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Jahrg. . 2. Band Jß 40 3. Januar 1920
HeiaiisgegebenvDii
Parvus
S': ’**• -57c»
«J A,\. •** /^' h};t\
SO Pfennig (.
Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68
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DIE GLOCKE
Sozialistische Wochenschrift
Herausgeber: Farvus
Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post
" oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Mk. 6,—.
Einzelhefte 50 Pf., Porto 5 Pf.
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT |
Berlin SW 68, Lindenstr. 114. Postscheckkonto: 27576 Berlin
INHALT DIESER NUMMER:
Dr.Roderichv.Ungern-Sternberg: Ist ein deutsch¬
russisches Abkommen wünschenswert? . . . 1245
Dr. E. Jenny: Arbeiterkapitäne . ,.1249
Friedr. Th. Körner: Der Kampf um Oberschlesien 1254
Eduard Wenzel: Der sozialistische Zukunfts¬
staat — in Deutschland eine Tatsache von
morgen I.1258
Albert Bencke (München): Gedanken über die
Zukunft der deutschen Arbeit und des deut¬
schen Arbeiters.1268
Bücherschau. 1272
Glossen.1276
Nummer 39 der „Glocke“ hatte folgenden Inhalt:
Parvus: Zur Aufklärung .1213
Dr. J. P. Buß: Die Aufgabe der Intellektuellen 1220
Aumann: Wirtschaftliche Mobilmachung . . . 1223
Studienrat Rommel: Vom höheren Schulwesen 1228
Rektor H. Brenne: Schule und Wirtschaftsleben 1238
Glossen.1244
m{*
V ,
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40* Heft 3. Januar 1920 5. Jahrg.
1^1—I —I M ■ ■ I . ■■■ ■
Ssdidruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet
?. RODERICH VON UNOERN-STERNBERG: _
Ist ein deutsch-russisches Abkommen
wünschenswert?
|V„J?
IIB Kopenhagener Verhandlungen des Vertreters der russi-
sehen Räteregierung mit dem englischen Bevollmächtigten
Hstnd einstweilen ins Stocken geraten . 1 Es wäre aber grund¬
falsch, anzunehmen, daß hiermit der Verhandlungsweg ver¬
bissen ist. Im Gegenteil, alle Anzeichen deuten darauf hin,
.«aß der Faden weitergesponnen werden wird, denn der
iptsschlaggebende Faktor, England, hat das größte Inter-
äe, mit Räterußland formell Frieden zu schließen, um
nn den russischen Bolschewismus in seinen eigenem Lande
bekämpfen. Tatsächlich ist zurzeit kein anderes Land
£)t der Beseitigung der bolschewistischen Kraftzentrale in
ploskau mehr interessiert als England, denn nirgends hat
iUe bolschewistische Propaganda in letzter Zeit so bedeu-
nde Erfolge zu verzeichnen, wie in Persien r Afghanistan
d Indien. Dabei hat der Bolschewismus in diesen Ländern
m
ikm
2
- 1 Der russische Vertreter war Litwinow, der frühere Sowjet¬
sandte in London; der Vertreter Englands war James O’Grady,
r Vorsitzende des Britischen Gewerkschaftsbundes, der wegen
iner patriotischen Haltung während des Krieges zum Kapitän
nannt worden war. — Wo in den folgenden Zeilen der Ausdruck
England“ gebraucht wird, muß darunter das englische Kapital
irstanden werden, denn die britische Arbeiterklasse hat auf ihren
Kongressen entschieden «gegen das englische Eingreifen in Rußland
tellung genommen. Die Bewegung „Hands off Russia“ ist in
iren Reinen sehr stark. Nur der schwächlichen Haltung, des
Parlamentarischen Komitees des Trades Union Kongresses ist es
schuldet, daß es noch zu keiner entscheidenden Aktion ge-
mmen ist Die Redaktion.
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1246 Ist ein deutsch-russisches Abkommen wünschenswert?
eine ausgesprochen antienglische Färbung und seine Aus¬
breitung bildet eine unverkennbare ernste Gefahr für die
angelsächsische Herrschaft in Asien. Es ist daher ohne
weiteres verständlich, warum gerade* England daran gelegen
sein muß, den Einfluß der moskauischen Räteregierung zu
lähmen, und da nun mal durch militärische Machtmittel
nichts zu erreichen gewesen ist, so will man versuchen,
durch eine innerpolitische Intrige, etwa in der Weise, wie
man im März 1917 Nikolai II. gestürzt hat, die Leninsche
Herrschaft zu Fall zu bringen.
Dieser eigentliche Beweggrund der neuesten englischen
Rußlandpolifik dürfte den Kommunisten wohl nicht ver¬
borgen sein, sie haben aber damit zu rechnen, daß die
Masse des russischen Volkes kriegsmüde ist, und die Mittel
des Landes eine Verlängerung des Kriegszustandes' über
diesen Winter hinaus nicht zulassen. Daher die Geneigtheit
zu weitgehenden Zugeständnissen wie das Versprechen der
Zinszahlungen für ausländische Anleihen, beziehungsweise,
' falls die Mittel des Staates nicht ausreichen, die Verpfändung
von Wäldern, Bergwerken usw. an die ausländischen Gläu¬
biger, oder die Einräumung einer gewissen Exterritorialität
für das Kapital der Ententeländer in der russischen Industrie
und anderes mehr. Die Folge dieser Zugeständnisse wird
natürlich ein weitgehender Einfluß des angelsächsischen und
französischen Kapitals im kommunistischen Räterußland sein,
der voraussichtlich mit der Zeit so weit gehen wird, daß
in der Industrie der Kommunismus- seine Errungenschaften
gänzlich wird auf geben müssen. Das bedeutet aber eine
Preisgabe der fundamentalsten Grundsätze des kommunisti¬
schen Programms. Jedoch rechtfertigen die Kommunisten
dieses Vorgehen als eine taktische Notwendigkeit, das über
die Zeit bis zur kommenden Weltrevolution hinweg¬
helfen soll.
Wie dem auch sei, .für Deutschland wird das Abkommen
der Entente mit Räterußland jedenfalls schon insofern von
schwerwiegender Bedeutung sein, als wir, gemäß Artikel 117
des Versailler Friedens, verpflichtet sind, „die volle Gültig¬
keit aller Verträge und Vereinbarungen anzuerkennen, die
von den alliierten und assoziierten Mächten mit den Staaten
abgeschlossen werden, die sich auf dem Gesamtgebiet des
ehemaligen russischen Reiches gebildet haben“. Demnach
müssen wir auch Bestimmungen anerkennen, die gegen uns
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Ist ein deutsch-russisches Abkommen wünschenswert? 1247
gerichtet sind, und wer wollte • bezweifeln, daß die Entente
ihre Machtstellung Räterußland gegenüber ausnutzen wird,
um deutschfeindliche Bestimmungen durchzusetzen? Ja, es
ist sogar zu befürchten, daß, falls die Räteregierung sich
gezwungen sehen sollte, den Wünschen der Entente in jeder
Hinsicht nachzukommen, in Zukunft, beim Abschluß eines
deutsch-russischen Friedensvertrags, der Artikel 116, Ab¬
satz 3, des Versailler Friedens, gegen uns ausgespielt wird,
wonach Rußland ausdrücklich die Rechte Vorbehalten sind,
von Deutschland die Wiederherstellung und Wieder¬
gutmachung zu erhalten, die den Grundsätzen des Ver¬
sailler Vertrages entsprechen.
Es entsteht nun die Frage, ob wir bei dieser Sachlage
nicht daran denken sollten, der Möglichkeit einer ausge¬
sprochen deutschfeindlichen Rußlandpolitik der Entente da¬
durch entgegenzutreten, daß wir mit der moskauischen Räte¬
regierung Verhandlungen anknüpfen über ein Abkommen,
das die vitalsten wirtschaftlichen Interessen beider Länder
gewährleisten würde. Ein dahingehender Versuch muß meines
Erachtens gemacht werden, und zwar möglichst bald, wobei
^ allerdings selbst der Anschein streng vermieden werden muß,
als ob wir die Absicht hätten, der Entente in Räterußland
zuvorzukommen, um ihre Interessen in irgendeiner Weise
zu schädigen. Endzweck dieses Vorgehens soll ja nur die
Wahrung der Gleichberechtigung auf wirtschaftlichem Gebiet
sein.
Bisher hat man bei uns mit Recht gegen jede Annäherung
an • Räterußland schwerwiegende Bedenken erhoben. Wir
hatten mit der russischen Vertretung in Berlin Ende 1918
zu schlimme Erfahrungen gemacht, als daß wir uns erneut
der Gefahr einer bolschewistischen Propaganda aussetzen
dürften. Diese Stellungnahme war berechtigt, solange unsere
innerpolitischen Zustände sich nicht einigermaßen gefestigt
und die Massen ein gewisses seelisches Gleichgewicht nicht
wiedererlangt hatten. Heutzutage kann man mit Recht be¬
haupten, die Gesundung der Massen sei so weit fortgeschritten,
daß eine möglicherweise wieder einsetzende von Rußland
ausgehende kommunistische Agitation ohne nennenswerte Wir¬
kung bleiben würde. Es besteht demnach in dieser Hinsicht
kein ausreichender Grund, Verhandlungen mit Moskau von
der Hand zu weisen. Außerdem würde die Oeffnung der
russischen Grenzen unzähligen, ganz oder teilweise Arbeits-
40 / 1 *
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1248 Ist ein deutsch-russisches Abkommen wünschenswert?
losen die Möglichkeit bieten, in Rußland ausreichende Be¬
schäftigung zu finden und hierin liegt mit ein Hauptgrund,
warum wir mit Räterußland uns verständigen müssen.
Ferner wird gegen eine Annäherung an die russische Räte¬
regierung der Einwand erhoben — man wisse zurzeit noch
immer nicht, woran man in Rußland sei, ob die Kommunisten-
regierung Bestand haben werde, und man laufe doch Gefahr,
es mit den antibolschewistischerf Elementen zu verderben.
Gewiß hatten diese Erwägungen noch im Herbst dieses
' Jahres eine Berechtigung. Seitdem aber haben sich die Ver¬
hältnisse doch insofern wesentlich geklärt, als heute von
einem gewaltsamen Sturz der Kommunisten nicht mehr die
Rede sein kann. Nachdem sich die Entente von der Gegen¬
revolution zurückgezogen hat und Verhandlungen mit der
Räteregierung anbahnt, erscheint die außenpolitische Stellung
der Kommunisten gefestigter als je zuvor. Innerpolitisch hat
die Leninsche Regierung durch kluge Nachgiebigkeit den
wohlhabenderen Bauern gegenüber, allerdings auch hier gegen
ihr Programm verstoßen, aber damit größeren Bauernauf¬
ständen vorgebeugt und hierdurch die einzige wirkliche inner¬
politische Gefahr so gut wie beseitigt. Außerdem ist anzu¬
nehmen, daß über kurz oder Jang eine Verständigung mit
den, anderen sozialistischen Parteien zustande kommen wird.
Jedenfalls sind die Gegensätze bereits ganz wesentlich ab¬
geschwächt und ein sozialistisches Koalitionsministerium ist
wohl nur eine Frage der allernächsten Zukunft. Damit
würden sich die Bolschewiki wdhl ihrer Alleinherrschaft
begeben, ihren Einfluß aber für absehbare Zeit gefestigt
haben. Bei dieser Sachlage wird uns ein Abkommen mit
der Jcommunistischen Räteregierung von der überwiegenden
Mehrheit des russischen Volkes sicherlich nicht verübelt
werden. -
Es gibt demnach meines Erachtens zurzeit keinen stich¬
haltigen Einwand gegen ein wirtschaftliches Abkommen mit
Räterußland. Daß auf seiten der russischen Räteregierung
hierzu die allergrößte Geneigtheit besteht, kann nach den
vielfachen Aeußerungen ihrer Häupter nicht zweifelhaft sein.
Für uns ist aber die Wieder anknüpf ung wirtschaftlicher Be¬
ziehungen zu Rußland, sowohl was unsere industrielle Be¬
tätigung in diesem Lande anbelangt, wie, hinsichtlich der
Möglichkeit, gewisse Rohstoffe zu erhalten, von allergrößter
Bedeutung.
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Arbeiterkapitäne.
1249
Dr. E. JENNY.
Arbeiterkapitäne.
PS ist stets eine erfreuliche, vielverheißende Erscheinung*,
wenn von zwei gegensätzlichen Seiten her Ideen in ein
gemeinsames Bett münaen. Dies verkündet die Geburt eines
neuen, jugendstarken Gedankens. Wie Thesis und Antithesis
aus ihrem Zusammenwirken die Synthesis gebären, so ent¬
springt aus der Vereinigung gegensätzlicher Geistesrichtun¬
gen als wirklich lebenskräftige Geistesfrucht der wahre Fort¬
schritt In diesem Sinne ist es nicht froh genug zu be¬
grüßen, wenn heute die Träger bisher antipodischer gesell¬
schaftlicher und wirtschaftlicher Interessen sich zu berühren
beginnen. Wenn, wie in diesem Sonderfalle, Leute wie Hilgen¬
berg und v. Dewitz die Werksgemeinschaft vertreten und
die tiefe Betrübnis unserer Zeit in der Entwicklung erkennen,
welche die „Entseelung“ der Arbeit, die hoffnungslose Teil¬
nahmslosigkeit der Arbeitnehmerseite an den Schicksalen und
Erfolgen des Unternehmens erblicken; wenn andererseits in
der „Glocke“ vom 8. November Dr. Buß die Rettung aus
dem unfruchtbaren, selbstzerfleischenden Klassenkampf in
der Umwandlung „des Abhängigkeitsverhältnisses des Ar¬
beiters durch Eingliederung der Betriebs- und Wirtschafts¬
räte in die Verfassung der Wirtschaft in ein vollwertiges
Mitbestimmungsverhältnis“ sieht, und Dr. Troß es als „un¬
geheure Errungenschaft für die Arbeiterschaft“ begrüßt, wenn
„der tiefste Keim ihres Elends, die Uninteressiertheit am
Werk ihrer Hände, ihres Lebens, durch die Beteiligung an
der Betriebsleitung endlich ausgejätet wird“.
Die beste Ueberprüfung eines neuen Gedankens liegt darin,
daß sich in ihm die von zwei völlig entgegengesetzten Punkten
ausgehenden Ansichten begegnen. Dies ist hier der Fall!
Es steht zu erwarten, daß von dieser neu gewonnenen Er¬
kenntnis, die beide Teile nur haben erreichen können nach
Ueberwindung und Abstreifen verrosteter Schulmeinungen
ihrer Parteien, ganz neue und heilbringende Grundsätze empor¬
wachsen. Es öffnet sich die Aussicht, daß da, wo wir bisher
nichts als hoffnungslose Verfeindung zu sehen gewohnt
wären, eine Befriedigung innerhalb der sich im Kampf auf¬
reibenden Wirtschaft eintreten könne.
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1250
Arbeiterkapitäne.
So scheint der innigen Anteilnahme der Arbeitnehmer an
der Gestaltung der Wirtschaftsschicksale sich ein Feld segens¬
reicher Tätigkeit zu eröffnen. Statt verbissener, dem End¬
erfolg der Arbeitsbetätigung abgewendeter Abwehr leuchtet
schöpferische Mitbetätigung auf. . . .
Nur taucht zugleich eine Frage auf, die mehr organisa¬
torischer Natur ist; doch darum nicht etwa von geringerer
Wichtigkeit, als die grundsätzlichen Probleme. Wie oft schei¬
tert die Durchführung dieser lediglich daran, daß es nicht
gelingt, sie organisatorisch befriedigend zu lösen, das heißt
sie dem Organismus richtig einzufügen! Es ist viel, sehr
viel über die Ausführung der Einflußnahme der Arbeitnehmer
auf die Werksgemeinschaft geschrieben worden. Alle Stufen
der Betriebsräte, der Gewinnbeteiligung durch fingierten oder
tatsächlichen Anteilserwerb usw. findet man erörtert. Eine
wichtige Frage aber scheint mir noch nicht beachtet: wie
sollen die Arbeitervertreter in der Werkleitung bezüglich ihrer
Privatinteressen zu der Unternehmung stehen?
Gemeinhin wird, ohne nähere Erörterung der Zweckmäßig¬
keit, als gegeben angenommen, daß die Arbeitervertretung
im Aufsichtsrat oder der sonstigen Zentralleitung einfach dem
Betriebsrat entnommen werden könne. Ob dies jedoch das
Zweckmäßigste ist, das heißt die größten Vorteile mit den
geringsten Nachteilen verbindet? Mir will scheinen, daß dies
nicht zutrifft.
Wir haben einen ähnlichen Fall, da die Arbeiter selbst
alles dransetzen, gewisse Funktionen bezüglich des Verkehrs
zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aus dem Betrieb
heraus in eine höhere und damit unabhängigere Sphäre zu
verlegen. So den Abschluß der Tarifverträge und Kollektiv¬
arbeitsverträge, wofür sehr bald in den Gewerkschaften die
richtige Stelle erkannt wurde. Und zwar, weil eingesehen
wurde, daß diese Unterhändler über dreierlei Vorsprünge
geboten gegenüber den dem Werke selbst an gehörigen Kol¬
legen: größere Unabhängigkeit , — weil hinter ihnen größere
Macht stand und die Werkleitung ihnen nichts anhaben
konnte; größere Umsicht , — indem sie eher über ein zu
ihren Aufgaben besonders geschultes und darin erfahrenes
Personal verfügen konnten; und größere Objektivität in-der
Beurteilung der Fragen, — da sie von den kleinen und klein¬
lichen Alltagsmiseren innerhalb des Betriebslebens losgelöst
waren. Und die Arbeiter sind sehr gut gefahren durch diese
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Arbeiterkapitäne.
1251
Verlegung ihrer Vertreterschaft in eine Zone, die der Beein¬
flussung seitens der Vertragsgegner entzogen blieb und gleich¬
sam von viel höherer Warte aus mit geweitetem Gesichts¬
kreis die Regelungen vorzunehmen in der Lage war.
Ganz ähnlich scheinen mir die Dinge auch bezüglich der
Arbeitervertretung in der Leitung der Einzelunternehmungen
„ zu liegen. Zunächst stehen hier ungemein komplizierte Auf¬
gaben an, die — wie in Arbeiterkreisen vollauf anerkannt
wird — große Spezialkenntnisse und lange Schulung er¬
heischen, wenn sie wirksam für die Arbeitnehmerinteressen
wahrgenommen werden sollen. Der Einblick in die Be¬
ziehungen des Werks zum Rohstoffbezug, zum Absatzmarkt,
zu den Nebenindustrien und der Konkurrenz, dann die Ein¬
sicht in die Buchhaltung, das Lesen der Bilanzen usw. gehen
weit über den Horizont nicht nur des Arbeiters, sondern
auch des Durchschnittsaktionärs. Würden die Arbeitnehmer
durch fachmännisch geschulte Personen vertreten, dann sprä¬
chen sie zugleich wirksamer mit, als der verzettelte Teil
des Aktienbesitzes!
Daher wäre wohl zu erwägen, ob nicht die Mitwirkung
- an der obersten Werkleitung besonderen Organen überant¬
wortet werden sollte, die nicht den Werken selbst ange¬
hören und sich in deren engen Rahmen eingepreßt befinden.
Auch seitens der Werkleitung würde besser und glatter mit
sachverständigen Vertretern gearbeitet, und unzähligen klei¬
nen, aber doch so hemmenden und schädlichen Reibungen
vorgebeugt werden, als wenn dem Werke selber entstammen¬
den Arbeitern die Aufgaben zufielen. Es ist hierbei natürlich
streng zu trennen die den (nach wie vor bestehen bleibenden)
Betriebsräten, denen all die tägliche Kleinarbeit der Ueber-
wachung und Mitbestimmung der technischen Werkstätten¬
organisation, sowie der Ausübung der Arbeitsdisziplin ob¬
läge, und den Fragen der obersten Geschäftsleitung. Diese
zuerst genannten Organe gehören ganz selbstverständlich zu¬
sammengesetzt aus den Werksangehörigen selbst. Die Teil¬
nahme an der Gesamtleitung verbliebe jedoch füglich den
Abgesandten höherer Instanzen, die natürlich, da ihnen die
Wahrnehmung von spezifischen Arbeiterbelangen zur Pflicht
gemacht wäre, den Arbeiterorganisationen höheren Grades
entnommen würden. Sei es, daß den Gewerkschaften diese
Mühewaltung zufiele, sei es, daß die Durchbildung eines
Rätesysteiiis es gestattete, aus den oberen Instanzen (Pro-
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Arbeiterkapjtäne.
vinzialräten oder Fachverbänden) Beauftragte aus Arbeiter¬
kreisen zu ernennen.
Was damit vor allem erreicht wäre, das ist die größere
Konstanz der Vertretungen, die unumgänglich nötig ist, soll
ein Einarbeiten und ein Gewachsensein für die Amtepflichten
überhaupt erfolgen können. Abgeordnete der Arbeiter, die
alle paar Monate abberufen und gewechselt würden, wären
sehr bald ein Spielball in der Hand geschickter Direktoren;
sie zu nasführen, wäre wahrlich kein Kunststück! Außerdem
hätte man die Gewähr, daß diese von außerhalb des Werkes
stammenden, sich des Rückhalte einer höheren Arbeiterorgani¬
sation erfreuenden Mitdirektoren ihres Amtes mit größerem
Weitblick und weitreichenderer Erfahrung walten würden,
als vom Schraubstock vorübergehend weggeholte Leute. End¬
lich aber ist die größere Unabhängigkeit ein nicht zu . ver¬
achtendes Moment, sowohl für Sicherung tatkräftigen Ein¬
greifens, als auch des sozialen Friedens. Diese von außen
kommenden Leute wären unbeeinflußt von den kleinlichen
Mißhelligkeiten des täglichen Verkehrs. Sie besäßen ein ganz
anderes Gewicht den Unternehmern gegenüber; aber auch
ihre Unabhängigkeit von den Strömungen und Intrigen inner¬
halb der Arbeiterschaft wäre heilsam im höchsten Grade.
Wie anders ständen sie da, als ein dem Kreise der Werk¬
genossen entnommener Vertreter. Ein solcher wird stete einer
großen Versuchung unterliegen, seinen Werkgenossen zu
Munde zu reden; es bedürfte eines sehr starken Charakters,
um gegen die stürmische, oft aufgehetzte Gesamtmeinung
die gewonnene bessere Einsicht zu vertreten. Teils wirkte, die
Furcht mit, die bevorrechtete und vielleicht auch besser be¬
soldete Stellung zu verlieren; teils die Scheu, in den Augen
der Kameraden als willfähriger „Kapitalsknecht“ zu gelten.
In solchen Stellungen gewänne der Demagoge immer Ober¬
wasser, — und wohin dies die Wirtschaft führt, haben wir
nun nachgerade in den letzten Zeiten klar genug zu sehen
bekommen! All dieser Gefahren wäre der aus einer anderen
Sphäre kommende Mann, der zudem mit der Autorität
reifer Sachkenntnis und der Stütze seiner höheren Arbeiter¬
behörde bekleidet aufträte, überhoben.
Mir schwebt der Vorschlag Schmollers vor, der vor Jahren
anregte, es müßten angesichts des Umstandes, daß jedem
größeren Unternehmen ein Stück Allgemeininteresse inne¬
wohne, eben dieses Allgemeininteresse regelmäßig wahrge-
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Arbeiterkapitäne.
1253
nommen werden durch Staatskommissare, die in der Direktion
oder in dem Äufsichtsrat säßen. Und zwar sollten sie nicht
allein Sitz und Stimme haben, sondern noch mit besonderen
Befugnissen ausgestattet werden* Hier kann der helle und
löbliche Gedanke weitergesponnen werden, mit besonderem
Bezug auf Wahrnehmung der Arbeitnehmerbelange. Würde
diese Aufgabe aus den Betrieben hinausverlegt und damit
den tausend Zufälligkeiten und Unzuträglichkeiten der allzu
engen Reibereien entzogen und in die Hand besonders be¬
rufener Sachwalter (etwa der Gewerkschaften) gelegt, dann
wäre mehr erreicht, als nur die weitblickende Tätigkeit
der Beauftragten. Es wäre eine soziale Tat von ungeheuerer
Tragweite geschaffen. Denn von da ab wären in weitestem
Ausmaße höhere Posten in der Wirtschaftsleitung den Arbei¬
tern zugänglich. Ein Aufstieg weit über die heutigen Möglich¬
keiten wäre gewährleistet für die Auslese der Arbeitnehmer.
Es entstünden richtunggebende Arbeiterkapitäne , die den heu¬
tigen Generaldirektoren gewachsen wären. Denn die Posten
würden -besetzt werden zur Wahrung von Arbeiterinteressen
von aus dem Arbeiterstande hervorgegangenen Fachleuten,
durch die von Arbeitern gewählten Körperschaften. Nach
kurzer Zeit stünde den im Dienste des Kapitals stehenden
hochintelligenten Wirtschaftskapitänen ein Personal hoch-
geschulter Wirtschaftsführer der Arbeiterschaft gegenüber,
als ebenbürtige Gegenspieler im Wirtschaftsprozeß.
Andernfalls aber, das heißt, wenn jeweifen von Fall zu
Fall und immer wieder wechselnd Arbeitsgenossen aus den
Unternehmungen selbst zu Vertrauensleuten bestellt wür¬
den, so bleibt ein solcher Aufstieg ausgeschlossen. Jede
Nachhaltigkeit der Einwirkung ginge verloren; dafür wäre
für Erfolge augenblicklicher Hetzereien und der Umschmei-
chelung aller persönlichen Eitelkeiten und Rechthabereien Tür
und Tor geöffnet. Wie gesagt, für die Kleinarbeit der
Betriebsräte bleibt immer noch ein Betätigungsfeld zur
Führerschaft berufener Elemente übrig, das sie auch voll
zu bewältigen vermögen. Sie wäre sogar die gegebene Vor¬
schule für die höhere Wirksamkeit, da in ihr Initiative, Takt,
Umsicht usw. gelernt würden. Nichts aber täte diesen Be¬
triebsvertrauensleuten so sehr Abbruch, als wenn sie an
Aufgaben gewiesen würden, die sie doch nicht auszufüllen
befähigt sein können und vor denen jsie daher bald versagen
müßten. Einer wirklichen „höheren Laufbahn?' des tüchtigen
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Der Kampf um Oberschlesien.
Arbeiters schafft nur eine Scheidung der die Oberaufsicht
ausübenden Organe vom Personenbestand des Unternehmens
Raum. Und an einer solchen höheren Laufbahn des organi¬
satorisch begabten Arbeiters gebrach es bisher. Es wäre
ein Segen, wenn sie geschaffen würden.
FRIEDRICH TH. KÖRNER:
Der Kampf um Oberschlesien.
f)IE oberschlesischen Gemeindewahlen, die den Polen in
u allen Abstimmungsbezirken Zuwachs gebracht haben,
haben den breiteren Schichten des deutschen Volkes erst die
Augen darüber geöffnet, wie es in Wirklichkeit mit der
zukünftigen Gestaltung Deutschlands stehen wird. Ueber den
Vorgängen im Westen hatten wir unsere östlichen Provinzen _
fast vergessen, und doch war die Gefahr, die uns aus War¬
schau drohte, mindestens ebenso groß wie die Erpressungen,
die in Versailles an Deutschland begangen wurden.
Beide Ereignisse hingen zwar indirekt zusammen und waren
eins durch das andere bedingt. Aber das ganze deutsche Volk
blickte nun einmal mit bangem Herzen nach dem Westen
und wurde allmählich durch die Drohungen, die Absonde¬
rungsbestrebungen und die verhetzende Politik, die Frankreich
dort inszenierte, so widerstandslos, daß es nicht mehr die
Kraft besaß, für die Erhaltung des Ostens bei Deutschland
bis zum äußersten zu kämpfen.
Es lag hier eine bewußte Politik der französischen Bour¬
geoisie vor, die darin bestand, das durch fünf Jahre Hungers
und des Leidens erschütterte deutsche Volk seelisch so zu
zermürben, daß jes in stummer Resignation und in der Sorge
um das tägliche Brot und Dasein selbst an dem natio¬
nalen Bestand des Reiches das Interesse verlieren mußte.
Nachdem dieses* Ziel erreicht . war, begann sie mit -
ihren Wühlereien im Rheinland, wo sie hn allgemeinen nur .
geringen Erfolg zu verzeichnen hatte. Denn hier war es
der deutsche Arbeiter, der unbeirrt um Parteipolitik sein
Bekenntnis zum nationalen deutschen Einheitsstaat ablegte
und so den kapitalistischen und klerikalen Absonderungs--
bestrebungen einen machtvollen Riegel vorschob. Nunmehr
hielt Clemenceau aber auch die Zeit rar gekommen, Warschau
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f um Oberschlesien.
1255
eisen entsprechenden Wink zu geben. So begann die wider-
S tliche Besetzung Posens durch die Polen, so begann die
letration pacifique“ Oberschlesiens, deren Saat Polen
jetzt bei den Stadtverordneten wählen geerntet hat.
Die Republik Polen ist heute ein Machtfaktor, mit dem
Deutschland rechnen muß. Wenn auch Deutschland durch
die während des Krieges gegenüber Polen verfolgte Politik
heute büßen muß, so ist dieses Schicksal von großer histo¬
rischer Tragik. Denn zuerst waren es deutsche Truppen, die
im September 1914 den Polen die Erfüllung ihrer alten
Wünscne auf Selbständigkeit versprachen. In seinem Aufruf
an die Bevölkerung erklärte Generalleutnant .von Morgen:
„Erhebt Euch und vertreibt mit mir die russischen Barbaren,
die Euch knechtigen, aus Eurem schönen Lande, das seine
politische und religiöse Freiheit wieder erhalten soll.“ Und
die Proklamation des Königreichs Polen am 5. November
1916, die schon damals von vielen politisch nüchtern Den¬
kenden als ein unberechtigter Eingriff in das Selbstbestim¬
mungsrecht eines Volkes angesehen wurde, erweckte vollends
in Warschau den Wunsch nach dem lange ersehnten Gro߬
polen, in dem auch die preußischen Polen nicht fehlen
durften. Erst unser vollkommener Zusammenbruch konnte
diesen Wunsch der Polen erfüllen."
Deutschland hat Polen aus dem Zarismus Rußlands befreit
und ihm damit dTe Freiheit und staatliche Selbständigkeit
geschenkt. Das wird eine historische Tatsache bleiben. Trotz¬
dem liegt Deutschland heute mit diesem neu geschaffenen
Staat im Kampf um das wertvollste Gebiet Mitteleuropas,
das Polen nicht etwa besitzen will, um die polnischen Brüder
an sein Herz zu ziehen, sondern das es im Verein mit der ka¬
pitalistischen Entente als reichstes Kohlengebiet der Welt
einfach ausbeuten will. Wie sind diese uegensätze mög¬
lich? Es ist eine alte historische Erfahrung, daß befreite
Völker niemals dankbar sind, sondern im Gegenteil anspruchs¬
voll. Polen fühlt sich heute nicht mehr als ein von uns be¬
freites Volk, sondern als Sieger und als ein Staat von „Frank¬
reichs Gnaden“. Das heißt: es tritt in die Fußtapfen der
französischen Politik, es fühlt sich als Handlanger der En¬
tente, die diesen Keil absichtlich möglichst tief in die östliche
Flanke des Deutschen Reichs getrieben hat, um dadurch
Deutschland zu schwächen. Um so sicherer fühlt sich das
noch immer vor Deutschland zitternde Frankreich, um so
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1256
Der Kampf um Oberschlesien.
mehr wird die Expansionslust der polnischen Bourgeoisie
ermuntert, gerade die volkswirtschaftlich wertvollsten Teile
aus Deutschland herauszuschneiden.
Auch hier im Osten haben wir die gleiche Erscheinung wie
im Westen: Furcht vor Deutschland. Wir waren eifrig
bemüht, den Polen diese Furcht zu nehmen und ein gutes
Verhältnis mit ihnen zu gewinnen. Das wäre auch möglich
gewesen, wenn sie dem Versailler Vertrag nicht in so oru-
taler Weise vorgegriffen hätten. Erst der wirkliche Friedens¬
zustand sprach ihnen Posen und Westpreußen zu. Sie aber
nahmen sich ersteres, ohne daß sie einen Rechtsanspruch
darauf hatten. Auch hier wurde also die Politik des „Fetzens
Papier“ getrieben.
Der größte „Schmerz“ für Polen war es, daß über Ober¬
schlesien erst eine Volksabstimmung entscheiden soll. Dieser
Schmerz war aus der Unsicherheit geboren, in der sich Polen
über die Stimmung in Oberschlesien befand. Hatten doch
die Wahlen zur Nationalversammlung im Februar dieses
Jahres ergeben, daß etwa 60 Prozent aller Wahlberechtigten
für deutsche Kandidaten gestimmt hatten. Wenn die Volks¬
abstimmung also zu Polens Gunsten ausfallen sollte, so
mußte eine großangelegte Propaganda, mit allen Mitteln be¬
trieben werden.
Nur gar zu bald setzte diese auch in Oberschlesien ein.
Aut der einen Seite arbeitete der von polnischen Agenten
angezettelte Terror, auf der anderen die Beeinflussungen
durch die Kirche. Der Terror war lediglich in Szene ge¬
setzt, um das gesamte Wirtschaftsleben lahm zu legen, die
Arbeiter brotlos zu machen und sie desto eher in das polnische
Lager zu treiben, wo man ihnen „herrliche Zeiten“ und
eine steuerlose Zukunft in Aussicht stellte. Hand in Hand mit
den Polen arbeiteten hier- die deutschen Unabhängigen und
Spartakisten, weil, sie glaubten, auf diesem Wege eher zur
Weltrevolution zu gelangen und dadurch auch in Deutschland
die Macht in die Hände zu bekommen. Auf dem Lande aber
„arbeitete“ vor allem die polnische Geistlichkeit und drohte
dem gläubigen Landvolk mit ewiger Verdammnis, wenn es
für das Verbleiben bei dem „bolschewistischen Deutschland“
stimmen würde. ^
Aus diesen Zuständen heraus ist dann folgerichtig das Er¬
gebnis der Gemeindewahlen in Oberschlesien zustande ge¬
kommen. Von links und von rechts hat man alle Schuld
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Oberschlesien.
1257
dem v,Noskesozialisten“ Hörsing zuschieben wollen, der als
$taat$kommissar die Aufgabe erhalten hatte, durch eine ge¬
sunde Politik den polnischen und klerikalen Bestrebungen den
Stachel zu nehmen und so Oberschlesien dem Reiche und
Preußen zu erhaltend Zum anderen mußte er Oberschlesien
cöe Arbeitsfähigkeit wahren, was bei den bewaffneten Auf¬
sfänden eben nur durch Herbeirufen der Reichswehr und
dhfch Verhängung des Belagerungszustandes möglich war.
Ohne ihn wäre Oberschlesien — genau wie Posen — dem
Deutschtum schon damals verloren gewesen, und die not-
leidende deutsche Volkswirtschaft wäre vielleicht inzwischen
Ohne oberschlesische Kohle vollends zusammengebrochen.
,,Hörsing hat Oberschlesien gerettet, aber die Partei ist
darüber in Oberschlesien zugrunde gegangen“ — so schrieb
dtfe Sozialistische Korrespondenz kürzlich. Das ist eine be¬
rechtigte Anerkennung für Hörsing, die ihm im Grunde des
Herzens schließlich alle Parteien zubilligen müssen, und auch
zugebilligt haben.
Doch der Kampf um Oberschlesien geht weiter. Polen
wird nicht ruhen, und auch wir dürfen noch nicht alles ver¬
loren geben. An die Stelle Hörsings ist ein Zentrumsmann
getreten. Das ist sicher symptomatisch für den neuen Kurs,
der insofern neu genannt weiden muß, als man sich nunmehr
verspricht, den größten Einfluß durch die Kirche zu er¬
langen.
Diese Ansicht ist entschieden richtig, und zweifellos wird
das Zentrum bei der Volksabstimmung den Ausschlag zu
geben haben. Natürlich soll und darf es sich hier nicht um
unrechtmäßige Wahlbeeinflussung handeln, aber es fehlte
auch bisher an der richtigen Aufklärung. So soll man der
obefschlesischen Bevölkerung mehr als bisher sagen, daß
die Steuerlast des neuen Staatsgebildes mindestens ebenso
schwer sein wird wie bei uns, und daß letzten Endes hinter
Polen ja nur der englisch-amerikanische Kapitalismus lauert,
für den in Zukunft die Arbeiter zu schuften haben werden.
Auch politisch steht Polen vor neuen Erschütterungen. Schon
jetzt gibt es allerhand Reibungsflächen zwischen Polen und
Tschechien, und der tschecho-slowakische Staat sucht schon
wieder nach geheimen Allianzen mit den antibolschewisti¬
schen Randstaaten, um Großpolen nicht zu stark werden
zu Lassen. Die Furcht vor neuen Kriegen zwingt Polen dazu,
ein starkes, kostspieliges Heer zu halten. Wer soll alle diese
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1258
Der sozialistische Zukunftsstaat . . .
Lasten aufbringen ? . Kongreßpolen und Galizien, die durch
den Krieg ausgesogen sind, sicher nicht. So werden es immer
wieder die deutschen Gebiete im polnischen Staate sein,
die besonders starke Steuern zahlet! müssen. Deutsche Arbeit
wird gezwungen sein, der polnischen Kultur weiter zu
helfen.
Oberschlesien gehört wirtschaftlich und kulturell zu
Deutschland. Es ist dasjenige Stück unseres Vaterlandes,
aus dem deutsche Arbeit ungeahnte Werte herausziehen kann.
Wir wissen, daß die großen, noch nicht erschlossenen Stein¬
kohlenlager Werte von 1400 Milliarden Mark enthalten, die
sich in hunderten von Jahren nicht erschöpfen. Die jährliche
Forderung betrug im Frieden etwa 42 Millionen Tonnen. Das
haben deutsche Arbeiter dem Boden in rastlosem Fleiß abge¬
rungen. Soll nun in diesem Kampf um Oberschlesien wieder
der englisch-amerikanische Kapitalismus siegen, dem wir das
ganze Unheil verdanken, das über uns hereingebrochen ist.
Sollen wieder deutsche Arbeiter Fronknechte für ausländi¬
sches Kapital werden, das niemals ihre sozialen Wünsche
und berechtigten Forderungen erfüllen wird? Oberschlesien
muß die Antwort selbst geben. Für uns aber gibt es nur
das eine: bis zuletzt um die Seele dieser unserer Landsleute
zu ringen. Wir können in diesem Ringen Sieger bleiben,
wenn uns noch in letzter Stunde die Erkenntnis dämmert:
Erst Volk, und dann — die Partei!
EDUARD WENZEL:
Der sozialistische Zukunftsstaat — in
Deutschland eine Tatsache von morgen!
Wir stellen diese Ausführungen zur Debatte, ohne
sie uns zu eigen zu machen. ' Die Redaktion.
HIE Lösung der sozialen Frage heißt: Verbrauchssammlung
durch den Staat!
Wie der Staat im Kriege für die Befriedigung der Bedürf¬
nisse seiner Wehrmacht von 10 Millionen Mann mit ihrem
fabelhaften technischen Bedarf sorgte, so hat er sich in
Hinkunft die Befriedigung der Bedürfnisse des gesamten
Volkes, des Staates und der Gesamtwirtschaft angelegen
i •
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• • •
1259
Der sozialistische
Zukunftsstaat
sein zu lassen mit dem einzigen, doch so überaus angenehmen
Unterschied, daß er an Volk und Wirtschaft nicht wie an
die Wehrmacht unentgeltlich liefert, sondern gegen gute
Bezahlung.
Auch der Zivilist hat zwei Beine, braucht Schuhe an den
Füßen, Wäsche und Kleidung auf dem Leib, sonstige Aus¬
rüstung und Bedarfsgegenstände aller Art, Unterkunft, Woh¬
nungseinrichtung, Haushaltsausstattung, Essen, kürz jeglichen
Lebensbedarf — im einzelnen wohl anders als das Militär,
im-Wesen genau dasselbe. Der Staat hat Hunderttausende,
vielleicht gar Millionen zu versorgen an Kriegs verletzten,
Hinterbliebenen nach Gefallenen, Erwerbsunfähigen, Minder¬
erwerbsfähigen usf. Er braucht einen neuen rahrpark für
seine Eisenbahnen, die Elektrisierung dieser ist geplant, der
Wiederaufbau der zerstörten Gebiete wird die größten An¬
forderungen stellen, desgleichen die übrigen Leistungen aus
dem Friedensvertrag. Eine komplette neue Handelsflotte muß
gebaut werden. So geht es weiter. Der Bedarf ist un¬
geheuer.
Warum setzt man sich im Reichswirtschaftsministerium
nicht einmal hin auf seine vier Buchstaben und rechnet
aus — nur im allergröbsten —, wie hoch der dringendste
Bedarf in den einzelnen Zweigen wohl sein kann! Da haben
wir rund gerechnet 60 Millionen Einwohner, davon dürften
sein so und soviel Millionen Männer, so und soviel Millionen
Frauen, soviel von diesem, soviel von jenem Beruf oder
Stand (Klasse), soviel Jünglinge, soviel Jungfrauen, soviel
Knaben, soviel Mädchen, davon soviel in diesem Lebensalter,
soviel in dem anderen, in dem und dem Ausmaße den ver¬
schiedenen Ständen (Klassen) angehörig usw. usw. Jedes
hat, wie gesagt, zwei Beine und die gewissen Bedürfnisse.
Es kann doch um Himmels willen nicht gar so schwer sein,
auszurechnen, daß Deutschland zum Beispiel so und soviel
Millionen Paar Männerschuhe, so und soviel Millionen Paar
Damenschuhe usw., so und soviel Millionen Anzüge, so und
soviel Millionen Damenkleider, so und soviel Millionen Gar¬
nituren Herrenwäsche, so und soviel Millionen Garnituren
Damenwäsche usw. usw. braucht (Vorräte von Belang be¬
stehen ja keineswegs), wobei es zunächst wirklich nicht
darauf ankommt, ob man sich um ein paar Millionen irrt.
Es werden sich in allem und jedem ungeheure Zahlen
ergeben..
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1260 __ Der sozialistische Zukunftsstaat : . .
Ist man im Reichswirtschaftsministerium so weit, dann
wird der Staat kommen und zum Beispiel sagen: Ich habe
zu bestellen: 60 Millionen, sage und schreite sechzig Mil¬
lionen Paar Schuhe (Herren-, Damen-, Kinderschuhe), Stoff
für 30 Millionen, sage und schreibe dreißig Millionen An¬
züge (für Männer, Jünglinge, Knaben), 100 Millionen, sage
und schreibe hundert Millionen Garnituren Wäsche usw. usw.
(ich kann hier natürlich nur in ganz groben Strichen skiz¬
zieren).
Wie wird sich demgegenüber das erzeugende Unternehmer¬
tum verhalten, das es zunächst angeht? Wie wird es sich,
frage ich, einer solchen Sozialisierung gegenüber, denn um
nichts anderes handelt es sich, verhalten ?
Es wird sich vergnügt die Hände reiben und jeder ein¬
zelne wird trachten, sich einen tüchtigen Happten der Be¬
stellungen zu sichern. Wer aber grundsätzlich nichts wissen
mag von Staatsaufträgen, der laßt es eben bleiben. Ge¬
zwungen wird niemand, jeder kann machen, was er für das
klügste hält. Es werden sicher genug da sein, die zur Ver¬
fügung des Staates stehen, heißt das doch nichts anderes
als glänzend verdienen. Auf diese Weise wird die Produktion
verstaatlicht.
Der Staat seinerseits wird erklären: die gesamte Wirtschaft
bleibt völlig frei, jeder kann tun und lassen, was er will.
Die vorliegenden Bestellungen sind erst ein Anfang. Es
ist das Wirtschaftsprogramm der Regierung, den gesamten
Volks- und Wirtschaftsbedarf nach und nach auf diese Weise
fortlaufend zusammenzufassen. Eine ständige Organisation
gilt es demnach zu schaffen. Es handelt -sich nicht nur
um eine einmalige Hilfsaktion. Der Staat sichert der Erzeu¬
gung dauernde angenehme Beschäftigung und damit fort¬
laufend glänzenden Verdienst. Selbstverständlich wird nie¬
mand zur Mitarbeit gezwungen. Wer auf eigene Faust
besser fortzukommen weiß, dem steht kein Hindernis ent¬
gegen. Der Staat tritt einfach in Wettbewerb mit der privaten
Wirtschaft. Diejenigen, die sich um die staatlichen Auf¬
träge bewerten wollen, tun sich, jede Fachgruppe für sich,
in den Erzeugerverbänden zusammen, die zu Arbeitsgemein¬
schaften mit den denkbar vorzüglichsten Arbeitsmethoden
ausgebaut werden müssen.
Die Erzeugerverbände fußen auf freier Uebereinkunft der
Erzeuger untereinander, lebensvolle Satzungen schützen die
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Per sozialistische Zukunftsstaat
t * •
i 261
Belange des einzelnen Erzeugers gegen etwa angestrebte
Klöngelwirtschaft, die festen staatlichen Milliardenaufträge
geben den Verbänden jedes Mittel in die Hand, das sie
brauchen, um sofort in den größten Ausmaßen mit frucht¬
barer Arbeit beginnen zu können. Die staatlichen Aufträge
werden hur im ganz Großen erteilt. Die Bearbeitung dieser
Aufträge im einzelnen nach Mustern, Farben, Formen, Aus¬
führungen, Größen, Qualitäten usf. liegt schon den Ver¬
bänden selber ob, das heißt den berufensteir Fachmännern der
privaten Wirtschaft. Der Staat beschränkt sich auf die all¬
gemeine Weisung, die Verbände sollen das erzeugen, was
der Markt am dringendsten braucht und was dem Geschmack
der Zeit angemessen ist. Selbstverständlich ist solideste Ar¬
beit Die Ausführungsentwürfe der Verbände sind dann dem
Reichswirtschaftsministerium zur Genehmigung vorzulegen.
Das Urteil über die Tätigkeit der Verbände spricht nicht der
Staat, sondern die kaufende Allgemeinheit, worauf wir später
zurückkommen werden.
Durch die festen staatlichen Milliardenaufträge werden
in kürzester Zeit (freilich in verkehrter Reihenfolge) ohne
die Spur eines Zwanges oder sonstiger Nachteile die be¬
rühmten vier Forderungen Walther Kathenaus zur Vervoll¬
kommnung der deutschen Gütererzeugung verwirklicht, die
enthalten sind in seinem Buche „Die neue Wirtschaft“ und
von denen Rathenau behauptet, daß ihre Erfüllung zu einer
v Vervielfältigung des Ertrages der deutschen Wirtschaft —
wohlgemerkt: „Vervielfältigung“ sagt Rathenau — führen
muß, was in dem Fall nicht in Zweifel zu ziehen ist, wenn
die bezüglichen Maßnahmen durchgeführt werden können
ohne üble Begleiterscheinungen, wie in unserem Falle. Diese
vier Forderungen verlangen für die ganze deutsche Güter¬
erzeugung im großen: 1. eine wissenschaftliche Durch¬
forschung und Reform aller Betriebe hinsichtlich Lage und
Anlage, Einrichtung und Arbeitsweise; 2. Normalisierung
und Typisierung der Waren und geeignete Arbeitsteilung
von Werk zu Werk ; 3. die Wiedervereinigung der. Produk¬
tionsstufen und 4. eine zielbewußte Leitung der Gesamt¬
wirtschaft durch einen zentralen Willen.
Die letzte Forderung ist restlos erfüllt dadurch, daß der
Staat natürlich das bestellt, was die Allgemeinheit am drin¬
gendstes braucht.
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1262
Der sozialistische Zukunftsstaat . y.
Die Normalisierung und Typisierung ist mit einem Schlage
bis zu jedem wünschenswerten Grade durchgeführt; die Ver¬
bände brauchen ja nur eben die gewissen Typen usw., und
keine anderen, zu erzeugen. Auch die Arbeitsteilung von
Werk zu Werk kann bei der Größe der staatlichen Aufträge
keine Schwierigkeiten machen.
Die Wiedervereinigung der Produktionsstufen kommt von
allein. Natürlich müssen sich die nachverarbeitenden Ver¬
bände mit ihren Vorgängern im Arbeitsprozeß, die sich zu
den vorarbeitenden Verbänden zusammenschließen werden,
ins Einvernehmen setzen. Ehe sicheren Unterlagen, die. den
Erzeugern von Fertigwaren durch die staatlichen Riesen-
bestellungen für ihre Arbeit gegeben werden, pflanzen sich
selbsttätig gegen den Rohstoff zu fort. Allen früheren Pro r
duktionsstufen wird dieselbe vollkommene Arbeitsweise und
höchste Wirtschaftlichkeit ermöglicht. Die Zwischenprodukte
f ehen, ohne daß sie Handelsobjekt werden, nach genauerem
‘ransportplan vom vorverarbeitenden Verband an den nach¬
verarbeitenden. Die Zusammenarbeit wird in Kürze voll¬
kommen sein. Die ganze Gütererzeugung, soweit sie sich
nicht abseits hält, wird zur organischen Einheit.
Auch die Durchforschung und Reform aller Betriebe kommt
schnell und zwanglos. Da die Hauptgewinstaussicht des
Erzeugers, mehr als früher, in der Verminderung meiner
Gestehungskosten liegt, ist jede technische Vervollkommnung
seines Betriebes am allermeisten in seinem eigenen Nutzen ge¬
legen. Ueberdies hat er nach Wegfall der, kaufmännischen
Seite seines Unternehmens auch die früher dort festgelegten
Mittel zu seiner Verfügung. ,Notwendige Reformen scheitern
nicht am Kapitalmangel, um so mehr nicht, als er die' Neu¬
einrichtungen häufig gegen seine eigenen Lieferungen, also
ohne Geldaufwand vom Staat oder verband wird beziehen
können. Und anderes mehr.
So wiederhole ich denn: Rathenaus Forderungen sind
erfüllt. Das Ergebnis muß eine beispiellose Verbilligung der
für den Staat erzeugten Waren sein, eine Verbilligung, wie
sie niemand anders sich zunutze machen kann. Die staatlichen
Waren sind konkurrenzlos!
Hier stehen wir vor der eigentlichen Geburt der Gemein¬
wirtschaft.
Sie sind konkurrenzlos gegenüber jedem außenstehenden
Erzeuger, sie sind es noch mehr gegenüber dem gesamten
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1263
Der sozialistische Zukunftsstaat . . .
privaten Handel. Damit entfällt für den Staat die Not¬
wendigkeit irgendwelchen Zwanges gegenüber etwaigen Tei¬
len der privaten Wirtschaft, die von einer Oemeinwirtschaft
nichts wissen wollen. Der Staat setzt sich nach allen Seiten
hin durch, einzig und allein kraft der inneren Ueberlegenheit
des von ihm getragenen Wirtschaftssystems. Insoweit dieses
System dem jetzigen nicht überlegen ist, kann es sich nicht
durchsetzen und soll es sich x auch nicht durchsetzen. Ein
völlig ungehinderter freier Wettbewerb wird selbsttätig aus-
weisen, inwieweit die Gemeinwirtschaft lebensfähig ist. Wo
immer die staatliche Bewirtschaftung eine Schwäche hat oder
eine Lücke läßt, wird die völlig freie private Wirtschaft
einspringen. -
Der Staat ist ein gleichberechtigter Unternehmer unter
anderen Unternehmern. Daß man kauft, wo man am besten
und billigsten kauft (oder wenigstens zu kaufen glaubt),
dieses ungeschriebene Gesetz ist die Bürgschaft für aas Er¬
stehen der Qemeinwirtschaft.
Denn wenn der Staat billiger einkauft als jeder andere,
dann kann er natürlich auch billiger verkaufen, wobei ich
noch gar nicht die riesigen Ersparnisse in der Verkaufs¬
organisation in Rechnung stelle, die der Staat gegenüber
dem privaten Handel erzielen wird. Der private Handel wird
weichen nach und nach — im wesentlichen wenigstens —
aufgesogen werden wie die Handindustrie seinerzeit von
der Maschinenindustrie. Alles in freier Entwicklung. Zum
Verkauf muß der JStaat eine das ganze Reich umspannende.
Verkaufsörganisation schaffen. Das ist die einzige große
Leistung, die ihm zur Aufgabe wird. Für den Anfang kann
man mit Notbehelfen das Auslangen finden, für die Dauer
aber muß ein staatliches Warenhaussystem geschaffen werden.
Wie der Staat schon längst in jedem kleinen Ort sein
eigenes Postamt hat, im ganzen Reich die Eisenbahnen,
so wird er künftig auch noch in jedem größeren Ort sein
eigenes Warenhaus haben. Diesem Warenhaussystem kann
sich zwanglos der private Kleinhandel angliedem, der beim
staatlichen Warenhause einkauft und die Güterverteilung
dann, ohne durch Vorschriften gebunden zu sein, bis in die
letzten Verästelungen durchführt. Wer Käufer findet, kann
auch handeln. — Die Seele des staatlichen Warenhaussystems
ist eine einheitliche systematische Vorrats* und Verkaufs-
statjstik, beileibe nicht Kaufmannsgeist der Beamtenschaft.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1264 _ Der sozialistische Zukunftsstaat . . .
Alle fach- und kaufmännische Voraussicht liegt bei deft privat¬
wirtschaftlichen Erzeugerverbänden. Die von diesen in das
staatliche Warenhaussystem geleiteten Waren werden hier
feilgeboten, sonst nichts. Wer kauft, kauft, wer nicht, der
läßt es bleiben. Periodisch wird von den einzelnen Waren¬
häusern ein Auszug aus der Vorrats- und Verkaufsstatistik
an die Vorgesetzten Stellen eingesandt. Dieses Zahlenmaterial
wird fortlaufend in der statistischen Abteilung des Reichs¬
wirtschaftsministeriums gesammelt und entsprechend gesich¬
tet, sodann ari die einzelnen Erzeugerverbände weitergeleitet,
die so ständig darüber unterrichtet sind, was für eine Auf¬
nahme die von ihnen erzeugten Waren am Markt rinden und
sichere Unterlagen gewinnen für die Beurteilung der Markt¬
lage und ihre auf Befriedigung des Marktes hinzielenden Ent¬
schlüsse. ln der Warenstatistik liegt das unbestechliche, von
der kaufenden Allgemeinheit kommende Urteil über die
Tätigkeit der Erzeugerverbände, von denen ich früher sprach.
Hier kommt unerbittlich zum Ausdruck, ob die 'Verbände
ihrer Aufgabe, das zu erzeugen, was Absatz findet, gerecht
werden oder nicht. Dieser Umstand bürgt dafür, aaß die
Verbände ihr Möglichstes tun werden, um die in sie gesetzten
Erwartungen zu rechtfertigen. Sie haften mit ihrem guten '
Rut als Fachmänner. Uebrigens kann auch eine geldliche Haf¬
tung eingeführt werden. — An Hand der Warenstatistik wird
es nach einiger Zeit der Erfahrung möglich sein, auf lange
Zeiträume hinaus-den Volksbedarf bis in die Einzelheiten
hinein genau vorauszubestimmen. Damit ist für die organi¬
satorische Vollendung der Gütererzeugung die Voraussetzung
geschaffen. — Das Personal des staatlichen Warenhaus¬
systems braucht nichts als die deutschen Beamtentugenden:
Pflichtbewußtsein, Genauigkeit, Pünktlichkeit usw. Das
Warenhaussystem ist ein nacktes Instrument, auf dem auf
der einen Seite die kaufende Allgemeinheit, auf der anderen
die privatwirtschaftlichen Erzeugerverbände spielen. Aller
schöpferische Antrieb liegt also außerhalb seiner.
Das Reichswirtschaftsministerium spielt die Rolle eines
Höchstkommandos, dem die Erzeuger verbände als Fach¬
referenten beigeordnet sind.
Was ist nun notwendig, damit der Staat, der schrecklich
verschuldete, bettelarm, in der geschilderten Weise als Riesen¬
auftraggeber auftreten kann ? Milliarden an Geld! Die Bank¬
notenpresse liefert sie — auch» wenn aus den jetzigen 40
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)3er sozialistische Zukuhftsstaat
1205
Milliarden Banknoten ihrer 100 Milliarden würden. Daß
die Sache nicht sehr gefährlich werden kann, ist sonnenklar,
denn was der Staat auf der einen Seite an die Gütererzeu-
gung zahlt, nimmt er auf der anderen Seite durch den Verkauf
der erzeugten Waren wieder ein, wahrscheinlich sogar mit
einem großen Gewinn. So einfach der Vorgang ist, so un¬
übersehbar ist er in seinen Folgen. Durch ihn wird „die
neue Zeit“ zur Tat. Jede Mark, jede einzelne Mark von den
vielen Milliarden, die der Staat an die Gütererzeugung zahlt,
dient in irgendeiner Form zur Schaffung von werten. Ja,
bei der Unübertrefflichkeit der dabei befolgten Arbeits¬
methoden wird für jede Mark sogar der möglichste höchste
Wert geschaffen. Daraus folgt die die ganze Welt revolutio¬
nierende Tatsache, daß die ohne jede Deckung ausgegebene
Papiermark, dieses Nichts, doch in re Deckung hat, ia sogar
ihre möglichste höchste Deckung, nur eben besteht diese
Deckung nicht in Gold, sondern in Ware, in der auf die
staatliche Bestellung hin erzeugten Ware.
Damit stehen wir am Grabe des Kapitalismus.
In dem Augenblick, wo der Staat seine bisherige 'Stellung
außerhalb der Wirtschaft aufgibt und in der geschilderten
•Weise in den Wirtschaftskreislauf eintritt, wird Geld für
ihn das, was Zeit, was Unendlichkeit, was Ewigkeit sind:
Vorstellungen ohne Grenzen. Für den einzelnen bleibt Geld,
das nun nicht mehr Anweisung auf Gold, sondern Anweisung
auf Ware sein wird, genau das, was es bisher war, für den
Staat aber hört es auf ein Wert zu sein, für ihn wird es zum
Wertmaßstab nur, zum Mittel, das Wesenlose begrifflich zu
gestalten, wie die Stundeneinteilung nur dazu dient, die
Wesenlosigkeit der Zeit greifbar zu machen. Der Staat wird
mit einem Schlage zum Herrn eines unbegrenzt großen,
unverzinslichen Milliardenstromes, der als Band ohne Ende
durch seine Hände rinnt, von ihm geleitet und ständig ver¬
stärkt. Für sein Papier, das nichts ist, fließen ihm die
Werte zu, dadurch wird sein wertloses Papier nun doch zum
Wert und der Staat zum Eigentümer einer unversieglich
rinnenden Milliardenquelle. Es ist kin Geburtsakt, neue Wel¬
ten werden hier. geboren! - .
Von der Gesamtheit aus gesehen, ergibt sich folgendes Bild :
Kapital (Geld) ist nichts, wahre Werte sind nur Rohstoff,
Arbeitskraft und Arbeitsweise (durch sie findet auch der
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1266
Der sozialistische Zukunftsstaat
theoretisch unbegrenzte Geldstrom praktisch seine Grenzen)»
Damit ist das Urteil gesprochen über die heute so laut ver¬
langte „Sparwirtschaft“.
Dadurch/ daß der Staat zum Riesen—Riesen—Riesenkapita¬
listen wird, für den Geld überhaupt keine Rolle mehr spielt,
ist erledigt, was man heute Kapitalismus nennt, ohne, daß dem
(privaten) Kapitalisten sein Kapital genommen oder sein
Verfügungsrecht darüber beschränkt würde. Er ist dem staat¬
lichen Kapitalisten gegenüber völlig ungefährlich. Eine or¬
ganische Weiterentwicklung der hier ausgesprochenen Grund-
f 'edanken führt, sozusagen in freiem Wachstum, zum sozia-
istischen Zukunftsstaat, wie ihn Edward Bellany schildert,
aber noch ohne die sozialistischen Schwerfälligkeiten, die
bei ihm Vorkommen.
Zur Beleuchtung der praktischen Durchführbarkeit des Sy¬
stems in dieser Stunde noch das: Das Geld wird, wie wir ge¬
sehen haben, automatisch zur Anweisung auf Ware (anstatt
auf Gold). Dadurch findet einerseits der Valutarummel sein
Ende, weil nunmehr auch auf dem Papier — das ist für #
den Deutschen sehr wichtig — nur die Kaufkraft des Geldes
.im Innern als Grundlage für die Valuta angesehen werden
kann, nicht mehr das Gold, das nicht hier ist — sind wir
aber soweit, dann ist gar nicht einzusehen, was für ein
Unglück die schlechte Valuta sein soll? —, andererseits
erledigt sich die Sorge,, daß unsere hohen Löhne die deutsche
Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt in Frage stellen.
Die Höhe der Löhne ist völlig gleichgültig, von Belang -
ist neben dem Rohstoff nur der Arbeitsertrag, die Arbeits¬
methode. Um was die Ware durch die hohen Löhne teurer
werden, um das wird eben die Valuta schlechter. Das kann
nur dann bedenklich sein, wenn wir fürchten müssen, zu den
schlechten Kursen dem Ausland gegenüber eingegangene Ver- '
pflichtungen in der eigenen Währung zu späteren besseren
Kursen abtragen zu müssen. Dagegen aber kann man sich
doch sehr leicht dadurch schützen, daß man die Valuta dau¬
ernd niedrig hält. Die Verhältnisse werden das ja ganz
von selbst mit sich bringen, trotz der gerade gegen die eige- -
nen Interessen gerichteten entgegengesetzten Bemühungen
aller Stellen, aber es wäre trotzdem ah der Zeit, sich darüber
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Der sozialistische Zukunftsstaat
• * «
1267
klar zu werden. Hohe Preise verlieren ihre Schrecken gänz¬
lich, wenn entsprechend verdient wird. Man trachte in auf-
steigender Tendenz — das ist leicht —, vor allem das Ver¬
hältnis der Einkommen zueinander gerecht zu machen. Daß
das zu einer noch höheren Preisebene führt, ist gar kein
Unglück. Nach außen ist die hohe Preisebene eher gut als
schlecht, das haben wir vorhin gesehen. Noch immer ist
sie mit Rücksicht auf die Tilgung der Kriegsschulden sogar
vorteilhaft zumindest dann, wenn der Staut die Rolle im
Wirtschaftsleben übernimmt, die ich ihm hier zugewiesen
habe. Seine Einnahmen weiden dann in einem entsprechen¬
den Zuschlag zu den Selbstkostenpreisen der Waren bestehen.
Es ist einleuchtend, daß, wenn diese Preise zum Beispiel
durchschnittlich zehnmal so hoch sind wie im Frieden, bei
gleichem Güterumsatz wie im Frieden und gleicher prozen¬
tualer Belastung dieses Umsatzes mit Abgaben für den Staat
dieser zehnmal soviel einnimmt — in Mark ausgedrückt — wie
im Frieden. Umgekehrt gesehen kann man auch sagen, die
200 Milliarden Mark innere Kriegsschulden sind nur soviel
wie 20 Milliarden Friedensschulden in der Vorkriegszeit.
Eine absichtliche Zuspitzung dieser Verhältnisse ist um so
unbedenklicher, als das neue Wirtschaftssystem mit seiner un¬
geheuren Steigerung des Arbeitsertrages der Gesamtwirt¬
schaft die Tendenz verbindet, den erzielten Mehrertrag nach
Möglichkeit der großen Masse der Ünbegüterten (dem ar¬
beitenden Volk) zuzuschan2en, die so für die auch ihr zu¬
gefügte Schädigung an ihren sauer erworbenen Ersparnissen
mehr als schadlos gehalten^ würde. Betont freilich muß
werden, daß solche Pläne nur von einem Staat befolgt
werden dürfen, der für einen würdigen Unterhalt aller der¬
jenigen sorgt, die nicht mehr verdienen können; denn, sich
selbst überlassen, müßten diese einem elenden Ende ent¬
gegengehen.
Wenn ich sagte, der Mehrertrag der neuen Wirtschaft soll
der großen Masse zugeführt werden, so äußert sich darin
nicht nur die Sorge um einen gerechten Vermögensausgleich,
sondern noch mehr die Erkenntnis, daß die hohe Leistungs¬
fähigkeit der Gemeinwirtschaft nur dann voll ausgenutzf
werden kann, wenn ein entsprechend großer Absatz vorhanden
ist. Dieser Absatz nun ist sofort hier, wenn ich der großen
Masse die Mittel gebe, die sie braucht, um das kaufen zu
können* was sie ja so gern haben möchte.
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1263 Gedanken über die. Zukunft der deutschen Arbeit ; . .
Der Arbeiter ist doch gleichzeitig auch Verbraucher. Diese
Tatsache scheint man ganz zu übersehen. Was ich ihm an
Lohn mehr bezahle, gewinnt er als Verbraucher an Kauf¬
kraft. Folglich ist hoher Lohn (mit Kaufkraft!, der aller¬
dings nur bei erhöhtem Arbeitsertrag möglich ist) keine
Gefahr für die Gütererzeugung, sondern im Gegenteil die
sicherste Gewähr für großen Absatz und damit für neue,
verdienstbringende Aufträge für die Erzeugung. Glänzende
Bezahlung des Arbeiters liegt im Interesse des Unternehmers!
So entpuppen sich alle angeblichen Schwierigkeiten von
heute als das gerade Gegenteil, als die glücklichsten Vor¬
aussetzungen, die die so heiß ersehnte deutsche Gemein¬
wirtschaft geradezu erzwingen. Mit ihr steigt ein neues
Weltzeitalter herauf. •
• *
♦
Das können nur Andeutungen sein. Immerhin hoffe ich,
daß sie das Wesentliche klar erkennen lassen. Was ist falsch,
frage ich, an meinen Gedankengängen, was unmöglich von
den Maßnahmen, die zu ihrer Verwirklichung notwendig
sind?
ALBERT BENCKE (München):
Gedanken über die Zukunft der deutschen
Arbeit und des deutschen Arbeiters.
YX/IR stehen, wenn wir die Zukunft des deutschen Arbei-
v ters und der deutschen Arbeit ins Auge fassen, vor
drei Möglichkeiten: die eine ist der Durchbruch der Welt¬
revolution, durch welche uns die durch den Krieg auf¬
erlegten Sklavenfesseln abgenommen werden; die andere ist
langsame Evolution, die einen erträglichen Zustand schaf¬
fen wird; die dritte ist das langsame und unter harten Stößen
erfolgende Wiede rein renken in den alten Zustand, wie es
etwa nach den Bauernkriegen im sechzehnten Jahrhundert,
die eine gewisse Aehnlichkeit mit unseren heutigen Verhält¬
nissen haben,' der Fall war. Von vornherein erscheint die
dritte dieser Möglichkeiten, an welcher natürlich das kapi¬
talistische Interesse der Westmächte vor allem noch zah
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Gedanken über die Zukunft der deutschen Arbeit . ... 1269
festhält, ausgeschlossen, denn die durch den Weltkrieg ent¬
fesselten und nach voller Befreiung verlangenden Kräfte
haben heute ein zu weites Feld und zu gewaltige Massen
hinter sich, um jemals wieder ganz zurückgedämmt werden
zu können. So bleiben die baden anderen Möglichkeiten,
und da scheint es nur, daß die Hoffnung auf die baldige
Weltrevolution ebenso trügerisch ist, wie die Hoffnung des
Kapitalismus, die Dinge wieder ins alte Geleise bringen zu
können. Träfe diese Annahme zu, dann ergibt sich natürlich
daraus eine besondere Richtlinie für die kräftige Stellung
des deutschen Arbeiters, der dann seine Agitation, seine
Tatkraft für Seine eigenen Interessen besser verwenden kann.
Wie steht nun unter diesen Verhältnissen Deutschland da,
welche Aussichten eröffnen sich seiner Arbeiterschaft, wenn
die Entwicklung bei den Westmächten keinen raschen revo¬
lutionären Verlauf nimmt? Der deutsche Arbeiter wird sich
dann in der Lage eines Mannes befinden, der eine an¬
scheinend überreiche Herrschaft in Gestalt eines prunkvollen
Hauses übernimmt, das sich bei näherer Betrachtung mangels
entsprechender Einrichtung als kaum bewohnbar erweist, ob¬
wohl es vorher ihm und denen, die er als seine Herren emp¬
fand, geräumige Wohnung gewährte. Unsere Industrie wird
infolge der Rohstoffe die wir teurer bezahlen als die anderen,
unter ungeheuer ersenwerten Bedingungen arbeiten und wird
den geringen Reingewinn, der ihr bleibt, zum größten Teil
in Gestalt der sogenannten Wiedergutmachungen an die En¬
tente abliefern müssen. Daran wini es wenig ändern, daß
man die kleinen Einkommen möglichst schont und die großen
Einkommen möglichst heranzieht, denn es wird eben nicht
mehr viel große Einkommen in Deutschland geben; die Zeiten
des großen Unternehmergewinns sind in Deutschland vorbei
und darauf beruht eben unsere Zukunft und die Zukunft
unseres sozialistischen Staates, daß sie vorbei sind. Das
Mitbestimmungsrecht des Arbeiters an der Produktion, das
ihm durch den entsprechenden Ausbau der Betriebsräte in
solcher Weise gewährt werden muß, daß dadurch die Unter¬
nehmerinitiative, die für den technischen und organisatori¬
schen Fortschritt der Produktion unerläßlich ist, nicht aus¬
geschaltet wird, macht den Arbeiter zum Mitteilhaber an der
Maschine, als deren Sklave er sich gefühlt hat; ein Gefühl,
das er naturgemäß auf den Unternehmer als den Besitzer der
Maschine. übertrug. Diese Mitteilhaberschaft des deutschen
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1270 Oedanken über die Zukunft der deutschen Arbeit
• • •
Arbeiters würde nun tatsächlich die ersehnte" Befreiung
herbeiführen können, wenn der deutsche Arbeiter gleich¬
berechtigt mit den Arbeitern der ganzen Welt über seine
Produktion verfügen und sie unter denselben Bedingungen
wie die anderen gestalten könnte. Das kann er aber nichts
infolge des Friedens, der uns alle fesselt.
Da sich nun der deutsche Arbeiter in dieser Lage seinem
westländischen Arbeitsgenossen gegenüber befindet, nutzt ihm
die weiteste politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung,
die vollendetste Betriebsräteorganisation nichts, solange seine
Arbeit wie bisher vorwiegend als Massenleistung bewertet
wird. Er wird trotz hoher Löhne und Mitbestimmungsrecht ,
an der Produktion der Sklave der Maschine bleiben und
wird sich als solcher fühlen, denn das liegt eben, von ganz
wenigen Fällen abgesehen, im Wesen der Maschinenarbeit,
daß sie den Menschen, der ohne Selbständigkeit nicht be¬
stehen kann, ohne entwürdigt zu werden, um sein Selbst
bringt, ihn zum Handlanger macht und die traurigen Ent¬
artungserscheinungen, die wir heute sehen, sind zum guten
Teil darauf zurückzuführen. Nur eine sehr hohe Lebenshal¬
tung, wie sie der englische und französische Arbeiter, der
Arbeiter der Vereinigten Staaten wird haben können, kann
hier das nötige Korrektiv bilden. Die einzige Möglichkeit
für den deutschen Arbeiter in Zukunft, trotz der äußerst
schwierigen Lage, in der sich Deutschland befindet, dennoch
zu einer ähnlich hohen Lebenshaltung wie sein westländi¬
scher Kollege zu gelangen, kann dennoch nicht in einer
Steigerung der Produktion liegen, kann nicht das Ideal der
sich immer vergrößernden Massenleistung sein, denn an ihr
liegt ja eben das mechanisierende Moment, das unser Volk
krank gemacht hat und unseren Arbeiter zugunsten des west-
ländischen Arbeiters versklavt wird, unter diesen günstigeren
Bedingungen arbeiten kann, sondern sie beruht in einer
entschlossenen Wendung zu einem ganz neuen Wirtschafts¬
plane hin. Nämlich in der Wendung zur ausschließlichen
Qualitätsarbeit, die einen fein ersonnenen Mechanismus er¬
fordert, an dem sich das deutsche technische Geschick und
die gewissenhafte Arbeit des Deutschen auswirken können.
Eine Qualitätsarbeit, deren Rohmaterialbedarf im Verhältnis
zur Massenfabrikation nur gering ist, der aber andererseits
die höchsten Preise fordern darf, und sie auch erhält, weil
sie konkurrenzlos ist. Eine solche Arbeit stellt an den Ar-
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Gedanken über die Zukunft der deutschen Arbeit
1271
beiter die höchsten Anforderungen und verknüpft ihn mit
dem ganzen Arbeitsprozeß, so daß er einen persönlichen
Anteil an dem fertiggestellten Stück nehmen und dafür auch
den Lohn erhalten kann, der ihm gebührt. Dadurch würde
allerdings eine große Anzahl unserer Arbeiter arbeitslos und
hier hat nun eine großzügige Organisation unseres Sied¬
lungswerkes einzusetzen. Die Parole der Zukunft muß sein:
Nur der hochbezahlte Industriearbeiter als Qualitätsarbeiter
hat in unserer Industrie Berechtigung, die anderen aber sollen
wieder freie Menschen auf freier Erde werden, sich ihres
Besitzes, ihres Hauses und Heimes, zu dessen Erwirtschaftung
der Staat sie weitgehend unterstützen muß, erfreuen, und
damit nicht nur aus sich selber wieder neue Menschen schaf¬
fen, die nicht im Dunst der Arbeiterviertel der großen Städte
leben, sondern uns auch unserer Nahrungsmittelsorgen ent¬
heben, indem sie Deutschland wieder zum Agrarland und
hochentwickelter, intensiver, aber nicht quantitativer Quali¬
tätsindustrie umschaffen.
Gelingt uns dies, machen wir uns wieder mit unserer
Lebensmittelversorgung vom Auslande unabhängig, schaffen
wir eine Qualitätsindustrie, die nur eine verhältnismäßig
kleine aber erlesene und eine hohe Lebenshaltung genießende
Schar von Arbeitern braucht, dann brauchen uns die Bedin¬
gungen des Gewaltfriedens für die Zukunft nicht zu schrecken
und der deutsche Arbeiter kann mit erhobenem Haupte in
die Zukunft blicken. Heißt aber unser Schibboleth: Leistung,
Leistung, Mehrproduktion und Mehrproduktion, um unsere
Schulden abzuzahlen und einen Gewinn herauszuwirtschaften,
dann arbeiten wir für den mit seinen Arbeitern Hand in
Hand gehenden westländischen Kapitalismus — den west-
ländischen Arbeitern ist daraus kaum ein Vorwurf zu machen
— und unsere Arbeiterschaft wird dann, auch wenn ihr die
Produktion ganz überantwortet würde, nicht aus dem Sklaven¬
joch herauskommen, denn auch völligste Vergesellschaftung
der Produktion nützt dem Arbeiter nichts, wenn diese ver¬
gesellschaftete Produktion teurer arbeitet, unter einem Drucke
steht, von dem der Nachbar frei ist. Wir hätten dann die
Methoden des Sozialismus, ohne jemals seine Früchte zu
ernten.
Und wie zahlen wir dann unsere Schulden? Die Entente
wird sich dann eben doch dazu verstehen müssen, uns lang¬
fristige Termine zuzugestehen und eine hochwertige QuaU-
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1272
Bücherschau.
tätsarbeit erträgt auch eine starke Belastung weit eher
als die Massenproduktion. Das Ziel der Entente ist eben, aus
Deutschland herauszupressen, was sie vermag, und das kann
sie nur erreichen, wenn wir im selben Sinne Industrieland
bleiben ,wie bisher, und unser Arbeiter würde die ganze
Schwere dieser Last fühlen. Aus einem stark agrarisierten
Deutschland aber ließe sich nur in kleinen Tropfen holen,
was man uns jetzt in Güssen abschöpfen will, und dann kommt
uns die Zeit mit ihren Wandlungen zu Hilfe, die auch eine
Wandlung in dieser Karikatur eines Friedensvertrages her¬
beiführen wird.
Bücherschau.
Dr. Fritz Gerlich: „Der Kommunismus als Lehre vom
Tausendjährigen Reich “ München 1920. Hugo Bruck¬
mann Verlag. (Geh. M. 7,—, geb. M. 10,—, 276 Seiten.)
Der Weltsturm unserer Tage, der soviel Apokalyptisches (in
der Offenbarung Johannis Vorhergesagtes ) in sich birgt,
hat so manchem gebildeten und tiefer veranlagten Beobachter
die ersten Zeiten der christlichen Religion ins Gedächtnis
zurückgerufen. Eines der Kennzeichen der urchristlichen Ge¬
meinden war der Chiliasmus oder der Glaube an die Errich¬
tung des Tausendjährigen Reichs (chilioi heißt auf griechisch
1000). Die ersten Cfiristen glaubten, daß der Satan, worunter
sie die weltliche Gewalt, oder den römischen Imperialismus
verstanden, bald gefesselt und in den Abgrund gestürzt
und einem Reiche der Gerechtigkeit Platz machen würde.
Der Chiliasmus war der G|aube der Urchristen an den
Zukunftsstaat Jesu und der auferstandenen Märtyrer. Der
Verfasser versucht nun in seinem Buche den Nachweis zu
führen, daß der Marxismus nur eine moderne Ausgabe des
urchristlichen Chiliasmus sei, insbesondere der Bolschewis¬
mus, dessen Führer orthodoxe Marxisten sind. Gerlich hat'
sehr viel gelesen, hauptsächlich jedoch Tagesliteratur, so¬
zialdemokratische sowohl wie bolschewistische und sparta-
kistische, aber er hat sich doch mit Marx, wie überhaupt mit
Quellenschriften, herzlich wenig beschäftigt. Er kennt von
Marx nur das „Kommunistische Manifest , seine sozialöko-
nomische Geistesarbeit vor und nach dem „Manifest“ kennt
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Bücherschau.
1273
Gerl ich gar nicht. Sonst wäre es ihm unmöglich, die Behaup¬
tung aufzustellen, die Verfasser des „Manifests“ hätten da¬
mals noch gar keine Ahnung gehabt „vom Mehrwert und
ähnlichen angeblichen Volkswirtschaftsgesetzen“ (Seite 39).
Er kennt also weder Marxens „Elend der Philosophie“ noch
. Engels „Umrisse“ (in den Deutsch-Französischen Jahr¬
büchern), die beide tüchtige volkswirtschaftliche Studien vor¬
aussetzen und die vor dem „Manifest“ erschienen. Der Ver¬
fasser zitiert zwar Engels des öftern, aber auch seine Arbeiten
kennt er nur teilweise, so zum Beispiel gibt er an, daß Engels’
„Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissen¬
schaft“ „erstmals 1883 herausgegeben“ worden sei (Seite
211). Er weiß'also auch nicht, daß diese Schrift ursprüng¬
lich nur ein Kapitel des Anti-Dühring (1877—1878) bildete.
Des Verfassers Ansichten über Marx und Engels als Agi¬
tatoren des Chiliasmus, sowie über den modernen Sozialismus
als eine religiöse Schwärmerei, sind demnach nicht ernst
zu nehmen. Noch mehr: Oerlich kennt auch den Chiliasmus
nur oberflächlich; er verwechselt seinen Ideengehalt mit
dem der Bergpredigt und der Aszese. Er stellt den christ¬
lichen Chiliasmus dem angeblich marxistischen gegenüber
und meint, jener „verwerfe Konsequenterweise jeglichen Trieb
aut irdische Güter“ (Seite 263), während der marxistische
„nichts von dieser allgemeinen Selbstüberwindung kennt“. Ich
möchte dem Verfasser empfehlen, bei den Kirchenvätern
Irenäus und Lactantius die paradiesische Ausmalung der irdi¬
schen Freuden im chiliastischen Reiche nachzulesen. Der
heilige Irenäus (gegen Ende des 2. Jahrhunderts) schildert
den christlich-kommunistischen Zukunftsstaat wie folgt:
„Es werden Tage kommen, in denen Weinstödce wachsen
werden, jedes mit 10 000 Aesten, an jedem Ast 10 000 Zweige,
an jedem Zweig 10 000 Schößlinge, an jedem Schößling
10 000 Trauben, an jeder Traube 10 000 Beeren und jede
Beere wird beim Keltern 25 Metreben (1000 Liter) Wein
geben... Desgleichen wird auch ein Weizenkorn 10000
Aehren erzeugen, jede Aehre 10 000 Körner und jedes Körn
10 Pfund weißen reinen Mehls. Und dementsprechend wird
auch der Ertrag der übrigen Baumfrüchte, Samen und Kräu¬
ter sein. . . Das hat Papias, ein Mann der alten Zeit (einer
von den alten Genossen), von Johannes, dem Jünger Jesu,
selbst gehört; und wer aaran nicht glaubt, Tst em Ungläubi¬
ger, wie Judas, der Verräter.“ Und er zitiert Jesaja und
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1274
Bücherschau.
Jeremia: „Alsdann wird sich die Jungfrau am Reigen er¬
freuen und Jünglinge und Greise zumal, und ich will ihre
Trauer in Wonne wandeln und sie trösten und fröhlich
machen nach ihrem Kummer“ (vergleiche Pöhlmann, „Ge¬
schichte der sozialen Frage in der antiken Welt“. 1912.
2. Band, Seite 624—630). Das sieht nicht nach einer konse¬
quenten Verwerfung der irdischen Güter aus. Wer sich etwas
gründlicher als Gerlich mit dem Chiliasmus beschäftigt hat,
kann seine Ansichten hierüber ebensowenig ernst nehmen,
wie seine Ansichten über Marx und Engels. Uebrigens
war der Chiliasmus kein spezifisch christliches Erzeugnis.
Er war nur eine christliche Uebersetzung der im hellenisch¬
römischen Kulturkreis vorhanden gewesenen Idee von der
Wiederkehr des goldenen oder saturnischen Zeitalters, wie
dies unter anderem aus der berühmten 4. Ekloge Vergils
ersichtlich ist. Auch sonst zeigt das Buch, daß sein Ver¬
fasser nur ein belesener Dilettant, wenn auch ein sehr ge¬
wandter Publizist ist. Er widmet mehrere Seiten dem Nach¬
weise des Unterschiedes zwischen der deutschen und der
englischen „Lebensidee“, wobei er findet, das zur „eng¬
lischen Lebensidee die Hochschätzung des Verstandes, bzw.
der Vernunft, gehört. . . Der Verstand aber ist auch das
wichtigste Hilfemittel zur Beherrschung der Mitmenschen
in der Diplomatie, zu ihrer Ausbeutung im Handel“ (Seite
1671. Wenn Gerlich sich näher in der Geschichte der Philo¬
sophie umgesehen hätte, würde er gewußt haben, daß der
Nominalismus, also das Irrationale, in England seine Heimat
hatte.
Trotz alledem ist Gerlichs Buch lesenswert; es ist an¬
regend geschrieben und enthält eine große Menge inter¬
essanter Auszüge aus den Schriften deutscher Denker, sowie
der Bolschewisten, Spartakisten und Revolutionäre, die als
ein guter Literaturnachweis für eine Geschichte der russischen
und deutschen Revolution dienen können. M. Beer.
*
%
Professor Dr. Franz Oppenheimer: ,, Kapitalismus , Kommunis -
. mus, Wissenschaftlicher Sozialismus“ Berlin und Leip¬
zig. 1919. Vereinigung wissenschaftlicher Verleger.
Derselbe: „Die soziale Forderung der Stunde. Gedanken
und Vorschläge.“ Verlag Neuer Geist, 1919. Preis
Mk. 1,35. 39 Seiten.
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Bücherschau.
1275
Mit Sachkenntnis und Scharfsinn bedient sich der Verfasser
des Marxschen Oedankenapparats, um theoretisch den So¬
zialismus mit dem Liberalismus zusammenzubringen und prak¬
tisch die Marxisten für die Beseitigung des Bodenmonopols
zu gewinnen. Das Wesentliche seiner Auffassung besteht in
folgenden drei Sätzen: „1. Außerökonomische Gewalt hat
das gesellschaftliche Klassenverhältnis geschaffen, und zwar
Klassenmonopolverhältnis; 2. wo unter einem Monopol¬
verhältnis gelauscht wird, entsteht Mehrwert; 3. die das
Klassenmonopolverhältnis vermittelnde Sache ist der Grund
und Boden, der durch jene außerökonomische Gewalt gegen
das Bedürfnis der Masse gesperrt wird.“ Der Gruna und
Boden soll deshalb jedermann zugänglich gemacht werden.
Sobald der Arbeiter die Möglichkeit hat, eine auskömmliche
Existenz aus der Landwirtschaft zu ziehen, hört seine Ab¬
hängigkeit vom Industriekapital auf. Er ist dann nicht ge¬
zwungen, Mehrwert für das industrielle Kapital zu erzeugen.
Und wenn der'Mehrwert verschwindet, fällt das ganze kapi¬
talistische System in sich zusammen. Oppenheimer begründet
seine These durch die Marxsche Dialektik. Marx kannte
aber das Wesentliche der Oppenheimerschen Lehre im vor¬
aus. Er kannte sie aus den Schriften der belgischen, eng¬
lischen und amerikanischen Bodenreformer. Aber er hat
sie entschieden abgelehnt. Als ihm sein amerikanischer
Freund Sorge im Jahre 1880 das Buch des Bodenreformers
Henry George gesandt hatte, antwortete Marx, diese ganze
Theorie entsprang dem Interesse der radikalen (linksliberalen)
englischen Bourgeoisie, und daß Henry George sie annehme,
sei um so befremdlicher, als er sich hätte die Frage stellen
sollen: „Wie ging’s zu, daß in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika, wo relativ, das heißt, verglichen mit dem zivi¬
lisierten Europa, der Boden den großen Massen zugänglich
war, die Kapitalherrschaft und die entsprechende Knechtung
der Arbeiterklasse sich rascher und schamloser entwickelt
haben, als in irgendeinem andern Lande!“ (Sorges Brief¬
wechsel, Seite 177). -
Unseres Erachtens schadet Oppenheimer seiner Bodenreform¬
propaganda, indem er sie zum Allheilmittel machen will. Das
deutsche Volk muß früher oder später zur Bodenreform
greifen; die gegenwärtige Lage zwingt es einfach dazu.
Oppenheimer würde die deutsche Arbeiterklasse eher für
seine Pläne gewinnen, wenn er sie als Anfang des. Ueber-
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1276
Glossen.
gangs zum Sozialismus darstellte. Uebrigens kann kein Marxist
aie außerökonomische, nackte Gewalt als die Begründerin
der kapitalistischen Ordnung betrachten. Die nackte Gewalt
kann nichts schaffen. Wo sie scheinbar schafft, ist sie nur
das Instrument einer wirtschaftlichen Notwendigkeit. Marx
hat absolut recht, indem er die Produktion der notwendigen
Guter zur Grundlage und zur dynamischen Kraft der Ge¬
sellschaft macht, und die die Produktion fördernde Klasse
wird zur herrschenden Klasse, solange eine Klassengesell¬
schaft besteht. X.
Glossen .
•
Und wenn das allgemeine Wahlrecht keinen andern Gewinn
geboten hätte, als daß es uns erlaubte, uns alle drei Jahre zu
zahlen; daß es durch die regelmäßig konstatierte, unerwartet rasche
Steigerung der Stimmenzahl in gleichem Maße die Siegesgewißheit
der Arbeiter wie den Schrecken der Gegner steigerte und so unser
bestes Propagandamittel wurde; daß es uns genau unterrichtete
über unsere eigene Stärke wie über die aller gegnerischen Parteien,
und uns dadurch einen Maßstab für die Proportionierung unserer
Aktion lieferte, wie es keinen zweiten gibt, uns vor unzeitiger Zag*
haftigkeit ebensosehr bewahrte wie vor unzeitiger Tollkühnheit —
wenn das der einzige Gewinn wäre, den wir vom Stimmrecht
haben, dann wäre es schon über und über genug. Aber es hat
noch viel mehr getan. In der Wahlagitation lieferte es uns ein
Mittel, wie es kein zweites gibt, um mit den Volksmassen da, wo
sie uns noch ferne stehen, in Berührung zu kommen, alle Parteien
zu zwingen, ihre Ansichten und Handlungen unseren Angriffen
gegenüber vor allem Volk zu verteidigen; und dazu eröffnete es
unseren Vertretern im Reichstag eine Tribüne, von der herab
sie mit ganz anderer Autorität und Freiheit zu ihren Gegnern
iin Parlament wie zu den Massen draußen sprechen konnten,
als in der Presse und in den Versammlungen.
Friedrich Engels.
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INHALT DIESER NUMMER:
Peter Knute: Versailler Staatenbaukunst . . . 1277
Theodor Schmidt: Wer hemmt den volkswirt¬
schaftlichen Wiederaufbau Deutschlands? . . 1281
Dr. Friedrich Markus Huebner (im Haag): Ent¬
stehung der Clartö-Bewegung.1290
Erich Schlaikjer: Die Sozialisierung der Bühnen 1301
Bücherschau: „Weltprotest gegen den Versailler
Frieden“ ..1306
Nummer40 der „Glocke“ hatte folgenden Inhalt:
Dr.Roderich v.Ungern-Sternberg: Ist ein deutsch-
russisches Abkommen wünschenswert? . . .
Dr. E. Jenny: Arbeiterkapitäne ... . . . . .
Friedr. Th. Körner: Der Kampf um Oberschlesien
Eduard Wenzel: Der sozialistische Zukunfts¬
staat — in Deutschland eine Tatsache von
morgen! ....
Albert Bencke (München): Gedanken über die
Zukunft der deutschen Arbeit und des deut¬
schen Arbeiters ..
Bücherschau.
Glossen .
1245
1249
1254
1258
1268
1272
1276
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DE GLOCKE
41. Heft 10. Januar 1920 5. Jahrg.
Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet
PETER KNUTE;
Versailler Staatenbaukunst.
Die Neubildung des europäischen Sudostens.
QELBSTSUCHTund bankerotte Diplomatenkunst führten die
^ Hand der Staatsmänner in Versailles, als. sie den Staaten¬
bau des europäischen Südostens zimmerten. Die Militärs
standen Pate bei der Oeburt der großen politischen Richt¬
linie, eine Ostbarriere zu bauen, die einen Bajonettenwall gegen
Deutschland schaffe. Dieser Wall hat sicn in seiner Nord¬
führung durch die tschechisch-polnischen, polnisch-ukraini¬
schen, polnisch-litauischen Differenzpunkte schon als brüchig
erwiesen. Brüchig ist er namentlich auch im Südwesten,
wo er Deutschland den Weg zum Balkan abschnüren soll.
Hier herrscht volle Anarchie unter den Völkergruppen, die
die Entente liebevoll beschattet und unliebevoll zwangs¬
weise, je nach ihren höchst einseitigen Interessen, entweder
bindet oder trennt. Da der Herd der Unruhe, der sich im
europäischen Südosten auftut, nicht weit von Deutschlands
Grenzen liegt, und so Deutschlands zukünftige Entschließun¬
gen beeinflussen muß, hat sich die deutsche Aufmerksam¬
keit rechtzeitig mit den Problemen vertraut zu machen, die
sich in dem alten europäischen Wetterwinkel aus den Neu¬
bildungen ergeben.
Am 29. Oktober 1918 hatte Pribitschewitsch im Agramer
Landtag den Antrag gestellt, alle staatsrechtlichen Beziehun¬
gen zu Oesterreich-Ungarn zu lösen. Seit mehr als einem
Jahr besteht also das jugoslawische Königreich. Das" Fazit,
gezogen aus dieser Zeit, ist niederschmetternd. Das
erträumte große slawische Reich des Balkans ist nach innen
und außen zerrissen. Es rächt sich die graue Theorie der
Entente, die, um dem Deutschtum zu schaden und ihm einen
41/1
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1278
Versailler Staatenbaukunst.
Keil in die Südostflanke zu treiben, die heterogensten Ele¬
mente zusammengerafft und mit ihnen ein Staatsgebilde ge¬
flickt hatte. Die berühmte, jetzt berüchtigte Selbstbestimmung
der Nationen, mit der man während, des Krieges bluffte,
war nach dem Kriege Hekuba geworden. Man. hatte rein
deutsche Gebietsteile aus dem österreichischen Leibe gerissen
und sie an den jungen Staat angestückelt. Eine Irredenta
ist im Aufflammen in den urdeutschen. Städten und Gemeinden
Steiermarks und Kärntens, in Marburg, Pettau, St. Leonhard,
die kaum zu bewältigen ist. Nicht minder ist die Verbitterung
groß in Klagenfurt, wo man einen Abstimmungsbezirk aus
Klagenfurt, Völkermarkt, Bleiburg, Gutterstein, Eisenkappel,
Feistritz gebildet hat, trotzdem die Februarabstimmung er¬
gab, daß fast achtzig Prozent der Bevölkerung bei Deutsch¬
österreich verbleiben wollen. Auf der anderen Seite hat der
Tribunal in Versailles, hin- und hergerissen von chauvinisti¬
schen Forderungen, die rein slawischen Gebietsteile Görz und
Gradiska an Italien gegeben. Mit den Slawen in Triest, in
Istrien und in jder Provinz Udine bezifferte sich die agi¬
tatorisch leidenschaftliche slawische Irrederita in Italien auf
eine halbe Million. Zu diesen slawisch-romanischen Gegen¬
sätzen kommen noch die durch die Garibaldiparodie d’Annun-
zios hervorgerufenen Konflikte wegen Fiume, Dalmatien und
der adriatischen Inseln. Hier kochen die nationalen Leiden¬
schaften, und jeder Tag kann den blutigen Austrag ent¬
zünden.
Hilflos urid gespalten steht die Entente den staats¬
rechtlichen Schwierigkeiten dieses Fragenkomplexes gegen¬
über. Wilson ist für die reine, Selbstbestimmung gemischt mit
einem Nachgeben im Falle wirtschaftlicher Existenzschwierig¬
keiten. Er spricht deshalb, gewiß aus guten Gründen und
aus ethnographischer Selbstverständlichkeit, Fiume den Süd¬
slawen zu. England und Frankreich kommen zu keinem Ent¬
schluß. „Einerseits“ will man sich Italien als ferneren Bun¬
desgenossen erhalten, „andererseits“ liebäugelt der Quai
d’Orsay mit dem alten deutschfeindlichen Plane einer Slawen¬
monarchie, die die Länder des ehemaligen Oesterreich-Ungarn
einschließt. Da Südslawien das tragfähige Gerippe dieses
Staates bilden soll, kommt man in Versailles nicht aus den
Gegensätzen heraus. Die Pariser Presse hat nicht ganz
unrecht, wenn sie von einer Vertrottelung der äußeren Po¬
litik spricht. Clemenceaus Verbeugung vor den Südslawen
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Versailler Staatenbaukunst.
127 ^
in seiner letzten großen Kammerrede ist der Beweis für das
unentrinnbare Labyrinth, in das sich die internationale Un¬
fähigkeit begeben hat. Die Angriffe des italienischen Senats
auf den französischen Ministerpräsidenten beleuchten die Si¬
tuation und geben einen Vorgeschmack dessen, was sich auf
der Januarkonferenz über die „endgültige“ Regelung der
Balkanfragen zutragen mag. Die Phantasie dringt in das ge¬
heimnisvolle Dunkel des Rats der Fünf und schauert vor
so . viel Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit.
Konfliktsstoffe für das junge südslawische Gebilde nach
allen Seiten. Die Frage des Banats bringt die Rumänen und
die Ungarn gegen die Südslawen auf. Bei der großen wirt¬
schaftlichen Bedeutung dieses Gebiets und bei der Unnach¬
giebigkeit der Rumänen und Serben ist die Gefahr eines
Zusammenstoßes mit den Waffen hier nicht minder groß als
im Süden. Die Lage Südslawiens wird durch die Gebunden¬
heit an diese „lateinische Schwester“ doppelt kompliziert.
Auch im Osten lauern, wenngleich nicht unmittelbar, Ge¬
fahren. Die Verteilung Mazedoniens, dessen bulgarischer
Charakter im Jahre 1912 feierlich bekundet wurde, an Ser¬
bien und Griechenland, dazu die Regelung der thrazischen
Frage müssen Bulgarien/ dessen ganzes nationales Sein in
diesen Fragen gründet, für immer unversöhnlich machen.
Wenn Ungarns und Bulgariens Machtverhältnisse sich in
späterer Zeit wieder heben Und der wirtschaftliche Druck
nachläßt, wird der Ring geschlossen sein, der Südslawien
aut ganz andere Aufgaben hinleitet, als es der egoistische
Wille der Alliierten wünschte.
Sovief Unnatur nach außen, soviel Unnatur im Innern. Die
theoretische Staatsidee eines S-H-S-Staates, „Kraljevstvp Srba,
Hrvata i Slovenaca“ — Königreich Serbien, Kroatien und
Slowenien —, hat in dem jungen Königreich nationale Gegen¬
sätze zusammengeführt, von denen es immer ungewisser
wird,, ob sie sich je, trotz Bluts- und Sprachverwandtschaft,
ausgleichen werden. Nie war die Zeit, nie waren die Sehn¬
süchte für die Erfüllung des Traumes von der Wiederher¬
stellung des iilyrischen Reiches günstiger. Dem ersten leiden¬
schaftlichen Entgegenkommen zur slawischen Einigkeit im
Süden folgte aber bald wieder der alte Haß zwischen Serbien
einerseits und Kroatien und Slowenien andererseits, jener
Haß, der' sich während des .Kriegs allerblutigst ausgetöbt
hatte und der neue Nahrung fand in dem ungezügelten
4111 *
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1280
Versailler Staatenbaukunst.
Unterwerfungsdrang, den die serbische Soldateska in Kroatien
und Slowenien beweist. Hier ist von slawischer Brüderlichkeit
noch keine Rede und auch die Religionsgegensätze leben
neu auf. Das Blut fließt schon, und der Aufruhr ist im
Gange. Ueber Südslawien, in das Serben, Kroaten, Slowenen,
Bosnier, Herzegowiner, Dalmatiner, Montenegriner einge¬
schlossen sind, weht schon die Fahne des Abfalls. Die
Prediger der Autonomie der einzelnen Länderteile wandern
in die Gefängnisse, und die Gewaltherrschaft der Serben
nimmt — etwas preußisch gefärbt — immer aufreizendere
Gestalt an. Hier hilft auch nicht mehr die Taktik, die natio¬
nale Einigung auf dem Gebiete der äußeren Schwierigkeiten
zu sammeln. Die Montenegriner, wie die Kroaten und Slo¬
wenen, feind aller serbischen Vorherrschaftsgelüste, fallen
die serbischen Besatzungstruppen in Montenegro an und
treiben sie zurück. Gegen die „Getreuen des Königs Nikita“
können sich die Serben nur noch in Cetinje, Podgoritza und
Nikschitz halten. Und in Kroatien und Slowenien konspi¬
riert man augenscheinlich schon mit Wien und Budapest,
vielleicht auch mit Bukarest Und Rom, um eine neue Front zur
gemeinsamen Verteidigung gegen politische Anarchie und
wirtschaftliche Nöte zu finden. So paradox wie es scheint:.
Es gewinnt immer mehr den Anschein, als würde sich aus
Zusammenbruch und Wiederaufbau die große Weisheit los¬
schälen, als wäre das Staatsgebilde Oesterreich-Ungarn doch
nicht nur Unnatur gewesen und als hätte nur aas habs¬
burgische Divide et impera! die Schuld des Niederbruchs
zu tragen. Vielleicht erlebt Europa noch einmal den großen
Wiederaufbau dieses Reichs, das bei gemäßigtem nationalen
Trommelschlag die wirtschaftlichen Bedürfnisse einer ganzen
Reihe Kleinstaaten befriedigen kann, die ansonsten aus Man¬
gel an materiellen Triebkräften und aus Ueberschuß an
nationaler Leidenschaft dem Chaos überantwortet wären.
Deutschland ist bei dem Geschehen im Südosten der leiden¬
schaftslose Beobachter: Und ob nun Balfour mit seinem
auf Watsons Idee aufgebauten Plan eines Südslawiens oder
ob der kluge Nikola Paschitsch mit seinem Großserbischen
Staat, der Nachschöpfung des Reichs des Zaren Duschan,
recht behält: Deutschlands Interessen liegen nur auf seiten
der staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung und gegen das
Chaos. Sein großer politischer Außengedanke, in moralischen
Eroberungen freundnachbarliche Verhältnisse zu schaffen,
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Wer hemmt den Volkswirtschaft!, Wiederaufbau ... 1281
wird fruchttragend sein. Ihm wird die Zukunft und das Glück
seines Volkes gehören.
Daran wird auch die handwerkliche Kunst der Staaten¬
baumeister in Versailles nichts ändern.
THEODOR SCHMIDT:
Wer hemmt den volkswirtschaftlichen
Wiederaufbau Deutschlands?
ALLE wichtigen Fragen der Politik und Volkswirtschaft
klingen heute mehr oder weniger in die eine Frage aus:
Wie kommen wir aus diesem wirtschaftlichen Elend heraus?
Alle möglichen und unmöglichen Dinge. sind von allen,
die sich, mit dieser Frage beschäftigt haben, herangezogen
worden, um den Weg aus diesem Elend zu zeigen. Aber alle
diese Dinge haben doch nicht in dem Maße geholfen, wie
sie helfen sollten. Notwendig ist aber, die Volkswirtschaft
so bald wie möglich auf eine andere Stufe zu bringen. Die
Volkswirtschaft muß durch die stetige Erhöhung der Pro¬
duktion und durch Schaffung wirklicher Werte gehoben
werden.
Ein Mittel, wenigstens in etwa, die Produktion zu steigern,
wirkliche Werte zu schaffen ist augenblicklich durch die
Wiedereinführung des Akkordlohnsystems gefunden worden.
Man mag zu dem Akkordlohnsystem stehen wie man will,
man muß es unter den heutigen Verhältnissen begrüßen,
daß es wieder eingeführt wird. Manche Härten, die das
Akkordlohnwesen in der reih kapitalistischen Zeit aufwies,
werden nicht mehr in die' Erscheinung treten. Während vor
der Revolution bei der Festsetzung des Akkord- oder Stück¬
lohnes die Arbeiterschaft, selbst der betreffende Arbeiter, der
durch den Stücklohn betroffen würde, nicht gefragt wurde,
sondern der Akkordlohn den Arbeitern einfach willkürlich
festgesetzt wurde, ist doch unter den heutigen Verhältnissen
der Arbeiter bei Festsetzung des Akkordlohnes selbst beteiligt.
Wo die näheren Umstände einen Akkord für einzelne Arbeiter
nicht zulassen, ist durch die Neuordnung der Dinge jedoch ein
Akkordlohnsatz nur unter Mitwirkung des Arbeiterausschusses
und der gewerkschaftlichen Organisationen festzusetzen. Nach
diesen Grundsätzen ist in einigen Städten des Industriebezirks
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1282 Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . .
bei den letzten Verhandlungen verfahren worden. Man kann
im allgemeinen sagen, daß es unter den neuen vereinbarte^
‘Akkordlohnsätzen der Arbeiterschaft möglich ist, bei gestei¬
gerter Arbeitsleistung ihr Einkommen um ein beträchtliches
-zu erhöhen. Die Arbeitslust und, Arbeitsleistung wird mit der
Einführung des-Akkordlobnsvstems ganz gewiß eine beträcht¬
liche Steigerung erfahren. Ich bin der Ueberzeugung, daß,
hätte man das Akkordlohnsystem etwas früher angewandt,
etwas früher wieder zuf Einführung gebfacht, dem Arbeiter
mancher - bittere Vorwurf erspart geblieben wäre. Alles,
was bisher über die Produktionsverhältnisse gesagt worden
ist, klang zum größten Teile dahin aus, daß die Arbeitsunlust
und die Minderleistung der Arbeiter an dem ganzen Elend
unserer wirtschaftlichen Lage schuld sei. Zweifellos ist es
richtig, daß der Arbeiterschaft ein Teil dieser Schuld trifft,
und wird die Arbeiterschaft diesen Vorwurf nicht wieder los.
Die vielen politischen Unruhen, die vielen Arbeitseinstellungen
gegen den Willen der Organisationsleitungen haben viel zu
den schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen beigetragen, die
alleinige Schuld sind sie aber keineswegs.
Die Produktionsweise mußte bei Ausbruch des Krieges, von
der Friedenswirtschaft in die Kriegsbedarfswirtschaft umge¬
stellt werden. Hierdurch machte sich aber nicht allein eine
Umlernung der Arbeiter selbst, nicht nur eine Aenderung an
Maschinen und Werkzeugen notwendig, sondern die ganze
Wirtschaftsweise bedurfte einer Umwälzung. So wurden gleich
bei Beginn des Krieges nicht allein neue Maschinen und
dergleichen angeschafft und in Betrieb gesetzt, sondern ganze
Gebäude, die der Friedenswirtschaft gedient hatten, mußten
abgerissen und neu errichtet werden. Verschiedene Gebäude
bedurften auch wohl nur einer Umänderung der inneren
Einrichtung. Während des ganzen Krieges wurde die Um¬
stellung der Produktionsweise weiter betrieben. Immer größere
Betriebe wurden ganz und gar in den Dienst der Kriegsbe¬
darfswirtschaft gestellt. Aber auch immer mehr neue Ge¬
bäude und Betriebseinrichtungen wurden zur Befriedigung der
Kriegsbedürfnisse errichtet. Noch Mitte V918 waren ver¬
schiedene größere industrielle Werke mit der Erweiterung
und Neueinrichtung ihrer Betriebe für die 'Kriegsbedarfs¬
wirtschaft beschäftigt. '
Bei dem plötzlichen Abbruch des Krieges geriet aber die
Produktionsweise des Krieges vollständig ins Schwanken. Die
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Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 1283
Produkte, die während des Krieges in den Betrieben hergestellt
worden waren, wurden nicht mehr gebraucht. Für ihren
Verbrauch waren keine Bedürfnisse mehr vorhanden. -Auch
neue Produkte konnten nicht mehr hergestellt werden, da
auch für sie keine Verwertung mehr vorhanden war. Die
Produktionsweise des Krieges bedurfte eben einer Aenderung.
Nur diejenigen Betriebsabteilungen, die auch während des
Krieges aut die Herstellung von Verkehrsmitteln, besonders
Eisenbahnmaterial, eingestellt waren, konnten ihre Produktion
weiter betreiben. Das waren aber verhältnismäßig nur wenige
Betriebe, die hierfür erhalten geblieben waren, der allergrößt^
Teil sämtlicher Betriebe war ganz und gar fijr die Bedarfs¬
wirtschaft des Krieges eingestellt.
Ebenso wie bei Ausbruch des Krieges die^Produktion in den
Dienst der Kriegsbedarfswirtschaft gestellt werden mußte,
ebenso mußten sie bei Beendigung des Krieges auf die Be¬
dürfnisse der Friedenswirtschaft eingestellt werden. Während
bei Beginn des Krieges die Umstellung der Produktion von
Anfang an eine fieberhaft schnelle gewesen war, war sie
bei Beendigung des Krieges, eine unglaublich langsame. Ob¬
wohl es bei dem plötzlichen Zusammenbruch unbedingt not¬
wendig gewesen wäre, die Umstellung der Produktion, im
Interesse der Volkswirtschaft, in die rriedensbedürfnisse so
schnell wie möglich zu bewerkstelligen, war das gerade Ge¬
genteil der Fall. '
Die Arbeiterschaft, durch den langen Krieg vollständig
an Leib und Geist zerrüttet, ergriff zuerst die Gelegenheit
beim Schopfe, ihre Lage (einigermaßen zu verbessern. Das
Unternehmertum dagegen war im ersten Augenblick voll¬
ständig ratlos und auch vollständig tatlos. Alle Volkswirt¬
schaft blieb liegen, keiner wollte für den andern etwas tun,
alles wartete ab, wie die ganze Sache verlaufen würde. Die
Arbeiterschaft, von einigen fanatischen Revolutionären auf¬
geputscht, legte hier und da, teils in größeren, teils in kleineren
Verbänden, die Arbeit nieder, um für sich so viel wie möglich
bei der Umwälzung herauszuholen. Alle Warnungen der alten
bewährten Führer wurden überhört und fruchteten nichts,
das Geschrei der sich jetzt aut einmal als Führer voran¬
stellenden Schreier aber wurde gutgeheißen. Angesichts der
Bruderkämpfe, die sich jetzt innerhalb der ArbeiterscHaft
abzuspielen begannen, stand das Unternehmertum als der
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1284 Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . .
lachende Dritte und wartete ab, ob für sie die Sache doch
nicht gleich wieder in ihre Bahn laufen würde.
Glücklicherweise ist es dann doch nicht ganz so weit ge¬
kommen, daß die Arbeiterschaft die Gewalt aus den Händen
verlor. Der Dank dafür gebührt aber nicht der Arbeiterschaft
selbst, sondern denjenigen Führern und Arbeitern, die zielbe¬
wußt die Lage überschauten und auf dem alten, von unseren
Vorkämpfern gezeichneten Weg unentwegt weitergingen,
und den- herrschenden und besitzenden Klassen ein Stück
ihrer Macht nach dem anderen' aus den Händen riß. Jetzt,
nachdem sich die Gefahr, worin die Arbeiterschaft und mit
ihr unsere Volkswirtschaft hineingeraten ist, übersehen läßt,
erkennt die Arbeiterschaft allmählich, welch große Fehler
sie in der Verfolgung ihrer egoistischen Ziele begangen hat.
Aber noch ist es nicht zu spät, noch ist es Zeit, wenigstens
einen Teil dieser Fehler wieder gutzumachen. Noch kann
die Arbeiterschaft, wenn sie mit klaren Augen weitergeht,
unsere Volkswirtschaft, im Interesse der Gesamtheit, und damit
auch im eigenen Interesse, mit Anspannung ihrer Kräfte,
durch erhöhte Arbeitsleistung, wieder dahin bringen, daß wir
mit dem Auslande Werte gegen Werte austauschen können,
und dadurch der Welt zeigen, daß die deutsche Arbeiterschaft
gewillt ist, ihre Geschicke so zu lenken, daß sie ein menschen¬
würdiges Dasein fristen kann.
Der Wille hierzu ist bei der Arbeiterschaft zweifellos in
sehr hohem Maße vorhanden, und wird es für die Zukunft
hoffentlich immer besser werden. Denn wo ein Wille ist,
da ist ein Weg, und ein fester eiserner Wille wird auch den
Weg gangbar machen, der ,aus allem Elend, mag es auch
noch so schlimm aussehen, herausführt.
Daß dieser Wille bei der Arbeiterschaft tatsächlich vor¬
handen ist, wird bewiesen durch die Beratungen und Ent¬
schließungen, die in einer Konferenz der Betriebsobleute und
Zechenräte am 8. Dezember 1919 in Dortmund stattfand.
Es wurde in dieser Konferenz nachstehende Entschließung
einstimmig angenommen:
„Die heute im Gewerkschaftshause versammelten Betriebs¬
und Zechenräte erkennen an, daß eine gewaltige Kohlennot
herrscht, hervorgerufen durch die Folgen des verbreche¬
rischen Krieges, der von kapitalistischen Welteroberern an¬
gezündet wurde. Die Zechenräte lehnen die Verantwortung
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hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 1285
für die aus der Kohlennot hervorgerufenen Folgen ab und
schieben sie den Kapitalisten zu. Im Interesse der hungern¬
den und frierenden Frauen und Kinder erklären sich die
Betriebsräte bereit, den Kameraden zu empfehlen,
Ueberschichten zu verfahren,
wenn ihnen die Kontrolle der durch die Ueberschichten
mehrgeförderten Kohlen eingeräumt wird. Wird uns dieses
Kontrollrecht eingeräumt, dann erklären wir uns bereit,
den Kameraden der einzelnen Zechen diese Resolution warm
zu empfehlen. Es müsse natürlich den Bergarbeitern dann
ein angemessener Lohnabschlag gewährt werden. Von der
Regierung und den maßgebenden Stellen werde aber er¬
wartet, daß sie alles daransetzen, um den guten Willen der
Bergarbeiter zu unterstützen. Hierzu gehören auch aus¬
reichende Betriebsmittel, wie Wagengestellung usw.“
Der Wille zur Hilfe ist also vorhanden, der Weg dazu ist
ebenfalls angedeutet und bei einigermaßen Entgegenkommen
wird der Weg auch zum Ziele führen, soweit es im Können
der Arbeiterschaft liegt.
Wir haben in vorstehenden Ausführungen gesehen, daß der
größte Teil der Arbeiterschaft seine Fehler eingesehen hat,
und daß er gewillt ist, diese Fehler wieder gut zu machen.
Es bliebe nunmehr noch zu untersuchen, inwieweit das Unter¬
nehmertum Fehler begangen hat und, noch begeht und inwie¬
weit es gewillt ist, diese Fehler ebenfalls wieder gut zu
machen.
Das Unternehmertum ließ den Bruderkampf, der innerhalb
der Arbeiterschaft wütete, nicht achtlos vorübergehen, wußten
sie doch, je mehr Uneinigkeit innerhalb der Arbeiterschaft
herrschte, je mehr konnten sie die Pflichten der Gesamtheit
gegenüber vernachlässigen und ihre Pflichtvergessenheit der
Arbeiterschaft zuschieben.
Die Umstellung der Industrie auf die Kriegsbedarfs Wirt¬
schaft wurde, wie schon vorher erwähnt, mit der äußersten
Anspannung aller zu Gebote stehenden Mittel betrieben. Nicht
allein die Arbeiter und Angestellten mußten tüchtiger Zu-
f reifen, auch der Unternehmer mußte tiefe Eingriffe in seine
aschen machen, um alles Notwendige zu beschaffen. Was.
noch nie in einer solchen kurzen Zeit möglich war, wurde
während des Krieges alles möglich gemacht. Ganze Neu¬
einrichtungen von Betriebsabteilungen wurden im Zeitraum
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1286 Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau
• • •
von drei bis vier Monaten bzw. unter einem halben Jahre
fertiggestellt. Während vor dem Kriege .die Errichtung einer
vollständig neuen Einrichtung immerhin über ein Jahr in
Anspruch genommen hätte, wurde während des Krieges eine
solcne Einrichtung in sieben bis neun Monaten fertiggestellt.
Die Arbeiter aber waren weder in ihrer alten Leistungsfähig¬
keit noch in genügender Anzahl vorhanden, wie vor dem
Kriege. Trdtzdem aber wurde die Aenderung der Produktions¬
weise sehr schnell vollzogen.
Auf einem größeren Hüttenwerke der Deutsch-Lüxemburger
Bergwerksgesellschaft wurde gleich nach Ausbruch des Krie¬
ges mit der Errichtung einer neuen Geschoßfabrik begon¬
nen, die schon vor Ablauf eines Jahres vollständig in Betrieb
und produktiv tätig war. Einzelne Unterabteilungen dieser
Geschoßfabrik, so die Abteilungen G. I und G. II, waren aber
schon nach der sehr kurzen Zeit von drei bis vier Monaten
vollständig produktiv tätig. Diese Betriebe lieferten Produkte,
obwohl der Bau der Geschoßfabrik, in der auch die Abtei¬
lungen untergebracht sind, erst nach etwa neun Monaten
fertiggestellt war. Der Betrieb der Geschoßfabrik mußte nun
1918 nach Abbruch des Krieges stillgelegt werden. Die
Direktion dieses Hüftenwerkes beschloß im Dezember 1918,
die Geschoßfabrik in eine Maschinenfabrik umzuwandeln.
Dieser Beschluß war sehr zu begrüßen, da es sicher angebracht
war, Maschinen für den ebenfalls sehr daniederliegenden
Verkehr zu bauen. Im Interesse der Volkswirtschaft aber wäre
es unumgänglich notwendig gewesen, diese Umänderung der
Geschoßfabrik so schnell wie möglich in die Wege zu leiten.
Wie sehr die Aenderung dieses Betriebes im Interesse des
Gemeinwohls notwendig gewesen wäre, braucht wohl nicht
besonders hervorgehoben werden. Der Umbau und die Um¬
stellung der Produktion gerade dieser Geschoßfabrik geht
so langsam und schneckenförmig vor sich, daß man tat¬
sächlich glauben könnte, die Maschinenfabrik solle überhaupt
nie fertig werden. Schon seit Anfang des Jahres 1919 ist
mit der Aenderung der Inneneinrichtung begonnen worden,
die Fertigstellung läßt sich aber noch immer nicht voraus-
sehen. An Produkten sind lediglich ein paar kleinere Ma¬
schinenteilchen fertiggestellt worden. Wohin dies führen soll,
und wie man die langsame Art der Produktionsänderung in
die Interessen der Volkswirtschaft eingliedern will, kann uns
vielleicht am besten der Herr Generaldirektor Vogler sagen.
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Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 1287
Herr Vogler, der bekanntlich Mitglied der Nationalversamm¬
lung ist, nebenbei aber auch noch auf Parteitagen der Deut¬
schen Volkspartei als Volkswirtschaftler auftritt, wird den
Zweck der langsamen Umstellungsweise der Produktion in
die Friedenswirtschaft wohl am besten begründen können.
Ebenso ist dieses Werk mit fünf Hochöfen versehen, wovon
seit Abbruch des Krieges nur zwei Hochöfen brennen. Wäh¬
rend des Krieges wurden auf diesem Hüttenwerke, das nur
drei Hochöfen besaß, noch zwei Hochöfen dazu gebaut. Der
letzte neue Hochofen wurde erst kurz vor Beendigung des
Krieges fertiggestellt. Die Inbetriebnahme dieses Hochofens
erfolgte, wenn ich nicht irre, erst nach oder mit Abbruch
des Krieges. Drei Hochöfen dieses Werkes liegen aber schon
während des ganzen Jahres nach dem Kriege still, da sie
angeblich reparaturbedürftig seien. Während des Krieges
aber, als das Werk nur vier Hochöfen besaß, brannten an¬
dauernd drei Oefen. Der eine Ofen, der sich dann in Re¬
paratur befand, wurde sehr Schnell wieder repariert und
dann ebenfalls wieder in Betrieb genommen. Das Thornas-
und Walzwerk, das die Produkte der Hochöfen weiterverarbei-
tet, konnte nicht so viel leisten, wie die Hochöfen lieferten.
Heute aber muß besonders das Thomaswerk immer sehr
langsam arbeiten, weil die Hochöfen nichts liefern. An der
Arbeiterschaft liegt dieses aber nicht, denn unter den Ar¬
beitern herscht ein guter Wille zur Arbeit. Die Produkte
der Walzwerke aber werden andauernd und sehr nach¬
gefragt.
Im Martinwerk war nach Abbruch des Krieges ebenfalls
eine Zeit dieselbe Produktionsweise zu sehen, auch hier
wurden von fünf Martinöfen nur zwei gebraucht, trotzdem
auch hier die Nachfrage das Angebot in diesen Produkten
weit überst : eg.
Die Umstellung der Produktionsweise aber läßt auf diesem
ganzen Werke, in allen in Betracht kommenden Abteilungen
viel zu wünschen übrig. Verschiedene Betriebe, die im Um¬
bau ihrer Inneneinrichtung begriffen sind, stehen öfter
monatelang, ohne daß der Ausbau weiter betrieben und
erledigt wird. Begründet wird diese langsame Art der Um¬
änderung meistens mit der Klage über fehlende Materialien,
die augenblicklich so schlecht zu beschaffen seien. Dieses soll
einesteils zugegeben werden, andernteils muß aber auch ge¬
sagt werden, daß erstens ein großer Teil der Materialien
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1288 Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . .
aut diesem Werke selbst hergestellt werden, und daß zweitens
die Werksleitung nicht mit dem notwendigen Eifer die ganze
Umstellung betreibt. Der Klage wegen dem schlechten Ma¬
terial aber kann hier seitens der Arbeiterschaft nicht der
notwendige Glaube geschenkt werden, zumal erst in den
letzten Tagen noch eine Notiz in der „Westfälischen All¬
gemeinen Volkszeitung“ Mitteilung davon machte, wie hier
wertvolles Material vergeudet wird. In dieser Notiz wurde
der Werksleitung nachgesagt, daß sie das heute so wertvolle
Kupfermaterial, das bekanntlich um die Granaten als Füh¬
rungsringe sitzt, einfach an den Granaten sitzen und
unter den anderen Metallen mit einschmelzen läßt. Eine
Zeitlang wurden diese Kupferstreifen von den Granaten ent¬
fernt, nunmehr aber bleiben sie sitzen, weil die Betriebschefs
die Transportkosten für die Granaten nicht auf ihren Betrieb
übernehmen wollen.
Nach alledem ist die Arbeiterschaft der Ansicht, daß es
vielleicht doch bedeutend besser sei, wenn der Herr General¬
direktor Vogler für eine Zeitlang von der Nationalversamm¬
lung beurlaubt würde, um hier seine volkswirtschaftlichen
Fähigkeiten jn die Tat umzusetzen, und darauf zu achten,
daß die Wirtschaft auf seinem Werke in eine Volkswirtschaft
im Interesse der Gesamtheit wird und die Interessenwirtschaft
aufhört.
Aus diesen Gegenüberstellungen der einzelnen Schuldfragen
geht deutlich hervor, daß das Unternehmertum ebenfalls
nicht ohne Schuld ist an der schlechten Lage unserer Wirt¬
schaft. Obwohl die Schuld der Arbeiterschaft keine kleine
ist, ist die Schuld des Unternehmers doch eine verhältnis¬
mäßig höhere. Der Arbeiterschaft ist bei aller Beurteilung der
Schuld immerhin zugute zu halten, daß sie zum großen Teil
aus Unkenntnis der Lage und wirklichen Verhältnisse diese
Schuld auf sich geladen hat. Dem Unternehmertum aber
kommt hier Unkenntnis nicht zugute, sondern hier ist es
reine Interessenpolitik, die diese Schuld hervorruft. Während
es der Arbeiterschaft bisher an der notwendigen Schulung
und Bildung, die politische wie wirtschaftliche Lage zu über¬
sehen, gefehlt hat, sie auch von den besitzenden Klassen
in allen ihren Bildungsbestrebungen absichtlich zurückgehal¬
ten worden ist, mußte das Unternehmertum unter allen Um¬
ständen einsehen, daß es seine Interessenpolitik aufgeben
mußte. Es mußte erkennen, daß das Allgemeininteresse vor
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Wer hemmt den Volkswirtschaft!. Wiederaufbau . . . 1289
seine Sonderinteressen gestellt werden mußte. Es ist gewiß
schwer, ein Teil seiner Rechte in Pflichten umzuwandeln,
aber es darf nicht so schwer sein, daß ein ganzes Volk
im Elend zurückgehalten oder noch tiefer hin eingeb rächt
wird, anstatt es herauszuhelfen. Das Unternehmertum ist,
wenn es den ehrlichen Willen dazu hat, in der Lage, durch
Ausnutzung aller seiner Mittel, die deutsche Volkswirtschaft
in diejenigen Wege zu leiten, die sie notwendig einschlagen
muß, um aus diesem Elend herauszukommen. Dazu bedarf
es nur der Weglassung der Interessenpolitik. Die Arbeiter¬
schaft ist bereit und zeigt den Willen, diesen Weg zu be¬
schreiten; das Unternehmertum läßt aber nichts von sich
hören. In der Generalversammlung der Aktiengesellschaft
„Phönix“ sprach der Generaldirektor Beukenberg aus, daß
die Arbeiterschaft, wenn es besser werden sollte, wieder
länger arbeiten müsse. Diese Gründe sind doch wohl nicht
stichhaltig, denn wenn es tatsächlich darauf ankommt, so
könnten doch mehr Arbeitskräfte eingestellt werden und
diese sind noch vorhanden. Es würde aber ganz gewiß besser
gehen, wenn das Unternehmertum erstens auf die großen
Gewinne verzichten wollte, und zweitens, wenn sie ihre
volle Pflicht tun würden, die Industrie so schnell wie mög¬
lich in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen.
'Aus vorstehenden Ausführungen ergibt sich eine Not¬
wendigkeit, die unbedingt von der Regierung sofort erwogen
werden muß, und zwar die Notwendigkeit der planmäßigen
Wirtschaft. Wir können machen und unternehmen was wir
wollen, gutwillig scheint bei uns in Deutschland nichts mehr
zu gehen. Da, wo es aber nicht gutwillig gehen will, da
muß sich eben eine starke Hand bemerkbar machen, die den
unwilligen Teil der Bevölkerung den Weg vorschreibt, den
er unbedingt gehen muß.
Mag nun auch der frühere Arbeitsminister Wissell wegen
seines Planes auf Einführung der Planwirtschaft noch so viel
bekämpft werden, die Einführung einer solchen oder ähn¬
lichen Planwirtschaft wird doch kommen.
Die Einführung des Akkordlohnsystems wird ja zweifellos
eine Besserung herbeiführen, aber von langer Dauer wird
auch dieses nicht sein. Das Akkordlohnsystem mag ausgebaut
werden, so gut es gehen mag, es wird immer Härten und
Lohnungleichheiten mit sich bringen, die zu neuen Kämpfen
führen werden. Es muß feben ein Lohnsystem, überhaupt
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1290
Entstehung der Clartebewegung.
ein Wirtschaftssystem gefunden werden, wonach die gesamte
Bevölkerung an den Produktionserträgen beteiligt und iriter-
essiett wird. Dazu gehört aber auch, daß sich ein jeder
am Produktionsertrage selbst beteiligen muß, und im Inter¬
esse der Gesamtheit selbst produktive Arbeit verrichtet. Wer
sich nicht an den Erträgen der Wirtschaft produktiv betei¬
ligt, der hat eben keinen Anspruch auf Erhaltung seines
Lebensunterhalts. Damit soll aber selbstverständlich nicht
gesagt sein, daß nun alles körperliche Arbeit verrichten
soll, es soll lediglich damit gesagt sein, daß, wer keine
Arbeit, die im Interesse der Allgemeinheit liegt, nachweisen
kann, gezwungen wird, sich im Interesse der Gesamtheit
liegende Arbeit zu verschaffen, andernfalls er keinen An-
, spruch auf Unterhalt hat.
Der Begriff. Volkswirtschaft ist schwer, aber man sieht
doch, daß der bisher tals der dümmste angesehene Teil
der Bevölkerung — die Arbeiterschaft — dieselbe in ihren
Grundzügen begreifen lernt. Für den sogenannten gebildeten
Teil, wozu ja auch die besitzende Klasse gehört, kann es
doch auch nicht so schwierig sein, Volkswirtschaft von In¬
teressenwirtschaft zu unterscheiden, insbesondere, da sie alle
Bildungsmöglichkeiten für sich in Anspruch nahm.
Aber auch die Regierung muß zur Volkswirtschaft Stel¬
lung nehmen, sie muß denjenigen Mann finden, der unent¬
wegt auf das Ziel: „Die Hebung der Volkswirtschaft“ los¬
strebt und es versteht, trotz aller Anfeindungen die Volks¬
wirtschaft durchzuführen. Diese Männer sind zweifellos vor¬
handen, es bedarf nur, daß man ihnen die notwendige Be¬
wegungsfreiheit und die nötigen Vollmachten einräumt.
Dr. FRIEDRICH MARKUS HUEBNER (im Haag):
Entstehung der Clartebewegung.
Die Internationale des Geistes.
PUROPA steht zum ersten Male vor dem Versuche eines
planmäßig eingerichteten, internationalen Zusammen¬
schlusses der Kopfarbeiter. Diese Bewegung, obzwar in
Deutschland der Wunsch und Ruf so mancher offener Briefe
und vielzählig unterschriebener Manifeste, ist der deutschen
Oeffentlichkeit mehr oder minder entgangen: wohl eines-
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--rc ■, - .... -
Entstehung der Clartebewegung. _ 1291
teils weil noch immer nicht genug Zeitungen und Zeit¬
schriften, Botschaft bringend, von außerhalb über die Grenze
hereinkamen, andemteils weil die: Harrenden unverrückt nach
einer Himmelsrichtung spähten, von der in der Tat während
des Krieges die einzig fruchtbaren Gedanken ausgegangen
sind, die aber in diesem Falle sich stumm hielt; nicht Rußland,
der Osten, sondern Frankreich, der Westen, ward Urheber
und Wortführer jenes belebenden geistigen Zusammengehörig¬
keitsgefühls, das oberhalb der rein staatlichen Annäherungs¬
bestrebungen, oberhalb der internationalen Arbeits- und Wirt¬
schaftssolidarität, welche die Losung des revolutionären So¬
zialismus bildet, nach Verwirklichung, Ausbau, tätigem Ein¬
fluß trachtet. Es wird nunmehr, wo diese schon weitver¬
zweigte und über eine eigene Zeitung verfügende Internatio¬
nale des Geistes sich vorbereitet, den ersten. Freund und
Feind umfassenden allgemeinen Kongreß abzunalten, für die
deutschen Intellektuellen Zeit, über die Clartebewegung sich
zu unterrichten, ihr Programm kennenzulernen, dieses zu
erörtern und dazu Stellung zu nehmen.
Der volle Name der Vereinigung lautet: „Clarte. Ligue de
Solidaritö intellectuelle pour le triomphe de la cause inter¬
nationale“. Sitz der Vereinigung ist Paris, rue Feydeau
Nr. 12. Organ der Vereinigung ist die Vierzehntagszeitung
„Clarte, bulletin fran?ais de PInternationale de la Peusee“,
welches Bulletin ab Januar 1920 durch eine, in verschiedenen
Sprachen iherausgegebene und nach Ländern getrennte
Monatsschrift gleichen Titels ersetzt werden soll. Als Ort
für die im Januar 1920 anberaumte erste internationale Clarte-
zusammenkunft ist Bern in Aussicht genommen.
Die Clartebewegung, vorgebildet in der während des
Krieges verkündeten und bewährten Europäergesinnung eines
Romain Rolland, besitzt in eben dieser Gesinnung ihr sitt¬
liches Programm und ihre unendliche Begeisterungskraft.
Als kulturpolitische Massenbewegung ist sie jüngeren Da¬
tums. Romain Rolland und die Gruppe jener französischen
Schriftsteller, die wie Henri Guilbeaux während des Krieges
auf Schweizer Boden flüchteten und dort, in Genf, an der
Monatsschrift „Demain“ mitarbeiteten, besaßen nicht den
Einfluß und wohl auch nicht die Absicht, ihre Ueberzeu-
gungen als Leitsätze einer Partei zu proklamieren, diese
Partei aufzurichten und sie zu leiten. Ihre Erkenntnisse
mußten zuvor unter den französischen Soldaten Boden ge-
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1292
Entstehung der Clartebewegung.
winnen und diese Soldaten mußten sich erst seelisch gegen die
Sinnlosigkeit ihres Handwerks auflehnen, ehe sich auf eine
breite Unterlage für den Aufbau des neuen Gedankens rech¬
nen ließ. Mächtige Förderung erfuhr die aufkeimende Denk¬
weise durch das starke und schier verzweifelnde Menschen¬
bekenntnis „Le Feu“, welches Barbusse 1917 erscheinen ließ.
Mit der Einsicht, daß dje Ideen, wofür die französischen
Soldaten ins Feuer getrieben worden waren, von den Re¬
gierungen der Entente mehr vortäuschend als ehrlich über¬
zeugt gebraucht wurden, eine Einsicht, welche angesichts der
zu Paris geführten Friedens Verhandlungen viele französische
Intellektuelle überwältigend schreckhaft durchfuhr, mit ihr
steigerte und vereinte sich der Widerwille gegen das über¬
standene, die Erbitterung gegen die am Kriege schuldige,
kapitalistische Gesellschaftsordnung, das Grauen vor der Un¬
menschlichkeit des bürgerlichen Dahinlebens in Europa bis
zum Kriegszustände. Die Scham über das, was Frankreich,
die geschichtliche Heimstätte menschlich-freiheitlichen Geistes,
im Bunde mit allen alten Mächten der Welt zu verrichten
sich anschickte, schnitt heiß und peinigend in die Seelen.
Wenn Schriftsteller wie Gide, Peguy, Suares, Claudel die
wahren und berufenen Hüter der französischen Ueberliefe-
rung zu sein meinten, und Wenn sie es sich, übrigens mit
Recht, zuschrieben, daß Frankreich fähig ward, die Kriegs¬
greuel fünf Jahre lang fhannhaft zu ertragen, so durften
doch die neuen Geister, die jetzt ihre Stimme zu erheben
sich gedrängt fühlten, sich »als die eigentlichen Traditionalisten
ausgeben, insofern sie wieder der alten, der gutfranzösischen
Gesinnung des revolutionären Protestes gegen die Unwahr¬
heit das Wort und ihr ganzes Wirken lieben. Diese wahr¬
haften Träger der französischen, hochherzig dargebotenen
Verbrüderungsidee befinden sich gegenüber den angeblichen
Traditionalisten freilich in der Minderheit. Durch Zensur
und Polizei verfolgt, von der öffentlichen Meinung „Verräter“
und „Proboches“ gescholten, bewirft die hauptstädtische
Presse sie mit Hohn und tückischer Verleumdung, und ihre
Kundgebungen werden nur in einzelnen, wenigen Organen
nachgedruckt, obwohl sich unter den Führern die einwand¬
freiesten und gefeiertsten Namen des französischen Schrift¬
tums finden.
Das Auftreten begann Anfang April 1919 mit einem im
„Cri du midi“ veröffentlichten Aufruf, den unter anderen
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1293
Entstehung der Clartebew^gung.
Henri Barbusse, Raymond Lefebre, P. Vaillant-Couturier,
A. Mercereau, Noel Garnier unterschrieben hatten und der
sich an die kampfentschlossenen Intellektuellen aller Länder
wandte. Die Geistesarbeiter, hieß es darin, seien während
des Krieges irregeführt und mißbraucht worden, und die
Gefahr bestehe, daß sie nach dem Kriege weiter mißbraucht
werden sollten. Kampfentschlossene Geistesarbeiter der Welt,
wir wissen, daß ihr fünfzig Monate lang das Leben von
Schuldigen geführt habt, hinter dem feierlichen Ernste eurer
Seelen, den Seelen von Gerechten. Wir haben die schwer¬
wiegende und schöne Pflicht, heute mit dem Beispiele der
Weisheit voranzugehen. Wir müssen die ersten sein, die
sich wieder die Hand reichen . . . weil wir den Mut be¬
saßen, das Vertrauen in die Würde der Menschen zu be¬
wahren, und in die verklärende und sittlich läuternde Macht
der Vernunft. . . Es wird Zeit, daß wir, ein jeder in seinem
betreffenden Vaterlande, uns gegen die Verursacher der Kriege
und der Wirrnisse aufrichten. . . Kampfentschlossene Geistes¬
arbeiter der gesamten Erde, vereinigen wir uns!“
Etwa um dieselbe Zeit war auch Romain Rolland mit seinem
Manifeste in der „Humanite“ hervorgetreten, worin er in
gleicher Weise und unter ähnlicher Begründung zum inter¬
nationalen Zusammenschluß der Geistesarbeiter aufforderte;
dem Rufe liehen sofort durch Unterschrift bedeutende
Schriftsteller und Gelehrte aus allen Ländern ihre Zu¬
stimmung.
Am 10. Mai ließ Barbusse mit seinen Freunden in der
„Humanit6“ eine neue Kundgebung in die Welt gehen, worin
diese Gruppe ihren Willen verkündete, nun den Kampf im
Dienste der geistigen Verbrüderungsidee auch praktisch auf¬
zunehmen. Als Kennwort und Feldgeschrei erscheint hier
zum ersten Male die Namensgebung „Clarte“, ein Name,
der von dem gleichbetitelten, durch Barbusse verfaßten Kriegs¬
protestromane „Clarte“ genommen ist. Der Aufruf ist auch
durch die Festsetzung von Programmumgrenzungen be¬
merkenswert und durch die Mitteilung, an welchen Kreis
von Geistesarbeitern man sich zu wenden wünscht; man
hat keineswegs nur die Schriftsteller und die Künstler im
Auge, sondern man richtet sich an die Schreibenden und
Denkenden der Welt samt und sonders, denen man in der
„Internationale des Geistes“, gleichlaufend zur Internationale
des Proletariats, die Hände reichen möchte. Die Aufgabe
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^Original frcm
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1294
Entstehung der Clartebewegung.
derjenigen, die sich der Gruppe anschließen wollen, sei:
„anzukämpfen gegen die Vorurteile, die allzu behend ge¬
nährten Irrtümer und vor allem gegen die Unwissenheit, wo¬
durch die Menschen getrennt und vereinsamt werden und
wodurch es ermöglicht ward, sie blindwütig gegeneinander¬
zuhetzen.“ Dabei wünschte sich „Clarte“ fernzuhalten von
jedem rein politischen Parteibündnis.
An diesem Punkte ist der erste Abschnitt der Clartebewe¬
gung, wo die Führer zueinanderstoßen und allmählich des
Ziels sowohl wie des Wegs ihrer Sendung bewußt werden,
abgelaufen. Die denkeriscne und sozialpolitische Grundein¬
stellung ist von nun ab unverrückbar festgelegt; die Gleich¬
gesinnten vereinigen sich zur Ordnung und Disziplin einer
unabhängigen Gruppe; die ersten praktischen Organisations¬
vorschläge tauchen auf.
Der Uebergang in den zweiten Entwicklungsabschnitt wurde
nachhaltig durch den Widerhall gefördert, den die Bewegung
im Auslande, namentlich in Belgien fand, wo Paul Colin
sich mit ganzer Person in den Dienst der Sache stellte. Die¬
sem äußerst rührigen Schriftsteller gelang es, seine im März
1919 gegründete Zeitschrift durch die Fülle des behandelten
Stoffs derart erfolgreich einzuführen, daß mit den 2000
heute abgesetzten Exemplaren, die darin regelmäßig abge¬
druckten Mitteilungen der Clartegruppen zur Kenntnis eines
immer größer werdenden internationalen Leserkreises kamen.
Colin kündigte die neue Bewegung am 1. Juni unter der
gesperrten Ueberschrift: „Am Vorabend eines internationalisti¬
schen Vorgehens“ an und führte erklärend aus, daß durch
den Krieg, allen reaktionären Erwartungen zum Trotz, nicht
nur die Handarbeiterintemationale nicht zerstört sei, sondern
daß soeben in Paris die ersten Schritte getan würden, um
die Kopfasbeiter international zu onjanisieren. „Der inter¬
nationalistische Geist ist erwacht. Ein grenzenloser Durst
nach Brüderlichkeit zehrt an den Völkern, und über die
Landesgrenzen hinaus stellt sich zwischen den unterdrückten,
verarmten, gelichteten Massen die geistige Verbindung her.
Vor dem Kriege haben die Kopfarbeiter niemals versucht, die
Seele der Nachbarnationen planmäßig kennenzulernen, zu
durchdringen, zu begreifen. . . Jetzt handelt es sich darum,
mit allen, die in Frankreich, England, Deutschland, Oester¬
reich, Italien, Rußland gleichen Willens wie wir sind, zu-
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1295
Entstehung der Clart6bewegung.
sammenzutreten, um durch die Verdichtung der geistigen
Beziehungen den Frieden und die Friedensgesinnung dauernd
aufzurichten. Die Aufgabe ist: Eine Internationale des Geistes
als eine regelnde und vorausschauende Größe zu schaffen,
die beseelt ist von demokratischem Geiste, die niemandes
Persönlichkeit unter den Mitgliedern verstümmeln, niemals
die Aussprache entgegengesetzter Meinungen verhindern wird,
und die zur gegebenen Stunde im Namen des Weltgewissens
gegen die Unholde der Trübung auf treten kann. Die Rolle
der Künstler und der Intellektuellen ist nicht die, beiseite
zu stehen, sondern zwischen den Völkern nach Möglichkeit
Verbindungsfäden zu schlingen, ihren Einfluß über sie zur
Geltung zu bringen und davon für den Fortschritt des Guten
Gebrauch zu machen.“ v
Dank der Werbearbeit von Paul Colin bildete sich, nur
wenige Wochen nach der Gründung der Hauptgruppe in
Paris, zu Brüssel die erste Tochtergruppe. Beitrittserklä¬
rungen kamen erstaunlich reichlich, obwohl oder vielleicht
gerade 'weil in Belgien die nationalistische Reaktion am unge¬
zügeltsten waltete. In Italien erließ Benedetto Croce und
Mathilde Serao mit Erfolg den Ruf zur Landesgruppenbil¬
dung. In Deutschland nahmen sich die „Weißen Blätter“
von Rene Schickele der Clartebewegung und ihrer Kund¬
gebungen an; im Nachdruckverfahren gelangten so die ersten
Mitteilungen über das Beginnen auch in die deutsche Tages¬
presse. von Berlin aus stellte Kurt Hiller die Führung
mit den Pariser Persönlichkeiten her. In England nahm der
pazifistisch gesinnte Dramatiker Douglas Goldring den Clarte-
gedanken tätig mit seinen Freunden auf. In Holland ist eine
Landesgruppe in der Bildung begriffen.
In Paris nahm der Ausbau der Organisation immer festere
Formen an. Es wurden eigene Bureauräume gemietet, wo
unter der Aufsicht des Generalsekretärs N. Cvril fast ein
Dutzend Menschen die täglichen DienstgeschäTte der Vor¬
standsleitung erledigen. Die Führer halten allwöchentlich
öffentliche Versammlungen ab, kämpfen in Zeitungsartikeln
gegen die feindselige Boulevardpresse, veranstalten Straßen¬
demonstrationen. Beiträge fließen reichlich zu; der Mindest¬
zuschuß eines Mitgliedes ist auf fünf Franken angesetzt;
im nächsten Jahre hofft „Clarte“ ihre Mitgliederanzahl in
Frankreich auf 200 000 bringen zu können.
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1296
Entstehung der Clartebewegung.
In den Programmschriften, welche die Gruppe ausgibt, tritt
das Pathos des Gesinnung und der tiefen menschlichen Erregt¬
heit nun zurück hinter die Verdeutlichung und praktische
Beweisführung der einzelnen Leitgesichtspunkte, Es werden
Pläne der Propaganda ausgearbeitet, die Aufstellung von
Studienausschüssen, die in die Fülle des Stoffs Uebersicht
bringen sollen, wird ins Auge gefaßt. Man gibt ein Werbe¬
blatt mit fünfzehn grundsätzlichen Feststellungen heraus,
wo es im Artikel 1 heißt: „Unser soziales Gesetz ist schlecht.
Sein Ergebnis ist: Privilegienwirtschaft, Willkür, Niederbruch
und Totschlag.“ Artikel 8 lautet: „Das Vaterland als eine
Stufe zur Nächstenliebe betrachten ist gut, es als Endzweck
betrachten ist schlecht.“ Artikel 14: „Politische Streiks sind
zu gleicher Zeit die anständigsten und die nützlichsten. Sie
bedeuten zwischen Evolution und Revolution die friedlich
revolutionäre Entwicklung.“
Zu dem ersten Werbeblatte gesellten sich bald die knapp¬
gedrängten und als gleichmäßiger Rahmen für sämtliche
Ortsgruppen gedachten Statuten. Sie umfassen zwanzig Ar¬
tikel, worin das Ziel, die Art der Oberleitung, der Unter¬
staffelung, der örtlichen Ausbreitung, sowie die jährlich zu
haltenden Einzel- und Allgemeinzusammenkünfte bindend fest¬
gelegt sind. In der Nr. 1 der Clartezeitung gab N. Cyril
zu den Statuten ein paar bemerkenswerte Erläuterungen.
„Die Internationale des Geistes“, schrieb er, „darf nicht
hier und da für sehr ehrenwerte Intellektuelle bloß den
Gegenstand von Kundgebungen und aufsehenerregenden
Erlassen bilden. Es genügt nicht, daß sie ein Wunschgedanke,
eine bloße edle Sehnsucht bleibe. Sie muß in unseren Händen
vielmehr eine Waffe werden. Die Auslese der Denkenden
muß die Spitze einer Partei formen, die in sich festgeschlossen,
und der Zucht unterworfen ist, und die den taktischen Anwei¬
sungen einer Oberleitung Gehorsam leistet. Wir wollen aus
diesem Grunde unsere Gruppenbildung keineswegs auf nur
berufliche Intellektuelle ausdennen. Wir wollen ein lebendiger
Organismus werden, der sich grenzenlos; entfaltet und der
sich schließlich mit der Hochspannung unwiderstehlicher
Stoßkraft lädt. Am Tage, da man uns fragt, wie viele
wir seien, wollen wir, die Liste in der Hand, antworten
können: Wir sind zahlreicher als ihr . . . Warum, wird man
uns fragen, habt ihr als Liste für den Vorstand eurer inter¬
nationalen Vereinigung Paris gewählt? Wir haben uns in
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1297
Entstehung der Clärtebewegung.
Paris niedergelassen, weil statutengemäß die Leitung sich
an dem Orte befinden muß, wo die Erstorganisation das Licht
der Welt erblickte. Niemand, hoffe ich, wird uns beleidigen
und an den kleinsten Hintergedanken einer Oberherrschaft
unsererseits glauben wollen. Die erste Inangriffnahme ist
von uns aus erfolgt; ich finde, daß es nur recht und billig
ist, daß diese Inangriffnahme durch Franzosen mit der Ab¬
sicht des Gegendrucks erfolgt ist, will sagen, durch Leute,
die einem Lande angehören, das im unverschämtesten Sinne
gesiegt hat. Wir sind nur die ersten Vollstrecker einer
Weltidee, dieser Idee, die allen gleichmäßig gehört. Wenn
morgen unsere Brüder aus Deutschland, aus Frankreich oder
anderswoher zu uns sprechen: Es ist jetzt empfehlenswert,
den Sitz des geistigen Generalstabs etwa in einer so über¬
aus internationalen Stadt wie Bern aufzuschlagen, so werden
wir ihn dorthin verlegen. . . Wer sich wundert, daß im
Vorstande die Franzosen gegenwärtig so zahlreich auftrefcen,
wie alle ausländischen Vertreter zusammengenommen, dem
antworten wir, daß wir uns noch mitten im Aufbau be¬
finden. Werden die übrigen Sektionen derart endgültig ein¬
gerichtet sein wie die Pariser, so wird die Zentralvorstand¬
schaft durch eine Mitgliederanzahl gebildet werden, die aufs
peinlichste den Verhältnissen und der Bedeutsamkeit der
angeschlossenen Länder entspricht.“
Einer der am meisten verheißungsvollen Artikel der Sta¬
tuten, der als solcher für die Deutschen unmittelbare Wich¬
tigkeit besitzt, ist der Artikel 17, welcher über die Jahres¬
versammlungen handelt und wo es im zweiten Absätze heißt:
„Jedes Jahr im November findet in einer bekanntzugebenden
Stadt ein internationaler Kongreß statt. Er bildet den eigent¬
lichen Grundstein der Internationale des Geistes.“ Wenn
hier bei der Niederschrift der Statuten als Monat für die
Kongreßveranstaltung ins Auge gefaßt ward, so dachte man
ursprünglich an den November 1920. Aber der wider Er¬
warten starke internationale Zustrom zur Clärtebewegung
machte es notwendig, die Abhaltung des Kongresses noch
früher anzuberaumen, es ist jetzt der Januar 1920 und
als Versammlungsort Bern in Aussicht genommen. Damit
steht ein Plan vor seiner allernahesten Verwirklichung,
der an vielen Orten und in vielen Köpfen bald nach dem
Waffenstillstände aufgetaucht ist und herumgespukt hat, aber
den auszuführen die Kraft von einzelnen Personen oder von
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1298
Entstehung der Clartebewegung.
schon bestehenden internationalen geistigen Berufs Vereini¬
gungen nicht ausgereicht hat. Nur die, durch den Schrecken
des Kriegs getaufte, vom Erkenntnisstrahl des Sozialismus
umleuchtete „Clarte“bewegung besitzt das nötige Ansehen
und das revolutionäre Feuer, um aus der ersten allgemeinen
Bewegung internationaler Geistesarbeiter ein segnendes Er¬
eignis für die Völker machen zu können.
Inzwischen nahm die Pariser Gruppe die eigentlich poli¬
tische Arbeit des Bundes bereits in Angriff. In den Tagen
des höchsten Siegestaumels veröffentlichte die „Clarte“ in
Paris ein Manifest gegen die Ungerechtigkeit des Friedens¬
schlusses, das unter anderem von Anatole France, Henri
Barbusse, Georges Duhamel, Laurent Tailhade unterzeichnet
war und das mit den Worten begann: „Im Namen der Ge¬
rechtigkeit, des Friedens der Völker und der Klassen haben
die Bürger des freien Geistes die Pflicht, gegen diesen
Friedensvertrag Verwahrung einzulegen, der soeben unter¬
zeichnet worden ist.“ Weiter hieß es in dem Manifest, daß
der Vertrag, hinter verschlossenen Türen abgefaßt, eine eben¬
so grausame wie hinterhältige Verfälschung der 14 Wilson-
schen Punkte darstelle, und daß er neu durchgeführt werden
müsse. „Der Vertrag vom Juni 1919 ist unwürdig der edlen
Ueberlieferungen Frankreichs und verdient weder Achtung
noch Vertrauen. Er beweist durch himmelschreiende An¬
zeichen die Notwendigkeit einer vollständigen Umwälzung
der adigemeinen Lebensbedingungen.“
Anfang September trat „Clarte“ zum zweiten Male politisch
mit einem Proteste gegen die Abschnürung der russischen
Bolschewisten durch die Ententemächte hervor. In diesem
Manifest, das in den Straßen von Paris angeschlagen ward,
und dessen Unterschriftenliste an erster Stelle wieder den
Namen von Anatole France aufwies, wurde versucht, den
Hand- und Kopfarbeitern die ganze Größe der Gefahr ver¬
ständlich zu machen, die allen internationalen Vereinigungs¬
bestrebungen droht, falls es der Entente gelingen sollte, die
russische Sowjetrepublik zu vernichten und wieder der Re¬
aktion die Vollzugsgewalt auszuliefern. „Bleibt ihr gleich¬
gültig, so macht inr euch mitschuldig. Zieht nicht auf euch
die behände herab, der Ermordung der großen Freiheit, die
allen Menschen gemeinsam ist, müßig zugeschaut zu haben.“
Noch schärfer mit den Mächten der Reaktion ging Henri
Barbusse persönlich ins Gericht. Er veröffentlichte in der
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Entstehung der Clartebewegung.
1299
Ä anite“ (Oktober 1919) einen von Empörung bebenden
;1 „Nous accusons“, darin er niemand geringeren als
Clemenoeau selber aufs Korn nimmt. ^ „Wir beschuldigen“,
heißt es hier, „die Regierenden in Frankreich, in England, in
Amerika, einen abscheulichen Lügenfeldzug gegen den Bolsche¬
wismus in Szene gesetzt zu haoen — um straflos, mit dem
Geld und dem Blute der noch versklavten Völker, ihre letzte
antisozialistische und widermenschliche Anstrengung zu Ende
führen zu können —, das Bekanntwerden der Wahrheit durch
die gemeinsten und willkürlichsten Mittel verhindert zu haben
(genau wie angesichts eines Dreyfus und eines Caillaux),
die öffentliche Ivteinung vergiftet zu haben, um die Volks¬
massen gegen ihre eigene Sache aufzuhetzen, die Völker
belogen zu haben, um sie verraten zu können.“
In der ersten Nummer der Clartezeitung setzte Barbusse,
den Leitartikel' schreibend, seinen Feldzug gegen die Lüge
und die Unwissenheit fort, in dem er dabei gleichzeitig
feststellte, daß „Clarte“ grundsätzlich als Kampforganisation
gedacht sei. „Ausgehend von der Anerkennung des Individual-
begriffs, welcher eine Urtatsache bezeichnet, setzt „Clarte“
an den Anfang der sozialen Ordnung das Gesetz der Gleich¬
heit. Dieses Gesetz ist grundlegend und es umfaßt aus sich
heraus entwickelnd den ganzen Fortschritt der Gesellschaft.
Es begreift in sich die Unterdrückung aller Privilegien von
Klassen und das Bestehen von Klassen selber; an die Stelle
des vaterländischen Ideals setzt es das menschliche, an die
Stelle der nationalen Organisation die internationale; es
auferlegt allen Männern und Frauen, zu arbeiten; es ruft
die Massen zuj* unmittelbaren Führung der menschlichen
Angelegenheiten herbei. , . Jedoch ist „Clarte“ nicht irgend¬
eine politische Partei. „Clarte“ stellt sich brüderlicn an
die Seite der sozialistischen Partei, der wahren sozialistischen
Partei, die im Reiche der Tatsachen und der handgreiflichen
Verwirklichungen jene Ideen durchzusetzen strebt, die zu
verbreiten ihre Sendung ist.“ v
Der zweite Entwicklungsabschnitt der Clartebewegung, der¬
jenige, in dem die Gruppe ihre r eal politische Linie und die
organisatorische Form sucht, liegt heute abgeschlossen. Alle
Arbeiten innerhalb des Bundes drängen jetzt dem einen Ziele
des Kongresses zu, der als solcher die Krönung der bisherigen
öffentlichen Wirksamkeit und den Markstein bedeuten wird,
von dem ab die Clartebewegung, alsdann ein wahrhaft inter-
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1300
Entstehung der Clartebewegung.
nationaler Organismus, den dritten Abschnitt ihres. Werde¬
gangs beginnen kann.
Die Pariser Zentrale rechnet für diesen dritten Abschnitt
mit aller Entschiedenheit auf den tätigen Anschluß der deut¬
schen Intellektuellen.* Es besteht in Paris ein sehr lebendiges
Gefühl dafür, daß die Voraussetzung jeglichen geistigen Ein¬
vernehmens die deutsch-französische Annäherung sein muß.
In dem Berichte, den der Belgier Paul Colin über die
allgemeine Lage in der „Clarte“zeitung vom 11. Oktober
veröffentlichte, unterstrich er gerade diesen Punkt, wie er
denn als anbahnende Vorbereitung zur Annäherung gerade
dieser zwei Rassen nebenher die kulturelle Annäherung auch
zwischen Belgien und Holland verfolgt. Es taucht hier ein
Gedanke auf, den während der deutschen Besetzung Belgiens
einige Deutsche vertraten, ohne sich Gehör verschaffen zu
können, der Gedanke, daß den franko-deutschen Interessen
am besten gedient sei, wenn sich Belgien und Holland in
Freundschaft fänden, um derart die nördliche Brücke zwischen
Lateinern und Germanen zu bilden, wie diese gleiche Aufgabe
im Süden die gemischtsprachige Schweiz emillt.
Es ist unerläßlich, daß die deutschen Intellektuellen mit
der „Clarte“bewegung die Fühlung aufnehmen. 1
Es gibt nichts, was den deutschen Geistesarbeitern er¬
laubte, vor dem guten Willen der bisherigen Ztentralleitung
Argwohn zu hegen; keinerlei ententistisches Geheimabkom¬
men versteckt sich hinter dem Vorgehen der „Clarte“begrün-
der. Die westlichen Kopfarbeiter strecken denen des ge¬
schlagenen Landes die Hände zu: Es wird lediglich des
Feingefühls bedürfen und des guten Willens, damit die neue
Internationale des Geistes die so nötige Einheit des Handelns
gewinnt. Da sie keine „Interessen“ zu schützen hat, wie die
anderen bestehenden internationalen Organisationen (Frei¬
maurerschaft, Sozialdemokratie, Kirche), kann ihr Handeln
sich viel unbefangener, ihre Haltung sich viel lauterer ent¬
falten.
1 Aufklärendes Material erhält man am schnellsten durch Paul Colin,
Brüssel, Avenue de la Cascade 31, oder durch den Schreiber dieses,
Haag (Holland), van Galenstraat 1.
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Die Sozialisierung der Bühnen, _ 1301
ERICH .SCHLAIKJER:
Die Sozialisierung der Bühnen.
MAN wendet gegen die sozialistische Produktionsweise ein,
1 daß sie die Arbeitsleistung herabsetze, weil sie das freie
Spiel der Kräfte ausschaltet, und es muß eingeräumt werden,
daß dieser Einwand nicht ganz aus leeren Worten besteht.
Der private Unternehmer, der um sein wirtschaftliches Leben
ringt, spannt unter Umständen die Nerven bis zum Zerreißen
und erzielt auf diese Weise ein Ergebnis, das eben nur
mit fiebernder Energie zu erreichen war. Auch der Sozialist,
der mit offenen Augen ins Leben blickt, kann nicht gut
leugnen 'wollen, daß der brutale Kampf ums Dasein die Men¬
schen mit grausamem Stachel an ihr Werk treibt. Man kann
auch zugeben, daß im privaten Betrieb der persönlichen Ini¬
tiative em Raum gelassen ist, der im sozialistischen wenigstens
nicht vorhanden zu sein braucht. Es ist auf dieser sündigen
Erde nun einmal so, daß jedem Zustand bestimmte Lichtseiten
und bestimmte Mängel sozusagen organisch anhaften und
von diesem allgemeinen Gesetz macht die wirtschaftliche
Produktionsweise selbstverständlich keine Ausnahme. Wenn
man den privaten mit dem sozialistischen Betrieb vergleichen
will, darf (man aber nicht einseitig bestimmte Züge ins Licht
rücken, die den privaten Unternehmungen eigentümlich sind,
sondern muß die hellen und dunklen Seiten beider Betriebe
ins Auge fassen, um sie in ihrer Totalität gegeneinander ab¬
zuwägen. Immerhin: wenn auf einem bestimmten Gebiet der
Einwand wegfällt, der in der anspornenden Kraft der freien
Konkurrenz liegt, braucht man den Vorteil nicht von der
Hand zu weisen, und auf dem kulturell so wertvollen Ge¬
biet der Kunst kann er glücklicherweise nicht erhoben
werden.
Auch der privatkapitalistische Theaterdirektor wird durch
den Kampf ums Dasein zu einer Anspannung aller Kräfte
getrieben und teilt in diesem Punkt also das Schicksal der
privaten Unternehmer überhaupt. Während ein Stiefel¬
fabrikant aber unter dem Einfluß der freien Konkurrenz
mehr und im allgemeinen auch bessere Stiefel hervorbringt,
während also Qualität und Quantität der Ware gesteigert
werden, bleibt beim Theaterdirektor die Zahl der gespielten
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-1302
Die Sozialisierung der Bühnen.
Dramen gleich, ihre Qualität aber sinkt in der traurigsten
Weise. Unsere privaten Bühnen werden zwar von der Kon¬
kurrenz angetrieben, oft genug in der grausamsten Weise,
der Antrieb aber richtet sich leider immer nur aufs Geld¬
verdienen und läßt den geschäftlichen Zweck zum allein
seligmachenden Faktor werden. Der Theaterdirektor fragt
nicht mehr: „Ist dieses Drama gut oder schlecht? Winl
es die Seelen meiner Zuschauer bereichern oder verschlam¬
men und beschmutzen?“. Er fragt nur noch, ob es Geld ein¬
bringt und seine kapitalistischen Auslagen deckt. Was die
freie Konkurrenz am Theater entfesselt, ist eine wilde Jagd
nach dem Gold, bei der nicht nur alle künstlerischen, son¬
dern oft genug auch alle sittlichen Werte unter die Füße
getreten werden. Damit ein Drama Geld einbringe, viel
Geld, ganz entsetzlich viel Geld, muß es sich in den Massen
des bürgerlichen Publikums an möglichst kräftige Instinkte
wenden, und die Natur des Durchschnittsmenschen ist leider
so eingerichtet, daß in ihm die untergeordneten Instinkte zu*
gleich auch die stärksten sind. Der allerstärkste ist selbst¬
verständlich der Geschlechtstrieb, und es ist darum nur
logisch, daß er unter der Herrschaft der freien Konkurrenz
sich einen so großen Teil des Spielplans erobert hat, von
den harmlosen Verlobungsgeschichten der Familienlustspiele
angefangen, über die Schlüpfrigkeit Kotzebues und die Pikan-
terie der französischen Schwänke hinweg, bis zu den auf¬
reizenden erotischen Gemeinheiten, die wir im gegenwärtigen
Berlin ansehen müssen und die um so schlimmer sind, als
sie bei der augenblicklichen finanziellen Lage der Bühnen
durch geschäftliche Gründe nicht entschuldigt werden können.
Neben dem Geschlechtstrieb werden dann.aber auch alle an¬
deren untergeordneten Instinkte beschworen, die im Publi¬
kum schlummern und zu einem Sturm auf die Kasse füh¬
ren können. Man befriedigt die Schaulust des süßen Pöbels,
indem man die Klassiker in einer üppigen Ausstattung er¬
stickt; man spielt Kinodrämen, in denen das Verbrechertum
mit einer verlogenen und verderblichen Romantik umgeben
wird und läßt knallige Reißer explodieren, durch die man
die schädlichen Sensationen der Hintertreppenromane zu er¬
zeugen hofft. In jedem einzelnen Fall aber begeht man einen
Verrat an der Kunst, der unmittelbar durch den privaten Be¬
trieb hervorgerufen wurde und auf sein Konto zu .setzen ist.
Die Vorzüge, die man dem kapitalistischen System sonst
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1303
Die Sozialisierung der Bühnen.
nachrühmen mag-, verkehren sich hier in grimmigen Schaden ,
und dieser Zusammenhang der Dinge ist auch den bürger¬
lichen . Idealisten keineswegs unbekannt geblieben. Immer
wiedef" haben sie ausgerufen, daß der Mammonismus die
Kunst verderbe, und daß man die Theater von den Fesseln
des privaten Geschäfts erlösen müsse. Man sagt schwerlich
zuviel, wenn man ausspricht, daß sämtliche Parteien der -
Nationalversammlung einer Emanzipation der Bühnen von
den häßlichen Rücksichten auf einen sehr untergeordneten
Gelderwerb zustimmen würden, und so gibt es wohl kaum
ein Feld, auf dem das Erdreich für die ersten Spatenstiche
des Sozialismus so gut vorbereitet wäre, wie hier. Eine
Regierung , i die die Zerstörung der gegenwärtigen Theater¬
schande durch Sozialisierung der Betriebe einleitete, würde
dem Staat nicht nur eine dringend notwendige Geldquelle
erschließen, sondern auch ein kulturelles Segenswerk in An¬
griff nehmen, das ihren politischen Kredit notwendig er¬
höhen müßte.
„Mit der Geldquelle könnte es leicht Essig werden“, wirft
hier der kapitalistische Direktor dazwischen. „Das Publi¬
kum bevorzugt nun einmal die schlechten Stücke. Wir haben
in hunderten von Fällen die Erfahrung gemacht, daß es die
guten einfach nicht besucht/*
„Gewiß,“ soll unsere Antwort lauten, ~,so wie Kinder
auch verderbliche Speisen bevorzugen, wenn sie nur süß
sind, und eine gewissenlose Mutter sie ihnen zusteckt.“
Das Publikum ist in ästhetischen Dingen in hohem Maße ein
unerzogenes Kind, und da für seine ästhetische Erziehung
bisher nichts Wesentliches getan ist, kann man ihm das
nicht einmal übel nehmen. Wenn das sozialistische System
die privatkapitalistischen Sudelköche bestehen ließe, wäre
in der Tat die Gefahr vorhanden, daß zum mindesten der
schlechtere Teil des Publikums den Verführungen unterläge,
die mit allen Mitteln der Reklame auf ihn eindringen würden.
Mit diesem Gedankengäng aber geht man von einer Voraus¬
setzung aus, die nach der Sozialisierung der Betriebe nicht
mehr vorhanden ist. Der Sozialismus legt zwar Wert darauf,
menschenfreundlich zu sein, für so schwach aber, daß er
die Feinde der Kunst und seines eigenen Systems am Leben
lassen sollte, darf man ihn nicht halten wollen. Wenn sozia¬
lisiert wird, gehen alle Betriebe in den Besitz der Allgemein-
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1304 __'_ Die Sozialisierung der Bühnen.
heit über und somit fallen die schädlichen Lockungen fort,
die unter der Herrschaft des kapitalistischen Systems nur
allzu frei ihre verderbenbringende Kraft spielen lassen konn¬
ten. Die Arbeiter haben mit dem soliden Spielplan ihrer
„Volksbühnen“ nicht nur bestehen können, sie sind ständig
stärker geworden und haben schließlich im alten Scheunen¬
viertel ein Theater gegründet, das augenblicklich als das
beste Berlins bezeichnet werden muß. In der gleichen Weise
werden die sozialisierten Bühnen der Zukunft in der fröh¬
lichsten Weise blühen können, wenn der immerwährende
Appell an die schlechten Instinkte, auf den die Arbeiter aus
freiem Entschluß verzichtet haben, unter dem segensreichen
v Einfluß des neuen Systems wegfällt. Die Anziehungskraft
der Theater ist so groß, daß sie die Massen unter allen Um¬
ständen anziehen werden und die künstlerischen Darbietungen
sorgen dann ganz von selber dafür, daß die Freude an Gift
und Schmutz aus Mangel an Nahrung stirbt.
Ja, aber, wenn die Bühnen sozialisiert werden, wird der
Geschmack des Staates ausschlaggebend, und dann werden
alle Dichter die gleiche Kommißuniform anziehen müssen.
Wer die sozialistische Literatur kennt, weiß, daß mit diesen
Worten nur ein Einwand erhoben wird, der so alt ist, wie die
polemische Bekämpfung des Sozialismus überhaupt. Wir
haben keine Lust, ihn in seiner Allgemeinheit erneut zur
Erörterung zu stellen und beschränken uns also auf seine
Geltung im vorliegenden konkreten Fall. Wie man leicht
sieht, unterstellt er einen autoritär geleiteten Staat, während
die Sozialisierung einen volkstümlichen und darum duldsamen
Staat zur Voraussetzung hat. Wenn man die augenblicklichen
Züstände in der Regierung zur Grundlage seiner Rechnung
macht, würden Dramen, in denen die Weltanschauung der
Sozialdemokratie des Zentrums und der bürgerlichen Demo¬
kratie zum Ausaruck kämen, ohne weiteres gespielt werden
können, womit ein außerordentlich weiter Rahmen gezogen
wäre, während unter dem herrschenden privaten System
ein halbes Dutzend Direktoren mit gewaltsamem Terrorismus
alles unterdrückt, was nicht die Uniform ihrer allerengstert
Cliquenmteressen trägt. Weit entfernt, einengend zu wirken,
würde der Staat in geradezu beglückender Weise die Fesseln
der schwärzesten Unduldsamkeit sprengen und ein reicheres
Aufblühen der dramatischen Produktion ermöglichen. Wozu
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Die Sozialisierung der Bühnen».
1305
aber soll man sich mit seiner Betrachtung auf den Staat
einrichten, wenn er im vorliegenden Zusammenhang für die
Sozialisierung ganz überflüssig ist? Obwohl wir ihn den
gegenwärtigen Zuständen gegenüber als einen großen Fort¬
schritt begrüßen würden, meinen auch wir, daß man im
Interesse einer möglichst großen Mannigfaltigkeit am besten
die Gemeinde zum Träger der Bühnen machte. Ob die
Gemeinden dann vom Erträgnis einen mehr oder weniger
großen Teil an den Staat abzuliefem hätten, ist eine finanz¬
politische Angelegenheit, die in unsere ästhetische Betrach¬
tung nicht hineingehört. Den Bedürfnissen der Kunst wäre
Genüge geschehen, wenn man den Gemeinden das Recht
einräumen würde, den Spielplan nach ihrem eigenen Er¬
messen zu gestalten, damit ein Dramatiker, der aus irgend¬
welchen Gründen der Weltanschauung oder der persönlichen
Verhältnisse in der einen Gemeinde ausgeschlossen wäre,
mit Erfolg an eine andere appellieren könnte. Es gibt in
Deutschland so viele große Gemeinden, daß die ästhetische
Bevormundung des Dichters auf diese Weise so weit herab¬
gesetzt sein würde, wie sie auf dieser unvollkommenen Erde
überhaupt herabgesetzt werden kann. Wir betrachten es dabei
als selbstverständlich, weil es unmittelbar aus der Natur der
Sache fließt, daß die sozialisierten Gemeindebühnen eben
in die Hand der Gemeinde gelegt würden, nicht etwa in
die Hände der Schauspieler, die zufällig an ihnen engagiert
sind. Die Gemeinde setzt sowohl den Literarischen als den
schauspielerischen Leiter der Bühnen ein und ist den Wählern
gegenüber verantwortlich, die mit dem Stimmzettel in der
Hand ihr demokratisches Urteil über die künstlerische Füh¬
rung der Geschäfte abzugeben haben. Ebenso betrachten
wir es als selbstverständlich, daß die von der Gemeinde
angestellten und von den Wählern gebilligten Direktoren
mit den Machtbefugnissen auszustatten wären, ohne die über¬
haupt kein Betrieb, am allerwenigsten aber eine Bühne ge¬
leitet werden kann. Demokratie bedeutet, daß eine Regierung,
in diesem Falle also eine Theaterregierung, dem Volke gegen¬
über verantwortlich ist, sie bedeutet aber glücklicherweise
durchaus nicht daß ein Sozialisierter Betrieb an einer Anarchie
der zufällig Angestellten zugrundegehen sollte. Wenn die
Regierung eine Theaterreform im Sinne der vorstehenden
Zeilen sofort programmatisch ankündigen würde, um sie
dann nach Maßgabe der Kräfte so schnell wie möglich in
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1306
Bücherschau.
Angriff zu nehmen, würde sie nach unserem Ermessen nicht
nur der Sache der Kunst, sondern auch ihrer eigenen politi¬
schen Geltung einen außerordentlich wesentlichen Dienst
leisten. '
Bücherschau.
Dr. Alfred H. Fried: , 7 Weltprotest gegen den Versailler
Frieden Neuer Geist, Verlag. Leipzig 1920. Preis
M. 6 .—.
Haß, Rache und Beutelust sprechen aus dem Versailler
Vertrag, aber eine neue Welt kann aus diesen Elementen
nicht gebaut werden. Eine neue menschliche Gemeinschaft
wird nur erstehen, wenn alle Völker mit den alten Götzen
der Macht brechen und sich zu der Idee bekennen, die sich
heute in Deutschland zur höchsten Vollendung durchzuringen
scheint: zur sozialen Menschwerdung! Diese großen Ge¬
danken und Ideen sind in der Tat noch heute lebendig. Und
daß sie trotz des Triumphes der Macht und des feindlichen
Militarismus von jenseits der Grenzen zu uns herüberklirigen,
das ist der große Trost des deutschen Volkes und ein
Lichtstrahl in unserem Dunkel. Wie Frieds Buch zeigt, sind
auch bei den feindlichen Völkern Stimmen da, die ihren
Widerspruch gegen den Versailler Frieden erhoben und die
einen Geist der Versöhnung, der Verständigung und eines
reinen Menschentums atmen, daß sie jeder Deutsche mit
Erschütterung und Bewegung lesen wird. Nach den einzelnen
Ländern geordnet, sind in dem Buch Artikel hervorragender
Persönlichkeiten, Aeußerungen bekannter Politiker und Jour¬
nalisten, die Protest? großer Zeitungen, die Resolutionen
von Parteien und Gruppen, die Kundgebungen internationaler
Körperschaften Kongresse usw. enthalten, die sich gegen
den Gewaltfrieden von Versailles aussprechen. Es bleibt das
große Verdienst des tapferen Herausgebers, der auch im
Kriege niemals an der Idee der Verständigung und Völker¬
gemeinschaft schwankend geworden ist, diese Dokumente der
Wahrheit und des Mutes vereinigt zu haben, damit alle
Länder und alle Völker diese Stimmen vernehmen und das
wahr gemacht wird,- was der französische Sozialist Marcel
Cachin in der „Humaiiite“ forderte: „Dieser Vertrag muß
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Öücherschau.
1307
neu gemacht werden. Die Völker waren nicht anwesend
bei der prunkvollen Zeremonie jm Spiegelsaal zu Versailles.
Diese Unterschriften, die in dem Palast ausgetauscht wurden,
sind nicht Unterschriften der Völker.“
Wir wollen sie aber auch nicht überschätzen. Oft stehen
Millionen- Menschen hinter solchem Protest, aber ihre Macht
ist noch nicht groß genug, sich durchzusetzen. Erst wenn
alle Völker einsehen, daß Versailles 1919 nicht der Anfang
einer glücklicheren und friedvolleren Welt »bedeutet, sondern
nur zerrissene, nicht lebensfähige und verarmte' Völker und
Staaten geschaffen hat, dann werden sie von selbst den
Vertrag ändern. Den längsten Widerstand werden wir von
der französischen Bourgeoisie zu erwarten haben. Zu nahe
war sie dem Zusammenbruch, zu ungeheuer hat das fran¬
zösische Volk unter dem Sieger jahrelang gelitten, zu tief
hat sich der Haß und die Rache für alles Leid in die Seele des
ganzen Volkes eingefressen. Darum »klingen erst wenige
Französische Stimmen zu uns herüber. Mit innerster Anteil¬
nahme wird man die Aeußerungen eines Marcel Cachin, eines
Lucien Leaute, eines Jean Longuet, der Männer der Clarte,
die Stimmen jn der „Humanite“, „Bataille“, „Feuille“, dem
„Populaire“ lesen, in denen der Friede als ein Werk scham¬
loser Raubgier und niederträchtiger Rachsucht bezeichnet
wird.
Auch in England und Amerika gibt es viele Männer und
Frauen, die-den Vertrag ablehnen. Auch in diesen Ländern
spielen sittlichhe Bedenken eine große Rolle, und man braucht
nur Namen wie Henderson, Jerome, Arthur Ponsonby, G.
Bernard Shaw, Smuts, Snowden zu nennep um das rein
menschliche Empfinden zu dokumentieren. Senr tapfer haben
von Anfang an alle englischen Arbeiterparteien zu Deutsch¬
land gestanden, und schon am 8. Mai 1919 erklärte die
Independent Labour Party: „Die Bedingungen, die die Alli¬
ierten der deutschen Republik auferlegen, tragen mit Unrecht
den Namen Friedensvertrag. Er ist eine kapitalistische, mili¬
taristische und imperialistische Last.“ Und für Amerika sei
außer den Sozialisten auf den Protest der Mitglieder der
Friedenskommission verwiesen/von denen besonders der Brief
des Mitgliedes Bullit an Wilson bekanntgeworden ist, in
dem es unter anderem hieß: „Es erscheint mir als die
Pflicht der Regierung der Vereinigten Staaten, zum Besten,
unseres Volkes und für das Glück der Menschheit die Unter-
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1308
Bücher sch au.
schrift unter diesen ungerechten Vertrag, den Beitritt zu die¬
sem Völkerbund und damit ein engeres Zusammengehen mit
Frankreich zu verweigern.“
Aehnlich lauten auch die Stimmen aus den anderen Län¬
dern der Welt und aus den neutralen Staaten. Die Regierun¬
gen der feindlichen Länder haben sie überhört. Aber uns
Deutschen darf die Hoffnung nicht untergehen, daß sie einst
von allen Völkern begriffen werden, und daß dann der „Sieg
des Weltorganisationsgedankens, die Idee der Völkergemein¬
schaft und der Sieg der Demokratie in der Welt der Weg
ist, der allein zur Befreiung Deutschlands von dem Versailler
Frieden führen kann“. Dr. Friedrich Th. Körner.
*
Dr. Friedrich Ritteimeyer: „ Zur innersten Politik .“ Verlag
Chr. Kaiser. München 191 Q._
Die kurze, aber inhaltsvolle Schrift, behandelt das alte
und doch immer neue Thema: Christentum und Sozialismus.
Der Verfasser sieht in der* Botschaft Jesu nicht nur etwas
Dogmatisches, sondern den Ruf nach Gemeinschaft: „In der
Arbeiterbewegung, in dem Erwachen Zur Menschlichkeit steckt
ein Stück vom Kommen Christi auf die Erde“ (Seite 10).
Ritteimeyer sieht klar, daß wir für weite Gebiete unseres
Wirtschaftslebens „einer Sozialisierung und Demokratisierung
entgegengehen“ und fordert die Unternehmer auf, diesem
Streben freiwillig und im Geiste der Brüderlichkeit entgegen¬
zukommen (Seile 13). '
*
Dr. Erwin Steinitzer: Bürgertum und Revolution .“ Verlag
der Kulturliga. Berlin 1919. Preis M. 1.—.
Das Büchlein ist ein Versuch, vom aufgeklärten bürger¬
lichen Standpunkt den Gang (der deutschen Revolution zu
beleuchten. Dem Zwang der Verhältnisse gehorchend, plä¬
diert der Verfasser schließlich für die Vertretung der Ar¬
beiter in der Geschäfts Verwaltung, da dies das einzige Mittel
sei, „den Gegensatz zwischen leitender und ausführender
Arbeit an der Wurzel zu beseitigen und der Solidarität aller
Träger im Produktionsprozeß die breiteste Basis zu sichern“
(Seite 21).
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ZWISCHEN
DEN GEFECHTEN
von
PHILIPP SCHE1DEMANN
Elegant gebunden
Preis 10 Mark
und 20% Teuerungszuschlag
Aus den Tagen der Kindheit
führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre
des reifen Mannesalters. Scheidemann selbst hat r— vielleicht
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen
Entwicklungsgang beschrieben.
Bezug durch alle Buchhandlungen
sowie direkt vom
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
BERLIN SW 68
LINDENSTR. 114
Postscheckkonto Berlin 27576
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1
Fortsetzung unserer Sozialwissenschaftlichen Bibliothek!
Band 15:
Die deutsche Beaoiteobeweguog
nach der Revolution
Von A. Falkenberg
Referent für Beamtenfragen im Reichsministerium des Innern
; Preis:
kartoniert Mark 3,—
gebunden Mark 4,50
und 20% Teuerungszusdilag
Schildert den Demokratisierungsprozeß unserer Beamtenwelt als
Wirkung des Weltkrieges und der deutschen_Revoluiion. Bei der
hervorragenden Wichtigkeit einer im Geiste der Revolution wir¬
kenden Staatsverwaltung dürfte diese Schrift von größtem Interesse
für die weitesten Kreise sein.
Die Bibliothek wird fortgesetzt
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
BEiRLIN SW 68 POSTSCHECKKONTO 275 76 LINDENSTR. 114
Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin
Druck und Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, Lindenstraße 114.
Fernruf: Moritzplatz Nr. 2218, 1448—1450.
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g für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68
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DIE GLOCKE
Sozialistische Wochenschrift v
Herausgeber: Parvus
Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post
oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Ulfe. 6,—,
Einzelhefte 50 Pf., Porto 5 Pf.
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
Berlin SW 68, Lindenstr. 114. Postsdieckfeonto: 27576 Berlin
INHALT DIESER NUMMER:
Prof* Dr. H. Kantorowicz (Freiburg): Deutsch*-
lands Interesse am Völkerbund ...... 1309
Oberlehrer Dr« Erich Witte: Elternbeiräte . . 1313
X. X. X.: Das arbeitslose Einkommen . . . . 1318
Arthur Heichen: Der nationale Gedanke und die
Sozialdemokratie . ..1321
Parvus: Philister über mich!.*. 1331
Bücherschau: „Im Tollhause“ . . . . . . . 1339
Nummer 41 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt:
Peter Knute: Versailler Staatenbaukunst . . . 1277
Theodor Schmidt: Wer hemmt den volkswirt¬
schaftlichen Wiederaufbau Deutschlands? . . 1281
Dr. Friedrich Markus Huebner (im Haag): Ent¬
stehung der Clartd-Bewegung.1290
Erich Schlaikjer: Die Sozialisierung der Bühnen 130l
Bücherschau: „Weltprotest gegen den Versailler
Frieden“.1306
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42. Heft 17. Januar 1920 5. Jahrg.
Nadidrudc sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet
Prof. Dr. HERMANN KANTOROWICZ (Freiburg):
Deutschlands Interesse am Völkerbund.
MANNIGFACH sind die Gegner des Völkerbunds in
Deutschland; am zahlreichsten unter ihnen aber dürfte
das altbekannte Geschlecht der Gefühlspolitiker vertreten
sein. Unter diesen sind sowohl verstiegene Ideologen als
reine Machtmenschen. Die Ideologen sagen: Alles oder
Nichts! Der Völkerbund, wie er bisher geplant ist, sei
eine Schöpfung der Gewalt, ein Werkzeug der Herrsch¬
sucht der einen zur Unterdrückung der anderen; wir wür¬
den uns besudeln, wenn wir (uns an ihm beteiligten, gleich¬
viel, ob auf der einen od(er der anderen Seite. Oder auch:
erst müßten wir im Innern alle Gewalt und allen Kampf
beseitigen, erst die Herzen mit Liebe erfüllen, dann möge
die Organisation nachfolgen. Die Macktmenschen wettern
gegen das Werk, das der Betrüger Wilson ausgeheckt, der
Verführer Erzberger empfohlen habe — was könne aus
solchen Händen anders als für Deutschland Schädliches ent¬
springen ?
Der Politiker sucht zwischen beiden Lagern seinen Weg.
Er ist vor allem durchdrungen davon, daß er wirken will,
und daß er die Verantwortung übernehmen muß für das,
was er tut und läßt. .
Deshalb wird er den Ideologen die Frage vorlegen, ob sie
wirklich warten wollen, bis in unsem Herzen das Tausend¬
jährige Reich angebrochen ist, also gerade bis zu jenem
Tage, lan dem der Völkerbund, wie jede Vorkehrung gegen
das Unrecht, überflüssig geworden sein würde, und ob sie
nicht lieber versuchen wollen, aus dem unvollkommenen, ja
in vielem nichtswürdigen Werk von Versailles etwas zu
machen , was den Namen Völkerbund verdient. Gerade, weil
er so nichtswürdig ist, müssen wir hinein, um ihn zu ver-
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1310
Deutschlands Interesse am Völkerbund.
bessern; wäre er vollkommen, und also auch gerecht ver¬
waltet, gerade dann könnten wir zur Not draußen bleiben
und seine Entscheidungen mit derselben Ruhe abwarten, mit
der ein unschuldig Angeklagter dem Spruch des gerechten
Richters entgegensieht. Der ideologische Standpunkt führt
zu schönklingendem Redeschwall oder zu wehleidiger Ver-
- zweiflung, aber nicht zu schaffender, aufbauender Tat, und
die tut not — not für Deutschland, not für die leidende
* Menschheit. * ,
Den Machtmenschen gegenüber wird der Politiker nicht von
Menschheit reden — er hätte dann bei ihnen ausgespielt,
ehe er angefangen. Er wird allein Deutschlands Interesse
betonen, Und da gilt es die Frage so zu stellen, wie sie der
Politiker stellen muß: würden jene, wenn es allein von
ihrem Willen abhinge, ob der Völkerbund zustandekommt,
oder ob Deutschland aufgenommen wird, es verantworten
können, abzulehnen? Erwidern sie: „dann freilich nein“,
dann sind sie entlarvt: entlarvt als - „verantwortungslose“
Schimpfer im eigentlichen Sinne des Wortes, als „Oppositions¬
partei“ in jenem üblen Sinn, die nur deshalb krakeelt, weil
sie weiß, es geschieht ja doch, was sie bekämpft, und ihr
bleibt nur die dankbare Aufgabe, sich den unvermeidlichen
Unvollkommenheiten des Geschehenen gegenüber die Hände
in Unschuld zu waschen. Erwidern sie aber: „Ja, wir könn¬
ten es verantworten“, nun dann würden sie einfach nicht
wissen, was sie tun. Denn sie würden damit aufs schwerste
eben jenes deutsche Interesse schädigen, das sie für den
einzigen Leitstern * ihres Handelns ausgeben.
Rechnen wir kühl zusammen, was uns der Völkerbund
bietet , schon jetzt in der elenden Form bietet, die ihm
die Machtmenschen von Versailles, nachdem sie Wilson an
die Wand gedrückt, gegeben haben. Lassen wir uns durch
diese elende Form nicht abschrecken, uns in Gedanken und
hoffentlich auch bald durch die Tat mit dem Völkerbund zu
befassen. Fragen wir also: was; nützt der Völkerbund schon
in der jetzigen Form Deutschland, sobald es Mitglied wird,
und was, sogar schon ehe es Mitglied ist? Betrachten wir,
ohne vollständig sein zu wollen, den zweiten Punkt zuerst,
wie er sich nach dem Friedens vertrag darstellt, denn so
groß ist die sittliche Macht des Völkerbundsgedankens, daß
er selbst in die Hölle dieses Vertrages einige verklärende
Lichtstrahlen senkt.
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Interesse am Völkerbund.
1311
Der Völkerbund ist es, nicht Belgien, der nach Artikel
34 entscheidet, ob und inwieweit Belgien die Kreise Eupen
und Malmedy, nachdem die Bevölkerung abgestimmt haben
wird, an Deutschland zurückgeben muß.
Der Völkerbund ist es, nicht Frankreich, dem nach Ar¬
tikel 49 die Regierung des Saarbeckens anvertraut ist, und der
nach Paragraph 35 der Anlage zu Artikel 50 unter Be¬
rücksichtigung der Volksabstimmung nach 15 Jahren ent¬
scheiden wird, ob und inwieweit das Gebiet unter seiner
Souveränität verbleiben oder an Frankreich fallen oder an
Deutschland zurückgegeben werden wird.
Der Völkerbund ist es, der nach Artikel 102 und 103 die
Freie Stadt Danzig unter seinen Schutz nimmt, ihr die Ver¬
fassung ausarbeiten hilft und diese gewährleistet, Danzig
also vor Polen schützt.
Der Völkerbund ist es endlich, der nach Artikel 80 Deutsch¬
land" von der Verpflichtung entbinden kann, Oesterreich aus
Deutschland fern zu halten.
Ich glaube, daß diese Aufzählung allein genügt, um vor
der Verantwortung zurückschrecken zu lassen, das Zustande¬
kommen des Völkerbundes zu verhindern. Freilich — die
deutsche Macht ist so gering, daß sie nicht einmal immer
ausreicht, uns zu schaden ; der Völkerbund kommt auf jeden
Fall zustande, und so scheint es. denn überflüssig, daß wir
sein Zustandekommen fordern und fördern. Aber es scheint
nur so: denn was nützen die besten Grundsätze, zumal in
der Hand teilweise übelwollender Richter, wenn sie schlecht
angewandt werden ? Und da ist klar, daß ein Deutschland, das
dem Völkerbund innerlich ablehnend und äußerlich feindlich
gegenübersteht, von den Organen des Völkerbundes keine
wohlwollende Anwendung jener an sich wertvollen Grund¬
sätze zu erwarten hat. wir müssen also schon aus diesem
Grunde, um unseres Vaterlandes' willen, uns. innerlich mit
dem Völkerbundsgedanken durchdringen, solange wir draußen
stehen müssen.
Noch größer aber sind die Vorteile für uns, sobald wir
!Mitglied werden . Geschieht das, so ist Deutschland zwar
noch nicht Mitglied des „Rats“ des Völkerbundes, dem die
maßgebliche Leitung und Entscheidung der meisten Ange¬
legenheiten zusteht. Notwendige Mitglieder sind bekanntlich
nur, was üb.rigens begreiflich ist, die fünf einzigen noch
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1312
Deutschlands Interesse am Völkerbund.
übrig gebliebenen Großmächte, und das sind alles unsere
Feinde. Auch ist nicht anzunehmen, daß Deutschland sehr
bald von der Bundesversammlung zu einem der vier daneben
noch vertretenen Bundesmitglieder erwählt werden wird.
Wohl aber ist der Rat nach Artikel 4 verpflichtet, Deutsch¬
land jedesmal zu seinen Sitzungen zuzuziehen, wenn eine
Deutschlands Interessen besonders berührende Frage auf der
Tagesordnung steht. Nichts also kann der Völkerbund gegen
uns unternehmen, ohne uns vorher in Rede und Gegenrede
zu hören, und da der Rat einstimmig entscheiden muß,
würde es genügen, auch nur eines der neun Mitglieder von
unserem guten Rechte zu überzeugen, um jeden ferneren
Anschlag zu verhindern. Noch wichtiger ist Artikel 10, der
alle Bundesmitglieder verpflichtet, „die Unversehrtheit des
Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller
Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren An¬
griff Zu wahren“. Hiermit soll zwar in erster Linie der
Raub von Versailles verewigt werden, wird aber auch anderer¬
seits erreicht, daß Deutschland gegen noch weitere Beraubung
und weitere Beeinträchtigung seiner Unabhängigkeit geschützt
ist. Würde aber dennoch ein Bundesmitglied unter» Verletzung,
der hemmenden Bestimmungen dies Bundes, die jeden Krieg
zu einer rechtlichen oder psychologischen Unmöglichkeit
machen wollen, zum Angriff auf Deutschland schreiten, so
wäre der Fall des Artikel 16 gegeben, und wären alle
anderen Staaten verpflichtet, den Friedebrecher mit allen
diplomatischen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen
Zwangsmitteln entgegenzutreten. Weiter eröffnet Artikel
19 die Aussicht auf „Nachprüfung“ der „Internationalen
Verhältnisse“, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden ge¬
fährden könnte“, also in erster Linie des Versailler Gewalt¬
friedens. Endlich kann nach Artikel 164 nur der Rat des
Völkerbundes dem neuen Mitglied Deutschland gestatten, seine
Heeresstärke jütier das Maß des; Friedensvertrages zu ver¬
mehren: da nun der Vertrag das deutsche Heer auf 100 000
Mann beschränkt und diesem Generalstab, Kriegsakademie,
Mobilmachungspläne, die gesamte schwere Artillerie, das;
ganze Flugzeugwesen, die Kampfgase und Sturmwagen nimmt,
den Nachbarn aber gar keine Beschränkung auferlegt, so
wäre Deutschland schütz- und wehrlos selbst dem kleinsten
Nachbar ausgeliefert, wenn nicht-der Völkerbund und damit
das Recht schützend eingreifen würde.
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Elternbeiräte.
1313
Wer also das Zustandekommen des Völkerbundes oder
Deutschlands Eintritt verhindern möchte, der will unsere
Brüder in Eupen—Malmödy den Belgiern, will das Saar¬
becken den Franzosen, Danzig den Polen und Oesterreich
den Tschechen und Serben ausliefern; der will uns schutz¬
los zerfleischen lassen von Franzosen, Polen Tschechen, so¬
bald es ihnen beliebt, Über uns her zu fallen, der will den
SChmachfrieden von Versailles verewigen. Er besorgt also
das Geschäft unserer unversöhnlichen Feinde in Frankreich
und Belgien, die ebenfalls Deutschlands Eintritt in den Bund
am liebsten dauernd verhindern möchten. Diese Feinde wissen
sehr genau, was sie wollen. Deutschlands Feinde im Innern,
das sei zu ihrer Ehre anerkannt, wissen das nicht. Nein, sie
wollen nicht, daß die aufgewiesenen, vernichtenden Schädi¬
gungen eintreten, sie wollen im Gegenteil, daß sich Deutsch¬
land wieder aufrichtet, aber sie wollen zugleich das einzige
Mittel nicht, das vor jenen Schädigungen schützen könnte!
Sie sind also Schwärmer, sind politische Kindsköpfe, durch¬
aus vom Stamme jener, die den Krieg mit England auf dem
einzigen Wege vermeiden wollten, der ihn gerade unvermeid¬
bar machte, dem Wettrüsten zur See, und die den Verständi¬
gungsfrieden jnicht wollten, weil sie nur den Siegfrieden;
gelten ließen, und uns dadurch den Vernichtungsfrieden'
brachten.
Wer kein Schwärmer sein will, sondern ein seiner Ver¬
antwortung bewußter Politiker, der da weiß, was er tut
und tut was er will, der unterstütze umgekehrt die Arbeit
der Deutschen Liga für Völkerbund, die das Verständnis;
erwecken will für die sittliche Notwendigkeit des echten
Völkerbundes, aber auch für die politische Notwendigkeit,
daß Deutschland in den jetzigen Bund eintrete, ohne dadurch
aufzuhören, gegen dessen Mißgestalt entschiedenste Ver¬
wahrung einzulegen.
Oberlehrer Dr. ERICH WITTE:
Elternbeiräte.
[)AS Verhältnis zwischen den Lehrern und den Eltern der
Schüler, das man einmal mit einer unglücklichen Ehe'
verglichen hat, ist oft sehr gespannt. Sozialdemokratische
Eltern hatten auch vor der Revolution mit Recht Veranlas-
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1316
Elternbeiräte.
oder indirekte Kritik der Sozialdemokratie oder der Revolu¬
tion, so teile man dies einem Mitglied des Eltembeirats:
mit, damit der Fall in der nächsten Sitzung besprochen wird.
'Aber man sei vorsichtig, bedenke, daß Kinder noch nicht die
Fähigkeit haben, einen Vorgang wahrheitsgetreu zu schildern.
Daher suche man, wenn es irgend möglich ist, vorher mit
anderen Schülern oder am besten mit dem betreffenden Lehrer
Rücksprache zu nehmen.
Verschiedene Einzelheiten der Verfügung entstammen Leit¬
sätzen, welche die Kommission für Schul- und Erziehungs¬
fragen der S.P.D.-GemeindeVertreter von Groß-Berlin auf
Vorschlag des Genossen Stadtrats Oestreich in Schöneberg
und des Genossen Simson in Wilmersdorf angenommen hat.
Der Verfasser dieser Zeilen gehört auch der Kommission an.
So ist die folgende Vorschrift unsern Leitsätzen entnommen
worden: „Soll bei schwerwiegenden Verfehlungen gegen einen
Schüler (Schülerin) die Verweisung von der Schule ausge¬
sprochen werden oder in das Abgangszeugnis eine Sittennota
aufgenommen werden, welche ihm das Fortkommen erheblich
erschwert, oder ihn in den Augen der Allgemeinheit herab-
setzen würde, so ist mit Zustimmung der Eltern des Schülers
der Elternrat vorher zu hören/*
Besonders häufig sollten die Elternräte die Veranstaltung
von Elternversammlungen anregen. In diesen können Vor¬
träge mit anschließender Aussprache gehalten werden. Gegen¬
stände, die hier behandelt werden könnten, sind zum Beispiel
die folgenden: „Die Aussichten der Berufe**, „Die Erziehung
im Hause**, „Die Beschäftigung der Schüler in den Ferien*,
„Die Politik und die Jugenderziehung**. Aber auch Eltern
können hier Vorträge halten. Ist zum Beispiel ein Vater
Arzt, so ist dieser vielleicht bereit, über die Körperpflege
des Kindes zu sprechen. In solchen Elternversammlungen
haben auch die Lehrer Gelegenheit, die Eltern über manche
Maßnahmen der Schule aufzuklären.
Abgelehnt worden ist der von uns in der erwähnten Kom¬
mission gemachte Vorschlag, den Mitgliedern des Elternbeirats
das Recht zu geben, dem Unterricht beizuwohnen. Da dies
vielen Lehrern unangenehm wäre, würde dadurch die Ein¬
richtung bei ihnen von vornherein unbeliebt sein. Daher
hat wohl das Ministerium davon Abstand genommen. Ich
möchte aber den Schulleiter, den Lehrer sehen, der die
Bitte des Elternbeirats, dem Unterricht beizuwohnen, ab-
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Elternbeiräte.
1317
schlagen würde. Mir ist es angenehmer, wenn Eltern sich 1
durch Hospitieren ein Urteil über meinen Unterricht bilden,
als wenn sie sich nur nach dem richten, was. die Kinder
darüber sagen.
Noch ein anderer Vorschlag unserer Kommission ist nicht
berücksichtigt worden, daß nämlich aus den Eltembeiräten
eines Ortes ein Ortselternbeirat gebildet werden soll, damit
dieser zu allgemeinen örtlichen Schulfragen Stellung nehmen,
kann. Ich bedauere dies" sehr. In der Deputation für das
höhere Schulwesen der Stadt Berlin habe ich die Bildung
eines Ortselternbeirats angeregt, ohne indes viel Anklang
zu finden. Die Vertreter der bürgerlichen Parteien meinten,
es könnte sich eine Rivalität zwischen dem Ortselternbeirat
und der Stadtverordnetenversammlung, bzw. den Schuldepu¬
tationen entwickeln. Von diesem Standpunkt aus müßte man
auch das ganze, in unserer Verfassung verankerte Rätesystem
ablehnen. Ein solcher Ortselternbeirat kann im Gegenteil dem
Stadtparlament wertvolle Anregungen geben. Meiner Ansicht
nach steht ein gesetzliches Hindernis der Bildung eines
solchen Ortselternbeirats nichts im Wege. Die Genossen
und Genossinnen sollten daher in ihren Gemeinden für einen
solchen Ortselternbeirat eintreten. In Berlin selbst ist in
dieser Angelegenheit auch noch nicht das letzte Wort ge¬
sprochen. Später werden dann aus den Ortselternbeiräten
Provinzialelternbeiräte und aus diesen wird wiederum ein
Staatselternbeirat gebildet werden.
Die sozialdemokratischen Lehrer werden in der nächsten
Zeit eine Reihe von Vorträgen über Elternbeiräte halten,
damit sich die Eltern reger an der Wahl beteiligen und in
den Beiräten viele Genossen und Genossinnen vertreten sind.
Meiner Ansicht nach empfiehlt es sich, mit den Unabhängigen]
zusammen eine Liste aufzustellen, damit bei möglichst vielen
Eifernbeiräten eine sozialdemokratische Mehrheit gesichert
ist. In vielen. höheren Schulen werden allerdings die Eltern¬
beiräte ein reaktionäres Aussehen haben. Deswegen sollte
man es nicht verschmähen, an höheren Schulen mit den Unab¬
hängigen und mit den Demokraten zusammen eine Liste auf¬
zustellen, weil man sonst vielleicht, besonders in den kleinen
Schulen und in den westlichen Vororten, keinen Genossen
durchbringen würde.
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1318
Das arbeitslose Einkommen.
X.X.X.
Das arbeitslose Einkommen.
Eine Anregung.
PS ist in letzter Zßit viel geredet und geschrieben worden
über die Gewinnbeteiligung der Arbeiterschaft bei großen
.Werken. In der Hauptsache denkt man dabei wohl an die
Aktiengesellschaften. Im Nachstehenden soll ein Weg ge¬
zeigt weiden, wie denen, die die Arbeit leisten, ein gewisser
Gewinnanteil je nach Höhe des Ueberschusses gesichert wer¬
den kann, während die Geldleiher nicht solch übermäßige
Gewinne einstecken, ihnen jedoch eine angemessene Ver¬
zinsung vorab zugestanden wird. In schlechten Jahren würden
die Arbeitnehmer außer ihrem Lohn und Gehalt allerdings
nichts bekommen, umgekehrt trügen dann die Geldleiher
den Verlust auch allein. Deswegen dürfte auch, wie selbst¬
verständlich, großer Widerstand seitens, der Aktionäre ein-
setzen, ebenso natürlich auch wegen der geschmälerten Ge¬
winnchancen. Da es sich aber um arbeitsloses Zinseinkom¬
men handelt, so ist es nur zu berechtigt, daß hier an dieser
Stelle auch eingegriffen wird, wo es sich darum handelt,
unsere Wirtschaft wieder hochzubirngen. Ich denke mir die
Sache wie folgt:
Vom Bruttoüberschuß eines Geschäftsjahres werden zu¬
nächst, wie üblich, die gebräuchlichen Abschreibungen vor¬
genommen, wobei es Sache der Landesfinanzämter sein sollte,
darüber zu wachen, daß nicht übergroße Reserven geschaffen
werden. Von der übrigbleibenden Summe werden die Steuer¬
rücklagen abgesetzt. Vom Saldo gehen zunächst ab 5 Prozent
Dividende als Verzinsung für das geliehene Kapital, sodann
die statutengemäßen Tantiemen. Der Restbetrag wird wie
folgt auf geteilt in volle 1000 Mark, Dividende nur zu vollen
und halben Prozenten, überschießende Reste werden vor¬
getragen :
12 /24 als Ueberdividende an die Aktionäre,
V 24 an den Aufsichtsrat außer der statutenmäßig fest¬
gesetzten Summe,
V24 an den Vorstand außer den vertragsmäßigen Be¬
trägen,
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Original frorri
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Das arbeitslose Einkommen.
1319
3 / 24 an die kaufmännischen und technischen Angestellten,
7 / 24 an die Arbeiter gleichmäßig nach ihrer Zahl. aber
nur an diejenigen, welche langer als zwei Jahre in
dem Werk arbeiten.
Zwei Durchschnittsbeispiele sollen zeigen, wie diese Lösung
für alle Teile günstig sein kann, immer vorausgesetzt natür¬
lich, daß die Aktionäre nicht übermäßige Gewinne einzü-
stecken brauchen, sondern, daß diejenigen, welche die Ar¬
beit leisten, auch ihren Verdienst haben müssen, wozu frei¬
lich auch Aufsichtsräte und Vorstände gehören:
Der Gewinn einer Aktiengesellschaft mit 6 000 000 Mark
Kapital betrage nach Abzug der Abschreibungen 1 400 000
Mark (und nabe im Vorjahre betragen 1 300 000 Mark),
dann sind zurückzustellen für Mehrgewinnsteuer etwa 60
Prozent von 100 000 Mark = 60 000 Mark, bleibt Rest
1 340 000 Mark. Nun erhalten die Aktionäre zunächst 5 Pro¬
zent Dividende = 300 000 Mark, bleibt Rest 1 040 000 Mark;
Tantieme 25 000 Mark, bleibt 1 015 000 Mark : 24 gleich
42 291 = je 42 000 Mark auf V 24 * Für Ueberdividende
macht das 504 000 Mark, in vollen Prozenten = 8 Prozent,
Rest 24 000 Mark als Vortrag, restl. 24x291,66 des, Ge¬
winnanteils der arbeitenden Werksangehörigen ebenfalls zum
Vortrag = 7000 Mark. Der Gesamtnettoüberschuß verteilt
sich also auf:
a) Steuern an das Reich (Vortrag) . 60 000 Mark
b) Einkommensteuer (unter Geschäfts¬
unkosten verbucht). — „
c) Vortrag ins nächste Jahr .... 31 000 „
Vortrag 91 000 Mark
d) 13 Prozent Dividende. 780 000 „
e) 25 000 Mark + 42 000 Mark Tan¬
tieme . 67 000 „
f) 42 000 Mark an den Vorstand ... 42 000 „
g) 126 000 Mark an die Angestellten . 126 000 „
n) 294 000 Mark an die Ar beiter . . 294 000 „
Summa 1 400 000 Mark
Von beiläufig 100 Angestellten erhielten jeder 1260 Mark,
von 800 unter 1000 Arbeitern jeder 367 Mark.
42/2*
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1320
Das arbeitslose Einkommen.
Bei kleinerem Gewinn stellt sich die Sache natürlich
wesentlich ungünstiger. Ein Beispiel: Bei den gleichen übri¬
gen Ziffern betrage der Gewinn nur 600 000 Mark, dann
kommen wir zu folgendem Ergebnis (die Reserven seien auch
hier als bereits gefüllt betrachtet):
600 000 Mark
Mehrgewinnsteuer (Gewinn im Vorjahr
500 000 Mark) etwa. 36 000
564 000 Mark
5 Prozent Dividende. 300 000
264 000 Mark
Tantieme . . . .. 25 000
239 000 Mark
D /2 Prozent Ueberdividende. 90 000 Mark
'Aufsichtsrat. 9000 „
Vorstand. 9 000 „
Angestellte (je 270 Mark). 27 000 „
Arbeiter- (je 78,75 Mark) ...... 63 000 „
198 000 Mark
Vortrag.. 41000 „
wie oben 239 000 Mark
Oder aber die Summen werden für die Arbeiter und An¬
gestellten so klein, daß sie besser auf das nächste Jahr
vorgetragen werden, wenn nicht gar ein Verlust eintritt. Aber
gerade dies soll der moralische Trieb bei dieser Idee sein,
aut die Weise würde jeder ein Interesse am Verdienst des
Betriebes haben und selbst die Aktionäre, die natürlich ge¬
waltig schimpfen würden, sollten weiter blicken und den
süßen Kern dieser scheinbar bitteren Pille zu schmecken
versuchen. Manche Werke wirtschaften nur deshalb nicht
nutzbringend, weil unter ihren Werksangehörigen allgemeine
Wurstigkeit herrscht. Dies brauche ich ja wohl nicht näher
auszumalen.
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1321
Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie.
ARTHUR HEICHEN:
Der nationale Gedanke und die
Sozialdemokratie.
QCHON vor dem Kriege waren in der Sozialdemokratie
Bestrebungen im Gange, dem nationalen Gedanken mehr
Zugeständnisse zu machen, als es der überlieferten Partei¬
ideologie entsprach. In Oesterreich war es vor allem der
Kreis derer um E. Pernerstorffer und K. Leuthner, die
sich bemühten, die nationale Seite der Sozialdemokratie be¬
wußt herauszukehren. Dort auch waren diese Bestrebungen
als Ausfluß der k. u. k. Monarchieverdrossenheit, des Aus-
einanderstrebens der einzelnen Völker und der Spekulation
aut den doch schließlich einmal eintretenden Zerfall der
Monarchie, sowie als Reaktion auf den die politische
Partei ebenso wie die Gewerkschaftsbewegung zersetzenden
Separatismus der Austroslawen durchaus verständlich. Im
Deutschen Reich machten sich einzelne Revisionisten, die
Männer wie Schippel, Quessel und vor allem Dr. Arthur
Schulz, der Agrarsozialist der „Sozialistischen Monatshefte“,
zu Sprachrohren dieser Stimmungen. Ob diese Bestrebungen
damals sonderlich förderlich waren, ob wirklich eine Re¬
vision der sozialdemokratischen Politik in dieser Richtung
notwendig und angebracht war, lassen wir dahingestellt.
Wir persönlich bezweifeln es, denn an sich lag damals eigent¬
lich kein rechter Grund für eine veränderte Haltung der
Partei vor — dazu fehlte eins, wonach der Marxist letz¬
ten Endes unausweichlich fragen muß, eine entsprechende
Veränderung und Verschiebung der ökonomischen Struktur,
der volks- und weltwirtschaftlichen Stellung des deutschen
Volkes und des deutschen Proletariats. Ohne eine solche
war aber ein Wechsel in der politischen Ideologie der deut¬
schen Sozialdemokratie nicht zu rechtfertigen und aus diesem
Grunde waren schließlich die Radikalen nicht ganz im Un¬
recht, wenn sie den nationalen Revisionisten ihre Abirrung
zum „Sozialimperialismus“ des öfteren vorwarfen und
diesen als eine letzte Auswirkung des damals alle Volks¬
schichten und auch einzelne Sozialisten erfassenden bürger¬
lichen Imperialismus in Mißkredit brachten. So lagen die
Dinge damals! — Aber wie liegen sie heute? Indem wir
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1322
Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie.
dabei dem Worte Lassalles folgen und aussprechen, was ist,
ohne auf das Achselzucken und Kopfschütteln von rechts
und links zu achten, geraten wir hoffentlich nicht in Ver¬
dacht, unsere Feststellungen mit Rücksicht auf die nationa¬
listische Donquichotterie, die weite Kreise unseres Volkes
zu erfassen droht, zu machen.
Um eine neue Tatsache wird die Weltgeschichte jeden¬
falls reicher. Mitteleuropa, Deutschland und Deutschöster¬
reich, sind in jähem Sturz aus dem Kreise der westeuropäi¬
schen Völkeroligarchie in den tieferen Kreis des Völker¬
proletariats hinabgesunken. Nein, recht eigentlich konstituie¬
ren sie erst das „Völkerproletariat“ schlechthin, denn Kultur¬
völker, die sich zueinander verhalten, wie der mittelalterliche
Pfahlbürger und Zunftgeselle zum Patrizier oder wie der
moderne Lohnarbeiter zum Kapitalisten, also proletarische
Kulturvölker, hat es bis zum Weltkrieg überhaupt nicht
gegeben. Wohl gab es gewisse Ausbeutungsverhältnisse der
westeuropäischen Industriestaaten zu ihren Kolonialländem
und Interessensphären; wohl war es so, daß Westeuropa-
Amerika Handelsgewinn und Indüs trieprofit, den internatio¬
nalen Mehrwert also, in seine Tasche steckte und die kolo¬
nialen Völker auf Lohn gewissermaßen setzte, schließlich'
aber ist dabei nicht aus dem Auge zu verlieren, daß die kolo¬
nialen Völker der Sphäre der Unkultur oder Halbkultur
kaum entstiegen waren, daß im Gegenteil jenes imperialisti¬
sche Profitsystem (vom Verhältnis England-Indien vielleicht
abgesehen!) den Aufstieg dieser Völker nicht hinderte, son¬
dern förderte, also in der Linie des Kulturfortschritts lag
und historisch betrachtet, einfach notwendig war. Nicht
Verelendung, sondern gradweiser Aufstieg war das Entwick¬
lungsziel. Die Proletarisierung Mitteleuropas aber hat aus¬
gesprochenen Verelendungscharakter und ist der diametrale
Gegensatz zum Kulturfortschritt: weil sie sich nämlich an
einem Kulturvolk katexochen vollzieht, dessen Kulturstandard
und Lebenshaltungskurve nunmehr jäh und abrupt nach unten
führt. Die breiten Massen mußten und müssen darauf zu¬
nächst mit der sozialen Revolution reagieren, mit dem Klassen¬
kampf nach innen, der keinen anderen als den sehr realen
Sinn hat, den nationalen Mangel, das deutsche Elend zu ra¬
tionieren, die Schwere unserer Kriegs- und fremdländischen
Verpflichtungen möglichst gleichmäßig auf die tragfähigen
Schultern zu verteilen. Rathenau nennt dies die Revolution
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Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie.
1323
des Güterausgleichs. In der Tat, keinen anderen Ausweg
gibt es, als auf eine Abtragung der Einkommensunterschiede
und Besitzverhältnisse hinzuwirken (und unsere Steuergesetz¬
gebung ist auf dem besten Wege dahin!), wenn nicht anders
breiteste Massen unseres Volkes über den Rand des Existenz¬
minimums hinaus in düsterstes Elend getrieben werden sollen.
In diesem Sinne bezeichneten wir die moderne Staatsverschul¬
dung in unserem Beitrag „Finanzsozialismua“ in Nummer 30
der „Glocke“ als die stärkste Triebkraft zum Sozialismus,
die sich geltend machen muß, nicht weil irgendein „Parla¬
mentsblock“, eine nebulöse „Volksmehrheit“ dies will, son¬
dern weil die Eigengesetzlichkeit der Dinge dies gebieterisch
verlangt. Sogar ein wahnwitziger alldeutscher General, dem
es vielleicht gelingen sollte, sich heute oder morgen zum
Diktator Deutschlands aufzuwerfen, müßte diese Tatsache,
so unsympathisch sie ihm innerlich erscheinen mag und so
sehr sie seinen bürgerlich-kapitalistischen und feudalen Hinter¬
männern wider den Strich geht, bis zu einem gewissen Grade
anerkennen. Mit der Länge der Zeit, unter den steuerlichen
und finanzpolitischen Auswirkungen der deutschen Staats¬
verschuldung und des diese als Angriffshebel benutzenden
proletarischen Klassenkampfies, geht also der deutsche Volks¬
wohlstand und das Volkseinkommen seiner Einebnung ent¬
gegen, Dieser wirtschaftliche Ausgleich schafft je länger
desto mehr die Voraussetzungen der ökonomischen Gleich¬
heit und damit die Beseitigung und Aufhebung der Klassen¬
unterschiede. Das deutsche Volk wird einheitlich und pro¬
letarisch homogen — wenigstens im Vergleich zu den übrigen
westeuropäisch-amerikanischen Völkern. Das deutsche Volk
wird das Weltproletariat schlechthin; zwar ist auch der
englische und amerikanische Arbeiter nach der formalen Seite
seines Arbeitsverhältnisses Proletarier, nach der materiellen
Seite seiner Lebenshaltung aber ist er im Vergleich zu seinem
deutschen Klassengenossen ein feister, wohllebender Bour-
§ eois, und selbst alle wirtschaftlichen Freiheits- und Selbst¬
estimmungsrechte können daran keinen Deut ändern. Und
schließlich sind es doch die materiellen, nicht die formellen
Tatsachen, die im sozialen Leben entscheiden; daß die ökono¬
mischen Voraussetzungen für die Intemationalität der Ar¬
beiterklasse zerstört und aufgehoben sind, erwähnen wir
nur nebenbei. Wir konstatieren dies nur, obgleich dies für
jeden Marxisten eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Damit
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1324 _ Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie,
aber kommen wir zum Kerne unserer Ausführungen. Waren
die Völker bisher in sich in Klassen gespalten, so endet das
Debakel des Weltkrieges mit einer sozialen Umschichtung
der Völker gegeneinander. Im besiegten deutschen Volke
bricht die kunstvolle soziale Pyramide in sich zusammen,
um einer allgemeinen Proletarisierung des ganzen Volkes
und einem allgemeinen Klassenausgleich Platz zu machen.
Das deutsche Volk aber selber rückt im Vergleich zu den
Siegervölkern in die Rolle des ausgebeuteten Lohnarbeiters
und seine historische und glorreiche Aufgabe für die näch¬
sten Jahrzehnte ist die des Mehrwertschwitzens. Um unsere öko¬
nomische Selbständigkeit als Volk ist es dahin, ebenso wie der
Privatkapitalismus einstmals mit der wirtschaftlichen Selb¬
ständigkeit des einzelnen Arbeiters aufgeräumt hat. Der
Kapitalismus organisiert sich auf einer höheren Stufe, näm¬
lich völkermäßig, und sein großer Gegner, das Proletariat,
tut das gleiche. Ganz naturgemäß muß er auf dieselbe Ebene
treten und so geschieht es, daß der Deutsche dem Amerika¬
ner und Engländer und ihren Satrapen dereinst auf jlem
gleichen Fuße begegnen wird wie der Proletarier dem Bour¬
geois einstmals in allen Ländern gleichermaßen, nämlich
auf dem Boden des Klassenkampfes — aber in einem Sozial-
kampt höherer, nämlich nationaler Ordnung. Die Klassen¬
gegensätze löschen die Völkergegensätze nicht aus. Indem
die nationalen Grenzen zu sozialen Grenzen (die früher wenig
sichtbarlich mitten durch die einzelnen Völker hindurch¬
liefen !) werden, indem die Klassengegensätze regionale und
völkerschaftliche Gestaltung annahmen, werden sie natur-
f emäß besonders sichtbar — Landkartenbemalung, Flüsse,
een, Berge kennzeichnen sie. Schon A-B-C-Schützen können
sie lernen und nicht erst bedarf es sozialwissenschaftlicher
Erkenntnis.
Doch halt, daß man uns nicht beim Flunkern ertappe!
Unsere Theorie vom Klassenkampf höherer Ordnung bedarf
noch einiger theoretischer Füllsel. Die privatrechtlichen In¬
stitute des Eigentums und des freien Arbeitsvertrags sind der
theoretisch-juristische Ausdruck für den Kapitalismus nie¬
derer, nicht völkerschaftlich organisierter Ordnung. Der zu¬
nehmende Klassenausgleich, die proletarische Einebnung un¬
seres Volkes barometert sich naturgemäß an Strukturverände¬
rungen — den Vorläufern einer mehr oder minder restlosen
Beseitigung dieser Rechtsinatitute, die zunächst durch „zu-
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1325
Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie.
sätzliche“ Rechtsinstitute (Sozialisierungsgesetze, Steuer¬
gesetze, sozialpolitische Gesetze) eingeengt und eingezäunt
werden, bis ihnen schließlich ihr moralischer Hosenboden
ausfällt. Einzig und allein bei uns ist dieser Prozeß mehr
als einige energische Rucke, ganz besonders unter dem Ein¬
fluß der Revolution, vorwärts geschritten. Der Kapitalismus
höherer Ordnung, der fünferrätlich organisierte Kapitalismus
der Ententevölker, muß sich nun auch ein dieser höheren Ord¬
nung adäquates Rechtsinstitut schaffen und er hat es im
vo/£mechtlichen Institut des Friedensvertrages gefunden. Wie
dessen Einzelinstitute sich benamsen, ob „wirtschaftliche
Bestimmungen“ (Teil X), ob „Finanzielle Bestimmungen“
(Teil IX), ob „Wiedergutmachungen“ (Teil VIII), ob „Poli¬
tische Bestimmungen“ (Teil III), oo endlich „Deutsche
Rechte und Interessen außerhalb Deutschlands“ (Teil IV),
das ist an sich gleichgültig. Aus dem akzidentiellen Drum und
Dran herausgeschält, bleibt ein Rest, zu tragen peinlich,
ein Rest, der seinen imperialistisch-kapitalistischen Charak¬
ter ebensowenig verleugnen kann wie der Neger seine
schwarze Farbe. Und durch alle Artikel blinkt es hindurch:
Ausbeutung — Mehrwerterpressung. Schließlich bleibt es
auch ganz gleichgültig, ob wir unsere Handelsflotte abgeben,
ob wir Vieh liefern, ob wir deutsche Arbeitskräfte, die
der im Heimatland zurückbleibende Teil unterhalten und
besolden muß, zum Wiederaufbau aussenden, ob wir Kohle,
Farbstoffe, Chemikalien, Gold, Maschinen, Vieh liefern oder
fremde Heere unterhalten, die Wirkung bleibt die gleiche:
nämlich die, daß wir ein Produkt unserer nationalen Arbeit
hingeben müssen, ohne einen Gegenwert, nicht einmal einen
Bruchteil der Produktionskosten zurückerhalten — mit einem
Wort, daß wir Mehrwert schwitzen müssen, daß wir zwar
die Ehre haben, nach der Ausfuhrseite unsere ganze Kraft und
unser ganzes Können austoben zu können, nach der Einfuhr¬
seite aber den ge- und verschlossenen Handelsstaat spielen
müssen. Vielleicht kann es uns eine moralische Genugtuung
sein — und besonders Herr Harden kann davon entzückt
sein —, daß uns der Völkerbund in seinem großen Haupt¬
buch diese „Wiedergutmachungen“ als Haben ankreiden wird,
leider kann man sich aber an Wiedergutmachungen nur er¬
freuen, nicht aber davon leben. Das Ergebnis also ist dies:
Das kapitalistische Profitsystem hat sich auf einer höheren
Ordnung organisiert, durch die Entente ist es in ein Völker-
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1326
Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie.
rechtliches Institut gegossen worden. Noch' eine Äehnlich-
keit zwischen jenem Kapitalismus niederer und diesem höherer
Ordnung ist frappant. Das sind ihre beiden moraltriefenden
Tendenzen. In den Erklärungen der Menschenrechte, den
Dokumenten, mit denen die Bourgeoisie die Eroberung der
politischen Macht ankündigte, wurde das Privateigentum und
die „Freiheiten“ der verschiedensten Art (auf die Wirtschäfts¬
und Gewerbefreiheit war naturgemäß am schärfsten ab¬
gestellt!) für „heilig“ und unverletzlich erklärt; sie erhielten
den Glorienschein ewiger und moralischer Kategorien. Das
die Proletarisierung Deutschlands zum Dauerzustand er¬
hebende Institut des Friedensvertrags beginnt mit ähn¬
lichen ethisierenden und moralisierenden Ansprüchen. Der
weltsittenrichterliche Fünferrat redet viel von „gerechter Be¬
strafung“, von „Wiedergutmachung“, mit Geschick versteht
er den enttäuschten Völkern als Ersatz der ungeheuren Blut¬
opfer das Zauberbild des ewigen Friedens an die Wolken zu
spiegeln; doch kann kein pazifistelnder Völkerbund, keine
weltgeschichtlich sich gebärdende Moralpauke das wahrhaft
und einzig reale Fakrnm verschleiern oder aus der Welt
diskutieren, nämlich: die sittenrichterlich drapierte ökono¬
mische Ausbeutung wohl nicht einer bestimmten Klasse, aber
ganzer Völker. Und daß es heute noch Marxisten gibt, die
nicht daran glauben wollen ioder glauben können, daß der
Zusammenprall der imperialistischen Mächte nicht viel anders
enden konnte, als mit der wirtschaftlichen Unterwerfung der
Unterliegenden, ist das verwunderlichste. Mit der völker¬
rechtlich sanktionierten Ausbeutung Deutschlands hat es
jedoch noch keineswegs sein Bewenden. Noch auf anderen,
auf privatwirtschaftlichen Schleichwegen pirscht sich der
fremde Kapitalismus an das deutsche Wirtschaftsleben heran
und schon spricht man von einer beginnenden „Ueberfnem-
dung“ des deutschen Kapitalismus.
Hat die enttäuschte, völkerrechtlich organisierte Mehrwert¬
erpressung ihr moralisches Kleid bekommen, so fehlt bloß
noch eins: fehlen bloß solche braven Ententeökonomen, die
die Völkerausbeutung, also die Aneignung unbezahlter Arbeit
anderer Völker, als naturgesetzlich und naturnotwendig er¬
klären und sie in die Rangstufe ewiger Kategorien erheben,
wie weiland die englischen Bourgeoisökonomen Malthus pp.
das menschliche Elend als dem Bevölkerungsgesetz ent¬
springend als „ewige“ Kategorie erklärten, vielleicht auch
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Der nationale Oedanke und die Sozialdemokratie.
1327
findet der Ententekapitalismus solche gelehrten Sachverstän¬
digen, die nicht imstande sind, die Grenzen der Ausbeutungs¬
und Auspowerungsfähigkeit des deutschen Volkes und der
deutschen Wirtschaft anzugeben, wie der englische Früh-
kapitalismus hilfsbereite Menschenfreunde, Aerzte fand, die
vor dem Parlamentsausschuß erklärten, keine Grenzen für
die Arbeitszeit nach oben angeben zu können. Soweit unsere
Parallele zur moralischen Fassade des Privat- und des Völker¬
kapitalismus. In richtiger Erkenntnis dieser Zusammenhänge
schrieb der „Vorwärts“ am 23. Juni 1919 in dem Leitartikel
„Der Tag des Friedensschlusses“:
„Es ist der historische Beruf der Sozialdemokratie, die
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in jeder
Form zu bekämpfen, nicht nur die Ausbeutung einer Klasse
durch die andere, sondern auch die Ausbeutung eines
Volkes durch das andere. Durch diesen Friedensschluß
erhält unser Klassenkampf ein doppeltes Gesicht: denn
wenn wir auch die Ausbeutung des deutschen Arbeiters
durch das deutsche Kapital beseitigen, wozu uns durch
die Revolution der Weg geebnet ist, so bliebe dennoch
die Ausbeutung der deutschen Arbeit durch den Entente¬
kapitalismus bestehen und würde doppelt drückend in die
Erscheinung treten. — Der Kampf gegen diesen Frieden
bedeutet also ein notwendiges Stuck unseres künftigen
Klassenkampfes. Nicht vom nationalistischen, sondern vom
proletarischen Standpunkt aus ist dieser Kampf als innerste
Angelegenheit der deutschen Arbeiterschaft zu führen.“
Sollte es in nächster Zukunft zu einer Revision unseres
Parteiprogramms kommen, was sich infolge der veränderten
politischen Verhältnisse, sowie so auf die Dauer kaum ver¬
meiden lassen wird, so wäre dieser Gesichtspunkt mit in
die allererste Linie zu rücken. Der Satz unseres Programms:
„Die Sozialdemokratie bekämpft in der heutigen Gesellschaft
nicht bloß die Ausbeutung und Unterdrückung der Lohn¬
arbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdrük-
kung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein
Geschlecht oder eine Rasse“ wird deshalb den neuen Tat¬
sachen nicht gerecht. Wohl ist von Klasse, Partei, Geschlecht,
Rasse, nicht aber von Volk die Rede. — Das deutsche Pro¬
letariat steht also vor der Tatsache des Zweifrontenklassen¬
kampfes. Nach welcher Seite nun ist dieser Kampf mit
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Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie.
dem größten Einsatz an Energie zu führen? Haben wir
dafür einen objektiven Maßstab gefunden, so ist damit gleich¬
zeitig die Frage entschieden, in welchem Ausmaß die inter¬
nationale Ideologie der deutschen Sozialdemokratie durch eine
nationale Ideologie zu verdrängen ist. Wie gesagt, nur ob¬
jektive, in den ökonomischen Tatsachen ruhende Momente
können den Ausschlag geben; nicht aber ethische Forderun¬
gen, sie mögen so gut gemeint sein wie sie wollen. Der alte
Grundsatz der Internationale, jedes Volk bekämpft seinen
eigenen Militarismus, darf nicht etwa von harmlosen Ge¬
mütern auch auf den Kapitalismus erstreckt werden, er ge¬
hört unwiderruflich ins alte Eisen. Er würde unter den
heutigen Verhältnissen nichts anderes bedeuten, als eine
Selbstübertölpelung unseres eigenen Volkes. Ganz abgesehen
von den anderen Größenordnungen, in denen sich heimat¬
licher und fremdstaatlicher Kapitalismus bewegen — eine
Tatsache, der wir unsere Aufmerksamkeit ganz besonders
widmen müssen —, bedeuten denn beide Kapitalismen etwas.
Grundverschiedenes, um sich einfach in eine Linie rücken zu
lassen. Und was von den Kapitalismen selber gilt, gilt
gleichermaßen auch von den gegen sie gekehrten Waffen.
Der heimatliche Kapitalismus ist zum großen Teil eine natür¬
liche, keine künstlich erzeugte oder konservierte Erscheinung.
Auch die sachlich und wissenschaftlich denkenden Unab¬
hängigen sind in diesem Punkte mit uns einig: Das Profit¬
system kann nicht restlos „abgeschafft“ werden, ansehnliche
Reste werden und müssen fernerhin bestehen bleiben, einfach
deshalb, weil die wirtschaftliche Entwicklung die Voraus¬
setzungen ihrer Beseitigung bisher noch nicht geschaffen
hat. Dort, wo gewisse Wirtschaftszweige zur Ueberführung
in die Gemeinwirtschaft nicht „reif“ sind, dort auch muß
die Gesellschaft den Kapitalisten einen extragewinn, den
Profit, zubilligen, der nunmehr zwar kein Ausfluß „wohl¬
erworbener Rechte“, wohl aber eine Extravergütung darstellt,
die die Gesellschaft den Kapitalisten für ihre sachkundige
Verwaltungstätigkeit bis auf Widerruf einräumt. Der Profit
ist also zwar nicht heilig, aber auch nicht ohne weiteres
„abschaffbar“, sondern ein Wenigeres: er ist zunächst nur
widerrufbar. Darüber hinaus muß er anerkannt und hinge¬
nommen werden. Seine Verdrängung und Beseitigung kann
nur im Einklang mit der ökonomischen Entwicklung selber,
nicht aber diese willkürlich antizipierend, erfolgen. Grund-
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Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie.
1329
sätzlich anders aber ist die Stellung des. jremdstaatlichen
Profitsystems, des Ententekapitalismus (das heißt hur soweit
wir als Volk sein Ausbeutungsobjekt sind). Keine natürliche,
sondern eine künstliche Erscheinung ist dieses fremdstaatliche
Pröfitsystem. Nicht der ökonomische Automatismus, son¬
dern oie ententistische Militärmaschinerie hat es erzeugt
und erhält es aufrecht, wenn auch nicht geleugnet werden
soll, daß Tendenzen bestehen, auch diese künstliche Erschei¬
nung, die zunächst nur ein ins Oekonomische übersetzter Aus¬
drude für die neugestalteten militärischen Machtverhältnisse
ist, mit einem natürlichen Inhalt aufzufüllen. Wir erinnern
nur an die sich anbahnende „Ueberfremdung“ des deutschen
Kapitalismus, die den Ententekapitalismus. in unmittelbarere
Beziehung zu unseren Produktionskräften bringt, als nur
die Empfangnahme und das Einstecken der Tribute, indem
dieser zunächst wenigstens die Funktion des Kapitalausleihers,
des Risikoträgers, schließlich vielleicht sogar die des Wirt¬
schaftsleiters selber übernimmt.
Die Verdrängung des heimatlichen Profitsystems erwarten
wir in der (Hauptsache von der ökonomischen Entwicklung, die
des fremdstaatlichen Profitsystems, das selber kein Erzeug¬
nis natürlich-wissenschaftlicher Tatsachen ist, kann nur durch
gleiche oder ähnliche Mittel, die es geschaffen haben, be¬
wirkt werden: also nicht durch passives, Zuschauen oder gar
durch gutes, ans ethische Temperament sich wendendes Zu¬
reden. Durch Bitten und Freundlichkeit sind noch niemals in
der Geschichte irgendwelche Ausbeutungs- und Abhängig¬
keitsverhältnisse gemildert und abgeschafft worden. Die
Spekulation auf menschliche Güte und Barmherzigkeit, auf
Hilfsbereitschaft und Menschenliebe mag im individuellen
Leben oft wirkungsvoll sein, im Klassen- und Völkerkampf
muß sie unweigerlich versagien, weil es dort nur einen Re¬
gulator gibt, nämlich die Machtverhältnisse. Und nur auch
diese sind es, die im Kampf gegen das fremdstaatliche Profit¬
system bedeutungsvoll werden können; welche Formen ein
solcher Kampf annehmen wird, das lassen wir dahingestellt,
es scheint, als gehöre die Zukunft im Völkerkampf weniger
den Militärs, als vielmehr den sozialen Revolutionären; nicht
der Kampf von außen allein, sondern der Kampf von außen
und innen, von oben und unten, der Kampf mit allen Mitteln,
den gerade das deutsche Proletariat als geschlossenster und
kampfgeschultester Vortrupp des ganzen Volkes zu füh-
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1330
Der nationale Gedanke und die Sozialdemokratie.
ren wie kein anderes berufen scheint. Steht also das deutsche
Proletariat vor der Alternative, die ganze Wucht seines Kamp¬
fes, sein ganzes Schwergewicht auf den Klassenkampf nach
innen oder aber — Schulter an Schulter mit den übrigen
Bevölkerungsklassen — auf den nationalen Klassenkampf nach
außen zu werfen, so kann die Entscheidung nicht schwer
fallen. Nicht der Kampf gegen das heimatliche Profitsystem,
das sich wenigstens als ökonomisch notwendig und vor
der Hand unentbehrlich legitimieren und damit seine Existenz¬
berechtigung ausweisen kann, hat in erster Linie zu stehen,
sondern der unerbittliche und unnachlässige Kampf gegen
das fremdstaatliche Profitsystem, das seine Herkunft nur
von Bajonettspitzen und Kanonenkugeln, nicht aber von einer
natürlichen, sozialen Entwicklung herleiten kann. Zum glei¬
chen Ergebnis kommen wir, wenn wir die Sachlage vom
Gesichtswinkel des ureigensten ökonomischen Klasseninter¬
esses des deutschen Proletariats betrachten. Welches Profit¬
system lastet schwerer auf den Schultern der breiten Massen,
wohin fließt mehr Mehrwert: in die Westentaschen der
deutschen Kapitalistenklasse oder aber in die weiten Rock¬
taschen der Kapitalistischen Ententevölker? Dem größeren
Strom des Mehrwerts haben die größeren proletarischen
Kampfenergien und die Ideologien zwangsläufig zu folgen!
Nun — die Frage stellen heißt eigentlich sie beantworten!
Die Gesamtsumme der Mehrwerte, die nach den
Ententeländern fließen, kennen wir leider vor der Hand
nicht, aber soviel wissen wir, daß sie jenen anderen heimat¬
lichen Mehrwertstrom um ein Vielfaches übertrifft. Sind
erst die völkerrechtlidhen, aus dem Friedens vertrag fließen¬
den Verpflichtungen genauer fixiert, sind wir einstmals im¬
stande, die Valutaausbeutung und die aus unserer Kapital¬
überfremdung fließenden Zins- und Profitleistungen — welch
beide Erscheinungen sich abseits des Friedensvertrages ab¬
spielen, und demgemäß privatwirtschaftlichen Charakter tra¬
gen — zu berechnen, dann sind wir auch in der Lage, beiden
Mehrwertströmen ihrer Stärke nach, beiden Profitsystemen,
dem innerstaatlichen und dem ententistisch-völkerschaftlichen,
ihrer Bedeutung nach zahlenmäßigen Ausdruck verleihen zu
können. Dann auch entscheidet sich die Frage nach den
beiden Ideologien, nach der internationalistischen im Sinne
des alten, nur nach einer Seite orientierten Klassenkampf¬
begriffes und nach der nationalen mit dem modernen, zwiefach
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Philister über mich!
1331
orientierten Klassenkampfbegriff, der seinerseits der Idee
der {nationalen Volkssolidarität weitesten Spielraum läßt, ganz
von selbst. Denn, marxistisch gesprochen, beide Oedanken,
der internationale, wie der nationale, sind ja letzten Endes
nur der ideologische Widerschein der realen ökonomischen
Verhältnisse, also (der beiden Profitsysteme. Daß die nationale
Idee int Sozialismus damit mehr und mehr in den Vorder¬
grund treten muß ', ergibt sich hn Zusammenhang mit unseren
Ausführungen notwendigerweise ebenso von selbst. Der
modernen Sozialdemokratie ist damit die Entwicklung
zur nationalen Partei klar vorgezeichnet und sie wird nicht
umhin können, aus den neugeschaffenen realen Tatsachen
die praktisch-politischen und die theoretisch-programmatischen
Konsequenzen zu ziehen.
PARVUS:
Philister über mich!
Meine \Antwort an K Kautsky.
QO haßerfüllt die Antwort Kautskys auf meine Ausführungen
u ist, so sehr fehlt ihr das Gefühl innerer Sicherheit. Sie
ist zänkisch, weil ihr Verfasser sich im Unrecht fühlt. Vor
allem verwischt Kautsky den Streitpunkt: es handelt sich
nicht um Gesinnungslumperei, sondern um Pfiarisäertum. Der
Ausgangspunkt ist die vorzeitige Veröffentlichung seiner
Schrift durch die „Times“. Diese vorzeitige Publikation, und
zwar gerade durch die Jingopresse, machte überall den pein¬
lichsten Eindruck. Nun sagte ich weiter, Kautsky selbst nabe
das sicher nicht direkt verschuldet.. Aber ich fragte, wie
kam es, daß der sonst sehr umsichtige Kautsky, der doch
sicher wußte, daß es der „Times“ bei der Veröffentlichung
seiner Schrift nicht auf seine marxistischen Ansichten und
Sozialrevolutionären Gesichtspunkte ankam, diesmal nicht ge¬
nügend vorsichtig war? Ich schlußfolgerte: Kautsky beeilte
sich, die Schrift zu schreiben und zu veröffentlichen, weil er
die Kriegskonjunktur auf dem Büchermarkt ausnützen wollte.
Das war nicht gerade eine edle Tat, aber auch keine gemeine
Handlung, und schließlich ist doch niemand verpflichtet, sein
Leben lang lauter edle Handlungen zu begehen. Auch daraus
machte ich Kautsky keinen Vorwurf, sondern nur, daß er
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1332
Philister über mich!
sein Leben lang anderen gegenüber den Splitterrichter spielte
und auch über mich wiederholt witzelte, weil ich nunmehr
„Kapitalist“ geworden sei. Das letztere gibt Kautsky zu, —
somit erledigt sich zugleich der Vorwurf, ich hätte den per¬
sönlichen Streit vom Zaun gebrochen.
Den Biedermännern gegenüber, die, statt auf die von mir
vertretenen Ansichten einzugehen, immer wieder auf meinen
Reichtum hinüberschielten, mußte einmal ein Exempel statuiert
werden. Und da halte ich mich lieber an Kautsky, als an dem
Quatschkopf Gerlach, den delirierenden Strobel oder den alten
Komödianten Harden, der kein Ansehen mehr zu verlieren hat.
Kautsky erklärt freilich, ich verfolge ihn überhaupt, per¬
sönlich wie wissenschaftlich. Er merkt gar nicht, wie lächer¬
lich er sich macht, wenn er meinen einleitenden Artikel in
der „Glocke“, der eine groß angelegte kritische Uebersicht
der kapitalistischen Entwicklung, der Geschichte des Reichs
und der theoretischen Voraussetzungen des Sozialismus dar¬
stellt, auf meinen angeblichen Wunsch zurückführt, ihm eins
zu versetzen. Ich habe allerdings auch seine Auffassung des
Marxismus kritisiert. Denn er war der Hauptvertreter jener
Zeit, da der Marxismus nicht mehr in die Tiefe, sondern in
die Breite ging, verflacht und schematisiert wurde. Das ge¬
schah nebenbei, durch einige kurze Bemerkungen, denn in
der Hauptsache hatte ich mich mit K • Marx selbst und mit
Friedrich Engels auseinanderzusetzen. Kautskys Gefühl, von
mir verfolgt zu werden, entspringt dem Bewußtsein, mir die
wissenschaftliche Antwort schuldig geblieben zu sein, und
zwar sowohl wegen seiner selbst, wie wegen meiner Kritik von
Marx und Engels, als deren streitbarer Schüler er sich sein
Leben lang gebärdete.
Dafür zitiert er jetzt Geister. Rosa Luxemburg muß dazu
herhalten, mich zu kompromittieren. Es ist richtig, daß sie
sich einmal über ein Feuilleton von mir ärgerte, ich habe ihr
aber bewiesen, daß sie unrecht hatte. Wie wir zu einander
standen, bis der Krieg uns weitausein ander brachte, werden
einst die Briefe zeigen, die ich von ihr besitze. Wollte man
die Worte dieses leicht erregbaren Geistes auf die Wagschale
legen, so würde Kautsky schlecht dabei wegkommen. Man
brauchte da nicht in Erinnerungen herumzukramen, es genügt
nachzulesen, was Rosa Luxemburg über ihn geschrieben hat.
Jetzt kommt M. Gorky daran. Ich habe meine geschäft¬
lichen Beziehungen zu M. Gorky in der Broschüre „Im Kampf
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Philister über mich!
1333
um die Wahrheit“ klargelegt. Es ist nicht wahr, daß ich,
wie K . Kautsky insinuiert, Gelder von Gorky für mich ver¬
brauchte. Der Sachverhalt ist der, daß der Münchener Verlag,
dessen Hauptteilhaber und Leiter ich war, wegen ungünstiger
Geschäftskonjunktur eine größere Summe, die er Gorky schul¬
dig war, nicht hat auszahlen können. Ich habe dabei auch
meinen eigenen Verdienst zugesetzt, ebenso andere Teilhaber,
von denen niemand mir bis jetzt auch nur den geringsten Vor-
wurt gemacht hat. Der Verlag besaß anderseits einen zehn¬
jährigen Vertrag mit Gorky, da er diesem erst überhaupt
die Möglichkeit geschaffen hatte, Tantiemen und Honorare
aus dem Auslande zu beziehen. Es wurde in Berlin in meiner
Abwesenheit — ich führte damals den Vorsitz des Arbeiter¬
rates in Petersburg — ein Vergleich getroffen in der Weise,
daß Gorky auf seine Forderung, der Verlag auf den Vertrag
verzichtete. Ich bin der Meinung, daß Gorky dabei ein sehr
gutes Geschäft gemacht hat. Auf alle Fälle schlug ich Gorky
öffentlich vor, nochmals abzurechnen, indem ich zugleich mich
bereit erklärte, wenn eine Differenz zu meinen Gunsten sich
herausstellen sollte, diese der Partei zuzuwenden. Gorky rea¬
gierte bis jetzt nicht darauf, vermutlich weil im Trubel des
Krieges und der Revolution meine Aufforderung ihn nicht
erreicht hat.
Ob M. Gorky die gemeinen Ausdrücke gebraucht hat, die
ihm K. Kautsky jetzt zuschreibt, darüber mögen sich die
beiden unter sich auseinandersetzen. Ich wußte nichts davon.
Da K • Kautsky jetzt den Schimpf in die Oeffentlichkeit bringt,
um mich herabzusetzen, muß ich ihn schon daran erinnern;
daß er selbst von Hans Müller in aller Oeffentlicheit eine
Ohrfeige erhalten hat. Wenn man daraus Schlußfolgerungen
auf seinen Charakter ziehen wollte, wie käme er da weg?
Lange schon wird über meine persönlichen Verhältnisse
allerlei Tratsch verbreitet, ohne daß ich auf die Spur der un¬
sauberen Quelle kommen konnte. Jetzt weiß ich, wo das
herrührt. Anderthalb Jahteehnte trug Kautsky den Dreck in
seinem Busen, empfing mich als seinen lieben Freund, be¬
wirtete mich, erwies mir allerlei Schmeicheleien, hinter meinem
Rücken aber raunte er und tuschelte er über mich allerlei
gemeines Zeug. Dieser sozialistische Pietist erweist sich, wie
alle Charaktere dieser Art, als arger Stänkerer.
Zwischen mir und den Leuten vom Schlage Kautskys ist
ein Unterschied des Charakters und der Lebensart. So will
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1334
Philister über mich!
ich mich offen aussprechen und meine Auffassung, meine
Handlungsweise, meine Lebensart dem Philisterpack entgegen¬
halten, das mich mit blödem Hirn und giftiger Zunge verfolgt.
Halten wir uns zunächst an die Tatsachen.
Ich hätte Frau und Kind vernachlässigt, sagt Kautskv. Ich
trennte mich von meiner Frau Anfang 1905. Bis Ende Oktober
1905 zahlte ich ihr monatlich 200 Mark, das war damals un¬
gefähr die Hälfte meines Einkommens. Dann ging ich nach
Rußland. Das Geld dazu verschaffte ich mir durch einen
Vorschuß auf ein Buch, das ich später schreiben sollte. Ich
bezahlte die dringendste Schuld und gab die größere Hälfte
vom Rest an die Frau. Mit wenigen Rubeln in der Tasche
kam ich nach Petersburg. Ich hätte, wenn ich die Revolutipns-
konjunktur auf dem Büchermarkt ausnützen wollte, viel Geld
verdienen können. Die Verleger bedrängten mich, boten tau¬
send Rubel für die Seite, wenn ich nur etwas schreibe. Aber
ich stürzte mich nicht zu dem Zweck in die Trubel der ersten
russischen Revolution, um Geld zu machen. Ich hatte dazu
keine Zeit. Dann wurde ich verhaftet, in die Peterpaulfestung
gesteckt, nach Sibirien verbannt. Ich flüchtete aus Sibirien,
hielt mich wieder in Petersburg auf, ohne etwas zu erreichen
und schlug mich fast mittellos nach Deutschland durch. Statt
nunmehr einem Broterwerb nachzugehen, beschäftigte ich mich
mit unserer Stellungnahme zu der Kolonialpolitik, stürzte
mich in die Wahlagitation und ernährte mich kümmerlich
von der freien Schriftstellerei, wobei ich noch auf der Hut
sein mußte vor der preußischen Polizei, da ich schon 1893
wegen meiner sozialdemokratischen Gesinnung aus Preußen
ausgewiesen worden war. T908 besserten sich meine Verhält¬
nisse und die geschiedene Frau bekam wieder regelmäßig
ihre Unterstützung. Ende 1910 ging, ich nach Konstantinopel.
Ich lebte von meinen Korrespondenzen an die Parteipresse
und den Zeitungsartikeln, die ich schrieb. Es gab Tage,
wo ich mich in den Spelunken der Hamboie von Zwiebelkuchen
ernährte und oft mußte ich meine Füße vorsichtig setzen,
damit man die zerrissenen Sohlen nicht sieht. Denn zu gleicher
Zeit schrieb ich Finanzartikel und beschäftigte mich mit Bank¬
gründungen. Als ich meine ersten kaufmännischen Gewinne
machte, legte ich das Geld beiseite, denn es war der Hebel
zum weiteren Emporkommen. Und als ich reich wurde, schickte
ich Geld nach überall, auch an Frau und Kind.
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Philister über mich !
1335
Das ist der Sachverhalt. Meine Frau führte mit mir wie
ohne mich ein karges Leben. Sie wußte auch, daß sie bei
mir keine Versorgung zu suchen hatte. In den ersten Jahren
unseres Zusammenlebens war sie darauf gefaßt, daß ich in die
zaristischen Gefängnisse geworfen, nach Sibirien verbannt
oder an den Galgen kommen werde. Sie machte mit mir
die Ausweisungen aus Preußen und Sachsen durch und benahm
sich tapfer. Mit dem Kind kamen die Sorgen. Es gab böse
Stunden, Unstimmigkeiten, da die Frau es gern gesehen hätte,
wenn mehr Geld in das Haus gekommen wäre. Doch das
spielte sich alles unter der Decke des ungetrübten Familieh-
glückes ab. Ich beklagte mich nicht, meine Frau sicher auch
nicht. Doch als wir uns trennten, die Frau mit dem Gefühl
ungestillter Eifersucht im Herzen, da muß es gewesen sein,
daß sie Frau Kautsky gegenüber, mit der sie eng befreun¬
det war, über ihr kümmerliches Dasein klagte. Ich erfuhr erst
spät in Konstantinopel, daß Frau Kautsky eine Zeitlang meiner
Frau 50 Mark monatlich sandte. Selbstverständlich waren es
nicht diese Brocken, mit denen meine Frau das Kind durch¬
brachte. Sie hatte seit Jahren eine kaufmännische Stellung
inne und verdiente dabei soviel, wie ich durch meine freie
Schriftstellerei.
Meine zweite Frau, wegen der ich die erste verließ, stellte
an mich erst recht keine Forderungen. Sie wies mit Ent¬
rüstung meine materiellen Bedenken zurück, als sie ein Kind
von mir haben wollte. Ich sei bereits deutlich verspießbürger-
licht, sagte sie mir, sie wolle nun einmal von mir ein Kind
haben, ich solle mir nicht groß einbilden über die Rolle, die
ich dabei spiele, sie werde das Kind austragen, es gehöre ihr,
ich möge ihr gefälligst die Sorgen überlassen. Diese Frau
war an der russischen revolutionären Bewegung stark be¬
teiligt, sie gebar das Kind im Gefängnis, schleppte es mit sich
durch alle Wirrnisse der Revolution, nur kurze Zeit waren
wir in Petersburg zusammen. Später kam sie mit dem Kind
nach Berlin und brachte es bei einer Freundin und Gesinnungs¬
genossin unter. Diese Persönlichkeit, für die der Philister
Kautsky nur die Bezeichnung einer „armen Lehrerin“ kennt,
hat ihr ganzes Leben der Jugenderziehung gewidmet und
sammelte um sich eine Kinderschar, die sie zu freidenkendefy
sozialistisch gesinnten Menschen auszubilden sucht. Kautsky
dürfte es wissen, daß ich auch hier mich erkenntlich zeigte,
als ich zu Oelde kam, — aber er verschweigt es. Das
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1336
Philister über mich!
Fazit: Ich sorgte für meine Nächsten, so oft und sobald ich
es nur konnte, aber ich ließ mich nicht durch materielle
Sorgen und Familienrücksichten in meiner geistigen Arbeit
und politischen Tätigkeit einengen und zögerte nicht, wenn es
galt, alles aufs Spiel !zu setzen, mein eigenes Leben und die
Existenz meiner Nächsten. Kautsky lebte unter ganz anderen
Verhältnissen und hatte solche Konflickte überhaupt nicht
durchzukämpfen. Er ging seinen Sozialrevolutionären Ge¬
danken nach und führte dabei ein ruhiges Philisterdasein.
Nicht ohne Sorgen, aber er verstand, sich den Verhältnissen
anzupassen. So verschmähte er es auch nicht — ich habe
keinen Grund, ihn zu schonen — die kleinlichsten Rücksichten
auf eine Erbtante zu nehmen, der er menschlich sehr fern
stand. Das sind so Dinge, die zum Idealbild der bürgerlichen
Familie gehören.
Ich sprengte auch in meiner Empfindungsweise den engen
Kreis der Familie. Ich bekenne, daß ich gelegentlich meinen
kargen Beutel mit Gesinnungsgenossen teilte, ohne zu be¬
denken, daß Frau und Kind es brauchen könnten. Warum ich
das erzähle? Aus einem ganz bestimmten Grunde: ich meine,
daß die Empfindungsweise, zu der ich durch meine revolu¬
tionäre Lebensart geführt wurde, sich mit der deckt, zu
der das Proletariat durch seine Klassenlage gelangt. Man
bedenke doch, wohin das führen würde, wenn der Proletarier
sich mit seinen Gefühlen ebenso in den engen Kreis der
Familie einschließen würde, wie es der Bourgeois tut? Wenn
der Arbeitei; sich auf den Standpunkt stellen wollte, erst
die Familie, dann alles andere, dann würde er mit seinem
kargen Leben zu gar nichts anderem kommen. Wie wird denn
auch von bürgerlicher Seite über den sozialistischen Arbeiter
geschimpft, daß er sein Geld für Vereinszwecke ausgebe,
oder gar in Versammlungen „versaufe“, statt es für die
Familie zu verbrauchen? Aber wenn er diesem bürgerlichen
Rat gefolgt wäre, so würde er für immer ein stumpfer,
unwissender Sklave geblieben sein.
Die Familie birgt in sich große kulturelle Werte, aber die
bürgerliche Familie, wie wir sie jetzt haben, ist ein Räubernest,
das alles an sich reißt und nicht einmal im Innern auf Eintracht
beruht, sondern nur einig ist in dem Bewußtsein, die ganze
übrige Welt als Beutegebiet zu betrachten. Keine Gemeinheit,
kein Verbrechen, die nicht im Namen der Familie begangen
worden wären. Der brutalste, grausamste Mensch kann der
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Philister über mich!
1337
zärtlichste Familienvater sein. Wo der größte Lump noch
in sich Gewissensskruppei fühlt, da deckt ihn die Familie.
Ich bin über diesen engen Kreis der Empfindungen hinausge¬
kommen. Wenn ich sage, daß der Anblick eines hungrigen,
leidenden Kindes auf der Straße mich unter Umständen mehr
rühren kann, als der Gedanke an mein eigenes Kind, so wird
man es noch begreiflich finden. Aber es gibt noch anderes.
Man kann, Wenn man sich in Gedanken die Leiden und Kämpfe
anderer, eines Volkes, der Menschheit vergegenwärtigt, vom
tiefsten Mitgefühl hingerissen werden, die stärksten seeli¬
schen Bewegungen durchmachen und ihnen literarischen und
politischen Ausdruck verleihen. Man kann aber zugleich seinen
Nächsten gegenüber hart und unzugäglich sein. Es ist auch
möglich, daß man ein eigenes persönliches Erlebnis mit seinen
sozialen Empfindungen so durcheinanderbringt, daß das Per¬
sönliche in dem Sozialen untergeht. So war es auch damals!,
als ich meinen Weihnachtsartikel schrieb. Ich war allein,
ganz einsam, es war gerade nach meiner Flucht aus Sibirien
und ich sehnte mich nach meinem Kinde. Das verflocht
sich in meiner Vorstellung mit Weihnachtsgedanken und erhielt
literarischen Ausdruck, der 'Rosa Luxemburg und andere zu
Tränen rührte. Aber meine Freundin Rosa, deren Geist sich
in Antithesen bewegte, schuf auch hier den Widerspruchj
Parvus hat soviel Mitgefühl mit fremden Kindern, wo bleibt
sein Gefühl für das eigene Kind? So wurde sie auch hier^
wie in mancher politischen Frage, das Opfer ihrer metaphy¬
sischen Denkweise, was ich ihr in derben Worten zu verstehen
gab.
Mein seelisches Verhältnis zum Kinde, auch dieses berührt
Rautsky mit seinen schmutzigen Philisterfingern. Nun wohl,
es sei, unterhalten wir uns auch darüber.
Ich wollte das Kind behalten. Ich wollte freundschaft¬
liche Beziehungen aufrechterhalten, die eine gemeinsame Er¬
ziehung des Kindes ermöglichten. War überhaupt die Tren¬
nung notwendig? Vielleicht belehren uns Herr Kautsky oder
Frau Kautsky, daß es auch anders geht. Aber in diesem Fall
war es nicht möglich. Die Frau verlangte, daß ich auf die
andere verzichte, die ich liebte. Das ging wider meinen
Charakter. So blieb nichts anderes übrig, als das Kind der
Frau zu überlassen, deren größere Recnte als Mutter ich
nicht anzweifeln konnte. Darum entschloß ich mich und er¬
klärte es der Frau, daß ich beiseite trete. Ich* wollte nicht,
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1338
Philister über mich!
daß das Kind in seinen Empfindungen zwisdhen mir und ihr
pendelte, daß sein Charakter dadurch zerrissen würde, ich
wollte nicht, daß die Mutter* wenn das Kind bei mir ist, in
Sorgen lebe, es könnte ihr entfremdet werden, und dann,
wenn das Kind zu ihr zurückkehrt, es zum Opfer ihrer
Gereiztheit, ihrer seelischen Bangigkeit macht. Ich sagte,
ich werde kein Wort schreiben und keine Begegnung suchen,,
sie möge sorgen, daß sie aus dem Jungen einen ordentlichen
Menschen mache. Und ich hielt Wort.
Jetzt ist der Junge groß und er schrieb mir aus Rußland,
Ich antwortete: er möge sich gedulden, bis wir persönlich
Zusammenkommen können. Denn es sind fünfzehn Jahre ver¬
gangen, wir müssen uns erst kennen lernen.
Das Drama meiner geschiedenen Frau war nicht die ma¬
terielle Not, es war die Verlassenheit. In dieser seelischen
Stimmung wurde auch die Not schärfer empfunden. Es ge¬
hört die ganze Borniertheit des Philisterstandpunktes dazu,
um dies nicht zu begreifen. Aber die Frau hatte ihr Kind, sie
hatte es ganz und konnte sich an ihm aufrechterhalten.
Ich stand allein. Ich klagte nicht und murrte nicht, ging
meines Weges. Das nahm das Philisterpack für seelische
Verstocktheit. Im Grunde genommen glaubte dieses Gesindel,
wer keine Familiensorgen habe, sei der freieste und glück¬
lichste Mensch in der Welt. Die moralische Entrüstung des
Philisters beruht auf dem Neid, er möchte es auch so machen,
ja er möchte es noch ganz anders machen, er möchte tat¬
sächlich die Lumpereien begehen, die er anderen zuschiebt,
er findet nur nicnt den Mut dazu. Wie denn überhaupt die
bürgerliche Familie die Zuchtstätte der schamlosesten Heuche¬
lei und des abgeschmacktesten Pharisäertums ist.
Nun noch eins. Ich habe in meiner Schrift „Im Kampf um
die Wahrheit“ dargelegt, aus welchen politischen Erwägungen
ich dazu kam, mich um den Besitz von Kapital, zu bemühen.
Ich mußte meine politische * Sonderstellung stützen. Die Er¬
eignisse der Revolution beweisen mir, daß meine politische
Isoliertheit größer ist, als ich glaubte. Ich bekenne aber, daß
mit dem Alter sich bei mir auch Existenzsorgen einsteÜlten.
Früher dachte ich nur an meine wissenschaftlichen Arbeiten,
nicht daran, was sie einbringen. Meine Studien über „Den
Weltmarkt und die Agrarkrisis“, die auch Kautsky hoch
schätzt, wurden mir mit 6 Mark die Lexikonseite der „Neuen
Zeit“ bezahlt. Mein wissenschaftliches Hauptwerk, an dem
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Bücherschau.
1339
ich zwei Jahre arbeitete, brachte mir keine zweitausend Mark
ein. Ich bekenne, daß ich in dem Kampf zwischen Idealismus
und Broterwerb den kürzeren gezogen habe. Die um diese
Zeit veröffentlichten Privatbriefe von Karl Marx, die zeigten,
in welcher demütigenden Abhängigkeit er von seinen ver¬
mögenden Freunden war, bestärkten mich in meinem Ent¬
schluß, Geld zu machen. Bei dieser Sinnesänderung gewann
auch die Frage der Versorgung der Familie eine andere Be¬
deutung. So gelangte ich schließlich doch dahin, wo man mich
haben wollte. Aber freilich auf meine Weise — durch großen
Entschluß und großzügige Handlung.
Nunmehr habe ich meine Schulden gezahlt. Aber wehe,
wenn ich kein Geld hätte, und das Phnisterpack käme jetzt
mit seinen Vorwürfen! Geld deckt alles.
Niemals habe ich das Geld so verachtet, als jetzt, wo ich 1 es
besitze.
Bin ich nun ein moralisch Verkommener oder überhaupt’
ohne Moral?
Ich weiß es nicht, so ist mein Leben. So war ich, so bin ich,
urteilt wie ihr wollt, ich kann nicht anders.
Bücherschau.
Artur Zickler: „Int Tollhause.“ Berlin, Verlag „Vorwärts“.
62 Seiten. Preis M. 2.—.
Dieses Toll haus, das Zickler in seinem Buche zeichne t,
stand im Krieg fund ist mit diesem glücklicherweise zusammen¬
gestürzt. Die unbeschreiblichen Leiden eines vom alten
deutschen Militarismus zum Heere Einberufenen werden ge¬
schildert. Einen Weg der Qual, der Erschütterung, der Auf¬
lösung aller Menschenwürde muß der Leser wandern. Kine-
matographenartig ziehen die Bilder an ihm vorüber: der
Gang zur Kaserne, die Ausbildungshölle, das MannschaftS-
stubenelend, die Lazarettbehandlung, die Tragödien in den
militärischen. Beobachtungsstätten für Gemütskranke. Aber
alles das ist nicht etwa jin der landläufigen' Art erzählt.
Zickler ist sichtlich bestrebt, nicht durch das Wort zu wir¬
ken. Er baut das Geschehen seiner Soldatentragödie vor uns
auf, indem er Bild um Bild vor unsere Augen rückt: mal
das sonnendampfende Straßenpflaster einer düsteren Industrie-
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1340
Bücherschau.
stadt, mal den sickernden Sand und den tiefen Schmutz
eines Exerzierplatzes, mal die niederdrückende Dumpfheit
einer Kasernenstube, mal die von Krankheitsdünsten und
dem Stimmendurcheinander geistig Anormaler gefüllte At¬
mosphäre eines Lazarettraums. Menschen und Dinge sind
in wenigen, charakteristischen Strichen hingeworfen. In der
Knappheit ihrer Zeichnung steigert sich ihre Bildwirkung.
Einzelpersonen wachsen zu Typen, weiten sich zu Opfern und
Verkörperungen eines ganzen Systems. Dieser Art der Wort¬
zeichnung ist eine packende Eindringlichkeit eigen. Sie läßt
nicht locker, bis wir, geschüttelt von einem tiefen Grauen,
das Buch aus der Hand legen. Denn dieses Aneinanderreihen
eines krassen, aber doch immerhin alltäglichen Tatsachen¬
materials würde nicht so furchtbar wirken, wenn es nicht
mit einem feinen künstlerischen Vorbedacht aufgereiht
und aneinandergegliedert wäre. Unter den Millionen Sol¬
daten werden sicherlich viele ähnliches erlebt haben, ohne
darüber in so wuchtiger, das morsche System so gründlich'
niederschmetternder Weise berichten zu können. Die reporter¬
artig-schlicht und alltäglich anmutende Art des Erzählens
ist geschickt gewählt und unterstreicht in sich von Seite
zu Seite steigernder Gewaltigkeit die Wirkung einer packen¬
den Tragödie, die unser Mitfühlen in einen eisernen Bann
zwingt. So erreicht das Buch zweierlei: es wirkt kultur¬
geschichtlich wertvoll durch die Schilderung einer Kriegs¬
episode; und es gibt Iden Versuch einer neuen Schilderungs¬
art mit großen und kräftigen Mitteln. Diese literarische Seite
der Zicklerschen Schrift erscheint mir als die bedeutungs¬
vollere. Neue Pfade tun sich auf; und es scheint, als ob
der Verfasser von „Im Tollhause“ auf diesem Gebiet ein
Wegbahner im Neuland werden könnte. ln.
Eingelaufene Schriften.
Dr. pustav Mayer: Friedrich Engels. Eine Biographie ."
1. Band. Verlag von Julius Springer. 1920.
Dr. Bernhard Odenbreit: „Die vergleichende Wirtschafts -
" theorie bei Karl Marx.“ Baedekers Verlag. Essen an
' der Ruhr. 1919.
Dr. Ernst Hoppe: „Der Krieg und die deutsche Geld h
Wirtschaft ." Baedekers Verlag. Essen an der Ruhr. 1919.
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Verlag von J. H. W. Pietz Hattet. 6. m. fa. H. in Stuttgart.
Wir empfehlen nachstehend verzeichnete Werke von
Karl Kautsky
Der Ursprung des Christentums« Eine historische Unter¬
suchung von Karl Kautsky. 8 . Tausend. Preis gebunden M. 9.—
Vorläufer des neueren Sozialismus. Von Karl Kautsky.
Dritte unveränderte Auflage.
Erster Band: Kommunistische Bewegungen im Mittelalter.
Preis gebunden M. 6.—
Zweiter Band: Der Kommunismus In der deutschen Reformation.
Preis gebunden M. 6.—
Karl Marx' Ökonomische Lehren. Von Karl Kautsky.
Sechzehnte Auflage. Preis gebunden M. 5.50.
Das Erfurter Programm. Von Karl Kautsky. Vierzehnte
Auflage. Preis gebunden M. 5.50.
Thomas More und seine Utopie. Von Karl Kautsky.
Dritte Auflage. Preis gebunden M. 6.—
Ethik und materialistische Geschichtsauffassung.
Von Karl Kautsky. 9. Tausend. Preis gebunden M. 5.50.
Vermehrung und Entwicklung in Natur und
Gesellschaft. Von Karl Kautsky. Preis gebunden M. 5.50.
Die Klassengegensätze im Zeitalter der franzö¬
sischen Revolution. Von Karl Kautsky. Dritte Auflage.
Preis kartoniert M. 1.20.
Parlamentarismus und Demokratie. Von Karl Kautsky.
Zweite, durchgesehene und vermehrte Auflage. Preis kartoniert
M. 1.20.
Die Vereinigten Staaten Mitteleuropas. Eine volks¬
wirtschaftliche Studie von Karl Kautsky. Preis M. 1.20.
Die Befreiung der Nationen. Von Karl Kautsky. Vierte
Auflage., Preis M. 1.20.
Serbien und Belgien In der Geschichte. Historische
Studien zur Frage der Nationalitäten und der Kriegsziele von
Karl Kautsky. Preis M. 2.50.
ElsaB-Lothringen. Eine historische Studie von Karl Kautsky.
Preis M. 2.50.
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DEN GEFECHTEN
v °n
PHILIPP SCHEIDEMANN
Elegant gebunden
Preis 10 Mark
und 20% Teuerungszusdilag
Aus den Tagen der Kindheit
führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre
des reifen Mannesalters. Scheidemann selbst hat — vielleicht
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen
Entwicklungsgang beschrieben.
Bezug durch alle Buchhandlungen
sowie direkt vom
VERLAG FÜR SOZIALM^ISSENSCHAFT
BERLIN SW 68 ) LINDENSTR. 114
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Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin.
Druck und Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, Lindenstrafle 114.
Fernruf: Moritzplatz Nr. 2218,1448—1450.
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24« Januar 1920
50 Pfennig
Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68
[' lÜs, n 1
1 by C^OOgl
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DIE GLOCKE
Sozialistische Wochenschrift
Herausgeber: Parvus
Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post
oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Mk. 6,—,
Einzelhefte 50 Pf., Porto 5 Pf.
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Berlin SW68, Lindenstr. 114. Postscheckkonto: 27576 Berlin
INHALT DIESER NUMMER:
Hermann Müller: Das Betriebsrätegesetz . . . 1341
Herman George Scheffauer (Kalifornien): Ame¬
rika und der Frieden von Versailles .... 1344
Peter Knute: Moskau und Mekka. 1354
Hans von Kiesling: Bayern und der Einheitsstaat 1358
Dr. G. v. Frankenberg: Ein Normallohnsystem 1365
Glosseq: Zukunftsstaatsdebatte.1368
Bücherschau: Arno Holz, „Gesammelte Werke“
und Prof. Dr. J. Plenge, „Die Stammformen
der vergleichenden Wirtschaftstheorie“ . . . 1370
Nummer 42 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt:
Prof. Dr. H. Kantorowicz (Freiburg): Deutsch¬
lands Interesse am Völkerbund.1309
Oberlehrer Dr. Erich Witte: Elternbeiräte . . 1313
X. X. X.: Das arbeitslose Einkommen .... 1318
Arthur Heichen: Der nationale Gedanke und die
Sozialdemokratie.1321
Parvus: Philister über mich!.1331
Bücherschau: „Im Tollhause“ ....... 1339
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DE GLOCKE
43. Heft 24. Januar 1920 5. Jahrg.
Nadidruck sämtlicher Artikel mit ausiiihrlidier Quellenangabe gestattet
HERMANN MÖLLER:
Das Betriebsrätegesetz.
F)AS Betriebsrätegesetz ist unter Dach und Fach. Damit
ist ein Kampf zum 'Abschluß gekommen, der die Ge¬
müter erregt hat, wie selten ein Kampf um ein Gesetz. Den
Höhepunkt bildete die. Demonstration am 13. Januar vor
dem Reichs tagsgeb äude, bei der das Gesetz, leider, auch die
Bluttaufe erhielt. 30—40 000 Menschen oder noch mehr
umstanden den Reichstag, in dem die zweite Lesung beginnen
sollte, eine Rede löste die andere ab, jede die Aufregung
steigernd, die bis zur Siedehitze stieg. Warum? Waren all
die Leute aus den Fabriken und Werkstätten herausgeströmt,
weil sie das Gesetz wirklich kannten und es unerträglich
fanden? Davon kann keine Rede sein. Nicht zehn Personen
von den 30—40 000 haben gewußt, was in dem Gesetz
stand und wogegen sie protestierten. Die unabhängigen Ab¬
geordneten befanden sich im Gebäude. Wenn sie beurteilt
werden können nach den Reden, die sie während all der
Tage hielten, dann wäre, wenn sie innerhalb der Demon¬
stranten gewesen wären, die Zahl derer, die den Sinn des
Gesetzes erfaßt haben, auch nicht vermehrt worden. Sie
redeten nicht* um ernstlich gegen das Gesetz zu kämpfen,
Sondern sie redeten, um zu reden. Der Kampf in der National¬
versammlung war somit ein getreues Spiegelbild der unab¬
hängigen Arbeit im allgemeinen: Worte, nichts als Worte.
Die Strafe für die Herren ist hart genug, die Reden werden
wörtlich gedruckt und bleiben somit ein Denkmal des Un¬
verstands oder der bewußten Bosheit, sie bleiben auch ein
Denkmal der Methode, nach der die Leute, die am 13. Ja¬
nuar vor dem Reichstag standen, aufgeklärt worden sind
und werden dadurch zu wertvollem Material für die Ge¬
schichtsschreiber.
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1342
Das Betriebsrätegesetz.
Alles in allem: der sogenannte Kampf um das Betriebs-
rätegesetz hat denen, die sich das revolutionäre Proletariat
nennen, das denkbar schlechteste Zeugnis ausgestellt. Dema¬
gogie und Terror bei den Leithammeln, blinaer Fanatismus
bei der gläubigen, irregeführten Masse, die im entscheidenden
Augenblick zwar aufgepeitscht, aber führerlos sich selbst
überlassen und dadurch zum Futter der Maschinengewehre
gemacht wurde.
Dabei waren die Unabhängigen, wie immer, auch diesmal
nur der Spielball der Kommunisten. Die Angst, Anhänger zu
verlieren, hat ja bei ihnen den Gedanken wach gerufen, daß
sie so arbeiten mußten, daß links von ihnen kein Platz
mehr für eine andere Partei sei. Das Heißt aber nicht die
eigene Selbständigkeit behaupten, sondern es heißt, sich
willenlos der wortradikaleren Richtung ausliefern. Daß die
Kommunisten scharfe Gegner des Betriebsrätegesetzes sein
müssen, ist selbstverständlich. Sie wollen das Chaos. Sie
glauben, daß die ganze Gesellschaft erst zusammenbrechen
'müsse, damit, wie der Phönix aus der Asche^ sich aus
den Trümmern die von ihnen gewollte, neue Gesellschaft
erheben könne. Wer das Chaos will, muß sich einer Gesetz¬
gebung entgegenstemmen, die die Kräfte zum Aufbau zu¬
sammenzufassen sich bemüht.
Noch in den Debatten über das Betriebsrätegesetz lehnte
ein unabhängiger Abgeordneter die Lehre schart ab, daß
erst das Volk verelenden müsse, um zum Sozialismus kommen
zu können, das sei ein Wahn, der seit Jahrzehnten abgetan
sei. Ein anderer sagte kürzlich, Deutschland sei als sozia¬
listische Insel innerhalb kapitalistischer Staaten nicht denk¬
bar. Alles das ist richtig. Aber, wenn es richtig ist, warum
nehmen dann die Unabhängigen nicht scharfe Stellung gegen
links, warum sind sie überall die Schrittmacher derer, die
tagaus, tagein an der Arbeit sind, um das Elend zu steigern,
in der Hoffnung, die sozialistische insei zu bekommen?
Schwankendes Rohr im politischen Wetter. Eine Partei wollen
sie sein, eine Partei um jeden Preis. Wozu Grundsätze, wozu
eine klare Taktik? Leute wollen sie um sich sehen, viele Leute,
und da diese schreien, schreien sie mit und noch lauter als
diese. So schreien sie auch gegen das Betriebsrätegesetz,
und sie müssen es, um ihre Schreier nicht zu verlieren,
schlecht machen. Nichts über den wirklichen Inhalt sagen,
nur schlecht machen.
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Das Betriebsrätegesetz.
1343
Die letzten Errungenschaften der Revolution soll es be¬
graben, so sagen sie. O, nein,. Das Gesetz ist in Wirklich¬
keit eine der wertvollsten Errungenschaften der Revolution.
Es beseitigt das Hausherrnnecht des Unternehmers im Be¬
triebe, es schaltet die Arbeiter als Mitbestimmende ein. Es
beseitigt die Willkür bei Einstellungen und Kündigungen und
befestigt damit die Sicherheit der Existenz der Arbeitnehmer.
Das sind so wertvolle Errungenschaften, daß wir sie vor
wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätten.
Damit soll das, was die Gewerkschaften bisher schon
errichteten, nicht verkleinert werden. Auch sie haben dem
Absolutismus der Unternehmer Schranken zu setzen ver¬
standen, auch sie haben die Existenz der Arbeiter zu festigen
gewußt. Aber weit über das hinaus, was sie verrichten konn¬
ten, geht doch der Schritt des Gesetzgebers. Gewiß, gleich
nach der Revolution gingen einzelne Berufsgruppen weiter,
aus politischen Gründen ließ sich hier und da der Unter¬
nehmer mehr abnötigen, als das Gesetz bringt. Aber hätte
das standgehalten? Die Folge wird es zeigen. Das Betriebs¬
rätegesetz verrammelt den Weg nicht. Das, was es bringt,
sind Mindestkonzessionen, über die hinaus weiteres verein¬
bart werden kann. Was weiter ging, bleibt bestehen. Hoffent¬
lich kann es ohne schwere wirtschaftliche Kämpfe erhalten
werden. Aber von diesen Einzelfällen abgesehen, bringt das
Gesetz der Arbeiterschaft im allgemeinen vieles.
Und es führt sie hinein in die Produktion, die sie beherr¬
schen lernen sollen. Das ist vollständiges Neuland für die
Arbeiter. Vor der Mitbestimmung bei der Leitung der Pro¬
duktion haben die Gewerkschaften bisher haltgemacht. Ihr
Gebiet war der Abschluß des Aibeitsvertrages. Der Gegensatz
zwischen Kapital und Arbeit wurde dabei vor allen Dingen
betont. Diesen will und kann natürlich auch das Betriebs¬
rätegesetz nicht beseitigen. Aber es erschüttert die Macht¬
stellung des Kapitals. Es trägt dem Umstande Rechnung,
daß die Arbeiter beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft
sind, daß wir uns in einer Uebergangszeit befinden. Bisher
war der Arbeiter im Produktionsprozeß nur Objekt, jetzt
wird er auch Subjekt. Er muß sich dabei in etwas für ihn
ganz neues einleben und er wird dabei Schwierigkeiten, die
in der Natur der Sache liegen, zu überwinden haben, die er
bis jetzt nicht kannte. Sein Gesichtskreis wird erweitert. Das
' ist notwendig. Zum Sozialismus gehört, daß die Arbeit so
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1344
Amerika und der Frieden von Versailles.
zweckmäßig wie nur irgend möglich organisiert wird. Das
kann nur, wer vieles überschaut, und darum ist es notwendig,
daß die- Arbeiter einen weiten Blick bekommen, daß ihnen ein
neues Organisationsgebiet vom Gesetzgeber eröffnet wird,
von dem sie der Kapitalismus femgehalten hat.
Der Weg der Betriebsdemokratie ist der Weg zum Sozia¬
lismus. Etas haben die Unternehmer viel richtiger einge¬
schätzt als die Opponenten von links. Ihr Kampf war picht
nur ein Scheinkampf. Sie haben alle Minen springen lassen,
um das Gesetz zu Fall za bringen, und wenn es nicht alles
bringt, was es billigerweise auch jetzt schon bringen könnte
und müßte, es ist der unermüdlichen Arbeit füt die Unter¬
nehmerinteressen geschuldet.
Aber trotzdem, trotz aller Mängel, die Bahn ist frei.
An den Arbeitlern liegt es, zu zeigen, ob sie der Situation
gewachsen sind. Wer da meint, er müsse als Betriebsrat
immer mit der Faust auf den Tisch schlagen, der lasse die
Finger davon. Hier gibt es zähe Arbeit zu leisten, vielleicht
oft gegen den Widerstand der Mandatgeber. Sie muß ge¬
leistet werden, denn sie ist Pionierarbeit allerersten Ranges.
HERMAN GEORGE SCHEFFAUER (Kalifornien):
Amerika und der Frieden von Versailles.
IJM die Wirkungen des Friedens von Versailles in Amerika
u zu verstehen, insoweit man gewisse Strömungen der öf¬
fentlichen Meinung beobachten und beurteilen kann, müssen
sie psychologisch betrachtet werden. Nicht durch 1 die
verwirrenden, sich ewig widersprechenden Kabelberichte
über die Vorgänge in Washington, oder die tendenziösen
Ausstreuungen der Geldinteressen und der noch rührigen
britischen Propaganda, wird das deutsche Volk zu einem
gerechten Urteil gelangen, sondern durch einen Blick in das
politische Seelenleben des amerikanischen Volkes. Gewinnt
es diesen Blick, so ist viel für seine politische Erziehung
gewonnen. Ja, ich gehe so weit, zu behaupten, und ich
kenne mein Volk in allen seinen Tiefen und Höhen, daß das
Volk der neuen deutschen Republik durch kluge Handlungen
und durch Anwendung des schöpferischen Wortes zur rechten
Zeit, noch bedeutende Vorteile aus dieser Kenntnis gewin¬
nen mag.
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Amerika und der Frieden von Versailles.
1345
Das echte amerikanische Volk empfindet die Schmach der
Niederlage von Versailles vielleicht ebenso stark, wie das
deutsche die Schmach seiner Unterdrückung. Es weiß, daß
dieser Frieden zwar von Clemenceau und Lloyd George er¬
dacht, aber nur durch Wilson möglich wurde. Die Bedingun¬
gen, die von dem Engländer und dem Franzosen, ihren
Ratgebern und ihrer Presse dem zusammengebrochenen deut¬
schen Volke auferlegt worden Sind, stehen im schreienden
Widerspruch zu dem ganzen, öffentlich verkündeten Pro¬
gramm Wilsons. Aber sie passen doch genau in den dunklen
Schacht seines Deutschenhasses, in den Fanatismus seiner
englischen Seele. Durch den Unfrieden von Versailles wurden
nicht nur er und seine 14 Punkte, die 14 feierliche Ver¬
sprechungen waren, sondern das deutsche und auch das ame¬
rikanische Volk dem Moloch ausgeliefert. Nicht Mitleid mit
Deutschland, auch nicht flammende Entrüstung über die Un¬
geheuerlichkeiten dieses Vertrags bewegt in erster Linie die
amerikanischen Massen, sondern die Schmach, die ihnen durch
den kläglichen Zusammenbruch des Weltretters angetan
wurde.
Das amerikanische Volk, besonders das herrschende, puri¬
tanische Angelsachsen tum, leidet an der Manie einer messia-
nischen Sendung. Dieser Drang, die übrige Menschheit, die
der Amerikaner in Seinem Wann der moralischejn, geistigen
und körperlichen Ueberlegenheit und in seinem Uebermut
verachtet, zu belehren und zu bekehren, war auch die trei¬
bende Kraft, die Wilson während des Krieges bis ins grenzen¬
lose anfeuerte, und die ihn dann zu jener Höhe erhob, auf
der er das Gewissen und den Willen seines Volkes zu
verkörpern schien.
Der Krieg Amerikas War ein Krieg nicht nur gegen Deutsch¬
land, sondern gegen ganz Europa. Die Amerikaner, ver¬
mutlich pazifistisch veranlagt, aber tatsächlich das reizbarste
und kampflustigste aller Völker, trägt seit seiner Befreiung
von Europa — von England — eine tiefeingewurzelte Ver¬
achtung und einen instinktiven Haß gegen Europa und seine
Einrichtungen und Gesinnungen im Herzen. Die aktive An¬
wendung der passiven aber stets herausfordernden Monroe¬
doktrin bedeutet Kampf gegen Europa. Dieser Kampf, aus
politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Gegensätzen
entspringend, hat wirtschaftlich schon angefangen und richtet
sich — wie der kommende Kampf um die Herrschaft der
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1346
Amerika und der Frieden von Versailles.
Meere — jetzt hauptsächlich gegen England. Mit Ausnahme
von Frankreich, das durch seine Kunst, seinen Modekultus,
seine Erotik, den Lafayette-Fetischismus und die Phrase von
der „Schwesterrepublik“, eine bedeutende Sympathie einst¬
mals in Amerika genoß, herrschte in diesem demokratischen
amerikanischen Volke immer ein großer Argwohn gegen das
feudale, kleine, arme und „degenerierte“ Europa. Diesen
Haß durch die amerikanische Unwissenheit und durch eine
Hypnose zu verstärken und gegen Deutschland und den
pittoresken Bösewicht, den Kaiser, zu richten und auszu¬
nützen, war die publizistische Aufgabe Englands in Ame¬
rika. Herrlich gelang ihm dieses Spiel — mit Wilsons
Hilfe.
Hätte man dem amerikanischen Volke die Möglichkeit ge¬
geben, über den Eintritt in den Krieg abzustimmen, wie es
jetzt über die Ratifikation des Friedens abstimmen soll, dann
wäre Amerika in den Krieg nicht eingetreten. Aber nachdem
die mächtige Maschinerie des Kriegswillens der wirklichen
Machthaber ihre zermalmende Arbeit vollbracht hatte, folgte
das amerikanische Volk dem englischen offiziellen Beispiel
und stürzte sich leichtherzig und gedankenlos in die Schläch¬
tereien Europas wie in einen Sport.
Das blutige Sportspiel wurde von Amerika mit seinen
frischen Massen im letzten Gang in sehr unsportmäßiger
Weise gewonnen. Das amerikanische Uebe r legen hei tsgef ü hL
das so kindisch und auch so rücksichtslos ist, wurde aut
billige Weise gesättigt und befriedigt. Wilson verkörperte
den Triumph dieses Gefühls über die Welt. Er war der
„Champion“ im Wettkampf — er war der Messias der Demo¬
kratie und der Menschheit. Der mächtigste Gott im amerika¬
nischen Pantheon, der Gott des Erfolges, verklärte und ver¬
goldete alles. Caesar fuhr nach der alten Welt und um ihn
herum spielten Lichtstrahlen wie wogende Heiligenscheine.
Er trug die Hoffnung der Welt in seinen Händen, und seine
Arme umfaßten eine Macht, die nie einem andern Manne
beschieden war.
Dann kam der wirkliche Kampf — die amerikanische An¬
maßung der Ueberlegenheit, die Eitelkeit und Unwissenheit,
scheiterten erbärmlich an den Klippen, auf denen die Sirenen
von Paris saßen und sangen. Das alte Europa siegte über-
das junge Amerika. Jäh und bitter zerstoben die lieben,
alten Wahnbilder eines wilden überschwenglichen National-
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a und der Frieden von Versailles.
1347
stolzes. Die kindische, beinahe weibliche und' krankhafte
Eitelkeit der amerikanischen Seele bekam einen tötlichen
Stoß. Der Weltmeister wurde geschlagen von zwei alten
Männern, gedemütigt, entwürdigt, und mit ihm sein ganzes
Volk. Oeistig siegte das alte, verachtete Europa über alle
Sterne der großen Republik, ja, moralisch siegte sogar das
verwundete, geknebelte und betrogene Deutschland über seine
Betrüger.
Zu Ehren des amerikanischen Sittlichkeitsgefühls, sei es
gesagt, stiegen nicht nur Stimmen des verletzten Stolzes,
auf. Auch das Gerechtigkeitsgefühl fand seine Stimmen,
eine der ersten war die William C. Bullits von der ameri¬
kanischen Delegation in Paris, und diese Stimmen fanden
in liberalen amerikanischen Kreisen einen lauten Widerhall.
Doch war die Entrüstung nur allgemein gehalten. Man
sprach wenig oder gar nicht von dem schändlichen Verrat,
der an Deutschland verübt wurde. Die dunklen Wogen des
Deutschenhasses gingen noch viel zu hoch, und der pest¬
geladene Wind der englischen Propaganda ließ nicht nach.
Der gute Bürger heulte noch mit den Wölfen, ja, mit den
Hyänen. Er fand es abscheulich, daß Wilson sich schlagen
ließ —, aber die Deutschen verdienten die Strafe, die ihnen
auferlegt wurde. Der Herdeninstinkt, der Mangel an bürger¬
lichem Mute sind in keinem anderen Lande so ausgeprägt
und allgemein, wie im Lande der angeblich höchstentwickeltst
Individualität und persönlichen Freiheit.
Der Stolz und die Ehre Amerikas wurden durch seinen
höchsten Würdenträger geschändet. Die Vereinigten Staaten
wurden verunreinigt. Dazu kam noch der unverschämte Ver¬
such des Präsidenten, den Verrat an seinem Volke und an
der Menschheit, und die Preisgabe seiner Prinzipien vor
dem Volke selbst zu rechtfertigen. Es war ein panikartiger
Versuch, die Vernunft des endlich erwachten Volkes zu
vergewaltigen, wie er sie so oft vergewaltigt hatte. Wilsons,
Verblendung und Größenwahn hatten ungeheure Proportio¬
nen erreich!; sie stiegen ins Pathologische, und führten ihn
schließlich, wie ein blindes, gebundenes Opfer, der rächenden
Hybris zu.
In der berühmten Sitzung des Senatsausschusses des Aus¬
wärtigen am 19. August 1919, unter Führung des Senators
Hitcheock, gestand Wilson, ohne mit der Wimper zu zucken,
daß auch ohne eine „aggressive“ Handlung Deutschlands
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1348
Amerika und der Frieden von Versailles.
Amerika, das heißt Wilson], in den Krieg eingetreten wäre.
Dieses ungeheuerliche Bekenntnis löste keinen Sturm der
Entrüstung unter dem Volk und seinen Gesetzgebern aus,
denn es war endlich eine Realität, eine Wahrheit aus Wilsons
Munde, die alle längst wußten, aber keiner auszusprechen
wagte. Das Verbrechen von Versailles hatte als Nachspiel die
Entblößung des Verbrechens von Washington. Rückwirkend
zerstörte es den ganzen Bau der Wilsonschen Kriegsmoral,
zerfraß den Glauben des Volkes an die Gerechtigkeit seiner
Sache. Wilson kannte sich in seinem Lande nicht mehr aus;
die Luft der tobenden Städte und die Winde der Prärien
wurden für ihn ein feuriges Fluidum. Dem Pfeifen und
dem Gejohle der Bevölkerung in San Franzisko folgte der
Schlag von Denver, der Wilson zu jener „Vernichtung oder
wesentlichen Ohnmacht“ verdammte, mit der er einst Deutsch¬
land bedroht hatte. In der amerikanischen Seele, die durch
ein Uebermaß primitiven Aberglaubens überschattet ist, wirkte
das wie eine Vergeltung des Schicksals, wie ein Himmels;-
zeichen zugunsten Deutschlands, aber wieder wagten es
wenige, den Gedanken auszusprechen. Man spottete über
den zerschmetterten Halbgott die Zeitungen brachten lange,
halb humoristische Berichte über den Züstand seiner „pro¬
statischen Drüse“, die mit Zoten in den Schulen, Bureaus
und Klubs in Zusammenhang mit seinen Pariser „Sitzungen“
gebracht wurde.
Es erhoben sich sogar englische Stimmen der tiefen Ver¬
achtung gegen Woodrow Wilson. Professor John Maynard
Keynes von der Universität Cambridge war Mitglied des
Obersten Wirtschaftsrats zu Paris. Er legte sein Amt nieder,
weil er die wirtschaftliche Vernichtung Deutschlands nicht
gutheißen konnte. In seinem neulich erschienenen Buche, „The
Economic Consequenees of the Peace“, enthüllt er das ganze
schwarze Spiel hinter verschlossenen Türen, an dem Wilson
als Werkzeug und auch als Urheber einen so großen Anteil
hatte.
Die Kämpfe um die Ratifikation, die Opposition der Repu¬
blikaner unter Lodge, die Niederlage des Ratifikationsantrags,
die wilderregten [Debatten, die gereizten und kleinlichen Wut¬
ausbrüche Wilsons, seine jetzt völlig wirkungslose pathetische
Rhetorik: „das Herz der Welt würde zerbrechen, wenn dieser
Frieden nicht ratifiziert würde“, die verzweifelten Versuche,
einen Kompromiß zwischen den gegnerischen Parteien und
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1349
Amerika und der Frieden von Versailles.
Interessen her;beizuführen, von diesen Dingen hat das deut¬
sche Volk genügend in den Zeitungen gelesen, ohne einen
Strahl der Hoffnung für sich aus den verworrenen Vorgängen
zu ziehen, oder einen Strahl der Aufklärung. Aus der kapi¬
talistischen amerikanischen Presse, die geistig und sogar ad¬
ministrativ unter englischer Kontrolle steht, ist weder Klar¬
heit oder Wahrheit zu gewinnen. Denn im Organismus
des amerikanischen Staates, wie in dem des deutschen, herr¬
schen Krankheiten^ Auflösungsprozesse — Chaos. Die Zer¬
rüttung und Unterhöhlung der amerikanischen Demo-
plutokratie war eine logische Folge des Sieges des sozial¬
demokratischen Gedankens in Deutschland. Amerika, oder
vielmehr seine Machthaber, hatten sich eingebildet, daß
Deutschland eine Demokratie, eine Republik nach amerikani¬
schem oder französischem Muster sein würde. Dagegen
sprang Deutschland von dem Absolutismus über diese schon
veraltete, der neuen Epoche nicht mehr angepaßten Form
hinweg, und richtete einen sozialistischen Staat auf. Diesen
Staat fürchteten aber die Herrscher Amerikas vielleicht noch
mehr als den Bolschewismus, der jetzt als Teufel an die
Wand gemalt wird, wie vor kurzer Zeit in Deutschland*
und mit einem puritanischen Fanatismus selbst in seinen
mildesten, das heißt sozialistischen Formen, in Amerika ver¬
folgt wird. Die Gewalt und den Terrorismus glauben die
bekannten und unbekannten Herrscher Amerikas mit noch
größerer Gewalt unterdrücken zu können, aber gegen das
siegreiche Fortschreiten' der aufbauenden sozialistischen Idee
fühlen sie sich macht- und ratlos.
* Gerade die Furcht und die Verzweiflung der kapitalistischen
Oligarchie Amerikas werden durch die wahnwitzige Ver¬
leugnung, ja Zertretung der heiligsten amerikanischen
Ueberlieferungen und Rechte bewiesen durch ein brutales
Eingreifen in die Ergebnisse des geheimen Wahlrechts des
Volkes. Mit aller Gesetzlichkeit gewählte sozialistische Kon¬
greßmitglieder, wie der bekannte Victor Berger aus Mil¬
waukee, der durch das Volk einen glänzenden Sieg über die
vereinigten Demokraten und Republikaner errang, will man
nicht anerkennen, unter dem Vorwand, sie seien nicht von
Amerikanern, sondern von Ausländem gewählt! Dadurch
werden die tiefsten, festesten Fundamente der Verfassung
und der Demokratie erschüttert und der Anarchie Tür und
Tor geöffnet, die man dem Sozialismus versperren will!
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1350
Amerika und der Frieden von Versailles.
Der Deutsche sieht ein, daß er trotz aller religiösen oder
menschenfreundlichen Bewegungen wenig Mitleid und wenig
Beihilfe von Amerika vorläufig erwarten darf. Amerika, das
nach Wilsons Worten, ohne eigene oder Sonderinteressen in
den Krieg ging, spricht jetzt nur noch von seinen eigenen
Interessen, die aber nicht mehr die der Alliierten sind. Es
entrüstet sich über Schantung, weil der Vertrag ungerecht
gegen China ist. Es ist empört und gekränkt, daß England
sechs Stimmen im Völkerbund haben soll, und Amerika nur
eine. Das sind alles Zeichen — aber auch bedeutungsvolle
Aeußerungen. Sie entspringen nicht nur echtem Groll, son¬
dern sie deuten die Regungen von wachsenden Gewissens¬
bissen an. Durch den Frieden von Versailles wurde der
mächtige Damm voü Lügen und Illusionen, der um die Ver¬
einigten Staaten gebaut worden war, an vielen Stellen durch¬
stoßen.
Noch hat der Durchschnittsamerikaner, der trotz der Auf¬
gewecktheit seines Geistes, nie zu folgerichtigem Denken
erzogen und selten fähig ist, durch Zergliederung und lo¬
gische Prozesse bestimmte Schlüsse aus bestimmten Vor¬
aussetzungen zu ziehen und die Kette von Ursachen und
Wirkungen zu erfassen —, noch hat er nicht eingesehen, daß
der Friede von Versailles ihn vor eine neue und große Ver¬
antwortung stellt. Und diese Verantwortung heißt: Ge¬
rechtigkeit und Gutmac hung Deutschland
gegenüber. Bis vor kurzem hat sich kein Volksvertreter
gewagt, dieses halb bewußte aber unruhige Empfinden der
Volksseele zum Ausdruck zu bringen. Nur Irland fand seine
. Fürsprecher, weil Irland durch seine Söhne im Mutterland
und seine Kinder in Amerika für sich selbst sprach.
Das geknechtete Irland, das um Wilsons Hals wie ein
Mühlstein hing, und dazu beitrug, ihn in die Tiefe zu
ziehen, hat nicht nur seine Fürsprecher (wie der Sinnfeiner
De Valera mit seinem Triumphzug durch Amerika) gefunden,
sondern auch seine Rächer. Gegen Wilson, gegen England,
gegen Versailles stehen entschlossen und geschlossen die
verbissenen und kampflustigen Reihen der Irischamerikaner,
die unaufhörlich die Freiheit und das Selbstbestimmungs¬
recht für Irland fordern. Sie haben die Intrigen und die
Propaganda der Briten in Amerika aufgedeckt. Durch sie
wurde das Land mit Petitionen für die „Impeachment“ (Ver¬
setzung in den Anklagezustand) Wilsons überschwemmt, eine
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Amerika und der Frieden von Versailles.
1351
Bewegung, die dann auf den Kongreß überschlug. Irisch¬
amerikanische Blätter wie „The Gaelic-American“ und „The
Irish World“, schreien unaufhörlich den Namen des ver¬
gewaltigten Irlands dem Präsidenten Wilson und dem Senat
in die Ohren. •
Das Beispiel der Irischamerikaner hat die zerklüfteten und
zermürbten Millionenscharen der Deutschamerikaner wieder
zusammengefaßt und ihnen neuen Mut eingeflößt. Deutsch¬
amerikanische Organe wie „Die Neue Zeit;“ (Chikago) und
„The American Monthly“ (Neuyork), führen eine Sprache,
deren Furchtlosigkeit bei dem noch immer gärenden Deut¬
schenhaß eine große, politische Bedeutung gewinnt und von
den Männern der deutschen Republik genau studiert werden
sollte. Als Wilson auf seiner Rednertour von dem Gezisch
der sich wiedererhebenden deutschamerikanischen „Schlange“
neurasthenisch und gehässig lallte, antwortete ihm diese
„Schlange“ („American Monthly“, Neuyork) öffentlich:
„Die Amerikaner deutschen Ursprungs haben die Be¬
weise ihrer Treue zu Amerika erbracht. Sie haben auf
den blutigen Schlachtfeldern gegen ihr eigenes Vaterland
gekämpft. Sie kämpften gegen ihr besseres Gewissen, ge¬
trieben von der Treue zu ihrem gegebenen Wort, wie das
f ermanische Ueberlieferung ist. Sie schenkten Ihnen Glau-
en. Sie haben Ihnen die Treue gehalten. Aber haben Sie
auch ihnen die Treue bewahrt? Jetzt, wo die Ereignisse es
offenbaren, daß Sie, anstatt für die Sicherung der Demo¬
kratie in der Welt zu kämpfen, für die Sicherung der eng¬
lischen Weltherrschaft, für die Sättigung der französischen
Rachsucht und für die Vergrößerung des Mikadoreiches
gefochten haben, sind Sie in keiner angenehmen Stimmung.
Ihre schönen Worte haben die Liberalen überall verblendet.
Und jetzt verlangen Sie von Amerikanern deutschen Ur¬
sprungs, daß sie sich zu Mitschuldigen des Verbrechens
von Versailles machen sollen, daß sie ihrev Zustimmung
dazu geben sollen, daß das Land ihrer Väter unter Bruch
Ihres Wortes zerstückelt würde. Sie sehen, daß Sie Ihre
14 Wechsel, von denen jeder Ihre Unterschrift trug und
jeder von Ihren Spießgesellen indossiert war, zerreißen,
und daß Sie 14 Fetzen Papier daraus gemacht haben,
wo vordem eins war. Was ein versklavtes Irland für die
Irischamerikaner ist, das ist ein versklavtes Deutschland
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1352 Amerika und der Frieden von Versailles.
für die Amerikaner deutschen Ursprungs. Wir Deutsch¬
amerikaner sind durch die Versklavung Deutschlands be¬
kümmert. Aber noch bekümmerter sind wir darüber, daß
Amerika sein Wort nicht eingelöst hat. Denn, Herr Prä¬
sident, uns; ist die Ehre Amerikas teuer. Wir weigern uns,
das Wort des amerikanischen Präsidenten, welches er in
seiner offiziellen Eigenschaft gegeben hat, als eine läppische
Kriegslist, als eine Redeübung zu betrachten, um die
Dummen einzufangen. Wir haben unsere amerikanische Ge¬
sinnung genügend gezeigt. Wile ist es aber in dieser Be¬
ziehung mit Innen, Herr Präsident? Wollen Sie eine ein¬
zige amerikanische Bestrebung nennen, die Sie vertreten
haben gegen den Erbfeind unserer Freiheit? Was haben
Sie aus der Monroedoktrin gemacht? Wie haben Sie
die Freiheit der Meere Sichergestellt? Wie würden Sie
über einen Amerikaner deutschen Ursprungs urteilen, der
alles preisgegeben, der in jedem einzelnen Punkte Deutsch¬
land nachgegeben, wenn also der Fall umgekehrt gelegen
hätte ?“
Wenig merken, die Deutschen oder wenig melden ihre
Blätter von dem Volkssturm, der in vielen Teilen, der Union
gegen die politische und geistige Wiedereroberung Amerikas
durch England losgebrochen ist. Der Frieden von Versailles
hat auch die Fesseln, die England durch die mächtige Or¬
ganisation seiner Diplomatie, seiner Finanz und seiner Presse
von innen und von außen dem amerikanischen Volke auf¬
erlegt hat, unerträglich , gemacht. Die industriellen Krisen,
die Streiks, die hohen, immer steigenden Preise der Lebens¬
mittel, haben die Aufmerksamkeit des Volkes vom Krieg
und vom Frieden auf ihr<e eigenen Sorgen abgelenkt. Es
geht eine neue Bewegung „Los von England“ durchs Land
— eine Art zweite Unabhängigkeitserklärung.
Eine bei Gordon Brown & Co., Neuyork, erschienene
Broschüre „The Reconquest of Amerika“ (Die Wiedererobe¬
rung Amerikas), die ein scharfes Streiflicht auf die anglo-
amerikanische Propaganda, Korruption und Kamarillen wirft,
hatte innerhalb kurzer Zeit teinen Absatz von über zwei
Millionen. „The Poison in America’s Cup“ (Das Gift in
Amerikas Becher) von Philip Francis (Littlebooks Library,
Washington Square, Neuyork) ist ein lauter Kampfruf
zur Wiedererlangung amerikanischer Unabhängigkeit. Es er-
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Qrigmä tom
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1353
Amerika und der Frieden von Versailles. /
scheinen Zeitungen, wie der „Boston Sunday Advertiser“
— selbst in Boston, dieser stärksten Feste des Engl ander tum s
in Amerika! — mit flammenden Aufrufen gegen Britannien
und seine 10 000 Agenten, die Würger amerikanischer Frei¬
heit. Die Hearstpresse, die stets antienglisch war, ruft un¬
aufhörlich das Volk auf, das geistige und politische Joch
Englands abzuschütteln. Es soll demnächst ein Buch er¬
scheinen: „Pillory and Witness-Box“ (Pranger und Zeugen¬
stand), in dem die schlimmsten Kriegshetzer Amerikas zur
Rechenschaft gezogen werden sollen. Wer vermag nicht
aus diesen Stimmen, die zwar noch leise, aber doch ziel-
bewußte. Stimme des wachsenden, amerikanischen Imperialis¬
mus, herauszuhören, die die zwei Länder, trotz aller ober¬
flächlicher, künstlicher und vorübergehender Verbrüderung!
in scharfe Gegensätze treibt! ? Die Niederlage Lord Greys
in Amerika hat seine bestimmten, von den Deutschen wenig
beachteten Gründe in dem Mißmut des amerikanischen
Volkes. Ebenso die Verkündung, daß * Amerika , sich nicht
mehr als eine mit den Alliierten „assoziierte“ Macht be¬
trachtet. In amerikanischen Kreisen wird heute schon mit
einem gewissen Enthusiasmus von einem Krieg zwischen
England und Amerika gesprochen.
Da man nicht mehr an den Edelmut, an die demokratischen
Ueberlieferungen einer verlorenen Freiheit, noch an den zu
Spott und Schande gewordenen Idealismus des betrogenen
und aufgewühlten amerikanischen Volkes appellieren Kann,
ruft man die niedrigsten Instinkte des Hasses an. Senator
Borah aus Idaho bekämpfte die Ratifikation, weil er Amerika
allerlei glänzende, moralische und materielle Vorteile ver¬
sprach, wenn es den Frieden nicht ratifiziert. Aber der
ehrwürdige Senator Hitchcock aus Nebraska versuchte das
Volk mit dem Argumente eines Räuberhauptmanns zur Rati¬
fikation zu verleiten: „Wehn ihr den Vertrag nicht unter¬
zeichnet, verliert ihr die 800 _ Millionen Dollar deutschen
Eigentums (vermutlich mehr), die wir beschlagnahmt haben.
Ihr verliert die 500 000 Tonnen deutscher Schiffe, die wir
Deutschland abgezwungen haben. Ihr werdet die vielen kon¬
fiszierten, wertvollen deutschen Patente zurückgeben müssen
usw.“ Aut dieses Niveau der Schiebermoral ist die Advokaten¬
politik der Anhänger Wilsons herabgesunken. Sein einst un¬
zertrennbares alter ego, Oberst House, verabschiedet sich von
dem Helden des fürchterlichen moralischen Bankerotts.
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Qrigiral from
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1354
Moskau und Mekka.
Trotz allem wurde die Ratifikation verworfen. Viele Ur¬
sachen verwickelter politischer, parteiischer und wirtschaft¬
licher Natur werden dafür angegeben. Verwirrt klingen die
Stimmen aus dem brodelnden Chaos selbst uns Amerikanern
an das Ohr. Nicht ganz klar war es den Amerikanern, warum
dieser Friedens vertrag verworfen werden müßte. Jedoch un¬
ter aller Wahrung amerikanischer (und chinesischer) Inter¬
essen, regt sich' ein Gefühl der Scham, der Empörung,
der Reue, und des beinahe zu Tode gehetzten Gerechtig¬
keitsgefühls. In der Volksseele fängt das erwachte Ge¬
wissen zu flüstern an, wenn auch noch immer die Furcht,
ein Wort zugunsten Deutschlands zu sprechen, beinahe alld
Klassen beherrscht. Es liegt aber in Deutschlands Hand, diese
psychologische Krisis zu seinem eigenen Vorteile auszu¬
nützen, indem es mit der rechten Sprache zur rechten Zeit
an das amerikanische Volk sich wendet.
Schon erhebt sich jenseits des Atlantischen Ozeans der
Ruf: „Wir haben sie töten helfen, jetzt wollen wir sie
retten helfen.“ Höchst bedeutungsvoll ist die eben gefaßte
Erklärung des Senats, die den Anschluß Deutschösterreichs
und aller deutschen Teile Mitteleuropas an Deutschland
billigt; sie ist eine Art Kriegserklärung gegen den Frieden
von Versailles.
Es sollen durch diese Aeußerungen keine unerfüllbaren
Hoffnungen im geplünderten und unterdrückten deutschen
Volke geweckt werden. Jedoch im Reiche der Wiedergut¬
machung wird Amerika vielleicht tatsächlich das „Land der
unbegrenzten Möglichkeiten“ sein.
PETER KNUTE:
Moskau und Mekka.
Bolschewismus und Panislamismus.
DUSSLAND ist das Land der Kontraste. Es ist Europa
' und Asien. Und in jedem seiner Bürger lebt das euro¬
päisch Bedachte und Konzilierte, und es lebt in ihm das
asiatische Ueberschwengliche, Mystische, und Wilde. Das
gemäßigte Klima des Westens, die Eiseskälte Sibiriens und
die tropische Hitze Turkestans sind in ihm. Ueber die glei¬
chen Gefilde stürmt der Eiswind, lispeln die herzwarmen
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Moskau und Mekka.
1355
Frühlingslüfte und brennen die Wüstensonnen. Und neben¬
einander erheben sich die farbfrohen Zwiebel türme und die
schlanken Minarette. Wenn die Abendglocken zur Messe
rufen, vermischen sich mit ihrem Locken die Rufe des Mullahs
an die Gläubigen Allahs. . .
Tausend Stimmungsgehalte trägt dieses Rußland in seinem
gewaltigen Leibe. Und Tschitscherin, der bolschewistische
Außenminister, wird diesen Stimmungsgehalten eine Weile
verfallen sein, als sich eines Tags, im. Oktober des ver¬
gangenen Jahres, ausgestattet mit dem ganzen Gepränge des
Orients, Mahmed Wali Chan, der afghanische Gesandte,
melden ließ, um dem bolschewistischen Rußland die Freund¬
schaft der Muselmanen zu bezeigen. Die griechischen Tempel¬
bauten Moskaus und die Minaretts von Mekka tauchten,
symbolisch die politische Situation verklärend, als Hinter¬
grund am roten Hoflager in der alten Zarenstadt auf.
Moskau und Mekka. Die Gemeinschaft der Ungläubigen
und der Gläubigen. Zlu einem gemeinsamen Ziele. Als Lenin
den afghanischen Gesandten begrüßte, sagte er: „Ich freue
mich sehr, in der Hauptstadt der Arbeiter und Bauern die
Vertreter des befreundeten afghanischen Volkes, das so helden¬
haft gegen das imperialistische Joch Englands kämpfte, be¬
grüßen zu können.“ Mahmed Wali Chan antwortete: „Ich
reiche Ihnen freundschaftlichst die Hand und hoffe, daß Sie
dem ganzen Osten helfen werden, sich vom Druck des euro¬
päischen Imperialismus zu befreien.“ Lenin: „Der mohamme¬
danische Osten muß auch Rußland in seinem großen Be¬
freiungskämpfe unterstützen.“ Der Gesandte: „Der moham¬
medanische Osten hat das verstanden. Bald wird die Stunde
schlagen, die die ganze Welt überzeugen wird, daß es für
den europäischen Imperialismus im Osten keinen Platz mehr
gibt.“ Und der Gesandte überreichte dem Bolschewisten-
Führer einen Brief seines Emirs Amanullah und empfahl
dessen Inhalt der besonderen Aufmerksamkeit.
Afghanistan, was ist das für ein Land? Ein rauhes Land.
Ein Land mit unübersteigbaren Gebirgen und flüchtigen
Sandbergen. Ein Volk noch in Wildheit. • Ein Volk, das
eingedrungene Europäer zu Sklaven macht und sie, zeitlebens,
den Pflug ziehen läßt. Und, eigentlich selbstverständlich
dieserhalb, ein Volk, das in Kabul schon eine Fabrik für
Maschinengewehre hat. Ein energisches Volk. Das einzige
Volk, vor dem das mächtige Albion zitterte. Als ich in
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1356
Moskau und Mekka.
Kriegszeiten den glutheißen Brodem Nordafghanistans spürte
und bei Nomaden unter der monumentalen Poesie des orien¬
talischen „Sternenhimmels lagerte, da sangen sie gutturale
Volksweisen und erzählten, wie vor Jahrzehnten einmal 30 000
Engländer über die Berge gedrungen seien. Aus Hindostan
her. Man habe ihnen allen die Gurgel durchschnitten. Und
nur einen habe man geschont. Einen Arzt. Man habe ihn
mit durchschnittenen Halsmuskeln nach Hause gesendet, daß
er den Jingos erzähle, wie’s in den afghanischen Bergen
sei. . .
Respekt hat England vor diesem Volk. Und nicht umsonst
hat es den Frieden von Raval Pindi geschlossen. Afghanistan
hat den Sieger des Weltkrieges besiegt. Am Pamir, am Arun
Dar ja, an der Nordgrenzseite von Indien endet die Macht, die
die ganze Welt zu Füßen sieht. Ist’s wieder nur kluge
Politik? Will England das Mordloch zum Einfall in das
Land aller, Länder, ins Herzzentrum britischer Weltmacht
mit Freundnachbarlicbkeit stopfen ? Und ist das schon zu¬
schanden geworden, als Mahmed Wali Chan nach Moskau
ging? Rollen auf den Wüstenbahnen zum Orkus schon die
roten Heerscharen, um aus dem Indischen Ozean zu trinken?
Es dampft durch -den Islam. Die Saat von Versailles
blüht auf. Die Moslems rollen schon die Fahnen auf, um
sie voranzutragen, wenn der Kalif ruft zum Heiligen Krieg.
Viel Feindschaft ist vergessen. Ueber die 'Sunniten im
Osmanenreich zu den Sunniten im afghanischen Bergland
schlagen schon die persischen Schiiten die Brücke. Die
gemeinsame Gefahr bindet. Islam fühlt den Keil, den das
mächtigste Moslemreich, England, zwischen seine Teile treibt
Persien ist so ein Keil, una Mesopotamien und Syrien. Das
große Wehklagen geht durch den Islam. Jingos Hand greift
nach Stambul, dem Heiligtum. Und es springt der Funke
über von Land zu Land und ruft auf zum Schutze des Kalifats.
Aus Aegypten klingt’s wieder, aus Indien. In Anatolien ballen
sich die ersten nationalen Kräfte. Der Enverfrondeur,-Sieger
von Anaforta, Mustapha Kemal Pascha, der dunkelblonde,
schmächtige Kondottiere, bindet sie. Die kaukasischen Berg¬
stämme revoltieren, die Tartaren j/on Aserbeidschan kommen
in Bewegung. Und der Brand, der die Herzen ergriffen hat,
züngelt über das Steppengras und erfaßt den russischen
Asienbesitz. Und auf seinen Spuren folgen die vertriebenen
Generale des Sultans, um zum Herzpunkt islamitischen Etnp-
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Moskau und Mekka.
1357
findens, wo die Gräber Tjmurs sind und die Wiege der
Eide, den Funken weiterzutragen. Vor den Yurten der Kir¬
gisen, in den Lehmhütten der Sarten, bei den Nomaden in
kahler Steppe werden die Gebetsteppiche gebreitet, die Knie
gebeugt, aie Stirn zum Boden gedrückt. Und flüsternd er¬
zählen die Offiziere des Sultans von den Kafirs, die die
geweihten Stätten unrein machen. . .
In Taschkent soll Enver Pascha eingetroffen sein. Es ist
nicht unwahrscheinlich. Flüchtig, wie er ist, eilt er ins Land
islamitischer Sehnsucht. Schon zu Kriegszeiten * ging ein
Raunen durch die Wüsten: kommt er? und die Sendboten
liefen zu ihm und riefen. Aber er hatte keine Zeit. Nun hat
er Zeit. Das Haupt des Panislamismus hat sich dem Herzen
moslemitischen Sehnens verbunden. . .
Und ihm entgegen stürmt der Troß. Zum Asowschen Meere,
über Orenburg, Taschkent,. Samarkant, Bücchara, Chiwa bis
nach der Stadt der Toten, Merv. Aus Bücchara wird berichtet,
daß dort den Bolschewisten ein herzlicher Empfang bereitet
wurde. Hat_die Lehre Lenins die muselmanischen Herzen
erobert? Flammt die Weltrevolution in Asien auf? Mit
nichten. Enver Pascha braucht nichts zu fürchten. Der
Nationalismus blüht, und die Moslems feiern im Empfang
Trotzkis nur die Erlösung von der Nagaika des Zären. Islam
baut auf auf der erschütterten Disziplin der Knute. Das
große Islamneich ist im Werden. Rußland hat seine Ba¬
taille in Asien verloren.
Aus Moskau eilen die Kuriere nach Indien und predigen
die Heilslehre Lenins. Nikolaus Sacharowitsch Bravin war
in Afghanistan. Lenin verkündet,'daß die Grundlehren des
Bolschewismus schon im Koran zu finden seien. Er will
die Hunderte von Millionen Hindus und Chinesen in Be¬
wegung setzen. Um der Weltrevolution willen ? Um sie,
die er nach Westen nicht weitertreiben kann, hinten herum
über Asien zu schmuggeln? Lenin ist schlau, und er durch¬
schaut die Zusammenhänge. Er weiß, daß aus dem Zu¬
sammenklang von Moskau und Mekka nur eines heraus¬
tönt: England, Erlösung von England. Um Englands willen
erscheint der Turban in Moskau, um Englands willen jubelt
man in Bücchara Trotzki entgegen. x Groß ist, was dort
hinten in Bewegung. Und stärker als jemals ist die Hand,
die nach Indien greift.
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Bayern und der Einheitsstaat.
1358
Es ringen der Jingo- und der Bolschewismus miteinander.
Der Islamismus ist die geistige Nebenerscheinung. Es geht
um eine Welt. Die Welt hat Veranlassung, den Atem an¬
zuhalten. Zwei ebenbürtige Gegner kalt, berechnend, weit¬
sichtig. Es geht um den Ruhm von London.
HANS VON KIESLING:
Bayern und der Einheitsstaat.
A US dem größten deutschen Bundesstaat, aus Preußen,
wurde in den letzten Wochen der Gedanke, das föde¬
ralistisch begründete Deutschland zu einem Einheitsstaat zu¬
sammenzuschweißen, in die Debatte geworfen. Er hat die
Gemüter in Bayern aufs heftigste bewegt. Alle Schichten des
bayrischen Volkes sind in lebhafte Erörterungen für und
gegen den Einheitsstaat eingetreten. Wer objektiv die Ent¬
wicklung, die die Angelegenheit in Bayern nimmt, betrach¬
tet, sieht sich der Tateache gegenüber, daß der zentralisierte
Staat von dem überwiegenden Teile des Volkes abgelehnt
wird. Es scheint mir wesentlich, daß die bayrischen Anschau¬
ungen im Norden bekannt werden, ehe man sich dort zu
Schritten entschließt, die nicht mehr rückgängig gemacht
werden können. Als ein unbedingter Anhänger des Einheits¬
gedankens sehe ich aber die großen Schwierigkeiten, die
sich seiner Verwirklichung entgegenstellen, wenn dem süd¬
deutschen, speziell bayrischen Standpunkt, nicht in gewisser
Beziehung Rechnung getragen wird.
Die meisten politischen Parteien Bayerns haben sich be¬
reits offiziell zur Frage des Einheitsstaates geäußert. Ge¬
schlossen dafür hat sich nur die Sozialdemokratie ausge¬
sprochen. Das moderne Zükunftsgefühl des Arbeiters setzt
sich leichter über die Vergangenheit hinweg, historische Rück¬
sichten spielen für ihn eine ebenso geringe Rolle wie spontane
Regungen des Gefühls. Es kommt dazu, daß die Arbeiter¬
schaft infolge ihrer größeren Freizügigkeit auch in Bayern
keinen so ausgesprochenen Stammescharakter an sich trägt,
wie die übrigen Schichten des Volkes, und daß die Inter¬
essen der Arbeiterschaft schon seit Jahren eine enge per- •
sönliche Fühlungnahme über das ganze Deutsche Reich hin¬
weg nach sich gezogen haben, enger als es besonders bei
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Bayern und der Einheitsstaat.
1359
der Bevölkerung des flachen Landes der Fall ist. Der Ar¬
beiter weiß besser, wie andere Teile des Volkes, daß Preußen
sich aus den verschiedensten deutschen Stämmen zusammen¬
setzt, und daß Berlin nur ein geringer Teil davon ist.
Alle anderen Parteien verhalten sich dem Einheitsgedanken
gegenüber mehr oder weniger ablehnend. Die entschiedenste
Ablehnung findet der Einheitsstaat in der bayrischen Bauern¬
schaft, in der augenblicklich Bestrebungen erfolgreich am
Werke sind, einen engen Zusammenschluß aller politischen
Richtungen des Landvolkes herbeizuflühren. Die christlichen
Bauernvereine des Dr. Heim und der bayrische Bauernbund
unter Eisenberger stehen im Begriff, einen Ring des acker¬
baulich tätigen bayrischen Volkes zu schaffen, in den sich
auch der städtische Mittelstand, insbesondere der große Kreis
des Handwerks einfügen könnte. Dieser Block enthält alle
politischen Gruppen der Bauern, beginnend von den rechts¬
stehenden christlichen Zentrumsbauern, bis zur radikalen
Richtung des durch die Revolution in München bekannt¬
gewordenen Gandorf^r.
Der Zusammenschluß wurde auf der großen Bauern¬
versammlung in Rosenheim, die vor wenigen Tagen unter dem
Vorsitz Heim-Eisenberger stattfand und einen riesigen Zu¬
lauf hatte, als unmittelbar bevorstehend angekündigt. Auf
dieser Massenversammlung wurde mit großem Erfolg das
Schlagwort „Los von Preußen, Bayern den Bayern“ in die
Debatte geworfen. Die glatte Ablehnung des zentralistischen
in Berlin gipfelnden deutschen Einheitsstaates war die Pa¬
role, unter deren Zeichen sie stand. Die Bauern sehen
in der Zusammenschmiedung des Deutschen Reichs zum
Einheitsstaat die völlige Unterdrückung der bayrischen Eigen¬
art, die Wegnahme der großen Naturschätze des bayrischen
Landes durch das Reich und das Aufgehen Bayerns als be¬
deutungslose Provinz im Reichskörper. Sie erwarten sich
von dieser Maßnahme die Herrschaft Preußens in Süd¬
deutschland, die Ueberschwemmung des Landes durch Nord¬
deutsche und die Unmöglichkeit, im eigenen Hause nach
Rechten zu sehen. Vor allem kommt in ihrem ablehnenden
Standpunkt auch der Gegensatz des bayrischen Stammes zum
preußischen zum Ausdruck; allerdings setzt der Bayer gern
Berlin an die Stelle Preußens und schreibt alles, was übler
Berlinismus verschuldet, auf das Konto der norddeutschen
Stämme.
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1360
Bayern und der Einheitsstaat.
Wenn auch nicht zu leugnen ist, daß der bevorstehende
Zusammenschluß des bayrischen Bauerntums bis zu einem
gewissen Grade auf das Bedürfnis des Dr. Heim, eine neue
Partei zu gründen, zurückgeht, so ist doch der Einfluß
der beiden Führer Heim und Eisenberger auf die Bauern¬
schaft ein so großer, daß mit einem gewaltigen Anwachsen
der ländlichen Bewegung, mit einem großen Erstarken des
Selbstgefühls des bayrischen Bauernstandes gerechnet werden
müß. Die geringe Arbeitslust in den Städten und der stän¬
dige Druck von seiten der städtisch beeinflußten Behörden
auf die Bauern in bezug auf die Lebensmittelablieferung
hat den Gegensatz zwischen der Arbeiterbevölkerung der
Städte und der ländlichen Bevölkerung verschärft. Die
Bauernschaft, die im November vorigen Jahres zum Teil
auf seiten der Revolution stand, neigt heute im Gegenteil
wieder erheblich nach der Seite der Monarchie hin. Die
Sympathien für den Kronprinzen Rupprecht treten auf dem
Lande mehr und mehr hervor.
Diese Stimmungen dürfen von den maßgebenden Autoritäten
des Reichs nicht unterschätzt werden. Bayern, insbesondere
Südbayern, hat nur eine sehr gering entwickelte Industrie
und ist in erster Linie landwirtschaftliches Kulturgebiet. Der
politische Einfluß des Bauernstandes wächst, damit auch der
Wunsch der Bauernpartei, selbständige politische Wege zu
gehen.
Der Landwirt ist im großen und ganzen nicht geneigt,
politische Fragen immer mit dem abwägenden Verstände m
behandeln. Er hat auch nicht stets den weiten Blick, der
die außenpolitische Lage des ganzen Reichs umfaßt. Er
ist vielmehr geneigt, nach lokalen Zweckmäßigkeitsgründen
und nach dem Gefühle zu handeln, er hängt zäh an seiner
Scholle, deren wirtschaftlichen Reichtum er als sein un¬
antastbares Eigentum betrachtet. Es ist nicht möglich, daß
sich innerhalb der Bauernschaft der Gegensatz zum Einheits¬
staate bis zum Wunsche nach dem politischen Abfall vom
Reiche verdichtet.
Den Hauptrückhalt findet die Bauernbewegung, mit der
große Kreise vom äußersten rechten bis zum äußersten linken
politischen Flügel Bayerns in der Ablehnung des zentra¬
lisierten Staates einig gehen, in dem östlichen und südlichen
Teil der bayrischen Lande. Dort ist die Grenze gegenüber den
Staaten der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie
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Bayern und der Einheitsstaat.
1361
nur eine rein politische. Die Salzburger und Tiroler, ja auch
die SteiermärKer, sind ebensogut bayrischen Stammes, wie
die Bewohner von Ober- und Niederbayern; der Vorarlberger
und der bayrische Schwabe sprechen mehr oder weniger
denselben alemannischen Dialekt. Als in den blutigen April-
tageri vorigen Jahres in München die Räteherrschaft auf¬
gerichtet wurde, lag ein Zusammenschluß Ostbayerns mit
Salzburg und Oberösterreich in der Luft. Im ganzen Chiem¬
gau gab es damals nur österreichische Zeitungen. Wie in
Tirol und in Salzburg die Anschlußbewegung an das benach¬
barte Bayern am stärksten von allen österreichischen Erb¬
landen ist, so hält auch der Bauer von Ober- und Nieder¬
bayern die Rückkehr der österreichischen Brüder zum Stamm¬
lande für notwendig und wünschenswert. Der Gedanke des
Zusammenschlusses aller Bayern und Schwaben läßt sich
leicht weiter ausbauen zjur Errichtung eines vornehmlich
bayrisch orientierten Donaustaates, der im Gegensatz stünde
zu dem den bayrischen Bauern veiliaßten preußischen Berlin.
Es ist selbstverständlich, daß eine solche Donaukonföderation
nur in Anlehnung an Frankreich entstehen könnte.
Noch spielt man in Bayern mit diesem Gedanken. Aber
mehr und mehr, taucht er auf, wird weiter ausgesponnen, und
obgleich führende Blätter der bayrischen Volkspartei von
ihm abrücken, hat er doch seine Anhänger in weitesten
Kreisen aller politischen Schichten des Landes. Es ist not¬
wendig, daß man sich im Norden etwas die Art des bayri¬
schen Volkscharakters vergegenwärtige. Bei uns im Süden
werden nicht alle Dinge nur mit dem kühl rechnenden Ver¬
stände behandelt; man tritt der Situation nicht stets mit
der überlegenen Ruhe dies Nordländers gegenüber; unsere
Psyche unterliegt Gefühlsregungen leichter wie anderswo.
Die Masse des Volkes ist rascher-wie im Norden, durch Füh¬
rer, die ihr nach dem Sinne reden, -in irgendeiner gefühls¬
mäßigen Richtung zu beeinflussen. Ich halte es für durch¬
aus* möglich, daß der Widerwille gegen ein vollkommenes
Aufgehen im Preußentum, als was man den .deutschen Ein¬
heitsstaat hier unten bezeichnet, größer ist, als die Er¬
kenntnis der Lebensunfähigkeit der Donaukonföderation un¬
ter französischer Führung, größer ist selbst als die Erkennt¬
nis, daß der Zerfall Deutschlands die endgültige Versklavung
aller Deutschen ohne Ausnahme nach sich ziehen müsse.
Das einmal zum Haß entfachte Gefühl geht selbst darüber
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1362
Bayern und der Einheitsstaat.
hinweg, daß nur ein festes Zusammenhalten des Deutsch¬
tums, eine Verkittung von 60 Millionen Menschen zu einem
mächtigen Block imstande ist, uns vor dem Schicksal einer
völligen Vernichtung als Volk und Staat zu bewahren.
Lassen Sie mich als Bayer in nachfolgendem kurz aus¬
führen, worauf die große Gegnerschaft beruht, die man bei
uns im Süden dem Einheitsgedanken entgegenbringt. Ich
spreche nicht von dem uralten Stammesgegensatz zwischen
Nord und Süd; auch nicht von der historischen Entwicklung,
die Norddeutsche und Süddeutsche häufig in entgegengesetz¬
ten politischen Lagern gesehen hat. Ich spreche nur von
den Gründen, die in der letzten Vergangenheit liegen und die
in großen Teilen des bayrischen Volkes das Gefühl, vom
Norden vergewaltigt zu sein, liervorbrachten.
Der Bayer ist geneigt, Preußen mit Berlin vollkommen
zu identifizieren. Für ihn bedeutet der Berliner vielfach
schlechthin den Norddeutschen. Die Hauptstadt des Deut¬
schen Reichs hat aber, besonders während des Krieges als
Sitz der absolut zentralisierten Kriegsgesellschaften das ganze
Land derartig ausgesogen, und die ganzen Profite aus den
gemachten Geschäften nach Norddeutschland abgeleitet, daß
sich während der Kriegsjahre eine gewaltige Mißstimmung
gegen den Wasserkopf Berlin gebildet hat. Man hat während
des Krieges, wo die ganze Selbständigkeit Bayerns zugunsten
einer einheitlichen Kriegführung ausgeschaltet war, gefühlt,
was es heißt, sich des eigenen willens zu begeben und sich
rettungslos der in Berlin herrschenden Kaste zu über¬
lassen.
Der Typus des Berliners, wie er bei uns in Bayern so
oft gesehen Wird, und der dem bayrischen Volkscharakter
so sehr fluf die Nerven geht, scheidet sich in zwei Kategorien,
für die wir Süddeutschen nur ein sehr geringes Verständnis
haben: die alles auf den Erwerb setzende kaufmännisch¬
wirtschaftliche und die junkerliche. Es lunterliegt keinem
Zweifel, daß sich durch die steigende Hochkonjunktur der
Jahre vor dem Kriege und schließlich auch durch die Kriegs¬
wirtschaft in Berlin ein erwerbender Unternehmerstand her¬
ausgebildet hat, bei dem alles gegenüber dem Hasten nach
Geld in den Hintergrund tritt, der die guten Sitten des alten
BeYlin ab legte und dessen Typen so gut und so widerwärtig
charakterisiert werden in den sozialen Romanen Heinrich
Manns. Derjenige, der nicht tiefer in das Berliner Leben
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Bayern und der Einheitsstaat.
1363
eingedrungen ist, der Außenstehende, sieht vor allem diese in
schnödester Gewinnsucht aufgehenden Vertreter einer de¬
kadenten Gesellschaft, deren soziales Empfinden, deren ge¬
sellschaftliches Leben von niedrigsten Instinkten beherrscht
ist. Wenn sich heute eine vernichtende Verurteilung der
jüdischen Geschäftsusancen überall bemerkbar macht, und
wenn der Antisemitismus mehr und mehr um sich greift, so
ist das die Folge des Hervortretens dieses Berliner Snobbis-
mus, unter dem, da die Masse nicht zu unterscheiden vermag,
auch der anständige Jude zu leiden hat. Der andere Typ
ist derjenige, dessen herrisches Auftreten, überall wo er
sich sehen läßt, sofort die Gegnerschaft andersgearteter
Menschen und Völker herausfordert. Es sind die in Berlin
nicht dünn gesäten . Leute deren schnoddriger Kasementon
abstößt, die stets mit schärfster Kritik bei der Hahd sind,
ohne selbst etwas Konkretes zu leisten, eine soziale Schicht,
deren typischer Vertreter der Kaiser ist, dessen Flucht über
die Grenze, dessen Briefe und Randbemerkungen an wichtigen
Staatsdokumenten den Geist und Ton erkennen lassen, den
wir als übelsten Berlinismus verabscheuen.
Diese Art von Vertretern Norddeutschlands haben in erster
Linie den Gegensatz auf dem Gewissen, der zwischen Nord
und Süd heute noch besteht und der durch den Krieg
wesentlich verschärft wurde. Der Bayer, besonders der
Landbewohner, hat noch nicht unterscheiden gelernt zwischen
Berlin und Preußen, und nimmt schlechtestens Berlin als
Typ für die norddeutsche Allgemeinheit. Es geht ihm da
gerade so, wie vielen Völkern des Auslandes, bei denen wir
während des Krieges die Erfahrung machen mußten, daß
wir in der schwersten Zeit unseres politischen Daseins auch
nicht einen Freund auf der Welt hatten. Das rücksichtslose
Auftreten gegenüber den Empfindungen anderer Völker, die
völlige Außerachtlassung fremder Weltanschauung, nörgelnde
Kritik überall und immer, haben uns in den Augen der
Uebersee ebenso geschadet, wie die rücksichtslose Erwerbs¬
sucht der Snobs auf Kosten des Anstandes und der Selbst¬
achtung. Dieser bestehende Gegensatz verlangt gebieterisch
eine gewisse Rücksicht auf die Gefühle Süddeutschlands.
Die Lösung der Einheitsfrage wird ohne Schwierigkeiten
in dem Augenblick vor sich gehen, wo man auf Berlin als
Hauptstadt verzichtet und eine bescheidene Stadt Mittel¬
deutschlands als Hauptstadt des neuen Einheitsstaates be-
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1364
Bayern und der Einheitsstaat.
stimmt. So gut die Vereinigten Staaten sich die’Beamtenstadt
Washington leisten konnten, ohne die wirtschaftliche Ent¬
wicklung Neuyorks dadurch zu beeinträchtigen, wird auch
das wirtschaftliche Leben Berlins keine wesentliche Einbuße
davon haben, wenn in einem zentraler gelegenen Orte Mittel¬
deutschlands, der weniger kompromittiert ist wie Berlin,
der Verwaltungskörper des Einheitsstaates seihe Zelte auf¬
schlägt.
Tatsächlich handelt es sich bei der Verwirklichung ..des
Einheitsstaates !nur mehr um die formelle Anerkennung eines
bereits bestehenden Zustand.es. Nachdem die Finanzhoheit, die
Militärhoheit der Bundesstaaten bereits auf das Reich über-
gegangen sind, nachdem Verkehrseinrichtungen, Post usw.
völlig verreichlicht sind, haben die Ministerien und Parla¬
mente der Bundesstaaten eigentlich keine Daseinsberechti¬
gung mehr. Es ist logisch, daß nun auch der letzte Schritt
noch getan werde, aber es ist wünschenswert, zu verhindern,
daß über diesen letzten Schritt schwere politische Kämpfe
entbrennen, die die Gefahr des Auseinanderfallens des Reiches
naherücken. Dieser Weg kann durch Verzicht auf Berlin
als Reichshauptstadt gefunden werden. ■ Es unterliegt auch
gar keinem Zweifel, daß das süddeutschere eits geltend ge¬
machte Bedenken, daß der Sitz der Reichsbehörden in Berlin
diese -mehr oder weniger in Abhängigkeit Von der gewaltig
entwickelten Stadt bringen müsse, richtig ist. Niemand ent¬
zieht sich auf die Dauer der Entwicklung seiner unmittelbaren
Umgebung, am wenigsten aber Behörden, die in einem engen
Kontakt mit dem Leben und Treiben des Wirtschaftskörpers
stehen, innerhalb dessen Bannkreis sie arbeiten.
Die Interessen Berlins sind aber nicht diejenigen Deutsch¬
lands, es ist sicher, daß diejenigen der Allgemeinheit gegen¬
über denjenigen der in Berlin maßgebenden Wirtschaftskreise
benachteiligt werden, wenn Berlin und Reichshauptstadt, also
Berlin Und Reichsregierung mehr oder weniger dasselbe sind.
Dem Wort von der öden Zentralisierung kann in diesem Falle
nicht jede Berechtigung abgesprochen werden.
Es ist klar, daß die Schaffung einer neuen Reichshaupt¬
stadt in Mitteldeutschland dem Reiche Kosten verursachen
würde. Diese Kosten werden aber um so weniger von Be¬
deutung sein, als wir Erwerbslose genug im Lande haben, die
dort nutzbringende Beschäftigung finden könnten. Es ist
wirtschaftlicher, sie für geleistete Arbeit entsprechend zu
□ igitizecf by
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Ein Normallohnsystem.
1365
entlohnen, als sie auf die auch von der Allgemeinheit auf¬
zubringende Erwerbslosenunterstützung anzuweisen. Der Ver¬
kauf der in Berlin überflüssig werdenden Gebäude würde
Mittel für die neuzuschaffende Reichshauptstadt zur Ver¬
fügung stellen, die freigewordenen Schlösser Mitteldeutsch¬
lands, Fürstensitze und dergleichen können zur Einrichtung
der Reichsbehörden mit herangezogen werden; die Schwierig¬
keiten werden um so geringer sein, je sparsamer und ein¬
facher sich die Reichsleitung einrichtet. Die Entfernung von
dem luxuriösen Leben Berlins wird der einfacheren Lebens¬
weise, die dem verarmten deutschen Volk allein ansteht, wün¬
schenswerten Vorschub leisten.
Ich habe es für meine Verpflichtung gehalten, diese ganz
Deutschland an seinem Lebensnerv berührende Frage ohne
Rücksicht auf Empfindlichkeiten zu behandeln. Mir erschien
es Wichtig, noch einmal ernstlich darauf hinzu weisen, daß
in Süddeutschland starke Strömungen bestehen, die einem
Aufgehen der Bundesstaaten im Preußentum, dessen große
Eigenschaften ich voll und ganz anerkenne, und vor allem
im Berlinertum mit aller Kraft entgegenwirken. Es wird
bei aller Energie in der Sache doch in der Form der Ver¬
wirklichung des deutschen Einheitsstaates ein Weg gefunden
werden müssen, der dem bayrischen Standpunkt in gewisser
Beziehung Rechnung trägt, wenn man schwere Erschütte¬
rungen des politischen Lebens, bayrische Sonderpolitik oder
zum mindesten starke Reichsverdrossenheit großer süddeut¬
scher Kreise vermeiden will. Videant consules, ne quid
detrimenti capiat res publica.
Dr. G. VON FRANKENBERG:
Ein Normallohnsystem.
QHNE stilistischen Ehrgeiz sei hier ein Plan entwickelt,
v wie uns und dem Reiche in sozialistischem Geiste ge¬
holfen werden kann. Scheint der Vorschlag zu kühn, so
bedenke man, daß unsere Lage verzweifelt ist.
Wir ersticken in Streiks und Lohnforderungen. Wird in
einem Gewerbe der Lohn aufgebessert, so ist das Anlaß
zu Mehrforderungen in drei anderen. Wen wundert das?
Man will gern teure Zeit und knappe Bezüge ertragen, solange
man weiß, daß es niemand besser hat. Wenn aber der Nacn-
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1366
Ein Normallohnsystem.
bar, weil er ein anderes Handwerk gelernt hat oder in einem
anderen Betrieb arbeitet, für seine acht Stunden Tagesarbeit
zwei Mark mehr bekommt, als wir, die wir doch nicht
minder unter den hohen Preisen zu leiden haben, so wurmt
uns das mit Recht.
Weiter! Die alten Beamten beklagen sich — ebenfalls mit
Recht! —, daß viele Arbeiter sich besser stehen als sie.
Es ist lohnender, Müllkutscher oder Schlachtergesellje zu
sein, als Universitätsprofessor oder Oberlehrer. War es dies,
was wir unter „sozialem Ausgleich“ verstanden?
Weiter! Während der Familienvater in Sorgen ist, wie
er die Seinen bei den schweren Zeiten durchbringen soll,
müssen sich die jungen Burschen die Lunge entzweirauchen,
um ihr Einkommen nur einigermaßen kleinzukriegen. Un¬
geordnete wirtschaftliche Zustände, wohin man blickt!
Lohn ist bei uns der Tauschwert oder Kaufpreis für ge¬
leistete bzw. zu leistende Dienste. Dies System, den Lohn
nach dem augenblicklichen Marktpreis der Ware Arbeits¬
kraft zu bemessen, hat einen prinzipiellen Mangel. Es fragt
nach dem Grunde, statt nach dem Zweck. Lohn sollte ver¬
nünftigerweise gewährt werden als ein Mittel zur Erhaltung
und Steigerung der Arbeitskraft. Daheim bekommen wir
unser Essen nicht, weil wir heute recht viel für die Fa¬
milie getan haben, sondern, 1 damit wir morgen stark zur
Arbeit sind.
Dies ist die sozialtheoretische Grundlage, auf der ein
Lohnsystem aufgebaut sein müßte, um sich in das Gebäude
unserer Ideen einzufügen. Im übrigen mag der folgende Plan
für sich selber sprechen. Ich fasse mich so kurz wie
möglich.
1. Für alle, die im Dienst des Staates oder eines pri¬
vaten Arbeitgebers stehen, wird ein Normaleinkommen fest¬
gesetzt.
2. Das Normaleinkommen wird nach dem Familienstande
gestaffelt, das heißt es wird für die Ehefrau und jedes Kind
ein ausreichender Zuschlag gezahlt.
3. Das Normaleinkommen wird vom Staate ausgezahlt.
4. Der private Arbeitgeber hat dem Staate nicht etwa die
von diesem tatsächlich gezahlten Beträge zu vergüten, son¬
dern er erstattet für jeden Arbeiter einen Pauschsatz.
5. Der Pauschsatz wird für das ganze Reich einheitlich
bemessen, und zwar so hoch, daß er etwa dem Betrage
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Ein Normallohnsystem.
1367
gleichkommt, den der Staat einem verheirateten Arbeiter
mit vier Kindern zu zahlen hat. Außerdem muß Invalidi-
täts- und Altersversicherung in den Pauschsatz eingerechnet
sein.
6. An Orten, die hinsichtlich ihrer Wohnungs- und Er¬
nährungsverhältnisse besonders ungünstig dastehen, wird vor¬
läufig eine Teuerungszulage gewährt. Lieber ihre Zustän¬
digkeit und Höhe entscheidet eine unbeteiligte Zentral¬
behörde.
7. Als Grundsatz gilt, daß nicht die Leistung ■, sondern
der gute Wille belohnt werden soll. Durch Mißgeschick,
Körperschwäche oder andere Hindernisse, deren Beseitigung
nicht in seiner Macht steht, soll also niemanden sein Ein¬
kommen geschmälert werden. Da aber, — infolge der Ge¬
wöhnung an das kapitalistisch-individualistische wirtschafts,-
system —, auf ein hinreichend starkes Pflichtgefühl im
allgemeinen noch nicht gerechnet werden darf, wird für
diejenigen, die sichtlich ihr Bestes leisten, eine nachträglich 1
zahlbare Fleißzulage festgesetzt. Ueber ihre Gewährung ent¬
scheidet der unmittelbare Vorgesetzte.
8. Eine Zulage für Schwerarbeit wird nicht gewährt, son¬
dern in den anstrengendsten Und ungesundesten Betrieben
wird die tägliche Arbeitszeit herabgesetzt.
* *
*
Hierzu noch einige Bemerkungen:
Zu 1.: Die Höhe des Normaleinkommens ist natürlich
abhängig von der wirtschaftlichen Lage des Volkes. Sobald
die Verhältnisse es gestatten, ist es so reichlich zu bemessen,
daß, über das unmittelbare Bedürfnis hinaus Spielraum füir
die individuellen Neigungen des einzelnen geschaffen wird.
Zu 4.: Diese Art der Regelung ist notwendig, weil andern¬
falls die privaten Arfjeitgeber unter sonst gleichen Um¬
ständen Kinderlose und Unverheiratete vorziehen würden.
Zum weiteren Verständnis des Punktes 4 diene folgendes
Beispiel: Der Privatunternehmer meldet dem Staat an: „Ich
hatte diesen Monat 20 Arbeiter laut beifolgender Liste in
Dienst. Die ersten sechs verdienen die Fleißzulage.“ Dar¬
aufhin überweist der Staat den 20 Arbeitern, deren Familien¬
verhältnisse ihm bekannt sind, auf ihr Konto ihre individuell
verschiedenen Gebührnisse au$ Staatsmitteln und erhebt dafür
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Original fro-m
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1368
Glossen.
seinerseits vom Unternehmer das Zwanzigfache des er¬
wähnten Durchschnittslohnsatzes.
Zu 5.: Auch die Kosten der Arbeitslosenfürsorge ließen
Sich nach meiner Ansicht durch die Differenz zwischen
Pauschsatz und tatsächlich vom Staate gezahlten Durch-
schnittslohn decken.
Zu 7.: Will man auf die höheren Beamten des Staats
und der Privatbetriebe besondere Rücksicht nehmen, — ein
Zugeständnis an das Bestehende, .über dessen Berechtigung
ich hier kein Urteil fällen möchte —, so bewillige man ihnen
fürs erste noch eine (für alle Grade und Kategorien einheit¬
lich festgesetzte) Aufwandszulage. Fällt diese dann später
weg, so werden trotzdem nur diejenigen höheren Beamten in
die Schar der mittleren und niederen hinabtauchen wollen,
die tatsächlich nicht auf die Führerposten gehören.
Kosten dürfen und werden dem Staat durch die Einfüh¬
rung dieses Lohnsystems nicht erwachsen, sondern bei rich¬
tiger Bemessung des Pauschsatzes wird umgekehrt ein er¬
heblicher Ueberschuß herausspringen, der zur Deckung des
sehr einfachen Verwaltungsapparats vollauf ausreicht.
Dixi et animam salvavi!
Zu Eduard Wenzels „sozialistischem Zukunftsstaat".
Der in Nummer 40 der „Glocke“ so ausführlich ge¬
schilderte sozialistische Zukunftsstaat ist in Deutschland nicht
eine Tatsache von morgen, sondern eine Tatsache von gestern;
denn eine derartige „Verbrauchssammlung durch den Staat“
haben wir ja bereits, wenn auch in einer anderen Auflage,
während des Krieges in den Einrichtungen der „Reichskriegs¬
wirtschaftsbehörden“ zur Genüge zu bewundern Gelegen¬
heit gehabt. Was diese „Wirtschaft“ gekostet hat, wissen
wir heute noch nicht, vielleicht erfahren wir es später
einmal.
Die Funktionen, die der Artikelschreiber dem Staate zu¬
schiebt, sind dieselben, die, im verkleinerten Maßstabe, eine
Großeinkaufsgenossenschaft oder eine Konsumanstalt auszu¬
üben hat. Diese Einrichtungen sind ja äußerst vorteilhaft
nicht nur für den Konsumenten oder Käufer, sondern auch
für die Allgemeinheit, da sie „preisdrückend“ ^uf den Handel
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Glossen.
1369
wirken (können. Aber diese „Staatsgroßeinkaufs- und Konsum¬
gesellschaft“ ist doch etwas anderes.
Der Aufbau des „sozialistischen Zukunftsstaates“, wie er
in Nummer 40 der „Glocke“ gegliedert ist — wobei ich be¬
merke, daß von „Sozialismus“ eigentlich kaum die Rede sein
kann —, hat Lücken, Lücken, Lücken. . .
Zwei gewaltige Faktoren hat der Herr Artikelschreiber
übersehen:
1. den Egoismus und die Profitgier der Unternehmer, die
dem „Erzeugerverband“ angehören;
2. den Auslandsmarkt, ohne den Deutschland nicht aus-
kommen kann.
Die Unternehmer sind sich sehr schnell einig, wenn sie
etwas dabei verdienen können. U,nd da dem Staate ein Einfluß
aut die Produktion nicht gegeben ist, wird man ihm, wie
bisher, das Schlechteste zu höchsten Preisen verkaufen, und
dies um so mehr, als die Bearbeitung dieser Staatsaufträge im
einzelnen nach Mustern, Farben, Formen, Ausführungen, Grö¬
ßen, Qualitäten usw. den „Erzeugerverbänden“, das heißt
den berufensten Fachmännern der privaten Wirtschaft, über¬
lassen bleiben soll. Das genügt, um den Staat in Kürze zu
ruinieren. Walter Rathenaus „Neue Wirtschaft“ ist doch
etwas anders aufzufassen. Der Genannte hat doch wohl in
alllererster Linie die Hebung der Güter Erzeugung propa¬
giert, so eine ausgebaute „Taylorsche wissenschaftliche Be-
triebsführung“.
Um nun zu produzieren, brauchen wir Rohstoffe, die wir
zu einem großen Teil aus dem Auslande beziehen müssen.
Da Geld keinen Wert mehr haben, sondern lediglich eine
Anweisung auf Ware darstellen soll, müßten wir also die
Rohstoffe im Auslande mit Erzeugnissen der in den „Er¬
zeugerverbänden“ zusammengeschlossenen Produzenten be¬
zahlen, also mit „staatlichen“ Einheitsgegenständen. Ob
hierfür das Ausland so begieriger Abnehmer sein wird, möchte
ich bezweifeln.
Nicht beim Einkauf, sondern bei der Erzeugung muß der
Hebel angesetzt werden, durch Ueberführung der Produktions¬
mittel an die Allgemeinheit, oder, sofern dies noch nicht
überall möglich ist, durch Ueberwachung der Produktion
durch die Allgemeinheit. Nur so können wir zu einer Ge¬
sundung des Wirtschaftslebens kommen. Adolf Quosig.
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1370
Bücherschau.
Bücherschau.
Arno Holz: „Gesammelte Werke.“ Verlag Bong & Co.
Berlin 1920.
„Und d*r Künstlerfanatismus und männliche Ernst des
Malers Hollrieder, des Helden der „Sonnenfinsternis“, muß
jeden Leser zwingen, noch einmal das schwere Problem des
Dichters und Theoretikers Holz zu durchdenken.“ Albert
Soergel spricht mit diesen Worten das Gefühl aus, daß
jeden ernsthaften Menschen beim Lesen eines Werkes von
Arno Holz überkommt. Die Klarsehendsten unserer Zeit
haben das tiefe Verantwortlichkeitsgefühl diesem einsam
Schaffenden gegenüber längst zum Ausdruck gebracht, indem
sie sich ernst und nachdrücklich für seine Sache einsetzten.
Dem Lesepublikum war die Klarwerdung über die Bedeutung
des Werkes Arno Holz' bisher äußerst erschwert.
Einer Clique, die seinen Namen aufdonnerte und mit der
Blechposaune pathetischer Theorie für ihn auf dem Jahr¬
markt unserer modernen Literatur Reklame machte, hat Arno
Holz nie angehört. Sein Schaffen war einsame, härteste
Arbeit an sich selbst, abseits vom Wege der Literaturströ¬
mungen. Dennoch mußte es gerade ihm passieren, daß die
Literaturgeschichten ihn als „konsequenten Naturalisten“ ejn-
schachtelten und ihn, mit solcher Blechmarke versehen, in
ihre Grabkammern legten. Er selbst hat von jeher jeden Is¬
mus abgelehnt. Sein „Buch der Zeit“, welches das entschei¬
dende Werk der damaligen Generation war und als solches
auch begrüßt wurde^ zeigte ihm selbst, daß diese Form zur
Gestaltung seines Seeleninhalts zu schwach war. So sah
er da bereits Stillstand, wo andere Fortschritt priesen. Ihn
machte Lob nicht blind — er ging seinen Weg. Es kamen
Jahre intensivster Arbeit an seinem Mittel, am Wort. Wäh¬
rend er arbeitete, übernahmen Freunde Teilergebnisse als
Theorie und schufen danach. Der deutsche „konsequente
Naturalismus“ begann. Doch er hatte einen zu kurzen Atem,
und als er endgültig zusammenkrachte, blieb, nach Maximilian
Hardens Wort, nur einer aufrecht: Arno Holz. Warum?
Weil ihm Mittel gewesen war, was den anderen Zweck war,
weil er jahrelang unter bittersten Qualen da weiter gearbeitet
hatte, wo andere schon glaubten, gestalten zu können. Und
als er dann mit seinen „Sozialaristokraten“ herauskam, mußte
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Bücherschau.
1371
jeder Einsichtige spüren, daß fes sich hier nicht mehr um
die Durchsetzung einer Ismustheorie handelte, sondern, daß
hier der Atem eines Künstlers wehte, der auf dem Wege
war, sich für sein Gestaltenwollen bisher ungeahnte, neue
Mittelmöglichkeiten zu schaffen. Die Anerkennung blieb wie
immer aus. Dieselben Wege wie im Drama ging Arno Holz
bald darauf in der Lyrik. Die gigantische; unverstandene
Arbeit zermürbte ihn endlich, und so erschienen als „Er¬
holung“, „als leichtes Spiel“: Dafnis Und die Blechschmiede“.
Beides Meisterwerke in der alten Form. Und nun waren die
Literaturpropheten da, und stellten triumphierend fest, daß
Arno Holz sich selbst ad absurdum geführt hätte. Die
Woge der Verständnislosigkeit und Böswilligkeit schlug über
ihm zusammen. Und doch blieb er fest. Jetzt wußte er, daß
er seine Mittel restlos beherrschte. Und jetzt erst gab
er sich das Recht, an das Gestalten seiner inneren Welt
zu gehen. Die Ergebnisse, trotz jahrelanger, bitterster, ma¬
terieller Not, trotz Anfeindungen von allen Seiten, liegen
vor in den beiden großen Dramen „Sonnenfinsternis“ und
„Ignorabimus“ und in seinem lyrischen Werk „Phantasus“.
Erst jetzt fangen die Literaturberufenen an, zu begreifen,
was in und mit Arno Holz an menschlichen und ästhetischen
Neuwerten gewachsen ist. Die ungeheure Konzeption des
„Phantasus“ als lyrisches Weltbild und des Dramenzyklus
* „Berlin. Die Wende einer Zeit in Dramen“ als dramatisches
Zeitbild wird langsam klar. Der Durchsetzung dieser Er¬
kenntnis im Volk stand bisher das rein äußerliche, gerade
deshalb aber um so größere Hindernis entgegen, daß die
literarische Produktion des Dichters Arno Holz total un¬
übersichtlich in den verschiedensten Verlagshhäusem zer¬
streut lag. Der Verlag Bong & Co., der jetzt das gesamte
literarische Werk Arno Holz’ übernommen hat, eröffnet die
Neuherausgabe der Schriften in vorzüglichster Weise mit
der Veröffentlichung: „Das ausgewählte Werk“. Damit sind
die äußeren Schwierigkeiten des Bekanntwerdens der lite¬
rarischen Leistung Holzens behoben. Weitere Hinderungen
seines endlichen Durchsetzens können sich demnach nur
noch aus der Verständnislosigkeit der Zeit diesem großen
und ernsten Problem gegenüber ergeben. Hoffen wir, das
nicht von Deutschland und seinem Volke. „Das ausgewählte
Werk“ gibt eine vollständig klare Uebersicht, ist geeignet,
die innere einheitliche Linie, den literarischen Nerv der Sache
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1372
Bücherschau.
spürbar werden zu lassen und vermittelt einen ungefähren
Eindruck des Monumentalbaues Holzschen Kunstschaffens.
Weiß heute in Deutschland noch jemand, was große Kunst
ist? Dieses Werk kann es zeigen. Heinz Blücher.
*
Professor Dr. J. Plenge: Die Stammformen der verglei¬
chenden Wirtschaftstheorie. Baedekers Verlag. Essen
an der Ruhr. 1919.
Einer der lebhaftesten und fruchtbarsten sozialökonomi¬
schen Universitätslehrer unserer Zjeit ist Professor Dr. Johann
Plenge. Er ist ethischer Sozialist und realistischer Wirt¬
schaftsforscher und steht uns nahe, obwohl kein Marxist
ihn als Sozialdemokraten anzuerkennen vermöchte. Er ist
jetzt damit beschäftigt, eine „Staatswissenschaftliche Lehr¬
bibliothek“ herauszugeben, um in das Verständnis des gan¬
zen Staats- und Gesellschaftslebens einzuführen. Dieses Ver¬
ständnis wird — wie Plenge richtig sieht — sehr erleichtert,
wenn man die Aufeinanderfolge und die Kennzeichen der
einzelnen Wirtschaftsstufen erforscht und miteinander ver¬
gleicht. Nur hierdurch entsteht im Geiste des Lesers ein
klares Bild der wirtschaftlichen Vergangenheit und Gegen¬
wart. Als Einführung in die von ihm in diesem Sinne ge¬
leitete Bibliothek der „Staatswissenschaftlichen Musterbücher“
veröffentlichte Plenge die obengenannte Schrift; sie soll
ein Grundbuch der volkswirtschaftlichen Ausbildung werden.
Sie enthält charakteristische Auszüge aus den staatswissen-
schaftlichen und volkswirtschaftlichen Arbeiten der größten
Denker aller Zeiten.
Aristoteles belehrt uns über Urproduktion, Tausch- und
Geldwirtschaft; Adam Smith über Wirtschaftsstufen und
Kriegswesen, Recht, Erziehung, Städtebildung und Manufak¬
turen ; Friedrich List über Berufsstufen und Nationalkämpfe;
Marx über Klassenkämpfe und die bewegenden Kräfte der
Gesellschaft; Schönberg über Haus-, Stadt- und Volkswirt¬
schaft. Die Uebersetzungen sind klar und einfach; das ganze
gibt die Grundzüge der Entwicklung des Wirtschaftslebens.
Das Buch ist auch Nichtstudierenden zu empfehlen. Viel¬
leicht würde es nützlich gewesen sein, einen charakteristischen
Auszug aus Cairnes „Slave Power“ zu bringen, da die Skla¬
verei jahrtausendelang die Grundlage der Wirtschaft bildete.
M. Beer.
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VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
BERLIN SW68 LINDENSTR. 114
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führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre
des reifen Mannesalters. Scheidemann selbst hat — vielleicht
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen
Entwicklungsgang beschrieben.
Bezug durch alle Buchhandlungen
sowie direkt vom
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
BERLIN SW 68 LINDENSTR. 114
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Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin.
Druck und Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, LindenstraBc 114.
Fernruf: Moritzplatz Nr. 2218,1448—1450.
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5. Jahrg. 2. Band
Iß 44
31. Januar 1920
Die Glocke
Herausgegeben von
parvus
50 Pfennig
Verlaj: für Sozial Wissenschaft, Berlin SW 68
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DIE GLOCKE
Sozialistische Wochenschrift
' Herausgeber: Parvus
Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post
oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Mk. 6,—,
Einzelhefte 50 Pt, Porto 5 Pf.
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Berlin SW 68, Lindenstr. 114. Postscheckkonto: 27576 Berlin
INHALT DIESER NUMMER:
Der Vormarsch der englischen Arbeiterpartei . 1373
Dr. John A. Dewdney: Amerikanische Spionage
im Kriege.1375
Guido Knörzer: Völkerbund und Völkerstaat. . 1379
Oberlehrer Dr. F.rich Witte: Die akademisch ge¬
bildeten Lehrer Deutschlands ü d. Schulreform 1382
Hans von Kiesling: Spanien. 1387
Peter Knute: Tokio-Washington-London-Moskau 1392
BUcherSchau. 1396
Nummer 43 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt:
Hermann Müller: Das Betriebsrätegesetz . . . 1341
Herman George Scheffauer (Kalifornien): Ame¬
rika und der Frieden von Versailles .... 1344
Peter Knute: Moskau und Mekka. 1354
Hans von Kiesling: Bayern und der Einheitsstaat 1358
Dr. G. v. Frankenberg: Ein Normallohnsystem 1365
Glossen: Zukunftsstaatsdebatte.1368
Bücherschau: Arno Holz, „Gesammelte Werke“
und Prof Dr. J Plenge, „Die Stammformen
der vergleichenden Wirtschaftstheorie“ . . . 1370
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
‘•A*
DE GLOCKE
44. Heft 31. Januar 1920 5. Jahrg.
Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet
Ein englischer Genasse schreibt uns:
D A "
Der Vormarsch der englischen
Arbeiterpartei.
englische Parlament vertagte sich unmittelbar vor
Weihnachten und wird erst im Februar wieder zusammen¬
treten. Das erste Jahr der neuen Regierung genügte, ihre
im Dezember 1918 errungenen Lorbeeren last vollständig
zu vernichten. Die öffentliche Meinung ist offenbar ent¬
täuscht. Im Dezember 1919 fanden drei parlamentarische
Ersatzwahlen statt, die diese Enttäuschung ziffermäßig zum
Ausdruck brachten. In St. Albans (einige Kilometer nördlich
von London), einem alten konservativen Wahlkreise, wo vor
einem Jahre der Regierungskandidat ohne jede Opposition
gewählt worden war, mußte jetzt die Regierung einen schwe¬
ren Kampf ausfechten und ihr Kandidat wurde nur mit einer
Mehrheit von 700 Stimmen gegen den Arbeiterkandidaten
gewählt. Noch merkwürdiger war das Wahlergebnis in Brom-
ley, einer südöstlichen Vorstadt Londons. Vor einem Jahre
gab es dort gar keine politische Arbeiterorganisation. Bei
den Wahlen siegte der Regierungskandidat mit 17 000 Stimmen
gegen 4500 liberale Stimmen. Diesmal bewarb sich auch ein
Arbeiter um das Mandat !und vereinigte auf sich 10 000
Stimmen und blieb nur um 1000 Stimmen gegenüber dem
Regierlungskandidaten szurück. Die dritte Wahl wurde in
Spen Valley (Yorkshire) vorgenommen. Das Ergebnis zeigt,
wie schnell die Regierung an Boden verliert. Drei Kandidaten
bewarben sich um die Gunst der Wähler: ein konservativer
(Oberst FairfaxL ein linksliberaler (Sir John Simon) und
der Arbeiter und Sozialist Tom Myers. Der Wahlkampf war
außerordentlich lebhaft. Sämtliche konservativen und libe¬
ralen Größen des Landes sprachen und wirkten im Wahlkreise.
Außerordentlich •waren die Anstrengungen der Liberalen, denn
44/1
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1374
Der Vormarsch jder englischen Arbeiterpartei.
Sir John Simon (gilt als der nächste liberale Premierminister
und gehört zu den bedeutendsten Männern Englands, feiner
der Kandidaten konnte sich mit ihm an politischem Anseben,
an parlamentarischer Erfahrung und Beredsamkeit verglei¬
chen. Nichtsdestoweniger siegte der Sozialist mit 12 000
Stimmen gegen 10 000 liberale und 8000 konservative.
Dies war auch der einzige Wahlkreis, in dem der Liberale
eine lerhebliche Stimmenzahl erhalten hat. In allen übrigen
Ersatzwahlen schnitten die Liberalen am schlechtesten ab.
Faßt man^das Ergebnis der drei obengenannten Ersatzwahlen
zusammen, so vereinigte die Arbeiterpartei auf sich eine Ge-
samtstimmenzahl von 31 000, die Regierung 29 000, die Libe¬
ralen nur 14500. Die Ansicht herrscht allgemein vor, daß
die liberale Partei im Absterben begriffen ist. Die meisten
liberalen Wähler geben zur Arbeiterpartei über; auch die
fortgeschrittensten liberalen Wahlprogramme sind nicht mehr
imstande, die Wählermassein dem Liberalismus zuzuführenj
Diese Partei scheint endgültig das Vertrauen des Volkes ein¬
gebüßt zu haben. >
Ueber seinen Wahlerfolg schreibt Tom Myers im „Labour
Leader“: „ . . . Die Anzeichen, daß eine tiefe Aenderung
in den Ansichten der Arbeiterbevölkerung vor sich geht, traten
im letzten Wahlkampfe mit aller Klarbeit hervor. Bei den
Wahlen im Dezember 1918 hörte man überall die milita,-
ristische Frage an die Kandidaten: „Was haben Sie wäh¬
rend des Weltkrieges gemacht?“ Jetzt hört man nichts
mehr davon. Wahrscheinlich der stärkste Beifall, der mir
zuteil wurde, brach aus, als ich erklärte, daß ich
während des Krieges für einen Verständigungsfrieden wirkte,
und daß ein solcher uns viel größeren Nutzen gebracht hätte,
als der Versailler Friede. Und als ich weiter sagte, daß ein
Verständigungsfriede Millionen von Leben erspart hätte, bra¬
chen die Zuhörer in einen stürmischen, gar nicht enden¬
wollenden Beifall aus. Unser Volk ist über die Früchte
des Krieges bitter enttäuscht. Es blickt mit Schmerz auf
das Chaos und den Hunger in Mittel- und Osteuropa. Es
fragt:.„Was haben wir von all den Opfern, die wir brach¬
ten ?“, Es beginnt zu verstehen, wer sein wirklicher Feind
ist. Im Wahlkampfe brandmarkten wir die räuberischen
Schiebereien der Trusts, der Kartelle und Ringe, die Preis¬
steigerungen, die schwindelhaften Spekulationen, und wir
zeigten auch, wie wir Sozialisten uns bemühten, das Volk
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1375
Amerikanische Spionage im Kriege.
vor Erpressungen zu schützen. Wir entwickelten auch unser
sozialistisches Programm und zeigten den Massen, daß ihre
einzige Hilfe in der vergesellschafteten Produktion zu finden
sei. wir agitierten für die Sozialisierung der Bergwerke und
Eisenbahnen, ebenso für eine sozialistische Finanzreform und
für eine starke Vermögensabgabe. Entschieden bekämpften
wir die Uebel unserer imperialistischen Politik gegenüber
Rußland, Indien und Aegypten, und wir führten die Folgen
der bösartigen äußeren Politik unserer Diplomatie den Wäh¬
lern vor Augen. Unsere Forderung, alle kolonialen und aus¬
wärtigen Fragen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes
zu lösen, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Ich kann
nur sagen, daß die beliebtesten Riedner diejenigen waren, die
unseren sozialistischen Standpunkt am klarsten und entschie¬
densten vertraten/ 4
Eine der interessantesten parlamentarischen Ersatzwahlen
findet nächstens in Paisley (bei Glasgow) statt. Wahrschein¬
lich wird auch dieser Wahlkampf dreieckig sein, das heißt,
es werden sich drei Kandidaten um das erledigte Mandat be¬
werben. Die Liberalen sind geneigt, ihren größten Führer,
den früheren ersten Minister Asquith aufzustellen, um ihm
Gelegenheit zu geben, mit Lloyd George im Parlamente ab¬
zurechnen. Für die Arbeiterpartei kandidiert der Sozialist
Biggar, dessen Wahlprogramm folgende drei Punkte enthält:
Sozialisierung, Revision des Versailler Friedens, inten;aiio-
nales Zusammengehen der Arbeiter aller Länder.
Dr. JOHN A. DEWDNEY:
" Amerikanische Spionage im Kriege.
Amerikanische Gelehrte als Spione im Ausland.
F\ER berühmte Anthropologe Professor Franz Boas vom
^ Rockefellerinstitut in Neuyork veröffentlicht in der fort¬
schrittlichen Wochenschrift „The Nation 44 (Nummer vom
20. Dezember 1919) folgenden sensationellen Artikel:
„Wissenschaftler als Spione.
In seiner an den Kongreß in Washington gerichteten, Kriegs¬
ansprache verweilte Präsident Wilson des längeren bei der
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1376
Amerikanische Spionage im Kriege.
Theorie, daß nur Autokratien Spionage unterhalten, Demo¬
kratien sie nicht nötig haben. Zur Zeit, da der Präsident v
diese Erklärung abgab, hielt die Vereinigte-Staaten-Regierung
Spione in unbekannter Anzahl beschäftigt. An die Kluft
zwischen des Präsidenten Worte und den wirklichen Tat¬
sachen sind wir gewöhnt; doch damit befasse ich mich in
diesem Augenblicke nicht, obwohl wir seine Erklärung dahin
aufzufassen berechtigt wären, daß wir unter einer Auto¬
kratie leben, das heißt, daß unsere Demokratie eine Fiktion
ist. Wogegen ich hier aber kräftigen Protest einlegen will,
ist dies, daß eine Anzahl von Leuten, die beruflich der Wissen- *
schaft angehörten, und die ich fortan nicht mehr als Wissen¬
schaftler bezeichnen kann, ihre Wissenschaft prostituiert
haben, indem sie dieselbe als Deckmantel für Spionage¬
tätigkeit mißbrauchten.
Ein Soldat, dessen Aufgabe der Mord als Künstlerwerk
ist; ein Diplomat, (dessen .Beruf ,auf Täuschung und Geheimnis¬
krämerei beruht; ein amerikanischer Redaktionspolitiker, des¬
sen ganzes Leben in Kompromissen mit seinem Gewissen be¬
steht ; ein Geschäftsmann, dessen Ziel in persönlichem Ge¬
winn liegt innerhalb der Grenzen, die ihm ein nachsichtiges
Gesetz erlaubt — für alle diese Leute mag es eine Entschuldi¬
gung geben, wenn sie patriotische Hingebung für etwas
Höheres halten, als gewöhnlichen Anstand und Spionagedienst
verrichten; sie fügen sich lediglich dem Sittlichkeitskodex,
zu welchen die moderne Gesellschaft sich bekennt. Der
Wissenschaftler soll auf höherer Warte stehen; denn seine
eigentliche und seine Lebensessenz muß der Wahrheitsdienst
sein’ Zwar sind uns allen Wissenschaftler bekannt, die im
Privatleben zur Höhe voller Wahrhaftigkeit sich nicht er¬
heben, aber gleichwohl sich nicht erniedrigen, die Resultate
ihrer Forschungen wissentlich zu fälschen! Es ist schlimm
genug, daß wir uns diese Leute gefallen lassen müssen, die
einen Mangel ,an Charakteristik zeigen, der ihre Arbe^tserfolge
zu schädigen droht. Wenn aber einer die Wissenschaft als
Deckmantel für politische Spionage benutzt und die Gemein¬
heit begeht, yor einer ausländischen Regierung als Forscher
zu posieren, sie um Beistand zu bitten nir seine angeblichen
Untersuchungen, um, unter dieser Hülle, seine politischen
Machinationen auszuführen, der prostituiert die Wissenschaft
in unverzeihlicher Weise und verwirkt das Recht, zu den
Wissenschaftlern gezählt zu werden.
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Amerikanische Spionage im Kriege,
1377
Zufällig bin ich in den Besitz unwiderleglichen Beweises
gelangt, daß mindestens 4 (vier) Männer, die anthropologische
Arbeit verrichten, während sie als Regierungsspione angestellt
sind, sich ausländischen Regierungen als Vertreter wissen¬
schaftlicher Institute in den Vereinigten Staaten vorgestellt
haben und ' als ausgesandt, um wissenschaftliche Unter¬
suchungen anzustellen. Sie haben nicht nur den Glauben an
die Wissenschaftswahrhaftigkeit erschüttert, sondern wissen¬
schaftlicher Forschung den denkbar schlimmsten Schaden
bereitet. Die Folge wird sein, daß jede Nation einen besuchen¬
den wissenschaftlichen Forscher, der ehrliche Arbeit ver¬
richten will, Mißtrauen entgegenbringen, ihn dunkler Pläne
verdächtig halten wird.
Es ist hierdurch eine neue Barriere gegen Entfaltung inter¬
nationaler freundlicher Kooperation errichtet worden.“
Ich bemerke zu dieser Erklärung des Professors Franz
Boas:
Sie ist vom 16. Oktober datiert, aber erst in der- „Nation“
vom 20. Dezember gedruckt.
Der Grund des neunwöchigen Zeitabstandes zwischen Ein¬
sendung und Veröffentlichung ist leicht zu erklären. Der
Chef des Blattes, Herr Villars (Sohn des Pfälzers Hilgard,
der die „Northern Pacific Bahn“ vor 55 Jahren erbaute und
für Carl Schurz- die „New York Evening Post“ gründete,
die vor zwei Jahren an das Morgansyndikat verkauft werden
mußte, weil eine zum Pazifismus neigende Tageszeitung die
Kriegshetze nicht überleben konnte), war bis zur amerikani¬
schen Kriegserklärung einer der intimsten Freunde des Prä¬
sidenten Wilson. Ohne weiteres- konnte er eine so schwere
Anklage, wie die Boassche, gegen die amerikanische Regie¬
rung nicht aufnehmen; die Untersuchung der Boasschen
Beweismittel erforderte einige Wochen Aufschub für den
Abdruck der Erklärung des Anklägers.
Boas sagt nicht, in welchem Ausland die „mindestens 4
(vier) Anthropologen“ — vermutlich vom August 1914 bis
April 1917 — „gearbeitet“ haben.
Vielleicht werden die Anthropologischen Gesellschaften zu
Berlin, München, Wien, Stadt Mexico usw. durch ergänzende
Erläuterungen die Boassche Enthüllung noch interessanter zu
gestalten in der Lage sein.
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1378
Amerikanische Spionage im Kriege,
II.
Die Arbeitergewerkschajten
im Spionagedienst gegen die Fremdgeborenen.
Vom Arbeitsminister (Secretary of the Departmentof Labor)
Wilson wurden am 15. November 1917 folgende zwei Zir¬
kulare an vertrauenswürdige Persönlichkeiten der Arbeiter¬
organisationen versandt;
Bureau
des Arbeitsministers
(Aktenzeichen)
(Nummer des Adressaten)
(Wohnort des Adressaten)
1 .
Washington, 15. November 1917.
Werter Herr!
Ich nehme mir die Freiheit, diesem Briefe ein Zirkular
beizulegen für Ihren eigenen Gebrauch, der sich von selbst
erklärt. Ich bitte Sie, jede Information, die Sie über
den darin enthaltenen Gegenstand zu erlangen imstande
sind, an das Arbeitsdepartment unter Bezeichnung mit
Nr. . . . anher gelangen zu lassen. Ihre Mitwirkung in
dieser Angelegenheit wird voll gewürdigt werden. Wenn
es gewünscht wird, soll der Name des Informenten absolut
vertraulich behandelt werden.
Achtungsvoll
Bureau
des Arbeitsministers
2 .
John B. Wilson
Sekretär.
Vertraulich! Washington , 1. Oktober 1917.
Es ist der Wunsch des Arbeitsministeriums, mitzuhelfen
bei Förderung der öffentlichen Sicherheit während des Krie¬
ges. Wir glauben, daß die große Masse der dem Feind
zugehörigen ausländischen Einwohner der Vereinigten Staa¬
ten sich loyal verhalten wird oder in jedem Falle passiv.
Alle solche Leute sollten mit äußerster Rücksicht, Höflich¬
keit und Achtung behandelt werden; sie haben eine sehr
schwere Prüfung zu bestehen.. Unzweifelhaft aber werden
manche von der kaiserlich-deutschen Regierung bezahlt
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Völkerbund und Völkerstaat.
1379
sein oder durch andere Motive sich leiten lassen, um die
Vereinigten Staaten oder deren Bürger oder Eigentum zu
schädigen. Wir haben die Empfindung, daß die Beamten
und Mitglieder von Gewerkschaften viel beitragen können
zur Förderung freundlicher Stimmung gegen loyale Aus¬
länder und gleichzeitig zur Information über solche, die
die Vereinigten Staaten zu schädigen suchen. Da Sie bei
der Arbeit und sonstwie mit ihnen in Beziehung kommen,
sind Sie wahrscheinlich imstande, hier und dort ein bi߬
chen Information über das Tun und Treiben von feind•
liehen Auslandszugehörigen aufzulesen; dies mag, in Ver¬
bindung mit ähnlicher Information, die uns von anderen
Seiten zukommt, für die Vereinigten Staaten von großem
. Werte sein. Es wird daher ersucht, alles, was Sie sehen
oder hören, das die Sicherheit der , Vereinigten Staaten
berührt, unter Nr. . . . anher zu berichten, diese Nummer
auch auf das Kuvert zu setzen, damit der Bericht schnell¬
stens Zur Verwendung gelange.
\ John B. Wilson
Sekretär.
Bei Inanspruchnahme aller Gewerkschaften für Ausspio-
nierung der Fremdgeborenen und der Kinder von eingewan¬
derten Deutschen läßt sich denken, wie viele Tausende unter
falscher Denunziation verhaftet, angeklagt oder interniert
worden sind.. Eine Statistik dieser Fälle ist noch nicht be¬
kannt; ob nach Friedensschluß die genauen Ziffern der
Oeffentlichkeit pneisgegeben werden, steht noch dahin.
GUIDO KNORZER:
Völkerbund und Völkerstaat.
P)IE geistige Weltrevolution, die soziale Bewegungen und
u Ausbrüche nur als ihre natürlichen Begleiterscheinungen
wertet, ist mit dem Weltkrieg und der Weltnot ins akute
Stadium getreten. Wie der Daseins- und Siegeskampf des
Urchristentums, wie das Emporwachsen der deutsch-römischen
Kultur des Mittelalters aus dem Wirbel der Völkerwanderung,
wird wohl die moderne Periode der ,,,Umwertung aller Werte“
Jahrhunderte in Anspruch nehmen. Eine neue Weltanschau¬
ung, der die neuen und (revolutionären Erkenntnisse der Natur-
s 44/2*
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1380
Völkerbund und Völkerstaat.
Wissenschaften die geistige Grundlage geschaffen, schickt sich
an, langsam heraufkommend einer neuen Weltordnung das
geistige Rückgrat zu formen.
Seit Protagöras gilt der Mensch als das Maß aller Dinge.
Religionen haben ihre Götter oder die Idee des Göttlichen
an die Stelle der Idee des Menschlichen gesetzt; sie sind ver¬
sunken oder versinken, sterbend befruchtend. Im Wirrwarr
des Heute ist das Prinzip der Menschlichkeit, wie schon
oft in der Menschheitsgeschichte, doch stärker als je zuvor,
emporgetaucht als wegweisender, ferner Lichtpunkt im Dun¬
kel, gleich dem Stern von Bethlehem. Im ganzen Weltkrieg
und in seinem Scheinfrieden ist der Menschlichkeitsgedanke
aus allen feindlichen Völkern und Heeren heraus in vielfäl¬
tiger Gestalt unter dem einen Namen des Völkerbundes als
Retter und Tröster einer zerrissenen Menschheit wie ein
Stern an dem Himmel der Menschensehnsucht gesteckt
worden. Jetzt ist er dem Bewußtsein der Menschheit un-
ausreißbar einverleibt, mag auch seine augenblickliche und
vorläufige Form Mißdeutung, Enttäuschung und Argwohn
hervorgerufen haben. Es kommt heute darauf an, nicht an
der Sache zu verzweifeln, weil sie zunächst unter unreifen
und unberufenen Händen mißriet, sondern im alten Glauben
an den unbegrenzten Fortschritt zum unerreichbaren Ideal
hin dem Streben nach dem erkannten Ziel der menschlichen
Gemeinschaft in Freiheit und Recht, Wohlfahrt und Geistig¬
keit die für menschliche Sohlen beschreitbare* Bahn zu be¬
reiten.
' Es muß eine Weltgemeinschaft begründet, heute vor¬
bereitet, einst vollzogen werden, die als höchste Instanz über
allen Rassen, Völkern, Klassen und Individuen steht. Eine
Weltwirtschiaftsorganisation zugunsten der Gemeinschaft aller,
unter Ausschaltung jeder Unterdrückung, mit dem obersten
Grundsatz „Kultur und Menschlichkeit“, muß alle umfassen.
Unser Zeitalter steht im doppelten Zeichen des Nationalis¬
mus und des Sozialismus. Der zur Weltgesundung geforderte
Weltstaat ist sozialistisch, aber nicht parteisozialaemokratäsch
oder -kommunistisch. Er ist nationalistisch, insofern er die
Nationalitäten anerkennt, in ihrer kulturtragenden Eigenart
fördert, das Allgemeine durch Unterstützung und Austausch
des Besonderen bereichert. Er gewährleistet die Anbahnung
einer Versöhnung der Klassen, indem er die erste Vorbedin¬
gung dazu, die Versöhnung der kapitalistisch und imperialistisch
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Völkerbund und Völkerstaat.
1381
verhetzten Völker, ermöglicht. Er rückt den Weltfrieden aus
dem Gebiet der reinen Phantasie in den Annäherungsbereich
der Wirklichkeit, indem er über einem praktischen Höchst- '
maß an Selbständigkeit der Nationalstaaten ein praktisches
Mindestmaß — dies aber unverbrüchlich — an richterlicher
und exekutiver Souveränität der Präsidentschaft der mensch¬
lichen Gesellschaft als der res publica omnium errichtet.
Zentralisation des Notwendigen geht mit Dezentralisation des
Möglichen Hand in Hand. Vertrauen, »heute fast ein Begriff
ohne Inhalt geworden, wird Allgemeingut, Selbstverständlich¬
keit, Grundlage einer neuen Sittlichkeit, Ausgangspunkt prak¬
tischer, rentabler Verwaltung, in der die Weltbeamtenschaft
der Menschheit statt einer lokalen Bureaukratie dient.
Kein „Völkerbund“ vermag die Völker zum Ziel der Ver¬
bundenheit zu führen. Alle Erfahrung der Jahrtausende
spricht gegen das neue Experiment. Ein „Bund“ ist, wenn
die Begriffe bestimmt werden sollen, wie sie es müssen, eine
freiwillige und lösbare Vereinigung, die gegen andere ge¬
braucht und mißbraucht werden kann und wird. Ein Bund,
der dagegen alle dauernd verpflichtet, ist kein „Bund“, son¬
dern ein „Staat“. Nicht nur zwischenstaatlich, sondern über¬
staatlich muß die neue Organisation sein.
Deshalb verlangt die Ordnung der Welt im Geiste der
neuen, werdenden Weltanschauung statt eines Völkerbundes
die Errichtung des Völkerstaates. Werden beide im Wesen
gleich, so spielen Namen keine Rolle mehr. Politik ist durch
die Weltwirtschaftsorganisation in großen Teilen zu ersetzen
— zum Vorteil der Menschen.
Wie die Individuen in der Familie, die Familien in der
Gemeinde, die Gemeinden im Stammesstaat, die Stammes¬
staaten im Nationalstaat, so sollen die Nationalstaaten im
Völkerstaat sorgend, schützend und fördernd umschlungen
werden —: in diesem Satze ist das Ziel aller Menschheits*
politik für unsere Zeit bestimmt.
Der Verzicht auf die Unbedingtheit der isolierten Selbst¬
herrlichkeit der untergeordneten Kategorien zugunsten der
übergeordneten ist die eigentliche politische Forcierung von
heute. Tatsächlich hat eine solche Unbedingtheit niemals
bestanden; heute ist sie schon aus wirtschaftlichen Gründen
undenkbarer als zuvor. Es handelt sich also im wesentlichen
um einen prinzipiellen Verzicht, der durch seine obligatorische
Allgemeinheit den einzelnen Körperschaften erleichtert oder
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1382 Die akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands . . .
ermöglicht wird, und der durch einen Gewinn wirklicher
Freiheit, nämlich.Bewegungsfreiheit im Rahmen des Ganzen,
mehr als aufgewogen wird. Voraussetzung der neuen Welt¬
organisation ist die Erlösung jeder Irredenta und die Aus¬
stattung der übervölkerten Nationen mit ausreichendem und
geeignetem Siedlungsland.
Dem Unterdrückten, den wurzelhafte Gesundheit vor dem
Untergang immer bewahrt hat und bewahren wird, fällt
die geschichtliche Sendung zu, wie einst das Urchristentum,
Träger der großen, der kommenden Menschenwelt Form
gebenden Idee zu sein. Deshalb wird der Weltstaat nicht aus
allgemeiner, schwärmerisch pazifistischer Sehnsucht, sondern
aus zielbewußter, nationaler Propaganda erstehen. Die Na¬
tion der stärksten Unterdrücktheit ist die berufene Nation
der geistigen Führung zum Weltstaat. Waffenmacht und
diplomatische List stehen ihr ebensowenig an, wie einst
der Königin von Schweden die Krone, die sie mit den stolz¬
bescheidenen Worten niederlegte: „Non mi bisogna e- non
basta.“ Offene, friedfertige, aber stolze, stürmische, un-
bezwingliche Propaganda des Geistes ist ihr einziges Mittel
im Kampf gegen Rückständigkeit und Barbarei. So kann
und wird sie die Menschheit an den ehernen Seilen ihrer
Geistesgewalt vorwärtsziehen, dem ewigen, ewig wachsenden
Ziel der erhöhten Menschlichkeit entgegen. Es gilt, sie zu
der Aufgabe, die sie nicht versäumen darf, zu erwecken und
zu sammeln.
Oberlehrer Dr. ERICH WITTE:
Die akademisch gebildeten Lehrer
Deutschlands über die Schulreform.
DALD nach der Revolution entwickelte sich auch unter
den akademisch gebildeten Lehrern ein großer Reform¬
eifer. Fast jeder Pnilologenverein, von dem größten, dem
Berliner, bis zu dem kleinsten, stellte eine Reihe von Leitsätzen
auf, die das deutsche Philologenblatt veröffentlichte. Es
erschien fast keine Nummer, die nicht einige solcher Kund¬
gebungen enthielt. Und das war recht so. Aus diesen Leit¬
sätzen kann die Unterrichtsverwaltung eine Fülle von An¬
regungen schöpfen. Nur konnte niemand wissen, wie eigent-
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Die akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands .. . . 1383
lieh die Mehrheit der akademisch gebildeten Lehrer über
Schulreformen denkt. Nun tagte kürzlich in Kassel der Ver¬
tretertag des Vereinsverbandes akademisch gebildeter Lehrer
Deutschlands. Aus allen Teilen der Deutschen Republik
war man herbeigeeilt, um zu den vorgeschlagenen Leitsätzen
Stellung zu nehmen. Wenn man diejenigen nun liest, welche
die Zustimmung der Mehrheit der Vertreter gefunden haben,
so freut man sich über die Klarheit, mit der die einzelnen
Forderungen zum Ausdruck gebracht worden sind. Die Leit¬
sätze bilden in dieser Beziehung einen schönen Gegensatz
zu den Artikeln der neuen deutschen Reichs Verfassung, von
denen viele so unklar sind, daß man sie jetzt schon so
verschieden interpretiert wie Verse des alten Homer. Ich
erwähne nur den Artikel über den Religionsunterricht. Ver¬
tieft man sich aber in den Inhalt der Leitsätze des Vertreter¬
tages der akademisch gebildeten Lehrer, ist man, wenn man
überzeugter Anhänger der Einheitsschule ist, sehr enttäuscht.
Es wird mir schwer, dies auszusprechen, doch ich wäre un¬
wahr, wenn ich es unterlassen würde.
Nachdem in so vielen Philologen vereinen Forderungen auf¬
gestellt worden sind, die zum mindesten ein bedingtes Be¬
kenntnis zur Einheitsschule enthalten, hätte ich mehr er¬
wartet. Denn diese wird von den Vertretern der akademisch
gebildeten Lehrer Deutschlands rundweg abgelehnt. „Die
Grundschule soll höchstens vierjährig sein.“ „Es müssen
indes Vorkehrungen getroffen werden, die es besonders be¬
gabten Schülern ermöglichen, schon nach drei Jahren in
die höheren Schulen einzutreten.“ Die Erfüllung der Forde¬
rung würde zur Folge haben, daß wohlhabende Eltern ihren
Kindern Privatstunden geben lassen, damit diese schon nach
drei Jahren aufgenommen werden. Da die Dauer des Lehr¬
ganges neunjährig sein soll, wird damit auch der Abbau der
Sexta abgelehnt , die sogar Reinhardt beseitigen will. Auch
soll für die neun- bis zehnjährigen Schüler gleich eine Drei¬
teilung stattfinden: Volksschüler, Mittelschüler, Schüler höhe¬
rer Schulen. Reinhardt schlägt hier eine einfache Gabelung
der Schule vor: Volksschule, Mittelschule; erst nach zwei¬
jährigem Besuch einer Mittelschule sollen die Schüler in die
höhere Schule kommen. Das ist zwar auch noch keine Ein¬
heitsschule, aber immer doch eine Form, die ihr nähersteht
als das gegenwärtige Schulsystem, das jene Vertreter er¬
halten wollen.
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1384 Die akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands . . .
*
. Da diese die Einheitsschule ablehnen, ist es ganz natür¬
lich, daß sie auch von einer Einheit des Lehrerstandes nichts
wissen wollen. Sie fordern sogar, daß an den höheren
Schulen alle Stellen, die für dauernde Bedürfnisse des wissen¬
schaftlichen Unterrichts bestimmt sind, in Oberlehrerstellen
zu verwandeln sind. Dieser' Leitsatz, der im Interesse der
baldigen Anstellung der Kandidaten aufgestellt worden ist,
* schließt die Anstellung eines Mittelschullehrers oder Volks¬
schullehrers aus. Ich kann bei dieser Gelegenheit als Mit¬
glied der Berliner Deputation für die äußereh Angelegenheiten
der höheren Schulen mitteilen, daß wir beschlossen haben,
an allen höheren Knabenschulen Berlins auch seminaristisch
gebildete Lehrer anzustellen, und zwar zuiiächst einen an
jeder Schule. Als ein Mitglied der Deputation meinte, daß
aut diese Weise die Zahl der anstellungsfähigen Kandidaten
noch größer werden würde, wurde ihm entgegengehalten,
daß diese eine Zeitlang an Volksschulen unterrichten könn¬
ten. Dadurch würden sie das Volksschulwesen keiinenlernen,
was dazu beitragen würde, von der chinesischen Mauer, die
die Oberlehrer und Volksschullehrer trennt, ein Stück einzu¬
reißen. Außerdem könnte es für die Zukunft des Kandidaten
von großer Bedeutung sein, da man für leitende Stellen,
zum Beispiel für die eines Stadtschulrats, natürlich solche
Lehrer bevorzuge, die die höheren Schulen und die Volks¬
schulen kennen.
Was mich aber besonders schmerzlich berührt, ist der
Umstand, daß der Vertretertag „ein Auf gehen aller Philologen
in allgemeine Lehrerkammern grundsätzlich ablehnt“ und
nur das folgende kleine Zugeständnis macht: „Zur Er¬
örterung von Fragen, die das Gesamtschulwesen betreffen,
treten Ausschüsse der Kammern für das höhere Schulwesen
mit solchen der Kammern für Volks-, Mittel- und Fach¬
schulen zusammen/' Man fürchtet offenbar, von den zahl¬
reichen Volksschullehrern überstimmt zu werden. Das ist
zum Beispiel in den sozialistischen Lehrervereinen anders;
hier arbeiten Hochschulprofessoren, Oberlehrer und Volks¬
schullehrer brüderlich zusammen. Jene von dem Vertretertag
aufgestellte Forderung ruft eine geschichtliche Erinnerung
in mir wach. Als im Jahre 1789 die französische Revolution
ausbrach, lehnten es der Adel und die Geistlichkeit ab, mit den
Vertretern des dritten Standes zusammen zu beraten. Ich
will selbstverständlich nicht sagen, daß dieser Vergleich zu-
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Die akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands . > . 1385
trifft, das liegt mir ganz fern. Denn zwischen den fran¬
zösischen Priestern und Adligen des 18. Jahrhunderts und
den deutschen Oberlehrern des 20. Jahrhunderts ist denn
doch ein großer Unterschied. Aber unterdrücken kann ich
die Erinnerung nicht.
Ebensowenig wie ich den Leitsätzen meiner Kollegen über
ihr Verhältnis zu den Volksschullehrem beistimmen kann,
kann ich mich denen über den Elternbeirat anschließen.
Denn diesem sollen auch die Direktoren und Vertreter des
Lehrkörpers angehören. Das wäre genau so, wie wenn in
einem nicht parlamentarisch regierten Staat der Volksvertre¬
tung außer den Abgeordneten auch Mitglieder der Regierung
angehören würden. Zweck des Elternbeirats ist es doch,
die Wünsche der Eltern kennenzulernen. Wenn nun Lehrer,
die keine Kinder in der Schule haben, Mitglieder des Beirats
sind, daher auch mitstimmen' können, so kommt der Wille
der Eltern nicht deutlich zum Ausdrück. Dies ist aber doch
der Zweck des Beirats.
Aehnlich zu beurteilen wie die Forderungen der Oberlehrer
nach ihrer Berufsvertretung und der Zusammensetzung des
Elternbeirats sind diejenigen über die Leitung der höneren
Schulen. Die akademisch gebildeten Lehrer machen den Wün¬
schen nach Einführung der kollegialen Schulleitung Zuge¬
ständnisse, gehen aber nicht so weit wie die Volksschullehrer,
die ihren Leiter aus ihrer Mitte auf Zeit wählen und ihm nur
die Rechte zugestehen wollen, die der Rektor einer Hoch¬
schule hat. Die Vertreter der deutschen Oberlehrer stellen
für die Leitung der Schule die folgenden Grundsätze auf:
„Der Direktor ist vorsitzendes Mitglied des Lehrerkollegiums
und Leiter der Anstalt ohne disziplinäre Strafgewalt. Dem
Direktor steht in allen wichtigen Angelegenheiten ein Lehrer¬
ausschuß zur Seite. Dieser hat bei Mißhelligkeiten unter
den Mitgliedern des Lehrerkollegiums auf Verlangen zu ver¬
mitteln und bei Beschwerden gegen Amtsgenossen ausglei¬
chend zu wirken. Die Hauptentscheidungen in allen wichtigen
Fragen, die die Anstalt betreffen, stehen der Gesamtkonferenz
zu. Die Verteilung des Unterrichts hat im Einvernehmen
mit dem Lehrerausschuß zu erfolgen. Der Direktor hat
insbesondere das Recht: a) die Lehrer im Unterricht zu -
besuchen; b) kurzfristige Vertretungen anzuordnen; c) inner¬
halb der ihm gezogenen Grenzen Urlaub zu erteilen; d) alle
Konferenzen zu leiten.“ Die Wahl oder Ernennung des
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1386 Die akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands . . .
Direktors soll wie bisher erfolgen, nur soll das Lehrer¬
kollegium das Recht haben, mit Zweidrittelmehrheit Einspruch
zu erheben, der begründet werden muß.
Wenn ich aber an den bisher angeführten Leitsätzen nur
Kritik geübt habe^ so kann ich anderen rückhaltlos zustimmen.
Das gilt zum Beispiel für die Reform des Lehrplanes. Wenn
man die zahlreichen Aufsätze und Schriften liest, die in den
letzten fünf Jahren verfaßt worden sind, so finden sich fast
in allen die folgenden Forderungen, die sich auch die Ver¬
treter der deutschen Oberlehrer zu eigen gemacht haben:
Verringerung der Zahl der verbindlichen Stunden, damit Zeit
für Wahlfreien Unterricht gewonnen wird, und damit die
Neigungen der Schüler mehr als bisher berücksichtigt werden
können. An keiner Schule mehr als zwei verbindliche Spra¬
chen. Verstärkung des Unterrichts im Deutschen. Durch¬
führung des erdkundlichen Unterrichts in allen Klassen, auch
in den Gymnasien. Staatsbürgerkunde und Volkswirtschafts¬
lehre im Anschluß an geeignete Fächer. In den oberen
Klassen Einführung in die philosophische Denkweise.
Schließlich haben die Vertreter der akademisch gebildeten
Lehrer Deutschlands Leitsätze aufgestellt, die man in die
folgenden Worte zusammenfassen kann: Mehr Gehalt, weni¬
ger Dienst! Das klingt vielleicht, ironisch, ist aber nicht
so gemeint. Denn, daß das amtliche Einkommen lange nicht
in dem Maße zunimmt, wie die Preise für die meisten Lebens¬
mittel, ist eine nicht wegzuleugnende Tatsache. Wenn ferner
die Oberlehrer die Pflichtstundenzahl herabsetzen wollen (bis
zum 40. Lebensjahre 20, bis zum 50. Lebensjahre 18, dann
16), wenn sie die Höchstzahl der Schüler beschränken wollen
(in den oberen Klassen nicht mehr als 20, in den mitt¬
leren nicht mehr als 25, in den unteren nicht mehr als 20),
so tun sie dies nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch
in dem ihrer Schüler und Schülerinnen. Denn je weniger
in einer Klasse sind, desto fruchtbringender ist der Unterricnt;
je Weniger Stunden die Lehrer geben, desto mehr Zeit haben
sie zur Vorbereitung, sowie auch zu ihrer wissenschaftlichen
Weiterbildung, die es ihnen wieder ermöglicht, ihre Stunden
noch mehr wissenschaftlich zu vertiefen.
Auch für die Anwärter haben die Oberlehrer gesorgt, in¬
dem sie gefordert haben, daß* alle 65 jährigen Philologen
pensioniert werden sollen, daß der Zugang zum Oberlehrer¬
beruf durch Zwangsmaßnahmen geregelt wird. Wenn sie
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Spanien.
1387
allerdings verlangen, daß auch die Beschäftigung und An¬
stellung genau nach Dienstalterlisten innerhalb der Fächer- -
gruppe erfolgen soll, so läßt sich dies an städtischen An¬
stalten nicht durchfuhren, da die Städte darin eine Beschrän¬
kung der Selbstverwaltung sehen würden.
Schließlich möchte ich meiner Freude noch über den Leit¬
satz zum Ausdruck bringen: „Parteipolitik ist aus der Schule
fernzuhalten.“ Damit ziehen die akademisch gebildeten Leh¬
rer einen dicken Strich zwischen sich und der alten Regie¬
rung. Diese betrachtete bekanntlich die Schule als ein Mittel,
für ihre Politik Propaganda zu machen. Man braucht nur an
den bekannten Erlaß Wilhelms II. zu erinnern, nach dem
die Lehrer den Schülern die Ueberzeugung beibringen sollten,
daß die Lehren der Sozialdemokratie gegen göttliches Gebot
und undurchführbar seien.
Ob die in diesen Leitsätzen nieder gelegten Anschauungen
denen der Mehrheit der akademisch gebildeten Lehrer ent-
sprechen y ist eine andere Frage. Denn es hat darüber unter
diesen keine Abstimmung stattgefunden. Die Vertreter sind
durch ein indirektes Wahlverfahren gewählt worden. Die
Oberlehrer haben zu den Provinzial- und Ländesvereinen ge¬
wählt, und diese wieder zu dem Vertretertag. Ein richtiges
Bild über die Anschauungen der Mehrheit würde man nur
erhalten, wenn man in allen Kollegien über jeden einzelnen
Leitsatz abstimmen würde. ,Denn das indirekte Wahlverfahren
ist durchweg beseitigt worden. Da nämlich jeder einzelne
Verein nur wenige Mitglieder zu der Tagung schicken kann,
sind selbst stärkere Minderheiten meist unberücksichtigt
geblieben.
HANS VON KIESLING:
Spanien.
P)AS politische Leben Spaniens ist heute von vier Faktoren
L/ vollkommen beherrscht. Das sind die Marokkofrage, das
Verhältnis zu Frankreich und den Ententestaaten, die Be¬
ziehungen zu Spanisch-Südamerika und der in schärfster
Form entbrannte Kampf zwischen Kapital und Arbeit.
Erst nachdem der Weltkrieg zu Ende gegangen war, inter* .
essierte sich die spanische Geffentlichkeit mehr für die in
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Original ffom
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1388
Spanien.
der spanischen Zone Marokkos entbrannten Kämpfe. Da
die Aufstände des der Herrschaft des Königreichs feindlich
gesinnten Raisuni vornehmlich aus dem französischen Pro¬
tektorat und dem internationalisierten Gebiet von Tangei
unterstützt wurden, war im November dieses Jahres eine
entscheidende militärische Operation nötig geworden, die
durch die Eroberung der Stellung von Fondac die spanische
Einflußsphäre von Tanger und seinem Hinterland vollkommen
abschloß. Seit diesen Tagen fordern die spanischen Zei¬
tungen die LJeberlassung dieses Gebietes, eine Forderung,
die motiviert wird mit dem spanischen Charakter der Stadt,
mit ^dem überwiegenden wirtschaftlichen Einfluß des Halb¬
inselstaates in diesem Gebiet und mit seiner geographischen
Lage gerade gegenüber der spanischen Küste.
Die Beziehungen zu Frankreich werden in erster Linie
durch die Aufrollung dieser Frage beherrscht. Die spanische
Politik rechnet damit, auf französischer Seite Entgegen¬
kommen in bezug auf die Abrundung des spanischen Besitzes
in Marokko zu finden. Die Reise des Königspaares nach Paris
und London steht damit im Zusammenhang, in Madrid er¬
wartete man, daß ihr Resultat eine Freigabe des internatio¬
nalen Gebiets von Tanger für den Anschluß an das spanische
Territorium sein würde. Bewußt hat der Graf von Roma-
nones, der einstige Ministerpräsident, die Allianz mit Frank¬
reich in die Debatte geworfen und damit den Franzosen ge¬
zeigt, was der Kaufpreis für die positive Freundschaft, nir
den Anschluß. Spaniens an die gegen Deutschland gerichtete
militärische Kombination sein würde. Frankreich wird in
seiner Angst vor einem deutschen Revanchekrieg diesen Preis
wohl zahlen müssen, da es mit einer militärischen Unter¬
stützung der Vereinigten Staaten nicht rechnen kann, und
auch die Unterstützung Englands in Zukunft nur problel-
matischer Natur ist. Andererseits hat Spanien alles Inter¬
esse, sich an einen Machtkreis anzuschließen, der nicht un¬
bedingt von Nordamerika abhängig ist. Der Gegensatz zu .
der Union, geschaffen durch den Krieg zwischen Spanien
und den Vereinigten Staaten, der ersterem den letzten Rest
seines großen Kolonialreichs kostete, ist durchaus latent ge¬
blieben.
Er spielt auch eine gewisse Rolle in dem Verhältnis des
Königreichs zu den spanisch sprechenden Staaten Südamerikas
und seinem Wunsche, sich mit diesen zu einem einheitlichen
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Spanien.
1389
i ■
politischen Block zusammenzuschließen. Die südamerikani¬
schen Republiken sind durch den Krieg zwar in eine wirt¬
schaftlich glänzende, aber politisch sehr abhängige Lage ge¬
kommen. Die Union hat den Krieg dazu benützt, den grö߬
ten Teil des Handels nach Südamerika an sich zu reißen
und sich auch die politische Führung des ganzen Kontinents
anzumaßen. Die panamerikanische hohe Kommission, die Be¬
herrschung des südamerikanischen Eisenbahnwesens, die Bil¬
dung eines ganz Amerika umfassenden Schiffahrtstrustes, die
Hineinzwängung Südamerikas in die Politik der Monroe¬
doktrin sind das Resultat dieser Bestrebungen. Aber durch
die Ueberschwemmung Südamerikas mit nordamerikanischem
Geld, nordamerikanischen Waren und Politikern der Union
ist die Sympathie der südamerikanischen Republiken für diese
nicht größer geworden. Sie waren stets nach Europa orien¬
tiert und sind begierig, die durch den Weltkrieg abgerissenen
Fäden nach Osten neu und fester zu knüpfen.
Spanien, das alte Mutterland, hat diese Lage in den letzten
Monaten ausgezeichnet benutzt, -indem es seine Beziehungen
zu den Tochterstaaten eitrigst pflegte, wozu das Band ge¬
meinsamer Sprach^ und Kultur die beste Handhabe bot. Ge¬
lehrte gingen herüber und hinüber, Verbrüderungsfeste der
studierenden Jugend fanden statt, das Fest der spanischen
Rasse wurde mit besonderer Feierlichkeit begangen, Spanien
bemühte sich, die Jahrestage der Unabhängigkeitserklärungen
der südamerikanischen Republiken durch die Anteilnahme
besonders entsandter Politiker in ihrer. Bedeutung zu heben.
Die starke spanische Einwanderung in Argentinien und Bra¬
silien erleichtert die Erweiterung spanischen Einflusses in
Südamerika. Mit Begeisterung nahm man dort die Nachricht
von dem beabsichtigten Besuch der spanischen Tochterstaaten
durch Alphons XIII. auf. Die Bildung eines spanisch spre¬
chenden Blocks durch den Zusammenschluß des größeren
Teils Südamerikas mit dem alten Mutterlande auf der Basis
politischer Gleichberechtigung hat große Fortschritte ge¬
macht. Die deutsche Politik wird dämit rechnen müssen,
ihr kann die Entstehung eines Gegengewichts gegen die
Union in Südamerika ebenso. willkommen sein, als es Eng¬
land und Frankreich willkommen sein muß.
Alle diese außenpolitischen Fragen sind aber in den letzten
Wochen vollkommen in den Hintergrund getreten gegenüber
dem in schärfster Form zum Ausbruch gekommenen Kampf
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1390
Spanien.
zwischen Kapital und Arbeit. Der Staat wird durch Streiks,
Arbeitsaussperrungen, Arbeitsniederlegungen, passive Resi¬
stenz in seinem wirtschaftlichen Leben augenblicklich derart
erschüttert, daß niemand weiß, was aus diesem Chaos sozialer
Gegensätze, rücksichtslosen Kampfes aller gegen alle ent¬
stehen wird. Das Streik- und Aussperrungsfieber hat sich
aut alle industriellen Unternehmungen, gleichgültig, ob sie
staatlicher oder privater Natur sind, erstreckt, und hat auch
die Landarbeiter ergriffen. Seit Wochen stehen nahezu alle
Fabriken in Spanien still, das Bauhandwerk feiert, Schiffs¬
personal und Ausladearbeiter streiken, in Valencia haben
sogar die Aerzte die Arbeit niedergelegt; seit Monaten gehen
in Andalusien Gutshöfe und Landhäuser reicher Grundbesitzer,
Von Knechten angezündet, in Flammen auf.
Geleitet wird der soziale Kampf auf seiten der Arbeiter¬
schaft durch die in Spanien besonders mächtigen Arbeiter¬
syndikate.
Demgegenüber hat sich die gesamte Arbeitgeberschaft zu
Abwehrorganisationen zusammengeschlossen, die gegenüber
den, das ganze wirtschaftliche Leben lähmenden, Streiks
rücksichtslos die Waffe der Aussperrung anwenden.
Die schärfsten Formen hat der soziale Kampf in Barcelona
und Madrid angenommen. In Barcelona haben sämtliche
Unternehmer die Generalaussperrung angeordnet und halten
sie seit vierzehn Tagen mit rücksichtsloser Energie und
eiserner Disziplin durch. In Madrid ist die Generalaussper¬
rung im Bauhandwerk durchgeführt, streiken andererseits 1
die Trambahnangestellten und die Druckereien. Auch ein
großer Streik sämtlicher Eisenbahner steht unmittelbar bevor.
Der spanische Volkscharakter neigt zur Gewaltsamkeit. Es
ist daher kein Wunder, daß der soziale Kampf von schweren
Akten der Ausschreitung, von terroristischen Attentaten be¬
gleitet ist. Browning und Bombe spielen eine ausschlag¬
gebende Rolle. Angriffe auf Polizisten und Soldatenpatrouil¬
len in Ausübung ihres Dienstes sind an der Tagesordnung.
Regierung, Polizei Gerichtsbehörden haben wenigstens in
Catalonien gegenüber dem grandiosen Kampf, der zwischen
Unternehmertum und Arbeiterschaft sich abspielt, jeden Ein¬
fluß, ja jede Betätigungsmöglichkeit verloren.
Noch halten die Führer der Arbeiterschaft diese von all¬
gemeiner Gewalttat ab. Das !schließt aber nicht aus, daß
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Original fro-m
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Spanien.
1391
in jedem Moment Verhältnisse eintreten können, in denen
die Hunderttausende feiernder und hungernder Arbeiter, auf¬
gehetzt durch die Propaganda bolschewistischer Agenten,
rücksichtslos übergehen zur Politik der Tat, rücksichtslos
nach der politischen Gewalt greifen.
Der Boden für die bolschewistische Propaganda ist in
dem industriellen Zentrum Spaniens, in Catalonien und seiner
Hauptstadt Barcelona besonders vorbereitet. Die Arbeiter¬
schaft ist hier seit Jahrzehnten organisiert und durch die
spekulative Gewinnsucht der Kaufleute und Unternehmer
besonders gereizt. Trotz der ungeheuren Verdienste, die in¬
folge des Krieges dort zusammenflossen, haben sich die
Unternehmungen gegen eine entsprechende Erhöhung des
Arbeitslohns mit aller Energie zur Wehr gesetzt, obgleich/
auch hier nach dem Kriege eine ungeheure Steigerung der
Preise der Lebensmittel und aller Bedürfnisartikel des täg¬
lichen Gebrauchs eingetreten ist. Ohne Rücksicht auf das
allgemeine Wohl und ungehemmt durch Regierungsmaßnah¬
men führt dort das Schiebertum Gegenstände nach dem
Auslande aus, die im Inland dringend benötigt werden, nur
um die günstige Konjunktur auszunützen. Auch dort wird
der Geldgewinn allgemein über soziale Notwendigkeiten ge¬
stellt.
Alle diese Faktoren zusammen in Verbindung mit dem
selbstherrlichen Auftreten in der Armee entstandener Organi¬
sationen — den Juntas de Defensa —, die sich ohne Scheu
über die konstitutionellen Garantien, über Recht und Gesetz
hinwegsetzen, haben vor wenig Wochen das konservative
Ministerium SaHjez de Toca zu Fall gebracht und zur Bil¬
dung eines neuen Kabinetts geführt.
Dieses übernimmt die Lenkung des Staatsschiffs in einem
der schwersten Momente der spanischen Geschichte. Der
soziale Kampf dehnt sich mehr und mehr über ganz Spanien
aus und tobt zunächst ohne Entscheidung weiter. Jeden Tag
aber können Verhältnisse eintreten, die den Ausbruch offener
Revolution, ja den Sturz der Monarchie nach sich ziehen.
Es wird besonders starker Arme bedürfen, um den Halb¬
inselstaat an dem gefährlichen Abgrund vorüberzuführen,
der ihn zu verschlingen droht. Deutschland hat alles Inter¬
esse, die in Spanien sich vorbereitenden und vollziehenden
Ereignisse mit Aufmerksamkeit zu verfolgen.
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1302 _;_ Tokio-Washington-London-Moskau.
PETER KNUTE:
Tokio - Washington -London - Moskau.
Die Gegensätze in Asien.
r\ER Charakter der englischen Politik ist die Klugheit.
* Das Stigma der Japaner die Schläue. Die gelben Asiaten¬
herzen sind immer halb zugekniffen wie ihre Schlitzaugen.
Es fehlt das elementare Hervorbrechen des wahrhaften
Herzensturms. Es fehlt die Wärme, die die Seelen schweißt.
Es ist eine Kluft zwischen uns und ihnen. Zwischen dem
Atlantischen und dem Stillen Ozean liegt die Eiseskälte der
sibirischen Oede. Der große Trennungsstrich heißt Ural.
Wenn ich Imperialist wäre, möchte ich Uchida, der japa¬
nische Außenminister, sein. Welche Fülle der Aufgaben.
Im Westen das zusammenbrechende Asien. Nach Osten, zu
den anderen Küsten des Stillen Ozeans, schon die Relais¬
verbindung über Mariannen und Karolinen, über deutsche
Leichenteile hinweg. Ein Keil eingetrieben zwischen das
amerikanische Mutterland und die .Kolonie Philippinen. Die
Sandwich insein noch stärker gefährdet. Was nutzt dort
die starke amerikanische Flottenbasis, wo schon mehr als
neunzigtausend Japsenarbeiter, altgediente Preußen des Ostens,
arbeitend auf den Inseln, mit Waffen heimlich versehen, des
Pfiffs aus Tokio warten ? Auf den Philippinen zwanzigtausend
amerikanische Wachtsoldaten. Sie liegen mit den Moros, den
Malaien, im Konflikte. Japaner in Menge unter ihnen. Ta-
naka, dem Kriegsminister in Tokio, kann's eines Tags ein¬
fallen, die Japaner zu schützen. Dann waren die Philippinen
einmal eine amerikanische Kolonie." Die Dampferlinie Hong*
kong—Manila in Händen der Japsen, den Weg nach Süden
bahnend. Wegweisend: Nach Indien. Und nach Australien.
Die Sundainseln sind nächstes Ziel. Ein Japaner schrieb
darüber: „Einzelne mögen sagen, daß diese Inseln hollän¬
disches Eigentum sind, und daß Japan sic nicht so kurzer¬
hand wegnehmen könnte. Aber, wenn die Holländer die
Verhältnisse der Eingeborenen nicht verbessern können, und
nicht imstande sind, Frieden und Ordnung unter ihnen auf¬
recht zu erhalten, dann sind Java, Sumatra und Borneo eine
Bedrohung für die angrenzenden Gebiete, und wir sind
berechtigt, sie in Besitz zu nehmen.“ Geschähe es so', wäre
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Tokio-Washington-London-Moskau. __ 1393
die Straße von Malaka den Engländern in Singapore' ein
Paroli. Das Südchinesische Meer unter der Kontrolle To¬
kios.. Das französische Hinterindien gefährdet. Von Sumatra
nur ein Sprung nach Vorderindien. Agitation schon unter den
Hindus. Sympathien verknüpfen schon die Farbigen in Bom¬
bay und Tokio. Taleba Tenge, fein japanischer Journalist,
schrieb schon im Weltkrieg den „Scheidebrief an England“:
„Das Bündnis ist leichtfertig geschlossen und kann so nicht
fortbestehen.“
/
An der Küste des Stillen Ozeans: Japanische Emigranten
haben Formosa überschwemmt, Korea und die Mandschurei,
Wladiwostok und Chabarowsk, die Einfalltore nach dem Ural,
unter japanische Kontrolle. Ich fand in Chabarowsk schon
zu Friedenszeiten einen japanischen General als Hotelbesitzer.
Welche Wandlung seit noch nicht siebzig Jahren: 1853
der Brief des amerikanischen Kommodore Perry an den Mi¬
kado (mit JHandelsvorschlägen. 1854 der Handelsvertrag von
Kanagawa, Oeffnung der damaligen Fischerhäfen Simoda
und Hakkodate. 1895 Friede von Schimonoseki, Unterwerfung
Chinas, Japans Weltrufbegründung, Vorgeschichte des Bünd¬
nisses mit England. 1905 Friede von Portsmouth,. Großmacht
politisch und militärisch, Hand auf Korea und die süd¬
liche Mandschurei. 1916 im Weltkrieg, Munitionslieferungen
an Rußland, dafür die Bahn Port Arthur—Mukden—Charbin,
völlig freie Hand in China. Der „Russkoje Slowo“: „Vom
politischen Standpunkt ist es schon längst notwendig ge¬
worden, China als außer unserem Einfluß liegend zu be- '
trachten.“ 1917 gesteht Amerika Sonderrechte in China zu.
1920 Friede von Versailles, die Schantunghalbinsel.
Im Winter 1920: Ein Napoleonischer Zusammenbruch der
Russen in Sibirien. Zarische Generäle hatten geträumt, in
Moskau wieder das Moskowiterreich aufzurichten. Ein Reich
bis Zargrad und bis Peking und Bombay und bis zum
persischen Golf. England^ und japanerfeindlich. Die
Trümmer ihres Heeres, erliegend in den Eis- und Schnee¬
stürmen Sibiriens, revoltierend in sich, wälzen sich über den
zugefrorenen Bailcal. Das Beresina der Russen. Wie Dschin-
giskan hinter ihnen drein, hinter der Kosakischen Garde
Koltschaks, die bolschewistische Reiterei. Ein roter Auf¬
bau Moskaus? Auch das nicht. Auch Moskau hat Seins
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1394 _ Tokio-Washington-London-MoSkau.
Kraftgrenzen. Das rote Moskau ist mitbeteiligt an dem
großen russischen Unglück. In der russischen Kräfteleere
ist der Hase Löwe. Der Bürgerkampf reibt auf und baut
das Haus denen, die kommen wollen. . .
Siegte die schlaue Politik der Gelben in Tokio? In Berlin
drückten sie uns noch 1914 die Hände und schmeichelten.
Deutsche Militärherrlichkeit nahm’s für bare Münze. Ver¬
traute auf Interessengemeinschaft gegen -Rußland, auf das
Fehlen von Interessengegensätzen, wollte zwischen den Pan¬
zern Germaniens jund Tokios den russischen Bären zerdrücken.
In Tokio lächelten sie über Berliner Milchmädchenrechnungen.
Oder war’s nur gelbe Rache für Wilhelms Bild von dien
„Völkern Europas“? Das er im Doppelspiel dem Zaren
schickte? Die „Völker Europas“ zerfleischten sich, und Japan
war .amüsierter, kriegsgewinnender Zaungast. Trieb höch¬
stens, seine Flotte einspielend, Kriegssport. Kam’s so, war’s
recht, kam’s anders, war’s auch recht. Zwei Eisen lagen
im Feuer, und alle beide waren gut. Als Hochkonjunktur in
deutschen Siegen war, noch 1918, empfingen sie in Tokio
einen schwedischen Grafen, der ein Bündnis mit Deutsch¬
land lantrug. Die Japsenöffentlichkeit war glänzend einge¬
stellt. Die Presse, die zuvor das Deutsche ungewöhnlich
kläffend angefahren, konnte sofort anders. Lloyd George
wurde zerzaust, Wilson war eine Lächerlichkeit, Frankreich
ein Mitleid. Deutschland alles. Un<J wie die Sache schief
ging in Frankreich, wieder ein Einschwenken zur Entente¬
front.
Man zählt zu den Siegern. Zu den Siegern von Versailles,
die auf den Kriegsbannern den Völkerfrieden agitatorisch
führten. Ist’s Völkerfrühling? Rausch t’s durch die Welt
wie Sphärenklang? In Europa bauen sie morsche Staats¬
gerüste und stützen sie mit Bajonetten. Und im Stillen
Ozean schwimmen, hinter Panzern verstaut, die uralten Ge¬
gensätze der Kapitalisten. Die Naturschätze Chinas und
des sibirischen Rußlands locken in London und Washington.
War das schlaue Japan schlau genug? Asien liegt zwar frei.
Aber ist es frei Im Stillen Ozean ? Die deutsche Flotte band
die Flotte Albions. Nun sind die Briten frei. Und schon
taucht der Plan des englischen Admirals Jelikoe auf, im
Stillen Ozean eine starke englische Flottenbasis zu schaffen
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Original Irn-m
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Tokio-Washington-London-Moskau.
1395
und in Australien Geschütze, Munition und Flugzeuge zu
bauen. England streckt weiter seine gepanzerte Faust um
den Erdball und reicht sie der Union, der der Weltkrieg
gerade gelegen genug kam, um unter dem geistigen Schute
von Wilsons vierzehn Punkten unauffällig Flotte und Armee
rüsten zu können. Die anglo-amerikanische Gemeinschaft
tut sich auf und wirft in den Stillen Ozean ihre Schatten.
Der Neid und die Angst wird groß. Wir lesen: „Die Börsen
zu Osaka und Tokio bieten ein Schauspiel von nie gekannter
Bewegung. Anteile die nie imehr <als sechs Prozent lieferten,
werden (mit einem Mehrwert von zweihundert bis dreihundert
Prozent verhandelt. Das Gold häuft sich auf. Die Ex¬
pansionsidee muß sich einstellen. . .“ Vollständiger Kräfte-
umbau im Osten. Japan, seither gebunden durch Rußland
und gestützt durch England, wird jetzt gebunden werden
durch England. . .
Und gestützt, vielleicht, durch Rußland. Die japanischen
Politiker sehen nach Moskau und Berlin. Soll’s ein neuer
Dreibund werden? Das Chaos von Wladiwostok bis an
den Rhein gärt noch und hat noch kein Mäuschen geboren.
Japan liegt in Defensive gegen London und Washington.
Sein Kabinett Kai Hara, mit dem Gesicht der Saijukai, kennt
die Gefahr und steigt Inicht in den sibirischen Abgrund, in
den es die Freunde locken wollen. Aber es schwingt die
Fahne Monroes über die mongolischen Völker und gräbt in
ihre Herzen: Asien gehört den Asiaten. Sein Gedanke ist
das Oberbonzentum über den neunmal hunderttausend Seelen
großen mongolisch-buddhistischen Zukunftsstaat. Ist Sem-
jonow im Bunde, der Jburtatische ,Zarenhetman, der den
Vertrag von Kiachta löste und die äußere Mongolei von
Rußland jan China zurückbrachte? In Asien ballen sich Ideen.
Idee aber ist Leben, und Leben ist Leid, sagt der große
Gott Buddha. Die Idee der Asiaten wird die Samurai der
Welt Aufrufen, und die Samurai werden mit den Schwestern
das Leid gebären. Und vom Nirwana werden die Menschen
weiter entfernt sein, als je.
Buddha predigte, daß das Leid nur durch Aufheben des
Durstes zu bannen ist. Die Quelle des Durstes ist Versailler
Gesinnung. Man wird den mongolischen Heiligen ins christ¬
liche Versailles bringen müssen.
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Original fram
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1396
Bücherschau.
Bücherschaü.
Labour Party: Labour and the.Peace Treaty. (Die Arbeiter¬
klasse und der Friedens vertrag.) London 1919. Preis
1 Shilling 6 Pence.
Diese vom Vorstand der britischen Arbeiterpartei heraus¬
gegebene Schrift ist ein Referentenführer für Volksversamm¬
lungen und sonstige Agitation zum Zwecke einer gründ¬
lichen Revision des Versailler Friedensvertrags. Sie ist
sehr wirkungsvoll abgefaßt und weist nach, daß der Vertrag
sowohl den Grundsätzen der Arbeiterpartei wie den 14 Punk¬
ten Wilsons gröblichst widerspricht. Die Schrift verurteilt
den wirtschaftlichen Imperialismus und die imperialistischen
Kriege, ebenso die vom Vertrage geschaffenen politischen
Grenzen, einseitigen Abrüstungen und kolonialen Verschache¬
rungen. Sie bringt auch den Protest der deutschen Sozial¬
demokratie und der Unabhängigen gegen den Vertrag. Schlie߬
lich drückt sie die Meinung aus, daß von den kapitalistischen
Regierungen eine Aenderung des Vertrags nicht zu erwarten
sei, und dab deshalb die Arbeiter aller Länder verpflichtet
sind, dahin zu wirken, daß diese Regierungen 4 urc h wahrhaft
demokratische ersetzt würden.
Nun noch ein Wort über das Englische des deutschen
Auswärtigen Amts. Die obengenannte Schrift enthält auch
die treffliche Rede des Grafen Brockdorff-Rantzau beim
Empfange des Versailler Vertragsentwurfs;. Die Rede wurde
vom Auswärtigen Amt ins Englische übertragen; leider aber
zeigt die Uebersetzung eine nichts weniger als intime Ver¬
trautheit mit der Sprache. Hier zwei Beispiele. Der Graf
erklärte, Deutschland habe stets eine unparteiische Unter¬
suchung der Schuld am Kriege verlangt. Das Wort Unter¬
suchung wurde mit „ inquest“ übersetzt, was aber im Eng¬
lischen einzig und allein auf richterliche Untersuchungen bei
plötzlichen Todesfällen angewandt wird. Sonst heißt Unter¬
suchung: inqtiiry. Eine Verwechslung dieser beiden Wörter
zeigt sofort, daß die Uebersetzung mechanisch mit Hilfe des
Wörterbuches zustandegekommen ist. — Weiter: Brockdorff-
Rantzau erklärte: „Keine Nation darf diesen Vertrag straflos
verletzen.“ Das Auswärtige Amt übersetzte „Straflos“ mit
„i without punishment“ . Das ist ganz unenglisch. Es müßte
heißen: with impunity. M. Beer.
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ZWISCHEN
DEN GEFECHTEN
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PHILIPP SCHEIDEMANN
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Aus den Tagen der Kindheit
führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre
des reifen Mannesalters. Scheidemann selbst hat — vielleicht
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen
Entwicklungsgang beschrieben.
Bezug durch alle Buchhandlungen
sowie direkt vom
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
BERLIN SW 68 . LINDENSTR. 114
Postscheckkonto Berlin 27576
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Fortsetzung unserer Sozialwissenschaftlichen Bibliothek 1
Band 15:
Die deutsche Beamtenbewegung
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Schildert den Demokratisierungsprozeß unserer Beamtenwelt als
Wirkung des Weltkrieges und der deutschen Revolution. Bei der
hervorragenden Wichtigkeit einer im Geiste der Revolution wir¬
kenden Staatsverwaltung dürfte diese Schrift von größtem Interesse
für die weitesten Kreise sein.
Die Bibliothek wird fortgesetzt
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
BERLIN SW 68 Postscheckkonto 27576 LINDENSTR. 114
Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin.
Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, LindenstraOe 114. Fernruf: Morit^-
platz 2218, 1448 —1450. — Druck: Photogravur G. m. b. H., Berlin SW 68, Lindenstraße 114.
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5 . Jahrg. 2. Band Na 45 7. Februar 1920
Die Glocke
Herausgegebenvon
Parvus
Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68
Original ftom
UM'VERSITY OF CALIFORNIA
INHALT DIESER NUMMER:
Haydar: Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft
in der Ernährung ........... 1397
M Pertzborn: Herzhafte Politik ...... 1407
Oberlehrer Dr. Erich Witte: Sozialisierung des
Schulbrtchbandels . . . ... . 1411
Peter Knute: Das zerschmetterte Schwert
Ferdinands.1415
Professor Ewald F. W. Rasch;(Steglitz): Die
Verwertung der Milch durch Hochdruck¬
fernleitungen . ............ 1419
Professor Dr. Cornelius (Oberursel):, Nüchterne
Randbemerkung zur Zukunftsstaatsdebatte . 1421
Bücherschau: Karl Josef Friedrich „Volksfreund
Gregory 1 *; Carl Gebhardt „Der demokratische
Gedanke**; Ör. Eduard Herold „Ein Jahr
deutsche Republik“; Wilhelm Wundt „Die
Zukunft der Kultur** .... . . . . . . 1422
Eingelaufene Schriften . ... 1 ..... . 1428
Nummer 44 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt:
Der Vormarsch der englischen Arbeiterpartei . 1373
Dr. John A. Dewdney: Amerikanische Spionage
im Kriege. 1375
Guido Knorzer: Völkerbund und Völkerstaat. . 1379
Oberlehrer Dr. Erich Witte: Die akademisch ge¬
bildeten Lehrer Deutschlands ü. d. Schulreform 1382
Hans von Kiesling: Spanien.t 1387
Peter Knute: Tokio-Washington-London-Moskau 1392
Bücherschau. 1396
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DE GLOCKE
45. Heft 7. Februar 1920 5. Jahrg.
Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet
HEYDAR:
Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft
in der Ernährung.
Wir erhalten die folgende Abhandlung, der wir zwar nicht in
allen Punkten beistimmen können, der wir aber im Interesse
der Erörterung, wie unsere heutigen Verhältnisse gebessert
werden könnten, gern Raum geben. Die Verhältnisse sind
heute so, daß sie unbedingt binnen kurzem zu einem Zusammen¬
bruch unseres Wirtschaftslebens führen müssen wenn es nicht
gelingt, noch kurz vor Toresschluß die Mißstände radikal zu be¬
seitigen. .Redaktion der „Glocke“.
CEIT einem halben Jahre mehren sich die Stimmen nach 1
° einer Aufhebung der Zwangswirtschaft und der Einführung
der freien Wirtschaft in der Ernährung. Bezeichnenderweiser
kamen diese Stimmen bisher sämtlich aus Kreisen der Land¬
wirtschaft. In den letzter! Tagen war in der „Kreuzzeitung“
zu lesen, daß die oldenburgische Regierung auch ihrerseits
einen formellen Antrag auf Aufhebung der Zwangswirtschaft -
- und die Einführung der freien Wirtschaft in der Ernährung
bei der Reichsregierung gestellt, ihn hinterher aber zurück¬
gezogen habe. Welche Berufskonstellationen in der olden-
burgischen Regierung vertreten sind, ist mir nicht bekannt.
Ich kann darum auch nicht beurteilen, ob dort etwa auch
schon Verbraucher den sicheren Pfad der Zwangswirschaft
zugunsten der Hängebrücke der freien Wirtschaft verlassen
" haben. Die Tatsache der Zurückziehung des Antrags scheint
aber darauf hinzudeuten, daß die Reichsregierung wenigstens
vorläufig noch nicht gewillt ist, der Erwägung der Auf¬
hebung der Zwangswirtschaft und der Einführung der freien
Wirtschaft in der Ernährung näherzutreten.
45M
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1398 Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung.
Vom Stande des Ernährungspolitikers ist es lohnend, das
Für und Wider beider Richtungen gegeneinander abzuwägen,
um zur Entscheidung zu kommen, welcher Standpunkt der
richtigere ist. Wie es uns jetzt geht, wissen wir; wie es uns
nach Aufhebung der Zwangswirtschaft gehen wird, wissen wir
nicht. Berechtigt ist darum, von einem sicheren Pfade der
Zwangswirtschaft und von einer Hängebrücke der freien
Wirtschaft zu sprechen.
Ohne weiteres ist zuzugeben, daß^ die Zwangswirtschaft
die Landwirtschaft aufs ärgste einschränkt und sie in ihrer
Bewegungsfreiheit behindert. Das tritt in den von patrio¬
tischem Pflichtgefühl durchdrungenen Kreisen der Land¬
wirtschaft mehr in die Erscheinung, als in den, die diese
Eigenschaft nicht besitzen. Die Zahl der Vorschriften der
Zwangswirtschaft ist so erheblich, daß ein unbeabsichtigter
Verstoß dagegen mit Bestrafungsmöglichkeit tagtäglich denk¬
bar ist. In den erst gekennzeichneten Kreisen der Landwirt¬
schaft muß dies mit Recht ein unbehagliches Gefühl erzeugen,
zumal niemand vor unbeabsichtigter Zuziehung einer Feind¬
schaft und Ausnutzung der zufälligen Kenntnis eines Ver¬
stoßes gegen die Vorschriften der Zwangswirtschaft durch
Anzeige sicher ist. Besonders der wird diese Unsicherheit
mit sich herumträgen, der nicht wie ein Rohr von dem
Winde der heutigen Zufalls volksneigungen hin und her-
schwanken will. Beschämend ist zwar eine Bestrafung wegen
Verstoßes gegen die Vorschriften der Zwangswirtschaft nicht
mehr. Diese Ansicht gehört der Volksallgerheinheit. Immer¬
hin bringt so ein Verfahren aber derart reichlich Aerger
mit sich, als daß nicht nahezu jeder dieser Kreise wünschen
könnte, damit verschont zu bleiben.
Die Vorschriften der Zwangswirtschaft tragen der Er¬
füllungsmöglichkeit nicht immer Rechnung. Es heißt schon
in den geschriebenen Gewissen der gottesgläubigen Mensch¬
heit, der Bibel, daß „dem Ochsen, der da dresche, nicht
das Maul verbunden werden solle“. Vor dem Kriege
war es bei der Kaufmannschaft alter Brauch, die Angestell¬
ten bei dem eigenen Genuß von Nahrungs- und anderen
Mitteln, mit denen sie umgehen, nicht wesentlich zu be¬
schränken. Andernfalls war es natürlich, daß sich die An¬
gestellten auch ohne Erlaubnis das nahmen, wonach zufällig
ihre Wünsche gingen; sie nahmen es in um so größerer
Menge, je mehr eie dies in mit Angst verbundener Heimlich-
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Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 1399
keit tun mußten. Gegen die Weisheit dieses Brauchs ver¬
stieß die alte Staatsregierung, und die neue Staatsregierung
ist ihr hierin bis jetzt gefolgt, als sie der Landwirtschaft,
den biblischen Ochsen, der da drischt, nur Ernährungsmengen
zuwies, die zu ihrem Erhalt nicht genügten. Wer Körperlich
schwer arbeitet, braucht viel Nahrung. Die Spannung zwischen
Selbstversorger- und Versorgungsberechtigtenernährungs-
menge war zu gering, um dieses größere Nahrungsbedürfnis
auszugleichen. Die Landwirtschaft, mochten sich die erst¬
gekennzeichneten Kreise der Landwirtschaft auch noch so
sehr dagegen sträuben, mußte sich das nehmen, , was • sie
brauchte, und wenn sie damit auch gegen die Vorschriften
der Zwangswirtschaft verstieß, und sie nahm es sich auch.
Wollte solches der Arbeitgeber nicht verantworten, so ver¬
lor er seine Arbeitskräfte oder er wurde bestohlen. Hunger
durchbricht fast bei jedem einzelnen die Schranken von Ge¬
setz und Moral. Positiv weiß ich es nur von altpreußisch
denkenden Landräten und anderen Beamten gleichen Pflicht¬
gefühls, daß ihrem Pflichtbewußtsein auch der Hunger nichts
angetan hat. In ihrer Mehrzahl hat sie aber die Grippe des
Vorjahres dahingerafft. Der entkräftete Körper vermochte
eben den Wirkungen der Krankheit keinen ausreichenden
Widerstand entgegenzusetzen.
Die Einschränkung der Ernährungsmengen der Landwirt¬
schaft über die Gebühr hinaus war aber auch aus einem an¬
deren Grunde falsch. Es trifft nicht zu, daß nicht genug
Nahrungsmittel in Deutschland erzeugt werden, um jedermann
sein zwar nicht reichliches, aber immerhin auskömmliches
Durchkommen zu ermöglichen. Es ist wohl allgemein be¬
kannt, daß schon seit Jahren keine oder eine nur verschwin¬
dende Menge von Nahrungsmitteln in Deutschland aus dem
Auslande hineingekommen ist. Die Tatsache, daß wir leben,
beweist allein schon die Richtigkeit dieser Ansicht. Man
setze die Todesfälle infolge Entkräftung, die nach Nachrichten
für die Dauer des Krieges von maßgebender Seite auf
l3/ 4 Millionen beziffert wurden, nicht auf das Konto der
ungenügenden Erzeugung von Nahrungsmitteln, man setze
sie auf das Konto der nicht ausreichenden Erfassung, die es
ermöglichte, daß der wirtschaftlich Stärkere sich zu ungunsten
des wirtschaftlich Schwächeren ebenso wie im Frieden mit
Nahrungsmitteln eindeckte, und man wird damit das allein
richtige gefunden haben.
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1400 Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung.
Die Vorschriften der Zwangswirtschaft trugen unter der
früheren Regierung, noch tragen sie jetzt den Kosten der Er¬
zeugung ausreichend Rechnung. Die frühere Regierung hielt
sie künstlich nieder, einmal, um nicht durch hoqe Nahrungs¬
mittelpreise allgemeine Unzufriedenheit zu erwecken, zum
andern Mal, um dem feindlichen Ausland wohl zu zeigen,
wie billig es in Deutschland trotz d£s Krieges hergeht.
Beides ging von falschen Voraussetzungen aus. Der Ver-
dienstmöglichkeiten gab es im Kriege so viele, daß Vermögen
zusammengeschleppt wurden. Den wirtschaftlich Schwäche¬
ren hätte eben aus Reichsmitteln geholfen werden müssen,
sobald ihr Einkommen in zu auffälliges Mißverhältnis zu
. den Nahrungsmittelpreisen kam. Bei den Kosten, die der
_Krieg 'Deutschland so wie so schon aufbürdete, kam es auf
einige Milliarden Ausgaben mehr oder weniger nicht recht
an. Der wohl angestrebte Versuch, dem feindlichen Ausland
zu zeigen, wie billig es in Deutschland trotz des Krieges
hergehe, war vollends falsch. Das feindlich^ Ausland war
über uns zu allen Zeiten besser informiert, als wir über es
und auch über uns selbst waren. Auch hierin wurde der
Landwirtschaft, dem biblischen Ochsen, der da drischt, un¬
klugerweise das Maul verbunden. Die Folge war der Schleich-
/> handel und das Schieberunwesen, diese „asiatische Pest“,
die Deutschland bis in seine tiefsten Tiefen erschüttert und
die, falls nicht schleunigst ein Gegenmittel gefunden wird,
es zerstören wird. -
Es ist darum verständlich, daß die Landwirtschaft dip
Aufhebung der Zwangswirtschaft und die Einführung der
freien Wirtschaft in der Ernährung durchaus erreichen will.
Es fragt sich demgegenüber, wie sich die Verbraucherschaft
dazu stellen soll und welcher Standpunkt, wenn die Verbrau¬
cherschaft zur Ablehnung dieser Bestrebungen kommt, bei
Abwägung der beiderseitigen Interessen der Volksallgemein¬
heit mehr dient. Es ist allgemeiner Grundsatz der Rechts*
lehre, daß die allgemeinen Interessen den Sonderinteressen
voranzugehen haben.
Die Frage ist für den Ernährungspolitiker, der pflicht¬
bewußter Leiter und nicht nur Vorführer der Volksmeinung
sein will, schwer zu beantworten. Bei der Zwangswirtschaft
war ein Pfad unter den Füßen, wenn ihn auch Dornen um¬
rankten; die freje Wirtschaft ist aber einer Hängebrücke
vergleichbar, die halten aber .auch in den Abgrund stürzen
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Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 140t
kann. Für die Beantwortung der Frage ist man ausschließlich
auf die Erfahrungen angewiesen, die bei den bisherigen teil¬
weisen Aufhebungen der Zwangswirtschaft gemacht worden
sind. Diese sind für eine Aufhebung der Zwangswirtschaft
nicht ermutigend. '
Im Frühjahr 1919 wurde die Zwangswirtschaft in Eiern
aufgehoben. Bis dahin standen jedem Versorgungsberechtigten
im allgemeinen 26 Eier im Jahr zu. Der Preis betrug zuletzt
nach Nachrichten 50 Pfennig für ein Ei. Im allgemeinen
sind diese 26 Eier im Jahr den-Versorgungsberechtig^en auch
zugeführt. t Viel war es nicht. Immerhin bekam dabei jeder
etwas. Nach Aufhebung der Zwangswirtschaft schnellte so¬
fort der Preis auf über eine Mark für das Stück, jetzt beträgt
er 2,70 Mark. Im ganzen letzten Jahr habe ich kein Ei
mehr gegessen — ich zähle noch nicht unbedingt zu den
ganz Armen —, wie viel weniger haben sich die Bedürftigen
ein Ei kaufen können.
Vom 15. August 1919 wurde die Zwangswirtschaft in
Hafer und in Hülsenfrüchten aufgehoben. Der Höchstpreis -
für Hafer betrug bis dahin nach Nachrichten 20 Mark und
für Hülsenfrüchte etwa 40—50 Mark für einen Zentner. Nach
dem mir vorliegenden Wochenbericht der Preisberichtsstelle
des deutschen Landwirtschaftsrats in Berlin vom 20. 'Januar
1920 beträgt jetzt der Preis für Hafer 154 Mark und für
Hülsenfrüchte im Höchstfall 430 Mark für einen Zentner.
Im September 1919 wurde die Zwangswirtschaft in Leder
aufgehoben. Der Preis für Frischfell betrug zuletzt nach
Nachrichten eine Mark für das Pfund; zurzeit beträgt der
Prei$ etwa 14 Mark für ein Pfund. Ein fertiges Paar Schuhe
kostet damit jetzt etwa 300 Mark und ist bei diesem Preise
für die Mehrzahl der Bevölkerung unerschwinglich.
Die Preise von allem Freigegebenen schnellen, wie diese
Beispiele lehren, sofort nach Aufhebung der Zwangswirtschaft
etwa auf die Weltmarktpreise für Deutschland, auf die Preise
also, für die Deutschland mit seiner niedrigen Valuta gleiches
auf dem Weltmarkt erstehen kann. Der Weltmarktpreis für
unser wesentlichstes Nahrungsmittel, das Brot, beträgt nach
dem Stande vom 15. Januar 1920 und auf der von Krieg
und Kriegsfolgen wohl am wenigsten mitgenommenen
Getreidebörse in Neuyork nach dem genannten Wochen¬
bericht für Weizen 253,30 Mark, für Roggen 223,60 Mark
für einen Zentner.
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1402 Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung.
Wahrscheinlich würde bei Aufhebung der Zwangswirtschaft
der Preis in Deutschland noch höher stehen, als dieser
Weltmarktpreis, weil Deutschland bei der Einfuhr im Inter¬
esse der Vermeidung weiterer großer Verschuldung gegenüber
dem Auslande immerhin Zurückhaltung üben müßte, die
Nachfrage also dauernd das Angebot übersteigen würde.
Gleiche Preiserhöhungen wären auch für die übrigen Nah¬
rungsmittel, wie Fleisch, Fett und dergleichen zu erwarten.
Die Weltmarktpreise für diese Nahrungsmittel stehen mir
augenblicklich nicht zur Verfügung.
Welchem auch nur etwas weitblickenderen Deutschen kann
es zweifelhaft sein, daß eine Erhöhung der Preise für Nah¬
rungsmittel der Allgemeinheit auf den Weltmarktpreis glatt
die Verhungerung von einem Drittel der Gesamtheit Deut¬
scher zur Folge naben würde? Daß die Einkommensverhält¬
nisse einer solchen außerordentlichen Erhöhung Schritt halten
können, ist ausgeschlossen.
Bei dieser Sachlage erübrigt es sich, auf ein Abwägen
der gegenseitigen Interessen der beiden Gruppen, wie sie
einerseits die Landwirtschaft und andererseits die Verbraucher¬
schaft darstellen, einzugehen. Das Interesse der Volks-
allgemeinheit verlangt es, daß nicht ein Drittel der Gesamt¬
heit Deutscher dem Hungertode ausgeliefert, daß wegen der
Erschütterungen, denen das junge Staats wesen dann aufs
Neue ausgeliefert würde, es dem allgemeinen Chaos aus¬
geliefert wird. Bei einem solchen hätte die Landwirtschaft
mehr zu verlieren, als die Verbraucherschaft.
Kommt man daher zu einer entschiedenen Ablehnung der
Einführung der freien Wirtschaft und zu dem Wunsche nach
Beibehaltung der Zwangswirtschaft, so wird man zum Zweck
des Versuchs des Wiederverstehens beider Interessenten¬
gruppen der Untersuchung der Frage nähertreten müssen, Vie
man die vielfachen Dornen auf dem bisherigen Pfade der
Zwangswirtschaft beseitigen oder doch mindestens beschrän¬
ken kann.
Ich glaube, diese Frage ist zu lösen. Die Antwort kann
nur sein, „fort mit dem Verband des Mauls“.
Man beseitige die schon fü,r den Ernährungspolitiker schwer
unterscheidbaren einzelnen vielen Vorschriften, ersetze sie
durch weniger komplizierte, kurze, klare, damit jedermann sie
begreift und behält und nicht das Gefühl zu haben braucht,
tagtäglich mit einem Fuß im Gefängnis zu stehen.
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Original fro-m
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Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 1403
Man wird dadurch den Respekt vor dem Gesetz, der bei den
Vorschi jften über die Zwangswirtschaft nahezu vollkommen
erloschen ist, zwar nicht sofort wieder beleben, immerhin
aber einen weiten Schritt dazu tun.
Man stelle die Landwirtschaft in der Ernährung so, daß
sie es nicht nötig hat, heimlich, sich an Vorräten zu vergreifen,
die eigentlich der Volksallgemeinheit gehören. Bei der Heim¬
lichkeit, mit der das bisher geschehen mußte, war es un¬
vermeidlich, daß dabei mehr um die Ecke ging, als dies
normal der Fall zu sein brauchte. Was die Landwirtschaft
zu ihrer eigenen Ernährung, zur Erhaltung ihrer Arbeitskraft
braucht, wird sie sich ja doch nehmen, und mag dieses auch
noch unter so harte Strafen gestellt sein. Ich sagte schon,
daß der Hunger wohl fast bei jedem einzelnen die Schranken
von Gesetz und Moral durchbricht. Wozu also sich gegen
etwas sperren, was einer Elementargewalt vergleichbar ist?
Män gebe der Landwirtschaft für ihre Arbeit ausreichenden
Verdienst, damit sie nicht nur reichlich ihre Unkosten deckt,
sondern darüber hinaus auch noch Rücklagen machen kann.
Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert. Erhält er nicht einen
solchen Lohn, so folgt in der Mehrzahl aller Fälle ein
Abirren auf Wege, die mit Gesetz und Moral kollidieren
müssen. Was ausreichenden Verdienst darstellt, könnte alle
Jahre oder alle halbe Jahre provinziell durch Spruchkammern
ermittelt und mit Rechtsnorm festgestellt weiden. Eine ein¬
heitliche Regelung für das gesamte Reich ist wegen Ver¬
schiedenheit der Verhältnisse der einzelnen Provinzen oder
Länder nicht möglich, auch nicht erforderlich.
Hat man dies getan, so fällt für die Landwirtschaft jeder
Grund fort, auf Abwegen sich noch besondere Vorteile zu
verschaffen. Letzteres würde selbst in der Mehrzahl der
Kreise der Landwirtschaft dann scharf verurteilt werden.
Auch in diesen Kreisen würde man es als durchaus richtig
finden, daß Landwirten, die auf Abwege geraten, nun —
bildlich gesprochen — das Genick zehnmal umgedreht wird.
Je härter alsdann die Strafen wären, desto mehr Billigung
fänden sie auch bei der Allgemeinheit, die noch stets Ver¬
ständnis dafür gezeigt hat, wenn es galt, unter Unterdrückung
des Humanitätsdusels einen Volksschädling zu beseitigen.
So weit wir gottgläubig sind, beten wir oft: „Und führe
.uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel.“
Es genügt nicht schlechthin schon die Durchführung der
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1404 Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung.
von mir angeregten Maßnahmen, um ein Abirren eines Teils
der Landwirtschaft von dem ' richtigen Pfade unmöglich zu
machen.. Man soll die Landwirtschaft auch von dem Uebel
der Versuchung befreien. Unter Versuchung meine ich den
Schleichhandel und das Schieberunwesen, das ich als „asia¬
tische Pest“ bezeichnet habe, das teuflische Ungeheuer, das,
ich glaube, es ist ein Max Klingersches Bild, welches es
darstellt, durch die Wohnstätten fahrend, die Menschheit
mit seinem Pesthauch vergiftet. Deutschland ist durch dies
Ungeheuer bis in seine tiefsten Tiefen hinein erschüttert.
Es kann der Totengräber für das Reich werden, wenn nicht
bald ein Mittel zu seiner Vernichtung gefunden wird.
Das Mittel liegt klar für mich zutage. Es fehlte bisher
nur die Anwendung. Ich sehe als solches Mittel die Auf¬
hebung des Postgeheimnisses für Pakete lind des Bahn¬
geheimnisses für Frachtstücke an. Beides ist durch die Reichs¬
verfassung geschützt. Beides soll ohne Not nicht freigegeben
werden. Wenn aber jemand sich schon in Todeskrämpfen
windet, und in dieser Lage befindet sich Deutschland jetzt
und würde sich zum Teil auch noch dann befinden, wenn
meine Vorschläge durchgeführt würden, so ist es töricht,
nicht nach dem letzten lebenerhaltenden Mittel zu greifen. Die
bisherige Bekämpfung des Schleichhandels und des Schieber¬
unwesens hatte keinen oder nur geringen Erfolg und dies
wird auch künftighin so sein. Bei der bisherigen Bekämpfung
betraf man im allgemeinen nur die sogenannte Schleich¬
versorgung, die die Schliche nicht kennt, deren sich der
Schleichhandel und das Schieberunwesen bedient. Wenn ab
und zu auch ein Schleichhändler oder ein Schieber von dem
Arm des Gesetzes erreicht wurde, so war es sicher ein
Neuling, der gleichfalls die Schliche der eigentlichen Schleich¬
händler oder Schieber noch nicht kannte. Die Zulassung
der Revision der Postpakete oder der Frachtstücke vor dem
Aufgabeschalter genügt eben zur Verhinderung der un¬
berechtigten Versendung nicht. Schleichhändler und Schieber
begeben sich ohne genügende Sicherheitsmaßnahmen durch
Voraussendung von Warnungsposten mit ihren Post- und
Frachtstücken, die eine Beschlagnahme durch die Ueber-
wachungsbeamten lohnend gestalten möchten, nicht zur Post
oder Bahn. Sie tun dies erst, wenn für sie damit keine Ge¬
fahr verbunden ist. Dauernde Ueberwachung der Aufgabe¬
stellen durch Ueberwachungsbeamte scheitert aber an der
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Originel from
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Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung. 1405
mangelnden Anzahl solcher. Nach Aufhebung des Postgeheim¬
nisses für Pakete und des Bahngeheimnisses für Frachtstücke
läge die Möglichkeit der stichweisen Prüfung des Inhalts
auch innerhalb der Schalterräume der Aufgabestellen vor.
Vor Abgang jeder Post und jeden Zuges brauchte also
sich nur ein Oeberwachungsbeamter zu den Aufgabestellen
hinzubegeben, um einzelne Postpakete und Frachtstücke nach¬
prüfend, genug Unsicherheit in die Reihen der Schleichhändler
und Schieber nineinzutragen, daß sie ein Risiko des Ertappt¬
werdens, welches härteste Strafen, bis zur Züchtigung an
Leib und Leben haben müßte, für die Folge nicht mehr zu
tragen gewillt sind. Scharfe Ueberwacnung des Reise¬
verkehrs wäre wie bisher, so auch für die Folge nötig,
damit der Schleichhandel und das Schieberunwesen nicht
den Weg des Reiseverkehrs nimmt, nachdem der Weg des
Versands ihm unterbunden ist. Damit befreite man wohl
in der Hauptsache die Landwirtschaft von dem Uebel der
Versuchung, nach Gewährung ausreichenden Verdienstes für
ihre Arbeit doch noch auf Abwege zu geraten. Die Hebung
des Gewissens der zum Teil leider schon korrupten Beamten¬
schaft bliebe dann zwar auch noch zu tun. Immerhin bleibt
dies im Rahmen dieser Erörterung von nebensächlicher Be¬
deutung. Ich werde darauf,' wenn möglich, später an der
gleichen Stelle zurückkommen.
Die Gewährung eines ausreichenden Verdienstes an die
Landwirtschaft hat indes auch ihre Gefahren. Auf diese muß
eingegangen werden, wenn diese Erörterung erschöpfend sein
soll, wenn die geheimen Fäden von Wirkung und Gegen¬
wirkung bloßgelegt werden sollen.
Die erste Gefahr besteht darin, daß die Grundstückspreise
noch weiter ansteigen. Es ist leider keine Seltenheit, daß
für den Morgen rein landwirtschaftlichen Bodens schon 1000
Mark gezahlt werden. Ich sage leider, weil bei einem weiteren
Ansteigen der Gründstückspreise der zwischenzeitliche Käu¬
fer auch bei einer sonst ausreichenden Verdienstgewährung
nicht mehr auf seine Kosten kommen könnte, geschweige denn
etwas erübrigt. Ich bin in diesem Punkt reichlich radikal.
Die Erde ist kein Menschheitswerk, sondern Gotteswerk.
Die Menschheit hat die Erde so übernommen, wie sie noch
heute besteht. Sie hat sie höchstens veredelt, kultiviert.
Es widerspricht dem Eigenzweck, wenn mit einem Gottes-
*5'2
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1406 Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft i. d. Ernährung.
werk gehandelt wird. Die Erde soll dem Menschen nur
Nahrung geben nach dem Bibelwort: „Im Schweiße deines
Angesichts sollst du dein Brot essen“, sie soll seinen irdischen
Leib die Ruhestatt geben, wenn das Ueberirdische, das, was
wir Menschen Seele nennen, die geheimnisvolle Kraft, die
Leben an sich bedeutet, nach langem Lebenslauf müde zum
Urbronn zurückstrebt. Carmen Sylva, die verstorbene Köni¬
gin von Rumänien, hat treffend die Bedeutung des Menschen
auf der Erde gekennzeichnet, v^ivenn sie in einem tiefempfun¬
denen Vers, der auch das Kreuz des Friedhofs der von
der See an das Land gespülten ertrunkenen Namenlosen auf
Helgoland ziert, von dem Menschen als einem „Nichts“
spricht, das vom Strom der Zeit an das Erdeneiland gespült
sei. Nicht immer war es so, daß mit der Erde, dem Gottes¬
werk, gehandelt wurde. Sie gehörte zunächst allen Menschen
gemeinsam. Erst in späterer Zeit entwickelte sich ein Fami¬
lien-, ein Horden-, ein Stammeseigentum, um später wieder
dem Familien- und dann dem Einzeleigentum Platz zu machen.
Ich fände darum nichts, wenn das Einzeleigentum in Deutsch¬
land einem Reichseigentum Platz machte, unter ausreichender
Entschädigung des Einzeleigentümers natürlich, der dann für
die Folge nur Pächter bliebe und Eigentum nur daran be¬
säße, was er erzeugt, erbaut oder am Erzeugten oder Erbauten
erkauft. Die bisherigen Maßnahmen der neuen Regierung,
wie Vorkaufsrecht, Aufhebung der Bindung von Besitz, Siede-
lung und dergleichen, haben nur den Zweck, einer vergrößer¬
ten Anzahl der «deutschen. Bevölkerung das Sehnen nach
eigener Scholle zu befriedigen. Der üeberführung des Eigen¬
tums an Grund und Bodejj im Reich auf dieses, treten sie
nicht näher. Fortdauernde Steigerung der Bodenpreise bringt
mit Naturnotwendigkeit auch eine Steigerung der Nahrungs¬
mittelpreise, weil sonst sich das Anlagekapital nicht verzinst.
Die zweite Gefahr besteht in der Notwendigkeit, das so¬
genannte Existenzminimum den jeweiligen Preisen für Nah¬
rungsmittel anzupassen. Diese Gefahr ist nicht so groß.
Sie läßt sich durch Einrichtung provinzieller Spruchkammern
beseitigen, die bei jeder regelmäßigen Erhöhung der Preise
für Nahrungsmittel auch das Existenzminimum der einzelnen
Verbraucherkreise feststellt und die Reichsregierung da
zur Unterstützung veranlaßt, wo das Existenzminimum nicht
erreicht wird.
Bindet man die Landwirtschaft dauernd an die Zwangs-
Difitized
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Original fram
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Herzhafte Politik;
1407
Wirtschaft in der Ernährung, so ist es folgerichtig, auch
Handel und Gewerbe an Höchstpreise zu binden und diese
in Wechselbeziehung zu den Höchstpreisen der Landwirt¬
schaft zu bringen, die ihrerseits wieder in Wechselbeziehung
zu den Einkommens Verhältnissen der Versorgungsberechtigten
stehen.
Ich bin am Schluß meiner Erörterung. Ich bin weder
Phantast noch unfruchtbarer Ideolog. Ich entbehre auch
der Eignung zum Weltverbesserer, der seine eigene Ueber-
zeugung als die allein richtige ansieht. Mir fehlt ferner
jedes Talent zum Fabulieren, weil ich nicht im Besitz von
Frohnatur bin, die Voraussetzung dessen ist. Die Verhältnisse
aber, wie sie gegenwärtig sind, wie ich sie beurteile und
wie sie nicht sein sollen, wenn nicht das Chaos kommen soll,
haben mir den Schreibstift in die Hand gedrückt, um Rufer
im Streit zu werden, um einen Meinungsaustausch herbeizu¬
führen, der vielleicht eine Klärung dessen bringt, was unter
den obwaltenden Verhältnissen als Erstes zu tun bleibt,
um nicht rettungslos dem Chaos, dem Bolschewismus, der
Rätediktatur zu verfallen. Ich werde darum jede Aeußerung
zu dieser Erörterung gerne begrüßen. Die Redaktion wird
die freundliche Vermittlung dafür übernehmen.
Der Bestand des Reichs, die Volksallgemeinheit über alles,
über jedes 'Sonderinteresse, über uns. Nur unter diesem
Zeichen können wir uns retten!
M. PERTZBORN:
Herzhafte Politik.
I T NSERE gegenwärtige inner- wie außenpolitische Lage
• rechtfertigt nichts weniger als einen zukunftsfrohen Opti¬
mismus, viel eher läßt es sich begreifen, daß die Schwarz¬
seherei immer mehr Anhänger, findet. Auch für weite Kreise
unserer Partei trifft das zu. Der bedauerliche Zwiespalt
innerhalb des Sozialismus verstärkt diese pessimistische Stim¬
mung natürlich noch sehr. Auch in- unserer Presse macht
sich ein gewisser elegischer Ton geltend. So begreiflich
das nun auch sein mag, so schädlich könnte es‘doch für die
Partei und die Sache des Sozialismus werden. Nur zu leicht
könnten solche Stimmungen lähmend auf die Einflußfähig-
45/2*
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Herzhafte Politik.
keit der Parteiinstanzen wirken und eine gewisse Aengstlich-
keit und Zaghaftigkeit in unsere Politik hineintragen, wodurch
ihr Erfolg von vornherein stark gefährdet wäre. Nur der
Mutige kann sich auch in der politischen Welt durchsetzen.
Treiben wir also keine zaghafte, sondern eine herzhafte
Politik. Damit soll jedoch keinem unbesonnnenen, allzu stür¬
mischem Draufgängertum das Wort geredet werden. Es
ist nun einmal so, daß die Umwandlung der kapitalistischen
in die'sozialistische Wirtschaft nicht von heute auf morgen
geschehen kann. Nicht einmal dann wäre es der Fall, wenn
Wirtschaft eine bloß nationale Sache wäre, um so weniger
bei der Verkettung der Wirtschaften über die ganze Welt.
Jedoch darf verlangt werden, daß mit rascher Entschlossenheit
alles getan wird, was geeignet ist, der allgemeinen Sozia¬
lisierung die Wege zu ebnen. Aber, welches sind diese vor¬
bereitenden Schritte, die zum Sozialismus führen sollen?
Ich darf wohl sagen, daß das Ziel des Sozialismus wesent¬
lich in einem zweifachen besteht: zum ersten will er die Aus¬
beutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen
auf heben und immöglich machen und zum zweiten durch Zu¬
sammenfassung der Produktivkräfte die Produktion verviel¬
fältigen und die Welt mit Gütern bereichern. Beides soll
zugleich erreicht werden durch die Sozialisierung. Diese
ist also nicht der Sozialismus schlechthin, sondern nur das
Mittel, ihn herbeizuführen. Die Gütervermehrung kann in
dem gewünschten Maß nur durch Sozialisierung er¬
reicht werden, das ist ihr positives Ziel; ihr negatives Ziel,
die Beseitigung der Ausbeutungsmöglichkeit, kann sehr weit¬
gehend auch schon innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft
erreicht werden. Damit aber wäre ein bedeutendes, wenn
nicht das bedeutendste Hindernis zur Sozialisierung beseitigt;
denn eben die Ausbeutungsmöglichkeit veranlaßt ihre Nutz¬
nießer, den Kapitalismus bis zum letzten zu verteidigen.
Bestände diese Möglichkeit nicht mehr, so wären die bis¬
herigen Ausbeuter weit eher bereit, mit den andern den all¬
gemeinen Vorteil in der Sozialisierung zu suchen.
Das Ergebnis der Ausbeutung erscheint in der Form des
arbeitslosen Einkommens. Dieses ist dreifach: die Grund¬
rente, der Kapitalzins und der Monopolgewinn. Die Grund¬
rente wollen die radikalen Bodenreformer beseitigen durch
Aufkauf allen, Bodens durch den Staat und* Verpachtung an
die Meistbietenden. Dieser Weg kann zurzeit nicht beschritten
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Herzhafte Politik.
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werden. Es muß versucht werden, auf dem Wege der Be¬
steuerung die Bodenrente der Allgemeinheit zuzuführen. Das
wird erreicht, wenn man nicht wie bisher, die produktive
Arbeit, sondern das Produktivmittel, hier den Boden, be¬
steuert. Dazu bedarf es nicht einmal der Einführung einer
neuen Steuer, vielleicht der Wiedereinführung der Staats¬
grundsteuer. Es wäre nur notwendig, bei der Reichseinkom¬
mensteuer einen Mindesteinkommensertrag pro Hektar fest¬
zulegen, unter den bei der Einschätzung eines Einkommens
aus der Landwirtschaft die Abschreibungen nicht gehen dürf¬
ten. Dann könnte es nicht mehr Vorkommen, daß’ Besitzer
großer Güter keine Einkommensteuer zahlten. In dieser
Mindestbesteuerung müßte das Recht aller auf die Erde in
etwa zur Geltung kommen. Wenn es Güterbesitzer geben
sollte, die infolge schlechter Wirtschaft diese Steuer nicht
aufbringen könnten, dann wäre es nötig, ihre Güter in bessere
Hände zu bringen. Sie könnten zur Ansiedlung von Klein¬
bauern benutzt werden. Das größte Hindernis, das dieser
Besteuerung des Bodens bisher im Wege stand, war die
Verschuldung der Grundbesitzer. Diese dürfte ja jetzt lange
nicht mehr in dem Maße bestehen wie vor dem Krieg. Aber
auch davon abgesehen, sollte der Hypothekenzins für eine
soziale Steuergesetzgebung kein ewiges Hindernis bilden
dürfen. Vielmehr wäre es an der Zeit, dem Zins, dem
zweiten und bedeutendsten Bestandteil des arbeitslosen Ein¬
kommens zu Leibe zu rücken.
Solange die Warenwirtschaft nicht in die sozialistische
Bedarfswirtschaft restlos übergeführt sein wird, kann auch
das Geld nicht verschwinden, und solange wird auch der Zins
bestehen bleiben; es müßte denn möglich sein, durch eine
Aenderung der Geldverfassung den Zins zu beseitigen oder
ihm eine andere Form zu geben. Dieses erstrebt Silvio Gesell
in seiner Geldreform, für die ich ein Wort einlegen möchte, s
trotz der abfälligen Kritik, die vor einiger Zeit in der
„Glocke“ an derselben geübt worden ist. Daß Herr Gesell
sich als Antisozialist einführt, ist gewiß nicht klug von
ihm, da er doch nicht erwarten kann, daß die Sozialdemo¬
kraten, an die er sich bei seiner Propaganda für die Geld¬
reform in erster Linie gewandt hat, ihm zuliebe ihren ganzen
Ideenbestand auf den Kopf stellen, daß sie den verspotteten
Marx fallen lassen und nun alle Begeisterung dem neuen
Propheten zuwenden sollen. Andererseits meine ich, bekämpfe
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Herzhafte Politik.
man eine gegnerische Bewegung dadurch am besten, daß man
das Richtige in derselben herübemimmt. Wenn es aber ge¬
lingen sollte, das Geld durch die vorgeschlagene Reform
dem Mißbrauch, der mit ihm zu allen Zeiten und namentlich
auch wieder in jüngster Zeit getrieben worden ist, zu ent¬
ziehen und seine Funktion ganz anders wie bisher in den
Dienst der Allgemeinheit zu stellen, namentlich den Zins
in den allgemeinen Lohnfonds überzuführen, so. wäre das
ein ungeheurer Schritt zum Sozialismus. Ich möchte daher
die Leser dringend bitten, sich durch die antisozialistischen
Bemerkungen Gesells nicht abhalten zu lassen, seine Geld¬
reform zu studieren, nicht-einer Theorie zuliebe, sondern
aus dem Streben heraus, jeden Vorschlag zu prüfen, der
vorgibt, die Menschheit aus dem Joche des Kapitalismus zu
befreien.
Da? dritte Element des arbeitslosen Einkommens ist der
Monopolgewinn. Solange die Warenwirtschaft nicht völlig
beseitigt ist, muß auch der Unternehmergewinn bestehen
bleiben. In diesem ist an sich der Wucherkapitalismus noch
nicht zu suchen. Der Unternehmergewinn enthält wieder
mehrere Bestandteile: 1. die Grundrente, 2. den Kapitalzins,
3. den Arbeitslohn des Unternehmers und endlich 4. eine
Risikoprämie für das eingesetzte Kapital. Letztere ist nicht
mit dem Kapitalzins zu verwechseln und bleibt bestehen,
auch wenn der Kapitalzins, der nichts anderes ist als der aut
das Realkapital übertragene Geldzins, durch die Geldreform
beseitigt wäre. Arbeitslohn des Unternehmers und Risiko¬
prämie sind die einzig berechtigten Elemente des Unter¬
nehmergewinns. Zeigten dieselben ^iach Beseitigung der bei¬
den ersteren unsozialen Bestandteile noch immer eine un¬
angemessene Höhe, so wäre zu untersuchen, worauf das be¬
ruhte. Die Ursache wäre jedenfalls eine Monopolstellung
des Unternehmers, und hier käme dann eine Sozialisierung
mit Recht in Frage.
Zum Schluß noch ein Gedanke und ein Vorschlag für
eine sofortige, herzhaft politische Maßnahme. Das Wahr¬
zeichen unserer augenblicklichen jammervollen Lage ist die
Geldentwertung. Sie beruht neben der Warenknappheit auf
der riesigen Vermehrung des gedruckten Geldes. Durch letz¬
tere sucht man vor allem die Möglichkeit zu schaffen zur
beständigen Auffüllung der zu niedrigen Einkommen; aller¬
dings mit dem Erfolg, daß der Realwert der Geldeinkommen
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Sozialisierung des Schulbuchhandels.
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auf eine Tiefe sinkt, daß die nominale Steigerung mehr als
ausgeglichen ist. Warum beschreitet man nicht endlich den
umgekehrten Weg und setzt die hohen Einkommen auf einen
solchen Stand herunter, daß auch für ihre Inhaber die
Opferzeit endlich beginnt? Nur das könnte sozial versöhnend
und den Aufbau föraernd wirken.
Oberlehrer Dr. ERICH WITTE:
Sozialisierung des Schulbuchhandels.
ZIEGEN Ende des Jahres 1918 ging durch die Presse eine
Notiz, nach der im Ministerium für Wissenschaft, Kunst
und Volksbildung beabsichtigt sei, ein Monopol für Schul¬
bücher herzustellen. Dieser Nachricht ist nicht widersprochen
worden. Am 2. Juni 1919 wurde in der verfassunggebenden
Preußischen Landesversammlung von der Deutschen Volks¬
partei die Anfrage gestellt, ob eine Sozialisierung des Schul¬
buchhandels in Aussicht genommen worden sei. Der Minister
Haenisch erklärte: „Der Qedanke , das ganze Schulbuchwesen
zu monopolisieren und dadurch den kapitalistischen Privat¬
unternehmern ihre Gewinne zugunsten der Gesamtheit zu
nehmen, ist gerade für mich als Sozialisten sehr sympathisch ,
ist durchaus gesund und ernster Erwägung wert. Aber ich
kann auf der anderen Seite leider nicht verkennen, daß sich
zur Zeit der Verwirklichung dieses gesunden und ernsten Ge¬
dankens noch eine Reihe ernster Hemmnisse in den Weg
stellen.“ Er erklärte, ihm ständen hierfür nicht die genügende
Zahl pädagogischer Fachleute zur Verfügung.
Schon jetzt mit der Sozialisierung des Schulbuchhandelsr'zu
beginnen , ist auch deshalb unmöglich , weil erst die Schul- .
reform abgewartet werden muß. Viele Schulbücher, besonders
die Geschichtsbücher, müssen neu bearbeitet oder durch -
andere ersetzt werden. Die Richtlinien dafür werden in der
Reichsschulkonferenz oder der Landesschulkon.'erenz festge¬
setzt werden. Erst nachdem dies geschehen ist, kann die
Sozialisierung des Schulbuchhandels in Angriff genommen
werden, da doch der Staat oder die Gemeinden nicht Schul¬
bücher herausgeben können, die nach einem Jahr veraltet sind.
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Sozialisierung des Schulbuchhandels.
Wenn auch augenblicklich noch nicht der Zeitpunkt für die
Sozialisierung des Schulbuchhandels gekommen ist, so ist dies
an und für sich doch ein guter Gedanke, dessen Verwirk¬
lichung für Sozialisten selbstverständlich ist. Aber nicht nur
diese sollten ihm sympathisch gegenüberstehen. Manche bur<
gediehen Parteien haben sich im Wahlkampf für die Soziali¬
sierung von Betrieben ausgesprochen, die dafür reif sind. Wo
träfe dies aber so zu wie beim Schulbuchhandel, den einige
Firmen fast monopolartig beherrschen, (z. B. Teubner, Waid-
mannsche Buchhandlung, Velhagen & Klasing). Die Ver¬
dienste dieser Verlagsbuchhandlungen würden dann den Ver¬
fassern, welche oft mit einem ganz kläglichen Honorar abge¬
speist werden, sowie den Angestellten und Arbeitern zugute
kommen.
Manche Mißstände, die sich beim Schulbuchhandel heraus¬
gestellt haben, könnten sofort beseitigt werden. Von manchen
Büchern erscheinen verschiedene Ausgaben, für Knaben- und
Mädchenschulen, oder Gymnasien, Realgymnasien und Ober¬
realschulen, für die zweifellos oft eine Berechtigung vorliegt.
-Bei manchen dieser Bücher geschieht dies aber nur deswegen,
damit .Geschwister, die verschiedene Schulen besuchen, das¬
selbe Buch nicht gebrauchen können, die Eltern dieses daher
in den verschiedenen Ausgaben anschaffen müssen, nur damit
der Verleger mehr Geld verdient. So gibt es z. B. von dem
bei Velhagen & Klasing erschienenen französischen Lesebuch
„Le France et les Francais“ zwei Ausgaben, A und B, bei
denen eine Reihe von Lesestücken verschieden ist, daher ist
es fast unmöglich, beide in derselben Klasse gebrauchen zu
lassen. Ein alter Trick der Verleger besteht ferner darin, in
einem Lehrbuche bei einer neuen Auflage Veränderungen vor¬
nehmen zu lassen, die sachlich nicht gerechtfertigt sind, son¬
dern nur den Zweck haben, die Benutzung der älteren Aus¬
gabe bei einem jüngeren Bruder oder einer jüngeren
Schwester unmöglich zu machen. Diese Uebelstände ver¬
schwinden bei solchen Büchern, welche vom Staat oder einer
Gemeinde herausgegeben werden.
Die Buchhändler Sind selbstverständlich gegen eine solche
Sozialisierung des Schulbuchhandels. Im Börsenblatt für den
deutschen Buchhandel wurde eine Eingabe von 18 Buchhänd¬
lervereinigungen abgedruckt, in der gegen eine Verstaat¬
lichung des Schulbuchhandels Protest erhoben wird. Es wer¬
den die verschiedensten Nachteile angegeben, die dieselbe
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Sozialisierung des Schulbuchhandels. __ 1413
zur Folge haben würde. Das ist aber nicht verwunderlich.
Es werden immer diejenigen dagegen sein, die sozialisiert
werden sollen. Sie wären ja Narren, Wenn sie nicht dagegen
""Sturm laufen würden, daß ihnen ihre Piivatvorteile genommen
werden.
Für den Privat-Verlagsbuchhandel mit Schulbüchern wird
angeführt, daß die großen Verdienste der großen Verlags¬
buchhändler diese in den Stand setzen, wissenschaftliche
Werke herauszugeben, die nicht viel einbringen und daher gar
nicht veröffentlicht werden könnten. Darauf ist zu entgegnen,
daß es zwar häufig vorkommt, daß Bücher veröffentlicht
werden, bei denen die Verleger zusetzen, weil sie sich ver¬
rechnet haben, daß der Fall aber selten sein dürfte, daß
Buchhändler wissenschaftliche Werke verlegen, bei denen sie
sicher sind, daß .sie Geld zusetzen. Meist geschieht dies
dann nur, weil sie keinen Korb einem Schriftsteller geben
wollen, von dem sie andere gutgehende Bücher herausgeben,
von dem sie fürchten, daß er Amen sonst untreu wird. Er
könnte sich mit einem anderen Buche, das einen buchhändle¬
rischen Erfolg verspricht, an einen andern Verlag wenden. Im
übrigen kann der Staat oder eine große Gemeinde, wenn bei
Schulbüchern Geld verdient wird, dies dazu benutzen, wissen¬
schaftliche Werke herauszugeben, bei denen die Unkosten
nicht herauskommen.
Wenn behauptet worden ist, daß kleine Buchdruckereien
und Buchbindereien , welche hauptsächlich von der Herstellung
von Schulbüchern leben, mit einem Male zugrunde gerichtet
werden würden, so ist darauf zu erwidern, daß sie von dem
Staat oder einer Gemeinde angekauft werden können, wodurch
die Angestellten und Arbeiter gewinnen würden, oder aber
daß sie in dem Besitz der bisherigen Inhaber bleiben und in
ihnen weiterhin Bücher gedruckt oder gebunden werden,
nur nicht für Verleger, sondern für den Staat oder Hie
Gemeinden.
Am 2. Juni ist in der Preußischen Landesversammlung von
den bürgerlichen Gegnern der Sozialisierung des Schulbuch¬
handels auch behauptet worden, diese bedeute Uniformierung.
„Wir müssen es ablehnen, daß uns vielleicht durch eine in
ihrer Weltanschauung einheitliche Regierung eine einheitliche
Weltanschauung aufoktroyiert wird.“ (Frau Poehlmann von
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Sozialisierung des Schulbuch handeis.
der Deutschen Demokratischen Partei.) Das hört sich an, als
ob beabsichtigt sei, z. B. für den ganzen preußischen Staat
nur ein einziges Lesebuch oder ein einziges Geschichts¬
buch herauszugeben. Davon kann natürlich nicht die Rede
sein. Es müssen z. B. provinzielle Eigentümlichkeiten berück¬
sichtigt werden . Ein in Berlin gebrauchtes Lesebuch wird
z. B. Beschreibungen der Umgebung der Reichshauptstadt
bringen, ein in Westfalen benutztes, die Heidelieder von
Anette von Droste-Hülshoff. Auch der provinzielle Dialekt
soll im Lesebuch nicht fehlen. Ebenso empfiehlt es sich, Ge¬
schichtsbücher für die verschiedenen Provinzen verschieden
zu gestalten, damit auch die Geschichte der engeren Heimat
der Schüler und Schülerinnen berücksichtigt wird.- In der
Schweiz, wo in den meisten Kantonen die Schulbücher nicht
von Privatverlegern herausgegeben werden, haben fast alle
Kantone verschiedene Lesebücher. Aber noch aus anderen
Gründen müssen Staat Und Gemeinden verschiedene Bücher
für dasselbe Fach verlegen. Die Lehrer wählen je nach ihrer
Individualität verschiedene Lehrbücher. Hierzu sollen sie auch
weiterhin Gelegenheit haben. Es soll auch weiterhin in jedem
Lehrerkollegium durch eine Fachkonferenz das Lehrbuch be¬
stimmt werden. , '
Ebenso so\\ durch eine Sozialisierung des Schulbuchhandels
nicht der freie Wettbewerb der einzelnen Schulbuchautoren
- unterbunden werden. Es sollen aber bei der Entscheidung
über die Wahl für die Herausgabe allein pädagogische Gründe
maßgebend sein. Daher würde sich vielleicht das folgende
Verfahren empfehlen: Der Staat oder eine große Gemeinde,
wie z. B. Groß-Berlin, erläßt ein Preisausschreiben für ein
bestimmtes Schulbuch, z. B. für ein Geschichtsbuch. Es
werden bestimmte Richtlinien für die Bearbeitung veröffent¬
licht. Für die Prüfung der eingehenden Ausarbeitungen wird
ein Ausschuß von Pädagogen festgesetzt, welcher die Auf¬
gabe hat, die Entscheidung zu treffen. Die besten Bü¬
cher werden dann herausgegeben. Die einzelnen Manu¬
skripte müssen mit einem Stichwort versehen sein.
Erst nach Entscheidung der Kommission wird fest¬
gestellt, welches die Namen der Autoren sind.
Natürlich kann eine kleine Gemeinde nicht ein sol¬
ches Preisausschreiben erlassen, sie muß daher ihren
Bedarf von einer anderen beziehen oder sich mit anderen
zusammentun.
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Das zerschmetterte Schwert Ferdinands.
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v Es empfiehlt sich, bei der Sozialisierung des Schulbuch¬
handels mit den in den Volksschulen gebrauchten Büchern an-
zufangen , da diese in größeren Massen hergestellt werden lind
die Unentgeltlichkeit der Lehrmittel nach der neuen deutschen
Reichsverfassung in allen Volksschulen durch geführt werden
muß.
Mit diesen Ausführungen glaube ich dargetan zu haben, daß
von der Sozialisierung des Schulbuchhandels nur die Verleger
Nachteile haben, Vorteile aber die Eltern, die Schüler und
■ Schülerinnen, die Lehrer und Lehrerinnen und die Gemeinden.
PETER KNUTE:
Das zerschmetterte Schwert Ferdinands.
Politik auf dem Balkan.
r rOUT comme chez nous. Ganz wie bei uns. Die Kommu-
* nisten, in Bulgarien Tesnakil genannt, erregen die Kriegs¬
entnervten, peitschen die Arbeiter auf. Der Acheron gerät
mächtig in Bewegung. Die Geister lohen. Versammlungen,
Massenversammlungen. Parole gegen die Regierung. Ver-
\sammlungs verböte. Streiks. Putschversuche. Stambuliski, der
Führer der Bauern, Ministerpräsident, unterdrückt die Streiks.
Der mehrheitssozialistische Polizeiminister Pastuchow hilft
ihm. Post, Telegraph, Eisenbahn werden als militarisiert
erklärt. Ohne Blutvergießen ist der Putsch beendet. Die Auf¬
ständigen kehren in Gruppen zur Arbeit zurück und geben
die schriftliche Erklärung ab, in Zukunft gewissenhaft ihre
Arbeit zu tun. Im Lande herrscht „Ordnung . Die Regierung
sitzt fest.
♦
Von Odessa, von Batum, von Sebastopol setzen die rus¬
sischen Agitatoren über das Schwarze Meer und tragen den
bolschewistischen Bazillus-ins Land der slawischen Brüder,
Zu den Bauern, die noch die Schaffellmütze, die Tschubara,
tragen, und bei denen es noch just so ist, wie zu Vaterzeiten,
als man zusammen noch lebte in den Zadrugas, den Familien¬
gemeinden. Wo die Glocken von den griechisch-orthodoxen
Kirchen läuten, wo man, mit den Kerzen in den Händen, vor
den Heiligenbildern kniet, und wo der Weihrauch über die
Gläubigen mystisch berauschend steigt. Unruhe ist ins ge-
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Das zerschmetterte Schwert Ferdinands.
ruhige Land gekommen. Krieg über Krieg die Jahre, Jahr¬
zehnte hindurch. Gegen die Türken, die Serben, die Rumänen
und Griechen, in Adrianopel, in Mazedonien, bei Soloniki, in
der Dobrudscha, über der Donau. Oft fest verklärte, berau¬
schende Zeit des blühenden Nationalismus, des Bewußtseins
der Kraft und der Erlösung der Brüder von fremdem Joch.
Ermattung dann nach den Jahren und Jahren, und noch kein
Ende. Es raunte im Land, ob’s richtig ist, Krieg zu führen,
ob’s richtig ist, Krieg gegen die slawischen Brüder zu führen,
daß ein fremder Herrscher auf dem Thron. In Moskau
raunten sie, lebten die Ideale, in Berlin sei der Feind, und
Radoslawo sein Erkaufter. Nieder mit Radoslawo! ertönte
es im letzten Krieg, und der betrügerische Genadiew, der
frühere Kriegsminister, brachte aus Rom vierundzwanzig Mil¬
lionen zum Aufruhr gegen die herrschenden StambuRsken.
Malinow kam, und die Heimatsfront war zermürbt. Ferdinand,
der Koburger, fühlte den Thron wanken. Und seine Vielseitig¬
keit und sein Konjunkturgenie Setzte sich mit Paris, London
und Washington in Verbindung, um sich, um sein krachendes
Thrönchen zu retten. Der Horchposten der Alliierten in Sofia,
der amerikanische Geschäftsträger, hatte gute Arbeit geleistet.
Von Saloniki her, vom Doiransee fluteten die innerlich zer¬
setzten bulgarischen Truppenmassen zurück. Im Wahn, daß
das das Heil wäre, daß Wilsons neue Welt erbaut sei 1 , daß
Friede . . .
Die feindlichen Heere zogen ins Land, lebten in Sofia, be¬
fahlen, waren Herren, strenge Herren, immer noch Feinde,
jeder Knotenpunkt der Bahnen in ihrer Hand, man konnte sich
nicht rühren, ohne einen fremden Herrscher anzustoßen. Ein
ungestümer Nationalismus war einst des bulgarischen Muschik
einziges Kulturideal. Zar Ferdinand hatte es behütet und aus¬
gebaut, und sein Schwert war stählern. Nun ist das Ideal
zertrümmert. Das letzte nationale Heiligtum im bulgarischen
Bauern geschändet. Seine Seele ist arm geworden, die Kerzen
der nationalen Hoffnung und des nationalen Stolzes sind ab¬
gebrannt, Dunkelheit lastet. Trübselig, glaubensarm flackert
das Lichtchen am Heiligenbild. . .
Ein Krüppel liegt mitten im Balkan, hilflos, ein Verkehrs¬
hindernis. Die Chirurgen von Versailles haben den corpus
vile auf dem Konferenztisch zerschnitten. In Neuilly schrieben
' sie den letzten Willen. Nun ist’s aus mit der Unabhängigkeit,
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Das zerschmetterte Schwert Ferdinands.
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die auf dem Zarevatz in Tornowo so feierlich verkündet
wurde. Bulgarien wird seine Ueberwachungskommissionen
haben, wie wir sie haben und wie sie die anderen Besiegten
hab % en. Und nicht einmal der tröstende Traum zu den Brüdern
jenseits der Grenze ist erlaubt. Die Ohnmacht ist allmächtig
hier im Lande. Das „Recht des Siegers“ hat sich grausig
ausgetobt. Ringsum starke Feinde mit der Machtfülle gegen
den Erbfeind, verliehen in Versailles. Auch von Wilson,
der großen Enttäuschung des zwanzigsten Jahrhunderts.
Schreckhaft, mehr als je der Zwang auf dem Balkan.
Keine Erlösung, keine Ruhe. Die bulgarischen Herzen
gefüllt mit Sprengstoff. Eine Fülle, die sic^h einst entladen
wird. . .
Seit dem Monat Mai des vergangenen Jahres ein linkes
Kabinett in Bulgarien, aus Bauern, Mehrheitssozialisten, hier
„Weitherzige“ genannt, und Radikalen. Sein Chef heißt
Alexander Stambuliski. Er sagte, als "der furchtbare Vertrag
bekannt wurde: „Das Schwert Ferdinands von Bulgarien ist
zerschmettert. Wir werden eine Pflugschar daraus machen.
Statt daß wir die Preußen des Ostens wären, wollen wir die
Schweizer auf dem Balkan sein.“ Die Worte, man hörts ihnen
an, waren diktiert von der Entsagung, njcht von den Wün¬
schen des bulgarischen Herzens. Eine Pflugschar, sie wird,
sie muß sein. Sie ist der Brotgeber des verarmten Landes.
Sie wird ihre Furchen ziehen 4urch das fruchtbare Land, und
es wird aus den Humoszeilen Erlösung aufsprießen. Arbeit
ist ja der große Tröster der Not, und sie wird auch der
slawischen Sentimentalität des bulgarischen Herzens den Trost
bringen. Und sie wird feien gegen die Verführung der Ele¬
mente, die im Niederbruche noch hilfreiche Hand zum tieferen
Sturze bieten. Mißtrauen, geboren aus der nationalen Ver¬
gangenheit des bulgarischen Volkes heraus, ist bulgarische
Eigenschaft. Dieses Mißtrauen ist doppelt groß in der Zeit,
die alles und alles zerstört, den Glauben nach oben, den
Glauben zum Bruder. Das Mißtrauen, das im namenlosen Un¬
glück die Reichen verdienen, die Armen verelenden sah. Dieses
Mißtrauen, willfährig den Verlockungen aus der Tiefe des
negativen Radikalismus, wird seine korrigierende Wirkung
zeigen. Bulgarien hat von hundert Menschen achtzig Bauern.
Kleinbauern, die die Pflugschar selbst in der Hand führen,
die im Schweiß der Arbeit ihr Brot verdienen. Arbeit wird
hier groß geschrieben, und für den Ausbeuter auf dem Lande
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1418
Das zerschmetterte Schwert Ferdinands.
ist kein Raum übrig in Bulgarien. Auf dem Lande
in Bulgarien scheint noch die Sonne, und sie wird die
schwarzen Krähenfüße, die die kommunistischen Ver¬
führer vor die Pflugschar setzen, mit dem Licht
der Arbeitsfreude übergolden. In Bulgarien gedeiht
die Frucht der Arbeit, aber nicht das Unkraut des
Kommunismus.
Mit der Pflugschar hat Stambuliski recbt. Anders ist’s mit
dem Schweizer Balkantum. Ueber Bulgarien- hinweg gleitet
der Weltstrom zum Osten. Bulgarien liegt auf der großen
Heerstraße europäischer Politik. Es wird überschüttet werden
von den Problemen, die in den Stuben der Diplomaten er¬
blühen. Aber Bulgarien wird Objekt, nicht Subjekt sein
können, und so wird es nichts werden mit der erträumten
Schweizer Möncheinsamkeit. Stambuliski wird sich bald mit
Plänen auseinanderzusetzen haben, die schon geschmiedet
werden. In Paris, in London, in Belgrad, in Bukarest, in Rom,
vielleicht auch in Moskau. Am Quai d’Orsay tragen sie den
g roßen Gedanken des Donau-Rheinbundes, der, über Bayern
is nach Ungarn reichend, einen Gürtel legen soll zwischen
Frankreich und Preußen. England setzt in Ungarn ein und
will es zum Ausgangspunkt seines Balkanhandels machen. In
Bukarest ist der Minister Diamandi im Einverständnis des
Königs Ferdinands dabei, einen südöstlichen. Staatenbund zu
schaffen, der die Ukraine, Ungarn, die Tschechoslowakei mit
Rumänien als Vormund will. Ein Bündnis, das sich gegen
„jugoslawische Anmaßung“ richtet. Clerk, der Amerikaner,
protegiert einen wirtschaftlichen Donaubund mit dem Frei¬
hafen Budapest als Zentrum, der alle österreich-ungarischen
Nachfolgestaaten in sich schließen soll. Und Jugoslawien,
zum Scnutz gegen den lateinischen Norden und Südwesten
und als Abwehrmittel gegen die Spiellaunen der europäischen
Großmachtpolitik, arbeitet für ein natürliches Bündnis aller
Balkanslawen einschließlich der Bulgaren. Das Zentrum dieses
slawischen Uebergewichts auf dem Balkan soll Belgrad
werden.
Alle möglichen Kombinationen aus der alten Diplomaten¬
schule tauchen wieder auf, nur nicht der Gedanke eines Gro߬
bulgariens. Der ist tot und begraben. Die Greisenskepsis
Clemenoeaus, der das Lehen nur Krieg ist und der materielle *
Zwang Unerläßlichkeit, war der Totengräber des nationalen
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Die Verwertung d. Milch durch Hochdruckfernleitungen. 1419
Bulgariens. Und viel Wasser wird die Donau noch hinab¬
fließen, ehe Bulgarien sich nach den Gliedern umsehen darf,
die die Metzger von Versailles ihm abgetrennt haben — nach-
der — Dobrudscha, nach Thrazien und Mazedonien. Das
Schwert Ferdinands ist zerschmettert. Es soll nicht wieder
erhoben werden, so wollen es die bulgarischen Bauern und
die bulgarischen Sozialisten. Aber sie wollen mit hämmerrf,
gar gew r altig, ein Schwert aus den Flammen des Herzens,
aas, aufgerichtet vor den heiligen Gütern \der Menschheit,
in Zukunft Wache hält gegen ein neues Versailles.
Professor EWALD F. W. RASCH (Steglitz):
Die Verwertung der Milch durch Hoch¬
druckfernleitungen.
f)IE Versorgung der Großstädte mit den für die mensch-
u liehe Ernährung und die Säuglingsfürsorge unentbehr¬
lichen Milchmengen ist zurzeit eine für den Erzeuger und
Verbraucher gleichermaßen unerquickliche Sache.
Indessen liegt der wesentliche Kernpunkt dieser Schwierig¬
keiten in der Transportfräge, und da diese eine rein tech¬
nische Aufgabe darstellt,, so besitzt sie auch eine Lösung.
Der derzeitige Transport der Milch in Kannen (Inhalt
etwa 25 Liter) erfordert auf dem Wege vom Kuhstall zur
Kleinmolkerfei, von der Kleinmolkerei zur Bahnstation bereits
einen erheblichen Aufwand an Arbeitern, Gespannen, Zeit
und Kosten. Dasselbe — geradezu mittelalterliche — Spiel
wiederholt sich in der Großstadt zwischen den Ankunfts¬
bahnhöfen und den städtischen Meiereien und ferner ein
drittes Mal beim Ausfahren der Milch zu den Einzelab¬
nehmern.
Dieser unbeholfene, langwierige, unzweckmäßige Transport
bringt es mit sich, daß 25 bis 40 Prozent der Ware unter dem
freien Einflüsse von Luft, Wärme und Bakterien der Säue-
0*
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Original fro-m
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1420 Die Verwertung d. Milch durch Hochdruckfemleitungen.
- rang 1 verfallen und am Bestimmungsorte im entwerteten
Zustande anlangen.
Dieser unwirtschaftliche und unhygienische Transport ist
es, der die Milch für den Erzeuger entwertet und für den
Verbraucher verteuert. Begreiflich ist es zwar, daß beide
Parteien nun die Folgen und Kosten ihrer untechnischen
Handhabung gegenseitig aufeinander abzuwälzen suchen.
Aber damit ist weder dem einen noch dem anderen und
vor allem dem Allgemeinwohle nicht geholfen, solange man
die schädlichen Ursachen der Dinge nicht beseitigt. Erwähnt
mag beispielsweise sein, daß Großstädte, Milchtrocknungs¬
anlagen und dergleichen Zentralen zur Heranschaffung von
25 Litern Milch je Tag etwa sechs Satz Transportkannen
gleichen Inhalts benötigen, so daß die Anschaffung, Ab¬
nutzung und Amortisation der Transportkannen an sich die
Investierung bedeutender Kapitalien erheischen.
Diese wirtschaftlichen Mißstände beseitigen sich nun grund¬
sätzlich dadurch, daß man die Milch von den Meiereien
oder sonstigen Erzeugerstellen den Verbrauchsstellen durch
ein Rohrleitungsnetz, und zwar bei hohen Anfangspressungen,
hohen Strömungsgeschwindigkeiten und kleinen Rohr quer-
schnitten zuführt.
Es ist ein allgemeiner technischer Grundsatz, daß ruckweise,
intermittierende Transporte unwirtschaftlich, kontinuier¬
liche dagegen wirtschaftlich und um so wirtschaftlicher sind,
je höher die Pressungen und je kleiner die Leitungsquer¬
schnitte (vergleiche elektrische Ueberlandzentralen) werden.
Es läßt sich in jedem Falle die Rentabilität derartiger Hoch¬
druckfernleitungsnetze erweisen, und es genügt hier nur daran
zu erinnen, daß man hochwertigere Stoffe, zum Beispiel
1 Verfasser hat im Frühjahr 1918 gelegentlich der Erbauung und In¬
betriebnahme der Milchtrocknungsanlage Tondem durchgesetzt, daß
eine sachverständige Entsäuerung von Milch seitdem gestattet wird,
so daß nunmehr eine erhebliche Menge derjenigen Milch wieder ge¬
brauchstüchtig gemacht werden kann, die während der langen Kriegs¬
jahre leider aus bureaukratischer Unvernunft der Säuglingsernährung
verloren gegangen ist, da die verantwortlichen,„Sachverständigen“ die
irrige Meinung vertraten, daß die Zufügung basischer Stoffe zur Milch
„eine Nahrungsmittelverfälschung“ darstelle. Das Gegenteil ist der Fall,
da hierdurch leicht lösliche Kaseinate und Laktate gebildet werden,
deren biologische Bekömmlichkeit und Wichtigkeit in der Heilkunde ja
längst erkannt und geschätzt ist
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Ürigmal fro-rri
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Nüchterne Randbemerkung zur Zukunftsstaatsdebatte. 1421
Mineralöle, in Amerika seit langem auf diesem Wege zu
fördern gewohnt ist. So ging man bekanntlich nach Erobe¬
rung der rumänischen Oelquellen sofort mit dem Plan um,
die. rumänischen Oele bis nach Deutschland hinein durch
Hochdruckleitungen zu fördern.
Im vorliegenden Falle wird also die Milch von einzelnen
ländlichen Radialstationen nach den Zentralstationen gepreßt,
und es ist von besonderem hygienischen Vorteil, daß die Milch
hierbei mit Luft, Bakterien und dergleichen in keinerlei Be¬
rührung gelangt, somit vor den Ursachen jeden Verderbs
geschützt ist.
Der naheliegende Gedanke, daß die Leitungsrohre durch
Absetzen von Quark oder Kasein sich verstopfen könnten,
hat sich technisch als irrelevant erwiesen. Wie Verfasser
gezeigt hat, werden Absonderungen dieser Art — sofern
sie bei unachtsamer Förderung von saurer Milch überhaupt
auftreten — durch Nachspülung mit alkalischen Flüssigkeiten
glatt aufgelöst lind beseitigt.
Professor Dr. CORNELIUS (Oberursel):
Nüchterne Randbemerkung zur Zukunfts¬
staatsdebatte.
%
f)IE „Glocke“ brachte jüngst (Nr. 40) einen Aufsatz von
u Wenzel, der mit beredten Worten einen Weg zur rasche¬
sten Verwirklichung sozialistischer Ideale zu weisen meinte.
So schön die Sache wäre, so wenig kann sie, wie es der Herr
Verfasser meint, in unseren Tagen durchgeführt werden.
Denn er übersieht, wie so viele andere Idealpolitiker, die Tat¬
sache unserer 'wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Auslande,
ohne dessen Lieferungen wir selbst dann nicht gedeihen
können, wenn die eigene Produktion uns genügende Nah¬
rungsmittel böte und jede Verschiebung derselben über die
Grenzen wirksam durch ein unbestechliches Beamtenpersonal
verhindert würde. Denn'es fehlen uns nun einmal die wichtig¬
sten Rohstoffe — nicht nur die lothringischen Eisenerze, die
einst 75 Prozent unserer Eisenproduktion lieferten, sondern
vor allem die Baumwolle, die gerade für die beauftragten
Staatsaufträge benötigt wird, und die in Deutschland leider
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1422
Bücherschau.
nicht zu erzeugen ist. Mit Herrn Wenzels Papiermilliarden
aber läßt die Einfuhr dieser unentbehrlichen Grundlagen
seines Vorschlages sich nicht bezahlen.
Es bleibt eben bei der alten Wahrheit, daß der sozialistische
Staat sich nicht vor der Internationale, sondern nur auf dem
Weg über die Internationale verwirklichen läßt; eine Wahr¬
heit, die heute leider nicht nur von Idealpolitikern, sondern
auch von den Leitern unserer realen Auslandspolitik völlig
vergessen zu werden scheint .
Bücherschau.
Karl Josef Friedrich : Volks freund Gregory. Verlag Andreas
Perthes, Gotha. Preis gebunden M. 6,—.
Die Lebensbeschreibung des amerikanischen Gelehrten und
langjährigen Leipziger Theologieprofessors Caspar Rene Gre¬
gory, der im Alter von 68 Jahren als deutscher Freiwilliger
in den Weltkrieg zog und zwei Jahre später den Tod im
Felde fand, ist eines der schönsten Bücher, die in den letzten
Jahren erschienen sind. Es bietet das Bild eines vollendeten
Edelmenschen, Wie er aufopferungsvoller und tapferer,-sitten¬
reiner und charakterfester in unserer Zeit kaum gedacht wer¬
den kann. Gregorys Leben war das eines Urchristen, ein
Zeugnis für die Kraft und Wirksamkeit sozialer Ethik. Un¬
ermüdlich und genau in seinem Berufe und strenge gegen sich
selbst, war er stets hilfs- und dienstbereit seinen Mitmenschen
gegenüber, mochten diese dem Adel, dem Bürgertum oder dem
Proletariat angehört habein; Menschengleichheit und Men¬
schenliebe Waren die Seele seiner Religion. Auch mit der
Arbeiterfrage beschäftigte sich dieser große Theologe und
Bibelforscher. ,Hier sind einige seiner Sätze über Konsum¬
vereine, Gewerkschaften, Revolution und andere ähnliche
Fragen:
„Ich bin seit Jahren Mitglied eines Konsumvereins. Wenn
jemand wissen will, wie Sozialdemokraten sind, so kann
er das in einem Konsumverein sehr gut erfahren. Er kann
sie dort kennen und wird sie schätzen lernen. Ich sage einem
jeden, daß das beste, was er tun kann, wenn er sozialen
Geist lernen und betreiben will, praktischerweise darin be¬
steht, daß er in einen Konsumverein hineingeht und dort
lebt. Ich sage das ganz besonders für die Gebildeten. . ,
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Bücherschau.
1423
Gerade wirtschaftlich sind die Gewerkvereine von der grö߬
ten Bedeutung. Ich frage: wie wird man wirtschaftlich
irgend mit einer Masse von Arbeitern fertig werden können,
wenn sie nicht organisiert sind? Jeder Arbeitgeber wird
zugeben, daß er viel besser auskommt, — wenn er überhaupt
ein Verständnis für seine Arbeiter, für ihre Denkweise, für
ihre Lage hat —, wenn die Arbeiter organisiert sind, als
wenn er sich vor. 600 unorganisierten, nicht denkenden Köp¬
fen sieht. Die Organisation der Arbeiter erzieht sie zum Den¬
ken, macht sie zugänglich für verständige Ideen. Gerade
organisiert sind sie ordentlich anzufassen, wenn die Gewerk¬
vereine {nicht einen jeden Streik herhindert haben, so ist
doch zu betonen, daß sie zahllose Streiks verhindert haben.
Ich halte es für das richtigste: es sollen die Arbeiter über¬
haupt, es sollen diejenigen Arbeiter, die sich Christen nennen,
in diese Gewerkvereine hineinsteigen — wie sie sind. Die
Gewerkvereine sind auf keine andere Weise irgendwie umzu¬
gestalten. . . Ich sehne mich' nicht nach einer Revolution.
Die Sozialdemokraten auch nicht, wenigstens kein gescheiter.
Bis jetzt ist auf den großen Blättern der Geschichte das
Christentum vielleicht häufiger ein Freund als ein Gegner
der Revolution gewesen. Die Bibel sagt kein Wort gegen die
Revolulion, wenn man das Wort richtig versteht. Das Recht
der Revolution ist Gottes Recht gegen die Menschenunter¬
drückung. . . Ich bin der Meinung, daß .die Einheitsschule
die richtige ist, das ursprüngliche Fundament, und daß sie
die Einigung des Volkes mit sich bringt. Die Einheitsschule
ist auch besonders wichtig von dem Standpunkte aus: wir
brauchen, um das Volk zu heben, die Talente im Volke.
Die Fortbildungsschule muß weiter entwickelt werden in
dem Sinne, daß sie etwas Bedeutendes, etwas Abgerundetes
bringt, daß der Schüler das Gefühl hat: ich komme auf eine
höhere Stufe und werde ein bestimmtes, abgerundetes Ganzes
jetzt fertig bringen. Ich sage, daß ein jeder Volksschullehrer,
der den Drang jn sich fühlt, sich weiter auszubilden, diese
Möglichkeit haben soll. Wir sind nicht dafür, die Aufstre¬
benden hinunterzudrücken, sondern die Aufstrebenden noch
heraufzuziehen. Meinen Sie, daß ein Volksschullehrer, der
Dienstags und Freitags abends an seinem Skattisch sitzt,
Persönlichkeiten besser ausbilden wird, daß er Fühlung mit
dem Volke besser suchen und gewinnen wird, als der Volks¬
schullehrer, der weiter arbeitet?“
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1424
Bücherschau.
Die im Anhänge beigefügten Lichtbilder Gregorys sind
eine Bereicherung des Buches. Leider läßt sich ähnliches
von dem expressionistischen „Buchschmuck“ nicht sagen.
Dieser paßt für eine derartige Biographie ganz und gar
nicht.
*
Carl Gebhardt: Der demokratische Gedanke. (Philosophi¬
sche Zeitfragen.) Verlag von Felix Meiner. Leipzig 1920.
Preis 4 Mark. 60 Seiten.
Die Abhandlung Gebhardts, die offenbar vornehmlich für
philosophisch und politisch geschulte Leser bestimmt ist, gilt
dem Nachweis, daß die deutsche Staatsidee, wie sie der
deutschen klassischen Philosophie entsprang, sozialethisch, de¬
mokratisch und organisch ist. Er beweist dies durch eine
Zergliederung der Ethik Kants und der Philosophie Fichtes
und kommt zum Schluß: „Der^ organische Staat des deutschen
Idealismus ist die soziale Demokratie.“ Wichtiger als die philo¬
sophische Zergliederung ist Gebhardts praktiscn-politische An¬
wendung dieser Idee auf die deutsche Staafsgeschichte seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag:
Der Plan des Freiherrn vom Stein, Deutschland aurzubauen,
war einVersuch, die politisch-sozialethischen Ideen der deutschen
Philosophie zu verwirklichen: „Der Staat Steins ist Organis¬
mus, weil er belebt ist bis ins letzte Glied und jedes Glied ftink-
- tioniert im organischen Leben des Staates.“ Stein scheiterte
am Klassenegoismus des Feudaladels und am Herrscherwillen
der Dynastien. Fichte arbeitete philosophisch am selben
Problem: „Noch im Enthusiasmus des Freiheitskrieges schrieb
Fichte jene wuchtigen Selbstbetrachtungen, die wie ein poli¬
tisches Vermächtnis die Deutschen mahnte, aus Freiheit Ein¬
heit zu bilden, aus dem Bundesstaat des Landesherren den
Einheitsstaat des Volkes, damit der demokratische Gedanke
der deutschen Philosophie staatliche Wirklichkeit werde.“
Auch Fichtes Staatslehre blieb ein toter Buchstabe. Nach den
Befreiungskriegen- wurde das Volk mundtot gemacht, bis
es sich 1848 erhob und den zweiten Versuch machte, „den
organischen Staat zu begründen“. Die Revoldtion scheiterte,
„weil das Bürgertum die Revolution nicht ernsthaft gewollt
hat. Es hat der Paulskirche nicht die Erkenntnis der Zeit¬
notwendigkeiten gefehlt; was ihr gefehlt hat , war der revo¬
lutionäre Wille . . . Das Parlament von 1848 war nach
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Bücherschau.
1425
Bunsens richtiger Feststellung nicht ein revolutionäres, viel¬
mehr ein konservatives Element. Es bekämpfte die Revolu¬
tion. Indem es vergaß, daß man „von Aufruhrs Gnaden“
in Frankfurt tagte, negierte es das eigene Prinzip. So konnte
es nicht an die Macht appellieren, als es der Macht bedurfte,
um seine Entschlüsse durchzuführen.“
Nach’ dem Zusammenbruch der Revolution von 1848 kam
Bismarck, aber seine Schöpfung war sowohl im Innern wie
im Aeußern eine mechanische; alles war durch Gewalt ge¬
schaffen und auf ein künstliches Gleichgewicht berechnet.
„Aus der mechanischen Staatsauffassung Bismarcks mit den
äußeren Sicherungen der Einheit floß seine innere Politik
der Gewalt. Wie ihm das Reich sich nicht formte aus der
lebendigen Kraft des Volkes, so hatte er kein Verständnis
für die lebendigen Kräfte im Volke. Seine äußere Politik
war so mechanisch wie seine innere. . . Um sich nicht mit
Frankreich zu verständigen, orientierte er Deutschland am
russischen Despotismus. Daß Möglichkeiten zu suchen waren,
Deutschland durch Bürgerfreiheit einzugliedem in den Kom¬
plex der bürgerlichen weststaaten, kurzum Deutschland mit
dem Westen organisch zu verbinden, statt es durch den Osten
mechanisch zu sichern, lag seiner preußischen Politik, die
er auch unter der Reichsflagge trieb, völlig fern. Es muß
festgestellt werden: die Politik, die im Weltkrieg ihre Kata¬
strophe erlitt, war die Politik Bismarcks, von Wilhelm II.
dilettantisch fortgesetzt. Sie hat ihre Katastrophe erlitten,
nicht wegen dieser dilettantischen Fortsetzung, sondern weil
sie in ihrem Prinzip falsch war: Bismarck glaubte Deutsch¬
lands Einheit schaffen zu können ohne Deutschlands Freiheit.“
Und das deutsche Bürgertum hat sein gerüttelt Maß von
Schuld, da es, anstatt sich seinem Wesen nach zu entwickeln
und die bürgerliche Freiheit herzustellen, bestrebt war, sich
zu verjunkern und zu militarisieren. „Der Bankerott des
politischen Bürgertums vollzog sich 1907 in der Block¬
politik, durch die die liberalen Parteien den Interessen des
Adels sich dienstbar machte“, um das Proletariat nieder¬
zureiten. „Letzte Folge dieser Hingabe an uneigenes Ideal
war die Gefolgschaft, die im Kriege ein großer Teil des
Bürgertums über den Selbsterhaltungswillen hinaus den kurz¬
sichtigen Eroberergelüsten seiner Herrenkaste geleistet hat.“
Nachdem noch Gebhardt den Marxismus und die deutsche
Arbeiterbewegung bespricht, plädiert er — angesichts der
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1426
Bücherschau.
Ereignisse des 9. November 1918 — für einen Verzicht auf
den Klassen- und Parteikampf und für ein einheitliches Wir¬
ken Deutschlands zugunsten der sozialen Demokratie.
*
Dr. Eduard Herold: Ein Jahr deutsche Republik. Hochschul¬
verlag. München 1920.
Ein irreführender Titel! Der Verfasser, jler sich als echt
deutscher Mann einführt und Kurt Eisner zu einem undeut¬
schen, jüdischen Intellektuellen stempelt, schämt sich nicht,
eine Anzahl dilettantischer Zeitungsartikel aus dem Jahre
1918/19 als Buch herauszugeben unter dem feklamehaften
Titel: Ein Jahr deutsche Republik! Für das Wissen und
die Geistreichigkeit Herolds ist es bezeichnend, daß er
Rousseau den ersten Bolschewisten nennt. Ich habe allen
Grund zur Annahme, daß Herold, lals er Rousseau zitierte,
die Werke Rousseaus gar nicht kannte, oder nur vom Hören¬
sagen kannte.
M. Beer.
*
Wilhelm Wundt: Die Zukunft der Kultur. Verlag Krömer.
Leipzig 1920.
Obige Broschüre wird als das Schlußkapitel aus Band 10
der Völkerpsychologie - bezeichnet: Ein eigenartiges Schlu߬
kapitel ! Es bedarf erst der Motivierung des „Standpunktes
der‘Betrachtung“, die denn auch merkwürdig genug, ja ver¬
steckt tendenziös anmutet. Alternde Philosophen sollten was
Besseres tun, als Ausblicke in eine neue Zeit zu geben!
Man kommt nicht aus seiner Haut heraus und der Wunsch
des Alternden ist überall der Vater des Gedankens einer
neuen Zeit, die der Verfasser doch nicht versteht.
Er würde sonst nicht so gänzlich nebenbei hauen! „Die
faktische Monarchie ist eine Form, der der Staat zu jeder
Zeit zustrebi.“ — Armer Ebert! Ungekrönter König einer
„Wahlmonarchie“, zu der schon in den primitiven Staats¬
gebilden afrikanischer und amerikanischer Kulturvölker Ana¬
logien Vorkommen, und die schließlich als rechtlich sank¬
tionierte Form in dem Kaisertum des alten Deutschen Reichs
als ein politisches Gebilde spezifischer Art verwirklicht war.“
Und im neuen Deutschen Reich Wilhelm II. trat wohl die
Analogie zu der Primitivität und Absurdität afrikanischer
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Bücherschau.
1427
Negerfürsten besonders zutage ?! Wenn jemand folgendes
schreibt: „So ist es gekommen, daß die heutige Sozialdemo¬
kratie nicht nur ein verzerrtes Gegenbild jenes allein halt¬
baren Staatssozialismus ist, sondern, daß sie jetzt schon in
der gleichen materialistischen Gesellschaftsmoral steckt, wie
der Kapitalismus, den sie bekämpft“, so muß man mit Recht
fragen, ob der Verfasser überhaupt den Unterschied zwischen
materialistischer Geschichtsauffassung und materialistischer
Gesellschaftsmoral recht begriffen hat! Die Moral des So¬
zialismus ist der „Gemeinwille“, die höchste Form eines Ver¬
nunftwillens überhaupt, die mit dem untergelegten Utili¬
tarismus der Westmächte wohl nichts zu tun hat. Seit wann
ist der Sozialismus materialistisch! ? Sollte ein Philosoph der
alten Schule nicht begreifen können, daß materialistische
Geschichtsauffassung etwas anderes ist als materialistische
Lebenspraxis ?
Interessant ist es, daß Wundt eine Art Kronzeuge für
gewisse Kreise des Bürgertums werden sollte, die immer noch
behaupten, die Revolution sei gemacht worden, das Heer
sei von der Heimat „erdolcht“. Er sagt: „So sehr dieses
Ende des Prozesses, der mit der Bewilligung der Kriegs¬
kredite begonnen und mit der Revolution geschlossen hatte,
dem weiteren Publikum als das Resultat einer wohl vorberei¬
teten Geheimverschwörung erscheinen mochte, so war er
vielleicht für die Mehrheit der Sozialdemokratie selbst ein
überraschendes Ereignis.“ Also nicht „Verschwörung“, aber
auch keine „Ueberraschung“, sondern notwendige Folge der
Einzelkatastrophen des für uns verlorenen Weltkrieges, ge¬
mäß der materialistischen Geschichtsauffassung.
Zuzugeben ist, daß auch wir im „deutschen Staat“, im
„sozialistischen Zukunftsstaat“, den dritten Aufstieg Deutsch¬
lands nach der „Reformation“ und nach dem „deutschen
Idealismus“ erblicken, aber nicht mit und kraft „der Ge¬
sinnung, mit der ein großer Teil unserer Jugend aus. dem
Felde heimgekehrt ist.“ Welcher Teil sollte das sein? Etwa
der des neudeutschen Militarismus racheschnaubender Obser¬
vanz und knabenhafter Arroganz ?! — Nein, die „Zukunft
der Kultur“ liegt im Sozialismus als Erziehungsproblem einer
neuen Menschheitsgeneration, die erst geboren werden muß,
die wirklich frei ist auch von Wundtscner Philosophie.
Br. R. Nagler.
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1428
Eingclaufcnc Schriften.
Eingelaufene Schriften.
Wans Delbrück: Geschichte der Kriegskunst. IV. Teil:
Neuzeit. Verlag Georg Stilke. Berlin 1920.
Professor Dr. Karl Binding: Werden und Leben der Staaten.
Verlag Duncker & Humblot. 1920.
Walther Rathenau: Autonome Wirtschaft. Verlag Eugen
Diederichs. Jeiia 1919.
Joachim Kühn: Der beste Staat. Franckhsche Verlagsbuch¬
handlung. Stuttgart 1919.
Reichsgerichtsrat A. Niedner: Sozialisierung der Rechts¬
pflege. Verlag Dr. W. Klinkhardt. Leipzig 1919.
Karl Marx: Ausgewählte Schriften. Verlag Recläm (Nr.
6068/69). Leipzig 1920. (Herausgegeben von Emst
Drahn.) ’
Franz Stolz: Volkswirtschaftslehre. Verlag Soz. Fortschritt.
Berlin. Preis M. —,50.
Fr. Chr. Dahlmann: Ein Wort über Verfassung. Einleitung
von Dr. R. Deschey. Verlag Reclam (Nr. 6067).
Silvio Gesell und Ernst Frankfurth: Aktive Währungs¬
politik. Leipzig, Richard Hermann. 1909.
Dr. Heinrich Laufenberg und F. Wolfheim: Revolutionärer
Volkskrieg oder konterrevolutionärer Bürgerkrieg?
Verlag Willaschek & Co., Hamburg 11.
N. Bucharin: Anarchismus und wissenschaftlicher Sozia¬
lismus. Verlag Willaschek & Co., Hamburg 11.
Verfassung des Deutschen Reichs. Einleitung, Anmerkun¬
gen von K. Panhier. Verlag Reclam.
Professor Dr. Karl Horn: Licht und Finsternis. Ein opti¬
sches Experimentierbuch für die Jugend. * Verlag B.
Kühn, München, Heßstraße 58.
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
SCHRIFTEN VON PAR VUS
ha Kampf um die Walaheit
Preis 1,20 Mark
In dieser Schrift legt Parvus seinen sozialistischen Werde¬
gang vom russischen Revolutionär zum deutschen Sozial¬
demokraten dar Und setzt Sich mit seinen politischen und per¬
sönlichen Widersachern auseinander. Außer dem Interesse, das
die wechselvollen Schicksale des Verfassers erwecken, enthält
das Werk, das zuerst in russischer Sprache im April 1918 erschien,
wichtige politische und sozialistische Rückblicke und Ausblicke.
Der Arbeitersozialismus und die
Weltrevoiution
Briefe an die deutschen Arbeiter
1./2. Die wirtschaftliche Überwindung des Kapitalismus.
Sozialismus und Bolschewismus.
-Zwei Briefe in einem Hefte. Preis 50 Pfennig.
3. Die Entfaltung des sozialistischen Wirtschaftssystems.
Preis 40 Pfennig.
4. Der Friede und der Sozialismus. Preis 70 Pfennig.
Diese Briefe müssen von jedem gelesen werden, der an der Zukunft
des Sozialismus mitarbeiten will, einerlei ob er die Ansichten des
Verfassers teilt oder nicht. Der geschichtlich und sozialistisch
geschulte Blick des Autors, der in den deutschen, wie in den
russischen Verhältnissen gleich gut beschlagen ist, hat schon im
Anfang der Revolution manches vorausgesehen, was anderen ver¬
borgen blieb. Die Briefe enthalten eine Schilderung kommender
sozialistischer Entwicklung, welche der größten Beachtung wert ist.
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
BERLIN SW68 LINDENSTR. 114
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
W*'
: l-: t
Die soziale Bilanz des Krieges
Erweiterte Auflage. 21. bis 40. Tausend . 7
Preis 50 Pfennig
Der Wahnsinn des imperialistischen Weltkrieges wird iö dieser
Schrift, deren erste Auflage zu einer Zeit erschienen war«, da
man noch an den Sieg der Zentralmächte glaubte, mit kaum zu.
übertreffender Logik aufgedeckt. '
Der Staat, die Industrie und der Sozialismus
Preis kartoniert 3 Mark, gebunden 4,50 Mark
Eine wissenschaftliche Darstellung und Begründung des Sozialismus
aus dem Getriebe des modernen Kapitalismus heraus, Aufstellung t
eines Programms der proletarischen Demokratie.
• ■ M
j
Die Verstaatlichung der Danken und derSoziaüsmus
Preis kartoniert 3 Mark ’
Auf volkswirtsdiaftlicher Grundlage aufbauend, schildert Parvus
in diesem Band mit reidiem Wissen und hervorragender Sach¬
kenntnis das Problem der Verstaatlichung von Industrie und Banken. '
In der russischen Bastille während dor Revolution
Eindrücke und Stimmungen
Preis 3 Mark •* ;
deine Antwort an Kerenski & Co.
Preis 20 Pfennig
Auf alle Preise wird ein Teuerungszuschlag von 20°/ 0 erhoben ^
VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFT
BERLIN SW 68
LINDENSTR*114
Verlag: Verlag für Soz
platz 2218, 1448—1450. —
Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. '
Sozial Wissenschaft, Berlin SW 68, Lindenstraße 114. Fernruf: Moritz-<7
Druck: Photogravur G. m. b. H., Berlin SW 68, Lindenstraöe llfe
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Google
-
Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFC
>. Jahrg. 2. Band Jfs46 14. Februar 1920
Die Glock e
Benusgegebeiivni
Parvus
f
/
50 Pfennig
#
Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68
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Original fram
INHALT DIESER NUMMER:
Dr. R. von Ungern-Sternberg: Ostorientierung 113$
U. Bmil: Politische Köpfe.. . ; 1133
Alfred Unger: Zur Reform des staatl. Erbrechte 1493
Oberlehrer Dr. Karl Hedicke: Auslandslehrer . 11^
Dr. Q von Frankenberg: Zur Reform des ja* ^ ;
ristischen Studiums ^ 143
Dr. Kurt Nagler: Kontradiktorische oder kon- ;
träre Entwicklung?.1443
John F. Bray: Kommunismus und Kapitalismus lÜSSf
Bücherschau: Heinz Stratz „Drei Monate als
Geisel für Radek“; Michael Smilg-Benario
„Ein Jahr im Dienste der russ. Sowjetrepublik“ 1453
Druckfehler-Berichtigung.. . 1460
Nummer 45 der „Glocke“ hatte folgenden Inhalt:
Heydar: Zwangswirtschaft oder freie Wirtschaft
in der Ernährung . . .1397
M. Pertzborn: Herzhafte Politik.. 1407
Oberlehrer Dr Erich Witte: Sozialisierung des
Schulbuchhandels .. . 1411
Peter Knute: Das zerschmetterte Schwert
Ferdinands.. 1415
Professor Ewald F. W. Rasch (Steglitz): Die
Verwertung der Milch durch Hochdruck- ,
fernleitungen ... .. 1419
Professor Dr. Cornelius (Oberursel): Nüchterne
Randbemerkung zur Zukunftsstaatsdebatte 1421
Bücherschau: Karl Josef Friedrich „Volksfreund
Gregory“; Carl Gebhardt „Der demokratische
Gedanke“; Dr. Eduard Herold „Ein Jahr '
deutsche Republik“; Wilhelm Wundt „Die
Zukunft der Kultur“.. 1422
Eingelaufene Schriften.. 1133
n
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Original from
UNIVERSITY OF CALIF.OJ^y
DE GLOCKE
46. Heft 14. Februar 1920 5. Jahrg.
Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet
- :_I_’_
Dr. RODERICH VON UNGERN-STERNBERG:
Ostorientierung.
J ETZT, nach Unterzeichnung des Friedensvertrages, gilt es,
der Gestaltung unserer Beziehungen zu den anderen Völkern,
d. h. der deutschen Auslandspoliiik, ganz besondere Auf¬
merksamkeit zu widmen. Denn die Republik wird den Nach¬
weis zu erbringen haben, daß sie besser als seinerzeit das
kaiserliche Deutschland in den Fragen der auswärtigen Politik
mit seinem Pfunde zu wuchern imstande ist. Allerdings steht
ihr nicht die Fülle von Reichtum, wirtschaftlicher Kraft und
militärischen Machtmitteln zu Gebote, wie dem Deutschland
von 1871 bis 1914, um so größer muß darum die Geschicklichr
keit in der Leitung unserer Außenpolitik werden. Planlos,
unstet, einseitig militaristisch, immer vom Streben erfüllt sich
nach allen Seiten hin Geltung zu verschaffen, — war die
Politik des kaiserlichen Deutschlands. Wenn das republi¬
kanische Deutschland diese Fehler vermeiden will, so ist
es von gnindlegendier Bedeutung, darüber Klarheit zu schaffen,
in welcher Richtung und in welchem Sinne unsere Außenpolitik,
geleitet werden soll. Was ist vor allem anzustreben? Darauf
kann m. E. die Antwort nur lauten: Revision des Friedens¬
vertrages und Anschluß an ein Land, das uns Rohstoffe
liefern, Industrieerzeugnisse abnehmen, und deutsche Aus¬
wanderer auf nehmen kann; denn von einer erfolgreichen
Lösung dieser drei Fragen hängt unsere ganze zukünftige
Entwicklung ab. Gibt es nun ein Land, das die Bedingungen
zur Lösung dieser Fragen auf weist? Jawohl — Rußland,
insbesondere Räterußland, das sich zurzeit wohl noch in einem
Stadium großer wirtschaftlicher und politischer Umgestaltung
befindet, aber gerade deshalb mehr als je zuvor der Unter¬
stützung eines ausländischen Industriestaates bedarf, und sich
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1430
Ostorientierung.
bereit finden muß, die ihm gewährte industrielle Unterstützung
durch Abgabe von Rohstoffen zu vergüten. Es liegt daher
auf der Hand, daß sich unsere politische Aufmerksamkeit
auf Räterußland, denn letzteres ist gegenwärtig ; für uns
gleichbedeutend mit Rußland überhaupt, konzentrieren muß."
Ja — aber ist denn das Deutschland des Versailler Friedens
überhaupt imstande, eine aktive Auslandspolitik zu treiben?
Fraglos legt der Friedensvertrag unserer außenpolitischen
Betätigung vielseitige Fesseln an, aber nach einer Richtung
können wir einstweilen noch den Arm und die Hand aus¬
strecken — nämlich nach Rußland hin. Wenn wir das nicht
tun, so werden wir es uns selbst zuzuschreiben haben, wenn
wir schließlich an allen Gliedern gefesselt daliegen. Das
Streben der Entente, unsere Zukunft ganz in Abhängigkeit von
dem Ermessen der Verbandsmächte zu bringen, hat sich in¬
sofern durch den Versailler Vertrag nicht ganz verwirklichen
lassen, als es nicht gelungen ist, ein verhandlungsfähiges
Rußland für den Gedanken der Vergewaltigung Deutschlands
zu gewinnen. Man sah sich daher genötigt, im Vertrage nur
vorbereitende, einleitende Maßnahmen zu treffen (Art. 116,
117 und 260), die in Zukunft die Handhabe bieten sollen, um
Deutschland gänzlich unter die Kontrolle der Alliierten zu
bringen. Ob aber diese Einkreisung Deutschlands gelingt,
das hängt davon ab, ob Räterußlaud sich dazu hergibt. —
Gelingt es England und Frankreich, mit Sowjetrußland einen
Vertrag abzuschließen, demzufolge, sagen wir mal, jedwedes
Abkommen Räterußlands mit Deutschland der Genehmigung
des „Völkerbundes“ bedarf, so * bedeutet das praktisch, daß
die Entente eine deutsch-russische Annäherung jederzeit ver¬
hindern kann; denn selbst wir könnten uns über diesen Ver¬
trag nicht hinwegsetzen, weil Artikel 117 des Versailler
Friedens uns die ungeheuerliche Verpflichtung auferlegt, „die
volle Gültigkeit aller Verträge und Vereinbarungen anzuer¬
kennen, die von den alliierten Mächten mit einem der Staaten
abgeschlossen werden * die sich auf dem Gebiet des ehemaligen
russischen Reichs gebildet haben“. Es kommt aiso letzten
Endes darauf an zu verhindern, daß England und Frankreich
Räterußland in antideutschem Sinne beeinflussen. Sehen wir
aber den Bemühungen der Entente, in Räterußland Fuß zu
fassen, weiter tatenlos zu, so wird die unausbleibliche Folge
sein, daß Räterußland ein anglo-französisches Protektorat wird,
und folglich die durch die Artikel 116, 117 und 260 gekenn-
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Ostorientierung.
1431
zeichneten Absichten der Entente verwirklicht werden. Daher
ist m. E. keine Zeit zu verlieren! Wir müssen jetzt der Räte¬
regierung unzweideutig erklären , daß wir bereit sind , mit
ihr über die Regelung der gegenseitigen völkerrechtlichen
Beziehungen zu verhandeln , um daraufhin ein wirtschaftliches
Abkommen zu schließen.
Ich will nun im folgenden kurz die Frage der deutschen
Auswanderung nach Rußland besprechen, um zu zeigen, von
welcher Wichtigkeit auch auf diesem Gebiet eine deutsch¬
russische Annäherung werden kann. In den letzten Jahren vor
dem Kriege gingen rund 74 v. H. der deutschen Auswanderer
nach den Vereinigten Staaten.
Bei der Auswanderungsbewegung, die jetzt einsetzen, und
die die höchste Ziffer in den Jahren 1871 bis 1913 (1881 —
220 902) wohl beträchtlich übersteigen wird, muß sich das
Reiseziel gänzlich ändern, da die Deutschfeindlichkeit in den
Vereinigten Staaten eine ersprießliche Existenz daselbst un¬
möglich macht und außerdem die Vereinigten Staaten die
Einwanderung sehr einzuschränken bestrebt sind. Im übrigen
kommen, als überseeisches Auswanderungsziel, für Deutsche
nur einige Staaten Mittel- und Südamerikas in Betracht, denn
die sonstige überseeische Welt ist entweder direkt Herrschafts¬
gebiet der Entente oder wird von ihr kontrolliert, so daß
eine dauernde Niederlassung Deutscher mit viel Schwierig¬
keiten und Kränkungen verknüpft sein dürfte. Ergießt sich
aber die ganze deutsche Auswanderungswelle nach Süd- und
Mittelamerika, so werden die Auswanderer sich sehr bald
lästige Konkurrenten werden. Außerdem ist für sehr viele,
und gerade für unbemittelte Auswanderer, bei dem jetzigen
Stand unserer Valuta, die Gründung einer Existenz in den
überseeischen Ländern, und gerade auch in Südamerika, un¬
möglich. Wer aber mit zu geringen Mitteln herübergeht,
läuft Gefahr, unter die Räder zu kommen. Vor einer Aus¬
wanderung nach Südamerika, die vielen §o hoffnungsreich
erscheint, wird daher in letzter Zeit von sachverständiger
Seite aus den erwähnten Gründen dringend gewarnt. Es
ist jedenfalls im höchsten Grade wünschenswert, daß ein
Teil derjenigen Deutschen, die ihre Heimat zu verlassen ge¬
zwungen sind, sich nicht der überseeischen Auswanderung
zuwendet , sondern sich nach Osten und zwar nach Rußland
und nach West-Sibirien richtet.
46(1*
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Ostorientierung.
Deutsche Betriebsleiter, Techniker, Werkmeister und Ar¬
beiter sind in Räterußland sehr begehrt und würden sicherlich
lohnende Beschäftigung finden. Zurzeit sind allerdings die
Lebensbedingungen in den Hauptstädten noch recht schwierige,
aber das. wird sich voraussichtlich sehr bald ändern, wenn
erst den Bauern im Austausch gegen Lebensmittel wieder
Industrieerzeugnisse angeboten werden. Es mangelt aber der
verstaatlichten russischen Industrie an fachmännischer Lei¬
tung und an technisch geschulten Kräften. In dieser Be¬
ziehung war Rußland von jeher auf das Ausland, und vor
allem auf Deutschland, angewiesen und ist es zurzeit in noch
viel höherem Maß. Daher sollten m. E. alle deutschen Tech¬
niker, die sich in die Notwendigkeit versetzt sehen, im Aus¬
lande Arbeit zu suchen, sich ernstlich mit der Frage befassen,
ob für sie nicht Räterußland als Betätigungsfeld in Betracht
käme. Vor allem gibt es aber keine Zeit zu verlieren und
die sich bietende Gelegenheit auszunutzen, bevor die Engländer
und Franzosen die russische Industrie an sich reißen. Auch
für Vertreter der sonstigen freien Berufe: Aerzte, Künstler
usw. wird sich ein gutes Fortkommen in Räterußland ermög¬
lichen lassen, da die russischen Hochschulen bereits seit Jahren
ihrer Lehrtätigkeit nur sehr mangelhaft nachgekommen sind.
Im allgemeinen ist der Deutsche in Räterußland gegenwärtig
gerne gesehen, dagegen haben die Engländer und Franzosen
sehr an Sympathie eingebüßt, ja im eigentlichen Räterußland
sind sie geradezu verhaßt. Das Schicksal, das Deutschland
durch den Versailler Frieden erfahren, hat vermutlich nir¬
gends so viel Sympathie und Mitgefühl für uns erweckt,
als in Rußland. Denn im teilnahmsvollen Mitempfinden frem¬
den Unglücks liegt eine der großen Züge der russischen
Volkssache. Wenn ein anderes Volk nach Versailles gedacht
hätte: das geschieht Deutschland recht; das ist die Strafe
für Brest-Litowsk, so wandelt sich, im Gegenteil, beim typi¬
schen Russen die Gegnerschaft sofort in Zuneigung, wenn
er sieht, daß es dem Gegner auch schlecht ergeht.
Für die deutschen Auswanderer, die sich der Landwirt¬
schaft und Viehzucht widmen wollen, ergeben sich in Ru߬
land und besonders in West-Sibirien ebenfalls günstige Aus¬
sichten. Der Großgrundbesitz ist in die Hände der Bauern
übergegangen, aber es besteht für letztere meist gar keine
Möglichkeit, das Gutsland in vollem Umfang zu nützen. Es
wäre daher denkbar, daß ein Teil des früheren Gutslandes*
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Politische Köpfe.
1433
gegen ein entsprechendes Entgeld, deutschen Einwanderern
zugewiesen würde. Trotzdem scheint es uns wenig empfehlens*
wert, sich im europäischen Rußland als Landwirt nieder¬
zulassen, denn beim Bauer könnte es doch gewisse uner¬
freuliche Gefühle auslösen, wenn sich Ausländer auf „seinem“
Lande niederlassen würden. Viel günstiger scheinen uns in
dieser Beziehung die Verhältnisse in West-Sibirien zu liegen.
Da könnten sich deutsche Auswanderer in größeren Ver¬
bänden niederlassen, weil noch viel mehr freies Land vor¬
handen ist, als im europäischen Rußland. Die natürlichen
Bedingungen sind in diesem Gebiet denkbar günstig, da die
weiten Steppen der Flußtäler des oberen Obj, des Irtysch und
ihrer Nebenflüsse, sowie die alpinen Weiden des Barnaubschen
und Bijskschen Bezirks ein ausgezeichnetes, unerschöpfliches
Futtermaterial, das ganz besonders für Milchkühe geeignet
ist, hervorbringen.
Zudem ist für die deutsche Auswanderung nach Rußland
noch der Umstand von größter Bedeutung, daß unser Gold
in Rußland noch sehr gut bewertet wird und die Preise in
Sibirien, im Unterschied zum eigentlichen Rußland, noch sehr
mäßige sind.
Diese günstigen Aussichten für die deutsche Auswanderung
können erst dann verwirklicht werden, wenn wir uns ent¬
schließen, die Beziehungen zu Räterußland wieder aufzunehmen.
Ohne einen Rückhalt bei der heimatlichen Regierung ist selbst¬
verständlich eine Niederlassung in Räterußland nicht ratsam.
Daher ist es auch im Interesse unserer Auswanderungspolitik,
daß wir wieder in ein klares Verhältnis zu Rußland gelangen.
U. EMIL:
Politische Köpfe.
i.
Ebert.
nAS ist Genosse Ebert.“ Mit diesen Worten machte uns
w 1 “ 7 ein alter Bezirksführer eines Abends nach der Versamm¬
lung bekannt. Der breitschultrige, mittelgroße Mann mit
der schwarzen Quaste am Kinn, der so wenig sprach und
so viel hörte, war mir vorher gar nicht aufgefallen. Er war
erst ganz kurze Zeit in Berlin und in unseren Kreisen von
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1434
Politische Köpfe.
Ansehen noch ziemlich unbekannt. Wir gingen an dem
Abend noch in ein Bierlokal und plauderten bis Mitternacht.
Das heißt: Die anderen sprachen, und unser neuer Bekannter
hörte meist still zu. Nur ab und zu warf er eine Bemer¬
kung dazwischen. Und die traf jedesmal den Nagel auf
den Kopf. Schon diese kurze Zeit genügte, um erkennen
zu lassen, daß der Mann, den der Parteitag in den Partei¬
vorstand geschickt hatte, in der Geschichte der Sozial¬
demokratie noch eine bedeutsame Rolle spielen würde.
Ebert hatte eigentlich gleich Vorsitzender des Partei¬
vorstandes werden sollen. Der rechte Flügel der Partei
verlangte ihn; auch die Gewerkschaftsführer traten lebhaft
für ihn ein. Bebel dagegen wünschte, daß Haase diesen
Posten einnehme. Die Gewerkschaftsführer verlangten
dennoch die Wahl Eberts. Sie erklärten, er habe sich in
Streitigkeiten zwischen Partei und Gewerkschaften als Ver¬
mittler gut bewährt, seine Persönlichkeit biete Sicherheit, daß
er auch aut diesem Posten eine glückliche Hand haben werde.
Ebert lehnte aber trotzdem ab, und Bebel meinte: sie sollten
sich keine Mühe geben, wenn Ebert einmal nein sage, dann
bleibe er dabei. Und durch einen kleinen Zwischen¬
fall veranlaßt, stellte er Ebert das Zeugnis aus, daß er ein
ruhiger, gewissenhafter und äußerst tüchtiger Parteigenosse
sei. So rückte Ebert in den Vorstand der Partei ein. Aller¬
dings nicht als Vorsitzender. Das war Haase.
»Der wirkliche Vorsitzende ist doch Ebert, er hat auch die
nötige Energie, sich durchzusetzen“, sagte mir gelegentlich
ein Genosse, der es wissen mußte. An Energie hat es ihm
tatsächlich nie gefehlt, und seine Gegner, die ihn heute
Energielosigkeit vorwerfen, sind im Irrtum. Was Ebert tat,
ist eine Frage der Taktik, der kühlen Ueberlegung, nicht
der Energie, ganz gleich, wie der einzelne sonst darüber
denkt. In allen seinen Handlungen läßt Ebert sich nie
vom Gefühl mitreißen, nie von der jeweiligen Strömung
beeinflussen — nüchtern Vorteil und Nachteil abwägend, trifft
er seine Maßnahmen. Und arbeitet mit einem kaum zu über¬
bietenden Fleiß. Still, unauffällig, konsequent. Und man
stellt unwillkürlich Vergleiche an zwischen dem Mann, der
30 Jahre an der Spitze des Reiches stand und dessen End¬
erfolg ein blutiges Kuddelmuddel war und dem jetzigen
Reichspräsidenten. Wie anders wäre heute manches, wenn
der erste gar nicht und der zweite gleich an diese Stelle
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Politische Köpfe.
1435
gekommen wäre. Personen beeinflussen die Weltgeschichte
zuweilen ganz merklich.
Fleiß, kühle Ueberlegung und Energie kennzeichnen Eberts
Laufbahn. 1871 als Siohn eines kleinen Schneidermeisters im
schönen, lebenslustigen Heidelberg geboren, brauste der
Siegesrausch an dem neuen Erdenbürger vorüber, — Sieg-
Sieg—Sieg! Der chauvinistische, eroberungssüchtige Mob
tobte sich aus — wie während der letzten vier Jahre — und
heute? Ebert steht auf der Mittagshöhe des Lebens und am /
Grabe aller alldeutschen Hoffnungen und versieht ruhig/
still und konsequent das undankbare Amt eines Konkurs¬
verwalters großen Stils. Seine langjährigen Erfahrungen auf
organisatorischem und verwaltungstechnischem Gebiet kom¬
men ihm hierbei zustatten. Von Beruf Sattler, führte ihn
die Wanderschaft nach Bremen hinauf, der alten Hansastadt.
Und dort setzte er sich fest. Die Bremer Genossen wußten
bald, was sie an ihm hatten. Frühzeitig übertrugen sie ihm
verantwortungsvolle Aemter: er wird Redakteur an der
„Bremer Bürgerzeitung“, dann Arbeitersekretär in Bremen,
Mitglied der Bremer Bürgerschaft, Vorsitzender der Zentral¬
stelfe für die arbeitende Jugend, 1905 Sekretär im Partei¬
vorstand und zuletzt Vorsitzender. Und immer still, be-
scheiden, zurückhaltend, nie brillierend, nie vordrängend, aber
arbeitend wie ein Ackergaul.
Im Wahlkampf 1912 traf ich ihn aut einem Bahnhof.
Wir kamen beide von Agitationstouren zurück. Und waren
müde und durchfroren.
„Ja, der Parteidienst ist nicht leicht, wer es mit der Sache
ernst nimmt, muß Strapazen ertragen“, meinte er lächelnd.
Der Krieg hat ihm noch mehr aufgebürdet und der blutige
Hexentanz langer vier Jahre mögen ihm wenige Stunden der
Ruhe gelassen haben. Kämpfe, wie sie die Parteigeschichte
kaum schlimmer nachzuweisen hat, muß er durchfechten,
ein Teil der eigenen Genossen rebelliert, heftige Zusammen¬
stöße erfolgen, es kommt zum offenen Bruch, und Fritze
immer mitten mang. Seine Kurve führte nach oben und
heute steht er an der höchsten Stelle, die das deutsche Volk
zu vergeben hat. Wie lange noch? Das weiß kein Mensch,
nicht einmal er selbst. Aber wenn die Wogen der politischen
Kämpfe wieder einmal verebbt und die jetzigen Regierungs¬
mitglieder im Schatten der Alltäglichkeit untertauchen werden,
wird die Geschichte ruhiger urteilen und seine Tätigkeit als
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1436
Politische Köpfe.
erster Präsident der deutschen Republik objektiver würdigen.
Und wird zu dem Ergebnis kommen, daß er ein ehrlicher,
fleißiger und tüchtiger Reichsverwalter war, der das beste
gewollt hat, auch da, wo er nach Ansicht seiner Gegner
versagte.
11 .
’ Ledeboyr.
Bislang Vertreter des größten Berliner Reichstagswahl¬
kreises. Dieser Umstand verlieh ihm schon allein als Volks¬
tribun ein wirksames Relief. Der sechste Wahlkreis hatte
eine gewichtige Stimme unter all den andern Kreisen und war
sich dessen auch bewußt. Er bildete das Herz des Radikalis¬
mus, und wenn er seine Stimme erhob, so hieß es: „Ruhe,
der sechste Kreis spricht.“ Das übertrug sich denn auch
auf den kühnen Ritter Georg mit dem fast weißen und „wild
wehenden Locken haar“, den scharfen, immer mißtrauisch
blickenden Augen und dem glattrasierten Mimengesicht.
Einstmals Demokrat trat er schon als solcher rednerisch bei
der sozialdemokratischen Arbeiterschaft auf und mit etwa
40 Jahren wurde er eingeschriebenes Mitglied der Partei.
In diesem späten Entschluß liegt die beste Charakteristik,
und tatsächlich ist er, trotz aller revolutionären Tonart,
seine Vergangenheit nie-ganz los geworden (wie alle Bürger¬
lichen, die im reiferen Alter zur Sozialdemokratie kommen).
Im Grunde genommen ist Ledebour nur der letzte Nachkömm¬
ling der acntundvierziger Revoluzzer, und Scheidemann hatte
'nicht ganz unrecht, wenn er kürzlich meinte, Ledebour passe
eigentlich gar nicht in unsere heutige Zeit hinein.
Persönlich von anspruchsloser und genügsamer Natur —
sein größter Genuß besteht darin, im Sommer barfuß durch
die märkischen Kiefernwälder zu wandern — ist er der
grimmigste Feind der kapitalistischen Gesellschaftsordnung,
der schärfste Verfechter der Proletarierherrschaft. Ein kluger
Kopf, ein sarkastischer Redner, der mit sicherem Scharf¬
blick jede Blöße des Gegners erspäht und sich dort festbeißt.
Trotzdem nicht immer glücklich in der Polemik. Nicht selten
— so auch von Bebel auf einem Parteitag — ist ihm Mangel
an Takt vorgeworfen worden.
Im Reden liegt seine Stärke. Der bewegliche Mund ist
allzeit bereit, einzugreifen, auf den schmalen Lippen lauert
stets eine bissige Bemerkung. Wenn in Volksversammlungen
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Zur Reform des staatlichen Erbrechts.
1437
sein heller Ton messerscharf die Stille durchschneidet, leiden¬
schaftlich anklagend — und er klagt immer an —; mit ätzen¬
dem Spott und galliger Ironie durchsetzt, bringt er festgekeilte
Menschenknäuel in fiebernde Erregung. Es war wohl Gerlach,
der .ihn mal in der „Welt am Montag" als „Hetzkaplan"
bezeichnete. Ledebour bohrt, wühlt, peitscht auf, schleudert
Feuerbrände ins Pulverfaß — tosender Beifall — „Nieder
mit Scheidemann-Ebert!" — man kann nicht bestreiten,
daß er mit seiner lodernden Leidenschaft auf bestimmte
Volkskreise einen großen Einfluß ausübt.
Ledebour arbeitet lieber mit der Zunge als mit der Feder.
Das Schriftstellern liegt ihm weniger. Als er sich — ganz
seinem Temperament entsprechend — seinerzeit in den „Vor¬
wärtskonflikt" einmischte, sprach ihm Eisner die journalisti¬
sche Kompetenz mit der Bemerkung ab, „er produziere wie
die „Königin der Nacht" alle fünf Jahre eine Blüte".
Zurzeit steht Ledebour wieder im Mittelpunkt der politi¬
schen Kämpfe, zwischen Spartakus und Unabhängigen hin-
und herpendelnd, so daß er heute nicht weiß, wo er sein
Haupt hinlegen soll.
ALFRED UNGER:
Zur Reform des staatlichen Erbrechts.
ARTIKEL 154 der neuen Reichsverfassung lautet: „Das
n Erbrecht wird nach Maßgabe des bürgerlichen Rechts
gewährleistet. Der Anteil des Staates am Erbgut bestimmt
sich nach den Gesetzen." Dieser Artikel ist einer von den
vielen in dem Abschnitt „Das Wirtschaftsleben" aufgestell¬
ten Programmpunkten, deren praktische Durchführung den
gesellschaftlichen Fortschritt fördern und, wie Artikel 151
als einheitlichen Gesichtspunkt dem fünften Abschnitt des
zweiten Hauptteils voranstellt, „den Grundsätzen der Ge¬
rechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschen¬
würdigen Daseins für alle entsprechen soll . Der im zweiten
Absatz des Artikels 154 enthaltene Satz, daß sieh der Anteil
des Staates am Erbgute nach den Gesetzen bestimmt, ist
nicht eindeutig, sondern infolge der Unbestimmtheit der be¬
züglichen Gesetze zurzeit noch unklar und harrt seiner
inhaltlichen Ausfüllung, die ihm durch weitere gesetzgebe-
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1438
Zur Reform des staatlichen Erbrechts.
rische Maßnahmen zuteil werden soll. Unverrückbar ist in
dieser Bestimmung allein der, einem alten rechts- und wirt¬
schaftspolitischen Gedanken entsprechende, Grundsatz ent¬
halten, daß der Staat überhaupt am Erbgute beteiligt sein
soll. In welcher Weise diese Beteiligung erfolgt, steht noch
nicht fest, insbesondere ist die von dem früheren badischen
Justizminister und jetzigen Mitglied der Nationalversammlung,
Dr. Düringer, in einer Fachzeitschrift (JW 1919 S. 703)
aufgestellte Behauptung, daß durch den, Absatz 2 des Ar¬
tikels 154 die verfassungsrechtliche Grundlage für eine E b-
schaftssteuer geschaffen werde, nur beschränkt richtig, in¬
sofern nämlich, als durch die angeführte Bestimmung unter
anderem auch die verfassungsrechtliche Möglichkeit einer
Erbschaftssteuergesetzgebung geschaffen ist. Der Absatz 2
des Artikels 154 ist aber zugleich, und das ist seine eminente
verfassungsrechtliche Bedeutung, die Grundlage für die Mög¬
lichkeit, dem Staate eine Erbenstellung einzuräumen, die
im Vergleich zu der bisherigen gesetzlichen Regelung des
fiskalischen Erbrechts ungeahnte Aussichten und Erwerbs¬
möglichkeiten bietet. Es ist eine alte sozialistische Forderung,
ja nicht nur ein sozialistischer Programmpunkt, sondern auch
die Ansicht einer großen wirtschaftspolitischen und juristi¬
schen Richtung, daß das Erbrecht der Verwandten von einem
ferneren Grade ab zugunsten des Staates ausgeschlossen
oder wenigstens erheblich beschränkt werde. Dieser Ge¬
danke ist auch in der gesamten Erbschaftssteuergesetzgebung
durch die Abstufung der Steuerquote nach der jeweiligen
Verwandtschaftsbeziehung des Erben zum Erblasser zum Aus¬
druck gekommen und entspricht auch dem Grundgedanken des
ganzen Erbrechts, daß die vom Erblasser erworbenen Güter
von Gesetzes wegen den Personen zufallen sollen, mit denen
ihn das Bewußtsein gemeinsamer Familienzugehörigkeit ver¬
bindet. Bei der Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches
ist diese Frage der Begrenzung des Verwandtenerbrechts
sehr umstritten gewesen. Die, eine erhebliche Einschränkung
befürwortenden, Vorschläge sind unbeachtet geblieben, und
so ist die unbegrenzte, bis in die äußersten vergessenen;
Winkel verwandtschaftlicher Beziehungen reichende Erbfolge
Gesetz geworden. Auch die im Jahre 1908 unternommenen
Versuche, das Verwandtenerbrecht weitgehend zu beschrän¬
ken, haben zu keinem gesetzgeberischem Erfolge geführt.
Die fortgesetzten Vorstellungen namhafter Schriftsteller (wie
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Zür Reform des staatlichen Erbrechts.
1439
Bamberger, Pappenheim, Bernhöft, Heinsheimer) sind un¬
beachtet geblieben, und infolge der dauernden Nichtachtung
wertvollster Anregungen sind in den letzten Jahren ernste
Bemühungen in dieser Richtung unterblieben.
Nunmehr stellt uns die neue Verfassung vor die Frage,
ob wir den Anteil des Staates am Erbgute ausschließlich in
der Form der Erbschaftssteuer bestimmen oder von der
durch die Verfassung uns gegebenen Möglichkeit Gebrauch
machen wollen, den Staat in erheblich weiterem Maße als
bisher als Erben an der Erbschaft zu beteiligen.
Nach dem Rechte des geltenden Bürgerlichen Gesetzbuches
ist der Staat erst dann zur Erbfolge berufen, wenn zurzeit
des Erbfalles weder ein Verwandter noch ein Ehegatte des
Erblassers vorhanden ist. Da nach dem Gesetze miteinander
verwandt alle diejenigen Personen sind, die von einem ge¬
meinsamen Vorfahren, mag dieser auch schon Jahrhunderte
verstorben sein, abstammen, so ist das Erbrecht des Staates
zurzeit tatsächlich völlig illusorisch. Mag auch die weit-
entfernte Verwandtschaft mangels Kenntnis der im Einzel¬
fall erbberechtigten Personen vom Erbfall mitunter nicht zu
einem tatsächlichen Erbschaftserwerb dieser Berechtigten füh¬
ren, so sind doch die Fälle, in denen die nach § 1964 BGB.
erforderliche Feststellung des Nachlaßgerichts erfolgt, daß
ein anderer Erbe als der Fiskus nicht vorhanden ist, so
äußerst selten, daß wir zwar von einem theoretischen Erb¬
recht, aber dicht von einer praktischen Erbschaftserwerbs¬
möglichkeit des Fiskus sprechen können.
Die im geltenden Recht übermäßig ausgedehnte Verwandten¬
erbfolge widerspricht dem bereits oben angedeuteten Grund¬
gedanken des Erbrechts, daß nämlich in jedem Menschen das
Bewußtsein geweckt werden soll, er schaffe durch seine
Arbeit Werte, welche, die verhältnismäßig kurze Zeit seines
Lebens überdauernd, den Personen zugute kommen, welche
ihm im Leben nahestanden. Der Gedanke daran, daß der
Staat nach dem Tode einer Person den Nachlaß diejenigen
erwerben läßt, deren Existenzsicherung die angelegentliche
Sorge des Erblassers war, erhöht in bedeutsamem Maße
die Schaffensfreudigkeit des einzelnen, der in der natürlichen
Empfindung der Sorge um die Seinen Kräfte entfaltet, die
andernfalls nie zum Vorschein gekommen und der wirtschaft¬
lichen Gesamtentwicklung entzogen wären.
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1440
Zur Reform des staatlichen Erbrechts.
Diese Momente fehlen jedoch völlig bei den entfernten
Verwandtschaftsgraden. Vom verwandtschaftlichen Standpunkt
aus verbindet uns nichts mit dem Enkel des Bruders unseres
Großvaters, geschweige denn mit noch entfernteren Ver¬
wandten. Gleichwohl sind diese, sofern nicht nähere Ange¬
hörige vorhanden sind, als Alleinerben berufen, und der
Fiskus muß sich mit der Erbschaftssteuerquote begnügen.
Diese Erbfolgeordnung war schon in der früheren, vor¬
revolutionären Zeit als eine abnorme Erscheinung zu erachten,
insbesondere im Hinblick auf die Regelung der gesetzlichen
Unterhaltspflicht. Die vom Gesetz auferlegte Verpflichtung
in Not geratene Angehörige zu unterstützen, sollte eigent¬
lich — dies entspricht wenigstens den Forderungen der Ver¬
nunft und Billigkeit — das Korrelat zum Recht des Erb¬
schaftserwerbs sein. Wie steht es nun aber hiermit? Nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuch ist eine Unterhaltspflicht, ab¬
gesehen von der Alimentiemng des Ehegatten und des un¬
ehelichen Kindes, nur unter Verwandten in gerader Linie
gegeben, so daß zum Beispiel ein in höchster Not befind¬
licher Armer keinen gesetzlichen Anspruch darauf hat, von
seinem, in den glänzendsten Verhältnissen lebenden Bruder
auch nur die geringste Unterstützung zu erhalten. Die Last
der Armenversorgung obliegt der Gemeinde bzw. dem Staat,
der als Erbe dagegen erst in allerletzter Linie in Frage
kommt.
Unerwähnt dürfen an dieser Stelle nicht die Bestimmungen
bleiben, die dem Staat das an sich schon arg verkümmerte,
praktisch so gut wie nie in Erscheinung tretende Erbrecht
in bestimmten Fällen auch theoretisch völlig entziehen. Zu
erinnern ist hierbei vor allem an das Gesetz betr. das Ur¬
heberrecht von 1901, das in einer, jedes vernünftigen Gedan¬
kens entbehrenden Weise die grundsätzlich anerkannte Ver¬
erblichkeit des Autorrechts in dem Falle ausschließt, daß
der Fiskus gesetzlicher Erbe ist. Unter den in der Reichs¬
tagskommission bei Beratung dieses Gesetzes zur Ablehnung
des fiskalischen Erbrechts angeführten Gründen ist hervor¬
gehoben worden, daß das Fortbestehen des Urheberrechts
nach dem Tode des Erblassers auf dem „persönlichen Bande“
beruhe, durch welches der Urheber mit seinem Erben ver¬
bunden weide während der Fiskus dem Erblasser „ganz
fernstehe“. Diese Begründung dürfte durch die oben ge¬
machten Ausführungen widerlegt sein. Gleiche, völlig un-
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Zur Reform des staatlichen Erbrechts.
1441
berechtigte Ausschließungen des staatlichen Erbrechts finden
sich in den §§ 2104 und 2149 des Bürgerlichen Gesetz¬
buchs.
Der in der neuen Verfassung, Artikel 154 II, aufgestellte
Programmpunkt darf nicht unerledigt bleiben, seine Ausfüh¬
rung darf sich auch nicht auf den Ausbau der Erbschafts¬
steuer beschränken, sondern muß das erweiterte Erbrecht
des Staates erzeugen, das nicht nur eine Forderung der Ge¬
rechtigkeit, sondern zur Vorbereitung der sozialen Wirt¬
schaf teform in höchstem Maße geeignet ist, und das vor
allem dazu dienen wird, die unglückliche Finanzlage des
Reichs merkbar aufzubessern.
Die Beantwortung der zahlreichen Fragen, wie das staatliche
Erbrecht im einzelnen am zweckmäßigsten zu regeln ist, geht
über den Umfang dieses Aufsatzes hinaus.
Wenn die vorstehenden Zeilen dazu führen, in dem Leser
das Bewußtsein zu erwecken, wie unbillig und unsozial das
staatliche Erbfolgerecht in der deutschen Republik zurzeit
noch ausgestaltet ist und wie fiskalische Erwerbsmöglichkeiten
ungenutzt gelassen werden, die sich aus einer konsequenten
Durchführung des dem Erbrecht zugrundeliegenden Gedan¬
kens ergeben, dann haben sie den vom Verfasser bezweckten
Erfolg erreicht.
In Zusammenfassung obiger Ausführungen gelangen wir zu
folgenden positiven Vorschlägen:
1. Einführung des gesetzlidien Erbrechts des Staates der¬
art, daß der Staat, wenn beim Erbfall keine näheren Ver¬
wandten als die Enkel von Großeltern vorhanden sind, diese
und ihre Abkömmlinge, sowie alle Verwandten fernerer Ord¬
nungen (Ur- und Ururgroßeitern usw.) ausschließt.
2. Beseitigung aller erbrechtlichen Sonderbenachteiligungen
des Staates, wie sie sich zum Beispiel ira § 8 des Urheber¬
gesetzes von 1901 und in den §§ 2104 und 2149 des Bürger¬
lichen Gesetzbuches finden.
Die Verwirklichung der aufgestellten Forderungen würde
einen wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Fortschritt
auf dem Wege der gesunden sozialen Entwicklung bedeuten.
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1442
Auslandslehrer.
Oberlehrer Dr. KARL HEDICKE:
Auslandslehrer.
F)AS Reich verspricht in seiner Verfassung den Deutschen
im Ausland Schutz und Unterstützung. Wie weit der
Schutz wirksam werden kann, muß die Zukunft entscheiden
und eine kluge Politik des Möglichen; die Unterstützung
findet vorläufig ihre engen Grenzen durch die traurige wirt¬
schaftliche Lage unseres Vaterlandes. Trotzdem kann kein
Zweifel sein, daß den Gemeinden in der Fremde staatliche
Hilfe soweit als irgend möglich gewährt werden muß, da
ein Wiederaufbau unserer Weltwirtschaft ohne sie unmöglich
ist. Darüber hinaus gilt es, sie dem Deutschtum zu erhalten
und mit ihnen eine gerechtere Wertung deutscher Kultur
unter den Völkern zurückzugewinnen. Näher als sonst aber
liegt die Gefahr, daß sie verloren gehen zum Schaden des
Reiches.
Die Bedeutung der Schulen für Erhaltung und Stärkung
deutscher Art ist unbestritten. Sie haben vor dem Kriege
Tüchtiges geleistet, ihre Wirkung kann und muß gesteigert
und verbreitert werden; ich weise nur darauf hin, daß die Be¬
wegung der Volkshochschule sich im Ausland an sie vor
allem anschließen wird. Dort, wo sie noch bestehen, sind
sie weiter zu fördern; dort, wo der Krieg sie zerstört hat,
wo eine Rückwanderung aber sie allmählich wieder nötig
macht, sind sie langsam und planmäßig wieder aufzubauen;
dort, wo eine stärkere Auswanderung dazu zwingt, müssen
sie neu gegründet werden. Die Erfahrung lehrt, daß am
besten die Gemeinde, die Kolonie der Gründer und Erhalter
der Schule ist, denn sie weiß, was ihr und ihrem jungen
Geschlecht nottut. Die Opfer, die sie bringt, verbinden sie
eng mit ihrer Schöpfung. Das Reich, dessen Einwirkung ge¬
ringer geworden ist, weil die Berechtigungen (besonders
zum Einjährigfreiwilligendienst) an Wert verloren haben,
kann allein durch unaufdringlich erteilte Ratschläge und durch
Geldzuschüsse einen gewissen und notwendigen Einfluß be¬
wahren. Da staatliche Geldmittel nur in bescheidenem Maße
zur Verfügung stehen, gewinnt eine dritte Möglichkeit er¬
höhte Bedeutung: das ist das Angebot und die Auswahl der
Lehrer für die Auslandsschulen. Der Nutzen einer sorg-
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Auslandslehrer.
1443
faltigen Auslese ist für beide Teile gemeinsam und ein
starkes, einigendes Band zwischen Heimat und Fremde.
Schon in der Vergangenheit hatte man eingesehen, daß
man diese Auslese nicht dem Zufall überlassen dürfe; der
Verein für das Deutschtum im Auslande hatte eingegriffen,
und später war dann beim Auswärtigen Amt in Berlin eine
Vermittlungsstelle eingerichtet worden. Doch konnte man
nicht überall einen Zwang zur Benutzung ausüben, war auch
bei seinen Vorschlägen im großen und ganzen auf das
Examenszeugnis dessen angewiesen, der sich zur Verfügung
stellte. Jedenfalls ist leicht, für die akademisch Gebildeten
aus dem Kunzekalender, zu erweisen, daß die deutschen
Auslandslehrer im Durchschnitt zu jung waren, also die
für diesen wichtigen Dienst notwendige Erfahrung im heimi¬
schen Schuldienste noch nicht besaßen. Von dem Nachweis
einer besonderen Vorbildung war überhaupt nicht die Rede.
Ob ein Bewerber die menschlichen Eigenschaften, Selbst¬
sicherheit und Takt zum Beispiel, die für einen Träger deut¬
scher Kultur erforderlich sind, besitzt, ist kaum nachzuprüfen.
Seine wissenschaftliche Befähigung geht schlecht una recht
aus seinem Zeugnis hervor. Die Tatsache aber, daß er
sich schon längere Zeit an einer deutschen Schule praktisch
bewährt hat, kann festgestellt werden. Sollen die Auslands¬
schulen Musteranstalten werden, sollen sie, wenn auch auf
ihren eigentümlichen Zweck als Schulen im fremden Lande
eingestellt, daneben ein getreues Abbild deutscher Erziehung
sein, so muß der Erzieher die nötige Erfahrung bereits mit¬
bringen. Ich glaube, daß wohl sechs Jahre nötig sind, um
sich in alle Aufgaben des Schulamtes einzuleben; doch kann
man, besonders aus praktischen Gründen, sich auch mit
vier Jahren zufrieden geben. Das aber muß eine Bedingung
sein, ohne die niemand in die Liste der Anwärter aufgenom¬
men wird. Eine besondere Ausbildung, etwa an einer Aus¬
landshochschule, ist vorläufig unmöglich; Auslandsstudien
an den Universitäten und Erwerbung von Zusatzfächern im
E hilologischen Staatsexamen werden vor anderen für den
Kenst befähigen. Jedenfalls ist zu fordern, daß der Bewerber
sich mit allen Fragen des Auslandsdeutschtums und mit den
eigentümlichen Aufgaben seiner Schule vertraut gemacht, und
daß er sich dazu noch mit dem Kulturkreis oder mit dem
Volke beschäftigt hat, in dessen Grenzen er seine Tätigkeit
als deutscher Lehrer ausüben wird. Denn er lebt nicht
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1444
Auslandslehrer.
nur unter der fremden Nation, die ihn gerade als Vertreter
Deutschlands scharf beobachtet und beurteilt; denn er unter¬
richtet nicht nur deutsche Kinder, er wird nicht nur Mit¬
arbeiter an der deutschen Volkshochschule der Kolonie, son¬
dern er hat unter seinen Schülern auch Angehörige des
Wirtsvolkes und kann und soll über den engen Rahmen der
Klasse hinaus unter diesem als Träger deutscher Kultur auf¬
klärend zu wirken versuchen. Erwägt man die Bedeutung
und die Schwierigkeit dieser Aufgabe in der Gegenwart,
so ist es klar, daß nur Männer von menschlicher und päda¬
gogischer Erfahrung hinausgeschickt werden dürfen, und daß
ihre Wahl nicht mehr dem Zufall der Meldung oder der
Schulgemeinde, das heißt der Entscheidung von Laien, über¬
lassen werden kann. Wohl muß die Meldung zum Auslands-
dienst auch weiterhin noch freiwillig bleiben. Das Ministerium
kann durch Aufklärung und Aufforderung dafür sorgen, daß
eine genügende Anzahl geeigneter Bewerber zur Verfügung
steht; es schafft und prüft die Unterlagen, am besten dadurch,
daß ein Beauftragter sich persönlich durch Teilnahme am
Unterricht usw. von der Geeignetheit des Kandidaten über¬
zeugt und durch eine zwanglose Unterredung feststellt, ob
dieser ausreichende Kenntnisse vom Auslandsdeutschtum und
seinen Problemen besitzt und wie weit er in das fremde Volks¬
tum, dessen Studium er in seiner Meldung anzugeben hat,
eingedrungen ist. Von großem Wert ist seine Sprachkenntnis,
unumgänglich für weite Gebiete die des Englischen oder
Französischen. Nur der Antrag des geeigneten Bewerbers
wird der Vermittlungsstelle beim Auswärtigen Amt weiter¬
gegeben; diese stellt nach den verschiedenen Kulturkreisen
eine Liste auf und schlägt daraus den Gemeinden, die an
sie herantreten, eine Reihe von Kandidaten vor. Um aber
die Vermittlung des Auswärtigen Amtes durchzusetzen und
dem wilden Hinausdrängen ungeeigneter Elemente — die
Gefahr besteht aus verschiedenen Gründen: Ueberfüllung
des Lehrerberufs, Armut der Schulgemeinden, und andere,
noch mehr als vor dem Kriege — von vornherein vorzubeugen,
wird das Reich auf sein Vorschlagsrecht bei denjenigen
Schulen bestehen, die Staatszuschüsse erhalten, und nur den¬
jenigen Lehrpersonen sichere Aussicht auf Rückkehr usw.
gewähren, die unter seiner Aufsicht hinausgegangen sind.
Denn, wenn die Auslandsschule eine Zukunftshoffnung
Deutschlands trägt, so ist es Sache des Reiches, durchzusetzen.
Difitized
bv Google
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Aüslandslehrer.
1445
daß die Tätigkeit in der Fremde dem Lehrer keinen Nachteil
bringt, und daß alle Einzelstaaten in bezug auf Wiederanstel¬
lung, Anrechnung der Dienstjahre und Pensionierung gleich¬
mäßig verfahren. Es sollte Gesetz werden, daß der Anwärter,
auch an nichtstaatlich6n Anstalten, nicht aus dem heimischen
Schuldienste entlassen, sondern auf eine bestimmte Zeit be¬
urlaubt wird. Ist er bereite fest angestellt, so kann ihm auf
seinen Wunsch der Platz offengehalten werden; die Nach¬
teile einer Vertretung, die augenblicklich an den höheren
Schulen ohne Wechsel durch tüchtige Studienassessoren leicht
durchgeführt werden kann, werden durch die Vorteile auf¬
gehoben, die erweiterte Welt- und Menschenkenntnis der
heimischen Schule zuführen. Anrechnung der Dienstjahre ist
eigentlich selbstverständlich, wenn man an den Nutzen für
die Gesamtheit denkt, und Sichersteiliing während der Zeit
im Auslande eine Forderung der Gerechtigkeit. Opfer wird
der, welcher jetzt in die Fremde geht, stets bringen müssen:
Opfer an Kraft und Arbeit, Opfer an Ruhe und gewohnter
Lebensführung. Er wird Entbehrungen und Einschränkungen
auf sich nehmen müssen: die wirtschaftliche Lage drinnen und
draußen zwingt dazu. Ich bin sicher, daß er in dem stolzen
Gefühl seiner nationalen Aufgabe sein bestes Können ein-
setzen, und daß ihm nie ein ebenbürtiger Nachfolger fehlen
wird, wenn er in die Heimat, die Anerkennung hat für den
völkischen Wert seiner Tätigkeit und die ihm den Platz
seines Wirkens offenhielt, reich an Wissen von der Erde
und ihren Bewohnern zurückkehrt. Der Nutzen für seine
Schule daheim, für die Volkshochschule seiner Stadt und
damit für die Gesamtheit, wird nicht ausbleiben: nur durch
allgemeines gegenseitiges Verständnis gelangt die Mensch¬
heit endlicn doch einmal zur Versöhnung.
Die kommende Schulkonferenz wird sich mit der Auslands¬
schule beschäftigen; ihre Beratungen und Beschlüsse werden
auch auf diesem Gebiete unter dem hemmenden Zwange
der schlechten Finanzlage des Reichs stehen müssen. Trotz¬
dem würde es einen großen Schritt vorwärts bedeuten, wenn
man sich über die Auswahl der Lehrer und die Sicher¬
stellung ihrer Zukunft einigen würde. An dem Reiche wäre
es dann, diese Einheit der Behandlung einer lebenswichtigen
Zukunftsfrage bei allen Einzelstaaten ourchzusetzen.
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1446
Zur Reform des juristischen Studiums.
Dr. G. VON FRANKENBERG:
Zur Reform des juristischen Studiums.
IM Preußischen Ministerium plant man eine Reform des
* juristischen Studiums, und der Kultusminister hat die ju¬
ristischen Fakultäten um entsprechende Vorschläge gebeten.
Da ist es vielleicht auch einem Außenstehenden gestattet,
langgehegte Gedanken zu diesem Thema zu äußern.
Die Rechtspflege ist stets in Gefahr, schablonenhaft zu
werden, sobald sie nicht in unmittelbarem Hinblick auf den
Zweck des Rechts, sondern auf Grund fester Regeln (Ge¬
setze) ausgeübt wird. Ein Gesetz mag noch so trefflich er¬
dacht sein und noch so sorgfältig in Geltung erhalten wer¬
den, es ist immer ein Notbehelf. Und jeder Richter weiß
ja auch, daß er nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes,
sondern nach dem Willen des Gesetzgebers verfahren soll.
Das aber ist schwer. Wo ist die Gewähr, daß dieser. ge¬
heimnisvolle Wille, der — zum mindesten in der Fiktion—
des Volkes Wille ist, immer richtig verstanden wird?
Eine solche Gewähr kann nur dadurch geschaffen werden,
daß gleichsam jener „Wille des Gesetzgebers“ in jedem,
der das Recht handhaben soll, wachgerufen und lebendig
erhalten wird. Das heißt in Prosa: Der Zweck des Rechts
muß jedem Juristen so v in Fleisch und Blut übergehen, daß wir
sicher sein können, seine Entscheidungen in Uebereinstim-
mung damit zu finden. Bisher war das häufig nicht der
Fall. Und gerade dadurch entstanden die wahrhaft „welt¬
fremden“ Gesetze und Urteile, welche der Welt und ihrem
Getriebe insofern fremd waren, als sie außerhalb des gro߬
artigen Systems von Mitteln und Zwecken standen, das wir
Menschen in unserm Lebenskreise errichtet haben. Sie waren
„erklärlich“, so wie jede Tatsache erklärlich ist, nämlich
kausal, aus ihren historischen Bedingungen j. jedoch sie waren
nicht sinnvoll, nicht zweckentsprechend, final. Wir können
indes nicht dulden, daß der von uns geschaffene Final¬
nexus, (wenn ich einmal so sagen darf), durchbrochen wird
durch rein kausales Geschehen, das heißt in diesem Falle
durch nur historisch zu verstehende Ueberbleibsel einer
älteren Kulturperiode.
Das aber ist leider beim Recht, zumal beim Strafrecht
(von dem im folgenden durchweg die Rede sein wird),
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Zur Reform des juristischen Studiums.
1447
einstweilen noch der Fall. Und schuld hieran kann kaum
etwas anderes sein, als die falsche Ausbildung derer, die die
Gesetze schaffen und handhaben. Wir bedürfen eines neuen
Geschlechts von Juristen und eines neuen Rechts. Das sind
zwei Reformen, die sich gegenseitig unterstützen müssen,
und man kann eigentlich schwer von der einen sprechen,
ohne die andere zu berücksichtigen. Der „Wille des Gesetz¬
gebers“, den wir vorhin der Einfachheit halber als absolut
vernünftig angenommen hatten, bedarf selbst einiger erheb¬
licher Korrekturen.
Unser Recht und unsere Rechtspflege leiden unter einem
schweren prinzipiellen Mangel. Sie fragen eben nicht nach
dem Zweck, sondern lassen sich von Ursachen bestimmen.
Es heißt nicht: „Du hast, aus den und den Gründen, ein
Verbrechen begangen (das heißt die Allgemeinheit geschä¬
digt). Damit das nicfht wieder geschieht, wollen wir dich
so und so behandeln.“ Sondern: „Weil du dies getan hast,
wollen wir dir das und das antun.“ Das ist aber ein un¬
geheurer Unterschied.
Nun wird man mir zwar entgegenhalten, daß doch in
vielen Fällen schon heute die Strafe» durchaus den Charakter
einer Zvmr&strafe hat, insofern sie die Allgemeinheit vor
dem Täter schützen oder auf Dritte abschreckend wirken
soll. Das ist gewiß richtig. Aber, was ich sagte, gilt doch:
Denn entstanden sind unsere Gesetze unter dem Einfluß des
uralten Vergeltungsgedankens, des biblischen „Auge um Auge,
Zahn um Zahn!“ Und gehandhabt werden sie im Ganzen
doch ebenfalls nach diesem Prinzip, schon weil der Richter,
auch wenn er noch so final denkt, doch an die Gesetze ge¬
bunden bleibt. Dazu kommt, daß das „Rechtsgefühl des
Volkes“ noch gänzlich auf derselben niedrigen Stufe steht.
Und dieser Faktor verdient um so mehr Berücksichtigung, je
mehr wir demokratisch organisiert werden und uns an demo¬
kratische Anschauungen gewöhnen.
Versuchen wir, dem Wesen des Rechts noch näher zu
kommen! Das Recht ist seinem Zweck nach negativ, es soll
das Verbrechen ausrotten. Ich zweifle, ob jeder meiner Leser
dieser Bemerkung zustimmt. Viele werden, fürchte ich, mei¬
nen, es genüge, die Bestrafung des Verbrechens. Das aber
ist eben das Sühneprinzip. Denn was heißt hier strafen?
Doch zweifellos Böse« mit Bösem vergelten I Wer uns ge-
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1448
Zur Reform des juristischen Studiums.
schädigt hat, den schädigen wir wieder, sei es durch Auf¬
erlegung einer Geldbuße oder durch Einsperrung oder sonst¬
wie, je nach Schwere des Vergehens. Auge um Auge . . .
Und das ist, der Leser verzeihe mir, ein philosophischer
Fehler, denn er entspringt aus Mangel an logischer Schulung
und setzt eine äußerst primitive Weltanschauung voraus,
wie sie mit den Ergebnissen der Philosophie schlechtweg
unvereinbar ist. Man findet denn auch Anschauungen dieser
Art gewöhnlich verbunden mit dem zäh festgehaltenen Glau¬
ben an die Freiheit des menschlichen Willens und ähnlichen
v philosophischen Unmöglichkeiten.
Solche grundlegenden Fehler wird nun der einzelne um
so leichter machen, je mehr seine Vorbildung, — und dem¬
entsprechend seine Art, zu denken — rein auf das Erfassen des
Tatsächlichen in Geschichte und Gegenwart gerichtet, je
weniger er ‘ also in der Lage ist, die großen Strömungen
hinsichtlich ihrer Richtung und ihrer Ziele zu durchschauen.
Das bloße Tatsachensammeln läßt kleinliche und kurzsich¬
tige Gedanken, wie das Sühneprinzip, hochkommen und bietet
nicht einmal dafür Gewähr, daß die dadurch entstehenden
Schäden (also mm Beispiel die dauernde Zunahme der Ver¬
brechen trotz sorgfältigster Bestrafung), auch wirklich dieser
Ursache zugeordnet werden.
Der beste Schutz gegen derartige Denkfehler liegt dem¬
gegenüber in der Beschäftigung mit jenem für die Mensch¬
heit so neuen Begriff der Entwicklung , den das letzte Jahr¬
hundert uns geschenkt hat. Denn erst durch diese unver¬
gleichliche Geistestat ist es ja möglich geworden, alle Er¬
scheinungen des Lebens und der Kultur unter einem gemein¬
samen Gesichtspunkt zu betrachten. Erst jetzt konnte ein
Sinn der Welt gefunden werden, erst jetzt wurde auch die
Einheit, der finale Zusammenhang aller kulturellen und zivili¬
satorischen Bestrebungen mit einem Schlage offenbar. Das
Wort Zweck erhielt überhaupt erst jetzt Klang und Be¬
deutung.
Es wäre leider kein Wunder, wenn diese Worte mehr
Kopfschütteln als Zustimmung hervorriefen. Denn, trotz aller
Größe und Beweiskraft der neuen Lehren sind sie noch
keineswegs Allgemeingut geworden, sondern auf den verhält¬
nismäßig engen Kreis der Fachleute und einzelner Laien
beschränkt geblieben. Handelt es sich doch nicht etwa nur
um die sclilagwortmäßig, ja ziemlich verbreitete Deszendenz-
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Kontradiktorische oder konträre Entwicklung.
1449
theorie, sondern um den ganzen Blütengarten von Erkennt¬
nissen, der in organischem Zusammenhang mit ihr erwuchs!
Das kann hier nicht im einzelnen erläutert werden. Ich
rechne aut diejenigen meiner Leser, die zum mindesten einen
Blick in diese neue Welt getan haben, wenn ich ausspreche,
daß gerade dem Rechtswesen eine beispiellose Befruchtung
und Umgestaltung durch diese modernen Ideen bevorsteht.
Wir werden ja in dem Maße, wie eine naturwissenschaftlich
begründete Weltanschauung sich Bahn bricht, auf fast allen
Gdneten unserer Tätigkeit und unseres Denkens gewaltige
Umwälzungen erleben. Der Gedanke eines nach biologischen
Gesichtspunkten ~ aufgebauten Strafrechts aber wird jedem,
der ihn schon heute zu denken vermag, in geradezu revolutio¬
närem Gegensatz zur heutigen Praxis erscheinen. Da aber
ein Eingehen auf Einzelheiten nur unnötig den Widerspruch
der im alten Geiste geschulten Juristen herausfordern würde,
dessen ich ohnehin gewiß zu sein glaube, so beschränke ich
mich auf den Wunsch, es möge doch, zunächst ohne jede
weitergehende Absicht, an ein oder zwei Universitäten der
Versuch gemacht wenden, die jungen Juristen ex officio
mit der Biologie näher vertraut zu machen. Alles weitere
wird dann, wenn meine Ansichten richtig sind, ganz von selbst
erfolgen! Ein solcher Versuch wäre ja an sich schon durch
die Rolle, welche die Biologie im täglichen Leben und bei
der Begründung der kommenden WelAnschauung zu spielen
berufen ist, ohne weiteres gerechtfertigt.
Dr. KURT NAGLER:
Kontradiktorische oder konträre
Entwicklung?
r\IE in zweiter Auflage wieder herausgegebene Broschüre
1-7 von Karl Kautsky „Die historische Leistung von Karl
Marx“ gibt uns Gelegenheit, uns mit einigen grundsätzlichen .
Fragen zu beschäftigen, die auch dem Parteitag der U.S.P.
in Leipzig im Vordergrund des allgemeinen Interesses stehen.
Kautsky lehrt uns darin, das Verdienst von Karl Marx
darin zu erblicken, daß er die Entwicklung der Gesellschafts¬
formen in Abhängigkeit gebracht habe von den Wirtschaft-
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1450
Kontradiktorische oder konträre Entwicklung.
liehen Faktoren der politischen Oekonomie. Die Parallele
zur Entwicklung der Individualformen wird dann gezogen.
Bei einer anderen Gelegenheit (Besprechung von Woltmanns
„Darwinsche Theorie und der Sozialismus“) hat sich Kautsky
dahin ausgesprochen, daß „Marx uqd Darwin den Schlüssel
zur Entwicklung im Kampf gefunden hätten: Darwin im
Kampf ums Dasein, Marx im Klassenkampf, und" die Be¬
wegungsgesetze in der Natur, welche "jener gefunden, seien
ebenso wie die Bewegungsgesetze in der Gesellschaft, welche
dieser entdeckt, auf gemeinsame Bewegungsgesetze zurück¬
zuführen.“
Der gemeinsame Boden dieser Bewegungsgesetze ist die
allgemeine BLlogie. Sie haben wohl etwas mi [einander zu tun,
auch wenn sie nicht identisch sind, nämlich in der „<dialek¬
tischen Entwicklung“, „das heißt des Produktes eines Kampfs
von Gegensätzen , die notwendigerweise auf treten“.
Bis hierher ist alles richtig.
„Wie eigenartig auch die Gesellschaft gegenüber der übri¬
gen Natur erscheinen mag, hier wie dort finden wir dieselbe
Art der Bewegung und Entwicklung durch den Kampf von
Gegensätzen , die immer wieder aus der Natur selbst nervor-
gehen, das heißt, durch die dialektische Entwicklung.“
Nun gibt es aber zwei Arten von Gegensätzen, nämlich
einen kontradiktorischen und einen konträren Gegensatz, oder
einen „Widerspruch“ und einen „Widerstreit“. Jener ent¬
steht, wenn zwei Begriffe sich völlig ausschließen, wie „Tag
und Nacht“ oder „Leben und Tod“. Dieser ergibt sich, wenn
mehrere Begriffe sich den Rang streitig machen, die zwar
auch einander ausschließen, aber mehrere Möglichkeiten zu¬
lassen in der Anwendung des jeweiligen Begriffs unter dem
Gesichtswinkel eines höheren Begriffs, der sie alle dem
Umfang nach umspannt; so zum Beispiel bei den vier Jahres¬
zeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter oder bei den
sogenannten Kardinaltugenden der Tapferkeit, sittliche Rein¬
heit, Wahrheit und Gerechtigkeit.
Diese beiden Arten von Gegensätzen können auch auf die
Entwicklung schlechthin übertragen werden. Vollzieht sich
die Entwicklung, die nach Marx und Kautsky eine „dialek¬
tische“ eben ist, in einem Kampf kontradiktorischer oder
konträrer Gegensätze?
Oder anders ausgedrückt: muß der Kampf um die sozia¬
listische Gesellschaftsform notwendig durch die „Diktatur
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Kontradiktorische oder konträre Entwicklung.
1451
des Proletariats“ entschieden werden oder gibt es noch eine
andere Möglichkeit?!
Oder: besteht die „Katastrophentheorie“ der U.S.P. zu
Recht oder die „Evolutionstheorie“ der S.P.D. ?!
Das sind die Fundamentalfragen, die geklärt werden müs¬
sen, die ihrer Lösung harren, die immer wieder es selbst
einer „Zentralstelle für die Einigung der Sozialdemokratie“
unmöglich machen werden, zu einer Einigung zu kommen!
In der Fragestellung selbst kommt nun ein kontradiktori¬
scher Gegensatz zum Ausdruck, der nur eine Möglichkeit
zuläßt.
Welches ist die richtige?
Unsere Erkenntnis ist gewiß nur relativ, wie Kautsky
selbst erklärt, es gibt keine absoluten Wahrheiten, so lehren
die Neukantianer.
Wo ist hier Wahrheit?!
Uns scheint sie darin zu liegen, daß der Kampf aller
Gegensätze der Gesellschaftsformen sich nicht notwendig
als „kontradiktorischer Gegensatz“ herausstellen muß, son¬
dern als ein konträrer. Und was wäre da der Oberbegriff
für Diktatur oder Katastrophe auf der einen Seite und Kon¬
sequenter sozialer Reform oder Evolution auf der andern
Seite? Ja, gibt es noch andere Begriffe, die den beiden
gegensätzlichen gleichgeordnet sind, so daß eben doch nur
ein konträrer Gegensatz in der Entwicklung zum Sozialismus
zu konstatieren wäre? —
Katastrophe und sogenannte „organische“ Evolution sind
Formen, sind Begriffe der Entwicklung , diese ist der höhere
Begriff und sie läßt noch andere Begriffe zu, die in der
Stufenfolge, eben der Entwicklung, beispielsweise in den geo¬
logischen Zeitaltern der Welt oder in den sogenannten Kultur¬
stufen der Menschheit selbst zum Ausdruck kamen. Würde
ein kontradiktorischer Gegensatz bestehen, so mußte die
U.S.P. und ihre Anhänger erst einen finden zu ihrer Kata¬
strophentheorie. Gewiß, Katastrophen gibt es auch, aber
sie sind Summanden einer langsamen Entwicklung, die nur
ab und zu einen gewissen Abschluß erlangt, wie zum Beispiel
in der Revolution am 9. November als Folge des verlorenen
Weltkriegs, der sich schon aus lauter Einzelkatastrophen
zusammensetzte. Die Evolution ist der rote Faden, das Leit¬
motiv, die Revolution der Knotenpunkt, die Fermate!
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1452
Kommunismus und Kapitalismus.
Doch wie einst die Biologie die Katastrophentheorie Caviers
überwand, so wird die erweiterte Biologie im Marxschen
Sinne die Katastrophentheorie der U.S.P. überwinden!
Kraft der Entwicklung selbst! Das lehrt uns die „materia¬
listische Geschichtsauffassung“, das sollte sie doch wirklich
auch die „reinen“ Marxisten lehren, die in der U.S.P. ver¬
treten sind. Meinen Sie nicht, Genosse Kautsky?! Und zu
welcher Partei gehören dann Sie und die „Theoretiker“ des
Marxismus, die wir immer scharf von den „Phraseologen“
unterschieden haben? 1
JOHN FRANCIS BRAY:
Kommunismus und Kapitalismus.
Die im Verlage Hirschfeld-Leipzig unter Leitung von Pro¬
fessor Dr. Carl Grünberg-Wien erscheinenden „Hauptwerke
des Sozialismus und der Sozialpolitik“ ist soeben um J. r. Brays
„Leiden der Arbeiterklasse und ihr Heilmittel“ bereichert
worden. Brays Werk erschien im Jahre 1839 und wurde von
Karl Marx in seinem „Elend der Philosophie“ viel benutzt.
Marx nennt es ein „bemerkenswertes Werk“. Engels hat
viel daraus gelernt. Es ist tatsächlich ein sozialistisches
Hauptwerk. Die Uebersetzung ist von M. Beer, der in einer
Einleitung von 30 Seiten die Grundgedanken und die ge¬
schichtlichen Zusammenhänge des Buches gibt; von beson¬
derem Interesse dürfte seine historische Zergliederung der
Werttheorie sein. Im folgenden bringen wir einige Auszüge
aus dem Schlußkapitel des Werkes von Bray, um den Lesern
eine Idee von dessen Bedeutung zu geben.
A LLE menschlichen Ordnungen und Verfahren sind notwen-
** digerweise unvollkommen, da das Wissen und die Mittel
des Menschen beschränkt sind. Der Mensch erwirbt Wissen
1 Die Antwort dürfte Kautsky nicht leicht werden. Er, der
heute die theoretischen Waffen zur Bekämpfung der Diktatur
des Proletariats liefert, schrieb in seinen „Vorläufern des neuern
Sozialismus“ (1. Band, Seite 219, Stuttgart 1909): „Dagegen
hat der proletarische Kommunismus vom Mittelalter an, natur¬
notwendig das Bestreben, unter günstigen Umständen ein politischer
und rebellischer zu werden. Wie die heutige Sozialdemokratie,
setzt auch er sich dann das Ziel, die Diktatur des Proletariats
als den wirksamsten Hebel zur Herbeiführung der kommunistischen
Gesellschaft (von Kautsky gesperrt).
Redaktion der „Glocke“.
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Kommunismus und Kapitalismus.
1453
entweder durch eigene Erfahrung oder durch die Erfahrung
anderer Personen; er ist deshalb nicht imstande, bei der
Schilderung eines Gesellschaftssystems, das noch nicht
existiert, genau zu bestimmen, wie die Individuen unter den
neuen Umständen und Einflüssen fühlen und handeln sollen.
Indem wir in die Zukunft blicken, sind wir gezwungen, dies
vom Standpunkte der Vergangenheit und der Gegenwart
zu tun, uns Erfahrungen und Tatsachen stets vor Augen zu
halten und die unbekannten Teile des Zukunftsbildes durch
Darstellungen auszufüllen, die nach Bekanntem und Wohl-
definiertem skizziert sind. Wenn wir uns die Prinzipien, die
Handlungen und die Anreize zum Handeln vor Augen halten,
so können wir dem wahren' Bilde des gewünschten Endziels
nahekommen. Die soziale Umgestaltung, die wir oben er¬
wogen, ist dieser Art und wurde auf diese Weise skizziert.
Wenn es also auch nicht möglich ist, jede nebensächliche
Maßregel zu beschreiben, die ein Volk unter dem neuen
System treffen wird, so dürften doch die Prinzipien, auf die
es begründet ist, und die Grundlinien, die es zeigt, genügen,
um als Maßstab zu dienen, an dem die gegenwärtigen sozialen
Einrichtungen gemessen und geprüft werden könnten. Die
jetzige Generation hat keine Gewalt über die nachkommenden
Generationen ; sie ist deshalb nicht berechtigt, Gesetze oder
Einrichtungen einzuflühren, die ewig bindend sein sollen. Die
Menschen aller Zeiten sind frei, sowohl umzustürzen wie zu
verbessern und aufzubauen. Einen Endzustand gibt es nicht,
und obwohl es unter der herrschenden Ordnung die Gewohn¬
heit der Herrscher und der Regierungen ist, Gesetze zu er¬
lassen, denen sie die Kraft zuschreiben, den zukünftigen An¬
sichten und Verfahren Grenzen zu Hetzen, so wird nichtsdesto¬
weniger eine Zeit kommen, die respektlos mit allen derartigen
Akten umgehen wird; der gesunde Menschenverstand wird
sich schon geltend machen und die Menschen befähigen, zwi¬
schen Recht und Unrecht zu entscheiden, ohne an die Auto¬
rität muffiger Pergamente und wurmstichiger Folianten zu
appellieren.
Die gegenwärtige Krise, wohin immer sie führen mag,
ist nur eine natürliche Bewegung im Laufe der Dinge, eine
Bewegung auf dem mächtigen Ozean der Geschehnisse, deren
Wogen von Ewigkeit her dahin rollen und mit ungeschwächter
Kraft für alle Ewigkeit fortschreiten werden. Sie erfüllte
ihre vorherbestimmte Aufgabe bei der Menschenschöpfung;
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1454
Kommunismus und Kapitalismus;
sie schritt fort, als die Urgesellschaft von der Zivilisation
abgelöst wurde; sie erfuhr keine Abschwächung, als Hellas
und Rom in Verfall gerieten; sie rauschte heran, als die fran¬
zösische Revolution Platz griff und Monarchie und Priester¬
tum die Erde Europas mit Blut tränkten, und sie strömt jetzt
vor unseren Augen dahin, und reißt uns mit. Ihr gegenwär¬
tiges Wirken ist so, wie es stets war: sie zerstört und er- *
richtet politische und soziale Institutionen jeder Art. Die
gegenwärtige Bewegung hat keinen lokalen Charakter; sie
ist nicht auf ein bestimmtes Land, eine bestimmte Rasse oder
Religion beschränkt: die Welt ist ihr Wirkungskreis und sie
beeinflußt die ganze Schöpfung. Bei der Erwägung sozialer
Gestaltungen sind die Menschen daher in ihren Untersuchun¬
gen keineswegs durch Rücksichten auf die bestehenden Ein¬
richtungen und Regulierungen beschränkt, ebensowenig sind
sie bei der Durchführung sozialer Umgestaltungen durch die
angebliche Heiligkeit irgendwelcher Institutionen gebunden.
Diese werden zu verschiedenen Zeiten und für verschiedene
Zwecke eingeführt; sie wurden zu andern Zeiten und für
andere Zwecke modifiziert und verbessert, und die Menschen
der Gegenwart haben dasselbe Recht und dieselbe Befugnis,
diese Einrichtungen umzugestalten, wie ihre Vorgänger sie
einzuführen und aufrechtzuerhalten hatten. All diese Be¬
wegungen und Aenderungen waren Revolutionen, und die
größeren oder kleineren Uebel, die diese Aenderungen be¬
gleiteten, sind — wie jedes Kapitel der Geschichte lehrt —
dadurch herbeigeführt worden, daß die Herrscher und die
Regierungen sich törichterweise bemühten, die Nationen mit¬
tels Säbel und Bajonette zu überzeugen, daß Irrtum Wahr¬
heit sei, daß grobe Ungerechtigkeit Gerechtigkeit sei, daß
Sklaverei Freiheit sei. . .
Ein Vergleich des gegenwärtigen Systems der individuellen
Interessen mit dem System der kombinierten Interessen
zeigte in jeder Beziehung die Ueberlegen heit des letztem.
Ist materielles Wohlergehen unser Ziel, so kann es am besten
durch das kommunistische System und durch die Rechts¬
gleichheit erreicht werden ; glauben wir, daß Menschenliebe
und Sittlichkeit Abwesenheit und Anreize zu Uebelwollen, daß
allgemeine Verbreitung sozialer Brüderlichkeit auf irgendeine
Weise im Zusammenhang mit der Gesellschaftsform stehen,
so ist das kommunistische System das richtigste;- glauben
wir, daß die Förderung von Wissenschaft und Kunst, die
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Kommunismus und Kapitalismus.
1455
Pflege und die Entfaltung der intellektuellen Fähigkeiten und
das Vorhandensein von Möglichkeiten zur Durchführung der
von der Weisheit diktierten Maßregeln für eine Gesellschafts¬
ordnung notwendig seien, dann ist das kommunistische System,
das beste. \
Man glaubte bislang, daß es genügt, den Menschen die
Prinzipien der Gerechtigkeit und Sittlichkeit einzuprägen, um
sie zu guten Taten anzuregen. Die sie umgebenden Umstände,
alle Motive zu guten und bösen Handlungen wurden außer
acht gelassen ; und da unter dem herrschenden System die
meisten Umstände für die Ausübung der eingeprägten Prin¬
zipien ungünstig gind, so bleiben diese Prinzipien notwendiger¬
weise unwirksam und sind fast nutzlos. Ehe die Menschen
imstande sind, ihre Handlungen zu beherrschen, müssen sie
die Anreize zum Handeln beherrschen können; die Prin¬
zipien sind genau im selben Verhältnis wertvoll, als sie
ausgeführt werden und Anwendung finden können auf die
Bedürfnisse und Wünsche der Menschheit. Nach der all¬
gemeinen Verfassung der Dinge und ihrer Wirkungen auf¬
einander ist es sicher,, daß jedermann seinen Preis hat,
daß es eine Grenze gibt, über welche hinaus er den Ver¬
suchungen nicht mehr widerstehen kann, und daß deshalb das
Nichtvorhandensein von Versuchungen der beste Schutz für
die Ehrlichkeit ist. Prinzip und Profit müssen auf derselben
Seite sein;, denn gehen sie auseinander und treten in einen
Gegensatz zueinander, so erschüttern sie den Charakter und
die Tugend und es ist zweifelhaft, ob die Sittlichkeit unter
diesen Umständen immer siegreich bleibt. So schmerzhaft
dies für die menschliche Eitelkeit sein mag, so lehrt doch
die Erfahrung, daß diese Behauptung der Wahrheit ent¬
spricht. Weder die Moral noch die Religion sind an sich
fähig, den Menschen zu veranlassen, so zu handeln, wie er
wünscht, daß andere ihm gegenüber handeln. Fast alle Um¬
stände, in denen der Mensch lebt, reizen ihn fortgesetzt an,
dieses große Gesetz zu verletzen, obwohl die Prinzipien ihn
anspornen, es zu befolgen. Haben wir keine sozialen Einrich¬
tungen, mittels welcher wir die Umstände so beherrschen
und leiten könnten, daß sie den gewünschten Zweck fördern,
so werden die Prinzipien viel öfter gebrochen als befolgt
werden. In dem von uns erwogenen System werden die Prin¬
zipien der Gerechtigkeit und Gleichheit die Umstände schaffen
und sie für die Uebung der Sittlichkeit und Menschenliebe
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1456
Kommunismus und Kapitalismus 1 .
günstig gestalten, und dem Menschen erleichtern, andern
gegenüber so zu handeln, wie er wünscht, daß man ihm
gegenüber handelt.
Viele Personen, die einen ebenso engen Standpunkt ein¬
nehmen, wie die Oekonomen und Politiker, sind der Ansicht,
daß die vorhandenen Uebel nur der Unwissenheit des Volkes
geschuldet seien. Sie bemühen sich deshalb, durch Errichtung
eines allgemeinen Schulsystems diesem Mangel abzuhelfen.
Die Uebel entspringen aber gegenwärtig aus der herrschen¬
den Gesellschaftsordnung; kein Wissen ist an sich imstande,
die Uebel zu beseitigen, solange diese Ordnung besteht.
Materielles Wohlsein ist die einzige Grundlage, auf die na¬
tionale Zufriedenheit und soziale Harmonie aurgebaut werden
können; das ist das einzige Fundament, auf dem Erkenntnis
und Moral eine dauernde Existenz haben und ihre Wirkungen
ausüben können. Die Pflege des Intellekts, das Hervorrufen
neuer Bedürfnisse machen weder den Körper unempfindlich
gegen Mühseligkeiten und Entbehrungen, noch den Geist
gleichgültig gegen Entwürdigung und Unrecht, sondern sie
steigern vielmehr im höchsten Grade die Empfindlichkeit
gegen derartige Eindrücke und bewirken im Menschen eine
Rebellion gegen das, was er vorher als eine fast unbewußte
Last geduldig ertrug. Die Wissenschaft kann nur dann die
_Tugend und die Moral fördern, wenn sie mit einer einiger¬
maßen zufriedenstellenden materiellen Lage verbunden ist;
tritt aber keine Besserung der Lage ein, während die Wissen¬
schaft wächst, so werden auch Laster und Verbrechen zu¬
nehmen, denn diese werden mehr durch materielle Not als
durch. Unwissenheit veranlaßt. Die Unzufriedenheit der Men¬
schen entspringt aus dem Mangel an Mitteln, ihre Bedürfnisse
zu erhöhen, ohne gleichzeitig die Mittel zu ihrer Befriedi¬
gung zu vermehren, oder was das Gleichgewicht stört, das
natürlicherweise zwischen einem niedrigen körperlichen und
einem niedrigen geistigen Leben herrscht, führt zu sozialen
Erschütterungen und zum gewaltsamen Umsturz der Gesell¬
schaftsordnung. Die politischen Demonstrationen und gewerk¬
schaftlichen Verbindungen sind nur Bemühungen des Geistes,
das materielle Niveau zur Höhe des intellektuellen zu heben,
die Mittel im Verhältnis zu den Bedürfnissen zu vermehren,
die Idee und die Praxis zu befähigen, miteinander Schritt zu
halten. . .
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Kommunismus und Kapitalismus.
1457
Bei der Erwägung der Abhilfsvorschläge, die wahre oder
falsche Freunde ihnen vorlegen, sollen die Arbeiter ihre
ganze gegenwärtige Lage ins Auge fassen: die Summe ihrer
Mühseligkeiten, ihre unbedingte Abhängigkeit von anderen .
Klassen, das Ungenügende ihrer Entlohnung und ihre mut¬
maßliche Lage im Greisenalter, — an diesen Umständen
sollen sie die ihnen vorgelegten Abhilfsvorschläge prüfen
und sehen, wie weit diese ihren Zustand beeinflussen können.
Wenn man dem Produzenten empfiehlt, nach der politischen
Macht zu streben, um diese oder jene politische Reform zu
kämpfen, so soll er fragen: „Wird diese Aenderung meine
Arbeitslast erleichtern, die Summe meiner Genüsse erhöhen,
mir Unabhängigkeit geben, mir Arbeit und Entlohnung bis ins
Greisenalter ninein sichern und mich bis zu möinem Tode
anständig erhalten ?“ Wir streben doch eine Aenderung an,
weil wir diese Dinge erlangen wollen und weil sie uns jetzt
fehlen. Jedes Heilmittel, das vor der Herstellung der Rechts¬
gleichheit zurückschreckt, jedes Heilmittel, das nur die Lage
der Arbeiterklasse als solche modifizieren will, jedes Heil¬
mittel, das nicht auf die fundamentalen Prinzipien zurück¬
geführt werden kann und die Beseitigung der Ursachen
der bestehenden Uebel und Ungerechtigkeiten nicht bezweckt,
ist als die Vernunft und die Gerechtigkeit»verletzend rund¬
weg zu verwerfen. In dem jetzt tobenden Konflikte zwischen
Macht und Recht, in den Kontroversen, ob Gewalt oder Ver¬
nunft als Waffe zu gebrauchen ist, dürfen wir die Erfahrung
nicht vernachlässigen, die vergangene Zeiten uns vom Wirken
dieser beiden Kräfte hinterlassen haben. . .
Zur Erlangung von Reformen gibt es zwei Methoden: Dis¬
kussion und Zwang. Damit Volkserhebungen erfolgreich sind,
muß Massenüberzeugung der Gewalt vorausgehen, denn die
Gewalt kann wohl auirichten, aber nicht immer aufrecht¬
erhalten. Fehlt dem Volke die Erkenntnis der Menschenrechte,
so kann es entweder durch Ueberredung oder durch Zwang
unter eine Despotie gebracht werden; besitzt es diese Er¬
kenntnis in einem begrenzten und unvollkommenen Maße,
so mag es ihm zwar gelingen, die Regierung zu stürzen,
x aber es ist fast sicher, daß es alle Vorteile seiner Eroberung
N verlieren wird. Ist aber die Kenntnis der Prinzipien weit ver¬
breitet und ist das Verlangen nach einer Aenderung ebenso
weit verbreitet wie die Erkenntnis, dann ist die Nation
unbesiegbar, und keine Macht kann sich lange im Gegensätze
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1458
Bücherschau.
und in Feindschaft gegen die Volksmacht erhalten. Allein,
obwohl die Unterdrückten allmächtig sind, wenn sie mit
vereinten Kräften der Macht des Unterdrückers entgegen¬
treten, so gibt es doch kein einziges historisches Beispiel
dafür, daß die Volksmassen je die Früchte eines Sieges ge¬
nossen haben, den die Gewalt für sie errungen hat. Sie
haben immer aus den Bruchstücken der zerstörten Tyrannei
eine neue Tyrannei aufgerichtet. Und solange sie den un-
gleichheitlichen Austausch und die Ungleichheit der Lage,
aus denen alle Tyrannei entspringt, unbeachtet und unregu-
liert lassen, werden ihre Gewaltmethoden und politischen
Revolutionen den Fortschritt der wahren Freiheit nicht im
geringsten fördern. Die Durchführung des richtigen Planes
hängt nicht vom Umsturz einer Regierung ab, sondern von
der Beseitigung der herrschenden Gesellschaftsordnung. Die
wirklichen Mittel hierzu sind demnach nicht die Gewalt,
sondern die Vernunft, nicht der Zwang, sondern die Ueber-
zeugung, nicht die Beraubung, sondern der Ankauf, nicht
eine undisziplinierte und chaotische Bewegung, sondern eine
systematische Anwendung vereinter Kräfte. . .
Einzelpersonen haben nicht die Macht, darüber zu ent¬
scheiden, auf welche Weise gewisse Umstaltungen sich voll¬
ziehen sollen. Sie setzen ihr Vertrauen in Prinzipien und
warten ruhig das Ergebnis des Geschichtslaufs ab. Ueberall
sind Anzeichen vorhanden, die den Menschen in unzwei¬
deutigen Akzenten sagen, daß die Elemente machtvoller
Aenderungsprozesse an der Arbeit sind; und was auch die
unmittelbare Aussicht sein mag, so sieht man doch Vorboten
schönerer und besserer Tage. Das Licht des Geistes strahlt
durch das düstere Grenzgebiet des Zeitalters der Nacht hin¬
durch und verkündet das Herannahen des Zeitalters des
Rechts!
Bücherschau.
Heinz Stratz: Drei Monate als Geisel für Radek. Verlag
der Kulturliga. Berlin 1920. Preis M. 2,—.
Michael Smilg-Benario: Ein Jahr im Dienste der russischen
Sowjetrepublik. Firnverlag. Berlin 1920. Preis M. 4,—.
Zwei Schriften gegen den Bolschewismus. Die erstere
Schrift liest sich wie ein Kapitel aus einem gruseligen Hinter-
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Bücherschau. ,
1459
treppenroman. Sie scheint mir viel zu subjektiv und tenden¬
ziös, um auf den Wert eines geschichtlichen Dokuments
Anspruch machen zu können.'
Anderer Art ist die Schrift Smilg-Benarios. Hier liegt
ein Versuch vor, uns einen Einblick in das Wesen der Sowjet¬
republik zu geben, nur hat der Verfasser den Fehler be¬
gangen, sich in einen Revolutionskampf zu begeben, ohne
Pulver riechen zu können. Smilg-Benario wäre in ruhigen
Zeiten ein guter sozialistischer Funktionär, da er ejn kräf¬
tiges, sittliches Empfinden und die nötigen Kenntnisse besitzt.
Aber Revolutionskämpfen ist sein weicher Charakter nicht
gewachsen. Er diente der Sowjetrepublik einige Zeit, bis die
Attentate auf Trotzky und Lenin den Terror entfesselten. Und
den Terror konnte Smilg-Benario nicht mitmachen. Die
Sowjetbeamten und Kommissionen gingen mit den Gegen¬
revolutionären diktatorisch um. Besonders hart und strenge
waren die Mitglieder der „Außerordentlichen Kommission zum
Kampf gegen die Gegenrevolution“, die der Verfasser be¬
schuldigt, daß sie mit Willkür und Grausamkeit ihres Amtes
walteten. Als er sich beklagte, daß diese Elemente die Re¬
volution kompromittierten, erwiderte ihm sein Freund Kos-
lowsky: „Aber glauben Sie, daß solche Menschen, wie Sie
oder ich, für die „Außerordentliche Kommission“ taugen ?
Natürlich nicht. E!s muß ein unbarmherziger Kampf auf
Leben und Tod gegen die Gegenrevolution geführt werden.
Und einen solchen können wir Intellektuelle nicht führen.
Dazu muß man andere Menschen haben. Selbstverständlich
werden Sie unter rohen Menschen auch solche finden, die
eine dunkle Vergangenheit haben. Aber dagegen kann man
nichts tun. Wir müssen uns damit abfinden.“ Der Verfasser
konnte sich jedoch damit nicht abfinden. Als er mit Borsch-
tschewsky, einem Mitglied der „Außerordentlichen“ in Jam¬
burg bei einem alten Juden übernachtete, sprachen sie über
den Terror. Borschtschewsky verteidigte die Notwendigkeit
der rücksichtslosen Unterdrückung der Gegenrevolution, wor¬
auf ihm der Jude erklärte: „Ich bin schon alt und grau.
Vielleicht kann ich schon deshalb das Streben der neuen
Generation nicht verstehen. Ich weiß, daß in der Vergangen¬
heit viel Schlechtes und Ungerechtes geschah. Aber ich
sage Ihnen: das Böse werdet Ihr mit bösen Mitteln nie
ausrotten. Vor allem, muß man das menschliche Leben schätzen.
Unsere alte, heilige Religion, unsere Propheten und Ge-
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1460 ___ Druckfehler-Berichtigung;
lehrten sagen, daß der Mensch selber das höchste Out
sei. Der Mensch muß Selbstzweck und nicht Mittel zum
Zweck sein. Ja, junger Mann/* sagte er zu Borschtschewsky
sich wendend, „Sie lächeln, aber ich sage Ihnen, es wird
vielleicht die Zieit kommen, wo Sie sich meiner Worte erinnern
werden. Auch der Z'ar und seine Knechte haben so ge¬
handelt, wie Sie es jetzt tun; auch zur Zeit der Selbst¬
herrschaft hatte das menschliche Leben keinen Wert. Und
Sie sehen selber, wohin diese Politik das russische Volk ge¬
trieben hat. Ich sage Euch allen: auch Eure Ansichten
und Taten, die zu Blutvergießen und zur Verachtung der
Menschheit führen, werden keine guten Früchte bringen/*
Diese Worte entsprachen ganz den Ansichten Smilg-Benarios.
Ja, wenn man derartige Ansichten hat, soll man allen Macht¬
organisationen fernbleiben, sowohl den staatlichen wie den
revolutionären, denn die Menschheit hat es trotz Jesus noch
nicht gelernt, durch Versöhnung, -Schonung und Selbstauf¬
opferung Eintracht und Frieden zu stiften.
Smilg-Benario flüchtete schließlich nach Deutschland, wo
er in Schneidemühl unter dem Verdachte des Bolschewismus
verhaftet und mißhandelt wurde. Nach zwölf Tagen wurde
er in Freiheit gesetzt und konnte sich ungestört zu seinen
Verwandten nach Berlin begeben.
M. Beer .
Druckfehler-Berichtigung.
Peter Knute schreibt uns: „In meinem Artikel in Nummer
44 der „Glocke**: „Tokio-Washington-London-Moskau** heißt
es von dem japanischen Zukunftsgedanken im Osten, daß er
das Oberbonzentum über den „neunmalhunderttausend Seelen
großen mongolisch-buddhistischen Zukunftsstaat** anstrebt.
Mit „neunmalhunderttausend Seelen** baut man natürlich
keinen welterregenden, höchstens einen originalen deutschen
Kleinstaat. Es handelt sich selbstverständlich um die neun¬
hundert Millionen Mongolen, die der japanische Gedanke auf¬
rütteln will.**
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ZWISCHEN
DEN GEFECHTEN
* v °n
PHILIPP SCHEIDEMANN
f :' • '■
Elegant gebunden
Preis 10 Mark
und 20% Teuerungszuschlag
Aus den Tagen der Kindheit
führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre
des reifen Mannesalters. Sdieidemann selbst hat — vielleicht
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen
Entwicklungsgang beschrieben.
Bezug durch alle Buchhandlungen
sowie direkt vom
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
BERLIN SW 68
LINDENSTR.114
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Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin.
Verlag: Verlag für Sozial Wissenschaft, Berlin SW 68, Lindenstraße 114. Fernruf: MorHs*
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DIE GLOCKE
Sozialistische Wochenschrift
Herausgeber: Parvus
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oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Mk. 6,—,
Einzelhefte 50 Pf„ Porto 5 Pf.
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INHALT DIESER NUMMER:
M. Beer: Der Wahlkampf in Paisley . . 1461
U. Emil: Politische Kopfe. . . . . . . 1464
A Hopfner: Der Ausbau der Sozialversicherung 1467
Walter Israel: Zur Entwicklungsgeschichte des
Betriebsrätegesetzes.. 1472
Parvus: Meine Entfernung aus der Schweiz. . 1482
M. Beer: Die Engelsbiographie. 1.1482
Nummer 46 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt;
Dr. R. von Ungern-Sternberg: Ostorientierung 1429
U. Emil: Politische Köpfe ........ 1433
Alfred (Jnger: Zur Reform des staatl. Erbrechts 1437
Oberlehrer Dr. Karl Hedicke: Auslandslehrer . 1442
Dr. G. von Frankenberg: Zur Reform des ju¬
ristischen Studiums. . 1446
Dr. Kurt Nagler: Kontradiktorische oder kon¬
träre Entwicklung?.. 1449
John F. Bray: Kommunismus und Kapitalismus 1432
Bücherschau: Heinz Stratz „Drei Monate als
Geisel für Radek“; Michael Smilg-Benario .
, „Ein Jahr im Dienste der russ. Sowjetrepublik“ 1458
Druckfehler-Berichtigung. . 1460
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. 47. Heft 21. Februar 1920 5. Jahrg.
Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet
M. BEER:
Der Wahlkampf in Paisley.
p\IE Augen Großbritanniens sind auf den Wahlkampf in
1 - / Paisley (bei Glasgow) gerichtet. Dort steht der einfache
Arbeiter und Sozialist John M. Biggar dem berühmtesten
liberalen Staatsmann H. H. Asquitn gegenüber. Die Koa¬
litionsregierung nahm davon Abstand, durch einen eigenen
Kandidaten in den Wahlkampf einzugreifen, um Asquiths
Lage, nicht ganz hoffnungslos zu gestalten. Asquith ist der
Kandidat def geeinigten besitzenden Klasse, Biggar der
Bannerträger der sozialistischen Arbeiterklasse. Das hervor¬
stechendste Kennzeichen der gesellschaftlichen Entwicklung
Großbritanniens seit 1917 ist die Ausbildung des Klassen-
bewußtseins unter den Arbeitern, ist die klare Spaltung.der
Gesellschaft in zwei gegeneinander kämpfende Klassen. Man
liest dort die Schriften Marxens wie nie zuvor. 'Sogar in der
bislang sozialethisch gestimmten Independent Labour Party
ist eine Spaltung eingetreten: der linke Flügel der Partei,
insbesondere die schottischen Genossen, treten für den An¬
schluß an die dritte Internationale ein. Zwei Umstände
trugen zu dieser Wandlung bei: die russische Revolution und
der Versailler Frieden. Tm Herzen des Proletariats aller
Länder leben Sympathien für die Kämpfe der russischen
Arbeiterklasse um ihre äußere und innere Befreiung; die
Meinungsverschiedenheiten beziehen sich hauptsächlich auf
die vom Bolschewismus angewandten Methoden. Dann hat
der Versailler Friede, der einzig und allein aut dem römischen
Prinzip des Vae Victis beruht, die britische Arbeiterklasse
bitter enttäuscht. Man muß bedenken, daß die Einwilligung in
die allgemeine Wehrpflicht in Großbritannien ein ungeheures
Opfer für das Volk bedeutete. Auf dem europäischen Fest-
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1462
Der Wahlkampf in Paisley.
lande wußte jeder erwachsene Bürger, daß er im Falle eines
Krieges Blut und Out zu opfern hätte. Anders in Gro߬
britannien: dort war die allgemeine Dienstpflicht etwas Un¬
erhörtes. Das Volk brachte dieses Opfer nur unter der
Voraussetzung, daß es ein- für allemal den Kriegen ein
Ende machen würde. Der Versailler Friede brachte aber
keinen Frieden, sondern legte den Keim zu neuen Kriegen.
Alle Versprechungen der britischen Regierung wurden ge¬
brochen. Das britische Volk hörte wiederum von geheimen
Abmachungen, diplomatischen Winkelzügen, wirtschaftlichen
Kämpfen, — kurz, von einem Frieden, der nur eine Fort¬
setzung des Krieges mit andern Mitteln ist. Die Massen ver¬
loren alles Vertrauen zur Regierung und organisierten sich
als Klassenpartei mit einem sozialistischen Programm. So kam
es, daß die Nachwahlen des Jahres 1919 für die Regierung
ungünstig verliefen, aber der Arbeiterpartei große Erfolge
brachten. Die Lage ist nun die, daß die Regierung schon
davon absieht, sich an den Nachwahlen zu beteiligen und
es der kleinen unabhängigen liberalen Fraktion überläßt, mit
stark demokratischen und- sozialreformerischen Programmen
dem Arbeiterkandidaten entgegenzutreten. Eine derartige par¬
lamentarische Nachwahl findet nächstens — der Wahltag
ist noch nicht bestimmt — in Paisley bei Glasgow statt.
Der Arbeiterkandidat Biggar hat folgendes Wahlprogramm
aufgestellt:
„Die Leistungen der Koalitionsregierung sind derart, daß S)ie
von jedem rechtschaffenen und intelligenten Bürger des
Reichs mit Entrüstung zu rückgewiesen werden. Indem
die Regierung es ablehnt, in den Wahlkampf aktiv einzu¬
greifen, gesteht sie somit offen ein, daß die Wähler von
Paisley nichts mit ihr zu tun haben wollen. Es liegt ihnen
nun ob, darüber zu entscheiden, ob die Opposition gegen die
Regierung durch einen Vertreter der Arbeiter zum Ausdruck
kommen soll, oder durch einen Vertreter der alten Parteien,
die zu diesem Zwecke aufgalvanisiert wurden.
Ich bin der Kandidat der Genossenschaften und der
Arbeiterbewegung. Mein Programm ist, ein genossenschaft¬
liches Gemeinwesen zu begründen. In der praktischen Politik
werde ich folgende Forderungen unterstützen:
1. Sozialisierung der Bergwerke; 2. Sozialisierung des
Grund und Bodens und seiner Schätze. Solange dieses Ziel
nicht erreicht ist, werde ich eintreten für die Besteuerung der
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Der Wahlkampf in Paisley.
1463
Bodenwerte, um die Macht der Grundherren zu schwächen
und sie gleichzeitig zu zwingen, einen gerechten Teil zu den
Lokal- und Reichssteuern beizutragen; 3. Sozialisierung der
Verkehrsmittel; 4. Selbstbestimmungsrecht für Irland und
Schottland; 5. Vollständige Abschaffung der allgemeinen
Wehrpflicht; 6. Vermögensabgabe als einziges Mittel, der
gegenwärtigen Finanzmisere abzuhelfen; 7. Sofortige In¬
angriffnahme der Behausungsreform; 8. Erwerbslosenunter¬
stützung; 9. Erhöhung der Alterspensionen; Mindestpension
ein Pfund Sterling die Woche; 10. Aeußere Politik: Die
geheime Diplomatie muß sofort aufhören; geheime Abmachun¬
gen, wie , zum Beispiel der Londoner Vertrag (5. September
1914), dürfen nicht existieren* da sie den Weltfrieden ge¬
fährden; 11. Die gegenwärtige Liga der Nationen muß in
einen Bund der Völker verwandelt werden; 12. Rußland:
Ich verlange die vollständige Zurückziehung aller Truppen
aus Rußland, ebenso die Einstellung aller Kriegslieferungen,
die nur darauf berechnet sind, den Bürgerkrieg in Ru߬
land zu fördern. Es muß Rußland gestattet werden, sich
in Uebereinstimmung mit den Wünschen des russischen
Volkes zu regieren; 13. Der Versailler Friede: Die gegen¬
wärtige Unrast Europas ist hauptsächlich den undemokrati¬
schen Bedingungen zuzuschreiben, unter denen der Vertrag
geschlossen wurde. Alle Staaten sind Teile der Völker¬
gemeinschaft, die der genossenschaftlichen . Grundlage be¬
darf, um sich erhalten und entwickeln zu können. Solange
diese Wahrheit nicht anerkannt und verwirklicht wird, kann
es keine Sicherheit in Europa 'geben. Ich trete deshalb
für internationale Zusammenarbeit ein, so daß der Stärkere
dem Schwachen beistehen kann, die Welt wieder aufzubauen.“
Die Aussichten Biggars sind nicht besonders glänzend,
da er dort gegen alle bürgerlichen und kapitalistischen Ele¬
mente kämpfen muß. Aber für die Stimmung der Wähler
ist es charakteristisch, daß auch Asquith sich gezwungen
sieht, für eine Revision des Versailler Friedens* zu plädieren.
47 / 1 *
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1464
Politische Köpfe. 111. und IV.
U. EMIL:
Politische Köpfe.
in.
Däumig.
I/’ENNEN Sie unsern neuen Kollegen schon ?“, fragte ich
»»“■einen Freund, nachdem Däumig in Berlin eingetroffen war.
„Nein,“ erwiderte der Gefragte, „aber ich habe gehört, es
soll eine Landsknechtsgestalt sein.“ Landsknechtsgestalt isit
für Däumig nicht übel. Er steht anfangs der fünfziger Jahre,
ist mittelgroß, kräftig, untersetzt. Das Profil ebenmäßig, die
Farbe frisch und gesund, der Schnurbart graumeliert und das
schlicht in der Mitte gescheitelte Haar weiß. Früher war es
siegfriedblond, nun, da die Stürme des Krieges und der Re¬
volution darüber hinweggegangen sind, hat sich Schnee darauf
gelegt, der dem Kopf eine interessante Note gibt.
„Ich bin alt und grau geworden in der Revolution und im
Kampf für die Arbeiterrechte“, erklärte er kürzlich auf einer
Tagung. Und das trifft zu. Däumig stand von Anfang an
in den vordersten Reihen und seinetwegen ist in Berlin nicht
am 11., wie gedacht, sondern am 9. November losgeschlagen
worden, da man am Abend vorher Däumig auf der Straße ver¬
haftet hatte. Revolutionäre denkt man sich immer anders als
Däumig, er hat nichts von einem Robespierie. Im Gegen¬
teil. wenn man ihn so ruhig, so ernst, so gesetzt und korrekt
mit der Mappe unterm Arm daher kommen sieht, könnte man
in ihm einen braven Beamten vermuten, der sein^ Leben lang
pünktlich in die Schreibstube gegangen ist und* diese nach
erledigtem Pensum ebenso pünktlich wieder verlassen hat.
Dies trifft aber ganz und gar nicht zu. Vielmehr ist das
Leben Däumigs von einem romantischen Schimmer umwoben.
In einer mehr als knappen Lebensbeschreibung sagt er von
sich: Geboren 25. 11. 1866 in Merseburg, besuchte das
Gymnasium, dann Militär. — Ganz Däumig. Kein Wort
darüber, daß fcr einen Abschnitt seines Lebens in der Fremden*
legion verbracht, daß seine Füße den heißen Wüstensand ge¬
stampft und die Sonne Algiers seine Haut gebräunt. Aller¬
dings hat er seine Erlebnisse in Büchern und Schriften nieder¬
gelegt, die (sich durch sachliche, wahrheitsgetreue Darstellung
wohltuend abheben von ähnlichen literarischen Erzeugnissen.
Er hat aber nicht nur französische Uniform getragen, sondern
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Politische Köpfe. III. und IV.
1465
auch deutsche, und dieser Umstand förderte und begünstigte
seine Neigung für militärtechnische und -kritische Fragen.
Auch die Arbeiterbildungsprobleme beschäftigten ihn stark
und in den Bildungsausschüssen, in die man ihn schickte,
hat er wertvolle Arbeit geleistet. Die Berliner freireligiöse
Gemeinde läßt ihn öfter über Religionsgeschichte sprechen.
Däumig ist kein feuriger, aufpeitschender Volksredner, mit
seiner dozierenden Art zu reden, gehört er eigentlich aufs
Katheder. „Ich kann keine schmetternde Agitationsrede halten,
ich kann nur dozieren“, bemerkte er gelegentlich, als er mit
mir eine Wählerversammlung verließ. Ist er nun auch kein
schmetternder, so ist er doch ein guter Redner, und die besten
Vorträge, die ich im Reichstagswahlkampf 1912 hörte, waren
von Däumig.
Bis die Spaltung in der Sozialdemokratie erfolgte, war
Däumig am „Vorwärts“. Seit der Revolution ist er das Haupt
der Rätebewegung, für die er bis zum äußersten kämpft.
Mit einer Leidenschaft, einem Temperament, wie es keiner von
uns, die wir ihn schon früher kannten, bei ihm vermutet
hätten. Und wenn ein Mann wie Däumig mit der Faust auf
den Tisch schlägt, so will das viel heißen. Auf dem vorletzten
Parteitag der U.S.P.D. sollte er neben Haase Vorsitzender
werden. Sein Radikalismus übertraf aber den Haases noch
um einiges und so konnten die beiden Tribunen nicht neben¬
einander zu stehen kommen. Däumig neigt zum Kommunismus
hinüber, verwirft aber ausdrücklich Putsche. Um seinetwillen
wäre die Allgemeinheit im Frühjahr 1919 beinahe böse in
Mitleidenschaft gezogen worden. Man hatte ihn festgenom¬
men und in Untersuchungshaft gesetzt und es trat eine
schwüle Situation ein, die indessen durch die baldige Frei¬
lassung des Verhafteten wieder verflog. Jetzt ist er wieder
in Schutzhaft und die Massen schweigen. Die Revolutions¬
kurve zeigt eine absteigende Richtung.
IV.
David.
Der kleine David, der, die Schleuder der Wissenschaft
in der Hand, es mutig mit dem Riesen Radikalismus auf¬
nahm. Damals, als der Radikalismus in der einzigen sozial¬
demokratischen Partei noch die Oberhand hatte, und es gar
nicht so leicht war, gegen ihn anzukämpfen. Der kleine David
wagte es, aber er erschlug Goliath nicht, wenn er ihm auch
manch schmerzhaften Wurf verabfolgte. Er hatte eingehend
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1466
Politische Köpfe. III. und IV.
die Landwirtschaft studiert, um im Auftrag der Partei ein
sozialdemokratisches Agrarprogramm auszuarbeiten. Hierbei
kam er zu dem Schluß, daß die Landwirtschaft den entgegen¬
gesetzten Weg der Industrie gehe: nämlich sich mehr zum
Kleinbetrieb entwickle und geriet so in Widerspruch zu
Marx und Kautsky, — der Revisionist war fertig. Allerdings
war David dafür geradezu prädestiniert. Als Sohn eines
konservativen Beamten und von Natur ein stiller, tiefschür¬
fender Geist, lag ihm die wuchtige, agitatorische Phraseologie
der überwiegend radikalen Partei nicht. 1863 in Ediger an der
Mosel geboren, studierte er Germanistik, Geschichte und
Philosophie und baut seinen Doktor phil., wird Lehramts¬
kandidat und dann am Giesener Gymnasium Oberlehrer. Er
findet Berührung mit dem Sozialismus, wird Mitarbeiter an
sozialdemokratischen Zeitungen und hatte damit seine Lauf¬
bahn als Oberlehrer besiegelt. Von 1893—94 leitet er die
„Mitteldeutsche Sonntagszeitung“, von 1896—97 die „Mainzer
Volkszeitung“. Dann wird er Parteisekretär für das Gro߬
herzogtum Hessen und Mitglied des Hessischen Landtags.
In den Reichstag zieht er erst 1903 ein. Hier wußte er sich
bald Geltung zu verschaffen. Wenn das kleine Männchen mit
dem durchgeistigten Gesicht, dem blonden, kurz gehaltenen
Vollbart und dem nach hinten gekämmten Haupthaar das
Wort ergriff, ließ das Rhabarbergemurmel im Saale nach
und ein großer Geist von Zuhörern gruppierte sich um den
Redner. Er schlug nicht mit Keulen drein wie Bebel und
andere Feuerköpfe, ruhig, sachlich, fast pedantisch lehrhaft
plätscherte seine Rede dahin. Und doch, er fesselte, denn er
gab was, er gab reichlich, er ging in die Tiefe und wußte
eine verfahrene und verflachte Debatte geschickt wieder auf
die Höhe zu bringen. So auch in Versammlungen.
„Ach, den suslichen David habt ihr uns geschickt, ’n
andern habt ihr wohl nicht für uns. Stadthagen sollte doch
kommen.“ So maulte einmal der Vorsitzende einer Maifeier¬
versammlung mit seinen Genossen, als er vernahm, daß
David reden werde. Und er redete und redete gut wie immer.
Keine Trompetenstöße, keine Hammerschläge. Gute, schöne
Worte teilte er aus, gehaltvolle Gedanken entwickelte er.
Er versprach nicht das Paradies, aber er sagte, daß jeder,
der arbeiten wolle, Arbeit erhalten, und jeder, der arbeite, so
viel verdienen müsse, daß er mit den Seinen anständig leben
könne.
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Der Ausbau der Sozialversicherung.
1467
David war immer von einem still-fröhlichen Optimismus,
der sich von Kassandrarufen jeglicher Art nicht erschrecken
läßt. —
Als im Sommer 1911) der liebe Gott — trotz Reklamation
des Kaisers und der Alldeutschen — sich mit seiner Gunst
den Feinden zuneigte, und die Sonne die Felder verbrannte,
traf ich David in der Straßenbahn. Wir sprachen über das
Wetter, und ich äußerte Bedenken wegen der anhaltenden
Hitze. Da hob David das Zeigefingerchen empor und dozierte,
als stände er noch vor seinen Schülern:
„Die Sonne hat noch keinen Bauern zum Lande hinaus¬
gebrannt.“ Aber der Kriegsausgang hat David doch arg mit¬
genommen und sein Haar grau gefärbt.
Immer ruhig und bedächtig. Leise, leise, kein Geräusch ge¬
macht. Und nicht zu radikal, das geht auf die Nerven.
„Mit Ihnen, Radikalinski, debattiere ich nicht mehr über
Politik“, erklärte er eines Tages kategorisch dem Fahrstuhl¬
führer, der ihn täglich in sein Archiv hinaufbeförderte. Er
gehört zu denen, die von Deutschlands Unschuld überzeugt
waren und hat auch in diesem Sinne gewirkt mit dem Erfolg,
daß er, der Minister ohne Portefeuille, von den Unkssozia¬
listen bitter gehaßt wird und im neutralen und feindlichen
Ausland an politischem Ansehen viel oder alles eingebüßt
hat. Und doch zählt David zu den klügsten Köpfen in der
Politik und ist heute der Spiritus rector der Mehrheitspartei,
die die Weltgeschichte mit Klugheit machen will.
A. HOPFNER:
Der Ausbau der Sozialversicherung.
r\IE Not der Zeit mit ihrer unaufhörlichen Teuerungstendenz
läßt die Opfer der Arbeit in ihrer Lebenshaltung immer
tiefer sinken. Während bis zum Jahre 1914 Kranken-, Inva¬
liden- und Unfallrenten ein, wenn auch bescheidenes Aequi-
valent der ausgefallenen Arbeitskraft ausmachten, kann heute
nicht mehr davon die Rede sein. Durch die Entwertung des
Geldes geraten viele Arbeiterfamilien im Krankheitsfalle des
Ernährers durch die geringen Barleistungen in Not. Der
höchste Unterstützungssatz von täglich fünf Mark steht in
keinem Verhältnis zum Lohn, wie er heute üblich ist. Ebenso
auch das Hausgeld von wenigen Pfennigen für den Tag, das
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1468
Der Ausbau der Sozialversicherung.
der ledige Versicherte erhält, der während seines Kranken¬
aufenthaltes noch Angehörige zu unterstützen hat. Der gute
Ruf, den die Krankenkassen sich bei den, Versicherten zu
erwerben verstanden, ist dahin, und doch muß man sie von
aller Schuld freisprechen, weil sie an den gesetzlichen Tage¬
lohn gebunden sind, den sie zur Grundlage der Barleistungen
machen. Die Kassen tun gewiß alles, und gehen über die
Regelleistungen noch hinaus, gründen Erholungsheime, führen
Familienberatung ein; aber eine ausreichende Unterstützung
kann nur eintreten durch Heraufsetzung des Grundlohns und
dementsprechend höhere Beiträge. Dieser Schritt liegt auch
im allgemeinen Interesse, da der Gesundungsprozeß des Er¬
krankten bei guten Wirtschafts Verhältnissen am schnellsten
fortschreitet. Deshalb muß die Gesetzgebung energisch an
die Arbeit gehen, und den Artikel 161 der Reichsverfassung
in die Tat umsetzen, der besagt: „Zur Erhaltung der Ge¬
sundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutze der Mutterschaft
und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von
Alter, Schwäche und wechselfälle des Lebens schafft das
Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender
Mitwirkung der Versicherten.“ Die hinter uns liegenden be¬
scheidenen Lohnverhältnisse sind auch heute noch für die
Festsetzung der Invaliden-,. Alters- und'Hinterbliebenenrenten
maßgebend. Hier handelt es sich meist um Rentenempfänger,
die nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis stehen. Sind nicht
beträchtliche Ersparnisse oder sonstige Zuschüsse vorhanden,
so kann ohne Inanspruchnahme der öffentlichen Armenpflege
niemand seinen Unterhalt bestreiten. Die im Jahre 1919
gewährten Zulagen von monatlich acht Mark und für Witwen¬
renten vier Mark fallen für eine Besserung der Lebenslage
nicht ins Gewicht. Eine Witwenrente übersteigt selten den Be¬
trag von 100 Mk., eine Waisenrente den von 50 Mk. jährlich.
Ohne Erhöhung der Beiträge werden sich natürlich die Renten
nicht aufbessern lassen, ater große Hindernisse werden dem
nicht entgegenstehen. Besonders, wenn damit noch andere
wichtige Reformen verbunden werden, so die Einführung
höherer Lohnklassen, mit höheren Beiträgen und Leistungen,
Heraufsetzung der Gehaltsgrenze wie bei den Angestellten auf
7000 Mark, Vereinfachung des Spruchverfahrens. Leider hat
die Scheidung von Arbeitern und Angestellten in der Sozial¬
versicherung die Rechtsprechung erschwert, und die Ver¬
waltung übermäßig verteuert, so daß eine Verschmelzung
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Der Ausbau der Sozialversicherung.
1469
beider Versicherungen nur zu begrüßen wäre. Einige Ver¬
ordnungen im Jahre 1919 sind gewiß von Bedeutung für
die Versicherten, kommen aber nur den billigen Forderungen
entgegen. So zum Beispiel diejenige vom 9. Februar 1919, die
bestimmt, daß die Anwartschaft auf die Leistungen der Ver¬
sicherung dann bestehen bleibt, wenn die Zeit zwischen dem
Eintritt in die Versicherung und dem Versicherungsfall zu
mindestens drei Vierteln durch Beitragsmarken belegt ist.“
Ist mithin eine Person mit vollendetem 16. Lebensjahre
versicherungspflichtig geworden, so kann sie bis zum 36.
Jahre 20 mal 52 gleich 1040 Marken kleben. Hätte er nur
bis zum 31. Jahre gezahlt, so würde er, wenn er mit 36
Jahren invalide würde, nach den bisherigen Bestimmungen
keinen Anspruch auf Rente gehabt haben, da er eben in
dem vorhergehenden Zeitraum von fünf Jahren keine Beiträge!
geleistet hat. Da er aber insgesamt 750 Beiträge geleistet
nat, so ist in solchem Fall die Anwartschaft gewahrt. —
Weil es sich um äußerst bedürftige Opfer der Arbeit han¬
delt, duldet die Regelung der Invaliden- und Witwenversiche¬
rung keinerlei Aufschub.
Auch der Ausbau der Wöchnerinnen- und Schwangeren¬
fürsorge erweist sich unter den gegenwärtigen Schwierig¬
keiten zur Hebung der Volkskraft als dringend notwendig;
der einmalige Beitrag an versicherungsfreie Familienmitglie¬
der zu den Kosten der Entbindung in Höhe von 50 Mark
ist für die heutige Zeit zu minimal; ebenso das Wochengeld
in Höhe von 10,50 Mark auf die Dauer von zehn Wochen;
das gleiche gilt auch vom Stillgeld und den Beihilfen für
Hebammendienste. Die Gewährung freier ärztlicher Hilfe
und Arznei an nicht versicherungspflichtige Frauen und Kin¬
der von Versicherten muß zur Pflichtleistung ausgestaltet
werden.
Für die Unfallrenten ist gleichfalls immer noch der Lohn
vergangener Zeiten in Kraft. Die große Not dieser schwer¬
geprüften Kreise verlangt gebieterisch eine baldige Aufbesse¬
rung. Die Zulage, die den mehr als 662/3 prozentigen Unfall¬
rentnern von monatlich acht Mark zuteil wurde, genügt bei
weitem nicht den Erfordernissen. Jeder Tag schafft neue
Opfer, ihnen steht plötzlich ein hartes Schicksal nicht nur
an Körper und Geist, sondern noch mehr in der Lebenshaltung
bevor. Nach den geltenden Bestimmungen werden Jahres¬
arbeitsverdienste von mehr als 1800 Mark nur mit einem
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1470
Der Ausbau der Sozialversicherung.
Drittel zur Anwendung gebracht. Diese Sätze sind durch den
gesunkenen Geldwert viel höher zu normieren, sollen sie
auch nur einigermaßen den Verletzten vor gänzlicher Ver¬
armung schützen. Ebenso muß auch der verschiedenartigen
Behandlung von versicherungspflichtigen Betriebsunfällen und
bestimmten Gewerbekrankheiten ein Ende gemacht werden.
Die medizinische Praxis hat schon längst entschieden, daß
gewisse Gewerbekrankheiten den Betriebsunfällen gleich¬
zusetzen sind. Ehe Träger der Unfallversicherung haben sich
bisher nicht genug bemüht, die Berufsumschulung der Ver¬
letzten durch geeignete Prothesen und Werkstätteneinrich¬
tungen zu erleichtern. Sie haben sich die Sache sehr leicht
gemacht, indem die Unfallärzte einen Berufswechsel wohl
empfahlen, den Verletzten aber in seinem Bemühen wenig
unterstützten. Die Erfahrungen in der Kriegsbeschädigten¬
fürsorge müssen den Berufsgenossenschaften viel mehr
nutzbar gemacht werden, als es bisher geschieht. Manchem
zu Schaden gekommenen Verletzten könnte durch Arbeits¬
ermöglichung wieder aufgeholfen werden.
Alle diese Anträge und Wünsche verlangen schleunigste
Erledigung durch die Nationalversammlung. Ausgestaltung
der Krankenversicherung, insbesondere Einschluß der Fa¬
milienfürsorge, Reform der Invaliden-, Alters-, Hinterbliebe¬
nen- und Unfallversicherung, sowohl in Hinsicht auf die Er¬
höhung der Bezüge, als auch in bezug auf die Vereinfachung
der Verwaltung. Den Versicherten muß ferner ein größeres
Mitbestimmungsrecht in allen Versicherungszweigen als bisher
eingeräumt werden. Das indirekte Wahlverfahren der Schieds¬
gerichtsbeisitzer entspricht heute nicht mehr dem Interesse der
Versicherten. Da der große Umfang dieser Reform eine Ver¬
zögerung der Leistungsaufbesserung befürchten läßt, so wäre
die Beschlußfassung darüber vorweg zu nehmen, vielleicht
in Form eines Notgesetzes. Die Verwaltungsänderungen
und die Revision des Versicherungsverfahrens könnte dann
.einer späteren gründlichen Beratung unterzogen werden.
Einen wichtigen Abschnitt sozialpolitischer Reform bedeutet
der vom Reichsarbeitsministerium nunmehr abgeschlossene
Gesetzentwurf einer Reichsarbeitslosenversicherung. Es ist
hohe Zeit, daß die Erwerbslosenfürsorge den Gemeinden
abgenommen wird und der Sozialversicherung eingegliedert
wird. Viele Mißbräuche haben sich in der Organisation
herausgebildet. Erst jüngst wurde gemeldet, daß bei einer
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Der Ausbau der Sozialversicherung.
1471
Kontrolle über 10 000 Personen unrechtmäßig Erwerbslosen¬
unterstützung bezogen haben. Während bisher den Gemeinden
die Abwicklung der Geschäfte überlassen war, sollen die
neuen Arbeitslosenkassen den Krankenkassen angegliedert
werden. Ob dies die richtige Lösung ist, bedarf näherer Er¬
örterung. Es liegen Vorschläge vor, die Kassen mit den
Arbeitsnachweisen zu verbinden, unter Mitwirkung der Ge¬
werkschaften. Die Lasten sollen nicht mehr wie heute Reich
und Gemeinde allein tragen, auch die Unternehmer und Ver¬
sicherten sollen zu gleichen Teilen zu den Kosten heran¬
gezogen werden. Die Versicherungspflicht beginnt nach dem
Entwurf mit dem 16. Jahr und umfaßt Aroeiter und An¬
stellte. Arbeitslosenunterstützung erhält, wer mindestens 26
Wochenbeiträge geleistet hat. Der Versicherte muß arbeits¬
fähig sein und durch Beglaubigung nachweisen, daß er inner¬
halb drei Tagen nach Verlassen der Arbeitsstelle keine pas¬
sende Stelle gefunden hat. Innerhalb eines Jahres dauert das
Bezugsrecht der Unterstützung 13 Wochen. Streiktage werden
nicht als Arbeitslosigkeit angesehen. Ebenso wird die Unter¬
stützung versagt, wenn der Versicherte freiwillig ohne Grund
seine Stellung aufgegeben hat oder Schuld an seiner Ent¬
lassung hat. Der Entwurf sieht noch weitere Ausschlußfälle
für Unterstützung vor. Als Unterstützung gilt der Ortslohn,
doch kann dieser in gewissen Fällen herabgesetzt werden.
Der Entwurf wird gewiß von links und rechts viel An-
- fechtung erfahren, im wesentlichen bedeutet er aber eine
wichtige Ergänzung der Sozialversicherung.
Die nächsten Jahre erfordern schwere Arbeitsleistung von
jedem einzelnen. Es liegt im Interesse des Reichs, all seine
Glieder in ihrer Arbeitsfähigkeit und Gesundheit zu erhalten.
Den Opfern auf dem Schlachtfelde der Arbeit müssen alle
Parteien zu Hilfe kommen, damit wenigstens sie vor größter
Not geschützt sind. Reich, Arbeitgeber und Arbeitnehmer
müssen es als Nobile officium betrachten, durch Aufbrin¬
gung der Mittel die Durchführung der in Aussicht genomme¬
nen Maßnahmen zu ermöglichen. Gelingt es uns, diese
schwere Aufgabe zu bewältigen, dann können wir mit vollem
Recht den Anspruch als erstes Kulturvolk erheben.
4712 *
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1472 Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes.
WALTER ISRAEL:
Zur Entwicklungsgeschichte des
Betriebsrätegesetzes.
FjASS in der ganzen Rätefrage in der erstell Zeit nach dem
9. November 1918 ein Wirrwarr herrschte und dem Ge¬
danken einer Diktatur keine schöpferische Idee gegenüber¬
stand, darf nicht geleugnet werden. Es ist daher unbedingt
als eine bedeutende Tat zi^ bezeichnen, wenn Julius Kaliski am
15. Januar 1919 in der Vollversammlung der Arbeiterräte
Groß-Berlins zum ersten Male seinen und seiner Freunde Ge¬
danken von der Kammer der Arbeit der Oeffentlichkeit zur
Diskussion übergab. Es hieß dies nicht weniger als der An¬
fang, den Rätegedanken in gesunde Bahnen zu lenken, den
Räten das Gebiet zeigen, das ihnen im Namen des Sozialismus
zufällt. Denn der tiefere Sinn,*der den Ruf nach Räten nicht
schwächer werden ließ, ist der, daß das Proletariat, im weite¬
sten Sinne des Wortes, sah, daß die politische Demokratie
noch nicht Sozialismus bedeutet, instinktiv aber fühlte, durch
die Räte ein Mittel zu besitzen, welches es auf dem Wege
des Sozialismus weiter bringen kann. Und diesem Fühlen
wurde Kaliski gerecht. Als nächstes geschichtliches Datum auf
dem Wege zur Klärung ist der 8. April 1919 anzuführen, der
Tag des zweiten Rätekongresses in Berlin. Es ist hier von
Bedeutung, daß der gemeinsam von Kaliski, Cohen und Büchel
eingebracnte Antrag (S.P.D.) angenommen wurde. Es sei
hier der Antrag wiedergegeben:
1. Die Grundlage der sozialistischen Republik muß die sozia¬
listische Demokratie sein. Die formal demokratische, bürgerliche
Demokratie wertet in ihrem Vertretersystem die Bevölkerung nach
der bloßen Zahl. Die sozialistische Demokratie muß deren Ergän¬
zung bringen, indem sie die Bevölkerung auf Grund ihrer Arbeits¬
tätigkeit zu erfassen strebt.
2. Dies kann am besten durch die Schaffung von Kammern
der Arbeit geschehen, zu denen alle arbeitsleistenden Deutschen,
nach Berufen gegliedert, wahlberechtigt sind.
3. Zu diesem Zweck bildet jedes Gewerbe unter Berücksichti¬
gung aller in ihm tätigen Kategorien (einschließlich der Betriebs¬
leitung) einen Produktionsrat, in den die einzelnen Kategorien
ihre Vertreter (Räte) entsenden. Die Landwirtschaft und die freien
Berufe bilden entsprechende Vertretungen.
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Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 1473
4. Die Räte gehen aus Wahlen hervor, die in den einzelnen
Betrieben oder in den zu Berufsverbänden zusammengelegten Be¬
trieben erfolgen.
5. Der Produktionsrat des einzelnen Gewerbezweigs der Ge¬
meinde wird mit dem Produktionsrat des gleichen Zweigs in
Kreis, Provinz, Land und Reich zu einem Zentralproduktionsi
rat verbunden.
6. Jeder Produktionsrat wählt Delegierte in die Kammer der
Arbeit, die in der kleinsten Wirtschaftseinheit beginnt.
7. Diese ist die Gemeinde, respektive Großgemeinde; Ge¬
meinden, die eine Wirtschaftseinheit bilden, werden zusammen¬
gelegt.
8. Die Produktionsräte der Kreise, Provinzen, Länder und der
Gesamtrepublik tun dasselbe. Ueberall- besteht eine allgemeine
Volkskammer und eine Kammer der Arbeit.
9. Jedes Gesetz bedarf der Zustimmung beider Kammern, doch
erhält ein Gesetz, das in drei aufeinanderfolgenden Jahren von
der Volkskammer (Gemeindevertretung, Kreisausschuß, Provinzial¬
vertretung, Landtag, Reichstag) unverändert angenommen wird,
Gesetzeskraft.
10. Jede der beiden Kammern hat das Recht, eine Volksabstim¬
mung zu verlangen.
11. Der Kammer der Arbeit gehen in der Regel alle Gesetzent¬
würfe wirtschaftlichen Charakters (vor allem cfie Sozialisierungs¬
gesetze) zuerst zu. Es liegt ihr ob, auf diesem Gebiet die Initia¬
tive zu ergreifen. Der Volkskammer gehen in der Regel die
Gesetzentwürfe allgemein politischen und kulturellen Charakters
zuerst zu. Die Zuteilung der Delegierten auf die einzelnen Berufe
wird durch besonderes Gesetz geregelt.
Das wesentliche ist, daß hier die Wirtschaft als solche
demokratisiert wird, daß die Arbeiter durch ihre gewählten
Produktionsräte aufhören, nur Produktionsmittel in der Hand
der Unternehmer zu sein, daß das Proletariat, Hand- wie
Kopfarbeiter, anerkannt wird als wesentlicher mitbestim¬
mender Faktor, daß es, kurz gesagt, als Produzent aner¬
kannt wird. Ueberlegen wir kaltblütig, aber gestehen wir
uns es dann offen ein, hier wird der Grundstein gelegt, dem
Proletariat der Weg gezeigt, die Wirtschaft mit dem Geist des
Sozialismus zu durchdringen, sie im Interesse des ganzen
Volkes zu beeinflussen; der Standpunkt vom Herrn im Hause
hat aufgehört! Daß diesem Vorschlag Kaliskis Fehler noch
anhaften, ist verständlich, verringert aber deshalb nicht die
Leistung dieses Mannes. Seine Tragik ist, auf seinem Stand¬
punkt zu verharren, den Fortschritt nicht anzuerkennen.
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1474 Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes.
Der Irrtum beruht darauf, daß er als Volkswirt nur die
Wirtschaft sieht und daher die höchste Instanz seines organi¬
schen Aufbaus, die Kammer der Arbeit, dem Reichstag gleich¬
gestellt, sie als zweites Parlament sehen will; ebenso ist es
dann als ein Mißgriff zu bezeichnen, wenn er in jeder Ge¬
meinde, iedem politischen Bezirk, Kreis, Provinz, neben jedes
dort vorhandene demokratisch gewählte Parlament ein zweites
berufsständisches, eben die entsprechende Kammer der Arbeit
setzen will. Ich bekenne gern, daß ich zu den eifrigsten Ver¬
fechtern der Kaliskischen Ideen gehört habe, die Irrtümer
erkannt und mich zum Standpunkt Dr. Sinzheimers durch¬
gerungen habe.
Als erster Punkt, der gegen das eben Angeführte spricht,
ist der zu nennen, daß eine Kammer der Arbeit das gesamte
Leben eines Volkes, also auch die Fragen der Kultur und
Politik im wesentlichen durch die Brille des Wirtschaftlers an-
sehen wird. Dies führt notgedrungen zu einer Materialisie¬
rung des ganzen Volkslebens. In diesem Zusammenhang ist es
nötig, den Leuten mit der einseitigen Auffassung, daß das
Leben nur Produktion und für die Produktion da ist, zu sagen:
hier findet ein Spiel mit Begriffen statt. Wohl ist kulturelle
Arbeit ein produktives Schaffen für eine höhere Kulturstufe
der Menschheit. Aber mit dem, was man im allgemeinen und
auch von den Kaliskileuten unter Hebung der Produktion ver¬
steht, ist wirtschaftliche Produktion allein gemeint. So
wesentlich an sich die Hebung einer solchen Produktion für
die Allgemeinheit ist, führt sie (aber im Extrem, eben diese
allein betont, zur Gefährdung gerade wahrhafter Kultur.
Der Philosoph Schopenhauer charakterisiert den Philister als
den Menschen, der keine edle Muße kennt. Nur von dieser
Eigenschaft war vor dem Kriege recht wenig in Deutsch¬
land zu spüren. Ein wüstes Streben nach Erwerb peitschte
die Menschen, ein wildes Hetzen Inach dem vermeintlichen,
allein nur herrschenden Gott Mammon bestimmte das Leben
trotz recht hohem Stand der Produktion. Gerade wir Sozia¬
listen forderten den Achtstundenarbeitstag, doch wohl nicht
zuletzt deshalb, damit der Mensch Ruhe in der Familie findet,
Zeit hat, sich auf sich selbst zu besinnen, sich zu bilden,
an sich als Mensch zu arbeiten. Soll denn die Würde des
Menschen im Materialismus völlig verkommen?
Es darf wohl an Kant erinnert werden, dessen eine For¬
mulierung des Sittlichkeitsprinzips, in folgendem Satze liegt:
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Zur Entwicklungsgeschichte 7 des Betriebsrätegesetzeg. 1475
„Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person
als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als
Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ Aber hier sei im
besonderen auf den Kantschein Gedanken von der Sittlichkeit
als einen unendlichen Progressus hingewiesen. Diesem ent¬
sprechend soll die Menschheit sich sittlich entwickeln und
selbst erziehen. Es ist die Politik nichts als praktische Ethik
letzten Endes. Von sozialistischem Standpunkt aus sollte nun
nie über den Weg, der zum Ziele führt, der sittliche Endzweck
des Sozialismus vergessen werden.
Es ist aber klar, daß dieser ethischen Aufgabe nicht ge¬
recht werden kann, wenn die Gesetzgebung durch die Kammer
der Arbeit geschieht, das heißt durch Vertreter der Wirt¬
schaft; denn Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sie haben in
diesem Parlament das üebergewicht und geschlossen ver¬
treten sie, wenn auch Gegensätze zwischen ihnen vorhanden
sind, den Standpunkt des Produzenten. Denn sie sind ja
beide gerade Produzenten und als solche gewählt; dies ist ja
gerade der Zweck der Kammer der Arbeit.
Dasselbe ist, wie über die oberste Kammer, die als zweites
Parlament gedacht ist, entsprechend auch für die Kammern
in den unteren Einheiten, wie in Stadt, Kreis, Provinz, gültig.
Hier tritt noch die Gefahr hinzu, daß Sozialismus in den ein¬
zelnen Unterbezirken nun selbständiger gehandhabt werden
kann, ein Kirchturmsozialismus getrieben wird, und der große
Zusammenhang des ganzen Wirtschaftskörpers einer Wirt¬
schaftsgesellschaft, zum Beispiel Deutschlands, vernachlässigt
wird.
Als zweiter Grund zur Ablehnung dieses zweiten Parla¬
ments ist ein rein wirtschaftlicher anzuführen, nämlich der,
daß der feinverzweigte und so überaus empfindliche Wirt¬
schaftskörper nicht in ein Parlament mit all seiner kompli¬
zierten gesetzgeberischen Maschinerie eingezwängt werden
darf; er muß frei sich die Formen seiner Verfassung selbst
suchen. Dementsprechend lassen sich Wirtschaftsbezirke nicht
streng nach den politischen Grenzen bilden.
Der dritte Punkt, zuletzt genannt und doch von so großer
Bedeutung, ist die Zusammensetzung der Kammern der Arbeit.
Selbstverständlich müssen in ihnen auch die Unternehmer
vertreten sein. Denn ihr Ausschluß heißt ein gefährlicher
Schritt auf dem Wege zur Diktatur einer Volksschicht über
die andere. Weiter aber auch, hat Kaliski mit Recht betont,
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1476 Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes.
ist die Tätigkeit des Unternehmers, abgesehen von der rein
kapitalistischen, eine zweite. Er ist als Leiter eines Betriebes
ein nützliches, unbedingt nötiges Mitglied der Wirtschafts¬
gemeinschaft. Also wir sehen, sein Ausschluß aus der Kammer
der Arbeit ist ein Unding. Gut, dann muß er, da die Zu¬
sammensetzung eine paritätische sein soll und muß, stets
das ausschlaggebende Moment in diesem Parlament sein,
selbst bei leidlich idealer Vertretung der Arbeitnehmer und
Verbraucher. Das heißt, die Kammer muß ein Hemmschuh
für den sozialistischen Fortschritt werden. Diese Gefahr
erhöht sich um so mehr durch folgende Betrachtung.
Wie sehen die Vertretungen der Arbeiterschaft aus? ln allen
VerbesserungsVorschlägen des Betriebsrätegesetzes (auf dast
unten noch zurückzukommen sein wird! verlangt man ein
Recht auf Mitbestimmung in dem Betrieb als solchem durch
den Betriebsrat, dies so weitgehend, daß dieser ein abso¬
lutes Einspruchsrecht gegenüber dem Unternehmer auf die
Wirtschaft des Betriebes haben soll. Dieser Wunsch ist
menschlich so natürlich; entspricht er doch dem Verlangen,
möglichst viel selbst Hand anzulegen, um den Sozialismus zur
Wirklichkeit werden zu lassen. Aber diese Vorschläge in die
Tat umgesetzt, bedeuten einen Weg zur Herbeiführung nicht
des Sozialismus, sondern des Syndikalismus. Sie führen wirt¬
schaftliche Anarchie herbei und so den Ruin der Wirt¬
schaft selber. Denn nun wird der Betriebsrat auf eigene
Faust im Betrieb „seinen Sozialismus“ zu verwirklichen
suchen, ohne sich den Teufel um die gesamte Wirtschaft oder
auch nur um die Lage seines Produktionszweiges zu kümmern.
Menschlich alles begreiflich, aber für die Gesamtheit ge¬
fährlich. Gewiß wird es auch Ausnahmen geben, aber es
sind eben nur Ausnahmen.
Unklar herrscht leider noch in dem Volk auch der Gedanke,
Sozialismus heiße einen Betrieb dem Unternehmer fortnehmen
und die Masse der in dem Betrieb Arbeitenden zum Eigen¬
tümer machen. Dieser, durch Kurt Eisner so trefflich ge¬
schilderte, Massenkapitalismus — an sich unsittlich, denn
dann gibt es eben statt der Konkurrenz des einzelnen den
Kampf der Massen als Unternehmer gegeneinander, ein ekel¬
hafter Gedanke kaum auszudenken — ist aber nicht so leicht
aus manchen Köpfen herauszubekommen. Auch er wird ge¬
stärkt, befestigt werden durch die Kammer der Arbeit in
den untersten Einheiten, zum Beispiel der Stadt. Es. sei hier
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Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 1477
erwähnt, daß ja gerade der kapitalistische Trieb der Massen
von den Unternehmern auch erkannt und benutzt wird, das
Proletariat zu Kleinkapitalisten zu machen, um sie dann
gegeneinander ausspielen zu können. So wird beispielsweise
von seiten der Unternehmer der Gedanke propagiert, Klein¬
aktien für die Arbeiterschaft eines Betriebes auszugeben oder
auf andere Weise die Massen direkt am Betrieb, in dem
sie arbeiten, zu beteiligen. Dieses ganze bedeutet ein Ver-
kapitalisieren der Massen, um sie erst recht zum Spielball des
Kapitalismus zu machen.
Diese Fehler zuerst ausgesprochen und hieraus die Folge¬
rungen gezogen, sowie dem Rätegedanken neue, auf den
Kaliskiscnen Ideen aufbauend, feste Form gegeben zu haben,
ist das Verdienst Dr. Sinzheimers (S.P.D.), der seine An¬
sichten zuerst auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen
Partei am 18. Juni 1919 der breiteren Öffentlichkeit zeigte.
Es verdient dann hier der Oktober 1919 genannt zu werden,
an dem in Berlin in Gegenwart der Arbeiterräte und Funk¬
tionäre bzw. Vertrauensleute der Sozialdemokratischen Partei
und der Deutschen Demokratischen Partei Dr. Sinzheimer und
Kaliski sich über ihre Ansichten in glänzenden Ausführungen
auseinandersetzten. Die Versammlung entschied sich hier wie
auch der Parteitag mit überwältigender Mehrheit für Dr. Sinz¬
heimer, beschritt also wie aut dem zweiten Rätekongreß
den Weg der fortgeschrittenen Erkenntnis.
Um uns über die von Dr. Sinzheimer beabsichtigte Gesetz¬
gebung völlig klar zu werden, halte ich es für das beste, diese
an Hand der Resolution des Parteitags zu besprechen, die auf
Grund der Sinzheimerschen Ausarbeitungen aufgestellt wurde.
Resolution
des Sozialdemokratischen Parteitags zur Rätefrage.
1. Auch in einem politisch vollkommen durchgeführten demo¬
kratischen Staatswesen genügt der nur politische Aufbau des Ge¬
meinschaftslebens nicht, um den gesellschaftlichen Kräften und
Bedürfnissen gerecht werden zu können. Der Weg zur größeren
Auswirkung aer gesellschaftlichen Interessen liegt nicht in der
Ausschaltung der politischen Demokratie, sondern auf dem Ge¬
biet der Wirtschaft in der Errichtung einer eigenen, neben der
Staatsverfassung bestehenden W irtsc.haftsvereinigung, in der die
gesellschaftlichen Kräfte selbst unmittelbar wirken.
2. Die Bestimmungen über den Entwurf einer Reichsverfas¬
sung, welche für die Arbeiterinteressen Arbeiterräte, für die Pro¬
duktionsinteressen Berufsgemeinschaften mit Wirtschaftsräten vor-
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1478 Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes.
sehen, und diese Räte ln großen Zentralorganen zusammenfassen,
sind eine geeignete Grundlage für den Aufbau einer Wirtschafts¬
verfassung. Sie wird aber nur dann in einer den Interessen
der Arbeiterklasse dienenden Weise ausgeschaltet werden können,
wenn die folgenden Gesichtspunkte beachtet werden:
a) Die vertragliche Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingun¬
gen muß grundsätzlich den freien Berufsverbänden Vorbehalten
werden. Soweit diese Regelung zu Arbeitsgemeinschaften führt,
die auch Produktionsfragen ergreifen, sind diese Arbeitsgemein¬
schaften als frei bewegliche Bestandteile im Aufbau der Wirt¬
schaftsräte zu berücksichtigen.
b) Bei dem Aufbau der Betriebsarbeiterräte ist davon auszu¬
gehen, daß die Betriebe Gemeinschaften mit eigenen Interessen
sind, zugleich aber auch innerhalb der Wirtschaftsverfassung
den höheren Organisationsstellen der Berufsvereine und Berufs¬
gemeinschaften eingegliedert sein sollen. Die Ausübung der den
Betriebsarbeiterräten zu überweisenden Informations- und Kon¬
trollrechte darf deswegen den übergeordneten Interessen jener
Stellen nicht widerstreiten und muß. an deren Bestimmungen
gebunden sein.
c) Die Wirtschaftsverfassung kann erst dann als vollendet
angesehen werden, wenn durch Ausschaltung des kapitalistischen
Unternehmers das Interesse der Wirtschaftsgemeinschaft als lei¬
tendes Prinzip gesichert ist. Diese Ausschaltung kann nicht
durch die Räte, sondern nur durch Gesetzgebungsakte des Staates
erfolgen, dem allein die Verfügung über das Wirtschaftsrecht
zustent. Von der Regierung ist neben der Ausführung des
Rätesystems die planvolle Vorbereitung und Durchführung sol¬
cher Gesetzgebungsakte auf allen Wirtschaftsgebieten zu fordern,
auf denen die wirtschaftlich-technischen Voraussetzungen für eine
wirksame Sozialisierung vorhanden sind.
3. Neben den sozialorganisatorischen Aufgaben, welche die Organe
der Wirtschaftsverfassung zu lösen haben, müssen ihnen auch
politische Funktionen zustehen, um in das Staatsleben sozialen
Geist und soziale Lebendigkeit übertragen zu können. Für die
Gesetzgebung handelt es sich nicht um die Einräumung eines
Mitbestimmungsrechts. Eine berufsständische Kammer der Arbeit
ist grundsätzlich verfehlt, praktisch eine Komplizierung der Staats¬
gesetzgebung und politisch eine Gefährdung der demokratischen
Weiterentwicklung zugunsten der Arbeiterklasse. Die politische
Funktion der Räte der Gesetzgebung gegenüber ist auf das Recht
der Beratung und Initiative nach dem Vorbild des Entwurfs einer
Reichsverfassung zu beschränken. Für die Verwaltung muß ein
Recht zur Information und Beschwerde für die Arbeiterräte und
Wirtschaftsräte bezüglich aller Angelegenheiten, die ihren Inter¬
essenkreis berühren, gesichert werden, um der bureaukratischen
Kontrolle von oben eine soziale Kontrolle von unten gegenüber-
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Original fram
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Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 1479
stellen zu können. Es ist Aufgabe einer durchgreifenden Verwal¬
tungsreformgesetzgebung, den Räten die Erfüllung dieser Aufgabe
zu gewährleisten. Die durch die Räte handlungsfähig gewordenen
Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaften haben die Keimkraft in
sich, über den Staat hinaus Interessengemeinschaften überstaat¬
licher Art zu bilden, die vielleicht die einzigen wahrhaften Grund¬
lagen einer Völkerversöhnung bilden können .
Zu Absatz 1 ist zu bemerken: genau wie Kaliski zeigt Dr.
Sinzheimer, daß die Aufgabe der Räte nicht darin bestehen
kann,, gegen die politische Demokratie Sturm zu laufen, son¬
dern gerade darin, diese zu ergänzen. „Die Räte sind Organe
der wirtschaftlichen Demokratie“, sagte Dr. Sinzheimer auf
dem Parteitag, das bedeutet, daß sie die große und schöne
Aufgabe haben, im Wirtschaftsleben den Gedanken „alles für
das Volk“ nun in die Tat umzusetzen. Der Plan zur Verwirk¬
lichung ist, wie aus Absatz 2 hervorgeht, folgender:
Den Räten stehen zweierlei Aufgaben zu. Einmal sollen
sie dem Proletariat reine Interessenvertreter sein. Hierzu
werden die sogenannten Arbeiterräte ausersehen. Es ist be¬
absichtigt, daß in jedem Betrieb, jeder Fabrik usw. diese ge¬
wählt werden; sie heißen dann Betriebsarbeiterräte. Sämt¬
liche Betriebsarbeiterräte eines bestimmten Wirtschaftsbezirks
(zum Beispiel Groß-Berlins) werden zusammengefaßt in einem
Bezirksaroeiterrat, der aus Betriebsarbeiterräten dieses Be¬
zirkes besteht. Die Betriebsarbeiterräte des ganzen Reiches
wiederum bilden aus sich heraus den Reichsarbeiterrat, so
daß dieser dann als Kopf des ganzen organischen Aufbaus die
Interessen der Arbeiterschaft wahrzunehmen hat.
lieber die Rechte der Arbeiterräte, besonders also der Be¬
triebsräte ist (wie auch im Absatz 2 a der Resolution) hervor-
znheben, daß ihnen in bezug auf Regelung der Lohn- und
Arbeitsbedingungen nur die Rolle eines Vermittlers gegenüber
den freien Berufeverbänden zufallen darf. Sie sind gewisser¬
maßen die Vertrauensleute dieser Verbände in den Betrieben,
um die Einhaltung von Abmachungen zwischen diesen und den
Unternehmern zu überwachen. Hinzugefügt soll werden,
daß, insofern es in einem Betrieb naturgemäß Angehörige
der verschiedensten Berufsverbände gibt, die Arbeiterräte die
einheitliche Verkörperung dieser darstellen. Jedes für die
Betriebsarbeiterräte in diesen Beziehungen weitergefaßte Recht
muß zum Ruin der Gewerkschaften führen und ist daher zu
verwerfen. Das soll nun nicht heißen, daß aus besonderer
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1480 Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes.
und berechtigter Ehrfurcht von den Leistungen der Gewerk¬
schaften hier so gesprochen wird, sondern aus rein sach¬
lichen Gründen, weil eben das Prinzip der freien Berufs¬
organisationen, also der Gewerkschaften, in dieser Beziehung
das einzig Richtige ist. Und zwar deshalb, weil in diesen
Verbänden jede Frage im Zusammenhang mit den entsprechen¬
den Fragen der ganzen Wirtschaft zusammen erörtert wird.
Ein Ablehnen dieses Standpunktes bedeutet, daß beispiels¬
weise in einem Betrieb sofort Lohnforderungen für alle
Kategorien der Arbeiter auftreten, wenn zufällig dieser Be¬
trieb von Herrn Müller gerade gut geht. Das heißt aber
erstens: hier entsteht die Gefahr, daß die Arbeiter am Gewinn
wieder direkt beteiligt werden, eine Schattenseite, die oben
schon geschildert wurde; zweitens ist das ganze unsittlich,
wenn wir denken, daß nun Arbeiter derselben Kategorien, die
in dem schlechter rentierenden Geschäft von Schulze tätig
sind, mm zufällig weniger verdienen sollen, möglicherweise
sogar dies, trotzdem vom Standpunkt der Allgemeinheit ihr
Betrieb ein wichtiger ist. Beispiel hierfür, wenn Müller
Luxusartikel, etwa elegante seidene Halbschuhe, und Schulze
kräftige Gebrauchsstierel maschinell herstellt. Aber auch rein
praktisch heißt das Ganze nichts als durch Konkurrenz der
Arbeiter von Müller gegen die von Schulze einen Keil in
das Proletariat im Interesse der Unternehmer hineintreiben.
Wir sehen, die freien Berufs verbände dürfen auch aus dem
angeführten Grunde nicht angetastet werden.
im Absatz 2 b werden die Mitwirkungs-, Informations¬
und Kontrollrechte behandelt. Bei Gelegenheit der Erörterung
der Zusammensetzung der Kaliskischen Kammern der Arbeit
war eingehend der syndikalistische Trieb des Menschen und
seine Gefahren für die Gesamtwirtschaft erörtert worden.
Zur Ergänzung dieses oben Gesagten sei betont: dies gilt
selbstverständlich hier ebenfalls. Es ist wie ein schlechter,
trauriger Witz, daß man nur leider oft Fehler zeigt,
um am nächsten Tag zu sehen, wie dieselben wieder gemacht
werden. So ist es ja auch mit dem Streit im Lager der Un¬
abhängigen für und gegen den Parlamentarismus; Kinder¬
krankheiten, die die Sozialdemokratie längst überwunden hat,
werden eben in aufgeregten Zeiten von Kindern der Politik
wieder aufs Tapet gebracht, und nur die durch den Krieg
mitgenommenen Nerven machen es verständlich, daß man
sie überhaupt anhört.
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Zur Entwicklungsgeschichte des Betriebsrätegesetzes. 1481
Die zweite Aufgabe die den Räten zusteht, ist, als Produ¬
zenten mitbestimmena auf die Wirtschaft ihren Einfluß aus¬
zuüben.
Zu diesem Zweck werden Wirtschaftsräte gebildet. Es
sei bemerkt, daß diesen Sinzheimerschen Wirtschaftsräten
genau dieselbe Aufgabe zufällt wie den Kaliskischen Pro¬
duktionsräten, daß wir es also nur mit anderen Namen zu
tun haben. Der ganze Plan ist, ohne aut Einzelheiten ein¬
zugehen, folgender: Der Bezirksarbeiterrat bildet in paritäti¬
scher Zusammensetzung mit den Unternehmern einen Bezirks¬
wirtschaftsrat, in dem gleichzeitig die Verbraucher vertreten
sind. Die einzelnen Bezirkswirtschaftsräte entsenden nun
wiederum ihrerseits Vertreter (Arbeitnehmer, Arbeitgeber und
Verbraucher) in den Reichswirtschaftsrat, der die einheitliche
Zusammenfassung der ganzen Wirtschaft darstellt.
Von Bedeutung ist, daß einerseits hier die Gesamtwirtschaft
der deutschen Republik zusammengefaßt wird nach Wirt¬
schaftsbezirken, das heißt nach dem territorialen Gesichts¬
punkt. Hiervon abgesehen soll den Vertretern der Wirtschaft
(zu denen jetzt stets die Vertreter der Arbeiterschaft ge¬
hören!) die Möglichkeit gegeben werden, sich nach Berufen
zusammenzuschließen. Dies nennen wir den Zusammenschluß
nach vertikalem Gesichtspunkt. Es bedeutet, daß beispiels¬
weise alle Vertreter der Tuchindustrie zu einem einheitlichen
Rat, die der Lederindustrie zu ihrem obersten Rat der Leder¬
industrie sich zusammentun, um jeder nun auch für sich Be¬
schlüsse zu fassen, die ihre Industrie dann planmäßig be¬
stimmen.
Hier ist Demokratie und Sozialismus, Begriffe, die nicht
zu trennen sind, wenn die Menschheit weiter kommen will.
Den Weg, den Dr. Sinzheimer gezeigt hat, beschreitet die
Regierung. Als wichtigstes Dokument, welches sich auf diesen
Boden stellt, ist der Artikel 165 der Verfassung des Deutschen
Reiches, der daher hier wiedergegeben sei.
Artikel 165.
Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberech¬
tigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der
Lohn- und Arbeitsbedingungen, sowie an der gesamten wirtschaft¬
lichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beider¬
seitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.
Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer
sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen
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Original frnm
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1462
Meine Entfernung aus der Schweiz.
in Betriebsarbeiterräten, sowie in nach Wirtschaftsgebieten geglie¬
derten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.
Die Bezirksarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat treten zur Er¬
füllung der gesamten wirtschaftlichen Aufgaben und zur Mitwirkung
bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mit den Vertretungen
der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirks¬
wirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat zusammen. Die
Bezirkswirtschaftsräte und der Reichs wirtschaftsrat sind so zu ge¬
stalten, daß alle wichtigen Berufsgruppen entsprechend ihrer wirt¬
schaftlichen und sozialen Bedeutung darin vertreten sind.
Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von
grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor ihrer
Einbringung dem Reichswirtschaftsrat zur Begutachtung vorgelegt
werden. Der Reichswirtschaftsrat hat das Recht, selbst solche
Gesetzes vor lagen zu beantragen. Stimmt ihnen die Reichsregierung
nicht zu, so hat sie trotzdem die Vorlagen unter" Darlegung
ihres Standpunkts beim Reichstag einzubringen. Der Reichswirt¬
schaftsrat kann die Vorlage durch eines seiner Mitglieder vor
dem Reichstag vertreten lassen.
Den Arbeiter- und Wirtschaftsräten können auf den ihnen über¬
wiesenen Gebieten Kontroll- und Verwaltungsbefugnisse übertragen
werden.
Aufbau und Aufgabe der Arbeiter- und Wirtschaftsräte, sowie
ihr Verhältnis zu anderen sozialen Selbstverwaltungskörpern zu
regeln, ist ausschließlich Sache des Reichs.
Der von der Regierung vorgeschlagene Gesetzentwurf über
die Betriebsarbeiterräte wurde von der Nationalversamm¬
lung angenommen. Einige Schönheitsfehler zugegeben,, ge¬
langte hier die Sinzheimersche Absicht zur Geltung.
PARVUS:
Meine Entfernung aus der Schweiz.
Keine Ausweisung und doch eine.
r)URCH die Zeitungen geht die Notiz, ich sei aus der
^ Schweiz ausgewiesen worden. Das stimmt in der Form
nicht. Ich bin nicht eigentlich ausgewiesen worden. Aber
es ist mir mein Niederlassungsrecht in der Schweiz aberkannt
worden. So wurde ich in den Urzustand versetzt, in dem
sich gegenwärtig jeder zugereiste Ausländer in der Schweiz
befindet, das ist schutzlos. Daraufhin wurde mir erklärt, man
wolle mir keine weitere Aufenthaltsbewilligung mehr geben,
und ich mußte gehen.
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V
Original fram
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Meine Entfernung aus der Schweiz.
1463
Nun ist es aber etwas anderes, wenn jemand überhaupt
nur zu einem kurzen Aufenthalt nach der Schweiz kommt,
wobei er von vornherein mit einer begrenzten Frist des
Aufenthalts rechnet, und ein anderes ist es, wenn jemand,
wie ich, unter Erfüllung aller vorgeschriebenen Formalitäten
seinen Wohnsitz in der Schweiz nimmt, sich dort niederläßt,
gestützt auf die durch den Niederlassungsvertrag gewährte
Rechtssicherheit, Grundbesitz erwirbt, Geschäfte betreibt, viel¬
leicht eine Familie gründet, Kinder in die Schule schickt, und
nun aut einmal binnen wenigen Tagen seinen Erwerb auf-
geben, seine Familie verlassen, seinen Besitz und seine Ge¬
schäfte liquidieren soll, weil ihm plötzlich das Niederlassung^
recht entzogen worden ist.
Das ist es, was meinem Fall eine Bedeutung verleiht,
die noch weit über die Tatsache hinausneicht, daß ich zum
Opfer politischer Ranküne geworden bin.
Es handelt sich überhaupt um die Rechte der Ausländer
in der Schweiz.
Die Schweiz hat bekanntlich den Niederlassungsvertrag mit
Deutschland gekündigt. Die Kündigungsfrist läuft im April
dieses Jahres ab. Der neue Vertrag liegt noch nicht vor.
Es sollen Vorschläge gemacht worden sein, den bisherigen
Zustand noch eine Zeitlang fortdauem zu lassen. Welchen
Sinn hat es aber, ein einseitiges Verhältnis fortdauern zu
lassen, bei dem wir peinlichst die Rechte der Schweizer
respektieren, während die Schweiz sich über die Rechte der
Deutschen einfach hinwegsetzt, als wäre Deutschland kein
Staat und keine Volksgemeinschaft mehr? Mein Fall ist
vielleicht in juristischer Beziehung besonders interessant, weil
die Rechtsverletzung dabei kraß zum Ausdruck kommt, aber
er steht keineswegs vereinzelt da. Man denke nur an das
Schicksal der deutschen Wehrmänner, die vor dem Krieg
jahrelang in der Schweiz ansässig waren und nunmehr nicht
in das Land hineingelassen werden. Ihre Familien verhungern
und werden noch obendrein gelegentlich von besonders dös-
gearteten bzw. deutschfresserischen Gemeinden aus den
Wohnhäusern geworfen! Es ist deshalb entschieden besser,
wenn wir einen Zustand eintreten lassen, bei dem die Herren
in Bern wenigstens mit der Möglichkeit zu rechnen hätten,
daß auch wir unsererseits Vergeltungsmaßregeln ergreifen
könnten.
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1484
Meine Entfernung aus der Schweiz.
Es geht aber mein Fall noch über die Bedeutung des
Niederlassungsvertrags hinaus. Um mein Niederlassungsrecht
abzuerkennen, hat der Bundesrat erst die Grundsätze der
Eidgenossenschaft, die Rechte der Kantone und Gemeinden
und seine eigenen Verordnungen außer Kraft setzen müssen.
Ich werde das auf Grund der Akten klarlegen. Vorher
aber erbitte ich mir noch die Aufmerksamkeit der Leser für
eine kurze Schilderung der Hetzkampagne, die gegen mich
in der Schweiz geführt wurde.
Das politische Vorspiel.
Die politische Hetze, die die Presse der Entente in allen
Zungen gegen mich jahrelang geführt hatte — ich deckte den
Ursprung, die Beweggründe und die Entfaltung dieser Ver¬
leumdungskampagne in meiner Schrift „Im Kampf um die
Wahrheit“ auf — diese Hetze setzte gegen mich in der
Schweiz sofort mit aller Macht ein, nachdem bekannt geworden
war, daß ich mich dort dauernd aufhalte. Man verdächtigte
mich vor allem des Bolschewismus — nichts war besser ge¬
eignet, die schweizerische Oeffentlichkeit gegen mich auf¬
zuhetzen. Ich wurde überwacht, von Spitzeln umstellt, meine
Telephongespräche wurden belauscht, meine Briefe und Tele¬
gramme gelesen — schließlich eines Tages wurde ich von
der Straße weg verhaftet. Ich gebe zur Charakteristik dieser
Begebenheit das Wesentliche aus dem Aktenstück wieder, das
ich durch meinen Rechtsanwalt bei der entsprechenden Be¬
hörde habe einreichen lassen, da ich Entschädigung für un¬
schuldig erlittene Haft verlange.
Aktenstück 1.
Beschwerde über unschuldig erlittene Haft
und Untersuchung.
„Im Februar vorigen Jahres wurde ich wegen angeblicher
bolschewistischer Umtriebe in Untersuchung genommen. Ich
wurde verhaftet und einem Verhör unterworfen. Mit Er¬
staunen nahm ich wahr, daß man mich der bolschewistischen
Agitation beschuldige, trotzdem ich den Bolschewismus stets
auf das schärfste bekämpft habe und in der Schweiz mich
überhaupt jeder politischen Tätigkeit enthalte. Auf meine
Frage, worauf sich diese groteske Anschuldigung gründe,
wurden mir vom Untersuchungsrichter Dr. Bickler Zeitungs¬
ausschnitte vorgelegt. Es war ein Sammelsurium von Ver¬
dächtigungen und Verleumdungen der gemeinsten, aber auch
der lächerlichsten und albernsten Art, deren Nichtigkeit ich
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Original fram
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Meine Entfernung aus der Schweiz.
1485
aut der Stelle habe nachweisen können. Ich sagte dem Unter¬
suchungsrichter, es sei doch nicht denkbar, daß man jemand
in der Schweiz bloß auf Grund von Zeitungstratsch, ohne
selbst diesen zu kontrollieren, verhafte und in Untersuchung
nehme, ich verlange Auskunft, was denn gegen mich vorliege,
ich will in allen Dingen meine vollkommene Schuldlosigkeit
nachweisen. Darauf antwortete mir Herr Untersuchungs¬
richter Dr. Bickler: Es liege schon noch anderes vor, ich
werde es rechtzeitig erfahren.
Das ist aber bis auf den heutigen Tag, seit elf Monaten
nicht geschehen. Es hat kein zweites Verhör stattgefunden.
Trotzdem wird die Untersuchung weitergeführt, una ich be¬
finde mich nur unter Hinterlegung einer Kaution von 20 000
Franken auf freiem Fuße. (Die Kaution ist seitdem zurück¬
gezahlt worden.) *
Ich behaupte: Die gegen mich beim Verhör vom Unter¬
suchungsrichter, erhobenen Anschuldigungen, ich hätte bol¬
schewistische Millionen nach der Schweiz mitgebracht, ich
hätte hier bolschewistische Gelder verteilt, ich hätte Zu¬
sammenkünfte mit bolschewistischen Führern gehabt, ich hätte
allerlei bolschewistische Aktionen. unternommen oder vor¬
bereitet, müssen sich als pure Lügen erwiesen haben.
Trotzdem wurde die Untersuchung weitergeführt und ich
nur gegen Kaution auf freiem Fuß belassen.
Da die Zeitungen gegen mich während dieser Zeit eine
ebenso infame wie haltlose und lügenhafte Kampagne geführt
haben, so nehme ich an, daß die Sammlung von Zeitungs¬
ausschnitten des Herrn Untersuchungsrichters seitdem ganze
Körbe voll erreicht haben dürfte. Legt der Untersuchungs¬
richter diesem Material auch nur die geringste Bedeutung
bei, warum werde ich nicht verhört, um dazu Stellung zu
nenmen? Liegt anderes belastendes Material vor, so verlange
ich erst recht, verhört zu werden. Liegt nichts vor, warum
wird mir das nicht bekanntgegeben, warum wird die Unter¬
suchung nicht eingestellt?
Ich wurde durch die Verhaftung und die fast ein Jahr
lang dauernde Untersuchung starre geschädigt. Moralisch
wunde ich vor meinen Nachbarn, und durch die Presse,
die wiederholt auf meine Verhaftung und die gegen mich
erhobene Untersuchung anspielte, vor der ganzen Schweiz
diskreditiert. Die mir wegen meiner politischen und sozialen
Ansichten übelgesinnte Presse schöpfte daraus-Mut, mich
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1486
X
Meine Entfernung aus der Schweiz.
mit Kübeln von Schmutz zu überschütten. Ab und zu kamen
Mitteilungen in die Presse, die bewiesen, daß diese Fühlung
hatte mit der gerichtlichen Untersuchung. So die Mitteilung,
daß der deutsche Gesandte sich für meine Freilassung ver¬
wandte. Er tat es pflichtgemäß, da ihm der Schute der
deutschen Reichsbürger obliegt. Hätte er es nicht getan,
so hätte ich vermutlich zu der Schmach der gerichtlichen
Untersuchung schuldlos und grundlos auch noch die Müh¬
seligkeiten einer längeren Untersuchungshaft durchzumachen
gehabt.“
Man kann sich denken, wie sensationell in der ländlichen
Gemeinde Wädenswil, wo ich mich niederließ, meine Verhaf¬
tung wegen Bolschewismus wirken mußte. Dieser erste
Willkürakt^ den die Schweizer Behörden an mir begingen,
rief jenes Mißtrauen wach, das nicht mehr auszumerzen war,
das aber auch immer wieder von außen geschürt wurde. Die
geängstigte Phantasie des Spießbürgers erging sich in den
tollsten Vorstellungen. Aber trotz der Hetzarbeit der Presse
trat doch nach und nach eine ziemliche Beruhigung ein.
Viele meiner Nachbarn lernten mich persönlich kennen. Wir
vertrugen uns. Da ging auf einmal mit Gestank und Gepolter
die sogenannte „Affäre Sklarz“ los. Was die Schweizer
Oeffentlichkeit besonders frappierte, war, daß die Hetze dies¬
mal aus Deutschland kam. Nun wurde wieder alles auf*
gewühlt, was die Ententepresse gegen mich an Verleumdungen
und Verdächtigungen aufbrachte, und durch die aus Deutsch¬
land kommenden Insinuationen verstärkt.
Ich veröffentlichte in der „Neuen Zürcher Zeitung“ fol¬
gendes Dementi:
Aktenstück 2.
Erklärung in der „Neuen Züricher Zeitung“.
„Ich appelliere an den Gerechtigkeitssinn der Redaktion
und an das große Interesse, welches alle rechtschaffenen
Leute an der Gesundung der durch den Krieg vergifteten
öffentlichen Atmosphäre haben, um mir Raum für folgende
Zeilen einer persönlichen Erklärung zu verschaffen.
Ohne das Ergebnis der bevorstehenden Gerichtsverhand¬
lung abzuwarten, auf die er sich selbst beruft, macht sich
Ihr Berliner Berichterstatter in seiner Korrespondenz vom
2. Dezember die gegen mich gerichteten Verdächtigungen
kritiklos zu eigen, so daß der Schein erweckt wird, als
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Meine Entfernung aus der Schweiz.
1487
wenn das feststehende Tatsachen wären. Es sind aber in
Wirklichkeit Unwahrheiten und Lügen.
Es ist unwahr, daß ich in Verbindung mit Herrn G. Sklarz
oder ohne ihn „das deutsche Kohlengeschäft naöh Däne¬
mark“ betrieben haben soll. Das in Betracht kommende
Kohlengeschäft gehört den dänischen Gewerkschaften, weder
ich noch Herr Sklarz sind daran beteiligt.
Die Geschäftsgewinne, über die jetzt in der Presse auf
Grund von Mitteilungen ungetreuer Angestellten, denen Be¬
trug und Defraudation nachgewiesen worden sind, phanta¬
siert wird und die in Wirklichkeit lange nicht so groß waren,
rührten nicht aus Geschäften mit Kohle, sondern aus den
von mir zum Teil selbständig, zum Teil als Mitinhaber der
Befrachtungs- und Transportgesellschaft in Kopenhagen be¬
triebenen Schiffsreedereien her.
Ich hatte niemals einen bolschewistischen Auftrag zur Her¬
stellung von Kalendern oder sonstiger Art.
Es ist auch nicht wahr, daß ursprünglich bolschewistische
Kalender sich in antibolschewistische verwandelten. Ich habe
den Bolschewismus bekämpft sowohl vor der Revolution wie
nachher. Man kann sich davon unter anderem aus meiner
im April 1918 erschienenen Schrift „Im Kampf um die Wahr¬
heit“ überzeugen.
Die angeblichen Papierbegünstigungen reduzieren sich dar¬
auf, daß ich mir die Bewilligung erwirkt hatte, finnisches
Papier einzufiühren und es bedruckt nach Rußland auszufüh¬
ren. Eine solche Bewilligung war unumgänglich, weil man ja
sonst überhaupt kein Papier bekam. Vorteile gegenüber
anderen deutschen Verlegern sind mir daraus keine erwachsen,
da das finnische Papier bedeutend teurer war, als das
deutsche. Ich war auch, soviel ich weiß, der einzige, der
sich unter solchen Bedingungen um das finnische Papier
bewarb.
Ich kann Ihren Lesern nicht zumuten, mir jetzt schon
in allen Einzelheiten dieser deutschen Angelegenheit zu folgen.
Man \warte doch nur ab, bis die Gerichte gesprochen haben
werden. Das Interesse, welches die öffentliche Meinung der
Angelegenheit beibringt, bürgt dafür, daß die Gerichte volle
Klarheit schaffen weiden.“
Da die Redaktion der „Neuen Züricher Zeitung“ an diese
Erklärung Bemerkungen knüpfte,ndie neue Verdächtigungen
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1488 _ Meine Entfernung aus der Schweiz.
enthielten, sandte ich ihr folgende Erwiderung, die auch
abgedruckt wurde:
Aktenstück 3.
Erwiderung an die „Neue Züricher Zeitung 11 .
„Die Redaktion beruft sich auf die Gastfreundschaft, die
ich in der Schweiz genieße, und begründet damit das be¬
sondere Interesse der Schweiz an meiner politischen Persön¬
lichkeit. Es tut mir besonders weh, vor der Schweizer Oeffent-
lichkeit in einem falschen Lichte zu erscheinen, denn ich
kenne die Schweiz seit 1886, schon vorher war es das Land
meiner Träume, ich habe hier studiert und jahrzehntelange
Freundschaften gepflegt, ich habe während des Krieges noch
ganz besonders die derbe aber gerechte Art der Schweizer
Demokratie schätzen geleint. Ich kann mir deshalb nicht ver¬
sagen, die unrichtigen Behauptungen zurückzuweisen, auf die
sich die Redaktion beruft.
Ich habe niemals mit Ludendorff über Rußland oder sonst
verhandelt. Ich habe niemals türkisches Getreide an Deutsch¬
land geliefert, vielmehr habe ich — vor der türkischen Kriegs!-
erklärung — Lebensmittel aus Anatolien und sonst nach Kon¬
stantinopel geliefert. Die „Studiengesellschaft“ in Kopen¬
hagen diente keinen deutschen Propagandazwecken, sie sam¬
melte eine Bibliothek, die allgemein zugänglich war, und hat
sich durch Veröffentlichungen über Kriegsverluste, Geburten¬
rückgang usw. einen internationalen Ruf verschafft, so daß
sogar angesehene englische Publikationen wie „The State-
mans Yearbook“ sich während des Krieges auf die Fest¬
stellungen dieser Studiengesellschaft beriefen. Ich verbrachte
den größten Teil meines Lebens in deutschen Landen, bin
seit mehr als einem Vierteljahrhundert als deutscher Schrift¬
steller tätig, meine Stellungnahme zum Krieg war so eindeutig;
wie nur möglich: ich wollte den Sieg der Zentralmächte,
weil ich der Reaktion eines siegreichen Zarismus und des
Imperialismus der Entente Vorbeugen wollte und weil ich
annahm, daß in einem siegreichen Deutschland die Sozial¬
demokratie stark genug sein würde, das Regime zu ändern.“
Um mit diesem Teil meiner Darstellung abzuschließen, sei
noch erwähnt, daß ich vor meiner Abreise aus der Schweiz
Herrn Rechteanwalt Dr. E. Curti den Auftrag gegeben habe,
gegen jeden sofort gerichtlich vorzugehen, der behaupten
würde:
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Die Engelsbiographie. 1.
1489
1. Ich hätte bolschewistische Agitation betrieben oder
bolschewistische Gelder empfangen;
2. ich hätte im Dienste dieses oder jenes Generalstabs
oder einer vorrevolutionären Regierung gestanden;
3. ich hätte Schmuggel getrieben oder sonst welche straf¬
bare Handlungen begangen;
4. ich hätte deh politischen Kampf anders als mit
geistigen Waffen geführt oder ich hätte mich in meinem
politischen Auftreten von Geldmcksichten leiten lassen;
5. ich hätte Schiebungen oder sonstige unsaubere Ge¬
schäftspraktiken vorgenommen;
sowie
6. gegen alle, die mein Privatleben verunglimpfen oder
sonst über micn ehrenrührige Meinungen verbreiten.
Das wurde durch Inserat in allen größeren Zeitungen der
Schweiz ibekanntgegeben.
(Fortsetzung folgt.)
M.- BEER:
Die Engelsbiographie . 1
r.
pRIEDRICH Engels, dessen 100. Geburtstag auf den
1 28. November dieses Jahres fällt, fand in Gustav Mayer
einen sehr eingehenden und liebevollen, ja verliebten Bio¬
graphen. Umfassende Forschungen familien- und kultur-
g eschichtlicher Natur vereinigten sich, um die Lebensbeschrei-
ung eines der großen deutschen Sozialisten zu einem bedeu¬
tenden Buche zu machen. Mayer ist zudem der eigentliche
Entdecker der schriftstellerischen Tätigkeit des jungen Engels.
Das Buch ist ein Kulturgemälde des vierten und fünften Jahr¬
zehnts des 19. Jahrhunderts, in dem eine Menge interessanter
Gestalten erscheinen und unter ihnen läßt, Mayer seinen
Helden, immer schärfer Umrissen, hervortreten.
1 Friedrich Engels. Eine Biographie. Von Gustav Mayer. I.Band.
(Engels in seiner Jugendzeit, 1820 bis 1851.) Verlag von Julius
Springer, Berlin 1920. Preis brosch. 22 Mark, geb. 26 Mark und
Zuschlag.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1490
Die Engelsbiographie. I.
In einer wohlhabenden pietistischen Familie des Wupper¬
tales geboren, genoß Engels eine sorgfältige und streng kalvi-
nistische Erziehung. Bis zu seinem 17. Lebensjahre beugte
er sich gläubig — trotz mancher aufsteigenden Zweifel —
den Geboten seiner Sekte, dann aber begann er sich gegen
sie aufzubäumen und sich nach innerer Religiosität und
äußerer Freiheit zu sehnen. Seine erste geistige Krise war
eine religiöse . Vor dem Abiturientenexamen verließ er das
Gymnasium- und wurde 1837 nach Bremen in ein Handels¬
haus in die Lehre geschickt. In Bremen konnte er seinen lite¬
rarischen Neigungen leben, Gedichte machen, freiheitliche
Schriftsteller lesen und sich mit Politik beschäftigen. „Von
einem Autor findet er sich weiter zum nächsten, von den
Neuesten zu ihren Vorläufern, seinem Spürsinn genügte ja
der kleinste Hinweis; auf diesem Wege entdeckt er sich jetzt
die beiden Erzieher seiner nächsten Jahre. Durch Gutzkow
wird er auf Börne, dessen Meister, \ aufmerksam und über
David Friedrich Strauß, dessen „Leben Jesu“ ihm in seinen
Nöten ein kräftiges Licht aufsteckt, gelangt er in den ihm
dauernd viel bedeutenden Bannkreis Hegels. Börnes Schriften
bekehrten ihn endgültig zum politischen Radikalismus, Hegel
weist dem vom sichern Ufer des Väterglaubens Abgeschrie¬
benen jenseits des stürmischen Meeres neues festest Land“
(Seite 25—26). Engels wurde nach und nach Freidenker und
Demokrat. Das war im Jahre 1839. Um diese Zeit begann
er zu Schriftstellern. Unter dem Pseudonym „Friedrich
Oswald“ schrieb jer für Gutzkows „Telegraph für Deutschland“
eine Reihe von Aufsätzen literarischen und kritischen Inhalts,
dann Reisebeschreibungen und Dichtungen. Selbstredend war
er auch patriotisch, wie die Demokraten und das „Junge
Deutschland“ es damals waren. Als 1840 ein deutsch-fran¬
zösischer Konflikt im Herannahen begriffen war, — ein
Konflikt, der zur Entstehung’ des Liedes „Die Wacht am
Rhein“ den Anlaß gab —, da rief der junge Engels: „Aller¬
dings ist es eine fixe Idee bei den Franzosen, daß der Rhein
ihr Eigentum sei; aber die einzige des deutschen Volkes
würdige Antwort auf diese anmaßende Forderung ist das
Arndtsche: Heraus mit dem Elsaß und Lothringen /“ Seite 54).
Im Frühjahr 1841 verließ Engels seine kaufmännische
Lehrstelle in Bremen, um seiner Militärpflicht als Einjähriger
zu genügen. Die Sommerpause benutzte er zu einer Reise
nach der Schweiz und Oberitalien, die er in Gutzkows „Tele-
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Die Engelsbiographie. I.
1491
graph“ beschrieb. Im Herbst 1841 fuhr er nach Berlin, um
sein Kommißjahr abzumachen und gleichzeitig an der Uni¬
versität Vorlesungen zu hören und mit den freien Geistern
der Hauptstadt Fühlung zu nehmen. Er trat in das Gardie-
fußartillerieregiment ein, das seine Kaserne in der nächsten
Nähe der Universjtät hatte. Engels kam nach Berlin in einer
religionsgeschichtlich bewegten Zeit. Als die Linkshegelianer
die Lehre ihres Meisters im freiheitlichen und religionskriti¬
schen Sinne weiter entwickelten, erschrak die Regierung vor
der neuen Bewegung und berief den greisen Schelling nach
Berlin, um hier für die Offenbarurigsreligion zu wirken.
Schelling war %ler geistige Vater Hegels, aber , je älter er
wurde, desto mehr Bei er in die religiöse Denkweise zurück
und wurde deshalb von den Junghegelianern bekämpft.
Engels, dessen ganze Krise eine religiöse war, in der er
durch Straußens „Leben Jesu“ und Feuerbachs „Wesen des
Christentums“ vom Pietismus befreit und zum Freidenker
wurde, nahm selbstredend großen Anteil an dieser Bewegung,
die auch Gustav Mayer heute noch gar mächtig imponiert und
die er als eine Reihe von Kämpfen betrachtet, „wie sie
Deutschland seit der Reformation nicht erlebt hatte“ (Seite
69). In seiner pompösen Artillerieuniform wohnte Engels
der Antrittsvorlesung Schellings bei und berichtete hierüber,
wie Mayer erzählt, im „Telegraph“. Er schloß sich den
freiheitlichen Elementen an, kam in die Gesellschaft der
Junghegelianer und der Berliner „Freien“, wie Ludwig Buhl,
Max Stirner, Mayen, Edgar Bauer, Theodor Mügge, und
verfaßte die Broschüre „Schelling und die Offenbarung“
(veröffentlicht im April 1842 in Leipzig), in der er für die
Hegelsche „Idee“ gegen Schellings Offenbarung mit schwär¬
merischer Begeisterung eintrat. Zur selben Zeit soll er auch,
wie Mayer annimmt, ein langes satirisches Gedicht gegen
die preußische Reaktion verfaßt haben unter dem Titel:
„Die frech bedräute, jedoch wunderbar befreite Bibel oder
Triumph des Glaubens“ (ebenfalls im April 1842 erschienen).
Diese Annahme Mayers steht jedoch auf sehr schwachen
Füßen. Soviel ist jedoch klar, daß Engels im Kreise der
Berliner „Freien“, wie überhaupt während seines Ber¬
liner Aufenthalts eine Fülle von geistigen Anregungen er¬
halten hat.
In der letzten Hälfte 1842 scheint Engels auch angefangen
zu haben, sich mit dem Sozialismus, zu beschäftigen. Im
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1492
Die Engelsbiograghfe.
’ 0 ]:^
Jahre 1840 erschien Moses Heß* „Europäische Triarchie“^
die auf den Saint-Simonismus und die englische soziale Be¬
wegung aufmerksam machte. „Als einer der ersten“, schreibt
Mayer, „hatte auf die Wichtigkeit der „Triarchie“ Ludwig-
Buhl hingewiesen und in seiner Anzeige der Schrift im
Athenaeum im März 1841 ausgesprochen, daß auch er die
Bestrebungen des Chartismus und der Anhänger Owens, als
die ersten Tatrüstungen der sich vorbereitenden sozialen
Revolution ansähe. Weil Berlin ebenfalls sein Proletariat
habe, dessen völlige „Entmenschung“ nur auf dem Wege
der sozialen Reform zu verhindern wäre, forderte an der
gleichen Stelle am 24. Juli ein Anonymus die Philosophen
auf, sich mit der von Franzosen und Engländern schon weit
ausgebildeten Wissenschaft des Sozialismus zu beschäftigen,
doch auch sich in die Praxis zu vertiefen und für diese
zu wirken“ (Seite 109—110). Heß schrieb auch für die von
Marx geleitete „Rheinische Zeitung“ (Köln) über soziale
Ideen. Am 11. September 1842 veröffentlichte er in diesem
Blatte einen von den Berliner „Freien“ stark beachteten
Aufsatz, in welchem er zeigte, „daß die beiden französischen
Revolutionen (1789, 1830) keineswegs dem ganzen Volke,
sondern lediglich dem Bürgertum die Macht verschafft hat¬
ten. Der Gegenwart legte er die Pflicht auf, das ganze
Volk zu befreien und somit in der Geschichte ein völlig
neues Prinzip zur Herrschaft zu bringen.“ Heß fährt dann
fort: „Die ganze Organisation oder vielmehr Desorganisation
unseres sozialen Lebens erheischt eine Reform. . . Von den
süßen Früchten der Zivilisation erhält die arme Volks¬
klasse wenig, desto mehr von ihren herben zu kosten. Das
ist eine große Ungerechtigkeit und ein ebenso großes Un¬
glück. Alle freien Staatsverfassungen, von der französischen
an bis herauf zu den Republiken des Altertums, sind an
dieser Klippe gescheitert“ (Seite 115). Im Jahre 1842 er¬
schien auch das Werk von Lorenz Stein über den französi¬
schen Sozialismus und Kommunismus. Alle diese Einflüsse
wirkten auf den empfänglichen Geist Engels’ und führten
ihn zum Studium des Kommunismus, der, wie Moses Heß
dem jungen Engels und seinem Kreise erklärte, nur die
' notwendige Weiterentwicklung der junghegelianischen Doktrin
sei (Seite 109).
(Schluß folgt.)
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Flugschriften der Revolution • Heft 4
Verbrechen und Strafe
im neuen Deutschland
Von HANS HYAN
Preis 1.— Mark
mit 20% Teurungszuschlag
Justizrat Dr. Werthauer sagt im Vorwort:
... Mit treffsicherem Blick hat der Verfasser
als das zu erstrebende Endziel den Erziehungs¬
gedanken erkannt.Mögen die warm¬
herzigen Worte des Verfassers nicht der Tot-
schweigung anheimfallen, mögen sie Anklang
finden bei denen, welche die Gesetze geben
und bei denen, die sie anwenden. Es wird
noch viel Arbeit nötig sein, viel Ausbau im
einzelnen; aber die Grundlagen, welche Hans
Hyan gefunden hat, sind richtig und geeignet,
bahnbrechend zu_wirken!
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT, BERLIN SW 68
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Ei*
tut. ELTERN / LEHRER- UND BEHÖRDEN
je ♦ w n n, je ®
HERAUFCrEOEBEN' VON . . _
HEOIEILUNOi - w. SCHULRAT I. MINliTtRIUH FÜR. W/ UtNSCH ATT / KUNST U. VOLKS*!LDUMO
Der Elternbeirat
_i der Schule und Erziehung aus
der Feder namhafter Pädagogen, Schulpolitiker und Aerzte
und will damit den Elternbeiräten, deren tätige Mitarbeit an
dem Blatte vorgesehen und erstrebt wird, das wissenschaft¬
liche Rüstzeug zur Ausübung ihrer Tätigkeit und Gelegenheit
zur Aussprache über alle einschlägigen Fragen geben. Einen
parteipolitischen Standpunkt wird er nidit vertreten
Wir hoffen so tatkräftig daran mitzuwirken, daß die junge
Generation unter zeitgemäßer Führung ins tätige Leben eintritt
Der Elternbeirat erscheint zweimal im Monat, um¬
faßt 32 Seiten und kostet vierteljährlich Mk. 5,50
ausschließlich Bestellgeld, vom Verlag direkt
unter Streifband Mk. 6,—, das Einzelheft Mk. 1,—
Bestellungen auf den „Elternbeirat“ nehmen alle Postämter
und der Verlag entgegen
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
BERLIN SW 68, LINDENSTRASSE 114
Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. Verantwortl. Schriftleiter: M. Beer, Berlin-Karlshorst.
Verla K : Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68. Lindenstraße 114. Fernruf: Moritz
platz 2218, 1448—1450. — Druck: Photogravur G. m. b. H., Berlin SW 68, LindenstraOe 114
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28. Februar 1920
Herausgegebenvon
Parvus
50 Pfennig
Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68
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DIE GLOCKE
Sozialistische Wochenschrift
Herausgeber: Parvus
Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post
oder Buchhandlung bezogen vierteljährlich Mk. 6,—,
Einzelhefte 50 Pf., Porto 5 Pf.
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
Berlin SW 68, Lindenstr. 114. Postscheckkonto: 27576 Berlin
INHALT DIESER NUMMER:
Th. Kabelitz: Entweder — oder! I. .... . 1493
U. Emil: Politische Köpfe. V. und VI.1498
H. Fehlinger: Grenzen des neuen Oesterreich . 1502
Parvus: Meine Entfernung aus dfer Schweiz II. 1507
Dr. A. Argeiander: Professor Oppenheimers
liberaler Sozialismus.. 1515
M. Beer: Die Engelsbiographie. II. .... . 1520
Nummer 47 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt:
M. Beer: Der Wahlkampf in Paisley . . . 1461
U. Emil: Politische Köpfe. III. und IV. ... 1464
A. Hopfner: Der Ausbau der Sozialversicherung 1467
Walter Israel: Zur Entwicklungsgeschichte des
Betriebsrätegesetzes . . . . . . . . . . 1472
Parvus: Meine Entfernung aus der Schweiz. I. 1482
M. Beer: Die Engelsbiographie. 1.1489
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DE GLOCKE
48. Heft 28. Februar 1920 5. Jahrg.
Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlidier Quellenangabe gestattet
TH. KABELITZ:
Entweder — oder!
i.
A LS Referent in der Partei kommt man in Verbindung mit
n den verschiedensten Abteilungen in Groß-Berlin. Ueber-
all das gleiche Bedauern über die unselige Parteizerrissenheit
des Proletariats, überall die Erkenntnis, daß ein voller Sieg
des sozialen Gedankens erst möglich wird, wenn die werk¬
tätige Bevölkerung in Stadt und Land sich in geschlossener
Front einheitlich um das Banner des Sozialismus schart, statt
ihre Stoßkraft im Bruderkampf zu vertun, überall aber auch
das resignierte Bekenntnis: Wie die Dinge stehn und gehen,
ist Einigung unmöglich.
Und dennoch muß die Einigkeit kommen. Sein oder Nicht¬
sein des sozialen Staates hängt davon ab. Entweder — oder!
Natürlich kann die S.P.D. aus der demokratischen Repu¬
blik im verelendeten Deutschland nicht von heute auf morgen
ein Himmelreich machen, am allerwenigsten mit Hilfe einer
Koalitionsregierung. Aber diese Selbstverständlichkeit sollte
man nicht mit Schlagworten behängen. Ehe demokratische
Republik ist nicht der Konkursverwalter des zusammen¬
gebrochenen Junker-, Obrigkeits- und Militärstaats, wenigstens
nicht ausschließlich und nicht in erster Linie. Wonl aber sieht
sich die S.P.D., der alte Tanten (Zentrum und Demokraten)
jeden Augenblick entsetzt in die Arme fallen, als jugend¬
frische, jugendstarke, unverbrauchte Erbin vor einem wüsten
Trümmerhaufen, vor einer Welt voll Armut, Elend und
Hunger, woraus sie ohne Verzug ein neues Reich aufbauen
soll, das mit seiner fortschreitenden Vollendung immer wohn¬
licher, immer anheimelnder werden muß. Die Aufgabe des
Erben reicht weit hinaus über die Pflicht des Konkurs-
4811
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1494
Entweder — oder! I.
Verwalters. Gelingt es der S.P.D., Deutschlands Volk aus dem
Elend dieser Zeit in erträgliche Verhältnisse zu bringen, die
als Anfang einer schönen Zukunft erkennbar werden, so
hat der Sozialismus gesiegt für alle Zeiten — und nicht
bloß in Deutschland. Bringt sie das nicht fertig, muß sie
Zusehen, wie auf dem Umweg über eine Diktatur der Minder¬
heit links das Säbelregiment einer Minderheit rechts wieder
aufgerichtet wird, so ist darin der schlüssige Beweis zu er¬
kennen, daß Deutschlands Proletariat für den Sozialismus
noch nicht reif ist. Dann bleibt der soziale Staat für folgende
Generationen, was er für vergangene Generationen gewesen:
ein schöner Traum. Entweder — oder!
Es gibt für die S.P.D. nur ein Mittel, die Massen zu sich
und mit sich zu reißen: Sozialisierung!
Man sagt: Wo nichts ist, kann niemand sozialisieren!
Sozialisieren läßt sich nur ein Wirtschaftszweig, der für
die Sozialisierung reif ist. Das sind Schlagworte, mit denen
man die K.P.D. und U.S.P.D. nicht zu uns bekehrt, mit
welchen man unsere Leute dauernd nicht bei den Fahnen
hält. Bis tief hinein in unsere Reihen klingt die Frage immer
heißer und heischender: Geschieht wirklich alles, was heute
geschehen könnte, um den Sozialismus in den Sattel zu heben ?
Eine Parteiabstimmung würde keine glatte Bejahung bringen.
Die K.P.D. und mit ihr die U.S.P.D. beschuldigen die
S.P.D., sie wäre zur Schutztruppe des Kapitalismus und der
Reaktion heruntergesunken. Das sind natürlich haltlose
Redensarten, an welche die am wenigsten glauben, die damit
ihre gedankenlose Gefolgschaft aufpeitschen. Aber es genügt
nicht, auf den achtstündigen Arbeitstag, auf das gleiche
Wahlrecht für beide Geschlechter und auf andere Errungen¬
schaften der Revolution 'zu verweisen. Niemand darf Wert und
Bedeutung dieser Dinge gering einschätzen, aber Sozialisie¬
rung sind sie nicht. Das Erfurter Programm setzt das alles
unter die Forderungen, die „zunächst“ an den damaligen
monarchisch-kapitalistischen Staat gestellt wurden, woraus sieb
ergibt, daß sie auch in demselben erreichbar sein mußten.
Seit dem 9. November 1918 haben wir die demokratische
Republik. An jenes „zunächst!“ schließt sich immer drin¬
gender die Forderung: Nun weiter! Sozialisieren heißt das
private Eigentum an Produktionsmitteln in den Besitz der
Gesamtheit überführen. Wann wird damit der weithin sicht¬
bare Anfang gemacht?
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Entweder — oder! I.
1495 '
Die Revolution schuf die demokratische Republik und mit
ihr den besseren Kampfplatz für die Zwecke des Sozialismus.
Als erstes greifbares Resultat stellt sich zurzeit das Betriebs¬
rätegesetz dar. Es handelt sich hier nicht um eine Würdigung
dieses Gesetzes. Nur eins steht unter allen ümsitänden fest:
das Gesetz ist auf die Industrie zugeschnitten.
Nach § 1 findet das Gesetz auf Betriebe der Land- und
Forstwirtschaft nur dort Anwendung, wo mindestens zehn
Arbeitnehmer vorhanden sind, von denen wenigstens fünf
das Wahlalter von 18 Jahren erreicht haben müssen. Mit
dieser Bestimmung fällt das gesamte von Bauern bewirt¬
schaftete platte Land aus dem Rahmen des Betriebsräte¬
gesetzes heraus, will sagen: der Schritt in der Richtung zum
Sozialismus, den das Gesetz erkennen läßt, bleibt, von den
Gütern abgesehen, auf dem platten Lande ungetan. Von den
Bauern und Kossäten, völlig zu schweigen von noch kleineren
Besitzern, beschäftigt kein einziger zehn fremde Personen,
vom W^hlalter ganz abgesehen. Und dabei gibt es Millionen
proletarischer Landbewohner!
Die Industrie soll in ihrer Bedeutung weder verkannt noch
herabgesetzt werden, aber der Industriestaat ist sicher nicht
die letzte und höchste Form der Volkswirtschaft. Im An¬
schluß an den Krieg bereiten sich Veränderungen vor, deren
Umfang und Tragweite sich heute nicht einmal ahnen lassen.
Der Kapitalismus der Ententeländer holt zu seinem letzten
Schlage aus. Der Konkurrenzkrieg — denn er war nichts
anderes als ein Konkurrenzkampf des Kapitals hüben und
drüben um die Weltherrschaft — ist zu ungunsten Deutsch¬
lands entschieden. Nun schickt das Kapital sich an, den
großen Beutezug zu beginnen, um derentwillen die Welt
in Blut getaucht und die Menschheit in Hunger und Elend
gestürzt wurde. Die Verzögerung der Ratifikation, das Fest¬
halten der Kriegsgefangenen in Frankreich und vor allen
Dingen auch die Bemühungen um ein ewiges Bündnis der
Ententemächte zur dauernden Versklavung Deutschlands sind
oder waren schon Akte, in denen der Kapitalismus seine Kar¬
ten für die Zukunft mischt.
Das Kapital der Neutralen sucht schweifwedelnd einige
Brocken unter dem Tisch zu erwischen, das mobile Kapital
Deutschlands flüchtet heimlich über die Grenze. Es will
dabei sein, wenn die Welt, wenn das deutsche Vaterland
geschröpft wird. Die Besitzer großer Latifundien in Deutsch-
« i*
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1496
Entweder — oder! I.
land bedauern nur, daß sie ihre Landgüter nicht auf dem
Rücken ins Ausland schleppen können. Der Millionär von
heute fühlt schon die Wonne des Milliardärs. Im Kopf und
Blut des Milliardärs tobt schon der Rausch der Billion. Der
Ausgang des Krieges eröffnet unbegrenzte kapitalistische Mög¬
lichkeiten.
Die Bemühungen um Niederhaltung Deutschlands und seine
dauernde Versklavung in den Ketten ihres Kapitals sind
die erste Friedensarbeit der Ententemächte. Nur möchte
jede gern den Löwenanteil an der Beute für sich behalten
und das Odium den anderen zuschieben. Daß dabei ein
Gerede von einem zu erwartenden Rachekrieg Deutschlands
als Kulisse benutzt wird, darf uns nicht wunder nehmen.
Der Taschenspieler benebelt seine Zuschauer mit einem Wort¬
schwall, damit ihre Aufmerksamkeit von seinen Händen ab¬
gelenkt wird. Während des Krieges hallte es in der Entente
und ihrer Presse wieder von Menschlichkeit, Gerechtigkeit,
Freiheit und Selbstbestimmung der Völker. Das Geschrei
ist verstummt. Wilson und sein Völkerbund verschwinden
mehr und mehr in der Versenkung. Schachfiguren werden
geopfert, um die Partei zu gewinnen. Wilson glaubte wahr¬
scheinlich zu schieben — vielleicht tat er bloß so! — jeden¬
falls schoben andere Wünsche als der Drang nach Erlösung
der Menschheit.
Nur mit einem Volke, daß sich selbst regiert, wollte die
Entente Frieden schließen. Davon sind sie ganz still geworden
drüben. Deutschland ist heute das freieste Land der Erde.
Wir haben die ausgeprägteste Demokratie. In Frieden läßt
man uns doch nicht, um den Anschein der Gerechtigkeit
zu wahren, richten sie Vogelscheuchen auf und dichten uns
allerhand idiotische dunkle Pläne an. Dahinter versteckt sich
dann ihr Kampf gegen das freie Deutschland.
Als Militärstaat liegt Deutschland ohnmächtig am Boden.
Aber die Entente hat Angst vor uns. Nicht den Rachekrieg
fürchten sie. Ihn zu verhindern, besitzen sie die Macht. Aber
das deutsche Volk flößt ihnen Furcht ein, das Volk, das
seine Ketten zerbrach, um in ruhiger Entwicklung der sozialen
Republik entgegenzustreben. Wie einst Belsazar vor dem
mene tekel upharsin bebend erbleichte, so liest der Kapitalis¬
mus der Entente über Deutschland, auf dunklen Wolken
zwar, doch flammend, daß es über den Erdball leuchtet, das
eine Wort: Sozialismus! Er liest es und zittert. Dem Bolsche-
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Entweder — oder! I.
1497
vvismus kann man mit Machtmitteln beikommen, dem Sozia¬
lismus nicht. Der Bolschewismus gleicht dem verheerenden
Wettersturm, er tobt sich aus und ist vorüber. Der Sozia¬
lismus ist die aufgehende Sonne, in-deren Licht und Wärme
die Nebel und Spukgestalten versinken für alle Zeiten. Wenn
es gelingt, das Deutsche Reich auf der Bahn zur sozialen
Republik so weit vorwärts zu bringen, daß die Völker der
Erde den Segen erkennen, dann sind nicht die Tage, dann
sind die Stunden des Kapitalismus gezählt in der ganzen
Welt. Davor haben die treibenden Mächte der Entente Angst,
dämm drangsalieren sie das deutsche Volk. Uns soll die
Lust zum Sozialisieren ausgetrieben werden.
Man kann ruhig annehmen, daß die Entente heute viel
lieber mit dem ^Kaiser“ verhandeln würde als mit einer
stark sozialistisch durchsetzten Koalitionsregierung, von der
man fürchtet, daß sie eines Tags ganz sozialistisch sein
wird. Nachdem man dem Militarismus Wilhelms das Rück¬
grat gebrochen und seinem Imperialismus die Zähne aus¬
gerissen hat, braucht der Kapitalismus der Entente von einem
Reich, das^mit dem Enkel der alten Queen an der Spitze
wieder aufgerichtet würde, nichts mehr zu fürchten. Im
Gegenteil: der Mann würde der Entente auf den Knien
danken, wenn sie ihm allergnädigst gestatten möchte oder
gar dazu verhelfen würde, im Schatten schimpflichster Ab¬
hängigkeit aut dem elendsten Thrönchen zu sitzen. Damm
darf man ferner überzeugt sein, daß der Imperialismus der
Entente allen reaktionären Machenschaften in Deutschland
höchst wohlwollend zuschaut. Die Lasten, Demütigungen,
Schikanen, mit denen uns die Entente immer von neuem und
immer weiter in den Sumpf zu führen sucht, haben ihre Ur¬
sache letzten Endes in der Angst vor dem deutschen Sozialis¬
mus. Und darum nimmt die Entente schmunzelnd davon
Kenntnis, daß die Reaktion bei uns zu Lande laut und immer
lauter kreischt: die Revolution, will sagen der Sozialismus,
hat Deutschland in Hunger und Elend gestürzt und seine
Bewohner zum Helotenvolk gemacht! Es liegt im Interesse
der Entente, daß der deutsche Sozialismus diskreditiert wird.
Es fehlt uns an Rohstoffen für unsere Industrie. Unsere
Presse sucht der Entente begreiflich zu machen, daß es
im eigenen Interesse derselben liegt, dem deutschen Wirt¬
schaftsleben aufzuhelfen, damit wir den Verpflichtungen aus
Versailles genügen können. Vergebliches Bemühen! Was
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1498
Politische Köpfe. V. und VI.
unsere Presse predigt, wissen die dort drüben schon längst.
Die Entente will ja gar nicht, daß Deutschland die ihm auf¬
erlegten Bedingungen erfüllt! Sie hat es nie gewollt. Die¬
selben sind von vornherein so aufgestellt und formuliert,
daß stets ein Loch offen bleiben muß, durch das die brutale
Erpresserfaust hereinfahren kann ins deutsche Land, ins deut¬
sche Leben. Und je mehr Deutschland sich bemüht, seinen
Verpflichtungen zu genügen, je mehr es den Anschein ge¬
winnt, daß es seinen Verpflichtungen genügen kann, desto
größer wird die Angst vor dem deutschen Sozialismus, desto
höher schwillt die rlut neuer Forderungen, neuer Demüti¬
gungen, neuer Niederträchtigkeiten auf seiten der Entente.
(Schluß folgt.)
U. EMIL:
Politische Köpfe.
V.
Eugen Ernst.
UOR mehr als zwanzig Jahren fiel er mir zum ersten Male
v in einer Versammlung auf. Eine mittelgroße, breite, ge¬
drungene Gestalt, mit einem braunen, wilden Andreas-Hofer¬
bart. Eine der bekanntesten Erscheinungen im Berliner Sozial¬
demokratischen Parteileben.
,„Der beste Versammlungsleiter von ganz Berlin“, sagte mir
mal eine Genossin in einer Versammlung mit wichtiger Miene.
Sie war aus dem 6. Kreis, und dahin gehörte Ernst auch,
darum der Stolz.
Als Vorsitzender der Gesamtorganisation der Berliner Wahl¬
vereine kam ihm die hervorragende Routine als Versammlungs¬
leiter natürlich sehr zustatten. Besonders große, wild-
bewegte Versammlungen lenkt er mit unleugbarem Geschick,
und eine Debatte, die bei einem andern sich ins Uferlose
verlieren und Stunden umfassen würde, bringt er im Hand¬
umdrehen zu Ende. Emst ist der Parteimann par excellence.
Weniger Agitator, als Organisator, der von Jugend auf ins
Parteigetriebe hineingewachsen und darin völlig aufgegan¬
gen ist.
In einem kleinen Ort im Kreis Oberiiik geboren, erlernte)
er, nachdem er die Schule verlassen, das Schriftsetzergewerbe.
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Politische Köpfe. V. und VI.
1499
Früh kommt er schon zur Sozialdemokratie und ins Berliner
Parteigetriebe. Bald werden ihm die verschiedensten Ehren¬
ämter übertragen. Er arbeitet abends, er arbeitet Sonntags
für die Partei. Wie so viele, viele andere opfert er seine Kraft,
seine Zeit der großen Sache, dem Sozialismus. Es war damals
nicht so leicht, Sozialdemokrat zu sein. Die Partei war ver¬
femt, und ihre Anhänger hatten Verfolgungen und Drang¬
salierungen -jeglicher Art zu bestehen. Sozialdemokraten waren
vogelfrei und wurden gleich gehetzten Tieren bedrängt. Das
Sozialistengesetz hielt mit eisernem Druck die rebellische,
ungestüme Bewegung nieder, und das Bekenntnis zur Sozial¬
demokratie war eine Tat. Was die Sozialdemokratie damals
und auch später noch durchzukosten hatte, zeigen die er¬
schütternden Darstellungen, die Ernst in seiner Schrift:
„Polizeispitzeleien und Ausnahmegesetze, 1878—1910“ nieder¬
gelegt hat.
Nur einmal gab es in der Entwicklung Ernsts eine kurze
Unterbrechung. Es war in den neunziger Jahren, als die
Spaltung erfolgte, Ernst ging mit den „Jungen“ ins andere
Lager. Aber nur auf kurze Zeit, bald ist er wieder bei der
Mutterpartei und beginnt von neuem seine Tätigkeit. Wieder
steht er in den vordersten Reihen im Kampfe gegen die feind¬
lichen Mächte, in erster Linie gegen die Polizei.
Es ist eine köstliche Ironie des Zufalls, daß gerade Ernst,
der sich zeitlebens mit der Polizei herumgeschlagen hat,
nunmehr Polizeipräsident von Berlin werden mußte. Er hat
jahrzehntelang einen zeitweise sogar recht lustigen Guerilla¬
krieg mit der Polizei geführt und ihr dabei empfindliche
Schlappen beigebracht. So an jenem berühmten Demonstra¬
tionssonntag, da er die ganze Schutzmannschaft nach Treptow
hinauslockte, um in derselben Zeit unter Mitwirkung von
hunderttausend Männern und Frauen im Tiergarten eine
imposante Wahlrechtsdemonstration zu veranstalten. Ich sehe
noch heute die Beamten auf Bierwagen und Kremsern in
jagender Eile im Tiergarten ankommen, als längst alles
vorbei und der ganze Spuk verflogen war. Die Welt lachte
wieder einmal aus voller Kehle.
Auch sonst hat Ernst den Kleinkrieg mit der Polizei er¬
folgreich geführt. Alle Spitzel und Achtgroschenjungen, die
sich als Horcher in die Partei einschlichen, zitterten bei
dem Gedanken an Eugens photographische Platte. Er hat
immer einen Trick gefunden, mit dem er diese Ehrenmänner
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1500
Politische Köpfe. V. und VI.
überlistete, und ehe sie sich versahen, war ihre edle Persönlich¬
keit im Bilde festgehalten und prangte — wie die Eule am
Scheunentor — am nächsten Tage in allen Parteilokalen.
Einmal wäre ich selbst beinahe in eine böse Situation
geraten, aus der ich durch das Erscheinen Eugen Emsts
glücklich entrann. Es war an einem Demonstrationstag. Ich
bewegte mich im Zuge die Chausseestraße entlang. Einem
Teilnehmer, der mich an anderen Stellen schon mit dem
Notizbuche in der Hand beobachtet hatte, war ich aufgefallen.
Es hob denn auch bald ein Getuschte an, das allmählich
lawinenartig anschwoll: Achtung, Spitzel, Achtgroschenjunge,
haut ihn! Die Situation begann brenzlich zu werden. Die
Erbitterung in den Massen gegen solche Ehrenmänner war
groß. Da wurde nicht lange gefackelt. Ich hatte auch
leider keinen Ausweis bei mir und so äugte ich scharf umher,
— „da zeigte mir Gott, zu dem ich rief in der höchsten,
schrecklichsten Not, aus der Tiefe ragend ein Felsenriff,
das erfaßt ich bebend und entrann dem Tod.“
Dieses Felsenriff war eine Andreas-Hofergestalt, die ich
plötzlich im Gedränge erblickt hatte und nun rasch am Arme
ergriff.
„Ach,.bist du auch da?“ sagte Ernst und drückte mir die
Hand. Ich war gerettet.
Die Revolution hat Eugen Emst zum Minister und auch zum
Berliner Polizeipräsidenten erhoben, aber er ist der schlichte
Mann aus der Werkstatt geblieben, der unverdrossen seine
Arbeit verrichtet, wo immer man ihn auch hinstellt und der
sich zur Richtschnur seines Handelns stets das Wohl der Ge¬
samtheit wählen wird.
VI.
Oskar Cohn.
Der Name allein genügt schon, um ihn bei all denen,
die den Menschen nicht nach seinen Eigenschaften und
Leistungen, sondern nach seiner Abstammung wertschätzen,
in Verrui zu bringen. Ein Umstand, der dadurch nicht ..Ein¬
stiger beeinflußt wurde, daß Cohn im Kriege den oppositio¬
nellen Flügel im Reichstag vertrat und gegenüber den An¬
nexionisten und Säbelraßlern wuchtige Töne anschlug. Mehr
als einmal hing er der Katze die Scnelle um, und hätte man
auf ihn gehört, so ständen wir heute nicht vor einem
Scherbenhaufen.
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Politische Köpfe. V. und VI.
1501
Ebenso radikal wie Liebknecht, war er weit wirksamer
in seinen Reihen als jener, da er sein Temperament zu zügeln
und Maß zu halten weiß. Mehr als einmal wurde er von
der rechten Seite beschuldigt, Hochverrat getrieben zu haben,
immer und immer wieder, trat er aber vor den Reichstag
hin, er, der preußische Unteroffizier, und hielt seine Anklage¬
reden, die weit über Deutschland hinaus Aufsehen erregten.
Trefflich zerstörte er die Lügenberichte, mit denen das Volk
getäuscht wurde, und noch ist mir in Erinnerung, wie er
einmal ausrief: „Der Heeresbericht schreibt: Kronprinz Wil¬
helm ging zum Angriff vor, — ach wo, die Soldaten gingen
zum Angriff vor und Kronprinz Wilhelm spielte bO Kilo¬
meter hinter der Front Tennis !“
Der Kreis Nordhausen schickte Cohn seinerzeit in den
Reichstag, nachdem ein Gewerkschaftsvorsitzender 20 Jahre
lang vergebens um das Mandat gerungen hatte. Und er
hätte es aus eigener Kraft damals auch nicht geschafft, wenn
nicht die Antisemiten aus Bosheit gegen den Liberalismus
Mann für Mann für Cohn gestimmt hätten. So kam der
Kreis an die Sozialdemokratie. Bei der Parteispaltung ging
Cohn mit dem radikalen Flügel nach links. Ich traf ihn
damals, als die Frage der weiteren Kreditbewilligung bren¬
nend wurde, im Straßenbahnwagen.
„Wir können diesmal unmöglich die Kredite noch einmal
bewilligen, ganz unmöglich“, sagte er mir während der
Unterhaltung.
„Und die Folge?“ fragte ich.
Er zuckte die Schultern: „Die Folge bedeutet Trennung.“
So kam es denn auch, und Cohn stand bald im Vorder¬
gründe der Kämpfe. Ich kann mich aber nicht entsinnen,
daß er den Streit jemals in einer häßlichen Form zum Aus¬
druck gebracht hätte. Seiner ruhigen, sachlichen Art ent¬
sprechend, blieb er bei seinen Angriffen immer maßvoll. So
ist er auch im persönlichen Verkehr und er drückt auch heute
noch denen, die bei der Mehrheitspartei geblieben sind, freund¬
schaftlich die Hand.
Als tüchtiger Rechtsanwalt hat Co hin eine ausgedehnte
Praxis, und besonders Arbeiter nehmen ihn im Bedarfsfälle
gern als Verteidiger. Und sie sind nicht schlecht aufgehoben
bei ihm, denn er weiß sich Geltung zu verschaffen, weiß die
wirksamsten Punkte herauszugreifen, um dem Prozeß eine
für seine Klienten günstige Wendung zu geben.
48/2
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1502
Grenzen des neuen Oesterreich.
In der Revolution wurde Cohns Name viel genannt und er
geriet auch in eine Polemik wegen seiner Verbindung mit
den russischen Revolutionären, deren Hilfsgelder er. verwal¬
tete. Eine Nacht war er sogar in der russischen Botschaft
gefangen gehalten, alles Dinge, die ihm heute noch von seinen
Gegnern bei jeder Gelegenheit vorgeworfen werden. Mag
dem sein, wie ihm will, sicherlich ist Cohn weit von den Zielen
des Bolschewismus entfernt und keiner, der ihn kennt, wird
ihm Zutrauen, daß er auf eine Schädigung Deutschlands hin¬
arbeiten werde.
In der Regierung hat Cohn nicht lange mitgewirkt, da
die Unabhängigen ja bald wieder ausschieden. Nachträglich
ist er in der Nationalversammlung aufgetreten und es spricht
dafür, daß er in seiner Partei zu den besten Köpfen gerechnet
wird. Im Untersuchungsausschuß hat er sich gegenüber allen
Angriffen der Antisemiten und Deutschnationalen mit großer
Würde behauptet. Geistesadel sprach aus seinen Worten.
Wenn erst aus dem brodelnden Wirrwarr der Meinungen
und Richtungskämpfe sich ein klares Bild ergeben hat, wenn
das politische Leben wieder ruhigere Bahnen zieht, und unser
armes Land durch Ordnung und Arbeit wieder aufzuleben be¬
ginnt, wird man Männer wie Cohn immer dort finden, wo
die soziale Pflicht ruft.
H. FEHLINGER:
Grenzen des neuen Oesterreich.
IN seiner berühmten Ansprache an das Bundesparlament
1 der Vereinigten Staaten von Amerika stellte Präsident
Wilson ein Programm des Weltfriedens auf, dessen Punkt 10
lautet: Den Völkern von Oesterreich-Ungarn, deren Platz
unter den anderen Nationen wir sichergestellt zu sehen wün¬
schen, muß die erste Gelegenheit einer selbständigen Ent¬
wicklung gegeben werden. Der Sinn dieser Verheißung ist
nicht ganz klar; man kann sie sowohl als Versprechen der
Selbstverwaltung der einzelnen Völker innerhalb eines Gesamt¬
staates auffassen, wie auch als Versprechen, sie voneinander
unabhängig zu machen, sie anderen Nationen gleich zu stellen.
Der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Front
gegen Italien machte jedem Gedanken an einen Weiterbestand
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Grenzen des neuen Oesterreich.
1503
des habsburgischen Gesamtstaats ein Ende, aber die darauf
folgenden Ereignisse brachten den Völkern dieses gewesenen
Staals auch nicht die Unabhängigkeit voneinander, sondern
es wurde einfach der Spieß umgekehrt. Große Teile der bis
dahin führenden Völker wurden anderen Völkern — sagen
wir — angegliedert, sie kamen an Staaten, wo sie Minder¬
heiten bilden, die auf die Schicksale dieser Staaten mindestens
keinen entscheidenden Einfluß haben können. Die Zukunft
wird ja bald lehren, ob man zu sagen -berechtigt ist oder
nicht, daß durch die Aufteilung des Habsburger Reichs Millio¬
nen von Deutschen und Hunderttausende von Madjaren unter
Fremdherrschaft kamen-.
Nach der Auflösung des Habsburger Heeres wurden weite
Gebiete, die ausschließlich oder vorwiegend von deutscher
Bevölkerung bewohnt sind, von tschechischen, italienischen
oder südslawischen Truppen besetzt, aber lediglich den Süd¬
slawen gegenüber haben sich die führenden Staatsmänner
der siegreichen Hauptmächte nicht durchaus nachgiebig ge-
f ezeigt, nur die Südslawen mußten Teile von Kärnten und
teiermark räumen, die sie bereits militärisch besetzt und für
sich in Anspruch genommen hatten.
Italien, selbst eine der verbündeten Hauptmächte, besetzte
Tirol südlich der Hauptwasserscheide, sowie das österreichi¬
sche Küstenland und darüber hinaus Teile von Kärnten, Krain
und Dalmatien. Auf eigene Faust nahm d’Annunzio Fiume,
dessen Schicksal ebenso wie das gewisser dalmatinischer
Inseln noch immer nicht endgültig entschieden ist. Dagegen
ist Südtirol nach dem Staatsvertrag von St. Germain 1 definitiv
italienischer Besitz. Hier lebten 1890 189 000, 1900 199 000
und 1910 229 000 Deutsche österreichischer Staatsangehörig¬
keit; die Zahl der Italiener und Ladiner betrug 1890 358 000,
1900 365 000 und 1910 383 000. Die Ladiner wurden nicht
besonders gezählt, doch gibt es deren in einigen rauhen Berg¬
tälern sicher nicht über 20 000. Mehr als 80 Prozent der
Bevölkerung bildeten die Deutschen im Jahre 1910 in der
Stadt Bozen (93,8 Prozent), sowie in den politischen Bezirken
Bozen, Brixen, Bruneck, Meran (96,4 Prozent) und Schlan-
ders (99,8 Prozent). Auch das Kanaltal im südwestlichen
1 Der Staatsvertrag von St. Germain samt Begleitnote vom 2. Sep¬
tember 1919. X, 251, IV und 77 S. Wien 1919. Staatsdruckerei.
48 < 2 *
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1504
Grenzen des neuen Oesterreich.
Kärnten kam an Italien, dessen Grenze nun dem Hauptzug der
Karnischen Alpen folgt.
An den serbo-kroatisch-slowenischen Staat fielen vom’' ehe¬
maligen Oesterreich Südsteiermark, die Südostecke Kärntens
und der größere Teil von Krain. Ueber die künftige staatliche
Zugehörigkeit des Klagenfurter Beckens (Kärnten) wird eine
Volksabstimmung der Einwohner zu entscheiden haben. Zu
diesem Zweck wird dieses Gebiet in eine nördliche (fast
ganz deutsche) und eine südliche (überwiegend slowenische)
Zone geteilt. Die militärische Besetzung und die Verwaltung
der nördlichen Zone (mit der Stadt Klagenfurt) fällt Oester¬
reich zu, während die viel größere Südzone von Serbo-
Kroatien-Slowenien besetzt und verwaltet wird. In beiden
Zonen sind sowohl die österreichischen wie die serbischi-
kroatisch-slowenischen Truppen auf den Stand herabzusetzen,
den ein internationaler Ausschuß für notwendig erachtet,
um die Ordnung aufrecht zu erhalten; sie sichern die Durch¬
führung ihrer Aufgabe unter Aufsicht dieses Ausschusses.
Die Truppen sind so schnell als nur möglich durch Polizei¬
kräfte, welche an Ort und Stelle ausgehoben werden, zu er¬
setzen. In der südlichen Zone wird die Volksabstimmung
innerhalb dreier Monate nach dem Inkrafttreten des Friedens¬
vertrags und zu einem vom Ausschuß festgesetzten Zeitpunkt
stattfinden. Fällt die Abstimmung zugunsten des serbisch-
kroatisch-slowenischen Staates aus, so wird in der zweiten
Zone eine Volksabstimmung stattfinden, und zwar innerhalb
von drei Wochen nach Kundmachung des Ergebnisses der
Volksabstimmung in der ersten Zone und zu einem vom
Ausschüsse festgesetzten Zeitpunkt. Fällt hingegen die Ab¬
stimmung in der Südzone zugunsten Oesterreichs aus, so
wird in der zweiten Zone zu keiner Volksabstimmung mehr
geschritten werden und das gesamte Gebiet wird endgültig
unter österreichischer Staatsgewalt bleiben. Stimmberechtigt
sind die über zwanzigjährigen im Abstimmungsgebiet ge¬
borenen oder dort seit 1. Januar 1912 ständig ansässigen
oder ebensolange heimatberechtigten Personen. Wer die Be¬
völkerung der südlichen Abstimmungszone vor und während
des Krieges kannte, „der würde als sicher annehmen, daß sie
für Oesterreich stimmt; aber man bedenke, welchen Einfluß
die lange Besetzung mit serbo-kroatisch-slowenischen Truppen
und Behörden haben muß! Man wird sich nicht wunaem
dürfen, wenn es diesen gelingt, die einfachen und unerfahrenen
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Grenzen des neuen Oesterreich.
1505
Bauern und Arbeiter zugunsten des Südslawenstaates umzu¬
stimmen. Bleibt die Südzone nicht bei Oesterreich, so wird
die Stadt Klagenfurt, die dann knapp an der Grenze liegt, und
durch eine Zollschranke von einem großen Teil ihres natür¬
lichen Wirtschaftsgebietes getrennt ist, einen recht schweren
Stand haben. Die auf jeden Fall an Serbo-Kroatien-Slowenien
kommenden Teile Oesterreichs hatten nach der'Volkszählung
von 1910 etwa 80 000 deutsche Einwohner.
An die böhmisch-slowdkische Republik fallen von den öster¬
reichischen Ländern Böhmen, Mähren und Schlesien, sowie
einige Zipfel von Niederösterreich (überdies das slowakische
und ruthenische Nordost- und Nordungarn). Die Zahl der
Deutschen jin diesen Gebieten beträgt über dreieinhalb Millio¬
nen; die meisten davon wohnen innerhalb des geschlossenen
deutschen Sprachgebiets, das Süd-, West- und Nordböhmen,
Nord- und Südmähren, sowie den größten Teil des nun böh¬
mischen Schlesien umfaßt. In Böhmen bildeten im Jahre
1910 die 2458000 Deutschen 36,8 Prozent der Bevölkerung;
in Mähren wurden 719 000 Deutsche gezählt (27,6 Prozent
der Bevölkerung) und in Schlesien 326 000 (43,9* Prozent).
Ungefähr 200 000 Deutsche leben in der Slowakei, vornehm¬
lich in der Gegend von Theben und Preßburg an der Donau,
sowie im ungarischen Erzgebirge und in kleineren Sprach¬
inseln. Die Landschaft Zips hatte ehedem eine vorwiegend
deutsche Bevölkerung, doch ist dort die deutsche Sprache
zum größten Teil verdrängt worden.
Im Staatsvertrag von St. Germain werden die Grenzen des
neuen Oesterreich gegen die sieben anstoßenden Staaten ein¬
gehend beschrieben. Die im Gelände noch genauer zu be¬
stimmenden Linien werden von gemischten Kommissionen
festgesetzt, in denen auch Oesterreich vertreten ist. Diese
Kommissionen haben binnen 14 Tagen nach dem Inkrafttreten
des Friedens Vertrags zusammenzutreten.. Da der serbisch-
kroatisch-slowenische Staat bis heute nicht unterschrieben
hat, kann es sich ergeben, daß die Grenzregulierungskom¬
mission ihr Amt antritt, ohne daß Südslawien der neuen
Grenze zugestimmt hätte. Die Kommissionen entscheiden
mit Stimmenmehrheit endgültig. Oesterreich tritt das Ge¬
biet jenseits der bestimmten Grenzlinien teils gewissen Mäch¬
ten ab, zum Beispiel Italien, dem südslawischen Staate usw.,
zum Teil jedoch allgemein an die alliierten und assoziierten
Hauptmächte. Die Grenzbestimmung zwischen den übrigen
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1506
Grenzen des neuen Oesterreich.
Sukzessionsstaaten, zum Beispiel zwischen Südslawien und
Italien, zwischen Polen und dem böhmisch-slowakischen
Staate sind besonderen Verträgen Vorbehalten.
Die neue Nordgrenze Oesterreichs entspricht in ihrem Ver¬
lauf vom Plöckenstein an der bayerischen Grenze bis in
die Gegend von Weitra in Niederösterreich der früheren
Landesgrenze zwischen Ober- und Niederösterreich einerseits
und Böhmen andererseits. Nördlich von Weitra und östlich
von Gmünd wurde ein Stück Land aus Niederösterreich her¬
ausgeschnitten und Böhmen zugeteilt, so daß die von Prag
und Pilsen kommenden Bahnlinien bis zu ihrer Vereinigung
bei Gmünd an Böhmen .fallen. Die Bevölkerung dieses Ge¬
biets ist deutsch. Weiter verläuft die Staatsgrenze wie die
bisherige Landesgrenze zwischen Niederösterreich, Böhmen
und Mähren. Der nordöstliche Zipfel Niederösterreichs, wo
zumeist Tschechen wohnen, ist an die böhmisch-slowakische
Republik abgetreten worden. Von da bildet die March die
Grenze bis zur Einmündung in die Donau. Jenseits der
Donau wurde der größte Teil des von Deutschen bewohnten
Westungarn Oesterreich einverleibt. Die Grenze zieht west¬
lich von Preßburg und Wieselburg zum Südufer des Neu¬
siedlersees, dann westlich an Güns und Steinamanger vorbei
zum Flusse Raab und zur Mur südöstlich von der steirischen
Stadt Rackersburg. Von hier zieht die Grenze an den Win-
dischen Büheln, den Poßruck- und Radelbergen zur kärnt-
nerischen Grenze bei Unterdrauburg. Im Westen schließt
nun das Abstimmungsgebiet an, das bis nahe an die Stadt
Villach reicht. Vom geschlossenen deutschen Sprachgebiet
f ehen hier im Süden nur an einigen wenigen Stellen kleine
tücke an den Südslawenstaat verloren. Empfindlicher ist der
Verlust der deutschen Sprachinseln in der südlichen Steier¬
mark: Marburg, CUli, Pettau, Mahrenberg usw.
In Südtirol fallen Staats- und Sprachgrenzen weit aus¬
einander. Die erstere folgt der Hauptwasserscheide vom
Ortler zum Brenner, zur Dreihermspitze und zum Monte
Sivella, die Sprachgrenze zieht vom obersten Martelltale gegen
das Etschtal westlich von Bozen und biegt dann weit nach
Süden gegen Salum aus, von wo sie sich nach Nordosten zu
den Bergen wendet, die das Pustertal im Süden begrenzen.
Qer Vertrag von St. Germain verpflichtet Oesterreich zum
Schutz der nationalen Minderheiten. Was nun das öffent¬
liche Unterrichtswesen anlangt, wird die österreichische Re-
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Meine Entfernung aus der Schweiz.
1507
gierung in den Städten und Bezirken, wo eine verhältnismäßig
beträchtliche Zahl anderssprachiger als deutscher österreichi¬
scher Staatsangehöriger wohnt, angemessene Erleichterungen
gewähren, um sicherzustellen, daß in den Volksschulen den
Kindern dieser österreichischen Staatsangehörigen der Unter¬
richt in ihrer eigenen Sprache erteilt werde. Diese Be¬
stimmung hindert die österreichische Regierung nicht, den
Unterricht in der deutschen Sprache in den besagten Schulen
zu einem Pflichtgegenstande zu machen. Nun wurden aber
Oesterreichs Grenzen so gezogen, daß sie zumeist durch das
geschlossene deutsche Sprachgebiet laufen, Deutsche wohnen
geschlossen noch jenseits der österreichischen Grenzen. Nur
in dem neuerworbenen ehemaligen Westungarn fielen ganz
unbedeutende madjarische und slawische Minderheiten an
Oesterreich, überdies gibt es ebenfalls unbedeutende sloweni¬
sche Minderheiten noch in der Steiermark und in Kärnten. Es
ist nicht so sehr wahrscheinlich, daß man bei dem „Schutz
der Minderheiten“ im Vertrag von St. Germain an diese
wenigen Grenzbewohner dachte als an die tschechischen
Minderheiten in österreichischen Städten, namentlich in Wien,
wo seit der Jahrhundertwende das Tschechentum schon recht
fest Fuß gefaßt hatte. Gab es doch dort tschechische Eltern,
die ihren Kindern bis zum Schulbesuch kein deutsches Wort
beibrachten, trotzdem kein Mensch bestreiten kann, daß in
Wien selbst bis in die jüngste Zeit nur deutsch die Umgangs¬
und Verkehrssprache war. Ohne neue starke Zuwanderung
werden aber die tschechischen Minderheiten in österreichischen
Städten zweifellos bald vollständig verschwunden sein.
PARVUS:
Meine Entfernung aus der Schweiz.
Der Kampf um die Niederlassung.
ANFANG Januar erhielt ich durch die Vermittlung der
** deutschen Gesandtschaft aus Bern die Nachricht, der
Bundesrat sei durch die gegen mich gerichtete Preßhetze
beunruhigt, man empfehle mir, für eine Zeitlang die Schweiz
zu verlassen, man werde meiner Rückkehr, keine Hindernisse
in den Weg legen. Ich erwiderte darauf, es sei der Gesandt¬
schaft bekannt, daß ich in Deutschland geschäftlich und
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1508
Meine Entfernung aus der Sgfaiyeig.'
K ritisch zu tun habe und mich deshalb schon seit Ende
ovember um die Erteilung eines schweizerischen Rückreise¬
visums bemühe, daß dagegen meine Abreise unter Bedingun¬
gen, die den Eindruck erwecken müßten, daß ich einer Aus¬
weisung ausweiche, der denkbar verkehrteste Weg sei, Ruhe
zu schaffen, es würde dadurch nur das Triumphgeschrei
der Verleumder ausgelöst werden. Einige Tage später be¬
suchte mich wieder der Abgesandte der deutschen Gesandt¬
schaft und teilte mit, der Bundesrat habe sich mit meiner
Angelegenheit befaßt und das Ergebnis sei: wenn ich nicht
das Versprechen gebe, bis zum 20. Januar zu verreisen, so
werde ich ausgewiesen werden; dagegen, wenn ich verreise,
so dürfe ich zurückkehren und mein Niederlassungsrecht
werde anerkannt werden. Ich antwortete: „Ein solches Ver¬
sprechen gebe ich nicht. Ich weiche nicht vor den Verleum¬
dern. Man hat meine politische Tätigkeit und mein Privat¬
leben aufgewühlt — glaubt der Bundesrat, einen politischen
Oder sonstigen Grund zu meiner Ausweisung zu besitzen, so
möge er nur damit herausrücken. Dann kann ich mich
wenigstens vor der Oeffentlichkeit rechtfertigen. Ich lasse
lieber eine ungerechte Ausweisung über mich ergehen, als
daß ich mir nachsagen lasse, ich hätte eine Auseinandersetzung
gescheut und mich deshalb aus der Schweiz gedrückt.“
Das war meine Antwort. Wie groß war mein Erstaunen, als
ich wenige Tage darauf eine Notiz in der „Neuen Züricher
Zeitung“ las, ich hätte die Absicht, freiwillig die Schweiz
zu verlassen. Dann wurde noch hinzugefügt: meine Nieder¬
lassung scheine nicht ganz formell ordnungsgemäß zustande¬
gekommen zu sein.
Ich schrieb darauf an die deutsche Gesandtschaft in Bern:
-diese lügenhafte Nachricht könne doch nur aus Kreisen her¬
rühren, die mit der Gesandtschaft in intimster Verbindung
stehen, denn sonst wüßte überhaupt niemand, daß Verhand¬
lungen über meine Abreise stattfanden, und ich verlangte, man
solle den Stänkerer ermitteln und zur Rede stellen.
•i*
Um die gleiche Zeit erschien in den Zeitungen eine offi¬
zielle Notiz der kantonalen Fremdenpolizei in Zürich, daß
über mein Niederlassungsrecht eine Untersuchung geführt
werde. Ich richtete infolgedessen an die kantonale Fremden¬
polizei folgende Zuschrift:
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Meine Entfernung aus der Schweiz.
1509
Aktenstück 3.
Eingabe an die kantonale Fremdenpolizei in Zürich.
„Aus der Mitteilung der kantonalen Fremdenpolizei in der
Presse ersehe ich, daß mein Niederlassungsrecht in Zweifel
gezogen wird. Dasselbe wird bestätigt durch eine Notiz in
der „Neuen Züricher Zeitung“, datiert: Bern, 14. Januar, in
der es heißt: „Eine formell ordnungsmäße Niederlassung*
scheint nicht vorzuliegen.“ Da eine Aufhebung meines Nieder¬
lassungsrechtes für mich mit großer Vermögensschädigung
verbunden sein würde, verlange ich, daß mir mitgeteilt wird,
aus welchen Gründen meine Niederlassung angefochten wird,
damit ich meine Rechte wahrnehmen kann.
Ich berufe mich:
1. auf den Niederlassungsausweis;
2. aut den mir ausgestellten Domizilschein;
3. auf die Tatsache, daß mir im September 1919 bei meiner
Reise nach Deutschland das Visum von der Gemeinde aus¬
gestellt worden war, was sie nicht hätte tun können, wenn
ich keine Niederlassung hätte;
4. auf die Anerkennung dieses Gemeindevisums durch die
schweizerischen Grenzbehörden;
5. auf die Erklärung der Gemeindeverwaltung Wädenswil
in der Presse, daß mir die Niederlassung erteilt worden
war;
6. auf die persönliche Erklärung der Gemeindeverwaltung
nach Ausstellung des Niederlassungsausweises auf meine An¬
frage, ob nunmehr die Formalitäten erledigt seien: „Ja,
jetirt ist alles erledigt, Sie besitzen die Niederlassung.“
Da ich auf diese Weise „formell“ und „ordnungsmäßig“
vergewissert wurde, daß ich die Niederlassung besitze, rich¬
tete ich mich dementsprechend in meinen Vermögensverhält¬
nissen ein.
Ich kaufte das meinem Besitz gegenüberliegende Haus und
richtete es als Autogarage ein. Das kostete mich über 20 000
Franken und wäre überflüssig, wenn ich hier nicht nieder¬
gelassen wäre und folglich damit zu rechnen hätte, daß mir
die Aufenthaltsbewilligung jeden Augenblick entzogen werden
könnte. Ich legte mehrere tausend Franken im Ausbau meines
Gartens an, wie ich durch Rechnungen der Gartenbaufirma
Mertens und anderer nachweisen kann.
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1510
Meine Entfernung aus der Schweiz.
Ich legte einen Weg durch meinen Garten und meine
Wiesen und erweiterte den Fußpfad, der von meiner Garage
zu meinem Haus führt, zu einer Fahrstraße, die ich dem
öffentlichen Verkehr freigab.
Ich erweiterte meinen landwirtschaftlichen Betrieb durch
den Erwerb von drei Kühen. Den weitaus größten Teil
der Milch gebe ich an die Genossenschaft ab und unterhalte
diese Milchwirtschaft, obwohl mich die Milch, wie ich leicht
nachweisen kann, um mindestens 50 Prozent teurer zu stehen
kommt, als ich dafür erhalte. Ich tat es, um der Milchnot
abzuhelfen und in der Erwägung, daß spätere Jahre mir
wenigstens zum Teil die gegenwärtigen Verluste einbringen
werden.
Ich habe für Garten und Stall zwei dauernd Angestellte
— geborene und vollberechtigte Schweizer. Ich hätte mich
auf diese Engagements nicht eingelassen, wenn ich hier nur
zum vorübergehenden Aufenthalt wäre.
Auch die Steuern wurden von mir auf Grundlage meiner
Niederlassung in vollem Jahresbetrag erhoben, was ein be¬
deutendes Mehr ausmacht gegenüber dem, was ich zu zahlen
hätte, wenn ich mich nur vorübergehend aufgehalten hätte.
Sollte bei meiner Niederlassung von den Behörden ein
formeller Fehler oder eine Unterlassung begangen worden
sein — ich selbst habe alle verlangten Formalitäten erfüllt
— so müßte ich die Schuldigen für die entstandenen Schäden
verantwortlich machen.
Sollte mir die Niederlassung entzogen werden und ich
veranlaßt sein, meinen Besitz zu liquidieren, so würde mir
daraus ein noch viel größerer Schaden entspringen.
Außerdem gibt es eine Reihe anderer Leute, die in ihrer
Existenz ganz oder teilweise auf mich angewiesen sind: das
Stubenmädchen, die Köchin, der Chauffeur mit seiner Familie,
verschiedene Lieferanten usw. Ich bin an diese Leute und
Familien nicht juristisch gebunden, aber ich halte mich ihnen
gegenüber moralisch verpflichtet, sie, besonders in den jetzi¬
gen schweren Zeiten, nicht im Stiche zu lassen, ohne mein
Niederlassungsrecht verteidigt zu haben.
Ich bitte deshalb, mir Auskunft zu geben, welche Einwände
gegen mein Niederlassungsrecht gemacht werden.
Ich mache Sie noch darauf aufmerksam, daß ich schon am
25. November 1919 und später wiederholt mich um die
Erteilung eines Rückreisevisums nach Deutschland bemüht
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Meine Entfernung aus der Schweiz.
1511
habe. Ich habe dort geschäftlich zu tun und kann meine
Reise nicht ins Unbegrenzte hinausschieben. Ich möchte aber
vor meiner Abreise wissen, ob ich zurückkehren kann, oder ob
ich mich nach einem neuen Wohnsitz umzusehen habe.“
Ueber die weitere Entwicklung orientieren folgende Schrift¬
stücke :
Aktenstück 5.
Die Antwort der kantonalen Fremdenpolizei.
„Ich bestätige Ihnen den Empfang Ihrer Zuschrift vom
15. Januar 1920, womit Sie verlangen, daß ich Ihnen mit¬
teile, aus welchen Gründen Ihre Niederlassung angefochten
werde. In Erledigung Ihres Schreibens teile ich Innen fol¬
gendes mit.
Die eidgenössische Zentralstelle für Fremdenpolizei in Bern
stellt sich auf den Standpunkt, daß durch die Verordnung vom
21. November 1917 der Bundesrat die Entscheidungsbefugnis
über die Einreise und damit auch über den Aufenthalt eines
Ausländers in der Schweiz der genannten schweizerischen
Amtsstelle übertragen habe. Die Kantone und die Gemeinden
seien demgemäß nicht befugt, einem zu befristetetem Aufent¬
halt in die Schweiz eingereisten Ausländer einen unbefristeten
Aufenthalt bzw. die Niederlassung ohne ausdrückliche Ge¬
nehmigung der zuständigen eidgenössischen Instanz zu be¬
willigen. Festgestelltermaßen ist Ihnen am 18. November
1918 von der Schweizerischen Gesandtschaft in Berlin ein
bis zum 10. Januar 1919 befristetes Visum zur Einreise und
zum Aufenthalt in der Schweiz ausgestellt worden. Sie ge¬
langten dann am 20. November 1918 in Zürich zur An¬
meldung und wurde Ihnen eine bis 10. Januar 1919 befristete
Kontrollkarte für Ausländer ausgehändigt. In der Folge
hat Ihnen die eidgenössische Zentralstelle Tür Fremdenpolizei
in Bern eine Aufenthaltsverlängerung bis 10. März 1919 ge¬
währt. Eine weitere Fristverlängerung ist Ihnen von der
Zentialstelle nie bewilligt worden und es konnte Ihnen dem¬
zufolge nach der Auffassung der zuständigen eidgenössischen
Instanz von einer kantonalen oder einer Gemeindebehörde
rechtsgültigerweise auch keine Niederlassung erteilt werden.
In einer Zuschrift an uns weist die Zentralstelle darauf hin
daß der Umstand, daß Sie einen deutscherseits bis 1. April
1920 gültigen Heimatschein deponiert hätten, an der Tat¬
sache nichts ändern könne, daß Sie eben mit befristetem ..
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1512
Meine Entfernung aus der Schweiz.
Visum eingereist seien. Wenn Sie auf Grund dieses Aus¬
weises eine Niederlassung hätten erwirken können, so bestehe
diese trotzdem zu Unrecnt, weil die Zentralstelle Ihren Auf¬
enthalt in der Schweiz vorher nicht entsprechend verlängert
habe.
Durch ein uns heute zugegangenes Expreßschreiben der
Zentralstelle für Fremdenpolizei in Bern werden wir auf¬
gefordert Ihnen zu eröffnen, daß Sie die Schweiz nunmehr
unverzüglich über Romanshorn zu verlassen haben, da Ihre
Aufenthaltsbewilligung abgelaufen und die genannte Amts¬
stelle nicht in der Lage sei, dieselbe zu erneuern. Die ge¬
nannte Grenzübergangsstelle sei von Ihrer Ausreise avisiert.
Sofern Sie eine andere Grenzübergangsstelle wählen sollten,
hätten Sie die eidgenössische Zentralstelle für Fremdenpolizei
in Bern hiervon unverzüglich in Kenntnis zu setzen. Als
letzter Termin zur Ausreise werde der 29. Januar 1920
anberaumt. Falls Sie bis dahin die Schweiz nicht verlassen
hätten, würden Sie polizeiliche Ausschaffung zu gewärtigen
haben. Die Gemeinderatskanzlei WädenswiT ist sachbezüg-
lich orientiert; wollen Sie Ihren Paß dort entgegennehmen.
Ich ersuche Sie, von vorstehendem Kenntnis zu nehmen.
Da wir Ihnen die Ausreisefrist im Aufträge der eidgenössi¬
schen Zentralstelle ansetzen, ist ein Reloirs Ihrerseitsi an
die Kantonsregierung ausgeschlossen. Es steht Ihnen frei,
beim Schweizerischen Justiz- und Polizeidepartement gegen die
Ansetzung der Ausreisefrist Einsprache zu erheben; ich mache
Sie aber darauf aufmerksam, daß einem solchen Rekurs nach
den einschlägigen eidgenössischen Vorschriften im allge¬
meinen aufschiebende Wirkung nicht zukommt.“
Aktenstück 6.
Mein Rekurs an das Eidgenössische Polizei- und Justiz¬
departement.
„Ich wende mich an das Polizei- und Justizdepartement
mit dem Rekurs gegen die Verfügung der Zentralstelle» für
Fremdenpolizei, wonach die mir im März 1919 gewährte
Niederlassung ungültig sei und ich das Land bis 29. Januar
zu verlassen habe.
In der Bundesverordnung vom 21. November 1917 ist mit
keinem Wort davon die Rede, daß der Ausländer, der sich
niederlassen will* sich erst die Einwilligung der Zentral¬
stelle für Fremdenpolizei einzuholen habe. Wie ich, so haben
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Meine Entfernung aus der Schweiz,
i5i3
auch viele andere Ausländer, sowohl Deutsche wie Ange¬
hörige anderer Staaten, entsprechend der Verordnung vom
21. November 1917 ihr Niederlassungsrecht bekommen, ohne
erst die Zentrale für Fremdenpolizei in Bern zu befragen.
Ehe Befragung der Zentrale für Fremdenpolizei ist erst vor¬
geschrieben worden durch Bundesratsverordnung vom 17. No¬
vember 1919, also acht Monate nachdem mir die Nieder¬
lassung bereits erteilt worden war. Auch da hat die Fremden¬
polizeizentrale nur das Recht des Einspruchs; wenn sie diesen
Einspruch innerhalb Monatsfrist nicht geltend macht, gilt
die Niederlassung. Es wäre nicht notwendig gewesen, diese
Bestimmung 1919 zu treffen, wenn die Fremdenpolizei¬
zentrale schon nach der Verordnung von 1917 das Recht
gehabt hätte, jede Niederlassung, der sie nicht von vornherein
zugestimmt hat, für ungültig zu erklären.
Ich behaupte aber ferner, daß die Zentralstelle für Fremden¬
polizei selbst meine Niederlassung anerkannt hat. Sonst hätte
sie ja von mir verlangen müssen, daß ich um eine Verlänge¬
rung meiner Aufenthaltsbewilligui^g nachsuche. Meine letzte
befristete Aufenthaltsbewilligung lief am 10. März 1919 ab.
Bis dahin erwarb ich mir die Niederlassung. Weil die Zentral¬
stelle für Fremdenpolizei davon Kenntnis hatte, deshalb unter¬
ließ sie jede weitere Nachfrage. War die Zentralstelle der
Meinung, daß meine Niederlassung nicht gültig sei, so mußte
sie es mir damals sagen.
Selbst nach der Bundesratsverordnung vom November 1919,
wenn man dieser eine rückwirkende Kraft für die Jahre 1919
und 1918 geben wollte, würde also meine Niederlassung
zu Recht bestehen, da die Zentrale für Fremden polizei binnen
Monatsfrist keinen Einspruch dagegen erhoben hat, — wie
kommt man jetzt dazu, mir mein Niederlassungsrecht abzu¬
sprechen, trotzdem nach der Verordnung von 1917 der
Fremdenpolizeizentrale nicht einmal das Einspruchsrecht zu¬
gestanden wird.
Wonach hat sich nun der Ausländer zu richten, wenn
er sich in der Schweiz niederläßt? Nach den bestehenden
Gesetzen und Vorschriften, oder nach den geheimen Inten¬
tionen der Fremdenpolizeizentrale?
Ich kann mir nicht denken, daß ein derartiges willkürliches
Verfahren vom Justizdepartement und vom hohen Bundes¬
rat gestützt werden sollte. Denn, wenn man das in meinem
Fall zulassen sollte, daß die Zentralstelle für Fremdenpolizei
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1514
Meine Entfernung aus der Schweiz^
nach elf Monaten Niederlassung diese ohne weiteres kassiert,
welche Sicherheit haben dann alle anderen, die sich hier auf
Grund der Verordnung von 1917 niedergelassen haben und,
wie ich, Grundbesitz erworben oder Geschäfte betreiben?
Wenn man durch einen willkürlichen Akt der Fremdenpolizei¬
zentrale, so wie ich, in seinem Vermögen geschädigt werden
kann, welchen Schutz hat dann der niedergelassene Aus¬
länder in der Schweiz für sein Eigentum und äfeinen Ge¬
schäftsbetrieb, und was gelten dann die Niederlassungs¬
verträge mit der Schweiz? Und, wenn die .Niederlassungs¬
verträge von einer untergeordneten Amtsstelle willkürlich
umgedeutet werden können, was gelten dann überhaupt die
Staatsverträge mit der Schweiz? Da ich eine derartige Stel¬
lungnahme in der Schweiz für unmöglich halte, nehme ich
Rekurs zum Polizei- und Justizdepartement und bitte um
sofortige Aufhebung der Verfügung der Fremdenpolizei¬
zentrale, wonach icn die Schweiz bis zum 29. Januar zu
verlassen habe. Auf alle Fälle, wenn mir schon mein Recht
genommen und mein Besitz zerstört werden soll, verlange ich,
daß man nicht mit einer Brutalität vorgehe, wie sie von der
zivilisierten Welt selbst als Kriegsmaßnahme verurteilt wird,
sondern mir eine angemessene Frist gewähre, um meine
Verhältnisse zu ordnen. Ich begebe mich sofort nach Wädens-
wil, brauche aber mindestens einen Monat, um meinen Besitz
und meine geschäftlichen Verbindungen in der Schweiz zu
liquidieren. Ich bitte darum, noch bevor die grundsätzliche
Entscheidung getroffen worden ist, um sofortige Verlänge¬
rung der Ausreisefrist bis 1. März 1920, zugleich um tele
graphische Entscheidung, da dieser Rekurs selbst keine auf¬
schiebende Wirkung hat.“
Es wurde mir aber nur eine Verlängerung der Ausreise¬
frist bis zum 11. Februar gewährt. Ich hatte tatsächlich
keine Zeit, meine Verhältnisse vollkommen zu ordnen.
Dies der Tatbestand. Ueber die staatsrechtlichen und son¬
stigen Folgen werden wir uns noch unterhalten.
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Professor Oppenheimers liberaler Sozialismus.
1515
Dr. AROELANDER:
Professor Oppenheimers liberaler
Sozialismus.
piNEN Mittelweg nennt Franz Oppenheimer 1 selbst seine
“ Theorie des liberalen Sozialismus, die Synthese aus kapi¬
talistischen und kommunistischen Gegensätzen. Ein Mittel¬
weg aber nicht im Sinne „fauler Kompromißlerei“, sondern
als wissenschaftliches System, das frei von Extremen den
Weg der objektiven Wahrheit sucht. „Es ist Sozialismus;
denn es will auf einen Zustand der Gleichheit hinaus. Und
es ist dennoch gleichzeitig Liberalismus; denn sein Mittel
ist die wirklich „freie“ Konkurrenz.“ Ein Ziel, das fest ver¬
wurzelt ist in dem Glauben, daß alle Fortschritte der Kultur
aus dem tiefen Mutterboden der Kollektivitäten erwachsen.
Der Weg dahin aber führt über die Erkenntnisse früherer
wissenschaftlicher Systeme, denen Oppenheimers Theorie die¬
jenigen Bestandteile entnimmt, die die Gedankenwelt, der
sie entstammten, überlebt haben.
Die neue Lehre nimmt von der klassischen Doktrin die Me-'
thode der Deduktion aus dem kleinsten Mittel an. Die bürger¬
liche Oekonomie hatte erkannt, daß der Antrieb zum wirt¬
schaftlichen Handeln im Selbstinteresse liege, daß deshalb der
Mensch sich bemühe, unter Aufwendung möglichst geringer
subjektiver Anstrengungen zu möglichst hohen Erfolgen ’zu
gelangen. Dieses kleinste Mittel ist aber je nach der Organi¬
sation der Gesellschaft, nach den persönlichen Neigungen und
Begabungen eines jeden Menschen verschieden. Er kann
sich entweder der eigenen Arbeit an den Dingen der Natur
als seines kleinsten Mittels bedienen, er kann aber auch,
wenn ihm das als das kleinere, bequemere, ergiebigere Mittel
erscheint, die unentgoltene Aneignung fremder Arbeit oder
fremder Arbeitskraft vorziehen. Die erste Verfahrungsweise
nennt Oppenheimer das ökonomische Mittel, weil aus seiner
Entfaltung die arbeitsteilige Gesellschaft entsteht. Auf niede¬
rer Stufe ist sie nur Arbeitsgemeinschaft: auf höherer Stufe
staffelt sich das primitive ökonomische Mittel, die Arbeit,
zum freien, freiwilligen, als Aequivalent betrachteten Tausch,
1 „Kapitalismus — Kommunismus —- Wissenschaftlicher Sozialismus“.
Vereinigung wissenschaftl. Verleger. 1919.
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1516
Professor Oppenheimers liberaler Sozialismus.
dem „entfalteten“ ökonomischen Mittel, jund konstituiert die
höhere, die Tauschgesellschaft. Der eigenen Arbeit tritt als
weitere Art der Bedürfnisbefriedigung die unentgoltene An¬
eignung gegenüber, zuerst als Raub. Das ist das unentfaltete
politische Mittel , das auf höherer Kulturstufe nur noch in
der Form des Verbrechens anzutreffen ist. In seiner Ent¬
faltung aber heißt es — und daher rührt die Namengebung
Oppenheimers — der Staat. Er ist die auf die Dauer berech¬
nete Form der Bewirtschaftung einer Menschenklasse durch eine
andere; er ist das „Gehäuse“ der Mehrwertpresse, des Klassen¬
monopolverhältnisses in seinen drei historischen Hauptformen
als Sklavenwirtschaft, Feudal Wirtschaft und kapitalistischer
Wirtschaft. Auch seine Hauptaufgaben, der Grenzschutz nach
außen und der Rechtsschutz nach innen, dienen dem Zweck,
Mehrwert für die Herrenklasse zu sichern. In der An¬
erkennung des Mehrwerts als derjenigen Ursache, die dem
Arbeiter nicht erlaube, den vollen Ertrag seiner Arbeits¬
leistung einzustreichen, folgt Oppenheimer völlig der marxisti¬
schen Doktrin, ebenso wie er der zweiten Grundvoraussetzung
der bürgerlichen Theorie, dem Gesetz der ursprünglichen
Akkumulation, wonach die wirtschaftlichen und sozialen'
Klassen durch allmähliche, naturnotwendige Vollbesetzung
des Bodens entstanden seien,'die der Bourgeoisie unbequeme
Tatsache der Entstehung sämtlicher originärer Staaten durch
Eroberung und Unterwerfung als Klassenstaaten gegenüber¬
hält zur Erklärung des Klassenkampfes und zur Forderung
des Klassenlosen als des naturgemäßen Zustandes.
Mehrwert, die Grundursache wirtschaftlicher und sozialer
Abhängigkeit entsteht, wie schon Karl Marx erkannte, wenn
unter einem Monopolverhältnis getauscht wird, wenn also eine
wirklich freie Konkurrenz nicht zustande kommen kann, weil
der eine Teil entweder gezwungen ist, unter dem Wert los¬
zuschlagen oder der andere über den Wert zu verkaufen
befähigt wird. Dieses Monopol kann entweder ein natür¬
liches sein, wenn das betreffende Gut nicht beliebig ver¬
mehrbar ist, oder ein künstliches, wenn durch Verabredungen
seiner Hersteller oder durch rechtlichen Schutz die wirt¬
schaftliche Ausnutzung durch die Allgemeinheit beschränkt
ist. Alle Welt hat bisher geglaubt, es seien die Kapitalgüter,
die produzierten Produktionsmittel, die das Monopol Verhältnis
zwischen der „freien“ Arbeiterschaft und der Oberklasse ver¬
mittelten. Nun sind aber die produzierten Produktionsmittel
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Professor Oppenheimers liberaler Sozialismus.
1517
beliebiger Vermehrung fähig und es ist offenkundig, daß ihre
Produzenten sich nicht durchgängig zu gemeinsamer Politik
verabredet haben. Daraus ergibt sich für Oppenheimer die
Folgerung, daß nicht das Kapital, sondern nur der Boden
die Ursache des Mehrwerts sein kann, denn er ist unvermehr¬
bar, kann also auch in Abwesenheit einer Verabredung sämt¬
licher Besitzer Träger eines Monopolverhältnisses sein. Dieser
Mehrwert ist nicht etwa Grundrente. Jedes Mitglied der
Oberklasse, das ein ausreichendes Stück Boden besitzt —
gleichviel, ob als Eigentümer, Mieter oder Pächter — und
daneben einen Stamm von produzierten Produktionsmitteln,
groß genug, um freie Arbeiter daran zu beschäftigen, ist
Kapitalist. Wer besseren oder marktnäheren Boden besitzt,
bezieht in Stadt und Land die Grundrente als Gewinn eines
Uebermonopols.
Wenn also die Ursache des Klassenverhältnisses und des 1
Mehrwerts im Bodenmonopol zu suchen ist, so liegt der
Weg zur sozialistischen, klassenlosen Gesellschaft und somit
nach Hegelscher Dialektik der Gegensatz und zugleich die
Entwicklungstendenz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung
in der Sprengung dieses Monopolverhältnisses, in der Auf¬
hebung der Bodensperre. Die Rechtsform der Bodensperrung
ist das Großgrundeigentum, ein Ausfluß staatlicher Gewalt,
des politischen Mittels. Wir haben gesehen, daß in den
Aktionsprogrammen der revolutionären Staatsgebilde, in
Sowjetrußland, Sowjetungarn, Sowejtbayern, überall die So¬
zialisierung des Großgrundeigentums an erster Stelle stand.
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, daß eine sofortige
Sozialisierung eine beträchtliche Verringerung unserer land¬
wirtschaftlichen Produktion und eine schwere Schädigung
unserer Ernährung mit sich bringen müßte. Bodensperre
besteht ja auch nur dort, wo große Teile Landes von
wenigen „okkupiert“ sind, so daß eine starke landlose Be¬
völkerung übrig bleibt. Zur Durchführung der inneren Kolo¬
nisation ist daher nach Oppenheimers Meinung eine so ra¬
dikale Maßnahme gar nicht erforderlich. Es würde völlig ge¬
nügen, von den 17 Millionen Hektar Nutzlandes, die sich
in den Händen von Großbesitzern befinden, sofort ein bis
höchstens zwei Millionen Hektar von Staats wegen aufzukaufen
und dem Landbedürfnis der Zwergbauern und vor allem des
landlosen Proletariats zur Verfügung zu stellen. Dann ist
nämlich der größte Teil des noch existierenden Großbesitzes
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1518 _ Professor Oppenheimers liberaler Sozialismus.
aus Mangel an Arbeitskräften — auf eine Zuwanderung aus¬
ländischer Wanderarbeiter werden wir für längere Zeit nicht
rechnen dürfen — nicht mehr haltbar und wird dem Staat
von selbst zu immer billigeren Preisen angeboten werden.
Die Methode der inneren Kolonisation mulf es ermöglichen,
jenes Mindestmaß verstaatlichten Landes sehr schnell in den
Besitz und die Verwaltung der Landbedürftigen der Unter¬
klasse zu bringen. Deshalb wird die bisher als Siedlungsform
fast allein in Erwägung gezogene Ansetzung von Einzel¬
bauern sich weniger empfehlen, da sie zu verschwenderisch 1
mit Geld, Zeit und Land umgeht. Sie erfordert eine kost¬
spielige Zwischen Verwaltung und eine Regulierung der Hypo¬
theken, sie dauert durchschnittlich ein bis zwei Jahre, und
sie verbraucht viel Land für die zahlreichen neuen Wege
und Grenzraine. Um dies zu vermeiden, scheint es geraten,
den Großbetrieb beizubehalten und zwar in der Form der
Produktivgenossenscha.it, die überhaupt das Ideal unserer
wirtschaftlichen Unternehmungsform darstellt. Als vorläu¬
fige Zwischenstufe empfiehlt indessen Oppenheimer die Anteil-
mrtschaft, wobei die unter straffer, autoritativer Leitung
stehenden Arbeiter einen starken Gewinnanteil über den orts¬
üblichen Lohn erhalten. Von dort aus steht dann der Weg
offen sowohl zur Aufteilung unter die Genossen, also zur
Kleinbauernsiedlung, wie zur voll entfalteten Produktiv¬
genossenschaft. Als die wahrscheinlichste Entwicklung nimmt
Oppenheimer in der Regel seine Miselfarm an: der ver¬
kleinerte, aber viel intensiver bearbeitete Großbetrieb würde
von einem Kranze von Kleinsiedlungen umgeben sein, deren
Eigentümer zum großen Teil Arbeitergenossen des Gro߬
betriebs wären. Zwischen die landwirtschaftlichen Siedler
würden sich gewerbliche usw. Siedler setzen und derart das
Gut zur Dorfschaft entwickeln.
Die Aufhebung der Bodensperre auf dem Lande wird sofort
auch ihre Wirkung auf den städtischen KfipitaVsmus ausüben.
Von dem Augenblick der Repropriation jenes Teils des Gro߬
eigentums an stockt die Abwanderung vom Lande, es wird
sogar städtisches Proletariat aufs Land zurückfließen, teils
als landwirtschaftliche, teils als gewerbliche Siedler. Damit
hört einmal die Terrainspekulation auf, die sich auf die An¬
nahme einer regelmäßigen starken Anwanderung stützt. Wenn
aber ferner die Reservearmee fehlt, die sich bisher infolge der
Bodensperre auf dem Lande bildete, so wird in den Städten,
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Professor Oppenheimers liberaler Sozialismus.
1519
die dem Angebot an Arbeitskräften stets viel mehr Stellen
eröffneten, als ihrer eigenen Geburtenzunahme entsprach, die
Nachfrage nach Arbeitskräften und damit auch der Lohn
ganz gewaltig steigen und die Industriearbeiter werden auf
diese Weise, wenn auch nicht formell, so doch de facto auch
hier Miteigentümer der Betriebe werden. Die zahlreichen
Arbeitsgelegenheiten, die sich aus den Kolonisierungsarbeiten
ergeben una die auf allen Gebieten rege Beschäftigung wach-
ruien werden, bewirken ein weiteres Steigen der Nachfrage,
während die verbesserte soziale Lage des Proletariats eine
Einschränkung vor allem der Frauenarbeit in den Fabriken
gestattet, die sich nunmehr der gesünderen Haus- und Land¬
arbeit zuwenden können. So sinkt die „aktive Arbeiterarmee“
ständig und in gleichem Maße steigt die Nachfrage nach
Arbeit und dieser Prozeß nimmt nicht eher ein Ende, als
bis der Lohn den Mehrwert auch in der Industrie verschlungen
hat und in Stadt und Land nur noch gewinnbeteiligte Mit¬
glieder von Produktionsgenossenschaften oder hochbezahlte,
sehr vorsichtig und gänzlich unpatriarchalisch als freie Männer
behandelte Angestellte für manuelle Arbeit gibt. Damit wird
auch der Endzustand erreicht sein: „Die erste Gesellschaft
der freien, der wirklich freien Konkurrenz, die dieser Planet
trägt: und darum der vollendete Sozialismus, das heißt, die
von allem Mehrwert erlöste, darum klassenlose, und darum
brüderlich geeinte Gesellschaft der Freien und Gleichen.“
Es wäre zu bedauern, wenn ein Werk, wie das vorliegende,
das ein Mahnruf in letzter Stunde ist, ebenso der Ignorierung)
durch die große Masse zu verfallen bestimmt wäre, wie es
zum Teil das Schicksal seiner früheren Schriften gewesen
ist. Es soll Widerspruch wecken, wo es die Höherentwicklung
der Idee fordert, und es soll Gefolgschaft finden, wo es uns
die lang gesuchte Lösung alter Fragen in feinster Präzision
als Synthese gegensätzlicher Erkenntnisse vergangener Ideo¬
logien bietet. Es ist ein Mittelweg — aber es ist getragen
von starkem Glauben und es ist den Weg gegangen, den
Georg Simmel als den schwereren bezeichnet, wenn er sagt,
es sei nicht so schwer, leidenschaftlich zu sein, ohne die
Objektivität zu verlieren, als objektiv zu sein, ohne die Leiden¬
schaftlichkeit zu verlieren.
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1520
Pie Engelsbiographie. 11.
M. BEER:
Die Engelsbiographie.
II. 1 (Schluß.)
MACH Ablauf seines Militärjahres reiste Engels zu seinen
Eltern nach Barmen, machte in Köln halt, um der Redaktion
der „Rheinischen Zeitung“, deren Mitarbeiter er war, einen
Besuch abzustatten. Hier traf er mit Heß zusammen. Die
nächsten Wochen verbrachte er mit Vorbereitungen für seine
Reise nach England, um in ^Manchester in die Fabrik seines
Vaters einzutreten. Ende November 1842 verließ er Barmen,
unterbrach wieder seine Reise in Köln, um Marx zu sehen,
der ihn aber kühl empfing, jedenfalls ihn nicht als den
genialen Junghegelianer behandelte, als den ihn Mayer zu
schildern sich bemüht.
Im Dezember 1842 traf der junge Engels in Manchester
ein. Was er an Theorie von Feuerbach, Heß und den Berliner
„Freien“ erhielt, sollte hier durch die Praxis bekräftigt und
befestigt werden. Denn wenige Monate vorher — im August
und September 1842 — hatte das englische Fabrikproletariat
die erste Probe auf den Generalstreik gemacht, und Man¬
chester war der Mittelpunkt des Klassenkampfes. Die Verhaf¬
tungen und Prozesse, die infolge des Generalstreiks vor¬
genommen wurden, erregten viel Aufsehen. Die Aufregung
unter den Massen war noch stark, insbesondere in Manchester.
Hier bot sich Engels ein induktives Material für seine mit¬
gebrachten Theorien, und mit großem Eifer ging er daran, .
es zu beobachten und auszuforschen.
Oekonomisch war der englische Sozialismus damals aut der
Höhe. Wie umfassend sein Wissen war, zeigt das von J. F.
Bray im Jahre 1839 veröffentlichte Buch „Labours Wrongs
and Labours Remedy“ (Die Leiden der Arbeiterklasse und
ihr Heilmittel), wo mit Arbeitswerttheorie, Mehrwert, Aus¬
beutung, Kapital, Lohn, Profit und den übrigen wirtschaft¬
lichen Kategorien im kommunistischen Sinne operiert wird.
Engels brauchte sich nur ein oder zwei Jahre aüf das Stu¬
dium der englischen sozialistischen Literatur zu werfen, um
alle seine deutschen Freunde und Gesinnungsgenossen in
den Schatten zu stellen. Und er verstand englisch genug, um
in seinen Studien nicht gehindert zu sein. Er las die New
Moral World“ von Robert Owen und den „Northern Star“,
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Die Engelsbiographie. II.
1521
das Zentralorgan der Chartisten, er besuchte die öffentlichen
Versammlungen und die antidogmatischen Vorträge der
Owenisten. Manchester wurde für mn zu einer sozialökonomi¬
schen Universität, wie Berlin ihm eine junghegelianisch-frei¬
denkerische Hochschule gewesen war. Engels hatte eine
schnelle Auffassungsgabe und orientierte sich sehr leicht.
Das Schriftstellern machte ihm gar keine Schwierigkeiten, und
kaum hatte er sich in Manchester umgesehen, flugs schrieb er
für die „New Moral World“ und belehrte die englischen
Genossen über deutsche Philosophie und französischen So¬
zialismus. Ebenso knüpfte er Verbindungen an mit der Re¬
daktion des „Northern Star“, für den er seit 1845 über
europäische Angelegenheiten schrieb.
Die erste Frucht seiner englischen Studien war eine längere
Abhandlung über Nationalökonomie, die er für Marxens
„Deutsch-Französische Jahrbücher“ schrieb. Ihr Titel ist:
„Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ 11844).
Marx nannte sie eine „geniale Skizze“; Mehring macnt sich
selbstredend dieses Urteil zu eigen, und Mayer ist eben¬
falls ganz begeistert. Wer jedoch mit den Arbeiten des eng¬
lischen Sozialismus vom Jahre 1815 bis 1840 vertraut ist
und zudem noch das Wesen der Hegelschen Dialektik be¬
griffen hat, wird Marxens Urteil als ein artiges Kompliment
betrachten und es nicht ernst nehmen. Wenn die „Umrisse“
genial sind, dann sind Proudhons „Contradictions Eco-
nomiques “ ein höchst geniales Werk, was Marx bekanntlich
nicht zugeben wollte. 1 Engels und Proudhon arbeiteten da¬
mals ganz nach demselben Muster: Ethik als Prüfstein der
Oekonomie, mechanisches Spielen mit Hegelschen Formeln,
vollständiger Mangel an historischem Sinn und eigentlicher
dialektischer Entwicklung. Hiermit soll gewiß nicht gesagt
sein, daß die „Umrisse“ nichts taugten. Sie sind eine tüch¬
tige Leistung eines jungen sozialökonomischen Auto¬
didakten, aber irgendwelche bahnbrechende Gedanken und
Methoden enthalten sie nicht. Sie sind nicht genial. Der
beste Gedanke hierin ist der Vorwurf gegen die Öekonomen,
1 Mayer irrt, wenn er auf Seite 268 vom „Assoziationsplan“
spricht, „den Proudhon in seinen Contradictions Economiques ent¬
wickelt hatte“. Proudhon hat dort gar keinen Plan entwickelt,
sondern seine Kritik getrieben. Seinen Plan hatte er seinen Freunden
mitgeteilt, die ihn unter den Arbeitern verbreiteten.
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1522
Die Engelsbiographie. II.
daß sie die wertschaffende Arbeit der Naturwissenschaft
nicht berücksichtigten: „Außer Boden und menschlicher Ar¬
beit“, sagt Engels dort, „gibt es noch ein Drittes, woran der
Oekonom nicht denkt, icn meine das geistige Element der
Erfindung. Was hat der Oekonom mit dem Erfindungsgeist
zu schäften? Sind ihm nicht alle Erfindungen -ohne sein
Zutun zugeflogen gekommen? Die Wissenschaft geht ihn
nichts an. Ob sie ihm durch Berthelot, Davy, Liebig, Watt
usw. Geschenke gemacht hat, die ihm seine Produktion un¬
endlich gehoben haben — was liegt ihm daran? Aber für
einen vernünftigen Zustand, der über die Teilung der Inter¬
essen hinaus ist, gehört das geistige Element allerdingsi
mit zu den Elementen der Produktion, und wird auch m
der Oekonomie seine Stelle unter den Produktionskosten
finden.“ So schrieb Engels im Jahre 1844, später aber ver¬
fiel er mit Marx in den Fehler der Oekonomen, mit dem
Unterschied jedoch, daß diese alles dem Kapital zuschrieben,
während jene die Lohnarbeit als Quelle und Maßstab des
Wertes betrachteten. Die „Umrisse“ waren die theoretische
Vorarbeit zu seinem ein Jahr später veröffentlichten Buche:
„Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, das zu jener
Zeit in Deutschland Epoche machte.
Inzwischen wurde Engels mit Marx bekannt und geriet
vollständig in dessen Bann. Von Marx erhielt er die Hegel-
sche Dialektik als Methode zur Hervorbringung des Kommu¬
nismus aus den ökonomischen Widersprüchen des Kapitalis»-
mus. Was er weder bei Feuerbach und Heß, noch in Eng¬
land und Frankreich finden konnte, das gab ihm Marx. Seit¬
dem sind die Namen beider eng miteinander verknüpft. Eine
der schönsten Stellen bei Mayer ist die Parallele zwischen
den beiden Männern: „Engels ist von Natur praktischer und
von schnellerem Orientierungsvermögen, aber ohne gründ¬
lichere philosophische Durchbildung und dialektische Ori¬
ginalität. Den Sätzen, die Engels schreibt, merken wir an,
daß er sie, ohne lange mit dem Gedanken oder dem Ausdruck
gekämpft zu haben, rasch und hemmungslos aufs Papier ge¬
worfen hat; flüssig, elegant, klar und durchsichtig hin¬
gesetzt, vermögen sie, gefällig und leicht verständlich, voll¬
kommen und restlos auszudrücken, was der Verfasser in sie
hineinzulegen wünschte. . . Bei Marx dagegen verraten die
Perioden, wie schon Koppen richtig bemerkt hat, daß ein
ganzes Magazin von Gedanken in sie ausströmen will; sie
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Die Engelsbiographie. II.
1523
lassen erkennen, daß die ungeheure Ernte, die er einfahren
möchte, noch reicher ist als alle jene Satzschsunen, die sie
bergen sollen. Den unwiderstehlichsten Reiz verleiht er seiner
glänzenden, epigrammatisch zugespitzten Diktion, daß die
scharfen, reliefartig wirkenden, im Gedächtnis haftenden Satz¬
bilder, in die er seine Gedanken prägt, stets ungezwungen,
wenn auch nicht unerkämpft dem Dunkel der eigenen dia¬
lektischen Werkstatt entsteigen und, so geistreich sie wirken,
niemals bloßer schriftstellerischer Aufputz bleiben. Die glän¬
zenden, öfters schwerfälligen, nur selten dunklen Perioden, die
sich bei ihm abwechseln, dampfen noch förmlich von dem
heißen Kampf, der ihrer Niederschrift vorausgegangen ist“
(Seite 184—185).
Beide schlossen sich eng aneinander, indem Engels sich
seinem neuen Freunde willig unterordnete. Der Zusammen¬
arbeit verdanken wir „Die Heilige Familie“ und „Das Kom¬
munistische Manifest“, zu denen jedoch die Beiträge Engels’
minimal sind, was Mayer allerdings nicht zugeben will, wir
haben jedoch kein Recht, aus unbekannten und mutmaßlichen
Faktoren Schlüsse zu ziehen, wo uns imbestrittene und offen¬
kundige Tatsachen als induktives Material dienen können.
Der beitrag Engels’ zur „Heiligen Familie“ ist unterschrieben
und er ist unbedeutend. Ebenso kann ein Vergleich zwischen
dem Entwurf zum „Kommunistischen Manifest“, der von
Engels stammt, mit dem wirklichen „Kommunistischen Mani¬
fest“ uns belehren, daß Marx irgendwelche bedeutende gei¬
stige Anleihen bei Engels nicht zu machen brauchte. Mayer
will aber unbedingt Engels Kenntnisse und Leistungen zu¬
schreiben, die dieser weder besaß noch schuf, noch auf
sie Anspruch machte. Dies ist eine Schwäche der sonst
trefflichen Engelsbiographie. Mayer hätte sich nur fragen
sollen, wie es komm^ daß man eine gute Marxbiographie
schreiben kann, ohne Engels mehr als beiläufig zu erwähnen,
während umgekehrt eine gute Engelsbiographie erst eine
historische Bedeutung erhält durch Heranziehung der Marx-
schen Leistungen ?
An der Seite von Marx fand Engels seine theoretische Festi¬
gung und Stärke, und begann alsbald eine lebhafte inter¬
nationale Agitation für den Kommunismus. Wir sehen ihn
bei seiner Arbeit in Elberfeld, Köln, Brüssel, Paris, London,
und Mayer ist uns ein treuer und zuverlässiger Führer auf
den geheimen Pfaden Engelsscher Agitationstätigkeit. Als
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1524
Die Engelsbiographie. Ü
Redner in Versammlungen, als Mitarbeiter deutscher, eng¬
lischer und französischer Blätter, die dem Kommunismus, der
Demokratie und der Sozialreform dienten, verbreitete Engels
die Lehre, die dann im „Kommunistischen Manifest“ ihren
prägnanten Ausdruck fand. Und als im Frühjahr 1848 die
Revolution ausbrach, eilte er mit Marx nach Köln, wo sie die
Redaktion der „Neuen Rheinischen Zeitung“ übernahmen.
Engels schrieb hierin viel über auswärtige Angelegenheiten,
ebenso trat er als Redner in Volksversammlungen auf, bis
ihm im September 1848 die Verhaftung drohte. Heimlich
reiste er von Köln nach Barmen, wo er einige Tage verblieb ;
dann fuhr er nach Brüssel, aber die Polizei schob ihn bald
nach der französischen Grenze ab. Er betrat abermals fran¬
zösischen Boden, ohne sich jedoch in Frankreich aufzuhalten.
Sich östlich haltend, marschierte er zu Fuß und in heiterster
Laune, unterwegs reichlich Wein und Weib genießend, bis
nach Genf, dann nach Lausanne, von wo aus er für die
„Neue Rheinische“ Leitartikel schrieb, und als ihm die Mög¬
lichkeit geboten wurde, wieder nach Deutschland zurückzu¬
kehren, reiste er nach Köln, um seine alte Tätigkeit auf¬
zunehmen. Mit der Erstarkung der Gegenrevolution in Preu¬
ßen begab er sich nach Süddeutschland und nahm aktiven
Anteil an dem Badischen Aufstande im Sommer 1849. Als
Adjutant Willichs focht er tapfer, bis jede Aussicht auf
Sieg verschwand. Beim Rückzuge aus Baden betrat er schwei¬
zerischen Boden und traf Anstalten, nach London zu fahren,
wohin auch Marx sich aus der französischen Verbannung
m begeben entschloß. Engels fuhr nach Genua, wo er
sich aut einem nach England fahrenden Segler einschiffte.
Vom Herbst 1849 bis zum Herbst 1850 lebte er an der.
Seite von Marx in London und arbeitete an der „Revue der
Neuen Rheinischen Zeitung“. Engels veröffentlichte hierin
„Die deutsche Reichs Verfassungskampagne“ und den „Deut¬
schen Bauernkrieg“. Die „Revue“ ging bald ein, worauf
Engels London verließ und als Buchhalter in die Fabrik
seines Vaters in Manchester eintrat, in der er bis 1869 ver¬
blieb. Von Studien betrieb er während dieser Zeit haupt¬
sächlich Militaria.
Der erste Band der Engelsbiographie schließt mit dem
Jahr 1850 ab.
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DER
tu ELTERN / LEHREIL END BEHÖRDEN
HERAUTOEOEBEN’ VON E,WB LEE
REO/CAUNOJ - U. SCHULRAT I. MINISTERIUM FÜR. Wl SSENSCH ATT/ku NST U. VOLKS&ILDUNO
Der Elternbeirat ätzefUralleGebiete
___ der Schule und Erziehung aus
der Feder namhafter Pädagogen, Schulpolitiker und Aerzte
und will damit den Elternbeiräten, deren tätige Mitarbeit an
dem Blatte vorgesehen und erstrebt wird, das wissenschaft¬
liche Rüstzeug zur Ausübung ihrer Tätigkeit und Gelegenheit
zur Aussprache über alle einschlägigen Fragen geben. Einen
parteipolitischen Standpunkt wird er nicht vertreten
Wir hoffen so tatkräftig daran mitzuwirken, daß die junge
Generation unter zeitgemäßer Führung ins tätige Leben eintritt
Der Elternbeirat erscheint zweimal im Monat, um¬
faßt 32 Seiten und kostet vierteljährlich Mk. 5,50
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Bestellungen auf den „Elternbeirat“ nehmen alle Postämter
und der Verlag entgegen
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Aus den Tagen der Kindheit
führen die drolligen Erzählungen hinüber in die Jahre
des reifen Mannesalters. Scheidemann selbst hat — vielleicht
unbewußt und ungewollt — damit seinen eigenen
Entwicklungsgang beschrieben
Bezug durch alle Buchhandlungen
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Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. Verantworte Schriftleiter: M. Beer» Bertin-Karlshorst
Verlag: Verlag für Sozial Wissenschaft, Berlin SW 68» Lindenstraße 114. Fernruf: Moritz*
platz 2218, 1448—1450. — Druck: PhotOgr&Vlir G.m.b« H., Berlin SW 68, LindenstraQe 114.
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ijahrg. 2. Band
6. März 1920
Herausgegebenvon
Parvus
58 Pfennig
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erlas: für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68
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DIE GLOCKE
Sozialistische Wochenschrift
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Herausgeber: Parvus
Bezugsbedingungen: Direkt durch die Post
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Einzelhefte 50 Pf .»Porto 5 Pf.
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INHALT DIESER NUMMER:
Parvus: Deutschland und Rußland . .... . 1525
Dr. Roderich von Ungern-Sternberg: Kadetten
und Bolschewik! ... . ... 1529
Peter Knute:. Wien: die orientalische Metropole 1532
Th. Kabelitz: Entweder — oder! II. . . . . 1537
Professor Ewald F. W. Rasch: Was ist zu tun? 1542
U. Emil: Politische Köpfe. VII. und VIII. . . . 1546
M. Beer: Der Prozeß Erzberger-Helfferich # . . 1551
Bücherschau: Professor Dr. Karl Horn „Licht
und Finsternis“.. 1554
Eingelaufene Schriften . . .. 1556
Nummer 48 der „Glocke" hatte folgenden Inhalt:
Th. Kabelitz: Entweder — oderl I. .... . 1493
U. Emil: Politische Köpfe. V. und VI. .... 1498
H. Fehlinger: Grenzen des neuen Oesterreich . 1502
Parvus: Meine Entfernung aus der Schweiz II. 1507
Dr. A. Argeiander: Professor Oppenheimers
liberaler Sozialismus. 1515
M. Beer: Die Engelsbiographie. II. . . . 1520
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UNtVERSiTY OF CALIFORNIA
49. Heft _ 6, März 1920 _ 5. Jahrg.
Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet
PARVUS:
Deutschland und Rußland.
CS ist notwendig, daß die kommerziellen, kulturellen und
^ politischen Beziehungen zu Rußland sofort in weitestem
Umfange aufgenommeh werden.
Die Sache selbst ist entschieden. Die bolschewistische Re¬
gierung hat sich durchgesetzt, und es bleibt der Entente
nichts übrig, als mit inr in Unterhandlungen einzutreten.
f Als die große Boykottein Ladung der Entente kam, konsta¬
tierte ich an dieser Stelle: das sei die Bankerotterklärung der
Ententepolitik gegenüber Rußland, die Armeen Denikins und
der anderen Söldlinge der Entente werden im Winter aus¬
einanderlaufen, ob sie im Frühling wieder unter dem
gleichen Banner zusammenzubringen sein werden, sei mehr
als zweifelhaft.
Nunmehr ist die Situation vollkommen geklärt. Die bolsche¬
wistischen Armeen haben das Feld behauptet und mit ihren
Gegnern so gründlich aufgeräumt, daß eine militärische Oppo¬
sition in Rußland selbst nicht mehr aufkommen kann. Äus-
hungern kann man die bolschewistischen ^Armeen auch nicht,
da diese fest entschlossen sind, lieber die hundert und mehr
Millionen der übrigen Bevölkerung verhungern zu lassen, als
selbst Hunger zu leiden.
Die bolschewistische Regierung hat die Macht in ihren
Händen zusammengefaßt und steht da, umgeben- von der
Aureole, die nationalen Interessen Rußlands gegenüber dem
Versuch fremdländischer Einmischung verteidig zu haben.
Das hat auch eine Brücke geschaffen, die dem Bolschewismus
aus den Reihen der übrigen sozialistischen Fraktionen Hilfs¬
kräfte zuführte.
Die weitere innerpolitische Entwicklung Rußlands ist unter
diesen Umständen nur noch denkbar durch Umgestaltung
49/1
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1526
Deutschland und Rußland.
des Bolschewismus , nicht durch dessen Verdrängung von
außen.
In geistiger Beziehung ist der Bolschewismus leicht zu
bekämpfen. Er hat eine Entwicklung durchgemacht vom
Doktrinarismus durch Demagogie zur politischen Charlata-
nerie. Er hat auch bereits, mancherlei Konzessionen an die
Wirklichkeit gemacht, seine weitere Anpassung an diese bzw.
seine Zersetzung und das Emporkommen der politischen
Kräfte, die mit dem Pogrom Sozialismus aufräumen werden,
das hängt wesentlich davon ab, inwiefern die Weitzusammen¬
hänge im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben
Rußlands wieder hergestellt werden.
Die Entwicklung der Industrie, der Landwirtschaft, des
Verkehrs, des Handels, das ist der einzige Weg, auf dem die-
Entwicklung Rußlands, in normale Bahnen gelenkt werden
kann. y
Die Entente beginnt das einzusehen, aber sie wagt es nicht,
dieses Weltproblem, wie so manches andere, in seiner ganzen
Tragweite aufzurollen. Sie weiß, daß sie auf Rußland in
wirtschaftlicher Beziehung angewiesen ist, und wagt es doch
nicht, mit Rußland Frieden zu schließen. Denn sie fürchtet,
daß dadurch die Autorität des Bolschewismus gestärkt wer-
> den wird. Sie fürchtet, daß dann der Bolschewismus desto
mehr Einfluß in Westeuropa gewinnen werde^ Sie möchte
den russischen Ansteckungsherd isolieren. Das gelingt ihr
nicht, kann nicht gelingen, aber selbst, wenn es gelungen
wäre, so wäre damit nichts erreicht, da schon der Fort¬
bestand des Bolschewismus in Rußland ihm eine große Auto¬
rität in der ganzen Welt verleiht. Der Einfluß des Bolsche¬
wismus kann nur gebrochen werden durch die Ueberwindung
des Bolschewismus in Rußland selbst. Der Bolschewismus
wird in Rußland überwunden werden, wie der Anarchismus
und Blanquismus in Westeuropa (überwunden worden sind:
durch die Entwicklung der Sozialdemokratie und der Gewerk¬
schaften. Die Entwicklung dieser hängt von der Industrie
ab, die Entwicklung der Industrie in Rußland von der Auf¬
nahme der Handelsbeziehungen zwischen Rußland und der
übrigen Welt.
Darüber kommt man nicht hinweg.
Die Unentschlossenheit der Politik der Entente bedingt
aber, daß die Bedingungen, unter denen die Verhandlungen
mit dem bolschewistischen Rußland stattfinden, sich immer
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Deutschland und Rußland.
1527
mehr zugunsten dieses verschieben. Wenn die Entente im
September vorigen Jahres, statt sich mit dem Boykott zu
blamieren, sich auf Friedensverhandlungen mit Rußland ein¬
gelassen hätte, so hätte sie viel mehr erreichen können,
als gegenwärtig. Und je mehr sie der Entscheidung aus-
weicnt, desto mehr verstärkt sie den von ihr so gefürch¬
teten moralischen Effekt der Entscheidung, die schließlich
doch getroffen werden muß.
Die' Hoffnung auf Polen ist eine Narrheit, zeigt eine voll¬
kommene Verkennung der Verhältnisse. Wenn Polen in seiner
gegenwärtigen Verfassung in einen Krieg mit Rußland hinein¬
genetzt wird, so wird es um Polen geschehen sein.
Zu der Unentschlossenheit der Entente aus Angst vor
dem Bolschewismus gesellt sich noch eine gleichartige Stim¬
mung aus einem anderen Grunde, die sich besonders in
Frankreich geltend macht. Man weiß, daß dieWiederaufnahme
der Beziehungen zu Rußland besonders Deutschland zu Nutzen
kommen wird. Man schließt daraus auf eine wirtschaftliche
und politische Erstarkung Deutschlands, von dieser auf eine
nationale Erstarkung. Und da setzt die Angst wieder ein.
Man weiß zwar, daß die Welt unter der Verelendung Deutsch¬
lands leidet, und doch fürchtet man die Wiedergeburt Deutsch¬
lands. Die im Weltkriege ausgestandene Angst und das
böse Gewissen, Deutschland blutige Gründe zur Klage und
zur Empörung gegeben zu haben, bedingen hier die Unent¬
schlossenheit der Politik der Entente.
Das sind die Grunde der Entente. Sie können für uns
nicht maßgebend sein. Aber anderes wirkt störend: eine
Rücksichtnahme auf die Entente. Man möchte um Gottes
willen alles vermeiden, was auf jener Seite unliebsam emp¬
funden werden könnte. Daß es für die Entente unliebsam
wäre, wenn wir vor ihr zu einem Einverständnis mit Ru߬
land gelangen würden, gebe ich zu, sehe aber darin keinen
Grund, eine Politik mitzumachen, die mit einem Fiasko enden
muß.
Wir haben lange genug gewartet, weil wir dazu ge¬
zwungen wurden. Jetzt sind wir frei und müssen handeln.
Es bestimmt nämlich Artikel 292 des Friedens Vertrags:
„Deutschland erkennt an, daß alle mit Rußland oder
irgendeinem Staat, oder irgendeiner Regierung, deren Ge¬
biet früher einen, Teil Rußlands bildete, sowie mit Ru-
49;i*
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1528
Deutschland und Rußland.
mänien vor dem 1. August 1914 oder seit diesem Tage
I bis zum Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags geschlos¬
senen Verträge, Uebereinkommen und Abmachungen auf¬
gehoben sind und bleiben.“
Mit der Ratifikation des Friedensvertrags sind wir also
wieder berechtigt, Stäatsverträge mit Rußland abzuschließen.
Wir müssen es aber auch tun, weil durch den angeführten
Artikel die früheren Abmachungen annulliert worden sind.
Wir haben kein Interesse daran, einen Zustand fortbestehen
zu lassen, der weder Krieg noch Frieden ist.
Wir müssen die diplomatischen Beziehungen zu der bol¬
schewistischen Regierung, die wir schon früher anerkannt
haben, wieder äufnehmen. Wir müssen in Verhandlungen
eintreten über den Abschluß eines Handelsvertrags, eines
Niederlassungsvertrags usw. usw. Wir müssen den Handel
und den Verkehr mit Rußland sofort aufnehmen.
Lieber die wirtschaftliche Bedeutung der Wiederaufnahme
der Handelsbeziehungen zu Rußland braüche ich wohl vor
einem deutschen Publikum nicht viel Worte zu verlieren.
Ich verweise bloß auf zwei Momente:
1. Die wirtschaftliche Einkreisung Deutschlands bekäme
ein Loch, durch das eine ganze Welt hindurchschlüpfen
könnte;
2. wir kämen zu einem Verkehr mit einem Lebensmittel¬
und Rohstofflieferanten, dessen Valuta einen niedrigen Stand
hat. —
Ohne Verkehr mit Rußland keine Besserung der Valuta.
Und Wenn wir noch wieder warten wollten, bis die Entente-,
uns vorangeht, so werden wir auch noch damit zu rech¬
nen haben, daß ma|n uns in den Hintergrund drängen wird.
Aus kurzsichtigem Eigennutz und militärischer Ueberhebung
hat man es in Brest-Litowsk unterlassen, ein Freundschaf tsn
Verhältnis mit Rußland abzuschließen. Wenn wir uns jetzt
von der Entente verdrängen lassen sollten, so würde es ge¬
schehen aus Einsichtslosigkeit und Schwachmütigkeit.
Wer sind die Bundesgenossen Deutschlands ? Niemand!
Wo sind die Freunde Deutschlands? Wir finden überall
taube Ohren und höchstens ein mitleidiges Achselzucken!
Das große, das starke Deutschland hatte Neider, die es
haßten uma fürchteten. Das geschlagene Deutschland wird
nicht mehr Deneidet, aber noch immer gehaßt. Sollen wir
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Kadetten und Bolschewiki.
1529
uns die letzte Gelegenheit entgehen lassen, Anschluß ziu fin¬
den an Rußland, mit dem zusammen wir uns wirtschaftlich
emporarbeiten könnten ?! Gewiß liegt es im Interesse Deutsch¬
lands, seine kommerziellen Beziehungen zu der ganzen Weit
zu entwickeln, gewiß wäre es vom größten werte, wenn
die Entente oder ein Großstaat der Entente zu einem festen
Entschluß kämen, die Wiederaufrichtung der deutschen Volks¬
wirtschaft zu fördern, — aber geschieht denn das? Und
wenn es geschehen sollte, so müßte wiederum das erste
sein, uns unsere Handelsbeziehungen zu Rußland entwickeln
zu lassen. Denn was können uns Frankreich, England, Nord¬
amerika in wirtschaftlicher Beziehung bieten ? Geld, das sie uns
wieder in Gestalt von Kriegsentschädigung abnehmen würden,
und einen Markt für unsere Fabrikate, di,e* sie gar nicht
haben wollen, weil sie' ihre eigene Industrie begühstigen
wollen, und die wir nicht liefern können, weil Wir keine
Rohstoffe haben, bzw. die Rohstoffe uns zu teuer zu stehen
kommen. Dagegen wäre Rußland sowohl Abnehmer für
unsere Fabrikate wie Rohstofflieferant. So groß sind die
wirtschaftlichen Möglichkeiten Rußlands, daß mit Deutschland
bzw. durch Deutschland die ganze Weltindustrie sich daran
würde wieder auf richten lassen. Und weil dem so ist, so
würde die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zu Ru߬
land den Anstoß geben zu der Wiederherstellung der durch
den Krieg zerstörten Weltmarktsbeziehungen überhaupt.
Wagen wir es und machen wir den Anfang. Es ist der
Weg zum Frieden, zu einem wirklichen Weltfrieden!
Dr. RODERICH VON^ÜNGERN-STERNBERG:
Kadetten und Bolschewiki.
IN letzter Zeit hat sich ein ehemals recht einflußreicher
1 russischer Politiker, I. W. Hessen, an die deutsche Oeffent-
lichkeit gewandt und ihr das Schreckgespenst des Bolsche¬
wismus an die Wand gemalt. Mich dünkt, wir sind zur
Genüge über die „Pest, Seuche und Greuel des Bolsche¬
wismus“ unterrichtet worden, und es wäre entschieden mehr
zu begrüßen, wenn endlich jemand die überraschende Tat¬
sache erklären wollte, daß die russischen Kommunisten es
zustande gebracht haben, sich trotz ausländischer Invasion,
Gegenrevolution und völlig zerrütteter Wirtschaft bald zwei-
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1530
Kadetten und Bolschewiki.
einhalb Jahre zu behaupten, und heute einen Machtfaktor
darstellen, mit dem jeder Staat in Europa ernst rechnet
und rechnen muß. Von solch einer Erklärung findet sich
bei Hessen allenfalls der Hinweis auf die „schwankende
und unentschiedene Haltung der Kulturwelt gegenüber dem
russischen Problem“. Unter „Kulturwelt“ ist in diesem Fall
wohl die Entente zu verstehen, die zu bewegen, energischer
gegen die Bolschewiki vorzugehen, den Parteifreunden
Hessens in Paris nicht gelungen ist. Worin liegt aber die
Erklärung für die unentschlossene Haltung, die bis vor
kurzem die Regierungen der Ententestaaten in der russischen
Frage an den Tag. gelegt haben? Doch vor allem darin,
daß die russischen Kommunisten es verstanden haben, bei
dem Proletariat Englands, Frankreichs und Italiens Sympathien
zu erwecken und die Regierungen sich gezwungen sehen,
damit bis zu einem gewissen Grade zu rechnen. Also auch
hier liegt der eigentliche Erklärungsgrund in der werbenden
Kraft, welche cfie Ideen der Kommunisten auf das west¬
europäische Proletariat ausüben, — in der Ueberzeugung,
daß Moskau der Hort des revolutionären Gedankens ist, und
daß der Sturz der Kommunistenherrschaft gleichbedeutend
wäre mit dem endgültigen Sieg der Reaktion nicht nur in
Rußland, sondern in der ganzen Welt. Es herrscht also
in der „Kulturwelt“, zu der doch wohl auch das westeuro¬
päische Proletariat gehört, keine durchgängig ablehnende
Stimmung den moskauischen Kommunisten gegenüber. Am
wenigsten aber sind die Auslassungen I. W. Hessens geeignet,
eine einheitliche antibolschewistische Stimmung zu erzeugen,
denn das Kennzeichen dieser „Gespräche“ ist völlige Ideen¬
losigkeit. Für Hessen ist der Bolschewismus „ein sinnloser
Aufruhr, dem so .schnell als möglich Halt geboten werden
muß“. 'Jede Revolution ist Aufruhr, und der Sinn der bolsche¬
wistischen Revolution scheint mir gerade darin zu liegen,
daß sie den Mut hatte, dem Weltkapitalismus die Zähne zu
zeigen und es verstand, den Glauben an eine proletarische
Revolutionsmöglichkeit weit über die russischen Grenzen hin¬
aus 'zu festigen. Denn bei aller Verurteilung der bolschewisti¬
schen Methoden, hat die westeuropäische Arbeiterklasse zum
ersten Male erfahren, was eine sozialistische Umwälzung be-
* deutet. Und wer wollte bezweifeln, daß schon allein dieser
Umstand eine faszinierende, erhebende Wirkung auglösen
mußte!
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Kadetten und Bolschewiki.
1531
Bei Beurteilung der kommunistischen russischen Revo¬
lution muß besonders deutlich zwischen Mittel und Ziel untere
schieden werden. Solange die ursprünglichen wirtschafts¬
politischen Methoden der Bolschewiki kritisiert und bekämpft
werden, kann man sicherlich auf Verständnis rechnen, denn
kein, vernünftiger Mensch wird seinem Lande die Wieder¬
holung des russischen Experiments wünschen, wendet man
sich aber gegen das Ziel: die Befreiung von der Lohn!-
sklaverei, so offenbart man Ideenarmut, wenn man nicht zu¬
gleich Wege weist, wie sich die Massen zu einer besseren
Zukunft durchringen könnten. Dieser Ideenlosigkeit haben
sich auch die Kadettejn (konstitutionelle Demokraten), zu
denen I. W. Hessen gehört, schuldig gemlacht. Es ist be¬
zeichnend für diese Partei, daß sie ihr Schicksal gänzlich mit
dem der bewaffneten Reaktion (der Koltschak, Denikin, Jude-
nitsch usw.) verknüpft hat. ' Daher ist der Zusammenbruch
der zaristischen Gegenrevolution für sie, wie für einige andere
antibolschewistische Richtungen, ein tragisches Ereignis. Denn
die bewaffnete Reaktion war die einzige Macht, die bisher
überhaupt in der Lage war, die kommunistische Regierung
mit Waffengewalt zu bekämpfen. * Da sie versagt hat, so
kommt damit die Möglichkeit eines Sturzes der moskauischen
Räteregierung überhaupt in Fortfall, weil keine der sonstigen
antibolschewistischen Parteien über militärische Machtmittel
verfügt.
Ideell wieder bei den russischen Volksmassen Fuß zu fassen,
wird jetzt sogar den sozialistischen Gruppen, die den zaristi¬
schen Generälen nahestanden, sehr schwer fallen, und der
Kadettenpartei jedenfalls unmöglich sein, nachdem sie sich
ganz und gar der zaristischen Gegenrevolution zur Verfügung
gestellt hatte.
Aber was bezweckt denn eigentlich das „Gespräch“ Hes¬
sens? Ja doch offenbar in Deutschland Stimmung zu machen
gegen jegliche Annäherung an Räterußland. Zu diesem Zweck
führt er dem deutschen Publikum das Schreckgespenst des
Bolschewismus vor, appelliert gleichsam an den Selbst¬
erhaltungstrieb der deutschen Nation, die doch um Gottes
willen nicht durch Verhandlungen mit den Kommunisten
Selbstmord begehen soll! Ich weiß nicht, ob I. W. Hessen
ini Grunde seines Herzens immer so liebevolle Gefühle für
Deutschland gehegt hat, seine Parteifreunde (Maklakow,
Winawer usw.) jedenfalls haben in Paris alles in Bewegung
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1532
Wien: die orientalische Metropole.
gesetzt, um im Versailler Friedens vertrag für Rußland auch
ein möglichst großes Stück von der Beute — Deutschland —
auszureißen. Nun aber haben „die treuen Verbündeten" bei
der Bekämpfung der Kommunisten versagt, und da liegt es
ja, menschlich gesprochen, nahe, den Versuch zu machen
und sich an die deutsche Oeffentlichkeit zu wenden. . . Wir
aber wollen festhalten: I. W. Hessen ist im inner politischen
russischen Kampf ganz und gar Partei , und allen seinen
Aeußerungen ist mit größter Skepsis zu begegnen.
Wenn wir immer wieder das Verlangen nach Wieder¬
aufnahme der wirtschaftlichen Beziehungen mit der Räte¬
regierung ausspnechen, so möchten wir zum Schluß diesen
Wunsch noch mit dem Hinweis auf eine Aeußerung Hessens
begründen. Er spricht davon, daß einmal ein Mann erstehen
wird, der „die Schlappheit des Willens im Feuer einer alles
verzehrenden Leidenschaft auflösen“ und der Kommunisten¬
herrschaft ein Ende machen wird.
Die Kommunisten sind aber gerade die einzigen, die die
„Schlappheit des Willens" besiegt haben. Sie haben es ver¬
standen, aus einer völlig heruntergekommenen Armee eine
Truppe zu schaffen. Sie haben eine lange Reihe sehr nam¬
hafter russischer Heerführer für ihre Sache zu gewinnen
vermocht. Sie beschreiten den einzigen zurzeit in Rußland
auf wirtschaftspolitischem Gebiet gangbaren Weg, den der
wirtschaftlichen Diktatur. Sie sind das Willenszentrum in
Rußland und alles andere erscheint dagegen schlapp, ge¬
schwätzig, uneinig und unfruchtbar.
PETER KNUTE:
Wien: die orientalische Metropole.
Wien, 22. Februar 1920.
CS ist nicht wahr, daß Wien eine deutsche Stadt ist.
^ In Wien sind nur die Aushängeschilde deutsch. Wer
so von heute auf morgen von drüben aus Deutschland, viel¬
leicht aus Berlin, herüberkommt, dem schlägt der Brodem
orientalischer Niederungen entgegen. Eine babylonische
Sprachverwirrung. Aus allen Herrenländern haben sich die
Geschäftemacher zusammengefunden, um dem armen Deutsch-
ö&terreicher das Fell über die Ohren zu ziehen. Die Portiers
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1533
Wien; die orientalische Metropole.
in den Hotels klagen, wenn die Neuankommenden um ein
Zimmer, tim ein Kopfkissen für die Nacht betteln. Sie gehen
nicht raus, sie kleben fest, sagen sie von den Fremden, die
mit ihrer guten Valuta Wien auskaufen. Tag um Tag, Woche
um Woche sitzen, handeln, schachern sie hier. Die Korruption
stinkt gen Himmel. Ueberflutet mit ihrem Schlamm die
Stefanstürme. Riesenheere von Parasiten der Valuta drängen
durch die Straßen, füllen vom frühen Morgen ab die Kaffees.
Die Schieber- und Spekulantenbande drückt einer ehemals
bedeutenden Kultur die Quigel ab. Und frißt am geistigen
Mark 'auch des Fleißigen. Es ist der Fluch des schlechten
Geldes, daß es auch den Ehrlichen zum Betrug herausfordert.
Tausend ehemals rührige Hände ruhen im positiven Schaffen
und helfen der Schieberinternationale mit bei derem trau¬
rigen, negativen Tun, das. nicht einmal mehr die Helle des
Tageslichts scheut. Die asiatischen Usancen haben längst
gesiegt. Wien ist keine deutsche Stadt mehr.
Hungert Wien ? Ich sah in Berlin nicht den zehnten Teil
so viel Embonpoint, als hier in Wien. In Berlin fällt der
einzelne Pelz auf. Hier in Wien kräuselt sich um Tausende
Hälse der Persianer, der Seal. Aber ich sah in Berlin auch
nicht den zehnten Teil so viel Bettelei, als hier in Wien.
In Berlin stehen auch Bettler an den Ecken, vom Krieg her,
Schüttler. Sie belästigen kaum. Das Mitleid, die Erschütte¬
rung 'gibt gern. Hier in Wien ist die Bettelei Geschäft, •
abstoßende Gaunerei. Das Elend wirkt nicht mehr auf die
Menschlichkeit, es wirkt auf den Magen. Man hat das Ge¬
fühl der Uebelkeit. Auf Schritt und Tritt folgt einem dieses
Geschäfteelend. Die Hand, die gibt, wird nicht bewegt vom
Herz. Sie schleudert angeekelt die schmutzigen Papierscheine
in die Richtung des Bettlers. Der Stolz ist gestorben in
Wien. Wer, — wjer richtet ihn wieder auf? Wer macht
Wien wieder deutsch?
Das Elend ist groß in Wien. Wenn man sich an den Rand
dieser Schlammasse gerettet hat und wieder auf Naturboden
steht, aus dem der urgesunde Erdatem strömt, packt einen
das Wiener Elend mit tausend räusten an Herz und Ge¬
wissen. Und durch das nebulöse Schiebertum hindurch, das
an vollbedeckten Tischen die fettesten Schweinerippchen knab¬
bert, in besten, in den, bekannten Wiener Küchen bereitet,
daß sich der Gaumen wie je kitzelt an den wie je delikaten
Wiener Mehlspeisen,’— durch dieses Schlemmertum hindurch
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1534
T
Wien: die orientalische Metropole.
hört man das große Wehklagen, das aus der Tiefe des Wiener,
des so braven Wiener Volkes kommt, und das nicht mit kann
in diesem tollen Tanz der Papierscheine, die nichts gelten auf
dem Markte der Fremden, die aber aus Wiener Oedboden
doch noch ein - Paradies erstehen lassen. Das Elend ist
grau und breitet sich weit. -Schemen, kaum noch Menschen¬
gestalten und Menschenantlitz, schleichen durch die Wiener
Abende, an denen das Licht schon um acht Uhr erlöscht und
die Straßenbahn den Verkehr einstellt. Greise brechen zu¬
sammen. Bei den Männern gibt’s keine Vollkraft mehr.
Die Jünglinge wiegen kaum zwei Drittel des Vorkriegs¬
gewichts. Die Kinder sterben doppelt rasch dahin. Die Mütter
beweinen die welken, leeren Brüste. . . '
Qjbt’s Hilfe noch für die Wiener? Die Kleinen betteln.
Die Großen auch. Betteln ist der leitende Grundsatz der
Wiener Finanzpolitik.* Von einer Bettelreise kehrten gestern
der Finanzminister Dr. Reisch und der Staatssekretär Dr.
Löwenfeld-Ruß aus Paris zurück. Sie brachten für ganze
sechs Wochen Getreide und Kartoffeln zurück. Und «viel¬
leicht ein wenig Barkredit aus Amerika und England.^ Wenn's
gut geht. Wenn sich die politischen Verhältnisse in Amerika
nicht ändern. Wenn nicht Wilson, der helfen möchte, abgesägt
wird. Wenn nicht der Republikaner Lodge, der den ameri¬
kanischen Geldsack zuhält, ans Ruder kommt. Sechs Wochen
Nahrung, dann geht erneut die Bettelei los. Die genau
so widerlich, wie die Straßenbettelei in Wien. Man merkt
ordentlich der politischen Atmosphäre an, daß sie in Ver¬
sailles schon Uebelkeit verspüren, daß sie angewidert ein
paar Scheine in die Richtung der Bettler werfen, um sie los
zu werden.
Ein trauriges Geschäft, Minister in Wien zu sein. Es
gibt davon mehr, als genug. Zwanzig Sessel bei sechs Millio¬
nen Einwohnern. In Frankreich kommen sie mit der Hälfte
aus. Aber das Mißtrauen zwischen den Regierungsparteien,
den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen, setzt immer
hinter den einen Minister einen zweiten Minister zur Kon¬
trolle. Die politischen Umstände gebieten es. So macht
man es, um nur eine Regierung zu haben, die halbwegs vor¬
wärtskommen kann. Schließlich spielt ja auch die Million
Kronen mehr oder weniger keine Rolle in der Milliarden¬
unterbilanz. Wenn nur etwas damit erreicht würde. Wird
es? Die Kraft der leitenden Persönlichkeiten geht freilich
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Wien: die orientalische Metropole.
1535
teils in den allgemeinen Tagessorgen, teils in den speziellen
Parteisorgen vor die Hunde. Es kommt zu nichts rechtem. Es
fehlt der große Impuls der Nation. Der Zusammenbruclr
hat kopflos gemacht. Und bei der traditionellen naiven Leicht¬
gläubigkeit des Volkes hat die Demagogie leichtes Spiel.
So zerren sich die Volksteile hin und her. Und ermatten.
Da es bei den Habsburgern am Ende des Krieges schlecht
war, lief man zur Sozialdemokratie. Und da diese nicht so
rasch aus dem ganzen Elend heraushelfen kann, will man
wieder wo anders hinlaufen. Vielleicht zur Monarchie. Viel¬
leicht zu Deutschland. Vielleicht zum Donaubund. Viel¬
leicht . . . Klar ist es eigentlich niemand in Deutsch¬
österreich, was nun das richtige wäre.
Deshalb auch all das Groteske, das wir dieser Tage erleben.
Kein Zusammenhalt unter den deutschen Ländern. Wien
macht die Länder für das Elend verantwortlich, weil sie
zu wenig Nahrungsmittel lieferten. Die Länder sagen, daß
das sozialistische Wien schuld sei an dem ganzen Unglück.
Und so blüht frisch und munter, aber unheilvoll für neide
Teile, jene Eifersucht zwischen Stadt und Land auf, wie
wir sie 1477 in der Schweiz sahen und die 1529 zu dfer
Lebensmittelsperre gegen Zürich, Bern und Basel führte.
In dem Kampf zwischen Wien und den Ländern, von den
Ländern mit der Parole „Los vom sozialistischen Wien“
geführt, führte Wien seine Notenfabrik auf, die Länder ihre
Herrschaft über die Lebensmittel. Zwei Waffen von Trag¬
weite und großem Kaliber. Wann werden sie in Aktion
treten? Zuvor noch verhandelt man und kompromisselt.
WeiPs beiden Teilen nicht necht wohl ist .bei dem Kampf.
Verzettelt freilich auch Wien die Kräfte, wartet auf aas
Wunder. Aus Berlin. Aus Versailles. Aus Prag. Aus Bel¬
grad. Aus Budapest. Aber die Wunder sind ausgestorben,
und die Wiener Heiligenbilder lassen nicht mehr auf Antrieb
Regen fallen auf die österreichische Dürre. Die Zeit der
verschwommenen Mystik ist auch für Wien vorüber. Dip
nackten, so grausig nackten Tatsachen entscheiden. Berlin
ist gepfropft mit Sorgen und hat mit sich selbst zu tun.
In weichen Ruhestunden eilt zuweilen umfangend sein
Deutschgefühl zu den armen Brüdern an der Donau. Schmerz-
1 voll, an der Versailler Kette liegend, muß es sich wenden.
In Versailles sprechen sie machtpolitisch. Und der Franken
und das Pfund und die Kartoffeln lockern sich nur für den
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1536 Wien: die orientalische MBropote.
Aufbau einer österreichischen Feste gegen Berlin. In Prag
lagern die Kohlen. Aber den Pragern ist ein frierendes
Deutschtum im Rücken lieber, als ein Deutschtum, das am
warmen Ofen großdeutsche Träume spinnt, lieber Belgrad
führt der Weg zum Orient. Die Konkurrenz an der Donau
muß niedergehalten werden, bis der neue Weg, das Süd¬
slawentum erhebend, gesichert ist. In Budapest schachern
sie, die Zierzaustesten des Weltkriegs, um die deutschen Brüder
in Westungam, ums Heinzen- und Burgenland. Der eine
Bettler erpreßt den andern.
Und doch eine Zukunft für Wien. Trotz der Italiener,
die alle Waren entführen, trotz der Engländer, die ganz
Oesterreich aufkaufen. In Wien liegt eingebettet die In¬
telligenz und die Kultur von tausend Jahren. Durch Wien
strömen die Wasser der Donau, deren Brücken immer und
ewig die Lasten tragen werden, die der Orient bedarf. In
Wien kulminiert die Geldkonzentration des Ostens. Man
- wird Wien immer bedürfen. Man wird Wien niemals aus L
streichen können aus der großen Karte des Pulses von
Handel und Leben. Wien ist niedergebrochen im Krieg
und in der Sitte. Wien vergeudet seine Kräfte noch im Streite
um Vergangenes und um kleinliche Gegenwart und klein¬
liche Gegensätze. Wien sieht noch nicht die Zukunft, die
die redliche Arbeit gebiert. Wien trinkt, mit hungrigem
Magen, mehr Mokka, als ganz Deutschland. Und aus den
Stoffen, die seinen Kindern Blut und Leben geben könnten,
bäckt es für. zerknitterte Papierscheine den Parasiten Mehl¬
speisen. Mit Mokka und Mehlspeise ruiniert Wien sein inter¬
nationales Ansehen, die Valuta. Aber es wird, so gewiß wie
täglich die Sonne aufgeht, einst auch den Tag anheben, an
dem ein Wiener Jesus die Wechsler und die Pharisäer aus
dem Tempel seiner nationalen Heiligtümer jagt, ein Tag, an
dem die Besinnung zur Arbeit wiederkehrt.
Und an diesem Tage wird Wien wieder ehrlich, das heißt
deutsch sein.
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Entweder
oder! II.
1537
TH. KABELITZ:
Entweder — oder!
ii.
Wer in Deutschland zu verhungern fürchtet, der soll aus¬
wandern. So will es die Entente. Durch die Auswanderung
wird zunächst der deutsche Sozialismus geschwächt. Dann
aber sollen die ausgewanderten Proletarier sich überall auf
dem Erdball als Lohndrücker und Streikbrecher gebrauchen
lassen. Und wenn es noch so geschickt ist, wasi bleibt dem
mittellosen, der Sprache unkundigen Fremdling draußen wei¬
ter übrig? Und ist er gründlich ausgepumpt, so mag er in
irgendeinen! Erdteil hinter der Hecke verrecken. Was fragt
der siegreiche Kapitalismus der Entente danach, dessen Do¬
mäne endlich — nun endlich! — die ganze Welt geworden
ist. Das Sozialisieren und Organisieren wird den zugereisten
Deutschen fern von der Heimat schon vergehen. Dann bleibt
der Achtstundentag ein Traum, und Wahlrecht besitzen die
Fremden in der Fremde überhaupt nicht. So grinst die
Entente.
Mit welchem Recht rühmen wir uns einer materialistischen -
Geschichtsauffassung, -wenn wir nicht sehen können oder
wollen, wohin die wirtschaftliche Entwicklung treibt! Deutsch¬
land wird sich niemals mehr in der Lage sehen, den Schwer¬
punkt seines Wirtschaftslebens vorzugsweise in der Industrie
zu suchen. Das Ententekapital hat jetzt völlig freie Bahn, in
der ganzen Welt Konzessionen zu erlangen, Bahnen zu bauen,
industrielle Unternehmungen größten Stils zu beginnen und
m vollenden, die seinem und nur seinem Interesse dienen.
Weshalb soll es die Rohstoffe erst nach Europa — nach!
v Deutschland! — bringen und dort für teures Geld in Waren
verwandeln lassen, die wieder für teures Geld nach den
fremden Märkten exportiert werden müssen? An der Quelle,
Überall, wo Rohstoffe gewonnen werden, schießen in kürzester
Zeit industrielle Anlagen wie Pilze aus der Erde. Es liegt
keinerlei Grund vor zu der Annahme, daß in Asien, in Afrika
nicht ausreichend Kohlen gefunden werden können für jede
Industrie. Und den Stamm der Arbeiter in den exotischen
Werken sollen die Proletarier Europas bilden, besonders die
deutschen. Dieser Kalkül ist so furchtbar einfach und nahe¬
liegend, daß das siegreiche Ententekapital beträchtlich
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1538
Entweder — oder! II.
dümmer sein müßte, als es sich bis jetzt gezeigt hat, wollte
es die heute vielleicht noch vagen Ideen nicht morgen zu
festen Plänen formen. Darauf soll man sich beizeiten ein¬
richten, besonders in Deutschland!
Und nun greife ich zurück.
Das gesamte platte Land der Bauern fällt, nicht in den
Rahmen des Betriebsrätegesetzes. Der Schritt, den dieses
Gesetz in der Richtung zum Sozialismus bedeutet, bleibt
auf dem platten Lande ungetan. Statt der Sozialisierung des
Landbaus wird uns eine Erhöhung des Preises für Brotkorn
in Aussicht gestellt!
Mit Siedlungen und verwandten Dingen schafft man keinen
Sozialismus, dessen Grundforderung noch immer dahin geht:
Ueberführung der Produktionsmittel aus dem Privatbesitz in
den Besitz der Gesamtheit. Mit Siedlungen schafft man zehn¬
tausend neue Besitzer, die sich in aller Geschwindigkeit
zu ebenso vielen begehrlichen Stützen der kapitalistischen
Betriebsform auswachsen werden. Und wenn schon gesiedelt
werden müßte, weshalb soll das Siedlungsland nicht lieber
in die Hände der Leute fallen, die ohne Ar und Halm all
ihr Lebtag als Tagelöhner auf dem Lande gelebt haben?
Es wäre kein Rückfall in der Entwicklung, wenn auch der
— praktische! — Sozialismus da anknüpft, wo alle Kultur
begonnen hat: beim Ackerbau.
Soweit es sich nicht um den speziell gärtnerischen Be¬
trieb handelt, den die einzelne Pflanze bis auf den. Weg zur
Küche betreut, das heißt also beim landwirtschaftlichen
Flächenanbau, ist auch auf agrarischem Gebiet der Gro߬
betrieb dem Kleinbetrieb überlegen. Erinnert sei nur an die
Verwendung landwirtschaftlicher Maschinen und an die Aus¬
nutzung der Fläche für die passendste Fruchtart von seiten
des Großbetriebs. Der kleine Besitzer wird, ja er muß jede
Art Frucht anbauen, die er in Küche und Stall gebraucht.
Er baut sie selbst dann, wenn sich sein Stückchen Boden
g ar nicht für eine bestimmte Fruchtsorte eignet. Der Groß-
etrieb läßt sich beim Anbau ausschließlich durch die Rück¬
sicht aut den Ertrag leiten, der auf Eignung des Bodens für
diese oder jene Kultur beruht.
Aehnliche Erwägungen müssen dazu führen, den Acker¬
besitz jeder Dorfschaft in gemeinsamen Betrieb zu nehmen
und die Bewohnerschaft zu einer Arbeitsgemeinschaft zu¬
sammenzufassen. Ein Betriebsrat — er wird dort zur Be.-
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Entweder — oder! II.
1539
triebsleitutfg — dessen Wahl nach^ den bekannten, für das
ganze Reich gültigen Grundsätzen erfolgt, regelt alle Fragen
der Arbeit, des Anbaus, der Fruchtauswahl. Er sorgt für
rationelle Viehwirtschaft usw. und stellt schließlich den Er¬
trag der Gesamtarbeit fest. Aus der gewonnenen Frucht
wird zunächst der Bedarf der örtlichen Arbeitsgemeinschaft
sichergestellt. Der überschießende Rest bleibt als Tausch¬
ware zjur Verfügung in der Weise, daß dafür jeder andere
Gebrauchsgegenstand ins Dorf kommt, der daselbst nicht
erzeugt wird oder werden kann. Den Austausch vermittelt
die der örtlichen Betriebsleitung übergeordnete Organisation,
deren Aufbau nach dem Betriebsrätegesetz dreistufig sein
soll. Aber wohlgemerkt: Kauf und Verkauf der erzeugten
und eingeführten Waren auf kapitalistische Art findet nicht
mehr statt. Der Wert der gegebenen und empfangenen
Dinge wird ermittelt nach Marxschem Prinzip als mensch¬
liche Arbeit, die in den Produkten konkrete Erscheinungs¬
form gewinnt. Genau der Arbeitswert, welchen die Arbeits-
S meinschaft hingibt, kommt in Form anderer Produkte ins
>rt zurück.
Es liegt auf der Hand, daß die Sozialisierungen in der
Industrie sich ganz von selbst und Schlag auf Schlag an-
gliedern können und müssen, sobald mit der Ueberführung
der bebauten Ackerfläche in Gemeinbenutzung Ernst gemacht
wird. Es unterliegt auch nicht dem leisesten Zweitel, daß
von der als Schreckgespenst hingestellten Produktionsmüdig¬
keit und Ablieferungsunlust in dem Augenblick nichts mehr ge¬
hört werden wird, wenn das ganze Dorf gleichmäßig daran
interessiert ist, daß möglichst große Produktionsüberschüsse
hinausgehen, um in Form von Gebrauchsgiegenständen und
Genußmitteln wieder hereinzukommen. Schautet den Profit
aus, die Möglichkeit, daß der einzelne sich bereichert, und
alles ist. glatt.
Ueber das Ob und Wie einer Entschädigung der Besitzer
braucht sich niemand aufzuregen. Die Idee, daß jemand
das Recht haben sollte, seinen Ackerbesitz schlecht oder gar
nicht oder gar mit Unkraut zu besäen, ist als vorsündflutfich
völlig abzulehnen. Das deutsche Volk hat ein unverjährbares
Recht, zu verlangen, daß der deutsche Grund und Boden
so gut als nur immer möglich der Volksernährung dienstbar
gemacht wird. Des Volkes Wohl ist das höchste Gesetz,
nicht die Lust oder Unlust der Besitzer, nicht der Profit-
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1540
Entweder — oder! II,
hunger einzelner Klassen und Kasten. Will man aber von
Entschädigung der Besitzer reden, so dürfen zwei Gesichts¬
punkte nicht außer acht gelassen werden. Die Volksgemein¬
schaft hat keinerlei Interesse, einer Anzahl Drohnen nebst
Anhang die Mittel zu einem Schlaraffendasein auf Kosten der
Gesamtheit zur Verfügung zu stellen. Darauf liefe nämlich
eine Entschädigung in bar oder Produkten hinaus. Zweitens
aber werden die jetzigen Inhaber des Bodens, soweit sie an
der gemeinsamen Arbeit teilnehmen, aus dem Erträgnis der
Gesamtarbeit erhalten genau wie alle anderen, so daß das
Bedürfnis nach einer besonderen Entschädigung gar nicht
vorliegt.
Man kann ganze Industrien der Sozialisierung entgegen¬
führen, einerseits durch Verstaatlichung, andererseits aber auch
dadurch, daß man der Arbeiterschaft immer mehr Einfluß auf
den eigentlichen Produktionsprozeß verschafft, so daß aus
willenlosen Lohnsklaven schließlich gleichberechtigte, mit¬
bestimmende wirtschaftliche Faktoren werden. Aber die wirk¬
liche Ganzsozialisierung, welche an die Stelle des Kauf¬
wertes den Arbeitswert setzt, kann mit Erfolg nur an der
Stelle einsetzen, wo sich Produktion und Konsumtion am
engsten berühren, das ist bei der Erzeugung von Brot und
Fleisch im weitesten Sinne, also bei der Landwirtschaft.
Nur dort ist zugleich die breite Basis, welche das Schwanken
ausschließt und weiteren industriellen Sozialisierungen ,die
An- und Einfügung ohne Schwierigkeit ermöglicht.
Man hat gesagt und wird wieder sagen: Deutschland für
sich allein kann kein sozialer Staat sein oder werden, solange
in den Ländern herum die kapitalistische Wirtschaftsform
besteht. Darauf ist zu erwidern: Vor allen Dingen muß
ein Sozialist sich hüten, gedankenlos Sätze ausZQsprechen, die
er nicht selbst auf ihre Stichhaltigkeit untersucht hat — in
reiflicher Ueberlegung natürlich! — Wenn wir darauf war¬
ten wollen, daß in allen Ländern der Erde zugleich bekannt
gemacht wird: Morgen nachmittag ein Viertel nach drei
beginnt der soziale Staat, dann kommen wir überhaupt nicht
zur sozialen Republik. Oder glaubt jemand wirklich, der-
f leichen läßt sich einführen, wie etwa die mitteleuropäische
eit? Dergleichen Redensarten sind Wasser für die Klapper¬
mühlen des Kapitalismus, weiter nichts.
Es ist ohne Zweifel richtig, daß ein Wirtschaftsgebiet,
in welchem alle menschlichen Bedürfnisartikel in Form von
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Entweder — oder! II.
1541
Rohstoffen gedeihen, auf Erden nur einmal vorhanden ist, es
ist eben der Erdball selber. Weltsozialismus ist also nur
möglich, wenn und soweit sich alle Völker der Erde zu einer
einzigen, riesigen Arbeitsgemeinschaft vereinigen. Aber man
denke zum Beispiel an die Familie: Innerhalb derselben
arbeitet jeder ah seiner Stelle auf seine Art. Für die Bedürf¬
nisse aller wird dadurch gleichmäßig gesorgt. Aber Kauf
‘und Verkauf findet zwischen Familiengliedern nicht statt.
Soweit dieselben im Austausch mit andern Arbeitsgemein¬
schaften nötig werden, besorgt das Familienhäupt oder der
Familienrat alles Erforderliche auf gemeinsamer Rechnung.
Aehnlich müßte sich die Sache gestalten, wäre Deutsch¬
land ein sozialer Staat, umgeben von kapitalistischen Ländern.
In der Hand der obersten Oiganisation der dreistufigen
Landeswirtschaftsverwaltung sammelt sich das gesamte im
Lande vorhandene Barvermögen.. Innerhalb der sozialisierten
Landesgemeinschaft hat niemand ein Interesse am Besitz
von Geld. Aber mittels desselben vollzieht sich an der
Grenze der Austausch der abzustoßenden und einzuführenden
Produkte auf rein kapitalistische Art — solange es nötig sein
wird — durch die oberste Verwaltung.
Niemand darf sich entsetzen vor der gewaltigen Organi¬
sation, welche diese Dinge erfordern. Gemessen an dem
wüsten Durcheinander sich befehdender, einander bis aufs
Messer bekämpfender Kräfte der kapitalistischen Welt, er¬
scheint die Organisation des Sozialismus leicht und einfach.
Noch wenige Worte afi die Adresse empfindsamer Seelen.
Wenn -die Arbeitsgemeinschaft im Dorfe hergestellt wird,
beginnt natürlich das Geschrei der Besitzer, die sich in
ihren „heiligsten Gütern“, will sagen in ihrer Profitmacherei
gekränkt fühlen. Wer aber glaubt, daß dieselben Leute an
einem späteren Termin nicht schreien würden, der irrt sich.
Auf ein bißchen Toben, Fluchen, Schimpfen, Drohen, Viel¬
leicht auch auf etliche Handgreiflichkeiten muß man ge¬
faßt sein, jetzt wie später. Wer den Sozialismus verwirk¬
lichen will, darf sich dadurch nicht anfechten lassen. Ein¬
ziges Erfordernis bleibt, wir müssen das geeinte Proletariat
hinter uns haben. Wir werden es hinter uns haben bei jeder
vollen Sozialisierung. Darum müssen wir Emst damit machen.
— Entweder — oder!
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1542
Was ist zu tun?
Professor Ewald F. W. RASCH:
Was ist zu tun?
„Patient et vitam
IM alten Rom konzentrierte sich das Bedürfnis der prole-
1 tarischen Massen in dem Schlagwort „panem et circenses“!
(Brot und Spiele). — Heutzutage sind wir alle sehr viel be¬
scheidener geworden. Wir verzichten gern äuf Belustigungen
durch zirzensische Spiele, wir „haben nichts zu.lachen“ und
wären glücklich und zufrieden, sofern wir nur das aller¬
notwendigste der täglichen Notdurft des Leibes und Lebens
für uns und unsere Kinder aufzubringen vermöchten; Brot,
Kleider, Schuhe, Wärme, kurzum: „panem et vitam“ (Brot
und Leben).
Die soziale Frage hat sich allen niemals mit so grausamer
Deutlichkeit, wie heute, als vitale Frage, ata, Magenfrage
offenbart und es könnte, oberflächlich gesehen, die Welt¬
lage angesichts der in geometrischer Progression stetig wach¬
senden Uebervölkerung verzweifelt erscheinen, da die Er¬
zeugung der Vitalwerte , der Nahrungsmittel, Heizstoffe, Bau¬
stoffe, Kleidungsmaterialien hinter dem notwendigsten Bedarf
um so mehr zurückbleibt, je mehr den Boden durch den
bisherigen Raubbau ausgesaugt und seiner natürlichen Schätze,
der Rohstoffe, beraubt wird, aus denen Sich die genannten
Notwerte des täglichen vitalen Bedarfs aufbauen.
Aber so hoffnungslos pessimistisch ist die Weltlage
keineswegs.
Sie ist dann und nur dann hoffnungslos, wenn die Technik
ihre eigentliche und höchste Kulturaufgabe, panem et vitam,
das heißt Lebensmittel, zu erzeugen nach wie vor verkannt
und im Dividenden Wahnsinn destruktiven Zielen nachjagt ,
Was ist zu tun?
Ein allgemein gewordenes Schlagwort ^antwortet hierauf:
Wir müssen „produzieren 14 .
Aber dieses Schlagwort ist doch nur zur Hälfte richtig;
es ist gemeingefährlich und führt uns mit weiterer Beschleuni¬
gung vollends in den Abgrund, wenn es so auf gef aßt wird,
wie es die Industrie in den letzten Jahrzehnten aufgefaßt
hat und heute noch erneut aufgefaßt und durchgeführt
wissen will: Ueberproduktion von Scheinwerten, Tausch?
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,1
Was ist zu tun?
1543
werten (deren wahrer Wert beim Fehlen von Vitalwerten,
Nahrungsmitteln zum Beispiel, in nichts zusammen¬
schrumpft!), Ueberschwemmung , Vergewaltigung des Welt¬
marktes mit billigem industriellen Exportschund, Dumping -
System auf Kosten auszumergelnder, werktätiger Massen !
Die heute gepredigte Propaganda „Normalisierung, Typi¬
sierung, Massenarbeit, Spezialisierung, Taylorsystem“ deuten
darauf hin, daß man erneut darauf ausgeht, das Heil in
dem Schweiße des Proletariers zu finden, unsere Industrie¬
erzeugung so „umzustellen“, das heißt so zu verbilligen,
„daß der Ausländer unsere Waren kaufen muß“.
Es ist jedem denkfähigen Wirtschaftspolitiker seit Jahr¬
zehnten klar, daß dieses gedankenlose industrielle Schema,
diese Dumpingpolitik, Deutschlands am Weltmärkte wahn¬
witzig war und es ist offenbar, daß eine Weltallianz nunmehr
durch den Weltkrieg diese — häufig genug geradezu un¬
lautere — Ueberkonkurrenz zweckbewußt gelähmt hat und
auch in Zukunft einhellig miederhalten wird.
Ehe man diese Wahrheit und diese Tatsache nicht voll
begriffen hat, kann an eine Gesundung des Wirtschaftslebens
Deutschlands nie ernsthaft gedacht werden.
Die deutsche Industrie muß — obwohl sie es nicht will —
begreifen, daß sie höhere , sittliche Aufgaben erfüllen kann
und daß sie sich auf diese „umzuschalten“ hat. Sie muß
und kann — kurz gesagt — „aus Steinen Brot“ machen, muß
an Stelle von dreiachtelzölligen Schrauben, Rasiermessern,
Taschenspiegeln und dergleichen Exportschund wahre Vital-
werte , wahre „Produkte“ , Notwerte für das Inland durch
intellektuelle Neuerungen und Fortschritte „hervorbringen“.
Die Industrie ist diesen, ihren grundsätzlichen und höchsten
Endaufgaben geflissentlich, wie Mephisto dem Pentagramm,
aus dem Wege gegangen. „Die Erklärung für diese Tatsache
dürfte darin zu suchen sein, daß die deutsche Elektro¬
technik (und die industrielle Technik schlechthin) schon seit
längerem großen Aufgaben prinzipieller Natur . . . aus dem
Wege zu gehen pflegt und sich stattdessen auf dem Boden
der uberproduktiven Fabrikation sicher zu fühlen glaubt.“
Wären beispielsweise die Führer des alten Staates sich
ihrer sozialen Verantwortlichkeit und ihrer Aufgabe bewußt
gewesen, als Verfasser dieses im Jahre 1903 in einer dem
damaligen Präsidenten der preußischen Staatsministerien vor-
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1544
Was ist m tun?
gelegten technischen Denkschrift 1 die technische Möglichkeit
und dringende Notwendigkeit nachwies, daß der Staat die
Pflicht habe, unter Aufrichtung eines Staatsmonopois Stick¬
stof /Verbindungen (das heißt Düngemittel, Nährmittel,
Sprengstoffe) aus dem vermeintlichen Nichts der atmosphäri¬
schen Luft zu erschaffen, so steht unzweifelhaft fest, dlaß
unser Inland bei Ausbruch des Kriegs — elf Jahre später —
im hinlänglichen Maße über diejenigen Sprengstoffe und
ebenso über diejenigen Nahrungsmittel (Eiweißstoffe) ver¬
fügen konnte, die ihm fehlten und deren Mangel unseren
Zusammenbruch mit zwingender Logik und Naturnotwendig¬
keit — wie vorausgesagt — verursachen mußte.
Wie unfähig oder bösartig der Verwaltungskörper der alten
Regierung allen grundsätzlich weiterreichenden Staatsaufgaben
gegenüberstand, erhellt aus der historisch denkwürdigen Tat¬
sache, daß der völlig selbstlose — Antrag mit dem naiven
Bescheid beseitigt wurde, der Staat könne oder wolle der
Entwicklung und den Interessen der Industrie nicht vorgreifen.
So fand uns denn elf Jahre später der Krieg ohne die für
eine landwirtschaftliche Nahrungsmittelerzeugung, gleicher¬
maßen aber auch für die Kriegs- und Sprengstofftechnik
unerläßlichen Stickstoff Verbindungen: Selbst der Zucker ,
den Deutschland während des Friedens in großen Mengen
ausführen konnte, mußte bei dem mit der-Kriegserklärung
gleichzeitig proklamierten offenkundigen Staatsbankerott
zwecks Herstellung von Nitroglyzerin den unterernährten
Kindern entzogen werden. — Ebenso ist es in hunderten von
Fragen lebenswichtigster Art gegangen.
Es ist schmerzlich, zu bekennen, daß nicht etwa eine
tragische Schuld des intelligenten und unermüdlich arbeit¬
samen deutschen Volkes uns in den Abgrund gebracht hat:
dies hat der völlig unfähige, juristische Verwaltungsapparat
der alten Regierung erreicht.
v
1 Ewald Rasch. Die elektrische Gewinnung von Stickstoffverbindungen
aus der atmosphärischen Luft. Technische Denkschrift an den Reichs¬
kanzler v. Bülow vom 11. Mai 1903. (VgL hierzu auch Dingl, Polyt
Journ. 1903," Heft 17.) Verf. hat das von ihm dort angegebene Ver¬
fahren s. Z. dem Staate zur unentgeltlichen Verfügung gestellt. Heute
ist — wie vorausgesagt — die viel zu spät entwickelte Stickstoffindustrie
natürlich zum großen Schaden des Allgemeinwohles Privatmonopol
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Was ist zu tun?
1545
Er war an allen entscheidenden, verantwortlichen Stellen
mit überalterten juristischen oder technischen „Geheimräten“
durchwebt, kurzsichtigen Banausen, die als Funktionäre
der Schwerbanken und Schwerindustrie, deren „Blühen und
Gedeihen“ mit dem allgemeinen Staatswohl verwechselten:
„Geheim war, was er für den Staat
Und, was er für die Menschheit tat:
Drum heißt er auch Geheimer Rat.“
Diese Masken gehorchten den leisesten Winken ihrer ebenso
geheimen, — aber ebenso kurzsichtigen — Schutzherren von
der Schwerindustrie und sie haben letztere ebenso wie ihr
Vaterland mit den superklugen Gebärden absoluter Ignoranz
in Stücke ? ,verwaltet“.
Mit Beginn des Krieges setzt nun eine Periode tragischen
Irsinns ein, die gelegentlich gesonderter Behandlung bedarf:
das Bau- und Gründungsfieber, durch das man "all das seit
Jahrzehnten schuldhaft Verabsäumte eilfertig nachholen
wollte, Kriegsgesellschaften, Kampf aller gegen alle bis zum
bitteren Ende der totalen Selbstvernichtung.
Die restlose Beseitigung dieses Systems der geheimen Igno¬
ranz und geheimen Bösartigkeit der Verwaltung ist die erste
Und wichtigste Aufgabe jedweder Regierung, die unser Volk
vor dem völligen Untergang bewahren will.
Dann aber werden tausende meiner technischen Kollegen
bestätigen und beweisen, daß tausende neuer Probleme lebens¬
wichtiger Art zur Wirklichkeit werden,' die binnen einem
Jahrzehnt unseren Kindern wieder ein wohnliches Vaterland
und ein menschenwürdiges Dasein als Erbe hinterlassen
werden.
Staat und Industrie werden es nicht wagen dürfen, ferner¬
hin — wie seit Jahrzehnten — den intellektuellen Urheber
menschlicher Kulturfortschritte zu Tode zu hetzen und tot
zu machen. Die Technik wird und muß dann auf neuen
Gebieten an Stelle von Zerstörung, Ausmergelung, Zer-
mürbung des Volkes kulturelle Werte — panem et vitam —
erschaffen.
Tausende Techniker tragen in sich neue Probleme vitalster
Art, die jetzt durch ein verrücktes Recht, das Patentrecht, im
Keime erstickt werden: Energieerzeugung, Wärmeerzeugung,
Verwertung vermeintlicher Abfallstotfe, landwirtschaftliche,
chemische, elektrische Probleme, kurzum: „Die soziale Frage
ist eine technische Frage.“
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1546
Politische Köpfe. VH. und VIII.
Wenn nun neuerdings hier ein Lichtblick, die Errichtung
eines Technischen Reichsministeriums, auftaucht, so isit die
Mahnung gerechtfertigt:
Man ersetze hier die juristischen Staatsböcke durch tech¬
nische Gärtner!
U. EMIL:
Politische Köpfe.
VII.
Wally Zepler .
*
DINE achtunggebietende Erscheinung. Dunkles Haar,
dunkle Augen, angenehme, durchgeistigte Züge, wohl¬
klingende, modulationsiähige Stimme, echt weibliches Wesen,
das ist Wally Zepler. Kein Proletarierkind, geboren auf der
Schattenseite des Lebens, gezeugt von der Not — aus gut
bürgerlichen Kreisen kam sie, ein starker, sozialethischer
Zug veranlaßte sie, unter das' arbeitende Volk zu gehen,
ein warm empfindendes Herz trieb sie dazu, ihre reichen
Seelen- und Geistesschätze vor den Aermsten auszubreiten,
den Wissens- und Schönheitsdurst der Menschen, und be¬
sonders der Frauen und Mädchen, aus der Tiefe zu stillen.
So kam sie — gleich ihrer Schwester, die als Frauenärztin
im Proletarierviertel Berlins haust und den vom Glück Ent¬
erbten ihre Kunst, ihr Herz und alles, was sie hat, selbstlos
zur Verfügung stellt — so kam sie schon im jugendlichen
Alter zur Sozialdemokratie. Sie zählte zu dem Kreis, der
sich um die „Sozialistischen Monatshefte“ schloß und der
als der lebendige Ausdruck des heißumstrittenen' Revisionis¬
mus galt. Der genannten Zeitschrift diente sie als ständige
Mitarbeiterin; mit ruhiger Sachlichkeit und souveräner Be¬
herrschung der Materie trat sie an die Fragen heran, die
jeweilig die Gemüter bewegten. Politik, Frauenfrage, Kunst
und Wissenschaft — wo sie auch ihr Urteil einsetzte, geschah
es mit objektiver, vornehmer Würdigung aller Gesicntspunkte
und mit unbestreitbarer Sachkenntnis.
Außer ihrer schriftstellerischen Tätigkeit entfaltete sie aber
auch eine rege Wirksamkeit auf rednerischem Gebiet. Hier
trat ihr reiches Können noch unmittelbarer noch persönlicher
hervor, hier konnte sie als Referentin mit ihrer sympathischen
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Politische Köpfe. VII. und VIII.
1547
Vortragsart, ihren warmen, geistdurchtränkten Ausführungen
eine lebendige Brücke schlagen zu den Herzen und Hirnen
ihrer Zuhörer, denn sie beherrscht die höchste Kunst des
Redens: geistvoll zu sprechen und doch verständlich zu
bleiben. Im „Frauen- und Mädchen-Bildungsverein“, einem
von Frau Stock-Grunewald mit rührender Hingebung und
feinem Verständnis geleiteten und zu hoher Blüte gebrachten
Bildungszirkel für Frauen und Mädchen aus dem Arbeiter¬
stande, war Wally Zepter immer ein oft und gern gesehener
Gast. Sie ist eine geborene Pädagogin und hat die Gabe,
sich in die Psyche des einfachen Menschen hinein zu ver¬
senken. Ich habe bei ihren Vorträgen vor einem Arbeiter-*
Publikum kaum ein Zeichen der Ermüdung, der Verständnis¬
losigkeit, der Gleichgültigkeit bemerkt, alle hingen sie mit
gespanntem Interesse, mit einer still-innigen Verehrung an
den Uppen der Rednerin. An zwei Abenden in der Woche
wanderte sie jahrelang hinaus in die Arbeiterdistrikte Berlins,
um Leseabende für Frauen abzuhalten. Eine opfervolle Arbeit,
die sie fröhlich und unverdrossen leistete — für einen Gottes¬
lohn !
Alle die angeführten Eigenschaften kamen bei dieser Frau
aber erst recht wirksam zur Geltung, wenn sie im Kreis von
jungen Arbeitermädchen saß und sprach. Da muß man sie ge¬
sehen haben, um ermessen zu können, welch reines und
dankbares Feld sich solchen Personen erschließen kann, die
die Fülle ihres Herzens und Geistes in den Dienst der Volks¬
bildung und -aufklärung stellen wollen.
Da bildete sich allsonntäglich im freundlichen Raum ein
Kranz von jungen Menschenknospen, blonden, braunen,
schwarzen, mit sehnsuchtshungrigen, heißen Augen und drang¬
voll pochender Jugendlust. Aber nicht zum „Schwoof“, nicht
zur „Kintoppunterhaltung“, nein, sie kamen, um einen licht¬
vollen Vortrag Wally Zeplers zu hören und wie kaum dem
Nest entflogene Vögelchen kuschelten sie sich um ihre Leh¬
rerin und hörten — hörten über Goethe, Ibsen, Tolstoi,
Hauptmann, über Kant, Nietzsche, über Beethoven usw.
Teden. Es handelte sich jedoch nicht einfach um zusammen¬
hängende Vorträge, nach denen man wieder still und nach¬
denklich den Heimweg antritt, vielmehr entwickelte sich ein
reges Frage- und Antwortspiel, und die Vortragende ver¬
stand es meisterhaft'den jungen Küken die große, gewaltige
Geisterwelt zu erschließen, durch liebevolles Eingehen auf
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1548
Politische Köpfe. VH. und VflI.
alle Fragen sie den Geistesheroen der Menschheit nahezu-
bringen. Es waren köstliche Stunden.
Wally Zepler ist aber auch ein sprechendes Beispiel dafür,
daß eine geistig hervorragende und politisch arbeitende Frau
noch lange nicht ein „Blaustrumpf“ zu sein braucht, son¬
dern sehr wohl ihr ausgesprochen weibliches Wesen erhalten,
ja sogar noch verfeinern kann. Und wenn die Spießer
immer gewarnt haben vor der politisierenden Frau, weil
dadurch Unfriede in die Familie käme, — nun, Wally Zepler
steht politisch auf dem rechten Flügel der Sozialdemokratie,
während ihr Gatte außerhalb der Sozialdemokratie auf dem
Boden schärfster Opposition steht. Und das Familienglück
ist ungetrübt, weil Weltanschauungen, wenn sie von schöner
Duldsamkeit und Einsicht getragen sind, jede Vergewaltigung
ausschließen.
VIII.
Clara Zetkin.
Wenn einmal in späterer Zeit die Geschichte der Frauen¬
frage geschrieben wird, die gesamte Materie in ihrer ganzen
Größe und Vielgestaltigkeit, so wird ein Name besonders
hervortreten: der Name Zetkin! Besonders aber mit der
sozialistischen Frauenbewegung ist der Name unlöslich ver¬
bunden. Was Bebel für die Männerwelt war, war Clara
Zetkin für die Frauenwelt. Nur, daß sie Bebel noch an
Wissen und Vielseitigkeit übertraf, denn sie ist keine Auto¬
didaktin, sondern hatte den Lehrerinnenberuf ausgeübt, ehe
sie zur Sozialdemokratie kani.
Clara Zetkin ist in einem kleinen Orte Sachsens geboren.
Schon frühzeitig nahm sie die sozialistischen Lehren auf,
sie entsagt dem pädagogischen Beruf, um die Lehrerin von
Millionen Erwachsener zu werden. Ihr erster Mann war
Russe, und ihr Lebensweg führt sie an die klassische Quelle
der Revolution: nach Paris. Des Lebens Bitternisse verfolgen
sie. Der Mann wird krank und siecht dahin, zwei Bübchen
verlangen nach Brot und der materiellen Güter sind nur
wenige vorhanden. Aber Clara Zetkin müßte nicht die Frau
sein, als die man sie kennt. Mit unbeugsamer Energie und
Tatkraft geht sie ans Werk und steuert ihr Lebensschiff mit
starker Hand sicher an allen Klippen vorüber. Ihre hohe
Intelligenz, ihr phänomenales Wissen, ihre unverwüstliche
Schaffensfreudigkeit erleichtern ihr das schwere Werk. Sie
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Politische Köpfe. VII. und VIII.
1549
greift zur Feder und schreibt, übersetzt, erteilt Unterricht,
pflegt ihren Mann, führt die Wirtschaft, versorgt ihre Kinder,
flickt, (stopft und zeigt mit heroischem Beispiel, was eine
Frau und Mutter zu leisten vermag. Dann kommt der Tod
und nimmt ihr den Lebenskameraden. Sie kehrt nach Deutsch¬
land zurück und beginnt hier eine fruchtbare Arbeit auf
sozialistischem Gebiet. 1892 übernimmt sie die Leitung der
„Gleichheit“, das Organ für die arbeitenden Frauen und
Mädchen. Hier ist sie in ihrem eigentlichen Element. Aus
dem bescheidenen Blättchen macht sie ein Organ von inter¬
nationaler Bedeutung. Ihre starke Persönlichkeit, ihr emi¬
nentes Wissen geben der ‘Wochenzeitschrift das Gepräge.
Clara 'Zetkin beherrscht die verschiedensten Gebiete der
Politik, Wissenschaft und Kunst. Sie ist in allen Sätteln
gerecht und geradezu erstaunlich ist die Fülle ihres Wissens¬
schatzes. Sie spricht zu fünf, sechs Nationen in der Sprache
der Heimat, sie verfügt über gründliche Kenntnisse in der
Politik, in der Geschichte^ in der Nationalökonomie, in der
Naturwissenschaft, sie ist im Reiche der schönen Literatur zu
Hause und ebenso in der Musik. Auf der Höhe ihrer Erfolge
war es eine Sensation, wenn sie als Rednerin auftrat. Sie
sprach vor Studenten, vor Arbeitern und Arbeiterinnen, —
immer geistvoll, sprühend von Temperament und Feuer. Ab¬
gesehen von Bebel, war sie die einzige von allen Rednern
der Sozialdemokratie, die mit Getrampel und Händeklatschen
im Saal empfangen wurde. Sie sprach vollständig frei und
ließ den Schatz ihres Wissens wie Diamanten funkeln. Ihr
hübsches frisches Gesicht mit den rehbraunen Augen glühte
vor innerer Erregung, ab und zu fiel eine goldblonde naar¬
strähne über die Schläfe, dann strich eine energische Hand¬
bewegung die widerspenstige Locke wieder an ihren Platz
zurück. ihr geradezu erstaunliches Gedächtnis kam ihr beim
Reden sehr zu statten, und oft genug habe ich es erlebt, daß
bürgerliche Journalisten den Stift hinlegten und sagten: das
ist doch fabelhaft, was diese Frau im Kopfe hat!
Sie hatte eine große Gemeinde, und viele verehrten sie ab¬
göttisch. Mit ihren kleinen Schwächen und großen Vorzügen,
mit ihrem reichen Geist, ihrer stetigen Hilfsbereitschaft,
ihrer anerkannten Herzensgüte erwarb sie sich ausgedehnte
Sympathien. Wo sie helfen konnte, tat sie es, wo sie jemanden
fördern konnte, griff sie zu, und hatte sie ein junges Talent
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1550
Politische Köpfe. VII. und VIII.
entdeckt, so schrieb sie sich die Finger wund, um ihm
moralische und materielle Hilfe zu verschaffen. Ihre Arbeits¬
kraft war unverwüstlich. Nichts konnte sie von der Arbeit
abbringen. Ein schweres Herzleiden machte ihr in den letzten
Jahren viel zu schaffen, sie trotzte ihm mit Energie und
Zähigkeit. Eine Augenkrankheit raubte ihr auf einige Zeit
die Sehkraft, — sie arbeitete trotz alledem. Ihre ganze Liebe
galt ihrer „Gleichheit“. Viele Journalisten, weibliche und
auch männliche, haben bei ihr die ersten Gehversuche unter¬
nommen. Und sie hat ihnen treusorgend die Hand geführt,
hat ihre Fortschritte beobachtet und sich gefreut, wenn
die junge Kraft sich gut entwickelte. Ihr Organ gestaltete
sie mit großer Liebe aus. Trotzdem kamen auf den Partei¬
tagen Klagen, daß die „Gleichheit“ zu hoch schriebe, daß
einfache Leser es nicht verstehen könnten. Sie antwortete,
sie könne ihre Schreibweise nicht auf die unterste Leserschicht
einstellen, sondern diese müßten sich zu ihr hinauf ent*
wickeln und sie erhielt fast einmütige Zustimmung. Ihre
Artikel über Frauenfragen, über Kunst und Dichtung waren
prachtvoll geschrieben, ihre Kinderbeilage das Zarteste und
entzückendste, was sich denken läßt.
Seit Jahren wohnt Clara Zetkin mit ihrem zweiten Manne,
einem Maler und Architekten, bei Stuttgart, tief und einsam
im Degerlocher Wald, Sie ist nicht mehr in der Partei und
leitet nicht mehr die „Gleichheit“. Der Gluthauch ihrer
Seele, ihre vulkanische Natur hat sie zum äußersten Flügel
der Opposition hingetrieben. So ist das politische Band
zerrissen, das sie mit vielen Tausenden zusammen hielt. Aber
als Mensch wird sie im Herzen derer weiterleben, die von
der Lauterkeit ihres Charakters und der Reinheit und Größe
ihres Zieles auch heute noch überzeugt sind.
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Der Prozeß Erzberger-Helfferich. __ 1551
M. BEER:
Der Prozeß Erzberger-Helfferich.
r\EÜTSCHLANDS größter Krieg ist an der politischen
^ Unfähigkeit des deutschen Volkes gescheitert. In seinem
Heere, seiner Flotte, seinen U-Booten, besaß es Instrumente,
die, von Staatsmännern im richtigen Augenblick in Bewegung
gesetzt und gehandhabt, ungeahnte imperialistische Größe
hätten bringen können. Aber die Kultur der deutschen
Nation wurde seit der Reichsgründung in zunehmendem Maße
eine korpsstudentische und kasernenmäßige. Der politische
Horizont, das politische Wissen und Können des deutschen
Bürgers nahmen quadratisch ab mit dem Wachsen der po¬
litischen Aufgaben des Reichs. Das Volk konnte seinen Kaiser
und seine Führer nicht erziehen; und diese blieben, was
sie waren: Korpsstudenten und Militärs. Befehlen und ge¬
horchen, duellieren und Karriere machen. Wilhelm II. war
ein Korpsstudent par exeellence. Seine Politik und seine Rand¬
bemerkungen rochen nach Offizierkasino und Frühschoppen.
Die unvergleichlichen Kriegsinstrumente wurden zur Unrechten
Zeit, zu der von den Feinden bestimmten Zeit in Bewegung
gesetzt und schlecht gehandhabt. Und als der Mißerfolg
in die Nähe rückte, griff oben eine Kopflosigkeit um sich,
und subalterne Köpfe, machtlüsteme Abenteurer und betrieb¬
same Agenten begannen sich breit zu machen. Was für
Gestalten tauchten nicht im verhängnisvollen Sommer 1917
auf! Man verteilte bereits Portefeuilles, man stellte Kabinette
auf, man warf sich in staatsmännische Positur.
Eine dieser Gestalten war Matthias Erzberger. Patriot
und Geschäftsmann, reiselustig und diplomatisierend, — eine
charakteristische Gestalt des wilhelminischen Zeitalters, —
der Periode der politischen Commis voyageurs. Er erlangte
einen ungeheuren Einfluß in Regierungskreisen, die sich
aber nur widerwillig ihm unterwarfen und ihre Zeit der
Wiedervergeltung abwarteten. Er war nicht von der Kaste.
Er war doch nur einer von den Reichstagskerls. Helfferich,
Korpsstudent und Finanzmann, war in der Wahl seiner
Familienverhältnisse vorsichtiger und hatte es nicht nötig,
Geschäfte für sich zu suchen. Als Universitätsprofessor,
Bankdirektor und Finanzminister blickte er stirnrunzelnd von
der olympischen Höhe auf den geschäftigen Matthias herab,
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t
1552 Der Prozeß Er 2 berger-Helfferich.
11 111 . . " 1 ) ■ ■■■■- ■ "■ 1 — 1 ■ ■ ■ " ■' 1 ' !■■■■.
anfangs wohl mit Geringschätzung, dann mit Mißgunst und
Beängstigung. Bei Kriegsbeginn waren sie beide annexio-
nistisch, seit 1917 schieden sich ihre Wege. Erzberger mit
seinem untrüglichen Instinkt für Erfolg und Mißerfolg rückte -
von den Annexionisten ab und begann für einen an¬
nexionslosen Frieden zu wirken, „wie er ihn auffaßte". Er
war einer der Urheber der Friedensresolution vom 19. Juli
•1917. Seit dieser Zeit schwur Helfferich ihm Feindschaft und
Rache und fand Helfershelfer bei den deutschvölkisch ge¬
sinnten Geheimräten, denen der schwäbische Volksschullehrer
mit dem semitisch klingenden Namen auf die Nerven fiel.
Die Deutschnationalen meinen nämlich, er heiße eigentlich
Mättisjahu Herzberg. Helfferich wappnete sich mit dem
Königsberger kategorischen Imperativ und sammelte bald die
Mannen, die gegen das korrumpierende Wirken Erzbergers
aussagen konnten. Inzwischen erfolgte der Zusammenbruch
des deutschen Heeres und Erzberger schwang sich inmitten
der allgemeinen Deroute zum eigentlichen Sprachorgan der
deutschen Nation auf. Die schmählichen Waffenstillstands¬
bedingungen Werden auf ewig mit dem Namen Erzberger
verknüpft sein. Das ist Strafe genug. Das Kreuzverhör durch
Helfferich und der Schuß Hirschrelds sind Nadelstiche im
Vergleich zum historischen Brandmal, das Foch ihm auf-
drückte. Erzberger wurde dann Minister der deutschen Re¬
publik und ergriff bald die Gelegenheit, die Kriegsfinanz-
s politik Helfferichs einer scharfen Kritik zu unterziehen. Das
Duell hatte begonnen. Helfferich sammelte sein Material
fein säuberlich und aktenmäßig und warf es in Form einer
Flugschrift an den Kopf Erzbergers: J’accu$e. Erzberger
sei ein politisch-parlamentarischer Geschäftemacher und habe
sich durch seine politische Stellung geschäftliche Vorteile
verschafft. Das ist die Anklage, für die Helfferich im großen
ganzen hinreichende Beweise erbracht hat.
Aber er ist auch staatswissenschaftlich genug vorgebildet,
um einzusehen, daß seine Anklage weit über das enggesteckte
Einzel ziel hinaus treffen und verwunden könnte. Er beeilte
sich deshalb, hinzuzufügen, daß man nichts dagegen haben
kpnne, wenn einflußreiche Parlamentarier, die aus Industrie¬
gruppen hervorgegangen sind, sich für ihre Gruppen ein-
setzen.
Helfferich unterscheidet zwischen Einzel- und Gruppen¬
interessen. Jene könnten mit den Staatsinteressen in Kollision
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Der Prozeß Erzberger-Helfferich.
1553
geraten, diese aber nicht. Mit dieser Unterscheidung können
wir uns nicht einverstanden lerklären. Sie ist, wie man im
Englischen sagt: „a distinction without a differente“. Po¬
litische Korruption bleibt nicht minder Korruption, wenn sie
von einem Einzelmenschen oder von einem Syndikat be¬
trieben wird. Wir Sozialisten bekämpfen ja den Klassenstaat,
weil er einzelnen Schichten die politische Macht und somit
die ökonomische Möglichkeit gibt, sich auf Kosten der All¬
gemeinheit zu bereichern. Diejenige Schicht, die am Hebel
des Staates oder der Gesetzgebung sitzt, bewegt ihn zu ihren
Gunsten. Ja, man braucht nicht einmal Sozialist zu sein, um
den politischen Einfluß besonderer Wirtschaftsgruppen zu
verurteilen. Eines der Argumente der ^Freihändler ist, daß
der Schutzzoll unsittlich sei, weil er einzelnen Wirtschafts¬
gruppen die Möglichkeit gewährt, ihren politisch-parlamen¬
tarischen Einfluß zugunsten bestimmter Waren und Inter¬
essen geltend zu machen und die Gesetzgebung zu kor¬
rumpieren. Und haben es nicht die Agrarier ihrem politischen
Einfluß zu verdanken, daß Getreidezölle eingeführt wurden?
Oder die Schwerindustriellen, daß ihre Produkte geschützt
wurden? Helfferichs Logik läuft tatsächlich darauf hinaus;
daß. der einzelne Dieb sich strafbar macht, während eine
Gruppe von Dieben rechtmäßig ihr Handwerk ausübt. Den- -
noch ist das Prinzip, von dem Helfferich ausgeht, sehr richtig:
Politiker sollen darauf sehen, daß ihre Einzelinteressen nicht
mit den Gemeininteressen in Kollision geraten. Die Durch¬
führung dieses Prinzips ist jedoch in einem auf individuellem
Eigentum beruhenden Staate unmöglich. Kollisionen sind
da unvermeidlich, weil da individuelle Interessen not¬
wendigerweise in einen Gegensatz zueinander und zur All¬
gemeinheit geraten. Der beste Beweis hierfür ist das Vor¬
handensein von Gerichten, unzähligen Zivil- und Strafgesetzen,
Polizisten und Gendarmen, die sämtlich nur den Zweck haben,
in die unendlichen Interessenkollisionen einzugreifen. Nur
in einem Gemeinschaftsstaat, in einer kollektivistischen Ge¬
sellschaft werden sich die Interessen des Eihzelbürgersi mit
denen der Gemeinschaft decken.
Der Unterschied zwischen Helfferich und Erzberger ist
also ein minimaler, — das heißt vom sozialökonömischen "
Standpunkte aus gesehen. Nur fragt es sich, warum Helfferich
sich erst an Kant erinnerte, als Erzberger seine Kriegshaltung
geändert hat. Wäre letzterer Annexionist geblieben, er würde
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1554
BlldieissäiiaM.
wahrscheinlich seine Spätzle in aller Ruhe verdaut habeg
können. Und er würde auch Annexionist geblieben sein,
wenn Mars seine Gunst nicht dem deutschen Heer entzogen
hätte. Mars macht Völker und Individuen zu Tugendbolden
und zu Verbrechern, ie nachdem sie gewinnen oder ver¬
lieren. Und das ist die, pragmatische Moral von der bis¬
herigen Menschheitsgeschichte: Erfolg haben und sich nicht
erwischen lassen.
Bücherschau.
Professor Dr. Karl Horn: Licht und Finsternis. Ein optisches
Experimentierbuch für die Jugend. I. Teil: Blendenbilder.
Verlag Bruno Kuehn, München, Heßstraße 58.
Der Verfasser, ein Verfechter des idealen Sozialismus, ist
bei den Münchener Maikämpfen des vergangenen Jahres ums
Leben gekommen. Sein eigenartiges und überaus interessantes
-Werk macht die experimentelle Lichtschattenlehre den wei¬
testen Kreisen zugänglich. Die Verbindung von Experiment
und geistigem Durchschauen ist in anregendster Weise her-
gestellt. Horn trägt dem ausgesprochenen Experimentiertrieb
der Jugend aufs glücklichste Rechnung und gibt einen treff¬
lichen Ausschnitt aus einem Teilgebiete der Physik, der
dem Arbeitsunterricht sich in glücklichster Form nähert und
für Schülerübungen besonders brauchbar ist. Aber nicht
genug damit! Der Verfasser steckt sich höhere Ziele: „In
das schöne Reich des Lichts, der Farben und der Bilder
die Jugend einzuführen und ihr ein Wegweiser zu sein in das
sie alltäglich umgebende Licht und die Farben weit, damit sie
an der Betrachtung der wechselvollen, aus Licht und Schatten
hervorgezauberten Bilder sich für die ganze übrige Welt und
für das Leben, das leibliche und geistige Auge erfreue und
bilde — das ist die Aufgabe der beschriebenen Lichtexperi¬
mente, an denen sich ein großer Teil in den heutigen phy¬
sikalischer. und optischen Lehrbüchern noch nicht findet.“ —
Und diese Aufgabe wird schon im vorliegenden 1. Teil auf
82 Seiten in vorzüglicher Weise gelöst. Die Hilfsmittel,
die benötigt werden, sind leicht zu beschaffen. Auch auf
andere Wissens- und Kunstgebiete greift die Darstellung über:
Elementargeometrie, Zeichenunterricht und Lichtschattenlehre
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Bücherschau.
1555
gehen Hand m Hand. Die beigefügten Abbildungen sind
teilweise recht gut, andere sind in der Komposition etwas
überladen und bieten des Guten zuviel. Sie wirken daher
verwirrend auf den Experimentator.
Einzelne Kapitel handeln vom Sonnenbild und seinen Ver¬
wandlungen, von der künstlichen Ringsonne, von künstlichen ^
Sonnenflecken und den wichtigsten Bildformen des täglichen
Lebens, „Ehe man's gewahr wird, werden aus Lichtscnatten-
flecken Ornamente und inmitten wissenschaftlicher Forschung
entsteht, wenn auch noch so flüchtig, ein Moment künst¬
lerischen Genießens, das uns die nüchternen Naturelemente,
mit denen wir es zu tun haben, vorübergehend zu beseelen
vermag.“ Und weiterhin r „Keine menschliche Geistes regung,
keine Naturtatsache gibt es, die nicht durch ein Bikf den
anschaulichen Ausdruck fände, nach bildlicher Gestaltung
drängt alles.“ Im Kapitel „Das Bild als Lehrer und Arzt“
wird auf die Kunst des Abwägens von Licht und Finsternis
hingewiesen und selbst die Erscheinungen des politischen
Lebens werden gewissermaßen sub quadam specie lucis' an¬
gesehen. „Nie könnten doch die Gesetze des Bildes und
des Lichtschattenwägens zum Lehrmeister für das höchste
Ziel menschlicher Vollkommenheit, nie könnten tiefer ver¬
standene Bilder zu Lehrern und Aerzten für ungleich gewich¬
tige, pathologische und einseitige Menschen und Zustände
werden!“ — Im Schlußkapitel über „Bildgesetze als Welt¬
gesetze“ resümiert der Verfasser, „daß im Auge sich nicht
nur physisch die Welt und ihre Gesetze, ihre Licht- und
Schattenseiten malen, sondern, daß alles, was auf der Netz¬
haut vor sich geht, weit, weit hinter die Netzhaut zurück
dringt, hinein bis zum Sitze der allerinnersten Menschen¬
seele.“
Als weitere Bände sind in Vorbereitung: Band 2: Spiegel¬
bilder; Band 3: Platten- und Prismenbilder; Band 4: Linsen¬
bilder. Nach dem oben Gesagten darf man wohl auf diese
gespannt sein. Dr. Kurt Nägler.
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1556
Eingelaufene Schriften.
Hans Delbrück: Kautsky und Harden. Verlag Karl Curtius.
Berlin 1920. Preis 3,20 Mark.
Wilhelm Wiskott: Vom Bundesstaat deutscher Fürsten zum
Nationalen Volksstaat. Verlag Karl Curtius. Berlin 1920.
Preis 2,80 Mark.
Dr. C. Melchior: Deutschlands finanzielle Verpflichtungen
aus dem Friedensvertrag. Verlag H. R. Engelmann.
Berlin 1920.
Dr. Max - Lohan: Der Vertrag von Versailles. (Gemein¬
verständlich dargestellt'und erläutert. Mit einer Karte.)
Verlag der Kulturliga. Berlin W 1920. Preis. 2,— Mark.
Bulletin der Studiengesellschaft für soziale Folgen des
Krieges: Die Bevölkerungsbewegung im Weltkrieg, von
Christian Döring. Kopenhagen, im Januar 1920.
Dr. E. Jenny: Die Errungenschaften der Revolution. Verlag
August Scherl. Berlin 1920.
Wilhelm Buck: Was ist im deutschen Volksstaat erreicht?
Verlag Kaden & Co. Dresden-A. Preis 1,— Mark.
Emil Kloth: Ein Jahr Rede - und Räterepublik. Staatspoliti¬
scher Verlag (Deutsche Volkspartei). Berlin 1919.
Paul Bröcker: Die Arbeitnehmer bewegung. Deutschnationale
Verlagsanstalt. Hamburg 36. Preis 3,50 Mark.
A. Heinrichsbauer-Essen: Die Kohlennot — der Ruin Deutsch -
/ lands. Zeitfragenverlag. Berlin-Zehlendorf-West 1920.
Das Programm der Kommunistischen Partei Rußlands (Bol-
schewiks). Frankes Verlag. Leipzig 1920. Preis
—,50 Mark.
Die Kommunistische Internationale. Nr. 2 und 3. Moskau
und Petersburg 1919.
Bela Kun: Was wollen die Kommunisten? Verlag Louis
Cahnbley. Hamburg 11 1920.
Heinz Fenner: Die Propagandaschulen der Bolschewisten.
Verlag der Kulturliga. Berlin 1920. Preis. 1,50 Mark.
i
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DER
Hi
«H ELTERN / MEHREIL UND BEHÖRDEN
HEßAlATGrEOE&EM VOM JE* W' U TL, TL, IE
k£QI ERUNCfS ' 'J. SCHULRAT /. MINISTERIUM FÖR. 'WISSENSCHAFT /KUNST U. VOLKS ÖUDUNO
Der Elternbeirat »»"•oeMet.
_ der Schule und Erziehung aus
der Feder namhafter Pädagogen, Schulpolitiker und Aerzte
und will damit den Elternbeiräten, deren tätige Mitarbeit an
dem Blatte vorgesehen und erstrebt wird, das wissenschaft¬
liche Rüstzeug zur Ausübung ihrer Tätigkeit und Gelegenheit
zur Aussprache über alle einschlägigen Fragen geben. Einen
parteipolitischen Standpunkt wird diese Zeitschrift nicht
vertreten
' i
Wir hoffen so tatkräftig daran mitzuwirken, daß die junge
Generation unter zeitgemäßer Führung ins tätige Leben eintritt
Der Elternbeirat erscheint zweimal im Monat, um¬
faßt 32 Seiten und kostet vierteljährlich Mk. 5,50
ausschließlich Bestellgeld, vom Verlag direkt
unter Streifband Mk.6,—, das Einzelheft Mk. 1,—
Bestellungen auf den „Elternbeirat“ nehmen alle Postämter
und der Verlag entgegen
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
BERLIN S V/ 68, LINDENSTRASSE 114
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Die Zeitschrift sachlicher und loyaler Politik
• * r« 1
DIE DEUTSCHE NATION
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Bezugspreise:
Abonnement: vierteljährlich 3 Hefte 4,— Mark
Jahrespreis 15 Mark / Einzelpreis des Heftes 1,50Mark ;
, „ /
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Verlag fUr Sozialwissenschaft
Berlin SW SS
Lindenstr. 114
Herausgeber: Dr. A. Helphand, Berlin. Verantworte Schriftleiter: M.Beer, Berlin-Karlshorst.
Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, Lindenstraße 114. Fernruf: Moritz¬
platz 2218,1448—1450. — Druck: Photogravur G. m.b. HL, Berlin SW 68, LindenstraOe 114*
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). Jahrg. 2. Band Ni 50
13. März 1920
50 Pfennig
Verlag für Sozial Wissenschaft, Berlin SW 6$
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INHALT DIESER
An die Leser der „Glocke“ » ^ 1557.'
M. Beer: Die Straßburger Tagung der Iran- \
zösischen Sozialisten. I. und II. . . r v. « . 1558'
* V i
Peter Knute: Budapest.. . 1562
Arthur Hopfner: Strömungen in den deutschen /
' * l , % ■■
Gewerkschaften.. . / . vl^Sl
U. Emil: Politische Köpfe: IX. Adolf Hoffnianti
und X. Haenisch.. . .,1572
1 _ ^ - - ' „ * , * '*T 6 ‘
Herman George Scheffauer: Feder und Schwert 1575
Rechtsanwalt Dr. L. Bendix: Rechtsprechung def
Reichsgerichts in Strafsachen und das Rechts«^, > :
bewußtsein des Volkes.", . 1578
Bücherschau: Dr. K. Roller „Zur Reform der:
Volksschullehrerbildung und Landschule und \ ?
Einheitsschule; Prof. A. Einstein „(Jeher die^
spezielle und allgemeine Relativitätstheorie“ 1588
Eingelaufene Schriften.. . 1588
Nummer 49 der „Glocke“ hatte folgenden Inhaft:
Parvus: Deutschland und Rußland .... . 1525
Dr. Roderich von Ungern-Sternherg: Kadetten . • >
und Bolschewiki.. . 1529
Peter Knute: Wien: die orientalische Metropole 1532 *
Th. Kabelitz: Entweder — oder! II. . ... . 1587
Professor Ewald F. W. Rasch: Was ist zu tun? \1542
U. Emil: Politische Köpfe. VII. und VIII. . . 1546
M. Beer: Der Prozeß Erzberger-Helfferich .• '. 155X
Bücherschau: Professor Dr. Karl Horn „Licht
und Finsternis“.. 1554
Eingelaufene Schriften. 1556
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DE GLOCKE
50. Heft ' 13. März 1920 5. Jahrg.
Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet
An die Leser der „Glocke“..
MIT dem 1. April tritt die „Glocke“ in den 6. Jahrgang
iV1 ein. Sie hat die Stürme des Krieges und die allgemeine
Unrast des ersten Friedensjahres gut üfyerstanden und soll
nunmehr, den wachsenden Aufgaben der Zeit entsprechend,
weiter ausgebaut werden* Vor allem soll sie an Aktualität
f ewinnen. Das Leben der Gegenwart soll sie durchpulsen.
’ivos voco. Die Wirtschaftsprobleme unserer'Zeit: Soziali¬
sierung, Wiederaufbau, industrielle Entwicklung, sollen unsere
besondere Aufmerksamkeit haben.. Aber nicht minder die
sozialistische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung aller
Länder. Mehr denn je ist Deutschland an diesen Entwick¬
lungen und Bewegungen interessiert. Zu diesem Zwecke
wird die „Glocke“ durch Beilagen und Ergänzungshefte er¬
weitert werden.
Es wäre uns am liebsten, wenn wir unsere neuen Auf¬
gaben der Verbesserung und Ausgestaltung iin Angriff nehmen
Könnten, ohne unsere Leser mit einem neuen Kostenaufwand
belasten zu müssen. Die rapide Steigerung der Druck- und
Papierpreise sowie der allgemeinen Geschäftsunkosten ist
aber derart, daß wir gezwungen sind, vom 1. April ab
den Bezugspreis für das Vierteljahr auf 10 Mark
für das Einzelheft auf 1 Mark zu erhöhen.
Unsere Leser, die uns all diese Jahre treu geblieben sind,
werden. sicherlich Verständnis haben für die Zwangslage, in
der wir uns befinden, und werden uns auch fernerhin unter¬
stützen in der Bemühung, eine freie Tribüne zu bilden für
die Vergeistigung des Sozialismus, für die Durchsetzung
unseres Lebens mit sozialistischem Geiste, für den Wieder¬
aufbau und die Erstarkung des Deutschen Reiches.
Verlag und Redaktion der »Glocke“.
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Original fro-m
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M. BEER:
Die Straßburger Tagung
der französischen Sozialisten.
i.
I TNMITTELBAR nach dem Hinscheiden Eduard Vaillants,
u des Kommunards und Führers des revolutionären Prole¬
tariats von Paris, schrieb Gustav Rouanet in der „Humanitö“
vom 19. Dezember 1915 seine Erinnerungen an den Ver¬
blichenen und erzählte unter anderem folgende Episode:
„In meinem Gedächtnis haftet noch ein wort, das ihm eines
Tages entschlüpfte, als ich mich mit ihm und Jaur£s im
Eisenbahnzuge nicht weit von Straßburg befand. Unsere Fahrt
ging zum Stuttgarter Internationalen Sozialistischen Kongreß
(1907). Es war am Morgen nach unserem Parteitag von
Nancy, wo Vaillant zum ersten Male seinen berühmten Antrag
f gestellt hatte, daß man eher zum Generalstreik oder zur
nsurrektion greifen müßte, als daß man es zu einem Kriege
zwischen Deutschland und Frankreich kommen lassen sollte.
Vaillant stand auf und blickte nachdenklich zum Fenster
hinaus. Plötzlich wandte er sich um, faßte uns ernst ins
Auge und rief aus, indem er mit einer Handbewegung aufs
elsässische Land wies:
„Welch schönes französisches Land! Denn all das ist
noch ein Stuck Frankreich!“
Und seine Stimme bebte vor unaussprechlicher Erregung.
Ganz gerührt erzählte er uns von seinen Spaziergängen,
die er als Student mit seinen deutschen und elsässischen
Kommilitonen von Heidelberg nach Straßburg zu machen
pflegte. Vaillant sagte:
„Als wir auf unseren Spaziergängen den Rhein erreichten,
sahen wir auf dem andern Ufer den Boden Frankreichs und
den Turm der Kathedrale von Straßburg.“ —
Wie stürmisch würde die Freude des alten Kommunards
und Blanquisten gewesen sein, wenn er den Kongreß ^ der
französischen Sozialisten erlebt hätte, der Ende Februar
1920 in Straßburg, auf französischem Boden, stattfand! Denn
die Liebe zu Frankreich durchzitterte jedes seiner Worte und
die tief verwobene Empfindung, daß Elsaß-Lothringen ein
Stück Frankreich bildete, war seit 1871 auch dem größten
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Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisten. 1559
Teile des französischen Proletariats eigen. Die Frage, die
die Nationalisten von den Sozialisten trennte, war nur, ob
jene Lande durch Gewalt oder durch Ausbreitung der Demo¬
kratie wieder mit Frankreich vereinigt werden sollten. Als
dann im Juli 1914 die Lösung durch Gewalt herannahte,
wurde das französische Proletariat von der patriotischen
Strömung leicht mitgerissen. Militaristen und Antimilitaristen,
die Sänger der. „Marseillaise“ und die -Sänger der „Inter¬
nationale“ folgten der berauschenden Musik der Regiments¬
kapelle. Am 30. Juli 1914 klagte die „Humanite“ ? daß im
Gegensatz zur deutschen Regierung, die in Berlin große
Friedensdemonstrationen gestattete, die französische Regie¬
rung derartige Versammlungen untersagte. Am 29. Juli 1914,
als Poincare undj/iviani aus Petersburg zurückkehrten, wurde
die „Union sacree“ (Burgfrieden) zwischen Jouhaux, dem
Vertreter der Conjederation Generale du Travail (Gewerk¬
schaftsbund) und den Behörden geschlossen. Aus den vielen
früheren Antimilitaristen und Syndikalisten wurden Jusqu'au-
boutisten (Anhänger des Kriegs bis ans Ende).
Jean Jaures wurde von den Nationalisten gemeuchelt. Jules
Guesde und Marcel Sembat traten in die Regierung ein.
Auf Jaures folgte Pierre Renaudel als Chefredakteur der
„Humanite“, Herves „Guerre Sociale“ verwandelte sich in
die „Victoire“, die „Bataille Syndicaliste“ in die „Bataille“.
Nur ein kleines Häuflein von Syndikalisten und Sozialisten
blieb dem alten Ideale des innern Klassenkampfes und äußern
Friedens treu und schickte im September 1915 von den
Syndikalisten: Bourderon und Merrheim, von den Sozialisten
Brizon, Blanc und Ruffin-Dugens nach Zimmerwald. Immer¬
hin beschlossen auch die Sozialisten auf ihren Kongressen,
keine einfache Annexion Elsaß-Lothringens zU dulden, sondern
eine Abstimmung der Einwohner zu verlangen.
Nach dem Ausbruch der russischen Revolution im März
1917 entstanden tiefere Spaltungen in der sozialistischen
Partei. Die Minderheit, von Longuet geführt, wirkte für die
Wiederaufnahme der internationalen Beziehungen noch wäh¬
rend des Krieges, im übrigen aber alle Kriegskredite zu be¬
willigen. Nur die äußerste Linke, bestehend aus Brizon,
Blanc und Ruffin-Dugens, verweigerte die Kredite. Die Frage
der Stockholmer Konferenz (Sommer 1917) verschärfte die
Spaltungen; es bildete sich eine Rechte (Compere-Moiel),
ein Zentrum (Cachin) und eine Linke (Longuet). Das Zen-
50'1*
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1560 Pie Straßburger Tagung der französischen Sozialisten.
trum übernahm die „Humanit€“, die Rechte (etwa 40 Prozent
der Fraktion) gründete die „France Libre“, die Linke schuf
sich im April 1918 den „Populaire“. Auf den Gewerkschafts¬
konferenzen nahm der Kampf gegen Jouhaux schärfere For¬
men an.
Im Herbst 1918, als der Sieg der Entente gesichert war und
als die Bolschewisten ihre Herrschaft befestigten, ging ein
Erwachen durch die Reihen der französischen Sozialisten. Im
Oktober 1918 hielt die Partei ihren Kongreß in Paris ab.
Die Delegierten beschäftigten sich mit dem Antrag gegen
eine Intervention der Entente in Rußland. Longuet war der
Hauptredner. Inmitten seiner Rede erschollen plötzlich be¬
geisterte Rufe: „Es lebe die Sowjetrepublik! 11 Das Eis war
gebrochen. Der Kampf um die Internationale begann. Es
war nicht mehr die Frage der Wiederaufnahme der inter¬
nationalen Beziehungen, sondern, ob die Partei sich der zwei¬
ten oder der dritten (Moskauer) Internationale anschließen
soll: Demokratie oder Diktatur des Proletariats.
II.
Die erste Internationale (1864—1872) war ein kleiner Kör¬
per mit einer revolutionären Seele. Die zweite Internationale
(1889—?) war ein umfangreicher Körper mit einer opportu¬
nistischen Seele; sie brach im Weltkrieg zusammen, wie das
Völkerrecht und andere internationale Institute. Sie scheiterte
angeblich an -der Abschwächung der Marxschen Klassen¬
kampflehre, am Opportunismus, am Mangfel an einer festen
proletarischen Friedenspolitik; in letzter Analyse aber zer¬
schellte die zweite Internationale an den starken national¬
politischen Empfindungen der Volksmassen, an den irratio¬
nalen Trieben aer Menschen. Aber wir Sozialisten haben uns
mit der modernen Psychologie wenig beschäftigt. Wir glaub¬
ten, daßf Oekonomie und Vernunft ausschlaggebende Motive
für menschliche Handlungen lieferten. Und als der Krieg
kam und die Massen trotz der Klassenkampflehre und der
Vernunftgründe den berauschenden Klängen der Schlachten¬
musik folgten, da begannen die gegenseitigen Anklagen über
Abfall und Verrat. Die Internationale zerfiel; die Kriegs¬
politik teilte das Proletariat in Ententesozialisten und Zentral¬
sozialisten und vernichtete scheinbar die ganze theoretische
Erziehung, die die sozialistischen Lehrer uns seit einem
halben Jahrhundert gegeben hatten. Die Raubtierinstinkte
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Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisten. 1561
tobten sich indes nach und nach aus und die Proletarier
empfanden die Leere, die der Zusammenbruch der alten
Ideale und -Hoffnungen erzeugt hatte. In diesem psycho¬
logischen Moment. tauchten die siegreichen russischen Bol¬
schewisten mit Lenin an der Spitze auf und füllten die leeren
Herzen mit neuen Hoffnungen und mit der alten Marx-
schen Lehre vom rücksichtslosen Klassenkampf und der pro¬
letarischen Diktatur. Aber wir vergessen wiederum, daß im
Bolschewismus ein Stück Nationalismus liegt. Marx ist sein
Vater, aber die tiefe Empfindung des nationalen Zusammen¬
bruchs Rußlands ist seine Mutter. Aehnlich war es in der
Pariser Kommune. Die nationale Niederlage und Schmach,
verbunden mit den Theorien Proudhons, Blanquis und
Marxens, schufen die Kommune. Und wenn Spartakus durch¬
gehalten hätte, würde ihm — bei Friedensunterzeichnung —
ein großer Teil der freideutschen nationalen Jugend zu¬
geströmt seirj.»
Seit Oktober 1918 tobt unter den französischen Sozialisten
der Kampf um die Internationale, was aber das Wachsen
der Partei nicht verhinderte. Damals zählte die Partei im
ganzen 34 000 zahlende Mitglieder, jetzt 150 000. Die Mit¬
glieder, die während des Jahres 1919 der Partei zuströmten,
sind sehr radikal und verlangen Taten. In Straßburg auf der
Schanz’ sollte die Entscheidung fallen. Das organisierte fran¬
zösische Proletariat blickt auf den Kreml und radikalisiert
sich, zwar langsam, aber sicher. Es verschmäht die zweite
Internationale, obwohl es während des Krieges auch difese
für viel zu sozialistisch und friedliebend hielt, und obwohl
es sieht, daß es noch eine geringe Minderheit des französi¬
schen Volkes bildet, wie die letzten Kammerwahlen gezeigt
haben, und wie der letzte Massenstreik der Eisenbahner,
der mit einem Kompromiß endigte, es. lehren müßte. Die
Strömung für rücksichtslosen Klassenkampf und für die
Diktatur war auf dem Straßburger Parteitag, der in der
letzten Februarwoche stattfand, so stark, daß Longuet es
nicht mehr wagte, eindeutig für die zweite Internationale
einzutreten. Letztere ist jedoch vorläufig noch organisatorisch
viel stärker als die dritte (Moskauer), wie der Parteisekretär
Frossard auf dem Straßburger Kongreß mitteilte, gehören der
zweiten Internationale 47 Parteien oder Organisationen an,
darunter die Britische Arbeiterpartei, die Belgier, die deutsche
Mehrheitspartei und die Oesterreicher, während die dritte
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1562
Budapest.
Internationale 39 meistens numerisch schwache Parteien oder
Oruppen zählt, worunter allerdings die russischen Bolsche-
wiki, die an Zahl und revolutionärem Geist vorläufig sehr
bedeutend sind. Eine erhebliche Anzahl sozialistischer Organi¬
sationen hat noch keine feste Stellung zu dieser Frage
genommen; sie schwankt zwischen der zweiten und! der
dritten Internationale; darunter befinden sich die deutschen
Unabhängigen, die britische Unabhängige Partei (Independent
Labour Party), die Holländische Sozialistische Partei und
die Sozialistische Partei der Vereinigten Staaten von Amerika.
Die französische Partei befindet sich in derselben Lage. Dem
Straßburger Sozialistentag lagen hierüber vier Anträge vor.
Renaudel (Rechte) plädierte für die Aufrechterhaltung der
zweiten Internationale, Laun (Zentrum) für die Aufrecht¬
erhaltung unter bestimmten Bedingungen; Longuet (Linke)
für den Austritt aus der zweiten Internationale und für die
Einberufung einer Konferenz, v um eine Internationale zu
schaffen, die einen Ausgleich zwischen den Grundsätzen und
der Taktik der zweiten und dritten Internationale darstellen
sollte; Loriot (äußerste Linke) für den vorbehaltlosen An¬
schluß an die dritte Internationale. Die Auseinandersetzun¬
gen über die Anträge belehrten die Rechte sehr bald, daß
sie nicht die geringste Aussicht auf Erfolg habe. Renaudel
zog deshalb seinen Antrag zurück. Es blieben also nur drei
Anträge. Bei der Abstimmung erhielt der Antrag Longuet
3301 Stimmen, Loriot 1621, Laun 732. Das unmittelbare
Ergebnis des Straßburger Parteitags ist also der Austritt der
französischen Sozialisten aus der zweiten Internationale.
%
PETER KNUTE:
Budapest.
Der Kreuzzug in Ungarn.
Budapest, Ende Februar 1920.
A UF ihren Tschapkas tragen die ungarischen Horthytruppen
** Federn. Diese Federn ragen kerzengerade in die Luft und
sehen aus wie der Schmuck eines Indianers, der auf den
Kriegspfad geht. Der ungarische Soldat ist auf dem Kriegs¬
pfad. Ich merkte es in der vergangenen Nacht, als er mich
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Budapest.
1563
*
aus dem Bette holte und mich nach dem woher und wohin
fragte. Der Fremde ist jetzt verdächtig in Ungarn, gar wenn
er schreibt. Und noch verdächtiger, wenn er Inländer ist
und auch schreibt. Unsere Kollegen Bela Somogyi und Bela
Bacso von der „Nepszawa“ haben das erfahren müssen.
Man fand eines Tages ihre leibliche Hülle im großen Donau¬
bett. Tot. Ein Auto war erschienen, in der Dunkelheit,
hatte sie eingeladen. Dann schwiegen die Federn, die so
manches Blatt vollgeschrieben, so manches Herz getröstet und
gerächt hatten, vielleicht auch manchem weh getan hatten,
für immer.
Es sind andere Federn, die der ungarische Gegenrevolu¬
tionärsoldat auf seiner Tschapka trägt. Die sinnieren nicht
und kennen keine Hemmungen. Ich sah sie wieder, als ich
die Runde durch die herrliche Stadt machte, die Gottvater in
seiner Güte so wunderbar ausgezeichnet. Wer schafft wieder
dieses Donaubild, diesen Blocksberg, von dem-herunter der
Heidenbekehrer Geliert auf dieses Volk mit den Federn auf
den Tschapkas blickt, gleich als wollte er eine neue Periode
der Bekehrung beginnen. Auf den Denkmälern sah ich diese
Federn. Wo die Ungarn ihre Ahnen verehren. Wo das Tier-
feil und das Steppenpferd zu sehen ist, und wo man mit
Beilen Kindern und Müttern die Schädeln einschlägt. Arpads,
des Almos Sohn, Genossen trugen solche Federn, als sie aus
der Turanischen Ebene heraus, weit hinten von der Mongolei
her, auf Europa losgelassen wurden. Sollen diese modernen
Arpaden wieder auf Europa losgelassen werden? Vorläufig
üben sie ihre Kunst in Budapest und girren um den Ruhm
Bela Kuns. Nur in Grün. Kirn, nach Lenins Vorbild, ver¬
nichtete den Burschui, wohlbemerkt den kleinen. An den
großen wagte er sich nicht heran. Den ließ er laufen. Der
ist heute wieder hoch auf in Budapest. Den heutigen Arpad,
sein Ausdruck heißt Friedrich Istvan-Boulanger, gierts nach
Arbeiter- und Judenblut. Er faßt die Großen. Sie liegen in
der Donau, im Gefängnis oder sind rasch hinüber nach
Wien. Die Kleinen hier blieben ohne Führer, ohne Köpfe.
Wo ist ein Garami, ein Weltner, ein Kunfi, ein Garbai, ein
Böhm, — ein Demokrat wie Vazsony Vilmos? Als sich die
ersten Arpadfedern zeigten, schüttelten sie den Staub von den
Füßen. Nicht tapfer zwar, aber sicher, klug. Soll man
Somogyi Heldengesänge singen, daß er in Ofenpest blieb?
Man sang ihm Heldenlieder in Budapest und erkaufte ihkn
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1564 _ Budapest
einen Ehrenplatz. Gestern rauften sie sich in der christlichen
Nationalversammlung, ob es nicht besser wäre, Somogyi
auszugraben und ihn irgendwo bei einem Schutthaufen wieder
zu verscharren.
Christus, so sagen sie, schreitet jetzt einher in Ungarn.
In der Biblischen Geschichte aber, die wir in der Schule
hatten, stand nicht, daß er eine Arpadgarde hatte. Der
Christus, den ich kenne, schreit nicht „Nieder mit den Juden¬
lümmels !“ Es war immer noch umgekehrt. Nur in Budapest
soll jetzt Fünf gerade sein. Nicht nur gegen die Juden,
auch gegen die Sozialisten. Der Sozialist und der Jude
waren dem kleinen Mann ja immer ein Greuel. Und kleine
Männer spielen jetzt die Großen in dem Lande, das die
Genialitäten Szechenyi, Kossuth, Deak geboren hat, das die
Shakespearesche Tragödie von Achtundvierzig erlebte. Der
Kleinbauer, ein ehrenwerter Mann, tritt jetzt mit seinen
langen, harten Stiefeln die dicken, kostbaren Teppiche in
dem gothischen PracHthause weich, das sie das Orszaghaz,
das Volkshaus, heißen. Das mag er tun. Aber, daß er,
der kaum nach neuzeitlichen Methoden seinen Mist fahren
kann, jetzt auf einmal die Staatskarosse lenken will, sollte von
der Polizei nicht erlaubt werden. Größenwahn freilich ist
jetzt Trumpf. Er ergriff nicht nur verheerend manche
Arbeiterkreise und trieb sie aus ihrer ernsten, heiligen Be¬
trachtung von Gott und der Welt heraus, aus der Keuschheit
in der Menschenbehandlung, aus der Scheu vor der lebendigen
Seele und dem ewigen Leben. Er ergriff so auch den unga¬
rischen Bauern, der seither nur .den Götzen Herr kannte, und
der nach der Entthronung und der Zertrümmerung dieses
weltlichen Popanzes durch den wahren Sozialismus —
auch Christus hatte ihn schon entlarvt —, respektlos ge¬
worden, sich an seine Stelle setzen will. Es ist nicht inner?
Größe, die den Aufstieg wagt. Im Sozialismus lebt die Idee.
Im ungarischen Kleinbauern lebt die Ueberheblichkeit, die sich
stützt auf die volle Truhe Kronenscheine. Auf sein Kriegs-
gewinnlertum. Auf seinen Lebensmittelwucher. Und, nicht
wenig, auf die Demagogie. Als die Pfeife der Weltgeschichte
schrillte und es nahe daran war, daß Abrechnung gehalten
wurde schon hier auf Erden, da drehten sich die großen
Herren, die ihre Bücklinge früher-am Hofe machten und den
Bauern den Rücken zeigten, um und machten den Bauern
Bücklinge und drehten dem Hof den Rucken zu. Und sie
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Budapest.
1565
sagten den Bauern, daß sie es seien, wo . . . und daß nur das
Kreuz und das Schwert die modernen Ungläubigen vernichten
könnte.
Und so entstand der Kreuzzug in Ungarn. Im ungarischen
Parlament sitzt in der vorderen Reihe der Christlichnationalen
der Stuhlweißenburger Bischof Prohaska. Er ist ein großer
Philosoph und ein großer Christ vor dem Herrn. Die Ungarn
nennen ihn den großen Sprecher, den „Bischof mit dem
goldenen Munde“. Er ist es. Und er weiß es. Und er benutzt
diese Waffe auch zu weltlichen Dingen. Und wenn die Rede¬
blitze aus dem goldenen Munde züngeln und auf die christ¬
liche Versammlung im weltlichen Parlament niederprasseln,
dann faßt der Bischof intuitiv, wie von oben gedrängt, nach
dem-großen goldenen Kreuze, das um des Bischofs Hals tief
über die Brust herunterhängt und drückt es beschwörend.
Es scheint ein großer Rufer aus dem Mittelalter wieder¬
erstanden. Ein Mensch, der Menschen auf Menschen hetzt.
Im Namen Christi, der das „Liebe
ii
sprach. Nein,
Christus lebt noch immer nicht unter uns.
In der ehrenwerten christlichen Versammlung sitzen vier
ganze Demokraten. Kein einziger Sozialist. Es war das
Wollen der Arbeiterschaft, daß sie dort nicht sitzt. Sie
verzichtete auf die Wahlen. War's recht? Viel Galle und
ein Trommelfell erspart, wer aus diesem Hause fortbleibt, in
dem ohne Unterlaß die christlichen und die nationalen Fan¬
faren blasen. Zwei Jahre soll dieser Rummel dauern. Und
zwei Jahre werden die ungarischen Sozialisten stumm sein.
Aber sie werden ihre Stimme schonen. Und sie werden sie
gebrauchen können,. wenn dereinst einmal die anderen sich
heiser geschrien haben/
Nicht alles war gut, was in Ungarn vorging. Unter Tisza
nicht, unter Karolyi nicht, am wenigsten unter Bela Kun.
Tisza gab die allgemeine Wehrpflicht, aber nicht das all¬
gemeine Wahlrecht, Karolyi hob alle Pflichten auf und gab
alle Rechte, Bela Kun schaffte Galgen nicht für alle, nur
für Bürger. Die Sozialdemokratie schwankte zwischen den
Extremen. Kraftlos, machtlos, energielos. Auch unfähig, da
sie im politischen Kampfe, kein Mandat war jemals‘in ihren
Händen, unerfahren. S»o wurde sie, der guten Führer bar,
ein Raub der Kommunisten. Mit Katzenjammer sitzt sie heut
im Winkel. Sie hat, in günstiger Position, eine Bataille ver¬
loren. Sentimental, bewundernd sagte sie: Ja, ihr Deutschen!
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1566
Strömungen in den deutschen Gewerkschaften.
Sie hat recht. Gottlob, wir haben einen, der auch einmal
den Genossen die Wahrheit sagt. Sozialismus heißt durch¬
aus nicht, nur populäre Politik machen. Sozialismus heißt
soziale Politik machen. Sozialismus ist Pflicht. Und Pflicht
ist leider noch immer nicht allgemein populär.
Der Kreuzzug dauert unteraessen an in Ungarn. Es ist
die Reaktion gegen den Aderlaß Bela Kuns am Bürger, wie
dieser die Reaktion gegen den Aderlaß Tiszas an der Nation
war. In Saltomortalen überschlägt sich dieses Volk, mit
einem so starken Rechtsbewußtsei« geboren, von jeher. Im
beleidigten Rechtsbewußtsein verfällt es ins Unrecht, zum
Umsturz. Eine Doppelnatur, wie im gotterfüllten Kentaur.
Ordnung und Gesetz, Auflehnung und Rebellion in einem
Leib, in einer Seele. Daher sein Nationalgeschick so traurig.
Daher seine Musik so weich, seine Lieder so schwer. Zigeuner
spielen auch in diesen Tagen in Ungarn. Und — „weinend
ergötzt sich der Madjar . . .“
ARTHUR HOPFNER:
Strömungen
in den deutschen Gewerkschaften.
r\IE Entwicklung der deutschen Gewerkschaften hat lim
■ Jahre 1919 einen riesenhaften Aufschwung genommen.
Mit 1,6 Millionen Mitgliedern begannen sie ihren Wieder¬
aufstieg nach dem Kriege und am Jahresschluß erreichten
sie 7,1 Millionen. Die «Gewerkschaftsbewegung ist damit
zu einer Machtstellung gelangt, die ihr große Aufgaben
und hohe Verpflichtungen auferlegt. Die Aufgaben bestehen
vor allem darin, den Geist der Disziplin und der Demokratie
in die noch ungeschulten Massen zu tragen, ihnen den Cha¬
rakter der früheren und heutigen Wirtschaftskämpfe vor
Augen zu führen, und, daß die Politik nur in zweiter Linie
die Wirtschaftsinteressen beeinflussen darf. Die Gewerk¬
schaften haben aber auch die Verpflichtung, den Lebens¬
stand der Mitgliedschaft zu heben, die Beteiligung der Ar¬
beiter am Produktionsprozeß mit allen Kräften zu fördern
und das L^jen des Arbeiters vor allen betrieblichen Gefahren
zu schützen und zu versichern, indem sie die Gesetzgebung
durch ihre Initiative dazu veranlaßt.
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Strömungen in den deutschen Gewerkschaften. _ 1567
Beeinflußt durch die revolutionären Vorgänge am und nach
dem 9. November 1918 und auch durch das russische
Sowjetvorbild bildeten sich in den deutschen Gewerkschaften
verschiedene Strömungen heraus, die derart scharfe Unter¬
schiede in die Bewegung hineintrugen, daß das Grundgefüge
der alten freien Gewerkschaften ins Wanken geriet. Eines
der destruktiven Hauptmomente war die Frage, ob die Ge¬
werkschaften als solche sich zu politischen Gebilden und So¬
zialrevolutionären Triebkräften umgestalten sollen. Der Sturm
der Novembertage 1918, der die sozialistischen Parteien nach
dem verlorenen Kriege mächtig anschwellen ließ und diese
au das Staatsruder brachte, rüttelt natürlich auch an den
Gewerkschaften und suchte sie in das politische Fahrwasser
mitzüreißen. Für sie stand dabei viel, vielleicht ihre Existenz
auf dem Spiel. Denn erstens standen sie vor der Wahl,
welcher Partei sie sich anzuschließen hätten, und dann, ob
sie ihrer bisherigen Taktik der schrittweisen Aufbesserung
der Lebenshaltung des Arbeiters durch ihre Tarifpolitik,
Arbeitsgemeinschaft und dergleichen untreu werden sollten.
Der Kampf zwischen der sozialdemokratischen Partei und
den Gewerkschaften um die Superiorität ist alten Datums;
er begann, als letztere zu kraftvollen Organisationen heran¬
wuchsen und (die politischen Wahlvereine wegen ihres lockeren
Gefüges nicht recht auf die Beine kamen. Es wurde damals
ein Modus vivendi geschlossen, der beide Teile als gleich¬
berechtigt anerkannte. Heute im Zeichen der Betriebsrats¬
wahlen ist die Frage wieder akut geworden. Heute toben im
gewerkschaftlichen Vereinsleben schwere Kämpfe, hier Demo¬
kratie und politische Neutralität, dort Diktatur und Klassen¬
kampf. Wie sich in politischer Hinsicht durch diese Selbst-
zerfleischung die Arbeiterschaft um ihre Früchte bringt, so
wird bei einer Sezession oder gar „Revolution“ der Gewerk¬
schaften der Arbeitgeber der Tertius gaudens sein. Der Riß
in der Berliner Gewerkschaftskommission bildet dazu ge¬
wissermaßen den Auftakt.
Der letzte Gewerkschaftskongreß in Nürnberg im Juni
1919 nahm in einer Resolution entschieden Stellung für
Aufrechterhaltung der Neutralität und weiterhin wurden die
Arbeitsgemeinschaften verteidigt. Neben der politischen
Stellungnahme bildet die Arbeitsgemeinschaft eines der wich¬
tigsten Streitobjekte. Letztere setzt sich zusammen aus den
Tarifgemeinschaften der Arbeitnehmer und den Industrie-
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1568
Strömungen in den deutschen Gewerkschaften.
verbänden. Sie ist, wie wiederholt nachgewiesen, keine Er¬
rungenschaft der Revolution, sondern hervorgegangen aus
dem Bestreben, mit den Gewerkschaftsverbänden in ein fried¬
liches Verhältnis zu treten, mit ihnen in allen Arbeiterfragen
zu verhandeln. Tarifgemeinschaften und -Verträge haben in
unserem Wirtschaftsleben tiefe Wurzeln gefaßt. Bei ihrer
Entstehung wurden sie von links schwer bekämpft, weil
darin angeblich eine Harmonie zwischen Kapital und Arbeit
sanktioniert wird. Der Vorteil besteht bekanntlich' darin,
daß Tarifgemeinschaften das ganze Reich umspannen, im
Gegensatz zu den lokalen Tarifen. Durch die Zentralisiemng
kamen auch die kleinen Städte und Provinzorte in den Ge¬
nuß des abgeschlossenen Tarifs. Es ist eine gewerkschaft¬
liche Anarchie, wenn in Großstädten durch starke Organi¬
sationen hohe Löhne gezahlt werden, die Arbeitszeit fest¬
gelegt, die Lehrlingszahl beschränkt ist und in der Provinz
vermöge der schwachen Ortsvereine (und der politischen
Erschwernisse) Hungerlöhne an der Tagesordnung sind, die
Arbeitszeit unbegrenzt und die Lehrlingsausbeutung die Regel
ist. Die zentrale Organisation stützt also die Schwachen und
regelt in der Tarifgemeinschaft die gewerblichen Erforder¬
nisse einheitlich. Die lokalen anarcho-sozialistischen Gebilde,
die ja heute von Unabhängigen und Kommunisten propagiert
werden, besitzen den Nachteil, daß sie ihren Blick nur auf
die Großstädte richten und nicht die Gefahren einer Reserve¬
armee erkennen, die von der Provinz im Fall von Streiks
und schlechter Konjunktur droht.
Man braucht nur an die Landarbeiterorganisationen zu
denken, sie stehen noch auf schwachen Füßen und wären
zu völliger Ohnmacht verurteilt, wenn sie in der Zentralisie¬
rung nicht einen festen Halt hätten. Ihr Kampf um die
Arbeitszeit, um das Hofgängerwesen, um die Beschränkung
der Frauenarbeit ist ein schwerer; und wollen wir nicht
mit der Land Verteilung uns jetzt verhängnisvollen Experi¬
menten hingeben, sind diese Forderungen nur auf dem
Wege der Tarif- und Arbeitsgemeinschaft zu erreichen. —
Stärken nun die Arbeitsgemeinschaften das Kapital und wie
ist die bisherige Tätigkeit der Gewerkschaften zu beurteilen?
In gewissem Sinne war die Gewerkschaftsarbeit von Anfang
an revolutionierend. Schon die Verfolgungen und Verfemun-
göh der Organisationen während des ancien regime durch
schwarze Listen, verschärfte Strafbestimmungen, lasserr er-
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Strömungen in den deutschen Gewerkschaften.
J569
kennen, wie schwer der Druck auf ihnen lastete. Hunger
und Abwanderung vom Arbeitsorte waren die Folgen. Jede
Konzession der Regierung und des Kapitals bedeutete einen
Schritt vorwärts zum Aufstieg der Arbeiterschaft. Die Ge¬
werkschaften waren auch die Schrittmacher unserer Sozial¬
versicherung. Gewiß haben die Sozialdemokraten im Reichs¬
tag die Gesetze als zu wenig bietend, abgelehnt. Schon
Bismarck erklärte damals, ohne Sozialdemokratie hätten wir
keihe Versicherung. So unzulänglich gerade heute die Renten
der Versicherungszweige sind und bureaukratisch gehandhabt
werden, so ist man doch bis in die Reihen der Unabhängigen
der Ansicht, daß sie entwicklungsfähig seien. Der Ausbau
der Sozialgesetzgebung bildet eine Nobile officium der Re¬
gierung eines Volkstaats und die Gewerkschaften werden dem
Ausbau gern ihre Hilfe leihen. — Auch das Betriebsrätegesetz
zeigt dem Eingeweihten überall die Spuren gewerkschaftlicher
Vorarbeit. Das heutige Mitbestimmungsrecht in diesem Ge¬
setz hat seinen Ursprung in dem Verlangen nach einem kon¬
stitutionellen Fabriksystem, in dem Kamp? der Berufsverbände
gegen Maßregelung wegen Streiks usw. Den Betriebsräten,
wie sie das Gesetz vorsieht, sollen nun seitensi der gewerk¬
schaftlichen Opposition die revolutionären Betriebsräte ent¬
gegengesetzt werden. In letzter Stunde hat die Opposition
sich auf die freigewerkschaftliche Liste gemäß der Nürn¬
berger Beschlüsse geeinigt. Aber damit nort ihre Existenz
nicht auf. Ihre Parole ist die Durchführung der Sozialisierung
und die Beherrschung der Produktion ; statt der „Harmonie**
mit dem Kapitalismus durch die „bürgerliche Demokratie**
zielt die revolutionäre Opposition auf den sozialistischen
Aufbau durch das Rätesystem. Zu den Richtlinien des Nürn¬
berger Gewerkschaftskongresses gehört auch die Sozialisie¬
rung der Produktion. Beide Richtungen sind sich also in
dem Ziel einig, nur nicht in dem Tempo. Daß die,Soziali¬
sierungsbestrebungen der Regierung in ihren Anfängen
stecken geblieben sind, liegt in der Hauptsache an der inneren
Regierungskonstellation und dem schlimmen Friedensvertrage,
der jede durchgreifende Umgestaltung unterband. Daran wird
sich auch in den nächsten Jahren schwerlich etwas ändern,
selbst, wenn die „revolutionären Betriebsräte** die Diktatur
noch so eifrig erstreben. Sie richten damit nur die begonnene
Besserung der Arbeitsverhältnisse vollends zugrunde, und
deshalb herrscht in den Reihen der Opposition in der Frage
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Original fro-m
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1570
Strömungen in den deutschen Geweifcachttften.
der Organisation keine Einheitlichkeit. Man kann hier deut¬
lich zwei Richtungen unterscheiden, die auch auf dem, Leip¬
ziger Parteitag der Unabhängigen scharf hervortraten. Die
eine verwirft die Betriebsdiktatur, mithin auch in der Pro¬
duktion. Die andere Richtung glaubt, mit der Diktatur der
Betriebsräte die Produktion in ihre Hand zu bekommen.
Wie es in einem Blatt heißt, will sie nur die Kontrolle über
die Produktion, über den Verkehr und die „Verteilung muß
den schaffenden Menschen werden“. Beides vereinbart sich
zwar schwer; sollte jedoch die letztere Richtung, die stark
mit den Kommunisten liebäugelt, bei den Wahlen die Ober¬
hand gewinnen, so stehen also schwere Kämpfe zwischen den
Parteien bevor, zum Schaden der gesamten Arbeiterschaft.
— Der Sozialisierungsgedanke schreitet vorwärts, wir sehen
die Verstaatlichung der Elektrizitätswirtschaft, die Verein¬
heitlichung der Eisenbahnen. Wenn hier auch keine Ver¬
gesellschaftung im proletarischen Sinne vorliegt, so kommt
doch unbestritten die Gemeinwirtschaft in Betracht. Der
Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund halt aber zunächst
den Wiederaufbau unserer Wirtschaft für notwendig, ohne ge¬
wagte Sozialisierungsexperimente, weiter die möglichst fried¬
liche Lösung aller Streitfragen zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern und eine sozialpolitische Reformgesetzgebung.
Diese Aufgaben sind bedeutungsvoll genug, um alle gewerk¬
schaftlichen Kräfte auf Jahre hinaus in Anspruch zu nehmen.
Viele Klagen, hier und in der Opposition werden laut, daß
es an geeigneten Personen mangelt.
Auch die christlichen und Hirsch-Dunckerschen Gewerk¬
schaften sind von dem radikalen Zug der Zeit nicht unbe¬
rührt geblieben. Die christlichen Gewerkschaften haben ihren
stärksten Anhang in Rheinland-Westfalen, Bayern, Würt¬
temberg und Oberschlesien. Die Mitglieder der Hirsch-
Dunckerschen Vereine verteilen sich über das ganze Reich und
setzen sich meist aus Staats- und Gemeindearbeitem und
Heimarbeiterinnen zusammen. Die Hirsch-Dunckerschen Ge¬
werkvereine zählten Ende 1918 113 792, die christlichen
Gewerkschaften 538559 Mitglieder. Wenn auch beide Or¬
ganisationen einen Teil ihrer Mitglieder an die freien Ge¬
werkschaften abgegeben haben, so dürften sie durch Zuwachs
an Heimkehrern auf ihrer alten Höhe stehen. Sie bilden
aber besonders im Bergbau und Hüttenwesen einen wesent¬
lichen Faktor in Tarif- und Streikfragen, sowie bei der
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1571
Strömungen in den deutschen Gewerkschaften.
Regelung der jetzt so bedeutsamen Arbeitszeit. In den meisten
Fragen gehen sie heute mit den freien Gewerkschaften zu¬
sammen und 4 gehören auch der Arbeitsgemeinschaft an. Es
gab eine Zeit, und das ist noch gar nicht lange her, daß die
freie Richtung der christlichen Gewerkschaften vom Papst
und den deutschen Bischöfen bekämpft wurde. Der Papst
verlangte in seiner -Enzyklika völlige Unterordnung unter
die wünsche der Kirche. Da die Gewerkschaft sich nicht
willfährig genug zeigte, begünstigte man die ganz im Banne
der Priester stehenden katholischen Gesellenvereine. Trotz
dieser Gunst vermochten sie doch keine führende Stellung
zu erringen, die christlichen Gewerkschaften schüttelten die
Bevormundung der Kirche schließlich ab, verwe Lichten sich,
indem sie zum Beispiel gemeinschaftlich mit den freien Ge¬
werkschaften sich an Lohnstreiks im Bergbau beteiligten.
Wohl oder übel fanden sich die deutschen Bischöfe mit der
neugeschaffenen Lage ab; der bisherige Bischof von Münster,
Schulte, der langjährige Freund der christlichen Gewerk¬
schaften, sitzt heute als Kardinal in Köln.
Für die gelben Gewerkschaften, die mit den Arbeitgebern
auf friedlicn-schiedlichem Fuße ä tout prix stehen wollen,
alle Streiks verwarfen, weht heute kein günstiger Wind.
Viele Vereine haben sich aufgelöst, sind auch als Tarif -
partei überall ausgeschlossen, da sie keine Gewähr geben,
daß sie die Bestimmjingen auch einhalten. Für spätere Zeiten
werden die Industriellen keine Mittel scheuen, gelbe Gewerk¬
vereine eventueir^t ihrem Gelde wieder ins Leben zu rufen.
Sie sollen ja als Gegengewicht gegen die Fe derungen der
Gewerkschaften dienen und bei Streiks die Reserven stellen.
Will man über die Zukunft der Gewerkschaften ein Urteil
fällen, so muß man an das zur Ausführung kommende Be¬
triebsrätegesetz anknüpfen. Das Gesetz schreibt als Zweck
vor, daß die Betriebsräte ihre Tätigkeit auf die von ihnen
vertretenen Betriebe zu beschränken haben. Von diesem Ge¬
sichtspunkt ausgehend, bleiben die Aufgaben der Tarifpolitik
den Gewerkschaften auch fernerhin Vorbehalten. Sie bilden
in diesem Falle eine wertvolle Ergänzung der Betriebsräte,
indem letztere für die Beachtung der Tarifbestimmungen
zu sorgen haben und auch neue Vorschläge machen. Anders
liegen die Dinge, wenn die „revolutionären Betriebsräte“
auf eigene Faust Politik treiben. Industrieverbände gründen,
und sich Kontrollrechte über die Produktion anmaßen, die
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1572
Politische Köpfe; IX; und X.
das Gesetz nicht vorsieht. Durch derartige diktatorische Ge¬
lüste werden ja nun die Absichten des Gesetzgebers sabotiert.
Aber im harten Raum stoßen sich die Sachen. Ein Teil
der Opposition gibt sich schon mit dem „Revolutionieren“
der Gewerkschaften zufrieden, er tritt für ihre Integrität
ein. Es läßt sich also Voraussagen, daß die neuen Betriebs¬
räte, soweit sie der gewerkschaftlicheh Opposition angehören,
sich anfangs radikal gebärden, die Diktatur in den Betrieben
aber nicht erzwingen werden. Sie verlegen den Schwerpunkt
der Agitation weiterhin in die Gewerkschaften. Wir oeob-
ächten heute schon ein gewisses Bremsen in der Streik¬
lust (siehe Richard Müller: „Zum Metallarbeiterstreik“). Die
Gewerkschaften dürften auch weiter Zuwachs erfahren, be¬
sonders in Landarbeiterkreisen, und ihr Einfluß wird bei
kluger Taktik in allen Wirtschaftsfragen von ausschlaggeben¬
der Bedeutung sein.
U. EMIL:
Politische Köpfe.
IX.
Adolf Hoffmann.
pRÜHERER Kultusminister. Der volkstümlichste Agitator
1 und überall bekannt. Als Proletarierkind; das seinen Vater
nicht gekannt, hatte er's schon beim Eintritt in diese Welt
mit der patentierten bürgerlichen Wohlanständigkeit ver¬
dorben. Als einmal ein Abgeordneter im Parlament durch-
blicken ließ, Hoffmanns Vater könnte Jude gewesen sein, ant¬
wortete er, dies träfe ganz und gar nicht zu, vielmehr habe
er allen Grund, anzunehmen, daß sein Vater eine Tonsur
getragen habe, welche Antwort im Zentrum die größte Wut
entfacht hat. Sind die Ursprünge seines Lebens also in tiefes
Dunkel gehüllt, so hinderte das nicht, daß er mit hellen Augen
in die Zukunft sah. Mit einer mangelhaften Dorfschulbildung
ausgerüstet, erlernte er das Vergolderhandwerk, wurde Ge¬
selle, warf sich auf die Politik, leitete eine sozialistische
Zeitung in Sachsen und saß eines Tages im Gefängnis.
Um ihn zu bessern, gab man ihm als Lektüre nur die Bibel.
Das war nicht gut. Der Sträfling lernte <äen Inhalt auswendig,
vertiefte sich kritisch hinein und drehte jedes Wort um und
um. Als er aus dem Kittchen herauskam, schrieb er eine
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Politische Köpfe. IX. und X.
1573
Broschüre über die Zehn Gebote und hielt landauf und
landab Versammlungen mit dem gleichen Thema. Es gab
heiße Schlachten, man kämpfte um Gott und den Himmel.
Adolf Hoffmann wurde der Schrecken aller Frommen. Die
Kirche machte mobil, alle staatserhaltenden Parteien erschie¬
nen auf dem Plan, denn hier trat einer auf, der in der un¬
gefügen Sprache des Volkes redete und Ungeheuern Zulauf
hatte. Die Gegner verhöhnten ihn, verspotteten ihn, stellten
seine Sprachsdmitzer fest, brachten selbst noch solche in
Hoffmanns Reden hinein. Die Verwechslung von „mir“ und
„mich“ wurde benutzt, um ihn vor der breiten Oeffentlichkeit
lächerlich zu machen — mit dem Erfolg, daß er immer volks¬
tümlicher wurde. Mit seinem gottlosen Mundwerk zahlte
eFs den Gegnern heim, mit einer verblüffenden Schlagfertig¬
keit hob er sie aus dem Sattel und durch seine pomadige Art,
Angreifer durch die Zähne zu ziehen, gewann er die breite
Masse für sich. Sein Mutterwitz sorgte dafür, daß er die
Lacher stets auf seiner Seite hatte. Als er später auf kurze
Zeit im Reichstag auftauchte und nachher Landtagsabgeord¬
neter wurde, konnte er sich nach Herzenslust mit seinen
Feinden herumschlagen. Unter den vielen Glatzen im Parla¬
ment leuchtete sein weißer Haarschopf dem Eintretenden
schon gleich entgegen. Er hat einen markanten Kopf, und
Corinth hat sich mal eine Freude daraus gemacht, ihn zu
zeichnen.
Hoffmanns Art zu reden, ist rein agitatorisch, die Volks¬
versammlungen in den Arbeiterdistrikten sind sein eigent¬
liches Feld, der Witz seine beste Waffe. „Wenn mir einer
eine Grabrede hält, klopf ich mit dem Fuß an den Sarg und
melde mich .zu einer persönlichen Bemerkung“, sagte er
einmal, als wir vom Friedhof heimkehrten. An jenem Tage,
da Liebknecht das königliche Schloß „einnahm“, standen wir
auf dem Balkon, von dem der Kaiser zu sprechen pflegte,
und wo nunmehr Liebknecht seine leidenschaftlichen An¬
klagen hinausschmetterte. Hoffmann wartete wie in Andacht
versunken daneben, und als Liebknecht geendet, trat er an
dessen Stelle und gab der Freude Ausdruck, diese Stunde
noch erlebt -u haben. Und da liefen ihm die hellen Tränen
über das verwitterte Gesicht. Es war sicher das erste Mal,
daß ihn einer hat weinen sehen. Das Gefühl, seine schlimm¬
sten Feinde überwunden zu haben, erstickte den Drang, einen
Witz zu machen. Und das will bei Adolf Hoffmann viel heißen.
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1574
Politische Köpfe. TX. aafr X.
X.
Haenisch.
Kultusminister. 1876 in Greifswald geboren. Besuchte das
Gymnasium und hörte später in Leipzig an der Universität
Nationalökonomie und Geschichte. Kam dann zur Sozial¬
demokratie und war an einer Reihe von sozialistischen Zei¬
tungen als Redakteur tätig. 1911 wurde er Leiter der Flug¬
blattzentrale. Als in die preußische Junkerfeste Bresche ge¬
schlagen wurde, zog er als Abgeordneter ein und bildete
den Gegenpol zu Heydebrandt. Oben am Präsidententisch
aber stand ein alter feudaler Herr und schaute mißbilligend
auf den ungeratenen Neffen herab. Denn Haenisch war nicht
nur ganz einfach Sozi, er war Vertreter der schärfsten Ton¬
art, war so radikal wie irgendeiner aus Teltow-Beeskow,
hatte die Schule der „Leipziger Volkszeitung“ mit Erfolg
absolviert und der Unke Flügel der Partei sah mit Stolz auf
den wilden Konrad.
Da kam der Krieg, und mit ihm die Kriegspsychose, es
kamen die Kriegskredite, es kamen Debatten in der Partei,
in der Fraktion, es kamen Artikel in den Zeitungen, es kamen
zwei Richtungen und überall war Konrad mitten mang. Aber
nicht mehr als der alte. Er hatte sich vom Geist der „Leip¬
ziger Volkszeitung“ befreit und sang aus tiefster Brust:
„Deutschland, Deutschland über alles!“ Der gute, feudale
Onkel sah wieder mit Wohlgefallen auf den lieben Neffen
herab, während Liebknecht ihn mit Keulenschlägen traktierte
und Adolf Hoffmann alle verfügbaren Bosheiten nach ihm
schleuderte. Seine Gegner suchten Zeitungsartikel und Flug¬
blätter aus seiner radikalen Vergangenheit heraus und schlu¬
gen ihm die blutigen Zitate um die Ohren, daß es mir so
knallte. Man verlangte, daß er sein Mandat niederlege. Zettel
gingen von Hand zu Hand, auf denen sein politischer Tod
angekündigt wurde. Spottgedichte wurden auf ihn geschrieben
und fanden reißenden Absatz. So tobte der Kampf hin und
her. Einigemale, als der Angefeindete sich gar zu weit in
die imperialistisch-chauvinistische Wildnis verirrte, mußte ihn
der Parteiyorstand mit einer Rüge zurückholen.
Allmählich wurde es ruhiger jum Haenisch. Er selbst ließ
die Feder ruhen und hielt sich zurück. Als Liebknecht ins
Zuchthaus gestoßen war, trat er im Abgeordnetenhaus in
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Feder und Schwert.
1575
einer von warmem Empfinden getragenen Rede für den
Verurteilten ein und bezeichnete seinen bittersten Gegner
als einen Mann von lauterster Gesinnung und ehrlichstem
Wollen. Das wirkte in weiten Kreisen versöhnend und führte
ihm wieder vielfache Sympathien zu. Auch sonst zeichnete
sich Haenisch durch gehaltvolle, formvollendete Reden aus,
die von vertiefter Bildung und reichem Wissen zeugten.
Eines Tages zog Haenisch als Flügelmann einer Kom¬
pagnie Soldaten durch die Straßen Berlins; es dauerte jedoch
nicht lange, da vertauschte er den feldgrauen Rock wieder mit
seinem eigenen und nahm seine berufliche Arbeit von neuem
auf. Sein kränklicher Organismus war dem Militärdienst
nicht gewachsen und die Wirkungen des .Krieges und der
Parteikämpfe hatten ihn auch nicht gerade widerstandsfähiger
gemacht. Als der Revolutionssturm einherfegte, wurde
Haenisch Kultusminister. Und nun sitzt er auf der Klippe,
umbrandet von den glucksenden und spritzenden Wellen und
muß sich wehren, denn die Frommen zeihen ihn der schlimm¬
sten Attentate auf Kirche und Religion, während die Gegen¬
seite ihn beschuldigt, die sozialistischen Programmforderungen
nur lasch und ungenügend durchzuführen. Er sitzt mit zer¬
furchter Stirn s und spielt mit dem rotblonden Germanen¬
bart, der allerdings in diesem Kreuzfeuer etwas grau ge¬
worden ist.
HERMAN GEORGE SCHEFFAUER (Kalifornien):
Feder und Schwert.
Eine ostafrikanische Lehre.
AlfENN der militärische Geist die Zügel der politischen
” Macht an sich reißt und kein Friedrich der Große, kein
Napoleon I. und kein Bismarck vorhanden ist, um sie zu
führen, so muß mit aller Bestimmtheit ein Unglück eintreten.
Dafür hat es während des Weltkrieges zahlreiche Beispiele
gegeben. Wenn auch Deutschlands Schicksal nach dem Ver¬
sagen des unbeschränkten U-Bootkrieges besiegelt war, so
hat doch zweifellos der ständige Widerstreit zwischen poli¬
tischer und militärischer Autorität in Deutschland viele ver¬
hängnisvolle Fehler hervorgerufen und das Ende beschleunigt.
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1576
Feder und Schwert.
Die Unfähigkeit des militärischen Geistes aller Nationen,
die Psychologie fremder oder feindlicher Völker zu verstehen,
die feinen Veränderungen in ihren Stimmungen und ihrer
Mentalität zu fühlen und durch ein weises wort oder eine
weise Handlung aus Krisen Vorteile zu ziehen, ist in diesem
Kriege immer wieder bewiesen worden. In den Entente¬
ländern bedeutete dies keine große Gefahr für die auswärtige
Politik, die gewöhnlich klugen Politikern, Rechtsanwälten oder
Journalisten überlassen blieb. Bei den Mittelmächten aber, wo
diese Politik gewöhnlich durch starre Bureaukraten und
Beamte geleitet wurde, die ebenso unfähig waren, die ver¬
wirrende Natur der modernen Vereinigung von Geheimdiplo¬
matie und Massenjournalismus zu übersehen, wie die mili¬
tärischen Führer, wurde diese Unfähigkeit verhängnisvoll.
Dr. W. H. Solf, der gescheite und fortschrittliche frühere
deutsche Kolonialstaatssekretär, macht in einem Artikel in
der „Deutschen Nation“ vom Februar 1920 auf ein anderes
Beispiel dieses verhängnisvollen Antagonismus zwischen ziviler
und militärischer Gewalt aufmerksam. Dieser Fall spielt
in Deutsch-Ostafrika. Hier, handelt es sich nicht um Beth-
mann Hollweg und Ludendprff, sondern um Dr. Schnee,
den Gouverneur der Kolonie, und General von Lettow-
Vorbeck, den Kommandeur der dortigen Truppen. Dieser Fall
ist von besonderem Interesse wegen des großen Ruhms, den
sich Lettow-Vorbeck durch seine heroische Verteidigung der
deutschen Kolonie erworben hat, ein Erfolg, der das Staunen
der ganzen Welt geweckt hat. Der Fall ist aber auch charakte¬
ristisch, weil er zeigt, wie die Welt eher bereit ist, den Mann
der Tat, zu ehren,- als den Mann des Denkens und der Orga¬
nisation. Dieser Fall sollte außerdem den Deutschen, die
auch heute noch das alte Regime «als eine beinahe vollkommene
menschliche Einrichtung betrachten, die traurigen Konse¬
quenzen des Dualismus zwischen Zivil und Militär an Haupt
und Gliedern zeigen.
Der Artikel Dr. Solfs trägt bezeichnenderweise die Ueber-
schrift: „Schnee und Lettow-Vorbeck“. Ohne den wohlver¬
dienten Ruhm des „Afrikanischen Hindenburg“ verkleinern zu
wollen, wünscht Dr. Solf zugunsten und zur Verteidigung
eines Mannes eine Lanze zu brechen, dessen ebenso großen
Verdienste nicht nur von Lettow-Vorbeck, sondern auch von
dem deutschen Volk und von der ganzen Welt übersehen
worden sind. Dr. Solf weist darauf hin, daß General von
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UNIVERSUM OF CALIFORNI:
Feder und Schwert.
1577
Lettow-Vorbeck nur acht Monate vor dem Kriege in Deutsch-
Ostafrika gewesen sei, und daß er sich kaum die Kenntnis
von den politischen oder verwaltungstechnischen Angelegen¬
heiten des Schutzgebietes und die Einsicht in die Natur der
eingeborenen Bevölkerung Zutrauen durfte, wie sie der Gou¬
verneur Dr. Schnee neben ausgezeichneten militärischen Kennt¬
nissen besaß. Der Umsicht und Fürsorge des Gouverneurs
und den klugen und menschlichen Grundsätzen, nach denen
er die Eingeborenen behandelte, ist es in erster Linie zu
danken, daö die Schwarzen in so loyaler Weise die deutsche
Sache unterstützten und die großeri Erfolge Lettow-Vorbecks
dadurch ermöglichten.
Dr. Solf kritisiert die Behauptung des Generals von Lettow-
Vorbeck, daß er seine Siege trotz der durch Dr. Schnee ihm
gewährten Unterstützung errungen habe. Dr. Solf erklärt
diese Behauptung aus der merkwürdigen Psychologie des
Soldaten heraus, der erzogen worden ist in dem Glauben, sich
selbst jedwedem Zivilisten für überlegen zu halten. „Als
Offizier war es für den Generat einfach unmöglich zu ver¬
stehen, daß ein Zivilist der militärische Vorgesetzte eines
Offiziers sein konnte.“ Die beispiellose militärische Verteidi¬
gung der Kolonie war nur möglich, weil Bie sich auf eine
weise und erfolgreiche Eingeborenenpolitik gründete. Nur
von einer zufriedenen Eingeborenenbevölkerung konnte man
die regelmäßigen Dienste erwarten, ^ohne welche ein Krieg
weder zu Hause noch in Afrika geführt werden konnte. Der
Gouverneur .erkannte augenscheinlich schneller als viele zu
Hause, daß der moderne Krieg sowohl eine innere wie eine
äußere Front hat und machte entsprechende Pläne.“
Lettow-Vorbecks Buch ist, was die Kritik des Gouverneurs
anlangt, aggressiv.. Das Buch des Gouverneurs enthält da¬
gegen kein Wort des Vorwurfs gegen den flotten, ihn an¬
zuerkennen wenig geneigten General. Das vermittelnde Ein¬
greifen des früheren Kolonialstaatssekretärs ist vom mensch¬
lichen wie auch vom historischen Standpunkt aus, willkommen
zu heißen, als ein Versuch, in korrekterer Weise das Werk und
den Wert von zwei Männern gegeneinander abzuwägen, die
beide unter den Strahlen der afrikanischen Sonne ihrem Lande
große Dienste leisteten. Ihre Bücher und ihre Werke er¬
gänzen einander.
Der häßliche Geist des deutschen Partikularismus hat sich
in dem vorliegenden Falle in besonders verletzender Weise
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1578 Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen . . .
gezeigt. Die militaristische Tradition mag tatsächlich feiiir
ein Versuch sein, den deutschen Nationalfehler des Separatis¬
mus auszugleichen, der schon bei den germanischen Stämmen
zur Römerzeit vorhanden war und der besonders während des
Dreißigjährigen Krieges seirje verheerenden Wirkungen ge¬
zeigt hat. Es mag ein Versuch gewesen sein, durch Einigkeit
oder doch wenigstens durch Gleichförmigkeit Stärke hervor¬
zubringen. Aber auch dieser Versuch mißlang infolge des
Dualismus, der dem Deutschen erst auszutreiben ist.
Der relative Mißerfolg des deutschen Militarismus und
der absolute Mißerfolg der deutschen Diplomatie können auf
eine einfache Ursache zurückgeführt werden, nämlich auf den
Mangel an Kenntnis der menschlichen Natur. Dieser Grund
läßt sich aber, und das ist ein Glück für das deutsche Volk,
beseitigen. v
Rechtsanwalt Dr. LUDWIG BENDIX (Berlin):
Rechtsprechung des Reichsgerichts
in Strafsachen
und das Rechtsbewußtsein des Volkes.
p\EM tiefer Blickenden hat es zu denken gegeben, daß die
^ elementaren Eingriffe der Arbeiterräte in die Recht¬
sprechung, insbesondere auf dem Gebiete der öffentlichen
Interessen, von ihren juristisch geschulten Parteigenossen
in leitenden Stellen der Justizverwaltung fast ängstlich zurück¬
gewiesen worden sind. Im „Vorwärts“ vom 17. November
1918 (Nr. 317, Seite 3, Spalte 2) findet sich die folgende
Veröffentlichung i 1
1 Auch die Parallelerscheinung in der inneren Verwaltung ist
recht bemerkenswert. Sie ergibt sich ohne weiteres aus den beiden
folgenden Bekanntmachungen:
Bekanntmachung.
Nach eingegangenen Meldungen sind die reaktionären Regie¬
rungsgewalten vielerorts bestrebt, ihre Tätigkeit nach altem System
fortzusetzen.
Durch einen Erlaß der preußischen Regierung sind alle Re¬
gierungspräsidenten und Landräte ermächtigt, ihr Amt weiter-
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Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen
• « t
1579
Unabhängigkeit der Gerichte,
Im Anschluß an die Verfügung der preußischen Regie-
mng vom 14. November über die Zuständigkeit der Be¬
hörden weisen wir darauf hin, daß die Unabhängigkeit
der Gerichte nicht angetastet werden darf. Es ist daher
unzulässig, wenn seitens eines Arbeiter- und Soldatenrats,
wie es vorgekommen ist, an geordnet wird, daß die Urteile
der Gerichte dem Arbeiter- und-Soldatenrat zur iGenehmi¬
gung vorzulegen sind.
Berlin, den 16. November 1918.
Die preußische Regierung.
gez.: Hirsch. Strobel. Eugen Ernst.
Adolf Hoffmann. Dr. Rosenfeld.
Den sonst doch zum Teil recht radikalen sozialdemo¬
kratischen Mitgliedern der preußischen Regierung ist an¬
scheinend gar nicht der Gedanke gekommen, ob,die Arbeiter¬
und Soldatenräte bei ihren als unzulässig gerügten Anord¬
nungen, wenn sie selbst in ihrem dunklen Drange sich des
rechten Weges vielleicht nicht bewußt gewesen sein sollten,
—, - - , /•'
zuführen. Dies ist jedoch nur so zu verstehen, daß ihre Amts¬
führung unter schärfster Kontrolle durch die örtlichen Arbeiter .-
und Soldatenräte erfolgt.
Alle Landräte und sonstigen Beamten, die ihre Amtstätigkeit
nach dem alten System fortsetzen oder gegenrevolutionäre Be¬
strebungen bezeigen (sic!) oder unterstützen, sind durch den zu¬
ständigen Arbeiter- und Soldatenrat unverzüglich abzusetzen.
Unbedingt sind allen' Landratsämtern Beauftragte der Arbeiter¬
und Soldatenräte beizuordnen, denen die ständige Ueberwachung
aller Maßnahmen obliegt.
Offener Widerstand ist gegebenenfalls mit Waffengewalt zu
brechen.
Berlin, 16. November.
Der Vollzugsrat des Arbeiter - und Soldatenrats.
Molkenbuhr. Rieh. Müller.
Bekanntmachung.
Unsere Bekanntmachung vom 16. dieses Monats, betreffend Kon¬
trolle der Landräte und sonstigen Beamten, hat vielfach zu Mi߬
deutungen Anlaß gegeben. Die Anordnung, daß Landräte, die ihre
Tätigkeit nicht im Sinne der Arbeiter- und Soldatenräte ausüben,
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1580 Rechtsprechung des Reichsgerichts in Str
einer nach dem allgemeinen Rechtsbewußtsein begründeten
Unzufriedenheit Ausdruck gaben, im Ziel, im Willen also
eigentlich „recht“ hatten. Von dieser Fragestellung aus hätte
untersucht werden müssen, welche Gründe die Unzufriedenheit
hat, und wie sie abgestellt werden konnte.
Einer der Hauptgründe ist insofern in der Rechtsprechung
des Reichsgerichts in Strafsachen gelegen, als die Reichs¬
richter, die für Rechtseinheit und Rechtsrichtigkeit im Reiche
zu sorgen haben, die Bedeutung dieser großen Aufgabe für
die gesamte Kultur des Landes und den engen Zusammen¬
hang mit allen andern Lebensgebieten, insbesondere die poli¬
tischen und psychischen Wirkungen und Abhängigkeiten
ihrer vermeintlich unparteiischen Sprüche außer acht ließen.
Gerade in dieser inneren Abgewandtheit von den besonders
engen Beziehungen der Strafrechtsprechung zum öffentlichen
Leben und seiner Entwicklung , ja in ihrer vielleicht sogar
grundsätzlichen Verneinung offenbart sich der Geist der
alten Staatsauffassung unci die durch ihn genährte, ernster
unverzüglich durch den zuständigen Arbeiter- und Soldatenrat ab¬
zusetzen sind, ist dahin zu verstehen, daß sie unverzüglich ihre
Amtstätigkeit einzustellen haben.
Der zuständige Arbeiter- und Soldatenrat jedoch, d§r dies ver¬
anlaßt,. hat unmittelbar dem Ministerium des Innern auf schleunig¬
stem Wege Bericht zu erstatten. Dem Ministerium steht die end¬
gültige Entscheidung über die weitere Verwendung des Beamten
und die etwaige Neubesetzung des Postens zu.
Zugleich werden die örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte dringend
ersucht, von dem Recht, die Einstellung der Tätigkeit der Beamten
zu verlangen, nur in ganz besonders dringenden Fällen Gebrauch
zu machen. Im übrigen empfiehlt sich das vorherige Angehen
des .Ministeriums des Innern.
* \
Berlin, 21. November.
Der Vollzugsrat des Arbeiter - und Soldatenrats.
gez. Rieh.. Müller.
Mit dem Umfall dieser Bekanntmachung vom 21. November
1918 war in die alten obrigkeitlichen Bannen der inneren Ver¬
waltung wieder eingeschwenkt und der Beweis, wenn man will,
das Armutszeugnis erbracht, daß es den Revolutionären an revo¬
lutionärer Gestaltungskraft gebrach, weil in ihnen trotz allem die
Einrichtungen und Gedankengänge des , alten Regimes lebendig
wären und sind, die sie geistig nicht beherrschten.
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Rechtsprechung des Reichsgerichts/ in Strafsachen . . . 1581
Nachprüfung 2 nicht standhaltende Meinung, , Rechtsfragen -
könnten, ja müßten fachwissenschaftlich nach der über¬
lieferter Methode der Oesetzesauslegung, unabhängig von
den erwähnten Abhängigkeiten, Zusammenhängen und Wir¬
kungen entschieden werden. Die Vertreter dieser Ansicht
handeln und, richten sicherlich in gutem Glauben, sie wissen
aber selber nicht, daß sie gerade wegen dieses ihres guten
Glaubens die Wahrer und Wächter des jetzt in der Auf¬
lösung begriffenen alten Geistes, die Vollstrecker des alten
Regimes sind.
und gerade in dieser ihrer mehr oder weniger unbewußten
Vollstreckertätigkeit ist es gelegen, daß sie versagen muß,
wenn sie mit der Entwicklung nicht fortschreitet, ja, daß
sie diese um so mehr vorwärtstreibt, je stärker sie auf ihrem
alten Standpunkt verharrt und der neuen Zeit entgegen¬
arbeitet. Denn alsdann muß die Kluft zwischen ihr und der
hartnäckig verteidigten alten Zeit schließlich immer größer
und empfindlicher werden; dann offenbart sich, dan auch
die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen eine
Teilerscheinung des sogenannten Zeitgeistes ist. In ihrer
hartnäckigen Unterstützung der herrschenden Gewalten und
eines der wichtigsten Organe, deren sie sich zur Ausübung der
Herrschaft und Aufrecnterhaltung der durch sie gesetzten
Ordnungen und Einrichtungen bedienten, der schließlich ge¬
radezu verwaltungsmäßig ausgeübten Strafgerichtsbarkeit, nat
die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen ein
gutes Stück zur Vorbereitung der Umwälzung des 9. No¬
vember 1918 beigetragen.
Der tiefste Grund für diese Tatsache ist die sich immer
mehr offenbarende Entfremdung des Rechtsbewußtseins im
Volke und in seinen juristisch geschulten Vertrauensleuten,
den Verteidigern, von einer Rechtsprechung des Reichs¬
gerichts in Strafsachen, die geradezu zu einer Geheimwissen¬
schaft einiger wenigen fleißigen Juristen mit guter Kartothek
über alle oisher veröffentlichten und nicht veröffentlichten
reichsgerichtlichen Entscheidungen geworden ist.
2 Vgl. des Verfassers: Problem der Rechtssicherheit, Berlin 1914,
und seine Aufsätze: Die freie Beweiswürdigung des Strafrichters
im Archiv 'für Strafrecht, Bd. 63 S. 31. Die tatsächliche Feststellung
im Strafurteil — eine Fiktion in Recht und Wirtschaft. 1918.
S. 184 und andere.
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1582 Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen ...
Ueber der Kabbala dieser Entscheidungen ist aber der
Rechtsgedanke in Verlust geraten! Auf der Suche nach und
der Furcht vor Vorentscheidungen hat sich das Reichsgericht
über dem Bemühen einer Stärkung der Stellung der Instanzen-
gerichte die grundsätzliche Betrachtungsweise mehr und mehr
abgewöhnt und — es muß doch einmal offen ausgesprochen
werden — sich schließlich nicht gescheut, in seinem alten
Geiste eine Justizpolitik zu treiben, die nicht bloß in den
Kreisen der Fachgenossen, sondern auch in den weitesten
Kreisen des Volkes ein unwilliges Befremden hervorgerufen
hat, das sich eruptiv in den oben erwähnten revolutionären
Eingriffen der Arbeiter- und Soldatenräte in die Recht¬
sprechung Luft gemacht hat. Die Justizpolitik des Reichs¬
gerichts und der andern 'höchstinstanzlichen Strafgerichte
(Strafsenate der Oberlandesgerichte) hat sich nämlich auf
die von ihnen abhängigen Instanzgerichte übertragen lind
diese bestimmt, in allen ihren der Revision zugänglichen
Entscheidungen den Blick nach oben zu richten und ihre
Prozeßführung entsprechend einzurichten. .
So hat es geschehen können, daß die Rechtsprechung
in Strafsachen mit stereotypen, „reyisionssicheren“ Formeln
arbeitet, die den Betroffenen wegen ihrer inneren Unwahr«?
haftigkeit und sachlichen Undurchsichtigkeit zur Verzweiflung
bringt und dem Fachmann Achselzucken und Augurenlächeln
abnötigt, wenn ihn diese ihm bekannte, an der Sache vorbei¬
gehende Formelhaftigkeit nicht auch seinerseits mjt ohn¬
mächtigem Ingrimm und geradezu sittlicher Entrüstung
erfüllt.
Was ist zu tun? Aenderung des Gesetzes ? Etwa dahin, daß
künftig die Revision Nauf jede Verletzung des Gesetzes jgestützt
werden kann, nicht bloß darauf, daß das. Urteil auf einer
solchen Verletzung beruhe (§ 376 Abs. 1 St.P.O.)? Ich«
fürchte, wir werden durch eine solche sicherlich sehr wün-
scheriswerte Aenderung und durch andere gleich dringende
(vgl. z. B. § 137 G.V.G.) das Ziel der Wiederherstellung
des Vertrauens unseres Volkes zur Strafrechtspflege nicht
erreichen. Dazu brauchen wir neue Menschen, eine Personal¬
erneuerung an Haupt ' und Gliedern, aber nicht etwa bloß
der Richterschaft. Die geradezu vorbildliche, weil die per¬
sönliche Würde und Gleichberechtigung des Angeklagten
wahrende Verteidigung Ledebours, ein Wendepunkt in der
Geschichte des deutschen Strafverfahrens, zeigt uns, daß
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Bücherschau. _ 1583
diese innere letzten Endes sittliche Erneuerung auch bei den
Verfolgten und ihren Verteidigern, ja im ganzen Volke Platz
greifen muß. Dann wird das deutsche Volk die Strafrecht¬
sprechung und Strafrichter haben, die seinem neuen Rechts¬
bewußtsein entsprechen.
Bücherschau.
Dr. K. Roller: Zur Reform der Volksschullehrerbildung und
Landschule und Einheitsschule. Zwei Vorschläge zur
Schulreform. 21 Seiten. 1,80 Mark.
Die treibenden Kräfte der jetzt geplanten "Schulreform
sind im Grunde mehr soziale Beweggründe gewesen, be¬
günstigt durch die politischen Verhältnisse, als bloße päda¬
gogische Erwägungen. Wie eng verbunden ist zum Beispiel
die schulpolitische Forderung der Einheitsschule mit der
Befreiung des Volksschullehrerstandes mit seiner Forderung
nach Freigabe des Universitätsstudiums, nach einem einheit¬
lichen Lehrerstand, und nach Abschaffung der bisherigen
Lehrerbildungsanstalten, die den Lehrer mit dem Fluch der
Halbbildung behafteten? Mit dieser Frage beschäftigt sich
in erschöpfender Weise obige Schrift. Jede Schulreform ist
auch eine Reform der Lehrerbildung. Der bisherige Bildungs¬
weg des Volksschullehrers (Präparandenanstalt, Seminar)
führte in eine Sackgasse. Berufswechsel und Höherstreben
war nur wenigen möglich, weil damit viel Zeit und Geld¬
aufwand verbunden war. Sollen dem Volksschullehrer die
Pforten der Hochschule geöffnet sein, so muß seine Vorbil¬
dung die sogenannte höhere Schule in einem ihrer Typen,
Oberrealschule, Realgymnasium oder Gymnasium durchlaufen.
Wenngleich die Universität dem Volksschullehrer offen stehen
soll, so kann und darf diese nicht zur Ausbildungsansta.lt
der Volksschullehrer werden. Es sind dieselben Gedanken¬
gänge, wie sie auch Wilhelm Rein äußert. Die Universität
bleibt für die verschiedenen Fachstudien. Der Volksschullehrer
darf kein Fachlehrer sein oder werden, das würde der Ruin
der Volksschule sein. So kommt die Universität für ihn
nur in Frage für die (zweijährige) theoretisch-pädagogische
Ausbildung in der Wissenschaft aer Pädagogik und ihren
Hilfswissenschaften. Diesem Studium geht eine (zweijährige)
praktische Schulung voraus. Im Anschluß an die Volks-
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1584 Bücherschau.
schulen sind Seminarübungsschulen einzurichten, wo diese
praktische Ausbildung erfolgt. Der Verfasser versucht dann,
die Landschule der Einheitsschule einzugliederji. Unsere mo¬
dernen Schulreformer lassen sich in der Mehrzahl viel zu sehr
von städtischen, ja großstädtischen Schulverhältnissen be¬
stimmen. Dem Unterschied von Stadt und Land in den
Schulverhältnissen muß die künftige Schulreform mehr als
bisher Rechnung tragen. In jeder Dorfschule selbst muß Ge--
legenheit geschaffen werden, solche Nebenkurse für besonders
Begabte zu schaffen und der neue Lehrerstand mit oben ge-
schildertet Bildung wird dazu auch imstande sein. Men,
not measures, gilt auch hier. Warum neue Schulformen
schaffen, wenn ein vielseitiger und geschickter Lehrer das¬
selbe im Rahmen der alten Schule schaffen kann! Freimachen
muß man sich allerdings von der übermäßigen Schätzung der
sprachlichen Bildung und von dem Standpunkt des über¬
wiegenden Teiles der akademisch gebildeten Lehrerschaft,
die den Beginn des höheren Schulunterrichts, also das Ein¬
setzen der ersten Fremdsprache, keinesfalls später alsi bis zum
Beginn des fünften Schuljahres (vollendetes zehntes Lebens¬
jahr) zurückschieben will. Leider steht anscheinend auch der
Verfasser noch im Banne dieses Vorurteils.
Dr. E. Stölzel.
*
Professor A. Einstein: Ueber die spezielle und allgemeine
Relativitätstheorie. Heft 38 der Sammlung Vieweg. Ver¬
lag Vieweg und Sohn. Braunschweig.
Die Relativitätstheorie zerfällt in zwei Teile, in eine spe¬
zielle und eine allgemeine. Die erstere erläutert Einstein
an folgendem Beispiel: Angenommen ein Beobachter be¬
findet sich neben einer Eisenbahnstrecke, dann kann dieser
eindeutig Ort und Zeit irgendeines Ereignisses auf den Eisen¬
bahnschienen bestimmen. Ist sein Standort M und sind A
und B zwei Punkte, die auf der Strecke liegen und gleichweit
von ihm entfernt sind, so wird er zwei Blitzschläge, die je
in A und B einschlagen, in seinem Auge als einen Blitz
empfinden, wenn die Blitzschläge in A und B gleichzeitig
erfolgt sind. Ein derartiges Experiment läßt sich auf ein¬
fache Weise bewerkstelligen. Nun sollte man annehmen, daß
für einen zweiten Beobachter, der sich in einem Zuge befindet,
der mit stets gleicher Geschwindigkeit auf dem Gleis in der
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QriginaTfro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Bücherschau.
1585
Richtung von Ä über M nach B fährt, diese Blitzschläge
dieselbe Wirkung im Auge hervorrufen, wie bei dem Beob¬
achter, der auf der Strecke sich befand; vorausgesetzt selbst¬
verständlich, daß der zweite Beobachter sich im Moment,
in dem die Blitzschläge erfolgen, auch auf der Hälfte der
Strecke A—B, d. h. in Ml befindet. Ml sei der Mittelpunkt der
Strecke A—B auf dem fahrenden Zuge. Dies ist nun ein
Irrtum. Es sei noch epie grundlegende Bemerkung zuvor
eingeschoben. Durch Berechnungen und Versuche, durch
Theorie und Praxis^ hat sich ergeben, daß die Geschwindig¬
keit, mit der das Licht sich ausbreitet, stets konstant bleibt.
Dann werden wir leicht die folgende Erläuterung Einsteins
einsehen: „Wenn wir sagen, daß die Blitzschläge A und B
in bezug auf den Bahndamm gleichzeitig sind, so bedeutet
dies: die von den Blitzorten A und B ausgehenden Licht¬
strahlen begegnen sich in dem Mittelpunkt M der Fahr¬
dammstrecke A—B. Den Ereignissen A und B entsprechen
aber auch Stellen A und B auf dem Zuge. Es sei Ml der
Mittelpunkt der Strecke A—B des fahrenden Zuges. Dieser
Punkt Ml fällt zwar im Augenblick der Blitzschläge (vom
Fahrdamm aus beurteilt) mit dem Punkte M zusammen,
bewegt sich aber . . . mit der Geschwindigkeit . . . des
Zuges nach B.. Würde ein bei Ml im Zuge sitzender Be¬
obachter diese Geschwindigkeit nicht besitzen, so würde er
dauernd in M bleiben, und es würden ihn dann die von den
Blitzschlägen A und B ausgehenden Lichtstrahlen gleichzeitig
erreichen, das heißt, diese beiden Strahlen würden sich gerade
bei ihm begegnen. In Wahrheit aber eilt er (vom Bahndamm
aus beurteilt) dem von B herkommenden Lichtstrahl entgegen,
während er dem von A herkommenden Lichtstrahl voraus^
eilt. Der Beobachter wird also den von B ausgehenden
Lichtstrahl früher sehen, als den von A ausgehenden.“ Man
ersieht also: „Ereignisse, welche in bezug auf den Bahndamm
gleichzeitig sind, sind in bezug auf den Zug nicht gleich¬
zeitig und umgekehrt. (Relativität der Gleichzeitigkeit).“
Selbstverständlich läßt sich diese Differenz der Ereignisse
für den Beobachter im Zug praktisch nicht wahmehmen, da
im Verhältnis zur Lichtgeschwindigkeit (300 000 Kilometer
pro Sekunde) stets die Geschwindigkeit des Zuges zu gering
ist. Aehnlich wie die eben geschilderten Ueberlegungen zeigen
andere nun, daß beispielsweise vom Bahnsteig aus die Länge
des fahrenden Zuges als eine andere sich bestimmt als vom
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1586 _'_ Bücberschyi. .
> - -•', Vj&*-
fahrenden Zuge selber. Dies Ganze ergibt, daß es für eine *
Beobachtung an einem bewegten Körper nicht gleich ist, ob,?
man sie von diesem bewegten Körper selbst oder. Von einend
anderen zu diesem Körper in Ruhe befindlichen Standort aus
macht. Bei Berechnungen physikalischer Natur muß diese
Tatsache berücksichtigt werden, und wie dies zu geschehen
hat, wie man durch eine bestimmte Methode dahin kommen
kann, trotz dem geschilderten, die Naturvorgänge einheitlich,
systematisch zusammenhängend zu betrachten, das ist das
Verdienst der speziellen Relativitätstheorie. Einstein sagt:
„ . . . Dadurch wird sie zu einem wertvollen, heuristischen
Hilfsmittel beim Aufsuchen der allgemeinen Naturgesetze.“
In der allgemeinen Relativitätstheorie wird nun das obige Ge¬
sagte erweitert für Bewegungen aller Art. Aber, was für uns
hier von Bedeutung ist, sie bietet das Mittel, Naturerschei¬
nungen besser zu erklären.
wenn eben von „besser erklären“ gesprochen wurde, so sei
zunächst Rechenschaft gegeben, was darunter vom wissen¬
schaftlichen Standpunkt aus zu verstehen ist. Es sei daher
ein Ausflug in die Erkenntnistheorie gestattet: Wenn wir
beispielsweise die Lampe auf unserem Sdireibtisch betrachten,
was geschieht dann? Wir nehmen eben die Lampe wahr.
Richtig; aber, und das ist wichtig, über die Lampe als solche
können wir keine Aussage machen, sondern nur über das, was
wir eben wahrgenommen haben. Dias klingt wie Haarspalterei,
ist es aber nicht. Denn wir erkennen nur das gerade so, wie
wir es wahrnehmen, eben nur dadurch überhaupt, daß wir
es wahrnehmen. Das heißt mit anderen Worten: Der Er¬
kennende und das, was erkannt wird, befinden sich im Augen¬
blick des Erkennens in einer unlöslichen Vereinigung, wie
man sagt, in einem System. Hieraus sehen wir, daß wir über
* die Lampe an sich überhaupt nichts aussagen können, sondern
nur über die Lampe, soweit sie eben Gegenstand unserer Er¬
kenntnis ist, das heißt, sie in die Erkenntnis eingeht. Nun aber
eins, und das ist genau zu beachten, die Lampe ist also als
Gegenstand unserer Erkenntnis nicht Schein, ein Schein, der
trügerisch ist. Denn, wir haben ja Kenntnis von der Lampe
dadurch, daß sie auf unsere Sinne, durch welche wir erkennen,
wirkt, und zwar so, wie eben das, was wir Lampe nennen.
Fragen wir nun von diesem gewonnenen Gesichtspunkte, aus,
was Raum und Zeit eigentlich sind, Begriffe, die uns bei der
Relativitätstheorie beschäftigt haben, so erhalten wir dem
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Bücherschau.
1587
Kantschen Standpunkt entsprechend, die Antwort: Raum und
Zeit sind Anschauungsformen, in die alle Gegenstände und
überhaupt alles eingehen müssen, um angeschaut werden zu
können. Mit anderen Worten, Raum und Zeit sind die Hand¬
werkszeuge unserer Erkenntnis, denn unsere Eigenart ist
es, daß wir so und nicht anders wahrnehmen, in dem das
Wahrzunehmende von uns räumlich und zeitlich erfaßt wird.
Nach diesem Gesagten ist (überhaupt von einem absoluten Vor¬
handensein der Zeit und des Raumes nicht die Rede. Mithin
kann jede Zeit- und Raumbestimmung, das heißt, die empirisch
bestimmte Zeit und ein ebensolcher Raum nach diesen -An¬
schauungen also wiederum nicht an sich Gegebenes sein, son¬
dern diese können nur Daten sein, das ist Bestimmungen, um
ein Geschehen zu definieren. Ob also solche empirische Zeit-
und Raumgrößen nur unter ganz bestimmter Voraussetzung
richtig sind oder nicht, das ist mit anderen Worten die Frage,
die in der Relativitätstheorie gestellt und genau untersucht
wird. Einfacher noch einmal an Hand des Beispiels wieder¬
holt, ob meine Zeit- und Raummessungen vom Bahndamm aus
für die Vorgänge auf dem bewegten Zug ohne" weiteres
gültig sind, das ist das Problem. Wir fanden, daß dies
nicht der Fall ist. Will man trotzdem von dem Gesichtspunkt
eines Systems aus, das heißt hier vom Standort auf den Bahn¬
körper sowohl Vorgänge auf diesem als auf der Bahn be¬
stimmen, so muß man die Verschiedenartigkeit der empiri¬
schen Zeit und des Raumes bei seinen Berechnungen in Be¬
tracht ziehen. Dies geschieht, indem man als Zeitmaß die
Geschwindigkeit des Lichtes allen Ereignissen zugrunde legt
und die räumliche Verschiedenheit in Rechnung stellt.
„Besser erklären“ heißt also in bezug auf die Relativitäts¬
theorie zunächst: sie ermöglicht verschiedenartige Vorgänge,
die bisher unter falschen Voraussetzungen in einem System
behandelt wurden, diese nach Korrektion der Voraussetzungen
trotzdem in ein System zu bringen. — Hier noch ein Wort
über „System“. Wir sahen oben, daß Gegenstände für uns
nur Gegenstände unserer Erkenntnis sein können. Ein ge¬
heimnisvolles Suchen nach einem Etwas, was hinter allem
Geschehen steckt, ist somit vergeblich. Wir können und dür¬
fen nur fragen: wie geschieht etwas, nach welchem Gesetz er¬
folgt das Geschehen? Obgleich wir dies seit Galilei wissen
sollten, sei deutlichst es hier gesagt. So ist unsere Erkenntnis
darauf gerichtet, im Geschehen das Gesetzmäßig« zu erkennen.
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1588 _'_ Eingelaufene .
Und so kommen wir nun dazu, noch eine Leistung dw
Relativitätstheorie aufzuzeigen. Sie hat es ermöglicht, 2 wei bis
jetzt ganz verschieden erklärte physikalische Gebiete, die
Elektrodynamik und die Gravitätion von einem Gesichts¬
punkt aus zu betrachten, das heißt gesetzmäßig zu vereinen,
in ein System zu bringen. Dies Vereinfachen, dieses Streben,
verschiedene Gesetze, verschiedene Systeme zu einem Gesetz,
zu einem System zu vereinen, diesem Ziele jeder Wissenschaft
ist die Relativitätstheorie im weitesten Sinne gerecht geworden.
Absichtlich sind nur einige markante Tatsachen heraus¬
gegriffen worden, um nicht durch die Menge des Angeführ¬
ten der Deutlichkeit des Gesagten Konzessionen machen zu
müssen. Zusammenfassend läßt sich fesitstellen: Bis zur Auf¬
stellung der Relativitätstheorie gab es in der Naturwissenschaft
nur eine allgemein gültige empirische Zeit. Jetzt weiß man,
daß für jede Messung erst genau festzustellen ist, wie hier
Zeit und Raummessung stattzufinden hat. Als das zugrunde
legende aller Zeitmessungen wird wegen der erläuterten Rela¬
tivität der Zeit die Lichtgeschwindigkeit genommen.
Walter Israel.
Eingelaufene Schriften.
Professor Dr. Georg v. Below: Soziologie als Lehrfach.
Ein kritischer Beitrag zur Hochschulreform. Verlag
Duncker & Humblot. .München und Leipzig 1920. Preis
3,50 Mark.
Professor Dr. Otto Braun: Der Student und die neue Zeit.
Verlag Engelhorns Nachfolger. Stuttgart 1920. Preis
4,— Mark.
Paul Hirsch, Präsident des preußischen Staatsministeriums:
Kommunalpolitische Probleme. .Verlag Quelle & Meyer.
Leipzig 1920. Preis 4,40 Mark.
Dr. Felix Rachfahl: Der Fall Valentin. Verlag Duncker ft
Humblot. München und Leipzig 1920. Preis 4,— Mark.
Karl Radek: Proletarische Diktatur und Terrorismus. Eine
Antwort an Kautsky. Verlag Carl Hoym, Nachfolger
Louis Cahnbley. Hamburg 11, Admiralitätsstraße 19.
Preis 1,50 Mark.
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SOEBEN ERSCHEI NT: ■»;
und wir
von
Dr. von U ngern-Sternberg
PREIS MK. 2,—
und 20°/ e Teuerungszuschlag
ln der Schrift wird darauf hingewiesen, eine wie große Bedeutung
die handelspolitischen Beziehungen Deutschlands zuRußland vordem
Kriege für die beiden Völker gehabt haben und wie überaus wichtig
für unsere Zukunft die Wiederaufnahme dieser Beziehungen ist
Bezug durch alle Buchhandlungen
sowie direkt vom
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
Berlin SW 68, Lindenstraße 114 — Postscheckkonto Berlin 275 76
Herausgeber: Dr. A.Helphand, Berlin. Verantwortl. Schriftleiter: M.Beer, Berlin-Karlshorst*
Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, LindenstraDe 114. Fernruf: Montr*
platz 2218, 1448—1450. — Druck : Photogravur G. m. b. H., Berlin SW 68, LindenstraÖe 114«
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Original fro-rri
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
-■l
27. März 1920
ihrg. 2. Band J6 51-52
Herausgegebenvon
isarvus
50 Pfennig
ST
iriag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68
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INHALT DIESER NUMMER:
Norman Angell: Der Berliner Pgtsch, Frank-* .
reich und Polen.. . . 1589
M. Beer: Die Straßburger Tagung der franzö¬
sischen Sozialisten. 111. und IV. . . .1596
U. Emil: Politische Köpfe. XI. Landsberg und
XII. Strobel ... . . . . 1601
Hans von Kiesling: Ueber den wirtschaftlichen
Aufbau in Deutschland ......... 1605
Friedrich Th. Körner: Die volkswirtschaftliche^
Bedeutung der Leipziger Messe . . ... 1613
Bücherschau. Dr. Bruno Hahn: Die neueste Ent¬
wicklung des Qenossenscbaftswesens in Ru߬
land; Dr. O. Stillich: Die wahren Ursachen
unserer Wirtschafts- und Finanznot. . *. . 1618
An unsere Leser.
Infolge der allgemeinen Arbeitsniederlegung in der dritten
Märzwoche und der mangelnden Gas- und Elektrizitätszufuhr
auch nach Wiederaufnahme der Arbeit in der vierten März¬
woche sind wir gezwungen, diese Nummer als 51 und 52
erscheinen zu lassen.
Nummer 50 der „Glocke“ hatte folgenden Inhalt:
M. Beer: Die Straßburger Tagung der fran¬
zösischen Sozialisten. I. und II.1558
Peter Knute: Budapest.1562
Arthur Hopfner: Strömungen'in den deutschen
Gewerkschaften . . . .. . 1566
U. Emil: Politische Köpfe: IX. Adolf Hoffmann
und X. Haenisch . . ..1572
Herman George Scheffauer: Feder und Schwert 1575
Rechtsanwalt Dr. L. Bendix: Rechtsprechung des
Reichsgerichts in Strafsachen und das Rechts¬
bewußtsein des Volkes. 1578
Bücherschau. 1583
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
DE GLOCKE
51-52. Heft 27. März 1920 _ 5. Jahrg.
Nachdruck sämtlicher Artikel mit ausführlicher Quellenangabe gestattet
NORMAN ANGELL:
Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen.
Wir werden in der nächsten Nummer den Putsch und seine
Folgen behandeln. Inzwischen dürfte es für die Leser von er¬
heblichem Interesse sein, zu hören, wie ein weltbekannter eng¬
lischer Publizist über die Angelegenheit denkt, und wie mensch¬
lich und gerecht er über Deutschland urteilt. Norman Angell
(Familienname: Lane), geboren 1874 in England, erzogen in Frank¬
reich und Amerika, lebt seit 1898 als Journalist und Schriftsteller
in Europa. Er verfaßte zahlreiche Schriften, darunter seine be¬
rühmte pazifistische Schrift „The Great Illusion " (1910), die in
sämtliche europäische Sprachen, sowie in die .japanische, chinesische
und in verschiedene indische Sprachen übersetzt wurde. Er ist
jetzt Mitglied der sozialistischen Independent Labour Party von
England. Sein in deutscher Uebersetzung hier wiedergegebener
Aufsatz erschien im „Labour Leader“ vom 18. März.
Redaktion der „Glocke
I.
P\IE einander abwechselnden Berichte aus Berlin und Stutt-
gart zeigen nur die Zwischenräume an im Drama der
Revolution und Gegenrevolution. Das gegenwärtige Ver¬
hältnis der Kräfte stellt nur einen Waffenstillstand dar, um
eine Pause zu gewinnen für die Speisung der Hungrigen
und die Bestattung der Toten. Das Schwungrad muß seine
Drehung vollenden, nach rechts oder nach links. Die ver¬
bündeten Regierungen werden selbstredend alles tun, damit
das Rad nach der äußersten Rechten schwingt und die
militärische Kaste und der preußische Nationalismus wieder
hergestellt werden. Diese Ansicht entspringt nicht einer
Ueberspannung der Ironie oder der Gereiztheit. Die ganze
Handlungsweise jener „freiheitlichen“ Regierungen, die diesen
51-52M
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1590 _ Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen.
Krieg angeblich zu dem Zwecke unternommen haben, die
deutsche militärische Autokratie und die Gefahr eines fana¬
tischen Nationalismus zu beseitigen, läßt eine andere An¬
nahme nicht zu. In der langen Reihe der Verhandlungen,
sowie der öffentlichen Reden, die dem Waffenstillstände vor-,
aufgingen, stimmten sie immer die eine Leier an: Demo¬
kratie. Präsident Wilson erklärte den Deutschen und der
ganzen Welt, daß der Inhalt des Friedensvertrags ganz davon
abhängen wird, ob ihn ein demokratisches oder ein auto-
kratisches Deutschland abschließt. Er setzte den Deutschen
freundlich auseinander, daß die Entente nur Krieg führte,
-um das deutsche Volk von der Autokratie zu befreien und
es zu einer parlamentarischen Demokratie zu machen. Mit
einem solchen Deutschland — so erklärten unsere Staats¬
männer wiederholt — würden wir auf gleichem Fuße leben
und einen Frieden schließen, von dem die. Deutschen sehen
werden, daß er ihren besten Interessen dient.
Das antimilitaristische und antidynastische Deutschland
nahm uns beim Wort. Die Revolution wurde gemacht, und
binnen 24 Stunden wurden nicht nur eine, sondern an die
zwanzig Dynastien gestürzt; Deutschland gab sich eine repu¬
blikanische Verfassung, die vielfach die freieste und liberalste
der Welt ist. Alle kompetenten Beobachter stimmen darin
überein, daß im Herbst 1918 die große Masse der Deutschen
ihre Illusionen über ihre militärische Kaste aufgab, ihrer
überdrüssig wurde, ihr feindlich gegentiberstand, sich von
der Vergangenheit abwandte, um, wie ein Deutscher neu¬
lich schrieb, „für die Aussöhnung der Völker pnd für einen
Volksfrieden zu wirken“. Das Ansehen Wilsons war un¬
geheuer. Die Deutschen glaubten, die Entente würde nicht
nur an die 14 Punkte gebunden sein, sondern auch an die
ganze idealistische Politik, die Wilson in seinen Reden ent¬
wickelt hatte.
Was folgte hierauf? Wie haben jene Leute unter uns
gehandelt, die erklärt hatten, daß das Symbol einer Sinnes¬
änderung in Deutschland die Abwendung vom Kaiserismus
sein würde?
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^ Origiralfmm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen.
1591
Was sie getan haben? Sie brüllten und schäumten fana¬
tischer denn je, daß die ganze Revolution nur ein Hunnen¬
manöver sei, und daß „die Verbrecherhorde nur ihren
Hauptmann gewechselt habe“, um uns um unsere Rache
zu betrügen. Der Friede, schrien sie, müßte ebenso hart
sein, wie der, der einem automatischen Deutschland auf¬
erlegt worden wäre.
Ein Funke staatsmännischer Weisheit oder Ehre hätte
unseren Regierungen gebieten müssen, bis zu einem ge¬
wissen Grade die Unterscheidung aufrechtzuerhalten, von
der sie seit Jahren gesprochen hatten: also zwischen einem
demokratisch-antimilitaristischen und einem wesentlich nationa¬
listisch-reaktionären Deutschland einen Unterschied zu machen
und den republikanischen und friedfertigen Bestrebungen
gegenüber eine ermutigende und sympathische Haltung ein¬
zunehmen. Aber unsere Northcliffes, Bottomleys und Lloyd
Georges ließen es nicht zu, daß ein derartiges Verfahren
auch nur einen Augenblick erwogen wurde. Nach Monaten
eines erbarmungslosen Massakers durch die Blockade legten
wir dem republikanischen Deutschland einen Frieden auf,
der so raubgierig und grimmig ist, daß er gar nicht funk¬
tionieren kann. Wir schienen entschlossen zu sein, den
Beweis zu führen, daß auch das größte Maß von Demokratie,
von republikanischer Gesinnung oder Antimilitarismus nicht
imstande wäre, auch nur unsere vorübergehende Sympathie
oder Hilfe zu erwerben.
Dem deutschen Militarismus wurden somit Argumente
geliefert, die unwiderleglich sind; die Interessen des deut¬
schen Volkes, von denen Wilson mit so warmer Rhetorik
gesprochen hatte, würden keine Rücksicht finden bei den
westeuropäischen Demokratien.
Und die britische Arbeiterpartei machte keine Ausnahme.
Ihre parlamentarischen Vertreter stimmten mit den übrigen
Fraktionen für den Vertrag. Dann beschäftigte sie sich
ganz mit innern Fragen und. hielt den Mund.
Deutschland — so argumentierten die Militaristen in
Beflin — besitze nur ein Hilfsmittel: seine zukünftige natio-
51*5211*
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Original fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1592
Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen.
nale Macht. So erhoben der Nationalismus und der Mili¬
tarismus wieder ihr Haupt.
Der Augenblick, an dem etwas Weisheit, Großmut und
Staatsmannskunst hätten Wunder wirken können, ging vor¬
über. Heute wüten in Deutschland Haß und Erbitterung,
erzeugt durch unsere kindermordende Blockade und unseren
„Frieden“, und erleichterten die Arbeit der militärischen
Nationalisten.
Wer ist für die Auferstehung des deutschen Militarismus
verantwortlich? Seien wir ehrlich und sprechen wir uns
hierüber aus. Die Schuld liegt nicht allein bei den Regie¬
rungen. Die Völker in ihrer überwältigenden Mehrheit
haben dem Vorgehen der Versailler nicht nur zugestimmt,,
— sie haben es verlangt. In Amerika, in England, in
Frankreich und ip Italien, — überall. Sie verlangten einen
strafenden Frieden, der den rasenden Wahnsinn, erzeugt
durch eine fünfjährige, aufreizende Preßkampagne, befriedigen
sollte. Diese Leidenschaften schufen Legenden von deutscher
Grausamkeit, schufen Einbildungen und Theorien, die in
ihrer Sinnlosigkeit einfach kindisch waren. Die feindlichen
Staaten: Deutschland, Oesterreich, Ungarn, bildeten keine
Masse von menschlichen Wesen aller Art: von ermüdeten
und bedrückten Arbeitern, Greisen, Frauen und Kindern, die,
verwirrt und mißleitet, ihre Pflicht taten, wie sie sie ver¬
standen und wie man sie von Jugend aüf gelehrt, —
Menschen, die hilfslos in den Stahlstrom hineingerissen
wurden und so wenig Macht hatten, ihre Regierungen zu
beherrschen, wie das englische Volk die Intrigen der Churchills,
Curzons, Milners, Georges oder deren verlogene Presse, deren
völkermordende Blockade, deren irische, ägyptische und
russische Politik beherrschen konnte. Nein. Das deutsche
Volk erschien den Nationalisten der Entente als. ein einziger
gigantischer Verbrecher, — ein Unmensch, der nicht nur
ungerecht, sondern grausam ist, wie ein amerikanischer
Lyncher oder ein britischer Generalgouverneur von Pandschab,
sondern der auch, wenn er nur wollte, binnen einer Minute
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Original from
UMIVERSITY OF CALIFORNIA
Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen.
1593
sein Unrecht einstellen und es sofort wieder gutmachen könnte.
Diese ganze Auffassung offenbart das Legendäre und Phan¬
tastische einer schlecht geleiteten Kinderstube. Und doch ent¬
stammt sie dem Rate fachmännisch gebildeter Diplomaten,
die auf ihren Realismus, auf die Kenntnis der menschlichen
Natur, auf die Erkenntnis des Möglichen stolz sind.
III.
Aber wünschten diese Herren wirklich ein demokratisches
Deutschland? Haben sie nicht eher eine stille Neigung zu
jener halbroyalistischen, militärischen Ordnung, die soeben
beseitigt wurde? Sahen sie nicht die Vernichtung der Adels¬
herrschaft und der Dynastien, die Ausdehnung des Repu¬
blikanismus mit sozialistischen Tendenzen,.den Zug
zum „Bolschewismus“?
Und die französische militärische Partei, von der Wilson
unumwunden erklärte, daß sie ihn in Paris bekämpfte, ist
jetzt im vollen Besitze der Herrschaft! Wenn aus diesem
Kriege tatsächlich ein friedfertiges Deutschland hervorgehen
sollte, dann würde ja die Aussicht auf die permanente Be¬
setzung des linken Rheinufers verschwinden, und der sehr
alte Traum des französischen Patriotismus würde zerrinnen!
Wäre es denn nicht besser — sagten sich die französischen
Militaristen —, daß eine erfolgreiche Gegenrevolution in
Preußen Platz griffe, die zur Wiederherstellung des preußi¬
schen Königtums und zur Zersplitterung Deutschlands führen
würde! . . . Tja, das wäre eine glänzende Leistung der
französischen diplomatischen Kunst. Und neben einem zer¬
splitterten, machtlosen Deutschland würde sich ein geeinigtes
Polen erheben, ein französiertes Polen, militärisch stark und
angriffslustig, ein Polen, dessen Adel in Paris lebt, dessen
Offiziere in französischen Militärakademien studieren. * Das
wäre die französische Oberherrschaft in Europa, — nicht
ganz nach Napoleons Methoden, aber doch dem Ergebnis
nach.
Diese Politik wird vielleicht nicht ganz bewußt betrieben,
aber sie ist sicherlich unter den dunklen Triebkräften der
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Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
1594
Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen.
Diplomatie wirksam: Wiederherstellung Preußens und Zer-'
brechung des Deutschen Reiches. Schon vor Monaten habe
ich, in diesen Spalten darauf hingewiesen, daß die englische
Arbeiterklasse die geprellte sein wird, wenn sie sich damit
begnügt, Frieden mit Rußland zu verlangen und sich nicht
darum kümmert, was das Verhältnis der britischen Diplomatie
zu Frankreich und Polen ist, oder wenn sie es unterläßt, die
Intrigen ans Licht zu bringen, die die Westmächte in Polen
anzetteln. Als ich danach den Artikel schrieb, besetzten
polnische Truppen russische Gebiete, die von polnischer
Nationalität nichts wissen. Nichtsdestoweniger boten die
Sowjets den Polen den Frieden an. Sie verlangten nicht
die Zurückziehung der polnischen Truppen von den russi¬
schen Gebieten, ehe sie in Friedensverhandlungen einträten,
und machten keine der üblichen diplomatischen Gesten. Aber-
Polen folgte dem Beispiele der Westmächte: es zögerte,
zauderte, schob auf, wich aus, schlängelte hin und her in
der Hoffnung auf eventuelle französische oder andere west¬
europäische Hilfe.
IV.
Die ganze Lage, nahm eine neue Gestalt an durch die
folgende Nachricht:
„Die Demobilmachungsbehörde (Liquidation Board) der
Vereinigten Staaten von Amerika schloß einen Vertrag ab,
wonach sie Polen gestattet, die Ueberschüsse der amerika¬
nischen Heereslieferungen zu kaufen auf Grundlage eines
sechsjährigen Kredits zu fünf Prozent., Ein anderer Vertrag
mit der amerikanischen Schiffahrtsbehörde sichert den Polen
den Transport dieser militärischen Vorräte nach Danzig. Als
Ergebnis dieser Verträge sind bereits unterwegs nach Danzig:
militärische Ausrüstungen für 300000 Mann, 80 Lokomotiven,
4500 Wagen für Truppentransporte, 5 Millionen Pfund,Mar¬
garine, 100000 Tonnen Mehl, außer anderem zahlreichen
Material, wie Landungsbrückenkrane, Hafer für Kavallerie usw.“
Sehen wir nun, was diese Nachricht bedeutet. Der ame¬
rikanische Kredit wird Völkern verweigert, die buchstäblich
dem Hungertode preisgegeben sind, zum Teil infolge des
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Der Berliner Putsch, Frankreich und Polen. _ 1595
Mangels an rollendem Material. Während aber diese Schrecken
wüten, denen man nicht abhelfen will, erhalten die Polen
große Mengen von Nahrungs-. und Transportmitteln, um eine
Armee zum Kampfe gegen Sowjetrußland zu führen! Der
Grund hierfür findet sich in der Aussage Mr. Hoovers vor der
Budgetkommission des Repräsentantenhauses zu Washington.
Der Bericht hierüber sagt: „Hilfe ist nötig für Polen, da
dessen Herstellung verzögert wurde durch derj Krieg gegen
die Bolschewiki, so erklärte Mr. Hoover. Bricht die polnische
Front zusammen, so ist der ganze europäische Wirtschafts¬
bau erschüttert.“ Die amerikanische Finanz befindet sich in
hysterischem Schrecken vor dem „Bolschewismus“. Ein Krieg
gegen diesen würde die Grundsätze der Nationalitätsrechte,
des Völkerbunds, des Völkerrechts und aller anderen Rechte
nicht verletzen. .
Sollen wir uns dies gefallen lassen? Wir, die wir das
Wohlergehen der Männer, Frauen und Kinder Europas höher
stellen als das alte Spiel der sogenannten Großmächte, die
mit Völkern und Staaten wie mit Schachfiguren umgehen, -—
sollen wir uns dabei beruhigen? Sollen wir ein Teil dieses
. Spiels bilden? Sind wir auch nur Drahtpuppen, die durch
unsichtbare Hände hin- und herbewegt werden? Wenn die
Arbeiterklasse wirklich für eine bessere Zukunft kämpft, so
darf die Frage der Revision des Versailler Vertrags und des
Friedens nicht länger als eine untergeordnete Sache unseres
politischen Lebens behandelt werden. Die Lösung dieser
Frage ist für die Durchführung unseres eigenen sozialen
Programms unumgänglich nötig und kann nur den Mittelpunkt
unseres Kampfes bilden.“
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1596 Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisten.
' ‘ ‘ - k . 1 1 - —
M. BEER:
Die Straßburger Tagung
der französischen Sozialisten.
iii. '
P)IE inzwischen eingetroffene „Humanite“ vom 6. März
u enthält den endgültigen Wortlaut der Beschlüsse der
Straßburger Tagung. Der Beschluß über den Austritt aus der
zweiten Internationale lautet .folgendermaßen:
„Die zweite Internationale, gegründet in Paris 1889 auf
dem Grundsatz des Klassenkampfes und nach einigen Ab¬
schwächungen wiederhergestellt auf dem Amsterdamer Kon¬
greß 1904, wurde durch den Krieg, den zu verhindern sie
sich bemüht hatte, ihrer Aufgabe, der sozialistischen Er¬
ziehung und Organisation, entrissen.
Wie die ganze Menschheit, deren höchster Ausdruck sie
war, wurde die zweite Internationale materiell und moralisch
durch den Krieg zerrissen. Manche ihrer Sektionen schwäch¬
ten und entwürdigten sich, indem sie während des Krieges
und nach dem Kriege die Macht mit der Bourgeoisie teilten
und das. Prinzip des Klassenkampfes, auf dem sie begründet
waren, offenbar verkannten.
Die Sozialistische Partei erklärt, daß, die Internationale
in ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht mehr dem revo¬
lutionären Zustand entspricht, der in den meisten Ländern
sich bemerkbar macht und der eine neue Internationale der
Tat heischt. Die zweite Internationale vereinigt nunmehr
nur einen Bruchteil der sozialistischen Arbeiter der Welt
Ihr gegenüber bildete sich in Moskau im März 1919 die
dritte Internationale, die ein kompromißloses Programm des
Klassenkampfes formulierte nach dem Muster des Kommu¬
nistischen Manifests und der Amsterdamer Resolution von
1904, der maßgebenden Schriftsätze der ganzen Bewegung
und jeder sozialistischen Aktion. Dieser neuen Internatio¬
nale schlossen sich an: die Mehrheit der russischen Sozia¬
listen, die Sozialisten Italiens, Norwegens, Serbiens, Rumä¬
niens, verschiedene Bruchteile des Proletariats in Schweden,
Dänemark, Deutschland, Ungarn, England und Amerika.
Drei wichtige Organisationen traten aus der zweiten Inter¬
nationale aus: die Sozialistische. Partei der Schweiz, die
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Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisten. 1597
Sozialistische Partei der Vereinigten Staaten, sowie die deut¬
schen Unabhängigen. Die letzteren beschlossen auf ihrer
.Leipziger Tagung, mit den revolutionären sozialistischen
Gruppen Westeuropas in Verbindung zu treten, um, mit
ihnen vereinigt, sich der dritten Internationale zu präsen¬
tieren. Sollte es ihnen nicht gelingen, diese Gruppen zu
einem derartigen Vorgehen zusammenzufassen, so würden sie
sich der dritten Internationale anschließen. /
Die Sozialistische Partei Frankreichs nimmt den Beschluß
der Unabhängigen Sozialisten zur Kenntnis, die während
des Krieges und seit der Novemberrevolution den revo¬
lutionären und internationalen Ueberlieferungen des deut¬
schen Proletariats treu blieben, und erklärt, daß sie nicht
in einer Internationale verbleiben kann, in der Deutschland
nur noch durch Sozialisten vertreten ist, die die Mitschuldigen
des Kaisers und der gegenrevolutionären Manöver Scheide¬
manns 1 und Noskes sind.
Andererseits ist sie der Ansicht, daß die Zersplitterung
der proletarischen Kräfte der Welt eine Gefahr bildet für
die Arbeiterrevolution. Da die Versuche der Wiederaufrich¬
tung der zweiten Internationale, die in Bern und Luzern
gemacht wurden, für die Folge zu einem vollständigen Mi߬
erfolge verurteilt zu sein scheinen, so erklärt die Sozia¬
listische Partei Frankreichs, daß eine Zusammenfassung der
sozialistisch - revolutionären Kräfte, die sich auf den an¬
erkannten Grundsätzen des internationalen Sozialismus stützen,
eine dringende Aufgabe ist.
Der Haltung der kapitalistischen Regierungen der Entente
ist es geschuldet, daß es unmöglich ist, das Wirken und die
Handlungen der russischen Revolution in ihren Einzelheiten
zu kennen und zu beurteilen. Aber die Sozialistische Partei
Frankreichs, die sich mit allen Bewegungen der proletarischen
Befreiung solidarisch fühlt, ist der Ansicht, daß keine der
prinzipiellen Erklärungen der Moskauer Internationale sich
in Widerspruch befindet zu den wesentlichen Grundsätzen
des Sozialismus, wie sie von den internationalen Kongressen
niedergelegt wurden; die Forderung von der „Diktatur des
Proletariats“ als Uebergangsmaßregel von der kapitalistischen
1 Die französischen Genossen würden über Sdieidemann anders ge¬
urteilt haben, wenn sie dessen Tätigkeit in den letzten Monaten besser
gekannt hätten. Die Redaktion.
51-522
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1598 Die Straßburger Tagung der französischem Sozialisten.
zur sozialistischen Wirtschaftsordnung, liegt der ganzen revo¬
lutionären Auffassung zugrunde; ebenso ist die Einrichtung
der „Arbeiter- und Bauern rate“ eine der Formen, die die
Ausübung der proletarischen Macht bewirken kann.
Aber die Sozialistische Partei Frankreichs ist der Ansicht,
daß die sozialistischen Parteien West- und Mitteleuropas,
die doch in Ländern mit einer vorgeschrittenen industriellen
Entwicklung für die soziale Umwälzung kämpfen, sich daran
halten müssen, in vollem Einverständnis mit den vorhan¬
denen Arbeiterorganisationen — den Gewerkschaften und
Genossenschaften — zu handeln, und daß die Anpassung
dieser Körperschaften an die wirtschaftliche Umwelt eines
der wesentlichen Mittel dieser Umgestaltung bilden muß.
Sie erklärt deshalb, daß gemeinschaftliche Beratungen zwi¬
schen den sozialistischen Parteien und den Parteien der
dritten Internationale stattfinden müßten. Sie erklärt, daß
diejenigen Parteien, die auf diese Weise Vorgehen wollen,
vor allem erklären müßten, ebenso wie die Moskauer Inter¬
nationale dies erklärt hat, daß jede Zusammenarbeit mit der
Bourgeoisie und insbesondere die Beteiligung von Sozialisten
an Koalitionsregierungen, wie dies während des Krieges und
nach dem Kriege geschah, zu verdammen ist.
Die Sozialistische Partei Frankreichs schließt sich mit
ganzer Kraft dem Beschlüsse der deutschen Unabhängigen
an und gibt ihren Willen kund, am Wiederaufbau der Ein¬
heit des internationalen Sozialismus durch die Verschmelzung
der Elemente der zweiten Internationale, die den Grund¬
sätzen des Klassenkampfes treu' geblieben sind, mit den
Gruppen der dritten Internationale. Sie erklärt den Wunsch,
ihre aktive Sympathie für die russische Revolution kund¬
zugeben, aber auch das Bestreben, in enger Solidarität zu
verbleiben mit den Bemühungen, die inmitten ihrer eigenen
geschichtlichen und ökonomischen Umwelt von dem Prole¬
tariat der großen Industrieländer, insbesondere Englands und
Amerikas, entwickelt worden sind.
Um die schmerzliche Lage, die sich aus der Zersplitterung
der Internationale ergibt, abzukürzen, gibt der Kongreß dem
Parteivorstande den Auftrag, unbeschadet der Aufrecht¬
erhaltung des Kontakts mit den sozialistischen Sektionen
Westeuropas unverzüglich in Unterhandlungen einzutreten mit
den Körperschaften der dritten Internationale und im Ein¬
verständnis mit den deutschen Unabhängigen und den schwei-
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Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisiert. 1590
zerischen und italienischen Parteien Vorbereitungen zu treffen
für eine Konferenz, die den Zweck haben soll, die Körper¬
schaften der dritten Internationale zusammenzubringen mit
denjenigen sozialistischen Parteien, die entschlossen sind, ihre
0 Aktion auf Grundlage der überlieferten Grundsätze des Sozia¬
lismus zu entfalten. Innerhalb von drei Monaten soll der
Partei hierüber Bericht erstattet werden/*
Wie die „Humanite“ mitteilt, wurde dieser Beschluß mit
4330 gegen 337 Mandate angenommen.
IV.
Ueber die allgemeine Politik der Partei wurde folgender
Beschluß angenommen:
„Die Sozialistische Partei erklärt, daß unter den gegen¬
wärtigen Umständen ihre politische Haltung mehr denn je
im Sinne des internationalen Sozialismus sein muß. Sie be¬
kräftigt den Beschluß der früheren Kongresse, die Arbeiter
als Klassenpartei zu organisieren zum Zwecke der Ergreifung
der politischen Macht, um durch die Kraft des befreiten
Proletariats an die Vergesellschaftung aller Produktions- und
Austauschmittel heranzugehen, — an die Verwirklichung des
allen Sozialisten gemeinsamen Ziels. Sie weist alle Konfusio¬
nen und Taktiken zurück, die den Zweck haben, die Klassen¬
gegensätze zu verschleiern. Sie verwirft deshalb mit aller
Energie jede Beteiligung der Sozialisten an bürgerlichen
Ministerien, wie überhaupt jedes Bündnis mit anderen poli¬
tischen Parteien, das zur Verdunkelung des Programms füh¬
ren kann.
Indem
Kenntnis
die allein
sprach. Das französische Volk, geblendet durch die Lüge,
entkräftet durch die unterdrückende Herrschaft, der es wäh¬
rend fünf Jahre unterworfen war, hat trotz alledem den
Appell der Sozialisten gehört, und wenn das Wahlgesetz der
Ungerechtigkeit und der Unehrlichkeit nicht die Wahlergeb¬
nisse verfälscht hätte, so würden jetzt 150 Abgeordnete die
1 700 000 sozialistischen Wähler in der Kammer vertreten.
Die Sozialistische Partei verkennt nicht den Ernst der
Gefahr, der die Arbeiterklasse und die Republik ausgesetzt
sein kann durch eine Kammermehrheit, die sich aus roya-
listischen Junkern, Klerikalen und Kapitalisten zusammen-
51-52 2 *
die Partei die Ergebnisse der letzten Wahlen zur
nimmt, beglückwünscht sie sich zur befolgten Taktik,
den Interessen und der Ehre des Sozialismus ent-
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1600 Die Straßburger Tagung der französischen Sozialisten.
setzt, und der die verbrecherische Politik Clemenceaus das
Land ausgeliefert hat.
Sie fordert die Arbeiterklasse auf, wachsam zu sein und
mit dem männlichen Mute unserer Rasse und mit allen
Mitteln die erworbenen Vorteile zu schützen, insbesondere ♦
das Streikrecht und den Achtstundentag, wenn die Reaktion
es wagen sollte, sie anzugreifen. Der französische Sozia¬
lismus war stets der Hüter der Republik; er wird diese
ruhmreiche Ueberlieferung nicht aufgeben und er läßt an die
Anhänger bankerotter Regierungssysteme die Warnung er¬
gehen, daß er auch fernerhin bereit ist, den Kampf auf¬
zunehmen. In diesem Geiste bezeichnet die Partei die Poli¬
tik der früheren und der gegenwärtigen Regierung als eine
Gefahr für die Republik und für die Nation. Sie brandmarkt
vor dem gesunden Menschenverstände die sinnlose Legende,
gegen die auch die Weltgeschichte zeugen wird, die aus
einem konfusen und jeder schöpferischen Tat unfähigen
Menschen den Hervorbringer eines Sieges macht, der einzig
und allein zu verdanken ist den ungezählten Opfern der
französischen Soldaten und der unwiderstehlichen Aktion der
ausländischen Revolutionen, die sämtlich der russischen Re¬
volution entsprungen sind.
Sie stellt die beklagenswerten Ergebnisse dieser Politik
fest, die sie bereits vielfach verurteilt und die noch nach
einem Jahre Waffenstillstand zu keinem endgültigen Frieden
geführt hat. Sie brandmarkt den Bankerott des Völker¬
bundes und die schwindelhafte Anwendung des Nationalitäten¬
prinzips. Sie verwirft alle Vergewaltigungen, die die kapi¬
talistischen Ententestaaten den Völkern angetan haben, ebenso
die Verlängerung der offenen und versteckten Feindselig¬
keiten gegen die russische sozialistische Republik, deren Siege
sie begrüßt.
Die Sozialistische Partei Frankreichs, die politische Ver¬
treterin der Arbeiter, hat die Pflicht, sich mit einer wirt¬
schaftlichen und finanziellen Lage zu beschäftigen, die sich
von Tag zu Tag verschlimmert. Sie hat diese Schwierig¬
keiten vorausgesehen, ebenso wie sie angekündigt hat, daß
eine reaktionäre parlamentarische Mehrheit den Arbeitern
die ungerechtesten Lasten auferlegen, die indirekten Steuern
vermehren und es ablehnen wird, die Reichen und die Kriegs¬
gewinnler nach Gebühr heranzuziehen.
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Politische Köpfe. XI. und XII.
1601
Die Partei lehnt jede Verantwortlichkeit ab für die wirt¬
schaftliche und soziale Politik der bürgerlichen Regierung,
— eine Politik des teuern Brotes, der Belastung der Armen
und der Entlastung der Reichen. Mehr als je verlangt sie:
1. eine direkte Steuergesetzgebung, die bis zur Enteignung
der Kriegsgewinnler und der nationalen Diebe gehen muß;
2. die Vergesellschaftung der kapitalistischen Monopole;
3. Organisation der Transportmittel durch den Staat unter
Leitung tüchtiger Ingenieure; 4. munizipale Verwaltung des
unbeweglichen Eigentums, um dem kritischen Mangel an
Behausung durch energische Mittel abzuhelfen.
Der Kongreß beauftragt die parlamentarischen und muni¬
zipalen Vertreter der Partei, die sozialistischen Resolutionen
kompromißlos und mit aller Kraft zu verteidigen und das
Volk aufzurufen, das verstehen müßte, daß die allgemeine
Lage des Landes in wachsendem Maße einen revolutionären
Charakter annimmt. Angesichts der Arbeiterklasse, die durch
ihre Opfer die nationale Verteidigung gesichert hat, klagt
die Partei die Bourgeoisie an, daß sie immer lüsterner, selbst¬
süchtiger und brutaler ihren Willen offenbart, ihre tatsäch¬
liche Diktatur aufrechtzuerhalten. Die 1 600 000 Toten, deren
Aufopferung eine Aera der Gerechtigkeit unter den Völkern
und der Brüderlichkeit unter den französischen Bürgern er¬
öffnen sollte, sind vergeblich gefallen. Den Sieg hat nur
der Kapitalismus, der seine Profite ins Unendliche vermehrt.
Die Partei ruft die Arbeiter auf, sich auf allen Gebieten
zu organisieren, um ihre Macht zu entfalten und durch alle
Mittel die Stunde der Revolution zu beschleunigen.“
U. EMIL:
Politische Köpfe.
XI.
Landsberg.
T)IE Ruhe und Ueberlegenheit eines Diplomaten, — die
^ Geradheit und Ueberzeugungstreue eines sozialen Ketzers.
Die erste republikanische Regierung der deutschen Nation
wußte, was sie am ihm hatte, indem sie ihn als ihren Ver¬
treter nach Brüssel entsandte. Es ist ein zerklüfteter und
heißer Boden, mit der Lava des. feurigen Erdbebens von
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1602
Politische Köpfe. XI. und XII
1914—1918 bedeckt, den Landsberg dort vorfindet und auf
dem er wandeln muß. Aber er ist ein sehr, sehr kluger,
nüchtern prüfender und bedächtig arbeitender Mann, der
mit kühler Konsequenz seinen Weg verfolgt.
Landsberg steht im Alter von 49 Jahren und ist von mitt¬
lerer Größe. Seinem Aeußern nach könnte man ihn ganz gut
für einen Oberlehrer an sehen, wozu sein rotblonder Backen¬
bart und sein ruhiges, gemessenes Auftreten noch viel bei¬
trägt. In Wirklichkeit ist er von Hause aus Jurist und hat
bis vor wenigen Jahren den Rechtsanwaltsberuf ausgeübt.
Und mit Erfolg, — mit einem solchen Erfolge, daß er sich
schon frühzeitig ins Privatleben zurückziehen konnte.
„Landsberg ist der einzige Rechtsanwalt, dem es möglich
war, sich in jungen Jahren zur Ruhe zu setzen“, sagte
mir mal ein bekannter alter Justizrat. Er hatte seine Praxis
in Magdeburg und war ein — besonders vom bürgerlichen
Publikum — stark begehrter Verteidiger. Auch die Arbeiter
hatten ihn gern zu ihrer Vertretung, und Redakteure, die er
verteidigt hat, sind des Lobes voll für ihn. So war es nicht
zu verwundern, daß die Magdeburger Wähler ihn 1912 an
Stelle des biederen Schlächtermeisters in den Reichstag schick¬
ten, wo er sich bald großes Ansehen erwarb. Einen heftigen
Sturm löste er damals aus, als er im Reichstag beim Kaiser-
hoch, statt, wie es üblich war bei den Sozialdemokraten, den
Saal zu verlassen, auf seinem Platze verblieb und stehend das
Hoch mit anhörte. Die radikale Richtung in der Partei griff
ihn scharf an, und die Stimmung gegen ihn war so, daß er.
als ich eines Abends in der Stadtbahn mit ihm zusammentrai
und ihn begrüßte, ganz bedrückt meinte: „Es tut einem
ordentlich wohl, wenn man von einem anständigen Menschen
noch angeredet wird.“ Der Sturm im Wasserglase legte sich
aber wieder bald und bei den juristischen Debatten im Reichs¬
tage schickte ihn die Fraktion oft genug vor, und er ent¬
ledigte sich seiner Aufgabe stets mit unleugbarem Geschick.
Er hatte seinen Wohnsitz später nach Berlin verlegt und
hörte hier an der Universität im reifen Alter noch Geschichte
und Nationalökonomie.
„In meinen jungen Jahren bin ich lieber durch Wald und
Feld gewandert, als daß ich hinter Büchern saß“, sagte er
mal gelegentlich eines Spaziergangs. Auch heute noch streift
er in freien Stunden gern in die Umgegend Berlins hinaus,
und wenn die Sommerrerien kommen, besteigt er sein Fahrrad
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Ürigsinal fro-m
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Politische Köpfe. XI. und XII.
1603
und durchfliegt weite Strecken deutschen Landes, um braun*
gebrannt und frisch gestärkt wieder zurückzukehren.
Im persönlichen Verkehr ist Landsberg ein Mann von
vornehmem, sympathischem Wesen, ein liebenswürdiger Plau¬
derer und angenenmer Gesellschafter. Als Politiker ein feiner,
^großzügiger Geist, der zweifellos etwas zu geben hat, und
dort, wo man ihn hinstellt, immer Ersprießliches leistet.
Daß die linke Seite ihn heute ablehnt, beweist nichts dagegen.
Dieselben Leute, die Eisner einstmals gekreuzigt, haben ihm
nachher Hosianna zugerufen, und Bernstein galt einst auf
dem linken Flügel nichts, im Kriege galt er sehr viel und
jetzt gilt er wieder nichts mehr. So wechseln in der Politik
Stimmungen und Ansichten.
XII.
Strobel.
Literat von Jugend auf, Freund von Liliencron und feiner
Kenner besonders der schöngeistigen Literatur. Stammt aus
Marbuig und wurde frühzeitig schon Redakteur an sozia¬
listischen Zeitungen und gern gesehener Mitarbeiter von Zeit¬
schriften. Heiratete die Tochter eines alten, hochgeschätzten
Parteivorstandsmitglieds, war lange Jahre in Kiel an der
„Volkszeitung“ und saß neun Monate im Gefängnis zu
Glücksburg, auf daß er patriotischer gesinnt werde. Später
kam er an den „Vorwärts“ in Berlin; und hier entfaltete
er journalistisch seine ganze Arbeitskraft, so daß seine Mit¬
arbeit in der schöngeistigen Literatur immer mehr in den
Hintergrund trat.
„Es ist schade um Strobel“, sagte mir einmal gelegentlich
ein bekannter Redakteur, „daß er ganz und gar in der Politik
aufgegangen ist,, ich las früher seine schöngeistigen und
philosophischen Arbeiten sehr gern.“ Wen die Politik aber
erst einmal hat, den nimmt sie gewöhnlich auch völlig in
Anspruch, und so ist Strobel nur noch selten zu seiner
jungen Liebe zurückgekehrt. Vor einiger Zeit gab er zum
ersten Male Gedichte in Buchform heraus, die von tiefinnerer
Gemütswärme, von blutfrischem Leben und tatenfroher Kraft
getragen sind.
Rednerisch ist Strobel schon als sehr junger Dachs hervor-
getreten, und ein alter, verstorbener Parteigenosse erzählte
immer mit großem Vergnügen, wie er einmal Strobel rück-
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1604
Politische Kopfe. XI. und XH.
wärts vom Podium heruntergezogen habe, als er in der
Rede steckengeblieben war. Als junger Anfänger natürlich,
denn heute ist Strobel ein gutgeschulter Versammlungs- und
Parlamentsredner. Als Mitglied des preußischen Landtags
bildete er den linkesten Flügel und aus der „Vorwärts -
Redaktion schied er infolge der bekannten Richtungskämpfe.
Minister war er nur kurze Zeit, da die Unabhängigen bald
wieder aus der Regierung ausschieden.
Strobel ist eine einsame, zurückgezogene und tiefangelegte
Natur. In kinderloser Ehe lebend, ist sein steter Begleiter
ein kleiner, brauner Dackel (früher war’s ein prächtiger
Bernhardinerhund). An der Seite einer hochmusikaliscnen
Gattin lebt er still-friedlich dahin. Wohl steht er mit heißem
Gefühl auf dem radikalen Flügel der Sozialdemokratie, aber
nie hat er den Kampf mit vergifteten Waffen oder in ge¬
hässigen Formen geführt. Daß er eine durch und durch
vornehme Natur ist, zeigte er an einem Beispiel vor Jahren.
Damals starb ein Journalist, den er mit allen Mitteln ge¬
fördert und emporgehoben hatte und der ihn später öffent¬
lich in unschönster Weise beschimpfte. Diesem Manne wid¬
mete er dann einen so ehrenvollen, warmherzigen Nachruf,
wie ihn der beste Freund nicht schöner hätte schreiben
können.
Der Umstand, daß Strobel zur U.S.P. gehört, hindert ihn
nicht, mit klarem Blick die politischen und wirtschaftlichen
Verhältnisse zu übersehen und mit der Kritik da einzusetzen,
wo es notwendig ist. Wer seinen in der „Zukunft“ ver¬
öffentlichten Artikel gelesen hat, muß den Mut anerkennen,
mit dem er so manches ausspricht, was heute zu sagen immer¬
hin nicht ganz gefahrlos ist. Er schmeichelt darin durch¬
aus nicht den blinden Leidenschaften politisch noch unent¬
wickelter Schichten, sondern sagt unverblümt seine Meinung,
auch wo sie mit der Ansicht der lautesten Wortführer auf
dem linken Flügel in Gegensatz gerät.
Alles, in allem ein Mann, ein ganzer Mann, ein schöner,
reicher Geist, ein guter Mensch, den heiße Freiheitsliebe nach
links geführt, der sich aber bewußt bleibt, daß nie auf
einer Seite uneingeschränkt Wahrheit und Recht leben, der
vielmehr im Grunde seines Herzens fühlt:
„Menschen, Menschen san wir alle,
Fehler hat ein jeder gnua . .
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Ueber dien wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland. 1605
HANS VON KIESLING:
Ueber den wirtschaftlichen Aufbau
in Deutschland.
etwa eineinhalb Jahre sind ins Land gegangen, seit irii November
^ 1918 in Deutschland die Revolution ausbrach; in diesen Tagen
jährt es sich, daß die revolutionäre Idee noch einmal gewaltig auf¬
flammte in der Rätediktatur in München, die drei Wochen lang
das ganze Wirtschaftsleben Bayerns in Fesseln schlug. Seit jener
Zeit hat sich der Kampf zwischen den einander widerstreitenden
Ideen von der Straße in die Versammlungen zurückgezogen, das
Volk ist in gewissem Sinne zu Ruhe und Ordnung zurückgekehrt.
Unter diesen Umständen ist es vielleicht an der Zeit, einmal das
Fazit der Revolution zu ziehen und festzustellen, in welcher Weise
und ob die revolutionären Errungenschaften den gewaltigen durch
den verlorenen Krieg aufgeworfenen Wirtschaftsproblemen gerecht
wurden.
Als praktische Erfolge der Revolution können wir buchen die
Demokratisierung des Staates, die Einführung einer parlamenta¬
rischen Regierungsform an Stelle einer halb absolutistischen, eine
größere Wertung der Handarbeit und verbunden damit die wirt¬
schaftliche Besserstellung des Arbeiters und die Sicherung eines
gewissen Einflusses der schaffenden Arbeit auf die Betriebsleitung.
Als greifbare Resultate der revolutionären Entwicklung liegen uns
auf politischem Gebiet die neue deutsche Verfassung, auf wirt¬
schaftlichem Gebiet das eben verabschiedete Betriebsrätegesetz
vor. Auch in bezug auf die Vereinheitlichung des Reiches ist ein
großer Schritt nach vorwärts getan. Durch den Wegfall der Finanz-,
Militär- und Verkehrshoheit bei den Gliedstaaten ist der Reichs¬
gedanke weiter ausgebaut worden, Deutschland geht dem Einheits¬
staat entgegen. Gewisse Auswüchse, die der Kampf der Straße,
das Aufschäumen der revolutionären Gedanken mit sich gebracht
haben, sind mehr oder weniger verschwunden. Langsam beginnt
eine gewisse Erstarkung der Autorität, ohne die geordnete Ver¬
hältnisse unmöglich sind, sich geltend zu machen.
Trotz dieser unleugbaren Errungenschaften ist es auch dem neuen
deutschen Staat noch nicht gelungen, den ungeheuren Anforderungen
g erecht zu werden, die die Folge des verlorenen Weltkrieges sind.
»ie schwere Erkrankung, an der unser deutsches Volk leidet, und
die — es kann nicht deutlich genug ausgesprochen werden —
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1606 lieber den wirtschaftlichen Aufbau in OattsdtMi
hervorgerufen wurde durch die Niederlage im Weltkrieg, durch 4M
ungeheuren innen- und außenpolitischen Fehler der Staatsmänner
der Kriegszeit, durch die Ueberspannung der wirtschaftlichen Be¬
tätigung seitens der Kriegsgesellschaften, schließlich durch das
wirtschaftliche und finanzielle Gebaren der Leiter des deutschen
Wirtschaftslebens während des Krieges, ist noch nicht behoben.
bi der Industrie haben wir auf der einen Seite eine durch die
große Nachfrage bedingte Hochkonjunktur, der insbesondere die¬
jenigen Unternehmungen gerecht werden können, die dank guter
Verbindungen mit den Verteilungsgesellschaften während des
Krieges Rohstoffe gehamstert haben. Auf der anderen Seite stehen
große Betriebe trotz einer Flut von Aufträgen still, weil ihnen die
Rohstoffe fehlen und unser niedriger Valutastand ihren Einkauf im
Auslande verhindert. Der Mangel an Waren hat enorme Preis¬
steigerung zur Folge und diese wieder ruft Lohnstreiks hervor,
die die Produktion stören. Schließlich bedingen die fast uner¬
schwinglichen Rohstoffpreise und das Steigen der Löhne ein An¬
ziehen der Preise der Fertigprodukte, die für die Mehrzahl der
Deutschen die Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse durch
Kauf der Gegenstände des täglichen Bedarfs fast ausschließen.
Nur Schieber, Kettenhändler und Großhamsterer sind diesen Preisen
noch gewachsen. Dabei wird von verschiedenen Betrieben das
Fertigprodukt zurückgehalten, um die Preise nicht zu drücken;
alle Kosten werden auf den Konsumenten abgeladen, das Be¬
streben, hohe Dividenden für die einzelnen Unternehmer heraus¬
zuwirtschaften, beherrscht heute trotz der auf den Schultern des
deutschen Volkes liegenden Last die Leiter der Produktion. Von
manchen wurden die gesunden Prinzipien des anständigen Handels
verlassen; für viele besteht nur das Streben einer rücksichtslosen
Ausbeutung des den Produktionssyndikaten hilflos ausgelieferten
Verbrauchers. Ueberall schließt sich die Landwirtschaft, die während
des Krieges große Gewinne eingeheimst hat und all ihre Schulden
abtragen konnte, in Genossenschaften zusammen. 'Der Kampf
gegen die allgemeine Zwangsbewirtschaftung, die dem wirtschaft¬
lich Schwachen allein noch ein gewisses Minimum an Lebens¬
mitteln sicherte, wird mit aller Kraft und allen Mitteln geführt.
Heute ist schon mit Rücksicht auf die Bewaffnung auf dem flachen
Lande draußen die Kontrolle der landwirtschaftlichen Produktion
fast unmöglich geworden. Wir stehen in dieser Beziehung —
wenigstens in Bayern — vor Verhältnissen, die in absehbarer Zeit
zu einer absoluten Diktatur der landwirtschaftlidten Genossen¬
schaften in bezug auf die Preise der Lebensmittel führen werden.
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ütbtr de» wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland. 1607
Der dann entbrennende Kampf zwischen Stadt und Land wird zur
Niederlage der Stadt führen.
Das ständige Anziehen der Lebensmittelpreise hat fortgesetzte
neue Lohn- und Gehaltsforderungen der Beamten, Arbeiter und
Angestellten zur Folge. Aber trotz der relativ hohen Summen,
welche heute auch der einfachste Arbeiter bezieht, ist diese Kate¬
gorie der nebenhergehenden Preissteigerung aller Bedarfsartikel
nicht gewachsen. Der Mittelstand, die^ kleinen Handwerker, das
Heer der geistigen Arbeiter, auch der arbeitsunfähige kleine Rentner
stehen heute bereits vor dem Verhungern.
So, hat diese ständige Preissteigerung eine Schraube ohne Ende
erzeugt, die Zustände schafft, denen keine auch noch so ein¬
schneidende Steuergesetzgebung gerecht werden kann.
Von grundlegender Bedeutung für das ganze Wirtschaftsleben
hat sich die Kohlenfrage und die Frage des öffentlichen Verkehrs
erwiesen. Die durch den vierjährigen Krieg verringerte Arbeits¬
fähigkeit, die allgemeine von niemand zu leugnende Arbeitsunlust
und der Wunsch immer mehr zu verdienen, hat ein ständiges
Sinken der Kohlenförderung nach sich gezogen. Trotz der Zentrali¬
sierung der ganzen Kohlenverteilung entspricht diese weder den
Bedürfnissen, noch ist ein geregelter alle Transportmittel über¬
sichtlich ausnutzender Abtransport gelungen. Die Notwendigkeit
der Erfüllung der uns durch den Friedensvertrag auferlegten Kohlen¬
lieferungen an das Ausland verringert weiter das Quantum der für
Deutschland zur Verfügung stehenden Brennmittel.
Nie ist der Kapitalismus so mächtig gewesen wie jetzt, trotz
der sozialdemokratischen Richtung, die unser Staatswesen genommen
hat Die großen Syndikate und Unternehmer tun, was sie wollen;
nie hat das Kapital den wirtschaftlich Schwachen, den Verbraucher,
schamloser ausgebeutet wie heute. Auf der Börse werden infolge
des Mangels einer staatlichen Kontrolle des Geld- und Devisen¬
wesens in Augenblicken große Vermögen umgesetzt, alle Sozia¬
lisierungstendenzen scheitern an dem hartnäckigen Widerstand des
Kapitalismus. Der Dividendenwucher blüht wie noch nie zuvor.
Aussichtslos ist dagegen der Kampf, den das Reich durch die
Steuergesetze führt. Man sucht den kapitalistischen Auswüchsen
mit den Mitteln des alten kapitalistischen Wirtschaftsgedankens
zuleibe zu gehen und übersieht dabei, daß man sich in einem
circulus viciosus bewegt, unfähig, die furchtbare Notlage, in der wir
uns befinden, zu bessern.
Nur eine grundsätzliche Aenderung unserer Wirtschaftsordnung
kann uns aus den chaotischen Verhältnissen, in denen wir uns
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1608 Ueber den wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland.
befinden und die schlechter und schlechter werden, herausführen.
Nur ein Mittel, allerdings ein großzügiges und in das Leben der
ganzen Nation schwer einschneidendes, das uns aus unserer
schlimmen Lage befreien kann: das ist die Einführung der rück¬
sichtslosen, gerecht, einheitlich und ganz gleichmäßig gehand-
habten Arbeitspflicht jedes Deutschen. Man wende mir nicht ein,
daß die Durchführung einer solchen Maßnahme unmöglich sei. Das
Deutsche Reich hat ein halbes Jahrhundert lang die schwere Bürde
der allgemeinen Wehrpflicht getragen, die rein abstrakten Zwecken
diente. Warum soll die allgemeine Arbeitspflicht, die Deutschland
aus dem Chaos herausreißt, die Werte produziert, nicht durchge¬
führt werden können. So gut Deutschland in früheren Jahren 250000
Rekruten jährlich einstellte und ein Heer von rund 600000Mann unter¬
hielt, kann es heute eine ebenso große oder noch größere Arbeits¬
armee schaffen und großzügig verwenden. Während des Krieges
hat die Durchführung des Hilfsdienstgesetzes den Weg gezeigt, auf
dem allein eine Gesundung der deutschen Volkswirtschaft gefunden
werden kann. Das die allgemeine Arbeitspflicht regelnde Reichs¬
gesetz muß sich auf dem Grundsatz aufbauen, daß jeder Deutsche
einen gewissen Teil seines Lebens der Allgemeinheit, der Nation
gegenüber zur entgeltlosen Arbeitsleistung verpflichtet ist Als
Grundlage kann, entsprechende Aenderungeü vorausgesetzt, unser
altes Wehrpflichtgesetz herangezogen werden.
Wie früher zum Dienst mit der Waffe, wird für die Zukunft der
zwanzigjährige Deutsche zum Arbeitsdienst in den lebenswichtigen
Betrieben des Staates einberufen. Musterungs- und Aushebungs¬
kommissionen sorgen für die Verteilung der einrückenden Arbeits¬
rekruten auf die verschiedenen Tätigkeiten innerhalb der Betriebe,
je nach ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit. Weder Reichtum
noch Name entbindet von der Ableistung dieser vaterländischen
Pflicht. Niemand kann, ohne daß er die Erfüllung dieser Pflicht
nachweisen kann, in irgendeiner staatlichen, privaten, gewerblichen
Tätigkeit verwendet werden; bei jeder Anstellung, bei der Zu¬
lassung zu den Bildungsanstalten usw. müssen die Arbeitspflicht¬
papiere in Ordnung sein.
Die Verwendung des Arbeitsheeres allein schafft dem Staat die
Möglichkeit, die Kohlenproduktion wesentlich zu erhöhen, ohne
daß der Preis ins Ungemessene steigt und dadurch den kräftigen
Unterbau für unser gesamtes Wirtschaftsleben zu schaffen.
In erster Linie werden die Arbeitspflichtigen in den Kohlen¬
bergwerken zu arbeiten haben. Gewiß entsteht dadurch eine Art
Konkurrenz gegenüber den heutigen Berufsbergleuten. Sie ist
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Ueber den wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland. 1609
aber ganz ohne Belang, weil man die alten Bergarbeiter in ähn¬
licher Weise wie im alten Reichsheer die Kapitulanten und unter
Aufrechterhaltung ihrer Bezüge beibehalten kann und sie gewisser¬
maßen als Unteroffiziere zur Anleitung, Führung der Arbeits¬
rekruten verwenden wird. Neue bezahlte Kohlenarbeiter werden
nicht mehr eingestellt.
Durch die Vermehrung des arbeitenden Personals in den Kohlen¬
bergwerken wird in erster Linie der -große Vorteil erzielt, daß
ständig sich abwechselnde Schichten schürfend und fördernd tätig
sind, die Produktion an Kohle damit beliebig gesteigert werden
kann. Andererseits hat die Wiedereinführung einer Art Dienst¬
pflicht die Hebung der Moral, der ethischen Anschauungen im
Volke zur Folge. Der Arbeitsrekrut gewöhnt sich wieder an
Disziplin und Unterordnung, er lernt wirklich arbeiten und erhält
eine gewisse praktische Wertschätzung der körperlichen Arbeit,
die ihm für seine spätere Zukunft nur nützlich sein kann.
Bei richtiger Durchführung des Gesetzes dürfte gerade der
demokratische Gedanke der absoluten Gleichheit aller Staatsbürger
gegenüber den Anforderungen der Allgemeinheit besonders zum
Ausdruck kommen.
Unser Wirtschaftsleben krankt aber auch vor allem an unseren
mangelhaften Verkehrsverhältnissen. Die größte M#nge geschürfter
Kohle zerfällt nutzlos auf den Halden in Staub, wenn die Ver¬
kehrsmittel des Reichs nicht imstande sind, sie rasch und den
Wirtschaftsbedürfnissen entsprechend abzutransportieren.
Die Verkehrsmittel sind ein lebenswichtiger Betrieb des Staats.
Auch hier muß die Arbeitspflicht einsetzen, um die Leistungen
des Verkehrspersonals wieder auf die Höhe hinaufzuschrauben,
wie sie vor dem Kriege war, ohne der Staatskasse die ungeheuren
Ausgaben aufzuerlegen, die der Betrieb heute erfordert. Scharf
disziplinierte Angehörige des Arbeitsheeres werden imstande sein,
die Leistungen der Eisenbahnwerkstätten wesentlich zu erhöhen,
sie werden auch innerhalb des Betriebs eine ganze Menge von
Dienstleistungen erfüllen können, zu denen Fachkenntnisse nicht
nötig sind.
Die Verkehrsmittel sind im allgemeinen Staatsbetrieb. Es besteht
keine Schwierigkeit, Arbeitspflichtige in immer größerer Zahl dort
einzustellen. Anders liegen die Dinge bei den Kohlenbergwerken.
Es kann von dem Arbeitspflichtigen nicht verlangt werden, daß
er die Kraft seiner Jugend dafür hergebe, um die Profite der
Kohlenbarone zu erhöhen, um die Dividendenauszahlungen der
Kohlenpapiere zu steigern; die Arbeitspflicht kann nur der Ge-
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1610 Ueber den wirtschaftlichen Aufbau m Onüddini
samtheit des Volkes geleistet werden. Die logische Folgerung
der Einführung der Arbeitspflicht ist die Forderung nach dar
Nationalisierung der Kohlenbergwerke, nach der Ueberführung
dieses wichtigsten Produktionsmittel in den Besitz der Allge¬
meinheit, und damit nach der Monopolisierung der gesamten
Kohlenproduktion im Lande durch den Staat. .
Eine auf solcher Basis aufgebaute gründlichere Ausnutzung
unserer Produktionsmittelvorräte schafft die Arbeitsmögiichkeittn
für die gesamte Industrie in Deutschland, sorgt für Versorgung
der Landwirtschaft mit Arbeitskohle und gibt dem Lande ge¬
nügendes Brennmaterial für den Hausbrand. Nur so können wir
den durch den Friedensvertrag uns auferlegten Lieferungen an
das Ausland entsprechen. Nur so können wir in ganz Deutschland
die gewaltige Anspannung der gesamten Produktion erzielen, die
allein den deutschen Kredit hebt, zur Steigerung der Valuta führt,
den Preisabbau ermöglicht und dadurch die schwere Krise fiber¬
windet, die unsere Wirtschaft augenblicklich bedrückt.
Auf dem festen Fundament der durch die Arbeitspflicht ge¬
sicherten Produktionsmittelerzeugung kann sich dann das solide
Gebäude der deutschen Industrie, des deutschen Handels, des
deutschen Gewerbsfleißes und der Landwirtschaft aufbauen, ohne
daß es nötig ist, die freie Tätigkeit durch beengende Gesetzes¬
paragraphen, beaufsichtigende Behörden, und Sperrmaßregeln aller
Art zu belästigen.
Jeder Unternehmungslust, der Initiative des einzelnen und der
Allgemeinheit kann dann freiester Spielraum gelassen werden,
wenn die Allgemeinheit durch den Besitz und die Bewirtschaftung
der Produktionsmittel es stets in der Hand hat, die Entwicklung
der freien Handels- und Industrietätigkeit in der Richtung zu be¬
einflussen, in der Staat und Volk davon den größten Vorteil
erwarten. Darin besitzt der Staat den großen Regulator, um ohne
Gesetzesmacherei und beengende Vorschriften Auswüchsen ent-
gegenzutreten und die Rechte der Allgemeinheit zu sichern. Er hat
es jederzeit in der Hand, Industrien, die nicht nach gesunden
kaufmännischen Prinzipien arbeiten, landwirtschaftlichen Genossen¬
schaften, die diktatorisch vom Verbraucher übertriebene Lebens¬
mittelpreise fordern, durch entsprechende Sperrung der Kohlen¬
lieferung zur Ordnung zu rufen. Er hat es in der Hand, dem
Kapital sowohl, wie dem Bauern gegenüber die Rechte der All¬
gemeinheit, unter Umständen mit aller rücksichtslosen Energie,
durchzusetzen. Andererseits wird er dem Wirtschaftsleben die
größte Freiheit lassen können. Er hat es nicht nötig, in der
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lieber den 'wirtschaftlichen Aufbau in Deutschland. 1611
Sozialisierung weiter zu gehen als mit der Zeit durch Nationali¬
sierung alle Produktionsmittel in seine Hand zu bringen.
Je mehr Kohle produziert wird, um so mehr kann sich der
Fabrikbetrieb ausdehnen, eine um so größere Menschenzahl kann
er beschäftigen; das Problem der Arbeitslosigkeit und der Ueber-
produktion an deutschen Menschen löst sich von selbst. Es
besteht nicht die geringste Gefahr, daß zu viel Ware fabriziert
werden könnte, denn es wird Menschenalter dauern, bis der
Hunger der Welt nach Ware, herbeigeführt durch den Raubbau
des Krieges, wieder befriedigt ist. Diejenige Nation wird den
größten Anteil am Welthandel haben, die rechtzeitig rasch und
großzügig ihr ganzes Wirtschaftsleben auf die neuen Verhältnisse
einstellt, die als furchtbare Folgen des Krieges über ganz Europa
hereingebrochen sind.
Ich wiederhole daher als Forderungen, die allein das Wirtschafts¬
leben neu und gedeihlich aufbauen können:
1. die Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht,
2. die Nationalisierung der Kohlenbergwerke und
3. die Ueberftihrung aller Produktionsmittel (Wasserkraftanlagen,
elektrische Energien usw.) in den Besitz des Staates.
Daß dem Staatsbetrieb gewisse Mängel anhaften, ist zweifellos.
Die Gefahr der Kraftverschwendung, die Ausschaltung kaufmän¬
nischen Denkens, Bureaukratismus in übelster Form sind die Er¬
scheinungen, die in solchen Betrieben auftreten. Daß unsere neue
republikanische Staatsform mit der Bureaukratie aufgearbeitet habe,
ist ein großer Trugschluß. In vielen Staatsanstalten ist heute eine
schlimmere bureaukratische Form maßgebend geworden, als in
der Zeit des überlebten Kaiserreichs.
Aber wenn ein Fehler erkannt ist, kann er auch vermieden
werden. Mir erscheint es hoch an der Zeit, daß eine frischere
Luft, die Luft freierer, schöpferischer Auswirkung an die Stelle
des bureaukratischen Zopfes tritt, der in vielen unserer Kanzleien
noch geübt wird. An der Spitze der Staatsbetriebe müssen ge¬
wandte tüchtige Kaufleute stehen, die gesunde wirtschaftliche
Prinzipien vertreten; in allen Angelegenheiten, die den Wirtschafts¬
betrieb des Staates betreffen, müssen Wirtschaftspolitiker aus¬
schlaggebenden Einfluß besitzen.
Die größte Schwierigkeit zur Durchführung der Arbeitspflicht
und der Nationalisierung sehe ich in dem Erbübel des Deutschen,
in seiner politischen Zersplitterung. Die Parteien und Parteichen,
deren Zahl durch die Revolution nicht geringer geworden ist,
sind eingeschworen auf Parteiprogramme, die infolge des Zusam-
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1612 Ueber den wirtschaftlichen Aufbau in Deutschlafikl.
menbruchs Europas im Weltkrieg vielfach' ihre Bedeutung ver¬
loren haben. Politische Schlagworte, wie Demokratie, Monarchie,
Parlamentsregierung usw. spielen eine größere Rolle als Gedanken
über die Lösung des schweren wirtschaftlichen Konflikts, unter
dem nahezu die ganze Welt erzittert.
Die Staatsform hat heute eine viel geringere Bedeutung für die
deutsche Allgemeinheit, als die Auflösung des wirtschaftlichen
Chaos, in dem wir zu versinken drohen. Man weiß heute all¬
gemein, daß uns nur eine Steigerung der Produktionskraft retten
kann, wendet aber, um dieses Ziel zu erreichen; nur die Mittelchen
des alten Wirtschaftssystems an und sucht mit Gesetzesparagraphen,
Vorschriften und papierenen Verfügungen einen Erfolg da zu
erzielen, wo nur eine gründliche Veränderung der Wirtschafts¬
organisation helfen kann. Wir befinden uns heute in der Lage
eines Patienten, dessen innere Organe in schwerste Unordnung
geraten sind; ein rascher, entschlossener operativer Eingriff kann
ihm das Leben retten, Medikamente und Sympathiemittelchen aller
Art verlängern nur seine Agonie.
Die Steuergesetze, die heute Deutschland überfluten, sind von
niemand mehr übersehbar. Auch gewandte Finanzleute kennen
sich in dem Heer von Paragraphen, das aus dieser Pandorabüchse
entspringt, nicht mehr aus. Niemand weiß heute, über welche
Mittel er morgen verfügen kann; wirtschaftliche’ Initiative, Unter¬
nehmungslust, die wir gerade heute so notwendig brauchen,
werden durch diesen Hagel unausgeführter Steuergesetze direkt
unterbunden. Allerdings den einen Erfolg haben sie bis jetzt
gehabt, daß Finanz- und Rentämter unter ihnen zusammenge¬
brochen sind, und daß in großen Städten heute noch nicht einmal
das Steuersoll für das erste Halbjahr von 1919 errechnet und ein¬
gehoben ist.
Mir erscheint es höchst zweifelhaft, daß durch diese Art der
Wegsteuerung des ohnehin mehr oder weniger wertlosen Papier¬
besitzes der Allgemeinheit der. Staat in den Stand gesetzt werde,
seine Verpflichtungen zu erfüllen, um so weniger als das ständige
Steigen der Preise für Gehälter usw. die Lasten des Staats ins
Ungemessene erhöht.
Wie ein Ertrinkender nach dem erkannten Strohhalm sieht sich
die deutsche Regierung danach um, das Ausland dazu zu ver¬
anlassen, Geld in die bankrotte Wirtschaft Deutschlands zu stecken.
Man übersieht dabei vollkommen, daß ein so schwer kranker
Wirtschaftskörper wie derjenige Europas nicht durch ins Land
strömende, die Schuldenlast ins Ungeheure vermehrende Gold-
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Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Leipziger Messe. 1613
und Silbermassen des Auslandes gehoben werden kann, sondern
daß nur eigene Kraft uns wieder emporzubringen vermag. Nur
sie allein rettet uns davor, die Arbeitssklaven Amerikas zu werden.
Meiner Anschauung nach steckt trotz all der häßlichen Er¬
scheinungen, deren Zeuge wir sind, eine gesunde Kraft im
deutschen Volke. Es handelt sich nur darum, daß es sich seiner
Kraft bewußt wird und sich dann energisch und rücksichtslos zu
der gewaltigen Kraftleistung auf rafft, die es rettet. Ich bin mir
über die Schwierigkeiten, die der Verwirklichung meiner Vor¬
schläge entgegenstehen, durchaus im klaren, halte sie aber nicht
für unüberwindlich. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
Wenn die Majorität des deutschen Volkes einsieht, daß nur die
großzügige Umformung der Volkswirtschaft, die Einführung der
allgemeinen Arbeitspflicht und die Nationalisierung der Produktions¬
mittel die deutsche Wirtschaft und damit die europäische Kultur
vor dem Untergang retten kann, so wird sie auch die Männer
finden, deren soziales Empfinden mit überragender Intelligenz
gepaart ist, und die Mut, Entschlossenheit*und Verständnis genug
besitzen, um die rücksichtslose Durchführung einer neuen moder¬
neren Wirtschaftsform zu erzwingen und dadurch die feste Basis
zu schaffen für aufbauende Arbeit und aufwärtsführende Entwicklung.
Aber es scheint mir die höchste Zeit für einen durchgreifenden,
zielbewußten Entschluß.
FRIEDR. TH. KÖRNER:
Die volkswirtschaftliche Bedeutung
der Leipziger Messe.
p\ie Berichte, die über das Ergebnis der diesjährigen Leipziger
Frühjahrsmesse veröffentlicht worden sind, sprechen sich fast
einmütig dahin aus, daß die Messe als ein Erfolg ohnegleichen
und als ein Zeichen der Unverwüstbarkeit unserer Volkswirtschaft
anzusehen sei. Und wer Gelegenheit hatte sich mit ausländischen
Vertretern des Handels und der Presse während der Meßtage in
Leipzig zu unterhalten, der wird auch aus ihrem Munde die
Bestätigung erhalten haben, daß der Verlauf dieses Riesenunter¬
nehmens alle ihre Erwartungen weit übertroffen habe. Trotzdem
sollte man nicht verallgemeinern und von der glänzenden äußeren
Hülle nicht zu weit gehende Schlüsse auf die wirtschaftliche Lage
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1614 Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Leipziger Messe.
ziehen» wie sie in Wirklichkeit ist Das Ergebnis der Messe
könnte in der Tat als glänzend bezeichnet werden, wenn man es
allein nach den ungeheuren Summen, die hier umgesetzt worden
sind und nach der Zahl der Besucher beurteilen wollte. Von
diesem Standpunkt aus könnte man gewiß annehmen, daß das
Barometer unseres Wirtschaftslebens bereits wieder auf »Schön*
angelangt sei. Aber bei derartigen Verallgemeinerungen herrscht
doch ein Optimismus vor, der keineswegs seine Berechtigung hat.
Bei einer Institution, die von so viel Licht umstrahlt ist, wie die
Leipziger Messe, darf man auch nicht den Schatten übersehen.
Wägt man dann das »dafür* und das »dawider* ab, so wird man
bei gerechter Beurteilung ein sachliches Bild von der Leipziger
Messe und dem Stand unserer heutigen Wirtschaftslage erhalten.
Der Sinn der Messe und ihr erzieherischer Wert liegt darin, daß
es sich hier um eine Angelegenheit der gesamten deutschen Volks¬
wirtschaft handelt. Leipzig, im Herzen Deutschlands, gelegen, mit
hervorragenden Post- und Eisenbahnverbindungen, der Sitz und
Mittelpunkt der wertvollsten Industrien des.Reiches, ist von jeher
zu einem Zentralmarkt des internationalen Handels prädestiniert
gewesen. Auch in Zukunft wird sich in Leipzig der ganze deutsche,
ja vielleicht der europäische Exporthandel konzentrieren. Der
Sammelpunkt wird die Leipziger Messe sein, die ihren eigentlichen
Sinn dann voll zur Geltung bringen kann: die Vermittlung
zwischen Angebot und Nachfrage zu bilden und alle Produkte zu
gleicher Zeit an einem Ort zu vereinigen. Da der Exporthandel
ganz von selbst ins Ausland weist und während des Krieges sich
zuerst die Neutralen und seit 1918 auch wieder die bisher feind¬
lichen Ausländer in immer größerer Zahl in Leipzig einfanden, so
war es erklärlich, daß die diesjährige Frühjahrsmesse mit 106000
Besuchern einen internationalen Rekord davon tragen konnte,
während sie 1916 erst gegen 25000 Besucher hatte aufweisen
können. Die Messe bedarf also weniger der Reklame im Ausland,
das schon ganz von selbst kommt, als eines größeren Verständ¬
nisses im Inland. Gerade die arbeitenden Kreise, die als Hand-
und Kopfarbeiter die Waren und Werte zur Messe schaffen, sollten
immer mehr die Bedeutung der Messe erkennen lernen.
Welchen Wert hat nun die diesjährige Messe für unseren Aus¬
fuhrhandel gehabt? Es ist natürlich schwer, eine Schätzung vor¬
zunehmen, in welchem Verhältnis die In- und Auslandskäufe zu¬
einander gestanden haben. Nach eigenen Recherchen kann man
etwa sagen, daß etwa zwei Drittel aller Verkäufe mit dem Inland,
ein Drittel mit dem Ausland abgeschlossen wurde. Mit Rücksicht
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Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Leipziger Messe. 1615
auf unsere heutige Wirtschaftslage kann man dieses Ergebnis als
glänzend bezeichnen und auch auf dem Gebiete der Ausfuhr von
einer Konsolidierung unserer Wirtschaftslage sprechen. Es wäre
als eine neue Aufgabe der Messeleitung zu fordern, daß alsbald
nach Schluß der Messe den deutschen Wirtschafts- und Fabrikanten¬
kreisen Mitteilungen darüber zugingen, welche Preise für die einzelnen
Warengruppen im Exportverkauf erzielt und welche Erfahrungen
hinsichtlich der Ausfuhrpolitik gesammelt worden sind. Je mehr
die auf der Messe gemachten Erfahrungen des gesamten deutschen
Exporthandels in den maßgebenden Kreisen verbreitet werden,
um so geschlossener wird unser Handel dem Ausland gegenüber
in allen Preisfragen entgegentreten können.
Es ist ein außerordentlich erfreuliches Zeichen, daß sich der
deutsche Exporthandel schon wieder auf den Weltmarkt hinaus
wagt, eine Tatsache, Hie kürzlich auch in einer Versammlung
englischer Eisen- und Stahlwerkfabrikanten zugestanden wurde.
Gerade die Leipziger Messe hat wieder Mittel und Wege gezeigt,
wie wir unsere alte, weltwirtschaftliche Geltung zurückgewinnen
können. Von jeher waren es Qualitätsarbeit und Anpassungs¬
fähigkeiten die Bedürfnisse und Kreditverhältnisse der ausländischen
Märkte, die.einen Milliardenstrom in unser Land geleitet hatten
und die das Leben-bei uns vor dem Kriege so billig und aus¬
kömmlich erschienen ließen. Dieses Streben nach Qualität trat auf
der Messe deutlich in die Erscheinung und viele Industrien wenden
sich immer mehr vom Ersatz ab, um durch gute Ware den Aus¬
landsmarkt wiederzüerobern. Leider kann man nicht, wie das in
normalen Wirtschaftszeiten der Fall war, sagen: „Durch gute und
billige Ware“. Denn das Wort „billig“ war auf der diesjährigen
Messe überhaupt nicht mehr zu hören. Nun lag es zum Teil daran,
daß das Ausland nur besonders wertvolle Industrien begehrte, wie
z. B. Maschinen, Waren der Elektrotechnik, Leder- und Luxuswaren.
Hier wurden Preise gezahlt, die einfach jeder Beschreibung spotten,
wenn man bedenkt, daß Ledertaschen zwischen 3000 und 5000 Mark
schwankten und eine Wiener Fabrik kaum Gegenstände unter
2000 Kronen anzubieten vermochte. Selbst das Ausland sträubte
sich vielfach, diese Preise zu zahlen, zumal noch Valutazuschläge
berechnet wurden.
Dieses Kauffieber und das Kaufen der Ware um jeden Preis,
wie es auf der Messe in die Erscheinung trat, ist ein Ungesunder
Zustand, der auf unser Wirtschaftsleben vernichtend wirken muß.
Auch hier erfüllt sich zwar nur die alte volkswirtschaftliche Erfahrung,
daß Nachfrage und Angebot die Preise regeln. Und das Cha-
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1616 Pie volkswirtschaftliche Bedeutung der Leipziger Messe»
rakteristikum der Messe war eine ungeheure Nachfrage, aber eia
Angebot, das sich bezüglich Zahl, Frist und Preis der zu liefernde^
Ware alle Vorbehalte machte. Hier liegt zweifellos eine schädigende
Wirkung der Messe vor, weil,sie die Aussteller geradezu dast
verleitet, der gut zahlenden und viel einkaufenden Kundschaft
Angebote zu machen, die sie bei den heute herrschenden Schwierige
keiten häufig gar nicht erfüllen kann. Und leider hat infolge dieser
Zustände auch im Ausland die Mißstimmung gegen den deutschen
Kaufmann und seine alte Reellität Platz gegriffen, weil er vielfach
trotz fester Verträge die Lieferungspflichten nicht einhalten kann.
Besonders die Schweizer und Holländer betonten wiederholt, daß
sie die alte Reellität und die Einhaltung der Vertragstreue durch
den deutschen Geschäftsmann wieder lebhaft herbeiwünschten.
Auch bei zahlreichen deutschen Fabrikanten selbst erregte diese
ungesunde Geschäftsentwicklung starkes Bedenken, und man hörte
vielfach den Wunsch, daß im Interesse unserer Volkswirtschaft ein
Ausweg gefunden werden müßte, um das wilde und fieberhafte
Anbieten in normale Grenzen zu leiten. Die Messe darf nicht
dazu verleiten, das Ausland in der Belieferung zu bevorzugen,
weil es kapitalkräftiger ist. Gerade die Messe könnte uns eine
Lehre sein, daß wir planmäßig wirtschaften müssen und daß auf
irgendeine Weise festgelegt werden muß, wieviel wir für das Inland
produzieren und wieviel wir an das Ausland zu Weltmarktpreisen
abgeben können.
Denn schließlich muß die Leipziger Messe, wie die Verhältnisse
heute liegen, in erster Linie doch auch daran denken, den Inlands¬
markt zu versorgen. Deutschland,* das durch den langen Krieg
ausgesogen und seit einem Jahr planmäßig ausverkauft wird,
hungert mehr als alle andern Länder nach Ware, und wie es sich
auf der Messe gezeigt hat, vor allem nach Bedarfsware. Leider
haben sich die ungeheuren Preise auch auf diese alltäglichen
Gebrauchswaren übertragen und immer wieder mußte man sich
auf den Rundgängen durch die Meßpaläste fragen, wie eigentlich
die auf Lohn und feste Besoldung angewiesenen Volksschichten
überhaupt noch irgendeinen der ausgestellten Gegenstände für den
alltäglichen Lebensbedarf erschwingen sollen 1 Das gilt sowohl
für Erzeugnisse der Textilindustrie, der Keramik, der Metallindustrie,
als auch für die wichtige Möbelbranche. Wenn hier ein im Oktober
1919 bestelltes Zimmer noch mit 5750 Mark geliefert werdeü
konnte, so muß der Fabrikant dafür heute 15 000 Mark verlangen.
Dabei steht für Möbel in wenigen Wochen eine neue Preiserhöhung
um das 13- bis 15-fache bevor ! Der bekannte Ruf nach Annäherung
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Qrigiral frorri
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Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Leipziger Messe. 1617
an die Weltmarktpreise bürdet zugleich dem eigenen Volke
Lasten auf, die es über kurz oder lang nicht mehr wird
tragen können. Deshalb müßte auch hier nach einer neuen
Lösung durch die Messe gesucht werden. Viel mehr als
bisher sollten die Bedürfnisse .des Inlandmarktes berück¬
sichtigt werden, die aber nicht mir einem zahlkräftigen Publi¬
kum angepaßt werden dürften, sondern die besonders den
armen Klassen gerecht werden müssen. Die Waren brauchen
nicht als Schund geliefert werden, aber sie können ein¬
fachen Bedürfnissen in schlichter und solider Weise ent-
gegenkommen. Eine Industrie dieser Art war auf der Messe
überhaupt nicht vertreten, wogegen sich andere Artikel als
„meßfähig“ erwiesen haben, die nur als Luxus ihre Berech¬
tigung hatten.
Die preisverteuernden Ursachen sollen durchaus nicht unter¬
schätzt werden, aber in den deutschen Fabrikanten muß
sich auch endlich wieder die Erinnerung an vergangene
und normale Geschäftszeiten durchringen, wo es nur ein
Prinzip für ihn gab, wenn er vorwärts kommen wollte:
billiger liefern als die Konkurrenz. Dieses Prinzip hat teil¬
weise schon wieder auf der diesjährigen Messe den Sieg
davongetragen. Und je gesunder sich allmählich unsere
Wirtschaftsverhältnisse wieder gestalten werden, um so eher
wird sich auch wieder eine normale Preispolitik anbahnen
lassen.
Unverkennbar gingen wir in den letzten Wochen einer
Gesundung entgegen, wovon die Leipziger Messe trotz
mancher Schwächen und Mängel auch ein sichtbares Zeichen
war. Der ungeheure Fleiß eines großen, arbeitenden Volkes
trat hier zutage, der allein in Einheit von Unternehmergeist
und schaffender Arbeitsamkeit produktive Werte hervorzubrin¬
gen vermag. Noch kürzlich betonte Eduard Bernstein auf
dem zweiten deutschen Sozialistentag, daß die deutsche Wirt¬
schaft noch Kapital und Kapitalisten braucht. Die Messe
hat aber auch gezeigt, wie der moderne Kapitalismus und
unsere Wirtschaft eng zusammenhängt mit den sozialen Strö¬
mungen der Zeit. Gegen sie kann sich kein Kapitalismus mehr
verschließen, und ihr immer wachsender Einfluß auf die
Produktionsgestaltung (vergleiche Betriebsrätegesetz) dürfte
sich vielleicht schon auf den kommenden Messen in irgend¬
einer Weise bemerkbar machen.
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1616
Bücherschau.
Die großen Hoffnungen, die mit Recht auf die Technische
Messe gesetzt worden waren, die bekanntlich zum ersten
Male als selbständige Einrichtung vom 14. bis 20. März statt¬
finden sollte, sind leider durch die politischen Ereignisse
nur in geringem Maße erfüllt worden. Die Unruhen, die
der Putsch zur Folge hatte, verhinderten eine volle Aus¬
wirkung der Messe, die auf dem Gebiet der Technik und der
Maschinenindustrie dem. In- und Ausland viele Neuerungen
und Erfindungen bringen sollte, die während des Krieges
geheimgehalten werden mußten. Gerade die Technische
Messe hätte beweisen können, daß unser Forschungswesen
und unsere Arbeitsmethoden auf der Höhe geblieben, und
daß unseren Arbeitern die technischen Fähigkeiten nicht ver¬
lorengegangen sind. Sie hätte uns neue Wege gewiesen
zum Wiederaufbau unserer Industrie, zur fortschreitenden
Konzentration und Vereinfachung des Produktionsprozesses.
Es ist ein eigenartiges Schicksal, daß diese Schau der
Technik, die ein Spiegelbild unseres aufbauenden Arbeits¬
willens hätte geben sollen, durch den verbrecherischen Ber¬
liner Putsch, der unsere eben begonnene Gesundung wieder
aut lange Zeit hinaus zerstört hat, unterbunden werden
mußte. Wenn so die Leipziger Messe mit einem Mißton
beendet worden ist, so soll die Hoffnung nicht aufgegeben
werden, daß dieser Gewalteingriff in unseren politischen
und damit auch wirtschaftlichen Bestand der letzte sein möge,
der uns betroffen hat, damit das deutsche Volk endlich
wieder zu einem glücklichen und ruhigen L^ben zurückkehren
kann.
Bücherschau.
Dr. Bruno Hahn: Die neueste Entwicklung des Genossen¬
schaftswesens in Rußland. Tagesfragen der Auslands¬
wirtschaft. Herausgegeben vom Auswärtigen Amt.
Heft 11.
Diese kleine Arbeit verdient allen angelegentlichst emp¬
fohlen zu werden, die sich über die neuere Entwicklung der
russischen Volkswirtschaft unterrichten wollen. Im Gesamt¬
bild des. russischen Wirtschaftslebens! nimmt die Genossen-
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Bücherschau.
1610
Schaftsbewegung bereits seit Ausbruch des Krieges eine ganz
hervorragende Stelle ein. Vor Ausbruch des Weltkrieges
konnte sich das latent vorhandene Bedürfnis nach genossen¬
schaftlichem Zusammenschluß von Erzeugern und Verbrau¬
chern nicht recht entwickeln, weil die zarische Regierung
in ihren entscheidenden Instanzen aus innerpolitischen Er¬
wägungen jedem Zusammenschluß argwöhnend und feindlich
gegenüberstand. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kriegs¬
zeit veranlaßten die Regiemng, ihren Widerstand aufzugeben,
ja, für die Versorgung der Armee und der Städte, wenn auch
zögernd, immer mehr die gesellschaftlichen Kräfte heran¬
zuziehen. Die Folge hiervon war unter anderem ein sprung¬
haftes quantitatives Anwachsen der Genossenschaften aller
Art und die fortschreitende Konsolidierung ihres Ausbaues,
üeber alle diese 'Vorgänge gibt die Arbeit von Dr. B. Hahn
ein objektives, mit statistischen Angaben gut begründetes Bild.
Zum Schluß weist der Verfasser mit Recht darauf hin,
daß das ungeheure Wachstum der Genossenschaften während
des Krieges und der Revolution zum Teil auf vorübergehende
Ursachen zurückzuführen sei, wie Verpflegungsscnwierig-
keiten, Versagen des Privathandels usw. Demgegenüber wäre
meines Erachtens doch zu betonen, daß es andererseits auch
objektive Gründe gibt, die auch in Zukunft' die Entwicklung
des Genossenschaftswesens! in Rußland gewährleisten. Das
ist vor allem das dem Russen eigene Streben nach genossen¬
schaftlichem Zusammenschluß, das seit altersher in den Zweck¬
verbänden zur Ausführung von bestimmten Arbeiten, den
sogenannten Artels, zum Ausdruck kommt. Ferner dürfte die
Abneigung, die sich in weiten Schichten des Volkes gegen
den Privathandel, den „Kupez“, tief eingewurzelt hat, auch
fortgesetzt als ein treibendes Element zu genossenschaftlichem
Ein- und Verkauf erweisen. Von besonderer Bedeutung
werden die russischen Genossenschaften bei der Wiederauf¬
nahme der Handelsbeziehungen mit dem Auslande werden,
und es ist nur zu wünschen, daß die deutsche Wirtschafts¬
politik rechtzeitig die Verbindungen mit den russischen Ge¬
nossenschaften aufnimmt, die auch im kommunistischen Ru߬
land, wenn auch wahrscheinlich in etwas veränderter Organi¬
sationsform, einen sehr wesentlichen, wirtschaftlichen Faktor
darstellen.
Vngem-Stemberg.
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Dr. O. Stillich: Die wahren Ursachen unserer Wirtschafte
und Finanznot. Zentral vertag G. m. b. H., Berlin 1920,
Preis 1,20 Mark.
Der Verfasser geht bei seinen Untersuchungen aus von der *
Frage: „Ist die Revolution die Ursache des verlorenen
Krieges?“ — Man sollte eigentlich meinen, die Antwort
auf diese Frage sei bereits endgültig gefunden worden, so
daß es nicht mehr nötig sei, in klar denkenden Kreisen noch
darüber zu streiten! Leider gibt es aber in Deutschland noch;
immer Leute, ja sogar Parteien, die Ursache und Wirkung:;
miteinander verwechseln. Denen gegenüber wird mit zwin-^
gender Logik betont, „daß der militärische Zusammenbruch
bedingt ist nicht nur durch eine konstante Täuschung deiS
Armee über das Maß des militärisch und politisch Erreich«;
baren, sondern auch über die eigene Kraft im Verhältnis
zur feindlichen und durch die Blindheit gegenüber den Folgen
der Auflösung der Koalition“. — Die Wurzeln des gegen*;
wärtigen Gütermangels liegen kl der Vernachlässigung einer
rationellen Wirtschaftsführung, die nur für den Krieg ein¬
gestellt war. Die Verminderung unserer Leistungsfähigkeit'
wird eingehend geschildert an Hand der Kohlen- und Ver¬
kehrsfrage. Die Veränderungen in der Landwirtschaft und
der Nahrungsmangel lassen auch weiterhin eine planmäßige;
Wirtschaftsführung durchaus geboten erscheinen. Eine „freie
Wirtschaft“ würde zu unhaltbaren Zuständen führen. Unser.>
jetziges Finanzelend wird als die Folge einer schlechten 1
Kriegsfinanzierung betrachtet. Im Schlußkapitel werden die
Geldentwertung und ihre Ursachen dahingehend gedeutet,
daß die Inflation eine grauenhafte Maske darstellt, hinter
der sich die ungeheure Leere an Produktions- und Rohstoffen
verbirgt, die ihrerseits bedingt ist durch eine regelrechte
„Krise“ im Wirtschaftsleben infolge der Kriegswirtschaft
Man kann dem Verfasser pur recht geben, wenn er den Grund¬
irrtum gewisser Kreise aufdeckt und eine klare Stellung¬
nahme zur gegenwärtigen Wirtschaftspolitik mit den Worten
begründet: „Das Volk hat ein Anrecht darauf, die wahnen,
Ursachen unserer Notlage zu erfahren, damit es die Schul*,
digen nicht an der falschen Stelle sucht;“
Dr. Kurt Nägler. =
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An die Leser der „Glocke“.
M IT dem 1. April tritt die „Glocke“ in den 6. Jahrgang
ein. Sie hat die Stürme des Krieges und die allgemeine
Unrast des ersten Friedensjahres gut überstanden und soll
nunmehr, den wachsenden Aufgaben der Zeit entsprechend,
weiter ausgebaut werden. Vor allem soll sie an Aktualität
gewinnen. Das Leben der Gegenwart soll sie durchpulsen.
Vivos voco. Die Wirtschaftsprobleme unserer Zeit: Soziali¬
sierung, Wiederaufbau, industrielle Entwicklung, sollen unsere
besondere Aufmerksamkeit haben. Aber nicht minder die
sozialistische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung aller
Länder. Mehr denn je ist Deutschland an diesen Entwick¬
lungen und Bewegungen interessiert. Zu diesem Zwecke
wird die „Glocke“ durch Beilagen und Ergänzungs hefte er¬
weitert werden.
Es wäre uns am liebsten, wenn wir unsere neuen Auf¬
gaben der Verbesserung und Ausgestaltung in Angriff nehmen
könnten, ohne unsere Leser mit einem neuen Kostenaufwand
belasten zu müssen. Die rapide Steigerung der Druck- und
Papierpreise sowie der allgemeinen Geschäftsunkosten ist
aber derart, daß wir gezwungen sind, vom 1. April ab
den Bezugspreis für das Vierteljahr auf 10 Mark,
für das Einzelheft auf 1 Mark zu erhöhen.
Unsere Leser, die uns all diese Jahre treu geblieben sind,
werden sicherlich Verständnis haben für die Zwangslage, in
der wir uns befinden, und werden uns auch fernerhin unter¬
stützen in der Bemühung, eine freie Tribüne z;u bilden für
die Vergeistigung des Sozialismus, für die Durchsetzung
unseres Lebens mit sozialistischem Geiste, für den Wieder¬
aufbau und die Erstarkung des Deutschen Reiches.
Verlag und Redaktion der „Glocke“.
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SOEBEN ERSCHEINT
M«rf wir
von
Dr.von Ungern-Sternberg
PREIS MK. 2,—
und 20% Teuerungszuschlag
In der Schrift wird nachgewiesen, daß die Wiederaufnahme der
wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland
ein dringendes Erfordernis sowohl der deutschen wie der russischen 4
Wirtschaftspolitik ist. Alle dagegen erhobenen Einwände werden
einer eingehenden Prüfung unterworfen.
II
Bezug durch alle Buchhandlungen
sowie direkt vom
VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFT
Berlin SW 68, Lindenstraße 114 — Postscheckkonto Berlin 27576
Herausgeber: Dr. A.Helphand, Berlin. Verantwortl.Schriftleiter: M.Beer, Berlin-Karlshorst' sjji
Verlag: Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin SW 68, LindenstraQe 114. Fernruf: Markig .«
platz 2218,1448—1450. — Druck: Photogravur G. m. b. H., Berlin SW 68, LmdenstraQe I14L
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INHALTSVERZEICHNIS
Albert, Rob.: Darf der Deutsche wieder
sein Haupt erheben . . . .' 893
Angell, N.: Der Berliner Putsch, Frank¬
reich und Polen . ..1589
Argeiander, Dr.: Prot Oppenheimers
liberaler Sozialismus.1515
Aumann: Wirtschaftl. Mobilmachung 1223
Beer, M: Der Wählkampf in Paisly 1461
— Die Engelsbiographie. I . . . . 1414
II .... 1521
— Der Prozeß Erzberger-Helfferich . 1551
— Die Straßburger Tagung der fran¬
zösischen Sozialisten.1558
— Die Straßburger Tagung der fran¬
zösischen Sozialisten in und IV . 1516
Bencke, A.: Oedanken über die Zu¬
kunft der deutschen Arbeit und des
deutschen Arbeiters.1268
Bendix, Dr.: Rechtsprechung des
Reichsgerichts inStrafsachen und das
Rechtsbewußtsein des Volkes . . 1578
Biging, Curt: Akademiker und Partei 881
Bray, J.: Kommunism. a Kapitalism. 1452
Brenne, H.: Schule a Wirtschaftsleben 1238
Buß, • Dr. P.: Novemberbuben und
junge Sozialisten ....... 824
— Das Erfurter Programm und die
gegenwärtige Position der Sozial¬
demokratie .......... 1007
— Die Aufgabe der Intellektuellen . 1220
Cohn, Luis: Eine neue Utopia . . 853
Cornelius, Prot: Nüchterne Rand¬
bemerkung z. Zukunftsstaatsdebatte 1421
Barmstaedter, Dr.: Arthur Schulz’
Vermächtnis.849
Dewdney, Dr.: Amerik. Spione L Kriege 1375
Erhard, Dr. Hub;: Die Altersgrenze
für Hochschullehrer.1109
Fehlinger, H.: Zur Sozialisierungsfrage 914
— Neue Grenze.954
— Auswanderungsziele ...... 1105
— Grenzen des neuen Oesterreich . 1502
v. Frankenberg, Dr.: Ein Normal-
lohnsystem . ..1365
— Zur Reform des jurist Studiums 1446
Croßmann, Stet: Oesterreichische
Hoffnungen . . .. 937
Haebler, G.: Der Weg der Welt¬
revolution . i . . . 918
Heichen, Artur: Finanzsozialismus . 951
— Der nationale Oedanke und die
Sozialdemokratie.1131
Heilmann, E: Fester Kurs .... 929
1397
1065
1126
1467
Heilmann, E: Feiern? .' ..... 993
— Die Schuld . ..1025
— Können wir weiterleben? . . . 1085
— Die Parteien.. . 1181
Heydar: Zwangswirtschaft oder freie
Wirtschaft in der Ernährung . . .
Höpfner, A.: Die- Arbeiterkonferenz
in Washington . . . . . . . .
— Revolution und Gewerkschaften .
— Der Ausbau der Sozialversicherung
— Strömungen ln den deutschen Ge¬
werkschaften .1566
Huebner, Dr.: Die deutsche Bildung
als Gemeinbesitz .. 974
— Die belgischen Kammerwahlen '. 1159
— Entstehung der Clart6-Bewegung. 1290
Imhoff, Dr. Paul: Die Valuta . . . 1113
Israel, W.: Zur Entwicklungsgeschichte
der Betriebsräte. .. 1472
Jenny, Dr. E: Arbeiterkapitäne . . 1249
Jünger, K,: Bolschewistische Staats¬
leistungen in Rußland.1068
Kabelitz, Th.: Entweder — oder. I 1493
— Entweder — oder, II .... . 1537
Kantorowicz, Prof.: Deutschlands In¬
teresse am Völkerbund.1309
v. Kiesling, Hans: Die deutsche Zu¬
kunft. ..877
— Gedanken über di^Umformung des
deutschen diplomatischen Korps . 902
— Die Ententemächte und der Welt¬
krieg. I und II.935
— Die Ententemächte und der Welt¬
krieg. m.
— Die Ententemächte und der Welt¬
krieg. IV . . .
— Die Ententemächte und der Welt¬
krieg. V . ... 1 .... .
— Die Ententemächte und der Welt¬
krieg. VI ...
— Die Ententemächte und der Welt¬
krieg. VH.
— Die Ententemächte und der Welt¬
krieg. VIII. : ....... .
— Bayern und der Einheitsstaat . .
— Spanien.1387
— Ueber den wirtschaftlichen Aufbau
in Deutschland . ..1605
Kinkel, Prof.: Klassenstaat, Völkerstaat
und Völkerbund 1190
Knoerzer, Guido: Zivildienstpflicht
statt Militärdienstpflicht .... 819
— Künstlerbolschewisten.1120
966
999
1032
1059
1099
1122
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Knoerzer, Ouido: Deutsche Politik
1914 und 1919.10%
— Völkerbund und Völkerstaat . . 1379
Knute, Peter: Die Barriere im Osten 1166
— Versailler Staatenbaukunst . . . 1277
— Moskau und Mekka.1354
— Tokio-Washlngton-London-Moskau 1392
— Das zerschmetterte Schwert Ferdi¬
nands .1415
— Wien: Die orientalische Metropole 1529
— Budapest.1562
Körner, Fr. Theod.: Unser Zusammen¬
bruch vor einem Jahre ..... 945
— Der Kampf um Oberschlesien . . 1254
— Die volkswirtschaftliche Bedeutung
der Leipziger Messe.1613
Kunze, R.: Nationale Parteibildung . 1043
Kuttner, Erich: Die französischen
Sozialisten in der Sackgasse . . . 865
— Alldeutsches Frontabtasten . . . 1053
— Einigung — aber wie.1090
— Ouillaume le timide.1117
— Ungesfihntes Blut.1151
— Enthülltes politisches Verbrechen 1185
Ijensch, Dr. P.: Die Rache für König-
grätz.. . 808
Müller, H: Das Betriebsrätegesetz'. 1341
Müller - Brandenburg: Kontinental¬
politik . 874
— Vom nationalen Oedanken . . . 983
— Betrachtungen über den Einfluß
der geographisch. Lage Frankreichs 1037
— Bemerkungen z. Helfferichs drittem
Band. 1131
— Betrachtungen über den Einfluß
der geographischen Lage Rußlands
auf die Entwicklung der russischen
Nation.1153
Muthesius, K.: Die Oeffnung der Uni¬
versitäten für die Volksschullehrer 1134
Nägler, Dr. K.: Kontradiktorische oder
konträre Entwicklung.1449
Neumana Dr.E.: Ein deutsches Rausch¬
trankgesetz .923
Nüse, K.: Der Verfall unseres Wirt¬
schaftskörpers eine Oefahr für
unser Volk.886
Parvus: Die Reichswehr.801
— Ein Problem d. geistigen Revolution 833
— Die Entente und der Bolschewismus 897
— Der Fall Kautsky.1149.
— Zur Aufklärung.1213
— Philister über mich.1331
— Meine Entfernung aus d. Schweiz. I 1482
— Meine Entfernung aus d. Schweiz. II 1507
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Paivus: Deutschland und Rußland . 1525
Pertzborn, M: Herzhafte Politik . . 1407
"• Quarck, Dr. M.: Schulkämpfe und
Verfassung ..815
Bade, Dr. M.: Zur Neuregelung des
Kirchenaustritts. . . .. . . 1143
Rasch, Prof. E.: Die Verwertung der
Milch durch Hochdruckfemleitung. 1419
— Was ist zu tun?.1552
Rausch, Bernh.: Der Kampf um Noske 836
Rommel: Vom höheren Schulwesen. I 1170
— Vom höheren Schulwesea II . . 1200
— Vom höheren Schulwesea BI. . 1228
Rosenberger: Eine Synthese der geisti¬
gen Kultur.958
Saenger, A.: Der Münchener Geisel¬
mordprozeß .845
Scheffauer, G.: Amerika und der
Frieden von Versailles.1344
— Feder und Schwert.1575
Schiff, Victor: „Banco".961
Schlaikjer, E: D. Sozialisier. cLBühnen 1301
Schmidt, Th.: Wer hemmt d. Volkswirt¬
schaft!. Wiederaufbau Deutschlands? 1281
Secker,Fritz: Randbemerkungen eines
Ausländsdeutschen.1105
Stadtier, Dr.E.: Sozialist. Aktivisten 1206
Tesessy, Fr.: Die Sozialisierung der
Kinoindustrie.858
Troß, Dr. E.: Wissenschaft!. Ehrlichkeit 1016
Unger, Alfr.: Zur Reform des staatl.
Erbrechts.1437
Unger, Emil: Politische Köpfe I und B 1433
— Politische Köpfe ffl und IV . . . 1464
Politische Köpfe V und VI . . . 1498
— Politische Köpfe Vfl und VIB . . 1556
— Politische Köpfe IX und X . . . 1572
— Politische Köpfe XI und XB . . 1601
v. Ungern-Sternberg, Dr. Roderich: Ist
ein deutsch - russisches Abkommen
wünschenswert?.1245
— Ostorientierung.1429
— Kadetten und Bolschewiki . . . 1529
Wenzel, Ed.: Der sozialistische Zu¬
kunftsstaat — in Deutschland eine
Tatsache von morgen.1258
Winnlg, Aug.: Der baltische Knoten 804
Witte, Dr. Erich: Zur Reform der
Universitäten.1076
— Elternbeiräte.1313
— Die akademisch gebildeten Lehrer
Deutschlands über die Schulreform 1282
— Sozialisierungd. Schulbuchhandels 1411
Wolff, Walter: Zipfelmütze, — Brille
oder Helm?.987
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MAY 1 9 1989,
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