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Full text of "Die Glocke 5.1919-20, Hefte 40-52"

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Jahrg. . 2. Band Jß 40 3. Januar 1920 



HeiaiisgegebenvDii 

Parvus 

S': ’**• -57c» 

«J A,\. •** /^' h};t\ 


SO Pfennig (. 


Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68 


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DIE GLOCKE 

Sozialistische Wochenschrift 
Herausgeber: Farvus 

Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post 
" oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Mk. 6,—. 
Einzelhefte 50 Pf., Porto 5 Pf. 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT | 

Berlin SW 68, Lindenstr. 114. Postscheckkonto: 27576 Berlin 


INHALT DIESER NUMMER: 

Dr.Roderichv.Ungern-Sternberg: Ist ein deutsch¬ 
russisches Abkommen wünschenswert? . . . 1245 

Dr. E. Jenny: Arbeiterkapitäne . ,.1249 

Friedr. Th. Körner: Der Kampf um Oberschlesien 1254 
Eduard Wenzel: Der sozialistische Zukunfts¬ 


staat — in Deutschland eine Tatsache von 

morgen I.1258 

Albert Bencke (München): Gedanken über die 
Zukunft der deutschen Arbeit und des deut¬ 
schen Arbeiters.1268 

Bücherschau. 1272 

Glossen.1276 


Nummer 39 der „Glocke“ hatte folgenden Inhalt: 

Parvus: Zur Aufklärung .1213 

Dr. J. P. Buß: Die Aufgabe der Intellektuellen 1220 
Aumann: Wirtschaftliche Mobilmachung . . . 1223 

Studienrat Rommel: Vom höheren Schulwesen 1228 
Rektor H. Brenne: Schule und Wirtschaftsleben 1238 
Glossen.1244 













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40* Heft 3. Januar 1920 5. Jahrg. 

1^1—I —I M ■ ■ I . ■■■ ■ 

Ssdidruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet 


?. RODERICH VON UNOERN-STERNBERG: _ 

Ist ein deutsch-russisches Abkommen 
wünschenswert? 


|V„J? 


IIB Kopenhagener Verhandlungen des Vertreters der russi- 
sehen Räteregierung mit dem englischen Bevollmächtigten 
Hstnd einstweilen ins Stocken geraten . 1 Es wäre aber grund¬ 
falsch, anzunehmen, daß hiermit der Verhandlungsweg ver¬ 
bissen ist. Im Gegenteil, alle Anzeichen deuten darauf hin, 
.«aß der Faden weitergesponnen werden wird, denn der 
iptsschlaggebende Faktor, England, hat das größte Inter- 
äe, mit Räterußland formell Frieden zu schließen, um 
nn den russischen Bolschewismus in seinen eigenem Lande 
bekämpfen. Tatsächlich ist zurzeit kein anderes Land 
£)t der Beseitigung der bolschewistischen Kraftzentrale in 
ploskau mehr interessiert als England, denn nirgends hat 
iUe bolschewistische Propaganda in letzter Zeit so bedeu- 
nde Erfolge zu verzeichnen, wie in Persien r Afghanistan 
d Indien. Dabei hat der Bolschewismus in diesen Ländern 




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- 1 Der russische Vertreter war Litwinow, der frühere Sowjet¬ 
sandte in London; der Vertreter Englands war James O’Grady, 
r Vorsitzende des Britischen Gewerkschaftsbundes, der wegen 
iner patriotischen Haltung während des Krieges zum Kapitän 
nannt worden war. — Wo in den folgenden Zeilen der Ausdruck 
England“ gebraucht wird, muß darunter das englische Kapital 
irstanden werden, denn die britische Arbeiterklasse hat auf ihren 
Kongressen entschieden «gegen das englische Eingreifen in Rußland 
tellung genommen. Die Bewegung „Hands off Russia“ ist in 
iren Reinen sehr stark. Nur der schwächlichen Haltung, des 
Parlamentarischen Komitees des Trades Union Kongresses ist es 
schuldet, daß es noch zu keiner entscheidenden Aktion ge- 
mmen ist Die Redaktion. 

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1246 Ist ein deutsch-russisches Abkommen wünschenswert? 


eine ausgesprochen antienglische Färbung und seine Aus¬ 
breitung bildet eine unverkennbare ernste Gefahr für die 
angelsächsische Herrschaft in Asien. Es ist daher ohne 
weiteres verständlich, warum gerade* England daran gelegen 
sein muß, den Einfluß der moskauischen Räteregierung zu 
lähmen, und da nun mal durch militärische Machtmittel 
nichts zu erreichen gewesen ist, so will man versuchen, 
durch eine innerpolitische Intrige, etwa in der Weise, wie 
man im März 1917 Nikolai II. gestürzt hat, die Leninsche 
Herrschaft zu Fall zu bringen. 

Dieser eigentliche Beweggrund der neuesten englischen 
Rußlandpolifik dürfte den Kommunisten wohl nicht ver¬ 
borgen sein, sie haben aber damit zu rechnen, daß die 
Masse des russischen Volkes kriegsmüde ist, und die Mittel 
des Landes eine Verlängerung des Kriegszustandes' über 
diesen Winter hinaus nicht zulassen. Daher die Geneigtheit 
zu weitgehenden Zugeständnissen wie das Versprechen der 
Zinszahlungen für ausländische Anleihen, beziehungsweise, 
' falls die Mittel des Staates nicht ausreichen, die Verpfändung 
von Wäldern, Bergwerken usw. an die ausländischen Gläu¬ 
biger, oder die Einräumung einer gewissen Exterritorialität 
für das Kapital der Ententeländer in der russischen Industrie 
und anderes mehr. Die Folge dieser Zugeständnisse wird 
natürlich ein weitgehender Einfluß des angelsächsischen und 
französischen Kapitals im kommunistischen Räterußland sein, 
der voraussichtlich mit der Zeit so weit gehen wird, daß 
in der Industrie der Kommunismus- seine Errungenschaften 
gänzlich wird auf geben müssen. Das bedeutet aber eine 
Preisgabe der fundamentalsten Grundsätze des kommunisti¬ 
schen Programms. Jedoch rechtfertigen die Kommunisten 
dieses Vorgehen als eine taktische Notwendigkeit, das über 
die Zeit bis zur kommenden Weltrevolution hinweg¬ 
helfen soll. 

Wie dem auch sei, .für Deutschland wird das Abkommen 
der Entente mit Räterußland jedenfalls schon insofern von 
schwerwiegender Bedeutung sein, als wir, gemäß Artikel 117 
des Versailler Friedens, verpflichtet sind, „die volle Gültig¬ 
keit aller Verträge und Vereinbarungen anzuerkennen, die 
von den alliierten und assoziierten Mächten mit den Staaten 
abgeschlossen werden, die sich auf dem Gesamtgebiet des 
ehemaligen russischen Reiches gebildet haben“. Demnach 
müssen wir auch Bestimmungen anerkennen, die gegen uns 


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Ist ein deutsch-russisches Abkommen wünschenswert? 1247 


gerichtet sind, und wer wollte • bezweifeln, daß die Entente 
ihre Machtstellung Räterußland gegenüber ausnutzen wird, 
um deutschfeindliche Bestimmungen durchzusetzen? Ja, es 
ist sogar zu befürchten, daß, falls die Räteregierung sich 
gezwungen sehen sollte, den Wünschen der Entente in jeder 
Hinsicht nachzukommen, in Zukunft, beim Abschluß eines 
deutsch-russischen Friedensvertrags, der Artikel 116, Ab¬ 
satz 3, des Versailler Friedens, gegen uns ausgespielt wird, 
wonach Rußland ausdrücklich die Rechte Vorbehalten sind, 
von Deutschland die Wiederherstellung und Wieder¬ 
gutmachung zu erhalten, die den Grundsätzen des Ver¬ 
sailler Vertrages entsprechen. 

Es entsteht nun die Frage, ob wir bei dieser Sachlage 
nicht daran denken sollten, der Möglichkeit einer ausge¬ 
sprochen deutschfeindlichen Rußlandpolitik der Entente da¬ 
durch entgegenzutreten, daß wir mit der moskauischen Räte¬ 
regierung Verhandlungen anknüpfen über ein Abkommen, 
das die vitalsten wirtschaftlichen Interessen beider Länder 
gewährleisten würde. Ein dahingehender Versuch muß meines 
Erachtens gemacht werden, und zwar möglichst bald, wobei 
^ allerdings selbst der Anschein streng vermieden werden muß, 
als ob wir die Absicht hätten, der Entente in Räterußland 
zuvorzukommen, um ihre Interessen in irgendeiner Weise 
zu schädigen. Endzweck dieses Vorgehens soll ja nur die 
Wahrung der Gleichberechtigung auf wirtschaftlichem Gebiet 
sein. 

Bisher hat man bei uns mit Recht gegen jede Annäherung 
an • Räterußland schwerwiegende Bedenken erhoben. Wir 
hatten mit der russischen Vertretung in Berlin Ende 1918 
zu schlimme Erfahrungen gemacht, als daß wir uns erneut 
der Gefahr einer bolschewistischen Propaganda aussetzen 
dürften. Diese Stellungnahme war berechtigt, solange unsere 
innerpolitischen Zustände sich nicht einigermaßen gefestigt 
und die Massen ein gewisses seelisches Gleichgewicht nicht 
wiedererlangt hatten. Heutzutage kann man mit Recht be¬ 
haupten, die Gesundung der Massen sei so weit fortgeschritten, 
daß eine möglicherweise wieder einsetzende von Rußland 
ausgehende kommunistische Agitation ohne nennenswerte Wir¬ 
kung bleiben würde. Es besteht demnach in dieser Hinsicht 
kein ausreichender Grund, Verhandlungen mit Moskau von 
der Hand zu weisen. Außerdem würde die Oeffnung der 
russischen Grenzen unzähligen, ganz oder teilweise Arbeits- 

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1248 Ist ein deutsch-russisches Abkommen wünschenswert? 

losen die Möglichkeit bieten, in Rußland ausreichende Be¬ 
schäftigung zu finden und hierin liegt mit ein Hauptgrund, 
warum wir mit Räterußland uns verständigen müssen. 

Ferner wird gegen eine Annäherung an die russische Räte¬ 
regierung der Einwand erhoben — man wisse zurzeit noch 
immer nicht, woran man in Rußland sei, ob die Kommunisten- 
regierung Bestand haben werde, und man laufe doch Gefahr, 
es mit den antibolschewistischerf Elementen zu verderben. 
Gewiß hatten diese Erwägungen noch im Herbst dieses 
' Jahres eine Berechtigung. Seitdem aber haben sich die Ver¬ 
hältnisse doch insofern wesentlich geklärt, als heute von 
einem gewaltsamen Sturz der Kommunisten nicht mehr die 
Rede sein kann. Nachdem sich die Entente von der Gegen¬ 
revolution zurückgezogen hat und Verhandlungen mit der 
Räteregierung anbahnt, erscheint die außenpolitische Stellung 
der Kommunisten gefestigter als je zuvor. Innerpolitisch hat 
die Leninsche Regierung durch kluge Nachgiebigkeit den 
wohlhabenderen Bauern gegenüber, allerdings auch hier gegen 
ihr Programm verstoßen, aber damit größeren Bauernauf¬ 
ständen vorgebeugt und hierdurch die einzige wirkliche inner¬ 
politische Gefahr so gut wie beseitigt. Außerdem ist anzu¬ 
nehmen, daß über kurz oder Jang eine Verständigung mit 
den, anderen sozialistischen Parteien zustande kommen wird. 
Jedenfalls sind die Gegensätze bereits ganz wesentlich ab¬ 
geschwächt und ein sozialistisches Koalitionsministerium ist 
wohl nur eine Frage der allernächsten Zukunft. Damit 
würden sich die Bolschewiki wdhl ihrer Alleinherrschaft 
begeben, ihren Einfluß aber für absehbare Zeit gefestigt 
haben. Bei dieser Sachlage wird uns ein Abkommen mit 
der Jcommunistischen Räteregierung von der überwiegenden 
Mehrheit des russischen Volkes sicherlich nicht verübelt 
werden. - 

Es gibt demnach meines Erachtens zurzeit keinen stich¬ 
haltigen Einwand gegen ein wirtschaftliches Abkommen mit 
Räterußland. Daß auf seiten der russischen Räteregierung 
hierzu die allergrößte Geneigtheit besteht, kann nach den 
vielfachen Aeußerungen ihrer Häupter nicht zweifelhaft sein. 
Für uns ist aber die Wieder anknüpf ung wirtschaftlicher Be¬ 
ziehungen zu Rußland, sowohl was unsere industrielle Be¬ 
tätigung in diesem Lande anbelangt, wie, hinsichtlich der 
Möglichkeit, gewisse Rohstoffe zu erhalten, von allergrößter 
Bedeutung. 


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Arbeiterkapitäne. 


1249 


Dr. E. JENNY. 


Arbeiterkapitäne. 

PS ist stets eine erfreuliche, vielverheißende Erscheinung*, 
wenn von zwei gegensätzlichen Seiten her Ideen in ein 
gemeinsames Bett münaen. Dies verkündet die Geburt eines 
neuen, jugendstarken Gedankens. Wie Thesis und Antithesis 
aus ihrem Zusammenwirken die Synthesis gebären, so ent¬ 
springt aus der Vereinigung gegensätzlicher Geistesrichtun¬ 
gen als wirklich lebenskräftige Geistesfrucht der wahre Fort¬ 
schritt In diesem Sinne ist es nicht froh genug zu be¬ 
grüßen, wenn heute die Träger bisher antipodischer gesell¬ 
schaftlicher und wirtschaftlicher Interessen sich zu berühren 
beginnen. Wenn, wie in diesem Sonderfalle, Leute wie Hilgen¬ 
berg und v. Dewitz die Werksgemeinschaft vertreten und 
die tiefe Betrübnis unserer Zeit in der Entwicklung erkennen, 
welche die „Entseelung“ der Arbeit, die hoffnungslose Teil¬ 
nahmslosigkeit der Arbeitnehmerseite an den Schicksalen und 
Erfolgen des Unternehmens erblicken; wenn andererseits in 
der „Glocke“ vom 8. November Dr. Buß die Rettung aus 
dem unfruchtbaren, selbstzerfleischenden Klassenkampf in 
der Umwandlung „des Abhängigkeitsverhältnisses des Ar¬ 
beiters durch Eingliederung der Betriebs- und Wirtschafts¬ 
räte in die Verfassung der Wirtschaft in ein vollwertiges 
Mitbestimmungsverhältnis“ sieht, und Dr. Troß es als „un¬ 
geheure Errungenschaft für die Arbeiterschaft“ begrüßt, wenn 
„der tiefste Keim ihres Elends, die Uninteressiertheit am 
Werk ihrer Hände, ihres Lebens, durch die Beteiligung an 
der Betriebsleitung endlich ausgejätet wird“. 

Die beste Ueberprüfung eines neuen Gedankens liegt darin, 
daß sich in ihm die von zwei völlig entgegengesetzten Punkten 
ausgehenden Ansichten begegnen. Dies ist hier der Fall! 
Es steht zu erwarten, daß von dieser neu gewonnenen Er¬ 
kenntnis, die beide Teile nur haben erreichen können nach 
Ueberwindung und Abstreifen verrosteter Schulmeinungen 
ihrer Parteien, ganz neue und heilbringende Grundsätze empor¬ 
wachsen. Es öffnet sich die Aussicht, daß da, wo wir bisher 
nichts als hoffnungslose Verfeindung zu sehen gewohnt 
wären, eine Befriedigung innerhalb der sich im Kampf auf¬ 
reibenden Wirtschaft eintreten könne. 


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1250 


Arbeiterkapitäne. 


So scheint der innigen Anteilnahme der Arbeitnehmer an 
der Gestaltung der Wirtschaftsschicksale sich ein Feld segens¬ 
reicher Tätigkeit zu eröffnen. Statt verbissener, dem End¬ 
erfolg der Arbeitsbetätigung abgewendeter Abwehr leuchtet 
schöpferische Mitbetätigung auf. . . . 

Nur taucht zugleich eine Frage auf, die mehr organisa¬ 
torischer Natur ist; doch darum nicht etwa von geringerer 
Wichtigkeit, als die grundsätzlichen Probleme. Wie oft schei¬ 
tert die Durchführung dieser lediglich daran, daß es nicht 
gelingt, sie organisatorisch befriedigend zu lösen, das heißt 
sie dem Organismus richtig einzufügen! Es ist viel, sehr 
viel über die Ausführung der Einflußnahme der Arbeitnehmer 
auf die Werksgemeinschaft geschrieben worden. Alle Stufen 
der Betriebsräte, der Gewinnbeteiligung durch fingierten oder 
tatsächlichen Anteilserwerb usw. findet man erörtert. Eine 
wichtige Frage aber scheint mir noch nicht beachtet: wie 
sollen die Arbeitervertreter in der Werkleitung bezüglich ihrer 
Privatinteressen zu der Unternehmung stehen? 

Gemeinhin wird, ohne nähere Erörterung der Zweckmäßig¬ 
keit, als gegeben angenommen, daß die Arbeitervertretung 
im Aufsichtsrat oder der sonstigen Zentralleitung einfach dem 
Betriebsrat entnommen werden könne. Ob dies jedoch das 
Zweckmäßigste ist, das heißt die größten Vorteile mit den 
geringsten Nachteilen verbindet? Mir will scheinen, daß dies 
nicht zutrifft. 

Wir haben einen ähnlichen Fall, da die Arbeiter selbst 
alles dransetzen, gewisse Funktionen bezüglich des Verkehrs 
zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aus dem Betrieb 
heraus in eine höhere und damit unabhängigere Sphäre zu 
verlegen. So den Abschluß der Tarifverträge und Kollektiv¬ 
arbeitsverträge, wofür sehr bald in den Gewerkschaften die 
richtige Stelle erkannt wurde. Und zwar, weil eingesehen 
wurde, daß diese Unterhändler über dreierlei Vorsprünge 
geboten gegenüber den dem Werke selbst an gehörigen Kol¬ 
legen: größere Unabhängigkeit , — weil hinter ihnen größere 
Macht stand und die Werkleitung ihnen nichts anhaben 
konnte; größere Umsicht , — indem sie eher über ein zu 
ihren Aufgaben besonders geschultes und darin erfahrenes 
Personal verfügen konnten; und größere Objektivität in-der 
Beurteilung der Fragen, — da sie von den kleinen und klein¬ 
lichen Alltagsmiseren innerhalb des Betriebslebens losgelöst 
waren. Und die Arbeiter sind sehr gut gefahren durch diese 


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Arbeiterkapitäne. 


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Verlegung ihrer Vertreterschaft in eine Zone, die der Beein¬ 
flussung seitens der Vertragsgegner entzogen blieb und gleich¬ 
sam von viel höherer Warte aus mit geweitetem Gesichts¬ 
kreis die Regelungen vorzunehmen in der Lage war. 

Ganz ähnlich scheinen mir die Dinge auch bezüglich der 
Arbeitervertretung in der Leitung der Einzelunternehmungen 
„ zu liegen. Zunächst stehen hier ungemein komplizierte Auf¬ 
gaben an, die — wie in Arbeiterkreisen vollauf anerkannt 
wird — große Spezialkenntnisse und lange Schulung er¬ 
heischen, wenn sie wirksam für die Arbeitnehmerinteressen 
wahrgenommen werden sollen. Der Einblick in die Be¬ 
ziehungen des Werks zum Rohstoffbezug, zum Absatzmarkt, 
zu den Nebenindustrien und der Konkurrenz, dann die Ein¬ 
sicht in die Buchhaltung, das Lesen der Bilanzen usw. gehen 
weit über den Horizont nicht nur des Arbeiters, sondern 
auch des Durchschnittsaktionärs. Würden die Arbeitnehmer 
durch fachmännisch geschulte Personen vertreten, dann sprä¬ 
chen sie zugleich wirksamer mit, als der verzettelte Teil 
des Aktienbesitzes! 

Daher wäre wohl zu erwägen, ob nicht die Mitwirkung 
- an der obersten Werkleitung besonderen Organen überant¬ 
wortet werden sollte, die nicht den Werken selbst ange¬ 
hören und sich in deren engen Rahmen eingepreßt befinden. 
Auch seitens der Werkleitung würde besser und glatter mit 
sachverständigen Vertretern gearbeitet, und unzähligen klei¬ 
nen, aber doch so hemmenden und schädlichen Reibungen 
vorgebeugt werden, als wenn dem Werke selber entstammen¬ 
den Arbeitern die Aufgaben zufielen. Es ist hierbei natürlich 
streng zu trennen die den (nach wie vor bestehen bleibenden) 
Betriebsräten, denen all die tägliche Kleinarbeit der Ueber- 
wachung und Mitbestimmung der technischen Werkstätten¬ 
organisation, sowie der Ausübung der Arbeitsdisziplin ob¬ 
läge, und den Fragen der obersten Geschäftsleitung. Diese 
zuerst genannten Organe gehören ganz selbstverständlich zu¬ 
sammengesetzt aus den Werksangehörigen selbst. Die Teil¬ 
nahme an der Gesamtleitung verbliebe jedoch füglich den 
Abgesandten höherer Instanzen, die natürlich, da ihnen die 
Wahrnehmung von spezifischen Arbeiterbelangen zur Pflicht 
gemacht wäre, den Arbeiterorganisationen höheren Grades 
entnommen würden. Sei es, daß den Gewerkschaften diese 
Mühewaltung zufiele, sei es, daß die Durchbildung eines 
Rätesysteiiis es gestattete, aus den oberen Instanzen (Pro- 


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Arbeiterkapjtäne. 


vinzialräten oder Fachverbänden) Beauftragte aus Arbeiter¬ 
kreisen zu ernennen. 

Was damit vor allem erreicht wäre, das ist die größere 
Konstanz der Vertretungen, die unumgänglich nötig ist, soll 
ein Einarbeiten und ein Gewachsensein für die Amtepflichten 
überhaupt erfolgen können. Abgeordnete der Arbeiter, die 
alle paar Monate abberufen und gewechselt würden, wären 
sehr bald ein Spielball in der Hand geschickter Direktoren; 
sie zu nasführen, wäre wahrlich kein Kunststück! Außerdem 
hätte man die Gewähr, daß diese von außerhalb des Werkes 
stammenden, sich des Rückhalte einer höheren Arbeiterorgani¬ 
sation erfreuenden Mitdirektoren ihres Amtes mit größerem 
Weitblick und weitreichenderer Erfahrung walten würden, 
als vom Schraubstock vorübergehend weggeholte Leute. End¬ 
lich aber ist die größere Unabhängigkeit ein nicht zu . ver¬ 
achtendes Moment, sowohl für Sicherung tatkräftigen Ein¬ 
greifens, als auch des sozialen Friedens. Diese von außen 
kommenden Leute wären unbeeinflußt von den kleinlichen 
Mißhelligkeiten des täglichen Verkehrs. Sie besäßen ein ganz 
anderes Gewicht den Unternehmern gegenüber; aber auch 
ihre Unabhängigkeit von den Strömungen und Intrigen inner¬ 
halb der Arbeiterschaft wäre heilsam im höchsten Grade. 
Wie anders ständen sie da, als ein dem Kreise der Werk¬ 
genossen entnommener Vertreter. Ein solcher wird stete einer 
großen Versuchung unterliegen, seinen Werkgenossen zu 
Munde zu reden; es bedürfte eines sehr starken Charakters, 
um gegen die stürmische, oft aufgehetzte Gesamtmeinung 
die gewonnene bessere Einsicht zu vertreten. Teils wirkte, die 
Furcht mit, die bevorrechtete und vielleicht auch besser be¬ 
soldete Stellung zu verlieren; teils die Scheu, in den Augen 
der Kameraden als willfähriger „Kapitalsknecht“ zu gelten. 
In solchen Stellungen gewänne der Demagoge immer Ober¬ 
wasser, — und wohin dies die Wirtschaft führt, haben wir 
nun nachgerade in den letzten Zeiten klar genug zu sehen 
bekommen! All dieser Gefahren wäre der aus einer anderen 
Sphäre kommende Mann, der zudem mit der Autorität 
reifer Sachkenntnis und der Stütze seiner höheren Arbeiter¬ 
behörde bekleidet aufträte, überhoben. 

Mir schwebt der Vorschlag Schmollers vor, der vor Jahren 
anregte, es müßten angesichts des Umstandes, daß jedem 
größeren Unternehmen ein Stück Allgemeininteresse inne¬ 
wohne, eben dieses Allgemeininteresse regelmäßig wahrge- 


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Arbeiterkapitäne. 


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nommen werden durch Staatskommissare, die in der Direktion 
oder in dem Äufsichtsrat säßen. Und zwar sollten sie nicht 
allein Sitz und Stimme haben, sondern noch mit besonderen 
Befugnissen ausgestattet werden* Hier kann der helle und 
löbliche Gedanke weitergesponnen werden, mit besonderem 
Bezug auf Wahrnehmung der Arbeitnehmerbelange. Würde 
diese Aufgabe aus den Betrieben hinausverlegt und damit 
den tausend Zufälligkeiten und Unzuträglichkeiten der allzu 
engen Reibereien entzogen und in die Hand besonders be¬ 
rufener Sachwalter (etwa der Gewerkschaften) gelegt, dann 
wäre mehr erreicht, als nur die weitblickende Tätigkeit 
der Beauftragten. Es wäre eine soziale Tat von ungeheuerer 
Tragweite geschaffen. Denn von da ab wären in weitestem 
Ausmaße höhere Posten in der Wirtschaftsleitung den Arbei¬ 
tern zugänglich. Ein Aufstieg weit über die heutigen Möglich¬ 
keiten wäre gewährleistet für die Auslese der Arbeitnehmer. 
Es entstünden richtunggebende Arbeiterkapitäne , die den heu¬ 
tigen Generaldirektoren gewachsen wären. Denn die Posten 
würden -besetzt werden zur Wahrung von Arbeiterinteressen 
von aus dem Arbeiterstande hervorgegangenen Fachleuten, 
durch die von Arbeitern gewählten Körperschaften. Nach 
kurzer Zeit stünde den im Dienste des Kapitals stehenden 
hochintelligenten Wirtschaftskapitänen ein Personal hoch- 
geschulter Wirtschaftsführer der Arbeiterschaft gegenüber, 
als ebenbürtige Gegenspieler im Wirtschaftsprozeß. 

Andernfalls aber, das heißt, wenn jeweifen von Fall zu 
Fall und immer wieder wechselnd Arbeitsgenossen aus den 
Unternehmungen selbst zu Vertrauensleuten bestellt wür¬ 
den, so bleibt ein solcher Aufstieg ausgeschlossen. Jede 
Nachhaltigkeit der Einwirkung ginge verloren; dafür wäre 
für Erfolge augenblicklicher Hetzereien und der Umschmei- 
chelung aller persönlichen Eitelkeiten und Rechthabereien Tür 
und Tor geöffnet. Wie gesagt, für die Kleinarbeit der 
Betriebsräte bleibt immer noch ein Betätigungsfeld zur 
Führerschaft berufener Elemente übrig, das sie auch voll 
zu bewältigen vermögen. Sie wäre sogar die gegebene Vor¬ 
schule für die höhere Wirksamkeit, da in ihr Initiative, Takt, 
Umsicht usw. gelernt würden. Nichts aber täte diesen Be¬ 
triebsvertrauensleuten so sehr Abbruch, als wenn sie an 
Aufgaben gewiesen würden, die sie doch nicht auszufüllen 
befähigt sein können und vor denen jsie daher bald versagen 
müßten. Einer wirklichen „höheren Laufbahn?' des tüchtigen 

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Der Kampf um Oberschlesien. 

Arbeiters schafft nur eine Scheidung der die Oberaufsicht 
ausübenden Organe vom Personenbestand des Unternehmens 
Raum. Und an einer solchen höheren Laufbahn des organi¬ 
satorisch begabten Arbeiters gebrach es bisher. Es wäre 
ein Segen, wenn sie geschaffen würden. 


FRIEDRICH TH. KÖRNER: 

Der Kampf um Oberschlesien. 

f)IE oberschlesischen Gemeindewahlen, die den Polen in 
u allen Abstimmungsbezirken Zuwachs gebracht haben, 
haben den breiteren Schichten des deutschen Volkes erst die 
Augen darüber geöffnet, wie es in Wirklichkeit mit der 
zukünftigen Gestaltung Deutschlands stehen wird. Ueber den 
Vorgängen im Westen hatten wir unsere östlichen Provinzen _ 
fast vergessen, und doch war die Gefahr, die uns aus War¬ 
schau drohte, mindestens ebenso groß wie die Erpressungen, 
die in Versailles an Deutschland begangen wurden. 

Beide Ereignisse hingen zwar indirekt zusammen und waren 
eins durch das andere bedingt. Aber das ganze deutsche Volk 
blickte nun einmal mit bangem Herzen nach dem Westen 
und wurde allmählich durch die Drohungen, die Absonde¬ 
rungsbestrebungen und die verhetzende Politik, die Frankreich 
dort inszenierte, so widerstandslos, daß es nicht mehr die 
Kraft besaß, für die Erhaltung des Ostens bei Deutschland 
bis zum äußersten zu kämpfen. 

Es lag hier eine bewußte Politik der französischen Bour¬ 
geoisie vor, die darin bestand, das durch fünf Jahre Hungers 
und des Leidens erschütterte deutsche Volk seelisch so zu 
zermürben, daß jes in stummer Resignation und in der Sorge 
um das tägliche Brot und Dasein selbst an dem natio¬ 
nalen Bestand des Reiches das Interesse verlieren mußte. 
Nachdem dieses* Ziel erreicht . war, begann sie mit - 
ihren Wühlereien im Rheinland, wo sie hn allgemeinen nur . 
geringen Erfolg zu verzeichnen hatte. Denn hier war es 
der deutsche Arbeiter, der unbeirrt um Parteipolitik sein 
Bekenntnis zum nationalen deutschen Einheitsstaat ablegte 
und so den kapitalistischen und klerikalen Absonderungs-- 
bestrebungen einen machtvollen Riegel vorschob. Nunmehr 
hielt Clemenceau aber auch die Zeit rar gekommen, Warschau 


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f um Oberschlesien. 


1255 



eisen entsprechenden Wink zu geben. So begann die wider- 

S tliche Besetzung Posens durch die Polen, so begann die 
letration pacifique“ Oberschlesiens, deren Saat Polen 
jetzt bei den Stadtverordneten wählen geerntet hat. 

Die Republik Polen ist heute ein Machtfaktor, mit dem 
Deutschland rechnen muß. Wenn auch Deutschland durch 
die während des Krieges gegenüber Polen verfolgte Politik 
heute büßen muß, so ist dieses Schicksal von großer histo¬ 
rischer Tragik. Denn zuerst waren es deutsche Truppen, die 
im September 1914 den Polen die Erfüllung ihrer alten 
Wünscne auf Selbständigkeit versprachen. In seinem Aufruf 
an die Bevölkerung erklärte Generalleutnant .von Morgen: 
„Erhebt Euch und vertreibt mit mir die russischen Barbaren, 
die Euch knechtigen, aus Eurem schönen Lande, das seine 
politische und religiöse Freiheit wieder erhalten soll.“ Und 
die Proklamation des Königreichs Polen am 5. November 
1916, die schon damals von vielen politisch nüchtern Den¬ 
kenden als ein unberechtigter Eingriff in das Selbstbestim¬ 
mungsrecht eines Volkes angesehen wurde, erweckte vollends 
in Warschau den Wunsch nach dem lange ersehnten Gro߬ 
polen, in dem auch die preußischen Polen nicht fehlen 
durften. Erst unser vollkommener Zusammenbruch konnte 
diesen Wunsch der Polen erfüllen." 

Deutschland hat Polen aus dem Zarismus Rußlands befreit 
und ihm damit dTe Freiheit und staatliche Selbständigkeit 
geschenkt. Das wird eine historische Tatsache bleiben. Trotz¬ 
dem liegt Deutschland heute mit diesem neu geschaffenen 
Staat im Kampf um das wertvollste Gebiet Mitteleuropas, 
das Polen nicht etwa besitzen will, um die polnischen Brüder 
an sein Herz zu ziehen, sondern das es im Verein mit der ka¬ 
pitalistischen Entente als reichstes Kohlengebiet der Welt 
einfach ausbeuten will. Wie sind diese uegensätze mög¬ 
lich? Es ist eine alte historische Erfahrung, daß befreite 
Völker niemals dankbar sind, sondern im Gegenteil anspruchs¬ 
voll. Polen fühlt sich heute nicht mehr als ein von uns be¬ 
freites Volk, sondern als Sieger und als ein Staat von „Frank¬ 
reichs Gnaden“. Das heißt: es tritt in die Fußtapfen der 
französischen Politik, es fühlt sich als Handlanger der En¬ 
tente, die diesen Keil absichtlich möglichst tief in die östliche 
Flanke des Deutschen Reichs getrieben hat, um dadurch 
Deutschland zu schwächen. Um so sicherer fühlt sich das 
noch immer vor Deutschland zitternde Frankreich, um so 

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Der Kampf um Oberschlesien. 


mehr wird die Expansionslust der polnischen Bourgeoisie 
ermuntert, gerade die volkswirtschaftlich wertvollsten Teile 
aus Deutschland herauszuschneiden. 

Auch hier im Osten haben wir die gleiche Erscheinung wie 
im Westen: Furcht vor Deutschland. Wir waren eifrig 
bemüht, den Polen diese Furcht zu nehmen und ein gutes 
Verhältnis mit ihnen zu gewinnen. Das wäre auch möglich 
gewesen, wenn sie dem Versailler Vertrag nicht in so oru- 
taler Weise vorgegriffen hätten. Erst der wirkliche Friedens¬ 
zustand sprach ihnen Posen und Westpreußen zu. Sie aber 
nahmen sich ersteres, ohne daß sie einen Rechtsanspruch 
darauf hatten. Auch hier wurde also die Politik des „Fetzens 
Papier“ getrieben. 

Der größte „Schmerz“ für Polen war es, daß über Ober¬ 
schlesien erst eine Volksabstimmung entscheiden soll. Dieser 
Schmerz war aus der Unsicherheit geboren, in der sich Polen 
über die Stimmung in Oberschlesien befand. Hatten doch 
die Wahlen zur Nationalversammlung im Februar dieses 
Jahres ergeben, daß etwa 60 Prozent aller Wahlberechtigten 
für deutsche Kandidaten gestimmt hatten. Wenn die Volks¬ 
abstimmung also zu Polens Gunsten ausfallen sollte, so 
mußte eine großangelegte Propaganda, mit allen Mitteln be¬ 
trieben werden. 

Nur gar zu bald setzte diese auch in Oberschlesien ein. 
Aut der einen Seite arbeitete der von polnischen Agenten 
angezettelte Terror, auf der anderen die Beeinflussungen 
durch die Kirche. Der Terror war lediglich in Szene ge¬ 
setzt, um das gesamte Wirtschaftsleben lahm zu legen, die 
Arbeiter brotlos zu machen und sie desto eher in das polnische 
Lager zu treiben, wo man ihnen „herrliche Zeiten“ und 
eine steuerlose Zukunft in Aussicht stellte. Hand in Hand mit 
den Polen arbeiteten hier- die deutschen Unabhängigen und 
Spartakisten, weil, sie glaubten, auf diesem Wege eher zur 
Weltrevolution zu gelangen und dadurch auch in Deutschland 
die Macht in die Hände zu bekommen. Auf dem Lande aber 
„arbeitete“ vor allem die polnische Geistlichkeit und drohte 
dem gläubigen Landvolk mit ewiger Verdammnis, wenn es 
für das Verbleiben bei dem „bolschewistischen Deutschland“ 
stimmen würde. ^ 

Aus diesen Zuständen heraus ist dann folgerichtig das Er¬ 
gebnis der Gemeindewahlen in Oberschlesien zustande ge¬ 
kommen. Von links und von rechts hat man alle Schuld 


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Oberschlesien. 


1257 


dem v,Noskesozialisten“ Hörsing zuschieben wollen, der als 
$taat$kommissar die Aufgabe erhalten hatte, durch eine ge¬ 
sunde Politik den polnischen und klerikalen Bestrebungen den 
Stachel zu nehmen und so Oberschlesien dem Reiche und 
Preußen zu erhaltend Zum anderen mußte er Oberschlesien 
cöe Arbeitsfähigkeit wahren, was bei den bewaffneten Auf¬ 
sfänden eben nur durch Herbeirufen der Reichswehr und 
dhfch Verhängung des Belagerungszustandes möglich war. 
Ohne ihn wäre Oberschlesien — genau wie Posen — dem 
Deutschtum schon damals verloren gewesen, und die not- 
leidende deutsche Volkswirtschaft wäre vielleicht inzwischen 
Ohne oberschlesische Kohle vollends zusammengebrochen. 
,,Hörsing hat Oberschlesien gerettet, aber die Partei ist 
darüber in Oberschlesien zugrunde gegangen“ — so schrieb 
dtfe Sozialistische Korrespondenz kürzlich. Das ist eine be¬ 
rechtigte Anerkennung für Hörsing, die ihm im Grunde des 
Herzens schließlich alle Parteien zubilligen müssen, und auch 
zugebilligt haben. 

Doch der Kampf um Oberschlesien geht weiter. Polen 
wird nicht ruhen, und auch wir dürfen noch nicht alles ver¬ 
loren geben. An die Stelle Hörsings ist ein Zentrumsmann 
getreten. Das ist sicher symptomatisch für den neuen Kurs, 
der insofern neu genannt weiden muß, als man sich nunmehr 
verspricht, den größten Einfluß durch die Kirche zu er¬ 
langen. 

Diese Ansicht ist entschieden richtig, und zweifellos wird 
das Zentrum bei der Volksabstimmung den Ausschlag zu 
geben haben. Natürlich soll und darf es sich hier nicht um 
unrechtmäßige Wahlbeeinflussung handeln, aber es fehlte 
auch bisher an der richtigen Aufklärung. So soll man der 
obefschlesischen Bevölkerung mehr als bisher sagen, daß 
die Steuerlast des neuen Staatsgebildes mindestens ebenso 
schwer sein wird wie bei uns, und daß letzten Endes hinter 
Polen ja nur der englisch-amerikanische Kapitalismus lauert, 
für den in Zukunft die Arbeiter zu schuften haben werden. 
Auch politisch steht Polen vor neuen Erschütterungen. Schon 
jetzt gibt es allerhand Reibungsflächen zwischen Polen und 
Tschechien, und der tschecho-slowakische Staat sucht schon 
wieder nach geheimen Allianzen mit den antibolschewisti¬ 
schen Randstaaten, um Großpolen nicht zu stark werden 
zu Lassen. Die Furcht vor neuen Kriegen zwingt Polen dazu, 
ein starkes, kostspieliges Heer zu halten. Wer soll alle diese 


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1258 


Der sozialistische Zukunftsstaat . . . 


Lasten aufbringen ? . Kongreßpolen und Galizien, die durch 
den Krieg ausgesogen sind, sicher nicht. So werden es immer 
wieder die deutschen Gebiete im polnischen Staate sein, 
die besonders starke Steuern zahlet! müssen. Deutsche Arbeit 
wird gezwungen sein, der polnischen Kultur weiter zu 
helfen. 

Oberschlesien gehört wirtschaftlich und kulturell zu 
Deutschland. Es ist dasjenige Stück unseres Vaterlandes, 
aus dem deutsche Arbeit ungeahnte Werte herausziehen kann. 
Wir wissen, daß die großen, noch nicht erschlossenen Stein¬ 
kohlenlager Werte von 1400 Milliarden Mark enthalten, die 
sich in hunderten von Jahren nicht erschöpfen. Die jährliche 
Forderung betrug im Frieden etwa 42 Millionen Tonnen. Das 
haben deutsche Arbeiter dem Boden in rastlosem Fleiß abge¬ 
rungen. Soll nun in diesem Kampf um Oberschlesien wieder 
der englisch-amerikanische Kapitalismus siegen, dem wir das 
ganze Unheil verdanken, das über uns hereingebrochen ist. 
Sollen wieder deutsche Arbeiter Fronknechte für ausländi¬ 
sches Kapital werden, das niemals ihre sozialen Wünsche 
und berechtigten Forderungen erfüllen wird? Oberschlesien 
muß die Antwort selbst geben. Für uns aber gibt es nur 
das eine: bis zuletzt um die Seele dieser unserer Landsleute 
zu ringen. Wir können in diesem Ringen Sieger bleiben, 
wenn uns noch in letzter Stunde die Erkenntnis dämmert: 
Erst Volk, und dann — die Partei! 


EDUARD WENZEL: 

Der sozialistische Zukunftsstaat — in 
Deutschland eine Tatsache von morgen! 

Wir stellen diese Ausführungen zur Debatte, ohne 
sie uns zu eigen zu machen. ' Die Redaktion. 

HIE Lösung der sozialen Frage heißt: Verbrauchssammlung 
durch den Staat! 

Wie der Staat im Kriege für die Befriedigung der Bedürf¬ 
nisse seiner Wehrmacht von 10 Millionen Mann mit ihrem 
fabelhaften technischen Bedarf sorgte, so hat er sich in 
Hinkunft die Befriedigung der Bedürfnisse des gesamten 
Volkes, des Staates und der Gesamtwirtschaft angelegen 

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• • • 


1259 


Der sozialistische 


Zukunftsstaat 


sein zu lassen mit dem einzigen, doch so überaus angenehmen 
Unterschied, daß er an Volk und Wirtschaft nicht wie an 
die Wehrmacht unentgeltlich liefert, sondern gegen gute 
Bezahlung. 

Auch der Zivilist hat zwei Beine, braucht Schuhe an den 
Füßen, Wäsche und Kleidung auf dem Leib, sonstige Aus¬ 
rüstung und Bedarfsgegenstände aller Art, Unterkunft, Woh¬ 
nungseinrichtung, Haushaltsausstattung, Essen, kürz jeglichen 
Lebensbedarf — im einzelnen wohl anders als das Militär, 
im-Wesen genau dasselbe. Der Staat hat Hunderttausende, 
vielleicht gar Millionen zu versorgen an Kriegs verletzten, 
Hinterbliebenen nach Gefallenen, Erwerbsunfähigen, Minder¬ 
erwerbsfähigen usf. Er braucht einen neuen rahrpark für 
seine Eisenbahnen, die Elektrisierung dieser ist geplant, der 
Wiederaufbau der zerstörten Gebiete wird die größten An¬ 
forderungen stellen, desgleichen die übrigen Leistungen aus 
dem Friedensvertrag. Eine komplette neue Handelsflotte muß 
gebaut werden. So geht es weiter. Der Bedarf ist un¬ 
geheuer. 

Warum setzt man sich im Reichswirtschaftsministerium 
nicht einmal hin auf seine vier Buchstaben und rechnet 
aus — nur im allergröbsten —, wie hoch der dringendste 
Bedarf in den einzelnen Zweigen wohl sein kann! Da haben 
wir rund gerechnet 60 Millionen Einwohner, davon dürften 
sein so und soviel Millionen Männer, so und soviel Millionen 
Frauen, soviel von diesem, soviel von jenem Beruf oder 
Stand (Klasse), soviel Jünglinge, soviel Jungfrauen, soviel 
Knaben, soviel Mädchen, davon soviel in diesem Lebensalter, 
soviel in dem anderen, in dem und dem Ausmaße den ver¬ 
schiedenen Ständen (Klassen) angehörig usw. usw. Jedes 
hat, wie gesagt, zwei Beine und die gewissen Bedürfnisse. 
Es kann doch um Himmels willen nicht gar so schwer sein, 
auszurechnen, daß Deutschland zum Beispiel so und soviel 
Millionen Paar Männerschuhe, so und soviel Millionen Paar 
Damenschuhe usw., so und soviel Millionen Anzüge, so und 
soviel Millionen Damenkleider, so und soviel Millionen Gar¬ 
nituren Herrenwäsche, so und soviel Millionen Garnituren 
Damenwäsche usw. usw. braucht (Vorräte von Belang be¬ 
stehen ja keineswegs), wobei es zunächst wirklich nicht 
darauf ankommt, ob man sich um ein paar Millionen irrt. 

Es werden sich in allem und jedem ungeheure Zahlen 
ergeben.. 


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1260 __ Der sozialistische Zukunftsstaat : . . 

Ist man im Reichswirtschaftsministerium so weit, dann 
wird der Staat kommen und zum Beispiel sagen: Ich habe 
zu bestellen: 60 Millionen, sage und schreite sechzig Mil¬ 
lionen Paar Schuhe (Herren-, Damen-, Kinderschuhe), Stoff 
für 30 Millionen, sage und schreibe dreißig Millionen An¬ 
züge (für Männer, Jünglinge, Knaben), 100 Millionen, sage 
und schreibe hundert Millionen Garnituren Wäsche usw. usw. 
(ich kann hier natürlich nur in ganz groben Strichen skiz¬ 
zieren). 

Wie wird sich demgegenüber das erzeugende Unternehmer¬ 
tum verhalten, das es zunächst angeht? Wie wird es sich, 
frage ich, einer solchen Sozialisierung gegenüber, denn um 
nichts anderes handelt es sich, verhalten ? 

Es wird sich vergnügt die Hände reiben und jeder ein¬ 
zelne wird trachten, sich einen tüchtigen Happten der Be¬ 
stellungen zu sichern. Wer aber grundsätzlich nichts wissen 
mag von Staatsaufträgen, der laßt es eben bleiben. Ge¬ 
zwungen wird niemand, jeder kann machen, was er für das 
klügste hält. Es werden sicher genug da sein, die zur Ver¬ 
fügung des Staates stehen, heißt das doch nichts anderes 
als glänzend verdienen. Auf diese Weise wird die Produktion 
verstaatlicht. 

Der Staat seinerseits wird erklären: die gesamte Wirtschaft 
bleibt völlig frei, jeder kann tun und lassen, was er will. 
Die vorliegenden Bestellungen sind erst ein Anfang. Es 
ist das Wirtschaftsprogramm der Regierung, den gesamten 
Volks- und Wirtschaftsbedarf nach und nach auf diese Weise 
fortlaufend zusammenzufassen. Eine ständige Organisation 
gilt es demnach zu schaffen. Es handelt -sich nicht nur 
um eine einmalige Hilfsaktion. Der Staat sichert der Erzeu¬ 
gung dauernde angenehme Beschäftigung und damit fort¬ 
laufend glänzenden Verdienst. Selbstverständlich wird nie¬ 
mand zur Mitarbeit gezwungen. Wer auf eigene Faust 
besser fortzukommen weiß, dem steht kein Hindernis ent¬ 
gegen. Der Staat tritt einfach in Wettbewerb mit der privaten 
Wirtschaft. Diejenigen, die sich um die staatlichen Auf¬ 
träge bewerten wollen, tun sich, jede Fachgruppe für sich, 
in den Erzeugerverbänden zusammen, die zu Arbeitsgemein¬ 
schaften mit den denkbar vorzüglichsten Arbeitsmethoden 
ausgebaut werden müssen. 

Die Erzeugerverbände fußen auf freier Uebereinkunft der 
Erzeuger untereinander, lebensvolle Satzungen schützen die 


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Per sozialistische Zukunftsstaat 


t * • 


i 261 


Belange des einzelnen Erzeugers gegen etwa angestrebte 
Klöngelwirtschaft, die festen staatlichen Milliardenaufträge 
geben den Verbänden jedes Mittel in die Hand, das sie 
brauchen, um sofort in den größten Ausmaßen mit frucht¬ 
barer Arbeit beginnen zu können. Die staatlichen Aufträge 
werden hur im ganz Großen erteilt. Die Bearbeitung dieser 
Aufträge im einzelnen nach Mustern, Farben, Formen, Aus¬ 
führungen, Größen, Qualitäten usf. liegt schon den Ver¬ 
bänden selber ob, das heißt den berufensteir Fachmännern der 
privaten Wirtschaft. Der Staat beschränkt sich auf die all¬ 
gemeine Weisung, die Verbände sollen das erzeugen, was 
der Markt am dringendsten braucht und was dem Geschmack 
der Zeit angemessen ist. Selbstverständlich ist solideste Ar¬ 
beit Die Ausführungsentwürfe der Verbände sind dann dem 
Reichswirtschaftsministerium zur Genehmigung vorzulegen. 
Das Urteil über die Tätigkeit der Verbände spricht nicht der 
Staat, sondern die kaufende Allgemeinheit, worauf wir später 
zurückkommen werden. 

Durch die festen staatlichen Milliardenaufträge werden 
in kürzester Zeit (freilich in verkehrter Reihenfolge) ohne 
die Spur eines Zwanges oder sonstiger Nachteile die be¬ 
rühmten vier Forderungen Walther Kathenaus zur Vervoll¬ 
kommnung der deutschen Gütererzeugung verwirklicht, die 
enthalten sind in seinem Buche „Die neue Wirtschaft“ und 
von denen Rathenau behauptet, daß ihre Erfüllung zu einer 
v Vervielfältigung des Ertrages der deutschen Wirtschaft — 
wohlgemerkt: „Vervielfältigung“ sagt Rathenau — führen 
muß, was in dem Fall nicht in Zweifel zu ziehen ist, wenn 
die bezüglichen Maßnahmen durchgeführt werden können 
ohne üble Begleiterscheinungen, wie in unserem Falle. Diese 
vier Forderungen verlangen für die ganze deutsche Güter¬ 
erzeugung im großen: 1. eine wissenschaftliche Durch¬ 
forschung und Reform aller Betriebe hinsichtlich Lage und 
Anlage, Einrichtung und Arbeitsweise; 2. Normalisierung 
und Typisierung der Waren und geeignete Arbeitsteilung 
von Werk zu Werk ; 3. die Wiedervereinigung der. Produk¬ 
tionsstufen und 4. eine zielbewußte Leitung der Gesamt¬ 
wirtschaft durch einen zentralen Willen. 

Die letzte Forderung ist restlos erfüllt dadurch, daß der 
Staat natürlich das bestellt, was die Allgemeinheit am drin¬ 
gendstes braucht. 


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1262 


Der sozialistische Zukunftsstaat . y. 

Die Normalisierung und Typisierung ist mit einem Schlage 
bis zu jedem wünschenswerten Grade durchgeführt; die Ver¬ 
bände brauchen ja nur eben die gewissen Typen usw., und 
keine anderen, zu erzeugen. Auch die Arbeitsteilung von 
Werk zu Werk kann bei der Größe der staatlichen Aufträge 
keine Schwierigkeiten machen. 

Die Wiedervereinigung der Produktionsstufen kommt von 
allein. Natürlich müssen sich die nachverarbeitenden Ver¬ 
bände mit ihren Vorgängern im Arbeitsprozeß, die sich zu 
den vorarbeitenden Verbänden zusammenschließen werden, 
ins Einvernehmen setzen. Ehe sicheren Unterlagen, die. den 
Erzeugern von Fertigwaren durch die staatlichen Riesen- 
bestellungen für ihre Arbeit gegeben werden, pflanzen sich 
selbsttätig gegen den Rohstoff zu fort. Allen früheren Pro r 
duktionsstufen wird dieselbe vollkommene Arbeitsweise und 
höchste Wirtschaftlichkeit ermöglicht. Die Zwischenprodukte 

f ehen, ohne daß sie Handelsobjekt werden, nach genauerem 
‘ransportplan vom vorverarbeitenden Verband an den nach¬ 
verarbeitenden. Die Zusammenarbeit wird in Kürze voll¬ 
kommen sein. Die ganze Gütererzeugung, soweit sie sich 
nicht abseits hält, wird zur organischen Einheit. 

Auch die Durchforschung und Reform aller Betriebe kommt 
schnell und zwanglos. Da die Hauptgewinstaussicht des 
Erzeugers, mehr als früher, in der Verminderung meiner 
Gestehungskosten liegt, ist jede technische Vervollkommnung 
seines Betriebes am allermeisten in seinem eigenen Nutzen ge¬ 
legen. Ueberdies hat er nach Wegfall der, kaufmännischen 
Seite seines Unternehmens auch die früher dort festgelegten 
Mittel zu seiner Verfügung. ,Notwendige Reformen scheitern 
nicht am Kapitalmangel, um so mehr nicht, als er die' Neu¬ 
einrichtungen häufig gegen seine eigenen Lieferungen, also 
ohne Geldaufwand vom Staat oder verband wird beziehen 
können. Und anderes mehr. 

So wiederhole ich denn: Rathenaus Forderungen sind 
erfüllt. Das Ergebnis muß eine beispiellose Verbilligung der 
für den Staat erzeugten Waren sein, eine Verbilligung, wie 
sie niemand anders sich zunutze machen kann. Die staatlichen 
Waren sind konkurrenzlos! 

Hier stehen wir vor der eigentlichen Geburt der Gemein¬ 
wirtschaft. 

Sie sind konkurrenzlos gegenüber jedem außenstehenden 
Erzeuger, sie sind es noch mehr gegenüber dem gesamten 


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1263 


Der sozialistische Zukunftsstaat . . . 


privaten Handel. Damit entfällt für den Staat die Not¬ 
wendigkeit irgendwelchen Zwanges gegenüber etwaigen Tei¬ 
len der privaten Wirtschaft, die von einer Oemeinwirtschaft 
nichts wissen wollen. Der Staat setzt sich nach allen Seiten 
hin durch, einzig und allein kraft der inneren Ueberlegenheit 
des von ihm getragenen Wirtschaftssystems. Insoweit dieses 
System dem jetzigen nicht überlegen ist, kann es sich nicht 
durchsetzen und soll es sich x auch nicht durchsetzen. Ein 
völlig ungehinderter freier Wettbewerb wird selbsttätig aus- 
weisen, inwieweit die Gemeinwirtschaft lebensfähig ist. Wo 
immer die staatliche Bewirtschaftung eine Schwäche hat oder 
eine Lücke läßt, wird die völlig freie private Wirtschaft 
einspringen. - 

Der Staat ist ein gleichberechtigter Unternehmer unter 
anderen Unternehmern. Daß man kauft, wo man am besten 
und billigsten kauft (oder wenigstens zu kaufen glaubt), 
dieses ungeschriebene Gesetz ist die Bürgschaft für aas Er¬ 
stehen der Qemeinwirtschaft. 

Denn wenn der Staat billiger einkauft als jeder andere, 
dann kann er natürlich auch billiger verkaufen, wobei ich 
noch gar nicht die riesigen Ersparnisse in der Verkaufs¬ 
organisation in Rechnung stelle, die der Staat gegenüber 
dem privaten Handel erzielen wird. Der private Handel wird 
weichen nach und nach — im wesentlichen wenigstens — 
aufgesogen werden wie die Handindustrie seinerzeit von 
der Maschinenindustrie. Alles in freier Entwicklung. Zum 
Verkauf muß der JStaat eine das ganze Reich umspannende. 
Verkaufsörganisation schaffen. Das ist die einzige große 
Leistung, die ihm zur Aufgabe wird. Für den Anfang kann 
man mit Notbehelfen das Auslangen finden, für die Dauer 
aber muß ein staatliches Warenhaussystem geschaffen werden. 
Wie der Staat schon längst in jedem kleinen Ort sein 
eigenes Postamt hat, im ganzen Reich die Eisenbahnen, 
so wird er künftig auch noch in jedem größeren Ort sein 
eigenes Warenhaus haben. Diesem Warenhaussystem kann 
sich zwanglos der private Kleinhandel angliedem, der beim 
staatlichen Warenhause einkauft und die Güterverteilung 
dann, ohne durch Vorschriften gebunden zu sein, bis in die 
letzten Verästelungen durchführt. Wer Käufer findet, kann 
auch handeln. — Die Seele des staatlichen Warenhaussystems 
ist eine einheitliche systematische Vorrats* und Verkaufs- 
statjstik, beileibe nicht Kaufmannsgeist der Beamtenschaft. 


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1264 _ Der sozialistische Zukunftsstaat . . . 

Alle fach- und kaufmännische Voraussicht liegt bei deft privat¬ 
wirtschaftlichen Erzeugerverbänden. Die von diesen in das 
staatliche Warenhaussystem geleiteten Waren werden hier 
feilgeboten, sonst nichts. Wer kauft, kauft, wer nicht, der 
läßt es bleiben. Periodisch wird von den einzelnen Waren¬ 
häusern ein Auszug aus der Vorrats- und Verkaufsstatistik 
an die Vorgesetzten Stellen eingesandt. Dieses Zahlenmaterial 
wird fortlaufend in der statistischen Abteilung des Reichs¬ 
wirtschaftsministeriums gesammelt und entsprechend gesich¬ 
tet, sodann ari die einzelnen Erzeugerverbände weitergeleitet, 
die so ständig darüber unterrichtet sind, was für eine Auf¬ 
nahme die von ihnen erzeugten Waren am Markt rinden und 
sichere Unterlagen gewinnen für die Beurteilung der Markt¬ 
lage und ihre auf Befriedigung des Marktes hinzielenden Ent¬ 
schlüsse. ln der Warenstatistik liegt das unbestechliche, von 
der kaufenden Allgemeinheit kommende Urteil über die 
Tätigkeit der Erzeugerverbände, von denen ich früher sprach. 
Hier kommt unerbittlich zum Ausdruck, ob die 'Verbände 
ihrer Aufgabe, das zu erzeugen, was Absatz findet, gerecht 
werden oder nicht. Dieser Umstand bürgt dafür, aaß die 
Verbände ihr Möglichstes tun werden, um die in sie gesetzten 
Erwartungen zu rechtfertigen. Sie haften mit ihrem guten ' 
Rut als Fachmänner. Uebrigens kann auch eine geldliche Haf¬ 
tung eingeführt werden. — An Hand der Warenstatistik wird 
es nach einiger Zeit der Erfahrung möglich sein, auf lange 
Zeiträume hinaus-den Volksbedarf bis in die Einzelheiten 
hinein genau vorauszubestimmen. Damit ist für die organi¬ 
satorische Vollendung der Gütererzeugung die Voraussetzung 
geschaffen. — Das Personal des staatlichen Warenhaus¬ 
systems braucht nichts als die deutschen Beamtentugenden: 
Pflichtbewußtsein, Genauigkeit, Pünktlichkeit usw. Das 
Warenhaussystem ist ein nacktes Instrument, auf dem auf 
der einen Seite die kaufende Allgemeinheit, auf der anderen 
die privatwirtschaftlichen Erzeugerverbände spielen. Aller 
schöpferische Antrieb liegt also außerhalb seiner. 

Das Reichswirtschaftsministerium spielt die Rolle eines 
Höchstkommandos, dem die Erzeuger verbände als Fach¬ 
referenten beigeordnet sind. 

Was ist nun notwendig, damit der Staat, der schrecklich 
verschuldete, bettelarm, in der geschilderten Weise als Riesen¬ 
auftraggeber auftreten kann ? Milliarden an Geld! Die Bank¬ 
notenpresse liefert sie — auch» wenn aus den jetzigen 40 


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)3er sozialistische Zukuhftsstaat 


1205 


Milliarden Banknoten ihrer 100 Milliarden würden. Daß 
die Sache nicht sehr gefährlich werden kann, ist sonnenklar, 
denn was der Staat auf der einen Seite an die Gütererzeu- 
gung zahlt, nimmt er auf der anderen Seite durch den Verkauf 
der erzeugten Waren wieder ein, wahrscheinlich sogar mit 
einem großen Gewinn. So einfach der Vorgang ist, so un¬ 
übersehbar ist er in seinen Folgen. Durch ihn wird „die 
neue Zeit“ zur Tat. Jede Mark, jede einzelne Mark von den 
vielen Milliarden, die der Staat an die Gütererzeugung zahlt, 
dient in irgendeiner Form zur Schaffung von werten. Ja, 
bei der Unübertrefflichkeit der dabei befolgten Arbeits¬ 
methoden wird für jede Mark sogar der möglichste höchste 
Wert geschaffen. Daraus folgt die die ganze Welt revolutio¬ 
nierende Tatsache, daß die ohne jede Deckung ausgegebene 
Papiermark, dieses Nichts, doch in re Deckung hat, ia sogar 
ihre möglichste höchste Deckung, nur eben besteht diese 
Deckung nicht in Gold, sondern in Ware, in der auf die 
staatliche Bestellung hin erzeugten Ware. 

Damit stehen wir am Grabe des Kapitalismus. 

In dem Augenblick, wo der Staat seine bisherige 'Stellung 
außerhalb der Wirtschaft aufgibt und in der geschilderten 
•Weise in den Wirtschaftskreislauf eintritt, wird Geld für 
ihn das, was Zeit, was Unendlichkeit, was Ewigkeit sind: 
Vorstellungen ohne Grenzen. Für den einzelnen bleibt Geld, 
das nun nicht mehr Anweisung auf Gold, sondern Anweisung 
auf Ware sein wird, genau das, was es bisher war, für den 
Staat aber hört es auf ein Wert zu sein, für ihn wird es zum 
Wertmaßstab nur, zum Mittel, das Wesenlose begrifflich zu 
gestalten, wie die Stundeneinteilung nur dazu dient, die 
Wesenlosigkeit der Zeit greifbar zu machen. Der Staat wird 
mit einem Schlage zum Herrn eines unbegrenzt großen, 
unverzinslichen Milliardenstromes, der als Band ohne Ende 
durch seine Hände rinnt, von ihm geleitet und ständig ver¬ 
stärkt. Für sein Papier, das nichts ist, fließen ihm die 
Werte zu, dadurch wird sein wertloses Papier nun doch zum 
Wert und der Staat zum Eigentümer einer unversieglich 
rinnenden Milliardenquelle. Es ist kin Geburtsakt, neue Wel¬ 
ten werden hier. geboren! - . 

Von der Gesamtheit aus gesehen, ergibt sich folgendes Bild : 
Kapital (Geld) ist nichts, wahre Werte sind nur Rohstoff, 
Arbeitskraft und Arbeitsweise (durch sie findet auch der 


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1266 


Der sozialistische Zukunftsstaat 


theoretisch unbegrenzte Geldstrom praktisch seine Grenzen)» 
Damit ist das Urteil gesprochen über die heute so laut ver¬ 
langte „Sparwirtschaft“. 

Dadurch/ daß der Staat zum Riesen—Riesen—Riesenkapita¬ 
listen wird, für den Geld überhaupt keine Rolle mehr spielt, 
ist erledigt, was man heute Kapitalismus nennt, ohne, daß dem 
(privaten) Kapitalisten sein Kapital genommen oder sein 
Verfügungsrecht darüber beschränkt würde. Er ist dem staat¬ 
lichen Kapitalisten gegenüber völlig ungefährlich. Eine or¬ 
ganische Weiterentwicklung der hier ausgesprochenen Grund- 

f 'edanken führt, sozusagen in freiem Wachstum, zum sozia- 
istischen Zukunftsstaat, wie ihn Edward Bellany schildert, 
aber noch ohne die sozialistischen Schwerfälligkeiten, die 
bei ihm Vorkommen. 


Zur Beleuchtung der praktischen Durchführbarkeit des Sy¬ 
stems in dieser Stunde noch das: Das Geld wird, wie wir ge¬ 
sehen haben, automatisch zur Anweisung auf Ware (anstatt 
auf Gold). Dadurch findet einerseits der Valutarummel sein 
Ende, weil nunmehr auch auf dem Papier — das ist für # 
den Deutschen sehr wichtig — nur die Kaufkraft des Geldes 
.im Innern als Grundlage für die Valuta angesehen werden 
kann, nicht mehr das Gold, das nicht hier ist — sind wir 
aber soweit, dann ist gar nicht einzusehen, was für ein 
Unglück die schlechte Valuta sein soll? —, andererseits 
erledigt sich die Sorge,, daß unsere hohen Löhne die deutsche 
Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt in Frage stellen. 
Die Höhe der Löhne ist völlig gleichgültig, von Belang - 
ist neben dem Rohstoff nur der Arbeitsertrag, die Arbeits¬ 
methode. Um was die Ware durch die hohen Löhne teurer 
werden, um das wird eben die Valuta schlechter. Das kann 
nur dann bedenklich sein, wenn wir fürchten müssen, zu den 
schlechten Kursen dem Ausland gegenüber eingegangene Ver- ' 
pflichtungen in der eigenen Währung zu späteren besseren 
Kursen abtragen zu müssen. Dagegen aber kann man sich 
doch sehr leicht dadurch schützen, daß man die Valuta dau¬ 
ernd niedrig hält. Die Verhältnisse werden das ja ganz 
von selbst mit sich bringen, trotz der gerade gegen die eige- - 
nen Interessen gerichteten entgegengesetzten Bemühungen 
aller Stellen, aber es wäre trotzdem ah der Zeit, sich darüber 


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Der sozialistische Zukunftsstaat 


• * « 


1267 


klar zu werden. Hohe Preise verlieren ihre Schrecken gänz¬ 
lich, wenn entsprechend verdient wird. Man trachte in auf- 
steigender Tendenz — das ist leicht —, vor allem das Ver¬ 
hältnis der Einkommen zueinander gerecht zu machen. Daß 
das zu einer noch höheren Preisebene führt, ist gar kein 
Unglück. Nach außen ist die hohe Preisebene eher gut als 
schlecht, das haben wir vorhin gesehen. Noch immer ist 
sie mit Rücksicht auf die Tilgung der Kriegsschulden sogar 
vorteilhaft zumindest dann, wenn der Staut die Rolle im 
Wirtschaftsleben übernimmt, die ich ihm hier zugewiesen 
habe. Seine Einnahmen weiden dann in einem entsprechen¬ 
den Zuschlag zu den Selbstkostenpreisen der Waren bestehen. 
Es ist einleuchtend, daß, wenn diese Preise zum Beispiel 
durchschnittlich zehnmal so hoch sind wie im Frieden, bei 
gleichem Güterumsatz wie im Frieden und gleicher prozen¬ 
tualer Belastung dieses Umsatzes mit Abgaben für den Staat 
dieser zehnmal soviel einnimmt — in Mark ausgedrückt — wie 
im Frieden. Umgekehrt gesehen kann man auch sagen, die 
200 Milliarden Mark innere Kriegsschulden sind nur soviel 
wie 20 Milliarden Friedensschulden in der Vorkriegszeit. 
Eine absichtliche Zuspitzung dieser Verhältnisse ist um so 
unbedenklicher, als das neue Wirtschaftssystem mit seiner un¬ 
geheuren Steigerung des Arbeitsertrages der Gesamtwirt¬ 
schaft die Tendenz verbindet, den erzielten Mehrertrag nach 
Möglichkeit der großen Masse der Ünbegüterten (dem ar¬ 
beitenden Volk) zuzuschan2en, die so für die auch ihr zu¬ 
gefügte Schädigung an ihren sauer erworbenen Ersparnissen 
mehr als schadlos gehalten^ würde. Betont freilich muß 
werden, daß solche Pläne nur von einem Staat befolgt 
werden dürfen, der für einen würdigen Unterhalt aller der¬ 
jenigen sorgt, die nicht mehr verdienen können; denn, sich 
selbst überlassen, müßten diese einem elenden Ende ent¬ 
gegengehen. 

Wenn ich sagte, der Mehrertrag der neuen Wirtschaft soll 
der großen Masse zugeführt werden, so äußert sich darin 
nicht nur die Sorge um einen gerechten Vermögensausgleich, 
sondern noch mehr die Erkenntnis, daß die hohe Leistungs¬ 
fähigkeit der Gemeinwirtschaft nur dann voll ausgenutzf 
werden kann, wenn ein entsprechend großer Absatz vorhanden 
ist. Dieser Absatz nun ist sofort hier, wenn ich der großen 
Masse die Mittel gebe, die sie braucht, um das kaufen zu 
können* was sie ja so gern haben möchte. 


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1263 Gedanken über die. Zukunft der deutschen Arbeit ; . . 


Der Arbeiter ist doch gleichzeitig auch Verbraucher. Diese 
Tatsache scheint man ganz zu übersehen. Was ich ihm an 
Lohn mehr bezahle, gewinnt er als Verbraucher an Kauf¬ 
kraft. Folglich ist hoher Lohn (mit Kaufkraft!, der aller¬ 
dings nur bei erhöhtem Arbeitsertrag möglich ist) keine 
Gefahr für die Gütererzeugung, sondern im Gegenteil die 
sicherste Gewähr für großen Absatz und damit für neue, 
verdienstbringende Aufträge für die Erzeugung. Glänzende 
Bezahlung des Arbeiters liegt im Interesse des Unternehmers! 

So entpuppen sich alle angeblichen Schwierigkeiten von 
heute als das gerade Gegenteil, als die glücklichsten Vor¬ 
aussetzungen, die die so heiß ersehnte deutsche Gemein¬ 
wirtschaft geradezu erzwingen. Mit ihr steigt ein neues 

Weltzeitalter herauf. • 

• * 

♦ 

Das können nur Andeutungen sein. Immerhin hoffe ich, 
daß sie das Wesentliche klar erkennen lassen. Was ist falsch, 
frage ich, an meinen Gedankengängen, was unmöglich von 
den Maßnahmen, die zu ihrer Verwirklichung notwendig 
sind? 


ALBERT BENCKE (München): 

Gedanken über die Zukunft der deutschen 
Arbeit und des deutschen Arbeiters. 

YX/IR stehen, wenn wir die Zukunft des deutschen Arbei- 
v ters und der deutschen Arbeit ins Auge fassen, vor 
drei Möglichkeiten: die eine ist der Durchbruch der Welt¬ 
revolution, durch welche uns die durch den Krieg auf¬ 
erlegten Sklavenfesseln abgenommen werden; die andere ist 
langsame Evolution, die einen erträglichen Zustand schaf¬ 
fen wird; die dritte ist das langsame und unter harten Stößen 
erfolgende Wiede rein renken in den alten Zustand, wie es 
etwa nach den Bauernkriegen im sechzehnten Jahrhundert, 
die eine gewisse Aehnlichkeit mit unseren heutigen Verhält¬ 
nissen haben,' der Fall war. Von vornherein erscheint die 
dritte dieser Möglichkeiten, an welcher natürlich das kapi¬ 
talistische Interesse der Westmächte vor allem noch zah 


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Gedanken über die Zukunft der deutschen Arbeit . ... 1269 


festhält, ausgeschlossen, denn die durch den Weltkrieg ent¬ 
fesselten und nach voller Befreiung verlangenden Kräfte 
haben heute ein zu weites Feld und zu gewaltige Massen 
hinter sich, um jemals wieder ganz zurückgedämmt werden 
zu können. So bleiben die baden anderen Möglichkeiten, 
und da scheint es nur, daß die Hoffnung auf die baldige 
Weltrevolution ebenso trügerisch ist, wie die Hoffnung des 
Kapitalismus, die Dinge wieder ins alte Geleise bringen zu 
können. Träfe diese Annahme zu, dann ergibt sich natürlich 
daraus eine besondere Richtlinie für die kräftige Stellung 
des deutschen Arbeiters, der dann seine Agitation, seine 
Tatkraft für Seine eigenen Interessen besser verwenden kann. 

Wie steht nun unter diesen Verhältnissen Deutschland da, 
welche Aussichten eröffnen sich seiner Arbeiterschaft, wenn 
die Entwicklung bei den Westmächten keinen raschen revo¬ 
lutionären Verlauf nimmt? Der deutsche Arbeiter wird sich 
dann in der Lage eines Mannes befinden, der eine an¬ 
scheinend überreiche Herrschaft in Gestalt eines prunkvollen 
Hauses übernimmt, das sich bei näherer Betrachtung mangels 
entsprechender Einrichtung als kaum bewohnbar erweist, ob¬ 
wohl es vorher ihm und denen, die er als seine Herren emp¬ 
fand, geräumige Wohnung gewährte. Unsere Industrie wird 
infolge der Rohstoffe die wir teurer bezahlen als die anderen, 
unter ungeheuer ersenwerten Bedingungen arbeiten und wird 
den geringen Reingewinn, der ihr bleibt, zum größten Teil 
in Gestalt der sogenannten Wiedergutmachungen an die En¬ 
tente abliefern müssen. Daran wini es wenig ändern, daß 
man die kleinen Einkommen möglichst schont und die großen 
Einkommen möglichst heranzieht, denn es wird eben nicht 
mehr viel große Einkommen in Deutschland geben; die Zeiten 
des großen Unternehmergewinns sind in Deutschland vorbei 
und darauf beruht eben unsere Zukunft und die Zukunft 
unseres sozialistischen Staates, daß sie vorbei sind. Das 
Mitbestimmungsrecht des Arbeiters an der Produktion, das 
ihm durch den entsprechenden Ausbau der Betriebsräte in 
solcher Weise gewährt werden muß, daß dadurch die Unter¬ 
nehmerinitiative, die für den technischen und organisatori¬ 
schen Fortschritt der Produktion unerläßlich ist, nicht aus¬ 
geschaltet wird, macht den Arbeiter zum Mitteilhaber an der 
Maschine, als deren Sklave er sich gefühlt hat; ein Gefühl, 
das er naturgemäß auf den Unternehmer als den Besitzer der 
Maschine. übertrug. Diese Mitteilhaberschaft des deutschen 


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1270 Oedanken über die Zukunft der deutschen Arbeit 


• • • 


Arbeiters würde nun tatsächlich die ersehnte" Befreiung 
herbeiführen können, wenn der deutsche Arbeiter gleich¬ 
berechtigt mit den Arbeitern der ganzen Welt über seine 
Produktion verfügen und sie unter denselben Bedingungen 
wie die anderen gestalten könnte. Das kann er aber nichts 
infolge des Friedens, der uns alle fesselt. 

Da sich nun der deutsche Arbeiter in dieser Lage seinem 
westländischen Arbeitsgenossen gegenüber befindet, nutzt ihm 
die weiteste politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung, 
die vollendetste Betriebsräteorganisation nichts, solange seine 
Arbeit wie bisher vorwiegend als Massenleistung bewertet 
wird. Er wird trotz hoher Löhne und Mitbestimmungsrecht , 
an der Produktion der Sklave der Maschine bleiben und 
wird sich als solcher fühlen, denn das liegt eben, von ganz 
wenigen Fällen abgesehen, im Wesen der Maschinenarbeit, 
daß sie den Menschen, der ohne Selbständigkeit nicht be¬ 
stehen kann, ohne entwürdigt zu werden, um sein Selbst 
bringt, ihn zum Handlanger macht und die traurigen Ent¬ 
artungserscheinungen, die wir heute sehen, sind zum guten 
Teil darauf zurückzuführen. Nur eine sehr hohe Lebenshal¬ 
tung, wie sie der englische und französische Arbeiter, der 
Arbeiter der Vereinigten Staaten wird haben können, kann 
hier das nötige Korrektiv bilden. Die einzige Möglichkeit 
für den deutschen Arbeiter in Zukunft, trotz der äußerst 
schwierigen Lage, in der sich Deutschland befindet, dennoch 
zu einer ähnlich hohen Lebenshaltung wie sein westländi¬ 
scher Kollege zu gelangen, kann dennoch nicht in einer 
Steigerung der Produktion liegen, kann nicht das Ideal der 
sich immer vergrößernden Massenleistung sein, denn an ihr 
liegt ja eben das mechanisierende Moment, das unser Volk 
krank gemacht hat und unseren Arbeiter zugunsten des west- 
ländischen Arbeiters versklavt wird, unter diesen günstigeren 
Bedingungen arbeiten kann, sondern sie beruht in einer 
entschlossenen Wendung zu einem ganz neuen Wirtschafts¬ 
plane hin. Nämlich in der Wendung zur ausschließlichen 
Qualitätsarbeit, die einen fein ersonnenen Mechanismus er¬ 
fordert, an dem sich das deutsche technische Geschick und 
die gewissenhafte Arbeit des Deutschen auswirken können. 
Eine Qualitätsarbeit, deren Rohmaterialbedarf im Verhältnis 
zur Massenfabrikation nur gering ist, der aber andererseits 
die höchsten Preise fordern darf, und sie auch erhält, weil 
sie konkurrenzlos ist. Eine solche Arbeit stellt an den Ar- 


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Gedanken über die Zukunft der deutschen Arbeit 


1271 


beiter die höchsten Anforderungen und verknüpft ihn mit 
dem ganzen Arbeitsprozeß, so daß er einen persönlichen 
Anteil an dem fertiggestellten Stück nehmen und dafür auch 
den Lohn erhalten kann, der ihm gebührt. Dadurch würde 
allerdings eine große Anzahl unserer Arbeiter arbeitslos und 
hier hat nun eine großzügige Organisation unseres Sied¬ 
lungswerkes einzusetzen. Die Parole der Zukunft muß sein: 
Nur der hochbezahlte Industriearbeiter als Qualitätsarbeiter 
hat in unserer Industrie Berechtigung, die anderen aber sollen 
wieder freie Menschen auf freier Erde werden, sich ihres 
Besitzes, ihres Hauses und Heimes, zu dessen Erwirtschaftung 
der Staat sie weitgehend unterstützen muß, erfreuen, und 
damit nicht nur aus sich selber wieder neue Menschen schaf¬ 
fen, die nicht im Dunst der Arbeiterviertel der großen Städte 
leben, sondern uns auch unserer Nahrungsmittelsorgen ent¬ 
heben, indem sie Deutschland wieder zum Agrarland und 
hochentwickelter, intensiver, aber nicht quantitativer Quali¬ 
tätsindustrie umschaffen. 

Gelingt uns dies, machen wir uns wieder mit unserer 
Lebensmittelversorgung vom Auslande unabhängig, schaffen 
wir eine Qualitätsindustrie, die nur eine verhältnismäßig 
kleine aber erlesene und eine hohe Lebenshaltung genießende 
Schar von Arbeitern braucht, dann brauchen uns die Bedin¬ 
gungen des Gewaltfriedens für die Zukunft nicht zu schrecken 
und der deutsche Arbeiter kann mit erhobenem Haupte in 
die Zukunft blicken. Heißt aber unser Schibboleth: Leistung, 
Leistung, Mehrproduktion und Mehrproduktion, um unsere 
Schulden abzuzahlen und einen Gewinn herauszuwirtschaften, 
dann arbeiten wir für den mit seinen Arbeitern Hand in 
Hand gehenden westländischen Kapitalismus — den west- 
ländischen Arbeitern ist daraus kaum ein Vorwurf zu machen 
— und unsere Arbeiterschaft wird dann, auch wenn ihr die 
Produktion ganz überantwortet würde, nicht aus dem Sklaven¬ 
joch herauskommen, denn auch völligste Vergesellschaftung 
der Produktion nützt dem Arbeiter nichts, wenn diese ver¬ 
gesellschaftete Produktion teurer arbeitet, unter einem Drucke 
steht, von dem der Nachbar frei ist. Wir hätten dann die 
Methoden des Sozialismus, ohne jemals seine Früchte zu 
ernten. 

Und wie zahlen wir dann unsere Schulden? Die Entente 
wird sich dann eben doch dazu verstehen müssen, uns lang¬ 
fristige Termine zuzugestehen und eine hochwertige QuaU- 


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1272 


Bücherschau. 


tätsarbeit erträgt auch eine starke Belastung weit eher 
als die Massenproduktion. Das Ziel der Entente ist eben, aus 
Deutschland herauszupressen, was sie vermag, und das kann 
sie nur erreichen, wenn wir im selben Sinne Industrieland 
bleiben ,wie bisher, und unser Arbeiter würde die ganze 
Schwere dieser Last fühlen. Aus einem stark agrarisierten 
Deutschland aber ließe sich nur in kleinen Tropfen holen, 
was man uns jetzt in Güssen abschöpfen will, und dann kommt 
uns die Zeit mit ihren Wandlungen zu Hilfe, die auch eine 
Wandlung in dieser Karikatur eines Friedensvertrages her¬ 
beiführen wird. 


Bücherschau. 

Dr. Fritz Gerlich: „Der Kommunismus als Lehre vom 
Tausendjährigen Reich “ München 1920. Hugo Bruck¬ 
mann Verlag. (Geh. M. 7,—, geb. M. 10,—, 276 Seiten.) 

Der Weltsturm unserer Tage, der soviel Apokalyptisches (in 
der Offenbarung Johannis Vorhergesagtes ) in sich birgt, 
hat so manchem gebildeten und tiefer veranlagten Beobachter 
die ersten Zeiten der christlichen Religion ins Gedächtnis 
zurückgerufen. Eines der Kennzeichen der urchristlichen Ge¬ 
meinden war der Chiliasmus oder der Glaube an die Errich¬ 
tung des Tausendjährigen Reichs (chilioi heißt auf griechisch 
1000). Die ersten Cfiristen glaubten, daß der Satan, worunter 
sie die weltliche Gewalt, oder den römischen Imperialismus 
verstanden, bald gefesselt und in den Abgrund gestürzt 
und einem Reiche der Gerechtigkeit Platz machen würde. 
Der Chiliasmus war der G|aube der Urchristen an den 
Zukunftsstaat Jesu und der auferstandenen Märtyrer. Der 
Verfasser versucht nun in seinem Buche den Nachweis zu 
führen, daß der Marxismus nur eine moderne Ausgabe des 
urchristlichen Chiliasmus sei, insbesondere der Bolschewis¬ 
mus, dessen Führer orthodoxe Marxisten sind. Gerlich hat' 
sehr viel gelesen, hauptsächlich jedoch Tagesliteratur, so¬ 
zialdemokratische sowohl wie bolschewistische und sparta- 
kistische, aber er hat sich doch mit Marx, wie überhaupt mit 
Quellenschriften, herzlich wenig beschäftigt. Er kennt von 
Marx nur das „Kommunistische Manifest , seine sozialöko- 
nomische Geistesarbeit vor und nach dem „Manifest“ kennt 


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Bücherschau. 


1273 


Gerl ich gar nicht. Sonst wäre es ihm unmöglich, die Behaup¬ 
tung aufzustellen, die Verfasser des „Manifests“ hätten da¬ 
mals noch gar keine Ahnung gehabt „vom Mehrwert und 
ähnlichen angeblichen Volkswirtschaftsgesetzen“ (Seite 39). 
Er kennt also weder Marxens „Elend der Philosophie“ noch 
. Engels „Umrisse“ (in den Deutsch-Französischen Jahr¬ 
büchern), die beide tüchtige volkswirtschaftliche Studien vor¬ 
aussetzen und die vor dem „Manifest“ erschienen. Der Ver¬ 
fasser zitiert zwar Engels des öftern, aber auch seine Arbeiten 
kennt er nur teilweise, so zum Beispiel gibt er an, daß Engels’ 
„Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissen¬ 
schaft“ „erstmals 1883 herausgegeben“ worden sei (Seite 
211). Er weiß'also auch nicht, daß diese Schrift ursprüng¬ 
lich nur ein Kapitel des Anti-Dühring (1877—1878) bildete. 

Des Verfassers Ansichten über Marx und Engels als Agi¬ 
tatoren des Chiliasmus, sowie über den modernen Sozialismus 
als eine religiöse Schwärmerei, sind demnach nicht ernst 
zu nehmen. Noch mehr: Oerlich kennt auch den Chiliasmus 
nur oberflächlich; er verwechselt seinen Ideengehalt mit 
dem der Bergpredigt und der Aszese. Er stellt den christ¬ 
lichen Chiliasmus dem angeblich marxistischen gegenüber 
und meint, jener „verwerfe Konsequenterweise jeglichen Trieb 
aut irdische Güter“ (Seite 263), während der marxistische 
„nichts von dieser allgemeinen Selbstüberwindung kennt“. Ich 
möchte dem Verfasser empfehlen, bei den Kirchenvätern 
Irenäus und Lactantius die paradiesische Ausmalung der irdi¬ 
schen Freuden im chiliastischen Reiche nachzulesen. Der 
heilige Irenäus (gegen Ende des 2. Jahrhunderts) schildert 
den christlich-kommunistischen Zukunftsstaat wie folgt: 

„Es werden Tage kommen, in denen Weinstödce wachsen 
werden, jedes mit 10 000 Aesten, an jedem Ast 10 000 Zweige, 
an jedem Zweig 10 000 Schößlinge, an jedem Schößling 
10 000 Trauben, an jeder Traube 10 000 Beeren und jede 
Beere wird beim Keltern 25 Metreben (1000 Liter) Wein 
geben... Desgleichen wird auch ein Weizenkorn 10000 
Aehren erzeugen, jede Aehre 10 000 Körner und jedes Körn 
10 Pfund weißen reinen Mehls. Und dementsprechend wird 
auch der Ertrag der übrigen Baumfrüchte, Samen und Kräu¬ 
ter sein. . . Das hat Papias, ein Mann der alten Zeit (einer 
von den alten Genossen), von Johannes, dem Jünger Jesu, 
selbst gehört; und wer aaran nicht glaubt, Tst em Ungläubi¬ 
ger, wie Judas, der Verräter.“ Und er zitiert Jesaja und 


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1274 


Bücherschau. 


Jeremia: „Alsdann wird sich die Jungfrau am Reigen er¬ 
freuen und Jünglinge und Greise zumal, und ich will ihre 
Trauer in Wonne wandeln und sie trösten und fröhlich 
machen nach ihrem Kummer“ (vergleiche Pöhlmann, „Ge¬ 
schichte der sozialen Frage in der antiken Welt“. 1912. 
2. Band, Seite 624—630). Das sieht nicht nach einer konse¬ 
quenten Verwerfung der irdischen Güter aus. Wer sich etwas 
gründlicher als Gerlich mit dem Chiliasmus beschäftigt hat, 
kann seine Ansichten hierüber ebensowenig ernst nehmen, 
wie seine Ansichten über Marx und Engels. Uebrigens 
war der Chiliasmus kein spezifisch christliches Erzeugnis. 
Er war nur eine christliche Uebersetzung der im hellenisch¬ 
römischen Kulturkreis vorhanden gewesenen Idee von der 
Wiederkehr des goldenen oder saturnischen Zeitalters, wie 
dies unter anderem aus der berühmten 4. Ekloge Vergils 
ersichtlich ist. Auch sonst zeigt das Buch, daß sein Ver¬ 
fasser nur ein belesener Dilettant, wenn auch ein sehr ge¬ 
wandter Publizist ist. Er widmet mehrere Seiten dem Nach¬ 
weise des Unterschiedes zwischen der deutschen und der 
englischen „Lebensidee“, wobei er findet, das zur „eng¬ 
lischen Lebensidee die Hochschätzung des Verstandes, bzw. 
der Vernunft, gehört. . . Der Verstand aber ist auch das 
wichtigste Hilfemittel zur Beherrschung der Mitmenschen 
in der Diplomatie, zu ihrer Ausbeutung im Handel“ (Seite 
1671. Wenn Gerlich sich näher in der Geschichte der Philo¬ 
sophie umgesehen hätte, würde er gewußt haben, daß der 
Nominalismus, also das Irrationale, in England seine Heimat 
hatte. 

Trotz alledem ist Gerlichs Buch lesenswert; es ist an¬ 
regend geschrieben und enthält eine große Menge inter¬ 
essanter Auszüge aus den Schriften deutscher Denker, sowie 
der Bolschewisten, Spartakisten und Revolutionäre, die als 
ein guter Literaturnachweis für eine Geschichte der russischen 
und deutschen Revolution dienen können. M. Beer. 

* 

% 

Professor Dr. Franz Oppenheimer: ,, Kapitalismus , Kommunis - 
. mus, Wissenschaftlicher Sozialismus“ Berlin und Leip¬ 
zig. 1919. Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. 

Derselbe: „Die soziale Forderung der Stunde. Gedanken 
und Vorschläge.“ Verlag Neuer Geist, 1919. Preis 
Mk. 1,35. 39 Seiten. 


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Bücherschau. 


1275 


Mit Sachkenntnis und Scharfsinn bedient sich der Verfasser 
des Marxschen Oedankenapparats, um theoretisch den So¬ 
zialismus mit dem Liberalismus zusammenzubringen und prak¬ 
tisch die Marxisten für die Beseitigung des Bodenmonopols 
zu gewinnen. Das Wesentliche seiner Auffassung besteht in 
folgenden drei Sätzen: „1. Außerökonomische Gewalt hat 
das gesellschaftliche Klassenverhältnis geschaffen, und zwar 
Klassenmonopolverhältnis; 2. wo unter einem Monopol¬ 

verhältnis gelauscht wird, entsteht Mehrwert; 3. die das 
Klassenmonopolverhältnis vermittelnde Sache ist der Grund 
und Boden, der durch jene außerökonomische Gewalt gegen 
das Bedürfnis der Masse gesperrt wird.“ Der Gruna und 
Boden soll deshalb jedermann zugänglich gemacht werden. 
Sobald der Arbeiter die Möglichkeit hat, eine auskömmliche 
Existenz aus der Landwirtschaft zu ziehen, hört seine Ab¬ 
hängigkeit vom Industriekapital auf. Er ist dann nicht ge¬ 
zwungen, Mehrwert für das industrielle Kapital zu erzeugen. 
Und wenn der'Mehrwert verschwindet, fällt das ganze kapi¬ 
talistische System in sich zusammen. Oppenheimer begründet 
seine These durch die Marxsche Dialektik. Marx kannte 
aber das Wesentliche der Oppenheimerschen Lehre im vor¬ 
aus. Er kannte sie aus den Schriften der belgischen, eng¬ 
lischen und amerikanischen Bodenreformer. Aber er hat 
sie entschieden abgelehnt. Als ihm sein amerikanischer 
Freund Sorge im Jahre 1880 das Buch des Bodenreformers 
Henry George gesandt hatte, antwortete Marx, diese ganze 
Theorie entsprang dem Interesse der radikalen (linksliberalen) 
englischen Bourgeoisie, und daß Henry George sie annehme, 
sei um so befremdlicher, als er sich hätte die Frage stellen 
sollen: „Wie ging’s zu, daß in den Vereinigten Staaten von 
Nordamerika, wo relativ, das heißt, verglichen mit dem zivi¬ 
lisierten Europa, der Boden den großen Massen zugänglich 
war, die Kapitalherrschaft und die entsprechende Knechtung 
der Arbeiterklasse sich rascher und schamloser entwickelt 
haben, als in irgendeinem andern Lande!“ (Sorges Brief¬ 
wechsel, Seite 177). - 

Unseres Erachtens schadet Oppenheimer seiner Bodenreform¬ 
propaganda, indem er sie zum Allheilmittel machen will. Das 
deutsche Volk muß früher oder später zur Bodenreform 
greifen; die gegenwärtige Lage zwingt es einfach dazu. 
Oppenheimer würde die deutsche Arbeiterklasse eher für 
seine Pläne gewinnen, wenn er sie als Anfang des. Ueber- 


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1276 


Glossen. 


gangs zum Sozialismus darstellte. Uebrigens kann kein Marxist 
aie außerökonomische, nackte Gewalt als die Begründerin 
der kapitalistischen Ordnung betrachten. Die nackte Gewalt 
kann nichts schaffen. Wo sie scheinbar schafft, ist sie nur 
das Instrument einer wirtschaftlichen Notwendigkeit. Marx 
hat absolut recht, indem er die Produktion der notwendigen 
Guter zur Grundlage und zur dynamischen Kraft der Ge¬ 
sellschaft macht, und die die Produktion fördernde Klasse 
wird zur herrschenden Klasse, solange eine Klassengesell¬ 
schaft besteht. X. 


Glossen . 

• 

Und wenn das allgemeine Wahlrecht keinen andern Gewinn 
geboten hätte, als daß es uns erlaubte, uns alle drei Jahre zu 
zahlen; daß es durch die regelmäßig konstatierte, unerwartet rasche 
Steigerung der Stimmenzahl in gleichem Maße die Siegesgewißheit 
der Arbeiter wie den Schrecken der Gegner steigerte und so unser 
bestes Propagandamittel wurde; daß es uns genau unterrichtete 
über unsere eigene Stärke wie über die aller gegnerischen Parteien, 
und uns dadurch einen Maßstab für die Proportionierung unserer 
Aktion lieferte, wie es keinen zweiten gibt, uns vor unzeitiger Zag* 
haftigkeit ebensosehr bewahrte wie vor unzeitiger Tollkühnheit — 
wenn das der einzige Gewinn wäre, den wir vom Stimmrecht 
haben, dann wäre es schon über und über genug. Aber es hat 
noch viel mehr getan. In der Wahlagitation lieferte es uns ein 
Mittel, wie es kein zweites gibt, um mit den Volksmassen da, wo 
sie uns noch ferne stehen, in Berührung zu kommen, alle Parteien 
zu zwingen, ihre Ansichten und Handlungen unseren Angriffen 
gegenüber vor allem Volk zu verteidigen; und dazu eröffnete es 
unseren Vertretern im Reichstag eine Tribüne, von der herab 
sie mit ganz anderer Autorität und Freiheit zu ihren Gegnern 
iin Parlament wie zu den Massen draußen sprechen konnten, 
als in der Presse und in den Versammlungen. 

Friedrich Engels. 




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INHALT DIESER NUMMER: 


Peter Knute: Versailler Staatenbaukunst . . . 1277 
Theodor Schmidt: Wer hemmt den volkswirt¬ 
schaftlichen Wiederaufbau Deutschlands? . . 1281 
Dr. Friedrich Markus Huebner (im Haag): Ent¬ 
stehung der Clartö-Bewegung.1290 

Erich Schlaikjer: Die Sozialisierung der Bühnen 1301 
Bücherschau: „Weltprotest gegen den Versailler 
Frieden“ ..1306 


Nummer40 der „Glocke“ hatte folgenden Inhalt: 

Dr.Roderich v.Ungern-Sternberg: Ist ein deutsch- 
russisches Abkommen wünschenswert? . . . 

Dr. E. Jenny: Arbeiterkapitäne ... . . . . . 
Friedr. Th. Körner: Der Kampf um Oberschlesien 
Eduard Wenzel: Der sozialistische Zukunfts¬ 
staat — in Deutschland eine Tatsache von 

morgen! .... 

Albert Bencke (München): Gedanken über die 
Zukunft der deutschen Arbeit und des deut¬ 
schen Arbeiters .. 

Bücherschau. 

Glossen . 


1245 

1249 

1254 


1258 


1268 

1272 

1276 


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DE GLOCKE 

41. Heft 10. Januar 1920 5. Jahrg. 

Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet 


PETER KNUTE; 

Versailler Staatenbaukunst. 

Die Neubildung des europäischen Sudostens. 

QELBSTSUCHTund bankerotte Diplomatenkunst führten die 
^ Hand der Staatsmänner in Versailles, als. sie den Staaten¬ 
bau des europäischen Südostens zimmerten. Die Militärs 
standen Pate bei der Oeburt der großen politischen Richt¬ 
linie, eine Ostbarriere zu bauen, die einen Bajonettenwall gegen 
Deutschland schaffe. Dieser Wall hat sicn in seiner Nord¬ 
führung durch die tschechisch-polnischen, polnisch-ukraini¬ 
schen, polnisch-litauischen Differenzpunkte schon als brüchig 
erwiesen. Brüchig ist er namentlich auch im Südwesten, 
wo er Deutschland den Weg zum Balkan abschnüren soll. 
Hier herrscht volle Anarchie unter den Völkergruppen, die 
die Entente liebevoll beschattet und unliebevoll zwangs¬ 
weise, je nach ihren höchst einseitigen Interessen, entweder 
bindet oder trennt. Da der Herd der Unruhe, der sich im 
europäischen Südosten auftut, nicht weit von Deutschlands 
Grenzen liegt, und so Deutschlands zukünftige Entschließun¬ 
gen beeinflussen muß, hat sich die deutsche Aufmerksam¬ 
keit rechtzeitig mit den Problemen vertraut zu machen, die 
sich in dem alten europäischen Wetterwinkel aus den Neu¬ 
bildungen ergeben. 

Am 29. Oktober 1918 hatte Pribitschewitsch im Agramer 
Landtag den Antrag gestellt, alle staatsrechtlichen Beziehun¬ 
gen zu Oesterreich-Ungarn zu lösen. Seit mehr als einem 
Jahr besteht also das jugoslawische Königreich. Das" Fazit, 
gezogen aus dieser Zeit, ist niederschmetternd. Das 
erträumte große slawische Reich des Balkans ist nach innen 
und außen zerrissen. Es rächt sich die graue Theorie der 
Entente, die, um dem Deutschtum zu schaden und ihm einen 

41/1 


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1278 


Versailler Staatenbaukunst. 



Keil in die Südostflanke zu treiben, die heterogensten Ele¬ 
mente zusammengerafft und mit ihnen ein Staatsgebilde ge¬ 
flickt hatte. Die berühmte, jetzt berüchtigte Selbstbestimmung 
der Nationen, mit der man während, des Krieges bluffte, 
war nach dem Kriege Hekuba geworden. Man. hatte rein 
deutsche Gebietsteile aus dem österreichischen Leibe gerissen 
und sie an den jungen Staat angestückelt. Eine Irredenta 
ist im Aufflammen in den urdeutschen. Städten und Gemeinden 
Steiermarks und Kärntens, in Marburg, Pettau, St. Leonhard, 
die kaum zu bewältigen ist. Nicht minder ist die Verbitterung 
groß in Klagenfurt, wo man einen Abstimmungsbezirk aus 
Klagenfurt, Völkermarkt, Bleiburg, Gutterstein, Eisenkappel, 
Feistritz gebildet hat, trotzdem die Februarabstimmung er¬ 
gab, daß fast achtzig Prozent der Bevölkerung bei Deutsch¬ 
österreich verbleiben wollen. Auf der anderen Seite hat der 
Tribunal in Versailles, hin- und hergerissen von chauvinisti¬ 
schen Forderungen, die rein slawischen Gebietsteile Görz und 
Gradiska an Italien gegeben. Mit den Slawen in Triest, in 
Istrien und in jder Provinz Udine bezifferte sich die agi¬ 
tatorisch leidenschaftliche slawische Irrederita in Italien auf 
eine halbe Million. Zu diesen slawisch-romanischen Gegen¬ 
sätzen kommen noch die durch die Garibaldiparodie d’Annun- 
zios hervorgerufenen Konflikte wegen Fiume, Dalmatien und 
der adriatischen Inseln. Hier kochen die nationalen Leiden¬ 
schaften, und jeder Tag kann den blutigen Austrag ent¬ 
zünden. 

Hilflos urid gespalten steht die Entente den staats¬ 
rechtlichen Schwierigkeiten dieses Fragenkomplexes gegen¬ 
über. Wilson ist für die reine, Selbstbestimmung gemischt mit 
einem Nachgeben im Falle wirtschaftlicher Existenzschwierig¬ 
keiten. Er spricht deshalb, gewiß aus guten Gründen und 
aus ethnographischer Selbstverständlichkeit, Fiume den Süd¬ 
slawen zu. England und Frankreich kommen zu keinem Ent¬ 
schluß. „Einerseits“ will man sich Italien als ferneren Bun¬ 
desgenossen erhalten, „andererseits“ liebäugelt der Quai 
d’Orsay mit dem alten deutschfeindlichen Plane einer Slawen¬ 
monarchie, die die Länder des ehemaligen Oesterreich-Ungarn 
einschließt. Da Südslawien das tragfähige Gerippe dieses 
Staates bilden soll, kommt man in Versailles nicht aus den 
Gegensätzen heraus. Die Pariser Presse hat nicht ganz 
unrecht, wenn sie von einer Vertrottelung der äußeren Po¬ 
litik spricht. Clemenceaus Verbeugung vor den Südslawen 


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Versailler Staatenbaukunst. 


127 ^ 


in seiner letzten großen Kammerrede ist der Beweis für das 
unentrinnbare Labyrinth, in das sich die internationale Un¬ 
fähigkeit begeben hat. Die Angriffe des italienischen Senats 
auf den französischen Ministerpräsidenten beleuchten die Si¬ 
tuation und geben einen Vorgeschmack dessen, was sich auf 
der Januarkonferenz über die „endgültige“ Regelung der 
Balkanfragen zutragen mag. Die Phantasie dringt in das ge¬ 
heimnisvolle Dunkel des Rats der Fünf und schauert vor 
so . viel Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit. 

Konfliktsstoffe für das junge südslawische Gebilde nach 
allen Seiten. Die Frage des Banats bringt die Rumänen und 
die Ungarn gegen die Südslawen auf. Bei der großen wirt¬ 
schaftlichen Bedeutung dieses Gebiets und bei der Unnach¬ 
giebigkeit der Rumänen und Serben ist die Gefahr eines 
Zusammenstoßes mit den Waffen hier nicht minder groß als 
im Süden. Die Lage Südslawiens wird durch die Gebunden¬ 
heit an diese „lateinische Schwester“ doppelt kompliziert. 
Auch im Osten lauern, wenngleich nicht unmittelbar, Ge¬ 
fahren. Die Verteilung Mazedoniens, dessen bulgarischer 
Charakter im Jahre 1912 feierlich bekundet wurde, an Ser¬ 
bien und Griechenland, dazu die Regelung der thrazischen 
Frage müssen Bulgarien/ dessen ganzes nationales Sein in 
diesen Fragen gründet, für immer unversöhnlich machen. 
Wenn Ungarns und Bulgariens Machtverhältnisse sich in 
späterer Zeit wieder heben Und der wirtschaftliche Druck 
nachläßt, wird der Ring geschlossen sein, der Südslawien 
aut ganz andere Aufgaben hinleitet, als es der egoistische 
Wille der Alliierten wünschte. 

Sovief Unnatur nach außen, soviel Unnatur im Innern. Die 
theoretische Staatsidee eines S-H-S-Staates, „Kraljevstvp Srba, 
Hrvata i Slovenaca“ — Königreich Serbien, Kroatien und 
Slowenien —, hat in dem jungen Königreich nationale Gegen¬ 
sätze zusammengeführt, von denen es immer ungewisser 
wird,, ob sie sich je, trotz Bluts- und Sprachverwandtschaft, 
ausgleichen werden. Nie war die Zeit, nie waren die Sehn¬ 
süchte für die Erfüllung des Traumes von der Wiederher¬ 
stellung des iilyrischen Reiches günstiger. Dem ersten leiden¬ 
schaftlichen Entgegenkommen zur slawischen Einigkeit im 
Süden folgte aber bald wieder der alte Haß zwischen Serbien 
einerseits und Kroatien und Slowenien andererseits, jener 
Haß, der' sich während des .Kriegs allerblutigst ausgetöbt 
hatte und der neue Nahrung fand in dem ungezügelten 

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1280 


Versailler Staatenbaukunst. 


Unterwerfungsdrang, den die serbische Soldateska in Kroatien 
und Slowenien beweist. Hier ist von slawischer Brüderlichkeit 
noch keine Rede und auch die Religionsgegensätze leben 
neu auf. Das Blut fließt schon, und der Aufruhr ist im 
Gange. Ueber Südslawien, in das Serben, Kroaten, Slowenen, 
Bosnier, Herzegowiner, Dalmatiner, Montenegriner einge¬ 
schlossen sind, weht schon die Fahne des Abfalls. Die 
Prediger der Autonomie der einzelnen Länderteile wandern 
in die Gefängnisse, und die Gewaltherrschaft der Serben 
nimmt — etwas preußisch gefärbt — immer aufreizendere 
Gestalt an. Hier hilft auch nicht mehr die Taktik, die natio¬ 
nale Einigung auf dem Gebiete der äußeren Schwierigkeiten 
zu sammeln. Die Montenegriner, wie die Kroaten und Slo¬ 
wenen, feind aller serbischen Vorherrschaftsgelüste, fallen 
die serbischen Besatzungstruppen in Montenegro an und 
treiben sie zurück. Gegen die „Getreuen des Königs Nikita“ 
können sich die Serben nur noch in Cetinje, Podgoritza und 
Nikschitz halten. Und in Kroatien und Slowenien konspi¬ 
riert man augenscheinlich schon mit Wien und Budapest, 
vielleicht auch mit Bukarest Und Rom, um eine neue Front zur 
gemeinsamen Verteidigung gegen politische Anarchie und 
wirtschaftliche Nöte zu finden. So paradox wie es scheint:. 
Es gewinnt immer mehr den Anschein, als würde sich aus 
Zusammenbruch und Wiederaufbau die große Weisheit los¬ 
schälen, als wäre das Staatsgebilde Oesterreich-Ungarn doch 
nicht nur Unnatur gewesen und als hätte nur aas habs¬ 
burgische Divide et impera! die Schuld des Niederbruchs 
zu tragen. Vielleicht erlebt Europa noch einmal den großen 
Wiederaufbau dieses Reichs, das bei gemäßigtem nationalen 
Trommelschlag die wirtschaftlichen Bedürfnisse einer ganzen 
Reihe Kleinstaaten befriedigen kann, die ansonsten aus Man¬ 
gel an materiellen Triebkräften und aus Ueberschuß an 
nationaler Leidenschaft dem Chaos überantwortet wären. 

Deutschland ist bei dem Geschehen im Südosten der leiden¬ 
schaftslose Beobachter: Und ob nun Balfour mit seinem 
auf Watsons Idee aufgebauten Plan eines Südslawiens oder 
ob der kluge Nikola Paschitsch mit seinem Großserbischen 
Staat, der Nachschöpfung des Reichs des Zaren Duschan, 
recht behält: Deutschlands Interessen liegen nur auf seiten 
der staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung und gegen das 
Chaos. Sein großer politischer Außengedanke, in moralischen 
Eroberungen freundnachbarliche Verhältnisse zu schaffen, 


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Wer hemmt den Volkswirtschaft!, Wiederaufbau ... 1281 

wird fruchttragend sein. Ihm wird die Zukunft und das Glück 
seines Volkes gehören. 

Daran wird auch die handwerkliche Kunst der Staaten¬ 
baumeister in Versailles nichts ändern. 


THEODOR SCHMIDT: 

Wer hemmt den volkswirtschaftlichen 
Wiederaufbau Deutschlands? 

ALLE wichtigen Fragen der Politik und Volkswirtschaft 
klingen heute mehr oder weniger in die eine Frage aus: 
Wie kommen wir aus diesem wirtschaftlichen Elend heraus? 

Alle möglichen und unmöglichen Dinge. sind von allen, 
die sich, mit dieser Frage beschäftigt haben, herangezogen 
worden, um den Weg aus diesem Elend zu zeigen. Aber alle 
diese Dinge haben doch nicht in dem Maße geholfen, wie 
sie helfen sollten. Notwendig ist aber, die Volkswirtschaft 
so bald wie möglich auf eine andere Stufe zu bringen. Die 
Volkswirtschaft muß durch die stetige Erhöhung der Pro¬ 
duktion und durch Schaffung wirklicher Werte gehoben 
werden. 

Ein Mittel, wenigstens in etwa, die Produktion zu steigern, 
wirkliche Werte zu schaffen ist augenblicklich durch die 
Wiedereinführung des Akkordlohnsystems gefunden worden. 
Man mag zu dem Akkordlohnsystem stehen wie man will, 
man muß es unter den heutigen Verhältnissen begrüßen, 
daß es wieder eingeführt wird. Manche Härten, die das 
Akkordlohnwesen in der reih kapitalistischen Zeit aufwies, 
werden nicht mehr in die' Erscheinung treten. Während vor 
der Revolution bei der Festsetzung des Akkord- oder Stück¬ 
lohnes die Arbeiterschaft, selbst der betreffende Arbeiter, der 
durch den Stücklohn betroffen würde, nicht gefragt wurde, 
sondern der Akkordlohn den Arbeitern einfach willkürlich 
festgesetzt wurde, ist doch unter den heutigen Verhältnissen 
der Arbeiter bei Festsetzung des Akkordlohnes selbst beteiligt. 
Wo die näheren Umstände einen Akkord für einzelne Arbeiter 
nicht zulassen, ist durch die Neuordnung der Dinge jedoch ein 
Akkordlohnsatz nur unter Mitwirkung des Arbeiterausschusses 
und der gewerkschaftlichen Organisationen festzusetzen. Nach 
diesen Grundsätzen ist in einigen Städten des Industriebezirks 


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1282 Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 


bei den letzten Verhandlungen verfahren worden. Man kann 
im allgemeinen sagen, daß es unter den neuen vereinbarte^ 
‘Akkordlohnsätzen der Arbeiterschaft möglich ist, bei gestei¬ 
gerter Arbeitsleistung ihr Einkommen um ein beträchtliches 
-zu erhöhen. Die Arbeitslust und, Arbeitsleistung wird mit der 
Einführung des-Akkordlobnsvstems ganz gewiß eine beträcht¬ 
liche Steigerung erfahren. Ich bin der Ueberzeugung, daß, 
hätte man das Akkordlohnsystem etwas früher angewandt, 
etwas früher wieder zuf Einführung gebfacht, dem Arbeiter 
mancher - bittere Vorwurf erspart geblieben wäre. Alles, 
was bisher über die Produktionsverhältnisse gesagt worden 
ist, klang zum größten Teile dahin aus, daß die Arbeitsunlust 
und die Minderleistung der Arbeiter an dem ganzen Elend 
unserer wirtschaftlichen Lage schuld sei. Zweifellos ist es 
richtig, daß der Arbeiterschaft ein Teil dieser Schuld trifft, 
und wird die Arbeiterschaft diesen Vorwurf nicht wieder los. 
Die vielen politischen Unruhen, die vielen Arbeitseinstellungen 
gegen den Willen der Organisationsleitungen haben viel zu 
den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen beigetragen, die 
alleinige Schuld sind sie aber keineswegs. 

Die Produktionsweise mußte bei Ausbruch des Krieges, von 
der Friedenswirtschaft in die Kriegsbedarfswirtschaft umge¬ 
stellt werden. Hierdurch machte sich aber nicht allein eine 
Umlernung der Arbeiter selbst, nicht nur eine Aenderung an 
Maschinen und Werkzeugen notwendig, sondern die ganze 
Wirtschaftsweise bedurfte einer Umwälzung. So wurden gleich 
bei Beginn des Krieges nicht allein neue Maschinen und 
dergleichen angeschafft und in Betrieb gesetzt, sondern ganze 
Gebäude, die der Friedenswirtschaft gedient hatten, mußten 
abgerissen und neu errichtet werden. Verschiedene Gebäude 
bedurften auch wohl nur einer Umänderung der inneren 
Einrichtung. Während des ganzen Krieges wurde die Um¬ 
stellung der Produktionsweise weiter betrieben. Immer größere 
Betriebe wurden ganz und gar in den Dienst der Kriegsbe¬ 
darfswirtschaft gestellt. Aber auch immer mehr neue Ge¬ 
bäude und Betriebseinrichtungen wurden zur Befriedigung der 
Kriegsbedürfnisse errichtet. Noch Mitte V918 waren ver¬ 
schiedene größere industrielle Werke mit der Erweiterung 
und Neueinrichtung ihrer Betriebe für die 'Kriegsbedarfs¬ 
wirtschaft beschäftigt. ' 

Bei dem plötzlichen Abbruch des Krieges geriet aber die 
Produktionsweise des Krieges vollständig ins Schwanken. Die 


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Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 1283 


Produkte, die während des Krieges in den Betrieben hergestellt 
worden waren, wurden nicht mehr gebraucht. Für ihren 
Verbrauch waren keine Bedürfnisse mehr vorhanden. -Auch 
neue Produkte konnten nicht mehr hergestellt werden, da 
auch für sie keine Verwertung mehr vorhanden war. Die 
Produktionsweise des Krieges bedurfte eben einer Aenderung. 
Nur diejenigen Betriebsabteilungen, die auch während des 
Krieges aut die Herstellung von Verkehrsmitteln, besonders 
Eisenbahnmaterial, eingestellt waren, konnten ihre Produktion 
weiter betreiben. Das waren aber verhältnismäßig nur wenige 
Betriebe, die hierfür erhalten geblieben waren, der allergrößt^ 
Teil sämtlicher Betriebe war ganz und gar fijr die Bedarfs¬ 
wirtschaft des Krieges eingestellt. 

Ebenso wie bei Ausbruch des Krieges die^Produktion in den 
Dienst der Kriegsbedarfswirtschaft gestellt werden mußte, 
ebenso mußten sie bei Beendigung des Krieges auf die Be¬ 
dürfnisse der Friedenswirtschaft eingestellt werden. Während 
bei Beginn des Krieges die Umstellung der Produktion von 
Anfang an eine fieberhaft schnelle gewesen war, war sie 
bei Beendigung des Krieges, eine unglaublich langsame. Ob¬ 
wohl es bei dem plötzlichen Zusammenbruch unbedingt not¬ 
wendig gewesen wäre, die Umstellung der Produktion, im 
Interesse der Volkswirtschaft, in die rriedensbedürfnisse so 
schnell wie möglich zu bewerkstelligen, war das gerade Ge¬ 
genteil der Fall. ' 

Die Arbeiterschaft, durch den langen Krieg vollständig 
an Leib und Geist zerrüttet, ergriff zuerst die Gelegenheit 
beim Schopfe, ihre Lage (einigermaßen zu verbessern. Das 
Unternehmertum dagegen war im ersten Augenblick voll¬ 
ständig ratlos und auch vollständig tatlos. Alle Volkswirt¬ 
schaft blieb liegen, keiner wollte für den andern etwas tun, 
alles wartete ab, wie die ganze Sache verlaufen würde. Die 
Arbeiterschaft, von einigen fanatischen Revolutionären auf¬ 
geputscht, legte hier und da, teils in größeren, teils in kleineren 
Verbänden, die Arbeit nieder, um für sich so viel wie möglich 
bei der Umwälzung herauszuholen. Alle Warnungen der alten 
bewährten Führer wurden überhört und fruchteten nichts, 
das Geschrei der sich jetzt aut einmal als Führer voran¬ 
stellenden Schreier aber wurde gutgeheißen. Angesichts der 
Bruderkämpfe, die sich jetzt innerhalb der ArbeiterscHaft 
abzuspielen begannen, stand das Unternehmertum als der 


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1284 Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 


lachende Dritte und wartete ab, ob für sie die Sache doch 
nicht gleich wieder in ihre Bahn laufen würde. 

Glücklicherweise ist es dann doch nicht ganz so weit ge¬ 
kommen, daß die Arbeiterschaft die Gewalt aus den Händen 
verlor. Der Dank dafür gebührt aber nicht der Arbeiterschaft 
selbst, sondern denjenigen Führern und Arbeitern, die zielbe¬ 
wußt die Lage überschauten und auf dem alten, von unseren 
Vorkämpfern gezeichneten Weg unentwegt weitergingen, 
und den- herrschenden und besitzenden Klassen ein Stück 
ihrer Macht nach dem anderen' aus den Händen riß. Jetzt, 
nachdem sich die Gefahr, worin die Arbeiterschaft und mit 
ihr unsere Volkswirtschaft hineingeraten ist, übersehen läßt, 
erkennt die Arbeiterschaft allmählich, welch große Fehler 
sie in der Verfolgung ihrer egoistischen Ziele begangen hat. 
Aber noch ist es nicht zu spät, noch ist es Zeit, wenigstens 
einen Teil dieser Fehler wieder gutzumachen. Noch kann 
die Arbeiterschaft, wenn sie mit klaren Augen weitergeht, 
unsere Volkswirtschaft, im Interesse der Gesamtheit, und damit 
auch im eigenen Interesse, mit Anspannung ihrer Kräfte, 
durch erhöhte Arbeitsleistung, wieder dahin bringen, daß wir 
mit dem Auslande Werte gegen Werte austauschen können, 
und dadurch der Welt zeigen, daß die deutsche Arbeiterschaft 
gewillt ist, ihre Geschicke so zu lenken, daß sie ein menschen¬ 
würdiges Dasein fristen kann. 

Der Wille hierzu ist bei der Arbeiterschaft zweifellos in 
sehr hohem Maße vorhanden, und wird es für die Zukunft 
hoffentlich immer besser werden. Denn wo ein Wille ist, 
da ist ein Weg, und ein fester eiserner Wille wird auch den 
Weg gangbar machen, der ,aus allem Elend, mag es auch 
noch so schlimm aussehen, herausführt. 

Daß dieser Wille bei der Arbeiterschaft tatsächlich vor¬ 
handen ist, wird bewiesen durch die Beratungen und Ent¬ 
schließungen, die in einer Konferenz der Betriebsobleute und 
Zechenräte am 8. Dezember 1919 in Dortmund stattfand. 
Es wurde in dieser Konferenz nachstehende Entschließung 
einstimmig angenommen: 

„Die heute im Gewerkschaftshause versammelten Betriebs¬ 
und Zechenräte erkennen an, daß eine gewaltige Kohlennot 
herrscht, hervorgerufen durch die Folgen des verbreche¬ 
rischen Krieges, der von kapitalistischen Welteroberern an¬ 
gezündet wurde. Die Zechenräte lehnen die Verantwortung 


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hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 1285 


für die aus der Kohlennot hervorgerufenen Folgen ab und 
schieben sie den Kapitalisten zu. Im Interesse der hungern¬ 
den und frierenden Frauen und Kinder erklären sich die 
Betriebsräte bereit, den Kameraden zu empfehlen, 

Ueberschichten zu verfahren, 

wenn ihnen die Kontrolle der durch die Ueberschichten 
mehrgeförderten Kohlen eingeräumt wird. Wird uns dieses 
Kontrollrecht eingeräumt, dann erklären wir uns bereit, 
den Kameraden der einzelnen Zechen diese Resolution warm 
zu empfehlen. Es müsse natürlich den Bergarbeitern dann 
ein angemessener Lohnabschlag gewährt werden. Von der 
Regierung und den maßgebenden Stellen werde aber er¬ 
wartet, daß sie alles daransetzen, um den guten Willen der 
Bergarbeiter zu unterstützen. Hierzu gehören auch aus¬ 
reichende Betriebsmittel, wie Wagengestellung usw.“ 

Der Wille zur Hilfe ist also vorhanden, der Weg dazu ist 
ebenfalls angedeutet und bei einigermaßen Entgegenkommen 
wird der Weg auch zum Ziele führen, soweit es im Können 
der Arbeiterschaft liegt. 

Wir haben in vorstehenden Ausführungen gesehen, daß der 
größte Teil der Arbeiterschaft seine Fehler eingesehen hat, 
und daß er gewillt ist, diese Fehler wieder gut zu machen. 
Es bliebe nunmehr noch zu untersuchen, inwieweit das Unter¬ 
nehmertum Fehler begangen hat und, noch begeht und inwie¬ 
weit es gewillt ist, diese Fehler ebenfalls wieder gut zu 
machen. 

Das Unternehmertum ließ den Bruderkampf, der innerhalb 
der Arbeiterschaft wütete, nicht achtlos vorübergehen, wußten 
sie doch, je mehr Uneinigkeit innerhalb der Arbeiterschaft 
herrschte, je mehr konnten sie die Pflichten der Gesamtheit 
gegenüber vernachlässigen und ihre Pflichtvergessenheit der 
Arbeiterschaft zuschieben. 

Die Umstellung der Industrie auf die Kriegsbedarfs Wirt¬ 
schaft wurde, wie schon vorher erwähnt, mit der äußersten 
Anspannung aller zu Gebote stehenden Mittel betrieben. Nicht 
allein die Arbeiter und Angestellten mußten tüchtiger Zu- 

f reifen, auch der Unternehmer mußte tiefe Eingriffe in seine 
aschen machen, um alles Notwendige zu beschaffen. Was. 
noch nie in einer solchen kurzen Zeit möglich war, wurde 
während des Krieges alles möglich gemacht. Ganze Neu¬ 
einrichtungen von Betriebsabteilungen wurden im Zeitraum 

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1286 Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau 


• • • 


von drei bis vier Monaten bzw. unter einem halben Jahre 
fertiggestellt. Während vor dem Kriege .die Errichtung einer 
vollständig neuen Einrichtung immerhin über ein Jahr in 
Anspruch genommen hätte, wurde während des Krieges eine 
solcne Einrichtung in sieben bis neun Monaten fertiggestellt. 
Die Arbeiter aber waren weder in ihrer alten Leistungsfähig¬ 
keit noch in genügender Anzahl vorhanden, wie vor dem 
Kriege. Trdtzdem aber wurde die Aenderung der Produktions¬ 
weise sehr schnell vollzogen. 

Auf einem größeren Hüttenwerke der Deutsch-Lüxemburger 
Bergwerksgesellschaft wurde gleich nach Ausbruch des Krie¬ 
ges mit der Errichtung einer neuen Geschoßfabrik begon¬ 
nen, die schon vor Ablauf eines Jahres vollständig in Betrieb 
und produktiv tätig war. Einzelne Unterabteilungen dieser 
Geschoßfabrik, so die Abteilungen G. I und G. II, waren aber 
schon nach der sehr kurzen Zeit von drei bis vier Monaten 
vollständig produktiv tätig. Diese Betriebe lieferten Produkte, 
obwohl der Bau der Geschoßfabrik, in der auch die Abtei¬ 
lungen untergebracht sind, erst nach etwa neun Monaten 
fertiggestellt war. Der Betrieb der Geschoßfabrik mußte nun 
1918 nach Abbruch des Krieges stillgelegt werden. Die 
Direktion dieses Hüftenwerkes beschloß im Dezember 1918, 
die Geschoßfabrik in eine Maschinenfabrik umzuwandeln. 
Dieser Beschluß war sehr zu begrüßen, da es sicher angebracht 
war, Maschinen für den ebenfalls sehr daniederliegenden 
Verkehr zu bauen. Im Interesse der Volkswirtschaft aber wäre 
es unumgänglich notwendig gewesen, diese Umänderung der 
Geschoßfabrik so schnell wie möglich in die Wege zu leiten. 
Wie sehr die Aenderung dieses Betriebes im Interesse des 
Gemeinwohls notwendig gewesen wäre, braucht wohl nicht 
besonders hervorgehoben werden. Der Umbau und die Um¬ 
stellung der Produktion gerade dieser Geschoßfabrik geht 
so langsam und schneckenförmig vor sich, daß man tat¬ 
sächlich glauben könnte, die Maschinenfabrik solle überhaupt 
nie fertig werden. Schon seit Anfang des Jahres 1919 ist 
mit der Aenderung der Inneneinrichtung begonnen worden, 
die Fertigstellung läßt sich aber noch immer nicht voraus- 
sehen. An Produkten sind lediglich ein paar kleinere Ma¬ 
schinenteilchen fertiggestellt worden. Wohin dies führen soll, 
und wie man die langsame Art der Produktionsänderung in 
die Interessen der Volkswirtschaft eingliedern will, kann uns 
vielleicht am besten der Herr Generaldirektor Vogler sagen. 


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Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 1287 

Herr Vogler, der bekanntlich Mitglied der Nationalversamm¬ 
lung ist, nebenbei aber auch noch auf Parteitagen der Deut¬ 
schen Volkspartei als Volkswirtschaftler auftritt, wird den 
Zweck der langsamen Umstellungsweise der Produktion in 
die Friedenswirtschaft wohl am besten begründen können. 

Ebenso ist dieses Werk mit fünf Hochöfen versehen, wovon 
seit Abbruch des Krieges nur zwei Hochöfen brennen. Wäh¬ 
rend des Krieges wurden auf diesem Hüttenwerke, das nur 
drei Hochöfen besaß, noch zwei Hochöfen dazu gebaut. Der 
letzte neue Hochofen wurde erst kurz vor Beendigung des 
Krieges fertiggestellt. Die Inbetriebnahme dieses Hochofens 
erfolgte, wenn ich nicht irre, erst nach oder mit Abbruch 
des Krieges. Drei Hochöfen dieses Werkes liegen aber schon 
während des ganzen Jahres nach dem Kriege still, da sie 
angeblich reparaturbedürftig seien. Während des Krieges 
aber, als das Werk nur vier Hochöfen besaß, brannten an¬ 
dauernd drei Oefen. Der eine Ofen, der sich dann in Re¬ 
paratur befand, wurde sehr Schnell wieder repariert und 
dann ebenfalls wieder in Betrieb genommen. Das Thornas- 
und Walzwerk, das die Produkte der Hochöfen weiterverarbei- 
tet, konnte nicht so viel leisten, wie die Hochöfen lieferten. 
Heute aber muß besonders das Thomaswerk immer sehr 
langsam arbeiten, weil die Hochöfen nichts liefern. An der 
Arbeiterschaft liegt dieses aber nicht, denn unter den Ar¬ 
beitern herscht ein guter Wille zur Arbeit. Die Produkte 
der Walzwerke aber werden andauernd und sehr nach¬ 
gefragt. 

Im Martinwerk war nach Abbruch des Krieges ebenfalls 
eine Zeit dieselbe Produktionsweise zu sehen, auch hier 
wurden von fünf Martinöfen nur zwei gebraucht, trotzdem 
auch hier die Nachfrage das Angebot in diesen Produkten 
weit überst : eg. 

Die Umstellung der Produktionsweise aber läßt auf diesem 
ganzen Werke, in allen in Betracht kommenden Abteilungen 
viel zu wünschen übrig. Verschiedene Betriebe, die im Um¬ 
bau ihrer Inneneinrichtung begriffen sind, stehen öfter 
monatelang, ohne daß der Ausbau weiter betrieben und 
erledigt wird. Begründet wird diese langsame Art der Um¬ 
änderung meistens mit der Klage über fehlende Materialien, 
die augenblicklich so schlecht zu beschaffen seien. Dieses soll 
einesteils zugegeben werden, andernteils muß aber auch ge¬ 
sagt werden, daß erstens ein großer Teil der Materialien 

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1288 Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 


aut diesem Werke selbst hergestellt werden, und daß zweitens 
die Werksleitung nicht mit dem notwendigen Eifer die ganze 
Umstellung betreibt. Der Klage wegen dem schlechten Ma¬ 
terial aber kann hier seitens der Arbeiterschaft nicht der 
notwendige Glaube geschenkt werden, zumal erst in den 
letzten Tagen noch eine Notiz in der „Westfälischen All¬ 
gemeinen Volkszeitung“ Mitteilung davon machte, wie hier 
wertvolles Material vergeudet wird. In dieser Notiz wurde 
der Werksleitung nachgesagt, daß sie das heute so wertvolle 
Kupfermaterial, das bekanntlich um die Granaten als Füh¬ 
rungsringe sitzt, einfach an den Granaten sitzen und 
unter den anderen Metallen mit einschmelzen läßt. Eine 
Zeitlang wurden diese Kupferstreifen von den Granaten ent¬ 
fernt, nunmehr aber bleiben sie sitzen, weil die Betriebschefs 
die Transportkosten für die Granaten nicht auf ihren Betrieb 
übernehmen wollen. 

Nach alledem ist die Arbeiterschaft der Ansicht, daß es 
vielleicht doch bedeutend besser sei, wenn der Herr General¬ 
direktor Vogler für eine Zeitlang von der Nationalversamm¬ 
lung beurlaubt würde, um hier seine volkswirtschaftlichen 
Fähigkeiten jn die Tat umzusetzen, und darauf zu achten, 
daß die Wirtschaft auf seinem Werke in eine Volkswirtschaft 
im Interesse der Gesamtheit wird und die Interessenwirtschaft 
aufhört. 

Aus diesen Gegenüberstellungen der einzelnen Schuldfragen 
geht deutlich hervor, daß das Unternehmertum ebenfalls 
nicht ohne Schuld ist an der schlechten Lage unserer Wirt¬ 
schaft. Obwohl die Schuld der Arbeiterschaft keine kleine 
ist, ist die Schuld des Unternehmers doch eine verhältnis¬ 
mäßig höhere. Der Arbeiterschaft ist bei aller Beurteilung der 
Schuld immerhin zugute zu halten, daß sie zum großen Teil 
aus Unkenntnis der Lage und wirklichen Verhältnisse diese 
Schuld auf sich geladen hat. Dem Unternehmertum aber 
kommt hier Unkenntnis nicht zugute, sondern hier ist es 
reine Interessenpolitik, die diese Schuld hervorruft. Während 
es der Arbeiterschaft bisher an der notwendigen Schulung 
und Bildung, die politische wie wirtschaftliche Lage zu über¬ 
sehen, gefehlt hat, sie auch von den besitzenden Klassen 
in allen ihren Bildungsbestrebungen absichtlich zurückgehal¬ 
ten worden ist, mußte das Unternehmertum unter allen Um¬ 
ständen einsehen, daß es seine Interessenpolitik aufgeben 
mußte. Es mußte erkennen, daß das Allgemeininteresse vor 


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Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 1289 


seine Sonderinteressen gestellt werden mußte. Es ist gewiß 
schwer, ein Teil seiner Rechte in Pflichten umzuwandeln, 
aber es darf nicht so schwer sein, daß ein ganzes Volk 
im Elend zurückgehalten oder noch tiefer hin eingeb rächt 
wird, anstatt es herauszuhelfen. Das Unternehmertum ist, 
wenn es den ehrlichen Willen dazu hat, in der Lage, durch 
Ausnutzung aller seiner Mittel, die deutsche Volkswirtschaft 
in diejenigen Wege zu leiten, die sie notwendig einschlagen 
muß, um aus diesem Elend herauszukommen. Dazu bedarf 
es nur der Weglassung der Interessenpolitik. Die Arbeiter¬ 
schaft ist bereit und zeigt den Willen, diesen Weg zu be¬ 
schreiten; das Unternehmertum läßt aber nichts von sich 
hören. In der Generalversammlung der Aktiengesellschaft 
„Phönix“ sprach der Generaldirektor Beukenberg aus, daß 
die Arbeiterschaft, wenn es besser werden sollte, wieder 
länger arbeiten müsse. Diese Gründe sind doch wohl nicht 
stichhaltig, denn wenn es tatsächlich darauf ankommt, so 
könnten doch mehr Arbeitskräfte eingestellt werden und 
diese sind noch vorhanden. Es würde aber ganz gewiß besser 
gehen, wenn das Unternehmertum erstens auf die großen 
Gewinne verzichten wollte, und zweitens, wenn sie ihre 
volle Pflicht tun würden, die Industrie so schnell wie mög¬ 
lich in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. 

'Aus vorstehenden Ausführungen ergibt sich eine Not¬ 
wendigkeit, die unbedingt von der Regierung sofort erwogen 
werden muß, und zwar die Notwendigkeit der planmäßigen 
Wirtschaft. Wir können machen und unternehmen was wir 
wollen, gutwillig scheint bei uns in Deutschland nichts mehr 
zu gehen. Da, wo es aber nicht gutwillig gehen will, da 
muß sich eben eine starke Hand bemerkbar machen, die den 
unwilligen Teil der Bevölkerung den Weg vorschreibt, den 
er unbedingt gehen muß. 

Mag nun auch der frühere Arbeitsminister Wissell wegen 
seines Planes auf Einführung der Planwirtschaft noch so viel 
bekämpft werden, die Einführung einer solchen oder ähn¬ 
lichen Planwirtschaft wird doch kommen. 

Die Einführung des Akkordlohnsystems wird ja zweifellos 
eine Besserung herbeiführen, aber von langer Dauer wird 
auch dieses nicht sein. Das Akkordlohnsystem mag ausgebaut 
werden, so gut es gehen mag, es wird immer Härten und 
Lohnungleichheiten mit sich bringen, die zu neuen Kämpfen 
führen werden. Es muß feben ein Lohnsystem, überhaupt 


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1290 


Entstehung der Clartebewegung. 


ein Wirtschaftssystem gefunden werden, wonach die gesamte 
Bevölkerung an den Produktionserträgen beteiligt und iriter- 
essiett wird. Dazu gehört aber auch, daß sich ein jeder 
am Produktionsertrage selbst beteiligen muß, und im Inter¬ 
esse der Gesamtheit selbst produktive Arbeit verrichtet. Wer 
sich nicht an den Erträgen der Wirtschaft produktiv betei¬ 
ligt, der hat eben keinen Anspruch auf Erhaltung seines 
Lebensunterhalts. Damit soll aber selbstverständlich nicht 
gesagt sein, daß nun alles körperliche Arbeit verrichten 
soll, es soll lediglich damit gesagt sein, daß, wer keine 
Arbeit, die im Interesse der Allgemeinheit liegt, nachweisen 
kann, gezwungen wird, sich im Interesse der Gesamtheit 
liegende Arbeit zu verschaffen, andernfalls er keinen An- 
, spruch auf Unterhalt hat. 

Der Begriff. Volkswirtschaft ist schwer, aber man sieht 
doch, daß der bisher tals der dümmste angesehene Teil 
der Bevölkerung — die Arbeiterschaft — dieselbe in ihren 
Grundzügen begreifen lernt. Für den sogenannten gebildeten 
Teil, wozu ja auch die besitzende Klasse gehört, kann es 
doch auch nicht so schwierig sein, Volkswirtschaft von In¬ 
teressenwirtschaft zu unterscheiden, insbesondere, da sie alle 
Bildungsmöglichkeiten für sich in Anspruch nahm. 

Aber auch die Regierung muß zur Volkswirtschaft Stel¬ 
lung nehmen, sie muß denjenigen Mann finden, der unent¬ 
wegt auf das Ziel: „Die Hebung der Volkswirtschaft“ los¬ 
strebt und es versteht, trotz aller Anfeindungen die Volks¬ 
wirtschaft durchzuführen. Diese Männer sind zweifellos vor¬ 
handen, es bedarf nur, daß man ihnen die notwendige Be¬ 
wegungsfreiheit und die nötigen Vollmachten einräumt. 


Dr. FRIEDRICH MARKUS HUEBNER (im Haag): 

Entstehung der Clartebewegung. 

Die Internationale des Geistes. 

PUROPA steht zum ersten Male vor dem Versuche eines 
planmäßig eingerichteten, internationalen Zusammen¬ 
schlusses der Kopfarbeiter. Diese Bewegung, obzwar in 
Deutschland der Wunsch und Ruf so mancher offener Briefe 
und vielzählig unterschriebener Manifeste, ist der deutschen 
Oeffentlichkeit mehr oder minder entgangen: wohl eines- 


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--rc ■, - .... - 


Entstehung der Clartebewegung. _ 1291 

teils weil noch immer nicht genug Zeitungen und Zeit¬ 
schriften, Botschaft bringend, von außerhalb über die Grenze 
hereinkamen, andemteils weil die: Harrenden unverrückt nach 
einer Himmelsrichtung spähten, von der in der Tat während 
des Krieges die einzig fruchtbaren Gedanken ausgegangen 
sind, die aber in diesem Falle sich stumm hielt; nicht Rußland, 
der Osten, sondern Frankreich, der Westen, ward Urheber 
und Wortführer jenes belebenden geistigen Zusammengehörig¬ 
keitsgefühls, das oberhalb der rein staatlichen Annäherungs¬ 
bestrebungen, oberhalb der internationalen Arbeits- und Wirt¬ 
schaftssolidarität, welche die Losung des revolutionären So¬ 
zialismus bildet, nach Verwirklichung, Ausbau, tätigem Ein¬ 
fluß trachtet. Es wird nunmehr, wo diese schon weitver¬ 
zweigte und über eine eigene Zeitung verfügende Internatio¬ 
nale des Geistes sich vorbereitet, den ersten. Freund und 
Feind umfassenden allgemeinen Kongreß abzunalten, für die 
deutschen Intellektuellen Zeit, über die Clartebewegung sich 
zu unterrichten, ihr Programm kennenzulernen, dieses zu 
erörtern und dazu Stellung zu nehmen. 

Der volle Name der Vereinigung lautet: „Clarte. Ligue de 
Solidaritö intellectuelle pour le triomphe de la cause inter¬ 
nationale“. Sitz der Vereinigung ist Paris, rue Feydeau 
Nr. 12. Organ der Vereinigung ist die Vierzehntagszeitung 
„Clarte, bulletin fran?ais de PInternationale de la Peusee“, 
welches Bulletin ab Januar 1920 durch eine, in verschiedenen 
Sprachen iherausgegebene und nach Ländern getrennte 
Monatsschrift gleichen Titels ersetzt werden soll. Als Ort 
für die im Januar 1920 anberaumte erste internationale Clarte- 
zusammenkunft ist Bern in Aussicht genommen. 

Die Clartebewegung, vorgebildet in der während des 
Krieges verkündeten und bewährten Europäergesinnung eines 
Romain Rolland, besitzt in eben dieser Gesinnung ihr sitt¬ 
liches Programm und ihre unendliche Begeisterungskraft. 
Als kulturpolitische Massenbewegung ist sie jüngeren Da¬ 
tums. Romain Rolland und die Gruppe jener französischen 
Schriftsteller, die wie Henri Guilbeaux während des Krieges 
auf Schweizer Boden flüchteten und dort, in Genf, an der 
Monatsschrift „Demain“ mitarbeiteten, besaßen nicht den 
Einfluß und wohl auch nicht die Absicht, ihre Ueberzeu- 
gungen als Leitsätze einer Partei zu proklamieren, diese 
Partei aufzurichten und sie zu leiten. Ihre Erkenntnisse 
mußten zuvor unter den französischen Soldaten Boden ge- 


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Entstehung der Clartebewegung. 


winnen und diese Soldaten mußten sich erst seelisch gegen die 
Sinnlosigkeit ihres Handwerks auflehnen, ehe sich auf eine 
breite Unterlage für den Aufbau des neuen Gedankens rech¬ 
nen ließ. Mächtige Förderung erfuhr die aufkeimende Denk¬ 
weise durch das starke und schier verzweifelnde Menschen¬ 
bekenntnis „Le Feu“, welches Barbusse 1917 erscheinen ließ. 
Mit der Einsicht, daß dje Ideen, wofür die französischen 
Soldaten ins Feuer getrieben worden waren, von den Re¬ 
gierungen der Entente mehr vortäuschend als ehrlich über¬ 
zeugt gebraucht wurden, eine Einsicht, welche angesichts der 
zu Paris geführten Friedens Verhandlungen viele französische 
Intellektuelle überwältigend schreckhaft durchfuhr, mit ihr 
steigerte und vereinte sich der Widerwille gegen das über¬ 
standene, die Erbitterung gegen die am Kriege schuldige, 
kapitalistische Gesellschaftsordnung, das Grauen vor der Un¬ 
menschlichkeit des bürgerlichen Dahinlebens in Europa bis 
zum Kriegszustände. Die Scham über das, was Frankreich, 
die geschichtliche Heimstätte menschlich-freiheitlichen Geistes, 
im Bunde mit allen alten Mächten der Welt zu verrichten 
sich anschickte, schnitt heiß und peinigend in die Seelen. 
Wenn Schriftsteller wie Gide, Peguy, Suares, Claudel die 
wahren und berufenen Hüter der französischen Ueberliefe- 
rung zu sein meinten, und Wenn sie es sich, übrigens mit 
Recht, zuschrieben, daß Frankreich fähig ward, die Kriegs¬ 
greuel fünf Jahre lang fhannhaft zu ertragen, so durften 
doch die neuen Geister, die jetzt ihre Stimme zu erheben 
sich gedrängt fühlten, sich »als die eigentlichen Traditionalisten 
ausgeben, insofern sie wieder der alten, der gutfranzösischen 
Gesinnung des revolutionären Protestes gegen die Unwahr¬ 
heit das Wort und ihr ganzes Wirken lieben. Diese wahr¬ 
haften Träger der französischen, hochherzig dargebotenen 
Verbrüderungsidee befinden sich gegenüber den angeblichen 
Traditionalisten freilich in der Minderheit. Durch Zensur 
und Polizei verfolgt, von der öffentlichen Meinung „Verräter“ 
und „Proboches“ gescholten, bewirft die hauptstädtische 
Presse sie mit Hohn und tückischer Verleumdung, und ihre 
Kundgebungen werden nur in einzelnen, wenigen Organen 
nachgedruckt, obwohl sich unter den Führern die einwand¬ 
freiesten und gefeiertsten Namen des französischen Schrift¬ 
tums finden. 

Das Auftreten begann Anfang April 1919 mit einem im 
„Cri du midi“ veröffentlichten Aufruf, den unter anderen 


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Entstehung der Clartebew^gung. 

Henri Barbusse, Raymond Lefebre, P. Vaillant-Couturier, 
A. Mercereau, Noel Garnier unterschrieben hatten und der 
sich an die kampfentschlossenen Intellektuellen aller Länder 
wandte. Die Geistesarbeiter, hieß es darin, seien während 
des Krieges irregeführt und mißbraucht worden, und die 
Gefahr bestehe, daß sie nach dem Kriege weiter mißbraucht 
werden sollten. Kampfentschlossene Geistesarbeiter der Welt, 
wir wissen, daß ihr fünfzig Monate lang das Leben von 
Schuldigen geführt habt, hinter dem feierlichen Ernste eurer 
Seelen, den Seelen von Gerechten. Wir haben die schwer¬ 
wiegende und schöne Pflicht, heute mit dem Beispiele der 
Weisheit voranzugehen. Wir müssen die ersten sein, die 
sich wieder die Hand reichen . . . weil wir den Mut be¬ 
saßen, das Vertrauen in die Würde der Menschen zu be¬ 
wahren, und in die verklärende und sittlich läuternde Macht 
der Vernunft. . . Es wird Zeit, daß wir, ein jeder in seinem 
betreffenden Vaterlande, uns gegen die Verursacher der Kriege 
und der Wirrnisse aufrichten. . . Kampfentschlossene Geistes¬ 
arbeiter der gesamten Erde, vereinigen wir uns!“ 

Etwa um dieselbe Zeit war auch Romain Rolland mit seinem 
Manifeste in der „Humanite“ hervorgetreten, worin er in 
gleicher Weise und unter ähnlicher Begründung zum inter¬ 
nationalen Zusammenschluß der Geistesarbeiter aufforderte; 
dem Rufe liehen sofort durch Unterschrift bedeutende 
Schriftsteller und Gelehrte aus allen Ländern ihre Zu¬ 
stimmung. 

Am 10. Mai ließ Barbusse mit seinen Freunden in der 
„Humanit6“ eine neue Kundgebung in die Welt gehen, worin 
diese Gruppe ihren Willen verkündete, nun den Kampf im 
Dienste der geistigen Verbrüderungsidee auch praktisch auf¬ 
zunehmen. Als Kennwort und Feldgeschrei erscheint hier 
zum ersten Male die Namensgebung „Clarte“, ein Name, 
der von dem gleichbetitelten, durch Barbusse verfaßten Kriegs¬ 
protestromane „Clarte“ genommen ist. Der Aufruf ist auch 
durch die Festsetzung von Programmumgrenzungen be¬ 
merkenswert und durch die Mitteilung, an welchen Kreis 
von Geistesarbeitern man sich zu wenden wünscht; man 
hat keineswegs nur die Schriftsteller und die Künstler im 
Auge, sondern man richtet sich an die Schreibenden und 
Denkenden der Welt samt und sonders, denen man in der 
„Internationale des Geistes“, gleichlaufend zur Internationale 
des Proletariats, die Hände reichen möchte. Die Aufgabe 


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Entstehung der Clartebewegung. 


derjenigen, die sich der Gruppe anschließen wollen, sei: 
„anzukämpfen gegen die Vorurteile, die allzu behend ge¬ 
nährten Irrtümer und vor allem gegen die Unwissenheit, wo¬ 
durch die Menschen getrennt und vereinsamt werden und 
wodurch es ermöglicht ward, sie blindwütig gegeneinander¬ 
zuhetzen.“ Dabei wünschte sich „Clarte“ fernzuhalten von 
jedem rein politischen Parteibündnis. 

An diesem Punkte ist der erste Abschnitt der Clartebewe¬ 
gung, wo die Führer zueinanderstoßen und allmählich des 
Ziels sowohl wie des Wegs ihrer Sendung bewußt werden, 
abgelaufen. Die denkeriscne und sozialpolitische Grundein¬ 
stellung ist von nun ab unverrückbar festgelegt; die Gleich¬ 
gesinnten vereinigen sich zur Ordnung und Disziplin einer 
unabhängigen Gruppe; die ersten praktischen Organisations¬ 
vorschläge tauchen auf. 

Der Uebergang in den zweiten Entwicklungsabschnitt wurde 
nachhaltig durch den Widerhall gefördert, den die Bewegung 
im Auslande, namentlich in Belgien fand, wo Paul Colin 
sich mit ganzer Person in den Dienst der Sache stellte. Die¬ 
sem äußerst rührigen Schriftsteller gelang es, seine im März 
1919 gegründete Zeitschrift durch die Fülle des behandelten 
Stoffs derart erfolgreich einzuführen, daß mit den 2000 
heute abgesetzten Exemplaren, die darin regelmäßig abge¬ 
druckten Mitteilungen der Clartegruppen zur Kenntnis eines 
immer größer werdenden internationalen Leserkreises kamen. 
Colin kündigte die neue Bewegung am 1. Juni unter der 
gesperrten Ueberschrift: „Am Vorabend eines internationalisti¬ 
schen Vorgehens“ an und führte erklärend aus, daß durch 
den Krieg, allen reaktionären Erwartungen zum Trotz, nicht 
nur die Handarbeiterintemationale nicht zerstört sei, sondern 
daß soeben in Paris die ersten Schritte getan würden, um 
die Kopfasbeiter international zu onjanisieren. „Der inter¬ 
nationalistische Geist ist erwacht. Ein grenzenloser Durst 
nach Brüderlichkeit zehrt an den Völkern, und über die 
Landesgrenzen hinaus stellt sich zwischen den unterdrückten, 
verarmten, gelichteten Massen die geistige Verbindung her. 
Vor dem Kriege haben die Kopfarbeiter niemals versucht, die 
Seele der Nachbarnationen planmäßig kennenzulernen, zu 
durchdringen, zu begreifen. . . Jetzt handelt es sich darum, 
mit allen, die in Frankreich, England, Deutschland, Oester¬ 
reich, Italien, Rußland gleichen Willens wie wir sind, zu- 


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Entstehung der Clart6bewegung. 

sammenzutreten, um durch die Verdichtung der geistigen 
Beziehungen den Frieden und die Friedensgesinnung dauernd 
aufzurichten. Die Aufgabe ist: Eine Internationale des Geistes 
als eine regelnde und vorausschauende Größe zu schaffen, 
die beseelt ist von demokratischem Geiste, die niemandes 
Persönlichkeit unter den Mitgliedern verstümmeln, niemals 
die Aussprache entgegengesetzter Meinungen verhindern wird, 
und die zur gegebenen Stunde im Namen des Weltgewissens 
gegen die Unholde der Trübung auf treten kann. Die Rolle 
der Künstler und der Intellektuellen ist nicht die, beiseite 
zu stehen, sondern zwischen den Völkern nach Möglichkeit 
Verbindungsfäden zu schlingen, ihren Einfluß über sie zur 
Geltung zu bringen und davon für den Fortschritt des Guten 
Gebrauch zu machen.“ v 

Dank der Werbearbeit von Paul Colin bildete sich, nur 
wenige Wochen nach der Gründung der Hauptgruppe in 
Paris, zu Brüssel die erste Tochtergruppe. Beitrittserklä¬ 
rungen kamen erstaunlich reichlich, obwohl oder vielleicht 
gerade 'weil in Belgien die nationalistische Reaktion am unge¬ 
zügeltsten waltete. In Italien erließ Benedetto Croce und 
Mathilde Serao mit Erfolg den Ruf zur Landesgruppenbil¬ 
dung. In Deutschland nahmen sich die „Weißen Blätter“ 
von Rene Schickele der Clartebewegung und ihrer Kund¬ 
gebungen an; im Nachdruckverfahren gelangten so die ersten 
Mitteilungen über das Beginnen auch in die deutsche Tages¬ 
presse. von Berlin aus stellte Kurt Hiller die Führung 
mit den Pariser Persönlichkeiten her. In England nahm der 
pazifistisch gesinnte Dramatiker Douglas Goldring den Clarte- 
gedanken tätig mit seinen Freunden auf. In Holland ist eine 
Landesgruppe in der Bildung begriffen. 

In Paris nahm der Ausbau der Organisation immer festere 
Formen an. Es wurden eigene Bureauräume gemietet, wo 
unter der Aufsicht des Generalsekretärs N. Cvril fast ein 
Dutzend Menschen die täglichen DienstgeschäTte der Vor¬ 
standsleitung erledigen. Die Führer halten allwöchentlich 
öffentliche Versammlungen ab, kämpfen in Zeitungsartikeln 
gegen die feindselige Boulevardpresse, veranstalten Straßen¬ 
demonstrationen. Beiträge fließen reichlich zu; der Mindest¬ 
zuschuß eines Mitgliedes ist auf fünf Franken angesetzt; 
im nächsten Jahre hofft „Clarte“ ihre Mitgliederanzahl in 
Frankreich auf 200 000 bringen zu können. 


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Entstehung der Clartebewegung. 


In den Programmschriften, welche die Gruppe ausgibt, tritt 
das Pathos des Gesinnung und der tiefen menschlichen Erregt¬ 
heit nun zurück hinter die Verdeutlichung und praktische 
Beweisführung der einzelnen Leitgesichtspunkte, Es werden 
Pläne der Propaganda ausgearbeitet, die Aufstellung von 
Studienausschüssen, die in die Fülle des Stoffs Uebersicht 
bringen sollen, wird ins Auge gefaßt. Man gibt ein Werbe¬ 
blatt mit fünfzehn grundsätzlichen Feststellungen heraus, 
wo es im Artikel 1 heißt: „Unser soziales Gesetz ist schlecht. 
Sein Ergebnis ist: Privilegienwirtschaft, Willkür, Niederbruch 
und Totschlag.“ Artikel 8 lautet: „Das Vaterland als eine 
Stufe zur Nächstenliebe betrachten ist gut, es als Endzweck 
betrachten ist schlecht.“ Artikel 14: „Politische Streiks sind 
zu gleicher Zeit die anständigsten und die nützlichsten. Sie 
bedeuten zwischen Evolution und Revolution die friedlich 
revolutionäre Entwicklung.“ 

Zu dem ersten Werbeblatte gesellten sich bald die knapp¬ 
gedrängten und als gleichmäßiger Rahmen für sämtliche 
Ortsgruppen gedachten Statuten. Sie umfassen zwanzig Ar¬ 
tikel, worin das Ziel, die Art der Oberleitung, der Unter¬ 
staffelung, der örtlichen Ausbreitung, sowie die jährlich zu 
haltenden Einzel- und Allgemeinzusammenkünfte bindend fest¬ 
gelegt sind. In der Nr. 1 der Clartezeitung gab N. Cyril 
zu den Statuten ein paar bemerkenswerte Erläuterungen. 
„Die Internationale des Geistes“, schrieb er, „darf nicht 
hier und da für sehr ehrenwerte Intellektuelle bloß den 
Gegenstand von Kundgebungen und aufsehenerregenden 
Erlassen bilden. Es genügt nicht, daß sie ein Wunschgedanke, 
eine bloße edle Sehnsucht bleibe. Sie muß in unseren Händen 
vielmehr eine Waffe werden. Die Auslese der Denkenden 
muß die Spitze einer Partei formen, die in sich festgeschlossen, 
und der Zucht unterworfen ist, und die den taktischen Anwei¬ 
sungen einer Oberleitung Gehorsam leistet. Wir wollen aus 
diesem Grunde unsere Gruppenbildung keineswegs auf nur 
berufliche Intellektuelle ausdennen. Wir wollen ein lebendiger 
Organismus werden, der sich grenzenlos; entfaltet und der 
sich schließlich mit der Hochspannung unwiderstehlicher 
Stoßkraft lädt. Am Tage, da man uns fragt, wie viele 
wir seien, wollen wir, die Liste in der Hand, antworten 
können: Wir sind zahlreicher als ihr . . . Warum, wird man 
uns fragen, habt ihr als Liste für den Vorstand eurer inter¬ 
nationalen Vereinigung Paris gewählt? Wir haben uns in 


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Entstehung der Clärtebewegung. 


Paris niedergelassen, weil statutengemäß die Leitung sich 
an dem Orte befinden muß, wo die Erstorganisation das Licht 
der Welt erblickte. Niemand, hoffe ich, wird uns beleidigen 
und an den kleinsten Hintergedanken einer Oberherrschaft 
unsererseits glauben wollen. Die erste Inangriffnahme ist 
von uns aus erfolgt; ich finde, daß es nur recht und billig 
ist, daß diese Inangriffnahme durch Franzosen mit der Ab¬ 
sicht des Gegendrucks erfolgt ist, will sagen, durch Leute, 
die einem Lande angehören, das im unverschämtesten Sinne 
gesiegt hat. Wir sind nur die ersten Vollstrecker einer 
Weltidee, dieser Idee, die allen gleichmäßig gehört. Wenn 
morgen unsere Brüder aus Deutschland, aus Frankreich oder 
anderswoher zu uns sprechen: Es ist jetzt empfehlenswert, 
den Sitz des geistigen Generalstabs etwa in einer so über¬ 
aus internationalen Stadt wie Bern aufzuschlagen, so werden 
wir ihn dorthin verlegen. . . Wer sich wundert, daß im 
Vorstande die Franzosen gegenwärtig so zahlreich auftrefcen, 
wie alle ausländischen Vertreter zusammengenommen, dem 
antworten wir, daß wir uns noch mitten im Aufbau be¬ 
finden. Werden die übrigen Sektionen derart endgültig ein¬ 
gerichtet sein wie die Pariser, so wird die Zentralvorstand¬ 
schaft durch eine Mitgliederanzahl gebildet werden, die aufs 
peinlichste den Verhältnissen und der Bedeutsamkeit der 
angeschlossenen Länder entspricht.“ 

Einer der am meisten verheißungsvollen Artikel der Sta¬ 
tuten, der als solcher für die Deutschen unmittelbare Wich¬ 
tigkeit besitzt, ist der Artikel 17, welcher über die Jahres¬ 
versammlungen handelt und wo es im zweiten Absätze heißt: 
„Jedes Jahr im November findet in einer bekanntzugebenden 
Stadt ein internationaler Kongreß statt. Er bildet den eigent¬ 
lichen Grundstein der Internationale des Geistes.“ Wenn 
hier bei der Niederschrift der Statuten als Monat für die 
Kongreßveranstaltung ins Auge gefaßt ward, so dachte man 
ursprünglich an den November 1920. Aber der wider Er¬ 
warten starke internationale Zustrom zur Clärtebewegung 
machte es notwendig, die Abhaltung des Kongresses noch 
früher anzuberaumen, es ist jetzt der Januar 1920 und 
als Versammlungsort Bern in Aussicht genommen. Damit 
steht ein Plan vor seiner allernahesten Verwirklichung, 
der an vielen Orten und in vielen Köpfen bald nach dem 
Waffenstillstände aufgetaucht ist und herumgespukt hat, aber 
den auszuführen die Kraft von einzelnen Personen oder von 


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Entstehung der Clartebewegung. 


schon bestehenden internationalen geistigen Berufs Vereini¬ 
gungen nicht ausgereicht hat. Nur die, durch den Schrecken 
des Kriegs getaufte, vom Erkenntnisstrahl des Sozialismus 
umleuchtete „Clarte“bewegung besitzt das nötige Ansehen 
und das revolutionäre Feuer, um aus der ersten allgemeinen 
Bewegung internationaler Geistesarbeiter ein segnendes Er¬ 
eignis für die Völker machen zu können. 

Inzwischen nahm die Pariser Gruppe die eigentlich poli¬ 
tische Arbeit des Bundes bereits in Angriff. In den Tagen 
des höchsten Siegestaumels veröffentlichte die „Clarte“ in 
Paris ein Manifest gegen die Ungerechtigkeit des Friedens¬ 
schlusses, das unter anderem von Anatole France, Henri 
Barbusse, Georges Duhamel, Laurent Tailhade unterzeichnet 
war und das mit den Worten begann: „Im Namen der Ge¬ 
rechtigkeit, des Friedens der Völker und der Klassen haben 
die Bürger des freien Geistes die Pflicht, gegen diesen 
Friedensvertrag Verwahrung einzulegen, der soeben unter¬ 
zeichnet worden ist.“ Weiter hieß es in dem Manifest, daß 
der Vertrag, hinter verschlossenen Türen abgefaßt, eine eben¬ 
so grausame wie hinterhältige Verfälschung der 14 Wilson- 
schen Punkte darstelle, und daß er neu durchgeführt werden 
müsse. „Der Vertrag vom Juni 1919 ist unwürdig der edlen 
Ueberlieferungen Frankreichs und verdient weder Achtung 
noch Vertrauen. Er beweist durch himmelschreiende An¬ 
zeichen die Notwendigkeit einer vollständigen Umwälzung 
der adigemeinen Lebensbedingungen.“ 

Anfang September trat „Clarte“ zum zweiten Male politisch 
mit einem Proteste gegen die Abschnürung der russischen 
Bolschewisten durch die Ententemächte hervor. In diesem 
Manifest, das in den Straßen von Paris angeschlagen ward, 
und dessen Unterschriftenliste an erster Stelle wieder den 
Namen von Anatole France aufwies, wurde versucht, den 
Hand- und Kopfarbeitern die ganze Größe der Gefahr ver¬ 
ständlich zu machen, die allen internationalen Vereinigungs¬ 
bestrebungen droht, falls es der Entente gelingen sollte, die 
russische Sowjetrepublik zu vernichten und wieder der Re¬ 
aktion die Vollzugsgewalt auszuliefern. „Bleibt ihr gleich¬ 
gültig, so macht inr euch mitschuldig. Zieht nicht auf euch 
die behände herab, der Ermordung der großen Freiheit, die 
allen Menschen gemeinsam ist, müßig zugeschaut zu haben.“ 
Noch schärfer mit den Mächten der Reaktion ging Henri 
Barbusse persönlich ins Gericht. Er veröffentlichte in der 


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Entstehung der Clartebewegung. 


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Ä anite“ (Oktober 1919) einen von Empörung bebenden 
;1 „Nous accusons“, darin er niemand geringeren als 
Clemenoeau selber aufs Korn nimmt. ^ „Wir beschuldigen“, 
heißt es hier, „die Regierenden in Frankreich, in England, in 
Amerika, einen abscheulichen Lügenfeldzug gegen den Bolsche¬ 
wismus in Szene gesetzt zu haoen — um straflos, mit dem 
Geld und dem Blute der noch versklavten Völker, ihre letzte 
antisozialistische und widermenschliche Anstrengung zu Ende 
führen zu können —, das Bekanntwerden der Wahrheit durch 
die gemeinsten und willkürlichsten Mittel verhindert zu haben 
(genau wie angesichts eines Dreyfus und eines Caillaux), 
die öffentliche Ivteinung vergiftet zu haben, um die Volks¬ 
massen gegen ihre eigene Sache aufzuhetzen, die Völker 
belogen zu haben, um sie verraten zu können.“ 

In der ersten Nummer der Clartezeitung setzte Barbusse, 
den Leitartikel' schreibend, seinen Feldzug gegen die Lüge 
und die Unwissenheit fort, in dem er dabei gleichzeitig 
feststellte, daß „Clarte“ grundsätzlich als Kampforganisation 
gedacht sei. „Ausgehend von der Anerkennung des Individual- 
begriffs, welcher eine Urtatsache bezeichnet, setzt „Clarte“ 
an den Anfang der sozialen Ordnung das Gesetz der Gleich¬ 
heit. Dieses Gesetz ist grundlegend und es umfaßt aus sich 
heraus entwickelnd den ganzen Fortschritt der Gesellschaft. 
Es begreift in sich die Unterdrückung aller Privilegien von 
Klassen und das Bestehen von Klassen selber; an die Stelle 
des vaterländischen Ideals setzt es das menschliche, an die 
Stelle der nationalen Organisation die internationale; es 
auferlegt allen Männern und Frauen, zu arbeiten; es ruft 
die Massen zuj* unmittelbaren Führung der menschlichen 
Angelegenheiten herbei. , . Jedoch ist „Clarte“ nicht irgend¬ 
eine politische Partei. „Clarte“ stellt sich brüderlicn an 
die Seite der sozialistischen Partei, der wahren sozialistischen 
Partei, die im Reiche der Tatsachen und der handgreiflichen 
Verwirklichungen jene Ideen durchzusetzen strebt, die zu 
verbreiten ihre Sendung ist.“ v 

Der zweite Entwicklungsabschnitt der Clartebewegung, der¬ 
jenige, in dem die Gruppe ihre r eal politische Linie und die 
organisatorische Form sucht, liegt heute abgeschlossen. Alle 
Arbeiten innerhalb des Bundes drängen jetzt dem einen Ziele 
des Kongresses zu, der als solcher die Krönung der bisherigen 
öffentlichen Wirksamkeit und den Markstein bedeuten wird, 
von dem ab die Clartebewegung, alsdann ein wahrhaft inter- 


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1300 


Entstehung der Clartebewegung. 


nationaler Organismus, den dritten Abschnitt ihres. Werde¬ 
gangs beginnen kann. 

Die Pariser Zentrale rechnet für diesen dritten Abschnitt 
mit aller Entschiedenheit auf den tätigen Anschluß der deut¬ 
schen Intellektuellen.* Es besteht in Paris ein sehr lebendiges 
Gefühl dafür, daß die Voraussetzung jeglichen geistigen Ein¬ 
vernehmens die deutsch-französische Annäherung sein muß. 
In dem Berichte, den der Belgier Paul Colin über die 
allgemeine Lage in der „Clarte“zeitung vom 11. Oktober 
veröffentlichte, unterstrich er gerade diesen Punkt, wie er 
denn als anbahnende Vorbereitung zur Annäherung gerade 
dieser zwei Rassen nebenher die kulturelle Annäherung auch 
zwischen Belgien und Holland verfolgt. Es taucht hier ein 
Gedanke auf, den während der deutschen Besetzung Belgiens 
einige Deutsche vertraten, ohne sich Gehör verschaffen zu 
können, der Gedanke, daß den franko-deutschen Interessen 
am besten gedient sei, wenn sich Belgien und Holland in 
Freundschaft fänden, um derart die nördliche Brücke zwischen 
Lateinern und Germanen zu bilden, wie diese gleiche Aufgabe 
im Süden die gemischtsprachige Schweiz emillt. 

Es ist unerläßlich, daß die deutschen Intellektuellen mit 
der „Clarte“bewegung die Fühlung aufnehmen. 1 

Es gibt nichts, was den deutschen Geistesarbeitern er¬ 
laubte, vor dem guten Willen der bisherigen Ztentralleitung 
Argwohn zu hegen; keinerlei ententistisches Geheimabkom¬ 
men versteckt sich hinter dem Vorgehen der „Clarte“begrün- 
der. Die westlichen Kopfarbeiter strecken denen des ge¬ 
schlagenen Landes die Hände zu: Es wird lediglich des 
Feingefühls bedürfen und des guten Willens, damit die neue 
Internationale des Geistes die so nötige Einheit des Handelns 
gewinnt. Da sie keine „Interessen“ zu schützen hat, wie die 
anderen bestehenden internationalen Organisationen (Frei¬ 
maurerschaft, Sozialdemokratie, Kirche), kann ihr Handeln 
sich viel unbefangener, ihre Haltung sich viel lauterer ent¬ 
falten. 


1 Aufklärendes Material erhält man am schnellsten durch Paul Colin, 
Brüssel, Avenue de la Cascade 31, oder durch den Schreiber dieses, 
Haag (Holland), van Galenstraat 1. 


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Die Sozialisierung der Bühnen, _ 1301 

ERICH .SCHLAIKJER: 

Die Sozialisierung der Bühnen. 

MAN wendet gegen die sozialistische Produktionsweise ein, 

1 daß sie die Arbeitsleistung herabsetze, weil sie das freie 
Spiel der Kräfte ausschaltet, und es muß eingeräumt werden, 
daß dieser Einwand nicht ganz aus leeren Worten besteht. 
Der private Unternehmer, der um sein wirtschaftliches Leben 
ringt, spannt unter Umständen die Nerven bis zum Zerreißen 
und erzielt auf diese Weise ein Ergebnis, das eben nur 
mit fiebernder Energie zu erreichen war. Auch der Sozialist, 
der mit offenen Augen ins Leben blickt, kann nicht gut 
leugnen 'wollen, daß der brutale Kampf ums Dasein die Men¬ 
schen mit grausamem Stachel an ihr Werk treibt. Man kann 
auch zugeben, daß im privaten Betrieb der persönlichen Ini¬ 
tiative em Raum gelassen ist, der im sozialistischen wenigstens 
nicht vorhanden zu sein braucht. Es ist auf dieser sündigen 
Erde nun einmal so, daß jedem Zustand bestimmte Lichtseiten 
und bestimmte Mängel sozusagen organisch anhaften und 
von diesem allgemeinen Gesetz macht die wirtschaftliche 
Produktionsweise selbstverständlich keine Ausnahme. Wenn 
man den privaten mit dem sozialistischen Betrieb vergleichen 
will, darf (man aber nicht einseitig bestimmte Züge ins Licht 
rücken, die den privaten Unternehmungen eigentümlich sind, 
sondern muß die hellen und dunklen Seiten beider Betriebe 
ins Auge fassen, um sie in ihrer Totalität gegeneinander ab¬ 
zuwägen. Immerhin: wenn auf einem bestimmten Gebiet der 
Einwand wegfällt, der in der anspornenden Kraft der freien 
Konkurrenz liegt, braucht man den Vorteil nicht von der 
Hand zu weisen, und auf dem kulturell so wertvollen Ge¬ 
biet der Kunst kann er glücklicherweise nicht erhoben 
werden. 

Auch der privatkapitalistische Theaterdirektor wird durch 
den Kampf ums Dasein zu einer Anspannung aller Kräfte 
getrieben und teilt in diesem Punkt also das Schicksal der 
privaten Unternehmer überhaupt. Während ein Stiefel¬ 
fabrikant aber unter dem Einfluß der freien Konkurrenz 
mehr und im allgemeinen auch bessere Stiefel hervorbringt, 
während also Qualität und Quantität der Ware gesteigert 
werden, bleibt beim Theaterdirektor die Zahl der gespielten 


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Die Sozialisierung der Bühnen. 


Dramen gleich, ihre Qualität aber sinkt in der traurigsten 
Weise. Unsere privaten Bühnen werden zwar von der Kon¬ 
kurrenz angetrieben, oft genug in der grausamsten Weise, 
der Antrieb aber richtet sich leider immer nur aufs Geld¬ 
verdienen und läßt den geschäftlichen Zweck zum allein 
seligmachenden Faktor werden. Der Theaterdirektor fragt 
nicht mehr: „Ist dieses Drama gut oder schlecht? Winl 
es die Seelen meiner Zuschauer bereichern oder verschlam¬ 
men und beschmutzen?“. Er fragt nur noch, ob es Geld ein¬ 
bringt und seine kapitalistischen Auslagen deckt. Was die 
freie Konkurrenz am Theater entfesselt, ist eine wilde Jagd 
nach dem Gold, bei der nicht nur alle künstlerischen, son¬ 
dern oft genug auch alle sittlichen Werte unter die Füße 
getreten werden. Damit ein Drama Geld einbringe, viel 
Geld, ganz entsetzlich viel Geld, muß es sich in den Massen 
des bürgerlichen Publikums an möglichst kräftige Instinkte 
wenden, und die Natur des Durchschnittsmenschen ist leider 
so eingerichtet, daß in ihm die untergeordneten Instinkte zu* 
gleich auch die stärksten sind. Der allerstärkste ist selbst¬ 
verständlich der Geschlechtstrieb, und es ist darum nur 
logisch, daß er unter der Herrschaft der freien Konkurrenz 
sich einen so großen Teil des Spielplans erobert hat, von 
den harmlosen Verlobungsgeschichten der Familienlustspiele 
angefangen, über die Schlüpfrigkeit Kotzebues und die Pikan- 
terie der französischen Schwänke hinweg, bis zu den auf¬ 
reizenden erotischen Gemeinheiten, die wir im gegenwärtigen 
Berlin ansehen müssen und die um so schlimmer sind, als 
sie bei der augenblicklichen finanziellen Lage der Bühnen 
durch geschäftliche Gründe nicht entschuldigt werden können. 
Neben dem Geschlechtstrieb werden dann.aber auch alle an¬ 
deren untergeordneten Instinkte beschworen, die im Publi¬ 
kum schlummern und zu einem Sturm auf die Kasse füh¬ 
ren können. Man befriedigt die Schaulust des süßen Pöbels, 
indem man die Klassiker in einer üppigen Ausstattung er¬ 
stickt; man spielt Kinodrämen, in denen das Verbrechertum 
mit einer verlogenen und verderblichen Romantik umgeben 
wird und läßt knallige Reißer explodieren, durch die man 
die schädlichen Sensationen der Hintertreppenromane zu er¬ 
zeugen hofft. In jedem einzelnen Fall aber begeht man einen 
Verrat an der Kunst, der unmittelbar durch den privaten Be¬ 
trieb hervorgerufen wurde und auf sein Konto zu .setzen ist. 
Die Vorzüge, die man dem kapitalistischen System sonst 


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1303 


Die Sozialisierung der Bühnen. 


nachrühmen mag-, verkehren sich hier in grimmigen Schaden , 
und dieser Zusammenhang der Dinge ist auch den bürger¬ 
lichen . Idealisten keineswegs unbekannt geblieben. Immer 
wiedef" haben sie ausgerufen, daß der Mammonismus die 
Kunst verderbe, und daß man die Theater von den Fesseln 
des privaten Geschäfts erlösen müsse. Man sagt schwerlich 
zuviel, wenn man ausspricht, daß sämtliche Parteien der - 
Nationalversammlung einer Emanzipation der Bühnen von 
den häßlichen Rücksichten auf einen sehr untergeordneten 
Gelderwerb zustimmen würden, und so gibt es wohl kaum 
ein Feld, auf dem das Erdreich für die ersten Spatenstiche 
des Sozialismus so gut vorbereitet wäre, wie hier. Eine 
Regierung , i die die Zerstörung der gegenwärtigen Theater¬ 
schande durch Sozialisierung der Betriebe einleitete, würde 
dem Staat nicht nur eine dringend notwendige Geldquelle 
erschließen, sondern auch ein kulturelles Segenswerk in An¬ 
griff nehmen, das ihren politischen Kredit notwendig er¬ 
höhen müßte. 

„Mit der Geldquelle könnte es leicht Essig werden“, wirft 
hier der kapitalistische Direktor dazwischen. „Das Publi¬ 
kum bevorzugt nun einmal die schlechten Stücke. Wir haben 
in hunderten von Fällen die Erfahrung gemacht, daß es die 
guten einfach nicht besucht/* 

„Gewiß,“ soll unsere Antwort lauten, ~,so wie Kinder 
auch verderbliche Speisen bevorzugen, wenn sie nur süß 
sind, und eine gewissenlose Mutter sie ihnen zusteckt.“ 
Das Publikum ist in ästhetischen Dingen in hohem Maße ein 
unerzogenes Kind, und da für seine ästhetische Erziehung 
bisher nichts Wesentliches getan ist, kann man ihm das 
nicht einmal übel nehmen. Wenn das sozialistische System 
die privatkapitalistischen Sudelköche bestehen ließe, wäre 
in der Tat die Gefahr vorhanden, daß zum mindesten der 
schlechtere Teil des Publikums den Verführungen unterläge, 
die mit allen Mitteln der Reklame auf ihn eindringen würden. 
Mit diesem Gedankengäng aber geht man von einer Voraus¬ 
setzung aus, die nach der Sozialisierung der Betriebe nicht 
mehr vorhanden ist. Der Sozialismus legt zwar Wert darauf, 
menschenfreundlich zu sein, für so schwach aber, daß er 
die Feinde der Kunst und seines eigenen Systems am Leben 
lassen sollte, darf man ihn nicht halten wollen. Wenn sozia¬ 
lisiert wird, gehen alle Betriebe in den Besitz der Allgemein- 


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1304 __'_ Die Sozialisierung der Bühnen. 

heit über und somit fallen die schädlichen Lockungen fort, 
die unter der Herrschaft des kapitalistischen Systems nur 
allzu frei ihre verderbenbringende Kraft spielen lassen konn¬ 
ten. Die Arbeiter haben mit dem soliden Spielplan ihrer 
„Volksbühnen“ nicht nur bestehen können, sie sind ständig 
stärker geworden und haben schließlich im alten Scheunen¬ 
viertel ein Theater gegründet, das augenblicklich als das 
beste Berlins bezeichnet werden muß. In der gleichen Weise 
werden die sozialisierten Bühnen der Zukunft in der fröh¬ 
lichsten Weise blühen können, wenn der immerwährende 
Appell an die schlechten Instinkte, auf den die Arbeiter aus 
freiem Entschluß verzichtet haben, unter dem segensreichen 
v Einfluß des neuen Systems wegfällt. Die Anziehungskraft 
der Theater ist so groß, daß sie die Massen unter allen Um¬ 
ständen anziehen werden und die künstlerischen Darbietungen 
sorgen dann ganz von selber dafür, daß die Freude an Gift 
und Schmutz aus Mangel an Nahrung stirbt. 

Ja, aber, wenn die Bühnen sozialisiert werden, wird der 
Geschmack des Staates ausschlaggebend, und dann werden 
alle Dichter die gleiche Kommißuniform anziehen müssen. 
Wer die sozialistische Literatur kennt, weiß, daß mit diesen 
Worten nur ein Einwand erhoben wird, der so alt ist, wie die 
polemische Bekämpfung des Sozialismus überhaupt. Wir 
haben keine Lust, ihn in seiner Allgemeinheit erneut zur 
Erörterung zu stellen und beschränken uns also auf seine 
Geltung im vorliegenden konkreten Fall. Wie man leicht 
sieht, unterstellt er einen autoritär geleiteten Staat, während 
die Sozialisierung einen volkstümlichen und darum duldsamen 
Staat zur Voraussetzung hat. Wenn man die augenblicklichen 
Züstände in der Regierung zur Grundlage seiner Rechnung 
macht, würden Dramen, in denen die Weltanschauung der 
Sozialdemokratie des Zentrums und der bürgerlichen Demo¬ 
kratie zum Ausaruck kämen, ohne weiteres gespielt werden 
können, womit ein außerordentlich weiter Rahmen gezogen 
wäre, während unter dem herrschenden privaten System 
ein halbes Dutzend Direktoren mit gewaltsamem Terrorismus 
alles unterdrückt, was nicht die Uniform ihrer allerengstert 
Cliquenmteressen trägt. Weit entfernt, einengend zu wirken, 
würde der Staat in geradezu beglückender Weise die Fesseln 
der schwärzesten Unduldsamkeit sprengen und ein reicheres 
Aufblühen der dramatischen Produktion ermöglichen. Wozu 


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Die Sozialisierung der Bühnen». 


1305 


aber soll man sich mit seiner Betrachtung auf den Staat 
einrichten, wenn er im vorliegenden Zusammenhang für die 
Sozialisierung ganz überflüssig ist? Obwohl wir ihn den 
gegenwärtigen Zuständen gegenüber als einen großen Fort¬ 
schritt begrüßen würden, meinen auch wir, daß man im 
Interesse einer möglichst großen Mannigfaltigkeit am besten 
die Gemeinde zum Träger der Bühnen machte. Ob die 
Gemeinden dann vom Erträgnis einen mehr oder weniger 
großen Teil an den Staat abzuliefem hätten, ist eine finanz¬ 
politische Angelegenheit, die in unsere ästhetische Betrach¬ 
tung nicht hineingehört. Den Bedürfnissen der Kunst wäre 
Genüge geschehen, wenn man den Gemeinden das Recht 
einräumen würde, den Spielplan nach ihrem eigenen Er¬ 
messen zu gestalten, damit ein Dramatiker, der aus irgend¬ 
welchen Gründen der Weltanschauung oder der persönlichen 
Verhältnisse in der einen Gemeinde ausgeschlossen wäre, 
mit Erfolg an eine andere appellieren könnte. Es gibt in 
Deutschland so viele große Gemeinden, daß die ästhetische 
Bevormundung des Dichters auf diese Weise so weit herab¬ 
gesetzt sein würde, wie sie auf dieser unvollkommenen Erde 
überhaupt herabgesetzt werden kann. Wir betrachten es dabei 
als selbstverständlich, weil es unmittelbar aus der Natur der 
Sache fließt, daß die sozialisierten Gemeindebühnen eben 
in die Hand der Gemeinde gelegt würden, nicht etwa in 
die Hände der Schauspieler, die zufällig an ihnen engagiert 
sind. Die Gemeinde setzt sowohl den Literarischen als den 
schauspielerischen Leiter der Bühnen ein und ist den Wählern 
gegenüber verantwortlich, die mit dem Stimmzettel in der 
Hand ihr demokratisches Urteil über die künstlerische Füh¬ 
rung der Geschäfte abzugeben haben. Ebenso betrachten 
wir es als selbstverständlich, daß die von der Gemeinde 
angestellten und von den Wählern gebilligten Direktoren 
mit den Machtbefugnissen auszustatten wären, ohne die über¬ 
haupt kein Betrieb, am allerwenigsten aber eine Bühne ge¬ 
leitet werden kann. Demokratie bedeutet, daß eine Regierung, 
in diesem Falle also eine Theaterregierung, dem Volke gegen¬ 
über verantwortlich ist, sie bedeutet aber glücklicherweise 
durchaus nicht daß ein Sozialisierter Betrieb an einer Anarchie 
der zufällig Angestellten zugrundegehen sollte. Wenn die 
Regierung eine Theaterreform im Sinne der vorstehenden 
Zeilen sofort programmatisch ankündigen würde, um sie 
dann nach Maßgabe der Kräfte so schnell wie möglich in 


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1306 


Bücherschau. 




Angriff zu nehmen, würde sie nach unserem Ermessen nicht 
nur der Sache der Kunst, sondern auch ihrer eigenen politi¬ 
schen Geltung einen außerordentlich wesentlichen Dienst 
leisten. ' 


Bücherschau. 

Dr. Alfred H. Fried: , 7 Weltprotest gegen den Versailler 

Frieden Neuer Geist, Verlag. Leipzig 1920. Preis 
M. 6 .—. 

Haß, Rache und Beutelust sprechen aus dem Versailler 
Vertrag, aber eine neue Welt kann aus diesen Elementen 
nicht gebaut werden. Eine neue menschliche Gemeinschaft 
wird nur erstehen, wenn alle Völker mit den alten Götzen 
der Macht brechen und sich zu der Idee bekennen, die sich 
heute in Deutschland zur höchsten Vollendung durchzuringen 
scheint: zur sozialen Menschwerdung! Diese großen Ge¬ 
danken und Ideen sind in der Tat noch heute lebendig. Und 
daß sie trotz des Triumphes der Macht und des feindlichen 
Militarismus von jenseits der Grenzen zu uns herüberklirigen, 
das ist der große Trost des deutschen Volkes und ein 
Lichtstrahl in unserem Dunkel. Wie Frieds Buch zeigt, sind 
auch bei den feindlichen Völkern Stimmen da, die ihren 
Widerspruch gegen den Versailler Frieden erhoben und die 
einen Geist der Versöhnung, der Verständigung und eines 
reinen Menschentums atmen, daß sie jeder Deutsche mit 
Erschütterung und Bewegung lesen wird. Nach den einzelnen 
Ländern geordnet, sind in dem Buch Artikel hervorragender 
Persönlichkeiten, Aeußerungen bekannter Politiker und Jour¬ 
nalisten, die Protest? großer Zeitungen, die Resolutionen 
von Parteien und Gruppen, die Kundgebungen internationaler 
Körperschaften Kongresse usw. enthalten, die sich gegen 
den Gewaltfrieden von Versailles aussprechen. Es bleibt das 
große Verdienst des tapferen Herausgebers, der auch im 
Kriege niemals an der Idee der Verständigung und Völker¬ 
gemeinschaft schwankend geworden ist, diese Dokumente der 
Wahrheit und des Mutes vereinigt zu haben, damit alle 
Länder und alle Völker diese Stimmen vernehmen und das 
wahr gemacht wird,- was der französische Sozialist Marcel 
Cachin in der „Humaiiite“ forderte: „Dieser Vertrag muß 


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Öücherschau. 


1307 


neu gemacht werden. Die Völker waren nicht anwesend 
bei der prunkvollen Zeremonie jm Spiegelsaal zu Versailles. 
Diese Unterschriften, die in dem Palast ausgetauscht wurden, 
sind nicht Unterschriften der Völker.“ 

Wir wollen sie aber auch nicht überschätzen. Oft stehen 
Millionen- Menschen hinter solchem Protest, aber ihre Macht 
ist noch nicht groß genug, sich durchzusetzen. Erst wenn 
alle Völker einsehen, daß Versailles 1919 nicht der Anfang 
einer glücklicheren und friedvolleren Welt »bedeutet, sondern 
nur zerrissene, nicht lebensfähige und verarmte' Völker und 
Staaten geschaffen hat, dann werden sie von selbst den 
Vertrag ändern. Den längsten Widerstand werden wir von 
der französischen Bourgeoisie zu erwarten haben. Zu nahe 
war sie dem Zusammenbruch, zu ungeheuer hat das fran¬ 
zösische Volk unter dem Sieger jahrelang gelitten, zu tief 
hat sich der Haß und die Rache für alles Leid in die Seele des 
ganzen Volkes eingefressen. Darum »klingen erst wenige 
Französische Stimmen zu uns herüber. Mit innerster Anteil¬ 
nahme wird man die Aeußerungen eines Marcel Cachin, eines 
Lucien Leaute, eines Jean Longuet, der Männer der Clarte, 
die Stimmen jn der „Humanite“, „Bataille“, „Feuille“, dem 
„Populaire“ lesen, in denen der Friede als ein Werk scham¬ 
loser Raubgier und niederträchtiger Rachsucht bezeichnet 
wird. 

Auch in England und Amerika gibt es viele Männer und 
Frauen, die-den Vertrag ablehnen. Auch in diesen Ländern 
spielen sittlichhe Bedenken eine große Rolle, und man braucht 
nur Namen wie Henderson, Jerome, Arthur Ponsonby, G. 
Bernard Shaw, Smuts, Snowden zu nennep um das rein 
menschliche Empfinden zu dokumentieren. Senr tapfer haben 
von Anfang an alle englischen Arbeiterparteien zu Deutsch¬ 
land gestanden, und schon am 8. Mai 1919 erklärte die 
Independent Labour Party: „Die Bedingungen, die die Alli¬ 
ierten der deutschen Republik auferlegen, tragen mit Unrecht 
den Namen Friedensvertrag. Er ist eine kapitalistische, mili¬ 
taristische und imperialistische Last.“ Und für Amerika sei 
außer den Sozialisten auf den Protest der Mitglieder der 
Friedenskommission verwiesen/von denen besonders der Brief 
des Mitgliedes Bullit an Wilson bekanntgeworden ist, in 
dem es unter anderem hieß: „Es erscheint mir als die 
Pflicht der Regierung der Vereinigten Staaten, zum Besten, 
unseres Volkes und für das Glück der Menschheit die Unter- 


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Bücher sch au. 


schrift unter diesen ungerechten Vertrag, den Beitritt zu die¬ 
sem Völkerbund und damit ein engeres Zusammengehen mit 
Frankreich zu verweigern.“ 

Aehnlich lauten auch die Stimmen aus den anderen Län¬ 
dern der Welt und aus den neutralen Staaten. Die Regierun¬ 
gen der feindlichen Länder haben sie überhört. Aber uns 
Deutschen darf die Hoffnung nicht untergehen, daß sie einst 
von allen Völkern begriffen werden, und daß dann der „Sieg 
des Weltorganisationsgedankens, die Idee der Völkergemein¬ 
schaft und der Sieg der Demokratie in der Welt der Weg 
ist, der allein zur Befreiung Deutschlands von dem Versailler 
Frieden führen kann“. Dr. Friedrich Th. Körner. 

* 

Dr. Friedrich Ritteimeyer: „ Zur innersten Politik .“ Verlag 
Chr. Kaiser. München 191 Q._ 

Die kurze, aber inhaltsvolle Schrift, behandelt das alte 
und doch immer neue Thema: Christentum und Sozialismus. 
Der Verfasser sieht in der* Botschaft Jesu nicht nur etwas 
Dogmatisches, sondern den Ruf nach Gemeinschaft: „In der 
Arbeiterbewegung, in dem Erwachen Zur Menschlichkeit steckt 
ein Stück vom Kommen Christi auf die Erde“ (Seite 10). 
Ritteimeyer sieht klar, daß wir für weite Gebiete unseres 
Wirtschaftslebens „einer Sozialisierung und Demokratisierung 
entgegengehen“ und fordert die Unternehmer auf, diesem 
Streben freiwillig und im Geiste der Brüderlichkeit entgegen¬ 
zukommen (Seile 13). ' 

* 

Dr. Erwin Steinitzer: Bürgertum und Revolution .“ Verlag 
der Kulturliga. Berlin 1919. Preis M. 1.—. 

Das Büchlein ist ein Versuch, vom aufgeklärten bürger¬ 
lichen Standpunkt den Gang (der deutschen Revolution zu 
beleuchten. Dem Zwang der Verhältnisse gehorchend, plä¬ 
diert der Verfasser schließlich für die Vertretung der Ar¬ 
beiter in der Geschäfts Verwaltung, da dies das einzige Mittel 
sei, „den Gegensatz zwischen leitender und ausführender 
Arbeit an der Wurzel zu beseitigen und der Solidarität aller 
Träger im Produktionsprozeß die breiteste Basis zu sichern“ 
(Seite 21). 


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ZWISCHEN 
DEN GEFECHTEN 

von 

PHILIPP SCHE1DEMANN 


Elegant gebunden 

Preis 10 Mark 

und 20% Teuerungszuschlag 


Aus den Tagen der Kindheit 
führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre 
des reifen Mannesalters. Scheidemann selbst hat r— vielleicht 
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen 
Entwicklungsgang beschrieben. 


Bezug durch alle Buchhandlungen 
sowie direkt vom 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 


BERLIN SW 68 


LINDENSTR. 114 


Postscheckkonto Berlin 27576 


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1 


Fortsetzung unserer Sozialwissenschaftlichen Bibliothek! 


Band 15: 


Die deutsche Beaoiteobeweguog 


nach der Revolution 


Von A. Falkenberg 

Referent für Beamtenfragen im Reichsministerium des Innern 

; Preis: 

kartoniert Mark 3,— 
gebunden Mark 4,50 
und 20% Teuerungszusdilag 


Schildert den Demokratisierungsprozeß unserer Beamtenwelt als 
Wirkung des Weltkrieges und der deutschen_Revoluiion. Bei der 
hervorragenden Wichtigkeit einer im Geiste der Revolution wir¬ 
kenden Staatsverwaltung dürfte diese Schrift von größtem Interesse 
für die weitesten Kreise sein. 

Die Bibliothek wird fortgesetzt 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

BEiRLIN SW 68 POSTSCHECKKONTO 275 76 LINDENSTR. 114 


Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin 

Druck und Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, Lindenstraße 114. 
Fernruf: Moritzplatz Nr. 2218, 1448—1450. 


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g für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68 


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’f 


DIE GLOCKE 

Sozialistische Wochenschrift v 

Herausgeber: Parvus 

Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post 
oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Ulfe. 6,—, 
Einzelhefte 50 Pf., Porto 5 Pf. 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

Berlin SW 68, Lindenstr. 114. Postsdieckfeonto: 27576 Berlin 


INHALT DIESER NUMMER: 


Prof* Dr. H. Kantorowicz (Freiburg): Deutsch*- 
lands Interesse am Völkerbund ...... 1309 

Oberlehrer Dr« Erich Witte: Elternbeiräte . . 1313 
X. X. X.: Das arbeitslose Einkommen . . . . 1318 
Arthur Heichen: Der nationale Gedanke und die 


Sozialdemokratie . ..1321 

Parvus: Philister über mich!.*. 1331 

Bücherschau: „Im Tollhause“ . . . . . . . 1339 


Nummer 41 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt: 


Peter Knute: Versailler Staatenbaukunst . . . 1277 
Theodor Schmidt: Wer hemmt den volkswirt¬ 
schaftlichen Wiederaufbau Deutschlands? . . 1281 
Dr. Friedrich Markus Huebner (im Haag): Ent¬ 
stehung der Clartd-Bewegung.1290 

Erich Schlaikjer: Die Sozialisierung der Bühnen 130l 
Bücherschau: „Weltprotest gegen den Versailler 
Frieden“.1306 


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42. Heft 17. Januar 1920 5. Jahrg. 

Nadidrudc sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet 


Prof. Dr. HERMANN KANTOROWICZ (Freiburg): 

Deutschlands Interesse am Völkerbund. 

MANNIGFACH sind die Gegner des Völkerbunds in 
Deutschland; am zahlreichsten unter ihnen aber dürfte 
das altbekannte Geschlecht der Gefühlspolitiker vertreten 
sein. Unter diesen sind sowohl verstiegene Ideologen als 
reine Machtmenschen. Die Ideologen sagen: Alles oder 
Nichts! Der Völkerbund, wie er bisher geplant ist, sei 
eine Schöpfung der Gewalt, ein Werkzeug der Herrsch¬ 
sucht der einen zur Unterdrückung der anderen; wir wür¬ 
den uns besudeln, wenn wir (uns an ihm beteiligten, gleich¬ 
viel, ob auf der einen od(er der anderen Seite. Oder auch: 
erst müßten wir im Innern alle Gewalt und allen Kampf 
beseitigen, erst die Herzen mit Liebe erfüllen, dann möge 
die Organisation nachfolgen. Die Macktmenschen wettern 
gegen das Werk, das der Betrüger Wilson ausgeheckt, der 
Verführer Erzberger empfohlen habe — was könne aus 
solchen Händen anders als für Deutschland Schädliches ent¬ 
springen ? 

Der Politiker sucht zwischen beiden Lagern seinen Weg. 
Er ist vor allem durchdrungen davon, daß er wirken will, 
und daß er die Verantwortung übernehmen muß für das, 
was er tut und läßt. . 

Deshalb wird er den Ideologen die Frage vorlegen, ob sie 
wirklich warten wollen, bis in unsem Herzen das Tausend¬ 
jährige Reich angebrochen ist, also gerade bis zu jenem 
Tage, lan dem der Völkerbund, wie jede Vorkehrung gegen 
das Unrecht, überflüssig geworden sein würde, und ob sie 
nicht lieber versuchen wollen, aus dem unvollkommenen, ja 
in vielem nichtswürdigen Werk von Versailles etwas zu 
machen , was den Namen Völkerbund verdient. Gerade, weil 
er so nichtswürdig ist, müssen wir hinein, um ihn zu ver- 

42/1 


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1310 


Deutschlands Interesse am Völkerbund. 


bessern; wäre er vollkommen, und also auch gerecht ver¬ 
waltet, gerade dann könnten wir zur Not draußen bleiben 
und seine Entscheidungen mit derselben Ruhe abwarten, mit 
der ein unschuldig Angeklagter dem Spruch des gerechten 
Richters entgegensieht. Der ideologische Standpunkt führt 
zu schönklingendem Redeschwall oder zu wehleidiger Ver- 
- zweiflung, aber nicht zu schaffender, aufbauender Tat, und 
die tut not — not für Deutschland, not für die leidende 
* Menschheit. * , 

Den Machtmenschen gegenüber wird der Politiker nicht von 
Menschheit reden — er hätte dann bei ihnen ausgespielt, 
ehe er angefangen. Er wird allein Deutschlands Interesse 
betonen, Und da gilt es die Frage so zu stellen, wie sie der 
Politiker stellen muß: würden jene, wenn es allein von 
ihrem Willen abhinge, ob der Völkerbund zustandekommt, 
oder ob Deutschland aufgenommen wird, es verantworten 
können, abzulehnen? Erwidern sie: „dann freilich nein“, 
dann sind sie entlarvt: entlarvt als - „verantwortungslose“ 
Schimpfer im eigentlichen Sinne des Wortes, als „Oppositions¬ 
partei“ in jenem üblen Sinn, die nur deshalb krakeelt, weil 
sie weiß, es geschieht ja doch, was sie bekämpft, und ihr 
bleibt nur die dankbare Aufgabe, sich den unvermeidlichen 
Unvollkommenheiten des Geschehenen gegenüber die Hände 
in Unschuld zu waschen. Erwidern sie aber: „Ja, wir könn¬ 
ten es verantworten“, nun dann würden sie einfach nicht 
wissen, was sie tun. Denn sie würden damit aufs schwerste 
eben jenes deutsche Interesse schädigen, das sie für den 
einzigen Leitstern * ihres Handelns ausgeben. 

Rechnen wir kühl zusammen, was uns der Völkerbund 
bietet , schon jetzt in der elenden Form bietet, die ihm 
die Machtmenschen von Versailles, nachdem sie Wilson an 
die Wand gedrückt, gegeben haben. Lassen wir uns durch 
diese elende Form nicht abschrecken, uns in Gedanken und 
hoffentlich auch bald durch die Tat mit dem Völkerbund zu 
befassen. Fragen wir also: was; nützt der Völkerbund schon 
in der jetzigen Form Deutschland, sobald es Mitglied wird, 
und was, sogar schon ehe es Mitglied ist? Betrachten wir, 
ohne vollständig sein zu wollen, den zweiten Punkt zuerst, 
wie er sich nach dem Friedens vertrag darstellt, denn so 
groß ist die sittliche Macht des Völkerbundsgedankens, daß 
er selbst in die Hölle dieses Vertrages einige verklärende 
Lichtstrahlen senkt. 


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Interesse am Völkerbund. 


1311 


Der Völkerbund ist es, nicht Belgien, der nach Artikel 
34 entscheidet, ob und inwieweit Belgien die Kreise Eupen 
und Malmedy, nachdem die Bevölkerung abgestimmt haben 
wird, an Deutschland zurückgeben muß. 

Der Völkerbund ist es, nicht Frankreich, dem nach Ar¬ 
tikel 49 die Regierung des Saarbeckens anvertraut ist, und der 
nach Paragraph 35 der Anlage zu Artikel 50 unter Be¬ 
rücksichtigung der Volksabstimmung nach 15 Jahren ent¬ 
scheiden wird, ob und inwieweit das Gebiet unter seiner 
Souveränität verbleiben oder an Frankreich fallen oder an 
Deutschland zurückgegeben werden wird. 

Der Völkerbund ist es, der nach Artikel 102 und 103 die 
Freie Stadt Danzig unter seinen Schutz nimmt, ihr die Ver¬ 
fassung ausarbeiten hilft und diese gewährleistet, Danzig 
also vor Polen schützt. 

Der Völkerbund ist es endlich, der nach Artikel 80 Deutsch¬ 
land" von der Verpflichtung entbinden kann, Oesterreich aus 
Deutschland fern zu halten. 

Ich glaube, daß diese Aufzählung allein genügt, um vor 
der Verantwortung zurückschrecken zu lassen, das Zustande¬ 
kommen des Völkerbundes zu verhindern. Freilich — die 
deutsche Macht ist so gering, daß sie nicht einmal immer 
ausreicht, uns zu schaden ; der Völkerbund kommt auf jeden 
Fall zustande, und so scheint es. denn überflüssig, daß wir 
sein Zustandekommen fordern und fördern. Aber es scheint 
nur so: denn was nützen die besten Grundsätze, zumal in 
der Hand teilweise übelwollender Richter, wenn sie schlecht 
angewandt werden ? Und da ist klar, daß ein Deutschland, das 
dem Völkerbund innerlich ablehnend und äußerlich feindlich 
gegenübersteht, von den Organen des Völkerbundes keine 
wohlwollende Anwendung jener an sich wertvollen Grund¬ 
sätze zu erwarten hat. wir müssen also schon aus diesem 
Grunde, um unseres Vaterlandes' willen, uns. innerlich mit 
dem Völkerbundsgedanken durchdringen, solange wir draußen 
stehen müssen. 

Noch größer aber sind die Vorteile für uns, sobald wir 
!Mitglied werden . Geschieht das, so ist Deutschland zwar 
noch nicht Mitglied des „Rats“ des Völkerbundes, dem die 
maßgebliche Leitung und Entscheidung der meisten Ange¬ 
legenheiten zusteht. Notwendige Mitglieder sind bekanntlich 
nur, was üb.rigens begreiflich ist, die fünf einzigen noch 

4211 * 


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1312 


Deutschlands Interesse am Völkerbund. 


übrig gebliebenen Großmächte, und das sind alles unsere 
Feinde. Auch ist nicht anzunehmen, daß Deutschland sehr 
bald von der Bundesversammlung zu einem der vier daneben 
noch vertretenen Bundesmitglieder erwählt werden wird. 
Wohl aber ist der Rat nach Artikel 4 verpflichtet, Deutsch¬ 
land jedesmal zu seinen Sitzungen zuzuziehen, wenn eine 
Deutschlands Interessen besonders berührende Frage auf der 
Tagesordnung steht. Nichts also kann der Völkerbund gegen 
uns unternehmen, ohne uns vorher in Rede und Gegenrede 
zu hören, und da der Rat einstimmig entscheiden muß, 
würde es genügen, auch nur eines der neun Mitglieder von 
unserem guten Rechte zu überzeugen, um jeden ferneren 
Anschlag zu verhindern. Noch wichtiger ist Artikel 10, der 
alle Bundesmitglieder verpflichtet, „die Unversehrtheit des 
Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller 
Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren An¬ 
griff Zu wahren“. Hiermit soll zwar in erster Linie der 
Raub von Versailles verewigt werden, wird aber auch anderer¬ 
seits erreicht, daß Deutschland gegen noch weitere Beraubung 
und weitere Beeinträchtigung seiner Unabhängigkeit geschützt 
ist. Würde aber dennoch ein Bundesmitglied unter» Verletzung, 
der hemmenden Bestimmungen dies Bundes, die jeden Krieg 
zu einer rechtlichen oder psychologischen Unmöglichkeit 
machen wollen, zum Angriff auf Deutschland schreiten, so 
wäre der Fall des Artikel 16 gegeben, und wären alle 
anderen Staaten verpflichtet, den Friedebrecher mit allen 
diplomatischen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen 
Zwangsmitteln entgegenzutreten. Weiter eröffnet Artikel 
19 die Aussicht auf „Nachprüfung“ der „Internationalen 
Verhältnisse“, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden ge¬ 
fährden könnte“, also in erster Linie des Versailler Gewalt¬ 
friedens. Endlich kann nach Artikel 164 nur der Rat des 
Völkerbundes dem neuen Mitglied Deutschland gestatten, seine 
Heeresstärke jütier das Maß des; Friedensvertrages zu ver¬ 
mehren: da nun der Vertrag das deutsche Heer auf 100 000 
Mann beschränkt und diesem Generalstab, Kriegsakademie, 
Mobilmachungspläne, die gesamte schwere Artillerie, das; 
ganze Flugzeugwesen, die Kampfgase und Sturmwagen nimmt, 
den Nachbarn aber gar keine Beschränkung auferlegt, so 
wäre Deutschland schütz- und wehrlos selbst dem kleinsten 
Nachbar ausgeliefert, wenn nicht-der Völkerbund und damit 
das Recht schützend eingreifen würde. 


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Elternbeiräte. 


1313 


Wer also das Zustandekommen des Völkerbundes oder 
Deutschlands Eintritt verhindern möchte, der will unsere 
Brüder in Eupen—Malmödy den Belgiern, will das Saar¬ 
becken den Franzosen, Danzig den Polen und Oesterreich 
den Tschechen und Serben ausliefern; der will uns schutz¬ 
los zerfleischen lassen von Franzosen, Polen Tschechen, so¬ 
bald es ihnen beliebt, Über uns her zu fallen, der will den 
SChmachfrieden von Versailles verewigen. Er besorgt also 
das Geschäft unserer unversöhnlichen Feinde in Frankreich 
und Belgien, die ebenfalls Deutschlands Eintritt in den Bund 
am liebsten dauernd verhindern möchten. Diese Feinde wissen 
sehr genau, was sie wollen. Deutschlands Feinde im Innern, 
das sei zu ihrer Ehre anerkannt, wissen das nicht. Nein, sie 
wollen nicht, daß die aufgewiesenen, vernichtenden Schädi¬ 
gungen eintreten, sie wollen im Gegenteil, daß sich Deutsch¬ 
land wieder aufrichtet, aber sie wollen zugleich das einzige 
Mittel nicht, das vor jenen Schädigungen schützen könnte! 
Sie sind also Schwärmer, sind politische Kindsköpfe, durch¬ 
aus vom Stamme jener, die den Krieg mit England auf dem 
einzigen Wege vermeiden wollten, der ihn gerade unvermeid¬ 
bar machte, dem Wettrüsten zur See, und die den Verständi¬ 
gungsfrieden jnicht wollten, weil sie nur den Siegfrieden; 
gelten ließen, und uns dadurch den Vernichtungsfrieden' 
brachten. 

Wer kein Schwärmer sein will, sondern ein seiner Ver¬ 
antwortung bewußter Politiker, der da weiß, was er tut 
und tut was er will, der unterstütze umgekehrt die Arbeit 
der Deutschen Liga für Völkerbund, die das Verständnis; 
erwecken will für die sittliche Notwendigkeit des echten 
Völkerbundes, aber auch für die politische Notwendigkeit, 
daß Deutschland in den jetzigen Bund eintrete, ohne dadurch 
aufzuhören, gegen dessen Mißgestalt entschiedenste Ver¬ 
wahrung einzulegen. 


Oberlehrer Dr. ERICH WITTE: 

Elternbeiräte. 

[)AS Verhältnis zwischen den Lehrern und den Eltern der 
Schüler, das man einmal mit einer unglücklichen Ehe' 
verglichen hat, ist oft sehr gespannt. Sozialdemokratische 
Eltern hatten auch vor der Revolution mit Recht Veranlas- 


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1316 


Elternbeiräte. 


oder indirekte Kritik der Sozialdemokratie oder der Revolu¬ 
tion, so teile man dies einem Mitglied des Eltembeirats: 
mit, damit der Fall in der nächsten Sitzung besprochen wird. 
'Aber man sei vorsichtig, bedenke, daß Kinder noch nicht die 
Fähigkeit haben, einen Vorgang wahrheitsgetreu zu schildern. 
Daher suche man, wenn es irgend möglich ist, vorher mit 
anderen Schülern oder am besten mit dem betreffenden Lehrer 
Rücksprache zu nehmen. 

Verschiedene Einzelheiten der Verfügung entstammen Leit¬ 
sätzen, welche die Kommission für Schul- und Erziehungs¬ 
fragen der S.P.D.-GemeindeVertreter von Groß-Berlin auf 
Vorschlag des Genossen Stadtrats Oestreich in Schöneberg 
und des Genossen Simson in Wilmersdorf angenommen hat. 
Der Verfasser dieser Zeilen gehört auch der Kommission an. 
So ist die folgende Vorschrift unsern Leitsätzen entnommen 
worden: „Soll bei schwerwiegenden Verfehlungen gegen einen 
Schüler (Schülerin) die Verweisung von der Schule ausge¬ 
sprochen werden oder in das Abgangszeugnis eine Sittennota 
aufgenommen werden, welche ihm das Fortkommen erheblich 
erschwert, oder ihn in den Augen der Allgemeinheit herab- 
setzen würde, so ist mit Zustimmung der Eltern des Schülers 
der Elternrat vorher zu hören/* 

Besonders häufig sollten die Elternräte die Veranstaltung 
von Elternversammlungen anregen. In diesen können Vor¬ 
träge mit anschließender Aussprache gehalten werden. Gegen¬ 
stände, die hier behandelt werden könnten, sind zum Beispiel 
die folgenden: „Die Aussichten der Berufe**, „Die Erziehung 
im Hause**, „Die Beschäftigung der Schüler in den Ferien*, 
„Die Politik und die Jugenderziehung**. Aber auch Eltern 
können hier Vorträge halten. Ist zum Beispiel ein Vater 
Arzt, so ist dieser vielleicht bereit, über die Körperpflege 
des Kindes zu sprechen. In solchen Elternversammlungen 
haben auch die Lehrer Gelegenheit, die Eltern über manche 
Maßnahmen der Schule aufzuklären. 

Abgelehnt worden ist der von uns in der erwähnten Kom¬ 
mission gemachte Vorschlag, den Mitgliedern des Elternbeirats 
das Recht zu geben, dem Unterricht beizuwohnen. Da dies 
vielen Lehrern unangenehm wäre, würde dadurch die Ein¬ 
richtung bei ihnen von vornherein unbeliebt sein. Daher 
hat wohl das Ministerium davon Abstand genommen. Ich 
möchte aber den Schulleiter, den Lehrer sehen, der die 
Bitte des Elternbeirats, dem Unterricht beizuwohnen, ab- 


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Elternbeiräte. 


1317 


schlagen würde. Mir ist es angenehmer, wenn Eltern sich 1 
durch Hospitieren ein Urteil über meinen Unterricht bilden, 
als wenn sie sich nur nach dem richten, was. die Kinder 
darüber sagen. 

Noch ein anderer Vorschlag unserer Kommission ist nicht 
berücksichtigt worden, daß nämlich aus den Eltembeiräten 
eines Ortes ein Ortselternbeirat gebildet werden soll, damit 
dieser zu allgemeinen örtlichen Schulfragen Stellung nehmen, 
kann. Ich bedauere dies" sehr. In der Deputation für das 
höhere Schulwesen der Stadt Berlin habe ich die Bildung 
eines Ortselternbeirats angeregt, ohne indes viel Anklang 
zu finden. Die Vertreter der bürgerlichen Parteien meinten, 
es könnte sich eine Rivalität zwischen dem Ortselternbeirat 
und der Stadtverordnetenversammlung, bzw. den Schuldepu¬ 
tationen entwickeln. Von diesem Standpunkt aus müßte man 
auch das ganze, in unserer Verfassung verankerte Rätesystem 
ablehnen. Ein solcher Ortselternbeirat kann im Gegenteil dem 
Stadtparlament wertvolle Anregungen geben. Meiner Ansicht 
nach steht ein gesetzliches Hindernis der Bildung eines 
solchen Ortselternbeirats nichts im Wege. Die Genossen 
und Genossinnen sollten daher in ihren Gemeinden für einen 
solchen Ortselternbeirat eintreten. In Berlin selbst ist in 
dieser Angelegenheit auch noch nicht das letzte Wort ge¬ 
sprochen. Später werden dann aus den Ortselternbeiräten 
Provinzialelternbeiräte und aus diesen wird wiederum ein 
Staatselternbeirat gebildet werden. 

Die sozialdemokratischen Lehrer werden in der nächsten 
Zeit eine Reihe von Vorträgen über Elternbeiräte halten, 
damit sich die Eltern reger an der Wahl beteiligen und in 
den Beiräten viele Genossen und Genossinnen vertreten sind. 
Meiner Ansicht nach empfiehlt es sich, mit den Unabhängigen] 
zusammen eine Liste aufzustellen, damit bei möglichst vielen 
Eifernbeiräten eine sozialdemokratische Mehrheit gesichert 
ist. In vielen. höheren Schulen werden allerdings die Eltern¬ 
beiräte ein reaktionäres Aussehen haben. Deswegen sollte 
man es nicht verschmähen, an höheren Schulen mit den Unab¬ 
hängigen und mit den Demokraten zusammen eine Liste auf¬ 
zustellen, weil man sonst vielleicht, besonders in den kleinen 
Schulen und in den westlichen Vororten, keinen Genossen 
durchbringen würde. 


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1318 


Das arbeitslose Einkommen. 


X.X.X. 


Das arbeitslose Einkommen. 

Eine Anregung. 

PS ist in letzter Zßit viel geredet und geschrieben worden 
über die Gewinnbeteiligung der Arbeiterschaft bei großen 
.Werken. In der Hauptsache denkt man dabei wohl an die 
Aktiengesellschaften. Im Nachstehenden soll ein Weg ge¬ 
zeigt weiden, wie denen, die die Arbeit leisten, ein gewisser 
Gewinnanteil je nach Höhe des Ueberschusses gesichert wer¬ 
den kann, während die Geldleiher nicht solch übermäßige 
Gewinne einstecken, ihnen jedoch eine angemessene Ver¬ 
zinsung vorab zugestanden wird. In schlechten Jahren würden 
die Arbeitnehmer außer ihrem Lohn und Gehalt allerdings 
nichts bekommen, umgekehrt trügen dann die Geldleiher 
den Verlust auch allein. Deswegen dürfte auch, wie selbst¬ 
verständlich, großer Widerstand seitens, der Aktionäre ein- 
setzen, ebenso natürlich auch wegen der geschmälerten Ge¬ 
winnchancen. Da es sich aber um arbeitsloses Zinseinkom¬ 
men handelt, so ist es nur zu berechtigt, daß hier an dieser 
Stelle auch eingegriffen wird, wo es sich darum handelt, 
unsere Wirtschaft wieder hochzubirngen. Ich denke mir die 
Sache wie folgt: 

Vom Bruttoüberschuß eines Geschäftsjahres werden zu¬ 
nächst, wie üblich, die gebräuchlichen Abschreibungen vor¬ 
genommen, wobei es Sache der Landesfinanzämter sein sollte, 
darüber zu wachen, daß nicht übergroße Reserven geschaffen 
werden. Von der übrigbleibenden Summe werden die Steuer¬ 
rücklagen abgesetzt. Vom Saldo gehen zunächst ab 5 Prozent 
Dividende als Verzinsung für das geliehene Kapital, sodann 
die statutengemäßen Tantiemen. Der Restbetrag wird wie 
folgt auf geteilt in volle 1000 Mark, Dividende nur zu vollen 
und halben Prozenten, überschießende Reste werden vor¬ 
getragen : 

12 /24 als Ueberdividende an die Aktionäre, 

V 24 an den Aufsichtsrat außer der statutenmäßig fest¬ 
gesetzten Summe, 

V24 an den Vorstand außer den vertragsmäßigen Be¬ 
trägen, 


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Das arbeitslose Einkommen. 


1319 


3 / 24 an die kaufmännischen und technischen Angestellten, 
7 / 24 an die Arbeiter gleichmäßig nach ihrer Zahl. aber 
nur an diejenigen, welche langer als zwei Jahre in 
dem Werk arbeiten. 

Zwei Durchschnittsbeispiele sollen zeigen, wie diese Lösung 
für alle Teile günstig sein kann, immer vorausgesetzt natür¬ 
lich, daß die Aktionäre nicht übermäßige Gewinne einzü- 
stecken brauchen, sondern, daß diejenigen, welche die Ar¬ 
beit leisten, auch ihren Verdienst haben müssen, wozu frei¬ 
lich auch Aufsichtsräte und Vorstände gehören: 

Der Gewinn einer Aktiengesellschaft mit 6 000 000 Mark 
Kapital betrage nach Abzug der Abschreibungen 1 400 000 
Mark (und nabe im Vorjahre betragen 1 300 000 Mark), 
dann sind zurückzustellen für Mehrgewinnsteuer etwa 60 
Prozent von 100 000 Mark = 60 000 Mark, bleibt Rest 
1 340 000 Mark. Nun erhalten die Aktionäre zunächst 5 Pro¬ 
zent Dividende = 300 000 Mark, bleibt Rest 1 040 000 Mark; 
Tantieme 25 000 Mark, bleibt 1 015 000 Mark : 24 gleich 
42 291 = je 42 000 Mark auf V 24 * Für Ueberdividende 
macht das 504 000 Mark, in vollen Prozenten = 8 Prozent, 
Rest 24 000 Mark als Vortrag, restl. 24x291,66 des, Ge¬ 
winnanteils der arbeitenden Werksangehörigen ebenfalls zum 
Vortrag = 7000 Mark. Der Gesamtnettoüberschuß verteilt 
sich also auf: 

a) Steuern an das Reich (Vortrag) . 60 000 Mark 

b) Einkommensteuer (unter Geschäfts¬ 
unkosten verbucht). — „ 

c) Vortrag ins nächste Jahr .... 31 000 „ 

Vortrag 91 000 Mark 

d) 13 Prozent Dividende. 780 000 „ 

e) 25 000 Mark + 42 000 Mark Tan¬ 
tieme . 67 000 „ 

f) 42 000 Mark an den Vorstand ... 42 000 „ 

g) 126 000 Mark an die Angestellten . 126 000 „ 

n) 294 000 Mark an die Ar beiter . . 294 000 „ 

Summa 1 400 000 Mark 

Von beiläufig 100 Angestellten erhielten jeder 1260 Mark, 
von 800 unter 1000 Arbeitern jeder 367 Mark. 

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1320 


Das arbeitslose Einkommen. 


Bei kleinerem Gewinn stellt sich die Sache natürlich 
wesentlich ungünstiger. Ein Beispiel: Bei den gleichen übri¬ 
gen Ziffern betrage der Gewinn nur 600 000 Mark, dann 
kommen wir zu folgendem Ergebnis (die Reserven seien auch 
hier als bereits gefüllt betrachtet): 

600 000 Mark 

Mehrgewinnsteuer (Gewinn im Vorjahr 


500 000 Mark) etwa. 36 000 


564 000 Mark 

5 Prozent Dividende. 300 000 


264 000 Mark 

Tantieme . . . .. 25 000 


239 000 Mark 

D /2 Prozent Ueberdividende. 90 000 Mark 

'Aufsichtsrat. 9000 „ 

Vorstand. 9 000 „ 

Angestellte (je 270 Mark). 27 000 „ 

Arbeiter- (je 78,75 Mark) ...... 63 000 „ 


198 000 Mark 

Vortrag.. 41000 „ 


wie oben 239 000 Mark 


Oder aber die Summen werden für die Arbeiter und An¬ 
gestellten so klein, daß sie besser auf das nächste Jahr 
vorgetragen werden, wenn nicht gar ein Verlust eintritt. Aber 
gerade dies soll der moralische Trieb bei dieser Idee sein, 
aut die Weise würde jeder ein Interesse am Verdienst des 
Betriebes haben und selbst die Aktionäre, die natürlich ge¬ 
waltig schimpfen würden, sollten weiter blicken und den 
süßen Kern dieser scheinbar bitteren Pille zu schmecken 
versuchen. Manche Werke wirtschaften nur deshalb nicht 
nutzbringend, weil unter ihren Werksangehörigen allgemeine 
Wurstigkeit herrscht. Dies brauche ich ja wohl nicht näher 
auszumalen. 


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1321 




Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie. 

ARTHUR HEICHEN: 

Der nationale Gedanke und die 
Sozialdemokratie. 

QCHON vor dem Kriege waren in der Sozialdemokratie 
Bestrebungen im Gange, dem nationalen Gedanken mehr 
Zugeständnisse zu machen, als es der überlieferten Partei¬ 
ideologie entsprach. In Oesterreich war es vor allem der 
Kreis derer um E. Pernerstorffer und K. Leuthner, die 
sich bemühten, die nationale Seite der Sozialdemokratie be¬ 
wußt herauszukehren. Dort auch waren diese Bestrebungen 
als Ausfluß der k. u. k. Monarchieverdrossenheit, des Aus- 
einanderstrebens der einzelnen Völker und der Spekulation 
aut den doch schließlich einmal eintretenden Zerfall der 
Monarchie, sowie als Reaktion auf den die politische 
Partei ebenso wie die Gewerkschaftsbewegung zersetzenden 
Separatismus der Austroslawen durchaus verständlich. Im 
Deutschen Reich machten sich einzelne Revisionisten, die 
Männer wie Schippel, Quessel und vor allem Dr. Arthur 
Schulz, der Agrarsozialist der „Sozialistischen Monatshefte“, 
zu Sprachrohren dieser Stimmungen. Ob diese Bestrebungen 
damals sonderlich förderlich waren, ob wirklich eine Re¬ 
vision der sozialdemokratischen Politik in dieser Richtung 
notwendig und angebracht war, lassen wir dahingestellt. 
Wir persönlich bezweifeln es, denn an sich lag damals eigent¬ 
lich kein rechter Grund für eine veränderte Haltung der 
Partei vor — dazu fehlte eins, wonach der Marxist letz¬ 
ten Endes unausweichlich fragen muß, eine entsprechende 
Veränderung und Verschiebung der ökonomischen Struktur, 
der volks- und weltwirtschaftlichen Stellung des deutschen 
Volkes und des deutschen Proletariats. Ohne eine solche 
war aber ein Wechsel in der politischen Ideologie der deut¬ 
schen Sozialdemokratie nicht zu rechtfertigen und aus diesem 
Grunde waren schließlich die Radikalen nicht ganz im Un¬ 
recht, wenn sie den nationalen Revisionisten ihre Abirrung 
zum „Sozialimperialismus“ des öfteren vorwarfen und 
diesen als eine letzte Auswirkung des damals alle Volks¬ 
schichten und auch einzelne Sozialisten erfassenden bürger¬ 
lichen Imperialismus in Mißkredit brachten. So lagen die 
Dinge damals! — Aber wie liegen sie heute? Indem wir 


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1322 


Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie. 


dabei dem Worte Lassalles folgen und aussprechen, was ist, 
ohne auf das Achselzucken und Kopfschütteln von rechts 
und links zu achten, geraten wir hoffentlich nicht in Ver¬ 
dacht, unsere Feststellungen mit Rücksicht auf die nationa¬ 
listische Donquichotterie, die weite Kreise unseres Volkes 
zu erfassen droht, zu machen. 

Um eine neue Tatsache wird die Weltgeschichte jeden¬ 
falls reicher. Mitteleuropa, Deutschland und Deutschöster¬ 
reich, sind in jähem Sturz aus dem Kreise der westeuropäi¬ 
schen Völkeroligarchie in den tieferen Kreis des Völker¬ 
proletariats hinabgesunken. Nein, recht eigentlich konstituie¬ 
ren sie erst das „Völkerproletariat“ schlechthin, denn Kultur¬ 
völker, die sich zueinander verhalten, wie der mittelalterliche 
Pfahlbürger und Zunftgeselle zum Patrizier oder wie der 
moderne Lohnarbeiter zum Kapitalisten, also proletarische 
Kulturvölker, hat es bis zum Weltkrieg überhaupt nicht 
gegeben. Wohl gab es gewisse Ausbeutungsverhältnisse der 
westeuropäischen Industriestaaten zu ihren Kolonialländem 
und Interessensphären; wohl war es so, daß Westeuropa- 
Amerika Handelsgewinn und Indüs trieprofit, den internatio¬ 
nalen Mehrwert also, in seine Tasche steckte und die kolo¬ 
nialen Völker auf Lohn gewissermaßen setzte, schließlich' 
aber ist dabei nicht aus dem Auge zu verlieren, daß die kolo¬ 
nialen Völker der Sphäre der Unkultur oder Halbkultur 
kaum entstiegen waren, daß im Gegenteil jenes imperialisti¬ 
sche Profitsystem (vom Verhältnis England-Indien vielleicht 
abgesehen!) den Aufstieg dieser Völker nicht hinderte, son¬ 
dern förderte, also in der Linie des Kulturfortschritts lag 
und historisch betrachtet, einfach notwendig war. Nicht 
Verelendung, sondern gradweiser Aufstieg war das Entwick¬ 
lungsziel. Die Proletarisierung Mitteleuropas aber hat aus¬ 
gesprochenen Verelendungscharakter und ist der diametrale 
Gegensatz zum Kulturfortschritt: weil sie sich nämlich an 
einem Kulturvolk katexochen vollzieht, dessen Kulturstandard 
und Lebenshaltungskurve nunmehr jäh und abrupt nach unten 
führt. Die breiten Massen mußten und müssen darauf zu¬ 
nächst mit der sozialen Revolution reagieren, mit dem Klassen¬ 
kampf nach innen, der keinen anderen als den sehr realen 
Sinn hat, den nationalen Mangel, das deutsche Elend zu ra¬ 
tionieren, die Schwere unserer Kriegs- und fremdländischen 
Verpflichtungen möglichst gleichmäßig auf die tragfähigen 
Schultern zu verteilen. Rathenau nennt dies die Revolution 


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Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie. 


1323 


des Güterausgleichs. In der Tat, keinen anderen Ausweg 
gibt es, als auf eine Abtragung der Einkommensunterschiede 
und Besitzverhältnisse hinzuwirken (und unsere Steuergesetz¬ 
gebung ist auf dem besten Wege dahin!), wenn nicht anders 
breiteste Massen unseres Volkes über den Rand des Existenz¬ 
minimums hinaus in düsterstes Elend getrieben werden sollen. 
In diesem Sinne bezeichneten wir die moderne Staatsverschul¬ 
dung in unserem Beitrag „Finanzsozialismua“ in Nummer 30 
der „Glocke“ als die stärkste Triebkraft zum Sozialismus, 
die sich geltend machen muß, nicht weil irgendein „Parla¬ 
mentsblock“, eine nebulöse „Volksmehrheit“ dies will, son¬ 
dern weil die Eigengesetzlichkeit der Dinge dies gebieterisch 
verlangt. Sogar ein wahnwitziger alldeutscher General, dem 
es vielleicht gelingen sollte, sich heute oder morgen zum 
Diktator Deutschlands aufzuwerfen, müßte diese Tatsache, 
so unsympathisch sie ihm innerlich erscheinen mag und so 
sehr sie seinen bürgerlich-kapitalistischen und feudalen Hinter¬ 
männern wider den Strich geht, bis zu einem gewissen Grade 
anerkennen. Mit der Länge der Zeit, unter den steuerlichen 
und finanzpolitischen Auswirkungen der deutschen Staats¬ 
verschuldung und des diese als Angriffshebel benutzenden 
proletarischen Klassenkampfies, geht also der deutsche Volks¬ 
wohlstand und das Volkseinkommen seiner Einebnung ent¬ 
gegen, Dieser wirtschaftliche Ausgleich schafft je länger 
desto mehr die Voraussetzungen der ökonomischen Gleich¬ 
heit und damit die Beseitigung und Aufhebung der Klassen¬ 
unterschiede. Das deutsche Volk wird einheitlich und pro¬ 
letarisch homogen — wenigstens im Vergleich zu den übrigen 
westeuropäisch-amerikanischen Völkern. Das deutsche Volk 
wird das Weltproletariat schlechthin; zwar ist auch der 
englische und amerikanische Arbeiter nach der formalen Seite 
seines Arbeitsverhältnisses Proletarier, nach der materiellen 
Seite seiner Lebenshaltung aber ist er im Vergleich zu seinem 
deutschen Klassengenossen ein feister, wohllebender Bour- 

§ eois, und selbst alle wirtschaftlichen Freiheits- und Selbst¬ 
estimmungsrechte können daran keinen Deut ändern. Und 
schließlich sind es doch die materiellen, nicht die formellen 
Tatsachen, die im sozialen Leben entscheiden; daß die ökono¬ 
mischen Voraussetzungen für die Intemationalität der Ar¬ 
beiterklasse zerstört und aufgehoben sind, erwähnen wir 
nur nebenbei. Wir konstatieren dies nur, obgleich dies für 
jeden Marxisten eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Damit 


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1324 _ Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie, 

aber kommen wir zum Kerne unserer Ausführungen. Waren 
die Völker bisher in sich in Klassen gespalten, so endet das 
Debakel des Weltkrieges mit einer sozialen Umschichtung 
der Völker gegeneinander. Im besiegten deutschen Volke 
bricht die kunstvolle soziale Pyramide in sich zusammen, 
um einer allgemeinen Proletarisierung des ganzen Volkes 
und einem allgemeinen Klassenausgleich Platz zu machen. 
Das deutsche Volk aber selber rückt im Vergleich zu den 
Siegervölkern in die Rolle des ausgebeuteten Lohnarbeiters 
und seine historische und glorreiche Aufgabe für die näch¬ 
sten Jahrzehnte ist die des Mehrwertschwitzens. Um unsere öko¬ 
nomische Selbständigkeit als Volk ist es dahin, ebenso wie der 
Privatkapitalismus einstmals mit der wirtschaftlichen Selb¬ 
ständigkeit des einzelnen Arbeiters aufgeräumt hat. Der 
Kapitalismus organisiert sich auf einer höheren Stufe, näm¬ 
lich völkermäßig, und sein großer Gegner, das Proletariat, 
tut das gleiche. Ganz naturgemäß muß er auf dieselbe Ebene 
treten und so geschieht es, daß der Deutsche dem Amerika¬ 
ner und Engländer und ihren Satrapen dereinst auf jlem 
gleichen Fuße begegnen wird wie der Proletarier dem Bour¬ 
geois einstmals in allen Ländern gleichermaßen, nämlich 
auf dem Boden des Klassenkampfes — aber in einem Sozial- 
kampt höherer, nämlich nationaler Ordnung. Die Klassen¬ 
gegensätze löschen die Völkergegensätze nicht aus. Indem 
die nationalen Grenzen zu sozialen Grenzen (die früher wenig 
sichtbarlich mitten durch die einzelnen Völker hindurch¬ 
liefen !) werden, indem die Klassengegensätze regionale und 
völkerschaftliche Gestaltung annahmen, werden sie natur- 

f emäß besonders sichtbar — Landkartenbemalung, Flüsse, 
een, Berge kennzeichnen sie. Schon A-B-C-Schützen können 
sie lernen und nicht erst bedarf es sozialwissenschaftlicher 
Erkenntnis. 

Doch halt, daß man uns nicht beim Flunkern ertappe! 
Unsere Theorie vom Klassenkampf höherer Ordnung bedarf 
noch einiger theoretischer Füllsel. Die privatrechtlichen In¬ 
stitute des Eigentums und des freien Arbeitsvertrags sind der 
theoretisch-juristische Ausdruck für den Kapitalismus nie¬ 
derer, nicht völkerschaftlich organisierter Ordnung. Der zu¬ 
nehmende Klassenausgleich, die proletarische Einebnung un¬ 
seres Volkes barometert sich naturgemäß an Strukturverände¬ 
rungen — den Vorläufern einer mehr oder minder restlosen 
Beseitigung dieser Rechtsinatitute, die zunächst durch „zu- 


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1325 


Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie. 

sätzliche“ Rechtsinstitute (Sozialisierungsgesetze, Steuer¬ 
gesetze, sozialpolitische Gesetze) eingeengt und eingezäunt 
werden, bis ihnen schließlich ihr moralischer Hosenboden 
ausfällt. Einzig und allein bei uns ist dieser Prozeß mehr 
als einige energische Rucke, ganz besonders unter dem Ein¬ 
fluß der Revolution, vorwärts geschritten. Der Kapitalismus 
höherer Ordnung, der fünferrätlich organisierte Kapitalismus 
der Ententevölker, muß sich nun auch ein dieser höheren Ord¬ 
nung adäquates Rechtsinstitut schaffen und er hat es im 
vo/£mechtlichen Institut des Friedensvertrages gefunden. Wie 
dessen Einzelinstitute sich benamsen, ob „wirtschaftliche 
Bestimmungen“ (Teil X), ob „Finanzielle Bestimmungen“ 
(Teil IX), ob „Wiedergutmachungen“ (Teil VIII), ob „Poli¬ 
tische Bestimmungen“ (Teil III), oo endlich „Deutsche 
Rechte und Interessen außerhalb Deutschlands“ (Teil IV), 
das ist an sich gleichgültig. Aus dem akzidentiellen Drum und 
Dran herausgeschält, bleibt ein Rest, zu tragen peinlich, 
ein Rest, der seinen imperialistisch-kapitalistischen Charak¬ 
ter ebensowenig verleugnen kann wie der Neger seine 
schwarze Farbe. Und durch alle Artikel blinkt es hindurch: 
Ausbeutung — Mehrwerterpressung. Schließlich bleibt es 
auch ganz gleichgültig, ob wir unsere Handelsflotte abgeben, 
ob wir Vieh liefern, ob wir deutsche Arbeitskräfte, die 
der im Heimatland zurückbleibende Teil unterhalten und 
besolden muß, zum Wiederaufbau aussenden, ob wir Kohle, 
Farbstoffe, Chemikalien, Gold, Maschinen, Vieh liefern oder 
fremde Heere unterhalten, die Wirkung bleibt die gleiche: 
nämlich die, daß wir ein Produkt unserer nationalen Arbeit 
hingeben müssen, ohne einen Gegenwert, nicht einmal einen 
Bruchteil der Produktionskosten zurückerhalten — mit einem 
Wort, daß wir Mehrwert schwitzen müssen, daß wir zwar 
die Ehre haben, nach der Ausfuhrseite unsere ganze Kraft und 
unser ganzes Können austoben zu können, nach der Einfuhr¬ 
seite aber den ge- und verschlossenen Handelsstaat spielen 
müssen. Vielleicht kann es uns eine moralische Genugtuung 
sein — und besonders Herr Harden kann davon entzückt 
sein —, daß uns der Völkerbund in seinem großen Haupt¬ 
buch diese „Wiedergutmachungen“ als Haben ankreiden wird, 
leider kann man sich aber an Wiedergutmachungen nur er¬ 
freuen, nicht aber davon leben. Das Ergebnis also ist dies: 
Das kapitalistische Profitsystem hat sich auf einer höheren 
Ordnung organisiert, durch die Entente ist es in ein Völker- 


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1326 


Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie. 


rechtliches Institut gegossen worden. Noch' eine Äehnlich- 
keit zwischen jenem Kapitalismus niederer und diesem höherer 
Ordnung ist frappant. Das sind ihre beiden moraltriefenden 
Tendenzen. In den Erklärungen der Menschenrechte, den 
Dokumenten, mit denen die Bourgeoisie die Eroberung der 
politischen Macht ankündigte, wurde das Privateigentum und 
die „Freiheiten“ der verschiedensten Art (auf die Wirtschäfts¬ 
und Gewerbefreiheit war naturgemäß am schärfsten ab¬ 
gestellt!) für „heilig“ und unverletzlich erklärt; sie erhielten 
den Glorienschein ewiger und moralischer Kategorien. Das 
die Proletarisierung Deutschlands zum Dauerzustand er¬ 
hebende Institut des Friedensvertrags beginnt mit ähn¬ 
lichen ethisierenden und moralisierenden Ansprüchen. Der 
weltsittenrichterliche Fünferrat redet viel von „gerechter Be¬ 
strafung“, von „Wiedergutmachung“, mit Geschick versteht 
er den enttäuschten Völkern als Ersatz der ungeheuren Blut¬ 
opfer das Zauberbild des ewigen Friedens an die Wolken zu 
spiegeln; doch kann kein pazifistelnder Völkerbund, keine 
weltgeschichtlich sich gebärdende Moralpauke das wahrhaft 
und einzig reale Fakrnm verschleiern oder aus der Welt 
diskutieren, nämlich: die sittenrichterlich drapierte ökono¬ 
mische Ausbeutung wohl nicht einer bestimmten Klasse, aber 
ganzer Völker. Und daß es heute noch Marxisten gibt, die 
nicht daran glauben wollen ioder glauben können, daß der 
Zusammenprall der imperialistischen Mächte nicht viel anders 
enden konnte, als mit der wirtschaftlichen Unterwerfung der 
Unterliegenden, ist das verwunderlichste. Mit der völker¬ 
rechtlich sanktionierten Ausbeutung Deutschlands hat es 
jedoch noch keineswegs sein Bewenden. Noch auf anderen, 
auf privatwirtschaftlichen Schleichwegen pirscht sich der 
fremde Kapitalismus an das deutsche Wirtschaftsleben heran 
und schon spricht man von einer beginnenden „Ueberfnem- 
dung“ des deutschen Kapitalismus. 

Hat die enttäuschte, völkerrechtlich organisierte Mehrwert¬ 
erpressung ihr moralisches Kleid bekommen, so fehlt bloß 
noch eins: fehlen bloß solche braven Ententeökonomen, die 
die Völkerausbeutung, also die Aneignung unbezahlter Arbeit 
anderer Völker, als naturgesetzlich und naturnotwendig er¬ 
klären und sie in die Rangstufe ewiger Kategorien erheben, 
wie weiland die englischen Bourgeoisökonomen Malthus pp. 
das menschliche Elend als dem Bevölkerungsgesetz ent¬ 
springend als „ewige“ Kategorie erklärten, vielleicht auch 


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Der nationale Oedanke und die Sozialdemokratie. 


1327 


findet der Ententekapitalismus solche gelehrten Sachverstän¬ 
digen, die nicht imstande sind, die Grenzen der Ausbeutungs¬ 
und Auspowerungsfähigkeit des deutschen Volkes und der 
deutschen Wirtschaft anzugeben, wie der englische Früh- 
kapitalismus hilfsbereite Menschenfreunde, Aerzte fand, die 
vor dem Parlamentsausschuß erklärten, keine Grenzen für 
die Arbeitszeit nach oben angeben zu können. Soweit unsere 
Parallele zur moralischen Fassade des Privat- und des Völker¬ 
kapitalismus. In richtiger Erkenntnis dieser Zusammenhänge 
schrieb der „Vorwärts“ am 23. Juni 1919 in dem Leitartikel 
„Der Tag des Friedensschlusses“: 

„Es ist der historische Beruf der Sozialdemokratie, die 
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in jeder 
Form zu bekämpfen, nicht nur die Ausbeutung einer Klasse 
durch die andere, sondern auch die Ausbeutung eines 
Volkes durch das andere. Durch diesen Friedensschluß 
erhält unser Klassenkampf ein doppeltes Gesicht: denn 
wenn wir auch die Ausbeutung des deutschen Arbeiters 
durch das deutsche Kapital beseitigen, wozu uns durch 
die Revolution der Weg geebnet ist, so bliebe dennoch 
die Ausbeutung der deutschen Arbeit durch den Entente¬ 
kapitalismus bestehen und würde doppelt drückend in die 
Erscheinung treten. — Der Kampf gegen diesen Frieden 
bedeutet also ein notwendiges Stuck unseres künftigen 
Klassenkampfes. Nicht vom nationalistischen, sondern vom 
proletarischen Standpunkt aus ist dieser Kampf als innerste 
Angelegenheit der deutschen Arbeiterschaft zu führen.“ 

Sollte es in nächster Zukunft zu einer Revision unseres 
Parteiprogramms kommen, was sich infolge der veränderten 
politischen Verhältnisse, sowie so auf die Dauer kaum ver¬ 
meiden lassen wird, so wäre dieser Gesichtspunkt mit in 
die allererste Linie zu rücken. Der Satz unseres Programms: 
„Die Sozialdemokratie bekämpft in der heutigen Gesellschaft 
nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohn¬ 
arbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrük- 
kung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein 
Geschlecht oder eine Rasse“ wird deshalb den neuen Tat¬ 
sachen nicht gerecht. Wohl ist von Klasse, Partei, Geschlecht, 
Rasse, nicht aber von Volk die Rede. — Das deutsche Pro¬ 
letariat steht also vor der Tatsache des Zweifrontenklassen¬ 
kampfes. Nach welcher Seite nun ist dieser Kampf mit 


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1328 


Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie. 


dem größten Einsatz an Energie zu führen? Haben wir 
dafür einen objektiven Maßstab gefunden, so ist damit gleich¬ 
zeitig die Frage entschieden, in welchem Ausmaß die inter¬ 
nationale Ideologie der deutschen Sozialdemokratie durch eine 
nationale Ideologie zu verdrängen ist. Wie gesagt, nur ob¬ 
jektive, in den ökonomischen Tatsachen ruhende Momente 
können den Ausschlag geben; nicht aber ethische Forderun¬ 
gen, sie mögen so gut gemeint sein wie sie wollen. Der alte 
Grundsatz der Internationale, jedes Volk bekämpft seinen 
eigenen Militarismus, darf nicht etwa von harmlosen Ge¬ 
mütern auch auf den Kapitalismus erstreckt werden, er ge¬ 
hört unwiderruflich ins alte Eisen. Er würde unter den 
heutigen Verhältnissen nichts anderes bedeuten, als eine 
Selbstübertölpelung unseres eigenen Volkes. Ganz abgesehen 
von den anderen Größenordnungen, in denen sich heimat¬ 
licher und fremdstaatlicher Kapitalismus bewegen — eine 
Tatsache, der wir unsere Aufmerksamkeit ganz besonders 
widmen müssen —, bedeuten denn beide Kapitalismen etwas. 
Grundverschiedenes, um sich einfach in eine Linie rücken zu 
lassen. Und was von den Kapitalismen selber gilt, gilt 
gleichermaßen auch von den gegen sie gekehrten Waffen. 
Der heimatliche Kapitalismus ist zum großen Teil eine natür¬ 
liche, keine künstlich erzeugte oder konservierte Erscheinung. 
Auch die sachlich und wissenschaftlich denkenden Unab¬ 
hängigen sind in diesem Punkte mit uns einig: Das Profit¬ 
system kann nicht restlos „abgeschafft“ werden, ansehnliche 
Reste werden und müssen fernerhin bestehen bleiben, einfach 
deshalb, weil die wirtschaftliche Entwicklung die Voraus¬ 
setzungen ihrer Beseitigung bisher noch nicht geschaffen 
hat. Dort, wo gewisse Wirtschaftszweige zur Ueberführung 
in die Gemeinwirtschaft nicht „reif“ sind, dort auch muß 
die Gesellschaft den Kapitalisten einen extragewinn, den 
Profit, zubilligen, der nunmehr zwar kein Ausfluß „wohl¬ 
erworbener Rechte“, wohl aber eine Extravergütung darstellt, 
die die Gesellschaft den Kapitalisten für ihre sachkundige 
Verwaltungstätigkeit bis auf Widerruf einräumt. Der Profit 
ist also zwar nicht heilig, aber auch nicht ohne weiteres 
„abschaffbar“, sondern ein Wenigeres: er ist zunächst nur 
widerrufbar. Darüber hinaus muß er anerkannt und hinge¬ 
nommen werden. Seine Verdrängung und Beseitigung kann 
nur im Einklang mit der ökonomischen Entwicklung selber, 
nicht aber diese willkürlich antizipierend, erfolgen. Grund- 


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Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie. 


1329 


sätzlich anders aber ist die Stellung des. jremdstaatlichen 
Profitsystems, des Ententekapitalismus (das heißt hur soweit 
wir als Volk sein Ausbeutungsobjekt sind). Keine natürliche, 
sondern eine künstliche Erscheinung ist dieses fremdstaatliche 
Pröfitsystem. Nicht der ökonomische Automatismus, son¬ 
dern oie ententistische Militärmaschinerie hat es erzeugt 
und erhält es aufrecht, wenn auch nicht geleugnet werden 
soll, daß Tendenzen bestehen, auch diese künstliche Erschei¬ 
nung, die zunächst nur ein ins Oekonomische übersetzter Aus¬ 
drude für die neugestalteten militärischen Machtverhältnisse 
ist, mit einem natürlichen Inhalt aufzufüllen. Wir erinnern 
nur an die sich anbahnende „Ueberfremdung“ des deutschen 
Kapitalismus, die den Ententekapitalismus. in unmittelbarere 
Beziehung zu unseren Produktionskräften bringt, als nur 
die Empfangnahme und das Einstecken der Tribute, indem 
dieser zunächst wenigstens die Funktion des Kapitalausleihers, 
des Risikoträgers, schließlich vielleicht sogar die des Wirt¬ 
schaftsleiters selber übernimmt. 

Die Verdrängung des heimatlichen Profitsystems erwarten 
wir in der (Hauptsache von der ökonomischen Entwicklung, die 
des fremdstaatlichen Profitsystems, das selber kein Erzeug¬ 
nis natürlich-wissenschaftlicher Tatsachen ist, kann nur durch 
gleiche oder ähnliche Mittel, die es geschaffen haben, be¬ 
wirkt werden: also nicht durch passives, Zuschauen oder gar 
durch gutes, ans ethische Temperament sich wendendes Zu¬ 
reden. Durch Bitten und Freundlichkeit sind noch niemals in 
der Geschichte irgendwelche Ausbeutungs- und Abhängig¬ 
keitsverhältnisse gemildert und abgeschafft worden. Die 
Spekulation auf menschliche Güte und Barmherzigkeit, auf 
Hilfsbereitschaft und Menschenliebe mag im individuellen 
Leben oft wirkungsvoll sein, im Klassen- und Völkerkampf 
muß sie unweigerlich versagien, weil es dort nur einen Re¬ 
gulator gibt, nämlich die Machtverhältnisse. Und nur auch 
diese sind es, die im Kampf gegen das fremdstaatliche Profit¬ 
system bedeutungsvoll werden können; welche Formen ein 
solcher Kampf annehmen wird, das lassen wir dahingestellt, 
es scheint, als gehöre die Zukunft im Völkerkampf weniger 
den Militärs, als vielmehr den sozialen Revolutionären; nicht 
der Kampf von außen allein, sondern der Kampf von außen 
und innen, von oben und unten, der Kampf mit allen Mitteln, 
den gerade das deutsche Proletariat als geschlossenster und 
kampfgeschultester Vortrupp des ganzen Volkes zu füh- 


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Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie. 


ren wie kein anderes berufen scheint. Steht also das deutsche 
Proletariat vor der Alternative, die ganze Wucht seines Kamp¬ 
fes, sein ganzes Schwergewicht auf den Klassenkampf nach 
innen oder aber — Schulter an Schulter mit den übrigen 
Bevölkerungsklassen — auf den nationalen Klassenkampf nach 
außen zu werfen, so kann die Entscheidung nicht schwer 
fallen. Nicht der Kampf gegen das heimatliche Profitsystem, 
das sich wenigstens als ökonomisch notwendig und vor 
der Hand unentbehrlich legitimieren und damit seine Existenz¬ 
berechtigung ausweisen kann, hat in erster Linie zu stehen, 
sondern der unerbittliche und unnachlässige Kampf gegen 
das fremdstaatliche Profitsystem, das seine Herkunft nur 
von Bajonettspitzen und Kanonenkugeln, nicht aber von einer 
natürlichen, sozialen Entwicklung herleiten kann. Zum glei¬ 
chen Ergebnis kommen wir, wenn wir die Sachlage vom 
Gesichtswinkel des ureigensten ökonomischen Klasseninter¬ 
esses des deutschen Proletariats betrachten. Welches Profit¬ 
system lastet schwerer auf den Schultern der breiten Massen, 
wohin fließt mehr Mehrwert: in die Westentaschen der 
deutschen Kapitalistenklasse oder aber in die weiten Rock¬ 
taschen der Kapitalistischen Ententevölker? Dem größeren 
Strom des Mehrwerts haben die größeren proletarischen 
Kampfenergien und die Ideologien zwangsläufig zu folgen! 

Nun — die Frage stellen heißt eigentlich sie beantworten! 
Die Gesamtsumme der Mehrwerte, die nach den 
Ententeländern fließen, kennen wir leider vor der Hand 
nicht, aber soviel wissen wir, daß sie jenen anderen heimat¬ 
lichen Mehrwertstrom um ein Vielfaches übertrifft. Sind 
erst die völkerrechtlidhen, aus dem Friedens vertrag fließen¬ 
den Verpflichtungen genauer fixiert, sind wir einstmals im¬ 
stande, die Valutaausbeutung und die aus unserer Kapital¬ 
überfremdung fließenden Zins- und Profitleistungen — welch 
beide Erscheinungen sich abseits des Friedensvertrages ab¬ 
spielen, und demgemäß privatwirtschaftlichen Charakter tra¬ 
gen — zu berechnen, dann sind wir auch in der Lage, beiden 
Mehrwertströmen ihrer Stärke nach, beiden Profitsystemen, 
dem innerstaatlichen und dem ententistisch-völkerschaftlichen, 
ihrer Bedeutung nach zahlenmäßigen Ausdruck verleihen zu 
können. Dann auch entscheidet sich die Frage nach den 
beiden Ideologien, nach der internationalistischen im Sinne 
des alten, nur nach einer Seite orientierten Klassenkampf¬ 
begriffes und nach der nationalen mit dem modernen, zwiefach 


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Philister über mich! 


1331 


orientierten Klassenkampfbegriff, der seinerseits der Idee 
der {nationalen Volkssolidarität weitesten Spielraum läßt, ganz 
von selbst. Denn, marxistisch gesprochen, beide Oedanken, 
der internationale, wie der nationale, sind ja letzten Endes 
nur der ideologische Widerschein der realen ökonomischen 
Verhältnisse, also (der beiden Profitsysteme. Daß die nationale 
Idee int Sozialismus damit mehr und mehr in den Vorder¬ 
grund treten muß ', ergibt sich hn Zusammenhang mit unseren 
Ausführungen notwendigerweise ebenso von selbst. Der 
modernen Sozialdemokratie ist damit die Entwicklung 
zur nationalen Partei klar vorgezeichnet und sie wird nicht 
umhin können, aus den neugeschaffenen realen Tatsachen 
die praktisch-politischen und die theoretisch-programmatischen 
Konsequenzen zu ziehen. 


PARVUS: 


Philister über mich! 

Meine \Antwort an K Kautsky. 

QO haßerfüllt die Antwort Kautskys auf meine Ausführungen 
u ist, so sehr fehlt ihr das Gefühl innerer Sicherheit. Sie 
ist zänkisch, weil ihr Verfasser sich im Unrecht fühlt. Vor 
allem verwischt Kautsky den Streitpunkt: es handelt sich 
nicht um Gesinnungslumperei, sondern um Pfiarisäertum. Der 
Ausgangspunkt ist die vorzeitige Veröffentlichung seiner 
Schrift durch die „Times“. Diese vorzeitige Publikation, und 
zwar gerade durch die Jingopresse, machte überall den pein¬ 
lichsten Eindruck. Nun sagte ich weiter, Kautsky selbst nabe 
das sicher nicht direkt verschuldet.. Aber ich fragte, wie 
kam es, daß der sonst sehr umsichtige Kautsky, der doch 
sicher wußte, daß es der „Times“ bei der Veröffentlichung 
seiner Schrift nicht auf seine marxistischen Ansichten und 
Sozialrevolutionären Gesichtspunkte ankam, diesmal nicht ge¬ 
nügend vorsichtig war? Ich schlußfolgerte: Kautsky beeilte 
sich, die Schrift zu schreiben und zu veröffentlichen, weil er 
die Kriegskonjunktur auf dem Büchermarkt ausnützen wollte. 
Das war nicht gerade eine edle Tat, aber auch keine gemeine 
Handlung, und schließlich ist doch niemand verpflichtet, sein 
Leben lang lauter edle Handlungen zu begehen. Auch daraus 
machte ich Kautsky keinen Vorwurf, sondern nur, daß er 


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1332 


Philister über mich! 


sein Leben lang anderen gegenüber den Splitterrichter spielte 
und auch über mich wiederholt witzelte, weil ich nunmehr 
„Kapitalist“ geworden sei. Das letztere gibt Kautsky zu, — 
somit erledigt sich zugleich der Vorwurf, ich hätte den per¬ 
sönlichen Streit vom Zaun gebrochen. 

Den Biedermännern gegenüber, die, statt auf die von mir 
vertretenen Ansichten einzugehen, immer wieder auf meinen 
Reichtum hinüberschielten, mußte einmal ein Exempel statuiert 
werden. Und da halte ich mich lieber an Kautsky, als an dem 
Quatschkopf Gerlach, den delirierenden Strobel oder den alten 
Komödianten Harden, der kein Ansehen mehr zu verlieren hat. 

Kautsky erklärt freilich, ich verfolge ihn überhaupt, per¬ 
sönlich wie wissenschaftlich. Er merkt gar nicht, wie lächer¬ 
lich er sich macht, wenn er meinen einleitenden Artikel in 
der „Glocke“, der eine groß angelegte kritische Uebersicht 
der kapitalistischen Entwicklung, der Geschichte des Reichs 
und der theoretischen Voraussetzungen des Sozialismus dar¬ 
stellt, auf meinen angeblichen Wunsch zurückführt, ihm eins 
zu versetzen. Ich habe allerdings auch seine Auffassung des 
Marxismus kritisiert. Denn er war der Hauptvertreter jener 
Zeit, da der Marxismus nicht mehr in die Tiefe, sondern in 
die Breite ging, verflacht und schematisiert wurde. Das ge¬ 
schah nebenbei, durch einige kurze Bemerkungen, denn in 
der Hauptsache hatte ich mich mit K • Marx selbst und mit 
Friedrich Engels auseinanderzusetzen. Kautskys Gefühl, von 
mir verfolgt zu werden, entspringt dem Bewußtsein, mir die 
wissenschaftliche Antwort schuldig geblieben zu sein, und 
zwar sowohl wegen seiner selbst, wie wegen meiner Kritik von 
Marx und Engels, als deren streitbarer Schüler er sich sein 
Leben lang gebärdete. 

Dafür zitiert er jetzt Geister. Rosa Luxemburg muß dazu 
herhalten, mich zu kompromittieren. Es ist richtig, daß sie 
sich einmal über ein Feuilleton von mir ärgerte, ich habe ihr 
aber bewiesen, daß sie unrecht hatte. Wie wir zu einander 
standen, bis der Krieg uns weitausein ander brachte, werden 
einst die Briefe zeigen, die ich von ihr besitze. Wollte man 
die Worte dieses leicht erregbaren Geistes auf die Wagschale 
legen, so würde Kautsky schlecht dabei wegkommen. Man 
brauchte da nicht in Erinnerungen herumzukramen, es genügt 
nachzulesen, was Rosa Luxemburg über ihn geschrieben hat. 

Jetzt kommt M. Gorky daran. Ich habe meine geschäft¬ 
lichen Beziehungen zu M. Gorky in der Broschüre „Im Kampf 


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Philister über mich! 


1333 


um die Wahrheit“ klargelegt. Es ist nicht wahr, daß ich, 
wie K . Kautsky insinuiert, Gelder von Gorky für mich ver¬ 
brauchte. Der Sachverhalt ist der, daß der Münchener Verlag, 
dessen Hauptteilhaber und Leiter ich war, wegen ungünstiger 
Geschäftskonjunktur eine größere Summe, die er Gorky schul¬ 
dig war, nicht hat auszahlen können. Ich habe dabei auch 
meinen eigenen Verdienst zugesetzt, ebenso andere Teilhaber, 
von denen niemand mir bis jetzt auch nur den geringsten Vor- 
wurt gemacht hat. Der Verlag besaß anderseits einen zehn¬ 
jährigen Vertrag mit Gorky, da er diesem erst überhaupt 
die Möglichkeit geschaffen hatte, Tantiemen und Honorare 
aus dem Auslande zu beziehen. Es wurde in Berlin in meiner 
Abwesenheit — ich führte damals den Vorsitz des Arbeiter¬ 
rates in Petersburg — ein Vergleich getroffen in der Weise, 
daß Gorky auf seine Forderung, der Verlag auf den Vertrag 
verzichtete. Ich bin der Meinung, daß Gorky dabei ein sehr 
gutes Geschäft gemacht hat. Auf alle Fälle schlug ich Gorky 
öffentlich vor, nochmals abzurechnen, indem ich zugleich mich 
bereit erklärte, wenn eine Differenz zu meinen Gunsten sich 
herausstellen sollte, diese der Partei zuzuwenden. Gorky rea¬ 
gierte bis jetzt nicht darauf, vermutlich weil im Trubel des 
Krieges und der Revolution meine Aufforderung ihn nicht 
erreicht hat. 

Ob M. Gorky die gemeinen Ausdrücke gebraucht hat, die 
ihm K. Kautsky jetzt zuschreibt, darüber mögen sich die 
beiden unter sich auseinandersetzen. Ich wußte nichts davon. 
Da K • Kautsky jetzt den Schimpf in die Oeffentlichkeit bringt, 
um mich herabzusetzen, muß ich ihn schon daran erinnern; 
daß er selbst von Hans Müller in aller Oeffentlicheit eine 
Ohrfeige erhalten hat. Wenn man daraus Schlußfolgerungen 
auf seinen Charakter ziehen wollte, wie käme er da weg? 

Lange schon wird über meine persönlichen Verhältnisse 
allerlei Tratsch verbreitet, ohne daß ich auf die Spur der un¬ 
sauberen Quelle kommen konnte. Jetzt weiß ich, wo das 
herrührt. Anderthalb Jahteehnte trug Kautsky den Dreck in 
seinem Busen, empfing mich als seinen lieben Freund, be¬ 
wirtete mich, erwies mir allerlei Schmeicheleien, hinter meinem 
Rücken aber raunte er und tuschelte er über mich allerlei 
gemeines Zeug. Dieser sozialistische Pietist erweist sich, wie 
alle Charaktere dieser Art, als arger Stänkerer. 

Zwischen mir und den Leuten vom Schlage Kautskys ist 
ein Unterschied des Charakters und der Lebensart. So will 


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Philister über mich! 


ich mich offen aussprechen und meine Auffassung, meine 
Handlungsweise, meine Lebensart dem Philisterpack entgegen¬ 
halten, das mich mit blödem Hirn und giftiger Zunge verfolgt. 

Halten wir uns zunächst an die Tatsachen. 

Ich hätte Frau und Kind vernachlässigt, sagt Kautskv. Ich 
trennte mich von meiner Frau Anfang 1905. Bis Ende Oktober 
1905 zahlte ich ihr monatlich 200 Mark, das war damals un¬ 
gefähr die Hälfte meines Einkommens. Dann ging ich nach 
Rußland. Das Geld dazu verschaffte ich mir durch einen 
Vorschuß auf ein Buch, das ich später schreiben sollte. Ich 
bezahlte die dringendste Schuld und gab die größere Hälfte 
vom Rest an die Frau. Mit wenigen Rubeln in der Tasche 
kam ich nach Petersburg. Ich hätte, wenn ich die Revolutipns- 
konjunktur auf dem Büchermarkt ausnützen wollte, viel Geld 
verdienen können. Die Verleger bedrängten mich, boten tau¬ 
send Rubel für die Seite, wenn ich nur etwas schreibe. Aber 
ich stürzte mich nicht zu dem Zweck in die Trubel der ersten 
russischen Revolution, um Geld zu machen. Ich hatte dazu 
keine Zeit. Dann wurde ich verhaftet, in die Peterpaulfestung 
gesteckt, nach Sibirien verbannt. Ich flüchtete aus Sibirien, 
hielt mich wieder in Petersburg auf, ohne etwas zu erreichen 
und schlug mich fast mittellos nach Deutschland durch. Statt 
nunmehr einem Broterwerb nachzugehen, beschäftigte ich mich 
mit unserer Stellungnahme zu der Kolonialpolitik, stürzte 
mich in die Wahlagitation und ernährte mich kümmerlich 
von der freien Schriftstellerei, wobei ich noch auf der Hut 
sein mußte vor der preußischen Polizei, da ich schon 1893 
wegen meiner sozialdemokratischen Gesinnung aus Preußen 
ausgewiesen worden war. T908 besserten sich meine Verhält¬ 
nisse und die geschiedene Frau bekam wieder regelmäßig 
ihre Unterstützung. Ende 1910 ging, ich nach Konstantinopel. 
Ich lebte von meinen Korrespondenzen an die Parteipresse 
und den Zeitungsartikeln, die ich schrieb. Es gab Tage, 
wo ich mich in den Spelunken der Hamboie von Zwiebelkuchen 
ernährte und oft mußte ich meine Füße vorsichtig setzen, 
damit man die zerrissenen Sohlen nicht sieht. Denn zu gleicher 
Zeit schrieb ich Finanzartikel und beschäftigte mich mit Bank¬ 
gründungen. Als ich meine ersten kaufmännischen Gewinne 
machte, legte ich das Geld beiseite, denn es war der Hebel 
zum weiteren Emporkommen. Und als ich reich wurde, schickte 
ich Geld nach überall, auch an Frau und Kind. 


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Philister über mich ! 


1335 


Das ist der Sachverhalt. Meine Frau führte mit mir wie 
ohne mich ein karges Leben. Sie wußte auch, daß sie bei 
mir keine Versorgung zu suchen hatte. In den ersten Jahren 
unseres Zusammenlebens war sie darauf gefaßt, daß ich in die 
zaristischen Gefängnisse geworfen, nach Sibirien verbannt 
oder an den Galgen kommen werde. Sie machte mit mir 
die Ausweisungen aus Preußen und Sachsen durch und benahm 
sich tapfer. Mit dem Kind kamen die Sorgen. Es gab böse 
Stunden, Unstimmigkeiten, da die Frau es gern gesehen hätte, 
wenn mehr Geld in das Haus gekommen wäre. Doch das 
spielte sich alles unter der Decke des ungetrübten Familieh- 
glückes ab. Ich beklagte mich nicht, meine Frau sicher auch 
nicht. Doch als wir uns trennten, die Frau mit dem Gefühl 
ungestillter Eifersucht im Herzen, da muß es gewesen sein, 
daß sie Frau Kautsky gegenüber, mit der sie eng befreun¬ 
det war, über ihr kümmerliches Dasein klagte. Ich erfuhr erst 
spät in Konstantinopel, daß Frau Kautsky eine Zeitlang meiner 
Frau 50 Mark monatlich sandte. Selbstverständlich waren es 
nicht diese Brocken, mit denen meine Frau das Kind durch¬ 
brachte. Sie hatte seit Jahren eine kaufmännische Stellung 
inne und verdiente dabei soviel, wie ich durch meine freie 
Schriftstellerei. 

Meine zweite Frau, wegen der ich die erste verließ, stellte 
an mich erst recht keine Forderungen. Sie wies mit Ent¬ 
rüstung meine materiellen Bedenken zurück, als sie ein Kind 
von mir haben wollte. Ich sei bereits deutlich verspießbürger- 
licht, sagte sie mir, sie wolle nun einmal von mir ein Kind 
haben, ich solle mir nicht groß einbilden über die Rolle, die 
ich dabei spiele, sie werde das Kind austragen, es gehöre ihr, 
ich möge ihr gefälligst die Sorgen überlassen. Diese Frau 
war an der russischen revolutionären Bewegung stark be¬ 
teiligt, sie gebar das Kind im Gefängnis, schleppte es mit sich 
durch alle Wirrnisse der Revolution, nur kurze Zeit waren 
wir in Petersburg zusammen. Später kam sie mit dem Kind 
nach Berlin und brachte es bei einer Freundin und Gesinnungs¬ 
genossin unter. Diese Persönlichkeit, für die der Philister 
Kautsky nur die Bezeichnung einer „armen Lehrerin“ kennt, 
hat ihr ganzes Leben der Jugenderziehung gewidmet und 
sammelte um sich eine Kinderschar, die sie zu freidenkendefy 
sozialistisch gesinnten Menschen auszubilden sucht. Kautsky 
dürfte es wissen, daß ich auch hier mich erkenntlich zeigte, 
als ich zu Oelde kam, — aber er verschweigt es. Das 


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Philister über mich! 


Fazit: Ich sorgte für meine Nächsten, so oft und sobald ich 
es nur konnte, aber ich ließ mich nicht durch materielle 
Sorgen und Familienrücksichten in meiner geistigen Arbeit 
und politischen Tätigkeit einengen und zögerte nicht, wenn es 
galt, alles aufs Spiel !zu setzen, mein eigenes Leben und die 
Existenz meiner Nächsten. Kautsky lebte unter ganz anderen 
Verhältnissen und hatte solche Konflickte überhaupt nicht 
durchzukämpfen. Er ging seinen Sozialrevolutionären Ge¬ 
danken nach und führte dabei ein ruhiges Philisterdasein. 
Nicht ohne Sorgen, aber er verstand, sich den Verhältnissen 
anzupassen. So verschmähte er es auch nicht — ich habe 
keinen Grund, ihn zu schonen — die kleinlichsten Rücksichten 
auf eine Erbtante zu nehmen, der er menschlich sehr fern 
stand. Das sind so Dinge, die zum Idealbild der bürgerlichen 
Familie gehören. 

Ich sprengte auch in meiner Empfindungsweise den engen 
Kreis der Familie. Ich bekenne, daß ich gelegentlich meinen 
kargen Beutel mit Gesinnungsgenossen teilte, ohne zu be¬ 
denken, daß Frau und Kind es brauchen könnten. Warum ich 
das erzähle? Aus einem ganz bestimmten Grunde: ich meine, 
daß die Empfindungsweise, zu der ich durch meine revolu¬ 
tionäre Lebensart geführt wurde, sich mit der deckt, zu 
der das Proletariat durch seine Klassenlage gelangt. Man 
bedenke doch, wohin das führen würde, wenn der Proletarier 
sich mit seinen Gefühlen ebenso in den engen Kreis der 
Familie einschließen würde, wie es der Bourgeois tut? Wenn 
der Arbeitei; sich auf den Standpunkt stellen wollte, erst 
die Familie, dann alles andere, dann würde er mit seinem 
kargen Leben zu gar nichts anderem kommen. Wie wird denn 
auch von bürgerlicher Seite über den sozialistischen Arbeiter 
geschimpft, daß er sein Geld für Vereinszwecke ausgebe, 
oder gar in Versammlungen „versaufe“, statt es für die 
Familie zu verbrauchen? Aber wenn er diesem bürgerlichen 
Rat gefolgt wäre, so würde er für immer ein stumpfer, 
unwissender Sklave geblieben sein. 

Die Familie birgt in sich große kulturelle Werte, aber die 
bürgerliche Familie, wie wir sie jetzt haben, ist ein Räubernest, 
das alles an sich reißt und nicht einmal im Innern auf Eintracht 
beruht, sondern nur einig ist in dem Bewußtsein, die ganze 
übrige Welt als Beutegebiet zu betrachten. Keine Gemeinheit, 
kein Verbrechen, die nicht im Namen der Familie begangen 
worden wären. Der brutalste, grausamste Mensch kann der 


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Philister über mich! 


1337 


zärtlichste Familienvater sein. Wo der größte Lump noch 
in sich Gewissensskruppei fühlt, da deckt ihn die Familie. 
Ich bin über diesen engen Kreis der Empfindungen hinausge¬ 
kommen. Wenn ich sage, daß der Anblick eines hungrigen, 
leidenden Kindes auf der Straße mich unter Umständen mehr 
rühren kann, als der Gedanke an mein eigenes Kind, so wird 
man es noch begreiflich finden. Aber es gibt noch anderes. 
Man kann, Wenn man sich in Gedanken die Leiden und Kämpfe 
anderer, eines Volkes, der Menschheit vergegenwärtigt, vom 
tiefsten Mitgefühl hingerissen werden, die stärksten seeli¬ 
schen Bewegungen durchmachen und ihnen literarischen und 
politischen Ausdruck verleihen. Man kann aber zugleich seinen 
Nächsten gegenüber hart und unzugäglich sein. Es ist auch 
möglich, daß man ein eigenes persönliches Erlebnis mit seinen 
sozialen Empfindungen so durcheinanderbringt, daß das Per¬ 
sönliche in dem Sozialen untergeht. So war es auch damals!, 
als ich meinen Weihnachtsartikel schrieb. Ich war allein, 
ganz einsam, es war gerade nach meiner Flucht aus Sibirien 
und ich sehnte mich nach meinem Kinde. Das verflocht 
sich in meiner Vorstellung mit Weihnachtsgedanken und erhielt 
literarischen Ausdruck, der 'Rosa Luxemburg und andere zu 
Tränen rührte. Aber meine Freundin Rosa, deren Geist sich 
in Antithesen bewegte, schuf auch hier den Widerspruchj 
Parvus hat soviel Mitgefühl mit fremden Kindern, wo bleibt 
sein Gefühl für das eigene Kind? So wurde sie auch hier^ 
wie in mancher politischen Frage, das Opfer ihrer metaphy¬ 
sischen Denkweise, was ich ihr in derben Worten zu verstehen 
gab. 

Mein seelisches Verhältnis zum Kinde, auch dieses berührt 
Rautsky mit seinen schmutzigen Philisterfingern. Nun wohl, 
es sei, unterhalten wir uns auch darüber. 

Ich wollte das Kind behalten. Ich wollte freundschaft¬ 
liche Beziehungen aufrechterhalten, die eine gemeinsame Er¬ 
ziehung des Kindes ermöglichten. War überhaupt die Tren¬ 
nung notwendig? Vielleicht belehren uns Herr Kautsky oder 
Frau Kautsky, daß es auch anders geht. Aber in diesem Fall 
war es nicht möglich. Die Frau verlangte, daß ich auf die 
andere verzichte, die ich liebte. Das ging wider meinen 
Charakter. So blieb nichts anderes übrig, als das Kind der 
Frau zu überlassen, deren größere Recnte als Mutter ich 
nicht anzweifeln konnte. Darum entschloß ich mich und er¬ 
klärte es der Frau, daß ich beiseite trete. Ich* wollte nicht, 


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Philister über mich! 


daß das Kind in seinen Empfindungen zwisdhen mir und ihr 
pendelte, daß sein Charakter dadurch zerrissen würde, ich 
wollte nicht, daß die Mutter* wenn das Kind bei mir ist, in 
Sorgen lebe, es könnte ihr entfremdet werden, und dann, 
wenn das Kind zu ihr zurückkehrt, es zum Opfer ihrer 
Gereiztheit, ihrer seelischen Bangigkeit macht. Ich sagte, 
ich werde kein Wort schreiben und keine Begegnung suchen,, 
sie möge sorgen, daß sie aus dem Jungen einen ordentlichen 
Menschen mache. Und ich hielt Wort. 

Jetzt ist der Junge groß und er schrieb mir aus Rußland, 
Ich antwortete: er möge sich gedulden, bis wir persönlich 
Zusammenkommen können. Denn es sind fünfzehn Jahre ver¬ 
gangen, wir müssen uns erst kennen lernen. 

Das Drama meiner geschiedenen Frau war nicht die ma¬ 
terielle Not, es war die Verlassenheit. In dieser seelischen 
Stimmung wurde auch die Not schärfer empfunden. Es ge¬ 
hört die ganze Borniertheit des Philisterstandpunktes dazu, 
um dies nicht zu begreifen. Aber die Frau hatte ihr Kind, sie 
hatte es ganz und konnte sich an ihm aufrechterhalten. 

Ich stand allein. Ich klagte nicht und murrte nicht, ging 
meines Weges. Das nahm das Philisterpack für seelische 
Verstocktheit. Im Grunde genommen glaubte dieses Gesindel, 
wer keine Familiensorgen habe, sei der freieste und glück¬ 
lichste Mensch in der Welt. Die moralische Entrüstung des 
Philisters beruht auf dem Neid, er möchte es auch so machen, 
ja er möchte es noch ganz anders machen, er möchte tat¬ 
sächlich die Lumpereien begehen, die er anderen zuschiebt, 
er findet nur nicnt den Mut dazu. Wie denn überhaupt die 
bürgerliche Familie die Zuchtstätte der schamlosesten Heuche¬ 
lei und des abgeschmacktesten Pharisäertums ist. 

Nun noch eins. Ich habe in meiner Schrift „Im Kampf um 
die Wahrheit“ dargelegt, aus welchen politischen Erwägungen 
ich dazu kam, mich um den Besitz von Kapital, zu bemühen. 
Ich mußte meine politische * Sonderstellung stützen. Die Er¬ 
eignisse der Revolution beweisen mir, daß meine politische 
Isoliertheit größer ist, als ich glaubte. Ich bekenne aber, daß 
mit dem Alter sich bei mir auch Existenzsorgen einsteÜlten. 
Früher dachte ich nur an meine wissenschaftlichen Arbeiten, 
nicht daran, was sie einbringen. Meine Studien über „Den 
Weltmarkt und die Agrarkrisis“, die auch Kautsky hoch 
schätzt, wurden mir mit 6 Mark die Lexikonseite der „Neuen 
Zeit“ bezahlt. Mein wissenschaftliches Hauptwerk, an dem 


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Bücherschau. 


1339 


ich zwei Jahre arbeitete, brachte mir keine zweitausend Mark 
ein. Ich bekenne, daß ich in dem Kampf zwischen Idealismus 
und Broterwerb den kürzeren gezogen habe. Die um diese 
Zeit veröffentlichten Privatbriefe von Karl Marx, die zeigten, 
in welcher demütigenden Abhängigkeit er von seinen ver¬ 
mögenden Freunden war, bestärkten mich in meinem Ent¬ 
schluß, Geld zu machen. Bei dieser Sinnesänderung gewann 
auch die Frage der Versorgung der Familie eine andere Be¬ 
deutung. So gelangte ich schließlich doch dahin, wo man mich 
haben wollte. Aber freilich auf meine Weise — durch großen 
Entschluß und großzügige Handlung. 

Nunmehr habe ich meine Schulden gezahlt. Aber wehe, 
wenn ich kein Geld hätte, und das Phnisterpack käme jetzt 
mit seinen Vorwürfen! Geld deckt alles. 

Niemals habe ich das Geld so verachtet, als jetzt, wo ich 1 es 
besitze. 

Bin ich nun ein moralisch Verkommener oder überhaupt’ 
ohne Moral? 

Ich weiß es nicht, so ist mein Leben. So war ich, so bin ich, 
urteilt wie ihr wollt, ich kann nicht anders. 


Bücherschau. 

Artur Zickler: „Int Tollhause.“ Berlin, Verlag „Vorwärts“. 

62 Seiten. Preis M. 2.—. 

Dieses Toll haus, das Zickler in seinem Buche zeichne t, 
stand im Krieg fund ist mit diesem glücklicherweise zusammen¬ 
gestürzt. Die unbeschreiblichen Leiden eines vom alten 
deutschen Militarismus zum Heere Einberufenen werden ge¬ 
schildert. Einen Weg der Qual, der Erschütterung, der Auf¬ 
lösung aller Menschenwürde muß der Leser wandern. Kine- 
matographenartig ziehen die Bilder an ihm vorüber: der 
Gang zur Kaserne, die Ausbildungshölle, das MannschaftS- 
stubenelend, die Lazarettbehandlung, die Tragödien in den 
militärischen. Beobachtungsstätten für Gemütskranke. Aber 
alles das ist nicht etwa jin der landläufigen' Art erzählt. 
Zickler ist sichtlich bestrebt, nicht durch das Wort zu wir¬ 
ken. Er baut das Geschehen seiner Soldatentragödie vor uns 
auf, indem er Bild um Bild vor unsere Augen rückt: mal 
das sonnendampfende Straßenpflaster einer düsteren Industrie- 


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1340 


Bücherschau. 


stadt, mal den sickernden Sand und den tiefen Schmutz 
eines Exerzierplatzes, mal die niederdrückende Dumpfheit 
einer Kasernenstube, mal die von Krankheitsdünsten und 
dem Stimmendurcheinander geistig Anormaler gefüllte At¬ 
mosphäre eines Lazarettraums. Menschen und Dinge sind 
in wenigen, charakteristischen Strichen hingeworfen. In der 
Knappheit ihrer Zeichnung steigert sich ihre Bildwirkung. 
Einzelpersonen wachsen zu Typen, weiten sich zu Opfern und 
Verkörperungen eines ganzen Systems. Dieser Art der Wort¬ 
zeichnung ist eine packende Eindringlichkeit eigen. Sie läßt 
nicht locker, bis wir, geschüttelt von einem tiefen Grauen, 
das Buch aus der Hand legen. Denn dieses Aneinanderreihen 
eines krassen, aber doch immerhin alltäglichen Tatsachen¬ 
materials würde nicht so furchtbar wirken, wenn es nicht 
mit einem feinen künstlerischen Vorbedacht aufgereiht 
und aneinandergegliedert wäre. Unter den Millionen Sol¬ 
daten werden sicherlich viele ähnliches erlebt haben, ohne 
darüber in so wuchtiger, das morsche System so gründlich' 
niederschmetternder Weise berichten zu können. Die reporter¬ 
artig-schlicht und alltäglich anmutende Art des Erzählens 
ist geschickt gewählt und unterstreicht in sich von Seite 
zu Seite steigernder Gewaltigkeit die Wirkung einer packen¬ 
den Tragödie, die unser Mitfühlen in einen eisernen Bann 
zwingt. So erreicht das Buch zweierlei: es wirkt kultur¬ 
geschichtlich wertvoll durch die Schilderung einer Kriegs¬ 
episode; und es gibt Iden Versuch einer neuen Schilderungs¬ 
art mit großen und kräftigen Mitteln. Diese literarische Seite 
der Zicklerschen Schrift erscheint mir als die bedeutungs¬ 
vollere. Neue Pfade tun sich auf; und es scheint, als ob 
der Verfasser von „Im Tollhause“ auf diesem Gebiet ein 
Wegbahner im Neuland werden könnte. ln. 


Eingelaufene Schriften. 

Dr. pustav Mayer: Friedrich Engels. Eine Biographie ." 

1. Band. Verlag von Julius Springer. 1920. 

Dr. Bernhard Odenbreit: „Die vergleichende Wirtschafts - 
" theorie bei Karl Marx.“ Baedekers Verlag. Essen an 
' der Ruhr. 1919. 

Dr. Ernst Hoppe: „Der Krieg und die deutsche Geld h 
Wirtschaft ." Baedekers Verlag. Essen an der Ruhr. 1919. 


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Verlag von J. H. W. Pietz Hattet. 6. m. fa. H. in Stuttgart. 


Wir empfehlen nachstehend verzeichnete Werke von 

Karl Kautsky 


Der Ursprung des Christentums« Eine historische Unter¬ 
suchung von Karl Kautsky. 8 . Tausend. Preis gebunden M. 9.— 

Vorläufer des neueren Sozialismus. Von Karl Kautsky. 

Dritte unveränderte Auflage. 

Erster Band: Kommunistische Bewegungen im Mittelalter. 

Preis gebunden M. 6.— 

Zweiter Band: Der Kommunismus In der deutschen Reformation. 

Preis gebunden M. 6.— 

Karl Marx' Ökonomische Lehren. Von Karl Kautsky. 

Sechzehnte Auflage. Preis gebunden M. 5.50. 

Das Erfurter Programm. Von Karl Kautsky. Vierzehnte 
Auflage. Preis gebunden M. 5.50. 

Thomas More und seine Utopie. Von Karl Kautsky. 

Dritte Auflage. Preis gebunden M. 6.— 

Ethik und materialistische Geschichtsauffassung. 

Von Karl Kautsky. 9. Tausend. Preis gebunden M. 5.50. 

Vermehrung und Entwicklung in Natur und 
Gesellschaft. Von Karl Kautsky. Preis gebunden M. 5.50. 

Die Klassengegensätze im Zeitalter der franzö¬ 
sischen Revolution. Von Karl Kautsky. Dritte Auflage. 
Preis kartoniert M. 1.20. 

Parlamentarismus und Demokratie. Von Karl Kautsky. 

Zweite, durchgesehene und vermehrte Auflage. Preis kartoniert 
M. 1.20. 

Die Vereinigten Staaten Mitteleuropas. Eine volks¬ 
wirtschaftliche Studie von Karl Kautsky. Preis M. 1.20. 

Die Befreiung der Nationen. Von Karl Kautsky. Vierte 
Auflage., Preis M. 1.20. 

Serbien und Belgien In der Geschichte. Historische 
Studien zur Frage der Nationalitäten und der Kriegsziele von 
Karl Kautsky. Preis M. 2.50. 

ElsaB-Lothringen. Eine historische Studie von Karl Kautsky. 

Preis M. 2.50. 


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DEN GEFECHTEN 

v °n 

PHILIPP SCHEIDEMANN 

Elegant gebunden 

Preis 10 Mark 

und 20% Teuerungszusdilag 


Aus den Tagen der Kindheit 
führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre 
des reifen Mannesalters. Scheidemann selbst hat — vielleicht 
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen 
Entwicklungsgang beschrieben. 


Bezug durch alle Buchhandlungen 
sowie direkt vom 

VERLAG FÜR SOZIALM^ISSENSCHAFT 

BERLIN SW 68 ) LINDENSTR. 114 

Postscheckkonto Berlin 27576 


Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. 

Druck und Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, Lindenstrafle 114. 
Fernruf: Moritzplatz Nr. 2218,1448—1450. 


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24« Januar 1920 


50 Pfennig 


Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68 

[' lÜs, n 1 

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DIE GLOCKE 

Sozialistische Wochenschrift 
Herausgeber: Parvus 

Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post 
oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Mk. 6,—, 
Einzelhefte 50 Pf., Porto 5 Pf. 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

Berlin SW68, Lindenstr. 114. Postscheckkonto: 27576 Berlin 


INHALT DIESER NUMMER: 


Hermann Müller: Das Betriebsrätegesetz . . . 1341 
Herman George Scheffauer (Kalifornien): Ame¬ 
rika und der Frieden von Versailles .... 1344 

Peter Knute: Moskau und Mekka. 1354 

Hans von Kiesling: Bayern und der Einheitsstaat 1358 
Dr. G. v. Frankenberg: Ein Normallohnsystem 1365 

Glosseq: Zukunftsstaatsdebatte.1368 

Bücherschau: Arno Holz, „Gesammelte Werke“ 
und Prof. Dr. J. Plenge, „Die Stammformen 
der vergleichenden Wirtschaftstheorie“ . . . 1370 


Nummer 42 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt: 


Prof. Dr. H. Kantorowicz (Freiburg): Deutsch¬ 
lands Interesse am Völkerbund.1309 

Oberlehrer Dr. Erich Witte: Elternbeiräte . . 1313 

X. X. X.: Das arbeitslose Einkommen .... 1318 
Arthur Heichen: Der nationale Gedanke und die 

Sozialdemokratie.1321 

Parvus: Philister über mich!.1331 

Bücherschau: „Im Tollhause“ ....... 1339 


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DE GLOCKE 

43. Heft 24. Januar 1920 5. Jahrg. 

Nadidruck sämtlicher Artikel mit ausiiihrlidier Quellenangabe gestattet 


HERMANN MÖLLER: 

Das Betriebsrätegesetz. 

F)AS Betriebsrätegesetz ist unter Dach und Fach. Damit 
ist ein Kampf zum 'Abschluß gekommen, der die Ge¬ 
müter erregt hat, wie selten ein Kampf um ein Gesetz. Den 
Höhepunkt bildete die. Demonstration am 13. Januar vor 
dem Reichs tagsgeb äude, bei der das Gesetz, leider, auch die 
Bluttaufe erhielt. 30—40 000 Menschen oder noch mehr 
umstanden den Reichstag, in dem die zweite Lesung beginnen 
sollte, eine Rede löste die andere ab, jede die Aufregung 
steigernd, die bis zur Siedehitze stieg. Warum? Waren all 
die Leute aus den Fabriken und Werkstätten herausgeströmt, 
weil sie das Gesetz wirklich kannten und es unerträglich 
fanden? Davon kann keine Rede sein. Nicht zehn Personen 
von den 30—40 000 haben gewußt, was in dem Gesetz 
stand und wogegen sie protestierten. Die unabhängigen Ab¬ 
geordneten befanden sich im Gebäude. Wenn sie beurteilt 
werden können nach den Reden, die sie während all der 
Tage hielten, dann wäre, wenn sie innerhalb der Demon¬ 
stranten gewesen wären, die Zahl derer, die den Sinn des 
Gesetzes erfaßt haben, auch nicht vermehrt worden. Sie 
redeten nicht* um ernstlich gegen das Gesetz zu kämpfen, 
Sondern sie redeten, um zu reden. Der Kampf in der National¬ 
versammlung war somit ein getreues Spiegelbild der unab¬ 
hängigen Arbeit im allgemeinen: Worte, nichts als Worte. 

Die Strafe für die Herren ist hart genug, die Reden werden 
wörtlich gedruckt und bleiben somit ein Denkmal des Un¬ 
verstands oder der bewußten Bosheit, sie bleiben auch ein 
Denkmal der Methode, nach der die Leute, die am 13. Ja¬ 
nuar vor dem Reichstag standen, aufgeklärt worden sind 
und werden dadurch zu wertvollem Material für die Ge¬ 
schichtsschreiber. 

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1342 


Das Betriebsrätegesetz. 


Alles in allem: der sogenannte Kampf um das Betriebs- 
rätegesetz hat denen, die sich das revolutionäre Proletariat 
nennen, das denkbar schlechteste Zeugnis ausgestellt. Dema¬ 
gogie und Terror bei den Leithammeln, blinaer Fanatismus 
bei der gläubigen, irregeführten Masse, die im entscheidenden 
Augenblick zwar aufgepeitscht, aber führerlos sich selbst 
überlassen und dadurch zum Futter der Maschinengewehre 
gemacht wurde. 

Dabei waren die Unabhängigen, wie immer, auch diesmal 
nur der Spielball der Kommunisten. Die Angst, Anhänger zu 
verlieren, hat ja bei ihnen den Gedanken wach gerufen, daß 
sie so arbeiten mußten, daß links von ihnen kein Platz 
mehr für eine andere Partei sei. Das Heißt aber nicht die 
eigene Selbständigkeit behaupten, sondern es heißt, sich 
willenlos der wortradikaleren Richtung ausliefern. Daß die 
Kommunisten scharfe Gegner des Betriebsrätegesetzes sein 
müssen, ist selbstverständlich. Sie wollen das Chaos. Sie 
glauben, daß die ganze Gesellschaft erst zusammenbrechen 
'müsse, damit, wie der Phönix aus der Asche^ sich aus 
den Trümmern die von ihnen gewollte, neue Gesellschaft 
erheben könne. Wer das Chaos will, muß sich einer Gesetz¬ 
gebung entgegenstemmen, die die Kräfte zum Aufbau zu¬ 
sammenzufassen sich bemüht. 

Noch in den Debatten über das Betriebsrätegesetz lehnte 
ein unabhängiger Abgeordneter die Lehre schart ab, daß 
erst das Volk verelenden müsse, um zum Sozialismus kommen 
zu können, das sei ein Wahn, der seit Jahrzehnten abgetan 
sei. Ein anderer sagte kürzlich, Deutschland sei als sozia¬ 
listische Insel innerhalb kapitalistischer Staaten nicht denk¬ 
bar. Alles das ist richtig. Aber, wenn es richtig ist, warum 
nehmen dann die Unabhängigen nicht scharfe Stellung gegen 
links, warum sind sie überall die Schrittmacher derer, die 
tagaus, tagein an der Arbeit sind, um das Elend zu steigern, 
in der Hoffnung, die sozialistische insei zu bekommen? 
Schwankendes Rohr im politischen Wetter. Eine Partei wollen 
sie sein, eine Partei um jeden Preis. Wozu Grundsätze, wozu 
eine klare Taktik? Leute wollen sie um sich sehen, viele Leute, 
und da diese schreien, schreien sie mit und noch lauter als 
diese. So schreien sie auch gegen das Betriebsrätegesetz, 
und sie müssen es, um ihre Schreier nicht zu verlieren, 
schlecht machen. Nichts über den wirklichen Inhalt sagen, 
nur schlecht machen. 


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Das Betriebsrätegesetz. 


1343 


Die letzten Errungenschaften der Revolution soll es be¬ 
graben, so sagen sie. O, nein,. Das Gesetz ist in Wirklich¬ 
keit eine der wertvollsten Errungenschaften der Revolution. 
Es beseitigt das Hausherrnnecht des Unternehmers im Be¬ 
triebe, es schaltet die Arbeiter als Mitbestimmende ein. Es 
beseitigt die Willkür bei Einstellungen und Kündigungen und 
befestigt damit die Sicherheit der Existenz der Arbeitnehmer. 
Das sind so wertvolle Errungenschaften, daß wir sie vor 
wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätten. 

Damit soll das, was die Gewerkschaften bisher schon 
errichteten, nicht verkleinert werden. Auch sie haben dem 
Absolutismus der Unternehmer Schranken zu setzen ver¬ 
standen, auch sie haben die Existenz der Arbeiter zu festigen 
gewußt. Aber weit über das hinaus, was sie verrichten konn¬ 
ten, geht doch der Schritt des Gesetzgebers. Gewiß, gleich 
nach der Revolution gingen einzelne Berufsgruppen weiter, 
aus politischen Gründen ließ sich hier und da der Unter¬ 
nehmer mehr abnötigen, als das Gesetz bringt. Aber hätte 
das standgehalten? Die Folge wird es zeigen. Das Betriebs¬ 
rätegesetz verrammelt den Weg nicht. Das, was es bringt, 
sind Mindestkonzessionen, über die hinaus weiteres verein¬ 
bart werden kann. Was weiter ging, bleibt bestehen. Hoffent¬ 
lich kann es ohne schwere wirtschaftliche Kämpfe erhalten 
werden. Aber von diesen Einzelfällen abgesehen, bringt das 
Gesetz der Arbeiterschaft im allgemeinen vieles. 

Und es führt sie hinein in die Produktion, die sie beherr¬ 
schen lernen sollen. Das ist vollständiges Neuland für die 
Arbeiter. Vor der Mitbestimmung bei der Leitung der Pro¬ 
duktion haben die Gewerkschaften bisher haltgemacht. Ihr 
Gebiet war der Abschluß des Aibeitsvertrages. Der Gegensatz 
zwischen Kapital und Arbeit wurde dabei vor allen Dingen 
betont. Diesen will und kann natürlich auch das Betriebs¬ 
rätegesetz nicht beseitigen. Aber es erschüttert die Macht¬ 
stellung des Kapitals. Es trägt dem Umstande Rechnung, 
daß die Arbeiter beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft 
sind, daß wir uns in einer Uebergangszeit befinden. Bisher 
war der Arbeiter im Produktionsprozeß nur Objekt, jetzt 
wird er auch Subjekt. Er muß sich dabei in etwas für ihn 
ganz neues einleben und er wird dabei Schwierigkeiten, die 
in der Natur der Sache liegen, zu überwinden haben, die er 
bis jetzt nicht kannte. Sein Gesichtskreis wird erweitert. Das 
' ist notwendig. Zum Sozialismus gehört, daß die Arbeit so 

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1344 


Amerika und der Frieden von Versailles. 


zweckmäßig wie nur irgend möglich organisiert wird. Das 
kann nur, wer vieles überschaut, und darum ist es notwendig, 
daß die- Arbeiter einen weiten Blick bekommen, daß ihnen ein 
neues Organisationsgebiet vom Gesetzgeber eröffnet wird, 
von dem sie der Kapitalismus femgehalten hat. 

Der Weg der Betriebsdemokratie ist der Weg zum Sozia¬ 
lismus. Etas haben die Unternehmer viel richtiger einge¬ 
schätzt als die Opponenten von links. Ihr Kampf war picht 
nur ein Scheinkampf. Sie haben alle Minen springen lassen, 
um das Gesetz zu Fall za bringen, und wenn es nicht alles 
bringt, was es billigerweise auch jetzt schon bringen könnte 
und müßte, es ist der unermüdlichen Arbeit füt die Unter¬ 
nehmerinteressen geschuldet. 

Aber trotzdem, trotz aller Mängel, die Bahn ist frei. 
An den Arbeitlern liegt es, zu zeigen, ob sie der Situation 
gewachsen sind. Wer da meint, er müsse als Betriebsrat 
immer mit der Faust auf den Tisch schlagen, der lasse die 
Finger davon. Hier gibt es zähe Arbeit zu leisten, vielleicht 
oft gegen den Widerstand der Mandatgeber. Sie muß ge¬ 
leistet werden, denn sie ist Pionierarbeit allerersten Ranges. 


HERMAN GEORGE SCHEFFAUER (Kalifornien): 

Amerika und der Frieden von Versailles. 

IJM die Wirkungen des Friedens von Versailles in Amerika 
u zu verstehen, insoweit man gewisse Strömungen der öf¬ 
fentlichen Meinung beobachten und beurteilen kann, müssen 
sie psychologisch betrachtet werden. Nicht durch 1 die 
verwirrenden, sich ewig widersprechenden Kabelberichte 
über die Vorgänge in Washington, oder die tendenziösen 
Ausstreuungen der Geldinteressen und der noch rührigen 
britischen Propaganda, wird das deutsche Volk zu einem 
gerechten Urteil gelangen, sondern durch einen Blick in das 
politische Seelenleben des amerikanischen Volkes. Gewinnt 
es diesen Blick, so ist viel für seine politische Erziehung 
gewonnen. Ja, ich gehe so weit, zu behaupten, und ich 
kenne mein Volk in allen seinen Tiefen und Höhen, daß das 
Volk der neuen deutschen Republik durch kluge Handlungen 
und durch Anwendung des schöpferischen Wortes zur rechten 
Zeit, noch bedeutende Vorteile aus dieser Kenntnis gewin¬ 
nen mag. 


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Amerika und der Frieden von Versailles. 


1345 


Das echte amerikanische Volk empfindet die Schmach der 
Niederlage von Versailles vielleicht ebenso stark, wie das 
deutsche die Schmach seiner Unterdrückung. Es weiß, daß 
dieser Frieden zwar von Clemenceau und Lloyd George er¬ 
dacht, aber nur durch Wilson möglich wurde. Die Bedingun¬ 
gen, die von dem Engländer und dem Franzosen, ihren 
Ratgebern und ihrer Presse dem zusammengebrochenen deut¬ 
schen Volke auferlegt worden Sind, stehen im schreienden 
Widerspruch zu dem ganzen, öffentlich verkündeten Pro¬ 
gramm Wilsons. Aber sie passen doch genau in den dunklen 
Schacht seines Deutschenhasses, in den Fanatismus seiner 
englischen Seele. Durch den Unfrieden von Versailles wurden 
nicht nur er und seine 14 Punkte, die 14 feierliche Ver¬ 
sprechungen waren, sondern das deutsche und auch das ame¬ 
rikanische Volk dem Moloch ausgeliefert. Nicht Mitleid mit 
Deutschland, auch nicht flammende Entrüstung über die Un¬ 
geheuerlichkeiten dieses Vertrags bewegt in erster Linie die 
amerikanischen Massen, sondern die Schmach, die ihnen durch 
den kläglichen Zusammenbruch des Weltretters angetan 
wurde. 

Das amerikanische Volk, besonders das herrschende, puri¬ 
tanische Angelsachsen tum, leidet an der Manie einer messia- 
nischen Sendung. Dieser Drang, die übrige Menschheit, die 
der Amerikaner in Seinem Wann der moralischejn, geistigen 
und körperlichen Ueberlegenheit und in seinem Uebermut 
verachtet, zu belehren und zu bekehren, war auch die trei¬ 
bende Kraft, die Wilson während des Krieges bis ins grenzen¬ 
lose anfeuerte, und die ihn dann zu jener Höhe erhob, auf 
der er das Gewissen und den Willen seines Volkes zu 
verkörpern schien. 

Der Krieg Amerikas War ein Krieg nicht nur gegen Deutsch¬ 
land, sondern gegen ganz Europa. Die Amerikaner, ver¬ 
mutlich pazifistisch veranlagt, aber tatsächlich das reizbarste 
und kampflustigste aller Völker, trägt seit seiner Befreiung 
von Europa — von England — eine tiefeingewurzelte Ver¬ 
achtung und einen instinktiven Haß gegen Europa und seine 
Einrichtungen und Gesinnungen im Herzen. Die aktive An¬ 
wendung der passiven aber stets herausfordernden Monroe¬ 
doktrin bedeutet Kampf gegen Europa. Dieser Kampf, aus 
politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Gegensätzen 
entspringend, hat wirtschaftlich schon angefangen und richtet 
sich — wie der kommende Kampf um die Herrschaft der 


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1346 


Amerika und der Frieden von Versailles. 


Meere — jetzt hauptsächlich gegen England. Mit Ausnahme 
von Frankreich, das durch seine Kunst, seinen Modekultus, 
seine Erotik, den Lafayette-Fetischismus und die Phrase von 
der „Schwesterrepublik“, eine bedeutende Sympathie einst¬ 
mals in Amerika genoß, herrschte in diesem demokratischen 
amerikanischen Volke immer ein großer Argwohn gegen das 
feudale, kleine, arme und „degenerierte“ Europa. Diesen 
Haß durch die amerikanische Unwissenheit und durch eine 
Hypnose zu verstärken und gegen Deutschland und den 
pittoresken Bösewicht, den Kaiser, zu richten und auszu¬ 
nützen, war die publizistische Aufgabe Englands in Ame¬ 
rika. Herrlich gelang ihm dieses Spiel — mit Wilsons 
Hilfe. 

Hätte man dem amerikanischen Volke die Möglichkeit ge¬ 
geben, über den Eintritt in den Krieg abzustimmen, wie es 
jetzt über die Ratifikation des Friedens abstimmen soll, dann 
wäre Amerika in den Krieg nicht eingetreten. Aber nachdem 
die mächtige Maschinerie des Kriegswillens der wirklichen 
Machthaber ihre zermalmende Arbeit vollbracht hatte, folgte 
das amerikanische Volk dem englischen offiziellen Beispiel 
und stürzte sich leichtherzig und gedankenlos in die Schläch¬ 
tereien Europas wie in einen Sport. 

Das blutige Sportspiel wurde von Amerika mit seinen 
frischen Massen im letzten Gang in sehr unsportmäßiger 
Weise gewonnen. Das amerikanische Uebe r legen hei tsgef ü hL 
das so kindisch und auch so rücksichtslos ist, wurde aut 
billige Weise gesättigt und befriedigt. Wilson verkörperte 
den Triumph dieses Gefühls über die Welt. Er war der 
„Champion“ im Wettkampf — er war der Messias der Demo¬ 
kratie und der Menschheit. Der mächtigste Gott im amerika¬ 
nischen Pantheon, der Gott des Erfolges, verklärte und ver¬ 
goldete alles. Caesar fuhr nach der alten Welt und um ihn 
herum spielten Lichtstrahlen wie wogende Heiligenscheine. 
Er trug die Hoffnung der Welt in seinen Händen, und seine 
Arme umfaßten eine Macht, die nie einem andern Manne 
beschieden war. 

Dann kam der wirkliche Kampf — die amerikanische An¬ 
maßung der Ueberlegenheit, die Eitelkeit und Unwissenheit, 
scheiterten erbärmlich an den Klippen, auf denen die Sirenen 
von Paris saßen und sangen. Das alte Europa siegte über- 
das junge Amerika. Jäh und bitter zerstoben die lieben, 
alten Wahnbilder eines wilden überschwenglichen National- 


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a und der Frieden von Versailles. 


1347 


stolzes. Die kindische, beinahe weibliche und' krankhafte 
Eitelkeit der amerikanischen Seele bekam einen tötlichen 
Stoß. Der Weltmeister wurde geschlagen von zwei alten 
Männern, gedemütigt, entwürdigt, und mit ihm sein ganzes 
Volk. Oeistig siegte das alte, verachtete Europa über alle 
Sterne der großen Republik, ja, moralisch siegte sogar das 
verwundete, geknebelte und betrogene Deutschland über seine 
Betrüger. 

Zu Ehren des amerikanischen Sittlichkeitsgefühls, sei es 
gesagt, stiegen nicht nur Stimmen des verletzten Stolzes, 
auf. Auch das Gerechtigkeitsgefühl fand seine Stimmen, 
eine der ersten war die William C. Bullits von der ameri¬ 
kanischen Delegation in Paris, und diese Stimmen fanden 
in liberalen amerikanischen Kreisen einen lauten Widerhall. 
Doch war die Entrüstung nur allgemein gehalten. Man 
sprach wenig oder gar nicht von dem schändlichen Verrat, 
der an Deutschland verübt wurde. Die dunklen Wogen des 
Deutschenhasses gingen noch viel zu hoch, und der pest¬ 
geladene Wind der englischen Propaganda ließ nicht nach. 
Der gute Bürger heulte noch mit den Wölfen, ja, mit den 
Hyänen. Er fand es abscheulich, daß Wilson sich schlagen 
ließ —, aber die Deutschen verdienten die Strafe, die ihnen 
auferlegt wurde. Der Herdeninstinkt, der Mangel an bürger¬ 
lichem Mute sind in keinem anderen Lande so ausgeprägt 
und allgemein, wie im Lande der angeblich höchstentwickeltst 
Individualität und persönlichen Freiheit. 

Der Stolz und die Ehre Amerikas wurden durch seinen 
höchsten Würdenträger geschändet. Die Vereinigten Staaten 
wurden verunreinigt. Dazu kam noch der unverschämte Ver¬ 
such des Präsidenten, den Verrat an seinem Volke und an 
der Menschheit, und die Preisgabe seiner Prinzipien vor 
dem Volke selbst zu rechtfertigen. Es war ein panikartiger 
Versuch, die Vernunft des endlich erwachten Volkes zu 
vergewaltigen, wie er sie so oft vergewaltigt hatte. Wilsons, 
Verblendung und Größenwahn hatten ungeheure Proportio¬ 
nen erreich!; sie stiegen ins Pathologische, und führten ihn 
schließlich, wie ein blindes, gebundenes Opfer, der rächenden 
Hybris zu. 

In der berühmten Sitzung des Senatsausschusses des Aus¬ 
wärtigen am 19. August 1919, unter Führung des Senators 
Hitcheock, gestand Wilson, ohne mit der Wimper zu zucken, 
daß auch ohne eine „aggressive“ Handlung Deutschlands 


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1348 


Amerika und der Frieden von Versailles. 


Amerika, das heißt Wilson], in den Krieg eingetreten wäre. 
Dieses ungeheuerliche Bekenntnis löste keinen Sturm der 
Entrüstung unter dem Volk und seinen Gesetzgebern aus, 
denn es war endlich eine Realität, eine Wahrheit aus Wilsons 
Munde, die alle längst wußten, aber keiner auszusprechen 
wagte. Das Verbrechen von Versailles hatte als Nachspiel die 
Entblößung des Verbrechens von Washington. Rückwirkend 
zerstörte es den ganzen Bau der Wilsonschen Kriegsmoral, 
zerfraß den Glauben des Volkes an die Gerechtigkeit seiner 
Sache. Wilson kannte sich in seinem Lande nicht mehr aus; 
die Luft der tobenden Städte und die Winde der Prärien 
wurden für ihn ein feuriges Fluidum. Dem Pfeifen und 
dem Gejohle der Bevölkerung in San Franzisko folgte der 
Schlag von Denver, der Wilson zu jener „Vernichtung oder 
wesentlichen Ohnmacht“ verdammte, mit der er einst Deutsch¬ 
land bedroht hatte. In der amerikanischen Seele, die durch 
ein Uebermaß primitiven Aberglaubens überschattet ist, wirkte 
das wie eine Vergeltung des Schicksals, wie ein Himmels;- 
zeichen zugunsten Deutschlands, aber wieder wagten es 
wenige, den Gedanken auszusprechen. Man spottete über 
den zerschmetterten Halbgott die Zeitungen brachten lange, 
halb humoristische Berichte über den Züstand seiner „pro¬ 
statischen Drüse“, die mit Zoten in den Schulen, Bureaus 
und Klubs in Zusammenhang mit seinen Pariser „Sitzungen“ 
gebracht wurde. 

Es erhoben sich sogar englische Stimmen der tiefen Ver¬ 
achtung gegen Woodrow Wilson. Professor John Maynard 
Keynes von der Universität Cambridge war Mitglied des 
Obersten Wirtschaftsrats zu Paris. Er legte sein Amt nieder, 
weil er die wirtschaftliche Vernichtung Deutschlands nicht 
gutheißen konnte. In seinem neulich erschienenen Buche, „The 
Economic Consequenees of the Peace“, enthüllt er das ganze 
schwarze Spiel hinter verschlossenen Türen, an dem Wilson 
als Werkzeug und auch als Urheber einen so großen Anteil 
hatte. 

Die Kämpfe um die Ratifikation, die Opposition der Repu¬ 
blikaner unter Lodge, die Niederlage des Ratifikationsantrags, 
die wilderregten [Debatten, die gereizten und kleinlichen Wut¬ 
ausbrüche Wilsons, seine jetzt völlig wirkungslose pathetische 
Rhetorik: „das Herz der Welt würde zerbrechen, wenn dieser 
Frieden nicht ratifiziert würde“, die verzweifelten Versuche, 
einen Kompromiß zwischen den gegnerischen Parteien und 


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1349 


Amerika und der Frieden von Versailles. 


Interessen her;beizuführen, von diesen Dingen hat das deut¬ 
sche Volk genügend in den Zeitungen gelesen, ohne einen 
Strahl der Hoffnung für sich aus den verworrenen Vorgängen 
zu ziehen, oder einen Strahl der Aufklärung. Aus der kapi¬ 
talistischen amerikanischen Presse, die geistig und sogar ad¬ 
ministrativ unter englischer Kontrolle steht, ist weder Klar¬ 
heit oder Wahrheit zu gewinnen. Denn im Organismus 
des amerikanischen Staates, wie in dem des deutschen, herr¬ 
schen Krankheiten^ Auflösungsprozesse — Chaos. Die Zer¬ 
rüttung und Unterhöhlung der amerikanischen Demo- 
plutokratie war eine logische Folge des Sieges des sozial¬ 
demokratischen Gedankens in Deutschland. Amerika, oder 
vielmehr seine Machthaber, hatten sich eingebildet, daß 
Deutschland eine Demokratie, eine Republik nach amerikani¬ 
schem oder französischem Muster sein würde. Dagegen 
sprang Deutschland von dem Absolutismus über diese schon 
veraltete, der neuen Epoche nicht mehr angepaßten Form 
hinweg, und richtete einen sozialistischen Staat auf. Diesen 
Staat fürchteten aber die Herrscher Amerikas vielleicht noch 
mehr als den Bolschewismus, der jetzt als Teufel an die 
Wand gemalt wird, wie vor kurzer Zeit in Deutschland* 
und mit einem puritanischen Fanatismus selbst in seinen 
mildesten, das heißt sozialistischen Formen, in Amerika ver¬ 
folgt wird. Die Gewalt und den Terrorismus glauben die 
bekannten und unbekannten Herrscher Amerikas mit noch 
größerer Gewalt unterdrücken zu können, aber gegen das 
siegreiche Fortschreiten' der aufbauenden sozialistischen Idee 
fühlen sie sich macht- und ratlos. 

* Gerade die Furcht und die Verzweiflung der kapitalistischen 
Oligarchie Amerikas werden durch die wahnwitzige Ver¬ 
leugnung, ja Zertretung der heiligsten amerikanischen 
Ueberlieferungen und Rechte bewiesen durch ein brutales 
Eingreifen in die Ergebnisse des geheimen Wahlrechts des 
Volkes. Mit aller Gesetzlichkeit gewählte sozialistische Kon¬ 
greßmitglieder, wie der bekannte Victor Berger aus Mil¬ 
waukee, der durch das Volk einen glänzenden Sieg über die 
vereinigten Demokraten und Republikaner errang, will man 
nicht anerkennen, unter dem Vorwand, sie seien nicht von 
Amerikanern, sondern von Ausländem gewählt! Dadurch 
werden die tiefsten, festesten Fundamente der Verfassung 
und der Demokratie erschüttert und der Anarchie Tür und 
Tor geöffnet, die man dem Sozialismus versperren will! 

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1350 


Amerika und der Frieden von Versailles. 


Der Deutsche sieht ein, daß er trotz aller religiösen oder 
menschenfreundlichen Bewegungen wenig Mitleid und wenig 
Beihilfe von Amerika vorläufig erwarten darf. Amerika, das 
nach Wilsons Worten, ohne eigene oder Sonderinteressen in 
den Krieg ging, spricht jetzt nur noch von seinen eigenen 
Interessen, die aber nicht mehr die der Alliierten sind. Es 
entrüstet sich über Schantung, weil der Vertrag ungerecht 
gegen China ist. Es ist empört und gekränkt, daß England 
sechs Stimmen im Völkerbund haben soll, und Amerika nur 
eine. Das sind alles Zeichen — aber auch bedeutungsvolle 
Aeußerungen. Sie entspringen nicht nur echtem Groll, son¬ 
dern sie deuten die Regungen von wachsenden Gewissens¬ 
bissen an. Durch den Frieden von Versailles wurde der 
mächtige Damm voü Lügen und Illusionen, der um die Ver¬ 
einigten Staaten gebaut worden war, an vielen Stellen durch¬ 
stoßen. 

Noch hat der Durchschnittsamerikaner, der trotz der Auf¬ 
gewecktheit seines Geistes, nie zu folgerichtigem Denken 
erzogen und selten fähig ist, durch Zergliederung und lo¬ 
gische Prozesse bestimmte Schlüsse aus bestimmten Vor¬ 
aussetzungen zu ziehen und die Kette von Ursachen und 
Wirkungen zu erfassen —, noch hat er nicht eingesehen, daß 
der Friede von Versailles ihn vor eine neue und große Ver¬ 
antwortung stellt. Und diese Verantwortung heißt: Ge¬ 
rechtigkeit und Gutmac hung Deutschland 
gegenüber. Bis vor kurzem hat sich kein Volksvertreter 
gewagt, dieses halb bewußte aber unruhige Empfinden der 
Volksseele zum Ausdruck zu bringen. Nur Irland fand seine 
. Fürsprecher, weil Irland durch seine Söhne im Mutterland 
und seine Kinder in Amerika für sich selbst sprach. 

Das geknechtete Irland, das um Wilsons Hals wie ein 
Mühlstein hing, und dazu beitrug, ihn in die Tiefe zu 
ziehen, hat nicht nur seine Fürsprecher (wie der Sinnfeiner 
De Valera mit seinem Triumphzug durch Amerika) gefunden, 
sondern auch seine Rächer. Gegen Wilson, gegen England, 
gegen Versailles stehen entschlossen und geschlossen die 
verbissenen und kampflustigen Reihen der Irischamerikaner, 
die unaufhörlich die Freiheit und das Selbstbestimmungs¬ 
recht für Irland fordern. Sie haben die Intrigen und die 
Propaganda der Briten in Amerika aufgedeckt. Durch sie 
wurde das Land mit Petitionen für die „Impeachment“ (Ver¬ 
setzung in den Anklagezustand) Wilsons überschwemmt, eine 


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Amerika und der Frieden von Versailles. 


1351 


Bewegung, die dann auf den Kongreß überschlug. Irisch¬ 
amerikanische Blätter wie „The Gaelic-American“ und „The 
Irish World“, schreien unaufhörlich den Namen des ver¬ 
gewaltigten Irlands dem Präsidenten Wilson und dem Senat 
in die Ohren. • 

Das Beispiel der Irischamerikaner hat die zerklüfteten und 
zermürbten Millionenscharen der Deutschamerikaner wieder 
zusammengefaßt und ihnen neuen Mut eingeflößt. Deutsch¬ 
amerikanische Organe wie „Die Neue Zeit;“ (Chikago) und 
„The American Monthly“ (Neuyork), führen eine Sprache, 
deren Furchtlosigkeit bei dem noch immer gärenden Deut¬ 
schenhaß eine große, politische Bedeutung gewinnt und von 
den Männern der deutschen Republik genau studiert werden 
sollte. Als Wilson auf seiner Rednertour von dem Gezisch 
der sich wiedererhebenden deutschamerikanischen „Schlange“ 
neurasthenisch und gehässig lallte, antwortete ihm diese 
„Schlange“ („American Monthly“, Neuyork) öffentlich: 

„Die Amerikaner deutschen Ursprungs haben die Be¬ 
weise ihrer Treue zu Amerika erbracht. Sie haben auf 
den blutigen Schlachtfeldern gegen ihr eigenes Vaterland 
gekämpft. Sie kämpften gegen ihr besseres Gewissen, ge¬ 
trieben von der Treue zu ihrem gegebenen Wort, wie das 

f ermanische Ueberlieferung ist. Sie schenkten Ihnen Glau- 
en. Sie haben Ihnen die Treue gehalten. Aber haben Sie 
auch ihnen die Treue bewahrt? Jetzt, wo die Ereignisse es 
offenbaren, daß Sie, anstatt für die Sicherung der Demo¬ 
kratie in der Welt zu kämpfen, für die Sicherung der eng¬ 
lischen Weltherrschaft, für die Sättigung der französischen 
Rachsucht und für die Vergrößerung des Mikadoreiches 
gefochten haben, sind Sie in keiner angenehmen Stimmung. 
Ihre schönen Worte haben die Liberalen überall verblendet. 
Und jetzt verlangen Sie von Amerikanern deutschen Ur¬ 
sprungs, daß sie sich zu Mitschuldigen des Verbrechens 
von Versailles machen sollen, daß sie ihrev Zustimmung 
dazu geben sollen, daß das Land ihrer Väter unter Bruch 
Ihres Wortes zerstückelt würde. Sie sehen, daß Sie Ihre 
14 Wechsel, von denen jeder Ihre Unterschrift trug und 
jeder von Ihren Spießgesellen indossiert war, zerreißen, 
und daß Sie 14 Fetzen Papier daraus gemacht haben, 
wo vordem eins war. Was ein versklavtes Irland für die 
Irischamerikaner ist, das ist ein versklavtes Deutschland 

43/2* 


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1352 Amerika und der Frieden von Versailles. 


für die Amerikaner deutschen Ursprungs. Wir Deutsch¬ 
amerikaner sind durch die Versklavung Deutschlands be¬ 
kümmert. Aber noch bekümmerter sind wir darüber, daß 
Amerika sein Wort nicht eingelöst hat. Denn, Herr Prä¬ 
sident, uns; ist die Ehre Amerikas teuer. Wir weigern uns, 
das Wort des amerikanischen Präsidenten, welches er in 
seiner offiziellen Eigenschaft gegeben hat, als eine läppische 
Kriegslist, als eine Redeübung zu betrachten, um die 
Dummen einzufangen. Wir haben unsere amerikanische Ge¬ 
sinnung genügend gezeigt. Wile ist es aber in dieser Be¬ 
ziehung mit Innen, Herr Präsident? Wollen Sie eine ein¬ 
zige amerikanische Bestrebung nennen, die Sie vertreten 
haben gegen den Erbfeind unserer Freiheit? Was haben 
Sie aus der Monroedoktrin gemacht? Wie haben Sie 
die Freiheit der Meere Sichergestellt? Wie würden Sie 
über einen Amerikaner deutschen Ursprungs urteilen, der 
alles preisgegeben, der in jedem einzelnen Punkte Deutsch¬ 
land nachgegeben, wenn also der Fall umgekehrt gelegen 
hätte ?“ 


Wenig merken, die Deutschen oder wenig melden ihre 
Blätter von dem Volkssturm, der in vielen Teilen, der Union 
gegen die politische und geistige Wiedereroberung Amerikas 
durch England losgebrochen ist. Der Frieden von Versailles 
hat auch die Fesseln, die England durch die mächtige Or¬ 
ganisation seiner Diplomatie, seiner Finanz und seiner Presse 
von innen und von außen dem amerikanischen Volke auf¬ 
erlegt hat, unerträglich , gemacht. Die industriellen Krisen, 
die Streiks, die hohen, immer steigenden Preise der Lebens¬ 
mittel, haben die Aufmerksamkeit des Volkes vom Krieg 
und vom Frieden auf ihr<e eigenen Sorgen abgelenkt. Es 
geht eine neue Bewegung „Los von England“ durchs Land 
— eine Art zweite Unabhängigkeitserklärung. 


Eine bei Gordon Brown & Co., Neuyork, erschienene 
Broschüre „The Reconquest of Amerika“ (Die Wiedererobe¬ 
rung Amerikas), die ein scharfes Streiflicht auf die anglo- 
amerikanische Propaganda, Korruption und Kamarillen wirft, 
hatte innerhalb kurzer Zeit teinen Absatz von über zwei 
Millionen. „The Poison in America’s Cup“ (Das Gift in 
Amerikas Becher) von Philip Francis (Littlebooks Library, 
Washington Square, Neuyork) ist ein lauter Kampfruf 
zur Wiedererlangung amerikanischer Unabhängigkeit. Es er- 


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1353 


Amerika und der Frieden von Versailles. / 


scheinen Zeitungen, wie der „Boston Sunday Advertiser“ 
— selbst in Boston, dieser stärksten Feste des Engl ander tum s 
in Amerika! — mit flammenden Aufrufen gegen Britannien 
und seine 10 000 Agenten, die Würger amerikanischer Frei¬ 
heit. Die Hearstpresse, die stets antienglisch war, ruft un¬ 
aufhörlich das Volk auf, das geistige und politische Joch 
Englands abzuschütteln. Es soll demnächst ein Buch er¬ 
scheinen: „Pillory and Witness-Box“ (Pranger und Zeugen¬ 
stand), in dem die schlimmsten Kriegshetzer Amerikas zur 
Rechenschaft gezogen werden sollen. Wer vermag nicht 
aus diesen Stimmen, die zwar noch leise, aber doch ziel- 
bewußte. Stimme des wachsenden, amerikanischen Imperialis¬ 
mus, herauszuhören, die die zwei Länder, trotz aller ober¬ 
flächlicher, künstlicher und vorübergehender Verbrüderung! 
in scharfe Gegensätze treibt! ? Die Niederlage Lord Greys 
in Amerika hat seine bestimmten, von den Deutschen wenig 
beachteten Gründe in dem Mißmut des amerikanischen 
Volkes. Ebenso die Verkündung, daß * Amerika , sich nicht 
mehr als eine mit den Alliierten „assoziierte“ Macht be¬ 
trachtet. In amerikanischen Kreisen wird heute schon mit 
einem gewissen Enthusiasmus von einem Krieg zwischen 
England und Amerika gesprochen. 

Da man nicht mehr an den Edelmut, an die demokratischen 
Ueberlieferungen einer verlorenen Freiheit, noch an den zu 
Spott und Schande gewordenen Idealismus des betrogenen 
und aufgewühlten amerikanischen Volkes appellieren Kann, 
ruft man die niedrigsten Instinkte des Hasses an. Senator 
Borah aus Idaho bekämpfte die Ratifikation, weil er Amerika 
allerlei glänzende, moralische und materielle Vorteile ver¬ 
sprach, wenn es den Frieden nicht ratifiziert. Aber der 
ehrwürdige Senator Hitchcock aus Nebraska versuchte das 
Volk mit dem Argumente eines Räuberhauptmanns zur Rati¬ 
fikation zu verleiten: „Wehn ihr den Vertrag nicht unter¬ 
zeichnet, verliert ihr die 800 _ Millionen Dollar deutschen 
Eigentums (vermutlich mehr), die wir beschlagnahmt haben. 
Ihr verliert die 500 000 Tonnen deutscher Schiffe, die wir 
Deutschland abgezwungen haben. Ihr werdet die vielen kon¬ 
fiszierten, wertvollen deutschen Patente zurückgeben müssen 
usw.“ Aut dieses Niveau der Schiebermoral ist die Advokaten¬ 
politik der Anhänger Wilsons herabgesunken. Sein einst un¬ 
zertrennbares alter ego, Oberst House, verabschiedet sich von 
dem Helden des fürchterlichen moralischen Bankerotts. 


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1354 


Moskau und Mekka. 


Trotz allem wurde die Ratifikation verworfen. Viele Ur¬ 
sachen verwickelter politischer, parteiischer und wirtschaft¬ 
licher Natur werden dafür angegeben. Verwirrt klingen die 
Stimmen aus dem brodelnden Chaos selbst uns Amerikanern 
an das Ohr. Nicht ganz klar war es den Amerikanern, warum 
dieser Friedens vertrag verworfen werden müßte. Jedoch un¬ 
ter aller Wahrung amerikanischer (und chinesischer) Inter¬ 
essen, regt sich' ein Gefühl der Scham, der Empörung, 
der Reue, und des beinahe zu Tode gehetzten Gerechtig¬ 
keitsgefühls. In der Volksseele fängt das erwachte Ge¬ 
wissen zu flüstern an, wenn auch noch immer die Furcht, 
ein Wort zugunsten Deutschlands zu sprechen, beinahe alld 
Klassen beherrscht. Es liegt aber in Deutschlands Hand, diese 
psychologische Krisis zu seinem eigenen Vorteile auszu¬ 
nützen, indem es mit der rechten Sprache zur rechten Zeit 
an das amerikanische Volk sich wendet. 

Schon erhebt sich jenseits des Atlantischen Ozeans der 
Ruf: „Wir haben sie töten helfen, jetzt wollen wir sie 
retten helfen.“ Höchst bedeutungsvoll ist die eben gefaßte 
Erklärung des Senats, die den Anschluß Deutschösterreichs 
und aller deutschen Teile Mitteleuropas an Deutschland 
billigt; sie ist eine Art Kriegserklärung gegen den Frieden 
von Versailles. 

Es sollen durch diese Aeußerungen keine unerfüllbaren 
Hoffnungen im geplünderten und unterdrückten deutschen 
Volke geweckt werden. Jedoch im Reiche der Wiedergut¬ 
machung wird Amerika vielleicht tatsächlich das „Land der 
unbegrenzten Möglichkeiten“ sein. 


PETER KNUTE: 

Moskau und Mekka. 

Bolschewismus und Panislamismus. 

DUSSLAND ist das Land der Kontraste. Es ist Europa 
' und Asien. Und in jedem seiner Bürger lebt das euro¬ 
päisch Bedachte und Konzilierte, und es lebt in ihm das 
asiatische Ueberschwengliche, Mystische, und Wilde. Das 
gemäßigte Klima des Westens, die Eiseskälte Sibiriens und 
die tropische Hitze Turkestans sind in ihm. Ueber die glei¬ 
chen Gefilde stürmt der Eiswind, lispeln die herzwarmen 


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Moskau und Mekka. 


1355 


Frühlingslüfte und brennen die Wüstensonnen. Und neben¬ 
einander erheben sich die farbfrohen Zwiebel türme und die 
schlanken Minarette. Wenn die Abendglocken zur Messe 
rufen, vermischen sich mit ihrem Locken die Rufe des Mullahs 
an die Gläubigen Allahs. . . 

Tausend Stimmungsgehalte trägt dieses Rußland in seinem 
gewaltigen Leibe. Und Tschitscherin, der bolschewistische 
Außenminister, wird diesen Stimmungsgehalten eine Weile 
verfallen sein, als sich eines Tags, im. Oktober des ver¬ 
gangenen Jahres, ausgestattet mit dem ganzen Gepränge des 
Orients, Mahmed Wali Chan, der afghanische Gesandte, 
melden ließ, um dem bolschewistischen Rußland die Freund¬ 
schaft der Muselmanen zu bezeigen. Die griechischen Tempel¬ 
bauten Moskaus und die Minaretts von Mekka tauchten, 
symbolisch die politische Situation verklärend, als Hinter¬ 
grund am roten Hoflager in der alten Zarenstadt auf. 

Moskau und Mekka. Die Gemeinschaft der Ungläubigen 
und der Gläubigen. Zlu einem gemeinsamen Ziele. Als Lenin 
den afghanischen Gesandten begrüßte, sagte er: „Ich freue 
mich sehr, in der Hauptstadt der Arbeiter und Bauern die 
Vertreter des befreundeten afghanischen Volkes, das so helden¬ 
haft gegen das imperialistische Joch Englands kämpfte, be¬ 
grüßen zu können.“ Mahmed Wali Chan antwortete: „Ich 
reiche Ihnen freundschaftlichst die Hand und hoffe, daß Sie 
dem ganzen Osten helfen werden, sich vom Druck des euro¬ 
päischen Imperialismus zu befreien.“ Lenin: „Der mohamme¬ 
danische Osten muß auch Rußland in seinem großen Be¬ 
freiungskämpfe unterstützen.“ Der Gesandte: „Der moham¬ 
medanische Osten hat das verstanden. Bald wird die Stunde 
schlagen, die die ganze Welt überzeugen wird, daß es für 
den europäischen Imperialismus im Osten keinen Platz mehr 
gibt.“ Und der Gesandte überreichte dem Bolschewisten- 
Führer einen Brief seines Emirs Amanullah und empfahl 
dessen Inhalt der besonderen Aufmerksamkeit. 

Afghanistan, was ist das für ein Land? Ein rauhes Land. 
Ein Land mit unübersteigbaren Gebirgen und flüchtigen 
Sandbergen. Ein Volk noch in Wildheit. • Ein Volk, das 
eingedrungene Europäer zu Sklaven macht und sie, zeitlebens, 
den Pflug ziehen läßt. Und, eigentlich selbstverständlich 
dieserhalb, ein Volk, das in Kabul schon eine Fabrik für 
Maschinengewehre hat. Ein energisches Volk. Das einzige 
Volk, vor dem das mächtige Albion zitterte. Als ich in 


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1356 


Moskau und Mekka. 


Kriegszeiten den glutheißen Brodem Nordafghanistans spürte 
und bei Nomaden unter der monumentalen Poesie des orien¬ 
talischen „Sternenhimmels lagerte, da sangen sie gutturale 
Volksweisen und erzählten, wie vor Jahrzehnten einmal 30 000 
Engländer über die Berge gedrungen seien. Aus Hindostan 
her. Man habe ihnen allen die Gurgel durchschnitten. Und 
nur einen habe man geschont. Einen Arzt. Man habe ihn 
mit durchschnittenen Halsmuskeln nach Hause gesendet, daß 
er den Jingos erzähle, wie’s in den afghanischen Bergen 
sei. . . 

Respekt hat England vor diesem Volk. Und nicht umsonst 
hat es den Frieden von Raval Pindi geschlossen. Afghanistan 
hat den Sieger des Weltkrieges besiegt. Am Pamir, am Arun 
Dar ja, an der Nordgrenzseite von Indien endet die Macht, die 
die ganze Welt zu Füßen sieht. Ist’s wieder nur kluge 
Politik? Will England das Mordloch zum Einfall in das 
Land aller, Länder, ins Herzzentrum britischer Weltmacht 
mit Freundnachbarlicbkeit stopfen ? Und ist das schon zu¬ 
schanden geworden, als Mahmed Wali Chan nach Moskau 
ging? Rollen auf den Wüstenbahnen zum Orkus schon die 
roten Heerscharen, um aus dem Indischen Ozean zu trinken? 

Es dampft durch -den Islam. Die Saat von Versailles 
blüht auf. Die Moslems rollen schon die Fahnen auf, um 
sie voranzutragen, wenn der Kalif ruft zum Heiligen Krieg. 
Viel Feindschaft ist vergessen. Ueber die 'Sunniten im 
Osmanenreich zu den Sunniten im afghanischen Bergland 
schlagen schon die persischen Schiiten die Brücke. Die 
gemeinsame Gefahr bindet. Islam fühlt den Keil, den das 
mächtigste Moslemreich, England, zwischen seine Teile treibt 
Persien ist so ein Keil, una Mesopotamien und Syrien. Das 
große Wehklagen geht durch den Islam. Jingos Hand greift 
nach Stambul, dem Heiligtum. Und es springt der Funke 
über von Land zu Land und ruft auf zum Schutze des Kalifats. 
Aus Aegypten klingt’s wieder, aus Indien. In Anatolien ballen 
sich die ersten nationalen Kräfte. Der Enverfrondeur,-Sieger 
von Anaforta, Mustapha Kemal Pascha, der dunkelblonde, 
schmächtige Kondottiere, bindet sie. Die kaukasischen Berg¬ 
stämme revoltieren, die Tartaren j/on Aserbeidschan kommen 
in Bewegung. Und der Brand, der die Herzen ergriffen hat, 
züngelt über das Steppengras und erfaßt den russischen 
Asienbesitz. Und auf seinen Spuren folgen die vertriebenen 
Generale des Sultans, um zum Herzpunkt islamitischen Etnp- 


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Moskau und Mekka. 


1357 


findens, wo die Gräber Tjmurs sind und die Wiege der 
Eide, den Funken weiterzutragen. Vor den Yurten der Kir¬ 
gisen, in den Lehmhütten der Sarten, bei den Nomaden in 
kahler Steppe werden die Gebetsteppiche gebreitet, die Knie 
gebeugt, aie Stirn zum Boden gedrückt. Und flüsternd er¬ 
zählen die Offiziere des Sultans von den Kafirs, die die 
geweihten Stätten unrein machen. . . 

In Taschkent soll Enver Pascha eingetroffen sein. Es ist 
nicht unwahrscheinlich. Flüchtig, wie er ist, eilt er ins Land 
islamitischer Sehnsucht. Schon zu Kriegszeiten * ging ein 
Raunen durch die Wüsten: kommt er? und die Sendboten 
liefen zu ihm und riefen. Aber er hatte keine Zeit. Nun hat 
er Zeit. Das Haupt des Panislamismus hat sich dem Herzen 
moslemitischen Sehnens verbunden. . . 

Und ihm entgegen stürmt der Troß. Zum Asowschen Meere, 
über Orenburg, Taschkent,. Samarkant, Bücchara, Chiwa bis 
nach der Stadt der Toten, Merv. Aus Bücchara wird berichtet, 
daß dort den Bolschewisten ein herzlicher Empfang bereitet 
wurde. Hat_die Lehre Lenins die muselmanischen Herzen 
erobert? Flammt die Weltrevolution in Asien auf? Mit 
nichten. Enver Pascha braucht nichts zu fürchten. Der 
Nationalismus blüht, und die Moslems feiern im Empfang 
Trotzkis nur die Erlösung von der Nagaika des Zären. Islam 
baut auf auf der erschütterten Disziplin der Knute. Das 
große Islamneich ist im Werden. Rußland hat seine Ba¬ 
taille in Asien verloren. 

Aus Moskau eilen die Kuriere nach Indien und predigen 
die Heilslehre Lenins. Nikolaus Sacharowitsch Bravin war 
in Afghanistan. Lenin verkündet,'daß die Grundlehren des 
Bolschewismus schon im Koran zu finden seien. Er will 
die Hunderte von Millionen Hindus und Chinesen in Be¬ 
wegung setzen. Um der Weltrevolution willen ? Um sie, 
die er nach Westen nicht weitertreiben kann, hinten herum 
über Asien zu schmuggeln? Lenin ist schlau, und er durch¬ 
schaut die Zusammenhänge. Er weiß, daß aus dem Zu¬ 
sammenklang von Moskau und Mekka nur eines heraus¬ 
tönt: England, Erlösung von England. Um Englands willen 
erscheint der Turban in Moskau, um Englands willen jubelt 
man in Bücchara Trotzki entgegen. x Groß ist, was dort 
hinten in Bewegung. Und stärker als jemals ist die Hand, 
die nach Indien greift. 


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Bayern und der Einheitsstaat. 


1358 


Es ringen der Jingo- und der Bolschewismus miteinander. 
Der Islamismus ist die geistige Nebenerscheinung. Es geht 
um eine Welt. Die Welt hat Veranlassung, den Atem an¬ 
zuhalten. Zwei ebenbürtige Gegner kalt, berechnend, weit¬ 
sichtig. Es geht um den Ruhm von London. 


HANS VON KIESLING: 

Bayern und der Einheitsstaat. 

A US dem größten deutschen Bundesstaat, aus Preußen, 
wurde in den letzten Wochen der Gedanke, das föde¬ 
ralistisch begründete Deutschland zu einem Einheitsstaat zu¬ 
sammenzuschweißen, in die Debatte geworfen. Er hat die 
Gemüter in Bayern aufs heftigste bewegt. Alle Schichten des 
bayrischen Volkes sind in lebhafte Erörterungen für und 
gegen den Einheitsstaat eingetreten. Wer objektiv die Ent¬ 
wicklung, die die Angelegenheit in Bayern nimmt, betrach¬ 
tet, sieht sich der Tateache gegenüber, daß der zentralisierte 
Staat von dem überwiegenden Teile des Volkes abgelehnt 
wird. Es scheint mir wesentlich, daß die bayrischen Anschau¬ 
ungen im Norden bekannt werden, ehe man sich dort zu 
Schritten entschließt, die nicht mehr rückgängig gemacht 
werden können. Als ein unbedingter Anhänger des Einheits¬ 
gedankens sehe ich aber die großen Schwierigkeiten, die 
sich seiner Verwirklichung entgegenstellen, wenn dem süd¬ 
deutschen, speziell bayrischen Standpunkt, nicht in gewisser 
Beziehung Rechnung getragen wird. 

Die meisten politischen Parteien Bayerns haben sich be¬ 
reits offiziell zur Frage des Einheitsstaates geäußert. Ge¬ 
schlossen dafür hat sich nur die Sozialdemokratie ausge¬ 
sprochen. Das moderne Zükunftsgefühl des Arbeiters setzt 
sich leichter über die Vergangenheit hinweg, historische Rück¬ 
sichten spielen für ihn eine ebenso geringe Rolle wie spontane 
Regungen des Gefühls. Es kommt dazu, daß die Arbeiter¬ 
schaft infolge ihrer größeren Freizügigkeit auch in Bayern 
keinen so ausgesprochenen Stammescharakter an sich trägt, 
wie die übrigen Schichten des Volkes, und daß die Inter¬ 
essen der Arbeiterschaft schon seit Jahren eine enge per- • 

sönliche Fühlungnahme über das ganze Deutsche Reich hin¬ 
weg nach sich gezogen haben, enger als es besonders bei 


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Bayern und der Einheitsstaat. 


1359 


der Bevölkerung des flachen Landes der Fall ist. Der Ar¬ 
beiter weiß besser, wie andere Teile des Volkes, daß Preußen 
sich aus den verschiedensten deutschen Stämmen zusammen¬ 
setzt, und daß Berlin nur ein geringer Teil davon ist. 

Alle anderen Parteien verhalten sich dem Einheitsgedanken 
gegenüber mehr oder weniger ablehnend. Die entschiedenste 
Ablehnung findet der Einheitsstaat in der bayrischen Bauern¬ 
schaft, in der augenblicklich Bestrebungen erfolgreich am 
Werke sind, einen engen Zusammenschluß aller politischen 
Richtungen des Landvolkes herbeizuflühren. Die christlichen 
Bauernvereine des Dr. Heim und der bayrische Bauernbund 
unter Eisenberger stehen im Begriff, einen Ring des acker¬ 
baulich tätigen bayrischen Volkes zu schaffen, in den sich 
auch der städtische Mittelstand, insbesondere der große Kreis 
des Handwerks einfügen könnte. Dieser Block enthält alle 
politischen Gruppen der Bauern, beginnend von den rechts¬ 
stehenden christlichen Zentrumsbauern, bis zur radikalen 
Richtung des durch die Revolution in München bekannt¬ 
gewordenen Gandorf^r. 

Der Zusammenschluß wurde auf der großen Bauern¬ 
versammlung in Rosenheim, die vor wenigen Tagen unter dem 
Vorsitz Heim-Eisenberger stattfand und einen riesigen Zu¬ 
lauf hatte, als unmittelbar bevorstehend angekündigt. Auf 
dieser Massenversammlung wurde mit großem Erfolg das 
Schlagwort „Los von Preußen, Bayern den Bayern“ in die 
Debatte geworfen. Die glatte Ablehnung des zentralistischen 
in Berlin gipfelnden deutschen Einheitsstaates war die Pa¬ 
role, unter deren Zeichen sie stand. Die Bauern sehen 
in der Zusammenschmiedung des Deutschen Reichs zum 
Einheitsstaat die völlige Unterdrückung der bayrischen Eigen¬ 
art, die Wegnahme der großen Naturschätze des bayrischen 
Landes durch das Reich und das Aufgehen Bayerns als be¬ 
deutungslose Provinz im Reichskörper. Sie erwarten sich 
von dieser Maßnahme die Herrschaft Preußens in Süd¬ 
deutschland, die Ueberschwemmung des Landes durch Nord¬ 
deutsche und die Unmöglichkeit, im eigenen Hause nach 
Rechten zu sehen. Vor allem kommt in ihrem ablehnenden 
Standpunkt auch der Gegensatz des bayrischen Stammes zum 
preußischen zum Ausdruck; allerdings setzt der Bayer gern 
Berlin an die Stelle Preußens und schreibt alles, was übler 
Berlinismus verschuldet, auf das Konto der norddeutschen 
Stämme. 


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1360 


Bayern und der Einheitsstaat. 


Wenn auch nicht zu leugnen ist, daß der bevorstehende 
Zusammenschluß des bayrischen Bauerntums bis zu einem 
gewissen Grade auf das Bedürfnis des Dr. Heim, eine neue 
Partei zu gründen, zurückgeht, so ist doch der Einfluß 
der beiden Führer Heim und Eisenberger auf die Bauern¬ 
schaft ein so großer, daß mit einem gewaltigen Anwachsen 
der ländlichen Bewegung, mit einem großen Erstarken des 
Selbstgefühls des bayrischen Bauernstandes gerechnet werden 
müß. Die geringe Arbeitslust in den Städten und der stän¬ 
dige Druck von seiten der städtisch beeinflußten Behörden 
auf die Bauern in bezug auf die Lebensmittelablieferung 
hat den Gegensatz zwischen der Arbeiterbevölkerung der 
Städte und der ländlichen Bevölkerung verschärft. Die 
Bauernschaft, die im November vorigen Jahres zum Teil 
auf seiten der Revolution stand, neigt heute im Gegenteil 
wieder erheblich nach der Seite der Monarchie hin. Die 
Sympathien für den Kronprinzen Rupprecht treten auf dem 
Lande mehr und mehr hervor. 

Diese Stimmungen dürfen von den maßgebenden Autoritäten 
des Reichs nicht unterschätzt werden. Bayern, insbesondere 
Südbayern, hat nur eine sehr gering entwickelte Industrie 
und ist in erster Linie landwirtschaftliches Kulturgebiet. Der 
politische Einfluß des Bauernstandes wächst, damit auch der 
Wunsch der Bauernpartei, selbständige politische Wege zu 
gehen. 

Der Landwirt ist im großen und ganzen nicht geneigt, 
politische Fragen immer mit dem abwägenden Verstände m 
behandeln. Er hat auch nicht stets den weiten Blick, der 
die außenpolitische Lage des ganzen Reichs umfaßt. Er 
ist vielmehr geneigt, nach lokalen Zweckmäßigkeitsgründen 
und nach dem Gefühle zu handeln, er hängt zäh an seiner 
Scholle, deren wirtschaftlichen Reichtum er als sein un¬ 
antastbares Eigentum betrachtet. Es ist nicht möglich, daß 
sich innerhalb der Bauernschaft der Gegensatz zum Einheits¬ 
staate bis zum Wunsche nach dem politischen Abfall vom 
Reiche verdichtet. 

Den Hauptrückhalt findet die Bauernbewegung, mit der 
große Kreise vom äußersten rechten bis zum äußersten linken 
politischen Flügel Bayerns in der Ablehnung des zentra¬ 
lisierten Staates einig gehen, in dem östlichen und südlichen 
Teil der bayrischen Lande. Dort ist die Grenze gegenüber den 
Staaten der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie 


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Bayern und der Einheitsstaat. 


1361 


nur eine rein politische. Die Salzburger und Tiroler, ja auch 
die SteiermärKer, sind ebensogut bayrischen Stammes, wie 
die Bewohner von Ober- und Niederbayern; der Vorarlberger 
und der bayrische Schwabe sprechen mehr oder weniger 
denselben alemannischen Dialekt. Als in den blutigen April- 
tageri vorigen Jahres in München die Räteherrschaft auf¬ 
gerichtet wurde, lag ein Zusammenschluß Ostbayerns mit 
Salzburg und Oberösterreich in der Luft. Im ganzen Chiem¬ 
gau gab es damals nur österreichische Zeitungen. Wie in 
Tirol und in Salzburg die Anschlußbewegung an das benach¬ 
barte Bayern am stärksten von allen österreichischen Erb¬ 
landen ist, so hält auch der Bauer von Ober- und Nieder¬ 
bayern die Rückkehr der österreichischen Brüder zum Stamm¬ 
lande für notwendig und wünschenswert. Der Gedanke des 
Zusammenschlusses aller Bayern und Schwaben läßt sich 
leicht weiter ausbauen zjur Errichtung eines vornehmlich 
bayrisch orientierten Donaustaates, der im Gegensatz stünde 
zu dem den bayrischen Bauern veiliaßten preußischen Berlin. 
Es ist selbstverständlich, daß eine solche Donaukonföderation 
nur in Anlehnung an Frankreich entstehen könnte. 

Noch spielt man in Bayern mit diesem Gedanken. Aber 
mehr und mehr, taucht er auf, wird weiter ausgesponnen, und 
obgleich führende Blätter der bayrischen Volkspartei von 
ihm abrücken, hat er doch seine Anhänger in weitesten 
Kreisen aller politischen Schichten des Landes. Es ist not¬ 
wendig, daß man sich im Norden etwas die Art des bayri¬ 
schen Volkscharakters vergegenwärtige. Bei uns im Süden 
werden nicht alle Dinge nur mit dem kühl rechnenden Ver¬ 
stände behandelt; man tritt der Situation nicht stets mit 
der überlegenen Ruhe dies Nordländers gegenüber; unsere 
Psyche unterliegt Gefühlsregungen leichter wie anderswo. 
Die Masse des Volkes ist rascher-wie im Norden, durch Füh¬ 
rer, die ihr nach dem Sinne reden, -in irgendeiner gefühls¬ 
mäßigen Richtung zu beeinflussen. Ich halte es für durch¬ 
aus* möglich, daß der Widerwille gegen ein vollkommenes 
Aufgehen im Preußentum, als was man den .deutschen Ein¬ 
heitsstaat hier unten bezeichnet, größer ist, als die Er¬ 
kenntnis der Lebensunfähigkeit der Donaukonföderation un¬ 
ter französischer Führung, größer ist selbst als die Erkennt¬ 
nis, daß der Zerfall Deutschlands die endgültige Versklavung 
aller Deutschen ohne Ausnahme nach sich ziehen müsse. 
Das einmal zum Haß entfachte Gefühl geht selbst darüber 


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Bayern und der Einheitsstaat. 


hinweg, daß nur ein festes Zusammenhalten des Deutsch¬ 
tums, eine Verkittung von 60 Millionen Menschen zu einem 
mächtigen Block imstande ist, uns vor dem Schicksal einer 
völligen Vernichtung als Volk und Staat zu bewahren. 

Lassen Sie mich als Bayer in nachfolgendem kurz aus¬ 
führen, worauf die große Gegnerschaft beruht, die man bei 
uns im Süden dem Einheitsgedanken entgegenbringt. Ich 
spreche nicht von dem uralten Stammesgegensatz zwischen 
Nord und Süd; auch nicht von der historischen Entwicklung, 
die Norddeutsche und Süddeutsche häufig in entgegengesetz¬ 
ten politischen Lagern gesehen hat. Ich spreche nur von 
den Gründen, die in der letzten Vergangenheit liegen und die 
in großen Teilen des bayrischen Volkes das Gefühl, vom 
Norden vergewaltigt zu sein, liervorbrachten. 

Der Bayer ist geneigt, Preußen mit Berlin vollkommen 
zu identifizieren. Für ihn bedeutet der Berliner vielfach 
schlechthin den Norddeutschen. Die Hauptstadt des Deut¬ 
schen Reichs hat aber, besonders während des Krieges als 
Sitz der absolut zentralisierten Kriegsgesellschaften das ganze 
Land derartig ausgesogen, und die ganzen Profite aus den 
gemachten Geschäften nach Norddeutschland abgeleitet, daß 
sich während der Kriegsjahre eine gewaltige Mißstimmung 
gegen den Wasserkopf Berlin gebildet hat. Man hat während 
des Krieges, wo die ganze Selbständigkeit Bayerns zugunsten 
einer einheitlichen Kriegführung ausgeschaltet war, gefühlt, 
was es heißt, sich des eigenen willens zu begeben und sich 
rettungslos der in Berlin herrschenden Kaste zu über¬ 
lassen. 

Der Typus des Berliners, wie er bei uns in Bayern so 
oft gesehen Wird, und der dem bayrischen Volkscharakter 
so sehr fluf die Nerven geht, scheidet sich in zwei Kategorien, 
für die wir Süddeutschen nur ein sehr geringes Verständnis 
haben: die alles auf den Erwerb setzende kaufmännisch¬ 
wirtschaftliche und die junkerliche. Es lunterliegt keinem 
Zweifel, daß sich durch die steigende Hochkonjunktur der 
Jahre vor dem Kriege und schließlich auch durch die Kriegs¬ 
wirtschaft in Berlin ein erwerbender Unternehmerstand her¬ 
ausgebildet hat, bei dem alles gegenüber dem Hasten nach 
Geld in den Hintergrund tritt, der die guten Sitten des alten 
BeYlin ab legte und dessen Typen so gut und so widerwärtig 
charakterisiert werden in den sozialen Romanen Heinrich 
Manns. Derjenige, der nicht tiefer in das Berliner Leben 


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Bayern und der Einheitsstaat. 


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eingedrungen ist, der Außenstehende, sieht vor allem diese in 
schnödester Gewinnsucht aufgehenden Vertreter einer de¬ 
kadenten Gesellschaft, deren soziales Empfinden, deren ge¬ 
sellschaftliches Leben von niedrigsten Instinkten beherrscht 
ist. Wenn sich heute eine vernichtende Verurteilung der 
jüdischen Geschäftsusancen überall bemerkbar macht, und 
wenn der Antisemitismus mehr und mehr um sich greift, so 
ist das die Folge des Hervortretens dieses Berliner Snobbis- 
mus, unter dem, da die Masse nicht zu unterscheiden vermag, 
auch der anständige Jude zu leiden hat. Der andere Typ 
ist derjenige, dessen herrisches Auftreten, überall wo er 
sich sehen läßt, sofort die Gegnerschaft andersgearteter 
Menschen und Völker herausfordert. Es sind die in Berlin 
nicht dünn gesäten . Leute deren schnoddriger Kasementon 
abstößt, die stets mit schärfster Kritik bei der Hahd sind, 
ohne selbst etwas Konkretes zu leisten, eine soziale Schicht, 
deren typischer Vertreter der Kaiser ist, dessen Flucht über 
die Grenze, dessen Briefe und Randbemerkungen an wichtigen 
Staatsdokumenten den Geist und Ton erkennen lassen, den 
wir als übelsten Berlinismus verabscheuen. 

Diese Art von Vertretern Norddeutschlands haben in erster 
Linie den Gegensatz auf dem Gewissen, der zwischen Nord 
und Süd heute noch besteht und der durch den Krieg 
wesentlich verschärft wurde. Der Bayer, besonders der 
Landbewohner, hat noch nicht unterscheiden gelernt zwischen 
Berlin und Preußen, und nimmt schlechtestens Berlin als 
Typ für die norddeutsche Allgemeinheit. Es geht ihm da 
gerade so, wie vielen Völkern des Auslandes, bei denen wir 
während des Krieges die Erfahrung machen mußten, daß 
wir in der schwersten Zeit unseres politischen Daseins auch 
nicht einen Freund auf der Welt hatten. Das rücksichtslose 
Auftreten gegenüber den Empfindungen anderer Völker, die 
völlige Außerachtlassung fremder Weltanschauung, nörgelnde 
Kritik überall und immer, haben uns in den Augen der 
Uebersee ebenso geschadet, wie die rücksichtslose Erwerbs¬ 
sucht der Snobs auf Kosten des Anstandes und der Selbst¬ 
achtung. Dieser bestehende Gegensatz verlangt gebieterisch 
eine gewisse Rücksicht auf die Gefühle Süddeutschlands. 
Die Lösung der Einheitsfrage wird ohne Schwierigkeiten 
in dem Augenblick vor sich gehen, wo man auf Berlin als 
Hauptstadt verzichtet und eine bescheidene Stadt Mittel¬ 
deutschlands als Hauptstadt des neuen Einheitsstaates be- 


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Bayern und der Einheitsstaat. 


stimmt. So gut die Vereinigten Staaten sich die’Beamtenstadt 
Washington leisten konnten, ohne die wirtschaftliche Ent¬ 
wicklung Neuyorks dadurch zu beeinträchtigen, wird auch 
das wirtschaftliche Leben Berlins keine wesentliche Einbuße 
davon haben, wenn in einem zentraler gelegenen Orte Mittel¬ 
deutschlands, der weniger kompromittiert ist wie Berlin, 
der Verwaltungskörper des Einheitsstaates seihe Zelte auf¬ 
schlägt. 

Tatsächlich handelt es sich bei der Verwirklichung ..des 
Einheitsstaates !nur mehr um die formelle Anerkennung eines 
bereits bestehenden Zustand.es. Nachdem die Finanzhoheit, die 
Militärhoheit der Bundesstaaten bereits auf das Reich über- 
gegangen sind, nachdem Verkehrseinrichtungen, Post usw. 
völlig verreichlicht sind, haben die Ministerien und Parla¬ 
mente der Bundesstaaten eigentlich keine Daseinsberechti¬ 
gung mehr. Es ist logisch, daß nun auch der letzte Schritt 
noch getan werde, aber es ist wünschenswert, zu verhindern, 
daß über diesen letzten Schritt schwere politische Kämpfe 
entbrennen, die die Gefahr des Auseinanderfallens des Reiches 
naherücken. Dieser Weg kann durch Verzicht auf Berlin 
als Reichshauptstadt gefunden werden. ■ Es unterliegt auch 
gar keinem Zweifel, daß das süddeutschere eits geltend ge¬ 
machte Bedenken, daß der Sitz der Reichsbehörden in Berlin 
diese -mehr oder weniger in Abhängigkeit Von der gewaltig 
entwickelten Stadt bringen müsse, richtig ist. Niemand ent¬ 
zieht sich auf die Dauer der Entwicklung seiner unmittelbaren 
Umgebung, am wenigsten aber Behörden, die in einem engen 
Kontakt mit dem Leben und Treiben des Wirtschaftskörpers 
stehen, innerhalb dessen Bannkreis sie arbeiten. 

Die Interessen Berlins sind aber nicht diejenigen Deutsch¬ 
lands, es ist sicher, daß diejenigen der Allgemeinheit gegen¬ 
über denjenigen der in Berlin maßgebenden Wirtschaftskreise 
benachteiligt werden, wenn Berlin und Reichshauptstadt, also 
Berlin Und Reichsregierung mehr oder weniger dasselbe sind. 
Dem Wort von der öden Zentralisierung kann in diesem Falle 
nicht jede Berechtigung abgesprochen werden. 

Es ist klar, daß die Schaffung einer neuen Reichshaupt¬ 
stadt in Mitteldeutschland dem Reiche Kosten verursachen 
würde. Diese Kosten werden aber um so weniger von Be¬ 
deutung sein, als wir Erwerbslose genug im Lande haben, die 
dort nutzbringende Beschäftigung finden könnten. Es ist 
wirtschaftlicher, sie für geleistete Arbeit entsprechend zu 


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Ein Normallohnsystem. 


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entlohnen, als sie auf die auch von der Allgemeinheit auf¬ 
zubringende Erwerbslosenunterstützung anzuweisen. Der Ver¬ 
kauf der in Berlin überflüssig werdenden Gebäude würde 
Mittel für die neuzuschaffende Reichshauptstadt zur Ver¬ 
fügung stellen, die freigewordenen Schlösser Mitteldeutsch¬ 
lands, Fürstensitze und dergleichen können zur Einrichtung 
der Reichsbehörden mit herangezogen werden; die Schwierig¬ 
keiten werden um so geringer sein, je sparsamer und ein¬ 
facher sich die Reichsleitung einrichtet. Die Entfernung von 
dem luxuriösen Leben Berlins wird der einfacheren Lebens¬ 
weise, die dem verarmten deutschen Volk allein ansteht, wün¬ 
schenswerten Vorschub leisten. 

Ich habe es für meine Verpflichtung gehalten, diese ganz 
Deutschland an seinem Lebensnerv berührende Frage ohne 
Rücksicht auf Empfindlichkeiten zu behandeln. Mir erschien 
es Wichtig, noch einmal ernstlich darauf hinzu weisen, daß 
in Süddeutschland starke Strömungen bestehen, die einem 
Aufgehen der Bundesstaaten im Preußentum, dessen große 
Eigenschaften ich voll und ganz anerkenne, und vor allem 
im Berlinertum mit aller Kraft entgegenwirken. Es wird 
bei aller Energie in der Sache doch in der Form der Ver¬ 
wirklichung des deutschen Einheitsstaates ein Weg gefunden 
werden müssen, der dem bayrischen Standpunkt in gewisser 
Beziehung Rechnung trägt, wenn man schwere Erschütte¬ 
rungen des politischen Lebens, bayrische Sonderpolitik oder 
zum mindesten starke Reichsverdrossenheit großer süddeut¬ 
scher Kreise vermeiden will. Videant consules, ne quid 
detrimenti capiat res publica. 


Dr. G. VON FRANKENBERG: 

Ein Normallohnsystem. 

QHNE stilistischen Ehrgeiz sei hier ein Plan entwickelt, 
v wie uns und dem Reiche in sozialistischem Geiste ge¬ 
holfen werden kann. Scheint der Vorschlag zu kühn, so 
bedenke man, daß unsere Lage verzweifelt ist. 

Wir ersticken in Streiks und Lohnforderungen. Wird in 
einem Gewerbe der Lohn aufgebessert, so ist das Anlaß 
zu Mehrforderungen in drei anderen. Wen wundert das? 
Man will gern teure Zeit und knappe Bezüge ertragen, solange 
man weiß, daß es niemand besser hat. Wenn aber der Nacn- 


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Ein Normallohnsystem. 


bar, weil er ein anderes Handwerk gelernt hat oder in einem 
anderen Betrieb arbeitet, für seine acht Stunden Tagesarbeit 
zwei Mark mehr bekommt, als wir, die wir doch nicht 
minder unter den hohen Preisen zu leiden haben, so wurmt 
uns das mit Recht. 

Weiter! Die alten Beamten beklagen sich — ebenfalls mit 
Recht! —, daß viele Arbeiter sich besser stehen als sie. 
Es ist lohnender, Müllkutscher oder Schlachtergesellje zu 
sein, als Universitätsprofessor oder Oberlehrer. War es dies, 
was wir unter „sozialem Ausgleich“ verstanden? 

Weiter! Während der Familienvater in Sorgen ist, wie 
er die Seinen bei den schweren Zeiten durchbringen soll, 
müssen sich die jungen Burschen die Lunge entzweirauchen, 
um ihr Einkommen nur einigermaßen kleinzukriegen. Un¬ 
geordnete wirtschaftliche Zustände, wohin man blickt! 

Lohn ist bei uns der Tauschwert oder Kaufpreis für ge¬ 
leistete bzw. zu leistende Dienste. Dies System, den Lohn 
nach dem augenblicklichen Marktpreis der Ware Arbeits¬ 
kraft zu bemessen, hat einen prinzipiellen Mangel. Es fragt 
nach dem Grunde, statt nach dem Zweck. Lohn sollte ver¬ 
nünftigerweise gewährt werden als ein Mittel zur Erhaltung 
und Steigerung der Arbeitskraft. Daheim bekommen wir 
unser Essen nicht, weil wir heute recht viel für die Fa¬ 
milie getan haben, sondern, 1 damit wir morgen stark zur 
Arbeit sind. 

Dies ist die sozialtheoretische Grundlage, auf der ein 
Lohnsystem aufgebaut sein müßte, um sich in das Gebäude 
unserer Ideen einzufügen. Im übrigen mag der folgende Plan 
für sich selber sprechen. Ich fasse mich so kurz wie 
möglich. 

1. Für alle, die im Dienst des Staates oder eines pri¬ 
vaten Arbeitgebers stehen, wird ein Normaleinkommen fest¬ 
gesetzt. 

2. Das Normaleinkommen wird nach dem Familienstande 
gestaffelt, das heißt es wird für die Ehefrau und jedes Kind 
ein ausreichender Zuschlag gezahlt. 

3. Das Normaleinkommen wird vom Staate ausgezahlt. 

4. Der private Arbeitgeber hat dem Staate nicht etwa die 
von diesem tatsächlich gezahlten Beträge zu vergüten, son¬ 
dern er erstattet für jeden Arbeiter einen Pauschsatz. 

5. Der Pauschsatz wird für das ganze Reich einheitlich 
bemessen, und zwar so hoch, daß er etwa dem Betrage 


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Ein Normallohnsystem. 


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gleichkommt, den der Staat einem verheirateten Arbeiter 
mit vier Kindern zu zahlen hat. Außerdem muß Invalidi- 
täts- und Altersversicherung in den Pauschsatz eingerechnet 
sein. 

6. An Orten, die hinsichtlich ihrer Wohnungs- und Er¬ 
nährungsverhältnisse besonders ungünstig dastehen, wird vor¬ 
läufig eine Teuerungszulage gewährt. Lieber ihre Zustän¬ 
digkeit und Höhe entscheidet eine unbeteiligte Zentral¬ 
behörde. 

7. Als Grundsatz gilt, daß nicht die Leistung ■, sondern 
der gute Wille belohnt werden soll. Durch Mißgeschick, 
Körperschwäche oder andere Hindernisse, deren Beseitigung 
nicht in seiner Macht steht, soll also niemanden sein Ein¬ 
kommen geschmälert werden. Da aber, — infolge der Ge¬ 
wöhnung an das kapitalistisch-individualistische wirtschafts,- 
system —, auf ein hinreichend starkes Pflichtgefühl im 
allgemeinen noch nicht gerechnet werden darf, wird für 
diejenigen, die sichtlich ihr Bestes leisten, eine nachträglich 1 
zahlbare Fleißzulage festgesetzt. Ueber ihre Gewährung ent¬ 
scheidet der unmittelbare Vorgesetzte. 

8. Eine Zulage für Schwerarbeit wird nicht gewährt, son¬ 
dern in den anstrengendsten Und ungesundesten Betrieben 
wird die tägliche Arbeitszeit herabgesetzt. 

* * 

* 

Hierzu noch einige Bemerkungen: 

Zu 1.: Die Höhe des Normaleinkommens ist natürlich 
abhängig von der wirtschaftlichen Lage des Volkes. Sobald 
die Verhältnisse es gestatten, ist es so reichlich zu bemessen, 
daß, über das unmittelbare Bedürfnis hinaus Spielraum füir 
die individuellen Neigungen des einzelnen geschaffen wird. 

Zu 4.: Diese Art der Regelung ist notwendig, weil andern¬ 
falls die privaten Arfjeitgeber unter sonst gleichen Um¬ 
ständen Kinderlose und Unverheiratete vorziehen würden. 

Zum weiteren Verständnis des Punktes 4 diene folgendes 
Beispiel: Der Privatunternehmer meldet dem Staat an: „Ich 
hatte diesen Monat 20 Arbeiter laut beifolgender Liste in 
Dienst. Die ersten sechs verdienen die Fleißzulage.“ Dar¬ 
aufhin überweist der Staat den 20 Arbeitern, deren Familien¬ 
verhältnisse ihm bekannt sind, auf ihr Konto ihre individuell 
verschiedenen Gebührnisse au$ Staatsmitteln und erhebt dafür 


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Glossen. 


seinerseits vom Unternehmer das Zwanzigfache des er¬ 
wähnten Durchschnittslohnsatzes. 

Zu 5.: Auch die Kosten der Arbeitslosenfürsorge ließen 
Sich nach meiner Ansicht durch die Differenz zwischen 
Pauschsatz und tatsächlich vom Staate gezahlten Durch- 
schnittslohn decken. 

Zu 7.: Will man auf die höheren Beamten des Staats 
und der Privatbetriebe besondere Rücksicht nehmen, — ein 
Zugeständnis an das Bestehende, .über dessen Berechtigung 
ich hier kein Urteil fällen möchte —, so bewillige man ihnen 
fürs erste noch eine (für alle Grade und Kategorien einheit¬ 
lich festgesetzte) Aufwandszulage. Fällt diese dann später 
weg, so werden trotzdem nur diejenigen höheren Beamten in 
die Schar der mittleren und niederen hinabtauchen wollen, 
die tatsächlich nicht auf die Führerposten gehören. 

Kosten dürfen und werden dem Staat durch die Einfüh¬ 
rung dieses Lohnsystems nicht erwachsen, sondern bei rich¬ 
tiger Bemessung des Pauschsatzes wird umgekehrt ein er¬ 
heblicher Ueberschuß herausspringen, der zur Deckung des 
sehr einfachen Verwaltungsapparats vollauf ausreicht. 

Dixi et animam salvavi! 


Zu Eduard Wenzels „sozialistischem Zukunftsstaat". 

Der in Nummer 40 der „Glocke“ so ausführlich ge¬ 
schilderte sozialistische Zukunftsstaat ist in Deutschland nicht 
eine Tatsache von morgen, sondern eine Tatsache von gestern; 
denn eine derartige „Verbrauchssammlung durch den Staat“ 
haben wir ja bereits, wenn auch in einer anderen Auflage, 
während des Krieges in den Einrichtungen der „Reichskriegs¬ 
wirtschaftsbehörden“ zur Genüge zu bewundern Gelegen¬ 
heit gehabt. Was diese „Wirtschaft“ gekostet hat, wissen 
wir heute noch nicht, vielleicht erfahren wir es später 
einmal. 

Die Funktionen, die der Artikelschreiber dem Staate zu¬ 
schiebt, sind dieselben, die, im verkleinerten Maßstabe, eine 
Großeinkaufsgenossenschaft oder eine Konsumanstalt auszu¬ 
üben hat. Diese Einrichtungen sind ja äußerst vorteilhaft 
nicht nur für den Konsumenten oder Käufer, sondern auch 
für die Allgemeinheit, da sie „preisdrückend“ ^uf den Handel 


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Glossen. 


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wirken (können. Aber diese „Staatsgroßeinkaufs- und Konsum¬ 
gesellschaft“ ist doch etwas anderes. 

Der Aufbau des „sozialistischen Zukunftsstaates“, wie er 
in Nummer 40 der „Glocke“ gegliedert ist — wobei ich be¬ 
merke, daß von „Sozialismus“ eigentlich kaum die Rede sein 
kann —, hat Lücken, Lücken, Lücken. . . 

Zwei gewaltige Faktoren hat der Herr Artikelschreiber 
übersehen: 

1. den Egoismus und die Profitgier der Unternehmer, die 
dem „Erzeugerverband“ angehören; 

2. den Auslandsmarkt, ohne den Deutschland nicht aus- 
kommen kann. 

Die Unternehmer sind sich sehr schnell einig, wenn sie 
etwas dabei verdienen können. U,nd da dem Staate ein Einfluß 
aut die Produktion nicht gegeben ist, wird man ihm, wie 
bisher, das Schlechteste zu höchsten Preisen verkaufen, und 
dies um so mehr, als die Bearbeitung dieser Staatsaufträge im 
einzelnen nach Mustern, Farben, Formen, Ausführungen, Grö¬ 
ßen, Qualitäten usw. den „Erzeugerverbänden“, das heißt 
den berufensten Fachmännern der privaten Wirtschaft, über¬ 
lassen bleiben soll. Das genügt, um den Staat in Kürze zu 
ruinieren. Walter Rathenaus „Neue Wirtschaft“ ist doch 
etwas anders aufzufassen. Der Genannte hat doch wohl in 
alllererster Linie die Hebung der Güter Erzeugung propa¬ 
giert, so eine ausgebaute „Taylorsche wissenschaftliche Be- 
triebsführung“. 

Um nun zu produzieren, brauchen wir Rohstoffe, die wir 
zu einem großen Teil aus dem Auslande beziehen müssen. 
Da Geld keinen Wert mehr haben, sondern lediglich eine 
Anweisung auf Ware darstellen soll, müßten wir also die 
Rohstoffe im Auslande mit Erzeugnissen der in den „Er¬ 
zeugerverbänden“ zusammengeschlossenen Produzenten be¬ 
zahlen, also mit „staatlichen“ Einheitsgegenständen. Ob 
hierfür das Ausland so begieriger Abnehmer sein wird, möchte 
ich bezweifeln. 

Nicht beim Einkauf, sondern bei der Erzeugung muß der 
Hebel angesetzt werden, durch Ueberführung der Produktions¬ 
mittel an die Allgemeinheit, oder, sofern dies noch nicht 
überall möglich ist, durch Ueberwachung der Produktion 
durch die Allgemeinheit. Nur so können wir zu einer Ge¬ 
sundung des Wirtschaftslebens kommen. Adolf Quosig. 


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Bücherschau. 


Bücherschau. 

Arno Holz: „Gesammelte Werke.“ Verlag Bong & Co. 

Berlin 1920. 

„Und d*r Künstlerfanatismus und männliche Ernst des 
Malers Hollrieder, des Helden der „Sonnenfinsternis“, muß 
jeden Leser zwingen, noch einmal das schwere Problem des 
Dichters und Theoretikers Holz zu durchdenken.“ Albert 
Soergel spricht mit diesen Worten das Gefühl aus, daß 
jeden ernsthaften Menschen beim Lesen eines Werkes von 
Arno Holz überkommt. Die Klarsehendsten unserer Zeit 
haben das tiefe Verantwortlichkeitsgefühl diesem einsam 
Schaffenden gegenüber längst zum Ausdruck gebracht, indem 
sie sich ernst und nachdrücklich für seine Sache einsetzten. 
Dem Lesepublikum war die Klarwerdung über die Bedeutung 
des Werkes Arno Holz' bisher äußerst erschwert. 

Einer Clique, die seinen Namen aufdonnerte und mit der 
Blechposaune pathetischer Theorie für ihn auf dem Jahr¬ 
markt unserer modernen Literatur Reklame machte, hat Arno 
Holz nie angehört. Sein Schaffen war einsame, härteste 
Arbeit an sich selbst, abseits vom Wege der Literaturströ¬ 
mungen. Dennoch mußte es gerade ihm passieren, daß die 
Literaturgeschichten ihn als „konsequenten Naturalisten“ ejn- 
schachtelten und ihn, mit solcher Blechmarke versehen, in 
ihre Grabkammern legten. Er selbst hat von jeher jeden Is¬ 
mus abgelehnt. Sein „Buch der Zeit“, welches das entschei¬ 
dende Werk der damaligen Generation war und als solches 
auch begrüßt wurde^ zeigte ihm selbst, daß diese Form zur 
Gestaltung seines Seeleninhalts zu schwach war. So sah 
er da bereits Stillstand, wo andere Fortschritt priesen. Ihn 
machte Lob nicht blind — er ging seinen Weg. Es kamen 
Jahre intensivster Arbeit an seinem Mittel, am Wort. Wäh¬ 
rend er arbeitete, übernahmen Freunde Teilergebnisse als 
Theorie und schufen danach. Der deutsche „konsequente 
Naturalismus“ begann. Doch er hatte einen zu kurzen Atem, 
und als er endgültig zusammenkrachte, blieb, nach Maximilian 
Hardens Wort, nur einer aufrecht: Arno Holz. Warum? 
Weil ihm Mittel gewesen war, was den anderen Zweck war, 
weil er jahrelang unter bittersten Qualen da weiter gearbeitet 
hatte, wo andere schon glaubten, gestalten zu können. Und 
als er dann mit seinen „Sozialaristokraten“ herauskam, mußte 


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Bücherschau. 


1371 


jeder Einsichtige spüren, daß fes sich hier nicht mehr um 
die Durchsetzung einer Ismustheorie handelte, sondern, daß 
hier der Atem eines Künstlers wehte, der auf dem Wege 
war, sich für sein Gestaltenwollen bisher ungeahnte, neue 
Mittelmöglichkeiten zu schaffen. Die Anerkennung blieb wie 
immer aus. Dieselben Wege wie im Drama ging Arno Holz 
bald darauf in der Lyrik. Die gigantische; unverstandene 
Arbeit zermürbte ihn endlich, und so erschienen als „Er¬ 
holung“, „als leichtes Spiel“: Dafnis Und die Blechschmiede“. 
Beides Meisterwerke in der alten Form. Und nun waren die 
Literaturpropheten da, und stellten triumphierend fest, daß 
Arno Holz sich selbst ad absurdum geführt hätte. Die 

Woge der Verständnislosigkeit und Böswilligkeit schlug über 
ihm zusammen. Und doch blieb er fest. Jetzt wußte er, daß 
er seine Mittel restlos beherrschte. Und jetzt erst gab 
er sich das Recht, an das Gestalten seiner inneren Welt 
zu gehen. Die Ergebnisse, trotz jahrelanger, bitterster, ma¬ 
terieller Not, trotz Anfeindungen von allen Seiten, liegen 
vor in den beiden großen Dramen „Sonnenfinsternis“ und 
„Ignorabimus“ und in seinem lyrischen Werk „Phantasus“. 
Erst jetzt fangen die Literaturberufenen an, zu begreifen, 
was in und mit Arno Holz an menschlichen und ästhetischen 
Neuwerten gewachsen ist. Die ungeheure Konzeption des 
„Phantasus“ als lyrisches Weltbild und des Dramenzyklus 
* „Berlin. Die Wende einer Zeit in Dramen“ als dramatisches 
Zeitbild wird langsam klar. Der Durchsetzung dieser Er¬ 
kenntnis im Volk stand bisher das rein äußerliche, gerade 
deshalb aber um so größere Hindernis entgegen, daß die 
literarische Produktion des Dichters Arno Holz total un¬ 
übersichtlich in den verschiedensten Verlagshhäusem zer¬ 
streut lag. Der Verlag Bong & Co., der jetzt das gesamte 
literarische Werk Arno Holz’ übernommen hat, eröffnet die 
Neuherausgabe der Schriften in vorzüglichster Weise mit 
der Veröffentlichung: „Das ausgewählte Werk“. Damit sind 
die äußeren Schwierigkeiten des Bekanntwerdens der lite¬ 
rarischen Leistung Holzens behoben. Weitere Hinderungen 
seines endlichen Durchsetzens können sich demnach nur 
noch aus der Verständnislosigkeit der Zeit diesem großen 
und ernsten Problem gegenüber ergeben. Hoffen wir, das 
nicht von Deutschland und seinem Volke. „Das ausgewählte 
Werk“ gibt eine vollständig klare Uebersicht, ist geeignet, 
die innere einheitliche Linie, den literarischen Nerv der Sache 


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Bücherschau. 


spürbar werden zu lassen und vermittelt einen ungefähren 
Eindruck des Monumentalbaues Holzschen Kunstschaffens. 
Weiß heute in Deutschland noch jemand, was große Kunst 
ist? Dieses Werk kann es zeigen. Heinz Blücher. 

* 

Professor Dr. J. Plenge: Die Stammformen der verglei¬ 
chenden Wirtschaftstheorie. Baedekers Verlag. Essen 
an der Ruhr. 1919. 

Einer der lebhaftesten und fruchtbarsten sozialökonomi¬ 
schen Universitätslehrer unserer Zjeit ist Professor Dr. Johann 
Plenge. Er ist ethischer Sozialist und realistischer Wirt¬ 
schaftsforscher und steht uns nahe, obwohl kein Marxist 
ihn als Sozialdemokraten anzuerkennen vermöchte. Er ist 
jetzt damit beschäftigt, eine „Staatswissenschaftliche Lehr¬ 
bibliothek“ herauszugeben, um in das Verständnis des gan¬ 
zen Staats- und Gesellschaftslebens einzuführen. Dieses Ver¬ 
ständnis wird — wie Plenge richtig sieht — sehr erleichtert, 
wenn man die Aufeinanderfolge und die Kennzeichen der 
einzelnen Wirtschaftsstufen erforscht und miteinander ver¬ 
gleicht. Nur hierdurch entsteht im Geiste des Lesers ein 
klares Bild der wirtschaftlichen Vergangenheit und Gegen¬ 
wart. Als Einführung in die von ihm in diesem Sinne ge¬ 
leitete Bibliothek der „Staatswissenschaftlichen Musterbücher“ 
veröffentlichte Plenge die obengenannte Schrift; sie soll 
ein Grundbuch der volkswirtschaftlichen Ausbildung werden. 
Sie enthält charakteristische Auszüge aus den staatswissen- 
schaftlichen und volkswirtschaftlichen Arbeiten der größten 
Denker aller Zeiten. 

Aristoteles belehrt uns über Urproduktion, Tausch- und 
Geldwirtschaft; Adam Smith über Wirtschaftsstufen und 
Kriegswesen, Recht, Erziehung, Städtebildung und Manufak¬ 
turen ; Friedrich List über Berufsstufen und Nationalkämpfe; 
Marx über Klassenkämpfe und die bewegenden Kräfte der 
Gesellschaft; Schönberg über Haus-, Stadt- und Volkswirt¬ 
schaft. Die Uebersetzungen sind klar und einfach; das ganze 
gibt die Grundzüge der Entwicklung des Wirtschaftslebens. 
Das Buch ist auch Nichtstudierenden zu empfehlen. Viel¬ 
leicht würde es nützlich gewesen sein, einen charakteristischen 
Auszug aus Cairnes „Slave Power“ zu bringen, da die Skla¬ 
verei jahrtausendelang die Grundlage der Wirtschaft bildete. 

M. Beer. 


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führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre 
des reifen Mannesalters. Scheidemann selbst hat — vielleicht 
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen 
Entwicklungsgang beschrieben. 


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sowie direkt vom 

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Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. 

Druck und Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, LindenstraBc 114. 
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INHALT DIESER NUMMER: 


Der Vormarsch der englischen Arbeiterpartei . 1373 

Dr. John A. Dewdney: Amerikanische Spionage 
im Kriege.1375 

Guido Knörzer: Völkerbund und Völkerstaat. . 1379 

Oberlehrer Dr. F.rich Witte: Die akademisch ge¬ 
bildeten Lehrer Deutschlands ü d. Schulreform 1382 

Hans von Kiesling: Spanien. 1387 

Peter Knute: Tokio-Washington-London-Moskau 1392 
BUcherSchau. 1396 


Nummer 43 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt: 


Hermann Müller: Das Betriebsrätegesetz . . . 1341 

Herman George Scheffauer (Kalifornien): Ame¬ 
rika und der Frieden von Versailles .... 1344 

Peter Knute: Moskau und Mekka. 1354 

Hans von Kiesling: Bayern und der Einheitsstaat 1358 
Dr. G. v. Frankenberg: Ein Normallohnsystem 1365 
Glossen: Zukunftsstaatsdebatte.1368 


Bücherschau: Arno Holz, „Gesammelte Werke“ 
und Prof Dr. J Plenge, „Die Stammformen 
der vergleichenden Wirtschaftstheorie“ . . . 1370 


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‘•A* 






DE GLOCKE 

44. Heft 31. Januar 1920 5. Jahrg. 

Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet 


Ein englischer Genasse schreibt uns: 


D A " 


Der Vormarsch der englischen 
Arbeiterpartei. 


englische Parlament vertagte sich unmittelbar vor 
Weihnachten und wird erst im Februar wieder zusammen¬ 
treten. Das erste Jahr der neuen Regierung genügte, ihre 
im Dezember 1918 errungenen Lorbeeren last vollständig 
zu vernichten. Die öffentliche Meinung ist offenbar ent¬ 
täuscht. Im Dezember 1919 fanden drei parlamentarische 
Ersatzwahlen statt, die diese Enttäuschung ziffermäßig zum 
Ausdruck brachten. In St. Albans (einige Kilometer nördlich 
von London), einem alten konservativen Wahlkreise, wo vor 
einem Jahre der Regierungskandidat ohne jede Opposition 
gewählt worden war, mußte jetzt die Regierung einen schwe¬ 
ren Kampf ausfechten und ihr Kandidat wurde nur mit einer 
Mehrheit von 700 Stimmen gegen den Arbeiterkandidaten 
gewählt. Noch merkwürdiger war das Wahlergebnis in Brom- 
ley, einer südöstlichen Vorstadt Londons. Vor einem Jahre 
gab es dort gar keine politische Arbeiterorganisation. Bei 
den Wahlen siegte der Regierungskandidat mit 17 000 Stimmen 
gegen 4500 liberale Stimmen. Diesmal bewarb sich auch ein 
Arbeiter um das Mandat !und vereinigte auf sich 10 000 
Stimmen und blieb nur um 1000 Stimmen gegenüber dem 
Regierlungskandidaten szurück. Die dritte Wahl wurde in 
Spen Valley (Yorkshire) vorgenommen. Das Ergebnis zeigt, 
wie schnell die Regierung an Boden verliert. Drei Kandidaten 
bewarben sich um die Gunst der Wähler: ein konservativer 
(Oberst FairfaxL ein linksliberaler (Sir John Simon) und 
der Arbeiter und Sozialist Tom Myers. Der Wahlkampf war 
außerordentlich lebhaft. Sämtliche konservativen und libe¬ 
ralen Größen des Landes sprachen und wirkten im Wahlkreise. 
Außerordentlich •waren die Anstrengungen der Liberalen, denn 

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1374 


Der Vormarsch jder englischen Arbeiterpartei. 

Sir John Simon (gilt als der nächste liberale Premierminister 
und gehört zu den bedeutendsten Männern Englands, feiner 
der Kandidaten konnte sich mit ihm an politischem Anseben, 
an parlamentarischer Erfahrung und Beredsamkeit verglei¬ 
chen. Nichtsdestoweniger siegte der Sozialist mit 12 000 
Stimmen gegen 10 000 liberale und 8000 konservative. 

Dies war auch der einzige Wahlkreis, in dem der Liberale 
eine lerhebliche Stimmenzahl erhalten hat. In allen übrigen 
Ersatzwahlen schnitten die Liberalen am schlechtesten ab. 
Faßt man^das Ergebnis der drei obengenannten Ersatzwahlen 
zusammen, so vereinigte die Arbeiterpartei auf sich eine Ge- 
samtstimmenzahl von 31 000, die Regierung 29 000, die Libe¬ 
ralen nur 14500. Die Ansicht herrscht allgemein vor, daß 
die liberale Partei im Absterben begriffen ist. Die meisten 
liberalen Wähler geben zur Arbeiterpartei über; auch die 
fortgeschrittensten liberalen Wahlprogramme sind nicht mehr 
imstande, die Wählermassein dem Liberalismus zuzuführenj 
Diese Partei scheint endgültig das Vertrauen des Volkes ein¬ 
gebüßt zu haben. > 

Ueber seinen Wahlerfolg schreibt Tom Myers im „Labour 
Leader“: „ . . . Die Anzeichen, daß eine tiefe Aenderung 
in den Ansichten der Arbeiterbevölkerung vor sich geht, traten 
im letzten Wahlkampfe mit aller Klarbeit hervor. Bei den 
Wahlen im Dezember 1918 hörte man überall die milita,- 
ristische Frage an die Kandidaten: „Was haben Sie wäh¬ 
rend des Weltkrieges gemacht?“ Jetzt hört man nichts 
mehr davon. Wahrscheinlich der stärkste Beifall, der mir 
zuteil wurde, brach aus, als ich erklärte, daß ich 
während des Krieges für einen Verständigungsfrieden wirkte, 
und daß ein solcher uns viel größeren Nutzen gebracht hätte, 
als der Versailler Friede. Und als ich weiter sagte, daß ein 
Verständigungsfriede Millionen von Leben erspart hätte, bra¬ 
chen die Zuhörer in einen stürmischen, gar nicht enden¬ 
wollenden Beifall aus. Unser Volk ist über die Früchte 
des Krieges bitter enttäuscht. Es blickt mit Schmerz auf 
das Chaos und den Hunger in Mittel- und Osteuropa. Es 
fragt:.„Was haben wir von all den Opfern, die wir brach¬ 
ten ?“, Es beginnt zu verstehen, wer sein wirklicher Feind 
ist. Im Wahlkampfe brandmarkten wir die räuberischen 
Schiebereien der Trusts, der Kartelle und Ringe, die Preis¬ 
steigerungen, die schwindelhaften Spekulationen, und wir 
zeigten auch, wie wir Sozialisten uns bemühten, das Volk 


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1375 


Amerikanische Spionage im Kriege. 


vor Erpressungen zu schützen. Wir entwickelten auch unser 
sozialistisches Programm und zeigten den Massen, daß ihre 
einzige Hilfe in der vergesellschafteten Produktion zu finden 
sei. wir agitierten für die Sozialisierung der Bergwerke und 
Eisenbahnen, ebenso für eine sozialistische Finanzreform und 
für eine starke Vermögensabgabe. Entschieden bekämpften 
wir die Uebel unserer imperialistischen Politik gegenüber 
Rußland, Indien und Aegypten, und wir führten die Folgen 
der bösartigen äußeren Politik unserer Diplomatie den Wäh¬ 
lern vor Augen. Unsere Forderung, alle kolonialen und aus¬ 
wärtigen Fragen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes 
zu lösen, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Ich kann 
nur sagen, daß die beliebtesten Riedner diejenigen waren, die 
unseren sozialistischen Standpunkt am klarsten und entschie¬ 
densten vertraten/ 4 

Eine der interessantesten parlamentarischen Ersatzwahlen 
findet nächstens in Paisley (bei Glasgow) statt. Wahrschein¬ 
lich wird auch dieser Wahlkampf dreieckig sein, das heißt, 
es werden sich drei Kandidaten um das erledigte Mandat be¬ 
werben. Die Liberalen sind geneigt, ihren größten Führer, 
den früheren ersten Minister Asquith aufzustellen, um ihm 
Gelegenheit zu geben, mit Lloyd George im Parlamente ab¬ 
zurechnen. Für die Arbeiterpartei kandidiert der Sozialist 
Biggar, dessen Wahlprogramm folgende drei Punkte enthält: 
Sozialisierung, Revision des Versailler Friedens, inten;aiio- 
nales Zusammengehen der Arbeiter aller Länder. 


Dr. JOHN A. DEWDNEY: 

" Amerikanische Spionage im Kriege. 


Amerikanische Gelehrte als Spione im Ausland. 

F\ER berühmte Anthropologe Professor Franz Boas vom 
^ Rockefellerinstitut in Neuyork veröffentlicht in der fort¬ 
schrittlichen Wochenschrift „The Nation 44 (Nummer vom 
20. Dezember 1919) folgenden sensationellen Artikel: 

„Wissenschaftler als Spione. 

In seiner an den Kongreß in Washington gerichteten, Kriegs¬ 
ansprache verweilte Präsident Wilson des längeren bei der 


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1376 


Amerikanische Spionage im Kriege. 


Theorie, daß nur Autokratien Spionage unterhalten, Demo¬ 
kratien sie nicht nötig haben. Zur Zeit, da der Präsident v 
diese Erklärung abgab, hielt die Vereinigte-Staaten-Regierung 
Spione in unbekannter Anzahl beschäftigt. An die Kluft 
zwischen des Präsidenten Worte und den wirklichen Tat¬ 
sachen sind wir gewöhnt; doch damit befasse ich mich in 
diesem Augenblicke nicht, obwohl wir seine Erklärung dahin 
aufzufassen berechtigt wären, daß wir unter einer Auto¬ 
kratie leben, das heißt, daß unsere Demokratie eine Fiktion 
ist. Wogegen ich hier aber kräftigen Protest einlegen will, 
ist dies, daß eine Anzahl von Leuten, die beruflich der Wissen- * 
schaft angehörten, und die ich fortan nicht mehr als Wissen¬ 
schaftler bezeichnen kann, ihre Wissenschaft prostituiert 
haben, indem sie dieselbe als Deckmantel für Spionage¬ 
tätigkeit mißbrauchten. 

Ein Soldat, dessen Aufgabe der Mord als Künstlerwerk 
ist; ein Diplomat, (dessen .Beruf ,auf Täuschung und Geheimnis¬ 
krämerei beruht; ein amerikanischer Redaktionspolitiker, des¬ 
sen ganzes Leben in Kompromissen mit seinem Gewissen be¬ 
steht ; ein Geschäftsmann, dessen Ziel in persönlichem Ge¬ 
winn liegt innerhalb der Grenzen, die ihm ein nachsichtiges 
Gesetz erlaubt — für alle diese Leute mag es eine Entschuldi¬ 
gung geben, wenn sie patriotische Hingebung für etwas 
Höheres halten, als gewöhnlichen Anstand und Spionagedienst 
verrichten; sie fügen sich lediglich dem Sittlichkeitskodex, 
zu welchen die moderne Gesellschaft sich bekennt. Der 
Wissenschaftler soll auf höherer Warte stehen; denn seine 
eigentliche und seine Lebensessenz muß der Wahrheitsdienst 
sein’ Zwar sind uns allen Wissenschaftler bekannt, die im 
Privatleben zur Höhe voller Wahrhaftigkeit sich nicht er¬ 
heben, aber gleichwohl sich nicht erniedrigen, die Resultate 
ihrer Forschungen wissentlich zu fälschen! Es ist schlimm 
genug, daß wir uns diese Leute gefallen lassen müssen, die 
einen Mangel ,an Charakteristik zeigen, der ihre Arbe^tserfolge 
zu schädigen droht. Wenn aber einer die Wissenschaft als 
Deckmantel für politische Spionage benutzt und die Gemein¬ 
heit begeht, yor einer ausländischen Regierung als Forscher 
zu posieren, sie um Beistand zu bitten nir seine angeblichen 
Untersuchungen, um, unter dieser Hülle, seine politischen 
Machinationen auszuführen, der prostituiert die Wissenschaft 
in unverzeihlicher Weise und verwirkt das Recht, zu den 
Wissenschaftlern gezählt zu werden. 


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Amerikanische Spionage im Kriege, 


1377 


Zufällig bin ich in den Besitz unwiderleglichen Beweises 
gelangt, daß mindestens 4 (vier) Männer, die anthropologische 
Arbeit verrichten, während sie als Regierungsspione angestellt 
sind, sich ausländischen Regierungen als Vertreter wissen¬ 
schaftlicher Institute in den Vereinigten Staaten vorgestellt 
haben und ' als ausgesandt, um wissenschaftliche Unter¬ 
suchungen anzustellen. Sie haben nicht nur den Glauben an 
die Wissenschaftswahrhaftigkeit erschüttert, sondern wissen¬ 
schaftlicher Forschung den denkbar schlimmsten Schaden 
bereitet. Die Folge wird sein, daß jede Nation einen besuchen¬ 
den wissenschaftlichen Forscher, der ehrliche Arbeit ver¬ 
richten will, Mißtrauen entgegenbringen, ihn dunkler Pläne 
verdächtig halten wird. 

Es ist hierdurch eine neue Barriere gegen Entfaltung inter¬ 
nationaler freundlicher Kooperation errichtet worden.“ 

Ich bemerke zu dieser Erklärung des Professors Franz 
Boas: 

Sie ist vom 16. Oktober datiert, aber erst in der- „Nation“ 
vom 20. Dezember gedruckt. 

Der Grund des neunwöchigen Zeitabstandes zwischen Ein¬ 
sendung und Veröffentlichung ist leicht zu erklären. Der 
Chef des Blattes, Herr Villars (Sohn des Pfälzers Hilgard, 
der die „Northern Pacific Bahn“ vor 55 Jahren erbaute und 
für Carl Schurz- die „New York Evening Post“ gründete, 
die vor zwei Jahren an das Morgansyndikat verkauft werden 
mußte, weil eine zum Pazifismus neigende Tageszeitung die 
Kriegshetze nicht überleben konnte), war bis zur amerikani¬ 
schen Kriegserklärung einer der intimsten Freunde des Prä¬ 
sidenten Wilson. Ohne weiteres- konnte er eine so schwere 
Anklage, wie die Boassche, gegen die amerikanische Regie¬ 
rung nicht aufnehmen; die Untersuchung der Boasschen 
Beweismittel erforderte einige Wochen Aufschub für den 
Abdruck der Erklärung des Anklägers. 

Boas sagt nicht, in welchem Ausland die „mindestens 4 
(vier) Anthropologen“ — vermutlich vom August 1914 bis 
April 1917 — „gearbeitet“ haben. 

Vielleicht werden die Anthropologischen Gesellschaften zu 
Berlin, München, Wien, Stadt Mexico usw. durch ergänzende 
Erläuterungen die Boassche Enthüllung noch interessanter zu 
gestalten in der Lage sein. 

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1378 


Amerikanische Spionage im Kriege, 


II. 

Die Arbeitergewerkschajten 
im Spionagedienst gegen die Fremdgeborenen. 

Vom Arbeitsminister (Secretary of the Departmentof Labor) 
Wilson wurden am 15. November 1917 folgende zwei Zir¬ 
kulare an vertrauenswürdige Persönlichkeiten der Arbeiter¬ 
organisationen versandt; 


Bureau 

des Arbeitsministers 

(Aktenzeichen) 
(Nummer des Adressaten) 
(Wohnort des Adressaten) 


1 . 


Washington, 15. November 1917. 


Werter Herr! 

Ich nehme mir die Freiheit, diesem Briefe ein Zirkular 
beizulegen für Ihren eigenen Gebrauch, der sich von selbst 
erklärt. Ich bitte Sie, jede Information, die Sie über 
den darin enthaltenen Gegenstand zu erlangen imstande 
sind, an das Arbeitsdepartment unter Bezeichnung mit 
Nr. . . . anher gelangen zu lassen. Ihre Mitwirkung in 
dieser Angelegenheit wird voll gewürdigt werden. Wenn 
es gewünscht wird, soll der Name des Informenten absolut 
vertraulich behandelt werden. 


Achtungsvoll 


Bureau 

des Arbeitsministers 


2 . 


John B. Wilson 
Sekretär. 


Vertraulich! Washington , 1. Oktober 1917. 

Es ist der Wunsch des Arbeitsministeriums, mitzuhelfen 
bei Förderung der öffentlichen Sicherheit während des Krie¬ 
ges. Wir glauben, daß die große Masse der dem Feind 
zugehörigen ausländischen Einwohner der Vereinigten Staa¬ 
ten sich loyal verhalten wird oder in jedem Falle passiv. 
Alle solche Leute sollten mit äußerster Rücksicht, Höflich¬ 
keit und Achtung behandelt werden; sie haben eine sehr 
schwere Prüfung zu bestehen.. Unzweifelhaft aber werden 
manche von der kaiserlich-deutschen Regierung bezahlt 


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Völkerbund und Völkerstaat. 


1379 


sein oder durch andere Motive sich leiten lassen, um die 
Vereinigten Staaten oder deren Bürger oder Eigentum zu 
schädigen. Wir haben die Empfindung, daß die Beamten 
und Mitglieder von Gewerkschaften viel beitragen können 
zur Förderung freundlicher Stimmung gegen loyale Aus¬ 
länder und gleichzeitig zur Information über solche, die 
die Vereinigten Staaten zu schädigen suchen. Da Sie bei 
der Arbeit und sonstwie mit ihnen in Beziehung kommen, 
sind Sie wahrscheinlich imstande, hier und dort ein bi߬ 
chen Information über das Tun und Treiben von feind• 
liehen Auslandszugehörigen aufzulesen; dies mag, in Ver¬ 
bindung mit ähnlicher Information, die uns von anderen 
Seiten zukommt, für die Vereinigten Staaten von großem 
. Werte sein. Es wird daher ersucht, alles, was Sie sehen 
oder hören, das die Sicherheit der , Vereinigten Staaten 
berührt, unter Nr. . . . anher zu berichten, diese Nummer 
auch auf das Kuvert zu setzen, damit der Bericht schnell¬ 
stens Zur Verwendung gelange. 

\ John B. Wilson 

Sekretär. 

Bei Inanspruchnahme aller Gewerkschaften für Ausspio- 
nierung der Fremdgeborenen und der Kinder von eingewan¬ 
derten Deutschen läßt sich denken, wie viele Tausende unter 
falscher Denunziation verhaftet, angeklagt oder interniert 
worden sind.. Eine Statistik dieser Fälle ist noch nicht be¬ 
kannt; ob nach Friedensschluß die genauen Ziffern der 
Oeffentlichkeit pneisgegeben werden, steht noch dahin. 


GUIDO KNORZER: 

Völkerbund und Völkerstaat. 

P)IE geistige Weltrevolution, die soziale Bewegungen und 
u Ausbrüche nur als ihre natürlichen Begleiterscheinungen 
wertet, ist mit dem Weltkrieg und der Weltnot ins akute 
Stadium getreten. Wie der Daseins- und Siegeskampf des 
Urchristentums, wie das Emporwachsen der deutsch-römischen 
Kultur des Mittelalters aus dem Wirbel der Völkerwanderung, 
wird wohl die moderne Periode der ,,,Umwertung aller Werte“ 
Jahrhunderte in Anspruch nehmen. Eine neue Weltanschau¬ 
ung, der die neuen und (revolutionären Erkenntnisse der Natur- 

s 44/2* 


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1380 


Völkerbund und Völkerstaat. 


Wissenschaften die geistige Grundlage geschaffen, schickt sich 
an, langsam heraufkommend einer neuen Weltordnung das 
geistige Rückgrat zu formen. 

Seit Protagöras gilt der Mensch als das Maß aller Dinge. 
Religionen haben ihre Götter oder die Idee des Göttlichen 
an die Stelle der Idee des Menschlichen gesetzt; sie sind ver¬ 
sunken oder versinken, sterbend befruchtend. Im Wirrwarr 
des Heute ist das Prinzip der Menschlichkeit, wie schon 
oft in der Menschheitsgeschichte, doch stärker als je zuvor, 
emporgetaucht als wegweisender, ferner Lichtpunkt im Dun¬ 
kel, gleich dem Stern von Bethlehem. Im ganzen Weltkrieg 
und in seinem Scheinfrieden ist der Menschlichkeitsgedanke 
aus allen feindlichen Völkern und Heeren heraus in vielfäl¬ 
tiger Gestalt unter dem einen Namen des Völkerbundes als 
Retter und Tröster einer zerrissenen Menschheit wie ein 
Stern an dem Himmel der Menschensehnsucht gesteckt 
worden. Jetzt ist er dem Bewußtsein der Menschheit un- 
ausreißbar einverleibt, mag auch seine augenblickliche und 
vorläufige Form Mißdeutung, Enttäuschung und Argwohn 
hervorgerufen haben. Es kommt heute darauf an, nicht an 
der Sache zu verzweifeln, weil sie zunächst unter unreifen 
und unberufenen Händen mißriet, sondern im alten Glauben 
an den unbegrenzten Fortschritt zum unerreichbaren Ideal 
hin dem Streben nach dem erkannten Ziel der menschlichen 
Gemeinschaft in Freiheit und Recht, Wohlfahrt und Geistig¬ 
keit die für menschliche Sohlen beschreitbare* Bahn zu be¬ 
reiten. 

' Es muß eine Weltgemeinschaft begründet, heute vor¬ 
bereitet, einst vollzogen werden, die als höchste Instanz über 
allen Rassen, Völkern, Klassen und Individuen steht. Eine 
Weltwirtschiaftsorganisation zugunsten der Gemeinschaft aller, 
unter Ausschaltung jeder Unterdrückung, mit dem obersten 
Grundsatz „Kultur und Menschlichkeit“, muß alle umfassen. 

Unser Zeitalter steht im doppelten Zeichen des Nationalis¬ 
mus und des Sozialismus. Der zur Weltgesundung geforderte 
Weltstaat ist sozialistisch, aber nicht parteisozialaemokratäsch 
oder -kommunistisch. Er ist nationalistisch, insofern er die 
Nationalitäten anerkennt, in ihrer kulturtragenden Eigenart 
fördert, das Allgemeine durch Unterstützung und Austausch 
des Besonderen bereichert. Er gewährleistet die Anbahnung 
einer Versöhnung der Klassen, indem er die erste Vorbedin¬ 
gung dazu, die Versöhnung der kapitalistisch und imperialistisch 


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Völkerbund und Völkerstaat. 


1381 


verhetzten Völker, ermöglicht. Er rückt den Weltfrieden aus 
dem Gebiet der reinen Phantasie in den Annäherungsbereich 
der Wirklichkeit, indem er über einem praktischen Höchst- ' 
maß an Selbständigkeit der Nationalstaaten ein praktisches 
Mindestmaß — dies aber unverbrüchlich — an richterlicher 
und exekutiver Souveränität der Präsidentschaft der mensch¬ 
lichen Gesellschaft als der res publica omnium errichtet. 
Zentralisation des Notwendigen geht mit Dezentralisation des 
Möglichen Hand in Hand. Vertrauen, »heute fast ein Begriff 
ohne Inhalt geworden, wird Allgemeingut, Selbstverständlich¬ 
keit, Grundlage einer neuen Sittlichkeit, Ausgangspunkt prak¬ 
tischer, rentabler Verwaltung, in der die Weltbeamtenschaft 
der Menschheit statt einer lokalen Bureaukratie dient. 

Kein „Völkerbund“ vermag die Völker zum Ziel der Ver¬ 
bundenheit zu führen. Alle Erfahrung der Jahrtausende 
spricht gegen das neue Experiment. Ein „Bund“ ist, wenn 
die Begriffe bestimmt werden sollen, wie sie es müssen, eine 
freiwillige und lösbare Vereinigung, die gegen andere ge¬ 
braucht und mißbraucht werden kann und wird. Ein Bund, 
der dagegen alle dauernd verpflichtet, ist kein „Bund“, son¬ 
dern ein „Staat“. Nicht nur zwischenstaatlich, sondern über¬ 
staatlich muß die neue Organisation sein. 

Deshalb verlangt die Ordnung der Welt im Geiste der 
neuen, werdenden Weltanschauung statt eines Völkerbundes 
die Errichtung des Völkerstaates. Werden beide im Wesen 
gleich, so spielen Namen keine Rolle mehr. Politik ist durch 
die Weltwirtschaftsorganisation in großen Teilen zu ersetzen 
— zum Vorteil der Menschen. 

Wie die Individuen in der Familie, die Familien in der 
Gemeinde, die Gemeinden im Stammesstaat, die Stammes¬ 
staaten im Nationalstaat, so sollen die Nationalstaaten im 
Völkerstaat sorgend, schützend und fördernd umschlungen 
werden —: in diesem Satze ist das Ziel aller Menschheits* 
politik für unsere Zeit bestimmt. 

Der Verzicht auf die Unbedingtheit der isolierten Selbst¬ 
herrlichkeit der untergeordneten Kategorien zugunsten der 
übergeordneten ist die eigentliche politische Forcierung von 
heute. Tatsächlich hat eine solche Unbedingtheit niemals 
bestanden; heute ist sie schon aus wirtschaftlichen Gründen 
undenkbarer als zuvor. Es handelt sich also im wesentlichen 
um einen prinzipiellen Verzicht, der durch seine obligatorische 
Allgemeinheit den einzelnen Körperschaften erleichtert oder 


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1382 Die akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands . . . 

ermöglicht wird, und der durch einen Gewinn wirklicher 
Freiheit, nämlich.Bewegungsfreiheit im Rahmen des Ganzen, 
mehr als aufgewogen wird. Voraussetzung der neuen Welt¬ 
organisation ist die Erlösung jeder Irredenta und die Aus¬ 
stattung der übervölkerten Nationen mit ausreichendem und 
geeignetem Siedlungsland. 

Dem Unterdrückten, den wurzelhafte Gesundheit vor dem 
Untergang immer bewahrt hat und bewahren wird, fällt 
die geschichtliche Sendung zu, wie einst das Urchristentum, 
Träger der großen, der kommenden Menschenwelt Form 
gebenden Idee zu sein. Deshalb wird der Weltstaat nicht aus 
allgemeiner, schwärmerisch pazifistischer Sehnsucht, sondern 
aus zielbewußter, nationaler Propaganda erstehen. Die Na¬ 
tion der stärksten Unterdrücktheit ist die berufene Nation 
der geistigen Führung zum Weltstaat. Waffenmacht und 
diplomatische List stehen ihr ebensowenig an, wie einst 
der Königin von Schweden die Krone, die sie mit den stolz¬ 
bescheidenen Worten niederlegte: „Non mi bisogna e- non 
basta.“ Offene, friedfertige, aber stolze, stürmische, un- 
bezwingliche Propaganda des Geistes ist ihr einziges Mittel 
im Kampf gegen Rückständigkeit und Barbarei. So kann 
und wird sie die Menschheit an den ehernen Seilen ihrer 
Geistesgewalt vorwärtsziehen, dem ewigen, ewig wachsenden 
Ziel der erhöhten Menschlichkeit entgegen. Es gilt, sie zu 
der Aufgabe, die sie nicht versäumen darf, zu erwecken und 
zu sammeln. 


Oberlehrer Dr. ERICH WITTE: 

Die akademisch gebildeten Lehrer 
Deutschlands über die Schulreform. 

DALD nach der Revolution entwickelte sich auch unter 
den akademisch gebildeten Lehrern ein großer Reform¬ 
eifer. Fast jeder Pnilologenverein, von dem größten, dem 
Berliner, bis zu dem kleinsten, stellte eine Reihe von Leitsätzen 
auf, die das deutsche Philologenblatt veröffentlichte. Es 
erschien fast keine Nummer, die nicht einige solcher Kund¬ 
gebungen enthielt. Und das war recht so. Aus diesen Leit¬ 
sätzen kann die Unterrichtsverwaltung eine Fülle von An¬ 
regungen schöpfen. Nur konnte niemand wissen, wie eigent- 


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Die akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands .. . . 1383 


lieh die Mehrheit der akademisch gebildeten Lehrer über 
Schulreformen denkt. Nun tagte kürzlich in Kassel der Ver¬ 
tretertag des Vereinsverbandes akademisch gebildeter Lehrer 
Deutschlands. Aus allen Teilen der Deutschen Republik 
war man herbeigeeilt, um zu den vorgeschlagenen Leitsätzen 
Stellung zu nehmen. Wenn man diejenigen nun liest, welche 
die Zustimmung der Mehrheit der Vertreter gefunden haben, 
so freut man sich über die Klarheit, mit der die einzelnen 
Forderungen zum Ausdruck gebracht worden sind. Die Leit¬ 
sätze bilden in dieser Beziehung einen schönen Gegensatz 
zu den Artikeln der neuen deutschen Reichs Verfassung, von 
denen viele so unklar sind, daß man sie jetzt schon so 
verschieden interpretiert wie Verse des alten Homer. Ich 
erwähne nur den Artikel über den Religionsunterricht. Ver¬ 
tieft man sich aber in den Inhalt der Leitsätze des Vertreter¬ 
tages der akademisch gebildeten Lehrer, ist man, wenn man 
überzeugter Anhänger der Einheitsschule ist, sehr enttäuscht. 
Es wird mir schwer, dies auszusprechen, doch ich wäre un¬ 
wahr, wenn ich es unterlassen würde. 

Nachdem in so vielen Philologen vereinen Forderungen auf¬ 
gestellt worden sind, die zum mindesten ein bedingtes Be¬ 
kenntnis zur Einheitsschule enthalten, hätte ich mehr er¬ 
wartet. Denn diese wird von den Vertretern der akademisch 
gebildeten Lehrer Deutschlands rundweg abgelehnt. „Die 
Grundschule soll höchstens vierjährig sein.“ „Es müssen 
indes Vorkehrungen getroffen werden, die es besonders be¬ 
gabten Schülern ermöglichen, schon nach drei Jahren in 
die höheren Schulen einzutreten.“ Die Erfüllung der Forde¬ 
rung würde zur Folge haben, daß wohlhabende Eltern ihren 
Kindern Privatstunden geben lassen, damit diese schon nach 
drei Jahren aufgenommen werden. Da die Dauer des Lehr¬ 
ganges neunjährig sein soll, wird damit auch der Abbau der 
Sexta abgelehnt , die sogar Reinhardt beseitigen will. Auch 
soll für die neun- bis zehnjährigen Schüler gleich eine Drei¬ 
teilung stattfinden: Volksschüler, Mittelschüler, Schüler höhe¬ 
rer Schulen. Reinhardt schlägt hier eine einfache Gabelung 
der Schule vor: Volksschule, Mittelschule; erst nach zwei¬ 
jährigem Besuch einer Mittelschule sollen die Schüler in die 
höhere Schule kommen. Das ist zwar auch noch keine Ein¬ 
heitsschule, aber immer doch eine Form, die ihr nähersteht 
als das gegenwärtige Schulsystem, das jene Vertreter er¬ 
halten wollen. 


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1384 Die akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands . . . 

* 

. Da diese die Einheitsschule ablehnen, ist es ganz natür¬ 
lich, daß sie auch von einer Einheit des Lehrerstandes nichts 
wissen wollen. Sie fordern sogar, daß an den höheren 
Schulen alle Stellen, die für dauernde Bedürfnisse des wissen¬ 
schaftlichen Unterrichts bestimmt sind, in Oberlehrerstellen 
zu verwandeln sind. Dieser' Leitsatz, der im Interesse der 
baldigen Anstellung der Kandidaten aufgestellt worden ist, 
* schließt die Anstellung eines Mittelschullehrers oder Volks¬ 
schullehrers aus. Ich kann bei dieser Gelegenheit als Mit¬ 
glied der Berliner Deputation für die äußereh Angelegenheiten 
der höheren Schulen mitteilen, daß wir beschlossen haben, 
an allen höheren Knabenschulen Berlins auch seminaristisch 
gebildete Lehrer anzustellen, und zwar zuiiächst einen an 
jeder Schule. Als ein Mitglied der Deputation meinte, daß 
aut diese Weise die Zahl der anstellungsfähigen Kandidaten 
noch größer werden würde, wurde ihm entgegengehalten, 
daß diese eine Zeitlang an Volksschulen unterrichten könn¬ 
ten. Dadurch würden sie das Volksschulwesen keiinenlernen, 
was dazu beitragen würde, von der chinesischen Mauer, die 
die Oberlehrer und Volksschullehrer trennt, ein Stück einzu¬ 
reißen. Außerdem könnte es für die Zukunft des Kandidaten 
von großer Bedeutung sein, da man für leitende Stellen, 
zum Beispiel für die eines Stadtschulrats, natürlich solche 
Lehrer bevorzuge, die die höheren Schulen und die Volks¬ 
schulen kennen. 

Was mich aber besonders schmerzlich berührt, ist der 
Umstand, daß der Vertretertag „ein Auf gehen aller Philologen 
in allgemeine Lehrerkammern grundsätzlich ablehnt“ und 
nur das folgende kleine Zugeständnis macht: „Zur Er¬ 
örterung von Fragen, die das Gesamtschulwesen betreffen, 
treten Ausschüsse der Kammern für das höhere Schulwesen 
mit solchen der Kammern für Volks-, Mittel- und Fach¬ 
schulen zusammen/' Man fürchtet offenbar, von den zahl¬ 
reichen Volksschullehrern überstimmt zu werden. Das ist 
zum Beispiel in den sozialistischen Lehrervereinen anders; 
hier arbeiten Hochschulprofessoren, Oberlehrer und Volks¬ 
schullehrer brüderlich zusammen. Jene von dem Vertretertag 
aufgestellte Forderung ruft eine geschichtliche Erinnerung 
in mir wach. Als im Jahre 1789 die französische Revolution 
ausbrach, lehnten es der Adel und die Geistlichkeit ab, mit den 
Vertretern des dritten Standes zusammen zu beraten. Ich 
will selbstverständlich nicht sagen, daß dieser Vergleich zu- 


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Die akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands . > . 1385 


trifft, das liegt mir ganz fern. Denn zwischen den fran¬ 
zösischen Priestern und Adligen des 18. Jahrhunderts und 
den deutschen Oberlehrern des 20. Jahrhunderts ist denn 
doch ein großer Unterschied. Aber unterdrücken kann ich 
die Erinnerung nicht. 

Ebensowenig wie ich den Leitsätzen meiner Kollegen über 
ihr Verhältnis zu den Volksschullehrem beistimmen kann, 
kann ich mich denen über den Elternbeirat anschließen. 
Denn diesem sollen auch die Direktoren und Vertreter des 
Lehrkörpers angehören. Das wäre genau so, wie wenn in 
einem nicht parlamentarisch regierten Staat der Volksvertre¬ 
tung außer den Abgeordneten auch Mitglieder der Regierung 
angehören würden. Zweck des Elternbeirats ist es doch, 
die Wünsche der Eltern kennenzulernen. Wenn nun Lehrer, 
die keine Kinder in der Schule haben, Mitglieder des Beirats 
sind, daher auch mitstimmen' können, so kommt der Wille 
der Eltern nicht deutlich zum Ausdrück. Dies ist aber doch 
der Zweck des Beirats. 

Aehnlich zu beurteilen wie die Forderungen der Oberlehrer 
nach ihrer Berufsvertretung und der Zusammensetzung des 
Elternbeirats sind diejenigen über die Leitung der höneren 
Schulen. Die akademisch gebildeten Lehrer machen den Wün¬ 
schen nach Einführung der kollegialen Schulleitung Zuge¬ 
ständnisse, gehen aber nicht so weit wie die Volksschullehrer, 
die ihren Leiter aus ihrer Mitte auf Zeit wählen und ihm nur 
die Rechte zugestehen wollen, die der Rektor einer Hoch¬ 
schule hat. Die Vertreter der deutschen Oberlehrer stellen 
für die Leitung der Schule die folgenden Grundsätze auf: 
„Der Direktor ist vorsitzendes Mitglied des Lehrerkollegiums 
und Leiter der Anstalt ohne disziplinäre Strafgewalt. Dem 
Direktor steht in allen wichtigen Angelegenheiten ein Lehrer¬ 
ausschuß zur Seite. Dieser hat bei Mißhelligkeiten unter 
den Mitgliedern des Lehrerkollegiums auf Verlangen zu ver¬ 
mitteln und bei Beschwerden gegen Amtsgenossen ausglei¬ 
chend zu wirken. Die Hauptentscheidungen in allen wichtigen 
Fragen, die die Anstalt betreffen, stehen der Gesamtkonferenz 
zu. Die Verteilung des Unterrichts hat im Einvernehmen 
mit dem Lehrerausschuß zu erfolgen. Der Direktor hat 
insbesondere das Recht: a) die Lehrer im Unterricht zu - 
besuchen; b) kurzfristige Vertretungen anzuordnen; c) inner¬ 
halb der ihm gezogenen Grenzen Urlaub zu erteilen; d) alle 
Konferenzen zu leiten.“ Die Wahl oder Ernennung des 


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1386 Die akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands . . . 


Direktors soll wie bisher erfolgen, nur soll das Lehrer¬ 
kollegium das Recht haben, mit Zweidrittelmehrheit Einspruch 
zu erheben, der begründet werden muß. 

Wenn ich aber an den bisher angeführten Leitsätzen nur 
Kritik geübt habe^ so kann ich anderen rückhaltlos zustimmen. 
Das gilt zum Beispiel für die Reform des Lehrplanes. Wenn 
man die zahlreichen Aufsätze und Schriften liest, die in den 
letzten fünf Jahren verfaßt worden sind, so finden sich fast 
in allen die folgenden Forderungen, die sich auch die Ver¬ 
treter der deutschen Oberlehrer zu eigen gemacht haben: 
Verringerung der Zahl der verbindlichen Stunden, damit Zeit 
für Wahlfreien Unterricht gewonnen wird, und damit die 
Neigungen der Schüler mehr als bisher berücksichtigt werden 
können. An keiner Schule mehr als zwei verbindliche Spra¬ 
chen. Verstärkung des Unterrichts im Deutschen. Durch¬ 
führung des erdkundlichen Unterrichts in allen Klassen, auch 
in den Gymnasien. Staatsbürgerkunde und Volkswirtschafts¬ 
lehre im Anschluß an geeignete Fächer. In den oberen 
Klassen Einführung in die philosophische Denkweise. 

Schließlich haben die Vertreter der akademisch gebildeten 
Lehrer Deutschlands Leitsätze aufgestellt, die man in die 
folgenden Worte zusammenfassen kann: Mehr Gehalt, weni¬ 
ger Dienst! Das klingt vielleicht, ironisch, ist aber nicht 
so gemeint. Denn, daß das amtliche Einkommen lange nicht 
in dem Maße zunimmt, wie die Preise für die meisten Lebens¬ 
mittel, ist eine nicht wegzuleugnende Tatsache. Wenn ferner 
die Oberlehrer die Pflichtstundenzahl herabsetzen wollen (bis 
zum 40. Lebensjahre 20, bis zum 50. Lebensjahre 18, dann 
16), wenn sie die Höchstzahl der Schüler beschränken wollen 
(in den oberen Klassen nicht mehr als 20, in den mitt¬ 
leren nicht mehr als 25, in den unteren nicht mehr als 20), 
so tun sie dies nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch 
in dem ihrer Schüler und Schülerinnen. Denn je weniger 
in einer Klasse sind, desto fruchtbringender ist der Unterricnt; 
je Weniger Stunden die Lehrer geben, desto mehr Zeit haben 
sie zur Vorbereitung, sowie auch zu ihrer wissenschaftlichen 
Weiterbildung, die es ihnen wieder ermöglicht, ihre Stunden 
noch mehr wissenschaftlich zu vertiefen. 

Auch für die Anwärter haben die Oberlehrer gesorgt, in¬ 
dem sie gefordert haben, daß* alle 65 jährigen Philologen 
pensioniert werden sollen, daß der Zugang zum Oberlehrer¬ 
beruf durch Zwangsmaßnahmen geregelt wird. Wenn sie 


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Spanien. 


1387 


allerdings verlangen, daß auch die Beschäftigung und An¬ 
stellung genau nach Dienstalterlisten innerhalb der Fächer- - 
gruppe erfolgen soll, so läßt sich dies an städtischen An¬ 
stalten nicht durchfuhren, da die Städte darin eine Beschrän¬ 
kung der Selbstverwaltung sehen würden. 

Schließlich möchte ich meiner Freude noch über den Leit¬ 
satz zum Ausdruck bringen: „Parteipolitik ist aus der Schule 
fernzuhalten.“ Damit ziehen die akademisch gebildeten Leh¬ 
rer einen dicken Strich zwischen sich und der alten Regie¬ 
rung. Diese betrachtete bekanntlich die Schule als ein Mittel, 
für ihre Politik Propaganda zu machen. Man braucht nur an 
den bekannten Erlaß Wilhelms II. zu erinnern, nach dem 
die Lehrer den Schülern die Ueberzeugung beibringen sollten, 
daß die Lehren der Sozialdemokratie gegen göttliches Gebot 
und undurchführbar seien. 

Ob die in diesen Leitsätzen nieder gelegten Anschauungen 
denen der Mehrheit der akademisch gebildeten Lehrer ent- 
sprechen y ist eine andere Frage. Denn es hat darüber unter 
diesen keine Abstimmung stattgefunden. Die Vertreter sind 
durch ein indirektes Wahlverfahren gewählt worden. Die 
Oberlehrer haben zu den Provinzial- und Ländesvereinen ge¬ 
wählt, und diese wieder zu dem Vertretertag. Ein richtiges 
Bild über die Anschauungen der Mehrheit würde man nur 
erhalten, wenn man in allen Kollegien über jeden einzelnen 
Leitsatz abstimmen würde. ,Denn das indirekte Wahlverfahren 
ist durchweg beseitigt worden. Da nämlich jeder einzelne 
Verein nur wenige Mitglieder zu der Tagung schicken kann, 
sind selbst stärkere Minderheiten meist unberücksichtigt 
geblieben. 


HANS VON KIESLING: 

Spanien. 

P)AS politische Leben Spaniens ist heute von vier Faktoren 
L/ vollkommen beherrscht. Das sind die Marokkofrage, das 
Verhältnis zu Frankreich und den Ententestaaten, die Be¬ 
ziehungen zu Spanisch-Südamerika und der in schärfster 
Form entbrannte Kampf zwischen Kapital und Arbeit. 

Erst nachdem der Weltkrieg zu Ende gegangen war, inter* . 
essierte sich die spanische Geffentlichkeit mehr für die in 


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1388 


Spanien. 


der spanischen Zone Marokkos entbrannten Kämpfe. Da 
die Aufstände des der Herrschaft des Königreichs feindlich 
gesinnten Raisuni vornehmlich aus dem französischen Pro¬ 
tektorat und dem internationalisierten Gebiet von Tangei 
unterstützt wurden, war im November dieses Jahres eine 
entscheidende militärische Operation nötig geworden, die 
durch die Eroberung der Stellung von Fondac die spanische 
Einflußsphäre von Tanger und seinem Hinterland vollkommen 
abschloß. Seit diesen Tagen fordern die spanischen Zei¬ 
tungen die LJeberlassung dieses Gebietes, eine Forderung, 
die motiviert wird mit dem spanischen Charakter der Stadt, 
mit ^dem überwiegenden wirtschaftlichen Einfluß des Halb¬ 
inselstaates in diesem Gebiet und mit seiner geographischen 
Lage gerade gegenüber der spanischen Küste. 

Die Beziehungen zu Frankreich werden in erster Linie 
durch die Aufrollung dieser Frage beherrscht. Die spanische 
Politik rechnet damit, auf französischer Seite Entgegen¬ 
kommen in bezug auf die Abrundung des spanischen Besitzes 
in Marokko zu finden. Die Reise des Königspaares nach Paris 
und London steht damit im Zusammenhang, in Madrid er¬ 
wartete man, daß ihr Resultat eine Freigabe des internatio¬ 
nalen Gebiets von Tanger für den Anschluß an das spanische 
Territorium sein würde. Bewußt hat der Graf von Roma- 
nones, der einstige Ministerpräsident, die Allianz mit Frank¬ 
reich in die Debatte geworfen und damit den Franzosen ge¬ 
zeigt, was der Kaufpreis für die positive Freundschaft, nir 
den Anschluß. Spaniens an die gegen Deutschland gerichtete 
militärische Kombination sein würde. Frankreich wird in 
seiner Angst vor einem deutschen Revanchekrieg diesen Preis 
wohl zahlen müssen, da es mit einer militärischen Unter¬ 
stützung der Vereinigten Staaten nicht rechnen kann, und 
auch die Unterstützung Englands in Zukunft nur problel- 
matischer Natur ist. Andererseits hat Spanien alles Inter¬ 
esse, sich an einen Machtkreis anzuschließen, der nicht un¬ 
bedingt von Nordamerika abhängig ist. Der Gegensatz zu . 
der Union, geschaffen durch den Krieg zwischen Spanien 
und den Vereinigten Staaten, der ersterem den letzten Rest 
seines großen Kolonialreichs kostete, ist durchaus latent ge¬ 
blieben. 

Er spielt auch eine gewisse Rolle in dem Verhältnis des 
Königreichs zu den spanisch sprechenden Staaten Südamerikas 
und seinem Wunsche, sich mit diesen zu einem einheitlichen 


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Spanien. 


1389 


i ■ 

politischen Block zusammenzuschließen. Die südamerikani¬ 
schen Republiken sind durch den Krieg zwar in eine wirt¬ 
schaftlich glänzende, aber politisch sehr abhängige Lage ge¬ 
kommen. Die Union hat den Krieg dazu benützt, den grö߬ 
ten Teil des Handels nach Südamerika an sich zu reißen 
und sich auch die politische Führung des ganzen Kontinents 
anzumaßen. Die panamerikanische hohe Kommission, die Be¬ 
herrschung des südamerikanischen Eisenbahnwesens, die Bil¬ 
dung eines ganz Amerika umfassenden Schiffahrtstrustes, die 
Hineinzwängung Südamerikas in die Politik der Monroe¬ 
doktrin sind das Resultat dieser Bestrebungen. Aber durch 
die Ueberschwemmung Südamerikas mit nordamerikanischem 
Geld, nordamerikanischen Waren und Politikern der Union 
ist die Sympathie der südamerikanischen Republiken für diese 
nicht größer geworden. Sie waren stets nach Europa orien¬ 
tiert und sind begierig, die durch den Weltkrieg abgerissenen 
Fäden nach Osten neu und fester zu knüpfen. 

Spanien, das alte Mutterland, hat diese Lage in den letzten 
Monaten ausgezeichnet benutzt, -indem es seine Beziehungen 
zu den Tochterstaaten eitrigst pflegte, wozu das Band ge¬ 
meinsamer Sprach^ und Kultur die beste Handhabe bot. Ge¬ 
lehrte gingen herüber und hinüber, Verbrüderungsfeste der 
studierenden Jugend fanden statt, das Fest der spanischen 
Rasse wurde mit besonderer Feierlichkeit begangen, Spanien 
bemühte sich, die Jahrestage der Unabhängigkeitserklärungen 
der südamerikanischen Republiken durch die Anteilnahme 
besonders entsandter Politiker in ihrer. Bedeutung zu heben. 
Die starke spanische Einwanderung in Argentinien und Bra¬ 
silien erleichtert die Erweiterung spanischen Einflusses in 
Südamerika. Mit Begeisterung nahm man dort die Nachricht 
von dem beabsichtigten Besuch der spanischen Tochterstaaten 
durch Alphons XIII. auf. Die Bildung eines spanisch spre¬ 
chenden Blocks durch den Zusammenschluß des größeren 
Teils Südamerikas mit dem alten Mutterlande auf der Basis 
politischer Gleichberechtigung hat große Fortschritte ge¬ 
macht. Die deutsche Politik wird dämit rechnen müssen, 
ihr kann die Entstehung eines Gegengewichts gegen die 
Union in Südamerika ebenso. willkommen sein, als es Eng¬ 
land und Frankreich willkommen sein muß. 

Alle diese außenpolitischen Fragen sind aber in den letzten 
Wochen vollkommen in den Hintergrund getreten gegenüber 
dem in schärfster Form zum Ausbruch gekommenen Kampf 


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1390 


Spanien. 


zwischen Kapital und Arbeit. Der Staat wird durch Streiks, 
Arbeitsaussperrungen, Arbeitsniederlegungen, passive Resi¬ 
stenz in seinem wirtschaftlichen Leben augenblicklich derart 
erschüttert, daß niemand weiß, was aus diesem Chaos sozialer 
Gegensätze, rücksichtslosen Kampfes aller gegen alle ent¬ 
stehen wird. Das Streik- und Aussperrungsfieber hat sich 
aut alle industriellen Unternehmungen, gleichgültig, ob sie 
staatlicher oder privater Natur sind, erstreckt, und hat auch 
die Landarbeiter ergriffen. Seit Wochen stehen nahezu alle 
Fabriken in Spanien still, das Bauhandwerk feiert, Schiffs¬ 
personal und Ausladearbeiter streiken, in Valencia haben 
sogar die Aerzte die Arbeit niedergelegt; seit Monaten gehen 
in Andalusien Gutshöfe und Landhäuser reicher Grundbesitzer, 
Von Knechten angezündet, in Flammen auf. 

Geleitet wird der soziale Kampf auf seiten der Arbeiter¬ 
schaft durch die in Spanien besonders mächtigen Arbeiter¬ 
syndikate. 

Demgegenüber hat sich die gesamte Arbeitgeberschaft zu 
Abwehrorganisationen zusammengeschlossen, die gegenüber 
den, das ganze wirtschaftliche Leben lähmenden, Streiks 
rücksichtslos die Waffe der Aussperrung anwenden. 

Die schärfsten Formen hat der soziale Kampf in Barcelona 
und Madrid angenommen. In Barcelona haben sämtliche 
Unternehmer die Generalaussperrung angeordnet und halten 
sie seit vierzehn Tagen mit rücksichtsloser Energie und 
eiserner Disziplin durch. In Madrid ist die Generalaussper¬ 
rung im Bauhandwerk durchgeführt, streiken andererseits 1 
die Trambahnangestellten und die Druckereien. Auch ein 
großer Streik sämtlicher Eisenbahner steht unmittelbar bevor. 

Der spanische Volkscharakter neigt zur Gewaltsamkeit. Es 
ist daher kein Wunder, daß der soziale Kampf von schweren 
Akten der Ausschreitung, von terroristischen Attentaten be¬ 
gleitet ist. Browning und Bombe spielen eine ausschlag¬ 
gebende Rolle. Angriffe auf Polizisten und Soldatenpatrouil¬ 
len in Ausübung ihres Dienstes sind an der Tagesordnung. 
Regierung, Polizei Gerichtsbehörden haben wenigstens in 
Catalonien gegenüber dem grandiosen Kampf, der zwischen 
Unternehmertum und Arbeiterschaft sich abspielt, jeden Ein¬ 
fluß, ja jede Betätigungsmöglichkeit verloren. 

Noch halten die Führer der Arbeiterschaft diese von all¬ 
gemeiner Gewalttat ab. Das !schließt aber nicht aus, daß 


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Spanien. 


1391 


in jedem Moment Verhältnisse eintreten können, in denen 
die Hunderttausende feiernder und hungernder Arbeiter, auf¬ 
gehetzt durch die Propaganda bolschewistischer Agenten, 
rücksichtslos übergehen zur Politik der Tat, rücksichtslos 
nach der politischen Gewalt greifen. 

Der Boden für die bolschewistische Propaganda ist in 
dem industriellen Zentrum Spaniens, in Catalonien und seiner 
Hauptstadt Barcelona besonders vorbereitet. Die Arbeiter¬ 
schaft ist hier seit Jahrzehnten organisiert und durch die 
spekulative Gewinnsucht der Kaufleute und Unternehmer 
besonders gereizt. Trotz der ungeheuren Verdienste, die in¬ 
folge des Krieges dort zusammenflossen, haben sich die 
Unternehmungen gegen eine entsprechende Erhöhung des 
Arbeitslohns mit aller Energie zur Wehr gesetzt, obgleich/ 
auch hier nach dem Kriege eine ungeheure Steigerung der 
Preise der Lebensmittel und aller Bedürfnisartikel des täg¬ 
lichen Gebrauchs eingetreten ist. Ohne Rücksicht auf das 
allgemeine Wohl und ungehemmt durch Regierungsmaßnah¬ 
men führt dort das Schiebertum Gegenstände nach dem 
Auslande aus, die im Inland dringend benötigt werden, nur 
um die günstige Konjunktur auszunützen. Auch dort wird 
der Geldgewinn allgemein über soziale Notwendigkeiten ge¬ 
stellt. 

Alle diese Faktoren zusammen in Verbindung mit dem 
selbstherrlichen Auftreten in der Armee entstandener Organi¬ 
sationen — den Juntas de Defensa —, die sich ohne Scheu 
über die konstitutionellen Garantien, über Recht und Gesetz 
hinwegsetzen, haben vor wenig Wochen das konservative 
Ministerium SaHjez de Toca zu Fall gebracht und zur Bil¬ 
dung eines neuen Kabinetts geführt. 

Dieses übernimmt die Lenkung des Staatsschiffs in einem 
der schwersten Momente der spanischen Geschichte. Der 
soziale Kampf dehnt sich mehr und mehr über ganz Spanien 
aus und tobt zunächst ohne Entscheidung weiter. Jeden Tag 
aber können Verhältnisse eintreten, die den Ausbruch offener 
Revolution, ja den Sturz der Monarchie nach sich ziehen. 
Es wird besonders starker Arme bedürfen, um den Halb¬ 
inselstaat an dem gefährlichen Abgrund vorüberzuführen, 
der ihn zu verschlingen droht. Deutschland hat alles Inter¬ 
esse, die in Spanien sich vorbereitenden und vollziehenden 
Ereignisse mit Aufmerksamkeit zu verfolgen. 


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1302 _;_ Tokio-Washington-London-Moskau. 

PETER KNUTE: 

Tokio - Washington -London - Moskau. 

Die Gegensätze in Asien. 

r\ER Charakter der englischen Politik ist die Klugheit. 

* Das Stigma der Japaner die Schläue. Die gelben Asiaten¬ 
herzen sind immer halb zugekniffen wie ihre Schlitzaugen. 
Es fehlt das elementare Hervorbrechen des wahrhaften 
Herzensturms. Es fehlt die Wärme, die die Seelen schweißt. 
Es ist eine Kluft zwischen uns und ihnen. Zwischen dem 
Atlantischen und dem Stillen Ozean liegt die Eiseskälte der 
sibirischen Oede. Der große Trennungsstrich heißt Ural. 

Wenn ich Imperialist wäre, möchte ich Uchida, der japa¬ 
nische Außenminister, sein. Welche Fülle der Aufgaben. 
Im Westen das zusammenbrechende Asien. Nach Osten, zu 
den anderen Küsten des Stillen Ozeans, schon die Relais¬ 
verbindung über Mariannen und Karolinen, über deutsche 
Leichenteile hinweg. Ein Keil eingetrieben zwischen das 
amerikanische Mutterland und die .Kolonie Philippinen. Die 
Sandwich insein noch stärker gefährdet. Was nutzt dort 
die starke amerikanische Flottenbasis, wo schon mehr als 
neunzigtausend Japsenarbeiter, altgediente Preußen des Ostens, 
arbeitend auf den Inseln, mit Waffen heimlich versehen, des 
Pfiffs aus Tokio warten ? Auf den Philippinen zwanzigtausend 
amerikanische Wachtsoldaten. Sie liegen mit den Moros, den 
Malaien, im Konflikte. Japaner in Menge unter ihnen. Ta- 
naka, dem Kriegsminister in Tokio, kann's eines Tags ein¬ 
fallen, die Japaner zu schützen. Dann waren die Philippinen 
einmal eine amerikanische Kolonie." Die Dampferlinie Hong* 
kong—Manila in Händen der Japsen, den Weg nach Süden 
bahnend. Wegweisend: Nach Indien. Und nach Australien. 
Die Sundainseln sind nächstes Ziel. Ein Japaner schrieb 
darüber: „Einzelne mögen sagen, daß diese Inseln hollän¬ 
disches Eigentum sind, und daß Japan sic nicht so kurzer¬ 
hand wegnehmen könnte. Aber, wenn die Holländer die 
Verhältnisse der Eingeborenen nicht verbessern können, und 
nicht imstande sind, Frieden und Ordnung unter ihnen auf¬ 
recht zu erhalten, dann sind Java, Sumatra und Borneo eine 
Bedrohung für die angrenzenden Gebiete, und wir sind 
berechtigt, sie in Besitz zu nehmen.“ Geschähe es so', wäre 


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Tokio-Washington-London-Moskau. __ 1393 

die Straße von Malaka den Engländern in Singapore' ein 
Paroli. Das Südchinesische Meer unter der Kontrolle To¬ 
kios.. Das französische Hinterindien gefährdet. Von Sumatra 
nur ein Sprung nach Vorderindien. Agitation schon unter den 
Hindus. Sympathien verknüpfen schon die Farbigen in Bom¬ 
bay und Tokio. Taleba Tenge, fein japanischer Journalist, 
schrieb schon im Weltkrieg den „Scheidebrief an England“: 
„Das Bündnis ist leichtfertig geschlossen und kann so nicht 
fortbestehen.“ 

/ 

An der Küste des Stillen Ozeans: Japanische Emigranten 
haben Formosa überschwemmt, Korea und die Mandschurei, 
Wladiwostok und Chabarowsk, die Einfalltore nach dem Ural, 
unter japanische Kontrolle. Ich fand in Chabarowsk schon 
zu Friedenszeiten einen japanischen General als Hotelbesitzer. 
Welche Wandlung seit noch nicht siebzig Jahren: 1853 
der Brief des amerikanischen Kommodore Perry an den Mi¬ 
kado (mit JHandelsvorschlägen. 1854 der Handelsvertrag von 
Kanagawa, Oeffnung der damaligen Fischerhäfen Simoda 
und Hakkodate. 1895 Friede von Schimonoseki, Unterwerfung 
Chinas, Japans Weltrufbegründung, Vorgeschichte des Bünd¬ 
nisses mit England. 1905 Friede von Portsmouth,. Großmacht 
politisch und militärisch, Hand auf Korea und die süd¬ 
liche Mandschurei. 1916 im Weltkrieg, Munitionslieferungen 
an Rußland, dafür die Bahn Port Arthur—Mukden—Charbin, 
völlig freie Hand in China. Der „Russkoje Slowo“: „Vom 
politischen Standpunkt ist es schon längst notwendig ge¬ 
worden, China als außer unserem Einfluß liegend zu be- ' 
trachten.“ 1917 gesteht Amerika Sonderrechte in China zu. 
1920 Friede von Versailles, die Schantunghalbinsel. 

Im Winter 1920: Ein Napoleonischer Zusammenbruch der 
Russen in Sibirien. Zarische Generäle hatten geträumt, in 
Moskau wieder das Moskowiterreich aufzurichten. Ein Reich 
bis Zargrad und bis Peking und Bombay und bis zum 
persischen Golf. England^ und japanerfeindlich. Die 
Trümmer ihres Heeres, erliegend in den Eis- und Schnee¬ 
stürmen Sibiriens, revoltierend in sich, wälzen sich über den 
zugefrorenen Bailcal. Das Beresina der Russen. Wie Dschin- 
giskan hinter ihnen drein, hinter der Kosakischen Garde 
Koltschaks, die bolschewistische Reiterei. Ein roter Auf¬ 
bau Moskaus? Auch das nicht. Auch Moskau hat Seins 


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1394 _ Tokio-Washington-London-MoSkau. 

Kraftgrenzen. Das rote Moskau ist mitbeteiligt an dem 
großen russischen Unglück. In der russischen Kräfteleere 
ist der Hase Löwe. Der Bürgerkampf reibt auf und baut 
das Haus denen, die kommen wollen. . . 

Siegte die schlaue Politik der Gelben in Tokio? In Berlin 
drückten sie uns noch 1914 die Hände und schmeichelten. 
Deutsche Militärherrlichkeit nahm’s für bare Münze. Ver¬ 
traute auf Interessengemeinschaft gegen -Rußland, auf das 
Fehlen von Interessengegensätzen, wollte zwischen den Pan¬ 
zern Germaniens jund Tokios den russischen Bären zerdrücken. 
In Tokio lächelten sie über Berliner Milchmädchenrechnungen. 
Oder war’s nur gelbe Rache für Wilhelms Bild von dien 
„Völkern Europas“? Das er im Doppelspiel dem Zaren 
schickte? Die „Völker Europas“ zerfleischten sich, und Japan 
war .amüsierter, kriegsgewinnender Zaungast. Trieb höch¬ 
stens, seine Flotte einspielend, Kriegssport. Kam’s so, war’s 
recht, kam’s anders, war’s auch recht. Zwei Eisen lagen 
im Feuer, und alle beide waren gut. Als Hochkonjunktur in 
deutschen Siegen war, noch 1918, empfingen sie in Tokio 
einen schwedischen Grafen, der ein Bündnis mit Deutsch¬ 
land lantrug. Die Japsenöffentlichkeit war glänzend einge¬ 
stellt. Die Presse, die zuvor das Deutsche ungewöhnlich 
kläffend angefahren, konnte sofort anders. Lloyd George 
wurde zerzaust, Wilson war eine Lächerlichkeit, Frankreich 
ein Mitleid. Deutschland alles. Un<J wie die Sache schief 
ging in Frankreich, wieder ein Einschwenken zur Entente¬ 
front. 


Man zählt zu den Siegern. Zu den Siegern von Versailles, 
die auf den Kriegsbannern den Völkerfrieden agitatorisch 
führten. Ist’s Völkerfrühling? Rausch t’s durch die Welt 
wie Sphärenklang? In Europa bauen sie morsche Staats¬ 
gerüste und stützen sie mit Bajonetten. Und im Stillen 
Ozean schwimmen, hinter Panzern verstaut, die uralten Ge¬ 
gensätze der Kapitalisten. Die Naturschätze Chinas und 
des sibirischen Rußlands locken in London und Washington. 
War das schlaue Japan schlau genug? Asien liegt zwar frei. 
Aber ist es frei Im Stillen Ozean ? Die deutsche Flotte band 
die Flotte Albions. Nun sind die Briten frei. Und schon 
taucht der Plan des englischen Admirals Jelikoe auf, im 
Stillen Ozean eine starke englische Flottenbasis zu schaffen 


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Tokio-Washington-London-Moskau. 


1395 


und in Australien Geschütze, Munition und Flugzeuge zu 
bauen. England streckt weiter seine gepanzerte Faust um 
den Erdball und reicht sie der Union, der der Weltkrieg 
gerade gelegen genug kam, um unter dem geistigen Schute 
von Wilsons vierzehn Punkten unauffällig Flotte und Armee 
rüsten zu können. Die anglo-amerikanische Gemeinschaft 
tut sich auf und wirft in den Stillen Ozean ihre Schatten. 
Der Neid und die Angst wird groß. Wir lesen: „Die Börsen 
zu Osaka und Tokio bieten ein Schauspiel von nie gekannter 
Bewegung. Anteile die nie imehr <als sechs Prozent lieferten, 
werden (mit einem Mehrwert von zweihundert bis dreihundert 
Prozent verhandelt. Das Gold häuft sich auf. Die Ex¬ 
pansionsidee muß sich einstellen. . .“ Vollständiger Kräfte- 
umbau im Osten. Japan, seither gebunden durch Rußland 
und gestützt durch England, wird jetzt gebunden werden 
durch England. . . 

Und gestützt, vielleicht, durch Rußland. Die japanischen 
Politiker sehen nach Moskau und Berlin. Soll’s ein neuer 
Dreibund werden? Das Chaos von Wladiwostok bis an 
den Rhein gärt noch und hat noch kein Mäuschen geboren. 
Japan liegt in Defensive gegen London und Washington. 
Sein Kabinett Kai Hara, mit dem Gesicht der Saijukai, kennt 
die Gefahr und steigt Inicht in den sibirischen Abgrund, in 
den es die Freunde locken wollen. Aber es schwingt die 
Fahne Monroes über die mongolischen Völker und gräbt in 
ihre Herzen: Asien gehört den Asiaten. Sein Gedanke ist 
das Oberbonzentum über den neunmal hunderttausend Seelen 
großen mongolisch-buddhistischen Zukunftsstaat. Ist Sem- 
jonow im Bunde, der Jburtatische ,Zarenhetman, der den 
Vertrag von Kiachta löste und die äußere Mongolei von 
Rußland jan China zurückbrachte? In Asien ballen sich Ideen. 
Idee aber ist Leben, und Leben ist Leid, sagt der große 
Gott Buddha. Die Idee der Asiaten wird die Samurai der 
Welt Aufrufen, und die Samurai werden mit den Schwestern 
das Leid gebären. Und vom Nirwana werden die Menschen 
weiter entfernt sein, als je. 

Buddha predigte, daß das Leid nur durch Aufheben des 
Durstes zu bannen ist. Die Quelle des Durstes ist Versailler 
Gesinnung. Man wird den mongolischen Heiligen ins christ¬ 
liche Versailles bringen müssen. 


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1396 


Bücherschau. 


Bücherschaü. 

Labour Party: Labour and the.Peace Treaty. (Die Arbeiter¬ 
klasse und der Friedens vertrag.) London 1919. Preis 
1 Shilling 6 Pence. 

Diese vom Vorstand der britischen Arbeiterpartei heraus¬ 
gegebene Schrift ist ein Referentenführer für Volksversamm¬ 
lungen und sonstige Agitation zum Zwecke einer gründ¬ 
lichen Revision des Versailler Friedensvertrags. Sie ist 
sehr wirkungsvoll abgefaßt und weist nach, daß der Vertrag 
sowohl den Grundsätzen der Arbeiterpartei wie den 14 Punk¬ 
ten Wilsons gröblichst widerspricht. Die Schrift verurteilt 
den wirtschaftlichen Imperialismus und die imperialistischen 
Kriege, ebenso die vom Vertrage geschaffenen politischen 
Grenzen, einseitigen Abrüstungen und kolonialen Verschache¬ 
rungen. Sie bringt auch den Protest der deutschen Sozial¬ 
demokratie und der Unabhängigen gegen den Vertrag. Schlie߬ 
lich drückt sie die Meinung aus, daß von den kapitalistischen 
Regierungen eine Aenderung des Vertrags nicht zu erwarten 
sei, und dab deshalb die Arbeiter aller Länder verpflichtet 
sind, dahin zu wirken, daß diese Regierungen 4 urc h wahrhaft 
demokratische ersetzt würden. 

Nun noch ein Wort über das Englische des deutschen 
Auswärtigen Amts. Die obengenannte Schrift enthält auch 
die treffliche Rede des Grafen Brockdorff-Rantzau beim 
Empfange des Versailler Vertragsentwurfs;. Die Rede wurde 
vom Auswärtigen Amt ins Englische übertragen; leider aber 
zeigt die Uebersetzung eine nichts weniger als intime Ver¬ 
trautheit mit der Sprache. Hier zwei Beispiele. Der Graf 
erklärte, Deutschland habe stets eine unparteiische Unter¬ 
suchung der Schuld am Kriege verlangt. Das Wort Unter¬ 
suchung wurde mit „ inquest“ übersetzt, was aber im Eng¬ 
lischen einzig und allein auf richterliche Untersuchungen bei 
plötzlichen Todesfällen angewandt wird. Sonst heißt Unter¬ 
suchung: inqtiiry. Eine Verwechslung dieser beiden Wörter 
zeigt sofort, daß die Uebersetzung mechanisch mit Hilfe des 
Wörterbuches zustandegekommen ist. — Weiter: Brockdorff- 
Rantzau erklärte: „Keine Nation darf diesen Vertrag straflos 
verletzen.“ Das Auswärtige Amt übersetzte „Straflos“ mit 
„i without punishment“ . Das ist ganz unenglisch. Es müßte 
heißen: with impunity. M. Beer. 


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ZWISCHEN 
DEN GEFECHTEN 


von \ 

PHILIPP SCHEIDEMANN 

Elegant gebunden 

Preis 10 Mark 

und 20% Teuerungszuschlag 


Aus den Tagen der Kindheit 
führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre 
des reifen Mannesalters. Scheidemann selbst hat — vielleicht 
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen 
Entwicklungsgang beschrieben. 


Bezug durch alle Buchhandlungen 
sowie direkt vom 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

BERLIN SW 68 . LINDENSTR. 114 

Postscheckkonto Berlin 27576 


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Fortsetzung unserer Sozialwissenschaftlichen Bibliothek 1 


Band 15: 

Die deutsche Beamtenbewegung 


nach der Revolution 


Von A. Falkenberg 

Referent für Beamtenfragen im Reichsministerium des Innern 

* 

Preis: 

kartoniert Mark 3,— 
gebunden Mark 4,50 
und 20% Teuerungszuschlag 

Schildert den Demokratisierungsprozeß unserer Beamtenwelt als 
Wirkung des Weltkrieges und der deutschen Revolution. Bei der 
hervorragenden Wichtigkeit einer im Geiste der Revolution wir¬ 
kenden Staatsverwaltung dürfte diese Schrift von größtem Interesse 
für die weitesten Kreise sein. 

Die Bibliothek wird fortgesetzt 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

BERLIN SW 68 Postscheckkonto 27576 LINDENSTR. 114 


Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. 

Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, LindenstraOe 114. Fernruf: Morit^- 
platz 2218, 1448 —1450. — Druck: Photogravur G. m. b. H., Berlin SW 68, Lindenstraße 114. 


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5 . Jahrg. 2. Band Na 45 7. Februar 1920 

Die Glocke 


Herausgegebenvon 

Parvus 




Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68 




Original ftom 

UM'VERSITY OF CALIFORNIA 



INHALT DIESER NUMMER: 

Haydar: Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft 
in der Ernährung ........... 1397 

M Pertzborn: Herzhafte Politik ...... 1407 

Oberlehrer Dr. Erich Witte: Sozialisierung des 
Schulbrtchbandels . . . ... . 1411 

Peter Knute: Das zerschmetterte Schwert 
Ferdinands.1415 

Professor Ewald F. W. Rasch;(Steglitz): Die 
Verwertung der Milch durch Hochdruck¬ 
fernleitungen . ............ 1419 

Professor Dr. Cornelius (Oberursel):, Nüchterne 
Randbemerkung zur Zukunftsstaatsdebatte . 1421 

Bücherschau: Karl Josef Friedrich „Volksfreund 
Gregory 1 *; Carl Gebhardt „Der demokratische 
Gedanke**; Ör. Eduard Herold „Ein Jahr 
deutsche Republik“; Wilhelm Wundt „Die 


Zukunft der Kultur** .... . . . . . . 1422 
Eingelaufene Schriften . ... 1 ..... . 1428 


Nummer 44 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt: 

Der Vormarsch der englischen Arbeiterpartei . 1373 
Dr. John A. Dewdney: Amerikanische Spionage 

im Kriege. 1375 

Guido Knorzer: Völkerbund und Völkerstaat. . 1379 
Oberlehrer Dr. Erich Witte: Die akademisch ge¬ 
bildeten Lehrer Deutschlands ü. d. Schulreform 1382 

Hans von Kiesling: Spanien.t 1387 

Peter Knute: Tokio-Washington-London-Moskau 1392 
Bücherschau. 1396 



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DE GLOCKE 

45. Heft 7. Februar 1920 5. Jahrg. 

Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet 


HEYDAR: 

Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft 

in der Ernährung. 

Wir erhalten die folgende Abhandlung, der wir zwar nicht in 
allen Punkten beistimmen können, der wir aber im Interesse 
der Erörterung, wie unsere heutigen Verhältnisse gebessert 
werden könnten, gern Raum geben. Die Verhältnisse sind 
heute so, daß sie unbedingt binnen kurzem zu einem Zusammen¬ 
bruch unseres Wirtschaftslebens führen müssen wenn es nicht 
gelingt, noch kurz vor Toresschluß die Mißstände radikal zu be¬ 
seitigen. .Redaktion der „Glocke“. 

CEIT einem halben Jahre mehren sich die Stimmen nach 1 
° einer Aufhebung der Zwangswirtschaft und der Einführung 
der freien Wirtschaft in der Ernährung. Bezeichnenderweiser 
kamen diese Stimmen bisher sämtlich aus Kreisen der Land¬ 
wirtschaft. In den letzter! Tagen war in der „Kreuzzeitung“ 
zu lesen, daß die oldenburgische Regierung auch ihrerseits 
einen formellen Antrag auf Aufhebung der Zwangswirtschaft - 
- und die Einführung der freien Wirtschaft in der Ernährung 
bei der Reichsregierung gestellt, ihn hinterher aber zurück¬ 
gezogen habe. Welche Berufskonstellationen in der olden- 
burgischen Regierung vertreten sind, ist mir nicht bekannt. 
Ich kann darum auch nicht beurteilen, ob dort etwa auch 
schon Verbraucher den sicheren Pfad der Zwangswirschaft 
zugunsten der Hängebrücke der freien Wirtschaft verlassen 
" haben. Die Tatsache der Zurückziehung des Antrags scheint 
aber darauf hinzudeuten, daß die Reichsregierung wenigstens 
vorläufig noch nicht gewillt ist, der Erwägung der Auf¬ 
hebung der Zwangswirtschaft und der Einführung der freien 
Wirtschaft in der Ernährung näherzutreten. 

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1398 Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 


Vom Stande des Ernährungspolitikers ist es lohnend, das 
Für und Wider beider Richtungen gegeneinander abzuwägen, 
um zur Entscheidung zu kommen, welcher Standpunkt der 
richtigere ist. Wie es uns jetzt geht, wissen wir; wie es uns 
nach Aufhebung der Zwangswirtschaft gehen wird, wissen wir 
nicht. Berechtigt ist darum, von einem sicheren Pfade der 
Zwangswirtschaft und von einer Hängebrücke der freien 
Wirtschaft zu sprechen. 

Ohne weiteres ist zuzugeben, daß^ die Zwangswirtschaft 
die Landwirtschaft aufs ärgste einschränkt und sie in ihrer 
Bewegungsfreiheit behindert. Das tritt in den von patrio¬ 
tischem Pflichtgefühl durchdrungenen Kreisen der Land¬ 
wirtschaft mehr in die Erscheinung, als in den, die diese 
Eigenschaft nicht besitzen. Die Zahl der Vorschriften der 
Zwangswirtschaft ist so erheblich, daß ein unbeabsichtigter 
Verstoß dagegen mit Bestrafungsmöglichkeit tagtäglich denk¬ 
bar ist. In den erst gekennzeichneten Kreisen der Landwirt¬ 
schaft muß dies mit Recht ein unbehagliches Gefühl erzeugen, 
zumal niemand vor unbeabsichtigter Zuziehung einer Feind¬ 
schaft und Ausnutzung der zufälligen Kenntnis eines Ver¬ 
stoßes gegen die Vorschriften der Zwangswirtschaft durch 
Anzeige sicher ist. Besonders der wird diese Unsicherheit 
mit sich herumträgen, der nicht wie ein Rohr von dem 
Winde der heutigen Zufalls volksneigungen hin und her- 
schwanken will. Beschämend ist zwar eine Bestrafung wegen 
Verstoßes gegen die Vorschriften der Zwangswirtschaft nicht 
mehr. Diese Ansicht gehört der Volksallgerheinheit. Immer¬ 
hin bringt so ein Verfahren aber derart reichlich Aerger 
mit sich, als daß nicht nahezu jeder dieser Kreise wünschen 
könnte, damit verschont zu bleiben. 

Die Vorschriften der Zwangswirtschaft tragen der Er¬ 
füllungsmöglichkeit nicht immer Rechnung. Es heißt schon 
in den geschriebenen Gewissen der gottesgläubigen Mensch¬ 
heit, der Bibel, daß „dem Ochsen, der da dresche, nicht 
das Maul verbunden werden solle“. Vor dem Kriege 
war es bei der Kaufmannschaft alter Brauch, die Angestell¬ 
ten bei dem eigenen Genuß von Nahrungs- und anderen 
Mitteln, mit denen sie umgehen, nicht wesentlich zu be¬ 
schränken. Andernfalls war es natürlich, daß sich die An¬ 
gestellten auch ohne Erlaubnis das nahmen, wonach zufällig 
ihre Wünsche gingen; sie nahmen es in um so größerer 
Menge, je mehr eie dies in mit Angst verbundener Heimlich- 


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Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 1399 


keit tun mußten. Gegen die Weisheit dieses Brauchs ver¬ 
stieß die alte Staatsregierung, und die neue Staatsregierung 
ist ihr hierin bis jetzt gefolgt, als sie der Landwirtschaft, 
den biblischen Ochsen, der da drischt, nur Ernährungsmengen 
zuwies, die zu ihrem Erhalt nicht genügten. Wer Körperlich 
schwer arbeitet, braucht viel Nahrung. Die Spannung zwischen 
Selbstversorger- und Versorgungsberechtigtenernährungs- 
menge war zu gering, um dieses größere Nahrungsbedürfnis 
auszugleichen. Die Landwirtschaft, mochten sich die erst¬ 
gekennzeichneten Kreise der Landwirtschaft auch noch so 
sehr dagegen sträuben, mußte sich das nehmen, , was • sie 
brauchte, und wenn sie damit auch gegen die Vorschriften 
der Zwangswirtschaft verstieß, und sie nahm es sich auch. 
Wollte solches der Arbeitgeber nicht verantworten, so ver¬ 
lor er seine Arbeitskräfte oder er wurde bestohlen. Hunger 
durchbricht fast bei jedem einzelnen die Schranken von Ge¬ 
setz und Moral. Positiv weiß ich es nur von altpreußisch 
denkenden Landräten und anderen Beamten gleichen Pflicht¬ 
gefühls, daß ihrem Pflichtbewußtsein auch der Hunger nichts 
angetan hat. In ihrer Mehrzahl hat sie aber die Grippe des 
Vorjahres dahingerafft. Der entkräftete Körper vermochte 
eben den Wirkungen der Krankheit keinen ausreichenden 
Widerstand entgegenzusetzen. 

Die Einschränkung der Ernährungsmengen der Landwirt¬ 
schaft über die Gebühr hinaus war aber auch aus einem an¬ 
deren Grunde falsch. Es trifft nicht zu, daß nicht genug 
Nahrungsmittel in Deutschland erzeugt werden, um jedermann 
sein zwar nicht reichliches, aber immerhin auskömmliches 
Durchkommen zu ermöglichen. Es ist wohl allgemein be¬ 
kannt, daß schon seit Jahren keine oder eine nur verschwin¬ 
dende Menge von Nahrungsmitteln in Deutschland aus dem 
Auslande hineingekommen ist. Die Tatsache, daß wir leben, 
beweist allein schon die Richtigkeit dieser Ansicht. Man 
setze die Todesfälle infolge Entkräftung, die nach Nachrichten 
für die Dauer des Krieges von maßgebender Seite auf 
l3/ 4 Millionen beziffert wurden, nicht auf das Konto der 
ungenügenden Erzeugung von Nahrungsmitteln, man setze 
sie auf das Konto der nicht ausreichenden Erfassung, die es 
ermöglichte, daß der wirtschaftlich Stärkere sich zu ungunsten 
des wirtschaftlich Schwächeren ebenso wie im Frieden mit 
Nahrungsmitteln eindeckte, und man wird damit das allein 
richtige gefunden haben. 

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1400 Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 


Die Vorschriften der Zwangswirtschaft trugen unter der 
früheren Regierung, noch tragen sie jetzt den Kosten der Er¬ 
zeugung ausreichend Rechnung. Die frühere Regierung hielt 
sie künstlich nieder, einmal, um nicht durch hoqe Nahrungs¬ 
mittelpreise allgemeine Unzufriedenheit zu erwecken, zum 
andern Mal, um dem feindlichen Ausland wohl zu zeigen, 
wie billig es in Deutschland trotz d£s Krieges hergeht. 
Beides ging von falschen Voraussetzungen aus. Der Ver- 
dienstmöglichkeiten gab es im Kriege so viele, daß Vermögen 
zusammengeschleppt wurden. Den wirtschaftlich Schwäche¬ 
ren hätte eben aus Reichsmitteln geholfen werden müssen, 
sobald ihr Einkommen in zu auffälliges Mißverhältnis zu 
. den Nahrungsmittelpreisen kam. Bei den Kosten, die der 
_Krieg 'Deutschland so wie so schon aufbürdete, kam es auf 
einige Milliarden Ausgaben mehr oder weniger nicht recht 
an. Der wohl angestrebte Versuch, dem feindlichen Ausland 
zu zeigen, wie billig es in Deutschland trotz des Krieges 
hergehe, war vollends falsch. Das feindlich^ Ausland war 
über uns zu allen Zeiten besser informiert, als wir über es 
und auch über uns selbst waren. Auch hierin wurde der 
Landwirtschaft, dem biblischen Ochsen, der da drischt, un¬ 
klugerweise das Maul verbunden. Die Folge war der Schleich- 
/> handel und das Schieberunwesen, diese „asiatische Pest“, 
die Deutschland bis in seine tiefsten Tiefen erschüttert und 
die, falls nicht schleunigst ein Gegenmittel gefunden wird, 
es zerstören wird. - 

Es ist darum verständlich, daß die Landwirtschaft dip 
Aufhebung der Zwangswirtschaft und die Einführung der 
freien Wirtschaft in der Ernährung durchaus erreichen will. 
Es fragt sich demgegenüber, wie sich die Verbraucherschaft 
dazu stellen soll und welcher Standpunkt, wenn die Verbrau¬ 
cherschaft zur Ablehnung dieser Bestrebungen kommt, bei 
Abwägung der beiderseitigen Interessen der Volksallgemein¬ 
heit mehr dient. Es ist allgemeiner Grundsatz der Rechts* 
lehre, daß die allgemeinen Interessen den Sonderinteressen 
voranzugehen haben. 

Die Frage ist für den Ernährungspolitiker, der pflicht¬ 
bewußter Leiter und nicht nur Vorführer der Volksmeinung 
sein will, schwer zu beantworten. Bei der Zwangswirtschaft 
war ein Pfad unter den Füßen, wenn ihn auch Dornen um¬ 
rankten; die freje Wirtschaft ist aber einer Hängebrücke 
vergleichbar, die halten aber .auch in den Abgrund stürzen 


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Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 140t 


kann. Für die Beantwortung der Frage ist man ausschließlich 
auf die Erfahrungen angewiesen, die bei den bisherigen teil¬ 
weisen Aufhebungen der Zwangswirtschaft gemacht worden 
sind. Diese sind für eine Aufhebung der Zwangswirtschaft 
nicht ermutigend. ' 

Im Frühjahr 1919 wurde die Zwangswirtschaft in Eiern 
aufgehoben. Bis dahin standen jedem Versorgungsberechtigten 
im allgemeinen 26 Eier im Jahr zu. Der Preis betrug zuletzt 
nach Nachrichten 50 Pfennig für ein Ei. Im allgemeinen 
sind diese 26 Eier im Jahr den-Versorgungsberechtig^en auch 
zugeführt. t Viel war es nicht. Immerhin bekam dabei jeder 
etwas. Nach Aufhebung der Zwangswirtschaft schnellte so¬ 
fort der Preis auf über eine Mark für das Stück, jetzt beträgt 
er 2,70 Mark. Im ganzen letzten Jahr habe ich kein Ei 
mehr gegessen — ich zähle noch nicht unbedingt zu den 
ganz Armen —, wie viel weniger haben sich die Bedürftigen 
ein Ei kaufen können. 

Vom 15. August 1919 wurde die Zwangswirtschaft in 
Hafer und in Hülsenfrüchten aufgehoben. Der Höchstpreis - 
für Hafer betrug bis dahin nach Nachrichten 20 Mark und 
für Hülsenfrüchte etwa 40—50 Mark für einen Zentner. Nach 
dem mir vorliegenden Wochenbericht der Preisberichtsstelle 
des deutschen Landwirtschaftsrats in Berlin vom 20. 'Januar 
1920 beträgt jetzt der Preis für Hafer 154 Mark und für 
Hülsenfrüchte im Höchstfall 430 Mark für einen Zentner. 

Im September 1919 wurde die Zwangswirtschaft in Leder 
aufgehoben. Der Preis für Frischfell betrug zuletzt nach 
Nachrichten eine Mark für das Pfund; zurzeit beträgt der 
Prei$ etwa 14 Mark für ein Pfund. Ein fertiges Paar Schuhe 
kostet damit jetzt etwa 300 Mark und ist bei diesem Preise 
für die Mehrzahl der Bevölkerung unerschwinglich. 

Die Preise von allem Freigegebenen schnellen, wie diese 
Beispiele lehren, sofort nach Aufhebung der Zwangswirtschaft 
etwa auf die Weltmarktpreise für Deutschland, auf die Preise 
also, für die Deutschland mit seiner niedrigen Valuta gleiches 
auf dem Weltmarkt erstehen kann. Der Weltmarktpreis für 
unser wesentlichstes Nahrungsmittel, das Brot, beträgt nach 
dem Stande vom 15. Januar 1920 und auf der von Krieg 
und Kriegsfolgen wohl am wenigsten mitgenommenen 
Getreidebörse in Neuyork nach dem genannten Wochen¬ 
bericht für Weizen 253,30 Mark, für Roggen 223,60 Mark 
für einen Zentner. 


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1402 Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 


Wahrscheinlich würde bei Aufhebung der Zwangswirtschaft 
der Preis in Deutschland noch höher stehen, als dieser 
Weltmarktpreis, weil Deutschland bei der Einfuhr im Inter¬ 
esse der Vermeidung weiterer großer Verschuldung gegenüber 
dem Auslande immerhin Zurückhaltung üben müßte, die 
Nachfrage also dauernd das Angebot übersteigen würde. 

Gleiche Preiserhöhungen wären auch für die übrigen Nah¬ 
rungsmittel, wie Fleisch, Fett und dergleichen zu erwarten. 
Die Weltmarktpreise für diese Nahrungsmittel stehen mir 
augenblicklich nicht zur Verfügung. 

Welchem auch nur etwas weitblickenderen Deutschen kann 
es zweifelhaft sein, daß eine Erhöhung der Preise für Nah¬ 
rungsmittel der Allgemeinheit auf den Weltmarktpreis glatt 
die Verhungerung von einem Drittel der Gesamtheit Deut¬ 
scher zur Folge naben würde? Daß die Einkommensverhält¬ 
nisse einer solchen außerordentlichen Erhöhung Schritt halten 
können, ist ausgeschlossen. 

Bei dieser Sachlage erübrigt es sich, auf ein Abwägen 
der gegenseitigen Interessen der beiden Gruppen, wie sie 
einerseits die Landwirtschaft und andererseits die Verbraucher¬ 
schaft darstellen, einzugehen. Das Interesse der Volks- 
allgemeinheit verlangt es, daß nicht ein Drittel der Gesamt¬ 
heit Deutscher dem Hungertode ausgeliefert, daß wegen der 
Erschütterungen, denen das junge Staats wesen dann aufs 
Neue ausgeliefert würde, es dem allgemeinen Chaos aus¬ 
geliefert wird. Bei einem solchen hätte die Landwirtschaft 
mehr zu verlieren, als die Verbraucherschaft. 

Kommt man daher zu einer entschiedenen Ablehnung der 
Einführung der freien Wirtschaft und zu dem Wunsche nach 
Beibehaltung der Zwangswirtschaft, so wird man zum Zweck 
des Versuchs des Wiederverstehens beider Interessenten¬ 
gruppen der Untersuchung der Frage nähertreten müssen, Vie 
man die vielfachen Dornen auf dem bisherigen Pfade der 
Zwangswirtschaft beseitigen oder doch mindestens beschrän¬ 
ken kann. 

Ich glaube, diese Frage ist zu lösen. Die Antwort kann 
nur sein, „fort mit dem Verband des Mauls“. 

Man beseitige die schon fü,r den Ernährungspolitiker schwer 
unterscheidbaren einzelnen vielen Vorschriften, ersetze sie 
durch weniger komplizierte, kurze, klare, damit jedermann sie 
begreift und behält und nicht das Gefühl zu haben braucht, 
tagtäglich mit einem Fuß im Gefängnis zu stehen. 


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Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 1403 


Man wird dadurch den Respekt vor dem Gesetz, der bei den 
Vorschi jften über die Zwangswirtschaft nahezu vollkommen 
erloschen ist, zwar nicht sofort wieder beleben, immerhin 
aber einen weiten Schritt dazu tun. 

Man stelle die Landwirtschaft in der Ernährung so, daß 
sie es nicht nötig hat, heimlich, sich an Vorräten zu vergreifen, 
die eigentlich der Volksallgemeinheit gehören. Bei der Heim¬ 
lichkeit, mit der das bisher geschehen mußte, war es un¬ 
vermeidlich, daß dabei mehr um die Ecke ging, als dies 
normal der Fall zu sein brauchte. Was die Landwirtschaft 
zu ihrer eigenen Ernährung, zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft 
braucht, wird sie sich ja doch nehmen, und mag dieses auch 
noch unter so harte Strafen gestellt sein. Ich sagte schon, 
daß der Hunger wohl fast bei jedem einzelnen die Schranken 
von Gesetz und Moral durchbricht. Wozu also sich gegen 
etwas sperren, was einer Elementargewalt vergleichbar ist? 

Män gebe der Landwirtschaft für ihre Arbeit ausreichenden 
Verdienst, damit sie nicht nur reichlich ihre Unkosten deckt, 
sondern darüber hinaus auch noch Rücklagen machen kann. 
Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Erhält er nicht einen 
solchen Lohn, so folgt in der Mehrzahl aller Fälle ein 
Abirren auf Wege, die mit Gesetz und Moral kollidieren 
müssen. Was ausreichenden Verdienst darstellt, könnte alle 
Jahre oder alle halbe Jahre provinziell durch Spruchkammern 
ermittelt und mit Rechtsnorm festgestellt weiden. Eine ein¬ 
heitliche Regelung für das gesamte Reich ist wegen Ver¬ 
schiedenheit der Verhältnisse der einzelnen Provinzen oder 
Länder nicht möglich, auch nicht erforderlich. 

Hat man dies getan, so fällt für die Landwirtschaft jeder 
Grund fort, auf Abwegen sich noch besondere Vorteile zu 
verschaffen. Letzteres würde selbst in der Mehrzahl der 
Kreise der Landwirtschaft dann scharf verurteilt werden. 
Auch in diesen Kreisen würde man es als durchaus richtig 
finden, daß Landwirten, die auf Abwege geraten, nun — 
bildlich gesprochen — das Genick zehnmal umgedreht wird. 
Je härter alsdann die Strafen wären, desto mehr Billigung 
fänden sie auch bei der Allgemeinheit, die noch stets Ver¬ 
ständnis dafür gezeigt hat, wenn es galt, unter Unterdrückung 
des Humanitätsdusels einen Volksschädling zu beseitigen. 

So weit wir gottgläubig sind, beten wir oft: „Und führe 
.uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel.“ 
Es genügt nicht schlechthin schon die Durchführung der 


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1404 Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 

von mir angeregten Maßnahmen, um ein Abirren eines Teils 
der Landwirtschaft von dem ' richtigen Pfade unmöglich zu 
machen.. Man soll die Landwirtschaft auch von dem Uebel 
der Versuchung befreien. Unter Versuchung meine ich den 
Schleichhandel und das Schieberunwesen, das ich als „asia¬ 
tische Pest“ bezeichnet habe, das teuflische Ungeheuer, das, 
ich glaube, es ist ein Max Klingersches Bild, welches es 
darstellt, durch die Wohnstätten fahrend, die Menschheit 
mit seinem Pesthauch vergiftet. Deutschland ist durch dies 
Ungeheuer bis in seine tiefsten Tiefen hinein erschüttert. 
Es kann der Totengräber für das Reich werden, wenn nicht 
bald ein Mittel zu seiner Vernichtung gefunden wird. 

Das Mittel liegt klar für mich zutage. Es fehlte bisher 
nur die Anwendung. Ich sehe als solches Mittel die Auf¬ 
hebung des Postgeheimnisses für Pakete lind des Bahn¬ 
geheimnisses für Frachtstücke an. Beides ist durch die Reichs¬ 
verfassung geschützt. Beides soll ohne Not nicht freigegeben 
werden. Wenn aber jemand sich schon in Todeskrämpfen 
windet, und in dieser Lage befindet sich Deutschland jetzt 
und würde sich zum Teil auch noch dann befinden, wenn 
meine Vorschläge durchgeführt würden, so ist es töricht, 
nicht nach dem letzten lebenerhaltenden Mittel zu greifen. Die 
bisherige Bekämpfung des Schleichhandels und des Schieber¬ 
unwesens hatte keinen oder nur geringen Erfolg und dies 
wird auch künftighin so sein. Bei der bisherigen Bekämpfung 
betraf man im allgemeinen nur die sogenannte Schleich¬ 
versorgung, die die Schliche nicht kennt, deren sich der 
Schleichhandel und das Schieberunwesen bedient. Wenn ab 
und zu auch ein Schleichhändler oder ein Schieber von dem 
Arm des Gesetzes erreicht wurde, so war es sicher ein 
Neuling, der gleichfalls die Schliche der eigentlichen Schleich¬ 
händler oder Schieber noch nicht kannte. Die Zulassung 
der Revision der Postpakete oder der Frachtstücke vor dem 
Aufgabeschalter genügt eben zur Verhinderung der un¬ 
berechtigten Versendung nicht. Schleichhändler und Schieber 
begeben sich ohne genügende Sicherheitsmaßnahmen durch 
Voraussendung von Warnungsposten mit ihren Post- und 
Frachtstücken, die eine Beschlagnahme durch die Ueber- 
wachungsbeamten lohnend gestalten möchten, nicht zur Post 
oder Bahn. Sie tun dies erst, wenn für sie damit keine Ge¬ 
fahr verbunden ist. Dauernde Ueberwachung der Aufgabe¬ 
stellen durch Ueberwachungsbeamte scheitert aber an der 


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Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 1405 


mangelnden Anzahl solcher. Nach Aufhebung des Postgeheim¬ 
nisses für Pakete und des Bahngeheimnisses für Frachtstücke 
läge die Möglichkeit der stichweisen Prüfung des Inhalts 
auch innerhalb der Schalterräume der Aufgabestellen vor. 
Vor Abgang jeder Post und jeden Zuges brauchte also 
sich nur ein Oeberwachungsbeamter zu den Aufgabestellen 
hinzubegeben, um einzelne Postpakete und Frachtstücke nach¬ 
prüfend, genug Unsicherheit in die Reihen der Schleichhändler 
und Schieber nineinzutragen, daß sie ein Risiko des Ertappt¬ 
werdens, welches härteste Strafen, bis zur Züchtigung an 
Leib und Leben haben müßte, für die Folge nicht mehr zu 
tragen gewillt sind. Scharfe Ueberwacnung des Reise¬ 
verkehrs wäre wie bisher, so auch für die Folge nötig, 
damit der Schleichhandel und das Schieberunwesen nicht 
den Weg des Reiseverkehrs nimmt, nachdem der Weg des 
Versands ihm unterbunden ist. Damit befreite man wohl 
in der Hauptsache die Landwirtschaft von dem Uebel der 
Versuchung, nach Gewährung ausreichenden Verdienstes für 
ihre Arbeit doch noch auf Abwege zu geraten. Die Hebung 
des Gewissens der zum Teil leider schon korrupten Beamten¬ 
schaft bliebe dann zwar auch noch zu tun. Immerhin bleibt 
dies im Rahmen dieser Erörterung von nebensächlicher Be¬ 
deutung. Ich werde darauf,' wenn möglich, später an der 
gleichen Stelle zurückkommen. 

Die Gewährung eines ausreichenden Verdienstes an die 
Landwirtschaft hat indes auch ihre Gefahren. Auf diese muß 
eingegangen werden, wenn diese Erörterung erschöpfend sein 
soll, wenn die geheimen Fäden von Wirkung und Gegen¬ 
wirkung bloßgelegt werden sollen. 

Die erste Gefahr besteht darin, daß die Grundstückspreise 
noch weiter ansteigen. Es ist leider keine Seltenheit, daß 
für den Morgen rein landwirtschaftlichen Bodens schon 1000 
Mark gezahlt werden. Ich sage leider, weil bei einem weiteren 
Ansteigen der Gründstückspreise der zwischenzeitliche Käu¬ 
fer auch bei einer sonst ausreichenden Verdienstgewährung 
nicht mehr auf seine Kosten kommen könnte, geschweige denn 
etwas erübrigt. Ich bin in diesem Punkt reichlich radikal. 
Die Erde ist kein Menschheitswerk, sondern Gotteswerk. 
Die Menschheit hat die Erde so übernommen, wie sie noch 
heute besteht. Sie hat sie höchstens veredelt, kultiviert. 
Es widerspricht dem Eigenzweck, wenn mit einem Gottes- 

*5'2 


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1406 Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 

werk gehandelt wird. Die Erde soll dem Menschen nur 
Nahrung geben nach dem Bibelwort: „Im Schweiße deines 
Angesichts sollst du dein Brot essen“, sie soll seinen irdischen 
Leib die Ruhestatt geben, wenn das Ueberirdische, das, was 
wir Menschen Seele nennen, die geheimnisvolle Kraft, die 
Leben an sich bedeutet, nach langem Lebenslauf müde zum 
Urbronn zurückstrebt. Carmen Sylva, die verstorbene Köni¬ 
gin von Rumänien, hat treffend die Bedeutung des Menschen 
auf der Erde gekennzeichnet, v^ivenn sie in einem tiefempfun¬ 
denen Vers, der auch das Kreuz des Friedhofs der von 
der See an das Land gespülten ertrunkenen Namenlosen auf 
Helgoland ziert, von dem Menschen als einem „Nichts“ 
spricht, das vom Strom der Zeit an das Erdeneiland gespült 
sei. Nicht immer war es so, daß mit der Erde, dem Gottes¬ 
werk, gehandelt wurde. Sie gehörte zunächst allen Menschen 
gemeinsam. Erst in späterer Zeit entwickelte sich ein Fami¬ 
lien-, ein Horden-, ein Stammeseigentum, um später wieder 
dem Familien- und dann dem Einzeleigentum Platz zu machen. 
Ich fände darum nichts, wenn das Einzeleigentum in Deutsch¬ 
land einem Reichseigentum Platz machte, unter ausreichender 
Entschädigung des Einzeleigentümers natürlich, der dann für 
die Folge nur Pächter bliebe und Eigentum nur daran be¬ 
säße, was er erzeugt, erbaut oder am Erzeugten oder Erbauten 
erkauft. Die bisherigen Maßnahmen der neuen Regierung, 
wie Vorkaufsrecht, Aufhebung der Bindung von Besitz, Siede- 
lung und dergleichen, haben nur den Zweck, einer vergrößer¬ 
ten Anzahl der «deutschen. Bevölkerung das Sehnen nach 
eigener Scholle zu befriedigen. Der üeberführung des Eigen¬ 
tums an Grund und Bodejj im Reich auf dieses, treten sie 
nicht näher. Fortdauernde Steigerung der Bodenpreise bringt 
mit Naturnotwendigkeit auch eine Steigerung der Nahrungs¬ 
mittelpreise, weil sonst sich das Anlagekapital nicht verzinst. 

Die zweite Gefahr besteht in der Notwendigkeit, das so¬ 
genannte Existenzminimum den jeweiligen Preisen für Nah¬ 
rungsmittel anzupassen. Diese Gefahr ist nicht so groß. 
Sie läßt sich durch Einrichtung provinzieller Spruchkammern 
beseitigen, die bei jeder regelmäßigen Erhöhung der Preise 
für Nahrungsmittel auch das Existenzminimum der einzelnen 
Verbraucherkreise feststellt und die Reichsregierung da 
zur Unterstützung veranlaßt, wo das Existenzminimum nicht 
erreicht wird. 

Bindet man die Landwirtschaft dauernd an die Zwangs- 


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Herzhafte Politik; 


1407 


Wirtschaft in der Ernährung, so ist es folgerichtig, auch 
Handel und Gewerbe an Höchstpreise zu binden und diese 
in Wechselbeziehung zu den Höchstpreisen der Landwirt¬ 
schaft zu bringen, die ihrerseits wieder in Wechselbeziehung 
zu den Einkommens Verhältnissen der Versorgungsberechtigten 
stehen. 

Ich bin am Schluß meiner Erörterung. Ich bin weder 
Phantast noch unfruchtbarer Ideolog. Ich entbehre auch 
der Eignung zum Weltverbesserer, der seine eigene Ueber- 
zeugung als die allein richtige ansieht. Mir fehlt ferner 
jedes Talent zum Fabulieren, weil ich nicht im Besitz von 
Frohnatur bin, die Voraussetzung dessen ist. Die Verhältnisse 
aber, wie sie gegenwärtig sind, wie ich sie beurteile und 
wie sie nicht sein sollen, wenn nicht das Chaos kommen soll, 
haben mir den Schreibstift in die Hand gedrückt, um Rufer 
im Streit zu werden, um einen Meinungsaustausch herbeizu¬ 
führen, der vielleicht eine Klärung dessen bringt, was unter 
den obwaltenden Verhältnissen als Erstes zu tun bleibt, 
um nicht rettungslos dem Chaos, dem Bolschewismus, der 
Rätediktatur zu verfallen. Ich werde darum jede Aeußerung 
zu dieser Erörterung gerne begrüßen. Die Redaktion wird 
die freundliche Vermittlung dafür übernehmen. 

Der Bestand des Reichs, die Volksallgemeinheit über alles, 
über jedes 'Sonderinteresse, über uns. Nur unter diesem 
Zeichen können wir uns retten! 


M. PERTZBORN: 

Herzhafte Politik. 


I T NSERE gegenwärtige inner- wie außenpolitische Lage 
• rechtfertigt nichts weniger als einen zukunftsfrohen Opti¬ 
mismus, viel eher läßt es sich begreifen, daß die Schwarz¬ 
seherei immer mehr Anhänger, findet. Auch für weite Kreise 
unserer Partei trifft das zu. Der bedauerliche Zwiespalt 
innerhalb des Sozialismus verstärkt diese pessimistische Stim¬ 
mung natürlich noch sehr. Auch in- unserer Presse macht 
sich ein gewisser elegischer Ton geltend. So begreiflich 
das nun auch sein mag, so schädlich könnte es‘doch für die 
Partei und die Sache des Sozialismus werden. Nur zu leicht 
könnten solche Stimmungen lähmend auf die Einflußfähig- 

45/2* 


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140$ 


Herzhafte Politik. 


keit der Parteiinstanzen wirken und eine gewisse Aengstlich- 
keit und Zaghaftigkeit in unsere Politik hineintragen, wodurch 
ihr Erfolg von vornherein stark gefährdet wäre. Nur der 
Mutige kann sich auch in der politischen Welt durchsetzen. 
Treiben wir also keine zaghafte, sondern eine herzhafte 
Politik. Damit soll jedoch keinem unbesonnnenen, allzu stür¬ 
mischem Draufgängertum das Wort geredet werden. Es 
ist nun einmal so, daß die Umwandlung der kapitalistischen 
in die'sozialistische Wirtschaft nicht von heute auf morgen 
geschehen kann. Nicht einmal dann wäre es der Fall, wenn 
Wirtschaft eine bloß nationale Sache wäre, um so weniger 
bei der Verkettung der Wirtschaften über die ganze Welt. 
Jedoch darf verlangt werden, daß mit rascher Entschlossenheit 
alles getan wird, was geeignet ist, der allgemeinen Sozia¬ 
lisierung die Wege zu ebnen. Aber, welches sind diese vor¬ 
bereitenden Schritte, die zum Sozialismus führen sollen? 

Ich darf wohl sagen, daß das Ziel des Sozialismus wesent¬ 
lich in einem zweifachen besteht: zum ersten will er die Aus¬ 
beutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen 
auf heben und immöglich machen und zum zweiten durch Zu¬ 
sammenfassung der Produktivkräfte die Produktion verviel¬ 
fältigen und die Welt mit Gütern bereichern. Beides soll 
zugleich erreicht werden durch die Sozialisierung. Diese 
ist also nicht der Sozialismus schlechthin, sondern nur das 
Mittel, ihn herbeizuführen. Die Gütervermehrung kann in 
dem gewünschten Maß nur durch Sozialisierung er¬ 
reicht werden, das ist ihr positives Ziel; ihr negatives Ziel, 
die Beseitigung der Ausbeutungsmöglichkeit, kann sehr weit¬ 
gehend auch schon innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft 
erreicht werden. Damit aber wäre ein bedeutendes, wenn 
nicht das bedeutendste Hindernis zur Sozialisierung beseitigt; 
denn eben die Ausbeutungsmöglichkeit veranlaßt ihre Nutz¬ 
nießer, den Kapitalismus bis zum letzten zu verteidigen. 
Bestände diese Möglichkeit nicht mehr, so wären die bis¬ 
herigen Ausbeuter weit eher bereit, mit den andern den all¬ 
gemeinen Vorteil in der Sozialisierung zu suchen. 

Das Ergebnis der Ausbeutung erscheint in der Form des 
arbeitslosen Einkommens. Dieses ist dreifach: die Grund¬ 
rente, der Kapitalzins und der Monopolgewinn. Die Grund¬ 
rente wollen die radikalen Bodenreformer beseitigen durch 
Aufkauf allen, Bodens durch den Staat und* Verpachtung an 
die Meistbietenden. Dieser Weg kann zurzeit nicht beschritten 


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Herzhafte Politik. 


1409 


werden. Es muß versucht werden, auf dem Wege der Be¬ 
steuerung die Bodenrente der Allgemeinheit zuzuführen. Das 
wird erreicht, wenn man nicht wie bisher, die produktive 
Arbeit, sondern das Produktivmittel, hier den Boden, be¬ 
steuert. Dazu bedarf es nicht einmal der Einführung einer 
neuen Steuer, vielleicht der Wiedereinführung der Staats¬ 
grundsteuer. Es wäre nur notwendig, bei der Reichseinkom¬ 
mensteuer einen Mindesteinkommensertrag pro Hektar fest¬ 
zulegen, unter den bei der Einschätzung eines Einkommens 
aus der Landwirtschaft die Abschreibungen nicht gehen dürf¬ 
ten. Dann könnte es nicht mehr Vorkommen, daß’ Besitzer 
großer Güter keine Einkommensteuer zahlten. In dieser 
Mindestbesteuerung müßte das Recht aller auf die Erde in 
etwa zur Geltung kommen. Wenn es Güterbesitzer geben 
sollte, die infolge schlechter Wirtschaft diese Steuer nicht 
aufbringen könnten, dann wäre es nötig, ihre Güter in bessere 
Hände zu bringen. Sie könnten zur Ansiedlung von Klein¬ 
bauern benutzt werden. Das größte Hindernis, das dieser 
Besteuerung des Bodens bisher im Wege stand, war die 
Verschuldung der Grundbesitzer. Diese dürfte ja jetzt lange 
nicht mehr in dem Maße bestehen wie vor dem Krieg. Aber 
auch davon abgesehen, sollte der Hypothekenzins für eine 
soziale Steuergesetzgebung kein ewiges Hindernis bilden 
dürfen. Vielmehr wäre es an der Zeit, dem Zins, dem 
zweiten und bedeutendsten Bestandteil des arbeitslosen Ein¬ 
kommens zu Leibe zu rücken. 

Solange die Warenwirtschaft nicht in die sozialistische 
Bedarfswirtschaft restlos übergeführt sein wird, kann auch 
das Geld nicht verschwinden, und solange wird auch der Zins 
bestehen bleiben; es müßte denn möglich sein, durch eine 
Aenderung der Geldverfassung den Zins zu beseitigen oder 
ihm eine andere Form zu geben. Dieses erstrebt Silvio Gesell 
in seiner Geldreform, für die ich ein Wort einlegen möchte, s 
trotz der abfälligen Kritik, die vor einiger Zeit in der 
„Glocke“ an derselben geübt worden ist. Daß Herr Gesell 
sich als Antisozialist einführt, ist gewiß nicht klug von 
ihm, da er doch nicht erwarten kann, daß die Sozialdemo¬ 
kraten, an die er sich bei seiner Propaganda für die Geld¬ 
reform in erster Linie gewandt hat, ihm zuliebe ihren ganzen 
Ideenbestand auf den Kopf stellen, daß sie den verspotteten 
Marx fallen lassen und nun alle Begeisterung dem neuen 
Propheten zuwenden sollen. Andererseits meine ich, bekämpfe 


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1410 


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Herzhafte Politik. 


man eine gegnerische Bewegung dadurch am besten, daß man 
das Richtige in derselben herübemimmt. Wenn es aber ge¬ 
lingen sollte, das Geld durch die vorgeschlagene Reform 
dem Mißbrauch, der mit ihm zu allen Zeiten und namentlich 
auch wieder in jüngster Zeit getrieben worden ist, zu ent¬ 
ziehen und seine Funktion ganz anders wie bisher in den 
Dienst der Allgemeinheit zu stellen, namentlich den Zins 
in den allgemeinen Lohnfonds überzuführen, so. wäre das 
ein ungeheurer Schritt zum Sozialismus. Ich möchte daher 
die Leser dringend bitten, sich durch die antisozialistischen 
Bemerkungen Gesells nicht abhalten zu lassen, seine Geld¬ 
reform zu studieren, nicht-einer Theorie zuliebe, sondern 
aus dem Streben heraus, jeden Vorschlag zu prüfen, der 
vorgibt, die Menschheit aus dem Joche des Kapitalismus zu 
befreien. 

Da? dritte Element des arbeitslosen Einkommens ist der 
Monopolgewinn. Solange die Warenwirtschaft nicht völlig 
beseitigt ist, muß auch der Unternehmergewinn bestehen 
bleiben. In diesem ist an sich der Wucherkapitalismus noch 
nicht zu suchen. Der Unternehmergewinn enthält wieder 
mehrere Bestandteile: 1. die Grundrente, 2. den Kapitalzins, 
3. den Arbeitslohn des Unternehmers und endlich 4. eine 
Risikoprämie für das eingesetzte Kapital. Letztere ist nicht 
mit dem Kapitalzins zu verwechseln und bleibt bestehen, 
auch wenn der Kapitalzins, der nichts anderes ist als der aut 
das Realkapital übertragene Geldzins, durch die Geldreform 
beseitigt wäre. Arbeitslohn des Unternehmers und Risiko¬ 
prämie sind die einzig berechtigten Elemente des Unter¬ 
nehmergewinns. Zeigten dieselben ^iach Beseitigung der bei¬ 
den ersteren unsozialen Bestandteile noch immer eine un¬ 
angemessene Höhe, so wäre zu untersuchen, worauf das be¬ 
ruhte. Die Ursache wäre jedenfalls eine Monopolstellung 
des Unternehmers, und hier käme dann eine Sozialisierung 
mit Recht in Frage. 

Zum Schluß noch ein Gedanke und ein Vorschlag für 
eine sofortige, herzhaft politische Maßnahme. Das Wahr¬ 
zeichen unserer augenblicklichen jammervollen Lage ist die 
Geldentwertung. Sie beruht neben der Warenknappheit auf 
der riesigen Vermehrung des gedruckten Geldes. Durch letz¬ 
tere sucht man vor allem die Möglichkeit zu schaffen zur 
beständigen Auffüllung der zu niedrigen Einkommen; aller¬ 
dings mit dem Erfolg, daß der Realwert der Geldeinkommen 


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Sozialisierung des Schulbuchhandels. 


1411 


auf eine Tiefe sinkt, daß die nominale Steigerung mehr als 
ausgeglichen ist. Warum beschreitet man nicht endlich den 
umgekehrten Weg und setzt die hohen Einkommen auf einen 
solchen Stand herunter, daß auch für ihre Inhaber die 
Opferzeit endlich beginnt? Nur das könnte sozial versöhnend 
und den Aufbau föraernd wirken. 


Oberlehrer Dr. ERICH WITTE: 

Sozialisierung des Schulbuchhandels. 

ZIEGEN Ende des Jahres 1918 ging durch die Presse eine 
Notiz, nach der im Ministerium für Wissenschaft, Kunst 
und Volksbildung beabsichtigt sei, ein Monopol für Schul¬ 
bücher herzustellen. Dieser Nachricht ist nicht widersprochen 
worden. Am 2. Juni 1919 wurde in der verfassunggebenden 
Preußischen Landesversammlung von der Deutschen Volks¬ 
partei die Anfrage gestellt, ob eine Sozialisierung des Schul¬ 
buchhandels in Aussicht genommen worden sei. Der Minister 
Haenisch erklärte: „Der Qedanke , das ganze Schulbuchwesen 
zu monopolisieren und dadurch den kapitalistischen Privat¬ 
unternehmern ihre Gewinne zugunsten der Gesamtheit zu 
nehmen, ist gerade für mich als Sozialisten sehr sympathisch , 
ist durchaus gesund und ernster Erwägung wert. Aber ich 
kann auf der anderen Seite leider nicht verkennen, daß sich 
zur Zeit der Verwirklichung dieses gesunden und ernsten Ge¬ 
dankens noch eine Reihe ernster Hemmnisse in den Weg 
stellen.“ Er erklärte, ihm ständen hierfür nicht die genügende 
Zahl pädagogischer Fachleute zur Verfügung. 

Schon jetzt mit der Sozialisierung des Schulbuchhandelsr'zu 
beginnen , ist auch deshalb unmöglich , weil erst die Schul- . 
reform abgewartet werden muß. Viele Schulbücher, besonders 
die Geschichtsbücher, müssen neu bearbeitet oder durch - 
andere ersetzt werden. Die Richtlinien dafür werden in der 
Reichsschulkonferenz oder der Landesschulkon.'erenz festge¬ 
setzt werden. Erst nachdem dies geschehen ist, kann die 
Sozialisierung des Schulbuchhandels in Angriff genommen 
werden, da doch der Staat oder die Gemeinden nicht Schul¬ 
bücher herausgeben können, die nach einem Jahr veraltet sind. 


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1412 


Sozialisierung des Schulbuchhandels. 


Wenn auch augenblicklich noch nicht der Zeitpunkt für die 
Sozialisierung des Schulbuchhandels gekommen ist, so ist dies 
an und für sich doch ein guter Gedanke, dessen Verwirk¬ 
lichung für Sozialisten selbstverständlich ist. Aber nicht nur 
diese sollten ihm sympathisch gegenüberstehen. Manche bur< 
gediehen Parteien haben sich im Wahlkampf für die Soziali¬ 
sierung von Betrieben ausgesprochen, die dafür reif sind. Wo 
träfe dies aber so zu wie beim Schulbuchhandel, den einige 
Firmen fast monopolartig beherrschen, (z. B. Teubner, Waid- 
mannsche Buchhandlung, Velhagen & Klasing). Die Ver¬ 
dienste dieser Verlagsbuchhandlungen würden dann den Ver¬ 
fassern, welche oft mit einem ganz kläglichen Honorar abge¬ 
speist werden, sowie den Angestellten und Arbeitern zugute 
kommen. 

Manche Mißstände, die sich beim Schulbuchhandel heraus¬ 
gestellt haben, könnten sofort beseitigt werden. Von manchen 
Büchern erscheinen verschiedene Ausgaben, für Knaben- und 
Mädchenschulen, oder Gymnasien, Realgymnasien und Ober¬ 
realschulen, für die zweifellos oft eine Berechtigung vorliegt. 
-Bei manchen dieser Bücher geschieht dies aber nur deswegen, 
damit .Geschwister, die verschiedene Schulen besuchen, das¬ 
selbe Buch nicht gebrauchen können, die Eltern dieses daher 
in den verschiedenen Ausgaben anschaffen müssen, nur damit 
der Verleger mehr Geld verdient. So gibt es z. B. von dem 
bei Velhagen & Klasing erschienenen französischen Lesebuch 
„Le France et les Francais“ zwei Ausgaben, A und B, bei 
denen eine Reihe von Lesestücken verschieden ist, daher ist 
es fast unmöglich, beide in derselben Klasse gebrauchen zu 
lassen. Ein alter Trick der Verleger besteht ferner darin, in 
einem Lehrbuche bei einer neuen Auflage Veränderungen vor¬ 
nehmen zu lassen, die sachlich nicht gerechtfertigt sind, son¬ 
dern nur den Zweck haben, die Benutzung der älteren Aus¬ 
gabe bei einem jüngeren Bruder oder einer jüngeren 
Schwester unmöglich zu machen. Diese Uebelstände ver¬ 
schwinden bei solchen Büchern, welche vom Staat oder einer 
Gemeinde herausgegeben werden. 

Die Buchhändler Sind selbstverständlich gegen eine solche 
Sozialisierung des Schulbuchhandels. Im Börsenblatt für den 
deutschen Buchhandel wurde eine Eingabe von 18 Buchhänd¬ 
lervereinigungen abgedruckt, in der gegen eine Verstaat¬ 
lichung des Schulbuchhandels Protest erhoben wird. Es wer¬ 
den die verschiedensten Nachteile angegeben, die dieselbe 


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Sozialisierung des Schulbuchhandels. __ 1413 

zur Folge haben würde. Das ist aber nicht verwunderlich. 
Es werden immer diejenigen dagegen sein, die sozialisiert 
werden sollen. Sie wären ja Narren, Wenn sie nicht dagegen 
""Sturm laufen würden, daß ihnen ihre Piivatvorteile genommen 
werden. 

Für den Privat-Verlagsbuchhandel mit Schulbüchern wird 
angeführt, daß die großen Verdienste der großen Verlags¬ 
buchhändler diese in den Stand setzen, wissenschaftliche 
Werke herauszugeben, die nicht viel einbringen und daher gar 
nicht veröffentlicht werden könnten. Darauf ist zu entgegnen, 
daß es zwar häufig vorkommt, daß Bücher veröffentlicht 
werden, bei denen die Verleger zusetzen, weil sie sich ver¬ 
rechnet haben, daß der Fall aber selten sein dürfte, daß 
Buchhändler wissenschaftliche Werke verlegen, bei denen sie 
sicher sind, daß .sie Geld zusetzen. Meist geschieht dies 
dann nur, weil sie keinen Korb einem Schriftsteller geben 
wollen, von dem sie andere gutgehende Bücher herausgeben, 
von dem sie fürchten, daß er Amen sonst untreu wird. Er 
könnte sich mit einem anderen Buche, das einen buchhändle¬ 
rischen Erfolg verspricht, an einen andern Verlag wenden. Im 
übrigen kann der Staat oder eine große Gemeinde, wenn bei 
Schulbüchern Geld verdient wird, dies dazu benutzen, wissen¬ 
schaftliche Werke herauszugeben, bei denen die Unkosten 
nicht herauskommen. 

Wenn behauptet worden ist, daß kleine Buchdruckereien 
und Buchbindereien , welche hauptsächlich von der Herstellung 
von Schulbüchern leben, mit einem Male zugrunde gerichtet 
werden würden, so ist darauf zu erwidern, daß sie von dem 
Staat oder einer Gemeinde angekauft werden können, wodurch 
die Angestellten und Arbeiter gewinnen würden, oder aber 
daß sie in dem Besitz der bisherigen Inhaber bleiben und in 
ihnen weiterhin Bücher gedruckt oder gebunden werden, 
nur nicht für Verleger, sondern für den Staat oder Hie 
Gemeinden. 

Am 2. Juni ist in der Preußischen Landesversammlung von 
den bürgerlichen Gegnern der Sozialisierung des Schulbuch¬ 
handels auch behauptet worden, diese bedeute Uniformierung. 
„Wir müssen es ablehnen, daß uns vielleicht durch eine in 
ihrer Weltanschauung einheitliche Regierung eine einheitliche 
Weltanschauung aufoktroyiert wird.“ (Frau Poehlmann von 


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1414 


Sozialisierung des Schulbuch handeis. 


der Deutschen Demokratischen Partei.) Das hört sich an, als 
ob beabsichtigt sei, z. B. für den ganzen preußischen Staat 
nur ein einziges Lesebuch oder ein einziges Geschichts¬ 
buch herauszugeben. Davon kann natürlich nicht die Rede 
sein. Es müssen z. B. provinzielle Eigentümlichkeiten berück¬ 
sichtigt werden . Ein in Berlin gebrauchtes Lesebuch wird 
z. B. Beschreibungen der Umgebung der Reichshauptstadt 
bringen, ein in Westfalen benutztes, die Heidelieder von 
Anette von Droste-Hülshoff. Auch der provinzielle Dialekt 
soll im Lesebuch nicht fehlen. Ebenso empfiehlt es sich, Ge¬ 
schichtsbücher für die verschiedenen Provinzen verschieden 
zu gestalten, damit auch die Geschichte der engeren Heimat 
der Schüler und Schülerinnen berücksichtigt wird.- In der 
Schweiz, wo in den meisten Kantonen die Schulbücher nicht 
von Privatverlegern herausgegeben werden, haben fast alle 
Kantone verschiedene Lesebücher. Aber noch aus anderen 
Gründen müssen Staat Und Gemeinden verschiedene Bücher 
für dasselbe Fach verlegen. Die Lehrer wählen je nach ihrer 
Individualität verschiedene Lehrbücher. Hierzu sollen sie auch 
weiterhin Gelegenheit haben. Es soll auch weiterhin in jedem 
Lehrerkollegium durch eine Fachkonferenz das Lehrbuch be¬ 
stimmt werden. , ' 

Ebenso so\\ durch eine Sozialisierung des Schulbuchhandels 
nicht der freie Wettbewerb der einzelnen Schulbuchautoren 
- unterbunden werden. Es sollen aber bei der Entscheidung 
über die Wahl für die Herausgabe allein pädagogische Gründe 
maßgebend sein. Daher würde sich vielleicht das folgende 
Verfahren empfehlen: Der Staat oder eine große Gemeinde, 
wie z. B. Groß-Berlin, erläßt ein Preisausschreiben für ein 
bestimmtes Schulbuch, z. B. für ein Geschichtsbuch. Es 
werden bestimmte Richtlinien für die Bearbeitung veröffent¬ 
licht. Für die Prüfung der eingehenden Ausarbeitungen wird 
ein Ausschuß von Pädagogen festgesetzt, welcher die Auf¬ 
gabe hat, die Entscheidung zu treffen. Die besten Bü¬ 
cher werden dann herausgegeben. Die einzelnen Manu¬ 
skripte müssen mit einem Stichwort versehen sein. 
Erst nach Entscheidung der Kommission wird fest¬ 
gestellt, welches die Namen der Autoren sind. 

Natürlich kann eine kleine Gemeinde nicht ein sol¬ 
ches Preisausschreiben erlassen, sie muß daher ihren 
Bedarf von einer anderen beziehen oder sich mit anderen 
zusammentun. 


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Das zerschmetterte Schwert Ferdinands. 


1415 


v Es empfiehlt sich, bei der Sozialisierung des Schulbuch¬ 
handels mit den in den Volksschulen gebrauchten Büchern an- 
zufangen , da diese in größeren Massen hergestellt werden lind 
die Unentgeltlichkeit der Lehrmittel nach der neuen deutschen 
Reichsverfassung in allen Volksschulen durch geführt werden 
muß. 

Mit diesen Ausführungen glaube ich dargetan zu haben, daß 
von der Sozialisierung des Schulbuchhandels nur die Verleger 
Nachteile haben, Vorteile aber die Eltern, die Schüler und 
■ Schülerinnen, die Lehrer und Lehrerinnen und die Gemeinden. 


PETER KNUTE: 

Das zerschmetterte Schwert Ferdinands. 

Politik auf dem Balkan. 

r rOUT comme chez nous. Ganz wie bei uns. Die Kommu- 
* nisten, in Bulgarien Tesnakil genannt, erregen die Kriegs¬ 
entnervten, peitschen die Arbeiter auf. Der Acheron gerät 
mächtig in Bewegung. Die Geister lohen. Versammlungen, 
Massenversammlungen. Parole gegen die Regierung. Ver- 
\sammlungs verböte. Streiks. Putschversuche. Stambuliski, der 
Führer der Bauern, Ministerpräsident, unterdrückt die Streiks. 
Der mehrheitssozialistische Polizeiminister Pastuchow hilft 
ihm. Post, Telegraph, Eisenbahn werden als militarisiert 
erklärt. Ohne Blutvergießen ist der Putsch beendet. Die Auf¬ 
ständigen kehren in Gruppen zur Arbeit zurück und geben 
die schriftliche Erklärung ab, in Zukunft gewissenhaft ihre 
Arbeit zu tun. Im Lande herrscht „Ordnung . Die Regierung 
sitzt fest. 

♦ 

Von Odessa, von Batum, von Sebastopol setzen die rus¬ 
sischen Agitatoren über das Schwarze Meer und tragen den 
bolschewistischen Bazillus-ins Land der slawischen Brüder, 
Zu den Bauern, die noch die Schaffellmütze, die Tschubara, 
tragen, und bei denen es noch just so ist, wie zu Vaterzeiten, 
als man zusammen noch lebte in den Zadrugas, den Familien¬ 
gemeinden. Wo die Glocken von den griechisch-orthodoxen 
Kirchen läuten, wo man, mit den Kerzen in den Händen, vor 
den Heiligenbildern kniet, und wo der Weihrauch über die 
Gläubigen mystisch berauschend steigt. Unruhe ist ins ge- 


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1416 


Das zerschmetterte Schwert Ferdinands. 


ruhige Land gekommen. Krieg über Krieg die Jahre, Jahr¬ 
zehnte hindurch. Gegen die Türken, die Serben, die Rumänen 
und Griechen, in Adrianopel, in Mazedonien, bei Soloniki, in 
der Dobrudscha, über der Donau. Oft fest verklärte, berau¬ 
schende Zeit des blühenden Nationalismus, des Bewußtseins 
der Kraft und der Erlösung der Brüder von fremdem Joch. 
Ermattung dann nach den Jahren und Jahren, und noch kein 
Ende. Es raunte im Land, ob’s richtig ist, Krieg zu führen, 
ob’s richtig ist, Krieg gegen die slawischen Brüder zu führen, 
daß ein fremder Herrscher auf dem Thron. In Moskau 
raunten sie, lebten die Ideale, in Berlin sei der Feind, und 
Radoslawo sein Erkaufter. Nieder mit Radoslawo! ertönte 
es im letzten Krieg, und der betrügerische Genadiew, der 
frühere Kriegsminister, brachte aus Rom vierundzwanzig Mil¬ 
lionen zum Aufruhr gegen die herrschenden StambuRsken. 
Malinow kam, und die Heimatsfront war zermürbt. Ferdinand, 
der Koburger, fühlte den Thron wanken. Und seine Vielseitig¬ 
keit und sein Konjunkturgenie Setzte sich mit Paris, London 
und Washington in Verbindung, um sich, um sein krachendes 
Thrönchen zu retten. Der Horchposten der Alliierten in Sofia, 
der amerikanische Geschäftsträger, hatte gute Arbeit geleistet. 
Von Saloniki her, vom Doiransee fluteten die innerlich zer¬ 
setzten bulgarischen Truppenmassen zurück. Im Wahn, daß 
das das Heil wäre, daß Wilsons neue Welt erbaut sei 1 , daß 
Friede . . . 

Die feindlichen Heere zogen ins Land, lebten in Sofia, be¬ 
fahlen, waren Herren, strenge Herren, immer noch Feinde, 
jeder Knotenpunkt der Bahnen in ihrer Hand, man konnte sich 
nicht rühren, ohne einen fremden Herrscher anzustoßen. Ein 
ungestümer Nationalismus war einst des bulgarischen Muschik 
einziges Kulturideal. Zar Ferdinand hatte es behütet und aus¬ 
gebaut, und sein Schwert war stählern. Nun ist das Ideal 
zertrümmert. Das letzte nationale Heiligtum im bulgarischen 
Bauern geschändet. Seine Seele ist arm geworden, die Kerzen 
der nationalen Hoffnung und des nationalen Stolzes sind ab¬ 
gebrannt, Dunkelheit lastet. Trübselig, glaubensarm flackert 
das Lichtchen am Heiligenbild. . . 

Ein Krüppel liegt mitten im Balkan, hilflos, ein Verkehrs¬ 
hindernis. Die Chirurgen von Versailles haben den corpus 
vile auf dem Konferenztisch zerschnitten. In Neuilly schrieben 
' sie den letzten Willen. Nun ist’s aus mit der Unabhängigkeit, 


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Das zerschmetterte Schwert Ferdinands. 


1417 


die auf dem Zarevatz in Tornowo so feierlich verkündet 
wurde. Bulgarien wird seine Ueberwachungskommissionen 
haben, wie wir sie haben und wie sie die anderen Besiegten 
hab % en. Und nicht einmal der tröstende Traum zu den Brüdern 
jenseits der Grenze ist erlaubt. Die Ohnmacht ist allmächtig 
hier im Lande. Das „Recht des Siegers“ hat sich grausig 
ausgetobt. Ringsum starke Feinde mit der Machtfülle gegen 
den Erbfeind, verliehen in Versailles. Auch von Wilson, 
der großen Enttäuschung des zwanzigsten Jahrhunderts. 
Schreckhaft, mehr als je der Zwang auf dem Balkan. 
Keine Erlösung, keine Ruhe. Die bulgarischen Herzen 
gefüllt mit Sprengstoff. Eine Fülle, die sic^h einst entladen 
wird. . . 

Seit dem Monat Mai des vergangenen Jahres ein linkes 
Kabinett in Bulgarien, aus Bauern, Mehrheitssozialisten, hier 
„Weitherzige“ genannt, und Radikalen. Sein Chef heißt 
Alexander Stambuliski. Er sagte, als "der furchtbare Vertrag 
bekannt wurde: „Das Schwert Ferdinands von Bulgarien ist 
zerschmettert. Wir werden eine Pflugschar daraus machen. 
Statt daß wir die Preußen des Ostens wären, wollen wir die 
Schweizer auf dem Balkan sein.“ Die Worte, man hörts ihnen 
an, waren diktiert von der Entsagung, njcht von den Wün¬ 
schen des bulgarischen Herzens. Eine Pflugschar, sie wird, 
sie muß sein. Sie ist der Brotgeber des verarmten Landes. 
Sie wird ihre Furchen ziehen 4urch das fruchtbare Land, und 
es wird aus den Humoszeilen Erlösung aufsprießen. Arbeit 
ist ja der große Tröster der Not, und sie wird auch der 
slawischen Sentimentalität des bulgarischen Herzens den Trost 
bringen. Und sie wird feien gegen die Verführung der Ele¬ 
mente, die im Niederbruche noch hilfreiche Hand zum tieferen 
Sturze bieten. Mißtrauen, geboren aus der nationalen Ver¬ 
gangenheit des bulgarischen Volkes heraus, ist bulgarische 
Eigenschaft. Dieses Mißtrauen ist doppelt groß in der Zeit, 
die alles und alles zerstört, den Glauben nach oben, den 
Glauben zum Bruder. Das Mißtrauen, das im namenlosen Un¬ 
glück die Reichen verdienen, die Armen verelenden sah. Dieses 
Mißtrauen, willfährig den Verlockungen aus der Tiefe des 
negativen Radikalismus, wird seine korrigierende Wirkung 
zeigen. Bulgarien hat von hundert Menschen achtzig Bauern. 
Kleinbauern, die die Pflugschar selbst in der Hand führen, 
die im Schweiß der Arbeit ihr Brot verdienen. Arbeit wird 
hier groß geschrieben, und für den Ausbeuter auf dem Lande 


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1418 


Das zerschmetterte Schwert Ferdinands. 


ist kein Raum übrig in Bulgarien. Auf dem Lande 
in Bulgarien scheint noch die Sonne, und sie wird die 
schwarzen Krähenfüße, die die kommunistischen Ver¬ 
führer vor die Pflugschar setzen, mit dem Licht 
der Arbeitsfreude übergolden. In Bulgarien gedeiht 
die Frucht der Arbeit, aber nicht das Unkraut des 
Kommunismus. 

Mit der Pflugschar hat Stambuliski recbt. Anders ist’s mit 
dem Schweizer Balkantum. Ueber Bulgarien- hinweg gleitet 
der Weltstrom zum Osten. Bulgarien liegt auf der großen 
Heerstraße europäischer Politik. Es wird überschüttet werden 
von den Problemen, die in den Stuben der Diplomaten er¬ 
blühen. Aber Bulgarien wird Objekt, nicht Subjekt sein 
können, und so wird es nichts werden mit der erträumten 
Schweizer Möncheinsamkeit. Stambuliski wird sich bald mit 
Plänen auseinanderzusetzen haben, die schon geschmiedet 
werden. In Paris, in London, in Belgrad, in Bukarest, in Rom, 
vielleicht auch in Moskau. Am Quai d’Orsay tragen sie den 

g roßen Gedanken des Donau-Rheinbundes, der, über Bayern 
is nach Ungarn reichend, einen Gürtel legen soll zwischen 
Frankreich und Preußen. England setzt in Ungarn ein und 
will es zum Ausgangspunkt seines Balkanhandels machen. In 
Bukarest ist der Minister Diamandi im Einverständnis des 
Königs Ferdinands dabei, einen südöstlichen. Staatenbund zu 
schaffen, der die Ukraine, Ungarn, die Tschechoslowakei mit 
Rumänien als Vormund will. Ein Bündnis, das sich gegen 
„jugoslawische Anmaßung“ richtet. Clerk, der Amerikaner, 
protegiert einen wirtschaftlichen Donaubund mit dem Frei¬ 
hafen Budapest als Zentrum, der alle österreich-ungarischen 
Nachfolgestaaten in sich schließen soll. Und Jugoslawien, 
zum Scnutz gegen den lateinischen Norden und Südwesten 
und als Abwehrmittel gegen die Spiellaunen der europäischen 
Großmachtpolitik, arbeitet für ein natürliches Bündnis aller 
Balkanslawen einschließlich der Bulgaren. Das Zentrum dieses 
slawischen Uebergewichts auf dem Balkan soll Belgrad 
werden. 

Alle möglichen Kombinationen aus der alten Diplomaten¬ 
schule tauchen wieder auf, nur nicht der Gedanke eines Gro߬ 
bulgariens. Der ist tot und begraben. Die Greisenskepsis 
Clemenoeaus, der das Lehen nur Krieg ist und der materielle * 
Zwang Unerläßlichkeit, war der Totengräber des nationalen 


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Die Verwertung d. Milch durch Hochdruckfernleitungen. 1419 


Bulgariens. Und viel Wasser wird die Donau noch hinab¬ 
fließen, ehe Bulgarien sich nach den Gliedern umsehen darf, 
die die Metzger von Versailles ihm abgetrennt haben — nach- 
der — Dobrudscha, nach Thrazien und Mazedonien. Das 
Schwert Ferdinands ist zerschmettert. Es soll nicht wieder 
erhoben werden, so wollen es die bulgarischen Bauern und 
die bulgarischen Sozialisten. Aber sie wollen mit hämmerrf, 
gar gew r altig, ein Schwert aus den Flammen des Herzens, 
aas, aufgerichtet vor den heiligen Gütern \der Menschheit, 
in Zukunft Wache hält gegen ein neues Versailles. 


Professor EWALD F. W. RASCH (Steglitz): 

Die Verwertung der Milch durch Hoch¬ 
druckfernleitungen. 

f)IE Versorgung der Großstädte mit den für die mensch- 
u liehe Ernährung und die Säuglingsfürsorge unentbehr¬ 
lichen Milchmengen ist zurzeit eine für den Erzeuger und 
Verbraucher gleichermaßen unerquickliche Sache. 

Indessen liegt der wesentliche Kernpunkt dieser Schwierig¬ 
keiten in der Transportfräge, und da diese eine rein tech¬ 
nische Aufgabe darstellt,, so besitzt sie auch eine Lösung. 

Der derzeitige Transport der Milch in Kannen (Inhalt 
etwa 25 Liter) erfordert auf dem Wege vom Kuhstall zur 
Kleinmolkerfei, von der Kleinmolkerei zur Bahnstation bereits 
einen erheblichen Aufwand an Arbeitern, Gespannen, Zeit 
und Kosten. Dasselbe — geradezu mittelalterliche — Spiel 
wiederholt sich in der Großstadt zwischen den Ankunfts¬ 
bahnhöfen und den städtischen Meiereien und ferner ein 
drittes Mal beim Ausfahren der Milch zu den Einzelab¬ 
nehmern. 

Dieser unbeholfene, langwierige, unzweckmäßige Transport 
bringt es mit sich, daß 25 bis 40 Prozent der Ware unter dem 

freien Einflüsse von Luft, Wärme und Bakterien der Säue- 

0* 


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Original fro-m 

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1420 Die Verwertung d. Milch durch Hochdruckfemleitungen. 

- rang 1 verfallen und am Bestimmungsorte im entwerteten 
Zustande anlangen. 

Dieser unwirtschaftliche und unhygienische Transport ist 
es, der die Milch für den Erzeuger entwertet und für den 
Verbraucher verteuert. Begreiflich ist es zwar, daß beide 
Parteien nun die Folgen und Kosten ihrer untechnischen 
Handhabung gegenseitig aufeinander abzuwälzen suchen. 

Aber damit ist weder dem einen noch dem anderen und 
vor allem dem Allgemeinwohle nicht geholfen, solange man 
die schädlichen Ursachen der Dinge nicht beseitigt. Erwähnt 
mag beispielsweise sein, daß Großstädte, Milchtrocknungs¬ 
anlagen und dergleichen Zentralen zur Heranschaffung von 
25 Litern Milch je Tag etwa sechs Satz Transportkannen 
gleichen Inhalts benötigen, so daß die Anschaffung, Ab¬ 
nutzung und Amortisation der Transportkannen an sich die 
Investierung bedeutender Kapitalien erheischen. 

Diese wirtschaftlichen Mißstände beseitigen sich nun grund¬ 
sätzlich dadurch, daß man die Milch von den Meiereien 
oder sonstigen Erzeugerstellen den Verbrauchsstellen durch 
ein Rohrleitungsnetz, und zwar bei hohen Anfangspressungen, 
hohen Strömungsgeschwindigkeiten und kleinen Rohr quer- 
schnitten zuführt. 

Es ist ein allgemeiner technischer Grundsatz, daß ruckweise, 
intermittierende Transporte unwirtschaftlich, kontinuier¬ 
liche dagegen wirtschaftlich und um so wirtschaftlicher sind, 
je höher die Pressungen und je kleiner die Leitungsquer¬ 
schnitte (vergleiche elektrische Ueberlandzentralen) werden. 
Es läßt sich in jedem Falle die Rentabilität derartiger Hoch¬ 
druckfernleitungsnetze erweisen, und es genügt hier nur daran 
zu erinnen, daß man hochwertigere Stoffe, zum Beispiel 


1 Verfasser hat im Frühjahr 1918 gelegentlich der Erbauung und In¬ 
betriebnahme der Milchtrocknungsanlage Tondem durchgesetzt, daß 
eine sachverständige Entsäuerung von Milch seitdem gestattet wird, 
so daß nunmehr eine erhebliche Menge derjenigen Milch wieder ge¬ 
brauchstüchtig gemacht werden kann, die während der langen Kriegs¬ 
jahre leider aus bureaukratischer Unvernunft der Säuglingsernährung 
verloren gegangen ist, da die verantwortlichen,„Sachverständigen“ die 
irrige Meinung vertraten, daß die Zufügung basischer Stoffe zur Milch 
„eine Nahrungsmittelverfälschung“ darstelle. Das Gegenteil ist der Fall, 
da hierdurch leicht lösliche Kaseinate und Laktate gebildet werden, 
deren biologische Bekömmlichkeit und Wichtigkeit in der Heilkunde ja 
längst erkannt und geschätzt ist 


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Ürigmal fro-rri 

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Nüchterne Randbemerkung zur Zukunftsstaatsdebatte. 1421 


Mineralöle, in Amerika seit langem auf diesem Wege zu 
fördern gewohnt ist. So ging man bekanntlich nach Erobe¬ 
rung der rumänischen Oelquellen sofort mit dem Plan um, 
die. rumänischen Oele bis nach Deutschland hinein durch 
Hochdruckleitungen zu fördern. 

Im vorliegenden Falle wird also die Milch von einzelnen 
ländlichen Radialstationen nach den Zentralstationen gepreßt, 
und es ist von besonderem hygienischen Vorteil, daß die Milch 
hierbei mit Luft, Bakterien und dergleichen in keinerlei Be¬ 
rührung gelangt, somit vor den Ursachen jeden Verderbs 
geschützt ist. 

Der naheliegende Gedanke, daß die Leitungsrohre durch 
Absetzen von Quark oder Kasein sich verstopfen könnten, 
hat sich technisch als irrelevant erwiesen. Wie Verfasser 
gezeigt hat, werden Absonderungen dieser Art — sofern 
sie bei unachtsamer Förderung von saurer Milch überhaupt 
auftreten — durch Nachspülung mit alkalischen Flüssigkeiten 
glatt aufgelöst lind beseitigt. 


Professor Dr. CORNELIUS (Oberursel): 

Nüchterne Randbemerkung zur Zukunfts¬ 
staatsdebatte. 

% 

f)IE „Glocke“ brachte jüngst (Nr. 40) einen Aufsatz von 
u Wenzel, der mit beredten Worten einen Weg zur rasche¬ 
sten Verwirklichung sozialistischer Ideale zu weisen meinte. 
So schön die Sache wäre, so wenig kann sie, wie es der Herr 
Verfasser meint, in unseren Tagen durchgeführt werden. 
Denn er übersieht, wie so viele andere Idealpolitiker, die Tat¬ 
sache unserer 'wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Auslande, 
ohne dessen Lieferungen wir selbst dann nicht gedeihen 
können, wenn die eigene Produktion uns genügende Nah¬ 
rungsmittel böte und jede Verschiebung derselben über die 
Grenzen wirksam durch ein unbestechliches Beamtenpersonal 
verhindert würde. Denn'es fehlen uns nun einmal die wichtig¬ 
sten Rohstoffe — nicht nur die lothringischen Eisenerze, die 
einst 75 Prozent unserer Eisenproduktion lieferten, sondern 
vor allem die Baumwolle, die gerade für die beauftragten 
Staatsaufträge benötigt wird, und die in Deutschland leider 


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1422 


Bücherschau. 


nicht zu erzeugen ist. Mit Herrn Wenzels Papiermilliarden 
aber läßt die Einfuhr dieser unentbehrlichen Grundlagen 
seines Vorschlages sich nicht bezahlen. 

Es bleibt eben bei der alten Wahrheit, daß der sozialistische 
Staat sich nicht vor der Internationale, sondern nur auf dem 
Weg über die Internationale verwirklichen läßt; eine Wahr¬ 
heit, die heute leider nicht nur von Idealpolitikern, sondern 
auch von den Leitern unserer realen Auslandspolitik völlig 
vergessen zu werden scheint . 


Bücherschau. 

Karl Josef Friedrich : Volks freund Gregory. Verlag Andreas 
Perthes, Gotha. Preis gebunden M. 6,—. 

Die Lebensbeschreibung des amerikanischen Gelehrten und 
langjährigen Leipziger Theologieprofessors Caspar Rene Gre¬ 
gory, der im Alter von 68 Jahren als deutscher Freiwilliger 
in den Weltkrieg zog und zwei Jahre später den Tod im 
Felde fand, ist eines der schönsten Bücher, die in den letzten 
Jahren erschienen sind. Es bietet das Bild eines vollendeten 
Edelmenschen, Wie er aufopferungsvoller und tapferer,-sitten¬ 
reiner und charakterfester in unserer Zeit kaum gedacht wer¬ 
den kann. Gregorys Leben war das eines Urchristen, ein 
Zeugnis für die Kraft und Wirksamkeit sozialer Ethik. Un¬ 
ermüdlich und genau in seinem Berufe und strenge gegen sich 
selbst, war er stets hilfs- und dienstbereit seinen Mitmenschen 
gegenüber, mochten diese dem Adel, dem Bürgertum oder dem 
Proletariat angehört habein; Menschengleichheit und Men¬ 
schenliebe Waren die Seele seiner Religion. Auch mit der 
Arbeiterfrage beschäftigte sich dieser große Theologe und 
Bibelforscher. ,Hier sind einige seiner Sätze über Konsum¬ 
vereine, Gewerkschaften, Revolution und andere ähnliche 
Fragen: 

„Ich bin seit Jahren Mitglied eines Konsumvereins. Wenn 
jemand wissen will, wie Sozialdemokraten sind, so kann 
er das in einem Konsumverein sehr gut erfahren. Er kann 
sie dort kennen und wird sie schätzen lernen. Ich sage einem 
jeden, daß das beste, was er tun kann, wenn er sozialen 
Geist lernen und betreiben will, praktischerweise darin be¬ 
steht, daß er in einen Konsumverein hineingeht und dort 
lebt. Ich sage das ganz besonders für die Gebildeten. . , 


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Bücherschau. 


1423 


Gerade wirtschaftlich sind die Gewerkvereine von der grö߬ 
ten Bedeutung. Ich frage: wie wird man wirtschaftlich 
irgend mit einer Masse von Arbeitern fertig werden können, 
wenn sie nicht organisiert sind? Jeder Arbeitgeber wird 
zugeben, daß er viel besser auskommt, — wenn er überhaupt 
ein Verständnis für seine Arbeiter, für ihre Denkweise, für 
ihre Lage hat —, wenn die Arbeiter organisiert sind, als 
wenn er sich vor. 600 unorganisierten, nicht denkenden Köp¬ 
fen sieht. Die Organisation der Arbeiter erzieht sie zum Den¬ 
ken, macht sie zugänglich für verständige Ideen. Gerade 
organisiert sind sie ordentlich anzufassen, wenn die Gewerk¬ 
vereine {nicht einen jeden Streik herhindert haben, so ist 
doch zu betonen, daß sie zahllose Streiks verhindert haben. 
Ich halte es für das richtigste: es sollen die Arbeiter über¬ 
haupt, es sollen diejenigen Arbeiter, die sich Christen nennen, 
in diese Gewerkvereine hineinsteigen — wie sie sind. Die 
Gewerkvereine sind auf keine andere Weise irgendwie umzu¬ 
gestalten. . . Ich sehne mich' nicht nach einer Revolution. 
Die Sozialdemokraten auch nicht, wenigstens kein gescheiter. 
Bis jetzt ist auf den großen Blättern der Geschichte das 
Christentum vielleicht häufiger ein Freund als ein Gegner 
der Revolution gewesen. Die Bibel sagt kein Wort gegen die 
Revolulion, wenn man das Wort richtig versteht. Das Recht 
der Revolution ist Gottes Recht gegen die Menschenunter¬ 
drückung. . . Ich bin der Meinung, daß .die Einheitsschule 
die richtige ist, das ursprüngliche Fundament, und daß sie 
die Einigung des Volkes mit sich bringt. Die Einheitsschule 
ist auch besonders wichtig von dem Standpunkte aus: wir 
brauchen, um das Volk zu heben, die Talente im Volke. 
Die Fortbildungsschule muß weiter entwickelt werden in 
dem Sinne, daß sie etwas Bedeutendes, etwas Abgerundetes 
bringt, daß der Schüler das Gefühl hat: ich komme auf eine 
höhere Stufe und werde ein bestimmtes, abgerundetes Ganzes 
jetzt fertig bringen. Ich sage, daß ein jeder Volksschullehrer, 
der den Drang jn sich fühlt, sich weiter auszubilden, diese 
Möglichkeit haben soll. Wir sind nicht dafür, die Aufstre¬ 
benden hinunterzudrücken, sondern die Aufstrebenden noch 
heraufzuziehen. Meinen Sie, daß ein Volksschullehrer, der 
Dienstags und Freitags abends an seinem Skattisch sitzt, 
Persönlichkeiten besser ausbilden wird, daß er Fühlung mit 
dem Volke besser suchen und gewinnen wird, als der Volks¬ 
schullehrer, der weiter arbeitet?“ 


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1424 


Bücherschau. 


Die im Anhänge beigefügten Lichtbilder Gregorys sind 
eine Bereicherung des Buches. Leider läßt sich ähnliches 
von dem expressionistischen „Buchschmuck“ nicht sagen. 
Dieser paßt für eine derartige Biographie ganz und gar 
nicht. 

* 

Carl Gebhardt: Der demokratische Gedanke. (Philosophi¬ 
sche Zeitfragen.) Verlag von Felix Meiner. Leipzig 1920. 
Preis 4 Mark. 60 Seiten. 

Die Abhandlung Gebhardts, die offenbar vornehmlich für 
philosophisch und politisch geschulte Leser bestimmt ist, gilt 
dem Nachweis, daß die deutsche Staatsidee, wie sie der 
deutschen klassischen Philosophie entsprang, sozialethisch, de¬ 
mokratisch und organisch ist. Er beweist dies durch eine 
Zergliederung der Ethik Kants und der Philosophie Fichtes 
und kommt zum Schluß: „Der^ organische Staat des deutschen 
Idealismus ist die soziale Demokratie.“ Wichtiger als die philo¬ 
sophische Zergliederung ist Gebhardts praktiscn-politische An¬ 
wendung dieser Idee auf die deutsche Staafsgeschichte seit 
dem Ende des 18. Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag: 
Der Plan des Freiherrn vom Stein, Deutschland aurzubauen, 
war einVersuch, die politisch-sozialethischen Ideen der deutschen 
Philosophie zu verwirklichen: „Der Staat Steins ist Organis¬ 
mus, weil er belebt ist bis ins letzte Glied und jedes Glied ftink- 
- tioniert im organischen Leben des Staates.“ Stein scheiterte 
am Klassenegoismus des Feudaladels und am Herrscherwillen 
der Dynastien. Fichte arbeitete philosophisch am selben 
Problem: „Noch im Enthusiasmus des Freiheitskrieges schrieb 
Fichte jene wuchtigen Selbstbetrachtungen, die wie ein poli¬ 
tisches Vermächtnis die Deutschen mahnte, aus Freiheit Ein¬ 
heit zu bilden, aus dem Bundesstaat des Landesherren den 
Einheitsstaat des Volkes, damit der demokratische Gedanke 
der deutschen Philosophie staatliche Wirklichkeit werde.“ 
Auch Fichtes Staatslehre blieb ein toter Buchstabe. Nach den 
Befreiungskriegen- wurde das Volk mundtot gemacht, bis 
es sich 1848 erhob und den zweiten Versuch machte, „den 
organischen Staat zu begründen“. Die Revoldtion scheiterte, 
„weil das Bürgertum die Revolution nicht ernsthaft gewollt 
hat. Es hat der Paulskirche nicht die Erkenntnis der Zeit¬ 
notwendigkeiten gefehlt; was ihr gefehlt hat , war der revo¬ 
lutionäre Wille . . . Das Parlament von 1848 war nach 


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Bücherschau. 


1425 


Bunsens richtiger Feststellung nicht ein revolutionäres, viel¬ 
mehr ein konservatives Element. Es bekämpfte die Revolu¬ 
tion. Indem es vergaß, daß man „von Aufruhrs Gnaden“ 
in Frankfurt tagte, negierte es das eigene Prinzip. So konnte 
es nicht an die Macht appellieren, als es der Macht bedurfte, 
um seine Entschlüsse durchzuführen.“ 

Nach’ dem Zusammenbruch der Revolution von 1848 kam 
Bismarck, aber seine Schöpfung war sowohl im Innern wie 
im Aeußern eine mechanische; alles war durch Gewalt ge¬ 
schaffen und auf ein künstliches Gleichgewicht berechnet. 
„Aus der mechanischen Staatsauffassung Bismarcks mit den 
äußeren Sicherungen der Einheit floß seine innere Politik 
der Gewalt. Wie ihm das Reich sich nicht formte aus der 
lebendigen Kraft des Volkes, so hatte er kein Verständnis 
für die lebendigen Kräfte im Volke. Seine äußere Politik 

war so mechanisch wie seine innere. . . Um sich nicht mit 

Frankreich zu verständigen, orientierte er Deutschland am 
russischen Despotismus. Daß Möglichkeiten zu suchen waren, 
Deutschland durch Bürgerfreiheit einzugliedem in den Kom¬ 
plex der bürgerlichen weststaaten, kurzum Deutschland mit 
dem Westen organisch zu verbinden, statt es durch den Osten 
mechanisch zu sichern, lag seiner preußischen Politik, die 
er auch unter der Reichsflagge trieb, völlig fern. Es muß 
festgestellt werden: die Politik, die im Weltkrieg ihre Kata¬ 
strophe erlitt, war die Politik Bismarcks, von Wilhelm II. 

dilettantisch fortgesetzt. Sie hat ihre Katastrophe erlitten, 
nicht wegen dieser dilettantischen Fortsetzung, sondern weil 
sie in ihrem Prinzip falsch war: Bismarck glaubte Deutsch¬ 
lands Einheit schaffen zu können ohne Deutschlands Freiheit.“ 
Und das deutsche Bürgertum hat sein gerüttelt Maß von 
Schuld, da es, anstatt sich seinem Wesen nach zu entwickeln 
und die bürgerliche Freiheit herzustellen, bestrebt war, sich 
zu verjunkern und zu militarisieren. „Der Bankerott des 
politischen Bürgertums vollzog sich 1907 in der Block¬ 
politik, durch die die liberalen Parteien den Interessen des 
Adels sich dienstbar machte“, um das Proletariat nieder¬ 
zureiten. „Letzte Folge dieser Hingabe an uneigenes Ideal 
war die Gefolgschaft, die im Kriege ein großer Teil des 
Bürgertums über den Selbsterhaltungswillen hinaus den kurz¬ 
sichtigen Eroberergelüsten seiner Herrenkaste geleistet hat.“ 
Nachdem noch Gebhardt den Marxismus und die deutsche 
Arbeiterbewegung bespricht, plädiert er — angesichts der 


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1426 


Bücherschau. 


Ereignisse des 9. November 1918 — für einen Verzicht auf 
den Klassen- und Parteikampf und für ein einheitliches Wir¬ 
ken Deutschlands zugunsten der sozialen Demokratie. 

* 

Dr. Eduard Herold: Ein Jahr deutsche Republik. Hochschul¬ 
verlag. München 1920. 

Ein irreführender Titel! Der Verfasser, jler sich als echt 
deutscher Mann einführt und Kurt Eisner zu einem undeut¬ 
schen, jüdischen Intellektuellen stempelt, schämt sich nicht, 
eine Anzahl dilettantischer Zeitungsartikel aus dem Jahre 
1918/19 als Buch herauszugeben unter dem feklamehaften 
Titel: Ein Jahr deutsche Republik! Für das Wissen und 
die Geistreichigkeit Herolds ist es bezeichnend, daß er 
Rousseau den ersten Bolschewisten nennt. Ich habe allen 
Grund zur Annahme, daß Herold, lals er Rousseau zitierte, 
die Werke Rousseaus gar nicht kannte, oder nur vom Hören¬ 
sagen kannte. 

M. Beer. 

* 


Wilhelm Wundt: Die Zukunft der Kultur. Verlag Krömer. 

Leipzig 1920. 

Obige Broschüre wird als das Schlußkapitel aus Band 10 
der Völkerpsychologie - bezeichnet: Ein eigenartiges Schlu߬ 
kapitel ! Es bedarf erst der Motivierung des „Standpunktes 
der‘Betrachtung“, die denn auch merkwürdig genug, ja ver¬ 
steckt tendenziös anmutet. Alternde Philosophen sollten was 
Besseres tun, als Ausblicke in eine neue Zeit zu geben! 
Man kommt nicht aus seiner Haut heraus und der Wunsch 
des Alternden ist überall der Vater des Gedankens einer 
neuen Zeit, die der Verfasser doch nicht versteht. 

Er würde sonst nicht so gänzlich nebenbei hauen! „Die 
faktische Monarchie ist eine Form, der der Staat zu jeder 
Zeit zustrebi.“ — Armer Ebert! Ungekrönter König einer 
„Wahlmonarchie“, zu der schon in den primitiven Staats¬ 
gebilden afrikanischer und amerikanischer Kulturvölker Ana¬ 
logien Vorkommen, und die schließlich als rechtlich sank¬ 
tionierte Form in dem Kaisertum des alten Deutschen Reichs 
als ein politisches Gebilde spezifischer Art verwirklicht war.“ 
Und im neuen Deutschen Reich Wilhelm II. trat wohl die 
Analogie zu der Primitivität und Absurdität afrikanischer 


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Bücherschau. 


1427 


Negerfürsten besonders zutage ?! Wenn jemand folgendes 
schreibt: „So ist es gekommen, daß die heutige Sozialdemo¬ 
kratie nicht nur ein verzerrtes Gegenbild jenes allein halt¬ 
baren Staatssozialismus ist, sondern, daß sie jetzt schon in 
der gleichen materialistischen Gesellschaftsmoral steckt, wie 
der Kapitalismus, den sie bekämpft“, so muß man mit Recht 
fragen, ob der Verfasser überhaupt den Unterschied zwischen 
materialistischer Geschichtsauffassung und materialistischer 
Gesellschaftsmoral recht begriffen hat! Die Moral des So¬ 
zialismus ist der „Gemeinwille“, die höchste Form eines Ver¬ 
nunftwillens überhaupt, die mit dem untergelegten Utili¬ 
tarismus der Westmächte wohl nichts zu tun hat. Seit wann 
ist der Sozialismus materialistisch! ? Sollte ein Philosoph der 
alten Schule nicht begreifen können, daß materialistische 
Geschichtsauffassung etwas anderes ist als materialistische 
Lebenspraxis ? 

Interessant ist es, daß Wundt eine Art Kronzeuge für 
gewisse Kreise des Bürgertums werden sollte, die immer noch 
behaupten, die Revolution sei gemacht worden, das Heer 
sei von der Heimat „erdolcht“. Er sagt: „So sehr dieses 
Ende des Prozesses, der mit der Bewilligung der Kriegs¬ 
kredite begonnen und mit der Revolution geschlossen hatte, 
dem weiteren Publikum als das Resultat einer wohl vorberei¬ 
teten Geheimverschwörung erscheinen mochte, so war er 
vielleicht für die Mehrheit der Sozialdemokratie selbst ein 
überraschendes Ereignis.“ Also nicht „Verschwörung“, aber 
auch keine „Ueberraschung“, sondern notwendige Folge der 
Einzelkatastrophen des für uns verlorenen Weltkrieges, ge¬ 
mäß der materialistischen Geschichtsauffassung. 

Zuzugeben ist, daß auch wir im „deutschen Staat“, im 
„sozialistischen Zukunftsstaat“, den dritten Aufstieg Deutsch¬ 
lands nach der „Reformation“ und nach dem „deutschen 
Idealismus“ erblicken, aber nicht mit und kraft „der Ge¬ 
sinnung, mit der ein großer Teil unserer Jugend aus. dem 
Felde heimgekehrt ist.“ Welcher Teil sollte das sein? Etwa 
der des neudeutschen Militarismus racheschnaubender Obser¬ 
vanz und knabenhafter Arroganz ?! — Nein, die „Zukunft 
der Kultur“ liegt im Sozialismus als Erziehungsproblem einer 
neuen Menschheitsgeneration, die erst geboren werden muß, 
die wirklich frei ist auch von Wundtscner Philosophie. 

Br. R. Nagler. 


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1428 


Eingclaufcnc Schriften. 


Eingelaufene Schriften. 

Wans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst. IV. Teil: 
Neuzeit. Verlag Georg Stilke. Berlin 1920. 

Professor Dr. Karl Binding: Werden und Leben der Staaten. 
Verlag Duncker & Humblot. 1920. 

Walther Rathenau: Autonome Wirtschaft. Verlag Eugen 
Diederichs. Jeiia 1919. 

Joachim Kühn: Der beste Staat. Franckhsche Verlagsbuch¬ 
handlung. Stuttgart 1919. 

Reichsgerichtsrat A. Niedner: Sozialisierung der Rechts¬ 
pflege. Verlag Dr. W. Klinkhardt. Leipzig 1919. 

Karl Marx: Ausgewählte Schriften. Verlag Recläm (Nr. 
6068/69). Leipzig 1920. (Herausgegeben von Emst 
Drahn.) ’ 

Franz Stolz: Volkswirtschaftslehre. Verlag Soz. Fortschritt. 
Berlin. Preis M. —,50. 

Fr. Chr. Dahlmann: Ein Wort über Verfassung. Einleitung 
von Dr. R. Deschey. Verlag Reclam (Nr. 6067). 

Silvio Gesell und Ernst Frankfurth: Aktive Währungs¬ 
politik. Leipzig, Richard Hermann. 1909. 

Dr. Heinrich Laufenberg und F. Wolfheim: Revolutionärer 
Volkskrieg oder konterrevolutionärer Bürgerkrieg? 
Verlag Willaschek & Co., Hamburg 11. 

N. Bucharin: Anarchismus und wissenschaftlicher Sozia¬ 
lismus. Verlag Willaschek & Co., Hamburg 11. 

Verfassung des Deutschen Reichs. Einleitung, Anmerkun¬ 
gen von K. Panhier. Verlag Reclam. 

Professor Dr. Karl Horn: Licht und Finsternis. Ein opti¬ 
sches Experimentierbuch für die Jugend. * Verlag B. 
Kühn, München, Heßstraße 58. 


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SCHRIFTEN VON PAR VUS 
ha Kampf um die Walaheit 

Preis 1,20 Mark 

In dieser Schrift legt Parvus seinen sozialistischen Werde¬ 
gang vom russischen Revolutionär zum deutschen Sozial¬ 
demokraten dar Und setzt Sich mit seinen politischen und per¬ 
sönlichen Widersachern auseinander. Außer dem Interesse, das 
die wechselvollen Schicksale des Verfassers erwecken, enthält 
das Werk, das zuerst in russischer Sprache im April 1918 erschien, 
wichtige politische und sozialistische Rückblicke und Ausblicke. 

Der Arbeitersozialismus und die 
Weltrevoiution 

Briefe an die deutschen Arbeiter 

1./2. Die wirtschaftliche Überwindung des Kapitalismus. 
Sozialismus und Bolschewismus. 

-Zwei Briefe in einem Hefte. Preis 50 Pfennig. 

3. Die Entfaltung des sozialistischen Wirtschaftssystems. 

Preis 40 Pfennig. 

4. Der Friede und der Sozialismus. Preis 70 Pfennig. 

Diese Briefe müssen von jedem gelesen werden, der an der Zukunft 
des Sozialismus mitarbeiten will, einerlei ob er die Ansichten des 
Verfassers teilt oder nicht. Der geschichtlich und sozialistisch 
geschulte Blick des Autors, der in den deutschen, wie in den 
russischen Verhältnissen gleich gut beschlagen ist, hat schon im 
Anfang der Revolution manches vorausgesehen, was anderen ver¬ 
borgen blieb. Die Briefe enthalten eine Schilderung kommender 
sozialistischer Entwicklung, welche der größten Beachtung wert ist. 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

BERLIN SW68 LINDENSTR. 114 


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Original fro-m 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 




W*' 

: l-: t 


Die soziale Bilanz des Krieges 

Erweiterte Auflage. 21. bis 40. Tausend . 7 

Preis 50 Pfennig 

Der Wahnsinn des imperialistischen Weltkrieges wird iö dieser 
Schrift, deren erste Auflage zu einer Zeit erschienen war«, da 
man noch an den Sieg der Zentralmächte glaubte, mit kaum zu. 

übertreffender Logik aufgedeckt. ' 

Der Staat, die Industrie und der Sozialismus 

Preis kartoniert 3 Mark, gebunden 4,50 Mark 

Eine wissenschaftliche Darstellung und Begründung des Sozialismus 
aus dem Getriebe des modernen Kapitalismus heraus, Aufstellung t 
eines Programms der proletarischen Demokratie. 

• ■ M 

j 

Die Verstaatlichung der Danken und derSoziaüsmus 

Preis kartoniert 3 Mark ’ 

Auf volkswirtsdiaftlicher Grundlage aufbauend, schildert Parvus 
in diesem Band mit reidiem Wissen und hervorragender Sach¬ 
kenntnis das Problem der Verstaatlichung von Industrie und Banken. ' 

In der russischen Bastille während dor Revolution 

Eindrücke und Stimmungen 

Preis 3 Mark •* ; 

deine Antwort an Kerenski & Co. 

Preis 20 Pfennig 

Auf alle Preise wird ein Teuerungszuschlag von 20°/ 0 erhoben ^ 

VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFT 


BERLIN SW 68 


LINDENSTR*114 


Verlag: Verlag für Soz 
platz 2218, 1448—1450. — 


Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. ' 

Sozial Wissenschaft, Berlin SW 68, Lindenstraße 114. Fernruf: Moritz-<7 


Druck: Photogravur G. m. b. H., Berlin SW 68, Lindenstraöe llfe 


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- 


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UNIVERSITY OF CALIFC 



>. Jahrg. 2. Band Jfs46 14. Februar 1920 

Die Glock e 

Benusgegebeiivni 

Parvus 

f 

/ 

50 Pfennig 

# 



Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68 


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Original fram 



INHALT DIESER NUMMER: 

Dr. R. von Ungern-Sternberg: Ostorientierung 113$ 

U. Bmil: Politische Köpfe.. . ; 1133 

Alfred Unger: Zur Reform des staatl. Erbrechte 1493 
Oberlehrer Dr. Karl Hedicke: Auslandslehrer . 11^ 
Dr. Q von Frankenberg: Zur Reform des ja* ^ ; 

ristischen Studiums ^ 143 

Dr. Kurt Nagler: Kontradiktorische oder kon- ; 

träre Entwicklung?.1443 

John F. Bray: Kommunismus und Kapitalismus lÜSSf 
Bücherschau: Heinz Stratz „Drei Monate als 
Geisel für Radek“; Michael Smilg-Benario 
„Ein Jahr im Dienste der russ. Sowjetrepublik“ 1453 
Druckfehler-Berichtigung.. . 1460 


Nummer 45 der „Glocke“ hatte folgenden Inhalt: 

Heydar: Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft 

in der Ernährung . . .1397 

M. Pertzborn: Herzhafte Politik.. 1407 

Oberlehrer Dr Erich Witte: Sozialisierung des 

Schulbuchhandels .. . 1411 

Peter Knute: Das zerschmetterte Schwert 

Ferdinands.. 1415 

Professor Ewald F. W. Rasch (Steglitz): Die 
Verwertung der Milch durch Hochdruck- , 

fernleitungen ... .. 1419 

Professor Dr. Cornelius (Oberursel): Nüchterne 
Randbemerkung zur Zukunftsstaatsdebatte 1421 
Bücherschau: Karl Josef Friedrich „Volksfreund 
Gregory“; Carl Gebhardt „Der demokratische 
Gedanke“; Dr. Eduard Herold „Ein Jahr ' 
deutsche Republik“; Wilhelm Wundt „Die 


Zukunft der Kultur“.. 1422 

Eingelaufene Schriften.. 1133 


n 


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UNIVERSITY OF CALIF.OJ^y 













DE GLOCKE 

46. Heft 14. Februar 1920 5. Jahrg. 

Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet 

- :_I_’_ 


Dr. RODERICH VON UNGERN-STERNBERG: 

Ostorientierung. 

J ETZT, nach Unterzeichnung des Friedensvertrages, gilt es, 
der Gestaltung unserer Beziehungen zu den anderen Völkern, 
d. h. der deutschen Auslandspoliiik, ganz besondere Auf¬ 
merksamkeit zu widmen. Denn die Republik wird den Nach¬ 
weis zu erbringen haben, daß sie besser als seinerzeit das 
kaiserliche Deutschland in den Fragen der auswärtigen Politik 
mit seinem Pfunde zu wuchern imstande ist. Allerdings steht 
ihr nicht die Fülle von Reichtum, wirtschaftlicher Kraft und 
militärischen Machtmitteln zu Gebote, wie dem Deutschland 
von 1871 bis 1914, um so größer muß darum die Geschicklichr 
keit in der Leitung unserer Außenpolitik werden. Planlos, 
unstet, einseitig militaristisch, immer vom Streben erfüllt sich 
nach allen Seiten hin Geltung zu verschaffen, — war die 
Politik des kaiserlichen Deutschlands. Wenn das republi¬ 
kanische Deutschland diese Fehler vermeiden will, so ist 
es von gnindlegendier Bedeutung, darüber Klarheit zu schaffen, 
in welcher Richtung und in welchem Sinne unsere Außenpolitik, 
geleitet werden soll. Was ist vor allem anzustreben? Darauf 
kann m. E. die Antwort nur lauten: Revision des Friedens¬ 
vertrages und Anschluß an ein Land, das uns Rohstoffe 
liefern, Industrieerzeugnisse abnehmen, und deutsche Aus¬ 
wanderer auf nehmen kann; denn von einer erfolgreichen 
Lösung dieser drei Fragen hängt unsere ganze zukünftige 
Entwicklung ab. Gibt es nun ein Land, das die Bedingungen 
zur Lösung dieser Fragen auf weist? Jawohl — Rußland, 
insbesondere Räterußland, das sich zurzeit wohl noch in einem 
Stadium großer wirtschaftlicher und politischer Umgestaltung 
befindet, aber gerade deshalb mehr als je zuvor der Unter¬ 
stützung eines ausländischen Industriestaates bedarf, und sich 

46/1 


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1430 


Ostorientierung. 


bereit finden muß, die ihm gewährte industrielle Unterstützung 
durch Abgabe von Rohstoffen zu vergüten. Es liegt daher 
auf der Hand, daß sich unsere politische Aufmerksamkeit 
auf Räterußland, denn letzteres ist gegenwärtig ; für uns 
gleichbedeutend mit Rußland überhaupt, konzentrieren muß." 
Ja — aber ist denn das Deutschland des Versailler Friedens 
überhaupt imstande, eine aktive Auslandspolitik zu treiben? 
Fraglos legt der Friedensvertrag unserer außenpolitischen 
Betätigung vielseitige Fesseln an, aber nach einer Richtung 
können wir einstweilen noch den Arm und die Hand aus¬ 
strecken — nämlich nach Rußland hin. Wenn wir das nicht 
tun, so werden wir es uns selbst zuzuschreiben haben, wenn 
wir schließlich an allen Gliedern gefesselt daliegen. Das 
Streben der Entente, unsere Zukunft ganz in Abhängigkeit von 
dem Ermessen der Verbandsmächte zu bringen, hat sich in¬ 
sofern durch den Versailler Vertrag nicht ganz verwirklichen 
lassen, als es nicht gelungen ist, ein verhandlungsfähiges 
Rußland für den Gedanken der Vergewaltigung Deutschlands 
zu gewinnen. Man sah sich daher genötigt, im Vertrage nur 
vorbereitende, einleitende Maßnahmen zu treffen (Art. 116, 
117 und 260), die in Zukunft die Handhabe bieten sollen, um 
Deutschland gänzlich unter die Kontrolle der Alliierten zu 
bringen. Ob aber diese Einkreisung Deutschlands gelingt, 
das hängt davon ab, ob Räterußlaud sich dazu hergibt. — 
Gelingt es England und Frankreich, mit Sowjetrußland einen 
Vertrag abzuschließen, demzufolge, sagen wir mal, jedwedes 
Abkommen Räterußlands mit Deutschland der Genehmigung 
des „Völkerbundes“ bedarf, so * bedeutet das praktisch, daß 
die Entente eine deutsch-russische Annäherung jederzeit ver¬ 
hindern kann; denn selbst wir könnten uns über diesen Ver¬ 
trag nicht hinwegsetzen, weil Artikel 117 des Versailler 
Friedens uns die ungeheuerliche Verpflichtung auferlegt, „die 
volle Gültigkeit aller Verträge und Vereinbarungen anzuer¬ 
kennen, die von den alliierten Mächten mit einem der Staaten 
abgeschlossen werden * die sich auf dem Gebiet des ehemaligen 
russischen Reichs gebildet haben“. Es kommt aiso letzten 
Endes darauf an zu verhindern, daß England und Frankreich 
Räterußland in antideutschem Sinne beeinflussen. Sehen wir 
aber den Bemühungen der Entente, in Räterußland Fuß zu 
fassen, weiter tatenlos zu, so wird die unausbleibliche Folge 
sein, daß Räterußland ein anglo-französisches Protektorat wird, 
und folglich die durch die Artikel 116, 117 und 260 gekenn- 


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Ostorientierung. 


1431 


zeichneten Absichten der Entente verwirklicht werden. Daher 
ist m. E. keine Zeit zu verlieren! Wir müssen jetzt der Räte¬ 
regierung unzweideutig erklären , daß wir bereit sind , mit 
ihr über die Regelung der gegenseitigen völkerrechtlichen 
Beziehungen zu verhandeln , um daraufhin ein wirtschaftliches 
Abkommen zu schließen. 

Ich will nun im folgenden kurz die Frage der deutschen 
Auswanderung nach Rußland besprechen, um zu zeigen, von 
welcher Wichtigkeit auch auf diesem Gebiet eine deutsch¬ 
russische Annäherung werden kann. In den letzten Jahren vor 
dem Kriege gingen rund 74 v. H. der deutschen Auswanderer 
nach den Vereinigten Staaten. 

Bei der Auswanderungsbewegung, die jetzt einsetzen, und 
die die höchste Ziffer in den Jahren 1871 bis 1913 (1881 — 
220 902) wohl beträchtlich übersteigen wird, muß sich das 
Reiseziel gänzlich ändern, da die Deutschfeindlichkeit in den 
Vereinigten Staaten eine ersprießliche Existenz daselbst un¬ 
möglich macht und außerdem die Vereinigten Staaten die 
Einwanderung sehr einzuschränken bestrebt sind. Im übrigen 
kommen, als überseeisches Auswanderungsziel, für Deutsche 
nur einige Staaten Mittel- und Südamerikas in Betracht, denn 
die sonstige überseeische Welt ist entweder direkt Herrschafts¬ 
gebiet der Entente oder wird von ihr kontrolliert, so daß 
eine dauernde Niederlassung Deutscher mit viel Schwierig¬ 
keiten und Kränkungen verknüpft sein dürfte. Ergießt sich 
aber die ganze deutsche Auswanderungswelle nach Süd- und 
Mittelamerika, so werden die Auswanderer sich sehr bald 
lästige Konkurrenten werden. Außerdem ist für sehr viele, 
und gerade für unbemittelte Auswanderer, bei dem jetzigen 
Stand unserer Valuta, die Gründung einer Existenz in den 
überseeischen Ländern, und gerade auch in Südamerika, un¬ 
möglich. Wer aber mit zu geringen Mitteln herübergeht, 
läuft Gefahr, unter die Räder zu kommen. Vor einer Aus¬ 
wanderung nach Südamerika, die vielen §o hoffnungsreich 
erscheint, wird daher in letzter Zeit von sachverständiger 
Seite aus den erwähnten Gründen dringend gewarnt. Es 
ist jedenfalls im höchsten Grade wünschenswert, daß ein 
Teil derjenigen Deutschen, die ihre Heimat zu verlassen ge¬ 
zwungen sind, sich nicht der überseeischen Auswanderung 
zuwendet , sondern sich nach Osten und zwar nach Rußland 
und nach West-Sibirien richtet. 

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1432 


Ostorientierung. 


Deutsche Betriebsleiter, Techniker, Werkmeister und Ar¬ 
beiter sind in Räterußland sehr begehrt und würden sicherlich 
lohnende Beschäftigung finden. Zurzeit sind allerdings die 
Lebensbedingungen in den Hauptstädten noch recht schwierige, 
aber das. wird sich voraussichtlich sehr bald ändern, wenn 
erst den Bauern im Austausch gegen Lebensmittel wieder 
Industrieerzeugnisse angeboten werden. Es mangelt aber der 
verstaatlichten russischen Industrie an fachmännischer Lei¬ 
tung und an technisch geschulten Kräften. In dieser Be¬ 
ziehung war Rußland von jeher auf das Ausland, und vor 
allem auf Deutschland, angewiesen und ist es zurzeit in noch 
viel höherem Maß. Daher sollten m. E. alle deutschen Tech¬ 
niker, die sich in die Notwendigkeit versetzt sehen, im Aus¬ 
lande Arbeit zu suchen, sich ernstlich mit der Frage befassen, 
ob für sie nicht Räterußland als Betätigungsfeld in Betracht 
käme. Vor allem gibt es aber keine Zeit zu verlieren und 
die sich bietende Gelegenheit auszunutzen, bevor die Engländer 
und Franzosen die russische Industrie an sich reißen. Auch 
für Vertreter der sonstigen freien Berufe: Aerzte, Künstler 
usw. wird sich ein gutes Fortkommen in Räterußland ermög¬ 
lichen lassen, da die russischen Hochschulen bereits seit Jahren 
ihrer Lehrtätigkeit nur sehr mangelhaft nachgekommen sind. 
Im allgemeinen ist der Deutsche in Räterußland gegenwärtig 
gerne gesehen, dagegen haben die Engländer und Franzosen 
sehr an Sympathie eingebüßt, ja im eigentlichen Räterußland 
sind sie geradezu verhaßt. Das Schicksal, das Deutschland 
durch den Versailler Frieden erfahren, hat vermutlich nir¬ 
gends so viel Sympathie und Mitgefühl für uns erweckt, 
als in Rußland. Denn im teilnahmsvollen Mitempfinden frem¬ 
den Unglücks liegt eine der großen Züge der russischen 
Volkssache. Wenn ein anderes Volk nach Versailles gedacht 
hätte: das geschieht Deutschland recht; das ist die Strafe 
für Brest-Litowsk, so wandelt sich, im Gegenteil, beim typi¬ 
schen Russen die Gegnerschaft sofort in Zuneigung, wenn 
er sieht, daß es dem Gegner auch schlecht ergeht. 

Für die deutschen Auswanderer, die sich der Landwirt¬ 
schaft und Viehzucht widmen wollen, ergeben sich in Ru߬ 
land und besonders in West-Sibirien ebenfalls günstige Aus¬ 
sichten. Der Großgrundbesitz ist in die Hände der Bauern 
übergegangen, aber es besteht für letztere meist gar keine 
Möglichkeit, das Gutsland in vollem Umfang zu nützen. Es 
wäre daher denkbar, daß ein Teil des früheren Gutslandes* 


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Politische Köpfe. 


1433 


gegen ein entsprechendes Entgeld, deutschen Einwanderern 
zugewiesen würde. Trotzdem scheint es uns wenig empfehlens* 
wert, sich im europäischen Rußland als Landwirt nieder¬ 
zulassen, denn beim Bauer könnte es doch gewisse uner¬ 
freuliche Gefühle auslösen, wenn sich Ausländer auf „seinem“ 
Lande niederlassen würden. Viel günstiger scheinen uns in 
dieser Beziehung die Verhältnisse in West-Sibirien zu liegen. 
Da könnten sich deutsche Auswanderer in größeren Ver¬ 
bänden niederlassen, weil noch viel mehr freies Land vor¬ 
handen ist, als im europäischen Rußland. Die natürlichen 
Bedingungen sind in diesem Gebiet denkbar günstig, da die 
weiten Steppen der Flußtäler des oberen Obj, des Irtysch und 
ihrer Nebenflüsse, sowie die alpinen Weiden des Barnaubschen 
und Bijskschen Bezirks ein ausgezeichnetes, unerschöpfliches 
Futtermaterial, das ganz besonders für Milchkühe geeignet 
ist, hervorbringen. 

Zudem ist für die deutsche Auswanderung nach Rußland 
noch der Umstand von größter Bedeutung, daß unser Gold 
in Rußland noch sehr gut bewertet wird und die Preise in 
Sibirien, im Unterschied zum eigentlichen Rußland, noch sehr 
mäßige sind. 

Diese günstigen Aussichten für die deutsche Auswanderung 
können erst dann verwirklicht werden, wenn wir uns ent¬ 
schließen, die Beziehungen zu Räterußland wieder aufzunehmen. 
Ohne einen Rückhalt bei der heimatlichen Regierung ist selbst¬ 
verständlich eine Niederlassung in Räterußland nicht ratsam. 
Daher ist es auch im Interesse unserer Auswanderungspolitik, 
daß wir wieder in ein klares Verhältnis zu Rußland gelangen. 


U. EMIL: 

Politische Köpfe. 

i. 

Ebert. 

nAS ist Genosse Ebert.“ Mit diesen Worten machte uns 
w 1 “ 7 ein alter Bezirksführer eines Abends nach der Versamm¬ 
lung bekannt. Der breitschultrige, mittelgroße Mann mit 
der schwarzen Quaste am Kinn, der so wenig sprach und 
so viel hörte, war mir vorher gar nicht aufgefallen. Er war 
erst ganz kurze Zeit in Berlin und in unseren Kreisen von 


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1434 


Politische Köpfe. 


Ansehen noch ziemlich unbekannt. Wir gingen an dem 
Abend noch in ein Bierlokal und plauderten bis Mitternacht. 
Das heißt: Die anderen sprachen, und unser neuer Bekannter 
hörte meist still zu. Nur ab und zu warf er eine Bemer¬ 
kung dazwischen. Und die traf jedesmal den Nagel auf 
den Kopf. Schon diese kurze Zeit genügte, um erkennen 
zu lassen, daß der Mann, den der Parteitag in den Partei¬ 
vorstand geschickt hatte, in der Geschichte der Sozial¬ 
demokratie noch eine bedeutsame Rolle spielen würde. 

Ebert hatte eigentlich gleich Vorsitzender des Partei¬ 
vorstandes werden sollen. Der rechte Flügel der Partei 
verlangte ihn; auch die Gewerkschaftsführer traten lebhaft 
für ihn ein. Bebel dagegen wünschte, daß Haase diesen 
Posten einnehme. Die Gewerkschaftsführer verlangten 
dennoch die Wahl Eberts. Sie erklärten, er habe sich in 
Streitigkeiten zwischen Partei und Gewerkschaften als Ver¬ 
mittler gut bewährt, seine Persönlichkeit biete Sicherheit, daß 
er auch aut diesem Posten eine glückliche Hand haben werde. 
Ebert lehnte aber trotzdem ab, und Bebel meinte: sie sollten 
sich keine Mühe geben, wenn Ebert einmal nein sage, dann 
bleibe er dabei. Und durch einen kleinen Zwischen¬ 
fall veranlaßt, stellte er Ebert das Zeugnis aus, daß er ein 
ruhiger, gewissenhafter und äußerst tüchtiger Parteigenosse 
sei. So rückte Ebert in den Vorstand der Partei ein. Aller¬ 
dings nicht als Vorsitzender. Das war Haase. 

»Der wirkliche Vorsitzende ist doch Ebert, er hat auch die 
nötige Energie, sich durchzusetzen“, sagte mir gelegentlich 
ein Genosse, der es wissen mußte. An Energie hat es ihm 
tatsächlich nie gefehlt, und seine Gegner, die ihn heute 
Energielosigkeit vorwerfen, sind im Irrtum. Was Ebert tat, 
ist eine Frage der Taktik, der kühlen Ueberlegung, nicht 
der Energie, ganz gleich, wie der einzelne sonst darüber 
denkt. In allen seinen Handlungen läßt Ebert sich nie 
vom Gefühl mitreißen, nie von der jeweiligen Strömung 
beeinflussen — nüchtern Vorteil und Nachteil abwägend, trifft 
er seine Maßnahmen. Und arbeitet mit einem kaum zu über¬ 
bietenden Fleiß. Still, unauffällig, konsequent. Und man 
stellt unwillkürlich Vergleiche an zwischen dem Mann, der 
30 Jahre an der Spitze des Reiches stand und dessen End¬ 
erfolg ein blutiges Kuddelmuddel war und dem jetzigen 
Reichspräsidenten. Wie anders wäre heute manches, wenn 
der erste gar nicht und der zweite gleich an diese Stelle 


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Politische Köpfe. 


1435 


gekommen wäre. Personen beeinflussen die Weltgeschichte 
zuweilen ganz merklich. 

Fleiß, kühle Ueberlegung und Energie kennzeichnen Eberts 
Laufbahn. 1871 als Siohn eines kleinen Schneidermeisters im 
schönen, lebenslustigen Heidelberg geboren, brauste der 
Siegesrausch an dem neuen Erdenbürger vorüber, — Sieg- 
Sieg—Sieg! Der chauvinistische, eroberungssüchtige Mob 
tobte sich aus — wie während der letzten vier Jahre — und 
heute? Ebert steht auf der Mittagshöhe des Lebens und am / 
Grabe aller alldeutschen Hoffnungen und versieht ruhig/ 
still und konsequent das undankbare Amt eines Konkurs¬ 
verwalters großen Stils. Seine langjährigen Erfahrungen auf 
organisatorischem und verwaltungstechnischem Gebiet kom¬ 
men ihm hierbei zustatten. Von Beruf Sattler, führte ihn 
die Wanderschaft nach Bremen hinauf, der alten Hansastadt. 
Und dort setzte er sich fest. Die Bremer Genossen wußten 
bald, was sie an ihm hatten. Frühzeitig übertrugen sie ihm 
verantwortungsvolle Aemter: er wird Redakteur an der 
„Bremer Bürgerzeitung“, dann Arbeitersekretär in Bremen, 
Mitglied der Bremer Bürgerschaft, Vorsitzender der Zentral¬ 
stelfe für die arbeitende Jugend, 1905 Sekretär im Partei¬ 
vorstand und zuletzt Vorsitzender. Und immer still, be- 
scheiden, zurückhaltend, nie brillierend, nie vordrängend, aber 
arbeitend wie ein Ackergaul. 

Im Wahlkampf 1912 traf ich ihn aut einem Bahnhof. 
Wir kamen beide von Agitationstouren zurück. Und waren 
müde und durchfroren. 

„Ja, der Parteidienst ist nicht leicht, wer es mit der Sache 
ernst nimmt, muß Strapazen ertragen“, meinte er lächelnd. 
Der Krieg hat ihm noch mehr aufgebürdet und der blutige 
Hexentanz langer vier Jahre mögen ihm wenige Stunden der 
Ruhe gelassen haben. Kämpfe, wie sie die Parteigeschichte 
kaum schlimmer nachzuweisen hat, muß er durchfechten, 
ein Teil der eigenen Genossen rebelliert, heftige Zusammen¬ 
stöße erfolgen, es kommt zum offenen Bruch, und Fritze 
immer mitten mang. Seine Kurve führte nach oben und 
heute steht er an der höchsten Stelle, die das deutsche Volk 
zu vergeben hat. Wie lange noch? Das weiß kein Mensch, 
nicht einmal er selbst. Aber wenn die Wogen der politischen 
Kämpfe wieder einmal verebbt und die jetzigen Regierungs¬ 
mitglieder im Schatten der Alltäglichkeit untertauchen werden, 
wird die Geschichte ruhiger urteilen und seine Tätigkeit als 


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1436 


Politische Köpfe. 


erster Präsident der deutschen Republik objektiver würdigen. 
Und wird zu dem Ergebnis kommen, daß er ein ehrlicher, 
fleißiger und tüchtiger Reichsverwalter war, der das beste 
gewollt hat, auch da, wo er nach Ansicht seiner Gegner 
versagte. 

11 . 

’ Ledeboyr. 

Bislang Vertreter des größten Berliner Reichstagswahl¬ 
kreises. Dieser Umstand verlieh ihm schon allein als Volks¬ 
tribun ein wirksames Relief. Der sechste Wahlkreis hatte 
eine gewichtige Stimme unter all den andern Kreisen und war 
sich dessen auch bewußt. Er bildete das Herz des Radikalis¬ 
mus, und wenn er seine Stimme erhob, so hieß es: „Ruhe, 
der sechste Kreis spricht.“ Das übertrug sich denn auch 
auf den kühnen Ritter Georg mit dem fast weißen und „wild 
wehenden Locken haar“, den scharfen, immer mißtrauisch 
blickenden Augen und dem glattrasierten Mimengesicht. 

Einstmals Demokrat trat er schon als solcher rednerisch bei 
der sozialdemokratischen Arbeiterschaft auf und mit etwa 
40 Jahren wurde er eingeschriebenes Mitglied der Partei. 
In diesem späten Entschluß liegt die beste Charakteristik, 
und tatsächlich ist er, trotz aller revolutionären Tonart, 
seine Vergangenheit nie-ganz los geworden (wie alle Bürger¬ 
lichen, die im reiferen Alter zur Sozialdemokratie kommen). 
Im Grunde genommen ist Ledebour nur der letzte Nachkömm¬ 
ling der acntundvierziger Revoluzzer, und Scheidemann hatte 
'nicht ganz unrecht, wenn er kürzlich meinte, Ledebour passe 
eigentlich gar nicht in unsere heutige Zeit hinein. 

Persönlich von anspruchsloser und genügsamer Natur — 
sein größter Genuß besteht darin, im Sommer barfuß durch 
die märkischen Kiefernwälder zu wandern — ist er der 
grimmigste Feind der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, 
der schärfste Verfechter der Proletarierherrschaft. Ein kluger 
Kopf, ein sarkastischer Redner, der mit sicherem Scharf¬ 
blick jede Blöße des Gegners erspäht und sich dort festbeißt. 
Trotzdem nicht immer glücklich in der Polemik. Nicht selten 
— so auch von Bebel auf einem Parteitag — ist ihm Mangel 
an Takt vorgeworfen worden. 

Im Reden liegt seine Stärke. Der bewegliche Mund ist 
allzeit bereit, einzugreifen, auf den schmalen Lippen lauert 
stets eine bissige Bemerkung. Wenn in Volksversammlungen 


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Zur Reform des staatlichen Erbrechts. 


1437 


sein heller Ton messerscharf die Stille durchschneidet, leiden¬ 
schaftlich anklagend — und er klagt immer an —; mit ätzen¬ 
dem Spott und galliger Ironie durchsetzt, bringt er festgekeilte 
Menschenknäuel in fiebernde Erregung. Es war wohl Gerlach, 
der .ihn mal in der „Welt am Montag" als „Hetzkaplan" 
bezeichnete. Ledebour bohrt, wühlt, peitscht auf, schleudert 
Feuerbrände ins Pulverfaß — tosender Beifall — „Nieder 
mit Scheidemann-Ebert!" — man kann nicht bestreiten, 
daß er mit seiner lodernden Leidenschaft auf bestimmte 
Volkskreise einen großen Einfluß ausübt. 

Ledebour arbeitet lieber mit der Zunge als mit der Feder. 
Das Schriftstellern liegt ihm weniger. Als er sich — ganz 
seinem Temperament entsprechend — seinerzeit in den „Vor¬ 
wärtskonflikt" einmischte, sprach ihm Eisner die journalisti¬ 
sche Kompetenz mit der Bemerkung ab, „er produziere wie 
die „Königin der Nacht" alle fünf Jahre eine Blüte". 

Zurzeit steht Ledebour wieder im Mittelpunkt der politi¬ 
schen Kämpfe, zwischen Spartakus und Unabhängigen hin- 
und herpendelnd, so daß er heute nicht weiß, wo er sein 
Haupt hinlegen soll. 


ALFRED UNGER: 

Zur Reform des staatlichen Erbrechts. 

ARTIKEL 154 der neuen Reichsverfassung lautet: „Das 
n Erbrecht wird nach Maßgabe des bürgerlichen Rechts 
gewährleistet. Der Anteil des Staates am Erbgut bestimmt 
sich nach den Gesetzen." Dieser Artikel ist einer von den 
vielen in dem Abschnitt „Das Wirtschaftsleben" aufgestell¬ 
ten Programmpunkten, deren praktische Durchführung den 
gesellschaftlichen Fortschritt fördern und, wie Artikel 151 
als einheitlichen Gesichtspunkt dem fünften Abschnitt des 
zweiten Hauptteils voranstellt, „den Grundsätzen der Ge¬ 
rechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschen¬ 
würdigen Daseins für alle entsprechen soll . Der im zweiten 
Absatz des Artikels 154 enthaltene Satz, daß sieh der Anteil 
des Staates am Erbgute nach den Gesetzen bestimmt, ist 
nicht eindeutig, sondern infolge der Unbestimmtheit der be¬ 
züglichen Gesetze zurzeit noch unklar und harrt seiner 
inhaltlichen Ausfüllung, die ihm durch weitere gesetzgebe- 

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1438 


Zur Reform des staatlichen Erbrechts. 


rische Maßnahmen zuteil werden soll. Unverrückbar ist in 
dieser Bestimmung allein der, einem alten rechts- und wirt¬ 
schaftspolitischen Gedanken entsprechende, Grundsatz ent¬ 
halten, daß der Staat überhaupt am Erbgute beteiligt sein 
soll. In welcher Weise diese Beteiligung erfolgt, steht noch 
nicht fest, insbesondere ist die von dem früheren badischen 
Justizminister und jetzigen Mitglied der Nationalversammlung, 
Dr. Düringer, in einer Fachzeitschrift (JW 1919 S. 703) 
aufgestellte Behauptung, daß durch den, Absatz 2 des Ar¬ 
tikels 154 die verfassungsrechtliche Grundlage für eine E b- 
schaftssteuer geschaffen werde, nur beschränkt richtig, in¬ 
sofern nämlich, als durch die angeführte Bestimmung unter 
anderem auch die verfassungsrechtliche Möglichkeit einer 
Erbschaftssteuergesetzgebung geschaffen ist. Der Absatz 2 
des Artikels 154 ist aber zugleich, und das ist seine eminente 
verfassungsrechtliche Bedeutung, die Grundlage für die Mög¬ 
lichkeit, dem Staate eine Erbenstellung einzuräumen, die 
im Vergleich zu der bisherigen gesetzlichen Regelung des 
fiskalischen Erbrechts ungeahnte Aussichten und Erwerbs¬ 
möglichkeiten bietet. Es ist eine alte sozialistische Forderung, 
ja nicht nur ein sozialistischer Programmpunkt, sondern auch 
die Ansicht einer großen wirtschaftspolitischen und juristi¬ 
schen Richtung, daß das Erbrecht der Verwandten von einem 
ferneren Grade ab zugunsten des Staates ausgeschlossen 
oder wenigstens erheblich beschränkt werde. Dieser Ge¬ 
danke ist auch in der gesamten Erbschaftssteuergesetzgebung 
durch die Abstufung der Steuerquote nach der jeweiligen 
Verwandtschaftsbeziehung des Erben zum Erblasser zum Aus¬ 
druck gekommen und entspricht auch dem Grundgedanken des 
ganzen Erbrechts, daß die vom Erblasser erworbenen Güter 
von Gesetzes wegen den Personen zufallen sollen, mit denen 
ihn das Bewußtsein gemeinsamer Familienzugehörigkeit ver¬ 
bindet. Bei der Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches 
ist diese Frage der Begrenzung des Verwandtenerbrechts 
sehr umstritten gewesen. Die, eine erhebliche Einschränkung 
befürwortenden, Vorschläge sind unbeachtet geblieben, und 
so ist die unbegrenzte, bis in die äußersten vergessenen; 
Winkel verwandtschaftlicher Beziehungen reichende Erbfolge 
Gesetz geworden. Auch die im Jahre 1908 unternommenen 
Versuche, das Verwandtenerbrecht weitgehend zu beschrän¬ 
ken, haben zu keinem gesetzgeberischem Erfolge geführt. 
Die fortgesetzten Vorstellungen namhafter Schriftsteller (wie 


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Zür Reform des staatlichen Erbrechts. 


1439 


Bamberger, Pappenheim, Bernhöft, Heinsheimer) sind un¬ 
beachtet geblieben, und infolge der dauernden Nichtachtung 
wertvollster Anregungen sind in den letzten Jahren ernste 
Bemühungen in dieser Richtung unterblieben. 

Nunmehr stellt uns die neue Verfassung vor die Frage, 
ob wir den Anteil des Staates am Erbgute ausschließlich in 
der Form der Erbschaftssteuer bestimmen oder von der 
durch die Verfassung uns gegebenen Möglichkeit Gebrauch 
machen wollen, den Staat in erheblich weiterem Maße als 
bisher als Erben an der Erbschaft zu beteiligen. 

Nach dem Rechte des geltenden Bürgerlichen Gesetzbuches 
ist der Staat erst dann zur Erbfolge berufen, wenn zurzeit 
des Erbfalles weder ein Verwandter noch ein Ehegatte des 
Erblassers vorhanden ist. Da nach dem Gesetze miteinander 
verwandt alle diejenigen Personen sind, die von einem ge¬ 
meinsamen Vorfahren, mag dieser auch schon Jahrhunderte 
verstorben sein, abstammen, so ist das Erbrecht des Staates 
zurzeit tatsächlich völlig illusorisch. Mag auch die weit- 
entfernte Verwandtschaft mangels Kenntnis der im Einzel¬ 
fall erbberechtigten Personen vom Erbfall mitunter nicht zu 
einem tatsächlichen Erbschaftserwerb dieser Berechtigten füh¬ 
ren, so sind doch die Fälle, in denen die nach § 1964 BGB. 
erforderliche Feststellung des Nachlaßgerichts erfolgt, daß 
ein anderer Erbe als der Fiskus nicht vorhanden ist, so 
äußerst selten, daß wir zwar von einem theoretischen Erb¬ 
recht, aber dicht von einer praktischen Erbschaftserwerbs¬ 
möglichkeit des Fiskus sprechen können. 

Die im geltenden Recht übermäßig ausgedehnte Verwandten¬ 
erbfolge widerspricht dem bereits oben angedeuteten Grund¬ 
gedanken des Erbrechts, daß nämlich in jedem Menschen das 
Bewußtsein geweckt werden soll, er schaffe durch seine 
Arbeit Werte, welche, die verhältnismäßig kurze Zeit seines 
Lebens überdauernd, den Personen zugute kommen, welche 
ihm im Leben nahestanden. Der Gedanke daran, daß der 
Staat nach dem Tode einer Person den Nachlaß diejenigen 
erwerben läßt, deren Existenzsicherung die angelegentliche 
Sorge des Erblassers war, erhöht in bedeutsamem Maße 
die Schaffensfreudigkeit des einzelnen, der in der natürlichen 
Empfindung der Sorge um die Seinen Kräfte entfaltet, die 
andernfalls nie zum Vorschein gekommen und der wirtschaft¬ 
lichen Gesamtentwicklung entzogen wären. 


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1440 


Zur Reform des staatlichen Erbrechts. 


Diese Momente fehlen jedoch völlig bei den entfernten 
Verwandtschaftsgraden. Vom verwandtschaftlichen Standpunkt 
aus verbindet uns nichts mit dem Enkel des Bruders unseres 
Großvaters, geschweige denn mit noch entfernteren Ver¬ 
wandten. Gleichwohl sind diese, sofern nicht nähere Ange¬ 
hörige vorhanden sind, als Alleinerben berufen, und der 
Fiskus muß sich mit der Erbschaftssteuerquote begnügen. 
Diese Erbfolgeordnung war schon in der früheren, vor¬ 
revolutionären Zeit als eine abnorme Erscheinung zu erachten, 
insbesondere im Hinblick auf die Regelung der gesetzlichen 
Unterhaltspflicht. Die vom Gesetz auferlegte Verpflichtung 
in Not geratene Angehörige zu unterstützen, sollte eigent¬ 
lich — dies entspricht wenigstens den Forderungen der Ver¬ 
nunft und Billigkeit — das Korrelat zum Recht des Erb¬ 
schaftserwerbs sein. Wie steht es nun aber hiermit? Nach 
dem Bürgerlichen Gesetzbuch ist eine Unterhaltspflicht, ab¬ 
gesehen von der Alimentiemng des Ehegatten und des un¬ 
ehelichen Kindes, nur unter Verwandten in gerader Linie 
gegeben, so daß zum Beispiel ein in höchster Not befind¬ 
licher Armer keinen gesetzlichen Anspruch darauf hat, von 
seinem, in den glänzendsten Verhältnissen lebenden Bruder 
auch nur die geringste Unterstützung zu erhalten. Die Last 
der Armenversorgung obliegt der Gemeinde bzw. dem Staat, 
der als Erbe dagegen erst in allerletzter Linie in Frage 
kommt. 

Unerwähnt dürfen an dieser Stelle nicht die Bestimmungen 
bleiben, die dem Staat das an sich schon arg verkümmerte, 
praktisch so gut wie nie in Erscheinung tretende Erbrecht 
in bestimmten Fällen auch theoretisch völlig entziehen. Zu 
erinnern ist hierbei vor allem an das Gesetz betr. das Ur¬ 
heberrecht von 1901, das in einer, jedes vernünftigen Gedan¬ 
kens entbehrenden Weise die grundsätzlich anerkannte Ver¬ 
erblichkeit des Autorrechts in dem Falle ausschließt, daß 
der Fiskus gesetzlicher Erbe ist. Unter den in der Reichs¬ 
tagskommission bei Beratung dieses Gesetzes zur Ablehnung 
des fiskalischen Erbrechts angeführten Gründen ist hervor¬ 
gehoben worden, daß das Fortbestehen des Urheberrechts 
nach dem Tode des Erblassers auf dem „persönlichen Bande“ 
beruhe, durch welches der Urheber mit seinem Erben ver¬ 
bunden weide während der Fiskus dem Erblasser „ganz 
fernstehe“. Diese Begründung dürfte durch die oben ge¬ 
machten Ausführungen widerlegt sein. Gleiche, völlig un- 


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Zur Reform des staatlichen Erbrechts. 


1441 


berechtigte Ausschließungen des staatlichen Erbrechts finden 
sich in den §§ 2104 und 2149 des Bürgerlichen Gesetz¬ 
buchs. 

Der in der neuen Verfassung, Artikel 154 II, aufgestellte 
Programmpunkt darf nicht unerledigt bleiben, seine Ausfüh¬ 
rung darf sich auch nicht auf den Ausbau der Erbschafts¬ 
steuer beschränken, sondern muß das erweiterte Erbrecht 
des Staates erzeugen, das nicht nur eine Forderung der Ge¬ 
rechtigkeit, sondern zur Vorbereitung der sozialen Wirt¬ 
schaf teform in höchstem Maße geeignet ist, und das vor 
allem dazu dienen wird, die unglückliche Finanzlage des 
Reichs merkbar aufzubessern. 

Die Beantwortung der zahlreichen Fragen, wie das staatliche 
Erbrecht im einzelnen am zweckmäßigsten zu regeln ist, geht 
über den Umfang dieses Aufsatzes hinaus. 

Wenn die vorstehenden Zeilen dazu führen, in dem Leser 
das Bewußtsein zu erwecken, wie unbillig und unsozial das 
staatliche Erbfolgerecht in der deutschen Republik zurzeit 
noch ausgestaltet ist und wie fiskalische Erwerbsmöglichkeiten 
ungenutzt gelassen werden, die sich aus einer konsequenten 
Durchführung des dem Erbrecht zugrundeliegenden Gedan¬ 
kens ergeben, dann haben sie den vom Verfasser bezweckten 
Erfolg erreicht. 

In Zusammenfassung obiger Ausführungen gelangen wir zu 
folgenden positiven Vorschlägen: 

1. Einführung des gesetzlidien Erbrechts des Staates der¬ 
art, daß der Staat, wenn beim Erbfall keine näheren Ver¬ 
wandten als die Enkel von Großeltern vorhanden sind, diese 
und ihre Abkömmlinge, sowie alle Verwandten fernerer Ord¬ 
nungen (Ur- und Ururgroßeitern usw.) ausschließt. 

2. Beseitigung aller erbrechtlichen Sonderbenachteiligungen 
des Staates, wie sie sich zum Beispiel ira § 8 des Urheber¬ 
gesetzes von 1901 und in den §§ 2104 und 2149 des Bürger¬ 
lichen Gesetzbuches finden. 

Die Verwirklichung der aufgestellten Forderungen würde 
einen wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Fortschritt 
auf dem Wege der gesunden sozialen Entwicklung bedeuten. 


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1442 


Auslandslehrer. 


Oberlehrer Dr. KARL HEDICKE: 

Auslandslehrer. 

F)AS Reich verspricht in seiner Verfassung den Deutschen 
im Ausland Schutz und Unterstützung. Wie weit der 
Schutz wirksam werden kann, muß die Zukunft entscheiden 
und eine kluge Politik des Möglichen; die Unterstützung 
findet vorläufig ihre engen Grenzen durch die traurige wirt¬ 
schaftliche Lage unseres Vaterlandes. Trotzdem kann kein 
Zweifel sein, daß den Gemeinden in der Fremde staatliche 
Hilfe soweit als irgend möglich gewährt werden muß, da 
ein Wiederaufbau unserer Weltwirtschaft ohne sie unmöglich 
ist. Darüber hinaus gilt es, sie dem Deutschtum zu erhalten 
und mit ihnen eine gerechtere Wertung deutscher Kultur 
unter den Völkern zurückzugewinnen. Näher als sonst aber 
liegt die Gefahr, daß sie verloren gehen zum Schaden des 
Reiches. 

Die Bedeutung der Schulen für Erhaltung und Stärkung 
deutscher Art ist unbestritten. Sie haben vor dem Kriege 
Tüchtiges geleistet, ihre Wirkung kann und muß gesteigert 
und verbreitert werden; ich weise nur darauf hin, daß die Be¬ 
wegung der Volkshochschule sich im Ausland an sie vor 
allem anschließen wird. Dort, wo sie noch bestehen, sind 
sie weiter zu fördern; dort, wo der Krieg sie zerstört hat, 
wo eine Rückwanderung aber sie allmählich wieder nötig 
macht, sind sie langsam und planmäßig wieder aufzubauen; 
dort, wo eine stärkere Auswanderung dazu zwingt, müssen 
sie neu gegründet werden. Die Erfahrung lehrt, daß am 
besten die Gemeinde, die Kolonie der Gründer und Erhalter 
der Schule ist, denn sie weiß, was ihr und ihrem jungen 
Geschlecht nottut. Die Opfer, die sie bringt, verbinden sie 
eng mit ihrer Schöpfung. Das Reich, dessen Einwirkung ge¬ 
ringer geworden ist, weil die Berechtigungen (besonders 
zum Einjährigfreiwilligendienst) an Wert verloren haben, 
kann allein durch unaufdringlich erteilte Ratschläge und durch 
Geldzuschüsse einen gewissen und notwendigen Einfluß be¬ 
wahren. Da staatliche Geldmittel nur in bescheidenem Maße 
zur Verfügung stehen, gewinnt eine dritte Möglichkeit er¬ 
höhte Bedeutung: das ist das Angebot und die Auswahl der 
Lehrer für die Auslandsschulen. Der Nutzen einer sorg- 


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Auslandslehrer. 


1443 


faltigen Auslese ist für beide Teile gemeinsam und ein 
starkes, einigendes Band zwischen Heimat und Fremde. 

Schon in der Vergangenheit hatte man eingesehen, daß 
man diese Auslese nicht dem Zufall überlassen dürfe; der 
Verein für das Deutschtum im Auslande hatte eingegriffen, 
und später war dann beim Auswärtigen Amt in Berlin eine 
Vermittlungsstelle eingerichtet worden. Doch konnte man 
nicht überall einen Zwang zur Benutzung ausüben, war auch 
bei seinen Vorschlägen im großen und ganzen auf das 
Examenszeugnis dessen angewiesen, der sich zur Verfügung 
stellte. Jedenfalls ist leicht, für die akademisch Gebildeten 
aus dem Kunzekalender, zu erweisen, daß die deutschen 
Auslandslehrer im Durchschnitt zu jung waren, also die 
für diesen wichtigen Dienst notwendige Erfahrung im heimi¬ 
schen Schuldienste noch nicht besaßen. Von dem Nachweis 
einer besonderen Vorbildung war überhaupt nicht die Rede. 
Ob ein Bewerber die menschlichen Eigenschaften, Selbst¬ 
sicherheit und Takt zum Beispiel, die für einen Träger deut¬ 
scher Kultur erforderlich sind, besitzt, ist kaum nachzuprüfen. 
Seine wissenschaftliche Befähigung geht schlecht una recht 
aus seinem Zeugnis hervor. Die Tatsache aber, daß er 
sich schon längere Zeit an einer deutschen Schule praktisch 
bewährt hat, kann festgestellt werden. Sollen die Auslands¬ 
schulen Musteranstalten werden, sollen sie, wenn auch auf 
ihren eigentümlichen Zweck als Schulen im fremden Lande 
eingestellt, daneben ein getreues Abbild deutscher Erziehung 
sein, so muß der Erzieher die nötige Erfahrung bereits mit¬ 
bringen. Ich glaube, daß wohl sechs Jahre nötig sind, um 
sich in alle Aufgaben des Schulamtes einzuleben; doch kann 
man, besonders aus praktischen Gründen, sich auch mit 
vier Jahren zufrieden geben. Das aber muß eine Bedingung 
sein, ohne die niemand in die Liste der Anwärter aufgenom¬ 
men wird. Eine besondere Ausbildung, etwa an einer Aus¬ 
landshochschule, ist vorläufig unmöglich; Auslandsstudien 
an den Universitäten und Erwerbung von Zusatzfächern im 

E hilologischen Staatsexamen werden vor anderen für den 
Kenst befähigen. Jedenfalls ist zu fordern, daß der Bewerber 
sich mit allen Fragen des Auslandsdeutschtums und mit den 
eigentümlichen Aufgaben seiner Schule vertraut gemacht, und 
daß er sich dazu noch mit dem Kulturkreis oder mit dem 
Volke beschäftigt hat, in dessen Grenzen er seine Tätigkeit 
als deutscher Lehrer ausüben wird. Denn er lebt nicht 


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1444 


Auslandslehrer. 


nur unter der fremden Nation, die ihn gerade als Vertreter 
Deutschlands scharf beobachtet und beurteilt; denn er unter¬ 
richtet nicht nur deutsche Kinder, er wird nicht nur Mit¬ 
arbeiter an der deutschen Volkshochschule der Kolonie, son¬ 
dern er hat unter seinen Schülern auch Angehörige des 
Wirtsvolkes und kann und soll über den engen Rahmen der 
Klasse hinaus unter diesem als Träger deutscher Kultur auf¬ 
klärend zu wirken versuchen. Erwägt man die Bedeutung 
und die Schwierigkeit dieser Aufgabe in der Gegenwart, 
so ist es klar, daß nur Männer von menschlicher und päda¬ 
gogischer Erfahrung hinausgeschickt werden dürfen, und daß 
ihre Wahl nicht mehr dem Zufall der Meldung oder der 
Schulgemeinde, das heißt der Entscheidung von Laien, über¬ 
lassen werden kann. Wohl muß die Meldung zum Auslands- 
dienst auch weiterhin noch freiwillig bleiben. Das Ministerium 
kann durch Aufklärung und Aufforderung dafür sorgen, daß 
eine genügende Anzahl geeigneter Bewerber zur Verfügung 
steht; es schafft und prüft die Unterlagen, am besten dadurch, 
daß ein Beauftragter sich persönlich durch Teilnahme am 
Unterricht usw. von der Geeignetheit des Kandidaten über¬ 
zeugt und durch eine zwanglose Unterredung feststellt, ob 
dieser ausreichende Kenntnisse vom Auslandsdeutschtum und 
seinen Problemen besitzt und wie weit er in das fremde Volks¬ 
tum, dessen Studium er in seiner Meldung anzugeben hat, 
eingedrungen ist. Von großem Wert ist seine Sprachkenntnis, 
unumgänglich für weite Gebiete die des Englischen oder 
Französischen. Nur der Antrag des geeigneten Bewerbers 
wird der Vermittlungsstelle beim Auswärtigen Amt weiter¬ 
gegeben; diese stellt nach den verschiedenen Kulturkreisen 
eine Liste auf und schlägt daraus den Gemeinden, die an 
sie herantreten, eine Reihe von Kandidaten vor. Um aber 
die Vermittlung des Auswärtigen Amtes durchzusetzen und 
dem wilden Hinausdrängen ungeeigneter Elemente — die 
Gefahr besteht aus verschiedenen Gründen: Ueberfüllung 
des Lehrerberufs, Armut der Schulgemeinden, und andere, 
noch mehr als vor dem Kriege — von vornherein vorzubeugen, 
wird das Reich auf sein Vorschlagsrecht bei denjenigen 
Schulen bestehen, die Staatszuschüsse erhalten, und nur den¬ 
jenigen Lehrpersonen sichere Aussicht auf Rückkehr usw. 
gewähren, die unter seiner Aufsicht hinausgegangen sind. 
Denn, wenn die Auslandsschule eine Zukunftshoffnung 
Deutschlands trägt, so ist es Sache des Reiches, durchzusetzen. 


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Aüslandslehrer. 


1445 


daß die Tätigkeit in der Fremde dem Lehrer keinen Nachteil 
bringt, und daß alle Einzelstaaten in bezug auf Wiederanstel¬ 
lung, Anrechnung der Dienstjahre und Pensionierung gleich¬ 
mäßig verfahren. Es sollte Gesetz werden, daß der Anwärter, 
auch an nichtstaatlich6n Anstalten, nicht aus dem heimischen 
Schuldienste entlassen, sondern auf eine bestimmte Zeit be¬ 
urlaubt wird. Ist er bereite fest angestellt, so kann ihm auf 
seinen Wunsch der Platz offengehalten werden; die Nach¬ 
teile einer Vertretung, die augenblicklich an den höheren 
Schulen ohne Wechsel durch tüchtige Studienassessoren leicht 
durchgeführt werden kann, werden durch die Vorteile auf¬ 
gehoben, die erweiterte Welt- und Menschenkenntnis der 
heimischen Schule zuführen. Anrechnung der Dienstjahre ist 
eigentlich selbstverständlich, wenn man an den Nutzen für 
die Gesamtheit denkt, und Sichersteiliing während der Zeit 
im Auslande eine Forderung der Gerechtigkeit. Opfer wird 
der, welcher jetzt in die Fremde geht, stets bringen müssen: 
Opfer an Kraft und Arbeit, Opfer an Ruhe und gewohnter 
Lebensführung. Er wird Entbehrungen und Einschränkungen 
auf sich nehmen müssen: die wirtschaftliche Lage drinnen und 
draußen zwingt dazu. Ich bin sicher, daß er in dem stolzen 
Gefühl seiner nationalen Aufgabe sein bestes Können ein- 
setzen, und daß ihm nie ein ebenbürtiger Nachfolger fehlen 
wird, wenn er in die Heimat, die Anerkennung hat für den 
völkischen Wert seiner Tätigkeit und die ihm den Platz 
seines Wirkens offenhielt, reich an Wissen von der Erde 
und ihren Bewohnern zurückkehrt. Der Nutzen für seine 
Schule daheim, für die Volkshochschule seiner Stadt und 
damit für die Gesamtheit, wird nicht ausbleiben: nur durch 
allgemeines gegenseitiges Verständnis gelangt die Mensch¬ 
heit endlicn doch einmal zur Versöhnung. 

Die kommende Schulkonferenz wird sich mit der Auslands¬ 
schule beschäftigen; ihre Beratungen und Beschlüsse werden 
auch auf diesem Gebiete unter dem hemmenden Zwange 
der schlechten Finanzlage des Reichs stehen müssen. Trotz¬ 
dem würde es einen großen Schritt vorwärts bedeuten, wenn 
man sich über die Auswahl der Lehrer und die Sicher¬ 
stellung ihrer Zukunft einigen würde. An dem Reiche wäre 
es dann, diese Einheit der Behandlung einer lebenswichtigen 
Zukunftsfrage bei allen Einzelstaaten ourchzusetzen. 


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1446 


Zur Reform des juristischen Studiums. 


Dr. G. VON FRANKENBERG: 

Zur Reform des juristischen Studiums. 

IM Preußischen Ministerium plant man eine Reform des 
* juristischen Studiums, und der Kultusminister hat die ju¬ 
ristischen Fakultäten um entsprechende Vorschläge gebeten. 
Da ist es vielleicht auch einem Außenstehenden gestattet, 
langgehegte Gedanken zu diesem Thema zu äußern. 

Die Rechtspflege ist stets in Gefahr, schablonenhaft zu 
werden, sobald sie nicht in unmittelbarem Hinblick auf den 
Zweck des Rechts, sondern auf Grund fester Regeln (Ge¬ 
setze) ausgeübt wird. Ein Gesetz mag noch so trefflich er¬ 
dacht sein und noch so sorgfältig in Geltung erhalten wer¬ 
den, es ist immer ein Notbehelf. Und jeder Richter weiß 
ja auch, daß er nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes, 
sondern nach dem Willen des Gesetzgebers verfahren soll. 
Das aber ist schwer. Wo ist die Gewähr, daß dieser. ge¬ 
heimnisvolle Wille, der — zum mindesten in der Fiktion— 
des Volkes Wille ist, immer richtig verstanden wird? 

Eine solche Gewähr kann nur dadurch geschaffen werden, 
daß gleichsam jener „Wille des Gesetzgebers“ in jedem, 
der das Recht handhaben soll, wachgerufen und lebendig 
erhalten wird. Das heißt in Prosa: Der Zweck des Rechts 
muß jedem Juristen so v in Fleisch und Blut übergehen, daß wir 
sicher sein können, seine Entscheidungen in Uebereinstim- 
mung damit zu finden. Bisher war das häufig nicht der 
Fall. Und gerade dadurch entstanden die wahrhaft „welt¬ 
fremden“ Gesetze und Urteile, welche der Welt und ihrem 
Getriebe insofern fremd waren, als sie außerhalb des gro߬ 
artigen Systems von Mitteln und Zwecken standen, das wir 
Menschen in unserm Lebenskreise errichtet haben. Sie waren 
„erklärlich“, so wie jede Tatsache erklärlich ist, nämlich 
kausal, aus ihren historischen Bedingungen j. jedoch sie waren 
nicht sinnvoll, nicht zweckentsprechend, final. Wir können 
indes nicht dulden, daß der von uns geschaffene Final¬ 
nexus, (wenn ich einmal so sagen darf), durchbrochen wird 
durch rein kausales Geschehen, das heißt in diesem Falle 
durch nur historisch zu verstehende Ueberbleibsel einer 
älteren Kulturperiode. 

Das aber ist leider beim Recht, zumal beim Strafrecht 
(von dem im folgenden durchweg die Rede sein wird), 


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Zur Reform des juristischen Studiums. 


1447 


einstweilen noch der Fall. Und schuld hieran kann kaum 
etwas anderes sein, als die falsche Ausbildung derer, die die 
Gesetze schaffen und handhaben. Wir bedürfen eines neuen 
Geschlechts von Juristen und eines neuen Rechts. Das sind 
zwei Reformen, die sich gegenseitig unterstützen müssen, 
und man kann eigentlich schwer von der einen sprechen, 
ohne die andere zu berücksichtigen. Der „Wille des Gesetz¬ 
gebers“, den wir vorhin der Einfachheit halber als absolut 
vernünftig angenommen hatten, bedarf selbst einiger erheb¬ 
licher Korrekturen. 

Unser Recht und unsere Rechtspflege leiden unter einem 
schweren prinzipiellen Mangel. Sie fragen eben nicht nach 
dem Zweck, sondern lassen sich von Ursachen bestimmen. 
Es heißt nicht: „Du hast, aus den und den Gründen, ein 
Verbrechen begangen (das heißt die Allgemeinheit geschä¬ 
digt). Damit das nicfht wieder geschieht, wollen wir dich 
so und so behandeln.“ Sondern: „Weil du dies getan hast, 
wollen wir dir das und das antun.“ Das ist aber ein un¬ 
geheurer Unterschied. 

Nun wird man mir zwar entgegenhalten, daß doch in 
vielen Fällen schon heute die Strafe» durchaus den Charakter 
einer Zvmr&strafe hat, insofern sie die Allgemeinheit vor 
dem Täter schützen oder auf Dritte abschreckend wirken 
soll. Das ist gewiß richtig. Aber, was ich sagte, gilt doch: 
Denn entstanden sind unsere Gesetze unter dem Einfluß des 
uralten Vergeltungsgedankens, des biblischen „Auge um Auge, 
Zahn um Zahn!“ Und gehandhabt werden sie im Ganzen 
doch ebenfalls nach diesem Prinzip, schon weil der Richter, 
auch wenn er noch so final denkt, doch an die Gesetze ge¬ 
bunden bleibt. Dazu kommt, daß das „Rechtsgefühl des 
Volkes“ noch gänzlich auf derselben niedrigen Stufe steht. 
Und dieser Faktor verdient um so mehr Berücksichtigung, je 
mehr wir demokratisch organisiert werden und uns an demo¬ 
kratische Anschauungen gewöhnen. 

Versuchen wir, dem Wesen des Rechts noch näher zu 
kommen! Das Recht ist seinem Zweck nach negativ, es soll 
das Verbrechen ausrotten. Ich zweifle, ob jeder meiner Leser 
dieser Bemerkung zustimmt. Viele werden, fürchte ich, mei¬ 
nen, es genüge, die Bestrafung des Verbrechens. Das aber 
ist eben das Sühneprinzip. Denn was heißt hier strafen? 
Doch zweifellos Böse« mit Bösem vergelten I Wer uns ge- 


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1448 


Zur Reform des juristischen Studiums. 


schädigt hat, den schädigen wir wieder, sei es durch Auf¬ 
erlegung einer Geldbuße oder durch Einsperrung oder sonst¬ 
wie, je nach Schwere des Vergehens. Auge um Auge . . . 

Und das ist, der Leser verzeihe mir, ein philosophischer 
Fehler, denn er entspringt aus Mangel an logischer Schulung 
und setzt eine äußerst primitive Weltanschauung voraus, 
wie sie mit den Ergebnissen der Philosophie schlechtweg 
unvereinbar ist. Man findet denn auch Anschauungen dieser 
Art gewöhnlich verbunden mit dem zäh festgehaltenen Glau¬ 
ben an die Freiheit des menschlichen Willens und ähnlichen 
v philosophischen Unmöglichkeiten. 

Solche grundlegenden Fehler wird nun der einzelne um 
so leichter machen, je mehr seine Vorbildung, — und dem¬ 
entsprechend seine Art, zu denken — rein auf das Erfassen des 
Tatsächlichen in Geschichte und Gegenwart gerichtet, je 
weniger er ‘ also in der Lage ist, die großen Strömungen 
hinsichtlich ihrer Richtung und ihrer Ziele zu durchschauen. 
Das bloße Tatsachensammeln läßt kleinliche und kurzsich¬ 
tige Gedanken, wie das Sühneprinzip, hochkommen und bietet 
nicht einmal dafür Gewähr, daß die dadurch entstehenden 
Schäden (also mm Beispiel die dauernde Zunahme der Ver¬ 
brechen trotz sorgfältigster Bestrafung), auch wirklich dieser 
Ursache zugeordnet werden. 

Der beste Schutz gegen derartige Denkfehler liegt dem¬ 
gegenüber in der Beschäftigung mit jenem für die Mensch¬ 
heit so neuen Begriff der Entwicklung , den das letzte Jahr¬ 
hundert uns geschenkt hat. Denn erst durch diese unver¬ 
gleichliche Geistestat ist es ja möglich geworden, alle Er¬ 
scheinungen des Lebens und der Kultur unter einem gemein¬ 
samen Gesichtspunkt zu betrachten. Erst jetzt konnte ein 
Sinn der Welt gefunden werden, erst jetzt wurde auch die 
Einheit, der finale Zusammenhang aller kulturellen und zivili¬ 
satorischen Bestrebungen mit einem Schlage offenbar. Das 
Wort Zweck erhielt überhaupt erst jetzt Klang und Be¬ 
deutung. 

Es wäre leider kein Wunder, wenn diese Worte mehr 
Kopfschütteln als Zustimmung hervorriefen. Denn, trotz aller 
Größe und Beweiskraft der neuen Lehren sind sie noch 
keineswegs Allgemeingut geworden, sondern auf den verhält¬ 
nismäßig engen Kreis der Fachleute und einzelner Laien 
beschränkt geblieben. Handelt es sich doch nicht etwa nur 
um die sclilagwortmäßig, ja ziemlich verbreitete Deszendenz- 


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Kontradiktorische oder konträre Entwicklung. 


1449 


theorie, sondern um den ganzen Blütengarten von Erkennt¬ 
nissen, der in organischem Zusammenhang mit ihr erwuchs! 
Das kann hier nicht im einzelnen erläutert werden. Ich 
rechne aut diejenigen meiner Leser, die zum mindesten einen 
Blick in diese neue Welt getan haben, wenn ich ausspreche, 
daß gerade dem Rechtswesen eine beispiellose Befruchtung 
und Umgestaltung durch diese modernen Ideen bevorsteht. 

Wir werden ja in dem Maße, wie eine naturwissenschaftlich 
begründete Weltanschauung sich Bahn bricht, auf fast allen 
Gdneten unserer Tätigkeit und unseres Denkens gewaltige 
Umwälzungen erleben. Der Gedanke eines nach biologischen 
Gesichtspunkten ~ aufgebauten Strafrechts aber wird jedem, 
der ihn schon heute zu denken vermag, in geradezu revolutio¬ 
närem Gegensatz zur heutigen Praxis erscheinen. Da aber 
ein Eingehen auf Einzelheiten nur unnötig den Widerspruch 
der im alten Geiste geschulten Juristen herausfordern würde, 
dessen ich ohnehin gewiß zu sein glaube, so beschränke ich 
mich auf den Wunsch, es möge doch, zunächst ohne jede 
weitergehende Absicht, an ein oder zwei Universitäten der 
Versuch gemacht wenden, die jungen Juristen ex officio 
mit der Biologie näher vertraut zu machen. Alles weitere 
wird dann, wenn meine Ansichten richtig sind, ganz von selbst 
erfolgen! Ein solcher Versuch wäre ja an sich schon durch 
die Rolle, welche die Biologie im täglichen Leben und bei 
der Begründung der kommenden WelAnschauung zu spielen 
berufen ist, ohne weiteres gerechtfertigt. 


Dr. KURT NAGLER: 

Kontradiktorische oder konträre 
Entwicklung? 

r\IE in zweiter Auflage wieder herausgegebene Broschüre 
1-7 von Karl Kautsky „Die historische Leistung von Karl 
Marx“ gibt uns Gelegenheit, uns mit einigen grundsätzlichen . 
Fragen zu beschäftigen, die auch dem Parteitag der U.S.P. 
in Leipzig im Vordergrund des allgemeinen Interesses stehen. 

Kautsky lehrt uns darin, das Verdienst von Karl Marx 
darin zu erblicken, daß er die Entwicklung der Gesellschafts¬ 
formen in Abhängigkeit gebracht habe von den Wirtschaft- 


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1450 


Kontradiktorische oder konträre Entwicklung. 


liehen Faktoren der politischen Oekonomie. Die Parallele 
zur Entwicklung der Individualformen wird dann gezogen. 

Bei einer anderen Gelegenheit (Besprechung von Woltmanns 
„Darwinsche Theorie und der Sozialismus“) hat sich Kautsky 
dahin ausgesprochen, daß „Marx uqd Darwin den Schlüssel 
zur Entwicklung im Kampf gefunden hätten: Darwin im 
Kampf ums Dasein, Marx im Klassenkampf, und" die Be¬ 
wegungsgesetze in der Natur, welche "jener gefunden, seien 
ebenso wie die Bewegungsgesetze in der Gesellschaft, welche 
dieser entdeckt, auf gemeinsame Bewegungsgesetze zurück¬ 
zuführen.“ 

Der gemeinsame Boden dieser Bewegungsgesetze ist die 
allgemeine BLlogie. Sie haben wohl etwas mi [einander zu tun, 
auch wenn sie nicht identisch sind, nämlich in der „<dialek¬ 
tischen Entwicklung“, „das heißt des Produktes eines Kampfs 
von Gegensätzen , die notwendigerweise auf treten“. 

Bis hierher ist alles richtig. 

„Wie eigenartig auch die Gesellschaft gegenüber der übri¬ 
gen Natur erscheinen mag, hier wie dort finden wir dieselbe 
Art der Bewegung und Entwicklung durch den Kampf von 
Gegensätzen , die immer wieder aus der Natur selbst nervor- 
gehen, das heißt, durch die dialektische Entwicklung.“ 

Nun gibt es aber zwei Arten von Gegensätzen, nämlich 
einen kontradiktorischen und einen konträren Gegensatz, oder 
einen „Widerspruch“ und einen „Widerstreit“. Jener ent¬ 
steht, wenn zwei Begriffe sich völlig ausschließen, wie „Tag 
und Nacht“ oder „Leben und Tod“. Dieser ergibt sich, wenn 
mehrere Begriffe sich den Rang streitig machen, die zwar 
auch einander ausschließen, aber mehrere Möglichkeiten zu¬ 
lassen in der Anwendung des jeweiligen Begriffs unter dem 
Gesichtswinkel eines höheren Begriffs, der sie alle dem 
Umfang nach umspannt; so zum Beispiel bei den vier Jahres¬ 
zeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter oder bei den 
sogenannten Kardinaltugenden der Tapferkeit, sittliche Rein¬ 
heit, Wahrheit und Gerechtigkeit. 

Diese beiden Arten von Gegensätzen können auch auf die 
Entwicklung schlechthin übertragen werden. Vollzieht sich 
die Entwicklung, die nach Marx und Kautsky eine „dialek¬ 
tische“ eben ist, in einem Kampf kontradiktorischer oder 
konträrer Gegensätze? 

Oder anders ausgedrückt: muß der Kampf um die sozia¬ 
listische Gesellschaftsform notwendig durch die „Diktatur 


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Kontradiktorische oder konträre Entwicklung. 


1451 


des Proletariats“ entschieden werden oder gibt es noch eine 
andere Möglichkeit?! 

Oder: besteht die „Katastrophentheorie“ der U.S.P. zu 
Recht oder die „Evolutionstheorie“ der S.P.D. ?! 

Das sind die Fundamentalfragen, die geklärt werden müs¬ 
sen, die ihrer Lösung harren, die immer wieder es selbst 
einer „Zentralstelle für die Einigung der Sozialdemokratie“ 
unmöglich machen werden, zu einer Einigung zu kommen! 

In der Fragestellung selbst kommt nun ein kontradiktori¬ 
scher Gegensatz zum Ausdruck, der nur eine Möglichkeit 
zuläßt. 

Welches ist die richtige? 

Unsere Erkenntnis ist gewiß nur relativ, wie Kautsky 
selbst erklärt, es gibt keine absoluten Wahrheiten, so lehren 
die Neukantianer. 

Wo ist hier Wahrheit?! 

Uns scheint sie darin zu liegen, daß der Kampf aller 
Gegensätze der Gesellschaftsformen sich nicht notwendig 
als „kontradiktorischer Gegensatz“ herausstellen muß, son¬ 
dern als ein konträrer. Und was wäre da der Oberbegriff 
für Diktatur oder Katastrophe auf der einen Seite und Kon¬ 
sequenter sozialer Reform oder Evolution auf der andern 
Seite? Ja, gibt es noch andere Begriffe, die den beiden 
gegensätzlichen gleichgeordnet sind, so daß eben doch nur 
ein konträrer Gegensatz in der Entwicklung zum Sozialismus 
zu konstatieren wäre? — 

Katastrophe und sogenannte „organische“ Evolution sind 
Formen, sind Begriffe der Entwicklung , diese ist der höhere 
Begriff und sie läßt noch andere Begriffe zu, die in der 
Stufenfolge, eben der Entwicklung, beispielsweise in den geo¬ 
logischen Zeitaltern der Welt oder in den sogenannten Kultur¬ 
stufen der Menschheit selbst zum Ausdruck kamen. Würde 
ein kontradiktorischer Gegensatz bestehen, so mußte die 
U.S.P. und ihre Anhänger erst einen finden zu ihrer Kata¬ 
strophentheorie. Gewiß, Katastrophen gibt es auch, aber 
sie sind Summanden einer langsamen Entwicklung, die nur 
ab und zu einen gewissen Abschluß erlangt, wie zum Beispiel 
in der Revolution am 9. November als Folge des verlorenen 
Weltkriegs, der sich schon aus lauter Einzelkatastrophen 
zusammensetzte. Die Evolution ist der rote Faden, das Leit¬ 
motiv, die Revolution der Knotenpunkt, die Fermate! 


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1452 


Kommunismus und Kapitalismus. 


Doch wie einst die Biologie die Katastrophentheorie Caviers 
überwand, so wird die erweiterte Biologie im Marxschen 
Sinne die Katastrophentheorie der U.S.P. überwinden! 

Kraft der Entwicklung selbst! Das lehrt uns die „materia¬ 
listische Geschichtsauffassung“, das sollte sie doch wirklich 
auch die „reinen“ Marxisten lehren, die in der U.S.P. ver¬ 
treten sind. Meinen Sie nicht, Genosse Kautsky?! Und zu 
welcher Partei gehören dann Sie und die „Theoretiker“ des 
Marxismus, die wir immer scharf von den „Phraseologen“ 
unterschieden haben? 1 


JOHN FRANCIS BRAY: 

Kommunismus und Kapitalismus. 

Die im Verlage Hirschfeld-Leipzig unter Leitung von Pro¬ 
fessor Dr. Carl Grünberg-Wien erscheinenden „Hauptwerke 
des Sozialismus und der Sozialpolitik“ ist soeben um J. r. Brays 
„Leiden der Arbeiterklasse und ihr Heilmittel“ bereichert 
worden. Brays Werk erschien im Jahre 1839 und wurde von 
Karl Marx in seinem „Elend der Philosophie“ viel benutzt. 
Marx nennt es ein „bemerkenswertes Werk“. Engels hat 
viel daraus gelernt. Es ist tatsächlich ein sozialistisches 
Hauptwerk. Die Uebersetzung ist von M. Beer, der in einer 
Einleitung von 30 Seiten die Grundgedanken und die ge¬ 
schichtlichen Zusammenhänge des Buches gibt; von beson¬ 
derem Interesse dürfte seine historische Zergliederung der 
Werttheorie sein. Im folgenden bringen wir einige Auszüge 
aus dem Schlußkapitel des Werkes von Bray, um den Lesern 
eine Idee von dessen Bedeutung zu geben. 

A LLE menschlichen Ordnungen und Verfahren sind notwen- 
** digerweise unvollkommen, da das Wissen und die Mittel 
des Menschen beschränkt sind. Der Mensch erwirbt Wissen 


1 Die Antwort dürfte Kautsky nicht leicht werden. Er, der 
heute die theoretischen Waffen zur Bekämpfung der Diktatur 
des Proletariats liefert, schrieb in seinen „Vorläufern des neuern 
Sozialismus“ (1. Band, Seite 219, Stuttgart 1909): „Dagegen 
hat der proletarische Kommunismus vom Mittelalter an, natur¬ 
notwendig das Bestreben, unter günstigen Umständen ein politischer 
und rebellischer zu werden. Wie die heutige Sozialdemokratie, 
setzt auch er sich dann das Ziel, die Diktatur des Proletariats 
als den wirksamsten Hebel zur Herbeiführung der kommunistischen 
Gesellschaft (von Kautsky gesperrt). 

Redaktion der „Glocke“. 


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Kommunismus und Kapitalismus. 


1453 


entweder durch eigene Erfahrung oder durch die Erfahrung 
anderer Personen; er ist deshalb nicht imstande, bei der 
Schilderung eines Gesellschaftssystems, das noch nicht 
existiert, genau zu bestimmen, wie die Individuen unter den 
neuen Umständen und Einflüssen fühlen und handeln sollen. 
Indem wir in die Zukunft blicken, sind wir gezwungen, dies 
vom Standpunkte der Vergangenheit und der Gegenwart 
zu tun, uns Erfahrungen und Tatsachen stets vor Augen zu 
halten und die unbekannten Teile des Zukunftsbildes durch 
Darstellungen auszufüllen, die nach Bekanntem und Wohl- 
definiertem skizziert sind. Wenn wir uns die Prinzipien, die 
Handlungen und die Anreize zum Handeln vor Augen halten, 
so können wir dem wahren' Bilde des gewünschten Endziels 
nahekommen. Die soziale Umgestaltung, die wir oben er¬ 
wogen, ist dieser Art und wurde auf diese Weise skizziert. 
Wenn es also auch nicht möglich ist, jede nebensächliche 
Maßregel zu beschreiben, die ein Volk unter dem neuen 
System treffen wird, so dürften doch die Prinzipien, auf die 
es begründet ist, und die Grundlinien, die es zeigt, genügen, 
um als Maßstab zu dienen, an dem die gegenwärtigen sozialen 
Einrichtungen gemessen und geprüft werden könnten. Die 
jetzige Generation hat keine Gewalt über die nachkommenden 
Generationen ; sie ist deshalb nicht berechtigt, Gesetze oder 
Einrichtungen einzuflühren, die ewig bindend sein sollen. Die 
Menschen aller Zeiten sind frei, sowohl umzustürzen wie zu 
verbessern und aufzubauen. Einen Endzustand gibt es nicht, 
und obwohl es unter der herrschenden Ordnung die Gewohn¬ 
heit der Herrscher und der Regierungen ist, Gesetze zu er¬ 
lassen, denen sie die Kraft zuschreiben, den zukünftigen An¬ 
sichten und Verfahren Grenzen zu Hetzen, so wird nichtsdesto¬ 
weniger eine Zeit kommen, die respektlos mit allen derartigen 
Akten umgehen wird; der gesunde Menschenverstand wird 
sich schon geltend machen und die Menschen befähigen, zwi¬ 
schen Recht und Unrecht zu entscheiden, ohne an die Auto¬ 
rität muffiger Pergamente und wurmstichiger Folianten zu 
appellieren. 

Die gegenwärtige Krise, wohin immer sie führen mag, 
ist nur eine natürliche Bewegung im Laufe der Dinge, eine 
Bewegung auf dem mächtigen Ozean der Geschehnisse, deren 
Wogen von Ewigkeit her dahin rollen und mit ungeschwächter 
Kraft für alle Ewigkeit fortschreiten werden. Sie erfüllte 
ihre vorherbestimmte Aufgabe bei der Menschenschöpfung; 


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1454 


Kommunismus und Kapitalismus; 


sie schritt fort, als die Urgesellschaft von der Zivilisation 
abgelöst wurde; sie erfuhr keine Abschwächung, als Hellas 
und Rom in Verfall gerieten; sie rauschte heran, als die fran¬ 
zösische Revolution Platz griff und Monarchie und Priester¬ 
tum die Erde Europas mit Blut tränkten, und sie strömt jetzt 
vor unseren Augen dahin, und reißt uns mit. Ihr gegenwär¬ 
tiges Wirken ist so, wie es stets war: sie zerstört und er- * 
richtet politische und soziale Institutionen jeder Art. Die 
gegenwärtige Bewegung hat keinen lokalen Charakter; sie 
ist nicht auf ein bestimmtes Land, eine bestimmte Rasse oder 
Religion beschränkt: die Welt ist ihr Wirkungskreis und sie 
beeinflußt die ganze Schöpfung. Bei der Erwägung sozialer 
Gestaltungen sind die Menschen daher in ihren Untersuchun¬ 
gen keineswegs durch Rücksichten auf die bestehenden Ein¬ 
richtungen und Regulierungen beschränkt, ebensowenig sind 
sie bei der Durchführung sozialer Umgestaltungen durch die 
angebliche Heiligkeit irgendwelcher Institutionen gebunden. 
Diese werden zu verschiedenen Zeiten und für verschiedene 
Zwecke eingeführt; sie wurden zu andern Zeiten und für 
andere Zwecke modifiziert und verbessert, und die Menschen 
der Gegenwart haben dasselbe Recht und dieselbe Befugnis, 
diese Einrichtungen umzugestalten, wie ihre Vorgänger sie 
einzuführen und aufrechtzuerhalten hatten. All diese Be¬ 
wegungen und Aenderungen waren Revolutionen, und die 
größeren oder kleineren Uebel, die diese Aenderungen be¬ 
gleiteten, sind — wie jedes Kapitel der Geschichte lehrt — 
dadurch herbeigeführt worden, daß die Herrscher und die 
Regierungen sich törichterweise bemühten, die Nationen mit¬ 
tels Säbel und Bajonette zu überzeugen, daß Irrtum Wahr¬ 
heit sei, daß grobe Ungerechtigkeit Gerechtigkeit sei, daß 
Sklaverei Freiheit sei. . . 

Ein Vergleich des gegenwärtigen Systems der individuellen 
Interessen mit dem System der kombinierten Interessen 
zeigte in jeder Beziehung die Ueberlegen heit des letztem. 
Ist materielles Wohlergehen unser Ziel, so kann es am besten 
durch das kommunistische System und durch die Rechts¬ 
gleichheit erreicht werden ; glauben wir, daß Menschenliebe 
und Sittlichkeit Abwesenheit und Anreize zu Uebelwollen, daß 
allgemeine Verbreitung sozialer Brüderlichkeit auf irgendeine 
Weise im Zusammenhang mit der Gesellschaftsform stehen, 
so ist das kommunistische System das richtigste;- glauben 
wir, daß die Förderung von Wissenschaft und Kunst, die 


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Kommunismus und Kapitalismus. 


1455 


Pflege und die Entfaltung der intellektuellen Fähigkeiten und 
das Vorhandensein von Möglichkeiten zur Durchführung der 
von der Weisheit diktierten Maßregeln für eine Gesellschafts¬ 
ordnung notwendig seien, dann ist das kommunistische System, 
das beste. \ 

Man glaubte bislang, daß es genügt, den Menschen die 
Prinzipien der Gerechtigkeit und Sittlichkeit einzuprägen, um 
sie zu guten Taten anzuregen. Die sie umgebenden Umstände, 
alle Motive zu guten und bösen Handlungen wurden außer 
acht gelassen ; und da unter dem herrschenden System die 
meisten Umstände für die Ausübung der eingeprägten Prin¬ 
zipien ungünstig gind, so bleiben diese Prinzipien notwendiger¬ 
weise unwirksam und sind fast nutzlos. Ehe die Menschen 
imstande sind, ihre Handlungen zu beherrschen, müssen sie 
die Anreize zum Handeln beherrschen können; die Prin¬ 
zipien sind genau im selben Verhältnis wertvoll, als sie 
ausgeführt werden und Anwendung finden können auf die 
Bedürfnisse und Wünsche der Menschheit. Nach der all¬ 
gemeinen Verfassung der Dinge und ihrer Wirkungen auf¬ 
einander ist es sicher,, daß jedermann seinen Preis hat, 
daß es eine Grenze gibt, über welche hinaus er den Ver¬ 
suchungen nicht mehr widerstehen kann, und daß deshalb das 
Nichtvorhandensein von Versuchungen der beste Schutz für 
die Ehrlichkeit ist. Prinzip und Profit müssen auf derselben 
Seite sein;, denn gehen sie auseinander und treten in einen 
Gegensatz zueinander, so erschüttern sie den Charakter und 
die Tugend und es ist zweifelhaft, ob die Sittlichkeit unter 
diesen Umständen immer siegreich bleibt. So schmerzhaft 
dies für die menschliche Eitelkeit sein mag, so lehrt doch 
die Erfahrung, daß diese Behauptung der Wahrheit ent¬ 
spricht. Weder die Moral noch die Religion sind an sich 
fähig, den Menschen zu veranlassen, so zu handeln, wie er 
wünscht, daß andere ihm gegenüber handeln. Fast alle Um¬ 
stände, in denen der Mensch lebt, reizen ihn fortgesetzt an, 
dieses große Gesetz zu verletzen, obwohl die Prinzipien ihn 
anspornen, es zu befolgen. Haben wir keine sozialen Einrich¬ 
tungen, mittels welcher wir die Umstände so beherrschen 
und leiten könnten, daß sie den gewünschten Zweck fördern, 
so werden die Prinzipien viel öfter gebrochen als befolgt 
werden. In dem von uns erwogenen System werden die Prin¬ 
zipien der Gerechtigkeit und Gleichheit die Umstände schaffen 
und sie für die Uebung der Sittlichkeit und Menschenliebe 


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1456 


Kommunismus und Kapitalismus 1 . 


günstig gestalten, und dem Menschen erleichtern, andern 
gegenüber so zu handeln, wie er wünscht, daß man ihm 
gegenüber handelt. 

Viele Personen, die einen ebenso engen Standpunkt ein¬ 
nehmen, wie die Oekonomen und Politiker, sind der Ansicht, 
daß die vorhandenen Uebel nur der Unwissenheit des Volkes 
geschuldet seien. Sie bemühen sich deshalb, durch Errichtung 
eines allgemeinen Schulsystems diesem Mangel abzuhelfen. 
Die Uebel entspringen aber gegenwärtig aus der herrschen¬ 
den Gesellschaftsordnung; kein Wissen ist an sich imstande, 
die Uebel zu beseitigen, solange diese Ordnung besteht. 
Materielles Wohlsein ist die einzige Grundlage, auf die na¬ 
tionale Zufriedenheit und soziale Harmonie aurgebaut werden 
können; das ist das einzige Fundament, auf dem Erkenntnis 
und Moral eine dauernde Existenz haben und ihre Wirkungen 
ausüben können. Die Pflege des Intellekts, das Hervorrufen 
neuer Bedürfnisse machen weder den Körper unempfindlich 
gegen Mühseligkeiten und Entbehrungen, noch den Geist 
gleichgültig gegen Entwürdigung und Unrecht, sondern sie 
steigern vielmehr im höchsten Grade die Empfindlichkeit 
gegen derartige Eindrücke und bewirken im Menschen eine 
Rebellion gegen das, was er vorher als eine fast unbewußte 
Last geduldig ertrug. Die Wissenschaft kann nur dann die 
_Tugend und die Moral fördern, wenn sie mit einer einiger¬ 
maßen zufriedenstellenden materiellen Lage verbunden ist; 
tritt aber keine Besserung der Lage ein, während die Wissen¬ 
schaft wächst, so werden auch Laster und Verbrechen zu¬ 
nehmen, denn diese werden mehr durch materielle Not als 
durch. Unwissenheit veranlaßt. Die Unzufriedenheit der Men¬ 
schen entspringt aus dem Mangel an Mitteln, ihre Bedürfnisse 
zu erhöhen, ohne gleichzeitig die Mittel zu ihrer Befriedi¬ 
gung zu vermehren, oder was das Gleichgewicht stört, das 
natürlicherweise zwischen einem niedrigen körperlichen und 
einem niedrigen geistigen Leben herrscht, führt zu sozialen 
Erschütterungen und zum gewaltsamen Umsturz der Gesell¬ 
schaftsordnung. Die politischen Demonstrationen und gewerk¬ 
schaftlichen Verbindungen sind nur Bemühungen des Geistes, 
das materielle Niveau zur Höhe des intellektuellen zu heben, 
die Mittel im Verhältnis zu den Bedürfnissen zu vermehren, 
die Idee und die Praxis zu befähigen, miteinander Schritt zu 
halten. . . 


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Kommunismus und Kapitalismus. 


1457 


Bei der Erwägung der Abhilfsvorschläge, die wahre oder 
falsche Freunde ihnen vorlegen, sollen die Arbeiter ihre 
ganze gegenwärtige Lage ins Auge fassen: die Summe ihrer 
Mühseligkeiten, ihre unbedingte Abhängigkeit von anderen . 
Klassen, das Ungenügende ihrer Entlohnung und ihre mut¬ 
maßliche Lage im Greisenalter, — an diesen Umständen 
sollen sie die ihnen vorgelegten Abhilfsvorschläge prüfen 
und sehen, wie weit diese ihren Zustand beeinflussen können. 
Wenn man dem Produzenten empfiehlt, nach der politischen 
Macht zu streben, um diese oder jene politische Reform zu 
kämpfen, so soll er fragen: „Wird diese Aenderung meine 
Arbeitslast erleichtern, die Summe meiner Genüsse erhöhen, 
mir Unabhängigkeit geben, mir Arbeit und Entlohnung bis ins 
Greisenalter ninein sichern und mich bis zu möinem Tode 
anständig erhalten ?“ Wir streben doch eine Aenderung an, 
weil wir diese Dinge erlangen wollen und weil sie uns jetzt 
fehlen. Jedes Heilmittel, das vor der Herstellung der Rechts¬ 
gleichheit zurückschreckt, jedes Heilmittel, das nur die Lage 
der Arbeiterklasse als solche modifizieren will, jedes Heil¬ 
mittel, das nicht auf die fundamentalen Prinzipien zurück¬ 
geführt werden kann und die Beseitigung der Ursachen 
der bestehenden Uebel und Ungerechtigkeiten nicht bezweckt, 
ist als die Vernunft und die Gerechtigkeit»verletzend rund¬ 
weg zu verwerfen. In dem jetzt tobenden Konflikte zwischen 
Macht und Recht, in den Kontroversen, ob Gewalt oder Ver¬ 
nunft als Waffe zu gebrauchen ist, dürfen wir die Erfahrung 
nicht vernachlässigen, die vergangene Zeiten uns vom Wirken 
dieser beiden Kräfte hinterlassen haben. . . 

Zur Erlangung von Reformen gibt es zwei Methoden: Dis¬ 
kussion und Zwang. Damit Volkserhebungen erfolgreich sind, 
muß Massenüberzeugung der Gewalt vorausgehen, denn die 
Gewalt kann wohl auirichten, aber nicht immer aufrecht¬ 
erhalten. Fehlt dem Volke die Erkenntnis der Menschenrechte, 
so kann es entweder durch Ueberredung oder durch Zwang 
unter eine Despotie gebracht werden; besitzt es diese Er¬ 
kenntnis in einem begrenzten und unvollkommenen Maße, 
so mag es ihm zwar gelingen, die Regierung zu stürzen, 
x aber es ist fast sicher, daß es alle Vorteile seiner Eroberung 
N verlieren wird. Ist aber die Kenntnis der Prinzipien weit ver¬ 
breitet und ist das Verlangen nach einer Aenderung ebenso 
weit verbreitet wie die Erkenntnis, dann ist die Nation 
unbesiegbar, und keine Macht kann sich lange im Gegensätze 


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1458 


Bücherschau. 


und in Feindschaft gegen die Volksmacht erhalten. Allein, 
obwohl die Unterdrückten allmächtig sind, wenn sie mit 
vereinten Kräften der Macht des Unterdrückers entgegen¬ 
treten, so gibt es doch kein einziges historisches Beispiel 
dafür, daß die Volksmassen je die Früchte eines Sieges ge¬ 
nossen haben, den die Gewalt für sie errungen hat. Sie 
haben immer aus den Bruchstücken der zerstörten Tyrannei 
eine neue Tyrannei aufgerichtet. Und solange sie den un- 
gleichheitlichen Austausch und die Ungleichheit der Lage, 
aus denen alle Tyrannei entspringt, unbeachtet und unregu- 
liert lassen, werden ihre Gewaltmethoden und politischen 
Revolutionen den Fortschritt der wahren Freiheit nicht im 
geringsten fördern. Die Durchführung des richtigen Planes 
hängt nicht vom Umsturz einer Regierung ab, sondern von 
der Beseitigung der herrschenden Gesellschaftsordnung. Die 
wirklichen Mittel hierzu sind demnach nicht die Gewalt, 
sondern die Vernunft, nicht der Zwang, sondern die Ueber- 
zeugung, nicht die Beraubung, sondern der Ankauf, nicht 
eine undisziplinierte und chaotische Bewegung, sondern eine 
systematische Anwendung vereinter Kräfte. . . 

Einzelpersonen haben nicht die Macht, darüber zu ent¬ 
scheiden, auf welche Weise gewisse Umstaltungen sich voll¬ 
ziehen sollen. Sie setzen ihr Vertrauen in Prinzipien und 
warten ruhig das Ergebnis des Geschichtslaufs ab. Ueberall 
sind Anzeichen vorhanden, die den Menschen in unzwei¬ 
deutigen Akzenten sagen, daß die Elemente machtvoller 
Aenderungsprozesse an der Arbeit sind; und was auch die 
unmittelbare Aussicht sein mag, so sieht man doch Vorboten 
schönerer und besserer Tage. Das Licht des Geistes strahlt 
durch das düstere Grenzgebiet des Zeitalters der Nacht hin¬ 
durch und verkündet das Herannahen des Zeitalters des 
Rechts! 


Bücherschau. 

Heinz Stratz: Drei Monate als Geisel für Radek. Verlag 
der Kulturliga. Berlin 1920. Preis M. 2,—. 

Michael Smilg-Benario: Ein Jahr im Dienste der russischen 
Sowjetrepublik. Firnverlag. Berlin 1920. Preis M. 4,—. 
Zwei Schriften gegen den Bolschewismus. Die erstere 
Schrift liest sich wie ein Kapitel aus einem gruseligen Hinter- 


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Bücherschau. , 


1459 


treppenroman. Sie scheint mir viel zu subjektiv und tenden¬ 
ziös, um auf den Wert eines geschichtlichen Dokuments 
Anspruch machen zu können.' 

Anderer Art ist die Schrift Smilg-Benarios. Hier liegt 
ein Versuch vor, uns einen Einblick in das Wesen der Sowjet¬ 
republik zu geben, nur hat der Verfasser den Fehler be¬ 
gangen, sich in einen Revolutionskampf zu begeben, ohne 
Pulver riechen zu können. Smilg-Benario wäre in ruhigen 
Zeiten ein guter sozialistischer Funktionär, da er ejn kräf¬ 
tiges, sittliches Empfinden und die nötigen Kenntnisse besitzt. 
Aber Revolutionskämpfen ist sein weicher Charakter nicht 
gewachsen. Er diente der Sowjetrepublik einige Zeit, bis die 
Attentate auf Trotzky und Lenin den Terror entfesselten. Und 
den Terror konnte Smilg-Benario nicht mitmachen. Die 
Sowjetbeamten und Kommissionen gingen mit den Gegen¬ 
revolutionären diktatorisch um. Besonders hart und strenge 
waren die Mitglieder der „Außerordentlichen Kommission zum 
Kampf gegen die Gegenrevolution“, die der Verfasser be¬ 
schuldigt, daß sie mit Willkür und Grausamkeit ihres Amtes 
walteten. Als er sich beklagte, daß diese Elemente die Re¬ 
volution kompromittierten, erwiderte ihm sein Freund Kos- 
lowsky: „Aber glauben Sie, daß solche Menschen, wie Sie 
oder ich, für die „Außerordentliche Kommission“ taugen ? 
Natürlich nicht. E!s muß ein unbarmherziger Kampf auf 
Leben und Tod gegen die Gegenrevolution geführt werden. 
Und einen solchen können wir Intellektuelle nicht führen. 
Dazu muß man andere Menschen haben. Selbstverständlich 
werden Sie unter rohen Menschen auch solche finden, die 
eine dunkle Vergangenheit haben. Aber dagegen kann man 
nichts tun. Wir müssen uns damit abfinden.“ Der Verfasser 
konnte sich jedoch damit nicht abfinden. Als er mit Borsch- 
tschewsky, einem Mitglied der „Außerordentlichen“ in Jam¬ 
burg bei einem alten Juden übernachtete, sprachen sie über 
den Terror. Borschtschewsky verteidigte die Notwendigkeit 
der rücksichtslosen Unterdrückung der Gegenrevolution, wor¬ 
auf ihm der Jude erklärte: „Ich bin schon alt und grau. 
Vielleicht kann ich schon deshalb das Streben der neuen 
Generation nicht verstehen. Ich weiß, daß in der Vergangen¬ 
heit viel Schlechtes und Ungerechtes geschah. Aber ich 
sage Ihnen: das Böse werdet Ihr mit bösen Mitteln nie 
ausrotten. Vor allem, muß man das menschliche Leben schätzen. 
Unsere alte, heilige Religion, unsere Propheten und Ge- 


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1460 ___ Druckfehler-Berichtigung; 

lehrten sagen, daß der Mensch selber das höchste Out 
sei. Der Mensch muß Selbstzweck und nicht Mittel zum 
Zweck sein. Ja, junger Mann/* sagte er zu Borschtschewsky 
sich wendend, „Sie lächeln, aber ich sage Ihnen, es wird 
vielleicht die Zieit kommen, wo Sie sich meiner Worte erinnern 
werden. Auch der Z'ar und seine Knechte haben so ge¬ 
handelt, wie Sie es jetzt tun; auch zur Zeit der Selbst¬ 
herrschaft hatte das menschliche Leben keinen Wert. Und 
Sie sehen selber, wohin diese Politik das russische Volk ge¬ 
trieben hat. Ich sage Euch allen: auch Eure Ansichten 
und Taten, die zu Blutvergießen und zur Verachtung der 
Menschheit führen, werden keine guten Früchte bringen/* 
Diese Worte entsprachen ganz den Ansichten Smilg-Benarios. 

Ja, wenn man derartige Ansichten hat, soll man allen Macht¬ 
organisationen fernbleiben, sowohl den staatlichen wie den 
revolutionären, denn die Menschheit hat es trotz Jesus noch 
nicht gelernt, durch Versöhnung, -Schonung und Selbstauf¬ 
opferung Eintracht und Frieden zu stiften. 

Smilg-Benario flüchtete schließlich nach Deutschland, wo 
er in Schneidemühl unter dem Verdachte des Bolschewismus 
verhaftet und mißhandelt wurde. Nach zwölf Tagen wurde 
er in Freiheit gesetzt und konnte sich ungestört zu seinen 
Verwandten nach Berlin begeben. 

M. Beer . 


Druckfehler-Berichtigung. 

Peter Knute schreibt uns: „In meinem Artikel in Nummer 
44 der „Glocke**: „Tokio-Washington-London-Moskau** heißt 
es von dem japanischen Zukunftsgedanken im Osten, daß er 
das Oberbonzentum über den „neunmalhunderttausend Seelen 
großen mongolisch-buddhistischen Zukunftsstaat** anstrebt. 
Mit „neunmalhunderttausend Seelen** baut man natürlich 
keinen welterregenden, höchstens einen originalen deutschen 
Kleinstaat. Es handelt sich selbstverständlich um die neun¬ 
hundert Millionen Mongolen, die der japanische Gedanke auf¬ 
rütteln will.** 


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DEN GEFECHTEN 

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und 20% Teuerungszuschlag 


Aus den Tagen der Kindheit 
führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre 
des reifen Mannesalters. Sdieidemann selbst hat — vielleicht 
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen 
Entwicklungsgang beschrieben. 


Bezug durch alle Buchhandlungen 
sowie direkt vom 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 


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Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. 

Verlag: Verlag für Sozial Wissenschaft, Berlin SW 68, Lindenstraße 114. Fernruf: MorHs* 
platz 2218,1448—1450. — Druck: Photogravur O. m. b. H., Berlin SW 68, Lindenstraße 1.1^ 




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DIE GLOCKE 

Sozialistische Wochenschrift 

Herausgeber: Parvus 

Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post 
oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Mk. 6,—, 
Einzelhefte 50 Pf„ Porto 5 Pf. 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

Berlin SW68, Lindenstr. 114. Postscheckkonto: 27576 Berlin 


INHALT DIESER NUMMER: 


M. Beer: Der Wahlkampf in Paisley . . 1461 

U. Emil: Politische Kopfe. . . . . . . 1464 

A Hopfner: Der Ausbau der Sozialversicherung 1467 
Walter Israel: Zur Entwicklungsgeschichte des 

Betriebsrätegesetzes.. 1472 

Parvus: Meine Entfernung aus der Schweiz. . 1482 
M. Beer: Die Engelsbiographie. 1.1482 


Nummer 46 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt; 

Dr. R. von Ungern-Sternberg: Ostorientierung 1429 
U. Emil: Politische Köpfe ........ 1433 

Alfred (Jnger: Zur Reform des staatl. Erbrechts 1437 
Oberlehrer Dr. Karl Hedicke: Auslandslehrer . 1442 
Dr. G. von Frankenberg: Zur Reform des ju¬ 
ristischen Studiums. . 1446 

Dr. Kurt Nagler: Kontradiktorische oder kon¬ 
träre Entwicklung?.. 1449 

John F. Bray: Kommunismus und Kapitalismus 1432 
Bücherschau: Heinz Stratz „Drei Monate als 
Geisel für Radek“; Michael Smilg-Benario . 

, „Ein Jahr im Dienste der russ. Sowjetrepublik“ 1458 
Druckfehler-Berichtigung. . 1460 


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. 47. Heft 21. Februar 1920 5. Jahrg. 

Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet 


M. BEER: 

Der Wahlkampf in Paisley. 

p\IE Augen Großbritanniens sind auf den Wahlkampf in 
1 - / Paisley (bei Glasgow) gerichtet. Dort steht der einfache 
Arbeiter und Sozialist John M. Biggar dem berühmtesten 
liberalen Staatsmann H. H. Asquitn gegenüber. Die Koa¬ 
litionsregierung nahm davon Abstand, durch einen eigenen 
Kandidaten in den Wahlkampf einzugreifen, um Asquiths 
Lage, nicht ganz hoffnungslos zu gestalten. Asquith ist der 
Kandidat def geeinigten besitzenden Klasse, Biggar der 
Bannerträger der sozialistischen Arbeiterklasse. Das hervor¬ 
stechendste Kennzeichen der gesellschaftlichen Entwicklung 
Großbritanniens seit 1917 ist die Ausbildung des Klassen- 
bewußtseins unter den Arbeitern, ist die klare Spaltung.der 
Gesellschaft in zwei gegeneinander kämpfende Klassen. Man 
liest dort die Schriften Marxens wie nie zuvor. 'Sogar in der 
bislang sozialethisch gestimmten Independent Labour Party 
ist eine Spaltung eingetreten: der linke Flügel der Partei, 
insbesondere die schottischen Genossen, treten für den An¬ 
schluß an die dritte Internationale ein. Zwei Umstände 
trugen zu dieser Wandlung bei: die russische Revolution und 
der Versailler Frieden. Tm Herzen des Proletariats aller 
Länder leben Sympathien für die Kämpfe der russischen 
Arbeiterklasse um ihre äußere und innere Befreiung; die 
Meinungsverschiedenheiten beziehen sich hauptsächlich auf 
die vom Bolschewismus angewandten Methoden. Dann hat 
der Versailler Friede, der einzig und allein aut dem römischen 
Prinzip des Vae Victis beruht, die britische Arbeiterklasse 
bitter enttäuscht. Man muß bedenken, daß die Einwilligung in 
die allgemeine Wehrpflicht in Großbritannien ein ungeheures 
Opfer für das Volk bedeutete. Auf dem europäischen Fest- 

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1462 


Der Wahlkampf in Paisley. 


lande wußte jeder erwachsene Bürger, daß er im Falle eines 
Krieges Blut und Out zu opfern hätte. Anders in Gro߬ 
britannien: dort war die allgemeine Dienstpflicht etwas Un¬ 
erhörtes. Das Volk brachte dieses Opfer nur unter der 
Voraussetzung, daß es ein- für allemal den Kriegen ein 
Ende machen würde. Der Versailler Friede brachte aber 
keinen Frieden, sondern legte den Keim zu neuen Kriegen. 
Alle Versprechungen der britischen Regierung wurden ge¬ 
brochen. Das britische Volk hörte wiederum von geheimen 
Abmachungen, diplomatischen Winkelzügen, wirtschaftlichen 
Kämpfen, — kurz, von einem Frieden, der nur eine Fort¬ 
setzung des Krieges mit andern Mitteln ist. Die Massen ver¬ 
loren alles Vertrauen zur Regierung und organisierten sich 
als Klassenpartei mit einem sozialistischen Programm. So kam 
es, daß die Nachwahlen des Jahres 1919 für die Regierung 
ungünstig verliefen, aber der Arbeiterpartei große Erfolge 
brachten. Die Lage ist nun die, daß die Regierung schon 
davon absieht, sich an den Nachwahlen zu beteiligen und 
es der kleinen unabhängigen liberalen Fraktion überläßt, mit 
stark demokratischen und- sozialreformerischen Programmen 
dem Arbeiterkandidaten entgegenzutreten. Eine derartige par¬ 
lamentarische Nachwahl findet nächstens — der Wahltag 
ist noch nicht bestimmt — in Paisley bei Glasgow statt. 

Der Arbeiterkandidat Biggar hat folgendes Wahlprogramm 
aufgestellt: 

„Die Leistungen der Koalitionsregierung sind derart, daß S)ie 
von jedem rechtschaffenen und intelligenten Bürger des 
Reichs mit Entrüstung zu rückgewiesen werden. Indem 
die Regierung es ablehnt, in den Wahlkampf aktiv einzu¬ 
greifen, gesteht sie somit offen ein, daß die Wähler von 
Paisley nichts mit ihr zu tun haben wollen. Es liegt ihnen 
nun ob, darüber zu entscheiden, ob die Opposition gegen die 
Regierung durch einen Vertreter der Arbeiter zum Ausdruck 
kommen soll, oder durch einen Vertreter der alten Parteien, 
die zu diesem Zwecke aufgalvanisiert wurden. 

Ich bin der Kandidat der Genossenschaften und der 
Arbeiterbewegung. Mein Programm ist, ein genossenschaft¬ 
liches Gemeinwesen zu begründen. In der praktischen Politik 
werde ich folgende Forderungen unterstützen: 

1. Sozialisierung der Bergwerke; 2. Sozialisierung des 
Grund und Bodens und seiner Schätze. Solange dieses Ziel 
nicht erreicht ist, werde ich eintreten für die Besteuerung der 


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Der Wahlkampf in Paisley. 


1463 


Bodenwerte, um die Macht der Grundherren zu schwächen 
und sie gleichzeitig zu zwingen, einen gerechten Teil zu den 
Lokal- und Reichssteuern beizutragen; 3. Sozialisierung der 
Verkehrsmittel; 4. Selbstbestimmungsrecht für Irland und 
Schottland; 5. Vollständige Abschaffung der allgemeinen 

Wehrpflicht; 6. Vermögensabgabe als einziges Mittel, der 
gegenwärtigen Finanzmisere abzuhelfen; 7. Sofortige In¬ 
angriffnahme der Behausungsreform; 8. Erwerbslosenunter¬ 
stützung; 9. Erhöhung der Alterspensionen; Mindestpension 
ein Pfund Sterling die Woche; 10. Aeußere Politik: Die 
geheime Diplomatie muß sofort aufhören; geheime Abmachun¬ 
gen, wie , zum Beispiel der Londoner Vertrag (5. September 
1914), dürfen nicht existieren* da sie den Weltfrieden ge¬ 
fährden; 11. Die gegenwärtige Liga der Nationen muß in 
einen Bund der Völker verwandelt werden; 12. Rußland: 
Ich verlange die vollständige Zurückziehung aller Truppen 
aus Rußland, ebenso die Einstellung aller Kriegslieferungen, 
die nur darauf berechnet sind, den Bürgerkrieg in Ru߬ 
land zu fördern. Es muß Rußland gestattet werden, sich 
in Uebereinstimmung mit den Wünschen des russischen 
Volkes zu regieren; 13. Der Versailler Friede: Die gegen¬ 
wärtige Unrast Europas ist hauptsächlich den undemokrati¬ 
schen Bedingungen zuzuschreiben, unter denen der Vertrag 
geschlossen wurde. Alle Staaten sind Teile der Völker¬ 
gemeinschaft, die der genossenschaftlichen . Grundlage be¬ 
darf, um sich erhalten und entwickeln zu können. Solange 
diese Wahrheit nicht anerkannt und verwirklicht wird, kann 
es keine Sicherheit in Europa 'geben. Ich trete deshalb 
für internationale Zusammenarbeit ein, so daß der Stärkere 
dem Schwachen beistehen kann, die Welt wieder aufzubauen.“ 
Die Aussichten Biggars sind nicht besonders glänzend, 
da er dort gegen alle bürgerlichen und kapitalistischen Ele¬ 
mente kämpfen muß. Aber für die Stimmung der Wähler 
ist es charakteristisch, daß auch Asquith sich gezwungen 
sieht, für eine Revision des Versailler Friedens* zu plädieren. 


47 / 1 * 


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1464 


Politische Köpfe. 111. und IV. 


U. EMIL: 

Politische Köpfe. 

in. 

Däumig. 

I/’ENNEN Sie unsern neuen Kollegen schon ?“, fragte ich 
»»“■einen Freund, nachdem Däumig in Berlin eingetroffen war. 
„Nein,“ erwiderte der Gefragte, „aber ich habe gehört, es 
soll eine Landsknechtsgestalt sein.“ Landsknechtsgestalt isit 
für Däumig nicht übel. Er steht anfangs der fünfziger Jahre, 
ist mittelgroß, kräftig, untersetzt. Das Profil ebenmäßig, die 
Farbe frisch und gesund, der Schnurbart graumeliert und das 
schlicht in der Mitte gescheitelte Haar weiß. Früher war es 
siegfriedblond, nun, da die Stürme des Krieges und der Re¬ 
volution darüber hinweggegangen sind, hat sich Schnee darauf 
gelegt, der dem Kopf eine interessante Note gibt. 

„Ich bin alt und grau geworden in der Revolution und im 
Kampf für die Arbeiterrechte“, erklärte er kürzlich auf einer 
Tagung. Und das trifft zu. Däumig stand von Anfang an 
in den vordersten Reihen und seinetwegen ist in Berlin nicht 
am 11., wie gedacht, sondern am 9. November losgeschlagen 
worden, da man am Abend vorher Däumig auf der Straße ver¬ 
haftet hatte. Revolutionäre denkt man sich immer anders als 
Däumig, er hat nichts von einem Robespierie. Im Gegen¬ 
teil. wenn man ihn so ruhig, so ernst, so gesetzt und korrekt 
mit der Mappe unterm Arm daher kommen sieht, könnte man 
in ihm einen braven Beamten vermuten, der sein^ Leben lang 
pünktlich in die Schreibstube gegangen ist und* diese nach 
erledigtem Pensum ebenso pünktlich wieder verlassen hat. 
Dies trifft aber ganz und gar nicht zu. Vielmehr ist das 
Leben Däumigs von einem romantischen Schimmer umwoben. 
In einer mehr als knappen Lebensbeschreibung sagt er von 
sich: Geboren 25. 11. 1866 in Merseburg, besuchte das 
Gymnasium, dann Militär. — Ganz Däumig. Kein Wort 
darüber, daß fcr einen Abschnitt seines Lebens in der Fremden* 
legion verbracht, daß seine Füße den heißen Wüstensand ge¬ 
stampft und die Sonne Algiers seine Haut gebräunt. Aller¬ 
dings hat er seine Erlebnisse in Büchern und Schriften nieder¬ 
gelegt, die (sich durch sachliche, wahrheitsgetreue Darstellung 
wohltuend abheben von ähnlichen literarischen Erzeugnissen. 
Er hat aber nicht nur französische Uniform getragen, sondern 


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Politische Köpfe. III. und IV. 


1465 


auch deutsche, und dieser Umstand förderte und begünstigte 
seine Neigung für militärtechnische und -kritische Fragen. 
Auch die Arbeiterbildungsprobleme beschäftigten ihn stark 
und in den Bildungsausschüssen, in die man ihn schickte, 
hat er wertvolle Arbeit geleistet. Die Berliner freireligiöse 
Gemeinde läßt ihn öfter über Religionsgeschichte sprechen. 

Däumig ist kein feuriger, aufpeitschender Volksredner, mit 
seiner dozierenden Art zu reden, gehört er eigentlich aufs 
Katheder. „Ich kann keine schmetternde Agitationsrede halten, 
ich kann nur dozieren“, bemerkte er gelegentlich, als er mit 
mir eine Wählerversammlung verließ. Ist er nun auch kein 
schmetternder, so ist er doch ein guter Redner, und die besten 
Vorträge, die ich im Reichstagswahlkampf 1912 hörte, waren 
von Däumig. 

Bis die Spaltung in der Sozialdemokratie erfolgte, war 
Däumig am „Vorwärts“. Seit der Revolution ist er das Haupt 
der Rätebewegung, für die er bis zum äußersten kämpft. 
Mit einer Leidenschaft, einem Temperament, wie es keiner von 
uns, die wir ihn schon früher kannten, bei ihm vermutet 
hätten. Und wenn ein Mann wie Däumig mit der Faust auf 
den Tisch schlägt, so will das viel heißen. Auf dem vorletzten 
Parteitag der U.S.P.D. sollte er neben Haase Vorsitzender 
werden. Sein Radikalismus übertraf aber den Haases noch 
um einiges und so konnten die beiden Tribunen nicht neben¬ 
einander zu stehen kommen. Däumig neigt zum Kommunismus 
hinüber, verwirft aber ausdrücklich Putsche. Um seinetwillen 
wäre die Allgemeinheit im Frühjahr 1919 beinahe böse in 
Mitleidenschaft gezogen worden. Man hatte ihn festgenom¬ 
men und in Untersuchungshaft gesetzt und es trat eine 
schwüle Situation ein, die indessen durch die baldige Frei¬ 
lassung des Verhafteten wieder verflog. Jetzt ist er wieder 
in Schutzhaft und die Massen schweigen. Die Revolutions¬ 
kurve zeigt eine absteigende Richtung. 

IV. 

David. 

Der kleine David, der, die Schleuder der Wissenschaft 
in der Hand, es mutig mit dem Riesen Radikalismus auf¬ 
nahm. Damals, als der Radikalismus in der einzigen sozial¬ 
demokratischen Partei noch die Oberhand hatte, und es gar 
nicht so leicht war, gegen ihn anzukämpfen. Der kleine David 
wagte es, aber er erschlug Goliath nicht, wenn er ihm auch 
manch schmerzhaften Wurf verabfolgte. Er hatte eingehend 


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1466 


Politische Köpfe. III. und IV. 


die Landwirtschaft studiert, um im Auftrag der Partei ein 
sozialdemokratisches Agrarprogramm auszuarbeiten. Hierbei 
kam er zu dem Schluß, daß die Landwirtschaft den entgegen¬ 
gesetzten Weg der Industrie gehe: nämlich sich mehr zum 
Kleinbetrieb entwickle und geriet so in Widerspruch zu 
Marx und Kautsky, — der Revisionist war fertig. Allerdings 
war David dafür geradezu prädestiniert. Als Sohn eines 
konservativen Beamten und von Natur ein stiller, tiefschür¬ 
fender Geist, lag ihm die wuchtige, agitatorische Phraseologie 
der überwiegend radikalen Partei nicht. 1863 in Ediger an der 
Mosel geboren, studierte er Germanistik, Geschichte und 
Philosophie und baut seinen Doktor phil., wird Lehramts¬ 
kandidat und dann am Giesener Gymnasium Oberlehrer. Er 
findet Berührung mit dem Sozialismus, wird Mitarbeiter an 
sozialdemokratischen Zeitungen und hatte damit seine Lauf¬ 
bahn als Oberlehrer besiegelt. Von 1893—94 leitet er die 
„Mitteldeutsche Sonntagszeitung“, von 1896—97 die „Mainzer 
Volkszeitung“. Dann wird er Parteisekretär für das Gro߬ 
herzogtum Hessen und Mitglied des Hessischen Landtags. 
In den Reichstag zieht er erst 1903 ein. Hier wußte er sich 
bald Geltung zu verschaffen. Wenn das kleine Männchen mit 
dem durchgeistigten Gesicht, dem blonden, kurz gehaltenen 
Vollbart und dem nach hinten gekämmten Haupthaar das 
Wort ergriff, ließ das Rhabarbergemurmel im Saale nach 
und ein großer Geist von Zuhörern gruppierte sich um den 
Redner. Er schlug nicht mit Keulen drein wie Bebel und 
andere Feuerköpfe, ruhig, sachlich, fast pedantisch lehrhaft 
plätscherte seine Rede dahin. Und doch, er fesselte, denn er 
gab was, er gab reichlich, er ging in die Tiefe und wußte 
eine verfahrene und verflachte Debatte geschickt wieder auf 
die Höhe zu bringen. So auch in Versammlungen. 

„Ach, den suslichen David habt ihr uns geschickt, ’n 
andern habt ihr wohl nicht für uns. Stadthagen sollte doch 
kommen.“ So maulte einmal der Vorsitzende einer Maifeier¬ 
versammlung mit seinen Genossen, als er vernahm, daß 
David reden werde. Und er redete und redete gut wie immer. 
Keine Trompetenstöße, keine Hammerschläge. Gute, schöne 
Worte teilte er aus, gehaltvolle Gedanken entwickelte er. 
Er versprach nicht das Paradies, aber er sagte, daß jeder, 
der arbeiten wolle, Arbeit erhalten, und jeder, der arbeite, so 
viel verdienen müsse, daß er mit den Seinen anständig leben 
könne. 


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Der Ausbau der Sozialversicherung. 


1467 


David war immer von einem still-fröhlichen Optimismus, 
der sich von Kassandrarufen jeglicher Art nicht erschrecken 
läßt. — 

Als im Sommer 1911) der liebe Gott — trotz Reklamation 
des Kaisers und der Alldeutschen — sich mit seiner Gunst 
den Feinden zuneigte, und die Sonne die Felder verbrannte, 
traf ich David in der Straßenbahn. Wir sprachen über das 
Wetter, und ich äußerte Bedenken wegen der anhaltenden 
Hitze. Da hob David das Zeigefingerchen empor und dozierte, 
als stände er noch vor seinen Schülern: 

„Die Sonne hat noch keinen Bauern zum Lande hinaus¬ 
gebrannt.“ Aber der Kriegsausgang hat David doch arg mit¬ 
genommen und sein Haar grau gefärbt. 

Immer ruhig und bedächtig. Leise, leise, kein Geräusch ge¬ 
macht. Und nicht zu radikal, das geht auf die Nerven. 

„Mit Ihnen, Radikalinski, debattiere ich nicht mehr über 
Politik“, erklärte er eines Tages kategorisch dem Fahrstuhl¬ 
führer, der ihn täglich in sein Archiv hinaufbeförderte. Er 
gehört zu denen, die von Deutschlands Unschuld überzeugt 
waren und hat auch in diesem Sinne gewirkt mit dem Erfolg, 
daß er, der Minister ohne Portefeuille, von den Unkssozia¬ 
listen bitter gehaßt wird und im neutralen und feindlichen 
Ausland an politischem Ansehen viel oder alles eingebüßt 
hat. Und doch zählt David zu den klügsten Köpfen in der 
Politik und ist heute der Spiritus rector der Mehrheitspartei, 
die die Weltgeschichte mit Klugheit machen will. 


A. HOPFNER: 

Der Ausbau der Sozialversicherung. 

r\IE Not der Zeit mit ihrer unaufhörlichen Teuerungstendenz 
läßt die Opfer der Arbeit in ihrer Lebenshaltung immer 
tiefer sinken. Während bis zum Jahre 1914 Kranken-, Inva¬ 
liden- und Unfallrenten ein, wenn auch bescheidenes Aequi- 
valent der ausgefallenen Arbeitskraft ausmachten, kann heute 
nicht mehr davon die Rede sein. Durch die Entwertung des 
Geldes geraten viele Arbeiterfamilien im Krankheitsfalle des 
Ernährers durch die geringen Barleistungen in Not. Der 
höchste Unterstützungssatz von täglich fünf Mark steht in 
keinem Verhältnis zum Lohn, wie er heute üblich ist. Ebenso 
auch das Hausgeld von wenigen Pfennigen für den Tag, das 


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1468 


Der Ausbau der Sozialversicherung. 


der ledige Versicherte erhält, der während seines Kranken¬ 
aufenthaltes noch Angehörige zu unterstützen hat. Der gute 
Ruf, den die Krankenkassen sich bei den, Versicherten zu 
erwerben verstanden, ist dahin, und doch muß man sie von 
aller Schuld freisprechen, weil sie an den gesetzlichen Tage¬ 
lohn gebunden sind, den sie zur Grundlage der Barleistungen 
machen. Die Kassen tun gewiß alles, und gehen über die 
Regelleistungen noch hinaus, gründen Erholungsheime, führen 
Familienberatung ein; aber eine ausreichende Unterstützung 
kann nur eintreten durch Heraufsetzung des Grundlohns und 
dementsprechend höhere Beiträge. Dieser Schritt liegt auch 
im allgemeinen Interesse, da der Gesundungsprozeß des Er¬ 
krankten bei guten Wirtschafts Verhältnissen am schnellsten 
fortschreitet. Deshalb muß die Gesetzgebung energisch an 
die Arbeit gehen, und den Artikel 161 der Reichsverfassung 
in die Tat umsetzen, der besagt: „Zur Erhaltung der Ge¬ 
sundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutze der Mutterschaft 
und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von 
Alter, Schwäche und wechselfälle des Lebens schafft das 
Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender 
Mitwirkung der Versicherten.“ Die hinter uns liegenden be¬ 
scheidenen Lohnverhältnisse sind auch heute noch für die 
Festsetzung der Invaliden-,. Alters- und'Hinterbliebenenrenten 
maßgebend. Hier handelt es sich meist um Rentenempfänger, 
die nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis stehen. Sind nicht 
beträchtliche Ersparnisse oder sonstige Zuschüsse vorhanden, 
so kann ohne Inanspruchnahme der öffentlichen Armenpflege 
niemand seinen Unterhalt bestreiten. Die im Jahre 1919 
gewährten Zulagen von monatlich acht Mark und für Witwen¬ 
renten vier Mark fallen für eine Besserung der Lebenslage 
nicht ins Gewicht. Eine Witwenrente übersteigt selten den Be¬ 
trag von 100 Mk., eine Waisenrente den von 50 Mk. jährlich. 
Ohne Erhöhung der Beiträge werden sich natürlich die Renten 
nicht aufbessern lassen, ater große Hindernisse werden dem 
nicht entgegenstehen. Besonders, wenn damit noch andere 
wichtige Reformen verbunden werden, so die Einführung 
höherer Lohnklassen, mit höheren Beiträgen und Leistungen, 
Heraufsetzung der Gehaltsgrenze wie bei den Angestellten auf 
7000 Mark, Vereinfachung des Spruchverfahrens. Leider hat 
die Scheidung von Arbeitern und Angestellten in der Sozial¬ 
versicherung die Rechtsprechung erschwert, und die Ver¬ 
waltung übermäßig verteuert, so daß eine Verschmelzung 


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Der Ausbau der Sozialversicherung. 


1469 


beider Versicherungen nur zu begrüßen wäre. Einige Ver¬ 
ordnungen im Jahre 1919 sind gewiß von Bedeutung für 
die Versicherten, kommen aber nur den billigen Forderungen 
entgegen. So zum Beispiel diejenige vom 9. Februar 1919, die 
bestimmt, daß die Anwartschaft auf die Leistungen der Ver¬ 
sicherung dann bestehen bleibt, wenn die Zeit zwischen dem 
Eintritt in die Versicherung und dem Versicherungsfall zu 
mindestens drei Vierteln durch Beitragsmarken belegt ist.“ 
Ist mithin eine Person mit vollendetem 16. Lebensjahre 
versicherungspflichtig geworden, so kann sie bis zum 36. 
Jahre 20 mal 52 gleich 1040 Marken kleben. Hätte er nur 
bis zum 31. Jahre gezahlt, so würde er, wenn er mit 36 
Jahren invalide würde, nach den bisherigen Bestimmungen 
keinen Anspruch auf Rente gehabt haben, da er eben in 
dem vorhergehenden Zeitraum von fünf Jahren keine Beiträge! 
geleistet hat. Da er aber insgesamt 750 Beiträge geleistet 
nat, so ist in solchem Fall die Anwartschaft gewahrt. — 
Weil es sich um äußerst bedürftige Opfer der Arbeit han¬ 
delt, duldet die Regelung der Invaliden- und Witwenversiche¬ 
rung keinerlei Aufschub. 

Auch der Ausbau der Wöchnerinnen- und Schwangeren¬ 
fürsorge erweist sich unter den gegenwärtigen Schwierig¬ 
keiten zur Hebung der Volkskraft als dringend notwendig; 
der einmalige Beitrag an versicherungsfreie Familienmitglie¬ 
der zu den Kosten der Entbindung in Höhe von 50 Mark 
ist für die heutige Zeit zu minimal; ebenso das Wochengeld 
in Höhe von 10,50 Mark auf die Dauer von zehn Wochen; 
das gleiche gilt auch vom Stillgeld und den Beihilfen für 
Hebammendienste. Die Gewährung freier ärztlicher Hilfe 
und Arznei an nicht versicherungspflichtige Frauen und Kin¬ 
der von Versicherten muß zur Pflichtleistung ausgestaltet 
werden. 

Für die Unfallrenten ist gleichfalls immer noch der Lohn 
vergangener Zeiten in Kraft. Die große Not dieser schwer¬ 
geprüften Kreise verlangt gebieterisch eine baldige Aufbesse¬ 
rung. Die Zulage, die den mehr als 662/3 prozentigen Unfall¬ 
rentnern von monatlich acht Mark zuteil wurde, genügt bei 
weitem nicht den Erfordernissen. Jeder Tag schafft neue 
Opfer, ihnen steht plötzlich ein hartes Schicksal nicht nur 
an Körper und Geist, sondern noch mehr in der Lebenshaltung 
bevor. Nach den geltenden Bestimmungen werden Jahres¬ 
arbeitsverdienste von mehr als 1800 Mark nur mit einem 

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1470 


Der Ausbau der Sozialversicherung. 


Drittel zur Anwendung gebracht. Diese Sätze sind durch den 
gesunkenen Geldwert viel höher zu normieren, sollen sie 
auch nur einigermaßen den Verletzten vor gänzlicher Ver¬ 
armung schützen. Ebenso muß auch der verschiedenartigen 
Behandlung von versicherungspflichtigen Betriebsunfällen und 
bestimmten Gewerbekrankheiten ein Ende gemacht werden. 
Die medizinische Praxis hat schon längst entschieden, daß 
gewisse Gewerbekrankheiten den Betriebsunfällen gleich¬ 
zusetzen sind. Ehe Träger der Unfallversicherung haben sich 
bisher nicht genug bemüht, die Berufsumschulung der Ver¬ 
letzten durch geeignete Prothesen und Werkstätteneinrich¬ 
tungen zu erleichtern. Sie haben sich die Sache sehr leicht 
gemacht, indem die Unfallärzte einen Berufswechsel wohl 
empfahlen, den Verletzten aber in seinem Bemühen wenig 
unterstützten. Die Erfahrungen in der Kriegsbeschädigten¬ 
fürsorge müssen den Berufsgenossenschaften viel mehr 
nutzbar gemacht werden, als es bisher geschieht. Manchem 
zu Schaden gekommenen Verletzten könnte durch Arbeits¬ 
ermöglichung wieder aufgeholfen werden. 

Alle diese Anträge und Wünsche verlangen schleunigste 
Erledigung durch die Nationalversammlung. Ausgestaltung 
der Krankenversicherung, insbesondere Einschluß der Fa¬ 
milienfürsorge, Reform der Invaliden-, Alters-, Hinterbliebe¬ 
nen- und Unfallversicherung, sowohl in Hinsicht auf die Er¬ 
höhung der Bezüge, als auch in bezug auf die Vereinfachung 
der Verwaltung. Den Versicherten muß ferner ein größeres 
Mitbestimmungsrecht in allen Versicherungszweigen als bisher 
eingeräumt werden. Das indirekte Wahlverfahren der Schieds¬ 
gerichtsbeisitzer entspricht heute nicht mehr dem Interesse der 
Versicherten. Da der große Umfang dieser Reform eine Ver¬ 
zögerung der Leistungsaufbesserung befürchten läßt, so wäre 
die Beschlußfassung darüber vorweg zu nehmen, vielleicht 
in Form eines Notgesetzes. Die Verwaltungsänderungen 
und die Revision des Versicherungsverfahrens könnte dann 
.einer späteren gründlichen Beratung unterzogen werden. 

Einen wichtigen Abschnitt sozialpolitischer Reform bedeutet 
der vom Reichsarbeitsministerium nunmehr abgeschlossene 
Gesetzentwurf einer Reichsarbeitslosenversicherung. Es ist 
hohe Zeit, daß die Erwerbslosenfürsorge den Gemeinden 
abgenommen wird und der Sozialversicherung eingegliedert 
wird. Viele Mißbräuche haben sich in der Organisation 
herausgebildet. Erst jüngst wurde gemeldet, daß bei einer 


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Der Ausbau der Sozialversicherung. 


1471 


Kontrolle über 10 000 Personen unrechtmäßig Erwerbslosen¬ 
unterstützung bezogen haben. Während bisher den Gemeinden 
die Abwicklung der Geschäfte überlassen war, sollen die 
neuen Arbeitslosenkassen den Krankenkassen angegliedert 
werden. Ob dies die richtige Lösung ist, bedarf näherer Er¬ 
örterung. Es liegen Vorschläge vor, die Kassen mit den 
Arbeitsnachweisen zu verbinden, unter Mitwirkung der Ge¬ 
werkschaften. Die Lasten sollen nicht mehr wie heute Reich 
und Gemeinde allein tragen, auch die Unternehmer und Ver¬ 
sicherten sollen zu gleichen Teilen zu den Kosten heran¬ 
gezogen werden. Die Versicherungspflicht beginnt nach dem 
Entwurf mit dem 16. Jahr und umfaßt Aroeiter und An¬ 
stellte. Arbeitslosenunterstützung erhält, wer mindestens 26 
Wochenbeiträge geleistet hat. Der Versicherte muß arbeits¬ 
fähig sein und durch Beglaubigung nachweisen, daß er inner¬ 
halb drei Tagen nach Verlassen der Arbeitsstelle keine pas¬ 
sende Stelle gefunden hat. Innerhalb eines Jahres dauert das 
Bezugsrecht der Unterstützung 13 Wochen. Streiktage werden 
nicht als Arbeitslosigkeit angesehen. Ebenso wird die Unter¬ 
stützung versagt, wenn der Versicherte freiwillig ohne Grund 
seine Stellung aufgegeben hat oder Schuld an seiner Ent¬ 
lassung hat. Der Entwurf sieht noch weitere Ausschlußfälle 
für Unterstützung vor. Als Unterstützung gilt der Ortslohn, 
doch kann dieser in gewissen Fällen herabgesetzt werden. 
Der Entwurf wird gewiß von links und rechts viel An- 
- fechtung erfahren, im wesentlichen bedeutet er aber eine 
wichtige Ergänzung der Sozialversicherung. 

Die nächsten Jahre erfordern schwere Arbeitsleistung von 
jedem einzelnen. Es liegt im Interesse des Reichs, all seine 
Glieder in ihrer Arbeitsfähigkeit und Gesundheit zu erhalten. 
Den Opfern auf dem Schlachtfelde der Arbeit müssen alle 
Parteien zu Hilfe kommen, damit wenigstens sie vor größter 
Not geschützt sind. Reich, Arbeitgeber und Arbeitnehmer 
müssen es als Nobile officium betrachten, durch Aufbrin¬ 
gung der Mittel die Durchführung der in Aussicht genomme¬ 
nen Maßnahmen zu ermöglichen. Gelingt es uns, diese 
schwere Aufgabe zu bewältigen, dann können wir mit vollem 
Recht den Anspruch als erstes Kulturvolk erheben. 


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1472 Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 


WALTER ISRAEL: 

Zur Entwicklungsgeschichte des 
Betriebsrätegesetzes. 

FjASS in der ganzen Rätefrage in der erstell Zeit nach dem 
9. November 1918 ein Wirrwarr herrschte und dem Ge¬ 
danken einer Diktatur keine schöpferische Idee gegenüber¬ 
stand, darf nicht geleugnet werden. Es ist daher unbedingt 
als eine bedeutende Tat zi^ bezeichnen, wenn Julius Kaliski am 
15. Januar 1919 in der Vollversammlung der Arbeiterräte 
Groß-Berlins zum ersten Male seinen und seiner Freunde Ge¬ 
danken von der Kammer der Arbeit der Oeffentlichkeit zur 
Diskussion übergab. Es hieß dies nicht weniger als der An¬ 
fang, den Rätegedanken in gesunde Bahnen zu lenken, den 
Räten das Gebiet zeigen, das ihnen im Namen des Sozialismus 
zufällt. Denn der tiefere Sinn,*der den Ruf nach Räten nicht 
schwächer werden ließ, ist der, daß das Proletariat, im weite¬ 
sten Sinne des Wortes, sah, daß die politische Demokratie 
noch nicht Sozialismus bedeutet, instinktiv aber fühlte, durch 
die Räte ein Mittel zu besitzen, welches es auf dem Wege 
des Sozialismus weiter bringen kann. Und diesem Fühlen 
wurde Kaliski gerecht. Als nächstes geschichtliches Datum auf 
dem Wege zur Klärung ist der 8. April 1919 anzuführen, der 
Tag des zweiten Rätekongresses in Berlin. Es ist hier von 
Bedeutung, daß der gemeinsam von Kaliski, Cohen und Büchel 
eingebracnte Antrag (S.P.D.) angenommen wurde. Es sei 
hier der Antrag wiedergegeben: 

1. Die Grundlage der sozialistischen Republik muß die sozia¬ 
listische Demokratie sein. Die formal demokratische, bürgerliche 
Demokratie wertet in ihrem Vertretersystem die Bevölkerung nach 
der bloßen Zahl. Die sozialistische Demokratie muß deren Ergän¬ 
zung bringen, indem sie die Bevölkerung auf Grund ihrer Arbeits¬ 
tätigkeit zu erfassen strebt. 

2. Dies kann am besten durch die Schaffung von Kammern 
der Arbeit geschehen, zu denen alle arbeitsleistenden Deutschen, 
nach Berufen gegliedert, wahlberechtigt sind. 

3. Zu diesem Zweck bildet jedes Gewerbe unter Berücksichti¬ 
gung aller in ihm tätigen Kategorien (einschließlich der Betriebs¬ 
leitung) einen Produktionsrat, in den die einzelnen Kategorien 
ihre Vertreter (Räte) entsenden. Die Landwirtschaft und die freien 
Berufe bilden entsprechende Vertretungen. 


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Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 1473 


4. Die Räte gehen aus Wahlen hervor, die in den einzelnen 
Betrieben oder in den zu Berufsverbänden zusammengelegten Be¬ 
trieben erfolgen. 

5. Der Produktionsrat des einzelnen Gewerbezweigs der Ge¬ 
meinde wird mit dem Produktionsrat des gleichen Zweigs in 
Kreis, Provinz, Land und Reich zu einem Zentralproduktionsi 
rat verbunden. 

6. Jeder Produktionsrat wählt Delegierte in die Kammer der 
Arbeit, die in der kleinsten Wirtschaftseinheit beginnt. 

7. Diese ist die Gemeinde, respektive Großgemeinde; Ge¬ 
meinden, die eine Wirtschaftseinheit bilden, werden zusammen¬ 
gelegt. 

8. Die Produktionsräte der Kreise, Provinzen, Länder und der 
Gesamtrepublik tun dasselbe. Ueberall- besteht eine allgemeine 
Volkskammer und eine Kammer der Arbeit. 

9. Jedes Gesetz bedarf der Zustimmung beider Kammern, doch 
erhält ein Gesetz, das in drei aufeinanderfolgenden Jahren von 
der Volkskammer (Gemeindevertretung, Kreisausschuß, Provinzial¬ 
vertretung, Landtag, Reichstag) unverändert angenommen wird, 
Gesetzeskraft. 

10. Jede der beiden Kammern hat das Recht, eine Volksabstim¬ 
mung zu verlangen. 

11. Der Kammer der Arbeit gehen in der Regel alle Gesetzent¬ 
würfe wirtschaftlichen Charakters (vor allem cfie Sozialisierungs¬ 
gesetze) zuerst zu. Es liegt ihr ob, auf diesem Gebiet die Initia¬ 
tive zu ergreifen. Der Volkskammer gehen in der Regel die 
Gesetzentwürfe allgemein politischen und kulturellen Charakters 
zuerst zu. Die Zuteilung der Delegierten auf die einzelnen Berufe 
wird durch besonderes Gesetz geregelt. 

Das wesentliche ist, daß hier die Wirtschaft als solche 
demokratisiert wird, daß die Arbeiter durch ihre gewählten 
Produktionsräte aufhören, nur Produktionsmittel in der Hand 
der Unternehmer zu sein, daß das Proletariat, Hand- wie 
Kopfarbeiter, anerkannt wird als wesentlicher mitbestim¬ 
mender Faktor, daß es, kurz gesagt, als Produzent aner¬ 
kannt wird. Ueberlegen wir kaltblütig, aber gestehen wir 
uns es dann offen ein, hier wird der Grundstein gelegt, dem 
Proletariat der Weg gezeigt, die Wirtschaft mit dem Geist des 
Sozialismus zu durchdringen, sie im Interesse des ganzen 
Volkes zu beeinflussen; der Standpunkt vom Herrn im Hause 
hat aufgehört! Daß diesem Vorschlag Kaliskis Fehler noch 
anhaften, ist verständlich, verringert aber deshalb nicht die 
Leistung dieses Mannes. Seine Tragik ist, auf seinem Stand¬ 
punkt zu verharren, den Fortschritt nicht anzuerkennen. 


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1474 Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 


Der Irrtum beruht darauf, daß er als Volkswirt nur die 
Wirtschaft sieht und daher die höchste Instanz seines organi¬ 
schen Aufbaus, die Kammer der Arbeit, dem Reichstag gleich¬ 
gestellt, sie als zweites Parlament sehen will; ebenso ist es 
dann als ein Mißgriff zu bezeichnen, wenn er in jeder Ge¬ 
meinde, iedem politischen Bezirk, Kreis, Provinz, neben jedes 
dort vorhandene demokratisch gewählte Parlament ein zweites 
berufsständisches, eben die entsprechende Kammer der Arbeit 
setzen will. Ich bekenne gern, daß ich zu den eifrigsten Ver¬ 
fechtern der Kaliskischen Ideen gehört habe, die Irrtümer 
erkannt und mich zum Standpunkt Dr. Sinzheimers durch¬ 
gerungen habe. 

Als erster Punkt, der gegen das eben Angeführte spricht, 
ist der zu nennen, daß eine Kammer der Arbeit das gesamte 
Leben eines Volkes, also auch die Fragen der Kultur und 
Politik im wesentlichen durch die Brille des Wirtschaftlers an- 
sehen wird. Dies führt notgedrungen zu einer Materialisie¬ 
rung des ganzen Volkslebens. In diesem Zusammenhang ist es 
nötig, den Leuten mit der einseitigen Auffassung, daß das 
Leben nur Produktion und für die Produktion da ist, zu sagen: 
hier findet ein Spiel mit Begriffen statt. Wohl ist kulturelle 
Arbeit ein produktives Schaffen für eine höhere Kulturstufe 
der Menschheit. Aber mit dem, was man im allgemeinen und 
auch von den Kaliskileuten unter Hebung der Produktion ver¬ 
steht, ist wirtschaftliche Produktion allein gemeint. So 
wesentlich an sich die Hebung einer solchen Produktion für 
die Allgemeinheit ist, führt sie (aber im Extrem, eben diese 
allein betont, zur Gefährdung gerade wahrhafter Kultur. 
Der Philosoph Schopenhauer charakterisiert den Philister als 
den Menschen, der keine edle Muße kennt. Nur von dieser 
Eigenschaft war vor dem Kriege recht wenig in Deutsch¬ 
land zu spüren. Ein wüstes Streben nach Erwerb peitschte 
die Menschen, ein wildes Hetzen Inach dem vermeintlichen, 
allein nur herrschenden Gott Mammon bestimmte das Leben 
trotz recht hohem Stand der Produktion. Gerade wir Sozia¬ 
listen forderten den Achtstundenarbeitstag, doch wohl nicht 
zuletzt deshalb, damit der Mensch Ruhe in der Familie findet, 
Zeit hat, sich auf sich selbst zu besinnen, sich zu bilden, 
an sich als Mensch zu arbeiten. Soll denn die Würde des 
Menschen im Materialismus völlig verkommen? 

Es darf wohl an Kant erinnert werden, dessen eine For¬ 
mulierung des Sittlichkeitsprinzips, in folgendem Satze liegt: 


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Zur Entwicklungsgeschichte 7 des Betriebsrätegesetzeg. 1475 


„Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person 
als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als 
Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ Aber hier sei im 
besonderen auf den Kantschein Gedanken von der Sittlichkeit 
als einen unendlichen Progressus hingewiesen. Diesem ent¬ 
sprechend soll die Menschheit sich sittlich entwickeln und 
selbst erziehen. Es ist die Politik nichts als praktische Ethik 
letzten Endes. Von sozialistischem Standpunkt aus sollte nun 
nie über den Weg, der zum Ziele führt, der sittliche Endzweck 
des Sozialismus vergessen werden. 

Es ist aber klar, daß dieser ethischen Aufgabe nicht ge¬ 
recht werden kann, wenn die Gesetzgebung durch die Kammer 
der Arbeit geschieht, das heißt durch Vertreter der Wirt¬ 
schaft; denn Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sie haben in 
diesem Parlament das üebergewicht und geschlossen ver¬ 
treten sie, wenn auch Gegensätze zwischen ihnen vorhanden 
sind, den Standpunkt des Produzenten. Denn sie sind ja 
beide gerade Produzenten und als solche gewählt; dies ist ja 
gerade der Zweck der Kammer der Arbeit. 

Dasselbe ist, wie über die oberste Kammer, die als zweites 
Parlament gedacht ist, entsprechend auch für die Kammern 
in den unteren Einheiten, wie in Stadt, Kreis, Provinz, gültig. 
Hier tritt noch die Gefahr hinzu, daß Sozialismus in den ein¬ 
zelnen Unterbezirken nun selbständiger gehandhabt werden 
kann, ein Kirchturmsozialismus getrieben wird, und der große 
Zusammenhang des ganzen Wirtschaftskörpers einer Wirt¬ 
schaftsgesellschaft, zum Beispiel Deutschlands, vernachlässigt 
wird. 

Als zweiter Grund zur Ablehnung dieses zweiten Parla¬ 
ments ist ein rein wirtschaftlicher anzuführen, nämlich der, 
daß der feinverzweigte und so überaus empfindliche Wirt¬ 
schaftskörper nicht in ein Parlament mit all seiner kompli¬ 
zierten gesetzgeberischen Maschinerie eingezwängt werden 
darf; er muß frei sich die Formen seiner Verfassung selbst 
suchen. Dementsprechend lassen sich Wirtschaftsbezirke nicht 
streng nach den politischen Grenzen bilden. 

Der dritte Punkt, zuletzt genannt und doch von so großer 
Bedeutung, ist die Zusammensetzung der Kammern der Arbeit. 
Selbstverständlich müssen in ihnen auch die Unternehmer 
vertreten sein. Denn ihr Ausschluß heißt ein gefährlicher 
Schritt auf dem Wege zur Diktatur einer Volksschicht über 
die andere. Weiter aber auch, hat Kaliski mit Recht betont, 


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1476 Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 

ist die Tätigkeit des Unternehmers, abgesehen von der rein 
kapitalistischen, eine zweite. Er ist als Leiter eines Betriebes 
ein nützliches, unbedingt nötiges Mitglied der Wirtschafts¬ 
gemeinschaft. Also wir sehen, sein Ausschluß aus der Kammer 
der Arbeit ist ein Unding. Gut, dann muß er, da die Zu¬ 
sammensetzung eine paritätische sein soll und muß, stets 
das ausschlaggebende Moment in diesem Parlament sein, 
selbst bei leidlich idealer Vertretung der Arbeitnehmer und 
Verbraucher. Das heißt, die Kammer muß ein Hemmschuh 
für den sozialistischen Fortschritt werden. Diese Gefahr 
erhöht sich um so mehr durch folgende Betrachtung. 

Wie sehen die Vertretungen der Arbeiterschaft aus? ln allen 
VerbesserungsVorschlägen des Betriebsrätegesetzes (auf dast 
unten noch zurückzukommen sein wird! verlangt man ein 
Recht auf Mitbestimmung in dem Betrieb als solchem durch 
den Betriebsrat, dies so weitgehend, daß dieser ein abso¬ 
lutes Einspruchsrecht gegenüber dem Unternehmer auf die 
Wirtschaft des Betriebes haben soll. Dieser Wunsch ist 
menschlich so natürlich; entspricht er doch dem Verlangen, 
möglichst viel selbst Hand anzulegen, um den Sozialismus zur 
Wirklichkeit werden zu lassen. Aber diese Vorschläge in die 
Tat umgesetzt, bedeuten einen Weg zur Herbeiführung nicht 
des Sozialismus, sondern des Syndikalismus. Sie führen wirt¬ 
schaftliche Anarchie herbei und so den Ruin der Wirt¬ 
schaft selber. Denn nun wird der Betriebsrat auf eigene 
Faust im Betrieb „seinen Sozialismus“ zu verwirklichen 
suchen, ohne sich den Teufel um die gesamte Wirtschaft oder 
auch nur um die Lage seines Produktionszweiges zu kümmern. 
Menschlich alles begreiflich, aber für die Gesamtheit ge¬ 
fährlich. Gewiß wird es auch Ausnahmen geben, aber es 
sind eben nur Ausnahmen. 

Unklar herrscht leider noch in dem Volk auch der Gedanke, 
Sozialismus heiße einen Betrieb dem Unternehmer fortnehmen 
und die Masse der in dem Betrieb Arbeitenden zum Eigen¬ 
tümer machen. Dieser, durch Kurt Eisner so trefflich ge¬ 
schilderte, Massenkapitalismus — an sich unsittlich, denn 
dann gibt es eben statt der Konkurrenz des einzelnen den 
Kampf der Massen als Unternehmer gegeneinander, ein ekel¬ 
hafter Gedanke kaum auszudenken — ist aber nicht so leicht 
aus manchen Köpfen herauszubekommen. Auch er wird ge¬ 
stärkt, befestigt werden durch die Kammer der Arbeit in 
den untersten Einheiten, zum Beispiel der Stadt. Es. sei hier 


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Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 1477 

erwähnt, daß ja gerade der kapitalistische Trieb der Massen 
von den Unternehmern auch erkannt und benutzt wird, das 
Proletariat zu Kleinkapitalisten zu machen, um sie dann 
gegeneinander ausspielen zu können. So wird beispielsweise 
von seiten der Unternehmer der Gedanke propagiert, Klein¬ 
aktien für die Arbeiterschaft eines Betriebes auszugeben oder 
auf andere Weise die Massen direkt am Betrieb, in dem 
sie arbeiten, zu beteiligen. Dieses ganze bedeutet ein Ver- 
kapitalisieren der Massen, um sie erst recht zum Spielball des 
Kapitalismus zu machen. 

Diese Fehler zuerst ausgesprochen und hieraus die Folge¬ 
rungen gezogen, sowie dem Rätegedanken neue, auf den 
Kaliskiscnen Ideen aufbauend, feste Form gegeben zu haben, 
ist das Verdienst Dr. Sinzheimers (S.P.D.), der seine An¬ 
sichten zuerst auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen 
Partei am 18. Juni 1919 der breiteren Öffentlichkeit zeigte. 
Es verdient dann hier der Oktober 1919 genannt zu werden, 
an dem in Berlin in Gegenwart der Arbeiterräte und Funk¬ 
tionäre bzw. Vertrauensleute der Sozialdemokratischen Partei 
und der Deutschen Demokratischen Partei Dr. Sinzheimer und 
Kaliski sich über ihre Ansichten in glänzenden Ausführungen 
auseinandersetzten. Die Versammlung entschied sich hier wie 
auch der Parteitag mit überwältigender Mehrheit für Dr. Sinz¬ 
heimer, beschritt also wie aut dem zweiten Rätekongreß 
den Weg der fortgeschrittenen Erkenntnis. 

Um uns über die von Dr. Sinzheimer beabsichtigte Gesetz¬ 
gebung völlig klar zu werden, halte ich es für das beste, diese 
an Hand der Resolution des Parteitags zu besprechen, die auf 
Grund der Sinzheimerschen Ausarbeitungen aufgestellt wurde. 

Resolution 

des Sozialdemokratischen Parteitags zur Rätefrage. 

1. Auch in einem politisch vollkommen durchgeführten demo¬ 
kratischen Staatswesen genügt der nur politische Aufbau des Ge¬ 
meinschaftslebens nicht, um den gesellschaftlichen Kräften und 
Bedürfnissen gerecht werden zu können. Der Weg zur größeren 
Auswirkung aer gesellschaftlichen Interessen liegt nicht in der 
Ausschaltung der politischen Demokratie, sondern auf dem Ge¬ 
biet der Wirtschaft in der Errichtung einer eigenen, neben der 
Staatsverfassung bestehenden W irtsc.haftsvereinigung, in der die 
gesellschaftlichen Kräfte selbst unmittelbar wirken. 

2. Die Bestimmungen über den Entwurf einer Reichsverfas¬ 
sung, welche für die Arbeiterinteressen Arbeiterräte, für die Pro¬ 
duktionsinteressen Berufsgemeinschaften mit Wirtschaftsräten vor- 


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1478 Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 


sehen, und diese Räte ln großen Zentralorganen zusammenfassen, 
sind eine geeignete Grundlage für den Aufbau einer Wirtschafts¬ 
verfassung. Sie wird aber nur dann in einer den Interessen 
der Arbeiterklasse dienenden Weise ausgeschaltet werden können, 
wenn die folgenden Gesichtspunkte beachtet werden: 

a) Die vertragliche Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingun¬ 
gen muß grundsätzlich den freien Berufsverbänden Vorbehalten 
werden. Soweit diese Regelung zu Arbeitsgemeinschaften führt, 
die auch Produktionsfragen ergreifen, sind diese Arbeitsgemein¬ 
schaften als frei bewegliche Bestandteile im Aufbau der Wirt¬ 
schaftsräte zu berücksichtigen. 

b) Bei dem Aufbau der Betriebsarbeiterräte ist davon auszu¬ 
gehen, daß die Betriebe Gemeinschaften mit eigenen Interessen 
sind, zugleich aber auch innerhalb der Wirtschaftsverfassung 
den höheren Organisationsstellen der Berufsvereine und Berufs¬ 
gemeinschaften eingegliedert sein sollen. Die Ausübung der den 
Betriebsarbeiterräten zu überweisenden Informations- und Kon¬ 
trollrechte darf deswegen den übergeordneten Interessen jener 
Stellen nicht widerstreiten und muß. an deren Bestimmungen 
gebunden sein. 

c) Die Wirtschaftsverfassung kann erst dann als vollendet 
angesehen werden, wenn durch Ausschaltung des kapitalistischen 
Unternehmers das Interesse der Wirtschaftsgemeinschaft als lei¬ 
tendes Prinzip gesichert ist. Diese Ausschaltung kann nicht 
durch die Räte, sondern nur durch Gesetzgebungsakte des Staates 
erfolgen, dem allein die Verfügung über das Wirtschaftsrecht 
zustent. Von der Regierung ist neben der Ausführung des 
Rätesystems die planvolle Vorbereitung und Durchführung sol¬ 
cher Gesetzgebungsakte auf allen Wirtschaftsgebieten zu fordern, 
auf denen die wirtschaftlich-technischen Voraussetzungen für eine 
wirksame Sozialisierung vorhanden sind. 

3. Neben den sozialorganisatorischen Aufgaben, welche die Organe 
der Wirtschaftsverfassung zu lösen haben, müssen ihnen auch 
politische Funktionen zustehen, um in das Staatsleben sozialen 
Geist und soziale Lebendigkeit übertragen zu können. Für die 
Gesetzgebung handelt es sich nicht um die Einräumung eines 
Mitbestimmungsrechts. Eine berufsständische Kammer der Arbeit 
ist grundsätzlich verfehlt, praktisch eine Komplizierung der Staats¬ 
gesetzgebung und politisch eine Gefährdung der demokratischen 
Weiterentwicklung zugunsten der Arbeiterklasse. Die politische 
Funktion der Räte der Gesetzgebung gegenüber ist auf das Recht 
der Beratung und Initiative nach dem Vorbild des Entwurfs einer 
Reichsverfassung zu beschränken. Für die Verwaltung muß ein 
Recht zur Information und Beschwerde für die Arbeiterräte und 
Wirtschaftsräte bezüglich aller Angelegenheiten, die ihren Inter¬ 
essenkreis berühren, gesichert werden, um der bureaukratischen 
Kontrolle von oben eine soziale Kontrolle von unten gegenüber- 


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Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 1479 


stellen zu können. Es ist Aufgabe einer durchgreifenden Verwal¬ 
tungsreformgesetzgebung, den Räten die Erfüllung dieser Aufgabe 
zu gewährleisten. Die durch die Räte handlungsfähig gewordenen 
Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaften haben die Keimkraft in 
sich, über den Staat hinaus Interessengemeinschaften überstaat¬ 
licher Art zu bilden, die vielleicht die einzigen wahrhaften Grund¬ 
lagen einer Völkerversöhnung bilden können . 

Zu Absatz 1 ist zu bemerken: genau wie Kaliski zeigt Dr. 
Sinzheimer, daß die Aufgabe der Räte nicht darin bestehen 
kann,, gegen die politische Demokratie Sturm zu laufen, son¬ 
dern gerade darin, diese zu ergänzen. „Die Räte sind Organe 
der wirtschaftlichen Demokratie“, sagte Dr. Sinzheimer auf 
dem Parteitag, das bedeutet, daß sie die große und schöne 
Aufgabe haben, im Wirtschaftsleben den Gedanken „alles für 
das Volk“ nun in die Tat umzusetzen. Der Plan zur Verwirk¬ 
lichung ist, wie aus Absatz 2 hervorgeht, folgender: 

Den Räten stehen zweierlei Aufgaben zu. Einmal sollen 
sie dem Proletariat reine Interessenvertreter sein. Hierzu 
werden die sogenannten Arbeiterräte ausersehen. Es ist be¬ 
absichtigt, daß in jedem Betrieb, jeder Fabrik usw. diese ge¬ 
wählt werden; sie heißen dann Betriebsarbeiterräte. Sämt¬ 
liche Betriebsarbeiterräte eines bestimmten Wirtschaftsbezirks 
(zum Beispiel Groß-Berlins) werden zusammengefaßt in einem 
Bezirksaroeiterrat, der aus Betriebsarbeiterräten dieses Be¬ 
zirkes besteht. Die Betriebsarbeiterräte des ganzen Reiches 
wiederum bilden aus sich heraus den Reichsarbeiterrat, so 
daß dieser dann als Kopf des ganzen organischen Aufbaus die 
Interessen der Arbeiterschaft wahrzunehmen hat. 

lieber die Rechte der Arbeiterräte, besonders also der Be¬ 
triebsräte ist (wie auch im Absatz 2 a der Resolution) hervor- 
znheben, daß ihnen in bezug auf Regelung der Lohn- und 
Arbeitsbedingungen nur die Rolle eines Vermittlers gegenüber 
den freien Berufeverbänden zufallen darf. Sie sind gewisser¬ 
maßen die Vertrauensleute dieser Verbände in den Betrieben, 
um die Einhaltung von Abmachungen zwischen diesen und den 
Unternehmern zu überwachen. Hinzugefügt soll werden, 
daß, insofern es in einem Betrieb naturgemäß Angehörige 
der verschiedensten Berufsverbände gibt, die Arbeiterräte die 
einheitliche Verkörperung dieser darstellen. Jedes für die 
Betriebsarbeiterräte in diesen Beziehungen weitergefaßte Recht 
muß zum Ruin der Gewerkschaften führen und ist daher zu 
verwerfen. Das soll nun nicht heißen, daß aus besonderer 


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1480 Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 


und berechtigter Ehrfurcht von den Leistungen der Gewerk¬ 
schaften hier so gesprochen wird, sondern aus rein sach¬ 
lichen Gründen, weil eben das Prinzip der freien Berufs¬ 
organisationen, also der Gewerkschaften, in dieser Beziehung 
das einzig Richtige ist. Und zwar deshalb, weil in diesen 
Verbänden jede Frage im Zusammenhang mit den entsprechen¬ 
den Fragen der ganzen Wirtschaft zusammen erörtert wird. 
Ein Ablehnen dieses Standpunktes bedeutet, daß beispiels¬ 
weise in einem Betrieb sofort Lohnforderungen für alle 
Kategorien der Arbeiter auftreten, wenn zufällig dieser Be¬ 
trieb von Herrn Müller gerade gut geht. Das heißt aber 
erstens: hier entsteht die Gefahr, daß die Arbeiter am Gewinn 
wieder direkt beteiligt werden, eine Schattenseite, die oben 
schon geschildert wurde; zweitens ist das ganze unsittlich, 
wenn wir denken, daß nun Arbeiter derselben Kategorien, die 
in dem schlechter rentierenden Geschäft von Schulze tätig 
sind, mm zufällig weniger verdienen sollen, möglicherweise 
sogar dies, trotzdem vom Standpunkt der Allgemeinheit ihr 
Betrieb ein wichtiger ist. Beispiel hierfür, wenn Müller 
Luxusartikel, etwa elegante seidene Halbschuhe, und Schulze 
kräftige Gebrauchsstierel maschinell herstellt. Aber auch rein 
praktisch heißt das Ganze nichts als durch Konkurrenz der 
Arbeiter von Müller gegen die von Schulze einen Keil in 
das Proletariat im Interesse der Unternehmer hineintreiben. 
Wir sehen, die freien Berufs verbände dürfen auch aus dem 
angeführten Grunde nicht angetastet werden. 

im Absatz 2 b werden die Mitwirkungs-, Informations¬ 
und Kontrollrechte behandelt. Bei Gelegenheit der Erörterung 
der Zusammensetzung der Kaliskischen Kammern der Arbeit 
war eingehend der syndikalistische Trieb des Menschen und 
seine Gefahren für die Gesamtwirtschaft erörtert worden. 
Zur Ergänzung dieses oben Gesagten sei betont: dies gilt 
selbstverständlich hier ebenfalls. Es ist wie ein schlechter, 
trauriger Witz, daß man nur leider oft Fehler zeigt, 
um am nächsten Tag zu sehen, wie dieselben wieder gemacht 
werden. So ist es ja auch mit dem Streit im Lager der Un¬ 
abhängigen für und gegen den Parlamentarismus; Kinder¬ 
krankheiten, die die Sozialdemokratie längst überwunden hat, 
werden eben in aufgeregten Zeiten von Kindern der Politik 
wieder aufs Tapet gebracht, und nur die durch den Krieg 
mitgenommenen Nerven machen es verständlich, daß man 
sie überhaupt anhört. 


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Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 1481 

Die zweite Aufgabe die den Räten zusteht, ist, als Produ¬ 
zenten mitbestimmena auf die Wirtschaft ihren Einfluß aus¬ 
zuüben. 

Zu diesem Zweck werden Wirtschaftsräte gebildet. Es 
sei bemerkt, daß diesen Sinzheimerschen Wirtschaftsräten 
genau dieselbe Aufgabe zufällt wie den Kaliskischen Pro¬ 
duktionsräten, daß wir es also nur mit anderen Namen zu 
tun haben. Der ganze Plan ist, ohne aut Einzelheiten ein¬ 
zugehen, folgender: Der Bezirksarbeiterrat bildet in paritäti¬ 
scher Zusammensetzung mit den Unternehmern einen Bezirks¬ 
wirtschaftsrat, in dem gleichzeitig die Verbraucher vertreten 
sind. Die einzelnen Bezirkswirtschaftsräte entsenden nun 
wiederum ihrerseits Vertreter (Arbeitnehmer, Arbeitgeber und 
Verbraucher) in den Reichswirtschaftsrat, der die einheitliche 
Zusammenfassung der ganzen Wirtschaft darstellt. 

Von Bedeutung ist, daß einerseits hier die Gesamtwirtschaft 
der deutschen Republik zusammengefaßt wird nach Wirt¬ 
schaftsbezirken, das heißt nach dem territorialen Gesichts¬ 
punkt. Hiervon abgesehen soll den Vertretern der Wirtschaft 
(zu denen jetzt stets die Vertreter der Arbeiterschaft ge¬ 
hören!) die Möglichkeit gegeben werden, sich nach Berufen 
zusammenzuschließen. Dies nennen wir den Zusammenschluß 
nach vertikalem Gesichtspunkt. Es bedeutet, daß beispiels¬ 
weise alle Vertreter der Tuchindustrie zu einem einheitlichen 
Rat, die der Lederindustrie zu ihrem obersten Rat der Leder¬ 
industrie sich zusammentun, um jeder nun auch für sich Be¬ 
schlüsse zu fassen, die ihre Industrie dann planmäßig be¬ 
stimmen. 

Hier ist Demokratie und Sozialismus, Begriffe, die nicht 
zu trennen sind, wenn die Menschheit weiter kommen will. 

Den Weg, den Dr. Sinzheimer gezeigt hat, beschreitet die 
Regierung. Als wichtigstes Dokument, welches sich auf diesen 
Boden stellt, ist der Artikel 165 der Verfassung des Deutschen 
Reiches, der daher hier wiedergegeben sei. 

Artikel 165. 

Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberech¬ 
tigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der 
Lohn- und Arbeitsbedingungen, sowie an der gesamten wirtschaft¬ 
lichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beider¬ 
seitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt. 

Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer 
sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen 


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1462 


Meine Entfernung aus der Schweiz. 


in Betriebsarbeiterräten, sowie in nach Wirtschaftsgebieten geglie¬ 
derten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat. 

Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Er¬ 
füllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung 
bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen 
der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirks¬ 
wirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. Die 
Bezirkswirtschaftsräte und der Reichs wirtschaftsrat sind so zu ge¬ 
stalten, daß alle wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirt¬ 
schaftlichen und sozialen Bedeutung darin vertreten sind. 

Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von 
grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor ihrer 
Einbringung dem Reichswirtschaftsrat zur Begutachtung vorgelegt 
werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche 
Gesetzes vor lagen zu beantragen. Stimmt ihnen die Reichsregierung 
nicht zu, so hat sie trotzdem die Vorlagen unter" Darlegung 
ihres Standpunkts beim Reichstag einzubringen. Der Reichswirt¬ 
schaftsrat kann die Vorlage durch eines seiner Mitglieder vor 
dem Reichstag vertreten lassen. 

Den Arbeiter- und Wirtschaftsräten können auf den ihnen über¬ 
wiesenen Gebieten Kontroll- und Verwaltungsbefugnisse übertragen 
werden. 

Aufbau und Aufgabe der Arbeiter- und Wirtschaftsräte, sowie 
ihr Verhältnis zu anderen sozialen Selbstverwaltungskörpern zu 
regeln, ist ausschließlich Sache des Reichs. 

Der von der Regierung vorgeschlagene Gesetzentwurf über 
die Betriebsarbeiterräte wurde von der Nationalversamm¬ 
lung angenommen. Einige Schönheitsfehler zugegeben,, ge¬ 
langte hier die Sinzheimersche Absicht zur Geltung. 


PARVUS: 

Meine Entfernung aus der Schweiz. 

Keine Ausweisung und doch eine. 

r)URCH die Zeitungen geht die Notiz, ich sei aus der 
^ Schweiz ausgewiesen worden. Das stimmt in der Form 
nicht. Ich bin nicht eigentlich ausgewiesen worden. Aber 
es ist mir mein Niederlassungsrecht in der Schweiz aberkannt 
worden. So wurde ich in den Urzustand versetzt, in dem 
sich gegenwärtig jeder zugereiste Ausländer in der Schweiz 
befindet, das ist schutzlos. Daraufhin wurde mir erklärt, man 
wolle mir keine weitere Aufenthaltsbewilligung mehr geben, 
und ich mußte gehen. 


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Meine Entfernung aus der Schweiz. 


1463 


Nun ist es aber etwas anderes, wenn jemand überhaupt 
nur zu einem kurzen Aufenthalt nach der Schweiz kommt, 
wobei er von vornherein mit einer begrenzten Frist des 
Aufenthalts rechnet, und ein anderes ist es, wenn jemand, 
wie ich, unter Erfüllung aller vorgeschriebenen Formalitäten 
seinen Wohnsitz in der Schweiz nimmt, sich dort niederläßt, 
gestützt auf die durch den Niederlassungsvertrag gewährte 
Rechtssicherheit, Grundbesitz erwirbt, Geschäfte betreibt, viel¬ 
leicht eine Familie gründet, Kinder in die Schule schickt, und 
nun aut einmal binnen wenigen Tagen seinen Erwerb auf- 
geben, seine Familie verlassen, seinen Besitz und seine Ge¬ 
schäfte liquidieren soll, weil ihm plötzlich das Niederlassung^ 
recht entzogen worden ist. 

Das ist es, was meinem Fall eine Bedeutung verleiht, 
die noch weit über die Tatsache hinausneicht, daß ich zum 
Opfer politischer Ranküne geworden bin. 

Es handelt sich überhaupt um die Rechte der Ausländer 
in der Schweiz. 

Die Schweiz hat bekanntlich den Niederlassungsvertrag mit 
Deutschland gekündigt. Die Kündigungsfrist läuft im April 
dieses Jahres ab. Der neue Vertrag liegt noch nicht vor. 
Es sollen Vorschläge gemacht worden sein, den bisherigen 
Zustand noch eine Zeitlang fortdauem zu lassen. Welchen 
Sinn hat es aber, ein einseitiges Verhältnis fortdauern zu 
lassen, bei dem wir peinlichst die Rechte der Schweizer 
respektieren, während die Schweiz sich über die Rechte der 
Deutschen einfach hinwegsetzt, als wäre Deutschland kein 
Staat und keine Volksgemeinschaft mehr? Mein Fall ist 
vielleicht in juristischer Beziehung besonders interessant, weil 
die Rechtsverletzung dabei kraß zum Ausdruck kommt, aber 
er steht keineswegs vereinzelt da. Man denke nur an das 
Schicksal der deutschen Wehrmänner, die vor dem Krieg 
jahrelang in der Schweiz ansässig waren und nunmehr nicht 
in das Land hineingelassen werden. Ihre Familien verhungern 
und werden noch obendrein gelegentlich von besonders dös- 
gearteten bzw. deutschfresserischen Gemeinden aus den 
Wohnhäusern geworfen! Es ist deshalb entschieden besser, 
wenn wir einen Zustand eintreten lassen, bei dem die Herren 
in Bern wenigstens mit der Möglichkeit zu rechnen hätten, 
daß auch wir unsererseits Vergeltungsmaßregeln ergreifen 
könnten. 


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1484 


Meine Entfernung aus der Schweiz. 


Es geht aber mein Fall noch über die Bedeutung des 
Niederlassungsvertrags hinaus. Um mein Niederlassungsrecht 
abzuerkennen, hat der Bundesrat erst die Grundsätze der 
Eidgenossenschaft, die Rechte der Kantone und Gemeinden 
und seine eigenen Verordnungen außer Kraft setzen müssen. 
Ich werde das auf Grund der Akten klarlegen. Vorher 
aber erbitte ich mir noch die Aufmerksamkeit der Leser für 
eine kurze Schilderung der Hetzkampagne, die gegen mich 
in der Schweiz geführt wurde. 

Das politische Vorspiel. 

Die politische Hetze, die die Presse der Entente in allen 
Zungen gegen mich jahrelang geführt hatte — ich deckte den 
Ursprung, die Beweggründe und die Entfaltung dieser Ver¬ 
leumdungskampagne in meiner Schrift „Im Kampf um die 
Wahrheit“ auf — diese Hetze setzte gegen mich in der 
Schweiz sofort mit aller Macht ein, nachdem bekannt geworden 
war, daß ich mich dort dauernd aufhalte. Man verdächtigte 
mich vor allem des Bolschewismus — nichts war besser ge¬ 
eignet, die schweizerische Oeffentlichkeit gegen mich auf¬ 
zuhetzen. Ich wurde überwacht, von Spitzeln umstellt, meine 
Telephongespräche wurden belauscht, meine Briefe und Tele¬ 
gramme gelesen — schließlich eines Tages wurde ich von 
der Straße weg verhaftet. Ich gebe zur Charakteristik dieser 
Begebenheit das Wesentliche aus dem Aktenstück wieder, das 
ich durch meinen Rechtsanwalt bei der entsprechenden Be¬ 
hörde habe einreichen lassen, da ich Entschädigung für un¬ 
schuldig erlittene Haft verlange. 

Aktenstück 1. 

Beschwerde über unschuldig erlittene Haft 
und Untersuchung. 

„Im Februar vorigen Jahres wurde ich wegen angeblicher 
bolschewistischer Umtriebe in Untersuchung genommen. Ich 
wurde verhaftet und einem Verhör unterworfen. Mit Er¬ 
staunen nahm ich wahr, daß man mich der bolschewistischen 
Agitation beschuldige, trotzdem ich den Bolschewismus stets 
auf das schärfste bekämpft habe und in der Schweiz mich 
überhaupt jeder politischen Tätigkeit enthalte. Auf meine 
Frage, worauf sich diese groteske Anschuldigung gründe, 
wurden mir vom Untersuchungsrichter Dr. Bickler Zeitungs¬ 
ausschnitte vorgelegt. Es war ein Sammelsurium von Ver¬ 
dächtigungen und Verleumdungen der gemeinsten, aber auch 
der lächerlichsten und albernsten Art, deren Nichtigkeit ich 


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Meine Entfernung aus der Schweiz. 


1485 


aut der Stelle habe nachweisen können. Ich sagte dem Unter¬ 
suchungsrichter, es sei doch nicht denkbar, daß man jemand 
in der Schweiz bloß auf Grund von Zeitungstratsch, ohne 
selbst diesen zu kontrollieren, verhafte und in Untersuchung 
nehme, ich verlange Auskunft, was denn gegen mich vorliege, 
ich will in allen Dingen meine vollkommene Schuldlosigkeit 
nachweisen. Darauf antwortete mir Herr Untersuchungs¬ 
richter Dr. Bickler: Es liege schon noch anderes vor, ich 
werde es rechtzeitig erfahren. 

Das ist aber bis auf den heutigen Tag, seit elf Monaten 
nicht geschehen. Es hat kein zweites Verhör stattgefunden. 
Trotzdem wird die Untersuchung weitergeführt, una ich be¬ 
finde mich nur unter Hinterlegung einer Kaution von 20 000 
Franken auf freiem Fuße. (Die Kaution ist seitdem zurück¬ 
gezahlt worden.) * 

Ich behaupte: Die gegen mich beim Verhör vom Unter¬ 
suchungsrichter, erhobenen Anschuldigungen, ich hätte bol¬ 
schewistische Millionen nach der Schweiz mitgebracht, ich 
hätte hier bolschewistische Gelder verteilt, ich hätte Zu¬ 
sammenkünfte mit bolschewistischen Führern gehabt, ich hätte 
allerlei bolschewistische Aktionen. unternommen oder vor¬ 
bereitet, müssen sich als pure Lügen erwiesen haben. 

Trotzdem wurde die Untersuchung weitergeführt und ich 
nur gegen Kaution auf freiem Fuß belassen. 

Da die Zeitungen gegen mich während dieser Zeit eine 
ebenso infame wie haltlose und lügenhafte Kampagne geführt 
haben, so nehme ich an, daß die Sammlung von Zeitungs¬ 
ausschnitten des Herrn Untersuchungsrichters seitdem ganze 
Körbe voll erreicht haben dürfte. Legt der Untersuchungs¬ 
richter diesem Material auch nur die geringste Bedeutung 
bei, warum werde ich nicht verhört, um dazu Stellung zu 
nenmen? Liegt anderes belastendes Material vor, so verlange 
ich erst recht, verhört zu werden. Liegt nichts vor, warum 
wird mir das nicht bekanntgegeben, warum wird die Unter¬ 
suchung nicht eingestellt? 

Ich wurde durch die Verhaftung und die fast ein Jahr 
lang dauernde Untersuchung starre geschädigt. Moralisch 
wunde ich vor meinen Nachbarn, und durch die Presse, 
die wiederholt auf meine Verhaftung und die gegen mich 
erhobene Untersuchung anspielte, vor der ganzen Schweiz 
diskreditiert. Die mir wegen meiner politischen und sozialen 
Ansichten übelgesinnte Presse schöpfte daraus-Mut, mich 


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1486 


X 


Meine Entfernung aus der Schweiz. 


mit Kübeln von Schmutz zu überschütten. Ab und zu kamen 
Mitteilungen in die Presse, die bewiesen, daß diese Fühlung 
hatte mit der gerichtlichen Untersuchung. So die Mitteilung, 
daß der deutsche Gesandte sich für meine Freilassung ver¬ 
wandte. Er tat es pflichtgemäß, da ihm der Schute der 
deutschen Reichsbürger obliegt. Hätte er es nicht getan, 
so hätte ich vermutlich zu der Schmach der gerichtlichen 
Untersuchung schuldlos und grundlos auch noch die Müh¬ 
seligkeiten einer längeren Untersuchungshaft durchzumachen 
gehabt.“ 

Man kann sich denken, wie sensationell in der ländlichen 
Gemeinde Wädenswil, wo ich mich niederließ, meine Verhaf¬ 
tung wegen Bolschewismus wirken mußte. Dieser erste 
Willkürakt^ den die Schweizer Behörden an mir begingen, 
rief jenes Mißtrauen wach, das nicht mehr auszumerzen war, 
das aber auch immer wieder von außen geschürt wurde. Die 
geängstigte Phantasie des Spießbürgers erging sich in den 
tollsten Vorstellungen. Aber trotz der Hetzarbeit der Presse 
trat doch nach und nach eine ziemliche Beruhigung ein. 
Viele meiner Nachbarn lernten mich persönlich kennen. Wir 
vertrugen uns. Da ging auf einmal mit Gestank und Gepolter 
die sogenannte „Affäre Sklarz“ los. Was die Schweizer 
Oeffentlichkeit besonders frappierte, war, daß die Hetze dies¬ 
mal aus Deutschland kam. Nun wurde wieder alles auf* 
gewühlt, was die Ententepresse gegen mich an Verleumdungen 
und Verdächtigungen aufbrachte, und durch die aus Deutsch¬ 
land kommenden Insinuationen verstärkt. 

Ich veröffentlichte in der „Neuen Zürcher Zeitung“ fol¬ 
gendes Dementi: 

Aktenstück 2. 

Erklärung in der „Neuen Züricher Zeitung“. 

„Ich appelliere an den Gerechtigkeitssinn der Redaktion 
und an das große Interesse, welches alle rechtschaffenen 
Leute an der Gesundung der durch den Krieg vergifteten 
öffentlichen Atmosphäre haben, um mir Raum für folgende 
Zeilen einer persönlichen Erklärung zu verschaffen. 

Ohne das Ergebnis der bevorstehenden Gerichtsverhand¬ 
lung abzuwarten, auf die er sich selbst beruft, macht sich 
Ihr Berliner Berichterstatter in seiner Korrespondenz vom 
2. Dezember die gegen mich gerichteten Verdächtigungen 
kritiklos zu eigen, so daß der Schein erweckt wird, als 


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Meine Entfernung aus der Schweiz. 


1487 


wenn das feststehende Tatsachen wären. Es sind aber in 
Wirklichkeit Unwahrheiten und Lügen. 

Es ist unwahr, daß ich in Verbindung mit Herrn G. Sklarz 
oder ohne ihn „das deutsche Kohlengeschäft naöh Däne¬ 
mark“ betrieben haben soll. Das in Betracht kommende 
Kohlengeschäft gehört den dänischen Gewerkschaften, weder 
ich noch Herr Sklarz sind daran beteiligt. 

Die Geschäftsgewinne, über die jetzt in der Presse auf 
Grund von Mitteilungen ungetreuer Angestellten, denen Be¬ 
trug und Defraudation nachgewiesen worden sind, phanta¬ 
siert wird und die in Wirklichkeit lange nicht so groß waren, 
rührten nicht aus Geschäften mit Kohle, sondern aus den 
von mir zum Teil selbständig, zum Teil als Mitinhaber der 
Befrachtungs- und Transportgesellschaft in Kopenhagen be¬ 
triebenen Schiffsreedereien her. 

Ich hatte niemals einen bolschewistischen Auftrag zur Her¬ 
stellung von Kalendern oder sonstiger Art. 

Es ist auch nicht wahr, daß ursprünglich bolschewistische 
Kalender sich in antibolschewistische verwandelten. Ich habe 
den Bolschewismus bekämpft sowohl vor der Revolution wie 
nachher. Man kann sich davon unter anderem aus meiner 
im April 1918 erschienenen Schrift „Im Kampf um die Wahr¬ 
heit“ überzeugen. 

Die angeblichen Papierbegünstigungen reduzieren sich dar¬ 
auf, daß ich mir die Bewilligung erwirkt hatte, finnisches 
Papier einzufiühren und es bedruckt nach Rußland auszufüh¬ 
ren. Eine solche Bewilligung war unumgänglich, weil man ja 
sonst überhaupt kein Papier bekam. Vorteile gegenüber 
anderen deutschen Verlegern sind mir daraus keine erwachsen, 
da das finnische Papier bedeutend teurer war, als das 
deutsche. Ich war auch, soviel ich weiß, der einzige, der 
sich unter solchen Bedingungen um das finnische Papier 
bewarb. 

Ich kann Ihren Lesern nicht zumuten, mir jetzt schon 
in allen Einzelheiten dieser deutschen Angelegenheit zu folgen. 
Man \warte doch nur ab, bis die Gerichte gesprochen haben 
werden. Das Interesse, welches die öffentliche Meinung der 
Angelegenheit beibringt, bürgt dafür, daß die Gerichte volle 
Klarheit schaffen weiden.“ 

Da die Redaktion der „Neuen Züricher Zeitung“ an diese 
Erklärung Bemerkungen knüpfte,ndie neue Verdächtigungen 


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1488 _ Meine Entfernung aus der Schweiz. 

enthielten, sandte ich ihr folgende Erwiderung, die auch 
abgedruckt wurde: 

Aktenstück 3. 

Erwiderung an die „Neue Züricher Zeitung 11 . 

„Die Redaktion beruft sich auf die Gastfreundschaft, die 
ich in der Schweiz genieße, und begründet damit das be¬ 
sondere Interesse der Schweiz an meiner politischen Persön¬ 
lichkeit. Es tut mir besonders weh, vor der Schweizer Oeffent- 
lichkeit in einem falschen Lichte zu erscheinen, denn ich 
kenne die Schweiz seit 1886, schon vorher war es das Land 
meiner Träume, ich habe hier studiert und jahrzehntelange 
Freundschaften gepflegt, ich habe während des Krieges noch 
ganz besonders die derbe aber gerechte Art der Schweizer 
Demokratie schätzen geleint. Ich kann mir deshalb nicht ver¬ 
sagen, die unrichtigen Behauptungen zurückzuweisen, auf die 
sich die Redaktion beruft. 

Ich habe niemals mit Ludendorff über Rußland oder sonst 
verhandelt. Ich habe niemals türkisches Getreide an Deutsch¬ 
land geliefert, vielmehr habe ich — vor der türkischen Kriegs!- 
erklärung — Lebensmittel aus Anatolien und sonst nach Kon¬ 
stantinopel geliefert. Die „Studiengesellschaft“ in Kopen¬ 
hagen diente keinen deutschen Propagandazwecken, sie sam¬ 
melte eine Bibliothek, die allgemein zugänglich war, und hat 
sich durch Veröffentlichungen über Kriegsverluste, Geburten¬ 
rückgang usw. einen internationalen Ruf verschafft, so daß 
sogar angesehene englische Publikationen wie „The State- 
mans Yearbook“ sich während des Krieges auf die Fest¬ 
stellungen dieser Studiengesellschaft beriefen. Ich verbrachte 
den größten Teil meines Lebens in deutschen Landen, bin 
seit mehr als einem Vierteljahrhundert als deutscher Schrift¬ 
steller tätig, meine Stellungnahme zum Krieg war so eindeutig; 
wie nur möglich: ich wollte den Sieg der Zentralmächte, 
weil ich der Reaktion eines siegreichen Zarismus und des 
Imperialismus der Entente Vorbeugen wollte und weil ich 
annahm, daß in einem siegreichen Deutschland die Sozial¬ 
demokratie stark genug sein würde, das Regime zu ändern.“ 

Um mit diesem Teil meiner Darstellung abzuschließen, sei 
noch erwähnt, daß ich vor meiner Abreise aus der Schweiz 
Herrn Rechteanwalt Dr. E. Curti den Auftrag gegeben habe, 
gegen jeden sofort gerichtlich vorzugehen, der behaupten 
würde: 


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Die Engelsbiographie. 1. 


1489 


1. Ich hätte bolschewistische Agitation betrieben oder 
bolschewistische Gelder empfangen; 

2. ich hätte im Dienste dieses oder jenes Generalstabs 
oder einer vorrevolutionären Regierung gestanden; 

3. ich hätte Schmuggel getrieben oder sonst welche straf¬ 
bare Handlungen begangen; 

4. ich hätte deh politischen Kampf anders als mit 
geistigen Waffen geführt oder ich hätte mich in meinem 
politischen Auftreten von Geldmcksichten leiten lassen; 

5. ich hätte Schiebungen oder sonstige unsaubere Ge¬ 
schäftspraktiken vorgenommen; 

sowie 


6. gegen alle, die mein Privatleben verunglimpfen oder 
sonst über micn ehrenrührige Meinungen verbreiten. 

Das wurde durch Inserat in allen größeren Zeitungen der 
Schweiz ibekanntgegeben. 

(Fortsetzung folgt.) 


M.- BEER: 

Die Engelsbiographie . 1 

r. 

pRIEDRICH Engels, dessen 100. Geburtstag auf den 
1 28. November dieses Jahres fällt, fand in Gustav Mayer 
einen sehr eingehenden und liebevollen, ja verliebten Bio¬ 
graphen. Umfassende Forschungen familien- und kultur- 

g eschichtlicher Natur vereinigten sich, um die Lebensbeschrei- 
ung eines der großen deutschen Sozialisten zu einem bedeu¬ 
tenden Buche zu machen. Mayer ist zudem der eigentliche 
Entdecker der schriftstellerischen Tätigkeit des jungen Engels. 
Das Buch ist ein Kulturgemälde des vierten und fünften Jahr¬ 
zehnts des 19. Jahrhunderts, in dem eine Menge interessanter 
Gestalten erscheinen und unter ihnen läßt, Mayer seinen 
Helden, immer schärfer Umrissen, hervortreten. 


1 Friedrich Engels. Eine Biographie. Von Gustav Mayer. I.Band. 
(Engels in seiner Jugendzeit, 1820 bis 1851.) Verlag von Julius 
Springer, Berlin 1920. Preis brosch. 22 Mark, geb. 26 Mark und 
Zuschlag. 


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1490 


Die Engelsbiographie. I. 


In einer wohlhabenden pietistischen Familie des Wupper¬ 
tales geboren, genoß Engels eine sorgfältige und streng kalvi- 
nistische Erziehung. Bis zu seinem 17. Lebensjahre beugte 
er sich gläubig — trotz mancher aufsteigenden Zweifel — 
den Geboten seiner Sekte, dann aber begann er sich gegen 
sie aufzubäumen und sich nach innerer Religiosität und 
äußerer Freiheit zu sehnen. Seine erste geistige Krise war 
eine religiöse . Vor dem Abiturientenexamen verließ er das 
Gymnasium- und wurde 1837 nach Bremen in ein Handels¬ 
haus in die Lehre geschickt. In Bremen konnte er seinen lite¬ 
rarischen Neigungen leben, Gedichte machen, freiheitliche 
Schriftsteller lesen und sich mit Politik beschäftigen. „Von 
einem Autor findet er sich weiter zum nächsten, von den 
Neuesten zu ihren Vorläufern, seinem Spürsinn genügte ja 
der kleinste Hinweis; auf diesem Wege entdeckt er sich jetzt 
die beiden Erzieher seiner nächsten Jahre. Durch Gutzkow 
wird er auf Börne, dessen Meister, \ aufmerksam und über 
David Friedrich Strauß, dessen „Leben Jesu“ ihm in seinen 
Nöten ein kräftiges Licht aufsteckt, gelangt er in den ihm 
dauernd viel bedeutenden Bannkreis Hegels. Börnes Schriften 
bekehrten ihn endgültig zum politischen Radikalismus, Hegel 
weist dem vom sichern Ufer des Väterglaubens Abgeschrie¬ 
benen jenseits des stürmischen Meeres neues festest Land“ 
(Seite 25—26). Engels wurde nach und nach Freidenker und 
Demokrat. Das war im Jahre 1839. Um diese Zeit begann 
er zu Schriftstellern. Unter dem Pseudonym „Friedrich 
Oswald“ schrieb jer für Gutzkows „Telegraph für Deutschland“ 
eine Reihe von Aufsätzen literarischen und kritischen Inhalts, 
dann Reisebeschreibungen und Dichtungen. Selbstredend war 
er auch patriotisch, wie die Demokraten und das „Junge 
Deutschland“ es damals waren. Als 1840 ein deutsch-fran¬ 
zösischer Konflikt im Herannahen begriffen war, — ein 
Konflikt, der zur Entstehung’ des Liedes „Die Wacht am 
Rhein“ den Anlaß gab —, da rief der junge Engels: „Aller¬ 
dings ist es eine fixe Idee bei den Franzosen, daß der Rhein 
ihr Eigentum sei; aber die einzige des deutschen Volkes 
würdige Antwort auf diese anmaßende Forderung ist das 
Arndtsche: Heraus mit dem Elsaß und Lothringen /“ Seite 54). 

Im Frühjahr 1841 verließ Engels seine kaufmännische 
Lehrstelle in Bremen, um seiner Militärpflicht als Einjähriger 
zu genügen. Die Sommerpause benutzte er zu einer Reise 
nach der Schweiz und Oberitalien, die er in Gutzkows „Tele- 


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Die Engelsbiographie. I. 


1491 


graph“ beschrieb. Im Herbst 1841 fuhr er nach Berlin, um 
sein Kommißjahr abzumachen und gleichzeitig an der Uni¬ 
versität Vorlesungen zu hören und mit den freien Geistern 
der Hauptstadt Fühlung zu nehmen. Er trat in das Gardie- 
fußartillerieregiment ein, das seine Kaserne in der nächsten 
Nähe der Universjtät hatte. Engels kam nach Berlin in einer 
religionsgeschichtlich bewegten Zeit. Als die Linkshegelianer 
die Lehre ihres Meisters im freiheitlichen und religionskriti¬ 
schen Sinne weiter entwickelten, erschrak die Regierung vor 
der neuen Bewegung und berief den greisen Schelling nach 
Berlin, um hier für die Offenbarurigsreligion zu wirken. 
Schelling war %ler geistige Vater Hegels, aber , je älter er 
wurde, desto mehr Bei er in die religiöse Denkweise zurück 
und wurde deshalb von den Junghegelianern bekämpft. 
Engels, dessen ganze Krise eine religiöse war, in der er 
durch Straußens „Leben Jesu“ und Feuerbachs „Wesen des 
Christentums“ vom Pietismus befreit und zum Freidenker 
wurde, nahm selbstredend großen Anteil an dieser Bewegung, 
die auch Gustav Mayer heute noch gar mächtig imponiert und 
die er als eine Reihe von Kämpfen betrachtet, „wie sie 
Deutschland seit der Reformation nicht erlebt hatte“ (Seite 
69). In seiner pompösen Artillerieuniform wohnte Engels 
der Antrittsvorlesung Schellings bei und berichtete hierüber, 
wie Mayer erzählt, im „Telegraph“. Er schloß sich den 
freiheitlichen Elementen an, kam in die Gesellschaft der 
Junghegelianer und der Berliner „Freien“, wie Ludwig Buhl, 
Max Stirner, Mayen, Edgar Bauer, Theodor Mügge, und 
verfaßte die Broschüre „Schelling und die Offenbarung“ 
(veröffentlicht im April 1842 in Leipzig), in der er für die 
Hegelsche „Idee“ gegen Schellings Offenbarung mit schwär¬ 
merischer Begeisterung eintrat. Zur selben Zeit soll er auch, 
wie Mayer annimmt, ein langes satirisches Gedicht gegen 
die preußische Reaktion verfaßt haben unter dem Titel: 
„Die frech bedräute, jedoch wunderbar befreite Bibel oder 
Triumph des Glaubens“ (ebenfalls im April 1842 erschienen). 
Diese Annahme Mayers steht jedoch auf sehr schwachen 
Füßen. Soviel ist jedoch klar, daß Engels im Kreise der 
Berliner „Freien“, wie überhaupt während seines Ber¬ 
liner Aufenthalts eine Fülle von geistigen Anregungen er¬ 
halten hat. 

In der letzten Hälfte 1842 scheint Engels auch angefangen 
zu haben, sich mit dem Sozialismus, zu beschäftigen. Im 


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1492 


Die Engelsbiograghfe. 

’ 0 ]:^ 

Jahre 1840 erschien Moses Heß* „Europäische Triarchie“^ 
die auf den Saint-Simonismus und die englische soziale Be¬ 
wegung aufmerksam machte. „Als einer der ersten“, schreibt 
Mayer, „hatte auf die Wichtigkeit der „Triarchie“ Ludwig- 
Buhl hingewiesen und in seiner Anzeige der Schrift im 
Athenaeum im März 1841 ausgesprochen, daß auch er die 
Bestrebungen des Chartismus und der Anhänger Owens, als 
die ersten Tatrüstungen der sich vorbereitenden sozialen 
Revolution ansähe. Weil Berlin ebenfalls sein Proletariat 
habe, dessen völlige „Entmenschung“ nur auf dem Wege 
der sozialen Reform zu verhindern wäre, forderte an der 
gleichen Stelle am 24. Juli ein Anonymus die Philosophen 
auf, sich mit der von Franzosen und Engländern schon weit 
ausgebildeten Wissenschaft des Sozialismus zu beschäftigen, 
doch auch sich in die Praxis zu vertiefen und für diese 
zu wirken“ (Seite 109—110). Heß schrieb auch für die von 
Marx geleitete „Rheinische Zeitung“ (Köln) über soziale 
Ideen. Am 11. September 1842 veröffentlichte er in diesem 
Blatte einen von den Berliner „Freien“ stark beachteten 
Aufsatz, in welchem er zeigte, „daß die beiden französischen 
Revolutionen (1789, 1830) keineswegs dem ganzen Volke, 
sondern lediglich dem Bürgertum die Macht verschafft hat¬ 
ten. Der Gegenwart legte er die Pflicht auf, das ganze 
Volk zu befreien und somit in der Geschichte ein völlig 
neues Prinzip zur Herrschaft zu bringen.“ Heß fährt dann 
fort: „Die ganze Organisation oder vielmehr Desorganisation 
unseres sozialen Lebens erheischt eine Reform. . . Von den 
süßen Früchten der Zivilisation erhält die arme Volks¬ 
klasse wenig, desto mehr von ihren herben zu kosten. Das 
ist eine große Ungerechtigkeit und ein ebenso großes Un¬ 
glück. Alle freien Staatsverfassungen, von der französischen 
an bis herauf zu den Republiken des Altertums, sind an 
dieser Klippe gescheitert“ (Seite 115). Im Jahre 1842 er¬ 
schien auch das Werk von Lorenz Stein über den französi¬ 
schen Sozialismus und Kommunismus. Alle diese Einflüsse 
wirkten auf den empfänglichen Geist Engels’ und führten 
ihn zum Studium des Kommunismus, der, wie Moses Heß 
dem jungen Engels und seinem Kreise erklärte, nur die 
' notwendige Weiterentwicklung der junghegelianischen Doktrin 
sei (Seite 109). 

(Schluß folgt.) 


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Flugschriften der Revolution • Heft 4 

Verbrechen und Strafe 
im neuen Deutschland 

Von HANS HYAN 

Preis 1.— Mark 

mit 20% Teurungszuschlag 

Justizrat Dr. Werthauer sagt im Vorwort: 

... Mit treffsicherem Blick hat der Verfasser 
als das zu erstrebende Endziel den Erziehungs¬ 
gedanken erkannt.Mögen die warm¬ 

herzigen Worte des Verfassers nicht der Tot- 
schweigung anheimfallen, mögen sie Anklang 
finden bei denen, welche die Gesetze geben 
und bei denen, die sie anwenden. Es wird 
noch viel Arbeit nötig sein, viel Ausbau im 
einzelnen; aber die Grundlagen, welche Hans 
Hyan gefunden hat, sind richtig und geeignet, 
bahnbrechend zu_wirken! 


VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT, BERLIN SW 68 


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Ei* 

tut. ELTERN / LEHRER- UND BEHÖRDEN 

je ♦ w n n, je ® 


HERAUFCrEOEBEN' VON . . _ 

HEOIEILUNOi - w. SCHULRAT I. MINliTtRIUH FÜR. W/ UtNSCH ATT / KUNST U. VOLKS*!LDUMO 


Der Elternbeirat 

_i der Schule und Erziehung aus 
der Feder namhafter Pädagogen, Schulpolitiker und Aerzte 
und will damit den Elternbeiräten, deren tätige Mitarbeit an 
dem Blatte vorgesehen und erstrebt wird, das wissenschaft¬ 
liche Rüstzeug zur Ausübung ihrer Tätigkeit und Gelegenheit 
zur Aussprache über alle einschlägigen Fragen geben. Einen 
parteipolitischen Standpunkt wird er nidit vertreten 
Wir hoffen so tatkräftig daran mitzuwirken, daß die junge 
Generation unter zeitgemäßer Führung ins tätige Leben eintritt 


Der Elternbeirat erscheint zweimal im Monat, um¬ 
faßt 32 Seiten und kostet vierteljährlich Mk. 5,50 
ausschließlich Bestellgeld, vom Verlag direkt 
unter Streifband Mk. 6,—, das Einzelheft Mk. 1,— 


Bestellungen auf den „Elternbeirat“ nehmen alle Postämter 
und der Verlag entgegen 


VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

BERLIN SW 68, LINDENSTRASSE 114 


Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. Verantwortl. Schriftleiter: M. Beer, Berlin-Karlshorst. 
Verla K : Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68. Lindenstraße 114. Fernruf: Moritz 
platz 2218, 1448—1450. — Druck: Photogravur G. m. b. H., Berlin SW 68, LindenstraOe 114 


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28. Februar 1920 


Herausgegebenvon 

Parvus 


50 Pfennig 


Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68 


Original fmm 

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DIE GLOCKE 

Sozialistische Wochenschrift 

Herausgeber: Parvus 

Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post 
oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Mk. 6,—, 
Einzelhefte 50 Pf., Porto 5 Pf. 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

Berlin SW 68, Lindenstr. 114. Postscheckkonto: 27576 Berlin 


INHALT DIESER NUMMER: 


Th. Kabelitz: Entweder — oder! I. .... . 1493 

U. Emil: Politische Köpfe. V. und VI.1498 

H. Fehlinger: Grenzen des neuen Oesterreich . 1502 
Parvus: Meine Entfernung aus dfer Schweiz II. 1507 
Dr. A. Argeiander: Professor Oppenheimers 
liberaler Sozialismus.. 1515 

M. Beer: Die Engelsbiographie. II. .... . 1520 


Nummer 47 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt: 

M. Beer: Der Wahlkampf in Paisley . . . 1461 
U. Emil: Politische Köpfe. III. und IV. ... 1464 
A. Hopfner: Der Ausbau der Sozialversicherung 1467 
Walter Israel: Zur Entwicklungsgeschichte des 
Betriebsrätegesetzes . . . . . . . . . . 1472 
Parvus: Meine Entfernung aus der Schweiz. I. 1482 
M. Beer: Die Engelsbiographie. 1.1489 


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DE GLOCKE 

48. Heft 28. Februar 1920 5. Jahrg. 

Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlidier Quellenangabe gestattet 


TH. KABELITZ: 

Entweder — oder! 

i. 

A LS Referent in der Partei kommt man in Verbindung mit 
n den verschiedensten Abteilungen in Groß-Berlin. Ueber- 
all das gleiche Bedauern über die unselige Parteizerrissenheit 
des Proletariats, überall die Erkenntnis, daß ein voller Sieg 
des sozialen Gedankens erst möglich wird, wenn die werk¬ 
tätige Bevölkerung in Stadt und Land sich in geschlossener 
Front einheitlich um das Banner des Sozialismus schart, statt 
ihre Stoßkraft im Bruderkampf zu vertun, überall aber auch 
das resignierte Bekenntnis: Wie die Dinge stehn und gehen, 
ist Einigung unmöglich. 

Und dennoch muß die Einigkeit kommen. Sein oder Nicht¬ 
sein des sozialen Staates hängt davon ab. Entweder — oder! 

Natürlich kann die S.P.D. aus der demokratischen Repu¬ 
blik im verelendeten Deutschland nicht von heute auf morgen 
ein Himmelreich machen, am allerwenigsten mit Hilfe einer 
Koalitionsregierung. Aber diese Selbstverständlichkeit sollte 
man nicht mit Schlagworten behängen. Ehe demokratische 
Republik ist nicht der Konkursverwalter des zusammen¬ 
gebrochenen Junker-, Obrigkeits- und Militärstaats, wenigstens 
nicht ausschließlich und nicht in erster Linie. Wonl aber sieht 
sich die S.P.D., der alte Tanten (Zentrum und Demokraten) 
jeden Augenblick entsetzt in die Arme fallen, als jugend¬ 
frische, jugendstarke, unverbrauchte Erbin vor einem wüsten 
Trümmerhaufen, vor einer Welt voll Armut, Elend und 
Hunger, woraus sie ohne Verzug ein neues Reich aufbauen 
soll, das mit seiner fortschreitenden Vollendung immer wohn¬ 
licher, immer anheimelnder werden muß. Die Aufgabe des 
Erben reicht weit hinaus über die Pflicht des Konkurs- 

4811 


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1494 


Entweder — oder! I. 


Verwalters. Gelingt es der S.P.D., Deutschlands Volk aus dem 
Elend dieser Zeit in erträgliche Verhältnisse zu bringen, die 
als Anfang einer schönen Zukunft erkennbar werden, so 
hat der Sozialismus gesiegt für alle Zeiten — und nicht 
bloß in Deutschland. Bringt sie das nicht fertig, muß sie 
Zusehen, wie auf dem Umweg über eine Diktatur der Minder¬ 
heit links das Säbelregiment einer Minderheit rechts wieder 
aufgerichtet wird, so ist darin der schlüssige Beweis zu er¬ 
kennen, daß Deutschlands Proletariat für den Sozialismus 
noch nicht reif ist. Dann bleibt der soziale Staat für folgende 
Generationen, was er für vergangene Generationen gewesen: 
ein schöner Traum. Entweder — oder! 

Es gibt für die S.P.D. nur ein Mittel, die Massen zu sich 
und mit sich zu reißen: Sozialisierung! 

Man sagt: Wo nichts ist, kann niemand sozialisieren! 
Sozialisieren läßt sich nur ein Wirtschaftszweig, der für 
die Sozialisierung reif ist. Das sind Schlagworte, mit denen 
man die K.P.D. und U.S.P.D. nicht zu uns bekehrt, mit 
welchen man unsere Leute dauernd nicht bei den Fahnen 
hält. Bis tief hinein in unsere Reihen klingt die Frage immer 
heißer und heischender: Geschieht wirklich alles, was heute 
geschehen könnte, um den Sozialismus in den Sattel zu heben ? 
Eine Parteiabstimmung würde keine glatte Bejahung bringen. 

Die K.P.D. und mit ihr die U.S.P.D. beschuldigen die 
S.P.D., sie wäre zur Schutztruppe des Kapitalismus und der 
Reaktion heruntergesunken. Das sind natürlich haltlose 
Redensarten, an welche die am wenigsten glauben, die damit 
ihre gedankenlose Gefolgschaft aufpeitschen. Aber es genügt 
nicht, auf den achtstündigen Arbeitstag, auf das gleiche 
Wahlrecht für beide Geschlechter und auf andere Errungen¬ 
schaften der Revolution 'zu verweisen. Niemand darf Wert und 
Bedeutung dieser Dinge gering einschätzen, aber Sozialisie¬ 
rung sind sie nicht. Das Erfurter Programm setzt das alles 
unter die Forderungen, die „zunächst“ an den damaligen 
monarchisch-kapitalistischen Staat gestellt wurden, woraus sieb 
ergibt, daß sie auch in demselben erreichbar sein mußten. 
Seit dem 9. November 1918 haben wir die demokratische 
Republik. An jenes „zunächst!“ schließt sich immer drin¬ 
gender die Forderung: Nun weiter! Sozialisieren heißt das 
private Eigentum an Produktionsmitteln in den Besitz der 
Gesamtheit überführen. Wann wird damit der weithin sicht¬ 
bare Anfang gemacht? 


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Entweder — oder! I. 


1495 ' 


Die Revolution schuf die demokratische Republik und mit 
ihr den besseren Kampfplatz für die Zwecke des Sozialismus. 
Als erstes greifbares Resultat stellt sich zurzeit das Betriebs¬ 
rätegesetz dar. Es handelt sich hier nicht um eine Würdigung 
dieses Gesetzes. Nur eins steht unter allen ümsitänden fest: 
das Gesetz ist auf die Industrie zugeschnitten. 

Nach § 1 findet das Gesetz auf Betriebe der Land- und 
Forstwirtschaft nur dort Anwendung, wo mindestens zehn 
Arbeitnehmer vorhanden sind, von denen wenigstens fünf 
das Wahlalter von 18 Jahren erreicht haben müssen. Mit 
dieser Bestimmung fällt das gesamte von Bauern bewirt¬ 
schaftete platte Land aus dem Rahmen des Betriebsräte¬ 
gesetzes heraus, will sagen: der Schritt in der Richtung zum 
Sozialismus, den das Gesetz erkennen läßt, bleibt, von den 
Gütern abgesehen, auf dem platten Lande ungetan. Von den 
Bauern und Kossäten, völlig zu schweigen von noch kleineren 
Besitzern, beschäftigt kein einziger zehn fremde Personen, 
vom W^hlalter ganz abgesehen. Und dabei gibt es Millionen 
proletarischer Landbewohner! 

Die Industrie soll in ihrer Bedeutung weder verkannt noch 
herabgesetzt werden, aber der Industriestaat ist sicher nicht 
die letzte und höchste Form der Volkswirtschaft. Im An¬ 
schluß an den Krieg bereiten sich Veränderungen vor, deren 
Umfang und Tragweite sich heute nicht einmal ahnen lassen. 

Der Kapitalismus der Ententeländer holt zu seinem letzten 
Schlage aus. Der Konkurrenzkrieg — denn er war nichts 
anderes als ein Konkurrenzkampf des Kapitals hüben und 
drüben um die Weltherrschaft — ist zu ungunsten Deutsch¬ 
lands entschieden. Nun schickt das Kapital sich an, den 
großen Beutezug zu beginnen, um derentwillen die Welt 
in Blut getaucht und die Menschheit in Hunger und Elend 
gestürzt wurde. Die Verzögerung der Ratifikation, das Fest¬ 
halten der Kriegsgefangenen in Frankreich und vor allen 
Dingen auch die Bemühungen um ein ewiges Bündnis der 
Ententemächte zur dauernden Versklavung Deutschlands sind 
oder waren schon Akte, in denen der Kapitalismus seine Kar¬ 
ten für die Zukunft mischt. 

Das Kapital der Neutralen sucht schweifwedelnd einige 
Brocken unter dem Tisch zu erwischen, das mobile Kapital 
Deutschlands flüchtet heimlich über die Grenze. Es will 
dabei sein, wenn die Welt, wenn das deutsche Vaterland 
geschröpft wird. Die Besitzer großer Latifundien in Deutsch- 

« i* 


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1496 


Entweder — oder! I. 


land bedauern nur, daß sie ihre Landgüter nicht auf dem 
Rücken ins Ausland schleppen können. Der Millionär von 
heute fühlt schon die Wonne des Milliardärs. Im Kopf und 
Blut des Milliardärs tobt schon der Rausch der Billion. Der 
Ausgang des Krieges eröffnet unbegrenzte kapitalistische Mög¬ 
lichkeiten. 

Die Bemühungen um Niederhaltung Deutschlands und seine 
dauernde Versklavung in den Ketten ihres Kapitals sind 
die erste Friedensarbeit der Ententemächte. Nur möchte 
jede gern den Löwenanteil an der Beute für sich behalten 
und das Odium den anderen zuschieben. Daß dabei ein 
Gerede von einem zu erwartenden Rachekrieg Deutschlands 
als Kulisse benutzt wird, darf uns nicht wunder nehmen. 
Der Taschenspieler benebelt seine Zuschauer mit einem Wort¬ 
schwall, damit ihre Aufmerksamkeit von seinen Händen ab¬ 
gelenkt wird. Während des Krieges hallte es in der Entente 
und ihrer Presse wieder von Menschlichkeit, Gerechtigkeit, 
Freiheit und Selbstbestimmung der Völker. Das Geschrei 
ist verstummt. Wilson und sein Völkerbund verschwinden 
mehr und mehr in der Versenkung. Schachfiguren werden 
geopfert, um die Partei zu gewinnen. Wilson glaubte wahr¬ 
scheinlich zu schieben — vielleicht tat er bloß so! — jeden¬ 
falls schoben andere Wünsche als der Drang nach Erlösung 
der Menschheit. 

Nur mit einem Volke, daß sich selbst regiert, wollte die 
Entente Frieden schließen. Davon sind sie ganz still geworden 
drüben. Deutschland ist heute das freieste Land der Erde. 
Wir haben die ausgeprägteste Demokratie. In Frieden läßt 
man uns doch nicht, um den Anschein der Gerechtigkeit 
zu wahren, richten sie Vogelscheuchen auf und dichten uns 
allerhand idiotische dunkle Pläne an. Dahinter versteckt sich 
dann ihr Kampf gegen das freie Deutschland. 

Als Militärstaat liegt Deutschland ohnmächtig am Boden. 
Aber die Entente hat Angst vor uns. Nicht den Rachekrieg 
fürchten sie. Ihn zu verhindern, besitzen sie die Macht. Aber 
das deutsche Volk flößt ihnen Furcht ein, das Volk, das 
seine Ketten zerbrach, um in ruhiger Entwicklung der sozialen 
Republik entgegenzustreben. Wie einst Belsazar vor dem 
mene tekel upharsin bebend erbleichte, so liest der Kapitalis¬ 
mus der Entente über Deutschland, auf dunklen Wolken 
zwar, doch flammend, daß es über den Erdball leuchtet, das 
eine Wort: Sozialismus! Er liest es und zittert. Dem Bolsche- 


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Entweder — oder! I. 


1497 


vvismus kann man mit Machtmitteln beikommen, dem Sozia¬ 
lismus nicht. Der Bolschewismus gleicht dem verheerenden 
Wettersturm, er tobt sich aus und ist vorüber. Der Sozia¬ 
lismus ist die aufgehende Sonne, in-deren Licht und Wärme 
die Nebel und Spukgestalten versinken für alle Zeiten. Wenn 
es gelingt, das Deutsche Reich auf der Bahn zur sozialen 
Republik so weit vorwärts zu bringen, daß die Völker der 
Erde den Segen erkennen, dann sind nicht die Tage, dann 
sind die Stunden des Kapitalismus gezählt in der ganzen 
Welt. Davor haben die treibenden Mächte der Entente Angst, 
dämm drangsalieren sie das deutsche Volk. Uns soll die 
Lust zum Sozialisieren ausgetrieben werden. 

Man kann ruhig annehmen, daß die Entente heute viel 
lieber mit dem ^Kaiser“ verhandeln würde als mit einer 
stark sozialistisch durchsetzten Koalitionsregierung, von der 
man fürchtet, daß sie eines Tags ganz sozialistisch sein 
wird. Nachdem man dem Militarismus Wilhelms das Rück¬ 
grat gebrochen und seinem Imperialismus die Zähne aus¬ 
gerissen hat, braucht der Kapitalismus der Entente von einem 
Reich, das^mit dem Enkel der alten Queen an der Spitze 
wieder aufgerichtet würde, nichts mehr zu fürchten. Im 
Gegenteil: der Mann würde der Entente auf den Knien 
danken, wenn sie ihm allergnädigst gestatten möchte oder 
gar dazu verhelfen würde, im Schatten schimpflichster Ab¬ 
hängigkeit aut dem elendsten Thrönchen zu sitzen. Damm 
darf man ferner überzeugt sein, daß der Imperialismus der 
Entente allen reaktionären Machenschaften in Deutschland 
höchst wohlwollend zuschaut. Die Lasten, Demütigungen, 
Schikanen, mit denen uns die Entente immer von neuem und 
immer weiter in den Sumpf zu führen sucht, haben ihre Ur¬ 
sache letzten Endes in der Angst vor dem deutschen Sozialis¬ 
mus. Und darum nimmt die Entente schmunzelnd davon 
Kenntnis, daß die Reaktion bei uns zu Lande laut und immer 
lauter kreischt: die Revolution, will sagen der Sozialismus, 
hat Deutschland in Hunger und Elend gestürzt und seine 
Bewohner zum Helotenvolk gemacht! Es liegt im Interesse 
der Entente, daß der deutsche Sozialismus diskreditiert wird. 

Es fehlt uns an Rohstoffen für unsere Industrie. Unsere 
Presse sucht der Entente begreiflich zu machen, daß es 
im eigenen Interesse derselben liegt, dem deutschen Wirt¬ 
schaftsleben aufzuhelfen, damit wir den Verpflichtungen aus 
Versailles genügen können. Vergebliches Bemühen! Was 


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1498 


Politische Köpfe. V. und VI. 


unsere Presse predigt, wissen die dort drüben schon längst. 
Die Entente will ja gar nicht, daß Deutschland die ihm auf¬ 
erlegten Bedingungen erfüllt! Sie hat es nie gewollt. Die¬ 
selben sind von vornherein so aufgestellt und formuliert, 
daß stets ein Loch offen bleiben muß, durch das die brutale 
Erpresserfaust hereinfahren kann ins deutsche Land, ins deut¬ 
sche Leben. Und je mehr Deutschland sich bemüht, seinen 
Verpflichtungen zu genügen, je mehr es den Anschein ge¬ 
winnt, daß es seinen Verpflichtungen genügen kann, desto 
größer wird die Angst vor dem deutschen Sozialismus, desto 
höher schwillt die rlut neuer Forderungen, neuer Demüti¬ 
gungen, neuer Niederträchtigkeiten auf seiten der Entente. 

(Schluß folgt.) 


U. EMIL: 

Politische Köpfe. 

V. 

Eugen Ernst. 

UOR mehr als zwanzig Jahren fiel er mir zum ersten Male 
v in einer Versammlung auf. Eine mittelgroße, breite, ge¬ 
drungene Gestalt, mit einem braunen, wilden Andreas-Hofer¬ 
bart. Eine der bekanntesten Erscheinungen im Berliner Sozial¬ 
demokratischen Parteileben. 

,„Der beste Versammlungsleiter von ganz Berlin“, sagte mir 
mal eine Genossin in einer Versammlung mit wichtiger Miene. 
Sie war aus dem 6. Kreis, und dahin gehörte Ernst auch, 
darum der Stolz. 

Als Vorsitzender der Gesamtorganisation der Berliner Wahl¬ 
vereine kam ihm die hervorragende Routine als Versammlungs¬ 
leiter natürlich sehr zustatten. Besonders große, wild- 
bewegte Versammlungen lenkt er mit unleugbarem Geschick, 
und eine Debatte, die bei einem andern sich ins Uferlose 
verlieren und Stunden umfassen würde, bringt er im Hand¬ 
umdrehen zu Ende. Emst ist der Parteimann par excellence. 
Weniger Agitator, als Organisator, der von Jugend auf ins 
Parteigetriebe hineingewachsen und darin völlig aufgegan¬ 
gen ist. 

In einem kleinen Ort im Kreis Oberiiik geboren, erlernte) 
er, nachdem er die Schule verlassen, das Schriftsetzergewerbe. 


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Politische Köpfe. V. und VI. 


1499 


Früh kommt er schon zur Sozialdemokratie und ins Berliner 
Parteigetriebe. Bald werden ihm die verschiedensten Ehren¬ 
ämter übertragen. Er arbeitet abends, er arbeitet Sonntags 
für die Partei. Wie so viele, viele andere opfert er seine Kraft, 
seine Zeit der großen Sache, dem Sozialismus. Es war damals 
nicht so leicht, Sozialdemokrat zu sein. Die Partei war ver¬ 
femt, und ihre Anhänger hatten Verfolgungen und Drang¬ 
salierungen -jeglicher Art zu bestehen. Sozialdemokraten waren 
vogelfrei und wurden gleich gehetzten Tieren bedrängt. Das 
Sozialistengesetz hielt mit eisernem Druck die rebellische, 
ungestüme Bewegung nieder, und das Bekenntnis zur Sozial¬ 
demokratie war eine Tat. Was die Sozialdemokratie damals 
und auch später noch durchzukosten hatte, zeigen die er¬ 
schütternden Darstellungen, die Ernst in seiner Schrift: 
„Polizeispitzeleien und Ausnahmegesetze, 1878—1910“ nieder¬ 
gelegt hat. 

Nur einmal gab es in der Entwicklung Ernsts eine kurze 
Unterbrechung. Es war in den neunziger Jahren, als die 
Spaltung erfolgte, Ernst ging mit den „Jungen“ ins andere 
Lager. Aber nur auf kurze Zeit, bald ist er wieder bei der 
Mutterpartei und beginnt von neuem seine Tätigkeit. Wieder 
steht er in den vordersten Reihen im Kampfe gegen die feind¬ 
lichen Mächte, in erster Linie gegen die Polizei. 

Es ist eine köstliche Ironie des Zufalls, daß gerade Ernst, 
der sich zeitlebens mit der Polizei herumgeschlagen hat, 
nunmehr Polizeipräsident von Berlin werden mußte. Er hat 
jahrzehntelang einen zeitweise sogar recht lustigen Guerilla¬ 
krieg mit der Polizei geführt und ihr dabei empfindliche 
Schlappen beigebracht. So an jenem berühmten Demonstra¬ 
tionssonntag, da er die ganze Schutzmannschaft nach Treptow 
hinauslockte, um in derselben Zeit unter Mitwirkung von 
hunderttausend Männern und Frauen im Tiergarten eine 
imposante Wahlrechtsdemonstration zu veranstalten. Ich sehe 
noch heute die Beamten auf Bierwagen und Kremsern in 
jagender Eile im Tiergarten ankommen, als längst alles 
vorbei und der ganze Spuk verflogen war. Die Welt lachte 
wieder einmal aus voller Kehle. 

Auch sonst hat Ernst den Kleinkrieg mit der Polizei er¬ 
folgreich geführt. Alle Spitzel und Achtgroschenjungen, die 
sich als Horcher in die Partei einschlichen, zitterten bei 
dem Gedanken an Eugens photographische Platte. Er hat 
immer einen Trick gefunden, mit dem er diese Ehrenmänner 


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1500 


Politische Köpfe. V. und VI. 


überlistete, und ehe sie sich versahen, war ihre edle Persönlich¬ 
keit im Bilde festgehalten und prangte — wie die Eule am 
Scheunentor — am nächsten Tage in allen Parteilokalen. 

Einmal wäre ich selbst beinahe in eine böse Situation 
geraten, aus der ich durch das Erscheinen Eugen Emsts 
glücklich entrann. Es war an einem Demonstrationstag. Ich 
bewegte mich im Zuge die Chausseestraße entlang. Einem 
Teilnehmer, der mich an anderen Stellen schon mit dem 
Notizbuche in der Hand beobachtet hatte, war ich aufgefallen. 
Es hob denn auch bald ein Getuschte an, das allmählich 
lawinenartig anschwoll: Achtung, Spitzel, Achtgroschenjunge, 
haut ihn! Die Situation begann brenzlich zu werden. Die 
Erbitterung in den Massen gegen solche Ehrenmänner war 
groß. Da wurde nicht lange gefackelt. Ich hatte auch 
leider keinen Ausweis bei mir und so äugte ich scharf umher, 
— „da zeigte mir Gott, zu dem ich rief in der höchsten, 
schrecklichsten Not, aus der Tiefe ragend ein Felsenriff, 
das erfaßt ich bebend und entrann dem Tod.“ 

Dieses Felsenriff war eine Andreas-Hofergestalt, die ich 
plötzlich im Gedränge erblickt hatte und nun rasch am Arme 
ergriff. 

„Ach,.bist du auch da?“ sagte Ernst und drückte mir die 
Hand. Ich war gerettet. 

Die Revolution hat Eugen Emst zum Minister und auch zum 
Berliner Polizeipräsidenten erhoben, aber er ist der schlichte 
Mann aus der Werkstatt geblieben, der unverdrossen seine 
Arbeit verrichtet, wo immer man ihn auch hinstellt und der 
sich zur Richtschnur seines Handelns stets das Wohl der Ge¬ 
samtheit wählen wird. 

VI. 

Oskar Cohn. 

Der Name allein genügt schon, um ihn bei all denen, 
die den Menschen nicht nach seinen Eigenschaften und 
Leistungen, sondern nach seiner Abstammung wertschätzen, 
in Verrui zu bringen. Ein Umstand, der dadurch nicht ..Ein¬ 
stiger beeinflußt wurde, daß Cohn im Kriege den oppositio¬ 
nellen Flügel im Reichstag vertrat und gegenüber den An¬ 
nexionisten und Säbelraßlern wuchtige Töne anschlug. Mehr 
als einmal hing er der Katze die Scnelle um, und hätte man 
auf ihn gehört, so ständen wir heute nicht vor einem 
Scherbenhaufen. 


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Politische Köpfe. V. und VI. 


1501 


Ebenso radikal wie Liebknecht, war er weit wirksamer 
in seinen Reihen als jener, da er sein Temperament zu zügeln 
und Maß zu halten weiß. Mehr als einmal wurde er von 
der rechten Seite beschuldigt, Hochverrat getrieben zu haben, 
immer und immer wieder, trat er aber vor den Reichstag 
hin, er, der preußische Unteroffizier, und hielt seine Anklage¬ 
reden, die weit über Deutschland hinaus Aufsehen erregten. 
Trefflich zerstörte er die Lügenberichte, mit denen das Volk 
getäuscht wurde, und noch ist mir in Erinnerung, wie er 
einmal ausrief: „Der Heeresbericht schreibt: Kronprinz Wil¬ 
helm ging zum Angriff vor, — ach wo, die Soldaten gingen 
zum Angriff vor und Kronprinz Wilhelm spielte bO Kilo¬ 
meter hinter der Front Tennis !“ 

Der Kreis Nordhausen schickte Cohn seinerzeit in den 
Reichstag, nachdem ein Gewerkschaftsvorsitzender 20 Jahre 
lang vergebens um das Mandat gerungen hatte. Und er 
hätte es aus eigener Kraft damals auch nicht geschafft, wenn 
nicht die Antisemiten aus Bosheit gegen den Liberalismus 
Mann für Mann für Cohn gestimmt hätten. So kam der 
Kreis an die Sozialdemokratie. Bei der Parteispaltung ging 
Cohn mit dem radikalen Flügel nach links. Ich traf ihn 
damals, als die Frage der weiteren Kreditbewilligung bren¬ 
nend wurde, im Straßenbahnwagen. 

„Wir können diesmal unmöglich die Kredite noch einmal 
bewilligen, ganz unmöglich“, sagte er mir während der 
Unterhaltung. 

„Und die Folge?“ fragte ich. 

Er zuckte die Schultern: „Die Folge bedeutet Trennung.“ 

So kam es denn auch, und Cohn stand bald im Vorder¬ 
gründe der Kämpfe. Ich kann mich aber nicht entsinnen, 
daß er den Streit jemals in einer häßlichen Form zum Aus¬ 
druck gebracht hätte. Seiner ruhigen, sachlichen Art ent¬ 
sprechend, blieb er bei seinen Angriffen immer maßvoll. So 
ist er auch im persönlichen Verkehr und er drückt auch heute 
noch denen, die bei der Mehrheitspartei geblieben sind, freund¬ 
schaftlich die Hand. 

Als tüchtiger Rechtsanwalt hat Co hin eine ausgedehnte 
Praxis, und besonders Arbeiter nehmen ihn im Bedarfsfälle 
gern als Verteidiger. Und sie sind nicht schlecht aufgehoben 
bei ihm, denn er weiß sich Geltung zu verschaffen, weiß die 
wirksamsten Punkte herauszugreifen, um dem Prozeß eine 
für seine Klienten günstige Wendung zu geben. 

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1502 


Grenzen des neuen Oesterreich. 


In der Revolution wurde Cohns Name viel genannt und er 
geriet auch in eine Polemik wegen seiner Verbindung mit 
den russischen Revolutionären, deren Hilfsgelder er. verwal¬ 
tete. Eine Nacht war er sogar in der russischen Botschaft 
gefangen gehalten, alles Dinge, die ihm heute noch von seinen 
Gegnern bei jeder Gelegenheit vorgeworfen werden. Mag 
dem sein, wie ihm will, sicherlich ist Cohn weit von den Zielen 
des Bolschewismus entfernt und keiner, der ihn kennt, wird 
ihm Zutrauen, daß er auf eine Schädigung Deutschlands hin¬ 
arbeiten werde. 

In der Regierung hat Cohn nicht lange mitgewirkt, da 
die Unabhängigen ja bald wieder ausschieden. Nachträglich 
ist er in der Nationalversammlung aufgetreten und es spricht 
dafür, daß er in seiner Partei zu den besten Köpfen gerechnet 
wird. Im Untersuchungsausschuß hat er sich gegenüber allen 
Angriffen der Antisemiten und Deutschnationalen mit großer 
Würde behauptet. Geistesadel sprach aus seinen Worten. 
Wenn erst aus dem brodelnden Wirrwarr der Meinungen 
und Richtungskämpfe sich ein klares Bild ergeben hat, wenn 
das politische Leben wieder ruhigere Bahnen zieht, und unser 
armes Land durch Ordnung und Arbeit wieder aufzuleben be¬ 
ginnt, wird man Männer wie Cohn immer dort finden, wo 
die soziale Pflicht ruft. 


H. FEHLINGER: 

Grenzen des neuen Oesterreich. 

IN seiner berühmten Ansprache an das Bundesparlament 
1 der Vereinigten Staaten von Amerika stellte Präsident 
Wilson ein Programm des Weltfriedens auf, dessen Punkt 10 
lautet: Den Völkern von Oesterreich-Ungarn, deren Platz 
unter den anderen Nationen wir sichergestellt zu sehen wün¬ 
schen, muß die erste Gelegenheit einer selbständigen Ent¬ 
wicklung gegeben werden. Der Sinn dieser Verheißung ist 
nicht ganz klar; man kann sie sowohl als Versprechen der 
Selbstverwaltung der einzelnen Völker innerhalb eines Gesamt¬ 
staates auffassen, wie auch als Versprechen, sie voneinander 
unabhängig zu machen, sie anderen Nationen gleich zu stellen. 
Der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Front 
gegen Italien machte jedem Gedanken an einen Weiterbestand 


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Grenzen des neuen Oesterreich. 


1503 


des habsburgischen Gesamtstaats ein Ende, aber die darauf 
folgenden Ereignisse brachten den Völkern dieses gewesenen 
Staals auch nicht die Unabhängigkeit voneinander, sondern 
es wurde einfach der Spieß umgekehrt. Große Teile der bis 
dahin führenden Völker wurden anderen Völkern — sagen 
wir — angegliedert, sie kamen an Staaten, wo sie Minder¬ 
heiten bilden, die auf die Schicksale dieser Staaten mindestens 
keinen entscheidenden Einfluß haben können. Die Zukunft 
wird ja bald lehren, ob man zu sagen -berechtigt ist oder 
nicht, daß durch die Aufteilung des Habsburger Reichs Millio¬ 
nen von Deutschen und Hunderttausende von Madjaren unter 
Fremdherrschaft kamen-. 

Nach der Auflösung des Habsburger Heeres wurden weite 
Gebiete, die ausschließlich oder vorwiegend von deutscher 
Bevölkerung bewohnt sind, von tschechischen, italienischen 
oder südslawischen Truppen besetzt, aber lediglich den Süd¬ 
slawen gegenüber haben sich die führenden Staatsmänner 
der siegreichen Hauptmächte nicht durchaus nachgiebig ge- 

f ezeigt, nur die Südslawen mußten Teile von Kärnten und 
teiermark räumen, die sie bereits militärisch besetzt und für 
sich in Anspruch genommen hatten. 

Italien, selbst eine der verbündeten Hauptmächte, besetzte 
Tirol südlich der Hauptwasserscheide, sowie das österreichi¬ 
sche Küstenland und darüber hinaus Teile von Kärnten, Krain 
und Dalmatien. Auf eigene Faust nahm d’Annunzio Fiume, 
dessen Schicksal ebenso wie das gewisser dalmatinischer 
Inseln noch immer nicht endgültig entschieden ist. Dagegen 
ist Südtirol nach dem Staatsvertrag von St. Germain 1 definitiv 
italienischer Besitz. Hier lebten 1890 189 000, 1900 199 000 
und 1910 229 000 Deutsche österreichischer Staatsangehörig¬ 
keit; die Zahl der Italiener und Ladiner betrug 1890 358 000, 
1900 365 000 und 1910 383 000. Die Ladiner wurden nicht 
besonders gezählt, doch gibt es deren in einigen rauhen Berg¬ 
tälern sicher nicht über 20 000. Mehr als 80 Prozent der 
Bevölkerung bildeten die Deutschen im Jahre 1910 in der 
Stadt Bozen (93,8 Prozent), sowie in den politischen Bezirken 
Bozen, Brixen, Bruneck, Meran (96,4 Prozent) und Schlan- 
ders (99,8 Prozent). Auch das Kanaltal im südwestlichen 


1 Der Staatsvertrag von St. Germain samt Begleitnote vom 2. Sep¬ 
tember 1919. X, 251, IV und 77 S. Wien 1919. Staatsdruckerei. 

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1504 


Grenzen des neuen Oesterreich. 


Kärnten kam an Italien, dessen Grenze nun dem Hauptzug der 
Karnischen Alpen folgt. 

An den serbo-kroatisch-slowenischen Staat fielen vom’' ehe¬ 
maligen Oesterreich Südsteiermark, die Südostecke Kärntens 
und der größere Teil von Krain. Ueber die künftige staatliche 
Zugehörigkeit des Klagenfurter Beckens (Kärnten) wird eine 
Volksabstimmung der Einwohner zu entscheiden haben. Zu 
diesem Zweck wird dieses Gebiet in eine nördliche (fast 
ganz deutsche) und eine südliche (überwiegend slowenische) 
Zone geteilt. Die militärische Besetzung und die Verwaltung 
der nördlichen Zone (mit der Stadt Klagenfurt) fällt Oester¬ 
reich zu, während die viel größere Südzone von Serbo- 
Kroatien-Slowenien besetzt und verwaltet wird. In beiden 
Zonen sind sowohl die österreichischen wie die serbischi- 
kroatisch-slowenischen Truppen auf den Stand herabzusetzen, 
den ein internationaler Ausschuß für notwendig erachtet, 
um die Ordnung aufrecht zu erhalten; sie sichern die Durch¬ 
führung ihrer Aufgabe unter Aufsicht dieses Ausschusses. 
Die Truppen sind so schnell als nur möglich durch Polizei¬ 
kräfte, welche an Ort und Stelle ausgehoben werden, zu er¬ 
setzen. In der südlichen Zone wird die Volksabstimmung 
innerhalb dreier Monate nach dem Inkrafttreten des Friedens¬ 
vertrags und zu einem vom Ausschuß festgesetzten Zeitpunkt 
stattfinden. Fällt die Abstimmung zugunsten des serbisch- 
kroatisch-slowenischen Staates aus, so wird in der zweiten 
Zone eine Volksabstimmung stattfinden, und zwar innerhalb 
von drei Wochen nach Kundmachung des Ergebnisses der 
Volksabstimmung in der ersten Zone und zu einem vom 
Ausschüsse festgesetzten Zeitpunkt. Fällt hingegen die Ab¬ 
stimmung in der Südzone zugunsten Oesterreichs aus, so 
wird in der zweiten Zone zu keiner Volksabstimmung mehr 
geschritten werden und das gesamte Gebiet wird endgültig 
unter österreichischer Staatsgewalt bleiben. Stimmberechtigt 
sind die über zwanzigjährigen im Abstimmungsgebiet ge¬ 
borenen oder dort seit 1. Januar 1912 ständig ansässigen 
oder ebensolange heimatberechtigten Personen. Wer die Be¬ 
völkerung der südlichen Abstimmungszone vor und während 
des Krieges kannte, „der würde als sicher annehmen, daß sie 
für Oesterreich stimmt; aber man bedenke, welchen Einfluß 
die lange Besetzung mit serbo-kroatisch-slowenischen Truppen 
und Behörden haben muß! Man wird sich nicht wunaem 
dürfen, wenn es diesen gelingt, die einfachen und unerfahrenen 


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Grenzen des neuen Oesterreich. 


1505 


Bauern und Arbeiter zugunsten des Südslawenstaates umzu¬ 
stimmen. Bleibt die Südzone nicht bei Oesterreich, so wird 
die Stadt Klagenfurt, die dann knapp an der Grenze liegt, und 
durch eine Zollschranke von einem großen Teil ihres natür¬ 
lichen Wirtschaftsgebietes getrennt ist, einen recht schweren 
Stand haben. Die auf jeden Fall an Serbo-Kroatien-Slowenien 
kommenden Teile Oesterreichs hatten nach der'Volkszählung 
von 1910 etwa 80 000 deutsche Einwohner. 

An die böhmisch-slowdkische Republik fallen von den öster¬ 
reichischen Ländern Böhmen, Mähren und Schlesien, sowie 
einige Zipfel von Niederösterreich (überdies das slowakische 
und ruthenische Nordost- und Nordungarn). Die Zahl der 
Deutschen jin diesen Gebieten beträgt über dreieinhalb Millio¬ 
nen; die meisten davon wohnen innerhalb des geschlossenen 
deutschen Sprachgebiets, das Süd-, West- und Nordböhmen, 
Nord- und Südmähren, sowie den größten Teil des nun böh¬ 
mischen Schlesien umfaßt. In Böhmen bildeten im Jahre 
1910 die 2458000 Deutschen 36,8 Prozent der Bevölkerung; 
in Mähren wurden 719 000 Deutsche gezählt (27,6 Prozent 
der Bevölkerung) und in Schlesien 326 000 (43,9* Prozent). 
Ungefähr 200 000 Deutsche leben in der Slowakei, vornehm¬ 
lich in der Gegend von Theben und Preßburg an der Donau, 
sowie im ungarischen Erzgebirge und in kleineren Sprach¬ 
inseln. Die Landschaft Zips hatte ehedem eine vorwiegend 
deutsche Bevölkerung, doch ist dort die deutsche Sprache 
zum größten Teil verdrängt worden. 

Im Staatsvertrag von St. Germain werden die Grenzen des 
neuen Oesterreich gegen die sieben anstoßenden Staaten ein¬ 
gehend beschrieben. Die im Gelände noch genauer zu be¬ 
stimmenden Linien werden von gemischten Kommissionen 
festgesetzt, in denen auch Oesterreich vertreten ist. Diese 
Kommissionen haben binnen 14 Tagen nach dem Inkrafttreten 
des Friedens Vertrags zusammenzutreten.. Da der serbisch- 
kroatisch-slowenische Staat bis heute nicht unterschrieben 
hat, kann es sich ergeben, daß die Grenzregulierungskom¬ 
mission ihr Amt antritt, ohne daß Südslawien der neuen 
Grenze zugestimmt hätte. Die Kommissionen entscheiden 
mit Stimmenmehrheit endgültig. Oesterreich tritt das Ge¬ 
biet jenseits der bestimmten Grenzlinien teils gewissen Mäch¬ 
ten ab, zum Beispiel Italien, dem südslawischen Staate usw., 
zum Teil jedoch allgemein an die alliierten und assoziierten 
Hauptmächte. Die Grenzbestimmung zwischen den übrigen 


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1506 


Grenzen des neuen Oesterreich. 


Sukzessionsstaaten, zum Beispiel zwischen Südslawien und 
Italien, zwischen Polen und dem böhmisch-slowakischen 
Staate sind besonderen Verträgen Vorbehalten. 

Die neue Nordgrenze Oesterreichs entspricht in ihrem Ver¬ 
lauf vom Plöckenstein an der bayerischen Grenze bis in 
die Gegend von Weitra in Niederösterreich der früheren 
Landesgrenze zwischen Ober- und Niederösterreich einerseits 
und Böhmen andererseits. Nördlich von Weitra und östlich 
von Gmünd wurde ein Stück Land aus Niederösterreich her¬ 
ausgeschnitten und Böhmen zugeteilt, so daß die von Prag 
und Pilsen kommenden Bahnlinien bis zu ihrer Vereinigung 
bei Gmünd an Böhmen .fallen. Die Bevölkerung dieses Ge¬ 
biets ist deutsch. Weiter verläuft die Staatsgrenze wie die 
bisherige Landesgrenze zwischen Niederösterreich, Böhmen 
und Mähren. Der nordöstliche Zipfel Niederösterreichs, wo 
zumeist Tschechen wohnen, ist an die böhmisch-slowakische 
Republik abgetreten worden. Von da bildet die March die 
Grenze bis zur Einmündung in die Donau. Jenseits der 
Donau wurde der größte Teil des von Deutschen bewohnten 
Westungarn Oesterreich einverleibt. Die Grenze zieht west¬ 
lich von Preßburg und Wieselburg zum Südufer des Neu¬ 
siedlersees, dann westlich an Güns und Steinamanger vorbei 
zum Flusse Raab und zur Mur südöstlich von der steirischen 
Stadt Rackersburg. Von hier zieht die Grenze an den Win- 
dischen Büheln, den Poßruck- und Radelbergen zur kärnt- 
nerischen Grenze bei Unterdrauburg. Im Westen schließt 
nun das Abstimmungsgebiet an, das bis nahe an die Stadt 
Villach reicht. Vom geschlossenen deutschen Sprachgebiet 

f ehen hier im Süden nur an einigen wenigen Stellen kleine 
tücke an den Südslawenstaat verloren. Empfindlicher ist der 
Verlust der deutschen Sprachinseln in der südlichen Steier¬ 
mark: Marburg, CUli, Pettau, Mahrenberg usw. 

In Südtirol fallen Staats- und Sprachgrenzen weit aus¬ 
einander. Die erstere folgt der Hauptwasserscheide vom 
Ortler zum Brenner, zur Dreihermspitze und zum Monte 
Sivella, die Sprachgrenze zieht vom obersten Martelltale gegen 
das Etschtal westlich von Bozen und biegt dann weit nach 
Süden gegen Salum aus, von wo sie sich nach Nordosten zu 
den Bergen wendet, die das Pustertal im Süden begrenzen. 

Qer Vertrag von St. Germain verpflichtet Oesterreich zum 
Schutz der nationalen Minderheiten. Was nun das öffent¬ 
liche Unterrichtswesen anlangt, wird die österreichische Re- 


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Meine Entfernung aus der Schweiz. 


1507 


gierung in den Städten und Bezirken, wo eine verhältnismäßig 
beträchtliche Zahl anderssprachiger als deutscher österreichi¬ 
scher Staatsangehöriger wohnt, angemessene Erleichterungen 
gewähren, um sicherzustellen, daß in den Volksschulen den 
Kindern dieser österreichischen Staatsangehörigen der Unter¬ 
richt in ihrer eigenen Sprache erteilt werde. Diese Be¬ 
stimmung hindert die österreichische Regierung nicht, den 
Unterricht in der deutschen Sprache in den besagten Schulen 
zu einem Pflichtgegenstande zu machen. Nun wurden aber 
Oesterreichs Grenzen so gezogen, daß sie zumeist durch das 
geschlossene deutsche Sprachgebiet laufen, Deutsche wohnen 
geschlossen noch jenseits der österreichischen Grenzen. Nur 
in dem neuerworbenen ehemaligen Westungarn fielen ganz 
unbedeutende madjarische und slawische Minderheiten an 
Oesterreich, überdies gibt es ebenfalls unbedeutende sloweni¬ 
sche Minderheiten noch in der Steiermark und in Kärnten. Es 
ist nicht so sehr wahrscheinlich, daß man bei dem „Schutz 
der Minderheiten“ im Vertrag von St. Germain an diese 
wenigen Grenzbewohner dachte als an die tschechischen 
Minderheiten in österreichischen Städten, namentlich in Wien, 
wo seit der Jahrhundertwende das Tschechentum schon recht 
fest Fuß gefaßt hatte. Gab es doch dort tschechische Eltern, 
die ihren Kindern bis zum Schulbesuch kein deutsches Wort 
beibrachten, trotzdem kein Mensch bestreiten kann, daß in 
Wien selbst bis in die jüngste Zeit nur deutsch die Umgangs¬ 
und Verkehrssprache war. Ohne neue starke Zuwanderung 
werden aber die tschechischen Minderheiten in österreichischen 
Städten zweifellos bald vollständig verschwunden sein. 


PARVUS: 

Meine Entfernung aus der Schweiz. 

Der Kampf um die Niederlassung. 

ANFANG Januar erhielt ich durch die Vermittlung der 
** deutschen Gesandtschaft aus Bern die Nachricht, der 
Bundesrat sei durch die gegen mich gerichtete Preßhetze 
beunruhigt, man empfehle mir, für eine Zeitlang die Schweiz 
zu verlassen, man werde meiner Rückkehr, keine Hindernisse 
in den Weg legen. Ich erwiderte darauf, es sei der Gesandt¬ 
schaft bekannt, daß ich in Deutschland geschäftlich und 


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1508 


Meine Entfernung aus der Sgfaiyeig.' 


K ritisch zu tun habe und mich deshalb schon seit Ende 
ovember um die Erteilung eines schweizerischen Rückreise¬ 
visums bemühe, daß dagegen meine Abreise unter Bedingun¬ 
gen, die den Eindruck erwecken müßten, daß ich einer Aus¬ 
weisung ausweiche, der denkbar verkehrteste Weg sei, Ruhe 
zu schaffen, es würde dadurch nur das Triumphgeschrei 
der Verleumder ausgelöst werden. Einige Tage später be¬ 
suchte mich wieder der Abgesandte der deutschen Gesandt¬ 
schaft und teilte mit, der Bundesrat habe sich mit meiner 
Angelegenheit befaßt und das Ergebnis sei: wenn ich nicht 
das Versprechen gebe, bis zum 20. Januar zu verreisen, so 
werde ich ausgewiesen werden; dagegen, wenn ich verreise, 
so dürfe ich zurückkehren und mein Niederlassungsrecht 
werde anerkannt werden. Ich antwortete: „Ein solches Ver¬ 
sprechen gebe ich nicht. Ich weiche nicht vor den Verleum¬ 
dern. Man hat meine politische Tätigkeit und mein Privat¬ 
leben aufgewühlt — glaubt der Bundesrat, einen politischen 
Oder sonstigen Grund zu meiner Ausweisung zu besitzen, so 
möge er nur damit herausrücken. Dann kann ich mich 
wenigstens vor der Oeffentlichkeit rechtfertigen. Ich lasse 
lieber eine ungerechte Ausweisung über mich ergehen, als 
daß ich mir nachsagen lasse, ich hätte eine Auseinandersetzung 
gescheut und mich deshalb aus der Schweiz gedrückt.“ 

Das war meine Antwort. Wie groß war mein Erstaunen, als 
ich wenige Tage darauf eine Notiz in der „Neuen Züricher 
Zeitung“ las, ich hätte die Absicht, freiwillig die Schweiz 
zu verlassen. Dann wurde noch hinzugefügt: meine Nieder¬ 
lassung scheine nicht ganz formell ordnungsgemäß zustande¬ 
gekommen zu sein. 

Ich schrieb darauf an die deutsche Gesandtschaft in Bern: 
-diese lügenhafte Nachricht könne doch nur aus Kreisen her¬ 
rühren, die mit der Gesandtschaft in intimster Verbindung 
stehen, denn sonst wüßte überhaupt niemand, daß Verhand¬ 
lungen über meine Abreise stattfanden, und ich verlangte, man 
solle den Stänkerer ermitteln und zur Rede stellen. 

•i* 

Um die gleiche Zeit erschien in den Zeitungen eine offi¬ 
zielle Notiz der kantonalen Fremdenpolizei in Zürich, daß 
über mein Niederlassungsrecht eine Untersuchung geführt 
werde. Ich richtete infolgedessen an die kantonale Fremden¬ 
polizei folgende Zuschrift: 


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Meine Entfernung aus der Schweiz. 


1509 


Aktenstück 3. 

Eingabe an die kantonale Fremdenpolizei in Zürich. 

„Aus der Mitteilung der kantonalen Fremdenpolizei in der 
Presse ersehe ich, daß mein Niederlassungsrecht in Zweifel 
gezogen wird. Dasselbe wird bestätigt durch eine Notiz in 
der „Neuen Züricher Zeitung“, datiert: Bern, 14. Januar, in 
der es heißt: „Eine formell ordnungsmäße Niederlassung* 
scheint nicht vorzuliegen.“ Da eine Aufhebung meines Nieder¬ 
lassungsrechtes für mich mit großer Vermögensschädigung 
verbunden sein würde, verlange ich, daß mir mitgeteilt wird, 
aus welchen Gründen meine Niederlassung angefochten wird, 
damit ich meine Rechte wahrnehmen kann. 

Ich berufe mich: 

1. auf den Niederlassungsausweis; 

2. aut den mir ausgestellten Domizilschein; 

3. auf die Tatsache, daß mir im September 1919 bei meiner 
Reise nach Deutschland das Visum von der Gemeinde aus¬ 
gestellt worden war, was sie nicht hätte tun können, wenn 
ich keine Niederlassung hätte; 

4. auf die Anerkennung dieses Gemeindevisums durch die 
schweizerischen Grenzbehörden; 

5. auf die Erklärung der Gemeindeverwaltung Wädenswil 
in der Presse, daß mir die Niederlassung erteilt worden 
war; 

6. auf die persönliche Erklärung der Gemeindeverwaltung 
nach Ausstellung des Niederlassungsausweises auf meine An¬ 
frage, ob nunmehr die Formalitäten erledigt seien: „Ja, 
jetirt ist alles erledigt, Sie besitzen die Niederlassung.“ 

Da ich auf diese Weise „formell“ und „ordnungsmäßig“ 
vergewissert wurde, daß ich die Niederlassung besitze, rich¬ 
tete ich mich dementsprechend in meinen Vermögensverhält¬ 
nissen ein. 

Ich kaufte das meinem Besitz gegenüberliegende Haus und 
richtete es als Autogarage ein. Das kostete mich über 20 000 
Franken und wäre überflüssig, wenn ich hier nicht nieder¬ 
gelassen wäre und folglich damit zu rechnen hätte, daß mir 
die Aufenthaltsbewilligung jeden Augenblick entzogen werden 
könnte. Ich legte mehrere tausend Franken im Ausbau meines 
Gartens an, wie ich durch Rechnungen der Gartenbaufirma 
Mertens und anderer nachweisen kann. 


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1510 


Meine Entfernung aus der Schweiz. 


Ich legte einen Weg durch meinen Garten und meine 
Wiesen und erweiterte den Fußpfad, der von meiner Garage 
zu meinem Haus führt, zu einer Fahrstraße, die ich dem 
öffentlichen Verkehr freigab. 

Ich erweiterte meinen landwirtschaftlichen Betrieb durch 
den Erwerb von drei Kühen. Den weitaus größten Teil 
der Milch gebe ich an die Genossenschaft ab und unterhalte 
diese Milchwirtschaft, obwohl mich die Milch, wie ich leicht 
nachweisen kann, um mindestens 50 Prozent teurer zu stehen 
kommt, als ich dafür erhalte. Ich tat es, um der Milchnot 
abzuhelfen und in der Erwägung, daß spätere Jahre mir 
wenigstens zum Teil die gegenwärtigen Verluste einbringen 
werden. 

Ich habe für Garten und Stall zwei dauernd Angestellte 

— geborene und vollberechtigte Schweizer. Ich hätte mich 
auf diese Engagements nicht eingelassen, wenn ich hier nur 
zum vorübergehenden Aufenthalt wäre. 

Auch die Steuern wurden von mir auf Grundlage meiner 
Niederlassung in vollem Jahresbetrag erhoben, was ein be¬ 
deutendes Mehr ausmacht gegenüber dem, was ich zu zahlen 
hätte, wenn ich mich nur vorübergehend aufgehalten hätte. 

Sollte bei meiner Niederlassung von den Behörden ein 
formeller Fehler oder eine Unterlassung begangen worden 
sein — ich selbst habe alle verlangten Formalitäten erfüllt 

— so müßte ich die Schuldigen für die entstandenen Schäden 
verantwortlich machen. 

Sollte mir die Niederlassung entzogen werden und ich 
veranlaßt sein, meinen Besitz zu liquidieren, so würde mir 
daraus ein noch viel größerer Schaden entspringen. 

Außerdem gibt es eine Reihe anderer Leute, die in ihrer 
Existenz ganz oder teilweise auf mich angewiesen sind: das 
Stubenmädchen, die Köchin, der Chauffeur mit seiner Familie, 
verschiedene Lieferanten usw. Ich bin an diese Leute und 
Familien nicht juristisch gebunden, aber ich halte mich ihnen 
gegenüber moralisch verpflichtet, sie, besonders in den jetzi¬ 
gen schweren Zeiten, nicht im Stiche zu lassen, ohne mein 
Niederlassungsrecht verteidigt zu haben. 

Ich bitte deshalb, mir Auskunft zu geben, welche Einwände 
gegen mein Niederlassungsrecht gemacht werden. 

Ich mache Sie noch darauf aufmerksam, daß ich schon am 
25. November 1919 und später wiederholt mich um die 
Erteilung eines Rückreisevisums nach Deutschland bemüht 


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Meine Entfernung aus der Schweiz. 


1511 


habe. Ich habe dort geschäftlich zu tun und kann meine 
Reise nicht ins Unbegrenzte hinausschieben. Ich möchte aber 
vor meiner Abreise wissen, ob ich zurückkehren kann, oder ob 
ich mich nach einem neuen Wohnsitz umzusehen habe.“ 

Ueber die weitere Entwicklung orientieren folgende Schrift¬ 
stücke : 

Aktenstück 5. 

Die Antwort der kantonalen Fremdenpolizei. 

„Ich bestätige Ihnen den Empfang Ihrer Zuschrift vom 
15. Januar 1920, womit Sie verlangen, daß ich Ihnen mit¬ 
teile, aus welchen Gründen Ihre Niederlassung angefochten 
werde. In Erledigung Ihres Schreibens teile ich Innen fol¬ 
gendes mit. 

Die eidgenössische Zentralstelle für Fremdenpolizei in Bern 
stellt sich auf den Standpunkt, daß durch die Verordnung vom 
21. November 1917 der Bundesrat die Entscheidungsbefugnis 
über die Einreise und damit auch über den Aufenthalt eines 
Ausländers in der Schweiz der genannten schweizerischen 
Amtsstelle übertragen habe. Die Kantone und die Gemeinden 
seien demgemäß nicht befugt, einem zu befristetetem Aufent¬ 
halt in die Schweiz eingereisten Ausländer einen unbefristeten 
Aufenthalt bzw. die Niederlassung ohne ausdrückliche Ge¬ 
nehmigung der zuständigen eidgenössischen Instanz zu be¬ 
willigen. Festgestelltermaßen ist Ihnen am 18. November 
1918 von der Schweizerischen Gesandtschaft in Berlin ein 
bis zum 10. Januar 1919 befristetes Visum zur Einreise und 
zum Aufenthalt in der Schweiz ausgestellt worden. Sie ge¬ 
langten dann am 20. November 1918 in Zürich zur An¬ 
meldung und wurde Ihnen eine bis 10. Januar 1919 befristete 
Kontrollkarte für Ausländer ausgehändigt. In der Folge 
hat Ihnen die eidgenössische Zentralstelle Tür Fremdenpolizei 
in Bern eine Aufenthaltsverlängerung bis 10. März 1919 ge¬ 
währt. Eine weitere Fristverlängerung ist Ihnen von der 
Zentialstelle nie bewilligt worden und es konnte Ihnen dem¬ 
zufolge nach der Auffassung der zuständigen eidgenössischen 
Instanz von einer kantonalen oder einer Gemeindebehörde 
rechtsgültigerweise auch keine Niederlassung erteilt werden. 
In einer Zuschrift an uns weist die Zentralstelle darauf hin 
daß der Umstand, daß Sie einen deutscherseits bis 1. April 
1920 gültigen Heimatschein deponiert hätten, an der Tat¬ 
sache nichts ändern könne, daß Sie eben mit befristetem .. 


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1512 


Meine Entfernung aus der Schweiz. 


Visum eingereist seien. Wenn Sie auf Grund dieses Aus¬ 
weises eine Niederlassung hätten erwirken können, so bestehe 
diese trotzdem zu Unrecnt, weil die Zentralstelle Ihren Auf¬ 
enthalt in der Schweiz vorher nicht entsprechend verlängert 
habe. 

Durch ein uns heute zugegangenes Expreßschreiben der 
Zentralstelle für Fremdenpolizei in Bern werden wir auf¬ 
gefordert Ihnen zu eröffnen, daß Sie die Schweiz nunmehr 
unverzüglich über Romanshorn zu verlassen haben, da Ihre 
Aufenthaltsbewilligung abgelaufen und die genannte Amts¬ 
stelle nicht in der Lage sei, dieselbe zu erneuern. Die ge¬ 
nannte Grenzübergangsstelle sei von Ihrer Ausreise avisiert. 
Sofern Sie eine andere Grenzübergangsstelle wählen sollten, 
hätten Sie die eidgenössische Zentralstelle für Fremdenpolizei 
in Bern hiervon unverzüglich in Kenntnis zu setzen. Als 
letzter Termin zur Ausreise werde der 29. Januar 1920 
anberaumt. Falls Sie bis dahin die Schweiz nicht verlassen 
hätten, würden Sie polizeiliche Ausschaffung zu gewärtigen 
haben. Die Gemeinderatskanzlei WädenswiT ist sachbezüg- 
lich orientiert; wollen Sie Ihren Paß dort entgegennehmen. 

Ich ersuche Sie, von vorstehendem Kenntnis zu nehmen. 
Da wir Ihnen die Ausreisefrist im Aufträge der eidgenössi¬ 
schen Zentralstelle ansetzen, ist ein Reloirs Ihrerseitsi an 
die Kantonsregierung ausgeschlossen. Es steht Ihnen frei, 
beim Schweizerischen Justiz- und Polizeidepartement gegen die 
Ansetzung der Ausreisefrist Einsprache zu erheben; ich mache 
Sie aber darauf aufmerksam, daß einem solchen Rekurs nach 
den einschlägigen eidgenössischen Vorschriften im allge¬ 
meinen aufschiebende Wirkung nicht zukommt.“ 

Aktenstück 6. 

Mein Rekurs an das Eidgenössische Polizei- und Justiz¬ 
departement. 

„Ich wende mich an das Polizei- und Justizdepartement 
mit dem Rekurs gegen die Verfügung der Zentralstelle» für 
Fremdenpolizei, wonach die mir im März 1919 gewährte 
Niederlassung ungültig sei und ich das Land bis 29. Januar 
zu verlassen habe. 

In der Bundesverordnung vom 21. November 1917 ist mit 
keinem Wort davon die Rede, daß der Ausländer, der sich 
niederlassen will* sich erst die Einwilligung der Zentral¬ 
stelle für Fremdenpolizei einzuholen habe. Wie ich, so haben 


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Meine Entfernung aus der Schweiz, 


i5i3 


auch viele andere Ausländer, sowohl Deutsche wie Ange¬ 
hörige anderer Staaten, entsprechend der Verordnung vom 
21. November 1917 ihr Niederlassungsrecht bekommen, ohne 
erst die Zentrale für Fremdenpolizei in Bern zu befragen. 
Ehe Befragung der Zentrale für Fremdenpolizei ist erst vor¬ 
geschrieben worden durch Bundesratsverordnung vom 17. No¬ 
vember 1919, also acht Monate nachdem mir die Nieder¬ 
lassung bereits erteilt worden war. Auch da hat die Fremden¬ 
polizeizentrale nur das Recht des Einspruchs; wenn sie diesen 
Einspruch innerhalb Monatsfrist nicht geltend macht, gilt 
die Niederlassung. Es wäre nicht notwendig gewesen, diese 
Bestimmung 1919 zu treffen, wenn die Fremdenpolizei¬ 
zentrale schon nach der Verordnung von 1917 das Recht 
gehabt hätte, jede Niederlassung, der sie nicht von vornherein 
zugestimmt hat, für ungültig zu erklären. 

Ich behaupte aber ferner, daß die Zentralstelle für Fremden¬ 
polizei selbst meine Niederlassung anerkannt hat. Sonst hätte 
sie ja von mir verlangen müssen, daß ich um eine Verlänge¬ 
rung meiner Aufenthaltsbewilligui^g nachsuche. Meine letzte 
befristete Aufenthaltsbewilligung lief am 10. März 1919 ab. 
Bis dahin erwarb ich mir die Niederlassung. Weil die Zentral¬ 
stelle für Fremdenpolizei davon Kenntnis hatte, deshalb unter¬ 
ließ sie jede weitere Nachfrage. War die Zentralstelle der 
Meinung, daß meine Niederlassung nicht gültig sei, so mußte 
sie es mir damals sagen. 

Selbst nach der Bundesratsverordnung vom November 1919, 
wenn man dieser eine rückwirkende Kraft für die Jahre 1919 
und 1918 geben wollte, würde also meine Niederlassung 
zu Recht bestehen, da die Zentrale für Fremden polizei binnen 
Monatsfrist keinen Einspruch dagegen erhoben hat, — wie 
kommt man jetzt dazu, mir mein Niederlassungsrecht abzu¬ 
sprechen, trotzdem nach der Verordnung von 1917 der 
Fremdenpolizeizentrale nicht einmal das Einspruchsrecht zu¬ 
gestanden wird. 

Wonach hat sich nun der Ausländer zu richten, wenn 
er sich in der Schweiz niederläßt? Nach den bestehenden 
Gesetzen und Vorschriften, oder nach den geheimen Inten¬ 
tionen der Fremdenpolizeizentrale? 

Ich kann mir nicht denken, daß ein derartiges willkürliches 
Verfahren vom Justizdepartement und vom hohen Bundes¬ 
rat gestützt werden sollte. Denn, wenn man das in meinem 
Fall zulassen sollte, daß die Zentralstelle für Fremdenpolizei 


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1514 


Meine Entfernung aus der Schweiz^ 


nach elf Monaten Niederlassung diese ohne weiteres kassiert, 
welche Sicherheit haben dann alle anderen, die sich hier auf 
Grund der Verordnung von 1917 niedergelassen haben und, 
wie ich, Grundbesitz erworben oder Geschäfte betreiben? 
Wenn man durch einen willkürlichen Akt der Fremdenpolizei¬ 
zentrale, so wie ich, in seinem Vermögen geschädigt werden 
kann, welchen Schutz hat dann der niedergelassene Aus¬ 
länder in der Schweiz für sein Eigentum und äfeinen Ge¬ 
schäftsbetrieb, und was gelten dann die Niederlassungs¬ 
verträge mit der Schweiz? Und, wenn die .Niederlassungs¬ 
verträge von einer untergeordneten Amtsstelle willkürlich 
umgedeutet werden können, was gelten dann überhaupt die 
Staatsverträge mit der Schweiz? Da ich eine derartige Stel¬ 
lungnahme in der Schweiz für unmöglich halte, nehme ich 
Rekurs zum Polizei- und Justizdepartement und bitte um 
sofortige Aufhebung der Verfügung der Fremdenpolizei¬ 
zentrale, wonach icn die Schweiz bis zum 29. Januar zu 
verlassen habe. Auf alle Fälle, wenn mir schon mein Recht 
genommen und mein Besitz zerstört werden soll, verlange ich, 
daß man nicht mit einer Brutalität vorgehe, wie sie von der 
zivilisierten Welt selbst als Kriegsmaßnahme verurteilt wird, 
sondern mir eine angemessene Frist gewähre, um meine 
Verhältnisse zu ordnen. Ich begebe mich sofort nach Wädens- 
wil, brauche aber mindestens einen Monat, um meinen Besitz 
und meine geschäftlichen Verbindungen in der Schweiz zu 
liquidieren. Ich bitte darum, noch bevor die grundsätzliche 
Entscheidung getroffen worden ist, um sofortige Verlänge¬ 
rung der Ausreisefrist bis 1. März 1920, zugleich um tele 
graphische Entscheidung, da dieser Rekurs selbst keine auf¬ 
schiebende Wirkung hat.“ 

Es wurde mir aber nur eine Verlängerung der Ausreise¬ 
frist bis zum 11. Februar gewährt. Ich hatte tatsächlich 
keine Zeit, meine Verhältnisse vollkommen zu ordnen. 

Dies der Tatbestand. Ueber die staatsrechtlichen und son¬ 
stigen Folgen werden wir uns noch unterhalten. 


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Professor Oppenheimers liberaler Sozialismus. 


1515 


Dr. AROELANDER: 

Professor Oppenheimers liberaler 

Sozialismus. 

piNEN Mittelweg nennt Franz Oppenheimer 1 selbst seine 
“ Theorie des liberalen Sozialismus, die Synthese aus kapi¬ 
talistischen und kommunistischen Gegensätzen. Ein Mittel¬ 
weg aber nicht im Sinne „fauler Kompromißlerei“, sondern 
als wissenschaftliches System, das frei von Extremen den 
Weg der objektiven Wahrheit sucht. „Es ist Sozialismus; 
denn es will auf einen Zustand der Gleichheit hinaus. Und 
es ist dennoch gleichzeitig Liberalismus; denn sein Mittel 
ist die wirklich „freie“ Konkurrenz.“ Ein Ziel, das fest ver¬ 
wurzelt ist in dem Glauben, daß alle Fortschritte der Kultur 
aus dem tiefen Mutterboden der Kollektivitäten erwachsen. 
Der Weg dahin aber führt über die Erkenntnisse früherer 
wissenschaftlicher Systeme, denen Oppenheimers Theorie die¬ 
jenigen Bestandteile entnimmt, die die Gedankenwelt, der 
sie entstammten, überlebt haben. 

Die neue Lehre nimmt von der klassischen Doktrin die Me-' 
thode der Deduktion aus dem kleinsten Mittel an. Die bürger¬ 
liche Oekonomie hatte erkannt, daß der Antrieb zum wirt¬ 
schaftlichen Handeln im Selbstinteresse liege, daß deshalb der 
Mensch sich bemühe, unter Aufwendung möglichst geringer 
subjektiver Anstrengungen zu möglichst hohen Erfolgen ’zu 
gelangen. Dieses kleinste Mittel ist aber je nach der Organi¬ 
sation der Gesellschaft, nach den persönlichen Neigungen und 
Begabungen eines jeden Menschen verschieden. Er kann 
sich entweder der eigenen Arbeit an den Dingen der Natur 
als seines kleinsten Mittels bedienen, er kann aber auch, 
wenn ihm das als das kleinere, bequemere, ergiebigere Mittel 
erscheint, die unentgoltene Aneignung fremder Arbeit oder 
fremder Arbeitskraft vorziehen. Die erste Verfahrungsweise 
nennt Oppenheimer das ökonomische Mittel, weil aus seiner 
Entfaltung die arbeitsteilige Gesellschaft entsteht. Auf niede¬ 
rer Stufe ist sie nur Arbeitsgemeinschaft: auf höherer Stufe 
staffelt sich das primitive ökonomische Mittel, die Arbeit, 
zum freien, freiwilligen, als Aequivalent betrachteten Tausch, 


1 „Kapitalismus — Kommunismus —- Wissenschaftlicher Sozialismus“. 
Vereinigung wissenschaftl. Verleger. 1919. 


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1516 


Professor Oppenheimers liberaler Sozialismus. 


dem „entfalteten“ ökonomischen Mittel, jund konstituiert die 
höhere, die Tauschgesellschaft. Der eigenen Arbeit tritt als 
weitere Art der Bedürfnisbefriedigung die unentgoltene An¬ 
eignung gegenüber, zuerst als Raub. Das ist das unentfaltete 
politische Mittel , das auf höherer Kulturstufe nur noch in 
der Form des Verbrechens anzutreffen ist. In seiner Ent¬ 
faltung aber heißt es — und daher rührt die Namengebung 
Oppenheimers — der Staat. Er ist die auf die Dauer berech¬ 
nete Form der Bewirtschaftung einer Menschenklasse durch eine 
andere; er ist das „Gehäuse“ der Mehrwertpresse, des Klassen¬ 
monopolverhältnisses in seinen drei historischen Hauptformen 
als Sklavenwirtschaft, Feudal Wirtschaft und kapitalistischer 
Wirtschaft. Auch seine Hauptaufgaben, der Grenzschutz nach 
außen und der Rechtsschutz nach innen, dienen dem Zweck, 
Mehrwert für die Herrenklasse zu sichern. In der An¬ 
erkennung des Mehrwerts als derjenigen Ursache, die dem 
Arbeiter nicht erlaube, den vollen Ertrag seiner Arbeits¬ 
leistung einzustreichen, folgt Oppenheimer völlig der marxisti¬ 
schen Doktrin, ebenso wie er der zweiten Grundvoraussetzung 
der bürgerlichen Theorie, dem Gesetz der ursprünglichen 
Akkumulation, wonach die wirtschaftlichen und sozialen' 
Klassen durch allmähliche, naturnotwendige Vollbesetzung 
des Bodens entstanden seien,'die der Bourgeoisie unbequeme 
Tatsache der Entstehung sämtlicher originärer Staaten durch 
Eroberung und Unterwerfung als Klassenstaaten gegenüber¬ 
hält zur Erklärung des Klassenkampfes und zur Forderung 
des Klassenlosen als des naturgemäßen Zustandes. 

Mehrwert, die Grundursache wirtschaftlicher und sozialer 
Abhängigkeit entsteht, wie schon Karl Marx erkannte, wenn 
unter einem Monopolverhältnis getauscht wird, wenn also eine 
wirklich freie Konkurrenz nicht zustande kommen kann, weil 
der eine Teil entweder gezwungen ist, unter dem Wert los¬ 
zuschlagen oder der andere über den Wert zu verkaufen 
befähigt wird. Dieses Monopol kann entweder ein natür¬ 
liches sein, wenn das betreffende Gut nicht beliebig ver¬ 
mehrbar ist, oder ein künstliches, wenn durch Verabredungen 
seiner Hersteller oder durch rechtlichen Schutz die wirt¬ 
schaftliche Ausnutzung durch die Allgemeinheit beschränkt 
ist. Alle Welt hat bisher geglaubt, es seien die Kapitalgüter, 
die produzierten Produktionsmittel, die das Monopol Verhältnis 
zwischen der „freien“ Arbeiterschaft und der Oberklasse ver¬ 
mittelten. Nun sind aber die produzierten Produktionsmittel 


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Professor Oppenheimers liberaler Sozialismus. 


1517 


beliebiger Vermehrung fähig und es ist offenkundig, daß ihre 
Produzenten sich nicht durchgängig zu gemeinsamer Politik 
verabredet haben. Daraus ergibt sich für Oppenheimer die 
Folgerung, daß nicht das Kapital, sondern nur der Boden 
die Ursache des Mehrwerts sein kann, denn er ist unvermehr¬ 
bar, kann also auch in Abwesenheit einer Verabredung sämt¬ 
licher Besitzer Träger eines Monopolverhältnisses sein. Dieser 
Mehrwert ist nicht etwa Grundrente. Jedes Mitglied der 
Oberklasse, das ein ausreichendes Stück Boden besitzt — 
gleichviel, ob als Eigentümer, Mieter oder Pächter — und 
daneben einen Stamm von produzierten Produktionsmitteln, 
groß genug, um freie Arbeiter daran zu beschäftigen, ist 
Kapitalist. Wer besseren oder marktnäheren Boden besitzt, 
bezieht in Stadt und Land die Grundrente als Gewinn eines 
Uebermonopols. 

Wenn also die Ursache des Klassenverhältnisses und des 1 
Mehrwerts im Bodenmonopol zu suchen ist, so liegt der 
Weg zur sozialistischen, klassenlosen Gesellschaft und somit 
nach Hegelscher Dialektik der Gegensatz und zugleich die 
Entwicklungstendenz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung 
in der Sprengung dieses Monopolverhältnisses, in der Auf¬ 
hebung der Bodensperre. Die Rechtsform der Bodensperrung 
ist das Großgrundeigentum, ein Ausfluß staatlicher Gewalt, 
des politischen Mittels. Wir haben gesehen, daß in den 
Aktionsprogrammen der revolutionären Staatsgebilde, in 
Sowjetrußland, Sowjetungarn, Sowejtbayern, überall die So¬ 
zialisierung des Großgrundeigentums an erster Stelle stand. 
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, daß eine sofortige 
Sozialisierung eine beträchtliche Verringerung unserer land¬ 
wirtschaftlichen Produktion und eine schwere Schädigung 
unserer Ernährung mit sich bringen müßte. Bodensperre 
besteht ja auch nur dort, wo große Teile Landes von 
wenigen „okkupiert“ sind, so daß eine starke landlose Be¬ 
völkerung übrig bleibt. Zur Durchführung der inneren Kolo¬ 
nisation ist daher nach Oppenheimers Meinung eine so ra¬ 
dikale Maßnahme gar nicht erforderlich. Es würde völlig ge¬ 
nügen, von den 17 Millionen Hektar Nutzlandes, die sich 
in den Händen von Großbesitzern befinden, sofort ein bis 
höchstens zwei Millionen Hektar von Staats wegen aufzukaufen 
und dem Landbedürfnis der Zwergbauern und vor allem des 
landlosen Proletariats zur Verfügung zu stellen. Dann ist 
nämlich der größte Teil des noch existierenden Großbesitzes 


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1518 _ Professor Oppenheimers liberaler Sozialismus. 

aus Mangel an Arbeitskräften — auf eine Zuwanderung aus¬ 
ländischer Wanderarbeiter werden wir für längere Zeit nicht 
rechnen dürfen — nicht mehr haltbar und wird dem Staat 
von selbst zu immer billigeren Preisen angeboten werden. 

Die Methode der inneren Kolonisation mulf es ermöglichen, 
jenes Mindestmaß verstaatlichten Landes sehr schnell in den 
Besitz und die Verwaltung der Landbedürftigen der Unter¬ 
klasse zu bringen. Deshalb wird die bisher als Siedlungsform 
fast allein in Erwägung gezogene Ansetzung von Einzel¬ 
bauern sich weniger empfehlen, da sie zu verschwenderisch 1 
mit Geld, Zeit und Land umgeht. Sie erfordert eine kost¬ 
spielige Zwischen Verwaltung und eine Regulierung der Hypo¬ 
theken, sie dauert durchschnittlich ein bis zwei Jahre, und 
sie verbraucht viel Land für die zahlreichen neuen Wege 
und Grenzraine. Um dies zu vermeiden, scheint es geraten, 
den Großbetrieb beizubehalten und zwar in der Form der 
Produktivgenossenscha.it, die überhaupt das Ideal unserer 
wirtschaftlichen Unternehmungsform darstellt. Als vorläu¬ 
fige Zwischenstufe empfiehlt indessen Oppenheimer die Anteil- 
mrtschaft, wobei die unter straffer, autoritativer Leitung 
stehenden Arbeiter einen starken Gewinnanteil über den orts¬ 
üblichen Lohn erhalten. Von dort aus steht dann der Weg 
offen sowohl zur Aufteilung unter die Genossen, also zur 
Kleinbauernsiedlung, wie zur voll entfalteten Produktiv¬ 
genossenschaft. Als die wahrscheinlichste Entwicklung nimmt 
Oppenheimer in der Regel seine Miselfarm an: der ver¬ 
kleinerte, aber viel intensiver bearbeitete Großbetrieb würde 
von einem Kranze von Kleinsiedlungen umgeben sein, deren 
Eigentümer zum großen Teil Arbeitergenossen des Gro߬ 
betriebs wären. Zwischen die landwirtschaftlichen Siedler 
würden sich gewerbliche usw. Siedler setzen und derart das 
Gut zur Dorfschaft entwickeln. 

Die Aufhebung der Bodensperre auf dem Lande wird sofort 
auch ihre Wirkung auf den städtischen KfipitaVsmus ausüben. 
Von dem Augenblick der Repropriation jenes Teils des Gro߬ 
eigentums an stockt die Abwanderung vom Lande, es wird 
sogar städtisches Proletariat aufs Land zurückfließen, teils 
als landwirtschaftliche, teils als gewerbliche Siedler. Damit 
hört einmal die Terrainspekulation auf, die sich auf die An¬ 
nahme einer regelmäßigen starken Anwanderung stützt. Wenn 
aber ferner die Reservearmee fehlt, die sich bisher infolge der 
Bodensperre auf dem Lande bildete, so wird in den Städten, 


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Professor Oppenheimers liberaler Sozialismus. 


1519 


die dem Angebot an Arbeitskräften stets viel mehr Stellen 
eröffneten, als ihrer eigenen Geburtenzunahme entsprach, die 
Nachfrage nach Arbeitskräften und damit auch der Lohn 
ganz gewaltig steigen und die Industriearbeiter werden auf 
diese Weise, wenn auch nicht formell, so doch de facto auch 
hier Miteigentümer der Betriebe werden. Die zahlreichen 
Arbeitsgelegenheiten, die sich aus den Kolonisierungsarbeiten 
ergeben una die auf allen Gebieten rege Beschäftigung wach- 
ruien werden, bewirken ein weiteres Steigen der Nachfrage, 
während die verbesserte soziale Lage des Proletariats eine 
Einschränkung vor allem der Frauenarbeit in den Fabriken 
gestattet, die sich nunmehr der gesünderen Haus- und Land¬ 
arbeit zuwenden können. So sinkt die „aktive Arbeiterarmee“ 
ständig und in gleichem Maße steigt die Nachfrage nach 
Arbeit und dieser Prozeß nimmt nicht eher ein Ende, als 
bis der Lohn den Mehrwert auch in der Industrie verschlungen 
hat und in Stadt und Land nur noch gewinnbeteiligte Mit¬ 
glieder von Produktionsgenossenschaften oder hochbezahlte, 
sehr vorsichtig und gänzlich unpatriarchalisch als freie Männer 
behandelte Angestellte für manuelle Arbeit gibt. Damit wird 
auch der Endzustand erreicht sein: „Die erste Gesellschaft 
der freien, der wirklich freien Konkurrenz, die dieser Planet 
trägt: und darum der vollendete Sozialismus, das heißt, die 
von allem Mehrwert erlöste, darum klassenlose, und darum 
brüderlich geeinte Gesellschaft der Freien und Gleichen.“ 

Es wäre zu bedauern, wenn ein Werk, wie das vorliegende, 
das ein Mahnruf in letzter Stunde ist, ebenso der Ignorierung) 
durch die große Masse zu verfallen bestimmt wäre, wie es 
zum Teil das Schicksal seiner früheren Schriften gewesen 
ist. Es soll Widerspruch wecken, wo es die Höherentwicklung 
der Idee fordert, und es soll Gefolgschaft finden, wo es uns 
die lang gesuchte Lösung alter Fragen in feinster Präzision 
als Synthese gegensätzlicher Erkenntnisse vergangener Ideo¬ 
logien bietet. Es ist ein Mittelweg — aber es ist getragen 
von starkem Glauben und es ist den Weg gegangen, den 
Georg Simmel als den schwereren bezeichnet, wenn er sagt, 
es sei nicht so schwer, leidenschaftlich zu sein, ohne die 
Objektivität zu verlieren, als objektiv zu sein, ohne die Leiden¬ 
schaftlichkeit zu verlieren. 


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1520 


Pie Engelsbiographie. 11. 


M. BEER: 


Die Engelsbiographie. 

II. 1 (Schluß.) 

MACH Ablauf seines Militärjahres reiste Engels zu seinen 
Eltern nach Barmen, machte in Köln halt, um der Redaktion 
der „Rheinischen Zeitung“, deren Mitarbeiter er war, einen 
Besuch abzustatten. Hier traf er mit Heß zusammen. Die 
nächsten Wochen verbrachte er mit Vorbereitungen für seine 
Reise nach England, um in ^Manchester in die Fabrik seines 
Vaters einzutreten. Ende November 1842 verließ er Barmen, 
unterbrach wieder seine Reise in Köln, um Marx zu sehen, 
der ihn aber kühl empfing, jedenfalls ihn nicht als den 
genialen Junghegelianer behandelte, als den ihn Mayer zu 
schildern sich bemüht. 

Im Dezember 1842 traf der junge Engels in Manchester 
ein. Was er an Theorie von Feuerbach, Heß und den Berliner 
„Freien“ erhielt, sollte hier durch die Praxis bekräftigt und 
befestigt werden. Denn wenige Monate vorher — im August 
und September 1842 — hatte das englische Fabrikproletariat 
die erste Probe auf den Generalstreik gemacht, und Man¬ 
chester war der Mittelpunkt des Klassenkampfes. Die Verhaf¬ 
tungen und Prozesse, die infolge des Generalstreiks vor¬ 
genommen wurden, erregten viel Aufsehen. Die Aufregung 
unter den Massen war noch stark, insbesondere in Manchester. 
Hier bot sich Engels ein induktives Material für seine mit¬ 
gebrachten Theorien, und mit großem Eifer ging er daran, . 
es zu beobachten und auszuforschen. 

Oekonomisch war der englische Sozialismus damals aut der 
Höhe. Wie umfassend sein Wissen war, zeigt das von J. F. 
Bray im Jahre 1839 veröffentlichte Buch „Labours Wrongs 
and Labours Remedy“ (Die Leiden der Arbeiterklasse und 
ihr Heilmittel), wo mit Arbeitswerttheorie, Mehrwert, Aus¬ 
beutung, Kapital, Lohn, Profit und den übrigen wirtschaft¬ 
lichen Kategorien im kommunistischen Sinne operiert wird. 
Engels brauchte sich nur ein oder zwei Jahre aüf das Stu¬ 
dium der englischen sozialistischen Literatur zu werfen, um 
alle seine deutschen Freunde und Gesinnungsgenossen in 
den Schatten zu stellen. Und er verstand englisch genug, um 
in seinen Studien nicht gehindert zu sein. Er las die New 
Moral World“ von Robert Owen und den „Northern Star“, 


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Die Engelsbiographie. II. 


1521 


das Zentralorgan der Chartisten, er besuchte die öffentlichen 
Versammlungen und die antidogmatischen Vorträge der 
Owenisten. Manchester wurde für mn zu einer sozialökonomi¬ 
schen Universität, wie Berlin ihm eine junghegelianisch-frei¬ 
denkerische Hochschule gewesen war. Engels hatte eine 
schnelle Auffassungsgabe und orientierte sich sehr leicht. 
Das Schriftstellern machte ihm gar keine Schwierigkeiten, und 
kaum hatte er sich in Manchester umgesehen, flugs schrieb er 
für die „New Moral World“ und belehrte die englischen 
Genossen über deutsche Philosophie und französischen So¬ 
zialismus. Ebenso knüpfte er Verbindungen an mit der Re¬ 
daktion des „Northern Star“, für den er seit 1845 über 
europäische Angelegenheiten schrieb. 

Die erste Frucht seiner englischen Studien war eine längere 
Abhandlung über Nationalökonomie, die er für Marxens 
„Deutsch-Französische Jahrbücher“ schrieb. Ihr Titel ist: 
„Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ 11844). 
Marx nannte sie eine „geniale Skizze“; Mehring macnt sich 
selbstredend dieses Urteil zu eigen, und Mayer ist eben¬ 
falls ganz begeistert. Wer jedoch mit den Arbeiten des eng¬ 
lischen Sozialismus vom Jahre 1815 bis 1840 vertraut ist 
und zudem noch das Wesen der Hegelschen Dialektik be¬ 
griffen hat, wird Marxens Urteil als ein artiges Kompliment 
betrachten und es nicht ernst nehmen. Wenn die „Umrisse“ 
genial sind, dann sind Proudhons „Contradictions Eco- 
nomiques “ ein höchst geniales Werk, was Marx bekanntlich 
nicht zugeben wollte. 1 Engels und Proudhon arbeiteten da¬ 
mals ganz nach demselben Muster: Ethik als Prüfstein der 
Oekonomie, mechanisches Spielen mit Hegelschen Formeln, 
vollständiger Mangel an historischem Sinn und eigentlicher 
dialektischer Entwicklung. Hiermit soll gewiß nicht gesagt 
sein, daß die „Umrisse“ nichts taugten. Sie sind eine tüch¬ 
tige Leistung eines jungen sozialökonomischen Auto¬ 
didakten, aber irgendwelche bahnbrechende Gedanken und 
Methoden enthalten sie nicht. Sie sind nicht genial. Der 
beste Gedanke hierin ist der Vorwurf gegen die Öekonomen, 

1 Mayer irrt, wenn er auf Seite 268 vom „Assoziationsplan“ 
spricht, „den Proudhon in seinen Contradictions Economiques ent¬ 
wickelt hatte“. Proudhon hat dort gar keinen Plan entwickelt, 
sondern seine Kritik getrieben. Seinen Plan hatte er seinen Freunden 
mitgeteilt, die ihn unter den Arbeitern verbreiteten. 


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1522 


Die Engelsbiographie. II. 


daß sie die wertschaffende Arbeit der Naturwissenschaft 
nicht berücksichtigten: „Außer Boden und menschlicher Ar¬ 
beit“, sagt Engels dort, „gibt es noch ein Drittes, woran der 
Oekonom nicht denkt, icn meine das geistige Element der 
Erfindung. Was hat der Oekonom mit dem Erfindungsgeist 
zu schäften? Sind ihm nicht alle Erfindungen -ohne sein 
Zutun zugeflogen gekommen? Die Wissenschaft geht ihn 
nichts an. Ob sie ihm durch Berthelot, Davy, Liebig, Watt 
usw. Geschenke gemacht hat, die ihm seine Produktion un¬ 
endlich gehoben haben — was liegt ihm daran? Aber für 
einen vernünftigen Zustand, der über die Teilung der Inter¬ 
essen hinaus ist, gehört das geistige Element allerdingsi 
mit zu den Elementen der Produktion, und wird auch m 
der Oekonomie seine Stelle unter den Produktionskosten 
finden.“ So schrieb Engels im Jahre 1844, später aber ver¬ 
fiel er mit Marx in den Fehler der Oekonomen, mit dem 
Unterschied jedoch, daß diese alles dem Kapital zuschrieben, 
während jene die Lohnarbeit als Quelle und Maßstab des 
Wertes betrachteten. Die „Umrisse“ waren die theoretische 
Vorarbeit zu seinem ein Jahr später veröffentlichten Buche: 
„Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, das zu jener 
Zeit in Deutschland Epoche machte. 

Inzwischen wurde Engels mit Marx bekannt und geriet 
vollständig in dessen Bann. Von Marx erhielt er die Hegel- 
sche Dialektik als Methode zur Hervorbringung des Kommu¬ 
nismus aus den ökonomischen Widersprüchen des Kapitalis»- 
mus. Was er weder bei Feuerbach und Heß, noch in Eng¬ 
land und Frankreich finden konnte, das gab ihm Marx. Seit¬ 
dem sind die Namen beider eng miteinander verknüpft. Eine 
der schönsten Stellen bei Mayer ist die Parallele zwischen 
den beiden Männern: „Engels ist von Natur praktischer und 
von schnellerem Orientierungsvermögen, aber ohne gründ¬ 
lichere philosophische Durchbildung und dialektische Ori¬ 
ginalität. Den Sätzen, die Engels schreibt, merken wir an, 
daß er sie, ohne lange mit dem Gedanken oder dem Ausdruck 
gekämpft zu haben, rasch und hemmungslos aufs Papier ge¬ 
worfen hat; flüssig, elegant, klar und durchsichtig hin¬ 
gesetzt, vermögen sie, gefällig und leicht verständlich, voll¬ 
kommen und restlos auszudrücken, was der Verfasser in sie 
hineinzulegen wünschte. . . Bei Marx dagegen verraten die 
Perioden, wie schon Koppen richtig bemerkt hat, daß ein 
ganzes Magazin von Gedanken in sie ausströmen will; sie 


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Die Engelsbiographie. II. 


1523 


lassen erkennen, daß die ungeheure Ernte, die er einfahren 
möchte, noch reicher ist als alle jene Satzschsunen, die sie 
bergen sollen. Den unwiderstehlichsten Reiz verleiht er seiner 
glänzenden, epigrammatisch zugespitzten Diktion, daß die 
scharfen, reliefartig wirkenden, im Gedächtnis haftenden Satz¬ 
bilder, in die er seine Gedanken prägt, stets ungezwungen, 
wenn auch nicht unerkämpft dem Dunkel der eigenen dia¬ 
lektischen Werkstatt entsteigen und, so geistreich sie wirken, 
niemals bloßer schriftstellerischer Aufputz bleiben. Die glän¬ 
zenden, öfters schwerfälligen, nur selten dunklen Perioden, die 
sich bei ihm abwechseln, dampfen noch förmlich von dem 
heißen Kampf, der ihrer Niederschrift vorausgegangen ist“ 
(Seite 184—185). 

Beide schlossen sich eng aneinander, indem Engels sich 
seinem neuen Freunde willig unterordnete. Der Zusammen¬ 
arbeit verdanken wir „Die Heilige Familie“ und „Das Kom¬ 
munistische Manifest“, zu denen jedoch die Beiträge Engels’ 
minimal sind, was Mayer allerdings nicht zugeben will, wir 
haben jedoch kein Recht, aus unbekannten und mutmaßlichen 
Faktoren Schlüsse zu ziehen, wo uns imbestrittene und offen¬ 
kundige Tatsachen als induktives Material dienen können. 
Der beitrag Engels’ zur „Heiligen Familie“ ist unterschrieben 
und er ist unbedeutend. Ebenso kann ein Vergleich zwischen 
dem Entwurf zum „Kommunistischen Manifest“, der von 
Engels stammt, mit dem wirklichen „Kommunistischen Mani¬ 
fest“ uns belehren, daß Marx irgendwelche bedeutende gei¬ 
stige Anleihen bei Engels nicht zu machen brauchte. Mayer 
will aber unbedingt Engels Kenntnisse und Leistungen zu¬ 
schreiben, die dieser weder besaß noch schuf, noch auf 
sie Anspruch machte. Dies ist eine Schwäche der sonst 
trefflichen Engelsbiographie. Mayer hätte sich nur fragen 
sollen, wie es komm^ daß man eine gute Marxbiographie 
schreiben kann, ohne Engels mehr als beiläufig zu erwähnen, 
während umgekehrt eine gute Engelsbiographie erst eine 
historische Bedeutung erhält durch Heranziehung der Marx- 
schen Leistungen ? 

An der Seite von Marx fand Engels seine theoretische Festi¬ 
gung und Stärke, und begann alsbald eine lebhafte inter¬ 
nationale Agitation für den Kommunismus. Wir sehen ihn 
bei seiner Arbeit in Elberfeld, Köln, Brüssel, Paris, London, 
und Mayer ist uns ein treuer und zuverlässiger Führer auf 
den geheimen Pfaden Engelsscher Agitationstätigkeit. Als 


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1524 


Die Engelsbiographie. Ü 


Redner in Versammlungen, als Mitarbeiter deutscher, eng¬ 
lischer und französischer Blätter, die dem Kommunismus, der 
Demokratie und der Sozialreform dienten, verbreitete Engels 
die Lehre, die dann im „Kommunistischen Manifest“ ihren 
prägnanten Ausdruck fand. Und als im Frühjahr 1848 die 
Revolution ausbrach, eilte er mit Marx nach Köln, wo sie die 
Redaktion der „Neuen Rheinischen Zeitung“ übernahmen. 
Engels schrieb hierin viel über auswärtige Angelegenheiten, 
ebenso trat er als Redner in Volksversammlungen auf, bis 
ihm im September 1848 die Verhaftung drohte. Heimlich 
reiste er von Köln nach Barmen, wo er einige Tage verblieb ; 
dann fuhr er nach Brüssel, aber die Polizei schob ihn bald 
nach der französischen Grenze ab. Er betrat abermals fran¬ 
zösischen Boden, ohne sich jedoch in Frankreich aufzuhalten. 
Sich östlich haltend, marschierte er zu Fuß und in heiterster 
Laune, unterwegs reichlich Wein und Weib genießend, bis 
nach Genf, dann nach Lausanne, von wo aus er für die 
„Neue Rheinische“ Leitartikel schrieb, und als ihm die Mög¬ 
lichkeit geboten wurde, wieder nach Deutschland zurückzu¬ 
kehren, reiste er nach Köln, um seine alte Tätigkeit auf¬ 
zunehmen. Mit der Erstarkung der Gegenrevolution in Preu¬ 
ßen begab er sich nach Süddeutschland und nahm aktiven 
Anteil an dem Badischen Aufstande im Sommer 1849. Als 
Adjutant Willichs focht er tapfer, bis jede Aussicht auf 
Sieg verschwand. Beim Rückzuge aus Baden betrat er schwei¬ 
zerischen Boden und traf Anstalten, nach London zu fahren, 
wohin auch Marx sich aus der französischen Verbannung 
m begeben entschloß. Engels fuhr nach Genua, wo er 
sich aut einem nach England fahrenden Segler einschiffte. 
Vom Herbst 1849 bis zum Herbst 1850 lebte er an der. 
Seite von Marx in London und arbeitete an der „Revue der 
Neuen Rheinischen Zeitung“. Engels veröffentlichte hierin 
„Die deutsche Reichs Verfassungskampagne“ und den „Deut¬ 
schen Bauernkrieg“. Die „Revue“ ging bald ein, worauf 
Engels London verließ und als Buchhalter in die Fabrik 
seines Vaters in Manchester eintrat, in der er bis 1869 ver¬ 
blieb. Von Studien betrieb er während dieser Zeit haupt¬ 
sächlich Militaria. 

Der erste Band der Engelsbiographie schließt mit dem 
Jahr 1850 ab. 


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DER 








tu ELTERN / LEHREIL END BEHÖRDEN 
HERAUTOEOEBEN’ VON E,WB LEE 

REO/CAUNOJ - U. SCHULRAT I. MINISTERIUM FÜR. Wl SSENSCH ATT/ku NST U. VOLKS&ILDUNO 


Der Elternbeirat ätzefUralleGebiete 

___ der Schule und Erziehung aus 

der Feder namhafter Pädagogen, Schulpolitiker und Aerzte 
und will damit den Elternbeiräten, deren tätige Mitarbeit an 
dem Blatte vorgesehen und erstrebt wird, das wissenschaft¬ 
liche Rüstzeug zur Ausübung ihrer Tätigkeit und Gelegenheit 
zur Aussprache über alle einschlägigen Fragen geben. Einen 
parteipolitischen Standpunkt wird er nicht vertreten 
Wir hoffen so tatkräftig daran mitzuwirken, daß die junge 
Generation unter zeitgemäßer Führung ins tätige Leben eintritt 


Der Elternbeirat erscheint zweimal im Monat, um¬ 
faßt 32 Seiten und kostet vierteljährlich Mk. 5,50 
ausschließlich Bestellgeld, vom Verlag direkt 
unter Streifband Mk.6,^-, das Einzelheft Mk. 1,— 


Bestellungen auf den „Elternbeirat“ nehmen alle Postämter 
und der Verlag entgegen 


VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

BERLIN S W 68, LINDENSTRASSE 114 




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ZWISCHEN 
DEN GEFECHTEN 

von 

PHILIPP SCHEIDEMANN 

Elegant gebunden 

Preis 10 Mark 

und 20% Teuerungszuschlag 


Aus den Tagen der Kindheit 
führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre 
des reifen Mannesalters. Scheidemann selbst hat — vielleicht 
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen 
Entwicklungsgang beschrieben 


Bezug durch alle Buchhandlungen 
sowie direkt vom 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

BERLIN SW 68 LINDENSTR. 114 

Postscheckkonto Berlin 27576 


Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. Verantworte Schriftleiter: M. Beer» Bertin-Karlshorst 
Verlag: Verlag für Sozial Wissenschaft, Berlin SW 68» Lindenstraße 114. Fernruf: Moritz* 
platz 2218, 1448—1450. — Druck: PhotOgr&Vlir G.m.b« H., Berlin SW 68, LindenstraQe 114. 


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ijahrg. 2. Band 


6. März 1920 



Herausgegebenvon 

Parvus 


58 Pfennig 

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erlas: für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68 


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DIE GLOCKE 

Sozialistische Wochenschrift 

m * ' 

Herausgeber: Parvus 

Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post 
, oder. Buchhandlung bezogen vierteljährlich Mk.6,-'-. 
Einzelhefte 50 Pf .»Porto 5 Pf. 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

Berlin SW 68, Lindenstr. 114. Postscheckkonto: 27576 Berlin 

INHALT DIESER NUMMER: 

Parvus: Deutschland und Rußland . .... . 1525 
Dr. Roderich von Ungern-Sternberg: Kadetten 

und Bolschewik! ... . ... 1529 

Peter Knute:. Wien: die orientalische Metropole 1532 
Th. Kabelitz: Entweder — oder! II. . . . . 1537 

Professor Ewald F. W. Rasch: Was ist zu tun? 1542 
U. Emil: Politische Köpfe. VII. und VIII. . . . 1546 
M. Beer: Der Prozeß Erzberger-Helfferich # . . 1551 
Bücherschau: Professor Dr. Karl Horn „Licht 


und Finsternis“.. 1554 

Eingelaufene Schriften . . .. 1556 


Nummer 48 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt: 

Th. Kabelitz: Entweder — oderl I. .... . 1493 
U. Emil: Politische Köpfe. V. und VI. .... 1498 
H. Fehlinger: Grenzen des neuen Oesterreich . 1502 
Parvus: Meine Entfernung aus der Schweiz II. 1507 
Dr. A. Argeiander: Professor Oppenheimers 

liberaler Sozialismus. 1515 

M. Beer: Die Engelsbiographie. II. . . . 1520 


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49. Heft _ 6, März 1920 _ 5. Jahrg. 

Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet 


PARVUS: 

Deutschland und Rußland. 

CS ist notwendig, daß die kommerziellen, kulturellen und 
^ politischen Beziehungen zu Rußland sofort in weitestem 
Umfange aufgenommeh werden. 

Die Sache selbst ist entschieden. Die bolschewistische Re¬ 
gierung hat sich durchgesetzt, und es bleibt der Entente 
nichts übrig, als mit inr in Unterhandlungen einzutreten. 
f Als die große Boykottein Ladung der Entente kam, konsta¬ 
tierte ich an dieser Stelle: das sei die Bankerotterklärung der 
Ententepolitik gegenüber Rußland, die Armeen Denikins und 
der anderen Söldlinge der Entente werden im Winter aus¬ 
einanderlaufen, ob sie im Frühling wieder unter dem 
gleichen Banner zusammenzubringen sein werden, sei mehr 
als zweifelhaft. 

Nunmehr ist die Situation vollkommen geklärt. Die bolsche¬ 
wistischen Armeen haben das Feld behauptet und mit ihren 
Gegnern so gründlich aufgeräumt, daß eine militärische Oppo¬ 
sition in Rußland selbst nicht mehr aufkommen kann. Äus- 
hungern kann man die bolschewistischen ^Armeen auch nicht, 
da diese fest entschlossen sind, lieber die hundert und mehr 
Millionen der übrigen Bevölkerung verhungern zu lassen, als 
selbst Hunger zu leiden. 

Die bolschewistische Regierung hat die Macht in ihren 
Händen zusammengefaßt und steht da, umgeben- von der 
Aureole, die nationalen Interessen Rußlands gegenüber dem 
Versuch fremdländischer Einmischung verteidig zu haben. 
Das hat auch eine Brücke geschaffen, die dem Bolschewismus 
aus den Reihen der übrigen sozialistischen Fraktionen Hilfs¬ 
kräfte zuführte. 

Die weitere innerpolitische Entwicklung Rußlands ist unter 
diesen Umständen nur noch denkbar durch Umgestaltung 

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1526 


Deutschland und Rußland. 


des Bolschewismus , nicht durch dessen Verdrängung von 
außen. 

In geistiger Beziehung ist der Bolschewismus leicht zu 
bekämpfen. Er hat eine Entwicklung durchgemacht vom 
Doktrinarismus durch Demagogie zur politischen Charlata- 
nerie. Er hat auch bereits, mancherlei Konzessionen an die 
Wirklichkeit gemacht, seine weitere Anpassung an diese bzw. 
seine Zersetzung und das Emporkommen der politischen 
Kräfte, die mit dem Pogrom Sozialismus aufräumen werden, 
das hängt wesentlich davon ab, inwiefern die Weitzusammen¬ 
hänge im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben 
Rußlands wieder hergestellt werden. 

Die Entwicklung der Industrie, der Landwirtschaft, des 
Verkehrs, des Handels, das ist der einzige Weg, auf dem die- 
Entwicklung Rußlands, in normale Bahnen gelenkt werden 
kann. y 

Die Entente beginnt das einzusehen, aber sie wagt es nicht, 
dieses Weltproblem, wie so manches andere, in seiner ganzen 
Tragweite aufzurollen. Sie weiß, daß sie auf Rußland in 
wirtschaftlicher Beziehung angewiesen ist, und wagt es doch 
nicht, mit Rußland Frieden zu schließen. Denn sie fürchtet, 
daß dadurch die Autorität des Bolschewismus gestärkt wer- 
> den wird. Sie fürchtet, daß dann der Bolschewismus desto 
mehr Einfluß in Westeuropa gewinnen werde^ Sie möchte 
den russischen Ansteckungsherd isolieren. Das gelingt ihr 
nicht, kann nicht gelingen, aber selbst, wenn es gelungen 
wäre, so wäre damit nichts erreicht, da schon der Fort¬ 
bestand des Bolschewismus in Rußland ihm eine große Auto¬ 
rität in der ganzen Welt verleiht. Der Einfluß des Bolsche¬ 
wismus kann nur gebrochen werden durch die Ueberwindung 
des Bolschewismus in Rußland selbst. Der Bolschewismus 
wird in Rußland überwunden werden, wie der Anarchismus 
und Blanquismus in Westeuropa (überwunden worden sind: 
durch die Entwicklung der Sozialdemokratie und der Gewerk¬ 
schaften. Die Entwicklung dieser hängt von der Industrie 
ab, die Entwicklung der Industrie in Rußland von der Auf¬ 
nahme der Handelsbeziehungen zwischen Rußland und der 
übrigen Welt. 

Darüber kommt man nicht hinweg. 

Die Unentschlossenheit der Politik der Entente bedingt 
aber, daß die Bedingungen, unter denen die Verhandlungen 
mit dem bolschewistischen Rußland stattfinden, sich immer 


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Deutschland und Rußland. 


1527 


mehr zugunsten dieses verschieben. Wenn die Entente im 
September vorigen Jahres, statt sich mit dem Boykott zu 
blamieren, sich auf Friedensverhandlungen mit Rußland ein¬ 
gelassen hätte, so hätte sie viel mehr erreichen können, 
als gegenwärtig. Und je mehr sie der Entscheidung aus- 
weicnt, desto mehr verstärkt sie den von ihr so gefürch¬ 
teten moralischen Effekt der Entscheidung, die schließlich 
doch getroffen werden muß. 

Die' Hoffnung auf Polen ist eine Narrheit, zeigt eine voll¬ 
kommene Verkennung der Verhältnisse. Wenn Polen in seiner 
gegenwärtigen Verfassung in einen Krieg mit Rußland hinein¬ 
genetzt wird, so wird es um Polen geschehen sein. 

Zu der Unentschlossenheit der Entente aus Angst vor 
dem Bolschewismus gesellt sich noch eine gleichartige Stim¬ 
mung aus einem anderen Grunde, die sich besonders in 
Frankreich geltend macht. Man weiß, daß dieWiederaufnahme 
der Beziehungen zu Rußland besonders Deutschland zu Nutzen 
kommen wird. Man schließt daraus auf eine wirtschaftliche 
und politische Erstarkung Deutschlands, von dieser auf eine 
nationale Erstarkung. Und da setzt die Angst wieder ein. 
Man weiß zwar, daß die Welt unter der Verelendung Deutsch¬ 
lands leidet, und doch fürchtet man die Wiedergeburt Deutsch¬ 
lands. Die im Weltkriege ausgestandene Angst und das 
böse Gewissen, Deutschland blutige Gründe zur Klage und 
zur Empörung gegeben zu haben, bedingen hier die Unent¬ 
schlossenheit der Politik der Entente. 

Das sind die Grunde der Entente. Sie können für uns 
nicht maßgebend sein. Aber anderes wirkt störend: eine 
Rücksichtnahme auf die Entente. Man möchte um Gottes 
willen alles vermeiden, was auf jener Seite unliebsam emp¬ 
funden werden könnte. Daß es für die Entente unliebsam 
wäre, wenn wir vor ihr zu einem Einverständnis mit Ru߬ 
land gelangen würden, gebe ich zu, sehe aber darin keinen 
Grund, eine Politik mitzumachen, die mit einem Fiasko enden 
muß. 

Wir haben lange genug gewartet, weil wir dazu ge¬ 
zwungen wurden. Jetzt sind wir frei und müssen handeln. 
Es bestimmt nämlich Artikel 292 des Friedens Vertrags: 

„Deutschland erkennt an, daß alle mit Rußland oder 
irgendeinem Staat, oder irgendeiner Regierung, deren Ge¬ 
biet früher einen, Teil Rußlands bildete, sowie mit Ru- 

49;i* 


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1528 


Deutschland und Rußland. 


mänien vor dem 1. August 1914 oder seit diesem Tage 
I bis zum Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags geschlos¬ 
senen Verträge, Uebereinkommen und Abmachungen auf¬ 
gehoben sind und bleiben.“ 

Mit der Ratifikation des Friedensvertrags sind wir also 
wieder berechtigt, Stäatsverträge mit Rußland abzuschließen. 
Wir müssen es aber auch tun, weil durch den angeführten 
Artikel die früheren Abmachungen annulliert worden sind. 

Wir haben kein Interesse daran, einen Zustand fortbestehen 
zu lassen, der weder Krieg noch Frieden ist. 

Wir müssen die diplomatischen Beziehungen zu der bol¬ 
schewistischen Regierung, die wir schon früher anerkannt 
haben, wieder äufnehmen. Wir müssen in Verhandlungen 
eintreten über den Abschluß eines Handelsvertrags, eines 
Niederlassungsvertrags usw. usw. Wir müssen den Handel 
und den Verkehr mit Rußland sofort aufnehmen. 

Lieber die wirtschaftliche Bedeutung der Wiederaufnahme 
der Handelsbeziehungen zu Rußland braüche ich wohl vor 
einem deutschen Publikum nicht viel Worte zu verlieren. 
Ich verweise bloß auf zwei Momente: 

1. Die wirtschaftliche Einkreisung Deutschlands bekäme 
ein Loch, durch das eine ganze Welt hindurchschlüpfen 
könnte; 

2. wir kämen zu einem Verkehr mit einem Lebensmittel¬ 
und Rohstofflieferanten, dessen Valuta einen niedrigen Stand 
hat. — 

Ohne Verkehr mit Rußland keine Besserung der Valuta. 
Und Wenn wir noch wieder warten wollten, bis die Entente-, 
uns vorangeht, so werden wir auch noch damit zu rech¬ 
nen haben, daß ma|n uns in den Hintergrund drängen wird. 

Aus kurzsichtigem Eigennutz und militärischer Ueberhebung 
hat man es in Brest-Litowsk unterlassen, ein Freundschaf tsn 
Verhältnis mit Rußland abzuschließen. Wenn wir uns jetzt 
von der Entente verdrängen lassen sollten, so würde es ge¬ 
schehen aus Einsichtslosigkeit und Schwachmütigkeit. 

Wer sind die Bundesgenossen Deutschlands ? Niemand! 
Wo sind die Freunde Deutschlands? Wir finden überall 
taube Ohren und höchstens ein mitleidiges Achselzucken! 
Das große, das starke Deutschland hatte Neider, die es 
haßten uma fürchteten. Das geschlagene Deutschland wird 
nicht mehr Deneidet, aber noch immer gehaßt. Sollen wir 


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Kadetten und Bolschewiki. 


1529 


uns die letzte Gelegenheit entgehen lassen, Anschluß ziu fin¬ 
den an Rußland, mit dem zusammen wir uns wirtschaftlich 
emporarbeiten könnten ?! Gewiß liegt es im Interesse Deutsch¬ 
lands, seine kommerziellen Beziehungen zu der ganzen Weit 
zu entwickeln, gewiß wäre es vom größten werte, wenn 
die Entente oder ein Großstaat der Entente zu einem festen 
Entschluß kämen, die Wiederaufrichtung der deutschen Volks¬ 
wirtschaft zu fördern, — aber geschieht denn das? Und 
wenn es geschehen sollte, so müßte wiederum das erste 
sein, uns unsere Handelsbeziehungen zu Rußland entwickeln 
zu lassen. Denn was können uns Frankreich, England, Nord¬ 
amerika in wirtschaftlicher Beziehung bieten ? Geld, das sie uns 
wieder in Gestalt von Kriegsentschädigung abnehmen würden, 
und einen Markt für unsere Fabrikate, di,e* sie gar nicht 
haben wollen, weil sie' ihre eigene Industrie begühstigen 
wollen, und die wir nicht liefern können, weil Wir keine 
Rohstoffe haben, bzw. die Rohstoffe uns zu teuer zu stehen 
kommen. Dagegen wäre Rußland sowohl Abnehmer für 
unsere Fabrikate wie Rohstofflieferant. So groß sind die 
wirtschaftlichen Möglichkeiten Rußlands, daß mit Deutschland 
bzw. durch Deutschland die ganze Weltindustrie sich daran 
würde wieder auf richten lassen. Und weil dem so ist, so 
würde die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zu Ru߬ 
land den Anstoß geben zu der Wiederherstellung der durch 
den Krieg zerstörten Weltmarktsbeziehungen überhaupt. 

Wagen wir es und machen wir den Anfang. Es ist der 
Weg zum Frieden, zu einem wirklichen Weltfrieden! 


Dr. RODERICH VON^ÜNGERN-STERNBERG: 

Kadetten und Bolschewiki. 

IN letzter Zeit hat sich ein ehemals recht einflußreicher 
1 russischer Politiker, I. W. Hessen, an die deutsche Oeffent- 
lichkeit gewandt und ihr das Schreckgespenst des Bolsche¬ 
wismus an die Wand gemalt. Mich dünkt, wir sind zur 
Genüge über die „Pest, Seuche und Greuel des Bolsche¬ 
wismus“ unterrichtet worden, und es wäre entschieden mehr 
zu begrüßen, wenn endlich jemand die überraschende Tat¬ 
sache erklären wollte, daß die russischen Kommunisten es 
zustande gebracht haben, sich trotz ausländischer Invasion, 
Gegenrevolution und völlig zerrütteter Wirtschaft bald zwei- 



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1530 


Kadetten und Bolschewiki. 


einhalb Jahre zu behaupten, und heute einen Machtfaktor 
darstellen, mit dem jeder Staat in Europa ernst rechnet 
und rechnen muß. Von solch einer Erklärung findet sich 
bei Hessen allenfalls der Hinweis auf die „schwankende 
und unentschiedene Haltung der Kulturwelt gegenüber dem 
russischen Problem“. Unter „Kulturwelt“ ist in diesem Fall 
wohl die Entente zu verstehen, die zu bewegen, energischer 
gegen die Bolschewiki vorzugehen, den Parteifreunden 
Hessens in Paris nicht gelungen ist. Worin liegt aber die 
Erklärung für die unentschlossene Haltung, die bis vor 
kurzem die Regierungen der Ententestaaten in der russischen 
Frage an den Tag. gelegt haben? Doch vor allem darin, 
daß die russischen Kommunisten es verstanden haben, bei 
dem Proletariat Englands, Frankreichs und Italiens Sympathien 
zu erwecken und die Regierungen sich gezwungen sehen, 
damit bis zu einem gewissen Grade zu rechnen. Also auch 
hier liegt der eigentliche Erklärungsgrund in der werbenden 
Kraft, welche cfie Ideen der Kommunisten auf das west¬ 
europäische Proletariat ausüben, — in der Ueberzeugung, 
daß Moskau der Hort des revolutionären Gedankens ist, und 
daß der Sturz der Kommunistenherrschaft gleichbedeutend 
wäre mit dem endgültigen Sieg der Reaktion nicht nur in 
Rußland, sondern in der ganzen Welt. Es herrscht also 
in der „Kulturwelt“, zu der doch wohl auch das westeuro¬ 
päische Proletariat gehört, keine durchgängig ablehnende 
Stimmung den moskauischen Kommunisten gegenüber. Am 
wenigsten aber sind die Auslassungen I. W. Hessens geeignet, 
eine einheitliche antibolschewistische Stimmung zu erzeugen, 
denn das Kennzeichen dieser „Gespräche“ ist völlige Ideen¬ 
losigkeit. Für Hessen ist der Bolschewismus „ein sinnloser 
Aufruhr, dem so .schnell als möglich Halt geboten werden 
muß“. 'Jede Revolution ist Aufruhr, und der Sinn der bolsche¬ 
wistischen Revolution scheint mir gerade darin zu liegen, 
daß sie den Mut hatte, dem Weltkapitalismus die Zähne zu 
zeigen und es verstand, den Glauben an eine proletarische 
Revolutionsmöglichkeit weit über die russischen Grenzen hin¬ 
aus 'zu festigen. Denn bei aller Verurteilung der bolschewisti¬ 
schen Methoden, hat die westeuropäische Arbeiterklasse zum 
ersten Male erfahren, was eine sozialistische Umwälzung be- 
* deutet. Und wer wollte bezweifeln, daß schon allein dieser 
Umstand eine faszinierende, erhebende Wirkung auglösen 
mußte! 


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Kadetten und Bolschewiki. 


1531 


Bei Beurteilung der kommunistischen russischen Revo¬ 
lution muß besonders deutlich zwischen Mittel und Ziel untere 
schieden werden. Solange die ursprünglichen wirtschafts¬ 
politischen Methoden der Bolschewiki kritisiert und bekämpft 
werden, kann man sicherlich auf Verständnis rechnen, denn 
kein, vernünftiger Mensch wird seinem Lande die Wieder¬ 
holung des russischen Experiments wünschen, wendet man 
sich aber gegen das Ziel: die Befreiung von der Lohn!- 
sklaverei, so offenbart man Ideenarmut, wenn man nicht zu¬ 
gleich Wege weist, wie sich die Massen zu einer besseren 
Zukunft durchringen könnten. Dieser Ideenlosigkeit haben 
sich auch die Kadettejn (konstitutionelle Demokraten), zu 
denen I. W. Hessen gehört, schuldig gemlacht. Es ist be¬ 
zeichnend für diese Partei, daß sie ihr Schicksal gänzlich mit 
dem der bewaffneten Reaktion (der Koltschak, Denikin, Jude- 
nitsch usw.) verknüpft hat. ' Daher ist der Zusammenbruch 
der zaristischen Gegenrevolution für sie, wie für einige andere 
antibolschewistische Richtungen, ein tragisches Ereignis. Denn 
die bewaffnete Reaktion war die einzige Macht, die bisher 
überhaupt in der Lage war, die kommunistische Regierung 
mit Waffengewalt zu bekämpfen. * Da sie versagt hat, so 
kommt damit die Möglichkeit eines Sturzes der moskauischen 
Räteregierung überhaupt in Fortfall, weil keine der sonstigen 
antibolschewistischen Parteien über militärische Machtmittel 
verfügt. 

Ideell wieder bei den russischen Volksmassen Fuß zu fassen, 
wird jetzt sogar den sozialistischen Gruppen, die den zaristi¬ 
schen Generälen nahestanden, sehr schwer fallen, und der 
Kadettenpartei jedenfalls unmöglich sein, nachdem sie sich 
ganz und gar der zaristischen Gegenrevolution zur Verfügung 
gestellt hatte. 

Aber was bezweckt denn eigentlich das „Gespräch“ Hes¬ 
sens? Ja doch offenbar in Deutschland Stimmung zu machen 
gegen jegliche Annäherung an Räterußland. Zu diesem Zweck 
führt er dem deutschen Publikum das Schreckgespenst des 
Bolschewismus vor, appelliert gleichsam an den Selbst¬ 
erhaltungstrieb der deutschen Nation, die doch um Gottes 
willen nicht durch Verhandlungen mit den Kommunisten 
Selbstmord begehen soll! Ich weiß nicht, ob I. W. Hessen 
ini Grunde seines Herzens immer so liebevolle Gefühle für 
Deutschland gehegt hat, seine Parteifreunde (Maklakow, 
Winawer usw.) jedenfalls haben in Paris alles in Bewegung 


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1532 


Wien: die orientalische Metropole. 


gesetzt, um im Versailler Friedens vertrag für Rußland auch 
ein möglichst großes Stück von der Beute — Deutschland — 
auszureißen. Nun aber haben „die treuen Verbündeten" bei 
der Bekämpfung der Kommunisten versagt, und da liegt es 
ja, menschlich gesprochen, nahe, den Versuch zu machen 
und sich an die deutsche Oeffentlichkeit zu wenden. . . Wir 
aber wollen festhalten: I. W. Hessen ist im inner politischen 
russischen Kampf ganz und gar Partei , und allen seinen 
Aeußerungen ist mit größter Skepsis zu begegnen. 

Wenn wir immer wieder das Verlangen nach Wieder¬ 
aufnahme der wirtschaftlichen Beziehungen mit der Räte¬ 
regierung ausspnechen, so möchten wir zum Schluß diesen 
Wunsch noch mit dem Hinweis auf eine Aeußerung Hessens 
begründen. Er spricht davon, daß einmal ein Mann erstehen 
wird, der „die Schlappheit des Willens im Feuer einer alles 
verzehrenden Leidenschaft auflösen“ und der Kommunisten¬ 
herrschaft ein Ende machen wird. 

Die Kommunisten sind aber gerade die einzigen, die die 
„Schlappheit des Willens" besiegt haben. Sie haben es ver¬ 
standen, aus einer völlig heruntergekommenen Armee eine 
Truppe zu schaffen. Sie haben eine lange Reihe sehr nam¬ 
hafter russischer Heerführer für ihre Sache zu gewinnen 
vermocht. Sie beschreiten den einzigen zurzeit in Rußland 
auf wirtschaftspolitischem Gebiet gangbaren Weg, den der 
wirtschaftlichen Diktatur. Sie sind das Willenszentrum in 
Rußland und alles andere erscheint dagegen schlapp, ge¬ 
schwätzig, uneinig und unfruchtbar. 


PETER KNUTE: 

Wien: die orientalische Metropole. 

Wien, 22. Februar 1920. 

CS ist nicht wahr, daß Wien eine deutsche Stadt ist. 
^ In Wien sind nur die Aushängeschilde deutsch. Wer 
so von heute auf morgen von drüben aus Deutschland, viel¬ 
leicht aus Berlin, herüberkommt, dem schlägt der Brodem 
orientalischer Niederungen entgegen. Eine babylonische 
Sprachverwirrung. Aus allen Herrenländern haben sich die 
Geschäftemacher zusammengefunden, um dem armen Deutsch- 
ö&terreicher das Fell über die Ohren zu ziehen. Die Portiers 


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1533 


Wien; die orientalische Metropole. 


in den Hotels klagen, wenn die Neuankommenden um ein 
Zimmer, tim ein Kopfkissen für die Nacht betteln. Sie gehen 
nicht raus, sie kleben fest, sagen sie von den Fremden, die 
mit ihrer guten Valuta Wien auskaufen. Tag um Tag, Woche 
um Woche sitzen, handeln, schachern sie hier. Die Korruption 
stinkt gen Himmel. Ueberflutet mit ihrem Schlamm die 
Stefanstürme. Riesenheere von Parasiten der Valuta drängen 
durch die Straßen, füllen vom frühen Morgen ab die Kaffees. 
Die Schieber- und Spekulantenbande drückt einer ehemals 
bedeutenden Kultur die Quigel ab. Und frißt am geistigen 
Mark 'auch des Fleißigen. Es ist der Fluch des schlechten 
Geldes, daß es auch den Ehrlichen zum Betrug herausfordert. 
Tausend ehemals rührige Hände ruhen im positiven Schaffen 
und helfen der Schieberinternationale mit bei derem trau¬ 
rigen, negativen Tun, das. nicht einmal mehr die Helle des 
Tageslichts scheut. Die asiatischen Usancen haben längst 
gesiegt. Wien ist keine deutsche Stadt mehr. 

Hungert Wien ? Ich sah in Berlin nicht den zehnten Teil 
so viel Embonpoint, als hier in Wien. In Berlin fällt der 
einzelne Pelz auf. Hier in Wien kräuselt sich um Tausende 
Hälse der Persianer, der Seal. Aber ich sah in Berlin auch 
nicht den zehnten Teil so viel Bettelei, als hier in Wien. 
In Berlin stehen auch Bettler an den Ecken, vom Krieg her, 
Schüttler. Sie belästigen kaum. Das Mitleid, die Erschütte¬ 
rung 'gibt gern. Hier in Wien ist die Bettelei Geschäft, • 
abstoßende Gaunerei. Das Elend wirkt nicht mehr auf die 
Menschlichkeit, es wirkt auf den Magen. Man hat das Ge¬ 
fühl der Uebelkeit. Auf Schritt und Tritt folgt einem dieses 
Geschäfteelend. Die Hand, die gibt, wird nicht bewegt vom 
Herz. Sie schleudert angeekelt die schmutzigen Papierscheine 
in die Richtung des Bettlers. Der Stolz ist gestorben in 
Wien. Wer, — wjer richtet ihn wieder auf? Wer macht 
Wien wieder deutsch? 

Das Elend ist groß in Wien. Wenn man sich an den Rand 
dieser Schlammasse gerettet hat und wieder auf Naturboden 
steht, aus dem der urgesunde Erdatem strömt, packt einen 
das Wiener Elend mit tausend räusten an Herz und Ge¬ 
wissen. Und durch das nebulöse Schiebertum hindurch, das 
an vollbedeckten Tischen die fettesten Schweinerippchen knab¬ 
bert, in besten, in den, bekannten Wiener Küchen bereitet, 
daß sich der Gaumen wie je kitzelt an den wie je delikaten 
Wiener Mehlspeisen,’— durch dieses Schlemmertum hindurch 

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1534 


T 


Wien: die orientalische Metropole. 


hört man das große Wehklagen, das aus der Tiefe des Wiener, 
des so braven Wiener Volkes kommt, und das nicht mit kann 
in diesem tollen Tanz der Papierscheine, die nichts gelten auf 
dem Markte der Fremden, die aber aus Wiener Oedboden 
doch noch ein - Paradies erstehen lassen. Das Elend ist 
grau und breitet sich weit. -Schemen, kaum noch Menschen¬ 
gestalten und Menschenantlitz, schleichen durch die Wiener 
Abende, an denen das Licht schon um acht Uhr erlöscht und 
die Straßenbahn den Verkehr einstellt. Greise brechen zu¬ 
sammen. Bei den Männern gibt’s keine Vollkraft mehr. 
Die Jünglinge wiegen kaum zwei Drittel des Vorkriegs¬ 
gewichts. Die Kinder sterben doppelt rasch dahin. Die Mütter 
beweinen die welken, leeren Brüste. . . ' 

Qjbt’s Hilfe noch für die Wiener? Die Kleinen betteln. 
Die Großen auch. Betteln ist der leitende Grundsatz der 
Wiener Finanzpolitik.* Von einer Bettelreise kehrten gestern 
der Finanzminister Dr. Reisch und der Staatssekretär Dr. 
Löwenfeld-Ruß aus Paris zurück. Sie brachten für ganze 
sechs Wochen Getreide und Kartoffeln zurück. Und «viel¬ 
leicht ein wenig Barkredit aus Amerika und England.^ Wenn's 
gut geht. Wenn sich die politischen Verhältnisse in Amerika 
nicht ändern. Wenn nicht Wilson, der helfen möchte, abgesägt 
wird. Wenn nicht der Republikaner Lodge, der den ameri¬ 
kanischen Geldsack zuhält, ans Ruder kommt. Sechs Wochen 
Nahrung, dann geht erneut die Bettelei los. Die genau 
so widerlich, wie die Straßenbettelei in Wien. Man merkt 
ordentlich der politischen Atmosphäre an, daß sie in Ver¬ 
sailles schon Uebelkeit verspüren, daß sie angewidert ein 
paar Scheine in die Richtung der Bettler werfen, um sie los 
zu werden. 

Ein trauriges Geschäft, Minister in Wien zu sein. Es 
gibt davon mehr, als genug. Zwanzig Sessel bei sechs Millio¬ 
nen Einwohnern. In Frankreich kommen sie mit der Hälfte 
aus. Aber das Mißtrauen zwischen den Regierungsparteien, 
den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen, setzt immer 
hinter den einen Minister einen zweiten Minister zur Kon¬ 
trolle. Die politischen Umstände gebieten es. So macht 
man es, um nur eine Regierung zu haben, die halbwegs vor¬ 
wärtskommen kann. Schließlich spielt ja auch die Million 
Kronen mehr oder weniger keine Rolle in der Milliarden¬ 
unterbilanz. Wenn nur etwas damit erreicht würde. Wird 
es? Die Kraft der leitenden Persönlichkeiten geht freilich 


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Wien: die orientalische Metropole. 


1535 


teils in den allgemeinen Tagessorgen, teils in den speziellen 
Parteisorgen vor die Hunde. Es kommt zu nichts rechtem. Es 
fehlt der große Impuls der Nation. Der Zusammenbruclr 
hat kopflos gemacht. Und bei der traditionellen naiven Leicht¬ 
gläubigkeit des Volkes hat die Demagogie leichtes Spiel. 
So zerren sich die Volksteile hin und her. Und ermatten. 
Da es bei den Habsburgern am Ende des Krieges schlecht 
war, lief man zur Sozialdemokratie. Und da diese nicht so 
rasch aus dem ganzen Elend heraushelfen kann, will man 
wieder wo anders hinlaufen. Vielleicht zur Monarchie. Viel¬ 
leicht zu Deutschland. Vielleicht zum Donaubund. Viel¬ 
leicht . . . Klar ist es eigentlich niemand in Deutsch¬ 
österreich, was nun das richtige wäre. 

Deshalb auch all das Groteske, das wir dieser Tage erleben. 
Kein Zusammenhalt unter den deutschen Ländern. Wien 
macht die Länder für das Elend verantwortlich, weil sie 
zu wenig Nahrungsmittel lieferten. Die Länder sagen, daß 
das sozialistische Wien schuld sei an dem ganzen Unglück. 
Und so blüht frisch und munter, aber unheilvoll für neide 
Teile, jene Eifersucht zwischen Stadt und Land auf, wie 
wir sie 1477 in der Schweiz sahen und die 1529 zu dfer 
Lebensmittelsperre gegen Zürich, Bern und Basel führte. 
In dem Kampf zwischen Wien und den Ländern, von den 
Ländern mit der Parole „Los vom sozialistischen Wien“ 
geführt, führte Wien seine Notenfabrik auf, die Länder ihre 
Herrschaft über die Lebensmittel. Zwei Waffen von Trag¬ 
weite und großem Kaliber. Wann werden sie in Aktion 
treten? Zuvor noch verhandelt man und kompromisselt. 
WeiPs beiden Teilen nicht necht wohl ist .bei dem Kampf. 
Verzettelt freilich auch Wien die Kräfte, wartet auf aas 
Wunder. Aus Berlin. Aus Versailles. Aus Prag. Aus Bel¬ 
grad. Aus Budapest. Aber die Wunder sind ausgestorben, 
und die Wiener Heiligenbilder lassen nicht mehr auf Antrieb 
Regen fallen auf die österreichische Dürre. Die Zeit der 
verschwommenen Mystik ist auch für Wien vorüber. Dip 
nackten, so grausig nackten Tatsachen entscheiden. Berlin 
ist gepfropft mit Sorgen und hat mit sich selbst zu tun. 
In weichen Ruhestunden eilt zuweilen umfangend sein 
Deutschgefühl zu den armen Brüdern an der Donau. Schmerz- 
1 voll, an der Versailler Kette liegend, muß es sich wenden. 
In Versailles sprechen sie machtpolitisch. Und der Franken 
und das Pfund und die Kartoffeln lockern sich nur für den 

49 / 2 * 


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1536 Wien: die orientalische MBropote. 

Aufbau einer österreichischen Feste gegen Berlin. In Prag 
lagern die Kohlen. Aber den Pragern ist ein frierendes 
Deutschtum im Rücken lieber, als ein Deutschtum, das am 
warmen Ofen großdeutsche Träume spinnt, lieber Belgrad 
führt der Weg zum Orient. Die Konkurrenz an der Donau 
muß niedergehalten werden, bis der neue Weg, das Süd¬ 
slawentum erhebend, gesichert ist. In Budapest schachern 
sie, die Zierzaustesten des Weltkriegs, um die deutschen Brüder 
in Westungam, ums Heinzen- und Burgenland. Der eine 
Bettler erpreßt den andern. 

Und doch eine Zukunft für Wien. Trotz der Italiener, 
die alle Waren entführen, trotz der Engländer, die ganz 
Oesterreich aufkaufen. In Wien liegt eingebettet die In¬ 
telligenz und die Kultur von tausend Jahren. Durch Wien 
strömen die Wasser der Donau, deren Brücken immer und 
ewig die Lasten tragen werden, die der Orient bedarf. In 
Wien kulminiert die Geldkonzentration des Ostens. Man 
- wird Wien immer bedürfen. Man wird Wien niemals aus L 
streichen können aus der großen Karte des Pulses von 
Handel und Leben. Wien ist niedergebrochen im Krieg 
und in der Sitte. Wien vergeudet seine Kräfte noch im Streite 
um Vergangenes und um kleinliche Gegenwart und klein¬ 
liche Gegensätze. Wien sieht noch nicht die Zukunft, die 
die redliche Arbeit gebiert. Wien trinkt, mit hungrigem 
Magen, mehr Mokka, als ganz Deutschland. Und aus den 
Stoffen, die seinen Kindern Blut und Leben geben könnten, 
bäckt es für. zerknitterte Papierscheine den Parasiten Mehl¬ 
speisen. Mit Mokka und Mehlspeise ruiniert Wien sein inter¬ 
nationales Ansehen, die Valuta. Aber es wird, so gewiß wie 
täglich die Sonne aufgeht, einst auch den Tag anheben, an 
dem ein Wiener Jesus die Wechsler und die Pharisäer aus 
dem Tempel seiner nationalen Heiligtümer jagt, ein Tag, an 
dem die Besinnung zur Arbeit wiederkehrt. 

Und an diesem Tage wird Wien wieder ehrlich, das heißt 
deutsch sein. 


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Entweder 


oder! II. 


1537 


TH. KABELITZ: 

Entweder — oder! 

ii. 

Wer in Deutschland zu verhungern fürchtet, der soll aus¬ 
wandern. So will es die Entente. Durch die Auswanderung 
wird zunächst der deutsche Sozialismus geschwächt. Dann 
aber sollen die ausgewanderten Proletarier sich überall auf 
dem Erdball als Lohndrücker und Streikbrecher gebrauchen 
lassen. Und wenn es noch so geschickt ist, wasi bleibt dem 
mittellosen, der Sprache unkundigen Fremdling draußen wei¬ 
ter übrig? Und ist er gründlich ausgepumpt, so mag er in 
irgendeinen! Erdteil hinter der Hecke verrecken. Was fragt 
der siegreiche Kapitalismus der Entente danach, dessen Do¬ 
mäne endlich — nun endlich! — die ganze Welt geworden 
ist. Das Sozialisieren und Organisieren wird den zugereisten 
Deutschen fern von der Heimat schon vergehen. Dann bleibt 
der Achtstundentag ein Traum, und Wahlrecht besitzen die 
Fremden in der Fremde überhaupt nicht. So grinst die 
Entente. 

Mit welchem Recht rühmen wir uns einer materialistischen - 
Geschichtsauffassung, -wenn wir nicht sehen können oder 
wollen, wohin die wirtschaftliche Entwicklung treibt! Deutsch¬ 
land wird sich niemals mehr in der Lage sehen, den Schwer¬ 
punkt seines Wirtschaftslebens vorzugsweise in der Industrie 
zu suchen. Das Ententekapital hat jetzt völlig freie Bahn, in 
der ganzen Welt Konzessionen zu erlangen, Bahnen zu bauen, 
industrielle Unternehmungen größten Stils zu beginnen und 
m vollenden, die seinem und nur seinem Interesse dienen. 
Weshalb soll es die Rohstoffe erst nach Europa — nach! 
v Deutschland! — bringen und dort für teures Geld in Waren 
verwandeln lassen, die wieder für teures Geld nach den 
fremden Märkten exportiert werden müssen? An der Quelle, 
Überall, wo Rohstoffe gewonnen werden, schießen in kürzester 
Zeit industrielle Anlagen wie Pilze aus der Erde. Es liegt 
keinerlei Grund vor zu der Annahme, daß in Asien, in Afrika 
nicht ausreichend Kohlen gefunden werden können für jede 
Industrie. Und den Stamm der Arbeiter in den exotischen 
Werken sollen die Proletarier Europas bilden, besonders die 
deutschen. Dieser Kalkül ist so furchtbar einfach und nahe¬ 
liegend, daß das siegreiche Ententekapital beträchtlich 


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1538 


Entweder — oder! II. 


dümmer sein müßte, als es sich bis jetzt gezeigt hat, wollte 
es die heute vielleicht noch vagen Ideen nicht morgen zu 
festen Plänen formen. Darauf soll man sich beizeiten ein¬ 
richten, besonders in Deutschland! 

Und nun greife ich zurück. 

Das gesamte platte Land der Bauern fällt, nicht in den 
Rahmen des Betriebsrätegesetzes. Der Schritt, den dieses 
Gesetz in der Richtung zum Sozialismus bedeutet, bleibt 
auf dem platten Lande ungetan. Statt der Sozialisierung des 
Landbaus wird uns eine Erhöhung des Preises für Brotkorn 
in Aussicht gestellt! 

Mit Siedlungen und verwandten Dingen schafft man keinen 
Sozialismus, dessen Grundforderung noch immer dahin geht: 
Ueberführung der Produktionsmittel aus dem Privatbesitz in 
den Besitz der Gesamtheit. Mit Siedlungen schafft man zehn¬ 
tausend neue Besitzer, die sich in aller Geschwindigkeit 
zu ebenso vielen begehrlichen Stützen der kapitalistischen 
Betriebsform auswachsen werden. Und wenn schon gesiedelt 
werden müßte, weshalb soll das Siedlungsland nicht lieber 
in die Hände der Leute fallen, die ohne Ar und Halm all 
ihr Lebtag als Tagelöhner auf dem Lande gelebt haben? 

Es wäre kein Rückfall in der Entwicklung, wenn auch der 
— praktische! — Sozialismus da anknüpft, wo alle Kultur 
begonnen hat: beim Ackerbau. 

Soweit es sich nicht um den speziell gärtnerischen Be¬ 
trieb handelt, den die einzelne Pflanze bis auf den. Weg zur 
Küche betreut, das heißt also beim landwirtschaftlichen 
Flächenanbau, ist auch auf agrarischem Gebiet der Gro߬ 
betrieb dem Kleinbetrieb überlegen. Erinnert sei nur an die 
Verwendung landwirtschaftlicher Maschinen und an die Aus¬ 
nutzung der Fläche für die passendste Fruchtart von seiten 
des Großbetriebs. Der kleine Besitzer wird, ja er muß jede 
Art Frucht anbauen, die er in Küche und Stall gebraucht. 
Er baut sie selbst dann, wenn sich sein Stückchen Boden 

g ar nicht für eine bestimmte Fruchtsorte eignet. Der Groß- 
etrieb läßt sich beim Anbau ausschließlich durch die Rück¬ 
sicht aut den Ertrag leiten, der auf Eignung des Bodens für 
diese oder jene Kultur beruht. 

Aehnliche Erwägungen müssen dazu führen, den Acker¬ 
besitz jeder Dorfschaft in gemeinsamen Betrieb zu nehmen 
und die Bewohnerschaft zu einer Arbeitsgemeinschaft zu¬ 
sammenzufassen. Ein Betriebsrat — er wird dort zur Be.- 


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Entweder — oder! II. 


1539 


triebsleitutfg — dessen Wahl nach^ den bekannten, für das 
ganze Reich gültigen Grundsätzen erfolgt, regelt alle Fragen 
der Arbeit, des Anbaus, der Fruchtauswahl. Er sorgt für 
rationelle Viehwirtschaft usw. und stellt schließlich den Er¬ 
trag der Gesamtarbeit fest. Aus der gewonnenen Frucht 
wird zunächst der Bedarf der örtlichen Arbeitsgemeinschaft 
sichergestellt. Der überschießende Rest bleibt als Tausch¬ 
ware zjur Verfügung in der Weise, daß dafür jeder andere 
Gebrauchsgegenstand ins Dorf kommt, der daselbst nicht 
erzeugt wird oder werden kann. Den Austausch vermittelt 
die der örtlichen Betriebsleitung übergeordnete Organisation, 
deren Aufbau nach dem Betriebsrätegesetz dreistufig sein 
soll. Aber wohlgemerkt: Kauf und Verkauf der erzeugten 
und eingeführten Waren auf kapitalistische Art findet nicht 
mehr statt. Der Wert der gegebenen und empfangenen 
Dinge wird ermittelt nach Marxschem Prinzip als mensch¬ 
liche Arbeit, die in den Produkten konkrete Erscheinungs¬ 
form gewinnt. Genau der Arbeitswert, welchen die Arbeits- 

S meinschaft hingibt, kommt in Form anderer Produkte ins 
>rt zurück. 

Es liegt auf der Hand, daß die Sozialisierungen in der 
Industrie sich ganz von selbst und Schlag auf Schlag an- 
gliedern können und müssen, sobald mit der Ueberführung 
der bebauten Ackerfläche in Gemeinbenutzung Ernst gemacht 
wird. Es unterliegt auch nicht dem leisesten Zweitel, daß 
von der als Schreckgespenst hingestellten Produktionsmüdig¬ 
keit und Ablieferungsunlust in dem Augenblick nichts mehr ge¬ 
hört werden wird, wenn das ganze Dorf gleichmäßig daran 
interessiert ist, daß möglichst große Produktionsüberschüsse 
hinausgehen, um in Form von Gebrauchsgiegenständen und 
Genußmitteln wieder hereinzukommen. Schautet den Profit 
aus, die Möglichkeit, daß der einzelne sich bereichert, und 
alles ist. glatt. 

Ueber das Ob und Wie einer Entschädigung der Besitzer 
braucht sich niemand aufzuregen. Die Idee, daß jemand 
das Recht haben sollte, seinen Ackerbesitz schlecht oder gar 
nicht oder gar mit Unkraut zu besäen, ist als vorsündflutfich 
völlig abzulehnen. Das deutsche Volk hat ein unverjährbares 
Recht, zu verlangen, daß der deutsche Grund und Boden 
so gut als nur immer möglich der Volksernährung dienstbar 
gemacht wird. Des Volkes Wohl ist das höchste Gesetz, 
nicht die Lust oder Unlust der Besitzer, nicht der Profit- 


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1540 


Entweder — oder! II, 


hunger einzelner Klassen und Kasten. Will man aber von 
Entschädigung der Besitzer reden, so dürfen zwei Gesichts¬ 
punkte nicht außer acht gelassen werden. Die Volksgemein¬ 
schaft hat keinerlei Interesse, einer Anzahl Drohnen nebst 
Anhang die Mittel zu einem Schlaraffendasein auf Kosten der 
Gesamtheit zur Verfügung zu stellen. Darauf liefe nämlich 
eine Entschädigung in bar oder Produkten hinaus. Zweitens 
aber werden die jetzigen Inhaber des Bodens, soweit sie an 
der gemeinsamen Arbeit teilnehmen, aus dem Erträgnis der 
Gesamtarbeit erhalten genau wie alle anderen, so daß das 
Bedürfnis nach einer besonderen Entschädigung gar nicht 
vorliegt. 

Man kann ganze Industrien der Sozialisierung entgegen¬ 
führen, einerseits durch Verstaatlichung, andererseits aber auch 
dadurch, daß man der Arbeiterschaft immer mehr Einfluß auf 
den eigentlichen Produktionsprozeß verschafft, so daß aus 
willenlosen Lohnsklaven schließlich gleichberechtigte, mit¬ 
bestimmende wirtschaftliche Faktoren werden. Aber die wirk¬ 
liche Ganzsozialisierung, welche an die Stelle des Kauf¬ 
wertes den Arbeitswert setzt, kann mit Erfolg nur an der 
Stelle einsetzen, wo sich Produktion und Konsumtion am 
engsten berühren, das ist bei der Erzeugung von Brot und 
Fleisch im weitesten Sinne, also bei der Landwirtschaft. 
Nur dort ist zugleich die breite Basis, welche das Schwanken 
ausschließt und weiteren industriellen Sozialisierungen ,die 
An- und Einfügung ohne Schwierigkeit ermöglicht. 

Man hat gesagt und wird wieder sagen: Deutschland für 
sich allein kann kein sozialer Staat sein oder werden, solange 
in den Ländern herum die kapitalistische Wirtschaftsform 
besteht. Darauf ist zu erwidern: Vor allen Dingen muß 
ein Sozialist sich hüten, gedankenlos Sätze ausZQsprechen, die 
er nicht selbst auf ihre Stichhaltigkeit untersucht hat — in 
reiflicher Ueberlegung natürlich! — Wenn wir darauf war¬ 
ten wollen, daß in allen Ländern der Erde zugleich bekannt 
gemacht wird: Morgen nachmittag ein Viertel nach drei 
beginnt der soziale Staat, dann kommen wir überhaupt nicht 
zur sozialen Republik. Oder glaubt jemand wirklich, der- 

f leichen läßt sich einführen, wie etwa die mitteleuropäische 
eit? Dergleichen Redensarten sind Wasser für die Klapper¬ 
mühlen des Kapitalismus, weiter nichts. 

Es ist ohne Zweifel richtig, daß ein Wirtschaftsgebiet, 
in welchem alle menschlichen Bedürfnisartikel in Form von 


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Entweder — oder! II. 


1541 


Rohstoffen gedeihen, auf Erden nur einmal vorhanden ist, es 
ist eben der Erdball selber. Weltsozialismus ist also nur 
möglich, wenn und soweit sich alle Völker der Erde zu einer 
einzigen, riesigen Arbeitsgemeinschaft vereinigen. Aber man 
denke zum Beispiel an die Familie: Innerhalb derselben 
arbeitet jeder ah seiner Stelle auf seine Art. Für die Bedürf¬ 
nisse aller wird dadurch gleichmäßig gesorgt. Aber Kauf 
‘und Verkauf findet zwischen Familiengliedern nicht statt. 
Soweit dieselben im Austausch mit andern Arbeitsgemein¬ 
schaften nötig werden, besorgt das Familienhäupt oder der 
Familienrat alles Erforderliche auf gemeinsamer Rechnung. 

Aehnlich müßte sich die Sache gestalten, wäre Deutsch¬ 
land ein sozialer Staat, umgeben von kapitalistischen Ländern. 
In der Hand der obersten Oiganisation der dreistufigen 
Landeswirtschaftsverwaltung sammelt sich das gesamte im 
Lande vorhandene Barvermögen.. Innerhalb der sozialisierten 
Landesgemeinschaft hat niemand ein Interesse am Besitz 
von Geld. Aber mittels desselben vollzieht sich an der 
Grenze der Austausch der abzustoßenden und einzuführenden 
Produkte auf rein kapitalistische Art — solange es nötig sein 
wird — durch die oberste Verwaltung. 

Niemand darf sich entsetzen vor der gewaltigen Organi¬ 
sation, welche diese Dinge erfordern. Gemessen an dem 
wüsten Durcheinander sich befehdender, einander bis aufs 
Messer bekämpfender Kräfte der kapitalistischen Welt, er¬ 
scheint die Organisation des Sozialismus leicht und einfach. 

Noch wenige Worte afi die Adresse empfindsamer Seelen. 
Wenn -die Arbeitsgemeinschaft im Dorfe hergestellt wird, 
beginnt natürlich das Geschrei der Besitzer, die sich in 
ihren „heiligsten Gütern“, will sagen in ihrer Profitmacherei 
gekränkt fühlen. Wer aber glaubt, daß dieselben Leute an 
einem späteren Termin nicht schreien würden, der irrt sich. 
Auf ein bißchen Toben, Fluchen, Schimpfen, Drohen, Viel¬ 
leicht auch auf etliche Handgreiflichkeiten muß man ge¬ 
faßt sein, jetzt wie später. Wer den Sozialismus verwirk¬ 
lichen will, darf sich dadurch nicht anfechten lassen. Ein¬ 
ziges Erfordernis bleibt, wir müssen das geeinte Proletariat 
hinter uns haben. Wir werden es hinter uns haben bei jeder 
vollen Sozialisierung. Darum müssen wir Emst damit machen. 
— Entweder — oder! 


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1542 


Was ist zu tun? 


Professor Ewald F. W. RASCH: 

Was ist zu tun? 

„Patient et vitam 

IM alten Rom konzentrierte sich das Bedürfnis der prole- 
1 tarischen Massen in dem Schlagwort „panem et circenses“! 
(Brot und Spiele). — Heutzutage sind wir alle sehr viel be¬ 
scheidener geworden. Wir verzichten gern äuf Belustigungen 
durch zirzensische Spiele, wir „haben nichts zu.lachen“ und 
wären glücklich und zufrieden, sofern wir nur das aller¬ 
notwendigste der täglichen Notdurft des Leibes und Lebens 
für uns und unsere Kinder aufzubringen vermöchten; Brot, 
Kleider, Schuhe, Wärme, kurzum: „panem et vitam“ (Brot 
und Leben). 

Die soziale Frage hat sich allen niemals mit so grausamer 
Deutlichkeit, wie heute, als vitale Frage, ata, Magenfrage 
offenbart und es könnte, oberflächlich gesehen, die Welt¬ 
lage angesichts der in geometrischer Progression stetig wach¬ 
senden Uebervölkerung verzweifelt erscheinen, da die Er¬ 
zeugung der Vitalwerte , der Nahrungsmittel, Heizstoffe, Bau¬ 
stoffe, Kleidungsmaterialien hinter dem notwendigsten Bedarf 
um so mehr zurückbleibt, je mehr den Boden durch den 
bisherigen Raubbau ausgesaugt und seiner natürlichen Schätze, 
der Rohstoffe, beraubt wird, aus denen Sich die genannten 
Notwerte des täglichen vitalen Bedarfs aufbauen. 

Aber so hoffnungslos pessimistisch ist die Weltlage 
keineswegs. 

Sie ist dann und nur dann hoffnungslos, wenn die Technik 
ihre eigentliche und höchste Kulturaufgabe, panem et vitam, 
das heißt Lebensmittel, zu erzeugen nach wie vor verkannt 
und im Dividenden Wahnsinn destruktiven Zielen nachjagt , 

Was ist zu tun? 

Ein allgemein gewordenes Schlagwort ^antwortet hierauf: 
Wir müssen „produzieren 14 . 

Aber dieses Schlagwort ist doch nur zur Hälfte richtig; 
es ist gemeingefährlich und führt uns mit weiterer Beschleuni¬ 
gung vollends in den Abgrund, wenn es so auf gef aßt wird, 
wie es die Industrie in den letzten Jahrzehnten aufgefaßt 
hat und heute noch erneut aufgefaßt und durchgeführt 
wissen will: Ueberproduktion von Scheinwerten, Tausch? 


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,1 




Was ist zu tun? 


1543 


werten (deren wahrer Wert beim Fehlen von Vitalwerten, 
Nahrungsmitteln zum Beispiel, in nichts zusammen¬ 
schrumpft!), Ueberschwemmung , Vergewaltigung des Welt¬ 
marktes mit billigem industriellen Exportschund, Dumping - 
System auf Kosten auszumergelnder, werktätiger Massen ! 

Die heute gepredigte Propaganda „Normalisierung, Typi¬ 
sierung, Massenarbeit, Spezialisierung, Taylorsystem“ deuten 
darauf hin, daß man erneut darauf ausgeht, das Heil in 
dem Schweiße des Proletariers zu finden, unsere Industrie¬ 
erzeugung so „umzustellen“, das heißt so zu verbilligen, 
„daß der Ausländer unsere Waren kaufen muß“. 

Es ist jedem denkfähigen Wirtschaftspolitiker seit Jahr¬ 
zehnten klar, daß dieses gedankenlose industrielle Schema, 
diese Dumpingpolitik, Deutschlands am Weltmärkte wahn¬ 
witzig war und es ist offenbar, daß eine Weltallianz nunmehr 
durch den Weltkrieg diese — häufig genug geradezu un¬ 
lautere — Ueberkonkurrenz zweckbewußt gelähmt hat und 
auch in Zukunft einhellig miederhalten wird. 

Ehe man diese Wahrheit und diese Tatsache nicht voll 
begriffen hat, kann an eine Gesundung des Wirtschaftslebens 
Deutschlands nie ernsthaft gedacht werden. 

Die deutsche Industrie muß — obwohl sie es nicht will — 
begreifen, daß sie höhere , sittliche Aufgaben erfüllen kann 
und daß sie sich auf diese „umzuschalten“ hat. Sie muß 
und kann — kurz gesagt — „aus Steinen Brot“ machen, muß 
an Stelle von dreiachtelzölligen Schrauben, Rasiermessern, 
Taschenspiegeln und dergleichen Exportschund wahre Vital- 
werte , wahre „Produkte“ , Notwerte für das Inland durch 
intellektuelle Neuerungen und Fortschritte „hervorbringen“. 

Die Industrie ist diesen, ihren grundsätzlichen und höchsten 
Endaufgaben geflissentlich, wie Mephisto dem Pentagramm, 
aus dem Wege gegangen. „Die Erklärung für diese Tatsache 
dürfte darin zu suchen sein, daß die deutsche Elektro¬ 
technik (und die industrielle Technik schlechthin) schon seit 
längerem großen Aufgaben prinzipieller Natur . . . aus dem 
Wege zu gehen pflegt und sich stattdessen auf dem Boden 
der uberproduktiven Fabrikation sicher zu fühlen glaubt.“ 

Wären beispielsweise die Führer des alten Staates sich 
ihrer sozialen Verantwortlichkeit und ihrer Aufgabe bewußt 
gewesen, als Verfasser dieses im Jahre 1903 in einer dem 
damaligen Präsidenten der preußischen Staatsministerien vor- 


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1544 


Was ist m tun? 


gelegten technischen Denkschrift 1 die technische Möglichkeit 
und dringende Notwendigkeit nachwies, daß der Staat die 
Pflicht habe, unter Aufrichtung eines Staatsmonopois Stick¬ 
stof /Verbindungen (das heißt Düngemittel, Nährmittel, 
Sprengstoffe) aus dem vermeintlichen Nichts der atmosphäri¬ 
schen Luft zu erschaffen, so steht unzweifelhaft fest, dlaß 
unser Inland bei Ausbruch des Kriegs — elf Jahre später — 
im hinlänglichen Maße über diejenigen Sprengstoffe und 
ebenso über diejenigen Nahrungsmittel (Eiweißstoffe) ver¬ 
fügen konnte, die ihm fehlten und deren Mangel unseren 
Zusammenbruch mit zwingender Logik und Naturnotwendig¬ 
keit — wie vorausgesagt — verursachen mußte. 

Wie unfähig oder bösartig der Verwaltungskörper der alten 
Regierung allen grundsätzlich weiterreichenden Staatsaufgaben 
gegenüberstand, erhellt aus der historisch denkwürdigen Tat¬ 
sache, daß der völlig selbstlose — Antrag mit dem naiven 
Bescheid beseitigt wurde, der Staat könne oder wolle der 
Entwicklung und den Interessen der Industrie nicht vorgreifen. 

So fand uns denn elf Jahre später der Krieg ohne die für 
eine landwirtschaftliche Nahrungsmittelerzeugung, gleicher¬ 
maßen aber auch für die Kriegs- und Sprengstofftechnik 
unerläßlichen Stickstoff Verbindungen: Selbst der Zucker , 
den Deutschland während des Friedens in großen Mengen 
ausführen konnte, mußte bei dem mit der-Kriegserklärung 
gleichzeitig proklamierten offenkundigen Staatsbankerott 
zwecks Herstellung von Nitroglyzerin den unterernährten 
Kindern entzogen werden. — Ebenso ist es in hunderten von 
Fragen lebenswichtigster Art gegangen. 

Es ist schmerzlich, zu bekennen, daß nicht etwa eine 
tragische Schuld des intelligenten und unermüdlich arbeit¬ 
samen deutschen Volkes uns in den Abgrund gebracht hat: 
dies hat der völlig unfähige, juristische Verwaltungsapparat 
der alten Regierung erreicht. 


v 

1 Ewald Rasch. Die elektrische Gewinnung von Stickstoffverbindungen 
aus der atmosphärischen Luft. Technische Denkschrift an den Reichs¬ 
kanzler v. Bülow vom 11. Mai 1903. (VgL hierzu auch Dingl, Polyt 
Journ. 1903," Heft 17.) Verf. hat das von ihm dort angegebene Ver¬ 
fahren s. Z. dem Staate zur unentgeltlichen Verfügung gestellt. Heute 
ist — wie vorausgesagt — die viel zu spät entwickelte Stickstoffindustrie 
natürlich zum großen Schaden des Allgemeinwohles Privatmonopol 


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Ori^ir^l frcn 

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Was ist zu tun? 


1545 


Er war an allen entscheidenden, verantwortlichen Stellen 
mit überalterten juristischen oder technischen „Geheimräten“ 
durchwebt, kurzsichtigen Banausen, die als Funktionäre 
der Schwerbanken und Schwerindustrie, deren „Blühen und 
Gedeihen“ mit dem allgemeinen Staatswohl verwechselten: 
„Geheim war, was er für den Staat 
Und, was er für die Menschheit tat: 

Drum heißt er auch Geheimer Rat.“ 

Diese Masken gehorchten den leisesten Winken ihrer ebenso 
geheimen, — aber ebenso kurzsichtigen — Schutzherren von 
der Schwerindustrie und sie haben letztere ebenso wie ihr 
Vaterland mit den superklugen Gebärden absoluter Ignoranz 
in Stücke ? ,verwaltet“. 

Mit Beginn des Krieges setzt nun eine Periode tragischen 
Irsinns ein, die gelegentlich gesonderter Behandlung bedarf: 
das Bau- und Gründungsfieber, durch das man "all das seit 
Jahrzehnten schuldhaft Verabsäumte eilfertig nachholen 
wollte, Kriegsgesellschaften, Kampf aller gegen alle bis zum 
bitteren Ende der totalen Selbstvernichtung. 

Die restlose Beseitigung dieses Systems der geheimen Igno¬ 
ranz und geheimen Bösartigkeit der Verwaltung ist die erste 
Und wichtigste Aufgabe jedweder Regierung, die unser Volk 
vor dem völligen Untergang bewahren will. 

Dann aber werden tausende meiner technischen Kollegen 
bestätigen und beweisen, daß tausende neuer Probleme lebens¬ 
wichtiger Art zur Wirklichkeit werden,' die binnen einem 
Jahrzehnt unseren Kindern wieder ein wohnliches Vaterland 
und ein menschenwürdiges Dasein als Erbe hinterlassen 
werden. 

Staat und Industrie werden es nicht wagen dürfen, ferner¬ 
hin — wie seit Jahrzehnten — den intellektuellen Urheber 
menschlicher Kulturfortschritte zu Tode zu hetzen und tot 
zu machen. Die Technik wird und muß dann auf neuen 
Gebieten an Stelle von Zerstörung, Ausmergelung, Zer- 
mürbung des Volkes kulturelle Werte — panem et vitam — 
erschaffen. 

Tausende Techniker tragen in sich neue Probleme vitalster 
Art, die jetzt durch ein verrücktes Recht, das Patentrecht, im 
Keime erstickt werden: Energieerzeugung, Wärmeerzeugung, 
Verwertung vermeintlicher Abfallstotfe, landwirtschaftliche, 
chemische, elektrische Probleme, kurzum: „Die soziale Frage 
ist eine technische Frage.“ 


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1546 


Politische Köpfe. VH. und VIII. 


Wenn nun neuerdings hier ein Lichtblick, die Errichtung 
eines Technischen Reichsministeriums, auftaucht, so isit die 
Mahnung gerechtfertigt: 

Man ersetze hier die juristischen Staatsböcke durch tech¬ 
nische Gärtner! 


U. EMIL: 

Politische Köpfe. 

VII. 

Wally Zepler . 

* 

DINE achtunggebietende Erscheinung. Dunkles Haar, 
dunkle Augen, angenehme, durchgeistigte Züge, wohl¬ 
klingende, modulationsiähige Stimme, echt weibliches Wesen, 
das ist Wally Zepler. Kein Proletarierkind, geboren auf der 
Schattenseite des Lebens, gezeugt von der Not — aus gut 
bürgerlichen Kreisen kam sie, ein starker, sozialethischer 
Zug veranlaßte sie, unter das' arbeitende Volk zu gehen, 
ein warm empfindendes Herz trieb sie dazu, ihre reichen 
Seelen- und Geistesschätze vor den Aermsten auszubreiten, 
den Wissens- und Schönheitsdurst der Menschen, und be¬ 
sonders der Frauen und Mädchen, aus der Tiefe zu stillen. 

So kam sie — gleich ihrer Schwester, die als Frauenärztin 
im Proletarierviertel Berlins haust und den vom Glück Ent¬ 
erbten ihre Kunst, ihr Herz und alles, was sie hat, selbstlos 
zur Verfügung stellt — so kam sie schon im jugendlichen 
Alter zur Sozialdemokratie. Sie zählte zu dem Kreis, der 
sich um die „Sozialistischen Monatshefte“ schloß und der 
als der lebendige Ausdruck des heißumstrittenen' Revisionis¬ 
mus galt. Der genannten Zeitschrift diente sie als ständige 
Mitarbeiterin; mit ruhiger Sachlichkeit und souveräner Be¬ 
herrschung der Materie trat sie an die Fragen heran, die 
jeweilig die Gemüter bewegten. Politik, Frauenfrage, Kunst 
und Wissenschaft — wo sie auch ihr Urteil einsetzte, geschah 
es mit objektiver, vornehmer Würdigung aller Gesicntspunkte 
und mit unbestreitbarer Sachkenntnis. 

Außer ihrer schriftstellerischen Tätigkeit entfaltete sie aber 
auch eine rege Wirksamkeit auf rednerischem Gebiet. Hier 
trat ihr reiches Können noch unmittelbarer noch persönlicher 
hervor, hier konnte sie als Referentin mit ihrer sympathischen 


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Politische Köpfe. VII. und VIII. 


1547 


Vortragsart, ihren warmen, geistdurchtränkten Ausführungen 
eine lebendige Brücke schlagen zu den Herzen und Hirnen 
ihrer Zuhörer, denn sie beherrscht die höchste Kunst des 
Redens: geistvoll zu sprechen und doch verständlich zu 
bleiben. Im „Frauen- und Mädchen-Bildungsverein“, einem 
von Frau Stock-Grunewald mit rührender Hingebung und 
feinem Verständnis geleiteten und zu hoher Blüte gebrachten 
Bildungszirkel für Frauen und Mädchen aus dem Arbeiter¬ 
stande, war Wally Zepter immer ein oft und gern gesehener 
Gast. Sie ist eine geborene Pädagogin und hat die Gabe, 
sich in die Psyche des einfachen Menschen hinein zu ver¬ 
senken. Ich habe bei ihren Vorträgen vor einem Arbeiter-* 
Publikum kaum ein Zeichen der Ermüdung, der Verständnis¬ 
losigkeit, der Gleichgültigkeit bemerkt, alle hingen sie mit 
gespanntem Interesse, mit einer still-innigen Verehrung an 
den Uppen der Rednerin. An zwei Abenden in der Woche 
wanderte sie jahrelang hinaus in die Arbeiterdistrikte Berlins, 
um Leseabende für Frauen abzuhalten. Eine opfervolle Arbeit, 
die sie fröhlich und unverdrossen leistete — für einen Gottes¬ 
lohn ! 

Alle die angeführten Eigenschaften kamen bei dieser Frau 
aber erst recht wirksam zur Geltung, wenn sie im Kreis von 
jungen Arbeitermädchen saß und sprach. Da muß man sie ge¬ 
sehen haben, um ermessen zu können, welch reines und 
dankbares Feld sich solchen Personen erschließen kann, die 
die Fülle ihres Herzens und Geistes in den Dienst der Volks¬ 
bildung und -aufklärung stellen wollen. 

Da bildete sich allsonntäglich im freundlichen Raum ein 
Kranz von jungen Menschenknospen, blonden, braunen, 
schwarzen, mit sehnsuchtshungrigen, heißen Augen und drang¬ 
voll pochender Jugendlust. Aber nicht zum „Schwoof“, nicht 
zur „Kintoppunterhaltung“, nein, sie kamen, um einen licht¬ 
vollen Vortrag Wally Zeplers zu hören und wie kaum dem 
Nest entflogene Vögelchen kuschelten sie sich um ihre Leh¬ 
rerin und hörten — hörten über Goethe, Ibsen, Tolstoi, 
Hauptmann, über Kant, Nietzsche, über Beethoven usw. 
Teden. Es handelte sich jedoch nicht einfach um zusammen¬ 
hängende Vorträge, nach denen man wieder still und nach¬ 
denklich den Heimweg antritt, vielmehr entwickelte sich ein 
reges Frage- und Antwortspiel, und die Vortragende ver¬ 
stand es meisterhaft'den jungen Küken die große, gewaltige 
Geisterwelt zu erschließen, durch liebevolles Eingehen auf 


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1548 


Politische Köpfe. VH. und VflI. 


alle Fragen sie den Geistesheroen der Menschheit nahezu- 
bringen. Es waren köstliche Stunden. 

Wally Zepler ist aber auch ein sprechendes Beispiel dafür, 
daß eine geistig hervorragende und politisch arbeitende Frau 
noch lange nicht ein „Blaustrumpf“ zu sein braucht, son¬ 
dern sehr wohl ihr ausgesprochen weibliches Wesen erhalten, 
ja sogar noch verfeinern kann. Und wenn die Spießer 
immer gewarnt haben vor der politisierenden Frau, weil 
dadurch Unfriede in die Familie käme, — nun, Wally Zepler 
steht politisch auf dem rechten Flügel der Sozialdemokratie, 
während ihr Gatte außerhalb der Sozialdemokratie auf dem 
Boden schärfster Opposition steht. Und das Familienglück 
ist ungetrübt, weil Weltanschauungen, wenn sie von schöner 
Duldsamkeit und Einsicht getragen sind, jede Vergewaltigung 
ausschließen. 

VIII. 

Clara Zetkin. 

Wenn einmal in späterer Zeit die Geschichte der Frauen¬ 
frage geschrieben wird, die gesamte Materie in ihrer ganzen 
Größe und Vielgestaltigkeit, so wird ein Name besonders 
hervortreten: der Name Zetkin! Besonders aber mit der 
sozialistischen Frauenbewegung ist der Name unlöslich ver¬ 
bunden. Was Bebel für die Männerwelt war, war Clara 
Zetkin für die Frauenwelt. Nur, daß sie Bebel noch an 
Wissen und Vielseitigkeit übertraf, denn sie ist keine Auto¬ 
didaktin, sondern hatte den Lehrerinnenberuf ausgeübt, ehe 
sie zur Sozialdemokratie kani. 

Clara Zetkin ist in einem kleinen Orte Sachsens geboren. 
Schon frühzeitig nahm sie die sozialistischen Lehren auf, 
sie entsagt dem pädagogischen Beruf, um die Lehrerin von 
Millionen Erwachsener zu werden. Ihr erster Mann war 
Russe, und ihr Lebensweg führt sie an die klassische Quelle 
der Revolution: nach Paris. Des Lebens Bitternisse verfolgen 
sie. Der Mann wird krank und siecht dahin, zwei Bübchen 
verlangen nach Brot und der materiellen Güter sind nur 
wenige vorhanden. Aber Clara Zetkin müßte nicht die Frau 
sein, als die man sie kennt. Mit unbeugsamer Energie und 
Tatkraft geht sie ans Werk und steuert ihr Lebensschiff mit 
starker Hand sicher an allen Klippen vorüber. Ihre hohe 
Intelligenz, ihr phänomenales Wissen, ihre unverwüstliche 
Schaffensfreudigkeit erleichtern ihr das schwere Werk. Sie 


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Politische Köpfe. VII. und VIII. 


1549 


greift zur Feder und schreibt, übersetzt, erteilt Unterricht, 
pflegt ihren Mann, führt die Wirtschaft, versorgt ihre Kinder, 
flickt, (stopft und zeigt mit heroischem Beispiel, was eine 
Frau und Mutter zu leisten vermag. Dann kommt der Tod 
und nimmt ihr den Lebenskameraden. Sie kehrt nach Deutsch¬ 
land zurück und beginnt hier eine fruchtbare Arbeit auf 
sozialistischem Gebiet. 1892 übernimmt sie die Leitung der 
„Gleichheit“, das Organ für die arbeitenden Frauen und 
Mädchen. Hier ist sie in ihrem eigentlichen Element. Aus 
dem bescheidenen Blättchen macht sie ein Organ von inter¬ 
nationaler Bedeutung. Ihre starke Persönlichkeit, ihr emi¬ 
nentes Wissen geben der ‘Wochenzeitschrift das Gepräge. 


Clara 'Zetkin beherrscht die verschiedensten Gebiete der 
Politik, Wissenschaft und Kunst. Sie ist in allen Sätteln 
gerecht und geradezu erstaunlich ist die Fülle ihres Wissens¬ 
schatzes. Sie spricht zu fünf, sechs Nationen in der Sprache 
der Heimat, sie verfügt über gründliche Kenntnisse in der 
Politik, in der Geschichte^ in der Nationalökonomie, in der 
Naturwissenschaft, sie ist im Reiche der schönen Literatur zu 
Hause und ebenso in der Musik. Auf der Höhe ihrer Erfolge 
war es eine Sensation, wenn sie als Rednerin auftrat. Sie 
sprach vor Studenten, vor Arbeitern und Arbeiterinnen, — 
immer geistvoll, sprühend von Temperament und Feuer. Ab¬ 
gesehen von Bebel, war sie die einzige von allen Rednern 
der Sozialdemokratie, die mit Getrampel und Händeklatschen 
im Saal empfangen wurde. Sie sprach vollständig frei und 
ließ den Schatz ihres Wissens wie Diamanten funkeln. Ihr 
hübsches frisches Gesicht mit den rehbraunen Augen glühte 
vor innerer Erregung, ab und zu fiel eine goldblonde naar¬ 
strähne über die Schläfe, dann strich eine energische Hand¬ 
bewegung die widerspenstige Locke wieder an ihren Platz 
zurück. ihr geradezu erstaunliches Gedächtnis kam ihr beim 
Reden sehr zu statten, und oft genug habe ich es erlebt, daß 
bürgerliche Journalisten den Stift hinlegten und sagten: das 
ist doch fabelhaft, was diese Frau im Kopfe hat! 

Sie hatte eine große Gemeinde, und viele verehrten sie ab¬ 
göttisch. Mit ihren kleinen Schwächen und großen Vorzügen, 
mit ihrem reichen Geist, ihrer stetigen Hilfsbereitschaft, 
ihrer anerkannten Herzensgüte erwarb sie sich ausgedehnte 
Sympathien. Wo sie helfen konnte, tat sie es, wo sie jemanden 
fördern konnte, griff sie zu, und hatte sie ein junges Talent 


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1550 


Politische Köpfe. VII. und VIII. 


entdeckt, so schrieb sie sich die Finger wund, um ihm 
moralische und materielle Hilfe zu verschaffen. Ihre Arbeits¬ 
kraft war unverwüstlich. Nichts konnte sie von der Arbeit 
abbringen. Ein schweres Herzleiden machte ihr in den letzten 
Jahren viel zu schaffen, sie trotzte ihm mit Energie und 
Zähigkeit. Eine Augenkrankheit raubte ihr auf einige Zeit 
die Sehkraft, — sie arbeitete trotz alledem. Ihre ganze Liebe 
galt ihrer „Gleichheit“. Viele Journalisten, weibliche und 
auch männliche, haben bei ihr die ersten Gehversuche unter¬ 
nommen. Und sie hat ihnen treusorgend die Hand geführt, 
hat ihre Fortschritte beobachtet und sich gefreut, wenn 
die junge Kraft sich gut entwickelte. Ihr Organ gestaltete 
sie mit großer Liebe aus. Trotzdem kamen auf den Partei¬ 
tagen Klagen, daß die „Gleichheit“ zu hoch schriebe, daß 
einfache Leser es nicht verstehen könnten. Sie antwortete, 
sie könne ihre Schreibweise nicht auf die unterste Leserschicht 
einstellen, sondern diese müßten sich zu ihr hinauf ent* 
wickeln und sie erhielt fast einmütige Zustimmung. Ihre 
Artikel über Frauenfragen, über Kunst und Dichtung waren 
prachtvoll geschrieben, ihre Kinderbeilage das Zarteste und 
entzückendste, was sich denken läßt. 

Seit Jahren wohnt Clara Zetkin mit ihrem zweiten Manne, 
einem Maler und Architekten, bei Stuttgart, tief und einsam 
im Degerlocher Wald, Sie ist nicht mehr in der Partei und 
leitet nicht mehr die „Gleichheit“. Der Gluthauch ihrer 
Seele, ihre vulkanische Natur hat sie zum äußersten Flügel 
der Opposition hingetrieben. So ist das politische Band 
zerrissen, das sie mit vielen Tausenden zusammen hielt. Aber 
als Mensch wird sie im Herzen derer weiterleben, die von 
der Lauterkeit ihres Charakters und der Reinheit und Größe 
ihres Zieles auch heute noch überzeugt sind. 



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Der Prozeß Erzberger-Helfferich. __ 1551 

M. BEER: 

Der Prozeß Erzberger-Helfferich. 

r\EÜTSCHLANDS größter Krieg ist an der politischen 
^ Unfähigkeit des deutschen Volkes gescheitert. In seinem 
Heere, seiner Flotte, seinen U-Booten, besaß es Instrumente, 
die, von Staatsmännern im richtigen Augenblick in Bewegung 
gesetzt und gehandhabt, ungeahnte imperialistische Größe 
hätten bringen können. Aber die Kultur der deutschen 
Nation wurde seit der Reichsgründung in zunehmendem Maße 
eine korpsstudentische und kasernenmäßige. Der politische 
Horizont, das politische Wissen und Können des deutschen 
Bürgers nahmen quadratisch ab mit dem Wachsen der po¬ 
litischen Aufgaben des Reichs. Das Volk konnte seinen Kaiser 
und seine Führer nicht erziehen; und diese blieben, was 
sie waren: Korpsstudenten und Militärs. Befehlen und ge¬ 
horchen, duellieren und Karriere machen. Wilhelm II. war 
ein Korpsstudent par exeellence. Seine Politik und seine Rand¬ 
bemerkungen rochen nach Offizierkasino und Frühschoppen. 
Die unvergleichlichen Kriegsinstrumente wurden zur Unrechten 
Zeit, zu der von den Feinden bestimmten Zeit in Bewegung 
gesetzt und schlecht gehandhabt. Und als der Mißerfolg 
in die Nähe rückte, griff oben eine Kopflosigkeit um sich, 
und subalterne Köpfe, machtlüsteme Abenteurer und betrieb¬ 
same Agenten begannen sich breit zu machen. Was für 
Gestalten tauchten nicht im verhängnisvollen Sommer 1917 
auf! Man verteilte bereits Portefeuilles, man stellte Kabinette 
auf, man warf sich in staatsmännische Positur. 

Eine dieser Gestalten war Matthias Erzberger. Patriot 
und Geschäftsmann, reiselustig und diplomatisierend, — eine 
charakteristische Gestalt des wilhelminischen Zeitalters, — 
der Periode der politischen Commis voyageurs. Er erlangte 
einen ungeheuren Einfluß in Regierungskreisen, die sich 
aber nur widerwillig ihm unterwarfen und ihre Zeit der 
Wiedervergeltung abwarteten. Er war nicht von der Kaste. 
Er war doch nur einer von den Reichstagskerls. Helfferich, 
Korpsstudent und Finanzmann, war in der Wahl seiner 
Familienverhältnisse vorsichtiger und hatte es nicht nötig, 
Geschäfte für sich zu suchen. Als Universitätsprofessor, 
Bankdirektor und Finanzminister blickte er stirnrunzelnd von 
der olympischen Höhe auf den geschäftigen Matthias herab, 


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t 


1552 Der Prozeß Er 2 berger-Helfferich. 

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anfangs wohl mit Geringschätzung, dann mit Mißgunst und 
Beängstigung. Bei Kriegsbeginn waren sie beide annexio- 
nistisch, seit 1917 schieden sich ihre Wege. Erzberger mit 
seinem untrüglichen Instinkt für Erfolg und Mißerfolg rückte - 
von den Annexionisten ab und begann für einen an¬ 
nexionslosen Frieden zu wirken, „wie er ihn auffaßte". Er 
war einer der Urheber der Friedensresolution vom 19. Juli 
•1917. Seit dieser Zeit schwur Helfferich ihm Feindschaft und 
Rache und fand Helfershelfer bei den deutschvölkisch ge¬ 
sinnten Geheimräten, denen der schwäbische Volksschullehrer 
mit dem semitisch klingenden Namen auf die Nerven fiel. 

Die Deutschnationalen meinen nämlich, er heiße eigentlich 
Mättisjahu Herzberg. Helfferich wappnete sich mit dem 
Königsberger kategorischen Imperativ und sammelte bald die 
Mannen, die gegen das korrumpierende Wirken Erzbergers 
aussagen konnten. Inzwischen erfolgte der Zusammenbruch 
des deutschen Heeres und Erzberger schwang sich inmitten 
der allgemeinen Deroute zum eigentlichen Sprachorgan der 
deutschen Nation auf. Die schmählichen Waffenstillstands¬ 
bedingungen Werden auf ewig mit dem Namen Erzberger 
verknüpft sein. Das ist Strafe genug. Das Kreuzverhör durch 
Helfferich und der Schuß Hirschrelds sind Nadelstiche im 
Vergleich zum historischen Brandmal, das Foch ihm auf- 
drückte. Erzberger wurde dann Minister der deutschen Re¬ 
publik und ergriff bald die Gelegenheit, die Kriegsfinanz- 
s politik Helfferichs einer scharfen Kritik zu unterziehen. Das 
Duell hatte begonnen. Helfferich sammelte sein Material 
fein säuberlich und aktenmäßig und warf es in Form einer 
Flugschrift an den Kopf Erzbergers: J’accu$e. Erzberger 
sei ein politisch-parlamentarischer Geschäftemacher und habe 
sich durch seine politische Stellung geschäftliche Vorteile 
verschafft. Das ist die Anklage, für die Helfferich im großen 
ganzen hinreichende Beweise erbracht hat. 

Aber er ist auch staatswissenschaftlich genug vorgebildet, 
um einzusehen, daß seine Anklage weit über das enggesteckte 
Einzel ziel hinaus treffen und verwunden könnte. Er beeilte 
sich deshalb, hinzuzufügen, daß man nichts dagegen haben 
kpnne, wenn einflußreiche Parlamentarier, die aus Industrie¬ 
gruppen hervorgegangen sind, sich für ihre Gruppen ein- 
setzen. 

Helfferich unterscheidet zwischen Einzel- und Gruppen¬ 
interessen. Jene könnten mit den Staatsinteressen in Kollision 


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Der Prozeß Erzberger-Helfferich. 


1553 


geraten, diese aber nicht. Mit dieser Unterscheidung können 
wir uns nicht einverstanden lerklären. Sie ist, wie man im 
Englischen sagt: „a distinction without a differente“. Po¬ 
litische Korruption bleibt nicht minder Korruption, wenn sie 
von einem Einzelmenschen oder von einem Syndikat be¬ 
trieben wird. Wir Sozialisten bekämpfen ja den Klassenstaat, 
weil er einzelnen Schichten die politische Macht und somit 
die ökonomische Möglichkeit gibt, sich auf Kosten der All¬ 
gemeinheit zu bereichern. Diejenige Schicht, die am Hebel 
des Staates oder der Gesetzgebung sitzt, bewegt ihn zu ihren 
Gunsten. Ja, man braucht nicht einmal Sozialist zu sein, um 
den politischen Einfluß besonderer Wirtschaftsgruppen zu 
verurteilen. Eines der Argumente der ^Freihändler ist, daß 
der Schutzzoll unsittlich sei, weil er einzelnen Wirtschafts¬ 
gruppen die Möglichkeit gewährt, ihren politisch-parlamen¬ 
tarischen Einfluß zugunsten bestimmter Waren und Inter¬ 
essen geltend zu machen und die Gesetzgebung zu kor¬ 
rumpieren. Und haben es nicht die Agrarier ihrem politischen 
Einfluß zu verdanken, daß Getreidezölle eingeführt wurden? 
Oder die Schwerindustriellen, daß ihre Produkte geschützt 
wurden? Helfferichs Logik läuft tatsächlich darauf hinaus; 
daß. der einzelne Dieb sich strafbar macht, während eine 
Gruppe von Dieben rechtmäßig ihr Handwerk ausübt. Den- - 
noch ist das Prinzip, von dem Helfferich ausgeht, sehr richtig: 
Politiker sollen darauf sehen, daß ihre Einzelinteressen nicht 
mit den Gemeininteressen in Kollision geraten. Die Durch¬ 
führung dieses Prinzips ist jedoch in einem auf individuellem 
Eigentum beruhenden Staate unmöglich. Kollisionen sind 
da unvermeidlich, weil da individuelle Interessen not¬ 
wendigerweise in einen Gegensatz zueinander und zur All¬ 
gemeinheit geraten. Der beste Beweis hierfür ist das Vor¬ 
handensein von Gerichten, unzähligen Zivil- und Strafgesetzen, 
Polizisten und Gendarmen, die sämtlich nur den Zweck haben, 
in die unendlichen Interessenkollisionen einzugreifen. Nur 
in einem Gemeinschaftsstaat, in einer kollektivistischen Ge¬ 
sellschaft werden sich die Interessen des Eihzelbürgersi mit 
denen der Gemeinschaft decken. 

Der Unterschied zwischen Helfferich und Erzberger ist 
also ein minimaler, — das heißt vom sozialökonömischen " 
Standpunkte aus gesehen. Nur fragt es sich, warum Helfferich 
sich erst an Kant erinnerte, als Erzberger seine Kriegshaltung 
geändert hat. Wäre letzterer Annexionist geblieben, er würde 


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1554 


BlldieissäiiaM. 


wahrscheinlich seine Spätzle in aller Ruhe verdaut habeg 
können. Und er würde auch Annexionist geblieben sein, 
wenn Mars seine Gunst nicht dem deutschen Heer entzogen 
hätte. Mars macht Völker und Individuen zu Tugendbolden 
und zu Verbrechern, ie nachdem sie gewinnen oder ver¬ 
lieren. Und das ist die, pragmatische Moral von der bis¬ 
herigen Menschheitsgeschichte: Erfolg haben und sich nicht 
erwischen lassen. 


Bücherschau. 

Professor Dr. Karl Horn: Licht und Finsternis. Ein optisches 
Experimentierbuch für die Jugend. I. Teil: Blendenbilder. 
Verlag Bruno Kuehn, München, Heßstraße 58. 

Der Verfasser, ein Verfechter des idealen Sozialismus, ist 
bei den Münchener Maikämpfen des vergangenen Jahres ums 
Leben gekommen. Sein eigenartiges und überaus interessantes 
-Werk macht die experimentelle Lichtschattenlehre den wei¬ 
testen Kreisen zugänglich. Die Verbindung von Experiment 
und geistigem Durchschauen ist in anregendster Weise her- 
gestellt. Horn trägt dem ausgesprochenen Experimentiertrieb 
der Jugend aufs glücklichste Rechnung und gibt einen treff¬ 
lichen Ausschnitt aus einem Teilgebiete der Physik, der 
dem Arbeitsunterricht sich in glücklichster Form nähert und 
für Schülerübungen besonders brauchbar ist. Aber nicht 
genug damit! Der Verfasser steckt sich höhere Ziele: „In 
das schöne Reich des Lichts, der Farben und der Bilder 
die Jugend einzuführen und ihr ein Wegweiser zu sein in das 
sie alltäglich umgebende Licht und die Farben weit, damit sie 
an der Betrachtung der wechselvollen, aus Licht und Schatten 
hervorgezauberten Bilder sich für die ganze übrige Welt und 
für das Leben, das leibliche und geistige Auge erfreue und 
bilde — das ist die Aufgabe der beschriebenen Lichtexperi¬ 
mente, an denen sich ein großer Teil in den heutigen phy¬ 
sikalischer. und optischen Lehrbüchern noch nicht findet.“ — 
Und diese Aufgabe wird schon im vorliegenden 1. Teil auf 
82 Seiten in vorzüglicher Weise gelöst. Die Hilfsmittel, 
die benötigt werden, sind leicht zu beschaffen. Auch auf 
andere Wissens- und Kunstgebiete greift die Darstellung über: 
Elementargeometrie, Zeichenunterricht und Lichtschattenlehre 


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Bücherschau. 


1555 


gehen Hand m Hand. Die beigefügten Abbildungen sind 
teilweise recht gut, andere sind in der Komposition etwas 
überladen und bieten des Guten zuviel. Sie wirken daher 
verwirrend auf den Experimentator. 

Einzelne Kapitel handeln vom Sonnenbild und seinen Ver¬ 
wandlungen, von der künstlichen Ringsonne, von künstlichen ^ 
Sonnenflecken und den wichtigsten Bildformen des täglichen 
Lebens, „Ehe man's gewahr wird, werden aus Lichtscnatten- 
flecken Ornamente und inmitten wissenschaftlicher Forschung 
entsteht, wenn auch noch so flüchtig, ein Moment künst¬ 
lerischen Genießens, das uns die nüchternen Naturelemente, 
mit denen wir es zu tun haben, vorübergehend zu beseelen 
vermag.“ Und weiterhin r „Keine menschliche Geistes regung, 
keine Naturtatsache gibt es, die nicht durch ein Bikf den 
anschaulichen Ausdruck fände, nach bildlicher Gestaltung 
drängt alles.“ Im Kapitel „Das Bild als Lehrer und Arzt“ 
wird auf die Kunst des Abwägens von Licht und Finsternis 
hingewiesen und selbst die Erscheinungen des politischen 
Lebens werden gewissermaßen sub quadam specie lucis' an¬ 
gesehen. „Nie könnten doch die Gesetze des Bildes und 
des Lichtschattenwägens zum Lehrmeister für das höchste 
Ziel menschlicher Vollkommenheit, nie könnten tiefer ver¬ 
standene Bilder zu Lehrern und Aerzten für ungleich gewich¬ 
tige, pathologische und einseitige Menschen und Zustände 
werden!“ — Im Schlußkapitel über „Bildgesetze als Welt¬ 
gesetze“ resümiert der Verfasser, „daß im Auge sich nicht 
nur physisch die Welt und ihre Gesetze, ihre Licht- und 
Schattenseiten malen, sondern, daß alles, was auf der Netz¬ 
haut vor sich geht, weit, weit hinter die Netzhaut zurück 
dringt, hinein bis zum Sitze der allerinnersten Menschen¬ 
seele.“ 

Als weitere Bände sind in Vorbereitung: Band 2: Spiegel¬ 
bilder; Band 3: Platten- und Prismenbilder; Band 4: Linsen¬ 
bilder. Nach dem oben Gesagten darf man wohl auf diese 
gespannt sein. Dr. Kurt Nägler. 


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1556 



Eingelaufene Schriften. 

Hans Delbrück: Kautsky und Harden. Verlag Karl Curtius. 
Berlin 1920. Preis 3,20 Mark. 

Wilhelm Wiskott: Vom Bundesstaat deutscher Fürsten zum 
Nationalen Volksstaat. Verlag Karl Curtius. Berlin 1920. 
Preis 2,80 Mark. 

Dr. C. Melchior: Deutschlands finanzielle Verpflichtungen 
aus dem Friedensvertrag. Verlag H. R. Engelmann. 
Berlin 1920. 

Dr. Max - Lohan: Der Vertrag von Versailles. (Gemein¬ 
verständlich dargestellt'und erläutert. Mit einer Karte.) 
Verlag der Kulturliga. Berlin W 1920. Preis. 2,— Mark. 

Bulletin der Studiengesellschaft für soziale Folgen des 
Krieges: Die Bevölkerungsbewegung im Weltkrieg, von 
Christian Döring. Kopenhagen, im Januar 1920. 

Dr. E. Jenny: Die Errungenschaften der Revolution. Verlag 
August Scherl. Berlin 1920. 

Wilhelm Buck: Was ist im deutschen Volksstaat erreicht? 

Verlag Kaden & Co. Dresden-A. Preis 1,— Mark. 
Emil Kloth: Ein Jahr Rede - und Räterepublik. Staatspoliti¬ 
scher Verlag (Deutsche Volkspartei). Berlin 1919. 

Paul Bröcker: Die Arbeitnehmer bewegung. Deutschnationale 
Verlagsanstalt. Hamburg 36. Preis 3,50 Mark. 

A. Heinrichsbauer-Essen: Die Kohlennot — der Ruin Deutsch - 
/ lands. Zeitfragenverlag. Berlin-Zehlendorf-West 1920. 
Das Programm der Kommunistischen Partei Rußlands (Bol- 
schewiks). Frankes Verlag. Leipzig 1920. Preis 
—,50 Mark. 

Die Kommunistische Internationale. Nr. 2 und 3. Moskau 
und Petersburg 1919. 

Bela Kun: Was wollen die Kommunisten? Verlag Louis 
Cahnbley. Hamburg 11 1920. 

Heinz Fenner: Die Propagandaschulen der Bolschewisten. 
Verlag der Kulturliga. Berlin 1920. Preis. 1,50 Mark. 


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DER 




Hi 


«H ELTERN / MEHREIL UND BEHÖRDEN 

HEßAlATGrEOE&EM VOM JE* W' U TL, TL, IE 

k£QI ERUNCfS ' 'J. SCHULRAT /. MINISTERIUM FÖR. 'WISSENSCHAFT /KUNST U. VOLKS ÖUDUNO 


Der Elternbeirat »»"•oeMet. 

_ der Schule und Erziehung aus 

der Feder namhafter Pädagogen, Schulpolitiker und Aerzte 
und will damit den Elternbeiräten, deren tätige Mitarbeit an 
dem Blatte vorgesehen und erstrebt wird, das wissenschaft¬ 
liche Rüstzeug zur Ausübung ihrer Tätigkeit und Gelegenheit 
zur Aussprache über alle einschlägigen Fragen geben. Einen 
parteipolitischen Standpunkt wird diese Zeitschrift nicht 
vertreten 

' i 

Wir hoffen so tatkräftig daran mitzuwirken, daß die junge 
Generation unter zeitgemäßer Führung ins tätige Leben eintritt 


Der Elternbeirat erscheint zweimal im Monat, um¬ 
faßt 32 Seiten und kostet vierteljährlich Mk. 5,50 
ausschließlich Bestellgeld, vom Verlag direkt 
unter Streifband Mk.6,—, das Einzelheft Mk. 1,— 


Bestellungen auf den „Elternbeirat“ nehmen alle Postämter 
und der Verlag entgegen 


VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

BERLIN S V/ 68, LINDENSTRASSE 114 




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Die Zeitschrift sachlicher und loyaler Politik 


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DIE DEUTSCHE NATION 

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Jahrespreis 15 Mark / Einzelpreis des Heftes 1,50Mark ; 

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Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. Verantworte Schriftleiter: M.Beer, Berlin-Karlshorst. 
Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, Lindenstraße 114. Fernruf: Moritz¬ 
platz 2218,1448—1450. — Druck: Photogravur G. m.b. HL, Berlin SW 68, LindenstraOe 114* 


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). Jahrg. 2. Band Ni 50 


13. März 1920 



50 Pfennig 


Verlag für Sozial Wissenschaft, Berlin SW 6$ 


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INHALT DIESER 



An die Leser der „Glocke“ » ^ 1557.' 

M. Beer: Die Straßburger Tagung der Iran- \ 
zösischen Sozialisten. I. und II. . . r v. « . 1558' 

* V i 

Peter Knute: Budapest.. . 1562 

Arthur Hopfner: Strömungen in den deutschen / 

' * l , % ■■ 

Gewerkschaften.. . / . vl^Sl 

U. Emil: Politische Köpfe: IX. Adolf Hoffnianti 
und X. Haenisch.. . .,1572 

1 _ ^ - - ' „ * , * '*T 6 ‘ 

Herman George Scheffauer: Feder und Schwert 1575 
Rechtsanwalt Dr. L. Bendix: Rechtsprechung def 
Reichsgerichts in Strafsachen und das Rechts«^, > : 

bewußtsein des Volkes.", . 1578 

Bücherschau: Dr. K. Roller „Zur Reform der: 
Volksschullehrerbildung und Landschule und \ ? 
Einheitsschule; Prof. A. Einstein „(Jeher die^ 
spezielle und allgemeine Relativitätstheorie“ 1588 
Eingelaufene Schriften.. . 1588 


Nummer 49 der „Glocke“ hatte folgenden Inhaft: 

Parvus: Deutschland und Rußland .... . 1525 
Dr. Roderich von Ungern-Sternherg: Kadetten . • > 

und Bolschewiki.. . 1529 

Peter Knute: Wien: die orientalische Metropole 1532 * 
Th. Kabelitz: Entweder — oder! II. . ... . 1587 
Professor Ewald F. W. Rasch: Was ist zu tun? \1542 
U. Emil: Politische Köpfe. VII. und VIII. . . 1546 

M. Beer: Der Prozeß Erzberger-Helfferich .• '. 155X 
Bücherschau: Professor Dr. Karl Horn „Licht 


und Finsternis“.. 1554 

Eingelaufene Schriften. 1556 


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DE GLOCKE 

50. Heft ' 13. März 1920 5. Jahrg. 

Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet 


An die Leser der „Glocke“.. 

MIT dem 1. April tritt die „Glocke“ in den 6. Jahrgang 
iV1 ein. Sie hat die Stürme des Krieges und die allgemeine 
Unrast des ersten Friedensjahres gut üfyerstanden und soll 
nunmehr, den wachsenden Aufgaben der Zeit entsprechend, 
weiter ausgebaut werden* Vor allem soll sie an Aktualität 

f ewinnen. Das Leben der Gegenwart soll sie durchpulsen. 

’ivos voco. Die Wirtschaftsprobleme unserer'Zeit: Soziali¬ 
sierung, Wiederaufbau, industrielle Entwicklung, sollen unsere 
besondere Aufmerksamkeit haben.. Aber nicht minder die 
sozialistische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung aller 
Länder. Mehr denn je ist Deutschland an diesen Entwick¬ 
lungen und Bewegungen interessiert. Zu diesem Zwecke 
wird die „Glocke“ durch Beilagen und Ergänzungshefte er¬ 
weitert werden. 

Es wäre uns am liebsten, wenn wir unsere neuen Auf¬ 
gaben der Verbesserung und Ausgestaltung iin Angriff nehmen 
Könnten, ohne unsere Leser mit einem neuen Kostenaufwand 
belasten zu müssen. Die rapide Steigerung der Druck- und 
Papierpreise sowie der allgemeinen Geschäftsunkosten ist 
aber derart, daß wir gezwungen sind, vom 1. April ab 

den Bezugspreis für das Vierteljahr auf 10 Mark 
für das Einzelheft auf 1 Mark zu erhöhen. 

Unsere Leser, die uns all diese Jahre treu geblieben sind, 
werden. sicherlich Verständnis haben für die Zwangslage, in 
der wir uns befinden, und werden uns auch fernerhin unter¬ 
stützen in der Bemühung, eine freie Tribüne zu bilden für 
die Vergeistigung des Sozialismus, für die Durchsetzung 
unseres Lebens mit sozialistischem Geiste, für den Wieder¬ 
aufbau und die Erstarkung des Deutschen Reiches. 

Verlag und Redaktion der »Glocke“. 


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Original fro-m 

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M. BEER: 


Die Straßburger Tagung 
der französischen Sozialisten. 

i. 

I TNMITTELBAR nach dem Hinscheiden Eduard Vaillants, 
u des Kommunards und Führers des revolutionären Prole¬ 
tariats von Paris, schrieb Gustav Rouanet in der „Humanitö“ 
vom 19. Dezember 1915 seine Erinnerungen an den Ver¬ 
blichenen und erzählte unter anderem folgende Episode: 

„In meinem Gedächtnis haftet noch ein wort, das ihm eines 
Tages entschlüpfte, als ich mich mit ihm und Jaur£s im 
Eisenbahnzuge nicht weit von Straßburg befand. Unsere Fahrt 
ging zum Stuttgarter Internationalen Sozialistischen Kongreß 
(1907). Es war am Morgen nach unserem Parteitag von 
Nancy, wo Vaillant zum ersten Male seinen berühmten Antrag 

f gestellt hatte, daß man eher zum Generalstreik oder zur 
nsurrektion greifen müßte, als daß man es zu einem Kriege 
zwischen Deutschland und Frankreich kommen lassen sollte. 
Vaillant stand auf und blickte nachdenklich zum Fenster 
hinaus. Plötzlich wandte er sich um, faßte uns ernst ins 
Auge und rief aus, indem er mit einer Handbewegung aufs 
elsässische Land wies: 

„Welch schönes französisches Land! Denn all das ist 
noch ein Stuck Frankreich!“ 

Und seine Stimme bebte vor unaussprechlicher Erregung. 
Ganz gerührt erzählte er uns von seinen Spaziergängen, 
die er als Student mit seinen deutschen und elsässischen 
Kommilitonen von Heidelberg nach Straßburg zu machen 
pflegte. Vaillant sagte: 

„Als wir auf unseren Spaziergängen den Rhein erreichten, 
sahen wir auf dem andern Ufer den Boden Frankreichs und 
den Turm der Kathedrale von Straßburg.“ — 

Wie stürmisch würde die Freude des alten Kommunards 
und Blanquisten gewesen sein, wenn er den Kongreß ^ der 
französischen Sozialisten erlebt hätte, der Ende Februar 
1920 in Straßburg, auf französischem Boden, stattfand! Denn 
die Liebe zu Frankreich durchzitterte jedes seiner Worte und 
die tief verwobene Empfindung, daß Elsaß-Lothringen ein 
Stück Frankreich bildete, war seit 1871 auch dem größten 


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Original fram 

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Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisten. 1559 


Teile des französischen Proletariats eigen. Die Frage, die 
die Nationalisten von den Sozialisten trennte, war nur, ob 
jene Lande durch Gewalt oder durch Ausbreitung der Demo¬ 
kratie wieder mit Frankreich vereinigt werden sollten. Als 
dann im Juli 1914 die Lösung durch Gewalt herannahte, 
wurde das französische Proletariat von der patriotischen 
Strömung leicht mitgerissen. Militaristen und Antimilitaristen, 
die Sänger der. „Marseillaise“ und die -Sänger der „Inter¬ 
nationale“ folgten der berauschenden Musik der Regiments¬ 
kapelle. Am 30. Juli 1914 klagte die „Humanite“ ? daß im 
Gegensatz zur deutschen Regierung, die in Berlin große 
Friedensdemonstrationen gestattete, die französische Regie¬ 
rung derartige Versammlungen untersagte. Am 29. Juli 1914, 
als Poincare undj/iviani aus Petersburg zurückkehrten, wurde 
die „Union sacree“ (Burgfrieden) zwischen Jouhaux, dem 
Vertreter der Conjederation Generale du Travail (Gewerk¬ 
schaftsbund) und den Behörden geschlossen. Aus den vielen 
früheren Antimilitaristen und Syndikalisten wurden Jusqu'au- 
boutisten (Anhänger des Kriegs bis ans Ende). 

Jean Jaures wurde von den Nationalisten gemeuchelt. Jules 
Guesde und Marcel Sembat traten in die Regierung ein. 
Auf Jaures folgte Pierre Renaudel als Chefredakteur der 
„Humanite“, Herves „Guerre Sociale“ verwandelte sich in 
die „Victoire“, die „Bataille Syndicaliste“ in die „Bataille“. 
Nur ein kleines Häuflein von Syndikalisten und Sozialisten 
blieb dem alten Ideale des innern Klassenkampfes und äußern 
Friedens treu und schickte im September 1915 von den 
Syndikalisten: Bourderon und Merrheim, von den Sozialisten 
Brizon, Blanc und Ruffin-Dugens nach Zimmerwald. Immer¬ 
hin beschlossen auch die Sozialisten auf ihren Kongressen, 
keine einfache Annexion Elsaß-Lothringens zU dulden, sondern 
eine Abstimmung der Einwohner zu verlangen. 

Nach dem Ausbruch der russischen Revolution im März 
1917 entstanden tiefere Spaltungen in der sozialistischen 
Partei. Die Minderheit, von Longuet geführt, wirkte für die 
Wiederaufnahme der internationalen Beziehungen noch wäh¬ 
rend des Krieges, im übrigen aber alle Kriegskredite zu be¬ 
willigen. Nur die äußerste Linke, bestehend aus Brizon, 
Blanc und Ruffin-Dugens, verweigerte die Kredite. Die Frage 
der Stockholmer Konferenz (Sommer 1917) verschärfte die 
Spaltungen; es bildete sich eine Rechte (Compere-Moiel), 
ein Zentrum (Cachin) und eine Linke (Longuet). Das Zen- 

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1560 Pie Straßburger Tagung der französischen Sozialisten. 


trum übernahm die „Humanit€“, die Rechte (etwa 40 Prozent 
der Fraktion) gründete die „France Libre“, die Linke schuf 
sich im April 1918 den „Populaire“. Auf den Gewerkschafts¬ 
konferenzen nahm der Kampf gegen Jouhaux schärfere For¬ 
men an. 

Im Herbst 1918, als der Sieg der Entente gesichert war und 
als die Bolschewisten ihre Herrschaft befestigten, ging ein 
Erwachen durch die Reihen der französischen Sozialisten. Im 
Oktober 1918 hielt die Partei ihren Kongreß in Paris ab. 
Die Delegierten beschäftigten sich mit dem Antrag gegen 
eine Intervention der Entente in Rußland. Longuet war der 
Hauptredner. Inmitten seiner Rede erschollen plötzlich be¬ 
geisterte Rufe: „Es lebe die Sowjetrepublik! 11 Das Eis war 
gebrochen. Der Kampf um die Internationale begann. Es 
war nicht mehr die Frage der Wiederaufnahme der inter¬ 
nationalen Beziehungen, sondern, ob die Partei sich der zwei¬ 
ten oder der dritten (Moskauer) Internationale anschließen 
soll: Demokratie oder Diktatur des Proletariats. 

II. 

Die erste Internationale (1864—1872) war ein kleiner Kör¬ 
per mit einer revolutionären Seele. Die zweite Internationale 
(1889—?) war ein umfangreicher Körper mit einer opportu¬ 
nistischen Seele; sie brach im Weltkrieg zusammen, wie das 
Völkerrecht und andere internationale Institute. Sie scheiterte 
angeblich an -der Abschwächung der Marxschen Klassen¬ 
kampflehre, am Opportunismus, am Mangfel an einer festen 
proletarischen Friedenspolitik; in letzter Analyse aber zer¬ 
schellte die zweite Internationale an den starken national¬ 
politischen Empfindungen der Volksmassen, an den irratio¬ 
nalen Trieben aer Menschen. Aber wir Sozialisten haben uns 
mit der modernen Psychologie wenig beschäftigt. Wir glaub¬ 
ten, daßf Oekonomie und Vernunft ausschlaggebende Motive 
für menschliche Handlungen lieferten. Und als der Krieg 
kam und die Massen trotz der Klassenkampflehre und der 
Vernunftgründe den berauschenden Klängen der Schlachten¬ 
musik folgten, da begannen die gegenseitigen Anklagen über 
Abfall und Verrat. Die Internationale zerfiel; die Kriegs¬ 
politik teilte das Proletariat in Ententesozialisten und Zentral¬ 
sozialisten und vernichtete scheinbar die ganze theoretische 
Erziehung, die die sozialistischen Lehrer uns seit einem 
halben Jahrhundert gegeben hatten. Die Raubtierinstinkte 


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Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisten. 1561 


tobten sich indes nach und nach aus und die Proletarier 
empfanden die Leere, die der Zusammenbruch der alten 
Ideale und -Hoffnungen erzeugt hatte. In diesem psycho¬ 
logischen Moment. tauchten die siegreichen russischen Bol¬ 
schewisten mit Lenin an der Spitze auf und füllten die leeren 
Herzen mit neuen Hoffnungen und mit der alten Marx- 
schen Lehre vom rücksichtslosen Klassenkampf und der pro¬ 
letarischen Diktatur. Aber wir vergessen wiederum, daß im 
Bolschewismus ein Stück Nationalismus liegt. Marx ist sein 
Vater, aber die tiefe Empfindung des nationalen Zusammen¬ 
bruchs Rußlands ist seine Mutter. Aehnlich war es in der 
Pariser Kommune. Die nationale Niederlage und Schmach, 
verbunden mit den Theorien Proudhons, Blanquis und 
Marxens, schufen die Kommune. Und wenn Spartakus durch¬ 
gehalten hätte, würde ihm — bei Friedensunterzeichnung — 
ein großer Teil der freideutschen nationalen Jugend zu¬ 
geströmt seirj.» 

Seit Oktober 1918 tobt unter den französischen Sozialisten 
der Kampf um die Internationale, was aber das Wachsen 
der Partei nicht verhinderte. Damals zählte die Partei im 
ganzen 34 000 zahlende Mitglieder, jetzt 150 000. Die Mit¬ 
glieder, die während des Jahres 1919 der Partei zuströmten, 
sind sehr radikal und verlangen Taten. In Straßburg auf der 
Schanz’ sollte die Entscheidung fallen. Das organisierte fran¬ 
zösische Proletariat blickt auf den Kreml und radikalisiert 
sich, zwar langsam, aber sicher. Es verschmäht die zweite 
Internationale, obwohl es während des Krieges auch difese 
für viel zu sozialistisch und friedliebend hielt, und obwohl 
es sieht, daß es noch eine geringe Minderheit des französi¬ 
schen Volkes bildet, wie die letzten Kammerwahlen gezeigt 
haben, und wie der letzte Massenstreik der Eisenbahner, 
der mit einem Kompromiß endigte, es. lehren müßte. Die 
Strömung für rücksichtslosen Klassenkampf und für die 
Diktatur war auf dem Straßburger Parteitag, der in der 
letzten Februarwoche stattfand, so stark, daß Longuet es 
nicht mehr wagte, eindeutig für die zweite Internationale 
einzutreten. Letztere ist jedoch vorläufig noch organisatorisch 
viel stärker als die dritte (Moskauer), wie der Parteisekretär 
Frossard auf dem Straßburger Kongreß mitteilte, gehören der 
zweiten Internationale 47 Parteien oder Organisationen an, 
darunter die Britische Arbeiterpartei, die Belgier, die deutsche 
Mehrheitspartei und die Oesterreicher, während die dritte 


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1562 


Budapest. 

Internationale 39 meistens numerisch schwache Parteien oder 
Oruppen zählt, worunter allerdings die russischen Bolsche- 
wiki, die an Zahl und revolutionärem Geist vorläufig sehr 
bedeutend sind. Eine erhebliche Anzahl sozialistischer Organi¬ 
sationen hat noch keine feste Stellung zu dieser Frage 
genommen; sie schwankt zwischen der zweiten und! der 
dritten Internationale; darunter befinden sich die deutschen 
Unabhängigen, die britische Unabhängige Partei (Independent 
Labour Party), die Holländische Sozialistische Partei und 
die Sozialistische Partei der Vereinigten Staaten von Amerika. 
Die französische Partei befindet sich in derselben Lage. Dem 
Straßburger Sozialistentag lagen hierüber vier Anträge vor. 
Renaudel (Rechte) plädierte für die Aufrechterhaltung der 
zweiten Internationale, Laun (Zentrum) für die Aufrecht¬ 
erhaltung unter bestimmten Bedingungen; Longuet (Linke) 
für den Austritt aus der zweiten Internationale und für die 
Einberufung einer Konferenz, v um eine Internationale zu 
schaffen, die einen Ausgleich zwischen den Grundsätzen und 
der Taktik der zweiten und dritten Internationale darstellen 
sollte; Loriot (äußerste Linke) für den vorbehaltlosen An¬ 
schluß an die dritte Internationale. Die Auseinandersetzun¬ 
gen über die Anträge belehrten die Rechte sehr bald, daß 
sie nicht die geringste Aussicht auf Erfolg habe. Renaudel 
zog deshalb seinen Antrag zurück. Es blieben also nur drei 
Anträge. Bei der Abstimmung erhielt der Antrag Longuet 
3301 Stimmen, Loriot 1621, Laun 732. Das unmittelbare 
Ergebnis des Straßburger Parteitags ist also der Austritt der 

französischen Sozialisten aus der zweiten Internationale. 

% 


PETER KNUTE: 

Budapest. 

Der Kreuzzug in Ungarn. 


Budapest, Ende Februar 1920. 

A UF ihren Tschapkas tragen die ungarischen Horthytruppen 
** Federn. Diese Federn ragen kerzengerade in die Luft und 
sehen aus wie der Schmuck eines Indianers, der auf den 
Kriegspfad geht. Der ungarische Soldat ist auf dem Kriegs¬ 
pfad. Ich merkte es in der vergangenen Nacht, als er mich 


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Budapest. 


1563 


* 

aus dem Bette holte und mich nach dem woher und wohin 
fragte. Der Fremde ist jetzt verdächtig in Ungarn, gar wenn 
er schreibt. Und noch verdächtiger, wenn er Inländer ist 
und auch schreibt. Unsere Kollegen Bela Somogyi und Bela 
Bacso von der „Nepszawa“ haben das erfahren müssen. 
Man fand eines Tages ihre leibliche Hülle im großen Donau¬ 
bett. Tot. Ein Auto war erschienen, in der Dunkelheit, 
hatte sie eingeladen. Dann schwiegen die Federn, die so 
manches Blatt vollgeschrieben, so manches Herz getröstet und 
gerächt hatten, vielleicht auch manchem weh getan hatten, 
für immer. 

Es sind andere Federn, die der ungarische Gegenrevolu¬ 
tionärsoldat auf seiner Tschapka trägt. Die sinnieren nicht 
und kennen keine Hemmungen. Ich sah sie wieder, als ich 
die Runde durch die herrliche Stadt machte, die Gottvater in 
seiner Güte so wunderbar ausgezeichnet. Wer schafft wieder 
dieses Donaubild, diesen Blocksberg, von dem-herunter der 
Heidenbekehrer Geliert auf dieses Volk mit den Federn auf 
den Tschapkas blickt, gleich als wollte er eine neue Periode 
der Bekehrung beginnen. Auf den Denkmälern sah ich diese 
Federn. Wo die Ungarn ihre Ahnen verehren. Wo das Tier- 
feil und das Steppenpferd zu sehen ist, und wo man mit 
Beilen Kindern und Müttern die Schädeln einschlägt. Arpads, 
des Almos Sohn, Genossen trugen solche Federn, als sie aus 
der Turanischen Ebene heraus, weit hinten von der Mongolei 
her, auf Europa losgelassen wurden. Sollen diese modernen 
Arpaden wieder auf Europa losgelassen werden? Vorläufig 
üben sie ihre Kunst in Budapest und girren um den Ruhm 
Bela Kuns. Nur in Grün. Kirn, nach Lenins Vorbild, ver¬ 
nichtete den Burschui, wohlbemerkt den kleinen. An den 
großen wagte er sich nicht heran. Den ließ er laufen. Der 
ist heute wieder hoch auf in Budapest. Den heutigen Arpad, 
sein Ausdruck heißt Friedrich Istvan-Boulanger, gierts nach 
Arbeiter- und Judenblut. Er faßt die Großen. Sie liegen in 
der Donau, im Gefängnis oder sind rasch hinüber nach 
Wien. Die Kleinen hier blieben ohne Führer, ohne Köpfe. 
Wo ist ein Garami, ein Weltner, ein Kunfi, ein Garbai, ein 
Böhm, — ein Demokrat wie Vazsony Vilmos? Als sich die 
ersten Arpadfedern zeigten, schüttelten sie den Staub von den 
Füßen. Nicht tapfer zwar, aber sicher, klug. Soll man 
Somogyi Heldengesänge singen, daß er in Ofenpest blieb? 
Man sang ihm Heldenlieder in Budapest und erkaufte ihkn 


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1564 _ Budapest 

einen Ehrenplatz. Gestern rauften sie sich in der christlichen 
Nationalversammlung, ob es nicht besser wäre, Somogyi 
auszugraben und ihn irgendwo bei einem Schutthaufen wieder 
zu verscharren. 

Christus, so sagen sie, schreitet jetzt einher in Ungarn. 
In der Biblischen Geschichte aber, die wir in der Schule 
hatten, stand nicht, daß er eine Arpadgarde hatte. Der 
Christus, den ich kenne, schreit nicht „Nieder mit den Juden¬ 
lümmels !“ Es war immer noch umgekehrt. Nur in Budapest 
soll jetzt Fünf gerade sein. Nicht nur gegen die Juden, 
auch gegen die Sozialisten. Der Sozialist und der Jude 
waren dem kleinen Mann ja immer ein Greuel. Und kleine 
Männer spielen jetzt die Großen in dem Lande, das die 
Genialitäten Szechenyi, Kossuth, Deak geboren hat, das die 
Shakespearesche Tragödie von Achtundvierzig erlebte. Der 
Kleinbauer, ein ehrenwerter Mann, tritt jetzt mit seinen 
langen, harten Stiefeln die dicken, kostbaren Teppiche in 
dem gothischen PracHthause weich, das sie das Orszaghaz, 
das Volkshaus, heißen. Das mag er tun. Aber, daß er, 
der kaum nach neuzeitlichen Methoden seinen Mist fahren 
kann, jetzt auf einmal die Staatskarosse lenken will, sollte von 
der Polizei nicht erlaubt werden. Größenwahn freilich ist 
jetzt Trumpf. Er ergriff nicht nur verheerend manche 
Arbeiterkreise und trieb sie aus ihrer ernsten, heiligen Be¬ 
trachtung von Gott und der Welt heraus, aus der Keuschheit 
in der Menschenbehandlung, aus der Scheu vor der lebendigen 
Seele und dem ewigen Leben. Er ergriff so auch den unga¬ 
rischen Bauern, der seither nur .den Götzen Herr kannte, und 
der nach der Entthronung und der Zertrümmerung dieses 
weltlichen Popanzes durch den wahren Sozialismus — 
auch Christus hatte ihn schon entlarvt —, respektlos ge¬ 
worden, sich an seine Stelle setzen will. Es ist nicht inner? 
Größe, die den Aufstieg wagt. Im Sozialismus lebt die Idee. 
Im ungarischen Kleinbauern lebt die Ueberheblichkeit, die sich 
stützt auf die volle Truhe Kronenscheine. Auf sein Kriegs- 
gewinnlertum. Auf seinen Lebensmittelwucher. Und, nicht 
wenig, auf die Demagogie. Als die Pfeife der Weltgeschichte 
schrillte und es nahe daran war, daß Abrechnung gehalten 
wurde schon hier auf Erden, da drehten sich die großen 
Herren, die ihre Bücklinge früher-am Hofe machten und den 
Bauern den Rücken zeigten, um und machten den Bauern 
Bücklinge und drehten dem Hof den Rucken zu. Und sie 


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Budapest. 


1565 


sagten den Bauern, daß sie es seien, wo . . . und daß nur das 
Kreuz und das Schwert die modernen Ungläubigen vernichten 
könnte. 

Und so entstand der Kreuzzug in Ungarn. Im ungarischen 
Parlament sitzt in der vorderen Reihe der Christlichnationalen 
der Stuhlweißenburger Bischof Prohaska. Er ist ein großer 
Philosoph und ein großer Christ vor dem Herrn. Die Ungarn 
nennen ihn den großen Sprecher, den „Bischof mit dem 
goldenen Munde“. Er ist es. Und er weiß es. Und er benutzt 
diese Waffe auch zu weltlichen Dingen. Und wenn die Rede¬ 
blitze aus dem goldenen Munde züngeln und auf die christ¬ 
liche Versammlung im weltlichen Parlament niederprasseln, 
dann faßt der Bischof intuitiv, wie von oben gedrängt, nach 
dem-großen goldenen Kreuze, das um des Bischofs Hals tief 
über die Brust herunterhängt und drückt es beschwörend. 
Es scheint ein großer Rufer aus dem Mittelalter wieder¬ 
erstanden. Ein Mensch, der Menschen auf Menschen hetzt. 


Im Namen Christi, der das „Liebe 


ii 


sprach. Nein, 


Christus lebt noch immer nicht unter uns. 

In der ehrenwerten christlichen Versammlung sitzen vier 
ganze Demokraten. Kein einziger Sozialist. Es war das 
Wollen der Arbeiterschaft, daß sie dort nicht sitzt. Sie 
verzichtete auf die Wahlen. War's recht? Viel Galle und 
ein Trommelfell erspart, wer aus diesem Hause fortbleibt, in 
dem ohne Unterlaß die christlichen und die nationalen Fan¬ 
faren blasen. Zwei Jahre soll dieser Rummel dauern. Und 
zwei Jahre werden die ungarischen Sozialisten stumm sein. 
Aber sie werden ihre Stimme schonen. Und sie werden sie 
gebrauchen können,. wenn dereinst einmal die anderen sich 
heiser geschrien haben/ 

Nicht alles war gut, was in Ungarn vorging. Unter Tisza 
nicht, unter Karolyi nicht, am wenigsten unter Bela Kun. 
Tisza gab die allgemeine Wehrpflicht, aber nicht das all¬ 
gemeine Wahlrecht, Karolyi hob alle Pflichten auf und gab 
alle Rechte, Bela Kun schaffte Galgen nicht für alle, nur 
für Bürger. Die Sozialdemokratie schwankte zwischen den 
Extremen. Kraftlos, machtlos, energielos. Auch unfähig, da 
sie im politischen Kampfe, kein Mandat war jemals‘in ihren 
Händen, unerfahren. S»o wurde sie, der guten Führer bar, 
ein Raub der Kommunisten. Mit Katzenjammer sitzt sie heut 
im Winkel. Sie hat, in günstiger Position, eine Bataille ver¬ 
loren. Sentimental, bewundernd sagte sie: Ja, ihr Deutschen! 

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1566 


Strömungen in den deutschen Gewerkschaften. 


Sie hat recht. Gottlob, wir haben einen, der auch einmal 
den Genossen die Wahrheit sagt. Sozialismus heißt durch¬ 
aus nicht, nur populäre Politik machen. Sozialismus heißt 
soziale Politik machen. Sozialismus ist Pflicht. Und Pflicht 
ist leider noch immer nicht allgemein populär. 

Der Kreuzzug dauert unteraessen an in Ungarn. Es ist 
die Reaktion gegen den Aderlaß Bela Kuns am Bürger, wie 
dieser die Reaktion gegen den Aderlaß Tiszas an der Nation 
war. In Saltomortalen überschlägt sich dieses Volk, mit 
einem so starken Rechtsbewußtsei« geboren, von jeher. Im 
beleidigten Rechtsbewußtsein verfällt es ins Unrecht, zum 
Umsturz. Eine Doppelnatur, wie im gotterfüllten Kentaur. 
Ordnung und Gesetz, Auflehnung und Rebellion in einem 
Leib, in einer Seele. Daher sein Nationalgeschick so traurig. 
Daher seine Musik so weich, seine Lieder so schwer. Zigeuner 
spielen auch in diesen Tagen in Ungarn. Und — „weinend 
ergötzt sich der Madjar . . .“ 


ARTHUR HOPFNER: 

Strömungen 

in den deutschen Gewerkschaften. 

r\IE Entwicklung der deutschen Gewerkschaften hat lim 
■ Jahre 1919 einen riesenhaften Aufschwung genommen. 
Mit 1,6 Millionen Mitgliedern begannen sie ihren Wieder¬ 
aufstieg nach dem Kriege und am Jahresschluß erreichten 
sie 7,1 Millionen. Die «Gewerkschaftsbewegung ist damit 
zu einer Machtstellung gelangt, die ihr große Aufgaben 
und hohe Verpflichtungen auferlegt. Die Aufgaben bestehen 
vor allem darin, den Geist der Disziplin und der Demokratie 
in die noch ungeschulten Massen zu tragen, ihnen den Cha¬ 
rakter der früheren und heutigen Wirtschaftskämpfe vor 
Augen zu führen, und, daß die Politik nur in zweiter Linie 
die Wirtschaftsinteressen beeinflussen darf. Die Gewerk¬ 
schaften haben aber auch die Verpflichtung, den Lebens¬ 
stand der Mitgliedschaft zu heben, die Beteiligung der Ar¬ 
beiter am Produktionsprozeß mit allen Kräften zu fördern 
und das L^jen des Arbeiters vor allen betrieblichen Gefahren 
zu schützen und zu versichern, indem sie die Gesetzgebung 
durch ihre Initiative dazu veranlaßt. 


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Strömungen in den deutschen Gewerkschaften. _ 1567 

Beeinflußt durch die revolutionären Vorgänge am und nach 
dem 9. November 1918 und auch durch das russische 
Sowjetvorbild bildeten sich in den deutschen Gewerkschaften 
verschiedene Strömungen heraus, die derart scharfe Unter¬ 
schiede in die Bewegung hineintrugen, daß das Grundgefüge 
der alten freien Gewerkschaften ins Wanken geriet. Eines 
der destruktiven Hauptmomente war die Frage, ob die Ge¬ 
werkschaften als solche sich zu politischen Gebilden und So¬ 
zialrevolutionären Triebkräften umgestalten sollen. Der Sturm 
der Novembertage 1918, der die sozialistischen Parteien nach 
dem verlorenen Kriege mächtig anschwellen ließ und diese 
au das Staatsruder brachte, rüttelt natürlich auch an den 
Gewerkschaften und suchte sie in das politische Fahrwasser 
mitzüreißen. Für sie stand dabei viel, vielleicht ihre Existenz 
auf dem Spiel. Denn erstens standen sie vor der Wahl, 
welcher Partei sie sich anzuschließen hätten, und dann, ob 
sie ihrer bisherigen Taktik der schrittweisen Aufbesserung 
der Lebenshaltung des Arbeiters durch ihre Tarifpolitik, 
Arbeitsgemeinschaft und dergleichen untreu werden sollten. 
Der Kampf zwischen der sozialdemokratischen Partei und 
den Gewerkschaften um die Superiorität ist alten Datums; 
er begann, als letztere zu kraftvollen Organisationen heran¬ 
wuchsen und (die politischen Wahlvereine wegen ihres lockeren 
Gefüges nicht recht auf die Beine kamen. Es wurde damals 
ein Modus vivendi geschlossen, der beide Teile als gleich¬ 
berechtigt anerkannte. Heute im Zeichen der Betriebsrats¬ 
wahlen ist die Frage wieder akut geworden. Heute toben im 
gewerkschaftlichen Vereinsleben schwere Kämpfe, hier Demo¬ 
kratie und politische Neutralität, dort Diktatur und Klassen¬ 
kampf. Wie sich in politischer Hinsicht durch diese Selbst- 
zerfleischung die Arbeiterschaft um ihre Früchte bringt, so 
wird bei einer Sezession oder gar „Revolution“ der Gewerk¬ 
schaften der Arbeitgeber der Tertius gaudens sein. Der Riß 
in der Berliner Gewerkschaftskommission bildet dazu ge¬ 
wissermaßen den Auftakt. 

Der letzte Gewerkschaftskongreß in Nürnberg im Juni 
1919 nahm in einer Resolution entschieden Stellung für 
Aufrechterhaltung der Neutralität und weiterhin wurden die 
Arbeitsgemeinschaften verteidigt. Neben der politischen 
Stellungnahme bildet die Arbeitsgemeinschaft eines der wich¬ 
tigsten Streitobjekte. Letztere setzt sich zusammen aus den 
Tarifgemeinschaften der Arbeitnehmer und den Industrie- 

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1568 


Strömungen in den deutschen Gewerkschaften. 


verbänden. Sie ist, wie wiederholt nachgewiesen, keine Er¬ 
rungenschaft der Revolution, sondern hervorgegangen aus 
dem Bestreben, mit den Gewerkschaftsverbänden in ein fried¬ 
liches Verhältnis zu treten, mit ihnen in allen Arbeiterfragen 
zu verhandeln. Tarifgemeinschaften und -Verträge haben in 
unserem Wirtschaftsleben tiefe Wurzeln gefaßt. Bei ihrer 
Entstehung wurden sie von links schwer bekämpft, weil 
darin angeblich eine Harmonie zwischen Kapital und Arbeit 
sanktioniert wird. Der Vorteil besteht bekanntlich' darin, 
daß Tarifgemeinschaften das ganze Reich umspannen, im 
Gegensatz zu den lokalen Tarifen. Durch die Zentralisiemng 
kamen auch die kleinen Städte und Provinzorte in den Ge¬ 
nuß des abgeschlossenen Tarifs. Es ist eine gewerkschaft¬ 
liche Anarchie, wenn in Großstädten durch starke Organi¬ 
sationen hohe Löhne gezahlt werden, die Arbeitszeit fest¬ 
gelegt, die Lehrlingszahl beschränkt ist und in der Provinz 
vermöge der schwachen Ortsvereine (und der politischen 
Erschwernisse) Hungerlöhne an der Tagesordnung sind, die 
Arbeitszeit unbegrenzt und die Lehrlingsausbeutung die Regel 
ist. Die zentrale Organisation stützt also die Schwachen und 
regelt in der Tarifgemeinschaft die gewerblichen Erforder¬ 
nisse einheitlich. Die lokalen anarcho-sozialistischen Gebilde, 
die ja heute von Unabhängigen und Kommunisten propagiert 
werden, besitzen den Nachteil, daß sie ihren Blick nur auf 
die Großstädte richten und nicht die Gefahren einer Reserve¬ 
armee erkennen, die von der Provinz im Fall von Streiks 
und schlechter Konjunktur droht. 

Man braucht nur an die Landarbeiterorganisationen zu 
denken, sie stehen noch auf schwachen Füßen und wären 
zu völliger Ohnmacht verurteilt, wenn sie in der Zentralisie¬ 
rung nicht einen festen Halt hätten. Ihr Kampf um die 
Arbeitszeit, um das Hofgängerwesen, um die Beschränkung 
der Frauenarbeit ist ein schwerer; und wollen wir nicht 
mit der Land Verteilung uns jetzt verhängnisvollen Experi¬ 
menten hingeben, sind diese Forderungen nur auf dem 
Wege der Tarif- und Arbeitsgemeinschaft zu erreichen. — 
Stärken nun die Arbeitsgemeinschaften das Kapital und wie 
ist die bisherige Tätigkeit der Gewerkschaften zu beurteilen? 
In gewissem Sinne war die Gewerkschaftsarbeit von Anfang 
an revolutionierend. Schon die Verfolgungen und Verfemun- 
göh der Organisationen während des ancien regime durch 
schwarze Listen, verschärfte Strafbestimmungen, lasserr er- 


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Strömungen in den deutschen Gewerkschaften. 


J569 


kennen, wie schwer der Druck auf ihnen lastete. Hunger 
und Abwanderung vom Arbeitsorte waren die Folgen. Jede 
Konzession der Regierung und des Kapitals bedeutete einen 
Schritt vorwärts zum Aufstieg der Arbeiterschaft. Die Ge¬ 
werkschaften waren auch die Schrittmacher unserer Sozial¬ 
versicherung. Gewiß haben die Sozialdemokraten im Reichs¬ 
tag die Gesetze als zu wenig bietend, abgelehnt. Schon 
Bismarck erklärte damals, ohne Sozialdemokratie hätten wir 
keihe Versicherung. So unzulänglich gerade heute die Renten 
der Versicherungszweige sind und bureaukratisch gehandhabt 
werden, so ist man doch bis in die Reihen der Unabhängigen 
der Ansicht, daß sie entwicklungsfähig seien. Der Ausbau 
der Sozialgesetzgebung bildet eine Nobile officium der Re¬ 
gierung eines Volkstaats und die Gewerkschaften werden dem 
Ausbau gern ihre Hilfe leihen. — Auch das Betriebsrätegesetz 
zeigt dem Eingeweihten überall die Spuren gewerkschaftlicher 
Vorarbeit. Das heutige Mitbestimmungsrecht in diesem Ge¬ 
setz hat seinen Ursprung in dem Verlangen nach einem kon¬ 
stitutionellen Fabriksystem, in dem Kamp? der Berufsverbände 
gegen Maßregelung wegen Streiks usw. Den Betriebsräten, 
wie sie das Gesetz vorsieht, sollen nun seitensi der gewerk¬ 
schaftlichen Opposition die revolutionären Betriebsräte ent¬ 
gegengesetzt werden. In letzter Stunde hat die Opposition 
sich auf die freigewerkschaftliche Liste gemäß der Nürn¬ 
berger Beschlüsse geeinigt. Aber damit nort ihre Existenz 
nicht auf. Ihre Parole ist die Durchführung der Sozialisierung 
und die Beherrschung der Produktion ; statt der „Harmonie** 
mit dem Kapitalismus durch die „bürgerliche Demokratie** 
zielt die revolutionäre Opposition auf den sozialistischen 
Aufbau durch das Rätesystem. Zu den Richtlinien des Nürn¬ 
berger Gewerkschaftskongresses gehört auch die Sozialisie¬ 
rung der Produktion. Beide Richtungen sind sich also in 
dem Ziel einig, nur nicht in dem Tempo. Daß die,Soziali¬ 
sierungsbestrebungen der Regierung in ihren Anfängen 
stecken geblieben sind, liegt in der Hauptsache an der inneren 
Regierungskonstellation und dem schlimmen Friedensvertrage, 
der jede durchgreifende Umgestaltung unterband. Daran wird 
sich auch in den nächsten Jahren schwerlich etwas ändern, 
selbst, wenn die „revolutionären Betriebsräte** die Diktatur 
noch so eifrig erstreben. Sie richten damit nur die begonnene 
Besserung der Arbeitsverhältnisse vollends zugrunde, und 
deshalb herrscht in den Reihen der Opposition in der Frage 


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1570 


Strömungen in den deutschen Geweifcachttften. 


der Organisation keine Einheitlichkeit. Man kann hier deut¬ 
lich zwei Richtungen unterscheiden, die auch auf dem, Leip¬ 
ziger Parteitag der Unabhängigen scharf hervortraten. Die 
eine verwirft die Betriebsdiktatur, mithin auch in der Pro¬ 
duktion. Die andere Richtung glaubt, mit der Diktatur der 
Betriebsräte die Produktion in ihre Hand zu bekommen. 
Wie es in einem Blatt heißt, will sie nur die Kontrolle über 
die Produktion, über den Verkehr und die „Verteilung muß 
den schaffenden Menschen werden“. Beides vereinbart sich 
zwar schwer; sollte jedoch die letztere Richtung, die stark 
mit den Kommunisten liebäugelt, bei den Wahlen die Ober¬ 
hand gewinnen, so stehen also schwere Kämpfe zwischen den 
Parteien bevor, zum Schaden der gesamten Arbeiterschaft. 
— Der Sozialisierungsgedanke schreitet vorwärts, wir sehen 
die Verstaatlichung der Elektrizitätswirtschaft, die Verein¬ 
heitlichung der Eisenbahnen. Wenn hier auch keine Ver¬ 
gesellschaftung im proletarischen Sinne vorliegt, so kommt 
doch unbestritten die Gemeinwirtschaft in Betracht. Der 
Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund halt aber zunächst 
den Wiederaufbau unserer Wirtschaft für notwendig, ohne ge¬ 
wagte Sozialisierungsexperimente, weiter die möglichst fried¬ 
liche Lösung aller Streitfragen zwischen Arbeitgebern und 
Arbeitnehmern und eine sozialpolitische Reformgesetzgebung. 
Diese Aufgaben sind bedeutungsvoll genug, um alle gewerk¬ 
schaftlichen Kräfte auf Jahre hinaus in Anspruch zu nehmen. 
Viele Klagen, hier und in der Opposition werden laut, daß 
es an geeigneten Personen mangelt. 

Auch die christlichen und Hirsch-Dunckerschen Gewerk¬ 
schaften sind von dem radikalen Zug der Zeit nicht unbe¬ 
rührt geblieben. Die christlichen Gewerkschaften haben ihren 
stärksten Anhang in Rheinland-Westfalen, Bayern, Würt¬ 
temberg und Oberschlesien. Die Mitglieder der Hirsch- 
Dunckerschen Vereine verteilen sich über das ganze Reich und 
setzen sich meist aus Staats- und Gemeindearbeitem und 
Heimarbeiterinnen zusammen. Die Hirsch-Dunckerschen Ge¬ 
werkvereine zählten Ende 1918 113 792, die christlichen 
Gewerkschaften 538559 Mitglieder. Wenn auch beide Or¬ 
ganisationen einen Teil ihrer Mitglieder an die freien Ge¬ 
werkschaften abgegeben haben, so dürften sie durch Zuwachs 
an Heimkehrern auf ihrer alten Höhe stehen. Sie bilden 
aber besonders im Bergbau und Hüttenwesen einen wesent¬ 
lichen Faktor in Tarif- und Streikfragen, sowie bei der 


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1571 


Strömungen in den deutschen Gewerkschaften. 

Regelung der jetzt so bedeutsamen Arbeitszeit. In den meisten 
Fragen gehen sie heute mit den freien Gewerkschaften zu¬ 
sammen und 4 gehören auch der Arbeitsgemeinschaft an. Es 
gab eine Zeit, und das ist noch gar nicht lange her, daß die 
freie Richtung der christlichen Gewerkschaften vom Papst 
und den deutschen Bischöfen bekämpft wurde. Der Papst 
verlangte in seiner -Enzyklika völlige Unterordnung unter 
die wünsche der Kirche. Da die Gewerkschaft sich nicht 
willfährig genug zeigte, begünstigte man die ganz im Banne 
der Priester stehenden katholischen Gesellenvereine. Trotz 
dieser Gunst vermochten sie doch keine führende Stellung 
zu erringen, die christlichen Gewerkschaften schüttelten die 
Bevormundung der Kirche schließlich ab, verwe Lichten sich, 
indem sie zum Beispiel gemeinschaftlich mit den freien Ge¬ 
werkschaften sich an Lohnstreiks im Bergbau beteiligten. 
Wohl oder übel fanden sich die deutschen Bischöfe mit der 
neugeschaffenen Lage ab; der bisherige Bischof von Münster, 
Schulte, der langjährige Freund der christlichen Gewerk¬ 
schaften, sitzt heute als Kardinal in Köln. 

Für die gelben Gewerkschaften, die mit den Arbeitgebern 
auf friedlicn-schiedlichem Fuße ä tout prix stehen wollen, 
alle Streiks verwarfen, weht heute kein günstiger Wind. 
Viele Vereine haben sich aufgelöst, sind auch als Tarif - 
partei überall ausgeschlossen, da sie keine Gewähr geben, 
daß sie die Bestimmjingen auch einhalten. Für spätere Zeiten 
werden die Industriellen keine Mittel scheuen, gelbe Gewerk¬ 
vereine eventueir^t ihrem Gelde wieder ins Leben zu rufen. 
Sie sollen ja als Gegengewicht gegen die Fe derungen der 
Gewerkschaften dienen und bei Streiks die Reserven stellen. 

Will man über die Zukunft der Gewerkschaften ein Urteil 
fällen, so muß man an das zur Ausführung kommende Be¬ 
triebsrätegesetz anknüpfen. Das Gesetz schreibt als Zweck 
vor, daß die Betriebsräte ihre Tätigkeit auf die von ihnen 
vertretenen Betriebe zu beschränken haben. Von diesem Ge¬ 
sichtspunkt ausgehend, bleiben die Aufgaben der Tarifpolitik 
den Gewerkschaften auch fernerhin Vorbehalten. Sie bilden 
in diesem Falle eine wertvolle Ergänzung der Betriebsräte, 
indem letztere für die Beachtung der Tarifbestimmungen 
zu sorgen haben und auch neue Vorschläge machen. Anders 
liegen die Dinge, wenn die „revolutionären Betriebsräte“ 
auf eigene Faust Politik treiben. Industrieverbände gründen, 
und sich Kontrollrechte über die Produktion anmaßen, die 


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1572 


Politische Köpfe; IX; und X. 


das Gesetz nicht vorsieht. Durch derartige diktatorische Ge¬ 
lüste werden ja nun die Absichten des Gesetzgebers sabotiert. 
Aber im harten Raum stoßen sich die Sachen. Ein Teil 
der Opposition gibt sich schon mit dem „Revolutionieren“ 
der Gewerkschaften zufrieden, er tritt für ihre Integrität 
ein. Es läßt sich also Voraussagen, daß die neuen Betriebs¬ 
räte, soweit sie der gewerkschaftlicheh Opposition angehören, 
sich anfangs radikal gebärden, die Diktatur in den Betrieben 
aber nicht erzwingen werden. Sie verlegen den Schwerpunkt 
der Agitation weiterhin in die Gewerkschaften. Wir oeob- 
ächten heute schon ein gewisses Bremsen in der Streik¬ 
lust (siehe Richard Müller: „Zum Metallarbeiterstreik“). Die 
Gewerkschaften dürften auch weiter Zuwachs erfahren, be¬ 
sonders in Landarbeiterkreisen, und ihr Einfluß wird bei 
kluger Taktik in allen Wirtschaftsfragen von ausschlaggeben¬ 
der Bedeutung sein. 


U. EMIL: 

Politische Köpfe. 

IX. 

Adolf Hoffmann. 

pRÜHERER Kultusminister. Der volkstümlichste Agitator 
1 und überall bekannt. Als Proletarierkind; das seinen Vater 
nicht gekannt, hatte er's schon beim Eintritt in diese Welt 
mit der patentierten bürgerlichen Wohlanständigkeit ver¬ 
dorben. Als einmal ein Abgeordneter im Parlament durch- 
blicken ließ, Hoffmanns Vater könnte Jude gewesen sein, ant¬ 
wortete er, dies träfe ganz und gar nicht zu, vielmehr habe 
er allen Grund, anzunehmen, daß sein Vater eine Tonsur 
getragen habe, welche Antwort im Zentrum die größte Wut 
entfacht hat. Sind die Ursprünge seines Lebens also in tiefes 
Dunkel gehüllt, so hinderte das nicht, daß er mit hellen Augen 
in die Zukunft sah. Mit einer mangelhaften Dorfschulbildung 
ausgerüstet, erlernte er das Vergolderhandwerk, wurde Ge¬ 
selle, warf sich auf die Politik, leitete eine sozialistische 
Zeitung in Sachsen und saß eines Tages im Gefängnis. 
Um ihn zu bessern, gab man ihm als Lektüre nur die Bibel. 
Das war nicht gut. Der Sträfling lernte <äen Inhalt auswendig, 
vertiefte sich kritisch hinein und drehte jedes Wort um und 
um. Als er aus dem Kittchen herauskam, schrieb er eine 


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Politische Köpfe. IX. und X. 


1573 


Broschüre über die Zehn Gebote und hielt landauf und 
landab Versammlungen mit dem gleichen Thema. Es gab 
heiße Schlachten, man kämpfte um Gott und den Himmel. 
Adolf Hoffmann wurde der Schrecken aller Frommen. Die 
Kirche machte mobil, alle staatserhaltenden Parteien erschie¬ 
nen auf dem Plan, denn hier trat einer auf, der in der un¬ 
gefügen Sprache des Volkes redete und Ungeheuern Zulauf 
hatte. Die Gegner verhöhnten ihn, verspotteten ihn, stellten 
seine Sprachsdmitzer fest, brachten selbst noch solche in 
Hoffmanns Reden hinein. Die Verwechslung von „mir“ und 
„mich“ wurde benutzt, um ihn vor der breiten Oeffentlichkeit 
lächerlich zu machen — mit dem Erfolg, daß er immer volks¬ 
tümlicher wurde. Mit seinem gottlosen Mundwerk zahlte 
eFs den Gegnern heim, mit einer verblüffenden Schlagfertig¬ 
keit hob er sie aus dem Sattel und durch seine pomadige Art, 
Angreifer durch die Zähne zu ziehen, gewann er die breite 
Masse für sich. Sein Mutterwitz sorgte dafür, daß er die 
Lacher stets auf seiner Seite hatte. Als er später auf kurze 
Zeit im Reichstag auftauchte und nachher Landtagsabgeord¬ 
neter wurde, konnte er sich nach Herzenslust mit seinen 
Feinden herumschlagen. Unter den vielen Glatzen im Parla¬ 
ment leuchtete sein weißer Haarschopf dem Eintretenden 
schon gleich entgegen. Er hat einen markanten Kopf, und 
Corinth hat sich mal eine Freude daraus gemacht, ihn zu 
zeichnen. 

Hoffmanns Art zu reden, ist rein agitatorisch, die Volks¬ 
versammlungen in den Arbeiterdistrikten sind sein eigent¬ 
liches Feld, der Witz seine beste Waffe. „Wenn mir einer 
eine Grabrede hält, klopf ich mit dem Fuß an den Sarg und 
melde mich .zu einer persönlichen Bemerkung“, sagte er 
einmal, als wir vom Friedhof heimkehrten. An jenem Tage, 
da Liebknecht das königliche Schloß „einnahm“, standen wir 
auf dem Balkon, von dem der Kaiser zu sprechen pflegte, 
und wo nunmehr Liebknecht seine leidenschaftlichen An¬ 
klagen hinausschmetterte. Hoffmann wartete wie in Andacht 
versunken daneben, und als Liebknecht geendet, trat er an 
dessen Stelle und gab der Freude Ausdruck, diese Stunde 
noch erlebt -u haben. Und da liefen ihm die hellen Tränen 
über das verwitterte Gesicht. Es war sicher das erste Mal, 
daß ihn einer hat weinen sehen. Das Gefühl, seine schlimm¬ 
sten Feinde überwunden zu haben, erstickte den Drang, einen 
Witz zu machen. Und das will bei Adolf Hoffmann viel heißen. 


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1574 


Politische Köpfe. TX. aafr X. 
X. 

Haenisch. 

Kultusminister. 1876 in Greifswald geboren. Besuchte das 
Gymnasium und hörte später in Leipzig an der Universität 
Nationalökonomie und Geschichte. Kam dann zur Sozial¬ 
demokratie und war an einer Reihe von sozialistischen Zei¬ 
tungen als Redakteur tätig. 1911 wurde er Leiter der Flug¬ 
blattzentrale. Als in die preußische Junkerfeste Bresche ge¬ 
schlagen wurde, zog er als Abgeordneter ein und bildete 
den Gegenpol zu Heydebrandt. Oben am Präsidententisch 
aber stand ein alter feudaler Herr und schaute mißbilligend 
auf den ungeratenen Neffen herab. Denn Haenisch war nicht 
nur ganz einfach Sozi, er war Vertreter der schärfsten Ton¬ 
art, war so radikal wie irgendeiner aus Teltow-Beeskow, 
hatte die Schule der „Leipziger Volkszeitung“ mit Erfolg 
absolviert und der Unke Flügel der Partei sah mit Stolz auf 
den wilden Konrad. 

Da kam der Krieg, und mit ihm die Kriegspsychose, es 
kamen die Kriegskredite, es kamen Debatten in der Partei, 
in der Fraktion, es kamen Artikel in den Zeitungen, es kamen 
zwei Richtungen und überall war Konrad mitten mang. Aber 
nicht mehr als der alte. Er hatte sich vom Geist der „Leip¬ 
ziger Volkszeitung“ befreit und sang aus tiefster Brust: 
„Deutschland, Deutschland über alles!“ Der gute, feudale 
Onkel sah wieder mit Wohlgefallen auf den lieben Neffen 
herab, während Liebknecht ihn mit Keulenschlägen traktierte 
und Adolf Hoffmann alle verfügbaren Bosheiten nach ihm 
schleuderte. Seine Gegner suchten Zeitungsartikel und Flug¬ 
blätter aus seiner radikalen Vergangenheit heraus und schlu¬ 
gen ihm die blutigen Zitate um die Ohren, daß es mir so 
knallte. Man verlangte, daß er sein Mandat niederlege. Zettel 
gingen von Hand zu Hand, auf denen sein politischer Tod 
angekündigt wurde. Spottgedichte wurden auf ihn geschrieben 
und fanden reißenden Absatz. So tobte der Kampf hin und 
her. Einigemale, als der Angefeindete sich gar zu weit in 
die imperialistisch-chauvinistische Wildnis verirrte, mußte ihn 
der Parteiyorstand mit einer Rüge zurückholen. 

Allmählich wurde es ruhiger jum Haenisch. Er selbst ließ 
die Feder ruhen und hielt sich zurück. Als Liebknecht ins 
Zuchthaus gestoßen war, trat er im Abgeordnetenhaus in 


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Feder und Schwert. 


1575 


einer von warmem Empfinden getragenen Rede für den 
Verurteilten ein und bezeichnete seinen bittersten Gegner 
als einen Mann von lauterster Gesinnung und ehrlichstem 
Wollen. Das wirkte in weiten Kreisen versöhnend und führte 
ihm wieder vielfache Sympathien zu. Auch sonst zeichnete 
sich Haenisch durch gehaltvolle, formvollendete Reden aus, 
die von vertiefter Bildung und reichem Wissen zeugten. 

Eines Tages zog Haenisch als Flügelmann einer Kom¬ 
pagnie Soldaten durch die Straßen Berlins; es dauerte jedoch 
nicht lange, da vertauschte er den feldgrauen Rock wieder mit 
seinem eigenen und nahm seine berufliche Arbeit von neuem 
auf. Sein kränklicher Organismus war dem Militärdienst 
nicht gewachsen und die Wirkungen des .Krieges und der 
Parteikämpfe hatten ihn auch nicht gerade widerstandsfähiger 
gemacht. Als der Revolutionssturm einherfegte, wurde 
Haenisch Kultusminister. Und nun sitzt er auf der Klippe, 
umbrandet von den glucksenden und spritzenden Wellen und 
muß sich wehren, denn die Frommen zeihen ihn der schlimm¬ 
sten Attentate auf Kirche und Religion, während die Gegen¬ 
seite ihn beschuldigt, die sozialistischen Programmforderungen 
nur lasch und ungenügend durchzuführen. Er sitzt mit zer¬ 
furchter Stirn s und spielt mit dem rotblonden Germanen¬ 
bart, der allerdings in diesem Kreuzfeuer etwas grau ge¬ 
worden ist. 


HERMAN GEORGE SCHEFFAUER (Kalifornien): 

Feder und Schwert. 

Eine ostafrikanische Lehre. 

AlfENN der militärische Geist die Zügel der politischen 
” Macht an sich reißt und kein Friedrich der Große, kein 
Napoleon I. und kein Bismarck vorhanden ist, um sie zu 
führen, so muß mit aller Bestimmtheit ein Unglück eintreten. 
Dafür hat es während des Weltkrieges zahlreiche Beispiele 
gegeben. Wenn auch Deutschlands Schicksal nach dem Ver¬ 
sagen des unbeschränkten U-Bootkrieges besiegelt war, so 
hat doch zweifellos der ständige Widerstreit zwischen poli¬ 
tischer und militärischer Autorität in Deutschland viele ver¬ 
hängnisvolle Fehler hervorgerufen und das Ende beschleunigt. 


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1576 


Feder und Schwert. 


Die Unfähigkeit des militärischen Geistes aller Nationen, 
die Psychologie fremder oder feindlicher Völker zu verstehen, 
die feinen Veränderungen in ihren Stimmungen und ihrer 
Mentalität zu fühlen und durch ein weises wort oder eine 
weise Handlung aus Krisen Vorteile zu ziehen, ist in diesem 
Kriege immer wieder bewiesen worden. In den Entente¬ 
ländern bedeutete dies keine große Gefahr für die auswärtige 
Politik, die gewöhnlich klugen Politikern, Rechtsanwälten oder 
Journalisten überlassen blieb. Bei den Mittelmächten aber, wo 
diese Politik gewöhnlich durch starre Bureaukraten und 
Beamte geleitet wurde, die ebenso unfähig waren, die ver¬ 
wirrende Natur der modernen Vereinigung von Geheimdiplo¬ 
matie und Massenjournalismus zu übersehen, wie die mili¬ 
tärischen Führer, wurde diese Unfähigkeit verhängnisvoll. 

Dr. W. H. Solf, der gescheite und fortschrittliche frühere 
deutsche Kolonialstaatssekretär, macht in einem Artikel in 
der „Deutschen Nation“ vom Februar 1920 auf ein anderes 
Beispiel dieses verhängnisvollen Antagonismus zwischen ziviler 
und militärischer Gewalt aufmerksam. Dieser Fall spielt 
in Deutsch-Ostafrika. Hier, handelt es sich nicht um Beth- 
mann Hollweg und Ludendprff, sondern um Dr. Schnee, 
den Gouverneur der Kolonie, und General von Lettow- 
Vorbeck, den Kommandeur der dortigen Truppen. Dieser Fall 
ist von besonderem Interesse wegen des großen Ruhms, den 
sich Lettow-Vorbeck durch seine heroische Verteidigung der 
deutschen Kolonie erworben hat, ein Erfolg, der das Staunen 
der ganzen Welt geweckt hat. Der Fall ist aber auch charakte¬ 
ristisch, weil er zeigt, wie die Welt eher bereit ist, den Mann 
der Tat, zu ehren,- als den Mann des Denkens und der Orga¬ 
nisation. Dieser Fall sollte außerdem den Deutschen, die 
auch heute noch das alte Regime «als eine beinahe vollkommene 
menschliche Einrichtung betrachten, die traurigen Konse¬ 
quenzen des Dualismus zwischen Zivil und Militär an Haupt 
und Gliedern zeigen. 

Der Artikel Dr. Solfs trägt bezeichnenderweise die Ueber- 
schrift: „Schnee und Lettow-Vorbeck“. Ohne den wohlver¬ 
dienten Ruhm des „Afrikanischen Hindenburg“ verkleinern zu 
wollen, wünscht Dr. Solf zugunsten und zur Verteidigung 
eines Mannes eine Lanze zu brechen, dessen ebenso großen 
Verdienste nicht nur von Lettow-Vorbeck, sondern auch von 
dem deutschen Volk und von der ganzen Welt übersehen 
worden sind. Dr. Solf weist darauf hin, daß General von 


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Feder und Schwert. 


1577 


Lettow-Vorbeck nur acht Monate vor dem Kriege in Deutsch- 
Ostafrika gewesen sei, und daß er sich kaum die Kenntnis 
von den politischen oder verwaltungstechnischen Angelegen¬ 
heiten des Schutzgebietes und die Einsicht in die Natur der 
eingeborenen Bevölkerung Zutrauen durfte, wie sie der Gou¬ 
verneur Dr. Schnee neben ausgezeichneten militärischen Kennt¬ 
nissen besaß. Der Umsicht und Fürsorge des Gouverneurs 
und den klugen und menschlichen Grundsätzen, nach denen 
er die Eingeborenen behandelte, ist es in erster Linie zu 
danken, daö die Schwarzen in so loyaler Weise die deutsche 
Sache unterstützten und die großeri Erfolge Lettow-Vorbecks 
dadurch ermöglichten. 

Dr. Solf kritisiert die Behauptung des Generals von Lettow- 
Vorbeck, daß er seine Siege trotz der durch Dr. Schnee ihm 
gewährten Unterstützung errungen habe. Dr. Solf erklärt 
diese Behauptung aus der merkwürdigen Psychologie des 
Soldaten heraus, der erzogen worden ist in dem Glauben, sich 
selbst jedwedem Zivilisten für überlegen zu halten. „Als 
Offizier war es für den Generat einfach unmöglich zu ver¬ 
stehen, daß ein Zivilist der militärische Vorgesetzte eines 
Offiziers sein konnte.“ Die beispiellose militärische Verteidi¬ 
gung der Kolonie war nur möglich, weil Bie sich auf eine 
weise und erfolgreiche Eingeborenenpolitik gründete. Nur 
von einer zufriedenen Eingeborenenbevölkerung konnte man 
die regelmäßigen Dienste erwarten, ^ohne welche ein Krieg 
weder zu Hause noch in Afrika geführt werden konnte. Der 
Gouverneur .erkannte augenscheinlich schneller als viele zu 
Hause, daß der moderne Krieg sowohl eine innere wie eine 
äußere Front hat und machte entsprechende Pläne.“ 

Lettow-Vorbecks Buch ist, was die Kritik des Gouverneurs 
anlangt, aggressiv.. Das Buch des Gouverneurs enthält da¬ 
gegen kein Wort des Vorwurfs gegen den flotten, ihn an¬ 
zuerkennen wenig geneigten General. Das vermittelnde Ein¬ 
greifen des früheren Kolonialstaatssekretärs ist vom mensch¬ 
lichen wie auch vom historischen Standpunkt aus, willkommen 
zu heißen, als ein Versuch, in korrekterer Weise das Werk und 
den Wert von zwei Männern gegeneinander abzuwägen, die 
beide unter den Strahlen der afrikanischen Sonne ihrem Lande 
große Dienste leisteten. Ihre Bücher und ihre Werke er¬ 
gänzen einander. 

Der häßliche Geist des deutschen Partikularismus hat sich 
in dem vorliegenden Falle in besonders verletzender Weise 


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1578 Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen . . . 

gezeigt. Die militaristische Tradition mag tatsächlich feiiir 
ein Versuch sein, den deutschen Nationalfehler des Separatis¬ 
mus auszugleichen, der schon bei den germanischen Stämmen 
zur Römerzeit vorhanden war und der besonders während des 
Dreißigjährigen Krieges seirje verheerenden Wirkungen ge¬ 
zeigt hat. Es mag ein Versuch gewesen sein, durch Einigkeit 
oder doch wenigstens durch Gleichförmigkeit Stärke hervor¬ 
zubringen. Aber auch dieser Versuch mißlang infolge des 
Dualismus, der dem Deutschen erst auszutreiben ist. 

Der relative Mißerfolg des deutschen Militarismus und 
der absolute Mißerfolg der deutschen Diplomatie können auf 
eine einfache Ursache zurückgeführt werden, nämlich auf den 
Mangel an Kenntnis der menschlichen Natur. Dieser Grund 
läßt sich aber, und das ist ein Glück für das deutsche Volk, 
beseitigen. v 


Rechtsanwalt Dr. LUDWIG BENDIX (Berlin): 

Rechtsprechung des Reichsgerichts 
in Strafsachen 

und das Rechtsbewußtsein des Volkes. 

p\EM tiefer Blickenden hat es zu denken gegeben, daß die 
^ elementaren Eingriffe der Arbeiterräte in die Recht¬ 
sprechung, insbesondere auf dem Gebiete der öffentlichen 
Interessen, von ihren juristisch geschulten Parteigenossen 
in leitenden Stellen der Justizverwaltung fast ängstlich zurück¬ 
gewiesen worden sind. Im „Vorwärts“ vom 17. November 
1918 (Nr. 317, Seite 3, Spalte 2) findet sich die folgende 
Veröffentlichung i 1 


1 Auch die Parallelerscheinung in der inneren Verwaltung ist 
recht bemerkenswert. Sie ergibt sich ohne weiteres aus den beiden 
folgenden Bekanntmachungen: 

Bekanntmachung. 

Nach eingegangenen Meldungen sind die reaktionären Regie¬ 
rungsgewalten vielerorts bestrebt, ihre Tätigkeit nach altem System 
fortzusetzen. 

Durch einen Erlaß der preußischen Regierung sind alle Re¬ 
gierungspräsidenten und Landräte ermächtigt, ihr Amt weiter- 


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Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen 


• « t 


1579 


Unabhängigkeit der Gerichte, 

Im Anschluß an die Verfügung der preußischen Regie- 
mng vom 14. November über die Zuständigkeit der Be¬ 
hörden weisen wir darauf hin, daß die Unabhängigkeit 
der Gerichte nicht angetastet werden darf. Es ist daher 
unzulässig, wenn seitens eines Arbeiter- und Soldatenrats, 
wie es vorgekommen ist, an geordnet wird, daß die Urteile 
der Gerichte dem Arbeiter- und-Soldatenrat zur iGenehmi¬ 
gung vorzulegen sind. 

Berlin, den 16. November 1918. 

Die preußische Regierung. 

gez.: Hirsch. Strobel. Eugen Ernst. 

Adolf Hoffmann. Dr. Rosenfeld. 

Den sonst doch zum Teil recht radikalen sozialdemo¬ 
kratischen Mitgliedern der preußischen Regierung ist an¬ 
scheinend gar nicht der Gedanke gekommen, ob,die Arbeiter¬ 
und Soldatenräte bei ihren als unzulässig gerügten Anord¬ 
nungen, wenn sie selbst in ihrem dunklen Drange sich des 
rechten Weges vielleicht nicht bewußt gewesen sein sollten, 
—, - - , /•' 

zuführen. Dies ist jedoch nur so zu verstehen, daß ihre Amts¬ 
führung unter schärfster Kontrolle durch die örtlichen Arbeiter .- 
und Soldatenräte erfolgt. 

Alle Landräte und sonstigen Beamten, die ihre Amtstätigkeit 
nach dem alten System fortsetzen oder gegenrevolutionäre Be¬ 
strebungen bezeigen (sic!) oder unterstützen, sind durch den zu¬ 
ständigen Arbeiter- und Soldatenrat unverzüglich abzusetzen. 

Unbedingt sind allen' Landratsämtern Beauftragte der Arbeiter¬ 
und Soldatenräte beizuordnen, denen die ständige Ueberwachung 
aller Maßnahmen obliegt. 

Offener Widerstand ist gegebenenfalls mit Waffengewalt zu 
brechen. 

Berlin, 16. November. 

Der Vollzugsrat des Arbeiter - und Soldatenrats. 

Molkenbuhr. Rieh. Müller. 

Bekanntmachung. 

Unsere Bekanntmachung vom 16. dieses Monats, betreffend Kon¬ 
trolle der Landräte und sonstigen Beamten, hat vielfach zu Mi߬ 
deutungen Anlaß gegeben. Die Anordnung, daß Landräte, die ihre 
Tätigkeit nicht im Sinne der Arbeiter- und Soldatenräte ausüben, 


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1580 Rechtsprechung des Reichsgerichts in Str 


einer nach dem allgemeinen Rechtsbewußtsein begründeten 
Unzufriedenheit Ausdruck gaben, im Ziel, im Willen also 
eigentlich „recht“ hatten. Von dieser Fragestellung aus hätte 
untersucht werden müssen, welche Gründe die Unzufriedenheit 
hat, und wie sie abgestellt werden konnte. 

Einer der Hauptgründe ist insofern in der Rechtsprechung 
des Reichsgerichts in Strafsachen gelegen, als die Reichs¬ 
richter, die für Rechtseinheit und Rechtsrichtigkeit im Reiche 
zu sorgen haben, die Bedeutung dieser großen Aufgabe für 
die gesamte Kultur des Landes und den engen Zusammen¬ 
hang mit allen andern Lebensgebieten, insbesondere die poli¬ 
tischen und psychischen Wirkungen und Abhängigkeiten 
ihrer vermeintlich unparteiischen Sprüche außer acht ließen. 

Gerade in dieser inneren Abgewandtheit von den besonders 
engen Beziehungen der Strafrechtsprechung zum öffentlichen 
Leben und seiner Entwicklung , ja in ihrer vielleicht sogar 
grundsätzlichen Verneinung offenbart sich der Geist der 
alten Staatsauffassung unci die durch ihn genährte, ernster 


unverzüglich durch den zuständigen Arbeiter- und Soldatenrat ab¬ 
zusetzen sind, ist dahin zu verstehen, daß sie unverzüglich ihre 
Amtstätigkeit einzustellen haben. 

Der zuständige Arbeiter- und Soldatenrat jedoch, d§r dies ver¬ 
anlaßt,. hat unmittelbar dem Ministerium des Innern auf schleunig¬ 
stem Wege Bericht zu erstatten. Dem Ministerium steht die end¬ 
gültige Entscheidung über die weitere Verwendung des Beamten 
und die etwaige Neubesetzung des Postens zu. 

Zugleich werden die örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte dringend 
ersucht, von dem Recht, die Einstellung der Tätigkeit der Beamten 
zu verlangen, nur in ganz besonders dringenden Fällen Gebrauch 
zu machen. Im übrigen empfiehlt sich das vorherige Angehen 

des .Ministeriums des Innern. 

* \ 

Berlin, 21. November. 

Der Vollzugsrat des Arbeiter - und Soldatenrats. 
gez. Rieh.. Müller. 

Mit dem Umfall dieser Bekanntmachung vom 21. November 
1918 war in die alten obrigkeitlichen Bannen der inneren Ver¬ 
waltung wieder eingeschwenkt und der Beweis, wenn man will, 
das Armutszeugnis erbracht, daß es den Revolutionären an revo¬ 
lutionärer Gestaltungskraft gebrach, weil in ihnen trotz allem die 
Einrichtungen und Gedankengänge des , alten Regimes lebendig 
wären und sind, die sie geistig nicht beherrschten. 



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Rechtsprechung des Reichsgerichts/ in Strafsachen . . . 1581 

Nachprüfung 2 nicht standhaltende Meinung, , Rechtsfragen - 
könnten, ja müßten fachwissenschaftlich nach der über¬ 
lieferter Methode der Oesetzesauslegung, unabhängig von 
den erwähnten Abhängigkeiten, Zusammenhängen und Wir¬ 
kungen entschieden werden. Die Vertreter dieser Ansicht 
handeln und, richten sicherlich in gutem Glauben, sie wissen 
aber selber nicht, daß sie gerade wegen dieses ihres guten 
Glaubens die Wahrer und Wächter des jetzt in der Auf¬ 
lösung begriffenen alten Geistes, die Vollstrecker des alten 
Regimes sind. 

und gerade in dieser ihrer mehr oder weniger unbewußten 
Vollstreckertätigkeit ist es gelegen, daß sie versagen muß, 
wenn sie mit der Entwicklung nicht fortschreitet, ja, daß 
sie diese um so mehr vorwärtstreibt, je stärker sie auf ihrem 
alten Standpunkt verharrt und der neuen Zeit entgegen¬ 
arbeitet. Denn alsdann muß die Kluft zwischen ihr und der 
hartnäckig verteidigten alten Zeit schließlich immer größer 
und empfindlicher werden; dann offenbart sich, dan auch 
die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen eine 
Teilerscheinung des sogenannten Zeitgeistes ist. In ihrer 
hartnäckigen Unterstützung der herrschenden Gewalten und 
eines der wichtigsten Organe, deren sie sich zur Ausübung der 
Herrschaft und Aufrecnterhaltung der durch sie gesetzten 
Ordnungen und Einrichtungen bedienten, der schließlich ge¬ 
radezu verwaltungsmäßig ausgeübten Strafgerichtsbarkeit, nat 
die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen ein 
gutes Stück zur Vorbereitung der Umwälzung des 9. No¬ 
vember 1918 beigetragen. 

Der tiefste Grund für diese Tatsache ist die sich immer 
mehr offenbarende Entfremdung des Rechtsbewußtseins im 
Volke und in seinen juristisch geschulten Vertrauensleuten, 
den Verteidigern, von einer Rechtsprechung des Reichs¬ 
gerichts in Strafsachen, die geradezu zu einer Geheimwissen¬ 
schaft einiger wenigen fleißigen Juristen mit guter Kartothek 
über alle oisher veröffentlichten und nicht veröffentlichten 
reichsgerichtlichen Entscheidungen geworden ist. 

2 Vgl. des Verfassers: Problem der Rechtssicherheit, Berlin 1914, 
und seine Aufsätze: Die freie Beweiswürdigung des Strafrichters 
im Archiv 'für Strafrecht, Bd. 63 S. 31. Die tatsächliche Feststellung 
im Strafurteil — eine Fiktion in Recht und Wirtschaft. 1918. 

S. 184 und andere. 


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1582 Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen ... 

Ueber der Kabbala dieser Entscheidungen ist aber der 
Rechtsgedanke in Verlust geraten! Auf der Suche nach und 
der Furcht vor Vorentscheidungen hat sich das Reichsgericht 
über dem Bemühen einer Stärkung der Stellung der Instanzen- 
gerichte die grundsätzliche Betrachtungsweise mehr und mehr 
abgewöhnt und — es muß doch einmal offen ausgesprochen 
werden — sich schließlich nicht gescheut, in seinem alten 
Geiste eine Justizpolitik zu treiben, die nicht bloß in den 
Kreisen der Fachgenossen, sondern auch in den weitesten 
Kreisen des Volkes ein unwilliges Befremden hervorgerufen 
hat, das sich eruptiv in den oben erwähnten revolutionären 
Eingriffen der Arbeiter- und Soldatenräte in die Recht¬ 
sprechung Luft gemacht hat. Die Justizpolitik des Reichs¬ 
gerichts und der andern 'höchstinstanzlichen Strafgerichte 
(Strafsenate der Oberlandesgerichte) hat sich nämlich auf 
die von ihnen abhängigen Instanzgerichte übertragen lind 
diese bestimmt, in allen ihren der Revision zugänglichen 
Entscheidungen den Blick nach oben zu richten und ihre 
Prozeßführung entsprechend einzurichten. . 

So hat es geschehen können, daß die Rechtsprechung 
in Strafsachen mit stereotypen, „reyisionssicheren“ Formeln 
arbeitet, die den Betroffenen wegen ihrer inneren Unwahr«? 
haftigkeit und sachlichen Undurchsichtigkeit zur Verzweiflung 
bringt und dem Fachmann Achselzucken und Augurenlächeln 
abnötigt, wenn ihn diese ihm bekannte, an der Sache vorbei¬ 
gehende Formelhaftigkeit nicht auch seinerseits mjt ohn¬ 
mächtigem Ingrimm und geradezu sittlicher Entrüstung 
erfüllt. 

Was ist zu tun? Aenderung des Gesetzes ? Etwa dahin, daß 
künftig die Revision Nauf jede Verletzung des Gesetzes jgestützt 
werden kann, nicht bloß darauf, daß das. Urteil auf einer 
solchen Verletzung beruhe (§ 376 Abs. 1 St.P.O.)? Ich« 
fürchte, wir werden durch eine solche sicherlich sehr wün- 
scheriswerte Aenderung und durch andere gleich dringende 
(vgl. z. B. § 137 G.V.G.) das Ziel der Wiederherstellung 
des Vertrauens unseres Volkes zur Strafrechtspflege nicht 
erreichen. Dazu brauchen wir neue Menschen, eine Personal¬ 
erneuerung an Haupt ' und Gliedern, aber nicht etwa bloß 
der Richterschaft. Die geradezu vorbildliche, weil die per¬ 
sönliche Würde und Gleichberechtigung des Angeklagten 
wahrende Verteidigung Ledebours, ein Wendepunkt in der 
Geschichte des deutschen Strafverfahrens, zeigt uns, daß 


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Bücherschau. _ 1583 

diese innere letzten Endes sittliche Erneuerung auch bei den 
Verfolgten und ihren Verteidigern, ja im ganzen Volke Platz 
greifen muß. Dann wird das deutsche Volk die Strafrecht¬ 
sprechung und Strafrichter haben, die seinem neuen Rechts¬ 
bewußtsein entsprechen. 


Bücherschau. 

Dr. K. Roller: Zur Reform der Volksschullehrerbildung und 
Landschule und Einheitsschule. Zwei Vorschläge zur 
Schulreform. 21 Seiten. 1,80 Mark. 

Die treibenden Kräfte der jetzt geplanten "Schulreform 
sind im Grunde mehr soziale Beweggründe gewesen, be¬ 
günstigt durch die politischen Verhältnisse, als bloße päda¬ 
gogische Erwägungen. Wie eng verbunden ist zum Beispiel 
die schulpolitische Forderung der Einheitsschule mit der 
Befreiung des Volksschullehrerstandes mit seiner Forderung 
nach Freigabe des Universitätsstudiums, nach einem einheit¬ 
lichen Lehrerstand, und nach Abschaffung der bisherigen 
Lehrerbildungsanstalten, die den Lehrer mit dem Fluch der 
Halbbildung behafteten? Mit dieser Frage beschäftigt sich 
in erschöpfender Weise obige Schrift. Jede Schulreform ist 
auch eine Reform der Lehrerbildung. Der bisherige Bildungs¬ 
weg des Volksschullehrers (Präparandenanstalt, Seminar) 
führte in eine Sackgasse. Berufswechsel und Höherstreben 
war nur wenigen möglich, weil damit viel Zeit und Geld¬ 
aufwand verbunden war. Sollen dem Volksschullehrer die 
Pforten der Hochschule geöffnet sein, so muß seine Vorbil¬ 
dung die sogenannte höhere Schule in einem ihrer Typen, 
Oberrealschule, Realgymnasium oder Gymnasium durchlaufen. 
Wenngleich die Universität dem Volksschullehrer offen stehen 
soll, so kann und darf diese nicht zur Ausbildungsansta.lt 
der Volksschullehrer werden. Es sind dieselben Gedanken¬ 
gänge, wie sie auch Wilhelm Rein äußert. Die Universität 
bleibt für die verschiedenen Fachstudien. Der Volksschullehrer 
darf kein Fachlehrer sein oder werden, das würde der Ruin 
der Volksschule sein. So kommt die Universität für ihn 
nur in Frage für die (zweijährige) theoretisch-pädagogische 
Ausbildung in der Wissenschaft aer Pädagogik und ihren 
Hilfswissenschaften. Diesem Studium geht eine (zweijährige) 
praktische Schulung voraus. Im Anschluß an die Volks- 


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1584 Bücherschau. 

schulen sind Seminarübungsschulen einzurichten, wo diese 
praktische Ausbildung erfolgt. Der Verfasser versucht dann, 
die Landschule der Einheitsschule einzugliederji. Unsere mo¬ 
dernen Schulreformer lassen sich in der Mehrzahl viel zu sehr 
von städtischen, ja großstädtischen Schulverhältnissen be¬ 
stimmen. Dem Unterschied von Stadt und Land in den 
Schulverhältnissen muß die künftige Schulreform mehr als 
bisher Rechnung tragen. In jeder Dorfschule selbst muß Ge-- 
legenheit geschaffen werden, solche Nebenkurse für besonders 
Begabte zu schaffen und der neue Lehrerstand mit oben ge- 
schildertet Bildung wird dazu auch imstande sein. Men, 
not measures, gilt auch hier. Warum neue Schulformen 
schaffen, wenn ein vielseitiger und geschickter Lehrer das¬ 
selbe im Rahmen der alten Schule schaffen kann! Freimachen 
muß man sich allerdings von der übermäßigen Schätzung der 
sprachlichen Bildung und von dem Standpunkt des über¬ 
wiegenden Teiles der akademisch gebildeten Lehrerschaft, 
die den Beginn des höheren Schulunterrichts, also das Ein¬ 
setzen der ersten Fremdsprache, keinesfalls später alsi bis zum 
Beginn des fünften Schuljahres (vollendetes zehntes Lebens¬ 
jahr) zurückschieben will. Leider steht anscheinend auch der 
Verfasser noch im Banne dieses Vorurteils. 

Dr. E. Stölzel. 

* 

Professor A. Einstein: Ueber die spezielle und allgemeine 
Relativitätstheorie. Heft 38 der Sammlung Vieweg. Ver¬ 
lag Vieweg und Sohn. Braunschweig. 

Die Relativitätstheorie zerfällt in zwei Teile, in eine spe¬ 
zielle und eine allgemeine. Die erstere erläutert Einstein 
an folgendem Beispiel: Angenommen ein Beobachter be¬ 
findet sich neben einer Eisenbahnstrecke, dann kann dieser 
eindeutig Ort und Zeit irgendeines Ereignisses auf den Eisen¬ 
bahnschienen bestimmen. Ist sein Standort M und sind A 
und B zwei Punkte, die auf der Strecke liegen und gleichweit 
von ihm entfernt sind, so wird er zwei Blitzschläge, die je 
in A und B einschlagen, in seinem Auge als einen Blitz 
empfinden, wenn die Blitzschläge in A und B gleichzeitig 
erfolgt sind. Ein derartiges Experiment läßt sich auf ein¬ 
fache Weise bewerkstelligen. Nun sollte man annehmen, daß 
für einen zweiten Beobachter, der sich in einem Zuge befindet, 
der mit stets gleicher Geschwindigkeit auf dem Gleis in der 


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Bücherschau. 


1585 


Richtung von Ä über M nach B fährt, diese Blitzschläge 
dieselbe Wirkung im Auge hervorrufen, wie bei dem Beob¬ 
achter, der auf der Strecke sich befand; vorausgesetzt selbst¬ 
verständlich, daß der zweite Beobachter sich im Moment, 
in dem die Blitzschläge erfolgen, auch auf der Hälfte der 
Strecke A—B, d. h. in Ml befindet. Ml sei der Mittelpunkt der 
Strecke A—B auf dem fahrenden Zuge. Dies ist nun ein 
Irrtum. Es sei noch epie grundlegende Bemerkung zuvor 
eingeschoben. Durch Berechnungen und Versuche, durch 
Theorie und Praxis^ hat sich ergeben, daß die Geschwindig¬ 
keit, mit der das Licht sich ausbreitet, stets konstant bleibt. 
Dann werden wir leicht die folgende Erläuterung Einsteins 
einsehen: „Wenn wir sagen, daß die Blitzschläge A und B 
in bezug auf den Bahndamm gleichzeitig sind, so bedeutet 
dies: die von den Blitzorten A und B ausgehenden Licht¬ 
strahlen begegnen sich in dem Mittelpunkt M der Fahr¬ 
dammstrecke A—B. Den Ereignissen A und B entsprechen 
aber auch Stellen A und B auf dem Zuge. Es sei Ml der 
Mittelpunkt der Strecke A—B des fahrenden Zuges. Dieser 
Punkt Ml fällt zwar im Augenblick der Blitzschläge (vom 
Fahrdamm aus beurteilt) mit dem Punkte M zusammen, 
bewegt sich aber . . . mit der Geschwindigkeit . . . des 
Zuges nach B.. Würde ein bei Ml im Zuge sitzender Be¬ 
obachter diese Geschwindigkeit nicht besitzen, so würde er 
dauernd in M bleiben, und es würden ihn dann die von den 
Blitzschlägen A und B ausgehenden Lichtstrahlen gleichzeitig 
erreichen, das heißt, diese beiden Strahlen würden sich gerade 
bei ihm begegnen. In Wahrheit aber eilt er (vom Bahndamm 
aus beurteilt) dem von B herkommenden Lichtstrahl entgegen, 
während er dem von A herkommenden Lichtstrahl voraus^ 
eilt. Der Beobachter wird also den von B ausgehenden 
Lichtstrahl früher sehen, als den von A ausgehenden.“ Man 
ersieht also: „Ereignisse, welche in bezug auf den Bahndamm 
gleichzeitig sind, sind in bezug auf den Zug nicht gleich¬ 
zeitig und umgekehrt. (Relativität der Gleichzeitigkeit).“ 
Selbstverständlich läßt sich diese Differenz der Ereignisse 
für den Beobachter im Zug praktisch nicht wahmehmen, da 
im Verhältnis zur Lichtgeschwindigkeit (300 000 Kilometer 
pro Sekunde) stets die Geschwindigkeit des Zuges zu gering 
ist. Aehnlich wie die eben geschilderten Ueberlegungen zeigen 
andere nun, daß beispielsweise vom Bahnsteig aus die Länge 
des fahrenden Zuges als eine andere sich bestimmt als vom 


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1586 _'_ Bücberschyi. . 

> - -•', Vj&*- 

fahrenden Zuge selber. Dies Ganze ergibt, daß es für eine * 
Beobachtung an einem bewegten Körper nicht gleich ist, ob,? 
man sie von diesem bewegten Körper selbst oder. Von einend 
anderen zu diesem Körper in Ruhe befindlichen Standort aus 
macht. Bei Berechnungen physikalischer Natur muß diese 
Tatsache berücksichtigt werden, und wie dies zu geschehen 
hat, wie man durch eine bestimmte Methode dahin kommen 
kann, trotz dem geschilderten, die Naturvorgänge einheitlich, 
systematisch zusammenhängend zu betrachten, das ist das 
Verdienst der speziellen Relativitätstheorie. Einstein sagt: 

„ . . . Dadurch wird sie zu einem wertvollen, heuristischen 
Hilfsmittel beim Aufsuchen der allgemeinen Naturgesetze.“ 

In der allgemeinen Relativitätstheorie wird nun das obige Ge¬ 
sagte erweitert für Bewegungen aller Art. Aber, was für uns 
hier von Bedeutung ist, sie bietet das Mittel, Naturerschei¬ 
nungen besser zu erklären. 

wenn eben von „besser erklären“ gesprochen wurde, so sei 
zunächst Rechenschaft gegeben, was darunter vom wissen¬ 
schaftlichen Standpunkt aus zu verstehen ist. Es sei daher 
ein Ausflug in die Erkenntnistheorie gestattet: Wenn wir 
beispielsweise die Lampe auf unserem Sdireibtisch betrachten, 
was geschieht dann? Wir nehmen eben die Lampe wahr. 
Richtig; aber, und das ist wichtig, über die Lampe als solche 
können wir keine Aussage machen, sondern nur über das, was 
wir eben wahrgenommen haben. Dias klingt wie Haarspalterei, 
ist es aber nicht. Denn wir erkennen nur das gerade so, wie 
wir es wahrnehmen, eben nur dadurch überhaupt, daß wir 
es wahrnehmen. Das heißt mit anderen Worten: Der Er¬ 
kennende und das, was erkannt wird, befinden sich im Augen¬ 
blick des Erkennens in einer unlöslichen Vereinigung, wie 
man sagt, in einem System. Hieraus sehen wir, daß wir über 
* die Lampe an sich überhaupt nichts aussagen können, sondern 
nur über die Lampe, soweit sie eben Gegenstand unserer Er¬ 
kenntnis ist, das heißt, sie in die Erkenntnis eingeht. Nun aber 
eins, und das ist genau zu beachten, die Lampe ist also als 
Gegenstand unserer Erkenntnis nicht Schein, ein Schein, der 
trügerisch ist. Denn, wir haben ja Kenntnis von der Lampe 
dadurch, daß sie auf unsere Sinne, durch welche wir erkennen, 
wirkt, und zwar so, wie eben das, was wir Lampe nennen. 
Fragen wir nun von diesem gewonnenen Gesichtspunkte, aus, 
was Raum und Zeit eigentlich sind, Begriffe, die uns bei der 
Relativitätstheorie beschäftigt haben, so erhalten wir dem 


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Bücherschau. 


1587 


Kantschen Standpunkt entsprechend, die Antwort: Raum und 
Zeit sind Anschauungsformen, in die alle Gegenstände und 
überhaupt alles eingehen müssen, um angeschaut werden zu 
können. Mit anderen Worten, Raum und Zeit sind die Hand¬ 
werkszeuge unserer Erkenntnis, denn unsere Eigenart ist 
es, daß wir so und nicht anders wahrnehmen, in dem das 
Wahrzunehmende von uns räumlich und zeitlich erfaßt wird. 
Nach diesem Gesagten ist (überhaupt von einem absoluten Vor¬ 
handensein der Zeit und des Raumes nicht die Rede. Mithin 
kann jede Zeit- und Raumbestimmung, das heißt, die empirisch 
bestimmte Zeit und ein ebensolcher Raum nach diesen -An¬ 
schauungen also wiederum nicht an sich Gegebenes sein, son¬ 
dern diese können nur Daten sein, das ist Bestimmungen, um 
ein Geschehen zu definieren. Ob also solche empirische Zeit- 
und Raumgrößen nur unter ganz bestimmter Voraussetzung 
richtig sind oder nicht, das ist mit anderen Worten die Frage, 
die in der Relativitätstheorie gestellt und genau untersucht 
wird. Einfacher noch einmal an Hand des Beispiels wieder¬ 
holt, ob meine Zeit- und Raummessungen vom Bahndamm aus 
für die Vorgänge auf dem bewegten Zug ohne" weiteres 
gültig sind, das ist das Problem. Wir fanden, daß dies 
nicht der Fall ist. Will man trotzdem von dem Gesichtspunkt 
eines Systems aus, das heißt hier vom Standort auf den Bahn¬ 
körper sowohl Vorgänge auf diesem als auf der Bahn be¬ 
stimmen, so muß man die Verschiedenartigkeit der empiri¬ 
schen Zeit und des Raumes bei seinen Berechnungen in Be¬ 
tracht ziehen. Dies geschieht, indem man als Zeitmaß die 
Geschwindigkeit des Lichtes allen Ereignissen zugrunde legt 
und die räumliche Verschiedenheit in Rechnung stellt. 

„Besser erklären“ heißt also in bezug auf die Relativitäts¬ 
theorie zunächst: sie ermöglicht verschiedenartige Vorgänge, 
die bisher unter falschen Voraussetzungen in einem System 
behandelt wurden, diese nach Korrektion der Voraussetzungen 
trotzdem in ein System zu bringen. — Hier noch ein Wort 
über „System“. Wir sahen oben, daß Gegenstände für uns 
nur Gegenstände unserer Erkenntnis sein können. Ein ge¬ 
heimnisvolles Suchen nach einem Etwas, was hinter allem 
Geschehen steckt, ist somit vergeblich. Wir können und dür¬ 
fen nur fragen: wie geschieht etwas, nach welchem Gesetz er¬ 
folgt das Geschehen? Obgleich wir dies seit Galilei wissen 
sollten, sei deutlichst es hier gesagt. So ist unsere Erkenntnis 
darauf gerichtet, im Geschehen das Gesetzmäßig« zu erkennen. 


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1588 _'_ Eingelaufene . 

Und so kommen wir nun dazu, noch eine Leistung dw 
Relativitätstheorie aufzuzeigen. Sie hat es ermöglicht, 2 wei bis 
jetzt ganz verschieden erklärte physikalische Gebiete, die 
Elektrodynamik und die Gravitätion von einem Gesichts¬ 
punkt aus zu betrachten, das heißt gesetzmäßig zu vereinen, 
in ein System zu bringen. Dies Vereinfachen, dieses Streben, 
verschiedene Gesetze, verschiedene Systeme zu einem Gesetz, 
zu einem System zu vereinen, diesem Ziele jeder Wissenschaft 
ist die Relativitätstheorie im weitesten Sinne gerecht geworden. 

Absichtlich sind nur einige markante Tatsachen heraus¬ 
gegriffen worden, um nicht durch die Menge des Angeführ¬ 
ten der Deutlichkeit des Gesagten Konzessionen machen zu 
müssen. Zusammenfassend läßt sich fesitstellen: Bis zur Auf¬ 
stellung der Relativitätstheorie gab es in der Naturwissenschaft 
nur eine allgemein gültige empirische Zeit. Jetzt weiß man, 
daß für jede Messung erst genau festzustellen ist, wie hier 
Zeit und Raummessung stattzufinden hat. Als das zugrunde 
legende aller Zeitmessungen wird wegen der erläuterten Rela¬ 
tivität der Zeit die Lichtgeschwindigkeit genommen. 

Walter Israel. 


Eingelaufene Schriften. 

Professor Dr. Georg v. Below: Soziologie als Lehrfach. 
Ein kritischer Beitrag zur Hochschulreform. Verlag 
Duncker & Humblot. .München und Leipzig 1920. Preis 
3,50 Mark. 

Professor Dr. Otto Braun: Der Student und die neue Zeit. 
Verlag Engelhorns Nachfolger. Stuttgart 1920. Preis 
4,— Mark. 

Paul Hirsch, Präsident des preußischen Staatsministeriums: 
Kommunalpolitische Probleme. .Verlag Quelle & Meyer. 
Leipzig 1920. Preis 4,40 Mark. 

Dr. Felix Rachfahl: Der Fall Valentin. Verlag Duncker ft 
Humblot. München und Leipzig 1920. Preis 4,— Mark. 
Karl Radek: Proletarische Diktatur und Terrorismus. Eine 
Antwort an Kautsky. Verlag Carl Hoym, Nachfolger 
Louis Cahnbley. Hamburg 11, Admiralitätsstraße 19. 
Preis 1,50 Mark. 


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SOEBEN ERSCHEI NT: ■»; 


und wir 


von 


Dr. von U ngern-Sternberg 

PREIS MK. 2,— 

und 20°/ e Teuerungszuschlag 


ln der Schrift wird darauf hingewiesen, eine wie große Bedeutung 
die handelspolitischen Beziehungen Deutschlands zuRußland vordem 
Kriege für die beiden Völker gehabt haben und wie überaus wichtig 
für unsere Zukunft die Wiederaufnahme dieser Beziehungen ist 


Bezug durch alle Buchhandlungen 

sowie direkt vom 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

Berlin SW 68, Lindenstraße 114 — Postscheckkonto Berlin 275 76 


Herausgeber: Dr. A.Helphand, Berlin. Verantwortl. Schriftleiter: M.Beer, Berlin-Karlshorst* 
Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, LindenstraDe 114. Fernruf: Montr* 
platz 2218, 1448—1450. — Druck : Photogravur G. m. b. H., Berlin SW 68, LindenstraÖe 114« 


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-■l 



27. März 1920 


ihrg. 2. Band J6 51-52 



Herausgegebenvon 

isarvus 


50 Pfennig 

ST 


iriag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68 


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INHALT DIESER NUMMER: 

Norman Angell: Der Berliner Pgtsch, Frank-* . 

reich und Polen.. . . 1589 

M. Beer: Die Straßburger Tagung der franzö¬ 
sischen Sozialisten. 111. und IV. . . .1596 

U. Emil: Politische Köpfe. XI. Landsberg und 

XII. Strobel ... . . . . 1601 

Hans von Kiesling: Ueber den wirtschaftlichen 
Aufbau in Deutschland ......... 1605 

Friedrich Th. Körner: Die volkswirtschaftliche^ 
Bedeutung der Leipziger Messe . . ... 1613 
Bücherschau. Dr. Bruno Hahn: Die neueste Ent¬ 
wicklung des Qenossenscbaftswesens in Ru߬ 
land; Dr. O. Stillich: Die wahren Ursachen 
unserer Wirtschafts- und Finanznot. . *. . 1618 

An unsere Leser. 

Infolge der allgemeinen Arbeitsniederlegung in der dritten 
Märzwoche und der mangelnden Gas- und Elektrizitätszufuhr 
auch nach Wiederaufnahme der Arbeit in der vierten März¬ 
woche sind wir gezwungen, diese Nummer als 51 und 52 
erscheinen zu lassen. 


Nummer 50 der „Glocke“ hatte folgenden Inhalt: 

M. Beer: Die Straßburger Tagung der fran¬ 
zösischen Sozialisten. I. und II.1558 

Peter Knute: Budapest.1562 

Arthur Hopfner: Strömungen'in den deutschen 

Gewerkschaften . . . .. . 1566 

U. Emil: Politische Köpfe: IX. Adolf Hoffmann 

und X. Haenisch . . ..1572 

Herman George Scheffauer: Feder und Schwert 1575 

Rechtsanwalt Dr. L. Bendix: Rechtsprechung des 
Reichsgerichts in Strafsachen und das Rechts¬ 
bewußtsein des Volkes. 1578 

Bücherschau. 1583 


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DE GLOCKE 

51-52. Heft 27. März 1920 _ 5. Jahrg. 

Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet 


NORMAN ANGELL: 

Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen. 

Wir werden in der nächsten Nummer den Putsch und seine 
Folgen behandeln. Inzwischen dürfte es für die Leser von er¬ 
heblichem Interesse sein, zu hören, wie ein weltbekannter eng¬ 
lischer Publizist über die Angelegenheit denkt, und wie mensch¬ 
lich und gerecht er über Deutschland urteilt. Norman Angell 
(Familienname: Lane), geboren 1874 in England, erzogen in Frank¬ 
reich und Amerika, lebt seit 1898 als Journalist und Schriftsteller 
in Europa. Er verfaßte zahlreiche Schriften, darunter seine be¬ 
rühmte pazifistische Schrift „The Great Illusion " (1910), die in 
sämtliche europäische Sprachen, sowie in die .japanische, chinesische 
und in verschiedene indische Sprachen übersetzt wurde. Er ist 
jetzt Mitglied der sozialistischen Independent Labour Party von 
England. Sein in deutscher Uebersetzung hier wiedergegebener 
Aufsatz erschien im „Labour Leader“ vom 18. März. 

Redaktion der „Glocke 

I. 

P\IE einander abwechselnden Berichte aus Berlin und Stutt- 
gart zeigen nur die Zwischenräume an im Drama der 
Revolution und Gegenrevolution. Das gegenwärtige Ver¬ 
hältnis der Kräfte stellt nur einen Waffenstillstand dar, um 
eine Pause zu gewinnen für die Speisung der Hungrigen 
und die Bestattung der Toten. Das Schwungrad muß seine 
Drehung vollenden, nach rechts oder nach links. Die ver¬ 
bündeten Regierungen werden selbstredend alles tun, damit 
das Rad nach der äußersten Rechten schwingt und die 
militärische Kaste und der preußische Nationalismus wieder 
hergestellt werden. Diese Ansicht entspringt nicht einer 
Ueberspannung der Ironie oder der Gereiztheit. Die ganze 
Handlungsweise jener „freiheitlichen“ Regierungen, die diesen 

51-52M 


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1590 _ Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen. 

Krieg angeblich zu dem Zwecke unternommen haben, die 
deutsche militärische Autokratie und die Gefahr eines fana¬ 
tischen Nationalismus zu beseitigen, läßt eine andere An¬ 
nahme nicht zu. In der langen Reihe der Verhandlungen, 
sowie der öffentlichen Reden, die dem Waffenstillstände vor-, 
aufgingen, stimmten sie immer die eine Leier an: Demo¬ 
kratie. Präsident Wilson erklärte den Deutschen und der 
ganzen Welt, daß der Inhalt des Friedensvertrags ganz davon 
abhängen wird, ob ihn ein demokratisches oder ein auto- 
kratisches Deutschland abschließt. Er setzte den Deutschen 
freundlich auseinander, daß die Entente nur Krieg führte, 
-um das deutsche Volk von der Autokratie zu befreien und 
es zu einer parlamentarischen Demokratie zu machen. Mit 
einem solchen Deutschland — so erklärten unsere Staats¬ 
männer wiederholt — würden wir auf gleichem Fuße leben 
und einen Frieden schließen, von dem die. Deutschen sehen 
werden, daß er ihren besten Interessen dient. 

Das antimilitaristische und antidynastische Deutschland 
nahm uns beim Wort. Die Revolution wurde gemacht, und 
binnen 24 Stunden wurden nicht nur eine, sondern an die 
zwanzig Dynastien gestürzt; Deutschland gab sich eine repu¬ 
blikanische Verfassung, die vielfach die freieste und liberalste 
der Welt ist. Alle kompetenten Beobachter stimmen darin 
überein, daß im Herbst 1918 die große Masse der Deutschen 
ihre Illusionen über ihre militärische Kaste aufgab, ihrer 
überdrüssig wurde, ihr feindlich gegentiberstand, sich von 
der Vergangenheit abwandte, um, wie ein Deutscher neu¬ 
lich schrieb, „für die Aussöhnung der Völker pnd für einen 
Volksfrieden zu wirken“. Das Ansehen Wilsons war un¬ 
geheuer. Die Deutschen glaubten, die Entente würde nicht 
nur an die 14 Punkte gebunden sein, sondern auch an die 
ganze idealistische Politik, die Wilson in seinen Reden ent¬ 
wickelt hatte. 

Was folgte hierauf? Wie haben jene Leute unter uns 
gehandelt, die erklärt hatten, daß das Symbol einer Sinnes¬ 
änderung in Deutschland die Abwendung vom Kaiserismus 
sein würde? 


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^ Origiralfmm 

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Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen. 


1591 


Was sie getan haben? Sie brüllten und schäumten fana¬ 
tischer denn je, daß die ganze Revolution nur ein Hunnen¬ 
manöver sei, und daß „die Verbrecherhorde nur ihren 
Hauptmann gewechselt habe“, um uns um unsere Rache 
zu betrügen. Der Friede, schrien sie, müßte ebenso hart 
sein, wie der, der einem automatischen Deutschland auf¬ 
erlegt worden wäre. 

Ein Funke staatsmännischer Weisheit oder Ehre hätte 
unseren Regierungen gebieten müssen, bis zu einem ge¬ 
wissen Grade die Unterscheidung aufrechtzuerhalten, von 
der sie seit Jahren gesprochen hatten: also zwischen einem 
demokratisch-antimilitaristischen und einem wesentlich nationa¬ 
listisch-reaktionären Deutschland einen Unterschied zu machen 
und den republikanischen und friedfertigen Bestrebungen 
gegenüber eine ermutigende und sympathische Haltung ein¬ 
zunehmen. Aber unsere Northcliffes, Bottomleys und Lloyd 
Georges ließen es nicht zu, daß ein derartiges Verfahren 
auch nur einen Augenblick erwogen wurde. Nach Monaten 
eines erbarmungslosen Massakers durch die Blockade legten 
wir dem republikanischen Deutschland einen Frieden auf, 
der so raubgierig und grimmig ist, daß er gar nicht funk¬ 
tionieren kann. Wir schienen entschlossen zu sein, den 
Beweis zu führen, daß auch das größte Maß von Demokratie, 
von republikanischer Gesinnung oder Antimilitarismus nicht 
imstande wäre, auch nur unsere vorübergehende Sympathie 
oder Hilfe zu erwerben. 

Dem deutschen Militarismus wurden somit Argumente 
geliefert, die unwiderleglich sind; die Interessen des deut¬ 
schen Volkes, von denen Wilson mit so warmer Rhetorik 
gesprochen hatte, würden keine Rücksicht finden bei den 
westeuropäischen Demokratien. 

Und die britische Arbeiterpartei machte keine Ausnahme. 
Ihre parlamentarischen Vertreter stimmten mit den übrigen 
Fraktionen für den Vertrag. Dann beschäftigte sie sich 
ganz mit innern Fragen und. hielt den Mund. 

Deutschland — so argumentierten die Militaristen in 
Beflin — besitze nur ein Hilfsmittel: seine zukünftige natio- 

51*5211* 


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1592 


Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen. 


nale Macht. So erhoben der Nationalismus und der Mili¬ 
tarismus wieder ihr Haupt. 

Der Augenblick, an dem etwas Weisheit, Großmut und 
Staatsmannskunst hätten Wunder wirken können, ging vor¬ 
über. Heute wüten in Deutschland Haß und Erbitterung, 
erzeugt durch unsere kindermordende Blockade und unseren 
„Frieden“, und erleichterten die Arbeit der militärischen 
Nationalisten. 


Wer ist für die Auferstehung des deutschen Militarismus 
verantwortlich? Seien wir ehrlich und sprechen wir uns 
hierüber aus. Die Schuld liegt nicht allein bei den Regie¬ 
rungen. Die Völker in ihrer überwältigenden Mehrheit 
haben dem Vorgehen der Versailler nicht nur zugestimmt,, 
— sie haben es verlangt. In Amerika, in England, in 
Frankreich und ip Italien, — überall. Sie verlangten einen 
strafenden Frieden, der den rasenden Wahnsinn, erzeugt 
durch eine fünfjährige, aufreizende Preßkampagne, befriedigen 
sollte. Diese Leidenschaften schufen Legenden von deutscher 
Grausamkeit, schufen Einbildungen und Theorien, die in 
ihrer Sinnlosigkeit einfach kindisch waren. Die feindlichen 
Staaten: Deutschland, Oesterreich, Ungarn, bildeten keine 
Masse von menschlichen Wesen aller Art: von ermüdeten 
und bedrückten Arbeitern, Greisen, Frauen und Kindern, die, 
verwirrt und mißleitet, ihre Pflicht taten, wie sie sie ver¬ 
standen und wie man sie von Jugend aüf gelehrt, — 
Menschen, die hilfslos in den Stahlstrom hineingerissen 
wurden und so wenig Macht hatten, ihre Regierungen zu 
beherrschen, wie das englische Volk die Intrigen der Churchills, 
Curzons, Milners, Georges oder deren verlogene Presse, deren 
völkermordende Blockade, deren irische, ägyptische und 
russische Politik beherrschen konnte. Nein. Das deutsche 
Volk erschien den Nationalisten der Entente als. ein einziger 
gigantischer Verbrecher, — ein Unmensch, der nicht nur 
ungerecht, sondern grausam ist, wie ein amerikanischer 
Lyncher oder ein britischer Generalgouverneur von Pandschab, 
sondern der auch, wenn er nur wollte, binnen einer Minute 


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Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen. 


1593 


sein Unrecht einstellen und es sofort wieder gutmachen könnte. 
Diese ganze Auffassung offenbart das Legendäre und Phan¬ 
tastische einer schlecht geleiteten Kinderstube. Und doch ent¬ 
stammt sie dem Rate fachmännisch gebildeter Diplomaten, 
die auf ihren Realismus, auf die Kenntnis der menschlichen 
Natur, auf die Erkenntnis des Möglichen stolz sind. 

III. 

Aber wünschten diese Herren wirklich ein demokratisches 
Deutschland? Haben sie nicht eher eine stille Neigung zu 
jener halbroyalistischen, militärischen Ordnung, die soeben 
beseitigt wurde? Sahen sie nicht die Vernichtung der Adels¬ 
herrschaft und der Dynastien, die Ausdehnung des Repu¬ 
blikanismus mit sozialistischen Tendenzen,.den Zug 

zum „Bolschewismus“? 

Und die französische militärische Partei, von der Wilson 
unumwunden erklärte, daß sie ihn in Paris bekämpfte, ist 
jetzt im vollen Besitze der Herrschaft! Wenn aus diesem 
Kriege tatsächlich ein friedfertiges Deutschland hervorgehen 
sollte, dann würde ja die Aussicht auf die permanente Be¬ 
setzung des linken Rheinufers verschwinden, und der sehr 
alte Traum des französischen Patriotismus würde zerrinnen! 
Wäre es denn nicht besser — sagten sich die französischen 
Militaristen —, daß eine erfolgreiche Gegenrevolution in 
Preußen Platz griffe, die zur Wiederherstellung des preußi¬ 
schen Königtums und zur Zersplitterung Deutschlands führen 
würde! . . . Tja, das wäre eine glänzende Leistung der 
französischen diplomatischen Kunst. Und neben einem zer¬ 
splitterten, machtlosen Deutschland würde sich ein geeinigtes 
Polen erheben, ein französiertes Polen, militärisch stark und 
angriffslustig, ein Polen, dessen Adel in Paris lebt, dessen 
Offiziere in französischen Militärakademien studieren. * Das 
wäre die französische Oberherrschaft in Europa, — nicht 
ganz nach Napoleons Methoden, aber doch dem Ergebnis 
nach. 

Diese Politik wird vielleicht nicht ganz bewußt betrieben, 
aber sie ist sicherlich unter den dunklen Triebkräften der 


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1594 


Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen. 


Diplomatie wirksam: Wiederherstellung Preußens und Zer-' 
brechung des Deutschen Reiches. Schon vor Monaten habe 
ich, in diesen Spalten darauf hingewiesen, daß die englische 
Arbeiterklasse die geprellte sein wird, wenn sie sich damit 
begnügt, Frieden mit Rußland zu verlangen und sich nicht 
darum kümmert, was das Verhältnis der britischen Diplomatie 
zu Frankreich und Polen ist, oder wenn sie es unterläßt, die 
Intrigen ans Licht zu bringen, die die Westmächte in Polen 
anzetteln. Als ich danach den Artikel schrieb, besetzten 
polnische Truppen russische Gebiete, die von polnischer 
Nationalität nichts wissen. Nichtsdestoweniger boten die 
Sowjets den Polen den Frieden an. Sie verlangten nicht 
die Zurückziehung der polnischen Truppen von den russi¬ 
schen Gebieten, ehe sie in Friedensverhandlungen einträten, 
und machten keine der üblichen diplomatischen Gesten. Aber- 
Polen folgte dem Beispiele der Westmächte: es zögerte, 
zauderte, schob auf, wich aus, schlängelte hin und her in 
der Hoffnung auf eventuelle französische oder andere west¬ 
europäische Hilfe. 

IV. 

Die ganze Lage, nahm eine neue Gestalt an durch die 
folgende Nachricht: 

„Die Demobilmachungsbehörde (Liquidation Board) der 
Vereinigten Staaten von Amerika schloß einen Vertrag ab, 
wonach sie Polen gestattet, die Ueberschüsse der amerika¬ 
nischen Heereslieferungen zu kaufen auf Grundlage eines 
sechsjährigen Kredits zu fünf Prozent., Ein anderer Vertrag 
mit der amerikanischen Schiffahrtsbehörde sichert den Polen 
den Transport dieser militärischen Vorräte nach Danzig. Als 
Ergebnis dieser Verträge sind bereits unterwegs nach Danzig: 
militärische Ausrüstungen für 300000 Mann, 80 Lokomotiven, 
4500 Wagen für Truppentransporte, 5 Millionen Pfund,Mar¬ 
garine, 100000 Tonnen Mehl, außer anderem zahlreichen 
Material, wie Landungsbrückenkrane, Hafer für Kavallerie usw.“ 

Sehen wir nun, was diese Nachricht bedeutet. Der ame¬ 
rikanische Kredit wird Völkern verweigert, die buchstäblich 
dem Hungertode preisgegeben sind, zum Teil infolge des 


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Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen. _ 1595 

Mangels an rollendem Material. Während aber diese Schrecken 
wüten, denen man nicht abhelfen will, erhalten die Polen 
große Mengen von Nahrungs-. und Transportmitteln, um eine 
Armee zum Kampfe gegen Sowjetrußland zu führen! Der 
Grund hierfür findet sich in der Aussage Mr. Hoovers vor der 
Budgetkommission des Repräsentantenhauses zu Washington. 
Der Bericht hierüber sagt: „Hilfe ist nötig für Polen, da 
dessen Herstellung verzögert wurde durch derj Krieg gegen 
die Bolschewiki, so erklärte Mr. Hoover. Bricht die polnische 
Front zusammen, so ist der ganze europäische Wirtschafts¬ 
bau erschüttert.“ Die amerikanische Finanz befindet sich in 
hysterischem Schrecken vor dem „Bolschewismus“. Ein Krieg 
gegen diesen würde die Grundsätze der Nationalitätsrechte, 
des Völkerbunds, des Völkerrechts und aller anderen Rechte 
nicht verletzen. . 

Sollen wir uns dies gefallen lassen? Wir, die wir das 
Wohlergehen der Männer, Frauen und Kinder Europas höher 
stellen als das alte Spiel der sogenannten Großmächte, die 
mit Völkern und Staaten wie mit Schachfiguren umgehen, -— 
sollen wir uns dabei beruhigen? Sollen wir ein Teil dieses 
. Spiels bilden? Sind wir auch nur Drahtpuppen, die durch 
unsichtbare Hände hin- und herbewegt werden? Wenn die 
Arbeiterklasse wirklich für eine bessere Zukunft kämpft, so 
darf die Frage der Revision des Versailler Vertrags und des 
Friedens nicht länger als eine untergeordnete Sache unseres 
politischen Lebens behandelt werden. Die Lösung dieser 
Frage ist für die Durchführung unseres eigenen sozialen 
Programms unumgänglich nötig und kann nur den Mittelpunkt 
unseres Kampfes bilden.“ 


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1596 Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisten. 
' ‘ ‘ - k . 1 1 - — 

M. BEER: 

Die Straßburger Tagung 
der französischen Sozialisten. 

iii. ' 

P)IE inzwischen eingetroffene „Humanite“ vom 6. März 
u enthält den endgültigen Wortlaut der Beschlüsse der 
Straßburger Tagung. Der Beschluß über den Austritt aus der 
zweiten Internationale lautet .folgendermaßen: 

„Die zweite Internationale, gegründet in Paris 1889 auf 
dem Grundsatz des Klassenkampfes und nach einigen Ab¬ 
schwächungen wiederhergestellt auf dem Amsterdamer Kon¬ 
greß 1904, wurde durch den Krieg, den zu verhindern sie 
sich bemüht hatte, ihrer Aufgabe, der sozialistischen Er¬ 
ziehung und Organisation, entrissen. 

Wie die ganze Menschheit, deren höchster Ausdruck sie 
war, wurde die zweite Internationale materiell und moralisch 
durch den Krieg zerrissen. Manche ihrer Sektionen schwäch¬ 
ten und entwürdigten sich, indem sie während des Krieges 
und nach dem Kriege die Macht mit der Bourgeoisie teilten 
und das. Prinzip des Klassenkampfes, auf dem sie begründet 
waren, offenbar verkannten. 

Die Sozialistische Partei erklärt, daß, die Internationale 
in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht mehr dem revo¬ 
lutionären Zustand entspricht, der in den meisten Ländern 
sich bemerkbar macht und der eine neue Internationale der 
Tat heischt. Die zweite Internationale vereinigt nunmehr 
nur einen Bruchteil der sozialistischen Arbeiter der Welt 
Ihr gegenüber bildete sich in Moskau im März 1919 die 
dritte Internationale, die ein kompromißloses Programm des 
Klassenkampfes formulierte nach dem Muster des Kommu¬ 
nistischen Manifests und der Amsterdamer Resolution von 
1904, der maßgebenden Schriftsätze der ganzen Bewegung 
und jeder sozialistischen Aktion. Dieser neuen Internatio¬ 
nale schlossen sich an: die Mehrheit der russischen Sozia¬ 
listen, die Sozialisten Italiens, Norwegens, Serbiens, Rumä¬ 
niens, verschiedene Bruchteile des Proletariats in Schweden, 
Dänemark, Deutschland, Ungarn, England und Amerika. 

Drei wichtige Organisationen traten aus der zweiten Inter¬ 
nationale aus: die Sozialistische. Partei der Schweiz, die 


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Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisten. 1597 


Sozialistische Partei der Vereinigten Staaten, sowie die deut¬ 
schen Unabhängigen. Die letzteren beschlossen auf ihrer 
.Leipziger Tagung, mit den revolutionären sozialistischen 
Gruppen Westeuropas in Verbindung zu treten, um, mit 
ihnen vereinigt, sich der dritten Internationale zu präsen¬ 
tieren. Sollte es ihnen nicht gelingen, diese Gruppen zu 
einem derartigen Vorgehen zusammenzufassen, so würden sie 
sich der dritten Internationale anschließen. / 

Die Sozialistische Partei Frankreichs nimmt den Beschluß 
der Unabhängigen Sozialisten zur Kenntnis, die während 
des Krieges und seit der Novemberrevolution den revo¬ 
lutionären und internationalen Ueberlieferungen des deut¬ 
schen Proletariats treu blieben, und erklärt, daß sie nicht 
in einer Internationale verbleiben kann, in der Deutschland 
nur noch durch Sozialisten vertreten ist, die die Mitschuldigen 
des Kaisers und der gegenrevolutionären Manöver Scheide¬ 
manns 1 und Noskes sind. 

Andererseits ist sie der Ansicht, daß die Zersplitterung 
der proletarischen Kräfte der Welt eine Gefahr bildet für 
die Arbeiterrevolution. Da die Versuche der Wiederaufrich¬ 
tung der zweiten Internationale, die in Bern und Luzern 
gemacht wurden, für die Folge zu einem vollständigen Mi߬ 
erfolge verurteilt zu sein scheinen, so erklärt die Sozia¬ 
listische Partei Frankreichs, daß eine Zusammenfassung der 
sozialistisch - revolutionären Kräfte, die sich auf den an¬ 
erkannten Grundsätzen des internationalen Sozialismus stützen, 
eine dringende Aufgabe ist. 

Der Haltung der kapitalistischen Regierungen der Entente 
ist es geschuldet, daß es unmöglich ist, das Wirken und die 
Handlungen der russischen Revolution in ihren Einzelheiten 
zu kennen und zu beurteilen. Aber die Sozialistische Partei 
Frankreichs, die sich mit allen Bewegungen der proletarischen 
Befreiung solidarisch fühlt, ist der Ansicht, daß keine der 
prinzipiellen Erklärungen der Moskauer Internationale sich 
in Widerspruch befindet zu den wesentlichen Grundsätzen 
des Sozialismus, wie sie von den internationalen Kongressen 
niedergelegt wurden; die Forderung von der „Diktatur des 
Proletariats“ als Uebergangsmaßregel von der kapitalistischen 


1 Die französischen Genossen würden über Sdieidemann anders ge¬ 
urteilt haben, wenn sie dessen Tätigkeit in den letzten Monaten besser 
gekannt hätten. Die Redaktion. 

51-522 


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1598 Die Straßburger Tagung der französischem Sozialisten. 


zur sozialistischen Wirtschaftsordnung, liegt der ganzen revo¬ 
lutionären Auffassung zugrunde; ebenso ist die Einrichtung 
der „Arbeiter- und Bauern rate“ eine der Formen, die die 
Ausübung der proletarischen Macht bewirken kann. 

Aber die Sozialistische Partei Frankreichs ist der Ansicht, 
daß die sozialistischen Parteien West- und Mitteleuropas, 
die doch in Ländern mit einer vorgeschrittenen industriellen 
Entwicklung für die soziale Umwälzung kämpfen, sich daran 
halten müssen, in vollem Einverständnis mit den vorhan¬ 
denen Arbeiterorganisationen — den Gewerkschaften und 
Genossenschaften — zu handeln, und daß die Anpassung 
dieser Körperschaften an die wirtschaftliche Umwelt eines 
der wesentlichen Mittel dieser Umgestaltung bilden muß. 
Sie erklärt deshalb, daß gemeinschaftliche Beratungen zwi¬ 
schen den sozialistischen Parteien und den Parteien der 
dritten Internationale stattfinden müßten. Sie erklärt, daß 
diejenigen Parteien, die auf diese Weise Vorgehen wollen, 
vor allem erklären müßten, ebenso wie die Moskauer Inter¬ 
nationale dies erklärt hat, daß jede Zusammenarbeit mit der 
Bourgeoisie und insbesondere die Beteiligung von Sozialisten 
an Koalitionsregierungen, wie dies während des Krieges und 
nach dem Kriege geschah, zu verdammen ist. 

Die Sozialistische Partei Frankreichs schließt sich mit 
ganzer Kraft dem Beschlüsse der deutschen Unabhängigen 
an und gibt ihren Willen kund, am Wiederaufbau der Ein¬ 
heit des internationalen Sozialismus durch die Verschmelzung 
der Elemente der zweiten Internationale, die den Grund¬ 
sätzen des Klassenkampfes treu' geblieben sind, mit den 
Gruppen der dritten Internationale. Sie erklärt den Wunsch, 
ihre aktive Sympathie für die russische Revolution kund¬ 
zugeben, aber auch das Bestreben, in enger Solidarität zu 
verbleiben mit den Bemühungen, die inmitten ihrer eigenen 
geschichtlichen und ökonomischen Umwelt von dem Prole¬ 
tariat der großen Industrieländer, insbesondere Englands und 
Amerikas, entwickelt worden sind. 

Um die schmerzliche Lage, die sich aus der Zersplitterung 
der Internationale ergibt, abzukürzen, gibt der Kongreß dem 
Parteivorstande den Auftrag, unbeschadet der Aufrecht¬ 
erhaltung des Kontakts mit den sozialistischen Sektionen 
Westeuropas unverzüglich in Unterhandlungen einzutreten mit 
den Körperschaften der dritten Internationale und im Ein¬ 
verständnis mit den deutschen Unabhängigen und den schwei- 


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Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisiert. 1590 


zerischen und italienischen Parteien Vorbereitungen zu treffen 
für eine Konferenz, die den Zweck haben soll, die Körper¬ 
schaften der dritten Internationale zusammenzubringen mit 
denjenigen sozialistischen Parteien, die entschlossen sind, ihre 
0 Aktion auf Grundlage der überlieferten Grundsätze des Sozia¬ 
lismus zu entfalten. Innerhalb von drei Monaten soll der 
Partei hierüber Bericht erstattet werden/* 

Wie die „Humanite“ mitteilt, wurde dieser Beschluß mit 
4330 gegen 337 Mandate angenommen. 

IV. 

Ueber die allgemeine Politik der Partei wurde folgender 
Beschluß angenommen: 

„Die Sozialistische Partei erklärt, daß unter den gegen¬ 
wärtigen Umständen ihre politische Haltung mehr denn je 
im Sinne des internationalen Sozialismus sein muß. Sie be¬ 
kräftigt den Beschluß der früheren Kongresse, die Arbeiter 
als Klassenpartei zu organisieren zum Zwecke der Ergreifung 
der politischen Macht, um durch die Kraft des befreiten 
Proletariats an die Vergesellschaftung aller Produktions- und 
Austauschmittel heranzugehen, — an die Verwirklichung des 
allen Sozialisten gemeinsamen Ziels. Sie weist alle Konfusio¬ 
nen und Taktiken zurück, die den Zweck haben, die Klassen¬ 
gegensätze zu verschleiern. Sie verwirft deshalb mit aller 
Energie jede Beteiligung der Sozialisten an bürgerlichen 
Ministerien, wie überhaupt jedes Bündnis mit anderen poli¬ 
tischen Parteien, das zur Verdunkelung des Programms füh¬ 
ren kann. 

Indem 
Kenntnis 
die allein 

sprach. Das französische Volk, geblendet durch die Lüge, 
entkräftet durch die unterdrückende Herrschaft, der es wäh¬ 
rend fünf Jahre unterworfen war, hat trotz alledem den 
Appell der Sozialisten gehört, und wenn das Wahlgesetz der 
Ungerechtigkeit und der Unehrlichkeit nicht die Wahlergeb¬ 
nisse verfälscht hätte, so würden jetzt 150 Abgeordnete die 
1 700 000 sozialistischen Wähler in der Kammer vertreten. 

Die Sozialistische Partei verkennt nicht den Ernst der 
Gefahr, der die Arbeiterklasse und die Republik ausgesetzt 
sein kann durch eine Kammermehrheit, die sich aus roya- 
listischen Junkern, Klerikalen und Kapitalisten zusammen- 

51-52 2 * 


die Partei die Ergebnisse der letzten Wahlen zur 
nimmt, beglückwünscht sie sich zur befolgten Taktik, 
den Interessen und der Ehre des Sozialismus ent- 


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1600 Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisten. 


setzt, und der die verbrecherische Politik Clemenceaus das 
Land ausgeliefert hat. 

Sie fordert die Arbeiterklasse auf, wachsam zu sein und 
mit dem männlichen Mute unserer Rasse und mit allen 
Mitteln die erworbenen Vorteile zu schützen, insbesondere ♦ 
das Streikrecht und den Achtstundentag, wenn die Reaktion 
es wagen sollte, sie anzugreifen. Der französische Sozia¬ 
lismus war stets der Hüter der Republik; er wird diese 
ruhmreiche Ueberlieferung nicht aufgeben und er läßt an die 
Anhänger bankerotter Regierungssysteme die Warnung er¬ 
gehen, daß er auch fernerhin bereit ist, den Kampf auf¬ 
zunehmen. In diesem Geiste bezeichnet die Partei die Poli¬ 
tik der früheren und der gegenwärtigen Regierung als eine 
Gefahr für die Republik und für die Nation. Sie brandmarkt 
vor dem gesunden Menschenverstände die sinnlose Legende, 
gegen die auch die Weltgeschichte zeugen wird, die aus 
einem konfusen und jeder schöpferischen Tat unfähigen 
Menschen den Hervorbringer eines Sieges macht, der einzig 
und allein zu verdanken ist den ungezählten Opfern der 
französischen Soldaten und der unwiderstehlichen Aktion der 
ausländischen Revolutionen, die sämtlich der russischen Re¬ 
volution entsprungen sind. 

Sie stellt die beklagenswerten Ergebnisse dieser Politik 
fest, die sie bereits vielfach verurteilt und die noch nach 
einem Jahre Waffenstillstand zu keinem endgültigen Frieden 
geführt hat. Sie brandmarkt den Bankerott des Völker¬ 
bundes und die schwindelhafte Anwendung des Nationalitäten¬ 
prinzips. Sie verwirft alle Vergewaltigungen, die die kapi¬ 
talistischen Ententestaaten den Völkern angetan haben, ebenso 
die Verlängerung der offenen und versteckten Feindselig¬ 
keiten gegen die russische sozialistische Republik, deren Siege 
sie begrüßt. 

Die Sozialistische Partei Frankreichs, die politische Ver¬ 
treterin der Arbeiter, hat die Pflicht, sich mit einer wirt¬ 
schaftlichen und finanziellen Lage zu beschäftigen, die sich 
von Tag zu Tag verschlimmert. Sie hat diese Schwierig¬ 
keiten vorausgesehen, ebenso wie sie angekündigt hat, daß 
eine reaktionäre parlamentarische Mehrheit den Arbeitern 
die ungerechtesten Lasten auferlegen, die indirekten Steuern 
vermehren und es ablehnen wird, die Reichen und die Kriegs¬ 
gewinnler nach Gebühr heranzuziehen. 


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Politische Köpfe. XI. und XII. 


1601 


Die Partei lehnt jede Verantwortlichkeit ab für die wirt¬ 
schaftliche und soziale Politik der bürgerlichen Regierung, 
— eine Politik des teuern Brotes, der Belastung der Armen 
und der Entlastung der Reichen. Mehr als je verlangt sie: 

1. eine direkte Steuergesetzgebung, die bis zur Enteignung 
der Kriegsgewinnler und der nationalen Diebe gehen muß; 

2. die Vergesellschaftung der kapitalistischen Monopole; 

3. Organisation der Transportmittel durch den Staat unter 
Leitung tüchtiger Ingenieure; 4. munizipale Verwaltung des 
unbeweglichen Eigentums, um dem kritischen Mangel an 
Behausung durch energische Mittel abzuhelfen. 

Der Kongreß beauftragt die parlamentarischen und muni¬ 
zipalen Vertreter der Partei, die sozialistischen Resolutionen 
kompromißlos und mit aller Kraft zu verteidigen und das 
Volk aufzurufen, das verstehen müßte, daß die allgemeine 
Lage des Landes in wachsendem Maße einen revolutionären 
Charakter annimmt. Angesichts der Arbeiterklasse, die durch 
ihre Opfer die nationale Verteidigung gesichert hat, klagt 
die Partei die Bourgeoisie an, daß sie immer lüsterner, selbst¬ 
süchtiger und brutaler ihren Willen offenbart, ihre tatsäch¬ 
liche Diktatur aufrechtzuerhalten. Die 1 600 000 Toten, deren 
Aufopferung eine Aera der Gerechtigkeit unter den Völkern 
und der Brüderlichkeit unter den französischen Bürgern er¬ 
öffnen sollte, sind vergeblich gefallen. Den Sieg hat nur 
der Kapitalismus, der seine Profite ins Unendliche vermehrt. 
Die Partei ruft die Arbeiter auf, sich auf allen Gebieten 
zu organisieren, um ihre Macht zu entfalten und durch alle 
Mittel die Stunde der Revolution zu beschleunigen.“ 


U. EMIL: 


Politische Köpfe. 

XI. 

Landsberg. 

T)IE Ruhe und Ueberlegenheit eines Diplomaten, — die 
^ Geradheit und Ueberzeugungstreue eines sozialen Ketzers. 
Die erste republikanische Regierung der deutschen Nation 
wußte, was sie am ihm hatte, indem sie ihn als ihren Ver¬ 
treter nach Brüssel entsandte. Es ist ein zerklüfteter und 
heißer Boden, mit der Lava des. feurigen Erdbebens von 


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1602 


Politische Köpfe. XI. und XII 


1914—1918 bedeckt, den Landsberg dort vorfindet und auf 
dem er wandeln muß. Aber er ist ein sehr, sehr kluger, 
nüchtern prüfender und bedächtig arbeitender Mann, der 
mit kühler Konsequenz seinen Weg verfolgt. 

Landsberg steht im Alter von 49 Jahren und ist von mitt¬ 
lerer Größe. Seinem Aeußern nach könnte man ihn ganz gut 
für einen Oberlehrer an sehen, wozu sein rotblonder Backen¬ 
bart und sein ruhiges, gemessenes Auftreten noch viel bei¬ 
trägt. In Wirklichkeit ist er von Hause aus Jurist und hat 
bis vor wenigen Jahren den Rechtsanwaltsberuf ausgeübt. 
Und mit Erfolg, — mit einem solchen Erfolge, daß er sich 
schon frühzeitig ins Privatleben zurückziehen konnte. 

„Landsberg ist der einzige Rechtsanwalt, dem es möglich 
war, sich in jungen Jahren zur Ruhe zu setzen“, sagte 
mir mal ein bekannter alter Justizrat. Er hatte seine Praxis 
in Magdeburg und war ein — besonders vom bürgerlichen 
Publikum — stark begehrter Verteidiger. Auch die Arbeiter 
hatten ihn gern zu ihrer Vertretung, und Redakteure, die er 
verteidigt hat, sind des Lobes voll für ihn. So war es nicht 
zu verwundern, daß die Magdeburger Wähler ihn 1912 an 
Stelle des biederen Schlächtermeisters in den Reichstag schick¬ 
ten, wo er sich bald großes Ansehen erwarb. Einen heftigen 
Sturm löste er damals aus, als er im Reichstag beim Kaiser- 
hoch, statt, wie es üblich war bei den Sozialdemokraten, den 
Saal zu verlassen, auf seinem Platze verblieb und stehend das 
Hoch mit anhörte. Die radikale Richtung in der Partei griff 
ihn scharf an, und die Stimmung gegen ihn war so, daß er. 
als ich eines Abends in der Stadtbahn mit ihm zusammentrai 
und ihn begrüßte, ganz bedrückt meinte: „Es tut einem 
ordentlich wohl, wenn man von einem anständigen Menschen 
noch angeredet wird.“ Der Sturm im Wasserglase legte sich 
aber wieder bald und bei den juristischen Debatten im Reichs¬ 
tage schickte ihn die Fraktion oft genug vor, und er ent¬ 
ledigte sich seiner Aufgabe stets mit unleugbarem Geschick. 
Er hatte seinen Wohnsitz später nach Berlin verlegt und 
hörte hier an der Universität im reifen Alter noch Geschichte 
und Nationalökonomie. 

„In meinen jungen Jahren bin ich lieber durch Wald und 
Feld gewandert, als daß ich hinter Büchern saß“, sagte er 
mal gelegentlich eines Spaziergangs. Auch heute noch streift 
er in freien Stunden gern in die Umgegend Berlins hinaus, 
und wenn die Sommerrerien kommen, besteigt er sein Fahrrad 


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Ürigsinal fro-m 

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Politische Köpfe. XI. und XII. 


1603 


und durchfliegt weite Strecken deutschen Landes, um braun* 
gebrannt und frisch gestärkt wieder zurückzukehren. 

Im persönlichen Verkehr ist Landsberg ein Mann von 
vornehmem, sympathischem Wesen, ein liebenswürdiger Plau¬ 
derer und angenenmer Gesellschafter. Als Politiker ein feiner, 
^großzügiger Geist, der zweifellos etwas zu geben hat, und 
dort, wo man ihn hinstellt, immer Ersprießliches leistet. 
Daß die linke Seite ihn heute ablehnt, beweist nichts dagegen. 
Dieselben Leute, die Eisner einstmals gekreuzigt, haben ihm 
nachher Hosianna zugerufen, und Bernstein galt einst auf 
dem linken Flügel nichts, im Kriege galt er sehr viel und 
jetzt gilt er wieder nichts mehr. So wechseln in der Politik 
Stimmungen und Ansichten. 


XII. 

Strobel. 

Literat von Jugend auf, Freund von Liliencron und feiner 
Kenner besonders der schöngeistigen Literatur. Stammt aus 
Marbuig und wurde frühzeitig schon Redakteur an sozia¬ 
listischen Zeitungen und gern gesehener Mitarbeiter von Zeit¬ 
schriften. Heiratete die Tochter eines alten, hochgeschätzten 
Parteivorstandsmitglieds, war lange Jahre in Kiel an der 
„Volkszeitung“ und saß neun Monate im Gefängnis zu 
Glücksburg, auf daß er patriotischer gesinnt werde. Später 
kam er an den „Vorwärts“ in Berlin; und hier entfaltete 
er journalistisch seine ganze Arbeitskraft, so daß seine Mit¬ 
arbeit in der schöngeistigen Literatur immer mehr in den 
Hintergrund trat. 

„Es ist schade um Strobel“, sagte mir einmal gelegentlich 
ein bekannter Redakteur, „daß er ganz und gar in der Politik 
aufgegangen ist,, ich las früher seine schöngeistigen und 
philosophischen Arbeiten sehr gern.“ Wen die Politik aber 
erst einmal hat, den nimmt sie gewöhnlich auch völlig in 
Anspruch, und so ist Strobel nur noch selten zu seiner 
jungen Liebe zurückgekehrt. Vor einiger Zeit gab er zum 
ersten Male Gedichte in Buchform heraus, die von tiefinnerer 
Gemütswärme, von blutfrischem Leben und tatenfroher Kraft 
getragen sind. 

Rednerisch ist Strobel schon als sehr junger Dachs hervor- 
getreten, und ein alter, verstorbener Parteigenosse erzählte 
immer mit großem Vergnügen, wie er einmal Strobel rück- 


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1604 


Politische Kopfe. XI. und XH. 


wärts vom Podium heruntergezogen habe, als er in der 
Rede steckengeblieben war. Als junger Anfänger natürlich, 
denn heute ist Strobel ein gutgeschulter Versammlungs- und 
Parlamentsredner. Als Mitglied des preußischen Landtags 
bildete er den linkesten Flügel und aus der „Vorwärts - 
Redaktion schied er infolge der bekannten Richtungskämpfe. 
Minister war er nur kurze Zeit, da die Unabhängigen bald 
wieder aus der Regierung ausschieden. 

Strobel ist eine einsame, zurückgezogene und tiefangelegte 
Natur. In kinderloser Ehe lebend, ist sein steter Begleiter 
ein kleiner, brauner Dackel (früher war’s ein prächtiger 
Bernhardinerhund). An der Seite einer hochmusikaliscnen 
Gattin lebt er still-friedlich dahin. Wohl steht er mit heißem 
Gefühl auf dem radikalen Flügel der Sozialdemokratie, aber 
nie hat er den Kampf mit vergifteten Waffen oder in ge¬ 
hässigen Formen geführt. Daß er eine durch und durch 
vornehme Natur ist, zeigte er an einem Beispiel vor Jahren. 
Damals starb ein Journalist, den er mit allen Mitteln ge¬ 
fördert und emporgehoben hatte und der ihn später öffent¬ 
lich in unschönster Weise beschimpfte. Diesem Manne wid¬ 
mete er dann einen so ehrenvollen, warmherzigen Nachruf, 
wie ihn der beste Freund nicht schöner hätte schreiben 
können. 

Der Umstand, daß Strobel zur U.S.P. gehört, hindert ihn 
nicht, mit klarem Blick die politischen und wirtschaftlichen 
Verhältnisse zu übersehen und mit der Kritik da einzusetzen, 
wo es notwendig ist. Wer seinen in der „Zukunft“ ver¬ 
öffentlichten Artikel gelesen hat, muß den Mut anerkennen, 
mit dem er so manches ausspricht, was heute zu sagen immer¬ 
hin nicht ganz gefahrlos ist. Er schmeichelt darin durch¬ 
aus nicht den blinden Leidenschaften politisch noch unent¬ 
wickelter Schichten, sondern sagt unverblümt seine Meinung, 
auch wo sie mit der Ansicht der lautesten Wortführer auf 
dem linken Flügel in Gegensatz gerät. 

Alles, in allem ein Mann, ein ganzer Mann, ein schöner, 
reicher Geist, ein guter Mensch, den heiße Freiheitsliebe nach 
links geführt, der sich aber bewußt bleibt, daß nie auf 
einer Seite uneingeschränkt Wahrheit und Recht leben, der 
vielmehr im Grunde seines Herzens fühlt: 

„Menschen, Menschen san wir alle, 

Fehler hat ein jeder gnua . . 


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Ueber dien wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland. 1605 


HANS VON KIESLING: 

Ueber den wirtschaftlichen Aufbau 
in Deutschland. 

etwa eineinhalb Jahre sind ins Land gegangen, seit irii November 
^ 1918 in Deutschland die Revolution ausbrach; in diesen Tagen 
jährt es sich, daß die revolutionäre Idee noch einmal gewaltig auf¬ 
flammte in der Rätediktatur in München, die drei Wochen lang 
das ganze Wirtschaftsleben Bayerns in Fesseln schlug. Seit jener 
Zeit hat sich der Kampf zwischen den einander widerstreitenden 
Ideen von der Straße in die Versammlungen zurückgezogen, das 
Volk ist in gewissem Sinne zu Ruhe und Ordnung zurückgekehrt. 
Unter diesen Umständen ist es vielleicht an der Zeit, einmal das 
Fazit der Revolution zu ziehen und festzustellen, in welcher Weise 
und ob die revolutionären Errungenschaften den gewaltigen durch 
den verlorenen Krieg aufgeworfenen Wirtschaftsproblemen gerecht 
wurden. 

Als praktische Erfolge der Revolution können wir buchen die 
Demokratisierung des Staates, die Einführung einer parlamenta¬ 
rischen Regierungsform an Stelle einer halb absolutistischen, eine 
größere Wertung der Handarbeit und verbunden damit die wirt¬ 
schaftliche Besserstellung des Arbeiters und die Sicherung eines 
gewissen Einflusses der schaffenden Arbeit auf die Betriebsleitung. 
Als greifbare Resultate der revolutionären Entwicklung liegen uns 
auf politischem Gebiet die neue deutsche Verfassung, auf wirt¬ 
schaftlichem Gebiet das eben verabschiedete Betriebsrätegesetz 
vor. Auch in bezug auf die Vereinheitlichung des Reiches ist ein 
großer Schritt nach vorwärts getan. Durch den Wegfall der Finanz-, 
Militär- und Verkehrshoheit bei den Gliedstaaten ist der Reichs¬ 
gedanke weiter ausgebaut worden, Deutschland geht dem Einheits¬ 
staat entgegen. Gewisse Auswüchse, die der Kampf der Straße, 
das Aufschäumen der revolutionären Gedanken mit sich gebracht 
haben, sind mehr oder weniger verschwunden. Langsam beginnt 
eine gewisse Erstarkung der Autorität, ohne die geordnete Ver¬ 
hältnisse unmöglich sind, sich geltend zu machen. 

Trotz dieser unleugbaren Errungenschaften ist es auch dem neuen 
deutschen Staat noch nicht gelungen, den ungeheuren Anforderungen 

g erecht zu werden, die die Folge des verlorenen Weltkrieges sind. 

»ie schwere Erkrankung, an der unser deutsches Volk leidet, und 
die — es kann nicht deutlich genug ausgesprochen werden — 


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1606 lieber den wirtschaftlichen Aufbau in OattsdtMi 


hervorgerufen wurde durch die Niederlage im Weltkrieg, durch 4M 
ungeheuren innen- und außenpolitischen Fehler der Staatsmänner 
der Kriegszeit, durch die Ueberspannung der wirtschaftlichen Be¬ 
tätigung seitens der Kriegsgesellschaften, schließlich durch das 
wirtschaftliche und finanzielle Gebaren der Leiter des deutschen 
Wirtschaftslebens während des Krieges, ist noch nicht behoben. 

bi der Industrie haben wir auf der einen Seite eine durch die 
große Nachfrage bedingte Hochkonjunktur, der insbesondere die¬ 
jenigen Unternehmungen gerecht werden können, die dank guter 
Verbindungen mit den Verteilungsgesellschaften während des 
Krieges Rohstoffe gehamstert haben. Auf der anderen Seite stehen 
große Betriebe trotz einer Flut von Aufträgen still, weil ihnen die 
Rohstoffe fehlen und unser niedriger Valutastand ihren Einkauf im 
Auslande verhindert. Der Mangel an Waren hat enorme Preis¬ 
steigerung zur Folge und diese wieder ruft Lohnstreiks hervor, 
die die Produktion stören. Schließlich bedingen die fast uner¬ 
schwinglichen Rohstoffpreise und das Steigen der Löhne ein An¬ 
ziehen der Preise der Fertigprodukte, die für die Mehrzahl der 
Deutschen die Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse durch 
Kauf der Gegenstände des täglichen Bedarfs fast ausschließen. 
Nur Schieber, Kettenhändler und Großhamsterer sind diesen Preisen 
noch gewachsen. Dabei wird von verschiedenen Betrieben das 
Fertigprodukt zurückgehalten, um die Preise nicht zu drücken; 
alle Kosten werden auf den Konsumenten abgeladen, das Be¬ 
streben, hohe Dividenden für die einzelnen Unternehmer heraus¬ 
zuwirtschaften, beherrscht heute trotz der auf den Schultern des 
deutschen Volkes liegenden Last die Leiter der Produktion. Von 
manchen wurden die gesunden Prinzipien des anständigen Handels 
verlassen; für viele besteht nur das Streben einer rücksichtslosen 
Ausbeutung des den Produktionssyndikaten hilflos ausgelieferten 
Verbrauchers. Ueberall schließt sich die Landwirtschaft, die während 
des Krieges große Gewinne eingeheimst hat und all ihre Schulden 
abtragen konnte, in Genossenschaften zusammen. 'Der Kampf 
gegen die allgemeine Zwangsbewirtschaftung, die dem wirtschaft¬ 
lich Schwachen allein noch ein gewisses Minimum an Lebens¬ 
mitteln sicherte, wird mit aller Kraft und allen Mitteln geführt. 
Heute ist schon mit Rücksicht auf die Bewaffnung auf dem flachen 
Lande draußen die Kontrolle der landwirtschaftlichen Produktion 
fast unmöglich geworden. Wir stehen in dieser Beziehung — 
wenigstens in Bayern — vor Verhältnissen, die in absehbarer Zeit 
zu einer absoluten Diktatur der landwirtschaftlidten Genossen¬ 
schaften in bezug auf die Preise der Lebensmittel führen werden. 


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ütbtr de» wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland. 1607 


Der dann entbrennende Kampf zwischen Stadt und Land wird zur 
Niederlage der Stadt führen. 

Das ständige Anziehen der Lebensmittelpreise hat fortgesetzte 
neue Lohn- und Gehaltsforderungen der Beamten, Arbeiter und 
Angestellten zur Folge. Aber trotz der relativ hohen Summen, 
welche heute auch der einfachste Arbeiter bezieht, ist diese Kate¬ 
gorie der nebenhergehenden Preissteigerung aller Bedarfsartikel 
nicht gewachsen. Der Mittelstand, die^ kleinen Handwerker, das 
Heer der geistigen Arbeiter, auch der arbeitsunfähige kleine Rentner 
stehen heute bereits vor dem Verhungern. 

So, hat diese ständige Preissteigerung eine Schraube ohne Ende 
erzeugt, die Zustände schafft, denen keine auch noch so ein¬ 
schneidende Steuergesetzgebung gerecht werden kann. 

Von grundlegender Bedeutung für das ganze Wirtschaftsleben 
hat sich die Kohlenfrage und die Frage des öffentlichen Verkehrs 
erwiesen. Die durch den vierjährigen Krieg verringerte Arbeits¬ 
fähigkeit, die allgemeine von niemand zu leugnende Arbeitsunlust 
und der Wunsch immer mehr zu verdienen, hat ein ständiges 
Sinken der Kohlenförderung nach sich gezogen. Trotz der Zentrali¬ 
sierung der ganzen Kohlenverteilung entspricht diese weder den 
Bedürfnissen, noch ist ein geregelter alle Transportmittel über¬ 
sichtlich ausnutzender Abtransport gelungen. Die Notwendigkeit 
der Erfüllung der uns durch den Friedensvertrag auferlegten Kohlen¬ 
lieferungen an das Ausland verringert weiter das Quantum der für 
Deutschland zur Verfügung stehenden Brennmittel. 

Nie ist der Kapitalismus so mächtig gewesen wie jetzt, trotz 
der sozialdemokratischen Richtung, die unser Staatswesen genommen 
hat Die großen Syndikate und Unternehmer tun, was sie wollen; 
nie hat das Kapital den wirtschaftlich Schwachen, den Verbraucher, 
schamloser ausgebeutet wie heute. Auf der Börse werden infolge 
des Mangels einer staatlichen Kontrolle des Geld- und Devisen¬ 
wesens in Augenblicken große Vermögen umgesetzt, alle Sozia¬ 
lisierungstendenzen scheitern an dem hartnäckigen Widerstand des 
Kapitalismus. Der Dividendenwucher blüht wie noch nie zuvor. 
Aussichtslos ist dagegen der Kampf, den das Reich durch die 
Steuergesetze führt. Man sucht den kapitalistischen Auswüchsen 
mit den Mitteln des alten kapitalistischen Wirtschaftsgedankens 
zuleibe zu gehen und übersieht dabei, daß man sich in einem 
circulus viciosus bewegt, unfähig, die furchtbare Notlage, in der wir 
uns befinden, zu bessern. 

Nur eine grundsätzliche Aenderung unserer Wirtschaftsordnung 
kann uns aus den chaotischen Verhältnissen, in denen wir uns 


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1608 Ueber den wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland. 


befinden und die schlechter und schlechter werden, herausführen. 
Nur ein Mittel, allerdings ein großzügiges und in das Leben der 
ganzen Nation schwer einschneidendes, das uns aus unserer 
schlimmen Lage befreien kann: das ist die Einführung der rück¬ 
sichtslosen, gerecht, einheitlich und ganz gleichmäßig gehand- 
habten Arbeitspflicht jedes Deutschen. Man wende mir nicht ein, 
daß die Durchführung einer solchen Maßnahme unmöglich sei. Das 
Deutsche Reich hat ein halbes Jahrhundert lang die schwere Bürde 
der allgemeinen Wehrpflicht getragen, die rein abstrakten Zwecken 
diente. Warum soll die allgemeine Arbeitspflicht, die Deutschland 
aus dem Chaos herausreißt, die Werte produziert, nicht durchge¬ 
führt werden können. So gut Deutschland in früheren Jahren 250000 
Rekruten jährlich einstellte und ein Heer von rund 600000Mann unter¬ 
hielt, kann es heute eine ebenso große oder noch größere Arbeits¬ 
armee schaffen und großzügig verwenden. Während des Krieges 
hat die Durchführung des Hilfsdienstgesetzes den Weg gezeigt, auf 
dem allein eine Gesundung der deutschen Volkswirtschaft gefunden 
werden kann. Das die allgemeine Arbeitspflicht regelnde Reichs¬ 
gesetz muß sich auf dem Grundsatz aufbauen, daß jeder Deutsche 
einen gewissen Teil seines Lebens der Allgemeinheit, der Nation 
gegenüber zur entgeltlosen Arbeitsleistung verpflichtet ist Als 
Grundlage kann, entsprechende Aenderungeü vorausgesetzt, unser 
altes Wehrpflichtgesetz herangezogen werden. 

Wie früher zum Dienst mit der Waffe, wird für die Zukunft der 
zwanzigjährige Deutsche zum Arbeitsdienst in den lebenswichtigen 
Betrieben des Staates einberufen. Musterungs- und Aushebungs¬ 
kommissionen sorgen für die Verteilung der einrückenden Arbeits¬ 
rekruten auf die verschiedenen Tätigkeiten innerhalb der Betriebe, 
je nach ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit. Weder Reichtum 
noch Name entbindet von der Ableistung dieser vaterländischen 
Pflicht. Niemand kann, ohne daß er die Erfüllung dieser Pflicht 
nachweisen kann, in irgendeiner staatlichen, privaten, gewerblichen 
Tätigkeit verwendet werden; bei jeder Anstellung, bei der Zu¬ 
lassung zu den Bildungsanstalten usw. müssen die Arbeitspflicht¬ 
papiere in Ordnung sein. 

Die Verwendung des Arbeitsheeres allein schafft dem Staat die 
Möglichkeit, die Kohlenproduktion wesentlich zu erhöhen, ohne 
daß der Preis ins Ungemessene steigt und dadurch den kräftigen 
Unterbau für unser gesamtes Wirtschaftsleben zu schaffen. 

In erster Linie werden die Arbeitspflichtigen in den Kohlen¬ 
bergwerken zu arbeiten haben. Gewiß entsteht dadurch eine Art 
Konkurrenz gegenüber den heutigen Berufsbergleuten. Sie ist 


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Ueber den wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland. 1609 


aber ganz ohne Belang, weil man die alten Bergarbeiter in ähn¬ 
licher Weise wie im alten Reichsheer die Kapitulanten und unter 
Aufrechterhaltung ihrer Bezüge beibehalten kann und sie gewisser¬ 
maßen als Unteroffiziere zur Anleitung, Führung der Arbeits¬ 
rekruten verwenden wird. Neue bezahlte Kohlenarbeiter werden 
nicht mehr eingestellt. 

Durch die Vermehrung des arbeitenden Personals in den Kohlen¬ 
bergwerken wird in erster Linie der -große Vorteil erzielt, daß 
ständig sich abwechselnde Schichten schürfend und fördernd tätig 
sind, die Produktion an Kohle damit beliebig gesteigert werden 
kann. Andererseits hat die Wiedereinführung einer Art Dienst¬ 
pflicht die Hebung der Moral, der ethischen Anschauungen im 
Volke zur Folge. Der Arbeitsrekrut gewöhnt sich wieder an 
Disziplin und Unterordnung, er lernt wirklich arbeiten und erhält 
eine gewisse praktische Wertschätzung der körperlichen Arbeit, 
die ihm für seine spätere Zukunft nur nützlich sein kann. 

Bei richtiger Durchführung des Gesetzes dürfte gerade der 
demokratische Gedanke der absoluten Gleichheit aller Staatsbürger 
gegenüber den Anforderungen der Allgemeinheit besonders zum 
Ausdruck kommen. 

Unser Wirtschaftsleben krankt aber auch vor allem an unseren 
mangelhaften Verkehrsverhältnissen. Die größte M#nge geschürfter 
Kohle zerfällt nutzlos auf den Halden in Staub, wenn die Ver¬ 
kehrsmittel des Reichs nicht imstande sind, sie rasch und den 
Wirtschaftsbedürfnissen entsprechend abzutransportieren. 

Die Verkehrsmittel sind ein lebenswichtiger Betrieb des Staats. 
Auch hier muß die Arbeitspflicht einsetzen, um die Leistungen 
des Verkehrspersonals wieder auf die Höhe hinaufzuschrauben, 
wie sie vor dem Kriege war, ohne der Staatskasse die ungeheuren 
Ausgaben aufzuerlegen, die der Betrieb heute erfordert. Scharf 
disziplinierte Angehörige des Arbeitsheeres werden imstande sein, 
die Leistungen der Eisenbahnwerkstätten wesentlich zu erhöhen, 
sie werden auch innerhalb des Betriebs eine ganze Menge von 
Dienstleistungen erfüllen können, zu denen Fachkenntnisse nicht 
nötig sind. 

Die Verkehrsmittel sind im allgemeinen Staatsbetrieb. Es besteht 
keine Schwierigkeit, Arbeitspflichtige in immer größerer Zahl dort 
einzustellen. Anders liegen die Dinge bei den Kohlenbergwerken. 

Es kann von dem Arbeitspflichtigen nicht verlangt werden, daß 
er die Kraft seiner Jugend dafür hergebe, um die Profite der 
Kohlenbarone zu erhöhen, um die Dividendenauszahlungen der 
Kohlenpapiere zu steigern; die Arbeitspflicht kann nur der Ge- 


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1610 Ueber den wirtschaftlichen Aufbau m Onüddini 


samtheit des Volkes geleistet werden. Die logische Folgerung 
der Einführung der Arbeitspflicht ist die Forderung nach dar 
Nationalisierung der Kohlenbergwerke, nach der Ueberführung 
dieses wichtigsten Produktionsmittel in den Besitz der Allge¬ 
meinheit, und damit nach der Monopolisierung der gesamten 
Kohlenproduktion im Lande durch den Staat. . 

Eine auf solcher Basis aufgebaute gründlichere Ausnutzung 
unserer Produktionsmittelvorräte schafft die Arbeitsmögiichkeittn 
für die gesamte Industrie in Deutschland, sorgt für Versorgung 
der Landwirtschaft mit Arbeitskohle und gibt dem Lande ge¬ 
nügendes Brennmaterial für den Hausbrand. Nur so können wir 
den durch den Friedensvertrag uns auferlegten Lieferungen an 
das Ausland entsprechen. Nur so können wir in ganz Deutschland 
die gewaltige Anspannung der gesamten Produktion erzielen, die 
allein den deutschen Kredit hebt, zur Steigerung der Valuta führt, 
den Preisabbau ermöglicht und dadurch die schwere Krise fiber¬ 
windet, die unsere Wirtschaft augenblicklich bedrückt. 

Auf dem festen Fundament der durch die Arbeitspflicht ge¬ 
sicherten Produktionsmittelerzeugung kann sich dann das solide 
Gebäude der deutschen Industrie, des deutschen Handels, des 
deutschen Gewerbsfleißes und der Landwirtschaft aufbauen, ohne 
daß es nötig ist, die freie Tätigkeit durch beengende Gesetzes¬ 
paragraphen, beaufsichtigende Behörden, und Sperrmaßregeln aller 
Art zu belästigen. 

Jeder Unternehmungslust, der Initiative des einzelnen und der 
Allgemeinheit kann dann freiester Spielraum gelassen werden, 
wenn die Allgemeinheit durch den Besitz und die Bewirtschaftung 
der Produktionsmittel es stets in der Hand hat, die Entwicklung 
der freien Handels- und Industrietätigkeit in der Richtung zu be¬ 
einflussen, in der Staat und Volk davon den größten Vorteil 
erwarten. Darin besitzt der Staat den großen Regulator, um ohne 
Gesetzesmacherei und beengende Vorschriften Auswüchsen ent- 
gegenzutreten und die Rechte der Allgemeinheit zu sichern. Er hat 
es jederzeit in der Hand, Industrien, die nicht nach gesunden 
kaufmännischen Prinzipien arbeiten, landwirtschaftlichen Genossen¬ 
schaften, die diktatorisch vom Verbraucher übertriebene Lebens¬ 
mittelpreise fordern, durch entsprechende Sperrung der Kohlen¬ 
lieferung zur Ordnung zu rufen. Er hat es in der Hand, dem 
Kapital sowohl, wie dem Bauern gegenüber die Rechte der All¬ 
gemeinheit, unter Umständen mit aller rücksichtslosen Energie, 
durchzusetzen. Andererseits wird er dem Wirtschaftsleben die 
größte Freiheit lassen können. Er hat es nicht nötig, in der 


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lieber den 'wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland. 1611 


Sozialisierung weiter zu gehen als mit der Zeit durch Nationali¬ 
sierung alle Produktionsmittel in seine Hand zu bringen. 

Je mehr Kohle produziert wird, um so mehr kann sich der 
Fabrikbetrieb ausdehnen, eine um so größere Menschenzahl kann 
er beschäftigen; das Problem der Arbeitslosigkeit und der Ueber- 
produktion an deutschen Menschen löst sich von selbst. Es 
besteht nicht die geringste Gefahr, daß zu viel Ware fabriziert 
werden könnte, denn es wird Menschenalter dauern, bis der 
Hunger der Welt nach Ware, herbeigeführt durch den Raubbau 
des Krieges, wieder befriedigt ist. Diejenige Nation wird den 
größten Anteil am Welthandel haben, die rechtzeitig rasch und 
großzügig ihr ganzes Wirtschaftsleben auf die neuen Verhältnisse 
einstellt, die als furchtbare Folgen des Krieges über ganz Europa 
hereingebrochen sind. 

Ich wiederhole daher als Forderungen, die allein das Wirtschafts¬ 
leben neu und gedeihlich aufbauen können: 

1. die Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht, 

2. die Nationalisierung der Kohlenbergwerke und 

3. die Ueberftihrung aller Produktionsmittel (Wasserkraftanlagen, 
elektrische Energien usw.) in den Besitz des Staates. 

Daß dem Staatsbetrieb gewisse Mängel anhaften, ist zweifellos. 
Die Gefahr der Kraftverschwendung, die Ausschaltung kaufmän¬ 
nischen Denkens, Bureaukratismus in übelster Form sind die Er¬ 
scheinungen, die in solchen Betrieben auftreten. Daß unsere neue 
republikanische Staatsform mit der Bureaukratie aufgearbeitet habe, 
ist ein großer Trugschluß. In vielen Staatsanstalten ist heute eine 
schlimmere bureaukratische Form maßgebend geworden, als in 
der Zeit des überlebten Kaiserreichs. 

Aber wenn ein Fehler erkannt ist, kann er auch vermieden 
werden. Mir erscheint es hoch an der Zeit, daß eine frischere 
Luft, die Luft freierer, schöpferischer Auswirkung an die Stelle 
des bureaukratischen Zopfes tritt, der in vielen unserer Kanzleien 
noch geübt wird. An der Spitze der Staatsbetriebe müssen ge¬ 
wandte tüchtige Kaufleute stehen, die gesunde wirtschaftliche 
Prinzipien vertreten; in allen Angelegenheiten, die den Wirtschafts¬ 
betrieb des Staates betreffen, müssen Wirtschaftspolitiker aus¬ 
schlaggebenden Einfluß besitzen. 

Die größte Schwierigkeit zur Durchführung der Arbeitspflicht 
und der Nationalisierung sehe ich in dem Erbübel des Deutschen, 
in seiner politischen Zersplitterung. Die Parteien und Parteichen, 
deren Zahl durch die Revolution nicht geringer geworden ist, 
sind eingeschworen auf Parteiprogramme, die infolge des Zusam- 


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1612 Ueber den wirtschaftlichen Aufbau in Deutschlafikl. 


menbruchs Europas im Weltkrieg vielfach' ihre Bedeutung ver¬ 
loren haben. Politische Schlagworte, wie Demokratie, Monarchie, 
Parlamentsregierung usw. spielen eine größere Rolle als Gedanken 
über die Lösung des schweren wirtschaftlichen Konflikts, unter 
dem nahezu die ganze Welt erzittert. 

Die Staatsform hat heute eine viel geringere Bedeutung für die 
deutsche Allgemeinheit, als die Auflösung des wirtschaftlichen 
Chaos, in dem wir zu versinken drohen. Man weiß heute all¬ 
gemein, daß uns nur eine Steigerung der Produktionskraft retten 
kann, wendet aber, um dieses Ziel zu erreichen; nur die Mittelchen 
des alten Wirtschaftssystems an und sucht mit Gesetzesparagraphen, 
Vorschriften und papierenen Verfügungen einen Erfolg da zu 
erzielen, wo nur eine gründliche Veränderung der Wirtschafts¬ 
organisation helfen kann. Wir befinden uns heute in der Lage 
eines Patienten, dessen innere Organe in schwerste Unordnung 
geraten sind; ein rascher, entschlossener operativer Eingriff kann 
ihm das Leben retten, Medikamente und Sympathiemittelchen aller 
Art verlängern nur seine Agonie. 

Die Steuergesetze, die heute Deutschland überfluten, sind von 
niemand mehr übersehbar. Auch gewandte Finanzleute kennen 
sich in dem Heer von Paragraphen, das aus dieser Pandorabüchse 
entspringt, nicht mehr aus. Niemand weiß heute, über welche 
Mittel er morgen verfügen kann; wirtschaftliche’ Initiative, Unter¬ 
nehmungslust, die wir gerade heute so notwendig brauchen, 
werden durch diesen Hagel unausgeführter Steuergesetze direkt 
unterbunden. Allerdings den einen Erfolg haben sie bis jetzt 
gehabt, daß Finanz- und Rentämter unter ihnen zusammenge¬ 
brochen sind, und daß in großen Städten heute noch nicht einmal 
das Steuersoll für das erste Halbjahr von 1919 errechnet und ein¬ 
gehoben ist. 

Mir erscheint es höchst zweifelhaft, daß durch diese Art der 
Wegsteuerung des ohnehin mehr oder weniger wertlosen Papier¬ 
besitzes der Allgemeinheit der. Staat in den Stand gesetzt werde, 
seine Verpflichtungen zu erfüllen, um so weniger als das ständige 
Steigen der Preise für Gehälter usw. die Lasten des Staats ins 
Ungemessene erhöht. 

Wie ein Ertrinkender nach dem erkannten Strohhalm sieht sich 
die deutsche Regierung danach um, das Ausland dazu zu ver¬ 
anlassen, Geld in die bankrotte Wirtschaft Deutschlands zu stecken. 
Man übersieht dabei vollkommen, daß ein so schwer kranker 
Wirtschaftskörper wie derjenige Europas nicht durch ins Land 
strömende, die Schuldenlast ins Ungeheure vermehrende Gold- 


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Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Leipziger Messe. 1613 

und Silbermassen des Auslandes gehoben werden kann, sondern 
daß nur eigene Kraft uns wieder emporzubringen vermag. Nur 
sie allein rettet uns davor, die Arbeitssklaven Amerikas zu werden. 

Meiner Anschauung nach steckt trotz all der häßlichen Er¬ 
scheinungen, deren Zeuge wir sind, eine gesunde Kraft im 
deutschen Volke. Es handelt sich nur darum, daß es sich seiner 
Kraft bewußt wird und sich dann energisch und rücksichtslos zu 
der gewaltigen Kraftleistung auf rafft, die es rettet. Ich bin mir 
über die Schwierigkeiten, die der Verwirklichung meiner Vor¬ 
schläge entgegenstehen, durchaus im klaren, halte sie aber nicht 
für unüberwindlich. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. 
Wenn die Majorität des deutschen Volkes einsieht, daß nur die 
großzügige Umformung der Volkswirtschaft, die Einführung der 
allgemeinen Arbeitspflicht und die Nationalisierung der Produktions¬ 
mittel die deutsche Wirtschaft und damit die europäische Kultur 
vor dem Untergang retten kann, so wird sie auch die Männer 
finden, deren soziales Empfinden mit überragender Intelligenz 
gepaart ist, und die Mut, Entschlossenheit*und Verständnis genug 
besitzen, um die rücksichtslose Durchführung einer neuen moder¬ 
neren Wirtschaftsform zu erzwingen und dadurch die feste Basis 
zu schaffen für aufbauende Arbeit und aufwärtsführende Entwicklung. 
Aber es scheint mir die höchste Zeit für einen durchgreifenden, 
zielbewußten Entschluß. 


FRIEDR. TH. KÖRNER: 

Die volkswirtschaftliche Bedeutung 
der Leipziger Messe. 

p\ie Berichte, die über das Ergebnis der diesjährigen Leipziger 
Frühjahrsmesse veröffentlicht worden sind, sprechen sich fast 
einmütig dahin aus, daß die Messe als ein Erfolg ohnegleichen 
und als ein Zeichen der Unverwüstbarkeit unserer Volkswirtschaft 
anzusehen sei. Und wer Gelegenheit hatte sich mit ausländischen 
Vertretern des Handels und der Presse während der Meßtage in 
Leipzig zu unterhalten, der wird auch aus ihrem Munde die 
Bestätigung erhalten haben, daß der Verlauf dieses Riesenunter¬ 
nehmens alle ihre Erwartungen weit übertroffen habe. Trotzdem 
sollte man nicht verallgemeinern und von der glänzenden äußeren 
Hülle nicht zu weit gehende Schlüsse auf die wirtschaftliche Lage 


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1614 Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Leipziger Messe. 


ziehen» wie sie in Wirklichkeit ist Das Ergebnis der Messe 
könnte in der Tat als glänzend bezeichnet werden, wenn man es 
allein nach den ungeheuren Summen, die hier umgesetzt worden 
sind und nach der Zahl der Besucher beurteilen wollte. Von 
diesem Standpunkt aus könnte man gewiß annehmen, daß das 
Barometer unseres Wirtschaftslebens bereits wieder auf »Schön* 
angelangt sei. Aber bei derartigen Verallgemeinerungen herrscht 
doch ein Optimismus vor, der keineswegs seine Berechtigung hat. 
Bei einer Institution, die von so viel Licht umstrahlt ist, wie die 
Leipziger Messe, darf man auch nicht den Schatten übersehen. 
Wägt man dann das »dafür* und das »dawider* ab, so wird man 
bei gerechter Beurteilung ein sachliches Bild von der Leipziger 
Messe und dem Stand unserer heutigen Wirtschaftslage erhalten. 

Der Sinn der Messe und ihr erzieherischer Wert liegt darin, daß 
es sich hier um eine Angelegenheit der gesamten deutschen Volks¬ 
wirtschaft handelt. Leipzig, im Herzen Deutschlands, gelegen, mit 
hervorragenden Post- und Eisenbahnverbindungen, der Sitz und 
Mittelpunkt der wertvollsten Industrien des.Reiches, ist von jeher 
zu einem Zentralmarkt des internationalen Handels prädestiniert 
gewesen. Auch in Zukunft wird sich in Leipzig der ganze deutsche, 
ja vielleicht der europäische Exporthandel konzentrieren. Der 
Sammelpunkt wird die Leipziger Messe sein, die ihren eigentlichen 
Sinn dann voll zur Geltung bringen kann: die Vermittlung 
zwischen Angebot und Nachfrage zu bilden und alle Produkte zu 
gleicher Zeit an einem Ort zu vereinigen. Da der Exporthandel 
ganz von selbst ins Ausland weist und während des Krieges sich 
zuerst die Neutralen und seit 1918 auch wieder die bisher feind¬ 
lichen Ausländer in immer größerer Zahl in Leipzig einfanden, so 
war es erklärlich, daß die diesjährige Frühjahrsmesse mit 106000 
Besuchern einen internationalen Rekord davon tragen konnte, 
während sie 1916 erst gegen 25000 Besucher hatte aufweisen 
können. Die Messe bedarf also weniger der Reklame im Ausland, 
das schon ganz von selbst kommt, als eines größeren Verständ¬ 
nisses im Inland. Gerade die arbeitenden Kreise, die als Hand- 
und Kopfarbeiter die Waren und Werte zur Messe schaffen, sollten 
immer mehr die Bedeutung der Messe erkennen lernen. 

Welchen Wert hat nun die diesjährige Messe für unseren Aus¬ 
fuhrhandel gehabt? Es ist natürlich schwer, eine Schätzung vor¬ 
zunehmen, in welchem Verhältnis die In- und Auslandskäufe zu¬ 
einander gestanden haben. Nach eigenen Recherchen kann man 
etwa sagen, daß etwa zwei Drittel aller Verkäufe mit dem Inland, 
ein Drittel mit dem Ausland abgeschlossen wurde. Mit Rücksicht 


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Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Leipziger Messe. 1615 


auf unsere heutige Wirtschaftslage kann man dieses Ergebnis als 
glänzend bezeichnen und auch auf dem Gebiete der Ausfuhr von 
einer Konsolidierung unserer Wirtschaftslage sprechen. Es wäre 
als eine neue Aufgabe der Messeleitung zu fordern, daß alsbald 
nach Schluß der Messe den deutschen Wirtschafts- und Fabrikanten¬ 
kreisen Mitteilungen darüber zugingen, welche Preise für die einzelnen 
Warengruppen im Exportverkauf erzielt und welche Erfahrungen 
hinsichtlich der Ausfuhrpolitik gesammelt worden sind. Je mehr 
die auf der Messe gemachten Erfahrungen des gesamten deutschen 
Exporthandels in den maßgebenden Kreisen verbreitet werden, 
um so geschlossener wird unser Handel dem Ausland gegenüber 
in allen Preisfragen entgegentreten können. 

Es ist ein außerordentlich erfreuliches Zeichen, daß sich der 
deutsche Exporthandel schon wieder auf den Weltmarkt hinaus 
wagt, eine Tatsache, Hie kürzlich auch in einer Versammlung 
englischer Eisen- und Stahlwerkfabrikanten zugestanden wurde. 
Gerade die Leipziger Messe hat wieder Mittel und Wege gezeigt, 
wie wir unsere alte, weltwirtschaftliche Geltung zurückgewinnen 
können. Von jeher waren es Qualitätsarbeit und Anpassungs¬ 
fähigkeiten die Bedürfnisse und Kreditverhältnisse der ausländischen 
Märkte, die.einen Milliardenstrom in unser Land geleitet hatten 
und die das Leben-bei uns vor dem Kriege so billig und aus¬ 
kömmlich erschienen ließen. Dieses Streben nach Qualität trat auf 
der Messe deutlich in die Erscheinung und viele Industrien wenden 
sich immer mehr vom Ersatz ab, um durch gute Ware den Aus¬ 
landsmarkt wiederzüerobern. Leider kann man nicht, wie das in 
normalen Wirtschaftszeiten der Fall war, sagen: „Durch gute und 
billige Ware“. Denn das Wort „billig“ war auf der diesjährigen 
Messe überhaupt nicht mehr zu hören. Nun lag es zum Teil daran, 
daß das Ausland nur besonders wertvolle Industrien begehrte, wie 
z. B. Maschinen, Waren der Elektrotechnik, Leder- und Luxuswaren. 
Hier wurden Preise gezahlt, die einfach jeder Beschreibung spotten, 
wenn man bedenkt, daß Ledertaschen zwischen 3000 und 5000 Mark 
schwankten und eine Wiener Fabrik kaum Gegenstände unter 
2000 Kronen anzubieten vermochte. Selbst das Ausland sträubte 
sich vielfach, diese Preise zu zahlen, zumal noch Valutazuschläge 
berechnet wurden. 

Dieses Kauffieber und das Kaufen der Ware um jeden Preis, 
wie es auf der Messe in die Erscheinung trat, ist ein Ungesunder 
Zustand, der auf unser Wirtschaftsleben vernichtend wirken muß. 
Auch hier erfüllt sich zwar nur die alte volkswirtschaftliche Erfahrung, 
daß Nachfrage und Angebot die Preise regeln. Und das Cha- 


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1616 Pie volkswirtschaftliche Bedeutung der Leipziger Messe» 

rakteristikum der Messe war eine ungeheure Nachfrage, aber eia 
Angebot, das sich bezüglich Zahl, Frist und Preis der zu liefernde^ 
Ware alle Vorbehalte machte. Hier liegt zweifellos eine schädigende 
Wirkung der Messe vor, weil,sie die Aussteller geradezu dast 
verleitet, der gut zahlenden und viel einkaufenden Kundschaft 
Angebote zu machen, die sie bei den heute herrschenden Schwierige 
keiten häufig gar nicht erfüllen kann. Und leider hat infolge dieser 
Zustände auch im Ausland die Mißstimmung gegen den deutschen 
Kaufmann und seine alte Reellität Platz gegriffen, weil er vielfach 
trotz fester Verträge die Lieferungspflichten nicht einhalten kann. 
Besonders die Schweizer und Holländer betonten wiederholt, daß 
sie die alte Reellität und die Einhaltung der Vertragstreue durch 
den deutschen Geschäftsmann wieder lebhaft herbeiwünschten. 
Auch bei zahlreichen deutschen Fabrikanten selbst erregte diese 
ungesunde Geschäftsentwicklung starkes Bedenken, und man hörte 
vielfach den Wunsch, daß im Interesse unserer Volkswirtschaft ein 
Ausweg gefunden werden müßte, um das wilde und fieberhafte 
Anbieten in normale Grenzen zu leiten. Die Messe darf nicht 
dazu verleiten, das Ausland in der Belieferung zu bevorzugen, 
weil es kapitalkräftiger ist. Gerade die Messe könnte uns eine 
Lehre sein, daß wir planmäßig wirtschaften müssen und daß auf 
irgendeine Weise festgelegt werden muß, wieviel wir für das Inland 
produzieren und wieviel wir an das Ausland zu Weltmarktpreisen 
abgeben können. 

Denn schließlich muß die Leipziger Messe, wie die Verhältnisse 
heute liegen, in erster Linie doch auch daran denken, den Inlands¬ 
markt zu versorgen. Deutschland,* das durch den langen Krieg 
ausgesogen und seit einem Jahr planmäßig ausverkauft wird, 
hungert mehr als alle andern Länder nach Ware, und wie es sich 
auf der Messe gezeigt hat, vor allem nach Bedarfsware. Leider 
haben sich die ungeheuren Preise auch auf diese alltäglichen 
Gebrauchswaren übertragen und immer wieder mußte man sich 
auf den Rundgängen durch die Meßpaläste fragen, wie eigentlich 
die auf Lohn und feste Besoldung angewiesenen Volksschichten 
überhaupt noch irgendeinen der ausgestellten Gegenstände für den 
alltäglichen Lebensbedarf erschwingen sollen 1 Das gilt sowohl 
für Erzeugnisse der Textilindustrie, der Keramik, der Metallindustrie, 
als auch für die wichtige Möbelbranche. Wenn hier ein im Oktober 
1919 bestelltes Zimmer noch mit 5750 Mark geliefert werdeü 
konnte, so muß der Fabrikant dafür heute 15 000 Mark verlangen. 
Dabei steht für Möbel in wenigen Wochen eine neue Preiserhöhung 
um das 13- bis 15-fache bevor ! Der bekannte Ruf nach Annäherung 


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Qrigiral frorri 

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Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Leipziger Messe. 1617 

an die Weltmarktpreise bürdet zugleich dem eigenen Volke 
Lasten auf, die es über kurz oder lang nicht mehr wird 
tragen können. Deshalb müßte auch hier nach einer neuen 
Lösung durch die Messe gesucht werden. Viel mehr als 
bisher sollten die Bedürfnisse .des Inlandmarktes berück¬ 
sichtigt werden, die aber nicht mir einem zahlkräftigen Publi¬ 
kum angepaßt werden dürften, sondern die besonders den 
armen Klassen gerecht werden müssen. Die Waren brauchen 
nicht als Schund geliefert werden, aber sie können ein¬ 
fachen Bedürfnissen in schlichter und solider Weise ent- 
gegenkommen. Eine Industrie dieser Art war auf der Messe 
überhaupt nicht vertreten, wogegen sich andere Artikel als 
„meßfähig“ erwiesen haben, die nur als Luxus ihre Berech¬ 
tigung hatten. 

Die preisverteuernden Ursachen sollen durchaus nicht unter¬ 
schätzt werden, aber in den deutschen Fabrikanten muß 
sich auch endlich wieder die Erinnerung an vergangene 
und normale Geschäftszeiten durchringen, wo es nur ein 
Prinzip für ihn gab, wenn er vorwärts kommen wollte: 
billiger liefern als die Konkurrenz. Dieses Prinzip hat teil¬ 
weise schon wieder auf der diesjährigen Messe den Sieg 
davongetragen. Und je gesunder sich allmählich unsere 
Wirtschaftsverhältnisse wieder gestalten werden, um so eher 
wird sich auch wieder eine normale Preispolitik anbahnen 
lassen. 

Unverkennbar gingen wir in den letzten Wochen einer 
Gesundung entgegen, wovon die Leipziger Messe trotz 
mancher Schwächen und Mängel auch ein sichtbares Zeichen 
war. Der ungeheure Fleiß eines großen, arbeitenden Volkes 
trat hier zutage, der allein in Einheit von Unternehmergeist 
und schaffender Arbeitsamkeit produktive Werte hervorzubrin¬ 
gen vermag. Noch kürzlich betonte Eduard Bernstein auf 
dem zweiten deutschen Sozialistentag, daß die deutsche Wirt¬ 
schaft noch Kapital und Kapitalisten braucht. Die Messe 
hat aber auch gezeigt, wie der moderne Kapitalismus und 
unsere Wirtschaft eng zusammenhängt mit den sozialen Strö¬ 
mungen der Zeit. Gegen sie kann sich kein Kapitalismus mehr 
verschließen, und ihr immer wachsender Einfluß auf die 
Produktionsgestaltung (vergleiche Betriebsrätegesetz) dürfte 
sich vielleicht schon auf den kommenden Messen in irgend¬ 
einer Weise bemerkbar machen. 


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1616 


Bücherschau. 


Die großen Hoffnungen, die mit Recht auf die Technische 
Messe gesetzt worden waren, die bekanntlich zum ersten 
Male als selbständige Einrichtung vom 14. bis 20. März statt¬ 
finden sollte, sind leider durch die politischen Ereignisse 
nur in geringem Maße erfüllt worden. Die Unruhen, die 
der Putsch zur Folge hatte, verhinderten eine volle Aus¬ 
wirkung der Messe, die auf dem Gebiet der Technik und der 
Maschinenindustrie dem. In- und Ausland viele Neuerungen 
und Erfindungen bringen sollte, die während des Krieges 
geheimgehalten werden mußten. Gerade die Technische 
Messe hätte beweisen können, daß unser Forschungswesen 
und unsere Arbeitsmethoden auf der Höhe geblieben, und 
daß unseren Arbeitern die technischen Fähigkeiten nicht ver¬ 
lorengegangen sind. Sie hätte uns neue Wege gewiesen 
zum Wiederaufbau unserer Industrie, zur fortschreitenden 
Konzentration und Vereinfachung des Produktionsprozesses. 

Es ist ein eigenartiges Schicksal, daß diese Schau der 
Technik, die ein Spiegelbild unseres aufbauenden Arbeits¬ 
willens hätte geben sollen, durch den verbrecherischen Ber¬ 
liner Putsch, der unsere eben begonnene Gesundung wieder 
aut lange Zeit hinaus zerstört hat, unterbunden werden 
mußte. Wenn so die Leipziger Messe mit einem Mißton 
beendet worden ist, so soll die Hoffnung nicht aufgegeben 
werden, daß dieser Gewalteingriff in unseren politischen 
und damit auch wirtschaftlichen Bestand der letzte sein möge, 
der uns betroffen hat, damit das deutsche Volk endlich 
wieder zu einem glücklichen und ruhigen L^ben zurückkehren 
kann. 


Bücherschau. 

Dr. Bruno Hahn: Die neueste Entwicklung des Genossen¬ 
schaftswesens in Rußland. Tagesfragen der Auslands¬ 
wirtschaft. Herausgegeben vom Auswärtigen Amt. 
Heft 11. 

Diese kleine Arbeit verdient allen angelegentlichst emp¬ 
fohlen zu werden, die sich über die neuere Entwicklung der 
russischen Volkswirtschaft unterrichten wollen. Im Gesamt¬ 
bild des. russischen Wirtschaftslebens! nimmt die Genossen- 


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Bücherschau. 


1610 


Schaftsbewegung bereits seit Ausbruch des Krieges eine ganz 
hervorragende Stelle ein. Vor Ausbruch des Weltkrieges 
konnte sich das latent vorhandene Bedürfnis nach genossen¬ 
schaftlichem Zusammenschluß von Erzeugern und Verbrau¬ 
chern nicht recht entwickeln, weil die zarische Regierung 
in ihren entscheidenden Instanzen aus innerpolitischen Er¬ 
wägungen jedem Zusammenschluß argwöhnend und feindlich 
gegenüberstand. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kriegs¬ 
zeit veranlaßten die Regiemng, ihren Widerstand aufzugeben, 
ja, für die Versorgung der Armee und der Städte, wenn auch 
zögernd, immer mehr die gesellschaftlichen Kräfte heran¬ 
zuziehen. Die Folge hiervon war unter anderem ein sprung¬ 
haftes quantitatives Anwachsen der Genossenschaften aller 
Art und die fortschreitende Konsolidierung ihres Ausbaues, 
üeber alle diese 'Vorgänge gibt die Arbeit von Dr. B. Hahn 
ein objektives, mit statistischen Angaben gut begründetes Bild. 

Zum Schluß weist der Verfasser mit Recht darauf hin, 
daß das ungeheure Wachstum der Genossenschaften während 
des Krieges und der Revolution zum Teil auf vorübergehende 
Ursachen zurückzuführen sei, wie Verpflegungsscnwierig- 
keiten, Versagen des Privathandels usw. Demgegenüber wäre 
meines Erachtens doch zu betonen, daß es andererseits auch 
objektive Gründe gibt, die auch in Zukunft' die Entwicklung 
des Genossenschaftswesens! in Rußland gewährleisten. Das 
ist vor allem das dem Russen eigene Streben nach genossen¬ 
schaftlichem Zusammenschluß, das seit altersher in den Zweck¬ 
verbänden zur Ausführung von bestimmten Arbeiten, den 
sogenannten Artels, zum Ausdruck kommt. Ferner dürfte die 
Abneigung, die sich in weiten Schichten des Volkes gegen 
den Privathandel, den „Kupez“, tief eingewurzelt hat, auch 
fortgesetzt als ein treibendes Element zu genossenschaftlichem 
Ein- und Verkauf erweisen. Von besonderer Bedeutung 
werden die russischen Genossenschaften bei der Wiederauf¬ 
nahme der Handelsbeziehungen mit dem Auslande werden, 
und es ist nur zu wünschen, daß die deutsche Wirtschafts¬ 
politik rechtzeitig die Verbindungen mit den russischen Ge¬ 
nossenschaften aufnimmt, die auch im kommunistischen Ru߬ 
land, wenn auch wahrscheinlich in etwas veränderter Organi¬ 
sationsform, einen sehr wesentlichen, wirtschaftlichen Faktor 
darstellen. 

Vngem-Stemberg. 


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Dr. O. Stillich: Die wahren Ursachen unserer Wirtschafte 
und Finanznot. Zentral vertag G. m. b. H., Berlin 1920, 
Preis 1,20 Mark. 

Der Verfasser geht bei seinen Untersuchungen aus von der * 
Frage: „Ist die Revolution die Ursache des verlorenen 
Krieges?“ — Man sollte eigentlich meinen, die Antwort 
auf diese Frage sei bereits endgültig gefunden worden, so 
daß es nicht mehr nötig sei, in klar denkenden Kreisen noch 
darüber zu streiten! Leider gibt es aber in Deutschland noch; 
immer Leute, ja sogar Parteien, die Ursache und Wirkung:; 
miteinander verwechseln. Denen gegenüber wird mit zwin-^ 
gender Logik betont, „daß der militärische Zusammenbruch 
bedingt ist nicht nur durch eine konstante Täuschung deiS 
Armee über das Maß des militärisch und politisch Erreich«; 
baren, sondern auch über die eigene Kraft im Verhältnis 
zur feindlichen und durch die Blindheit gegenüber den Folgen 
der Auflösung der Koalition“. — Die Wurzeln des gegen*; 
wärtigen Gütermangels liegen kl der Vernachlässigung einer 
rationellen Wirtschaftsführung, die nur für den Krieg ein¬ 
gestellt war. Die Verminderung unserer Leistungsfähigkeit' 
wird eingehend geschildert an Hand der Kohlen- und Ver¬ 
kehrsfrage. Die Veränderungen in der Landwirtschaft und 
der Nahrungsmangel lassen auch weiterhin eine planmäßige; 
Wirtschaftsführung durchaus geboten erscheinen. Eine „freie 
Wirtschaft“ würde zu unhaltbaren Zuständen führen. Unser.> 
jetziges Finanzelend wird als die Folge einer schlechten 1 
Kriegsfinanzierung betrachtet. Im Schlußkapitel werden die 
Geldentwertung und ihre Ursachen dahingehend gedeutet, 
daß die Inflation eine grauenhafte Maske darstellt, hinter 
der sich die ungeheure Leere an Produktions- und Rohstoffen 
verbirgt, die ihrerseits bedingt ist durch eine regelrechte 
„Krise“ im Wirtschaftsleben infolge der Kriegswirtschaft 
Man kann dem Verfasser pur recht geben, wenn er den Grund¬ 
irrtum gewisser Kreise aufdeckt und eine klare Stellung¬ 
nahme zur gegenwärtigen Wirtschaftspolitik mit den Worten 
begründet: „Das Volk hat ein Anrecht darauf, die wahnen, 
Ursachen unserer Notlage zu erfahren, damit es die Schul*, 
digen nicht an der falschen Stelle sucht;“ 

Dr. Kurt Nägler. = 


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An die Leser der „Glocke“. 

M IT dem 1. April tritt die „Glocke“ in den 6. Jahrgang 
ein. Sie hat die Stürme des Krieges und die allgemeine 
Unrast des ersten Friedensjahres gut überstanden und soll 
nunmehr, den wachsenden Aufgaben der Zeit entsprechend, 
weiter ausgebaut werden. Vor allem soll sie an Aktualität 
gewinnen. Das Leben der Gegenwart soll sie durchpulsen. 
Vivos voco. Die Wirtschaftsprobleme unserer Zeit: Soziali¬ 
sierung, Wiederaufbau, industrielle Entwicklung, sollen unsere 
besondere Aufmerksamkeit haben. Aber nicht minder die 
sozialistische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung aller 
Länder. Mehr denn je ist Deutschland an diesen Entwick¬ 
lungen und Bewegungen interessiert. Zu diesem Zwecke 
wird die „Glocke“ durch Beilagen und Ergänzungs hefte er¬ 
weitert werden. 

Es wäre uns am liebsten, wenn wir unsere neuen Auf¬ 
gaben der Verbesserung und Ausgestaltung in Angriff nehmen 
könnten, ohne unsere Leser mit einem neuen Kostenaufwand 
belasten zu müssen. Die rapide Steigerung der Druck- und 
Papierpreise sowie der allgemeinen Geschäftsunkosten ist 
aber derart, daß wir gezwungen sind, vom 1. April ab 

den Bezugspreis für das Vierteljahr auf 10 Mark, 
für das Einzelheft auf 1 Mark zu erhöhen. 

Unsere Leser, die uns all diese Jahre treu geblieben sind, 
werden sicherlich Verständnis haben für die Zwangslage, in 
der wir uns befinden, und werden uns auch fernerhin unter¬ 
stützen in der Bemühung, eine freie Tribüne z;u bilden für 
die Vergeistigung des Sozialismus, für die Durchsetzung 
unseres Lebens mit sozialistischem Geiste, für den Wieder¬ 
aufbau und die Erstarkung des Deutschen Reiches. 

Verlag und Redaktion der „Glocke“. 


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SOEBEN ERSCHEINT 



M«rf wir 


von 


Dr.von Ungern-Sternberg 

PREIS MK. 2,— 

und 20% Teuerungszuschlag 


In der Schrift wird nachgewiesen, daß die Wiederaufnahme der 
wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland 
ein dringendes Erfordernis sowohl der deutschen wie der russischen 4 
Wirtschaftspolitik ist. Alle dagegen erhobenen Einwände werden 
einer eingehenden Prüfung unterworfen. 


II 


Bezug durch alle Buchhandlungen 

sowie direkt vom 

VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT 

Berlin SW 68, Lindenstraße 114 — Postscheckkonto Berlin 27576 


Herausgeber: Dr. A.Helphand, Berlin. Verantwortl.Schriftleiter: M.Beer, Berlin-Karlshorst' sjji 
Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, LindenstraQe 114. Fernruf: Markig .« 
platz 2218,1448—1450. — Druck: Photogravur G. m. b. H., Berlin SW 68, LmdenstraQe I14L 

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INHALTSVERZEICHNIS 




Albert, Rob.: Darf der Deutsche wieder 
sein Haupt erheben . . . .' 893 

Angell, N.: Der Berliner Putsch, Frank¬ 
reich und Polen . ..1589 

Argeiander, Dr.: Prot Oppenheimers 

liberaler Sozialismus.1515 

Aumann: Wirtschaftl. Mobilmachung 1223 
Beer, M: Der Wählkampf in Paisly 1461 

— Die Engelsbiographie. I . . . . 1414 

II .... 1521 

— Der Prozeß Erzberger-Helfferich . 1551 

— Die Straßburger Tagung der fran¬ 
zösischen Sozialisten.1558 

— Die Straßburger Tagung der fran¬ 
zösischen Sozialisten in und IV . 1516 

Bencke, A.: Oedanken über die Zu¬ 
kunft der deutschen Arbeit und des 

deutschen Arbeiters.1268 

Bendix, Dr.: Rechtsprechung des 
Reichsgerichts inStrafsachen und das 
Rechtsbewußtsein des Volkes . . 1578 
Biging, Curt: Akademiker und Partei 881 
Bray, J.: Kommunism. a Kapitalism. 1452 
Brenne, H.: Schule a Wirtschaftsleben 1238 
Buß, • Dr. P.: Novemberbuben und 
junge Sozialisten ....... 824 

— Das Erfurter Programm und die 
gegenwärtige Position der Sozial¬ 
demokratie .......... 1007 

— Die Aufgabe der Intellektuellen . 1220 

Cohn, Luis: Eine neue Utopia . . 853 

Cornelius, Prot: Nüchterne Rand¬ 
bemerkung z. Zukunftsstaatsdebatte 1421 

Barmstaedter, Dr.: Arthur Schulz’ 

Vermächtnis.849 

Dewdney, Dr.: Amerik. Spione L Kriege 1375 
Erhard, Dr. Hub;: Die Altersgrenze 

für Hochschullehrer.1109 

Fehlinger, H.: Zur Sozialisierungsfrage 914 

— Neue Grenze.954 

— Auswanderungsziele ...... 1105 

— Grenzen des neuen Oesterreich . 1502 
v. Frankenberg, Dr.: Ein Normal- 

lohnsystem . ..1365 

— Zur Reform des jurist Studiums 1446 
Croßmann, Stet: Oesterreichische 

Hoffnungen . . .. 937 

Haebler, G.: Der Weg der Welt¬ 
revolution . i . . . 918 

Heichen, Artur: Finanzsozialismus . 951 

— Der nationale Oedanke und die 

Sozialdemokratie.1131 

Heilmann, E: Fester Kurs .... 929 


1397 

1065 

1126 

1467 


Heilmann, E: Feiern? .' ..... 993 

— Die Schuld . ..1025 

— Können wir weiterleben? . . . 1085 

— Die Parteien.. . 1181 

Heydar: Zwangswirtschaft oder freie 

Wirtschaft in der Ernährung . . . 
Höpfner, A.: Die- Arbeiterkonferenz 
in Washington . . . . . . . . 

— Revolution und Gewerkschaften . 

— Der Ausbau der Sozialversicherung 

— Strömungen ln den deutschen Ge¬ 
werkschaften .1566 

Huebner, Dr.: Die deutsche Bildung 
als Gemeinbesitz .. 974 

— Die belgischen Kammerwahlen '. 1159 

— Entstehung der Clart6-Bewegung. 1290 
Imhoff, Dr. Paul: Die Valuta . . . 1113 
Israel, W.: Zur Entwicklungsgeschichte 

der Betriebsräte. .. 1472 

Jenny, Dr. E: Arbeiterkapitäne . . 1249 
Jünger, K,: Bolschewistische Staats¬ 
leistungen in Rußland.1068 

Kabelitz, Th.: Entweder — oder. I 1493 

— Entweder — oder, II .... . 1537 

Kantorowicz, Prof.: Deutschlands In¬ 
teresse am Völkerbund.1309 

v. Kiesling, Hans: Die deutsche Zu¬ 
kunft. ..877 

— Gedanken über di^Umformung des 

deutschen diplomatischen Korps . 902 

— Die Ententemächte und der Welt¬ 
krieg. I und II.935 

— Die Ententemächte und der Welt¬ 
krieg. m. 

— Die Ententemächte und der Welt¬ 
krieg. IV . . . 

— Die Ententemächte und der Welt¬ 
krieg. V . ... 1 .... . 

— Die Ententemächte und der Welt¬ 
krieg. VI ... 

— Die Ententemächte und der Welt¬ 
krieg. VH. 

— Die Ententemächte und der Welt¬ 
krieg. VIII. : ....... . 

— Bayern und der Einheitsstaat . . 

— Spanien.1387 

— Ueber den wirtschaftlichen Aufbau 

in Deutschland . ..1605 

Kinkel, Prof.: Klassenstaat, Völkerstaat 
und Völkerbund 1190 

Knoerzer, Guido: Zivildienstpflicht 
statt Militärdienstpflicht .... 819 

— Künstlerbolschewisten.1120 


966 

999 

1032 

1059 

1099 

1122 

1358 


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Knoerzer, Ouido: Deutsche Politik 
1914 und 1919.10% 

— Völkerbund und Völkerstaat . . 1379 
Knute, Peter: Die Barriere im Osten 1166 

— Versailler Staatenbaukunst . . . 1277 

— Moskau und Mekka.1354 

— Tokio-Washlngton-London-Moskau 1392 

— Das zerschmetterte Schwert Ferdi¬ 
nands .1415 

— Wien: Die orientalische Metropole 1529 

— Budapest.1562 

Körner, Fr. Theod.: Unser Zusammen¬ 
bruch vor einem Jahre ..... 945 

— Der Kampf um Oberschlesien . . 1254 

— Die volkswirtschaftliche Bedeutung 

der Leipziger Messe.1613 

Kunze, R.: Nationale Parteibildung . 1043 
Kuttner, Erich: Die französischen 
Sozialisten in der Sackgasse . . . 865 

— Alldeutsches Frontabtasten . . . 1053 

— Einigung — aber wie.1090 

— Ouillaume le timide.1117 

— Ungesfihntes Blut.1151 

— Enthülltes politisches Verbrechen 1185 

Ijensch, Dr. P.: Die Rache für König- 

grätz.. . 808 

Müller, H: Das Betriebsrätegesetz'. 1341 
Müller - Brandenburg: Kontinental¬ 
politik . 874 

— Vom nationalen Oedanken . . . 983 

— Betrachtungen über den Einfluß 

der geographisch. Lage Frankreichs 1037 

— Bemerkungen z. Helfferichs drittem 

Band. 1131 

— Betrachtungen über den Einfluß 

der geographischen Lage Rußlands 
auf die Entwicklung der russischen 
Nation.1153 

Muthesius, K.: Die Oeffnung der Uni¬ 
versitäten für die Volksschullehrer 1134 
Nägler, Dr. K.: Kontradiktorische oder 

konträre Entwicklung.1449 

Neumana Dr.E.: Ein deutsches Rausch¬ 
trankgesetz .923 

Nüse, K.: Der Verfall unseres Wirt¬ 
schaftskörpers eine Oefahr für 

unser Volk.886 

Parvus: Die Reichswehr.801 

— Ein Problem d. geistigen Revolution 833 

— Die Entente und der Bolschewismus 897 

— Der Fall Kautsky.1149. 

— Zur Aufklärung.1213 

— Philister über mich.1331 

— Meine Entfernung aus d. Schweiz. I 1482 

— Meine Entfernung aus d. Schweiz. II 1507 


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Paivus: Deutschland und Rußland . 1525 
Pertzborn, M: Herzhafte Politik . . 1407 
"• Quarck, Dr. M.: Schulkämpfe und 

Verfassung ..815 

Bade, Dr. M.: Zur Neuregelung des 
Kirchenaustritts. . . .. . . 1143 
Rasch, Prof. E.: Die Verwertung der 
Milch durch Hochdruckfemleitung. 1419 
— Was ist zu tun?.1552 


Rausch, Bernh.: Der Kampf um Noske 836 
Rommel: Vom höheren Schulwesen. I 1170 

— Vom höheren Schulwesea II . . 1200 

— Vom höheren Schulwesea BI. . 1228 

Rosenberger: Eine Synthese der geisti¬ 
gen Kultur.958 

Saenger, A.: Der Münchener Geisel¬ 
mordprozeß .845 

Scheffauer, G.: Amerika und der 
Frieden von Versailles.1344 

— Feder und Schwert.1575 

Schiff, Victor: „Banco".961 

Schlaikjer, E: D. Sozialisier. cLBühnen 1301 
Schmidt, Th.: Wer hemmt d. Volkswirt¬ 
schaft!. Wiederaufbau Deutschlands? 1281 

Secker,Fritz: Randbemerkungen eines 


Ausländsdeutschen.1105 

Stadtier, Dr.E.: Sozialist. Aktivisten 1206 
Tesessy, Fr.: Die Sozialisierung der 

Kinoindustrie.858 

Troß, Dr. E.: Wissenschaft!. Ehrlichkeit 1016 
Unger, Alfr.: Zur Reform des staatl. 
Erbrechts.1437 


Unger, Emil: Politische Köpfe I und B 1433 

— Politische Köpfe ffl und IV . . . 1464 

Politische Köpfe V und VI . . . 1498 

— Politische Köpfe Vfl und VIB . . 1556 

— Politische Köpfe IX und X . . . 1572 

— Politische Köpfe XI und XB . . 1601 

v. Ungern-Sternberg, Dr. Roderich: Ist 

ein deutsch - russisches Abkommen 
wünschenswert?.1245 

— Ostorientierung.1429 

— Kadetten und Bolschewiki . . . 1529 
Wenzel, Ed.: Der sozialistische Zu¬ 
kunftsstaat — in Deutschland eine 


Tatsache von morgen.1258 

Winnlg, Aug.: Der baltische Knoten 804 
Witte, Dr. Erich: Zur Reform der 
Universitäten.1076 

— Elternbeiräte.1313 

— Die akademisch gebildeten Lehrer 
Deutschlands über die Schulreform 1282 

— Sozialisierungd. Schulbuchhandels 1411 
Wolff, Walter: Zipfelmütze, — Brille 

oder Helm?.987 


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