Melanges  de  literature,  d'histoire  et  de 
philosophie«  (Paris  1752)  hervorgeht,  aus  innerer  Überzeugung  — 
auf  den  skeptischen  Standpunkt  stellen.  Zwar  gibt  er  dem 
Deismus  zu,  daß  die  zweckmäßige  Zusammengehörigkeit  der  orga- 
nischen Tätigkeiten  insbesondere  und  auch  der  ganze  Naturlauf  im 
allgemeinen  auf  einen  intelligenten  Urheber  hinzudeuten  scheine: 
aber  in  welchem  Verhältnis  diese  Intelligenz  zu  der  Materie  stehe, 
die  jede  mathematische  Naturphilosophie  als  selbständig  denken 
muß,  darüber,  sagte  er,  können  wir  nie  etwas  wissen.  Weder  vom 
ueiste>  noch  von  der  "Materie"  haben  wir  eine  deutliche  Erkenntnis, 
das  Wiesen  der  Dinge  ist  uns  unerf  orschlich,  und  es  ist  höchst  wahr- 
scheinlich, daß  in  Wirklichkeit  nichts  so  existiert,  wie  die  auf  die 
Sinnestätigkeit  angewiesene  Natur  unseres  Geistes  uns  zwingt,  die 
'  Welt  uns  vorzustellen.  Als  daher  die  Enzyklopädie  wesentlich 
unter  dem  Einflüsse  der  Wandlung,  die  Diderot  selbst  durchgemacht 
hatte,  diesen  skeptischen  Standpunkt  überschritt  und  sich  immer 
rückhaltloser  zum  Materialismus  zu  bekennen  anfing,  mußte  d'Alem- 
bert mit  innerer  Notwendigkeit  sich  von  ihr  lossagen. 

Weitaus  der  Interessanteste  aus  diesem  Kreise  ist  das  Genie 
darin,  Denis  Diderot  (1713 — 1784),  eine  geistig  tief  und  noch 
mehr  reich  angelegte  Natur.  Ursprünglich  zum  Geistlichen  be- 
stimmt, dann  zum  Rechtsstudium  übergegangen,  wählte  er  endlich 
die  adäquate  Lebensform  eines  unabhängigen  Schriftstellers  und 
machte  bis  zum  Tode  alle  Leiden  und  Freuden  dieser  Stellung 
durch.  Tief  versenkt  in  die  geistige  Bewegung  der  Zeit,  durch 
Fäden  wissenschaftlichen  Interesses  mit  allen  bedeutenden  literari- 
schen Erscheinungen  Frankreichs  und  Englands,  durch  zahllose  Be- 
kanntschaften und  Beziehungen  mit  fast  allen  gleichzeitigen  Denkern 


Persönlichkeit.  423 

verbunden,  stellt  er  den  Entwicklungsprozeß  der  französischen  Auf- 
klärungsphilosophie in  sich  mit  einer  Vollständigkeit  dar,  wie  kein 
anderer.  Daher  ist  es  durchaus  kein  gleichbleibendes  oder  ein- 
heitliches Denken,  was  man  bei  ihm  findet.  Er  schreitet  vom 
gläubigen  Theismus  zum  skeptischen  Deismus  und  von  da  zum 
naturalistischen  und  schließlich  zu  einem  hart  an  der  Grenze  des 
Materialismus  stehenden  Pantheismus  fort.  Er  ist  der  Mikrokosmos 
der  französischen  Aufklärung  oder,  mit  Leibniz  zu  reden,  ihre 
Zentralmonade.  Daher  ist  es  leicht,  in  seinen  verschiedenen  Schrif- 
ten häufig  sogar  in  einer  und  derselben,  wenn  sie  gerade  ein  Über- 
gangsstadium darstellt,  wie  z.  B.  die  »Pensees  philosophiques «, 
mehr  oder  minder  starke  Widersprüche  nachzuweisen.  Dieser  Ein- 
druck des  Widerspruchsvollen  in  seiner  Gesamtpersönlichkeit  wird 
noch  durch  einen  ursprünglichen  Gegensatz  erhöht,  der  den  Men- 
sehen  so  gut  wie  den  Schriftsteller  trifft.  Von  einer  tief  idealen 
Anlage,  ist  er  zugleich  mit  einer  kräftigen  und  lebendigen  Sinnlich- 
keit ausgestattet,  und  durch  deren  Vermittlung  gewinnen  mit  der 
Zeit  die  sensualistischen,  eudämonistischen  und  materialistischen 
Theorien  seiner  Umgebung  einen  immer  mächtigeren  Einfluß  auf 
ihn,  während  doch  stets  der  ideale  Grundzug  seiner  Natur  im  Kampfe 
damit  liegt.  Diesen  Eindruck  des  Einheitlosen  vollendet  endlich 
die  massenhafte  Vielseitigkeit  seines  Denkens  und  Schreibens,  die 
agitatorische  Rührigkeit  seines  literarischen  Treibens  und  die  damit 
notwendig  verbundene  stetige  Zersplitterung  seiner  Geistestätigkeit. 
Wir  sehen  das  Licht  dieses  Geistes  niemals  rein,  sondern  immer 
durch  ein  vielfarbiges  Prisma. 

Aber  solch  ein  chamäleonartiges  Genie  war  dazu  nötig,  um  alle 
Bildungselemente  der  Zeit  in  einer  Person  zu  vollständiger  Durch- 
dringung zu  vereinigen  und  sie  als  die  Entwicklungsphasen  eines 
Individuums  zu  durchleben.  Es  findet  sich  deshalb  auch  in  Diderot 
nur  ein  verhältnismäßig  geringes  Maß  von  schöpferischer  Origi- 
nalität in  Hinsicht  philosophischer  Prinzipien.  Aber  er  besitzt  eine 
unglaubliche  Fähigkeit,  das  Entscheidende  zu  sehen,  aufzufassen, 
zu  verarbeiten  und  darzustellen.  Es  ist  kaum  einer  der  Gedanken 
der  französischen  Aufklärung,  der  sich  mit  Sicherheit  auf  ihn  allein 
zurückführen  ließe,  und  doch  ist  er  der  bedeutendste  Denker  jener 
Tage,  weil  seine  rastlose  Entwicklung  alle  die  um  ihn  zerstreuten 
Elemente   umspannt.     Man  kann  in  ihm  die  ganze  französische 


424  Diderot. 

Philosophie  des  vorigen  Jahrhunderts  in  nuce  studieren:  aber  man 
hätte  alle  ihre  Teile  fast  ebenso  auch  ohne  ihn.  Nur  findet  einer- 
seits alles  bei  ihm  den  glücklichsten  Ausdruck,  und  anderseits  ist  es 
fraglich,  ob  jene  Teile  ohne  ihn  jemals  die  innige  Verknüpfung 
gefunden  hätten,  worin  sie  wirklich  geraten  sind.  Wenn  die  Eigen- 
tümlichkeit jener  Epoche  in  der  Gemeinsamkeit  des  Denkens  der 
Pariser  Gesellschaft  beruhte,  so  ist  es  keine  Frage,  daß  es  in  ihrem 
geistigen  Konnexe  kein  lebendigeres  Bindeglied  gegeben  hat  als 
ihn.  Er  war  wie  der  befruchtende  Wind,  der  den  Samen  der  Idee 
von  Staude  zu  Staude  trug.  Und  diese  Wirkung  beruhte  darauf, 
daß  er  im  besten  Sinne  des  Wortes  eine  bedeutende  Persönlichkeit 
war.  Sein  ganzes  Wesen  ging  auf  in  zündender  Genialität:  diese 
aber  wurzelte  in  jenem  idealen  Schwünge  seines  innersten  Lebens, 
den  er  niemals  verloren  hat.  Seine  Schriften  freilich  zeigen  ihn  selten 
auf  dieser  dithyrambischen  Höhe  seiner  Genialität;  allein  alle  Schil- 
derungen seiner  Zeitgenossen  lassen  erkennen,  daß  er  sich  im  per- 
sönlichen Verkehre  viel  häufiger  darauf  befand.  Seine  mündliche 
Wirkung  ist  noch  packender  als  seine  schriftliche  gewesen;  er  besaß 
nach  dem  Zeugnis  auch  seiner  Neider  eine  wahrhaft  hinreißende 
Beredsamkeit,  jene  Beredsamkeit,  die  »aus  der  Seele  dringt  und  mit 
urkräftigem  Behagen  die  Herzen  aller  Hörer  zwingt«.  Solche  Wir- 
kung aber  hatte  ihren  Grund  in  letzter  Instanz  darin,  daß  er  trotz 
aller  metaphysischen  Wandlungen  unwandelbar  den  Glauben  an 
die  Tugend  in  sich  trug.  Was  bei  Bayle  und  Voltaire  eine  ernste 
und  fast  nüchterne  Ansicht  war,  daß  die  Wurzeln  der  Moral  uner- 
schütterlich tief  in  der  menschlichen  Natur  liegen,  das  war  bei 
Diderot  eine  enthusiastische  Überzeugung.  Er  war  das  Urbild  des 
Tugendenthusiasten,  wie  ihn  Shaftesbury  gezeichnet  hatte. 

So  war  es  denn  begreiflich,  daß  seine  erste  Schrift:  »Principes 
de  la  philosophie  morale  ou  essai  sur  le  merite  et  la  vertu«  (Paris 
1747)  wesentlich  eine  Bearbeitung  der  entsprechenden  Schrift  von 
Shaftesbury  war.  Aus  der  Ordnung  der  Natur  geht  ihm  das  Bild 
der  Wahrheit,  Schönheit  und  Güte  Gottes  in  leuchtenden  Farben 
auf.  Aber  er  beschränkt  seinen  Gottesglauben  nicht  auf  diese 
rationalistische  Basis.  Er  zeigt  sich  zugleich  als  einen  gläubigen 
Christen  und  einen  Anhänger  der  Offenbarung,  strebt  jedoch  dabei 
mit  fast  mystischen  Wendungen  über  die  konfessionellen  Formen 
hinaus.    Wo  Shaftesbury s  Kritik  sich  gegen  den  christlichen  Theis- 


Philosophische  Entwicklung.  425 

mus  wendet,  sucht  er  sie  sichtlich  zu  mildern  und  abzuschwächen, 
und  das  moralische  Leben  erscheint  ihm  auf  dieser  Anfangsstufe 
noch  als  ein  Ausfluß  des  religiösen.  Aber  gerade  an  dem  letzteren 
Punkte  erweist  sich  bald  der  Einfluß  Shaftesburys  als  über- 
wiegend. Bereits  in  den  »Pensees  philosophiques «  (La  Haye  1746) 
ist  die  Verbindung  gelöst.  Diderot  sucht  nunmehr  die  Wurzel  der 
Moral  wie  Shaftesbury  in  dem  eigenen  Wesen  der  menschlichen 
Natur,  er  sieht  sie  darin  aus  jener  Leidenschaft  für  das  Gute  er- 
wachsen, ohne  welche  nach  dem  englischen  Denker  nichts  Großes 
geschehen  ist  und  geschehen  kann,  und  er  wendet  sich  mit  großer 
Bitterkeit  gegen  Lamettries  Ableitung  der  Moral  aus  der  Selbstsucht, 
wie  er  später  an  demselben  Punkte  die  Grenze  zwischen  sich  und 
Holbach  zog.  Vor  allem  aber  wichtig  ist  es,  daß  er  die  Ansicht 
von  der  Unabhängigkeit  der  Moralität  von  den  metaphysischen 
Anschauungen  der  Eeligion  gewonnen  hat.  Neben  der  skeptischen 
Kritik  des  englischen  Deisten  ist  diejenige  von  Bayle  in  ihm  mächtig 
geworden,  damit  aber  auch  die  große  positive  Lehre,  welche  dieser 
verkündet  hatte.  So  gewinnt  er  einen  Standpunkt,  auf  dem  sich 
der  Skeptizismus  mit  dem  Deismus  noch  unklar  verschmilzt.  Er 
polemisiert  auf  das  heftigste  gegen  den  Atheismus,  den  jeder  Schmet- 
terlingsflügel widerlege,  während  man  doch  den  ganzen,  schönen 
und  zweckvollen  Zusammenhang  der  Natur  habe,  um  ihn  zu  zer- 
malmen. Aber  nachdem  sie  den  teleologischen  Beweis  für  das 
Dasein  Gottes  in  aller  Breite  ausgeführt  haben,  fügen  die  Pensees 
ein  Kapitel  hinzu,  worin  sie  die  wissenschaftliche  Beweiskraft  dieses 
Arguments  nach  den  Prinzipien  der  Wahrscheinlichkeit  auf  das  ein- 
schneidendste zersetzen.  Während  er  an  dem  Beweis  aus  Über- 
zeugung festhält,  zweifelt  er  an  seinem  wissenschaftlichen  Werte. 
Aber  freilich,  der  Gott,  an  welchen  Diderot  hier  glaubt,  ist  ein  ande- 
rer als  derjenige  des  gewöhnlichen  Glaubens.  Er  steht  dem  positiven 
Dogma  bereits  so  schroff  gegenüber,  daß  er  den  kühnen  Ausspruch 
wagt,  wenn  Gott  so  sei,  wie  ihn  die  Gläubigen  sich  vorstellen,  so 
müsse  man  wünschen,  er  existiere  nicht.  Darum  nimmt  sein  Denken 
nun  eine  von  demselben  moralischen  Enthusiasmus  erfüllte  Wendung 
zur  Polemik  gegen  die  kirchlichen  Formen  des  religiösen  Lebens. 
Er  tritt  in  den  skeptischen  Kampf  gegen  die  kirchliche  Autorität 
mit  aller  Energie  ein,  mid  wesentlich  aus  diesem  Zweck  entsprang 
der  Gedanke  der  Enzyklopädie.     Schon  ihre  Anfänge,  mehr  aber 


426  Diderot, 

noch  die  seit  dem  siebenten  Bande  von  ihm  allein  redigierten  Artikel 
stehen  auf  diesem  Standpunkte.  Allerdings  legten  auch  ihm  die 
heftigen  Angriffe,  welche  die  Enzyklopädie  von  den  staatlichen 
und  den  kirchlichen  Gewalten  erfuhr,  und  welche  mehr  als  einmal 
die  Fortsetzung  des  Werkes  in  Frage  stellten,  eine  gewisse  Zurück- 
haltung und  Akkommodation  auf :  aber  seine  eigene  Auffassung  war 
doch  für  denjenigen,  der  lesen  wollte,  immer  nur  sehr  durchsichtig 
verhüllt. 

Allein  auch  dabei  konnte  Diderot  nicht  stehen  bleiben.  Die 
radikaleren  Elemente  des  französischen  Denkens,  die  Schriften  eines 
Lamettrie,  Condillac,  Robinet,  der  Umgang  mit  Grimm,  Holbach  usw. 
zogen  ihn  unwiderstehlich  gegen  den  idealistischen  Drang  seiner 
Anlage  in  naturalistische  Anschauungen  hinein  und  bis  an  ma- 
terialistische heran,  und  so  wurde  der  Widerspruch  in  seinem 
Wesen  mit  seiner  fortschreitenden  Entwicklung  immer  schroffer. 
Schon  in  den  »Pensees  sur  l'interpretation  de  la  nature«  (Paris  1754) 
hat  auch  er  die  Hypothese  der  Gottheit  fallen  lassen*).  Die  Natur 
gilt  ihm  jetzt  als  ein  großes  Instrument,  das  sich  selbst  spielt.  Er 
ist  Pantheist  geworden.  Er  übernimmt  die  Buffonsche  Theorie  der 
organischen  Moleküle  und  verbindet  damit  schon  vor  Robinet  eine 
Hypothese  von  der  Empfindungsfähigkeit  der  Atome,  die  er  zu 
diesem  Behufe  mehr  im  dynamischen  als  im  materialistischen  Sinne 
aufgefaßt  wissen  will.  Die  Empfindung  gilt  ihm  gewissermaßen  als 
in  den  Atomen  gebunden,  und  er  meint,  daß  sie  in  deren  unmittel- 
barem Kontakte  frei  wird,  und  daß  dadurch  die  Empfindungen  der 
verschiedenen  Atome  die  Fähigkeit  des  Verschmelzens  gewinnen. 
Von  dieser  Grundlage  aus  bemächtigt  er  sich  sodann  der  sensua- 
listischen  Theorien  und  sucht  nach  dem  Prinzip  der  Assoziations- 
psychologie aus  dem  Doppelinhalte  der  Empfindungen  teils  die  Reihe 
des  Denkens,  teils  diejenige  des  Wollens  abzuleiten,  was  natürlich 
zu  einer  Leugnung  sowohl  der  Freiheit  als  auch  der  Unsterblichkeit 
führt.  An  die  Stelle  der  Psychologie  tritt  der  Mechanismus  der 
Nervenphysiologie,  und  in  diesem  Sinne  konnte  Diderot  bei  dem 


*)  Noch  klarer  und  un verhüllter  tritt  diese  Wendung  Diderots  in  den 
während  seines  Lebens  nicht  gedruckten  und  erst  1830  zutage  getretenen 
Schriften  hervor,  besonders  in  dem  »Entretien  d' Alembert  et  de  Diderot «  und 
in  dem  »Reve  d' Alembert«.  Doch  ist  in  neuester  Zeit  die  Echtheit  dieses 
Nachlasses  angezweifelt  worden. 


Naturalismus.  427 

»Systeme  de  la  nature«  mitwirken.  Aber  selbst  auf  diesem  äußersten 
Standpunkte  wahrt  er  den  idealen  Schwung  seines  Denkens.  Er  ist 
niemals  ganz  Materialist  geworden,  sondern  immer  Pantheist  ge- 
blieben, selbst  wo  er  den  Namen  der  Gottheit  aufgab  und  an  seine 
Stelle  denjenigen  der  Natur  setzte.  Das  »Abrege  du  code  de  la 
nature«,  welches  das  Schlußkapitel  des  »Systeme  de  la  nature« 
bildet,  verrät,  worauf  zuerst  Alb.  Lange  aufmerksam  gemacht  hat, 
unverkennbar  den  Stil  Diderots,  und  es  weht  in  ihm  ein  religiöser 
Geist.  Er  weist  den  Menschen  in  allen  Dingen  darauf  hin,  sich  in 
den  großen  Gang  des  Naturmechanismus  einzufügen  und  in  den 
gesetzmäßigen  Strom  der  Dinge  auszumünden.  Aber  er  stellt  diesen 
mächtigen  Zusammenhang  mit  so  großartigen  und  so  ergreifenden 
Zügen  dar,  wie  es  dem  bloßen  Materialismus  niemals  möglich  ge- 
wesen wäre.  Und  so  schließt  dies  trockenste  aller  Werke  mit  einem 
Dithyrambus. 

In  diesen  letzten  naturalistischen  Überzeugungen  Diderots  wur- 
zelt auch  seine  ästhetische  Wirksamkeit.  Hatte  er  anfangs  die 
zweckvolle  Ordnung  der  Natur  anerkannt  und  zu  dem  teleologischen 
Beweise  für  das  Dasein  Gottes  benutzt,  so  leugnete  er  diese  jetzt 
mit  dem  »Systeme  de  la  nature«.  Gibt  es  aber  in  der  Natur  keine 
von  Zwecken  regierte  Gestaltung,  und  ist  alles  gleichmäßig  ein 
Produkt  ihrer  unentfliehbaren  Notwendigkeit,  so  gibt  es  auch 
keine  Norm  mehr  für  die  Beurteilung  ihrer  Bildungen,  und  wenn 
nach  dem  empiristischen  Prinzip  der  französischen  Kunstphilosophie 
die  bildende  Kunst  auf  der  Nachahmung  der  Natur  beruht,  so 
existieren  auch  für  sie  keine  Ideale  mehr.  Dann  ist  der  Buckelige 
ebensoviel  wert  wie  der  Apoll,  dann  ist  das  Ideal  der  Kunst  nur  noch 
eine  Beschränktheit  der  menschlichen  Betrachtung,  die  am  teleo- 
logischen Vorurteile  hängt,  und  dann  sollte  an  die  Stelle  dieses 
Ideals  das  Prinzip  der  Konsequenz  der  Natur  treten  oder  die 
Nachahmung  der  mechanischen  Notwendigkeit,  mit  der  diese,  auch 
wo  sie  einmal  von  dem  gewohnten  Wege  abgegangen  ist,  vor  keiner 
Folgerung  der  natürlichen  Bildung  zurückschreckt.  Dann  gibt  es 
kein  Sollen  mehr,  sondern  nur  noch  ein  Müssen.  Wenn  so  das 
Schöne  dem  Konsequent- Wahren  untergeordnet  wird,  so  ist  damit 
aller  Schönh  ei  ^unterschied  aufgehoben;  denn  in  der  Wirklichkeit 
ist  alles  konsequent  wahr.  In  diesem  Sinne  vertritt  Diderot  in  seiner 
scharfen  und  glänzenden  Weise  den  ästhetischen  Naturalismus, 


428  Systeme  de  la  nature. 

der  zwischen  den  Aufgaben  der  Kunst  und  denen  der  Wissenschaft 
keinen  prinzipiellen  Unterschied  mehr  macht  und  die  Kunst  zu  einer 
ideallosen  Kopie  jedes  beliebigen  Wirklichen  herabsetzt.  Das  war 
der  Grund,  woraus  Goethe  gegen  Diderots  »Essai  sur  la  peinture« 
in  seinen  Bemerkungen  zu  dessen  Übersetzung  den  ganzen  Idealismus 
seines  Künstlerbewußtseins  geltend  machte. 

Die  gärenden  Elemente  des  französischen  Denkens  sind  in 
Diderot  mit  wunderbarer  Allseitigkeit  vereinigt;  aber  man  darf 
nicht  sagen,  daß  sie  bei  ihm  eine  gleiche  Abklärung  und  Abrundung 
gefunden  hätten.  Auch  darin  ist  er  der  wahre  Typus  für  das  Denken 
des  revolutionären  Frankreich.  Er  zeigt  in  seiner  reichen  Entwick- 
lung die  ganzen  Gedankenmassen,  von  denen  jenes  erfüllt  war: 
aber  ein  Schwanken  und  Hin-  und  Hergezogenwerden  bleibt  bei 
ihm  bis  zu  Ende,  wie  es  in  der  Gesamtheit  bestehen  blieb.  Wenn 
man  es  versuchte,  dieser  ganzen  Bewegung  einen  radikalen  und 
einseitigen  Abschluß  zu  geben,  so  konnte  Diderot  sich  dazu  niemals 
völlig  bekennen,  obwohl  er  in  nächster  geistiger  Verbindung  mit 
den  Männern  stand,  die,  beschränkter  als  er,  das  Ende  der  Wissen- 
schaft gefunden  zu  haben  meinten. 


§  45.    Das  Systeme  de  la  nature. 

Diese  Männer  nannten  sich  selbst  die,  Philosophen?  Sie  ver- 
dankten diesen  Titel  zuerst  spottweise  einem  an  sich  herzlich  schlech- 
ten Lustspiele  von  Palissot  und  nahmen  ihn  dann  allen  Ernstes  für 
sich  in  Anspruch.  Zu  ihnen  gehörte  ein  großer  Teil  der  an  der 
Enzyklopädie  mitarbeitenden  Gelehrten,  außerdem  Naigeon,  Ga- 
liani  und  andere.  Den  Ton  aber  in  diesem  Kreise  gaben  zwei 
"*  Deutsche  an,  Grimm\l723— 1807),  der  neben  der  Rolle  des  Philo- 
sophen  die  zweifelhaftere  eines  politischen  Agenten  spielte,  und 
dessen  im  XIX.  Jahrhundert  veröffentlichte  literarische  Korrespon- 
denz neben  Diderots  Briefwechsel  den  umfassendsten  Aufschluß 
über  das  Wesen  und  Treiben  dieser  Männer  gegeben  hat,  und  neben 
/  ihm  vor  allem  Dietrich  Baron  von  Holbach  (1723 — 1789),  der, 
zu  Heideisheim  m  der  Pfalz  geboren,  in  Paris  von  seinen  großen 
Reichtümern  lebte,  und  dessen  gastfreies  Haus  den  geselligen  Ver- 
einigungspunkt dieser  Männer  bildete.  Aus  diesem  Kreise  ging  das 
Werk  hervor,  das  sich  rühmte,  der  Abschluß  der  Philosophie  zu 


^  ?  » «.  t- 


Die  »Philosophen«.  429 


t 


sein,  und  das  mit  Recht  die  Bibel  des  Materialismus  genannt  worden 
ist.  Es  erschien  1770  angeblich  in  London,  in  Wahrheit  in  Amster- 
dam unter  dem  Titel:  »Systeme  de  la  nature  ou  des  lois  du  monde 
physique  et  du  monde  moral  par  feu  Mr.  Mirabaud«.  Die  Pseudo- 
nvmität,  als  solche  trotz  der  vorangeschickten  Lebensbeschreibung 
des  1760  als  Sekretär  der  französischen  Akademie  gestorbenen 
Mirabaud  vollkommen  durchsichtig,  ließ  doch  lange  Zeit  den  wirk- 
lichen Verfasser  nicht  feststellen.  Diderot,  der  Mathematiker 
Lagrange  und  andere  wurden  dafür  gehalten.  Nach  dem  Erschei- 
nen des  Grimmschen  Briefwechsels  ist  kein  Zweifel  mehr,  daß  der 
wahre  Verfasser  in  der  Hauptsache  Holbach  ist,  wenn  auch  bei 
einzelnen  Teilen  Grimm,  Diderot,  Lagrange  und  Naigeon  mitgewirkt 
haben. 

Auch  sind  die  Züge  Holbachs  deutlich  genug  zu  erkennen,  und 
zwar  nicht  nur  in  der  doktrinären  und  s}^stematischen  Gliederung 
des  Ganzen,  sondern  auch  in  der  trockenen  Ausführung  des  ein- 
zelnen. An  die  Stelle  des  leichten,  beweglichen  Kampfes,  den  die 
Franzosen  überall  geführt  hatten,  ist  eine  gepanzerte  Pedanterie 
getreten.  Der  Schmetterling  der  französischen  Aufklärung  ist  in 
diesem  Werke  aufgespießt.  Statt  der  pikant  verdeckenden  und 
sophistisch  versteckenden  Darstellung  herrscht  hier  eine  grund- 
deutsche Ehrlichkeit  und  Offenheit.  In  diesem  Buche  fließt  das 
schwere  Blut  eines  Deutschen.  Der  Materialismus  ist  trocken  und 
langweilig  geworden  und  hat  in  der  Hauptsache  jede  Spur  des 
poetischen  Naturalismus  abgestreift.  Deshalb  konnte  Goethe  sagen, 
dies  Werk  sei  der  jungen  Generation  in  Deutschland  »so  greisen- 
haft, so  grau,  so  eimmerisch,  so  totenhaft«  vorgekommen,  daß  es 
niemandem  gefährlich  wurde.  Es  hatte  sich  eben  die  system- 
suchende Schwerfälligkeit  der  alten  deutschen  Gelehrsamkeit  hier 
der  französischen  Gedanken  bemächtigt,  und  wo  die  echten  Fran- 
zosen ein  halb  frivoles  und  halb  überzeugtes,  aber  immer  geistreiches 
Geplänkel  gegen  die  kirchliche  Autorität  und  ihre  Weltanschauung 
geführt  hatten,  da  stellte  das  »Systeme  de  la  nature«  mit  vollem, 
tiefem  Ernst  ein  festes  Gebäude  geschlossener  Doktrinen  diametral 
allem  gläubigen  Denken  gegenüber:  Dogma  gegen  Dogma  und  Ver- 
ketzerung gegen  Verketzerung. 

Holbach  tat  es,  weil  er  von  der  moralischen  Gefährlichkeit  und 
der  sozialen   Schädlichkeit  der  Religion  im  allgemeinen  und  des 


430  Systeme  de  la  nature. 

Christentums  im  besonderen  überzeugt  sein  zu  dürfen  glaubte  und 
es  für  ein  gutes  Werk  im  Interesse  der  menschlichen  Gesellschaft 
hielt,  an  der  Zerstörung  dieses  Gegners  zu  arbeiten.  Alle  die  von 
Lamettrie  aufgewärmten  Gedanken  des  Epikureismus  werden  in 
dem  »Systeme  de  la  nature«  breitgetreten.  Der  Glaube  an  das 
Übersinnliche  soll  die  Wurzel  aller  moralischen  und  sozialen  Übel 
sein.  Aber  aller  Aberglauben,  alle  törichte  Furcht  und  Unseligkeit 
den  unfaßbaren,  selbstgedichteten  Mächten  gegenüber  und  in  ihrem 
Gefolge  alle  hierarchischen  Fesseln,  welche  die  Menschheit  im 
geistigen  und  sozialen  Leben  trägt,  ergeben  sich,  wie  Holbach  mit 
Epikur  und  Lamettrie  lehrt,  jius  der  Unwissenheit^  über  die^  Natur. 
Wer  sie  kennt  und  versteht,  von  dem  fallen  die  Ketten  ab.  Des- 
halb will  das  »Systeme  de  la  nature«  ehrlich  und  rückhaltlos  diesen 
Erfindungen,  wie  es  sagt,  die  Wahrheit  der  Naturerkenntnis  ent- 
gegenhalten. Freilich  bleibt  Holbach  überzeugt,  daß  diese  Wahrheit 
durch  die  schon  tief  in  den  Menschenseelen  haftenden  Vorurteile 
sich  nur  spät  und  mühsam  Bahn  brechen  werde,  so  daß  die  neue 
Lehre  fürs  erste  nur  in  einem  kleinen  Kreise  Anerkennung  finden 
wird.  Aber  um  so  schärfer  und  wuchtiger  tritt  er  denen  gegenüber, 
die  aus  irgend  einem  Klasseninteresse  die  Ausbreitung  der  Wahrheit 
beschränken  wollen.  Hier  wendet  sich  die  französische  Aufklärung 
mit  vollem  Bewußtsein  gegen  den  sozialen  Charakter  der  englischen. 
Die  Meinung  der  Leute,  welche  die  religiösen  Vorstellungen  und 
Einrichtungen  als  unentbehrliche  Polizeimittel  für  die  soziale  Ord- 
nung ansehen,  sei  ungefähr  so  weise,  als  wollte  man  der  Gesellschaft 
zur  Stärkung  ihrer  Kräfte  Gift  geben.  Die  Wahrheit  muß  laut  ver- 
kündet werden,  und  ihre  Zeit  wird  kommen,  sei  es  auch  noch  so  spät. 
Diese  neue  Wahrheit  nun  kündigt  sich  mit  verhältnismäßig 
rohem  Dogmatismus  als  eine  rein  materialistische  Naturlehre  an. 
In  diesem  System  der  Natur  gibt  es  nichts  als  die  Materie  und  die 
in  ihr  selbst  liegende  und  ihr  von  Anfang  an  inhärierende  Bewegungs- 
kraft. Der  Gedanke  einer  Materie,  die.  an  sich  bewegungslos,  einer 
unabhängig  von  ihr  bestehenden  Kraft  bedarf,  erscheint  Holbach 
wie  Lamettrie  als  eine  falsche  Abstraktion.  Die  Materie  ist  immer 
und  von  selbst  bewegt.  Was  die  Veranlassung  zu  jener  falschen 
Abstraktion  gab,  ist  der  Schein  von  Ruhe,  den  einzelne  Teile  der 
Materie  hin  und  wieder  erregen.  Aber  dieser  Schein  entsteht  nur 
daraus,  daß  der  Erfolg  der  bewegenden  Kraft  durch  die  Gegen- 


Materialismus.  431 

Wirkung  einer  anderen  gehemmt  ist.  Wenn  der  Stein  in  deiner 
Hand  ruht,  so  wirst  du  schon  fühlen,  daß  er  sich  zu  bewegen  strebt, 
und  wissen,  daß  es  nur  deine  Muskelkraft  ist,  die  ihn  daran  hindert. 
Die  Ruhe  ist  ein  Spezialfall  der  Bewegung.  So  wird  die  Mechanik 
für  den  Materialismus  ausgenutzt.  Dabei  statuiert  das  System 
drei  Grundformen  dieser  Bewegung.  Die  eine  beruht  auf  der  Ten- 
denz der  Natur,  den  jedesmal  vorhandenen  Bewegungszustand 
aufrecht  zu  erhalten,  d.  h.  auf  der  Trägheit.  Diese  Bewegungsform 
kommt  jedem  einzelnen  Atome  zu.  Die  beiden  anderen  entwickeln 
sich  aus  der  Beziehung  der  Atome  aufeinander;  teils  streben  sie 
aufeinander  zu,  teils  voneinander  fort.  Die  Beziehungsbewegung 
ist  entweder  Attraktion  oder  Repul^ioji.  Als  Substrate  aller  Be- 
wegung gelten  also  die  Atome.  Möglich,  sagt  Holbach,  daß  deren 
wahres  Wesen  für  uns  unerkennbar  ist;  aber  was  wir  von  ihnen 
wissen,  ist  auch  dasjenige,  was  uns  allein  interessieren  kann,  die- 
jenigen nämlich  unter  ihren  Eigenschaften,  welche  auf  unsere  Sinne 
wirken  und  sich  diesen  zu  erkennen  geben. 

Alle  Bewegung  ist  Ortsveränderung  der  Atome:  aber  diese 
Ortsveränderung  ist  entweder  sichtbar  als  diejenige  größerer  Atom- 
komplexe,  die  wir  Körper  nennen,  oder  sie  ist  unsichtbar  als  die 
molekulare  Veränderung  im  Innern  dieser  Körper.  Die  letzteren 
nennen  wir  '  organisch J'  solange  wir  sie  mechanisch  nicht  begreifen 
können,  und  nennen  sie  geistig,  sofern  wir  die  Bewegung  selbst  gar 
nicht  wahrnehmen  können  und  sie  deshalb  für  andersartig  halten. 
Mit  dieser  Deduktion  ist  die  immaterielle  Welt  abgetan.  Dasjenige, 
was  man  als  das  psychische  oder  »moralische«  Wesen  des  Menschen 
annimmt,  besteht  deshalb  nur  aus  den  unsichtbaren  Bewegungen, 
die  in  seinen _Nerven  und  in  seinem  Gehirn  vonstatten  gehen.  Die 
Verwechslung  von  veranlassendem  Reiz  und  psychischer  Folgeer- 
scheinung, die  jeden  modernen  Materialismus  charakterisiert,  macht 
sich  hier  ganz  naiv  breit.  In  der  Ausführung  diese.:  Meinung  fügt 
das  »Systeme  de  la  nature«  den  Gründen  Lamettries  noch  die  Aus- 
führung eines  anderen  Arguments  hinzu.  Es  fragt,  was  man  denn 
eigentlich  unter  all  den cgeistigen  Wesen  verstehe,  mit  deren  die 
Metaphysik  und  die  Kirchen  lehre  so  verschwenderisch  umgehen, 
und  es  findet  darin  nur  eine  unnütze  und  abstrakte  Verdoppelung 
der  materiellen  Wirklichkeit.  Man  begnügt  sich  nicht,  von  der 
Gehirntätigkeit   des   menschlichen   Körpers   zu   sprechen,   sondern 


432  Systeme  de  la  nature, 

denkt  sie  noch  einmal,  verfeinert  sie  und  nennt  sie" Seele.  Man 
begnügt  sich  nicht,  von  dem  großen  Zusammenhange  der  in  den 
Atomen  wirkenden  Kräfte  zu  sprechen,  sondern  man  denkt  ihn  noch 
einmal,  verfeinert  ihn  und  nennt  ihn  Gott.  Aber  diese  Verdoppe- 
lung, meint  Holbach,  erklärt  nicht  mehr,  als  die  bloße  Annahme 
der  Materie  und  ihrer  Kräfte,  sie  ist  eine  unnütze  und  darum  schäd- 
liche Hypothese.  So  ist  mit  wenigen  Zügen  in  einem  Atem  der 
Materialismus  und  der  Atheismus  gewonnen. 

Auch  was  das  Systeme  die  »Natur«  nennt,  ist  nicht  eine  Grund- 
kraft —  denn  das  würde  zum  Pantheismus  führen  — ,  sondern 
vielmehr  nur  die  Summe  aller  Körper  in  dem  (von  diesem  Stand- 
punkt aus  freilich  unerklärlichen)  Zusammenhange  ihrer  Bewe- 
gungen. In  diesem  Zusammenhange  aber  wirken  die  Körper,  fährt 
Holbach  fort,  nur  nach  der  unausweichlichen  Notwendigkeit  des 
Kausalgesetzes.  Die  Wirkung  aller  Atomkräfte  bleibt  stets  dieselbe, 
und  in  einem  ewigen  Kreislaufe  lösen  sie  sich  nach  bestimmten 
Gesetzen  gegenseitig  aus.  Woher  diese  Gesetze  stammen,  darüber 
gibt  sich  Holbach  keine  Rechenschaft,  er  nimmt  sie  mit  dem,.Zusam- 
menhange  der  Atome,  der  unbegreiflich,  aber  gegeben  ist,  an.  Aus 
zerstreuten  Körperstücken  baut  jene  dreifache  Bewegungsnot- 
wendigkeit der  Trägheit,  der  Attraktion  und  der  Repulsion  Sonnen- 
system nach  Sonnensystem  auf,  um  sie  dereinst  wieder  in  die  Atome 
zu  zerstreuen.  In  großen  Zügen  und  ohne  spezielle  Durchführung, 
mehr  noch  in  Anlehnung  an  die  alte  demokritische  Welt  vor  Stellung, 
wird  hier  jene  Hypothese  der  Astrophysik  aufgeworfen,  welche  von 
einem  großen  Mathematiker,  Laplace,  und  einem  großen  Philo- 
sophen, Kant,  ihren  Namen  erhalten  hat.  Das  »Systeme  de  la 
nature«  verfolgt  diesen  Kreislauf  der  physischen  Notwendigkeit 
auch  im  terrestrischen  Leben  und  zeigt,  wie  die  drei  Reiche  der 
Natur  sich  einander  in  die  Hände  arbeiten,  indem  die  sogenannten 
unorganischen  Körper  in  das  pflanzliche  Leben,  die  Vegetabilien 
in  den  Ernährungsprozeß  der  Animalien  aufgenommen  werden,  und 
der  zerstörte  tierische  Organismus  wieder  in  die  unorganische  Grund- 
form zurücksinkt. 

Aber  dieser  Kreislauf  des  Zusammenwirkens  ist  nur  durch 
streng  kausale  Notwendigkeit  bedingt.  Von  Zweck  und  Ordnung 
ist  in  der  Natur  keine  Rede.  Gleichwertig,  aus  gleicher  absichts- 
loser Notwendigkeit  hervorgegangen,  steht  nebeneinander  das  Größte 


Atheismus.  433 

und  das  Kleinste,  das  Alltäglichste  und  das  Ungeheuerlichste.  Eine 
.Ordnung  und  eine  Wertbeurteilung  der  Dinge,  die  nur  in  Rücksicht 
auf  irgend  eine  Norm  gedacht  werden  könnte,  träumt  nur  der  be- 
schränkte Menschenverstand,  der  seine  Zwecke  in  die  Natur  hinein- 
dichtet. Hier  wurde  ein  spinozistisches  Moment  in  das  materia- 
listische System  aufgenommen.  Das  war  der  Punkt,  wo  sich  Mate- 
rialismus und  Deismus  schieden.  Den  Mechanismus  aller  Natur- 
erscheinungen proklamieren  beide.  Aber  in  diesem  Mechanismus 
erkennt  der  Deismus  eine  Ordnung  an,  die  auf  einen  intelligenten 
Werkmeister  hinweist.  Auch  diesen^'letzten  Rest  von  Anthropo- 
morphismus  und  Kirchenturrf,  wie  er  es  nennt,  will  der  Holbachsche 
Materialismus  beseitigen.  An  die  Stelle  der,, Vorsehung,  die  der 
Deismus  unter  dem  Namen  eines  Gesamtzwecks  des  materiellen 
Mechanismus  stehen  gelassen  hatte,  setzt  er  nur  die  absolute  Not- 
wendigkeit des  Naturgesetzes.  Daher  entbrannte  an  diesem  Punkte 
die  scharfe  Polemik  Voltaires  gegen  das  »Systeme  de  la  nature«. 

Dieses  hingegen  erklärt  seine  Auflösung  aller  Dinge  in  Materie 
und  die  ihr  notwendige  Bewegung  für  das  einzig  konsequente 
System.  Der  Dualismus,  welcher  jene  systematische  Verdoppelung 
enthält,  sei  eine  unbegreifliche  Absurdität.  Darum  aber  empfindet 
Holbach  es  sehr  lebhaft,  daß  ihm  das  entgegengesetzte  Extrem, 
der  Berkeleysche  Spiritualismus,  am  schwersten  zu  widerlegen  ist, 
und  er  hilft  sich  nur  dadurch,  daß  er,  wie  Condillac  in  erkenntnis- 
theoretischer Hinsicht,  dies  System  für  konsequent,  aber  für  konse- 
quenten Wahnsinn  erklärt. 

Die  negativen  Folgerungen  liegen  auf  der  Hand.  Die  nächste 
ist  der  systematische  Atheismus;  der  ganze  zweite  Teil  beschäftigt 
sich  mit  einer  den  früheren  Ausführungen  gegenüber  wenig  ori- 
ginellen Kritik  des  Gottesbegriffs.  Er  entwickelt,  wie  diese  aber- 
gläubische Verdoppelung  des  Naturbegriffs  aus  Furcht  und  Unwis- 
senheit über  außergewöhnliche  Naturerscheinungen  entsprungen  sei. 
In  Wahrheit  sei  der  Inhalt  dieses  Begriffes  rein  negativ,  die  Hyposta- 
sierung  der  Negation  der  Materie.  Alle  Wesen,  die  man  jenseits 
der  Materie  setzt,  sind  eingebildet.  In  diesem  Sinne  bekämpft  das 
System  nicht  nur  den  Kirchenglauben,  sondern  auch  den  Deismus, 
indem  es  zu  zeigen  sucht,  daß  dieser  sich  doch  irgendwie  immer 
mit  abergläubischen  Vorstellungen  verquicken  müsse,  aber  sogar 
den  Pantheismus,  weil  er  mit  dem  Namen  auch  noch  einen  Rest 

Windelbaiid,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  28 


434  Systeme  de  la  nature. 

religiöser  Ansicht  aufrecht  erhalte.  Es  polemisiert  gegen  alle  Reli- 
gion, nicht  nur  ihrer  theoretischen  Unwahrheit  halber,  sondern  auch 
aus  moralischen  und  sozialen  Gründen.  Es  sieht  in  dem  Gottes- 
glauben den  Hauptquell  menschlicher  Verdorbenheit  und  mensch- 
lichen Elends.  Der  Atheismus  dagegen  befreit,  lehrt  es,  von  der 
törichten  Dämonenfurcht,  er  schützt  vor  den  unnützen  Gewissens- 
bissen —  und  da  schilt  Holbach  vornehm  über  Lamettriel  —  und 
er  opfert  nicht  wie  alle  Religionen  den  Genuß  des  Erdenlebens  der 
wertlosen  Schimäre  des  Jenseits. 

In  diesen  letzten  Wendungen  erkennt  man  den  materialistischen 
Eudämonismus  wieder.  Die  Verschmelzung,  welche  in  Lamettrie 
angelegt  war,  ist  vollständig  gelungen.  Denn  auch  der  Mensch  ist 
im  »Systeme«  natürlich  nur  ein  Körper  wie  die  übrigen.  Sein  Denken 
ist  Gehirnfunktion,  sein  Wille  die  "  Tätigkeit  motorischer  Nerven, 
unter  Seele  kann  man  nur  etwas  Negatives  verstehen.  Sie  ist  ein 
Unding,  und  Treiheit'  und  Unsterblichkeit  sind  Illusionen.  An  die 
Stelle  der  Psychologie  tritt  die  Nervenphysik,  und  nur  von  diesem 
physiologischen  Gesichtspunkt  aus  ist  die  Umbildung  der  Empfin- 
dungen zum  Denken  und  diejenige  der  Triebe  zum  Willen  zu  begrei- 
fen. Daß  hier  eine  sensualistische  Erkenntnistheorie  eingefügt  wird, 
ist  selbstverständlich;  ebenso  selbstverständlich  ein  rücksichtsloser 
Eudämonismus  der  Moral.  Die  drei  Grundformen  der  materiellen 
Bewegung,  Trägheit,  Attraktion  und  Repulsion,  kehren  als  mole- 
kulare und  unsichtbare  formen  in  der  Gestalt  von  Selbstliebe,  Liebe 
und  HaJ3  wieder,  und  aus  diesen  Elementen  baut  sich,  wie  das  phy- 
sische, so  auch  das  psychische  Leben  auf.  Aber  es  ist  nur  ein  Miß- 
verständnis, wenn  man  diese  Bewegungsformen  für  immateriell 
hält,  und  so  wird  man  in  allen  Fällen  besser  tun,  den  Arzt  als  den 
Seelsorger  zu  Rate  zu  ziehen.  Fragt  es  sich  aber  bei  allen  Willens- 
entschließungen nur,  wie  man  am  besten  für  sein  Wohl  sorgt,  so 
antwortet  das  »Systeme«,  daß  das<  wohl  verstandene*  Interesse  des 
Menschen  stets  im  Zusammenhange  mit  demjenigen  der  Gesellschaft 
stehe.  So  nimmt  Holbachs  Moral  die  soziale  Wendung  des  asso- 
ziationspsychologischen  Utilismus,  und  sie  betont  hauptsächlich 
die  Bürgertugend  als  die  Grundlage  aller  übrigen.  Zugleich  aber 
zeigt  seine  Auffassung  des  gesamten  gesellschaftlichen  und  histori- 
schen Lebens  einen  weitschauenden  und  großen  Blick.  Er  betrachtet 
die  Geschichte  unter  dem  Gesichtspunkt  eines  mächtigen  Mechanis- 


Rousseau.  435 

mus  komplizierter  Bewegungen,  er  sieht  in  den  Umwälzungen  des 
Staatslebens  etwas  von  der  Art  der  Orkane  und  Erdbeben,  er  dedu- 
ziert, wie  beide  als  Auslösung  elementarer  Kräfte  naturnotwendig 
und  deshalb  berechtigt  sind,  und,  ein  persönlicher  Anhänger  der 
Volkssouveränität,  weissagt  er  den  Sturm  der  Revolution,  deren 
Begimi  in  sein  Todesjahr  fiel. 

Die  Entwicklung  des  französischen  Denkens  verlangte  es,  daß 
alle  seine  Elemente  in  scharf  geschliffener  Form  vor  die  Öffentlich- 
keit traten.  Aber  diese  extremste  seiner  Konsequenzen  behagte 
in  ihrer  trockenen  Systematik  und  in  ihrer  prosaischen  Nüchtern- 
heit dem  Bedürfnisse  des  Zeitalters  nicht.  Das  »Systeme  de  la 
nature«  schlug  nicht  durch.  Vergebens  machte  Holbach  in  seiner 
Schrift  »Le  bon  sens  ou  idees  naturelles  opposees  aux  idees  sur- 
naturelles« (Paris  1772),  wie  es  Grimm  treffend  bezeichnete,  den 
Materialismus  für  Kammerzofen  und  Friseure  zurecht;  vergebens 
gab  neben  anderen  populären  Darstellungen  Helvetius  durch  seinen 
»Vrai  sens  du  Systeme  de  la  nature«  (London  1774)  einen  geschmack- 
vollen Auszug  daraus:  das  Publikum  blieb  kühl,  und  die  Gegen- 
schriften hagelten  dicht.  Das  Frankreich,  das  mit  aller  Leidenschaft 
nach  einer  Erlösung  von  seinem  Elende  strebte,  konnte  sich  für  das 
kahle  Gesetz  der  Naturnotwendigkeit,  vor  dem  alles  gleichwertig  er- 
schien, nicht  begeistern  und  darin  nicht  beruhigen.  Die  Revolution 
verlangte  einen  anderen  Propheten,  als  den  vornehmen  Systematiker 
des  Materialismus.    Dieser  wahre  Prophet  war  Rousseau. 

§  46.    Jean  Jacques  Rousseau.  (  / ' 

Von  der  Mehrzahl  der  Denker  der  französischen  Aufklärung  gilt 
es,  daß  sie  als  Persönlichkeiten  interessanter  waren,  denn  als  Philo- 
sophen ;  es  gilt  auch  von  Voltaire  und  von  Diderot,  aber  von  keinem 
in  höherem  Grade  als  von  Jean  Jacques  Rousseau.  Die  viel- 
verschlungenen, zwischen  Licht  und  Schatten  scnlirT1?öntrastieren- 
den  Wege  seines  äußeren  wie  seines  inneren  Lebens  sind  durch  die 
»Conf essions «  bekannt,  in  denen  er  es  nicht  unterlassen  konnte, 
mit  seinen  Schwächen  ebenso  wie  mit  seinen  Vorzügen  zu  kokettieren. 
Er  war  1712  zu  Genf  geboren  und  arbeitete  sich,  von  tiefem  Bil- 
dungsbedürfnis getrieben,  auf  wunderlichen  Umwegen  herauf.  Aus 
der  Lehre  fortgelaufen,  wurde  er  eine  Zeitlang  der  Bediente  einer 
reichen  Dame,  später  eines  Grafen.    Nachdem  er  diesem  Verhältnis 

28* 


436  Rousseau. 

entflohen  war,  suchte  er  mit  abenteuerlichem  Wechsel  auf  den  ver- 
schiedensten Feldern  ein  Unterkommen  —  bis  er  schließlich  bei 
einer  Gönnerin  in  wenig  beneidenswerter  Gunst  eine  Zuflucht  fand. 
Als  er  später  in  Paris  sein  Heil  versuchte,  war  er  durch  ein  viel- 
seitiges, wenn  auch  autodidaktisches  und  unmethodisches  Studium 
und  durch  die  glänzenden  Eigenschaften  seines  Geistes  berechtigt, 
mitten  in  den  Kreis  der  dortigen  Bildung  einzutreten.  Während 
er  persönlich  ein  unbegreifliches  Verhältnis  anknüpfte,  das  ihm  bis 
zum  Tode  hemmend  anhing,  lebte  er  im  Kreise  der  Enzyklopädisten 
und  nannte  einen  Diderot  seinen  Freund.  Inzwischen  regte  ihn 
eine  Preisfrage  der  Akademie  von  Dijon  zu  dem  1750  erschienenen 
»Discours  sur  les  sciences  et  les  arts«  an,  der  mit  einem  Schlage 
seinen  europäischen  Ruhm  begründete  und  ihn  unter  die  gefeiertsten 
und  gelesensten  Schriftsteller  Frankreichs  rückte.  Seine  wissen- 
schaftliche Bildung  war  mangelhaft,  sein  philosophisches  Denken 
oberflächlich  und  seine  Logik  sehr  ungeschult.  Allein  sein^til  war 
glänzend  und  packend,  wie  Voltaires,  und  er  überragte  dessen 
Schreibweise  durch  einen  berauschenden  Zug  von  Begeisterung,  der 
alle  Schriften  Rousseaus  erfüllt.  So  war  seine  Wirkung  eine  immense ; 
fast  mehr  als  Voltaire  hat  er  innerhalb  und  außerhalb  Frankreichs 
Bewunderer  und  Anhänger  gefunden,  und  der  Jugend  des  literari- 
schen Deutschland  war  er  unverhältnismäßig  viel  sympathischer  als 
jener.  Aber  der  Zwiespalt  zwischen  ihm  und  der  Gesellschaft,  den 
seine  Schriften  zeigen,  war  ein  persönlicher.  Bei  aller  Sympathie, 
die  seine  Werke  weckten,  stand  er  allein.  Sein  urwüchsiges  Denken 
hatte  ihn  allen  Parteien  gegenübergestellt.  Dazu  kam  in  diesem 
Manne,  dessen  vornehmstes  Dogma  die  unverwüstliche  und  ur- 
sprüngliche Güte  der  menschlichen  Natur  war,  ein  krankhaftes 
Mißtrauen  gegen  alle  übrigen,  das  in  einer  maßlosen  Eitelkeit  wurzelte 
und  sich  bis  zu  deutlichen  Spuren  des  Verfolgungswahns  steigerte. 
Wilde  Leidenschaften  und  trübe  Erfahrungen  taten  das  übrige,  sein 
Gemüt  zu  verdüstern,  und  diese  seine  Stimmung  charakterisiert 
sich  am  besten  darin,  daß,  nachdem  ihn  Hume  mit  zu  sich  nach 
England  genommen  hatte,  er  sich  dort  sehr  bald  mit  ihm  in  dem 
Wahne  entzweite,  sein  Wohltäter  handle  gegen  ihn  im  Einverständnis 
mit  seinen  Feinden.  Nach  seiner  Rückkehr  lebte  er,  gesellig  unzu- 
gänglich, an  verschiedenen  Stätten,  die  ihm  vornehme  Bewunderer 
eröffneten,  und  starb  einsam  und  verbittert  1778  zu  Ermenonville. 


Kulturproblem.  437 

Er  erlebte  die  Revolution  nicht  mehr,  und  es  war  seine  ehr- 
liche Meinung  gewesen,  wenn  er  persönlich  stets  jede  gewaltsame 
Umwälzung  perhorresziert  hatte,  und  doch  haben  seine  Schriften 
wie  diejenigen  keines  anderen  Menschen  die  französische  Revolution 
vorbereitet.  Rousseau  ist  der  Philosoph  der  Revolution.  Sie  war 
nichts  als  die  Ausführung  seiner  Lehren.  Darin  liegt  seine  kultur- 
philosophische  Bedeutung.  Der  Grund  davon  ist  vor  allem  der, 
daß  er  wie  kein  anderer  das  Kulturproblem  der  modernen  Welt 
philosophisch  formuliert  hat.  Durch  die  Renaissance  war  die 
wissenschaftliche  und  künstlerische  Bildung  zu  einer  sozialen  Macht 
erhoben,  und  wie  schon  die  Denker  jener  Zeit,  so  rangen  nachher 
diejenigen  der  Aufklärung  um  das  soziale  Problem  der  Bildung: 
je  mehr  die  französische  Aufklärung  demokratisch  war,  je  mehr 
sie  verlangte,  daß  die  Vernunft  das  entscheidende  Wort  in  der 
Gestaltung  des  menschlichen  Lebens  sprechen  solle,  um  so  be- 
deutsamer wurde  ihr  die  Frage,  in  welchem  Verhältnis  die  geistige 
Kultur  zur  Glückseligkeit  der  Menschheit  stehe.  In  dieser  Frage 
liegt  auch  der  Schwerpunkt  von  Rousseaus  Denken.  Gerade  in 
ihrer  Beantwortung  aber  zeigt  sich  das  tief  Widerspruchsvolle  seiner 
Natur.  Der  edelste  Zug  in  seiner  verworrenen  Jugendentwicklung 
war  der  Drang  nach  Bildung,  und  das  Werk,  das  ihn  berühmt 
machte,  enthielt  den  Beweis,  daß  die  Bildung  eine  Abirrung  von 
dem  natürlichen  und  deshalb  normalen  Zustande  der  Menschheit 
sei.  Ein  gelehriger  Schüler  der  Aufklärung,  war  er  auf  der  einen 
Seite  ihr  radikalster  Vertreter  und  auf  der  andern  einer  ihrer 
schärfsten  Gegner.  Die  Beschäftigung  mit  den  Problemen  der 
Gesellschaft  und  vor  allem  die  Diskussion  der  Frage  nach  der 
Stellung,  welche  die  Bildung  und  die  gebildeten  Klassen  darin  ein- 
nehmen, war  damals  Modesache  in  Frankreich.  Aber  die  Paradoxie, 
die,  wenn  man  von  gelegentlichen  Andeutungen  Mandevilles  und 
Lamettries  absieht,  in  vollkommener  Originalität  von  Rousseau 
aufgestellt  wurde,  war  darum  so  überaus  eindrucksvoll,  weil  sie 
den  Zustand  Frankreichs  ins  Herz  traf.  Jene  Kreise  der  Pariser 
Gesellschaft,  in  denen  die  aufklärerische  Bildung  ihren  Sitz  auf- 
geschlagen hatte,  führten  auf  dem  dunklen  Hintergrunde  eines 
unterdrückten  und  ins  Elend  gestoßenen  Volkes  eine  Existenz,  deren 
tiefe  Unsittlichkeit  wohl  an  dem  sozialen  Werte  der  geistigen  Kultur 
zweifelhaft    machen    durfte,     und    indem    Rousseau    aus    tiefem 


438  Rousseau. 

Mitgefühle  für  das  Volk,  dem  er  entstammte,  diese  Tatsache  verallge- 
meinerte, kam  er  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  Kultur  mit  allen  ihren 
Umwälzungen  des  wissenschaftlichen,  des  künstlerischen  und  des 
sozialen  Lebens  nur  immer  mehr  von  dem  Zustand  abgeführt  habe, 
welcher  das  Ideal  der  Gesellschaft  bilden  müsse.  Durch  ihre 
Leistungen  führte  er  die  geistige  Kultur  ad  absurdum.  Er  zeigte, 
daß  sie  die  Wurzel  der  Übel  sei,  an  denen  die  Gesellschaft  kranke, 
und  der  ganzen  künstlerischen  Maschinerie  des  menschlichen  Kultur- 
lebens mit  allen  den  moralischen  und  physischen  Gebrechen,  die 
Mandeville  als  seine  notwendigen  Voraussetzungen  dargestellt  hatte, 
stellte  er  ein  Ideal  des  goldenen  Zeitalters  gegenüber.  Er  schilderte 
den  Menschen,  wie  er  aus  der  Hand  der  Natur  hervorgegangen  sei, 
als  ein  glückseliges  Kind,  das  am  Busen  der  Mutter  ruhte  und  in  ihr 
alle  seine  Bedürfnisse  befriedigt  fand,  und  meinte,  die  Kultur  habe 
ihn  aus  dieser  Seligkeit  herausgerissen  und  damit  sein  ganzes  Wesen, 
sein  Denken  und  sein  Wollen  verdorben.  Es  spricht  in  diesen 
Äußerungen  Kousseaus  und  noch  mehr  in  der  poetischen  Dar- 
stellung seines  1761  erschienen  Romans  »La  nouvelle  Heloise« 
ein  persönliches  Heimweh,  ein  Heimweh  nach  den  Bergen  seiner 
schweizerischen  Heimat,  in  denen  er  die  schönsten  Tage  seiner 
Kindheit  verträumt  hatte,  ein  Heimweh  nach  dem  Idyll  eines 
Lebens,  welches  genügsam  überall  an  die  Natur  sich  anschmiegt. 
Aber  es  spricht  darin  zugleich  das  tiefere  Heimweh,  das  den  Kultur- 
menschen in  den  Zeiten  des  Elends  und  der  Verworrenheit  noeh 
immer  ergriffen  hat,  das  Heimweh  nach  einer  natürlichen  Ge- 
staltung des  menschlichen  Lebens.  Jener  faustische  Drang, 
der  die  Renaissance  belebte,  war  nur  zum  geringsten  Teile  be- 
friedigt worden,  und  die  Entwicklung  der  modernen  Kultur  hatte 
zumal  in  Frankreich  Zustände  herbeigeführt,  welche  dies  Gefühl 
des  Heimwehs  nach  der  Natur  noch  intensiver  machten.  Trotz 
aller  Kunst  und  aller  Wissenschaft  war  es  in  der  Welt  nicht  besser 
geworden;  geschraubter  und  verworrener  denn  je,  hielt  sich  die 
Gesellschaft  nur  noch  durch  eine  künstliche  Täuschung  über  ihr 
Gleichgewicht,  das  längst  gestört  war.  Es  ist  das  Verdienst 
Rousseaus,  diese  Täuschung  enthüllt  zu  haben.  Hierin  lag  sein 
ursprünglicher  Gegensatz  gegen  die  Aufklärung.  Schonungslos  zeigt 
er,  wie  alle  Errungenschaften  der  Wissenschaft  spurlos  an  den 
sozialen  Bedürfnissen  vorübergegangen  seien  und  wie  das  Raff  ine- 


Kultur  und  Natur.  439 

ment  des  Lebens,  welches  sich  aus  der  Kultur  ergibt,  die  Menschheit 
nicht  glücklicher,  sondern  elender  gemacht  habe. 

Aber  er  begnügt  sich  nicht  damit.  Er  will  die  tiefste  Wurzel 
dieses  Elends  aufdecken,  und  er  fragt  sich,  worin  diese  schädliche 
Wirkung  der  Kultur  beruht.  Alle  Kultur  ist  Arbeitsteilung,  sie 
entwickelt  notwendig  eine  Ungleichheit  der  Menschen,  und  in  dieser 
Ungleichheit,  meint  er,  liegt  der  Ursprung  alles  Übels.  Begreiflich 
sind  diese  Betrachtungen  seines  »Discours  sur  l'origine  et  les  fonde- 
mens  de  l'inegalite  parmi  les  hommes«  (1753)  nur  auf  dem  Hinter- 
grunde von  Zuständen,  in  denen  tatsächlich  diese  Ungleichheit  der 
Menschen  auf  das  schreiendste  entwickelt  war,  und  begreiflich  ist 
dieser  Gedankenzusammenhang  nur  durch  die  Einsicht,  daß  seit 
der  Renaissance  zum  kräftigsten  Hebel  der  sozialen  Ungleichheit 
der  Menschen  eben  die  Bildung  geworden  war.  Das  ist  der  Punkt, 
wo  Rousseau  unmittelbar  vor  dem  Geheimnis  der  modernen  Kultur 
steht.  Ihre  immer  brennender  werdende  Frage  ist  diejenige  nach 
dem  Maße  der  Ausbreitung,  die  das  höchste  Kulturgut,  die  Bildung, 
unter  den  Menschen  finden  kann,  ohne  den  Bestand  der  Gesellschaft 
zu  gefährden.  Rousseau  zeigt  nun,  wie  schon  die  ersten  Stufen 
des  Kulturfortschritts  jene  Ungleichheit,  aus  der  das  Unglück 
hervorgeht,  gefördert  haben.  Jeder  Schritt,  mit  dem  die  Mensch- 
heit sich  über  den  Naturzustand  erhob,  machte  die  Ungleichheit 
größer  und  drückender.  Mit  der  Institution  des  Eigentums  wurde 
der  Gegensatz  des  Reichtums  und  der  Armut  geschaffen,  die  Ein- 
setzung der  Obrigkeit  teilte  die  Menschen  in  Stärkere  und  Schwächere, 
und  die  willkürliche  Ausbeutung  der  obrigkeitlichen  Macht  gab 
schließlich  den  Knecht  in  die  Hände  des  Herrn.  Im  diametralen 
Gegensatze  zu  Hobbes  sucht  Rousseau  darzutun,  daß  das  Staats- 
leben und  überhaupt  der  gesamte  Kulturzustand  das  »bellum 
omnium  contra  omnes«  sei.  Das  menschliche  Kulturleben  sei  die 
wüsteste  und  raffinierteste  Form  des  Kampfes  ums  Dasein.  Der 
wahre  Naturzustand,  wie  ihn  Rousseau  sich  ausmalt,  ist  derjenige 
des  idyllischen  Friedens,  in  welchem  der  Mensch  ohne  gesellschaft- 
liche Vereinigung,  auf  die  natürlichen  Bedürfnisse  beschränkt, 
nach  dem  Naturgesetze  lebte,  —  ein  Ideal,  von  dem  Voltaire  sehr 
richtig  erwiderte,  daß  es  dem  Menschen  Lust  mache,  wieder  auf 
allen  Vieren  zu  gehen.  Es  entsprang  bei  Rousseau  nicht  ohne  litera- 
rischen Zusammenhang  mit  den  Robinsonaden,  in  die  sich  zuerst 


440  Rousseau. 

die  englische  wie  die  deutsche  Dichtung  aus  der  Übersättigung  am 
Kulturleben  geflüchtet  hatte. 

Dennoch  ist  Kousseau  nicht  der  Träumer,  der  jenen  Natur- 
zustand unmittelbar  wieder  herbeiführen  zu  können  glaubte.  Die 
Kultur  mit  ihren  Übeln  ist  eine  Tatsache.  Der  Mensch,  der  in 
die  Gesellschaft  hineingeboren  wird,  kann  nicht  mehr  als  Wilder 
aufwachsen.  Der  Naturzustand  ist  ein  für  allemal  verloren:  ja 
er  ist  überhaupt  nicht  das  Höchste,  was  der  Mensch  zu  erreichen 
vermag ;  in  dem  Fortschritt  über  ihn  hinaus  ist  wohl  eine  Steigerung 
des  menschlichen  Wesens  möglich :  nur  liegt  sie  nicht  in  der  Richtung, 
welche  die  Geschichte  bisher  eingeschlagen  hat.  Zunächst  aber 
wird  es  sich  darum  handeln,  die  schädlichen  Folgen  der  bisherigen 
Entwicklung  soweit  wie  möglich  wieder  aufzuheben.  Unter  diesen 
Umständen  erwächst  dem  Elende  der  Gegenwart  gegenüber  nur 
die  eine  Aufgabe,  diesem  Kulturleben  eine  Richtung  zu  geben, 
worin  es  sich  dem  Naturzustande  wieder  nähert.  Es  muß  diese 
Richtung  sowohl  in  dem  Individuum,  als  auch  in  der  Gesellschaft 
nehmen.  Der  moderne  Kulturmensch  kann  nicht  mehr  wild  auf- 
wachsen, sondern  er  bedarf  einer  Erziehung,  aber  einer  solchen, 
die  ihn  nicht  verbildet,  sondern  ihn  natürlich  entwickelt.  Die 
moderne  Gesellschaft  ist  nicht  mehr  bloß  eine  Summe  natürlicher 
Individuen,  sondern  sie  bedarf  einer  gesetzlichen  Form  ihrer  Gemein- 
schaft, aber  nicht  einer  solchen,  welche  die  Ungleichheit  zum  Prinzip 
macht,  sondern  einer  solchen,  welche  auf  der  natürlichen  Gleichheit 
aller  beruht  und  jedem  die  Wahrung  seines  ursprünglichen  Rechts 
garantiert.  So  entwickeln  sich  die  positiven  Vorschläge  Rousseaus 
in  einer  Erziehungslehre  und  einer  Staatslehre. 

Das  pädagogische  Werk  »Emile  ou  de  Feducation«  (1762  er- 
schienen) ist  in  seinen  einzelnen  Bestimmungen  vielfach  von  Locke 
abhängig.  Es  betont  aber  keine  Richtung  der  Lockeschen  Er- 
ziehungslehre mehr  als  diejenige  des  Individualismus.  Die  Ent- 
wicklung der  natürlichen  Individualität  ist  ihm  die  höchste 
Richtschnur.  Die  bisherige  Erziehung  hat  sie  körperlich  und 
geistig  gehemmt,  körperlich  durch  ein  System  von  Verkünstelung 
und  durch  Unterdrückung  der  natürlichen  Bewegungsbedürfnisse, 
geistig  durch  ein  rein  autoritatives  Lernen  und  durch  eine  einseitig 
theoretische  Ausbildung.  In  ersterer  Beziehung  macht  Rousseau 
den  ganzen  Naturalismus  seines  Wesens  geltend;  er  verlangt,  daß 


Erziehungslehre.  441 

das  Kind  in  der  Natur  und  in  vollkommen  freier  Entfaltung  seiner 
Bedürfnisse  aufwachsen  soll,  und  er  überbietet  Lockes  Verlangen 
nach  einer  Berücksichtigung  der  körperlichen  Ausbildung  derartig, 
daß  er  sie  in  die  allererste  Linie  stellt.  Gab  er  damit  zu  den  Über- 
treibungen des  deutschen  Philanthropinismus  Anlaß,  so  darf  doch 
nicht  vergessen  werden,  daß  auch  der  große  Reformator  der  modernen 
Pädagogik,  Pestalozzi,  auf  den  Schultern  Rousseaus  stand.  Die  an- 
schauliche Ausbildung  des  persönlichen  Denkens  und  die  selbständige 
Entwicklung  des  individuellen  Charakters,  mit  deren  systematischer 
Ausführung  dieser  die  Einseitigkeiten  des  Philanthropinismus  be- 
siegte, waren  auch  von  Rousseau  nicht  vergessen  worden,  wenn  auch 
nicht  zu  leugnen  ist,  daß  die  Geringschätzung,  die  er  namentlich 
dem  theoretischen  Unterricht  bezeigte,  jenen  Einseitigkeiten  ent- 
schieden Vorschub  gab.  Hinsichtlich  der  psychischen  Ausbildung 
aber  machte  Rousseau  dadurch  Epoche,  daß  er  den  Schwerpunkt 
dafür  in  dem  Elemente  suchte,  das  den  natürlichen  Untergrund 
aller  Seelentätigkeiten  bildet:  im  Gefühl.  Die  Verschränktheit 
des  Kulturlebens  führt  er  vor  allem  darauf  zurück,  daß  auf  allen 
Gebieten  das  ursprüngliche  Gefühl  sein  natürliches  Recht  verloren 
hat,  daß  man  auf  diese  innere  Stimme  der  Natur  nichts  mehr  gibt, 
sondern  sich  durchgehends  von  verstandesmäßigen  Überlegungen 
leiten  läßt.  Mit  diesem  Grundgedanken  erhebt  sich  Rousseau 
gegen  den  rationalistischen  Charakter  der  Aufklärung,  und  er  be- 
zeichnet in  schärfster  Weise  die  Grenze  dieses  Bildungssystems. 
Alles  von  der  Vernunft  abhängig  zu  machen,  alles  nach  abstrakten 
Prinzipien  zu  regeln  —  das  war  die  wesentliche  Tendenz  der  Auf- 
klärung, und  eine  trockene,  poesielose  Überlegtheit,  eine  unnatür- 
liche Kühlheit  war  die  unausweichliche  Folge.  Demgegenüber 
machte  Rousseau  die  elementare  Energie  der  menschlichen  Natur 
geltend.  Es  war  ein  Evangelium  des  Gefühls,  das  er  verkündigte. 
Er  hatte  sich  zum  Sprecher  für  das  Elendsgefühl  des  bedrückten 
Volkes  gemacht,  und  er  bekämpfte  mit  Erbitterung  diejenigen  Kreise, 
welche  im  Hochmut  ihrer  wissenschaftlichen  Bildung  die  Fühlung 
mit  den  natürlichen  Empfindungen  ihres  eigenen  Herzens  und  der 
großen  Masse  der  Menschen  verloren  hatten.  Aus  jener  trockenen 
Verstandesaufklärung  strebte  er  hinaus,  und  diesem  durch  und  durch 
gesunden  Bestreben  hatte  er  keine  andere  Form  zu  geben,  als  die- 
jenige der  Proklamation  des  Urrechts  des  Gefühls. 


442  «V*^R6uäseaii.       ^    »•"*•*'   -^  .•**«-*»«■•»♦*»  jjj; 

t/fL***  $  *~y*y+jf»«*}>t~u'   fy»/'  %t^*/  A-viw   >*~/S  l^^t^^^M^'  C^*^*^-*J- 

«,  ^*ttJ*>.  Von  diesem  Standpunkt  aus  bekämpfte  Rousseau  die  radikalen 
Konsequenzen,  welche  die  französische  Wissenschaft  gezogen  hatte. 
Er  schied  sich  von  ihr,  wie  es  sein  Rücktritt  von  der  Enzyklopädie 
äußerlich  betätigte,  an  der  religiösen  Frage.  Er  nannte  es  einen 
Übermut,  in  diesen  höchsten  und  letzten  Dingen  des  menschlichen 
Lebens  nur  das  gelten  zu  lassen,  was  die  Wissenschaft  erkennen 
kann.  Dieser  Angriff  richtete  sich  nicht  nur  gegen  den  Materialismus, 
dessen  kahle  Gefühllosigkeit  das  warme  Herz  Rousseaus  auf  das 
äußerste  empörte,  sondern  vor  allem  gegen  den  Deismus,  der  seinen 
Glauben  auf  diejenigen  Bestimmungen  beschränken  wollte,  welche 
er  für  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  durchsichtig  machen  zu 
können  meinte.  Ihnen  gegenüber  lehrt  das  berühmte  »Glaubens- 
bekenntnis des  savoyischen  Vikars«  eine  Religion  des  Gefühls.  Es 
erinnert  an  Pascal,  wenn  Rousseau  nicht  müde  wird,  darzutun,  daß 
die  Religion  nicht  im  Kopfe,  sondern  im  Herzen  liege,  und  der 
blutlosen  Wissenschaft  zuzurufen,  daß  sie  an  dem  heiligen  Inhalte 
der  Gefühle  nicht  rühren  dürfe.  Mit  flammender  Begeisterung 
predigte  er  diese  Religion  des  Gefühls.  Er  verwarf  den  Sensualis- 
mus, der  über  seiner  Betrachtung  der  Verbindungen,  welche  die 
Vorstellungselemente  miteinander  eingehen,  die  verbindende  Seele 
vergißt,  die  ihnen  ihren  eigenen  Inhalt  hinzufügt.  Man  hat  diese 
Kritik  mit  derjenigen  der  Schotten  verglichen,  aber  sie  bewegt 
sich  auf  einem  ganz  anderen  Boden  als  diese.  An  die  Stelle  eines 
theoretischen  Gemeinsinns,  wie  ihn  die  Schotten  auf  dem  Wege 
der  Selbstbeobachtung  finden  wollten,  setzt  sie  das  natürliche  Ge- 
fühl, und  die  trockenen,  wenn  auch  noch  so  feinen  Untersuchungen, 
die  jene  ausführten,  waren  himmelweit  von  dem  Feuer  der  Be- 
geisterung verschieden,  das  in  Rousseaus  Gefühl  loderte.  Nur  in 
der  Bestreitung  der  Assoziationspsychologie  besteht  die  Gemein- 
schaft :  wie  die  Schotten,  so  leugnet  auch  Rousseau,  daß  die  Ideen 
ihre  Verbindungen  in  der  Seele  vollziehen,  ohne  daß  diese '  Seele' 
selbst  dabei  tätig  wäre. 

Wie  alle  Gefühlsreligion,  stand  auch  diejenige  von  Rousseau 
dem  positiven  Dogma  kritisch  und  polemisch  gegenüber.  Das 
Dogma  galt  ihm  als  eine  gelehrte  Verunstaltung  des  natürlichen  \ 
Religionsgefühls,  und  mit  Benutzung  der  deistischen  Kritik  suchte 
er  es  als  überflüssig  und  schädlich  darzustellen.  Damit  erging  es 
ihm  wie  den  Mystikern,  auf  die  seine  religiösen  Überzeugungen 


Gefühlsreligion.  443 

entschieden  zurückweisen,  wenn  er  auch  seinerseits  das  religiöse 
Gefühl  in  durchaus  origineller  Weise  mit  dem  Naturgefühl  zu  ver- 
schmelzen suchte.  Er  verdarb  es  mit  allen  Parteien:  den  einen 
war  er  zu  gläubig,  den  andern  nicht  gläubig  genug.  Die  Enzy- 
klopädisten, die  anfangs  gemeint  hatten,  ihn  als  einen  der  ihrigen 
betrachten  zu  dürfen,  bekämpften  ihn,  je  mehr  er  bekannte,  daß 
er  wirklich  eine  tiefe,  wahre  Religiosität  besaß:  die  Orthodoxen 
verdammten  ihn,  weil  er  diejenige  Form,  worin  sie  das  religiöse 
Leben  ausgeprägt  hatten,  für  unwesentlich  erklärte.  So  stand  er 
allein :  aber  allein  nur  in  der  Gelehrtenwelt,  in  deren  einander  gegen- 
überstehenden Meinungen  er  nur  den  Hochmut  der  Bildung  sah. 
Hinter  ihm  aber  stand  die  Masse  des  Volkes,  für  deren^Gefühl  er  den 
Ausdruck  suchte  und  fand.  Das  ist  die  wahre  Kulturposition 
Rousseaus:  er  ist  der  Sprecher  des  Volkes  gegen  die  Gelehrten,  des 
Gefühls  gegen  die  intellektualistische  Bildung. 

Genau  die  gleiche  Stellung  bezeichnet  in  politischer  Beziehung 
der  »Contrat  social«.  Auch  dieser  fußt  durchgängig  auf  den  Er- 
rungenschaften der  Rechtsphilosophie  der  Renaissance  und  der  Auf- 
klärung. Aber  den  historischen  Begrenzungen  gegenüber,  die  zu 
dem  Begriffe  des  konstitutionellen  Staates  geführt  hatten,  gründet 
er  seine  Lehre  vom  besten  Staate  auf  das  Gefühl  der  Freiheit 
und  der  rechtlichen  Gleichheit,  welches  er  als  mit  dem  Wesen 
des  Menschen  selbst  gegeben  betrachtet.  Dieses  Werk  bildet 
die  Ergänzung  der  Schrift  über  die  Ungleichheit  der  Menschen. 
Es  erkennt  die  soziale  Ungleichheit,  diejenige  des  Besitzes  und  des 
Berufs,  als  eine  unabänderlich  gewordene  Tatsache  der  Kultur  an, 
und  es  sucht  nachzuweisen,  daß  das  einzige  Korrektiv  dafür  in 
einer  absoluten  Rechtsgleichheit  bestehe,  vor  der  alle  Standesunter- 
schiede verschwinden.  Der  Staat  soll  in  der  Kultur  die  Forderung 
der  Natur  wieder  zur  Geltung  bringen.  Darum  ist  Rousseaus 
Staatsideal  absolut  republikanisch  und  demokratisch.  Er  bekämpft 
Lockes  und  Montesquieus  Repräsentativsystem  nicht  nur,  weil  es 
die  verschiedenen  Gesellschaftsklassen  mit  verschiedenen  staatlichen 
Rechten  ausstattet,  sondern  auch,  weil  es  überhaupt  eine  Ent- 
äußerung des  Stimmrechts  des  einzelnen  an  den  Repräsentanten 
enthält  und  dadurch  der  Persönlichkeit  des  letzteren  ein  über  das 
gewöhnliche  Maß  hinausgehendes  Recht  verleiht.  Er  bekämpft  die 
Trennung  der  Gewalten,  die  das  Wesen  des  Konstitutionalismus 


444  Rousseau. 

ausmacht.  Nur  der  Volkswille  ist  souverän,  und  seine  Souveränität 
ist  unteilbar.  Wenn  daher  Rousseau  in  der  besonderen  Ausführung 
dieses  Ideals  auf  Grund  des  allgemeinen  Wahlsystems  eine  aristo- 
kratische Tendenz  in  dem  Sinne  zeigt,  daß  immer  die  Besten  und 
Einsichtigsten  zu  Staatsbeamten  gewählt  werden  sollen,  so  macht 
sich  doch  sein  ganzer  Demokratismus  darin  geltend,  daß  er 
durch  stetige  und  von  selbst  zusammentretende  Volksversammlungen 
die  Tätigkeit  der  Regierung  und  den  ganzen  Mechanismus  des 
Staatslebens  kontrolliert  und  reguliert  wissen  will.  Diesem  direkt 
geäußerten  Volkswillen  soll,  weil  er  nie  etwas  anderes  im  Auge 
haben  kann  als  den  allgemeinen  Nutzen,  jeden  Augenblick  sowohl 
die  Beseitigung  der  Regierung,  als  auch  die  Abänderung  der  Ver- 
fassung zu  Gebote  stehen.  Zweifellos  waren  diese  Theorien  von 
Rousseau  aus  den  Zuständen  seiner  schweizerischen  Heimat  ab- 
strahiert, und  er  verbarg  sich  vollständig  ihre  gefährliche  Kehrseite. 
Er  machte  stillschweigend  die  bekanntlich  nicht  immer  zutreffende 
Voraussetzung,  daß  der  Republikaner  eo  ipso  der/gute  Mensch 
sei,  der  das  Gesamtwohl  bei  der  Ausübung  seines  politischen  Stimm- 
rechts auch  da  im  Auge  habe,  wo  es  dem  eigenen  Wohle  zuwider 
ist,  und  daß  er  zugleich  der  einsichtige  Mensch  sei,  der  stets  das 
Volkswohl  in  der  rechten  Richtung  suche.  Seine  Theorie  vergißt 
nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  die  Durchschnittsnatur  des 
Menschen,  und  sie  arbeitet  jenem  Massendespotismus  in  die 
Hände,  den  die  französische  Revolution  in  großen  und  andere 
Republiken  in  kleineren  Verhältnissen  entwickelt  haben.  Dieser  , 
despotische  Charakter,  welcher  der  demokratischen  Republik  un- 
vermeidlich innewohnt,  tritt  am  klarsten  in  Rousseaus  kirchen-  , 
politischen  Ansichten  hervor.  Es  ist  nicht  zufällig,  daß  er  sich 
dabei  in  genauer  Übereinstimmung  mit  Hobbes  befindet,  denn  es 
gibt  nur  zwei  Formen  des  Despotismus:  die  absolute  Monarchie 
und  die  demokratische  Republik ;  und  wenn  Hobbes  mit  dem  ganzen  i ^ 
Staatsleben  auch  die  Religion  von  der  Willkür  des  Herrschers  ab- 
hängig gemacht  hatte,  so  verlangte  Rousseau  dasselbe  für  die  Will- 
kür der  Majorität.  Der  reinen  Gefühlsreligion  gegenüber  galten 
ihm  alle  Formen  des  Dogmas  und  des  äußerlichen  Kultus  als  gleich 
wenig  wert.  Wenn  deshalb  das  gemeinsame  Leben  der  Gesellschaft 
einer  äußeren  Gestaltung  und  Bestimmung  des  religiösen  Lebens 
bedarf,    so    ist    es    im    rein    religiösen    Sinne    ganz    gleichgültig, 


Die  Revolution.  445 

welche  der  äußeren  Formen  dazu  gewählt  wird,  und  dann  kann 
die  Wahl  zwischen  ihnen  natürlich  nur  dem  Souverän,  d.  h.  bei 
Rousseau  dem  allmächtigen  Willen  des  Volkes,  der  sich  in  seinem 
Majoritätsbeschlüsse  ausspricht,  zufallen.  Der  Staat  kann  in  sich 
keine  Gemeinschaften  dulden,  die  er  nicht  geschaffen  hat,  er  ist 
daher  auch  die  einzige  Instanz  für  die  positive  Religion,  welche 
in  ihm  gelten  soll. 


Sowenig  Rousseau  selbst  daran  dachte,  seine  Ideale  auf  dem 
Wege  der  Gewalt  zu  realisieren,  so  mächtig  war  doch  die  revolutionäre 
Kraft  seiner  Schriften.  Das  Zeitalter  war  gewöhnt,  vom  Stand- 
punkte der ,  überlegenden  Vernunft  aus  die  bestehenden  Verhält- 
nisse des  öffentlichen  Lebens  auf  allen  Gebieten  zu  kritisieren.  Es 
war  gewöhnt,  das  Ideal  der  Vernunft  zugleich  als  dasjenige  aufzu- 
fassen, welches  in  der  Natur  der  Dinge  seine  Begründung  habe.  Aber 
noch  niemals  war  in  so  beredter  Weise  und  in  so  großen  Zügen  über 
die  Vernunft  und  die  Überlegung  hinweg  an  das  ^natürliche  Gefühl 
appelliert  worden,  wie  es  Rousseau  tat.  Die  Renaissance  hatte 
begonnen,  mit  unklarem  Gefühle  der  Natur"  und  dem  natürlichen 
Wesen  zuzustreben;  das  Jahrhundert  der  Aufklärung  hatte  mit 
ernster  Arbeit  sich  gemüht,  in  die  Erkenntnis  der  Natur  und  des 
natürlichen  Wesens  der  Dinge  einzudringen,  und  nun  an  ihrem  Ab- 
schlüsse erschienen  die  Resultate  dieser  Erkenntnis,  insoweit  sie 
den  Zustand  der  menschlichen  Gesellschaft  angehen,  als  das  Bild 
eines  idealen  Zustandes  von  Freiheit  und  Gleichheit  und  getragen 
von  einem  tiefen  und  begeisterten  Gefühle.  Aber  es  war  nicht 
das  Gefühl  eines  einzelnen  Menschen:  Rousseau  sprach  das  Wort, 
das  Tausenden  und  Abertausenden  auf  der  Zunge  schwebte,  und 
idie  Stich worte  seiner  WTerke  hallten  durch  Europa  als  die  Losungs- 
worte einer  Bewegung,  deren  Wellen  immer  höher  schlugen  und 
schließlich  die  alten  Zustände  hinwegschwemmten.  Wenn  Rousseau 
diese  Wirkung  mehr  als  die  zum  großen  Teile  viel  extremer  Denken- 
den ausgeübt  hat,  so  liegt  das  in  der  ausdrücklichen  Behandlung, 
die  er  dem  Problem  der  geistigen  Kultur  selbst  zuteil  werden  ließ. 
Sein  Nachweis  von  den  schädlichen  Wirkungen  der  Kultur  hat  bei 
der  elementaren  Gewalt  der  Gefühlstöne,  die  er  damit  im  Herzen 
des  Volkes  anschlug,  mehr  als  irgend  etwas  anderes  dazu  beigetragen, 


446  Rousseau. 

die  Achtung  vor  dem  historisch  Gewordenen  zu  untergraben. 
Rousseaus  Schriften  bezeichnen  in  der  geistigen  Bewegung  den 
Bruch  mit  der  Geschichte,  der  sich  im  politischen  Leben  durch 
die  Revolution  vollzog.  Denn  die  Geschichte  des  Menschengeschlechts 
ist  nichts  als  die  Entwicklung  der  Kultur,  und  wer  wie  Rousseau 
leugnet,  daß  die  Kultur  einen  Wert  für  den  Menschen  habe,  der  ver- 
wirft auch  die  Geschichte.  Wer  die  Errungenschaften  dieser  Kultur 
erst  zu  mißbilligen  und  dann  zu  verachten  gelernt  hat,  der  bedarf 
nur  noch  eines  Schrittes,  um,  wenn  sie  ihm  unbequem  sind,  sie  zu 
beseitigen.  Und  wer  auf  der  anderen  Seite  von  dem  Traume  eines 
glückseligen  Naturzustandes  berauscht  ist,  der  durch  die  Geschichte 
zum  Elende  der  Menschheit  zerstört  worden  sei,  —  warum  sollte 
der  nicht  einmal  versuchen,  mit  dieser  Geschichte  tabula  rasa  zu 
machen  und  jenen  Naturzustand  zurückzuführen? 

In  dieser  Richtung,  welche  die  Wirkung  der  Rousseauschen 
Ideen  einschlug,  und  in  ihrem  Ziele,  in  der  Revolution,  gipfelte 
die  unhistorische  Denkart,  die  den  wesentlichen  Mangel  der 
Philosophie  des  Aufklärungszeitalters  bildete.  Ihre  Überzeugungen 
keimten  aus  methodischen  Bestrebungen,  welche  die  wahre  Er- 
kenntnis der  Natur  zum  Richtpunkte  nahmen,  und  sie  vollendeten 
sich  durch  die  großen  Errungenschaften  der  Naturwissenschaft. 
Die  Philosophie  vertiefte  sich  in  die  ewig  gleichbleibenden  Gesetze 
des  Naturlebens,  und  sie  verlor  das  Verständnis  für  das  Gesetz  der 
Entwicklung,  das  alles  historische  Leben  beherrscht.  Das  Zeitalter 
der  Aufklärung  wußte  mit  den  Erzeugnissen  der  Geschichte  nichts 
anderes  zu  machen,  als  ihren  Wert  nach  dem  Maßstabe  der  Ver- 
nunftwahrheit zu  messen,  die  es  aus  den  Naturgesetzen  schöpfen 
zu  können  meinte.  Und  als  dann  aus  dem  Elende  der  wirklichen 
Zustände  heraus  das  leidenschaftliche  Gefühl  sich  eines  idealen 
Bildes  vom  natürlichen  Zustande  der  Gesellschaft  bemächtigte,  da 
glaubte  man  die  historischen  Formen  nur  abschaffen  zu  müssen,  um 
an  ihre  Stelle  den  Zustand  der  Vernunft  zu  setzen.  Diese  Leiden- 
schaft impften  Rousseaus  Schriften  der  Masse  ein,  und  sie  vollzog, 
was  er  selbst  zwar  gedacht,  aber  nie  gewollt  hatte.  Der  Vulkan, 
dessen  bedeutendster  Seismograph  er  war,  brach  aus  und  schüttete 
die  verheerende  Glut  seiner  Ströme  über  die  Städte  der  Menschen. 
Man  proklamierte  die^  Menschenrechte;  deren  ewige  und  unantast- 
bare Geltung  er' verkündet  hatte.    Der  Naturzustand  war  da.    Aber 


i 


Deutsche  Aufklärung.  447 

es  war  nicht  das  Idyll  Rousseaus,  sondern  die  Tragödie  des  Terroris- 
mus:  es  war  das  »bellum  omnium  contra  omnes«.  Hobbes  hatte 
recht  behalten  gegen  Rousseau. 


VII.  Kapitel. 
Die  deutsche  Aufklärung. 

Das  Jahrhundert  der  Aufklärung  ist  in  seinem  geistigen  und 
besonders  in  seinem  philosophischen  Leben  ein  wesentlich  genießen- 
des Zeitalter.  Im  Vollbesitz  der  geistigen  Freiheit,  welche  die 
Renaissance  errungen  hatte,  und  in  unbeschränkter  Verfügung  über 
die  großen  Prinzipien  des  Denkens,  die  das  XVI.  und  XVII.  Jahr- 
hundert erarbeitet  hatten,  bereichert  von  den  Schätzen  eines  neuen 
Wissens,  das  mühelos  auf  den  Wegen  der  festgestellten  Methoden 
sich  erweiterte,  schwelgte  diese  Zeit  in  dem  stolzen  Bewußtsein 
ihrer  Überlegenheit  und  ihres  inneren  Gehaltes.  Berauscht  von 
der  Größe  des  eigenen  Denkens,  glaubte  die  Philosophie  dieses 
i  Jahrhunderts,  auf  die  Leistungen  früherer  Zeiten  wie  auf  schwache 
Vorahnungen  ihrer  eigenen  Vollkommenheit  zurückblicken  zu  dürfen, 
und  fühlte  auf  der  anderen  Seite  sich  kräftig  genug,  um  die  reale 
Welt  mit  den  eigenen  Ideen  meistern  zu  wollen.  Was  sie  selbst 
den  großen  Gedanken,  deren  Erbschaft  sie  antrat,  hinzufügte,  be- 
stand hauptsächlich  in  deren  energischer  und  rücksichtsloser  Aus- 
bildung, vermöge  deren  die  allgemeinen  Prinzipien  sich  allmählich 
auch  in  die  entlegensten  Winkel  der  wissenschaftlichen  Betrachtung 
verzweigten,  und  außerdem  in  der  geistreichen,  die  nationalen 
Literaturen  durchsetzenden  Formulierung  dieser  Ansichten. 

Dieser  Charakter  des  vorwiegenden  Genießens  trat  nirgends 
lebhafter  und  handgreiflicher  hervor,  als  in  der  Bewegung  der 
deutschen  Aufklärung.  Diese  war  darauf  schon  dadurch  ange- 
wiesen, daß  an  der  Ausbildung  jener  großen  Prinzipien  des  wissen- 
schaftlichen Denkens,  die  sich  im  XVII.  Jahrhundert  vollzogen 
hatte,  die  deutsche  Nation  keinen  Anteil  genommen  hatte.  Sie 
verhielt  sich  deshalb  dem  Empirismus  und  dem  Rationalismus 
gegenüber  zunächst  nur  aufnehmend  und  versuchte  in  Leibniz 
zuerst  eine  Vereinigung  der  beiden  großen  Gegensätze,  an  der  sie 


448  Mystik. 

während  des  ganzen  XVIII.  Jahrhunderts  gearbeitet  hat.  Auf  diese 
Weise  wurde  Leibniz  der  beherrschende  Geist  der  deutschen 
Aufklärung:  aber  die  eigentümliche  Gestalt,  in  der  seine  Lehre 
öffentlich  erschienen  war,  brachte  es  mit  sich,  daß  zunächst  der 
sachliche  Ideengehalt  der  deutschen  Aufklärung  wesentlich  durch 
das  Bekanntwerden  zuerst  der  französischen  und  dann  immer  mehr 
auch  der  englischen  Literatur  bedingt  war.  Von  jeher  ist  deshalb 
der  Beginn  der  neueren  deutschen  Philosophie  erst  mit  dem  Auf- 
treten von  Leibniz  datiert  worden,  und  seine  Erscheinung  ist  in  der 
Tat  so  bedeutend,  daß  sie  von  dem  Ende  des  XVII.  Jahrhunderts 
an  alles  rückwärts  Gelegene  zu  verdunkeln  geeignet  ist.  Gleich- 
wohl waren  auch  im  Verlaufe  des  XVII.  Jahrhunderts  wenigstens 
hie  und  da  schwache  Sterne  in  dem  Dunkel  aufgetaucht,  welche  frei- 
lich ihr  Licht  fast  ausnahmslos  den  großen  Geistern  des  Auslandes 
verdankten,  dabei  aber  doch  so  viel  leisteten,  daß  der  Geist  einer 
freieren  Forschung  nicht  ganz  verloren  ging,  und  daß  unter  ihrem 
eingestandenen  Einflüsse  Leibniz  selbst  imstande  war,  die  zerstreuten 
Strahlen  zu  lebendigster  Wirkung  zu  vereinigen. 

§  47.    Deutschland  im  XVII.  Jahrhundert. 

Es  ist  schon  oben  erwähnt  worden,  wie  das  große  allgemeine 
Kulturunglück  der  deutschen  Nation,  der  dreißigjährige  Religions- 
krieg, auch  die  frische  Bewegung  der  deutschen  Philosophie  hemmte. 
Als  die  Nation  ihren  Boden  von  den  fremden  Heeren  gereinigt  sah 
und,  zu  ruhigeren,  wenn  auch  unsäglich  traurigen  Zuständen  zurück- 
gekehrt, wieder  aufzuatmen  begann,  fand  sie  ihre  katholischen 
Universitäten  von  der  alten,  ihre  protestantischen  von  der  neuen 
Scholastik  beherrscht,  und  auch  die  mystische  Bewegung,  die 
vorher  noch  im  Volke  weiter  gewühlt  hatte,  war  mit  der  geistigen 
Regsamkeit  unter  dem  Druck  der  äußeren  Sorge  verloren  gegangen. 
Nur  hie  und  da  lebte  die  letztere  ohne  innere  Fortbildung  weiter 
und  suchte  sich  z.  B.  einen  wehmütig  poetischen  Ausdruck  in  den 
Gedichten  von  Johann  Scheffler,  dem  Angelus  Silesius. 
Die  Gelehrtenwelt  war  in  einer  fast  unbedingten  Weise  von  dem 
Orthodoxismus  beherrscht  und  entschädigte  sich  für  den  Mangel 
freiheitlicher  Bewegung  teils  durch  dialektische  Spitzfindigkeiten, 
teils  durch  eine  gedankenlose  Anhäufung  von  gelehrtem  Wissen. 
Die  Verzweiflung  an  sich  selbst,  die  unter  diesen  Umständen  die 


Skepsis  und  Empirismus.  449 

Wissenschaft  einer  außerhalb  ihrer  selbst  festgestellten  Lehre 
gegenüber  ergriff,  spiegelt  sich  am  besten  in  dem  orthodoxen 
Skeptizismus  des  Prager  Prämonstra tenser- Abtes  Hieronymus 
Hirnhaym  (1637 — 1679),  dessen  Schrift  ihres  bezeichnenden 
Titels  »de  typho  generis  humani  sive  scientiarium  humanarum 
inani  ac  ventoso  tumore«  (Prag  1776)  durchaus  würdig  ist.  Statt 
wie  die  englischen  und  französischen  Skeptiker  aus  einer  erkenntnis- 
theoretischen Untersuchung  das  negative  Resultat  zu  ziehen  und 
daraus  zu  folgern,  daß  nur  bei  der  Kirchenlehre  das  Heil  sei,  gründet 
er  vielmehr  umgekehrt  ganz  klar  und  offen  den  Skeptizismus  auf 
den  Orthodoxismus.  Er  zeigt,  wie  der  Grundsatz  der  Kausalität 
durch  die  Schöpfung  der  Welt  aus  nichts  und  der  Grundsatz  der 
Identität  durch  die  Dreieinigkeit  widerlegt  werde,  und  weiß  aus 
diesem  Widerspruche  nur  die  Konsequenz  zu  ziehen,  daß  ein  Wissen, 
das  auf  so  falschen  Grundsätzen  beruhe,  unmöglich  das  richtige 
sein  könne.  Er  gibt  zugleich  dieser  Lehre  eine  ähnlich  sensualistische 
Grundlage,  wie  es  die  Jesuiten  zu  tun  pflegten.  Die  menschliche 
Vernunft  sei  an  die  Sinnlichkeit  gebunden  und  könne  deshalb 
das  Übersinnliche  nicht  begreifen.  Daneben  konnte  sich  dieser 
schwache  Denker  dem  bestechenden  Eindrucke  der  paracelsischen" 
Naturphilosophie  nicht  entziehen,  die  ihm  hauptsächlich  durch 
den  in  Prag  lehrenden  Marcus  Marci  von  Kronland  (f  1655) 
in  einer  unklaren  Verschmelzung  mit  der  platonischen  Ideen- 
lehre und  der  aristotelischen  Theorie  der  Entelechie  vermittelt 
worden  war. 

Trotz  dieser  allgemeinen  Gebundenheit  fanden  sich  aber  doch 
Denker,  welche  den  Wert  der  wissenschaftlichen  Neubegründung, 
die  inzwischen  die  Philosophie  bei  den  westlichen  Nationen  ge- 
funden hatte,  zu  würdigen  und  zu  vertreten  verstanden.  Unter 
diesen  nimmt  die  erste  Stelle  Joachim  Jungius  ein  (1587 — 1657), 
ein  tüchtiger  Naturforscher,  der  sich  die  Lehren  und  den  Stand- 
punkt des  baconischen  Empirismus  aneignete,  dabei  aber  doch 
derartig  mathematisch  geschult  war,  daß  er  darin  ein  glückliches 
Gegengewicht  gegen  die  Einseitigkeiten  Bacons  besaß.  Seine 
»Logica  hamburgiensis  «  (seit  1638  erschienen)  zeigt  eine  scharfsinnige 
Verknüpfung  beider  Richtungen  und  hat  auf  Leibniz  einen  ent- 
schiedenen Einfluß  ausgeübt,  den  dieser  selbst  in  seinen  logischen 
Jugendschriften  mehrfach  hervorgehoben  hat. 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phik>3.  I.  29 


450  Cartesianer. 

Seine  Lehren  können  als  ein  Beweis  dafür  angesehen  werden, 
daß  die  Bestrebungen  Johann  Keplers,  so  vereinsamt  dieser  zunächst 
in  seiner  Heimat  geblieben  war,  doch  auch  in  Deutschland  nicht 
ganz  ohne  Anerkennung  und  Wirkung  gewesen  sind.  In  der  gleichen 
Richtung  und  zu  dem  gleichen  Ziele  führte  auch  der  wachsende 
Einfluß,  den  während  der  zweiten  Hälfte  des  XVII.  Jahrhunderts 
der  Cartesianismus  gewann.  Der  Weg,  auf  dem  dieser  nach 
Deutschland  gelangte,  ging  zunächst  über  Holland,  und  unter  den 
Häuptern  der  cartesianischen  Schule  nahm  bei  Gelegenheit  der 
occasionalistischen  Probleme  schon  der  in  Duisburg  wirkende 
C 1  a  u  b  e  r  g  eine  bedeutende  Stelle  ein .  Später  wanderte  der  Cartesia- 
nismus in  Deutschland  hauptsächlich  durch  die  Hugenotten  ein, 
welche  infolge  der  ungünstigen  Wendung,  die  der  religiöse  Kampf 
für  sie  in  Frankreich  nahm,  in  immer  größeren  Scharen  ihre  Heimat 
verließen  und  in  Deutschland  mit  offenen  Armen  aufgenommen 
wurden.  Die  reformierten  Prediger,  die  an  ihrer  Spitze  zogen,  waren 
zum  großen  Teil  Anhänger  dieser  Philosophie  und  wirkten  in  der 
neuen  Heimat  energisch  für  ihre  Ausbreitung.  In  dieser  Hinsicht 
ist  namentlich  die  Tätigkeit  des  Predigers  Chauvain  in  Berlin 
hervorzuheben.  So  kam  es,  daß  der  Cartesianismus  auch  auf  den 
deutschen  Universitäten  seinen  Einzug  hielt.  Der  bedeutendste 
Vertreter  war  hier  Joh.  Christoph  Sturm  (1635 — 1703),  der 
schließlich  Professor  in  Altdorf  war  und  in  seinem  »Compendium 
universalium  seu  metaphysica  Euclidea  «  nicht  nur  eine  vollkommene 
Durchführung  der  geometrischen  Methode  versuchte,  sondern  auch  I 
sich  in  den  Problemen  der  cartesianischen  Schule  durchaus  heimisch 
zeigte.  Er  schwankte,  wie  sein  Briefwechsel  mit  Leibniz  beweist, 
zwischen  dem  Standpunkte  des  Occasionalismus  und  einer  Hinneigung 
zu  den  Lehren  von  Malebranche7,  suchte  aber  namentlich  das  Prinzip 
der  mathematischen  Gewißheit  im  Geiste  Descartes'  weiter  aus- 
zubauen. Die  Einführung  der  geometrischen  Methode  wurde  be- 
sonders von  Seiten  der  Mathematiker  befördert,  und  unter  diesen  ist 
in  erster  Linie  Erhard  Weigel  zu  nennen,  der  in  Jena  gerade  nach 
dieser  Richtung  hin  eine  vielfach  anregende  Tätigkeit  entwickelte. 

Der  Einfluß,  den  die  geometrische  Methode  auf  die  Behandlung 
der  philosophischen  Probleme  auch  in  den  besonderen  Disziplinen 
erhielt,  ist  fast  am  klarsten  in  den  rechtsphilosophischen 
Untersuchungen  von  Samuel  Pufendorf,  der,  1632  geboren,  in 


11- 


-fif 


Pufendorf.  451 

Leipzig  und  Jena  gebildet,  als  Erzieher  im  Hause  des  schwedischen 
Gesandten  zu  Kopenhagen  bei  gelegentlicher  Gefangenschaft  die 
Lehren  von  Hugo  Grotius  und  Hob b es  studierte,  1669  in- 
folge seines  großen  Werkes:  »Elementa  juris  universalis«  (1660) 
auf  den  ersten  Lehrstuhl  des  Natur-  und  Völkerrechts  an  der  Uni- 
versität Heidelberg  berufen  wurde,  später  an  der  schwedischen 
Universität  zu  Lund  dozierte,  darauf  als  Staatshistoriograph  nach 
Stockholm  und  in  gleicher  Stellung  1686  nach  Berlin  übersiedelte 
und  in  letzterer  Stadt  im  Jahre  1694  starb.' !  Er  hat  nicht  nur  die 
wissenschaftliche  Seite  der  Rechtsphilosophie  ausgebildet,  sondern 
auch  mit  den  allgemeineren  Problemen  des  öffentlichen  Lebens 
sich  eingehend  beschäftigt,  vor  allem  aber  in  die  brennenden 
Rechtsfragen  des  schon  damals  in  innerer  Auflösung  begriffenen 
deutschen  Reiches  durch  seine  unter  dem  Pseudonym  Severinus  de 
Monzambano  1667  erschienene  Schrift  »De  statu  imperii  germanici« 
auf  das  glänzendste  eingegriffen.  Seine  wissenschaftliche  Bedeutung 
liegt  vor  allem  darin,  daß  er  zuerst  den  Versuch  machte,  das  System 
der  Rechtsphilosophie  von  einem  Grundprinzip  aus  nach  geo- 
metrischer Methode  in  derselben  Weise  deduktiv  zu  entwickeln, 
wie  Descartes  dies  für  die  gesamte  Philosophie  verlangt  hatte.  Als 
Ausgangspunkt  dieser  Deduktion  behandelt  er  den  Grundsatz,  daß 
das  egoistische  Interesse  des  Individuums  nur  durch  die  Gesellschaft 
zu  erfüllen  sei,  und  sucht  dann  nachzuweisen,  daß  auch  die  Gesell- 
schaft dies  nur  vermittels  der  staatlichen  Ordnung  zu  leisten  vermöge. 
Er  glaubt  in  diesem  Prinzip  diejenigen  von  Hobbes  und  von  Hugo 
Grotius  miteinander  kombiniert  zu  haben.  Die  geschlossene  Form 
streng  mathematischer  Beweisführung,  die  er  seiner  Lehre  gab, 
wurde  für  lange  Zeit  ein  Vorbild  der  rechtsphilosophischen  Unter- 
suchungen :  die  wissenschaftliche  Selbständigkeit,  welche  die  Renais- 
sance für  die  Jurispruden*  nach  verschiedenen  Seiten  hin  erstrebt 
hatte,  schien  damit  vollkommen  gewonnen,  und  das  Ideal  von 
Hobbes,  wonach  die  Lehre  vom  Staat  eine  rein  demonstrative 
Wissenschaft  sein  sollte,  hatte  seine  Erfüllung  gefunden. 

In  dieser  Weise  befreundete  man  sich  in  Deutschland  immer 
mehr  mit  der  geometrischen  Methode,  und  es  blieb  schließlich  nicht 
aus,  daß  man  sie  mit  pedantischem  Schematismus  überall  anzu- 
wenden trachtete.  Eine  weitere  Folge  aber  war  die,  daß  auf  diese 
Weise  die   Geister  für  die  großartigste  Leistung,   die  aus   dieser 

29* 


452  Spinozisraus. 

Methode  hervorgegangen  war,  eher  eingenommen  werden  konnten, 
als  es  sonst  der  Fall  gewesen  wäre.  Der  Spinozismus  wurde 
zwar  auch  in  Deutschland  als  eine  unchristliche  und  unsittliche 
Lehre  auf  das  leidenschaftlichste  verworfen  und,  wie  es  zu  geschehen 
pflegt,  gerade  von  denjenigen  geschmäht,  die  ihn  zu  begreifen  nicht 
imstande  waren.  Er  blieb  im  allgemeinen  auch  hier  mehr  verrufen 
als  gekannt,  bis  die  großen  Geister  des  XVIII.  Jahrhunderts  nach 
Lessings  Vorgange  ihn  wieder  entdeckten.  Dennoch  fand  sich  hie 
und  da  schon  im  XVII.  Jahrhundert  ein  Mann,  der,  durch  die  exakte 
Handhabung  der  geometrischen  Methode  gefesselt,  vorurteilslos 
genug  war,  um  den  Wert  dieses  Systems  zu  würdigen,  und  uner-  [ 
schrocken  genug,  dafür  einzutreten.  Eine  Anzahl  von  Anhängern 
Spinozas  wählte  freilich  bis  tief  in  das  XVIII.  Jahrhundert  hinein 
für  die  Verbreitung  der  Lehre  des  großen  Philosophen  die  vorsichtig 
versteckte  Form  einer  scheinbaren  Widerlegung:  so  veröffentlichte 
noch  Lorenz  Schmidt,  der  Herausgeber  der  Wertheimer  Bibelüber- 
setzung, 1744  eine  vortreffliche  deutsche  Übersetzung  der  »Ethik« 
mit  dem  Anhange  von  ein  paar  unbedeutenden  Paragraphen  aus 
Wolf f s  »Natürlicher  Theologie  «  als  »Widerlegung  Spinozas  «.  Andere 
dagegen  traten  offen  für  ihn  ein:  unter  diesen  ist  hauptsächlich 
Fr.  Wilh.  Stosch  zu  nennen,  der  in  seiner  Schrift  »Concordia 
rationis  et  fidei«  (1692)  den  Spinozismus  als  ein  willkommenes 
Mittel  in  dem  Kampfe  gegen  den  Orthodoxismus  anwendete.  Dabei 
zeigt  er  eine  entschiedene  Neigung,  die  Lehre  Spinozas  in  einem 
dem  Materialismus  nahestehenden  Sinne  aufzufassen.  Sowenig  das 
dem  ursprünglichen  Geiste  des  Spinozismus  entsprach,  so  wurde 
doch  selbstverständlich  dem  großen  Ketzer  auch  diese  Folgerung  in 
die  Schuhe  geschoben,  und  diese  materialistische  Tendenz  war  natür- 
lich ein  Vorwand  mehr,  um  seine  Lehre  so  verwerflich  wie  möglich 
erscheinen  zu  lassen. 

Gegen  den  Materialismus  mußten  sich  jedoch  die  übrigen 
philosophischen  Ansichten  schon  zu  Ende  des  XVII.  Jahrhunderts 
auch  direkt  rüsten ;  die  Einflüsse  der  französischen  und  der  englischen 
Literatur,  namentlich  der  Lehren  von  Gassendi  und  Hobbes,  machten 
sich  auch  in  dieser  Eicht ung  fühlbar.  Pancratius  Wolff  er- 
klärte in  seinen  »Cogitationes  medico-legales «  (1697)  die  Gedanken 
für  Wirkungen  des  körperlichen  Mechanismus,  welche  aus  diesem 
mit  der  gleichen  Notwendigkeit  hervorgingen,  wie  alle  seine  übrigen 


Materialismus.  453 

Leistungen.  Den  schärfsten  Ausdruck  aber  hat  die  materialistische 
Ansicht  in  offenbarer  Abhängigkeit  von  Hobbes  durch  den  berüch- 
tigten »Briefwechsel  vom  Wesen  der  Seele«  erhalten,  welcher 
1713  anonym  erschien,  für  dessen  Urheber  fälschlicher-,  vielleicht 
ironischerweise  zwei  Theologen  ausgegeben  wurden,  und  dessen 
Autorschaft  nicht  mehr  mit  völliger  Sicherheit  festgestellt  werden 
kann.  Mit  kaustischem  Witz,  wenn  auch  in  der  höchst  geschmack- 
losen Sprache  jener  Zeit  geschrieben,  plädiert  dieses  interessante 
Schriftchen  in  erster  Linie  für  die  völlige  Unabhängigkeit  aller 
philosophischen  Forschung  von  jeglicher  Autorität  und  will  nament- 
lich die  Geister  auch  von  dem  Banne  der  Methode  und  der  Lehren 
Descartes'  befreit  wissen.  Es  betritt  sodann  den  baconischen 
Standpunkt  der  experimentellen  Forschung  und  sucht  auch  die 
psychischen  Probleme  unter  diesen  Gesichtspunkt  zu  stellen.  Der 
Schwerpunkt  seiner  materialistischen  Beweisführung  liegt  (wie 
mehr  als  vierzig  Jahre  später  bei  Lamettrie)  in  einer  Vergleichung 
des  menschlichen  und  des  tierischen  Seelenlebens,  die  darauf  hinaus- 
führt, zwischen  beiden  keinen  qualitativen,  sondern  nur  einen 
graduellen  Unterschied  zu  setzen.  Kommt  man  deshalb  bei  der 
Erklärung  des  tierischen  Seelenlebens  ohne  die  Annahme  einer 
unsterblichen  Seelensubstanz  aus,  so  bedarf  man  ihrer  auch  bei 
dem  Menschen  nicht,  so  muß  man  auch  bei  ihm  den  gesamten 
Vorgang  seines  seelischen  Lebens  auf  die  mechanischen  Kraftaus- 
lösungen in  der  Tätigkeit  der  Gehirnfasern  zurückführen.  In  diesem 
Zusammenhange  kann  natürlich  von  einer  Willensfreiheit  nicht 
mehr  die  Kede  sein,  und  es  wird  deshalb  auf  dem  Boden  eines  voll- 
kommenen Determinismus  namentlich  der  Wert  hervorgehoben, 
den  auf  dem  Wege  des  rein  mechanischen  Einflusses  Übung  und 
Erziehung  für  die  Ausbildung  der  Kräfte  des  Denkens  so  gut  wie 
des  Wollens  besitzen.  Es  ist  offenbar  nur  ironisch  gemeint,  wenn  | 
diese  Lehre  in  dem  »Briefwechsel«  schließlich  von  dem  orthodoxen 
Standpunkte  des  aristo telisierenden  Melanchthonianismus  mit  Be- 
rufung auf  die  Lehren  von  der  Schöpfung,  der  Auferstehung  usw. 
widerlegt  wird. 

So  mannigfach  zerstreut  und  so  unzusammenhängend  waren 
die  Kegungen  des  philosophischen  Denkens  während  des  XVII.  Jahr- 
hunderts in  Deutschland.  Es  bedurfte  eines  großen  Genies,  um 
diesem  traurigen  Zustande  ein  Ende  zu  machen  und  die  geistigen 


454  Leiboiz, 

Kräfte  zu  einer  systematischen  Lösung  der  Probleme  zusammen- 
zuraffen. Dieses  Genie,  der  Vater  der  neueren  deutschen  Philo- 
sophie, war  Leibniz. 

§  48.    Leibniz. 

Es  könnte  eigentümlich  erscheinen,  daß  Leibniz  erst  an  dieser 
Stelle  seine  Darstellung  findet,  nachdem  die  Entwicklung  der  eng- 
lischen und  der  französischen  Philosophie  des  XVIII.  Jahrhunderts, 
der  sein  Leben  und  seine  Lehre  chronologisch  weit  vorausgehen, 
berichtet  worden  ist.  Allein  diese  Anordnung  erschien  gestattet, 
weil  die  Gedanken  dieses  Mannes  vermöge  der  sporadischen  Form, 
in  der  sie  aufgetreten  waren,  wenn  überhaupt,  so  nur  einen  geringen, 
meist  in  die  Grenzen  persönlichen  Austausches  durch  den  Brief- 
wechsel eingeschlossenen  Einfluß  auf  jene  Entwicklung  ausgeübt 
haben.  Die  englische  so  gut  wie  die  französische  Philosophie  lag 
der  Gedankenwelt  Leibniz'  so  fern,  daß  man  den  »Schöpfer  der 
Lehre  von  der  prästabilierten  Harmonie«  höchstens  einmal  ge- 
legentlich wie  eine  Kuriosität  erwähnte.  Von  einer  entschiedenen 
Einwirkung  kann  nur  bei  dem  einzigen  Robinetf'die  Kede  sein,  und 
diese  ist  dort  bereits  verzeichnet  worden.  Auf  der  anderen  Seite 
aber  erschien  diese  Anordnung  dadurch  geboten,  daß  von  Leibniz 
zweifellos  der  bestimmende  Einfluß  auf  die  gesamte  Entwicklung 
der  deutschen  Aufklärung  ausgegangen  ist,  und  deshalb  die  Dar- 
stellung seiner  Lehre  die  Geschichte  dieser  Bewegungen,  die  ihrerseits 
den  Abschluß  der  vorkantischen  Philosophie  bilden,  notwendig 
eröffnen  muß. 

Gottfried  Wilhelm  Leibniz  war  als  der  Sohn  eines  Leipziger 
Professors  der  Moral  am'-älT7uSTl 646  geboren.  Begabung  und 
Lernbegier  gaben  ihm  früh  eine  solche  Belesenheit,  daß  er  mit 
fünfzehn  Jahren  in  der  antiken  und  neueren  Philosophie  gleich 
heimisch  war  und  die  Systeme  von  Aristoteles,  Piaton,  Bacon, 
Hobbes,  Gassendi  und  Descartes  vollkommen  beherrschte,  aber  auch 
in  der  Scholastik  mehr  bewandert  war  als  die  meisten  seiner  philo- 
sophierenden Zeitgenossen.  Seit  1661  studierte  er  an  der  Leipziger 
Universität,  bildete  sich  sodann  in  Jena  unter  Weigel  weiterhin 
methodisch  aus  und  habilitierte  sich  bei  der  Leipziger  philoso- 
phischen Fakultät  mit  einer  Abhandlung  über  den  Zusammenhang 
der  Jurisprudenz  mit  der  Philosophie,     Persönlichen  Abneigungen 


y 


Leben.  455 

ausweichend,  erwarb  er  den  juristischen  Doktorgrad  an  der  Uni- 
versität Altdorf,  an  welcher  ihm  die  Nürnberger  sofort  eine  Professur 
anboten.  Er  schlug  jedoch  die  akademische  Laufbahn  für  immer 
aus  und  lebte  eine  Zeitlang  in  Nürnberg,  mit  verschiedenen  Studien 
beschäftigt,  bis  er  durch  die  Bekanntschaft  mit  Boineburg,  dem 
Minister  des  Mainzer  Kurfürsten  Joseph  Philipp  von  Schoenborn, 
sich  veranlaßt  sah,  1668  in  des  letzteren  Dienste  zu  treten.  In 
dieser  Stellung  entwickelte  Leibniz  eine  außerordentlich  lebhafte 
politische  und  publizistische  Tätigkeit,  worin  er  namentlich  die  von 
Ludwig  XIV.  dem  zerbröckelnden  Deutschen  Reiche  drohenden  Ge- 
fahren ins  Auge  faßte.  Er  begriff  durchaus  die  unheilvollen  Folgen 
der  religiösen  Zersplitterung  Deutschlands  und  wurde  nicht  müde, 
in  echt  nationaler  und  patriotischer  Begeisterung  zur  Einigung 
dem  äußeren  Feinde  gegenüber  zu  mahnen,  der  damals  schon  sich 
anschickte,  ein  Stück  nach  dem  anderen  aus  dem  Reichskörper 
an  sich  zu  reißen.  Er  verfiel  sogar  auf  den  abenteuerlichen  Gedanken, 
die  Eroberungslust  des  französischen  Königs  nach  Ägypten  abzu- 
lenken, entwarf  ein  Memoire,  worin  er  diesen  Plan  im  Zusammen- 
hange mit  demjenigen  eines  allgemeinen  Kreuzzuges  gegen  die 
Türken  dem  König  zu  unterbreiten  dachte,  und  ließ  sich  in  dieser 
Absicht  einer  Gesandtschaft  nach  Paris  als  Erzieher  des  jungen 
Boineburg  attachieren.  Wenn  auch  dieser  Plan  scheiterte,  so  war 
doch  diese  Reise  für  Leibniz'  wissenschaftliche  Verbindungen  von 
außerordentlicher  Bedeutung.  Es  war  die  beste  Zeit  der  franzö- 
sischen Literatur,  und  die  Pariser  Gesellschaft  hatte  eben  ange- 
fangen, die  Heimstätte  der  geistigen  Bewegung  zu  werden,  an  der 
damals  auch  die  englischen  Gelehrten  ihre  Nahrung  suchten.  In 
dem  Glänze  der  Regierung  des  großen  Ludwig  sonnten  sich  Kunst 
und  Wissenschaft.  Damals  feierten  Racine  und  Moliere  ihre 
Triumphe,  damals  bildeten  die  cartesianische  Philosophie  und  die 
Probleme  der  Mechanik  einen  Lieblingsgegenstand  der  Unterhaltung 
in  allen  Kreisen  der  Gesellschaft.  Mit  der  Gewandtheit  und  Lebendig- 
keit, die  ihn  auszeichnete,  lebte  sich  Leibniz  in  diese  Bewegung 
der  Geister  ein.  Die  gleichen  Vorteile  gewährte  ihm  sodann  ein 
Aufenthalt  in  London,  wohin  sich  die  Gesandtschaft  1673  begab, 
und  wo  Leibniz  unter  anderem  der  Akademie  eine  von  ihm  er- 
fundene Rechenmaschine  vorstellte.  Ein  weiterer  Aufenthalt  in 
Paris  führte  ihn  namentlich  mit  Tschirnhaus^zusammen,  und  er 

7. .- .  T.  roy 


456  Leibniz. 

fühlte  sich  in  den  dortigen  Verhältnissen  so  wohl,  daß  er  daran  dachte, 
sich  in  Paris  dauernd  niederzulassen.  Inzwischen  entschied  sein 
Geschick  sich  anders,  indem  er  der  Berufung  des  Herzogs  von 
Hannover  in  eine  Stelle  als  Kat  und  Bibliothekar  Folge  leistete.  In 
dieser  neuen  Stellung  nun  war  es,  wo  Leibniz  eine  Tätigkeit  von 
großartigster  Vielseitigkeit  entfaltete.  Er  war  ein  Universalgenie, 
wie  es  kein  zweites  gegeben  hat,  und  ein  Gelehrter  von  vielleicht 
nie  wieder  erreichter  Ausdehnung  des  Wissens;  seine  wissenschaft- 
liche Tätigkeit  erstreckte  sich,  überall  anregend,  überall  in  die  Tiefe 
gehend  und  vielfach  Epoche  machend,  auf  alle  Gebiete  des  mensch- 
lichen Wissens.  In  der  allgemeinen  Richtung  der  Zeit  legte  er 
selbst  fast  das  Hauptgewicht  auf  die  Mathematik  und  veröffentlichte 
1684  in  den  Leipziger  »Acta  eruditorum«  seine  geniale  Methode 
der  Differentialrechnuno;  (Nova  methodus  pro  maximis  et  minimis). 
In  ihrer  Anwendung  auf  die  Mecjj^n^:  gestaltete  er  die  von  Cartesius 
aufgestellten  Prinzipien  wesentlich  um  und  stellte  eine  dem  Newton- 
schen  Gravitationsgesetz  sich  annähernde  Grundformel  dafür  auf, 
wodurch  ein  während  des  ganzen  XVIII.  Jahrhunderts  zwischen 
seinen  Anhängern  und  denjenigen  des  Cartesius  lebhaft  geführter 
Streit  sich  entspann.  Auch  in  der  Chemie  war  er  nach  dem  da- 
maligen  Standpunkte  der  Forschungen  tätig  und  glücklich,  er  be- 
schäftigte sich  hauptsächlich  mit  der  Darstellung  des  Phosphors. 
Daneben  regte  er  im  Herzogtum  Hannover  zahlreiche  geo^nostische 
Untersuchungen  an  und  wirkte  nach  wissenschaftlichen  Grundsätzen 
für  die  Ausbreitung  und  die  Fortschritte  des  Bergbaues  und  für 
die  Verbesserung  des  Münzwesens.  Auf  dem  Gebiete  der  *[uris- 
prudenz  schuf  er  eine  Reihe  umfangreicher  und  wertvoller  Sammel- 
werke, und  unter  die  Historiker  gesellte  er  sich  durch  eine  im  Auf- 
trage  der  Regierung  unternommene  und  durch  eine  mehrjährige 
Studienreise  durch  Deutschland  und  Italien  beförderte  Geschichte 
des  Hauses  Braunschweig-Lüneburg,  wobei  ihm  auch  die  seit  1691 
ihm  übertragene  Verwaltung  der  Wolfenbütteler  Bibliothek  zu  Hilfe 
kam.  Besonders  regsam  aber  war  er  in  der  politischen  Tätigkeit. 
Als  persönlicher  Ratgeber  und  Freund  zweier  im  Herzogtum  auf- 
einanderfolgenden Brüder  nahm  er  an  den  verwickelten  Verhand- 
lungen der  politischen  und  der  kirchenpolitischen  Zeitgeschichte 
teil.  Es  gelang  ihm,  zugunsten  der  Reichseinheit  die  immer 
drohender  werdende  Eifersucht  zwischen  den  beiden  norddeutschen 


Leben.  457 

Hauptmächten,  Brandenburg  und  Hannover,  zu  beschwichtigen  und 
die  Heirat  des  späteren  ersten  preußischen  Königs  mit  der  Tochter 
des  Hannoverschen  Herzogs,  seiner  philosophischen  Schülerin 
Sophie  Charlotte,  herbeizuführen.  Diese  Beziehungen  suchte  er 
dann  hauptsächlich  für  seine  kirchenpolitischen  Pläne  auszunutzen. 
Im  Anschluß  an  Spinolas  Bestrebungen  für  eine  allgemeine  Ver- 
einigung aller  christlichen  Konfessionen,  korrespondierte  er  nicht 
nur  mit  Pellisson  und  Bossuet,  sondern  entwarf  auch  als  Grundlage 
dazu  ein  »Systema  theologicum«.  Als  sich  dieser  Plan  schließlich 
zerschlagen  hatte,  faßte  er  eine  Union  der  lutherischen  und  der 
reformierten  Kirche  ins  Auge,  deren  mächtigste  Vertreter  gerade 
das  hannoversche  und  das  brandenburgische  Haus  waren.  Dabei 
sah  er  sich  in  der  lebhaftesten  Weise,  obwohl  schließlich  ohne 
Erfolg,  von  Sophie  Charlotte  unterstützt.  Diese  geistvolle  Frau  — 
die  Nichte  jener  Prinzessin  Elisabeth  von  der  Pfalz,  welche  die 
Freundin  Descartes'  war  und  jenes  Kurfürsten  Karl  Ludwig,  der 
Spinoza  nach  Heidelberg  hatte  berufen  wollen  —  hielt  von  Berlin 
aus  die  Beziehungen  zu  dem  Philosophen  aufrecht,  und  je  uner- 
quicklicher für  ihn  während  der  letzten  Regierungs  jähre  des  Herzogs 
Ernst  August  von  Hannover  die  Vermittlung  in  schwierigen  und 
traurigen  Familienverhältnissen  gewesen  war,  je  kälter  sich  seine 
Beziehung  zu  dessen  seit  1698  regierendem  Sohne  Georg  Ludwig 
gestaltete,  desto  lieber  ergriff  er  die  Gelegenheit,  für  jene  Unions- 
pläne in  Berlin  selbst  zu  wirken,  wo  er  an  dem  Hofe  der  Kur- 
fürstin mannigfache  geistige  Anregung  fand  und  auch  unter  anderem 
mit  dem  englischen  Freidenker  Toland  zusammentraf.  Seine  An-  A  ~l-f 
Wesenheit  führte  hier  außerdem  im  Jahre  1700  zur  Stiftung  der 
Berliner  Akademie  der  Wissenschaften,  deren  erster  Präsident 
Leibniz  wurde,  und  in  deren  erstem  Berichte  er  zu  gleicher  Zeit 
mit  historischen,  antiquarischen,  etymologischen,  mathematischen 
und  physikalischen  Abhandlungen  auftrat.  Dabei  war  er  auch  hier 
unermüdlich  für  allgemeine  praktische  Interessen  tätig;  er  be- 
förderte die  Einführung  des  Seidenbaues,  arbeitete  an  einer  zeit- 
gemäßen Reform  des  Schulwesens  und  lieh  seine  publizistische  Ge- 
wandtheit den  politischen  Interessen  des  brandenburgischen  und 
des  hannoverschen  Hauses.  In  der  Folgezeit  lockerten  sich  seine 
Beziehungen  zu  dem  hannoverschen  Hofe  immer  mehr,  und  seine 
Vorliebe  für  äußere   Ehren  ließ  ihn  Anknüpfungen   mit  anderen 


458  Leibniz. 

Regenten  suchen.  Dabei  unterließ  er  es  jedoch  nicht,  für  das 
Interesse  der  Wissenschaft  gerade  an  diesen  Stellen  tätig  zu  sein. 
In  der  Hoffnung,  einen  allgemeinen  Bund  von  Akademien  herbei- 
zuführen, versuchte  er,  wenn  auch  nicht  mit  unmittelbarem  Erfolge, 
in  Dresden  und  Wien  die  Stiftung  wissenschaftlicher  Sozietäten  an- 
zuregen. Namentlich  aber  benutzte  er  die  Gunst,  die  ihm  Peter 
der  Große  zuwandte,  um  diesen  zur  Gründung  der  Petersburger 
Akademie  zu  bewegen  und  durch  seine  Vermittlung  an  zahlreichen 
Punkten  des  großen  Reiches  magnetische  Beobachtungen  anordnen 
zu  lassen.  Doch  fand  dies  bewegte  und  glänzende  Leben  einen 
einsamen  und  traurigen  Abschluß.  Als  Georg  Ludwig  den  englischen 
Thron  bestiegen  hatte,  suchte  Leibniz  vergebens  an  den  Londoner 
Hof  berufen  zu  werden,  und  seine  Bemühungen  darum  scheiterten 
hauptsächlich  am  Widerstände  der  dortigen  Akademie.  Diese  hatte 
in  dem  trübseligen  Prioritätsstreit,  der  sich  zwischen  Leibniz  und 
Newton  wegen  der  Erfindung  der  Differentialrechnung  nicht  ohne 
beiderseitige  Schuld  entspann  und  mit  Bitterkeit  jahrelang  geführt 
worden  war,  wobei  schließlich  Leibniz  auch  zu  entschieden  un- 
gerechtfertigten und  gehässigen  Mitteln  gegriffen  hatte,  ihr  Verdikt 
gegen  Leibniz  ausgesprochen.  Die  Zurückweisung,  die  er  jetzt 
erfuhr,  schmerzte  ihn  tief,  so  daß  er  den  Gedanken  einer  Über- 
siedelung nach  Paris  wieder  erwog.  Kränklichkeit  und  anderseits 
die  Hoffnung,  den  1716  in  Pyrmont  weilenden  König  Georg  für  sich 
einzunehmen,  hinderten  ihn  an  der  Ausführung.  Allein  der  in- 
zwischen selbst  in  die  Intriguen  der  Hofparteien  hineingespielte 
Streit  entschied  sich  auch  hier  zu  seinen  Ungunsten,  und  so  be- 
mächtigte sich  seiner  eine  tiefe  Verstimmung,  welche  durch  die 
Angriffe  der  hannoverschen  Geistlichkeit  und  die  Mißachtung  der 
Hofleute  nur  noch  gesteigert  wurde.  So  starb  er  am  14.  November 
1716  verbittert  und  einsam  zu  Hannover. 

Die  geradezu  kolossale  Vielseitigkeit  und  rastlose  Lebendigkeit, 
welche  man  von  jeher  an  dem  Wesen  von  Leibniz  bewundert  hat, 
ist  doch  gerade  für  seine  philosophische  Tätigkeit  nicht  ohne  Nach- 
teil gewesen.  Zwar  von  der  Oberflächlichkeit,  die  der  Vielseitig- 
keit als  ihr  Schatten  zu  folgen  pflegt,  ist  bei  ihm  keine  Spur;  mit 
einer  ungeheuren  Arbeitskraft  verband  er  einen  so  durchdringenden 
Scharfsinn  und  einen  so  in  die  Tiefe  wühlenden  Geist,  daß  er  allen 
Dingen,  mit  denen  er  sich  beschäftigte,  auf  den  Grund  und  Kern 


Charakter.  459 

kam.  Allein  die  iiroße  Ausdehnung  seiner  wissenschaftlichen  In- 
teressen  und  daneben  die  Vielgeschäftigkeit  seines  diplomatischen 
Lebens  mußten  selbst  bei  seiner  Arbeitskraft  eine  einheitliche  und 
streng  wissenschaftliche  Ausbildimg,  vor  allem  aber  eine  geschlossene 
literarische  Formulierung  seiner  philosophischen  Errungenschaften 
verhindern.  So  stark  deshalb  auf  der  einen  Seite  die  belebenden 
Wurzeln  sind,  welche  die  Philosophie  dieses  Mannes  gerade  in  dem 
Reichtum  seiner  großartigen  Individualität  fand,  so  ungünstig 
wirkte  eben  diese  Zersplitterung  auf  die  literarische  Gestalt, 
in  der  seine  Lehre  auftrat.  Leibniz  war  weit  davon  entfernt,  ein 
Gelehrter  zu  sein  in  dem  Sinne  der  einsamen  Forschung,  wie  es 
Descartes  und  Spinoza  jeder  in  seiner  Weise  gewesen  waren.  In 
ihm  floß  ein  Tropfen  baconischen  Blutes,  etwas  von  jener  Gewandt- 
heit, die  sich  auf  glattem  Parkett  zwischen  Intriguen  bewegt  und 
dabei  doch  die  großen  Pläne  des  geistigen  Lebens  mitten  in  der 
politischen  und  sozialen  Welt  zu  realisieren  trachtet,  zugleich  aber 
auch  etwas  von  jenem  brennenden  Ehrgeiz,  der  Bacon  zu  Fall  ge- 
bracht hatte,  und  von  der  Sucht,  auf  den  Höhen  des  Lebens  zu 
glänzen.  Schon  aus  dem  äußeren  Rahmen  dieses  Lebens  kann 
man  abnehmen,  daß  es  zu  einer  ruhigen  Ausarbeitung  wissen- 
schaftlicher Werke  nur  im  geringsten  Maße  Raum  gegeben  hat.  Es 
gibt  daher  kein  Werk,  in  welchem  das  Ganze  der  Leibnizschen 
Philosophie  eine  ausführliche  und  umfassende  Darstellung  gefunden 
hätte.  Die  große  Mehrzahl  seiner  philosophischen  Schriften  sind 
Kinder  der  Gelegenheit,  kleine  Abhandlungen  (oder  Anfänge  und 
Entwürfe  dazu)  über  einzelne  Probleme,  die  teils  in  der  Jugend  zu 
akademischen  Zwecken,  teils  später  in  gelehrten  Zeitschriften  ver- 
öffentlicht wurden,  teils  auch  erst  aus  seinem  Nachlasse  herausgegeben 
worden  sind;  und  selbst  die  beiden  Schriften,  in  denen  er  noch  am 
meisten  den  Zusammenhang  seiner  metaphysischen  Lehre  dargetan 
hat,  sind  aus  bestimmten  persönlichen  Veranlassungen  entstanden. 
Sein  »Essai  de  Theodicee«  (Amsterdam  1710  gedruckt)  ist  aus 
Niederschriften  erwachsen,  die  er  nach  Gesprächen  über  die  Zweifel 
Bayles  wegen  der  Probleme  des  Übels  und  der  Sünde  für  die  Königin 
von  Preußen  entworfen  hatte,  und  seine  »Monadologie «  wurde  1714 
für  den  Prinzen  Eugen  geschrieben,  um  ihm  einen  kurzen  Abriß 
seines  Systems  zu  geben.  Unter  diesen  Umständen  bildet  die 
beispiellos  ausgebreitete  Korrespondenz,  die  Leibniz  mit  den  gleich- 


460  Leibniz. 

zeitigen  Gelehrten  führte,  eine  der  wesentlichsten  Quellen  für  das 
Studium  seiner  Philosophie,  und  in  den  ersten  Jahrzehnten  nach 
seinem  Tode  haben  sich  denn  auch  mehrere  Sammler  um  die  Heraus- 
gabe dieser  zerstreuten  Gedankenkeime  verdient  gemacht.  Einen 
besonderen  Wert  besitzt  unter  diesen  Korrespondenzen  diejenige 
mit  ClarkeJ  die  zu  den  tiefsten  Problemen  des  Leibnizschen  Denkens 
in  sehr  nahen  Beziehungen  steht,  ebenso  aber  auch  diejenige  mit 
Pierre  Bayle  und  des  Bosses.  Das  merkwürdigste  literarische  Ge- 
schick hat  endlich  das  philosophisch  bedeutendste  Werk  von  Leibniz 
erfahren.  Seine  »Nouveaux  essais  sur  l'entendement  humain«,  die, 
als  ein  Gegenstück  zu  Lockes  Hauptwerk  gedacht,  sich  zu  einer 
fortlaufenden  Kritik  gestaltet  hatten  und  den  vollkommensten  Aus- 
druck von  ihres  Verfassers  philosophischer  Originalität  enthalten, 
waren  bereits  im  Jahre  1704  vollendet;  da  aber  Locke  in  diesem  Jahre 
starb,  und  da  der  Prioritätsstreit  mit  Newton  gerade  damals  die 
Höhe  seiner  Leidenschaftlichkeit  erreicht  hatte,  so  zog  es  Leibniz 
vor,  dieses  Werk,  das  die  Lehren  einer  anderen  und  nicht  minder 
hochgeschätzten  Größe  der  englischen  Wissenschaft,  wenn  auch  in 
sehr  liebenswürdiger  Form  zu  widerlegen  oder  zu  ergänzen  bestimmt 
war,  nicht  unmittelbar  nach  deren  Abscheiden  zu  veröffentlichen. 
So  kam  es,  daß  dieses  sein  gewaltigstes  Werk  bis  zu  seinem  Tode  in 
seinem  Pulte  liegen  blieb,  und  daß  es  erst  im  Jahre  1765  mit  anderen 
seiner  Manuskripte  von  Raspe  herausgegeben  wurde.  Während 
daher  diese  Schrift  den  tiefsten  Einblick  in  den  inneren  und  nament- 
lich in  den  erkenntnistheoretischen  Zusammenhang  seiner  Gedanken 
gibt  und  zugleich  seine  historische  Stellung  am  vollkommensten 
bezeichnet,  blieb  die  darin  niedergelegte  Theorie  bis  über  die  Mitte 
des  XVIII.  Jahrhunderts  hinaus  verborgen  und  wirkungslos.  Die 
Philosophie  der  deutschen  Aufklärung  arbeitete  nur  mit  der  meta- 
physischen Anschauung  von  Leibniz  und  mit  einigen  zerstreuten 
Bruchstücken  seiner  Methodologie.  Der  volle  Einfluß  seines  neuen 
Standpunktes  entwickelt  sich  erst  in  Kant,  dessen  Inauguraldisser- 
tation die  unmittelbare  historische  Kontinuität  zu  Leibniz'  »Nou- 
veaux essais«  bildet. 

Die  Vielseitigkeit  ist  auch  der  wesentliche  Charakter  in  der 
philosophischen  Lehre  von  Leibniz.  Sie  erstreckt  ihre  Wurzeln 
fast  in  alle  Systeme  der  neueren  Philosophie  und  gleichmäßig 
auch  in  die  großen  Lehren  des  Altertums  und  des  Mittelalters.    Wie 


Vielseitigkeit.  461 

Leibniz  selbst  nach  allen  Seiten  des  wissenschaftlichen  und  des 
praktischen  Lebens  eine  anregende  Wirkung  ausübte,  so  war  er 
auch  den  mannigfachsten  Einflüssen  in  seinem  Denken  zugänglich. 
Er  hat  selbst  einmal  gesagt,  er  billige  das  meiste,  was  er  lese,  und 
er  besaß  eine  staunenswerte  Fähigkeit,  aus  den  verschiedenartigsten 
Lehren  dasjenige  herauszufinden,  was  ihm  sympathisch  sein  konnte, 
eine  Virtuosität  der  Aneignung  und  gelegentlich  auch  der  Anpassung, 
vermöge  deren  er  das  ganze  Material  seines  AVissens  auf  das  glück- 
lichste zu  verwerten  imstande  war.  Es  war  in  ihm  keine  Spur  von 
jener  Einseitigkeit,  mit  der  Spinoza  alles,  was  sich  dem  Zuge  seiner 
mathematischen  Konsequenz  nicht  fügte,  von  sich  wies;  keine 
Spur  von  jener  erhabenen  Strenge,  mit  der  jener  meinte,  daß  seine 
Wahrheit  den  Irrtum  aller  übrigen  Lehren  klar  machte.  Statt  der 
großen  abstrakten  Einheit  ist  hier  eine  lebendige,  farbige  Mannig- 
faltigkeit. Aber  diese  Aneignungsfähigkeit  von  Leibniz  ist  weit 
davon  entfernt,  ihn  zum  Eklektiker  zu  machen ;  sie  besteht  vielmehr 
unbeschadet  neben  einer  schöpferischen  Originalität  und  hat  ihren 
Wert  eben  darin,  daß  er  unter  dem  klar  ausgesprochenen  Gesichts- 
punkte seines  eigenen  Denkens  die  Theorien  der  Vorgänger  zu  ver- 
arbeiten, ihre  Einseitigkeiten  zu  überwinden  und  aus  ihnen  eine 
höhere  Vereinigung  zu  bilden  suchte  und  vermochte.  Leibniz  ist 
eine  konziliatorische  Natur.  Wie  er  in  kirchenpolitischer  Hinsicht 
die  verschiedenen  Konfessionen  auf  der  Basis  ihrer  gemeinsamen 
Überzeugungen  zu  versöhnen  hoffte,  so  arbeitete  er  daran,  die 
Gegensätze  der  philosophischen  Meinung  auszugleichen  und  dabei 
diese  vollkommenere  Philosophie  auch  mit  den  Lehren  der  Religion 
zu  vereinigen. 

Unter  den  zahlreichen  Einflüssen,  aus  deren  Kreuzung  sich  seine 
Lehre  entwickelte,  ist  zunächst  einer  besonders  hervorzuheben,  weil 
er  auf  eine  gewisse  Analogie  in  dem  Verhältnis  geistiger  Richtungen 
hinausläuft:  derjenige  von  Giordano  Bruno.  An  Umfang  der  Ge- 
lehrsamkeit freilich  und  an  Klarheit  des  Denkens  darf  man  Bruno 
mit  Leibniz  nicht  vergleichen:  in  der  einen  Hinsicht  verhalten  sie 
sich  zueinander,  wie  der  entlaufene  Mönch  zu  dem  Schüler  einer 
deutschen  Universität,  in  der  andern  Hinsicht  wie  die  phantastische 
Verschwommenheit  der  Renaissance  zu  der  wissenschaftlichen  Reife 
des  XVII.  Jahrhunderts.  Aber  ein  überaus  interessanter  Gegensatz 
ist  beiden  gemeinsam.     Bei  Bruno  bildete  gegen  den  poetischen 


462  Leibniz. 

Schwung  seiner  Weltanschauung  das  trockene  und  pedantische 
Tasten  nach  der  Erfindung  einer  Denkmaschine  ein  seltsames  Gegen- 
gewicht, und  zwischen  diesen  beiden  Richtungen  seines  Philosophie- 
rens gab  es  kaum  eine  Vermittlung.  Bei  Leibniz  ist  derselbe  Gegensatz 
nicht  so  schroff  und  nicht  so  ohne  alle  Vermittlung,  aber  doch  in 
einer  bemerkenswerten  Stärke  vorhanden.  Er  war  während  seines 
ganzen  Lebens  von  dem  Streben  nach  einer  sicheren  Methode  des 
Denkens  erfüllt  und  machte  zahlreiche  Ansätze,  um  eine  solche 
festzustellen.  Ja  er  verlief  sich  dabei  in  so  wunderliche  Versuche, 
daß  ihre  Verwandtschaft  mit  denjenigen  von  Bruno  und  ihre  Ab- 
hängigkeit davon  ganz  klar  ist:  aber  diese  stets  gesuchte  Methode 
hat  niemals  eine  feste  Gestalt  bei  ihm  angenommen  und  ist  niemals 
zu  einer  Ausbildung  gediehen,  vermöge  deren  sie  gar  die  Dar- 
stellung seiner  Lehre  hätte  bestimmen  können.  Den  großartigen 
Zusammenhang  seiner  Weltanschauung  verdanken  wir  nicht  sowohl 
der  strikten  Herrschaft  einer  strengen  Methode,  als  vielmehr  der 
inneren  Harmonie  seines  eigenen  Wesens.  Hierin  zeigt  Leibniz  den 
diametralen  Gegensatz  zu  Spinoza :  des  letzteren  Metaphysik  ist  aus 
seiner  geometrischen  Methode  gefolgt;  die  Weltanschauung  von 
Leibniz  hängt  mit  seiner  Methodologie  nur  in  einzelnen  Auszwei- 
gungen  zusammen. 

Das  Streben  nach  der  Methode  ist  nun  bei  Leibniz  wesent- 
lich durch  den  Einfluß  der  cartesianischen  Schule  bedingt,  welcher 
während  der  Zeit  seiner  Bildung  in  Deutschland  um  sich  zu  greifen 
begann.  Das  Licht  der  Mathematik  will  auch  er  in  die  Philosophie 
tragen,  und  die  Mathematiker  erscheinen  ihm  als  »die  einzigen 
unter  den  Menschen,  welche,  was  sie  behaupten,  auch  zu  beweisen 
pflegen  «.  Nicht  ohne  Anlehnung  an  Hobbes  gibt  er  dieser  Forderung 
die  Form,  daß  man  auch  mit  Begriffen  ebenso  wie  mit  Zahlen 
müsse  rechnen  lernen,  und  er  hofft  eine  Aufhebung  der  Schul- 
streitigkeiten der  Philosophen  von  der  Herbeiführung  eines  Zustandes, 
worin  man  einen  Denkfehler  mit  derselben  Klarheit  und  Zweifel- 
losigkeit  wie  einen  Rechenfehler  werde  aufzeigen  können.  Selbst 
für  die  Fälle,  in  denen  man  auf  absolute  Gewißheit  verzichten 
muß,  würde  man  dann  doch  den  Grad  der  Wahrscheinlichkeit  be- 
stimmen können,  der  irgend  einem  Satze  zukommt,  und  so  faßt 
auch  Leibniz  verhältnismäßig  unabhängig  den  Gedanken  einer 
Anwendung  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  auf  die  Methodologie 


Methodologie.  463 

der  übrigen  Wissenschaften.  Sein  niemals  gehaltenes  Versprechen, 
einen  Teil  der  Logik  unter  dem  Titel:  »De  aestimandis  gradibus 
probabilitatis«  zu  schreiben,  liegt  ganz  in  der  Richtung,  die  später 
die  französischen  Mathematiker  am  Ende  des  XVIII.  Jahrhunderts 
verfolgt  haben;  für  ihn  freilich  wäre,  da  er  an  dem  cartesianischen 
Ideal  der  absoluten  Gewißheit  festhielt,  diese  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung nur  ein  Nebenteil  der  allgemeinen  Methode  gewesen. 
Für  diese  allgemeine  Methode  verlangt  er  aber  die  Erfüllung  einer 
Doppelaufgabe,  die  gleichmäßig  bei  Bruno,  bei  Bacon  und  bei 
Descartes  hervorgetreten  war  und  die  gesamte  Gliederung  der 
modernen  Logik  bedingt.  Neben  der  Methode  des  Beweisens 
(methode  de  la  certitude)  muß  es  eine  solche  des  Erfindens  (art 
d'inventer)  geben,  und  Leibniz  faßt  die  Richtung  der  letzteren 
nicht  in  dem  praktischen  Sinne  Bacons,  sondern  in  dem  theo- 
retischen Sinne  Brunos  und  Descartes'  auf.  Die  Wissenschaft  hat 
nicht  nur  den  Weg  zu  zeigen,  wie  man  einzelne  Sätze  beweist, 
sondern  vor  allem  auch  den,  wie  man  neue  Sätze  findet.  Die  Logik 
soll  nicht  nur  die  Methode  des  Beweisens,  sondern  auch  diejenige 
des  Forschens  entwickeln. 

Was  die  erstere  anbetrifft,  so  folgt  Leibniz  bis  zu  gewissen 
Grenzen  zunächst  dem  Gedankengange  Descartes'.  Alle  wissen- 
schaftliche Demonstration  besteht  in  der  Zurückführung  des  zu 
beweisenden  Satzes  auf  andere  Sätze,  aus  denen  der  erstere  durch 
logische  Operation  abgeleitet  wird;  und  diese  Beweisführung  muß 
notwendig  eine  Grenze  haben,  indem  die  höchsten  Sätze,  aus  denen 
alle  übrigen  folgen,  selbst  nicht  mehr  bewiesen  werden  können. 
Doch  geht  Leibniz  nicht  bis  zu  jener  äußersten  Konsequenz  fort, 
womit  Descartes  vorausgesetzt  hatte,  daß  es  nur  einen  einzigen 
Satz  von  dieser  unableitbaren  Gewißheit  geben  dürfe ;  zwar  schließt 
er  sich  der  Forderung  an,  daß  die  Anzahl  dieser  unbeweisbaren 
Sätze  möglichst  vermindert  werde,  und  daß  z.  B.  die  Axiome  der 
Geometrie  auf  noch  einfachere  Grundformeln  zu  reduzieren  seien; 
allein  er  hält  doch  daran  fest,  daß  es  mehrere  aufeinander  nicht 
weiter  zurückführbare  solcher  »ersten  Wahrheiten«  gebe,  und 
erachtet  es  für  die  Aufgabe  der  Philosophie,  diese  in  erster  Linie 
festzustellen.  Es  läuft  dies  also  auf  die  Forderung  gewisser  Grund- 
wahrheiten hinaus,  aus  denen  alle  andere  Erkenntnis  abzuleiten 
sei,  und  welche  selbst  nur  unmittelbare,  d.  h.  intuitive  Gewißheit 


464  Leibniz. 

besitzen  sollen.  Es  muß  wundernehmen,  daß  Leibniz  kaum  einen 
Versuch  gemacht  hat,  diese  ursprünglichen  inhaltlichen  Wahrheiten, 
aus  denen  alles  übrige  folgen  soll,  zu  entwerfen;  doch  erklärt  sich 
dies  einfach  daraus,  daß  er  eine  Methode  zu  ihrer  Auffindung  nicht 
zu  geben  vermochte  und  sich  deshalb  mit  einer  systemlosen  Auf- 
stellung von  Grundsätzen  hätte  begnügen  müssen.  Gleichwohl  ist 
der  Gedanke  eines  solch enc  Systems  von  Grund wahrheiten>nicht  ver- 
loren gegangen:  Kant  hat  ihn  in  der  großartigsten  Weise  wieder 
aufgenommen,  und  die  Lehren  des  deutschen  Idealismus  haben  alle 
ihren  Schwerpunkt  in  seine  Kealisierung  gelegt. 

An  dem  Mangel  dieses  Systems  ist  nun  auch  in  erster  Linie  der 
Versuch  von  Leibniz  gescheitert,  eine  Erfindungskunst  für  die 
Erkenntnis  zu  entwerfen.  Denn  der  Ausgangspunkt  dieser  erfinden- 
den Tätigkeit  könnte,  wie  er  selbst  sehr  richtig  bemerkt,  nur  eben 
die  Feststellung  jener  ersten  Wahrheiten  sein.  Es  klingt  an  sich 
sehr  plausibel,  wenn  Leibniz  seine  Gedanken  darüber  mit  der  Be- 
merkung einleitet,  daß  jede  Wahrheit,  deren  Beweis  aus  jenen 
ersten  Grundsätzen  abgeleitet  werden  kann,  auch  hätte  durch  ge- 
schickte Kombination  von  ihnen  aus  gefunden  werden  können. 
Gewöhnlich  freilich,  meint  er,  erfassen  wir  gewisse  Gedanken  zu- 
fällig oder  mit  einer  Art  von  Intuition  oder  durch  Analogie  und 
Hypothese,  und  sehen  uns  dann  erst  danach  um,  wie  wir  sie  etwa 
zu  beweisen,  d.  h.  auf  die  ersten  Wahrheiten  zurückzuführen  ver- 
möchten. Ist  das  aber  möglich,  so  hätte  man,  wenn  man  es  nur 
richtig  angestellt  hätte,  jenen  Gedanken  auf  dieselbe  Weise  finden 
können,  wie  man  ihn  jetzt  beweist.  Deshalb,  meint  Leibniz,  müsse 
sich  eine  Methode  auffinden  lassen,  vermöge  deren  man  von  den 
Grundwahrheiten  aus  alle  übrigen  Erkenntnisse  in  derselben  Reihen- 
folge erzeugen  könnte,  wie  man  sie  jetzt  zu  beweisen  sucht;  d.  h. 
er  will  die  Methode  des  Forschens  mit  derjenigen  des  Beweisens 
identifizieren:  die  Dinge  sollen  auf  demselben  Wege  erkannt,  wie 
die  Erkenntnisse  bewiesen  werden.  Diese  Voraussetzung  ist  viel- 
leicht die  schärfste  logische  Ausprägung,  welche  das  Prinzip  des 
Rationalismus  überhaupt  gefunden  hat.  Descartes  war  sich  des 
Unterschiedes  zwischen  dem  beweisenden  Syllogismus  und  dem 
erfindenden  Gedankenfortschritte  der  Mathematik  bewußt  gewesen. 
Daß  schon  Spinoza  diesen  Unterschied  vergaß,  zeigte  sich  in  seiner 
äußerlichen  Handhabung  der  geometrischen  Methode.    Die  Meinung, 


Ais  combinatoria.  465 

daß  mathematischer  Beweis  mit  logischem  Beweise  identisch  sei, 
war  mit  der  Zeit  in  die  andere  umgeschlagen,  daß  auch  mathe- 
matischer Denkfortschritt  mit  logischem  Denkfortschritt  sich  decke, 
und  indem  die  cartesianische  Methode  in  Deutschland  von  dieser 
Seite  aufgefaßt  wurde,  geriet  man  unmerklich  ganz  in  die  schola- 
stischen Operationen  zurück,  welche  den  Syllogismus  als  das  Instru- 
ment der  Philosophie  benutzten.  Wie  nahe  Leibniz  im  Zusammen- 
hange dieser  Gedanken  der  Gefahr  stand,  davon  eingesponnen  zu 
werden,  bezeugt  die  Zähigkeit,  mit  der  er  wie  Bruno  und  mit  ent- 
schiedenem Anschluß  an  diesen  sich  um  eine  Ausbildung  der  lullischen 
»Ars  combinatoria«  mühte.  Von  früher  Jugend  an  hat  ihm 
die  Hoffnung,  eine  solche  Kunst  schließlich  doch  noch  zu  finden, 
vorgeschwebt,  und  es  ist  wie  bei  Bruno  merkwürdig  genug,  daß 
ein  Mann  von  seiner  geistigen  Eigenart  und  von  seinem  lebhaften 
Verständnis  für  die  Bedeutung  der  Individualität  auch  nur  an  die 
Möglichkeit  glauben  konnte,  daß  die  höchsten  Tätigkeiten  des 
Geistes  sich  einmal  in  dieser  Weise  würden  mechanisieren  lassen;  er 
schreckte  selbst  vor  der  Konsequenz  nicht  zurück,  daß,  wenn  einmal 
diese  Methode  gefunden  wäre,  es  nur  noch  der  Übung  und  Geschick- 
lichkeit in  ihrer  Handhabung  bedürfen  würde,  um  neue  Wahrheiten 
aufzufinden,  und  ein  Mann,  der  die  Genialität  selbst  war,  arbeitete 
so  daran,  das  Genie  überflüssig  zu  machen. 

In  den  Versuchen  der  Ausführung  kreuzten  sich  jedoch  die 
Gedanken  von  Lullus  und  Bruno  nicht  nur  mit  der  geometrischen 
Methode,  sondern  auch  mit  einem  anderen  Bestreben,  das  gleich- 
falls in  der  cartesianischen  Schule  seinen  Sitz  hatte.  Die  Carte- 
sianer,  denen  der  synthetische  Blick  des  Meisters  fehlte,  hatten 
längst  das  Bedürfnis  gehabt,  seine  mathematische  Methode  in  eine 
syllogistische  zu  verwandeln,  und  hie  und  da  kam  der  Einfluß  von 
Hobbes  hinzu,  um  den  Gedanken  zu  befestigen,  daß  auch  das  lo- 
gische Denken  nur  eine  Art  von  Eechnen  ist.  Die  Schulformeln 
der  Logik  gaben  diesen  Gedanken  eine  bestimmte  Eichtung:  hier 
war  man  gewohnt,  die  Verhältnisse  teils  von  Subjekt  und  Prädikat, 
teils  von  positiven  und  negativen  oder  von  allgemeinen  und  be- 
sonderen Urteilen  durch  Buchstaben  auszudrücken,  und  hatte 
sich  durch  den  sprachlichen  Ausdruck  der  Copula  verleiten  lassen, 
die  Urteile  stets  in  der  Form  von  Gleichungen  zu  schematisieren. 
Damit  schienen  die  Anfänge  einer  philosophischen  Kechnung 

I  Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  30 

1       ' 


466  Leibniz. 

gegeben  zu  sein.  Wenn  man  nun  aber  den  Versuch  machte,  den 
Buchstaben,  die  bisher  nur  ganz  unbestimmt  etwa  Subjekt  und 
Prädikat  bedeutet  hatten,  den  Sinn  bestimmter  Grundbegriffe  unter- 
zulegen, so  schien  die  Möglichkeit  vorhanden,  von  gewissen  an- 
fänglichen Gleichungen  aus,  die  dann  den  ersten  »Wahrheiten« 
von  Leibniz  entsprachen,  durch  Substitution  und  sonstige  arith- 
metische Operationen  neue  Beziehungen  der  Grundbegriffe  und  da- 
durch neue  Wahrheiten  aufzufinden,  damit  aber  die  Philosophie 
zu  einer  unanfechtbaren  Rechnung  umzugestalten.  Die  Ausführung 
dieses  Planes  schien  auch  einem  anderen  Übelstande  abzuhelfen, 
der  die  internationale  Arbeit  der  Wissenschaft  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  Sprachen  beeinträchtigt;  denn  diese  Rechnungs- 
zeichen für  die  höchsten  und  allgemeinsten  Wahrheiten  würden, 
einmal  fixiert  und  für  jede  besondere  Sprache  festgestellt,  eine  all- 
gemeine menschliche  Zeichensprache  bilden.  Leibniz  erinnert  an 
den  schon  von  Jakob  Böhme  geäußerten  Wunsch  nach  einer  Lingua 
adamica;  aber  auch  der  cartesianischen  Schule  waren  solche  Ver- 
suche, im  philosophischen  Interesse  eine  menschliche  Natursprache 
herzustellen,  nicht  fremd.  Descartes  selbst  hatte  einmal  den  Ge- 
danken der  Universalsprache  angedeutet,  und  in  der  Richtung 
seiner  Methode  war  dieser  von  J.  J.  Bekker  (Character  pro  notitia 
linguarum  universali,  1661),  von  dem  Engländer  G.  Dal  gar  n 
(Ars  signorum,  vulgo  character  universalis  et  lingua  philosophica, 
1661)  und  von  dem  Jesuiten  Athanasius  Kircher  (Polygraphia 
no va  et  universalis,  1663)  weiter  ausgearbeitet  worden.  Im  Nach- 
lasse von  Leibniz  fand  man  ganze  Stöße  von  Entwürfen  zu  einer 
solchen  Charakterologie,  und  er  hoffte  von  ihr  in  erster  Linie 
auch  die  Abstellung  der  terminologischen  Willkür,  welche  philo- 
sophische Darstellungen  meistens  ungenießbar  machte.  Doch 
führten  selbstverständlich  alle  die  Formeln,  die  er  versuchte,  ihn 
nicht  zum  Ziele.  Denn  sobald  man  mit  Begriffen  zu  rechnen  an- 
fängt, droht  jeden  Augenblick  ihr  eigentlicher  Inhalt  herauszufallen: 
es  gibt  eine  unendliche  Fülle  feiner  Beziehungen  der  Begriffe,  die 
gerade  im  philosophischen  Denken  flüssig  gemacht  werden  sollen, 
und  für  welche  ein  schematischer  Ausdruck  im  Sinne  der  mathe- 
matischen Rechnung  schon  deshalb  unmöglich  wird,  weil  die  Formeln, 
die  an  die  Stelle  treten  sollten,  wo  jetzt  ein  einziges  Wort  eine  Ver- 
dichtung ganzer  Gedankenketten  enthält,   eine  ganz  unförmliche 


Rationale  und  empirische  Wahrheiten.  467 

Gestalt  annehmen  und  auf  diese  Weise  die  Rechnung  ungleich 
umständlicher  machen  müßten,  als  die  Versenkung  selbst  in  die 
verwickeltste  Terminologie. 

Offenbar  stammt  die  ganze  Auffassung,  aus  der  diese  Be- 
strebungen Leibniz'  hervorgingen,  aus  derjenigen  Zeit,  in  welcher 
er  unter  dem  Zauber  der  cartesianischen  Methode  und  des  logischen 
Scholastizismus  stand,  in  den  sich  diese  bei  den  deutschen  Philo- 
sophen und  Mathematikern  verwandelt  hatte.  Vielleicht  hat  gerade 
die  Unmöglichkeit,  zu  einem  befriedigenden  Resultate  dieses  Schema- 
tismus zu  gelangen,  in  ihm  die  Wirksamkeit  eines  anderen  erkenntnis- 
theoretischen Elementes  befördert,  dem  er  erst  seine  wahre  Be- 
deutung verdankt,  und  es  scheint,  als  ob  seine  Entwicklung,  soweit 
wir  sie  zu  übersehen  vermögen,  ihn  von  jenem  logischen  Formalismus 
immer  mehr  abgezogen  und  dem  lebendigen  Inhalte  der  Erfahrung 
zugeführt  hätte.  Denn  Leibniz  selbst  war  in  den  besonderen 
Wissenschaften  viel  zu  sehr  heimisch  und  auch  in  ihren  äußersten 
Auszweigungen  viel  zu  selbständig,  als  daß  er  den  Wert  der  Er- 
fahrung für  die  Philosophie  mit  der  Einseitigkeit  hätte  unter- 
schätzen können,  wie  es  etwa  Spinoza  getan  hatte;  in  ihm  empörte 
sich  daher  von  Anfang  an  ein  empiristisches  Element  gegen  eben 
den  Rationalismus,  den  er  prinzipiell  in  die  schroffste  Form  zu 
bringen  wünschte.  Hierin  liegt  das  Eigentümliche  von  Leibniz' 
wissenschaftlicher  Persönlichkeit:  von  dem  Ideale  der  mathema- 
tischen Methode  erfüllt,  vermag  er  doch  sich  gegen  die  Erfahrung 
nicht  ablehnend  zu  verhalten,  und  er  nimmt  unter  dem  allgemeinen 
Gesichtspunkte  des  Rationalismus  schließlich  so  viel  von  den 
Theorien  des  Empirismus  auf,  daß  von  einer  einheitlichen  Metho- 
dologie bei  ihm  nicht  mehr  die  Rede  sein  kann.  Er  hat  das  ratio- 
nalistische und  das  empiristische  Element  nicht  endgültig  zu  ver- 
söhnen gewußt:  aber  indem  er  beide  aufnahm  und  miteinander  in 
Beziehungen  setzte,  bereitete  er  die  kantische  Lösung  des  Problems 
vor,  und  er  zog  bereits  die  Grundlinien  dieser  Lösung,  wenn  er  die 
Beurteilung  der  Erfahrungserkenntnis  nach  den  Prinzipien  des 
Rationalismus  anlegte. 

Die  vermittelnde  Stellung,  welche  die  deutsche  Philosophie  mit 
Leibniz  zwischen  den  Gegensätzen  des  englischen  Empirismus  und  des 
französischen  Rationalismus  einzunehmen  begann,  spricht  sich  schon 
in  verhältnismäßig  frühen  Äußerungen  des  Philosophen  dadurch 

30* 


468  Leibniz. 

aus,  daß  er  einen  doppelten  und  beiderseits  berechtigten  Ursprung 
des  menschlichen  Wissen  annahm.  Alles  wahre  Wissen  stammt 
aus  den  eingeborenen  Ideen  —  das  war  das  Feldgeschrei  der  Rationa- 
listen: es  stammt  aus  der  Erfahrung  ■ —  dasjenige  der  Empiristen. 
Es  gibt  zwei  Arten  von  Wahrheiten,  erwidert  Leibniz:  die  einen, 
welche  nur  durch  den  Verstand  gefunden  werden  und  der  empi- 
rischen Bestätigung  weder  fähig  noch  bedürftig  sind,  —  die  andern, 
welche  nur  durch  Erfahrung  erkannt  werden  und  niemals  durch 
logische  Operationen  beweisbar  sind.  Die  einen  nennt  er  die  geo- 
metrischen oder  metaphysischen  oder  ewigen,  die  andern 
die  tatsächlichen  Wahrheiten.  Die  ersteren  bilden  jenes 
System,  in  welchem  die  cartesianische  Methode  ihr  alleiniges  Recht 
hat,  die  zweiten  verlangen  behufs  ihrer  Sicherstellung  die  durch- 
gängige Anwendung  der  empiristischen  Methoden.  Die  Einsicht 
in  die  ersteren  ist  rein  logischer  Natur:  sie  beruhen  lediglich  auf 
der  Notwendigkeit  des  Denkens,  und  der  Grund  ihrer  Geltung 
besteht  in  der  Unmöglichkeit  ihres  Gegenteils.  Die  letzteren  dagegen 
lassen  sich  aus  den  ersten  Wahrheiten  nicht  ableiten,  sie  beruhen 
nur  auf  einem  Akte  der  Erfahrung,  und  der  Grund  ihrer  Annahme 
besteht  nur  in  der  Tatsächlichkeit  unserer  Vorstellung  von  ihnen, 
die  den  Gedanken  der  Möglichkeit  des  Gegenteils  nicht  ausschließt. 
Daß  die  Winkel  eines  ebenen  Dreiecks  zusammen  nicht  mehr  und 
nicht  weniger  als  zwei  Rechte  betragen,  läßt  sich,  wie  Leibniz 
meint,  rein  logisch  aus  dem  Begriffe  des  Dreiecks  und  den  Axiomen 
der  Geometrie  dartun,  so  daß  die  Unmöglichkeit  des  Gegenteils 
erhellt.  Daß  es  heute  regnet,  ist  gleichfalls  eine  Wahrheit,  aber 
diese  läßt  sich  nicht  logisch  begreifen,  und  das  Gegenteil  bleibt 
immer  denkbar.  Die  wahre  Bedeutung  dieses  Gegensatzes  sucht 
Leibniz  in  der  Natur  der  Urteile:  alle  Wahrheiten  der  ersten  Art 
sind  analytische  Sätze,  welche  sich  durch  eine  Zergliederung  der 
in  ihnen  verknüpften  Begriffe  auf  logischem  Wege  begründen 
lassen:  empirische  Sätze  dagegen  sind,  wie  er  lehrt,  eine  Zusammen- 
fassung von  Vorstellungen,  die  nicht  in  der  gleichen  Weise  bis  in 
ihre  letzten  Elemente  zerlegbar  sind,  und  deren  Verknüpfung  des- 
halb nur  tatsächlich  konstatiert  werden  kann.  Um  eine  mathe- 
matische Analogie  anzuwenden,  führt  Leibniz  aus,  daß  die  Be- 
standteile der  geometrischen  Wahrheiten  sich  zueinander  wie 
kommensurable  Größen  verhalten,  die  auf  ein  gemeinsames  Maß 


Apriori  und  Aposteriori.  469 

zurückzuführen  sind,  daß  dagegen  die  Elemente  der  tatsächlichen 
Sätze  sich  ebensowenig  in  die  ersten  Wahrheiten  auflösen  lassen, 
wie  die  inkommensurablen  Größen  die  Zurückführung  auf  ein  ge- 
meinsames Maß  gestatten.  Innerhalb  der  logischen  Operationen 
bildet  nun  jenes  gemeinsame  Maß  in  letzter  Instanz  das  Prinzip  der 
Unmöglichkeit  des  Gegenteils  oder  der  Satz  des  Widerspruchs:- 
er  ist  deshalb  das  allgemeine  Prinzip  für  das  gesamte  System  der 
geometrischen  oder  metaphysischen  Wahrheiten.  In  einer  Hinsicht 
aber  besitzt  er  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  allen  tatsächlichen 
Wahrheiten.  Er  ist  nämlich  ebensowenig  logisch  deduzierbar  und 
beweisbar  wie  diese  und  besitzt  wie  sie  eine  rein  intuitive  Gewiß- 
heit. Die  Nötigung,  die  Descartes  empfunden  hatte,  an  die  Spitze 
der  demonstrativen  Wissenschaft  einen  rein  intuitiv  erkennbaren 
Satz  zu  stellen,  wiederholt  sich  bei  Leibniz,  nur  mit  dem  Unterschiede, 
daß  neben  das  logische  Prinzip  auch  die  ganze  Fülle  der  Erfahrungen 
mit  dem  Anspruch  auf  diese  intuitive  Gewißheit  tritt.  Man  kann 
sagen,  daß  in  dieser  schon  früh  entwickelten  Lehre  des  Philosophen 
die  Verknüpfung  der  baconischen  und  der  cartesianischen  Intuition 
gegeben  ist. 

Diese  erkenntnistheoretischen  Bestimmungen  verschränken  sich 
nun  in  höchst  eigentümlicher  Weise  durch  die  Mitwirkung  einer 
Terminologie,  die  Leibniz  aus  scholastischen  Gewohnheiten  über- 
nahm. Die  reine  V^r^tandeserkenntnis  bezeichnete  man  zu  seiner 
Zeit  gern  als  diejenige  a  priori,  die  empirische  dagegen  als  die- 
jenige a  posteriori.  Ursprünglich  aber  hatten  diese  Benennungen 
einen  anderen  Simi  gehabt,  der  aus  der  Methodologie  des  Aristoteles 
stammt.  Erkenntnis  a  priori  nannte  man  danach  die  aus  der 
Kenntnis  der  Ursachen  auf  das  Eintreten  der  Wirkung  voraus- 
schließende, Erkenntnis  a  posteriori  dagegen  die  aus  der  Kenntnis 
der  Wirkung  nach  einer  bekannten  Regel  auf  das  Vorhandensein 
der  Ursachen  zurückschließende  Einsicht.  Es  war  der  aristotelische 
Gegensatz  des  »tvqötsqov  ttj  cpvaei«  und  des  ^7Vq6tbqov  Ttqbg  f\(iäg  <</ 
Diese  Beziehung  schmolz  in  die  Leibnizsche  Begriffsbestimmung 
um  so  leichter  ein,  als  man  sich  des  Unterschiedes  von  Erkenntnis- 
gründen und  Realursachen  noch  nicht  klar  bewußt  geworden  war. 
So  entwickelte  sich  jener  Gegensatz  dahin  weiter,  daß  Leibniz  unter 
geometrischen  oder  metaphysischen  Wahrheiten  diejenigen  verstand, 


470  Leibniz, 

welche  man  bis  auf  die  letzten  Gründe  oder  Ursachen  zurück- 
zuführen vermöge,  unter  tatsächlichen  dagegen  diejenigen,  bei 
denen  dies  nicht  der  Fall  sei.  In  dem  Verfolge  dieser  Gedanken 
nahm  jedoch  jener  Gegensatz  eine  andere  Gestalt  an:  die  geo- 
metrischen oder  logischen  Wahrheiten  lassen  sich  so  weit  und  so 
restlos  auf  die  ersten  Wahrheiten  zurückführen,  daß  daraus  die 
Unmöglichkeit  ihres  Gegenteils  einleuchtet;  bei  den  tatsächlichen 
Wahrheiten  ist  zwar  auch  jene  rückschließende  Tätigkeit  möglich, 
welche  die  Ursachen  davon  erkennt,  aber  diese  Ursachen  sind  selbst 
immer  nur  wieder  Tatsachen  oder  tatsächliche  Beziehungen,  und  bei 
keiner  Tatsache  ist  eine  so  vollständige  Analyse  möglich,  daß  daraus 
die  klare  Einsicht  in  die  Unmöglichkeit  ihres  Gegenteils  entspränge. 
Dieser  Unterschied  gilt  freilich,  wie  Leibniz  anfangs  ausdrücklich 
hervorhebt,  nur  für  den"1  beschränkten  Verstand  des  Menschen:  die 
göttliche  Erkenntnis  muß  imstande  sein,  jene  Analyse,  die  dem 
Menschen  nur  bei  den  geometrischen  und  logischen  Wahrheiten 
glückt,  auch  für  die  tatsächlichen  auszuführen,  und  für  die  Gott- 
heit müßte  danach  der  Gegensatz  ewiger  und  tatsächlicher  Wahr- 
heiten fortfallen.  Dies  ist  in  einer  anderen  Verschiebung  derselbe 
Grundgedanke,  welcher  Spinoza  bei  seiner  Unterscheidung  der  ratio- 
nalen und  der  intuitiven  Erkenntnis  vorschwebte.  Bei  Leibniz 
nimmt  er  die  Form  an,  daß  für  den  Menschen  nur  die  geometrischen 
und  logischen  Wahrheiten  bis  zu  der  Einsicht  in  die  Unmöglichkeit 
des  Gegenteils  gebracht  werden  können;  daß  man  sich  dagegen 
bei  den  tatsächlichen  Wahrheiten  auf  das  Verständnis  des  kausalen 
Zusammenhanges  beschränken  müsse,  worin  sie  mit  anderen  Tat- 
sachen stehen.  So  kommt  er  dazu,  zwei  höchste  und  letzte  Prinzipien 
aller  Wahrheit  aufzustellen:  das  Prinzip  des  Widerspruchs 
auf  der  einen  Seite  für  die  ewigen  Wahrheiten,  das  Prinzip 
des  zureichenden  Grundes  auf  der  andern  Seite  für  die  tat- 
sächlichen Wahrheiten. 

In  dieser  Fassung  erscheinen  die  Theorien  des  Rationalismus 
und  des  Empirismus  dicht  nebeneinander:  die  Forderung  des 
einen,  daß  alle  Erkenntnis  auf  logischer  Deduktion  beruhe,  ist 
ebenso  anerkannt,  wie  das  Bestreben  des  andern,  von  den  erfahrenen 
Tatsachen  aus  deren  kausalen  Zusammenhang  zu  begreifen.  Das 
ist  eine  Verknüpfung,  aber  keine  vollkommene  Versöhnung:  beide 
Elemente   stehen   hier    noch   unvermittelt   nebeneinander.     Aber 


Ewige  und  tatsächliche  Wahrheiten.  471 

auch  diese  gleichmäßige  Anerkennung  wäre  gänzlich  ungefährlich 
gewesen,  wenn  ihr  nicht  Leibniz  in  offenbarer  Inkonsequenz  eine 
metaphysische  Bedeutung  zuzuschreiben  versucht  hätte.  Er  hatte 
ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  für  die  Gottheit  jener  Unterschied 
fortfalle,  indem  diese  die  unendliche  Analysis,  vermöge  deren  die 
logische  Notwendigkeit  auch  der  tatsächlichen  Wahrheiten  einge- 
sehen werden  könnte,  auszuführen  imstande  sein  müsse.  Das  setzte 
voraus,  daß  auch  die  tatsächlichen  Wahrheiten  in  letzter  Instanz 
ebenso  in  der  logischen  Notwendigkeit  wurzeln,  wie  diejenigen, 
welche  der  Mensch  darauf  zurückzuführen  vermag.  Spinoza  hatte 
diese  Konsequenz  gezogen,  er  hatte  das  Postulat  aufgestellt,  daß 
alle  Dinge  als  eine  ewige  Folge  aus  dem  Wesen  der  Gottheit  be- 
griffen werden  müßten,  wenn  er  auch  diese  Aufgabe  nicht  im 
einzelnen  zu  erfüllen  vermocht  hatte.  Leibniz  dagegen  wurde 
gerade  durch  den  Gegensatz  zum  Spinozismus  dazu  geführt,  den 
Wertunterschied  der  ewigen  und  derv tatsächliche^ Wahrheiten,  den 
er  zunächst  nur  für  die  menschliche  Erkenntnis  festgesetzt  hatte, 
in  einen  metaphysischen  Unterschied  umzudeuten.  Danach  sollte 
der  Inhalt  der  geometrischen  und  logischen  Wahrheiten  einem 
ewigen,  mit  sich  selbst  identischen,  d.  h.  widerspruchslosen  Welt- 
gesetz entsprechen,  der  Inhalt  der  tatsächlichen  Wahrheiten  da- 
gegen immer  nur  durch  andere  Tatsachen  bedingt  sein. 

Hierin  besteht  die  prinzipielle  Verwandtschaft  der  Leibnizschen 
Lehre  mit  dem  Piatonismus.  Denn  diese  metaphysische  Aus- 
deutung oder  Hypostasierung  des  erkenntnistheoretischen  Gegen- 
satzes von  rationaler  und  empirischer  Wahrheit,  wonach  ihm  der 
reale  Gegensatz  einer  *  ewigen*  und  einer  '  zeitlichen'  Wirklichkeit 
entsprechen  soll,  —  diese  Lehre  führt  genau  zu  der  Auffassung, 
die  Piaton  auf  dem  gleichen  Wege  gewonnen  und  zu  der  Unter- 
scheidung der  "immateriellen  und  der v materiellen  Welt  ausgebildet 
hat.  So  steht  auch  bei  Leibniz  eine  Welt  ewiger,  unveränderlicher 
Wesenheit  einer  anderen  Welt  gegenüber,  in  der  sich  Tatsachen  nach 
dem  Prinzip  des  zureichenden  Grundes  in  der  Zeitfolge  abwickeln. 
Es  ist  der  alte  Gegensatz  von  Idee  und  Erscheinung.  In  beiden 
Fällen  aber,  bei  Leibniz  wie  bei  Piaton,  bildet  er  nur  den  metaphy- 
sischen Reflex  des  Gegensatzes  von  Rationalismus  und  Empirismus. 

In  der  Ausführung  dieses  Gedankens  nun  sprach  Leibniz  von 
einer  doppelten  Art  der   Notwendigkeit,  einer   absoluten   oder 


472  Leibniz. 

unbedingten  Notwendigkeit,  die  den  ewigen  Wahrheiten, 
und  einer  bedingten  oder  hypothetischen  Notwendigkeit, 
die  den  tatsächlichen  Wahrheiten  zukomme.  Diese  bedingte  Not- 
wendigkeit nannte  er  Zufälligkeit.  Auch  hierbei  ist  der  Vergleich 
mit  Spinoza  lehrreich.  Die  Zufälligkeit  im  Sinne  der  <Ursach- 
losigkeit  erkannte  der  eine  so  wenig  wie  der  andere  an:  aber  das 
Gegenteil  davon,  die  Notwendigkeit,  wurde  von  Spinoza  nur  in 
dem  Sinne  einer  zugleich  logischen  und  kausalen  Bedingtheit  auf- 
gefaßt; Leibniz  dagegen  machte  den  Unterschied  einer  logischen 
Notwendigkeit  als  derv  Unmöglichkeit  des  Gegenteils' und  einer  kau- 
salen Notwendigkeit  als  der  Abhängigkeit  einer  Tatsache  von  anderen 
Tatsachen.  Im  gewissen  Sinne  freilich  erinnert  diese  Lehre  von 
Leibniz  an  die  doppelte  Kausalität  im  spinozistischen  System,  wo- 
nach jeder  Modus  zwar  eine  »ewige  Folge«  aus  dem  Wesen  Gottes, 
zugleich  aber  innerhalb  des  Attributs  durch  andere  Modi  »deter- 
miniert« sein  sollte.  Allein  für  Leibniz  kam  so  der  Unbegriff  einer 
zufälligen  Notwendigkeit  zustande,  mit  dem  er  die  tatsächliche 
Bedingtheit,  deren  Gegenteil  für  den  menschlichen  Verstand  denkbar 
bleibt,  bezeichnen  wollte.  Indem  er  dann  aber  anderseits  unter 
Notwendigkeit  im  engeren  Sinne  nur  die  absolute  und  unbedingte 
verstand,  setzte  er  wieder  notwendig  und  zufällig  einander  gegen- 
über und  bezeichnete  schließlich  den  Gegensatz  der  ewigen  und  der 
tatsächlichen  als  denjenigen  der -^not wendig eu*  und  der**  zu- 
fälligen^ Wahrheiten. 

Dabei  aber  blieb  er  nicht  stehen,  sondern  dem  Begriffe  der 
Wahrheit  gemäß  betrachtete  er  nun  auch  allen  Inhalt  der  not- 
wendigen Wahrheiten  als  notwendig  existierend,  allen  Inhalt  der 
zufälligen  Wahrheiten  als  zufällig  existierend.  Alles,  was  sich  be- 
grifflich aus  der  Unmöglichkeit  des  Gegenteils  einsehen  läßt,  ist 
notwendig  im  metaphysischen  Sinne;  alles  dagegen,  was  nur  Tat- 
sache ist,  gilt,  wenn  es  auch  auf  zureichende  Gründe  in  anderen 
Tatsachen  zurückgeführt  werden  kann,  doch  nur  als  zufällig.  Hierin 
zeigt  sich  Leibniz  trotz  der  Aufnahme  der  empiristischen  Prinzipien 
als  vollkommener  Eationalist,  ja  es  verwandelt  sich  bei  ihm  eben 
damit  nach  platonischem  Muster  die  verschiedene  Art  der  mensch- 
lichen Erkenntnis  in  eine  verschiedene  Art  der  metaphysischen 
Wirklichkeit.  Das  Kriterium,  das  so  zwischen  Notwendigkeit  und 
Zufälligkeit  unterscheiden  soll,  ist  lediglich  das  logische  Kriterium 


Notwendige  und  zufällige  Wahrheiten.  473 

der  Unmöglichkeit  des  Gegenteils.  Das  höchste  Prinzip  dieser 
Philosophie  ist  das  rationalistische  der  Denknotwendigkeit. 
Die  Tatsachen  werden  als  kausal  bedingt  anerkannt,  aber  sie  gelten 
trotzdem  als  zufällig,  weil  kein  logischer  Grund  vorliegt,  das  Gegen- 
teil für  unmöglich  zu  erklären.  Die  absolute  Notwendigkeit  aber, 
die  den  ewigen  Wahrheiten  zukommt,  besteht  lediglich  darin,  daß 
sie  gedacht  werden  müssen;  ihre  Notwendigkeit  ist  eine  begriffliche. 
Dieses  System  kennt  keine  andere  Notwendigkeit  des  Seins,  als 
diejenige  des  Denkens:  was  absolut  gedacht  werden  muß,  existiert 
auch  absolut  notwendig,  was  nur  bedingt  gedacht  wird,  existiert 
auch  nur  bedingt.  Die  Hypostasierung  der  Denkformen,  die  das 
Wesen  alles  Rationalismus  ausmacht,  ist  niemals  unverhüllter  und 
klarer  zutage  getreten,  als  bei  Leibniz,  und  das  zeigt  sich  vor  allem 
bei  seiner  Behandlung  des  Begriffes  der  Möglichkeit.  Der  Inhalt 
jedes  wahren  Gedankens,  entwickelt  er,  muß  möglich  sein;  aber 
seine  Wirklichkeit  beruht  entweder  nur  in  ihm  selber,  und  wo 
das  eintrifft,  da  ist  auch  das  Gegenteil  unmöglich  und  er  selbst 
unbedingt  notwendig,  oder  sie  beruht  auf  etwas  anderem,  und  dann 
ist  das  Gegenteil  denkbar  und  der  Gedanke  selbst  nur  bedingt  not- 
wendig. Auf  diese  Weise  haben  durch  Leibniz  die  Begriffe  Mög- 
lichkeit und  Notwendigkeit  eine  so  vieldeutige  und  verkünstelte 
Bedeutung  erhalten,  daß  dadurch  in  der  folgenden  Entwicklung 
der  deutschen  Philosophie  eine  gewaltige  Verwirrung  angestiftet 
worden  ist:  namentlich  hat  jener  Gegensatz  der  unbedingten  und 
der  bedingten  Notwendigkeit  zu  zahllosen  Schwierigkeiten  und 
wunderlichen  Verschiebungen  des  Gedankens  Veranlassung  gegeben. 
Er  hat  vor  allem  das  Vorurteil  genährt,  als  ob  die,  ( Unmöglichkeit 
des  Gegenteils  das  höchste  und  wertvollste  Kriterium  für  die  Er- 
kenntnis der  Wirklichkeit  sei,  und  auf  der  anderen  Seite  den  noch 
gefährlicheren  Irrtum  veranlaßt,  als  ob  die ,  logische  Möglichkeit 
aller  Wirklichkeit  vorangehen  müsse.  Schon  Leibniz  bezeichnete 
die  notwendigen  Wahrheiten  als  »primae  possibilitates  «  und  schöpfte 
daraus  den  Gedanken,  daß  der  wirklich  bestehenden  Welt  eine  Fülle 
von  Möglichkeiten  zugrunde  liege,  zwischen  denen  eine  nur  tatsäch- 
lich zu  begreifende  Wahl  getroffen  worden  sei.  So  wurde  das  wahre 
Verhältnis  der  Begriffe  von  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  geradezu 
umgekehrt.  Während  alles,  was  wir  Möglichkeit  nennen,  nur  Ge- 
danken sind,  die  auf  dem   Grunde  der   bestehenden  Wirklichkeit 


474  Leibniz. 

erwachsen,  erscheint  hier  die  gegebene  Wirklichkeit  als  eine  zufällige 
Tatsache  auf  dem  Hintergrunde  der  vor  ihr  bestehenden  Möglich- 
keiten. 

So  wichtig  diese  erkenntnistheoretischen  Untersuchungen  von 
Leibniz  und  namentlich  sein  Bestreben,  das  rationalistische  mit  dem 
empiristischen  Denken  zu  vereinigen,  in  der  Folgezeit  geworden 
sind,  sowenig  haben  darin  seine  metaphysischen  Ansichten  ihren 
Ursprung:  umgekehrt  vielmehr  ist,  wie  sich  weiterhin  zeigen  wird, 
seine  Erkenntnistheorie  später  von  dem  Standpunkte  seines  meta- 
physischen Systems  aus  vertieft  worden.  Dieser  Standpunkt  selbst 
aber  ist  lediglich  aus  Überlegungen  erwachsen,  die  Leibniz  über 
die  großen  metaphysischen  und  besonders  auch  die  naturphiloso- 
phischen Probleme  seiner  Zeit  unabhängig  von  jenen  logischen  oder 
methodologischen  Auffassungen  anstellte.  Hierin  gaben  nur  sach- 
liche Momente  den  Ausschlag,  und  hierin  hatte  er  sich  schon  früh 
die  hohe  Aufgabe  gestellt,  die  Gegensätze  der  antiken  und  der 
modernen  Wissenschaft  zu  versöhnen.  Es  war  die  brennende  Frage 
der  Zeit,  ob  die  Erklärung  der  Naturerscheinungen  dem  kausalen 
oder  dem  teleologischen  Gesichtspunkte  folgen  solle:  sie  hat  auch 
Leibniz  in  erster  Linie  bewegt,  und  seine  vermittelnde  Natur  be- 
währte sich  auch  hier  in  dem  Versuche,  die  Gegensätze  miteinander 
auszugleichen.  Die  besondere  Richtung,  welche  dieser  Versuch 
einschlug,  war  dadurch  bedingt,  daß  die  einseitige  Verfolgung  der 
mechanischen  Naturerklärung  teils  wirklich  zum  Materialismus 
führte,  teils  dieser  Konsequenz  beschuldigt  wurde,  und  daß  auf  der 
anderen  Seite  die  teleologische  Naturerklärung  leicht  mit  einer 
spiritualistischen  Metaphysik  Hand  in  Hand  ging.  Die  Streitfrage 
zwischen  Materialismus  und  Spiritualismus  aber  hing  wesentlich  an 
dem  metaphysischen  Problem  der  Substanz.  Die  Frage:  »was  sind 
die  Substanzen?«  war  deshalb  auch  für  Leibniz  die  Kardinalfrage, 
und  seine  Lehre  liegt,  von  dieser  Seite  betrachtet,  direkt  in  der 
Fortsetzung  derjenigen  Entwicklung,  welche  die  rationalistische 
Philosophie  von  Descartes  zu  den  Occasionalisten,  zu  Spinoza  und  I 
zu  Malebranche  genommen  hatte.  Man  kann  die  eigentümliche  i 
Ausprägung,  die  der  Substanzbegriff  bei  Leibniz  gefunden  hat, 
als  eine  Reaktion  gegen  die  Aufhebung  der  substantiellen  Selb- 
ständigkeit betrachten,  welche  die  Nachfolger  Descartes'  den  end- 
lichen Substanzen  gegenüber  zu  vollziehen  gesucht  hatten.     Bei 


Substanz  als  Kraft.  475 

den  Occasionaiisten  und  bei  Malebranche  war  alle  Wirkungstätig- 
keit aus  den  Substanzen  in  die  Gottheit  verlegt  worden;  Spinoza 
hatte  es  vorgezogen,  sie  statt  dessen  gar  nicht  mehr  als  Substanzen 
zu  bezeichnen;  aber  seine  unendliche  Substanz  besaß  gleichfalls 
keine  reale  Tätigkeit  mehr,  sondern  war  nur  eine  logische  Kategorie, 
die  statt  der  Wirkungen  »modi«  besitzen  sollte.  Wenn  darin  eine 
Konsequenz  des  logischen  Formalismus  lag,  so  ist  es  bezeichnend, 
daß  Leibniz  in  den  Begriff  der  Substanz  dasjenige  Element  wieder 
einzuführen  trachtete,  welches  die  in  der  Erfahrung  gewissermaßen 
handgreifliche  Seite  an  ihm  bildet:  sein  von  Erfahrungsstoff  ge- 
tränktes Denken  lehrte  ihn,  daß  wir  von,,  Substanzen  überall  nur 
da  sprechen,  wo  wir  ihre  Wirkungen  zu  konstatieren  imstande  sind. 
Substanzen,  die  nichts  wirken,  sind  keine  Substanzen:  die  Ursache 
der  Wirkung  aber  nennen  wir  Kraft.  Deshalb  verwandelte  Leibniz 
den  Begriff  deri<  Substanz*  in  denjenigen  der^wirkenden  Kraft? 
Dieser  Grundbegriff  entwickelt  sich  im  Gegensatze  gegen  die 
cartesianische  Naturphilosophie  an  der  Auffassung  des  Körpers, 
und  insofern  ist  es  richtig,  daß  sein  »Systeme  nouveau  de  la  na- 
ture«  (1695)  zunächst  die  Bedeutung  einer  neuen  Auffassung  der 
mechanischen  Probleme  gehabt  hat:  eben  darin  aber  besteht  die 
philosophische  Natur  des  Mannes,  daß  er  diese  Gedanken  zu  all- 
gemeinen metaphysischen  Prinzipien  ausgebildet  hat.  Die  materielle 
Substanz,  der  Körper,  hatte  bei  Descartes  nur  das  Attribut  der 
Ausdehnung  gehabt;  das  metaphysische  Wesen  des  einzelnen  Kör- 
pers sollte  bei  ihm  lediglich  in  einer  bestimmten  Form  der  Aus- 
dehnung bestehen,  und  der  Formalismus  dieser  mathematischen 
Philosophie  trat  auf  dem  Gebiete  der  Naturerkenntnis  darin  hervor, 
daß  das  mathematisch  Konstruierbare  für  das  ganze  Wesen  des 
Körpers  erklärt  wurde.  Deshalb  konnte  von  einer  selbständigen 
Kraft  der  Körper  schon  bei  Descartes  sowenig  wie  bei  den  Occa- 
sionaiisten, bei  Spinoza  und  Malebranche  die  Kede  sein.  Alle  Kraft, 
welche  die  einzelnen  Körper  zu  entwickeln  scheinen,  galt  als  über- 
tragen und  nur  als  ein  Teil  der  allgemeinen,  von  Gott  der  Materie 
mitgeteilten  Kraft.  Das  war  gewissermaßen  die  Modifikation  der 
Materie:  die  Natur  in  der  Philosophie  Descartes'  war  eine  tote 
Maschine.  Dieser  Gedanke  widerstrebte  Leibniz  auf  das  äußerste; 
deshalb  empfand  er  der  mechanischen  Naturphilosophie  gegenüber 
die  von  Aristoteles  begründete  Naturerklärung  der  alten  Philosophie 


476  Leibniz. 

als  ein  wohltuendes  Gegengewicht.  Das  Bestreben,  die  Fülle  der 
Erscheinungen  in  lediglich  quantitative  Verhältnisse  aufzulösen, 
galt  ihm  als  undurchführbar,  und  er  glaubte,  man  müsse  zu  jener 
Annahme  qualitativ  bestimmter  Kräfte  zurückkehren,  welche  Aristo- 
teles mit  dem  Namen  der  »Entelechien «  bezeichnet  hatte.  Er 
wollte  damit  das  Prinzip  der  mechanischen  Erklärung  nicht  auf- 
heben, sondern  nur  einschränken.  Seine  Grundanschauung  war 
die,  daß  das  innere  Wesen  der  Körper  nur  in  der"  Kraft  bestehe, 
welche  sie  ausüben,/und  daß  die  räumliche  Gestalt,  ihre  mathe- 
matische und  quantitativ  bestimmbare  Form,  nur  die  Erscheinung 
dieser  Kraft  bilde. 

Doch  von  hier  aus  trieb  der  Gedanke  sogleich  weiter:  alle  .Kraft 
ist  nicht  materieller,  sondern  immaterieller  Natur,  und  Leibniz  war 
der  letzte,  sich  dies  zu  verbergen.  Wenn  die  Substanzen  Kräfte^ 
sind,  so  sind  sie  immaterielle  Wesen,  so  kann  ihre  räumliche 
Form  nicht  zu  ihren  ursprünglichen  Attributen  gehören,  sondern 
nur  ein  Produkt  ihrer  Tätigkeit  sein.  Der  Körper  ist  in  Wahrheit 
etwas  anderes,  als  das  ausgedehnte  Wesen,  das  er  zu  sein  scheint: 
er  ist  eine  wirkende  Kraft,  und  seine  "Ausdehnung^  selbst  gehört 
zu  den  fundamentalen  Wirkungen  dieser  Kraft.  Es  gibt  keine  aus- 
gedehnten Substanzen,  sondern  die  ^Körpetjsind  diejenigen  Sub- 
stanzen, welche  eine  räumliche  Erscheinungsform  erzeugen.  Hierin 
liegt  der  spiritualistische  Grundcharakter  der  Leibnizschen  Lehre: 
sie  zeigt  eine  Umbildung  der  cartesianischen,  welche  sich  derjenigen 
von  Malebranche,  wenn  auch  aus  anderen  Gründen,  nähert  und 
in  ihrem  Resultate  mit  dem  Berkeleyanismus  zusammenzutreffen 
scheint.  Wenn  sie  trotzdem  gewöhnlich  nicht  als  Spiritualismus 
bezeichnet  wird,  so  hat  das  seinen  guten  Grund.  Denn  weder  die 
Aufhebung  der  materiellen  Substanzen,  noch  auch  das  immaterielle 
Wesen,  das  allein  den  Substanzen  zugeschrieben  werden  soll,  sind 
bei  Leibniz  in  demselben  Sinne  gedacht  wie  bei  Berkeley.  Der 
letztere  hat  den  Körpern  überhaupt  jede  Substantialität  abge- 
sprochen und  sie  nur  für  Vorstellungskomplexe  in  den  Geistern 
erklärt.  Leibniz  fußt  darauf,  daß  die  Körper  wirkliche  Substanzen 
sind,  aber  nicht  ausgedehnter,  sondern  immaterieller  Natur,  und 
daß  ihre  räumliche  Gestalt  nicht  als  Erscheinung  in  anderen  Wesen, 
sondern  als  ihre  Wirkungsform  von  ihnen  selbst  erzeugt  wird. 
Berkeleys  Weltanschauung  kannte  deshalb    nur  menschliche  und 


Immaterialität  und  Pluralität  der  Substanzen.  477 

ihnen  übergeordnete  Geister,  Leibniz  dagegen  nimmt  die  Existenz 
"beseelter  Substanzen7  bis  in  die  äußersten  und  scheinbar  unbelebtesten 
Teile  der  Materie  hinein  an  und  schreitet  folgerichtig  zu  der  Annahme 
mannigfaltigster  und  zum  Teil  viel  niedriger  stehender  Formen  des 
geistigen  Lebens,  als  dies  im  Menschen  zur  Erscheinung  kommt. 
Neben  der  Immaterialität  bringt  die  Einführung  des  Kraft- 
begriffes in  denjenigen  der  Substanz  bei  Leibniz  noch  eine  andere 
Folgerung  mit  sich:  die  Plurajität  der  Substanzen.  Der 
stolze  Versuch  Spinozas,  die  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  als  die  not- 
wendige Folge  aus  dem  Wesen  Gottes  abzuleiten,  war  gescheitert, 
und  die  Überzeugung  davon,  daß  man  zur  Annahme  qualitativ 
bestimmter  Kräfte  zurückkehren  müsse,  machte  Leibniz  zum  aus- 
drücklichen Gegner  jenes  starren  Monismus.  Sein  Svstem  setzt 
eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  von  Substanzen  voraus.  Aber  in 
dem  ganzen  Zuge  der  rationalistischen  Philosophie  war  der  Gedanke 
einer  einheitlichen  Methode  so  unmittelbar  mit  demjenigen  eines 
einheitlichen  Weltzusammenhanges  verbunden,  daß  sich  auch  Leibniz 
ihm  nicht  zu  entziehen  vermochte  und  in  manchen  Punkten  seiner 
Lehre  unmittelbar  an  den  auch  von  ihm  abgelehnten  Spinozismus 
streifte.  Vor  allein  meinte  er,  daß  der  Begriff  der  Substanzen  nicht 
in  der  Weise  gefaßt  werden  dürfe,  daß  sie  beziehungslos  auseinander- 
fallen. Denn  der  Zusammenhang  der  Dinge  ist  selbst  eine  Tat- 
sache, und  die  wertvollste  von  allen.  Auch  das  ist  ein  Grund,  wes- 
halb Leibniz  diese  unendliche  Anzahl  von  Substanzen  nicht  mit 
dem  Namen  der  Atome  bezeichnet,  den  er  außerdem  schon  der 
materiellen  Bedeutung  halber,  die  das  Wort  von  jeher  und  nament- 
lich auch  zu  jener  Zeit  hatte,  gern  vermied.  Seine  beseelten  Sub- 
stanzeü  sind  Individuen,  und  das  Problem  ist  auch  für  ihn  des- 
halb dasselbej^Jelcries^m  dem  Ringen  der  italienischen  Natur- 
philosophie den  Grundtrieb  bildete:  den  Individualismus  mit  dem 
Universalismus  zu  versöhnen.  In  den  Gegensätzen  der  Philosophie 
seiner  Zeit  fand  er  diese  beiden  Elemente  in  weitester  Entfernung 
voneinander:  auf  der  einen  Seite  hatte  der  Spinozismus  die  voll- 
endetste Form  des  Universalismus  erzeugt,  auf  der  andern  Seite 
drohte  der  Materialismus  das  Weltall  in  eine  Anzahl  beziehungsloser 
Punkte  aufzulösen.  In  dem  Bestreben,  hier  die  rechte  Mitte  zu 
treffen,  wählte  Leibniz  für  seine  Substanzen .  die  Bezeichnung  aus 
der  Lehre  Giordano  Brunos,  der  in  gleicher  Weise  damit  sich  dem 


478  Leibniz. 

Atomismus  und  der  neuplatonischen  Einheitslehre  hatte  entgegen- 
setzen wollen;  er  nannte  sie  »Monaden«.  Allein  die  Lösung  des 
Problems  ist  bei  Leibniz  viel  tiefer  als  bei  Bruno,  und  er  gewann 
sie  hauptsächlich  dadurch,  daß  er  von  dem  immateriellen  Charakter 
der  Substanz  aus  das  Wesen  der^  Kraft  mit  Rücksicht  auf  dieses 
Problem  zu  bestimmen  suchte. 

Der  Begriff  der  Substantialität  verlangt  es,  daß  jede  Substanz 
etwas  in  sich  Einheitliches  und  Abgeschlossenes  sei,  welches  keiner- 
lei Bestimmung  von  den  übrigen  Substanzen  in  der  Äußerung  seiner 
Kraftwirkung  erfährt.  Wenn  es  trotzdem  einen  einheitlichen  Zu- 
sammenhang aller  Dinge  geben  soll,  so  ist  das  nur  dadurch  mög- 
lich, daß  schon  in  dem  ursprünglichen  Wesen  einer  jeden  Substanz 
eine  innere  Beziehung  auf  alle  übrigen  vorhanden  ist.  Der  einheit- 
liche Zusammenhang  der  Individuen  ist  nur  so  denkbar,  daß  er  in 
dem  Wesen  jedes  Individuums  selbst  enthalten  ist.  Universum 
und  Individuum  sind  nur  so  vereinbar,  daß  das  Individuum,  jedes  in 
seiner  Weise,  das  Universum  in  sich  trägt.  In  diesem  Sinne  sagt 
auch  Leibniz,  daß  jede  Monade  ein  Spiegel  der  Welt  sei,  und  er 
verallgemeinert  dadurch  in  metaphysischem  Geiste  jene  erkenntnis- 
theoretische Forderung,  die  überall  in  der  Rennaissance  hervortrat, 
daß  der  Mensch  nur,  weil  er  Mikrokosmos  sei,  den  Zusammenhang 
der  Dinge  zu  erkennen  vermöge.  Jenes  »omnia  ubique«,  welches 
die  Phantasie  aller  Naturphilosophen  und  Mystiker  belebt  hatte, 
wurde  bei  Leibniz  zu  einem  klaren  Begriffe. 

Daraus  aber  ergibt  sich,  daß  in  dem  Wesen  jeder  einzelnen  Sub- 
stanz jede  andere  vertreten,  oder  wie  Leibniz  sich  ausdrückt, 
»repräsentiert«  sein  muß.  In  jeder  Monade  muß  die  ganze  Mannig- 
faltigkeit der  übrigen  enthalten  sein;  auf  der  anderen  Seite  aber 
erfordert  der  Begriff  der  substantiellen  Einheit,  daß  diese  Mannig- 
faltigkeit in  einer  einheitlichen  Zusammenfassung  vorhanden  sei. 
Das  Wesen  der  Monade  besteht  deshalb  darin,  eine  Einheit  in  der 
Mannigfaltigkeit  zu  sein.  Der  ästhetische  Begriff  der  künstlerischen 
Einheit,  den  Bruno  auf  das  Universum  bezogen  hatte,  wird  von 
Leibniz  auf  jede  Monade  angewendet,  und  dadurch  werden  für 
ihn  auch  die  geringsten  Monaden  dasjenige,  was  bei  Bruno  nur 
die  höheren  und  im  letzten  Sinne  nur  das  Ganze  gewesen  war: 
Organismen.  Dadurch  charakterisiert^sich  das  Leibnizsche 
System  als  absoluter  Vitalismus.     Er  kennt  keine  tote  Materie, 


Monaden  als  vorstellende  Kräfte.  479 

die  ganze  Welt  ist  ihm  voll  inneren  Lebens,  und  der  organische 
Begriff  der  einheitlichen  Entwicklung  des  Mannigfaltigen  durch- 
leuchtet ihm  das  Universum. 

Fragt  man  aber  nun  nach  derjenigen  immateriellen  Tätigkeit, 
worin  diese  Zusammenfassung  des  Mannigfaltigen  zur  Einheit  sich 
fortwährend  vollzieht,  so  ist  es  diejenige  der"  Vorstellung/  In 
der  Vorstellung  werden  jedesmal  verschiedene  Elemente  zu  einem 
einheitlichen  Gedankengebilde  verknüpft,  und  wenn  es  deshalb 
einen  gemeinsamen  Grundcharakter  aller  Substanzen  geben  soll, 
so  kann  es  kein  anderer  sein  als  dieser.  Die  Monaden  sind  vor- 
stellende Kräfte.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  in  dieser  Argu- 
mentation bei  Leibniz  die  Doppelbedeutung  des  Wortes  »represen- 
tation«,  wonach  es  einmal  soviel  besagt  wie  »vertreten«,  und  das 
andere  Mal  den  Sinn  der  geistigen  Tätigkeit  ausdrückt,  die  wir  im 
Deutschen  mit  »Vorstellung«  bezeichnen,  eine  große  und  gefährliche 
Rolle  spielt.  Anderseits  ist  diese  Bezeichnung  der  Monaden  als 
vorstellender  Kräfte  eine  höchst  interessante  Illustration  der  öfter 
schon  erwähnten  Tatsache,  daß  die  gesamte  vorkantische  Philo- 
sophie als  die  Grundfunktion  des  immateriellen  Lebens  überall  die 
theoretische  Tätigkeit  des  Vorstellens  oder  Denkens  "betrachtete. 
Gleichwohl  ist  diese  Kombination  der  Begriffe  so  glücklich,  daß 
eine  sinnigere  und  schlagendere  Lösung  jenes  großen  Problems 
kaum  gefunden  werden  konnte.  Denn  wie  die  übrigen  Substanzen 
in  jeder  einzelnen  anders  lebendig  sein  solllen,  als  dadurch,  daß  sie 
deren  Vorstellungsinhalt  ausmachen,  wäre  in  der  Tat  nicht  abzu- 
sehen. Freilich  verbarg  sich  Leibniz  dabei  eine  völlig  unlösliche 
Schwierigkeit:  wenn  jede  Monade  alle  übrigen  vorstellen  soll,  jede 
der  übrigen  aber  ihrem  Vorstellungsinhalte  nach  auch  durch  das 
System  aller  übrigen  bedingt  ist,  so  entsteht  daraus  ein  Zirkel  von 
Wechselbeziehungen,  worin  es  schließlich  keinen  absoluten  Inhalt 
für  diese  gesamte  Vorstellungstätigkeit  aller  Monaden  gibt. 

Für  Leibniz  ist  also  der  Tätigkeitsinhalt  aller  dieser  vorstellen- 
den Kräfte  derselbe,  nämlich  das  Universum  selbst,  und  ein  Unter- 
schied zwischen  den  verschiedenen  Monaden  ist  nur  in  der  Ver- 
schiedenartigkeit der  Vorstellungstätigkeit  zu  suchen.  Diese  nun 
entnimmt  der  Philosoph  dem  cartesianischen  Prinzip  der,, Klarheit 
und  Deutlichkeit.  Die  Monaden  unterscheiden 
nur  dadurch,  daß  die  einen  das  Universum  klai 


480  Leibniz. 

vorstellen  als  die  anderen,  und  sie  ordnen  sich  dadurch  in  eine 
Stufenreihe  an,  die  von  denjenigen  Monaden,  welche  nur 'unklare 
und  verworrene>  Vorstellungen  haben,  bis  zu  derjenigen  auf- 
steigt, in  welcher  es  nur  eine*  klare  und  deutliche'Vorstellung 
aller  übrigen  gibt.  Dabei  definiert  Leibniz  als,  Klarheit  die  Eigen- 
schaft der  Vorstellung,  vermöge  deren  ihr  Gegenstand  sicher  und 
eindeutig  wiedererkennbar  und  von  allen  anderen  unterscheidbar 
ist;  deutlich  aber  nennt  er  die  Vorstellung,  welche  auch  bis  in  alle 
ihre  einzelnen  Merkmale  und  deren  Beziehungen  klar  ist.  Diese 
Bestimmungen  erhalten  sodann  eine  greifbare  Bedeutung,  indem 
sich  gleichfalls  nach  cartesianischem  Prinzip  das  Klare  und  Deut- 
liche zu  dem  Unklaren  und  Verworrenen  ebenso  verhalten  soll,  wie 
die  Verstandestätigkeit  zur  Sinnesempfindung.  Danach 
geht  die  Stufenreihe  der  Monaden  von  denjenigen  aus,  welche  nur 
sinnliche  Empfindungen  haben,  und  endet  mit  derjenigen,  welche 
nur  reines  Denken  besitzt;  und  die  Monaden  unterscheiden  sich 
nach  dem  Grade,  womit  sie  die  Welt  entweder  verworren,  d.  h. 
sinnlich,  oder  deutlich,  d.  h.  mit  dem  Verstände  vorstellen.  Bei 
diesem  Gegensatze  hebt  endlich  Leibniz  noch  besonders  die  Be- 
ziehung hervor,  worin  sich  jener  schon  bei  Descartes  zu  dem  aristo- 
telischen Gegensatze  der  Aktivität  und  der  Passivität  befunden 
hatte.  ^Leidend  nennt  er  danach  denjenigen  Zustand  der  Monade, 
in  welchem  sie  sinnlich  verworrene,' tätig  denjenigen,  worin  sie  ver- 
standesmäßig klare  Vorstellungen  hat. 

Hieraus  nun  erhellt  sogleich,  was  in  dieser  Weltanschauung  die 
äußersten  Gegensätze  sind:  die  untersten  Monaden,  die  nur  ver- 
worrene Vorstellungen  als  sinnliche  Empfindungen  entwickeln  und 
deshalb  als  nur  leidend  erscheinen,  bilden  das,  was  man  sonst  die 
Materie  nennt;  die  höchste  Monade  dagegen,  deren  Vernunft  nur 
klare  Vorstellungen  hat,  und  welche  deshalb  die  reine  Tätigkeit 
darstellt,  ist  die  Gottheit.  Jener  unteren  Monaden  sind  offenbar 
unendlich  viele,  da  in  der  Verworrenheit  des  Vorstellungsinhaltes 
unendlich  viele  Grade  möglich  sind :  die  höchste  Monade  dagegen  ist 
nur  eine;  denn  mehrere,  welche  gleichmäßig  die  vollkommenste 
Klarheit  und  Deutlichkeit  aller  Vorstellungen  besäßen,  wären  abso- 
lut gleich  und  ihren  Merkmalen  nach  ununterscheidbar,  d.  h.  mit- 
einander identisch.  Hierin  macht  Leibniz  das  echt  rationalistische 
Principium  identitatis  indiscernibilium  geltend,  d.  h.  den  Grundsatz, 


Entwicklungssystem.  481 

daß  Begriffe,  deren  Merkmale  durchgängig  und  vollständig  gleich 
sind,  sich  nur  auf  einen  identischen  Gegenstand  beziehen.  Es  gibt 
nicht  zwei  völlig  gleiche  Dinge.  Gerade  dies  Prinzip  unterscheidet 
die  Monadologie  von  der  Atomistik.  Die  letztere  nimmt  an,  daß 
die  Atome  völlig  gleiche  Wesen  sind,  die  sich  nur  zufällig  an  verschie- 
denen Raumpunkten  befinden  und  lediglich  nach  diesem  äußer- 
lichen Umstände,  der  kein  Merkmal  ihres  Begriffs  ist,  voneinander 
unterschieden  werden.  Der  Individualismus  der  Monadologie  ver- 
langt dagegen,  daß  jede  Substanz  in  sich  selber  vollkommen  be- 
stimmt sei,  und  faßt  deshalb  auch  die  räumliche  Position  jeder  Mo- 
nade als  ein  Produkt  ihres  Wesens  und  in  ihrer  Veränderung  durch 
dies  Kraftwesen  selbst  bestimmt  auf. 

Zwischen  jenen  beiden  Polen,  der  Materie  und  der  Gottheit, 
liegt  nun  die  ganze  unendliche  Mannigfaltigkeit  von  Zwischen- 
stufen, bei  denen  Klarheit  und  Verworrenheit,  Verstand  und 
Sinnlichkeit,  Aktivität  und  Passivität  in  allen  möglichen  Mischungs- 
formen vorkommen,  und  unter  denen  auch  der  Mensch  seine 
Stelle  findet.  Das  Bedeutendste  in  diesem  System  liegt  darin,  daß 
es  die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  als  einen  großen  Zusammen- 
hang betrachtet,  worin  jedes  Glied  seine  notwendige  und  unersetz- 
liche Stellung  einnimmt.  Jede  Monade  ist  danach  eine  besondere 
Spiegelung  des  Weltalls,  bei  deren  Fortfall  dieses  Weltall  selbst  ein 
anderes  würde.  Jede  ist  ein  Individuum,  aber  nur  dadurch,  daß 
sie  diese  ihre  nur  ihr  eigentümliche  Stellung  im  Systeme  des  Ganzen 
einnimmt.  Diese  Weltauffassung,  zuerst  von  Aristoteles  entworfen, 
pflegt  man  in  der  neueren,  durch  Schelling  und  Hegel  beeinflußten 
Terminologie  das  »System  der  Entwicklung«  zu  nennen.  Man 
muß  dabei  aus  der  gewöhnlichen  Bedeutung  dieses  Wortes  den 
Sinn  eines  zeitlichen  Hervorgehens  fallen  lassen  und  darunter  nur 
das  metaphysische  Postulat  verstehen,  daß  das  Wesen  jedes  einzel- 
nen Teiles  im  Weltall  ein  für  den  Zusammenhang  des  Ganzen  not- 
wendig erforderliches  Glied  bildet,  und  daß  der  Grund  für  die  be- 
sondere Gestaltung  jedes  einzelnen  in  dem  Gesetze  des  Ganzen  liegt. 
Diese  organische  Einheitlichkeit  des  Universums  hat  in  dem  Systeme 
der  Monadologie  einen  so  präzisen  Ausdruck  gefunden,  daß  Leibniz 
in  der  Tat  an  der  Spitze  der  Bewegung  der  deutschen  Philosophie 
steht,  welche  dies  tiefste  Resultat  des  griechischen  Denkens  auf  dem 
Boden  der  modernen  Wissenschaft  wieder  zur  Geltung  zu  bringen 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  31 


482  Leibniz. 

suchte.  Sie  hat  seit  Leibniz  rastlos  an  dieser  Aufgabe  gearbeitet, 
und  wenn  die  Formen,  in  denen  sie  das  Problem  auf  dem  Standpunkte 
der  Identitätsphilosophie  gelöst  zu  haben  glaubte,  wieder  zerfallen 
sind,  so  muß  ihr  dieses  Ziel  noch  immer  als  das  höchste  und  letzte 
vorschweben.  Es  kann  keine  Frage  sein,  daß  Leibniz  diese  seine 
historische  Bedeutung  der  Vertiefung  in  die  großen  Systeme  des 
Altertums  und  besonders  des  Aristoteles  verdankt.  Kein  Denker 
hat  in  der  Geschichte  eine  nachhaltigere  und  vielseitigere  Wirkung 
ausgeübt,  als  Aristoteles:  aber  dieser  letzte  große  Einfluß,  womit 
der  innerste  Kern  seiner  Lehre  die  Monadologie  von  Leibniz  durch- 
drungen hat,  ist  sehr  viel  wertvoller,  als  die  ganze  Masse  von  äußer- 
lichen Anlehnungen  teils  an  die  Form,  teils  an  die  Schlagwörter 
seiner  Philosophie,  wovon  das  Mittelalter  gelebt  hat. 

Der  einheitliche  Zusammenhang,  der  so  zwischen  den  Substanzen 
ihrem  innerlichen  Wesen  nach  besteht,  muß  sich  auch  in  ihrer  Tätig- 
keit entfalten.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  innerhalb  dieses 
Systems  diese  Tätigkeit  nur  diejenige  der  Vorstellung  sein  kann. 
Aber  die  Vorstellungen  allein  begründen  niemals  den  Fortgang  zu 
anderen  Vorstellungen:  dieser  kann  vielmehr  nur  in  dem  inneren 
Tätigkeitstriebe  der  Substanz  selbst  beruhen.  Neben  der 
Vorstellung  nimmt  deshalb  Leibniz  in  den  Monaden  eine  »Tendenz  « 
von  einer  Vorstellung  zu  andern  überzugehen  an,  welche  mit  dem- 
jenigen, was  man  sonst  Trieb  oder  Begierde  nennt,  identisch  sei. 
Diese  ist  es,  welche  in  jeder  Monade  das  System  der  Vorstellungen 
in  Fluß  bringt  und  darin  erhält.  Das  Resultat  dieses  Triebes  aber 
kann  in  jedem  Augenblicke  nur  durch  den  Inhalt  der  vorher  vorhan- 
denen Vorstellungen  bedingt  sein.  Das  Leben  jeder  Monade  besteht 
also  in  einer  fortwährend  durch  ihren  inneren  Tätigkeitstrieb  her-  : 
vorgerufenen  Entwicklung  ihrer  Vorstellungen.  Da  aber  in  allen 
Monaden  dasselbe,  nämlich  das  gesamte  Universum,  vorgestellt 
wird,  so  muß  auch  in  jedem  Augenblicke  das  Resultat  dieser  Vor- 
stellungsbewegung in  allen  Monaden  dasselbe  sein,  d.  h.  der  ganze 
Weltprozeß  spielt  sich  in  allen  Monaden  gleichmäßig  ab,  und  da- 
durch erklärt  Leibniz  aus  der  Tiefe  seines  Gedankenganges  heraus 
jenen  Schein  des  Einflusses  der  Substanzen  aufeinander,  der  das 
Problem  der  gesamten  cartesianischen  Schule  bildete.  Auch  für 
ihn  ist  ein  »influxus  physicus«,  eine  unmittelbare  Einwirkung  einer 
Substanz   auf   die   andere,   dem   Begriffe   nach   unmöglich.      »Die 


Prästabilierte  Harmonie.  483 

Monaden  haben  keine  Fenster«,  wie  er  sich  ausdrückt,  durch  welche 
sie  von  den  übrigen  etwas  erfahren  könnten.  Jede  lebt  nur  in  sich ; 
aber  sie  leben  alle  dasselbe,  und  darum  scheint  es  so,  als  ob  sie  stets 
aufeinander  wirkten.  Diese  bezeichnendste  Folgerung  seiner  Grund- 
begriffe nannte  Leibniz  die  »prästabilierte  Harmonie  der 
Monaden«,  und  er  verwendete  diese  Theorie  hauptsächlich,  um 
den  Zusammenhang  von  Leib  und  Seele  begreiflich  erscheinen  zu 
lassen.  Die  Monaden,  aus  denen  der  Körper  besteht,  und  die  Mo- 
nade, welche  die  Seele  bildet,  stehen  so  wenig  in  kausalem  Zusam- 
menhange miteinander,  wie  Substanzen  überhaupt;  aber  weil  die 
Seele  in  jedem  Augenblicke  genau  dasselbe  vorstellen  muß,  was 
sich  im  Körper  vollzieht,  so  scheint  es,  als  ob  sie  bald  auf  den  Körper 
einwirke,  bald  von  ihm  Einflüsse  erführe.  Er  erläuterte  dies  durch 
das  in  jeder  Zeit  vielfach,  z.  B.  auch  von  Geulincx  angewendete 
Beispiel  von  den  zwei  Uhren,  deren  stets  gemeinsamer  Gang  sich 
entweder  durch  eine  mechanische  Abhängigkeit  der  einen  von  der 
andern  oder  aus  der  stetigen  Kegulierung  durch  den  Mechaniker 
oder  aber  daraus  erklärt,  daß  beide  von  Anfang  an  gleich  gestellt 
sind  und  gleich  vollkommen  gehen.  Die  eine  Erklärung  sei  die 
cartesianische  des  influxus  physicus,  die  andere  diejenige  des  perpe- 
tuierlichen  Wunders,  welche  die  Occasionalisten  annähmen*),  die 
dritte  diejenige  der  prästabilierten  Harmonie:  und  man  müsse  über- 
zeugt sein,  der  höchste  Künstler  habe  die  Dinge  so  eingerichtet, 
daß  sie  sich  in  steter  Harmonie  befinden,  ohne  daß  eines  das  andere 
beeinflusse,  oder  daß  er  gar  von  Moment  zu  Moment  nachzuhelfen 
genötigt  wäre. 

Es  war  eine  Anzahl  höchst  bedeutender  Nebengedanken,  die 
in  diesem  Systeme  der  prästabilierten  Harmonie  implicite  enthalten 
waren.  Zunächst  derjenige,  daß  der  gemeinsame  Lebensinhalt  aller 
Monaden,  der  nimmermehr  zufällig  zustande  gekommen  sein  kann, 
auf  eine  gemeinsame  Ursache  hinweise.  Gerade  durch  diese  ihre 
innere  Gleichheit  erweisen  die  Monaden,  daß  sie  alle  aus  derselben 
Quelle  stammen.  Dieses  ganze  System  muß  seinen  Ursprung  in 
jener  höchsten  Monade  haben,  in  der  alle  Vorstellungen  klar  und 

*)  Damit  traf  Leibniz  freilich  nur  die  unvollkommenen  Anfangsstadien 
der  occasionalistischen  Lehre,  nicht  deren  tiefere  Entwicklung,  wie  sie  sich 
namentlich  in  den  späteren  Darstellungen  von  Geulincx  zeigte.  Vgl.  oben 
S.  197  f. 

31* 


484  Leibniz. 

deutlich  enthalten  sind.  Die  prästabilierte  Harmonie  ist  unbe- 
greiflich, wenn  sie  nicht  von  Gott  stammt,  wenn  nicht  angenommen 
wird,  Gott  habe  vermöge  seiner  absolut  klaren  und  deutlichen  Vor- 
stellung alle  Monaden  von  Anfang  an  mit  einem  solchen  Inhalt 
ausgestattet,  daß  sie,  jede  in  ihrer  Weise  sich  entwickelnd,  in  jedem 
Augenblicke  miteinander  übereinstimmen.  Aus  der  göttlichen 
Schöpfertätigkeit  ist  die  unendliche  Fülle  der  Monaden  und  eben 
damit  die  Harmonie  des  Weltalls  hervorgegangen. 

Allein  diese  Ansicht  setzt  sogleich  noch  ein  anderes  Element 
voraus.  Sie  läßt  sich  offenbar  nur  unter  der  Annahme  halten,  daß 
der  Entwicklungsprozeß  der  Vorstellungen  ausnahmslos  in  allen 
Monaden  jeden  Augenblick  notwendig  durch  den  Inhalt  der  vorher- 
gehenden Vorstellungen  bedingt  ist.  Denn  wenn  irgendwo  ein 
Spielraum  wäre,  innerhalb  dessen  auch  nur  eine  der  Monaden  zu- 
fällig- oder  willkürlich  von  jenem  allgemein  gleichen  Gange  der 
Vorstellungsentwicklung  abzuweichen  vermöchte,  so  wäre  sogleich 
die  Harmonie  des  ganzen  Universums  gestört.  Das  System  der 
prästabilierten  Harmonie  setzt  den  Determinismus  und  die 
strikte  Notwendigkeit  des  gesamten  Vorstellungslebens  der  Monaden 
voraus.  Dies  ist  der  Punkt,  an  welchem  Leibniz  seine  Versöhnung 
des  Mechanismus  und  der  Teleologie  vollzogen  zu  haben 
glaubte  —  es  ist  der  Höhepunkt  seiner  Gedanken.  Die  Harmonie 
in  dem  Ablaufe  des  Geschehens  bei  allen  Monaden  wird  von  ihm 
aus  der  göttlichen  Schöpfertätigkeit  erklärt,  die  das  System  der 
Monaden  nach  ihren  Zwecken  angeordnet,  diese  zweckmäßige  An- 
ordnung aber  nur  dadurch  erreicht  hat,  daß  von  dem  gegebenen 
Anfängszustande  aus  mit  unausweichlicher  Notwendigkeit  alle 
Monaden  den  von  Gott  gewollten  und  von  Anfang  an  festgestellten 
Entwicklungsgang  nehmen.  So  schränken  sich  beide  Gegensätze 
einander  ein,  indem  sie  einander  fordern.  In  dem  Ablaufe  des  ein- 
zelnen Geschehens  herrscht  nur  mechanische  Notwendigkeit,  und 
kein  einziger  Vorgang  kann  anders  als  aus  seinen  Ursachen  erklärt 
werden.  Der  gesamte  Ablauf  des  Weltgeschehens  aber  ist  gerade 
in  dieser  seiner  ausnahmslosen  Notwendigkeit  durch  die  zweck- 
mäßige Schöpfertätigkeit  Gottes  von  vornherein  bestimmt.  Der 
Mechanismus  herrscht  bedingungslos,  aber  er  ist  nur  dazu  da,  um 
den  Zweck  zu  erfüllen.  Es  ist  merkwürdig,  wie  nahe  Leibniz  mit 
dieser  Lehre  seinem  Gegner  Newton  stand.    Der  Gedanke,  die  Welt 


Unbewußte  Vorstellungen.  485 

als  eine  von  Gott  zur  Erfüllung  seiner  Zwecke  gebaute  Maschine 
zu  betrachten,  ist  beiden  gemeinsam,  und  in  diesem  Sinne  hat  Leib- 
niz  auf  die  religiöse  Aufklärung  der  Deutschen  genau  denselben 
Einfluß  ausgeübt,  wie  Newton  auf  diejenige  der  Engländer. 

Der  dritte  Nebengedanke  des  Systems  der  prästabilierten  Har- 
monie ist  eine  psychologische  Hypothese  von  eminenter  Tragweite. 
Es  verlangt,  daß  jede  Monade  in  jedem  Momente  den  ganzen  Welt- 
zustand in  sich  vorstellt.  Offenbar  ist  das  nun  schon  bei  der  mensch- 
lichen Monade  nicht  in  dem  Sinne  der  Fall,  daß  diese  sich  aller 
dieser  Vorstellungen  bewußt  wäre,  da  sie  vielmehr  stets  nur  einen 
äußerst  geringen  Umfang  der  Vorstellungen  von  der  übrigen  Welt 
zu  umspannen  vermag;  und  noch  weniger  darf  man  natürlich  eine 
Erfüllung  dieser  Forderung  von  Seiten  der  niedrigsten  Monaden 
annehmen,  die  nicht  einmal  überhaupt  ein  Bewußtsein,  geschweige 
denn  ein  derartig  umfassendes  Bewußtsein  besitzen  können.  Es 
gibt  deshalb  für  Leibniz  nur  den  einen  Ausweg  der  weiteren  Hypo- 
these, daß  die  Monaden  eine  große  Menge  von  Vorstellungen  besitzen, 
ohne  von  ihnen  zu  wissen,  mit  anderen  Worten,  daß  es  eine  un- 
bewußte Vorstellungstätigkeit  gibt,  vermöge  deren  die 
niedrigere  Monade  ein  Spiegel  der  Welt  bleiben  kann,  ohne  sich 
dieser  ihrer  Tätigkeit  bewußt  zu  sein.  Diese  metaphysische  Ver- 
anlassung war  es,  auf  Grund  deren  Leibniz  die  für  die  gesamte 
Psychologie  überaus  wichtige  Hypothese  der  Existenz  unbewußter 
Vorstellungen  machte.  Es  wurde  ihm  nicht  schwer,  sie  mit  seinen 
übrigen  Theorien  in  Einklang  zu  bringen.  Indem  er  das  Bewußt- 
sein für  eine  Funktion  der  Klarheit  und  Deutlichkeit  in  der, Vor- 
stellungstätigkeit erklärte,  fügte  es  sich  von  selbst,  daß  die  Monaden 
in  demselben  Maße,  wie  sie  verworrene  Vorstellungen  besitzen, 
auch  des  Bewußtseins  davon  ermangeln.  Danach  erschienen  denn 
die  die  Materie  konstituierenden  niedrigsten  Monaden  als  diejenigen, 
welche  zwar  auch  das  gesamte  Universum  vorstellen,  aber  mit  einer 
solchen  Verworrenheit,  daß  sie  sich  dessen  niemals  bewußt  werden, 
die  Gottheit  dagegen  als  die  allwissende  Zentralmönade,  die  sich 
in  jedem  Augenblicke  des  gesamten  Universums  mit  voller  Klarheit 
und  Deutlichkeit  bewußt  ist.  Die  Annahme  der  unbewußten  Seelen- 
tätigkeit verband  sich  zugleich  auf  das  glücklichste  mit  Leibniz' 
großer  mathematischer  Entdeckung.  Von  dem  Zustande  des  klaren 
und  deutlichen  Bewußtseins  bis  hinab  zu  der  absoluten  Verworrenheit 


486  Leibniz. 

und  Dunkelheit  der  rein  sinnlichen  Passivität  ließ  sich  nach 
Analogie  der  Infinitesimalrechnung  durch  alle  möglichen  Grade 
hindurch  eine  allmähliche,  bis  zum  unendlich  Kleinen  absteigende 
Abschwächung  der  Bewußtseinsenergie  annehmen,  ohne  daß  man 
diesem  unendlich  Kleinen  die  Realität  abzusprechen  genötigt  war. 
In  diesem  Sinne  bezeichnete  Leibniz  die  unbewußten  Vorstellungen 
als  »petites  perceptions«  und  betonte  es  mehrfach,  daß  mit 
diesen  kleinen  Vorstellungen  das  System  der  prästabilierten  Har- 
monie stehe  und  falle.  Er  suchte  dann  auch  die  Existenz  der  un- 
bewußten Vorstellungen  aus  der  menschlichen  Erfahrung  nachzu- 
weisen und  bediente  sich  dazu  besonders  des  Beispiels  vom  Rauschen 
des  Meeres.  Der  Fall  eines  einzelnen  Wassertropfens  bringe  eine  so 
minimale  Erregung  mit  sich,  daß  er  eine  Wahrnehmung  nicht  her- 
vorzurufen pflege;  das  donnergleiche  Geräusch  der  Brandung  da- 
gegen setze  sich  auch  nur  aus  einer  unendlichen  Anzahl  solcher 
unendlich  kleinen  Erregungen  zusammen,  und  hier  habe  man  ein 
psychologisches  Beispiel  dafür,  wie  nach  dem  Prinzip  der  Diffe- 
rentialrechnung sich  aus  der  Summierung  einer  unendlichen  Anzahl 
unendlich  kleiner  Werte  eine  stattliche  reale  Größe,  aus  einer  Masse 
unbewußter  eine  bewußte  Vorstellung  von  lebhafter  Energie  zusam- 
mensetze. Jedenfalls  aber  war  diese  zunächst  aus  metaphysischen 
Überlegungen  entsprungene  Hypothese  der  ^unbewußten  Vorstel- 
lungen von  außerordentlicher  Bedeutung  für  die  Entwicklung  der  Psy- 
chologie. Sie  durchbrach  jene  Voraussetzung,  die  dem  Rationalismus 
und  dem  Empirismus  gleichmäßig  eigen  gewesen  war,  daß  der  Geist 
nur  so  viel  in  sich  trage,  als  er  von  sich  wisse;  sie  war  zwar  in  dem 
Streite  über  die  eingeborenen  Ideen  schon  hin  und  wieder  von  den 
Cartesianern  angedeutet  und  deshalb  von  Locke  ausdrücklich  be- 
kämpft worden :  aber  im  allgemeinen  war  auch  der  Rationalismus 
schon  durch  Descartes'  erkenntnistheoretisches  Prinzip  dazu  geführt 
worden,  in  der  Seele  nur  so  viel  als  wirklich  anzuerkennen,  als  ihr 
Selbstbewußtsein  enthält,  und  jedenfalls  hat  Leibniz  das  Verdienst, 
jene  Hypothese  zuerst  in  einer  umfassenden  und  psychologisch 
brauchbaren  Form  ausgesprochen  und  damit  ihre  fruchtbare  Ver- 
wertung für  die  folgende  Zeit  angebahnt  zu  haben. 

Von  diesen  allgemeinen  Grundbegriffen  aus  entwarf  nun  Leibniz, 
freilich  nur  gelegentlich  und  in  großen  Umrissen,  auch  die  Grund- 
züge einer  Neugestaltung  der  einzelnen  philosophischen  Disziplinen. 


Naturphilosophie.  487 

Am  schwierigsten  war  sie  offenbar  in  der  Naturphilosophie, 
obwohl  gerade  diese  den  Ausgangspunkt  für  die  neue  Theorie  ge- 
bildet hatte.  Aber  das  Prinzip,  worauf  Leibniz  eben  dabei  geführt 
worden  war,  daß  nämlich  alle  Körper  ihrem  Wesen  nach  Monaden 
und  Organismen  seien,  geriet  selbstverständlich  mit  der  mecha- 
nischen Naturphilosophie  der  Zeit,  die  er  doch  selbst  nicht  ablehnen, 
sondern  nur  einschränken  wollte,  in  scharfe  Konflikte.  Der  haupt- 
sächlichste Differenzpunkt  war  der,  daß  Leibniz,  indem  er  den 
Körpern  den  Charakter  ausgedehnter  Substanzen  absprach,  den 
KRaum  nicht  als  eine  Realität  betrachten  konnte,  innerhalb  deren 
sich  die  Körper  bewegen.  Aus  diesem  Grunde  mußte  er  sowohl  die 
Atomtheorie,  als  auch  Newtons  Annahme  einer  in  die  Ferne  wirken- 
den und  durch  Abstandsverhältnisse  in  ihrer  Energie  bestimmten 
Kraft  bestreiten,  und  der  Begriff  def  Masse  wurde  für  ihn  zu  einem 
schwierigen  Problem,  weil  von  einer  eigentlichen  Zusammensetz- 
barkeit der  Monaden  bei  deren  vollkommen  in  sich  geschlossenem 
und  einander  ausschließendem  Wesen  keine  Rede  sein  konnte.  Er 
suchte  daher  den  Begriff  des  zusammengesetzten  Körpers  auf  einem 
anderen  Wege  zu  gewinnen,  indem  er  auch  hier  lediglich  das  Prinzip 
des  Organischen  geltend  machte.  Er  nahm  nämlich  an,  daß  unter 
den  Monaden  sich  einzelne  befänden,  welche  einen  Komplex  niederer 
Monaden  mit  einer  höheren  Klarheit  und  Deutlichkeit  in  sich  vor- 
stellen, so  daß  sie  diesem  Komplexe  gegenüber  eine  Art  von  Zen- 
tralmonade bilden.  In  diesem  Verhältnis  erscheinen  dann  jene 
niederen  Monaden  als  die  lediglich  leidenden,  diese  Zentralmonade 
als  die  verhältnismäßig  tätige  ihnen  gegenüber  und  als  diejenige, 
deren  deutlichere  Vorstellung  die  verworreneren  Zustände  der  übri- 
gen bestimme.  So  gewinnt  die  Zentralmonade  den  niederen  gegen- 
über die  Bedeutung  einer" Substanz  im  höheren  Sinne,  und  in  diesem 
bildet  sie  das  »substantielle  Band«,  das  jene  verknüpft.  Zusammen- 
gesetzte Körper  sind  deshalb  für  Leibniz  stets  Organismen,  deren 
tätiges  Leben  sich  in  einer  Zentralmönade  konzentriert.  Der  Unter- 
schied der  organischen  und  der  unorganischen  Natur  ist  von  einem 
prinzipiellen  zu  einem  graduellen  herabgesetzt,  in  diesem  Falle 
jedoch  zugunsten  der  organischen,  deren  niedere  Stufen  nur  in 
der  unorganischen  enthalten  sein  sollen.  Jene  Vereinigung  aber, 
welche  die  niedersten  Monaden  in  der  Zentralmonade  erfahren,  er- 
scheint als  ein  räumliches  Verhältnis,  derselben,  und  so  kommt  die 


488  Leibniz. 

ausgedehnte  Gestalt  der  Körper  und  in  letzter  Instanz  der  gesamte 
Raum  zwar  nicht  als  eine  metaphysische  Wirklichkeit,  aber  doch 
als  ein  »wohlgegründetes  Phänomen«  zustande.  Ein  Gleiches  gilt 
von  der  Zeit,  die  aus  der  Anordnung  der  Vorstellungen  in  den  Mo- 
naden entspringt.  Der  Raum  ist  nur  die  Ordnung  der  koexistie- 
renden, die  Zeit  nur  diejenige  der  auseinander  sich  entwickelnden 
Vorstellungen.  Sie  sind  nur  das  verworrene  sinnliche  Bild  der  Ver- 
hältnisse, worin  die  Monaden  miteinander  notwendig  nach  der 
prästabilierten  Harmonie  gedacht  werden  müssen.  Im  Grunde 
genommen  sind  deshalb  auch  die  räumlichen  Bewegungen,  welche 
die  Körper  ausführen,  nur  verworrene  Vorstellungen  der  wirklichen 
metaphysischen  Beziehungen,  in  welchen  sie  sich  befinden.  Da 
aber  diese  Erscheinungsform  in  den  inneren  Beziehungen  der  Mona- 
den begründet  ist,  so  müssen  auch  in  dem  Ablaufe  dieser  räumlichen 
Bewegungen  gewisse  Gesetze  mit  unverbrüchlicher  Notwendigkeit 
herrschen.  So  sucht  Leibniz  das  Prinzip  der  mechanischen  Natur- 
philosophie wiederzugewinnen,  obwohl  er  daran  festhält,  daß  die 
gesamten  Gesetze  des  mechanischen  Naturzusammenhanges  nicht 
in  sich  selbst,  sondern  in  dem  von  der  Gottheit  zweckmäßig  ange- 
legten Vorstellungsprozesse  der  Monaden  beruhen  und  deshalb 
nicht  notwendige,  sondern  zufällige  Wahrheiten  bilden.  Diese 
mechanische  Naturerklärung  soll  dann  zeigen,  wie  jede  Bewegung 
aus  ein^r  anderen  hervorgeht,  und  zwar  dadurch,  daß  die  eine  sich 
in  die  andere  verwandelt.  Leibniz  erklärt  es  für  seine  größte  Ent- 
deckung auf  diesem  Gebiete,  gezeigt  zu  haben,  daß  alle  Verände- 
rungen der  Natur  nur  ganz  allmählich  vonstatten  gehen,  weil  sie 
lediglich  das  verworrene  Abbild  der  allmählichen  Umbildung  der 
Vorstellungen  in  den  Monaden  sind.  Er  spricht  diese  Behauptung 
als  das  Gesetz  der  Kontinuität  aus  und  macht  zu  dessen  Be- 
gründung hauptsächlich  den  Versuch,  die  Newtonsche  Gravitations- 
theorie und  die  darin  behauptete  Wirkung  in  die  Ferne  durch  eine 
mehr  im  Anschluß  an  Descartes  gedachte  Hypothese  der  sich  kon- 
tinuierlich fortpflanzenden  Wirbelbewegung  zu  widerlegen.  Doch 
tritt  er  anderseits  Newton  so  weit  bei,  daß  er  die  mit  der  Vergröße- 
rung des  Abstandes  in  dem  bekannten  quadratischen  Verhältnis 
wachsende  Verminderung  der  Kraftwirkung  zugesteht.  Unter 
diesen  Umständen  glaubt  er  das  Prinzip  der  Erhaltung  der  Kraft 
umgestalten  zu  müssen.    Descartes  hatte  es  nur  in  dem  Sinne  auf- 


Psychologie.  489 

gestellt,  daß  die  Größe  der  Kraft  derjenigen  der  Bewegung  stets 
direkt  proportional  sei,  und  er  hatte  deshalb  aus  der  Unveränder- 
lichkeit  der  von  Gott  der  Materie  mitgeteilten  Kraft  geschlossen, 
daß  die  Summe  der  Bewegung  im  Weltall  stets  dieselbe  sei.  Leibniz 
zeigt,  daß  das  letztere  durch  zweifellose  Tatsachen  widerlegt  werde, 
und  setzt  an  die  Stelle  der  cartesianischen  Behauptung  eine  dem 
Axiome  der  modernen  Naturwissenschaft  viel  näher  stehende  For- 
mulierung des  Gesetzes,  indem  er  behauptet,  die  Summe  der  Kraft 
bleibe  im  Weltall  stets  die  gleiche,  aber  die  Summe  der  wirklichen 
Bewegung  wechsle  vermöge  der  verschiedenen  Möglichkeiten  der 
Krafthemmung;  d.  h.  er  macht,  um  das  Gesetz  der  Erhaltung  der 
Kraft  aufrecht  zu  erhalten,  in  einer  freilich  noch  vielfach  unklaren 
und  nicht  konsequent  durchführbaren  Weise  den  Unterschied  der 
lebendigen  und  der  latenten  Kraft.  Daneben  zeigt  er  eine  an- 
nähernde Vorstellung  von  der  Umsetzbarkeit  der  verschiedenen 
Bewegungsformen  ineinander  und  entwickelt  namentlich,  daß  der 
scheinbare  Kraftverlust  bei  dem  Zusammenstoß  elastischer  Körper 
sich  durch  eine  Umsetzung  in  molekulare  Bewegung  erkläre.  Doch 
war  natürlich  eine  strikte  Durchführung  und  ein  allseitiger  Be- 
weis für  dies  Prinzip  so  lange  nicht  möglich,  als  man  von  der  Kolle, 
welche  dabei  die  Wärme  spielt,  noch  keine  exakte  Vorstellung 
hatte. 

Wie  in  der  Naturphilosophie  die  Abgrenzung  des  Organischen 
gegen  das  Unorganische,  so  bietet  in  der  Psychologie  für  Leibniz 
die  Differenz  des  Menschen  von  den  übrigen  Organismen  nicht 
geringe  Schwierigkeiten  dar.  Daß  die^eele  als  die  Zentralmonade 
des  Körpers'  auftritt,  ist  selbstverständlich;  daß  sie  unsterblich 
ist,  soll  unmittelbar  aus  ihrer  Natur  als  Monade  folgen,  da  jede 
Substanz  ihrem  Begriffe  nach  unzerstörbar  ist.  Aber  diese  Art 
von  Unsterblichkeit  trifft  alle  Monaden  und  besonders  auch 
die  Tierseelen.  Es  ist  daher  ganz  willkürlich,  wenn  Leibniz  an- 
nimmt, eine  tierische  Zentralmonade  sei  imstande,  in  den  dumpfen 
Zustand  einer  nur  unbewußten  Vorstellungstätigkeit  zurückzusinken, 
die  menschliche  dagegen  bewahre  die  einmal  klar  und  deutlich  ge- 
wonnene Vorstellung  der  Persönlichkeit  bis  in  alle  Ewigkeit.  Selbst- 
verständlich kann  es  in  diesem  Systeme  keine  Zentralmonade  geben, 
die  nicht  irgendwie  mit  niedrigeren  Monaden  in  dem  Verhältnis 
stünde,  daß  sie  das  substantielle  Band  zwischen  ihnen  ausmacht, 


490  Leibniz. 

d.  h.  keine  Seele  ohne  einen  Leib.  Allein  es  ist  deshalb  nicht  nötig, 
daß  dieser  Leib  immer  derselbe  bleibe,  sondern  schon  die  Erfahrung 
des  Wachstums  und  des  Stoffwechsels  zeigt,  daß  die  niederen  Mo- 
naden, die  den  Körper  der  höheren  ausmachen,  in  stetem,  wenn 
auch  noch  so  langsamem  Wechsel  begriffen  sind.  Denn  auch  hier, 
meint  Leibniz,  herrsche  das  Gesetz  der  Kontinuität,  keine  Seele 
springe  plötzlich  aus  einem  Körper  in  den  andern,  sondern  bilde 
nur  den  früheren  stetig  in  einen  neuen  um.  Was  speziell  den 
Menschen  betrifft,  so  sieht  sich  Leibniz  vermöge  der  Ewigkeit  der 
Monaden  genötigt,  die  Konsequenz  des  Unsterblichkeitsglaubens 
auch  nach  rückwärts  zu  ziehen  und  eine  Präexistenz  der  Seele 
vor  dem  gegenwärtigen  Leben  anzunehmen.  Doch  hält  er  dabei 
an  der  Ansicht  fest,  daß  die  menschliche  Persönlichkeit  von  diesen 
Monaden  nur  einmal  in  der  Verbindung  mit  einem  menschlichen 
Organismus  für  immer  gewonnen  wird,  daß  somit  die  menschlichen 
Seelen  vorher  eine  niedere  Form  des  Daseins  geführt  haben  (wofür 
er  gern  die  kurz  zuvor  gemachte  Entdeckung  der  Samentierchen 
ausnutzte),  und  daß  anderseits  diese  zum  Bewußtsein  der  Persön- 
lichkeit gekommene  Monade  nach  ihrer  Auslösung  aus  dem  dabei 
gestalteten  Organismus,  welche  wir  den  Tod  des  Menschen  zu  nennen 
pflegen,  sich  eine  höhere  Form  der  Leiblichkeit  bilde :  das  war  denn 
nun  freilich  nicht  mehr  anschaulich  vorzustellen,  und  da  stieß 
namentlich  die  Annahme  der  kontinuierlichen  Umbildung  auf  un- 
überwindliche Schwierigkeiten. 

Viel  wichtiger  als  diese  Spekulationen  ist  die  Anwendung,  die 
Leibniz  von  seinen  metaphysischen  Begriffen  auf  den  Vorstellungs- 
prozeß und  die  Erkenn tnistätigkeit  des  Menschen  machte.  Erst 
dadurch  gewann  er  die  wertvollste  Vertiefung  seiner  Er- 
kenntnistheorie, und  dies  war  der  Punkt,  wo  er  es  in  meister- 
hafter Weise  verstand,  seine  methodologischen  Untersuchungen 
mit  seiner  Metaphysik  in  Zusammenhang  zu  setzen.  Schon  des- 
halb sind  die  »Nouveaux  essais«,  in  denen  er  dies  versuchte,  sein 
reifstes  und  bedeutendstes  Werk.  Selbstverständlich  und  verhältnis- 
mäßig einfach  war  es,  die  Doppelrichtung,  die  er  der  menschlichen 
Erkenntnistätigkeit  zugeschrieben  hatte,  auf  die  Mittelstellung 
zurückzuführen,  welche  die  Monade  des  menschlichen  Geistes  in 
der  Stufenreihe  des  Universums  einnimmt.  Sie  hat  weder  bloß 
verworrene,  noch  bloß  klare  und  deutliche  Vorstellungen,  sondern 


Nouveaux  essais.  491 

eine  Mischung  aus  beiden.  Jene  sind  die  sinnlichen  Erfahrungen, 
aus  denen  die  "tatsächlichen^  Wahrheiten  stammen,  diese  sind  die 
klaren  Begriffe,  aus  denen  dievewigen  Wahrheiten  hervorgehen ;  und 
auch  das  Wertverhältnis  beider,  das  er  durch  ihre  Bezeichnung  als 
'  zufällige^  und  notwendige  Wahrheiten  ausgedrückt  hatte,  ließ  sich 
in  dieser  Ableitung  als  richtig  begreifen.  Die  menschliche  Monade, 
wie  sie  Leibniz  in  seiner  Metaphysik  dachte,  war  genau  so  ein- 
gerichtet, daß  ihre  Vorstellungen  jenen  doppelten  Wert  und  jenen 
doppelten  Ursprung  haben  mußten,  den  ihnen  seine  Erkenntnis- 
theorie zuschrieb.  So  fügte  sich  alles  in  der  glücklichsten  Weise 
zum  System,  und  seine  Metaphysik  schien  selbst  die  Verknüpfung 
des  Empirismus  und  des  Rationalismus  zu  fordern,  die  seine  Me- 
thodologie sich  zur  Aufgabe  gemacht  hatte.  Hieraus  ergab  sich, 
daß  seine  Betrachtung  des  Lockeschen  Versuchs  sich  zu  diesem  in 
erster  Linie  durchaus  anerkennend  verhielt,  und  daß  er  die 
Richtigkeit  der  Lockeschen  Theorie  über  den  Ursprung  und  den 
Zusammenhang  der  Erfahrungserkenntnis  in  einem  Grade  billigte, 
der  es  gestattet  hat,  daß  man  aus  der  Vergleichung  beider  Werke 
eine  Übereinstimmung  beider  Denker  in  wesentlichen  Punkten 
nachwies. 

Gleichwohl  ging  Leibniz  weit  über  sein  Vorbild  hinaus  und 
zeigte  auf  das  schlagendste  die  Irrtümer,  in  welche  Locke  durch 
die  einseitige  Verfolgung  jener  an  sich  richtigen  Prinzipien  geraten 
war.  Der  deutsche  Denker  verhielt  sich  zum  Empirismus  genau 
so  wie  zur  mechanischen  Naturerklärung:  er  erkannte  beide  an, 
um  sie  doch  zugleich  einzuschränken,  diese  durch  die  Teleologie,  jene 
durch  den  Rationalismus.  Das  letztere  gelang  ihm  durch  eine 
geniale  Verwendung  jener  Hypothese  der  "Unbewußten  Vorstellungen, 
die  sich  als  die  Konsequenz  der  Lehre  von  der  prästabilierten 
Harmonie  ergeben  hatte.  Daß  die  sogenannten  eingeborenen  Ideen 
nicht  alle  in  allen  Seelen  jederzeit  mit  Bewußtsein  vorgestellt  werden, 
gibt  Leibniz  der  Lockeschen  Beweisführung  bedingungslos  zu.  Aber 
schon  Locke  hatte  den  Kern  der  Frage  getroffen,  wenn  er  gegen 
die  Möglichkeit  ihres  unbewußten  Vorhandenseins  polemisierte.  Alle 
Theorien,  mit  denen  Leibniz  über  ihn  hinausging,  liegen  deshalb 
in  dieser  Richtung,  und  an  die  Stelle  des  aktuellen  Eingeboren- 
seins setzt  er  prinzipiell  und  in  ganzer  Ausdehnung  das  virtuelle 
Eingeborensein.    Diese  Lehre  ändert  damit  aber  auch  zugleich 


492  Leibniz, 

die  ganze  Auffassung  von  der  Verarbeitung  der  sinnlichen  Emp- 
findungen durch  das  Denken,  und  indem  Leibniz  so  den  Ratio- 
nalismus wieder  zur  Geltung  bringen  wollte,  vertiefte  er  zugleich  den 
Empirismus  in  sich  selber.  Für  die  allgemeine  psychologische 
Theorie,  auf  der  seine  ganze  Anschauung  beruhte,  erfand  er  einen 
Ausdruck,  der  namentlich  für  die  neuere  Psychologie  wichtig  ge- 
worden ist :  er  nannte  die  Vorstellungen  überhaupt  »representations  « 
oder,  wie  es  auch  in  England  und  Frankreich  teilweise  geschah, 
»perceptions «.  Aber  das  bloße^Haben'  von  Vorstellungen  muß 
nach  seiner  Theorie  von  dem  Bewußtsein  derselben  sorgfältig  unter- 
schieden werden,  und  dieses  Bewußtsein  bezeichnete  er  mit  dem 
Namen  der  »apperception«,  worunter  er  also  die  bewußte  An- 
eignung eines  Vorstellungsinhaltes  durch  den  denkenden  Geist 
verstand.  Danach  haben  nun  alle  Monaden  ausnahmslos  die  gleichen 
4  Perzeptionen,  aber  sie  unterscheiden  sich  dadurch,  daß  die  einen 
mehr,  die  andern  weniger  davon  apperzipieren,  und  die  Entwicklung 
des  menschlichen  Geistes  besteht  darin,  die  Perzeptionen  in  Apper- 
zeptionen zu  verwandeln.  Dieser  Vorgang  ist  natürlich  kein  anderer 
als  derjenige,  wodurch  der  anfangs  dunkle  oder  verworrene,  d.  h. 
mehr  oder  minder  unbewußte  Zustand  in  das  klare  und  deutliche 
Bewußtsein  erhoben  wird. 

Hieraus  folgte  nun  sogleich  den  Lockeschen  Ausführungen  gegen- 
über eine  ganz  andere  Auffassung  vom  Wesen  der  Erfahrung. 
Schon  in  den  allgemeinen  Voraussetzungen  der  Leibnizschen  Meta- 
physik lag  es  begründet,  daß  es  für  Leibniz  eine  eigentliche  Er- 
fahrung im  Sinne  Lockes  nicht  geben  konnte.  Sie  steht  und  fällt 
mit  der  Annahme  des  »influxus  physicus«.  Wenn  Leibniz  über- 
haupt die  Möglichkeit  der  Einwirkung  von  einer  Substanz  auf  die 
andere  leugnete,  so  konnten  ihm  auch  die  sinnlichen  Empfindungen 
nicht  Wirkungen  der  Dinge  auf  die  menschliche  Seele,  sondern 
nur  innere  Erzeugnisse  der  letzteren  sein,  welche  nach  dem  Prinzip 
der  prästabilierten  Harmonie  in  Konformität  mit  den  inneren  Vor- 
gängen der  Dinge  aus  ihr  selbst  hervorgehen.  Sie  bildeten  ihm 
deshalb  die  verworrenen  Vorstellungszustände,  in  welche  die  Seele 
aus  eigener  Notwendigkeit  gerät.  Allein  daraus  ergibt  sich,  daß 
in  eben  diesen  Erfahrungen  vieles,  was  die  Seele  schon  besitzt,  ihr 
selbst  noch  unbekannt  ist,  und  daß  der  Vorgang  der  Apperzeption 
nur  darin  besteht,  diesen  schon  vorhandenen  und  mit  der  Erfahrung 


Virtuell  eingeborene  Ideen.  493 

selbst  gegebenen  Besitzstand  in  das  klare  Bewußtsein  zu  erheben. 
Soweit  sieht  das  Resultat  von  Leibniz  demjenigen  von  Locke  zum 
Verwechseln  ähnlich ;  denn  auch  er  scheint  zu  lehren,  daß  die  Er- 
kenntnistätigkeit lediglich  in  der  Verdeutlichung  des  mit  der  Er- 
fahrung gegebenen  Inhaltes  bestehe.  Aber  der  gewaltige  Unterschied 
zwischen  beiden  beruht  in  ihrer  Auffassung  von  dem  Inhalte  dieser 
Erfahrung  selbst.  Locke  hatte  darin  nur  die  einfachen  Elemente 
teils  der  inneren,  teils  der  äußeren  Wahrnehmung  gesucht  und 
gemeint,  die  Beziehungsbegriffe,  welche  das  verdeutlichende  Denken 
zwischen  ihnen  statuiert,  für  die  Produkte  dieser  Elemente  oder  für 
Wirkungen  der  Seelenvermögen  ansehen  zu  müssen;  er  hatte  darüber 
nicht  zu  scharf  bestimmten  Entscheidungen  gelangen  können. 
Darauf  beruhte  es,  daß  schließlich  Hume  nachweisen  konnte,  einige 
dieser  Beziehungsbegriffe,  und  zwar  die  wichtigsten,  nämlich  die- 
jenigen der  Substantialität  und  der  Kausalität,  seien  nicht  wirkliche 
Produkte  dieser  Elemente  und  deshalb  illusorisch.  Leibniz  dagegen 
begriff  —  und  das  ist  seine  größte  Tat  — ,  daß  diese  Beziehungsbegriffe  ; 
wirklich  schon  in  den  Erfahrungen  enthalten  sind,  aber  nicht  als  l 
Produkte  der  Wahrnehmungselemente,  sondern  vielmehr  als  selb- 
ständige, aber  nicht  selbständig  bewußte  Vorstellungsmomente. 
Die  Vorstellungen,  mit  denen  auch  die  menschliche  Monade 
die  Erkenntnis  des  Universums  in  sich  trägt,  sind  zunächst  dunkel 
und  unbewußt;  der  erste  Schritt  der  Apperzeption  macht  sie  zu 
bewußten,  aber  verworrenen  Vorstellungen,  d.  h.  zu  sinnlichen  Er- 
fahrungen. Diese  enthalten  somit  die  Wahrheit  zwar  schon  in  be- 
wußter, aber  noch  in  verworrener  Gestalt,  und  die  sinnlichen  oder 
tatsächlichen  Erkenntnisse  sind  die  verworrenen  Bilder  der  ewigen 
Wahrheiten.  Der  Empirismus  ist  die  psychologische  Vorstufe  des 
Rationalismus :  das  ist  seine  Berechtigung  und  zugleich  seine  Grenze. 
Denn  diese  verworrenen  Vorstellungen  bedürfen  nun  einer  zweiten 
und  höheren  Apperzeption,  um  zu  klaren  und  deutlichen  zu  werden. 
Durch  diese  neue  Verarbeitung  fallen  die  verworrenen  Formen  der 
Sinnlichkeit  ab,  und  es  entstehen  die  deutlichen  Begriffe,  mit  denen 
wir  den  Zusammenhang  der  Dinge  denken.  Diese  Begriffe  stammen 
also  nicht  aus  der  Außenwelt  und  ebensowenig  aus  den  sinnlichen 
Elementen  der  Vorstellungstätigkeit,  sondern  sie  bilden  einen  ur- 
sprünglich dunklen  und  unbewußten  Besitz  des  Geistes,  dessen 
sich  dieser  in  der  Apperzeption  durch  Vermittlung  der  sinnlichen 


494  Leibniz. 

Erfahrung  bewußt  wird.  Nichts  anderes  versteht  Leibniz  unter 
dem" virtuellen  Eingeborensein  der  Ideen.  Die  ewigen  Wahrheiten 
existieren  nicht  von  vornherein  im  Bewußtsein  des  Menschen,  aber 
sie  kommen  auch  nicht  von  außen  hinein;  sie  waren  vielmehr  von 
Anfang  an  als  »petites  perceptions«  mit  jenem  unendlich  geringen 
Grade  von  Bewußtsein,  den  wir  als  unbewußt  bezeichnen,  in  der 
Seele  vorhanden,  und  sie  werden  nur  in  der  Apperzeption  auf  Grund 
der  Erfahrung,  in  der  sie  noch  verworren  erscheinen,  auf  die  klare 
Höhe  des  Bewußtseins  gehoben.  Die  Monade,  die  das  Universum 
spiegelt,  trägt  in  sich  auch  die  Weltgesetze,  die  ewigen  Wahr- 
heiten: aber  die  menschliche  Monade  ist  sich  ihrer  von  Anfang  an 
sowenig  bewußt  wie  des  größten  Teils  des  Universums  überhaupt, 
sie  lernt  sie  nur  durch  die  verworrenen  sinnlichen  Vorstellungen 
hindurch  erst  zur  Deutlichkeit  zu  bringen  und  erfährt  auf  diese 
Weise  nur,  was  sie  von  Anfang  an  besaß  und  ausübte.  Diese  Welt- 
gesetze sind  zugleich  die  Gesetze  ihres  eigenen  Denkens,  welche 
sie  unbewußt  anwendete,  lange  ehe  ihr  Bewußtsein  sie  kannte. 
Mit  dieser  tiefsinnigen  Lehre  glaubt  Leibniz  alle  Schwierigkeiten 
der  Erkenntnistheorie  überwunden  und  die  unversöhnbar  scheinen- 
den Gegensätze  ausgeglichen  zu  haben.  Jedenfalls  hat  er  damit 
die  innere  Gesetzmäßigkeit  aufgedeckt,  welche  der  denkende  Geist 
in  sich  selber  trägt,  und  den  Rationalismus  aus  der  groben  Form, 
in  der  ihn  Descartes  aussprach,  in  die  feinere  Gestalt  gebracht, 
welche  später  Kant  zur  Vollendung  führte.  Wohl  gab  er  dem 
Empirismus  zu,  daß  der  menschliche  Geist  nur  an  der  Hand  der 
Erfahrung  seine  Erkenntnisse  gewinnt,  aber  er  durchschaute, 
daß  diese  Erfahrung  nicht  nur  aus  den  sinnlichen  Elementen  be- 
steht, sondern  bereits,  wenn  auch  in  dunkler  und  verworrener 
Weise,  mit  den  Gesetzen  des  Denkens  durchgesetzt  ist.  Dies 
sprach  er  in  der  klassisch  gewordenen  Form  aus,  daß  er  dem  von 
Locke  angenommenen  Satze  »Nihil  est  in  intellectu,  quod  non  fuerit 
in  sensu«  das  eine  Wort  hinzufügte:  »nisi  intellectus  ipse«. 
\  *|  Die  Folgerungen,  welche  Leibniz  von  diesen  psychologischer 
Grundlagen  aus  in  der  Ethik  zog,  waren  verhältnismäßig  einfact 
und  fügten  sich  dem  aligemeinen  Gedankengange  des  Rationalismus 
ohne  besondere  Originalität  ein.  Da  er  das  gesamte  Triebleben 
nur  als  die  Tendenz,  von  einer  Vorstellung  zur  andern  fortzu- 
schreiten,  ansah,   so   erschien  ihm  nicht  nur  jede   Triebtätigkeil 


Moral.  495 

durch  den  augenblicklichen  Vorstellungszustand  bedingt,  sondern  es 
mußte  sich  auch,  wie  das  schon  bei  Descartes  und  Spinoza  der 
Fall  gewesen  war,  der  Wert  der  Triebe  nach  dem  Werte  der  sie 
als  Motive  bedingenden  Vorstellungen  richten.  So  wurde  auch  bei 
Leibniz  der  theoretische  Unterschied  der  falschen  und  der  wahren 
Vorstellung  zum  entscheidenden  Kriterium  des  sittlich  Unrichtigen 
und  Richtigen.  Analog  dem  Entwicklungsprozesse,  welchen  die 
Vorstellungen  in  der  Apperzeption  durchmachen,  unterschied  er 
drei  Formen  des  Trieblebens:  den  dunklen  unbewußten  Trieb,  der  /) 
aus  dunklen,  unbewußten  Vorstellungen  hervorgeht,  die  sinnliche 
Begierde,  die  in  den  verworrenen  Vorstellungen  der  sinnlichen 
Erfahrung  ihren  Ursprung  hat,  und  den  bewußten,  sittlichen  Willen, 
dessen  Motive  in  klaren  und  deutlichen  Begriffen  bestehen.  Daß 
in  seinem  System  alle  Erscheinungen  des  Trieblebens  auf  dem 
Mechanismus  des  Vorstellungsprozesses  beruhen  und  deshalb  durch- 
aus deterministisch  aufgefaßt  werden,  ist  selbstverständlich;  der 
Begriff  der  ^Freiheit  in  dem  Sinne  einer  motivlosen  Entscheidung 
gilt  auch  bei  Leibniz  als  ein  Unding,  und  er  wendet  das  Wort  nur 
in  einer  Bedeutung  an,  welche  der  spinozistischen  analog  ist.  Da 
die  Monade  sich  so  weit  leidend  verhält,  als  sie  dunkle  und  ver- 
worrene Zustände  entwickelt,  so  befindet  sie  sich  bei  der  Herr- 
schaft der  dunklen  und  der  verworrenen  Triebe  im  Zustande  des 
Zwanges :  da  sie  so  weit  tätig  ist,  als  sie  klare  und  deutliche  Zu- 
stände entwickelt,  so  befindet  sie  sich  unter  der  Herrschaft  des 
sittlichen  Willens  im  Zustande  der  Selbstbestimmung,  und  diesen 
nennt  "Leibniz  Freiheit.  ^j?rei  seil!  heißt v  der  Vernunft  ge- 
horchend Auch  der  besondere  Inhalt  des  sittlichen  Willens  ent- 
wickelt sich  aus  der  klaren  und  deutlichen  Erkenntnis.  Diese  be- 
steht darin,  daß  die  Monade  die  adäquaten  Vorstellungen  der  übrigen 
.  Monaden  zum  klaren  und  deutlichen  Bewußtsein  bekommt  und  nach 
•  dem  Prinzip  der  prästabilierten  Harmonie  den  universellen  Zu- 
sammenhang begreift,  worin  sie  sich  mit  ihnen  befindet.  Aus 
dieser  Erkenntnis  ergibt  sich  in  dem  Maße,  als  sie  klar  und  deutlich 
ist,  dem  Egoismus  der  sinnlichen  Begierden  gegenüber  ein  Trieb, 
der  das  Wohl  der  übrigen  Wesen  als  das  eigene  empfindet,  ihre 
Förderung  als  Freude,  ihre  Beeinträchtigung  als  Schmerz  fühlt, 
d.  h.  die  Liebe.  Hieraus  folgen  die  Grundzüge  der  sittlichen  Lebens- 
anschauung von  Leibniz.    Jeder  Trieb  geht  auf  Vervollkommnung, 


496  Leibniz. 

die  wahre  Vervollkommnung  des  Menschen  aber  beruht  in  der 
klaren  und  deutlichen  Ausbildung  seiner  Vorstellungen.  Das  Ziel 
des  sittlichen  Strebens  ist  deshalb  die  Aufklärung  des  Geistes;  je 
aufgeklärter  ein  Geist  ist,  mit  desto  größerer  Liebe  macht  er  das 
Wohl  der  übrigen  Geister  zu  seinem  eigenen.  Deshalb  trägt  die 
Tugend  auch  die  Gewähr  der  Glückseligkeit  in  sich:  zunächst  für 
den  einzelnen  selbst,  indem  er  dadurch  seiner  wahren  Vollkommen- 
heit zustrebt,  sodann  für  die  anderen,  indem  die  Frucht  der  Er- 
kenntnis die  Liebe  ist.  Damit  sprach  Leibniz  das  philanthropische 
Moralitätsideal  des  Aufklärungszeitalters  aus,  und  die  Popularphilo- 
sophie  des  XVIII.  Jahrhunderts  hat  sich  in  Deutschland  wesent- 
lich um  diesen  Gedanken  bewegt.  "Weisheit  und  Tugend  sind  hier 
eins :  die  geistige  Aufklärung  ist  identisch  mit  der  sittlichen,  und  in 
diesen  Überzeugungen  bereitete  sich  das  Ideal  der  Humanität  vor, 
das  wie  ein  zauberischer  Duft  über  der  Entwicklung  der  deutschen 
Dichtung  liegt.  Den  Deutschen  war  es  vorbehalten,  das  Prinzip 
der  Aufklärung  auf  seine  sittliche  Höhe  zu  bringen.  Die  Engländer 
hatten  es  wesentlich  unter  dem  Gesichtspunkte  der  intellektuellen 
Kultur  aufgefaßt  und  deren  propaga torische  Tendenz  abgelehnt; 
die  Franzosen  vertraten  zwar  die  letztere,  aber  mehr  im  Sinne 
eines  politischen  und  sozialen  Agitationsmittels;  die  deutsche 
Aufklärung  war  unter  dem  Einflüsse  von  Leibniz  von  der  Über- 
zeugung beseelt,  daß  die  geistige  Kultur  die  höchste  und  wesent- 
lichste sittliche  Aufgabe  sei,  an  welcher  der  einzelne  für  sich  und 
für  die  Gesamtheit  gleichmäßig  zu  arbeiten  habe.  »Kläre  dich  auf 
und  sorge  für  die  Aufklärung  deiner  Mitmenschen,  dann  werdet 
ihr  alle  glücklich  sein«,  das  ist  die  Weisheit,  zu  der  sich  das  ganze 
XVIII.  Jahrhundert  in  Deutschland  bekannte.  Hieristder  ethische 
Rationalismus  populär  geworden  und  die  Abhängigkeit  der 
Moralität  von  der  Einsicht  zum  Losungsworte  der  geistigen  Be- 
wegung gestempelt.  Darin  beruhte  der  sympathische  Zug,  womit 
sich  die  Deutschen  des  XVIII.  Jahrhunderts  zu  der  Persönlichkeit 
des  Sokrates  hingezogen  fühlten.  Kein  Name  vielleicht  findet  sich 
in  dieser  Literatur  öfter  als  der  seine,  und  zu  keiner  Zeit  hat  seine 
Gestalt  mehr  Bewunderer  gefunden  als  in  dieser.  Jene  Verknüpfung 
der  Sittlichkeit  mit  der  klaren  Durchbildung  des  Geistes,  die  er 
gelehrt  hatte,  machten  ihn  auch  der  deutschen  Aufklärung  zum 
Ideale  der  Weisheit. 


Rechts-  und  Religionsphilosophie.  497 

In  der  Rechtsphilosophie  vertritt  Leibniz,  wenn  auch  nur 
mit  gelegentlichen  Bemerkungen  und  ohne  jede  systematische 
Durchführung,  den  Gedanken  ihres  unmittelbaren  Anschlusses  an  die 
Ethik,  und  er  bekämpft  in  dieser  Hinsicht  namentlich  die  Theorie 
von  Pufendorf.  Zwar  erkennt  er  mit  Grotius  den  Unterschied  des 
natürlichen  und  des  positiven  Rechts  an,  aber  er  behauptet,  daß 
die  Grundlage  des  erster en  nur  in  der  Sittlichkeit  gesucht  werden 
dürfe.  Das  Recht  gelte  durchaus  nicht  nur  für  die  äußeren  Be- 
ziehungen der  Menschen,  sondern  es  beruhe  in  der  sittlichen  Liebe, 
welche  das  Bedürfnis  fühlt,  das  Glückseligkeitsbestreben  anderer 
Personen  in  der  gleichen  Weise  wie  das  eigene  anzuerkennen. 
Diese  Liebe  entwickelt  sich  negativ  als  die  Scheu  vor  der  Ver- 
letzung des  fremden  Gutes,  positiv  teils  im  allgemeinen  als  die 
Beförderung  der  Glückseligkeit  der  Gesellschaft,  teils  im  besonderen 
als  die  vernünftige  Verteilung  der  Güter  der  Welt  nach  dem  Maße 
der  Vollkommenheit  und  des  Verdienstes  der  einzelnen  Personen. 
Diese  drei  Formen  des  Rechts  bezeichnete  Leibniz  mit  Anlehnung 
an  aristotelische  Lehren  als  die  gegenseitige  Gerechtigkeit  (justitia 
commutativa),  die  wohlwollende  Billigkeit  (aequitas)  und  die  aus- 
teilende Gerechtigkeit  (justitia  distributiva).  Über  allen  dreien 
aber  steht  ihm  die  fromme  Rechtschaffenheit  (pietas),  die  aus 
der  Erkenntnis  der  göttlichen  Weltordnung  das  ganze  Leben  nach 
der  bewußten  Harmonie  aller  Verhältnisse  zu  gestalten  sich  be- 
müht. In  dieser  Lehre  sind  die  aristotelischen  Begriffe  mit  christ- 
lichen Idealen  in  ähnliche  Verbindung  gebracht,  wie  in  der  tho- 
mistischen  Philosophie. 

Damit  aber  drängt  auch  die  Rechtsphilosophie,  wie  alle  Teile 
;  der  Leibnizschen  Weltanschauung,  auf  jene  letzte  Zusammenfassung 
hin,  welche  die  Vereinigung  des  Universums  in  dem  göttlichen  Geiste 
■zu    erkennen    anstrebt.      Die    Religionsphilosophie    war    das 
:  Lieblingsgebiet  seines  Nachdenkens  und  seiner  schriftstellerischen 
'  Tätigkeit.     Hier  konzentrierten  sich  ihm  alle  Probleme,  hier  ver- 
langte das  System  der  prästabilierten  Harmonie  seine  höchste  Voll- 
endung.   In  erster  Linie  ergibt  sich  daraus,  daß  Leibniz  eine  Reli- 
gionsphilosophie überhaupt  für  möglich  hielt,  d.  h.  daß  er  eine 
Vernunfterkenntnis   der   Gottheit   für   die   höchste   Aufgabe   aller 
Wissenschaft  erklärte.     Auch  hier  aber  bewegte  er  sich  in  ähnlich 
vermittelnder  Richtung  wie  Locke:  alle  Versuche,  Vernunft  und 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  32 


,) 


9 


»1 


498  Leibniz. 

Glauben,  Philosophie  und  Theologie  auseinanderzureißen,  fanden 
an  ihm  einen  lebhaften  Bekämpfer,  und  Bayles  einschneidende 
Kritik  veranlaßte  ihn  zu  seinen  bedeutendsten  und  umfangreichsten 
Erörterungen  dieses  Gegenstandes.  Die  versöhnende  Stellung,  die 
er  auch  auf  diesem  Gebiete  einnimmt,  ließ  sich  ebenfalls  auf  die 
Unterscheidung  der  geometrischen  und  der  tatsächlichen  Wahr- 
heiten gründen.  Die  Vernunftreligion  gilt  in  diesem  Falle  als  eine 
aus  den  höchsten  Grundsätzen  beweisbare  Erkenntnis  des  reinen 
Denkens,  und  als  ihren  Inhalt  bezeichnet  Leibniz  neben  der  Lehre 
von  der  Unsterblichkeit  der  Seele  hauptsächlich  die  Erkenntnis  der 
Gottheit.  Er  sucht  in  ausführlicher  Weise  die  verschiedenen  Be- 
weise für  das  Dasein  Gottes  als  vollkommen  zwingend  darzustellen. 
Er  wendet  den  ontplpgischen  Beweis  an,  indem  er  zeigt,  daß  der 
Begriff  der  Gottheit  zu  jenen  ersten  Wahrheiten  gehöre,  deren 
Ungültigkeit  nicht  gedacht  werden  kann,  zu  jenen  Wahrheiten, 
deren  Möglichkeit  ihrem  inneren  Wesen  nach  ihre  Notwendigkeit 
involviert.  Er  gibt  dem  kosmologischen  Beweise  von  seinen  Prinzi- 
pien aus  die  Form,  daß  die  ganze  Welt  in  allen  ihren  endlichen 
Erscheinungen,  deren  zeitlicher  Ablauf  unter  dem  Kausalgesetze 
steht,  eine  höchste  und  letzte  Ursache  voraussetze,  und  daß  der 
Inbegriff  der  Dinge,  der,  nur  in  zufälligen  Wahrheiten  bestehend, 
auch  anders  gedacht  werden  könne  und  somit  nur  zufällig  existiere, 
seine  Wurzel  in  einem  absolut  notwendigen  Wesen  habe,  das  dann 
auch  unbedingt  notwendig  erkannt  werden  könne.  Er  bringt 
endlich  den  physikotheologischen  Beweis  mit  der  Lehre  von  der 
prästabilierten  Harmonie  in  Verbindung,  indem  er  zeigt,  daß  die 
zweckmäßige  Übereinstimmung  in  der  Entwicklung  der  Monaden 
nur  durch  eine  gemeinschaftliche  Ursache  zu  begreifen  sei,  welche 
mit  höchster  Weisheit  und  in  voller  Klarheit  und  Deutlichkeit 
jedem  Wesen  seine  Stelle  in  dem  großen  Zusammenhange  derartig 
angewiesen  habe,  daß  es  in  der  Notwendigkeit  seiner  inneren  Ent- 
wicklung stets  mit  den  übrigen  in  Übereinstimmung  bleibe ;  er  weist 
in  dieser  Hinsicht  mit  vollem  Recht  überall  darauf  hin,  daß  dei 
Atomismus  mit  seiner  Annahme  von  vornherein  selbständiger  unc 
voneinander  unabhängiger  Substanzen  niemals  den  Zusammenhanf 
des  Geschehens  zu  erklären  imstande  sei.  Der  influxus  physicus  se 
nur  eine  Worterklärung,  er  setze  durchaus  eine  höhere  Gemeinschaf 
voraus,  in  der  diese  gegenseitige  Einwirkung  der  Substanzen  über 


Natürliche  und  positive  Religion.  «199 

haupt  möglich  werde.  Selbst  jene  Lehre  komme  daher  nicht  ohne 
die  Annahme  eines  gemeinsamen  Ortes  aus,  der  die  Verbindung  der 
Substanzen  vermittele,  und  dieser  Raum  für  die  Substanzen  sei  eben 
die  Gottheit./  Gegenüber  dieser  notwendigen  Erkenntnis,  die  den 
Inhalt  der  Vernunftreligion  bildet,  stehen  nun  die  Dogmen  der 
positiven  Religion  als  tatsächliche  und  zufällige  Wahrheiten.  Sie 
können  nicht  aus  der  Vernunft  abgeleitet,  sondern  nur  als  Tatsachen 
konstatiert  werden,  und  diese  Tatsachen,  auf  welche  sie  sich  stützen, 
sind  die  Offenbarung  und  die  Wunder.  Erkenntnistheoretisch  be- 
trachtet Leibniz  sie  genau  so,  wie  alle  tatsächlichen  Wahrheiten. 
Sie  können  aus  der  Vernunft  nicht  abgeleitet  und  deshalb  von  ihr 
allein  nicht  gefunden  werden :  aber  sie  widerstreiten  ihr  ebensowenig 
wie  die  übrigen  tatsächlichen  Wahrheiten.  Sie  beruhen  auf  Er- 
fahrung, und  zwar  in  diesem  Falle  auf  historischer  Erfahrung.  Jede 
positive  Religion  gründet  sich  (wie  es  Lessing  später  ausgedrückt 
hat)  auf  Geschichte  und  ist  so  glaubwürdig  wie  diese.  Aber  diese 
tatsächlichen  Wahrheiten  sind  darum  nicht  widervernünftiff,  sondern 
vielmehr  üj^ervernünftig.  Namentlich  soll  dies  von  den  Wundern 
gelten.  Wenn  diese  den  Naturgesetzen  widersprechen,  so  sind  ja 
nach  Leibniz  diese  Naturgesetze  selbst  nur  zufällige  Wahrheiten, 
die  auch  anders  gedacht  werden  könnten;  und  wenn  es  der  Gott- 
heit zweckmäßig  erschienen  ist,  einmal  eine  andere  Tatsache  ein- 
treten zu  lassen  als  die  jenen  zufälligen  Wahrheiten  entsprechende, 
30  kann  eine  solche  exzeptionelle  Tatsache  in  der  göttlichen  Ver- 
nunft wohl  begründet  sein,  wenn  sie  auch  der  menschlichen  nicht 
.begreiflich  ist. 

Aber  wenn  so  die  natürliche  und  die  positive  Religion  auf  den 
Gegensatz  der  notwendigen  und  der  zufälligen  Wahrheiten  zurück- 
geführt werden,  so  fallen  sie  auch  unter  die  Wertschätzung,  die 
für  diese  Prinzipien  maßgebend  ist.  Deshalb  mußte  für  Leibniz 
als  der  eigentliche  Kern  aller  Religiosität  die  Vernunftreligion,  ihr 
gegenüber  aber  die  positiven  Dogmen  als  ein  minder  wertvolles  und 
zufälliges  Beiwerk  erscheinen;  deshalb  vermochte  er  in  seinen 
Unionsbestrebungen  die  Rolle  des  Vermittlers  zwischen  den  ver- 
^chiedenen ^Konfessionen^zu  übernehmen,  indem  er  ihnen  zeigte, 


laß  die  sogenannten  Unterscheidungslehren  ein  unwesentliches  Bei- 
verk  bildeten,  wenn  man  nur  in  der  Hauptsache  einig  sei.  Das- 
selbe aber,  wie  vom  Glauben,  galt  natürlich  für  das  religiöse  Leben» 

32* 


500  Leibniz. 

Die  äußeren  Zeremonien  des  Kultus  waren  ihm  etwas  Entbehr- 
liches und  Zufälliges:  das  Wesentliche  besteht  darin,  daß,  wie  die 
klare  und  deutliche  Erkenntnis  der  Monaden  die  Liebe  mit  sich 
führt,  so  erst  recht  die  Erkenntnis  der  vollkommensten  Monade 
mit  der  Gottesliebe  eins  ist.  Diese  Gottesliebe  aber  umfaßt,  weil 
in  der  Erkenntnis  Gottes  diejenige  des  Universums  beschlossen 
ist,  die  ganze  Welt.  Genau  so  hatte,  »nur  mit  ein  bißchen  anderen 
Worten«,  auch  Spinoza  gesprochen.  Für  Leibniz  laufen  in  diesem 
Gedanken  ebenfalls  alle  Linien  seines  Systems  zusammen.  Die 
wahre  Beligiosität  ist  zugleich  höchste  Aufklärung  und  höchste 
Tugend.  In  diesem  Geiste  hat  er  selbst  gelebt,  er  hat  sogar  die 
Gedanken  solcher  überkonfessionellen  Frömmigkeit  in  Wendungen 
ausgesprochen,  die  teils  an  die  Mystik,  teils  an  den  damaligen 
Pietismus,  mit  dessen  Begründer  Spener  er  früh  bekannt  ge- 
worden war,  heranstreiften.  Aber  sein  Verhältnis  zu  den  positiven 
Dogmen,  speziell  des  Christentums,  ist  nicht  immer  dasselbe  ge- 
wesen, sondern  sein  Wunsch,  die  Eeligion  mit  der  Philosophie 
zu  versöhnen,  führte  ihn  zu  wiederholten  Malen  auf  Versuche, 
dieselben  Dogmen,  die  er  sonst  nur  als  tatsächliche  Wahrheiten 
der  Offenbarung  anerkannte,  als  logisch  notwendig  zu  begreifen 
oder  wenigstens  darzustellen. 

Die  Vereinbarkeit  der  religiösen  Wahrheit  mit  der 
Vernunft  ist  der  Grundgedanke  von  Leibniz'  Eeligionsphilosophie. 
Allein  in  dem  religiösen  Bewußtsein  selbst  entspringt  die  tiefste 
Schwierigkeit  für  die  Lösung  dieses  Problems,  und  sie  tritt  gerade 
in  dem  Systeme  von  Leibniz  besonders  stark  hervor.  Ihrer  theo- 
retischen Überzeugung  nach  gipfelt  die  Eeligion  in  dem  Glauben 
an  die  Gottheit;  ihrem  Gefühle  nach  konzentriert  sie  sich  in  dem 
Bedürfnis  nach ;.  Erlösung!  Sie  setzt  demnach  als  Gefühl  das 
Bewußtsein  des  ganzen  physischen  und  moralischen  Elendes  vor- 
aus, das  in  der  Welt  herrscht,  und  erhebt  sich  als  Glaube  zu  der 
Vorstellung  eines  unendlich  weisen  und  gütigen  Gottes,  dessen  All- 
macht die  Welt  geschaffen  habe.  Gerade  bei  Leibniz  treten  diese 
Eigenschaften  der  Gottheit  ganz  besonders  hervor.  Die  vollkommene 
Monade,  die  nur  klare  und  deutliche  Vorstellungen  hat,  muß  die 
vollendete  Weisheit  sein  und  damit,  dem  allgemeinen  Prinzip  dei 
Leibnizschen  Lehre  gemäß,  auch  die  vollendete  Güte;  und  dp 
aus  ihr  alle  übrigen  Monaden  stammen,  da  der  Entwicklungsprozel 


Theodicee.  501 

der  endlichen  Substanzen  nichts  anderes  ist,  als  die  notwendige 
Erfüllung  der  Mission,  die  einer  jeden  die  Gottheit  in  dem  Zu- 
sammenhange des  Ganzen  von  Anfang  an  zugewiesen  hat,  so  ist 
die  absolute  Zentralmonade  auch  das  allmächtige  Wesen.    Wie  ist 
mit  diesem  Begriffe  von  Gott  die  Fülle  der  Gebrechen   zu   ver- 
einen, die  seine  AVeit  in  sich  trägt?    Das  religiöse  Gefühl  mit  seinem 
Erlösimgsbedürfnis  erhebt  sich  gegen  den  Glauben  an  einen  Gott, 
mit  dessen  Begriffe  eine  Welt,  die.  der  Erlösung  bedürftig  wäre, 
nicht   vereinbar   erscheint.      Diesen   Widerspruch   hatte   niemand 
klarer  und  schärfer  ausgesprochen  als   Bayle,   und  gegen  diesen 
richtete  daher  Leibniz  das  Werk,  worin  er  jenes  Problem  zu  lösen 
suchte,  die   »Theodicee «.     Er  sucht  hier  zunächst  die  Schwierig- 
keit des  Problems  dadurch  abzuschwächen,  daß  er  (mit  einer  An- 
lehnung an  die  Lehre  Spinozas  von  der  Negativität  und  in  dem 
Sinne,  wie  es  schon  im  Altertum  von  Plotin  geschehen  war)  die 
metaphysische  Realität  des  Übels  und  der  Sünde  leugnet.    Wie  nun 
Spinoza  gemeint  hatte,  der  Irrtum  bestehe  nur  in  dem  Mangel  der 
Wahrheit,  so  sucht  Leibniz  auszuführen,  daß  einerseits  alle^Leiden 
der  einzelnen  Monaden  nur  in  dem  Mangel  jener  Aktivität  bestehen, 
.die   sich   durch   klare   und   deutliche   Vorstellungen   zu   erkennen 
gibt,  und  daß  anderseits  alle*  Sünde'  gleichfalls  nur  der  Begierde- 
zustand falscher,  verworrener  und  unklarer  Vorstellungen  ist.    Das 
physische  wie  das  moralische  Übel  wurzelt  gleichmäßig  in  dem- 
jenigen, was  Leibniz  das  metaphysische  Übel  nennt,  darin  nämlich, 
daß  die  endlichen  Monaden  verworrene  und  unklare  Vorstellungen 
.und  die  daraus  sich  ergebenden  Zustände  haben  müssen.     Dabei 
setzt  Leibniz  überall  voraus,  daß  das  physische  Übel  die  notwendige 
Folge  des  sittlichen  sei.     Denn  die  Natur  ist  ja  nichts  als  die  Er- 
scheinungsform   des    Zusammenhanges    der    Monaden;    die    not- 
wendigen Wirkungen,   die  in  ihr  erfolgen,   müssen  sich  mit  den 
■  notwendigen    Wirkungen    in    Übereinstimmung    befinden,    die    im 
Reiche  der  Sittlichkeit  vonstatten  gehen,  oder  wie  Leibniz  es  aus- 
drückt:   »das  Reich   der  Natur   ist   dasselbe   wie   das  Reich   der 
Gnade«.    Der  Sünde  entspricht  das  physische  Übel,  und  wenn  die 
Entwicklung    des    sittlichen    Lebens    darauf    hinausgeht,    schließ- 
lich im  Weltgerichte  die  Erlösung  zu  vollenden,  so  muß  in  dem- 
selben Moment  die  Natur  den  Abschluß  ihrer  notwendigen  Ver- 
wandlungen  in    ihrer   Verklärung   gefunden   haben.     Beide   aber, 


502  Leibniz. 

das  moralische  und  das  physische  Übel,  sind  die  Folgen  der  meta-  | 
physischen  Unvollkommenheit.     Allein  diese  ist  nichts  Positives,  j 
sondern  vielmehr  nur  der  gradweise  verschiedene  Mangel  an  Voll-  I 
kommenheit.     Was   wirklich   positiv   existiert,   ist   nur   die   Voll-  f 
kommenheit;   diese  jedoch  wäre  nicht  sie  selbst,  wenn  nicht  ihr 
Mangel  und  ihr  Gegenteil,  d.  h.  die  Unvollkommenheit,  möglich 
wäre.     Auf  der  Möglichkeit  des  Unvollkommenen  beruht  daher 
überall  diejenige  des  Vollkommenen:  die  Lust  wäre  nicht  da  ohne 
den  Schmerz  und  die  Heiligkeit  nicht  ohne  die  Sünde.     Die  Un-  f 
Vollkommenheit  ist  die  notwendige  Voraussetzung  der  Vollkommen- 
heit.    Darin  besteht  der  Leibnizsche  Optimismus.     Im  Grunde 
genommen   leugnet  er  die  empirische  Existenz  des   Übels  nicht, 
er  behauptet  nur  dessen  metaphysische  Negativität,  und  er  nimmt 
selbst  diese  Behauptung  gewissermaßen  dadurch  zurück,  daß  er 
das  Negative  für  die  unentbehrliche  Voraussetzung  des  Positiven 
erklärt.     Es  liegt  darin  eine  Verwechslung  der  Begriffe  vor,  ver- 
möge deren  logische  Positivität  oder  Negativität  mit  metaphysischer 
Realität  vertauscht  werden,  eine  Verwechslung,  welche  erst  Kant 
aufgedeckt  hat.    In  der  Durchführung  zeigt  sich  dieser  Optimismus 
durchweg  von  dem  Universalismus  abhängig.     Betrachtet  man 
die  einzelne  Monade,  so  weist  sie  immer  den  Charakter  der  Unvoll- 
kommenheit auf:  erst  in  dem  Ganzen  verschwinden  die  Un  Voll- 
kommenheiten des  einzelnen  vor  der  Harmonie  und  vor  derjenigen 
Vollkommenheit,  welche  in  der  alle  verknüpfenden  Zentralmonade, 
in  der  Gottheit,  mit  absoluter  Realität  vorhanden  ist.    Wie  schon 
Bruno,  so  zeigt  Leibniz  aufs  neue,  daß  der  Optimismus  nur  in 
der  Betrachtung  des  Universums,  niemals  in  derjenigen  des  In 
dividuums  möglich  ist.     Das  ganze  Weltall  als  das  Abbild  der 
göttlichen  Vollkommenheit  muß  selbst  vollkommen  sein.    Die  end 
liehe  Monade  ist  zwar  auch  ein  Spiegel  der  Welt,  aber  nur  ein  un- 
vollkommener, und  daraus  ergibt  sich  ihre  moralische  Schwäche 
und  ihr  physisches  Leiden.    Diese  ganze  Betrachtung  ist  nur  auf  dem 
Boden  des  Leibnizschen  Rationalismus  möglich,  und  sie  zieht  die 
letzten  Konsequenzen  seiner  Metaphysik.,    Wenn  er  als  die  Tätig- 
keit der  Substanzen  nur  die  Vorstellungen  betrachtete,  so  sieht  ei 
hier  unter  diesen  nur  diejenigen  für  wahrhaft  wirklich  an,  welche 
klar  und  deutlich  geworden  sind.     Das  cartesianische  Erkenntnis- 
prinzip ist  zum  Realprinzip  geworden:  die  Klarheit  und  Deutlich- 


i 


Optimismus.  503 

keit  der  Vorstellungen  ist  zugleich  die  metaphysische  Wirklichkeit 
und  Vollkommenheit. 

Diese  Hypostasierung  des  Denkens,  die  überall  das  letzte  Wort 
der  Leibnizschen  Lehre  bildet,  erreicht  nun  ihre  schärfste  Aus- 
prägung in  derjenigen  Theorie,  mit  welcher  diese  optimistischen 
Betrachtungen  sich  abschließen.  Denn  zum  Schluß  entsteht  noch 
die  Frage,  weshalb  die  allweise,  allgütige  und  allmächtige  Gottheit 
eine  Welt  von  Monaden  schuf,  aus  deren  Unvollkommenheit  not- 
wendig ihre  Sündhaftigkeit  und  ihr  Leiden  hervorgehen  mußte. 
Stand  die  weltschöpferische  Tätigkeit  unter  der  Willkür  eines  all- 
gütigen Gottes,  warum  schuf  er  nicht  eine  Welt  der  reinen  Voll- 
kommenheit, die  alle  Sünde  und  alles  Leiden  ausgeschlossen  hätte? 
In  der  Antwort,  die  Leibniz  auf  diese  Frage  gibt,  ziehen  sich  alle 
Fäden  seines  Denkens  zusammen,  und  hier  wächst  seine  Erkenntnis- 
theorie unmittelbar  in  seine  Metaphysik  hinein.  Allerdings,  sagt 
er,  die  Sünde  und  das  Übel  in  der  Welt  sind  zufällige  Wahrheiten: 
es  ist  eine  andere  Welt  denkbar,  es  sind  die  mannigfachsten  Kom- 
binationen für  die  Entwicklung  des  unendlichen  Verstandes  der 
Gottheit  gegeben,  und  der  möglichen  Welten  sind  offenbar  unend- 
lich viele.  Daß  Gott  unter  diesen  möglichen  gerade  die  bestehende 
gewählt  hat,  um  sie  zur  Wirklichkeit  zu  bringen,  ist  bei  seiner  All- 
weisheit, Allgüte  und  Allmacht  nur  unter  der  Voraussetzung  zu 
begreifen,  daß  sie  unter  den  möglichen  Welten  die  beste  war. 
Wenn  sie  gleichwohl  den  Charakter  der  Unvollkommenheit  an  sich 
trägt,  so  muß  angenommen  werden,  daß  jede  von  den  übrigen  mög- 
lichen Welten  noch  unvollkommener  gewesen  wäre,  so  folgt  daraus, 
daß  ohne  Unvollkommenheit  überhaupt  keine  Welt  möglich  war. 
Und  in  der  Tat,  diese  Behauptung  hält  Leibniz  aufrecht,  indem  er 
sagt,  daß  die  Unvollkommenheit  ein  notwendiges  Moment  in  dem  Be- 
griffe der  Welt  bilde.  Keine  Welt  ist  denkbar  ohne  endliche  Wesen, 
aus  denen  sie  besteht;  endliche  Wesen  aber  sind  eben  deshalb  un- 
vollkommen, weil  sie  endlich  sind.  Wenn  somit  überhaupt  eine 
Welt  geschaffen  werden  sollte  —  und  sie  mußte  es,  um  die  Fülle 
der  göttlichen  Lebenstätigkeit  zum  Ausdruck  zu  bringen  — ,  so 
mußte  sie  aus  endlichen  und  unvollkommenen  Wesen  bestehen. 
Diese  Unvollkommenheit  der  endlichen  Wesen  ist  da^metaphysische 
Übel;  es  ist  eine  ewige,  notwendige,  unbedingte  Wahrheit,  deren 
Gegenteil  unmöglich  gedacht  werden  kann.     Das  moralische  und 


504  Leibniz. 

das  von  ihm  abhängige  physische  Übel  dagegen  sind  nur  tatsäch- 
liche Wahrheiten,  die  in  der  göttlichen  Wahl  wurzeln.  Diese  Wahl 
aber  war  bedingt  durch  die  Güte  Gottes,  der  unter  all  den  mög- 
lichen unvollkommenen  Weiten  die  am  wenigsten  unvollkommene 
zur  Wirklichkeit  brachte.  Die  Vollkommenheit  der  Welt  ist  daher 
nicht  absolut,  sondern  nur  relativ.  Sie  ist  nicht  die,, gute'  Welt, 
sondern  nur  die  beste  unter  den  möglichen,  die  Welt  der 
kleinsten  Übel.  Das  ist  die  Bedeutung  des  Terminus  »Optimismus«. 
Nach  dieser  Lehre  befand  sich  also  die  Gottheit  bei  der  Schöpfung 
der  Welt  nicht  in  willkürlicher  Freiheit,  sondern  war  durch  die 
Möglichkeit  gebunden,  die  in  ihrer  unendlichen  Weisheit  gegeben 
war.  Gott  hätte  gern  die^ute*  Welt  geschaffen,  aber  seine  Weis- 
heit erlaubte  ihm,  weil  es  ein  ewiges  Gesetz  ist,  daß  jede  Welt 
aus  endlichen  und  unvollkommenen  Dingen  bestehen  muß,  nur 
die  bester'  Auch  der  göttliche  Wille  steht  unter  dem  Fatum  der 
von  ihm  unabhängigen  ewigen  Ideen,  und  der  unbedingten  Not- 
wendigkeit der  letzteren  haben  wir  es  zuzuschreiben,  daß  Gott 
bei  dem  besten  Willen  die  Welt  nicht  absolut  gut,  sondern  nur 
eben  so  gut  als  möglich  schaffen  konnte.  Das  logische  Gesetz  der 
Un Vollkommenheit  der  endlichen  Wesen  war  der  fatale  Zwang, 
weshalb  die  Welt  trotz  der  göttlichen  Güte  so  voller  Gebrechen 
ausfiel.  Der  tiefste  Kern  dieser  Metaphysik  ist  der,  daß  den  Hinter- 
grund der  bestehenden  Wirklichkeit  das  unendliche  Keich  der 
logischen  Möglichkeiten  bildet,  von  denen  die  beste  von  der  gütigen 
Gottheit  in  Wirklichkeit  umgesetzt  wurde.  Faßt  man  das  Schluß- 
ergebnis der  Leibnizschen  Lehre  in  dieser  Form,  so  würde  man  ihre 
innere  Verwandtschaft  mit  den  großen  Systemen  der  antiken  Philo- 
sophie nicht  verkennen  können,  auch  wenn  Leibniz  nicht  selbst  aus- 
drücklich darauf  hingedeutet  hätte.  Er  sagt  einmal:  »Piaton  a  dit 
dans  le  Timee,  que  le  monde  avait  son  origine  de  l'entendement  Joint 

ä  la  necessite,  d'autres  ont  Joint  dieu  et  la  nature :  c'est 

la  region  des  verites  eternelles,  qu'il  faut  mettre  ä  la 
place  de  la  matiere.«  Die  antike  Philosophie  ist  niemals  über 
den  Begriff  eines  weltbildenden  Gottes  hinausgekommen,  dessen 
schöpferische  Tätigkeit  an  eine  Materie  gebunden  war,  die  er  vor- 
fand, so  ewig,  so  notwendig  existierend,  wie  er  selbst :  und  das  Chaos 
der  Kosmogonien,  das_^  ov  des  Piaton,  die  vlrj  des  Aristoteles, 
das  ßddog  des  Neuplatonismus  —  sie  sind  in  der  rationalistischen 


C"     --"—      s  v 


«*  H    ****  Wirkung  von  Leibniz,  505 

Philosophie  zu  der  »region  des  verites  eternelles«  als  der  binden-'*  *~~ 
den  Möglichkeit  der  Weltschöpfung  geworden.     Über  dem  gött-"/ ^v^ 
liehen  Willen  schwebt  die  göttliche  Weisheit;   sie  gibt  ihm  die  ^      •»  * 
Möglichkeiten  zur  Wahl,  und  er  entnimmt  aus  ihnen  die  beste.    ?/*-***/' 
Die  logische  Wahrheit  war  die  Richtschnur  von  Leibniz'  Erkenntnis-  9*/f 
theorie;  die  logische  Wahrheit  ist  auch  das  Fatum  seiner  besten' 
unter    den    möglichen    Welten.      Seine    Lehre    ist    intelligibler4^*"£# 
Fatalismus.  ^V^aC, 

Der  Grund,  weshalb  die  wirkliche  Welt  so  unvollkommen  aus- 
fiel,  lag  in  der  logischen  Möglichkeit  —  das  ist  das  letzte  Wort  der  ye$~$ 
Leibnizschen  Philosophie:  die  Möglichkeit  ist  ihr  Schibboleth.  Sie  -K^yn* 
hat  die^Denkgesetze  zu  Weltgesetzen  gemacht.  Wenn  das  begriffen 
wird,  so  ist  das  Geheimnis  des  Rationalismus  enthüllt,  und  die 
Sphinx  stürzt  in  den  Abgrund.  Der,  welcher  dies  Wort  fand, 
war  Kant. 

§  49.   Tschirnhaus  und  Thomasius. 

Die  Beherrschung  der  deutschen  Aufklärungsphilosophie,  die 
von  Leibniz  ausging,  entwickelte  sich  nach  zwei  verschiedenen 
Richtungen.  Auf  der  einen  Seite  teilte  sich  seine  Weltauffassung 
in  ihrer  versöhnenden  Tendenz  und  mit  ihrer  harmonisierenden  Be- 
trachtungsweise der  allgemeinen  Bildung  der  Zeit  mit,  erweckte  und 
erfüllte  das  Aufklärungsbedürfnis  und  wanderte  durch  populär - 
philosophische  Darstellungen  in  die  allgemeine  Literatur  hin- 
über. Auf  der  andern  Seite  ergriff  die  Schulphilosophie  der 
deutschen   Universitäten   mit   zähem   Eifer   die   methodologischen 


Bestrebungen  des  Meisters.  Der  letztere  Vorgang  aber  vollzog 
sich  unter  eigentümlichen  Einschränkungen.  Die  tiefsten  Ge- 
danken der  Leibnizschen  Erkenntnistheorie,  in  den  »Nouveaux 
essais«  niedergelegt,  blieben  unbekannt;  es  waren  zugleich  die- 
jenigen, welche  den  inneren  Zusammenhang  dieser  Erkenntnistheorie 
mit  dem  monadologischen  System  in  sich  tragen.  Da  jedoch  das, 
was  Leibniz  sonst  über  Methode  geschrieben  hatte,  mit  diesem 
Systeme  nur  lose  zusammenhing,  so  ist  es  begreiflich,  daß  die 
Schulphilosophie  diese  Methodologie  weiter  entwickelte,  ohne  an  dem 
metaphysischen  Systeme  von  Leibniz  durchaus  festzuhalten,  und 
daß  sie  dabei  den  größten  der  Leibnizschen  Gedanken,  denjenigen 
der  prästabilierten  Harmonie,  wieder  fallen  ließ.     Es  geschah  dies 


506  Tschirnhaus. 

um  so  mehr,  als  diese  Schüler,  denen  das  Genie  des  Meisters  fehlte, 
sich  an  die  äußeren  Formen  halten  mußten,  deren  innere  Ver- 
bindung mit  seinem  Geiste  vor  der  Veröffentlichung  der  »Nou- 
veaux  essais«  keiner  zu  rekonstruieren  vermochte.  Der  allgemeine 
Charakter  dieser  Schulbestrebungen  hängt  daher  von  dem  Gegen- 
satze ab,  den  das  Leibnizsche  Denken  überall  durchzuführen  gesucht 
hatte,  von  dem  Versuche  nämlich,  den  Rationalismus  mit  dem 
Empirismus  zu  vereinigen.  Infolgedessen  variieren  alle  Denker  der 
deutschen  Schule  des  XVIII.  Jahrhunderts  nur  das  Leibnizsche 
Thema  von  dem  Verhältnis  der  Vernunfterkenntnis  und  der  Er- 
fahrungserkenntnis:  je  nachdem  sich  diese  beiden  Prinzipien  gegen- 
einander verschoben,  nahm  die  deutsche  Aufklärungsphilosophie 
die  verschiedensten  Gestalten  an.  Im  allgemeinen  läßt  sich  in 
dieser  Entwicklung  der  Prozeß  verfolgen,  wie  die  von  Leibniz 
zuerst  nur  als  zufällige  Wahrheit  anerkannte  Erfahrungserkenntnis 
mehr  und  mehr  sich  ausbreitete,  festen  Fuß  faßte  und  so  den 
rationalistischen  Charakter  der  Philosophie  als  reiner  Vernunft- 
wissenschaft allmählich  sprengte.  Unterstützt  wurde  dieser  Vor- 
gang durch  den  wachsenden  Einfluß  des  ausländischen  Denkens. 
Anfangs  gingen  die  Deutschen,  der  Bewegung  ihrer  politischen, 
geselligen  und  literarischen  Verhältnisse  gemäß,  bei  den  Franzosen 
in  die  Schule,  dann  aber  wendeten  sie  sich  mehr  den  englischen 
Originalen  zu.  Eine  lebhafte  Übersetzungstätigkeit  verbreitete  auf 
diese  Weise  die  empiristischen  Ansichten  so  weft,  daß  schließlich 
in  der  deutschen  Aufklärung  Locke  durchaus  über  Descartes  siegte. 
So  erhoben  sich  die  beiden  in  Leibniz  harmonisch  vereinigten 
Richtungen  des  Denkens  feindlich  gegeneinander.  Überhaupt  kann 
man  sagen,  daß  in  den  zahlreichen  Schülern  von  Leibniz  die  ver- 
schiedenen Elemente  seiner  reichen  und  allseitigen  Natur  aus- 
einanderfielen, und  daß  deshalb,  je  mehr  die  einzelnen  Richtungen 
seines  wissenschaftlichen  Denkens  zu  scharfer  Eigentümlichkeit 
ausgebildet  wurden,  um  so  mehr  der  verbindende  Geist  seines 
Systems  verloren  ging. 

Schon  zu  seinen  Lebzeiten  fanden  die  beiden  Endpunkte  der 
vielen  glänzenden  Eigenschaften,  die  in  ihm  vereinigt  waren,  zwei 
einander  scharf  gegenüberstehende  Vertreter.  Bei  Leibniz  gesellte 
sich  zu  dem  fortwährenden  Streben  nach  einer  streng  geschlossenen 
und  einheitlichen  Methode  der  Philosophie  eine  stets  lebendige  und 


Methodologie.  507 

liebenswürdige  Akkommodation  an  das  Denken  anderer.  Seine 
Lehre,  ihrer  Absicht  nach  strenger  Methodismus,  ist  in  ihrer  Er- 
scheinung eine  lockere  Philosophie  der  Gelegenheit,  und  während 
sie  eine  neue  Methode  sucht,  stellt  sie  sich  in  der  populärsten  Form 
in  Brief  und  Konversation  dar.  Diese  beiden  Seiten,  Methodik 
und  Popularität,  verteilen  sich  auf  seine  beiden  bedeutendsten 
philosophischen  Zeitgenossen  in  Deutschland:  Tschirnhaus  und 
Thomasius,  zwei  Männer,  die  in  jeder  Beziehung,  im  Charakter 
wie  in  der  Lehre,  einen  diametralen  Gegensatz  bilden.  Der  eine 
eine  vornehm  in  sich  zurückgezogene,  mit  sich  selbst  einheitliche 
Natur,  ein  Mann  von  wissenschaftlicher  Exklusivität,  ein  streng 
methodischer  Denker,  geschult  in  der  geometrischen  Methode  von 
Descartes  und  Spinoza,  —  der  andere  ein  allseitig  aufgelöster 
Charakter,  ein  unruhiger  Neuerer,  der  die  Wissenschaft  zum  Hebel 
gemeinnütziger  Interessen  macht,  ein  kritikloser  Eklektiker,  und 
dabei  ein  überaus  wirkungsvoller  Popularisator.  Beide  mit  eigen- 
tümlichen Vorzügen  ausgerüstet,  haben  sie,  ohne  wesentlich  neue 
Gedanken  aufzustellen,  doch  neben  Leibniz  stark  bestimmend  auf 
den  Gang  des  philosophischen  Denkens  der  Deutschen  eingewirkt 
und  sind  deshalb  in  der  Geschichte  der  Denkformen  wertvoller  als 
in  derjenigen  des  Denkinhaltes. 

Walter  Graf  von  Tschirnhaus  (1651 — 1708),  ein  reicher 
Privatgelehrter,  in  Holland  mit  Spinoza,  in  Paris  mit  Leibniz 
befreundet  geworden,  legte  seine  Methodologie  in  der  »Medicina 
mentis«  (Leipzig  1687,  in  zweiter  Auflage  1695)  nieder.  Den  Aus- 
gangspunkt nimmt  er  mit  Descartes  im  Selbstbewußtsein,  aber  es 
gilt  ihm  dies  nicht  als  eingeborene  Idee,  sondern  als  eine  Tatsache  der 
inneren  Erfahrung.  In  dieser  glaubt  er  drei  Grundformen  auf- 
zeichnen zu  können:  1)  einiges  berührt  uns  wohl,  anderes  übel; 
2)  einiges  begreifen  wir,  anderes  nicht;  3)  wir  haben  Eindrücke  von 
außen,  infolge  deren  wir  uns  bei  gewissen  Vorstellungen  leidend  ver- 
halten. Hieraus  ergeben  sich  außer  dem  ersten  Grundbegriffe 
»mens  sive  conscientia«  die  drei  anderen  »voluntas,  intellectus, 
imaginatio«,  und  für  die  letztere  außerdem  als  ihre  Bedingung  der 
Begriff  der  Körperlichkeit,  und  auf  diese  drei  Grundbegriffe  stützen 
sich  die  drei  Wissenschaften:  Moral,  Logik  und  Naturphilosophie. 
Mit  dieser  offenbar  auf  die  antike  Einteilung  der  Philosophie  hinaus- 
laufende   Gliederung    der    Disziplinen    glaubt    Tschirnhaus    eine 


-n 


508  Tschirnhaus. 

vollkommene  Enzyklopädie  der  Wissenschaften  gegeben  zu  haben. 
Nachdem  aber  in  dieser  Weise  der  aposteriorische  Ausgangspunkt 
fixiert  ist,  soll  von  ihm  aus  nach  mathematischer  Methode  und  mit 
logischen  Operationen  alles  übrige  erkannt  werden.  Allein  diese 
apriorische  Entwicklung  genügt  ihm  doch  nicht  ganz,  sondern 
er  sucht  für  jedes  Resultat  der  Deduktion  noch  womöglich  die 
empirische  Bestätigung.  So  verknüpfen  sich  die  beiden  Prinzipien 
der  Erfahrung  und  der  Deduktion  in  eigentümlicher  Weise.  Tschirn- 
haus stützt  von  vornherein  die  apriorische  Deduktion  auf  die 
»experientia  evidentissima «,  das  Selbstbewußtsein,  und  nachdem 
er  daraus  das  ganze  System  der  Erkenntnisse  abgeleitet,  soll  das- 
selbe sieh  in  der  äußeren  Erfahrung  wiederfinden.  Die  Deduktion 
ist  ihm  gewissermaßen  nur  der  wissenschaftliche  Weg  von  einer 
Erfahrung  zur  andern.  Nach  dieser  Methode  hat  er  in  jenem  Werk 
nur  die  Logik  durchgeführt.  Ihre  Aufgabe  ist  zunächst  die  Fest- 
stellung der  Kriterien  des  Begriffenen  und  des  Unbegriffenen  und 
sodann  der  Entwurf  einer  »ars  inveniendi«  oder  der  Methode  der 
begriffenen  Erkenntnis,  der  drittens  noch  einige  nützliche  Regeln 
für  die  praktische  Anwendung  hinzugefügt  werden  sollen.  In 
ersterer  Hinsicht  identifiziert  Tschirnhaus  Begreiflichkeit  und 
Unbegreiflichkeit  mit  Wahrheit  und  Falschheit.  Er  zeigt  sich 
durchaus  als  Rationalist,  indem  er  nur  das  yerstandesmäßige,  be- 
griffliche Denken  als  wahr  anerkennt  und  im  Gegensatz  dazu  die 
sinnliche  Perzeption  als  unsicher  und  irreführend  betrachtet.  Jede 
Wahrheit,  verlangt  er,  muß  mitteilbar  sein,  und  das  ist  nicht  mit 
den  Perzeptionen,  sondern  nur  mit  den  Begriffen  der  Fall,  deren 
Zusammensetzung  man  logisch  durchschaut  hat  und  deshalb  deut- 
lich bestimmen  kann.  Darum  legt  er  das  Hauptgewicht  auf  die 
Definition,  und  zwar  auf  die  sogenannte  genetische,  d.  h.  diejenige, 
welche  ihren  Gegenstand  aus  seinen  Elementen  entstehen  läßt.  Er 
ist  dabei  von  dem  spinozistischen  Ideal  eines  Systems  von  Gedanken, 
dessen  Anordnung  genau  dem  System  der  Dinge  und  ihres  wirk- 
lichen Zusammenhanges  entspreche,  so  vollkommen  erfüllt,  daß 
er  verlangt,  eine  solche  Definition  habe  den  Prozeß  der  wirklichen 
Entstehung  des  zu  definierenden  Dinges  vollkommen  auszudrücken. 
Auch  ihm  ist  die  logische  Notwendigkeit  gleich  der  realen.  Der 
Satz  des  Widerspruchs,  in  der  Begriffsbildung  das  höchste  Prinzip, 
ist  es  auch  in  der  Natur.    Auch  die  Axiome,  aus  denen  alles  übrige 


Physik.  509 

abgeleitet  werden  soll,   gelten  ihm  deshalb  als  identische  Sätze, 
in  denen  die  ursprünglichen  Begriffe  logisch  zergliedert  werden. 

Merkwürdig  ist  es  nun,  wie  Tschirnhaus  in  der  Methodologie 
dazu  gekommen  ist,  bei  diesen  Überzeugungen  doch  der  logischen 
Deduktion  so  lange  zu  mißtrauen,  bis  sie  von  der  Erfahrung  be- 
stätigt worden  ist.  Nach  seinen  Prinzipien  ist  weder  abzusehen, 
wie  diese  logische  Deduktion  von  den  wahren  Grundbegriffen  aus 
zu  anderen  als  wahren  Ergebnissen  kommen  soll,  noch  anderseits, 
wie  diese  Resultate  durch  ihre  Übereinstimmung  mit  der  Perzeption, 
die  ausdrücklich  für  täuschend  und  unsicher  erklärt  worden  ist, 
eine  Steigerung  ihrer  Gewißheit  gewinnen  können.  Es  zeigt  sich 
in  dieser  Anerkennung  der  Erfahrung  ein  gesunder  Sinn,  der  bei 
Tschirnhaus  durch  seine  Beschäftigung  mit  der  Naturwissenschaft 
groß  gezogen  worden  war.  Denn  er  verlangt  diese  Methode  wesent- 
lich für  die  »göttliche«  unter  den  Wissenschaften,  die  Physik,  in 
der  er  die  höchste  Leistung  des  menschlichen  Geistes  erblickt. 
Aber  von  einer  organischen  Verknüpfung  der  empiristischen  und 
der  rationalistischen  Theorien  ist  bei  ihm  durchaus  keine  Rede. 
Dennoch  gelangt  er  auf  diese  Weise  zur  Aufstellung  einer  physi- 
kalischen Methode,  die  äußerlich  und  in  ihrer  Anwendung  den 
grundlegenden  Prinzipien  der  Mechanik  sehr  nahe  kommt.  Denn 
da  das  Verhältnis  der  Körper  zueinander  nur  in  der  Form  ihrer 
mathematischen  Beziehungen  begreiflich  ist,  so  verlangt  er  eine 
rationale,  wesentlich  mathematische  Begründung  und  Erklärung 
aller  physikalischen  Tatsachen,  zugleich  aber  auch  eine  experi- 
mentelle Bestätigung  aller  von  der  Theorie  aufgestellten  Behaup- 
tungen. Erst  durch  die  Übereinstimmung  beider  entsteht  ihm  die 
volle  Gewißheit.  Aber  die  Bestätigung  durch  die  Sinneswahr- 
nehmungen  erfolgt  nicht  in  der  rohen  Form  unserer  primitiven 
Perzeptionen  und  Einbildungen,  sondern  nur  in  derjenigen  sorg- 
fältig angestellter  Experimente,  —  eine  Restriktion,  die  sich  freilich 
bei  Tschirnhaus  weniger  auf  eine  wissenschaftliche  Untersuchung 
der  Sinnestätigkeit,  als  auf  das  rationalistische  Dogma  von  der 
Infallibilität  des  Verstandes  den  Sinnen  gegenüber  stützte.  Denn 
er  betrachtete  das  Experiment  als  eine  durch  die  Überlegung  des 
Verstandes  zustande  gekommene  und  regulierte  Form  der  sinnlichen 
Wahrnehmung.  So  schwach  diese  Theorie  schließlich  begründet 
sein   mochte,   so   war   doch   ihre   Wirkung   außerordentlich   groß, 


510  Thomasius. 

und  zwar  deshalb,  weil  sie  die  Übereinstimmung  mathematischer 
Deduktion  und  sinnlicher  Erfahrung,  worauf  die  Newtonsche 
Naturwissenschaft  beruhte,  zum  philosophischen  Prinzip  erhob.  In 
dieser  Hinsicht  wirkte  Tschirnhaus  in  derselben  verbindenden 
Kichtung  wie  Leibniz,  und  seine  Form  der  Versöhnung  der  beiden 
Gegensätze  des  Empirismus  und  des  Rationalismus  hat  die  späteren 
Forscher  ebenso  stark  beeinflußt  wie  diejenige  von  Leibniz. 
^/vsim/3  Ganz  andersartig  ist  die  Gedankenwelt  von  Chr.  Thomasius 
(1655 — 1728),  der,  philosophisch  und  juristisch  gebildet,  an  der 
Leipziger  Universität  einen  freimütigen  Kampf  gegen  die  veralteten 
Zustände  des  öffentlichen,  literarischen  und  wissenschaftlichen 
Lebens  führte,  den  mannigfachen  Anfeindungen  schließlich  weichen 
mußte  und,  von  der  brandenburgischen  Regierung  in  Schutz  ge- 
nommen, an  der  Begründung  und  ersten  Tätigkeit  der  Universität 
Halle  teilnahm.  Dem  streng  methodischen  Standpunkte  von 
Tschirnhaus  steht  er  schon  durch  die  Auffassung  gegenüber,  die  er 
vom  Wesen  und  Zweck  der  Erkenntnis  selbst  hatte.  Während  für 
jenen  die  Wissenschaft  als  ein  an  sich  erstrebenswertes  Gut  und 
als  höchster  Zweck  seines  eigenen  Lebens  galt,  so  hat  für  Thomasius 
alle  Erkenntnis  nur  dann  Wert,  wenn  sie  die  Menschen  aufklärt 
und  dadurch  den  praktischen  Zwecken  des  Lebens  dienstbar  wird. 
Er  hat  diese  Tendenz  der  Wissenschaft,  Aufklärung  zu  verbreiten 
und  dadurch  praktisch  zu  nützen,  in  Deutschland  zuerst  aus- 
gesprochen und  durch  sein  eigenes  Leben  energisch  genug  und 
durchaus  nicht  ohne  Erfolg  betätigt.  Darin  liegt  der  Grund  seiner 
außerordentlich  kräftigen  Wirkung:  unbedeutend  in  Rücksicht  auf 
den  Inhalt  dessen,  was  er  lehrte,  ist  er  dadurch  mächtig  geworden, 
wie  er  es  lehrte,  und  was  er  damit  bezweckte.  Leibniz  gab  der 
deutschen  Philosophie  den  Gehalt  ihres  lebendigen  Denkens  und 
die  Mittel  der  Aufklärung:  Thomasius  dagegen  war  ihr  Prophet 
und  der  offene  und  unerschrockene  Verkündiger  ihres  Prinzips. 
Schon  in  der  »Introductio  in  philosophiam  aulicam«  (Leipzig  1688) 
klagt  er  darüber,  wie  wenig  Beziehungen  bisher  die  Philosophie 
zum  realen  Leben  habe  und  wie  unnütz  sie  sich  durch  ihre  Trennung 
von  den  sonstigen  Arbeiten  des  Menschengeschlechts  mache;  und 
doch  sei  auch  ihre  letzte  und  höchste  Aufgabe  nur  die  Gemein- 
nützigkeit. Darum  müsse  sie  sich  von  allen  Fesseln  befreien, 
welche  sie  bisher  an  deren  Erfüllung  hindern,  und  die  Schranken 


Vernunftlehre.  511 

niederreißen,  die  zwischen  ihr  und  dem  Leben  bestehen.  Dazu 
gehöre  besonders  die  zopfige  Form,  worin  sie  bisher  ihre  Erkennt- 
nisse darstelle.  Solange  sie  nicht  in  allgemein  verständlicher  Ge- 
stalt auftrete,  könne  sie  nicht  aufklärend  wirken.  Den  Haupt- 
angriff erfährt  dabei  der  Gebrauch  der  lateinischen  Sprache.  Tho- 
masius  macht  Ernst  mit  dem  auch  von  Leibniz  ausgesprochenen, 
aber  nur  sehr  sparsam  ausgeführten  Gedanken,  daß  die  deutsche 
Sprache  zur  philosophischen  Darstellung  durchaus  angemessen  sei, 
und  es  ist  hauptsächlich  seinem  Einflüsse  zu  verdanken,  daß  die 
Philosophie  der  deutschen  Aufklärung  sich  mehr  und  mehr  daran 
gewöhnte,  ihren  Ideen  den  Ausdruck  der  nationalen  Sprache  zu 
geben.  Ein  großer  Teil  seiner  Terminologie  ist  auf  Wolff  und  durch 
dessen  Schüler  auf  Kant  übergegangen;  aber  er  schrieb  nicht 
nur  deutsche  Werke,  sondern  er  kündigte  auch  —  eine  unerhörte 
Tat,  welche  die  Vertreibung  von  Leipzig  nach  sich  zog  —  1687 
an  einer  deutschen  Universität  in  einem  deutschen  Programm 
deutsche  Vorlesungen  über  Gratians  »Grundlage  vernünftig  und 
artig  zu  leben«  an.  Er  gründete  die  erste  deutsche  gelehrte  Zeit- 
schrift »Teutsche  Monate«,  worin  er  z.  B.  Tschirnhausens  Medicina 
mentis  besprach,  und  später  eine  Viertel]  ahrsschrift:  die  »Geschichte 
der  Weisheit  und  Torheit«.  Bedenkt  man,  welch  eine  Fülle  von 
Ideen  die  deutsche  Philosophie  später  dem  reichen  Stoffe  der 
deutschen  Sprache  entnommen  und  mit  wie  wunderbarer  Kraft 
sich  der  philosophische  Gedanke  in  unserem  Idiom  entfaltet  hat, 
so  kann  man  das  großartige  Verdienst  schätzen,  das  Thomasius 
sich  durch  diese  prinzipielle  Einführung  der  nationalen  Sprache 
in  die  Philosophie  erwarb.  Was  die  Mystiker,  insbesondere  Boehme, 
für  ihre  volkstümlichen  Darstellungen  versucht  hatten,  wurde 
nun  auch  in  der  Welt  der  gelehrten  Bildung  wirksam,  und  da- 
durch erst  wurde  jene  lebendige  Berührung  der  Philosophie  mit  der 
allgemeinen  Literatur  ermöglicht,  deren  befruchtender  Einfluß  auf 
das  deutsche  Denken  noch  weiterhin  zur  Sprache  kommen  wird. 
Alles  Wissen  ist  nur  dazu  da,  den  Menschen  geschickt  zu  machen, 
daß  er  das  Wahre  vom  Falschen,  das  Gute  vom  Bösen  unterscheiden 
lerne  und  danach  richtig  und  nützlich  zu  leben  verstehe.  In  diesem 
Geiste  schrieb  Thomasius  eine  Einleitung  und  eine  Ausführung 
sowohl  der  Vernunftlehre  als  auch  der  Sittenlehre.  Alle  Gelahrt- 
heit ist  aber  entweder  Gottesgelahrtheit  oder  Weltweisheit.     Mit 


512  Thomasius. 

der  ersteren,  die  ihren  Quell  in  der  Offenbarung  habe,  findet  er  sich 
leicht  ab  und  erkennt  ihre  Geltung  so  weit  an,  daß  er  darin  strengem 
Orthodoxismus  huldigt  und  sich  sogar  in  seinem  »Versuch  vom 
Wesen  des  Geistes«  bis  zum  Mystizismus  versteigt.  Über  den 
Widerspruch  zwischen  dieser  Richtung  und  der  hausbackenen 
Verständigkeit  seiner^  Weltweisheit  (welcher  Widerspruch  gewisser- 
maßen dem  gesamten  Pietismus  der  hallenser  Färbung  angehört) 
gibt  er  sich  bei  dem  Mangel  an  präziser  Methodik  keine  Rechenschaft 
und  fragt  nicht  weiter  nach  dem  Verhältnis  beider,  sondern  be- 
hauptet vielmehr  einfach,  die  Weltweisheit  beruhe  lediglich  auf  den 
Bestimmungen  der  menschlichen  Vernunft  und  solle  damit  die 
Menschen  zu  einem  richtigen  und  gemeinnützigen  Gebrauch  ihrer 
Verstandeskräfte  erziehen.  Die  Vernunftlehre  enthält  deshalb  in 
ihrem  ersten  Teile  die  Lehre  von  den  allgemeinen  Begriffen,  von 
der  Wahrheit  und  von  deren  Prinzipien  und  Kriterien,  und  daran 
schließt  sich  (äußerlich  ganz  wie  bei  Tschirnhaus)  ein  zweiter  Teil 
über  die  Anwendung  dieser  allgemeinen  Begriffe,  über  die  Mittel 
zur  Erforschung  der  Wahrheit  und  zur  Mitteilung  des  Verständnisses, 
endlich  über  die  Prinzipien  der  Beurteilung  und  der  Widerlegung. 
Für  die  Wahrheit  findet  sich  bei  Thomasius  bald  die  objektive 
Bestimmung  und  dann  als  ihr  Kriterium  die  gewöhnliche  Auffassung 
von  der  Übereinstimmung  der  Vorstellungen  mit  Dingen,  bald  die 
subjektive  Definition  der  Übereinstimmung  der  Vorstellungen  mit 
den  Prinzipien  der  Vernunft.  Nun  ist  die  Vernunft  entweder,  tätig 
in  den  Verstandesbegriffen  oder  leidend  in  den  Funktionen  der 
Sinne.  Also  ist  das  Kriterium  der  Wahrheit  die  Übereinstimmung 
entweder  mit  den  Begriffen  oder  mit  den  Sinneswahrnehmungen. 
Da  es  aber  so  zwei  Arten  von  Wahrheit  gibt,  die  der  Begriffe  und 
die  der  Sinne,  so  muß  es  auch  zwei  Arten  von  Gegenständen  des 
Erkennens  geben,  die  ihnen  entsprechen,  und  da  die  Sinne  das 
Sichtbare,  die  Begriffe  das  Unsichtbare  erkennen,  so  sind  alle 
Dinge  entweder  sichtbar  oder  unsichtbar,  entweder  Körper  oder 
Kräfte.  So  gestalten  sich  aus  diesen  wenigen  erkenntnistheoretischen 
Definitionen  sogleich  die  Grundzüge  einer  höchst  einfachen  und 
rohen  Metaphysik.  Von  einer  Kritik  der  Vorstellungen  ist  keine 
Spur;  die  *  Sinneswahrnehmungen^  ebenso  wie  die  allgemeinen  Be- 
griffe gelten  ohne  nähere  Untersuchung  ihrer  Entstehung  und  ihrer 
Berechtigung  von  selbst  für  wahr  und  für  den  Maßstab  aller  übrigen 


Praktische  Aufklärung.  513 

Wahrheit.  Es  ist  eine  flache  Lehre  vom  »gesunden  Menschen- 
verstände«, der  ohne  wissenschaftliche  Schulung  in  sich  alle  Er- 
kenntnis besitzen  will.  Thomasius  verfährt  noch  viel  oberflächlicher 
als  die  Schotten.  Das  Unsystematische  ist  bei  ihm  geradezu  be- 
absichtigt. Er  wendet  sich  mit  vollem  Bewußtsein  gegen  alle 
pedantische  Schulweisheit  und  zugleich  gegen  jede  systematische 
Form.  Er  verachtet  den  Syllogismus  und  nicht  minder  das  mathe- 
matische Verfahren;  er  will  mit  der  Schulsprache  sowenig  wie  mit 
den  Schulregeln  etwas  zu  tun  haben  —  so  wenig,  daß  seine  eigenen 
Ausdrücke  und  Beweise  sich  überall  widersprechen.  An  die  Stelle 
der  Gelehrsamkeit,  die  immer  nur  für  wenige  da  war,  soll  die  all- 
gemeine Aufklärung  treten,  und  seine  persönliche  Aufgabe  sieht  er 
weniger  in  eigener  Erforschung  der  Dinge,  als  vielmehr  in  der 
Popularisierung  der  allgemeinsten  und  nützlichsten  Wahrheiten. 
Deshalb  ist  seine  Lehre  ein  kritikloser  Eklektizismus  ohne  syste- 
matische Einheit  und  ohne  methodisches  Prinzip. 

Wenn  er  gleichwohl  segensreich  gewirkt  hat,  so  geschah  dies, 
weil  er  auf  allen  Gebieten  die  Bildung  und  Durchführung  des 
eigenen  Urteils  für  die  Aufgabe  des  Menschen  erklärte  und  in 
diesem  Sinne  einen  Kampf  gegen  die  Vorurteile  führte,  die  so- 
wohl einer  gesunden  und  praktischen  Erkenntnis  als  auch  einem 
menschenwürdigen  Zustande  der  Gesellschaft  entgegenstehen.  Es 
wird  ihm  stets  ein  rühmliches  Andenken  sein,  daß  er  einer  der 
bedeutendsten  Vorkämpfer  der  Aufklärung  gegen  die  Hexenprozesse 
und  die  Tortur  gewesen  ist.  Freilich  waren  die  Begründungen 
seiner  Lehren  von  oft  unglaublicher  Seichtigkeit  und  reproduzierten 
in  oberflächlicher  Weise  die  großen  Gedanken,  die  in  dem  Kampfe 
des  modernen  Denkens  um  seine  eigene  Freiheit  errungen  waren, 
wie  die  Unabhängigkeit  der  Moral  und  des  Rechts  von  orthodoxer 
Bevormundung,  die  psychologische  und  deterministische  Be- 
trachtung des  Willenslebens  usf.  Allein  es  waren  lebhafte  und 
eindrucksvolle  Deklamationen,  hie  und  da  mit  einem  groben  Witz 
verziert,  der  bei  aller  Geschmacklosigkeit  auf  seine  Leser  Eindruck 
machte,  und  seine  ganze  rührige  Agitation  hat  wesentlich  dazu  bei- 
getragen, den  deutschen  Philister  aus  der  dumpfen  Abgestorbenheit 
seines  geistigen  Lebens  aufzurütteln.  Wissenschaftlich  betrachtet, 
verdienen  die  Theorien,  die  er  für  diese  Zwecke  leicht  hinzimmerte, 
keine    eingehendere    Betrachtimg:    der    Weg,    den    er    einschlug, 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  33 


514  Wolf  f. 

führte  mehr  aus  der  Wissenschaft  heraus,  als  in  die  Wissenschaft 
hinein.  Aber  dieser  unwissenschaftliche  Charakter  des  Mannes 
zeigte  nur  die  jugendliche  Unreife,  womit  sich  ein  bedeutender 
Gedanke  zuerst  Bahn  brach.  Die  Forderung,  daß  die  Wissenschaft 
mit  dem  wirklichen  Leben  Fühlung  halte  und  die  Ausbreitung  ihrer 
Gedanken  durch  eine  verständliche  Form  ihrer  Darstellung  be- 
fördere, war  im  Wesen  der  Sache  ebenso  wie  in  den  Bedürfnissen 
der  Zeit  begründet.  Was  Thomasius  nur  nicht  begriff,  war  die 
richtige  Art  dieser  Akkommodation  der  Wissenschaft  an  das  gemeine 
Bewußtsein.  Seine  Philosophie  des  gesunden  Menschenverstandes 
meinte  sich  ohne  Kritik  mit  dem  Tatbestand  der  allgemeinen  Vor- 
stellungen beruhigen  zu  dürfen  und  hielt  es  für  die  Aufgabe  der 
Wissenschaft,  diese  nur  klar  und  deutlich  auszusprechen.  Er  hatte 
keine  Ahnung  davon,  daß  die  Wissenschaft  berufen  ist,  dies  all- 
gemeine Bewußtsein  zu  erziehen,  und  daß  sie  das  nur  vermag, 
wenn  sie  bei  allem  Streben  nach  Popularität  keinen  Schritt  von  der 
Strenge  des  methodischen  Forschens  und  Beweisens  abweicht. 

§  50.    Wolff  und  seine  Schule. 

Die  reifere  Form  der  Aufklärung  ist  diejenige,  welche  von  dem 
ganzen  Ernst  der  wissenschaftlichen  Arbeit  erfüllt  ist,  und  diese  hat 
ihren  Vertreter  in  Christian  Wrolff  gefunden.  Ein  Sohn  des 
Volkes,  war  dieser  1679  zu  Breslau  geboren  und  von  seinem  Vater 
früh  für  den  Dienst  der  Kirche  bestimmt  worden.  Seit  1699  studierte 
er  in  Jena  Theologie  und  vervollständigte  seine  Bildung  durch 
die  gleichzeitige  Beschäftigung  mit  mathematischen  und  philo- 
sophischen Studien.  Bei  den  letzteren  wurden  namentlich  Spinoza 
und  Tschirnhaus  für  seine  Entwicklung  bedeutend.  Er  versah 
die  »Medicina  mentis«  mit  Anmerkungen,  die  den  Beifall  ihres 
Verfassers  hatten.  Den  meisten  Einfluß  aber  gewannen  auf  ihn 
die  Schriften  von  Leibniz,  und  nachdem  er  sich  in  dessen  metho- 
dische Bestrebungen  vollständig  hineingearbeitet  hatte,  erfaßte  ei 
den  Plan,  sie  zu  Ende  zu  führen  und  nach  dieser  Methode  das 
ganze  System  der  Erkenntnisse"  auszuführen ,  einen  Plan,  dessen 
Durchführung  er  mit  der  ihm  eigenen  Zähigkeit  in  der  Tat  sein 
ganzes  Leben  gewidmet  hat.  Die  Bekanntschaft  mit  Leibniz  ver- 
mittelte auch  im  Jahre  1706   seine  Berufung   an  die  Universität 


Leben.  515 

Halle,  wo  er,  als  Professor  der  Mathematik  angestellt,  bald  eine 
philosophische  Tätigkeit  entwickelte,  deren  segensreiche  Ausdehnung 
in  stetigem  Wachstum  begriffen  war.  Er  sprach  deutsch,  und  trotz 
der  logischen  Trockenheit  übten  seine  Vorträge  mit  ihrer  durch- 
sichtigen Klarheit  und  bündigen  Sicherheit  eine  mächtige  An- 
ziehungskraft auf  die  Jugend  aus.  Aber  dieser  Erfolg  weckte  den 
Neid  seiner  Kollegen;  Orthodoxe  imd  Pietisten  verbanden  sich,  den 
unerschrockenen  Logiker  der  Vernunftreligion  zu  verdrängen,  und 
nach  mannigfaltigen  Verdächtigungen  und  Intriguen  gelang  es  ihnen 
1723,  den  König  Friedrich  Wilhelm  I.  zu  bewegen,  daß  der  Philo- 
soph unter  den  entehrendsten  Formen  aus  dem  Lande  verbannt 
wurde.  Er  fand  eine  Zuflucht  in  Marburg  und  gewann  durch  seine 
Lehrtätigkeit  wie  durch  seine  Bücher  einen  immer  größeren  Ruhm. 
Als  der  Thronwechsel  in  Preußen  eintrat,  war  es  eine  der  ersten 
Regierungshandlungen  Friedrichs,  den  Verfolgten  in  Halle  zu 
rehabilitieren,  und  Wolff  hat  bis  zu  seinem  Tode  im  Jahre  1754  seine 
akademische  Tätigkeit  in  Halle  mit  allmählich  sich  abschwächender 
Kraft  fortgesetzt.  Seine  zahlreichen,  teils  deutschen,  teils  latei- 
nischen Schriften  haben  in  großer  Ausführlichkeit  mit  logischer 
Schärfe,  aber  meist  auch  in  pedantischer  Breite  seine  Absicht  ver- 
wirklicht. Sie  wurden  bald,  und  zum  größten  Teil  noch  bei  seinen 
Lebzeiten,  als  Lehrbücher  auf  den  protestantischen  Universitäten 
Deutschlands  eingeführt,  und  die  Vertreter  der  Philosophie  bekannten 
sich  in  überwiegender  Zahl  zu  diesem  System.  Auf  diese  Weise 
wurde  zunächst  eine  Einheitlichkeit  der  philosophischen  Bildung 
herbeigeführt,  welche  Deutschland  bisher  nicht  gekannt  hatte.  Man 
besaß  ein  herrschendes  System,  man  hatte  eine  überall  bekannte 
und  anerkannte  Terminologie,  und  die  Arbeit  zahlreicher  Denker 
wurde  auf  die  Ausführung  einer  Reihe  gemeinsamer  Grundgedanken 
konzentriert.  Wolff  schuf  im  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes  eine 
Schule,  und  darin  besteht  sein  großes  Verdienst  um  die  nationale 
Entwicklung  des  deutschen  Geistes. 

Der  Gedankeninhalt  dieses  Schulsystems  war  in  der  Hauptsache 
von  Leibniz  abhängig.  Wolff  war  weder  ein  Genie  noch  eine 
originelle  Natur;  er  hat  den  Ideen  Leibniz'  der  Sache  nach  nichts 
hinzugefügt,  sondern  vielmehr  einige  der  feinsten  und  wertvollsten 
Gedanken  seines  Meisters,  denen  er  nicht  zu  folgen  vermochte, 
fortgelassen.      Aber    was   Leibniz   gedacht  hatte,    würde    in    der 

33* 


516  Wolff. 

unzusammenhängend en  Form,  worin  er  es  gelegentlich  äußerte, 
niemals  die  Wirkung  ausgeübt  haben,  die  es  in  der  systematischen 
Zusammenfassung  gewann,  welche  ihm  Wolff  gab.  Das  Denken  der 
Deutschen  war  durch  Melanchthon  und  die  Lehrtätigkeit  der  prote- 
stantischen Theologen  viel  zu  sehr  an  die  dogmatische  Form  und 
die  methodische  Darstellung  gewöhnt  und  durch  die  Einwirkung  der 
cartesianischen  Lehre  viel  zu  sehr  darin  bestärkt  worden,  als  daß 
es  einer  freieren  Einführung  der  neuen  Gesichtspunkte  zugänglich 
gewesen  wäre.  Das  Geheimnis  von  Wolffs  Erfolgen  lag  in  der 
Meisterschaft,  mit  der  er  den  logischen  Schematismus  hand- 
habte, und  der  Sieg  der  Leibnizschen  Philosophie  beruht  auf  dieser 
Systematisierung,  die  sie  durch  ihn  erfuhr. 

In  der  Absicht  Wolffs  verknüpften  sich  die  beiden  Gesichts- 
punkte, die  Tschirnhaus  und  Thomasius  so  weit  voneinander  trennen. 
Hatte  den  Schwerpunkt  der  Philosophie  der  eine  in  die  methodische 
Gewißheit,  der  andere  in  die  aufklärerische  Nutzbarkeit  des  Wissens 
gelegt,  so  begann  Wolff  seine  Logik  mit  dem  Satze:  »Arduum 
aggredior  opus  et  periculosum,  dum  philosophiam  universam  et 
certam  et  utilem  reddere  studeo.«  Er  vermißt  in  der  bisherigen 
Philosophie  sowohl  die  sichere  Evidenz  als  auch  die  praktische 
Anwendbarkeit;  beide  Mängel  aber  hängen  auf  das  innigste  mit- 
einander zusammen:  denn  eben  die  Unsicherheit,  welche  der  Philo- 
sophie infolge  des  bisherigen  Mangels  einer  festen  Methode  anhaftet, 
ist  auch  der  Grund,  weshalb  sie  nicht  imstande  ist,  aufklärend  zu 
wirken.  Die  Menschheit  bedarf  zu  ihrer  Glückseligkeit  einer  sicher 
erkannten  Wahrheit,  nach  der  sie  richtig  und  nützlich  leben  kann. 
Beiden  Mängeln  ist  daher  durch  dasselbe  Mittel  abzuhelfen:  durch 
deutliche  Begriffe  und  gründliche  Beweise,  welche  die  Erkenntnis 
sowohl  gewiß  und  zweifellos,  als  auch  allgemein  verständlich  und 
mitteilbar  machen  werden. 

Indem  es  Wolff  unternimmt,  der  Philosophie  diesen  Dienst  zu 
leisten,  glaubt  er  zunächst  ihr  Verhältnis  zu  den  übrigen  Wissen- 
schaften klar  stellen  zu  sollen.  In  dieser  Hinsicht  spricht  er  die 
im  Cartesianismus  angelegte  Tendenz  der  Philosophie  dahin  aus, 
daß  sie  die  Wissenschaft  von  allem  Denkbaren  sei,  d.  h.  daß  es 
keinen  Gegenstand  gebe,  mit  dem  sie  sich  nicht  zu  beschäftigen 
habe.  Wenn  aber  die  Philosophie  alle  Dinge  zu  erkennen  hat,  so 
kann   zwischen   ihr    und    den   übrigen   Wissenschaften   nicht   ein 


Logische  Systematik.  517 

Unterschied  der  Gegenstände,  sondern  nur  der  Behandlungsweise 
bestehen.  Nun  gibt  es  nach'  Wolf  fs*  Ansicht  drei  Arten  der  Er- 
kenntnis: die  mathematische,  welche  die  Dinge  nur  nach  ihren 
Größenverhältnissen  betrachtet,  die  »historische«,  die  nur  die  Tat- 
sächlichkeit feststellt,  und  die  philosophische,  welche  ihre  Gründe 
untersucht.  In  Rücksicht  der  Mathematik  hat  sich  Wolff,  so  nahe 
er  ihr  persönlich  stand,  eigentümlich  verhalten.  Er  hat  ihren  Wert 
für  die  Naturerkenntnis  niemals  genügend  geschätzt  und  ist  darin 
weit  hinter  Tschirnhaus  zurückgeblieben:  in  seinem  System  der 
Wissenschaften  findet  sie  keine  Stelle.  So  bleibt  in  seiner  Gliederung 
der  Wissenschaften  der  Gegensatz  der  historischen  und  der  philo- 
sophischen Erkenntnis  übrig,  von  denen  die  erstere  demjenigen  ent- 
spricht, was  wir  heute,  empirisch  nennen.  Es  leuchtet  von  selbst 
ein,  daß  hier  der  Leibnizsche  Gegensatz  der  zufälligen  und  der 
notwendigen  Wahrheiten  zutage  tritt.  Die  erstere  gibt  nur  die 
Wirklichkeit,  die  zweite  auch  die  Möglichkeit  und  die  Notwendig- 
keit der  Dinge  zu  erkennen.  Die  rationale  Erkenntnis  soll  des- 
halb für  jeden  Satz  die  Ableitung  aus  seinen  Gründen  bringen; 
sie  kann  das  nur  durch  den  logischen  Beweis.  Für  sie  existiert 
keine  andere  Methode  als  die  deduktive.  Diese  faßt  Wolff  wieder 
mehr  im  Sinne  der  absoluten  Einheitlichkeit  auf.  Er  sucht  ein 
oberstes  Prinzip,  von  dem  alle  anderen  mit  strikter  Notwendig- 
keit abgeleitet  werden  sollen.  Aber  in  der  Aufstellung  dieses  Prinzips 
zeigt  sich  am  klarsten  jene  rein  logische  Wendung,  welche  die 
cartesianische  Methode  in  Deutschland  gefunden  hatte.  Es  fällt 
Wolff  nicht  ein,  nach  einem  höchsten  Gedankeninhalte  zu  suchen, 
wie  ihn  Cartesius  im  Selbstbewußtsein,  Spinoza  im  Gottesbegriff 
gefunden  hatten;  sondern  er  ist  von  dem  logischen  Schematismus 
so  tief  durchgedrungen,  daß  er  meint,  von  dem  höchsten  Gesetze 
der  Logik,  von  dem  Satze  des  Widerspruchs  aus  müßten  sich 
alle  philosophischen  Wahrheiten  durch  richtige  Schlüsse  finden 
lassen.  Wolff  leidet  an  einer  Art  von  logischem  Fanatismus;  er 
sucht  in  der  Logik  nicht  nur  die  Form,  sondern  auch  den  Inhalt 
des  Denkens,  und  er  ist  in  dieser  Beziehung  der  extremste  unter 
allen  Rationalisten.  Jedes  intuitive  Element  ist  aus  seinem  Denken 
in  dieser  Richtung  herausgefallen,  wenigstens  der  Absicht  nach.  Die 
Philosophie  soll  eine  rein  begriffliche  Entwicklung  sein,  und  darin 
besteht  nach  Wolff  mehr  als  in  der  Anwendung  des  äußerlichen 


518  Wolf  f. 

Schematismus  der  geometrische  Charakter  ihrer  Methode.  Das 
Vorurteil  einer  rein  logischen  Beweisführung  in  der  Mathematik 
wird  auch  bei  ihm  zu  einem  allgemein  philosophischen.  In  der 
Ausführung  ist  das  freilich,  wie  es  in  der  Natur  der  Sache  liegt, 
nur  scheinbar  festzuhalten.  Ihm  selber  unvermerkt,  schieben  sich 
seiner  logischen  Deduktion  überall  erfahrungsmäßige  und  nur  durch 
die  Anschauung  gewonnene  Elemente  unter.  So  allein  bringt  er 
es  fertig,  daß  die  rationalistische  Beweisführung  überall  in  eine 
Erkenntnis  der  wirklichen  Welt  ausläuft.  Diese  Kiyptogamie  mit 
der  Erfahrung  ist  für  jede  scheinbar  rein  logisch  verfahrende  Methode 
unerläßlich.  Sie  findet  sich  schon  bei  Spinoza,  sie  kehrt  auch  bei 
Hegel  wieder.  Sie  wird  am  besten  durch  das  mathematische  Ver- 
fahren illustriert,  worin,  wie  es  Descartes  richtig  erkannt  hatte, 
der  Fortschritt  der  logischen  Beweisführung  stets  durch  den  Ein- 
griff der  Intuition  bedingt  ist. 

Neben  der  reinen  Begriffswissenschaft  des  Möglichen  und  Not- 
wendigen steht  die  Erfahrungswissenschaft  des  ^Wirklichen.  Für 
diese  freilich  hat  Wolff  auch,  dem  allgemeinen  rationalistischen 
Charakter  seines  Denkens  gemäß,  die  Verarbeitung  der  Tatsachen 
durch  eine  empiristische  oder  induktive  Methode  verschmäht,  er 
sieht  ihren  Wert  nur  in  einer  massenhaften  und  logisch  rubri- 
zierenden Aufspeicherung  von  Tatsachen,  faßt  also  die  Erfahrungs- 
wissenschaft in  der  Hauptsache  nur  als  deskriptive  Wissenschaft 
auf.  Das  Verhältnis  der  Begriffs-  und  der  Erfahrungswissenschaft 
behandelt  er  gänzlich  unter  dem  Gesichtspunkte  von  Tschirnhaus. 
Die  Empirie  hat  nur  die  Wirklichkeit  der  Tatsachen  zu  konsta- 
tieren, die  in  der  philosophischen  Theorie  aus  den  obersten  Gründen 
als  notwendig  deduziert  werden.  In  dieser  Beziehung  gibt  Wolff 
dem  von  Leibniz  aufgestellten  Gegensatz  der  notwendigen  und 
der  zufälligen  Wahrheiten  eine  interessante  Wendung.  Indem 
er  den  subjektiven  Charakter  dieses  Gegensatzes  noch  energischer 
betont,  zeigt  err  daß  jedes  Erkenntnisobjekt  im  Menschen  doppelt 
vorgestellt  wird:  einmal  durch  das  Denken,  insofern  es  aus  seinen 
Gründen  abgeleitet  wird,  und  ein  andermal  durch  die  sinnliche 
Wahrnehmung,  insofern  es  als  tatsächlich  erkannt  wird.  Im 
ersteren  Falle  wird  es  klar  und  deutlich,  im  letzteren  unklar  und 
verworren  vorgestellt.  Wolff  geht  nun  von  der  Annahme  aus, 
daß  die  begriffliche  Erkenntnis  eines  Gegenstandes  die  sinnliche 


Rationale  und  empirische  Erkenntnis.  519 

Erfahrung  desselben  nicht  verdränge  oder  aufhebe,  sondern  viel- 
mehr sie  neben  sich  bestehen  lasse,  und  er  sucht  dadurch  die  empi- 
rische Erkenntnis  als  vollkommen  berechtigt  neben  der  rationalen 
anzuerkennen.  Gleichwohl  entzieht  er  sich  der  von  Leibniz  gegebenen 
Wertschätzung  beider  Arten  nicht.  Die  apriorische  Verstandes- 
erkenntnis,  welche  die  Notwendigkeit  des  Dinges  zu  ihrem  Gegen- 
stande hat,  gilt  ihm  als  das  höhere  Erkenntnisvermögen,  die 
aposteriorische  Erfahrungserkenntnis,  welche  die  Tatsächlichkeit 
gibt,  als  niederes  Erkenntnisvermögen.  Dabei  ist  er  sich  freilich 
über  das  Verhältnis  beider  weder  völlig  klar  geworden  noch  in  seiner 
Darstellung  dieser  Verhältnisse  immer  gleich  geblieben.  Manch- 
mal nimmt  er  an  —  und  dahin  trieb  ihn  der  Hauptzug  seiner  Lehre  — , 
daß  die  Vernunfterkenntnis  ihre  Wurzeln  vollständig  in  sich  selbst 
und  zuletzt  in  dem  logischen  Gesetze  des  Widerspruchs  habe; 
manchmal  faßte  er  in  unverkennbarem  Anschluß  an  Locke  die 
Sache  so  auf,  daß  der  vom  oberen  Erkenntnisvermögen  klar  und 
deutlich  begriffene  Inhalt  aus  demjenigen  des  unteren  hervor- 
gehe, und  bezeichnete  dabei  die  Tätigkeit  der  Aufmerksamkeit, 
welche  die  einzelnen  Elemente  der  Sinneswahrnehmung  allmählich 
zur  Deutlichkeit  erhebt,  ausdrücklich  als  Reflexion.  Es  scheint  fast 
als  wäre  er  sich  damit  bewußt  geworden,  daß  jene  logische  Demon- 
stration ihre  Aufgaben  doch  nicht  ohne  Aufnahme  des  sinnlichen 
Inhaltes  erfüllen  kann. 

Trotzdem  hielt  er  in  der  Hauptsache  an  dieser  Unterscheidung 
derartig  fest,  daß  er  darauf  seine"  Enzyklopädie  der  Wissenschaften 
gründete.  Da  sie  nur  eine  Unterscheidung  der  Erkenntnisarten  be- 
deutet, so  ist  jeder  Gegenstand  in  doppelter  Hinsicht  wissenschaftlich 
zu  behandeln:  einerseits  in  tatsächlicher  Feststellung  durch  eine 
empirische  Wissenschaft,  anderseits  in  der  Erkenntnis  der  Gründe 
durch  eine  philosophische  Disziplin.  So  läuft  denn  in  dem  Wolff- 
sehen  System  der  Wissenschaften  neben  jedem  Teile  der  Philo- 
sophie eine  empirische  Wissenschaft  einher,  welche  denselben 
Gegenstand,  den  jene  begrifflich  und  erklärend  behandelt,  ihrerseits 
in  seiner  tatsächlichen  Gestaltung  festzustellen  hat,  und  die  Absicht 
der  Wolffschen  Lehre  geht  dahin,  zu  zeigen,  daß  beide  stets  auf 
dieselbe  Wahrheit  führen,  daß  nämlich  in  der  logischen  Entwick- 
lung der  Philosophie  nichts  bewiesen  wird,  was  nicht  durch  die 
empirischen  Wissenschaften  als  tatsächlich  aufgezeigt  wird.    Wenn 


520  Wolff. 

so  z.  B.  der  rationalen  Psychologie  eine  empirische  Psychologie 
gegenübersteht,  so  verfolgt  Wolff  damit  die  Absicht,  zu  zeigen, 
daß  die  Formen  des  psychischen  Lebens,  die  in  der  Erfahrung  des 
Menschen  von  sich  selbst  zu  konstatieren  sind,  sich  als  dieselben 
erweisen,  welche  sich  aus  der  in  der  Metaphysik  begründeten  Auf- 
stellung des  Begriffs  der  Seele  als  deren  notwendige  Tätigkeits- 
weisen ergeben.  Das  Ganze  läuft  also  darauf  hinaus,  daß  durch 
diese  übereinstimmende  Gegenüberstellung  der  Philosophie  und  der 
Erfahrungswissenschaften  deutlich  werden  soll,  wie  alles,  was  die 
erstere  auf  begrifflichem  Wege  als  notwendig  deduziert,  in  der 
erfahrungsmäßigen  Wirklichkeit  auch  in  der  Tat  vorhanden  ist. 
Die  sinnliche  Erkenntnis  der  Tatsachen  ist  die  Rechenprobe  für 
die  Begriffsentwicklung  der  Vernunft.  Damit  sprach  Wolff  in 
methodischer  Form  ein  Geheimnis  aus,  das  der  Rationalismus 
immer  stillschweigend  vorausgesetzt  hatte.  Denn  so  sehr  dieser 
jeden  Eingriff  der  Erfahrung  in  die  beweisende  Methode  der  Philo- 
sophie ablehnte,  sowenig  wäre  er  doch  mit  einer  Metaphysik  zu- 
frieden gewesen,  die  aus  der  begrifflichen  Deduktion  schließlich 
eine  ganz  andere  Welt  entwickelt  hätte,  als  diejenige,  welche  in 
der  Erfahrung  vorliegt.  Auch  seine  Absicht  war  immer  die,  die 
bestehende  Welt  zu  begreifen,  und  wenn  er  meinte,  daß  er  dies 
durch  bloß  begriffliches  Denken  würde  leisten  können,  so  mußte 
er  doch  immer  die  Absicht  haben,  von  den  Begriffen  aus  zu 
Resultaten  zu  kommen,  die  mit  der  Erfahrung  übereinstimmen. 
Trotz  allen  Gegensatzes  gegen  den  Empirismus  ist  somit  das  letzte 
Kriterium  für  die  Richtigkeit  der  gewonnenen  Resultate  auch  im 
Rationalismus  nur  die  Übereinstimmung  der  a  priori  entwickelten 
Begriffe  mit  der  Erfahrung.  Eine  Welt  zu  begreifen,  die  nicht 
wirklich  existiert,  hat  auch  der  Rationalismus  nie  die  Absicht  ge- 
habt, und  das  hat  Wolff  durch  diese  Gegenüberstellung  klar  gemacht. 
Neben  dieser  Grundunterscheidung  tritt  bei  Wolff  eine  zweite 
in  Kraft,  welche,  seit  Aristoteles  üblich,  gleichfalls  auf  Bestim- 
mungen des  Leibnizschen  Systems  beruhte  und  auch  von  Thomasius 
angenommen  worden  war.  Leibniz  hatte  in  jeder  Monade  neben 
der  Vorstellungstätigkeit  den  Trieb,  von  einer  Vorstellung  zur 
andern  fortzugehen,  neben  der  »vis  repraesentativa «  die  »vis 
appetitiva«,  neben  dem  Erkenntnisvermögen  das  Begehrungsver- 
mögen angenommen.     Wie  bei  Thomasius  ergibt  sich  daraus  bei 


System  der  Wissenschaften. 


521 


Wolff  eine  Einteilung  der  theoretischen  und  der  praktischen  Philo- 
sophie, wodurch  die  antike  Scheidung  auch  in  seiner  Schule  herr- 
schend wurde.  Diese  Unterscheidung  hatte  jedoch  bei  Wolff  noch 
die  weitere  Bedeutung,  daß  darin  die  Absicht  seiner  Philosophie, 
nicht  bloß  theoretisch  aufzuklären,  sondern  zugleich  praktisch  zu 
wirken,  ihren  systematischen  Ausdruck  fand.  Die  Wissenschaft 
soll  nicht  nur  lehren,  wie  alles  was  ist  möglich  ist,  sondern  auch, 
wie  der  Mensch  vernünftig,  glücklich  und  nützlich  leben  soll. 

Wie  nun  aber  für  das  Erkenntnisvermögen,  so  gibt  es  auch 
für  das  Begehrimgsvermögen  jene  Unterscheidung  des  Unklaren 
und  Verworrenen  auf  der  einen  Seite,  des  Klaren  und  Deutlichen 
auf  der  andern  Seite,  des  sinnlichen  Triebes  und  des  vernünftigen 
Willens  oder,  im  Parallelismus  zu  der  theoretischen  Unterscheidung, 
des ,  niederen  und  des  höheren  Begehrungs Vermögens.  Auf  der 
Kreuzung  dieser  beiden  Gegensätze  beruht  endlich  folgendes  Schema 
der  Wolff  sehen  Enzyklopädie: 


Oberes  Erkenntnisvermögen 

Unteres  Erkenntnisvermögen    1 

■ 

Vis 

repraesen-» 

tativa 

Ontologie  (            ( Bationale The- 
nnd       1  Pneu- )         ologie 

Metaphy-<  matik  j  Rationale  Psy- 
sik                     l       chologie 

l  Rationale  Kosmologie 

Teleologie                      1          .  . 
1  empm- 

empirische  Psychologie  |  _,£    e. 
Physik  u.  bes.  NaturwJ  i-^one 

theoretische 
>     Wissen- 
schaften 

Vis 

appetitiva 

Allg.  prakt.  Philos.f  Ethik 
und             {  Politik 
Naturrecht        l  Ökonomik 

Technologie  od.  enipir.  Praxis 

praktische 
Wissen- 
schaften 

Wissenschaften  a  priori 

(Vernunft Wissenschaften  oder 

Philosophie) 

Wissenschaften  a  posteriori 
(Erfahrungswissenschaften) 

Allen  diesen  Disziplinen  voran  schickt  Wolff  die  Logik  als  die 
Technik  des  wissenschaftlichen  Verfahrens.  Die  Ausführung  dieser 
Theorie  zeigt  alle  Vorzüge  und  alle  Schwächen  des  Mannes.  Ihre 
systematische  Vollständigkeit  und  sorgfältige  Bedächtigkeit  artet  in 
pedantische  Breite  und  lächerliche  Mikrologie  aus,  und  bei  allem 
Umfang  und  aller  Keinlichkeit  der  Deduktion  vertritt  sie  doch 
eigentlich  keinen  originellen  Gedanken.  Sie  hält  sich  in  der  Lehre 
von  der  Verdeutlichung  der  Vorstellungen  an  Leibniz,  in  derjenigen 
von  den  Definitionen  an  Tschirnhaus  und  sucht  deren  Gedanken 


522  Wolff. 

möglichst  miteinander  zu  vermitteln.  Sehr  bezeichnend  aber  für 
seinen  ganzen  Standpunkt  ist  es,  daß  er  den  Unterschied  der  »ars 
demonstrandi «  und  der  »ars  inveniendi «  trotz  einiger  Anläufe  wieder 
aufgibt.  Wolff  hatte  nichts  zu  suchen':  seine  ganze  Philosophie 
war  eine  Beweiskunst;  wie  er  selbst  den  Inhalt  seiner  Weltan- 
schauung im  wesentlichen  von  Leibniz  übernahm  und  ihn  nur  in 
ein  demonstratives  System  brachte,  so  setzt  auch  seine  Logik 
überall  die  Wahrheit  teils  in  Axiomen,  teils  in  Tatsachen  als  schon 
vorhanden  voraus  und  will  nur  den  Weg  für  ihre  Wissenschaft; 
liehe  Begründung  aufzeigen.  In  dieser  Beziehung  muß  nament- 
lich hervorgehoben  werden,  daß  die  dogmatische  Verwechslung 
von  Erkenntnisgründen  und  Realursachen  von  niemandem  syste- 
matischer betrieben  worden  ist  als  von  Wolff,  und  daß  ihm  des- 
halb der  logische  Vorgang  der  Determination/d.  h.  die  Ableitung 
eines  Begriffs  aus  seinem  Gattungsbegriffe  durch  Hinzufügung  des 
spezifischen  Merkmals: als  das  Abbild  der  wirklichen  Entstehung 
des  Gegenstandes  erscheint,  welche  danach  eine  unbestimmte 
Möglichkeit  und  einen  zureichenden  Grund  der  Wirklichkeit  (unter 
dem  Namen  des  »complementum  possibilitatis  «)  voraussetzt.  Diese 
Untersuchungen  greifen  schon  aus  der  Logik  in  das  Gebiet  der 
Ontologie  oder  der  Grundlage  aller  metaphysischen  Wissenschaften 
über,  und  in  beiden  erweist  sich  Wolff  durchaus  als  moderner 
Scholastiker.  Wie  seine  Logik  nur  für  die  demonstrative  Wissen- 
schaft da  ist,  so  soll  die  Ontologie  aus  logischen  Bestimmungen 
die  allgemeinsten  Wahrheiten  ableiten  und  die  der  ganzen  Weltauf- 
fassung zugrunde  liegenden  Begriffe  entwickeln.  Die  scholastischen 
Neigungen  seines  Meisters  Leibniz  hatten  ihm  hierin  vorgearbeitet. 
So  sehr  aber  dieses  ganze  System  von  der  späteren  Entwicklung 
des  Denkens  über  den  Haufen  geworfen  worden  ist,  so  groß  ist 
doch  sein  historischer  Einfluß  nicht  nur  auf  die  Philosophie, 
sondern  auch  auf  die  übrigen  Wissenschaften  gewesen.  Aus 
dem  Ganzen  heraus  wurde  hier  jeder  der  Grundbegriffe,  mit  denen 
die  wissenschaftliche  Erkenntnis  wie  das  gewöhnliche  Leben  die 
Auffassung  der  Dinge  durchsetzt,  sauber  definiert  und  termino- 
logisch sowohl  in  lateinischer  als  auch  in  deutscher  Sprache  fixiert, 
und  diese  Wolffschen  Bestimmungen  haben  auf  mehr  als  ein  halbes 
Jahrhundert  mit  der  Sprache  auch  die  Gedanken  der  deutschen 
Wissenschaft  beherrscht. 


Verhältnis  zur  Monadologie.  528 

Dieselbe  trockene  Verständigkeit,  die  sich  in  der  Form  der 
Wolffschen  Lehre  ausspricht,  macht  auch  ihren  Inhalt  aus.  Das 
zeigt  sich  vor  allem  in  der  Abschwächung  der  Leibnizschen  Mona- 
dologie. Zwar  hielt  Wolff  daran  fest,  daß  alle  Substanzen  einfache 
Kräfte  seien,  die  sich  in  einer  stetigen,  aus  ihrem  inneren  Triebe 
folgenden  Bewegung  befinden;  allein  er  vermochte  der  originellen 
Anwendung,  die  Leibniz  von  dieser  Auffassung  für  die  Betrachtung 
der  Körper  gemacht  hatte,  nicht  zu  folgen  und  hob  den  ganzen 
Zusammenhang  von  dessen  großartigem  Entwicklungssystem  wieder 
auf,  indem  er  nur  die  Seelen  als  vorstellende  Kräfte  gelten  ließ. 
Für  die  Körper  hielt  er,  da  sie  teilbar  sind,  den  Begriff  der  Substanz 
im  eigentlichen  Sinne  für  unanwendbar.  Es  stimmte  noch  mit 
dem  Leibnizschen  Prinzip,  wenn  er  sie  als  »phaenomena  sub- 
stantiata«  bezeichnete:  aber  die  Substanzen,  die  ihnen  zugrunde 
liegen,  erklärte  er  zwar  auch  für  einfach,  unräumlich  und  in  sich 
selber  tätig,  aber  nicht  für  seelischer  Natur.  Daß  die  ganze  Welt 
ein  innerliches  Vorstellungsleben  führen  sollte,  kam  dem  nüchternen 
Systematiker  doch  allzu  phantastisch  vor.  Die"" materiellen  Sub- 
stanzen sind  danach  bei  Wolff  weder  Monaden  noch  auch  Atome, 
sondern  ein  unbestimmtes  Mittleres  zwischen  beiden,  dessen  innere 
Qualität  nicht  bestimmt  werden  kann.  Um  so  größer  ist  natürlich 
für  ihn  die  Schwierigkeit,  die  ausgedehnte  Natur  der  Körper  aus 
ler  Komplexion  dieser  einfachen  Substanzen  abzuleiten.  Der  Raum 
st  nach  ihm  weder  etwas  substantiell  Existierendes,  noch  wie  für 
Leibniz  die  Vorstellungsform  der  Koexistenz,  sondern  er  gibt  der 
Lehre  von  dem  »phaenomenon  bene  fundatum«  die  mehr  objektive 
Wendung,  daß  die  räumliche  Ausdehnung  ein  gemeinsames  Kraft- 
Erzeugnis  der  den  Körper  bildenden  unräumlichen  Substanzen  sei, 
)bwohl  natürlich  auch  nicht  eine  Spur  von  anschaulicher  Vor- 
stellung darüber  gegeben  werden  kann,  wie  nun  eigentlich  diese 
Substanzen  den  Raum  zustande  bringen.  Im  übrigen  schließt  er 
lieh  in  der  Naturphilosophie  durchaus  an  Leibniz  an  und  reproduziert 
lessen  Theorien  von  der  Erhaltung  der  lebendigen  Kraft,  von  dem 
besetze  der  Kontinuität  und  von  der  Unmöglichkeit  einer  Wirkung 
n  die  Ferne.  Gegen  die  mathematisch-mechanische  Naturauffassung 
/erhält  er  sich  zwar  nicht  ablehnend,  spricht  ihr  jedoch,  da  sie 
's  nur  mit  einem  nebensächlichen  Kraftprodukt  der  einfachen  Sub- 
tanzen  zu   tun  hat,  einen  noch  viel  geringeren  Wert  zu,  als  es 


524  Wolff. 

Leibniz  getan  hatte.  An  ihre  Stelle  hätte  bei  Wolff  eigentlich  die 
Lehre  von  den  inneren  Qualitäten  der  ^einfachen  Substanzen  und 
von  deren  gesetzmäßiger  Tätigkeit  treten  müssen:  von  diesen  weiß 
er  jedoch  nur  zu  sagen,  daß  ihrerv  unendlich  viele 'sind,  und  daß 
nach  dem  von  Leibniz  aufgestellten  »principium  identitatis  indis- 
cernibilium«  keine  darunter  der  anderen  vollkommen  gleich  sei. 
Ununtersch eidbar  sind  nur  einmal  gelegentlich  die  verworrenen, 
d.  h.  sinnlichen  Vorstellungen,  die  wir  von  den  Substanzen  haben: 
die  denkende  Erkenntnis  muß  jeden  Inhalt  von  jedem  anderen 
genau  zu  unterscheiden  wissen. 

Mit  der  vollständigen  Durchführung  der  Monadologie  fiel  auch 
derjenige  von  Leibniz'  Gedanken  dahin,  welcher  das  innerliche 
Band  aller  übrigen  gebildet  hatte :  die  prästabilierte  Harmonie.  Ihre 
metaphysische  Geltung  war  aufgehoben,  sobald  es  noch  andere  als 
vorstellende  Substanzen  gab;  denn  nur  mit  Zuhilfenahme  der < un- 
bewußten Vorstellungstätigkeit  hatte  jede  Monade  als  Spiegel  dei 
Welt  gelten  können.  Die  Folge  davon  war  die,  daß  Wolff  den 
»influxus  physicus«  wieder  einführte.  Es  war  das  eine  ähnliche 
Rückkehr  zu  Descartes,  wie  sie  sich  schon  in  der  Annahme  einei 
Verschiedenheit  zwischen  vorstellenden  und,  materiellen  Substanzen 
aussprach.  Wolff  beschränkt  die  Hypothese  der  prästabilierten 
Harmonie  in  einseitiger  Weise  auf  das  Verhältnis  des  Leibes  zui 
Seele,  bzw.  des  gesamten  materiellen  zu  dem  gesamten  immateriellen 
Leben,  obwohl  selbst  diese  allgemeinere  Auslegung  nur  schwach 
angedeutet  ist.  Doch  zeigt  sich  der  Zug  dieser  Lehre  wenigstens 
insofern  mächtig,  als  er  auch  bei  Wolff  zum  vollständigen  Deter- 
minismus führt.  Das  geschieht  um  so  mehr,  als  Wolff  im  Gegen- 
satze zu  Thomasius  und  im  engsten  Anschluß  an  Leibniz  den  Willer 
überall  durch  die  Vorstellungstätigkeit  bestimmt  denkt.  Seine 
psychologischen  und  ethischen  Ausführungen  sind  deshalb  gleich- 
falls vom  strengsten  Rationalismus  beherrscht.  Hausbackene 
Vernünftigkeit  ist  auch  hier  der  Grundcharakter,  und  alles  läuft 
darauf  hinaus,  daß  man  nichts  tun  soll,  was  man  nicht  wohl  über 
legt  und  was  man  nicht  dabei  als  richtig  aus  vernünftigen  Prinzipier 
erkannt  hat.  Auch  das  moralische  Leben  möchte  Wolff  wie  da.' 
wissenschaftliche  zu  einem  logischen  Systeme  machen,  und  dei 
rationalistische  Grundgedanke,  daß  die  gute  Handlung  nur  die 
jenige  ist,  welche  sich  vor  der  Vernunft  rechtfertigen  kann,  wm 


Staatslehre.  525 

bei  ihm  zu  der  Forderung,  daß  die  Triebfeder  der  sittlichen  Hand- 
lung nur  die  vernünftige  Überlegung  sei.  In  diesem  Systeme 
spricht  das  Herz  nicht  mehr  mit;  der  klare  Verstand  ist  alles, 
worauf  es  ankommt,  und  in  seiner  Ausbildung  liegt  deshalb  der 
Schwerpunkt  auch  des  sittlichen  Lebens.  Alles  Streben,  entwickelt 
Wolff ,  ist  auf  Vollkommenheit  und  Vervollkommnung  gerichtet :  da 
die  menschliche  Seele  eine  vorstellende  Substanz  ist  (auch  hierin  be- 
sieht er  sich  direkt  auf  Descartes),  so  liegt  ihre  Vervollkommnung  nur 
n  der  Richtung  der  Klarheit  und  Deutlichkeit  ihrer  Vorstellungen. 
Eine  detailliertere  Darstellung  dieses  Lehrgebäudes  würde  nur 
die  systematische  Reproduktion  zeigen  können,  die  Wolff  den 
vor  ihm  entwickelten  Gedanken  der  Rationalisten  gab.  In  der 
Hauptsache  hielt  er  sich  überall  an  Leibniz,  ohne  jedoch  sich  ihm 
gänzlich  zu  unterwerfen  oder  anderseits  der  Tiefe  seiner  Meta- 
physik gerecht  zu  werden.  Namentlich  in  der  praktischen  Philo- 
sophie zeigt  er  sich  daneben  stark  von  Grotius  und  Pufendorf  be- 
einflußt, verfährt  aber  in  der  Auffassung  des  politischen  und 
sozialen  Zusammenhanges  der  Menschheit  gänzlich  nach  dem  indi- 
vidualistischen Prinzip  des  Aufklärungszeitalters.  Die  Ordnungen 
les  Staates  und  der  Gesellschaft  sind  ihm  nur  um  der  Individuen 
villen  da.  Sie  sind  lediglich  die  Mittel,  vermöge  deren  das  Indi- 
viduum seine  Aufgabe  am  besten  erfüllt.  Die  Vervollkommnung 
les  einzelnen  bleibt  das  höchste  Ziel,  aber  sie  ist  nur  in  der  Gesell- 
chaft  möglich.  Wie  das  ganze  XVIII.  Jahrhundert,  betrachtet  Wolff 
staat  und  Gesellschaft  als  Dinge,  die  man  in  den  Kauf  nehmen 
nuß,  weil  man  ohne  sie  den  Zweck  der  eigenen  Vervollkommnung 
dcht  erreichen  kann.  Aber  in  keinem  Lande  hat  dieses  Prinzip 
ine  so  kleinliche  Durchführung  gefunden  wie  in  Deutschland.  Den 
)eutschen  fehlte  eben  mit  einem  nationalen  Staate  auch  das  Gefühl 
ür  den  selbständigen  sittlichen  Wert  des  staatlichen  Zusammen- 
langes,  und  wenn  sie  im  Staate  nur  eine  Maschinerie  für  die  Siche- 
ung  von  Leben  und  Eigentum  und  für  die  Befriedigung  der  indi- 
'iduellen  Bedürfnisse  sahen,  so  war  das  in  einem  Lande  entschuld- 
>ar,  dessen  Bewohner  die  staatliche  Macht  nur  als  Polizei  kannten. 
)as  Höchste,  wozu  Wolff  sich  in  dieser  Hinsicht  erhob,  war  das 
/erlangen,  daß  der  Staat  vor  allem  auch  für  die  wertvollste  Auf- 
abe  des  Individuums,  für  seine  geistige  Aufklärung,  zu  sorgen 
abe.     Er  entnahm  das  Vorbild  für  die  Zeichnung,  die  er  dabei 


,*TZ  >*,«»•*,-. 


526  Wolff. 

ausführte,  der  Regierung  des  Königs,  dem  er  die  ruhmvolle  Er- 
neuerung seiner  alten  Wirksamkeit  verdankte,  und  der  sich  seiner 
Schüler   nannte:  Wolffs  Staatslehre   ist   der  Typus   jenes   aufge- 
klärten Despotismus,  mit  dem  Friedrich  der  Große  das  viel  kopierte 
Vorbild  für  die  deutschen  Fürsten  in  der  zweiten  Hälfte  des  voriger 
Jahrhunderts  wurde.     Wolff  entwirft  einen  Polizeistaat,  der  siel 
um  alles  kümmern  soll,  aber  um  alles  zum  Wohle  des  Volkes  und  ziu 
Aufklärung  der   Bürger.     Dieser  wohlwollende  Despotismus   wa: 
das  höchste  Ideal,  zu  welchem  sich  der  deutsche  Philister  auf 
zuschwingen  vermochte.     Wohl  empfand  auch  er  den  politischei 
und  sozialen  Druck,  der  auf  dem  Volke  lastete,  und  der  in  Deutsch 
land  um  so  empfindlicher  war,  als  er  nicht  von  einem  imponierende] 
Nationalstaate,  sondern  von  einer  Reihe  kleiner  Dutzend- Potentatei 
ausgeübt  wurde.    Aber  der  tiefe  Niedergang  des  politischen  Leben 
hatte  ihm  jeden  Gedanken  an  eine  politische  Selbstbestimmmi 
geraubt,  und  seine  einzige  Hoffnung  war  die,  einmal  einen  auf 
geklärten  Fürsten  zu  finden,  der  als  ein  gütiger  Vater  ihm  übe 
Nacht  einen  behaglichen  Zustand,  eine  freiere  Bewegung  und  ei 
gewisses  Maß  persönlicher  Berechtigung  schenken  würde.    Daß  e 
diese  Hoffnung  erfüllte,   war  ein  Hauptgrund  für  die  gewaltig 
Popularität  Friedrichs  des  Großen ;  er  war  das  Ideal  des  Herrschen 
wie  ihn   das  Zeitalter   der  Aufklärung  sich  dachte,  und  dies  ha- 
ihm  neben  der  persönlich  beeinflußten  Bewunderung,  die  ihm  Wol. 
darbrachte,  das  schwerer  wiegende  Lob  Kants  eingetragen. 

Einen  ähnlichen  Kompromiß  zwischen  den  gegebenen  Zustände 
und  den  Forderungen  der  Aufklärung  vertritt  Wolff  auf  reli 
giösem  Gebiete.  Er  prägt  hier  die  Vereinbarkeit  von  Offei 
barung  und  Vernunft  in  dem  Geiste  von  Leibniz  noch  energische 
nach  beiden  Seiten  hin  aus.  Auf  der  einen  Seite  verlangt  er  d 
völlige  Vernünftigkeit  der  Offenbarung  und  will  nur  solche  Offei 
barungen  für  gültig  erachten,  welche  dem  Menschen  um  sein« 
religiösen  Lebens  willen  unbedingt  nötig  sind,  dabei  aber  durch  d 
menschliche  Vernunft  auf  keine  Weise  hätten  gefunden  werde 
können,  und  er  fügt  hinzu,  daß  diese  ihre  ~Übervernünftigkeit  ni 
mals  bis  zur  Widervernünftigkeit  führen  dürfe.  Auf  der  andere 
Seite  aber  ist  er  persönlich  überzeugt,  daß  die  in  den  religiöse 
Urkunden  des  Judentums  und  des  Christentums  niedergelegten  Offei 
barungen  diesen  vernünftigen  Kriterien  vollkommen  entspreche 


Religionsphilosophie.  527 

wovon  er  freilich  klug  genug  ist,  den  Beweis  der  Theologie  in  die 
Schuhe  zu  schieben.  Bei  diesen  Bestimmungen  ist  es  erklärlich, 
wie  in  dem  breiten  Rahmen  seiner  Schule  später  sowohl  der 
Deismus  als  auch  der  Orthodoxismus  Platz  fanden :  man  gelangte  zu 
dem  ersteren,  wenn  man  die  Lehre  von  den  vernünftigen  Kriterien 
der  Offenbarung  energisch  fortführte,  zu  dem  letzteren,  wenn  man 
den  Glauben  an  die  Vernünftigkeit  der  positiven  Dogmen  zur  Richt- 
schnur nahm.  Jedenfalls  aber  schied  Wolff  die  Theologie  der  Offen- 
barung von  den  eigentlichen  Aufgaben  der  Philosophie  aus  und 
beschränkte  die  letztere  rücksichtlich  dieses  Gegenstandes  auf  die 
natürliche  Theologie  oder  die  Vernunftreligion.  Diese  aber  mußte 
dem  allgemeinen  Prinzip  seiner  Enzyklopädie  gemäß  in  zwei 
parallelen  Wissenschaften  oder  Betrachtungsweisen  sich  entwickeln : 
einerseits  begrifflich  und  anderseits  empirisch.  So  gibt  es  für 
Wolff  neben  der  rationalen  Theologie  gewissermaßen  noeh  eine 
empirische  Theologie.  In  der  ersteren  werden  der  ontologische  und 
der  kosmologische  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  ganz  in  den  her- 
gebrachten Formen  und  der  letztere  mit  den  von  Leibniz  hinzu- 
gefügten Wendungen,  vermöge  deren  aus  der  Zufälligkeit  der  Welt 
auf  die  Existenz  einer  absolut  notwendigen  Ursache  davon  ge- 
schlossen wird,  mit  aller  Ausführlichkeit  beigebracht.  Der  empirische 
Teil  der  Theologie  dagegen  ist  eine  breit  angelegte  Detaillierung  des 
physiko-theologischen  Beweises.  Die  Tatsachen,  welche  hier  ver- 
wendet werden,  sind  diejenigen  der  Zweckmäßigkeit  aller  Dinge, 
und  aus  ihnen  werden  dann  die  Eigenschaften  der  Güte  und  Weisheit 
des  Weltschöpfers  erschlossen.  Die  Teleologie  von  Wolff  ist 
aber  eine  wesentlich  andere  als  diejenige  von  Leibniz.  Zwar  be- 
wegt er  sich  vielfach  in  den  Gedanken  der  Theodicee,  und  die  Lehre 
von  der  besten  unter  den  möglichen  Welten  war  in  seiner  Schule 
eins  der  beliebtesten  und  populärsten  Themata.  Aber  er  gab 
dem  Begriffe  der  Zweckmäßigkeit  eine  viel  niedrigere  Tendenz, 
als  es  Leibniz  getan  hatte.  Auch  das  hing  in  letzter  Instanz  damit 
i  zusammen,  daß  er  die  Monadologie  und  den  eigentlichen  Sinn 
der  prästabilierten  Harmonie  fallen  gelassen  hatte.  Für  Leibniz 
war  der  Zweck  der  Weltschöpfung  die  Realisierung  der  unendlichen 
Vorstellungswelt  der  Gottheit  gewesen ;  für  ihn  bestand  deshalb  die 
Zweckmäßigkeit  der  Dinge  darin,  daß  sie  diese  ihre  innere  Har- 
monie gerade  durch  den  Mechanismus  ihrer  Vorstellungsentfaltung 


528  Wolff. 

in  jedem  Augenblicke  bekunden.  Dieses  Entwicklungssystem, 
diesen  Gedanken  der  immanenten  Zweckmäßigkeit  hatte  Wolff 
nicht  begriffen.  Er  konnte  deshalb  der  Weltschöpfung  keinen 
anderen,  als  den  im  theologischen  Sinne  gedachten  Zweck  unterlegen, 
daß  die  Gottheit  das  Bedürfnis  gehabt  habe,  ihre  Güte  und  Weisheit 
von  intelligenten  Wesen  bewundert  zu  sehen.  Der  Schwerpunkt 
der  Teleologie  lag  für  ihn  somit  darin,  daß  Wesen  vorhanden  sind, 
welche  dieser  Bewunderung  fähig  sind,  und  der  zweckmäßige  Ver- 
lauf des  Weltgeschehens  hatte  für  ihn  nur  den  Sinn,  daß  diese 
Wesen  wirklich  zu  dieser  Bewunderung  kommen.  Da  nun  unter 
den  erfahrungsmäßigen  Wesen  dies  lediglich  dem  Menschen  zu- 
kommt, so  lief  Wolffs  Teleologie  darauf  hinaus,  zu  zeigen,  wie 
zweckmäßig  diese  ganze  Welt  für  den  Menschen,  bzw.  für  die  hypo- 
thetischen, menschenähnlichen  Bewohner  anderer  Gestirne  durch- 
gehends  angelegt  ist.  So  verkleinerte  sich  der  Leibnizsche  Gedanke 
bei  Wolff  zu  einer  an  die  stoischen  Betrachtungen  erinnernden 
anthropologischen  Teleologie.  Sein  und  seiner  Schüler  Ge- 
sichtskreis war  in  cKeser  Hinsicht  ein  unglaublich  beschränkter. 
Sie  wußten  an  allen  Einrichtungen  der  Welt  nichts  weiter  zu  rühmen 
als  die  Förderung,  welche  sie  dem  Menschen  geben,  und  gerieten 
dabei  in  eine  so  geradezu  komische  Kleinlichkeit  hinein,  daß  sie 
den  Spott  nicht  nur  Voltaires,  sondern  z.  B.  auch  Maupertuis'  her- 
vorriefen. An  die  Stelle  der  Zweckmäßigkeit  war  die  Nützlichkeit 
getreten,  und  mit  lächerlicher  Borniertheit  wurden  die  großen  Zu- 
sammenhänge des  Universums  ebenso  wie  jede  kleinste  Erscheinung 
des  Erdenlebens  daraufhin  geprüft,  welchen  Nutzen  sie  für  das 
menschliche  Leben  gewähren.  Die  religiöse  Folgerung  dieser 
empirischen  Theologie  war  selbstverständlich  ein  pedantisches 
Moralisieren.  Wolff  ergriff  den  großen  Gedanken  von  Leibniz,  daß 
der  Mensch  der  Gottheit  am  besten  durch  seine  Aufklärung  diene, 
und  wendete  ihn  dahin,  daß  man  in  allen  Dingen  des  Schöpfers 
gütige  Absicht  erkennen  und  d.urch  ihre  Bewunderung  zur  Erfüllung 
jenes  höchsten  Weltzwecks  beitragen  müsse.  Der  Mensch  ist  ge- 
schaffen, um  die  Gottheit  zu  bewundern,  und  die  übrigen  Dinge  sind 
dazu  da,  um  dem  Menschen  zu  nützen  und  so  dieser  Bewunderung 
zur  Grundlage  und  zur  Veranlassung  zu  dienen. 

Trotz  dieser  Beschränktheit  hatte  die  Wolffsche  Philosophie  in 
Deutschland  einen  unvergleichlich  ausgebreiteten  Erfolg,  und  man 


Historische  Bedeutung  529 

darf  nicht  sagen,  daß  sie  nur  schädliche  Wirkungen  ausgeübt  hätte./ 
Gewiß  beförderte  sie  wie  niemals  eine  andere  Denkart  die  Sucht, 
alles  beweisen  zu  wollen  und  nur  das  Beweisbare  gelten  zu  lassen, 
und  sie  gab  der  deutschen  Aufklärung  die  Richtung  auf  eine  trockene 
Verständigkeit,  in  der  sie  kühl  an  dem  Wertvollsten  vorüberging, 
wenn  es  nicht^  beweisbar  war.  Sie  beschränkte  das  Denken  auf 
den  geringen  Kreis  der  Vorstellungen,  die  der  logischen  Zergliederung 
des  Verstandes  bequem  zugänglich  sind,  und  entschädigte  für  diesen 
Mangel  an  Inhalt  durch  eine  behagliche  Breite  der  Verarbeitung 
ihrer  Prinzipien.  Sie  war  deshalb  so  recht  eine  Philosophie  für  den 
Durchschnittsmenschen,  der  das  wenige,  was  er  begreifen  kann, 
in  recht  stattlicher  Auseinanderlegung  und  mit  ordentlicher  Über- 
sichtlichkeit aufgestellt  haben  will,  um,  auf  diesen  schönen  Besitz 
pochend,  vornehm  alles  übrige  für  wertlos  zu  erklären.  Sie  war 
das  Werk  eines  vorzüglichen  Schulmeisters  und  schuf  einen  schul- 
meisterlichen Sinn,  der  die  ganze  Welt  unter  seine  paar  Formeln 
gebracht  zu  haben  wünschte.  Aber  sie  besaß  auf  der  anderen 
Seite  nicht  minder  große  Vorzüge.  Sie  gewöhnte  die  Menschen 
an  logische  Sauberkeit,  an  eine  methodische  Anordnung  ihrer 
Gedanken  und  an  eine  reinliche  Prüfung  ihrer  Erkenntnisse.  Da- 
durch, daß  ihr  logischer  Schematismus  die  Grundlage  des  deutschen 
Universitätsunterrichts  wurde,  erzog  sie  die  Nation  zum  strengen, 
methodischen  Denken.  Wolff  war  der  logische  Schulmeister  des 
deutschen  Volkes,  und  Kant  hat  ihn  damit  geehrt,  daß  er  ihn  den 
Urheber  des  Geistes  der  Gründlichkeit  nannte.  Man  darf  diese 
Wirksamkeit  nicht  unterschätzen.  Sie  hatte  in  der  Entwicklung 
der  Deutschen  einen  außerordentlich  großen  Kulturwert.  Als  in 
der  zweiten  Hälfte  des  XVIII.  Jahrhunderts  die  Ideen  der  antiken 
und  der  modernen  Kultur  mit  lebhaftem  Wechselspiel  und  gegen- 
seitiger Durchdringung  in  die  geistige  Welt  der  Deutschen  einström- 
ten, als  der  Aufschwung  der  nationalen  Literatur  eine  reiche  Fülle 
lebendiger  Gedanken  erzeugte,  da  erwies  sich  der  Segen  dieser 
formalen  Durchbildung.  Für  die  glückliche  Verarbeitung  dieser 
gärenden  Gedankenmassen  war  die  Gewöhnung  an  logische  Klarheit 
eine  ganz  unentbehrliche  Vorbereitung,  und  das  Geschick  des 
deutschen  Volkes  hatte  es  glücklich  gefügt,  daß  die  Nation  eine 
pedantische  Schule  durchgemacht  hatte,  ehe  sie  zur  freien  Be- 
tätigung ihres  geistigen  Lebens  gelangte,  und  daß  sie  die  logischen 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phi los.  I.  34 


530  Schule  Wolffs. 

Formen  gelernt  hatte,  mit  denen  sie  nun  den  Reichtum  der  nei 
gewonnenen  Gedanken  meistern  konnte.  Wenn  die  deutsche 
Philosophie  im  Anfang  unseres  Jahrhunderts  eine  Art  von  Triumph- 
zug durch  das  Reich  der  Ideen  machte,  so  waren  ihr  die  Bahner 
dazu  durch  die  Gewöhnung  an  das  methodische  Denken  durcl 
Wolff  vorgezeichnet,  und  diese  Verknüpfung  des  großen  Gedanken 
inhaltes  mit  der  Strenge  seiner  Verarbeitung  ist  gerade  am  bester 
durch  die  Persönlichkeit  Kants  charakterisiert.  Kant  wäre  nie 
mals  der  Vater  einer  neuen  Philosophie  geworden,  wenn  er  nicht 
den  Schematismus  der  Schule  mit  seinen  Ideen  durchbrochen  hätte 
aber  er  wäre  es  ebensowenig  geworden,  wenn  er  nicht  dieser  Ideei 
durch  die  strenge  Schulung  seines  »architektonischen«  Denken 
Meister  gewesen  wäre. 

Den  Schülern  Wolffs  blieb  wenig  zu  tun.  Ihr  System  wa 
fertig,  und  sie  konnten  daran  nur  hie  und  da  etwas  ausbessern 
Sie  beschränkten  sich  daher  in  der  Hauptsache  darauf,  in  meh 
oder  minder  kompendiösen  Lehrbüchern  die  einzelnen  Teile  z 
reproduzieren  und  womöglich  noch  mehr  in  das  einzelne  auszn 
arbeiten.  Zum  größten  Teil  Universitätsprofessoren,  gaben  si 
ihre  nach  Wolff  scher  Methode  ausgearbeiteten  Kollegienhefte  i 
lateinischer  oder  deutscher  Sprache  heraus  und  machten  sich  di 
mit  teilweise,  wo  ihnen  die  didaktische  Seite  dieser  Aufgabe  b* 
sonders  geglückt  war,  einen  Namen,  der  die  Zeit  ihrer  Schulhen 
schaft  nicht  überdauert  hat.  Die  Geschichte  der  Philosophie  ha 
da  sie  neue  Gesichtspunkte  nicht  aufstellten  und  noch  weniger  ai 
den  Bahnen  der  vorgeschriebenen  Methode  herausgingen,  keine  Ve: 
anlassung,  bei  ihnen  zu  verweilen:  in  den  Handbüchern  sind  ihi 
Namen  und  die  Titel  ihrer  Bücher  verzeichnet.  Nicht  einmal  d( 
innerhalb  der  Schule  selbst  und  zum  Teil  auch  mit  ihren  Gegner 
geführte  Streit  über  die  mehr  oder  minder  weit  auszudehnenc 
Geltung  oder  gar  über  die  völlige  Verwerfung  der  prästabi Herta 
Harmonie  zugunsten  des  influxus  physicus,  —  nicht  einmal  die: 
anfangs  sehr  lebhaft  geführte  Kontroverse  kann  auf  allgemeine: 
Bedeutung  oder  auf  Fruchtbarkeit  an  neuen  Gedanken  Anspruc 
erheben. 

Die  erste  Verbreitung  fand  die  Wolffsche  Philosophie  durch  df 
persönlichen  Freund  ihres  Urhebers  Philipp  Thümming  (16£ 
bis  1728);  den  meisten  Ruhm  unter  den  späteren  Schülern  genc 


Philosophie  und  Dichtung.  531 

vielleicht  Georg  Bernhard  Bilfinger  (1693 — 1750),  der  auch 
eine  Geschichte  der  Leibniz- Wölfischen  Schule,  beinahe  die  Ge- 
schichte der  damaligen  deutschen  Universitäten,  hinterlassen  hat. 
Die  größte  Verbreitung  dagegen  fanden  die  Lehrbücher  von 
Alexander  Gottlieb  Baumgarten  (1714 — 1762),  der  noch 
in  anderer  Beziehung  zu  erwähnen  sein  wird.  Die  große  Mehr- 
zahl dieser  vorschriftsmäßigen  Wolffianer  stand  auf  dem  orthodoxen 
Standpunkte  der  protestantischen  Lehre  und  hielt  wie  der  Meister 
an  der  Identität  der  Vernunftreligon  mit  dem  positiven  Dogma 
fest.  So  kam  es,  daß  die  Anfeindungen,  die  Wolff  selbst  und  an- 
fänglich noch  seine  Schüler  von  den  kirchlich  Gesinnten  erfahren 
hatten,  nach  und  nach  schwiegen  und  auf  den  deutschen  Univer- 
sitäten ein  Friede  zwischen  Theologie  und  Philosophie,  wie  ihn 
Leibniz  gewünscht  hatte,  lange  Zeit  zur  Herrschaft  kam.  Selbst 
der  Pietismus  bequemte  sich  in  so  tüchtigen  Vertretern,  wie  es 
z.  B.  Schulz  in  Königsberg  war,  zu  einer  gewissen  Anerkennung 
der  anfangs  so  heftig  verfolgten  Lehre.  Man  gewöhnte  sich,  die 
Wolffsche  Philosophie  als  eine  rechtgläubige  anzusehen,  und  sie 
nahm  die  Stellung  der  protestantischen  Scholastik  ein,  die  früher 
der  Melanchthonianismus  innegehabt  hatte.  Gerade  diejenigen 
unter  den  Orthodoxen,  welche  sich  dem  Fortschritte  der  modernen 
Wissenschaft  nicht  ganz  verschlossen,  waren  damit  einverstanden. 
An  der  Stelle  von  Aristoteles  hatte  man  Leibniz  und  Wolff,  und  die 
moderne  Philosophie  schien  wieder  der  Theologie  den  alten  Dienst 
zu  leisten,  daß  sie  das  Kirchendogma  als  vernünftig  bewies. 

Inzwischen  wurde  die  deutsche  Philosophie  schon  auf  diesem 
Standpunkte  nach  einer  Richtung  gezogen,  die  für  ihre  folgende 
Entwicklung  immer  wichtiger  werden  sollte.  Der  deutsche  Geist 
begann  allmählich  aufzuatmen,  und  neben  dem  neuen  philo- 
sophischen Interesse,  das  er  durch  die  Wirksamkeit  der  Wolffschen 
Schule  für  die  Gedanken  von  Leibniz  gewann,  regte  sich  allerorten 
das  literarische  Leben  und  der  Sinn  für  die  Kunst.  Diese 
Gleichzeitigkeit  des  Aufschwunges  ist  für  die  weitere  Entwicklung 
beider  Interessen  entscheidend  geworden.  Die  deutsche  Philosophie 
fiel  in  eine  Zeit  der  lebhaftesten  Kunstbewegung,  und  die  schöne 
Literatur  fand  eine  philosophisch  angeregte  Gesellschaft  vor.  Da- 
gegen fehlte  in  Deutschland  dasjenige  Element,  welches  der  franzö- 
sischen Philosophie  ihre  Richtung  gegeben  hatte,  die  leidenschaftliche 

34* 


532  Philosophie  und  Dichtung. 

Diskussion  der  Probleme  des  öffentlichen  Lebens.     Der   Mangel 
des  nationalen  Zusammenhanges  ließ  diese  Fragen,  so  sehr  sie  sich 
im  einzelnen  aufdrängten,  in  dem  gemeinsamen  geistigen  Leben 
mehr  zurücktreten,  und  es  ist  oft  bemerkt  worden,  daß  die  Deutschen 
ihre  Nationalität,  die  sie  im  dreißigjährigen  Kriege  verloren  hatten, 
durch  ihre  Philosophie  und  vor  allem  durch  ihre  Literatur  wieder- 
gewonnen haben.    Was  die  deutschen  Geister  vereinte,  waren  nicht 
gemeinsame   Ziele   des   politischen   und   sozialen  Lebens,   sondern 
vielmehr    das    Interesse    für    wissenschaftliche    und    künstlerische 
Gegenstände,  ein  Interesse,  das  so  lebendig  und  so  leidenschaftlich 
wurde,  daß  ihm  später  mit  Recht  die  Zurückdrängung  des  Sinnes 
für  das  öffentliche  Leben  vorgeworfen  werden  konnte.     Da  abei 
so  die  Philosophie  und  die  Literatur  die  beiden  wesentlichen  Ver-  I 
einigungspunkte  für  das  neu  erwachende  Kulturleben  der  Deutscher 
bildeten,  so  war  es  eine  natürliche  Folge,  daß  diese  beiden  Be- 
strebungen inniger  und  dauernder  miteinander  verwuchsen,  als  dief 
bei  irgend  einer  anderen  Nation  der  Fall  gewesen  war.    Schon  mit 
der  Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts  begann  daher  die  Verschmel- 
zung   der    philosophischen    und    der    literarischen    Be- 
wegung,   welche    der    folgenden    Entwicklung    ihren    Charaktei 
aufgedrückt  hat.    Die  Blüte  der  deutschen  Kultur  um  die  Wende 
des  XVIII.  und  des  XIX.  Jahrhunderts,  die  eine  der  wertvollster 
Epochen  der   gesamten  Kulturgeschichte  ausmacht,   ist  nur  am 
dieser    gegenseitigen    Durchdringung    der    Philosophie    und    de] 
Dichtung  zu  verstehen.     Sie  tritt  auf  ihrem  Höhepunkte  in  der 
Romantikern  gewissermaßen   verkörpert  auf;   aber   schon   vorhe: 
ist  die  Tendenz  dieser  Vereinigung  nicht  nur  in  den  bedeutendster 
Persönlichkeiten,  sondern  auch  in  dem  allgemeinen  Zuge  der  ganzei 
Entwicklung  unverkennbar.   Literatur  und  Philosophie  dieser  ganzei 
Zeit  sind  ohne  einander  nicht  zu  verstehen  und  verdanken  einande: 
wechselseitige  Einflüsse  bald  fördernder,  bald  hemmender  Natur 
Für  diese  Vereinigung  gab  es  ein  Zwischenglied,  an  welchen 
beide  gleichmäßig  beteiligt  waren:  die  Ästhetik.     Freilich  hatt< 
auch    die    außerdeutsche    Aufklärungsphilosophie    in    ästhetischei 
Untersuchungen  mancherlei  Fühlung  mit  der  allgemeinen  Literatu: 
gesucht  und  gefunden.     Namentlich  die  psychologische  Neigung 
der  englischen  Philosophie  hatte  zu  vielen  derartigen  Versuchei 
geführt.     Aber  es  waren  das  doch  immer  nur  gelegentliche  Aus 


r  Gottsched.  533 


zweigungen  des  philosophischen  Denkens  geblieben.  Demgegenüber 
charakterisiert  sich  das  eigentümliche  Wesen  der  deutschen  Philo- 
sophie am  besten  durch  den  steigenden  Wert,  den  in  ihr  die  Ästhetik 
als  ein  integrierender  Bestandteil  des  philosophischen  Systems  selbst 
einnimmt,  und  der  schließlich  dahin  führte,  daß  der  ästhetische 
Gesichtspunkt  in  den  großen  nachkantischen  Systemen  sogar  zu 
dem  entscheidenden  für  die  ganze  Philosophie  gemacht  werden  sollte. 

Die  Anfänge  dieser  Bewegung  sind  sehr  unscheinbar  und  wunder- 
lich. Die  Wolf f sehe  Philosophie  mit  ihrem  dürren  Pedantismus 
schien  zunächst  weder  geneigt  noch  geeignet,  mit  dem  künstlerischen 
Leben  in  Verbindung  zu  treten,  und  der  erste  Versuch,  der  dazu 
gemacht  wurde,  war  für  die  schöne  Literatur  äußerst  unersprieß- 
lich. Wie  W^olff  für  die  deutsche  Philosophie,  so  wurde  einer  seiner 
Schüler,^  Gottsched,  zum  Schulmeister  für  die  deutsche  Poesie, 
und  die  Poesie  kann  freilich  das  Schulmeistern  noch  etwas  weniger 
vertragen  als  die  Philosophie.  Aber  auch  Gottscheds  Wirksamkeit 
ist  in  ähnlicher  Weise  zu  würdigen  wie  diejenige  Wolffs.  Er  hielt 
es  für  seine  Aufgabe,  die  Dichtkunst  zu  einer  nach  festen  Regeln, 
gewissermaßen  methodisch  und  unter  der  Herrschaft  deutlicher 
Begriffe  verfahrenden  Tätigkeit  zu  machen,  und  kritisierte  von 
diesem  Verstandesstandpunkte  des  Regelrechten  in  tyrannischer 
Weise  die  Literatur  seiner  Zeit.  Wenn  er  dadurch  alle  Ursprüng- 
lichkeit verbannte  und  allen  Duft  der  Poesie  zerstörte,  so  darf  doch 
anderseits  nicht  vergessen  werden,  daß  er  für  eine  verständige 
Reinigung  der  Sprache  gegenüber  dem  eingerissenen  Verderb  sehr 
glücklich  tätig  gewesen  ist.  Zwar  war  er  auch  hierin  von  dem  Vor- 
bilde des  französischen  Klassizismus  abhängig,  dessen  steife 
Geregeltheit  den  rationalistischen  Charakter  der  Dichtung  des 
XVII.  Jahrhunderts  am  schärfsten  zum  Ausdruck  gebracht  hatte, 
und  den  Gottsched  durch  einen  wachsenden  Anschluß  an  Boileau 
in  Deutschland  nachzuahmen  suchte.  Aber  gerade  durch  dieses 
Bestreben  wurde  er  doch  einer  der  Förderer  der  vaterländischen 
Dichtung  und  vor  allem  eines  reineren  deutschen  Sprachgebrauchs. 

Viel  wertvoller  für  diesen  ganzen  Prozeß  war  es  jedoch,  als 
einer  der  Wolffianer  die  Entdeckung  machte,  daß  die  Ästhetik  eine 
notwendige  und  bisher  unbeachtete  Stellung  in  der  Wolffschen 
Enzyklopädie  der  Wissenschaften  einnehmen  müsse.  Diese  Ent- 
deckung war  es,   durch  die  Alexander  Baumgarten  den  Ruhm 


534  Baumgarten. 

gewonnen  hat,  der  Vater  der  philosophischen  Ästhetik  zu  sein. 
Es  ist  eine  denkwürdige  Tatsache  in  der  Geschichte  der  Wissen- 
schaften, daß  hier  ein  eigener  Wissenszweig  lediglich  aus  metho- 
dologischen Betrachtungen  und  um  der  systematischen  Vollständig- 
keit willen  geschaffen  wurde.  Baumgarten  hatte  weder  ein  be- 
sonderes persönliches  Interesse  am  künstlerischen  Leben,  noch 
einen  Sinn  für  die  feine  Beurteilung  poetischer  Leistungen,  sondern, 
wie  er  überhaupt  die  Wolffsche  Systematik  bis  ins  allereinzelnste 
detaillierte  und  eine  Menge  untergeordneter  Wissenszweige  mit 
eigenen  Namen  bezeichnete,  so  schuf  er  auch  die  Ästhetik  nur, 
weil  er  eine  Lücke  in  der  Wolffschen  Enzyklopädie  entdeckte. 
Der  Gedankengang,  der  ihn  dazu  führte,  entsprang  aus  dem  Gegen- 
satze des  höheren  und  des  niederen  Erkenntnisvermögens,  welcher 
der  Wolffschen  Enzyklopädie  der  Wissenschaften  zugrunde  lag. 
Wolff  hatte  die  Logik  als  allgemeines  Organon  allen  Wissenschaften 
vorangeschickt  und  damit  auch  innerhalb  seiner  Gedanken  insofern 
recht  gehabt,  als  es  sich  in  ihr  um  die  Klarheit  und  Deutlichkeit 
der  Begriffe  und  der  Beweise  handeln  sollte,  ohne  die  es  keine 
Wissenschaft  geben  kann.  Aber  die  Logik  ist  nur  die  Technik  des 
Verstandes,  sie  handelt  von  dem  vollkommenen  Gebrauche  des 
oberen  Erkenntnisvermögens;  es  fehlte  eine  parallele  Wissenschaft, 
welche  in  gleicher  Weise  das  untere  Erkenntnisvermögen  be- 
handelte und  die  Vollkommenheit  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
zu  ihrem  Gegenstande  hätte.  Deshalb  entwarf  Baumgarten  - 
einer  Andeutung  Bilfingers  folgend  —  aus  diesen  systematischen 
Überlegungen  eine  »Empfindungs lehre«  als  eine  »nachgeborene 
Schwester  der  Logik«,  wie  es  Lotze  sehr  glücklich  bezeichnet  hat. 
Diese  neue  Wissenschaft  nannte  er  ganz  korrekt  »Ästhetik «,  und 
die  beiden  Bände,  worin  er  ihre  Ausführung  begann,  erschienen 
unter  dem  Titel  »Aesthetica«  (Frankfurt  a.  d.  0.  1750  und  1758). 
Unter  jetzigen  Umständen  würde  man  unter  dieser  Wissenschaft 
bei  dieser  Ableitung  ihrer  Aufgabe  eine  Lehre  von  der  Richtigkeit 
der  Erfahrung,  eine  Zusammenstellung  der  Methoden  der  Beob- 
achtung und  des  Experiments,  eine  zusammenfassende  Kritik  der 
menschlichen  Wahrnehmungstätigkeit  erwartet  haben.  Allein  ein 
derartiges  Eingehen  auf  die  empirische  Naturforschung  lag  den 
Denkern  der  Wolffschen  Schule  fern.  Gleichwohl  ist  die  Tatsache, 
daß  Baumgarten  die  Behandlung  dieser  Aufgabe  auf  diejenigen 


Ästhetik.  535 

Untersuchungen  richtete,  welche  nach  dem  Titel  seines  Werkes 
später  den  Namen  der  ästhetischen  erhielten  und  jetzt  allgemein 
besitzen,  nur  durch  ein  eigentümliches  Zurückgreifen  auf  gewisse 
Gedanken  von  Leibniz  zu  erklären.  Dieser  hatte  gelegentlich  die 
^Schönheit  als  die  Vollkommenheit  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung bezeichnet.  Die  klare,  aber  noch  verworrene  An- 
schauung des  Vollkommenen  hatte  ihm  als  der  Genuß  des  Schönen 
und  der  verworrene  Instinkt  der  Vollkommenheit  als  die  schöpfe- 
rische Kraft  der  Kunst  gegolten.  Schönheit,  hatte  er  gelehrt,  ist 
sinnliche  Vollkommenheit,  ebenso  wie  Wahrheit  logische  und  Güte 
moralische  Vollkommenheit.  Diese  Ansicht  gab  die  Richtschnur 
für  Baumgartens  Untersuchungen  ab,  und  so  gestaltete  sich  seine 
Empfindungslehre  zu  einer  Wissenschaft  vomSchönen.  Durch 
diese  Gedankenverknüpfung  ist  es  gekommen,  daß  die  Termini 
»Ästhetik«  und  »ästhetisch«  den  jetzt  geläufigen  Sinn  angenommen 
haben,  und  am  meisten  hat  dazu  beigetragen,  daß  Kant,  nach- 
dem er  sich  anfangs  gegen  die  von  Baumgarten  eingeführte  Be- 
deutung gesträubt  *)  und  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  das 
Wort  Ästhetik  in  dem  alten  Sinne  von  Wahrnehmungslehre  ge- 
braucht hatte,  später  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  durch  die  Lehre 
von  der  »ästhetischen  Urteilskraft«  die  Baumgrartensche  Wendung 
annahm. 

Die  Ausführung  dieses  ersten  Entwurfs  einer  philosophischen 
Ästhetik  fiel  nun  freilich  äußerst  mangelhaft  aus.  Baumgartens 
Darstellung  ist,  wie  in  allen  seinen  Lehrbüchern,  von  ermüdender 
Weitschweifigkeit  und  im  Grunde  genommen  überaus  langweilig. 
Er  macht  aus  der  Ästhetik  fast  nur  eine  Poetik  und  beschränkt 
sich  auf  eine  systematische  Entwicklung  der  technischen  Kegeln, 
wie  sie  antike  und  moderne  Bearbeiter  der  Poetik  aufgestellt  hatten. 
Dabei  ist  es  höchst  charakteristisch,  wie  der  deutsche  Rationalismus 
aus  ganz  anderen  Gründen  zu  fast  demselben  Resultate  wie  der 
französische  Sensualismus  gelangt,  nämlich  zu  der  Ansicht,  daß 
das  höchste  Prinzip  der  künstlerischen  Schöpfung  in  der  em- 
pirischen »Wahrheit«  der  Darstellung  beruhe.  Lotze  hat  feinsinnig 
darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  sich  darin  eine  Abhängigkeit  der 
Ästhetik  von  dem  theoretischen  Gesichtspunkte  des  Rationalismus 


*)  Vgl.  die  Anmerkung  zu  §  1  der  Kritik  der  reinen  Vernunft. 


536  Baumgarten. 

zeige,  welche  der  deutschen  Ästhetik  lange  nachgegangen  ist,  und 
daß  diese  Lehre  bei  Baumgarten  sich  hauptsächlich  auf  diejenige 
von  der  besten  unter  den  möglichen  Welten  stützt,  außerhalb 
deren  der  Künstler  nur  Unvollkommeneres  erdichten  kann.  Der 
Optimismus  kennt  folgerichtig  kein  anderes  Prinzip  der  Kunst  als 
dasjenige  der  Maturnachahmung.  Wenn  die  wirkliche  Welt  die 
beste  ist,  so  ist  sie  auch  die  schönste,  und  alle  Versuche,  etwas 
anderes  zu  erdenken,  müssen  hinter  ihr  zurückbleiben.  Hierin 
liegt  auch  umgekehrt  der  Grund,  weshalb  sich  in  neuerer  Zeit  die 
pessimistischen  Systeme  so  überaus  glücklich  mit  einer  idealistischen 
Ästhetik  verbinden  konnten.  Die  Schönheit  erscheint  somit  bei 
Baumgarten  als  verworrene  Wahrheit.  Sie  zeigt  in  sinnlicher 
Anschauung  jene  Harmonie  des  Mannigfaltigen,  die  das  philo- 
sophische Denken  zur  Deutlichkeit  bringen  soll :  sie  ist  eine  undeut- 
liche Vorstufe  der  vernünftigen  Erkenntnis.  So  gilt  es  nicht  nur  in 
persönlicher  Beziehung,  sondern  auch  in  der  prinzipiellen  Be- 
urteilung, wenn  Lotze  gesagt  hat,  daß  die  deutsche  Ästhetik  bei 
Baumgarten  mit  einer  ausgesprochenen  Geringschätzung  ihres 
Gegenstandes  begann.  Aber  es  darf  doch  nicht  übersehen  werden, 
daß  er  nach  zwei  Richtungen  hin  einen  sehr  bedeutsamen  Anstoß 
gab:  einerseits  war  es  sein  Verdienst,  der  Ästhetik  ihre  notwendige 
Stelle  im  System  der  Philosophie  anzuweisen  und  ihre  Prinzipien 
mitten  aus  den  allgemeinsten  Überlegungen  der  begrifflichen  Welt- 
betrachtung heraus  zu  entwickeln.  Während  die  Untersuchungen 
über  das  Schöne  bei  den  Engländern  und  den  Franzosen  wesentlich 
eine  empiristische  Kritik  des  Geschmacks  und  im  besten  Falle  eine 
Psychologie  des  künstlerischen  Genießens,  Beurteilens  und  Schaffens 
gebildet  hatten,  machte  Baumgarten  zum  ersten  Male  wieder  seit 
den  Neupia  tonikern  den  Versuch,  die  Lehre  vom  Schönen  an  die 
höchsten  Bestimmungen  der  philosophischen  Prinzipienlehre  an- 
zuknüpfen; und  sowenig  er  dieser  Aufgabe  zu  genügen  vermochte, 
so  war  damit  doch  eine  Anregung  gegeben,  die  später  die  deutsche 
Philosophie  seit  Kant  in  der  glänzendsten  Weise  weiter  verfolgt 
hat.  Auf  der  anderen  Seite  verfiel  er  zwar  in  der  Ausführung  dieser 
seiner  Forderungen  überall  in  ein  pedantisches  System  von  Regeln, 
aber  der  von  Leibniz  übernommene  Begriff  der  Schönheit  und  der 
künstlerischen  Tätigkeit  hinderte  ihn  doch  daran,  in  der  Weise  wie 
Gottsched  das  künstlerische  Schaffen  ganz  in  rationale  Methodik 


Meier.  Der  Deismus.  537 

aufzulösen.  Er  vergaß  nie,  daß  das  Wesen  des  Künstlers  in  einer 
instinktiven  Auffassung  und  Wiedergabe  der  sinnlichen  Voll- 
kommenheit besteht,  und  so  trocken  die  Regeln  waren,  die  er 
aufstellte,  so  sehr  blieb  er  überzeugt,  daß  zur  wahren  Kunst  noch 
mehr  gehöre  als  ihre  Befolgung.  Hätte  ihm  nicht  das  Wolffsche 
System  die  Einsicht  in  den  wahren  Charakter  von  Leibniz'  prä- 
stabilierter  Harmonie  verschlossen,  so  würde  er  diesen  instink- 
tiven Charakter  des  künstlerischen  Lebens  noch  tiefer  erfaßt  und 
eingesehen  haben,  daß  die  Leibnizsche  Definition  der  Schönheit 
und  des  künstlerischen  Genies  auf  das  unbewußte  Vorstellungs- 
leben der  Monaden  zurückweist  und  ihre  dunklen  Regungen  zur 
Voraussetzung  hat. 

Immerhin  hatte  Baumgarten  in  dieser  Weise  Veranlassung  ge- 
geben, daß  man  der  verstandesmäßigen  Regelung  gegenüber  auf 
die  Ursprünglichkeit  des  künstlerischen  Schaffens  aufmerksam 
wurde,  und  in  diesem  Sinne  trat  sein  Schüler  Georg  Friedrich 
Meier  (1718 — 1777)  in  dem  Streite  zwischen  Gottsched  und  den 
durch  Bodmer  vertretenen  Schweizern  auf  die  Seite  der  letzteren, 
welche  zuerst  das  Prinzip  der  Genialität  für  die  dichterische  Tätig- 
keit wieder  in  Anspruch  nahmen.  Dabei  entfernte  sich  Meier  von 
dem  ästhetischen  Rationalismus  noch  mehr  als  Baumgarten,  und 
auch  in  seinen  übrigen  Lehren,  die  gleichfalls  in  zahlreichen  und 
vielgelesenen  Büchern  niedergelegt  waren,  suchte  er  die  Fesseln  der 
Wolf f sehen  Schule  mehr  und  mehr  abzustreifen.  Er  machte  eine 
entschiedene  Schwenkung  zu  Thomasius,  wenn  er  immer  mehr  die 
Popularität  und  praktische  Nutzbarkeit  der  Wissenschaft  betonte, 
und  er  zeigt  sich  zu  gleicher  Zeit  den  empiristischen  Einflüssen 
der  englischen  Psychologie  derartig  zugänglich,  daß  er  in  manchen 
Fragen,  besonders  auch  in  derjenigen  der  Unsterblichkeit  der  Seele 
und  in  der  Entwicklung  der  einzelnen  Seelenvermögen  von  der 
Empfindung  aus,  beinahe  vollständig  aus  dem  Rahmen  des  Rationa- 
lismus heraustrat. 

§  51.    Der  Deismus. 

Eine  ähnliche  Lockerung  des  Schulzusammenhanges  der  Wolffi- 
aner  vollzog  sich  teils  infolge  der  Verschiedenheit  der  im  System 
vereinigten  Gesichtspunkte,  teils  auf  Grund  der  ausländischen  Ein- 
flüsse auch  nach  mehreren  anderen  Richtungen,  und  namentlich 


538  Pietismus  und  Deismus. 

erfuhr  dies  Geschick  der  Zersplitterung  die  Religionsphilosophie, 
die  von  dem  schroffsten  Konfessionalismus  bis  zum  radikalsten 
Freidenkertum  alle  Schattierungen  innerhalb  der  Wolffschen  Schule 
aufzuweisen  hat. 

Die  Abwendung  vom  strengen  Orthodoxismus  wurde  zunächst 
durch  den  von  S pener  begründeten  und  von  Halle  aus  durch 
Francke  immer  mehr  sich  ausbreitenden  Pietismus  begünstigt. 
Dieser  hielt  zwar  durchaus  an  einer  rechtgläubigen  Tendenz  fest; 
aber  indem  er  den  Schwerpunkt  des  religiösen  Lebens  aus  den 
theoretischen  Satzungen  in  einen  frommen  Lebenswandel  verlegte, 
wurde  er  den  konfessionellen  Unterscheidungslehren  gegenüber  ver- 
hältnismäßig gleichgültiger.  In  beiden  Beziehungen  erkennt  man 
deutlich  die  mit  der  Zeit  etwas  abgeschwächten  Züge  der  deutschen 
Mystik  wieder,  und  diese  innere  Verwandtschaft  beider  Rich- 
tungen trat  namentlich  bei  dem  von  Boehme  stark  beeinflußten 
Pietisten  Gottfried  Arnold  (1666 — 1714)  hervor,  der  neben 
Konrad  Dippel  (1673 — 1734)  in  den  sektiererischen  Bewegungen 
der  Zeit  eine  bedeutende  Rolle  spielte.  Der  freiere  Aufschwung 
des  deutschen  Geistes  entfaltete  sich  in  religiöser  Hinsicht  als 
wachsende  Unbefriedigtheit  an  dem  beschränkenden  Konfessionalis- 
mus: die  Unionsbestrebungen,  der  Pietismus,  die  Sektenbildungen 
hatten  diesen  gemeinsamen  Ausgangspunkt,  und  in  höchst  interessan- 
ter Weise  wiederholte  sich  den  protestantischen  Kirchenlehrern 
gegenüber  genau  dasselbe,  was  die  Reformatoren  anfangs  dem  Papst- 
tum entgegengehalten  hatten:  der  Rückgriff  auf  die  Bibel.  Das 
gesteigerte  Interesse  an  ihr  dokumentierte  sich  in  den  neu  auftreten- 
den Übersetzungen,  vor  allem  aber  in  den  zahlreichen  Ansätzen 
zur  Bibelerklärung  und  Bibelkritik. 

In  dieser  mehr  gelehrten  Beziehung  wurden  nun  hauptsächlich 
die  ausländischen  Einflüsse  wichtig.  Ein  unselbständiger  Schwärmer 
wie  Edelmann  (1698 — 1767)  ließ  sich  durch  eine  schiefe  Auf- 
fassung des  Spinozismus  zu  blindem  Haß  gegen  alles  Priester- 
und  Kirchen  tum  bestimmen.  Auf  die  Schulphilosophen  wirkte  mehr 
die  englische  Literatur.  Selbst  orthodoxe  Wolffianer  wie  Sieg- 
mund  Baumgarten  (1704 — 1757),  bei  dem  freilich  auch  eine 
pietistische  Erziehung  ins  Spiel  kam,  beschäftigten  sich  viel  mit  den 
englischen  Deisten  und  gewöhnten  sich  dadurch  allmählich  an  eine 
kritischere   Betrachtung   der  eigenen   Glaubenslehren.     Auf  diese 


Theologischer  Rationalismus.  539 


o 


Weise  kamen  die  rationalistischen  Seiten  der  Wolffschen  Religions- 
philosophie mehr  zur  Geltung,  und  unter  dem  Einflüsse  jener  eng- 
lischen Lehre,  daß  die  natürliche  Religion  die  Prinzipien  der  Beur- 
teilung für  den  Wert  der  positiven  Religionen  abgeben  müsse,  voll- 
zog sich  in  einigen  Schülern  Wolffs  in  bezus;  auf  das  Verhältnis  der 
Yernunftreligion  zur  Offenbarung  eine  eigentümliche,  man  kann  fast 
sagen  witzige  Wendung,  die  übrigens  schon  bei  Leibniz  angelegt 
war.  Enthält  die  natürliche  Religion  philosophische  oder  ewige 
Wahrheiten,  so  gibt  die  geoffenbarte  nur  empirische  oder  zufällige 
Wahrheiten.  Wenn  deshalb  nach  Wolffschem  Prinzip  beide  zuletzt 
auf  dasselbe  hinauslaufen  müssen,  so  zeigen  doch  die  ewigen  Wahr- 
hciten  der  Vernunftreligion  die  vollkommen,  klare  und  deutliche 
Erkenntnis  dessen,  was  in  den  tatsächlichen  Wahrheiten  der  Offen- 
barung nur  verworren  zum  Bewußtsein  kommt.  Verfolgte  man 
diesen  Gedanken,  so  ergab  sich,  daß  in  der  positiven  Religion  nur 
dasjenige  als  ewige  Wahrheit  gelten  kann,  was  als  solche  schon 
in  der  Vernunftreligion  vorhanden  ist.  Hieraus  ergab  sich  in  erster 
Linie  das  Bestreben,  die  Offenbarungen  der  positiven  Religion 
soweit  als  irgend  möglich  im  Sinne  der  Vernunftreligion  zu  deuten, 
in  zweiter  Linie  bei  kühnerer  Ausführung  eine  abweisende  Kritik 
der  Offenbarungslehren,  soweit  diese  sich  mit  dem  Deismus 
nicht  vereinigen  ließen.  Beide  Richtungen  waren  von  den  Eng- 
ländern vorbereitet,  und  in  beiden  begannen  deshalb  die  Ideen  von 
Herbert,  Shaftesbury,  Toland,  Tindal  usw.  in  Deutschland  lebendig 
zu  werden. 

Die  erste  dieser  beiden  Richtungen  ist  diejenige,  welche  man 
in  der  Geschichte  der  Theologie  als  Rationalismus  bezeichnet. 
Sie  hält  im  Prinzip  an  der  empirischen  Richtigkeit  der  Offen- 
barung fest,  sucht  jedoch  den  biblischen  Erzählungen  überall  eine 
möglichst  verstandesmäßige  und  natürliche  Interpretation  unter- 
zulegen. Sie  will  die  Wundererzählungen  als  tatsächlich  anerkennen, 
dabei  jedoch  sie  überall  auf  dem  Wege  des  natürlichen  Geschehens 
erklären,  und  so  schiebt  sie  den  biblischen  Vorstellungen,  soweit 
irgend  tunlich,  die  Schulbegriffe  der  Wolffschen  Philosophie  unter. 
Dies  zeigt  sich  schon  in  der  von  dem  Wolffianer  Lorenz  Schmidt 
herausgegebenen  Wertheimer  Bibelübersetzung,  welche  bei 
den  zahlreichen  Verfolgungen  und  Verboten,  die  sie  betrafen,  auf 
den  Pentateuch  beschränkt  blieb.    Die  weitere  Entwicklung  dieser 


540  Semler. 

Richtung  führte  ganz  im  Geiste  der  englischen  Deisten  dazu,  daß 
man  das  wahre  Christentum  mit  der  Vernunftreligion  identifizierte 
und  in  den  konfessionellen  Dogmen  nur  Zutaten  erblickte,  die, 
wenn  auch  für  den  geringeren  Menschen  vielleicht  notwendig,  im 
wesentlichen  doch  gleichgültig  seien.  Hervorragende  Dozenten, 
Gelehrte  und  Prediger,  wie  Töllner,  Sack,  Jerusalem,  Spal- 
ding,  Teller  und  Steinbart  vertraten  die  edlere  Seite  dieser 
Auffassung,  indem  sie  die  innere  Gemeinsamkeit  alles  religiösen 
Lebens  und  nicht  nur  der  christlichen  Konfessionen,  sondern  auch 
der  übrigen  Religionen  hervorhoben  und  die  Humanität  zum  In- 
halt aller  Religiosität  machten.  In  der  Theologie  selbst  führte 
dieses  Bestreben  immer  mehr  zu  einer  wässerigen  Deuterei:  ohne 
eine  Ahnung  von  dem  historischen  Wesen  der  Religion  verflüchtigten 
die  Rationalisten  in  der  Retorte  ihrer  »Erklärung«  den  wertvollsten 
Inhalt  des  religiösen  Lebens  zu  vagen  Dünsten  und  sahen  darin  nur 
Nebel,  welche  die  Klarheit  und  Deutlichkeit  ihrer  Schulbegriffe 
verhüllen  müßten. 

Vielleicht  wäre  diesem  Treiben  eher  Einhalt  geschehen,  wenn 
man  die  Richtung,  die  Salomo  Semler  (1725 — 1791)  einschlug, 
mehr  in  seinem  Geiste  verfolgt  hätte.  Zwar  unterschied  auch  er 
eine  innere  allgemein  menschliche  Religiosität,  die  im  wesent- 
lichen mit  dem  Deismus  zusammenfiel,  von  dem  äußeren,  durch 
die  Konfessionen  bestimmten  Kultus;  aber  mit  vollem  Verständnis 
für  die  Notwendigkeit  der  äußeren  Organisation  trat  er  allen,  auch 
jenen  wohlgemeinten  Versuchen,  das  bestehende  Kirchentum  zu 
untergraben,  lebhaft  entgegen.  Zeugt  schon  dies  von  einem  histo- 
rischen Sinne  des  Mannes,  so  trat  dieser  noch  mehr  in  seiner  Art 
der  Bibelerklärung  hervor.  Er  hatte  das  Verständnis  dafür,  daß, 
wie  es  im  Prinzip  schon  Spinoza  ausgesprochen  hatte,  die  eigen- 
tümliche Form,  womit  die  religiösen  Überzeugungen  in  den  religiösen 
Urkunden  sich  niedergelegt  finden,  aus  dem  Geiste  der  Zeit,  der  sie 
ihren  Ursprung  verdanken,  erklärt  werden  müsse,  und  er  ist  somit 
trotz  der  Mangelhaftigkeit  seiner  Ausführung  der  Schöpfer  der 
historisch -kritischen  Bibelbe trachtung.  In  der  Folgezeit 
jedoch  trat  unter  dem  Einflüsse  des  englischen  Deismus  der  histo- 
rische Charakter  dieser  Betrachtung  weit  hinter  dem  kritischen 
zurück,  und  es  blieb  nur  die  abweisende  Tendenz  des  Deismus  gegen 
die  positive  Religion  übrig. 


Reimarus.  541 

Als  der  typische  Vertreter  dieser  Richtung  gilt  mit  Recht  Her- 
mann Samuel  Reimarus  (1694 — 1768).  Er  ist  der  konsequenteste 
und,  wie  sein  Stil  beweist,  auch  der  klarste  und  logisch  geschulteste 
unter  den  deutschen  Freidenkern,  und  er  zeigt  alle  ihre  Vorzüge 
und  alle  ihre  Schwächen  in  der  konzentriertesten  Form.  Seine 
»Abhandlungen  von  den  vornehmsten  Wahrheiten  der  natürlichen 
Religion«  (Hamburg  1754)  sind  die  lichtvollste  Zusammenfassung, 
welche  die  positiven  Lehren  des  Deismus  in  Deutschland  gefunden 
haben,  und  sie  sind  durchgängig  von  dem  teleologischen  Gesichts- 
punkt beherrscht,  von  welchem  aus  sie  den  Materialismus,  die  rein 
mechanische  Naturphilosophie  und  den  Pantheismus  mit  gleich- 
mäßiger Energie  bekämpfen.  Doch  ist  die  Physikotheologie  bei 
Reimarus  nicht  von  jener  Kleinigkeitskrämerei  und  vor  allem 
nicht  auf  jenen  Gedanken  der  bloß  menschlichen  Nutzbarkeit  ge- 
richtet, wodurch  die  Wolf f sehe  Schule  sich  sonst  lächerlich  machte. 
Er  denkt  mehr  im  Geiste  von  Shaftesbury  und  von  Leibniz,  wenn 
er  das  Wohl  aller  lebendigen  Geschöpfe  für  den  gütigen  Zweck 
des  Weltschöpfers  erklärt,  und  mit  umfassender  Kenntnis  sucht 
er  in  den  »Betrachtungen  über  die  Kunsttriebe  der  Tiere«  (Ham- 
burg 1762)  zu  zeigen,  wie  die  gesamte  animalische  Welt  auf  das 
Wohl  aller  Wesen  derartig  eingerichtet  sei,  daß  sie  einen  weisen 
und  gütigen  Urheber  voraussetze.  Im  Verfolge  dieser  allgemeinen 
Auffassung  von  einer  auf  Glückseligkeit  aller  Geschöpfe  angelegten 
Welteinrichtuns;  erscheint  dann  auch  die  Lehre  von  der  Unsterb- 
lichkeit  des  vernünftigen  Menschen  als  eine  notwendige  Forderung 
zur  Ausgleichung  der  in  diesem  Leben  bestehenden  Widersprüche. 
Die  weise  Einrichtung  des  Weltalls  ist  die  vollkommene  Offen- 
barung der  Gottheit.  Aber  damit  ist  für  Reimarus  der  Inhalt  der 
Religiosität  auch  beschlossen,  und  gegen  alle  positiven  Religionen 
verhält  er  sich  durchaus  negativ.  Er  hat  diesen  Gegensatz  in 
einem  Sinne  behandelt,  der  ganz  demjenigen  der  Mehrzahl  der 
englischen  Deisten  entsprach.  Die  Welt  kannte  ihn  nur  als  einen 
warm  empfindenden  und  begeisterten  Physikotheologen.  Er  wußte, 
daß,  wenn  sie  die  schroffe  Stellung  erführe,  die  er  zum  positiven 
1  Dogma  einnahm,  sie  ihn  nur  verfolgen  würde,  und  so  teilte  er 
seine  polemischen  Untersuchungen,  an  denen  er  bis  zu  seinem 
Tode  unausgesetzt  arbeitete,  nur  seinen  vertrautesten  Freunden 
mit.    Dies  sein  bedeutendstes  Werk  ist  die  »Apologie  oder  Schutz- 


542  Reimarus. 

schrift  für  die  vernünftigen  Verehrer  Gottes«.  Lessing  hatte  die 
Kühnheit,  Bruchstücke  davon  herauszugeben,  unoT3eTXärrn,  den 
die  »Wolffenbütteler  Fragmente«  machten,  war  der  beste  Be- 
weis für  die  Richtigkeit  der  Voraussetzung  ihres  Urhebers.  Später 
ist  aus  der  Handschrift  noch  einiges  an  die  Öffentlichkeit  getreten; 
aber  erst  D.  F.  Strauß  hat  von  dem  umfangreichen  Ganzen  eine 
genaue  Analyse  gegeben.  Der  Schwerpunkt  des  Werkes  beruht 
darin,  daß  die  natürliche  Religion  zum  kritischen  Maßstabe  der 
positiven  gemacht  wird.  Die  Verwerfung  der  letzteren  geschieht 
sogleich  prinzipiell.  Die  natürliche  Religion  macht  die  geoffenbarte, 
die  Offenbarung  der  Natur  macht  die  historische  Offenbarung,  wie 
jede  positive  Religion  sie  voraussetzt,  überflüssig.  Aus  dem  Mittel- 
alter her  stammt  jene  Entgegensetzung  der  doppelten  Offenbarung 
des  »codex  vivus«  und  des  »codex  scriptus «,  die  von  der  neueren 
Religionsphilosophie  seit  der  Renaissance  in  den  mannigfachsten 
Wendungen  variiert  worden  war:  hier  kehren  sich  beide  so  gegen- 
einander, daß  die  eine  die  andere  vollständig  verdrängt.  Denn 
Reimarus  sucht  nicht  nur  die  Überflüssigkeit,  sondern  auch  die 
"Unmöglichkeit  und  die  Unwahrheit  der  positiven  Offenbarung 
nachzuweisen.  Er  meint,  daß  jede  besondere  Offenbarung  ein 
^Wunder^  voraussetzt,  und  daß  dasr  Wunder  der  göttlichen  Allwissen- 
heit und  dem  wahren  Begriffe  der  Vorsehung  widerspricht.  Mit 
polemischer  Benutzung  des  deistischen  Gedankenganges  zeigt  er, 
daß,  wenn  der  Lauf  der  Dinge  an  irgend  einer  Stelle  ein  eigenes 
Eingreifen  Gottes  notwendig  erscheinen  ließe,  dies  den  Beweis  dafür 
geben  würde,  daß  Gott  den  ganzen  Zusammenhang  des  Geschehens 
von  Anfang  an  nicht  vollständig  seinen  Zwecken  entsprechend  ge- 
regelt hätte.  Die  besondere  Offenbarung  ist  außerdem  mit  der 
göttlichen  Güte  deshalb  unvereinbar,  weil  man  annehmen  muß,  daß 
Gott  das  Heil  allen  Menschen  zuteil  werden  lassen  will,  was  bei 
der  Offenbarung  an  ein  Volk  und  an  einen  kleinen  Kreis  von 
Menschen  und  bei  der  Niederlegung  der  göttlichen  Mitteilung  in 
einer  besonderen  Sprache  sich  von  selbst  ausschließt  und  deshalb 
nur  durch  die  Offenbarung  der  Natur  geschehen  kann.  Endlich 
führt  Reimarus  mit  besonderer  Beziehung  auf  die  jüdische  und 
christliche  Offenbarung  den  apagogischen  Beweis  ihrer  Unwahrheit, 
indem  er  zu  zeigen  sucht,  daß  sie  keiner  der  Anforderungen  ent- 
sprechen, die  man  an  eine  wahre  Offenbarung  Gottes  stellen  müßte. 


ISchutzschrift.  543 

In  erster  Linie  gehörte  dazu,  daß  sie  klar,  durchsichtig  und  zweifel- 
los jedermann  verständlich  wäre.  Die  Schriften  des  alten  und  des 
neuen  Testaments  sind  dies  nicht,  denn  seit  Jahrhunderten  streiten 
die  Gelehrten  um  ihre  Auslegung,  und  mit  einschneidendem  Scharf- 
sinn deckt  Reimarus  die  Widersprüche  auf,  in  denen  sich  gerade 
die  bedeutendsten  Interpreten  ebenso  wie  die  biblischen  Schriften 
selbst  über  die  wichtigsten  Punkte  befinden :  hierdurch  allein  schon 
hält  er  die  Inspirationstheorie  für  widerlegt.  Er  fügt  hinzu,  daß 
eine  wahrhaft  göttliche  Offenbarung  nur  reine  und  edle  Menschen 
als  ihre  Träger  denken  lasse,  und  zeigt  dann  namentlich  an  den 
Persönlichkeiten  des  alten  Testaments,  in  wie  geringem  Maße  sie 
dieser  Anforderung  Genüge  tun.  Überall  wird  die  positive  Offen- 
barung verworfen,  weil  sie  den  von  der  Vernunftreligion  festgestellten 
Begriffen  vom  Wesen  der  Gottheit  widerspricht,  und  als  das  Resultat 
dieser  historisch-kritischen  Untersuchung  der  Bibel  findet  Reimarus, 
daß  sie  ein  menschliches  Machwerk  sei  und  die  Spuren  davon  in 
jeder  Beziehung  an  sich  trage. 

Dies  sind  die  Grundzüge  der  später  landläufig  und  trivial  ge- 
wordenen Bibelkritik,  welche  von  Reimarus  im  wesentlichen  alle 
angelegt  waren,  und  von  denen  die  »Wolffenbütteler  Fragmente« 
durch  die  Auswahl  charakteristischer  Proben  die  hauptsächlichsten 
vor  die  Öffentlichkeit  brachten.  Bei  dem  Gesamtergebnis,  zu 
welchem  der  Kritiker  gekommen  war,  schien  ihm  für  die  Erklärung 
der  Bibel  und  der  in  ihr  erzählten  Wunder  und  Offenbarungen  nur 
eine  Möglichkeit  übrig  zu  bleiben.  Er  hielt,  wie  der  gesamte  Ratio- 
nalismus, daran  fest,  daß  die  Bibel  historisch  glaubwürdig  sei,  und 
daß  die  in  ihr  erzählten  Tatsachen  sich  wirklich  so  zugetragen  hätten. 
Da  er  aber  bewiesen  zu  haben  glaubte,  daß  sie  keine  göttliche  Offen- 
barung enthalten  und  aus  keiner  übernatürlichen  Wirksamkeit  der 
Gottheit  herstammen  können,  so  blieb  ihm  nur  übrig,  in  ihnen  ab- 
sichtliche Täuschungen  zu  erblicken.  Er  beschuldigte  nicht  nur 
die  jüdischen  Priester,  sondern  auch  die  Apostel,  in  der  Absicht 
das  Volk  zu  täuschen,  diese  geheimnisvollen  und  als  Wunder  er- 
scheinenden Tatsachen  in  Szene  gesetzt  zu  haben,  und  glaubte 
damit  nachweisen  zu  können,  daß  die  historische  Grundlage  der 
positiven  Religion  nichts  als  Priestertrug  und  Täuschung  sei.  Das 
war  die  äußerste  Konsequenz,  bis  zu  welcher  der  in  sich  bornierte 
Rationalismus  sich   versteigen  konnte.     Er   bewies   dadurch   am 


544  Lessing. 

besten,  daß  ihm  in  der  Tat  jeder  Sinn  für  das  religiöse  Leben  und 
jedes  Verständnis  für  den  Ursprung  religiöser  Vorstellungen  fehlte. 
Ohne  Blick  für  das  geheimnisvolle  Walten  des  Menschengeistes, 
konnte  er  mit  seinen  dürren  Begriffen  die  gewaltigen  Bewegungen 
des  religiösen  Lebens  nur  auf  die  kleinlichen  Machenschaften  selbst- 
süchtiger Priester  zurückführen  und  begründete  auf  diese  Weise 
eine  Oberflächlichkeit  der  Betrachtung  und  zugleich  einen  Haß 
gegen  die  positive  Religion,  die  sich  der  urteilslosen  Masse  leicht 
in  gefährlicher  Ausdehnung  mitteilten.  Gewiß  war  das  Bestreben 
von  Reimarus  selbst  durchaus  lauter  und  edel;  aber  sein  Stand- 
punkt ist  bezeichnend  für  den  vollständigen  Bruch,  der  in  der 
Wolffschen  Schule  selbst  zwischen  der  rationalistischen  Philosophie 
und  der  Theologie  eingetreten  war,  und  es  ist  überaus  bedeutsam,  daß 
dieser  Bruch  in  der  deutschen  Aufklärung  noch  energischer  als  in 
England  und  Frankreich  auf  Kosten  des  historischen  Verständnisses 
für  das  Wesen  der  Religion  geschah. 


§  52.    Lessing. 

So  enthüllte  die  deutsche  Verstandesaufklärung  mit  der  ein- 
seitigen Beschränktheit,  in  welche  sie  sich  verrannte,  den  tiefsten 
Mangel  des  Rationalismus:  seine  Unfähigkeit,  den  historischen 
Erscheinungen  gerecht  zu  werden.  Wenn  die  moderne 
Philosophie  von  Anfang  an  durch  den  Gegensatz  des  Universalismus 
und  des  Individualismus  bewegt  gewesen  war,  so  hatte  in  diesem  ! 
rationalistischen  Denken  bedingungslos  der  Universalismus  und 
mit  ihm  fast  wieder  der  mittelalterliche  Realismus  gesiegt.  Nur 
seine  allgemeinen  Begriffe  ließ  er  gelten :  die  einzelnen  Erscheinungen 
waren  ihm  zufällige  Existenzen,  die  nur  so  viel  Wert  haben  sollten, 
als  sie  jene  Begriffe  wiederholen.  Das  war  die  notwendige  Folge 
davon,  daß  dieser  Rationalismus  an  der  Hand  der  Naturwissen- 
schaft und  speziell  der  Mechanik  groß  geworden  war.  Hier 
allerdings  ist  die  einzelne  Tatsache  nur  eine  Exemplifikation  des 
ewigen,  allgemeinen  Gesetzes,  und  die  Naturforschung  vermag 
von  dem  Individuellen  abzusehen,  um  gerade  dadurch  das  Gesetz- 
mäßige zu  finden.  Für  sie  ist  deshalb  der  Wert  der  einzelnen  Er- 
scheinung lediglich  durch  das  Gesetz  bestimmt,  das  sich  darin 
betätigt.      Ganz   anders   in   der   Geschichte:    historische   Gebilde 


Unhistorische  Denkart  der  Aufklärung.  545 

lassen  sich  niemals  ohne  Rest  in^  allgemeine  Begriffe  auflösen,  es 
bleibt  in  ihnen  immer  etwas  Einziges,  Individuelles,  und  eben 
darin  besteht  ihr  Wert.  Weil  deshalb  von  den  beiden  großen  Ge- 
bieten der  exakten  Forschung  für  die  Entwicklung  der  modernen 
Philosophie  zunächst  nur  das  naturwissenschaftliche  maßgebend 
wurde,  so  trieb  das  Denken  der  Aufklärung  überall  auf  den  Univer- 
salismus zu  und  verlor  in  steigendem  Maße  Interesse  und  Verständnis 
für  die  historischen  Tatsachen. 

Die  Stärke  dieses  Zuges  tritt  gerade  in  der  deutschen  Aufklärung 
am  meisten  hervor.  Denn  sie  folgte  ihm  bis  zur  äußersten  Kon- 
sequenz, obwohl  das  Gegengewicht  von  Anfang  an  in  ihr  vorhanden 
war.  Bei  Leibniz  waren  beide  Elemente  in  gleicher  Höhe  ent- 
wickelt gewesen.  Seine  Monadologie  hatte  dem  Individualismus 
vollkommen  Rechnung  getragen,  ja  man  kann  sagen,  daß  er  diesen 
echt  germanischen  Zug  in  die  wissenschaftliche  Metaphysik  ein- 
geführt hat.  Er  hatte  gelehrt,  daß  jede  Monade  ein  selbständiges 
und  von  allen  übrigen  Dingen  durchaus  verschiedenes  Wesen 
bilde,  und  seine  Metaphysik  hatte  in  dem  Zusammenhange  der 
Dinge  jedem  einzelnen  Wesen  seine  notwendige  und  unersetzliche 
Stelle  angewiesen.  Die  Schule  dagegen  hatte  das  System  der  prä- 
stabilierten  Harmonie  verleugnet,  sie  strebte  in  ihrem  abstrakten 
Formalismus  nur  den  allgemeinen  Gesetzen  nach  und  wußte  den 
Wert  des  Individuums  nicht  mehr  zu  schätzen.  Deshalb  konnte 
sie  die  Geschichte  nicht  begreifen,  und  es  mangelte  ihr  der  Sinn 
für  die  historische  Gerechtigkeit.  Er  war  auch  nicht  aus  philo- 
sophischen Überlegungen  wiederzugewinnen,  sondern  konnte  nur 
durch  die  Wirklichkeit  eines  Mannes  geweckt  werden,  der  ihn  in 
genialer  Begabung  besaß  und  in  rastloser  Tätigkeit  zur  Geltung 
brachte. 

Dieser  Mann  war  Lessing,  ein  Philosoph  weder  als  Begründer 
eines  geschlossenen  Systems  noch  als  berufsmäßiger  Vertreter, 
aber  ein  Philosoph  im  eigensten  Sinne  des  Wortes,  ein  schöpferischer 
Selbstdenker  und  ein  überlegenes  Genie.  Wenn  auch  das  Beste 
von  dem,  was  er  dachte  und  schrieb,  in  der  philosophischen  Be- 
wegung seiner  Zeit,  die  ihn  nicht  begriff,  wirkungs^s  versank, 
so  streute  er  doch  Keime  der  größten  Gedanken  aus,  welche  später 
in  der  deutschen  Philosophie  zur  Entfaltung  kamen.  Er  ist  zwischen 
Leibniz  und  Kant  der  einzig  schöpferische  Kopf  in  der  deutschen 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  35 


546  Lessing. 

Philosophie;  er  ist  dem  Schulpedantismus  und  der  eklektischen 
Verarbeitung  des  Gegebenen  gegenüber  der  einzige,  welcher  das 
deutsche  Denken  nicht  nur  mit  einer  Fülle  anregender  Ideen,  sondern 
vor  allem  mit  einem  großen  Prinzip  befruchtet  hat.  Kein  System 
trägt  seinen  Namen,  keine  einzige  zusammenhängende  Schrift 
entwickelt  seine  philosophische  Lehre:  und  doch  hat  er  mehr  als 
irgend  einer  der  Zeitgenossen  der  großen  Periode  der  deutschen 
Philosophie  vorgearbeitet.  Die  alten  Darstellungen  der  Geschichte 
der  Philosophie  schweigen  von  ihm,  und  erst  seitdem  man  begriffen 
hat,  daß  die  Geschichte  der  Philosophie  keine  Geschichte  der 
philosophischen  Lehrbücher  ist,  sondern  den  lebendigen  Zu- 
sammenhang aller  menschlichen  Denktätigkeiten  zu  umspannen 
hat,  ist  die  Schätzung  seiner  Bedeutung  auch  auf  diesem  Felde 
immer  mehr  gestiegen. 

Sein  Leben  mit  seinem  gewaltigen  Ringen,  seiner  unablässigen 
Arbeit  und  seiner  unerschrockenen  Kampfbereitschaft  ist  bekannt. 
Der  Glanz  seines  Ruhmes  wird  sich  immer  auf  die  befreienden 
Taten  konzentrieren,  mit  denen  er  die  Atmosphäre  der  deutschen 
Literatur  gereinigt  hat,  und  auf  jenes  leuchtende  Vorbild,  das  die 
edle  Menschlichkeit  und  die  einfache  Größe  seiner  Gesinnung  der 
deutschen  Dichtung  gegeben  haben.  Wenn  aber  auch  seine  litera- 
rische Tätigkeit  überall  von  dem  Geiste  dialektischer  Kritik  beseelt 
ist,  so  zeigt  sich  darin  seine  Feinfühligkeit  für  das  Wesen  der  ein- 
zelnen Erscheinung,  welche  sehr  glücklich  als  die  »kongeniale  Auf- 
fassung« charakterisiert  worden  ist.  Es  ist  in  Lessing  etwas  von 
dem  Wolffschen  Bedürfnis  nach  Klarheit  und  Deutlichkeit  dei 
Begriffe,  aber  er  befriedigt  es  nicht  durch  allgemeine  Abstraktionen, 
sondern  durch  die  reinliche  Scheidung  des  Gegebenen.  Seine  Unter- 
suchungen bewegen  sich  am  liebsten  um  die  Bestimmung  von 
Grenzen,  die  in  der  gewöhnlichen  Auffassung  verwischt  werden.  Ei 
sucht  im  Laokoon  die  Grenze  zwischen  Poesie  und  Malerei,  er  wil' 
in  der  Dramaturgie  den  wahren  aristotelischen  Begriff  der  Einheit 
von  den  formalistischen  Nebenbestimmungen  des  französischer 
Klassizismus  trennen.  In  der  Religionsphilosophie  ist  ihm  nicht' 
so  zuwider  wie  die  Verquickung  des  Orthodoxismus  mit  der  Ver- 
nunftreligion, an  der  die  aufklärerischen  Theologen  des  Rationalismus 
arbeiteten,  und  erscheint  ihm  anderseits  nichts  verfehlter  als  di( 
Verwechslung  der  Religion  mit  den  in  den  Religionsbüchern  nieder 


Historische  Weltansicht.  547 

gelegten  Satzungen.  Überall  will  er  die  wahre  Eigentümlichkeit 
des  einzelnen  Gegenstandes  gewahrt  wissen  und  bekämpft  deshalb, 
wenn  nicht  prinzipiell,  so  doch  stets  praktisch  die  nivellierende 
Tendenz,  mit  der  der  abstrakte  Rationalismus  die  Dinoe  behandelte. 
Seine  »Rettungen«  bestreiten  die  einseitigen  und  schematisch  ab- 
sprechenden Beurteilungen,  welche  historische  und  literarische 
Persönlichkeiten  infolge  der  Unkenntnis  der  eigentümlichen  Be- 
dingungen und  Verhältnisse  ihrer  Wirksamkeit  gefunden  hatten. 
Durch  und  durch  Individualist,  vertritt  er  überall  die  historische 
Berechtigung,  und  in  echt  Leibnizschem  Geiste  sucht  er  zu 
zeigen,  wie  jede  Monade  eine  ganz  eigene  Ausprägung  des  Welt- 
lebens ist  und  als  solche  beurteilt  sein  will. 

Aber  die  ganze  Größe  seines  historischen  Gesichtspunktes  zeigt 
sich  erst  in  seiner  Durchführung  des  Begriffs  der  Entwicklung. 
Durch  ihn  erst  vermochte  er  den  schroffen  Gegensatz,  worin  der 
Rationalismus  das  Allgemeine  und  das  Besondere  rückte,  zu  über- 
winden und  die  Grundzüge  der  historischen  Weltauffassung  zu 
ziehen,  welche  von  ihm  an  ein  unverlorener  Besitz  des  deutschen 
Geisteslebens  geblieben  ist.  Philosophisch  betrachtet,  läßt  sich 
auch  dies  Verhältnis  Lessings  zum  Rationalismus  an  dessen  er- 
kenntnistheoretischer Grundlehre  darstellen.  Den  Leibnizschen 
Gegensatz  der  notwendigen  und  der  zufälligen  Wahrheiten  hatte 
die  Wolffsche  Schule  nur  als  eine  äußerliche  Gegenüberstellung 
bestehen  lassen,  und  der  höchste  Standpunkt,  zu  dem  sie  sich  er- 
heben konnte,  war  deshalb  entweder  die  Hoffnung  auf  eine  schließ- 
liche Identität  beider,  oder  die  Kritik  der  zufälligen  durch  die  not- 
wendige Wahrheit.  In  der  Lieblingsfrage  der  Zeit,  der  religions- 
philosophischen, wo  sich  als  notwendige  und  zufällige  Wahrheit 
Vernunftreligion  und  positive  Religion  gegenüberstanden,  waren 
diese  beiden  Konsequenzen  in  der  Vermittlungstheologie  und  in 
der  Kritik  von  Reimarus  hervorgetreten.  Beide  entsprachen  gleich 
wenig  der  historischen  Wahrheit  und  dem  innersten  Geiste  der 
Leibnizschen  Lehre.  Der  letztere  war  eben  nur  in  den  »Nouveaux 
cssais«  niedergelegt,  welche  die  Schule  nicht  kannte,  und  es  ist  des- 
halb äußerst  bezeichnend,  daß  Lessing  unmittelbar  nach  dem  Er- 
scheinen dieses  Buches  eine  Übersetzung  davon  begann.  Denn 
hier  hatte  Leibniz  den  tiefsten  Sinn  seiner  Lehre  dahin  ausgesprochen, 
daß  er  das  Verhältnis  der  notwendigen  und  der  zufälligen  Wahrheiten 

35* 


548  Lessing. 

als  dasjenige  der  Entwicklung  der  ersteren  aus  den  letzteren  dar- 
stellte. Die  ewigen  Wahrheiten  sind  von  Anfang  an  in  der  Monade 
enthalten,  aber  sie  müssen  aus  der  verworrenen  Gestalt,  worin  sie 
als  zufällige  Wahrheiten  auftreten,  zur  vollen  Klarheit  und  Deut- 
lichkeit entwickelt  werden.  Der  Gegensatz  ist  nicht  derjenige 
prinzipieller  Verschiedenheit,  sondern  vielmehr  derjenige  sukzessiver 
Entwicklungsstufen.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachtet, 
mußte  die  Leibnizsche  Lehre,  da  nach  ihr  der  ganze  Weltprozeß 
nur  in  der  Vor  Stellungsbewegung  besteht,  sich  in  eine  durchaus 
historische  Weltauffassung  verwandeln,  in  eine  Weltauf- 
fassung, die  zugleich  im  größten  Stile  teleologisch  war.  Als  die 
Aufgabe  alles  Geschehens  erschien  dann  die  vollkommene  Klärung 
und  Verdeutlichung  aller  Vorstellungen,  und  für  jede  Stufe  in  der 
Erreichung  dieser  Aufgabe  gab  es  eine  gerechte  Wertschätzung. 
Sie  war  berechtigt  nach  rückwärts,  insofern  sie  die  notwendige 
Folge  aus  den  gegebenen  Zuständen  und  einen  wenn  auch  noch  so 
kleinen  Fortschritt  zu  dem  letzten  Ziele  hin  ausmachte;  sie  war 
unberechtigt  nach  vorwärts,  insofern  sie  jenes  Ziel  noch  nicht  er- 
reicht hatte  und  mit  Unvollkommenheiten  behaftet  blieb.  So 
konnte  sich  die  rückhaltlose  Kritik  mit  dem  offenen  Sinne  für  den 
historischen  Wert  verknüpfen. 

In  Lessings  ganzer  Art  zu  denken  und  zu  schreiben  ist  es  be- 
gründet, daß  er  diesen  prinzipiellen  Gesichtspunkt  niemals  aus- 
gesprochen hat;  aber  er  bildet  den  innersten  Kern  seiner  gesamten 
Überzeugung,  und  er  beruht  bei  ihm  in  letzter  Instanz  auf  einem 
tief  sittlichen  Grunde.  Lessing  besaß  den  ganzen  Ernst  einer 
schonungslosen  Prüfung  des  Bestehenden  nach  den  Kriterien  einer 
idealen  Überzeugung,  aber  zugleich  jene  Bescheidenheit,  die  nur 
den  größten  Naturen  eigen  ist,  und  welche  die  Notwendigkeit  der 
individuellen  Gestaltung  ebenso  wie  ihre  Berechtigung  anerkennt. 
Er  hat  damit  dem  deutschen  Denken  die  Richtung  auf  den  sitt- 
lichen Idealismus  gegeben,  welcher  das  innerste  Wesen  unserer 
Dichtung  und  unserer  Philosophie  geworden  ist.  Er  hat  in  seiner 
Weise  zuerst  den  Gedanken  ausgesprochen,  daß  alles  Weltleben 
als  eine  stufenweise  Erfüllung  eines  Ideals  anzusehen  ist,  das, 
wenn  auch  seine  volle  Erreichung  in  unendlicher  Ferne  liegt,  doch 
die  Bewegung  des  einzelnen  bedingt  und  seinen  Wert  bestimmt. 
Wie  er  vom  Erkennen  gesagt  hat,  daß,  wenn  ihm  die  Wahl  zwischen 


Bibelkritik.  549 

einer  geschenkten  Wahrheit  und  einem  niemals  zu  vollendenden 
Streben  nach  deren  eigener  Auffindung  freigestellt  wäre,  er  das 
letztere  wählen  würde,  so  hat  er  auf  allen  Gebieten  das  Wesen  des 
Menschen  in  einer  unendlichen  Arbeit  an  der  Verwirklichung  des 
Ideals  gesucht  —  selbst  ein  leuchtendes  Vorbild  für  die  folgenden 
Geschlechter.  In  diesem  sittlichen  Sinne  ist  Lessing  der  Vater 
des  deutschen  Idealismus  und  der  Begründer  der  histo- 
rischen Weltanschauung,  die  in  der  Bewegung  der  Geschichte 
das  zweckvolle  Zustreben  auf  eine  göttliche  Vollendung  sieht. 

Die  brennenden  Streitfragen  seiner  Umgebung  haben  ihn  diesen 
Standpunkt  vor  allem  auf  dem  Gebiete  der  Religionsphilosophie 
auszuführen  veranlaßt,  und  er  nimmt  infolgedessen  eine  Stellung 
ein,  die  ihn  gleich  weit  über  den  Orthodoxismus  und  den  Rationa- 
lismus erhebt.  Beiden  wirft  er  den  nämlichen  Fehler  vor:  das  Wesen 
einer  Religion  mit  dem  Buche  zu  verwechseln,  in  welchem  sie  zu 
einem  bestimmten  historischen  Zeitpunkte  ihren  Inhalt  niederzu- 
legen versuchte.  Die  Orthodoxen  erkennen  das  Christentum  nur 
in  der  Form  an,  wie  es  sich  in  den  Büchern  der  Bibel  ausspricht: 
die  Deisten  verwerfen  es,  weil  sie  eben  diese  Form  nicht  billigen 
können.  Beide  vergessen,  daß  das  Christentum  als  eine  historische 
Erscheinung  etwas  anderes  ist  als  dieser  Buchstabe.  Jene  berühmte 
Unterscheidung,  die  Lessing  zwischen  der^Religion  Christi  und  der 
*  christlichen  Religion  machte,  läuft  nur  darauf  hinaus,  zu  zeigen, 
daß  nicht  die  Religion  in  dem  Buche,  sondern  das  Buch  in  der 
Religion  seinen  Ursprung  habe.  Wenn  der  Deismus  meinte,  das 
Christentum  zu  zerstören,  indem  er  die  Bibel  zerfetzte,  so  zeigt 
Lessing,  daß  das  Christentum  älter  war,  als  diese  Bücher,  und  daß  es 
unabhängig  von  ihnen  weiter  bestehen  kann  und  besteht.  Die  Bibel 
ist  das  Dokument  nicht  des  Christentums,  sondern  einer  bestimmten 
Entwicklungsphase  desselben,  und  zwar  derjenigen,  welche  diese 
Religion  in  den  ersten  Jahrhunderten  nach  dem  Leben  ihres  Stifters 
angenommen  hat.  Es  liegt  im  Begriffe  der  Entwicklung,  daß  sie 
bei  dieser  Phase  nicht  stehen  bleiben  kann.  Wenn  die  Formen  des 
geistigen  Lebens,  in  denen  das  Christentum  sich  damals  darstellte, 
zerfallen  sind,  so  kann  man  sie  nicht  künstlich  aufrecht  erhalten, 
wie  es  der  Orthodoxismus  will.  Deshalb  billigt  Lessing  die  Angriffe 
des  Wolffenbütteler  Fragmentisten  so  weit,  als  er  die  Unangemessen- 
heit dieser  Formen  zu  dem  religiösen  Bewußtsein  einer  neuen  Zeit 


550  Lessing. 

dartut.  Aber  es  liegt  auch  in  dem  Begriffe  der  Entwicklung,  daß 
jene  Phase  zu  ihrer  Zeit  notwendig  und  berechtigt  war.  Deshalb 
bekämpft  Lessing  jeden  Versuch,  in  dieser  Darstellung  nur  die  be- 
trügerischen Absichten  von  Pfaffen  zu  wittern  und  die  historische 
Notwendigkeit  durch  die  Willkür  einzelner  Menschen  zu  ersetzen. 

Mit  dieser  historischen  Betrachtungsweise  steht  Lessing 
riesengroß  über  der  Beschränktheit  des  deutschen  Rationalismus. 
Er  überschaut  die  Kurzsichtigkeit  jenes  Kritisierens  von  allgemeinen 
abstrakten  Begriffen  aus  und  begreift  die  Notwendigkeit  der  histo- 
rischen Entwicklung  und  den  Wert  ihrer  Gestalten.  Mit  ihm  erhebt 
sich  das  deutsche  Denken  weit  über  das  französische.  Die  französische 
Aufklärung  war  revolutionär :  sie  brachte  es  nur  zu  einem  Rousseau 
und  in  der  Praxis  zu  dem  Bruche  mit  der  Geschichte.  Lessing 
prägte  der  deutschen  Aufklärung  den  reformatorischen  Charakter 
auf,  welcher  das  Ideal  mit  gleicher  Energie  festhält,  aber,  weit 
entfernt  von  der  ungestümen  Zertrümmerung  der  gegebenen  Wirk- 
lichkeit, es  durch  mühevolle  Arbeit  aus  den  historischen  Formen 
heraus  mit  allmählicher  Annäherung  zu  entwickeln  sucht.  Die 
große  Masse  freilich  auch  der  deutschen  Aufklärer  verstand  ihn 
nicht.  Aber  nur  noch  wenige  Jahrzehnte  vergingen,  bis  seine  Lehre 
reiche  Früchte  trug. 

Diese  Erhebung  des  größten  Philosophen  des  Aufklärungszeit- 
alters in  Deutschland  über  die  unhistorische  Betrachtungsweise 
seiner  Zeit  erinnert  an  die  parallele  Erscheinung  David  Humes, 
dessen  Überlegenheit  gleichfalls  in  dem  historischen  Charakter  seines 
Denkens  beruhte.  Und  doch  besteht  zwischen  beiden  ein  großer 
Unterschied.  Hume  kennt  den  Begriff  der  historischen  Entwicklung 
nur  in  der  Form  der  psychologischen  Bewegung,  Lessing  faßt  ihn 
unter  dem  größeren  Gesichtspunkte  einer  metaphysisch  verankerten 
Notwendigkeit.  Hume  begreift  die  Entwicklung  nur  als  mechanische 
Evolution:  Lessing  betrachtet  sie  als  die  stetig  fortschreitende 
Erreichung  eines  idealen  Zieles.  Das  weist  auf  den  tieferen  Gegen- 
satz hin,  der  zwischen  dem  englischen  und  dem  deutschen  Denken 
bestand.  Die  englische  Philosophie  lebte  von  dem  Begriffe  der 
mechanischen  und  atomistischen  Notwendigkeit,  die  deutsche 
hatte  sich  schon  durch  Leibniz  mit  der  teleologischen  Auffassung 
der  großen  Denker  des  Altertums  getränkt,  und  darin  war  Lessing 
der  echte  und  ebenbürtige  Schüler  von  Leibniz. 


Religionsphilosophie.  55 1 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  gewann  Lessing  den  großen  Blick 
auf  die  gesamte  religiöse  Entwicklung  der  Menschheit,  und  in  seiner 
»Erziehung  des  Menschengeschlechts«  betrachtet  er  die 
Keligionen  als  eine  aufsteigende  Reihenfolge  von  Entwicklungs- 
phasen, welche  von  dem  primitivsten  und  niedrigsten  Zustande 
aus  in  allmählichem  Fortschritte  sich  dem  Ideale  des  religiösen 
Lebens  annähern.  Er  gewinnt  die  Möglichkeit  dieser  Ausführung 
durch  seine  Fassung  des  Offenbarungsbegriffs.  Auch  hierin  stellt 
er  sich  sowohl  über  den  Supranaturalismus,  der  an  dem  Buchstaben 
der  Offenbarung  festhält,  als  auch  über  den  Rationalismus,  der 
die  Möglichkeit  der  Offenbarung  bestreitet.  Lessing  glaubt  nicht 
nur  an  die  allgemeine,  sondern  auch  an  die  besondere  und  positive 
Offenbarung  Gottes.  Aber  was  Gott  offenbart,  sind  nicht  fertige, 
ewige  Wahrheiten,  sondern  zufällige  Wahrheiten,  in  denen  die 
ewigen  verhüllt  sind.  Sowenig  wie  der  Erzieher  dem  Kinde  die 
ganze  Wahrheit  von  Anfang  an  sagt,  sowenig  kann  Gott  dem 
Menschen  sich  von  Anfang  an  vollständig  offenbart  haben ;  sondern 
wie  der  rechte  Erzieher  mußte  er  seine  Offenbarung  dem  Vor- 
stellungszustande des  Geschöpfes  anpassen  und  ihm  durch  die 
Offenbarung  selbst  die  Mittel  an  die  Hand  geben,  sich  durch  eigene 
Entwicklung  der  höheren  Offenbarung  fähig  zu  machen.  Deshalb 
betrachtet  Lessing  die  Geschichte  der  Religionen  als  die  fortschrei- 
tende Erziehung  des  Menschengeschlechts  durch  die  göttliche  Offen- 
barung. Er  sieht  wie  die  ältesten  Denker  des  Christentums,  Irenaeus 
und  vor  allen  Origenes,  in  den  religiösen  Urkunden  Elementarbücher, 
an  deren  andeutungsvollen  Berichten  die  Menschheit  der  höheren 
Erkenntnis  entgegenreift.  Das  erste  dieser  Bücher,  nach  welchem 
der  Mensch  den  Gottesgedanken  sozusagen  buchstabieren  gelernt 
hat,  ist  das  alte  Testament.  Das  zweite,  worin  dieser  Gedanke 
schon  vertieft  und  mit  der  neuen  Lehre  von  der  Unsterblichkeit 
des  Menschen  vereinigt  erscheint,  ist  das  neue  Testament.  Aber 
auch  dieses  gilt  Lessing  nur  als  eine  Vorbereitung  zu  einem  dritten 
Evangelium  der  Zukunft,  auf  welches  in  ihm  das  Johannes-Evan- 
gelium am  meisten  hindeute.  Dieser  Gedanke  einer  Weiterentwick- 
lung des  Christentums  in  dem  geläuterten  Geiste  des  vierten  Evan- 
geliums ist  später  von  der  deutschen  Philosophie  und  besonders 
von  Fichte  des  genaueren  ausgeführt  worden,  und  es  ist  das  eins 
der  Zeichen,  wie  tief  der  von  Lessing  ausgesprochene  Grundgedanke 


552  Lessing. 

einer  fortschreitenden  Entwicklung  der  menschlichen  Religiosität 
Wurzel  geschlagen  hatte.  Gleichwohl  bleibt  in  Lessings  Auffassung 
dieser  Entwicklung  ein  untrügliches  Merkmal  der  deutschen  Auf- 
klärung bestehen.  Es  ist  eben  dies,  daß  er  die  Entwicklung  nur 
als  Erziehung  begreifen  kann,  und  daß  er  deshalb  eine  immerhin 
von  außen  in  den  Gang  des  menschlichen  Geisteslebens  eingreifende 
Offenbarung  voraussetzt.  Lessing  hat  von  dem  Wesen  der  Ent- 
wicklung die  Stetigkeit  des  Fortschrittes  und  die  Notwendigkeit 
einer  stufen  weisen  Vervollkommnung  durchaus  begriffen;  aber  wie 
Deutschlands  politische  Aufklärung  das  Heil  von  den  Reformen 
einer  wohlwollenden  Regierung  erwartete,  so  führt  Lessing  die 
Vervollkommnung  des  religiösen  Lebens  auf  die  schrittweise  klarer 
werdende  Offenbarung  der  Gottheit  zurück.  Er  kennt  noch  nicht 
den  Begriff  der  Selbstentwicklung,  sowenig  wie  die  politische  Auf- 
klärung denjenigen  der  Selbsterziehung  des  Volkes  zu  freiheitlichen 
Institutionen  kannte.  Das  einzige,  was  daher  die  späteren  Philo- 
sophen dem  Lessingschen  Prinzip  hinzufügen  konnten,  war  die  Auf- 
lösung des  Offenbarungsbegriffs  und  das  Bestreben,  die  Geschichte 
der  Religion  als  eine  Selbstentwicklung  und  Selbstoffenbarung  des 
menschlichen  Geistes  zu  begreifen. 

Das  Ziel  dieser  Entwicklung  sieht  Lessing  in  der  vollkommenen 
Entfaltung  der  Vernunftreligion.  Auch  er  mißt,  wie  die  Deisten, 
den  Wert  einer  positiven  Religion  an  ihrem  Verhältnis  zur  Natur- 
religion. Aber  er  unterscheidet  sich  von  ihnen  wie  Hume  dadurch, 
daß  er  die  letztere  nicht  für  den  Anfangszustand  ansieht,  von 
welchem  die  positiven  Religionen  nur  historische  Verzerrungen  ent- 
halten, sondern  vielmehr  für  die  Endaufgabe,  auf  deren  Lösung 
sie  planmäßig  vorbereiten.  Die  Vorstellung,  die  Lessing  von  dieser 
Vernunftreligion  hatte,  ist  unter  allen  seinen  Lehren  am  schwersten 
zu  bestimmen.  Man  macht  es  sich  leicht,  wenn  man  sie  lediglich 
aus  dem  poetischen  Bekenntnis  entnehmen  will,  das  der  Dichter 
Lessing  im  »Nathan«  niederlegte.  Geht  man  nur  nach  diesem, 
so  ist  allerdings  das  Evangelium  der  Zukunft  lediglich  dasjenige 
der  Moral,  zwar  einer  wahrhaft  großen  und  das  menschliche  Leben 
ins  Herz  treffenden  Moral,  aber  doch  eben  nur  dieser.  Danach  hätte 
Lessing  vollständig  jene  Wendung  mitgemacht,  mit  der  die  Spitzen 
der  Aufklärungsphilosophie,  ein  Voltaire  und  ein  Hume,  das  wahre 
Wesen  der  Religion  restlos  in  dasjenige  der  Moralität  aufzulösen 


Vernunftreligion.  553 

trachteten.  Möglich,  daß  er,  als  er  den  Nathan  schrieb,  hin  und 
wieder  dieser  Tendenz,  die  namentlich  in  seinen  Freunden  lebendig 
war,  nachgab,  und  daß  die  unverkennbare  Zurücksetzung,  welche 
in  diesem  Werke  das  Christentum  erfährt,  dadurch  mit  bedingt 
war.  Allein  schon  darin,  daß  Lessings  Darstellung  der  Geschichte 
von  den  drei  Ringen  wenigstens  die  Möglichkeit  offen  läßt,  einer 
von  den  drei  Ringen  sei  wirklich  der  echte,  bricht  eine  andere  Auf- 
fassung durch,  und  der  Philosoph  Lessing  dachte  jedenfalls  anders, 
und  namentlich  anders  vom  Christentum.  Wenn  er  den  Wert  der 
positiven  Religionen  nach  ihrer  Annäherung  an  die  natürliche  be- 
maß,  so  war  es  ihm  kein  Zweifel,  daß  unter  allen  das  Christentum 
der  Vernunftreligion  am  nächsten  steht,  und  diese  Überzeugung, 
die  schon  in  der  Entwicklungsgeschichte  der  Religion  sich  begründete, 
wirkt  bei  Lessing  rückwärts  auf  seine  Lehre  von  der  Vernunft- 
religion. Für  sie  hielt  er  vor  allem  an  der  Lehre  von  der  Unsterb- 
lichkeit fest,  deren  erster  klarer,  zuverlässiger  und  praktischer 
Lehrer  Jesus  gewesen  sei.  Dann  aber  machte  er  schon  früh  und 
in  mannigfachen  Wendungen  den  Versuch,  die  wesentlichste  Unter- 
scheidungslehre des  Christentums,  diejenige  der  Trinität,  aus  der 
Vernunft  zu  rechtfertigen  und  philosophisch  zu  begründen.  Zu 
diesem  Zweck  faßte  er  das  Verhältnis  Gottes  zur  Welt  in  einer 
von  Leibniz  abweichenden  Weise  auf  und  näherte  sich  damit  zu- 
nächst der  Lehre  Spinozas  derartig,  daß  nach  seinem  Tode  der 
von  Jacobi  angeregte  Streit  über  seinen  Spinozismus  entbrennen 
konnte.  Während  nämlich  Leibniz  die  Welt  nur  für  die  Realisierung 
der  besten  unter  den  unzähligen  in  der  Vorstellung  Gottes  ge- 
gebenen Möglichkeiten  erklärt  hatte,  hielt  Lessing  stets  daran 
fest,  daß  das  unendliche  Wesen  der  Gottheit  in  der  Welt  seinen 
gesamten  Inhalt  zur  Wirklichkeit  gebracht  haben  müsse,  und  daß 
deshalb  das  All  eine  vollkommene  und  restlose  Offenbarung  der 
Gottheit  bilde.  Sein  Spinozismus  besteht  nur  darin,  daß  auch  ihm 
Gott  und  Welt  in  einem  Sinne  identisch  sind,  welcher  die  in  der 
göttlichen  Einheit  verknüpften  Bestimmungen  in  der  Mannig- 
faltigkeit der  Dinge  zersplittert  sieht.  Allein  Lessing  baut  darauf 
die  weitere  Betrachtung,  daß  die  Gottheit  alle  ihre  Vollkommen- 
heiten in  der  Einheit,  wie  sie  in  ihr  selbst  vorhanden  sind,  auch 
verbunden  anschauen  muß,  und  da  die  Vorstellungstätigkeit  Gottes 
jedem  ihrer  Inhalte  Wirklichkeit  gibt,    so  muß  auch  dieses  voll- 


554  Lessing. 

komrnene  und  einheitliche  Abbild,  das  Gott  von  sich  selber  denkt, 
wirklich  sein.  Gott  schafft  deshalb  sein  eigenes  Abbild  einmal  so 
einheitlich,  wie  er  selbst  ist,  in  seinem  Sohne  und  ein  anderes  Mal 
in  der  unendlichen  Stufenreihe  der  Wesen,  deren  Gesamtheit  wie- 
derum seine  Vollkommenheit  spiegelt.  Das  ist  das  »Christentum  der 
Vernunft«,  welches  Lessings  tiefste  Überzeugung  bildete.  Die 
dogmatischen  Formen,  in  denen  die  Kirchenlehre  diese  Ideen  aus- 
gesprochen hat,  gelten  ihm  nur  als  vorbereitende  Umhüllungen,  aus 
denen  erst  die  Vernunft  den  wahren  Sinn  finden  wird.  Aber  er  ist 
davon  durchdrungen,  daß  diese  höchsten  Wahrheiten  des  Christen- 
tums mit  denjenigen  der  Vernunftreligion  identisch  sind,  und  die 
»Erziehung  des  Menschengeschlechts «  macht  auch  über  die  Lehren 
von  der  Erbsünde  und  der  stellvertretenden  Genugtuung  ähnliche 
Versuche.  Lessing  faßt  den  Wunsch  von  Leibniz,  das  Christentum 
mit  der  Vernunftreligion  zu  identifizieren,  in  dem  tieferen  Sinne  der 
Entwicklungslehre,  wonach  in  den  Dogmen  sich  die  verworrenen 
Andeutungen  der  ewigen  Wahrheit  finden  sollen.  Es  kann  nicht 
zweifelhaft  sein,  daß  dabei  von  ihm  Gedankengänge  verarbeitet 
wurden,  die  teils  schon  der  Patristik  und  dem  Mittelalter,  teils  be- 
sonders der  deutschen  Mystik  geläufig  gewesen  waren,  und  anderseits 
haben  sich  um  die  versuchsweisen  Deutungen,  welche  er  gab,  vielfach 
die  religionsphilosophischen  Spekulationen  der  späteren  deutschen 
Philosophen  bewegt.  Aber  die  originelle  Größe  seiner  Leistung  be- 
steht eben  in  dem  historischen  Geiste,  mit  dem  er  die  Notwendigkeit 
der  Entwicklung  der  ewigen  Wahrheit  aus  der  zufälligen  darstellte. 
Darin  ist  Lessing  der  Verkünder  der  wahren  Aufklärung,  jener 
Aufklärung,  welche  nicht  mit  beschränkter  Selbstgefälligkeit  auf 
niedere  Entwicklungsstufen  herabsieht,  sondern  in  sich  selbst  nach 
den  Mängeln  sucht,  die  der  Vervollkommnung  bedürfen,  und  einem 
hohen  Ideale  nachstrebt  ohne  die  Einbildung,  es  schon  erreicht  zu 
haben,  und  selbst  ohne  die  Hoffnung,  es  jemals  vollständig  zu  er- 
reichen. Diese  Aufklärung  ist  die  sittliche.  Sie  hält  den  Blick 
auf  eine  unendliche  Ferne  gerichtet;  aber  sie  bewegt  sich  mit  rast- 
loser Arbeit  auf  der  Linie,  die  auf  jenen  Punkt  hinweist.  Sie  weiß, 
daß  ihrer  Arbeit  nie  ein  Ende  sein  wird ;  aber  sie  vergißt  auch  nicht, 
daß  in  dieser  Arbeit  selbst  die  Aufgabe,  der  Wert  und  das  Glück 
des  Menschen  liegen.  Das  ist  die  große  Lehre,  welche  Lessings  Leben 
und  Denken  dem  deutschen  Volke  gegeben  haben. 


I 


Eklektiker.  555 

§  53.    Die  eklektischen  Methodologen. 

Neben  Lessing  sind  es  nur  Geister  zweiten  und  niederen  Ranges, 
welche  wie  Wolff  und  seine  Schule  die  Träger  der  deutschen  Auf- 
klärungsphilosophie bilden,  und  ihre  größtenteils  vielgeschäftige 
Tätigkeit  hat  außerdem  noch  das  Unglück  gehabt,  durch  die 
blendende  Erscheinung  Kants  und  der  auf  ihn  folgenden  philo- 
sophischen Bewegung  derartig  verdunkelt  zu  werden,  daß  die  Ge- 
schichte sich  gewöhnt  hat,  mit  einer  Art  von  Achselzucken  an  dieser 
Periode  vorüberzugehen.  Es  ist  das  gerechtfertigt,  wenn  man  ledig- 
lich auf  die  Bedeutung  und  Originalität  der  philosophischen  Lehren, 
die  dabei  zum  Ausspruch  kommen,  Rücksicht  nimmt.  Aber  man 
darf  nicht  vergessen,  in  der  allgemeinen  Bewegung  dieser  Auf- 
klärungphilosophie die  Bestrebungen  und  Richtungen  aufzufassen, 
worin  sich  trotz  alledem  langsam  das  Neue  und  Wertvollere  vor- 
bereitet. 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  diese  Strömung  sich  außerhalb 
der  Wolffschen  Schule  bewegte,  welche  in  sich  selber  zu  unfrucht- 
barem Formalismus  verurteilt  war.  Wenn  sie  auch  den  größten 
Teil  der  Katheder  beherrschte  und  den  Grundzug  der  allgemeinen 
philosophischen  Bildung  ausmachte,  so  blieb  sie  doch  auch  nicht 
völlig  unbeanstandet,  und  charakteristischerweise  gaben  gerade 
diejenigen  Eigenschaften,  welche  ihr  die  Herrschaft  sicherten,  auf 
der  anderen  Seite  auch  die  Veranlassung  zu  ihrer  Bekämpfung. 
Hatte  sie  unter  dem  Zeichen  der  Logik  gesiegt  und  durch  ihre 
systematische  und  methodische  Ausbildung  die  Geister  gefangen 
genommen,  so  gab  die  dieser  Tugend  anhaftende  Schwäche  der 
Pedanterie  Anlaß,  sie  zu  bekämpfen  und  teilweise  zu  bewitzeln. 
Viele  nahmen,  wie  Jean  Pierre  de  Crousaz  (1663 — 1748),  infolge 
einer  Art  von  ästhetischem  Bedürfnis  an  der  Systematisierungs- 
sucht,  welche  Wolff  in  die  Philosophie  gebracht  hatte,  Anstoß. 
Crousaz,  in  der  französischen  Schweiz  geboren  und  mit  den  ge- 
schmackvollen Darstellungen  der  französischen  Literatur  vertraut, 
hatte  sich  bei  langjährigem  Aufenthalt  in  Deutschland  auch  in 
dessen  Philosophie  heimisch  gemacht  und  sah  auch  seine  Werke 
logischen,  ästhetischen  und  pädagogischen  Inhalts  unter  den  deut- 
schen Lesern  heimisch  werden.  Er  führte  darin  nach  dem  Prinzip 
»Point   de    Systeme«    einen    zwar    geistvollen,    aber    im    Grunde 


556  Auflösung  der  Wolf f sehen  Schule. 

genommen  doch  recht  oberflächlichen  Kampf  gegen  die  Schulphilo- 
sophie und  schöpfte  seine  eigenen  Ansichten  hier  und  dort  aus 
dem  reichen  Umfange  seiner  Lektüre.  Dieser  Eklektizismus 
war  überhaupt  die  notwendige  Gegenwirkung,  welche  die  strenge 
Schulmäßigkeit  der  Wolffianer  erzeugte.  Jenes  »  Point  de  Systeme  «, 
zu  welchem  sich  der  gleichfalls  in  Deutschland  lebende  Mauper- 
tuis '  bekannte,  war  ja  auch  wesentlich  gegen  die  Wolffianer  ge- 
richtet. 

Indessen  neigte  einem  solchen  Eklektizismus  bald  auch  ein 
großer  Teil  der  Wolffianer  selbst  zu.  So  einheitlich  und  einander 
tragend  die  Lehren  des  Systems  in  den  Darstellungen  der  Lehr- 
bücher erschienen,  sowenig  war  doch  bei  der  Unzulänglichkeit 
einer  rein  deduktiven  Durchführung  die  Möglichkeit  ausgeschlossen, 
daß  man  in  mehr  oder  minder  wichtigen  Punkten  davon  abwich. 
Namentlich  aber  war  es  eine  Seite  des  Leibniz-Wolffschen  Denkens, 
welche  viele  der  Anhänger  stutzig  machte:  der  Determinismus, 
den  Wolff  fast  noch  energischer  als  Leibniz  aufrecht  erhalten 
hatte,  stieß  leicht  auf  religiöse  und  moralische  Bedenken,  und  so 
wurde  zuerst  an  diesem  Punkte  eine  Bresche  in  den  Schulzusammen- 
hang gebrochen,  indem  viele  Männer,  welche  sich  sonst  zu  dem 
methodischen  Charakter  der  Schule  bekannten,  hierin  davon  ab- 
wichen und  zur  Lehre  von  der  Willensfreiheit  zurückkehrten.  Der 
einflußreichste  unter  ihnen  ist  Joachim  Georg  Darjes  (1714 
bis  1792)  gewesen,  der  anfangs  in  Jena  und  später  namentlich 
in  Frankfurt  a.  0.  eine  überaus  erfolgreiche  Lehrtätigkeit  aus- 
übte. Seine  »Via  ad  veritatem«  (Frankfurt  1755)  entwarf  eine 
Enzyklopädie  der  Wissenschaften  nach  Wolffschem  Muster,  welche 
der  Wahrnehmungserkenntnis  der  empirischen  Disziplinen  die  be- 
griffliche Erkenntnis  der  Philosophie  gegenüberstellte  und  diese 
nach  ontologischen  Begriffsbestimmungen  gliederte.  Aber  in  der 
Ausführung,  welche  die  Philosophie  in  seinen  zahlreichen  übrigen 
Schriften  fand,  kehrte  er  sich  namentlich  gegen  die  prästabilierte 
Harmonie  und  gegen  den  Determinismus,  der  als  Kest  davon  bei 
Wolff  stehen  geblieben  sei:  er  nahm,  wesentlich  aus  moralphilo- 
sophischen Gründen,  ein  eigenes  Vermögen  der  Freiheit  an,  das 
bei  Gott  den  Ursprung  der  zufälligen  Wahrheiten  den  ewigen  gegen- 
über und  beim  Menschen  den  Ursprung  der  moralischen  Unvoll- 
kommenheit  bilde.    Durch  die  Aufnahme  dieser  Lehre  war  natürlich 


Wirkung  von  Thoraasius.  557 

das  Leibnizsche  System  vollständig  zerfallen,  und  seine  Konsequenz, 
die  Theodicee,  mußte  gleichfalls  umgestoßen  werden. 

Den  eigentlichen  Herd  des  Eklektizismus  bildeten  aber  die  von 
Thomasius  ausgehenden  Gedanken.  Dieser  hatte  ja  gerade  um 
der  Popularität  und  Nutzbarkeit  der  Philosophie  willen  die  System- 
losigkeit  und  die  Abvvendung  von  der  Schulweisheit  auf  seine 
Fahne  geschrieben  und  fand  damit  zahlreiche  Anhänger.  Zu  den 
einflußreichsten  darunter  gehörte  der  Jenenser  Theolog  Johann 
Franz  Budde  (Buddeus,  1667—1729),  welcher,  dem  Ortho- 
doxismus der  Wolffianer  gegenüber,  der  pietistischen  Denkweise 
zuneigte  und  in  der  Philosophie  aus  seiner  reichen  Kenntnis  eine 
Zusammenfassung  der  nach  seiner  Meinung  sichersten  und  für  das 
Wohl  des  Menschengeschlechts  wertvollsten  Wahrheiten  versuchte, 
die  er  in  seinen  »Institutiones  philosophiae  eclecticae«  (Halle  1705) 
niederlegte.  Wie  immer,  zeigte  auch  hier  der  Eklektizismus  vermöge 
seiner  Unfähigkeit  eigener  Schöpfung  eine  lebhafte  Tendenz  zu 
historischen  Studien,  und  ein  Schüler  Buddes,  Johann  Jakob 
B rucker,  war  es,  der,  durch  ihn  angeregt,  zuerst  in  Deutschland  "^r 
eine  umfassende  Darstellung  der  Geschichte  der  Philosophie  gab. 
Diese  war  zwar  mit  gelehrter  Sorgfalt  und  teilweise  auch  mit 
kritischem  Scharfsinn  geschrieben,  allein  weder  seine  in  7  Bänden 
erschienenen  »Kurzen  Fragen  aus  der  philosophischen  Historie« 
(Ulm  1731 — 1736),  noch  die  fünfbändige  »Historia  critica  philo- 
sophiae a  mundi  incunabilis  ad  nostram  usque  aetatem  deducta« 
(Leipzig  1742 — 1744)  erhoben  sich  über  eine  trockene  und  zusammen- 
hanglose Aufzählung  der  philosophischen  Lehren.  Für  Brucker  ist 
die  Geschichte  der  Philosophie  nur  eine  Sammlung  von  Meinungen, 
welche  gewisse  gelehrte  Herren  »  de  omnibus  rebus  et  de  quibusdam 
aliis«  gehabt  haben,  und  unter  denen  die  meisten  nur  Beispiele 
von  der  Torheit  und  Nichtigkeit  der  menschlichen  Vorstellungen 
sind:  von  einem  historischen  Zusammenhang  und  von  einem  Ent- 
wicklungswerte der  einzelnen  hat  er  so  wenig  Ahnung,  wie  sein 
antikes  Vorbild,  Diogenes  Laertius  *).     Immerhin  war  damit  die 


*)  In  ähnlicher  Weise  und  mit  noch  engerem  Anschluß  an  Diogenes  hatte 
in  England  Thomas  Stanley  in  seiner  »History  of  philosophy«  (London 
1655)  die  griechische  Philosophie  behandelt,  alles  Folgende  dagegen  einfach 
damit  abgewiesen,  daß  seit  der  christlichen  Offenbarung  die  Wahrheit  vor- 
handen und  die  Philosophie  überflüssig  sei. 


558  Gundling,  Ploucquet. 

fruchtbare  Anregung,  die  schon  der  Vater  von  Thomasius  bei 
Gelegenheit  kirchengeschichtlicher  Fragen  für  die  Bearbeitung  der 
Geschichte  der  Philosophie  gegeben  und  welche  sein  Sohn  unter- 
stützt hatte,  zur  Wirklichkeit  geworden.  Auch  nach  anderen 
Sichtungen  hin  gab  Thomasius  die  Veranlassung  zu  freierer  Fort- 
bildung der  Wissenschaft.  Namentlich  geschah  dies  auf  dem 
Gebiete  der  Rechtsphilosophie,  gegen  deren  von  Leibniz  ver- 
suchte und  später  von  Wolff  durchgeführte  Unterordnung  unter 
die  allgemeineren  Gesichtspunkte  der  praktischen  Philosophie  sich 
die  Anhänger  von  Thomasius  sträubten.  So  versuchte  namentlich 
Nikolaus  Hieronymus  Gundling  (1671 — 1729),  der,  wenn  auch 
in  sehr  oberflächlicher  Weise,  Lockesche  und  Leibnizsche  Grund- 
sätze verknüpfte,  die  Rechtsphilosophie  dadurch  ganz  selbständig 
zu  machen,  daß  er  dem  Rechte  nur  den  Zweck  einer  Erhaltung  des 
äußeren  Friedens  und  einer  Gewährleistung  der  gesetzlichen  Ver- 
bindlichkeit setzte,  eine  Auffassung,  die  schon  in  der  Richtung  von 
Kants  Unterscheidung  der  Legalität  und  der  Moralität  lag. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  sind  jedoch  neben  diesen  Männern, 
die  sich  mit  willkürlicher  Auswahl  in  den  althergebrachten  Geleisen 
bewegten,  diejenigen,  welche  mit  ernstem  wissenschaftlichen  Sinn 
die  Grundlage  des  philosophischen  Denkens  neu  zu  untersuchen 
unternahmen.  Sie  waren  zwar  alle  mehr  oder  minder  von  dem 
Wolff  sehen  System  abhängig;  statt  jedoch  ihm  nur  einzelne  Lehren 
unorganisch  einzufügen,  suchten  sie  die  methodischen  Grundlagen 
durch  Hinzunahme  anderer  Gedanken  zu  vervollständigen  oder  zu 
modifizieren.  In  erster  Hinsicht  schloß  sich  Michael  Gottlieb 
Hansch  (1683 — 1752)  enger  an  die  methodologischen  Unter- 
suchungen von  Leibniz  an,  wovon  seine  »Ars  inveniendi«  (Halle 
1727)  Zeugnis  gibt;  namentlich  aber  verfolgte  Gottfried  Plouc- 
quet (Halle  1716 — 1780)  den  Leibnizschen  Gedanken,  das  philo- 
sophische Beweisverfahren  nach  Analogie  des  mathematischen 
Rechnens  zu  gestalten,  und  entwickelte  zu  diesem  Zweck  in  seiner 
Schrift  »Principia  de  substantiis  et  phaenomenis :  accedit  methodus 
calculandi  in  logicis  ab  ipso  inventa,  cui  praemittitur  commentatio 
de  arte  characteristica  universali«  (Frankfurt  und  Leipzig  1753) 
einen  »logischen  Calcül«,  der  sich  jedoch  trotz  mancher  treffen- 
den und  vereinfachenden  Gedanken  bei  der  allgemeinen  Kom- 
pliziertheit seiner  Formeln  und  der  Inhaltslosigkeit  seines  Schematis- 


Rüdiger,  559 

mus  ebensowenig  fruchtbar   bewies  wie   die   entsprechenden  Ver- 
suche von  Leibniz. 

Von  größerer  Bedeutung  war  die  Opposition,  die  der  Wolffschen  ,  f, 
Schule  von  Rüdiger  und  Crusius  gemacht  wurde.  Andreas' 
Rüdiger  (1673 — 1731),  ein  Schüler  von  Thomasius  und  Professor 
in  Leipzig,  hatte  zuerst  die  prinzipielle  Einsicht  in  die  Unzuläng- 
lichkeit der  geometrischen  Methode  für  die  philosophische  Forschung, 
und  zwar  auf  Grund  einer  überzeugenden  Analyse  von  der  Ver- 
schiedenheit der  wissenschaftlichen  Aufgaben  derMathe- 
matik  und  der  Philosophie.  Wenn  Leibniz  in  erster  Linie 
der  Philosophie  die  Aufsuchung  der  »ersten  Möglichkeiten«  zu- 
gewiesen, wenn  Wolff  die  Philosophie  direkt  als  die  Wissenschaft 
von  dem7  Möglichen,  sofern  es  gedacht  werden  kann,  definiert 
hatte,  so  hielt  Rüdiger  ihnen  vor  allem  entgegen,  daß  die  Philo- 
sophie es  mit  der  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  zu  tun  habe. 
Die  geometrische  Methode  sei  von  den  Rationalisten  mit  richtiger 
Konsequenz  nach  jenen  Begriffsbestimmungen  gewählt  worden; 
denn  die  Mathematik  beschäftige  sich  in  der  Tat  nur  mit  dem 
Möglichen,  ohne  nach  dessen  Wirklichkeit  zu  fragen  oder  fragen 
zu  können.  Die  Erkenntnis  vom  Wesen  des  Kreises  bleibt  richtig, 
auch  wenn  es  in  Wirklichkeit  gar  keinen  vollkommenen  Kreis  gibt. 
Wenn  aber  die  Philosophie  nach  demselben  Prinzip  verfährt,  so 
baut  sie  ihr  System  in  die  Luft;  denn  sie  soll  nicht^eine  mögliche" 
Welt,  sondern^die  wirkliche"  Welt  erkennen.  Darin  spricht  sich  der- 
selbe Sinn  für  die  Wirklichkeit  aus,  den  Leibniz  durch  die  Auf- 
nahme des  empiristischen  Moments  in  seine  Erkenntnistheorie  be- 
tätigt, aber  nicht  durchgeführt  hatte.  Rüdiger  entwickelt  daraus, 
daß  das  analytische  Verfahren  der  deduktiven  Erkenntnis  aus 
höchsten  Begriffen  nur  in  der  Mathematik  Platz  greifen  dürfe,  in 
der  Philosophie  dagegen  keinen  Wert  habe.  In  ihr  seien  die  höchsten 
Begriffe  erst  zu  suchen,  und  sie  könne  deshalb  nur  von  den  Elementen 
der  Vorstellungstätigkeit  ausgehen,  um  auf  synthetischem  Wege 
die  letzten  Resultate  zu  finden.  Jene  Elemente  sind  nun  keine 
anderen,  als  die  von  der  Erfahrung  gegebenen,  und  deshalb  ent- 
wickelt er  in  seiner  »Disputatio  de  eo,  quod  omnes  ideae  oriantur 
a  sensione«  (Leipzig  1704)  eine  vollkommen  empiristische  Er- 
kenntnistheorie, von  der  es  schwer  ist,  festzustellen,  wie  weit 
sie  auf  eigenen  Füßen  oder  auf  den  Schultern  Lockes  steht.    Freilich 


560  Crusius. 

ist  er  von  einer  gründlichen  Durchführung  dieser  empiristischen 
Methode  sehr  weit  entfernt.  Sowohl  seine  »Philosophia  synthetica  « 
(Leipzig  1707)  als  auch  die  ausführliche  und  gegen  Wolff  gerichtete 
»Philosophia  pragmatica«  (Leipzig  1723)  wollen  zwischen  der 
mechanischen  und  der  teleologischen  Naturauffassung  in  einer 
Weise  vermitteln,  welche  mit  ihren  phantastischen  Hypothesen 
stark  an  die  Spekulationen  von  Paracelsus  erinnert,  und  wenn  er 
auch  für  seine  Lehren  eigentlich  nur  Wahrscheinlichkeit  in  Anspruch 
nimmt  (von  der  er  eine  ausführliche  Theorie  gibt,  während  er  sie 
charakteristischerweise  auf  mathematischem  Gebiete  nicht  an- 
erkannt wissen  will),  so  zeigen  doch  eben  diese  Versuche  eine  voll- 
ständige Unfähigkeit  wahrhaft  empirischer  Forschung.  Wertvoll 
blieb  immerhin,  daß  er  dem  logischen  Begriffe  der  Wahrheit  als 
widerspruchsloser  Übereinstimmung  der  Vorstellungen  untereinander 
denjenigen  der  philosophischen  Wahrheit  als  der  ^Übereinstimmung 
der  Vorstellungen  mit  den  Dingen  wieder  gegenüberstellte.  Den 
größten  Nachteil  des  logischen  Formalismus  sieht  auch  er  in  der 
bedingungslosen  Anerkennung,  die  in  den  rationalistischen  Theorien 
der  Satz  vom  Grunde  findet,  und  indem  er  richtig  durchschaut,  daß 
der  Determinismus  darin  seinen  Grund  hat,  will  er  den  Satz  vom 
Grunde  zugunsten  des  Freiheitsbegriffs  beschränkt  wissen.  Auf 
moralphilosophischem  Gebiete  führt  dies  selbstverständlich  wieder 
zu  einer  Ableitung  der  sittlichen  Gesetze  aus  dem  freien  Willen 
der  Gottheit  und  zu  einer  Anerkennung  des  Ursprungs  der  Sünde  in 
dem  Mißbrauche  der  Willensfreiheit  von  selten  des  Menschen.  Hierin 
lag  der  Grund,  weshalb  seine  Theorie  und  namentlich  deren  Ausfüh- 
rung durch  Crusius  sich  einer  wachsenden  Anerkennung  von  Seiten 
der  Theologen  erfreute.  Dabei  hielt  er  sich  mit  seinen  besonderen 
Lehren  verhältnismäßig  eng  an  Thomasius,  nicht  nur  in  den  einzelnen 
Bestimmungen  seiner  Moralphilosophie,  die  er  der  »sapientia«  ge- 
nannten theoretischen  Philosophie  gegenüber  als  »justitia«  bezeich- 
nete, sondern  namentlich  auch  im  dritten  Teil  seiner  Philosophie,  der 
unter  dem  Namen  »prüden tia  «  die  Lehre  von  dem  durch  die  natür- 
lichen Triebe  des  Menschen  bestimmten  höchsten  Gute  behandelte. 
In  tieferer  Begründung,  festerer  Ausbildung  und  wirkungsvollerer 
Darstellung  traten  dieselben  Gedanken  bei  seinem  indirekten  Schüler 
Christian  August  Crusius  (1712 — 1776),  gleichfalls  einem 
Leipziger  Professor,  hervor,  welcher  sich  in  seiner  Schrift  »De  usu 


Stellung  zwischen  Wolff  und  Locke.  561 

et  limitibus  principii  rationis  determinantis  vulgo  sufficientis « 
(Leipzig  1743)  von  der  Wolffschen  Philosophie  losgesagt  hatte  und 
sodann  in  einer  Reihe  deutsch  geschriebener  Werke  seinen  eigenen 
Standpunkt  klarlegte.  Unter  ihnen  ist  neben  dem  »Entwurf  der 
notwendigen  Vernunftwahrheiten«  (Leipzig  1745)  namentlich  der 
»Weg  zur  Gewißheit  und  Zuverlässigkeit  menschlicher  Erkenntnis« 
(Leipzig  1747)  hervorzuheben.  Auch  er  geht  von  einer  prinzipiellen 
Scheidung  des  mathematischen  und  des  philosophischen  Verfahrens 
aus,  von  denen  das  eine  nur  Mögliches,  das  andere  nur  Wirk- 
liches zum  Gegenstande  habe,  so  daß  das  letztere  sich  häufig 
statt  zweifelloser  Evidenz  mit  der  Wahrscheinlichkeit  begnügen 
müsse:  von  dieser  gibt  auch  er  eine  ausführliche  Theorie.  Allein 
in  der  Erkenntnis  des  Wirklichen  unterscheidet  Crusius  mit  offen- 
barer Abhängigkeit  von  Wolff  das  historische  bzw.  empirische  von 
dem  philosophischen  Wissen  und  will  für  das  letztere  nur  solche 
Vernunftwahrheiten  in  Anspruch  nehmen,  deren  Objekt  beständig 
andauert.  Trotz  dieser  anfänglich  klaren  Begriffsbestimmungen 
bleibt  jedoch  die  Erkenntnistheorie  von  Crusius  schließlich  ein  un- 
klares Gemenge  rationalistischer  und  empiristischer  Elemente.  Er 
sieht  sehr  richtig  ein,  daß  der  Satz  des  Widerspruches  nur  für  eine 
rein  logisch  verfahrende  Begriffswissenschaft  das  höchste  und  einzige 
Prinzip  bilden  kann,  und  da  er  wie  das  ganze  Zeitalter  überzeugt 
ist,  daß  die  Mathematik  eine  solche  sei,  so  will  auch  er  nur  für  diese 
das  analytische  Verfahren  gelten  lassen.  Wenn  er  dann  aber  für 
die  Philosophie  den  »Satz  der  Gedenkbarkeit «  aufstellt:  »was  nicht 
als  falsch  zu  denken  ist,  ist  wahr;  was  gar  nicht  zu  denken  ist,  ist 
falsch«,  so  darf  man  sich  billig  fragen,  ob  dieser  etwas  anderes  sei, 
als  ein  ungeschickter  Ausdruck  für  denselben  alten  »Satz  des  Wider- 
spruches «,  den  Crusius  auch  daraus  entwickelt ;  und  die  von  ihm  hin- 
zugefügten Sätze  des  Nichtzutrennenden  und  des  Nichtzuverbinden- 
den  laufen  doch  auch  nur  auf  den  logischen  Formalismus  hinaus. 
Er  unterscheidet  ferner  im  Sinne  Rüdigers  zwischen  logischer  oder 
subjektiver  und  philosophischer  oder  objektiver  Wahrheit:  wenn 
er  aber  hinzufügt,  daß  die  für  den  Menschen  objektive  Wahrheit, 
für  die  Gottheit  subjektiv  sei  und  in  dieser  sich  aus  dem  Satze  der 
»Gedenkbarkeit«  ergebe,  so  ist  das  doch  augenfällig  nur  eine  andere 
Wendung  des  Verhältnisses,  das  Leibniz  anfangs  zwischen  not- 
wendigen und  zufälligen  Wahrheiten  aufgestellt  hatte.     An  diese 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Thilos.  I.  36 


562  Crusius. 

Prinzipien  von  Leibniz  und  ebenso  sehr  auch  von  Wolff  lehnt  sich 
aber  am  meisten  schon  die  enzyklopädische  Einteilung  der  Wissen- 
schaften an,  die  auch  Crusius  zu  geben  sucht.  Er  gründet  diese 
auf  eine  Kreuzung  der  beiden  Gegensätze,  welche  für  Wolff  ent- 
scheidend gewesen  waren:  der  theoretischen  und  der  praktischen 
Probleme  einerseits,  der  philosophischen  und  der  empirischen  Be- 
handlung anderseits.  In  der  einzelnen  Durchführung  und  An- 
ordnung weicht  er  dann  freilich  aus  Gründen  der  Bequemlichkeit 
und  der  didaktischen  Reihenfolge  vielfach  von  dem  Wolffschen 
System  ab;  aber  die  Grundlinien  sind  dieselben.  /  Mit  solchen 
rationalistischen  Überzeugungen  stimmen  dann  die  besonderen 
Untersuchungen  seiner  Erkenntnistheorie  wenig  überein.  Hierin 
schließt  er  sich  durchaus  an  Locke  an  und  betont  namentlich,  daß 
die  erste  und  für  alle  übrigen  maßgebende  Hauptkraft  des  Verstandes 
die  Empfindungskraft  sei.  Er  protestiert  gegen  die  von  Leibniz 
eingeführte  graduelle  Betrachtungsweise  des  Verhältnisses  von 
Sinnlichkeit  und  Verstand  und  gegen  die  Gleichsetzung  dieses  Gegen- 
satzes mit  demjenigen  von  Verworrenheit  und  Deutlichkeit.  Er 
hält  Wolff  die  Behauptung  entgegen,  daß  sinnliche  Vorstellungen 
vollkommen  deutlich  zu  sein  vermögen,  und  wünscht  im  Sinne  Lockes, 
daß  die  Sinnlichkeit  als  äußere  Empfindungskraft  und  das  »Be- 
wußtsein« als  innere  Empfindungskraft  für  zwei  gleich  wertvolle 
Quellen  der  Erfahrung  angesehen  werden.  Dabei  betont  er  jedoch, 
daß  die  ersten  Veranlassungen  für  die  Entwicklung  der  Reflexion 
stets  in  einer  besonderen  Stärke  der  von  der  äußeren  Empfindung 
erregten  Vorstellung  bestehen.  So  baut  er  auf  der  sensualistischen 
Grundlage  die  Verstandestätigkeiten  als  die  aufsteigende  Reihe  von 
Gedächtnis,  Urteilskraft  und  Erfindungskraft  auf.  Allein  diese 
Aneignung  der  empiristischen  Theorie  steht  in  gar  keiner  inneren 
Beziehung  zu  den  rationalistischen  Kriterien,  von  denen  er  doch 
schließlich  den  Wert  der  Erkenntnis  überall  abhängig  macht.  Man 
weiß  in  seiner  Erkenntnistheorie  weder  aus  noch  ein,  weil  die  beiden 
Elemente,  die  sich  in  ihr  verbinden  sollen,  ohne  innere  Vermittlung 
oder  Versöhnung  einander  fortwährend  hin  und  her  zerren.  Crusius 
drängt  mit  empiristischem  Sinne  aus  dem  Rationalismus  heraus, 
bleibt  aber  überall  darin  stecken.  Am  besten  gelingt  ihm  sein 
Bestreben  in  der  Behandlung  des  Satzes  vom  zureichenden  Grimde, 
und  hierin  hat  er  einen  wirklich  bedeutsamen  Fortschritt  begründet. 


Willenslehre.  5G3 

Er  ist  der  erste,  welcher  sich  mit  klarem  Bewußtsein  gegen  die  im 
Kationalismus  übliche  Verwechslung  der  realen  Ursachen  und 
der  Erkenntnisgründe  wendet.  Er  unterschied  genau  die  Ent- 
stehung eines  Dinges  aus  seinen  Ursachen  von  der  Schlußtätigkeit 
des  Menschen,  die  umgekehrt  von  der  Wirkung  auf  die  Ursachen 
zurückzugehen  pflegt.  Es  scheint  nicht  ohne  Einfluß  von  ihm 
gewesen  zu  sein,  daß  Reimarus  in  seiner  1755  erschienenen  Vernunft- 
lehre die  ratio  essendi  und  die  ratio  cognoscendi  sorgfältig  auseinander- 
hielt *).  Hierin  lag  entschieden  der  Hauptangriff,  den  Crusius  gegen 
den  Rationalismus  richtete;  denn  der  Grundgedanke  des  letzteren 
war  eben  der  gewesen,  daß  das  System  der  Erkenntnisse  in  seinem 
Zusammenhange  der  Begründung  ein  genaues  Abbild  von  dem 
Systeme  der  Dinge  in  dem  Zusammenhange  ihrer  Verursachung 
sein  solle.  Aus  dem  gleichen  Gedankengange  ergibt  sich  auch  für 
Crusius  die  fundamentale  Erkenntnis,  daß  man  aus  Begriffen 
nicht  auf  die  Existenz  schließen  kann,  und  er  wendet  diese 
in  einer  für  Kant  vorbildlichen  Weise  zu  einer  Kritik  des  onto- 
logischen  Beweises  für  das  Dasein  Gottes  an.  Überhaupt  ist  die 
Konsequenz  dieser  seiner  Lehre  der  Umsturz  aller  wesentlichen 
Theorien  des  Rationalismus.  Crusius  rechnet  den  Satz  vom  zu- 
reichenden Grunde  zu  den  gefährlichen  Axiomen,  die  eigentlich 
nur  mit  bestimmter  Restriktion  gelten,  und  durch  deren  unbedingte 
Anwendung  man  zu  den  falschen  Theorien  des  Mechanismus, 
Materialismus  und  Determinismus  getrieben  wird.  Dagegen  rühmt 
er  seiner  Lehre  nach,  daß  sie  im  Gegensatz  zur  Wolf f sehen  sich 
sowohl  mit  der  Theologie  als  auch  mit  dem  gemeinen  Menschen- 
verstände sehr  gut  vertrage.  Der  wichtigste  Punkt  ist  dabei  natür- 
lich die  Behauptung  der  Willensfreiheit.  Auf  Gott  angewendet, 
ergibt  sie  die  Lehre  von  der  willkürlichen  Schöpfung  einer  einzigen 
Welt,  deren  Erhaltung  und  Tätigkeit  auf  dieselbe  Quelle  zurück- 
geführt werden  muß.  Auf  den  Menschen  angewendet,  führt  sie 
zunächst,  wie  bei  Rüdiger,  zu  einer  Ableitung  der  sittlichen  Prinzi- 
pien aus  der  göttlichen  Gesetzgebung,  sodann  aber  zu  der  höchst 
interessanten    und    für    die    Folgezeit   wichtigen    psychologischen 

*)  Es  sei  nebenbei  bemerkt,  daß  Schopenhauer,  zu  dessen  Verdiensten 
eine  vollständige  Klarlegung  dieses  Gegensatzes  gehört,  in  der  historischen 
Einleitung  zu  seiner  »Vierfachen  Wurzel  des  Satzes  vom  zureichenden  Grunde  « 
nur  Reimarus  erwähnt,  von  Crusius  dagegen  vollständig  schweigt.  j 

3G* 


584  Skeptisch-kritische  Richtungen. 

Auffassung,  daß  der  freie  Wille  das  eigentlich  bestimmende  und 
beherrschende  Wesen  des  Menschen  ausmacht.  Auch  an  diesem 
Punkte  durchbricht  Crusius  die  allgemeine  Überzeugung  der  Auf- 
klärungsphilosophie. Sowohl  der  Rationalismus  als  auch  der 
Empirismus  waren  zu  ihrem  Determinismus  dadurch  gekommen, 
daß  sie  den  Willen  durchgängig  von  Vorstellungen  abhängig  sein 
ließen.  Unter  allen  Denkern,  die  zu  jener  Zeit  mit  Bekämpfung  des 
Rationalismus  die  Willensfreiheit  behaupten,  hat  keiner  so  klar  wie 
Crusius  diesen  inneren  Zusammenhang  erkannt,  und  seine  psycho- 
logischen und  ethischen  Betrachtungen  gingen  deshalb  darauf  aus, 
zu  zeigen,  daß  der  Wille  ein  von  den  Vorstellungen  völlig  unab- 
hängiges und  diese  vielmehr  seinerseits  bestimmendes  Vermögen 
sei.  Damit  war  ein  sehr  wertvoller  Anfang  gemacht,  den  Bann 
des  Rationalismus  auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  und  der  Ethik 
zu  brechen,  und  wenn  auch  diese  Ansicht  bei  Crusius  nur  mit  äußerst 
mangelhafter  Begründung  und  mit  einseitiger  Beziehung  auf  seine 
Theorie  der  Willensfreiheit  auftiat,  so  brach  sich  doch  auf  diese 
Weise  die  Überzeugung  von  der  Selbständigkeit  des  Willens 
den  Vorstellungen  gegenüber  Bahn,  welche  später  die  deutsche 
Philosophie  seit  Kant  zu  der  ihrigen  gemacht  und  zur  Grundlage 
einer  neuen  Weltanschauung  umgebildet  hat.  So  kühner  Kon- 
sequenzen war  freilich  Crusius  selbst  nicht  fähig:  er  blieb  trotz 
aller  Opposition  mit  seiner  Metaphysik  in  dem  hergebrachten  Geleise 
und  zerstörte  nur  an  mannigfachen  Stellen  die  Konsequenz  der 
Leibniz-Wolffschen  Auffassung  durch  die  Schranken,  die  er  der 
Geltung  des  Satzes  vom  zureichenden  Grunde  setzen  zu  sollen 
meinte  und  in  der  Tat  äußerst  willkürlich  unter  dem  Einflüsse 
orthodoxer  und  landläufiger  Vorstellungen  setzte. 

So  haltlos  danach  die  Crusiussche  Lehre  in  sich  selber  war,  so 
mächtig  war  doch  der  Stoß,  den  sie  der  Herrschaft  des  Wolffschen 
Systems  versetzte.  Mochten  seine  eigenen  Lehren  noch  so  wider- 
spruchsvoll sein,  die  scharfsinnigen  Einwürfe,  die  er  namentlich 
gegen  die  geometrische  Methode  gerichtet  hatte,  blieben  davon 
unberührt,  und  vielen  unter  den  gleichzeitigen  Denkern  gingen 
durch  seine  Schriften  die  Augen  darüber  auf,  daß  es  mit  dem  »Alles- 
beweisen-können«,  was  sich  die  Wolffsche  Schule  angemaßt  hatte, 
doch  keine  so  einfache  Sache  sei /r So  war  die  Wirkung  von  Crusius 
gegen  seine  eigene  Absicht  eine  hervorragend  skeptische.    Man 


Lambert.  565 

wurde  an  der  Selbstgewißheit  der  rationalistischen  Methode  irre, 
und  gerade  die  besten  und  am  meisten  wissenschaftlich  denkenden 
Männer  begannen  sich  allmählich  von  dem  Schulsysteme  frei  zu 
machen.  Die  wachsende  Beschäftigung  mit  der  ausländischen 
Philosophie  und  der  Geschichte  der  Philosophie  überhaupt  kam 
hinzu,  um  eben  diese  Männer  von  der  Unsicherheit  der  philoso- 
phischen Lehrmeinungen  zu  überzeugen,  und  so  trat  in  der  deutschen 
Philosophie  bald  nach  der  Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts  ein 
Zustand  der  Verworrenheit  und  Unsicherheit  ein,  aus  dem  man 
vergeblich  herausstrebte  und  erst  durch  Kant  befreit  wurde.  Dieser 
Zustand  war  der  richtige  Boden  für  das  Heranwachsen  des  kriti- 
schen Bewußtseins.     Man  fragte  wieder,  wie  in  einem  ähnlich 


verworrenen  Zustande  der  antiken  Philosophie,  nach  den  Kriterien 
der  Wahrheit ;  man  begann  auf  die  Ausführung  eines  metaphysischen 
Systems  zu  verzichten,  ja  es  trat  eine  gewisse  Geringschätzung 
dieser  bald  für  aussichtslos  gehaltenen  Versuche  begrifflicher  Kon- 
struktion ein;  man  fragte  sich,  ob  denn  überhaupt  die  Philosophie 
schon  etwas  Sicheres  ausgemacht  habe,  und  weshalb  es  in  ihr  so 
viel  weniger  allgemein  zugestandene  Wahrheiten  als  in  jeder  anderen 
Wissenschaft  gebe:  und  wenn  man  dabei  immer  wieder  auf  die 
Antwort  stieß,  daß  es  der  Mangel  einer  fest  bestimmten  und  von 
allen  gleichmäßig  befolgten  Methode  sei,  der  alle  diese  Schäden 
verschulde,  so  begann  man  sich  von  neuem  mit  der  philosophischen 
Methode  zu  beschäftigen.  Was  dabei  zuerst  geleistet  wurde,  war 
freilich  nicht  mehr  als  ein  unsicheres  Herumtasten,  indem  man 
bald  nach  diesem,  bald  nach  jenem  Stück  der  früheren  Theorien 
und  namentlich  auch  derjenigen  der  ausländischen  Empiristen 
griff.  Die  große  Masse  der  Schriften,  die  zum  Teil  auf  Anregung 
akademischer  Preisfragen  über  diese  Gegenstände  erschienen,  hat  die 
spätere  Geschichte  fortgeschwemmt :  aber  es  bildete  sich  auf  diese 
Weise  eine  gewisse  Atmosphäre  des  kritischen  und  methodologischen 
Denkens,  worin  sich  die  Kantschen  Gedanken  vorbereiteten. 

Unter  den  Männern,  welche  dies  Bedürfnis  nach  einer  neuen 
Grundlegung  der  Philosophie  empfanden  und,  wenn  auch  in  unvoll- 
kommener Weise,  zu  heben  suchten,  nimmt  Johann  Heinrich^ 
Lambert  (1728 — 1777)  wohl  den  ersten  Rang  ein:  aber  auch 
er  hat  in  der  Hauptsache  den  Bann  der  dogmatischen  Voraus- 
setzungen nicht  zu  brechen  vermocht.     Er  besaß  eine  gründliche 


566  Lambert, 

naturwissenschaftliche  und  echt  mathematische  Bildung,  die  er 
sich  durch  eifriges  Studium  selbst  erworben  hatte.  Der  autodi- 
daktische Zug  macht  sich  persönlich  bei  ihm  in  einer  Anzahl  wunder- 
licher Ansichten  und  Gewohnheiten  geltend,  die  neben  seinen  be- 
deutenden Leistungen  einhergehen.  In  dem  elsässischen  Mülhausen 
geboren,  hat  er  sich  zu  einer  angesehenen  Stellung  als  Oberbergrat 
in  Berlin  und  als  Mitglied  der  dortigen  Akademie  heraufgearbeitet. 
Er  gilt  als  Begründer  der  Hygrometrie,  und  er  stand  überhaupt 
auf  der  Höhe  der  Naturforschung  seiner  Zeit  in  dem  Grade,  daß 
seine  »Kosmologischen  Briefe«  (Augsburg  1761),  ohne  Kenntnis 
von  Kants  Naturgeschichte  des  Himmels  geschrieben,  eine  Hypo- 
these über  den  Bau  und  den  mechanischen  Zusammenhang  des 
Fixsternhimmels  aufstellten,  welche  der  Kant-Laplaceschen  Theorie 
sehr  nahe  kam.  Seine  Überlegenheit  den  Wolffianern  gegenüber 
bestand  hauptsächlich  darin,  daß  er  aus  eigener  wissenschaftlicher 
Erfahrung  den  Wert  der  Mathematik  für  die  Naturerkenntnis  kannte 
und  methodisch  aufzufassen  und  zu  benutzen  verstand.  Aber  er 
wußte  auch  ebensogut,  daß  alle  sachlich  wertvolle  Erkenntnis  auf 
der  Erfahrung  beruht,  und  wollte  deshalb  unter  dem  naturwissen- 
schaftlichen Gesichtspunkte,  wie  es  Tschirnhaus  getan  hatte,  die 
rationalistische  und  die  empiristische  Erkenntnistheorie  miteinander 
verbinden.  Von  Wolff  und  Locke  gleichmäßig  beeinflußt,  suchte 
er  nicht  nur  beiden  gerecht  zu  werden,  sondern  auch  durch  eine 
Bestimmung  der  Art,  wie  sich  diese  entgegengesetzten  Richtungen 
der  Erkenntnistheorie  ergänzen  sollen,  sich  über  beide  zu  stellen. 
Lambert  ist  der  vertiefte  Tschirnhaus;  denn  sein  Bestreben  ist 
darauf  gerichtet,  Induktion  und  Deduktion,  Erfahrung  und  be- 
griffliche Erkenntnis  nicht  nur  äußerlich  nebeneinanderzustellen, 
sondern  miteinander  zu  durchdringen  und  zu  zeigen,  daß  alles 
wissenschaftliche  Denken  sich  nicht  etwa  gelegentlich  in  dem  einen 
und  gelegentlich  in  dem  andern  Elemente  zu  bewegen,  sondern  stets 
beide  miteinander  zu  verknüpfen  hat.  In  seiner  wichtigsten  Schrift, 
dem  »Neuen  Organon  oder  Gedanken  über  die  Erforschung  und 
Bezeichnung  des  Wahren  und  dessen  Unterscheidung  von  Irrtum 
und  Schein«  (München  1764)  hat  er  sich  hauptsächlich  darum  be- 
müht, das  Verhältnis  der  apriorischen  und  der  aposteriorischen 
Erkenntnis  nach  den  verschiedensten  Richtungen  zu  bestimmen, 
und  wertvoll  ist  dabei  historisch  das  Bestreben,  das  Apriori  nicht 


Methode  der  Metaphysik.  567 

mehr  psychologisch,  sondern  rein  methodologisch  und  erkenntnis- 
theoretisch zu  verstehen.  Das  Problem  der  eingeborenen  Ideen 
ist  damit  beiseite  geschoben ;  es  handelt  sich  für  diesen  mathematisch 
geschulten  Geist  weniger  darum,  wie  die  Vorstellungen  zustande 
kommen,  als  darum,  wie  sie  begründet  sind:  a  priori  soll  nun 
die  Erkenntnis  heißen,  welche  durch  Erfahrung  nicht  begründet 
werden  kann.  Damit  bahnt  sich  die  Verschiebung  des  erkenntnis- 
theoretischen Problems  an,  die  Kant  vollendet  hat. 

Für  die  Naturphilosophie  wurde  dies  namentlich  dadurch  wichtig, 
daß  Lambert  die  Grenze  der  rein  mathematischen  Naturerkenntnis 
sorgfältig  zu  bestimmen  suchte,  und  es  zeugte  von  der  Energie 
seines  Nachdenkens,  daß  er  die  empirischen  Elemente,  die  in  der 
Mechanik  enthalten  sind,  erkannte  und  von  den  rein  mathematischen 
zu  scheiden  suchte.  Er  zeigte,  daß  aus  nur  mathematischen  Über- 
legungen sich  lediglich  die  allgemeine  Bewegungslehre  gewinnen 
lasse,  die  als  Kinematik  oder,  wie  es  weiterhin  hieß,  Phoronomie 
der  eigentlichen  Mechanik  vorhergeht.  Die  letztere  füge  den 
phoronomischen  Bestimmungen  die  empirischen  Begriffe  der  Kraft 
und  die  damit  zusammenhängenden  Axiome  hinzu,  um  daraus  erst 
ihre  Lehren  zu  entwickeln.  So  bewies  Lambert,  daß  die  allgemein 
für  rein  rational  angesehene  Wissenschaft  der  Mechanik  bereits 
Elemente  enthalte,  die  aus  dem  Inhalte  der  Erfahrung  stammen. 
Anders  dagegen  steht  es  mit  der  Philosophie.  Als  ausgemacht  dürfen 
in  ihr  bisher  nur  die  formalen  Einsichten  anerkannt  werden :  an  den 
logischen  Gesetzen  kann  man  ebensowenig  wie  an  den  Lehrsätzen 
der  Geometrie  zweifeln;  aber  aus  ihnen  allein  folgt  noch  keine 
Metaphysik :  diese  ist  vielmehr  nur  aus  der  Erfahrung  zu  gewinnen, 
und  Lambert  beschäftigt  sich  im  vierten  Teile  seines  »Neuen  Organon  « 
eingehend  mit  den  Methoden  zur  Feststellung  der  Erfahrung,  zur 
Unterscheidung  des  wirklichen  Erfahrungsinhaltes  von  den  Sinnes- 
täuschungen und  zur  Bestimmung  der  Wahrscheinlichkeit  in  der- 
artigen Untersuchungen.  Allein  auch  er  denkt  nicht  daran,  aus  der 
Masse  der  Erfahrungen  zu  einem  allmählichen  Gewinn  allgemeinerer 
Sätze  aufzusteigen.  Die  Metaphysik  gilt  ihm  vielmehr  als  eine 
deduktive  Wissenschaft,  und  er  bestimmt  seine  Aufgabe  eigens 
dahin,  die  Elemente  aufzusuchen,  mit  denen  sie  bei  dieser  Deduktion 
zu  operieren  hat.  Nur  macht  er  Wolff  gegenüber  darauf  auf- 
merksam, daß  diese  Elemente  weder  in  logischen  Formen  noch  in 


568  Lambert. 

willkürlichen  Definitionen  zu  finden  seien.  Der  Irrtum  der  geo- 
metrischen Methode  bestehe  darin,  daß  sie  gemeint  habe,  wie  die 
Mathematik  vorläufige  Annahmen  machen  und  daraus  das  Mögliche 
deduzieren  zu  können.  Wenn  die  Philosophie  demgegenüber  das 
Wirkliche  erkennen  wolle  —  hier  macht  sich  der  Einfluß  von  Rüdiger 
und  Crusius  geltend  — ,  so  dürfe  sie  das  Einfache,  was  sie  ihrer 
logischen  Deduktion  zugrunde  legen  wolle,  nicht  voraussetzen, 
sondern  müsse  es  erst  aufsuchen,  um  daraus  schließlich  durch 
logische  Kombinationen  ihre  abschließenden  Definitionen  abzu- 
leiten. Dies  Einfache  ist  nur  aus  der  Erfahrung  zu  finden,  und 
der  synthetischen  Methode  muß  deshalb  in  der  Metaphysik  ein 
analytisches  Verfahren  vorhergehen.  Es  ist  bemerkenswert,  wie 
in  dieser  Hinsicht  Lambert  von  Wolff  zu  Descartes  zurückstrebt. 
Aber  weit  davon  entfernt,  mit  dieser  Analyse  nur  einen  einzigen 
Satz  zu  suchen,  welcher  die  Grundlage  aller  Deduktion  bilden  sollte, 
glaubt  er  vielmehr,  daß  es  sich  dabei  um  die  Auffindung  der  obersten 
Begriffe,  d.  h.  der  primae  veritates  (nach  Leibniz)  oder  der  sach- 
lichen Elemente  handle,  nach  denen  wir  das  ganze  Universum 
denken  müssen.  Die  neue  Methode,  die  er  für  die  Metaphysik  suchte, 
lief  also  darauf  hinaus,  die  ersten  und  e;nfachsten  Begriffe  heraus- 
zuarbeiten, aus  denen  dann  das  ganze  System  der  Vernunfterkenntnis 
abgeleitet  werden  sollte.  So  gestaltete  sich  seine  »Architektonik« 
(Riga  1771)  zu  einer  Ontologie,  in  der  die  Grundlagen  zwar  empi- 
risch aufgesucht,  aber  als  a  priori  in  sich  selbst  begründet  angesehen 
werden  sollten  und  aus  ihnen  alles  Weitere  nach  streng  logischer 
Methode  gefolgert  werden  sollte.  Für  jene  analytische  Vorbereitung 
aber  fehlte  es  ihm  an  jedem  Maßstabe,  um  zu  entscheiden,  welche 
der  in  der  Erfahrung  gegebenen  Begriffe  den  Charakter  der  ur- 
sprünglichen Geltung  a  priori  besäßen :  so  raffte  er  sie  denn  in  bunter 
Auswahl  und  Ordnung  zusammen  und  meinte  allen  Ernstes,  man 
könne  diese  Aufgabe  mit  einer  Durchsuchung  des  Lexikons  lösen. 
Lambert  hatte  also  zwar  erkannt,  daß  Wolffs  Versuch,  die  formal- 
logischen Sätze  vom  Widerspruch  und  vom  zureichenden  Grunde 
als  sachlichen  Ausgangspunkt  einer  deduktiven  Metaphysik  zu 
nehmen,  nicht  durchführbar  sei:  aber  er  hielt  an  der  Leibnizschen 
Aufgabe  einer  rationalen  Metaphysik  durchaus  fest  und  suchte 
dafür  als  apriorische  Grundlage  die  ersten  und  einfachen  Real- 
begriffe der  Vernunft,  ohne  ein  Prinzip  dafür  finden  zu  können. 


Empirische  Psychologie.  569 

Dies  ergab  sich  erst  bei  Kant  in  den  synthetischen  Grundsätzen 
der  transzendentalen  Logik :  aber  die  Metaphysik,  die  daraus  folgte, 
war  nicht  mehr  die,  welche  Lambert  gesucht  hatte,  sondern  die 
Metaphysik  der  Erscheinungen. 

§  54.    Die  empirische  Psychologie. 

Der  gemeinsame  Charakter  aller  derjenigen  Bestrebungen,  welche 
sich  mehr  oder  weniger  von  dem  Wolffschen  Schulsystem  eman- 
ziperten,  bestand  in  der  stärkeren  Betonung  des  empirischen  Ele- 
ments und  in  der  damit  leicht  sich  verbindenden  Hinneigung  zu 
den  englischen  und  französischen  Denkern.  Dieser  wachsende  Em- 
pirismus kam  aber  in  erster  Linie  der  Forschung  über  das  mensch- 
liche Seelenleben  zugute.  De^  Grund  dafür  lag  einerseits  darin, 
daß  die  methodologische  Streitfrage  durch  die  Problemstellung 
vom  Ursprünge  der  Vorstellungen  selbst  auf  den  Boden  der  Psycho- 
logie verpflanzt  worden  war  und  daher  auf  diesem  die  frucht- 
barsten Folgen  hatte,  anderseits  aber  auch  in  dem  Umstände, 
daß  Deutschland  damals  an  den  Fortschritten  der  empirischen 
Naturforschung  verhältnismäßig  weniger  tätigen  Anteil  nahm  und 
seine  Forscher  am  Studiertisch  sich  mehr  mit  den  Vorgängen  des 
Seelenlebens,  als  mit  denjenigen  der  äußeren  Natur  beschäftigen 
konnten.  Jedenfalls  wurde  die  empirische  Psychologie  sehr  bald 
zu  einem  Lieblingsfelde,  auf  dem  sich  die  philosophische  Literatur 
der  deutschen  Aufklärung  in  einer  erstaunlichen  Mannigfaltigkeit 
bewegte.  Es  kam  hinzu,  daß  schon  Wolff  neben  der  rationalen 
auch  auf  die  empirische  Psychologie  großes  Gewicht  gelegt  hatte, 
und  daß  man  hier  also  einen  Gegenstand  fand,  bei  dem  alle  Rich- 
tungen des  Denkens  einander  in  die  Hände  arbeiten  konnten.  Die 
Wolf f ianer  taten  dabei  freilich  noch  am  wenigsten :  denn  sie  mengten 
unwillkürlich  ihre  allgemeinen  metaphysischen  Theorien  in  die 
empirischen  Untersuchungen  ein  und  versperrten  sich  dadurch 
selbst  eine  fruchtbare  Förderung  der  Sache.  Als  ein  charakteristi- 
sches Beispiel  für  dieses  unklare  Gemisch  können  die  Lehren  von 
Casimir  Carl  von  Creuz  (1724 — 1770)  angesehen  werden,  welche 
in  seinem  »Versuch  über  die  Seele«  (Frankfurt  und  Leipzig  1753) 
niedergelegt  sind.  Er  enthält  in  den  ersten  fünfunddreißig  Para- 
graphen eine  auf  den  Begriffen  der  Leibniz-Wolffschen  Ontologie 
beruhende  Erörterung  über  das  Wesen  der  Seele,  worin  dargetan 


570  Sensualismus. 

wird,  daß  diese  weder  etwas  Einfaches  noch  etwas  Zusammen- 
gesetztes sein  könne,  und  welche  mit  der  ganz  unklaren  und  ver- 
schwommenen Bestimmung  endigt,  sie  müsse  wohl  ein  Mittelding 
zwischen  beiden  sein.  Indem  Creuz  dann  aber  an  die  Erkenntnis 
der  spezifischen  Kräfte  dieses  denkenden  Wesens  geht,  führt  er 
aus,  daß  man  sie  nur  durch  Erfahrung  und  darauf  gebaute  Schlüsse 
feststellen  könne,  und  betont  namentlich,  daß  die  Einsicht  in  den 
geheimnisvollen  Zusammenhang  von  Leib  und  Seele  nur  durch  eine 
Verbesserung  und  Vertiefung  der  empirischen  Psychologie  gewonnen 
werden  könne.  Der  Schluß  ist  des  Anfangs  würdig:  er  zeigt,  daß 
es  dem  Verfasser  wesentlich  darauf  ankommt,  aus  den  empirischen 
Daten  die  Unsterblichkeit  der  Seele  zu  deduzieren,  und  fast  der 
ganze  zweite  Teil  seines  Werkes  beschäftigt  sich  mit  Betrachtungen 
über  den  Zustand  der  Seele  nach  dem  Tode. 

Doch  begegnet  man  auch  konsequenteren  Denkern,  die,  nachdem 
sie  einmal  die  empirische  Methode  angenommen  haben,  solche  durch 
Erfahrung  nicht  lösbare  Fragen  wie  die  Unsterblichkeit  ablehnen :  so 
zeigt  sich  z.  B.  etwa  Johann  Gottlieb  Krüger  in  seinem  1756  er- 
schienen »Versuch  einer  experimentalen  Seelenlehre«.  Von  großem 
Einfluß  war  es  ferner,  daß  Rüdiger  in  seinen  enzyklopädistischen  Ent- 
würfen die  Psychologie  aus  der  Metaphysik  in  das  Gebiet  der  Physik 
gestellt  hatte,  und  in  gleicher  Weise  sprach  sich  z.B.  Johann  Jakob 
Hentsch  in  seinem  »Versuch  über  die  Folge  der  Veränderungen 
der  Seele«  (Leipzig  1756)  aus.  So  vollzog  sich  auch  in  Deutschland 
der  Prozeß  der  Ablösung  der  Psychologie  von  der  Metaphysik. 

Denjenigen  aber,  welche  sich  in  dieser  Weise  mit  voller  Ent- 
schiedenheit für  eine  rein  empirische  Behandlung  der  Psychologie 
erklärten,  standen  zwei  verschiedene  Wege  offen,  die  ihnen  durch 
die  ausländische  Philosophie  vorgezeichnet  waren :  entweder  benutz- 
ten sie  den  Lockeschen  Begriff  der  inneren  Erfahrung,  um  auf  ihn 
eine  Psychologie  der  Selbsterkenntnis  und  Selbstbeobachtung  zu 
gründen;  oder  sie  folgten  den  sensualistischen  Prinzipien, 
die  sich  in  England  und  Frankreich  aus  dem  Lockeschen  Gedanken 
entwickelt  hatten.  In  ersterem  Falle  ließ  sich  die  empirische  Psycho- 
logie, wenigstens  den  allgemeinen  Grundsätzen  nach,  auch  mit 
dem  Wolf f sehen  Standpunkte  verbinden;  im  letzteren  wurde  man 
dem  rationalistischen  Denken  immer  mehr  entfremdet.  Von  den 
sensualistischen  Einwirkungen  ist  keine  so  bedeutend  und  nach- 


Innere  Wahrnehmung.  571 

haltig  gewesen  wie  diejenige  von  Bonnet,  dessen  Schriften  in  Deutsch- 
and  außerordentlich  viel  Anklang  fanden.  Unter  ihren  Nach- 
wirkungen sind  namentlich  die  Lehren  von  Johann  Lossius  hervor- 
zuheben. Seine  Schrift  »Die  physischen  Ursachen  des  Wahren« 
Gotha  1775)  untersuchte  hauptsächlich  das  Verhältnis  der  Sinnes- 
2mpfindungen  zu  den  sie  bedingenden  Reizen  und  kam  in  dieser 
Kardinalfrage  des  Sensualismus  zu  dem  Ergebnis,  wenn  auch  eine 
notwendige  Beziehung  zwischen  Reiz  und  Empfindung  ange- 
nommen werden  müsse,  so  brauche  diese  Beziehung  doch  durchaus 
nicht  diejenige  zu  sein,  daß  die  Empfindungen  der  gewöhnlichen 
Ansicht  gemäße  Abbildender  sie  erregenden  Dinge  wären ;  das  letztere 
sei  vielmehr  durchaus  unwahrscheinlich.  Wohl  aber  müsse  man 
das  gesetzmäßige  Verhältnis  feststellen,  wonach  einem  bestimmten 
Reize  jedesmal  eine  bestimmte  Empfindung  entspreche.  Danach 
sind  die  Empfindungen,  welche  die  Grundlage  des  gesamten  Geistes- 
lebens bilden,  durch  den  physiologischen  Organismus  und  speziell 
durch  seine  nervösen  Endapparate  bedingt.  Aber  auch  die  Um- 
bildungen, welche  diese  Empfindungen  in  der  Entwicklung  des 
Geistes  erfahren,  sucht  Lossius  in  derselben  Weise  wie  Bonnet  aus 
den  Bewegungen  der  »Hirnfibern«  abzuleiten,  und  so  kommt  er  zu 
dem  Schlußresultate,  daß  die  ganze  menschliche  Vorstellungswelt 
zwar  nur  relativ,  weil  durch  die  physische  Natur  des  Menschen  be- 
dingt sei,  aber  doch  als  ein  notwendiges  Produkt  dieses  physischen 
Mechanismus  Anspruch  auf  empirische  Geltung  habe  —  ein  Er- 
gebnis, das  in  der  Hauptsache  mit  der  psychologischen  und  erkennt- 
nistheoretischen Auffassung  von  Hobbes  und  den  Assoziations- 
psychologen übereinstimmt  und  jene  moderne  Form  des  mittel- 
alterlichen Terminismus  in  eigener  Weise  zu  gewinnen  sucht. 

Weniger  konsequent  gestalteten  sich  die  Ansichten  derjenigen 
empirischen  Psychologen,  welche  bei  dem  Prinzip  der  inneren 
Erfahrung  stehen  blieben.  Ein  entschiedener  Anschluß  an  Locke 
ist  z.  B.  bei  Dietrich  Tiedemann  (1748 — 1803)  zu  bemerken, 
dessen  »Untersuchungen  über  den  Menschen«  (Leipzig  1777 — 1798) 
auch  vorwiegend  die  theoretische  Seite  des  Geistes  zu  ihrem  Gegen- 
stande haben  und  sich  darin  durchaus  auf  den  empiristischen  Stand- 
punkt stellen.  Dagegen  bestreitet  er  die  sensualistische  Lehre, 
hält  an  der  Selbständigkeit  der  inneren  Erfahrung  fest  und  nimmt 
als  ihr  Substrat  ein  Seelenwesen  an,  das  er  im  Sinne  von  Leibniz 


572  Seelenvermögen, 

und  Wolff  als  wesentlich  mit  Vorstellungskraft  ausgestattet  denkt 
und  in  keinem  Falle  als  materiell  angesehen  wissen  will.  Dieses 
Schwanken  zwischen  den  verschiedenen  Lehrmeinungen  führte 
Tiedemann  im  weiteren  Verlaufe  seines  Lebens  immer  mehr  zu 
skeptischen  Ansichten,  von  denen  aus  er  später  die  Kantische 
Lehre  bekämpfte  und  auch  sein  bekanntes,  viel  benutztes  und  sehr 
umsichtig  und  vorurteilsfrei  gearbeitetes  Lehrbuch  der  Geschichte 
der  Philosophie  (»Geist  der  spekulativen  Philosophie«,  7  Bände, 
Marburg  1791 — 1797)  entwarf./  Noch  weiter  als  Tiedemann  sah 
sich  von  der  Leibniz-Wolffschen  Metaphysik  durch  die  empirische 
Psychologie  Carl  Franz  von  Irwing  (1728 — 1801)  abgedrängt. 
In  seinen  »Erfahrungen  und  Untersuchungen  über  den  Menschen« 
(Berlin  1777 — 1785)  erkannte  zwar  auch  er  die  Selbständigkeit  der 
inneren  Erfahrung  an,  legte  jedoch  namentlich  darauf  Gewicht, 
daß  auch  ihr  Inhalt  nur  aus  der  Sinnesempfindung  stamme,  ver- 
folgte den  Lockeschen  Gedanken,  wonach  für  die  Entwicklung  der 
abstrakten  Ideen  in  der  Sprache  der  wesentliche  Assoziationshebel 
gesucht  werden  sollte,  und  behauptete  in  nominalistischem  Geiste, 
daß  nur  den  Sinnesempfindungen  wirkliche  Gegenstände  entsprechen, 
von  nicht  sinnlichen  Dingen  dagegen  eigentlich  gar  keine  Begriffe 
gebildet  werden  1  önnten. 

Die  größere  Mehrzahl  jedoch  dieser  empiristischen  Psychologen 
bekümmerte  sich  viel  weniger  um  solche  erkenntnistheoretische 
Grundlagen  und  Folgerungen,  als  um  die  unmittelbare  Aufstellung 
der  in  der  Selbsterfahrung  des  Menschen  gegebenen  Tatsachen. 
Sie  verzichteten  mehr  oder  minder  bewußt  darauf,  diese  Tatsachen 
zu  erklären,  und  wenn  sie  es  taten,  geschah  es  in  der  Weise,  daß 
sie  für  eine  Gruppe  von  Tatsachen,  wie  etwa  diejenigen  der  Vor- 
stellung, des  Gedächtnisses,  des  Gefühls,  des  Begehrens  usw.  den 
nichtssagenden  Begriff  eines  entsprechenden  »Vermögens«  oder 
einer  entsprechenden  Seelenkraft  ansetzten,  die  sie  natürlich  nur 
durch  den  Charakter  der  von  ihr  ausgehenden  Wirkungen  be- 
stimmen konnten.  Die  Psychologie  wurde  unter  den  Händen 
dieser  Männer  eine  rein  deskriptive  Wissenschaft,  und  gegen 
diesen  ihren  Zustand  erhob  später  Kant  mit  Recht  den  Vorwurf, 
daß  sie  den  Rang  einer  Naturwissenschaft  nicht  beanspruchen 
dürfe.  Schriften,  wie  Schönfelds  »Anweisung  zur  Erkenntnis 
seiner  selbst«,  Meiners'   »Abriß  der  Psychologie«  und  »Grundriß 


Empfindsamkeit.  573 

der  Seelenlehre«,  Hennings  »Geschichte  von  den  Seelen  der 
Menschen  und  Tiere«,  Camp  es  »Empfindungs-  und  Erkenntniskraft 
der  menschlichen  Seele«,  Hissmanns  »Psychologische  Versuche«, 
Wezeis  »Versuch  über  die  Kenntnis  der  Menschen«,  Villaumes 
»Abhandlungen  über  die  Kräfte  der  Seele«  und  zahllose  andere  — 
der  Spezialschriften  gar  nicht  zu  gedenken  —  verfolgten  diese  psy- 
chologische Tatsachensammlung.  Es  entstand  in  Deutschland  eine 
wahre  Sucht,  Tatsachen  des  Seelenlebens  zu  konstatieren  und  zu  be- 
schreiben. Es  wurden  große  Magazine,  wie  das  von  Mori  tz  1785— 1793 
herausgegebene,  dafür  angelegt*),  und  die  Ansicht,  »der  wahre  und 
einzige  Gegenstand  der  menschlichen  Erkenntnis  und  insbesondere  der 
Philosophie  sei  der  Mensch  «,  die  an  der  Spitze  fast  aller  dieser  Bücher 
wiederkehrt,  war  in  der  Tat  eine  allgemeine  Überzeugung  geworden. 
Diese  Bevorzugung  der  Selbsterfahrung  des  Menschen  hatte 
jedoch  in  Deutschland  tiefere  Kulturbedingungen.  Die  ganze  Ent- 
wicklung des  deutschen  Geisteslebens  hatte  der  Traurigkeit  und 
Kleinlichkeit  der  öffentlichen  Verhältnisse  gegenüber  eine  Wendung 
zur  Innerlichkeit  genommen,  und  die  deutsche  Bildung  be- 
stand hauptsächlich  überall  in  einer  Beschäftigung  des  Individuums 
mit  sich  selbst  und  mit  den  ihm  zunächst  stehenden  Genossen.  Es 
war  die  Zeit  der  Tagebücher,  die  Zeit  der  Freundschaften  und  der 
Briefwechsel.  Dem  öffentlichen  Leben  abgekehrt,  blickten  die 
deutschen  Geister  in  sich  selbst,  sie  zergliederten  ihr  eigenes  Seelen- 
leben und_ nicht  minder  dasjenige  ihrer  Freunde,  und  diese  Selbst- 
beobachtung steigerte  sich  zu  krankhafter  Empfindsamkeit. 
Das  Wühlen  in  der  eigenen  Seele  war  Mode  geworden,  und  jeder 
glaubte  genug  Wichtiges  in  sich  zu  erleben,  um  seine  Geheimnisse 
zjierst  den  Freunden  und  dann  dem  Publikum  auszukramen.  Dieser 
Richtung  des  deutschen  Kulturlebens,  deren  religiöse  Wendung 
Goethes  Meisterhand  in  der  »schönen  Seele«  gezeichnet  hat,  und 
der  dadurch  hervorgerufenen  Literatur  verdanken  wir  bekanntlich 
Perlen  der  edelsten  und  wertvollsten  Selbstbekenntnisse,  aber  nicht 
minder  auch  eine  unendliche  Fülle  von  Trivialitäten,  und  das  letztere 
gilt  namentlich  von  jener  Literatur  der  empirischen  Psychologie, 
deren  Wert  zu  ihrer  Massenhaftigkeit  im  umgekehrten  Verhältnisse 

*)  Auch  im  Auslande  tauchten  ähnliche  Bestrebungen  auf:  so  bildete  sich 
in  Paris  zur  Zeit  der  Republik  eine  Societe  des  observateurs  de  l'homme, 
welche  fünfzig  Mitglieder,  fünfzig  Korrespondenten  und  fünfzig  Aggreges  zählte. 


574 


Gefühlsvermögen. 


stellt.  Da  man  prinziplos  sammelte  und  verglich,  da  jeder  in 
seinen  Erzählungen  so  interessant  wie  möglich  zu  erscheinen 
wünschte,  so  zeigt  diese  Literatur  auf  der  einen  Seite  den  Charakter 
einer  platten  und  oberflächlichen  Beschreibung  der  alltäglichen 
Vorgänge,  auf  der  andern  Seite  denjenigen  einer  kritiklosen  Kurio- 
sitätensammlung, und  da  es  ebenso  wie  an  einer  Methode  der  Fest- 
stellung der  Tatsachen  an  einer  solchen  der  Erklärung  fehlte,  so 
ist  bei  dieser  ganzen  »Erfahrungsseelenlehre«  der  deutschen  Auf- 
klärung herzlich  wenig  herausgekommen.  Ja  sie  hat  sogar  die 
Wirkung  gehabt,  einer  guten  Sache  durch  ungenügende  Behandlung 
zu  schaden.  Denn  die  Unwissenschaftlichkeit,  worin  sie  schließlich 
doch  auslief,  konnte  nur  dazu  beitragen,  den  Gedanken  einer  auf 
die  innere  Erfahrung  zu  gründenden  Psychologie  bei  ernsten  For- 
schern in  Mißachtung  zu  bringen. 

Der  einzige  wertvollere  und  historisch  bemerkenswerte  Fort- 
schritt, zu  dem  diese  Bestrebungen  führten,  bestand  in  einer  Neue- 
rung, welche  sich  in  der  allgemeinsten  Klassifikation  der  psychischen 
Tätigkeiten  einbürgerte.  Seit  Aristoteles  hatte  man  den  Gegen- 
satz der  theoretischen  und  der  praktischen  Seite  des  Menschen- 
geistes als  das  höchste  Einteilungsprinzip  der  psychologischen 
Untersuchungen  festgehalten.  Mannigfache  Variationen  der  Termi- 
nologie hatten  nichts  daran  geändert,  und  wie  Leibniz  die  Vor- 
stellung und  den  Trieb  zur  Vorstellungsveränderung,  so  unterschied 
auch  Wolff  zwischen  dem  Vorstellungsvermögen  und  dem  Be- 
gehrungsvermögen. In  der  empirischen  Psychologie  der  deutschen 
Aufklärung  brach  sich  nun  in  verschiedenen  Eichtungen  und  aus 
mehrfachen  Motiven  die  Ansicht  Bahn,  daß  zwischen  beiden  noch 
ein  drittes,  unter  die  beiden  anderen  nicht  zu  subsumierendes  Grund- 
vermögen eingeschoben  werden  müsse:  dasjenige  der  Empfindung, 
welches  nachher  glücklicher  als  dasjenige  der  Gefühle  bezeichnet 
wurde.  Diese  Ansicht  breitete  sich  so  siegreich  aus,  daß  die  drei 
Bestimmungen :  'Vorstellen,  "Fühlen,  "Wollen  noch  heute  in  der  ge- 
wöhnlichen Ausdrucksweise  nicht  minder  als  in  der  landläufigen 
empirischen  Psychologie  für  die  drei  Grundkategorien  des  seelischen 
Lebens  gelten.  Der  Ursprung  dieser  Ansicht  greift  schon  auf  die 
Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts  zurück  und  ist,  wie  es  scheint,  bei 
Johann  Georg  Sulzer  (1720 — 1799)  zu  suchen,  der  bereits  in 
den  Jahren  1751  und  1752  an  der  Berliner  Akademie  die  später 


Sulzer,   Weiss.  575 

in  seinen  »Vermischten  Schriften«  (Berlin  1773)  gedruckten  Ab- 
handlungen über  diesen  Gegenstand  vortrug.  In  diesen  ist  die 
Grundlage  der  Theorie  zu  suchen,  womit  bald  darauf  Mendels- 
sohn in  seinen  »Briefen  über  die  Empfindungen«  (Berlin  1755) 
ausdrücklich  das  Empfindungsvermögen  als  ein  drittes  den 
beiden  andern  zur  Seite  stellte.  Die  neue  Lehre  zeigt  nun  bei 
Sulzer  in  einer  höchst  bemerkenswerten  Weise  ihre  Abhängigkeit 
von  dem  Grundgedanken  der  Leibnizschen  Monadologie.  Es  ist 
der  Begriff  der  dunklen  und  verworrenen  Vorstellungen,  von  dem 
er  ausgeht.  Zwar  hält  er  an  dem  Leibnizschen  Prinzip  fest,  daß 
das  Vorstellen  die  Grundkraft  der  Seele  sei,  aber  auf  der  anderen 
Seite  macht  er  darauf  aufmerksam,  daß  die, dunklen  Vorstellungen 
noch  nicht  völlige  Vorstellungen  sind;  er  zeigt  dann  weiterhin,  daß 
die  verworrene  Mischung  mannigfacher  Elemente,  die  in  ihnen 
enthalten  ist,  die  Seele  vielmehr  auf  ein  Empfinden  dieses  ihres 
eigenen  Zustandes,  als  auf  eine  deutliche  und  begriffliche  Erfassung 
der  einzelnen  Elemente  hinweise,  und  daß  diese  ihre  Empfindungs- 
tätigkeit, von  den  eigentlichen  Vorstellungen  und  den  Begehrungen 
gleich  verschieden,  zwischen  beiden  die  notwendige  Vermittlung 
bilde.  Daß  diese  Hervorhebung  des^Gefühls  auf  einer  Verwertung 
der  Leibnizschen  Theorie  von  den*"  dunklen  Vorstellungen  beruhte, 
lehrt  außerdem  eine  von  Sulzer  durchaus  unabhängige  Schrift  von 
Jakob  Friedrich  Weiss  »De  natura  animi  et  potissimum  cordis 
humani«  (Stuttgart  1761).  Sulzer  führt  jene  Theorie  hauptsächlich 
dahin  aus,  daß  er  in  den  dunklen  Vorstellungen  denjenigen  Charakter 
nachweist,  den  die  moderne  Psychologie  eben  als"  Gefühl  bezeichnet. 
Er  zeigt,  daß  jede  »Empfindung«  entweder  angenehm  oder  unan- 
genehm sei,  d.  h.  also  einen  bestimmten  Gefühlston  habe,  und  gibt 
dadurch  die  Veranlassung,  auf  Grund  deren  Mendelssohn  in  seinen 
»Morgenstunden«  (Berlin  1785)  dieses  neue  Vermögen  mit  dem 
Namen  des  Billigungs Vermögens  bezeichnet  hat.  Es  liegt  auf 
der  Hand,  daß  damit  die  empirische  Psychologie  der  Deutschen 
zunächst  nur  in  ihrer  Weise  dieselbe  Entdeckung  gemacht  hatte, 
deren  Inhalt  man  in  der  englischen  Philosophie  teils  als  den  Sinn 
für  das  Gute,  teils  als  den  für  das  Schöne  charakterisierte.  In 
beiden  Fällen  stieß  man  auf  den  Begriff  eines  der  menschlichen 
Seele  ursprünglich  innewohnenden  Beurteilungsvermögens,  das  sich 
den   verschiedenen   Gegenständen  gegenüber  billigend  oder  miß- 


576  Sulzers  Ästhetik. 

billigend  verhalte.  Hier  wie  dort  führte  diese  Theorie  zu  ästhe- 
tischen Konsequenzen,  und  auf  diesem  Gebiete  lag  deshalb  auch 
hauptsächlich  Sulz  er  s  Tätigkeit  und  Einfluß.  Er  unterschied 
drei  Stufen  dieses  Empfindungsvermögens:  die  sinnlichen  Gefühle 
des  Angenehmen  und  des  Unangenehmen,  die  ästhetische  Be- 
trachtung des  Schönen  und  des  Häßlichen,  die  moralische  Beur- 
teilung des  Guten  und  des  Bösen.  Von  den  ersteren  nahm  er  an, 
daß  sie  bei  ihrer  durchgängigen  Abhängigkeit  von  dem  individuellen 
Zustande  des  physischen  Organismus  einer  allgemeinen  Theorie 
nicht  fähig  wären,  von  der  letzteren  dagegen,  daß  sie  lediglich  auf 
allgemeingültigen  Prinzipien  beruhe,  deren  Entwicklung  der  Moral- 
philosophie anheimfalle.  Für  die  ästhetische  Empfindung,  mit 
deren  Untersuchung  er  sich  vorwiegend  beschäftigte,  nahm  er  nach 
jeder  Richtung  hin  eine  mittlere  Stellung  zwischen  den  beiden 
anderen  ein.  Die^  Empfindung  des  Schönen  gilt  ihm  als  eine  not- 
wendige und  deshalb  allgemeingültige  Folge  aus  der  Beziehung 
der  Gegenstände  der  Wahrnehmung  auf  die  geistige  Tätigkeit. 
Indem  er  den  Leibnizschen  Begriff  der  Schönheit  als  der^  Einheit 
in  der  Mannigfaltigkeit  festhält,  meint  er,  daß  das  Wohlgefallen 
am  Schönen  auf  der  Anregung  beruhe,  die  der  Geist  aus  der  Auf- 
fassung aller  dieser  Beziehungen  des  einzelnen  auf  den  einheit- 
lichen Zusammenhang  schöpfe.  Das  Gefühl  des  Schönen  gilt  ihm 
als  der  Genuß  der  harmonischen  Verknüpfung  sinnlicher  Empfin- 
dungen. Deshalb  aber  ist  ihm  der  ästhetische  Genuß  und  die  ästhe- 
tische Produktion  von  dem  Grade  der  Einsicht  in  diesen  Zusammen- 
hang abhängig,  und  er  unterwirft  damit  das  ästhetische  Leben 
einem  intellektuellen  Maßstabe.  Allein  dabei  bleibt  er  nicht  stehen : 
wie  ihm  die  ästhetische  Empfindung  höher  und  wertvoller  ist  als 
die  sinnliche,  so  stellt  er  sie  anderseits  unter  die  moralische,  und 
daraus  zieht  er  den  Schluß,  daß  ihr  wahrer  Wert  in  letzter  Instanz 
nur  in  der  Förderung  bestehen  könne,  welche  sie  dem  moralischen 
Leben  gewährt.  Dadurch  verschließt  er  sich  selbstverständlich 
den  Sinn  für  den  eigenen  und  selbständigen  Wert  des  Schönen  und 
sieht  darin  nur  ein  Mittel  für  die  intellektuelle  und  moralische  Auf- 
klärung. Er  zögert  nicht  auszusprechen,  daß  der  Maler,  wenn  er 
nicht  einen  sittlichen  Gegenstand  darstelle,  mit  Farben  und  Formen 
allein  nichts  ausrichten  könne.  Er  sieht  den  Wert  der  Landschafts- 
bilder hauptsächlich  darin,  daß  man  dadurch  Schöpfungen  der  Natur 


Tetens.  577 

kennen  und  bewundern  lerne,  die  durch  eigene  Anschauung  zu  er* 
fahren  es  an  Zeit  und  Mitteln  gebräche,  und  er  meint,  die  beste 
Verwendung,  die  man  davon  machen  könne,  wäre  etwa  ihre  Zu- 
sammenstellung zu  einem  Museum,  worin  man  einen  Überblick  über 
die  verschiedenen  Gegenden  der  Erde  und,  wenn  sie  mit  passender 
Staffage  versehen  würden,  auch  über  die  verschiedenen  Sitten  und 
Beschäftigungen  der  Menschen  gewinnen  könnte.  Er  macht  anderseits 
für  historische  Gemälde  Vorschläge,  die  geradezu  an  das  Komische 
grenzen ;  man  solle  den  Damokles  darstellen,  wie  über  seinem  üppigen 
Mahle  das  drohende  Schwert  hängt,  oder  den  Dionys,  wie  er  sich  aus 
Furcht  vor  dem  mörderischen  Barbiermesser  von  seinen  Töchtern 
durch  glühende  Nußschalen  den  Bart  abnehmen  läßt,  usw.  Aber 
diese  moralisierendeÄsthetik  mit  ihren  kleinlichen  Auswüchsen 
war  ganz  im  Geschmacke  der  Zeit,  und  Sulzers  in  der  Form  eines 
ästhetischen  Keallexikons  angelegte  »Allgemeine  Theorie  der  schö- 
nen Künste«  (Leipzig  1771 — 1774)  galt  lange  als  Autorität  für  die 
ästhetische  Kritik.  Es  kam  hinzu,  daß  seine  unentschiedene  Zwi* 
schenstellung  ihn  für  die  beiden  streitenden  Parteien  gleich  brauchbar 
machte.  Der  Richtung  der  Schweizer  und  der  Stürmer  und  Dränger 
gefiel  seine  Begründung  der  Ästhetik  auf  den  dunklen  Untergrund 
der  Seele  und  auf  die  Ursprünglichkeit  des  Gefühls,  den  Anhängern 
Gottscheds  seine  Betonung  der  Abhängigkeit  des  ästhetischen 
Lebens  von  der  theoretischen  Einsicht  und  der  moralischen  Absicht. 
Zur  allgemeinsten  Anerkennung  aber  gelangte  die  Dreiteilung 
von  Denken,  Fühlen  und  Wollen  erst  durch  den  bedeutendsten 
unter  den  empirischen  Psychologen  dieser  Zeit,  Johann  Nikolaus 
Tetens  (1736—1805).  Der  Einfluß,  den  sein  Hauptwerk  »Philo- 
sophische Versuche  über  die  menschliche  Natur  und  ihre  Entwick- 
lung« (Leipzig  1776  und  1777)  auf  Kant  ausgeübt  hat,  brachte  es 
mit  sich,  daß  durch  den  letzteren  diese  psychologische  Dreiteilung 
sich  ganz  allgemein  befestigte  *).     Dieser  Einfluß  von  Tetens  auf 


*)  Die  entscheidende  Rolle,  welche  diese  Dreiteilung  in  der  Gliederung 
des  Kantischen  Systems  spielt,  wird  an  ihrer  Stelle  noch  besonders  besprochen 
werden  müssen;  es  sei  jedoch  schon  hier  darauf  hingewiesen,  daß  diese  Be- 
deutung am  klarsten  in  der  Einleitung  zur  Kritik  der  Urteilskraft  und  in  der 
ursprünglich  zu  demselben  Zweck  geschriebenen,  jetzt  unter  dem  Titel  »Über 
Philosophie  überhaupt«  in  die  Sammlungen  der  Kantischen  Schriften  aufge- 
nommenen Abhandlung  hervortritt. 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I.  37 


578  Tetens. 

Kant  beruht  im  wesentlichen  darauf,  daß  beide  Männer  um  die 
gleiche  Zeit  unter  dem  Eindrucke  der  Veröffentlichung  von  Leibniz' 
»Nouveaux  essais«  standen.  Kant  hatte  davon  zuerst  in  seiner 
Inauguraldissertation  »De  mundi  sensibilis  atque  intelligibilis  forma 
et  principiis  «  Zeugnis  abgelegt,  und  Tetens  begrüßte  in  seinem  Werke 
die  Ergebnisse  dieser  Untersuchungen  Kants  mit  lebhaftester  An- 
erkennung. In  der  Tat  ist  der  erkenntnistheoretische  Standpunkt, 
auf  welchem  sich  beide  Männer  in  diesen  Werken  befinden,  genau 
derselbe,  und  erst  später  hat  sich  Kant  durch  die  Forschungen, 
die  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  zugrunde  liegen,  weit  über  den 
Gedankenkreis  von  Tetens  erhoben.  Das  Werk  von  Tetens  enthält 
gewissermaßen  die  einseitige  Ausprägung  des  psychologischen  Stand- 
punktes, der  in  der  Entwicklung  Kants  eine  notwendige  Übergangs- 
stufe bildete  und  von  ihm  später  überwunden  wurde. 

Dieses  Werk  besteht  aus  einer  Reihe  psychologischer  Essais 
ohne  Anspruch  auf  systematische  Gliederung,  aber  in  regelmäßigem 
Fortschritt.    Tetens'  Methode  ist,  wie  er  hervorhebt,  die  rein  be- 
obachtende.     Er  will   die  Modifikationen  der   Seele   so  nehmen, 
wie  sie  das  Selbstgefühl  oder  die  innere  Erfahrung  darbietet,  und 
schließt  von  seiner  Betrachtung  alle  metaphysischen  Theorien  aus,, 
indem  er  sich  ebenso  gegen  die  Seelenlehre  des  Rationalismus  bei 
Wolff  wie  gegen  den  sensualistischen  Materialismus  bei  den  Fran- 
zosen wendet.    Er  verwirft  aber  nicht  minder  energisch  auch  jenes 
unkritische  Prinzip  des  gesunden  Menschenverstandes,  bei  dem  sich 
die  Schotten  beruhigten.     Seine  eigene  Aufgabe  sieht  er  vielmehr 
hauptsächlich  in  feinen  und  sorgfältigen  Analysen,  aus  denen  sich 
die  Erkenntnis  der  Beziehungen   zwischen  den  einzelnen  Seelen- 
tätigkeiten ergeben  soll.     Als  erste  Bedingung  dazu  bezeichnet  er 
die  genaue  Unterscheidung  der  einzelnen  psychischen  Funktionen 
und  die  Erforschung  der  Verhältnisse,  worin  sie  entweder  aufeinander 
zurückführbar  oder  bei  gegenseitiger  Selbständigkeit  miteinander 
vereinbar  sind.    Bei  der  Lösung  dieser  Aufgabe  verfährt  er  so  fein- 
fühlig und  scharfsichtig,  daß  manche  Teile  seines  Werkes  und  manche 
Theorien,  die  er  aufgestellt,  einen  dauernden  Wert  für  die  Psycho- 
logie haben.    Er  beginnt  mit  der  Frage,  ob  sich  durch  Beobachtung 
eine  Grundtätigkeit  der  Seele  herausstellen  lasse,  und  entwickelt 
die  Prinzipien  seiner  eigenen  Ansicht  an  einer  Kritik  der  Behauptung 
von  Leibniz  und  Wolff,  daß  diese  Grundtätigkeit  die^Vorstellung^ 


ue-m-i» ' 


Psychologie.  579 

sei.  Da  ergibt  sich  denn,  sobald  man  Leibniz  selbst  beim  Worte 
nimmt,  daß,  wenn  man  unter  Vorstellungen  bewußte  Denkakte 
verstehen  will,  diese  niemals  etwas  Ursprüngliches  sind,  sondern 
sich  immer  auf  eine  vorhergehende  anderweitige  Modifikation  der 
Seele  beziehen.  Was  Leibniz  dunkle  Vorstellungen  genannt  hat, 
sind  eben  noch  keine  wirklichen  Vorstellungen,  sondern  Empfin- 
dungen oder  »Fühlungen«,  und  Vorstellungen  sind  erst  sozusagen 
Nachempfindungen.  Die  ersten  darunter  sind  die  Perzeptionen, 
und  Tetens  macht  einen  höchst  interessanten  Versuch,  aus  dem 
Umstände,  daß  somit  schon  die  Wahrnehmungen  der  Sinne  sich  als 
Bilder  der  ursprünglichen  Modifikationen  der  Seele  erweisen,  die 
Tatsache  und  die  Art  und  Weise  zu  erklären,  wie  ihr  Inhalt  in  die 
Außenwelt  projiziert  und  dadurch  zu  einem  Gegenstande  des  Denkens 
gemacht  wird.  Diese  Perzeptionen  sind  nun  teils  wiederholbar, 
teils  zu  neuen  Bildern  vereinbar,  und  so  setzt  sich  die  Vorstellungs- 
tätigkeit aus  den  drei  Funktionen  der  Perzeption  und  der  repro- 
duktiven und  produktiven -Einbildungskraft  zusammen.  Wenn 
hierin  vielfach  Humesche  Einflüsse  nicht  zu  verkennen  sind,  so 
folgt  Tetens  in  der  genaueren  Betrachtung  der  Perzeptionen  dem 
Lockeschen  Unterschiede  der  inneren  und  der  äußeren  Erfahrung. 
Die  einfachen  Perzeptionen  der  äußeren  Sinnestätigkeit  haben  zu 
ihrem  Inhalt  immer  Gegenwärtiges  und  Absolutes.  Die  Beziehungen 
der  Dinge  dagegen  fallen  nie  unmittelbar  in  die  »Fühlung«,  wohl 
aber  mittelbar,  insofern  nämlich,  als  diese  Beziehungen  innere 
Zustände  hervorgerufen  haben  und  diese  von  der  inneren  Erfahrung 
empfunden  werden.  So  erklärt  Tetens  z.  B.  das  Gefühl  der  Schön- 
heit als  dasjenige  einer  harmonischen  Vorstellungstätigkeit,  in  die 
der  Mensch  durch  die  Empfindungen  versetzt  wird.  Allein  diese 
Relationen  der  Dinge  sollen  nicht  bloß  gefühlt,  sondern  auch  er- 
kannt werden,  und  das  ist  nur  möglich,  indem  der  gesamte  Inhalt 
der  Empfindungs Vorstellungen,  der  äußeren  so  gut  wie  der  inneren, 
der  Arbeit  des  beziehenden  Denkens  unterworfen  wird.  In  dieser 
Kardinalfrage  benutzt  nun  Tetens  durchaus  die  Leibnizsche  Apper- 
zeptionstheorie, wie  sie  in  den  »Nouveaux  essais«  vorgetragen  worden 
war,  zugleich  aber  auch  die  in  Kants  Dissertation  schon  bedeutsam 
hervortretende  Unterscheidung  von  Form  und  Inhalt  der  Er- 
kenntnis. Er  führt  aus,  daß  der  Inhalt  der  Erkenntnis  ausnahmslos 
aus  der  Empfindung  stamme,  ihre  Form  dagegen  aus  der  Tätigkeit 

37* 


580  Tetens. 

des  Denkens  selbst.  Während  sich  daher  das  Denken  den  Emp- 
findungen gegenüber  durchaus  rezeptiv  verhält,  zeigt  es  in 
diesen  Beziehungsformen  seine  eigene  Spontaneität.  Diese  Be- 
ziehungsgedanken betrachtet  nun  Tetens  durchaus  nicht  als  einen 
gegebenen  Besitz,  den  etwa  das  Denken  dem  empfangenen  Stoffe 
äußerlich  hinzufügte,  sondern  vielmehr  als  die  Gesetze  des  beziehen- 
den Denkens  selbst,  als  die  Funktionen,  die  das  Wesen  dieses  Denkens 
ausmachen:  »Die  Actus  des  Denkens  sind  die  ersten,  ursprünglichen 
Verhältnisgedanken.«  Sie  sind  die  Naturgesetze  des  Denkens. 
Wir  erfahren  sie  dadurch,  daß  wir  sie  anwenden,  wenn  wir  denken. 
Ihre  Erkenntnis  beruht  also  auf  der  inneren  Erfahrung;  aber  sie 
haben  den  Wert  allgemeiner  Vernunftwahrheiten,  weil  wir  ohne  sie 
nicht  denken  können.  »Die  Grundsätze  kennen  wir  nur  aus  Be- 
obachtung, wie  die  Gesetze,  wonach  Licht  und  Feuer  wirken: 
aber  die  Urteile  selbst  sind  nicht  Beobachtungen  noch  Abstraktionen 
aus  Beobachtungen,  sondern  Wirkungen,  die  von  der  Natur  der 
Denkkraft  abhängen,  wie  das  Ausdehnen  der  Körper  von  der  Natur 
des  Feuers.«  In  diesem  Sinne  vindiziert  Tetens  den  Formen  des 
Denkens  »subjektivische  Notwendigkeit«  und  behauptet,  daß 
darin  der  einzige  Begriff  von"  Objektivität  bestehe,  den  es  für  den 
Menschen  gibt.  Er  zeigt,  daß  die  "Wahrheit  nicht  in  der  Über- 
einstimmung der  Vorstellungen  mit  Gegenständen  bestehen  könne, 
weil  die  dazu  nötige  Vergleichung  unmöglich  ist,  sondern  nur  in  der 
Notwendigkeit,  womit  die  Denkkraft  überall  gleichmäßig  ihrer 
inneren  Natur  nach  wirkt.  Daraus  ergibt  sich  für  die  Erkenntnis 
der  Außenwelt  nur  »ein  allgemeiner  Grundsatz  von  der  Zuverlässig- 
Sf**\  keit  der  sinnlichen  Erfahrung«,  niemals  ihre  Berechtigung,  sich 
für  ein  Abbild  der  realen  Welt  zu  halten.  Das  beziehende  Denken 
entwickelt  sich  aber  nach  der  Darstellung  von  Tetens  in  drei  Grund- 
//  formen:  in  den  Vergleichungs Verhältnissen  der  Identität  und  der 
Verschiedenheit,  in  den  »Mitwirklichkeitsbeziehungen«  der  Ver- 
bindung, Trennung  und  Anordnung,  als  da  sind  Kaum,  Lage,  Zeit, 
Folge  usw.,  und  drittens  in  den  Dependenz Verhältnissen.  Was  die 
zweite  dieser  Beziehungsarten  anbetrifft,  so  nimmt  hierbei  Tetens 
mit  Befriedigung  Kants  Inauguraldissertation  auf,  worin  gleichfalls 
Raum  und  Zeit  als  die  Anordnungsgesetze  für  den  Empfindungs- 
inhalt betrachtet  wurden,  die  bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  in  Kraft 
treten  und  auf  diese  Weise  zur  bewußten  Erkenntnis  kommen, 


Psychologie.  581 

während  sie  ursprünglich  nur  Gesetze  des  auffassenden  Geistes  sind. 
Beide  Männer  beherrscht  der  Leibnizsche  Gedanke,  daß  die  Ver- 
nunf twahrheiten  Bewußtwerdungen  der  Gesetze  des  Geisteslebens 
sind;  und  es  ist  hervorzuheben,  daß  Kant  zuerst  die  Anwendung 
dieses  Prinzips  auf  die  Apriorität  der  Mathematik  fand.  Wenn  das 
Werk  von  Tetens  (vielleicht  auf  Grund  dieser  Anregung)  dasselbe 
Prinzip  auf  alle  Beziehungsbegriffe  des  Denkens  ausdehnte,  so  geht 
aus  Kants  Korrespondenz  hervor,  daß  er  bereits  im  Jahre  1773  zu 
derselben  Konsequenz  gekommen  war.  Als  er  das  Buch  von  Tetens 
in  die  Hand  bekam,  war  er  vermutlich  über  diesen  Gesichtspunkt 
schon  hinaus,  und  der  Einfluß  des  Werkes  auf  ihn  konnte  nicht  mehr 
erkenntnistheoretisch,  sondern  nur  noch  psychologisch  sein.  Was 
endlich  die  Dependenzverhältnisse  anbetrifft,  so  ergeht  sich  Tetens 
in  einer  prinzipiell  verfehlten  Polemik  gegen  Hume.  Indem  er 
auch  die  Kausalität  als  subjektivische  Notwendigkeit  nachzuweisen 
sucht  und  dabei  sehr  feinsinnig  dem  psychologischen  Ursprünge 
dieses  Begriffes^aus  der  Verbindung  der  Erfahrung  von  den  durch 
den  Willen  hervorgerufenen  Leibesbewegungen  mit  dem  logischen 
Postulate  der  Begründung  nachgeht,  übersieht  er  ganz,  daß  er 
genau  dasselbe  beweist,  was  Hume  wollte,  nämlich  die  nur  tatsäch- 
lich gewohnheitsmäßige  Geltung  dieses  Begriffes.  Hierin  zeigt  Tetens 
fast  am  klarsten  die  Grenze,  welche  die  Erkenntnistheorie  vor  Kant 
ihres  psychologischen  Charakters  wegen  nicht  zu  überschreiten 
vermochte.  Er  spricht  fünf  Jahre  vor  dem  Erscheinen  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  das  methodische  Prinzip  der  gesamten  Auf- 
klärungsphilosophie noch  einmal  ganz  klar  aus,  wenn  er  sagt:  »Die 
ganze  Spekulation  über  die  erwähnten^Gemeinbegriffe  cles  Verstandes 
beruht  am  Ende  auf  psychologischen  Untersuchungen  über  ihre 
Entstehungsart  und  ihre  subjektivische  Natur  im  Verstände.« 
Darin  aber  lag  die  Unfähigkeit  des  Dogmatismus  zur  Lösung  der 
erkenntnistheoretischen  Frage.  Denn  daß  die  Einsicht  in  den 
psychologischen  Ursprung  der  Vorstellungen  nichts  über  ihren  Er- 
kenntniswert bestimmt,  lehrt  eben  die  vergebliche  Arbeit  der  Philo- 
sophie seit  Descartes  und  Locke.  Als  er  dies  begriff,  befand  sich 
Kant  auf  dem  Wendepunkte  seines  eigenen  Denkens  und  der  mo- 
dernen Philosophie  überhaupt. 


582  Popularphilosophie. 


§  55.    Die  Popularphilosophie. 

Die  große  Ausbreitung  der  empirischen  Psychologie  ist  teilweise 
die  Ursache,  teilweise  aber  auch  nur  das  Zeichen  für  diejenige  Er- 
lahmung der  philosophischen  Energie,  welche  um  die  Mitte  des 
XVIII.  Jahrhunderts  in  Deutschland  eintrat,  und  welche  sich 
hauptsächlich  in  der  Herrschaft  des  Eklektizismus  offenbarte. 
Bei  dem  Mangel  eines  spekulativen  Prinzips  bot  gerade  die  Er- 
fahrungsseelenlehre den  bequemsten  Eaum  für  die  Eeproduktion 
der  verschiedenen  philosophischen  Ansichten  und  namentlich  für 
die  Verquickung  Leibnizscher  und  Lockescher  Gedanken.  Je  mehr 
aber  diese  psychologischen  Untersuchungen  auf  eine  allgemeine 
Schilderung  des  menschlichen  Lebens  hinausliefen,  um  so  mehr 
ging  der  Ernst  der  wissenschaftlichen  Forschung  verloren,  und  um 
so  breiter  berührte  sich  die  philosophische  Tätigkeit  mit  der  all- 
gemeinen Literatur.  An  diesem  Punkte  war  freilich  die  früher 
erwähnte  Gemeinsamkeit  beider  Strömungen  der  Philosophie  nur 
in  geringem  Maße  zuträglich.  Was  sie  an  Popularität  gewann, 
mußte  sie  an  Tiefe  und  Originalität  aufgeben,  und  diese  schöngeistige 
Philosophie,  die  nun  in  Deutschland  Mode  wurde,  beschränkte  sich 
auf  ein  langatmiges  Wiederholen  der  gewöhnlichsten  Aufklärungs- 
gedanken. Der  einzige  nennenswerte  Vorteil,  den  die  Philosophie 
aus  dieser  Vereinigung  zog,  war  der  Gewinn  einer  geschmackvolleren 
Darstellungsweise  und  die  Heranbildung  eines  guten  deutschen 
philosophischen  Stils.  Die  Vorbilder  des  Auslandes  wirkten 
in  dieser  Beziehung  außerordentlich  günstig.  Der  englische  Essay 
wurde  auch  in  Deutschland  Sitte,  und  man  mühte  sich,  den  feinen 
Ton  der  französischen  Konversationssprache  zum  Träger  der  Ge- 
danken zu  machen.  Die  Schriften  dieser  Populär philosophen 
lesen  sich  daher,  im  einzelnen  genossen,  leicht  und  angenehm. 
Im  ganzen  wirken  sie  mit  ihrer  breiten  und  seichten  Darstellung 
und  mit  ihrem  Mangel  an  bedeutenden  Ideen  ermüdend  und  lang- 
weilend. Nur  selten  erreichen  sie  den  Reiz  ihrer  Vorbilder.  Die 
ruhige  Klarheit  des  englischen  Stils  verwandelt  sich  hier  nur  zu 
leicht  in  weitschweifige  Trivialität,  und  die  geistvoll  feine  Beweglich- 
keit des  französischen  Esprit  vermochten  sie  nicht  sich  zu  eigen 
zu  machen. 


Basedow.  583 

Diese  Nachteile  treten  um  so  lebhafter  hervor,  je  prätentiöser 
die  Popularphilosophen  von  dem  Werte  ihrer  Gedanken  und  ihrer 
viel-  und  dickbändigen  Bücher  denken.  Sie  wiegen  sich  alle  in 
dem  stolzen  Bewußtsein  einer  vollendeten  Aufklärung  und  schreiben 
ihre  Bücher  nicht  zur  Förderung  der  Forschung,  sondern  zur  Be- 
lehrung des  Publikums.  Sie  suchen  die  Wahrheit  nicht:  sie 
glauben  sie  zu  besitzen  und  wollen  sie  nur  verbreiten.  Der  Zweck 
der  Philosophie  ist  ihnen,  wie  es  Thomasius  verkündet  hatte,  die 
Beförderung  der  menschlichen  Glückseligkeit,  und  von  dieser  sind 
sie  überzeugt,  daß  sie  nur  aus  der  Selbsterkenntnis  des  Menschen 
erwachsen  könne.  Dabei  ist  diese  Philosophie  in  ihrem  Glückselig- 
keitsbestreben durchaus  von  dem  kleinlichen  Geiste  der  Wolffschen 
Teleologie  beherrscht.  Ihr  Ideal  ist  die  behagliche,  im  Genüsse 
der  Aufklärung  sich  wohl  abrundende  Existenz  des  einzelnen.  Die 
Probleme  des  öffentlichen  Lebens  liegen  ihr  fern.  Von  der  sitt- 
lichen Bedeutung  des  Staatsgedankens  hat  sie  keine  Vorstellung. 
Sie  will  nur  aus  der  erfahrungsmäßigen  Kenntnis  vom  allgemeinen 
Wesen  des  Menschen  Belehrung  geben,  wie  er  so  aufgeklärt  und 
so  glücklich  wie  möglich  werden  kann.  Diese  Beschäftigung  mit 
dem  Wohle  des  einzelnen  Menschen  und  die  Betonung  der  alles 
andere  abweisenden  Bedeutung,  welche  er  für  sich  selber  hat,  zeigt 
sich  am  besten  darin,  daß  keine  Frage  in  dieser  Literatur  so  lebhaft 
und  mit  so  großer  Vorliebe  behandelt  wird,  als  diejenige  der  Un- 
sterblichkeit, und  daß  sie  fast  ausschließlich  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte des  Eudämonismus  bejaht  wird:  wie  denn  charakte- 
ristisch genug  in  dieser  Literatur  häufig  genug  Argumentationen 
vorkommen,  in  denen  bei  zweifelhaften  Fragen  der  Philosoph 
sich  ausdrücklich  für  diejenige  Meinung  entscheidet,  bei  deren 
Geltung  auf  eine  größere  Glückseligkeit  des  Menschen  zu  rechnen 
ist.  Als  der  typische  Vertreter  dieses  Eudämonismus  gilt  Johann^ 
Bernhard  Basedow  (1723 — 1790).  Bei  ihm  zeigt  sich  jedoch1 
die  Unwissenschaftlichkeit  dieser  Bestrebungen  nicht  nur  in  der 
Oberflächlichkeit  seiner  Werke,  sondern  bereits  auch  in  der  aus- 
gesprochenen Mißachtung  der  Gelehrsamkeit,  welche  den  Grundzug 
seiner  pädagogischen  Agitation  bildete.  Mit  viel  geringerer 
Originalität  als  Rousseau  verkündete  er,  daß  man  nicht  Gelehrte, 
sondern  Menschen  erziehen  müsse,  daß  man  den  Menschen  körper- 
lich und  geistig  gesund  machen  solle,  und  das  von  ihm  in  Dessau 


584  Popularphilosophie. 

gegründete  Philanthropin  wurde  das  Vorbild  für  zahlreiche 
Erziehungsanstalten,  in  denen  seine  und  Rousseaus  Prinzipien 
mit  einseitiger  Betonung  der  körperlichen  Ausbildung  gepflegt 
wurden. 

Die  geistige  Gesundheit,  die  Basedow  verlangte,  lief  auf  nichts 
weiter  hinaus,  als  auf  jenen  Verzicht  auf  wissenschaftlichen  Ernst, 
der  sich  hinter  dem  Prinzip  des  gesunden  Menschenverstandes 
versteckte.  Dieser^  gesunde  Menschenverstand  war  das  Idol  der 
deutschen  Popularphilosophie.  Noch  ehe  die  Lehren  der  Schotten 
in  Deutschland  Eingang  gefunden  hatten  (wofür  später  namentlich 
hier  wie  in  Frankreich  die  Schriften  der  Genfer  Pierre  Prevost 
[1751 — 1839]  wirkten),  hatte  sich  dem  Schulsystem  gegenüber  die 
Meinung  gebildet,  daß  der  Mensch,  wenn  er  nur  nicht  durch  philo- 
sophische Doktrinen  in  die  Irre  geleitet  sei,  die  für  ihn  wertvolle 
und  nützliche  Erkenntnis  in  seiner  natürlichen  Vernunft  besitze, 
und  daß  es  nur  gelte,  diese  sich  und  den  anderen  klar  zu  machen. 
Alles  was  daher  über  die  gewöhnlichen  Vorstellungen  der  Menschen 
hinausgeht  oder  gar  ihnen  widerspricht,  galt  diesen  Männern  von 
vornherein  als  gerichtet;  indem  sie  sich  zu  Vertretern  dieser  ge- 
sunden Vernunft  aufwarfen,  schleuderten  sie  gegen  die  tiefsinnigsten 
philosophischen  Theorien  ihr  seichtes  Verdammungsurteil  und 
glaubten  solche  einfach  dadurch  zu  widerlegen,  daß  sie  zeigten, 
wie  wenig  sie  davon  begriffen.  Ihr  Lieblingsgrundsatz  war  deshalb 
der,  in  allen  Dingen  mit  ihrer  Meinung  hübsch  in  der  Mitte  zu 
bleiben,  nur  keine  extremen  Ansichten  aufzustellen  oder  zu  billigen 
und  recht  versöhnlich  aus  allen  Lehren  dasjenige  herauszuziehen, 
was  dem  gemeinen  Bewußtsein  als  richtig  erscheint.  Sie  waren 
gütig  genug,  ein  Körnchen  Wahrheit  fast  in  jeder  philosophischen 
Ansicht  zu  finden;  allein  der  konsequenten  Anwendung  eines 
Prinzips  widersetzten  sie  sich  in  dem  Grade,  wie  sie  selbst  dazu 
unfähig  waren.  So  rührten  sie  alle  möglichen  philosophischen 
Ansichten,  nur  niemals  die  bedeutendsten,  zu  einem  Brei  zusammen, 
den  dann  jeder  von  ihnen  in  mannigfache  Formen  knetete. 

So  unerquicklich  dies  popularphilosophische  Treiben  erscheint, 
wenn  man  lediglich  auf  seinen  wissenschaftlichen  Wert  Rücksicht 
nimmt,  so  darf  man  doch  auf  der  anderen  Seite  nicht  vergessen, 
welchen  Wert  es  in  der  allgemeinen  geistigen  Bewegung  der  Deut- 
schen hatte.     Die  Absichten  dieser  Männer  waren  zum  größten 


Mendelssohn.  585 

Teil  in  der  Tat  die  besten  und  edelsten;  sie  schrieben  wirklich  aus 
innerem  Bedürfnis,  das  Volkswohl  zu  fördern,  und  sie  fanden  genug 
zu  tun  vor.  Der  Kampf  gegen  die  Vorurteile  und  die  darauf  be- 
ruhenden Institutionen,  den  die  Popularphilosophie  führte,  war 
durchaus  berechtigt,  und  ihr  günstigster  Erfolg  war  der,  daß  ihre 
Ideen  doch  immerhin  die  deutschen  Geister  aus  lokaler  und 
philiströser  Beschränktheit  emporrissen.  Die  moralisierende  Ver- 
nunftreligion, welche  sie  verkündeten,  an  sich  mager  und  poesielos, 
verwarf  und  zerstörte  doch  die  bürgerlichen  und  rechtlichen  Schran- 
ken, welche  die  Verschiedenheit  der  religiösen  Überzeugungen  gerade 
in  Deutschland  aufgetürmt  hatte.  Freilich  hatte  diese  Aufklärungs- 
philosophie kein  Verständnis  für  die  Zwischenglieder  zwischen  dem 
Individuum  und  der  Gattung.  Sie  zog  den  Kosmopolitismus  groß 
und  bekämpfte  alles  äußere  Kirchen  tum:  aber  sie  bildete  den  Sinn 
für  das  rein  Menschliche  und  die  Achtung  vor  dem  Menschen  in 
jeder  Gestalt  mit  so  edlem  Eifer  aus,  daß  nur  auf  dieser  Grundlage 
sieb  jenes  Ideal  der  Humanität  erheben  konnte,  das  die  großen 
Dichter  Deutschlands  später  mit  viel  reicherem  Inhalt  erfüllten. 
Es  gibt  innerhalb  dieser  Popularphilosophie  eine  Erscheinung, 
die,  wenn  auch  nicht  frei  von  ihren  Schattenseiten,  doch  alle  ihre 
edleren  Züge  derart  in  sich  vereinigt,  daß  sie  einer  ganzen  Generation  . 
ein  leuchtendes  Vorbild  wurde:  das  ist  Moses  Mendelssohn. 
1729  als  der  Sohn  eines  armen  jüdischen  Schulmeisters  geboren,  '/' 
rang  sich  dieser  Mann  durch  unermüdliche  Arbeit  zum  wissenschaft- 
lichen Leben  empor,  und  während  er  bis  zu  seinem  Tode  (1786) 
in  praktischer  Beschäftigung  lebte,  wurde  er  durch  die  Anmut 
und  Feinheit  seines  Stils  einer  der  besten  und  gelesensten  Schrift- 
steller dieser  Periode.  Das  Bedürfnis  nach  Klarheit  und  Deutlich- 
keit der  Begriffe,  welches  er  aus  der  Wolffschen  Philosophie  geschöpft 
hatte,  verband  sich  bei  ihm  mit  der  Neigung  und  Befähigung  zu 
geschmackvoller  Darstellung,  worin  ihn  das  Studium  Shaftesburys 
bestärkte.  Vor  allem  aber  wehte  in  seinen  Schriften  die  warme 
Empfindung  eines  edlen  Gemüts:  sie  alle  geben  den  Eindruck 
wohltuender  Kühe.  Von  festen  Überzeugungen  getragen,  um- 
spannt sein  reines  Wohlwollen  das  ganze  menschliche  Geschlecht. 
Dabei  ist  es  ein  ergreifender  Zug,  wie  er  sein  Streben  nach  Auf- 
klärung und  nach  Überwindung  der  Vorurteile  vor  allem  seinen 
Stammesgenossen  zuwendet.     Er  kämpft  unermüdlich  dafür,  daß 


586  Mendelssohn. 

ihnen,  die  es  am  meisten  bedurften,  die  Segnungen  der  Toleranz 
zugute  kommen  sollten;  aber  er  dringt  auch  nicht  minder  darauf, 
daß  sie  ihre  eigenen  Vorurteile  aufgeben  und  sich  zu  Gliedern  der 
gebildeten  Gesellschaft  machen  sollen,  deren  Rechte  sie  beanspruchen. 
Gegen  die  Intoleranz  richtet  er  sich  vor  allem  auch  in  philosophischen 
Dingen.  Jede  Ansicht,  welche  die  anderen  schroff  ausschließt 
und  für  sich  allein  die  Wahrheit  in  Anspruch  nimmt,  erweckt  ihm 
Mißtrauen,  und  den  feinen  Spekulationen,  worüber  sich  die  Philo- 
sophen streiten,  ist  er  durchaus  abhold.  Man  soll  sich  nur  mit  dem 
beschäftigen,  was  den  Menschen  angeht,  und  das  ist  die  Glückselig- 
keit, die  in  der  reinen  Religion,  in  der  Moralität  und  in  der  Auf- 
klärung besteht.  In  diesen  Fragen  müssen  die  künstlichen  Systeme 
der  Gelehrten  durch  den  gesunden  Menschenverstand  korrigiert 
werden.  Die  großen  Wahrheiten,  welcher  dieser  uns  lehrt,  sind 
das  Dasein  eines  vollkommenen  und  unendlich  gütigen  Gottes, 
von  dem  die  Welt  und  wir  geschaffen  sind,  um  an  seiner  Vollkommen- 
heit teilzunehmen  und  dadurch  selig  zu  werden,  und  die  Unsterblich- 
keit der  Seele,  welche  die  notwendige  Bedingung  für  die  Erfüllung 
dieses  Zweckes  ist.  Beide  Lehren  sucht  er  durch  Argumente,  die 
wesentlich  der  Wolffschen  Lehre  entnommen  sind,  in  allgemein 
faßlicher  Weise  zu  begründen,  und  keine  seiner  Schriften  hat  solchen 
Beifall  gefunden  wie  der  »Phädon«  (Berlin  1767),  in  welchem  er 
dem  Ideale  der  Lebensweisheit,  Sokrates,  seine  Unsterblichkeits- 
lehre in  den  Mund  legte.  Gerade  in  dieser  Darstellung  des  Sokrates 
aber  zeigt  sich,  wie  oft  bemerkt,  der  unhistorische  Sinn  dieser 
Richtung.  Es  fällt  Mendelssohn  nicht  ein,  daß  er  sich  mühte,  wie 
Sokrates  zu  sprechen,  sondern  sein  Sokrates  spricht  wie  Mendels- 
sohn. Er  ist  der  moralisierende  Aufklärungsphilosoph,  der  das  Volk 
von  Athen  über  die  Nutzlosigkeit  philosophischer  Spekulationen, 
über  den  Wert  eines  gesunden  Denkens,  über  die  sittlichen  Aufgaben 
und  über  die  Hoffnungen  der  Unsterblichkeit  belehrt.  Die  feineren 
Züge  des  platonischen  Sokrates,  die  griechische  Färbung  des  soma- 
tischen Wesens  sind  fortgefallen,  und  nur  das  verständige  Räson- 
nement  der  deutschen  Aufklärung  ist  übrig  geblieben.  Mendelssohn 
hatte  den  Gedanken  der  geistigen  und  moralischen  Vervollkommnung 
des  Individuums  ganz  zu  dem  seinigen  gemacht  und  wünschte  ihn 
allen  Menschen  ausnahmslos  mitzuteilen.  Das  war  es,  was  einen 
Lessing  zu  seinem  Freunde  machte.    Aber  davon,  daß  es  auch  eine 


Nicolai.  587 

Erziehung  und  Vervollkommnung  des  Geschlechts  in  der  Geschichte 
gibt,  davon,  daß  über  dem  einzelnen  die  höheren  Mächte  walten,  die 
sein  Wesen  und  sein  Geschick  bestimmen,  davon  hatte  er,  seiner 
ausdrücklichen  Versicherung  zufolge,  keine  Vorstellung.  Ihm  war 
die  Geschichte  ebenso  verschlossen  wie  die  Natur;  er  kannte  nur  den 
einzelnen  Menschen,  und  diesem  allein  galt  die  Wärme  seiner 
Empfindung  und  der  Edelmut  seiner  Beurteilung. 

Neben  Mendelssohn  steht  als  sein  flacherer  Abklatsch  sein  und  i  ,, 
Lessings  Freund,  der  Buchhändler  Friedrich  Nicolai  (1733  U*L 
bis  1811),  ein  rastlos  tätiger  Mann,  der  auf  Grund  vielseitiger  auto- 
didaktischer Bildung  und  im  redlichsten  Bestreben  eine  ausge- 
breitete Wirksamkeit  ausübte.  Er  gründete  und  redigierte  hinter- 
einander eine  Reihe  von  Zeitschriften,  die  »Bibliothek  der  schönen 
Wissenschaften«  (1757  und  1758),  die  »Briefe  die  neueste  deutsche 
Literatur  betreffend«  (1759 — 1765),  vor  allem  aber  die  »Allgemeine 
deutsche  Bibliothek«  (1765 — 1805),  und  vereinigte  darin  mit 
seltenem  Geschick  die  bedeutendsten  Männer  der  Zeit.  Das  Be- 
streben, durch  Unterhaltung  zu  belehren,  das  allen  diesen  Unter- 
nehmungen zugrunde  lag,  glückte  ihm  auf  das  glänzendste,  und 
seine  eigenen  Beiträge  waren  nicht  die  schlechtesten.  Selbst  der 
derbe  Witz,  mit  dem  er  hin  und  wieder  seine  Darstellung  spickte, 
war  für  sein  Publikum  wohl  berechnet,  seine  satirischen  Romane 
hatten  bei  aller  Flachheit  großen  Erfolg,  und  aus  seinen  Zeitschriften 
hat  ein  großer  Teil  des  deutschen  Volkes  in  der  Tat  seine  Bildung 
und  Aufklärung  eingesogen.  Es  zeugt  von  dem  klaren  Blicke  des 
Mannes,  daß  er  von  der  aufrichtigsten  Bewunderung  für  den  großen 
König  erfüllt  war,  der  die  Aufklärung  zum  Prinzip  seiner  Regierung 
gemacht  hatte,  und  daß  er  in  dessen  Geiste  mit  allem  Nachdruck 
gegen  jeden  Aberglauben  und  jedes  Vorurteil  seinen  Kampf  führte. 
Er  ist  der  Typus  der  Berliner  Freisinnigkeit,  oberflächlich  in  der 
Begründung,  aber  stets  sattelfest  und  mit  einer  kräftigen,  treffenden 
Antwort  bei  der  Hand.  Nichts  war  ihm  mehr  zuwider  als  alles  ge- 
heime Treiben,  das  auf  selbstsüchtige  Zwecke  hinauslief.  Ein  ge- 
meinsames und  vernünftiges  Zusammengehen  der  Menschen,  eine 
offene  Einigung  über  »gesunde«  Prinzipien  war  sein  höchstes  Ideal. 
Deshalb  glaubte  er  der  Anschauung  seiner  Zeit  gemäß  nichts  eifriger 
verfolgen  zu  sollen  als  die  geheimen  Orden,  und  seine  »Jesuiten- 
riecherei  «  hat  ihn  ebenso  berühmt  wie  komisch  gemacht.    In  späteren 


588  Nicolai. 

Jahren  freilich  traten  gerade  bei  ihm  die  Schattenseiten  der  Popular- 
philosophie  am  stärksten  hervor.  Ihre  Zeit  war  längst  erfüllt, 
als  er  noch  immer  ihren  Propheten  machte,  und  namentlich  seit 
ihn  die  besseren  Berater  verlassen  hatten,  stand  er  einem  neuen 
Geschlecht  urteilslos  und  doch  noch  immer  urteilend  gegenüber. 
Er  hatte  sich  zu  einer  Art  von  Diktator  der  Öffentlichen  Meinung 
aufgeworfen  und  duldete  nichts,  was  seiner  schalen  Verständigkeit 
widersprach.  Alles,  was  darüber  hinausstrebte,  galt  ihm  für  nutz- 
lose Träumerei  oder  für  Eingebung  des  Wahnsinns,  und  mit  dem- 
selben Eifer,  mit  dem  er  einst  Aberglauben  und  Vorurteile  bekämpft 
hatte,  wendete  er  sich  nun  gegen  alles  Tiefere,  was  in  der  deutschen 
Literatur  emporkeimte,  gegen  die  Kantische  Philosophie  und  ihre 
Nachfolger,  gegen  die  großen  Dichtungen  eines  Goethe  und  Schiller, 
gegen  die  traumhafte  Schönheit  der  Romantiker.  Das  hat  ihm  jene 
vernichtenden  Xenien,  jenes  erbarmungslose  Pamphlet  von  Fichte 
und  alle  jene  wegwerfenden  Urteile  eingetragen,  mit  denen  man 
noch  jetzt  seine  eitle  Seich tigkeit  und  seine  oberflächliche  Unfehl- 
barkeit zu  verdammen  pflegt.  Gewiß  war  er  den  Größen  seiner 
Zeit  gegenüber  im  Unrecht:  er  verstand  sie  nicht  und  hielt  ihnen 
»mit  wenig  Witz  und  viel  Behagen«  seine  hausbackene  Gesundheit 
entgegen;  aber  es  gab  namentlich  in  den  ersten  Jahrzehnten  seiner 
Wirksamkeit  ein  Publikum,  das  eines  solchen  Mannes  bedurfte, 
und  für  welches  er  der  rechte  Mann  war. 

Um  Mendelssohn  und  Nicolai  scharten  sich  eine  Reihe  jüngerer 
Genossen,  deren  Tätigkeit  zum  Teil  in  unmittelbarem  Anschluß  an 
die  Nicolaischen  Zeitschriften  dieselbe  Richtung  verfolgte.  Zu 
ihnen  gehören  Johann  Erich  Biester  (1749 — 1816),  der  mit 
Ge dicke  zusammen  die  »Berliner  Monatsschrift«  gründete,  Tho- 
mas Abbt  (1738 — 1766),  der  den  eleganten  Stil  dieser  Popular- 
philosophie  mit  dem  größten  und  erfolgreichsten  Geschick  behandelte, 
Johann  August  Eberhard  (1739 — 1809),  der  sich  am  liebsten 
als  Popularisator  der  Wolffschen  Lehre  bezeichnete  und  sich  viel- 
fach mit  ästhetischen  Studien  beschäftigte,  und  besonders  Johann 
Jakob  Engel  (1741—1802),  dessen  »Philosoph  für  die  Welt«  in 
einer  Anzahl  eigener  und  fremder  Essais  eine  Art  Repertorium 
dieser  Lehren  bildet.  Zugleich  versuchten  Johann  Georg  Hein- 
rich Feder  (1740—1825)  und  Christoph  Meiners  (1747—1810) 
diese   Popularphilosophie  nicht   ohne   Erfolg   auf   dem   Göttinger 


Popularphilosophie.  589 

Katheder  heimisch  zu  machen  und  dehnten  dabei  ihre  umfang- 
reiche literarische  Wirksamkeit  auf  die  ganze  Mannigfaltigkeit  des 
wissenschaftlichen  Lebens  aus.  Persönlich  und  geistig  stand  ihnen 
Christian  Garve  (1742 — 1798)  nahe,  der  sich  durch  zahlreiche  flast*. 
Übersetzungen  und  seine  »Versuche  über  verschiedene  Gegenstände 
aus  der  Moral,  Literatur  und  dem  gesellschaftlichen  Leben«  (Leipzig 
1792 — 1802)  bekannt  und  beliebt  machte.  Sein  inniges  Verhältnis 
zu  dem  moralisierenden  Fabeldichter  Geliert  läßt  den  Zusammen-  ßofc* 
hang  dieser  Richtung  mit  der  allgemeinen  Literatur  klar  hervor- 
treten. Keiner  jedoch  unter  den  bedeutenden  Dichtern  jener  Zeit 
steht  diesen  Popularphilosophen  sachlich  näher  als  Wieland. 
Seine  erzählenden  Dichtungen  und  seine  Romane  atmen  denselben 
Geist  einer  behaglichen  Lebensphilosophie,  die  sich  hütet,  den  großen 
Problemen  nachzuringen,  und  in  der  Zufriedenheit  mäßigen  Genusses 
und  wohlwollender  Tugend  ihr  Glück  findet.  Der  Geschmack  der 
Darstellung,  die  Feinheit  der  Schilderung  und  eine  liebenswürdige 
Bonhommie  der  Welt-  und  Lebensauffassung  müssen  bei  ihm  wie 
bei  jenen  Prosaisten  für  den  Mangel  an  Tiefe  und  Schwung  des 
Denkens  und  Dichtens  entschädigen. 

Neben  diesen  zum  großen  Teil  durch  die  Gemeinsamkeit  lite- 
rarischer Unternehmungen  miteinander  verbundenen  Kreisen  findet 
man  noch  eine  Anzahl  isolierter  Vertreter  derselben  aufklärerischen 
Gedanken:  so  den  feinsinnigen  Leibnizianer  Ernst  Platner  (1744 
bis  1818),  dessen  »Philosophische  Aphorismen«  (Leipzig  1776  und 
1782)  in  eleganter  und  anziehender  Form  doch  eine  systematische 
Darstellung  dieser  Lehren  zu  geben  versuchten  und  in  manchen 
Beziehungen  schon  die  Richtung  auf  Kantische  Probleme  nahmen; 
ferner  Johann  Georg  Zimmermann  (1728 — 1795),  dessen  viel- 
gelesene Schrift  »Über  die  Einsamkeit «  dem  gleichmäßigen  Charakter 
dieser  ganzen  Literatur  gegenüber  einen  originellen,  wenn  auch  nicht 
gleich  angenehmen  Eindruck  macht;  endlich  den  geistreichen  Phy- 
siker Georg  Christoph  Lichtenberg  (1742 — 1799),  der  mit 
Humor,  Witz  und  Ironie,  freilich  in  wunderlichster  Weise  die  senti- 
mentalen Auswüchse  der  Zeit  geißelte. 


590  Sturm  und  Drang. 

§  56.    Hamann  und  Herder. 

Alles  in  allem  wäre  es  nun  um  die  deutsche  Bildung  recht  traurig 
bestellt  gewesen,  wenn  sie  auf  diese  Popularphilosophie,  die  sich 
für  ihren  Inbegriff  hielt  und  ausgab,  wirklich  beschränkt  geblieben 
wäre.  Denn  diese  war  trotz  aller  Hinzunahme  der  empiristischen 
Elemente,  trotz  allen  Pochens  auf  den  gesunden  Menschenverstand 
und  trotz  aller  Verspottung  der  Schulweisheit  doch  im  Grunde 
genommen  nur  ein  verdünnter  Aufguß  des  Wolf f sehen  Rationalismus 
und  ihrem  Ideengehalte  nach  eine  wässerige  Lösung  der  Begriffe, 
die  jener  scharf  und  methodisch  hatte  kristallisieren  lassen.  Aber 
sie  war  zum  Glück  nicht  das  einzige  Element  der  deutschen  Bildung, 
wenn  sie  auch  eine  Zeitlang  und  in  gewissen  Kreisen  das  herrschende 
ausmachte.  Während  mit  ihr  die  Philosophie  sich  gewissermaßen 
im  dürren  Sande  verlief,  sprudelten  im  deutschen  Volksgeiste 
urkräftige  und  frische  Quellen  empor.  Sie  bahnten  sich  ihren  Weg 
zuerst  in  der  Dichtung,  und  es  ist  eine  merkwürdige  »Coincidentia 
oppositorum «,  daß  zur  selben  Zeit,  wo  die  kühle  Verständigkeit 
sich  die  Herrschaft  über  die  Literatur  anmaßte,  in  der  deutschen 
Poesie  jene  Männer  von  »Sturm  und  Drang«  auftauchten,  welche 
alle  Regeln  über  den  Haufen  warfen  und  der  Schule  gegenüber 
das  Recht  der  Genialität  proklamierten.  Wenn  die  Philosophie 
eine  trocken  vernünftige  Moral  lehrte,  so  verkündeten  sie  das 
Evangelium  der  Sinnlichkeit.  Wenn  die  Philosophie  alles  begriffen 
und  klar  gemacht  zu  haben  glaubte,  so  wühlten  sie  in  den  Ge- 
heimnissen der  Seele  und  vertieften  sich  in  die  dunklen  Regionen 
des  Weltlebens.  Wenn  die  Philosophie  in  ihrer  Überschätzung  der 
allgemeinen  Prinzipien  keinen  Sinn  für  das  Einzelwesen  hatte  und 
in  ihrer  Beurteilung  alle  Zeiten,  alle  Bildungsstufen  über  einen 
Kamm  schor,  so  predigten  sie  das  Recht  der  Individualitäten.  Mit 
genialem  Übermut  warfen  sie  zwischen  das  glatte  und  elegante 
Räsonnement  der  Aufklärer  die  kühnen  Ausgeburten  einer  un- 
gezügelten Phantasie. 

In  einer  Hinsicht  standen  diese  kraftgenialischen  Dichter  auf 
gleicher  Linie  mit  den  rationalistischen  Aufklärern :  beide  vereinigten 
sich  in  dem  Rufe  nach  Natürlichkeit,  und  bei  beiden  hatte 
deshalb  charakteristischerweise  Rousseau  einen  gleich  großen  Er- 
folg.    Aber  dem  Rationalismus  galt,  wie  früher  geschildert,  das 


Individualismus.  591 

Natürliche  für  identisch  mit  dem  Vernünftigen  und  dem  sorgfältig 
Überlegten ;  er  hoffte  nach  allen  Richtungen  hin,  durch  Feststellung 
verständiger  Prinzipien  natürliche  Zustände  herbeizuführen.  Ganz 
anders  jene  Männer  von  Sturm  und  Drang:  sie  suchten  das  Natür- 
liche in  dem  ursprünglichen  Triebe  des  Individuums,  und  in 
der  genialen  Entfaltung  seiner  geheimnisvollen  Kräfte  und  dem 
»tintenklecksenden  Säkulum«  hielten  sie  die  große,  freie  Seele  ent- 
gegen, die  durch  einzwängende  Formen  hindurch  sich  Raum  schafft 
für  den  Flügelschlag  ihrer  Begeisterung.  Daher  jene  Beschäftigung 
mit  dem  lieben  Ich,  jene  sentimentale  Selbstbespiegelung,  von  der 
sich  zeigte,  wie  sie  der  empirischen  Psychologie  Vorschub  leistete. 
Daher  der  Erfolg  Laväters,  dessen  Physiognomik  über  den  ge- 
heimnisvollen Zusammenhang  der  psychischen  und  der  leiblichen 
Individualität  des  Menschen  Licht  verbreiten  zu  wollen  schien; 
daher  überhaupt  jene  Vorliebe  für  das  Geheimnisvolle  und  Wunder- 
bare, der  sich  trotz  allen  Sträubens,  wie  das  Freimaurertum  be- 
weist, sogar  die  nüchterne  Aufklärung  nicht  entziehen  konnte; 
daher  wieder  das  Walten  jenes  faustischen  Dranges,  der  aus  dem 
Inneren  der  Seele  eine  Welt  zu  begreifen,  zu  beherrschen,  zu  schaffen 
suchte. 

So  kam  in  der  ästhetischen  Literatur  selbst  die/7  dunkle  Tiefe 
der  Seele  zur  Geltung,  auf  welche  die  theoretische  Ästhetik  in 
Sulzer  aufmerksam  geworden  war,  und  es  entsprach  genau  dessen 
Gedankengängen,  daß  diese  Dichter  der  Genialität  überall  das  Ge- 
fühl und  sein  natürliches  Recht  auf  ihre  Fahne  schrieben. 
In  dieser  Gefühlsdichtung  großer  Persönlichkeiten  lag  das  glück- 
liche Gegengewicht  gegen  die  Philosophie  der  Mittelmäßigkeit.  Mit 
unklarer  Phantastik  strebte  sie  in  die  Tiefe  und  zog  dabei,  wenn  auch 
anfangs  in  verzerrten  Gestalten,  die  Schätze  ans  Tageslicht,  von 
denen  die  Aufklärung  nichts  wußte. 

Es  ist  begreiflich,  daß  dieser  Zug  auch  die  Philosophie  ergriff, 
und  daß  Männer  auftraten,  die,  von  ihm  beseelt,  die  Lebhaftig- 
keit und  Ursprünglichkeit  ihres  individuellen  Gefühls  den  Ober- 
flächlichkeiten der  Modephilosophie  entgegenwarfen.  Ein  merk- 
würdiges Geschick  hat  es  gewollt,  daß  der  charakteristische  Vertreter 
dieser  Richtung  in  der  unmittelbaren  Nähe  von  Kant  lebte:  es  ist 
der  »Magus  im  Norden«,  Johann  Georg  Hamann  (1730 — 1788). 
In  ihm  vereinigen  sich,  abgesehen  von  der  poetischen  Produktivität, 


592  Hamann. 

alle  Züge  dieser  Bewegung.  Ein  genialer  Mensch  von  urwüchsiger 
Sinnlichkeit  und  zerrissener,  selbsterworbener  Bildung,  durch  den 
Druck  äußerer  Verhältnisse  und  die  Unordentlichkeit  seines  eigenen 
Lebens  niedergehalten,  macht  er  den  Widerspruch  seines  inneren 
Lebens  zum  Angelpunkte  seines  Denkens.  Die  »Coincidentia 
oppositorum«  von  Giordano  Bruno  ist  sein  Lieblingsthema.  Er 
weist  überall  darauf  hin,  wie  tief  widerspruchsvoll  alle  Dinge  in 
der  Welt  und  im  Menschenleben  sind,  und  spricht  voller  Verachtung 
von  dem  leeren  Gerede  der  Philosophen,  welche  diese  Widersprüche 
entfernt  zu  haben  glauben,  wenn  sie  die  geheimnisvollen  Fäden 
des  Weltgewebes  auseinanderzulegen  versucht  haben.  Sie  ahnen 
nicht,  daß  sie  eben  damit  den  innersten  Kern  der  Dinge  zerstören. 
Alles,  was  existiert,  ist  individuell,  und  die  Individualität  ist  immer 
geheimnisvoll  und  niemals  begreiflich.  Damit  deckt  Hamann  in 
der  Tat  den  Mangel  des  Rationalismus  auf  und  weist  auf  den  un- 
verstandenen und  vergessenen  Sinn  der  Leibnizschen  Monadologie 
zurück.  Das  geheimnisvolle  Wesen  der  Individualität  spricht  sich 
aber  im  Menschen  nicht  durch  sein  Denken,  sondern  durch  sein  Ge- 
fühl aus,  und  deshalb  ist,  wie  Hamann  meint,  diese  Individualität 
auch  von  anderen  nur  durch  das  Gefühl  zu  erkennen.  Alle  wahre 
und  höchste  Erkenntnis  beruht  ihm  deshalb  im  Gefühl  —  im  Gefühl 
für  das  individuelle  Wesen  der  Dinge.  Diese  Erkenntnis  des  Gefühls 
aber  ist  kein  Wissen  der  Begriffe,  sondern  ein  Glauben  aus  innerstem 
Triebe.  Er  rühmt  es  an  Hume,  daß  er  den  »Glauben«  (belief), 
jenes  unmittelbare  natürliche  Vertrauen  des  Menschen  zu  den  un- 
beweisbaren, aber  auch  keines  Beweises  bedürftigen  Tatsachen, 
in  seine  Rechte  dem  Beweisen  gegenüber  eingesetzt  habe:  dabei 
waltet  freilich  zwischen  beiden  mehr  Gleichheit  des  Ausdrucks 
als  der  Ansicht  ob,  und  nur  in  sehr  eingeschränkter  Weise  läßt 
sich  deshalb  wohl  Hamanns  eigener  Standpunkt  als  Glaubens- 
philosophie bezeichnen.  Dieser  Gesichtspunkt  entscheidet  für 
ihn  vor  allem  im  religiösen  Denken.  Auch  die  höchste  Individualität, 
die  Gottheit,  und  gerade  sie,  weil  sie  die  geheimnisvollste  ist,  kann 
nicht  durch  Denken  und  Beweisen,  sondern  nur  durch  Fühlen  und 
Glauben  erkannt  werden.  Die  Philosophie  ist  ihr  gegenüber  ohn- 
mächtig. Aber  diese  Gefühlserkenntnis  läßt  sich  auch  nicht  in 
Dogmen  und  Lehrsätze  fassen;  sie  ist  Sache  des  individuellen  Er- 
lebens und  das  Geheimnis  einer  jeden  Seele.    Der  mystische  Indi- 


Jacobi.  593 

vidualismus  setzt  sich  ebenso  sehr  dem  Orthodoxismus  wie  dem 
Rationalismus  entgegen.  Selbst  gläubig  und  bibelgläubig  bis  zu 
schroffster  Konsequenz,  protestiert  Hamann  gegen  alles  Gleich- 
machen auch  im  religiösen  Leben.  Es  ist  klar,  daß  diesem  Gefühle 
gegenüber  die  Wissenschaft  aufhört.  Solche  Gefühlsphilosophie 
ist  bewußte  Unphilosophie.  Der  Haß  gegen  das  Beweisen  und  gegen 
die  begriffliche  Klarheit  geht  bei  Hamann  so  weit,  daß  er  selbst 
niemals  beweist,  sondern  immer  nur  behauptet,  und  daß  er  seine 
Gedanken  niemals  in  geordneter  Reihenfolge,  sondern  nur  mit 
orakelhafter  Dunkelheit  ausgesprochen  hat.  Unzählige  Anspielungen 
aus  einer  massenhaften  und  unmethodischen  Lektüre  und  auf  per- 
sönliche Verhältnisse  machen  seine  Schriften  schwer  genießbar, 
und  nur  hin  und  wieder  entschädigt  er  durch  geniale,  treffende  und 
packende  Gedanken  in  plastischem  Ausdruck.  Man  darf  auch  nicht 
sagen,  daß  seine  bilderreiche,  überschwengliche  Sprache  mit  dem 
Gedanken  ringt:  denn  er  will  gar  keinen  klaren  und  begrifflichen 
Ausdruck  dafür  gewinnen,  sondern  er  ist  überzeugt,  daß  das 
mystische  Wesen  der  Menschen  und  der  Dinge  in  dem  geheimnis- 
vollen Leben  der  Sprache  seinen  von  Gott  gegebenen  Ausdruck 
findet. 

In  Hamanns  Gefühlsphilosophie  spiegelt  sich  am  besten  die 
Überlebtheit  der  Aufklärungsphilosophie.  Sie  sucht  die 
Wurzeln  der  Überzeugung  nicht  mehr  im  wissenschaftlichen  Denken, 
sondern  im  persönlichen  Gefühl  und  proklamiert  damit  eine  Anarchie, 
wie  sie  in  den  Köpfen  der  Stürmer  und  Dränger  wirklich  herrschte. 
Darauf  beruhte  die  große  Wirkung,  welche  die  wunderlichen 
Schriften  dieses  Mannes  ausübten,  und  die  einer  späteren  Zeit  kaum 
verständliche  Bewunderung,  die  er  bei  der  jüngeren  Generation 
fand,  und  an  der  die  bedeutendsten  Geister  der  Zeit  teilnahmen, 
weil  sie  die  Berechtigung  dieser  Opposition  gegen  die  einseitige 
Verstandesaufklärung  mit  empfanden.  Am  nächsten  jedoch  unter 
allen  steht  ihm  Friedrich  Heinrich  Jacobi.  In  diesem  kehrte  Ifat 
sich  die  ganze  Leidenschaft  des  individuellen  Gefühls  gegen  die  f 
Klarheit  der  Kantischen  Philosophie,  und  erst  aus  diesem  Gegensatze 
wird  sich  die  verfeinerte  und  vertiefte  Form  begreifen  lassen,  die  er 
den  Hamannschen  Gedanken  gegeben  hat. 

Den  Sinn  für  den  Wert  der  Individualität,  den  Hamann  wie  die 
geniale  Richtung  der  Poesie  nur  in  der  Form  des  dunklen  Gefühls 

Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  I  38 


594  Herder. 

kannte,  besaß  die  deutsche  Aufklärung  noch  in  einer  anderen 
und  wertvolleren  Gestalt:  in  der  historischen  Gerechtigkeit,  die 
Lessing  ausübte.  Diese  beiden  Einflüsse  kreuzten  sich  in  dem 
umfassenden  Geiste  von  Johann  Gottfried  Herder.  Er  nimmt 
auch  in  philosophischer  Hinsicht  eine  Stellung  ein,  die  der  all- 
gemeinen Vielseitigkeit  seines  reichen  Wesens  entspricht.  Seine 
Philosophie  zeigt  dieselbe  eigentümliche  Mischung  wie  seine  gesamte 
literarische  Persönlichkeit  und  wie  auch  sein  Stil,  dasselbe  Schwanken 
zwischen  tief  poetischer,  schwungvoller  Empfindung  und  dem 
Bedürfnis  anmutig  klarer  und.  durchsichtiger  Darstellung.  Er  steht 
deshalb  der  Popularphilosophie  nicht  durchgängig  so  schroff  gegen- 
über wie  Hamann;  aber  sie  befriedigt  auch  ihn  nicht,  und  nament- 
lich an  ihrer  religiösen  Verständnislosigkeit  nimmt  er  berechtigten 
und  leidenschaftlichen  Anstoß.  Ja  es  hat  eine  Zeit  gegeben  — 
es  waren  die  unglücklichen  Jahre,  die  er  als  Hofprediger  zu  Bücke- 
burg, geistig  vereinsamt,  in  engen  Verhältnissen  zubrachte  — ,  wo 
Herder  im  Kampfe  gegen  den  flachen  und  öden  Rationalismus  und 
gegen  den  verstandeskühlen  Indifferentismus  bis  zu  dem  entgegen- 
gesetzten Extrem  eines  orthodoxen  Eifers  f ortschritt.  Damafs 
schrieb  er  sich,  namentlich  in  den  beiden  Bänden  »Über  die  älteste 
Urkunde  des  Menschengeschlechts«  (1774  und  1776)  und  in  den 
»Provinzialblättern  für  Prediger«  (1776),  auch  stilistisch  in  die 
Hamannsche  Leidenschaftlichkeit  und  Unklarheit  hinein,  und  so 
geriet  er  in  eine  geistige  Gefahr,  aus  der  ihn  Goethe  durch  die  Be- 
rufung nach  Weimar  erlöste.  Der  berechtigte  Kern  aber  bei  dieser 
Verirrung  lag  in  dem  Bedürfnis,  die  entscheidenden  Kriterien  nicht 
im  Verstände,  sondern  im  Gefühle  zu  suchen. 

Dabei  ist  im  allgemeinen  das  Wesen  des  Gefühls  bei  Herder 
von  demjenigen  Hamanns  ebenso  verschieden  wie  die  beiden 
Persönlichkeiten.  Hamann  hat  etwas  Unruhiges,  Sprunghaftes, 
ja  Verzerrtes  in  seinem  Wesen,  und  namentlich  seine  Religiosität 
ist  ein  fast  krampfhaftes  Anklammern  an  die  göttliche  Individualität 
und  ihre  geschriebene  Offenbarung.  Herders  ganze  Seele  ist  harmo- 
nischer gestaltet,  und  sein  Gefühl  ist  deshalb,  wo  es  sich  frei  zu 
entfalten  vermag,  vielmehr  dasjenige  eines  begeisterten  Ent- 
zückens, einer  seligen  Versenkung  in  das  göttliche  Wesen.  Während 
Hamanns  religiöser  Sinn  am  liebsten  den  Widersprüchen  der 
Menschenseele   nachging,    schwelgte   Herder   in   der   Betrachtung 


1 


Anlehnung  an  Leibniz.  595 

der  Natur,  ihrer  Schönheit  und  ihrer  Vollkommenheit,  um  in  ihr 
die,  harmonische  Seele  'zu  ahnen,  die  er  die  Gottheit  nannte.  Aber 
er  faßt  diesen  Gedanken  nicht  mit  jenem  kleinlichen  Philistertum 
wie  Wolf f  und  die  Aufklärer,  sondern  aus  dem  Großen  und  Ganzen 
wie  Leibniz  und  Lessing.  Dasselbe  Gefühl  führt  ihn  zu  Spinoza. 
Die  Auffassung  des  Universums,  welche  diesem  Gefühl  allein  sym- 
pathisch ist,  fühlt  allüberall  den  Hauch  der  göttlichen  Seele,  worin 
alle  Dinge  leben,  weben  und  sind.  Diesem  spinozistischen  Zuge 
der  Leibnizschen  Monadologie,  dem  auch  Lessing  nicht  wider- 
standen hatte,  folgte  Herder  in  den  unter  dem  Titel  »Gott«  1787 
erschienenen  Gesprächen,  die  eine  ähnliche  Poetisierung  des  Spino- 
zismus  enthalten,  wie  wir  sie  bei  Goethe,  namentlich  bei  dem  jungen 
Goethe  finden. 

Allein  die  wesentlichen  Züge  von  Herders  Weltanschauung  stellen 
ihn  doch  Leibniz  sehr  viel  näher.  Es  ist  für  ihn  von  untergeordneter 
Bedeutung,  daß  er  die  prästabilierte  Harmonie  aufgibt  und  an 
ihre  Stelle  wieder,  wie  Wolff,  den  Einfluß  der  Dinge  aufeinander 
setzt.  Viel  lieber  verweilt  er  in  einer  poetischen  und  empfindungs- 
warmen  Ausmalung  der  Theodicee  und  in  der  Betonung  des  selb- 
ständigen Wertes,  der  in  dem  vollkommenen  Zusammenhange  des 
Ganzen  jeder  einzelnen  Individualität  von  vornherein  innewohne 
und  in  ihrer  Entwicklung  zum  Ausdruck  komme.  So  ist  er  neben 
Lessing  der  echteste  Leibnizianer  der  gesamten  deutschen  Aufklärung 
und  hält  von  großen  Gesichtspunkten  aus  an  den  Gedanken  fest, 
die  schließlich  auch  die  Popularphilosophie  dem  großen  Meister 
verdankte.  Sein  Gegensatz  gegen  diese  Popularphilosophie  besteht 
wesentlich  in  der  Bestreitung  ihres  unhistorischen  Treibens.  Wenn 
man  von  ihm  gesagt  hat,  er  habe  alle  Aufgaben  Lessings  zu  den 
seinigen  gemacht,  so  gilt  dies  vor  allem  für  die  Stellung  beider 
Männer  in  der  Geschichte  der  Philosophie.  Den  Gedanken  der 
Entwicklung,  den  Lessing  nur  auf  die  Geschichte  der  Eeligionen 
angewendet  hatte,  dehnte  er  auf  die  gesamte  menschliche  Kultur 
aus,  und  seine  »Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte  der  Mensch- 
heit« (1784 ff.)  enthalten  die  erste  umfassende  Darstellung  der 
Geschichtsphilosophie. 

Auch  in  ihr  ist  er  der  echte  Schüler  von  Leibniz.  Der  Begriff, 
den  er  ihr  zugrunde  legte,  war  derjenige  der  natürlichen  Ent- 
wicklung.    Er  ging  von  der  Überzeugung  aus,  daß  die  mensch- 

38* 


596  Herder. 

liehe  Kultur,  wie  sie  sich  in  der  Geschichte  entwickelt,  das  höchste 
Produkt  der  natürlichen  Notwendigkeit  sei.  Das  war  zugleich  ein 
Schritt  über  Lessing  hinaus.  Zwar  blieb  er  in  jenen  Schriften  der 
Übergangszeit  hinsichtlich  der  Religionsgeschichte  bei  dem  Lessing- 
sehen  Gedanken  einer  göttlichen  Erziehung  der  Menschheit  stehen : 
allein  in  seiner  reifen  Geschichtsphilosophie  wollte  er  für  die  ge- 
samte Kultur  nur  jenes  Prinzip  der  natürlichen  Entwicklung  gelten 
lassen.  Im  allgemeinen  suchte  er  deshalb  darzutun,  daß  der  Mensch 
vermöge  seiner  natürlichen  Organisation  und  vor  allem  durch 
seinen  aufrechten  Gang  zur  Vernunft  und  zur  Kulturtätigkeit 
bestimmt  und  befähigt  sei,  und  forschte  nach  den  natürlichen 
Vermittlungen  aller  Vernunftentwicklung.  So  wendete  er  sich 
auch  gegen  Süßmilchs,  von  seinem  Freunde  Hamann  adoptierte- 
Hypothese  von  dem  göttlichen  Ursprünge  der  Sprache  und  schuf 
trotz  der  Mangelhaftigkeit  des  sprachwissenschaftlichen  Materials 
die  Grundlagen  der  Sprachphilosophie,  indem  er  den  Ursprung 
der  Sprache  in  der  Organisation  der  menschlichen  Stimme  und  in 
den  Bedürfnissen  der  menschlichen  Vernunftmitteilung  suchte. 
Auch  sie  führte  er  in  letzter  Instanz  auf  das  »Gefühl«  zurück,  worin 
er  mit  kongenialem  Anschluß  an  Leibniz'  »Nouveaux  essais«  die 
tiefste  Wurzel  aller  geistigen  Lebens tätigkeit  des  Menschen  suchte. 
In  seiner  Preisschrift  »vom  Erkennen  und  Empfinden  der  mensch- 
lichen Seele  «  erklärte  er  sich  schon  früh  gegen  die  strenge  Scheidung 
sinnlicher  und  verstandesmäßiger  Erkenntnis  und  faßte  deren  Ver- 
hältnis mehr  unter  dem  Gesichtspunkte  einer  einheitlichen,  kon- 
tinuierlichen Entwicklung  von  den  natürlichen  Grundlagen  zur 
geistigen  Vervollkommnung  auf. 

In  der  allgemeinen  Geschichtsauffassung  aber  verwarf  er  mit 
allem  Nachdruck  jene  äußerliche  Ansicht,  welche  in  den  Bewegungen 
des  Menschenlebens  nur  die  Willkür  der  Individuen  und  den  Zu- 
fall der  Begebenheiten  anerkannte.  Er  wurde  nicht  müde,  darauf 
hinzuweisen  und  aus  der  Geschichte  selbst  darzutun,  daß  die  Ge- 
schicke der  Völker  ebenso  wie  ihre  Gebräuche,  Sitten,  Anschauungen 
und  Charaktere  in  den  natürlichen  Lebensbedingungen  jedes 
einzelnen  begründet  sind,  und  so  machte  er  zuerst  den  großen 
Versuch,  die  Geschichte  der  Menschheit  aus  der  Natur  zu  entwickeln 
und  die  Menschenwelt  als  die  Vollendung  des  Naturlebens  zu  be- 
greifen.   Denn  als  das  Ziel  alier  Geschichte  gilt  ihm  die  Entwicklung 


1 


Geschichtsphilosophie.  597 

lind  die  volle  harmonische  Ausgestaltung  des  wahren  Wesens  des 
Menschen.  Das  Ideal  der  Humanität  ist  nie  reiner  und  edler 
erfaßt  worden,  als  von  Herder.  Ihm  galt  der  Mensch  als  die  Krone 
der  Schöpfung.  Er  wollte  zeigen,  wie  aus  der  Hand  der  Natur 
dies  letzte  Produkt  hervorgehe,  in  welchem  die  Anlagen  zur  höchsten 
Vollkommenheit  gegeben  sind  und  nur  ihrer  Entfaltung  durch  die 
Arbeit  der  Geschichte  harren. 

Seine  »Ideen«  bilden  den  ersten  Versuch,  den  weltgeschicht- 
lichen Zusammenhang  der  Begebenheiten  vom  Standpunkte  der 
modernen  Wissenschaft  aus  philosophisch  zu  begreifen.  Vor  ihm 
hatte  Bossuet,  der  berühmte  französische  Kanzelredner,  die 
Geschichtsphilosophie  der  christlichen  Patristik  in  dem  Sinne  fort- 
geführt, daß  er  in  der  Christianisierung  der  romanischen  und 
germanischen  Völker  den  letzten  entscheidenden  Fortschritt  der 
Weltgeschichte  darstellte.  In  ganz  anderer  Weise  hatte  Vico, 
ein  einsamer  italienischer  Gelehrter,  durch  seine  »Prinzipj  d'una 
scienza  nuova  d'intorno  alla  commune  natura  delle  nazioni«  (1725 
und  wesentlich  verändert  und  erweitert  1730)  Gesetze  aufzufinden 
gesucht,  wonach  jedes  Volk  einen  typischen  Verlauf  seiner  histo- 
rischen Entwicklung,  der  in  dem  ewigen  Wesen  des  Geistes  be- 
gründet  sei,  durchzumachen  hätte*).     Endlich  hatte  der  Basler 


*)  Die  geschichtsphilosophische  Stellung  V  i  c  o  s  beruht,  wie  in  aller- 
neuester  Zeit  sein  Landsmann  Benedetto  Croce  (La  filosofia  di  Giam- 
battista  Vico,  Bari  1911)  auf  höchst  bemerkenswerte  Weise  dargelegt  hat, 
auf  der  allgemeinen,  seiner  Zeit  weit  vorausgreifenden  Denkart  des  interessan- 
ten Mannes,  der  unter  kümmerlichen  Lebensverhältnissen  seine  eigenen  Wege 
in  der  Wissenschaft  zu  gehen  suchte.  Vico  gehört  danach  zu  den  ersten, 
die  sich  dem  herrschenden  Rationalismus  mit  vollem  Bewußtsein  entgegen - 
warfen,  und  er  vertrat  diese  Opposition  nicht  nur  mit  den  Motiven  orthodoxer 
und  zum  Teil  mystischer  Frömmigkeit,  sondern  auch  unter  durchaus  wissen- 
schaftlichen Gesichtspunkten.  Er  bestreitet  den  Cartesianismus  aus  dem 
schon  der  Scholastik  nicht  fremden  Prinzip,  daß  man  nur  erkennen  könne, 
was  man  schafft.  Daher  ist  die  Welt,  ist  die  Natur  mit  ihrer  Gesetzmäßigkeit 
völlig  erkennbar  nur  für  ihren  Schöpfer,  und  was  der  Mensch  davon  weiß,  ist 
nur  ein  unsicheres  und  lückenhaftes  Mitwissen  (coscienza),  ein  Anteilhaben 
an  der  göttlichen  Weisheit.  Ein  wirkliches  Wissen  hat  der  Mensch  nur  da, 
wo  er  selber  den  Gegenstand  schafft:  das  ist  einerseits  die  Mathematik,  aber 
was  der  Mensch  darin  schafft,  das  sind  nur  Abstraktionen  und  Fiktionen,  mit 
denen  man  nicht  hoffen  soll,  das  lebendige  Wesen  der  Natur  zu  begreifen,  und 
anderseits  ist  es  die  menschliche   Geschichte,    die   der   Mensch 


598  Herder. 


Isaak  Iselin  seine  »Philosophischen  Mutmaßungen  über  die  Ge- 
schichte der  Menschheit«  (1764)  auf  den  Eousseauschen  Stand- 
punkt der  Lebensentfaltung  des  Individuums  im  geschichtlichen 
Prozesse  zugeschnitten.  Herder  dagegen  gab  eine  Darstellung 
im  großen   Stile,    die,    wenn    auch    im    einzelnen    noch    so   kon- 


nacherleben kann,   weil  er  sie  selber  macht.    Daher  sieht 
Vico  den  großen  Mangel  der   rationalistischen   Philosophie   darin,    daß  sie 
kein  Verhältnis  zur  Geschichte,  zur  Sprache,  zur  Dichtung  gewinnen  kann, 
und  er  selbst  will   zeigen,   daß   ein  Erfahrungswissen,   wie  es  Campanella 
und  Bacon  verlangt  haben,  weit  sicherer  und  exakter  in  der  Philologie  als 
in  der  Naturforschung  zu   erreichen  ist.     Dieser  Grundgedanke  nimmt  nun 
aber  bei  seiner  Ausführung,  zu  der  die  »Scienza  nuova «  berufen  ist,  sehr  ver- 
schiedene, durcheinander  schillernde  Gestalten  an.     Wenn  der  Mensch  aus 
seinem  geistigen  Wesen  heraus,  das  überall  und  immer  dasselbe  ist,  seine  Ge- 
schichte macht,  so  müssen  die  Grundzüge  der  geschichtlichen  Entwicklung 
bei  allen  Nationen  dieselben  sein.     Sie  sind  demnach  einerseits  aus  der  all- 
gemeinen Natur  des  menschlichen  Geistes  abzuleiten,  und  in  diesem  Sinne 
kann  man  das,  was  Vico  im  Auge  hat,  als  eine  Philosophie  des  Geistes  be- 
zeichnen.   Anderseits  sollen  diese  Grundzüge  aus  der  Analyse  der  wirklich 
überlieferten   historischen  Bewegungen  herausgearbeitet  werden,  und  zwar 
dadurch,  daß  auf  dem  Wege  der  Analogie  und  der  Induktion  in  dem  ganzen 
empirischen  Material   Gesetze  aufgefunden  werden,  die  sich  gleichmäßig  in 
der  Entwicklung  der  verschiedenen  Nationen,  in  den  »corsi  e  recorsi«  als  die 
Aufeinanderfolge  ihrer  öffentlichen  Zustände  geltend  machen :  diese  Seite  der 
Betrachtung   erscheint   bei   Vico  als   eine  Vorwegnahme  der  Prinzipien  der 
Soziologie,  und  charakteristisch  ist  dabei  namentlich  seine  Lehre,  daß  jede 
Gesellschaft  nach  der  Überschreitung  des  Höhepunktes  ihrer  Entwicklung  in 
ihrer  Decadence  zu  einem  dem  Anfangsstadium  ähnlichen,  aber  viel  schlimme- 
ren Zustande  der  Barbarei  zurückkehrt.    So  neu  und  eigenartig  diese  Auffas- 
sungsweisen bei  Vico  hervortreten,  so  wenig  hat  er  doch  zwischen  ihnen  eine 
begriffliche  Klärung  und  Scheidung  zu  finden  gewußt,  und  auf  dieser  Unklar- 
heit und  Unentwickeltheit  beruht  mehr  als  auf  äußeren  Umständen  die  Iso- 
liertheit und  Wirkungslosigkeit  seines  Werkes.   Interessant  ist  daran  auch  die 
der  Aufklärung  gegenüber  fast  romantische  Vorliebe  für  die  Analyse  der  primi- 
tiven Zustände,   für  die  »heroischen«   Zeitalter,  für  Dichtung  und  Mythos, 
deren  Eigenarten  er  das  lebhafteste  Verständnis  entgegenbringt.     Allein  die 
Grenze  seiner  historischen  Auffassung  besteht  nun  gerade  darin,  daß  er  an- 
gesichts der  sich  wiederholenden  Regelmäßigkeit  in  der  Geschichte  der  Natio- 
nen von  einer  Gesamtentwicklung  und  einem  Fortschritt  der  Menschheit  nichts 
weiß.    Charakteristisch  dafür  ist  namentlich  auch  seine  Trennung  der  jüdischen 
als  der  »heiligen  «  Geschichte  von  der  »profanen  «  Geschichte  der  übrigen  Völker, 
für  die  ihm  namentlich  die  römische  als  typisch  gilt:  sie  ist  ihm  ja,  wie  den 
großen  Humanisten  Italiens,   gewissermaßen  die  eigene  Nationalgeschichte. 


Weltliteratur.  599 

struktiv  und  angreifbar,  den  Grundgedanken  verfolgte,  eine  Ge- 
samtgeschichte der  Menschheit  zu  verstehen,  in  welche  die  ein- 
zelnen Nationen  aus  ihrer  Besonderung  zu  Gliedern  einer  großen 
Entwicklungskette  emporgehoben  wurden:  diese  sollte  von  den 
ersten,  in  natürlichen  Anfängen  der  Menschheit  begründeten  Zu- 
ständen einheitlich  zu  der  Vervollkommnung  einer  gemeinsamen 
Zivilisation  aufsteigen,  in  der  das  Wesen  der  »Humanität«  immer 
vollständiger  zur  Entfaltung  gelange.  Sowenig  scharf  und  klar 
Herder  dabei  die  begrifflichen  Grundlagen  seiner  Auffassung  aus- 
zuführen und  zu  begründen  verstand,  sowenig  er  namentlich  das 
Verhältnis  der  natürlichen  Kausalität  zu  den  ethischen  Zweck- 
beurteilungen philosophisch  darzulegen  wußte,  so  wirkungsvoll  war 
doch,  zumal  in  seiner  anmutigen  und  lebendigen  Darstellung,  sein 
von  Leibnizischen  Gedanken  getragener  Plan,  einen  einheitlichen 
Gesamtsinn  der  menschlichen  Geschichte  aufzusuchen,  der  als 
direkte  Fortsetzung  der  natürlichen  Entwicklung  begriffen  werden 
sollte. 

Die  Durchführung  solcher  Prinzipien  war  nur  einem  Manne 
möglich,  der  wie  Herder  sich  mit  feinstem  Sinne  in  die  Eigentüm- 
lichkeit der  historischen  Erscheinungen  hineinzuleben  wußte,  der 
jedes  Gebilde,  das  seiner  Forschung  begegnete,  an  die  rechte  Stelle 
in  den  Gang  des  ganzen  Menschheitslebens  einzuordnen  vermochte, 
und  dem  es  gegeben  war,  die  natürlichen  Bedingungen  jedes  Ein- 
zelnen als  seinen  inneren  Grund  und  seine  Berechtigung  zu  erkennen. 
Hierin  bestand  seine  poetische  Größe.  Herder  besaß  eine  Genia- 
lität des  Mitempfindens,  wie  sie  niemals  wieder  dagewesen 
ist.  Er  entdeckte  den  Geist  der  hebräischen  Poesie  und  setzte  die 
von  den  Rationalisten  zerrissene  Bibel  in  ihr  poetisches  Recht  ein. 
Er  verstand  die  »Stimmen  der  Völker«  und  besaß  eine  wunderbare 
Fähigkeit,  sie  dem  Genius  der  deutschen  Sprache  zu  assimilieren. 
Er  ist  einer  der  Schöpfer  dessen,  was  Goethe  die  Weltliteratur 
der  Deutschen  genannt  hat,  der  Anreger  jener  großartigen  Tätig- 
keit, mit  der  in  jenen  Jahrzehnten  die  deutsche  Literatur  sich  die 
♦Schätze  der  gesamten  menschlichen  Kultur  aneignete.  So  ist  es 
ihm  vor  allem  zu  danken,  daß  die  deutsche  Bildung  jener  Zeit  eine 
Weltbildung  im  edelsten  Sinne  des  Wortes  wurde,  und  daß  der 
verschwommene  Kosmopolitismus  der  Deutschen  die  große  Gestalt 
der  echten  Humanität  annahm. 


600  Goethe  und  Kant. 

Auch  diese  Wirkung  Herders  ist  nicht  nur  eine  literarische, 
sondern  ebenso  eine  philosophische.  Denn  die  Gedanken,  die 
auf  diese  Weise  in  den  deutschen  Geist  einströmten,  bildeten  jenen 
Reichtum  heran,  mit  welchem  die  folgende  Philosophie  arbeiten 
konnte.  Auf  dieser  Weltliteratur  beruht  die  weltumfassende  Spann- 
kraft der  deutschen  Philosophie.  In  der  Aneignung  dieser  Ideen 
erstarkte  der  deutsche  Geist  zu  seiner  Selbständigkeit.  Seine  Popular- 
philosophie  verkümmerte  in  sich  selbst,  sein  kraftgeniales  Ge- 
fühl überschlug  sich  in  zielloser  Verworrenheit,  und  erst  in  der 
Verarbeitung  des  Ideenstoffes  der  Geschichte  fand  er  sein  wahres 
Wesen.  In  diesen  Gegensätzen  ringend,  mit  immer  reicherem 
Gedankengehalte  sich  erfüllend,  zeigt  die  deutsche  Bildung  der 
siebziger  und  achtziger  Jahre  des  XVIII.  Jahrhunderts  das  Bild 
einer  mächtigen  Gärung,  und  ein  gleiches  Auf-  und  Abwogen  der 
Kräfte,  ein  gleiches  Chaos  der  Ideen  ist  die  Philosophie  dieser 
Zeit. 

Die  Gärung  der  allgemeinen  deutschen  Bildung  klärte  sich  ab 
in  dem  größten  modernen  Dichter  —  in  Goethe:  die  Gärung  der 
deutschen  Philosophie  klärte  sich  ab  in  dem  größten  modernen 
Philosophen  —  in  Kant. 


Register. 


Abbt  588. 
Achillinus  17. 
Agricola  15. 

Agrippa  v.  Nettesheim  52. 
D'Alembert  421  ff. 
Alexandristen  16  ff. 
Althus  100. 
Aristoteliker  15  ff. 
Arnauld  195. 
Arnold  538. 
Averroisten  16  ff. 

Bacon  130  ff. 
Barbaro  17. 
Basedow  583. 
Batteux  414. 
Baumgarten,  Alex.  531  ff. 
Baiimgarten,  Sigm.  538. 
Bayle  375  ff. 
Beattie  364. 
Becker,  Balth.  195 
Bekker,  I.  I.  466. 
Bellarmin  88. 
Berkeley  318  ff. 
Bessarion  14. 
Biester  588. 
Bilfinger  531. 
Bodin  37. 
Bodmer  537. 
Boehme  111  ff. 
Bolingbroke  298. 
Bonnet  411  ff. 
Bossuet  373.  597. 
Bouille  (Bovillus)  49. 
Boyle  302  f. 
Briefwechsel  v.  Wes.  der 

Seele  453  f. 
Bromley  125. 
Brown  311, 
Brucker  557  f. 
Bruno  69  ff. 
Budde  557. 
Buffon  394  f. 
Burke  358  f. 
Butler  281. 

Cabanis  413. 
1   Caesalpinus  18. 
Calvin  164. 

Cambridger  Schule  160  f. 
Campanella  80  ff. 
Campe  573. 
Cardanus  49  ff. 


Cartesius  s.  Descartes. 
Charron  23. 
Chauvain  450. 
Chesterfield  282. 
Chubb  297. 
Clarke  283.  302. 
Clauberg  195.  450. 
Collier  329. 
Collins  295. 
Condillac  408  ff. 
Contarini  18. 
Cordemoy  195. 
Cremonini  18. 
v.  Creuz  569. 
Crousaz  555. 
Crusius  560  ff. 
Cudworth  161. 
Cumberland  275. 
Cusanus    siehe    Nicolaus 
von  Cusa. 

Dalgarn  466. 
Darjes  556. 
Darwin,  Er.  317. 
Daubenton  421. 
Descartes  166  ff. 
Diderot  422  ff. 
Dippel  538. 
Dubos  414. 
Duclos  421. 

Eberhard  588. 
Eckhart  27  ff. 
Edelmann  538. 
Engel  588. 

Faber  s.  Lefevre. 
Fardella  249. 
Feder  588. 
Fenelon  416. 
Ferguson  364. 
Ficinus  14. 
Fludd  55. 
Fontenelle  383. 
de  la  Forge  195. 
Foucher  373. 
Franck  106  ff. 
Francke  538. 

Gale,  Theoph.  und  Thom. 

161. 
Galiani  428. 
Galilei  88  ff. 


Garve  589. 
Gassendi  21  f. 
Gay  312. 
Gaza  15. 
Gedicke  588. 
Geert  de  Groot  32. 
Geliert  589. 
Gentilis  38. 
Gerard  358. 
Geulincx  196  ff. 
Gibieuf  240. 
Gichtel  125. 
Glanville  331. 
Goclenius  20. 
Gottsched  533. 
Grimm  421.  428. 
Grotius  38  ff. 
Gundling  558. 

Hamann  590  ff. 

Hansch  558. 

Hartley  312  ff. 

v.  Helmont,  Joh.  B.  und 

Fr.  M.  54. 
Helvetius  414  f. 
Hemming  100. 
Henning  573. 
Hentsch  570. 
Herbert  288 
Herder  594  ff. 
Hirnhaym  449. 
Hissmann  573. 
Hobbes  148  ff. 
Holbach  421.  428  ff. 
Home  358. 
Huet  374. 
Hume  320  ff. 
Hutcheson  280. 
Hütten  44. 

Irwing  572. 
Iselin  598. 

Jacobi  593. 
Jansenisten  195. 
Jaucourt  421 
Jerusalem  540. 
Jungius  449. 

Kepler  91. 
Kircher  466. 
Krüger  570. 


602  o*aA$0 

Labruyere  414. 
Lagrange  428. 
Lamarck  395  f. 
Lambert  565  ff. 
Lamettrie  400  ff. 
Larochefoucauld  414. 
Latitudinarier  290. 
Lavater  591. 
Leclerc  385. 
Lefevre  15. 
Leibniz  454  ff. 
Lessing  544  ff. 
Lichtenberg  589. 
Lips  20. 
Locke  253  ff. 
Lossius  570. 

Mably  420. 
Macchiavelli  35. 
Magnenus  21. 
Malebranche  240  ff. 
Mandeville  285  ff. 
Marcus  Marci  449. 
Mariana  88. 
Marmontel  421. 
Martin  241. 
Massillon416. 
Maupertuis  383. 
Meier,  G.  F.  537. 

Meiners  572.  588. 

Melanchthon  97  ff. 

Mendelssohn  575.585  ff. 

Montaigne  22  ff. 

Montesquieu  417  ff. 

More  161. 

Morelly  420. 

Morgan  297. 

Moritz  573. 

Monis  36  f. 

Naigeon  428. 
Newton  303  ff. 
Nicolai  587  f. 
Nicolaus  v.  Cusa  46  ff. 
Nicole  195. 
Niphus  17. 
Nizolius  44. 
Norris  329. 

Oldendorp  100. 
Osiander  104. 
Oswald  364. 


Register. 

Paley  282.  . 
Paracelsus  53  ff. 
Parker  161. 
Pascal  369  ff. 
Fatrizzi  65  ff. 
Piccolomini  17. 
Pico  Joh.  u.  Fr.  43. 
Platner  589. 
Platoniker  12  ff. 
Plethon  13. 
Ploucquet  558. 
Poiret  371  f. 
Pomponazzi  17. 
Pordage  125. 
Porta  18. 
Prevost  584. 
Price  315. 
Priestley  314  ff. 
Pufendorf  450  f. 

Quesnay  420. 

Ilamus  19  f. 
Reid  359  ff. 
Reimarus  541ff. 
Reuchlin  43. 
Robinet  396  ff. 
Rousseau  421.  435  ff. 
Rüdiger  558  ff. 
Rysbroek  32. 

Sack  540. 
Sanchez  23  f. 
Scaliger  18. 
Scheffler  448. 
Schmidt,  Lor.  452.  538. 
Schönfeld  572. 
Schoppe  20. 
Schwenkfeld  104  f. 
Semler  540. 
Sennert  21. 

Shaftesburv  275  ff.  295. 
Smith  356  f. 
Socinianer  103. 
Sorbiere  373. 
Spalding  540. 
Spener  538. 
Spinoza  200  ff. 
Stanley  557. 
Steinbart  540. 
Stewart  364. 


Stosch  452. 

Sturm,  Joh.  20. 

Sturm,  Joh.  Christ.  450. 

Suarez  3. 

Sulzer  575  ff. 

Suso  31. 

Tauler  31. 
Taurellus  101  ff. 
Telesius  68  ff. 
Teller  540. 
Tetens  577  ff. 
Thomäus  17. 
Thomas  a  Kempis  32. 
Thomasius  510  ff. 
Thümming  530. 
Tiedemann  570. 
Tindal  296  f. 
Töllner  540. 
Toland  290  ff. 
Tschirnhaus  507. 
Turgot  420  f. 

Utilismus  282  ff. 

Valla  19. 
Vanini  80. 
le  Vayer  373. 
Vernias  17. 
Vico  597  f. 
Villaume  573. 
Vives  45. 
Voltaire  384  ff.  421. 

Weisel,  Erh.  450. 
Weigel,  Val.  109  ff. 
Weiss  575. 
Wezel  573. 
Whiston  295. 
Wieland  589. 
Winkler  100. 
Wolff,  Chr.  514  ff. 
Wolff,  Pancr.  452. 
Wollaston  284  f. 
Woolston  295. 

Zabarella  18. 
Zimara  17. 
Zimmermann  589 
Zorzi  33. 
Zwingli  43. 


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Windelband  V  -  Die  Geschichte  der 
neuren  philosophie. 


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